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Full text of "Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen"

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ARCHIV 

.      FÜR   DAS 

STUDIUM  DER  NEUEREN  SPRACHEN 
UND  LITERATUREN. 


HERAUSGEGEBEN 


LUDWIG     HERRIG. 


XV.  JAHRGANG,  27.  BAND. 


BRAÜNSCHWEIG, 

DRUCK   UND   VERLAG   VON   GEORGE  WE STE KMA NN. 
18  60. 


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Inhalts  -  Verzeichniss  des  XXYII.  Bandes. 


Abhandlunoren.  „v 

»  Seite 

Ueber  die  Lektüre   des   Herderschen   Cid.      Von  Dr.   E.  Niemeyer.  1 

Antigene  und  Polyt'ucte.     Von   Dr.   Weiss 13 

Ueber  den    provenzalischen    Dicliter    Goudouli    nebst   Uebersetzungs- 

proben  seiner  Gei lichte.     Von  Dr.  K.  L.  Kannegiesser.    .     .     .  47 

Ueber  Ben  Jonson's  Ma^kenspiele.     Von  Immanuel  Schmidt     ...  5ü 

Sitzungen  der  Berliner  Gesellschaft  für  das  Studium  der  neueren  Sprachen.  91 

B dränier  und  stine  Lieder.     Von  H.  Schmick 1^9 

Was  ist  zu  thun,  wenn  der  Unterriclit  in  den  neuen  Sprachen  in  Schulen, 
welche  die  alten  Sprachen  nicht  pflegen,  in  einen  organischen  Zu- 
sammenhang kommen  soll?     Von  Prof.  Dr.  A.  Gut  hier.     .     .     .  149 

Die  Runen  der  Finnen.     Von  J   Alt  mann 177 

Ueber  den  Ursprung  und  die  Bedeutung  des  Namens  der  Stadt  Berlin. 

Von  Dr.  CA.  F.  Mahn 241 

Trois  vieux  poemes  en  l'honneur  de  la  Sainte-Vierge.  Von  J.  Wol- 
lenberg    20 1 

Hamlet,  eine  Schicksalstragödie.     Von  Alb.  Jung 269 

Giovanni  Meli  und  die  sicilianische  Poesie.     Von  Dr.  Wentrup.     .     .  295 

Ueber  Lomono.«s<)fF.     Von  A.  Boltz 317 

Das  Lesen  und  Declamiren.     Von  Dr.  Schroeder 353 

Sir  John  Maundevvlie.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  englischen  Li- 
teratur und  Sprache      Von  Dr.   Gesenius 391 

Leben    und    Schriften    des    neueren  italienischen    Dichters    ßenedetti. 

Von   K.   L.    Kannegiesser 4'29 

Sitzungen  der  Berliner  Gesellschaft  für  das  Studium  der  neueren  Sprachen.  447 

ßeurtheilungen   und    kurze  Anzeigen. 

Teut.     Jahrbuch  der  Junggermanischen  Gesellschaft,  herausgegeben  von 

Fr.  J.  Kru}ier.     ( Dr    Büclisenschütz.) 103 

Grundzüye  der  Neuhochdeutschen   Grammatik,  von  Friedrich  Bauer     .     iü6 
Kurzgefasste  Laut-  und  Formenlehre  der  mittelhochdeutschen  Sprache, 

von  Dr.  Wahlenberg .     107 

Hülfsbuch  für  den  deutschen  Unterricht,  von  H.  Viehoif.  (Dr.  Büch- 
senschütz.)        107 

Ueber  ein    charakteristisclies   Element   in  der   Lyrik   Emanuel  Geibels. 

Von  Dr    C.  H.  Seibert lOS 

Germania.  Vierteljahr.'^sihrift  für  Deutsche  Alterthumskunde.  Heraus- 
gegeben von  Franz  Pf«  iffer.     (Dr.  Fr.  Sachse.) 109 

Anzeiger  für  Kunde  der   deutschen   Vorzeit      (Dr.  Sachse.)  .     .     .     .     110 
Mittelhochdeutsches  Lesebuch  für  Gymnasien.     Von   Dr.   K.   Reichel. 

(Dr.  Fr.  M  oller.) U2 

Zeitschrift  für  Volkerpsychologie  und  Sprachwissenschaft.  Herausge- 
geben  von  Dr.  M.   Lazarus  und  Dr.    H.   Steinthal.     (Lassen.)     .     209 

Gedichte  von  Heinrich  Prölile 216 

Feidgarben.    Beiträge  zur  Kirchen-,  Literatur-  und   Culturgeschichte     .     2  19 
Altes  Gold.     Deutsche  Sprichwörter  und  Redensarten.     Herausgegeben 

von  W.  Lohrengel.     (C.  Schulze.) 219 


Grammatik  der  italienischen  S{)rache.     Von  J.  &  M.    "WIggers.     (Prof. 

Dr.    Staedler.) 220 

Anzeiger  für  Kunde  der  dentschen  Vorzeit.  (Dr.  Saclise.}  ....  331 
Englische  Grammatik  in  Beispielen  von  Dr.  C    v.    Dalen.     (G.  Büch- 

mann.)        .••.••     •  .,"     •.  *     ^°^ 

Von   der    Bedeutung    der    Sanskritstudien    für    griechische    Philologie. 

Von  Dr.  W.    Christ.     (Dr.  'Gu  tb  ier.) 335 

Jahrbuch    für   Romanische   und    Englische    Literatur,      Herausgegeben 

von  Dr.  A.  Ebert.     (G.  Büchniiinn.) 33G 

Germania.     Ilerausgeaeben   von  F.  Pfeifer 456 

Katholische    Kirchenlieder,    Hymnen,  Psalmen.     Zusammengestellt  von 

.1.   Kehreni 458 

Wörterbuch  der  deutschen  Sprache.    Von  Dr.  Sanders,     (Dr.  Sachse.)     460 

Torso  und   Korso.     Von   H.    Le.'^sing.     (P.) ',    ,"     "     '^^^ 

Deutsches   Lesebuch  für   Gvmnasien  ,  Real-  und  höhere  Bürgerschulen. 

Von  F.  Hnpf  und  K.    Paulsiek.     (Dr.    Breysig.) 462 

Englisches   Lesebuch   für   Schulen   und   zum  Selbstunterricht.     Von  E. 

''Bernhardt.     (Giseke.) *•     •     464 

Pro  grammensch  au. 

Ueber  das  Nibelungenlied.     Von  Dir.  Schornstein 113 

Proben  aus    einer  Bearbeitung   der    Trutznachtigall   von   Fr.  von  Spee. 

Von  Dir.  Dr.  J.  B.  Ahlemeyer 113 

Ueber  Scl)illers  kleinere  Lehr-Gedir'hte  von  R.  Hauer.  (K  L  K.)  .  114 
Zur  Theorie  des  Casus.  Von  Prof  C.  F.  A.  Dewischeit.  (Kölscher.)  114 
Remarques   sur   le   pleonasme   de  la  langue   fran9aise,   von  H.  Mensch. 

(H.  Crouze.) .115 

Observations  sur  l'Fnseignement   de  la  langue  fran^aise.     Par  Ch.  Gill- 

hMusen.     (Prof.  Dr.   Staedler.). 224 

Die  Dichtungen    Schiller's   als  Unterrichtsmittel  höherer  Lehranstalten. 

Von  Dr.  Srhanenhurg 225 

Metrische  Uebersetzungen  in's  Griecliische  und  Lateinische  aus  Schiller 

und  Göthe  etc.     Von  C.  F.  Crain 226 

Lateinische  Uehersetznngsproben.  Von  K  W.  Osterwald.  (Hölscher.)  227 
Beitrag  zur  Dinlckt  Forschung  in  Ni'rdböhmen.  Von  I.  Petters.  .  .  341 
Beitrag   zur   Beh,indlungsvvei.<e  der   Aestbetik   in    der  obersten  Gymna- 

siak'lasse.     Von   Th    Hohenwarter 341 

Der  Alexandriner,   mit   besonderer   Rücksicht  auf  seinen  Gebrauch  im 

Deutschen.     Von   H.  Viehoff 342 

Die  Alliterationsperiode  der  deutschen  Dichtung.  Von  Dr.  Schneider.  342 
Das  deutscht^  Kirchenlied  in  Siebenbürgen.  Von  F.  F.  Schuster.  .  .  343 
Ueber  die   Bedeutung  der    Grosstliaten  Friedrichs  II.  für  die  deutsche 

Literatur.     Von  Colhib    Einert. 344 

Karl  Frieilrich  Kretschmann,  der  Barde  Rhingulph.     Von  Dr.  Knothe. 

(Hölscher.) 345 

On  the  study  of  Modern  languages  in  general  etc.    Von  Dr.  D.  Asher. 

(I.    Schmidt.) 465 

Bemerkunjren   zu    Byron's  Childe   Harold    Canto   I.     Von   Dr.    Struve. 

(Dr.  Philipp.) 468 

M  i  s  c  e  1 1  e  n. 

Seite  118  —  125.     228  —  238.     347  —  350,     469—478, 

Bibliographischer   Anzeiger. 
Seite   126— 128.     239  —  240.     351—352.     479  —  480. 


Ueber   die   Lektüre 
des 

Herderschen    Cid. 


Die  neulich  von  einigen  Schulmännern  ergangene  Auffor- 
derung, besonders  die  deutsche  Lektüre  in  den  Kreis  der  schrift- 
lichen Debatte  zu  ziehen,  kann  gewiss  nicht  besser  als  auf  prak- 
tischem Wege  erledigt  werden,  indem  man  die  pädagogische 
Brauchbarkeit  und  didaktische  Behandlung  gewisser  klassischer 
Lesestücke  zur  Erörterung  bringt.  Dass  ich  mir  zu  dem  Zwecke 
diesmal  Herders  Cid  erwählt  habe,  geschieht  nicht  aus  dem 
Wahne,  als  ob  ich  mir  hierüber  eine  völlig  ausreichende  Er- 
fahrung zuschreiben  dürfte,  sondern  nur  gewisse  in  der  Lese- 
praxis gemachte  Beobachtungen  und  gew^onnene  Resultate  dem 
Urtheile  und  der  Benutzung  der  Fachgenossen  anheimzustellen. 
Zugleich  suchen  die  nachfolgenden  Zeilen  einen  offiziellen  Rück- 
halt an  der  einmal  auf  einer  Versammlung  von  Realschulmännern 
zu  Kosen  gestellten  Aufgabe,  mit  dem  dort  aufgestellten  Codex 
librorum  legendorum,  in  welchen  auch  der  Cid  aufgenommen 
W'Urde,  in  der  Praxis  Versuche  zu  machen  und  die  Ergebnisse 
solcher  Experimente  auf  der  nächsten  Versammlung  zur  Sprache  zu 
bringen.  Je  weniger  dies  bis  jetzt  geschah,  desto  nachsichtiger  möge 
man  das  folgende  Gutachten  über  die  Lektüre  des  Herderschen 
Cid  aufnehmen,  womit  ein  bescheidener  Beitrag  zur  Lösung  jener 
Aufgabe  geliefert  werden  soll. 

Meine  Bemerkungen  beziehen  sich  übrigens  nur  auf  die 
öffentliche  Lektüre  der  Dichtung.  Allerdings  wurde  in  Kosen 
der  Cid  in  die  Sphäre  der  Privatlektüre  verwiesen,  und  es  ist 
auch  keine  Frage,  dass  das  Gedicht,  wenn  man  die  Ver- 
Archiv f.  n.  Sprachen.  XXVII.  1 


2  Ueber  die  Lektüre 

ständllchkeit  desselben  in  Betracht   zieht,    recht   wohl  privatim 
ofelesen  werden  kann. 

o 

Aber  es  würde  ein  ungerechtfertigter  Schluss  sein,  wenn 
man  hieraus  die  Folgerung  ableiten  wollte,  dass  die«  durchsich- 
tige, überschauliche  Kunstwerk  von  dem  Cyclus  der  öffentlich 
zu  lesenden  Gedichte  ausgeschlossen  werden  müsse.  Im  Gegen- 
theil  sollte  man  sich  freuen,  an  jener  Epopöe  statt  der  verein- 
zelten Lesestücke,  welche  die  Chrestomathieen  bieten,  eine  grö- 
sere  Composition  als  Schullektüre  schon  für  die  Tertia,  ge- 
schweige für  die  Sekunda  zu  gewinnen,  da  die  deutsche  Lite- 
ratur an  umfassenderen  Dichtungen  für  den  Standpunkt  solcher 
Classen  nicht  gerade  überfliesst.  Wenigstens  nicht  an  epischen, 
welche  doch  dem  jugendlichen  Alter  auf  jener  Stufe  eine  ge- 
deihlichere Nahrung  bieten  als  die  verfrühte  Einführung  in  die 
dramatische  Literatur. 

Dann  würde  der  Cid  das  zweite  Glied  in  der  Kette  der 
epischen  Lektüre  für  die  oberen  Klassen  bilden,  als  deren  er- 
stes der  siebzigste  Geburtstag  von  Voss  gelten  darf,  während 
Hermann  und  Dorothea  die  dritte ,  das  Nibelungenlied  in  der 
Ursprache  die  vierte  und  letzte  Stelle  einnehmen  könnte.  Auf 
diese  Weise  würde  ein  planmässiger  Wechsel  zwischen  einer 
Idylle  (der  siebzigste  Geburtstag)  und  einem  Heldengedicht 
(der  Cid),  einem  idyllischen  Epos  (Hermann  und  Dorothea)  und 
einer  heroischen  Epopöe  (Nibelungenlied)  erreicht  w^erden,  so 
dass  zu  gleicher  Zeit  eine  methodische  Steigerung  vom  Leich- 
teren zum  Schwereren  stattfände  und  zwei  Kunstdichtungen 
(der  siebzigste  Geburtstag,  Hermann  und  Dorothea)  mit  zwei 
Volksdichtungen  (Cid,  Nibelungenlied)  wechselten. 

Doch,  um  auf  den  Cid  selbst  zurückzukommen,  dürfen  wir 
nicht  aus  der  Acht  lassen,  welche  Bedenken  etwa  trotz  aller 
Empfehlung  auf  der  Kösener  Versammlung  gegen  diese  Schul- 
lektüre geltend  gemacht  w^erden  könnten. 

Da  müssen  wir  zunächst  dem  etwa  noch  bestehenden  Vor- 
urtheil  begegnen,  dass  diese  Dichtung  in  die  Kategorie  einer 
blossen  Uebersetzung  falle  und  nicht  füglich  zu  den  Werken 
der  deutschen  NationalUteratur  im  strengeren  Sinne  gezählt 
werden  könne.  Man  geht  hierbei  von  dem  Grundsatze  aus,  dass 
sich   die  Schule  auf  die  Lektüre   der  deutschen   Originalwerke 


des  Herderschen  Cid.  3 

beschränken  und  allen  Uebersetzungen  aus  den  Literaturen  der 
fremden  Völker  den  Zugang  versperren  müsse.  Wir  brauchen 
aber  die  Richtigkeit  dieses  methodischen  Princips  gar  nicht  näher 
zu  prüfen,  um  den  gegen  die  Lesung  der  Herderschen  Dichtung 
erhobenen  Einwand  zu  entkräften.  Denn  ist  es  denn  wahr,  dass 
der  Cid  Herders  im  Range  einer  blossen  Uebersetzung  stehe? 
Ist  es  nicht  vielmehr  das  schönste  Denkmal  der  poetischen  Kraft, 
zu  welcher  sich  der  Dichter  aufschwingen  konnte?  Man  ver- 
gleiche doch  nur  einmal  die  Leistung  Herders  mit  dem  Original, 
w  enn  man  aufrichtige  Belehrung  sucht.  Schon  Wilhelm  Wacker- 
nagel bezeichnete  den  Cid  Herders  mindestens  als  eine  solche 
Uebersetzung,  die  man  eigentlich  eine  Verdeutschung  nennen 
dürfe,  weshalb  er  ihn  auch  in  seine  Proben  der  deutschen  Poesie 
aufgenommen  hat,  von  Avelchen  er  sonst  alle  Uebersetzungen 
grundsätzlich  ausschliesst. 

Viel  wichtiger  wäre  ein  zweites  Bedenken,  welches 
gegen  die  pädagogische  Zweckmässigkeit  der  vortrefflichen  Dich- 
tung erhoben  werden  könnte.  Die  Meisten  werden  allerdings 
stets  bezw^eifeln,  dass  aus  der  Feder  jenes  keuschen  Priesters 
der  Morahtät  irgend  Etwas  hervorgegangen  sein  solle,  wovon 
in  allem  Ernste  nachtheilige  Folgen  für  die  Sittlichkeit  der 
Jugend  zu  befürchten  wären.  Doch  müssen  wir  mit  Rücksicht 
auf  jene  Skrupel  das  Gedicht  etwas  genauer  ansehen,  damit  wir 
uns  nicht  einer  Verschweigung  schuldig  machen,  welche  übel 
gedeutet  werden  könnte.  Da  wird  nun  allerdings  Einiges  aus- 
zuscheiden sein,  weil  es  Dinge  enthält,  welche  man  mit  Recht 
vor  jugendlichen  Ohren  nicht  zu  berühren  oder  gar  zu  erörtern 
pflegt. 

Die  Stellen,  w^elche  hier  in  Betracht  kommen,  sind  auch 
von  W.  Wackernagel  in  der  Auswahl  vom  Cid,  welche  er  in 
den  Proben  der  deutschen  Poesie  liefert,  ausgemerzt  worden. 
Ich  meine  zunächst  in  Romanze  16.  Die  beiden  Abschnitte,  wo 
der  Dichter,  dem  Originale  folgend,  um  eine  spanische  National- 
sitte bei  Hochzeitsfeierlichkeiten  nicht  zu  übergehen,  den  König 
eine  Menge  Weizenkörner  aus  Ximenens  Busenkrause,  wohin 
sie  aus  den  Fenstern  geworfen  waren,  ablesen  und  Alvar  Fanez 
den  muthwilligen  Wunsch  äussern  lässt,  in  diesem  Augenblicke 
des  Königs  Hand  zu  besitzen.     Ferner  wären  in  Romanze  17. 

1* 


4  Ueber  die  Lektüre 

die  vier  Verse  auszulassen,  in  welchen  dem  spanischen  Texte 
gemäss  erzählt  wird,  dass  die  Tochter  des  gefangenen  Grafen 
Raimond  von  Savoyen,  welche  Fernando  als  Geisel  für  ihren 
losgegebenen  Vater  genommen  hatte,  des  Königs  Geliebte  ward 
und  ihm  einen  Sohn  gebar,  der  nachher  die  Cardinais  würde  er- 
langte. Diese  Stellen  wird  man  wohl  überspringen  müssen. 
Dazu  kommen  noch  die  19.  und  20.  Romanze,  die  man  auf 
jeden  Fall  ganz  unberührt  lassen  muss,  so  dass  also  bei  der 
Lektüre  von  der  18.  gleich  zur  21.  übergegangen  wird.  Es  ist 
nämlich  dort  die  Rede  von  dem  Kinde,  welches  unter  Ximenens 
Herzen  schläft;  von  dem  Säugling,  welchen  sie  im  Schosse  hegt; 
von  der  grausam  -  süssen  Stunde  der  Entbindung,  welche  der 
schon  in  Wehen  liegenden  bevorsteht.  Das  sind  noch  natürliche 
Verhältnisse,  welche  nur  wegen  der  Einkleidung,  die  ihnen  der 
Dichter  gegeben  hat,  für  die  Schule  unpassend  erscheinen.  Doch 
giebt  es  in  jenen  beiden  Romanzen  Anderes,  wo  Herder,  welcher 
schon  früh  gegen  die  Ehrbarkeitspedanterie  und  die  Gesetze  der 
Politesse  als  Massstab  bei  Beurtheilung  solcher  Naturgesänge 
eiferte,  obgleich  er  die  Derbheiten  des  Originals  mildert,  doch 
die  naive  Sinnlichkeit  desselben  nicht  ganz  verwischen  wollte. 
Wenn  sich  also  bei  Herder  Xiraene  in  dem  Briefe  an  den  König 
beklagt,  dass  der  Cid  kaum  einmal  im  Jahr  sie  besuche  und 
dann,  von  ihren  Liebkosungen  ungerührt,  vor  Ermüdung  durch 
die  Strapatzen  des  Kriegs  an  ihrer  Seite  einschlafe,  um  am 
andern  Morgen  ebenso  gefühllos  wieder  aufzuspringen;  wenn 
sich  die  zärtliche  Gattin  bei  Fernando  beschwert,  dass  statt  ihres 
Ehegemahls  ihr  nur  seine  alte  Mutter  geblieben ,  die  ihr  zur 
Seite  schlafe;  wenn  dann  der  König  in  seinem  Antwortschreiben 
mit  echt  spanischer  Galanterie  aus  dem  Umstände,  dass  der 
Cid  doch  zuweilen  an  Ximenens  Seite  geschlafen,  den  Beweis 
führt,  dass  Xiraene  keinen  vaterlosen  Säugling  gebären  werde, 
und  sich  erbietet,  bei  der  Entbindung  die  Stelle  ihres  Gemahles 
zu  vertreten,  —  so  wird  wohl  bei  aller  wahrhaft  poetischen 
Schönheit,  durch  welche  sich  jene  beiden  Lieder  auszeichnen, 
kein  Lehrer  solche  Licenzen  in  die  Schule  hineinziehen  wollen. 
Mit  diesen  vorgeschlagenen  Ausmerzungen  werden  sich  die 
meisten  Fachgenossen  begnügen.  Andere  mögen,  wenn  es  ihnen 
ihr  Gewissen  vorschreibt  oder  ihr  Gefühl  eingiebt,  die  Auswahl 


des  Herderschen  Cid.  5 

noch  weiter  beschränken  und  z.  B.  die  von  Herder  selbständig 
gedichteten,  an  sich  recht  anziehenden  Romanzen  12.  und  13. 
ausschliessen,  wo  zwischen  dem  König  und  dem  Cid  über  das 
Regiment  der  Frauen  eine  förmliche  Debatte  geführt  und  die 
Frage  erörtert  wird,  ob  Vermählung  oder  Ehelosigkeit  den  Vor- 
zug verdiene.  Am  sichersten  geht  überhaupt,  wer  sich  im 
Ganzen  an  die  von  W.  Wackernagel  getroffene  Auswahl  hält, 
aber  diese  lässt  bei  weitem  mehr  aus,  als  selbst  die  peinlichste 
Skrupulosität  für  nöthig  halten  möchte.  Es  fehlen  nämlich  dort 
die  Romanzen  2.  3.  7.  11.  12.  13.  14.,  von  der  16.  und  17.  die 
oben  näher  bezeichneten  Stücke,  ferner  die  Nummern  19.  und 
20.,  von  der  23.  Alles  ausser  den  drei  ersten  Abschnitten,  sowie 
die  Lieder  27,  34,  35,  40,  44,  47,  48,  56,  57,  58,  59,  60,  61, 
70.  Obgleich  nun  diese  Cid  -  Chrestomathie  recht  wohl  gelesen 
werden  kann,  da  durch  sie  der  Zusammenhang  nirgend  gestört 
wird,  so  hiesse  es  doch  einen  Raub  an  der  Dichtung  begehen, 
wenn  man  jene  Auswahl,  welche  das  Gedicht  um  ganze  23  Ro- 
manzen verkürzt  und  bei  welcher  auch  ein  ganz  äusserlicher 
Grund,  nämlich  das  Gesetz  über  den  Nachdruck,  einschränkend 
mitwirkte,  bei  der  Schullektüre  zu  Grunde  legen  wollte. 

Wir  sind  oben  bemüht  gewesen,  den  eventuellen  Vorwurf 
der  Sittengefährlichkeit  durch  Besprechung  gewisser  Stellen  der 
Dichtung  auf  seine  wahre  Bedeutung  zurückzuführen.  Ein  um 
60  leichteres  Unternehmen  würde  es  nimmehr  sein,  die  durchaus 
humane  Weltanschauung,  die  Feinheit  und  Tiefe  des  moralischen 
Gefühls,  die  würdige  Gesinnung,  mit  anderen  Worten  den  sitt- 
lichen Geist,  von  welchem  das  Gedicht  durchweht  wird,  über- 
zeugend darzulegen.  Schon  die  blosse  Betrachtung  der  Sen- 
tenzen, mit  welchen  der  Dichter  sein  poetisches  Gewebe  durch- 
wirkt, muss  uns  das  Urtheil  bestätigen,  dass  hier  eine  Kunde 
des  menschlichen  Herzens  und  eine  Auffassung  des  sittlichen 
Lebens  entfaltet  wird,  wie  sie  nur  von  einem  Dichter  im  edelsten 
Sinne  des  Wortes  ausgehen  kann.  Auch  sind  diese  allgemeinen 
Gedanken  neben  ihrer  fast  immer  überzeugenden  Wahrheit  so 
durchaus  fassHch  eingekleidet,  so  volksmässig  dargestellt,  so  an- 
spruchslos vorgetragen,  dass  sie  dem  schUchtesten  Menschen- 
verstände einleuchten  und  vermöge  ihrer  körnigen  Simplicität 
ge Wissermassen   einen  poetischen   Katechismus   bilden.     Ein   so 


G  Ueber  die  Lektüre 

reizender  und  erbaulicher  Codex  der  Moral  ist  wohl  werth,  dass 
ihn  der  Lehrer  von  den  Schülern  selbst  schriftlich  zusammen- 
stellen lässt:  es  wird  eine  Blüthenlese  werden,  an  welcher  beide 
Theile  eine  innige  Freude  haben  müssen.  Manche  besonders 
fruchtbare  oder  bestreitbare  Denksprüche  werden  sich  auch  zu 
Abhandlungen  eignen.  Wenn  wir  nun  jetzt  versuchen,  eine 
Uebersicht  jener  Sentenzen,  Erfahrungssätze  und  Lebensregeln 
zu  liefern,  so  müssen  wir,  da  wir  immer  den  pädagogischen 
Zweck  verfolgen,  einige  für  die  Schule  ungeeignete  ausschliessen. 
So  die  Sprüche  über  die  Macht,  das  Wesen  und  das  Glück  der 
Liebe  (_R.  14.  23.  27.),  mehrere  allgemeine  Betrachtungen,  welche 
der  König  Don  Fernando  und  der  Cid  über  die  Natur  der 
Frauen,  über  das  Regiment  der  Weiber  und  theils  über  die 
Pflicht  der  Vermählung,  theils  über  die  Vortheile  der  Ehelosig- 
keit anstellen  (R.  12.  und  13.),  die  Bemerkungen  über  die  Wir- 
kung der  freien  Rede  eines  Weibes  (R.  22.),  über  die  Offen- 
herzigkeit der  Frauen  (R.  44.),  über  die  Folgen  der  Rede- 
frechheit eines  Mädchens  (R.  22.),  über  die  Untreue  der  Männer 
(R.  23.),  und  mehrere  sehr  beherzigenswerthe  Verhaltungsregeln, 
welche  Cid,  der  Gatte  und  Vater,  beim  Abschiede  Ximenen  für 
sie  selbst  und  ihre  beiden  Töchter  ertheilt  (R.  48.).  Alle  übrigen 
Sentenzen,  bei  deren  Anführung  wir  uns  zuweilen  eine  die  stricte 
Kunstform  herstellende  Modifikation  durch  Auslassung,  Ergän- 
zung oder  Nachbesserung  erlauben ,  wird  man  gern  hier  zu- 
sammengestellt sehen.  Ueber  das  Loos  des  Mannes  und  Wei- 
bes heisst  es:  „Männer,  in  die  Welt  eintretend,  bringen,  Güter 
zu  erwerben,  Kräfte  sich  und  Ansehn  mit.  Was  sie  sich  er- 
werben konnten.  Müssigen  zu  hinterlassen,  hiesse  das  nicht  .  . . 
seine  Söhn'  erniedrigen?  Aber  sagt:  was  kann  die  Tochter? 
Was  kann  sich  ein  Weib  erwerben?  Hingeworfen  auf  die  Erde, 
hat  sie  nichts  als  des  Gehorsams,  als  des  Dieners  niedern  Lohn'- 
(R.  21).  Ueber  das  Schicksal,  die  Gesinnung  und  die  Pflichten 
der  Könige:  „Ach,  der  Kön'ge  hartes  Schicksal,  dass,  wenn 
man  sie  nicht  mehr  fürchtet,  dann  nur  ihnen  Wahrheit  spricht!" 
(R.  32).  —  „Auch  zu  andern,  andern  Zeiten  sagt  man  ihnen 
wohl  die  Wahrheit;  aber  sie,  sie  hören  nicht"  (R.  32).  — 
Umringt  von  Hunden,  Hunden,  die  ihm  heute  schmeicheln, 
morgen  bei  dem  ersten  Fehltritt  ihn  anfallen,  ihn  zerreissen.  — 


des  Herderschen  Cid.  7 

So  umgeben  ist  ein  König,  der,  von  Günstlingen  verblendet, 
seiner  Seele  Blick  verlor"  (R.  44).  —  „Gleichen  ...  die  Kin- 
der, die  um  das,  was  glänzt,  nur  seufzen,  gleichen  sie  nicht 
Königen?  Weiber,  Könige  und  Kinder,  eben  ihrer  Schwachheit 
wegen  werden  sie  uns  achtenswerth ;  denn  der  Schwachheit 
nachzugeben  ist  des  Starken  Pflicht"  (R.  45).  —  „Kön'ge 
wollen  ihre  Diener  nur  an  ihrem  Platze  sehen;  den  Erhabneren 
darüber  drücken  sie,  wie  Buhlerinnen  den  verächtlich  -  stolz  be- 
handeln, der  sich,  ihnen  zu  gefallen,  nicht  verächtlich  machen 
Hess;  oder,  wie  die  grossen  Götter,  deren  hoher  Zorn  im  Donner 
nur  das  Binsenrohr  verschont"  (R.  47).  —  „Könige  sind  nie 
in  Ruhe.  Dieser  will  und  der  den  Degen;  und  an  Alles  soll 
der  König  denken,  prüfen,  widerstehn"  (R.  47).  —  „Ehrenworte 
kosten  wenig,  und  sie  sind  so  reich  einträghch  einem  guten 
Könige;  sie  gewinnen  ihm  die  Herzen,  wenn  bei  ungerechten 
"Worten  sich  das  treuste  ihm  entzieht"  (R.  53).  —  „Wer  ein- 
mal den  Schmeichlern  wohltliut,  leget  sich  die  harte  Noth  auf, 
immer  ihnen  schön  zu  thun.  Schmeichler  sind  es,  die  sich 
rächen;  aus  dem  Honig  ihrer  Lippen  machet  euch  ein  Bollwerk, 
König,  und  ihr  werdet  es  erfahren,  wie  dies  euch  vertheidige" 
(R.  53).  —  ., Freilich  ging  wohl  mancher  König  irre  durch  zu 
viele  Lehren;  aber  der  war  stets  verloren,  dem  kein  Rath  ge- 
fällig Avar"  (R.  53).  —  Undankbare  Fürsten  drücket,  drückt 
und  dränget  nichts  so  schrecklich,  als  grossmüth'ger  Unterthanen 
Edelmuth  —  auch  gegen  sie"  (R.  44).  —  „Das  Gesetz  entehret 
nicht  der  König"  (R.  43).  —  „Das  erobern,  König,  ist  wohl 
nicht  das  Hauptwerk;  das  Eroberte  erhalten,  dieses  ist  das 
Schwerere"  (R.  41).  —  „Nichts  gefährlicher  war  öfters  Fürsten 
als  Abwesenheit"  (R.  41).  —  „Nur  des  schlecht'sten  Menschen 

—  nie  die  Hand  des  Edelmannes  waget  an  den  König  sich" 
(R.  39).  —  „Wenn  ein  König  unrecht  zürnte,  muss  er  sich  zur 
Ehrerstattung  zwingen  mit  Erniedrigung"  (R.  31).  —  „Gute 
Kön'ge  sind  auf  Erden  Gottes  Bild.  Die  ungerechten  sind  un- 
dankbar ihren  treuen  Dienern,  nähren  Factionen,  Hass,  Ver- 
folgung, ew'ge  Feindschaft,  Seufzer  imd  Verzweifelung"  (R.  9). 

—  Bei  den  Sentenzen  über  das  Verhältniss  des  Vasallen  zum 
Oberlehnsherrn  dürfen  wir  zuweilen  nicht  ganz  aus  der  Acht 
lassen,   dass   wir   es   hier   mit   einer   politischen  Moral  zu  thun 


8  lieber  die  Lektüre 

haben,  welche  durch  das  mittelalterliche  Feudalsystem  bedingt 
wird.  „Unwerth  ist  ein  ungerechter  Fürst,  dass  ihm  der  Edle 
diene"  (R.  6).  —  „Wenn  ein  Herr  auch  unrecht  zürnet  muss 
ihm  der  Vasall  gehorchen;  wenn  ein  König  sich  entschuldigt, 
muss  er  ihm  treu  sein  und  hold"  (R.  31).  —  „Seid  ihr  tapfer, 
wohl,  so  zeiget  euch  auch  ohne  Leidenschaften.  Unterwürfigkeit 
gebühret  dem  Vasallen  auch  im  Recht.  Zeiget  ,ihr  im  Felde 
Kühnheit,  Kopf  und  Herz,  so  zeigt  am  Hofe  höfliche  Be- 
scheidenheit. Mit  den  Worten  nimmt  die  Zunge  weg  die  Hälfte 
des  Verdienstes,  das  der  Arm  sich  kühn  erwarb"  (R.  39).  — 
„Rache  des  Vasallen  gegen  seinen  angebornen  Herrn,  auch  ge- 
recht, erscheint  sie  immer  nur  als  Aufruhr  und  Verrath"  (R. 
64).  —  „Jeder  Edle  ist  dem  König  Dienste  schuldig;  dem  Ge- 
rechten leistet  man  sie  pflichtenmässig,  Undankbaren  schenkt  man 
sie"  (R.  48).  • —  Hieran  schliessen  sich  die  Sprüche  über  die 
Pflichten  des  Edelmannes  überhaupt:  [Ein  Edler]  muss  dem 
Vaterlande  dienen,  muss  in  Rath  und  That  dem  Herren  hold 
und  treu  sein  und  gewärtig,  muss  ihm  beistehn  mit  Gewicht. 
Dazu  also  einen  Namen,  einen  hohen  Baum  sich  pflanzen,  in 
dess  Schatten  auch  der  Fremde  Ruh  und  Schutz  und  Rettung 
sucht"  (R.  13).  —  „Der  wahre  Adel  steht  nicht  im  Ersparen, 
doch  auch  im  Vergeuden  nicht"  (R.  48).  —  Sehr  kräftig  sind 
die  Sentenzen  über  die  Ehre,  wobei  wir  die  Strenge  der  Auf- 
fassung mit  auf  Rechnung  jenes  spanischen  National  trieb  s  setzen 
müssen:  „Ehre  duldet  keine  Flecken,  jeder  Fehl  an  ihr  ist 
Brandmal,  Brandmal  auf  der  schönsten  Stirn.  Diesen  Makel 
und  sein  Elend  wegzutilgen,  das  vermögen  Spaniens  reiche 
Schätze  nicht.  Eine  Quelle,  abzuwaschen  solchen  Flecken, 
quellet  in  des  Feindes  Brust.  Feindes  Blut  tilget  die  Schande 
des  Verzagten.  Lieber  sterben  ...  als  scheu'n  sich  müssen  und 
sich  nicht  erkühnen  dürfen,  mit  den  Braven  umzugehn"  (R.  51). 
—  „Lieber  unterm  Fuss  der  Hindernisse  sterben  und  zerquetscht, 
zertreten  werden,  als  dass  Einer  der  lebend' gen  Christen  ehrlos 
uns  vertreib'  aus  der  Gesellschaft"  (R.  51).  —  „Bravheit  ist 
[der  Jüngling]  seiner  Ehre  schuldig;  schadet  der  die  Jugend? 
Für  sie  stirbt  aus  achtem  Stamme  selbst  das  neugeborne  Kind" 
(R.  2).  —  „Eine  Hälfte  [des  Lebens]  ist,  dem  Edlen  Ehr'  er- 
zeigen, und  die  andre,  den  Hochmüthigen  zu  strafen,  mit  dem 


des  Herderschen   Cid.  9 

letzten  Tropfen  Bluts  abzuthun  die  angethane  Schande"  (R.  3). 
—  „Den  Entehrten  flieht  die  Freude,  flieht  die  Zuversicht  und 
Hoffnung;  alle  kehren  mit  der  Ehre  froh  und  jugendlich  zurück" 
(R.  4).  —  Bei  Anführung  der  übrigen  Denksprüche,  Lebens- 
regeln oder  Erfahrungssätze  wird  eine  Gruppirung  nicht  gut 
möglich  sein,  weil  sie  zu  verschiedenartig  sind  und  ganz  ins 
Allgemeine  gehen.  Wir  müssen  sie  also  ganz  aus  serlich  nach 
der  Romanzenfolge  aufreihen.  „Recht  muss  beistehn  jedem 
Schwachen"  (R.  6).  —  „Kein  Volk  thut  seine  Pflichten  ohne 
Straf  und  ohne  Lohn"  (R.  9).  —  „Dem,  der  einzig  seine 
Pflicht  thut,  dem  ist  keinen  Dank  man  schuldig"  (R.  11).  — 
„Reich:  das  sind  so  viele  Narren."  —  „Weit  berühmt:  das 
waren  Viele  . .  .  und  sterben  dennoch  eingehüllet  in  die  Tücher 
menschlicher  Vergessenheit"  (R.  11).  —  „Die  Liebe,  sie  allein 
verzeihet  ganz"  (R.  15).  —  „Mehr  spricht  [ein]  gerührtes 
Schweigen  als  die  lautste  Fröhlichkeit"  (R.  16).  —  „Die  Aus- 
fordrung  ist  des  Königs;  die  Ausführung  ist  des  Kriegers"  (R. 
17).  —  „Ehren,  Glück  und  Macht  und  Güter,  aller  Ruhm  und 
Pracht  der  Erde,  eine  leichte  Wasserblase  seid  ihr,  auf  den 
Lüftchen  schwebend  einen  kurzen  Augenblick"  (R.  21).  — 
„Die  Bösen  müssten  abstehn  von  den  Frevelthaten ,  wenn  zu 
solchen  kein  Rechtschaffner  ihnen  diente;  denn  der  Beste  wird 
im  Dienst  der  Bösen  schlecht"  (R.  25).  —  „Wer  im  Kampf 
den  ersten  Stoss  thut,  hat  das  halbe  Werk  gethan"  (R.  30).  — 
„Vor  Verräthern  hüte  jeder  sich;  am  meisten,  wer  Gewalt  und 
Unrecht  thut"  (R.  32).  —  „Verräther  ist  der  selber,  welcher 
die  Verräther  schützt"  (R.  33).  ~  „Niederträcht'ge  nur  ver- 
schonet feige  Niederträchtigkeit;  auf  die  edelsten  Gemüther  spri- 
tzet sie  zuerst  ihr  Gift"  (R.  34).  —  „Die  Liverei  der  Diener 
zeigt  des  Herrn  Reichthum  und  Stand"  (R.  40).  —  „Ohne 
Freunde  ist  der  Redlichste  auf  Erden  auch  wohl  der  Unnützeste" 
(R.  42).  —  „Kein  Braver  darf  sich  fürchten."  —  „Unschuld 
geht  zu  Grund  durch  unzeitig  Schweigen."  —  „Wer  die  Gut- 
that  nicht  empfand,  die  ihn  verbindet,  dem  wird  sie  umsonst 
erklärt.  Des  Wohlthäters  Rede  löscht  gleich  dem  Schwamm 
die  Wohlthat  aus."  —  „Jedes  brave  edle  Herz,  indem  es  den 
Fehl  gestehet,  fühlt  es  schmerzlicher  die  Schuld"  (R.  43).  — 
„Eher  schätzet  man  das  Gute  nicht,  als  bis  man  es  verlor."  — 


10  Ueber  die  Lektüre 

„Gunst  und  Wahrheit  waren  einmal  nie  beisammen  in  der  Welt" 
(R.  44).  —  „Achtung  und  Verdienst,  sie  haben  nur  an  ihrer 
Stelle  Werth."  —  „Fürchterlicher  ist  den  Bösen  Nichts,  als 
derer,  die  sie  hassen,  fern  erworbner,  schöner  Ruhm."  —  „Die 
Beleidigung  verschmerzen  ist  das  Merkmal  höh'rer  Seelen,  ob 
sie  sie  gleich  tief  gefühlt"  (R.  46)."  —  „Vom  Schlosse,  wenn 
ein  hoher  Stein  sich  losreisst,  folgen  bald  ihm  andre  nach"  (R. 
47).  —  „Arbeil  ist  des  Blutes  Balsam,  Arbeit  ist  der  Tugend 
Quell."  —  «Nie  erwirbt  man  sich  Hochachtung,  wo  man  alles 
von  sich  wissen,  alles  übersehen  lässt."  —  „Der  Freude  Bot- 
schaft, sie  verbirgt  sich  schwer"  (R.  48).  —  „Welcher  Ueber- 
wundne  klaget  über  Unrecht  nicht?"  (R.  49).  —  „Wo  die 
Thaten  Rache  fordern,  schweigen  Worte"  (R.  59).  —  „TSIieder- 
trächtige  Verräther  bleiben  immer  hinterlistig"  (R.  61).  —  „Ach, 
der  Tod,  er  raubt  uns  Alles,  wie  ein  Habicht  raubt  er  uns" 
(R.  67).  — 

Solche  Sentenzen  werden  desto  mehr  ächten  Reiz  gewinnen, 
ja  eine  desto  eindringlichere  Wirkung  ausüben,  je  mehr  sie  einen 
integrirenden  Bestandtheil  der  Dichtung  ausmachen,  je  un- 
gezwungener ihre  Einmischung  aus  der  Situation  oder  aus  der 
Individualität  der  Charaktere  hervorgeht.  Es  M'ürde  zu  weit 
führen,  die  einzelnen  Denksprüche  im  Cid  nach  diesem  Mass- 
stabe zu  prüfen.  Was  aber  die  Charaktere  betrifft,  so  hat  der 
Dichter  manchmal  schon  mit  ein  Paar  Pinselstrichen  (denn  es 
gehört  mit  zur  dichterischen  Eigenthümlichkeit  Herders,  in  die- 
sem Theile  der  poetischen  Schöpfung  sich  öfter  mit  leisen  An- 
deutungen zu  begnügen,  welche  dann  der  Phantasie  des  Lesers 
zur  Ausmalung  des  völligen  Charakterbildes  überlassen  werden) 
die  Wirkung  zu  erreichen  gewusst,  dass  man  sich  an  den  Per- 
sonen mit  den  Gefühlen  der  Liebe,  der  Achtung,  des  Hasses, 
der  Verachtung ,  des  Mitleids ,  des  Absehens  und  wie  die  Re- 
gungen des  Gemüths  weiter  heissen,  betheiligt.  Wir  wollen 
hiermit  nur  ganz  im  Allgemeinen  den  sittlichen  Effekt  angedeutet 
haben,  welchen  die  von  dem  Dichter  theils  zur  Nacheiferung, 
theils  zur  Warnung  hingestellten  Charaktere  besonders  auf 
jugendliche  Seelen  machen  müssen.  Zum  eindringlichen  Beweise 
selbst  müssen  jedenfalls  einige  Charakterbilder  mit  besonderer 
Genauigkeit    ausgemalt    werden.     Hierzu   sowie    zur    leichteren 


des  Herderschen  Cid.  11 

Uebersicht  über  die  Handlung  Avird  es  nicht  unwillkommen  sein, 
dass  wir  im  nachfolgenden  Verzeichniss  eine  sorgfältige  Bekannt- 
schaft mit  dem  Personal  der  Dichtung  zu  vermitteln  suchen. 
Ferdinand  der  Grosse  (R.  5).  hinterlässt  -von  seiner  Ge- 
mahlin (R.  10.  16.  22.)  5  Kinder:  3  Söhne  und  2  Töchter. 
Don  Sancho  scheint  der  älteste  Erbe,  da  er  das  Hauptland  Ca- 
stilien  erhielt  (R.  23),  der  zweite  Don  Garzia,  der  jüngste  Don 
Alfonso  (R.  '22).  Die  ältere  Infantin  ist  Donna  Uraca  (R.  10), 
ihre  jüngste  Schwester  Donna  Elvira  (R.  22.  25).  Hiermit 
schliesst  die  königliche  Stammtafel,  denn  keiner  von  den  Kin- 
dern Don  Fernando's  vermählt  sich.  —  Don  Gormaz  (R.  1), 
aus  Asturien  (R.  2),  von  Helden  abstammend,  die  mit  ihren 
Fahnen  einst  Pelagius,  dem  Christenkönig,  folgten  (R.  6),  der 
erste  Rathgeber  und  Feldherr  des  Königs  (R.  2),  Graf  (R.  3), 
hat  mit  seiner  Gattin  (R.  7)  eine  Tochter,  Donna  Ximena  (R. 
5.  6.)  erzeugt.  —  Don  Diego,  aus  dem  edlen  alten  tapfern 
Hause  der  von  Lainez  (R.  1),  der  sein  Geschlecht  von  Laynu 
Calvo  herleitet  (R.  3),  ein  castilianischer  (R.  5)  Graf  (R.  29) 
von  Vivar  (R.  8),  und  seine  Gemahlin  (R.  10.  19.)  haben  meh- 
rere Söhne  (R.  1.  15.),  von  denen  Rodrigo,  in  vertraulicher 
Sprache  Ruy,  der  jüngste  ist  (R.  1).  Rodrigo  Diaz,  Graf  von 
Vivar,  genannt  der  Cid,  vermählt  mit  Ximene,  erzeugt  zwei 
Töchter,  Donna  Sol  und  Donna  Elvira  (R.  40).  Diese  werden 
verlobt  mit  Fernan  und  Diego  Gonsalez  (R.  61),  Grafen  von 
Carrion  (R.  56),  deren  Vater  noch  am  Leben  ist  (R.  57.  61.) 
und  deren  Oheim  Suer  Gonsalez  heisst  (R.  57.  60.  61). 
Nachher  vermählen  sie  sich  mit  Infanten,  später  gekrönten 
Königen:  Donna  Sol  mit  Sancho  von  Arragonien,  Donna  Elvira 
mit  Garzia  von  Navarra  (R.  62.  69.  70).  Als  ein  Urenkel  des 
Cid  durch  seine  Tochter  Donna  Elvira  erscheint  dann  noch 
Sancho,  König  von  Navarra,  der  Heldenmüthige  (R.  70).  Zu 
den  Verwandten  Rodrigo's  gehören  ausserdem  der  Bischof  Luyn 
Calvo,  sein  Onkel  (R.  15);  Ordono,  sein  Neffe  (R.  58);  Martin 
Antolin  von  Burgos  und  Nuno  Gustios,  seine  Vettern  (R.  60. 
61).  Zwar  nicht  verwandt,  aber  doch  vertraut  mit  dem  Cid  sind 
Alvar  Failez  von  Minaya,  unter  allen  Freunden  ihm  stets  der 
Erste  (R.  16.  24.  49);  Gil  Diaz,  sein  Vertrautester  (R.  65.  66. 
68);  Pedro  Bermudes,   sein  Fahnenträger  und  tapferer  Freund 


1-:  l'eber  vlio  Lektüre  vios  Herdersohen  Cid. 

(^K.  5:?.  55.  t>0.  61.  66.  68);  der  Bischof  oder  Erzbisohof  Hie> 
ronvmus  oder  Jeronimo,  sein  Treug^^Uebtor  (^R.  55.  57.  65.  66. 
6SV  Dagi'gen  stehen  auf  der  Seite  seiner  Neider  und  Neben- 
buhler der  Abt  Benuudo  (R,  41.).  der  Gn»f  von  Consuegrj» 
i^K.  50).  Garria  C«br»  (^R.  60).  imd  Don  Diego  von  Onlofia, 
Blume  der  Kittersohj»l>  w>n  L.Hra  (R,  31.  33).  Unter  seinen 
W^tehlen  treten  noch  auf:  Antolinei  (R.  5:?.  53),  Martin  Pelaez 
vR-  51),  Alvar  Sah-:»do*er  (^R.  54.  55).  —  Von  Zaniorenern 
muss  ausser  dem  tückischen  Mörvier  BelUdo  Doltor  (.R.  3:?). 
besonders  hervorgehobt^n  wenlen  Anas  Gons^lo  (^R.  30.)  und 
seine  vier  berühmten  Söhne  (^R.  3<i).  >"Ou  denen  der  älteste  Pe- 
dro (^R.  36).  der  jüngste  Fernando  (R.  30.  36)  heisst,  die  bei- 
den übrigen  aber  nicht  benannt  werden  (R.  36).  — 
(Fortset Euug  folgt), 
CrefeKL  Dr.  Eduard  Niemever. 


Antigene    und    Polyeucte. 


Um  den  Geist  eines  Volkes  oder  überhaupt  einer  bestimm- 
ten Epoche  der  Geschichte  kennen  zu  lernen,  gicbt  es  kein  an- 
deres Mittel  als  ilni  in  den  Denkmälern  aufzusuchen ,  welche 
von  ihm  Zcugniss  geben.  Man  wird  weder  in  der  Erzählung 
der  geschichtlichen  Thatsachen,  noch  selbst  in  den  Aeusserun- 
gen  hervorstechender  Männer  aus  jener  Zeit  die  eigentlichen 
Bestrebungen  einer  Nation  und  den  Geist,  von  dem  sie  getragen 
werden,  so  sicher  erkennen  als  z.  B.  aus  den  politischen  und 
l'Jechts- Institutionen,  welche  sie  erschaffen,  oder  den  Werken 
der  Kunst,  welche  sie  hervorgebracht  hat.  Es  sind  dies  die 
Ablagerungen  des  allgemeinen,  nationalen  Bewusstseins  mit 
Ausscheidung  alles  Zufälligen,  Individuellen.  Vor  allem  aber 
ist  es  das  literarische  Kunstwerk,  welches  das  eigentlich  theo- 
retische Leben  eines  Volkes,  seine  socialen  und  religiösen  An- 
schauungen, die  Objekte  seiner  Lust,  seines  Schmerzes,  seines 
Absehens,  mit  einem  Worte  den  ganzen  Inhalt  seines  I^wusst- 
seins  zur  Erscheinung  bringt.  „Die  Literatur  spiegelt  den  Geist 
des  Volkes  und  ihrer  Epoche,"  ist  heut  zu  Tage  beinahe  ein 
Gemeinplatz  geworden,  der  indess  viel  häufiger  im  Munde  ge- 
führt als  bei  der  kulturhistorischen  Erforschung  vergangener 
Zeiten  in  Anwendung  gebracht  wird. 

Es  soll  heut  unsere  Aufgabe  sein,  einen  Versuch  auf  diesem 
Wege  zu  machen  und  durch  Betrachtung  zweier  Kunstwerke 
aus  dem  Alterthum  und  der  neueren  Zeit  uns  einen  Einblick 
in  die  Unterschiede  jener  beiden  Bildungsepochen  zu  verschaffen. 
Wir  haben  dazu  zwei  AVerke  gewählt,  welche  denselben  Grund- 
gedanken verarbeiten,    sonst    aber    vollständig    unabhängig    von 


14  Antigene  und  Polyeucte. 

einander  sind:  Polyeucte  von  Pierre  Corneille  und  Antigene 
von  Sophocles.  Die  Vergleichung  beider  wird  für  unseren  Zweck 
um  so  fruchtbarer  sein,  als  wir  den  antiken  und  den  modernen 
Dichter  mit  demselben  geistigen  Stoffe  —  der  materielle  ist  ein 
anderer  in  beiden  —  in  voller  Freiheit  und  eigenster  Weise 
werden  schalten  sehen  und  auf  die  Vergleichungspunkte  fast 
unmittelbar  hingeführt  werden.  Es  ist  zum  besseren  Verständ- 
niss  der  folgenden  Betrachtung  nothwendig,  zunächst  eine  kurze 
Darstellung  des  Inhaltes  beider  Stücke  zu  geben.  — 

Nach  dem  abgeschlagenen  Sturm  auf  Theben  und  der  Flucht 
des  Adrastus  mit  seinem  Heer  hat  Kreon,  durch  den  Doppel- 
mord der  beiden  Brüder  Eteocles  und  Polynikes  Herrscher  der 
Stadt,  das  Gebot  erlassen,  den  Leichnam  des  im  Kampfe  gegen 
sein  Vaterland  gefallenen  Polynikes  unbeerdigt  liegen  zu  lassen 
und  hatte  Todesstrafe  gegen  den  Uebertreter  des  Gebots  ver- 
hängt. Es  war  aber  diese  Verweigerung  der  Bestattung  die 
grösste  Beschimpfung,  die  man  am  Feinde  verüben  konnte  und 
selbst  ein  Frevel  gegen  die  Götter,  weil  ohne  dieselbe  die  ab- 
geschiedene Seele  nicht  zur  Ruhe  des  Hades  eingehen  konnte. 
Zeus  selbst  gilt  für  den  Stifter  dieses  uralt  heiligen  Gebrauchs. 
Deshalb  ertrug  auch  Antigene,  die  älteste  der  noch  übrigen 
Kinder  des  Oedipus,  diese  Schmach  ihres  Bruders  nicht,  und  gegen 
Kreons  Verbot  ging  sie  in  früher  Morgenstunde  hinaus  und  schüt- 
tete auf  den  Todten  einige  Hände  voll  Erde,  das  Symbol  der  Be- 
stattung. Darüber  ergrimmte  Kreon  heiss  im  Zorn,  und  als 
Antigone,  welche  die  beim  Leichnam  aufgestellten  Wächter  bei 
einem  zweiten  Versuch,  den  inzwischen  abgekehrten  Sand  auf 
ihres  Bruders  Körper  zu  erneuen,  ergriifen  haben,  vor  ihn  ge- 
führt wurde,  lasst  er  sie  aufs  Heftigste  an.  Die  Jungfrau  setzt 
ihm  Zeus  Gebote  und  das  heilige  Recht  der  Todtenbestattung 
entgegen,  welches  älter  sei  als  sein  Herrscherwille  und  nimmt 
von  dem  ei'zürnten  Kreon  ihr  Todesurtheil  mit  Ruhe,  ja  mit 
Opferfreudigkeit  entgegen.  Bald  erscheint  Hämon,  Kreons 
Sohn  und  Verlobter  der  Antigone,  um  den  Vater  durch  Bitten 
und  Vorstellungen  zur  Aufhebung  des  grausamen  Befehls  zu 
bewegen.  Vergebens  I  Kreon  besteht  hartnäckig  auf  seinem 
Willen,  er  wird  von  Weibern  seiner  Gebote  nicht  spotten  lassen. 
Der  Streit  erhitzt  sich,  der  Könis;  vermisst  sich  in  leidenschaft- 


Autigone  und  Polyeucte.  15 

liclier  Heftigkeit,  der  Sohn  geht  in  grosser  Aufregung,  dem 
Vater  drohend,  davon.  Antigone's  Schicksal  ist  entschieden. 
Sie  soll  in  einem  unterirdischen  Gewölbe  dem  langsamen  Hun- 
gertode Preis  gegeben  werden.  Speise  und  Trank  soll  ihr  ge- 
reicht werden,  genug,  um  der  Versündigung  zu  entgehen,  aber 
nicht  hinreichend,  um  ihr  das  Leben  zu  fristen.  —  Unter  hef- 
tigen Klagen  schreitet  die  Jungfrau  ihrer  Todtenkammer  zu, 
sie  beweint  ihren  frühen  Tod,  ihre  gemordeten  bräutlichen 
Freuden,  das  gemeinsame  Schicksal  ihres  Geschlechtes,  dem 
sie  nun  selbst  als  letztes  Opfer  fiel;  aber  unerschütterlich  bleibt 
ihre  Ueberzeugung  von  der  Frömmigkeit  ihrer  That.  Der 
König  bleibt  ungerührt  und  kalt.  Da  erscheint  der  blinde  Seher 
Tiresias,  um  als  Bote  und  DoUmetscher  des  göttlichen  Willens 
dem  Könige  das  Frevelhafte  seines  Beginnens  vorzuhalten.  In 
dem  krächzenden  Geschrei  der  Vögel  so  wie  im  missrathenen 
Opfer  haben  es  ihm  die  Götter  offenbart,  dass  die  Stadt  vom 
Frevel  befleckt,  die  Altäre  mit  dem  von  Hunden  zerfleischten 
Leichnam  des  Polynikes  entweiht  sind.  Kreon  wird  nur  noch 
zorniger.  Er  schilt  den  Seher  einen  feilen  Betrüger,  der  die 
Seherkunst  zu  schmachvollem  Gewinst  ausbeute  und  beharrt 
mit  einer  leidenschaftlichen  Hartnäckigkeit  auf  seinem  Willen, 
bis  ihm  Tiresias  in  zorniger  Würde  das  Verderben  weissagt, 
welches  dräuend  schon  an  der  Schwelle  seines  Hauses  stehe. 
Das  endlich  bricht  den  Sinn  des  Herrschers,  dem  es  furchtbar 
aufdämmert,  dass  er  in  blinder  Leidenschaft  seine  Befugnisse 
weit  überschritten  und  den  Zorn  der  Götter  auf  sein  Haupt  ge- 
rufen habe.  Das  Herz  bricht  ihm  darüber,  aber  er  will  um- 
kehren und  Alles  gut  machen,  Polynikes  begi'aben  lassen  und 
Antigone  aus  ihrem  Grabe  befreien.  Es  ist  zu  spät.  Schon 
hat  das  lauernde  Verderben  die  Schwelle  seines  Hauses  über- 
schritten. Antigone  hat  ihrem  Leben  durch  den  Strang  ein 
Ende  gemacht,  Haemon  ist  in  ihre  Gruft  gedrungen  und  heult 
seine  Verzweiflung  in  grässlichen  Verwünschungen  gegen  den 
Mörder  aus.  Gegen  seinen  Vater,  der  mit  den  Dienern  herbei- 
eilt, kehrt  er  das  blanke  Schwerdt  und  durchsticht  sich  selbst 
damit,  nachdem  jener  entflohen  ist.  Endlich  legt  auch  noch  sein 
Weib  Euridike,  als  sie  den  Tod  ihres  Sohnes  erfährt,  Hand 
an  sich  selbst  und  Kreon  steht  da,  ein  gebrochener  Mann,  den 


16  Antigone  und  Polyeucte. 

die  schwere  Hand  des  rächenden  Zeus  vom  Gipfel  seines  hoch- 
müthigen  Trotzes  tief  in  den  Staub  herabgeschleudert  hat.  Unter 
Heulen  und  Wehklagen  wirft  er  seinen  Purpurmantel  ab  und 
lässt  sich  hinwegführen,  der  nichts  mehr  ist,  denn  ein  hohles 
Nichts. 

Im  Polyeucte  spielt  die  Handlung  in  Armenien  im  dritten 
Jahrhundert  nach  Christo  unter  dem  Kaiser  Decius,  welcher  die 
Christen  hasste  und  grausam  verfolgen  Hess.  Bekanntlich 
zählte  diese  Sekte  dort  viele  Anhänger.  Der  Römische  Gouverneur 
der  Provinz,  Namens  Felix,  hatte  seine  Tochter  dem  Polyeucte, 
einem  der  reichsten  und  angesehensten  Männer  im  Lande, 
verheirathet.  Als  sie  noch  in  Rom  lebte,  hatte  ihr  ein  junger 
Patricier,  Namens  Severe,  seine  Huldigungen  dargebracht.  Das 
junge  Mädchen  liebte  ihn,  aber  der  Vater,  ein  ehrgeiziger  Höf- 
ling, verweigerte  ihre  Hand  dem  Severe,  welcher  damals  noch 
arm  und  unbekannt  war.  Gehorsam  ihrem  Vater,  obgleich  stets 
das  Bild  ihres  Severe  im  Herzen,  war  sie  ihm  nach  Armenien 
gefolgt  und  hatte  ihre  Hand  dem  mächtigen  Polyeucte,  den 
Felix  sich  zu  verbinden  wünschte,  in  stiller  Resignation  gereicht 
und  bemühte  sich  nun,  mit  allem  Ernst  einer  tugendhaften  Frau, 
Severe  zu  vergessen  und  ihrem  Gemahl  die  Liebe  und  Treue 
zuzuwenden,  die  ihre  Pflicht  von  ihr  verlangte  und  die  jener 
verdiente.  Polyeucte  war  indess  von  einem  seiner  Freunde, 
Namens  Nearque,  für  die  neue  Religion  gewonnen  worden.  Ein 
Tag,  kurz  nach  seiner  Hochzeit,  ist  für  seine  Taufe  angesetzt, 
aber  Polyeucte  weigert  sich,  an  diesem  Tage  mit  Nearque  zur 
Versammlung  der  Christen  zu  gehen.  Seine  junge  Gattin  hat 
gerade  in  dieser  Nacht  einen  schrecklichen  Traum  gehabt.  Se- 
vere war  ihr  als  stolzer  Triumphator,  umgeben  von  königlicher 
Pracht  erschienen  und  hatte  ihr  mit  schrecklicher  Stimme  ge- 
sagt: Undankbare,  schenke  wem  Du  willst  die  Zeichen  Deiner 
Gunst,  welche  mir  gehören.  Wenn  dieser  Tag  vollendet  ist, 
wirst  Du  den  Gatten  beweinen,  welchen  Du  mir  vorgezogen 
hast.  Noch  zitternd  ob  dieser  Worte  hatte  sie  gesehen,  wie 
eine  Rotte  von  Christen,  welche  auch  in  ihrer  Vorstellung  freche 
Räuber  und  gottlose  Rebellen  sind,  ihren  Gatten  zu  den  Füssen 
seines  Nebenbuhlers  gerissen.  Sie  habe  ihren  Vater  zu  Hülfe 
gerufen,  aber  dieser  selbst  habe  sich  mit  geschwungenem  Dolch 


Antigene  und  Polyeucte.  17 

auf  Polyeucte  gestürzt.  Da  seien  ihr  die  Sinne  vergangen. 
Ihren  Gatten  habe  sie  ermordet  wieder  gefunden,  sie  wisse 
nicht,  wer  ihn  getödtet,  aber  das  wisse  sie,  dass  sie  Alle  zu 
seinem  Tode  beigetragen  haben.  In  übeler  Ahnung,  dass  ir- 
gend eine  Gefahr  von  Seiten  der  Christen  drohe,  beschwört  sie 
ihren  Gemahl,  diesen  Tag  nicht  aus  seinem  Palast  zu  gehen 
und  Polyeucte,  obgleich  er  nach  Denkweise  seines  Volkes  nicht 
viel  auf  Träume  giebt,  hatte  dennoch,  gerührt  von  ihrer  besorgten 
Liebe,  ihren  Bitten  nachgegeben.  Nearque  wirft  ihm  Lau- 
heit vor  und  dringt  so  lange  in  ihn,  bis  er  ihn  bewegt,  mit  ihm 
zu  gehen.  Er  nimmt  nur  auf  eine  Stunde  Abschied  von  seiner 
Frau,  welche  ihn  nochmals,  wiewoW  vergebens,  beschwört,  zu 
bleiben.  Natürlich  verhehlt  er  ihr  die  Absicht  seiner  Entfernung. 
Inzwischen  trifft  bei  Felix  die  Nachricht  ein,  dass  Severe,  wel- 
chen man  in  einer  Schlacht  gegen  die  Perser  gefallen  glaubte, 
lebe  und  beim  Kaiser  Decius  in  hohem  Ansehen  stehe.  Seine 
erstaunliche  Tapferkeit  hatte  die  Aufmerksamkeit  des  Perser- 
königs erregt,  der  ihn  scheinbar  entseelt  vom  Schlachtfelde  hatte 
tragen  lassen.  Man  hatte  ihn  bei  den  Persern  gepflegt,  geheilt, 
hoch  in  Ehren  gehalten,  und  als  man  alle  Versuche,  ihn  zu  ge- 
winnen, scheitern  sah,  gegen  wichtige  Gefangene  ausgewechselt. 
Aufs  Neue  war  Krieg  zwischen  Römern  und  Persern  ausge- 
brochen, Severe's  Heldenmuth  hatte  den  Seinigen  den  Sieg  ver- 
schafft und  der  Kaiser  hatte  ihn  nach  diesem  grossen  Erfolge 
nach  Armenien  gesendet,  um  durch  ein  allgemeines  Opfer  den 
herrlichen  Sieg  zu  feiern.  Den  Statthalter  Felix  trifft  diese 
Nachricht  wie  ein  Donnerschlag.  Seiner  Ueberzeugung  nach  ist 
das  Opfer  nur  ein  Vorwand.  Severe  kommt,  um  Pauline  zu 
heirathen  und  Alles  hat  er  von  der  Rache  des  getäuschten  Be- 
werbers zu  befürchten.  In  seiner  Angst  verlangt  er  von  seiner 
Tochter,  ihre  Macht  über  ihn  geltend  zu  machen.  Diese  aber, 
ihre  eigene  Schwäche  fürchtend,  will  ihn  gar  nicht  sehen  und 
entschliesst  sich  zögernd  und  nur  auf  dringendes  Ermahnen 
ihres  Vaters  dazu.  Die  Zusammenkunft  hat  indessen  Statt. 
Severe,  bereits  bekannt  mit  dem  Schlage,  der  seine  Hoffnungen 
zerstört,  trit4;  ihr  mit  edler  Selbstbeherrschung  entgegen,  sie  mit 
der  freien  Stirn  der  pflichtgetreuen  Gattin,  die  dem  früheren 
Liebhaber  auch  nicht  einen  Schatten  von  Hoffnung  lassen    will 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXVU.  2 


18  Antigene  und  Polyeucte. 

und  im  lauten,  offenen  Bekenntniss  ihrer  Liebe  zum  Manne  einen 
Bundesgenossen  gegen  eine  etwaige  Anwandlung  von  Schwäche 
sucht.  Severe  zieht  sich  zurück  in  Bewunderung  ihrer  strengen 
Tugend  und  in  Trauer  über  das,  was  er  an  ihr  verloren  hat, 
PauHne  mit  Unruhe.  Sie  war  stark  gewesen  ein  erstes  Mal, 
aber  ihr  Herz  muss  sie  doch  vor  dringender  Gefahr,  vielleicht 
ein  anderes  Mal  schwächer  zu  sein,  warnen.  Sie  will 
ihn  nicht  wieder  sehen  und  hat  ihm  dies  als  ihren  festen  Ent- 
schluss  angekündigt. 

Inzwischen  kehrt  Polyeucte,  nunmehr  in  den  Bund  der 
Christen  aufgenommen,  zurück,  äusserlich  derselbe,  liebevoll 
und  zart  gegen  Pauline,  voll  Mitleid  gegen  Severe,  klar  und 
ruhig  sich  über  das  Verhältniss  äussernd.  Ein  Bote  des  Felix 
kommt,  ihn  in  den  Tempel  zum  Opfer  einzuladen.  Da  auf 
einmal  kommt  der  heilige  Eifer  des  Neophyten  über  ihn  und 
die  kürzlich  empfangene  Taufe  zeigt  sich  in  ihren  Wirkungen 
sichtbar.  Er  will  in  den  Tempel,  aber  nicht,  um  das  Opfer 
feiern  zu  helfen,  sondern  um  es  zu  verhöhnen.  Laut  bekennen 
Avill  er  den  wahren  Gott  vor  allem  Volk  und  die  Götzen  von 
den  Altären  herunterreis sen.  Er  hat  mit  Nearque  die  Eollen 
getauscht.  Jener  ist  jetzt  der  Besonnene,  Abgekühlte,  und  der 
Mann,  der  vor  einer  Stunde  noch  den  Thränen  seiner  Gemahlin 
seine  Taufe  opfern  wollte,  ist  jetzt,  in  vollem  Bewusstsein  der 
Gafahr,  zum  opferfreudigen  Zeugniss  bereit,  um  seinem  Gott 
das  Versprechen  zu  erfüllen,  welches  er  ihm  bei  seiner  Taufe 
gegeben,  und  sein  Feuereifer  reisst  den  bedenklichen  Nearque 
mit  fort. 

Lizwischen  erwartet  Pauline  mit  ängstlicher  Spannung,  wie 
die  Zusammenkunft  des  Severe  und  ihres  Gemahls  ausschlagen 
wird;  sie  fürchtet  die  Eifersucht  zwischen  Beiden,  die  Schwäche 
ihres  Vaters  —  als  Begebenheiten  von  ganz  anderer  Tragweite 
sich  im  Tempel  zutragen.  Polyeucte  hat  Wort  gehalten.  An- 
fangs den  heidnischen  Opferdienst  mit  Schmähungen  und  Spott 
unterbrechend,  hat  er  sich  endhch  laut  dagegen  erhoben  und  im 
Namen  des  wahren  Gottes  hat  er  mit  seinem  Freunde  die  hei- 
ligen Gefässe  und  zuletzt  die  Götterbilder  selbst  vom  Altar 
herabgestürzt,  bis  man  Beide  ergriffen  und  in  Fesseln  gelegt 
hat.      Diese    Nachricht    bringt    der   Erstarrten    ihre    Vertraute 


AntigoneundPolyeucte.  19 

Stratonice.  Bald  folgt  ihr  Felix,  Zorn  im  Blick  und  Angst  im 
Herzen.  N^irque  soll  augenblicklich  seinen  Frevel  mit  dem 
Tode  Bussen,  Polyeucte  will  er  schonen  und  zur  Reue  und 
Umkehr  zu  bewegen  suchen.  Seine  Tochter  fleht  um  Schonung 
für  ihren  Gatten,  obgleich  sie  seinen  Irrthum  beklagt  und  vor 
seinem  Frevel  schaudert.  Felix  will  ihm  nur  dann  Verzeihung 
gewähren,  wenn  er  sich  bekehrt.  Der  knechtische  Höfling,  ge- 
wohnt vom  Sonnenschein  der  kaiserlichen  Gnade  zu  leben,  ist 
in  heftiger  Bestürzung;  er  fürchtet  Severe.  Dieser  ist  edel 
und  grossherzig,  aber  Felix  kann  es  sich  nicht  vorstellen,  dass 
irgend  ein  edles  Gefühl  den  Beleidigten  zurückhalten  könne, 
eine  so  bequeme  Gelegenheit  zur  Rache  zu  benutzen.  Er  darf 
sich  nicht  biosgeben,  und  ist  auch  zu  feig,  sich  beim  Kaiser 
selbst  für  seinen  verleiteten  Schwiegersohn  zu  verwenden.  — 

Und  Polyeucte!  Eitle  Hoffnung,  ihn  zur  Verleugnung 
seines  Glaubens  zu  bewegen.  Die  Hinrichtung  seines  Freundes 
N^arque,  weit  entfernt,  ihn  zu  erschrecken,  hat  seine  Opfer- 
freudigkeit nur  vermehrt  und  seinen  Entschluss  befestigt.  Er 
singt  Hymnen  und  Lobgesänge  zur  Ehre  Gottes  und  preiset 
ihn,  dass  er  ihn  zu  seinem  Werkzeug  ausersehen. 

Die  Versuchung  tritt  an  ihn  heran  in  Gestalt  seines 
Weibes,  die  mit  den  tiefsten  Accenten  der  Liebe  und  des 
Schmerzes  ihn  anfleht,  sich  ihr  zu  erhalten  und  seinem  Irr- 
thum zu  entsagen.  Ein  einziges  helas  entreisst  ihm  der  An- 
blick dieses  tiefen  Leidens,  aber  auch  nur  ein  einziges.  Schnell  ruft 
er  Gottes  Beistand  und  seine  Stärke  zurück  und  ermahnt  seiner- 
seits sein  Weib,  Christin  zu  werden  und  ihm  in  den  Tod  zu 
folgen.  —  Machtloser  noch  als  die  bittende  Liebe  erweist  sich 
die  List  des  Felix,  der  ihn  unter  gleissnerischen  Vorspiege- 
lungen zum  scheinbaren  Nachgeben,  wenigstens  während  Se- 
vere's  Anwesenheit,  zu  bewegen  sucht.  Gleich  schlechten  Er- 
folg hat  die  folgende  Drohung.  Felix  ist  in  der  äussersten 
Verlegenheit.  Seiner  Tochter  Thränen  und  Polyeucte's  Helden- 
muth  haben  selbst  auf  seine  kleine  Seele  ihren  Eindruck  nicht 
verfehlt.  Severe  In  Bewunderung  vor  solcher  Grösse  hat  seine 
Fürsprache  bei  Decius  verheissen.  Er  hasst  persönlich  die 
Christen  überhaupt  nicht  und  hält  Decius  Strenge  gegen  diese 
unschädliche  Sekte   für  seine   einzige  Schwäche.     Aber   gerade 

2* 


20  Antigone  und  Polyeucte. 

dieses  Entgegenkommen  ist  Polyeucte's  Verderben.  Felix  miss- 
trauischer  Geist  sieht  darin  eine  Falle,  die  ihm  der  Günstling 
stellt,  und  um  ihr  zu  entgehen,  giebt  er  Befehl,  Polyeucte  zum 
Tode  zu  führen.  So  stirbt  der  Märtyrer  mit  derselben  Freu- 
digkeit, mit  der  er  lebend  seinen  Herrn  bekannt  hatte.  Sein 
Tod  wirkt  die  Bekehrung  Paulinens,  die  ihn  hatte  sterben  sehen, 
und  seines  Schwiegervaters,  dem  ebenfalls  die  Gnade  des  Herrn 
erschienen  war.  Severe  will  nach  Rom  zurück  und  seinen 
ganzen  Einfluss  daran  setzen,  den  Christenverfolgungen  Einhalt 
zu  thun.  — 

Es  scheint  auf  den  ersten  Blick  klar,  dass,  ungeachtet  der 
Verschiedenheit  der  Begebenheit,  beide  Stücke  doch  im  Grunde 
ein  gemeinsames  Sujet,  das  Märtyrerthum,  behandeln,  und  wir 
würden  dies  ohne  Weiteres  als  zugestanden  annehmen,  wenn 
nicht  in  Bezug  auf  Antigone  das  gewichtige  Urtheil  eines  kom- 
petenten Richters  entgegenstände,  welches  diesem  Kunstwerk 
einen  andern  Grundgedanken  vindizirt.  Dies  Meisterstück  der 
Athenischen  Bühne  hat  das  Privilegium  des  echten  Kunstw^erks, 
seinen  Beurtheilern  ein  hartes  Problem  hinzustellen,  in  dessen 
Lösung  sie  nach  verschiedenen  Seite  hin  auseinander  gegangen 
sind.  Wie  jedes  wahre  Kunstwerk  entzieht  es  sich  den  Hand- 
werksgriffen des  ästhetisirenden  Verstandes  und  hüllt  sich  keusch 
in  den  Schleier  der  unnahbaren  Schönheit. 

Fast  einstimmig  erkannte  man  in  der  Antigone  ein  hohes 
Ideal  weiblichen  Charakters,  die  Trägerin  der  höchsten,  sitt- 
lichen Gesetze,  in  welcher  die  ewige  Macht  heiliger  Sitte  über 
ein  Gebot  blos  menschlicher  Abkunft  siegte,  doch  aber  war  es 
störend,  dass  es  sich  aus  dem  Codex  der  tragischen  Gesetz- 
gebung nicht  rechtfertigen  Hess,  dass  diese  edle  Heldengestalt 
blos  an  fremder  Schuld  zu  Grunde  ging.  Oehlenschläger  hat 
es  ohne  Rückhalt  ausgesprochen,  dass  Antigone  ohne  Schuld 
sei,  Schlegel,  Jakobs  und  Andere  haben  sich  mit  allgemei- 
neren Ausdrücken  begnügt,  man  hört  aber  aus  ihren  vorsichti- 
gen Äusserungen  die  Skrupel  ihres  ästhetischen  Gewissens  heraus 
über  das  verwegene  Unternehmen,  eine  echt  tragische  Wirkung 
einer  Figur  zuzuerkennen,  in  der  das  wesentliche  Moment  der 
Tragik   sich   nicht   wollte   greifen    lassen.     Wäre    Schlegel    auf 


Antigene  und  Polyeucte.  21 

Polyeucte  gefallen,  so  würde  er  nach  der  Methode  der  genialen 
Kritik,  die  bekanntlich  keine  Gründe  giebt  und  wenn  Gründe 
so  wohlfeil  wären  wie  Brombeeren,  die  ganze  Märtyrertragödie 
als  französischen  Ungeschmack  über  den  Haufen  gerannt  haben. 
Aber  mit  Sophocles  kann  mau  so  rüde  nicht  umgehen.  In 
diesem  unstäten  Umherschweifen  der  Meinungen  hat  auch  der 
grosse  Philologe  August  Böckh  sein  Votum  abgegeben  und  in 
der  Antigene  das  schmerzlich  vermisste  Moment  der  Schuld 
nachgewiesen,  zugleich  aber  auch  den  Schwerpunkt  der  Tra- 
gödie gänzlich  verlegt.  —  Er  findet  den  Grundgedanken  des 
Stückes  in  dem  Satz,  dass  leidenschafthches  Streben,  welches 
sich  überhebt,  zum  Untergange  führt.  Der  Mensch  messe 
seine  Befugnisse  mit  Besonnenheit,  dass  er  nicht  durch  heftigen 
Eigenwillen  menschHche  oder  göttliche  Rechte  überschreite  und 
zur  Busse  grosse  Schläge  erleide.  Die  Vernunft  ist  das  Beste 
der  Glückseligkeit.  Dieser  Gedanke  soll  sich  nun  in  dem 
Widerstreit  der  beiden,  in  Kreon  und  Antigone  ausgedrückten 
Gegensätze  der  ßehgion  und  Pietät  und  des  Gehorsams  gegen 
die  Gebote  der  weltlichen  Macht  entwickeln.  Beide  Ideen,  an 
sich  sittlich  und  wohl  berechtigt,  werden  mit  so  starrer  Un- 
beugsamkeit verfolgt,  dass  ihre  Träger  dadurch  in  einen  un- 
heilvollen Zwiespalt  mit  dem  entgegenstehenden  Gesetze  gera- 
then  und  zuletzt  sich  beide  vernichten.  — 

Es  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  der  berühmte  Philologe 
diese  Ansicht  mit  vielem  Scharfsinn  vertheidigt  und  eine  be- 
trächtliche Menge  sehr  beachtungswerther  Gründe  aus  dem 
Stücke  dafür  beigebracht  hat.  Es  ist  namentlich  richtig,  dass 
nach  dem  Urtheile  des  Chores  Antigone  durch  Trotz  ihr 
Schicksal  verschuldet  hat  und  dass  derselbe  am  Schluss  die 
von  Böckh  als  Grundidee  des  Ganzen  hingestellte  Lehre  in  be- 
deutungsvollen Worten  zusammenfasst: 

Glückselig  zu  sein  thut  Weisheit  Noth 
Vor  Allem  zuerst.     Und  des  Göttlichen  Scheu 
Soll  Keiner  verschmähn.     Denn  gewaltige  Wort 
Hochmüthigen  Sinns,  mit  gewaltigem  Schlag 

Schwer  büssend  zuletzt 
Sie  lehren  im  Alter  die  ^\'eisheit. 


22  Antigene  und  Polyeucte. 

Nach  Böckh's  Ansicht  hätten  wir  also  in  der  Antigene  eine 
nach  den  herkömmlichen  Grundsätzen  der  Aesthetik  echt  tra- 
gische Person.  Sie  wäre  nicht  mehr  der  Märtyrer,  der  im 
Dienste  seines  Gottes  durch  den  Frevel  der  Verächter  des 
göttlichen  Willens  zu  Grunde  geht,  sondern  eine  fehlende 
Sterbliche,  die  ursprünglich  im  guten  Recht  durch  Leidenschaft 
über  die  Grenzen  des  Rechts  hinaus  zur  Schuld  geführt  wird. 
Damit  würde  aber  der  Vergleichungspunkt  zwischen  Polyeucte 
und  Antigene  wegfallen.  Wir  geben  dem  berühmten  Alter- 
thumsforscher  zu,  dass  die  von  ihm  als  Grundgedanke  der  Tra- 
gödie hingestellte  Lehre  darin  enthalten  sei,  allein  wir  bestreiten, 
dass  sie  wirklich  der  Grundgedanke  derselben  und  dass  die 
Consequenzen,  die  er  für  die  Schuld  der  Antigene  daraus  zieht, 
richtig  seien.  — 

Die  äussere  Handlung  spiegelt  allerdings  einen  sittlichen 
Conflikt  in  dem  Widerstreit  zweier  Menschen,  die  durch  un- 
beugsame Hartnäckigkeit  eine  friedliche  Lösung  desselben  un- 
möghch  machen,  Besonnenheit  hätte  den  Conflikt  vielleicht  ganz 
vermieden.  Aber  eben  die  Leidenschaft  ist  es,  welche  den  Men- 
schen jener  Besonnenheit,  welche  der  Griechische  Dichter  unter 
(pQOviXv  versteht,  beraubt  und  ihn  in  tragische  Conflikte  hinein- 
reisst,  und  somit  wäre  der  von  Böckh  als  Grundgedanke  der 
Antigene  angegebene  eigentlich  der  Grundgedanke  einer  jeden 
Tragödie.  Der  Satz:  leidenschaftliches  Streben  und  Mangel  an 
Besonnenheit  führt  den  Menschen  selbst  in  dem  besten  Streben 
zu  sträflicher  Vermessenheit  und  Verachtung  anderer  sittlicher 
Schranken  und  somit  zum  Frevel,  ist  zwar  der  Moralj)hilesophie 
entnommen,  er  ist  aber  kein  bestimmt  gefasstes  Sittengesetz 
wie  die  Gebote:  Du  sollst  nicht  tödten,  sei  getreu  und  andere, 
es  ist  die  ganz  allgemeine  Aufforderung,  sittlich  zu  sein  und 
zwar  die  negativ  gefasste  Aufforderung,  zu  vermeiden,  und  ent- 
behrt des  positiven  Inhalts.  Wenn  Wallenstein  auf  Abfall  von 
seinem  Kaiser  sinnt,  Richard  seine  Verwandten  ermordet,  um 
sich  selbst  den  Weg  zum  Throne  zu  bahnen,  Jago  die  giftige 
Saat  des  Argwohns  in  das  Gemüth  seines  Herrn  streut,  so 
begreift  sogleich  ein  Jeder,  dass  sie  sich  gegen  ganz  positive 
götthche  und  menschliche  Satzungen  empören,  aber  wenn  An- 
tigene und  Kreon,  die   beide    an    sich    vollkommen    berechtigte 


Antigone  und  Polyeucte.  23 

Grundsätze  vertreten  sollen,  aus  leidenschaftlichem  Eifer  zu 
strafwürdigen  Verbrechern  werden,  so  müssen  wir  erst  Avieder 
fragen,  worin  nun  eigentlich  ihr  Verbrechen  besteht.  Die 
Antwort,  dass  Kreon  das  göttliche  Gesetz,  Antigone  die  Auto- 
rität der  staatlichen  Obrigkeit  verneint,  führt  uns  erst  auf  den 
positiven  Boden  des  Conflikts,  hebt  aber  damit  zugleich  jenen 
allgemeinen  Satz  als  Grundgedanken  auf.  Sie  fehlen,  nicht  weil 
sie  leidenschaftlich  handeln,  sondern  weil  sie  sich  gegen  eine 
sittliche  Schranke  auflehnen,  und  da  sich  hier  ihrer  zwei  ent- 
gegen stehen,  so  bedarf  zunächst  die  relative  Geltung  einer  je- 
den einer  Kritik,  die  der  Dichter  praktisch  in  seinem  Drama 
giebt  und  der  wir  nachforschen  müssen,  wenn  wir  den  wirkli- 
chen Gedanken  seiner  Dichtung  finden  wollen.  Freilich  ist  es 
menschliche  Leidenschaft,  d.  h.  selbstsüchtiger,  vom  E^vigen 
und  Sittlichen  abgewandter  Wille,  der  den  Kreon  zu  seinem 
hartnäckigen  Trotz,  Antigone,  —  wenn  wir  hier  einmal  ihre 
Schuld  zugeben  wollen  —  zur  Verachtung  der  Befehle  ihres 
Königs  verleitet,  aber  giebt  es  denn  überhaupt  einen  tragischen 
Conflikt,  in  dem  menschliche  Leidenschaft  die  Harmonie  der 
sittlichen  Ordnung  nicht  erschütterte,  und  war  es  nicht  unge- 
messener Ehrgeiz  und  Herrschbegierde,  ebenfalls  ungezügelte 
Leidenschaften,  die  Eichard  und  Wallenstein  zum  Bruch  von 
Lehnstreue  und  Blutliebe  hingerissen  haben,  ohne  dass  es  Je- 
mandem in  den  Sinne  gekommen  wäre,  jenen  Grundgedanken 
in  ihnen  finden  zu  wollen.  W^ie  jener  Satz  von  der  Verderb- 
lichkeit der  Leidenschaft  ein  an  sich  ganz  abstrakter  Gedanke 
ist,  so  wäre  auch  ein  Schauspiel,  welches  ihn  zur  Darstellung 
zu  bringen  versuchte,  nichts  weiter  als  ein  moralisches  Spiel 
etwa  zur  Erbauung  einer  HeiTnhuter  Gemeinde.  Ein  ethischer 
Gehalt  erfordert  ethischen  Conflikt,  welcher  nur  zwischen  con- 
creten  Prinzipien  stattfinden  kann.  Die  Tragödie  will  etwas 
Anderes  als  Beispiele  für  einen  Lehrsatz  aus  der  Moralphilo- 
sophie liefern. 

Es  ist  allerdings  richtig,  dass  Sophocles  selbst  diese  didak- 
tische Tendenz  seines  Stückes  stark  hervorgehoben  hat,  indem 
er  sie  am  Schluss  gleichsam  als  Tendenz  des  Ganzen  seinem 
Chor  als  Abschiedsgruss  für  die  Zuhörer  in  den  Mund  legt. 
Allein  dies  hat  seinen  Grund  in  der  Ti'adition  des  Dichterberufs 


24  Antigene  und  Polyeucte. 

im  Alterthum,  welche  Lehrer  des  Volkes  sein  und  ihm  nament- 
lich von  der  Bühne  herab  Lehren  der  Weisheit  einschärfen 
wollten.  Die  didaktische  Tendenz,  die  wir  sowohl  in  der  An- 
tigene als  auch  überhaupt  auf  der  Athenischen  Bühne  bemerken, 
und  die  sich  in  der  Wahl  des  Stoffes,  einer  tendentiösen  Rede- 
weise und  in  vielen  anderen  Zügen  ausprägt,  ist  gewissermassen 
eine  Anomalie  im  Kunstwerk,  welches  alles  Andere  eher  als 
direkt  lehren  will,  eine  Anomalie,  welche  seinem  eigentlichen 
Wesen  keinen  Eintrag  zu  thun  braucht  und  bei  Sophocles  auch 
niemals  Eintrag  thut.  Es  ist  ein  äusserer  Zierrath,  gleichsam 
die  Zuthat,  die  ein  Professor  der  Eloquenz  zum  Griechischen 
Optativ,  den  er  in  einer  Festrede  abhandelt,  hinzufügt,  um  der 
Gelegenheit  gerecht  zu  werden,  oder  wenn  man  will,  eine  Ge- 
nugthuung  des  poetischen  Gewissens,  von  dem  der  Genius  beim 
Schaffen  des  KunstAverkes  nichts  gewusst  hat.  So  scheint  z.  B. 
der  grosse  Piei're  Corneille  in  seinen  examens  kein  Bewusstsein 
von  den  wahren  Schönheiten  seiner  Poesien  gehabt  zu  haben 
und  er  rechnet  nur  mit  ängstlicher  Genauigkeit  den  Kritikern 
vor,  dass  er  wirklich  die  drei  Einheiten  gehalten  und  das  Kunst- 
stückchen der  difficulte  vaincue  ausgeführt  hat. 

Sehen  wir  demgemäss  die  Darstellung  des  Sophocles  ge- 
nauer an,  so  wird  sich  bald  herausstellen,  dass  der  Dichter  dem 
durch  Antigone  vertretenen  Prinzip  vollkommen  gerecht  gewor- 
den ist,  und  keinesweges  den  Märtyrertod  der  erhabenen  Jung- 
frau darstellt,  um  uns  ein  warnendes:  Hüte  Dich  vor  Ueber- 
maass  zuzurufen.  — 

So  viel  auch  Kreon  auf  seine  Herrschermacht  pocht  und 
so  richtig  auch  im  Allgemeinen  die  Grundsätze  sind,  die  er  an- 
fangs, scheinbar  mit  dem  besonnenen  Ernste  des  Landesherrn 
aufstellt  und  später  gegen  Antigone's  Widersetzlichkeit  geltend 
macht,  sie  werden  hier  ausgebeutet  für  eine  schlechte  Sache 
und  im  Dienst  des  offenbaren  Unrechts.  Sein  erstes  Gebot, 
Polynikes  unbestattet  auf  dem  Felde  liegen  zu  lassen,  den  Vö- 
geln und  Hunden  zum  Frass,  war  ein  ungerechtes,  gottloses, 
nicht  von  der  strafenden  Gerechtigkeit  des  Königs,  sondern  von 
dem  wilden  Hass  des  Feindes  diktirtes,  welcher  seine  Rache 
noch  am    todten  Gegner  kühlen  will,  während  Zeus'  Einsetzung 


Antigene  und  Polyeucte.  25 

der  letzten  Tocitenehren  mahnend  darauf  hinweist,  dass  am 
Grabe  die  Leidenschaft  schweigen  und  der  Todte  einen  andern 
Richter  im  Hades  finden  solle.  Hiermit  ist  der  Kampf  herauf- 
beschworen, der  beleidigten  Schwester,  welche  die  Entehrung 
des  Bruders  als  Nächste  des  Stammes  nicht  dulden  darf,  der 
Fehdehandschuh  hingeworfen,  und  die  Schuld  des  Kreon  wäre 
um  nichts  geringer,  wenn  er  in  der  muthigen  Antigene  eine 
gehorsame  Ismene  gefunden  hätte.  Die  Verletzung  seines  Ge- 
botes von  Seiten  der  Antigone  steigern  seinen  Trotz  und  trei- 
ben ihn  zu  einem  zweiten,  nicht  kleineren  Verbrechen,  aber 
Trotz  und  Schuld,  Beides  Avar  vorhanden,  noch  ehe  Antigone's 
Ungehorsam  ihn  gereizt  hatte.  — 

Der  Chor  freiUch  hat  kein  Wort  der  Missbilligung  dafür, 
weder  in  Gegenwart  des  Königs,  noch  später  als  er  sich  ent- 
fernt hat.  Er  hat  in  schweigendem  Gehorsam  das  erste  Ge- 
bot des  Königs  hingenommen,  ohne  seine  Rechtmässigkeit  zu 
prüfen.  Der  Antigone  gegenüber,  die  mit  lautem  Wehklagen 
über  ihr  unverdientes  Schicksal  an  ihm  vorüber  zur  Todten- 
kammer  geführt  wird,  zeigt  er  sich  sogar  als  strenger  Richter 
der  verletzten  weltlichen  Herrschaft. 

Wohl  heilig,  Tochter,  Heiligung; 

Doch  dessen  Macht,  dem  Macht  gebührt, 

Zu  überschreiten,  ziemet  nicht, 

Ja  Dich  stürzt  eigenwilFger  Trotzsinn, 

ruft  er  ihr  zu.  Es  ist  die  personificirte  Loyalität  des  Unter- 
Chanen.  Dass  der  Chor  diese  Gesinnung  wirklich  in  unserem 
Gedichte  vertrete,  ist  aus  seiner  Zusammensetzung  und  ganzen 
Stellung  dem  Kreon  gegenüber,  so  wie  aus  manchen  bestimmten 
Aeusserungen  der  handelnden  Personen  ersichtlich.  So  sagt  es 
Antigone  dem  König  laut  ins  Gesicht,  dass  alle  Thebäer  ihre 
That  billigten  und  der  Chor  nur  aus  Furcht  nach  ihm  den 
Mund  schmiege,  und  Haemon  beruft  sich  ebenfalls  später  auf 
das  Urtheil  des  Volkes,  welches  doch  also  Kreon  nicht  aus  dem 
Munde  der  Aeltesten,  die  als  Chor  um  ihn  versammelt  sind, 
erfährt.  In  der  Folge  wird  sich  dies  Urtheil  des  Chores  noch 
innerlich  motiviren. 


26  Antigone  und  Polyeucte. 

Allein  wie  man  auch  über  das  ürtheil  des  Chores  denken 
mag  und  welche  Stellung  man  ihm  überhaupt  im  antiken  Drama 
anweise,  es  giebt  einen  Mann  von  ganz  anderem  Gewicht,  der 
dem  Könige  sein  Unrecht  vorhält.  Dies  ist  Thiresias,  der 
Seher,  der  berufene  Anwalt  des  Göttlichen. 

Auf  seinem  alten  Vogelschauerthron  hat  er  wildes  Gekreisch 
und  Unheilstimmen  in  den  Lüften  gehört,  vom  Opfer  war  das 
Fett  der  Schenkel  herabgeschwelt  ohne  zu  brennen  und  Kreon 
ist  es,  wie  die  Götter  ihm  also  offenbaret,  dess  wilder  Sinn 
Unheil  auf  die  Stadt  gebracht,  so  dass  die  Götter  ihre  Opfer 
nicht  mehr  annehmen  AvoUen. 

Denn  jeder  Altar  ist  uns,  jeder  Opferbeerd 

Vom  Frass  der  Vögel  und  der  Hunde  ganz  erfüllt. 

Mit  Oedipus  unselig  hingestrecktem  Sohn. 

Und  in  der  furchtbaren  Prophezeiung  des  hereinbrechenden 
Verderbens  formulirt  er  ihm  seine  zwiefache  Schuld  in  folgenden 
A\^orten : 

Für  dieses,  dass  ein  Oberes  Uu  herabgestürzt 
Und  eine  Seele  schmählich  in  ein  Grab  gepflanzt. 
Und  dass  den  Untergöttern  Du  entzogen  hältst 
Hier  einen  Leichnam,  unbestattet,  ungeweiht, 
Woran  Du  nicht  betheiligt,  noch  der  Oberwelt 
Gottheiten,  sondern  ihnen  zwingst  Du  dieses  auf. 

Die  Schuld  kann  weder  klarer  bezeichnet,  noch  von  einem  com- 
petenteren  Richter  ausgesprochen  werden.  Kreon's  leidenschaft- 
licher Hass  hat  den  ersten  Frevel  begangen,  seine  Halsstarrig- 
keit die  zweite  Gewaltthat  hinzugefügt. 

Es  ist  auch  in  Sophocles'  Darstellung  für  Jeden,  der  ein 
Auge  dafür  hat,  Kreon  das  dem  Verhängniss  der  Schuld  verfallene, 
dem  Untergang  geweihte  Haupt.  In  grossen,  bedeutungsvollen 
Zügen  vollzieht  die  Tragödie  an  ihm  den  Fluch  der  bösen  That, 
die  fortzeugend  Böses  gebären  muss.  Die  Natur  hatte  ihm 
Verstand  und  Kraft  gegeben,  um  ein  guter  Herrscher  zu  sein, 
aber  die  Leidenschaft  hat  seinen  Geist  umnebelt  und  sein  Herz 
verhärtet.  Die  That  der  Rache  hält  er  für  die  gerechte  Strenge 
des  Herrschers,  die  schönsten  Grundsätze  der  Staats  Weisheit 
werden  in    seinen    Hunden    zu    Werkzeugen    der   Tyrannei,    die 


Antigene  und  Polyeucte.  27 

mahnenden  Stimmen,  die  zur  Umkehr  anrathen,  kann  er  nicht 
verstehen,  er  hört  aus  ihnen  nur  den  Trotz  der  Auflehnung  her- 
aus. So  fährt  er  dahin  in  Hochmuth  und  Halsstarrigkeit,  bis 
ihn  das  göttliche  Gericht  ereilt. 

Und  Antigone,  hat  sie  ebenfalls  Schuld  auf  sich  geladen 
und  stirbt  sie  auch  an  dem  Fluche  dieser  Schuld?  Nur  freilich 
sagt  es  ihr  der  Chor  mit  dürren  "Worten,  dass  ihre  Auflehnung 
gegen  Kreons  Gebot,  ihr  eigenwillVer  Trotzsinu  sie  stürze. 
Aber  diese  Auflehnung  macht  ja  eben  ihre  Grösse  aus.  Dass 
die  Schwester  es  nicht  mit  ansehen  konnte,  dass  ihr  Bruder, 
der  Todtenehren  beraubt,  von  reissenden  Thieren  auf  dem  Felde 
zerfleischt  würde,  dass  in  der  zarten  Jungfrau  der  Entschluss 
mächtig  wurde,  der  Götter  Gebot,  das  an  ihrem  Bruder  ver- 
letzt wurde,  zu  Ehren  zu  bringen,  ohne  Scheu  vor  der  grau- 
samen Strafe,  welche  die  weltliche  Macht  darauf  gesetzt  hatte, 
dieser  Entschluss,  ihr  Leben  daran  zu  setzen,  dass  ihrem  Bru- 
der sein  Todtenrecht  gewährt  werde,  ist  es,  welcher  die  Be- 
Munderung  aller  Zeiten  und,  wenn  wir  dem  Haemon  glauben 
dürfen,  das  innigste  Mitgefühl  ihrer  Mitbürger  erregt  hat.  Wie 
fest  und  besonnen  ist  ihr  Entschluss.  Nicht  leidenschaftliche 
Aufregimg,  sondern  tiefe,  stille  Ueberzeugung,  dass  es  ihre 
Pflicht  erheische,  inniges  Schwestergefühl  haben  ihn  diktirt. 
Sie  will  dem  Herrscher  nicht  trotzen,  aber  die  innere  Stimme 
sagt  ihr  vernehmlich,  dass  es  ihm  nicht  zieme,  sie  von  der  ih- 
rigen abzuhalten,  sie  weiss,  dass  sie  sicherem  Tode  entgegen 
geht,  doch  keine  solche  Rücksicht  hält  sie  zurück,  fest  über- 
zeugt, dass  sie  die  Götter  mit  Wohlgefallen  aufnehmen  werden, 
die  ihre  Ordnungen  beschützt  hat.  Schon  in  der  ersten  Scene 
hat  sie,  die  Tiefgebeugte,  die  allen  Jammer  ihres  Geschlechts, 
selbst  schuldlos,  mit  durchlebt,  ihren  blinden  Vater  bettelnd  durch 
die  Länder  geführt,  zurückgekehrt  nach  Theben,  den  vernich- 
tenden Hass  ihrer  Brüder,  den  langen  Krieg,  ihren  Doppelmord 
gesehen  —  die  Resignation  der  Heldin,  die  den  geringen  Werth 
des  menschlichen  Lebens  und  Treibens  hat  schätzen  lernen,  und 
treu  den  göttlichen  Gesetzen  ohne  Furcht  ausführen  will,  was 
sie  für  ihren  Auftrag  hält.  Mit  derselben  gesammelten  Klar- 
heit tritt  sie  vor  Kreon  hin.  Stilles  Siegesbewusstsein  ist  der 
Grundton   ihrer    Vertheidigung,    die    sie    allen    Vorwürfen     des 


28  Antigo  ne  und  Polyeucte. 

dräuenden  Königs  entgegensetzt,  und  mitten  aus  dem  Geräusch 
des  Kampfes   klingen   wunderbare   Tone  aus   einem   tiefen   und 
reichen  Gemüthe  hinein. 
Aeusserungen  wie: 

Nicht  mitzuhassen,  mitzulieben  bin  ich  da, 
und 

O  liebster  Haemon,  wie  entehrt  der  Vater  Dich, 

darf  man  nicht,  wie  Böckh  es  thut,  als  blosse  Wendungen  des 
Wortkampfes  ansehen,  sie  passen  vortrefflich  zur  Haltung  der 
Jungfrau  in  dieser  Scene  und  werfen  Streiflichter  auf  ihr  Ge- 
müthsleben,  welche  sehr  wesentliche  Züge  zur  Zeichnung  ihres 
Charakters  liefern. 

Man  hat  ihr  Härte  gegen  Ismene  zum  Vorwurf  gemacht 
und  sie  ist  davon  nicht  frei  zu  sprechen.  Aber  Antigone  ist 
auch  kein  weiches  Mädchen,  sie  ist  gehärtet  in  der  rauhen 
Schule  des  Unglücks.  Lange  Jahre  auf  seine  eigenen  Hülfs- 
mittel  angewiesen,  hat  ihr  von  Natur  fester,  entschlossener 
Geist  sich  herb  in  sich  selbst  zurückgezogen,  ist  strenge 
gegen  sich  selbst  und  strenge  gegen  Andere  geworden.  In  diesem 
hohen  Augenblick,  w^o  sie  ihr  Leben  für  ihre  Ueberzeugung 
einzusetzen  bereit  ist,  sieht  sie  Ismene  furchtsam  zurück  weichen 
und  sogleich  fühlt  sie  sich  auf  immer  von  ilir  geschieden.  Wer 
nicht  für  sie  ist,  ist  wider  sie,  und  nun  will  sie  von  ihrer  Ge- 
nossenschaft nichts  mehr  Avissen,  selbst  in  der  Strafe  nicht. 
Es  ist  eine  höchst  merkwürdige  Begegnung,  dieser  Ausspruch 
des  christlichen  Apostels  mit  der  Gesinnung  der  Antigone  gegen 
ihre  Schwester.  Beides  ist  aus  derselben  Quelle  geflossen, 
nämlich  aus  jener  heiligen  Begeisterung  für  eine  erhabene  Idee, 
an  welche  der  Mensch  Alles,  selbst  seine  Persönlichkeit  hingiebt. 
Wie  sollte  er  Lauigkeit  an  Anderen  ertragen.  Wo  eiliges, 
energisches  Handeln  die  einzige  Rettung  ist,  da  ist  der  ein 
Feind,  der  zögert  und  sich  besinnt. 

Wo  liegt  also  nach  alle  dem,  fragen  wir,  eigentlich  die 
Schuld  der  Antigone?  Einzig  in  der  Ueberschreitung  einer 
formellen  Schranke,  eines  obrigkeitlichen  Ediktes.  Allein  die 
pflichtgemässe  Achtung  vor  dieser  Schranke  gerieth  in  Con- 
flikt  mit  ihrer   sittlichen    Ueberzeugung,   sie   konnte  jene    nicht 


Antigone  und  Polyeucte.  29 

respektiren  ohne  einen  Verrath  an  dieser  zu  begehen.  Es  waren 
zwei  Gegensätze,  die  sich  schlechthin  aufhoben,  und  sie  zog 
das  höhere  Gesetz  in  ihrem  Busen  dem  untergeordneten  der 
Menschensatzung  vor.  Wir  haben  hier  also  allerdings  eine 
Handlung,  die  sich  im  Kampf  zweier  an  sich  berechtigten  Prin- 
zipien vollzieht,  allein  im  Zusammenstoss  beider,  hat  das  eine 
Unrecht  gegen  das  andere.  Der  Kampf  zwischen  Antigone 
und  Kreon  ist  der  Kampf  des  ewigen  Rechtes  gegen  persönliche 
Willkür,  der  Widerspruch  der  verletzten  Pietät  gegen  den 
Frevel,  der  frommraen  Inspiration  gegen  gottlose   Leidenschaft. 

So  wäre  denn  für  Antigone  das  Märtyrerthum  gerettet  und 
die  hellenische  Jungfrau  tritt  dem  christlichen  Armenier  als  eine 
würdige  Genossin  zur  Seite.  Wir  haben  hier  also  denselben 
Stoff  im  Alterthum  und  in  der  modernen  Zeit  zur  Tragödie 
verarbeitet  und  dieser  Stoff  ist  das  Märtyrerthum,  d.  h.  das  freie 
Opfer  der  Persönlichkeit  für  eine  sittliche  Idee.  Es  ist  für 
unseren  Zweck,  durch  einen  Vergleich  beider  Kunstwerke  uns 
über  das  geistige  Leben  dieser  beiden  Bildungsstufen  Auf- 
schluss  zu  verschaffen,  von  der  höchsten  Wichtigkeit,  gerade 
diesen  Inhalt  und  gerade  in  der  Form  der  Tragödie  neben  ein- 
ander zu  haben.  Die  Tragödie  führt  uns,  w-ie  kein  anderes 
Werk  menschlichen  Ursprungs  in  die  innerste  Werkstatt  des 
Geistes  und  zeigt  uns  den  sittlichen  Gehalt  des  Lebens  im  Be- 
wusstsein  abgespiegelt.  Das  Märtyrerthum  aber  bringt  uns  als 
tragische  Helden  Personen,  welche  des  tragischen  Moments  der 
Schuld  entbehren,  und  somit  scheinbar  für  die  Tragödie  un- 
brauchbar sind.  Ersteres  ist  zunächst  nur  Behauptung  und 
muss  sich  bei  der  Probe  als  wahr  erweisen,  letzteres  nöthigt 
uns  zu  genauer  Untersuchung  des  tragischen  Affekts.  Dem 
sich  hier  von  selbst  darbietenden  Vorwurf  einer  contradictio  in 
adjecto,  nämlich  dass  Kunstwerke  Tragödien  heissen  und  sein 
sollen,  obgleich  ihnen  die  tragische  Person  fehlt,  möge  vor- 
läufig die  ästhetische  Thatsache  zur  Antwort  dienen,  dass  nach 
dem  einstimmigen  LTtheil  aller  Hörer  und  Leser  Antigone  und 
Polyeucte  wirklich  tragisch  wirken  und  diese  Instanz  des  ge- 
bildeten Geschmacks  ist  für  jedes  Kunstwerk  die  entscheidende, 
an    welche    die   Reflexion  immer  ihre  Theorien  zu    prüfen   hat. 


30  Antigene  und  Polyeucte. 

Man  hat  bisher  das  Wesen  des  Tragischen  nicht  befriedi- 
gend dargestellt.  Man  hatte  wahrgenommen,  dass,  um  eine 
Person  oder  Situation  tragisch  zu  machen,  es  eines  Confliktes 
bedürfe,  allein  über  die  Natur  dieses  Confliktes  —  bestand  kein 
festes  Urtheil.  Der  Cid,  Hamlet,  Macbeth  bieten  drei  Con- 
flikte  der  unterschiedensten  Art,  dennoch  gelten  sie  alle  für 
tragisch.  Noch  Lessing  meinte,  dass  eine  Tragödie  sehr  wohl 
möglich  wäre  ohne  den  Untergang  der  Hauptperson,  Schiller 
nennt  Nathan  eine  Tragödie  und  die  französische  Schule  stellt 
Beispiele  in  Menge  auf,  vor  allen  Cinna  von  Corneille,  in  denen 
der  Conflikt  wirklich  friedlich  gelöst  wird.  Der  richtige  Takt  neue- 
rer Aesthetiker  forderte  für  die  Tragödie  einen  unlösbaren  Conflikt, 
schon  die  von  Aristoteles  gestellte,  von  den  Neuern  adoptirte  For- 
derung einer  Schuld  im  tragischen  Helden  zeigt  eine  tiefere  Ein- 
sicht in  das  Wesen  der  Tragik,  denn  es  schliesst  die  Prämisse 
der  Schuld  die  Nothwendigkeit  von  dem  Untergang  der  tragi- 
schen Person  ein  und  vom  Standpunkt  dieser  Nothwendigkeit 
fand  man  es  unpsychologisch,  dass  Jemand  büssen  sollte,  wo 
er  nicht  gefehlt  hatte.  Dass  ein  Mensch  beim  Baden  ertrinkt, 
im  Walde  von  Räubern  erschlagen  wird  oder  durch  irgend  eine 
Verkettung  unglückHcher  Umstände  ums  Leben  kommt,  das  Alles 
kann  unser  tiefstes  Mitleid  erregen,  aber  es  ist  darum  noch  nicht 
tragisch.  Der  Causalnexus  zwischen  Schuld  und  Vergeltung 
ist  eine  Grundbedingung  jedes  tragischen  Eindrucks.  Diese  rich- 
tige Anschauung  liegt  auch  im  Allgemeinen  allen  unseren  neue- 
ren Theorien  über  das  Tragische  zu  Grunde.  Der  Riss,  den 
menschliche  Schuld  in  die  ewige  Gerechtigkeit  gemacht,  muss 
gesühnt  werden  durch  eine  entsprechende  Vergeltung,  welche 
das  Gleichgewicht  in  der  sittlichen  Welt  wieder  herstellt.  Es 
rechtfertigt  sich  hieraus  ganz  von  selbst  die  Forderung,  dass 
zur  tragischen  Person  die  Schuld  nothwendig  sei. 

Aber  diese  Anschauung,  in  welcher  ein  unzweideutig  rich- 
tiges Bewusstsein  über  die  Natur  des  Tragischen  enthalten  ist, 
enthüllt  nicht  das  eigentliche  Wesen  der  Tragik,  welche  tief  in 
die  Lebensbedingungen  des  menschlichen  Seins  eingewurzelt 
und  mit  Ihnen  verzweigt  ist  und  die  somit  ein  allgemeines  Le- 
bensgesetz, eine  Erscheinungsform  der  Menschlichkeit  ist.  Sie 
besteht,  mu  es  mit  einem  Wort  zu    sagen,   aus    dem    zum  Be- 


Antigone  und  Polyeucte.  31 

Avusstsein  gebrachten   und   deshalb   Yermittelten    Gegensatz    des 
Endlichen  und  Unendlichen  in  der  Schöpfung. 

Der  Mensch  ist  ein  Individuum,  d.  h.  ein  begrenztes,  end- 
liches Wesen,  welches  durch  seine  Natur  zum  Untergange  nach 
kurzer  Dauer  bestimmt  ist.  Die  Idee,  als  der  konkrete  Inbe- 
griff aller  vernünftigen  Momente  gefasst,  ist  unendlich.  Ihre 
Bestimmung  ist,  sich  in  ununterbrochenem  Fortschreiten  zu  ent- 
wickeln. In  diesem  Prozesse,  in  welchem  der  Mensch  ein  Mo- 
ment ist,  tritt  jenes  Verhältniss  gegenseitiger  Abhängigkeit  ein, 
dass  die  Jdee  sich  nur  in  und  an  dem  Menschen  entwickeln 
kann  und  wiederum  dieser  von  ersterer  das  Gesetz  seiner  Be- 
wegung und  seine  sittliche  Lebenskraft  erhält.  Sie  sind  beide 
einander  unentbehrlich,  der  Entwickelungsprozess  der  Idee  kann 
nur  vermittelst  des  Menschen  vor  sich  gehen.  Indem  aber  der 
Mensch  in  diesem  Verhältniss  als  Mittel  auftritt,  bleibt  er  doch 
ein  sittliches,  mit  Vernunft  begabtes  Wesen,  welches  nicht  als 
todte  Masse,  sondern  durch  eigenthümlich  selbstständige  Arbeit 
seines  menschlichen  Geistes  sich  bei  dem  Werke  betheiligt,  oder 
es  vielmehr  dadurch  erst  in  den  Gang  bringt.  Es  giebt  kein 
interessanteres  Schauspiel  als  diesen  Wettlauf  der  Kräfte,  die 
höchsten  Fragen  der  Menschheit  hommen  hier  zur  Entscheidung, 
das  Leben  in  seiner  ganzen  Breite  und  Tiefe  entfaltet  sich  hier 
auf  dem  Schauplatz,  das  zu  erreichende  Ziel  ist  in  gleicher 
Weise  wichtig  als  die  Streiter  in  ihrem  Thun  und  Leiden 
merkwürdig.  Es  ist  das  innerste  Eigenthum  der  Menschheit, 
welches  jeder  Einzelne  hier  als  das  seinige  erkennt,  seine  em- 
pirische Subjektivität,  d.  h.  was  er  von  Natur  ist,  einmal,  und 
zweitens  sein  ideales  Wesen,  d.  h.  das  Ziel,  wonach  er  ver- 
mittelst seiner  sittlichen  Organisation  mit  allen  Kräften  seiner 
Seele  strebt.  Das  Interesse  gelangt  auf  seinen  höchsten  Gipfel, 
weil  wir  die  beiden  Faktoren  der  Bewegung,  den  Menschen 
und  die  Idee,  in  Conflikt  sehen.  Der  Conflikt  ist  ein  noth- 
wendiger,  durch  den  Gegensatz  des  Aligemeinen  und  des  Indi- 
viduums gegebener.  Die  Idee,  ein  ewiges,  allgemeines  Gesetz, 
muss  sich  zur  Geltung  bringen,  und  der  Mensch,  eine  mit  Wil- 
lensfreiheit begabte  Organisation,  lehnt  sich  gegen  die  entgegen- 
stehende Schranke  auf.  Er  wird  sich  um  so  heftiger  dagegen 
empören,  je  mehr  er  Individuum  ist,  d.  h.  je  kräftiger  und  ge- 


32  'Antigone  und  Polyeucte. 

■waltiger  sein  eigener,  vom  Ewigen  abgewendeter  Wille  ist.  Es 
liegt,  wie  wir  wissen,  in  der  Nothweudigkeit,  dass  in  diesem 
Widerstreit  der  Mensch  untergehe,  allein  die  Geschichte  dieses 
Streites  und  Unganges  ist  jedesmal  ein  Objekt  regester  mensch- 
licher Theilnahme.  Jenes  gewaltige  Wesen,  welches  wir  im 
vergeblichen  Kampfe  riesige  Pläne  entwerfen ,  gigantische 
Kräfte  entwickeln  sehen,  welches  heiss  mit  seinem  eigentlichen 
Wesen  ringt,  dem  es  nur  eine  andere  Gestaltung  zu  geben 
trachtet,  ist  ein  Wesen  unserer  Gattung.  Seine  Wünsche,  seine 
Entwürfe,  sein  Leiden  ist  das  unsrige.  Sein  verfehltes  Streben, 
seine  Leiden,  seine  tiefe  Verirrung  in  die  Abgründe  sündlicher 
Leidenschaft,  sein  endlicher  Eall  führen  uns  die  Hinfälligkeit 
alles  Irdischen  vor  Augen.  Wir  sind  gedemüthigt  in  unserem 
Stolze,  wir  bedauern,  lieben,  verurtheilen  ihn,  und  die  Theil- 
nahme, welche  wir  empfinden,  ist  im  Grunde  nur  ein  Mitleid 
mit  uns  selbst.  Doch  unser  Blick  wird  hinweggezogen  von 
dem  gräulichem  Schauspiel  der  Zerstörung  zu  den  verklärten 
Höhen,  wo  die  Idee  nach  dem  erfochtenen  Siege  im  neuen 
Glänze  strahlt  und  dies  erhebt  uns  aus  der  Beschränktheit  ein- 
seitigen Mitleidens  zu  einer  höheren  Anschauung,  die  uns  über 
den  Verlust  des  Individuums  tröstet.  Es  war  ein  Tod,  der 
neues  Leben  geboren  hat,  der  einzelne  Mensch  ist  aufgerieben, 
aber  die  Menschheit  hat  einen  Fortschritt  gemacht.  Dies  ist 
die  Tragik  des  Lebens,  wovon  die  der  Schaubühne  nur  eine 
Nachahmung  ist. 

Es  sind  also  in  der  tragischen  Rührung  diese  beiden  Mo- 
mente aufgehoben,  Theilnahme  an  dem  Leiden  des  Gattungswesens 
und  P^reude  an  dem  Triumph  der  Humanität.  Aus  beiden  ent- 
steht jene  tief  innere  AfFektion,  welche  mit  Demuth  und  Be- 
friedigung zugleich  sich  in  den  innersten  Kern  des  Menschen- 
geistes versenkt  und  welche  Avir  dem  tragischen  Kunstwerk  am 
reinsten  und  energischsten  verdanken.  In  der  Tragödie  müssen 
wir  also  jenen  Conflikt  des  Endlichen  und  Unendlichen  darge- 
stellt finden.  Der  Künstler  hat  in  seinem  Stoffe  ein  Beispiel 
gewählt  und  sein  Held  muss  ein  Typus  des  Menschen  über- 
haupt sein.  Es  giebt  nun  zwei  Weisen,  in  denen  die  tragische 
Handlung  sich  entwickeln  kann.  Es  ist  einmal  die  tragische 
Person  selber,   welche    sich  mit   der   Idee  im  Kampfe    befindet, 


Antigene  und  Polyeucte.  33 

und  dies  Verhältniss  des  Menschen  ist  das  unmittelbarste  im 
tragischen  Conflikt  und  deshalb  am  häufigsten  in  der  dichteri- 
schen Praxis  angewendet.  —  Es  kann  der  Conflikt  aber  auch 
zweitens  zwischen  der  tragischen  Person  und  der  widerstreben- 
den Welt  Statt  finden.  Dann  ist  der  Held  des  Dramas  der 
Träger  der  sittlichen  Idee,  für  die  er  kämpft  und  stirbt  und 
der  er  dadurch  zum  Siege  über  seine  Feinde  verhilft.  Man 
kann  diese  Gattung  der  Tragödie  die  Märtyrertragödie  nennen, 
obgleich  es  nicht  nöthig  ist,  dass  sie  einen  religiösen  Stoff  be- 
handelt wie  Polyeucte.  Schon  Antigone,  obgleich  dem  Religiö- 
sen nahe  verwandt,  weist  uns  auf  weitere  Stoffe  hin,  und  heklen- 
müthige  Aufopferung  für  Vaterland,  Familie  oder  jede  andere 
berechtigte  Idee  kann  ganz  eben  so  wohl  tragischen  Inhalt  ha- 
ben. —  Und  ist  nicht  im  Grunde  Alles,  woran  der  Mensch 
seine  Kraft  setzt,  wofür  er  seine  Persönlichkeit  hingiebt,  nicht 
auch  seine  Keligion? 

Es  ist  klar,  dass  die  erste  Art  der  Tragödie  sich  der  dra- 
matischen Behandlung  viel  bequemer  fügt,  wie  ja  auch  fast  nur 
sie  bearbeitet  worden  ist.  Die  tragische  Person  steht  im  Vor- 
dergrunde und  nimmt  das  Hauptinteresse  in  Anspruch.  Der 
Stoff  kommt  hier  dem  Dichter  auf  halbem  Wege  entgegen,  da  er 
ihm  die  menschliche  Creatur  in  ihrer  Kraft  und  Mangelhaftig- 
keit, in  ihrem  gewaltsamen  Ringen  und  ihrer  ohnmächtigen 
Zerknirschung,  ihrem  haarsträubenden  Vermessen  und  ihrem 
bejammern swerthen  Fall  als  Gegenstand  hinstellt.  Er  hat  nur 
die  Züge  der  moralischen  Natur  wiederzugeben,  um  seines  Er- 
folges gewiss  zu  sein.  Denn  was  er  schildert,  ist  das  Pro- 
blem des  Lebens,  die  innersten  Interessen  jedes  fühlenden 
Menschen. 

Viel  spröder  bietet  der  Stoff  sich  in  der  zweiten  Gattung 
der  Tragödie  dar.  Das  Individuum  erscheint  hier  aufgegangen 
in  einen  einzigen  Gedanken,  fast  seiner  Persönlichkeit  entklei- 
det und  empfängt  sein  Leben  nur  von  der  Idee,  der  es  dient. 
Der  ganze  Nachdruck  liegt  auf  letzterer,  welche  wir  als  stets 
gegenwärtiges,  gestaltendes  und  entwickelndes  INIotiv  vor  uns 
sehen  müssen.  Es  ist  dies  eine  Klippe  für  den  Dichter,  der 
sich  eine  solche  Aufgabe    stellt,    dem   persönlichen  Pathos    und 

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34  Antigone  und  Polyeucte. 

der  Idee  zugleich  gerecht  zu  werden,  und  leicht  kann  letztere 
zu  leerer  Abstraktion,  ersteres  zum  moralischen  Rührbrei  aus- 
arten, oder  es  wird,  was  des  grossen  Styles  der  Tragödie  un- 
würdig ist,  das  fehlende  Interesse  durch  die  spannende  Ver- 
wickelung äusserer  Begebenheiten  ersetzt. 

Es  ist  aber  nichts  desto  weniger  diese  zweite  Art  des  tra- 
gischen Conflikts  eine  wirkliche,  von  der  Geschichte  bezeugte 
und  im  Wesen  des  Menschen  begründete  und  also  von  der  tra- 
gischen Kunst  als  eine  mit  Recht  zu  ihrem  Ressort  gehörende 
gefordert.  Aber  die  Theorie  ist  stets  nur  das  zum  Bewusst- 
seinkommen  der  bereits  vorhandenen  Praxis,  und  so  konnte,  ob- 
gleich in  der  Antigone  bereits  ein  Versuch  der  Art  vorlag,  in 
der  Theorie  des  Alterthums  diese  Spezies  keinen  Platz  finden, 
weil  ihm  überhaupt  das  Bewusstsein  eines  allgemeinen  Prinzips 
der  Sittlichkeit  fehlte.  Wir  Averden  sogleich  sehen,  dass  letz- 
teres auch  in  der  Antigone  nicht  vorhanden  ist  und  ihr  somit 
eine  eigentliche  Sühne  fehlt.  Wir  Neueren  aber,  für  welche 
das  Tragische  ein  wesentlich  Anderes  geworden  ist  durch  das 
Hinzutreten  eines  Moments,  welches  dem  Alterthum  mangelte, 
werden  gebieterisch  aufgefordert,  jene  zweite  Spezies  auch  in 
der  dramatischen  Theorie  zu  der  Berechtigung  zu  erheben, 
welche  ihr  in  der  Praxis  die  ästhetische  Empfänglichkeit  längst 
zugestanden  hat. 

Wir  stehen  hier  anscheinend  vor  einem  seltsamen  Wider- 
spruch. Wir  vergleichen  die  tragische  Kunst  der  Alten  mit 
der  unsrigen  und  sprechen  doch  ersterer  eigentlich  die  tragische 
Natur  ab.  Antigone  vergleichen  wir  mit  Polyeucte,  um  inner- 
halb der  Tragödie  Gegensätze  der  antiken  und  christlichen  An- 
schauungsweise aufzufinden,  und  dennoch  soll  Antigone  das 
Moment  der  Versöhnung  fehlen,  welches  wir  so  eben  als  noth- 
wendig  für  die  tragische  Wirkung  hervorhoben.  Allerdings. 
Aber  hier  ist  gerade  der  Angelpunkt  der  Frage. 

Ein  Moment,  welches  für  den  Hörer  einen  gewissen  Ab- 
schluss,  eine  Art  der  Beruhigung  bringt,  enthält  freilich  die 
Antigone,  aber  eben  nicht  denjenigen,  welcher  es  auch  für  das 
christliche  Bewusstsein  ist.  Der  tragischen  Dichtung  eben  ist 
es  vorbehalten,  die    innersten  Gegensätze  christhchen  und  heid- 


Antigene  und  Polyeucte.  35 

nischen  Bewusstseins  in  die  Erscheinung  hervorspringen  zu 
lassen.  Die  Erscheinungsform  der  tragischen  Idee  ist  das 
Glaubensbekenntniss  der  antiken  und  modernen  Welt. 

Wir  kehren  nun  zu  unseren  beiden  Tragödien,  Antigone 
und  Polyeucte,  zurück,  Avelche  Avir  nunmehr  als  die  Repräsen- 
tanten einer  antiken  und  einer  modernen  Auffassung  desselben 
Gegenstandes    über    die    Gegensätze    beider    befragen   werden. 

Schon  eine  oberfläcliliche  Lektüre  beider  Kunstwerke  brinert 
den  Eindruck  hervor,  dass,  abgesehen  von  den  Verschieden- 
heiten, welche  der  Nationalgeschmack  und  die  zufällige  Bega- 
bung der  Individuen  hervorgebracht,  in  beiden  ein  durchaus 
verschiedener  Geist  weht,  der  sich  nicht  bloss  in  der  endlichen 
Lösung  des  sittlichen  Poblems ,  sondern  in  der  Behandlung  aller 
Verhältnisse  und  Charaktere  ausgeprägt  hat. 

Der  heidnische  Märtyrer  ist  aus  ganz  anderem  Stoff  ge- 
macht als  der  christliche.  Dieser  begeistert  sich  für  eine  all- 
gemeine Idee,  für  den  Gott  der  Christen  und  seinen  Ruhm,  aus 
freiem  Antrieb  ohne  andere  äussere  Anregung,  Antigone  ver- 
tritt hur  ein  einzelnes  Gesetz,  bei  dessen  Verletzung  sie  un- 
mittelbar betheiligt  ist,  sie  würde  den  Kreon  jeden  anderen 
Frevel  ruhig  haben  begehen  lassen.  Der  Eifer  für  die  Sache 
des  Zeus  ist  erst  das  zweite,  abgeleitete  Motiv,  das  eigentliche 
Agens  ihrer  That  ist  die  schwesterliche  Pietät.  Und  dennoch 
ist  ihre  Tugend  nicht  kleiner  als  die  des  Polyeucte,  die  Kraft 
ihrer  Ueberzeugung  nicht  geringer,  ihre  Opferwilligkeit  nicht 
weniger  freudig,  alle  Wirkungen  einer  sittlichen  Potenz  treten 
hier  wie  dort  mit  derselben  göttlichen  Macht  zu  Tage.  Beide 
begegnen  sich  überraschender  Weise  sogar  in  derselben  An- 
schauungs-  und  Ausdrucksweise,  beider  Thaten  hat  ihr  religiö- 
ses Bewusstsein  seinen  Stempel  aufgedrückt.  Auch  im  natür- 
lichen Menschen  kommt  das  Göttliche  zum  Bewusstsein,  sonst 
könnte  ja  überhaupt  eine  sittliche  Ordnung  unter  den  Völkern 
des  Alterthums  nicht  bestanden  haben,  aber  er  ergreift  es  nur 
als  einzelne  Erscheinung  und  zwar  immer  gebunden  in  natür- 
liche Verhältnisse  und  daraus  entspringende  Empfindungen  — 
viel  tiefer  und  religiöser  in  dieser  Scheu    als  z.  B.    das   christ- 


36  Antigone  und  Polyeucte. 

liehe  18.  Jahrhundert,  welches  diese  sittlichen  Bande  in  grob 
materieller  Weise  aus  dem  li^goismus,  der  Hülfsbedürftigkeit 
und  der  GeAvohuheit  der  Kreatur  erklärte,  allein  die  allgemeine 
Vernünftigkeit,  jener  schöpferische  Faktor,  welcher  die  einzelnen, 
starren  Momente  der  Sittlichkeit  zu  einer  höheren  Einheit  zu- 
sammenführt, wie  sie  in  der  Bewusstseins8tufe  des  Christen- 
thums  lebt,  ist  dem  Alterthum  und  folglich  seiner  Tragödie 
fremd  geblieben.  Daher  konnte  unter  Anderem  auch  der  Chor 
jenes  formelle  Vergehen  der  Antigone  als  eine  wirkliche  Ver- 
schuldung bezeichnen,  was  von  unserem  Standpunkt  aus  unbe- 
greiflich bleibt.  Er  blieb  in  dem  starren  Begriff  der  Gesetz- 
lichkeit stecken  und  w^og  den  sittlichen  Inhalt  widerstreitender 
Pflichten  nicht.  Das  Moment  der  Versöhnung  fehlte,  daher 
bleiben  sittliche  Gegensätze  feindlich  und  unentwickelt  stehen. 
Dennoch  aber  ist  es  eines  der  gewichtigsten  Zeugnisse  von  dem 
sittlichen  Inhalte,  der  unbewusst  auch  in  der  Anschauung  der 
Alten  wirksam  war,  dass  ungeachtet  jenes  ßaisonnements  des 
reflektirenden  Verstandes  dennoch,  wie  ich  überzeugend  nachge- 
wiesen zu  haben  glaube,  die  Zeichnung  der  Antigone  nichts 
weniger  als  einen  durch  eigene  Schuld  dem  Untergange  ver- 
fallenen Charakter  vorführt.  Wir  könnten  diese  Charakterzüge 
weiter  ins  Einzelne  verfolgen,  allein  wir  eilen  zu  dem  Punkte, 
in  welchem  die  Gegensätze  der  alten  und  modernen  Tragödie 
in  ihren  Gipfelpunkten  hervorspringen  und  das  Urgestein  ihres 
AVesens  dem  Lichte  enthüllen. 

Im  Polyeucte  kommt  das  tragische  Element  zu  seiner  voll- 
ständigen Entfaltung,  die  Momente  des  Streites  vermitteln  sich 
und  die  durch  das  Mitleiden  aufgehobene  Freiheit  des  Geistes 
stellt  sich  am  Schluss  wieder  her.  Im  Polyeucte  ist  der  Schluss 
durchaus  befriedigend  für  den  Zuhörer.  Der  Märtyrer  hat  den 
Tod  erlitten,  aber  sterbend  hat  er  seinen  Gegner  überwunden. 
Die  Sache,  für  die  er  gekämpft  und  geblutet  hat,  nach  dem 
Beispiele  seines  Herrn  und  Meisters,  hat  sich  als  die  gerechte 
erwiesen  gerade  an  Denen,  die  ihn  deswegen  gescholten,  verfolgt 
und  getödtet  haben.  Sein  Weib  Pauline,  ein  anderes  Ideal 
edler  Weiblichkeit,  setzt  mit  dieser  Bekehrung  den  Schlussstein 
auf  das  dornige  Werk  ihres  Lebens,  ihr  Herz  von  allen  Spuren 
einer  ersten,  starken  Leidenschaft  zu  reinigen   und    es   als    ein 


Antigene  und  Polyeucte.  37 

würdiges  Opfer  dem  würdigen  Gemahl  in  wahrhaft  liebender 
Hingebung  darzubringen.  Damit  dass  sie  Christin  wird,  knüpft 
sie  die  Bande  aufs  Neue,  welche  der  Tod  so  eben  zu  zerreissen 
schien,  und  vollzieht  'die  vollständige  Trennung  mit  ihrer  Ver- 
gangenheit. Es  ist  dies  viel  mehr  als  eine  Resignation  der 
Pflicht,  welche  im  Herzen  neben  dem  Bewusstsein  des  erfoch- 
tenen  Sieges  den  Stachel  wehmüthig  schmerzlicher  Erinnerun«- 
zurücklässt.  Sie  gehört  jetzt  wirklich  mit  ganzem  Herzen  und 
mit  ganzer  Seele  dem  Gemahl,  der  ihr  vorangegangen  ist  in 
das  Keich  des  Lichts,  wo  sie  einst  in  verklärter  Weise  mit 
ihm  wird  wieder  vereinigt  werden.  Severe  hat  keinen  Theil 
mehr  an  ihr  und  zugleich  ist  sie  der  erste  Zeuge  von  der  sie- 
genden Kraft  der  Idee,  von  der  Polyeucte  durch  seinen  Tod 
Zeugniss  abgelegt  hat.  Es  vereinigt  sich  in  ihrer  Bekehrung 
die  AVirkung  ganz  persönlicher  Beziehungen  des  Weibes  mit 
jener  anderen,  einer  allgemeinen,  ewigen  Idee,  so  dass  wir  eine 
ganz  ideale  Erscheinung  und  doch  gefüllt  mit  echt  menschlichem, 
individuellem  Inhalt  erhalten  und  wir  dem  Dichter  hier  für  so- 
viel Schönheit  gern  den  spanisch  ritterlichen  Roman  mit  dem 
tugendhaften  Severe  verzeihen. 

Von  Seiten  der  Kunst  könnte  die  Bekehrimg  des  Felix 
dem  Verfasser  als  Vorwurf  angerechnet  werden.  Sie  ist  weder 
in  seinen  Antecedentien,  noch  in  bedeutenden  Umständen  im 
Augenblick  der  Entschliessung  motivirt.  Allein  der  Augenblick 
ist  so  feierlich,  die  Ereignisse  so  erschütternd,  der  Schritt  einer 
neuen  weltgeschichtlichen  Aera  lässt  sich  in  dieser  tragischen 
Katastrophe  so  deutlich  vernehmen,  dass  man  sich  auch  etwas 
Unwahrscheinliches  gefallen  lässt.  Der  Sinn  ist  so  eingenommen 
und  erhoben  von  dem  wunderbaren  Walten  der  göttlichen  Maclit, 
dass  er  nicht  einen  Augenblick  zu  kalter  Prüfung  übrig  hat 
bei  dem  Eintreten  eines  Ereignisses,  welches  jene  Macht  aufs 
Neue  bezeugt.  Nur  dann  zerstört  der  Dichter  die  poetische  Il- 
lusion bei  seinem  Zuhörer,  Avenn  er  diesen  unvorbereitet  mit 
Folgewidrigkeiten  überfällt  und  damit  ieine  Kritik  herausfordert. 

Die  Stärke  des  Pierre  Corneille  als  Dramatiker  liegt  über- 
haupt viel  weniger  auf  der  Seite  der  plastischen  Gestaltung 
seines    Stoffes,    als    auf    seiner    Fähigkeit,    allgemeine,    sittliche 


38  Antigene   und  Polyeucte. 

Ideen  zu  drastischer  Wirkung  zu  bringen.  Der  gute  Geschmack 
könnte  am  Polyeucte  manches  auszusetzen  haben,  was  wir  hier 
auf  sich  beruhen  lassen,  da  eine  ästhetische  Würdigung  des 
Werkes  ausserhalb  unserer  Aufgabe  lieg't.  Es  mag  hier  nur 
noch  der  für  uns  bedeutendere  Umstand  angeführt  werden, 
dass  der  Held  der  Tragödie  selbst  eigentlich  das  Interesse  des 
Hörers  zu  wenig  erregt.  Er  ist  zu  sehr  Heiliger,  hat  den 
Menschen  zu  sehr  abgestreift,  wir  sehen  ein  Wesen  anderer 
Ordnung  vor  uns  und  können  unsere  Seele  nicht  giit  echt 
menschlicher  Theihiahme  an  sein  Geschick  hängen.  Wie  die 
meisten  Corneille'schen  Charaktere  dringt  er  nur  bis  zu  unserer 
Bewunderung  vor.  Dennoch  aber  hat  es  der  Dichter  verstan- 
den, die  Idee,  welche  diese  abstrakte  Persönlichkeit  vertritt, 
durch  seinen  Opfertod  zu  einer  solchen  concreten  Geltung  zu 
bringen ,  dass  wir  erschüttert  und  erhoben  in  jener  wahrhaft 
ethischen  Stimmung  den  Blick  abwenden  von  dem  Individuum, 
das  gekämpft  und  gelitten,  zu  den  grossen  Ordnungen  Gottes, 
denen  alles  Menschliche  dienen  muss  in  seiner  Herrlichkeit  wie 
in  seinem  Untergang.  Man  könnte  in  dieser  Rücksicht  Cor- 
neille den  spiritualistischen  modernen  Dichter  nennen.  Er  ist 
wirklich  gross  und  bedeutend,  wo  sein  Genius  ihm  diese  ihm 
eigene  Bahn  gewiesen  hat,  wie  z.  B.  auch  in  Cinna  und  les 
Horaces.  Leider  hat  ihn  falscher  Geschmack  und  leidige  Nach- 
ahmungssucht auf  IrrwTge  geführt  und  seine  Meisterwerke  mit 
einer  Schaar  seichter  oder  ungeheuerlicher  Machwerke  um- 
geben. 

Zu  dieser  Befriedigung,  welche  das  Ende  des  Polyeucte 
athmet,  stehen  die  letzten  Scenen  der  Antigone  in  einem  schrei- 
enden Gegensatz.  AVie  dort  sich  alle  Misstöne  harmonisch  in 
die  vollen  Ackorde  einer  vernünftigen  Weltordnung  auflösen,  so 
ist  hier  Alles  Schrecken,  dunkele  Verzweiflung,  Wehegeheul. 
Der  Mord  hat  den  Mord  erzeugt.  Kreon  ist  der  elende,  zer- 
schmetterte Wurm,  dessen  sinnlose  Narrheit  drei  Opfer  zum 
Hades  geliefert,  unter  ihnen  seinen  Sohn  und  sein  Weib.  Er 
steht  allein,  zermalmt,  verzweifelnd,  von  den  Göttern  mit  bluti- 
gem Mal  gezeichnet,  seine  Kraft  ist  vernichtet,  sein  Herrscher- 
thura  gebrochen,  er  lässt  sich  abführen  aus  dem  Anblick  der 
Menschen,  der  nichts  mehr  ist,  denn  ein  Nichts.     Ein  wahrhaft 


Antigene  und  Fol yeucte.  39 

haarsträubendes  Entsetzen,  eine  Ahndung  ausser  allem  Ver- 
hältniss  mit  seinem  Vergehen,  die  vielmehr  die  erfinderische 
Rache  eines  erzürnten  Feindes  als  der  gerechten  Strafe  der 
richtenden  Gottheit  ähnlich  sieht.  Kein  neuerer  Dichter  hat  bei 
der  Vergeltung  für  ungerechte  That  sich  bis  zu  diesem  Raffi- 
nement der  Grausamkeit  verstiegen.  Die  abscheulichsten  Ver- 
brecher Macbeth,  Richard  IL,  Franz  Moor  büssen  mit  ihrem 
Leben  für  ihre  Unthaten  und  das  beleidigte  Gerechtigkeitsge- 
fühl des  Lesers  ist  befriedigt,  es  verlangt  nicht,  dass  der  Ver- 
brecher stückweis  zu  Tode  gemartert  Avcrde.  Es  ist  ein  anderer 
Geist  als  der  der  gegenwärtigen  Menscliheit,  der  dem  Dichter 
solche  Ueberlieferungen  vermachen  konnte.  Doch  wenn  es  auch 
unser  Gefühl  verletzt,  so  können  wir  wenigstens  nicht  leugnen, 
dass  Kreon  vollauf  für  seine  Sünden  gebüsst  habe,  aber  wo 
bleibt  bei  alle  dem  die  Sühne  für  den  Märtyrertod  der  Anti- 
gone?  Hätten  wir  eine  Tragödie  Kreon,  so  möchten  wir  in 
seinem  Jammergeschick  den  Finger  der  strafenden  Gerechtio- 
keit  erkennen,  und  wiewohl  mit  Schauder  den  Riss,  den  der 
Frevel  darin  gemacht,  für  geheilt  erklären.  Aber  Antigone 
bleibt  die  Person,  um  welche  sich  das  Hauptinteresse  lagert 
und  ihr  Tod  bleibt  ungesühnt.  Es  ist  keine  Andeutung  vor- 
handen, dass  die  Idee  der  Familienpietät  und  der  heiligen 
Satzungen  des  Zeus  durch  ihren  Untergang  und  die  Vernich- 
tung des  Kreon  eine  neue  Weihe  empfinge.  Die  Vernichtung 
hält  ihren  blutdürstigen  Umgang,  der  Tod  gebiert  den  Tod, 
Leichenhügel  erheben  sich,  aber  kein  freundlicher  Stern  schwebt 
über  dem  Graus,  der  den  Blick  nach  üben  richtete  und  das 
Herz  mit  neuer  LebenshofFnung  erfrischte.  Wie  ein  dumpfer 
Schmerz  legt  es  sich  aufs  Gehirn,  man  schaudert  und  staunt, 
aber  man  nimmt  nicht  mit  Befriedigung  Abschied  von  diesem 
Bilde,  und  selbst  die  mahnenden  \Yorte  des  Chores  verhallen  in 
dem  peinlichen  Gefühl  menschlicher  Abhängigkeit  und  göttlicher 
Willkür.  Ja  Antigone  selbst ,  die  gottbegeisterte  Jungfrau, 
bleibt  sich  nicht  treu  bis  ans  Ende.  Die  muthige  Zuversicht, 
mit  der  sie  sich  dem  Kreon  gegenüber  stellt,  hat  sie  verlassen, 
als  sie  den  letzten  Weg  nach  ihrer  Todtenkammer  geht.  Laute 
Wehklagen  über  den  Verlust  ihrer  bräutlichen  Freuden,  über 
ihr  Wehgeschick,   welches  dem  Kampi"  des  ganzen  Labdakidcn- 


40  Antigone  und  Polyeucte. 

hauses  gleicht,  wimmert  sie  an  das  Ohr  der  Greise,  welche 
taub  für  ihren  Schmerz,  ihr  Hohn  bieten  statt  der  Tröstung. 
So  weit  entweicht  ihr  Heldenmuth,  dass  sie  dem  Chor  gegen- 
über und  vor  sich  selbst  ihre  That  entschuldigen  zu  müssen 
glaubt.  Wären  es  ihre  Kinder  gewesen,  oder  ihr  Gatte,  so 
möchte  man  sie  der  Vermessenheit  und  des  Unsinns  zeihen, 
denn  einen  anderen  Gatten  könne  sie  wiederbekommen  und  von 
diesem  ein  anderes  Kind,  da  aber  Vater  und  Mutter  todt  wären, 
wo  sollte  sie  einen  anderen  Bruder  hernehmen.  Man  hatte 
diese  Klage  echt  menschlich  schön  und  von  echt  antikem  Geiste 
getragen  gefunden,  ein  Urtheil,  welches  ich  unterschreibe.  Aber 
eben  deshalb  nimmt  diese  Antigone  ihrem  Todesgeschick  jeden 
Charakter  der  Sühne.  So  sehr  war  die  Anschauungsweise  des 
Alterthums  vom  Idealen  abgekehrt,  dass  nicht  einmal  einer  An- 
tigone die  Idee,  für  die  sie  selbst  gekämft,  für  die  sie  mit  Be- 
wusstsein  in  den  Tod  gegangen  war,  eine  Stütze  im  letzten 
Augenblick  sein  konnte.  Das  Jenseits,  das  Ewige,  sittlich 
Wahre  ist  ihr  keine  lebendige  Wirklichkeit,  sie  sieht  dort  ein 
Schattenleben,  kalten  Tod,  und  wendet  ihr  Auge  nach  dem 
Diesseits  und  seiner  vergänglichen  Herrlichkeit  zurück.  Hier 
also  fehlt  jeder  Anknüpfungspunkt  für  eine  Versöhnung  der 
moralischen  Mislaute,  die  unsere  Seele  mit  Pein  und  Schauder 
erfüllen.  Die  Idee  hält  nicht  einmal  die  Heldin  im  letzten 
Kampfe  aufrecht,  wie  soll  sie  an  Andern  Anhänger  gewinnen? 
Es  ist  ein  bedeutungsvoller  Umstand,  dass  die  Genugthu- 
ung,  welche  die  von  Antigone  vertretene  Pietät  gegen  die  Götter 
erhält,  sich  nicht  in  einer  Verherrlichung  dieser  Idee,  sondern 
in  einem  Akt  der  Rache  vollzieht.  Die  der  Idee  widerstrebende 
Welt  erhält  in  der  Person  des  Kreon  eine  schreckliche  Wei- 
sung, vom  Trotz  gegen  göttliche  Gebote  abzustehen ;  da  aber 
auf  der  andern  Seite  der  sittliche  Gehalt  des  Gebotes,  Avelches 
hier  in  Frage  stand,  so  wenig  zur  Geltung  gebracht  wird,  da 
dasselbe  nicht  eine  lebendige  Macht  wird,  so  weiset  das  Ueber- 
gewicht,  welches  auf  die  Seite  der  Strafe  gelegt  ist,  auf  eine 
Gottheit  hin,  der  es  weniger  auf  Hervorbildung  sittlicher  Ord- 
nungen als  auf  blinden  Gehorsam  gegen  ihre  Autorität  ankommt. 
Zeus  hat  gestraft,  wie  Kreon  sich  vergangen,  mit  Leidenschaft. 
Er  hat  seine  verletzte  Autorität  gerächt,  wie  Kreon  die  seinige, 


Antigone  und  Polyeucte.  41 

um  Antigone,  die  Vertreterin  seines  ewigen  Rechtes,  kümmert  er 
sich  so  wenig  als  um  dieses  selbst.  Die  Gottheit  ist  noch 
immer  mit  menschlicher  Leidenschaft  behaftet,  der  herodoteische 
Neid  tritt  hier  in  anderer  Form  hervor.  In  dieser  Auffassung 
des  göttlichen  Wesens  spiegelt  sich  nicht  der  reine  Urquell  alles 
Guten  und  Vernünftigen,  sondern  der  Eigensinn,  die  launenhafte 
Willkühr,  die  übermüthige,  grausame  Ueberhebung  der  Stärke. 

Wie  anders  das  Walten  der  Gottheit  im  Polyeucte.  Hier 
liegt  aller  Nachdruck  auf  dem  Triumph  der  Idee,  der  Offen- 
barung des  eigentlich  Göttlichen;  an  ihr  beweist  der  Gott 
seine  Macht,  so  wie  gleicher  Weise  seinen  auf  das  Gute  ge- 
richteten Willen.  Die  Verächter  seines  Willens  werden  nicht 
vernichtet,  sie  werden  nur  besiegt  und  zwar  von  der  siegreichen 
Kraft  seiner  Wahrheit.  Ihre  Strafe  ist,  dass  sie  dieselbe  aner- 
kennen müssen  und  sich  vor  ihr  beugen. 

Es  stellt  sich  also  heraus,  dass  in  der  antiken  Märtyrer- 
tragödie keine  Sühne  vorhanden  ist  und  zugleich  führt  uns  das 
eben  Gesagte  zur  Erkenntniss  des  Grundes,  weshalb  eine  solche 
auch  in  allen  übrigen  antiken  Tragödien  nicht  anzutreffen  ist, 
weil  nämlich  die  Idee  der  Versöhnung  überhaupt  dem  Bewusst- 
sein  des  Alterthums  fehlt.  Die  Tragödie  ist  eben  der  reinste 
Abglanz  des  sittlichen  Bewusstseins  eines  Volkes  und  nur  auf 
dieser  Identität  des  Dargestellten  mit  dem  Geistesleben  des  Zu- 
hörers beruht  die  Möglichkeit  einer  tragischen  Wirkung.  Allein 
bei  allem  Mangel  einer  Versöhnung  bleibt,  wie  wir  oben  aufmerk- 
sam gemacht  haben,  den  Alten  doch  die  tragische  Rührung,  ja 
sie  hat  gerade  im  Alterthum  ihre  Wurzel  und  ist  uns  von  den 
Griechen  erst  überkommen.  Die  Affektion  des  Geistes  ist  die- 
selbe, aber  dennoch  in  beiden  Völkern  ein  so  unterschiedenes 
Gefühl,  als  überhaupt  ihre  ganze  Denk-  und  Anschauungsweise 
verschieden  ist.  Man  möge  hier  nicht  eine  Subtilität  finden 
wollen.  Die  einfachen  Affektionen  der  Freude,  des  Schmerzes, 
der  Trauer,  der  Furcht,  des  Erstaunens  müssen  allerdings  die- 
selbe Bewegung  in  jeder  Menschenseele  hervorbringen,  gehöre 
sie  einem  Deutschen  oder  Lappländer,  einem  alten  I'erser  oder 
einem  modernen  Russen  an.  Aber  der  tragische  Affekt  ist  ein 
gemischter  Zustand,  in    welciicm    die   Reflexion   der   wesentliche 


42  Antigene  und  Polyeucte. 

Faktor,  das  eigentliche  Agens  ist,  und  der  somit  ein  wirklich 
anderer  werden  kann,  je  nachdem  die  Eeflexion  sich  wandelt, 
und  dennoch  in  seinem  Gefühlsgehalt  beständig  derselbe  bleiben 
kann.  Unsere  Definition  von  den  Momenten  des  Tragischen  ist 
dem  modernen  Bewusstsein  entnommen  und  passt  für  das  antike 
Bewusstsein  nur,  wenn  sich  dort  ein  Surrogat  für  die  Richtung 
aufs  Ideale  findet,  welche  für  uns  das  Moment  der  Versöhnung 
enthält. 

Dies  Surrogat  im  Alterthum  ist  das  Fatum,  welches  des- 
wegen der  antiken  Tragödie  durchgehend s  seinen  Stempel  auf- 
gedrückt hat.  Die  antike  Tragödie  ist  die  Schicksalstragödie 
als  solche.  Das  Fatum  ist  die  dunkele,  ungreifbare  und  unbegreif- 
bare Macht,  welche  mit  dem  Menschen  nach  Willkür  schaltet. 
Nicht  Verdienst,  nicht  Gnade,  nicht  eine  allgemeine,  erkennbare 
Eichtschnur  leitet  dies  schauerliche  Mysterium.  Es  trägt  den 
Grundbedingungen  der  menschlichen  Natur  keine  Rechnung, 
ihre  sittliche  Freiheit  achtet  es  nicht,  ohne  sein  Verschulden 
reisst  es  den  Menschen  in  Sünde  und  Verderben.  Es  ist  die 
vollständige  Negierung  jeder  sittlichen  Weltordnung,  es  belohnt 
und  straft  nicht  nach  Verdienst,  vor  ihm  gilt  keine  Freiheit 
der  Selbstbestimmung,  launenhafte  Willkür  hat  ein  dunkles 
Verhängniss  geschmiedet,  an  dem  ohnmächtig  alle  Anstrengungen 
zerschellen.  Der  Mensch  ist  der  Spielball  eines  tückischen  Dä- 
monen geworden,  die  Gottheit  selbst  ist  bloss  ein  Diener  des 
Fatums  und  eben  so  launenhaft  und  willkürlich  als  dieses 
selbst.  So  haben  wir  es  in  der  Antigone  gesehen  und  so  kehrt 
es  überall  in  den  Mythen  wieder.  Sie  lieben  und  hassen,  ver- 
folgen und  hassen  nach  durchaus  subjektiver  Laune,  keine  an- 
dere Richtschnur  als  etwa  die  Eifersucht,  ihr  Ansehn  gegen  die 
Sterblichen  aufrecht  zu  erhalten,  ist  in  ihren  Handlungen  wahr- 
zunehmen. 

Die  eigentlichen  Vorstellungen  von  der  Götterwelt  mögen 
im  Alterthum  sehr  verschieden  gewesen  sein  und  haben  sich 
natürhch  nach  dem  Bildungsgrade  des  Individuums  gerichtet. 
Die  Philosophie  suchte  reinere  Begriffe  darüber  zu  verbreiten 
und  die  naive  Vorstellung  einer  wirklichen  Eifersucht  der  Götter 
auf  die  Sterblichen,  wie    wir    sie    im    Herodot    finden,    mag    in 


Antigene  und  Polyeucte.  43 

späterer  Zeit  gewichen  sein  in  dem  Maasse  als  die  naive  Hin- 
gebung der  Menschen  überhaupt  entwich  und  reflektirteren  Be- 
strebungen oder  der  FrivoHtät  Platz  machte.  Allein  im  tiefsten 
Grunde  seiner  Anschauung  musste  der  alte  Grieche  eine  ver- 
nünftige Gesetzmässigkeit  in  der  Weltregierung  vermissen  und 
konnte  demgemäss  in  seinem  eigenen  Geist  die  sittliche  Bestim- 
mung nicht  finden.  Die  Weltordnung  seiner  Götter  ist  eine  der 
menschlichen  Vernunft  unzugängliche,  menschliche  und  gött- 
liche Vernunft  sind  hier  schlechthin  iücommensurable  Grössen, 
ein  Riss  ist  zwischen  göttlicher  Ordnung  und  menschlicher  Be- 
dürftigkeit, welchen  die  Furcht,  nicht  die  heilsame  Scheu  vor 
einer  ewigen  Gerechtigkeit  und  Güte,  sondern  dies  knechtische 
Zittern  vor  einer  unbekannten,  dämonischen  Macht,  jene  Furcht 
des  Calibar  vor  Prospero's  Zauberkünsten,  zuschliesst.  Das 
ganze  sittliche  Bewusstsein  ist  unfrei  und  fühlt  sich  macht-  und 
rechtlos  in  den  Händen  jener  Tyrannin.  Knechtisches  Zittern 
steht  an  der  Stelle  des  kindlichen  Vertrauens,  dumpfe  Resig- 
nation an  der  Stelle  froher  Zuversicht.  Dem  Menschen  ist 
keine  Entwickelung  zur  Humanität,  dem  Individuum  keine  Er- 
lösung von  seiner  Schuld  verheissen.  So  klammert  der  Mensch 
sich  an  die  Gegenwart  an,  die  ihm  hell  aus  dem  Wein  und 
aus  schönen  Frauenaugen  entgegen  lacht,  anstatt  vorwärts  zu 
sehen,  wo  die  Zukunft  seines  Wesens,  d.  h.  seine  eigentliche 
Heimath,  liegt. 

Diesen  Bewusstseinszustand  drückt  die  Schicksalstragödie 
aufs  Vollkommenste  aus.  Das  Individuum  erscheint  hier  durch- 
aus in  jenem  unfreien,  eines  vernünftigen  Wesens  unwürdigen 
Verhältniss  zu  dunkeln  Gewalten,  ein  seiner  Natur  adäquater 
Beruf,  den  er  wenigstens  ahnet,  ist  nirgends  anzutreffen.  Auf 
materielle  Güter  allein  kann  sein  Streben  gerichtet  sein  und  da- 
bei, ist  ihm  wohl  bewusst,  kann  er  ohne  Absicht  den  Zorn  jenes 
Unheilsdämons  auf  sich  laden,  der  mit  eifersüchtiger  Strenge 
über  seine  Rechte  wacht.  Vielleicht  ist  er  auch  schon  dem 
Verderben  geweiht,  weil  sein  Stamm  den  Göttern  verhasst  ist. 
Die  Orakel  werden  ihn  umsonst  vor  dem  drohenden  Verderben 
warnen,  die  Flucht  aus  der  Heimath  wird  ihn  nur  gewisser  in 
die  Schlinge  führen,  die    ihm    der    hinterlistige    Gott    auf   dem 


44  Antigene  und  Pol yeucte. 

Kreuzwege  gelegt  hat.  So  schwindet  jeder  Halt  und  jedes 
Vertrauen  und  nichts  bleibt  der  schwachen  Kreatur  als  die  un- 
bedingte Ergebung  an  den  Stärkeren,  eine  trostlose,  Entsetzen 
erregende  Ergebung  eines  denkenden,  mit  sittlichem  Willen  be- 
gabten Wesens  an  die  blosse  boshafte  Laune.  Diese  dumpfe 
Resignation  der  Verzweiflung,  bei  der  das  hellenische  Bewusst- 
sein  im  letzten  Stadium  ankommen  musste,  ist  es  denn  auch, 
die  nach  den  gewaltigen  Erschütterungen  des  Unheils,  eine  ge- 
wisse Beruhigung  wieder  herstellt,  aber  freilich,  wie  bereits 
gesagt,  nur  die  Euhe  des  Kirchhofs,  die  Fügung  ins  Unver- 
meidliche, nicht  jene  Befriedigung,  welche  das  Gemüth  aus  dem 
Staube  der  Endlichkeit  erhebt  zur  Anschauung  des  Ewigen, 
Hier  liegt  auch  der  Schlüssel  zur  Lösung  des  Conflikts  in 
der  Antigone.  Sie  ist  ebenfalls  eine  Schicksalstragödie.  Böckh 
leugnet  dies  zwar,  indem  er  behauptet,  dass  das  Schicksal  hier 
eine  sehr  untergeordnete  Rolle  spiele  und  Niemand  darin  die 
Einheit  des  Stückes  suchen  könne,  und  dass  mit  der  Brüder 
Wechselmord  das  Labdakidenschicksal  und  des  Vaters  Fluch 
getilgt  sei.  —  Aber  Aver  sagt  dies  Böckh?  Antigone  ist  ein 
Sprössling  des  Geschlechts  und  also,  wie  alle  ihre  Verwandten, 
noch  immer  unter  dem  Einfluss  des  alten  Fluches,  auch  hat  sie 
die^  Bewusstsein  und  spricht  es  deutlich  aus: 

O  fluchvoll  gräulich  Ehebett, 
Die  Mutter  dem  eigenen  Sohne, 
Meinem  Vater,  gesellt,  der  Unseligen, 
Von  welchen  ich  entspross,  die  Unglücklichen, 
Zu  welchen  eh'los,  Fluches  voll  ich  mich  hinübersiedele. 

Es  ist  das  Verhängniss  ihres  Geschlechtes,  welches  ihr  den 

unbeerdigten  Bruder    in    den    Weg    warf   und    sie    so    in    den 

Widerspruch  mit  Kreon  hineintrieb,  der   ihr   das  Leben   kostet. 

%    Während   Antigone    vom   Leben   scheidet,    vernimmt   man   den 

ehernen  Tritt  des  Schicksals. 

Es  möchte  hier  am  Platze  sein,  mit  einigen  Worten  eine 
Frage  zu  berühren,  welche  seit  Jahrzehnden  unseren  ästhetischen 
Kritikern  viel  zu  schaffen  gemacht,  ich  meine  die  neuere  Schick- 
salstragödie. Jedermann  von  geläutertem  Geschmack  hat  sie 
verurtheilt  und  sie  verdient  es.     Sie  ist  ein  Anachronismus  und 


Antigene  und  Polyeucte.  45 

begeht  den  Irrthum,  füi-  ihre  Wirkung  auf  einen  Bewusstseins- 
zustand  zu  spekuliren,  der  gänzlicli  überwunden  hinter  uns  liegt. 
Wie  der  ahen  Tragödie  das  Schicksal  unentbehrlich  Avar,  so 
muss  es  die  neuere  aufs  entschiedenste  zurückweisen.  An  die 
Stelle  des  blinden  Fatums  haben  wir  eine  sittlich  vernünftige 
Weltordnung  gesetzt,  in  welcher  wir  allein  Befriedigung  finden. 
So  ist  es  denn  auch  gekommen,  dass,  während  wir  das  Schick- 
sal der  Alten  als  die  übermächtige,  zermalmende  Gewalt  empfan- 
den, das  der  Neueren  ein  Popanz,  um  kleine  Kinder  zu  er- 
schrecken, unfähig,  eine  poetische  Eührung  hervorzubringen. 
Hoffentlich  wird  die  Ahnfrau  nun  bei  ihren  Vätern  ruhen  und 
alle  die  übrigen  uno;eheuerlichen  Produkte  von  der  Bühne  fern 
bleiben.  Ich  muss  mir  hier  versagen,  die  im  Laufe  der  Be- 
trachtung gefundenen  Gedanken  in  ihren  Consequenzen  weiter 
zu  verfolgen  und  namentlich  jenes  sittliche  Bewusstsein  des 
Alterthums  gegenüber  dem  christlichen  in  seinen  einzelnen  Ent- 
faltungen  zu  entwickeln.  Wir  haben,  geleitet  von  einer  jener 
Offenbarungen  des  Volksgeistes,  einen  Blick  in  das  innere  Leben 
der  alten  Hellenen  gethan  und  haben  gefunden,  dass  für  sie  das 
Schiller'sche  „Herb  ist  des  Lebens  innerster  Kern"  seine  Wahr- 
heit hat.  Wir  haben  uns  von  Jugend  auf  gewöhnt,  aus  dem 
Alterthum  unsere  Ideale  zu  holen,  wir  haben  die  heitere  Kunst, 
die  gesunde,  dem  Realen  zugewendete  Lebensrichtung,  die 
Xaturfrische  ihrer  Anschauungen  zu  bew'undern  Gelegenheit  ge- 
habt. Unter  dem  lachenden  Himmel  von  Hellas  sahen  wir  jede 
schöne  Geistesblüthe  reifen.  Hier  erblicken  wir  die  Kehrseite. 
Unter  dem  vielgestaltigen,  beweglichen  Treiben  brütet  die  unbe- 
friedigte, trostlose  Sehnsucht  das  mit  seinem  innersten  Wesen 
entzweite  Bewusstsein.  Es  fühlt  sich  in  seiner  Unfreiheit,  um 
sich  und  über  sich  sieht  es  die  Willkür  und  Laune  an  der  Stelle 
einer  ew-igen  Vernunft,  es  versenkt  sich  in  dumpfe  Resignation, 
harrend  des  Tages  des  Erlösung.  Ganz  übereinstimmend  hier- 
mit sind  die  Worte  Böckh's,  die  er  am  Schluss  seiner  Staats- 
haushaltung der  Athener  spricht  und  die  auch  für  uns  den 
Schluss  machen  mögen.  „Rechnet  man  die  grossen  Geister  ab, 
die  in  der  Tiefe  ihres  Gemüths  eine  Welt  einschliessend,  sich 
selbst  genug  waren,  so  ei'kennt  man,  dass  die  Menge  der  Liebe 
und  des  Trostes  entbehrt,  welche  eine   reinere   Religion    in    die 


46  Antigone  und  Polyeucte. 

Herzen  der  Menschen  gegossen  hat.  Die  Hellenen  waren  in 
dem  Glänze  ihrer  Kunst  und  der  Blüthe  ihrer  Freiheit  un- 
glücklicher als  die  Meisten  glaviben  und  der  Baum  musste  um- 
gehauen werden,  als  er  faul  geworden."  — 

Dessau.  Dr.  Weiss. 


lieber   den 

provenzalisclien    Dichter    Goudouli 

nebst 
üebersetzungsproben   seiner   Gedichte. 


Peter  Goudouli,  wie  er  provenzalisch,  oder  Godolin,  wie  er 
französisch  meistens  genannt  wird,  ward  zu  Toulouse  1579  ge- 
boren und  Avar  der  Sohn  eines  Wundarztes.  Kr  besuchte  die 
Jesuitenschule  seiner  Vaterstadt  und  machte  gute  Fortschritte 
in  den  AVissenschaften,  besonders  in  der  Geschichte  und  My- 
thologie, und  in  dem  lateinischen  Schriftenthum ,  wie  sich  diess 
auch  aus  seinen  Schriften  ergibt,  sowohl  den  dichterischen,  wie 
aus  einer  Abhandlung  in  Prosa  zur  Erklärung  seiner  Gedichte. 
Er  befliss  sich  der  Rechtskunde  und  liess  sich  als  Anwalt  in 
das  Parlament  aufnehmen,  zog  sich  aber  bald  zurück,  und  wid- 
mete sich  der  Dichtkunst,  und  zwar  gleich  im  Beginn  mit  un- 
gemeinem Glücke.  Er  machte  nämlich  noch  als  Jüngling  die 
Bekanntschaft  des  Grafen  Carmaing,  eines  reichen  Gutsbesitzers 
in  der  Umgegend  von  Toulon,  in  welcher  Stadt  er  wohnte, 
wurde  von  diesem  Gönner  der  Wissenschaft  und  Kunst  und 
ihrer  Verehrer  ausgezeichnet  und  blieb  mit  ihm  fortwährend  ver- 
bunden. Als  der  Graf  auf  Richelieus  Befehl  die  Bastille  be- 
ziehen musste,  erheiterten  ihn  Godolins  Dichtungen,  die  er  dort 
dem  Herrn  von  Bassompierre  vorzulesen  und  zu  erklären  pflegte. 
Auch  Herr  von  Mommorenci  war  sein  Beschützer.  Dieser 
brachte  die  Fastenzeit  gewöhnlich  zu  Toulouse  zu,  und  liess  es 
nicht  an  einer  prächtigen  Hofhaltung  fehlen.  Für  die  Ballette, 
welche  er  dort  aufführen  liess,  musste  Godolin  Zwischenreden 
in  Prosa   machen,    und    sie   nach    damaliger    Sitte  verlarvt   vor- 


48  Uebe?  den  pr ovenzalischen  Dichter  Goudouli 

tragen.  Godolin  benahm  sich  dabei  mit  so  viel  Geschick  und 
Anmut,  dass  ihm  bei  diesen  Festen  der  meiste  Beifall  gespendet 
ward;  denn  er  verstand  es,  mit  Feinheit  zu  belustigen,  ohne 
doch  ein  blosser  Spassmacher  zu  sein,  wie  er  denn  auch  die 
Freigebigkeit  seiner  Gönner  so  wenig  in  Anspruch  nahm ,  dass 
er  arm  blieb  und  nur  eine  kleine  Besitzung  von  zwei  Morgen 
Landes  hatte,  welche  er  aber  späterhin  auch  theilweise  zu  ver- 
kaufen gezwungen  war.  Als  er  nichts  mehr  davon  übrig  hatte 
als  Haus  und  Garten,  schrieb  er  mit  grossen  Buchstaben  an 
die  Thür:  „Meierhof  zu  verkaufen  mit  zwei  Paaren"  (Vendre 
une  metairie  de  deux  paires)  und  darunter  mit  kleinerer  Schrift: 
„von  Hühnern  (de  poulets)."  Nach  dem  Tode  seiner  Gönner 
hätte  er  hungern  müssen ,  wenn  ihm  nicht  der  hohe  Rath  von 
Toulouse  zu  Hülfe  gekommen  wäre  und  ihm  einen  Jahrgehalt 
von  300  Livres  verliehen  hätte,  der  ihm  bis  an  seinen  Tod  aus- 
gezahlt wurde.  Dieser  Beschluss  ist  wol  ein  hinreichender  Be- 
weis der  allgemeinen  hohen  Achtung,  in  welcher  er  stand;  denn 
diese  Stadt  hat,  so  viel  man  weiss,  nichts  Aehnliches  für  irgend 
einen  ihrer  Dichter  oder  Philosophen  gethan.  Den  !Namen  des 
Philosophen  verdient  Godolin  übrigens  vielleicht  eben  so  sehr 
Avie  den  des  Dichters.  Er  besass  mindestens  die  Weisheit  des 
Aristipp,  der  dem  veredelten  Genüsse  huldigte;  seine  Sittlichkeit 
und  seine  Sitten  waren  fleckenlos,  und  man  weiss  nichts  an  ihm 
auszusetzen  als  etwa  Vorliebe  für  die  Freuden  der  Mahlzeit, 
wiewol  er  auch  diese  nie  im  Uebermaass  genoss,  und  sie  mehr 
wegen  der  geistigen  Unterhaltung  mit  seinen  Tischgenossen 
schätzte.  Die  Gabe  der  Dichtkunst  blieb  ihm  bis  an  sein  Ende 
getreu ;  wenn  er  aber  früherhin  mehr  im  Geiste  des  Pindar,  Anakreon 
und  Horaz  gedichtet  hatte,  wandte  er  sich  im  Alter  der  heiligen 
Dichtkunst  zu.  Er  starb  am  10.  September  1649,  etwa  70  Jahre 
alt.  Einige  Tage  vor  seinem  Tode  begegnete  ihm  einer  seiner 
Freunde  und  fragte  ihn,  wie  er  sich  befinde.  „Sie  sehen  es,  — 
antwortete  er,  indem  er  mit  seinem  Stock  auf  den  Boden  stiess, 
- —  ich  klopfe  an,  damit  man  mir  öffne."  Er  war  von  mittlerer 
Grösse ,  etwas  beleibt ,  und  hatte  kastanienbraune  Haare  und 
tiefrothe  Gesichtsfarbe.  Der  hohe  Rath  von  Toulouse  stellte 
seine  von  Maynard  gefertigte  Büste  im  Sitzungsaale  auf  mit 
folgenden  lateinischen  Distichen: 


nebst  Uebersetzungsproben  seiner  Gedichte.  49 

Musarum,  Godoline,  decus,  sie  ora  ferebas, 

Lirida  cum  caneres,  Berteriumque  nemiis. 

Mon  meliora  tuis  tentabit  carmina  Apollo, 
Tectosagum  grato  cum  volet  ore  loqui, 

(Also  warst  du  zu  schaun,  Godolin,  du  die  Ehre  der  Musen, 
Als  du  die  Liris  besangst  und  den  Barterischen  Hain. 

Bessere  Lieder  als  du  wird  nie  anstimmen  Apollo, 

Hebt  zum  Gesang  er  die  Stimm'  in  dem  toulousischen  Laut.) 

Seine  Gedichte  nennt  er  Blumen  des  toulousischen  Strausses, 
fleurs  du  bouquet  toulousain,  und  sie  bestehen  aus  vier  Samm- 
lungen. Es  gibt  mehrere  Ausgaben  derselben,  z.  B.:  Las  poue- 
sios  de  Pierre  Goudouli  etc.  A  Toulouse,  1831.  —  Oeuvres 
complettes  de  Pierre  Godolin  avec  traduction  en  regard,  notes 
historiques  et  lit^raires,  par  M.  M.  J.  M.  Cayla  et  Cl^obule 
Paul.    Toulouse,  1843. 

Unter  seinen  ernsten  Gedichten  zeichnet  sich  das  auf  die 
Ermordung  des  Königs  Heinrich  IV.  vor  allen  aus,  welche  diese 
Gräuelthat  hervorrief,  so  dass  sie  wol  ein  unübertreffliches 
Meisterwerk  genannt  ist.  Ich  theile  sie  daher  in  Uebersetzung 
mit  nebst  einigen  seiner  kleineren  Gedichte. 


Dem  glorreichen  Andenken  Heinrichs  des  Grossen, 
des    unüberwindlichen    Königs     von    Frankreich    und    Navarra. 

Ihr  feinen  Hirten,  die  in  Haines  Schattenhülle 
Ihr  euch  zu  lindern  wisst  der  Sonne  glühnden  Schein, 
Indess  zum  Liebesgruss  die  Schaar  der  Vögelein 
Aus  zarter  Kehle  strömt  der  Lieder  süsse  Fülle, 

Ihr  Flüsschen,  die  ihr  euch  ergiesst  in  Silborwellen, 
Ihr  Wiesen,  die  das  Aug'  ihr  zauberisch  entzückt. 
Wenn  euch  mit  jungem  Grün  der  holde  Lenz  beglückt, 
Tolosa's  Nymphe  weint,  hört  ihre  Klagen  quellen! 

Als  dunkler  Wolkenschwall  den  ganzen  Himmel  schwärzte, 
Der  meinem  schönen  Stern  auch  seine  Klarheit   stahl, 
Als  uns  der  grause  Tod  mit  seinem  scharfen   Stahl 
Im  Buche  der  Natur  den  grossen  Heinrich  märzte: 

Archiv  f.  a.  S|.raclitn.  XXVU.  4 


Ueber  den  provenzalischen  Dichter  Goudouli 

Da  ward  von  Schmerzes  Dorn  die  Seele  mir  zerrissen, 
Im  Felsthal  barg  ich  mich  dem  goldnen  Sonnenglanz, 
Erkrankt  war  Seel'  und  Leib,  verweint  das  Auge  ganz, 
Die  schöne  Blume  musst'  itzt  Frankreichs  Garten   missen, 

Obwohl  ich  die  Schalmei  zu  l)lasen  heute  kehre; 
Dem  Vielbeweinten  sei  ein  Loblied  angestimmt, 
Das  seinen  Wiederhall  zum  biedern  Ludwig  nimmt, 
Dem  edlen  Stamm  entspringt  ja  auch  die  edle  Beere. 

Dass  nur  das  Ohr  uns  nicht  hinfort  bet<äubt  mehr  werde 
Von  Cäsar  und  von  dem,  der  an  der  Ferse  starb! 
Mit  mehr  als  irgend  sonst  ein  Fürst  des  Ruhms  erwarb, 
Hat  Heinrich  wundersam  erfüllt  die  ganze  Erde. 

Die  Fürsten,  die  geschmückt  mit  grünem  Lorbeerkranze, 
In  Gold  gefasseten  Rubinen  gleicht  die  Schaar; 
Doch  unser  Heinrich,  Herz  und  Arm  zugleich,  er  war 
Der  Diamant,  der  sich  beschien  mit  seinem  Glänze. 

Die  Erde  zitterte  vor  seinem  Heergewimmel, 
Als  höchster  Herr  ward  er  einstimmig  anerkannt. 
Seht,  wie  erhöht  sein  Bild  im  Ehrentempel  stand! 
Denn  reich  austattet'  ihn  mit  Tugenden  der  Himmel. 

Ob  Fried'  erblüht',  ob  Lärm  erscholl  der  Kriegesheere, 
Die  Gut'  und  Kraft,  der  Glaub'  und  die  Gerechtigkeit, 
Und  was  der  Himmel  sonst  verleiht  als  Seltenheit, 
Strömt'  in  sein  Herz  gleichwie  die  Flüsse  zu  dem  Meere. 

Sobald  der  Königsreif  um  seine  Stirn  sich  schränkte: 
In  Lethe's  Flut  versank  sogleich  der  Schrecken  tief. 
Der  Friede  kam  und  brach  ein  Zweiglein  der  Oliv', 
Auf  dass  als  Propfreis  er's  in  Ares'  Lorbeer  senkte. 

Der  Schatz  von  Tugenden,  der  sich  in  ihm  bewährte, 
Jedwedes  Herz  erkauft'  und  Neigung  er  für  ihn. 
Indem  sein  Körper  auch  ein  Musterbild  erschien 
Im  Lichte  seines  Geists,  den  edle  Weisheit  klärte. 

Er  war's,  der  für  die  Wag'  ein  recht  Gewicht  erwählte, 
Wenn  die  Vernunft  zu  ihm  mit  Klag'  ob  Kränkung  kam ; 
Er  war's,  der  bei  der  Stirn  des  Glückes  Göttin  nahm, 
Und  sie  dem  Herrscherstab  des  Frankenreichs  vermählte. 


nebst  Uebersetzungsproben  seiner  Gedichte.  51 

Wo  Stöss'  und  Schlag'  es  gab,  sah  man  ihn  unverdrossen, 
Ein  Donner  war  sein  Arm,   auch  unbewehrt  vom  Stahl, 
Ein  Donner,  veelchem  folgt'  ein  blut'ger  Blitzesstrahl, 
Und  der  die  Köpf  umflog  mit  einer  Flut  von  Schlössen. 

Wol  sah  er  eine  Welt  blutgierger  Feind'  in  Waffen, 
Um  abzukämpfen  ihm,  was  ihm  zukam  mit  Fug, 
Jedoch  ein  Atlas  war  er,  welcher  Alles  trug. 
Ein  Herkules,  die  Feind'  all'  aus  der  Welt  zu  schaffen. 

Gleichwie  im  Wald  ein  Schreck  die  Hindin  wird  erfassen, 
Sobald  des  Hifthorns  Schall  ihr  in  die  Ohren  schwirrt. 
Bei  Heinrichs  Namen  ward  also  der  Feind  verwirrt, 
Er  flöh  von  Furcht  entseelt,  von  Mute  ganz  verlassen. 

Der  Eine  fühlte  schon,  wie  ihn  dass  Schwert  verletzte. 
Wie  dicke  Tropfen  Bluts  entlockt  der  scharfe  Schlag, 
Der  Andre,  wie  er  schon  betäubt  am  Boden  lag, 
Indem  den  armen  Leib  das  Eisen  ihm  zerfetzte. 

So  in  der  Lämmer  Schaar  sieht  man  den  Löwen  hausen. 
Wenn  mit  den  Hunden  auch  der  Schäfer  ihn  umringt, 
Wie,  Glut  im  Aug',  er  wetzt  den  Zahn,  den  Schweif  er  schwingt 
Seht  fassen  ihn  die  Beut',  und  morden  und  zerzausen! 

Wer  da  just  plünderte,  der  war  fürwahr  zu  preisen. 
Und  wer,  gesenkt  die  Waff',  und  alles  Kampfes  baar; 
Da  halfen  Hände  nicht,  half  nur  der  Füsse  Paar, 
Als  Briareus  nicht,  nur  als  Hirsch  sich  zu  erweisen. 

Drum  hat  kein  König  je  erblickt  so  grosse  Haufen 
Bewaffneter  den  Streich  des  grimmen  Tods  empfahn, 
Auch  sähe  Charon  nie  zu  seinem  schwarzen  Kahn 
So  ungeheure  Zahl  entfleischter  Geister  laufen. 

Drum  Bär  du,  Tiger  du  vielmehr,  du  standst  im  Solde 
Traun  der  Erinnyen,  der  wilden  allzumal, 
Als  gegen  den  die  Hand  du  mit  verruchtem  Stahl 
Erhobst,  der  unsre  Zeit  umgab  mit  reinem  Golde. 

Wer  war's,  der  dir  den  Arm  mit  solchem  Frevel  spannte, 
Dass  dir  des  Stosses  Graus  die  Sehne  nicht  verzehrt? 
Der  Dämon  traun  der  Nacht,  dem  es  zu  lang'  gewährt, 
Bis  er  zum  Erdenschlund  die  Sonne  Frankreichs  sandte. 

4* 


Ueber  den  provenzaliscben  Dichter  Goudouli 

Durch  allgemeinen  Krieg  des  Friedens  sanfte  Miene 
Zu  trüben,  diesem  Ziel  zustrebte  deine  Gier, 
Doch  deine  Wut  und  Glut  nichts  fruchtete  sie  dir, 
Durch  Gott  ward  ein  Neptun  aus  unserem  Delphine. 

Der  Frevler  sterbe  denn,  er,  dessen  Faust,  die  grause, 
Umwarf  in  Asch'  und  Staub  der  Tugend  Hochaltar! 
Denn  wahrlich  er  ist  noch  ein  wilderer  Barbar 
Als  der  ein  Freudenfeur  macht'  aus  Diana's  Hause. 

Des  Lichtes  Flamm'  erlosch;  es  brach,  das  seines  Gleichen 

Nicht  hatte,  das  der  Welt  unschätzbare  Geräth, 

Da,  wie  es  gut  ihm  däucht,  des  Todes  Sichel  mäht, 

Ins  Grab  versenkend  gleich  dem  Armen  auch  den  Reichen. 

Die  Welt  ist  gleich  dem  Meer,  das  Segel  unsers  Mastes 
Erfasst  so  Nachts  wie  Tags  der  Sturm  der  Fährlichkeit, 
Nur  unserm  König  fehlt  nichts  an  Vollkommenheit, 
Die  Sterne  tritt  der  Fuss  des  selgen  Himmelsgastes. 


An  den  Herrn  ersten   Präsidenten, 

Kanzler  der  Blumenspiele, 

und  an  die  Herren  Richter  und  Beisitzer. 

Kleine  Begrüssung. 

Heut,  wo  der  holde  Mai  erglänzt, 
Mit  Blumen  mehr  als  je  bekränzt. 
Wo  Berg  und  Thal  und  Wies'  und   Feld 
Ein  neu  hellgrün  Gewand  erhält. 
Wo  grossen  Augs  die  Sonn'  eiblickt 
Air  Holdes,  das  mit  Gunst  ihr  nickt. 
Dringt  in  das  Herz  die  Freud'  auch  mir. 
Zumal  der  Blumen  schauend  vier. 
Mit  Schmelz  und  Gold  und  Silbers  Licht 
Bekümmert  Hitz'  und  Frost  sie  nicht. 
Doch,  Blumen,  hallet's  hoch  und  werth,  . 
Dass  euch  der  grosse  Berlhier  ehrt. 
Sein  Nam'  ist  vollen  Rechts  geweiht 
Der  Ehre  der  Unsterblichkeit. 

Und  Herrn  ihr,  er,  durch  den  Toulouse 
Die  Wohnung  ist  der  heitern  Muse, 
Und  der  alljährlich  feiern   lässt 
Ein  wundersames  Blumenfest, 


nebst  Ueberse  tzungsproben  seiner  Gedichte,  53 

Ihr,  die  ihr  leert  mit   voller  Tasse 
Die  drei  Hahn'  am  Parnassusfasse, 
Gewährt  den  kleinsten  mir  der  Züge, 
Damit  ich  besser  euch  vergnüge. 
Nachdem  ein  Blümchen  ich  als  Gabe 
Für  meine  Müh'  erhalten  habe. 


Im   Rathhause. 

Indess  der  Liebesgott  das  Nest  anweist  zu  weben 
Dem  Nachtigallenpaar,  wo  es  in  Zweigen  ruht, 
Und  dann  das  Männchen  sucht  in  Hoffnung  junger  Brut 
Mit  Kuss  und  Zärtlichkeit  das  Weibchen  zu  umgeben ; 

Indess  sich  auf  der  Au  die  Pimpernellen  heben, 
Und  junger  Hirten  Schaar  einflössen  frischen  Mut, 
Wann  sie  die  Lämmer  führt  zur  allgemeinen  Hut: 
Ein  neu  Empfängniss  fühl'  ich  da  auch  mich  beleben. 

Allhier,  wo  Anmut  strahlt,  wo  duftet  jede  Trift, 
Eines  Sonetts  Hebamm'  itzt  wird  da  dessen   Ohr, 
Der  mich  vernimmt,  denn  leis  und  heimlich  schleicht's  hei-vor. 

0  hoher  Herr,  für  den  wohl  hundert  Sänger  glühen, 
Hoch  wird  und   überhoch  belohnt  mein  schwach  Bemühen, 
Wenn  günstig  euer  Blick  Kind  sowie  Mutter  trifft. 


Sonett. 


Ihr,  deren  Angesicht  der  Himmel,  will  er  krönen 
Sein  mächtiges  Gewand  mit  Lichtglanz,  euch  entleiht, 
Ihr  schönen  Fraun,  die  ihr  so  wunderfröhlich  seid, 
Dass  Niemand  wagt,  den  Pfeil  des  Amor  zu  verhöhnen, 

Liris  und  Guigoulet,  des  Dorfes   schönste  Schönen, 
Sie  wünschen,  dass  ihr  euch  wie  sie  dem  Feste  weiht. 
Zu  welchem  die  Schalmei  und  Pfeife  schon  jiichheit 
Mit  ihren  munteren  und  mutverleihnden  Tönen. 

Weist  uns,  nur  Hirten  zwar,  nicht  ab,  kommt,   kommt  herbei! 
Lasst  uns,  die  Diener,  Theil  an  unsrem  Scherz  euch  geben, 
Und  tanzt  und  springt  umher  auf  Gras  und  Klee  daliie ! 

Geschäftsdecember  wird  bei  uns  es  nun  und  nie, 
Denn  Heiterkeit  macht  uns  das  ganze  Jahr  zum  Mai, 
Ist  ganz  von  Freud'  und  Lust  erfüllt  doch  unser  Leben. 


1  Ueber  den  provenzallschen  Dichter  Goudouli  etc. 

Weihnachten,    zu  Ehren    der  helligen   Jungfrau. 

"Wir  sammeln  uns,  o  Hirtenschaar, 

Und  bringen  unsern  Gruss  sammt  Flehen, 

Sowie  es  ehedem  geschehen. 

Der  Königin  der  Engel  dar. 

Nie  wird  sich  unser  Angedenken 

An  Sie  in  öde  Nacht  versenken, 

Und  bis  der  letzte  Hauch  entflieht, 

Klingt  unser  Weihnachtsfeierlied. 

Erzengel  Gabriel  begann: 

„0  Jungfrau,  Du  gebenedeite, 

Du  bist  die  von  dem  Herrn  geweihte, 

Die  Mutter  seines  Sohns  fortan. 

Nie  wird  etc. 

Maria  drauf  demütiglich. 
Von  Freude,  wie  von  Reiz  umflossen : 
„So  thue  Gott,  was  er  beschlossen: 
Denn  seinem  Wort  bequem  ich  mich." 
Nie  wird  etc. 

Da  trieb  sofort  der  heiige  Geist 
Sein  Werk  in  ihrem  Innern  Wesen. 
Wie  Jungfrau  sie  bisher  gewesen, 
Sie  auch  hinfüro  sich  beweist. 
Nie  wird  etc. 

Ein  grosses  Wunderding  geschah, 
Nicht  menschlichem  Verstand  zu  fassen; 
Denn  ohn'  ihr  Mädchenthum  zu   lassen, 
*  Gebar  ein  schönes  Kind  sie  da. 
Nie  wird  etc. 

So  stimmt,  ihr  Hirten,  stimmet  ein! 
Zur  Jungfrau  lasst  uns  bittend  gehen, 
Gott  Sohn  und  Vater  anzuflehen, 
Das  Paradies  uns  zu  verleihn. 
Nie  wird  sich  unser  Angedenken 
An  sie  in  öde  Nacht  versenken. 
Und  bis  der  letzte  Hauch  entflieht, 
Klingt  unser  Weihnachtsfeierlied. 

Berlin.  K.  L.  Kannegies  ser. 


lieber 

Ben    Jonson's    Maskenspiele. 


Auf  dem  Gebiete  der  Poesie  finden  sich  allerlei  Produc- 
tionen,  welche  zu  sehr  den  Charakter  von  Gelegenheitsgedichten 
an  sich  tragen,  um  als  Kunstwerke  im  höchsten  Sinne  des 
Wortes  gelten  zu  dürfen ,  während  wir  uns  doch  wiederum 
kaum  für  berechtigt  halten,  sie  bloss  der  feinen  geselligen  Un- 
terhaltung zuzuweisen  oder  als  Spielereien  der  Liebhaberei  bei 
Seite  zu  schieben.  Sie  lassen  sich  mit  einem  Bau  wie  der  Kry- 
stallpalast  zu  Sydenham  insofern  vergleichen,  als  dieser,  ohne 
Anspruch  auf  streng  abgemessne  architektonische  Schönheit, 
den  Zweck,  welchem  er  seinen  Ursprung  zu  danken  hat,  in 
seiner  ganzen  Anlage  offenbart;  dennoch  ist  der  Anblick  köst- 
lich, ja  zauberhaft,  das  durchsichtige  Gehäuse  selbst  gleicht  den 
Schlössern  der  Feenmährchen,  und  es  birgt  in  sich  zu  gleicher 
Zeit  die  mannigfaltigsten  Erzeugnisse  der  Industrie,  die  herr- 
lichsten Kunstschätze  und  den  Tribut,  welchen  die  Xatur  aus 
fernen  Zonen  gesandt  hat.  Ja  selbst  die  Tonkunst  wird  dienst- 
bar gemacht,  um  den  Eindruck  des  Ganzen  auf  unsre  Sinne 
zu  steigern.  Etwas  ganz  Aehnliches  lässt  sich  von  den  eng- 
lischen Maskenspielen  (Masques)  sagen.  Im  Vergleich  mit  echten 
Dramen  erscheinen  sie  zweifelhafter  Abstammung  und  verhehlen 
nur  allzuwenig,  dass  sie  durch  zufällige  Lustbarkeiten,  beson- 
ders am  Hofe,  in's  Leben  getreten  sind.  Ihr  Wesen  bleibt  zwit- 
terhaft, weil  der  Dichter  nicht  bestrebt  gewesen  ist,  den  Stoff 
in  völlig  freier  und  idealer  Weise  durch  die  Kunstform  zu  binden. 
Es    manjirclt    ihnen   fast    durcho-ehcnds   an    einer   genauen   Glic- 


56  Ben  Jonson's  Maskenspiele. 

derung,  die  Theile  fügen  sich  ohne  innern  und  nothwendigen 
Zusammenhang  lose  an  einander,  und  von  Charakterzeichnung 
ist  kaum  die  Rede,  oder  sie  beschränkt  sich  auf  allgemeine  und 
flüchtig  angedeutete  Züge.  Dennoch  lassen  wir  uns  geneigt 
finden,  dem  leichten  Spiel  der  Grazie  im  Einzelnen  zu  Gefallen 
den  flüchtigen  Entwurf  des  Ganzen  zu  übersehen,  und  in  An- 
betracht des  phantastischen  Charakters,  welcher  zu  so  arabes- 
kenartigen Skizzen  nothwendig  zu  gehören  scheint,  die  Forde- 
rungen der  Kunstkritik  herabzustimmen.  Alle  Künste,  welche 
frohen  Lebensgenuss  zu  erhöhen  vermögen,  unterstützen  den 
Dichter,  freilich  in  einer  künstlichen  Vereinigung,  nicht  wie  in 
den  scenischen  Dichtungen  der  Griechen  als  Abzweigungen  vom 
heitern,  sinnlichen  Cultus.  Obgleich  jene  Werke  nicht  sowohl 
den  frei  aus  ihrem  heimischen  Boden  entsprossenen  Blumen, 
als  vielmehr  den  exotischen  Zierpflanzen  gleichen,  welche  man 
in  dem  so  eben  erwähnten  Glaspalaste  künstlich  pflegt,  so  hat 
doch  auch  hier,  gerade  wie  in  der  Blumenzucht,  sinnreiches 
Geschick  die  einfachen  Blüten  zu  einem  bunten  Naturspiel  zu 
steigern  gewusst. 

Die  englischen  Maskenspiele  als  eine  eigne,  wenn  gleich  sehr 
untergeordnete,  dramatische  Kunstgattung,  oder,  wenn  man  will, 
als  Zwitterform  zwischen  Gesellschaftsspiel  und  Komödie,  knü- 
pfen sich  hauptsächlich  an  den  Namen  Ben  Jonson's  an.  Zu 
ihrer  Charakteristik  ist  es  nöthig,  zuvor  die  Masqueraden  im 
englischen  Mittelalter,  die  sogenannten  pageants,  und  die  ver- 
schiedenen mit  dem  Worte  entertainment  bezeichneten  öffent- 
lichen Belustigungen  in  Betracht  zu  ziehen. 

Was  zunächst  das  Wort  Maske  (mask,  masque)  betrifft, 
so  ist  es  von  Grimm  (D.  Myth.  p.  1036)  auf  das  mittellatei- 
nische masca,  die  Hexe,  zurückgeführt,  von  Andern  mit  dem 
Ahd.  mäsa  (Fleck),  masca  (Netz)  und  dem  Nhd.  Masche  (Engl, 
mesh,  gewöhnlich  im  plur. ,  vgl.  to  meash ,  to  mesh  =  to  en- 
tangle) in  Verbindung  gesetzt  worden.  Diez,  Wörterb.  der  Rom. 
Sprachen,  S.  219  AT.  Vielleicht  enthält  das  von  dem  Letztern 
angeführte  Ags.  Wort  mäscre  die  beiden  Bedeutungen  Fleck 
und  Masche  wie  das  lateinische  macula.  Auch  scheint  es  mir 
nicht  unwahrscheinlich,  dass  sich  in  dem  Worte  Maske  selbst 
Avirklich    zwei    verschiedene    Fäden    zu   einer   Masche    verknüpft 


Ben  Jonson's  Maskenspiele.  57 

haben.  Die  Ableitung  vom  deutschen  Worte,  welcher  Diez  in 
rein  etymologischer  Hinsicht  den  Vorzug  einräumt,  obgleich  er 
die  andre  ihrer  Bedeutung  wegen  für  besser  erklärt,  findet  noch 
mehr  als  durch  die  von  ihm  citirten  Worte  des  Plinius,  H.  N. 
XII,  32  (14  ist  ein  Druckfehler),  persona  adjicitur  capiti ,  den- 
susve  reticulus,  eine  Bestätigung  in  der  weitläuftigen  Para- 
phrase seines  Uebersetzers  Holland  (c.  1600):  „Hoodwinked 
he  (the  workraann)  is  sure  ynough  for  seeing  the  way  too  and 
fro,  and  hath  a  thicke  coife  or  mask  about  his  he  ad, 
for  doubt  that  he  should  bestow  any  (frankincense)  in  mouth  or 
eares.  Richardson,  Engl.  Dict.  v.  mask.  Unter  den  von  Ri- 
chardson  angeführten  Stellen  ist  die  älteste  Lydgate's  Story  of 
Thebes  entnommen;  doch  wird  das  Wort  darin  figürlich  ge- 
braucht, muss  also  schon  gäng  und  gäbe  gewesen  sein.  Bei  Chaucer 
scheint  es,  wenigstens  in  den  Canterbury  Tales,  noch  nicht  vor- 
zukommen, so  wie  ihm  auch  das  von  Gower  gebrauchte  viser 
(visiere,  später  visure,  visour,  visor,  vizor,  vizard)  fremd  sein 
dürfte.  Dies  blieb  lange  Zeit  der  gewöhnliche  Ausdruck  für 
Maske,  es  ist  in  mehreren  Stellen  Edw.  Hall's  und  Ben  Jonson's*) 
wie  auch  bekanntlich  von  Shakspere  dafür  gebraucht  und  häufig 
von  Dichtern  und  Prosaikern  in  figürlicher  Bedeutung  ange- 
wandt. Milt.  Com.  698  vizored  falsehood.  Vgl.  die  Stellen  aus 
Gower's  Conf.  Am.  bei  Rieh,  h.  v. 

Von  den  eigentlichen  Maskeraden,  welche  etwa  ein  Jahr- 
hundert nach  Chaucer  und  Lydgate  aufkamen,  müssen  die  schon 
früher  üblichen  Mummereien  wohl  unterschieden  Averden.  Doch 
scheint  sich  für  das  Wort  mumming  keine  Autorität  zu  finden 
vor  Fabyan  (stirbt  wahrscheinlich  1512)  ;  die  Inteijection  mum  und 
das  entsprechende  Substantiv  sind  _davon  zu  trennen.  In  Brand's 
Populär   Antiquities   of  Great   Britain   Vol.   I.  p.    463,   Bohn's 


*)  Vgl.  Lord  Bacon's  essay  on  niasks  and  triumphs,  in  dem  vizard  die 
Maske,  mask  das  Maskenspiel  bezeichnet,  wie  gewöhnlich  bei  Ben  Jonson. 
Shakspere  gebraucht  Romeo  and  Jul.  I,  1  s.  f.  und  Mcas.  for  Meas.  II,  4 
das  Wort  mask  von  den  schwarzen  Masken,  welche  Damen  zu  tragen  pfleg- 
ten, wahrend  er  sich  sonst  des  Ausdrucks  vizor  bedient,  so  z.  B.  Romeo  and 
Jul.  I,  5.  Man  vergleiche  noch  Ben  Jonson,  The  Masque  of  Queens,  in.  — 
where  sometimes  also  they  (the  witches)  are  vizarded  and  masked  (maskirt 
und  verkleidet). 


58  Ben  Jonson's  Maskenspiele. 

ed.,  ist  eine  Stelle  aus  Stow's  berühmtem  Werke  „Survey  of 
London"  (p.  97,  ed.  1603)  abgedruckt,  worin  ein  von  den  Lon- 
donern Bürgern,  im  Jahre  1377,  zu  Pferde  und  beim  Scheine 
von  Fackeln,  mit  allerlei  Vermummungen  veranstalteter  Aufzug 
beschrieben  wird.  Einige  stellten  Ritter  mit  ihren  Knappen  vor, 
Andre  den  Papst  und  das  Cardinalcollegium ,  wieder  Andre  die 
Gesandten  fremder  Fürsten.  Sie  trugen  sämmtlich  Masken, 
zogen  nach  Kennington  und  spielten  dort  in  der  Halle  mit  Prinz 
Richard,  dem  Sohne  des  schwarzen  Prinzen,  welchem  zu  Ehren 
die  Festlichkeit  veranstaltet  war,  so  wie  mit  den  Herrn  vom 
Hofe  allerlei  Würfelspiele,  worauf  ein  Tanz  der  Lords  mit  den 
maskirten  Bürgern  folgte.  Eine  ganz  ähnliche  Vermummung, 
heisst  es  in  derselben  Stelle,  wurde  von  12  Aldermen  von  London 
und  deren  Söhnen  zu  Ehren  König  Heinrich's  IV.  veranstaltet, 
als  dieser  im  zweiten  Jahre  seiner  Regierung  das  Weihnachts- 
fest feierte.  Dergleichen  war  auch  bei  Krönungsprocessionen 
gebräuchlich ;  ein  recht  anschauliches  Bild  gewährte  vor  einigen 
Jahren  die  Darstellung  einer  solchen,  die  auf  dem  Princess's 
Theatre  unter  Kean's  Leitung  in  Shakspere's  Richard  IL  ein- 
gelegt zu  werden  pflegte,  mit  genauer  Beobachtung  des  Kostüms 
und  alles  Zubehörs  —  so  trat  in  hergebrachter  Weise  ein  Mann 
in  der  Gestalt  eines  Bären  auf.  Besonders  üblich  waren  ferner 
Vermummungen  um  Weihnachten;  sie  bestanden  theils  aus  un- 
regelmässigen, improvisirten  Verkleidungen,  theils  standen  sie 
mit  dem  komischen  Hofstaate  des  Lord  of  Misrule,  or  Master 
of  merry  Disports  (Rex  Fabarum)  in  Verbindung  und  entspra- 
chen der  römischen  Festtracht  an  den  Saturnalien  (synthesis 
nebst  pileus)  gerade  so  wie  jener  Narrenkönig  dem  in  Rom  wäh- 
rend des  genannten  Festes  erwählten  Scheinfürsten.  Das  Nähere 
über  die  beim  Weihnachtsfeste  des  Merry  Old  England  her- 
kömmlichen Trachten  ersehen  wir  aus  Ben  Jonson's'^'Masque  of 
Christmas,  vom  Jahre  1616.  Christmas,  old  Christmas,  Christ- 
mas of  London,  captain  Christmas  ist  ein  ählicher  Mann  mit 
langem,  dünnem  Bart ;  sein  Kopf  wird  von  einem  hohen  Hut  be- 
deckt, in  der  Hand  führt  er  einen  Stab  (truncheon)  und  seine 
Kleidung  besteht  aus  einem  engen  Wamms,  Pluderhosen  und 
langen  Strümpfen  oder  Tricots  mit  kreuzweis  gebundenen  Strumpf- 
bändern ä  la  Malvolio.    Ein  Par  Trabanten  gehen  ihm  zur  Seite, 


Ben  Jonson's  Maskenspiele.  59 

und  vor  ihm  her  wird  eine  Trommel  gerührt.  Seine  zehn  Kinder, 
Söhne  und  Töchter,  führt  Cupido  (Robin  Cupid)  herein,  in 
der  Tracht  eines  LehrUngs,  aber  mit  Fitticlien  an  den  Schultern. 
Es  folgt  der  Zechbruder  Misrule  mit  einem  Zweige  auf  der 
Sammetmütze,  in  kurzem  Mantel  und  grosser  gelber  Halskrause ; 
sein  Fackelträger  hält  Strick,  Käse  und  Korb,  die  gleich  dar- 
auf im  Gesänge  des  Christmas  wieder  vorkommenden,  jedoch 
nicht  weiter  erklärten  und  von  Brand  in  seinem  ausführlichen 
Artikel  über  den  Lord  of  Misrule  (Pop.  Ant.  Vol.  I.  p.  497  — 
505)  gar  nicht  berührten  Embleme  des  lustigen  Fürsten.  Dann 
kommen,  gleichfalls  eigenthümlich  kostümirt,  Christmas  Ca- 
rol,  Minced  Pie,  Gambol,  das  alte  Kartenspiel  Post  und  Pair, 
New  Year's  Gift,  Mumming  in  scheckigem  Kleide  und  mit 
einer  Maske  (vizard),  der  Fackelträger  des  letztern  schüttelt  die 
Würfel  im  Becher.  Endlich  schliessen  sich  ihnen  noch  an  Wassel, 
OfFering  und  Baby-cake,  als  kleiner  Junge  in  langem  Kleide, 
mit  Kindermütze  und  Geiferlätzchen,  bewaffnet  mit  einem  höl- 
zernen Dolche;  ein  Begleiter  trägt  den  Bohnenkuchen.  Die  Dar- 
stellung des  personificirten  Christmas  ist  bis  auf  den  heutigen 
Tag  bei  englischen  Dichtern  und  Komanschreibern  im  Wesent- 
lichen dieselbe  geblieben  Avie  die  Ben  Jonson's  ;  auch  haben  die 
Engländer  überhaupt  an  den  meisten  der  so  eben  aufgezählten 
Einzelheiten  ganz  conservativ  festgehalten.  Eins  vermisst  man 
unter  den  Sinnbildern,  den  schon  im  lustigen  Altengland  wohl- 
bekannten, noch  aus  dem  Heidenthum  stammenden  Mistelzweig; 
anderes  Laubwerk  jedoch,  nur  nicht  die  gleichfalls  dem  Weih- 
nachtsfest angehörende  Stechpalme  (holly),  dient  zum  Schmuck 
oder  zur  Bezeichnung  der  maskirten  Charaktere. 

Von  anderweitigen  Mummereien  erwähnen  wir  -nur  einen 
Tanz  von  Männern  und  Frauen,  welcher  in  einem  der  Bodle- 
janischen  Bibliothek  angehörigen  Manuskripte  des  Roman  dAle- 
xandre  auf  dem  Rande  dargestellt  ist.  Brand,  1.  c.  Vol.  IL,  p. 
388.  Die  Männer  sind  verkleidet  und  maskirt;  der  eine  hat 
einen  Hirschkopf,  der  zweite  den  eines  Wolfs ,  der  dritte  eines 
Bären,  also  wie  das  Gefolge  des  Comus  im  ]Milton'schen  Stücke. 
Der  Tanz  maskirter  Männer  mit  Frauen  deutet  auf  die  sogleich 
zu  beschreibenden,  eigentlichen  Masqueraden  hin. 

In  der   von    Edward    Hall    verfissten   und    von   ihm    selbst 


60  Ben  Jonson's  Maskenspiele. 

nur  bis  zum  Jahre  1532  geführten  Chronik*)  heisst  es:  „On 
the  daie  of  the  epiphaine,  at  night  (AD.  1512  — 13),  the  king 
(Henry  VIII.)  with  eleven  others  were  disguised  after  the 
manner  of  Italie,  called  a  maske,  a  thing  not  seen 
afore  in  England:  thei  were  appareled  in  garmentes  long 
and  brode,  wrought  all  with  golde,  with  visers  and  cappes  of 
golde ;  and  after  the  banket  doen ,  these  maskers  came  in  with 
the  six  gentlemen  disguised  in  silke,  beryng  stafTe  torches,  and 
desired  the  ladies  to  daunce:  some  were  content;  and  some 
that  kneAV  the  fashion  of  it  refused,  because  it  was  nota 
thing  commonly  seen:  and  after  thei  daunced  and 
commoned  together,  as  the  fashion  of  the  maskes  is, 
thei  toke  their  leave  and  departed,  and  so  did  the  quene  and 
all  the  ladies."  Penny  Cyclop.  Art.  Masquerade,  Vol.  XIV., 
p.  183.  Die  hier  beschriebene  Masquerade  (maske)  wird  als 
etwas  aus  Italien  Stammendes,  in  England  bisher  Unbekanntes 
bezeichnet,  und  der  Unterschied  von  den  früher  geschilderten 
Mummereien  darin  gesetzt,  dass  diemaskirten  Herrn  mit  den  Da- 
men tanzten  und  dass  die  ganze  Gesellschaft  an  der  Unterhaltung 
Theil  nahm ;  während  früher  keineswegs  hohe  Herrschaften  selbst, 
sondern  Andre  zu  ihrer  Erlustigung  in  Verkleidung,  und  zum 
Theil  mit  Masken  erschienen.  Eine  Masquerade  grade 'wie  die 
von  Hall  bezeichnete,  von  Herrn  allein  aufgeführte,  hat  Shak- 
spere  in  Heinrich  VIII,  (Akt  I.  zu  Ende)  auf  die  Bühne  gebracht. 
Es  fehlen  hier  keineswegs  die  Fackelträger,  denen  wir  schon  so 
eben  in  der  Schilderung  Hall's,  so  wie  in  der  Masque  of  Christ- 
mas begegnet  sind  und  in  andern  Ben  Jonson'schen  Masken- 
spielen begegnen  werden.  Auch  in  diesem  Punkte  fand  Ueber- 
einstimmung  mit  einem  Gebrauche  an  den  Saturnalien  statt;  ich 
meine  die  von  alten  Schriftstellern  oft  erwähnten  Kerzen  (cerei), 
die  moccoli  der  Italiäner. 

Wir  müssen  nun  einen  Blick  auf  die  sogenannten  pageants 
werfen,  die  Ebert  in  dem  Aufsatze  über  die  englischen  Myste- 
rien  (Jahrbuch  für  Romanische   und  Englische   Lit.  I.,  p.  70) 


*)  Gewöhnlich  citirt  Hall's  Chronicle,  der  vollständige  Titel  lautet:  The 
Union  of  the  two  noble  and  illustrate  families  of  Lancaster  and  Yorke,  ed. 
princ.  1542.  Hall  starb  im  Todesjahre  Heinrich's  VUI. 


Ben  Jonson's  Maskenspiele.  61 

folgendermassen  erklärt:  „pageants  im  eminenten  Sinne"  —  d.h. 
in  der  speciellen  Bedeutung  des  Worts  —  „sind  jene  tableau- 
artigen  Darstellungen,  die  auf  besondern,  mit  Inschriften  und 
Basreliefs  verzierten  Gerüsten  bei  feierlichen  Einzügen  von 
Fürstlichkeiten  an  bestimmten  Punkten  der  Strassen,  durch 
welche  sich  der  Zug  bewegte,  stattfanden."  Damit  stimmt  auch 
der  Ausdruck  Gifford's  überein:  „Pageants  (I  do  not  speak  of 
those  proud  displays  of  pasteboard  giants  and  monsters  which 
amazed  the  good  Citizens  on  holidays)  were  the  reliques  of 
knight-errantry . "  Memoirs  of  Ben  Jouson,  p.  65,  new  ed.  Lond. 
1858.  .  Obgleich  sich  gegen  die  Bezeichnung  reliques  of  knight- 
errantry  wohl  Manches  erinnern  lässt,  so  bestätigen  doch  die 
angeführten  Worte  die  Bedeutung  von  pageants  als  tableauar- 
tigen  Darstellungen,  die  in  der  äussern  Einrichtung  den  Bildern 
von  Mordgeschichten  auf  unsern  Jahrmärkten  ähneln  mochten. 
Darstellungen,  die  wir  zur  Klasse  der  pageantry  rechnen 
müssen,  wuixlen  nicht  bloss  auf  der  Bühne,  sondern  eben  so 
gut  bei  öffentlichen  Aufzügen  und  andern  festlichen  Gelegen- 
heiten angewandt.  Die  Art  derselben,  welche  Gifford  in  der 
angeführten  Stelle  von  den  gewöhnlichen  pageants  ausschliesst, 
kommt  in  der  Beschreibung  der  berühmten,  zu  Ehren  der  Kö- 
nigin Elisabeth  auf  dem  Schlosse  Kenilworth  im  Jahre  1575 
veranstalteten  Feierlichkeiten  vor.  Bei  ihrer  Ankunft  am  Sonn- 
abend, dem  9.  Juli  jenes  Jahres  wurde  die  Königin  in  der 
Nähe  des  Schlosses  von  einer  als  Sibylle  verkleideten  Frau 
empfangen ,  die  dem  Lande  während  ihrer  Regierung  Frieden 
und  Glück  verhiess.  Oberhalb  des  äussern  Schlossthors  standen 
sechs  gigantische  Figuren  mit  Trompeten  (also  pasteboard-giants); 
wirkliche  Trompeter  waren  dahinter  verborgen  und  fingen  zu 
blasen  an,  als  die  Fürstin  herankam.  Diese  Figuren  hatten  eine 
allegorische  Bedeutung,  zu  der  uns  glücklicherweise  der  Schlüssel 
überliefert  ist;  sonst  würden  wir  sie  schwerlich  errathen.  Man 
wollte  nämlich  andeuten,  die  Menschen  seien  zu  Zeiten  des 
Königs  Arthur  eme  Elle  länger  gewesen  als  ihre  körperlich  de- 
generirten  Nachkommen;  so  sollten  die  Zuschauer  folgerichtig 
auf  die  Pointe  kommen,  dass  das  Schloss  von  den  Erben  des 
alten  mythischen  Helden  bewohnt  werde.  Beim  Eintritte  in  den 
untern  Schlosshof  ward  die  Königin  von    einer  Dame    begrüsst, 


62  Ben  Jonson's  Maskenspiele. 

die  als  Herrin  des  See's  (lady  of  the  lake)  in  Begleitung  von 
zwei  Wassernymphen  über  ein  dort  befindliches  Bassin  schritt. 
Um  in  den  innern  Schlosshof  zu  gelangen,  musste  eine  Brücke 
passirt  werden,  zu  deren  beiden  Seiten  auf  dem  Geländer  allerlei 
Embleme  angebracht  waren,  Vögel  in  Käfichen,  als  Geschenke 
des  Gottes  Silvanus,  Früchte  in  silbernen  Schalen,  die  Gaben 
der  Pomona,  Weintrauben  und  Fische,  von  Bacchus  und  Neptun 
herrührend,  zuletzt  die  Waffen  des  Kriegsgottes  nebst  der  Leier 
des  Apollo.  Nachdem  dies  Alles  in  einer  lateinischen  Rede  war 
erklärt  worden,  hub  ein  ausgezeichnetes  Musikcorps  zu  spielen 
an,  gerade  in  dem  Augenblicke,  da  die  Königin  vom  Pferde 
stieg,  um  sich  in  die  für  sie  in  Stand  gesetzten  Gemächer  des 
ersten  Stockwerks  zu  begeben.  Am  Sonntag  Abend  wurde 
sie  mit  Feuerwerken  unterhalten,  die  theils  in  der  Luft,  theils 
auf  dem  Wasser  spielten.  Am  Montag  trat  ihr  bei  der  Rück- 
kehr von  einer  Jagdpartie  der  als  Wilder  verkleidete  Dichter 
George  Gascoigne  entgegen  und  ertheilte  ihr  allerlei  hochtra- 
bende Complimente  in  einem  Dialoge,  wobei  ein  Echo  die  zweite 
Rolle  übernahm.  So  ging  es  die  ganze  Woche  fort;  bald  gab 
es  Musik  und  Tanz,  bald  Spiele,  bald  Bärenhetzen,  dann  wieder 
theatralische  und  pantomimische  Aufführungen,  Zwischenspiele 
avif  dem  Wasser  oder  Vorstellungen  von  Gauklern,  dazu  kamen 
noch  Wettrennen  und  Wettstechen.  Unter  den  übrigen  der 
Königin  bereiteten  Vergnügungen  zeichnete  sich  eine  theatra- 
lische Darstellung  auf  dem  Wasser  aus.  Arion  ritt  auf  einem 
24  Fuss  langen  Delphin  und  sang  unter  Begleitung  von  sechs 
nach  Art  des  Jonas  im  Fischleibe  versteckten  Musikanten  ein 
Lied,  welches  von  Einem  der  Anwesenden,  Laneham  (the  dif- 
fuse and  most  entertaining  coxcomb  Laneham),  in  den  über- 
schwänglichsten  Ausdrücken  gepriesen  ist  und  nach  Knight's 
Vermuthung  im  Leben  Shakspere's  dem  Dichter  Veranlassung 
gegeben  hat  zu  der  bekannten  analogen  Schilderung  im  Som- 
mernachtstraum. Bei  dieser  Gelegenheit  soll  auch  der  in  dem- 
selben Stück  benutzte,  jedoch  von  einzelnen  Kritikern,  wenigstens 
in  Bezug  auf  die  Festlichkeit  in  Kenilworth,  fortgeleugnete  Witz 
vorgekommen  sein,  dass  ein  gewisser  Harry  Goldingham,  da  er 
wohl  seine  Stimme  für  die  Rolle  des  griechischen  Sängers  zu 
heiser  finden  mochte,  plötzlich  zum  grossen  Ergötzen  der  Königin 


Ben  Jonson's  Maskenspiele.  63 

die  Kleider  abgeworfen  und  geschworen  habe,  er  sei  kein  Arion 
sondern  der  ehrliche  Harry  üoldinghain. 

Noch  etwas  näher  steht  den  Hofmasquen  Ben  Jonson's 
der  Plan  zu  einer  scenischen  Auffühi-ung,  welche  bei  einem 
beabsichtigten  Zusammentreffen  der  Königin  Elisabeth  mit  Maria 
Stuart  auf  dem  Schlosse  zu  Nottingham  im  Mal  des  Jahres 
1562  stattfinden  sollte,  aber  unterbleiben  musste,  da  die  Zusam- 
menkunft selbst  bald  wieder  aufgegeben  wurde.  ColHer  hat  den- 
selben in  seinen  Analen  der  englischen  Bühne  ausführlich  mit- 
getheilt ;  da  mir  dies  Werk  augenblicklich  nicht  zu  Gebote  steht, 
so  muss  ich  mich  an  den  Auszug  in  Chambers  Cycl.  of  Engl. 
Lit.  1.,  p.  199  halten.  Zuerst  sollte  die  Halle  ein  Gefängniss 
vorstellen,  das  uns  trotz  des  Namens  der  völligen  Vergessen- 
heit (Extreme  Oblivion)  jetzt  allerdings  wie  ein  übel  gewähltes 
Symbol  der  Zukunft  erscheinen  muss.  Der  Gefängnisswärter 
sollte  Argus,  auch  Vorsicht  (Circumspection)  heissen,  und  es  sollte 
ein  Maskenzug  von  Frauen  in  folgender  Ordnung  auftreten. 
Zuerst  Pallas,  auf  einem  Einhorn  reitend  und  eine  Fahne  in  der 
Hand  ti'agend,  auf  welcher  man  zwei  in  einander  gefügte  Frau- 
enhände mit  der  Inschrift  Fides  in  goldenen  Buchstaben  er- 
blickte. Dann  zwei  neben  einander  reitende  Damen,  die  eine 
auf  einem  goldnen,  die  andre  auf  einem  rothen  und  gleich  dem 
erstem  mit  goldner  Krone  geschmückten  Löwen;  sie  sollten 
zwei  Tugenden,  und  zwar  jene  Prudentia,  diese  Tempe- 
rantia  bedeuten.  Dann  sollten  sechs  bis  acht  maskirte  Damen 
die  Zwietracht  und  den  falschen  Leumund  (Di s cor d  undFalse 
Report)  an  goldnen  Ketten  gefangen  einbringen.  Und  nach- 
dem sie  durch  die  Halle  gezogen,  sollte  Pallas  in  Versen  er- 
klären, sie  hätten  von  d^r  Zusammenkunft  der  beiden  Köni- 
ginnen gehört  und  ihnen  mitzutheilen  beschlossen ,  dass  jenen 
Tugenden,  der  Prudentia  und  Temperantia,  auf  ihre  Bitte  von 
Jupiter  die  Zwietracht  und  der  falsche  Leumund  zur  Bestra- 
fung ausgsliefert  wären,  sie  würden  daher  in  das  Gefängniss 
der  Vergessenheit  geworfen  und  von  Argus  bewacht  werden; 
diesem  sollte  Prudentia  ein  Schloss  überreichen  mit  der  Inschrift 
In  Eternum,  Temperantia  aber  einen  mit  Nunquam  be- 
zeichneten Schlüssel.  Nachdem  dies  geschehen,  sollten  die  eng- 
lischen Damen  die  fremden  Herrn  vom  Adel  zum  Tanz  auffordern. 


64  Ben  Jonson's  Maskenspiele. 

Am  zweiten  Abend  sieht  man  ein  Schloss,  und  der  Friede 
wird  von  einem  Elephanten,  auf  dem  die  Freundschaft  reitet, 
in  einem  Wagen  hereingezogen.  Die  letztere  hält  eine  Rede 
über  das  am  vorigen  Abend  Geschehene,  und  der  Friede  bleibt, 
um  mit  Weisheit  und  Massigung  zusammen  zu  wohnen.  Am 
dritten  Abend  erscheint  der  übermüthige  Trotz  (Disdain)  auf 
einem  wilden  Eber  in  Begleitung  der  vorbedachten  Bosheit 
(Prepensed  Malice)  in  Gestalt  einer  Schlange.  Sie  suchen 
vergeblich  die  Zwietracht  und  den  falschen  Leumund  zu  be- 
freien; denn  Muth  und  Klugheit  (Courage  und  Discretion) 
leisten  ihnen  Widerstand.  Der  übermüthige  Trotz  muss  ent- 
fliehen und  die  vorbedachte  Bosheit  wird  erschlagen.  Es  ist  die 
Erklärung  hinzugefügt,  dass  zwar  einige  Schlechte  dem  zwischen 
jenen  Tugenden  geschlossenen  Frieden  Ti'otz  bieten  mögen,  dass 
aber  ihre  vorbedachte  Bosheit  leicht  zu  Boden  getreten  wird. 
Ausserdem  wird  noch  erwähnt,  dass  zu  Ende  der  zweiten  Abend- 
unterhaltung  Wein  aus  Röhren  fliessen  sollte ,  während  eines 
Maskentanzes  der  englischen  Lords  mit  den  schottischen  Ladies, 
und  dass  zum  Beschluss  der  dritten  Aufführung  sechs  oder 
acht  maskirte  Damen  ein  Lied  singen  sollten  so  harmonisch  als 
sie  nur  immer  vermöchten. 

So  wie  Gascoigne  von  den  Vergnügungen  in  Kenilworth, 
bei  denen  er  selbst  eine  Rolle  spielte,  eine  Beschreibung  ge- 
liefert hat,  so  auch  Ben  Jonsou  von  den  Darstellungen  bei  Ge- 
legenheit der  Krönung  Jakob's  I.  Sie  steht  in  seinen  Werken 
unter  der  Ueberschrift :  Part  of  King  James's  entertain- 
ment,  in  passing  to  his  coronation.  Es  traten  darin  wie 
in  den  so  eben  besprochenen,  von  der  Königin  Elisabeth  beab- 
sichtigten'scenischen  Aufführungen  viele  den  Figuren  der  Mo- 
ralities  entsprechende  allegorische  Charaktere  und  Personifica- 
tionen  auf,  z.  B.  Theosophia  or  Divine  Wisdom,  Euphrosyne 
or  Gladness,  Prothymia  or  Promptitude,  Agrypnia  or  Vigilance, 
Agape  or  Loving  Affections,  Omothymia  or  Unanimity  u.  dgl.  m. 
in  stummen  Rollen  auftreten,  ein  Flamen  Martialis  und  der 
Genius  Urbis  zum  Theil  sehr  lange  versificirte  Anreden  (speeches 
of  gratulation)  halten.  Die  Procession  bewegte  sich  von 
Fen  Church  durch  Temple  Bar  nach  dem  Strand,  wo  zwischen 
zwei    70    Fuss    hohen,    mit    dem    schottischen    und    englischen 


Ben  Jonson's  Maskenspiele.  65 

Stammbaum  des  Königs  geschmückten  Pyramiden  ein  Eegen- 
bogen  ausgespannt  war  und  Sonne  und  Mond  nebst  den  7  Ple- 
jaden,  mit  Electra  als  ihrer  Sprecherin,  hervortraten.  Ueberall 
waren  lateinische ,  theils  eigens  hierfür  coraponirte .  theils 
alten  Dichtern  entnommene  Inschriften  angebracht.  Beiläufig 
erwähne  ich,  dass  man  bei  derartigen  GelQgenheiten  die  Worte 
auch  auf  Zettel  schrieb,  welche  den  abgebildeten  Figuren  aus 
dem  Munde  hingen;  dies  sagt  ein  Erklärer  Shakspere's  in  der 
Note  zu  painted  imagery,  Eich.  IL,  5,  2,  in.  An  einem 
Punkte  der  City  stand  zwischen  dem  Wappen  des  Königs  und 
der  Stadt  nfit  den  Inschriften  „his  vireas,"  „his  vincas,"  auf 
einem  Gerüste  eine  Tafel  mit  sechs  lateinischen  Distichen.  Ben 
Jonson's  Beschreibung  lautet:  ,.In  the  centre,  or  midst  of  the 
pegme,  there  was  an  aback,  or  Square,  wherein  this  elogy 
was  written  etc."  Die  Worte  sind  merkwürdig,  weil  wahr- 
scheinlich in  dieser  Stelle  allein  pegme  {nr^yuu,  p'egma,  Theater- 
gerüst, Macleane  Juv.  4,  122),  allerdings  wie  aback  fabacus) 
mit  gelehrter  Ostentation  gebraucht  ist.  Man  leitet  gewöhnlich 
pageant  davon  ab,  mit  Unrecht ,  wie  ich  bei  einer  andern  Ge- 
legenheit nachweisen  werde.  Den  übrigen  Theil  von  King 
James's  entertainment  kann  ich  füghch  übergehen,  da  das  An- 
gegebene genügt,  um  zu  zeigen,  was  Ben  Jonson  schon  vor- 
fand, als  er  in  seinen  Maskenspielen  an  die  Lösung  einer  von 
Seiten  des  Hofs  an  ihn  gestellten  Aufgabe  ging. 

Ben  Jonsort  verfasste,  so  weit  es  uns  bekannt  ist,  seine 
erste  Masque  im  Jahre  1605,  nachdem  er  schon  seit  dem  Re- 
gierungsantritte Jakob's  I.  ein  Par  entertainments  für  den  Hof 
geschrieben,  die  sich  von  den  eigentlichen  Masquen  nicht  we- 
sentlich unterscheiden,  nur  im  Vergleich  mit  ihnen  eine  noch 
lockrere  Textur  zeigen.  Von  den  Masken  spielen  fiillen  24  in 
die  Regierung  Jakob's  L,  6  wurden  unter  seinem  Nachfolger 
aufgeführt.  Was  die  Werke  andrer  Dichter  betrifft,  so  kommen, 
ausser  ein  Par  Intermezzos  in  Shakspere'schen  Stücken  und 
dem  Milton'schen  Comus,  hauptsächlich  die  epithalamischen  Dich- 
tungen in  Betracht,  welche  Halpin  in  dem  Aufsatze  The  Bridal 
Run-away  aufgezählt  hat.  Shakspeare  Society's  Papers  H.,  p. 
14  flf.,  übersetzt  von  Hense,  Archiv  für  neuere  Sprachen  XVL, 
436.     Milton's  Gedicht,  unbedingt  .das  bedeutendste  unter  allen 

Archiv  f.  n.  Spia(i.cii  XXVII.  5 


66  Bon  Jonson's  Maskenspiele. 

(lieser  Gattung;  angehörenden ,  stammt  aus  demselben  Jahre  wie 
das  letzte  Maskenspiel  seines  altern  Zeitgenossen,  aus  dem  Jahre 
1634.  Mit  Ben  Jonson  wurde  also  eigentlich  die  ganze,  leicht 
und  schnell  in's  Dasein  gesprungne  Kunstform  zu  Grabe  ge- 
tragen. Zwar  machte  —  so  erzählt  GifFord,  Memoirs  of  Ben 
Jonson  p.  67  —  Karl  II.  ein  Par  Jahre  nach  der  Restauration 
einen  Versuch,  diese  Vergnügungen  wieder  in's  Leben  zu  rufen. 
Die  Tochter  Jakob's  II.,  damals  Herzogs  von  York,  und  viele 
junge  Personen  beiderlei  Geschlechts  vom  hohen  Adel  traten  in 
einer  von  Crowne  geschriebenen  Masque,  Calisto,  auf;  aber 
die  Passion  griff  nicht  weiter  um  sich,  und  konnte  es  auch 
nicht.  Der  Verfasser  dieses  Werks  war  nicht  ohne  literarische 
Bildung,  besass  aber  keine  Phantasie,  und  der  Hof  selbst  war 
zu  oberflächlich,  zu  unwissend  und  zu  ausschweifend,  um  feine 
geistige  Genüsse  würdigen  zu  können.  Wir  hören  von  den 
Masken  seitdem  nichts  wieder. 

Wenn  die  Maskenspiele  in  dem  berühmten  Katalog  der 
besondern  Arten  scenischer  Kunst,  welchen  Polonius  (Haml. 
IL,  2)  auftischt,  gar  keine  Erwähnung  finden,  während  alle 
Klassen  der  Schauspiele  mit  pedantischer  Gründlichkeit  herge- 
zählt und  mit  einer  entsprechenden  Nomenclatur  versehen  werden 
als  pastoral,  pastorical -comical,  historical- pastoral,  tragical-co- 
mical  -  historical  -  pastoral ;  so  liegt  der  Grund  auf  der  Hand. 
Shakspere's  Tragödie  erschien  2  Jahre  vor  der  Abfassung  der 
ersten  Ben  Jonson'schen  Masque.  Der  grosse  Tragiker  hatte 
jedoch  schon  früher,  indem  er  sich  anschloss  an  die  bei  Hoch- 
zeiten herkömmlichen  theatralischen  Scherze  ,  in  den  letzten 
Akt  des  Lustspiels  As  you  like  it  (1598—1600),  eine  Art  Mas- 
kenspiel eingelegt,  die  lyrischen  Verse  des  Hymen,  welcher  Ro- 
salinde und  Cebia  ihren  Geliebten  zuführt,  nebst  einem  Schluss- 
gesang. Er  hatte  ferner  sowohl  durch  das  Elfenreich  im  Som- 
raernachtstraum  als  durch  den  burlesken  Theil  dieser  Dichtung 
der  Ben  Jonson'schen  Masken  ihren  doppelten  Spielraum  ange- 
wiesen. Endlich  hat  er  die  neue  Kunstschöpfung  seines  Ne- 
benbuhlers in  dem  Sturme  (1610  oder  1611)  sich  zu  Nutzen 
gemacht,  zugleich  aber  —  dadurch  unterscheidet  er  sich  we- 
sentHch  von  diesem  —  dem  an  sich  unbedeutenden  Genre  seine 
wahre    Stellung  im    Zusammenhange    der    Komödie    zugetheilt, 


Ben  Jons  on's  Masken  spiele.  67 

während  es  bei  Ben  Jonson  durchaus  als  selbstständig  auftritt. 
Die  der  Begrüssung  Miranda's  und  ihres  Geliebten  gewidmeten 
gereimten  Wechselreden  der  Iris,  Ceres  und  Juno,  die  Gesänge 
der  beiden  letztern,  und  die  Tänze  der  Nymphen  mit  den  Schnit- 
tern würden  genügen,-  wenn  die  Ben  Jonson'schen  Maskenspiele 
nicht  auf  uns  gekommen  wären ,  ein  deutliches  Bild  vom  Cha- 
rakter derselben  zu  geben. 

Wir  wenden  uns  nun  zu  den  Stücken  selbst,  welche  Ben 
Jonson  als  eigne  Nebenform  der  Komödie  geschaffen  und  mit 
dem  Namen  Masques  bezeichnet  hat.  Sie  stehen  in  der  Mitte 
zwischen  regelrechten  Lustspielen  und  den  Improvisationen  und 
Vergnügungen  heitrer  Cirkel,  wie  wir  dergleichen  in  unsern 
Polterabendscherzen  besitzen.  Der  Dichter  trug  darin  den  ge- 
selligen Bedürfnissen  des  Hofs  allzuviel  Rechnung,  insofern  er 
phantastische  Komödien  oder  Burlesken  eigens  zu  dem  Zwecke 
dichtete,  um  Tänze  der  Damen  und  Herrn  vom  Hofe  in  Cha- 
raktermasken darin  einzulegen.  GifFord  sagt  a.  a.  O.:  ..Jakob  I. 
besass  mehr  Bildung  als  eleganten  Geschmack,  aber  er  war 
bieder  und  gefällig  und  hatte  einen  Hang  zu  kostspieligem  Ge- 
pränge. Was  ihm  aber  abging,  war  bei  der  Königin  in  vollen- 
detem Masse  vorhanden.  Sie  war  nach  SuUy's  Ausdruck  eine 
Frau  von  kühnem  Unternehmungsgeist,  liebte  Pomp  und  ver- 
stand sich  darauf,  und  vor  Allem  fand  sie  Gefallen  an  Mas- 
queraden und  rauschenden  Festlichkeiten.  Sie  strebte  danach, 
den  Palast  Whitehall,  der  noch  vor  Kurzem  der  Höhle  des 
Trophonius  geglichen  hatte,  in  einen  Tempel  der  Freude  zu 
verwandeln.  Zu  dem  Ende  versammelte  sie  die  Gebildetsten 
vom  Adel  um  sich  und  nahm  ihre  Mitwirkung  in  Anspruch  für 
die  glänzenden  Vergnügungen,  welche  sie  in's  Leben  zu  rufen 
suchte,  und  welche  allein  sie  vollständig  zu  geniessen  vermochte, 
da  sie  mit  der  englischen  Sprache  nie  recht  vertraut  wurde. 
Das  Genie  Ben  Jonson's  war  ihr  nicht  unbekannt,  denn  sie 
hatte  zu  Althorpe  und  sonst  Proben  davon  gesehen ;  und  sie 
scheint  ihn  bald  nach  ihrer  Ankunft  in  Whitehall  für  die  Aus- 
führung ihrer  Ideen  gewonnen  zu  haben." 

Dass  der  Dichter  die  einzelnen  Elemente  schon  vorgefunden 
habe,  welche  sich  zur  Lösung  der  vom  Hofe  gestellten  Auf- 
gabe benutzen  Hessen,  ist  im  Obigen  mehrfach  angedeutet  worden; 


68  Ben  Jonson's  Maskenspiele. 

er  vereinigte  sie  bloss  zu  einem  Ganzen  und  nahm  Schauspiel- 
kunst, Tanz,  Musik,  Decorationsmalerei  im  Verein  für  das 
Kind  heitrer  Stunden  in  Dienst.  Die  epithalamischen  Dichtungen, 
von  denen  wir  Proben  in  den  Werken  andrer  Dichter  noch  be- 
sitzen, brauchten  bloss  erweitert  zu  Verden ;  das  Gepränge  der 
Processionen,  Pantomimen  (dumb  shows)  und  Masqueraden 
wurden  requirirt;  der  Gebrauch  der  Maske,  welcher  auf  der 
Bühne  zu  jener  Zeit  theils  für  Frauenrollen  gebräuchlich  war, 
theils  bei  andern  Rollen  vom  Agiren  der  alten  Mysterien  her- 
stammte (Ebert  a.  a.  O.  S.  65),  half  nicht  wenig  aus,  um  aller- 
lei phantastische  Einfälle  durchzuführen.  Das  grotesk  Komische 
und  das  freie,  visionsartige,  aller  Bedingungen  des  Raums  und 
der  Zeit  spottende  Walten  einer  mit  der  Wirklichkeit  kühn  ver- 
schlungenen Geisterwelt  bildet  das  Lebenselement  dieser  Stücke, 
als  deren  Charakteristik  man  die  Verse  ansehen  kann,  welche 
die  Nacht  in  der  Vision  of  Delight  spricht:*) 

Tritt,  Phantasie,  an's  Licht  hervor, 

Die  Purpurschwingen  ausgespannt, 
Mit  deiner  Wesen  luft'gem  Chor  — 

Denn  kein  Gebilde  sei  verbannt  — 
Bevölkre  rings  um  uns  den  Raum, 
Ihr  Blut  sei  frei  von  trübem  Schaum ; 
Und  war'  es  auch  ein  wacher  Traum,   — 
Chor.    Doch  steig'  er  hier  vor  unserm   Sinn 
Dem  Rauch  werk  gleich  empor. 
Wie  Schlaf  sink'  er  aufs  Auge  hin, 
Wie'n  Lied  dring'  er  in's  Ohr. 

*)  The  works   of  Ben  Jenson   with  a  biographical    memoir   by  William 
Gifford,  Lond.,  Edw.  Moxon,  1858,  p.  605. 

Night.    Break,  Phant'sie,  from  thy  cave   of  cloud, 
And  spread  thy  purple  wlngs; 
Now  all  thy  figures  are  allowVI, 
And  various  shapes  of  things; 
Create  of  airy  forms  a  stream, 
It  must  have  blood,  and  nought  of  phlegm; 
And  though  it  be  a  waking  dream, 
Cho.  Yet  let  it  like  an  odour  rise 
To  all  the  senses  here, 
And  fall  like  sleep  upon  their  eyes, 
Or  music  in  their  ear. 


Ben  Jonson's  Maskenspiele.  69 

Die  Scenerie  entfaltete  die  kühnsten  Wunder  der  Zauber- 
mährchen.  Während  das  Drama,  wie  sich  aus  den  Bühnenan- 
weisungen in  den  Shakspere'schen  Stücken  deuthch  ersehen 
lässt,  nur  wenig  unterstützt  durch  äussere  Mittel,  auf  die  Kunst 
des  Mimen  und  des  Dichters  selber  angewiesen  war;  stand  dem 
Maskenspiele  Alles  zu  Gebote,  was  die  untergeordneten  sce- 
nischen  Künste  zur  Ergötzung  der  Sinne  beitragen  konnten. 
Keine  Kosten  brauchte  man  zu  scheuen.  Die  tüchtigsten  Sänger, 
Componisten  und  Balletmeister  mussten  den  Dichter  unterstützen. 
Henry  Lawes,  wohl  der  grösste  unter  den  englischen  Musikern 
jener  Zeit,  der  auch  die  lyrischen  Partien  des  Milton'schen 
Comus  in  INIusik  setzte ,  war  in  derselben  Weise  für  Ben  Jon- 
son's  Masquen  thätig,  und  Avir  wissen,  dass  er  unter  der  Regie- 
rung Karl's  I.  für  eine  solche  Composition  100  Pfund  Sterhng 
erhielt,  für  die  damalige  Zeit  eine  sehr  bedeutende  Summe.  Ja 
die  Aufführung  einer  von  Beaumont  gedichteten  Maske  im  Jahre 
1613  kostete  die  Juristen  des  Inner  Temple  und  Gray 's  Inn 
nicht  weniger  als  1086  Pfd.  Strl.  Inigo  lones,  den  man  mit  dem 
Beinamen  des  englischen  Palladio  geehrt  hat  —  ob  mit  Recht, 
vermag  ich  nicht  zu  sagen  —  sorgte  für  Maschinerie  und  De- 
coration. Auf  dem  Titel  mehrerer  Maskenspiele  unsres  Dichters 
finden  sich  Zusätze  wie  der  folgende:  „The  inventors  —  Ben 
Jonson;  Inigo  Jones." 

Der  Hof  selber  bildete  die  Scene,  und  der  höchste  Adel 
spielte  darauf  unter  den  Auspicien  des  Königs  und  der  Königin. 
So  schien  das  Wort  Shakspere's  im  Prolog  zu  Heinrich  V.  in 
Erfüllung  gegangen  zu  sein^ 

A  kingdom  for  a  stage,  princes  to  act, 

And  monarchs   to   behold   the  swelling   scene ! 

Man  fühlt  sich  in  der  That  versucht,  Gifford's*)  Beispiele 
zu  folgen  und  sich  die  Aufführungen  idealisch  auszumalen. 
Statt  geborgter  Würde  und  erheuchelter  Anmuth,  welche  Thea- 
terprincessinnen  häufig  allein  zu  Gebote  steht,  mochte  wahrer 
Adel  und  angeborne  Grazie  den  Schmuck  jener  hochgestellten 
Schauspielerinnen  und  Tänzerinnen  bilden.     Der  Dichter  selbst, 


*)  Mem.  of  B.  Jons.  p.  66. 


70  Ben  Jonson"s  Maskenspiele. 

hingerissen  vom  schönen  Rhythmus  ihres  Tanzes,  hat  seine  Be- 
geisterung wiederholt  ausgesprochen,  wie  in  folgenden  Versen:*) 

Chor.  So  lernte  einst  der  Frühling  gehn 
Im  Irrgewind,  bunt  anzusehn ; 
Zephyr  schlang  so  den  luft'gen  Reih'n, 
Als  er  um  Flora  kam  zu  frei'n: 
So  schwebte  Venus  ihrem  Chor 
Im  Ringeltanz  auf  Ida  vor, 
Kein  Gras,  kein  Blümchen  knickt'  ihr  Tritt, 
'     Als  wär's  des  leisen  Windes  Schritt. 

Ferner  an  einer  andern  Stelle:**) 

Wenn  Mancher,  den  der  Irrthum  plagt, 

Die  Seele  sei  dem  Weib  versagt, 

Den  Tanz  gesehn;  bekennt'  er  frei, 

Das  Weib  des  Mannes  Seele  sei: 

Sie  rissen  hin  beim  süssen  Schall 
Durch  Harmonie,  die  Seel'  im  All. 

Zwar  lässt  sich  nicht  in  Abrede  stellen,  dass,  so  wie  Göthe 
durch  das  lustige  Treiben  zu  Weimar  von  ernsten  Schöpfungen 
abgelenkt  wurde,  auch  Ben  Jonson's  Dichterkraft  in  den  Masken 
an  unbedeutende  Zwecke  verschwendet  ist.  Andrerseits  dürfen 
wir  aber  nicht  verkennen ,  dass  er  hier  geniessbarer  erscheint 
als  in  seinen  Dramen,  ja  selbst  immer  noch  geniessbarer  als  in 
seinen  Komödien,  indem  die  Zersplitterung  der  soHden  Massen- 
haftigkeit    zu   leichten    und    schönen   Formen   geführt    hat.     In 


*)  The  Vision  of  Delight,  p.  606 : 

Che.  In  curious  knots  and  mazes  so 

The  Spring  at  first  ^s  taught-to  go; 
And  Zephyr,  when  he  came  to  woo 
His  Flora,  had  their  motions  too. 

And  thence  did  Venus  learn  to  lead 
The  Idalian  brawls,  and  so  to  tread 
As  if  the  wind,  not  she,  did  walk ; 
Nor  prest  a  flower,  nor  bow'd  a  stalk. 
**)  The  Masque  of  Beauty,  p.  550: 

Had  those  that  dwelt  in  error  foul, 
And  hold  that  women  have  no  soul, 
But  seen  these  move;  they  would  have  then 
Said,  women  were  the  souls  of  men. 
So  they  did  move  each  heart  and  eye, 
With  the  world's  soul,  true  harmony. 


Ben  Jonson's  Maskeiispielo.    '  71 

seinen  eigentlichen  Lustspielen  sind  oft  gleichsam  die  üppig  an- 
schiessenden  Krystalle  zu  einem  schwer  übersehbaren  Ganzen 
zusammengeballt;  hier  dagegen  erscheint  dies,  da  der  Stein  sich 
engen  Kändern  einfügen  soll,  in  zierliche  Säulchen  zerschlagen 
und  wird  zu  prachtvollem  Schmucke  zugeschliften.  Wir  müssen 
freilich  hin  und  wieder  eine  Masse  von  Gelehrsamkeit  noch  mit 
in  den  Kauf  nehmen ,  so  zu  sagen  als  verschwenderische  Fas- 
sung, und  wir  staunen  über  den  Notenapparat,  worin  der  Dichter 
sich  selbst  commentirt  hat.*)  Aber  Hand  in  Hand  damit  gehen 
elegante  Schilderungen  in  überaus  zierlicher,  gefeilter  und  zum 
Theil  poetischer  Sprache,  so  dass  die  Prosa  hinter  den  Versen 
kaum  zurückbleibt.  Besonders  reich  sind  die  Beschreibungen 
der  Scenerie  und  des  Kostüms  in  den  ersten  Masquen;  zur 
Zeit  ihrer  Abfassung  scheint  der  Dichter  sich  als  Historio- 
graphen  der  Feste  und  Vergnügungen  am  Hofe  betrachtet  zu 
haben;  später  beschränkt  er  sich  auf  Mittheilung  seiner  Ge- 
dichte, ohne  weitläuftige  Erörterungen  des  Zubehörs.  Daneben 
finden  wir  dann  leicht  hingeworfne  und  äusserst  anmuthige 
lyrische  Verse,  besonders  Liedertexte,  ^ie  man  bei  der  Cha- 
rakteristik des  Dichters  meist  zu  wenig  in  Anschlag  bringt. 
Die  Versmasse  derselben  bieten  die  grösste  Mannigfaltigkeit 
dar,  so  dass  im  Allgemeinen  nichts  weiter  davon  gesagt  werden 
kann ,  als  dass  sie  im  höchsten  Grade  fliessend  und  ohne  alle 
Härten,  also  gewiss  auch  geeignet  sind,  sich  singen  zu  lassen. 
Im  Dialog  herrscht  der  gereimte  fünfi"üs8ige  iambische  Vers, 
das  Metrum  der  Canterbuiy   Tales;    doch   stehen   daneben  ver- 


*)  Gegen  diejenigen,  welche  an  den  mythologischen  Sujets  der  iSIasken  und 
an  deren  gelehrter  Behandlung  Anstoss  nehmen,  hat  sich  Ben  Jonson  in  folgenden 
Worten  ausgesprochen:  Hymenaei;  or  the  solemnities  of  Masque  and  Bar- 
riers  at  a  marrlage.  Preface,  Works  p.  552:  „And  howsoever  some  may 
squeamishly  cry  out,  that  all  endeavour  of  learning  and  sharpness  in  these 
transitory  devices,  especially  where  it  steps  beyond  their  little,  or  (let  mc 
not  wrong  them)  no  brain  at  all,  is  superHuous:  I  am  contented,  these 
fastidious  stomachs  should  leave  my  füll  tables ,  and  enjoy  at  home  their 
clean  empty  trenchers,  fittest  for  such  airy  tastes;  where  perhaps  a  few 
Italian  herbs,  picked  up  and  made  into  a  sallad,  may  find  sweeter  accep- 
tance  than  all  the  most  nourishing  and  sound  meats  of  the  world.  For 
these  men's  palates,  let  not  rae  answer,  0  Muses.  It  is  not  my  fault,  if  I 
fill  them  out  nectar,  and  they  run  to  metheglin." 


72  Ben  Jonson's  Maskeuspiele. 

einzelt  Alexandriner,  wie  am  Schluss  der  Spenser'schen  Stanze, 
und  sehr  häufig  kürzere,  besonders  trochäische  Verse;  auch 
sprechen  komische  Charaktere  in  Prosa,  ja  ein  Par  Masquen 
enthalten  bis  auf  die  eingelegten  Lieder  gar  keine  Verse.  Das 
Sujet  ist  immer  überaus  einfach  und  ohne  alle  eigentliche  Ver- 
wicklung ;  es  Hesse  sich  rein  pantomimisch  fast  eben  so  gut  zu 
Ende  führen.  Um  das  Gesagte  nochmals  mit  andern  Worten 
zu  Aviederholen ,  Ben  Jonson's  Masquen  nehmen  im  Ver- 
gleich mit  seinen  andern  Werken  dieselbe  Stellung  ein,  wie 
etwa  Göthe's  Satyros  oder  sein  Jahrmarkt  zu  Plundersweilen, 
wenn  man  diese  gegen  regelrechtere  und  bedeutungsvollere  Er- 
zeugnisse seiner  dramatischen  Muse  hält. 

Die  beiden  ersten  unter  den  Ben  Jonson'schen  Masquen 
führen  den  gemeinsamen  Titel  The  Queen's  Masques 
(nicht  zu  vervvechseln  mit  The  Masque  of  Queens),  und 
zwar  heisst  die  eine  The  Masque  of  Blackness,  die  andre 
The  Masque  of  Beauty.  Die  Königin  hatte  gewünscht,  im 
ersten  Stücke  mit  ihren  Hofdamen  im  Kostüm  von  Mohrinnen 
zu  erscheinen.  Daher  theilte  ihnen  der  Dichter  die  stumme 
Rolle  zu,  als  Töchter  des  äthiopischen  Flussgottes  Niger  auf- 
zutreten und  gab  ihnen  Fackelträgerinnen  (siehe  oben)  zur  Seite 
in  12  ihrer  eignen  Zahl  entsprechenden  Oceaniden.  Durch  ein 
Meer  von  künstlichen  Wellen  reiten  Oceanus  und  Niger  auf 
grossen  Seepferden  hervor;  später  wird  der  Mond  auf  hohem 
silbernen  Throne  sichtbar,  umgeben  von  Wolken  mit  Silberrand. 
Den  Dialog  führen  Oceanus  und  Niger;  Tritonen  und  Meer- 
jungfrauen singen,  während  andre  Tritonen  auf  Muscheln  blasen; 
dazu  tanzen  die  Töchter  des  Niger  und  die  Oceaniden,  erst 
allein,  dann  mit  den  von  ihnen  gewählten  Herren.  Ein  Lied 
macht  wie  in  den  meisten  derartigen  Stücken  den  Beschluss. 
In  der  Masque  of  Beauty  erscheinen  die  Damen  durch  das  Licht 
des  Mondes  und  den  Einfluss  der  See  in  einem  mildern  Klima 
von  ihrer  schwarzen  Farbe  befreit;  sie  tanzen  verschiedene 
Tänze  und  ziehen  sich  zuletzt  auf  den  Thron  der  Schönheit 
zurück,  umgeben  von  Liebesgöttern  und  neun  allegorischen  Fi- 
guren, Splendor,  Serenitas,  Germinatio,  Laetitia,  Temperies, 
Venustas,  Dignitas ,  Perfectio,  Harmonia.  Die  Sprecher  sind 
Boreas,  Januarius  und  Vulturnus,  welcher  auch  ein  Lied  singt. 


Ben  Jonsou's  Maskensp  iele.  73 

Doch  kommen  noch  andre  Sänger  vor.  Die  letztern  waren 
wohl  mimer,  wie  dies  kaum  anders  zu  erwarten  steht,  gleich 
den  Musikern,  Männer  von  Fach.  Wer  die  Schauspieler  ge- 
wesen seien,  ob  Herrn  vom  Hofe  oder  professionelle  Jünger  des 
Thespis,  lässt  sich  nicht  immer  entscheiden.  Das  Erstere  war 
wohl  in  der  Regel  der  Fall ;  denn  der  Titel  vieler  Stücke  führt 
den  Zusatz,  by  Gentlemen,  oder  by  the  Lords  and  Gent- 
lemen,  the  King's  Servants. 

Die  so  eben  besprochnen  Masquen  stehen  den  für  den  Hof 
verfassten  Gelegenheitsgedichten,  welche  Ben  Jonson  entertain- 
ments  genannt  hat,  näher  als  seine  spätem  Masquen,  indem 
ihnen  die  Antimasque,  ein  wesentUcher  Bestandtheil  der  letztern, 
noch  fehlt.  Dies  gilt  auch  von  den  in  der  Ausgabe  seiner  Werke 
zunächst  folgenden  epithalamischen  Masquen  und  den  sich  eng 
daran  schliessenden  sogenannten  Barriers ;  die  Ueberschriften 
lauten:  Hymenaei,  or  the  solemnities  of  Masque  and  Barriers 
at  a  marriage  (bestehend  aus  zwei  Theilen :  The  Masque  of 
Hymen  und  The  Barriers),  The  Hue  and  Gry  after  Cupid,  The 
Speeches  at  Prince  Henry's  Barriers,  A  Ghalienge-  at  Tilt  at 
a  marriage.  Dass  der  Ausdruck  barriers  von  den  Schranken 
auf  das  Kampfspiel  selbst  übertragen  sei,  sagt  Eichardson  h.  v. 
ausdrücklich;  bei  andern  Lexikographen  sucht  man  diese  Be- 
deutung vergeblich,  die  Ben  Jonson'sche  Masque,  aus  der  sich 
dieselbe  ergibt,  scheint  von  ihnen  übersehen  zu  sein.  Indem  ich 
mir  vorbehalte,  die  epithalamischen  Masquen  später  einmal  aus- 
führlich zu  besprechen,  theile  ich  für  jetzt  nur  die  Uebersetzung 
des  Wechselgesprächs  der  Grazien  mit,  dessen  einmal  als  Ive- 
frain  wiederholten  Vers  He  is  Venus'  Runaway  Halpin  in  der 
schon  erwähnten  Abhandlung  zur  Erläuterung  des  Monologs 
in  Romeo  and  Juliet  herbeigezogen  hat.  The  Hue  and  Gry 
after  Gupid  p.  562  ff. 

Erste  Grazie. 
Schöne,  saht  ihr  diesen  Tand, 
Liebesgott,  den  kleinen  Fant, 
Beinah  nackt,  leichtfertig,  blind, 
Grausam,  doch  auch  holdgesinnt? 
Sagt's,  wenn  er  zu  euch  geflohn, 
Es  ist  Venus'  flücht'ger  Sohn. 


74  Ben  Jonson's  Maskenspiele, 

Zweite  Grazie. 
Die  von  euch  mir  will  entdecken 
Des  beschwingten  Schalks  Verstecken, 
Wird  noch  heut  geküsst  zum  Lohn, 
Wie  und  wo,  wählt  sie  sich  schon ; 
Die  ihn  kann  der  Mutter  bringen, 
Darf  der  Küsse  zwei  bedingen. 

Dritte  Grazie. 
Leicht  erkennt  man  ihn  an  Zeichen  > 
Unter  Zwanz'gen  seines  Gleichen, 
Feuer  ist  sein  Leib  und  Blut, 
Und  sein  Athem,  volle  Glut, 
Wundet  Herzen  schnell  wie's  blitzt, 
Ohne  dass  die  Haut  geritzt. 

Erste  Grazie. 
Sonne  selbst    ich  vor  ihm  wandte, 
Und  Neptun  im  "Wasser  brannte, 
Hades  fühlte  grössre  Hitze, 
Jupiter  entwich  dem  Sitze; 
Von  der  Erde  Tiefen  reichen 
Bis  zum  Himmel  Siegeszeichen. 

^  Zweite  Grazie. 

Stutzet  ihr  ihm  gleich  die  Schwingen, 
Wird  von  Lipp'  zu  Lipp'  er  springen 
Ueber  Lung'  und  Herzen  fort, 
Doch  er  weilt  an  keinem  Ort; 
Wenn  ihr  Ziel  die  Pfeile  wissen. 
So  verschiesst  er  sich  in  Küssen.    , 

Dritte  Grazie. 
Kommt  mit  einem  goldnen  Bogen 
Und  mit  Köcher  angeflogen. 
Dessen  Pfeil  noch  selt'ner  fehlt 
Als  Diana's  Schaft;  er  wählt 
Den  am  schärfsten  er  gefunden, 
Seine  Mutter  zu  verwunden. 

Erste  Grazie. 
Alle  Schönen  seine  Beute, 
Zu  verzehren  nie  ihn  reute 
Herzen  durch  der  Liebe  Glut, 
Und  sein  Bad  ist  warmes  Blut, 
Seine  Hand  schlägt  Wunden  stündlich. 
Und  er  hasst  Vernunft  recht  gründlich. 


Ben  Jonson's  INJaskenspiele.  75 

Zweite  Grazie. 
Traut  ihm  nicht ;  wie  süss  er  spricht, 
Aus  dem  Herzen  kommt's  ihm  nicht. 
Trug  bleibt  ewig  was  er  übt, 
Und  ein  Köder  was  er  gibt, 
Ohne  Gift  ist  nie  sein  Kuss,  ' 

Voll  Verrath  der  Thränen  Fluss. 

Dritte  Grazie. 
Herrscht  in  müss'gen  Augenblicken, 
'  Nimmt  sie  wahr,  um  zu  berücken 

Jungfrau'n  durch  Geschenk'  und  Tand, 
Die  er  beut  als  Freudenpfand. 
Alle  wünscht  das  Elfenkind 
Kindisch  gleich  sich  selbst  gesinnt. 

Erste  Grazie. 
"Ward  so  kund  euch  der  Geselle, 
Schöne,  zeigt  ihn  auf  der  Stelle.  • 

Zweite  Grazie. 
Nicht  mehr,  bargt  ihr  gleich  den  Dreisten, 
"Werdet  ihr  ihm  Vorschub  leisten. 

Dritte  Grazie. 
Seine  Falschheit  kennt  ihr  schon, 
Es  ist  Venus'  flücht'ger  Sohn. 

Zu  den  Charakteren,  welche  in  den  bisher  besprochenen 
Masquen  auftreten,  welche  theils  Personificationen  wie  in  den 
Moralitäten ,  theils  Elfengeister  sind,  theils  dem  griechischen 
Olymp  angehören ,  und  welche  in  ihrer  Gesammtheit  eine  luf- 
tige Welt  der  idealen  Phantasie  ausmachen ,  kommt  in  den 
Antimasques  ein  ganz  verschiedenartiges  Element  hinzu.  Es 
verhält  sich  zu  jenen  Gestalten  wie  Bottora's  Genossenschaft  im 
Sommernachtstraum  zu  dem  Kreise  vornehmer  Athener  und  zu 
Oberon's  Geisterreiche.  Die  Antimasquen  sind  Parodien  der 
Masquen ,  Rüpelscenen  und  Rüpeltänze  zum  grossen  Theil  voll 
derber  und  grotesker  Komik,  bestimmt  nicht  allein  Abwechs- 
lung hervorzubringen,  sondern  auch  den  erlauchtern  Spielern, 
Tänzern  und  Tänzerinnen  Zeit  zur  Erholung  zu  vergönnen.  In 
ihnen  trat  ein  niederes  Personal  auf,  das  zumeist  aus  Bedienten 
des  Hofs  bestehen  mochte.  Eine  Schilderung  derselben  findet 
sich  in  einem  Aufsatze  Lord  Bacon's,  der  den  Titel  führt   „Of 


76  Ben  Jonso  n's  Maskenspiele. 

Maskä  and  Triumphs"  und  unter  seineri  „Essays  civil  and 
moral"  steht.  Der  Philosoph  leitet  die  Besprechung  mit  fol- 
gendem Satze  ein:  „These  things  are  but  toys  to  come  amongst 
such  serious  observations ;  but  yet,  since  princes  will  have  such 
things,  it  is  better  they  should  be  graced  with  elegancy,  than 
daubed  with  cost;"  und  er  schliesst  nicht  weniger  bezeichnend 
mit  den  Worten:  „But  enough  of  these  toys."  Nachdem  er 
über  die  passendste  Behandlungen  der  Tänze  und  Gesänge  nebst 
deren  musikalischer  Begleitung,  über  Scenerie  und  Kostüme 
seine  Meinung  gesagt  hat,  lässt  er  sich  über  die  Antimasken 
folgendermassen  vernehmen:  „Let  anti-masks  not  be  long; 
they  have  been  commonly  of  fools,  satyrs ,  baboons ,  wild  men, 
antics,  beasts,  spirits,  witches,  aethiops ,  pigmies,  turquets, 
nymphs ,  rustics ,  cupids ,  statues  moving,  and  the  like.  As  for 
angels,  it  is  not  comical  enough  to  put  them  in  anti-masks :  and 
any  thing  that  is  hideous ,  as  devils,  giants,  is,  on  the  other 
ßide,  as  unfit;  but  chiefly,  let  the  music  of  them  be  recreative, 
and  with  some  stränge  changes."  Fast  sämratliche  hierin  aufge- 
zählte Charaktere  kommen  In  den  Ben  Jonson'schen  Masquen 
wirklich  vor,  obgleich  die  Scenen,  in  denen  sie  auftreten,  nicht  immer 
mit  dem  Namen  Antimasques  bezeichnet  werden.  Erst  in  den 
spätem  Stücken  sind  sie  ausdrücklich  als  solche  von  den  übrigen, 
in  der  Regel  nicht  komischen  Theilen  unterschieden.  Die  Ben 
Jonson'schen  Masquen  haben  eine  unverkennbare  Aehnlichkeit 
mit  den  jetzigen  Christmas  Pantomimes,  welche  in  zwei 
Thelle,  the  Opening  und  the  Comic  Part  zerfallen.*)  Der 
erstere  bringt  in  der  Hegel  eine  Zauberwelt,  entspricht  also  dem 
Haupttheile  jener;  die  Hanswurstiaden  dagegen  stimmen 
im  Wesen  mit  den  Antimasquen  ziemlich  genau  überein.  Eine 
fernere  Analogie  bietet  der  bunte  Chor  in  der  Alten  Komö- 
die der  Griechen  dar;  doch  hat  sich  Ben  Jonson  in  den  Anti- 
masken auf  Bipeden  und  Quadrupeden  beschränkt  und  ausge- 
schlossen „was  da  kreucht  und  fleugt." 

Eins  der  Ben  Jonson'schen  Maskenspiele  ist  für  uns  von 
besondrer  Wichtigkeit,  da  Milton  es  im  Comus  offenbar  vor 
Augen  gehabt  hat.     Der  Titel  lautet:    „Pleasure  reconciled 


•;  Vgl.  Elze,  Atlantis,  S.  24  ff. 


Ben  Jonson's  Maskenspiele.  77 

to  Virtue,  a  masque,  as  it  was  presented  at  Court, 
before  King  James,  1619."  Der  König  war  von  der  Auf- 
führung so  entzückt,  dass  er  sich  eine  Wiederhoking  ausbat. 
Das  zweitemal  kam  als  Vorspiel  ein  Gespräch  zwischen  drei 
\Yallisern,  Griff  ith,  Jenkin  und  Evan ,  in  Prosa  hinzu,  mit  ein 
Par  Gesängen  und  mit  Tänzen  von  Menschen  und  Ziegen.  Es 
heisst:  For  the  honour  of  Wales."  Die  Komik  darin  ist 
ziemlich  armseliger  Natur  und  besteht  fast  ausschliessHch  in  der 
Corruption  der  englischen  Sprache  im  Munde  der  Wälschen. 
Interesse  wu'd  das  kleine  Stück  für  denjenigen  haben,  der  sich 
die  Mühe  nicht  verdriessen  lässt,  eine  Vergleichung  mit  dem 
Jargon  des  Sir  Hugh  Evans  in  den  lustigen  Weibern  von 
Windsor  oder  des  Capitains  Fluellen  in  Heinrich  V.  anzustellen. 
In  „Pleasure  reconciled  to  Virtue"  ist  die  Scene  an  den 
Atlas  verlegt.  Der  alte  Titan  mit  greisem  Bart  und  Haupthar 
und  mit  schneebedeckten  Schultern  sieht  aus  Wald  und  Felsen 
hervor;  ein  Dickicht  von  Epheu  liegt  zu  seinen  Füssen.  Aus 
diesem  reitet  unter  der  rauschenden  Musik  von  Cymbeln,  Flöten 
und  Tambourins  Comus,  der  Gott  der  Tafelfreuden  oder  der 
Wanst,  im  Triumphe  hervor,  das  Lockenhar  mit  Rosen  und 
andern  Blumen  bekränzt;  sein  Gefolge  ist  mit  Epheuguirlanden 
geschmückt  und  führt  -Speere  von  Epheu  umrankt.  Einer  trägt 
den  Trinknapf  des  Hercules,  des  Haupthelden  im  Stücke.  Sie 
alle  singen  einen  Chorgesang  in  anapästischen,  hin  und  wieder 
hyperkatalektischen  Dimetern : 

Platz !  Platz  für  den  Dickwanst !  Ihm  sei  Preis, 
Dem  Vater  der  Saucen,  Erfinder  des  Breis, 
Dem  Verleiher  des  Witzes,  den  jeder  belacht, 
Der  die  beste  Maschine,  den  Bratspiess,  erdacht,  etc. 

Nach  dem  Gesänge  lässt  eich  der  Trinkschalenträger  in 
Prosa  hören.  Seine  Philosopheme  über  den  Bauch  schliessen 
mit  den  Worten:  „Ich  bin  für  den  Magen,  die  beste  Uhr  von 
der  Welt,  nach  der  man  sich  richten  kann."  Es  läuft  dabei 
eine  Kraftstelle  mit  unter,  nicht  unähnlich  den  Aristophanischen 
Versen :  /waneQ  ßqovTrj  to  Cco/iiidiov  naxayti  xul  öiivä  y.t'xouytv 
X.  T.  X.  Die  Metapher  ist  hier  nicht  bloss  vom  Donner,  sondern 
auch  von  den  Freudensalven  der  Geschütze  entlehnt.     Bezeich- 


78  Ben  Jonson's  Mas  kenspiele. 

nend  ist  es  übrigens  für  die  damaligen  Hofsitten,  dass  das 
schlimme  einsilbige  Wort,  um  das  eine  berühmte  Scene  im  Tom 
Jones  sich  dreht,  vor  den  Ohren  des  Königs  erwähnt  werden 
durfte,  noch  gesteigert  durch  eine  bedeutungsvolle  Alliteration: 
„Some  in  derision  call  him  (the  Belly)  the  father  of  farts." 

Nun  kommt  die  erste  Antimasque,  ein  Tanz  von  Männern 
in  Gestalt  von  Flaschen  und  Fässern  als  Emblemen  des  Comus, 
der  personificirten  Baucheslust.  Den  Gegensatz  zu  ihm  bildet 
Hercules,  der  am  Scheidewege  des  Lebens  sich  die  Tugend 
statt  der  Wollust  gewählt  hat  und  ihr  in  allen  Kämpfen  treu 
bleibt,  ohne  jedoch  das  irdische  Vergnügen  ganz  von  der  Hand 
zu  weisen.  Griechische  Mythen  aus  spätrer  Zeit  setzen  die 
Pygmäen  in  ein  verwandtschaftliches  Verhältniss  zum  Riesen 
Antäus.  Nach  dessen  Tode  überfallen  sie  Hercules  während 
des  Schlafs ;  doch  als  dieser  erwacht ,  packt  er  die  ganze  Ge- 
sellschaft in  seine  Löwenhaut.*)  Diesen  Ueberfall  hat  Ben 
Jonson  auf  die  Bühne  gebracht,  nur  leider  ohne  das  wunder- 
volle, scenisch  schwer  darzustellende  Finale,  in  dem  die  win- 
zigen Helden  wie  Maikäfer  behandelt  werden.  Nachdem  die 
Antimasque  der  Trinkgeschirre  mit  der  Schaar  des  Comus  von 
Hercules  verjagt  und  der  ganze  Epheuhain  verschwunden  ist, 
werden  die  Tugend  und  das  Vergnügen  auf  einem  von  Musikern 
umgebnen  Thron  sichtbar.  Hercules  lagert  sich  nach  einem 
Chorgesange  zu  ihren  Füssen  und  schläft  ein.  Nun  kommen 
die  Helden  der  zweiten  Antimasque  ,  die  Pygmäen,  zum 
Vorschein. 

Erster  Pygmäe. 
Antäus  todt  und  Hercules  lebt  noch! 
Wo  ist  der  Hercules?     Was  gab'  ich  doch, 
Ihn  jetzt  zu  treffen,  ihn,  sammt  drei  Gesellen, 
Wenn  sie  ihm  halfen,   meinen  Bruder  fällen. 
Mit  drei,  mit  vier,  mit  zehn,  so  viel  von  ihnen 
Das  Wort  nur  fasst.  O  Zorn!  dass  sie  erschienen, 
'     Damit  nicht  Einen   meine  Rache  schont! 

Wie  tödt'  ich  ihn?  Schleudr'  ich  ihn  an  den  Mond? 
Zerstückl'  ich  ihn,  dass  dir,  o  Hellas,  werde 
Sein  Hirn,  ein  Stückchen  jedem  Theil  der  Erde  ? 


*)  Preller,  Grieclilsche  Mythologie,  IL,  p.  15 1. 


Dort  ist 


Ben  Jonson's  Maskenspiele. 
Zweiter  Pygmäe. 


er. 


Erster  Pygmäe. 
Wo? 


Dritter  Pygmäe. 

Er  schläft  am  Hügel  dort. 

Erster  Pygmäe. 
Stehlt  ihm  die  Keul' ! 

Zweiter  Pygmäe. 

Ich  schleiche  mich  zum  Ort. 


Triumph. 


Vierter  Pygmäe. 


Erster  Pygmäe. 
Ja,  still! 


Dritter  Pygmäe. 

Wir  müssen  ihn  bezwingen. 

Vierter  Pygmäe. 
Wir  haben  ihn. 

Erster  Pygmäe. 
Lasst  uns  vor  Freuden  springen. 
(Musik.) 

Am  Ende  ihres  Tanzes  denken  sie  Hercules  zu  überfallen; 
da  erhebt  er  sich  plötzlich,  durch  die  Musik  erweckt,  und  hurtig 
laufen  sie  alle  in  ihre  Löcher. 

Nach  einem  ganz  kurzen  Liede  des  Chors  steigt  Mercur 
vom  Atlas  herab  und  krönt  mit  einem  Pappelkranz  den  Helden, 
den  thatkräftigen  Freund  der  Tugend,  der  Antäus  erschlagen, 
die  Aepfel  der  Hesperiden  gewonnen  und  so  eben  den  Schwärm 
des  Comus  verscheucht  hat.  Eine  neue  Zeit  ist  angebrochen ; 
die  Tugend  und  das  Vergnügen  sind  versöhnt,  und  den  Söhnen 
jener  steht  der  Eintritt  in  die  Gärten  der  Hesperiden  frei. 

Ein  Zug  von  zwölf  maskirten  Tänzerinnen  wird  nun  durch 
einen  Chorgesang  eingeführt.  Aus  diesem  dürfen  wir,  jedoch 
nicht  mit  Sicherheit,  schliessen,  dass  sich  die  Königin  in  ihrer 
Mitte  befunden  habe;  über  das  Kostüm  erfahren  wir  nichts.  Es 
folgen  abwechselnd  drei  Tänze  und  Gesänge  des  Dädalus,  der 
in  Uebereinstimmung  mit   alten  Sagen  *) ,  besonders  dem   laby- 


*)  Preller,  Griech.  Myth.  II.,   197. 


80  Ben  Jonson's  Maskenspiele. 

rinthischen,    in  Harmonie   sich    auflösendem  Gewirr   der  Tänze 
zwei  Lieder  widmet.     Sein  dritter  Gesang  lautet : 

Frisch  euch  zu  schicken  nun  beginnt 

In  Lieb',  in's  feinste  Irrgewind; 

Wollt  ihr  zu  lange  schau'n, 

So  scheint's  ein  Unrecht  schönen  Frau'n. 

Nun  wählt,  doch  seht,  dass  holdgesinnt 
Ihr  gleicht  dem  kosend  sanften  Wind 

Auf  sanfterm  Blumenpfad. 
Als  gält's,  der  Stunden  Lauf,  kein  Weib 
Zu  täuschen  durch  frohen  Zeitvertreib, 

So  lächle  jede  That. 

Nun  ist  der  Frohsinn  an  der  Reih', 

Nicht  leer  geht  Schönheit  dabei  hin; 
Was  edel  ist,  sei  hold,  doch  frei 

Von  zügellosem  Sinn. 

Geb'  ich  Gesetz  nun,  wie  man  pflegt, 

Dem  Spiel  und  formulir'  es ; 
Selbst  über'n  Neid,  den's  wohl  erregt, 

Stets  triumphir'  es. 

Den  Schluss    des  lose   gefügten  Ganzen  bildet  endlich  fol- 
gender Gesang  Mercur's: 

Ein  Rückblick  wäre  jetzt  am  Ort, 
Auch  sagt  uns  wohl  ein  leises  Wort, 
Was  ihr  gefühlt  in  tiefer  Brust; 
Die  Lust 
Wählt  ihr  zum  Umgang,  nicht  zum  Hort. 

Die  Stunden  jetzt  gönnt  Tugend  schon, 
Sie  selbst,  sie  ist  ihr  eigner  Lohn ;  » 

Doch  kündet  sie,  wie  auch  gefiel 

Ihr  Spiel, 
Ein  Weg  voll  Mühsal  führt  zum  Thron. 

Doch  nun  mit  ernsten  Schritten  dringt 

Zum  Berg  zurück, 
Und  wenn  durch  Arbeit  ihr  erringt 

Die  Krön'  und  steht 
Auf  seiner  Höh',  im  Staub'  ihr  seht 

Des  blossen  Zufall's  Glück. 


Ben  Jonson 's  Masken  spiele.  81 

Sie,  sie  ist's,  die  im  Dunkel  strahlt, 

Sich  eig'nen  Licht's  stets   schöner  malt, 

Nur  heller  vor  den  Blicken  steht. 

Wenn  Laster  ihr  zur  Seite  geht, 

Sie  hat,  auf  Erden  heimathlos, 

Den  Stammsitz  in  des  Himmels  Schooss. 

Dort  ist  der  Tugend  Thron, 

Wählt  sie  zum  Eigenthum ; 
Nur  sie  macht  gross  den  Erdensohn, 

Wie  hoch  er  steh'  an  Ehr'  und  Ruhm. 

Ich  will  zum  Schluss  noch  eine  kleinere  Maske:  „The 
Golden  Age  Restored,"  vielleicht  die  schönste  von  allen, 
in  einer  üebersetzung  vollständig  mittheilen.*) 

Die  Wiederkehr  des  goldnen  Weltalters. 
Nachdem   der    Hof  sich  niedergelassen  hatte  und   voll  Er- 
wartung dasass,  ertönte  laute  Musik.    Darauf  stieg  Pallas  unter 
Begleitung  sanfterer  Musik  von  ihrem  Wagen  herab. 

Pallas. 

Staunt,  staunt!   wenn  ihr's  vernommen, 

Dass,  Sterbliche,  trotz  eurer  Schuld 
Zu  Theil  euch  ward  des  Gottes  Huld, 

Von  dem  die  Donner  komriien. 

Zeus  will  es  nicht  mehr  dulden, 

Dass  Schlauheit  schlichten  Sinn  berückt, 
•  Der  Starke  Schwächre  unterdrückt. 

Wie  schlimm  auch  ihr  Verschulden. 

Drum  führt  der  Welt  Erhalter 

Asträa  wieder  auf  den  Thron ; 

An  goldner  Kette**)  lässt  er  schon 
Herab  ein  goldnes  Alter. 

Er  schickt  sie  euch  aufs  Neue, 

Damit  gestehe  selbst  der  Neid, 
Dass  unter  ihm  nicht  bloss  die  Zeit 

Sich  goldnen  Hauptes  fi-eue.***) 

*)  Das  Original  findet  sich  auch  in  Chambers'  Cycl.  of  Engl.  Lit.  Vol. 
1.,  p.  201  fr. 

**)  Hom.  II.  ^.   18  ff. 

***)  Mit  dem  Bilde  in  diesem  Verse: 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXVU.  6 


82  Ben  Jonson's  Maskenspiele. 

Nein,  mit  der  Zeit  sein  "Walten 

Der  Zeiten  volle  Ehr'  erhält. 

Nicht  siehet  aufs  Verdienst  der  Welt 
Des  Himmels  freies  Schalten. 

^  (Man  hört  Tumult  und  Waffengeklirr) 

Doch  horch !  Aus  jener  Höhle  Aufruhr  gellt, 

"Welch  Toben,  welch  Erdbeben  sich  empört, 

Als  furcht'  um  ihren  Schöpfer  bang'  die  "Welt, 
Als  ob  das  Eisenalter  sich  bewehrt! 

Dass  nicht  der  Frevler  Auge  mich  erblickt, 

"Verbirg  mich,  leicht  Gewölk;  erst  wenn  ihr  Muth 

Mit  Plänen  wächst,  wenn  sie  in's  Feld  gerückt. 
Zeig'  ich  den  Schild,  vereitle  blinde  "Wuth. 
(Sie  zieht  sich  hinter  eine  Wolke  zurück.) 

Das  eiserne  Zeitalter. 

Heran,  heran !  Ihr  Avisst,  schon  lang' 
Sinnt  Zeus  auf  unsern  Untergang, 

Wir  setzen  uns  zur  "Wehre. 
Ob  selbst  das  Schicksal  widerstrebt, 
Das  eiserne  Geschlecht  nicht  bebt ; 

Schmach  gilt  es  oder  Ehre.  , 

Habsucht,  die  trotzet  der  Gefahr, 
Steig'  auf,  du  Ahnin  meiner  Schaar, 

Bring'  uns  Verleumdung,  Lüge, 
Bestechung  mit  der  goldnen  Hand, 
Verschmitztes  Unheil,  drauf  verwandt 

Zu  herrschen  zur  Genüge. 

Sollst  dein  Geschlecht,  Stolz,  Ehrgeiz,  Hohn, 
Den  jüngsten  gleissnerischen  Sohn 

Verrath  zur  Hülfe  führen. 
Bewaffne  Thorheit,  Ignoranz, 
Und  lehre  sie  den  "Waffentanz, 

"Wir  mögen  triumphiren 

Which  deed  he  doth  the  rather, 

That  even  Envy  may  behold 

Time  not  enjoy'd  his  head  ofgold 
Alone  beneath  his  father, 
vgl.  die  Worte  in  „The  Masque  of  Oberen,"  p.  584: 

'Tis  he  that  stays  the  time  from  turning  cid, 
And  keeps  tlie  age  up  in  a  head  of  gold. 


Ben  Jonson's  Masken  spiele.  83 

Ob  jenem  übermüth'gen  Feind ; 
Und  stürzt  ihn  unsre  Schaar  vereint 

Einmal  von  seinem  Sitze; 
Dann  sind  wir  Herrn  der  Himmelswelt, 
Des  Glücks,  das  sich  der  Macht  gesellt, 

Des  Scepters  und  der  Blitze. 

Wer  ist's,  der  von  Gefahr  umschwebt 
Nicht  gern  der  Narben  Preis  erstrebt, 

Zu  heissen  unser  Retter? 
Wer  ist  von  euch,  der  sich  nicht  beut 
Als  Waffe  gegen  Zeus  im  Streit, 

Zu  stürzen  jene  Götter  ? 

Zum  Kampfe  schaart  euch  allzumal, 
Ein  eisern  Alter  ward  zu  Stahl, 

Zeus  droht,  er  soll's  erfahren. 
Ob  unser  Körper  auch  nicht  reicht 
An  die  Giganten,  keiner  weicht 

An  Bosheit  im  Gebahren. 

Die  Laster  treten  auf  in  einer  Antimasque  und  tanzen  nach 
zwei  Trommeln,  Trompeten  und  einer  w^ilden,  kriegerischen 
Musik.  Nach  Beendigung  ihres  Tanzes  erscheint  Pallas  und  zeigt 
ihren  Schild.     Die  Laster  werden  in  Bildsäulen  verwandelt. 

Pallas: 
So  sterbet  hin,  verwandelt  und  verkehrt, 
Die  ihr  euch  gegen  Götter  frech  bewehrt. 
Zu  gleichen  wahnt  mit  sterblicher  Gestalt 
Den  Mächten  frei  von  Schicksals  Allgewalt. 

's  war  Zeit,  zu  zeigen  ihrem  trüben  Blick, 
AVen  sie  befehdet  gegen  das  Geschick. 
Was  von  euch  dauern  kann,  sterb'  ab,  nur  Stein 
Soll  eine  kurze  Zeit  noch  sichtbar  sein-. 
Komm,  holdes  Par,  das  Zeus  der  Erde  gibt, 
Von  ihm  und  allen  Guten  treu  geliebt. 

(Die  Scene  verwandelt  sich  und  sie  ruft  Asträa  und  das 
goldene  Zeitalter.) 

Steig'  nieder,  lange,  lang'  ersehntes  Par; 
Wie  sanfter  Ton  durchdringt  die  Lüfte  klar, 
Streif  ab  die  Wolken  mit  dem  goldnen  Haar; 

6* 


Ben  Jonson's  Maskenspiele. 

Denn  Hass  ward  lass*):  das  eiserne  Geschlecht 
Entfloh,  sein  Nam'  erlosch,  so  siegt  das  Recht. 

(Asträa  und  das  goldene  Zeitalter  steigen  singend  hernieder.) 

Asträa  und  das  goldene  Zeitalter: 
Vom  Sternenzelt 
Sind  wir  gesellt 
Der  Welt? 

Asträa: 
Hat  Zeus  der  Erde  solch  ein  Pfand  gezollt, 
Gerechtigkeit? 

Das  goldene  Zeitalter: 
Und  reines  Gold? 
Pallas: 

So   hold? 
Das  goldene  Zeitalter: 
Sehn  ew'gen  Frieden 
Sie  sich  beschieden 
Hienieden? 

Asträa: 
Erkennen  sie's  als  Gnade,  nicht  als  Recht? 

Pallas: 
Nur  Schaden  brach t's  für  ihr  Geschlecht. 

Asträa: 
Recht. 

Das  goldene  Zeitalter: 
Recht. 

Chor: 
Was  auch  beschränkter  Irrthum  denkt  und  thut, 
Die  Edeln  handeln  ihretwegen  gut. 

Pallas: 
Ihr  sollt  willkommen  sein, 
Asträa  und  das  goldene  Zeitalter: 
Doch  bleiben  wir  allein, 
Wird  unser  Reich  gedeih'n? 

Pallas: 
Zeus  iiberlasst's,  er  sorgt  für  euch 
Und  seine  Pallas  fördert  euer  Reich. 
Sogleich,  sogleich  — 


*)  Die  schöne  Aliitteration  For  Spite  is  spent  liesse  sich  auch  wieder- 
geben: "DennHassisthin. 


Ben  Jonson's  IMaskenspielc. 

Berühmte  Geister,  die  ilir  einst  entsprangt 

Aus  unserm  Land,  den  Namen  euch  errangt 

Der  Phöbus- Söhne,  Töne  kühn  verwebt, 

Wetteifernd  Thracischer  Leier  nachgestrebt, 

Ihr,  Chaucer,  Gower,  Lydgate,  Spenser,  eilt, 

Mit  heller  Glut  von  ferne,  wo  ihr  weilt. 

Im  Dienst  der  neuen  Zeit  soll  euer  Name  glänzen. 

Die  Tugend  athmet  frei,  die  Kunst  soll  neu  sich  kränzen. 

Chaucer,  Gower: 
Wir  nah'n. 

Lydgate,  Spenser: 
Wir  nah'n. 
Alle: 

Die  reinste  Glut 
Pflanzt  Pallas  ein  in  unser  Blut. 

(Sie  steigen  herab.) 

Pallas: 
Seht  ihr  der  Seelen  Schaar,  die  fern  am  schatt'gen  Ort 
Elysium's  Laub'  umfängt  auf  Sitzen  hochbeglückt, 
Die,  weil  sie  treu  gewirkt,  Halbgötter  wurden  dort, 
Die  Tod  gleich  sanftem  Schlaf  dem  Erdenreich  entrückt? 
Wir  wecken  sie ;  denn  stets  bleibt  ihre  Kraft  geweiht 
Dem  Schirm  und  Schutz  des  Rechts,  der  Hut  der  neuen  Zeit. 

Chorgesang: 
Für  euch  brach  dieses  Alter  an,  erwacht ! 
Erwacht,  als  barg  euch  nimmer  Schlaf  und  Nacht! 
Hüllt  euch  in  Luft,  und  steht  für  sie  bereit, 
Die  flücht'gen  Diensten  ew'gen  Lohn  verleiht. 

Pallas: 
Seht,  wie  der  Blitz  vom  Schild  der  Pallas  schiesst. 

(Die  Scene  des  Lichts  wird  sichtbar.) 

Chor: 
Ein  dämmernd  Dunkel*)  schnell, in  Nichts  zertliesst. 

Asträa: 
Nun  Friede, 

Das  goldene  Zeitalter: 
Liebe, 


*)  doubtful  darkness. 


Ben  Jonson's  Maskenspiele. 

Asträa: 
Treue 


Beide: 

Sich  verbinden. 

C  hau  cer: 


Und  Streit 


Gower: 
Und  Hass. 

Lydgate: 
Und  Furcht 

Spenser: 

Und  Pein 

Alle: 

Verschwinden. 

Pallas: 
Kein  Trotz  aus  Eisenadern  quillt; 
Es  schwand,  was  einst  mit  Trotz  erfüllt. 

Chorgesang: 
Wie  eh'dem  werde  zu  Gold  die  Erde. 
Schlingt  Reihen  zum  Gesang, 
Nicht  bloss  in  abgemessnem  Gang, 
Nein,  schwebt  mit  leichtem  Flug  entlang, 
Des  Ortes  Genien  freut  muntrer  Drang. 

Pallas: 
Natur  schon  lächelt  weit  und  breit. 

Asträa: 
Doch  freute  sie  sich  eine  Zeit 
An  dieses  Alters  Glühen: 

Das  goldene  Zeitalter: 
Dass  der  Gedanke  Saaten  bringt, 
Dass  jedem  Blick  ein  Keim  entspringt, 
Und  jedem  Hauch  ein  Blühen:  , 

Pallas: 
Aus  ungepflügtem  Boden  spriesst 
Die  Saat,  von  Eichen  Honig  fliesst, 

Und  Milch  in  Bächen  rinnt : 
Die  Distel  Lilien  tragen  soll. 
Der  Dornbusch  prangt  von  Rosen  voll, 

Der  Wurm  nur  Seide  spinnt. 


Ben  Jons  on 's  Masken  spiele.  87 

Chor: 
Vom  Strauche  träufelnd  Balsam  letzt, 
Von  Nektar  schmilzt  der  Fels  benetzt, 

Bis  satt  der  Grund  sich  trinkt; 
Dass  er  kein  Giftkraut  treibt  an's  Licht, 
Nicht  Farren  kennt,  Alraunen  nicht. 

Noch  Stein,  der  Unheil  bringt, 

(Nun  folgt  der  Haupttanz.) 

Pallas: 
Doch  nicht  genügt's:  thut  ihr  nicht  mehr, 
So  bleibt  es  halbe  Wiederkehr 
Der  freien,  goldnen  Zeit. 

Dichter: 
Das  Weib  geschmiegt  an  Mannes  Brust,    , 
So  münzten  sie  zu  voller  Lust 
Die  lautre  Einfachheit. 

Gewalt  blieb  der  Gestalt  nicht  fern,*) 
Mit  Schönheit  tanzte  Jugend  gern. 

Von  Grazien  beglückt. 
Kein  Misstrau'n  kannte  jene  Zeit, 
Nie  kam  mit  Lüsten  Lieb'  in  Streit,  **) 

Dem  Neid  war  sie  entrückt. 

Das  Wort  drang  schmelzend  in  das  Ohr, 
Rief  nie  der  Wangen  Glut  hervor, 
Die  Treu'  ward  nie  verletzt. 

Chor: 
Der  sanfte  Druck  der  Hand,  der  Kuss, 
Keusch  blieb  der  süsseste  Genuss 
So  wie  der  eure  jetzt. 
(Sie  tanzen  mit  den  Damen). 

A  s  t  r  ä  a : 
Doch  welch  ein  Wechsel!  Nimmer  ruhn 
Wollt'  ich  zuvor,  doch   wünsch'  ich  nun 
Zu  bleiben  hier  am  Ort. 


*)  Die  Allitteration  der  etwas  abstracten  Ausdrücke  Feature,  Form  liat 
der  Uebersetzer  wiederzugeben  versucht  durcli  das  von  Schiller  im  „Ideal 
und  Leben,"  freilich  nicht  in  der  derselben  Bedeutung  gebrauchte  A>'ort 
Gestalt  und  das  darauf  reimende  Gewalt. 

**)  Die  Allitteration  love,  lust  findet  sich  häufig,  vergl.  die  Stelle  in 
Beaumont  und  Fletcher's  Philasti-r:  Alas:  I  found  it  love;  Yet   tär  Irom  lust. 


88  Ben  Jonson's  Maskenspiele. 

Mein  Silberfuss  fast  Wurzeln  treibt, 
Das  Schwingenpaar  geschlossen  bleibt,*) 
Ich  kann  nicht  weder  fort. 

Im  All  gibt  Nengeburt  sich  kund, 
Zum  Himmel  ward  das  Erdenrund, 

Und  Zeus  uns  selber  naht; 
Die  Gottheit  fühl'  ich,  und  ich  weiss, 
Hier  weilet,  der  den  Weltenkreis 

Regiert  mit  weisem  Rath. 

In  solchem  Land,  wie  ihr's  bewohnt, 
Die  strahlende  Asträa  thront. 

Wünscht  nimmer  andre  Zeiten ; 
Inmitten  von  so  vielem  Gold, 
Nicht  irr'  durch  Furcht,  noch  feil  um  Sold 

Will  sie  die  Menschheit  leiten. 

Hier  werden  Galliards  und  Corantos  getanzt,  lebhafte  Tänze, 
deren  letzterer  aus  Shakspere  bekannt  ist.  Die  ersteren  sollen 
aus  Italien  stammen.     Bescherelle,  Dict.   National,   v.  gaillarde. 

Pallas  steigt  empor  und  ruft  die  Dichter: 

Genug!  Den  Sternkreis,  den  ihr  schaut, 
Hat  Zeus  zu  eurem  Sitz  erbaut, 

Dorthin  sollt  ihr  entschweben. 
Wie  seine  Gut'  euch  stets  beglückt, 
So  strebt,  dass  ihr  die  Welt  entzückt 

Durch  Licht  und  Glanz  und  Leben. 

Gleich  Sternen  um  Asträa's  Thron 
Strahlt  hier  in  dieser  Region 

In  voller  Einigkeit; 
Dass,  wenn  freundschaftlich  ihr  verkehrt, 
Durch  euren  treuen  Dienst  sich  mehrt 

Der  Ruhm  der  goldnen  Zeit, 

Die  gegen  Hitz'  und  kalten  Wind 
Euch  goldene  Gewänder  spinnt  — 

So  treffe  Noth  euch  nimmei-! 
In  Blumen,  die  der  Boden  treibt, 
Die  Göttin  eure  Namen  schreibt,**) 

Damit  ihr  lebt  für  immer. 

*)  Das  Bild  my  wings  are  sheath'd  ist  offenbar  von  den  Flügel- 
decken sheaths,  sheath- wings  des  Käfers  (sharded  beeile,  Milt.)  hergenommen. 

**)  Anspielung  auf  das  delphinium  Ajacis,  ä  y^anru  vnxivdos.  Theoer. 
10,  28.  Vergl.  Ov.  Met.  X,  215  f.  XIII,  394  ff". 


Ben  Jonson's  Maskenspiele.  89 

Chor: 
Dem  Zeus,  dem  Zeus  soll  Ruhm  und  Ehre  werden, 
Tribut  dankbarer  Herzen  hier  auf  Erden! 

Zur  Vergleichung  setze  ich  die  Schilderung  des  paradie- 
sischen Zustandes  im  goldnen  Weltalter  hinzu.  Nur  die  erste 
und  letztee  Strophe  ist  als  Chorgesang  in  GifFord's  Ausgabe 
durch  kleinern  Druck  hervorgehoben;  doch  wurden  die  beiden 
niittlrn  Strophen  wohl  schwerlich  gesprochen,  sondern  wahr- 
scheinlich als  Eecitativ  vorgetragen. 

Chor: 
But,  as  of  old,  all  now  be  gold. 
Move,  move  then  to  the  sounds; 
And  do  not  only  walk  your  solemn  rounds, 
But  give  tbose  light  and  airy  bounds, 
That  fit  the  Genii  of  these  gladder  grounds. 

(The  first  Dance.) 

Pallas: 
Already  do  not  all  things  smile? 
'But  when    they  have  enjoy'd  awhile 
The  Age's  quickening  power: 

Age: 
That  every  thought  a  seed  doth  bring, 
And  every  look  a  plant  doth  spring. 
And  every  breath  a  flower: 

Pallas: 
The  earth  unplough'd  sliall  yield  her  crop, 
Pure  honey  from  the  oak  shall  drop, 

The  fountain  shall  run   milk: 
The  thistle  shall  the  lily  bear, 
And  every  bramble  roses  wear. 

And  every  worni  inake  silk. 

Chor: 
The  very  shrub  shall  baisam  sweat, 
And  nectar  mclt  the  rock  with  hcat, 

Till  carth  have  drank  her  tili : 
That  slie  no  harniCul  weed  may  know, 
Nor  barren  fern,  nor  niandrake  low, 

Nor  mineral  to  kill. 


90  Ben  Jonson's  Maskenspiele. 

Von  den  bekannten  Schilderungen  des  goldnen  Weltalters 
bei  griechischen  und  römischen  Dichtern  scheint  Ben  Jonson 
nur  die  des  Ovid  vor  Augen  gehabt  zu  haben,  und  zwar  fol- 
gende Verse  Met.  I.,  109  fF. 

Mox  etiam  fruges  tellus  inarata  ferebat, 
nee  renovatus  ager  gravidis  canebat  aristis^ 
fluraina  jam  lactis,  jam  flumina  nectaris  ibant, 
flavaque  de  viridi  stillabant  ilice  mella. 

Mit  der  zweiten  Hälfte  der  dritten  Strophe  lässt  sich  ver- 
gleichen Theoer.  I.,  132  f. 

Nvy  \'a  f.ify  (foqloixt  ßdroi,  (fOQtoirt  d^uxavd-ai, 
a  dt  xaXu  vuQxiGog  in    uQXtvd^oiGi  xo/nuffai. 

Immanuel    Schmidt. 


Sitzungen  der  Berliner  Gesellschaft 

für    das    Studium    derneueren    Sprachen. 


Sitzung  vom  22.  November  1859.  ~  Herr  Kewitsch  giebt  eine 
kurze  Darstellung  des  Standpunktes,  den  die  Frage  über  die  aristo- 
telische Katharsis  zu  Corneille's  Zeiten  einnahm,  widerlegt  die  An- 
sicht des  französischen  Dichters  auf  Grund  der  Lessingschen  Beweis- 
führung ,  stellt  die  Auffassung  Lessing's  selbst ,  wonach  die  Katharsis 
in  Verwandlung  der  Affecte  des  Mitleids  und  der  Furcht  in  tugend- 
hafte Fertigkeiten  besteht ,  als  unhaltbar  dar  und  schreitet  alsdann  zu 
einem  Abriss  der  ferneren  Geschichte  dieser  Frage.  Er  würdigt  das 
Verdienst  Eduard  MüUer's  um  dieselbe  und  bezeichnet  endlich  Jacob 
Bernays  als  denjenigen,  der  in  seinen  „Grundziigen  der  verlorenen  Ab- 
handlung des  Aristoteles  über  die  Wirkung  der  Tragödie'"  den  Sinn  des 
Aristoteles  richtig  erkannt  habe.  Er  setzt  dessen  Beweisführung  aus- 
führlich aus  einander,  theilt  die  von  ihm  aus  Aristoteles  Politik  VIII,  7 
gezogenen  Schlüsse  mit,  nach  denen  die  Katharsis  in  einer  Hervor- 
lockung der  Affecte  des  Mitleids  und  der  Furcht  besteht,  und  erkennt 
mit  Bernays  die  in  Jamblichus  und  Proclus  vorkommenden  Ausdrücke 
ucfoauoatg  und  unfQuoig  als  Synonyma  an,  durch  die  Aristoteles 
die  Katharsis  habe  erläutern  wollen.  Eine  Widerlegung  der  gegen 
Bernays  von  Adolph  Stahr  in  „Aristoteles  und  die  Wirkungen  der 
Tragödie,  Berlin  1859''  und  Spengel  „über  die  y.dd^uQaiq  rröy  na&r^- 
/.idzioy"  (Abhandl.  der  Königl.  bairischen  Acad.  der  Wissensch.  I.  Cl., 
Bd.  9,  Abthl.  1.  1859)  erhobenen  Einwürfe  bilden  den  Schluss  des 
Vortrags.  —  An  der  Debatte  darüber  betheiligen  sich  die  Herren 
Herrig,  Lasson  und  Andere. 

Dann  begann  Herr  Michaelis  eine  lieihe  von  Vorträgen  über  das 
th.  In  dem  ersten  gab  er  einen  Abriss  der  Auffassung  des  th  Seitens 
der  deutschen  Grammatiker  von  der  ältesten  Zeit  an  ,  deren  Ansichten 
er  grossentheils  in  ihren  eignen ,  oft  ergötzlichen  Ausdrucken  mittheilt. 
Schon  Ickelsamer,  der  die  Reihe  beginnt,  bezeichnet  das  th  als  unnöthig 
und  ungeschickt.  Später  wird  das  h  im  th  als  Dehnungszeichen  gefasst,  und 
die  Grammatiker  eifern    dann   mit  Recht  dagegen ,   dass   es   als  solches 


92  Sitzungen   der  Bei'liner  Gesellschaft 

von  seinem  Vokal  getrennt  wird.  Auch  Adelung's  seltsame  Theorie, 
der  Zweck  des  th  sei,  einem  unscheinbaren  Worte  durch  Erweiterung 
mehr  Stattlichkeit  zu  geben  (es  wäre  also  eine  Art  orthographischer 
Crinoline),  blieb  nicht  unerwähnt.  Grimm's  Worte  über  das  th  schlössen, 
wie  billig,  diesen  historischen  Abriss. 

Herr  Sachse  hielt  einen  Vortrag  über  das  Niederdeutsche,  nament- 
lich über  das  in  den  letzten  Jahren  hervorgetretene  Bestreben,  dem 
Plattdeutschen  neben  dem  Hochdeutschen  eine  literarische  Stellung  zu 
sichern,  wohin  vor  Anderen  Claus  Groth,  der  Verfasser  des  Quickborn, 
trachtet ,  und  über  die  gegen  diese  Tendenz  poleraisirenden  Schriften 
Keuter's  und  Freimund's.  Zum  Schluss  giebt  der  Vortragende  eine 
Schilderung  der  Mundart  Westphalen's.  —  Herr  Strack  knüpft  an  den 
Vortrag  eine  Bemerkung  über  das  Bremer  Platt. 

Sitzung  vom  G.December.  Herr  Michaelis  hielt  einen  zweiten 
Vortrag  über  das  th.  Er  gab  zunächst  eine  Uebersicht  über  das  System 
der  Consonanten ,  insoweit  sie  mit  dem  Gesetze  der  Lautverschiebung 
in  Verbindung  stehn,  wobei  er  besonders  auf  den  Unterschied  zwischen 
Aspiraten  und  Spiranten  aufmerksam  machte.  Hierauf  betrachtete  er 
speciell  die  Zahnlaute  und  erörterte  die  Veränderungen ,  welche  die- 
selben ,  vom  Sanskrit  aus ,  im  Griechischen,  Lateinischen  und  in  den 
germanischen  Sprachen  erlitten  haben.  Am  Schlüsse  dieser  Betrach- 
tung vertheidigte  er  im  Gegensatze  zu  der  Ansicht  von  Jacob  Grimm 
und  R.  von  Raumer  die  Ansicht,  dass  die  Lautverschiebung  nicht  von 
der  Steigerung  der  Muta,  sondern  von  dem  Herabsenken  der  Aspirata 
zur  Muta  ausgegangen  sei.  Aus  dem  Gesetze  der  Lautverschiebung 
folgerte  der  Vortragende,  dass,  da  im  Deutschen  d,  t  und  z  oder  sz 
(tz,  ss)  die  Stelle  der  media,  tenuis,  aspirata  einnehmen,  th  in  den  Or- 
ganismus desselben  gar  nicht  hineinpasse  und  liberall  durch  einfaches 
t  zu  ersetzen  sei.  Nur  in  Fremdwörtern  und  altdentschen  Namen 
z.  B.  Theoderidi,  gothisch  Thiudareiks,  bei  Gregor  Theodoricus,  hoch- 
deutsch Dietrich,  sei  das  th  an  seinem  Orte. 

Herr  Döbbelin  legte  Ansichten  des  Walter  Scott -Monuments  in 
Edinburgh  vor  und  gab  Erläuterungen  zu  denselben. 

Ein  Vortrag  des  Herrn  P  r  ö  h  1  e  über  Thymus,  einen  Pädagogen 
des  1 6.  sec,  schloss  die  Sitzung.  Es  wurde  in  demselben  eine  aus- 
führliche Inhaltsangabe  des  Thymusschen  Gedichtes,  ..Thedel  von  Wal- 
moden," gegeben. 

30.  Sitzung  vom  20.  December.  Herr  Michaelis  beendete  seine 
Vorträge  über  das  th  in  der  deutschen  Rechtschreibung.  Er  ordnete 
die  Wörter,  welche  ohne  Grund  mit  th  statt  t  geschrieben  werden ,  in 
folgende  5  Gruppen : 

1.     Wörter   aus    fremden   Sprachen  mit   ursprünglichem  t,   z.  B. 


für  das   Studium  der  neueren  Sprachen.  93 

Turm,  Maut,  Miete  (Haufen)  ,  Partei ,  Kartaune ,   Abenteuer ,  Lazaret, 
Zibet ; 

2.  Wörter  mit  niederdeutschem  t,  wie  Spat  (Pferdekrankheit), 
Träne  u.  s.  w. 

3.  Regelmässiges  hochdeutsches  t,  z.  B.  Tau  (ros),  tun,  Tat,  Un- 
tertan, teuer,  Tier,   Tal,  Teil,  Rat  u.  s.  av. 

4.  Ursprüngliches  t,  welches  goth.  in  d  statt  th,  hochdeutsch 
wieder  in  t  übergegangen  ist,  z.B.  Mut,  Not,  Blut,  Flut,  Blüte,  Drat, 
Glut. 

5.  Hochdeutsches  d  in  t  verhärtet:  tauen,  Wittum,  Abton  ,  Wi- 
derton.    Ungewiss  in  seiner  Stellung  ist  Wismut. 

Der  Vortragende  schloss  mit  der  Aufforderung,  sich  in  wissen- 
schaftlichen Werken  und  Zeitschriften  des  fehlerhaften  th  möglichst  zu 
enthalten. 

Sodann  gab  Herr  Leo  in  der  Fortsetzung  seines  früher  gehaltenen 
Vortrags  weiteres  Material  zu  einer  Geschichte  der  Shakspeare- Kritik. 
Zunächst  berichtigte  er  die  falsche  Auffassung,  als  ob  er  in  seinem 
ersten  Vortrage  die  Gesellschaft  zu  einer  kritischen  Ausgabe  des  Shak- 
speare habe  veranlassen  wollen ,  dahin ,  dass  er  der  Meinung  gewesen 
sei,  es  würde  ganz  besonders  in  der  Aufgabe  gerade  dieser  Gesellschaft 
liegen,  die  vorhandenen  Kräfte  anzuregen,  zu  concentriren  und  so  durch 
ihren  moralischen  Einfluss  zu  wirken.  Die  Idee  einer  Shakspeare- 
Ausgabe  durch  deutsche  Gelehrte  Hess  er  überhaupt  fallen:  einerseits 
habe  die  Verbalkritik  des  Shakspeare  in  Deutschland  bisher  zu  Geringes 
geleistet,  als  dass  man  hoffen  könne,  hinreichend  befähigte  Kräfte  und 
nennenswerth  neues  Material  zu  finden,  andererseits  sei  durch  die  Aus- 
gabe von  AI.  Dyce  der  Aufgabe  einer  kritischen  Behandlung  so  weit 
genügt,  dass  man  sich  darauf  beschränken  könne,  ihm  für  spätere  neue 
Auflagen  seines  Werkes  das  verbessernde  Material  zu  liefern.  Der 
Redner  theilte  im  weitern  Verlaufe  seines  Vortrages  die  Shakspeare- 
Kritiker  in  4  Klassen :  in  solche,  welche  die  aus  den  Quart-  und  Folio- 
Ausgaben  uns  überkommene  Form  sklavisch  festhalten  und  einen  Sinn 
hineinzwängen;  in  solche,  die  im  Gegensatz  hierzu  frivol  mit  der  Form 
umspringen;  ferner  in  solche,  welche  nach  bestimmten  Gesetzen  der 
Metrik  die  Form  des  Dichters  ihrem  Geiste  gemäss  verstünuneln  ,  und 
endlich  in  solche  (und  nur  diesen  gestand  er  wirklichen  Werth  zu), 
welche  bei  aller  Pietät  für  die  überlieferte  l^^orm  und  genauer  Kennt- 
niss  der  Sprache  und  Sitten  der  Shakspeareschen  Zeit,  so  wie  bei  aller 
Achtung  vor  den  Gesetzen  der  Metrik,  eine  gute  Dosis  von  natürlichem 
poetischen  Gefühle ,  von  gesundem  Mensclienvcrslande  und  von  der 
Fähigkeit  mitbringen,  sich  in  den  Geist  und  die  Empfindung  des 
Dichters  und  seiner  Gestalten  hineinleben  zu  können.  Zum  Schluss 
seines  Vortrags  besprach  Herr  Leo  die  berühmte  Stelle  aus  Romeo 
and  Juliet: 


94  ^    Sitzungen   der   Berliner  Gesellschaft 

that  runnawayes  eyes  may  wincke 
(so   die  Lesart   der  zweiten   Quartausgabe) 

und  beurtheilte  die  Emendationen   und  Erklärungen  des  Wortes  „runn- 
awayes" von  Rowe  an  bis  auf  die  neueste  Zeit.     ^ 

Herr  B  o  1 1  z  schloss  die  Sitzung  mit  einem  Vortrage  über  Schiller's 
Bedeutung  in  der  russischen  Literatur.  Er  verglich  die  culturgeschicht- 
lichen  Momente,  die  in  Deutschland  dem  Erscheinen  Schiller's  voran- 
gegangen waren,  mit  denen  Russlands  bis  zu  derselben  Epoche,  um  die 
gänzliche  Abwesenheit  der  Romantik  daselbst  zu  constatiren,  da  das 
epische  Gedicht  „vom  Zuge  Tgor's  gegen  die  Polowzer"  erst  spät  auf- 
gefunden und  in  einer  dem  Kirchenslavischen  nahe  stehenden  Sprache 
verfasst  sei,  durch  seinen  Inhalt  aber,  ebenso  wie  „die  Sagen  von  Wla- 
dimir und  seiner  Tafelrunde'"  mehr  den  nordischen  Sagas  nahestehe. 
Letztere  seien  bereits  zu  Ammenliedern  herabgesunken.  Durch  Peter 
den  Grossen  kam  Leben  in  die  Volkssprache,  die  bisher  nicht  als 
Schriftsprache  gebraucht  worden  war.  Durch  Loraonnössow  festge- 
stellt, habe  sie  einen  raschen  Aufschwung  genommen,  und  es  habe  sich 
in  der  Folge  ein  thätiges,  litterarisches  Leben  entwickelt.  Von  den  sich 
darbietenden  Litteraturen  habe  man  sich,  aus  inneren  und  äusseren 
Gründen ,  der  französischen  zugewandt.  Einen  hohen  Grad  der  Aus- 
bildung erhielt  die  Sprache  durch  Karamsin ,  den  Vorläufer  der  Ro- 
mantik, den  nur  seine  oentimentalität  und  sein  Beruf,  als  Prosaiker 
zu  wirken,  abhielt,  das  zu  werden,  was  neben  und  nach  ihm  Shukowski 
ward,  der  Uebersetzer  Schiller's  und  hiedurch  der  Repräsentant  der 
romantischen  Schule,  von  deren  eifrigen  Anhängern  noch  der  Prof. 
Stepan  Schewürew  und  der  Litterat  Fedor  Müller,  letzterer  der  ge- 
niale Uebersetzer  von  Wilh.  Teil  und  der  Braut  von  Messina,  genannt 
wurden.  Aus  dem  Vortrag  ergab  sich,  dass  Schiller  mit  seinen  Dich- 
tungen den  Begriff  und  das  Wesen  der  Romantik  zugeführt  habe,  und 
dass  die  besten  Kräfte  noch  immer  aus  dieser  Fundgrube  schöpften.  — 

Herr  Pro  hie  knüpfte  an  den  Umstand,  dass  der  Sitzungstag 
zugleich  der  Begräbnisstag  Wilhelm  Grimm's  war,  eine  Gedächtniss- 
rede auf  den  Verstorbenen ,  in  der  er  die  besonders  charakteristischen 
Schriften  desselben  -nach  Form  und  Inhalt  würdigte  und  dessen  Nei- 
gung zur  Abfassung  künstlerisch  angelegter  Monographien  betonte. 
Nach  Besprechung  seiner  Arbeit  über  mittelalterliche  Dichtungen ,  zer- 
gliederte er  die  Sprache  der  Grimmschen  Volksmärchen  nach  ihrem 
Entstehen. 

Zum  ersten  Male  war  Herr  Bart  hold  Auerbach  als  Mitglied 
des  Vereins  in  einer  Versammlung  desselben  zugegen.  Ein  Mitglied 
begrüsste  ihn  in  einer  freundlichen  Anrede  und  drückte  ihm  aus ,  dass 
es  dem  Verein  zu  hoher  Freunde  gereiche,  einen  Schriftsteller  in  seiner 
Mitte  zu  sehen,  der  nicht  allein  in  Deutschland,  sondern  auch  im  Aus- 
lande rühmlich  bekannt  sei  bei  den  Völkern ,  mit  deren  Literatur   auch 


für  das   Studium  der  neueren  Sprachen,  95 

der  Verein  sich  beschäftige;  seien  doch  seine  Werke  in  die  Sprachen 
der  hauptsächlichsten  europäischen  Völker,  und  der  letzte  Jahrgang 
seines  Volkskalenders  sogar  in's  RussitJche  übertragen  worden.  Darauf 
erwiederte  Herr  Auerbach:  Es  erscheine  ihm  als  eigenthümlich,  dass, 
wie  er  in  einem  eben  gehaltenen  Vortrage  gehört  habe,  nur  in  Einem 
deutschen  Verbum ,  in  „werden,'"  ein  Vokalwechsel  im  Imperfectum 
eintrete.  Der  harsche  und  knappe  Laut:  „ich  ward"  verwandle  sich 
in  das  volltönende  und  eindrucksvolle:  „wir  wurden."  Um  so  viel 
höher  stehe  das  gemeinsame  „Werden"  einer  Mehrheit  in  gegenseitiger 
Anregung,  als  die  traurige  und  arme  Entwicklung  des  Einzelnen  in 
der  Vereinzelung.  Ebenso  aber  sei  es  auch  mit  den  Nationen.  Im 
Alterthum  hätten  die  Nationen,  jede  abgeschlossen  für  sich  und  eine 
zeitlich  auf  die  andere  folgend ,  die  Bahn  ihrer  Entwicklung  durch- 
laufen. In  den  neueren  Zeiten  offenbare  sich  der  gemeinsame  Werde- 
trieb der  Menschheit  gleichzeitig  in  der  eigenthümlichen  Entwicklung 
vieler  einzelnen  Nationen.  In  der  gegenseitigen  Einwirkung  aber, 
in  Mittheilung  und  Anregung  vermöchten  die  Völker  erst  ihre  höchste 
Bestimmung  zu  erfüllen.  Die  Deutschen  aber  verbänden  mit  ihrer 
Volkseigenthümlichkeit  die  tiefe  Kraft,  das  Eigenthümhchste  aller 
Völker  im  Tiefsten  zu  verstehen  und  sich  anzueignen.  So  bilde  das 
deutsche  Volk  den  Sammel-  und  Brennpunkt  aller  Culturbewegung. 
Das  deutsche  Volk  sei  das  wahrhaft  kosmische  Volk.  Darum  sei  das 
höchste  Ziel  deutscher  Entwicklung  zugleich  die  Vertiefung  des  eigenen 
Charakters  und  die  Aufnahme  aller  Cultur  fremder  Völker  in  den  Kreis 
der  eigenen  Bildung.  Und  so  freue  er  sich  denn,  inmitten  eines  Vereins 
von  Männern  zu  sein ,  die  es  sich  zur  Aufgabe  gemacht  hätten ,  eben 
diese  Bildungselemente,  die  das  geistige  Leben  der  neueren  Völker 
böte,  mit  dem  Geiste  deutscher  Wissenschaft  zu  bearbeiten.  Er  freue 
sich  um  so  mehr,  als  er  in  diesem  Vereine  ein  Beispiel  lebendigen  Zu- 
sammenwirkens, den  Drang  des  gemeinsamen  Werdens  des  einen  durch 
den  anderen  erblicke.  —  Der  Redner  schloss  mit  einem  Hoch  auf  das 
einige,  grosse  deutsche  Vaterland  und  seine  immer  herrlichere  Ent- 
wicklung.    Die  Versammlung  stimmte  freudig  ein. 

Der  Anfang  der  31.  Sitzung  vom  10.  Jan.  1860  war  der  Re\  ision 
der  Statuten  gewidmet.  Herr  Kannegiesser  hielt  einen  Vortrag  über 
den  italienischen  Dichter  Francesco  Benedetti.  Benedetti  waid  in  ärm- 
lichen Verhältnissen  zu  Cortona  1785  geboren.  Zum  Juristen  erzogen, 
mit  seinen  Neigungen  aber  ganz  der  Poesie  zugewandt,  trat  er  in  seinem 
18.  Jahre  bereits  mit  einem  Trauerspiele  hervor.  Durch  äussere  Noth 
lioss  er  sich  in  die  praktische  juristische  Laufbahn  drängen,  die  er  aus 
Mangel  an  Erfolg  bald  wieder  aufgab,  um  zur  Poesie  zurückzukehren, 
freilich  mit  nicht  viel  grösserem  Glücke.  Ueberall  abgewiesen ,  kaum 
sein  Leben  fristend  durch  Stundengeben,  fuhr  er  zu  produciren  fort; 
sein  „Drusus,"  seine  „Pelopea"  und  Anderes  fand  einigen  Beifall;  im 
Ganzen  jedoch  Hess  die  eigene  Nation  sein  Streben  zieailicli  unbeachtet 


96         *  Sitzungen   der  Berliner  Gesellschaft 

und  völlig  unbelohnt. 
in  Versen  und  in  Prosa  reichen  Ausdruck  geliehen,  glaubte  er  1821 
in's  Ausland  flüchten  zu  müssen.  Er  erschoss  sich,  als  diese  Hucht 
ihm  misslang.  Den  Beweis,  dass  Benedetti  zu  den  besseren  italienischen 
Bühnendichtern  gehöre  und  also  auch  im  Auslande  wohl  bekannt  zu 
werden  verdiene,  versparte  der  Vortragende  auf  eine  der  nächsten 
Sitzungen.  —  Darauf  sprach  Herr  Hermes  über  Verminderung  und 
Vermehrung  des  Silbengewichts,  besonders  über  Guna.  Ausgehend 
von  der  Bemerkung,  dass  die  Sprache  in  fortschreitender  Verkümme- 
rung ihres  Lautkörpers  begriffen  ist,  wie  die  Schrift  in  steter  Verein- 
fachung ihrer  Zeichen ,  wies  der  Redner  an  Beispielen  den  ursprüng- 
lichen Reichthum  der  Beziehungslaute  und  die  Bedeutung  des  Accentes 
auf.  Das  Streben  nach  Wohllaut  bahnt  der  Entartung  die  ersten 
Wege;  die  Macht  des  Accentes  verflüchtigt  entlegene  Endsilben;  auf 
den  Wogen  der  Rede  schleift  sich  die  Lautmasse  vollens  ab.  Im  Ge- 
gensatze zu  dieser  Erscheinung  steht  die  Lautsteigerung  durch  Guna 
(Erhebung  des  i  und  u  zu  ai  und  au)  und  die  vermehrte  durch  Vriddhi 
(Erhebung  des  i  und  u  zu  Jii  und  äu).  Die  Gunirung  ist  älter  als  die 
Absonderung  der  europäischen  Sprachstämme  von  der  asiatischen  Mutter; 
Guna  findet  sich  daher  auch  im  Griechischen ,  Gothischen  und  in  den 
germanischen  Zweigen.  Näher  wurde  nun  das  Guna  in  der  Conju- 
gation  betrachtet,  wo  es  bei  leichteren  Personalendungen  des  Sing.  Praes. 
und  des  Imperf.  Ind.  Act.,  durchgängig  aber  bei  gunafähigen  Verben 
im  Fut.,  oft  im  1.,  nie  im  2.  Aorist  vorkommt,  während  das  reduplicirte 
Praeteritum,  bei  welchem  der  Vortragende  länger  verweilte,  im  Grie- 
chischen anderen  Gesetzen  als  im  Sanskrit  folgt.  So  erscheint  denn 
auch  im  Deutschen  der  sogenannte  Ablaut  als  eine  dem  Umlaut  ver- 
gleichbare euphonische  Begleitung  der  Flexion.  Die  Guna-  und  Ab- 
lauts-Verhältnisse  sind  im  Englischen  sehr  verwischt;  im  Lateinischen 
und  desshalb  auch  in  den  romanischen  Sprachen  ist  das  Guna  ganz 
aufgegeben ;  kaum,  dass  überhaupt  eine  Wirkung  des  Flexionsgewichtes 
nachweisbar  ist.  Auf  diese  Wirkung  wurde  der  Vokalwechsel  inner- 
halb der  französischen  Conjugation,  die  weder  Guna,  noch  Ablaut 
kennt,  zurückgeführt. 

32.  Sitzung  vom  24.  Januar.  Der  Vorschlag  des  Herrn  Leo, 
zunächst  auf  ein  Jahr  im  Schoosse  der  Gesellschaft  Special- Com- 
missionen  für  die  deutsche,  die  englische  und  die  romanischen  Sprachen 
zu  bilden,  wurde  erörtert  und  angenommen.  Die  Meisten  der  An- 
wesenden traten  sofort  den  einzelnen  Abtheilungen  bei. 

Daraufsetzte  Herr  Las  son  seine  Besprechung  der  „völkerpsy- 
chologischen Zeitschrift"  der  Herren  Lazarus  und  Steinthal  fort.  Er 
leugne  den  Volksgeist  nicht;  nur  sei  es  falsch,  ihn  als  Seele  zu  fassen. 
Der  übelgewählte  neue  Titel  bezeichne  aber  im  Wesentlichen  eine  alte 
Betrachtungsweise,  die  kulturhistorische.  Da  derselben  Alles  sich  unter- 
werfen lasse,    so    sei    der  Umfang  der  sogenannten  Wissenschaft  ein 


für  das   Studium  der   neueren  Sprachen.  97 

unendlicher.  Die  Methode,  aus  Ursache  und  Wirkung  die  Genesis 
der  Dinge  begreifen  zu  wollen,  sei  unvernünftig,  weil  mechanisch,  die 
Freiheit  aufliebend.  Der  Versuch,  die  Erscheinungen  der  Sprache  aus 
Empfindungen  und  Vorstellungen  abzuleiten,  statt  sie  auf  auf  logische 
Processe  zurückzuführen ,  widerstreite  dem  Wesen  der  Sprache  und 
misslinge  den  Verfassern  in  den  bis  jetzt  gelieferten  Aufsätzen  voll- 
ständig. —  Auf  einige  Einwendungen  des  Herrn  von  Holtzendorf  ver- 
wahrte sich  der  Vortragende  gegen  die  Annahme ,  als  wolle  er ,  wie 
die  absolute,  so  auch  die  relative  Berechtigung  des  psychologischen 
Standpunktes  bestreiten.  — 

Herr  Strack  las  eine  an  die  Gesellschaft  gerichtete  Zuschrift 
des  Herrn  Pajeken  aus  Bremen ,  in  welcher  dieser  ein  hingeworfenes 
Wort  Fr.  A.  Wolfs,  dass  ein  begabter,  gebildeter  Mann  in  14  Tagen 
Portugiesisch  lernen  könne,  (vgl.  Archiv  Bd.  26.  S.  187:)  mit  Gründen 
und  eigenen  Erfahrungen  bestritt.  — 

33.  Sitzung  vom  7.  Februar.  Herr  Härtung  hielt  einen  Vor- 
trag über  den  amerikanischen  Dichter  Bryant.  Er  gab  einen  kurzen 
Lebensabriss  desselben  und  charakterisirte  dann  seine  musterhafte  Prosa 
und  seine  durch  Schönheit  der  Form,  durch  republikanischen  Freiheits- 
drang, vor  allem  aber  durch  ein  tiefes  natürlich  religiöses  Gefühl  her- 
vorragenden Poesien.  Herr  Härtung  belegte  sein  Urtheil  durch  einige 
von  ihm  selbst  verdeutschte  Proben.  Ergänzend  fügte  Herr  Herrig 
einige  Bemerkungen  hinzu. 

Darauf  las  Herr  Kannegiesser  ein  scherzhaftes  Gedicht  in 
Sachen  Pajeken  wider  Fr.  A.  Wolf.   — 

Herr  Leo  zeigte  die  Entstehung  der  dänischen  Versicherungs- 
formeln so  gu  (s'gu)  und  so  men  aus  den  Eidesworten  „So  Gott  mir 
helfe  und  seine  heiligen  Männer"  und  verglich  damit  das  schwedische 
was  erra  oder  was  erra  tri:  ..Unsere  Herren  drei"  (Vater,  Sohn  und 
Geist)  oder  „Unseres  Herren  (Kreuzes-)  Holz."  — 

Herr  Schulze  übergab  zu  späterer  Besprechung  seine  Schrift 
„Ueber  die  biblischen  Sprichwörter  der  deutschen  Sprache."  — 

Herr  Michaelis  unterhielt  die  Gesellschaft  durch  Mittbeilung 
einiger  Wunderlichkeiten  aus  dem  „Gavlensografischen  deutschen 
Sonntagsblat." 

Zuletzt  sprach  Herr  Schmidt  über  Ben  Jonson's  Masken.  Er 
wies  nach,  wie  der  Hof  Jacob's  I.  den  Anlass  zu  diesen  Productionen 
gegeben ,  und  wie  dieselben  einerseits  auf  dtn  uralten  weihnachtlichen 
Mummenschanz,  andererseits  auf  die  seit  Heinrich  VIll.  nachge- 
ahmten italienischen  Älasken  zurückzuführen  sind.  Die  Lebens-  und 
Dichtungskreise ,  denen  Stoffe  und  Figuren  entnommen  sind ,  wurden 
näher  durchgegangen  und  sodann  dargelegt ,  wie  aus  dem  Maskenspiel 
die  Selbstpersifflage  der  von  Bedienten  gespielten  Antimasken  (llüpel- 
scenen)  entstanden.  Für  die  Form  der  Bon  Jonsonschen  Masken  wies 
der  Vortragende  auf  das  Intermezzo   im  Tempest   hin  und   schloss  mit 

Areliiv  f.  11.  Siirachen.  XXVII.  7 


98  Sitzungen   der  Berliner  Gesellschaft 

einer  Inhaltsangabo  der  schönsten  Maske  Ben  Jonson's,  des  „goldenen 
Zeitalters." 

34.  Sitzung  vom  28.  Februar.  —  Herr  Alt  mann  sprach  über 
die  Runen  der  Finnen.  Die  Einleitung  gab  ein  anschauliches  Bild  des 
landschaftlichen  Charakters  von  Finnland  und  machte  den  Einfluss  der 
eigenthümlichcn  Reize  des  Terrains  auf  die  poetische  Begabung  des 
Volkes  begreiflich.  Dann  wurde  die  Bedeutung  von  runot  aus  den 
beiden  Sanskritwurzeln  ru ,  tönen  lassen  und  wran ,  verwunden,  ent-' 
wickelt  und  mit  Heranziehung  der  daraus  abgeleiteten  Wörter  anderer 
Sprachen  Rune  gedeutet  als  Kerb,  Schi-ift,  Geheimschrift,  Zauberspruch, 
endlich  Lied,  Gesang,  Melodie.  Es  wurde  ferner  auseinandergesetzt, 
wie  die  finnische  Dichtung  ein  Erzeugniss  des  gesammten  Volkes,  ist, 
sich  vom  Vater  auf  den  Sohn  vererbend,  keine  fertige,  sondern  noch 
heute  in  stetiger  Entwicklung  begriffene,  nur  mündliche  Nationaldichtung. 
Was  geschrieben  da  ist ,  ist  von  Deutschen  gesammelt  worden.  Als 
ein  redendes  Beispiel  der  poetischen  Anlage  der  Nation  wurde  auf  jene 
finnische  Improvisatorin  hingewiesen ,  die  vor  nicht  langer  Zeit  die 
höchste  Bewunderung  des  Petersburger  Publikums  erregte.  Die  Kale- 
vala,  der  Name  der  finnischen  Nationaldichtung,  wird  kurz  als  eine 
reich  mit  Episoden  ausgestattete  Verherrlichung  des  finnischen  Apollo 
definirt.  Nach  einem  kui'zen  Abriss  der  noch  jungen  litterarischen 
Bearbeitung  des  finnischen  Kalevala  und  des  verwandten  esthnischen 
Kalewipoeg  geht  der  Vortragende  zu  einer  Charakteristik  der  finnischen 
Poesie  über,  die  mhnnlieli,  gesund,  ernst  ist,  und  deren  unterschei- 
dender Zug  das  Vorwalten  des  didaktischen  Elementes  ist,  dem  sich 
das  lyrische  anreiht.  Dann  wird  die  Form  der  Poesie  geschildert. 
Der  trochäische  Tetrameter  ist  das  vorherrschende  Mass;  seltener,  fast 
Ausnahme  ist  der  trochäische  Trimeter  und  Pentameter,  sogar  Dac- 
tylen  kommen  vor.  Die  Allitteration  ist  höchst  ausgebildet,  fast  kein 
Vers  entbehrt  ihrer ;  sie  steigert  sich  oft  bis  zum  Silbenreim  im  Anflmg 
des  Wortes.  Forner  ist  der  Parallelismus  der  Gedanken  häufig.  Um 
einen  Begriff'  vom  Klange  der  Sprache  und  zugleich  einen  Beleg  für 
seine  Darstellung  der  Runenpoesie  zu  geben,  las  der  Verfasser  aus- 
gewählte Texte  in  finnischer  Sprache  vor ,  zu  denen  er  die  deutsche, 
metrische,  die  Eigenthümlichkeiten  üer  Originale  in  eben  so  strenger 
Treue  als  in  fliessender  Spi'ache  wiedergebende  Uebersetzung  hinzu- 
fügte. — 

Demnächst  hielt    Herr  Mahn   einen   Vortrag   über  die  Herkunft 
der  Wörter  Büffet  und  Ananas. 

A.  Ueber  das  Wort  Büffet. 
Franz.  buffet,  der  Silberschrank,  Speiseschrank,  Credenztiscb ,  Tafel- 
aufsatz; ital.  buffetto,  Schenktisch,  Credenztiscb,  ein  Schränkchen  zum  Trink- 
geschirr; ppan.  bufete,  Schreibtiscli,  Esstisch,  Spieltisch;  mittellat.  bufetum 
=  lat.  abacus.  Nach  dem  franz.  Wh.  von  1549  bedeutet  buffet  s.  v.  a.  dressoir, 
iibacus,  repositorium,  ung  hülfet  d'or   et  d'ai'gent ,  c'est  a  dire,   la  vaisselle 


für  das  Studium  der  neueren  Sprachen.  99 

qu'il  fault  pour  le  seruioe  de  la  table,  vasariuni ,  ung  buffet  desploye,  ar- 
gentum  proposituni;  en  ce  banquet  la  on  nous  seruoit  en  buflet,  in  eo  con- 
vivlo  niiscebatur  nobis.  Das  lat. -franz.  AVb.  von  1546  übersetzt  abacus  durch 
dressoir  ou  buflet.  Das  Wb.  von  16u6  erklärt:  buflet,  c'est  un  dressoir, 
abacus,  repositorium,  et  se  prent  pour  ce  dressoir  haut  esleu^ ,  ii  armoires, 
ou  non,  qui  est  en  vne  chambre  ou  salle,  sur  lequel  on  estale  la  vaisselle 
d'argeut  aus  heures  du  souper,  ou  <lu  disnor  es  inaisons  des  Princes  et 
grands  Seigneurs,  qui  pour  cete  cause  est  par  les  Espagnols  appele  Parador, 
et  par  figure,  buflet  est  prlns  pour  l'assortissenient  de  toutc  la  vaisselle 
d'argeut  (juMl  faut  pour  IVnlier  seruice.  Selon  ce  on  dit,  Jl  a  un  buflet 
d'argent,  Suppellex  vaseularia,  et  patinarla  argentea  illi  est.  Der  Ursprung 
des  ^Vortes  mit  dieser  liedeutung  scheint  in  Frankreich  gewesen  zu  sein. 
Schon  im  Roman  Fierabras  kommt  es  vor:  S'il  vos  plait,  sire,  ä  manger 
nie  dones.  A  un  bufet  qui  fu  grans  et  quarres  s'asist  Aubri  li  prous  et  li 
senes.  Nach  Menage  konnnt  das  franz.  und  span.  Wort  vom  iial.  bufletto, 
und  dies  von  bufl'are,  enÜer,  les  premiers  buffets  etarit  d"une  figure  courte 
et  grosse,  et  pour  user  de  ce  mot,  dune  figure  enflee.  Einige  glaubtenr 
dass  es  für  buvet  .stehe,  -weil  buvette  eine  Art  Weinschenke  ist;  aber  dieses 
Wechsel  von  f  und  v  ist  hier  sehr  bedenklich.  Nach  Burguy  (Glossaire  de 
la  langue  d'oil),  war  bufet,  dans  le  principe,  une  sorte  de  table  placee  pre- 
de  la  porte,  ä  laquelle  on  admettait  les  pelerins,  menetriers,  etc..  qui  re- 
clamaient  l'hospitalite.  Les  gens  de  cette  espece  etant  doues  d'un  bon  ap- 
petit,  tout  ce  qui  venait  du  dois  ou  grande  table,  passait  et  disparaissait 
ü  l'endroit  qu'on  nomma  bufet  par  Opposition  au  dois,  c.-a-d.  que  bufet 
fut  d'abord  le  lieu  ä  se  bouifir,  le  lieu  bouffi,  et  de  lä  pcu-ä-peu  les  signi- 
fications  actuelles.  Also  zuerst  der  Ort,  wo  man  sich  durch  vieles  Essen 
anschwellte,  der  durch  vieles  Essen  angeschwollene  Ort!  Um  nach  latei- 
nischer Art  zu  reden,  erwiedere  ich  hierauf:  Credat^  Judaeus  ApcUa,  non 
ego.  Nach  Diez  (Wb  p.  76)  ist  es  unbekannt,  welcher  Umstand  dem  Cre- 
denztische  franz.  den  Namen  buffet  gab.  -  Man  konnte  denken  buflet,  span. 
bufete,  heisse  ursprünglich  Weinschlauch,  und  alsdann  ein 'J  isch,  auf  welchem 
AYein  in  Schläuchen  aufgestellt  und  verkauft  wurde;  denn  wirklich  heisst  iu 
der  spanischen  Zigeunersprache  büfla  eine  lederne  Weinflasche  und  bufiador 
ein  Weinschenk.  Ich  glaube  aber  nicht,  dass  dies  der  wahre  Ursprung  des 
Wortes  sei.  Er  ist  vielmehr  in  einem  andern  Umstände  zu  suchen.  Buflet 
sollte  franz.  genau  das  lat.  abacus  ausdrücken,  welches  sowohl  ein  zur  Auf- 
stellung der  mit  einem  spitzigen  Fusse  versehenen  Weinkrüge,  in  durch- 
löcherte Felder  abgetheilter  Schenk-  oder  Credenztisch  als  auch  haupt- 
sächhch  ein  musivisch  verzierter  Prunktisch  zur  Aufstellung  kostbarer 
Gefässe  i.st;  daher  abacus  in  den  lat.'- franz.  AVbb.  durcl»  buffet  und  buflet 
durch  abacus  erklärt  wird.  Auch  das  griech.  r'cßni  bedeutet  zuerst  und  ins- 
besontlere  einen  Prunktisch,  um  Prunkgeräthe  darauf  zur  Schau  zu  stellen. 
Und  dieses  bedeutet  nun  unser  buflet  auch  etymologisch,  insofern  man  es 
vom  altfranz.  bufler  (=  neufranz.  bouffer,  bouffir,  itah  buflTare,  span.,  port. 
und  prov.  bufar,  s.  Diez  Wb.  p.  75),  blasen,  aufblasen,  schwellen,  auf- 
schwellen ableitet;  denn  hierin  steckt  zugleich  der  Begriff  der  Pracht  und 
des  Prunkes;  daher  altfranz.  bufloi  durch  vanite,  orgueil,  pompe,  som])tu- 
osite,  ostentation  erklärt  wird  Vgl.  Berndeutsch  geschwollen  für  auf- 
geblasen, sich  brüstend.  Es  liegt  also  der  Begriff  des  Blasens,  Aufblasens 
in  seiner  figürlichen  und  uneigentlichen  Bedeiitunfj  zu  Grunde.  Aber  auch 
die  eigentliche  und  sinnliche  Bedeutung  der  Wurzel  ist  durch  das  Wort 
vertreten;  denn  prov.  ist  bufet  das  Blasen  des  Windes,  der  Windshuuch, 
altfranz.  buffet  ein  Blascijalg,  eine  Ohrfeige  und  ein  Faustschag.  itid  buflette, 
ein  Stüber,  Nasenstüber  und  Schnippchen,  altspan.  bufete  ein  Blascdjalg 
(und  ein  Possenreisser  =  bufon,  franz.  bouflon,  der  seinen  Namen  eljenfalis 
von  boufl'er,  blasen,  hat,  indem  er  zur  Belustigung  der  Zuschauer  häufig  die 
Backen  aufbläst.) 

7* 


100  Sitzungen  der   Berliner  Gesellschaft 

B.     Ueber  das  Wort  Ananas. 

Franz.  und  span.  anands,  m.,  port.  ananas,  ananäz,  m.,  ital.  änanas,  m., 
engl,  anänas,  anana  (Thomson,  Summer:  witness  thou  best  anana,  thou  the 
pride  of  vegetable  life,  beyond  whate'er  the  poets  imag'd  in  the  golden 
age),  und  pine  -  apple,  deutsch  Ananas,  f.,  und  Königsapfel,  neulat.  bromelia 
(zu  Ehren  des  schwedischen  Arztes  und  Botanikers  ßrorael,  v.  1G39  — 1705, 
der  eine  flora  gothica  herausgegeben  liat).  Warum  man  im  Deutschen  den 
Wbb.  zufolge  die  Ananas  sagen  soll,  begreife  ich  nicht.  Man  trägt  doch 
sonst  so  sehr  allem  Fremden  Rechnung.  Nach  F.  L.  K.  '\^^eigand  ist  das 
Deutsche  die  Ananas  zu  uns  gekommen  aus  span.  und  port.  der  ananas. 
Woher  dies  Wort,  sei  unbekannt.  In  Hindostan  heisse  jene  Frucht  a'n-annus 
und  in  Guiana  solle  man  nanas  sagen.  Allerdings  heisst  die  Frucht  im  Hin- 
dos tanischeu  'an-annäs,  'ainannäs  oder  anannäs  (wenn  auch  nicht  gerade 
a'n-annas).  Nach  einigen  ist  das  Wort  malayischen  Ursprungs,  und  hierin 
wäre  nichts  Unwahrscheinliches,  da  die  Frucht  in  den  tropischen  Gegenden 
Asiens  und  Afrikas  wächst.  Nach  Marsden  im  Malayischen  Wb.  p.  IG,  347 
&  510  heisst  pine-apple  nänas  und  ananas,  eben  so  nach  Crawfurd  p.  6  und 
118.  Allein  das  Wort  und  vielleicht  sogar  auch  die  Frucht  scheint  aus 
Europa  oder  durch  Europäer  eingeführt,  wie  denn  Crawfurd  das  Wort  auch 
als  European  kennzeichnet.  Nach  dem  Dictionnaire  de  l'Academie  fran^aise 
stammt  die  Frucht  aus  Indien  (plante  originaire  des  Indes);  es  wird  aber 
nicht  gesagt,  aus  welchem  Indien.  Nach  Boiste  kommt  sie  ursprünglich  aus 
Peru.  Nach  den  meisten  und  besten  Autoritäten  stammt  sie  aus  Südamerika, 
und  es  wird  also  der  Ursprung  ihrer  Benennung  eher  dort  zu  suchen  sein. 
In  dem  Peruanischen  Wb.  von  Tschudi  findet  sich  das  Wort  nicht,  wohl 
aber  in  dem  der  Tuxisprache  oder  allgemeinen  Sprache  Brasiliens  vom  Gon- 
<^alves  Dias,  p.  1 6.  anana  öder  nana  =  port.  ananaz,  und  so  wird  das  ^Vort 
aller  ^\'ahrscheinlichkeit  nach  brasilischer  oder  allgemeiner  südamerikanischer 
Herkunft  sein.  Was  den  Ursprung  des  enghschen  Ausdrucks  pine-apple, 
wörtlich  Fichtenapfel,  betrifi't,  so  erklärt  sich  derselbe  durch  die  Aehnlich- 
keit  der  von  Blättern  durchwachsenen  und  auf  allen  Seiten  mit  dreieckigen 
Schuppen  besetzten  Frucht  mit  einem  Fichten-  oder  Tannenzapfen,  ^^'enn 
aber  alle  französisch  -  enghschen  und  deutsch -englischen  Wörterbücher  bis 
auf  den  heutigen  Tag,  selbst  das  von  J.  G.  Flügel  vom  Jahre  1856,  an- 
geben, dass  pine-apple  zuerst  und  auch  Fichtenapfel  oder  Fichtenzapfen, 
also  so  viel  als  cone  of  the  pine-tree,  bedeute,  so  ist  dies  ein  Irrthum,  der 
durch  eine  zu  wörtliche  und  sklavische  Uebersetzung  des  englischen  Wortes 
ohne  Kenntniss  der  Sache  entstanden  ist,  und  der  sich  wie  eine  Krankheit 
durch  alle  diese  Wörterbücher  fortgeschleppt  hat.  Nie  hat  weder  ein  älteres 
noch  neueres  durch  Engländer  in  England  entstandenes  W^örterbuch  pine- 
apple  durch  cone  of  the  pine-tree  erklärt;  alle  geben  nur  die  Bedeutung 
Ananas.  Es  ist  das  Wort  in  jener  Bedeutung  auch  nicht  einmal  landschaft- 
lich englisch  und  überhaupt  jedem  Engländer  gänzlich  unbekannt.  Der  Fehler 
ging  wahrscheinlich  zuerst  von  Frankreich  aus;  denn  indem  älteren  englisch- 
französischen Wörterbucha  von  Boyer  (neue  Ausg.  vom  Jahre  1768)  finde 
ich  pine-apple  nur  durch  une  pomme  de  pin  erklärt.  In  Folge  dessen 
pflegten  die  französischen  Zeitungen,  unter  andern  das  Journal  des  Debats, 
sich  bis  noch  vor  kurzem  fast  jedes  Jahr  bei  Gelegenheit  der  Lord-Mayor's 
Wahl  in  London  in  anzüglichen  Bemerkungen  gegen  die  barbarische  Ge- 
frässigkeit  der  Engländer  zu  ergehen,  weil  sie  an  diesem  Feste  so  und  so 
viele  Fichten-  oder  Tannenzapfen  verzehrten. 

Darauf  hielt  Herr  Kannegiesser  einen  Vortrag  „Jesus  und  die 
Samariterin."  In  Goethe's  Aufsatz  „Ueber  Italien,  Fragmente  eines 
Relsejournals."  (Cotta.  1856.  Bd.  24,  p.  310)  theilt  derselbe  unter 
dem   Titel :    Geistliches    dialogisirtes  Lied   einen   italienischen    Zwiege- 


für  das   Studium   der   neueren  Sprachen.  101 

sang:  Sono  giunto,  sfanco  e  lasso  efc.  im  Original  mit,  da,  wie  er 
bemerkt,  das  Lied  durch  eine  Uebersetzung  alle  Grazie  verlieren  würde. 
Herr  Kannegiesser  erfreute  die  Gesellschaft  mit  einer  deutschen  Ueber- 
setzung  des  ganzen  Liedes.  — 

Herr  Beauvais  theilt  die  Entstehungsgeschichte  der  beiden  fran- 
zösischen Volkslieder:  Malbrough  s'en  va-t-cn  guerre,  Mironton,  mi- 
ronton  ,   mirontaine  und   la  Marseillaise  mit. 

Herr   Härtung    theilt    aus    einer    kleinen,    von    ihm    angelegten. 
Sammlung   Volkslieder  im   pommerschen   Dialect   mit,  als  Tanzlieder, 
Kinderlieder,  Weihnachtslieder  u.  s.  w.  — 

Herr  Büchmann  berichtet  über  die  bis  jetzt  erschienenen  Hefte 
des  in  Berlin  bei  Dümmler  und  Asher  verscheinenden  Jahrbuchs  für 
romanische  und  englisciie  Litteratur,  das  er  seines  geiliegcnen  Inhalts 
und 'seiner  Reichhaltigkeit  wegen   angelegentlich  empfiehlt.  — 

Der  Vorsitzende  legt  alsdann  eine  Zuschrift  an  die  Gesellschaft 
vom  Prof.  Dr.  Gutbier  in  IMünclien  vor.  Sie  betrifft  den  Unterricht 
in  den  neueren  Sprachen  an  Schulen,  wo  nicht  Lateinisch  gelehrt  wird. 
Der  Aufsatz  wird,  sobald  er  abgedruckt  sein  wird,  in  der  Gesellschaft 
zur  Discussion  kommen.  —  Aus  einer  zweiten  Zuschrift  des  Herrn 
Ministerialrathes  Jacobi  in  Gotha  an  den  Vorsitzenden  theilt  dieser 
Folgendes  mit:  „Auf  p.  438  des  3.  und  4.  Heftes  des  Archivs  1859 
finde  ich  in  der  Recension  des  Zanderschen  Programms  über  die  Tann- 
häusorsage  erwähnt,  dass  der  Name  des  Hörseiberges,  der  in  dieser 
Sage  eine  grosse  Rolle  spielt,  aus  der  lat.  Bezeichnung  der  Chronisten: 
„mons  horrisonus,"  entstanden  sei.  Zu  Füssen  des  Berges  liegt  der 
Hörseigau  und  das  gleichnamige  Dorf,  und  das  Flüsschen  Hörsei  fliesst 
durch  das  Thal.  Die  früheste  Erwähnung  des  Dorfes  in  Urkunden, 
die  mir  bekannt  ist,  rührt  aus  dem  Jahre  1253  her.  Es  fragt  sich, 
was  älter  ist ,  die  Urkunde  oder  die  Chrunisten ,  und  ob  das  Dorf 
den  Namen  vom  Berge  oder  der  Berg  vom  Dorfe  hat.  ■ —  Ferner: 
p.  465  steht  eine  Miscelle  über  die  ovid.  Verse:  si,  nisi  quae  etc.  Ich 
entsinne  mich ,  in  irgend  einer  Zeitschrift  die  Uebersetzung  gelesen  zu 
haben : 

Wahrlich  es  wird,  soll  ausser  der  gleich  Dir  prangenden  Scliönheit 
Keine  die  Deinige  sein,   keine  die  Deinige  sein.*) 

*)  Zur  Vervollständigung  des  im  Archiv  p.  4G5  und  hier  Mitgefheilten 
möge  folgende  Stelle  aus  Dr.  Heinrich  Pröbles  „Gottfried  August  Bürger. 
Sein  Leben  und  seine  Dichtungen,"  p.  Cil,  dienen: 

„Die  Wirkung  des  Lichtenberg -Kästnerschen  Kreises,  in  welchoni  er 
(Bürger)  lebte  und  bei  einem  gewissen  beschriinkten  Wetteifer  mit  England 
sich  wohl  fühlte,  war  überhaupt  nicht  so  eünslig  als  nirni  glauben  sollte: 
man  bewunderte  seine  „Frau  Schnips"  und  regte  Spielereien  an.  Ueber 
eine  dahin  gehörige  Versländelei  findet  man  folgende  Aiittheilung  von  Eduard 
Mörike  in  Schad's  Musenalmanach  von   1856:" 


102  Sitzungen  der  Berliner     Gesellschaft  etc. 

Im  Göttinger  Musen- Almanach  brachte  Lichtenberg  einst  einen  halb 
scherzhaften  Aufsatz,  zu  welchem  die  Behauptung  Dryden's  Veranlassung 
gab,  dass  folgende  Verse  aus  Ovid's  Sappho  an  Phaon  nicht  in  gleich 
vielen  Zeilen  englisch  gegeben  werden  könnten: 

Si,  nisi  quae  forma  poterit  te  digna  videri, 
Nulla  futura  tua  est:  nulla  futura  tua  est. 

Es  hatten  sich  zur  Widerlegung  dieses  Ausspruchs  bald  zwei  englische 
Uebersetzungen  eingefunden,  die  aber  nicht  genügen;  sie  heissen  so: 

1.  If  hut  to  one  that's  equally  divine 

Nene  you'll  incline  to,  you'll  to  none  incllne. 

2.  If,  save  whose  charms  with  equal  lustre  shine, 
None  ever  thine  can  be,  none  ever  can  be  thine. 

Wäre  es  also  nicht  der  INlühe  werth,  fragt  der  Göttinger  Professor,  ob 
wir  es  im  Deutschen  nicht  besser  könnten?  Er  sprach  eines  Abends  mit 
unserm  sei.  Bürger  über  dies  Dry.lensche  Problem;  es  schien  demselben  zu 
gefallen  und  schon  am  folgendenMorgen  schickte  er  nicht  weniger  als  fünf 
Uebersetzungen,  wovon  aber  zwei  durch  vorsätzlichen  Muthwilleu  mehr  Pa- 
rodien waren;  überhaupt  befriedigte  die  Arbeit  nicht  ganz.  Das  Blatt  ging 
leider  vei-loren."  (Hinzu  fügt  Pröhle  in  einer  Note:  Eduard  Mörike  ist  es 
entgangen,  dass  die  drei  anständigen  Uebersetzungen  bei  Althof  a.  a.  O.  IV, 
p.  178,  wo  man  auch  den  Bericht  über  die  Sache  mit  dem  Lichtenbergischen 
vergleiche,  abgedruckt  sind.  Die  beiden  übrigen  wollte  Althof  nicht  mit- 
theilen. Das  Blatt,  welches  ja  auch  Lichtenberg  nicht  verloren  glaubte, 
sondern  nur  augenblicklich  verlegt  zu  haben  bedauerte  (s.  den  von  Mörike 
ausgezogenen  Aufsatz  im  5.  BmuiIc  von  Lichtenberg's  vermischten  Schriften 
1803,  wo  er  die  Ueberschrift  führt:  „Eine  kleine  Aufgabe  für  die  Ueber- 
setzer  des  Ovid  in  Deutschland,"  p.  350  wird  vielleicht  noch  jetzt  unter 
Nachlasspapieren  von  Lichtenberg,  Althof  oder  Bürger  aufzufinden  sein.  Es 
heisst  dann  weiter  im  Text:)  Lidem  nun  Lichtenberg  den  Gegenstand  zu 
einer  Aufgabe  der  Dichter  und  Dichterinnen  seiner  Zeit  macht,  wünscht  er, 
dass  die  Herausgeber  der  Musenalmanache  den  besseren  Versuchen,  wenn 
solche  einliefen,  ein  Plätzchen  in  ihren  Annalen  einräumen  möchten.  Zur 
Belohnung  freilich  habe  er  weiter  nichts  zu  versprechen,  als  den  Beifall  der 
Kenner  und  das  Vergnügen,  das  mit  Autlösung  jeder  schwierigen  Aufgabe 
verbunden  sei.  Vom  Erfolge  dieser  Aufforderung  ist  dem  Einsender  nichts 
bekannt.  Er  selber  schrieb  vor  2.5  Jahren  einen  gelegentlich  von  ihm  ge- 
raachten Versuch  in  sein  Exemplar  von  Lichtenberg's  Schriften,  den  er  als 
Curiosität  hier  mit  vorlegt : 

Wisse  nur,  dass,  wenn  ohne  durch  Schönheit  dich  zu  verdienen, 
Keine  die  deinige  wird,  —  keine  die  deinige  wird." 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 


Teilt.    Jahrbuch    der    Junggermanischen    Gesellschaft,    heraus- 
gegeben von  Fr.  J.  Kruger.     Hamburg  1859. 

Der  Zweck  der  Junggermanischen  Gesellschaft,  welche  sich  im  vorigen 
Jahre  gebildet  hat,  ist  die  Herstellung  einer  geistigen  Einheit  unter  allen 
Deutschen  in  Bezug  auf  Literatur,  Kunst  und  Wissenschaft;  zur  Erreichung 
dieses  Zweckes  bat  die  Gesellschaft  das  obengenannte  Jahrbuch  gegründet, 
dessen  zweites  Heft  eben  vorliegt.  Es  kann  natürlich  nicht  meine  Absicht 
sein,  über  das  Wirken  und  die  Erfolge  der  Gesellschaft  irgend  eine  Be- 
merkung zu  machen,  zumal  da  ausser  den  in  dem  Jahrhuche  niedergelegten 
literarischen  Erzeugnissen  von  derselben  nicht  viel  in  die  Oeffentlichkeit  ge- 
langt ist  und  auch  die  am  20.  August  dieses  Jahres  in  Nürnberg  abgehaltene 
erste  Hauptversammlung  der  Gesellschaft,  welche  von  zehn  Mitgliedern  be- 
sucht war,  keinen  besonderen  Anhalt  für  eine  Beurtheilung  gegeben  hat;  ich 
werde  mich  daher  auf  einen  Bericht  über  den  Inhalt  des  angeführten  Heftes 
beschränken. 

Ich  übergehe  die  literarischen  Producfionen  der  Junggermanen,  welche 
das  Heft  bietet ,  eine  erzgebirgische  Erzählung  von  Elfried  von  Taura  und 
eine  ziemliche  Anzahl  lyrischer  Gedichte  von  verschiedenen  Verfassern,  da 
eine  Beurteilung  derselben  mir  hier  niclit  am  rechten  Orte  zu  sein  scheint, 
und  wende  mich  zu  dem  wiclitigeren  Theile,  einer  Abhandlung  von  Fr.  J. 
Kruger:  Die  Zukunft  der  deutschen  Literatur. 

Gegenüber  den  trostlosen  Aussichten,  welche  man  sich  ziemlich  all- 
gemein von  der  Zukunft  der  deutschen  Literatur,  namentlich  der  poetischen, 
gemacht  hat,  gelangt  der  Verfasser  der  genannten  Abhandlung  zu  ganz  ent- 
gegengesetzten Hoffnungen.  Indem  er  nämlich  nach  einer  kurzen  Uebersicht 
über  die  letzten  Kichtungen  der  Literatur  und  der  Kritik  zu  dem  Ergebniss 
kommt,  dass  allerdings  die  neuere  Literatur  den  (Tipfei  ihres  Verfalls  erreicht 
hat,  schliesst  er  nach  einem  allgemeinen  Naturgesetz  zugleich  auf  eine  Neu- 
bildung aus  diesem  Verfall.  Unsere  Zustände,  meint  er,  simJ  ganz  verwandt 
mit  denen  des  vorigen  Jahrhunderts,  aus  denen  sich  die  höchste  Blüte  deut- 
scher Dichtkunst  entwickelte;  aber  um  so  viel  höher  wir  in  wissenschaftlicher 
und  politischer  (V)  Minsicht  stehen,  um  so  viel  höher  Auerbachs  und  seiner 
Nachfolger  Dorfgeschichten  stehen,  als  Gessners  Idyllen,  an  AN'ahrheit,  (ie- 
müthstide  und  an  cchtdeutschem  Charakter,  um  so  viel  wird  die  neue  Lite- 
ratur die  Schiller -Götheschc  Blüte  hinter  sich  zurücklassen.  Die  Aufgabe 
nun,  <1iese  neue  Zeit  herbeizuf  ühren,  hat  die  JunL'gtrmanische  Schule.  Diese 
Aufgabe  ist  gross  und  des  Strcbens  werth,  und  wenn  man  auch  an  das  ver- 
sate  diu,  quid  ferre  recu  sent,  (juid  valeant  liumeri  erinnert  wird,  so  ist 
doch  o;n  Urteil  über  das  Vorhaben  nicht  abzugeben,  bevor  Tbaten  sprechen, 
zumal  da  der  Verf.  selbst  meint,  man  dürfe  sich  kginen  überspannten  Hofl- 


1Q4-  Beurtliellungen  und  kurze  Anzeigen. 

nungen  auf  die  Nähe  des  literarischen  Höhepunktes  und  die  persönliche 
Rolle,   welche   die   heutigen  Junggermanen  dabei    spielen  werden,    hingeben. 

Der  Weg,  auf  welchem  die  Losung  dieser  Aufgabe  gefunden  werden 
soll,  i-'^t  nun  von  dem  Verf.  bereits  aufgesucht  worden.  Da  die  Principien 
unsrer  jetzigen  Kunstanschauungen  sich  ausgelebt  haben,  so  bedarf  es  eines 
neuen  Princips,  um  diese  letzteren  neu  zu  befruchten  und  zu  beleben.  Eine 
Literatur,  aus  welcher  ein  solches  Princip  gewonnen  werden  könnte,  giebt 
es  in  Europa  nicht  mehr,  aber  wir  finden  sie  im  Orient.  Es  Hesse  sich  viel- 
leicht manches  gegen  diesen  Weg  sagen,  den,  wie  es  manchem  scheinen  wird, 
nur  die  iiusserste  Verzweiflung  an  allem  andern  einschlagen  konnte ;  aber  der 
Verf.  hat  jede  Kritik  seines  Vorschlages  dadurch  abgeschnitten,  dass  er  die- 
jenigen, die  bereits  einen  Einwand  dagegen  erhoben,  der  Selbsttäuschung 
und  der  Unkenntniss  mit  der  morgenländischen  Literatur  beschuldigt,  und 
dagegen  lässt  sich  nichts  erwidern,  zumal  einem  Manne  gegeniiber,  der  die 
morgenländische  Literatur  besser  als  die  Orientalen  selbst  versteht,  z.  B.  in 
Bezug  auf  Firdusis  kSchachnamch,  „dessen  Verständniss  selbst  dt^n  heutigen 
Orientalen  abhanden  gekommen  und  nur  dann  zu  gewinnen  ist,  wenn  man, 
wie  der  Verfasseü^  dieses  Aufsatzes,  Jahre  lang  nicht  auf  philologischem, 
sondern  auf  geschichtlichem  Wege  ihm  nachgestrebt  hat."  Also  auf  die  ver- 
botene Kritik  des  Vorschlages  lasse  ich  mich  nicht  ein,  sondern  berichte 
nur  die  weiteren  Erörterungen  des  Verf.,  aus  denen  ich  freilich,  wie  ich 
oflen  gestehen  muss,  keine  klare  Anschauung  habe  gewinnen  können,  wie 
denn  nun  praktisch  jene  Befruchtung  unsrer  Kunstanschauung  durch  den 
Orient  vor  sich  gelien  soll.  Zwar  sagt  der  Verfasser  zunächst,  wir  müssten, 
um  zu  einer  tiefern  Erkenntniss  unsrer  eignen  Religion  zu  gelangen,  auf  den 
Allgottglauben  der  Inder  zurückgehen,  unsre  an  Geist  und  Charakter  schwäch- 
liche Generation  müsse  sich  geistig  und  moralisch  stäskcn  an  den  urwüchsigen 
Krafterzeugnissen  des  Orients,  deren  phantastischen  Gebilden  der  Verf.  doch 
selbst  das  Mass  abspricht;  aber  es  ist  dies  alles  nichts  als  Phrase,  der  jeder 
praktische  Wink,  dessen  es  doch  hier  gerade  am  meisten  bedurfte,  fehlt; 
freilich  -setzt  er  eigenkräftige  Meister  voraus,  welche  ihren  Schwerpunkt  in 
sich  selbst  finden,  aber  gerade  diese,  meine  ich,  werden,  sobald  deren  ein- 
mal wieder  erstehen,  seiner  Winke  am  allerwenigsten  bedürfen,  sondern  mit 
der  Kraft  ihres  Genies  sich  selbst  eine  Bahn  brechen,  die  sie  auf  die  Höhen 
des  Geistes  führt  und  geeignet  ist,  ihre  Mitwelt  ihnen  nachzuziehen.  Nicht 
solche  Phrasen  waren  es,  mit  denen  Lessing  einst  der  Literatur  eine  neue 
Bahn  vorzeichnete,  sondern  klare  Hinweisungen,  feste  Regeln,  die  von  muster- 
gültigen praktischen  Beispielen  unterstützt  waren,  und  solche  erwarten  wir 
von  dem,  der  unsrer  Literatur  zu  einer  neuen  würdigen  Stellung  ver- 
helfen will. 

Der  Verf.  sucht  nun  der  Poesie  zunächst  rücksichtlich  des  Stoßes  auf- 
zuhelfen,  indem  er  eine  neue  Sagen-  und  Mythenlehre  schafft.  Die  erstere 
soll  nicht  weniger  als  die  gcsammte  indogermanische  Sagenwelt  umfassen 
und  an  Bedeutung  und  Reichhaltigkeit  alle  Sagengeschichten  der  einzelnen 
Völker  übertreffen.  Ua  dieser  Plan  in  seiner  Allgemeinheit  völlig  unüber- 
sehbar ist,  der  Verf.  auch  versprochen  hat,  in  den  nächsten  Heften  einen 
Grundplan  zum  Ausbau  der  indogermanischen  Sagengeschichte  vorzulegen, 
so  lassen  wir  diesen  Plan  einstweilen  auf  sich  beruhen,  um  die  neue  Mythen- 
bildung zu  betrachten.  Die  Mythe  soll  „die  Ergänzung  der  Weltanschauung 
über  die  Grenzen  des  wissenschaftlichen  P>kennens  hinaus  sein,  sie  darf  also 
innerhalb  dieser  Grenzen  kein  Reich  gründen,  sondern  nur  dort,  wo  der 
Verstand  dasselbe  nicht  anzutasten  vermag."  Die  Erde  bietet  demnach  für 
die  Mythe  keinen  Raum  mehr  dar,  der  Himmel,  der  sich  vor  der  V/isseR- 
schaft  aus  einem  begränzten  Räume  in  die  Unendlichkeit  aufgelöst  har,  auch 
nicht  mehr;  der  Verf.  weiss  aber  noch  einen  Ausweg:  er  bestimmt  die  Sonne 
dazu.  Vielleicht  vvird  mancher  bei  diesem  Vorschlage  bedenklich  den  Kopf 
schütteln,   wenn   er   aber  die  Auseinandersetzungen  des  Verf.  über   die   phy- 


Beurtheiinngen  und  kiirze  Anzeigen.  105 

sischen  Verhältnisse  der  Sonne  belegt  durch  ein  Citat  aus  numboldts  Kos- 
mos, über  die  Sonne  als  einen  Sitz  von  Göttern,  als  Schlachtfeld  der  Titanen- 
kärapfe,  über  den  Uebergang  aus  einem  Zustande  der  Dunkelheit,  in  dem 
siclv  die  Sonne  einst  befand,  in  ein  Friedensreich,  das  Jesus  Christus  als 
priesterlicher  König  beherrscht,  gelesen  und  eingesehen  hat,  dass  dies  nicht 
etwa  poetische  Phantasien  oder  wüste  Träume  einer  erhitzten  Einbildungs- 
kraft, sondern  Ergebnisse  der  liistorischen  Forschungen  des  Verf.  sind,  und 
mit  der  Wissenschaft  heutigen  Tages  übereinstimmen,  so  wird  ihm  dieser 
Vorschlag  erklärlich  vorkonunen.  A\'ir  erwarten  mit  Sehnsucht  die  poetischen 
Werke,  zu  denen  Herrn  Krügers  Abiiandlung  begeistern  wird! 

Eine  Hindeutung,  wie  dieselben  beschaffen  sein  werden,  finden  wir  in 
dem  Capitel:  Die  Zukunft  der  Dichtungsgattungen.  Die  Lvrik 
wird  namentlich  in  der  vaterländischen  und  religiösen  Lyrik  besondere  Hlüten 
treiben,  letztere  jedoch  erst  nach  Bildung  einer  neuen  Welt-  und  (iottes- 
anschauung;  ich  glaube,  hier  wird  das  Sonnenreicli  recht  gute  Dienste  thun. 
Für  beide  Zweige  übrigens,  so  wie  auch  für  die  Liebeslyrik,  liegen  in  der 
Junggermanischen  Gesellschaft  bedeutende  Keime;  wir  müssen  dies  dem  Verf, 
auf  das  Wort  glauben,  da  doch  wohl  erst  die  Zukunft  den  Beweis  liefern 
kann.  Das  Drama  hat  sich  in  Form  und  innerer  Gestaltung  überlebt,  bietet 
demnach  wenig  Hoffnung  für  die  Zukunft;  besser  sieht  es  mit  dem  Stofl'aus, 
den  es  noch  in  reicher  Fülle  aus  dem  INlittelalter  schöpfen  kann,  für  den  es 
aber  eine  Anschauung  aus  der  katholischen  Geschichtsphilosophie,  wie  sie  bei 
Görres,  Lasaulx  zu  finden  ist,  mitbringen  muss.  So  kann  das  Drama  noch  zu  einer 
Nachblüte  gelangen,  zu  der  O.  v.  Redwitz  mit  seiner  Philippine  Welser 
schon  einen  recht  erfreulichen  Anfang  gemaciit  hat.  Der  Himmel  behüte 
uns  vor  dieser  Nachblüte,  namentlich,  wenn  noch,  wie  der  Verf.  verlangt, 
das  indische  Drama  seinen  Einfluss  auf  dieselbe  geltend  macht!  Für  das 
Lustspiel  hoff't  der  Verf.  noch  mehr,  namentlich  von  einer  freieren  Ent- 
wicklung unsrer  politischen  Zustände.  Er  scheint  dabei  an  ein  Lustspiel  im 
Sinne  der  attischen  alten  Komödie  gedacht  zu  haben,  denn  er  meint,  unsre 
humoristische  Tagesliteratur,  besonders  unsre  Witzblätter  könnten  nach  Stofi 
und  Form  dazu  ausserordentlich  beitragen.  Es  ist  ersichtlich,  dass  man  nicht 
leicht  auf  eine  ungeheuerlichere  Entwicklung  fallen  konnte,  als  die  von  Herrn 
Kruger  prophezeihte:  eine  Tragödie  im  Sinne  von  O.  v.  Redwitz  oder 
auch  nach  dem  Muster  des  indischen  Drama,  eine  Komödie  nach  dem  Muster 
der  fliegenden  Blätter  oder  des  Kladderadatsch!  Eine  würdige  Aufgabe  für 
die  Junggermanen! 

Das  Hauptgewicht  für  die  neue  Entwicklung  legt  der  Verf.  auf  die 
epische  Gattung,  in  der  er  namentlich  auch  dem  Roman  eine  bedeutende 
Stelle  zuweist.  Von  diesem  nämlich  hält  er  besonders  die  Landschaftsnovelle 
(Dorfgeschichten),  den  Zeitroman  (Gutzkow)  und  den  historischen  Roman 
einer  besonderen  Entwicklung  fähig,  ^\'ir  müssen  allerdings  zugeben ,  dass 
der  Roman  in  der  neueren  deutschen  Literatur  eine  hervorragende  Stellung 
eingenommen  hat  und  auch  wohl  in  Zukunft  eine  bedeutende  Rolle  .»spielen 
wird,  ob  in  der  vom  Verf.  angedeuteten  "Weise,  möchte  jedoch  zweifelhaft 
sein.  Die  Dorfgeschichten  haben  sich  entschieden  überlebt  und  werden 
schwerlich  noch  kräftige  IViebe  hervorbringen,  der  Zeitroman  in  Gutzkow- 
scher Manier  hat  gewiss  nicht  den  Beifall  gefunden  und  findet  namentlich  in 
seinem  letzten  Erzeugnis.s  nicht  den  Keifall,  der  ihn  als  Muster  einer  neuen  Rich- 
lung  Ifezeichnen  könnte,  und  auch  der  Geschichtsronian,  wie  ihn  der  Verf. 
denkt,  als  dessen  Muster  er  die  Romane  von  Th.  Mundt  aufstellt,  verspricht 
in  dieser  "Weise  keine  grossen  Erfolge,  sondern  kann  leicht  zu  einer  Anek- 
dotensammlung werden,  die  auf  den  dünnen  Faden  einer  schwächlichen  Haupt- 
handlung aufgereiht  wird,  wie  dies  z.  B.  die  verwandten  Produkte  der  L. 
Mühlbach  zeigen. 

Von  der  Zukunft  des  eigentlichen  Epos  verspricht  sich  der  Verf.  ausser- 
ordentlich viel;  sein  Muster  soll  dasselbe  an  dem  Lieblingsbuche  des  Verf., 


106  Beurf  lieihingen  und  kurze 'Anzeigen. 

dem  Schaclinameli  des  Firdusi  haben;  der  Stoff  iimfasst  die  Ursage  des  indo- 
germanischen Vöikerstammes,  die  Erlösungsgescliichte  und  das  germanische 
Mittehihcr;  die  Bearbeitung  dieses  Stoffes  fällt  natürlich  der  Junggermanischen 
Gesellschaft  zu.  Icli  enthalte  mich  eines  jeden  Urtheils  über  die  Ansichten 
des  Verf.  in  Betracht  der  Wichtigkeit  und  Lebensfähigkeit  des  Epos;  der 
Umstand,  dass  wir  aus  der  neueren  Zeit  auch  nicht  ein  epochemachendes, 
ja  nicht  ein  erwuhnenswerthes  Epos  haben,  spricht  deuthch  genug;  was  die 
Junggermanen  leisten  werden,  muss  die  Zeit  lehren.  J^rwähnenswerth  möchte 
noch  der  Vorschlag  sein,  das  Epos  auf  nlie  Bühne  zu  bringen:  „Während 
im  Vordergrund  des  Theaters  ein  auch  mehrere  Schauspieler  abwechselnd 
den  Text  recitiren  oder  absingen,  wäre  der  Inhalt  im  Hintergrunde  durch 
lebende  Bilder,  Dekorationen,  Nebelbilder  und  dergleichen  darzustellen,  und 
auch  eine  Musikbegleitung  könnte  bis  zu  einem  gewis.sen  Grade  stattfinden." 
Ich  halte  diesen  Vorschlag  für  bemerkenswerth,  denn  wenn  man  namentlich 
als  Schauspieler  die  geeigneten  Persönlichkeiten,  etwa  unsre  modernen 
Rhetoren,  wählt,  auch  im  gehörigen  Masse  das  Ballet  mitwirken  lässt,  so 
kann  dies  in  Verbindung  mit  einem  entsprecliend  ungeheuerlichen  Texte, 
für  den  unter  Leitung  des  Herrn  Kruger  die  Junggernianen  sorgen  werden, 
ein  Spektakel  werden,  das  unsre  neusten  Opern  vollständig  in  den  Schatten 
stellt. 

Was  der  Verf.  in  dem  letzten  Kapitel  seines  Aufsatzes  über  die  deutsch - 
amerikanische  Literatur  sagt,  kann  füglich  übergangen  werden. 

Die  ganze  nichts  weniger  als  klar  und  übersichtlich  geschriebene  Ab- 
handlung macht  durchaus  den  Eindruck  eines  subjectiven  Einfalles  ohne  Be- 
gründung, ohne  innere  Notliwendigkeit,  den  Eindruck  des  Strebens,  einen 
Gegenstand,  mit  dem  der  Verf.  sich  lange  mit  Vorliebe  und  besonderem 
Eifer  l)eschäftigt  hat,  in  weitere  Kreise  zu  bringen  und  demselben  allgemein 
dieselbe  Wichtigkeit  zu  verschaffen,  die  er  für  den  Verf  seihst  hat.  Ob  die 
sogenannten  Junggernianen  denselben  Brincipien  huldigen,  wie  ihr  Wort- 
führer, wissen  wir  nicht,  ob  sie  denselben  Geltung  verschaffen  können,  muss 
der  Zukunft  überlassen  bleiben.     _ 

Berlin.  Dr.  Büchsen  schütz. 


Grundzüge  der  Neuhochdeutschen  Grammatik  für  liöhere  Bil- 
dungsanstalten von  Friedrich  Bauer.  Vierte  sehr  vermehrte 
und  verbesserte  Auflage.  Ausgabe  für  protestantische 
Schulen.     Nördlingen  1859. 

Um  der  Ansicht  entgegenzutreten,  welche  sich  leicht  aus  dem  oben 
stehenden  Titel  des  Buches  ergeben  könnte,  als  iiabe  die  deutsche  Sprache 
für  Protestanten  und  Katholiken  eine  besondere  Grammatik,  diene  die  vom 
Verf  in  der  Vorrede  gegebene  Aufklärung,  dass  das  Buch  in  den  östrei- 
chischeu  Lehranstalten  Eingang  gefunden  hat,  dass  aber  für  diese  eine  be- 
sondere Ausgabe  hat  veranstaltet  werden  müssen,  in  welcher  die  für  Ka- 
tholiken etwa  anstössigen  Beispiele  z.  B.  aus  Luthers  Bibelübersetzung  be- 
seitigt sind.  Mit  Recht  hat  nun  der  \'erf.  die  protestantischen  Schulen, 
welche  sein  Buch  benutzen,  nicht  unter  dieser  komischeu  Anforderung  der 
östreichischen  Behörden  wollen  leiden  lassen,  und  daher  diese  besondere 
Ausgabe  veranstaltet. 

Dass  das  Buch  praktisch  brauchbar  ist,  wenn  man  es  überhaupt  für 
nothwendig  und  zweckdienlich  hält,  auf  den  Schulen  die  deutsche  Grammatik 
systematisch  zu  betreiben,  beweist  die  nicht  unbedeutende  Zahl  der  erneuten 
Auflagen  (die  vorliegende  ist  seit  1S.50  im  Ganzen  die  siebente);  es  dürfte 
daher  über  diesen  Punkt  nichts  zu  bemerken  sein.    Dass  in  der  Formenlehre 


Beurtheilungcn  iiml  kurze  Anzeigen.  107 

In  manchen  Punkten  vielleicht  mehr  gegeben  ist,  als  für  Schüler  brauchbar 
gemacht  "werden  kann,  ist  kein  Vorwurf  für  das  Buch,  da  ja  dem  geschickten 
Lehrer  die  nöthige  Auswahl  des  Lehrstoffes  überlassen  bleibt.  Am  stärksten 
macht  sich  dies  in  dem  Abschnitt  von  der  Wortbildung  bemerkbnr,  der  dem 
äusseren  Umfange  nach  einen  sehr  bedeutenden  Theil  des  Buches  ausmacht, 
für  die  Schule  aber  am  allerwenigsten  zu   vorwenden  sein  möchte. 

Das  Buch  beruht  in  der  Formenlehre  auf  J.  (irimm,  in  der  Syntax  auf 
K.  F.  Becker;  die  Eigenthümlichkeiten  beider  Systeme  treten  auch  hier,  in 
den  zusammengezogenen  Bearbeitungen,  deutlich' genug  hervor,  so  dass  eine 
eingehende  Beurteilung  des  wissenschaftlichen  Werthes  der'  vorliegenden 
Schulgrammatik  hier  keineswegs  an  ihrer  Stelle  sein  dürfte,  da  dieselbe  mit 
einer  Beurteilung  der  zu  Grunde  liegenden  Systeme  zusammenfallen  müsste. 
Nur  scheint  die  Syntax,  welche  für  die  Schule  gewiss  eine  viel  grössere  Be- 
deutung hat,  als  die  Formlehre,  im  Verhältniss  zu  dieser  viel  zu  kurz  ab- 
gehandelt zu  sein.  Ein  dem  Buche  beigefügter  Anhang  enthält  ergänzende 
Bemerkungen,  die  bestimmt,  in  ein  tieferes  Verständniss  der  Sprache  ein- 
zuführen,  auf  das  Althochdeutsche  zurückgehen. 

"Wenn  man  das  Studium  der  alt-  und  mittelhochdeutschen  Spraclie  und 
Literatur  in  den  Kreis  des  Schulunterrichts  ziehen  will,  so  ist  als  brauch- 
bares Hülfsmittel  auch  zu  empfehlen: 

Kurzgefasste  Laut  -  und  Formenlehre  der  mittelhoclideutschen 
Sprache  für  die  obern  Klassen  der  Gymnasien  von  Dr. 
Wahlenberg.     Sigmaringen  1858. 

Dieses  Büchlein  giebt  auf  19  Seiten  eine  meist  in  tabellarischer  Form 
abgefasste  Uebersieht  über  die  Laut-  und  Formenlehre,  so  wie  über  die 
mittelhochdeutsche  JNletrlk,  die  als  Anhalt  für  einen  eingehenderen  granjnia- 
lischen  Unterricht  wie  auch  bei  der  Erklärung  der  betreffenden  Schriftsteller, 
deren  Kenntniss  für  die  Schüler  der  oberen  Klassen  höchst  wünschenswert!! 
ist,  gute  Dienste  leisten  kann. 

Zur  Einleitung  in  die  Bekanntschaft  mit  den  Schriftstellern  der  älteren 
Zeit  dient: 

Hülfsbuch  für  den  deutschen  Unterricht  in  den  obern  Klassen 
höherer  Lehranstalten  von  H.  Viehoff.    Braunschweig  1858. 

Es  enthält  dieses  Buch  zunächst  für  den  Unterricht  in  der  Literatur- 
geschichte eine  Sammlung  von  Musterstücken  aus  -der  deutschen  Literatur 
von  den  ältesten  Zeiten  bis  zum  Jahre  17:^5  und  zwar  zuerst  die  Prosa, 
dann  die  Poesie.  Da  für  ein  Schulbuch  möglichst  geringer  Umfang  Be- 
dingung war,  so  hat  sieh  die  Auswahl  auf  das  notliwendigste  und  am  meisten 
charakteristische  beschränken  müssen  und  es  gebührt  hier  dem  Heraus<reber 
das  Lob,  dass  er  meistentlieils  mit  feinem  Takt  das  Beste  aus  dem  reichen 
Schatze  der  Literatur  ausgewählt  hat.  Dass  dabei  die  Kürze  der  Stücke 
namentlich  in  der  Prosa  zuweilen  gar  zu  sehr  an  Dürftigkeit  streitl,  dürfte 
dem  Herausgeber  nicht  zum  Vorwurf  gemacht  werden,  sie  war  wohl  nöthig, 
um  für  die  ungleich  wichtigeren  und  nothwendigeren  poetischen  Stücke 
grösseren  Raum  zu  gewinnen.  Aullallend  aber  ist  es  mir  gewesen,  dass  eine 
ganze  Dichtungsgattung,  die  dramatische,  so  überaus  kurz  abgefertigt  worden 
ist,  nämlich  mit  einem  ganz  kurzen  Bruchstück  eines  Fastnachtsspieles  von 
Hans  Folz  und  einem  Stück  aus  A.  Gryphius  Horribilicribrifax.  Ich  würde 
es  sowohl  für  die  Charakteristik  einzelner  Männer,  wie  Hans  Sachs,  Lohen- 
stein, für  wesentlich  halten,  mehrere  und  etwas  umfangreichere  Stücke  auf- 
zunehmen. 

Zweckmässig  ist   die    den    althochdeutschen   Stücken    heigegebene    neu- 


108  Beurthcilungen  und  kurze  Anzeigen. 

deutsche  Uebersetzung;  ich  glaube  auch  bei  Notkers  Uebersetzung  des 
Boethius  wäre  es  besser  gewesen,  statt  der  einzelnen  in  Parenthese  gesetzten 
Ausdrücke  den  vollständigen  leteinischen  Text  des  Originals  abzudrucken. 
Bei  den  Stücken  aus  den  nächsten  Zeiten  wird  man  beim  Gebrauch  gewiss 
auf  Schwierigkeiten  im  Verständniss  stossen,  die  allerdings  während  des 
Unterrichtes  durch  den  Lehrer  beseitigt  werden  können,  aber  ofienbar  dann 
sehr  viel  Zeit  rauben,  die  erspart  werden  könnte,  wenn  die  Schüler  sich  auf 
die  zu  lesenden  Abschnitte  vorbereitet  hätten.  Wie  dieser  Umstand  zu  be- 
seitigen ist,  ob  durch  ein  kurzes  AVörterverzeichniss  oder  durch  Erklärung 
einzelner  Ausdrücke  neben  dem  Text,  wage  ich  nicht  z;u  entscheiden. 

Dieser  Beispielsamnilung  folgt  dann  zunächst  ein  Ueberblick  der  Literatur- 
geschichte, in  grossester  Kürze  überall  das  wichtigste  hervorhebend:  dann 
ein  Abriss  der  Verslehre,  der  wenigstens  dazu  dient,  den  Schüler  mit  Namen 
und  Form  namentlich  der  fremden  Versformen  bekannt  zu  machen,  die  im 
Deutschen  Nachahmung  gefunden.  Ausführlicher  und  dem  Bedürfnisse  der 
Schüler  reichlich  genügend  ist  der  folgende  Ueberblick  über  die  Dichtungs- 
arten. Den  Beschlnss  macht  ein  Abriss  der  Stillehre  und  eine  Sammlung 
von  Aufgaben  zu  Aufsätzen.  In  dieser  letzteien  finden  sich,  nach  den 
eigenen  AVorten  des  Verf,  manche  Themata,  die  er  selbst  nicht  leicht  den 
Schülern  zur  Bearbeitung  aufgeben  würde,  und  nach  meiner  Ansicht  ist 
die  Zahl  dieser  Aufgaben  nicht  gering.  Ein  jeder,  der  in  dem  Falle 
gewesen  ist,  in  den  mittleren  und  oberen  Gymnasialclass^en  Aufsätze  an- 
fertigen zu  lassen,  weiss,  wie  schwierig  es  oft  ist,  passen'ie  Aufgaben  zu 
denselben  zu  finden,  er  weiss  aber  auch,  wie  sehr  man  in  der  Regel  von 
Aufgabensammlungen  im  Stich  gelassen  wird.  Dieselbe  Erfahrung  wird  ihm 
hier  auch  nicht  erspart  werden.  ^Mr  hofTen,  dass  bei  einer  erneuten  Auf- 
lage, die  das  Buch  bei  seiner  besonderen  Brauchbarkeit  bald  erlangen  wird, 
der  Herr  Verf.  auch  diesem  Theile  seine  im  Uebrigen  bewährte  Sorgfalt 
widmen  werde. 

Berlin.  Dr.  Büchsenschütz. 


Ueber  ein  charakteristisches  Element  in  der  Lyrik  Eraanuel 
Geibels.  Von  Dr.  C.  G.  Seibert.  Marburg,  Elwert.  1860. 
-  Vorliegende  kleine  Schrift  ist  der  Abdruck  eines  Vortrages,  den  der 
Verfasser  in  dem  Verein  für  junge  Kaufleute  zu  Barmen  zum  Besten  des 
Gustav- Adolf- Vereines  gehalten.  Es  ist  eine  sehr  erfreuliche  Erscheinung, 
dass  in  dem  Vereine  ein  Gegenstand  wie  dieser  allgemeinen  Anklang  ge- 
funden, und  die  Lektüre  der  kleinen  Schrift  zeigt  andrerseits,  dass  gerade 
für  den  Zweck  der  Stoß"  passend  gewählt  war.  Der  Verfasser  setzt  nämlich 
darin  auseinander,  dass  zu  der  grossen  Vorliebe  des  deutschen  Volkes  für 
Geibel  nicht  bloss  die  unbezweifelte  Formvollendung  seiner  Gedichte  bei- 
getragen habe,  in  welcher  Beziehung  nur  Paul  Heyse  ihm  zur  Seite  gestellt 
werden  kann,  sondern  die  echt  deutsche  Grundstimmung  seiner  Poesie,  der 
ideale  Schwung,  der  sittliche  Ernst,  der  sich  durch  keine  Verzerrungen  der 
Zeitideen  habe  beirren  lassen,  der  patriotische  Sinn,  vor  Allem  der  religiöse 
Gehalt.  Liegt  dieser  von  vornherein  auch  nicht  jedem  gleich  vor  Augen, 
so  ist  er  doch  von  Anfang  an  in  Geibels  Gedicb.ten  vorhanden  und  hat  sich 
mit  der  wachsenden  innern  Lebenserfahrung  des  Dichters  immer  klarer  her- 
ausgestellt. In  dieser  Beziehung  lässt  sich  schon  eine  dreifache  Entwicklung 
wahrnehmen,  und  diese  deutlich  gemacht  zu  haben  ist  das  Verdienst  dieser 
kleinen,  sehr  lebendig  gehaltenen,  frischen,  warmen  Schrift,  die  allen  Ver- 
ehi-ern  des  Dichters  emj. fohlen  sein  mag.  Auch  Barthel  hat  in  seiner  deut- 
schen Nationalliteratnr  der  Neuzeit  S.  479  —  508  schon  eine  ähnliche  gute 
Charakteristik  Geibels  oeaeben.  —  H. 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  109 

Germania.  Vierteljahrsschrift  für  Deutsche  Alterthuraskunde. 
Herausgegeben  von  Franz  Pfeiffer.  4.  Jahrgang. 
2.  Heft.     Wien   bei  Tendier  &  Comp.  1859. 

Die  deutschen  Appellativnanien  von  W.  Wackernagel.  Nach 
einer  einleitenden  Betrachtung  über  die  Uebergänge  der  Appellativa  und 
Eigennamen  in  einander,  unter  denen  ursprünglich  kein  Unterschied  Statt 
fand,  bespricht  der  Verf.  zunächst  „die  erste,  älteste  und  ursprünglichste 
Classe  der  Appeüativnamen,  diejenigen  Fälle,  wo  Gegenstände  nicht  mensch- 
licher Art  dennoch  mit  Namen  nach  Art  der  menschlichen  belegt  werden." 
Es  sind  dies  besonders  Schwerter,  Helme,  Panzer,  Hürner,  Ringe,  Rosse, 
Hunde  und  andere  gezähmte  und  au  das  Haus  gewohnte  Thiere,  Schifle, 
Geschütze,  Thürme  und  Glocken.  Wackernagel  beschränkt  sich  in  diesem 
ebenso  anregenden,  als  durch  die  Fülle  von  Einzelheiten  belehrenden  Auf- 
satze streng  auf  das  Gebiet  der  deutschen  Philologie. 

Haus,  Kleid,  Leib.  Von  L.  Tobler.  An  eine  gelegentliche  Be- 
merkung "W.  Wackernagels,  dass  in  der  Sprache  unseres  Stammes  die  Be- 
griffe Haus  und.  Kleid  mehrfach  in  dieselben  Worte  zusammenfallen,  an- 
knüpfend, sucht  er  das  genannte  Begrifl'sfeld  genauer  durchzugehen  und  zu 
untersuchen,  ob  und  in  wie  weit  die  Etymologie  sich  für  die  Realien  ver- 
werthen  lasse.  Das  Schwierige  und  Schlüpfrige  der  ganzen  Sache  ist  ihm 
nicht  unbekannt.  Es  werden  zuerst  die  verschiedenen  Wörter  von  Haus  und 
Kleid,  dann  von  Leib  und  Haus,  endlich  von  Leib  und  Kleid  in  ihren  ver- 
wandtschaftlichen Beziehungen  zueinandergestellt  und  besprochen. 

lieber  Hartmann  von  Aue.  Von  Franz  Pfeiffer.  „Unter  den  deut- 
schen Sprachforschern  giebt  es  noch  immer  manche,  die  es  für  eine  Ver- 
messenheit, oder  gar  für  eine  Fälschung,  jedenfalls  für  unerlaubt  halten, 
Denkmäler  altdeutscher  Poesie,  die  nur  einmal  und  in  späten  Handschriften 
überliefert  sind,  kritisch  zu  bearbeiten."  Sie  nennen  dies  Tcxtmacherei. 
Herr  Pfeifier  spricht  sich  dahin  aus,  dass  eine  „annäherungsweise  Her- 
stellung der  ursprünglichen  Schreibweise'  erreichbar  und  daher  ebenso,  wie 
in  der  classischen  Philologie  nicht  bloss  zulässig,  sondern  nothwendig  sei." 
Der  Erek  Hartmanns  ist  nun  ein  solches  Buch,  von  dem  es  nachweisbar 
mehrere  ältere  Handschriften  gegeben  hat,  die  aber  bis  jetzt  verschollen  sind. 
Die  einzige  Handschrift  ist  die  Ambraser  von  1517.  Moritz  Haupt  ver- 
suchte es  im  Jahre  1839,  —  es  war  seine  erste  kritische  Arbeit  auf  diesem 
Felde,  —  den  ursprünglichen  Text  herzustellen,  und  Lachmaiin,  der  ihn  dabei 
unterstützte,  hat,  wie  Haupt  selbst  sagt,  dabei  das  Besste  gethan.  Aber  es 
fehlt  niclit  an  Irrungen,  und  wie  viel  überhaupt  noch  dem  Scharfsinn  und 
Nachdenken  Anderer  übrig  gelassen  war,  zeigte  schon  die  Nachlese  Haupts 
in  der  Zeitschrift  f.  D.  A.  3,  -.'CG  —  273.  Seitdem  sind  15  Jahre  verflossen 
und  Niemand  hat  sich  an  den  Erek  gewagt.  Herr  Pfeifler  lässt  nun  auf  40 
Seiten  eine  ansehnliche  Reihe  längerer  und  kürzerer,  allgemeiner  und  spe- 
cieller  Bemerkungen  zum  Erek  folgen.  Am  Schlüsse-  des  sehr  lehrreichen 
Aufsatzes  spricht  er  sich  energisch  gegen  Moritz  Haupt  und  dessen  stur- 
mischen Ausfälle  gegen  ihn  wegen  seiner  Recension  über  den  Minnesang 
Frühling  in  (iermania  HI,  484  aus  (S.  Haupt's  Zeitschrift  f  d.  D.  A.  XI, 
503  —  593).  Er  sagt  unter  Anderem  S.  233:  „Was  ich  aber  bekämpfe,  ist 
die  Unsitte,  neben  derlei  selbstgefälligen  Bemerkungen  mit  Geringschätzung 
auf  Andere  herabzusehen,  und  die  Versuche,  durch  hochmülhicic  Drohungen 
der  Kritik  den  Mund  zu  schliessen."  Und  S.  235:  „Man  hat  aus  Mattherzigkeit 
und  Rücksichten  viel  zu  lange  geschwiegen :  es  würde  mit  der  deutschen  Phi- 
lologie anders  und  besser  stehen,  wenn  man  dem  Dunkel  und  tier  Verunglimpfung 
zur  rechten  Zeit  entgegengetreten  wäre.  Ich  wiederhole,  dass  die  althoch- 
deutsche Literatur  nicht  bloss  für  einige  Studenten  und  Professoreu  gewachsen, 


110  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

sondern  dass  sie  ein  Gemeingut  für  alle  Gebildeten  unseres 
Volkes  ist  und  werden  soll."  So  hat  Prof.  Pfeifler  meinen  bei  der 
Anzeige  des  vorigen  Heftes  ausgesprochenen  Wunsch,  noch  ehe  er  denselben 
gelesen,  theilweise  erfüllt.  — 

Gedicht  auf  den  Zauberer  Virgilius.  Mitgetheilt  von  Prof  K. 
Bartsch.  Es  ist  dies  nach  dem  Herausgeber  die  einzige  deutsche  poetische 
Darstellung,  die  es  giebt,  und  stammt  aus  dem  H.Jahrhundert.  Er  verweist 
über  das  Nähere  der  in  dem  Gedicht  behandelten  Sage  auf  Massmanns  Kai- 
serchronik 3,  448  flgd. 

Zur  Legende  vom  heiligen  Nicolaus,  wahrscheinlich  aus  dem  13. 
Jahrhundert,  aus^  einer  Handschrift  der  Nürnberger  Stadtbibliothek  von  K. 
Bartsch  niitgetheilt. 

Bruchstück  einer  Passion  des  12.  Jahrhunderts.  Von  K.  Bartsch. 
Wörtlicher  Abdruck  eines  Pergamentblattes  in   12°.   — 

Recensionen.  Neidhart  von  Reuenthal,  herausgegeben  von 
Moritz  Haupt,  recensirt  von  K[arl  Bart  seh  ;  der  Spiegel  deutscher 
Leute  von  Ju!.  F  icke  rund:  lieber  dieEntstehun  gszeitdesSachsen- 
spiegels  und  die  Ableitung  des  Schwabenspiegels  aus  dem  Ueutschen- 
spiegel  von  Jul,  Ficker,  recensirt  von  H.  Spiegel;  Der  Welt  Lohn 
von  Konrad  von  "Würzburg,  ein  Beitrag  zum  Verständniss  mittelalter- 
lichen Glaubens  und  Lebensansicht  von  Fr.  Sachse  rec.  von  Fr.  Pfeiffer. 

Berlin.  Dr.  Fr.  Sachse. 


Anzeiger  für  Kunde    der    deutschen    Vorzeit.     Organ  des  Ger- 
manischen Museums  zu  Nürnberg.     1859.     Nro.  5  —  8. 

Ueber  eine  Urkunde  vom  12.  IVIai  1268,  worin  auf  die  Ein- 
f ä  1 1  e  d e r  T a r t a r e n  in  das  L a n d  S c h I e s i e n  B e z u g  g e n o m m e n  wird. 
Vom  Geh.  Justizrath  Prof  Gaupp  in  Breslau.  Höchst  interessant  für  die  Ein- 
sicht in  eine  Menge  von  Lebens-  und  Rechtsverhältnissen  zwischen  Polen 
und  Deutschen. 

ZuT  Geschichte  der  Bilderrätsel.  Mitgetheilt  von  Jos.  Mar. 
Wagner  in  Wien.  Rebus  aus  de  Sunde's  (Daniel  Schwenters)  Stenographia 
et  Steganologia  aucta.  Nürnberg  o.  J.  (zwischen  I6l9  und  1G24  gedruckt) 
V.  p.   173. 

Aelteste  Kriegsbauwerke.  Von  Prof  Dr.  Heinrich  Schreiber 
zu  Freiburg.  Ausgehend  von  den  verglasten  Wällen  (S.  Nro.  3  des  Anzeigers) 
bespricht  der  Verf  die  Entstehung  genannter  Befestigung  und  kommt  dann 
auf  Münzen ,  die  vermutblich  dem  keltisclien  Volk  der  Kaleten  angehören 
und  untermischt  mit  denen  der  Bojer  aufgefunden  sind. 

DiefreieReichsritterschaftund  der  gemeinePfenning.  Von 
Dr.  Roth  von  Schrecken  st  ein  in  Ulm.  Angaben  aus  einem  Notizen- 
buche des  Ritters  Kunz  von  Wirsberg  vom  Jahre  1.501  über  eine  Verweigerung 
des  gemeinen  Pfennings  von  Seiten  der  Fränkisclien  Ritterschaft. 

Ueber  einen  alten  Handschriftenkatalog      Von  Prof  Bartsch 

in  Rostock.     Lii   Besitz  des   Germanischen   Museums   zu    Nürnberg  befindet 

sich  eine  Papierhandschrift  des  1.5.  Jahrhunderts  in  4'-'.,  welche  Handschriften 

und   Werke   des    ehemaligen    ISenedictinerklosters  in   Nürnberg  enthält,   von 

auJf^nen  die  meisten  in  dem  Brande  des  Klosters  im  J.  1696  untergegangen  sind. 

wahn.  Ein  geistliches  Spiel  aus  dem   12.  Jahrhundert.    Mitgetheilt  von 

kleinei^all    Morel,    Rector   des    Stifts   l\Iaria- Einsiedeln.     Bruchstück    einer 

ehrern  oisirten  Wundergeschichte  des  heil.  Nicolaus  in  lat.  leoninischen  Versen. 

sehen  Nai   Fund   von    Thonfiguren   aus    dem    14.   Jahrhundert.     Vor 

Charakteritwurde    eine    Menge    meistens    weiblicher    Thonfiguren    unter     dem 

laster  von  Nürnberg  aufgefunden,  die  in  den  Besitz  des  germanischen 


ßeurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  111 

Museums  gelangt  sind.  Anfangs  wurden  diese  Figuren,  die  auch  anderwärts 
vorgekommen  sind ,  für  Votivbilder  gelialten.  Die  Nürnberger  Gelehrten 
halten  sie  jetzt  für  Puppen  und  Spielzeug  des  14.  Jahrhunderts.  Zur  Xar- 
anschaulichung  ist  dieser  Mittheilung  eine  Tafel  mit  Abbildungen  beigefügt. 

Schöne  Frauen  als  Lehen.  Von  Prof.  Fickler  in  Mannheim.  Die 
in  Nro.  4  des  die.sjährigen  Anzeigers  mitgetlieilte  Vennuthung  beruht  einfach 
auf  einem  Druckfehler. 

Vom  Notrecht.  Von  Hofrath  Dr.  Zöpfl  in  Heidelberg.  Krgänzung 
und  Berichtigung  zu  Nro.   12  des  vorigen  Jahrgangs. 

Zur  Geschichte  der  Vehmgerichte.  Vom  Archivar  Herschel 
in  Dresden.  Ueber  Abschriften  von  Urkunden  des  14.  Jahrhunderts,  in  nieder- 
deutscher Sprache  abgefasst. 

Zur  Geschichte  von  Koldiz.  (Stadtwillkür.  Seelbäder).  Von  Ar- 
chivar Her  seh  el  in  Dresden.  Mittheilung  von  drei  Urkunden  über  Stiftung 
von  Seelbädern,  ein  Gegenstand,  über  den  die  christlichen  Archäologieen  in 
ihren  Abschnitten  über  kirchliche  Armen-  und  Krankenpflege  wenig  zu  ent- 
halten pflegen. 

Zur  Geschichte  der  Bilderrätsel.  Von  H.  Otte,  Pfarrer  in 
Fröhden.  ,.Als  älteste  Bilderrätsel  sind  wohl  die,  bekanntlich  bis  in  die 
ältesten  Zeiten  hinaufreichenden,  redenden  Wappen  zu  bezeichnen."  Versteht 
man  aber  darunter  eine  Zusaumienstellung  von  Bild  und  Schrift,  so  werden 
wir  auf  das   15.  und   16.  Jahrhundert  zurückgeführt. 

Die  Siegel  von  Heidenheira  und  Heidingsfeld.  Vom  Freiherrn 
V.  Ledebur  in  Berlin.  Die  Siegel  sind  abgebildet  und  werden  kurz  be- 
sprochen. Die  Redaction  nimmt  Veranlassung,  einen  schon  früher  getassten 
Vorsatz  zur  Ausführung  zu  bringen,  nämlich:  aus  der  Siegelsammlung  des 
Museums  die  Siegel  mit  Jahreszahlen  namhaft  zu  machen. 

Die  Grafen  von  Hohenems  nicht  Pfandherrn  zu  Triberg. 
Von  Prof.  Fickler  in  Mannheim.  Kurze  Erörterung  über  Eigentluimsrccht 
der  Burg  und  Stadt  Triberg. 

Die  Familie  von  Fladung.  Von  C.  Primber,  Rechtspraktikanten 
in  Nürnberg.  Kurze  Notiz  über  ein  im  16.  Jahrhundert  ausgestorbenes 
adliges  Geschlecht  von  Fladung  zu  Lindau. 

Zur  Geschichte  des  Baierischen  Herzogs  Heinrich  XVI.  Von 
Archivar  Herschel  in  Dresden.  Mittheilung  einer  Urkunde  von  1448  aus 
der  Dresdener  Bibliothek,  welche  Lang  in  ^^einer  Geschichte  des  Baierischen 
Herzogs  Ludwig  VH  (,des  Bärtigen;  anführt,  aber  deren  Inhalt  nicht  näher 
angiebt. 

Volcher  Coiter.  Von  Prof.  Reuss  in  Nürnberg.  Aus  einer  Nürn- 
berger Handschrift  wird  zur  Ergänzung  der  bisherigen  biographischen  Nach- 
richten eine  Aufzeichnurg  über  den  Tod  des  berühmten  Nürnberger  Anatomen 
mitgetheilt.     Er  starb   1.t7G  den  2.  Juni. 

Anregung  zu  einer  archäologischen  Karte  Deutschlands. 
Ein  Sendschreiben  an  alle  Alterthumsfreunde  von  Dr.  Riecke  in  Nordliausen. 
Der  Auflbrdenmg  zur  Anlegung  von  Karten  und  Verzeichnung  vorhandener 
alter  Denkmäler,  Landwehren,  Landgräben,  Schanzen,  Ringwälle  und  dergl. 
fügt  der  Verf.  Vorschläge  bei  behufs  Einrichtung  derselben. 

Der  Gesellschaft  der  Rebleuten  zu  Lucern  Ordnung.  1517. 
Mitgetheilt  von  J.  Schneller,  Stadtarchivar  in  Lucern 

Der  Münzfund  bei  Weitersdorf  in  Franken.  Von  Dr.  Joh. 
Müller.  Mittheilung  über  eine  den  23.  April  dieses  Jahres  ungefähr  drei 
Meilen  von  Nürnberg  in  zwei  ungehenkelten  Thongefässen  aufgelüudene 
Menge  (29  grössere  und  über  1000  kleinere)   Silbernuiiizen. 

Die  Beilagen  liringen  in  gewohnter  Weise  ausser  Nachrichten  über  das 
Museum  Anfragen,  MittheiLungen,  Recensionen. 

Berlin.  Dr.  Sr-chse. 


112  Beurtheilungen  und   kurze  Anzeigen. 

Dr.  K.  Keicliel:  Mittelhochdeutsches  Lesebuch  für  Gymnasien. 
Wien,  K.  Gerolds  Sohn.     1858.     8o.  VI  u.  239. 

Ein  neues  Buch  auf  diesem  Gebiete!  Ist  es  denn  nöthig,  zu  den  schon 
vorhandenen  noch  eins  hinzuzufügen?  Haben  wir  nicht  Kehreins,  Simrocks, 
Kohlrausch  und  Schädels,  Pütz  u.  A.  Lesebücher?  So  Treffliches  auch  von 
den  Genannten  geleistet  wurde,  wir  begrüssen  das  oben  angeführte  mit 
wahrer  Freude.  JeJer  hatte  seine  eignen  Zwecke  bei  der  Abfassung  seines 
Buches.  Zu  des  Einen  Zeit  war  Anregung  zum  Studium  der  altdeutschen 
Sprache  wünschenswerth,  darum  erleichterte  der  das  Verst'andniss  durch  bei- 
gefügte Uebersetzung.  Der  Andere  hatte  Studenten ,  Weitergeförderte  im 
Auge,  darum  knappe  Behandlung.  Der  Dritte  hatte  wieder  Schulen  be- 
rücksichtigt, darum  Vermeiden  von  Verweisungen  auf  fremde  Sprachen.  Der 
Vierte  schrieb  ebenfalls  für  Schulen,  aber  schon  für  höhere,  darum  mehr 
erklärende  Bemerkungen,  obwohl  Anfangs  auch  Uebersetzung  des  Textes. 
Aber  er  lässt  uns  im  Stich  bei  der  selbständigen  Darstellung  der  Sprache 
und  des  Stoffes.  Wir  sind  da  verwiesen  auf  die  Arbeiten  Anderer.  Der 
Schüler  soll  schon  einen  grösseren  Apparat  von  Hilfsmitteln  besitzen.  Unser 
vorliegendes  Buch  ist  gleichsam  eine  Vereinigung  von  all  diesen  Arbeiten. 
Es  bietet  uns  als  Einleitung  einen  grammatischen  Abriss  der  mittelhochdeutschen 
Sprache,  der  mit  klarem  Bewusstsein  die  Zwecke  einer  höheren  Lehranstalt 
(und  Klasse)  im  Auge  behält.  Die  Arbeit  zeigt  uns  einen  denkenden,  ge- 
wandten Schulmann,  der  zugleich  lehrt  und  bildet;  sie  zeigt  uns  einen  tüch- 
tigen Kenner  der  Sprache,  der  nicht  nur  von  seinen  grossen  Meistern  gelernt, 
sondern  der  auch  das  Erlernte  zu  selbsteignen  Zwecken  zu  gebrauchen  ver- 
steht. Dieser  Abriss  ist  eine  durchaus  selbständige  Arbeit ,  in  welcher  der 
Kundige  mit  «irosser  Befriedigung  die  besten  Bausteine  der  Meister  verwendet 
findet.  —  Sodann  folgen  die  Lesestücke  in  V  Gruppen:  Das  volksthümliche 
Epos.  —  Das  kunstmässige  Epos.  —  Die  lyrische  Poesie.  —  Die  didactische 
Poesie.  —  Prosa,  mit  dem  Nibelungenlied  beginnend  bis  zu  einer  Predigt 
Bruder  Bartholds  und  dem  Schwabenspiegel.  —  Nibelungenlied  und  Gudrun 
sind  wohl  nicht  vollständig  aufgenommen;  aber  da,  wo  der  Text  unterbrochen 
ist,  gibt  ein  kurzes  Argument  das  Fehlende,  so  dass  der  volle  Zusammenhang 
dieser  beiden  Epen  ersichtlich  ist.  Bei  jeder  Abtheilung  ist  ein  kurzer  Ueber- 
blick  vorausgeschickt,  der  mit  wenigen  kräftigen  Zügen  ein  gutes  Bild  der 
literarischen  Gattung  entwirft.  Jedenfalls  der  Kernpunkt  des  Buches.  Und 
dass  der  Verfasser  ein  feines  Verständniss  für  Auffassung  seines  Stoffes  be- 
sitzt, hat  er  seitdem  auch  weiter  in  der  Empfangsschrift  der  Philologen- 
versammlung zu  Wien  „über  Parzival"  bewiesen.  Diese  Einleitungen  sind 
treffende  und  meisterhafte  Umrissse  zu  den  Bildern,  welche  die  anknüpfende 
Erklärung  d-.:s  Lehrers  ausfüllen  mag.  —  Vielleicht  etwas  zu  kurz  sind  die 
erklärenden  Zusätze  hinter  jedem  Textstück,  so  anregend  und  trefflich  ab- 
gefasst  sie  im  Einzelnen  auch  wieder  sind.  —  In  seiner  ganzen  Erscheinung 
aber  ist  das  Buch  eine  äusserst  dankenswerthe  Bereicherung  der  Lehrmittel 
und  wir  möchten  es  allen  betreffenden  Anstalten  auf's  Beste  empfohlen  haben. 

Biedenkopf.  Dr.  Fr.  Möller. 


Programmenschau. 


Uebei'  das  Nibelungenlied  unter  besonderer  Rücksicht  auf  den 
deutschen  Unterricht  in  einer  höhern  Töchterschule.  Vom 
Dir.  Schornstein.  Programm  der  höhern  Töchterschule  zu 
Elberfeld.     1858. 

Nicht  um  gelehrte  Zwecke  zu  verfolgen,  tritt  der  Verfasser  mit  dieser 
Einladungsschrift  hervor,  sondern  von  dem  Bedürfniss  getrieben,  aus  der 
Schule,  hier  der  Mädchenschule,  für  die  Schule  sich  zu  besprechen  sowohl 
mit  Collegen  wie  mit  den  Eltern.  Für  die  Mädchenschule  ist  es  namentlich 
erforderlich,  den  literargeschichtlichen  Unterricht  zu  beschränken  und  es  ist 
für  die  ältere  Zeit  hauptsächlich  das  Nibelungenlied  zu  wählen.  Nachdem 
er  in  der  Schule  das  Gedieht  nach  der  Uebersetzung  von  Simrock  mit  den 
Schülerinnen  gelesen  hatte,  bietet  er  nun  zunächst  für  sie  diese  Blätter  dar. 
Sie  haben  aber  nicht  bloss  diesen  nächsten  Zweck  im  Auge,  sie  wollen  über- 
haupt zeigen,  wie  die  Leetüre  für  den  Unterricht  verwerthet  werden  könne. 
Deshalb  mag  auch  hier  ihr  Inhalt  angezeigt  werden. 

Zuerst  zeichnet  der  Verfasser  in  einer  einfachen,  schönen  Sprache,  indem 
er  sich  grossentheils  an  die  vortreffliche  Inhaltsangabe  bei  Vilmar  anschliest, 
die  Gestalten  des  Liedes:  Krimhild,  Brunhild,  Sygfrid,  Hagen,  Rüdiser,  Diet- 
rich. Sodann  betrachtet  er  das  Lied  als  einen  Spiegel  deutschen  Volkslebens, 
indem  er  die  historische  Grundlage  zunächst  beleuchtet,  darauf  aber,  wie  es 
der  Zweck  erforderte,  das  Familienleben,  besonders  die  Stellung  der  Frauen, 
ins  Auge  fasst,  weiter  das  Vasalienthum  und  die  Vasallentreue,  die  religiösen 
Vorstellungen,  den  sittlichen  Boden.  Er  knüpft  schliesslich  daran  einige 
Aufgaben,  die  wohl  geeignet  sind,  zu  tieferem  Nachdenken -die  Schülerinnen 
anzuregen.  Wenn  in  ähnlicher  Weise  die  schönsten  Gedichte  unserer  Vor- 
zeit in  Mädchenschulen  behandelt  werden,  so  ist  nicht  za  zweifeln,  dass  die 
Schülerinnen  ein  warmes  Interesse  für  dieselben  gewinnen  werden.  — 


Proben  aus  einer  alten  und  ungedruckten  lateinischen  Bearbeitung 
der  Trutznachtigall  von  Fr.  von  Spee.  Vom  Dir.  Dr.  J. 
B.  Ahlemeyer.     Programm  des  Gymnasiums  zu  Paderborn 

1858. 

Diese  lateinische   Uebersetzung    der   Trutznachtigall    unter   dem   Titel: 

Philomela  Friderici  Spee,   dudum  germanica,    nunc   etiam  latin«,  dicta  pro- 

Tocatoria;  divinae  laudis  ac  humanae  sapientiae,  ut  ante  rhythmis  teutonicis, 

sie  nunc    metris  ausoniis  modulatri.x.   Adiecta  iuveniuntür  alia  viginti  carmiua, 

Axchiv  f.  u.  Sprachen.  XXYU.  8 


114  Programmenschau. 

ex  eiusdem  poetae  chrysoaretobiblio  i.  e.  aureo  virtutis  libello  in  Latinum 
converso,  ist  wahrscheinlich  von  einem  Landsmanns  des  Dichters  verfasst. 
Trotz  einiger  Kühnheiten  zeichnet  sicli  die  Uebersetzung  durch  Gewandtheit 
aus.  Die  Proben  enthalten:  Erkenntniss  und. Liebe  des  Schöpfers  aus  den 
Geschöpfen,  Christus  am  Üelberge,  Xaverius.  Der  deutsche  Text  steht  zur 
Seite.  — 


Ueber  Schillers  kleinere  Lehr- Gedichte  von  R.  Hauer.    Progr. 
der  Stadt.  Töchterschule.    Berlin  1859. 

Unter  den  kleinem  prosaischen  Schriften,  welche  die  Schillerfeier  erzeugt 
hat,  zeichnet  sich  diese  —  als  Beigabe  zu  einem  Jahresbericht  der  ersten 
städtischen  höheren  Töchterschule  zu  Berlin,  —  durch  die  Beschränkung  auf 
die  Erläuterung  von  kleinern  Lehrgedichten  Schiller's  aus.  Diesen  hätten  noch 
eine  bedeutende  Zahl  angeschlossen  werden  können;  aber  die  zehn  hier  be- 
trachteten, —  „Menschliches  Wissen,  Sprüche  des  Confuzius,  Breite  und 
Tiefe,  Kosmopoliten,  das  Neue,  Hoffnung,  Worte  des  Glaubens,  Worte  des 
Wahns,  Licht  und  Wärme«  —  sind  zweckmässig  ausgewählt  als  solche, 
„welche  in  einfachem  poetischen  Gewände  erhabene  Lehren  vorführen, 
und  in  denen  die  vorwaltende  Absicht,  belehrend  und  bestimmend  auf 
unser  Erkennen  und  ^Vollen  zu  wirken,  nicht  zu  verkennen  ist,"  wie  sie  denn 
auch  einer  Periode  angehören,  in  der  sich  der  Dichter  „ein  gefasstes, 
selbstbewusstes  Wesen  errungen  hatte."  Den  diese  Gedichte  betreffenden 
kurzen  Bemerkungen  ist  eine  etwas  längere  Vergleichung  von  Schiller's 
„Licht  und  Wärme"  mit  einer  Stelle  aus  Goethe's  Gedicht  „an  Lottchen" 
beigefügt.  Von  dem  Ergebnisse  der  Betrachtung  der  ganzen  kleinen  Reihe 
dieser  Gedichte  möge  der  Anfang  und  der  Schluss  hier  stehen:  „Sie  sind 
sämmtlich  Darstellungen  drs  Menschlichen  in  edelster  Idealität.  Der 
Zauber  derselben  ergreift  nicht  nur  die  Phantasie,  sondern  auch  das  Ge- 
wissen.  Alle  haben  endlich  den  Zweck,  der  Zeit  die  sittliche  Richtung 

anzugeben;  sie  wollen  belehrend  die  Gedanken  zum  Ewigen  erheben,  bildend 
das  Nothwendige  und  Ewige  in  einen  Gegenstand  der  Triebe  verwandeln, 
und  tragen  so  das  Element  in  sich,  welches  das  Grundwesen  der  Schiller- 
schen  Poesie  ist:  Liebe  zur  Freiheit,  zur  Freiheit  des  Geistes  und 
deren  Verwirklichung  in  der  Welt. 

Der  Unparteiische  wird  sich  bei  diesen  Worten,  welche  die  Lichtseite 
der  Schillerschen  Muse  ausdrücken,  freilich  auch  der  Schattenseite  bewusst 
werden.  K.  L.  K. 


Zur  Theorie  der  Casus.     Zweites  Stück.     Von  Prof.   C.  F.  A. 
Dewischeit.     Progr.  des  Gymnasiums  zu  Gumbinnen  1857. 

Vorliegende  Abhandlung  ist  die  Fortsetzung  des  Programms  des  Pro- 
gymnasiums zu  Hohenstein  vom  J.  1846,  und  behandelt  weiter  den  Genitivus, 
mit  Bezug  auf  das  Griechische  und  Deutsche.  Es  geht  der  Verfasser  aus 
von  der  Grundbedeutung  des  Genitivs  als  des  Casus  des  Woher  und  hetft 
hervor,  dass  die  Präposition  nur  ein  die  Bestimmtheit  des  Ausdrucks  heben- 
der Zusatz  ist.  Er  geht,  zuerst  zu  dem  Griechischen  sich  wendend,  auf 
kühnere  Wendungen  ein,  die  meist  übersehen  werden,  wie  der  Genitiv  bei 
ct/.vo-KCo,  ni'xt'o),  Siarpißio,  eliUi,  wozu  er  auch  deutsche  Ausdrücke  fügt,  wie: 
„da  doch  allbeide  Gottes  sind"  (An.  Grün),  „seis  ganz  und  gar  des  Ordens" 
(Zach.  Werner),  wo  eigentUch  nicht  der  Prädicativus  anzunehmen  ist.    Dana 


Programmenschau.  115 

bespricht  er  ausschliesslich  das  Deutsche  und  findet  den  Genitiv  zunächst 
a)  bei  den  Verbis,  die  mit  der  Vorsilbe  ent  zusammengesetzt  sind:  entgelten, 
entrathen,  entlösen,  entäussern,  entkleiden,  entschlagen,  entlassen;  b)  bei 
Verbis  mit  der  Vorsilbe  er,  so  ersihen  bei  Wigalois,  erwegen  bei  Ilartmann, 
erlassen,  erlösen  bei  Konrad  Flecke,  erledigen,  erholen,  erwehren  u.  a.,  und 
bei  der  Vorsilbe  ver,  die  aus  er  entstanden  ist,  wie  bei  verjagen,  verzinsen, 
verzihen,  verseilen,  verstehen,  verlögen,  verhelen  in  älterer  Sprache,  und  ver- 
weisen, vermessen.  Mit  zahlreichen  Beispielen  ist  überall  dieser  Gebrauch 
bestätigt.  Wie  auch  sonst  im  Gebrauche  des  einfachen  Genitivs  ohne  Prä- 
position die  alte  Sprache  reicher  war,  wird  an  mehreren  Beispielen  nach- 
gewiesen. 

Herford.  Hölscher. 


Kemarques  sur  le  pleonasme  de  la  langue  fran^aise 
von  H.  Mensch.  Programm  der  höheren  Bürgerschule  zu 
Lübben.     Ostern  1859. 

Das  vorliegende  französisch  geschriebene  Programm  giebt  einleitend 
eine  Definition  des  Pleonasmus  im  weitern  und  engern  Sinne.  Nachdem 
Beispiele  aus  Griechen  und  Römern  mit  deutscher  Uebersetzung  aufgeführt 
worden,  erklärt  der  Verfasser,  sich  auf  den  Pleonasmus  im  engern  Sinne  be- 
schränken zu  müssen,  den  er  der  Form  nach  eintheilt  in:  1)  pleonasme  rhd- 
torique,  2)  pleonasme  grammatical,  3)  pleonasme  populaire.  Im  ersten  Ab- 
schnitte, der  betitelt  ist:  le  pleonasme  regarde  comme  figüre  rhetorique,  wird 
zunächst  die  Berechtigung  einer  solchen  Abhandlung,  an  der  Spitze  eines 
Schulprogramms  zu  stehen,  gezeigt,  eine  Auseinandersetzung,  die  unsers  Da- 
fürhaltens einen  passenderen  Platz  am  Anfange  der  Abhandlung  gehabt  hätte. 
Darauf  wird  dieser  pleonasme  rhetorique  selir  kurz  abgefertigt  durch  An- 
führung einiger  Beispiele  aus  dramatischen  Dichtern,  wo  er  zur  Verschönerung 
und  Stärkung  der  Ptede  beiträgt.  Schliesslich  werden  Beispiele  von  Perisso- 
logie  und  Battologie  angeführt,  beide  Arten  aber  als  dem  Geiste  der  fran- 
zösischen Sprache  widerstrebend  verworfen. 

2)  Le  pleonasme  purement  grammatical.  Veranlassung  zu  dieser  Art 
des  Pleonasmus  geben  besonders  die  Formwörter,  wohl  hauptsächlich  des- 
wegen, weil  dem  Volke  grossentheils  die  Erkenntniss  des  Ursprungs  und 
der  Bedeutung  dieser  Wörter  abhanden  gekommen  ist.  Es  wird  hier  besonders 
besprochen :  der  pleonastische  Gebrauch  der  persönlichen  Fürwörter  als  Subject 
und  als  reg.  indir.  im  dativus  ethicus;  der  Präpositionen,  besonders  bei  den 
umschreibenden  Sätzen  mit  c'est  und  folgendem  Relativsatze;  der  Adjectifs 
determinatifs,  besonders  der  possessifs.  Am  Ende  dieses  Abschnittes  werden 
die  Ausdrücke  zusammengestellt,  in  denen  en  in  Verbindung  mit  Zeitwörtern 
■wie:  etre,  avoir,  finir,  tenir,  imposer  u.  a.  m.  pleonastisch  gebraucht  wird; 
aus  Mangel  an  Zeit  wird  aber  leider  keine  nähere  Erklärung  dieser  Pleo- 
nasmen gegeben ,  denn  der  Verfasser  würde  gewiss  weit  häufiger  auf  ellip- 
tischen als  auf  pleonastischen  Gebrauch  der  Sprache  gestossen   sein. 

3)  Le  pleonasme  populaire.  Was  unter  dieser  Bezeichnung  zu  verstehen 
ist,  giebt  der  Verfasser  selbst  in  folgenden  Worten  an:  Nous  entendous  par 
Ik  la  reunion  ou  l'accouplement  de  mots  qui,  rentrant  Tun  dans  l'autre,  ne 
signifient  pas  plus  qu'un  seul,  faute  qui  depend  plus  du  goüt  nue  de  la 
violation  des  reples  de  la  synta.\e.  Auch  hier  wird  eine  Reihe  von  Beispielen 
gegeben,  von  denen  einzelne  eingehend  erklärt  werden.  Einige  der  an- 
geführten Wendungen  können  wir  jedoch  nicht  als  pleonastisch  gelten  lassen; 
so  z.  B.  soll  in  folgendem  Satze:  Je  saurai,  moi,  ce  qu'il  ne  peut  peut-etrc 
pas  vous   dire  ä  vous,   peut-etre  pleonastisch  stehen.     Pleonasmus   kann 

8* 


116  Prograramenschau. 

hier  nur  für  das  Ohr  oder  das  Auge,  für  das  Verständniss  aber  nie  sein, 
was  man  durch  den  Vergleich  folgender  drei  Sätze  leicht  erkennen  kann: 
1)11  ne  peut  peut-etre  pas  vous  le  dire;  2)  II  ne  vous  le  dira  peut-etre 
pas ;  3)  II  ne  peut  pas  vous  le  dire.  —  "\Veit  weniger  noch  vermögen  wir 
einen  Pleonasmus  in  dem  pag.  21  angeführten  Satze  zu  erkennen:  C'est 
prendre  la  chevre  un  peu  bien  vite.  Auch  buche  de  bois  ist  vielleicht  nicht 
so  pleonastisch  als  es  scheint;  zunächst  wenn  bois  noch  näher  bestimmt  ist, 
wie  in  buche  de  bois  flotte,  ist  bois  unerlässlich;  und  ohne  nähere  Bestimmung 
ist  es   vielleicht  im   Gegensatz  zur  buche  economique  der  Pariser   gedacht. 

Soviel  über  den  Gang  der  Abhandlung;  was  den  Inhalt  betrifft,  so 
hätten  wir,  wie  beim  dritten  Abschnitt,  auch  bei  den  früheren  Beispiele  her- 
vorheben können ,  bei  denen  wir  mit  der  Ansicht  des  Verfassers  nicht  ganz 
übereinstimmen.  Wenn  auf  pag.  8  in  folgendem  Satze :  II  v  ä  toujours  des 
gens  qui  se  melent  de  ce  dont  ils  n'ont  que  faire,  dont  als  de  pleonastisch 
einführend  dargestellt,  und  als  Verbesserung  dieses  Ausdrucks  de  ce  ä  quoi 
ils  n'ont  que  faire  angegeben  wird,  so  ist  dagegen  nur  zu  bemerken,  dass 
man  nicht  sagt:  je  n'ai  que  faire  ä  cela,  sondern  de  cela.  Auf  pag.  12 
heisstes:  La  conjonction  que  se  place  par  redondance  apres  pourquoi;  dans 
ce  cas  il  y  a  Inversion.  Als  Beleg  für  diese  Behauptung  wird  Scribe  citirt: 
„Cest  votre  faute,  pourquoi  que  vous  ne  mettez  pas  Ik-dedans  des  choses 
drüles.  Zunächst  müssen  wir  bemerken,  dass  Inversion  hier  in  einem  eigen- 
thümlichen  Sinne  gebraucht,  denn,  damit  der  Satz  richtig  sei,  muss  es  hier 
soviel  bedeuten,  als  Inversion  der  Frageconstruction ,  d.  h.  inversion  de  l'in- 
version.  Dann  aber  gehört  das  angeführte  Beispiel  nicht  in  den  zweiten, 
le  pleonasme  purement  grammatical  bezeichneten  Abschnitt,  sondern  in  den 
dritten.  Wir  kennen  zwar  das  Scribe'sche  Stück,  aus  dem  die  Stelle  citirt 
wird,  augenblicklich  nicht,  soviel  dürfen  wir  aber  mit  Bestimmtheit  annehmen, 
dass  diese  Worte  einem  Ungebildeten  aus  dem  Volke  in  den  Mund  gelegt 
werden.  Beim  Volke  aber  ist  dieses  que  nicht  pleonastisch  gemeint,  sondern 
gerade  im  Gegentheil  aus  einer  Ellipse  zu  erklären,  indem  es  aus  dem  Satze 
pourquoi  est-ce  que  vous  ne  mettez  pas  nach  Wegfall  des  est-ce  übrig  ge- 
blieben ist.  Dies  nämliche  que  finden  wir  im  Munde  des  Ungebildeten  nach 
allen  Fragepartikeln,  theils  unmittelbar,  theils  auch  mit  Beibehaltung  des  ce 
aus  est-ce  z.  B.  oü-c'que  tu  vas,  oder  oü  que  tu  vas?  quoi  que  tu  dis?  — 
Um  endlich  noch  einen  der  wichtigeren  Punkte  zu  berühren,  heben  wir  fol- 
gende Stelle  auf  pag.  13  hervor:  „On  ne  peut  pas  se  rendre  compte  de  la 
presence  de  la  preposition  de  dans  l'alternative  qui  s'e.xprime  par  qui,  quel, 
lequel:  Lequel  fut  le  plus  intrepide,  de  Cesar  ou  d'Alexandre.  ßchmidt  (im 
Quedlinburger  Programm  1858)  erklärt  diesen  Pleonasmus  des  de  durch 
Assimilation  der  beiden  nomina  mit  dem  vorangehenden  genit.  partit.  Der 
Verfasser  des  vorliegenden  Aufsatzes  stimmt  ihm  zwar  bei,  fügt  aber  gleich 
hinzu:  Mais  dans  la  plupart  des  phrases  il  n'y  a  pas  de  genitif  partitif;  il 
vaut  mieux  les  regarder  comme  des  inadvertances  et  eviter  cette  tournure. 
Da  aber  gerade  dieser  Pleonasmus  nac  h  den  oben  angeführten  Fragewörtern 
bei  den  besten  Schriftstellern  sehr  häufig,  und  daher  wohl  schwerlich  aus 
Unachtsamkeit  angewendet  wird,  selbst  da,  wo  kein  genitif  partitif  voraufgeht, 
der  indess  jedes  Mal  ergänzt  werden  kann  und  muss,  so  dürfte  man  nicht 
ohne  weiteres  über  denselben  als  einen  verwerflichen  Flüchtigkeitsfehler 
weggehen. 

Was  die  Form  der  Abhandlung  anbetriffl,  um  auch  darüber  zu  berichten, 
so  finden  sich,  abgesehen  von  der  Unklarheit  vieler  und  gerade  solcher 
Stellen,  in  denen  der  Verfasser  Resultate  eigner  Forschung  in  kurzen  Sätzen 
darlegen  will,  in  derselben  mehrfach  Verstösse  gegen  den  Geist  der  Sprache, 
in  welchen  mehr  einzuführen  der  Aufsatz  ganz  besonders  bezweckt.  Be- 
sonders auß'ällig,  und  gewiss  nicht  gut  französisch  ist  die  häufige  AViederkehr 
des  ce  in  erklärenden  und  umschreibenden  Satze;  wir  führen  hier  nur  das 
auffälligste  Beispiel  dieser  Ai't  an   von  pag.  4 :  Et  c'est  en   effet  ce  qui  est 


Programmenschau.  117 

fort  h,  plaindre.  —  Was  heisst  atteindre  in  folgendem  Satze  (pag.  C): 
C'est  principalement  le  pleonasnie  graramatical  et  populaire  que  j'ai 
täche  d'atteindre.  Ist  ein  Druckfehler  vorauszusetzen ,  wenn  es  (pag.  1 1 ) 
heisst:  un  pleonasme  qui  est  difficile  d' analyser  d'une  maniere  satis- 
faisante,  da  es  doch  entweder  qu'il  est  difficile  d'analyser,  oder  qui  est  diffi- 
cile ä  analyser  heissen  muss.  Selbst  auf  die  Gefahr  hin,  pleonastisch  zu 
sprechen  würde  ich  aijf  pag.  13  doch  Heber  sagen:  niais  dans  la  plupart  de 
CCS  phrases,  als  mit  dem  Verfasser:  mais  dans  la  plupart  d'elles  (elles  auf 
phrases  im  vorhergehenden  Satze  bezogen). 

H.  Crouze. 


M  i  s  c  e  1 1  e  n. 


Einige     Bemerkungen     zu     dem     Vortrag     des     Dr.     Lasson 
über  Steinthal's  Ursprung  der  Sprache. 

Im  25.  Bande  des  Archivs  ist  S.  1G9  ff.  ein  Bericht  über  die  Sitzung 
vom  2.3.  November  vorigen  Jahres  gegeben,  worin  der  Vortrag  des  Herrn 
Lazarusson  mitgetheilt  und  hinzugefügt  wird,  dass  sich  daran  einige  Be- 
merkungen von  Herrn  Härtung  und  mir  geknüpft  hätten.  Der  Inhalt  jenes 
Vortrages  liisst  es  im  Dienste  der  Wissenschaft  und  zur  Orientirung  der 
Leser  des  Archivs  wünschenswerth  erscheinen,  dass  dem  Vortrage  einige 
Bemerkungen  auch  schriftlich  entgegentreten.  Denn  Herr  Lazarusson  schliesst 
seinen  Vortrag  mit  den  Worten:  „Er  habe  sich  weder  davon  überzeugen 
können,  dass  in  vorliegender  Abhandlung  (über  den  Ursprung  der  Sprache) 
irgend  ein  wesentlicher  Fortschritt  in  der  Erkenntniss  der  Sprache  gewonnen 
ist,  noch  davon,  dass  ein  solcher  auf  dem  von  dem  Verfasser  eingeschlagenen 
Wege  überhaupt  gewonnen  werden  kann."  Es  ist  jetzt  nicht  unsere  Absicht, 
diese  Ansicht  hier  zu  widerlegen;  aber  die  Bitte  möchten  wir  an  die  geneigten 
Leser  des  Archivs,  die  sich  für  die  Frage  interessiren ,  richten,  dass  sie  die 
beiden  citirten  Werke  des  Dr.  Steinthal  selbst  zur  Hand  nehmen  und  durch- 
studiren  möchten,  und  sie  dürften  leicht  eine  etwas  verschiedene  Ansicht 
darüber  gewinnen,  wie  es  wenigstens  dem  Unterzeichneten  selbst  ergangen  ist.  — 
Herr  Lazarusson  tritt  zunächst  gegen  die  Schärfe  der  Kritik  auf,  welche 
Steinthal  gegen  K.  F.  Becker  geübt  hat,  indem  er  zugleich  für  Sehelling's 
ergreifend  tiefsinnige  Construction  der  Kehgionsentwicklung,  in  welcher  das 
Bewusstseyn  zum  Kampfplatz  der  das  Universum  umfassenden  allgemeinen 
Potenzen  gemacht  werde,  und  die  Entstehung  der  Sprache  in  einem  Momente 
dieses  Kampfes  vor  sich  gehe,  eine  Lanze  bricht.  Wir  sind  nicht  geneigt, 
das  Herbe  in  der  Form  der  Steinthalschen  Kritik  ganz  zu  leugnen,  aber  so 
unglaublich  masslos  ist  sie  nicht,  wie  Herr  Lazarusson  annimmt.  Becker 
war  zwar  allerdings  ein  achtungswerther  und  redlicher  Forscher,  aber  der 
Einfluss,  den  er  durch  seine,  wie  es  scheint,  dem  damals  durch  Schelling  und 
Hegel  stark  beeinflussten  Zeitgeist  zusagende,  verführerische  Darstellung 
seines  lauter  allgemeine  Begriffe  zu  Grunde  legenden  Sprachsystems  ge- 
wonnen hat,  steht  mit  dem  wahren  Verdienst  desselben  in  umgekehrtem 
Verbältniss.  Gerade  er  hat  unglaublich  viel  zur  unrichtigen  Auffassung  des 
Wesens  der  Sprache,  sowie  zur  verkehrten  praktischen  Behandlung  derselben 
auf  Schulen  beigetragen.  Becker  scheint  nur  auf  einer  neuen  Bahn  zu 
wandeln:  Er  will  die  Sprache  als  ein  Naturproduct,  als  einen  Organismus 
aufgefasst  wissen,  aber  es  schlägt  bei  ihm  alles  in  das  gerade  Gegcntheil,  in 
die  allerabstracteste  Logik  um.  Statt  die  alte  unrichtige  Auffassung  der 
Sprache  als  logischen  Mechanismus  zu  widerlegen  und  zu  verdrängen,  treibt 


M  i  s  c  e  1 1  e  1).  119 

er  sie   nur  auf  die   äusserste  Spitze;    und  daher  bleibt,    ihm  gleichsam  zum 
Hohne,  die  Sprache  neben  seinen  logischen  Schcmaten  stehen. 

_  Nur  unter  dem  verzweifeltsten  Widerstände  Uisst  sie  sich  von  ihm  seine 
logische  Zwangsjacke  anlegen,  aus  der  sie  aber  nach  allen  Seiten  wieder  zu 
entschlüpfen  sucht  und  wirklich  entschlüpft.  Ist  man  nun  selbst  begeisterter 
Beckerianer,  so  nimmt  man  es  natürlich  unwillkürlich  leiclit  iibel,  wenn  ein 
anderer  unserm  geliebten  Meister  und  unserer  durch  ihn  von  der  Schule  an 
liebgewonnenen  Ansicht  polemisch  scharf  entgegentritt,  und  man  glaubt,  dass 
der  andere  wohl  zu  masslos  gegen  die  Person  zu  Werke  gegangen  sei,  wäh- 
rend es  diesem  doch  nur  um  die  Sache  zu  thun  war.  Der  Ernst  und  Eifer 
und  die  Ausführlichkeit  und  Gründlichkeit,  mit  welcher  Steinthal  Becker 
kritisirt  hat,  machen  seine  Kritik,  wie  ablehnend  sie  auch  immer  sei,  gerade 
zu  einer  Art  von  wissenschaftlicher  Ehrenerklärung,  die  er  seinem  kritisirten 
Gegner  angedeihen  lässt.  —  Herr  Lazarusson  behauptet  dann :  „Steinthal 
stehe  auf  demselben  Flecke,  wo  Herder  und  seine  Zeitgenossen  auch  standen," 
und  zwar  desshalb,  weil  sich  in  ganz  allgemeinen  Aus<lrücken  die  Theorie 
über  den  Ursprung  der  Sprache  ungefähr  auf  gleiche  Weise  ausdrücken  lässt. 
Das  ist  aber  gerade  so,  als  wenn  man  sagte,  die  Physiologie  sei  seit  Herders 
Zeiten  nicht  fortgeschritten ;  denn  wenn  man  nach  dem  Wesen  z.  B.  der 
Ernährung  fragt,  so  hatte  man  damals  auch  schon  gewusst,  dass  sie  darin 
besteht,  dass  man  Speisen  und  Getränke  zu  sich  nimmt  un<l  dieselben  verdaut. 
Dass  aber  der  Process  der  Verdauung  heut  zu  Tage  (4egenstaud  einer  un- 
endlich viel  genaueren  Erkenntniss  ist,  dass  sie  die  anatomische  Kenntniss 
aller  betheiligten  Organe,  eine  chemische  der  Verwandlungen  der  Nahrungs- 
mittel und  eine  physiologische  der  bedingenden  Bewegungen  einschliesst, 
davon  hatte  man  zu  Herders  Zeiten  wohl  kaum  eine  Ahnung.  Für  solche 
positiven  und  exacten  Forschungen  sind  wir  aber  mehr  und  stärker  ein- 
genommen als  für  den  wenn  auch  noch  so  sehr  ergreifenden  Tiefsinn  der 
Gottlob!  überwundenen  Natur-  und  Identitätsphilosophie,  die  die  mühsame 
Zergliederung  und  Beobaciitung  der  Empirie  verwirft  und  alles  aus  seinem 
blossen,  durch  sogenannte  speculative  Betrachtung  o<1er  intellectuelle  An- 
schauung oder  reines  concretes  Denken  gewonnenen  Begriff'  zu  bestimmen, 
ja  erst  zu  schaffen  sucht.  —  Herr  Lazarusson  meint  ferner:  „Steinthal  denkt 
sich  die  menschlichen  Individuen  atomistisch  etwa  so  wie  die  Steine  in  einem 
Steinhaufen;"  später  aber  berichtet  er,  wie  Steinthal  auf  die  Völkerpsycho- 
logie hinweise,  woraus  sich  die  Verschiedenheit  der  Sprache  solle  begreifen 
lassen.  Aber  wurde  wohl  jemand  vom  Volksgeiste  reden,  oder  kann  jemand 
•wünschen,  dass  eine  neue  Wissenschaft  des  Volksgeistes  gegründet  werde, 
wenn  er  die  Individuen  wie  Steinhaufen  ansieht  und  deren  Gemeinsamkeit 
läugnet?  Aber  Herr  Lazarusson  streitet  auch  dagegen,  dass  es  eine  Völker- 
psychologie geben  könne,  denn  „in  der  Erfahrung,  sagt  er,  sehen  wir  immer 
nur  Einzelne."  Aber  ist  denn  alles,  was  er  vorher  und  nachher  gegen 
Steinthal  von  der  Einheit  und  (Jesiimmtheit,  von  der  Substanz  des  Volks- 
lebens (die  aber,  beiläufig  gesagt,  gerade  Steinthal  selbst  annimmt  und  an- 
nehmen muss)  nicht  in  der  Erfalu-ung  gegeben '?  Herr  Lazarusson  erklärt  sich 
näher  darüber:  „Die  Vtdksgeister  sind  nicht  sinnlich  (sie)  wahrnehmbar. 
Die  Erfahrung  hört  hier  auf."  Also  nur  die  individuelle  Psychologie  ist 
möglich,  und  zwar  weil  die  einzelne  Seele  sinnlich  wahrnehmbar  ist,  von 
der  einzelnen  Seele  kann  man  etwas  erfahren,  aber  vom  Volksgeiste  nicht. 
Dass  dies  aber  unt  dem  Wesen  der  Psychologie  selbst  in  Wi(leis|)ruch  stehe, 
werde  ich  ausführlicher  zeigen,  wenn  ich  bei  einem  anderen  nuielicher  ^Veisc 
bald  eintretenden  Falle  Veranlassung  dazu  finden  werde.  Die  Vorstellungs- 
und  Denkart  des  Einzelnen,  wenn  sie  auch  noch  so  individuell  und  subjectiv 
ist,  und  die  einer  Mehrheit  oder  Vielheit  muss  doch  etwas  Gemeinsames 
haben,  was  eben  die  Völkerspychologie  aufzuweisen  hat.  AVenn  z.  B.  einige 
Völker  und  Sprachen  die  Wolken  als  Berge  und  Felsen  auffassen  (englisch 
cloud,  "\^'olke,  angelsächsisch  clüd,  Fels,  Berg),  ist  das  mir  der  Vorslellungs- 


120  Miscellen. 

art  eines  Einzelnen  zuzuschreiben  oder  der  einer  Mehrheit,  also  dem  Volks- 
geiste? Wie  kamen  gerade  diese  Völker  und  Sprachen  dazu  und  andere 
nicht?  Warum  stellten  andere  sich  die  Wolken  als  etwas  ganz  anderes  vor? 
Nach  Herrn  Lazarusson  darf  man  nur  eine  einzelne  Seele  darüber  um  Auf- 
schluss  bitten,  aber  das  ganze  Volk  nicht;  aber  wie  reimt  sich  das  nun 
wieder  mit  seiner  Annahme,  dass  die  Bildung  der  Sprache  nur  denkbar  sei, 
als  es  noch  gar  keine  Individuen  gab?  Der  Deutsche  sagt:  „Es  gefällt  mir 
in  Paris,"  und  der  Franzose:  „Ich  gefalle  mir  in  Berlin."  Ist  dies  ganz 
dasselbe?  Findet  hier  nicht  ein  bedeutender  Unterschied  in  der  Auffassungs- 
weise statt?  Und  wie  ist  der  Unterschied  anders  zu  erklären  als  psychologisch, 
und  zwar  völkerpsychologisch,  aus  dem  verschiedenen  Character  der  beiden 
Nationen,  aus  der  dadurch  bedingten  verschiedenen  Vorstellungsweise  derselben 
für  eine  und  dieselbe  Sache?  —  Unter  Apperception  muss  sich  Herr  Laza- 
russon etwas  anderes  denken  als  Steinthal,  wenn  er  als  dessen  Ansicht  auf- 
führt: Das  Wort  ist  nur  ein  Apperceptionsmittel.  gegen  den  Inhalt  des  Be- 
griffes selbst  gleichgültig,  ein  Zeichen."  Steinthal  hat  aber  das  Wiesen  der 
Apperception  überhaupt,  so  wie  das  Eigenthümliche  derselben,  insofern  sie 
im  Worte  vollzogen  wird,  in  besonderen,  häufig  von  ihm  citirten  Aufsätzen 
in  der  philosophischen  Zeitschrift  von  Fichte  und  Ulrici  dargelegt.  Ueberall 
hat  derselbe  gegen  die  Ansicht  gekämpft,  welche  das  Wort  als  todtes  Zeichen 
fasst,  ein  Irrthum,  welchen  er  selbst  an  Becker  nachweisst,  und  überall  zeigt 
er  dagegen,  dass  das  W^ort  eine  Apperception,  d.  h.  eine  lebendige  geistige 
Thätigkeit  sei. 

Ueberhaupt  befürchten  wir,  dass  Herr  Lazarusson  oft  Steinthals  Ansicht 
in  einem  ganz  anderen  Sinne  nimmt  als  dieser  selbst,  und  dass  er  oft  gegen 
ihn  etwas  anführt,  was  Steinthal  selbst  an  anderen  bekämpft  hat. 

Dr.  C.  A.  F.  Mahn. 


Ehrenbezeugungen  oder  Ehrenbezeigungen?  — 
Bezüchtigen  oder  bezichtigen? 

In  Betreff  der  zweiten  Frage  kann  eigentlich  wohl  niemand  ernstlich  in 
Zweifel  sein,  und  man  würde  gar  nicht  in  Versuchung  kommen  ein  W^ort 
darüber  zu  verlieren,  wenn  nicht  die  falsche  Schreibweise  grade  bei  Neueren 
so  häufig  zu  finden  wäre.  „Bezichtigen"  (Frequentativform  von  zeihen) 
hat  natürlich  mit  „Zucht"  und  „züchtigen"  gar  nichts  zu  thun.  Die 
meisten  schreiben  es  daher  auch  richtig  mit  i:  vgl.  Schill.  II,  372  (Mein 
Vater  wurde  bezichtigt,  in  verrätherischem  Vernehmen  mit  Frankreich  zu 
stehen.)  III,  310.  (So  tief  als  man  die  Königin  bezichtigt  herabzusinken,  kostet 
viel).  Nur  W^ieland  scheint  unter  den  Aelteren  die  andre  Schreibweise 
vorgezogen  zu  haben:  vgl.  XXI,  48.  (  . .  .  unbesorgt  ob  man  uns  Wankelmuths 
bezüchtigen  kann.).  Manchmal,  besonders  in  neueren  Drucken,  mögen 
wohl  auch  superkluge  Setzer  die  Hand  im  Spiele  gehabt  und  den  fahrlässigen 
Autor  in  ihrer  Weise  „verbessert"  haben  —  weshalb  wir  uns  auch  hierbei 
nicht  länger  aufhalten  wollen.  —  Weniger  einfach,  obwohl  ebenfalls  nicht 
zweifelhaft,  ist  die  Entscheidung  in  dem  andern  Falle.  Die  Schreibweise 
„Ehrenbezeugungen"  beruht  offenbar  auch  auf  einem  etymologischen 
Missverständnisse;  nur  liegt  hier  das  wahre  Sachverhältniss  nicht  so  klar  zu 
Tage ,  und  man  lässt  sich  hier  leichter  durch  den  Schein  täuschen.  Denn 
die  Ableitung  von  „bezeugen"  scheint  ja  einen  ganz  passenden  Sinn  zu  geben, 
sofern  ich  durch  eine  „Ehrenbezeugung"  Zeugniss  davon  ablege,  dass  ich  den 
andern  ehre.   D  i  e  s  e  A  u  ff  a  s  s  u  n  g  i  »t  a  11  m  ä  h  1  i  c  h  fa  s  t  z  u  r  h  e  r  r  s  c  h  e  n  d  e  n 


Miscellen.  121 

geworden.  Daher  fast  überall  die  Schreibweise  mit  u:  vgl.  Schill.  IV,  273. 
(Weil  Du  so  viele  Gunst  ihm  stets  bezeugt.).  Gleich  darauf:  Sind  es  die 
Töchter,  sind's  die  einz'gen  Kinder,  womit  man  seine  Gunst  bezeugt?  u. 
öfter.  Ebenso  erklärt  man  sich:  „jemandem  seinen  Dank,  seine  Theilnahme, 
seine  Liebe  bezeugen,  und  spricht  daher  auch  von  „Dankesbezeu- 
gungen:" vgl.  Morgenblatt,  Jahrg.  18.=)9.  Nro.  11.  (...  unter  dea  lebhaftesten 
Dankesbezeugungen  .  . .  ).  Manche  Autoren,  besonders  unter  den  Neueren, 
schwanken  und  schreiben  bald  bezeugen,  bald  bezeigen,  ohne  Unterschied 
des  Sinnes:  vgl.  u.  A.  A.  W.  Grube  Biographische  Miniaturbilder  der  ge- 
wöhnlich unrichtig  „bezeugen"  schreibt,  dagegen  S.  264  richtig:  „Sie  be- 
zeigten ihre  Theilnahme"  d.  h.  sie  legten  sie  an  den  Tag;  sie  gaben 
ihre  innere  Gesinnung  auch  äusserlich  (durch  Worte  u.  s.  w.)  zu 
erkennen.  Denn  dies  ist  die  allein  richtige  Auffiissung.  Gehen  wir  nämlich 
näher  auf  die  Sache  ein,  so  ist  zunächst  dies  klar,  dass  man  schon  des 
Sinnes  wegen  unmöglich  sagen  kann:  ich  bezeuge  Dir  eine  Ehre  oder 
eine  Gunst,  sondern  höchstens  etwa:  ich  bezeuge  Dir  meine  Gunst,  meine 
Theilnahme,  meinen  Dank.  Denn  von  einer  Ehre,  einer  Gunst,  einer 
Theilnahme  kann  ich  kein  Zeugniss  ablegen,  sondern  höchstens  davon,  dass 
ich  Dich  ehre,  dass  ich  theilnehmend  oder  günstig  gegen  Dich  gesinnt  bin. 
„Jemandem  eine  F-hre  oder  eine  Gunst  bezeugen"  ist  also  ent- 
schieden vollständiger  Unsinn,  und,  wie  sich  von  selbst  versteht,  sind 
damit  auch  alle  Verbindungen  ohne  Artikel  oder  mit  einem  Adjektiv  (Ehre 
bezeugen,  viel  Ehre  oder  grosse  Ehre  bezeugen  u.  s.  w.)  als  in  sich  wider- 
sinnig ausgeschlossen.  In  dem  zusammengesetzten  Substantiv  indess  könnte 
man  dennoch  das  u  durch  eine  andre  Erklärungsweise  zu  retten  suchen. 
Man  könnte  nämlich  den  ersten  Theil  des  W^ortes  von  dem  Verbura  „ehren" 
ableiten,  wodurch  man  allenfalls  einen  Sinn  in  die  Verbindung  zu  bringen 
vermöchte ;  allein  diese  Erklärung  wäre  eben  nur  ein  Nothbehelf,  und  sie  ist 
unzulässig,  weil  sie  ganz  gegen  die  Analogie  der  übrigen  Ver- 
bindungen ist.  Man  vgl.  ,.jemandem  eine  Ehre  erweisen,  eine  Ehre, 
eine  AVohlthat,  einen  Gefallen  erzeigen.  Ebenso  „seine  Liebe,  seine 
Freude,  seine  Hochachtung  u.  s.  w.  bezeigen."  —  Den  Grund  jenes  Miss- 
verständnisses hat  man  übrigens  nicht  weit  zu  suchen.  Er  liegt  jedenfalls 
zunächst  und  vorzugsweise  in  der  doppelten  Bedeutung  des  Verbums  „be- 
weisen" (a.  =  demonstrare,  b.  =  declarare,  ostendere,  exhibere).  Man  sagt 
nämlich  ganz  richtig;  Einem  seine  Liebe,  seine  Achtung  etc.  beweisen.  Nun 
fasst  man  aber  hier  das  V.  „beweisen"  fälschlich  in  dem  Sinne  von  demon- 
strare  und  glaubte  daher  statt  dessen  auch  den  verwandten  Begrifl"  des  „be- 
zeugens"  setzen  zu  können.  Oft  mag  indess  auch  hier  die  falsche  Lesart 
auf  Rechnung  des  Setzers  zu  bringen  sein.  Dies  aber  ist  sicher,  dass  die 
Schreibweise  „Ehrenbezeigungen,  Gunstbezeigungen"  u.  s.  w.  die 
allein  richtige  ist,  und  dass  man  einem  ebensowenig  eine  Gunst  oder  Ehre 
bezeugen,  als  eine  AVohlthat  erzeugen  kann. 

Fr.  Ad.   Wagler. 


Nachtgesanfy. 

Nach    dem    Italienischen. 

(Vgl.  Archiv,  Bd.  XXV.  S.  428  fg.) 

Du  bist  ein  mildes  Feuer, 
Bist  meine  Seele,  Du! 
Und  such'  ich,  was  ich  wünsche, 
O  schlaf  nur,  .«üss  ist  Ruh'! 


122  Miscellen. 

Und  such'  ich,  was  ich  wünsche, 
Den  Schlüssel,  den  hast  Du! 
Und  hier  in  meinem  Herzen  — 
O  schlaf  nur,  süss  ist  Ruh'! 

Und  hier  in  meinem  Herzen 
Allein  regierest  Du! 
Und  gerne  will  ich  sterben  — 
O  schlaf  nur,  süss  ist  Ruh'! 

Und  gerne  will  ich  sterben 
Für  dich,  gebietest  Du! 
Schlaf,  o  mein  schöner  Engel, 
O  schlaf"  nur,  süss  ist  Ruh'! 

Anmerkung.  Der  italienische  Liebhaber  findet  keine  Ruhe  in  seinem 
Innern;  die  Liebe  lässt  ihn  nicht  schlafen.  Es  ist  der  nur  leise  angedeutete 
und  darum  tief  ergreifende  Contrast  zwischen  seinem  von  Liebe  geplagten  Her- 
zen und  dem,  wie  er  annimmt,  nicht  verwundeten  seiner  Geliebten,  den  er 
beständig  betont :  „Süss  ist  Ruh' !"  (Göthe,  der  wörtlicher  aber  nicht  verständ- 
licher übersetzt:  „Was  willst  Du  mehr?"  hat  den  Gegensatz  zu  diesem  Grund- 
ge'lanken  kaum  in  den  beiden  letzten  seiner  fünf  Strophen  markiit.)  Du, 
will  der  Italiener  seiner  Geliebten  sagen,  wirst  noch  schlafen  können,  aber 
ich  kann  es  nicht;  wüsstest  Du  jedoch,  wie  ich  um  dich  leide,  du  würdest 
Theilnahme  empfinden  —  aber  ich  will  nicht  grausam  sein ,  dich  nicht  aucji 
gequält  wissen,  meine  Liebe  zu  Dir  wünscht  dein  Bestes:    „O  schlaf  nur!" 

Eine  auf  Grund  dieser  Betrachtung  angestellte  Verglcichung  des  Göthe- 
schen  Gedichtes:  „O  gib  vom  weichen  Pfühle,"  zeigt  sofort  dessen  Grund- 
verschiedenheit. Die  Uebersetzung  des  Schlussverses  ausgenommen,  ist  alles 
Uebrige  nur  eine  metrische  Nachbildung  zu  nennen;  der  Sinn  beider  Gedichte 
divergirt  auf  das  Entschiedenste. 

Diese  Bemerkung  schien  mir  passend,  da  man,  so  viel  ich  weiss,  die 
Verschiedenheit  beider  Gedichte  noch  wenig  der  Beachtung  empfohlen  hat. 
Man  citirt  das  ganze  italiänische  Volkslied  und  sollte  nur  seinen  Refrain 
citiren. 

Dr.   Langensiepen. 


Eine   Berichtigung. 

A.  Pdschier  in  seinem  Cours  de  litterature  francjaise,  1839,  bespricht  auf 
Seite  274  ff.  Andr^  und  Marie -Joseph  Chenier,  welchen  letzteren  er  dann 
weiterhin  als  J.  Chenier  bezeichnet.  Trotzdem  befindet  sich  in  der  Ueber- 
schrift  S.  272 _ die  Angabe:  Joseph  et  Marie  Chenier.  —  Leber,  Handbuch 
der  französischen  Sprache,  l.  Band,  1842  erwähnt  S.  80  Marie -Joseph  de 
Cheiner,  S.  83  Andre  Clienier  (nicht  de).  So  ist  denn  auch  la  Retraite,  S. 
169,  M.  J.  de  Chenier  unterschrieben,  während  la  jeune  Captive,  S.  142  und 
le  Malade  (unrichtig  statt:  le  jeune  Malade)  S.  498  gezeichnet  sind:  Andre 
Chenier.  —  Castres  de  Tersac  in  seinen  Blüthen  aus  dem  Gebiete  der  neueren 
französischen  Literatur  nennt  den  einen  S.  XIV  und  S.  268  ff.  Marie  de 
Saint-Andre  Chenier  (wenigstens  müsste  es  doch  wohl  heissen:  Marie-Saint- 
Andre  de  Chenier),  den  anderen  Joseph  de  Chenier.  —  O.  L.  B.  AVolff  in 
seiner  France  poetique,  1843,  bezeichnet  S.  188  den  einen  Andre  Chenier, 
später  S.  404  und  405  wieder  A.  de  Chenier;  der  andere  wird  b'.  848  M. 
J.  Chenier  genannt. 


Miscellen.  123 

Die  französischen  Literarhistoriker  und  die  französischen  Herausgeber 
nennen  den  einen  gewöhnlich  schlechtweg  Andre  Chdnier  fiir  das  allerdings 
richtige  Marie -Andre  Chenier,  wie  er  in  Herrig's  la  France  littcraire  heisst, 
den  andern  Marie  -  Joseph  Chdnier,  und  wir  können  mithin:  Andre  Chenier 
und  Marie -Joseph  Chenier  als  ihre  eigentlichen  literarischen  Namen  be- 
zeichnen. Die  Bezeichnung  adliger  Geburt  durch  de  mussten  sie  beide  natür- 
lich in  der  ersten  Revolution  fallen  lassen,  woher  das  Schwanken  zwischen 
Chenier  und  de  Chenier,  Welcher  Autorität  Castres  für  Saint -Andre  folgte, 
wissen  wir  nicht. 

Schlecht  ist  es  nun  dem  berühmten  Gedichte  Andr^  Chenier's  La  jeune 
Captive  in  einigen  Chrestomathien  deutscher  Herausgeber  ergangen.  Dies 
Gedicht  ist  an  eine  junge  Mitgefangene  des  Dichters  in  Saint -Lazare,  an 
Mademoiselle  de  Coigny  gerichtet,  der  er  auch  noch  ein  anderes  Gedicht  ge- 
weiht hat,  überschrieben:  A  Mademoiselle  de  Coigny.  Saint-Lazare.  Es  beginnt: 

Blanche  et  douce  colorabe,  aimable  prisonniere, 
Quel  injuste  ennemi  te  cache  a  la  lumiere? 

Das  Gedicht,  la  jeune  Captive,  enthält  neun  Strophen,  jede  zu  sechs  Versen, 
Reimstellung  a  a  b  c  c  b.  Die  sieben  ersten  enthalten  die  Klage  des  Mäii- 
chens  über  ihr  Schicksal ,  ihre  so  natürliche  Bangigkeit  vor  frühem  Tode 
und  den  Wunsch,  von  der  süssen,  freundliehen  Gewohnheit  des  Daseins  nicht 
so  bald  scheiden  zu  müssen.  Diesen  eignen  Worten  derselben,  die  als  solche 
auch  in  correkten  Ausgaben  durch  Anführungsstriche  ausgezeichnet  sind, 
folgen  dann  in  den  beiden  letzten  Strophen  die  Worte  des  Dichters.  Er  hat 
die  Klagetöne  der  Gefangenen  gehört,  und  die  Laute  ihrer  lieblichen,  kind- 
lichen Mundart  an  die  sanften  Gesetze  der  Verse  geschmiegt: 

Aux  douces  lois  des  vers  je  pliais  les  accents 

De  sa  bouche  aimable  et  naive. 

Wer  war  sie?  wird  man  fragen.  Er  antwortet:  Anmuth  zierte  ihre  Stirn  und 
ihre  Rede,  und  wie  sie,  werden  alle,  welche  in  ihrer  Nähe  leben,  fürchten, 
ihr  eigenes  Leben  endigen  zu  sehn. 

Die  zwei  letzten  Verse  der  ersten  Strophe  lauten  nun: 

Quoi  que  l'heure  presente  ait  de  trouble  et  d'ennui. 

Je  ne  veux  pas  mourir  encore. 

„Was  auch  immer  die  gegenwärtige  Stunde  an  Trübsal  und  AVeh  bietet, 
sterben  möchte  ich  noch  nicht." 

O.  L.  B.  Wolff"  S.  188  (s.  o.)  liesst  nun  den  vorletzten  Vers  also: 
Quoique  l'heure  presente  ait  de  trouble  et  d'ennui, 
was  grammatisch  ganz  unerklärbar  ist. 

Castres  de  Tersac  (s.  o.)  macht  daraus    sogar: 

Quoi  que  l'heure  presente  ait  etd  trouble,  ennui, 
was  vollends  keinen  Sinn  giebt. 

Selbst  Lüdecking  in  seiner  fünften  Ausgabe  der  Le^ons  fran^aises  de 
litterature  et  de  morale  par  M.  M.  Noel  et  de  la  Place  liest: 
Quoi(jue  l'heure  presente  ait  et^  trouble,  ennui, 
was  sich  offenbar  als  eine  Conjectur  zu  einem  schleihten,  fehlerhaften  Text 
bittet.  "Wenn  der  Vers  aber  bei  dieser  Lesart  wenigstens  verständlich  ist, 
so  enthält  er  immer  noch  schlechtes  Französisch.  Man  erwartet  doch 
Quoique  l'henre  prdsente  soit  troulile  .... 

Ganz  ebenso  liest  Robolsky,  Französische  Poetik,   1859,  S.   182. 

Holzapfel  in  seiner  Au.-wahl  französischer  Gedichte  1854.  S.  268  bricht 
vielleicht  aus  pädagogischen  Gründen,  das  Gedicht  mitten  in  der  drittletzten 
Strophe  ab,  so  dass  das  Keimwort  devore  ganz  vereinzelt  dasteht,  da  die 
Consonanz  erst  drei  Verse  später  erfolgen  würde. 


124  Miscellen. 

Lamartine,  Histoire  des  Girondins,  57.  Buch  IT.  giebt  den  richtigen  Text, 
lässt  aber  die  neunte  Strophe  ganz  fort.  — 

Bei  der  weiten  Verbreitung  dieses  herrlichen,  in  und  ausser  Frankreich 
allgemein  bekannten  und  in  Büchern  für  den  Unterricht  vielfach  verwertheten 
Gedichtes  einerseits,  und  andrerseits,  weil  bei  der  Zusammenstellung  von 
Chrestomathien  selbst  tüchtige  Männer  von  Fach  nicht  immer  auf  die 
Originalausgaben  zurückzugehen  scheinen,  möchte  es  nicht  unpassend  sein, 
auf  jene  sich  einnistenden  Sinn-  und  Textenstellungen  öffentlich  aufmerksam 
zu  machen  und  die  Herren  Recensenten  zu  ersuchen,  hei  Beurtheilung  neuer 
Gedichtsammlungen  über  jene  Verse  zu  wachen.  Einen  richtigen  Text  bieten 
unter  anderen  Leber  im  angeführten  Buche  und  Herrig  und  Burguy's 
Handbuch:   La  France  litteraire. 

Gern  möchten  wir  allerdings  auch  in  diesen  beiden  Büchern  vor  dem 
Texte  die  Ortsangabe  Saint -Lazare  und  in  einer  kurzen  Note  die  historische 
Veranlassung  zu  diesen  Versen  lesen. 

Erst  der  scenische  Hintergrund  stellt  das  Gedicht  in  sein  wahres  Licht. 
Der  einunddreissigjährige  Dichter,  als  „verdächtig"  in  den  Kerker  geworfen, 
aus  dem  ihn  der  eigene  Bruder,  der  Dichter  Marie -Joseph  Chenier,  weil  er 
selbst  von  Robespierre  persönlich  gehasst  wird,  durch  Fürsprache  zu  retten 
nicht  unternehmen  darf,  das  niedersinkende  Fallbeil  der  Guillotine  voraus- 
ahnend, das  am  7.  Thermidor,  einen  Tag  vor  Frankreichs  und  seiner  Be- 
freiung sein  Haupt  traf,  legt  seiner  jungen,  schönen  Mitgefangenen  Worte 
in  den  Mund,  welche,  so  weit  sie  die  sich  an's  Leben  und  an  den  Gedanken 
der  Befreiung  klammernde  Hoff"nung  schildern,  ein  Widerhall  seiner  eigensten 
Empfindungen  sind.  L'illiision  feconde  habite  dans  mon  sein.  J'ai  les  alles 
de  l'esperance.  Est-ce  k  moi  de  mourir.  Je  ne  suis  qu'au  printemps.  O 
mort,  tu  peux  attendre,  alle  diese  Ausdrücke  treffen  auf  ihn  selbst  zu,  und 
wir  fühlen  erst  die  ganze  Wirklichkeit  des  Gedichtes,  wenn  uns  unsre  Phan- 
tasie hinter  die  Eisengitter  und  die  verschlossene  Thür  seines  Kerkers  und 
in  den  Kreis   seiner  zwischen  Leben  und  Tod  schwebenden  Mitverhafteten 

^'""'-  G.B. 


Randglossen. 

In  Bezug  auf  Archiv.  XXV.  Seite  432  und  die  von  Herrn  Heller   dort 
aufgestellte  „bisher  in  den  deutschen  Grammatiken  vermisste"  Regel: 

Der  Bindevokal  „e"  in  der  2.  und  3.  Person  des  Präsens  muss 
weggelassen  werden,  wenn  der  Vocal  des  Stammes  eine  Modifika- 
tion erleidet, 
erlaube  ich  mir  auf  den  17.  Abschnitt  in  meinem  „Katechismus  der  Ortho- 
graphie" 185C  (Seite  68  —  71)  zu  verweisen,  wo  ich  dieselbe  Regel  nur  in 
etwas  weiterem  Umfang  entwickelt  habe,  indem  sie  nämlich  auch  für  den 
Imperativ  gilt  (Nimm,  nicht:  nimme;  lies,  fleug  etc.)  und  fürs  Particip 
Präter.  (Genannt,  nicht:  genannet;  gekonnt;  gedurft  etc.)  Na- 
mentlich will  ich  hier  die  Worte  Bürger's  hersetzen,  auf  die  ich  a.  a.  O.  nur 
hinweisen  konnte.  Er  hatte  nämlich  in  seiner  Leonoi-e  als  Entwurf  den  Vers: 
(wie  Wirbelwind)  durch  dürre  Blätter  fähret.  „Aber"  —  setzt  er  gleich  hinzu  — 
fähret  ist  doch  auch  Nichts,  müsste  fährt  heissen.  Einige  Zeilen  nachher 
meint  er  dann:  Fähret  geht  doch  wohl  an;  denn  man  sagt:  Der  Wind 
fähret,  wo  er  will  etc.  und  Voss  macht  dazu  die  Anmerkung:  „Aus  Luthers 
Bibel  schöpften  mehrere  unsrer  Vorzüglichen  ihr  edleres  Deutsch,  welches 
von  Manchem,  der  nur  die  heutige  Umgangssprache  versteht.  Undeutsch  ge- 


Miscellen.  125 

schölten  wird"  etc.  Darin  ist,  diiucht  mir,  das  Vcrbältniss  richtig  angedeutet: 
Die  gewöhnliche  Prosa  fordprt  heute  in  dem  angegebenen  Fall  nothwendig 
den  Portfiall  des  Bindevokals  „e,"  während  ihn  die  gehobne  Rede  und  zu- 
mal die  Sprache  der  Dichter  noch  hin  und  wieder  duldet,  obgleich  auch 
hier  Formen  wie  „er  laufet,  nimmet,  räthet,  trittet"  etc.  einem 
feinern  Ohr  Anstoss  erregen.  Sanders 


Bibliographischer  Anzeiger. 


Allgemeines. 

D.  Asher.     On  the    study  of  modern  languages,    and  of  the  English  lan- 
guage  in  particular.  (London,  Triibner.)  2  Seh. 


Lexicographie. 

J.  &  W.Grimm.  Deutsches  Wörterbuch.  3.  Bd.  3.  Lfrg.  (Leipzig,  Hirzel.) 

20  Sgr. 
D.  Sanders  Wörterbuch  der  deutsch.  Sprache.  8.  Lfrg.  (Leipzig,  Wigand.) 

20  Sgr. 
Mittelhochdeutsches  Wörterbuch    von  W.  Müller  &  F.  Zarncke.     3.  Bd. 

4.  Lfrg.  (Leipzig,  Hirzel.)  1  Thlr. 

D.  H.  Lehmann.     Synonymisches  Wörterbuch  der  engl.  Sprache.    1  Lfrg. 

(Berlin,  Grieben)  6  Sgr. 

P.  Dahlmann.    Nouveau  Dict.  polona!s-fran9ais  et  fran9ais-polonais.   2  Bde. 

(Berlin,  Schletter.)  2  Thlr. 

C.   P.   Reiff.     Neue    Parallel  -  Wörterbücher    der   russisch  -  französischen, 

deutschen  und  englischen  Sprache.  1  Thlr.  Russ.  W.  (Leipzig,  Köhler.) 

2V3  Thlr. 
G.  H.  F.  de   Castres.     Handels  -  Correspondenz  -  Wörterbuch:    Französisch, 

Englisch,  Deutsch.  (Leipzig,  Gump recht.)  20  Sgr. 


Literatur. 


G.  Lucae,  De   Parzivalis    poematis  Wolframi  Eschenbacensis    aliquot   locis. 

(Halle,  Buchhandlung  des  Waisenhauses.)  77.2  Sgr. 

H.  Pröhle.     Harzsagen,    gesammelt  und    mit  Anmerkungen  herausgegeben. 

2  Bde^  2.  Ausg.  (Leipzig,  Mendelssohn.)  27.2  Thlr. 
A.  Kuhn.'  Sagen,    Gebräuche    und   Märchen    aus    Westfalen.    Supplement. 

(Leipzig,  Brockhaus.)  gratis 

Deutsche  Dichter   der  Gegenwart.     Lyrisches  Album   herausgegeben  von  R. 

Prutz.     (Prag,  Kober  &  Markgraf.)  l'/a  Thlr. 

F.  Kr e issig.     Vorlesungen  über  Shakspeare,  seine  Zeit  und  seine  Werke. 

3  Bde.     (Berlin,  Nicolai.)  2  Thlr. 
H.  W.  Longfellow's  kleinere  Gedichte.  Uebersetzt  von  A.  Rieke.  (Osna- 
brück, Backhorst.)                                                                             20  Sgr. 

Essai  sur  l'origine  de  l'Epopde  fran9aise  et   sur  son   histoire    au  moyen-äge 
p.  Ch.  d'Hericault.  (Paris,  A.  Frank.)  18   Sgr. 


Bibliographischer  Anzeiger.  127 

Les  anciens  poetes  de  la  France,  publids  sous  la  direction  de  M.  F.  Guessard. 
2  vols. 

1.  Doon  de  Maience,  chanson  de  geste  p.  p.  M.  A.  Pey.         5  Frcs. 

2.  Gauffrey,  chanson  de  geste  p.  p.  A.  Guessard  et  P.  Chabaille. 
(Paris,  Vieweg.)  5  Frcs. 

J.  P.  de  Beranger's  letzte  Lieder,  deutsch  von  K.  Walter.  (Leipzig, 
Hunger.)  1  Thlr. 

Goethe 's  Hermann  and  Dorothea.  Translated  by  H.  Dale.  (Dresden, 
Gottschalck.)  '  17  Sgr. 

G.  V.  Leinburg,  Hausschatz  der  schwedischen  Poesie  mit  gegenüberst. 
Uebersetz.     3  Bde.  (Leipzig,  Arnold.)  2V2  Thlr. 

Die  Schillerfeier  im  Casino  in  Oldenburg.  (Oldenburg,  Schulze.)       4  Sgr. 

Die  Schillerfeier  in  Prag.  (Prag,  Lehmann.)  5  Sgr. 

Das  Schillerjubiläum  in  Leipzig.  (Leipzig,  Hinrichs.)  8  Sgr. 

A.  V.  Keller.  Beiträge  zur  Schillcrliteratur.  (Tübingen,  Fues.)         2u  Sgr. 

J.  Günther.  Die  Schillerfeier  in  Jena.  (Jena,  Mauke.)  3  Sgr. 

Weissgerber,  Sophokles  und  Schiller.  Eine  poet.  Vision.  (Freiburg  i.  B., 
Diernfellner.)  4  Sgr. 

Rütli  -  und  Schillerfeier,  schweizerische.  (Aarau,  Christen.)  16  Sgr. 

Sammlung  der  vorzüglichsten  Dichtungen ,  Prologe  ,  Vorträge  und  Sprüche 
zur  Schillerfeier.  (München,  Fleischmann.)  ä  Heft  6  Sgr. 

Weber  &  K.  B.  Stark.  Zur  Erinnerung  an  das  Schillerfest  in  Heidelberg. 
(Heidelberg,  Mohr.)  4  Sgr. 

0.  Eiben.  Das    Schillerfest    in    Schiller's  Heimath.    (Stuttgart,    Schaber.) 

10  Sgr. 

Schiller's  Jubelfeier  in  Plauen.  (Plauen,  Neupert.)  ~  5  Sgr. 

M.  Meyer.  Die  Schillerfeier  in  den.  V.  St.  Nordamerica's.  (Philadelphia, 
Schäfer  &  Koradi.J  12  Sgr. 

W.  As s mann.    Schiller's    nationale  Bedeutung.    (Braunschweig,   Vieweg.) 

5  Sgr. 

A.  Schaefer.  Rede,  gehalten  in  Greifswald.  (Greifswald,  Akademische 
Buchhandlung.)  3  Sgr. 

K.  Regel.  Goethe  und  Schiller.     Zwei  Festreden.  (Gotha,  Müller.    6  Sgr. 

G.  Ries s  er.  Festrede.  (Hamburg,  Meissner.)  5  Sgr. 

W.  B.  Mönnich.  Schiller,  der  Dichter  nach  dem  Herzen  der  Nation.  (Heil- 
bronn, Scheu rlen.)  4  Sgr. 

E.  Köpke.  Zu  Schiller's  Gedächtniss.   (Brandenburg,  Wiesike.)    2V2  Sgr. 

G.  Buchenau.     Schiller,    der  Dichter  der   Jugend.     (Marburg,   Elwert.) 

2  Sgr. 
E.  Curtius.  Festrede.  (Göttingen,  Vandenhoeck.)  3  Sgr. 
L.  Doederlein.  Festrede.  (Erlangen,  Bläsing.)  4  Sgr. 
G.  Gardthausen.  Rede  am  Schillerfeste.  (Kiel,  Schroeder.)  5  Sgr. 
J.  Grimm.  Rede  auf  Schiller,  gehalten  in  der  Academie  der  Wissenschaften. 

(Berlin,  Düramler.)  10  Sgr. 

H.  Masius.  Festrede  zur  Schillerfeier  in  Halberstadt.  (Glogau,  Flemming.) 

3  Sgr. 
E.  Meier.  Festrede,  gehalten  in  der  Universität.  (Tübingen,  Fues.)  4  Sgr. 
J.  Mithner.  Festrede,  gehalten  im  Gymnasio.  (Lissa,  Günther.;       5  Sgr. 
Th.  Hoffe  richten     Festrede,   gehalten  in  Schweidnitz.     (Lauban,    Bau- 
meister.)                                                                                            1  Vi  Sgr. 

E.  Baltzer.     Schiller,    besonders  in    seiner   religiösen  Bedeutung.     (Gotha, 

Stollberg.)  ö  ^gr- 

W.  Kastein.  Schiller's  Lebensbild.  (Hannover,  Lohse.)  12  Sgr. 

A.  N.  Niblett.     Schiller  —   Dramatist,    Historian  and  Poet,    a   Centennry 

Lecture.  (London,  Williams  &  Norga  te.)  3  Sh. 

F.  Vischer.  Festrede,  gehalten  in  Zürich.  (Zürich,  Orell,  Füssli  &  Co.) 

b  Sgr. 


128  Bibliographischer  Anzeiger. 

L.  Walesrode.   Friedrich  Schiller  und  sein  Volk.    (Altona,  Wendeborn.) 

6  Sgr. 
H.  Wen  dt.    Festrede,    gehalten   im  Fürstensaale    zu  Rostock.     (Rostock, 
Leopold.)  5  Sgr. 

E.  Dressel.  Rede,. gehalten  im  Gymnasio.  (Coburg,  Riemann.)        2  Sgr. 
K.  Grün.  Schillerrede,  gehalten  in  Brüssel.  (Trier,  Lintz.)  4  Sgr. 

G.  Kinkel.  Festrede,  gehalten  im  Krystallpalast.   (London,  Petsch&Co.) 

10  Sgr. 


Hilfsbücher. 

J.  Spitzer.  Aufsatzlehre.    Für  Schule  und  Haus  theoretisch  und  praktisch. 

(Wien,  Mayer.)  18  Sgr. 

J.  Spitzer.     Hilfsbuch  für    den  Unterricht    in  der   deutschen  Sprache.     4. 

Schuljahr.     (Wien,  Mayer.)  41/2  Sgr. 

F.  M.  Gredy,  Geschichte  der  deutschen  Literatur  für  höhere  Lehranstalten. 

(Mainz,  Kirchheim.)  15  Sgr. 

C.  Goldbeck.     Auswahl  französischer  Gedichte  von  Malherbe    bis    auf  die 

Gegenwart.  (Potsdam,  Riegel.)  271/2  Sgr. 

Masterpieces    of  english    literature    intended    for  the    use   of  high  -  schools. 

vol.  n.  Inh.  Julius  Caesar.  (Leipzig,  Graebner.)  10  Sgr. 


B  e  r  a  n  g  e  r 
und     seine     Lieder 


Der  im  Jahre  1856  von  Staats  wegen  begrabene  Sänger, 
welcher  während  eines  Vierteljahrhunderts  seine  Laute  zu  den 
guten  und  bösen  Geschicken  seines  Vaterlandes  und  zu  allen 
Gefühlen  eines  natürlichen  Menschenherzens  stimmte,  ist  schon 
seit  lange  als  eine  der  bedeutendsten  Grössen  auf"  dem  Gebiete 
der  französischen  poetischen  Literatur  anerkannt  worden.  Die 
meisten  seiner  Lieder  sind  bei  seiner  Nation  zu  Volksgesängen 
geworden  und  schallen  fort  in  Stadt,  Wald  und  Flur  des  weiten 
Kaiserreiches.  Fremde  Völker  haben  sich  seine  über  den  Lo- 
calzweck  hinausgehenden  Elrzeugnisse  angeeignet  und  erkennen 
noch  in  den  verkümmerten  Nachbildern  Muster  der  Gattung. 
Den  Landslcuten  ist  Beranger  werth,  weil  sie  alle  singen  möchten 
wie  er ;  den  Fremden,  weil  er  von  allen  Franzosen  am  besten 
singt. 

Es  fehlt  allerdings  nicht  an  Stimmen  draussen,  welche  sich 
nicht  dem  allgemeinen  Lobe  anschliesscn  und  welche  sogar  be- 
dauern, dass  die  chansons  jemals  über  die  (irenzen  der  Gallo- 
Franken  hinüber  geklungen  (und  solche  Stimmen  haben  ohne 
Zweifel  ihre  Berechtigung  vom  eigenen  Standpunkte  der  Beur- 
theilung  aus);  aber  das  reine  Urtheil,  welches  Zeit,  Zeitgeist 
und  Ort  des  Dichters  berücksichtigt,  wird,  wie  in  andern  Fällen, 
so  auch  hier  namentlich  nicht  seinen  frischen  Kranz  zerpflücken 
wollen.  Deutsche  und  englische  Begriffe  von  Sittlichkeit  (denn 
an  diesen  hat  man  Beranger  bemessen)  wird  man  doch  nicht 
in  Frankreich  und  am  wenigsten  in  dessen  Hauptstadt    suchen. 

Archiv  f.  11.  Sprachen.  XXVU  9 


130  Bdranger   und   seine  Lieder. 

Abgesehen  aber  von  dem  in  manchem  Auslande  verwerf- 
lichen Inhalte  eines  Theiles  der  Producte  B^ranger's  lässt  man 
auch  dort  selbst  sehr  gern  den  andern  gelten  und  verschliesst 
sich  nicht  der  Freude  über  diese  lieblichen  Früchte  am  allge- 
meinen Baume  der  Poesie. 

B^ranger  als  Franzose  und  Pariser  ist  ein  reiner,  edler 
Mensch,  voll  des  Hochgefühls  für  Alles,  was  den  natürlichen 
Erdensohn  begeistern  und  erheben  kann.  Das  Vaterland  in 
Ruhm  und  Schmach,  die  Tugend ,  wie  sie  das  reine  Herz  ge- 
biert, der  Menschen  Freude  und  Glück ,  wie  sie  natürlich  und 
zwangslos  in  der  Menschenbrust  sich  regen  und  erwachsen,  sind 
seine  liebsten  Vorwürfe  und  entlocken  ihm  hochtönende  Hymnen, 
klangvolle  Lieder  ohne  Misston,  Verse  zart  wie  Flötenstimmen. 
Des  Vaterlandes  Feinde  aber,  fremde  wie  heimische,  der  Tugend 
Zerrbild,  Heuchelei,  die  Unnatur  in  jeder  Form,  das  nachge- 
äffte Schattenspiel  der  unbefangenen  Herzenslust  in  den  höhern 
Kreisen  der  Gesellschaft  erregen  seinen  tiefinnerlichsten  Un- 
willen und  er  fällt  sie  an  mit  den  schärfsten  Waffen  der  Satire, 
des  Spottes  und  des  schnödesten  Hohnes,  wo  nur  solche  Mittel 
ihm  M'irksam  scheinen;  wo  freilich  nicht  der  böse  Wille  ihm  ge- 
genübersteht, da  weiss  er  auch  mit  sanft  tadelndem  Ernste 
und  harmlosem  Humor  eben  so  gut  sein  Ziel  zu  erreichen. 

Beranger  ist  kein  politischer  Dichter  im  neuesten  Sinne 
dieser  Bezeichnung.  Er  verficht  kein  System  und  keine  Par- 
tei; daher  sein  Abfall  und  seine  Erklärung,  als  die  letzte  Ver- 
gangenheit in  ihrem  Streben  nach  möchligster  Anknüpfung  an 
die  alte  grosse  Zeit  auch  nach  ihm  haschte.  ,,Je  chantais  un 
grand  capitaine,"  sagte  er  kühl  und  abwehrend,  als  man  ihn  im 
Anfange  der  fünfziger  Jahre  von  hoher  und  niedriger  Stelle  aus 
an  seinen  „Le  Cinq  Mai,"  „Les  Souvenirs  du  Peuple"  und  der- 
gleichen Gedichte  erinnerte.  Er  sang  von  Frankreich's  Grösse 
und  Frankreich's  Hoffnung,  unbekümmert  um  den,  welcher 
beide  vermittelte  und  errang.  Jedermann  war  ihm  dazu  recht, 
wie  dem  ganzen  Volke,  das  ja  nur  diesen  beiden  Zielen  entge- 
genexperimentirt.  Eben  so  wenig  war  ihm  aber  nun  auch 
alles  Das  recht,  was  in  der  spätem  Zeit  bescheideneren  Zwecken 
nachstrebte  und  gegen  den  alten  Aufschwung  abfiel;  daher  der 
fast  durchgängige  Tadel  unter  Karl    und  Louis  Philipp;    daher 


Böranger   und  seine   Lieder.  131 

der  politi8ch  polemisirende  Ton  der  spätem  Lieder,  ohne  dass 
sie  selbst  politisch  sind.  Nur  die  Erinnerung  an  Frankreich's 
Glanz  und  WaiFenruhm  liegt  auch  im  Hintergründe  der  Gesänge 
„Poniatowski,"  ,,Les  Gaulois  et  les  Francs"  und  anderer. 

Wenn  Mir  in  der  Begeisterung  Beranger's  für  das  Vater- 
land in  dessen  Eigenthümlichkeit,  in  seiner  Ungefügigkeit  unter 
dem  zu  Recht  Bestehenden,  in  seiner  Flatterhaftigkeit  der  Ge- 
fühle, in  seinen  für  den  Fremden  unhaltbaren  Begriffen  über 
Sittlichkeit  und  selbst  das  Heilige  den  Franzosen  sehen,  in  seinem 
Hasse  gegen  Unnatur  und  Heuchelei  jeder  Art  den  Menschen 
sehen  und  lieben,  so  bewundern  Avir  in  der  Mannigfaltigkeit 
und  dem  Innern  Eeichthum  seiner  Erzeugnisse,  in  der  acht 
ideellen  Auffassung  und  Behandlung  des  Gegebenen ,  in  der 
unaff'ectirten  Lebendigkeit  und  Plastik  seiner  Sprache ,  in  der 
Glätte  und  Knappheit  seiner  Verse  und  im  Strophenbau  den 
Dichter  und  Sprachkünstler.  Er  hat  mitten  in  der  Romantik 
den  Grundsatz  der  alten  Schule  festgehalten :  Den  schönen  Ge- 
danken giesse  in  die  schönste  Form.  Diesem  Streben  nach 
Classicität  opfert  er  staudhaft  allen  Ehrgeiz,  von  vielen  Seiten 
her  durch  Gewinn  und  Schmeichelei  geweckt,  in  Drama  und 
Epos  sein  Heil  zu  versuchen ,  und  er  hat  wohl  daran  gethan, 
dem  andern  Grundsatze  der  Neuzeit  ernste  Rechnung  zu  tragen: 
Nimm  dir  ein  Feld,  und  dort  werde  Meister. 

Und  er  ist  ein  Meister  geworden.  Geworden,  denn  er  hat 
es  sich,  unter  grossen  Hindernissen  mangelhafter  Jugendbildung 
und  ungünstiger  Berufsarten,  sauer  werden  lassen,  Muster  zu 
Studiren,  seiner  starren  vaterländischen  Sprache  die  verein- 
zelten übrigen  Biegsamkeiten  abzuhorchen,  die  Kunstgriffe  des 
Liedersängers  sich  zusammenzulesen,  mit  denen  er  Vers  und 
Strophe  dem  Gedanken  dienstbar  machen  und  auf  das  knappste 
Mass  beschränken  könne.  So  hat  er  es  erreicht,  sich  eines 
reichlich  lohnenden  Vortheils  bedienen  zu  dürfen,  des  Vortheils 
alter  Melodie  zu  neuem  Texte.  So  nahm  er  sich  die  Weise 
des  Bänkelsängers  und  Hirten,  der  "Werkstatt  und  Kinderstube 
und  stieg  über  sie  wie  eine  Brücke  in  Kopf  und  Herz  des 
Volkes  hinein,  unbekümmert  um  Kritik  und  Presse,  hohnlächelnd 
über  des  Censors  Stift  und  Scheere.  Nicht  allein  aber  hat  er 
die  Unbequemlichkeit  des  Anschlusses  an  ein  bestimmtes  Mass 


132  Be  rang  er  und  seine  Lieder. 

überwunden,  sondern  dasselbe  sogar  liebgewonnen  und  da  ge- 
schickt verwendet,  wo  er  frei  gestalten  durfte.  Der  beliebte 
Refrain,  eine  kraft-  und  schmuckreiche  Eigenthümlichkeit  Be- 
ranger's,  und  mit  welchem  er  verfährt,  wie  der  Orator  mit 
Schlagworten,  wie  der  Kanzelredner  mit  dem  gewichtigen  Grund- 
spruche, ist  ohne  Zweifel  dem  alten  Volksliede  abgelernt.  Das- 
selbe darf  man  wohl  von  dem  jNIasse  für  das  Ganze  seiner 
kleinen  Gemälde  sagen,  die  er  meist  in  den  Rahmen  von  sechs 
Strophen  einengt,  häufig  auch  in  einen  beschränktem ,  so  epi- 
grannnatische  Schärfe  und  Reiz  der  bequemen  Ueberschaulich- 
keit  zugleich  erreichend.  Verwässerung  durch  geschwätzige 
Breite  kommt  ihm  nie  zu  Schulden. 

Die  Lieder  Beranger's  umfassen  alle  Zweige  dieser  Gattung 
mit  alleiniger  Ausnahme  des  Kirchenliedes.  Sie  gelten  dem 
Vaterlande,  den  Helden  der  letzten  Grösse  Frankreichs,  hohen 
wie  niederen  (zumeist  aber  den  Letzteren),  der  Liebe,  der  Ge- 
selligkeit und  dem  Weine,  der  Freundschaft,  der  Genügsamkeit, 
dem  Glücke  der  Armen  etc.  Bei  weitem  die  meisten  gehören 
der  Liebe  (in  französischer  Auffassung)  an.  Die  gleichfalls  sehr 
zahlreichen  Lieder  politischen  Aufluges  schildern  fast  lediglich 
Zustände  Frankreich's  und  sind,  obwohl  oft  begeistert,  doch  nie 
aufregender  Natur. 

Der  Ton  ist  vorherrschend  humoristisch  und  durchläuft 
alle  Nuancen  von  der  gänzlichen  Harmlosigkeit  an  bis  zur  bös- 
artigsten Satire.  Der  ganz  ernsten  Dichtungen  sind  im  Ver- 
hältniss  ziemlich  wenige,  denn  bei  vielen,  die  fast  durchweg  in 
diesem  Tone  gehalten  sind,  bricht  doch  auch  immer  noch  wieder  die 
natürliche  Heiterkeit  des  Dichters  durch.  Er  bleibt  am  liebsten 
der  Gehülfe  des  Moinus,  wie  er  den  Dichter  in  seiner  „Gau- 
driole"  nennt.  Der  Humor  Beranger's  ist  stets  fein  und  beruht 
nicht  selten  einzig  auf  der  verstellt  ernsten  Behandlung  solcher 
Gegenstände,  die  schon  an  und  für  sich  Lachen  erregen  und 
zu  welchen  in  Paris  namentlich  der  betrogene  Ehemann  gehört. 
Nach  französischer  Weise  den  Hahnrei  in  allen  seinen  Ent- 
wikelungsphasen  als  einen  unverfänglichen  Gegenstand  betrach- 
tend, muss  man  eine  grosse  Menge  der  ßeranger'schen  Scherz- 
gesänffe  für  harmlos  erklären ;  doch  sind  auch  nach  den  stren- 
oereu  deutschen    Begriffen     viele    seiner   humoristischen   Lieder 


B  ^  r  a  n  g  e  r  und   seine   Lieder. 

durchaus  unver werflicli . 
oft  so  boshaft  als  möglich,  und  müssen  wir  Ausländer  nicht 
selten  über  die  Rücksichtslosigkeit  staunen,  mit  welcher  er  ehr- 
würdige, hohe  und  höchste  Personen  tractirt;  freilich  iet  auch 
hier  dem  lächerlichen  und  erniedrigenden  Etl'ccte  nie  die  gute 
Form  und  französische  Anständigkeit  des  Ausdrucks  geopfert. 
Durch  den  ganzen  Kreis,  vom  feierlichen  und  erhabenen  Ernste 
durch  den  harmlosen  Humor,  die  feine,  schärfere  und  beissende 
Satire  bis  wieder  zum  unwilligen  Ernste  zurück,  herrscht  die- 
selbe gute,  gewählte,  glatte  und  knappe  Sprache,  die  sich  von 
allem  dem  feinen  Geschmacke  Widrigen  frei  und  rein  bewahrt. 

Auf  seine  Lebenszeit  vertheilen  sich  Beranger's  Prodnc- 
tionen  der  Art,  dass  fast  alle  von  grösserer  Bedeutimg  zwischen 
sein  30.  und  50.  Lebensjahr  fallen,  und  unter  ihnen  liegen  die 
ernsteren  in  ül)erwiegender  Anzahl  in  der  letzten  Hälfte  seiner 
Dichterthätigkeit.  Dass  so  äusserst  wenige  Lieder  aus  seinem 
Jünglingsalter  veröffentlicht  worden  sind,  erklärt  sich  aus  des 
Dichters  scharfer  Selbstkritik  und  fortgesetzten  tiefen  Stil- 
studien. 

Nach  dieser  allgemeinen  Betrachtung  füglich  auf  das  Ein- 
zelne näher  eingehend,  führen  wir  des  anschaulicheren  Nach- 
weises willen  das  Hervorragende  und  für  ganze  Gruppen  Spre- 
chende nicht  nur  dem  Ldialte  nach,  sondern  theils  auch  in  eigener 
deutscher  L^ebertragung  vor.  Wir  beginnen  mit  den  ernstern 
Liedern. 

Die  Ueberzeugung  von  seinem  innern  Berufe  zum  Dichter 
und  zugleich  die  allgemeinen  Ziele  seiner  Muse  spricht  B6- 
ranger  auf  eine  sinnige  Weise  in  seinem  Geburtstagsliede,  am 
19.  August  1822  seinen  um  ihn  versammelten  Festgenossen  zu- 
erst vorgetragen,  aus.  Wir  meinen  das  halb  epische  Gedicht 
,,Le  Tailleur  et  la  F^e"  und  lassen  dasselbe  hier  folgen : 

In  dieser  Stadt  Paris,  voll  Gold  und  Jammer, 

Just  sieh/.ehnliuntlert  a{;htzig  seliriel)  man  da, 

Als  auf  des  Aeltervafers  JScIineidorkanimer 

Mir,  neu  geltorui'U)  Kinde,  diess  jresclinli  : 

Auf  einen  Orpheus  deuteten  die  Loose 

An  meiner  Wiege  nicht,  die  ann  und   kleiji  ; 

Doch  fand  der  Schneider,  kommend  auf  mein  Schrein, 


Beranger    und  seine  Lieder. 

Mich  einst  in  eines  Feeenweibes  Schoosse. 
Und  diese  Fee,  mit  Liedern  voller  Lust, 
Beschwor  den  ersten  Schmerz  in  meiner  Brust. 


Der  Greis  fragt  sie  mit  ängstlichen  Manieren: 
„Was  zeiget  das  Geschick  dem  Kinde  an?" 
„„Sieh'  ihn,  sprach  sie,  bei  meines  Stabes  Rühren, 
Als  Kellner,  Buche idrucker,  Actenmann. 
Ein  Blitz  soll  diesen  Wahlspruch  so  ergänzen : 
Es  wird  Dein  Sohn,  getroflf'en,  untergehn ; 
Doch  siehst  Du  neu  als  Vogel  ihn  erstehn 
Und  singend  steigen  zu  der  Lüfte  Grenzen."" 
Sodann  beschwor,  mit  Liedern  voller  Lust, 
Die  Fee  den  ersten  Schmerz  in  meiner  Brust. 

„„Die  Leier  wird  in  seiner  Hand  erwachen 
Bei  jeder  Lust,  die  froher  Jugend  Theil. 
Des  Armen  Hütte  wird  er  heiter  machen. 
Dem  Reichen  scheuchen  seine  Langeweil'. 
Doch  welches  Schauspiel  trübet  seine  Lieder?! 
Es  ist  des  Ruhm's,  der  Freiheit  Untergang! 
Dem  Schiffer  gleich,  erzählt  er  im  Gesang, 
Zum  Hafen  kehrend,  ihren  SchißPbruch  wieder."" 
Sodann  beschwor,  mit  Liedern  voller  Lust, 
Die  Fee  den  ersten  Schmerz  in  meiner  Brust. 

Der  alte  Schneider  ruft:  „Was  soll  das  heissen? 
Wird  dieser  Junge  nur  ein  Verseschraied  ? 
Viel  besser  führte  er  das  Bügeleisen, 
Als,  wie  ein  Echo,  sich  zu  singen  müd'." 
„„Bah!  sagt  die  Fee,  ganz  irrig  ist  Dein  Wähnen: 
Viel  bess're  Köpfe  erndten  Schlecht'res  ein ; 
Sein  leichter  Sang  wird  Frankreich's  Freude  sein 
Und  lindern  des  Verbannten  heisse  Thränen."" 
Sodann  beschwor,  mit  Liedern  voller  Lust, 
Die  Fee  den  ersten  Schmerz  in  meiner  Brust. 


Als  gestern.  Freunde,  schwach  und  trüb  ich  sitze, 

Tritt  vor  mich  hin  die  schöne  Feengestalt. 

An  einer  Rose  pflückt  der  Finger  Spitze; 

Sie  spricht  zu  mir:  „Du  siehst,  Du  bist  schon  alt. 

Doch  wie  in  Wüsten  Luftgebilde  glänzen. 

Erfreut  Erinn'rung  oft  des  Lebens  Rest. 

Die  Freunde  machen  morgen  Dir  ein  Fest; 


Beranger  und  seine  Lieder.  135 

Sei  neu  denn  dort,  wie  einst  in  Deinen  Lenzen." 

Sodann  beschwor,  mit  Liedern  voller  Lust, 

Die  Fee,  wie  einst,  den  Schmerz  in  meiner  Brust. 

Dass  er  in  der  Poesie,  mit  deren  Pflege  er  eine  Lebensauf- 
gabe zu  erfüllen  überzeugt  ist,  auch  Befriedigung  und  Trost 
finde,  versichert  er  in  einem  früheren  (ledichte  .,Ma  Vocation," 
welches  zugleich  wieder  sein  entschiedenes  Dichterbewusstsein 
bekundet.     Die  Uebersetzung  ist  folgende: 

Ich  war  auf  diesem  Balle 
Gebrechlich,  hässlich,  schwach. 
Erstickte  fast  im  Schwalle, 
Weil  Länge  mir  gebrach. 
Mich  quälten  diese  Dinge 
Und  Klagen  fehlten  nicht : 
Sprach  Gott,  der  gute:  Singe, 
Singe,  Du  kleiner  Wicht. 

Des  Reichthums  prächt'ger  Wagen 
Hat  fahrend  mich  bespritzt ; 
Den  Hohn  hab'  ich  ertragen 
Dess,  der  die  Macht  besitzt; 
Ich  las,  dass  ich  geringe, 
In  seinem  Spottgesicht: 
Sprach  Gott,  der  gute :  Singe, 
Singe,  Du  kleiner  Wicht. 

Da  ungewisse  Stätte 
Und  Mangel  mich  erschreckt, 
Hab'  ich  des  Dienstes  Kette 
Den  Nacken  hingestreckt. 
Wohl  liebt'  ich  frei  die  Schwinge, 
Doch  nicht  der  Kost  Verzicht : 
Sprach  Gott,  der  gute :  Singe, 
Singe,  Du  kleiner  Wicht. 

Die  Liebe  Hess  mich  finden 
Wohl  Trost  in  meinem  Leid ; 
Doch  mit  der  Jugend  Schwinden 
Entfloh  sie  schnell  und  weit. 
Umsonst,  wenn  Amor's  Klinge 
Mir  nun  in's  Herze  sticht ; 
Doch  Gott  spricht  wieder:  Singe, 
Singe,  Du  kleiner  Wicht. 


13G  Beranger  und  seine  Lieder. 

Singen  ist  zur  Genüge 
Gewiss  mein  irdisch  Ziel. 
Die,  welclie  ich  vergnüge, 
Sie  lieben  auch  mein  Spiel. 
Wenn  im  Gesellschaflsringe 
Der  Wein  die  Sorgen  bricht 
Sagt  Gott,  der  gute:  Singe, 
Singe,  Du  kleiner  Wicht. 

Seinen  Standpunkt  als  Dicliter  für  das  Volk,  gegenüber 
den  Hohen  und  Grossen,  fixlrt  Beranger  in  dem  wahrscheinlich 
mit  dem  vorigen  gleichzeitigen  Liede,  das  ihm  die  mit  der  Ee- 
stauration  wieder  auftauchende  Aristokratie  abdrängte,  indem 
sie  ihn,  auf  sein  „de  Ber."  füssend,  gern  zu  sich  und,  versteht 
sich,  in  ihren  Dienst  herüberziehen  wollte.  Er  überschreibt 
dieses  Lied :  Le  Vilain ;  unsere  Uebersetzung  ist  die  nach- 
stehende : 

Was  denn?  ich  seh'  und  höre  Glossen 
Zum  Wörtlein  „von"  im  Namen  mein?  — 
Bist  du  aus  edlem  Blut  entsprossen?  — 
Ich  Ritter?  —  oh  Avahrhaftig  nein! 
Nein,  keinen  Adelsbrief,  geschrieben 
Auf  Eselshaut,  hab'  ich  im  Schrein ; 
Weiss  nur  mein  Vaterland  zu  lieben. 
Ich  bin  gemein  ,  und  sehr  gemein. 

Ich  bin  gemein. 

Gemein,  gemein. 

Warum  musst'  auch  das  „von"  ich  erben! 
Es  sagt  mir  deutlicli  doch  mein  Blut, 
Dass  meine  Väter  einst  Verderben 
Der  Macht  gewünscht  mit  kiihnem  Muth. 
Die  Macht,  auf  alter  Bahn  getrieben 
War  .sie  der  Mühle  Miihlenstcin ; 
Sie  waren's  Korn,  das  er  zerrieben. 
Ich  bin  gemein,  und  sehr  gemein. 

Ich  bin  gemein, 

Gemein,  gemein. 

Es  war  nie  meiner  Väter  Ringen, 
Dass  sie  die  Sclaven  frecih  geplagt ; 
Sie  haben  nie  mit  Adelskliugen 


Beranger  und  seine  LicMler.  137 

Im  Wald  das  Volk  in  Furcht  gejagt; 

Von  Langeweile  abgestosscn, 

Moclit'  Keiner  je  verwandelt  sein 

Zum   Kammerherrn  van  Karl  dem  Grossen. 

Ich  bin  gemein,  und  sehr  gemein. 

Ich  bin  gemein, 

Gemein,  gemein. 


Nie  haben  meine   wackern  Ahnen 
Dem  Bürgerkrieg  den  Arm  gelieh'n ; 
Nie  sah  man  sie  mit  England'«  Falinen 
Verrätherisch  nach  Frankreich  zich'n. 
Es  hat,  als  einst  den  Staat  getiieben 
Der  Kirche  Trug  zum  blossen  Schein, 
Die  Ligue  Keiner  unterschrieben 
Ich  bin  gemein,  und  sehr  gemein. 

Ich  bin  gemein, 

Gemein,  gemein. 

So  lasst  mich  denn  bei  meiner  Fahne ^ 
Ihr  Knopflochritter,  hochbenas't, 
Die  ihr,  in  eurem  Adolswahne 
Bei  jedem  Neuen  jauchzt  und  ras't. 
Ich  achte  Volk  von  niedci'm  Schlage, 
Denn  fiihleud  (mag  ich  boshaft  sein), 
Siug'  ich  filr's  Unglück,  ohne  Frage; 
Ich  bin  gemein,  und  sehr  gemein. 
Ich  bin  gemein, 


Dem  Volke  nur  will  er  angehören  und  wie  ihn  weder  Glanz 
noch  Keichthum  jemals  mit  Verlangen  erfüllt  und  zu  unehren- 
haften vSchritten  verleitet  haben,  so  auch  nicht  einmal  die  Jyiebe, 
welche  doch  sonst  nicht  nach  Kang  und  Kaste  fragt.  Das 
singt  er  in  „La  Fillc  du  Peujile"  seinem  iMiidchen  vor,  dessen 
Herz  und  Schönheit  njit  denen  einer  Herzogin  wetteifern  und 
das  zugleich  des  Frohsinns  voll  ist  bei  bescheidenen  Wünschen. 
Als  Zeugin  der  Treue  und  Wahrheit  der  Liebe,  aiuh  in  seinem 
Dichterstreben  bekundet  und  seine  stete  Richtschnur,  ruft  er  in 
„La  bonne  Vieille"  seine  junge  Geliebte  an,  wenn  sie  dereinst 
in  ihren  alten  Tagen  über  den  todten  Poeten  werde  befragt 
werden. 


138  B^ranger  und  seine  Lieder. 

Dass  sich  Beranger  in  dieser  Stellung  und  Richtung  seiner 
Poesie  einen  bedeutenden  Einfluss  auf  die  französische  Geschichte 
nach  der  Kaiserzeit  zugeschrieben,  beweis't  namentlich  sein 
Liederabschied  „Adieu,  Chansons,"  worin  er  sich  als  den  Vor- 
kämpfer zum  Umsturz  des  ersten  ßestaurationsthrones  darstellt, 
dessen  treffende  Pfeile  das  Volk  (in  seinen  Gesängen)  zum 
zweiten  Male  aufgelesen  und  in  den  Königsmantel  geschleudert 
habe.  In  der  schon  angezogenen  „La  bonne  Vieille"  wünscht 
er  auch,  dass  man  seiner  Liebe  zum  Vaterlande  gedenken  möge, 
dessen  Leiden  er  beweint  und  beweinen  gelehrt ,  dessen  Muth 
er  mit  Hoffnung  zu  beleben  gesucht  habe. 

In  der  That  ist  Beranger  nicht  nur  am  innigsten  und  zum 
höchsten  Fluge  begeistert  in  den  ernsten  Liedern,  die  Frank- 
reichs Grösse  (und  Fall)  zum  Gegenstande  haben ,  sondern 
auch  in  seinen  übrigen  andern  Charakters,  welche  ihn  nur  ent- 
fernt und  vorübergehend  auf  Frankreich  führen,  sind  die  Blicke 
auf  dasselbe  entweder  das  Schwungvollste  der  kleinen  Gemälde 
oder  führen  ihn  auf  die   glücklichsten  nachfolgenden  Gedanken. 

Wie  ein  Hymnus  klingt  sein  „Retour  en  Francer'  sein 
„Champ  d'Asile,"  sein  „Retour  dans  la  Patrie,-'  seine  „En- 
fants  de  la  France"  und  sein  „Exile"  sind  von  herzinnigem  Pa- 
thos wahrhaft  strotzende  Ergüsse  des  im  Gefühle  seines  Hei- 
mathlandes freudig-stolzen  Franzosen.  „Les  Tombeaux  de 
Juillet"  und  „Le  Quatorze  Juillet,"  Prachtgesänge  der  Freiheit, 
sind  zugleich  grossartige  Bilder  fi-anzösischer  Thatkraft,  in  der 
neuesten  Geschichte  bewiesen,  und  feiern  in  ein  paar  mächtigen 
Zügen  namentlich  den  Träger  des  kaiserlichen  Kriegsruhms 
(Dans  son  linceul  tiendraient  tous  vos  [der  Könige]  aiieux).  In 
ihm,  dem  Kaiser,  erkennt  Beranger  natürlich  den  Höhepunkt  von 
Frankreich's  Glanz  und  ihm  allein  gelten  einige  der  schönsten 
Ergüsse  des  Dichters.  „Le  Cinq  Mai"  ist  eine  wahrhafte  Apo- 
theose aus  dem  Munde  eines  alten  Kriegers ;  „Les  Souvenirs 
du  Peuple"  sind  eine  unvergleichlich  einfach-poetische  Schilde- 
rung des  allgemeinen  Kaiserrausches  ;  „Les  Deux  Grenadiers" 
eine  ergreifende  Darstellung  des  Gefühls  im  Heere  gegen  den 
fallenden  Helden  und  seine  französischen  Feinde  und  treulosen 
Freunde.  Wenn  hier  des  Dichters  Freiheitsgluth  mit  der  Ver- 
ehrung Napoleon's  schwer  vereinbar  scheint ,  so  muss    man  be- 


Bdranger  und  seine  Lieder.  139 

denken,  dass  ihn,  wie  jeden  Franzosen,   der  Euhm    vor   Allem 
fasst  und  ihm  jedwedes  Leid  versüssen  kann. 

Die  gemeinsame  Ueberschrift  „Frankreich's  Grösse  und 
Ruhm"  möchte  man  ebenso  über  eine  Anzahl  anderer  Gedichte 
setzen,  obschon  sie  nicht  immer  auf  diesen  Inhalt  hinweisende 
Titel  führen.  Zu  diesen  gehören  „Le  Feu  du  Prisonnier  " 
„Couplets  sur  la  Journ^e  de  Waterloo"  (Preis  in  der  Klage) 
„Le  Bon  Fran^ais"  (mit  scharfen  Seitenhieben  auf  das  Aus- 
land) und  die  beiden  hei-rlichen  Elegien  aus  dem  Munde  alter 
Soldaten  „Le  Vieux  Drapeau"  und  ,,Le  Vieux  Sergeant."  Von 
hierhergehörenden  eigentlichen  Kriegsliedern  hat  Beranger  nur 
eins  in  der  drängenden  Zeit  (1814)  geliefert,  ,.Les  Gaulois  et 
les  Francs,"  das  wir  in  der  Uebersetzung  mittheilen: 

Frisch!  frisch!  schliesst  die  Reih'n ! 

Frankreich's   schöne 

Starke  Söhne, 
Frisch  !  frisch  !  schliesst  die  Reih'n  ! 
Gallier,  Franken,  schlaget  d'rein! 

Folgend  Attila's  Gebot, 

Zieh'n  die  Schaaren 

Der  Barbaren 
Wieder  in  den  sichern  Tod, 
Der  auf  Galliens  Feldern  droht. 
Frisch !  frisch !  etc. 

Flink  verlassen  Zelt,  Morast 

Die  Kosaken, 

Ostiaken, 
Hoffend  —  wie  es  England  passt  — 
Hier  zu  hausen  im  Palast. 
Frisch  !  frisch !  etc. 

Und  der  Russ'  in  ew'gem  Frost, 

Wo  die  Ohren 

Ihm  erfroren, 
Müd'  des  Oels,  der  Eiohelnkost, 
Lechzt  nach  Weissbrod  hier  und  Most. 
Frisch  !  frisch  I  etc. 

Air  die  Weine,  aufbewahrt 
B^ür  die  Gäste, 


140  Beranger  und  seine  Lieder. 

Siegesfeste, 
Flössen  in  der  Sachsen  Bart  ?  ^ 

Sie,  für  uns're  Lust  gespart? 
Frisch!  frisch!  etc. 

Sicher  für  Kalmückenbint 

Uns're  Mädel 

Sind  zu  edel, 
Uns're  Frauen  viel  zu  gut; 
Sind  nur  für  Franzosenblut. 
Frisch  !  frisch !  etc. 

Was  die  Zeit  als  Maler  liess, 

Der  Geschichte 

Steinberichte 
Uns'res  Ruhms,  zertrümmert  dies  ?  ! 
Wie !  die  Preussen  in  Paris  ? ! 
Frisch !  frisch  !  etc. 

Gallierhelden,  Frankcnleu'n, 

Aller  Frieden, 

Der  hieuieden, 
Kehret  bald  nun  bei  euch  ein, 
Soll  der  Thaten  Lohn  euch  sein. 

Frisch !  frisch !  sehliesst  die  Reih'n  ! 

Frankreich's  schöne 

Starke  Söhne, 
Frisch  !  frisch !  sehliesst  die  Reih'n ! 
Gallier,  Franken,  schlaget  d'rein ! 

Die  P^rinnerungen  an  die  grossen  Zeiten  des  Vaterlandes 
niachen  den  sonst  dem  Auslände  so  abholden  Dichter  selbst  für 
fremde  gleiche  Bestrebungen  theilnahmsvoll  und  geben  ihm  seine 
Gesänge  auf  Griechenland  .,Le  Pigeon  messager,"  „Le  Voyage 
iniaginaire,"  ,.L'Oml)re  d'Anacreon-'  ein,  sowie  sein  Polenlied 
„Hätons-nons!"  und  vor  Allem  die  schöne,  episch -grossartige 
Elegie  „Poniatovvski,''  welche  wir  übersetzt  hierherstellen: 

Wie!  flieht  ihr,  deren  Ruhm  die  Welt  durchschollcn  ? 
Hat  das  Geschick  vor  Leipzig  sich  vertlian? 
Wie!  flieht  ihr?  ist's  des  F'lusses  dumpfes  Rollen, 
Das  Brückentrümmer  wälzt  auf  nasser  Bahn  ? 
Soldaten,  Pferde,  Waffen  wild  sich  mengen 


Beningi.'r  und   seine  Lieder. 

Den  Fliithen  hier;  die  Elster  fliesset  schwer. 

Sie  fliesset,  taub  den  schrillen  Schreckensklängen: 

„Nur  eine  Hand,  Franzosen,  reicht  mir  lier!'* 

.,Nur  eine  Hand!   —  Verflucht,  wer  sie  begehret! 

Fort!  fort!  —   Hier  stille  steh'n !  —  Für  wen?  und  wie? 

Für  einen  Held,  den  wild  der  Fluss  verzehret. 

Dreimal  verwundet,  für  Poniatowski. 

Was  hilft's!  man  flielit.     Der  Schrecken  macht  Karbaren. 

Sein  Hülfernf  rührt  keine  Herzen  mehr. 

Vom  Rosse  reisset  ihn  der  Strömung  Fahren : 

„Nur  eine  Hand,  Franzosen,  reicht  mir  her!*' 

Er  .»sinket  —  nein  —  er  kämpft  —  er  steiget  wieder. 

Ergreift  des  Pferdes  Mähnen  noch  einmal. 

„Ertrinkend  steiben!   —  ruft  er  — wenn  hernieder 

Vom  Ufer  blitzen  Feuerrohr  und  Stahl! 

Hieiher!  ihr  Brüder,  die  mein   Schwei'dt  gepriesen; 

Ich  liebe  euch!  mein  Blut  ist  euch  Gewähr! 

Ach,  könnt'  es  länger  noch  für  Frankreich  fliessen  ! 

Nur  eine  Hand,  Franzosen,  reicht  mir  her!" 

Kein  Retter  nahet!  —  und  die  Hand  im  Sinken 
Lässt  los  den  Halt.      „Leb'  wohl,  o  Polen,  Du!" 
Doch  noch  ein  Traum,  ein  Bild  wie  Himmelsblinken 
Lacht  seinem  Geist  aus  Gotteshöhen  zu : 
..Was  seh'  ich!  —  endlich  steigt  der  Aar,  der  weisse  — 
Fliegt  —  kämpft  —  und  Russenblut  träuft  um  ihn  her!  — 
Mein  Ohr  vernimmt  des  Siegsgesanges  Weise!  - — 
Nur  eine  Hand,  Franzosen,   reicht  mir  her!" 

Kein  Retter  kommt !    —   und  hin  ist  er.      Bald  ragen 

Der  Feinde  Zelte  aus  des  Ufers  Rohr.  — 

Sind  diese  Zeiten  nun  auch  fern  —  ein  Klagen 

Dringt  stets  aus  Wasscrtiefeu  noch  hervor. 

Und  kürzlich  noch   —  bei  Gott!  kein  eitles  Wähnen  — 

Scholl  himmelwärts  dasselbe  gell  und  her. 

Warum  der  Ruf,  den  Wolken  wiedertönen: 

„Nur  eine  Hand,  Franzosen,  reicht  mir  her!'" 

Er  ist  für's  Land  und  Volk  der  treuen  Polen, 
Die  sich  so  oft  im  Kampf  zu  »ms  geschaart. 
Es  schwimmt  in  Blut  vom  Kopf  bis  zu  den  Sohlen, 
In  Blut,  das  fliessend  seinen  Werlh  bewahrt. 
Wie  dieser  Held,  für  unser  Land  gefallen, 


142  B^ranger   und  seine  Lieder. 

Dess   Leib  die  Elster  spie,  kaum  kenntlich  mehr, 
Lässt  uns  ein  Volk  an's  Ohr  den  Wehruf  prallen: 
„Nur  eine  Hand,  Franzosen,  reicht  mir  her!" 

In  der  nachnapoleonischen  Zeit  und  unter  der  wachsenden 
Beschränkung  aller  freieren  Bewegung  durch  das  ruhmlose  neue 
Ivönigsthum  taucht  bei  dem  Dichter  mehr  und  mehr  wieder  die 
Begeisterung  für  die  republikanische  Freiheit  auf;  sein  Vater- 
landslied wird  wieder  reines  Freiheitslied  und  besingt  und  be- 
klagt entweder  den  über  dem  Schlachtenbraus  verlorenen  und 
vergessenen  Aufschwung  des  Geistes  der  neunziger  Jahre,  wie 
in  „La  Deesse,"  „Lafayette  en  Amerique,"  „Le  Tombeau  de 
Manuel;"  oder  er  sperrt  sich  mit  dem  Volke  gegen  die  rück- 
schreitende Gegenwart,  tröstet  sich  selbst  in  „Le  Malade"  und 
sagt  in  der  „Prediction  de  Nostradamus"  das  demüthigende  Ende 
der  Bedrücker  vorher.  Meistentheils  aber  wird  der  Ton  bei 
solchen  Productionen  sarkastisch,  und  sie  gehören  also  nicht  dem 
ernsten  Liede  an. 

Die  Innigkeit  der  Vaterlandsliebe  B^ranger's  führt  ihn  na- 
türlich zu  einem  ächt-französischen  Hasse  des  Auslandes,  das 
dem  Stolze  des  Franzosen  schliesslich  so  mächtigen  Abbruch 
that,  und  es  fehlt  daher  nicht  bei  ihm  an  zahlreichen  erniedri- 
genden Ausfällen,  die  freilich  seltener  geradezu  zum  Gegen- 
stande eines  Liedes  gemacht  sind  und  meist  nur  im  Vorbei- 
gehen seitab  gezielt  zu  sein  scheinen.  „Le  Violon  brise,"  „Le 
Prisonnier  de  Guerre"  und  viele  Gedichte  humoristischen  und 
satirischen  Tones  wimmeln  davon.  Als  Repräsentanten  dieser 
so  zu  sagen  negativen  Vaterlandsgesänge  führen  wir  das  schon 
erwähnte  Lied  „Le  Bon  Fran9ais"  an  und  theilen  wir  den 
„Chant  du  Cosaque"  in  der  Uebersetzung  mit,  dieses  seltene 
P^xemplar  eines  vom  Hasse  dictirten  begeisterten  Kriegsliedes 
für  den  Feind: 

Heran,  mein  Ross,  du  Liebling  des  Kosaken ! 
Fleug',  wenn  dem  Hörn  entdröhnet  das  Signal ! 
Geschwind  zum  Plündern,  kühn  den  Feind  zu  packen, 
Leih'  Flügel  du  dem  Tod  durch  meinen  Stahl. 
Der  Thaten  Preise  sollst  du  halb  erheben. 
Bis  dass  dir  Gold  an  Zaum  und  Sattel  blitzt. 


B^ranger   und   seine  Lieder.  143 

Schrei'  auf  vor  Sftolz !  mein  Renner,  mir  ergeben, 
Der  Vollmer  du  und  Könige  zertrittst. 

Der  Krieg  gab  deinen  Zügel  mir  zu  Willen; 
Europas  Wälle  wurden  Staub  und  Dunst. 
So  komm,   mit  Schätzen  meine  Hand  zu  füllen ; 
Komm,  ruhen  sollst  Du  in  dem  Land  der  Kunst. 
In  dem  RebcUenflnsse  Seine  trinke  Leben, 
Der  dich  gewaschen  als  du  Blut  geschwitzt. 
Schrei'  auf  etc. 

Als  einst  die  Fürsten,  Edle,  Kardinale 

Belagerte  der  arme  Untertlian, 

Schrie'n  sie  uns  zu:  Kommt,  gebet  uns  Befehle! 

Wir  werden  Sclave,  bleiben   wir  Tyrann. 

Ich  nahm  die  Lanze  —  Kreuz  und  Scepter  .schweben 

Voll  Demuth  bodenwärts,  wo  sie  erblitzt. 

Schrei'  auf  etc. 

Ein  riesiges  Gespenst  hab'  ich  gesehen ; 
Auf  unsrera  Heer  lag  seines  Auges  Brand. 
Es  schrie  herab :  Mein  Reich  wird  neu  erstehen ! 
Gen  Abend  wies  das  Beil  in  .seiner  Hand, 
Des  Hunnenkönigs  Schatten  war  es  eben. 
Sohn  Attila's  —  hab  ich  den  Speer  gespitzt. 
Schrei'  auf  etc. 

Air  dieser  Glanz,  der  Stolz  beim  Abendvolke, 
Air  dieses  Wissen,  d'rin  es  sorglos  spielt, 
Ersticken  sollen  sie  in  staub'ger  Wolke, 
Die  ringsumher  dein  Hufschlag  aufgewühlt. 
Vertilg'  in  deines  neuen  Laufes  Schweben. 
Gesetze,  Sitten,  Tempel,  Schlösser  itzt. 
Schrei'  auf  vor  Stolz!  mein  Renner,  mir  ergeben. 
Der  Völker  du  und  Könige  zertrittst. 

Nichts  Geringeres,  als  diese  ein  Jahrtausend  hinter  der 
Gegenwart  zurückliegende  Kohheit  genügt  dem  Dichter,  um  es 
dem  Feinde,  den  er  freilich  noch  nicht  gesehen,  zuzutrauen 
und  darin  seine  Motive  des  Handelns  zu  suchen.  Eine  ge- 
nauere Bekanntschaft  mit  dem  anerkannt  sanftmüthigen  An- 
wohner des  Don  jedoch  verschafft  diesem  sogar  eine  Mitglied- 
schaft in  der  „Sainte  Alliance  des    Peuples,"    welches   Gedicht 


144  Bäranger   und   seine  Lieder. 

überhaupt  den  nun  (1818)   eingetretenen  Ivespect  Be^ranger's  für 
die  Fremden  bekundet. 

Von  den  übrigen  nationalen  Liedern  vorläufig  absehend, 
die  ihrer  Richtung  nach  zwar  hierher  gehören  würden ,  ihres 
launigen  und  theilweise  lustigen  Tones  zufolge  aber  nicht,  zählen 
wir  noch  die  andern  Gesänge  Beranger's  hier  auf,  welche  sich 
durch  gleich  ernste  und  würdige  Stimmung  anreihen. 

Sie  behandeln  einander  ganz  fremde,  meist  schon  an  und 
für  sich  ergreifende  Vorwürfe  und  diese  fast  ohne  Ausnahme 
in  echtpoetischer  und  tief-wirksamer  Weise.  Zu  ihnen  rechnen 
wir  in  erster  lieihe  die  erschütternden  Trauerbilder  „Le  Vieux 
Caporal''  (Hinrichtung  eines  alten  ,  durch  verletztes  Ehrgefühl 
zur  Insubordination  getriebenen ,  Soldaten  der  Kaiserarmee) ; 
..Jacques"  (Der  Tod  als  letzter  Retter  des  Armen);  „Le  Vieux 
Vagabond"  (Resignation  des  Aufgegebenen);  „Le  Juif  Errant;" 
..r.a  Pauvre  Femme"  (Wechsel  des  Geschickes);  „Le  Suicide" 
(Eitelkeit  alles  Irdischen);  „Le  Prisonnier"  (Die  Hoffnung  als 
Trösterin);  „La  Nostalgie;"  „Jeanne-la- Rousse"  (Die  treue 
Gattin  und  Mutter)  und  das  schon  längst  durch  Bevorzugung 
bei  Mustersammlungen  ausgezeichnete  Lied  „Les  Hirondelles," 
welches  hier  übersetzt  folgen  mag: 

Ein  Krieger,  Sclav'  am  Mohrenstrande, 
Gebeugt  von  Fesselnlast  und  Müh'n, 
Spracli :  Willkomm  euch  im  Mittagslande, 
Ihr  Vögel,  die  den  Winter  flieli'n. 
Ihr  Schwalben,  denen  HofFnungsfrieden 
Selbst  folgte  in  der  Wüsten  Brand  — 
Gewiss  ans  Frankreich  erst  geschieden  — 
Erzählt  ihr  nichts  von  meinem  Heimathland? 


Drei  Jahre  bat  mit  Sehnsuchtsbeben 

Ich  um  ein  Angedenken  euch 

Vom  Thälchen,  wo  mein  stilles  Leben 

Verfloss,  in  Zukunftsträumen  reich. 

Wo  eines  Bächleins  Wellen  gehen 

Durch  Fliedergrün  im  Sonnenstrahl, 

Habt  uns're  Hütte  ihr  gesehen; 

Erzählt  ihr  nichts  von  meinem  stillen  Thal? 


ß^ranger  und  seine    Lieder. 

An  jenem  Dach  vielleicht  geboren, 
Wo  mir  der  Morgen  einst  getagf, 
Habt  ihr  die  Mutter,  leidverloren, 
In  ihrer  Liebe   Sclmierz  beklagt. 
Im  Sterben,  hört  in  eitlem  Wähnen 
Sie  nah'n  den  Fuss,  der  ferne  blieb    — 
Sie  horcht  —  dann  rinnen  ihre  Thränen. 
Erzählt  ihr  nichts  von  meiner  Mutter  Lieb'? 


Ist  meine  Schwester  schon  verbunden 

Dem  Liebsten?  Sah't  die  Burschen  ihr, 

Die  sich  zur  Hochzeit  eingefunden, 

Sie  feiern  durch  der  Lieder  Zier? 

Ur.d  meiner  Jugendzeit  Gefährten, 

Die  mir  gefolgt  zum  Schlachtonschwall, 

Wisst  ihr,  ob  alle  wiederkehrten  ? 

Erzählt  ihr  nichts  mir  von  den  Freunden  all'  ? 

Vielleicht,  dass  über  sie  die  Schritte 
Ein  Fremder  in  dem  Thale  kehrt; 
Dass  er  gebeut  in  meiner  Hütte; 
Den  Frieden  meiner  Schwester  stört. 
Für  mich  bleibt  keiner  Mutter  Flehen; 
Nur  Fesseln  harren  meiner  hier. 
Ihr  Schwalben,  die  mein  Land  gesehen, 
Erzählt  ihr  nichts  von  seinem  Falle  mir? 

In  zweiter  Reihe  ordnen  sich  hier  die  Lieder  ein,  welche 
man  nicht  ganz  unpassend  Lehrgedichte  nennen  möchte  und  die 
in  der  eigenthümlich  lebhaften  und  plastischen  Weise  Beran- 
ger's  irgend  eine  philosophische  Wahrheit  zur  Anschauung 
bringen  oder  illustriren.     Sie  sind : 

„Les  Quatre  Ages  Historiques"  (Phasen  der  Geschichte 
und  Richtungen  des  menschlichen  Geistes  im  Grossen);  „La 
Nature''  (Der  Friede  und  die  Freude  folgen  jedem  Schmerz  und 
Leide;  Liebe  und  Wein  bleiben  die  ewigen  Tröster);  „Les 
Rossignols"  (Nur  das  unbefangene  und  gute  Herz  ist  den  Reizen 
der  Natur  geöffnet);  „Les  Etoiles  qui  filenl"  (Wir  müssen  Alle 
davon,  ohne  Unterschied,  und  plötzlich);  „Lc  Temps"  (Die 
Welt  vergehet  mit  ihrer  Lust);  „Le  Bonheur,"  welches  wir  in 
der  deutschen  Uebertragung  hersetzen : 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXVH.  10 


146  Beranger   und   seine  Lieder. 

Seht  ihr  es  nicht?  seht  dort!  seht  dort! 
Seht  dort  das  Glück !  so  spricht  das  Hoffen. 
Monarch,  Vasall,  Bedienter,  Lord 
Von  P'erne  grüssen's  froh  betroffen. 
Das  st  das  Glück !  so  spricht  das  Hoffen. 
Geschwind!  geschwind!  und  eilig  fort! 
Das  wir  es  treffen,  dort  ja  dort. 
Ja  dort,  ja  dort ! 

Seht  ihr  es  nicht?  seht  dort!  seht  dort! 
Seht  dort  das  Glück  auf  grüner  Halde! 
Da  blüht  die  Schönheit  ewig  fort; 
Da  flieht,  die  Liobe  nicht  so  balde. 
Wie  glücklich  ist  man  doch  im  Walde! 
Geschwind !  geschwind  !  etc. 

Seht  ihr  es  nicht?  seht  dort!  seht  dort! 
Seht  dort  das  Glück  auf  Feld  und  Wiesen ! 
Man  schwelgt  in  Hülf  und  Füll'  auf  Mord; 
Kein  Kuss  wird  da  zurückgewiesen. 
Wie  schön  ist's  doch  auf  Feld  und  Wiesen  ! 
Geschwind!  geschwind!  etc. 


Seht  ihr  es  nicht?  seht  dort!  seht  dort! 
Seht  dort  das  Glück  im  Wechselhause! 
Es  ist  die  Lust  an  diesem  Ort, 
Dem  Goldesmarkt,  zu  reichem  Schmause. 
Wie  schön  ist's  doch  im  Wechselhause ! 
Geschwind!  geschwind!  etc. 

Seht  ihr  es  nicht?  seht  dort!  seht  dort! 
Seht  dort  das  Glück  im  Kriegesheere! 
Da  ist  der  Freude  rechter  Hort 
In  Waffenlärm  und  Waffenehre. 
Wie  schön  ist's  doch  im  Kriegesheere ! 
Geschwind  !  geschwind  !  etc. 

Seht  ihr  es  nicht?  seht  dort!  seht  dort! 
Seht  dort  das  Glück  auf  stolzem  Schiffe ! 
Sein  Wimpel  wallt  im  weiten  Port; 
Ihm  lächeln  Meere,  Inseln,  Riffe. 
Wie  glücklich  ist  man  doch  zu  Schiffe ! 
Geschwind!  geschwind!  etc. 


B^ranger  und  seine   Lieder. 

Seht  ihr  es  nicht  ?  seht  dort !  seht  dort ! 
Seht  dort  das  Gh'ick  im  schönen  Osten ! 
Da  schwingt  man  Säbel  bester  Sort' 
Frei  um  das  Haupt,  die  nimmer  rosten. 
Wie  glücklich  ist  man  doch  im  Osten ! 
Geschwind  !  geschwind !  etc. 


Seht  ihr  es  nicht  ?  seht  dort !  seht  dort ! 
Seht  dort  das  Glück  im  freien  Westen. 
Tm  blossen  Hemd,  am  Waldesbord, 
Spricht  man  zum  allgemeinen  Besten. 
Wie  glücklieh  ist  man  doch  im  Westeji ! 
Geschwind!  geschwind!  etc. 

Seht  ihr  es  nicht  ?  Seht  dort !  seht  dort ! 
^       Seht  dort  das  Glück   in  Wolkenkreisen !  — 
Doch  —  alt  und  müd'   —  bei  diesem  Wort 
Sagt  man :  Genug  mit  schlechten  Weisen. 
Wer  will,  mag  in  die  Wolken  reisen. 
Geschwind!  geschwind!  und  eilig  fort! 
Dass  ihr  es  trefiet  dort,  ja  dort, 
Ja  dort,  ja  dort ! 

Drittens  und  schliesslich  haben  wir  hier  eine  kleine  Anzahl 
von  Gedichten  zu  nennen,  welche  sich  unter  gar  keinen  gemein- 
samen Namen   oiingen  lassen. 

Es  sind  die  Lieder  „Souvenirs  d'Enfance"  und  „Passy" 
(Couplet),  Avelche  des  Dichters  Jugend  und  Alter  betreffen ;  die 
„Couplets  aux  Mauritiens"  (Gelegenheitsgedicht),  ein  Ausdruck 
seiner  Freude  über  französisches  Sinnen  und  Denken  auch  jen- 
seits des  Oceans;  das  Preislied  auf  Corinna  „L'Ange  exilt^;" 
das  dramatisch  getheilte  Lied  über  die  Heilkraft  der  Liebe 
..Le  Voyagem-;"  das  Klagelied  über  die  rücksichtslose  Ver- 
letzung des  Briefgeheimnisses  in  Frankreich  „Le  Cachet;"  das 
Klagelied  ,.Adieux  de  Marie  Stuart;'-  das  gleichfalls  elegische 
Winterabschiedslied  an  die  Vögel  „Les  Oiseaux;"  das  kleine 
Geschichtsbild  ,.Louis  XI."  und  die  Gelegenheitsgedichte 
„L'Ecrivain  public,", .Ma Lampe," „LeCommencementdeVoyagc," 
„Bouquet  a  une  Dame  ag^e  de  70  ans,"  „Chant  Fun(5raire," 
„Emile  Debraux,"  meist  Loblieder. 

10* 


148  B^ranger   und   seine  Lieder. 

Den  grösseren  und  bunteren  Kreis  der  heiteren  Muse  Be- 
ranger's  behalten  wir  uns  für  eine  spätere  kurze  Betrach- 
tung vor. 

Bremen. 

H.  Schmick. 


Was    ist    zu    thun, 

wenn  der  Unterricht    in  den    neuen  Sprachen 

in  Schulen,  welche  die  alten  Sprachen   nicht  pflegen, 
in  einen  organischen  Zusammenhang    kommen  soll? 


Es  ist  nicht  zu  leugnen ,  dass  der  deutsche  Sprachunter- 
richt, wie  er  gegenwärtig  in  den  bessern  Schulen  unsers  deut- 
schen Vaterlandes  in  die  Hand  genommen  wird,  eine  so  zweck- 
und  naturgemädse  Beurbcitimg  gefunden  hat,  wie  sie  ein  jeder, 
dem  Fortschritte  huldigender  Schulmann  nur  wünschen  kann. 

Wir  sind  nicht  bloss  über  die  Aufgabe  des  Muttersprach- 
unterrichtes in  den  höhern  Lehranstalten,  sondern  auch  in  der 
Volksschule  im  Klaren,  oder  können  es  doch  wenigstens  sein; 
wir  wissen,  welche  Ziele  auf  jeder  Stufe  des  Unterrichtes  zu 
verfolgen,  und  welche  Ziele  auf  jeder  Unterrichtsstufe  zu  er- 
streben und  welche  Wege  zu  deren  Erreichung  zu  betreten 
sind.  Ausserdem  fehlt  es  uns  nicht  an  vortrefflichen  Lehr- 
mitteln, welche  den  Schülern  in  die  Hände  gegeben  werden 
können ;  Avir  haben  Zeitschriften ,  so  wie  specielle  Anleitungen, 
aus  denen  zu  erfahren  ist,  wie  der  praktische  Schulmann  zu 
Werke  zu  gehen  hat,  wenn  sein  Unterricht  Nutzen  bringend, 
geistig  bildend  sein  soll. 

Diese  unverkennbaren  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  des 
deutschen  Sprachunterrichtes  sind  nicht  ohne  wohlthätigen  Einfluss 
auf  den  Unterricht  in  den  neuen ,  namentlich  in  der  französi- 
schen und  englischen  Sprache  geblieben.  Die  neuen  Sprachen 
haben  Bearbeiter  frofunden ,  welche  verstanden,  einen  naturjjfp- 
mässen,  vom  Leichten  zum  Schweren  fortschreitenden  Wejr  vor- 


150  Ueber   den    Unterricht 

zuzeiclincn  und  den  Lehrenden  und  Lernenden  die  Arbeit  zu 
erleichtern. 

Dessen  ungeachtet  scheint  es  mir,  als  ob  es  noch  Mancherlei 
zu  thun  gebe,  wenn,  was  doch  wohl  der  Fall  sein  sollte,  der 
gesammte  moderne  Sprachunterricht,  der  in  einer  Schule  Auf- 
nahme findet,  in  einen  organischen  Zusammenhang  konmien  soll. 

Nur  eine  sehr  geringe  Anzahl  der  Lehrer  der  neuen  Sprachen 
scheint  über  die  Aufgabe  des  gesammtcn  Sprachunterrichtes  in 
den  höhern  Lehranstalten  im  Klaren  zu  sein;  noch  weit  ge- 
ringer mag  die  Zahl  derer  sein,  welche  über  die  Aufgabe  des 
modernen  Sprachunterrichtes  in  den  niedern  Schulen  nachgedacht 
haben.  Selbst  wenn  ich  dies  nicht  in  Abrede  stelle,  so  kann 
ich  doch  mit  Recht  behaupten,  dass  noch  kein  strenger  An- 
schluss  der  Aufgabe  des  modernen  Sprachunterrichtes  in  den 
höhern  und  niedern  Lehranstalten  statt  findet. 

Gehen  wir  die  Lchrpläne  der  verschiedensten  Lehranstalten 
durch,  so  werden  wir  in  den  wenigsten  derselben  die  Aufgabe 
des  Unterrichtes  in  den  neuen  Sprachen  besprochen,  noch  viel 
weniger  eine  Einstimmigkeit  in  deren  Feststellung  finden.  In 
der  Regel  ist  dem  betrefi'enden  Lehrer  nur  der  Weg  ganz  im 
Allgemeinen  angedeutet;  es  wird  gesagt:  in  der  und  der  Gram- 
matik musst  Du  in  Deiner  Klasse  so  weit  kommen. 

Bedenken  Avir  mm,  wie  gross  die  Zahl  der  Sprachmeister 
und  Meisterinnen  Ist,  die  nie  ein  Wort  über  Pädagogik  u.  d.  g. 
gehört,  keinen  Blick  in  eine  Erziehungslehre  geworfen  hat ;  so 
darf  man  sich  wohl  nicht  wundern,  wenn  sie  die  Aufgabe  eigent- 
lich gar  nicht  kennen,  die  sie  lösen  sollen.  So  wie  die  Arbeiter 
in  einer  Fabrik  ihren  Obliegenheiten  nachkommen,  so  auch  diese 
Sprachmeister. 

Sind  wir  über  die  Aufgabe  des  Unterrichtes  im  Unklaren, 
so  werden  wir  es  auch  in  Bezug  auf  die  Ziele  sein,  die  auf 
den  verschiedensten  Unterrichtstufen  erreicht  werden  sollen; 
wir  werden  die  verschiedensten  Wege  zu  den  Zielen  einschlagen 
und  deshalb  der  verschiedensten  Lehrmittel  bedürfen. 

Ein  zweiter  Punkt ,  der  nach  meinem  Dafürhalten  fast 
noch  gar  keine  Berücksichtigung  gefunden  hat,  betrifft  das  In- 
einandergreifen des  Unterrichtes  in  den  verschiedenen  Sprachen. 
Soll  die  Schule  wirklich    nur   einer   guten    Fabrik    gleichen,    so 


i  n   d  e  n    n  e  II  e  II    S  p  1-  H  r  h  e  n.  151 

\vird  von  der  untersten  Stufe  bis  zur  höchsten  Alles  in  einander 
greifen  und  das  Eine  das  Andere  unterstützen  und  fördern 
müssen. 

Soll  der  Unterricht  einer  Anstalt  ein  organisches  Ganze 
bilden,  so  wird  jeder  Lehrzweig  als  ein  Glied  der  ganzen  Un- 
terrichtskette angesehen  und  nicht  als  ein  für  sich  bestehendes 
Ganze  betrachtet  werden  dürfen;  entweder  hat  der  eine  Lehr- 
zweig dem  andern  den  Boden  zu  bereiten,  oder  er  hat  den  andern 
zu  ergänzen,  zu  vervollständigen,  zu  unterstützen.  Aus  diesem 
Grunde  vei-langt  man  auch  mit  liecht,  dass  z.  B.  der  Ge- 
schichtsunterricht sich  an  den  geographischen  anschliesst  und 
dass  mit  diesem  wieder  der  naturwissenschaftliche  Unterricht  in 
Verbindung  tritt.  Dass  von  einem  derartigen  Anschluss  und  In- 
einandergreifen des  Sprachunterrichtes  noch  keine  liede  ist,  lässt 
sich  leicht  darthun ;  einige  wenige  Ausnahmen  hierin  mögen  sich 
da  oder  dort  vorfinden;  sicher  gehören  sie  aber  zu  den  Selten- 
heiten. Li  der  Eegel  wird  der  Unterricht  in  einer  fremden 
Sprache  als  ein  für  sich  bestehendes  Ganzes  angesehen ;  keine 
schliesst  sich  streng  an  die  andere  an  und  baut  auf  dem  ge- 
legten Grunde  fort.  Die  natürliche  Folge  hiervon  ist  nicht  nur 
eine  Zerrissenheit  im  Unterrichte,  sondern  der  Jugend  wird  das 
Erlernen  der  Sprachen  auch  uimöthiger  Weise  erschwert;  sie 
wird  in  ihren  Fortschritten  gehemmt,  ja  wohl  dadurch  mit 
Abneigung  gegen  den  Sprachunterricht  erfüllt.  Hierzu  kömmt 
fierner,  dass  die  Lehrer  der  verschiedenen  Sprachen,  nament- 
lich desjenigen,  der  nach  dem  Lehrer  der  Muttersprache 
auftritt,  in  Collision  kommen;  der  eine  wird  niederreissen,  Avas 
der  andere  aufgebaut  hat,  oder  er  wird  Dinge  verlangen,  welche 
der  Andere  nicht  befriedigen  konnte;  hierdurch  wird  gar  nicht 
selten  eine  Missstimmung  in  den  Lehrkörper  gebracht,  die  den 
Schülern  nicht  entgeht  und  sie  zur  Parteina'hme  veranlasst. 

Ein  dritter  Punkt,  der  wohl  ebenfalls  einer  Beachtung  werth 
ist,  betrifft  den  Uebergang  von  einer  schon  erlernten  fremden 
Sprache  zu  einer  zweiten  und  dritten. 

Werfen  wir  in  irgend  eine  Lehranstalt  einen  Blick,  wo 
nach  einer  neuen  schon  gelehrten  Sprache  eine  zweite  beginnt, 
eo  werden  wir  finden,  dass  in  der  Begel  diese  zweite  neue 
Sprache  eben  so    ABCmässig    begonnen  wird,   als    es   bei  der 


152  Ueber    den  Unterricht 

ersten  geschehen  niusste.  Man  nehme  die  Ollendorf  sehen,  Ro- 
bertsüu'schen,  Ahu-schen  u.  a.  Sprachlehren  zur  Hand  und  man 
wird  meine  Behauptung  bestätigt  finden.  Es  sind  mir  sogar 
Gymnasien  bekannt,  in  denen  die  Schüler,  welche  einen  Cor- 
nelius Nepos,  einen  Julius  Caesar  u.  d.  g.  gelesen  haben  und 
auf  dem  grammatischen  Boden  gar  nicht  fremd  sind  ,  den  fran- 
zösischen Srpachunterricht  mit  dem  Ahn'schen  ABCbüchlein  be- 
ginnen und  dasselbe  durchleiern  müssen.  Wer  darf  sich  dann 
wundern,  dass  Schülern  dieser  Classe  alle  Lust  und  Liebe  zum 
modernen  Sprachstudium  vergehen  muss;  die  guten  Leute  sollen 
auf  einmal  Wasser  trinken,  nachdem  sie  Jahre  lang  an  den 
Wein  gewöhnt  worden  sind.  Kann  unter  solchen  Umständen 
wohl  noch  ein  Mensch,  der  seinen  gesunden  Verstand  hat,  be- 
haupten, dass  die  Ursache  der  Abneigung  gegen  das  moderne 
Sprachstudium  in  der  Sprache  oder  in  der  Faulheit  der  Schüler 
u.  d.  g.  zu  suchen  sei? 

Ergibt  sich  aus  diesen  Andeutungen ,  dass  der  Unterricht 
in  den  Sprachen  noch  in  keinem  organischen  Zusammenhang 
steht,  so  mag  es  wohl  nicht  unzweckmässig  erscheinen,  wenn 
ich  versuche,  die  Frage  zu  beantworten: 

Was  ist  zu  thun,  wenn  der  Unterricht  in  den  neuen 
Sprachen,  in  Anstalten,  die  den  alten  keine  Berücksich- 
tigung schenken,  in  einen  organischen  Zusammenhang 
kommen  soll? 

Da  ich  im  Vorstehenden  die  Behauptung  aufgestellt  habe, 
dass  man  in  Betreff  der  Aufgabe  des  modernen  Sprachunter- 
richtes noch  nicht  so  im  Klaren  sei,  wie  es  erforderlich  ist ,  so 
will  ich  zuerst  diesen  Punkt  besprechen,  jedoch  nur  in  Bezug 
auf  Lehranstalten,  in  denen  keine  alte  Sprache  gelehrt  wird. 
Sollten  sich  die  Zeiten  in  München  noch  so  gestalten,  dass  ich 
als  Protestant  die  alten  Sprachen  lehren  darf,  so  werde  ich 
auch  diesen  meine  Aufmerksamkeit  zuwenden. 

Dass  das  Auswendiglernen  einer  Grammatik  und  das  Ein- 
prägen einer  tüchtigen  Anzahl  von  Wörtern,  als  Aufgabe  des 
Unterrichtes  zustellen  sei,  wird  Niemand  behaupten,  der  die 
Bestimmung  der  Schule  überhaupt  kennt;  selbst  die  zweckmäs- 


in    den   neuen   Si)ra che  n.  153 

sigste  Behandlung  der  Grammatik  wird  nm-  eine  sehr  einseitige 
Bildung  gewähren;  die  Grammatik  soll  nur  das  Mittel  zum 
richtigen  Verständniss  der  Sprache  sein,  daher  wir  wohl  auch 
letzteres  als  den  Zweck  des  Sprachstudiums  ansehen  und  als 
Aufgabe  des  modernen  Sprachunterrichtes  die  Befähigung  des 
Schülers,  sich  mit  der  Denk-  und  Handlungsweise  fremder  Is'a- 
tionen  bekannt  zu  machen  un<l  mit  denselben  in  mündlichen 
mul  schriftlichen  Verkehr  zu  treten,  gelten  lassen  werden. 

Ich  weiss  sehr  wohl,  dass  man  auch  von  dem  Einführen 
in  die  Literatur,  Literaturgeschichte  u.  d.  g.  redet,  allein  ich 
weiss  auch,  was  man  in  einer  Schule  leisten  kann ,  und  dass 
man  schon  zufrieden  sein  muss,  wenn  die  Schüler  nur  eine  An- 
zahl guter  Musterstücke  gelesen  haben. 

Bis  zu  welchem  (Jrade  die  Befähigung,  sich  mit  dem  Na- 
tionalgeiste eines  fremden  Volkes  bekannt  zu  machen,  gefördert 
werden  kann,  das  hängt  von  der  Zeit  ab,  welche  dem  Sprach- 
studium gewidmet  werden  kann.  Die  Mehrzahl  der,  Lernenden 
wird  schon  zufrieden  sein,  wenn  sie  nur  so  weit  kömmt,  dass 
sie  sich  mündlich  und  schriftlich  über  die  gewöhnlichsten  Le- 
bensverhältnisse leidlich  zu  verständigen  mag.  Eine  zweite 
Klasse  wird  über  das  Alltagsleben  hinaus  gehen  *und  sich  dem 
Geiste  der  fremden  Nation  entsprechend  mündlich  und  schrift- 
lich ausdrücken  lernen  wollen.  Die  letzte  Klasse  werden  end- 
lich diejenigen  bilden,  a^ eiche  wirklich  in  die  I^iteratur  einer 
fremden  Nation  einzudringen  wünschen.  Ob  die  Schule  wirk- 
lich dazu  Gelegenheit  geben  kann,    will  ich    nicht    entsclieiden. 

Kann  die  oben  gestellte  Aufgabe  des  modernen  Sprach- 
unterrichtes keine  andere  sein,  als  die  bezeichnete,  ko  werden 
wir  doch  zwei  Ziele  erst  zu  erreichen  streben  müssen ,  bevor 
die  volle  Aufgabe  gelöst  werden  kann,  wenn  wir  den  Bedürf- 
nissen der  Zeit  entsprechen  wollen.  Das  erste  Ziel  wird  sein, 
den  Schüler  so  weit  zu  führen,  dass  er  im  Stande  ist,  sich  münd- 
lich und  schriftlich  über  die  gewöhnlichsten  Lebensverhältnisse 
auszudrücken,  und  das  zweite  Ziel  wird  sein ,  den  Schüler  zu 
befähigen,  sich  dem  Geiste  der  betreffenden  Nation  entsprechend 
mündlich  und   schriftlich  auszudrücken. 


154  Uebfir   den   Unterricht 

Wer  das  erste  Ziel  erreichen  will,  dem  wird  zunächst  zu 
einer  tüchtiy;eu  Keuntniss  vun  Wörtern  verh(jllen  werden  müssen, 
die  im  Alltagsleben  vorkommen  und  also  vorzugsweise  die  sinn- 
liche Welt  betreften  ;  ausserdem  wird  er  aber  auch  die  wesent- 
lichsten Sprachfornien,  welche  im  einfachen  und  zusammenge- 
setzten Satze  vorkommen,  kennen  und  richtig  anwenden  lernen 
müssen;  endlich  wird  er  auch  eine  gewisse  Fertigkeit  im  rich- 
tigen Fragen  und  Antworten  zu  erlangen  haben. 

Derjenige,  welcher  höher  strebt,  wird  die  eben  bezeichneten 
Kenntnisse  und  Fertigkeiten  nicht  entbehren  köimen  und  folg- 
lich mit  der  erst  genannten  Klasse  von  Lernenden  denselben 
Weg  zu  verfolgen  haben;  hierauf  wird  er  aber  auch  in  ein  hö- 
heres, grammatisches  Studium  eingeführt  und  zum  Lesen  guter 
Musterstücke  veranlasst  werden  müse^en. 

Diejenigen  endlich ,  welche  in  die  Iviteratur  der  fremden 
Nationen  gründlich  eindringen  wollen,  werden  wieder  die  Kennt- 
nisse und  Fertigkeiten  erlangt  haben  müssen ,  welche  zuletzt 
genannt  worden  sind. 

Aus  dem  Vorstehenden  folgt,  dass  die  bezeichneten  Ziele 
zur  Lösung  der  Sprachaufgabe  stufenmässig  fuhren,  dass  sie 
in  der  engsten  Verbindung  stehen  und  keins  ohne  Nachtheil  für 
das  andere  übersprungen  werden  kann;  folglich  der  Unterricht 
ein  zusammenhängendes  Ganze  für  sich  bildet. 

Soll  nun  aber  auch  der  Unterricht  in  einer  fremden  Sprache 
mit  dem  übrigen  Sprachunterrichte  in  einen  organischen  Zu- 
sammenhang gebracht  werden ;  so  frngt  es  sich,  welche  fremde 
Sprache  die  nächste  Stelle  nach  der  deutschen  einnehmen  und 
welche  auf  diese  folgen  soll,  indem  die  Sprache,  welche  nächst 
der  Muttersprache  erlernt  werden  soll,  sich  viel  enger  an  letztere 
anschliessen  rauss,  als  die  andern  und  ausserdem  auch  ein  weit 
elementarer  Weg  zu  betreten  ist,  als  bei  den  nachfolgenden. 
Dr.  Ilauschild  räumt  der  englischen  Sprache  die  nächste  Stelle 
nach  der  Mutters]»rache  ein,  weil  sie  wenig  Formen  habe  ,  ein 
grosser  Theil  der  Wörter  deutschen  Ursprunges  sei,  und  sich 
fbglich  leichter  erlernen  lasse.  Ich  dagegen  bin  der  Ansicht,  dass 
da,  wo  die  italienische  Sprache  gelehrt  wird,  diese  nächst  der 
Muttersprache  auftreten  sollte  und  zwar  aus  ganz  entgegenge- 
setzten Gründen,  als  die  von  Herrn  Dr.  Hauschild  angeführten, 


in    den   neuen   Sprachen.  155 

nämlich  wegen  ihres  Fonnenreichthums  und  der  grossen  Ver- 
wandtschaft mit  der  französischen.  Dazu  kömmt,  dass  die 
Schüler,  welche  noch  zum  Studiiuu  der  lateinischen  S{)rache 
sollten  übergehen  Avollen,  durch  das  Studium  der  italienischen 
Sprache  nicht  nur  im  Besitze  einer  grosser  Kenntniss  lateini- 
scher Wörter  sind,  sondern  aucli  leicht  zu  vielen  lateinischen 
Sprachformen  übergeführt  werden  können. 

Mögen  wir  die  Sache  ansehen,  wie  w  ir  wollen ;  niögen  wir 
unsre  Ansichten  mit  den  schlagendsten  Gründen  unterstützen, 
so  werden  wir  doch  immer  nur  eine  geringe  Partei  für  uns 
gewinnen,  und  zwar  eine  Partei,  die  bich  durch  lokale  Ver- 
hältnisse und  Bedürfnisse  bestimmen  lässt,  auf  unsre  Seite  zu 
treten,  oder,  was  auch  der  Fall  sein  kann ,  weil  sie  die  eine 
Sprache  kennt  und  die  andere  nicht. 

So  lange  die  Mehrzahl  der  Deutschen  französisch  spricht 
und  schreibt;  so  lange  wir  so  halb  und  halb  unter  französischem 
Coramando  stehen,  so  lange  wird  es  heissen:  „Die  französische 
Sprache  muss  nächst  der  Muttersprache  auftreten."-  JMit  allem 
gelehrten  Apparate  die  Wichtigkeit  des  französischen  S[)rach- 
studiums  darthun,  ist  eben  so  überflüssig,  als  wenn  Herr  Dr. 
Hauschild  und  ich  für  unsre  Ansichten  auf  dem  Disputirplatze 
auftreten  wollten.  Usus  est  tyrannus  heisst  es,  und  diesem 
Tyrannen  muss  man  sich  unterthänigst  unterwerfen ;  gegen 
den  Volks -Willen  lässt  sich  selbst  in  der  Schule  nichts  aus- 
richten. 

Hieraus  ergibt  sich,  dass,  wenn  wur  Einheit  in  den  Sprach- 
unterricht bringen  wollen,  wir  dem  französischen  Sprachunter- 
richte die  erste  Stelle  nach  dem  Muttersprachunterrichte  ein- 
räumen müssen,  sofern  wir  nicht  Sonderinteressen,  sondern  das 
Interesse  des  deutschen  Schulwesens  überhaupt  verfolgen 
wollen. 

Wird  dem  französischen  Sprachunterrichte  die  genannte 
Stelle  eingeräumt,  so  dürfen  wir  ihm  doch  nicht  gestatten,  eine 
unabhängige  Rolle  zu  spielen,  sondern  wir  müssen  ihn  unsrer 
Muttersprache  unterwerfen  und  ihm  nicht  mehr  gestatten  dürfen, 
als  einem  Gliede  der  ganzen  Sprachkette  zukömmt;  er  wird  also 
auf  dem,  durch  den  Unterricht  in  der  Muttersprache  gelegten 
Grunde  auftreten  und  fortbauen  müssen,  wie  dieser  vorschreibt; 


156  Ueber  den  Unterricht 

ja  er  wird  selbst  zur  Förderung  gründlicher  Kenntniss  der 
Muttersprache  beitragen  müssen;  besitzt  dann  der  Lehrer  auch 
noch  etwas  deutschen  Patriotismus ,  so  wird  er  auch  oft  Ge- 
legenheit finden,  den  Schüler  die  Vorzüge  der  Muttersprache 
vor  der  französischen  fühlen  zu  lassen  und  also  dazu  beitragen, 
dass  der  Schüler  seine  Muttersprache  nicht  der  gallischen 
nachsetzt. 

Will  ich  nun  nachweisen,  was  in  dieser  Hinsicht  zu  tliun 
ist,  so  Averde  ich  den  französischen  Sprachunterricht  von  der 
untersten  bis  zur  obersten  Stufe  verfolgen  und  darthun  müssen, 
wie  er  zu  betreiben  ist,  wenn  er  ein  für  sich  bestehendes  Ganze, 
aber  auch  ein  Glied  der  ganzen  Sprachkette  in  der  Schule  sein 
soll.  Ist  solches  nachgewiesen,  so  werde  ich  dann  erst  zu  den 
andern  fremden  Sprachen  übergehen. 

I.  Der    französische    Sprachunterricht. 

Nachdem  ich  oben  die  verschiedenen  Ziele  bezeichnet  habe, 
die  nach  und  nach  zu  verfolgen  sein  möchten,  zwischen  diesen 
Zielpunkten  aber  immer  wieder  Zwischenzielpunkte  zu  verfolgen 
sind,   so  will  ich  verschiedene  Spracheurse  hier  durchgehen. 

Erster   französischer    Sprachcursus. 

Ist  das  Sprachgefühl  des  deutschen  Schülers  durch  Sprach- 
übungen gebildet  worden,  w^elche  die  Sprachformen  des  einfachen 
und  zusammengesetzten  Satzes,  nicht  aber,  wie  der  so  genannte 
Anschauungsunterricht,  die  Anschauung  und  Begriffe  der  sinn- 
lichen Welt,  zur  liichtschnnr  nehmen  ;  ist  der  Sprachstoff  auch 
schrifthch  verarbeitet,  das  richtig  betonte  Lesen  geübt  worden; 
haben  wir  ferner  die  Schüler  die  Sprachformen  zerlegen  und 
die  Beziehungsverhältnisse  der  Begriffe  auf  einander  bezeichnen 
lassen,  und  zwar  auf  ganz  elementarem  M'^ege:  so  ist  der  Schüler 
befähigt  zur  Erlernung  der  französischen  Sprache  überzugehen, 
aber  nicht  eher. 

Da  der  Schüler  auf  dem  bezeichneten  Wege  nicht  nur  alle 
Kedetheile  kennen  lernte,  sondern  auch  mit  den  wesentlichsten 
Sprachformen  im  einfachen  und  zusammengesetzten  Satze  be- 
kannt gemacht  worden  ist;  so  ergibt  sich  hieraus,  dass  auf  der 
ersten  französischen  Sprachstufe  auch  nichts  anderes  in  Betracht 


in    den   neuen  Sprachen.  157 

gezogen  werden  sollte,  und  dass  nicht  einmal  das  Verb  in  allen 
seinen  Zeitformen  berücksichtigt  werden  kann ,  wenn  wir  der 
Jugend  nicht  zu  viel  zumuthen  wollen. 

Der  Weg,  welcher  zur  Erreichung  dieses  Zieles  einzu- 
schlagen ist,  lässt  sich  ohne  grosse  Calculationen  finden  ,  denn 
ein  guter  deutscher  Sprachunterricht  hat  ihn  vorgezeichnet. 
Derselbe  begann  mit  dem  einfachen,  engen  Satze,  ging  zum  er- 
weiterten über  und  schloss  mit  dem  zusammengezogenen  und 
zusammengesetzten  Satze.  Da  nun  derjenige,  welcher  einen  ein- 
fachen engen  Satz  bilden  will,  einen  Gegenstand  haben  muss, 
von  dem  er  Etwas  aussagen  kann,  so  wird  er  zunächst  Namen 
der  Dinge,  d.  i.  Personen  oder  Sachen  kennen  müssen;  will  er 
ferner  aussagen,  wie  ein  Ding  ist,  was  es  thut  oder  was  es 
ist,  so  wird  er  Namen  der  iMgenschaften,  Thätigkeiten  und  all- 
gemeine Namen  der  Dinge  wissen  müssen.  Mit  den  Namen 
der  Dinge  lernt  der  Schüler  die  Geschlechtswörter,  die  Ge- 
schlechter und  die  Pluralform  der  Dingwörter  kennen.  Hieran 
werden  sich  am  natürlichsten  Sätze  anknüpfen  lassen,  welche 
aussagen,  was  das  Ding  ist.  Ohne  dem  Schüler  grosse  Schwie- 
rigkeiten zu  bereiten,  können  ferner  die  Pronoms  possessifs  und 
demonstratifs ,  an  die  Stelle  des  Artikel  treten ,  und  bei  der 
Pluralbildung  finden  die  Grundzahlwörter  ebenfalls  ihre  passende 
Stelle. 

Da  jedoch  mit  blossen  Substantiven  sich  kein  Satz  bilden 
lässt,  so  müssen  die  Hilfszeitwörter  etre  und  avoir  auftreten. 
Diese  Verben  sollten  jedoch  nicht  wie  blosse  Vocabeln  auswendig 
gelernt  werden,  sondern  es  sollte  der  Schüler  auch  finden,  wie 
die  verschiedenen  Zeitformen  gebildet  werden. 

Lernt  der  Schüler  von  dem  Dinge  aussagen,  wie  es  ist,  so 
wird  er  denn  auch  bald  das  Adjectif  als  Attribut  gebrauchen 
lernen  können.  Nun  kommen  Sätze  an  die  lieilie,  welche  aus- 
sagen, was  der  Gegenstand  thut  oder  in  welchem  Zustande  er 
sich  befindet.  In  diesen  Sätzen  lernt  der  Schüler  nicht  nur  das 
Verb  im  Infinitif  kennen;  sondern  auch  die  persönlichen  Für- 
wörter und  die  Bezeichnung  der  Personenbeziehujigen  auf  Jas 
Verb  in  der  Gegenwartsform. 

Da  der  Schüler  das  Adjectif  hat  brauchen  lernen,  so  werden 
wir  nun  das  Verb  in  der  Adjectif-  oder   l^artici[)ibrm    auftreten 


158  Ueber    den  Unterricht 

lassen  können;  fügen  wir  hierzu  noch  den  Imperatif;  so  sind 
dem  Schüler  alle  im  einfachen  engen  Satze  vorkommende 
Sprachformen  bekannt  und  wir  brauchen  nur  noch  die  fragende 
und  verneinende  Rede  zu  üben. 

In  dem  erweiterten  Satze  halten  wir  uns  zunächst  an  das 
Substantif  und  führen  es  als  Attribut,  Object  und  Adverbiale 
auf  und  der  Schüler  lernt  die  wesentlichsten  Prepositions  und 
Adverbes  kennen. 

Da  das  Pronom  personnel  der  Stellvertreter  des  Substantif 
ist,  so  schliesst  es  sich  am  natürlichsten  an  letzteres  an. 

Beginnen  wir  nun  eine  recapitulation  der  Adjectifs,  so 
finden  wir  hier  Gelegenheit,  den  Schüler  mit  der  Comparation 
der  Adjectifs  bekannt  zu  machen,  woran  dann  sich  die  übrigen 
Zahhvörter  anreihen. 

Mit  den  Pronoms  relatifs  gehen  wir  zum  zusammenge- 
setzten Satz  über,  in  welchem  der  Schüler  nur  noch  die  Con- 
junctionen  kennen  lernt.  Hier  angelangt,  steht  der  Schüler  am 
Schlüsse  des  ersten  Cursus ;  mehr  auf  dieser  Stufe  zu  bieten, 
ist  nicht  rathsam. 

Bevor  aber  der  Schüler  mit  den  Sprachformen  bekannt  ge- 
macht werden  kann,  wird  er  an  eine  richtige  Auffassung  der 
fremden  Laute,  so  wie  an  deren  richtige  Aussprache  gewöhnt 
werden  müssen.  Dem  Schüler  durch  ausführliche  Belehrungen 
über  die  Aussprache  zum  richtigen  Aussprechen  der  Laute  zu 
verhelfen,  ist  ein  vergebliches  Unternehmen  auf  dieser  Stufe, 
hier  kann  nicht  anders  geholfen  werden  als  durch  vieles  Vor- 
und  Nachsprechen  von  Wörtern,  in  denen  die  zu  erlernenden 
Laute  vorkommen  ;  die  gesprochenen  Wörter  müssen  dann  viel 
gelesen,  auswendig  gelernt  und  dictando  geschrieben  werden. 
Dieses  Sprechen,  Lesen  und  Schieiben  führt  zur  Lesefertig- 
keit, welche  so  ziemlich  erreicht  sein  sollte,  bevor  zur  Formen- 
kenntniss  übergegangen  wird.  Durch  ein  blosses  Vor-  und  Nach- 
sprechen wird  aber  auch  bei  vielen  Schülern  nicht  zum  Ziele 
zu  kommen  sein,  da  sie  Avohl  Ohren  haben,  aber  noch  nicht 
hören,  oder  ihren  Sprachwerkzeugen  die  erforderliche  Biegsam- 
keit abgeht.  Aus  diesem  Grunde  wird  es  nothwendig  sein,  die 
fremden  Laute  mit  den  deutschen  viel  vergleichen  zu  lassen, 
damit  das  Ohr  die  Unterschiede    der   Töne    erfassen   lernt ;    wo 


in    tlen    neuen   Sprachen.  159 

es  angellt,  sind  selbst  die  mundartlichen  Laute  mit  herbeizu- 
ziehen. Dass  ungeachtet  dieser  Uebiingen  die  Aussprache  noch 
vieles  zu  wünschen  übrig  lassen  wird,  ist  ausser  Zweifel  und 
der  beste  Lehrer  Avird  sie  nicht  auf  einmal  in's  Leben  rufen; 
daher  auch  in  der  Folge  derselben  immei-  die  nöthige  Sorgfalt 
zu   schenken  ist. 

In  Betreff  der  Sprachformen  ist  hier  noch  zu  bemerken, 
dass  die  Einübung  einer  jeden  neuen  Form  drei  verschiedene 
Uebungsaufgaben  erfordert,  als:  1.  Sätze  in  deutscher  und 
französischer  Sprache,  damit  der  Schüler  durch  Vergleiclumg 
mit  der  Muttersjirache  die  Form  selbst  finden  kann.  Hier  sind 
auch  verschiedene  Fragen  über  die  betreffenden  Satzglieder  zu 
geben,  damit,  wenn  die  betreffende  Form  gefunden  worden  ist, 
die  übrigen  Sätze  französisch  abgefragt  werden  können.     Z.  B. 

Der  Vater  lobt  die  Tochter.  Le  pere  loue  la  fille.  Com- 
ment  dit-on  en  fran^ais  der  Vater?  Der  Vater  se  dit  en  fran- 
(,'ais  le  pere.  Le  pere  que  peut-il  faire?  Que  fait-il?  11 
loue.  Qui  est-ce  que  le  p^re  loue?  —  Sind  alle  Sätze,  welche 
der  Schüler  natürlich  vor  sich  haben  muss,  abgefragt ;  ist  na- 
mentlich auf  eine  richtige  Aussprache  gesehen  worden,  so  werden 
die  Sätze  nun  mehrmals  gelesen,  zu  Hause  gut  auswendig  ge- 
lernt und  dann  in  der  Schule  dictando  geschrieben.  Anfangs 
dictirt  mau  sie  französisch  ,  späterhin  deutsch  und  der  Schüler 
corrigirt  sein  Dictat  nach  dem  Buche. 

Hierauf  folgen  zwei  Sätze  in  französischer  Sprache.  Bevor 
diese  durchgenommen  werden,  sind  alle  darin  vorkommenden, 
dem  Schüler  fremden  Wörter  zu  sprechen ;  dann  wird  das  Stück 
gelesen,  hierauf  jeder  Satz  zergliedert  und  der  Schüler  muss 
angeben,  wie  die  verschiedenen  Beziehungen  der  Satzglieder  auf 
einander  bezeichnet  worden  sind.  Sind  diese  Sätze  mündlich  ins 
Deutsche  übersetzt,  so  wird  eine  schriftliche  Uebersetzung  und 
zwar  in  richtiger,  deutscher  Wortstellung  geniacht,  damit  der 
Schüler  auch  in  seiner  Sprache  vorwärtsschreitet.  Drittens  folgen 
deutsche  Uebungsaufgaben,  an  denen  der  Schüler  beweisen  soll, 
ob  er  das  Gelernte  auch  anwenden  kann.  Die  uebersetzung 
corrigirt  der  Lehrer  an  der  Wandtafel ;  haben  die  Schüler  viele 
Fehler  gemacht,  so  müssen  sie  die  Arbeit  copiren ;  diese  Copie 
geht  dann  der  Lehrer  durch.     Ist  letzteres  geschehen,  so  wird 


160  ^  Ueber  den  Unterriclit 

die  Uebersetzung  auswendig  gelernt.  Sowohl  die  deutsche  als 
die  französische  Uebersetzung  wird  in  der  Schule  zurück  über- 
setzt; oder  der  Lehrer  dictirt  die  Sätze  deutsch  und  lässt  sie 
französisch  nachschreiben;  auch  kann  der  Lehrer  mit  den,  in 
den  Uebungsaufgaben  vorgekommenen  Wörtern  selbst  Sätze  bil- 
den und  sie  dictiren. 

Der  Stoff  zu  diesen  Aufgaben  ist  so  viel  wie  möglich  aus 
dem  Alltagsleben  zu  nehmen,  da  der  Schüler  sich  zunächst 
über  dieses  ausdrücken  lernen  will. 

Da  die  Fortschritte  der  Schüler  durch  Nichts  mehr  gehin- 
dert werden,  als  wenn  ein  und  und  derselbe  Gegenstand  oft 
auftritt  und  bis  zu  einem  bestimmten  Ziele  in  einem  Zuge  fort- 
gesetzt wird,  so  erachte  ich  es  für  zweckmässig,  das  Lesen  zu- 
sammenhängender Lesestücke  erst  dann  auftreten  zu  lassen, 
wenn  der  Schüler  die  wesentlichsten  Sprachformen  kennt.  Der 
Inhalt  dieser  Lesestücke  wird  ebenfalls  aus  dem  Alltagsleben 
zu  nehmen,  und  womöglich  in  einfachen  Sätzen  zu  geben  sein. 
eJedem  Lesestück  sind  Fragen  über  dasselbe  hi  französischer 
Sprache  beizufügen,  damit  der  Schüler  auf  ein  Abfragen  des 
Lesestückes  vorbereitet  werde.  Die  Antworten  hat  der  Schüler 
selbst  auf  die  Frage  zu  ertheilen.  Jedes  der  Lesestücke  ist 
aber  auch  zu  Wiederholungen  des  Gelernten  zu  benutzen;  da- 
her es  nicht  unzweckmässig  erscheinen  möchte,  wenn  Aufgaben 
beigefügt  würden,  die  der  Schüler  zu  lösen  hat. 

Sind  eine  massige  Anzahl  von  Lesestücken  mündlich  und 
schriftlich  verarbeitet  worden,  hat  der  Schüler  alle  auf  die 
Sprachformen  bezüglichen  Uebungen  durchgenommen  und  die 
Aufgaben  gut  gelernt,  so  kann  er  nun  zum 

Zweiten    französischen    Sprachcursus 

übergehen,  dessen  Aufgabe  keine  andere  sein  kann,  als  den 
Schüler  mit  Allem  bekannt  zu  machen,  was  sich  auf  die  Formen 
der  regelmässigen  und  der  unregelniässigen  Verben  bezieht; 
ausserdem  ist  aber  auch  die  Wortbildung  und  die  Wortbedeutung, 
das  onomatische  oder  lexiaklische  Element,  in  Betracht  zu  ziehen. 
Auch  hier  wird  eine  jede  Sprachform  die  oben  beschrie- 
benen   drei    Uebungen    verlangen ,    daher    auch    hier    Sätze    in 


in  den  neuen   Sprachen.  161 

deutscher  und  französischer,  dann  blos  in  französischer  und 
endlich    blos    in    deutscher   Sprache    gegeben    werden    müssen. 

Die  Infinitiv  form,  das  Präsent  und  die  Participes  hat  der 
Schüler  auf  der  vorigen  Stufe  kennen  gelernt,  daher  sie  hier 
zu  repetiren  und  dann  zum  passe  defini  überzugehen  ist.  Von 
diesen  Grundformen  werden  nun  nach  und  nach  die  andern 
Zeitformen  abgeleitet  und  eingeübt.  Ist  dieses  geschehen,  so 
wird  es  nicht  unzweckmässig  sein,  wenn  nun  noch  eine  Samm- 
lung von  Sätzen  in  französischer  Sprache  folgen,  die  zu  öftern 
Wiederholungen  benutzt  werden  können.  In  allen  diesen  Sätzen 
ist  das  Verb  in  den  Infinitif  zu  stellen,  und  durch  die  Pronoms 
zu  bezeichnen,  welche  Person  der  Schüler  in  einer  bestimmten 
Zeitform  bilden  soll.  Letzteres  wird  ganz  besonders  in  Betreff 
der  unregelmässigen  Verben  noth wendig  sein. 

Neben  diesen  rein  formalen  Uebungen  geht  das  Lesen  und 
Uebersetzen  passender  Lesestücke  her  und  zwar  so,  dass  immer 
die  o-elernte  Form  in  Anwendung  kommen  muss.  Dies  wird 
möghch  sein,  wenn  nach  jedem  Lesestücke,  wie  im  ersten  Cur- 
sus,  Fragen,  jedoch  in  deutscher  Sprache,  gegeben  und  diese 
immer  in  die  einzuübenden  Zeitformen  gestellt  Averdcn.  Auf 
diese  Fragen  werden  endlich  onoraatische  oder  lexikalische 
Uebungen  folgen  müssen,  jedoch  in  der  Ordnung,  dass  der 
Schüler  zunächst  mit  der  Wortbildung  und  der  Wortbedeutung 
vertraut  wird,  zuletzt  können  ganze  Wörterfamilien  in  guten 
Beispielen  vorgeführt  werden.  Auch  diese  Sätze  können  zur 
Einübung  der  Verben  sehr  gut  benutzt  werden. 

Die  Wortbildung  beginne  ich  mit  den  zusammengesetzten 
Verben,  wie: 

Voir;  pr^voir  les  evenements ;  revoir  sa  patrie;  revoir 
un  manuscrit:  h  revoir.  —  Lever:  lever  les  mains  au  ciel; 
relever  une  statue  qui  est  renvers^e;  se  relever  d'une  grande 
maladie.  Courir:  accourir  en  grande  häte;  accourir  pour  f(j- 
liciter  de  son  succ^s;  concourir  au  bien  pubUc;  concourir  pour 
le  prix  de  peinture;  parcourir  la  carriere  en  cinq   minutes   etc. 

Dem  Schüler  wird  nur  die  Bedeutung  des  Grundwortes 
gegeben,  die  Nebenbedeutungen  muss  er  selbst  finden. 

Von  den  Verben  gehe  ich   zu    den    Substantif- ,   Adjectif-, 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXVU.  1 1 


162  lieber  den   Unterricht 

Verb-  und  Adverbableitungen  über  und  schliesse  mit  ganzen 
Wörterfamilien.    Z.  B. 

Pos  er.  Je  trouvai  une  jeune  servante  qui  avait  pose  ea 
cruche  sur  la  derniere  marche  de  l'escalier.  Qui  p  o  s  a  les  livres 
dans  la  bibliotheque.  Des  bataillons  entiers  poserent  les 
armes.  Dans  une  discussion,  le  plus  important  est  de  savoir 
poser  la  question.  Posons  que  cela  sert.  Comme  une  aigle 
qu'on  voit  toujours,  soit  qu'elle  vole  au  milieu  des  airs,  soit 
qu'elle  se  pose  sur  le  haut  de  quelque  rocher,  porte  de  tous  cotös 
ses  regards  per9ants.  La  pose  de  grandes  pierres  est  quelque 
fois  fort  difficile.  Cette  question  ne  parait  difficile  ä  resoudre 
que  parce  qu'elle  est  mal  posee.  Pr^ferez  l'habitude  de  parier 
aussi  pos^ment  que  l'on  ecrit,  h  celle  d'^crire  aussi  vile  que 
l'on  parle.  On  nous  a  donn^  cela  pour  une  chose  positive. 
Ce  tableau  offre  des  beautes  positives.  Ce  jeune  homme  a 
des  connaissances  positives.  Cette  ville  est  dans  une  posi- 
tion  agreable.  Je  voudrais  bien  etre  en  position  de  vous 
rendre  le  service  que  vous  me  demandez.  Dieu.  en  creant  le 
monde  a  dispos^  toutes  choses  dans  cet  ordre  admirable  oü 
nous  les  voyons.  Avez-vous  dispos^  votre  salle  pour  le  bal? 
Dieu  en  disposera  peut-etre  autrement.  II  dispose  de  tous 
les  emplois  civiles  et  militaires.  11  se  disposait  h,  venir  lui- 
meme  h  la  tete  d'une  puissante  armee.  Tout  se  dispose  pour 
recevoir  Monsieur  le  Duc.  Tout  etait  dispos^  pour  une  re- 
volution.  Les  danseurs  de  corde  dolvent  etre  dispos.  J'ai 
Cent  francs  disponibles  pour  teile  chose. 

Nachdem  alle  die  genannten  Uebungen  durchgenommen 
worden  sind ,  wird  der  Schüler  nicht  nur  alle  Sprachformen 
kennen  und  anwenden  können,  sondern  er  wird  auch  im  Be- 
sitze einer  tüchtigen  Wortkenntnis s  sein ;  daher  nun  der 

Dritte    französische    Sprachcursus 

beginnen  kann,  welcher  nicht  blos  die  beiden  ersten  Curse  zu 
recapituliren,  sondern  auch  zu  ergänzen  hat.  Aus  diesem  Grunde 
wird  nun  die  Biegungslehre,  sowie  auch  die  Laut-,  Silben-,  Wort- 
und  Satzlehre  durchzunehmen  sein,  jedoch  in  der  Ordnung,  dass 
ein  Redetheil  nach  dem  andern,  sowohl  in  formeller  als  in 
syntaktischer  Hinsicht  vorgeführt  wird. 


i'n  den  neuen   Sprachen.  163 

Da  der  Schüler  vielfach  im  Fragen  und  Antworten  geübt 
worden  ist,  so  wird  er  nun  auch  zum  Verständniss  eines  Lehr- 
gespräches befähigt  sein,  wozu  die  Grammatik  den  besten  Stoff 
bietet.  Da  jedoch  die  grammatische  Sprache  dem  Schüler  noch 
fremd  ist,  so  erscheint  es  mir  zweckmässig,  ihm  die  Sprach- 
lehre in  deutscher  und  in  französischer  Sprache  zu  geben,  da- 
mit er  sich  auf  den  Unterricht  vorbereiten  kann ,  welchen  der 
Lehrer  nun  in  französischer  Sprache  zu  ertheilen  hat. 

Will  der  Lehrer  mit  seinen  Schülern  Lehrgespräche  über 
die  Grammatik  anstellen,  so  ist  die  Kunst  im  richtigen  Fragen 
so  wie  im  Entwickeln  der  Begriffe  nicht  zu  entbehren.  Da  diese 
Kunst  vielen  Lehrern  ganz  fremd  ist,  so  habe  Ich  dieselbe  so 
weit  bearbeitet,  als  sie  ein  Sprachlehrer  braucht  imd  sie  unter 
dem  Titel:  die  Kunst  zu  fragen  und  Begriffe  zu  ent- 
wickeln, zu  Freysing,  bei  Datterer  herausgegeben. 

Die  oben  genannte  Grammatik  würde  in  zwei  Theile  zu 
scheiden  sein ;  der  eine  Theil  hätte  die  eigentlichen  Sprach- 
regeln zu  umfassen,  der  andere  den  Stoff  zu  den  Sprach-  und 
Denkübungen  zu  liefern  und  zwar  so,  dass  letztere  wieder  eine 
Vorschule  zur  Stylistik  abgeben. 

Wie  gesagt  worden  ist,  möchte  die  Grammatik  die  Rede- 
theile  nach  der  Reihe  vorzuführen  haben  und  zwar  so,  dass 
Alles,  was  sich  auf  das  Formale  bezieht,  vorangeht_  und  hieran 
sich  sogleich  die  syntaktischen  Regeln  anschliessen.  Vieles  wäre 
blos  zu  wiederholen,  wozu  am  besten  die  Beispiele  wieder  be- 
nutzt werden,  die  in  den  ersten  Cursen  sich  vorfinden.  Zu  dem 
Uebrigen  wären  dann  weitere  Beispiele  zu  liefern,  jedoch  mehr 
in  deutscher,  als  in  französischer  Sprache. 

Der  zweite  Theil,  welcher  den  Sprachstoff  zu  liefern  hat, 
würde  mit  der  Lautlehre  zu  beginnen  haben,  dann  zur  Silben-, 
Wort-  und  Satzlehre  übergehen  müssen  und  zwar  in  derselben 
Weise,  wie  sie  der  Schüler  in  seiner  Muttersprache  hat  kennen 
gelernt. 

Obgleich  der  Schüler  Lesen  gelernt  und  gesprochen  hat, 
so  werden  sich  dessen  ungeachtet  noch  Mängel  und  Fehler  in 
der  Aussprache  vorfinden,  die  nun  beseitigt  werden  müssen. 
Aus  diesem  Grunde  die  Lautlehre  gründlich  durchzunehmen  ist, 
namentlich  in  Hinsicht  auf  die  Laute ,   welche   dem    Deutscheu 

11  ♦ 


Ju4  Ueber   den   Unterricht 

Schwierigkeiten  bereiten.  An  die  Lautlehre  schliesst  sich  die 
Silbenlehre  an,  in  welcher  die  Ableitungsendungen  in  Hinsicht 
ihrer  Bedeutung  besonders  vorzuführen  sind.  Auch  der  Reim 
der  Silben  möchte  hier  zu  besprechen  sein. 

Die  Wortlehre  hat  das  Wort  nach  seinem  Ursprünge,  seiner 
Bildung,  nach  seiner  eigentlichen  und  uneigentlichen  Bedeutung 
zu  besprechen;  auch  sind  Uebungen  im  Vergleichen  und  Un- 
terscheiden, im  Ueber-  und  Unterordnen  der  Begriffe  u.  d.  g. 
anzustellen.  Der  hierzu  erforderliche  UebungsstofF  möchte  im 
Lesebuche  zu  geben  sein.     Z.  B. 

1.  Es  wird  der  Theil  gegeben  und  der  Schüler  soll  das 
Ganze  nennen,  z.  B. 

minute  (heure);  semaine  (mois);  jour  (semaine);  mois  (an- 
nee);  ann^e  (si^cle). 

2.  Es  wird  das  Ganze  genannt  und  der  Schüler  nennt 
dessen  Theile  z.  B. 

Fleur.     parties:  p^tale,  p^dencule,  calice,  corolle,  ^tamine. 

3.  Es  sollen  die  gleichen  Merkmale  zweier  Gegenstände 
angegeben  werden,  z.  B. 

La  voiture  et  la  charrue  (ont  des  roues)  —  L'eau  et  le  vin 
(sont  fluides)  —   L'aiguille  et  l'epine  (piquent). 

4.  Es  sollen  die  ungleichen  Merkmale  gesucht  werden,  z.  B. 
L'aiguille    est    faite   de   m^tal;   l'epine   est   la   partie   d'une 

plante.  L'eau  vient  des  sources  et  des  nu^es ;  le  vin  se  fait  des 
grappes. 

5.  Die    Begriffe    werden  über-  oder  untergeordnet,     z.  B. 
Le  fusil,  le   pistolet   et   le   canon    servent   k  tirer,  ils  sont 

des  armes  k  feu.  Des  corps  sont:  le  soleil,  la  iune,  la  terre, 
la  pierre,  la  plante.  On  peut  se  mouvoir  de  diff^rentes  manieres: 
aller,  courir,  sauter,  aller  k  cheval,  aller  en  voiture.  etc.  etc. 

6.  Es   soll  das  Gegentheil  der  Angabe  genannt  werden,  z.B. 
Vrai  (faux);  long  (court)  —   la  naissance   (la  mort)  —  la 

guerre  (la  paix)  —  röcompenser  (punir)  —  augmenter  (di- 
minuer). 

Oder:  Le  plus  fort  a  toujonrs  raison  (Le  faible  a  toujours 
tort).  Un  ^crivain  a  dit:  Soyons  indulgents  envers  les  vivantsi 
(Un  ^crivain  a  dit:  Soyons  indulgents  envers  les  morts).  etc.  etc. 


in   den  neuen  Sprachen.  165 

Derartige  Uebungen  geben  reichen  Stoff  zu  Sprechübungen, 
fördern    das  Denken    und   tragen   zur  Bildung   des    Styles   bei. 

Ehe  zur  Satzlehre  übergegangen  wird,  erscheint  es  mir 
nicht  unzweckmässig,  auch  Hebungen  im  Bilden  der  Urtheile, 
im  Unterseheiden  derselben  u.  d.  g.  anzustellen. 

Die  Satzlehre  hat  sich  streng  nach  der,  in  unsern  bessern 
deutschen  Sprachlehren  aufgenommenen,  Satzlehre  zu  accomodiren, 
namentlich  in  Hinsicht  auf  Terminologie,  Erklärungen  u.  d.  g. 
Die  Analyse  von  Noel  und  Chapsal,  welche  bei  manchem  Pro- 
feseeur  noch  das  Non  plus  ultra  ist,  obschon  sie  selbst  in  Frank- 
reich in  den  Hintergrund  gestellt  wird,  muss  aus  unsern  Schulen, 
so  wie  aus  dem  Privatunterrichte  verschwinden  ;  die  Satzlehre 
bietet  ebenfalls  reichen  Stoff  zu  mündhchen  und  schriftlichen 
Uebungen,  die  ich  übergehen  zu  können  glaube. 

Neben  diesen  grammatischen  Uebungen  geht  das  Lesen 
guter  Musterstücke  her,  die  jedoch  mit  den  grammati- 
schen Uebungen  in  Verbindung  stehen  müssen. 

Während  in  den  beiden  ersten  Cursen  die  jedem  Lesestück 
beigefügten  Fragen  keinen  andern  Zweck  hatten,  als  den  Schüler 
im  Abfragen  des  Gelesenen  zu  üben;  so  müssen  sie  nun  dazu 
dienen,  den  Schüler  zu  veranlassen,  vergleichend,  also  denkend, 
den  erhaltenen  Stoff  zu  überblicken.  Des  Schülers  Antworten 
sollen  Urtheile  sein. 

Auch  hier  wird  einem  jeden  Lesestück  onomatischer  oder 
lexikalischer  Uebungsstoff  beizufügen  sein.  Die  Synonymen 
glaube  ich  in  den  folgenden    Cursus  verlegen    zu    müssen. 

Hat  der  Schüler  alle  die  so  eben  angedeuteten  Uebungen 
durchgemacht,  so  kann  er  so  weit  sein,  dass  er  sich  mündlich 
und  schriftlich  über  die  gewöhnlichsten  Lebensverhältnisse  aus- 
zudrücken vermag  und  er  also  das  dem  Sprachunterrichte  ge- 
steckte erste  Ziel  erreicht  hat. 

Sollten  sich  nun  Schüler  vorfinden,  welche  s*ich  in  kein 
tieferes  grammatikalisches  Studium  einlassen,  dagegen  sich  mit 
der  feineren  Umgangs-  und  mit  der  Geschäftssprache  noch  ver- 
trauter machen  wollen,  so  wird  sich  der  ganze  Unterricht  nur 
auf  die  Leetüre  zu  beschränken  haben  und  zwar  des  Echo  de 
Paris,  60  wie  auf  das  Lesen  guter  Briefe,  Geschäftsaufsätze, 
Handelsbriefe,  u.  d.  g.,  die  schriftlich  zu  imitiren  sind. 


166  Ueber  den  Unterricht 

Der  höhere  Unterricht. 

Vierte   französische  Sprachstufe. 

Diese  Stufe  betreten  diejenigen  Schüler,  welche  nicht  nur 
tiefer  in  die  Grammatik  eindringen  wollen,  als  auf  der  letzten 
Stufe  möglich  war,  sondern  welche  auch  schön  und  richtig  spre- 
chen und  schreiben  lernen  und  sich  mit  der  Sprache  und  den 
Ideen  anerkannt  guter  Schriftsteller  bekannt  machen  wollen. 

Um  dieses  Ziel  zu  erreichen,  wird  eine  wissenschaftliche 
Satzlehre  durchzunehmen  sein,  aus  welcher  jedoch  Alles  fern 
zu  halten  ist,  was  nur  der  eigentliche  Sprachforscher  zu  wissen 
braucht.  Da  wir  jedoch  hier  Schüler  vor  uns  haben,  welche  in 
der  Grammatik  schon  bewandert  sind;  so  wird  eine  ausführliche 
Erörterung  der  Regeln  nicht  mehr  nothwendig  sein.  Der  Schüler 
kann  die  Grammatik  selbst  studiren  und  der  Lehrer  kurze  Lehr- 
gespräche über  das  Studirte  anstellen.  Am  zweckmässigsten 
erscheint  es  mir,  wenn  der  Lehrer  das,  gute  Musterstücke  ent- 
haltende, Lesebuch  als  das  Centrum  ansieht,  um  welches  sich 
Alles  zu  drehen  hat,  und  mit  dem  Lesen  die  grammatikalischen 
Lehren  in  Verbindung  setzt. 

Von  dem  Schüler  muss  verlangt  werden,  dass  er  sich  auf 
das  zu  lesende  Stück  gut  vorbereitet.  Beim  Uebersetzen  ins 
Deutsche  muss  auf  gutes,  dem  Französischen  entsprechendes 
Deutsch  streng  gehalten  werden,  indem  er  dadurch  sehr  viel  für 
seine  Muttersprache  gewinnt.  Ist  das  Stück  übersetzt,  so  wird, 
wie  wir  es  beim  deutschen  Unterrichte  thun,  der  Inhalt  des 
Stückes  abgefragt,  der  Grundgedanke  desselben  festgestellt  und 
zuweilen  die  Disposition  zu  demselben  schriftlich  geliefert  und 
die  Darstellungsweise  u.  d.  g.  besprochen.  Ganz  besonders  ist 
der  Schüler  auf  die  schöne,  edle  Darstellung  aufmerksam  zu 
machen  und  dieselbe  mit  der  deutschen  Darstsellungsweise  zu 
vergleichen.  Ausserdem  sind  grammatikaüsche  Belehrungen  zu 
geben  und  lexikalischer  Stoff  ist  zu  besprechen.  Hier  sind  nun 
ganz  besonders  die  Synonymen  in  Betracht  zu  ziehen.  Die 
lexikalischen  Uebungen  sind  anfangs  in  französischer  Sprache 
zu  geben ;  späterhin  werden  dieselben  aber  nur  in  deutscher 
Sprache  gegeben,  jedoch  nicht  in  Uebersetzungen  aus  dem  Fran- 


in    den   neuen   Sprachen.  167 

zösischen,    sondern    wie    ich    sie    z.     B.    in   meinem   deutschen 
Sprachbuche  von  Seite  80  bis  130  aufgestellt  habe. 

Die  Synonymen  muss  dei-  Schüler  durch  Beispiele  kennen 
und  sie  sogleich  auch  anwenden  lernen,  z.  B, 

Accusateur.     Delateur. 

L'a ccusateur  denonce  une  mauvaise  action  au  grand- 
jour  et  la  tete  levee;  le  delateur  epie  et  denonce  sourdement. 
L'accusateur  peut  etre  un  honnete  homme  irrite,  indigne  (le  mot 
se  prend  en  bonne  part).  Le  delateur  est  toujours  un  espion 
vendu  (ce  mot  se  prend  en  mauvaise  part). 

Application.  Le  front  du  coupable  est  un  terrible.  .  . .  ') 
Les  . .  .  -)  abondent  ou  la  •  .  .  ^)  est  recompensee.  Le  ..."*) 
est  un  odieux  personnage  qui  est  ä  la  solde  du  gouvernement 
soup9onneux  et  tyrannique.  Quand  les  moeurs  ont  6te  outra- 
g^es,  tout  bon  citoyen  doit  s'eriger  en  .  .  .  ')  public. 

1.  accusateur.  2.  delateurs.  3.  la  delation.  4.  le  delateur.  5.  ac- 
cusateur. 

Hierauf  können  Uebungen  im  Unterscheiden  des  eigent- 
lichen und  bildlichen  Sinnes  folgen,  z.  B. 

Le  feu  s'allume  (pr.);  et  petille  (pr.) ;  l'eau  bout  (pr.) 

Le  courage  s'allume  (fig.) ;  ses  yeux  p^tillent  (fig.) ;  son  sang 
bout  (fig.). 

Oder  Sens  figure: 

II  faut  separer  l'ivraie  du  bon  grain. 

II  n'y  a  pas  de  roses  sans  ^pines. 

etc.  etc. 

Sens  propre. 

II  faut  sdparer  les  bons  des  mechants. 

Nos  plaisirs  sont  toujours  melds  de  peines. 

Auch  die  Erklärung  von  Sprichwörtern  können  hier  eine 
Stelle  finden,  z.  B.  Pour  un  moine  l'abbaye  ne  manque  pas. 

Quand  plusieurs  pcrsonnes  ont  projete  quelque  partie  en- 
semble  et  que  Tune  d'elles  fait  defaut,  on  ne  laisse  pas  de  s'a- 
muser  pour  cela. 

Tous  les  chiens  qui  aboient  ne  mordent  pas. 

Tous  ceux  qui  menacent  ne  sont  pas  redoutables  etc.  etc. 

Auch  die  Satzlehre  bietet  zu  verschiedenen  Uebungen  Ver- 
anlassung, z.  B. 


168  üeber  den  Unterricht 

1.  Zum  Hauptsatz  soll  der  Nebensatz  angegeben  werden,  z.  B. 
Quand  on  a  menti  une  fois,  (on  n'est  plus  cru  de  personne). 

Si  tu  veux  que  les  autres  pensent  du  bien  de  toi,  (fais-en). 
Si  quelqu'un  te  flatte,  (sois  persuad^  qu'il  cherche  k  te  tromper). 

2.  Zum  Hauptsatz  soll  der  Nebensatz  gebildet  werden,  z.  B. 
On  ne  croit  plus  un  enfant  (quand  il  a  menti). 
Abraham    aurait  immole    son  fils,    (si  l'ange    du    Seigneur 

n'eut    arret^    sons  bras). 

So  leicht  es  wäre,  die  Zahl  dieser  Uebungen  zu  vermehren, 
so  unterlasse  ich  es  doch,  indem  ich  hoffe,  dass  man  aus  diesen 
Andeutungen  schon  ersehen  wird,  wie  die  Bildung  des  Styles, 
worauf  es  hiermit  ankömmt,  gefördert  werden  kann. 

Ist  ein  Musterstück  auf  die  hier  beschriebene  Weise  ge- 
lesen ,  erläutert  und  verarbeitet ,  so  gibt  man  noch  eine  kurze 
Biographie  des  Verfassers,  welche  der  Schüler  zu  Hause  nie- 
derschreiben kann. 

Dass  manches  gelesene  Stück  zu  Imitationen  benutzt  und 
auswendig  gelernt  werden  sollte,  bedarf  wohl  keiner  weitern 
Erwähnung.  Neben  diesem  statari sehen  Lesen  geht  aber  auch 
das  cursorische  Lesen  her,  wozu  ich  besonders  historischen 
Stoff  empfehlen  mochte,  über  welchen  sich  eine  Unterredung 
anstellen  lässt. 

Ist  der  Schüler  auf  die  hier  beschriebene  Weise  geübt 
worden,  so  wird  nun  auch  zum  Uebersetzen  von  deutschen  Le- 
sestücken  ins  Französische  geschritten  werden  können,  wie  sie 
sich  in  Wildermuths  Musterstücken,  bei  de  Castres  und  andern 
vorfinden. 

Soll  auf  dieser  Stufe  Alles  gründlich  durchgenommen  werden, 
was  von  mir  angedeutet  worden  ist,  so  bezweifle  ich,  dass  der 
Lehrer  noch  Zeit  finden  wird  zur  Literatur  und  Literaturge- 
schichte übergehen  zu  können.  Aus  diesem  Grunde  ich  den 

fünften    französischen   Sprachcursus 

der  Hochschule  zuweise,  welche  dem,  der  in  die  Literatur  der 
französischen  Nation  gründlich  eindringen  imd  sich  auch  in 
stylistischer    Hinsicht    noch    ausbilden    will,    Gelegenheit     dazu 


in  den  neuen  Sprachen.  169 

geben  sollte.     Wem  es  nicht  vergönnt  ist,  eine   höhere   Anstalt 
zu  besuchen,  der  wird  sich   auf  dem   Privatwege    oder    durch 

Selbststudium  forthelfen  müssen. 


II.     Englischer  Sprachunterricht. 

Soll  der  Unterricht  in  der  englischen  Sprache  nicht  ohne 
nachtheilige  Einwirkung  auf  den  französischen  bleiben  und  der 
Schüler  rasch  vorwärts  geführt  werden  können,  ohne  dessen 
Kräfte  zu  sehr  in  Anspruch  zu  nehmen;  so  darf  er  nicht 
eher  auftreten,  als  bis  der  Schüler  mit  den  wesentlichsten  fran- 
zösischen Sprachformen  bekannt  ist  und  sich  eine  tüchtige 
Wortkenntniss  erworben,  er  also  die  beschriebenen  beiden  ersten 
französischen  Spracheurse  absolvirt  hat. 

Da  die  englische  Sprache  nicht  den  Formen-Keichthum  der 
französischen  hat  und  in  dieser  Hinsicht  dem  Schüler  weniger 
Schwierigkeiten  als  die  französische  zu  überwinden  bietet;  so 
wird  er  dieselbe  nicht  nur  leichter  finden ,  sondern  sie  auch 
lieber  gewinnen  und  die  französische  Sprache ,  wenn  er  nicht 
über  den  formellen  Theil  hinaus  ist,  zurücktreten  lassen,  ihr 
nicht  mehr  den  Pleiss  zuwenden,  den  er  ihr  vielleicht  zuge- 
wendet hat  und  desshalb  in  seinen  Fortschritten  gehemmt  werden. 
Dass  die  Kräfte  eines  Schülers,  der  in  der  französischen  Sprache 
noch  nicht  hinreichend  vorgeschritten  ist,  zu  sehr  in  Anspruch 
genommen  Averden  müssen,  wenn  der  englische  Sprachunterricht 
zu  zeitig  begonnen  wird,  bedarf  keines  Beweises. 

Betrachten  wir  nun  die  englische  Sprache  ebenfalls  als  ein 
Glied  der  ganzen  Sprachkette,  so  muss  in  Bezug  auf  den 
Unterricht  in  derselben  hier  Alles  das  Anwendimg  finden,  was 
oben  von  der  französischen  Sprache  gesagt  worden  ist,  d.  i.  er 
muss  mit  dem  Unterrichte  in  der  französischen  und  deutschen 
Sprache  in  die  engste  Verbindung  gebracht  werden  und  auf 
dem  schon  gelegten  Grunde  fortbauen,  zugleich  aber  auch  zur 
Förderung  der  Kenntnisse  in  den  beiden  vorangegangenen 
Sprachen  beitragen. 

Aus  diesem  Grunde  wird  sie  denselben  Weg  verfolgen 
müssen,  welchen  die  französische  Sprache  verfolgt  hat,  und  da 
das  französische  Element  in  der  enghschen  Sprache  das  deutsche 


170  Ueber  den  Unterricht 

Überwiegt,  der  Schüler  auch  in  der  französischen  Sprache  vor- 
geschritten ist,  so  wird  der  englische  Sprachunterricht  sich  vor- 
herrschend mehr  an  den  französischen,  als  an  den  deutschen 
anzuschliessen  haben. 

Obgleich  die  englisclie  Sprache  weit  weniger  Sprachformen 
als  die  französische  hat,  so  wird  es  doch  nothwendig  sein,  den 
Schüler  mit  denselben  gründlich  vertraut  zu  machen.  Aus 
diesem  Grunde  erscheint  es  mir  sehr  dienlich,  wenn  auch  hier 
mit  dem  einflichen  engen  Satze  begonnen  und  der  Schüler  mit 
Allem  bekannt  gemacht  wird,  was  in  demselben  vorkommen 
kann.  Dass  hier  schneller  vorwärts  gegangen  werden  kann  als 
im  französischen  Sprachunterrichte  möglich  war,  versteht  sich 
von  selbst.  Von  dem  einfachen  engen  Satze  wird  zum  erwei- 
terten und  dann  zum  zusammengezogenen  und  verbundenen 
übergegangen.  Dass  hier  schon  verschiedene  syntaktische  Re- 
geln mit  gegeben  werden  können,  bedarf  keines  Beweises.  Auch 
wird  schon  der  erste  Cursus  sowohl  die  Formen  der  regelmäs- 
sigen als  der  unregelmässigen  Verben  vorführen  und  also  in 
einem  Curse  sehr  leicht  das  zum  Abschlüsse  bringen  können, 
wozu  die  französische  Sprache  zwei  Curse  in  Anspruch   nahm. 

Mehr  Schwierigkeiten  als  das  Formale  der  Sprache  stellt 
die  Aussprache,  das  richtige  Sprechen,  Lesen  und  Schreiben 
entgegen ;  desshalb  die  Sprechübungen  hier  ebenfalls  nicht  ent- 
behrt werden  können  und  mit  diesen  zu  beginnen  ist. 

Diese  Sprechübungen  können  zwei  verschiedene  Wege  zum 
Ziele  einschlagen.  Auf  dem  einen  Wege  werden  dem  Schüler 
eine  gewisse  Anzahl  von  Wörtern  vorgelegt ,  in  welchen  ein 
einzuübender  Laut  nach  dem  andern  auftritt.  Der  Lehrer  spricht 
das  Wort  vor,  der  Schüler  nach  und  liest  dann  die  aufgestellten 
Wörter.  So  hat  z.  B.  Degenhardt  in  seinem  praktischen 
Lehrgange  zur  schnellen  und  gründlichen  Erlernung  der  engli- 
schen Sprache  eine  sehr  gute  Sammlung  von  Wörtern.  Ob 
aber  der  Schüler,  welcher  in  einigen  wenigen  Stunden  diese 
Wörter  gelesen  haben  kann,  sie  auch  richtig  lesen  wird,  wenn 
a\e  ihm  ausser  der  Reihe  späterhin  vorkommen ,  das  ist  eine 
Frage,  die  ich  nicht  bejahen  mag.  Weit  zweckmässiger  er- 
scheint es  mir  daher,  den  andern  Weg  zu  betreten,  auf  welchem 
der    Schüler    die    betreffenden  Laute    in    ganzen   Sätzen  findet, 


in  den  neuen  Sprachen.  171 

welche  der  Lehrer,  wie  oben  gezeigt  worden  ist,  erst  durch- 
sprechen, dann  lesen,  lernen  und  zuletzt  schreiben  lassen  kann. 
Für  Schüler,  welche  durch  den  franzöpischen  Sprachunter- 
richt an  ein  Vergleichen  gewöhnt  sind,  wird  es  weit  interes- 
santer und  bildender  sein ,  wenn  sie  die  Lautbczeichnungen 
durch  Vergleichungen  mit  den  deutschen  oder  französischen  Lau- 
ten kennen  lernen.  Aus  diesem  Grunde  sind  die  zu  sprechenden 
Sätze  entweder  in  deutscher  oder  in  französischer  und  englischer 
Sprache  zu  geben,  je  nachdem  es  die  Abstammung  der  Wör- 
ter bedingt. 

Bei  diesen  Vergleichungen  stellt  sich  schon  in  wenigen  Bei- 
spielen heraus,  dass  die  Vokale  die  wandelbarsten  Laute  sind 
und  dass  ein  und  derselbe  deutsche  oder  französische  Laut  in 
der  englischen  Sprache  in  die  verschiedensten  Laute  überge- 
gangen ist  und  dass  hier  dasselbe  Verhältniss  statt  findet, 
\\ie  wir  es  in  unsrer  Schriftsprache  und  in  den  Mundarten 
finden.  So  wenig  sich  gegenwärtig  mit  Bestimmtheit  nach- 
weisen lässt,  nach  welchen  Gesetzen  die  mundartlichen  Laute 
in  die  Schriftlaute  übergegangen  sind ,  eben  so  wenig  können 
hier  keine  Eegeln  über  den  Lautwechsel  in  der  englischen 
Sprache  gegeben  Averden.  Selbst  wenn  es  möglich  wäre,  so 
möchte  hier  nicht  der  Ort  dazu  sein.  —  Weit  weniger  Schwie- 
rigkeiten als  die  Vokale  stellen  die  Consonanten  entgegen,  da 
sie  ziemlich  nach  festen  Regeln  in  die  englische  Sprache  über- 
gegangen sind. 

Obgleich,  wie  gesagt  worden  ist,  sich  keine  festen  Regeln 
über  den  Lautwechsel  geben  lassen,  so  scheint  es  mir  doch 
von  grossem  Nutzen,  wenn  dem  Schüler  Beispiele  zur  Verglei- 
chung  gegeben  werden  und  zwar  zuerst  Wörter,  die  deutschen, 
dann  französischen  Ursprunges  sind,  z.  B. 

1.  Das  deutsche  a  ist  im  Englischen  geblieben, 
bezeichnet  aber  verschiedene  Laute. 

Ape,  Affe;  —  fiax,  Flachs  —    axe,  Achse  —  apple,  Apfel 

—  arm,  Arm  —   to  bake,  backen  —  bath,  Bad  —  balk,  Balken 

—  band.    Band  —  balls ,    Ball   —  bank,    Bank  —    cap,   Kappe 

—  cat,  Katze  —  fall,  Fall  —  fast,  fasten  —    flamme,  Flamme 

—  u.  s.  w. 


172  Ueber  den  Unterricht 

Französisch. 

L'acre,  the  acre  —  l'acte,  the  act  —  adorer,  to  adore  — 
l'äge,  the  age  —  la  face,  the  face  —  changer,  to  change  —  la 
päte,  the  paste  —  pale,  pale  —  la  page,  the  page  —  damnable, 
damnable. 

Deutsch. 

2.  Das  deutsche  a  wird  e  oder  ee. 

Bank,  bench   -    Thal,  dell  —  Abend,  even  —   Gast,  guest 

—  lassen,  to  let  —  Schale,  shell  —  Aal,  eel  —  That,  deed  — 
Nadel,  needle  —    Schaf,  sheep  —  schlafen,  sleep  —  Stahl,  steel 

—  Strasse,  street. 

3.  Das  deutsche  a  ist  im  Englischen  i. 
Kasten,  kist  —  Macht,  might  —  Nacht,  night, 

4.  Das  deutsche  a  ist  im  Englischen  o. 

Blasen,  blow  —  kalt,  cold  —  Falte,  fold  —  Kamm,  comb 

—  halten,  hold   —  lang,  long  —  Nase,  nose  —  alt,  old  -  sanft, 
soft  —   Sang,  song. 

5.  Das  deutsche  a  ist  im  Englischen  au  oder  aw. 
Die  Fracht,  fraught  -    der  Magen,  maw  —  kauen,  chaw  — 

lachen,  laugh. 

6.  Das  deutsche  a  ist  im  Englischen    ea,   ai. 
Bart,  beard  —  klar,  clear  —  Mehl,  meal  —  Haar,  hair   — 

nahe,  near  —  mager,  meager  —  Nagel,  nail. 

7.  Das  deutsche  a  ist  oo  oder  u. 

Gans,  goose  —  Amsel,  ousel  —  Zahn,  tooth  —  Wald, 
wood. 

Französisch. 

Das  französische  a  ist  im  Englischen  ea,  e. 

L'apparence,  the  appearence  —  la  Jalousie,  the  jealousy  — 
le  messager,  the  messenger,  u.  s.  w. 

Es  versteht  sich,  dass  der  vorstehende  Stoff  so  zu  ordnen 
ist,  dass  der  Laut  a  mehrmals  nach  einander  als  ein  und  das- 
selbe Lautzeichen  vorkommen  muss,  z.  ß.  i.  ape,  bake,  cap, 
flame  —   2.  act,  brand,  cat,  cramp  —  3.  arm,  bark  hard,  mark 

—  4.  ball,  fall  malt. 

Werden  auf  diese  Weise  dem  Schüler  die  Vokale  und 
Consonanten  vorgeführt,  dann  auch  die  Ableitungsendungen 
beigefügt ,  so  wird  der  Schüler  nicht    nur   mit    grösserm    Inter- 


in  den  neuen  Sprachen.  173 

esse  die  Lautlehre  studiren,  sondern  auch  bald  im  Besitze  einer 
guten  Wortkenntuiss  sein.  —  Gibt  man  ihm  dann  noch  eine 
gute  Sammlung  solcher  Wörter  zum  Selbststudium,  so  wird  er 
sie  gewiss  auch  mit  Interesse  durchgehen  und  seinem  Gedächt- 
nisse einprägen. 

Wenn  ich  hier  weder  das  Altdeutsche,  noch  das  Angel- 
sächsische u.  d.  g.  zur  Sprache  bringe,  so  wird  dies  keiner 
Entschuldigung  bedürfen,  wenn  man  bedenkt,  welche  Schüler 
ich  im  Auge  habe. 

Dass  in  dieser  Leselehre  gleich  vom  Anfange  an  Sprach- 
forraen  z.  B.  die  von  to  have,  to  be  u.  d.  g.  mit  auftreten 
können,  bedarf  keines  Beweises;  dagegen  bin  ich  der  Ansicht, 
dass  es  vortheilhaft  ist,  wenn  man  nicht  zu  schnell  über  die 
Leseregeln  hinweggeht.  Sobald  nur  ein  erweiterter  Satz  auf- 
tritt, so  wird  der  Schüler  diesem  seine  Aufmerksamkeit  mehr 
zuwenden,  als  der  Aussprache. 

Der  zweite  Cursus 
wird  ganz  dem  dritten  französischen  Cursus  gleich  sein  und 
also  einerseits  die  wesentlichsten  Lehren  der  Grammatik  ver- 
gleichend mit  dem  Französischen  und  Deutschen  theils  recapi- 
tuliren,  theils  ergänzen;  anderseits  wird  er  aber  auch  die  Laut-, 
Silben-,  Wort-  und  Satzlehre  zum  SprachstofF  benutzen  und 
hier  die  logischen  Uebungen  auftreten  lassen,  die  oben  als  Vor- 
schule zur  Stylistik  besprochen  worden  sind.  Dessgleichen 
wird  auch  hier  die  Onomatik  oder  Lexicologie  mit  in  Betracht 
zu  ziehen  sein. 

Der  dritte    Cursus 
hat   dieselbe   Aufgabe ,    die    dem   vierten  französischen   gestellt 
worden  ist;    daher   er   auch   denselben   Weg   zu   verfolgen    hat, 
wie  dieser. 

Was  über  den  fünften  französischen  Cursus  bemerkt  worden 
ist,  wird  auch  auf  den  vierten  englischen  Cursus  Anwendung 
finden  müssen. 

lU,     Italienischer   Sprachunterricht. 
Auch  dieser  Unterricht  muss  sich,    wie  der  englische,    eng 
an  den  französischen  anschliessen  und  auf  dem  gelegten  Grunde 


174  Ueber  den  Unterricht 

fortbauen.  Da  jedoch  die  italienische  Sprache  der  französischen 
noch  viel  näher  als  die  englische  steht  und  sich  regelrecht  mit 
dieser  aus  der  lingua  rustica  entwickelt  hat,  so  ist  es  auch 
leichter,  von  der  französischen  zur  italienischen  überzuleiten,  als 
von  der  französischen  zur  englischen. 

Auch  hier  wird  damit  zu  beginnen  sein,  den  Schüler  die 
Gesetze  kennen  zu  lehren,  nach  denen  die  italienischen  Wörter 
aus  den  französischen  sich  ableiten  lassen. 

Zuerst  erfährt  der  Schüler,  wie  die  italienischen  Artikel  sich 
aus  dem  lateinischen  ille,  illa,  illud  und  aus  dem  Zahlworte  unus, 
una  entwickelten ;  dann  wie  sich  die  französischen  End-,  Aus- 
und  Inlaute  im  Italienischen  gestalten,  z.  B. 

1.  Das  stumme  weibliche  e  am  Ende  der  Wörter  wird 
im  Italienische  a,  z.  B.  Marie,  Maria  —  Caroline,  Carolina 
—  l'Europe,  l'Europa. 

La  colonie,  la  colonia  —  la  philosophie,  la  filosofia. 

2.  Die  Endung  as  wird  a,  z.  B.  Epaminondas,  Epaminonda. 

3.  Die  Endungen  ee  und  das  stumme  männliche  e 
werden  a,  z.  B.  En^e,  Enea  —  Andr^e,  Andrea  —  le  pirate, 
il  pirata  —   le  prophete,  il  profeta. 

4.  In  Namen  griechischen  Ursprunges  bleibt  das  e  auch 
im  Italienischen,  z.   B.  Rhodope,  ßodope  —  Mitilene,  Mitilene. 

5.  ^e  aus  dem  latein.  ae  entstanden,  wird  e,  z.  B.  Cann^e, 
Canne. 

6.  Die  Endung  e  (entstanden  aus  dem  a  der  3.  latein. 
Declinat.)  wird  a,  z.  B.  Messie,  Messia  —  le  probleme,  il  pro- 
blema. 

Oder: 

1.  au  wird  aliauberge,  albergo  —  sauter,  saltare  —  sauver, 
salvare. 

2.  ou  wird  ol:  coup,  colpo  —  couteau,  coltello  —  cou, 
collo. 

3.  ou  wird  o:  bourse,  borsa  —  boutique,  bottega. 

4.  eau  am  Ende  wird  ello:  chapeau,  chappello  —  couteau, 
coltello  —  chäteau,  castello. 

5.  ai  vor  1,  m,  n,  r  wird  a:  alle,  ala  —  faim,  fame  — 
vain,  vano  —  air,  aria. 


In  den  neuen  Sprachen.  175 

6.     ei   wird   e:   veine,    vena  —    baieine,    balena   —  peine, 
pena.  u.  s.  w. 

Wird  die  Verwandlung  der  Laute  stufenmässig  fortschrei- 
tend durchgenommen,  werden  dem  Schüler  auch  Uebungsauf- 
gaben  gegeben,  an  denen  er  beweisen  muss,  dass  er  das  Ge- 
lernte anzuwenden  versteht,  so  wird  er  in  kurzer  Zeit  im  Be- 
sitze einer  reichen  W'ortkenntniss  sein.  Neben  diesen  Uebuno-en 
kann  auch  die  Formlehre  hergehen ,  die  Bezeichnung  der  ver- 
schiedenen Casus  kann  der  Schüler  bald  wissen;  desgleichen 
lassen  sich  die  Zeitformen  der  regelmässigen  und  der  Hilfs- 
verben in  wenigen  Stunden  durchnehmen,  selbst  die  unreo^el- 
mässigen  Verben  werden,  wenn  man  sich  streng  an  die  franzö- 
sischen Verben  hält,  in  kurzer  Zeit  erlernt  sein.  Hieraus  ergibt 
sich,  dass  man  hier  nicht  so  sorgfältig  von  einer  Form  zur 
andern  fortzuschreiten  braucht,  wie  es  in  den  französischen 
Cursen  nothwendig  war,  sondern  dass  man  gleich  mehrere 
Uebungen  in  eine  zusammenfassen  kann.  Alles,  was  im  ein- 
fachen engen  Satze  vorkömmt,  kann  der  Schüler  in  wenigen 
Stunden  wissen ,  desgleichen  Alles,  was  auf  das  Substantif  als 
Attribut,  Object  und  Adverbiale  Bezug  hat.  Da  die  Aussprache, 
das  Lesen  und  Schreiben  der  Wörter  nicht  die  Schwierigkeiten 
bereitet,  welche  sich  in  der  englischen  Sprache  entgegenstellen ; 
selbst  die  Formen  der  Pronomen  und  der  Verben  nicht  viele 
Zeit  in  Anspruch  nehmen ;  die  italienische  Syntax  auch  wenig 
von  der  französischen  abweicht,  so  kann  binnen  einem  Jahre  der 
Schüler  ganz  gut  das  Ziel  erreichen,  was  er  in  der  französischen 
Sprache  erreichte,  als  er  die  beschriebenen  drei  ersten  Curse 
beendigt  hatte.  Wo  er  etwa  noch  zurück  sein  möchte,  das 
könnte  die  lexikalische  Kenntniss  sein.  Lässt  man  jedoch  den 
für  die  französische  Sprache  gegebenen  lexikalischen  Stoff  in's 
Italienische  übersetzen,  so  wird  man  finden,  dass  auch  selbst 
hier  viel  Uebereinstimmung  statt  findet. 

Auch  der  höhere  Sprachcursus  wird  keinen  andern  Weg 
einschlagen  können ,  als  er  für  die  französische  Sprache  oben 
vorgezeichnet  worden  ist.  Auch  hier  kömmt  es  darauf  an,  dass 
der  Schüler  eine  Sammlung  guter  Lesestücke  in  der  Hand  hat 
und  dass  der  Lehrer  versteht,  an  dieselben  Alles  anzuknüpfen, 
was  eben  angeknüpft  werden  sollte. 


176  üeber  den  Unterricht  in  den  neuen  Sprachen. 

Dass  die  Sprachbücher  und  Uebungsbücher,  welche  erfor- 
derUch  sind,  um  den  Schüler  von  der  französischen  Sprache 
zur  englischen  oder  italienischen  überzuleiten,  eine  ganz  andere 
Gestalt  erhalten  müssen,  als  die  vorhandenen  haben,  geht  aus 
meinen  Andeutungen  hervor,  welche  Manchem  noch  nicht  so 
recht  klar  erscheinen  werden.  Ausführlicher  den  Gegenstand 
hier  zu  behandeln,  ist  nicht  wohl  möglich;  sollte  es  mir  jedoch 
vergönnt  sein,  meinen  Plan  durchzuführen,  so  werde  ich  solches 
thun,  zumalen  da  ich  bereits  viel  Material  gesammelt  habe  und 
ausserdem  ein  Engländer,  Franzose  und  Italiener  mir  zur  Seite 
stehen,  die  bereit  sind,  meinen  Plan  durchführen  zu  helfen. 

München.  Prof  Dr.  A.  Gutbier. 


Die 
Runen     der     Finnen. 


Wenn  irgendwo  ein  Volk  durch  den  imposanten  Charakter 
des  von  ihm  bewohnten  Landes  einen  mächtigen  Impuls  zur 
Poesie  empfangen  konnte:  so  haben  wir  mit  Recht  die  Nation 
der  Finnen ,  jenes  hervorragendsten  unter  den  tschudischen 
Stämmen  Russlands,  in  erster  Linie  zu  nennen. 

Sie  bewohnen  Bezirke,  zwar  nicht  von  einem  heissen  und 
w^olkenfreien  Himmel  beschienen,  zwar  nicht  durchweht  von 
Würzhauchen,  die  das  Arom  betäubender  Lenzblüthendüfte  ihnen 
üppig  zutragen ,  vielmehr  ist  die  Flora  des  Landes  eine  sehr 
bescheidene,  wie  die  Fauna  eine  gar  dürftige:  aber  das  Terrain 
jenes  Landes,  Avelches  von  Süden  und  Westen  her  amphithea- 
tralisch  emporsteigt  in  Gebirgsterrassen ,  die  aus  den  Spiegeln 
der  klaren  Golfe  und  Sunde  des  finnischen  und  bothnischen 
Meers  gleichsam  als  eine  Fortsetzung  der  Wellenschwingungen, 
dicht  neben  und  über  einander,  bis  zu  den  Säumen  der  Wolken 
sich  erheben;  welches  durchzickzackt  ist  von  einer  der  male- 
rischesten und  pittoreskesten  Ketten  der  Seen,  die  ein  so  reines, 
krystallhelles  Wasser  haben,  dass  es  fast  farblos  erscheint ; 
welches  durchbraust  ist  von  Katarakten,  deren  Brandungen  ihre 
Donner  auf  Meilenweite  durch  die  Urmoosfelsen  des  Landes 
rollen  lassen ;  Avelches  bekränzt  ist  zwar  nicht  mit  einer  Krone 
von  Palmen  und  Cedern,  aber  mit  den  Wipfeln  elastischer, 
schneeweisser  Birken  und  starkstämmiger ,  nachtschwarzer 
Tannen;  welches  auf  seinen  granitenen  Klippen  zwar  nicht  die 
Gestalten  zierlicher  Gazellen  und  leichtfüssiger  Antilopen  zeigt, 

Archiv  f.  n.  S  prachen.  XXVII.  1 2 


178  Di  e  Runen  der  Finnen, 

aber  die  fliehenden  Umrisse  schlanker  Rennthiere  und  wind- 
schneller Elenne;  —  das  Terrain  jenes  Landes,  sage  ich,  bietet 
Reliefverhältnisse  dar,  die  zu  den  grossartigsten  wie  anmuthig- 
sten  PJuropas  gehören. 

Der  Norden  unsers  Erdtheils  hat  auch  seine  Reize ;  das 
wissen  Diejenigen  wohl,  die  Schottland  und  Skandinavien  ge- 
sehen ;  aber  wechselreicher  und  schöner  denn  beide  ist  Finnland, 
das  Land  der  wogenwälzenden  Golfe,  der  tief  in  das  Herz  der 
i'elsen  hineinschneidenden  blauen  Sunde,  der  weissschäumigen 
Stromfälle ,  der  blitzenden  Seen,  der  wie  ein  Festungsgürtel  vor 
den  Dünenstand  hingegossenen  Skären,  der  purpurfarbigen  Gra- 
nitklippen, der  noch  das  Eis  der  Urschöpfung  tragenden  Fels- 
wände, der  glitzernden  Schneeflächen  und  der  reinen,  klaren, 
man  möchte  sagen  keuschen  Luft,  der  die  Durchsichtigkeit  an 
Reiz  hinzulegt,  was  die  Schärfe  an  Werth  ihr  nimmt. 

In  solchem  Lande  kann  nur  ein  frischer,  gesunder,  urkräf- 
tiger Volksstamm  leben.  Und  das  sind  die  Finnen.  Li  solchem 
—  zwar  schönem,  jedoch  kaltem  Lande,  ob  da  aber  auch  die 
zarte  der  Wärme  und  des  Frühlings  frohlockende  Poesie  ge- 
deiht? Oder  scheint  der  Hauch  der  Dichtung  unabhängig  zu 
sein  von  Lenzluft,  Rosenduft  und  Sonnenlicht;  und  können  die 
Triebe  der  Poesie  gedeihen,  wenn  auch  ringsumher  die  Knospen 
der  Sträucher  unter  ewigem  Schnee  starren?  —  Nun,  man  be- 
lausche die  Runen  der  Finnen,  und  man  wird  überraschende 
Antwort  vernehmen  auf  jene  Frage.  — 

Die  Runen  (Runot,  vom  Nom.  Sing.  Runo)  der  Finnen 
haben  nichts  gemein  mit  den  isländischen  oder  skandinavischen 
Runen.  Sie  bezeichnen  nicht  Lettern  —  markirte  Steine  und 
Stäbe  giebt  es  in  Finnland  nirgends  —  sie  bezeichnen  Lieder, 
Gesänge,  Melodien.  Die  Etymologie  mag  sicher  für  beide 
Worte    gleiche  Anhaltspunkte   gewinnen:*)    aber   die    finnischen 


*)  Gehen  wir  genauer  auf  die  Etymologie  des  Wortes  ein,  so  scheinen 
es  vornehmlich  zwei  Begriffe  zu  sein,  die  in  dem  Ausdruck  „Runen"  ihre 
Vertretung  finden :  der  Begriff"  des  Einritzens  und  des  durch  diese  Ein- 
ritzung hervorgebrachten  Zeichens,  der  altnordischen  Geheim-  und  Zauber- 
schrift. Nebenher  laufen  noch  eine  Menge  andere  Begriffe,  die  sich  aber 
unschwer  aus  jenen  beiden  Stammbegriff'en  deriviren  lassen.  Auch  im  San- 
scrit,  der  grossen  Sprachenmutter,  an  deren  Brüste  jede  Sprachenforschung 


Die  Runen  der  Finnen.  179 

Runot  stellen  sich  in  viel  bedeutsamerer  BegrifFsentwickelung 
dar,  als  die  Runen  der  alten  Germanen  des  Nordens.  Wie 
Zeichen-  und  Bildersprache,  wie  Malerei  und  Musik,  oder  die 
Lilie  und  ihr  Duft  sich  unterscheiden :  so  der  Geist  der  skan- 
dinavischen und  finnischen  Runen. 

Dort  haben  wir  nur  die  öde  Form,  die  todte  Hieroglyphik, 
den  irdischen  Leib  des  gefangenen  Prometheus:  hier  den  blü- 
henden Gehalt,  die  lebensvolle  Poetik,  die  göttliche  Psyche  des 
entfesselten  Titanen. 

sich  ansaugt  —  auch  im  Sanscrit  giebt  es  zwei  Stämme:  ru  tönen,  ertönen 
lassen  (rana9  Ton:  vrata  Ausruf,  Schwur;  bhran  murren;  dhran  seufzen, 
dröhnen)  und  vran  verwunden,  in  denen  das  doppelte  Etymon  des  Wortes 
..Rune"  auffindbar  ist. 

Mit  dem  letztgedachten  Sanscritstamme  vran,  verwunden-,  schneiden, 
ritzen,  stehen  in  Verbindung  eine  Menge  durch  alle  Sprachen  Europas  durch- 
tönende Wertformen  wie:  im  Altslawischen  rana  Wunde.  Ebenso  im  Neu- 
russischen, Bulgarischen,  Serbischen,  Slowenischen;  ferner  im  Polnischen, 
Cechischen  und  in  den  serbischen  Dialekten  der  Lausitz.  Im  Littauischen 
röna  und  ronä  Wunde  (ronas  Schnitt  Holz,  Scheit,  Kerb;  rauka  und  raukas 
Runzel,  Falte:  runku,  rukti  und  raukiu ,  raukti  falten;  randas  und  rand^ 
Narbe,  schemaltisch  rundas,  lettisch  rehta).  Im  Griechischen  qini  Feile, 
Raspel.  Im  Althochdeutschen  :  raunen  schneiden,  einschneiden,  kerben  (rann 
AVallach,  der  Verschnittene).  Im  Deutschen  der  Gegenwart  gehören  hierher 
Wortformen  wie:  Rain.  Rand,  Ranft,  Strand,  trennen,  Rinne,  Kriunen, 
Grenze  (russisch  graniza). 

Hiernach  ist  also  „Rune"  (Gothisch  runa.  Althochdeutsch  run,  rune. 
Mittelhochdeutsch  rune)  der  Kerb,  Einschnitt,  der  in  Stäbe,  Steine  u.  s.w. 
bewerkstelHgt  wird.  Daraus  entwickelt  sich  sofort  der  Begrifl  der  Schrift, 
des  Eingekerbten,  Eingeschnittenen.  Diese  Schrift  war  nur  den  Geweihten 
kund:  daher  bedeutet  denn  Rune  auch  Geheimniss,  Zauberformel 
(goth.  rüna  Rath,  Geheimniss;  angels. ,  Island.,  irisch  run,  runa,  i-une,  ge- 
ryne  Weihe,  Zauberspruch;  althochd.  run,  chiruni  Geheimniss,  runstaba 
Runenstab,  Runen-,  Krinnenschrift;  mittclhochd.  rune  Geheimschrift ;  schwed. 
runa,  dän.  und  engl,  rune  Letter,  Buclistab,  Geheimschrift:  wallisisch  rhyn, 
rhin  Zauberei,  rhinian  zaubern,  spanisch  adrunar  rathen,  errathen,  Divina- 
tionsgabe  besitzen;  diin.  rune  vertrauen,  auf  ein  Gotteszeichen  bauen). 

Jenes  Zaubern  ist  aber  mit  einem  Hersagen  von  Sprüchen,  mit  einem 
geheimnissvollen  Gemurmel  verbunden.  Und  so  entsteht  die  anderweite  Deu- 
tung und  Herleitung  des  Worts  „Rune"  von  dem  Sanscritetymon  ru,  einen 
Ton  von  sich  geben  (ranag  Ton,  vrata  Gelübde,  bhran,  dhran  miirmeln, 
grunnire).  Auch  im  Hebräischen  beisst  ranan  murmeln.  Lateinisch  ist  rana 
der  Frosch:  d.  i.  der  Singende.  Quakende.  Im  Altslawischen  bezeichnet 
rjnti,  Stamm  rju-,  rugire  brliUen    brummen.   Im  Althochdeutschen  ist  rünen, 

12* 


180  Die  Runen  der  Finnen. 

Die  skandinavischen  Runen  sind  allein  dem  Archäologen 
theuer,  dem  ein  Strich  genügt,  um  durch  ihn  die  Erstanfange 
der  Kultur  zu  belauschen ;  die  Runen  der  Finnen  sind  werth, 
werden  ewig  werth  sein  allen  Jenen,  die  den  Verlauf  der  Ci- 
vilisation  erspähen  und  die  einen  Höhenpunkt  der  Gesittung  an- 
erkennen bei  einem  Volke,  dessen  Geist  geschwellt  werden  kann 
durch  den  himmlischen  Anhauch  der  Dichtung  und  dessen  ganze 
Seele  sich  ausgiesst  in  klangvollen,  harmonischen  Liedern. 

Denn  jene   finnischen    Runot    sind    das    Erzeugniss    nicht 


rünön  leise  reden,  raunen.  Dasselbe  bedeutet  das  angels.  runian;  das  engl. 
round,  rown;  das  schwed.  runa;  das  mittelhochd.  und  niedersächs.  runen. 
Im  Isl.  heisst  rüni  Unterreder;  im  Althochd.  runa  Ohrenbläser,  Zischer,  Zu- 
träger. Im  Lateinischen  stimmen  hierzu  die  Radices  grunnire  grunzen,  g'rus 
Kranich  u.  s.  w.  Im  Slawischen  würden  wir  wran  und  gawran ,  d.  i.  Rabe, 
litt,  varnas  und  wrana,  d.  i.  Krähe,  hieherzählen,  wennnicht  zugleich  ein 
Sanscritetymon  varn  färben,  vorläge,  auf  welches  jene  Radices  mit  grösserer 
Sicherheit  zurückzuführen  wären.  Im  Deutschen  stehen  dagegen  entschieden 
mit  der  Sanscritform  ru  in  Verbindung  Ausdrücke  wie:  raunen,  röhren 
(schreien  wie  Hirsche)  ;  dröhnen,  greinen,  grunzen,  Kranich  u.  s.  w.  Auch 
heisst  schon  althochd.  rünazan,  rünzan ,  mittelhochd.  runzen  murren  (Bair. 
raunein  schmeichelnd  knurren;  raunzen  winseln,  weinerlich  reden,  greinen). 
In  diesen  BegrifFskreis  hinein  gehört  denn  auch  das  finnische  runo,  plur. 
runot,  Lied,  Sang,  Gedicht,  runoja,  runolainen,  runottaja,  i'unoseppä  u.  s.  w. 
Runensänger,  Runendichter,  in  Sawolax  und  Karelen  auch  runoniekka. 

Das  Altslawische  runo  Vliess,  Fell,  gehört  durchaus  nicht  In  diese  ety- 
mologischen Kreise  hinein.  Es  hat  seine  Ableitung  vielmehr  vom  Altslaw. 
r'wati  scheren,  rupfen.  Dagegen  schliesst  sich  an  die  oben  aufgeführten 
Stämme  sehr  bestimmt  an  das  Gothische  rinnan  (althochd.  rinnan,  runnan, 
angs.  rinan,  irnan,  isl.,  schwed.  rinna,  engl,  run,  spr. :  ronn,  nds.  rönnen, 
neuhochd.  rinnen ;  dänisch  in  Jütland  rund  ein  Rinnsal,  Bach),  welche  Worte 
nicht  bloss  den  Ton,  sondern  auch  die  damit  in  Verbindung  stehende  Be- 
wegung ausdrücken,  und  zwar  so,  dass  der  erstere  Begriff  dem  letzteren 
gegenüber  meist  ganz  untergeht.  Hierher  gehört  auch  rennen,  laulen  (goth. 
runs  und  angels.  ryne  Lauf;  isl.  runa  Linie,  fortlaufende  Rede,  Rundung  in 
Schall  und  Bewegung,  wo  beide  Begriffe  also  noch  zusammentreffen).  In 
der  Jagdsprache  drücken  raunen  und  reinen  das  Hin-  und  Herlaufen  des 
Hasen,  sowie  das  Traben  des  Fuchses  aus,  wo  auch  die  Begriffe  Bewegung 
und  Klang  in  einander  übergehen.  — • 

Wir  enden  hier  unsere  etymologischen  Ermittelungen,  um  nicht  zu  weit- 
läufig zu  werden.  Doch  Hessen  sich  sicherlich  den  obigen  noch  verschiedene  an- 
dere Radices  anreihen,  käme  es  darauf  an,  die  Vergesellschaftung  der  gesammten 
zum  Begriffe  „Rune"  gehörenden  Gruppe  von  Wortstämmen  herbeizuführen. 

Der  Verfasser. 


Die  Runen  der  Finnen.  181 

einer  durch  Stand  und  Rang  bevorzugten  Volksklasse  —  Kasten 
giebt  es  ja  unter  den  Finnen  nicht,  die  da  sammt  und  sonders 
als  Bauern  erscheinen,  als  unterjochte  Autochthonen ,  erst  den 
Schweden,  dann  den  Russen  gegenüber  —  nein,  jene  Runot 
sind  Erb  und  Eigenthum  des  gesanimten  finnischen  Volks,  eines 
armen,  darbenden,  in  Mühsalen  aller  Art  grossgezogenen,  un- 
gelehrten und  ungeschulten  Volks,  dessen  Lchrmeisterin  alleinzig 
die  Natur  und  dessen  Kathgeber,  Freund  und  Trostsprecher  das 
Unglück  ist ;  wir  stehen  hier  im  Angesicht  einer  wahrhaftigen, 
ureigenen  und  urechten  Nationalpoesie,  vor  deren  Grösse  und 
Tragweite  wir  fast  erschrecken ! 

Die  Poesie  der  Runen  (soweit  sie  unser  noch  immer  be- 
schränkter Blick  überschaut,  der  einst  noch  mit  stolzerem  Tri- 
umph auf  den  erweiterten  Hterarischen  Horizont  blicken  wird) 
rollt  hin  wie  ein  gewaltiger,  unaufhaltsamer  Strom,  der  aller- 
orten und  Tag  für  Tag  neue  Quellen  und  Schleusen  sich  er- 
öffnet i  denn  sie  ist  keine  fertige  und  abgeschlossene,  wie  die 
Volksdichtung  im  Romanen-  und  Germanenthum.  Nur  die  Na- 
tionalpoesie der  Slawen,  die  auch  noch  fortwächst  und  fort- 
wuchert ,  steht  ihr  darin ,  aber  als  Schwesterblume  zur  Seite, 
deren  Keime  nicht  viel  über  das  Embryonenthum  hinausgehen. 
Die  Arena  des  Finnismus,  die  Entwickelungssphäre  des  Runen- 
thums  ist  eine  weit  grössere,  glänzendere.  Die  finnische  Poesie 
gestaltet,  reproducirt  sich  fort  und  fort  aus  sich  selbst  heraus, 
belebt  und  beseelt  sich  immer  wieder,  dem  Phönix  gleich,  der 
sich  aus  der  eigenen  Asche  erneuert.  Sie  gleicht  einer  Kry- 
stallisation ,  die,  durch  das  Sonnenmikroskop  gesehen,  immer 
neue,  überraschende  Bildungen  ansetzt,  so  ins  Riesiege  und  Un- 
geheuerliche anwachsend,  dass  den  Beschauer  fast  Schwindel 
ergreift,  und  er  ungewiss  bleibt,  soll  er  die  alten  oder  die  neuen 
Zweige  dieser  Poesie  verfolgen.  Es  scheint  kühn  gesagt:  jeder 
Finne  sei  ein  geborener  Dichter,  jede  Finnin  von  Natur  eine 
Dichterin  —  und  doch  haben  wir  durch  jenen  Ausspruch  nur 
die  Wahrheit  constatirt.  So  echt,  so  tief,  so  allgemein  poetisch, 
wie  das  finnische,  ist  kein  Volk  der  Erde.  Die  Natur  scheint 
das  Füllhorn  der  Dichtung  ausgegossen  zu  haben  über  die 
Stämme  Jumala's  zur  Entschädigung  für  manches  Herbe,  Herz- 
zerschneidende,   Untragbare,    was  Christuskult,    Königsknecht- 


182  Die  Runen  der  Finnen. 

Schaft  und  Zarenfrohn  im  Laufe  der  Zeiten  über  sie  verhängt 
haben.  FreiHch  hat  das  Sklaventhum  der  Finnen  im  Wortlaut 
längst  aufgehört,  und  dem  INamen  nach  ist  der  finnische  Bauer 
ein  Freier.  Aber  das  Recht,  das  der  Finne  sucht,  wird  ilim 
am  grünen  Tische  von  russischen  Richtern  gesprochen ,  einein 
Beamtenthum,  welches  nach  Art  chinesischer  Mandarine  zum 
Inquiriren  wie  zum  Händeöffnen  für  gleich  befähigt  gilt.  Der 
arme,  in  kümmerlicher  Noth  lebende  Finne' hat  aber  keine  As- 
signationen  und  Rubel,  oft  kaum  Kopeken,  in  die  weit  aus- 
gestreckten Hände  seiner  Richter  hineinzulegen.  Und  daher 
wird  das  Recht  der  empfindenden  Seele  des  Klagenden  wie  des 
Verklagten  oft  schmachvoll  gekrümmt  und  zerbrochen  wie  das 
Holz  eines  fühllosen  Bogens.  Es  geht  heutiges  Tags  in  den 
Marken  Finnlands  zu  wie  allerorten  und  zu  aller  Zeit,  wo  der 
Knecht  seinem  Herrn,  der  Darbende  dem  Reichen,  der  Elende 
dem  Glücklichen  gegenübersteht. 

„Der  Schwede  ist  des  Finnen  Voigt,  der  Russe  des  Finnen 
Büttel."  Ein  ähnlicher  Gedanke  kehrt  in  hundert  Sprüchen  und 
Sprüchwörtern  der  Finnen  wieder.  Das  Deutschthum  Avie  das 
Zarenthum ,  sie  sind  beide  den  tschudischen  Völkern  am  russi- 
schen Ostseestrande  in  gleicher  Weise  missliebig  und  von  übler 
Bedeutung.  Aber  der  Finne  ist  gutherziger  Art  —  wie  könnte 
er  denn  sonst  Dichter  sein?  —  Wehmuth  tritt  bei  ihm  an  der 
Rache  Platz  und  seine  Thränen  lösen  sich  auf  in  Lieder.  Und 
jene  Wehmuth  wiegt  schwer:  denn  sie  ist  die  ernste,  feierliche 
Stimmung  einer  ächzenden  zu  Boden  getretenen  Mannesseele; 
und  schwer  auch  wiegen  jene  Lieder:  denn  sie  gleichen  wuch- 
tigen ehernen  Geschossen,  die  nicht  meuchlings  die  Unterdrücker 
tödten,  aber,  da  sie  ja  selber  unsterblich  sind,  auf  ewighin  vor 
den  Augen  der  Welt  sie  vernichten.  AVie  viele  Runot  der  Finnen 
sind  nicht  vorhanden,  die  da  als  schmerzliche  Grabgesänge  auf 
die  zarische  Rechtspflege  und  als  düstre  Glockenklänge  sich 
dokumentiren ,  welche  die  Moskovitischen  Verdammnissukase 
betrauern,  anklagen,  verspotten! 

Wohin  man  kommt  in  Finnland,  da  tönet  Gesang;  nicht 
wüster,  bacchantischer,  lärmender:  nein  stiller,  friedlicher,  weihe- 
voller. Mit  der  elegischen  Stimmung  ist  fast  innner  die  he- 
roische,   begeisterte   und   begeisternde    unauflöslich    verbunden. 


Die  Runen  der  Finnen.  183 

In  die  seligen  Tage  der  Vorzeit,  einer  ihm  nebelhaft  vorschwe- 
benden Glanzzeit,  in  die  Glorie  der  Freiheit,  des  Heldenthums 
versenkt  sich  der  Geist  des  Finnen  zurück:  die  Mythe  wird  ihm 
zur  Aegis,  die  Poesie  zum  Palladium.  Die  Wellen  des  Ge- 
sanges durchschifft  er,  um  sich  das  goldene  Vliess  zu  holen. 
Ja,  jeder  Finne  ist  schöpferischer  Dichter  selbst,  und  zugleich 
andachtvoller  Zuhörer  fremder  Dichtungen ! 

Vor  Kurzem  ward  in  St.  Petersburg  eine  Finnin  als  Im- 
provisatorin bewundert,  der  eine  erstaunenswerthe  Begabung 
eigen  war,  finnische  Runot  zu  citiren  wie  selber  zu  dichten.  Sie 
war  eine  einfache  Bauersfrau,  Greta  Jakobstochter  geheissen, 
und  gebürtig  aus  Haapasalo  in  der  Filialgemeinde  Ober-Wetil 
des  Kirchspiels  Gamla  -  Karleby.  Von  da  reisete  sie  durch 
ganz  Finnland,  und  sang  zur  Kantele,  der  nordischen  Harfe, 
die  sie  sich  selbst  gebaut  und  besaitet,  mit  glockenreiner  Stimme 
die  schönsten  Melodien.  Sie  zog  wandernd  durch  die  Städte 
des  Landes:  Gamla-  und  Ny- Karleby,  Jakobstad,  Brahestad, 
IHcaborg,  Jywäskylä,  Tawastehus,  Helsingfors,  Wiborg  lauschten 
mit  inniger  Freude  dem  süssen,  rührenden  Liede,  welches  von 
den  Lippen  dieser  nordischen  Sap})ho  klang.  Aber  am  liebsten 
sang  sie  selbst  in  stillen,  traulichen  Kreisen,  unter  Ihresgleichen, 
wo  ihre  Stimme  am  lebendigsten  verstanden  ward.  Und  ein 
Scherflein  für  die  Ihrigen,  begleitet  von  einem  freundlichen 
Händedruck  genügte  ihr.  „Das  Kind  des  grünen  Waldes,  was 
sollte  es  im  Lampenschein  eines  Salons?  Dafe  Volkslied  giebt 
keine  Conzerte  I"  so  ruft  Topelius,  der  talentvolle  Kcdakteur  der 
Helsingforser  Zeitung  aus,  der  die  liebliche  Erscheinung  bereits 
im  Jahre  1853  gesehen  und  bewundert.  —  Auch  hätte  sie 
nimmer  um  Lohn  gesungen,  aber  bittere  Armuth  drängte  sie: 
sie  hatte  Brot  zu  schaffen  für  einen  kranken  Mann  und  für 
acht  Kinder!  Man  befragte  sie:  wer  sie  dichten  gelehrt?  Sie 
schlug  die  Augen  nieder  und  sagte  tonlos:  „Waiwa,"  d.  h.  zu 
deutsch:  der  Kummer!  — 

Das  ist  nun  P^ine  jener  finnischen  Kantelesängerinnen ,  die 
berühmt  geworden,  just,  weil  sie  die  Welt  durchzog,  weil  sie 
in  der  Newastadt  sich  hören  liess,  weil  öffentliche  Zeitschriften 
die  Tuba  ihres  Ruhms  erhoben.  Denn  auch  die  St.  Peters- 
burger  Zeitung    vom    10.    (22.)    März    vorigen    Jahres    widmet 


184  Die  Runen  der  Finnen. 

unter  der  Aufschrift:  „Eine  finnische  Volkssängerin  in  St.  Pe- 
tersburg" dem  Verdienste  jener  Bäuerin  drei  Spalten  ihres  Feuil- 
letons. Wäre  Greta  Jakobstochter,  die  schon  im  6.  Jahre  ihres 
Lebens  auf  einer  sechssaitigen  Kantele  sang,  begleitend  das 
Lied  eines  heimathlichen  Greises,  in  Haapasalo  geblieben:  Aver 
hätte  ihrer  und  ihrer  Runen  gedacht?  In  der  Wildniss  ihrer 
Heimath  sang  ja  ein  Jeder,  und  als  ein  superkluger  Dandy  aus 
St.  Petersburg  ihr  die  Frnge  vordolmetschen  liess :  mein  Täub- 
chen,  wie  erlernt  sich  denn  so  süsser  Gesang?  Da  antwortete 
sie  unbefangen,  der  erlerne  sich  ja  von  selber,  sie  sänge  ja  nur 
Das  heraus,  was  in  ihrem  Innern  lebe.  Und  als  ein  Anderer 
sie  über  den  Gesang  ihrer  Landsleute  befragte,  da  wunderte  sie 
sich  ob  der  Frage  und  sprach:  Unsere  Bauern  singen  Alle; 
der  Sohn  singt  Das  nach,  was  er  vom  Vater  gehört  hat,  und 
vergisst  er's  einmal,  so  erfindet  er  selber  Neues.  — 

Aus  diesem  Umstand  ist  denn  die  Textvariation  in  den  fin- 
nischen Runot  erklärlich.  Nirgends  circuliren  soviel  Abweichun- 
gen eines  Textes  als  in  Finnland.  Jedes  Kirchspiel,  jede  Ge- 
meinde hat  ihre  besonderen  Volkslieder.  Zudem  fehlt  ein 
eigentlicher  Grundtext,  da  das  Lied  nur  im  Munde  lebt  und  nicht 
aufgezeichnet  ist.  Was  überhaupt  von  den  Tagen  Porthen's, 
Gottlund's,  Schröter's  und  Anderer  her  in  Büchern  zerstreut 
und  gesammelt  ist,  haben  nicht  Finnen  geschrieben,  sondern 
Fremde,  die  sich  für  die  Poesie  des  Nordens  interessirten.  Hatten 
doch  Goethe  und  Herder  bereits  den  Sinn  für  die  Schönheiten 
des  Volksliedes  empfänglich  gemacht;  hatte  doch  neben  der 
Theilnahme  für  die  antike  Dichtung  schon  der  Glaube  sich  gel- 
tend gemacht,  dass  Classicität  auch  in  der  Poesie  des  Orients, 
bei  Indern,  Persern,  Arabern  zu  finden  sei;  hatte  man  sich  doch 
sogar  berauscht  durch  den  Nebelbecher,  den  des  geistvollen  und 
urpoetischen  Maepherson  schlaue  Hand  der  gläubigen  Welt  kre- 
denzte: wie  hätte  man  unempfindsam  bleiben  sollen,  als  die  zau- 
berhafte Rose  der  finnischen  Poesie  so  mit  einem  Male  ihren 
duftreichen  Kelch  entfaltete?  Wie  wäre  es  denkbar  gewesen, 
dass  nicht  allüberall,  wo  die  Phantasie  noch  ihre  Wunder  zu 
üben  weiss,  alle  Saiten  der  menschlichen  Seele  angeklungen  und 
gebebt  hätten,  bezwungen  von  der  Harmonie  der  Tone,  die  in  den 
Liedern  der  Runot  lebt?     Und  wie  wäre  es  endheh  zu  erklären 


Die  Runen  der  Finnen.  185 

gewesen,  wenn  nicht  selbst  die  zur  Wolkenburg  Wäinämöinen's 
(des  nordischen  Apollo)  heranklimmende  gelehrte  Forschung 
von  der  poetischen  Uranlage  des  finnischen  Volks  entzückt  ge- 
wesen wäre  und  die  Vollzahl  der  runischen  Dichtunoen  doku- 
mentirt  hätte.''  ~ 

Hinsichts  des  Numerischen  hätten  wir  nun  freilich  nicht 
Vieles  zu  bewundern,  dafern  es  sich  hier  um  gehaltlose  und 
unförmliche  Dichtungen  handelte,  wie  sie  wohl  der  Genius  manches 
anderen  halb  verwilderten  und  unknltivirten  Volkes  zu  Tage 
fördert.  Denn  ein  gewisser  poetischer  Schaffensdrang  beseelt 
nach  unserm  Dafürhalten  ein  jegliches  Volk  der  Erde.  Auch 
der  Barbar  übt  sich  im  Sänge.  Er  muss  singen,  da  Ahnungen 
der  Gottheit  durch  seine  Seele  ziehn:  und  die  Religion  ist  die 
Mutter  der  Dichtung. 

Aber  Das  ist  das  wahrhaft  Int-eressante  und  in  der  That 
Staunenswerthe,  dass  der  Urtyp  jener  nordischen  Poesien  meist 
von  vollendeter  Schönheit  ist;  dass  der  Genius  der  finnischen 
Sänge  nicht  bloss  eine  freie  und  fröhliche  Seele  zeigt,  sondern 
auch  einen  stolzflatternden  Königsmantel  um  die  blendenden 
Schultern  geschlagen;  und  dass  selbst  die  Splitter  jener  durch 
Jahrhunderte  fortgewachsenen  Runeneiche  noch  so  zahlreich  und 
so  zierlich  sind,  dass  sie  die  blühendste  aller  Zauberschöpfungen, 
das  wunderherrliche  Nationalepos  der  Finnen,  die  Kalewala  oder 
KalcAvsage,   zur  Entfaltung  zu  bringen  vermochten. 

Ueber  diese  Dichtung,  die  den  Glanzpunkt  der  Runenpoesie 
bildet  und  die  mir  recht  eigentlich  eine  Verherrlichung  jenes 
finnischen  Apollo,  Wäinämöinen,  zu  sein  scheint,  die  aber  auch 
treffliche  Elpisoden  enthält,  die  mit  jener  Göttersage  in  Ver- 
bindung stehen  und  mit  ihr  zusammen  ein  abgeschlossenes  und 
harmonisches  Ganze  bilden,  will  ich  hier  kein  Wort  verlieren. 
Der  Altvater  Grimm  und  viele  Andere  haben  sattsam  ihrer  ge- 
dacht und  sich  für  sie  begeistert,  wie  einst  der  Altmeister  Goethe 
sich  an  der  Sakuntala  erfreute. 

Hier  liegt  übrigens  keine  Mystifikation  vor,  wie  bei  Mac- 
pherson's  Ossian.  Denn  dem  schönen  in  Helsingfors  im  Jahre 
1852  erschienenen  deutschen  Texte  von  Anton  Schiefner,  läuft 
der  finnische  Urtext,  gesammelt  von  der  Finnischen  Literarischen 
Gesellschaft  und   herausgegeben  von  Dr.  Lönnroth,  vom  Jahre 


186  Die  Runen  der  Finnen. 

1849,  zur  Seite.  Er  enthält  50  Runengesänge  in  22,793  Versen. 
Männer  von  europäischem  Ruf  wie  Castren,  Sjögren,  Kellgren, 
Renvall  und  unser  gelehrter  Sino-,  Fino-  und  Philologe  Schott 
haben  die  Wahrheit  und  den  Werth  der  Kalewala  auf  der  Wage 
der  Forschung  gewogen.  Am  gründlichsten  und  zugleich  zu- 
gänglichsten ist  Jakob  Grimm's  Untersuchung:  „Ucber  das  fin- 
nische Epos"  in  Hoefer's  Zeitschrift  für  die  Wissenschaft  der 
Sprache  (Bd.  I.  S.  13  —  55).  Diese  Abhandlung  erschien  im 
Jahre  1846,  als  der  ursprünglich  gesammelte  und  gesichtete 
Text  der  Kalewala  nicht  viel  über  10,000  Verse  enthielt.  Eine 
fleissige  Forschung  fügte  im  Laufe  weniger  Jahre,  Avie  aus 
unserer  obigen  Angabe  zu  ersehen ,  mehr  als  das  Doppelte  an 
Versen  hinzu,  und  begeisterte  Gelehrte  im  benachbarten  sprach- 
und  stammverwandten  Estland ,  auch  die  Rudera  der  Kalevv- 
sage  aufzuzeichnen  und  zusammenzustellen ,  Avie  sie  im  Munde 
der  Bauern  in  der  Umgegend  des  vielbesungenen  und  Sagen- 
reichen Peipussees  lebt.  Schon  Fählmann  in  Dorpat,  mein 
theurer,  unvergesslicher  Freund,  der  Gelehrteste  unter  den  Esten, 
und  für  die  Wissenschaft  viel  zu  früh  Dahingeschiedene ,  gab 
den  ersten,  starken  Impuls  dazu.  Sein  Tod  riss  eine  Lücke  in 
die  Forschung.  Dann  begeisterte  sich  Kreutzwald  in  Werro 
aufs  Lebendigste  dafür.  Und  ihm  verdanken  wir  bereits  die 
Ansammlung  von  13  Gesängen  in  12,145  Versen,  welche  die 
(jielehrtc  Estnische  Gesellschaft  in  Dorpat  zugleich  mit  der 
fiiessenden,  vielleicht  etwas  zu  elegisch  gehaltenen,  deutschen 
Version  von  Reinthal  seit  dem  Jahre  1857  herausgiebt.  Vor 
wenigen  Tagen  erst  ward  mir  aus  dem  Centralpunkte  der  ge- 
lehrten estnischen  Forschung,  aus  Dorpat  her,  die  vierte  Lie- 
ferung dieses  estnischen  Natioualepos  zugesendet,  Avelches  die 
Aufschrift  trägt:  „Kalewi  poeg,"  d.  i.  Kaiews  Sohn,  worunter 
/f«r'  l'SßyJiV  der  jüngste  der  drei  Kalewiden  verstanden  wird. 

Obschon    ein    Vergleich     lockend    erscheint    zwischen    den 
Nationalepopüen  der  beiden  Hauptstämme  der  baltischen  Finnen*) 


*)  Es  scheint  hier  der  Ort  zu  sein,  wenigstens  andeutungsweise  die 
grosse  ethnographische  Schaubühne  des  Finuismus  zu  überblicken.  Die 
Finnen  gehören  zur  Gruppe  jener  Völkerschaften,  deren  Ursitz  das  Ural- 
gebirge war,  von  wo  aus  sie  strahlenförmig  durch  die  Tiefebenen  Europas 
und  Asiens    sich    vor    aller  historischen    Zeit    verbreitet    haben.     In  Europa 


Die  Runen  der  Finnen.  187 

und  Anhaltspunkte  genug  vorhanden  sind,  selbst  heut  schon, 
wo  die  Kalewidensage  noch  unfertig  vorliegt,  kritische  Gegen- 
sätze festzustellen  zwischen  einer  hier  und  da  mehr  vorwaltenden 
poetischen  Tendenz  im  Finnisinus  oder  Estonismus  —  so  un- 
terdrücken  wir   doch  für   heut   jede  derartige    Ausführung    und 


kannten  Griechen  und  Römer  jene  Völkerschaften  schon  unter  dem  Sammel- 
namen der  Skythen.  Damit  scheint  der  Name  Tschuden,  den  sie  bei  den 
Slawen  (den  Sarmaten  der  alten  Geschichte)  führen,  verwandt.  Die  ganze 
ungeheuere  Völker-  und  Sprachengi-uppe  nennen  wir  am  besten  „Uraler." 
Sie  scheidet  sich  in  zwei  Sondergruppen:  die  der  „Tschuden"  und  „Ugrer." 
Jene  reichen  vom  Ural  bis  zum  Baltischen  Meere ;  diese  bis  zum  Oby. 
Jeder  dieser  beiden  llaiiptstamme  zerfällt  wieder  füglich  in  drei  Seiten- 
stämme. Der  Tschudische  Ilauptstamm  besteht  aus  den  germanisirten  oder 
eigentlichen  Finnen,  den  Wolgischen  Finnen  und  den  Permiern,  die  einst 
das  alte  Kulturland  Biarmien  innehatten.  Sirjänen,  Permjäken  und  Wotjakon 
bilden  heut  die  drei  Unterabtheilungen  der  Perniier;  Mordwinen,  Mok- 
schaner  und  Tscheremissen  die  drei  Unterabtheilungcn  der  Wolgischen 
Finnen  und  die  eigentlichen  Finnen,  Esten  und  Lappen  die  drei  Zweige  der 
baltischen  oder  germanisirten  Finnen.  Die  Lappen  haben  nur  eine  gemein- 
same Ilauptsprache,  die  Esten  ihrer  zwei,  diejenige,  die  in  Reval,  und  jene, 
die  in  Dorpat  geredet  wird.  Unter  den  Fijuien  selbst  hat  man  auf  mehr 
sprachliche  Nuancen  zu  reflektiren.  Die  Kareier  im  Norden  und  Osten  reden 
einen  sehr  rauhen  Dialekt,  die  harte  Obersprache,  beeintlusst  durch  die 
Nähe  der  Russen,  deren  scharfe  Zischlaute  sie  selbst  übernommen  haben, 
die  südlichen  Finnen,  die  eigentlichen  Suomalaiset,  um  Abo,  sprechen  einen 
überaus  weichen  Dialekt,  die  schmeidige,  consonantarme  und  vokalreiche 
Untersprache,  beeinflusst  durch  die  Nähe  der  Schweden  und  durch  das  flüs- 
sige pjlement  des  Meeres.  Mitteninne  zwischen  dem  Dorismus  der  finnischen 
Sprache  (dem  karelischen  Dialekt)  und  ihrem  Ionismu.s  (dem  aboschen  Dia- 
lekt) finden  wir  den  eigentlichen  Atticismus  des  Finnenthums  in  den  mitt- 
leren Distrikten  des  Landes,  in  Satakunta,  Tawastland  und  Oesterbotten. 
Hier  fehlen  die  entstellenden  Russicismen  und  Sueticisuien  in  der  finnischen 
Sprache  und  sie  giebt  sich  dar  in  aller  ihrer  Reinheit,  Correktheit  und  Glätte. 
Diesen  edelsten  Kern  des  Finnismus  können  wir  als  den  tawastischen  Dialekt 
kennzeichnen.  Ein  vierter  Dialekt  ist  der  olonzische,  gesprochen  von  den 
Finnen  des  Gouvernements  Olonez;  er  gilt  für  rauh,  unbit'gsani.  aller  Ela- 
sticität  in  der  Flexion  entbehrend,  die  doch  gerade  das  ILauptkriteriuni  der 
finnischen  Sprache  ist.  Ausserdem  zeigt  sich  dieser  Dialekt  mit  vielfachen 
russischen  Elementen  amalgamirt.  Dasselbe  gilt  von  einem  fünften  Dialekt, 
den  die  Watialaiset  um  Narwa  reden.  Hier  ist  zwar  nicht  Rauhheit  und 
Härte  in  den  Formen  vorhanden,  aber  eine  anderseitige  Entstellimg  durch 
abschwächende  und  erweichende  Elemente,  die  durch  die  Deutschen  in  ihn 
eingedrungen  sind.  —  Koimten  wir  den  bis  jetzt  betrachteten  ersten  Haupt- 


188  Die  Runen  der  Finnen. 

wollen  vor  der  Hand  nur  folgende,  ganz  allgemeine  und  ober- 
flächliche Andeutungen  uns  erlauben,  die  schon  ein  flüchtiger 
Hinblick  auf  die  beiderseitigen  Sagenkreise  uns  an  die  Hand 
gab.  Ich  möchte  sagen:  ich  habe  die  estnische  Sage  mit  Ent- 
zücken gelesen,   aber    die    finnische   mit  Ehrfurcht.     Durch  das 

stamm  der  Uraler.  den  tschudischen,  zugleich  als  den  Nord-  und  Weststamm 
dieser  weitverbreiteten  Sprachen-  und  Völkergruppe  betrachten,  so  bilden 
die  ugrischen  Völker  den  Süd-  und  Oststamm  derselben,  der  sich,  mit  Aus- 
nahme der  INIagyaren  zumeist  in  den  Niederungen  Sibiriens  ausdehnt.  Auch 
er  enthält  drei  Unterabtheilungen,  die  Magyaren,  die  Wogulen  und  die 
Ostjaken.  Die  Einreihung  der  Völker  Ungarns  in  dieses  Sprachengeschlecht 
ist  längst  nachgewiesen  und  über  allen  Zweifel  erhoben.  Sie  bilden  nebst 
den  baltischen  Finnen  das  einzige  Kulturvolk  des  ganzen  riesigen  uralischen 
Stamms.  Keiner  der  übrigen  Zweige  hat  Literatur  und  Schrift,  oder  doch 
höchstens  nur  das  Neue  Testament  und  die  Psalmen.  Vermöge  der  poli- 
tischen Lage  hat  das  Magyarenthum  sich  mit  Elementen  des  Germanen-, 
Slawen-  und  Tatarentliums  befruchtet.  Aber  indem  es  alle  jene  Sprachen 
in  sich  absorbirt,  hat  es  die  schöne  Selbständigkeit  nicht  zum  Opfer  ge- 
bracht. Ja  die  türkischen  Spraehreste  der  Kumanen  und  Jazygen  sind 
spurlos  in  dem  Wohllaut  und  der  Fülle  der  magyarischen  Sprache  unter- 
oder  vielmehr  aufgegangen.  Was  die  eigentlichen  Finnen  in  der  Nordgruppe, 
das  sind  die  Ungarn  in  der  Südgruppe  der  uralischen  Völker.  AVogulen 
und  Ostjaken  bihleten,  wie  wir  zeigten,  die  weiteren  Stämme  dieser  letzteren 
Gruppe.  Bei  den  Wogulen  lassen  sich  vier,  bei  den  Ostjaken  fünf  Unter- 
abtheilungen  mit  dialektischen  Spriichimterschieden  herausstellen.  Die  Wo- 
gulen an  der  Tschussowaja  reden  anders,  als  jene  um  Werchoturje,  Tscher- 
dym  oder  Beresow.  Bei  Beresow  reiht  sich  an  die  wogulische  Sprachen- 
sphäre  der  Kreis  der  ostjakischen  Dialekte  an;  wir  zählen  als  solche  die 
von  Beresow,  am  Narym,  am  Jugan,  bei  Lumpokolsk  und  Wassjugansk. 
Die  übrigen  Stämme  der  Ostjaken,  die  sich  bis  zum  Jenisei  und  drüber 
hinaus  verbreiten,  gehören  zum  samnjedisehen  Sprachengeschlecht,  das  zwar 
"Wortbildungen  mit  den  Uralern  gemein  hat,  in  der  Syntax  aber  gewaltig 
abweicht.  —  Klaproth  hat  in  seiner  z.  Th.  veralteten,  oft  unkritischen  Asia 
polyglotta,  Sjögren  in  seiner  gediegenen  Abhandlung  „über  die  finnische 
Sprache  und  ihre  Literatur"  (St.  Petersb.  1821)  vergleichende  Uebersichten 
zur  Linguistik  der  uralischen  Sprachen  gegeben.  Leider  fehlen  bei  Sjögren 
mehrere  Hauptsprachen;  so  das  Estnische,  worüber  Hügel,  das  Lappische, 
worüber  Possart  belehren  konnte.  Auch  kann  der  sirjänische  Theil  jenes 
Verzeichnisses  nunmehr  bereichert  werden  durch  Flörow,  Castren  und  v.  d. 
Gabelentz,  welcher  letztere  auch  hinsichts  des  Wotjakischen  zu  vergleichen 
ist.  Für  die  Sprachen  der  Ostjaken  können  nun  die  Forschungen  Erman's 
wie  Erdmann's  als  rechtgültig  eintreten.  Das  Ungrische  aber  hätte  Sjögren 
aus  zahllosen  Compendien    und  Lexicis    entlehnen    und   einschalten  können. 


Die  Runen  der  Finnen.  189 

Epos  der  Esten  ward  ich  im  innersten  Herzen  gerührt,  durch 
das  Epos  der  Finnen  bis  in  die  Nerven  der  Seele  erschüttert. 
Die  Kalewala  der  Finnen  gleicht  einer  im  Feisten  des  festen, 
ewigen  Urgebirges  wurzelnden  Ceder;  der  Kalewi  poeg  der 
Esten   ist  einer    Cypresse   gleich ,    aus    weichem ,  schwellendem 

Wir  wollen  hier  nicht  zu  ausführlich  sein,  uud  nur  ein  paar  Wortbe- 
griffe durch  die  Reihen  des  uralisehen  Sprachstarames  hindurchführen,  ül)er- 
haupt  aber  nur  da  die  Radices  aufzeichnen,  wo  sie  sich  auf  ein  gemein- 
sames Etymon  zuriickleiten  lassen.     Wir  wählen  folgende  Worte : 

Gott:  Tawastisch  -  finnisch  Juniala,  Karelisch  jumala,  Olonzisch  jumal, 
jomal;  Estnisch  in  beiden  Hauptdialekten  jummal;  Lappisch  jupmel, 
ipmel.  Tscheremlssiseh  jumü.  Sirjiinisch,  permisch  jen;  Wotju- 
kisch  jumar. 

Wasser:  Finnisch  (bei  Tawastern,  Karelen,  Olonzen)  wesi ;  Estnisch  (bei 
Revalern  und  Dörptern)  wessi ;  Lappisch  tjatse.  Mordwinisch,  mok- 
schanisch  wied;  Tscheremissisch  wiiit.  Sirjänisch,  permisch  wa; 
AVotjakisch  wu.     W^ogulisch  uti,  wti.     Ungrisch  vis. 

Feuer:  Finnisch  (in  allen  Dialekten)  tuli;  Estnisch  (R.  D.)tulli;  Lappisch 
tällä  (spr.  toUo).  Mordwinisch  toi,  Mokschanisch  toi,  Tschere- 
missisch tili.  Permjäkisch  toi;  Wotjakisch  tlil.  Ungrisch  tüz.  Wo- 
gulisch taut,  tat.  Ostjakisch  tut,  tjod. 
Stein:  Tawastisch  kiwi.  Karelisch  -  Olonzisch  kiwi,  ziwi,  tschiwi;  Estnisch 
(R.  D.)  kiwwi;  Lappisch  ketke,  kalle.  Mordwinisch  käw;  Mok- 
schan.  kew;  Tscher.  kju.  WoguUsch  ku,  kow.  Ungrisch  kö.  Ost- 
jakisch kiw,  keu,  koch,  kooch. 

Wolke:  Finnisch  (in  allen  Dialekten)  pilwi;  Estnisch  (R.  D.)  pilw  :  Lappisch 
palw,  palwa.  Mordwinisch  pjel,  Tscheremissisch  pil.  Wotjakisch 
pilem.     Wogulisch  pul.  (Türkisch-tschuwaschisch  pjult.) 

Nacht :  Tawastisch  üö;  Karelisch  üö;  Olonzisch  üo;  Estnisch  (R.  D.)  ö;  Lap- 
pisch ija.  Mordwinisch,  mokschanisch  wä,  wei;  Tscherem.  jut.  Sir- 
jänisch woi;  Permisch  oi;  Wotjakisch  ui.  Wogulisch  ji ,  jy.  Un- 
garisch ej.     Ostjakisch  ei,  jig. 

Schnee:  Finnisch  (in  allen  Dialekten)  lumi;  Estnisch  {R.  D.)  lunimi;  Lap- 
pisch lopme.  Mordwinisch,  mokschanisch  lo,  liiu;  Tscherem.  lüm, 
Sirjänisch  Ijym  ;  Permisch  lüm;  AVotjakisch  lümü.  Ostjakisch  lontsch, 
lontschi,  lans. 
Erde:  Tawastisch  niaa,  mulda;  Karelisch  ma,  nuia,  niüa;  Olonzisch  ma; 
Estnisch  (R.  D.)  ma,  muld.  Mordwinisch,  mokschanisch  moda. 
Sirjänisch,  permisch  mu,  ma;  Wotjakisch  musjöm.  W^ogulisch  ma, 
mag.     Ostjakisch  my,  mü,  müg. 

Winter:  Tawastisch  talwi;  Karelisch  talawi;  Estnisch  (R.  D.)  talwe,  talw 
(Rev.  auchtalli);  Lappisch  talwe.  Mordwinisch,  tscheremissisch  tele. 
Wotjakisch  tollte    Ungarisch  tdl.  Wogulisch  teli.  Ostja  kisch  telli. 


180  Die  Runen  der  Finnen. 

Moosgriinde  emporsteigend.  Diese  rührt  an  den  rosigen  Saum 
der  vorüberschwebenden  Wolke,  jene  erreicht  das  unsterbliche 
Blau  des  himmlischen  Aethers.  Schmetternde  Nachtigallenklänge 
dringen  aus  der  Kalewala  an  die  Seele  des  sich  selber  ver- 
gessenden Horchers  und  betäuben  ihn  und  reissen  ihn  stürmisch 

Mond:  Tawastisch  kuu;  Karelisch  kudonia;  Olonzisch  ku,  köu;  Estiiiscb 
(R.  D.)  ku;  Mordwinisch  ko;  Mokschanisch  kdu. 

Thon:  Tawastisch  sawi,  sawwii ;  Karelisch  sawi,  schawi ;  Olonzisch  sawi-; 
Estnisch  (R.  D.)  sawwi.  Mordwinisch  söwon,  siiwon^  Mokscha- 
nisch siiwan;  Tscheremissisch  schun.  Sirjäniscb,  perniisch,  wot- 
jakisch  siiii.     "Wogiüisch  sul.     Ostjakisch  sare. 

Eiche:  Finnisch  (in  allen  Dialekten)  tammi;  Estnisch  (R.  D.)  tarn.  Mord- 
winisch tuma;  Tscheremissisch  tümo.     Wotjakisch  tii. 

Birke:  Finnisch  (in  allen  Dialekten)  koiwu;  Estnisch  (D.)  köiw;  (R.) 
kask.     Tscheremissisch  kuä.     Permisch  küidsch;    Wotjakisch  kuits. 

Hand:  Tawastisch  käsi ;  Karelisch,  olonzisch  kasi,  käsi,  zäsi,  tscbäsi; 
Estnisch  (R.  D.)  kässi ;  Lappisch  kät,  käta.  Mordwinisch  kede, 
kcd;  Mokschanisch  käd;  Tscheremissisch  kit.  Sirjänisch,  permisch, 
wotjakisch  ki,  ku.  Wogulisch  kata,  kat,  kät.  Ungarisch  kez. 
Ostjakisch  ket,  köt. 
Zunge:  Tawastisch  kieli;  Karehsch,  olonzisch kijali,  keH,  kelli,  zieh,  tschieli; 
Estnisch  (R.  D.)  keel;  Lappisch  kläl,  kiäll.  Mordwinisch,  mokscha- 
nisch kjel,  kel;  Tscheremissisch  jolma.  Sirjänisch  kyw;  Permisch, 
Wotjakisch  kyl. 

Herz:  Tawastisch  -  finnisch  siidän,  sülän  ;  Karelisch  sui  wän ;  Olonzisch  süwen : 
Estnisch  (R.  D.)  südda  (D.)  söa.  Mordwinisch,  moksclianisch  sidi ; 
Tscheremissisch  schium',  schym.  Sirjänisch  sjölöm;  Permisch 
tschöllem ;  Wotjakisch  siulem.  Wogulisch  scbim,  schyraa.  Un- 
garisch szii,  sziv.  Ostjakisch  sem,  semel. 
Blut:  Finnisch  (in  allen  Dialekten)  weri.  Estnisch  (R.  D.)  werri.  Lap- 
pisch warr,  warra.  Mordwinisch  war;  Mokschanisch  wer;  Tsche- 
remissisch wor,  wiur'.  Sirjänisch,  wotjakisch  wir.  Woguhsch  ur, 
ure,  wygr.     Ungarisch  ver.     Ostjakisch  wyr. 

Bein,  Knochen:  Tawastisch,  karehsch  luu;  Olonzisch  lu;  Estnisch  (R.D.) 
lu.  Tscheremissisch  lu.  Sirjänisch,  permisch,  wotjakisch  ly.  Wo- 
gulisch lu.     Ostjakisch  luu,  lu,  ly,  luch. 

Leber:  Finnisch  (in  allen  Dialekten)  maksa;  Estnisch  (R.)  maks ;  (D.) 
mas,  mass ;  Lappisch  muekse.  Tscheremissisch  möksch.  Wot- 
jakisch muss. 
Ader:  Finnisch  (in  allen  Dialekten)  suoni;  Estnisch  (R.  D.)  soon.  Tsche- 
remissisch schdn'.  Wotjakisch  sän. 
Auge:  Tawastisch,  olonzisch  silmä;  Karelisch  silmä,  schilniä;  Estnisch 
(R.  D.)  silm  ;  Lappisch  tjalme.  Mordwinisch  sielmä ;  Mokschanisch 


Die  Runen  der  Finnen.  191 

hinfort  mit  der  feierlichen  Magie  des  Gesanges ;  leise,  liebliche 
Lerchentriller  wiegen  im  Kalewi  poeg  den  Lauschenden  ein 
und  stehlen  sich  süss  und  spielend  in  die  Tiefen  seiner  Brust. 
Dem  Leser  des  Letzteren  begegnet  es  Avohl,  dass  er  sanft  ent- 
schlunmiert  während  des  weichen  Gesanges,  aber  der  Leser  des 
Erstoren  bleibt  in  ewiger  Spannung :  alle  Fibern  seines  Herzens 
sind  straff  angezogen  und  seine  Pulse  flammen  empor.  Die 
Kalevvala  ist  eine  Zauberin,  sie  trägt  in  Händen  einen  mäch- 
tigen goldenen  Zauberstab  und  eine  demantene  Fessel;  damit 
berührt  und  umschlingt  sie  Alle,  die  in  die  VVunderkreise  ihrer 
Dichtung  treten.  Der  Kalewi  poeg  ist  auch  ein  Zauberer,  aber 
er   berührt  die  Herzen    nur  leise    mit    silberner  Ruthe   und    die 


selma.     Sirjänisch,    pennisch,    wotjalrisch    sin.     Wogulisch    schara, 
schem.     Ungarisch  szem.     Ostjakisch  sem. 

Fuss:     Tawastisch  jalka;    Kareh'sch  jalja;    Olonzisch  jalgu;    Estnisch    (R. 
D.)  jalg:  Lappisch  juolke.  Tscheremissisch  jal,  jol. 

Fisch:  Finnisch  (in  allen  Dialekten)  kala;  P>stnisch  (R.  D.)kalla;  Lappisch 
kwele.  Mordwinisch  kal,  kala;  Mokschanisch  kal;  Tscheremissisch 
kol.  Wogulisch  kol,  kiil,  kwol,  chul.  Ungarisch  hal.  Ostjakisch 
kul,  chul.  Samojedisch  chäla,  chälle,  chfilija,  charre,  kdrre,  kuUe; 
kolle,  kuäl,  kuölle;  kola,  käilä,  kele.  Bei  den  Südost- Asiaten  in 
Annam  und  Fegu  ka,  ki\.  Tschuwaschisch  bei  Klaproth  pöla,  piilo, 
bei  Sjögren  pdla.  In  allen  übrigen  türkischen  Sprachen:  balych, 
balyk,  baläk,  bal(5k,  baluch,  palach  u.  s.  w. 
Ei:  Finnisch  (in  allen  Dialekten)  niuna;  Estnisch  (R.  D.)  munna ;  Lap- 
pisch manne.  Mordwinisch  monäh ;  Tscheremissisch  müno.  Wo- 
gulisch mong;  Ungarisch  mony.  Ostjakisch  mok.  Samojedisch 
mona,  mönna,  mönu,  müni. 

Dieses  Verzeichniss,  welches  zwar  nur  eine  sehr  geringe  Anzahl  von 
Wörtern  enthält,  die  wir  durch  die  sprachlichen  Kreise  des  Uraler -Stammes 
hindurchgeführt  haben,  wird  gleichwohl  genügen,  die  Verwandtschaftsver- 
hältnisse aller  derjenigen  Sprachen  darzuthun,  die  zu  jenen  Kreisen  gehören. 
Unter  allen  hier  verglichenen  Sprachen  ist  die  eigentlich  finnische  die  weichste, 
biegsamste,  schmeidigste.  Man  könnte  sie  als  den  italienischen  Dialekt  in 
der  Gruppe  jener  uralischen  Sprachen  bezeichnen.  An  Flexibilität  und  For- 
menreichthum,  sowohl  was  Declination  (die  14  Casus  zälilt)  als  Conjugation 
betrifft  (wo  sie  in  Hinsicht  auf  Tempora  und  Derivation.  Unglaubliches 
leistet),  kommt  der  finniischen  Sprache  vielleicbt  keine  Sprache  der  Erde 
gleich.  Sie  überbietet  hierin  nicht  nur  weit  die  germanischen  und  roma- 
nischen Sprachen,  sondern  selbst  die  slawischen,  vor  welchen  sie  ausserdem 
den   Wohlklang  voraus  hat.  Der  Verf. 


J92  Die  Runen  der  Finnen. 

magische  Kette,  die  er  schlingt,  ist  aus  edelen  Steinen  gewebt, 
die  zwar  flimmern,  jedoch  des  Diamantgefunkeis  entbehren.  Der 
Kalewidengesang,  das  Lied  vom  Kalewi  poeg,  ist  dem  falben 
mitternächtlichen  Mondlicht  gleich,  das  über  Sümpfen  und  llaiden 
hinsterbend  und  zaghaft  zittert;  der  Sang  von  Wäinämöinen, 
das  Lied  der  Kalewala,  ist  dem  brennenden  mittäglichen  Son- 
nenstrahl gleich,  der  über  Seespiegeln  und  Granitfelsen  lebens- 
kräftig und  freudig  leuchtet.  Die  Kalewala  ist  ein  Götterepos, 
der  Kalewi  poeg  ein  Heldenepos.  Jenes  ist  die  nordische  Ilias, 
dieses  die  nordische  Odyssee.  Beide  sind  der  Kränze  der  Ewigkeit 
werth,  beide  ergänzen  sich,  Avie  Goethe  und  Schiller,  wie  Geist 
und  Seele,  wie  Verstand  und  Gefühl  sich  ergänzen,  vervoll- 
ständigen, durchdringen.  Etwas  Charakteristischeres  zur  Be- 
zeichnung der  Hauptunterschiede  beider  tschudischen  Dichtungen 
wissen  wir  in  der  That  nicht  zu  sagen.  — 

Und  somit  lassen  wir  das  estnische  Nationalepos  fallen  und 
kehren  zum  finnischen  Nationalepos  zurück.  Es  drängt  sich  uns, 
wenn  wir  dieser  letzteren  grossen  Dichtung  gegenüberstehen  — 
denn  vergessen  wir  nicht,  dass  der  Umfang  der  Kalewala  durch 
23,000  Verse  bestimmt  wird  —  unabweisbar  die  Betracht  nähme 
auf,  dass  das  Homeridenthum  jener  Nationaldichtung  ein  ur- 
poetisches,  sang-  und  gottbegabtes,  hochgeniales  sein  müsse. 
Ein  Volk,  welches  im  Stande  ist,  eine  so  umfang-  und  inhalt- 
reiche Heldendichtung,  wie  sie  uns  in  der  Kalewala  vor  Augen 
lieo-t,  rein  aus  sich  selbst  herauszuschaffen,  ohne  dass  ihm  eine 
Anregung  und  Unterstützung  von  Aussen  ward,  ohne  dass 
fremde  Poesien  und  Sagenkreise  bei  der  geistigen  Conception 
und  dichterischen  Zeugung  influirten ;  ein  Volk ,  welches  solche 
Wunderschöpfungen  hinstellte  ohne  Ehrgeiz,  ohne  Ruhmsucht, 
ohne  Anspruch  auf  VeröfFenthchung ,  auf  Bekanntwerdung ,  auf 
Verbreitung  jener  Dichtimgen  (denn  der  Finne  liest  nicht,  schreibt 
nicht,  und  der  Deutsche,  Schwede  und  Russe  versteht  kein 
Wort  seiner  vokalreichen,  melodischen  Sprache);  ein  Volk,  welches 
gar  keinen  Werth  legt  auf  die  eigenen  Poesien ,  die  da  würdig 
sind  unvergänglicher  Palmen,  und  welches  es  Fremden  überlässt, 
dieselben  zu  sammeln  und  zum  ewigen  Kranze  zusammenzu- 
flechten; ein  Volk  also,  welches  rein  aus  poetischem  Urtriebe, 
unbewusst,  wie  es  die  Nachtigall  thut,  sinnt,  schaflft,  dichtet  und 


Die  Runen  der  Finnen.  193 

singt  und  Runot  ersinnt,  dichtet  und  singt,  wie  die  Kalewala: — 
ein  solches  Volk  ist  als  ein  hochbegabtes ,  poesiereiches ,  benei- 
denswerthes,  fast  einzig  dastehendes  zu  kennzeichnen.  — 

Wir  haben  oben  die  Finnen  charakterisirt  als  eine  voll- 
kräftige, markige  und  un verderbte  Nation,  einen  Abdruck  wie- 
derspiegelnd ihrer  unberührten  Berge,  ihrer  jungfräulichen  Seen, 
ihrer  keuschen  Luft  —  wie  das  Volk  der  Finnen ,  so  ist  nun 
auch  seine  Poesie  eine  reine,  urgemiithliche  und  kerngesunde. 
Da  ist  nichts  Klägliches,  Weinerliches,  Fröstelndes,  was  Schauer 
und  Unbehagen  weckt  und  die  Saiten  der  Seele  herabstimmt: 
vielmehr  ist  vorhanden  in  ihr  Ernst,  Kernigkeit,  Vollkraft ;  kein 
Kastratenthura  weder  in  Gedanken  noch  Bildern,  nein  eine  Mann- 
heit,  die  sich  ebenbürtig  zeigt  jedem  vollkommenen  Volksge- 
sange,  wo  immer  Klänge  desselben  angeschlagen  worden  sind 
von  den  Tagen  Griechenlands  her  bis  zu  den  Zeiten  hinab,  wo 
das  Lied  der  provencalischen  Troubadours,  der  britischen  Min- 
strels,  der  nordischen  Skalden  oder  der  deutschen  Minnesänger 
tönte. 

Etwas  merkwürdig  Unterscheidsames  hat  die  Poesie  der 
finnischen  Runot  gleichwohl  von  fast  jedweder  anderen  Volks- 
dichtung. Während  das  epische  Element  in  der  einen,  das  ly- 
rische Element  in  der  andern  Nationalpoesie  sich  vorwiegende 
Geltung  schuf,  ja  manchem  Voiksliede,  wie  dem  italischen,  sogar 
eine  dramatische  Färbung  eigen  ist,  bedingt  durch  die  gesti- 
kulirende  Lebhaftigkeit  und  das  feurige  Naturel  des  Südländers : 
so  erscheint  die  Runenpoesie  der  Finnen  als  eine  belehrende, 
berathende ,  warnende ,  tröstende  ,  sittliche ,  ernste ,  die  aus  den 
Schätzen  der  Erfahrung  goldene  Lehren  und  Heilsprüche  in  das 
Leben  mitgiebt  und  die  Jugend  zur  Tugend  und  Tapferkeit  im 
Ertragen  der  Uebel  des  Lebens  befeuert.  Selbst  mitten  in  das 
ruhige,  klare  IMeer  des  Epos  hinein  springt  der  flüssige  Born 
der  Didaktik  und  die  Weisheit  gränzt  Thaten  und  Gedanken 
ab  und  giebt  dem  Drange  der  Handlung  eine  sichere  Haltung 
und  dem  Feuer  der  Gefühle  eine  wohlthuende  Schattirung:  wie 
wenn  ein  frischer,  fröhlicher  Windhauch  über  den  majestätischen 
Spiegel  eines  Sees  daherweht  und  auf  demselben  ein  stets  wech- 
selndes Wellengekräusel  hervorbringt. 

Die  finnische  Kalewala  ist  reich  an  Sentenzen ;  der  estnische 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXVII.  13 


194  Die  Runen  der  Finnen. 

Kalewi  poeg  nicht  minder.  Zwar  will  der  verdienstvolle  Schröter, 
der  uns  Deutschen  vor  Zeit  die  ersten  finnischen  Runot  vor- 
gelegt hat  (Stuttg.  und  Tüb.,  Cotta,  1834),  auch  der  epischen 
Gattung  derselben  eine  rein  lyrische  Färbung  abgemerkt  haben: 
dem  Sammlertalent  jenes  Mannes  die  Ehre !  aber  wir  meinen 
dennoch,  er  habe  in  seinem  Urtheil  sehr  geirrt.  In  einem  zu 
Leipzig  (bei  Falcke  und  Rösler)  bereits  vor  4  Jahren  erschie- 
nenen Büchlein,  u.  d.  T. :  „Runen  finnischer  Volkspoesie''  habe 
ich  die  Ansicht  Schröter's  durch  vielfach  beigebrachte  Citate 
zu  widerlegen  versucht.  Ich  beziehe  mich  denn  hier  auf  die- 
selben. Ein  genaueres  Studium  der  tschudischen  Dichtungen 
hat  mich  belehrt,  dass  mein  Abweichen  von  der  Schröter'schen 
Ansicht  durchaus  gerechtfertigt  sei.  Ich  habe  seitdem  eine 
Menge  Beweisstellen  gesammelt,  die  meine  frühere  Meinung 
unterstützen  und  begründen.  Die  Kalewala  hat  mir  hierbei  als 
weitere  logische  Handhabe  gedient,  und  neuerlich  auch  der  Ka- 
lewi poeg,  worüber  Näheres  zu  melden  einer  späteren  Gelegen- 
heit und  einem  anderen  Orte  vorbehalten  bleiben  mag.  — 

So  hat  denn  also,  wie  man  mir  hier  ohne  scharfe  mathe- 
matische Deduction  glauben  mag,  das  finnische  Epos  die  Stütze 
der  Didaktik  gewonnen.  Aber  auch  der  finnischen  Lyrik  ranken 
sich  Gnoraologie  und  Parömiosophie  wie  üppige,  sie  von  allen 
Seiten  umschlingende  Blumen  zu.  Ja,  Didaktik  ist  die  blü- 
hende Liane  am  Stamm  der  grünen  Runeneiche.  Das  eigent- 
liche finnische  Lied  selbst,  Leid  oder  Liebe  athmend,  ist  reich 
an  Bedacht,  Ernst  und  Würde,  bei  aller  Glut,  Inbrunst  und 
Schalkheit.  Das  ist  eben  eine  Folge  seiner  didaktischen  Fär- 
bung. Darin  sind  die  finnischen  Liebesrunot  völlig  das  Gegen- 
theil  von  den  erotischen  Volksdichtungen  der  russischen  und 
überhaupt  slawischen  Völker.  Der  Ernst  fehlt  bei  den  letzteren 
fast  immer,  die  Würde  geht  verloren  in  Wehmuth  und  Weich- 
lichkeit, daneben  herrscht  oft  plumper,  massiver  Witz,  Unge- 
bundenheit  und  Rohheit.  Dem  Finnen  geht  die  Grazie  selten 
ab;  es  giebt  finnische  Volkslieder,  die  man  den  zartesten  und 
edelsten  an  die  Seite  stellen  kann,  die  je  in  einem  Lande  gesun- 
gen wurden.  Und  wenn  man  die  Luwut  oder  Zaubergesänge  der 
Finnen  aus  ihrer  Poesie  hinwegrechnet,  Dichtungen,  die  in  jeder 
Volkspoesie  als  überflüssige  Auswüchse  erscheinen,  so  darf  man 


Die  Runen  der  Finnen.  19S 

sagen,  dass  der  Baum  der  finnischen  Nationalliteratur  nur  über- 
haupt frische,  kräftige  und  blüthenreiche  Triebe  hervorgebracht 
habe.  — 

Dabei  ist  die  metrische  Form  der  finnischen  Lieder,  der 
trochäische  Tetrameter,  als  Verstaktik  geschickt  angewandt  vne 
zur  Technik  des  Gesanges  sehr  wohl  geeignet.  Mit  dem  vier- 
mal aneinandergereihten  Trochäus  schlägt  der  Finne  die  rohe 
Ausgelassenheit  und  den  üppigen  Aufschwung  der  Gefühle  nieder, 
wo  solche  Empfindungen  sich  je  in  den  Vers  hineindrängen 
wollen.  Wie  man  Sonnenstrahlen  wohl  Pfeile  nennt,  so  könnte 
man  —  denn  der  Sonnengott  ist  ja  zugleich  der  Gott  des  Ge- 
sanges —  so  könnte  man ,  meine  ich ,  die  Lieder  der  P^innen 
auch  Schwerter  heissen,  geschwungen  wider  das  Unrecht,  die 
Unmoral,  die  Feigheit,  die  Lieblosigkeit  und  Herzenskälte. 

Das  Herz  des  Finnen  schlägt  für  Recht  mid  Gerechtigkeit ; 
Biederkeit,  Redlichkeit,  Wahrheit,  diese  hohen  Güter  des  Lebens 
sucht  man  in  der  niederen  Hütte  des  Finnen  nicht  vergebens. 
„Miestä  sanast',  härkää  sarwest'"  (den  Stier  beim  Hörn,  den 
Mann  beim  Worte) :  das  ist  ein  Spruch,  den  jeder  Finne  kennt. 
Für  die  Heiligthümer  der  Tugend,  in  der  Verfechtung  der  Ehre, 
der  Sitte,  der  Treue  opfert  der  Finne  sein  Leben. 

Und  so  auch  spricht  sich  in  den  Runen  der  Finnen  ein 
Abglanz  jener  Gesinnung  aus,  die,  weil  sie  edel  und  adelig  ist, 
auch  oft  dem  Vers  eine  aristokratische  Glätte  und  eine  saubere, 
harmonische  Abrundung  verleiht.  Denn  mit  der  Hoheit  des 
Gedankens  wächst  jederzeit  auch  die  Erhabenheit  der  Form  wo 
eines  vollendet  ist,  ist,  meine  ich,  auch  das  andere  vollkommen. 
Die  schönste  der  Blumen,  die  Rose,  verstreut  auch  den  lieb- 
lichsten Duft.   — 

Wir  sprachen  vom  trochäischen  Tetraraeter  der  finnischen 
Runot,  als  dem  gewissermassen  legalen  Metrum  derselben.  Der 
heitere,  aufspringende  Jamb,  oder  gar  der  kecke,  hüpfende  Ana- 
päst würden  ganz  unpassend  und  unharmonisch  erscheinen  dem 
ernsten ,  sittlichen  Gehalte  der  finnischen  Runot  gegenüber. 
Ausser  dem  trochäischen  Tetrameter,  der  oft,  aber  nicht  immer, 
als  trochäische  Dipodie  erscheint ,  besitzt  der  Finne  nur  noch 
den    trochäischen  Trimetcr   und    den    trochäischen    Pentameter. 

13* 


196  Die  Runen  der  Finnen. 

Beides  sind  aber  höchst  seltene  Ausnahmen  und  gleichsam  als 
regelwidrige  Abweichungen  und  metrische  Nachlässigkeiten  zu 
kennzeichnen.  Sie  mischen  sich  (und  besonders  gern  geschieht 
dies  in  den  Luw'ut,  jenen  Zaubersängen)  auch  wohl  zuweilen 
absichtvoll  ein  imd  dienen  dann  zur  Erhöhung  des  Nachdrucks, 
wie  Virgils  unfertige  Daktylen  und  Spondeen  zwischen  den  fer- 
tigen Hexametern,  die  von  einigen  Philologen  ja  in  solcher  Weise 
gedeutet  werden,  obwohl  Andere  nur  eben  das  noch  Unvoll- 
endete, einer  späteren  Ausglättung  Vorbehaltene,  darin  erkennen 
wollen. 

Auch  tritt  der  Trochäus  der  Finnen  zuweilen  untermischt 
mit  Daktylen  auf,  aber  auch  dies  ist  selten,  und  bei  weitem  die 
Mehrzahl  aller  finnischen  (sowie  estnischen  und  lappischen)  Verse 
ist  gebildet  durch  das  Metrum  des  zu  vier  Malen  wiederkehrenden 
Trochäus. 

Um  ein  paar  Beispiele  solcher  trochäischen  Rhythmen  an- 
zuführen, setzen  wir  nachfolgende  Verse  her,  die  zugleich  dem, 
der  keine  Ahnung  von  der  finnischen  Sprache  hat,    die  fremd- 
ländischen Klänge  derselben  verdeutlichen  werden: 
Tülee        I    naies  me-      |    r^n  ta-      |    käinen, 
Waan  ei   |    tule  |    turpeen     |    alta. 

Deutsch:     Wohl  zurück  vom  fernen  Meere 

Kehrt  der  Greis,  nicht  aus  dem  Grabe. 

Hü'wä        I    kdllo  I    käuwas      |    kiiulu, 

Paha  1    sano-  [    ma  e-        |    demmäs. 

Weithin  schallt  die  gute  Glocke 

Weiter  schallt  die  böse  Rede. 

Säapi         I    tü'hjän         |    pü'ütä-      |    mä'tä, 
Kowan]      |    onnen  |    osta-         |    mata. 

Nicht'ges  findet  man  ohn'  Suchen, 

Ohne  Kauf  ein  herbes  Schicksal. 

Ue'ksi        I    lämmas       |    w^ttä         i    mä'äkii, 
Koko         I    karsi-  |    na  ja-        |    noopi. 

Blökt  auch  nur  Ein  Lamm  nach  Wasser, 

Durstet  gleich  die  ganze  Heerde. 

Tikka        I    kirja-  |    wä  met-    |    sässä, 

I'hmTsen    |    ikä  (      kirja-       |    wampi. 

Schillernd  ist  der  Specht  im  Walde, 

Schillernder  ist  das  Menschenleben. 


Die  Runen  der  Finnen.  197 

Ae'mmät   I    ä'hkü-  |    dn  e-         (    la  wät, 

Küuset      I    paukku       |    en  pa-      |    lawat. 

Stöhnend  leben  stets  die  Frauen, 

In  dem  Feuer  knattern  Tannen. 

Kewe-       I    ä't  les-        |    kengin      |    k^ngät, 
Miestä       I    toista  |    toiwo-       |    essa. 

Auch  die  Wittwe  drückt  der  Schuh  nicht, 

Harret  sie  des  neuen  Freiers. 

Willai-      I    nen  on        |    a  iden       |    witsa, 
Isäa  I    ruoska         |    runte-       |    lewa, 

Witsa        I    wiera-         I    han  we-  [    rinen. 

Wollig  ist  der  Mutter  Ruthe, 

Strenger  geisselt  die  des  Vaters, 

Blutig  schlägt  des  Fremden  Ruthe. 

Diese  Verse  sind,  wie  tausend  und  abertausend  andere 
finnische,  ganz  rein  im  trochäischen  Metrum  gehalten.  Nur 
einmal  in  dem  "Verse : 

ITimisen      |    ikä     u.  s.  w. 

mischte  sich,  wie  wir  sahen,  ein  Daktylus  ein. 

Auch  in  folgenden  Beispielen  gesellen  sich  einzeln,  oder 
mehrfach ,  Daktylen  dem  trochäischen  Grundrhythmus ,  und 
schwächen  denselben  ab ,  ohne  ihn  indess  zerstören  zu  können : 

Ky'llä  mä  j    süllen  |    ky'ywin    |    ännan 

Oder:      I'tkisin      |    itkisin         (    kulla-       I    stani. 
Gerne  den  Reisezelter  geb'  ich. 
Weinen  um  meinen  Geliebten  sollt'  ich. 

Dagegen  erscheint  der  trochäische  Rhythmus  allerdings 
beinahe  aufgehoben  in  solchen  Fällen ,  wo  der  Finne  den  sonst 
gebräuchlichen  Tetrameter  abwarf,  und  ihn  gegen  den  Trimeter 
oder  Pentameter  vertauschte.  Hier  wird  das  Metrum  denn  oft 
ganz  frei  und  die  Rhythmen  erscheinen  gar  locker ,  zumal  wenn 
die  Daktylen  an  den  Ausgang  des  Verses  treten.  Da  macht 
sich  denn  beinah  ein  dithyrambisches  Versmass  geltend,  welches 
sich  leichter  zum  Gesänge  eignet  als  zur  Deklamation. 

Wir  geben  einen  Beleg  für  den  finnischen  trochäischen 
Trimeter : 


198  Die  Runen  der  Finnen. 

Si'lmäm         i    wettä  ]    wüotawät, 

Nun  kuin     |    wirta  |    wäkewä, 

Köskest       I    alas  |    mänewä. 

Thränen  dem  Aug'  entperleten, 

Wie  die  Bach'  ergiessen  sich, 

Die  vom  Hochberg  schäumen  her. 

Und  ferner  ein  Beispiel  eines  finnischen  trochäischen  Pen- 
tameters : 

Kii'win      j    mfuä       |    käunistä      )    källiötä     |    myö'ten, 
Hiekka-    |    rannan   j     liewettä      |    myöten, 
Mänin        |    minä       |    piskÖni        |    karta-        |  nohon, 
Sisköpä     I    minun     |    syömään      |    pani. 

Ging  ich  längshin  eines  entzückenden  Hügels, 

Längs  des  dünentragenden  Strandes, 

Ging  zum  Hof  ich  meiner  geliebten  Schwester, 

Speise  mir  setzte  vor  die  Schwester. 

Man  wird  zugeben,  dass  hier  der  trochäische  Rhythmus  dem 
Zerfall  nahe  ist,  während  derselbe  immer  noch  durch  ein  zartes 
Band  zusammengehalten  erscheint,  Avenn  der  trochäische  Tetra- 
meter in  Daktylen  ausläuft ;  denn  der  Tonanschlag  ist  hier  doch 
wenigstens  ein  trochäischer,  da  er  wiederholt  die  ersten  Arsen 
trifft. 

So  klingen  die  finnischen  Tetrameter: 

Hü'wät      I    pijat,      I    kduniit       |    tü'ttäret; 
Mistä        I    pahat     |    woimot      |    tulewät? 

Gute  Mägdlein,  liebe  Töchterchen ; 

Sagt:  woher  die  bösen  Gattinnen? 

fast  regelrecht,  zun;ial  die  beiden  Kürzen  am  Ausgange  im 
Finnischen  sehr  schnell  gesprochen  und  fast  in  eine  Sylbe  con- 
trahirt  werden. 
'■ "  "Was  den  Eeim  betrifft,  dies  Kennzeichen  germanischer  und 
romanischer  Dichtkunst,  der  aber  auch  dem  Orient  und  selbst 
der  slawischen  Poesie  der  Ileutzeit  eigen  ist,  so  kennen  die 
finnischen  Runot  davon  auch  nicht  die  leiseste  Spur.  In  den 
Sprichwörtern  der  Finnen  kommen  wohl  ein  paar  vereinzelte 
Beispiele  von  Reimversuchen  vor,  es  sind  aber  das  solche  Fälle, 
wo  es  unzweifelhaft  erscheint,  dass  hier  das  deutsche  oder 
schwedische  Vorbild  influirt  habe.  Diese  so  ganz  ausnahms- 
weise auftretenden  Reime  verdienen  demnach  gar  keine  Be- 
achtung.   Wo  aber  in  den  lyrischen  oder  epischen  Liedern  der 


Die  Runen  der  Finnen.  199 

Finnen,  vor  allen  in  der  „Kalewala,"  einmal  ein  Reimklang  sich 
hörbar  macht,  da  ist  derselbe  ganz  unvvillkiirlich  und  keineswegs 
zur  Erwirkung  eines  Effekts  in  die  Dichtung  hineingekommen. 
Da  die  finnische  klangvolle  und  mit  Vokalen  so  reich  ausge- 
stattete Sprache  den  ßeim  so  leicht  ermöglichen  könnte,  so 
muss  man  eben  bei  der  Verzichtleistung  des  Finnen  auf  den- 
selben um  so  entschiedener  die  Absichtlichkeit  des  Reimes  be- 
zweifeln, wo  immer  derselbe  einmal  auftritt. 

So  hat  denn  also  die  finnische  Poesie  freiwillig  sich  eines 
der  Hauptmittel  entschlagen,  um  dichterische  Effekte  zu  er- 
zielen. Und  welches  ist  denn  die  Ausgleichung,  wodurch  der 
Finnismus  die  Magie  der  Klänge  zu  ersetzen  weiss ,  die 
In  den  übrigen  abend-  und  morgenländischen  Poesien  so  zau- 
berische Wirkungen  für  das  Ohr,  und  nicht  für  das  Ohr 
allein ,  sondern  auch  für  den  Geist  und  die  Seele  her- 
vorbringt? Oder  hätte  die  finnische  Dichtung  gar  kein  Er- 
satzmittel für  den  fehlenden  Reim?  —  Man  blicke  doch  auf 
die  Vertheilung  der  Gaben  hin ,  welche  die  mütterliche  Hand 
der  Schöpfung  spendet :  der  farblosen  Lilie  lieh  sie  den  ent- 
zückenden Duft;  für  den  Misston  der  Stimme  entschädigte  sie 
den  Papagei  durch  den  Farbenglanz  der  Federn;  unten  dem 
grauen  Gefieder  der  Lerche  liess  sie  pochen  ein  sangreiches 
Herz.  —  Und  so  auch  suchte  und  fand  die  Poesie  der  Runen 
einen  Schatz,  der  sie  die  Entbehrniss  des  Reimes  vergessen  machte. 
Das  ist  die  Alliteration.  Vorhanden  und  bräuchlich  ist  dieselbe 
in  so  ausgebildetem  Masse,  dass  sie  einem  Uebersetzer,  wenn 
derselbe  sie  nachbilden  wollte,  eine  w^ahrhafte  Herkulesarbeit 
verursachen  müsste. 

In  der  L'ebersetzung  der  finnischen  Runen,  deren  ich  oben 
gedachte,  habe  ich  mich  wohl  zuweilen  an  die  finnische  Alli- 
teration herangewagt:  aber  ich  gestehe  freimüthig,  dass  mich 
fast  die  darangesetzte  Zeit  gereut.  Was  in  der  Ursprache  ge- 
sund und  ursprünglich  ersclieint,  will  zudem  in  fiemder  Sprache 
stets  matt  und  kränkelnd  erscheinen,  wenn  der  (ienius  dieser 
letzteren  überhaupt  solcher  Eigcnthümlichkeit  abhold  ist.  Man 
füge  dem  Schwan  des  Pfauen  Schweif  hinzu  und  Keiner  wird 
jauchzen:  seht  den  stolzen,  königlichen  Vogel!  Und  so  auch 
ist  jene  Alliteration  das  ureigene,  alleinige  und  wesentliche  Kenn- 


200  Die  Runen  der  Finnen. 

zeichen  der  finnischen  Poesie,  wie  sie  diese  Anlage  und  Eigen- 
thümlicjilveit  in  solcher  Erscheinung  und  in  solchem  Masse  mit 
keiner  andern  Dichtung  Europas  und  Asiens  theilt. 

Fast  kein  Vers  kommt  ohne  das  eine  oder  andere  Genus 
derselben  vor.  Es  giebt  nämlich  erstlich  den  sogenannten  Buch- 
stabenreim oder  diejenige  Art  der  AlHteration,  wo  in  einem  und 
demselben  Verse  zweimal  oder  mehrfach  derselbe  Konsonant 
zu  Häupten  eines  Wortes  auftritt, 

Z.  B. :    Hüwä      I    kello      |    kauwas    |    kuuluu 
Oder:    Tule       |    iänne      |    luttu        |  wani. 

AVeithin  gellen  gute  Glocken. 

Komm  keck  her,  Du  mein  Bekannter. 

Und  zweitens  hat  man  im  Finnismus  den  sogenannten  Syl- 
benreira,  d.  i.  jene  Art  der  AlHteration,  avo  die  Wiederholung 
nicht  bloss  den  Konsonant,  sondern  auch  den  sich  zunächst  an- 
reihenden Vokal  trifft. 

Z.  B.:    Tule     |    turka     |    fuutu     |    huni, 
Iiiki       I    liki        I    lintu-     |    seni, 
Ruki     I    kiski      I    kulta-    |    senil 
liSigre  dich  langhin  aufs  l.ager, 
IVahe,  nahe,  UTachtigallchen, 
Ijiege,  lieg'  hier,  liebes  Goldchen! 

Und  so  in  unzähligen  Fällen! 

Diese  Alliterationen,  zumal  die  letztere,  schlingen  sich  wie 
lachende  Knospen  und  frisch  aufspringende  ßlüthen  durch  den 
ganzen  Kranz  der  finnischen  Dichtung,  und  leihen  ihr  von  an- 
derer Seite  her  Duft  und  Farbenfülle,  da,  wie  wir  bemerkten, 
der  schillernde  Kelch  der  Reimblume  hier  verschlossen  ist. 

Die  Alliterationen  sind  die  spielenden  Blitze  des  Finnismus, 
die  sich  durch  alle  Runot  flimmernd  und  funkelnd  hindurch- 
schlängeln, und  die  leicht  hinrollenden  Wellen  derselben  gleich- 
sam vor  dem  Staguiren  und  der  Monotonie  beschützen. 

Eine  Alliteration  übrigens  in  dem  Sinne  der  germanischen 
und  romanischen  Völker,  deren  Konsonanten  aus  einer  Versreihe 
in  die  andere  überspringen,  giebt  es,  was  wohl  zu  beachten  ist, 
im  Finnismus  nicht,  oder  sie  kommt  wenigstens  nur  höchst 
selten  und  wahrscheinUch  ohne  künstlich  bezweckt  zu  sein»  vor. 


Die  Runen  der  Finnen.  201 

Auch  die  Assonanz  ist  nicht  eben  häufig.  Doch  giebt  es 
einige  Beispiele,  wie: 

Astu         I    armas    |    sänky    |    hyni 
Oder:     IhmTsen     |    ikä         |    kirja-     |    wampi 
Oder:     Aemmät  |    »hkü     |    en  e-     |    läwiit 

Komm  in  meine  Arme,  Armer! 

Immer  ist  schillernd  Menschenleben. 

Durch  Aeonen  ächzen  Frauen. 

Zu  den  eben  angeführten  charakteristischen  Merkmalen 
der  finnischen  Poesie  kommt  endlich  noch  als  weiteres  bedeutsam 
hervortretendes  Kriterium  der  sogenannte  Sinnreim,  wie  ihn 
Renwall  geistreich  nennt,  d.  h.  der  Parallelismus  der  Gedanken. 
Eine  Eigenthümlichkeit,  welche  die  finnische  Sprache,  hervor- 
gegangen aus  den  östlichen  Sprachen,  zunächst  aus  der  grossen 
tatarischen  Sprachgruppe,  mit  allen  orientalischen  Völkern, 
besonders  den  semitischen,  gemein  hat. 

Besondere  Beispiele  hier  anzuführen,  enthalten  wir  uns,  da 
wir  sofort  Gelegenheit  finden  werden,  die  letztgedachte  Eigen- 
thümlichkeit in  den  finnischen  Liedern  häufig  genug  Avahrzu- 
nehmen. 

Wir  erlauben  uns  nämlich  nunmehr,  einige  dieser  Runot  dem 
geneigten  Zuhörer  vorzulegen,  und  bemerken  dazu,  dass  dieselben 
keineswegs  als  ein  Extrakt  aus  der  oben  angezeigten,  vom  Vor- 
tragenden früher  veranstalteten  Lese  u.  d.  T.  „Runen  finnischer 
Volkspoesie"  sich  geriren,  sondern  dass  sie  einer  neuen  grösseren 
Sammlung  von  Runen  entlehnt  sind,  welche  in  die  3  Abschnitte: 
„Jumala,"  „Wäinämöinen"  und  „die  Kantele"  zerfallen  soll. 

Die  Uebertragung  dieser  von  mir  durch  besondere  Gunst 
der  Umstände  veranstalteten  Aufzeichnung,  die  grossentheils  auf 
der  prächtigen  Schaubühne  der  finnischen  Poesie  selber  ermög- 
licht ward,  wird  zugleich  die  oben  aufgestellte  Ansicht,  dass 
das  didaktische  Element  im  Finnismus  sehr  bedeutsam  vertreten 
sei,  über  jeden  Zweifel  erheben.   — 

Die  Runot ,  welche  ich  ausgehoben  habe  und  zwar  ohne 
alle  ängstlich -kritische  Wahl,  da  mir  zu  solchem  Geschäft  Müsse 
wie  Laune  gebricht,  lauten,  mit  Beiseitelassung  des  finnischen 
Textes,  in  der  deutschen  Uebersetzung,  wie  folgt: 


202 


Die  Runen  der  Finnen. 


Unbeständig  ziehn  die  Winde 
Ueberm  Haupt   der  Menschenkinder, 
Itzt  aus  Norden,  itzt  aus  Süden, 
Nun  aus  Osten,  nun  aus  Westen, 
Wechselnd  täglich  in  der  Richtung, 
Aendernd  sich  mit  jeder  Stunde. 
Unbeständig  schwankt  im  Sunde 
Auch  die  Welle,  friedlich  heute. 
Aber  morgen  aufgewühlet. 
Unbeständig  treibt  die  Wolke 
Auch  entlang  am  blauen  Himmel, 
Ist  bald  klar  und  mild  und  friedlich. 
Wie  ein  Lämmchen,  welches  spielet; 
Ist  bald  wüthig.  Blitze  dräuend. 
Wie  ein  Wolf,    der  tückisch  blicket. 
Unbeständig  ist  der  Tag  auch. 
Streitet  stets  sich  mit  dem  Abend; 
Unbeständig  ist  das  Licht  auch, 
Streitet   stets   sich  mit   dem  Dunkel; 
Unbeständig  ist  der  Sommer, 
Streitet   stets  sich  mit  dem  Winter; 
Unbeständig  ist  auf  Erden, 
Ungewiss  und  schwankend  jedes, 
ünterthan  dem  Wechsel  alles: 
Aber  eines  Weibes  Sinne, 
Eines  Mägdeleins  Gedanken, 
Einer  Jungfrau  Herzgefühle, 
Und  Empfindung  und  Gesinnung, 
Und  ihr  Will  und  ihre  Neigung 
Wechseln  schneller  noch  als  Winde, 
Sind  noch  schwankender  als  Wellen, 
Ungewisser  noch  als  AYolken, 
Unbeständiger  als  Tage, 
Flücht'ger  als   des  Lichtes  Strahlen, 
Und  verändern  sich  viel  rascher 
Als  die  raschen  Jahreszeiten. 

Sehr  zu  preisen  ist  ein  Jüngling 
Und  fürwahr  der  Ehre  würdig. 
Er  der  starke,  kecke,  kräft'ge, 
Den  die  Dirnen  selber  locken, 
Dem  die  Jungfraun  gerne  dienen. 
Und  die  Mägdlein  freudig  winken 
Mit  den  schönen  weissen  Händen, 
Mit  den  süssen  rothen  Lippen, 
Und  den  lieben  hellen  Augen: 


Wenn  er  wehrt  den  Liebesküssen, 
Und  entgeht  der  Anmuth  Netzen, 
Und  zerreisst  der  Wollust  Stricke, 
Schwingend    nur    das    Schwert    mit 

Wonne 
Und  nachlebend  stolzem  Ruhme, 
Aechtem  Preis  und  wahrer  Ehre, 
Schlachtenfroh  und  kriegesfreudig, 
Thatendurstig,  siegbegehrend. 
Kranzeswerth  und  runenwürdig. 
Aber  welcher  Ruhm,  ihr  Leutchen, 
Krönt  den  Greis,   den   ausgezehrten, 
Abgelebten,  abgewelkten, 
AVie  er  auch  enthaltsam  wandelt 
Und  Versuchung  standhaft  meidet? 
Flieh'n  Ihn  selber  doch  die  Dirnen 
Und  enteilen  ihm  mit  Lachen, 
Meiden  selbst  ihn  doch  die  Mägdlein 
Und  verspotten  ihn  den  Alten, 
Rufen  pfui !  doch  alle  Jungfraun 
Und  enthüpfen  Ihm  hohnlachend. 

Der  Gerechtigkeit,  es  fehlen 
Nicht  allein  Ihr  beide  Augen, 
Ihr  gebrechen  beide  Ohren 
Auch,  und  lahm  sind  ihre  Hände, 
Und  auf  jedem  Fusse  hinkt  sie, 
So  auf  rechtem,  wie  auf  linkem. 
Und  gekrümmt  ist  ihr  der  Buckel, 
Gänzlich  steif  sind  ihre  GHeder 
Und  zu  keinem  Dienste  tauglich; 
Ja,  Gerechtigkeit  ist  völHg 
Ein  spottaltes  Weib  zum  Ekel, 
Eine  hässHch  leid'ge  Vettel, 
Eine  widerwärtige  Hexe. 
Aber  alle  Richter  prahlen: 
Seht  die  schöne  liebe  Jungfrau, 
Seht  die  holde  schmucke  Dirne, 
Seht  das  ros'ge  süsse  Mägdlein! 
Ist  sie  werth   nicht   der  Umarmung? 
Und  nicht  würdig  eines  Kusses? 

Süssigkeit  verführet  Fliegen, 
Und  die  Liebe  locket  Menschen. 
Doch  den  Adler  reizt   nicht  Zucker, 
Und  den  Helden  nicht  die  Schönheit. 


Die  Runen  der  Finnen. 


203 


Berg  und  Felsen  können  schwinden, 
Und  die  Meerflut  kann  vergehen: 
Nur  des  Mannes  Tugend  bleibet, 
Nur  des  Wackern  Name  währet. 

Immer  findet  sich  sich  ein  Sänger, 
Ist  nur  Heldenwerk  zu  singen. 
Und  die  Runen  sie  gesellen 
Sich  dem  Ruhm,  wie  Gold  dem  Ringe. 

Schlage  einen  breiten  Schleier 
Ueber  die  empfang'ne  Wunde, 
Wenn  die  Hand,  die  sie  geschlagen. 
Sich  dir  neu  zum  Segen  öfliiet. 
Nur  der  Zornige  vergisst  nicht, 
Der  Unlautre  nur  vergiebt  nicht; 
Aber  stets  bereit  ziu-  Sühne, 
Und  stets  willig  zur  Vergebung 
Ist  die  lieb'erfüllte  Seele, 
Ist  das  Herz  des  edlen  Mannes. 

Mehr  zu  fürchten  als  der  Tod  selbst 
Ist  des  Alters  leid'ge  Schwäche. 

Bruder  ist  gar  hoch  betrübet, 
Stirbt  ihm  die  geliebte  Schwester; 
Aber  bald  hört  auf  sein  Trauern, 
Hat  ja  mehr  wohl  der  Geschwister, 
Bräutigam  ist  gar  bekümmert, 
Steht  er  an  der  Liebsten  Sarge, 
Aber  bald  hört  auf  sein  Kummer, 
Giebt  ja  andrer  Dirnen  mehr  noch; 
Mutterherz  ist  ganz  zerbrochen, 
Stirbt  der  Sohn  ihr,  er  der  einz'ge, 
Nie  hört  auf  ihr  stilles  Klagen, 
Der  ihr  schied,  er  war  ifir  Alles. 

Wider  Fieber  dienen  Pillen, 
Wider  Kopfweh  helfen  Säfte, 
Wider  Zahnweh  frommen  Tropfen, 
Magenweh  kuriren  Kräuter, 


Bei  Verrenkung  ziemt  ein  Umschlag, 
Brüchen  nutzen  die  Verbände: 
Wider  Herzweh  nutzt  kein  Tröpflein, 
Seelenleid  kurirt  kein  Tränklein, 
Raschen  Pulsschlag  zähmt  kein  Pill- 
chen, 
Schnellen  Blutlauf  hemmt  kein  Kräut- 
lein, 
Heisse  Sehnsucht  stillt  kein  Säftlein, 
Heft'ge  Liebe  heilt  kein  Bändlein 
Als  allein  —  das  Band  der  Ehe ! 

Hoffnung  ist  der  Erde  Speise, 
Ist  der  WasserqueU  des  Lebens.*) 
Alsolange  lebt  der  Mensch  nur. 
Alsolang'  er  Hoffnung  heget. 

Aus  den  Augen   quillt   die  Thräne, 
Welche  weint  der  Lieb'erfüllte; 
Aus  dem  Herzen  jene  Zähre, 
Die  vergiesst  der  Kummervolle. 

Wenn  es  wettert  auf  dem  Felde, 
Flüchte  zu  des  Fürsten  Eiche: 
Denn  sie  wird  der  Blitz  nicht  treffen, 
Und  der  Strahl  sie  nicht  berühren. 

Schaut  der  Edelherr  die  Sonne, 
Sagen  Alle:  ja  sie  blendet! 
Schaut  die  Edelfrau  die  Wolken, 
Spricht  ein  Jeder:  o  wie  dunkel! 

Jenes  ist  ein  schlechtes  Lachen, 
Welches  Andrer  Thrän'  hervorlockt; 
Jenes  ist  ein  böses  Scherzen, 
Welches  Andrer  Herz  zerschneidet. 

Freue  dich,  Du  wackrer  Kämpe, 
Wenn  man  Opfer  von  dir  heische*! 
Hast  du  schon  gehört,   dass  (Grosses 
Von  den  Schelmen  man  gefordert? 


*)  Wie  edel  und  einfach!  Die  Hoffnung  wird  hier  als  Dasjenige  be- 
zeichnet, was  dem  Menschen  das  Nöthigste  auf  Erden  ist  —  als  Speise  und 
Trank.  Viel  emphatischer  würden  südliche  Dichter,  der  Schlichtheit  dieser 
nordischen  Poesie  gegenüber,  sich  ausgedrückt  haben.  Worte  wie  Manna, 
Nektar  u.  s.  w.  wurden  da  nicht  gefehlt  haben. 


204 


Die  Runen  der  Finnen. 


Eines  Wack'ren  Namen  singet 
Gern  der  wack're  Runensänger; 
Von  des  Schwächlings  Preise  klinget 
Die  Kantele  nur  des  Schwachen. 

Schaut  der  Zwerg  empor  zum  Berge, 
Trocknet  er  sich  schon  den  Schweiss 

ab. 
Doch  der  Ries'  er  schreitet  muthig, 
Siebet  gar  nicht  auf  zum  Gipfel. 
» 

Gold  zu  sagen  lernt  der  Stumme, 
Dem  die  Rubel  du  verheissest. 
Deine  Tochter  sieht  der  Blinde, 
Dem  du  sie  versprichst  zur  Gattin. 

Wenn  die  Magd  fiel  in  den  Brunnen, 
Wird  ihr  Ungeschick  getadelt; 
Fällt  hinein  die  Herrentochter, 
Einzig  trägt  die  Schuld  der  Brunnen. 

An  der  Klippe  leckt  die  Brandung, 
Und  die  Missgunst  an  der  Tugend. 

Schluckt  die  Scheegans  zu  viel  Steine, 
Kann  sie  leicht  daran  ersticken. 

A^'^er  ein  Strecklein  auf  dem  Sunde 
Fuhr,  das  Meer  von  Ferne  schauend, 
Immer  spricht  vom  Meere  Jener, 
Und  von  aufgewühlten  Wellen. 

Wer  sog  Kraft  schon  aus  dem  Wasser? 
Wer  Begeistrung  aus  der  Quelle? 
Trinke,  wackrer  Runenmeister, 
Trinke  Muth  aus  vollem  Home. 

Hoffe  nicht  zuviel  vom  Glücke, 
Gründe  selber  dir  dein  Schicksal. 
Eig'ncs  Schwert  thut  bessre  Schläge 
Als  der  Schwertstreich  der  Genossen. 

Alle  müssen  wir  hinunter 
In  des  Grabes  tiefen  Abgrund, 
Und  des  Todes  öde  Strasse 
Wandeln  muss  von  uns  ein  Jeder. 
Lasst  uns  denn,  solang'  wir  athmen, 


Ruhmvoll  leben  und  in  Ehren, 
Lasst  uns  denn,  solang'  wir  leben, 
Freudvoll  leben  und  in  Frieden. 

Jener  nur  hilft  aus  der  Noth  dir, 
AVer  empfunden  selbst  dein  Wehe; 
Und  nur  der  weiss  dich  zu  trösten, 
Wer  selbst  litt,  was  dich  bedrücket. 

Schön  entfaltet  sich  der  Liebe 
Blume,  reich  mit  Meth  begossen. 
Ei,  der  Freundschaft  Blüth'  erschliest 

sich. 
Trägst  aufs  Beet  du  Gold  als  Dünger. 

Michtmehr  lockte  uns  das  Fliegen, 
War'  des  Fluges  Kunst  erfunden. 
Könnte  Jeder  auf  dem  Meere 
Wandeln,  Keiner  riefe:  Wunder! 

AVard  gefragt  der  Weise:  Lieber, 
Sage:  wo  doch  wohnt  Jumala? 
Sprach  der  Weise:  ei  du  Närrlein, 
Allda,  wo  du  selbst  nicht  weilest. 

Sünderstrick  ist  leicht  gedrehet', 
Henkerschleife  leicht  geschlungen. 
Willst  du,  dass  der  Brave  büsse, 
Willst  du,  dass  der  Wackre  hange. 

Als  der  Schmied  starb,  seiner  Reden 
Allerletzte  war:  bringt  Kohlen! 
Als  der  Müller  enden  musste, 
Rief  er  sterbend:  her  den  Mehlsack! 

Hoffen  ist  des  Thoren  Sache, 
Fürchten  aber  Thun  der  Feigen; 
Der  vernünft'ge  Mann  ist  ruhig, 
Und  es    schwingt   das    Schwert    der 
Tapfre. 

Rufest  in  den  AVald  du:  Feuer! 
Nicht  antworten  wird  es:  Kohlen! 
Rufest  in  den  Wald  du:  Kohlen! 
Leicht  antwortet  es  dir:  Feuer! 

Beispringt  Alles  einem  König, 

Für  ihn  kämpfet  selbst  sein  Schatten, 


Die  Runen  der  Pinnen. 


205 


Doch  verloren  ist  der  Arme, 
Steht  er  selbst  in  voller  Rüstung. 

Wäinämöinen  sprach,  der  Alte, 
Wäinämöinen  sprach,  der  Gute  : 
Laut  vom  Kriege  spricht  der  Feige, 
Still  im  Kriege  kämpft  der  Wack're. 

Zeit,  du  gleichst  der  Eisensäge, 
Du  zerschneidest  harte  Felsen ; 
Zeit,  du  bist  ein  ehr'ner  Hammer, 
Du  zerklopfest  starke  Mauern. 

Lieb'  ist  eine  Maienblume, 
Ach  wie  bald  wird  sie  verwelken! 
Doch  des  Maienblümchens  Same, 
Streut  sich  aus,  wird  neu  erblühen. 

Lieb'  ist  eine  schöne  Rose, 
Die  im  edlen  Herzen  keimet, 
Die  entknospt  in  reinem  Busen, 
Und  in  milder  Seel'  erblühet. 
Wer  sah  wuchern  eine  Rose 
Wild  im  ungepüügten  Acker? 
Wer  sah  wachsen  eine  Rose 
Anders  als  im  schönen  Garten? 

Wie  das  Harz  quillt  aus  der  Tanne 
In  der  schönen  Zeit  des  Lenzes, 
Quillet  Muth  auf  in  den  Herzen 
Junger  in  der  Liebe  Tagen. 

Frohe  haben  viele  Runen, 
Freud'ge  Lieder  ohne  Ende; 
Doch  Betrübte  haben  viele 
Thränen  nur  und  ew'ge  Klagen. 


Selbst  der  Lerche  Trillern  locket 
Den  nicht,  dessen  Herz  voll  Harm  ist; 
Doch  des  Raben  heisres  Krächzen 
Freuet  Jenen,  der  voll  Lust  ist. 
Und  der  Eule  Schrei  rührt  Jenen, 
Dem  die  Brust  erfüllt  von  Lieb'  ist. 

Wenn  die  Rubel  zu  uns  sollen, 
Sind  sie  eckig,  gehn  an  Krücken; 
Wenn  die  Rubel  von  uns  wollen, 
Sind  sie  rund  und  haben  Flügel. 

Ist  des  Klugen  Krug  zerborsten. 
Schöpft  er  Wasser  mit  den  Händen, 
Ist  des  Dummen  Krug  zerbrochen. 
Guckt  er  an  das  Loch  verzweifelnd. 

Wenn  von  Wachs  sind  deine  Gäste, 
Hüte  sanft  sie  vor  dem  Feuer. 

Will  der  Fürst  das  Meer  durchwaten, 
Trocken  findet  er  es  immer: 
Will  der  Bauer  in  der  Wüste 
Wandern,  stets  ist  sie  durchnässet. 

Wenn  der  Graue*)  stirbt,  nicht  feiern 
Ihm  ein  Todtenfest  die  Weissen. 

Selbst  die  Weisen  nicht  durchspähen, 
AVas  verbirgt  der  Zukunft  Schleier. 
Jumala  allein  erkennet, 
Was  da  ist  und  war  und  sein  wird. 

Streckt  der  Fürst  sich  auch  gewaltig, 
Und  erhebt  auch  stolz  das  Haupt  er. 
Nicht  drückt  er  des  Himmels  Dach 


Sorg'  ist  überall  zu  finden, 

Doch  nach  Freude  musst  du  suchen; 

Allerorten  wuchern  Nesseln, 

Nur  in  Gärten  blühen  Nelken. 

Selbst  der  Nachtigall  Geflöte 
Aergert  Jenen,  der  voll  Gram  ist, 


Und  zertrümmert  nicht  die  Sterne. 

Langt  der  König  auch  zur  Fackel, 
Nimmt  zur  Hand  er  eine  grosse, 
Brennende  mit  hellen  Flammen, 
Sprühende  mit  glühen  Funken: 
Doch  das  Herz  ist  mir  gar  ruhig 


♦)  Der   Graue  d. 
Schafe  gemeint. 


der  Wolf;    unter    den    Weissen    dagegen    sind    die 


206 


Die  Runen  der  Finnen. 


Wegen  meines  kleinen  Sees, 
Nicht  wird  er  ihn  mir  verbrennen, 
Nicht  versengen  nur  ein  wenig. 

Schnelle  Flügel  hat  die  Rede, 
Und  der  Ruf  gar  leichte  Schwingen ; 
Auch  der  Held,  er  wird  beschrieen, 
Und  der  Weise  selbst  bekrittelt. 

Leichte  Fersen  hat  das  Rennthier, 
Doch  des  Jägers  Pfeil  hat  Flügel. 

Wenn  sich  Will'  und  Wort  vermählen, 
Wird  die  schöne  That  geboren. 
Als  Jumala  sprach:  es  werde! 
Gleich    entspross     die    Wunderschö- 
pfung. 

Ausgespannt  sind  Jumals  Garne, 
Menschen  fanget  er  gleich  Vögeln; 
Ausgelegt  sind  Jumals  Reusen, 
Menschen  fanget  er  wie  Fische. 

Gelten  will  für  eine  Krähe 
Jener  Sperling,  der  da  sitzet 
Auf  dem  obern  Ast  der  Tanne; 
Gelten  will  für  einen  Adler 
Jene  Krähe,  die  sich  wieget 
Auf  der  Tanne  höchstem  Wipfel. 

Schenkt   der   Wirth    Bier    statt   des 

Methes, 
Alle  Welt  schreit:  du  Betrüger! 
Füllt  er  Meth  ein  statt  des  Bieres, 
Nicht  ein  Einz'ger  ruft:  du  irrtest! 

Leicht  ins  Sieden  kommt  ein  Tropfe, 
Schwer  erwärmt  des  Wassers  Fülle; 
Einen  magst  du  leicht  begeistern. 
Aber  nicht  des  Volkes  Menge. 

Dir  gilt  mehr    nicht    als   ein  Knöch- 

lein 
Deines  Nachbars  Zahn  im  Munde; 
So  auch  deinem  Nachbar,  wisse, 
Dünkt  dein  ganzer  Kopf  ein  Schädel. 


Stets  vor  andern  Erzen  strahlet 
Hell  an  Glanz  das  Gold,  das  gelbe; 
Immer  glänzt  des  Helden  Name 
Ruhmesreich  vor  andern  Namen. 

Wer  ein  Schwan  ist,  der  bespiegelt 
Sich  im  Bach  und  denkt:   schön  bin 

ich! 
Wer  ein  Weib  ist,  der  besiebet 
Sich  im  Glas'  und  ruft:  ei,  seht  mich! 

Aendert  ihren  Klang  die  Glocke, 
Weh,  geborsten  ist  die  Glocke. 

Blut  säuft  stets  des  Krieges  Rachen, 
Aber  aus  nur  speit  er  Wasser. 

Wann  denn  höret  auf  zu  brausen 
Der  Wuoksen?  wann  zu  schäumen 
Der  Imatra?  und  der  Nordsturm 
Wann  ist  er  ohn'  Schneeswehen? 
Ach  so  wird  auch  nie  des  Mannes 
Herz  dem  wilden  Kampf  entsagen, 
Nie  der  Qualen  sich  entschngen, 
Nicht  der  Noth  entfliehn  und  Arbeit, 
Bis  es  einging  in  Tuonl's*) 
Reich,  ins  Reich  der  ew'gen  Schatten, 
In  das  Reich  der  dumpfen  Ruhe. 

Schaue  doch  vom  Erdenjammer, 
Thränend  Aug',  empor  zum  Himmel, 
Bitte  hoffend  von  Jumala, 
Dass  er  ende  deinen  Kummer, 
Dass  er  stille  deinen  Jammer. 
Ei,  wer  schuf  den  schönen  Luftkreis, 
Und  die  schöne  Frühlingserde, 
Und  die  blauen  Meeressunde, 
Und  die  hohen  Felsenberge, 
Und  die  ew'gen  Eisesrücken, 
Und  die  Tannen  auf  den  Höhen, 
Und  die  Blumen  in  den  Thalen : 
Ei,  der  schuf  auch  dich  zur  Freude, 
Schuf  dich  nimmermehr  zur  Trübsal ; 
Er  wird  enden  deine  Trauer, 


*)  Tuoni  ist  der  Gott  des  Todes,  Tuonela  das  Schattenreich. 


Die  Runen  der  Finnen. 


207 


Er  wird  stillen  deine  Thränen, 
Ists  nicht  heut,  so  ist  es  morgen, 
Oder  nächstens  ganz  gewisslich; 
Aber  nicht  nmsst  du  verzweifeln. 
Aber  nicht  musst  du  verzagen, 
Und  im  Jammer  nicht  vergehen 
Und  im  Kummer  nicht  erliegen, 
Sondern  Hoffnung  musst  du  hegen. 
So  im  Lächeln,  wie  in  Thränen: 
Denn  die  Hoffnung  ist  das  Beste, 
Ist  der  armen  Menschenseele, 
Was  der  Thau  ist  für  die  Rose, 
Und  der  Wolke  Fluth  dem  Saatfeld. 

Wenn  das  Laster  offen  schreitet. 
Frei  mit  Frechheit,  baar  in  Blosse, 
Nackt  in  täppischer  Gemeinheit, 
Widrig,  niedrig,  unverhohlen, 
Nicht  gegürtet  mit  Verstellung, 
Eingeschleiert  nicht  in  Ärglist, 
Aufgeputzet  nicht  mit  Tücke, 
Und  gehüllet  nicht  in  Bosheit: 
Ei,  wohl  ist  es  werth  der  Hölle, 
Und  der  ew'gen  Flammen  würdig. 
Aber  schlimm'res  Uebel  giebt  es. 
Und  verderblicheres  Laster, 
Welches  zweier  Höllen  werth  ist 
Und  verdient  der  Flammen  Schürung, 
Dass  sie  doppelt  qualvoll  lodern, 
Und  im  heissern  Brande  glühen 
Jones  Laster  ist's  (o  hüte 
Dich,  mein  Sohn,  zumeist  vor  diesem!) 
Welches  schlau  sich  deckt  und  birget 
Und     sich     herrlich     schmückt    und 

schminket, 
Bunt  sich  gürtet  und  staffiret. 
Und  in  goldnen  Flittern  prunket, 
Und  mit  Himmelsmiene  gleisset. 
Lieblich  nickt  und  schelmisch  blinzelt, 
Süss  bestrickt  und  sanft  umhalset. 
An  das  Herz  drückt,  leiselächelnd. 
Zärtlich  winkt   und  küsst  und  koset, 
Und  Verrath  übt  durch  Verblendung, 
Und  betrüget  durch  Verleitung; 
Hintergehet  durch  Verlockung, 
Fälscht  und  täuschet  durchVerstellung, 


Netze  stellt  und  Garne  breitet, 
Ais  ob's  gälte  Vöglein  fangen. 
Und  wann  du  im  Netze  hangest, 
Laut  auflacht  und  triumphiret  — 
Just  wie  es  die  Priester  treiben 
Und  der  Kirche  Diener-  machen. 

Wäinämöinen  sprach,  der  Gute, 
Wäinämöinen  sang,  der  Wackre: 
Huldigt  nicht  dem  Streit,   ihr  Leute, 
Fröhnet  nicht  dem  Zank,  ihr  Bauern, 
Seid  geduldig  und  geruhig, 
Seid  einträchtig  und  verträglich. 
Gütig,  friedlich  und  gemüthlich. 
Lasset  fahren  Zwist   und  Zwietracht, 
Alle  Fehde  und  Entzweiung, 
Und  entsagt  dem  Groll  und  Grimme, 
Und  der  Heuchelei  und  Bosheit, 
Der  Verleumdung  und  der  Tücke, 
Der  Verlästrung  und  der  Lüge, 
Und  dem  Trug  und  dem  Verrathe. 
Lebt  in  Ruhe,  lebt  in  Frieden, 
Und  in  Harmonie  und  Eintracht; 
Steht  wie  Felsen  bei  einander, 
Wie  die  festen  Urgebirge; 
Haltet  fest  und  treu  zusammen 
AVie  des  Baumes  starke  Wurzeln; 
Drängt  euch  schützend  an  einander 
Wie  der  Eisenkette  Glieder: 
Denn  vereinte  Kraft,  sie  fördert. 
Und  geschaarte  Macht,  sie  schirmet. 
Und  verbundne  Arme  schaffen. 
Auch  die  Götter  sind  nur  Götter, 
Weil  der  Liebe  Kraft  sie  einet 
Und  der  Himmel  sie  verbindet. 

Hundertmal  den  Düngerkäfer 
Trug  der  Narr  hin  auf  die  Rosen. 
Hundertmal  weg  von  den  Rosen 
Flog  der  Käfer  nach  dem  Dünger. 
Heftig  schalt  der  Narr  die  Rosen, 
Rief  mit  grimmiger  Geberde: 
O  ihr  garstig  bösen  Blumen! 
Was  nicht  fesselt  ihr  den  Käfer? 
Sah's  ein  andrer  Narr  und  lachte, 
Sprach:  was  zürnest  du  den  Rosen? 


208 


Die  Runen  der  Finnen. 


Mit  dem  Käfer  musst  du  zanken, 
Mit  dem  gottlos  dummen  Käfer. 
Was  deim  achtet  nicht  der  Res'  er? 
Was  denn  locket  ihn  der  Dünger? 
Sah's  ein  weiser  Mann  und  lachte, 
Sprach:  ihr  Beide  seid  zu  schelten, 
Weil  ihr  scheltet  Beide  thöricht, 
Du  die  Rose,  du  den  Käfer. 
«Jeder  lebt  nach  seiner  Weise, 
Und  nach  seiner  Art  ein  Jeder, 
Wie's  Jumala  ihm  beschieden, 


Er,  der  ew'ge  Hort  des  Himmels, 
Er,  der  Bringer  ew'ger  Wonnen, 
Er,  der  ew'ge  Gnadengeber. 
Wie  er  kann,  so  schwirrt  der  Käfer, 
Schwirret  ganz  nach  seiner  Weise, 
Flattert  nimmer  hin  zu  Rosen, 
Fliegt  nur  immer  um  den  Dünger. 
Wie  sie  mag,  so  blüht  die  Rose, 
Blühet  ganz  nach  ihrer  Weise, 
Duftet  nicht  fm-  Düngerkäfer, 
Duftet  nur  für  liebe  Mägdlein. 

Julius   Altmann. 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 


Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  und  Sprachwissenschaft. 
Herausgegeben  von  Dr.  M.  Lazarus  und  Dr.  H.  Stein- 
thal.    Bd.  I.  Heft  1  —  3.  Berlin.     Dümraler,  1859. 

„Völkerpsychologie"  bedeutet  im  Sinne  der  Verfasser  nicht  die  Psy- 
chologie, die  die  Völiier  treiben,  sondern  die  an  ihnen  getrieben  wird.  Das 
Volk,  die  Gemeinschaft  vieler  Menschen,  habe  wie  der  einzelne  Älenscli 
eine  eigne  Seele  und  eigenthüraliche  seelische  Prozesse.  Sonst  versteht 
man  unter  Seele  das  lebendige  Prinzip  eines  körperlichen  Organismus,  die 
sinnlich  vermittelten  Prozesse  eines  lebenden  Wesens.  Es  wäre  daher  wohl 
richtiger,  von  Volks ge ist  und  Nationalgeist  zu  sprechen,  wie  es  bisher 
immer  geschah.  Von  einer  Volksseele  zu  sprechen,  nicht  bei  Gelegenheit 
eines  Gleichnisses  und  vorübergehend,  sondern  im  vollem  Ernste  und  um 
eine  wissenschaftliche  Theorie  auf  solchen  Sprachgebrauch  zu  bauen :  das 
scheint  höchst  gewagt  zu  sein,  —  Die  Völkerpsychologie  ist  eine  neu  er- 
fundene "NVissenschatt,  „ihr  Gedanke  noch  völlig  neu  und  vermuthlich  vielen 
unserer  Leser  noch  unerhört."  (rieft  I.  p.  1.)  Es  ist  dies  das  Zeitalter  der 
Ei  findungen:  wir  werden  nicht  iiberrascht  sein,  auch  wenn  neue  Wissen- 
schalten erfunden  werden.  Wir  möchten  wünschen,  dieser  allerneuesten 
Ei-findung  eine  längere  Lebensdauer  weissagen  zu  können,  als  der  Phy- 
siognomik oder  Phrenologie  oder  dem  Mesmerismus.  Patentirt  ist  sie  noch 
nicht,  so  wenig  wie  die  neue  „Entwicklungswissenschaft"  des  Herrn  Fridegar 
Mone,  vor  dem  es  bekanntlich  noch  keine  "Wissenschaft  der  Geschichte  ge- 
geben hat. 

Die  Aufgabe  auch  der  ..Völkerjjsychologie"  ist  keine  geringere,  als  die 
Restauration  aller  geschichtlichen  Dis'ciplinen  auf  solideren  Grundlagen  der 
„Erfahrung,"  besonders  eine  Restauration  der  Sprachwissenschaft,  und  bei- 
läufig wird  noch  so  Manches  abfallen  ,  wie  die  Stärkung  des  deutschen  Na- 
tionalgefühls (Heft  L  p.  G6)  und  die  Lösung  der  homerischen  Frage  (ibid. 
p.  59).  Es  giebt  ohne  Zweifel  wissenschaftliche  Epidemien.  Wir  bitten,  davon, 
als  von  einer  völkerpsychologiscben  Thatsaclie,  Akt  zu  nehmen.  Die  ab- 
solute Dialektik  sind  wir  los:  die  absolute  Methode  ist  geblieben.  Heut  zu 
Tage  giebt  es  nur  eine  Wissenschaft :  die  Physik,  und  nur  eine  Methode: 
die  physikalisch -mathematische.  Das  Widersprechendste  wird  in  diese  Form 
gespannt.  Die  alten  Identitäten  kehren  wieder,  nur  auf  entgegengesetzte 
Weise.  Geist  und  Materie  sind  identisch;  das  heisst  jetzt:  es  giebt  keinen 
Geist;  auch  der  Geist  ist  nur  verkappte  Materie.  Die  Krankheit  hat  nur 
eine  andere  Form  angenommen.  Der  physikalische  Aberglaube  herrscht 
überall,  und  sein  schlimmstes  Symptom  ist  die  „Psychologie."  Mit  Schwer- 
tern und  Stangen  ziehn  sie  aus,  die  arme  Psyche  in  das  Netz  mathematisch 
behandelter  „Empirie"  einzulangen.  Nur  eine  Domäne  gab  es  noch,  in 
welcher  der  Idealismus  ungehindert  schalten  konnte:  die  Geschichte.     Hier 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXVII-  14 


210  Beurth  eilungen  und  kurze  Anzeigen. 

brach  doch  noch  die  freie  That  durch  alle  Armseligkeit  der  Regel;  hier 
hörte  doch  der  langweilige  Coniplexus  der  Ursachen  mit  seiner  eintönigen 
Nothwendigkeit  auf;  hier  erschien  doch  noch  in  der  Form  des  Glaubens 
die  wissenschaftliche  Hypothese,  dass  sich  die  Freiheit  als  ein  Reich  von 
Zwecken  verwirklicht.  Auch  aus  dieser  letzten  Zuflucht  muss  der  Idealismus 
vertrieben  werden.  Auch  die  Geschichte  muss  in  Mechanismus  verwandelt, 
die  geistigen  Prozesse  des  freien  Willens  in  mathematisch  nothwendige  Vor- 
stellungsprozesse umgesetzt,  die  Schöpfung  des  Genies  dem  Calkul  unter- 
worfen werden.     Das  prätendirt  die  ,.Völkerps)'choIogie." 

Jede  Wissenschaft  muss  ein  Objekt  haben.  Das  Objekt  der  Völker- 
psychologie ist  die  Volksseele.  Ganz  gut.  Die  Prozesse  des  individuellen 
Geistes  können  aus  sich  selbst  nicht  verstanden  werden.  Das  Individuum 
wird  mehr  geschoben ,  als  es  schiebt.  Die  (iesammtheit  hat  eine  geistige 
Geschichte;  die  Absichten  und  Ansichten  des  Einzelnen  richten  nichts  aus 
gegen  den  grossen  unbewussten  Drang  der  Gemeinschaft.  Unsre  Gedanken 
beruhen,  so  weit  sie  Werth  haben,  auf  der  grossen  Tradition  der  Bildung ; 
unsern  Charakter,  die  bestimmte  Art  unsres  Fühlens  bedingt  die  Nation, 
der  wir  angehören.  Wir  schwimmen  in  einem  grossen,  mächtigen  Elemente; 
der  Gewaltigste  kann  sich  ihm  nicht  entziehen.  Grade  solche  Ueberzeu- 
gungen  bilden  das  eigenthümHche  Wesen  unsrer  neueren  Bildung  und  ins- 
besondre unsrer  Geschichtsschreibung.  Die  Gesichtspunkte  der  Völker- 
psychologie aber  kündigen  sich  als  neu  an.  Es  handelt  sich  darum,  wie 
man  den  Begriff  der  Volksseele  fasst.  Will  man  von  einer  Volksseele 
sprechen,  so  muss  man  zuerst  wissen:  was  ist  ein  Volk?  Die  Verfasser 
geben  bereitwilligst  Antwort.  Ein  Volk  wird  nicht  konstituirt  durch  ge- 
meinsame Abstammung,  nicht  durch  gemeinsame  Sprache  oder  Sitte.  Was 
ist  denn  aber  das  Volk?  Nun,  ein  Volk  —  ist  eine  Menge  von  Menschen, 
welche  sich  für  ein  Volk  ansehen!  (Heft  I.  p.  35.)  Die  Verfasser  meinen 
selbst,  dass  sich  die  Definition  besser  geben  Hesse.  Gesagt  ist  mit  diesem 
kostbaren  Beispiel  von  Tautologie,  dass  die  Einheit  des  Volks  auf  der  Ge- 
meinsamkeit des  Selbstbewusstseins  beruhe.  Welches  aber  der  bestimmte 
Inhalt  dieses  Selbstbewusstseins  ist,  der  es  bedingt,  dass  diese  Menge  grade 
ein  Volk,  und  nicht  etwa  eine  Gemeinde,  eine  Provinz,  eine  Armee  bildet, 
das  ist  nicht  angegeben.  Und  Religion,  Sprache,  Gesetz,  Kunst  sind  wohl 
Manifestationen  dieses  Bewusstseins  der  Einheit,  machen  aber  die  Einheit 
keineswegs  aus.  Es  bleibt  also  die  Frage:  was  ist  denn  nun  ein  Volk?  Das 
Objekt  der  Völkerpsychologie  ist  keineswegs  genau  begränzt.  Sie  soll 
überhaupt  im  Gegensatze  zur  individuellen  Psychologie  die  Gesetze  erforschen 
in  dem  geistigen  Leben  einer  Mehrheit  von  Menschen,  die  in  irgend 
einem  Sinne  geistig  zusammengehören.  Wir  haben  also  ausser  der  Psy- 
chologie der  Völker  und  Staaten  auch  eine  Psychologie  der  Clubs,  der 
Zünfte,  der  Akademien  und  vielleicht  gar  der  Actiengesellschaften  zu 
erwarten. 

In  solchen  Gemeinschaften  wird  eine  eigne  Seele  und  eigne  seelische 
Prozesse  vorausgesetzt.  Wer  will  denn  aber  an  solch  ein  mystisches  Wesen 
glauben?  Haben  wir  hier  irgend  mehr,  als  eine  mythische  Fiktion?  Es 
glebt  eine  allgemeine  Form  über  allem  individuellen  Geistesleben,  eine  ideale 
Slacht  und  Einheit,  und  man  nennt  sie  wohl  Nationalgeist.  Aber  wo  ist 
hier  das  Zeichen  konkreter  Existenz  ?  Es  existiren  die  Individuen  und  ihre 
Thätigkeiten  und  ihre  Seelen.  Alle  diese  einzelnen  stehen  in  Wechsel- 
wirkung des  Gebens  und  Empfangens.  Die  Natur  des  Landes  und  die  Tra- 
dition der  Vorfahren  und  die  Gemeinschaft  des  Lebens  und  mehr  als  Alles 
die  ideale  Form  der  nationalen  Einheit,  die  der  Einzelne  nicht  mit  Be- 
wusstsein,  nur  als  Ahnung  dunkel  in  seiner  Seele  trägt,  deren  Macht  er 
sich  aber  nicht  entziehen  kann,  —  alle  diese  schlagen  die  Brücke  von  dem 
Einzelnen  zum  Einzelnen  und  machen  aus  der  Summe  von  Individuen  eine 
geistige  Einheit,  aber  doch  auch  nur  eine  geistige.    Seele  haben  nur  die 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  211 

Individuen,  wie  nur  diese  einen  körperlichen  Organismus  haben,  und  die 
physisch  bedingten  Prozesse  des  Vorstellens,  "Willens ,  Empfindens  gehen 
nur  in  den  ludividuen  vor  sich.  Jener  gemeinsame  Typus  denkt  nicht  und 
empfindet  niclit.  (4iebt.  es  eine  Psychologie,  die  die  Naturgesetze  des  Vor- 
stellens  erforscht,  so  giebt  es  doch  in  jedem  Falle  nur  eine  Psychologie  des 
Individuums.  Sie  könnte  dahin  erweitert  werden,  dass  auch  die  Form  der 
Seelenthätigkeiten  erforscht  wird,  welche  im  Individuum  aus  der  Wech- 
selwirkung mit  den  andern  Individuen  und  aus  den  Beziehungen  zu  den  all- 
gemeinen Foi-men  des  nationalen  Lebens  entspringen.  Aber  eine  Volksseele 
und  Prozesse  einer  solchen  Seele  giebt  es  nicht,  also  auch  keine  Wissen- 
schaft derselben.  Volksseele  ist  ein  uneigentlicher  Ausdruck,  eine  Metapher, 
die  man  vorübergehend  im  Gleichniss  wohl  gebrauchen  mag.  Aber  es  ist 
abenteuerlich,  diese  Metapher  in  bitterm  Ernste  zu  nehmen  und  auf  ihr  eine 
neue  Wissenschaft  zu  begründen.  Die  Völkerpsychologie  nimmt  unter  den 
historisch  -  philosophischen  Doktrinen  etwa  dieselbe  Stellung  ein,  wie  die 
Pflanzengeographie  des  Mondes  in  der  Astronomie  oder  die  Ausmessung 
des  kreisrunden  Quadrats  in  der  Geometrie. 

Die  Völkerpsychologie  hat  also  kein  Objekt.  Zu  einer  Wissenschaft 
gehört  aber  zweitens  auch  eine  Methode.  Geben  wir  einmal  zu,  die  grossen 
Bewegungen  des  geschichtlichen  Lebens  Hessen  sich  auf  die  Prozesse  der 
Volksseelen  zurückführen.  Wie  sollte  man  die  letzeren  erkennen?  Die  psy- 
chologischen Anschauungen  der  Verftisser  sind  im  AVesentlichen  die  Her- 
bartischen. Es  lasst  sich  über  dergleichen  nicht  streiten.  Die  Thatsache 
ist  da:  wie  es  Leute  giebt,  die  an  die  Homöopathie  glauben,  so  giebt  es 
andere,  die  auf  die  „Enge  des  Bewusstseins"  schwören,  obgleich  wir  doch 
vergleichen  und  unterscheiden;  die  aus  Strebungen,  Hemmungen  und  Ver- 
schmelzungen, Apperception  und  Verdichtung  etc.  die  niedrigsten  wie  die 
höchsten  Erscheinungen  des  Geisteslebens,  Wille  und  Gefühl,  wie  das  Denken, 
erklären  zu  können  meinen.  Und  doch  ist  das  von  Anfang  zu  Ende  eine 
Avüste  Bildersprache,  bei  der  sich  kaum  etwas  Vernünftiges  denken  lässt. 
Die  Mechanik  der  Körperwelt  wird  auf  das  geistige  Gebiet  angewandt,  und 
das  absolut  Inkommensurable  in  den  Kalkül  gezogen.  Denn  das  ist  der 
S.ache  wesenthch,  so  gern  man  auch  das  Rechnen  bei  Seite  lasst,  weil  darin 
<ler  Widersinn  der  ganzen  Betrachtungsweise  am  schreiendsten  hervortritt. 
Dagegen  aber  streiten  wir  nicht.  Es  könnte  das  sein  Recht  haben  bei 
der  Betrachtung  der  individuellen  Seele,  es  könnte  manche  ihrer  Prozesse 
verdeutlichen.  Aber  selbst  dann  wäre  es  noch  immer  dieseif^e  Verkehrtheit, 
diejenige  Methode,  deren  eigentlichste  Absicht  es  ist,  alles  Geistige  in  Me- 
chanik zu  verwandeln,  auf  die  grossen  Thatsachen  der  gescbiclitlichen  Ent- 
wicklung anzuwenden.  Die  erste  Kategorie  in  dieser  ist  die  Freiheit.  Nie- 
mand will  die  Naturbestimmtheit  des  Geistes  leugnen  Aber  auch  diese 
maclit  er  durch  freie  Absicht  zu  seiner  eignen  That.  Will  man  aber  durch 
die  psycholonische  Methode  alle  Erscheinungen  des  Geisteslebens  auf  die 
Mechanik  und  den  Causalnexus,  auf  die  äusserlichste  und  he<j;riftloseste  Noth- 
wendigkeit  zurückführen,  so  versündigt  man  sich  auf  das  Scnreiendste  gegen 
die  erste  aller  geistigen  Bestimmungen:  gegen  die  Freiheit.  Was  man  nach 
Gesetzen  zu  bestimmen  unternimmt:  man  mag  sich  wenden,  wie  man  will: 
der  Geist  ist  nicht  das  Objekt,  das  sich  solchem  Verfaiiren  unterwerfen  lässt; 
der  fügt  sich  unmöglich  so  geistlosem  Thnn. 

Schon  in  der  äusseren  Natur  vermag  das  Gesetz  keineswegs,  den  Inhalt 
der  Erscheinungen  zu  begreifen.  Es  verallgemeinert  nur  unsre  Wahrnehmung, 
es  bestätigt  uns,  dass  wir  nichts  Einzelnes  als  solches  sehen  ;  dass  das  Ein- 
zelne nur 'der  besondere  Fall  eines  Allgemeinen  ist,  und  für  dieses  Allge- 
meine statuirt  es  das  Maass  in  der  quantitativen  Be.^^timratheit  der  Bedin- 
gungen. So  wird  die  Qualität  der  Erscheinung  grade  durch  das  Gesetz 
aufgehohen;  es  gilt  nur  das  Verhältnis»  von  Zahlen,  und  alle  Veränderung 
wird  räumliche  Bewegung.     Was   ist   in   den   Schwingungszahlen   des   Licht- 

14* 


212  Beurtbeilungen  und   kurze  Anzeigen. 

äthers  noch  übrig  geblieben  von  der  Natur  der  Farbe,  die  wir  sehen?  Nur 
wo  das  Einzelne  das  absolut  Gleichgültige  ist,  hat  das  Gesetz  einen  Sinn. 
Wo  das  Individuum  grade  das  absolut  "VVerthvolle  ist,  hat  das  Gesetz  keine 
Macht  über  dasselbe,  das  nicht  bloss  fordert,  sondern  zwingt.  Ja,  gesetzt, 
es  Hessen  sich  Gesetze  aufstellen,  so  wären  sie  uns  schlechthin  gleichgültig 
auf  diesem  Gebiet.  Denn  nicht  um  die  Ursachen  handelt  es  sich,  sondern 
um  den  Sinn  der  Erscheinungen,  der  nicht  in  der  Art  ihrer  Abhängigkeit 
von  andern,  sondern  in  ihrer  selbstständigen  Bedeutung  liegt,  die  sie  an 
sich  haben.  Die  Erforschung  der  Gesetze  träfe  also  in  keinem  Falle  den 
eigentlichen  Gegenstand  unsrer  Wissbegierde. 

AVir  gestehen:  wir  haben  von  je  an  vor  der  Psychologie  ein  eignes 
Grauen  empfunden.  So  sonderbar  das  ist,  es  sind  nicht  eben  üble  Männer,  mit 
denen  wir  eine  solche  Empfindung  theilen.  Zu  wahrem  Entsetzen  steigert 
sich  dies  Grauen  dem  blossen  Namen  der  Völkerpsychologie  gegenüber.  Es 
ist  ein  so  ungeheuerer  Begriff  von  so  undeutlichen  Umrissen;  man  kann  sich 
so  viel  und  so  wenig  dabei  denken  ;  die  Phantasie  hat  einen  so  ungeheueren 
Spielraum;  das  Oxymoron  in  dem  Namen  ist  so  pikant:  dass  ein  hoher  Grad 
des  Staunens  gewiss  natürlich  ist.  Freihch,  wenn  man  die  Sache  genauer 
kennen  lernt,  so  erscheint  sie  um  Vieles  harmloser. 

Es  ist  das  die  alte  psychologische  Flachheit,  das  angeborne  Erbtheil 
aller  Mittelmässigkeit,  die  idealen  Mächte,  welche  dem  Leben  und  Dasein 
des  Menschengeschlechts  den  Inhalt  geben,  in  tausendfacher  Vermittlung 
aus  der  Natur  der  Seele  entspringen  zu  lassen.  Das  Verhältniss  wird  so 
grade  umgekehrt:  das  Bedingende  wird  zum  Bedingten;  das,  was  seiner 
Natur  nach  thätige  Substanz  ist,  zum  Attribut  seines  Attributs.  Nur  dass 
diesmal  nicht  freie  Erfindsamkeit  mit  ihrer  Willkühr,  sondern  in  noch  viel 
missverständlicherer  Weise  die  nothwendigen  mechanischen  Vorstellungs- 
prozesse  als  Grund  angesehen  werden,  welcher  die  Ideen  erzeugen  soll. 
Solcher  Irrthum  liegt  in  diesen  schwachmüthigen  Zeiten  in  der  Luft,  wie 
die  Hypothese  der  Erfindung  in  dem  Zeitalter  der  Popularphilosophie.  Aber 
nichtsdestoweniger,  nur  das  stumpfeste  Auge  sieht  nicht,  dass  er  durch  die 
wissenschaftliche  Bewegung  des  Gedankens  längst  überholt  ist. 

Der  Unterschied  zwischen  den  Anschauungen  der  Erfinder  der  Völker- 
psychologie und  dem,  was  als  unzweifelhafter  Gewinn  unsrer  historischen 
und  philosophischen  Wissenschaften  bisher  galt,  besteht  in  Folgendem: 
1.  Bisher  glaubte  man,  dass  die  Ideen  selbst  ein  eignes  Leben  führen  in 
dem  Geiste  der  Menschen,  und  dass  mit  der  innern  Gliederung  der  Ideen 
auch  der  nothwendige  Prozess  ihrer  Entwicklung  in  der  geschichtlichen  Er- 
scheinung gegeben  ist,  dass  also  die  Vernunft  der  Dinge  die  Prozesse  des 
Menschengeists  leite  und  bestimme.  An  die  Stelle  der  innern,  vernünftigen 
Entwicklung  der  Ideen  setzen  die  Verfasser  die  psychologische  Thätigkeit 
der  Einzelnen  und  der  Gesammtheit  und  überlassen  daher  den  Inhalt  dem 
durch  Causalzusammenhang  nothwendigen,  aber  gegen  den  Begriff  der 
Sache  zufälligen  Spiele  der  Seelenprozesse.  2.  Die  Methode  der  Erkennt- 
niss  jenes  idealen  Inhalts  bestand  darin,  dass  man  die  symbohsche  Bedeu- 
tung der  geschichtlichen  Formen  für  den  Ausdruck  der  geistigen  Mächte 
darzustellen  versuchte.  Das  Aeussere  ist  Darstellungsmittei  für  das  Innere, 
und  die  herrschende  Kategorie  dieser  Betrachtung  ist  der  Zweck.  Die 
Verfasser  suchen  dasselbe  auf  das  Gebiet  der  Ursachen  zurückzuführen.  Die 
innere  Nothwendigkeit  des  Organischen ,  wonach  immer  erzeugt  wird ,  was 
der  Natur  der  Sache  nach  erzeugt  werden  musste,  lässt  die  Freiheit  in  der 
Entstehung  bestehen  und  zeigt  nur,  dass  alle  freie  Absicht  zuletzt  nach  der 
innern  vernünftigen  Ordnung  der  Dinge  zustrebt.  In  der  Betrachtungsweise 
der  Verfasser  ist  die  Freiheit  aufgehoben.  Statt  einer  Erklärung  geistiger 
Prozesse  geben  sie  uns  daher  höchstens  physikalische  Theorien.  Sie  spalten 
Holz  mit  einem  Strohhalm  und  ersticken  das  Feuer,  indem  sie  ein  Gewand 
darüber  breiten. 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  213 

Die  neue  Wissenschaft  der  Völkerpsychologie  hat  daher  weder  ein  Ob- 
jekt, noch  eine  Methode,  die  an  die  Erkenntniss  jenes  Objekts  heranreichte. 
Sie  ist  wie  jenes  Messer  ohne  Stiel,  dem  die  Klinge  fehlt. 

Aber  naher  besehen,  ist  die  Volkerpsychologie  nichts  als  ein  neuer 
tönender  Name  für  eine  alte  Sache.  Es  ist  der  eigenthümliche  Fortschritt 
in  der  Geschichtswissenschaft  dieses  Jahrhunderts ,  dass  es  sich  für  uns  in 
der  Geschichte  nicht  mehr  um  einzelne  Individuen  handelt,  sondern  um  die 
Entwicklung  der  Völker.  Immer  mehr  tritt  das  Individuum  in  unsrer  An- 
schauungsweise zurück,  so  weit  es  nicht  ein  charaktcristisclier  Träger  der 
nationalen  Ideen  ist.  Unsre  Geschichte  ist  einerseits  Volksgeschichte,  an- 
drerseits die  Erkenntniss,  wie  sich  die  idealen  Lebensmächte  Recht,  Sprache, 
Keligion,  Kunst,  AVissenschaft,  Sitte  in  der  Sphäre  des  Volkslebens  ausge- 
prägt und  gestaltet  haben,  d.  h.  Kulturgeschichte.  Wie  unterscheidet  sich 
denn  nun  die  Völkerpsychologie  von  der  Kulturgeschichte?  Eigentlich,  bisher 
wenigstens,  nur  durch  den  Anlauf  und  ,die  Forderungen,  im  Verlauf  aber  bloss 
durch  den  vielleicht  vornehmer  klingenden  Namen.  Alles,  was  wir  in  den  Be- 
reich der  Kulturgeschichte  zu  ziehen  gewohnt  sind,  tritt  auch  in  die  Völkerpsy- 
chologie ein.  Es  gilt,  zu  erforschen,  wie  sich  in  den  geschichtlichen  That- 
sachen  des  Völkerlebens  die  innere  geistige  Anlage  der  Gesammtheit  aus-, 
drückt.  Die  Völkerpsychologie  möchte  diesen  ganzen  Kreis  von  Erschei- 
nungen auf  seine  abstrakteste  Formel  reduziren  und  diese  allgemeinsten 
Gesetze  aus  dem  nothwendigen  Verlauf  der  Vorstellungsprozesse  einer  Ge- 
sammtseele  ableiten.  Aber  es  ist  zu  einer  Ausführung  dieses  Gedankens 
auch  noch  nicht  im  entferntesten  ein  Anlauf  genommen,  und  wir  müssen 
zweifeln,  ob  es  überhaupt  einen  Weg  giebt,  der  Gesammtseele  auf  die  Spur 
zu  kommen  und  jenes  phantastische,  traumhafte  Projekt  der  Aurführung 
näher  zu  bringen.  Natürlich  wünschen  wir,  durch  eine  wirkliche  Leistung 
dessen,  was  wir  als  unmöglich  bezeichnen,  widerlegt  zu  werden.  Aber  wie 
sich  die  Hefte  der  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  bis  jetzt  ])räsentiren, 
enthalten  sie  ausser  der  Einleitung  nichts ,  was  nicht  in  einer  Zeitschrift 
für  Kulturgeschichte  eben  so  wohl  stehen  könnte.  An  irgend  eine  abstrakte 
Grundlegung  ist  wenigstens  im  Mindesten  nicht  zu  denken.  So  ungeeignet 
daher  der  Titel  an  sich  ist,  so  unpassend  ist  er  in  Bezug  auf  das  bisher 
Gebotene. 

Aber  wir  müssen  auch  die  Einrichtung  der  Zeitschrift  als  durchaus 
unpraktisch  bezeichnen.  Die  Zeitschrift  nennt  sich  „für  Völkerpsychologie 
und  Sprachwissenschaft."  In  der  That,  —  und  das  i^t  keineswegs  von 
den  Verfassern  zuerst  ausgesprochen  worden,  —  ist  die  Sprache  die  innerste 
Manifestation  des  Volksgeistes  und  darf  daher  eine  besondre  Berücksichtigung 
in  Anspruch  nehmen  als  wichtigste  Quelle  völkerps3'chologisclier  Tliatsachen. 
Aber  wir  denken,  die  Sprachwissenschaft  ist  für  sich  selbst  so  umfangreich, 
ilass  sie  nicht  nebenbei  auch  noch  einen  Theil  einer  Zeitschritt  füllen  kann, 
ohne  weniger  als  das  dilettantischste  Bedürfniss  zu  befriedigen.  Und  welchen 
Umfang  hat  die  Völkerpsychologie  schon  an  sich!  Im  Grunde  ist  nichts 
von  ihr  ausgeschlossen:  denn  zuletzt  steht  alles  Studium  zur  Erkenntniss 
des  Volksgeistes  in  natürlicher  Beziehung.  Alles  geistige  Streben  und  alles 
Geschehen  geht  auf  dem  Grunde  des  Volkslebens  vor,  und  die  Naturwissen- 
schaften beschäftigen  sich  nur  mit  der  Erkenntniss  der  natürlichen  Bedin- 
gungen, unter  denen  die  Völker  auf  Erden  lel)en.  So  soll  denn  die  Zeit- 
schrift nach  dem  Plane  mehr  nicht  als  bloss  Folgendes  umfassen:  .,  [.Abhand- 
lungen, welche  die  Erforschung  und  Aufstellung  von  völkerpsychologischen 
(icsetzen  auf  dem  (irunde  von  ge<.'fl)eneu  Tliatsachen  bezwecken,  gh'ichviel 
ob  das  Gesetz  die  psychische  Einheit  einer  Nation  oder  aber  eines  Staates 
oder  einer  andern  geistigen  Gemeinschaft  und  Einheit  betriö"t;(!) 
2.  Darstellungen  von  historischen,  ethnologischen  oder  geographischen 
Thatsachen  (!),  dergestalt  dass  sie  die  Erkenntniss  von  allgemeinen  psycho- 
logischen Gesetzen  veranlassen  oder  unterstützen  können.    3.  Ueber  Werke, 


214  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

welche  unmittelbar  Gegenstände  unsrer  Wissenschaft  zum  Inhalt  haben, 
sollen  Berichte  und  Urtheile  geliefert  werden ;  aber  auch  auf  solche  Schriften, 
welche  zu  den  Hilfsquellen  derselben  gehören  und  sich  darum  mittelbar 
auf  sie  beziehen ,  soll  hingewiesen  werden"  etc.  Das  ist  aber  noch  nicht 
alles.  Zum  Besten  der  Sprachwissenschaft  kommt  dazu  noch:  „1.  Allge- 
meine sprachwissenschaftliche  Aufsätze,  in  welchen  etc.  2.  übersichtHche 
Darstellungen  eigenthümlicher  Spraehbildungen,  Charakteristiken  der  ver- 
schiedenen Sprachstämme  oder  einzelner  Sprachen  oder  auch  besonderer 
Gruppen  von  Formen,  wie  z.  B.  verbale  ]<'ormen  u.  s.  w.  .3.  Endlich  Be- 
sprechungen solcher  Schriften,  welche  entweder  auf  dasselbe  Ziel  wie  wir 
absichtlich  hinsteuern  oder  zu  demselben  hinführen  etc."  Nicht  wahr,  das 
heisst  doch  ein  Jagdgebiet,  wie  es  sich  nur  ein  Indianer  wünschen  kann! 
Und  das  sich  in  dieser  hochcivilisirten  Zeit,  wo  Alles  künstlich  umhegt  ist 
und  jeder  Zollbreit  Landes  seinen  eignen  Herrn  hat,  mitten  unter  der  Ge- 
sellschaft, die  nur  durch  Theilung  der  Arbeit  besteht,  zu  beschaffen,  das 
ist  doch  ein  Kunststück! 

Und  in  wie  verwegenem  Sinne  die  Verfasser  dieses  grossartige  Projekt 
eines  unbegrenzten  Sammelsurium ,  eines  Sprechsaales  für  alles  Mögliche 
und  noch  einiges  andere  ausführen,  davon  zeugt  gleich  das  erste  Heft. 
Da  finden  wir  ausser  „einleitenden  Gedanken  über  Völkerpsychologie"  und 
einer  Abhandlung  über  die  unpersönlichen  Zeitwörter  Anzeigen  von  „Riehl, 
<iie  Volkskunde  als  Wissenschaft,"  von  Duncker's  Vortrag  über  Feudalität 
und  Aristokratie,  von  einer  Festrede  von  Boeckh  über  das  Verhältniss  des 
Volksthümlichen  und  Dynastischen. 

Trotz  alledem:  Die  Verfasser  haben  ehrenwerthe  Mitarbeiter,  und  aus 
der  Zeitschrift  könnte  etwas  werden.  Entschliessen  sie  sich  dazu,  den  In- 
halt mehr  zu  konzentriren ;  beschränken  sie  sich  etwa  auf  Studien  über 
den  Zusammenhang  der  sprachlichen  Erscheinungen  mit  den 
Innern  Anlagen  und  dem  geschichtlichen  Leben  der  Völker: 
so  mag  der  absonderliche  Titel  nicht  schaden,  und  ein  solches  Unternehmen 
kann  ein  höchst  förderliches  sein.  Denn  mit  Entschiedenheit  nach  dieser 
Richtung  ist  noch  Keiner  vorwärts  gegangen,  und  die  Verfasser  haben  Recht, 
von  solchen  Studien  interessante  Resultate  zu  erwarten. 

Aber  freilich  müssten  diese  sprachlichen  Forschungen  auch  noch  in 
anderer  AVeise  betrieben  werden,  als  sie  Dr.  Steinthal  in  den  bisher  er- 
schienenen Heften  betrieben  hat.  Wir  wollen  schliesslich  noch  davon  sprechen. 

Herr  Dr.  Steinthal  zeichnet  sich  durch  nichts  so  sehr  aus,  als  durch 
die  erbitterte  Bekämpfung  des  Standpunkts,  der  in  der  Architektonik  der 
Sprache  die  leibgewordene  Logik  sieht.  Trotzdem  kommt  es  in  dem  Auf- 
satze über  die  unpersönlichen  Zeitwörter  (Heft  I.,  p.  73)  wenigstens  zu 
keinem  Resultate,  das  nicht  die  „organische"  Hypothese  längst  gehabt  hätte. 
Dass  keine  Thätigkeit  ohne  ein  thätiges  Sein  gedacht  oder  sprachlich  aus- 
gedrückt werden  kann,  und  dass  dieses  thätige  Sein  ursprünglich  als  Person 
vorgestellt  wird,  darf  man  Herrn  Steinthal  in  jedem  Sinne  zugestehen.  Ganz 
originelle  Resultate  dagegen  ergeben  sich  in  der  längeren  Abhandlung  des- 
selben Verfassers  über  die  Assimilation  und  Attraktion  (Heft  II.,  p.  91). 
Schon  die  Gleichstellung  dieser  beiden  Begriffe  entspricht  der  Sache  nicht. 
Eine  gewisse  Analogie  lässt  sich  wohl  behaupten  in  Fällen,  wie  die  grie- 
chische Attraktion  des  Relativs;  aber  Herr  Steiuthal  nimmt  auch  solche 
Metaphern  viel  zu  ernst.  Was  haben  Fälle,  wo  das  Wort,  das  wir  in  den 
Hauptsatz  stellen,  in  den  alten  Sprachen  im  Nebensatz  steht  mit  der  Assi- 
milation zu  thun?  Und  doch  werden  sie  als  Beispiele  der  Attraktion  an- 
geführt. Der  Verfasser  giebt  sich  nun  Mühe,  die  Erscheinungen  der  laut- 
lichen Assimilation  auf  psychische  Gesetze  zurückzuführen.  Nun  leidet  aber 
seine  Entwicklung  an  einer,  für  uns  wenigstens,  schier  unleidlichen  Breite 
und  Ausführlichkeit,  bei  der  man  Seiten  lang  nicht  vom  Fleck  kommt.  Die 
Erhabenheit    des    Standpunkts,    von    dem    der    Verfasser   die    sprachlichen 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  215 

Erscheinungen  betrachtet,  offenbart  sich  auch  in  mancherlei  angeführtem 
Detail,  von  Köchinnen,  die  „Morim"  statt  „Mohrrüben"  schreiben,  von  ver- 
kannten Aschbechern,  von  Freunden  ,  die  die  Gabe  des  freien  Vortrags  in 
so  hohem  Grade  besitzen  ,  dass  sie  die  abgerundetsten  Perioden  drechsehi, 
ohne  ein  Bewusstsein  von  solchem  ihrem  Thun  zu  haben ,  von  den  Erleb- 
nissen des  Verfassers,  als  er  einst  auf  Sprichwörter  Jagd  machte.  Solcherlei 
ist  keineswegs  gleichgültig,  sondern  ein  Beleg  für  die  eigenthümliche  Grösse 
der  Anschauungsweise  des  Verfassers. 

Der  Verfasser  leugnet  nun  zunächst,  dass  die  Assimilation  auf  rein 
physiologischen  Beschaffenheiten  der  Sprachwerkzeuge  beruhe:  nur  aus  psy- 
chischen Gesetzen  lasse  sie  sich  genügend  erklären.  Und  nun  gilt  das 
Wort  als  eine  Reihe  von  Lauten!  und  nun  müssen  wir,  um  eines  Wortes 
uns  zu  erinnern,  uns  erst  alle  seine  einzelnen  Bestandtheile  reproduziren  ! 
So  müssten  wir  also  auch,  um  einen  Freund  wiederzuerkennen,  erst  alle  die 
unendlichen  Einzelheiten  der  körperlichen  Erscheinung,  wie  sie  in  unsrer 
Erinnerung  haften,  stückweise  mit  dem  vergleichen,  was  wir  in  Wirklich- 
keit vorfinden!  und  würden  also  in  endlicher  Zeit  nicht  damit  zu  Stande 
kommen!  Und  die  in  der  Assimilation  erscheinende  Verschmelzung  der 
Laute  ist  also  in  Wahrheit  ein  Gedächtnissfehler,  eine  mangelliafte  Repro- 
duktion. (Heft  IL,  p.  138.)  Und  wenn  denn  doch  diese  Verschmelzung  ein 
Gesetz  ist,  warum  tritt  sie  einmal  ein  und  unterbleibt  das  andre  Mai?  Ist 
das  ein  Gesetz ,  das  unter  gegebenen  Bedingungen  nicht  Nothwendiges 
schafft?  Die  allgemeinen  psychischen  Verhältnisse,  wie  sie  Herr  Steintiial 
entwickelt,  sind  ferner  für  alle  Menschen  gleich.  Woher  kommt  denn  doch 
das  verschiedene  Verhalten  der  einzelnen  Sprachen  zu  dem  durch  psycho- 
logische Gesetze  NothwendigenV  Es  ist  das  derselbe  Fehler  Becker's,  der 
über  die  logisch  gleiche  Grundlage  alles  Sprachbaues  vergessen  hat  anzu- 
geben, aus  welchem  Prinzip  sich  nun  die  geschichtlich  gegebene  Verschie- 
denheit in  dem  Bau  der  einzelnen  Sprachen  erklären  lässt.  —  Und  nun  erst 
die  Erklärung  der  Attraktion!  Auch  der  Satz  ist  ganz  antediluvianisch  eine 
Reihe  von  Worten,  die  in  ähnlicher  Weise  reproduzirt  werden,  wie  die 
Laute  eines  Wortes.  Um  die  allgemeinen  psychischen  Gesetze  darzustellen, 
auf  denen  die  sprachliche  Erscheinung  der  Attraktion  beruht,  zeigt  der  Ver- 
fasser an  einer  Reihe  von  einzelnen  Fällen,  me  ein  gewisses  Wort  nach  der 
Natur  dieser  Fälle  sich  an  eine  beson<lers  wichtige  Stelle  gedrängt  habe! 
Ist  denn  die  Attraktion  ein  Ergebniss  der  einzelnen  Stellen  und  ihres  Sinnes, 
wie  lassen  sich  über  sie  allgemeine  psychische  Gesetze  geben  ?  So  gewinnt 
man  höchstens  eine  Gruppe  gleichartiger  Anomalien.  Und  mit  welchem 
seltsamen  Bombast  wird  das  Vordrängen  eines  Begriff's  an  eine  ihm  eigent- 
lich nicht  gebührende  Stelle  geschildert!  Man  sehe  der  Kuriosität  wegen 
p.  148  —  150,  p.  158,  15S,  161,  U;7.  Zugleich  aber  will  der  Verfasser  die 
Attraktion  weder  für  Anomalie,  noch  für  das  Erzeugniss  bewusster  stylisti- 
scher Kunst  gelten  lassen.  Stylistische  Kunst  ist  al)er  selbstverständlich 
nicht  durchgängig  bewusst ,  sondern  beruht  auf  dem  Talent  leichter  Erreg- 
barkeit, die  ganz  im  Gegenstande  zu  leben  vermag  und  dem  Zuge  d.^r  Be- 
griffe mit  Leichtigkeit  folgt.  Ist  die  Attraktion  also  nicht  bewusste  Kunst, 
so  kann  sie  doch  immer  das  Zeichen  des  stylistischen  Talentes  sein  und  aus 
der  eigenthumhchen  Begabung  des  Individuums  Iblgen,  das  die  allgemeinen 
Formen  des  sprachlichen  Organismus  seiner  Empfindungsweise  anpas.-t.  Nun 
bezeichnet  aber  der  Verfasser  eine  Reihe  von  Krscheinnngen  als  Attraktion, 
die  nur  vom  Standpunkte  des  deutschen  Sprachgebrauchs  aus  so  erscheinen, 
Ttnvras  ovtoi  vö/ioi  sloiv  or^  ro  -n'/.Tjd-os  tygaxff ,  alle  iliese  (nämlich  Ge- 
setze) sind  Gesetze,  erscheint  auff'ällij:  nur  dem  deutschen  «dies"  gegenüber. 
Nur  von  demselben  Standpunkt  aus  kann  die  Wortstellung:  quam  quisque 
norit  arteni,  in  hac  se  exerceat  auffallig  erscheinen  u.  s.w.  Das  ist  also  eine 
Analogie  zu  Beckers  Art,  die  deutsche  Sprache  nh  die  absolute,  als  die 
verwiÄlicbte  Sprachidee  zu  betrachten  und    nach   ihr  die   andern  Sprachen 


216  Beui-theilungen  und  kurze  Anzeigen. 

zu  messen.  Jedenfalls  ein  seltsames  Zusammentreffen  mit  dem  angefeindeten 
Urheber  des  „Organismus."  Ueberhaupt  aber:  werrlen  gewisse  sprachliche 
Ersclieinungen ,  als  Attraktion,  d.  h.  als  etwas  Auffälliges  herausgehoben, 
so  wird  damit  zugestanden,  dass  sie  als  Ausnahme  gegen  eine  Regel  Ver- 
stössen. Und  diese  Regel,  was  kann  sie  anders  sein,  als  der  einfache  Aus- 
druck des  logischen  Verhältnisses  der  Begriffe?  Es  können  also  besondre 
psychische  Prozesse  Ausnahmen  begründen.  Aber  grade  dadurch  wird  ja 
das  Logische  als  die  Regel,  als  die  Grundform  der  Sprache  zugegeben,  eben 
das,  wogegen  der  Verfasser  am  heftigsten  streitet.  Dass  aber  psychische 
Erregung  im  Stande  ist,  den  logischen  Bau  der  Sprache  zu  unterbrechen,  das 
wird  der  euragirteste  Anhänger  der  logisch  organischen  Theorie  nicht  leugnen. 
Zur  Grundlegung  seiner  psychologischen  Theorie  hat  der  Verfasser  die  schöne 
Hypothese  „schwingender  Vorstellungen"  erfunden:  „eine  Erregtheit  dei 
nicht  im  Bewusstsein  sich  befindenden  Vorstellungen,  welche  dadurch  ver- 
anlasst wird,  dass  eine  lange  Reihe  oder  Kette  von  Vorstellungen  durch 
Irgend  eine  Ursache  in  das  Bewusstsein  gehoben  ist,  ohne  dass  sie  sich  hier, 
wegen  der  Enge  des  Bewusstseins,  vollständig  entwickeln  könnte.  Dann 
werden  einzelne  wenige  Glieder  jener  Kette  bewusst  ssin,  während  andere, 
besonders  vorangehende,  aber  auch  folgende,  unter  dem  Bewusstsein  bleiben 
werden,  aber  natürhch  nicht  ruhig."  „Zappelnde"  Vorstellungen  also  wäre 
besser  gesagt.  Dabei  denke  sich  etwas  ,  wer's  kann.  Wir  möchten  meinen, 
dass  des  Verfassers  Theorie  der  Attraktion  selbst  ein  Beleg  für  die  „schwin- 
genden Vorstellungen"  sei.  —  Wenn  die  psychologische  Betrachtung  der 
Sprache  nichts  Besseres  zu  proiluziren  vermag,  so  würde  es  leicht  werden, 
sie  zu  entbehren. 

Lassen. 


Gedichte  von  Heinrich  Pröhle.  Leipzig.  Verlag  von  Gustav 
Gräbner.     1859. 

In  einer  Zeit  industrieller  Erfindungen  und  praktischer  Schöpfungen, 
einer  Zeit,  die  vom  Stoff'  und  vom  Bedürfniss  beherrscht  wird,  kann  die 
Dichtkunst  keine  guten  Tage  haben;  sie  muss  naturgemäss  mehr  als  je  ein 
fremder  Gast  auf  Erden,  mehr  als  je  ein  schönes  Jenseitige  sein,  dessen 
AVi^nderfüUe  mehr  geahnt,  als  lebenskräftig  empfunden  und  tief  ergreifend 
erfahren  wird.  Jene  Ahnung  poetischer  Schönheitswunder  ist  der  Vater  des 
Mäcenatenthums,  das  im  Mutterschoosse  materiellen  Behagens  und  höfischen 
Glanzes  zur  Reife  getragen  wird.  Aber  das  Mäcenatenthum  des  materiellen 
Behagens  ist  unbehaglich  und  nichts  weniger  als  fördernd  für  die  poetische 
Kunst,  weil  es  durch  die  Natur  seiner  Ansprüche  den  Dichter  stets  zum 
dienenden  Gelegenheitsdichter  herabsetzen  wird-,  ja  wir  dürfen  behaupten, 
alle  Beispiele  erspriesshchen  Mäcenatenthums  lassen  sich  auf  das  eine  Ver- 
hältniss  zurückführen  des  poetischen  Mögens  zum  poetischen  Vermögen, 
des  dichterischen  Sinns  zur  dichterischen  Schöpferkraft,  der  Svva/u,is  zur 
evsQysia.  Mit  andern  Worten,  der  Mäcen  muss  selbst  ein  Dichter  sein,  der 
Reception,  der  Reproduction  ,  ja  der  Anfänge  poetischer  Gestaltung  fähig 
und  an  der  Vollendung  dieser  nur  durch  eigne  Schwäche  oder  durch  fremde 
Schuld  gehindert.  So  bedurfte  Mäcenas  selbst  der  gestaltenden  Kraft  des 
Horaz,  um  seine  eigne  Poesie,  die  sich  nur  zu  schnell  zerfliessenden 
Wellenpulsen  zusammenzuraffen  wusste,  in  feste  Formen  gebracht  zu  sehen. 
So  Hessen  die  hohenstaufigchen ,  babenbergischen,  thüringischen  und  andre 
deutsche  Fürsten  den  Hoch-  und  Feinsinn  ihres  höfischen  und  ritterlichen 
Lebens  im  Minnegesang  und  im  Kunstepos  ausprägen,  oft  auch  nur  mit 
ausprägen,    weil  sie  selbst  als  Sänger  auftraten.     So  endlich  musste  Goethe 


Beurtheilungen  und  k^irze  Anzeigen.  217 

ilen  stürmischen  Drang  seines  genialen  Herzogs  poetisch  entbinden  und 
verklären. 

Diese  geistig  ebenbürtigen  Mäcene  können  in  einer  vorherrschend  ma- 
terialistischen Zeit  nur  seltene  Vögel  sein,  und  darum  ist  es  ein  Glück,  dass 
der  so  protegirten  Dichter  nicht  zu  viele  sind.  Die  nicht  protegirten  zer- 
fallen in  zwei  Ivlassen :  die  einen  leben  von  ihren  Erzeugnissen,  die  andern 
verwerlhen  ihre  Nebenstunden  mit  Poesie  und  poetischen  Versuchen.  Eine 
dritte  und  höchste  Khisse  mag  ziemlich  ausgestorben  ?ein;  das  sind  die- 
jenigen, welche  im  wahren  und  vollen  Siune  des  Worts  für  die  Dichtkunst 
leben.  Sidb.st  Lenau,  der  nichts  vom  Leben  wollte  als  dichten,  konnte  be.«ser 
sterben  für  die  Poesie,  als  er  für  sie  zu  leben  wusste;  er  gewann  die  dich- 
terischen Impulse  und  Auschauungen  durch  Aufreibung  seines  Organismus, 
er  „macerirte"  sich,  wie  er  selbst  in  einem  Briefe  sagt,  um  ein  schönes 
Gedicht  zu  machen.  Hieraus  erklärt  sich  Ton  und  Stimmung  in  Lenau's 
Gedichten;  aber  wir  wollen  nicht  verkennen,  dass  jeder  Dichter,  dem  es 
wahrer  Lebenszweck  und  Lebensernst  ist  um  die  Poesie,  und  dem  es  so 
unmögHch  fällt,  den  e]>ischen  Geist  zu  beschwören,  wie  Lenau,  sich  durch 
die  Poesie  aufreiben  wird  und  muss,  wenn  er  nicht  in  reiehbewegter,  voll- 
begeisterter Zeit  sich  von  dem  hohen  Strome  tragen  lässt.  Lohenstein  sagt, 
nur  dichten  können  sei  so  gut,  wie  ein  Kleid  bloss  von  Spitzen  tragen,  und 
jeder  Dichter  der  schlesischen  Zeit  hätte  es  mit  ihm  sagen  können,  denn 
für  eine  Epoche,  wo  die  Dichtung  nur  ein  Spiel  des  Verstandes  und  ein 
sprachlicher  Zierrat  war,  hat  das  Wort  seine  volle  'Wahrheit.  Bei  unsern 
heutigen  Lyrikern,  wenn  wir  das  Wort  auf  sie  anwenden  wollten,  hätten  die 
Spitzen  eine  andre  Bedeutung,  es  wären  Dorn-  und  Dolchspitzen,  mit  denen 
sie  sich  hundert  und  tausendfach  die  Lebensader  öflnen,  um  ihr  eigen  Herz- 
blut fliessen  [zu  sehen.  Wer  uns  nur  seine  „überflüssigen  Gedanken," 
wer  uns  „Rosen,  Himmelschlüsseln  und  Hyacinthen  ,"  wer  uns  „Tände- 
leien" oder  „Kleinigkeiten"  bietet,  den  rechnen  wir  nicht  mehr  zu  den 
Dichtern.  Und  ist  nun  die  Zeit  arm  an  poetischen  Impulsen ,  was  bleibt 
da  dem  Lyriker  anders,  als  er  selbst,  als  sein  individueller  Geist,  den 
er  immer  wieder  aufstacheln,  immer  wieder  reizen  rauss,  nicht  Stoße  zu  ge- 
stalten, sondern  rein  aus  sich  heraus  zu  schaffen.  Der  Epiker,  der 
Dramatiker,  überhaupt  jeder  Dichter,  der  zum  Stofle  noch  ein  Verhältniss 
hat,  findet  an  diesem  einen  Halt,  findet  im  Ringen  mit  dem  Stoff  dieselbe 
Erkräftigung  und  Erfrischung,  dieselbe  Erhöhunji  des  Selbstbewusstseins, 
welche  dem  Menschen  der  Kampf  mit  dem  Leben  und  seinen  feindlichen 
Gewalten  giebt.  Unsere  Gefuhlslyriker ,  welche  diesen  Wiederhalt  und  Ge- 
gensatz am  StolTe  nicht  haben,  hören  auf  zu  singen,  wenn  die  Wogen  ju- 
gendlicher Empfindung  minder  hoch  zu  gehen  anfangen,  oder  sie  reiben  sich 
auf,  wie  Lenau,  Hölderlin,  Heine,  auch  Bürger  und  schon  Günther  sich 
aufgerieben  haben.  Nicht  durch  ihr  Leben,  wie  man  mir  in  Betreff  mehrerer 
von  diesen  entgegnen  könnte,  nein  durch  ihr  Dichten  haben  sie  sich  aufge- 
rieben, weil  sie  den  Gegenstand  und  Gegensatz,  den  sonst  der  Stoff  giebt, 
stets  in  sich  selbst  erzeugen  mussten  und  so  in  sehnlicher  Selbstbeschauung 
und  wolhustigpin  Selbstgeniiss  zu  Grunde  gingen.  Der  Conflict  muss  sein, 
sie  schufen  ihn  in  sich,  und  ihr  edleres  Theil  rieb  das  unedlere  auf 

Der  Brotdichter,  wenn  es  wirklich  solche  giebt,  und  der  Dichter  der 
Nebenstunden  sind  vor  diesem  Schicksal  sicher;  der  erstere,  weil  ja  die  Er- 
haltung seiner  Existenz  eben  sein  Zweck  ist,  der  andere,  weil  er  die  Dich- 
tung zu  seiiitm  Privatvergnügen  herabsetzt,  zu  einem  Erholungsmittel,  einem 
Spaziergang,  bei  dem  der  Geist  einmal  die  Arbeitslast  abwirft  und  seine 
Glieder  in  harmonischer  Freiheit  zu  bewegen  sucht.  Natürlich  gehorchen 
die  Glieder  nicht  immer,  denn  sie  sind  an  Last  gewöhnt:  da  ist  hier  eine 
Wendung  oteif,  da  eine  Bewegung  ohne  Anmutli,  dort  ein  Schritt  ohne 
Schwung:  mit  einem  Wort,  der  Geist,  welcher  der  AValirheit  der  Wissen- 
schaft   öder   der  Nützlichkeit   im   praktischen  Leben   so   lange   gedient   hat, 


218  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

kann  nicht  so  ohne  Weiteres  hineinspringen  in  die  Welt  des  Schönen,  die 
andre  Gesetze,  aber  eben  auch  Gesetze  hat,  welche  ganz  angeeignet,  ganz 
unser  Fleisch  und  Blut  werden  müssen,  wenn  wir  Schönes  schaffen  wollen. 
Pröhle  ist  ein  Dichter  der  Nebenstunden.  Der  Abfall  von  seiner  Zeit 
und  grossentheils  der  Abfall  von  seinen  Studien  ist  in  Gedichten  verwerthet : 
den  Eindruck  verliert  man  nur  bei  einem  oder  dem  anderen  seiner  erzäh- 
lenden Gedichte.  Es  hat  nicht  die  Vollkraft  eines  gesammelten  Geistes  im 
tiefen  Mutterschoosse  des  Gemütlies  die  Stoffe  umgeschaffen  und  wiederge- 
boren, sondern  der  unüberwundene  Stoff  ist  mit  metrischem  und  klingendem 
Zierrat  versehen,  also  es  ist  mehr  versificirt  und  gereimt  als  gedichtet. 

Nro.  1.  „Die  Osterjungfrau"  ist  nach  Prölile's  Harzsagen  S.  161  ge- 
macht. In  den  drei  ersten  Strophen  ist  die  poetische  That  des  Verfassers, 
dass  er  an  die  Stelle  des  Ritters  in  der  Sage  „Ich"  gesetzt  hat.  In  dem 
Folgenden  heisst  die  poetische  That  Combination,  Combination  mit  der 
Sage  von  der  Wunderblume,  vor  der  sich  alle  Wunderschätze  und  Geheim- 
nisse des  Gebirges  offenbaren.  Diese  Combination  ist  nicht  ungeschickt,  da 
der  Verfasser  in  der  That  die  Schätze  des  Harzes  in  sehr  verdienstlicher 
Weise  gehoben  hat,  und  so  mag  das  Gedicht  als  recht  passende  Einführung 
gelten.  Aber  es  Ist  eben  der  Nebenzweck ,  der  das  Gedicht  hebt ,  es  ist 
ein  gutes  Gelegenheitsgedicht. 

Nro.  2.  „Kaiserwoort"  gehört  zu  den  besterzählten.  Die  Sage  an  und 
für  sich  ist  anmuthig  und  patriotisch  anregend.  Die  Fiction  des  Dichters, 
dass  der  ^Virth  in  der  Kaiserwoort  seinem  Gaste  oder  seinen  Gästen  bei  der 
Flasche  die  Sage  erzählt,  ist  recht  glücklich,  führt  aber  zuletzt  zu  einem 
toastartigen  Schluss,  wodurch  das  Gedicht  seine  Einheit  verliert.  Der  erste 
Vers:  „Noch  eine  Flasche  gebt  heraus"  erweckt  die  Vorstellung,  als  raffte 
sich  der  Sprecher  zu  etwas  Schwerem,  Gewaltigem  zusammen,  es  frappirt 
daher  der  zweite  V^ers  mit  seinem  friedlichen  „Herr  Wirth,  und  sagt,  wer 
schuf  dies  Haus."  Wenn  ein  schweres  Sciieiden ,  ein  Gang  in  die  Schlacht 
so  eingeleitet  wäre,  würde  man  es  vielleicht  natürlicher  finden. 

Nro.  3.  „Der  Kaiserbrunnen"  ist  mehr  aus  einem  Guss,  doch  fehlt  es 
an  Einheit  der  Anschauungen. 

„Die  Auswanderer"  sind  wirklich  ein  schönes  Gedicht;  es  spricht  nicht 
bloss  eine  Stimmung  des  Verfassers,  es  spricht  zugleich  eine  allgemeine 
krankhafte  Zeitstimmung  aus  und  legt  sich  uns  deshalb  erschütternd  ans 
Herz.  Der  vaterländische  Sinn,  der  sonst  durch  das  ganze  Büchlein  geht, 
bildet  eine  schöne  Folie  für  dies  Gedicht.  Es  erschüttert  uns  tief,  dass  selbst 
in  die  einsame  Dichterzelle  eines  so  patriotischen  Sängers  der  Wanderruf: 
„Wer  kommt  mit?"  hineintönen  konnte. 

Im  allgemeinen:  je  weniger  die  Gedichte  mit  dem  Stoffe  zu  tbun  haben, 
desto  besser  sind  sie.  Stoffe  sich  zu  assimiliren  und  dann  als  eignes  Herz- 
blut wiederzugeben,  hat  der  Dichter  der  Nebenstundun  keine  Zeit;  solche 
Früchte  reifen  still  langsam,  während  Gedanke  und  Empfindung,  oft 
in  Verse  gestiefelt  und  mit  Reimen  gespornt,  plötzlich  aus  dem  Menschen- 
hirne springen,  wie  ihre  Patronin  Ajthene  aus  dem  Haupte  des  Zeus.  Es 
ist  daher  viel  leichter,  in  diesen  lyrischen  Kurzwaareu  etwas  Rundes,  in  sich 
Vollendetes  zu  schaffen,  als  in  der  epischen  Lyrik,  und  wenn  wir  eben  dem 
Dichter  aus  Passion  eine  möglichst  nahe  Beziehung  zum  Stoff  gewünscht 
haben,  so  dürfte  sich  dagegen  für  die  Dichter  der  Nebenstunden  die  Maxime 
empfehlen,  mit  poetischer  Schöpfung  zu  warten,  bis  der  Impuls  dazu  drängt. 
Sonst  wird  er  unfehlbar  in  dieses  fatale  Machen  gerathen,  gegen  welches 
die  deutsche  Welt  seit  Goethe  sehr  empfindlich  ist.  Man  will  jetzt  gewach- 
sene Gedichte,  und  trotz  der  Vorrede  des  Dichters  kann  ich  diesen  Cha- 
rakter nur  in  den  lyrischen  Gedichten  Pröhle's  und  auch  da  nicht  überall 
finden. 

Wohlthuend  ist,  abgesehen  von  allem  poetischen  Schaffen  und  Gestalten, 


Beurtheilungcn  und  kurze  Anzeigen.  219 

der  patriotische   Sinn,    der  dem   ganzen  Büchlein    als   gemeinsamer   Grund 
unterliegt. 

Gleichzeitig  liegt  mir  noch  ein  zweites  Buch  von  Pröhle  zur  Beur- 
iheilung  vor: 

Feldgarben.  ßeitiäge  zur  Kirchengeschichte,  Literaturgeschichte 
und  Culturgeschichte.  Leipzig.    Verlag  von  Gust.  Graebner. 

Der  Titel  kennzeichnet  das  Buch  gut,  wenn  gleich  der  Singular  nofh 
besser  wäre.  Es  ist  eine  auf  verschiedenen  Feldern  gesammelte  Garbe, 
aus  der  das  Korn  noch  nicht  gedroschen,  geschweige  denn  das  Brodt  ge- 
backen ist,  dass  aber  Korn  darin  ist,  kann  nicht  geleugnet  werden.  Das 
Buch,  die  Garbe  ist  nun  dadurch  entstanden ,  dass  Verfasser  die  einzelnen 
Aehren,  die  er  früher  gefunden  und  zerstreut  in  Zeitschriften  aufgehoben 
hatte,  äusserhch  zusammengebunden  hat.  "Wenn  diese  Art,  ein  Buch  zu 
Stande  zu  bringen,  einer  Entschuldigung  bedürfen  sollte,  so  glaube  ich, 
Verfasser  würde  sich  behufs  einer  solchen  auf  das  vnn  Varnhagen  zu  ihm 
gesprochene  'Wort  berufen,  das  er  p.  474  mittheilt,  das  "Wort:  „Ja,  ja, 
■wenn  man  etwas  recht  verstecken  will,  braucht  man  es  nur  in  einem  Jour- 
nal abdrucken  zu  lassen." 

Die  erstere  Hälfte  des  Buches  bildet  eine  Darstellung  der  kirchlichen 
Bewegungen  in  der  Provinz  Sachsen  seit  den  vierziger  Jahren  und  ist  auch 
selbständig  ohne  Angabe  des  Verfassers  erschienen  unter  dem  Titel:  „Pro- 
testantische Freunde  und  freie  Gemeinden  m  der  Provinz  Sachsen."  Auch 
die  zweite  Abhandlung  „Johann  Christian  Edelmann,"  hat  noch  vor- 
herrschend kirchengeschichtliches  Interesse,  und  du  diese  Zeitschritt  einem 
solchen  nicht  zu  dienen  hit,  müssen  wir  uns  mit  der  Bemerkung  begnügen, 
dass  beide  Abhand hingen  für  jeden  Gebildeten  höchst  le.senswerth  sind. 
Indessen  constatire  ich  auch  hier  wieder  die  mehrgerügte  Methode  des  so 
zu  sagen  stofflichen  Aphorismus. 

Die  folgenden  Aufsätze  enthalten  so  mannigfaltige  literar-  und  cultur- 
historische  Notizen,  dass  sie  in  einer  Anzeige  füglich  nicht  charakterisirt 
■werden  können.  Mit  besonderem  Interesse  habe  ich  die  mythologischen 
Sachen,  darunter  die  Briete  von  J.  W.  Wolf,  und  das  Reisegespräch  Fried- 
richs des  Grossen  nach  Gleim  gelesen. 


Altes  Gold.  Deutsche  Sprichwörter  und  Redensarten  nebst 
einem  iVnhange.  Gesammelt  und  herausgegeben  von  W. 
L  obren  gel,  Lehrer.  Clausthal,  Vei'lag  der  Grosse'schen 
Buchhandlung.  1860.  (VIL  und  S3.)  kl.  8. 

Der  Titel  des  kleinen  Buches  ist  gut  gewählt,  doch  mehr  in  Bezug  auf 
die  Bedeutung  des  Sprichworts  selbst,  als  zur  Bezeichnung  <ier  hier  ge- 
botenen Sammlung;  denn  es  befinden  sich  in  derselben  auch  viele  aus  dem 
frischen  Quell  der  Gegenwart  genouunene  neuere  Sprichwörter  und  Redens- 
arten in  niederdeutscher  und  Oberharzer  Mundart.  Vorherrschend  gibt  der 
Verfasser  meist  ältere,  mehr  oder  weniger  schon  bekannte  hochdeutsche 
Sprichwörter;  es  wäre  indessen  jisdenfalls  besser  gewesen,  wenn  er  die  aus 
dem  Volksmunde  oder  aus  dem  Dialekte  gesammelten  Sprichwörter  allein 
gestellt  und  so  eine  klarere  Uebersicht  dessen  gegeben  hätte,  was  der  Ober- 
harz an  sprichwörtlichen  Eigenthiünlichkeiten  und  bemerkenswertiier  Fassung 
einzelner  Sprichwörter  bietet.  Auch  hätte  er  die  Begriffe  „Sprichwort" 
und  „sprichwörtliche  Redensart"  schärfer  begränzen  sollen,  denn  unter  den 


220  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

525  sprichwörtlichen  und  bildlichen  Redensarten  befinden  sich  viele  wirk- 
liche Sprichwörter,  vgl.  Nro.  93.  118.  131.  172.  173.  175.  298.  4'27.  478  etc. 
Der  Anhang  enthält:  eine  kleine  Sammlung  synonymer  Sprichwörter,  über 
den  Ursprung  einiger  Sprichwörter  und  Kedensarten,  einige  Sprichwörter 
mit  Auslegung  und  zuletzt  Wort-  und  Sinnerklärungen;  —  bietet  aber  durch- 
iius  nichts  Neues.  Das  Büchlein  ist  trotz  dieser  Ausstellungen  mit  seinen 
925  Sprichwörtern  immer  ein  dankenswerther  Beitrag  für  das  seit  Kurzem 
neu  angeregte  Studium  der  deutschen  Mundarten  und  hilft  eine  kleine  Lücke 
in  der  Reihe  der  landschaftlichen  SprichwörtersaiTimlungen  ausfüllen,  deren 
wir  jetzt  folgende  besitzen:  niederdeutsihe  (Dortmund,  1800.  —  Schütze 
holst.  Idiot.   1800  —  Goldschmidt,  holst.   1847.—  Schambach,  Götting.  iS.il 

—  Raabe,  Mecklbg.   18.t4    -  Musaeus  und  Günther,   1854  —  Lübben,   1855 

—  Höfer,  1856—  Eichwald,  1860  — ),  Trierische  i  Laven,  1858),  Meursische 
(]84C),  vonderEifel  (Schmitz,  1853),  elsässische  (Stöber,  1842),  waldeckische 
(Curtze,  1860),  schwäbische  (1780),  schweizerische  (Kirchhofer,  1824),  bas- 
leiische  (1857),  bairische  (Zaupser,  1789.  Meyer,  1812).  hennebergische 
(1803.  Spiess,  1855),  meininger  (Schleicher,  1857),  schlesische  (Robinson, 
1720),  preussische  (Pisanski,  1760),  und  niederländische  (Willems,  182G. 
Scheltema,  1826  —  31.  Harrebomde,  1853). 

C.  Schulze. 


Grammatik  der  italienischen  Sprache.  Nebst  einem  Abriss  der 
itnlienischen Metrik.  Von  Julius  Wisigers  und  Moritz  Wiggers. 
Hamburg,  HofFmann  und  Campe.  ''1859.    8«.  S.  XVI,  448. 

Die  italienische  Grammatik  hiit  sich  weit  weniger  als  die  französische 
und  englische  einer  wissenschaftlichen  Behandlung  zu  erfreuen  gehabt.  Die 
Theilnahme  für  dieselbe  ist  in  unserm  nördlichen  Deutschland  immer  noch 
zu  spärlich,  als  dass  es  hätte  gelingen  können,  sie  von  jener  eingewurzelten 
Oberflächlichkeit  zu  befreien,  welche  sich  damit  begnügt,  dem  sogenannten 
praktischen  Bedürfnisse  zu  dienen,  aber  die  Mühe  scheut,  den  Stoff  und  Kern 
der  Sprache  selbst  zu  untersuchen. 

Um  so  mehr  muss  man  eine  Arbeit  willkommen  heissen  wie  die  vor- 
liegende, welche  dahin  strebt,  die  italienische  Sprachlehre  —  nach  den 
Worten  der  Vorrede  —  aus  der  Sphäre  des  Mechanischen  auf  eine  wissen- 
schaftliche Stufe  zu  erheben  und  ihr  dadurch  zugleich,  wie  mit  Recht 
hinzugesetzt  wird,  die  wahre  praktische  Brauchbarkeit  zu  verleihen. 

Hier  wiederholen  sich  nicht  jene  der  Geschichte  widersprechenden  Be- 
hauptungen von  dem  absonderlichen  Wohlklange,  unter  dessen  Einflüsse  sich 
die  italienische  Sprache  gebildet  haben  solle;  hier  wird  der  Artikel  nicht  für 
ein  Geschlechtszeichen  ausgegeben;  hier  werden  nicht  unverstandene  Wort- 
verbindunficn  durch  den  Nothbehelf  absurder  Ellipsen  erklärt,  hier  wird  nicht 
von  Füllwörtern  gefabelt  —  und  was  man  dergleichen  sonst  noch  in  den 
gewöhnlichen  Lehrbüchern  antrifft. 

Im  Gegentheil  sieht  man  hier  zu  seiner  Befriedigung  manches  alte  Vor- 
urtheil  beseitigt,  wie  z.  B.  da?s  der  Comparativ  durch  Hinzufügung  des  Ar- 
tikels zu  einem  Superlativ  werde,  dass  den  possessiven  Fürwörtern  der  Artikel 
nothwendig  sei,  dass  das  reflexive  Fürwort  si  „man"  heisse,  dass  die  Nega- 
tionen nulla  und  niente  auch  „Etwas"  bedeuten,  dass  der  Luperativ  auch 
Formen  für  die  dritte  Person  habe,  dass  die  Verba  fare  und  dire  zur  ersten 
und  dritten  Conjugation  gehören  statt  zur  zweiten  u.  s.  f. 

Als  besonders  wohlgelungen  verdienen  bezeichnet  zu  werden:  die  Dar- 
stellung der  Fürwörter,  deren  oft  sehr  verdunkelte  Formen  überdies  in  den 
hinzugefügten  lateinischen  Urformen  ihre  willkommene  Erklärung  finden ;  die 


ßeurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  221 

Behandlung  der  um-egelmässigen  Verba,  deren  abweichende  Bildung  mit  rich- 
tiger Einsicht  auf  den  Charakter  oder  Endconsonanten  der  Stammsylbe  zu- 
rückgeführt wird;  die  Besprechung  der  Zeitformen,  der  Zeitfolge,  des  Con- 
junctivs  und  des  Gerundiums,  die  einen  Haupttheil  der  Syntax  ausmacht. 
Denn  diese,  die  Syntax,  ist  mit  Recht  von  der  Formenlehre  unterschieden 
worden,  mit  der  sie  bisher  in  eben  so  ungerechter  als  störender  Weise  ver- 
mengt zu  werden  pflegte. 

Die  Darstellungsweise  ist  durchaus  einfach  und  gediegen  zu  nennen. 
Man  sieht  ihr  die  gründlichen  Studien  an,  welche  dem  Gegenstande  gewidmet 
worden,  und  so  wird  sie  auch  nicht  verfehlen,  dem  Lernenden  überall  die 
klare  und  richtige  Auffassung  des  Vorgetragenen  zu  erleichtern. 

Im  Ganzen  und  Wesentlichen  muss  sich  daher  die  Kritik,  auch  wenn  sie 
Strenge  üben  will,  mit  dem  hier  (ieleisteten  einverstanden  erklären.  Doch 
sei  es  erlaubt,  auch  auf  Einiges  hinzuweisen,  was  einer  Berichtigung  oder 
schärferen  Bestimmung  fähig  oder  bedürftig  erscheint. 

Hierzu  gehören  vor  Allem  die  Lautverhältnisse,  die,  obwohl  in  der 
Hauptsache  gut  und  einsichtsvoll  behandelt,  doch  hie  und  da  noch  sorgfältiger 
in  Acht  zu  nehmen  gewesen  wären.  So  lautet  z.  B.  die  Consunantverbindung 
gn  (S.  4)  wie  nj  nicht  nur  „in  der  Mitte  von  Wörtern,"  wie  in  di-in  Bei- 
spiele ignudo,  sondern  auch  am  Anfange  derselben,  wie  in  dem  abgekürzten 
gnudo  oder  in  gnucca,  gnacchera  u.  a.  —  S.  233  werden  die  Verba  auf 
gliere  (cogliere  etc.)  als  auf  iere  ausgehend  betrachtet;  aber  das  i  ist  hier 
nicht  Bestandtheil  der  P^ndung  und  überhaupt  ohne  eigentlichen  Buchstaben- 
werth,  sondern  gehört  in  Gemeinschaft  mit  dem  g  zur  Bezeichnung  des  dem 
1  eigenthümlichen  Quetschlautes  oder  suono  schiacciato.  —  S.  l'28  wäre  von 
den  Verben  auf  dere  (z.  B.  evailere)  das  Perfectum  (evasi)  besser  durch  die 
Ausstossung  des  d  vor  dem  Endungs-s  als  durch  eine  Verwandlung  desselben 
in  dies  s  zu  erklären.  Auf  ähnliche  AVeise  stossen  die  Verba  auf  gere  mit 
vorangehendem  Consonanten  (z.  B.  volgere)  vor  jenem  s  das  g  aus  (volsi), 
wählend  die  mit  vorangehendem  Vocal  (z.  B.  dirigere).  dasselbe  dem  s  assi- 
miliren  (diressi,  lat.  direxi,  d  i.  diregsi).  —  S.  236  ist  von  den  Verben  auf 
iiere  mit  Recht  gesagt,  dass  sie  in  mehreren  Formen  des  Präsens  das  n  durch 
ein  g  (tenere,  tengo)  „verstärken;"  hiermit  würde  besser  übereinstimmen, 
wenn  auch  S.  234  in  Betreff"  der  Verba  auf  lere  der  Zutritt  eines  ganz  ähn- 
lichen g  (dolere,  dolgo)  als  eine  Verstärkung,  nicht  „Erleichterung"  be- 
zeichnet wäre.  —  Dass  S.  183  suadere  denjenigen  Verben  beigezählt  worden, 
welche  im  Lateinischen  ein  kurzes  Endungs  -  e  Qere)  gehabt,  ist  wohl  nur  ein 
zufalliges  Verselien. 

Mehr  von  principiellem  Interesse  ist  die  Frage:  Giebt  es  im  Ita- 
lienischen Diphthongen?  Die  Herren  Verfasser  scheinen  dies  (S.  2) 
nicht  anzunehmen  und  sind  dabei  allerdings  weit  mehr  im  Rechte  als  die- 
jenigen, welche  so  oft  einen  Diphthongen  vor  sich  zu  haben  glauben  als  sie 
zwei  Vokale  neben  einander  stehen  seTien.  Gleichwohl  wird  man  angesichts 
von  Wörtern  wie  aura,  reuma  das  Vorhandensein  von  Diphthongen  auch 
trotz  der  getrennten  Aussprache  ihrer  Bostandtheile  und  trotz  der  geringen 
Anzahl  dafür  aufzubringender  Beispiele  nicht  ganz  verleugnen  dürfen.  Die 
Sylbentheilung  würde  z.  B.  unbedenklich  pa-ura  (lat,  pa-vor),  aber  nicht 
a'-ura  gestatten.  —  Von  Triphthongen  und  gar  Quadriphtliongen  zu  reden 
(sonst  ein  Lieblingsthema  italienischer  Grammatiker)  ist  dagegen  mit  Recht 
vermieden  worden. 

In  der  Darstellung  des  Doppelklanges  der  Vocale  e  und  o,  die 
'  überdies  in  einen  besondern  Anhang  verwiesen  ist,  sind  die  Herrn  Verfasser 
ihrer  sonst  so  glücklich  behaupteten  Selbständigkeit  untreu  geworden  und 
der  heri sehenden  Theorie  gelolgt.  Diese  Theorie  ist  jedoch  bei  näherer 
Untersuchung  nicht  haltbar.  Anstatt  eines  festen,  bestimmt  erkannten  Grund- 
satzes stützt  und  beruft  sie  sich  auf  zufällige  Beobachtungen,  die,  unsicher 
an  sich  selbst,    auch  ihren  Gegenstand  um  so  weniger  mit  Sicherheit  zu  er- 


222  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

fassen  vermögen  als  dieser  auch  seinerseits  manchen  Zufälligkeiten  und 
Schwankungen  unterliegt.  Es  sei  erlaubt,  in  dieser  Hinsicht  auf  meine  in 
Band  XXVI,  Uel't  2  (ö.  190  Ö.)  dieses  Archivs  mitgetheilte  Abliaudiung  zu 
verweisen,  welche  in  gedrängter  Kürze,  aber  doch  vollständig  das  hier  in 
Betracht  koumiende  Princip  zu  entwickeln  versucht. 

Zu  den  alten  Vorurtheilen,  deren  die  Herrn  Verfasser  so  viele  beseitigt 
haben,  dürfte  auch  dies  zu  rechnen  sein,  dass  das  Accentzeichejn  unter 
Anderm  den  Zweck  habe,  gleichlautende  Wörter  zu  unterscheiden  (8.  IG). 
Die  angeführten  \^  örter  si,  li,  ne,  costä  haben  das  Accentzeicben,  weil  sie, 
wenn  auch  nicht  in  Ansehung  einer  Sylbe,  sondern  nur  eines  Consonanten, 
vüci  tronche  sind  (lat.  sie,  illic,  nee,  iste-hac);  si,  li,  ne,  costa  (lat.  se,  ilU, 
inde  oder  altital.  inne,  costa)  sind  dies  nicht,  und  dies  ist  der  Grund,  weshalb 
ihnen  auch  jenes  Zeichen  nicht  zakommt. 

Mit  näherer  Rücksichtnahme  auf  die  Betonung  hätte  sich  auf  S.  104 
auch  leicht  der  Grund  angeben  lassen,  warum  die  Pronominalfoniien  mi,  ti, 
si,  ci,  vi,  gli,  vor  andern  Fürwörtern  (lo,  la  etc.)  ihr  i  in  e  verwandeln;  diese 
Verwandlung  ist  eigentlich  eine  Verstärkung,  herbeigeführt  durch  den  in 
solchen  Verbindungen  auf  das  sonst  tonlose  i  fallenden  Accent. 

In  etym  ologischer  Hinsicht  mögen  hier  folgende  Bemerkungen  Raum 
finden:  Gire  und  ire  (S.  246)  sind  nicht  verschiedene  Verba,  sondern  nur 
verschiedene  Formen  eines  und  desselben  Verbs.  —  Mente  (S.  7  4\))  ist  streng 
genommen  nicht  Adverbial- Endung,  sondern  das  Substantiv  mente  (lat. 
mens),  so  dass  dolcemente,  lentamente  u.  dergl.  (wofiir  die  Alten  nach  la- 
teinischem Vorbilde  noch  getrennt  dolce  mente,  lenta  mente  etc.  schrieben) 
nicht  sowohl  Ableitungen  als  vielmehr  Zusammensetzungen  oder  eigentlich 
blosse  Zusammenschiebungen  sind.  —  Mica  oder  miga  Seite  2.ö8  ist  als  das 
lat.  mica  (franz.  mie)  wohl  nicht  mit  dem  franz.  guere  (ital.  guari)  zusammen  zu 
stellen.  —  Sino  (Seite  278)  ist  Nichts  als  eine  durch  Irrthum  veranlasste  andere 
Schreibart  statt  tino  (vom  lat.  finis),  also  nicht  aus  dem  lat.  tenus  entstanden. 

In  Betreff  des  Syntaktischen  ist  es  unter  Anderm  wohl  nicht,  wie 
S.  64  und  S.  255  gesagt  wird,  gleichgültig,  ob  dem  Comparative  di  oder  che 
folge.  Das  durch  di  bezeichnete  Genitiv -Verhältniss  (das  in  ähnlichen  Fällen 
übrigens  an  den  griechischen  Genitiv  oder  den  lateinischen  Ablativ  erinnert) 
drückt  werüger  eine  eigentliche  Vergleichung  als  vielmehr  eine  Massbestimmung 
aus,  wobei  nur  in  Betracht  kommt,  dass  der  Italiener  für  diese  eine  so  grosse 
Vorliebe  hat,  dass  er  sie  oft  (besonders  bei  folgendem  Fürworte)  auch  da 
aufrecht  erhält,  wo  im  Grunde  eine  Vergleichimg  vorliegt  und  che  richtiger 
wäre.  —  Eben  so  darf  es  nicht  für  schlechthin  beliebig  erachtet  werden, 
das  Participium  mit  seinem  nachfolgenden  Objecte  congruiren  zu  lassen  oder 
nicht  (S.  202).  Häufig  soll,  sobald  das  Particip  mit  dem  nachfolgenden  Ob- 
jecte in  Uebereinstimmung  gesetzt  ist,  die  Handlung  als  an  Letzterem  in  zu- 
ständlicher  Weise  fortdauernd  gedacht  werden;  z.  B.  avevano  atterrati  gli 
alberi  sie  hatten  die  Bäume  gefällt,  so  dass  diese  nunmehr  am  Boden  lagen; 
wogegen  nur  die  Handlung  als  solche  ins  Gewicht  fällt,  wenn  ohne  Rück- 
sicht auf  das  Object  bloss  gesagt  wird:  avevano  atterrato  gli  alberi.  —  S.  49 
scheint  eine  fehlerhafte  Interpunction  zu  einer  irrigen  Auffiissung  des  Bei- 
spiels: per  impetrare  dal  papa  soccorso,  di  danaro  e  di  truppe  Veranlassung 
gegeben  zu  haben.  Wenn  man  das  offenbar  falsche  Komma  hinter  soccorso 
tilgt:  so  heissen  die  Worte  nicht:  „Beistand,  Geld  und  Truppen,"  sondern: 
Beistand  an  Geld  und  Truppen.  Die  Sache  ist  darum  erheblich,  weil  die 
Herrn  Verfasser  auf  den  Ausdruck  di  danaro  (und  zwar  mit  sichtbarem  und 
nur  allzu  gerechtem  Widerstreben)  die  Behauptung  gründen,  dass  der  Thei- 
lungssinn  gelegentlich  auch  ohne  Artikel  vorkomme.  —  Auch  ist  es  wohl 
nicht  richtig,  in  Beispielen  wie  tra  colle  sue  prediche  e  le  sue  lagrime  oder 
tra  per  l'una  cosa  e  per  l'altra  (S.  2  79)  eine  Verbindung  von  tra  con  oder 
tra  per  (wie  sonst  su  per,  in  su  u.  dergl.)  anzunehmen,  da  tra  hier  Nichts 
weiter  als  ein  Correlativum  zu  dem  folgenden  e  ist. 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  223 

Man  sieht  jedoch,  dass  diese  Ausstellungen  von  geringem  Belang  sind 
und  den  allgemeinen  Werth  des  Buches  nicht  beeinträchtigen.  Wer  nicht 
unverständiger  Weise  gleich  in  der  ersten  Lehrstunde  auf  das  leidige  „Par- 
iiren" ausgeht,  sondern  darauf  bedacht  ist,  sich  die  Sprache  mit  ernster  und 
nachhaltiger  Einsicht  auzueignen,  darf  sich  von  dem  Gebrauche  der  vor- 
liegenden Grammatik  sowohl  unter  der  Leitung  eines  tüchtigen  Lehrers  als 
auf  Grund  schon  anderweitig  erworbener  (lateinischer  oder  französischer) 
ISprachkenntnisse   auch   beim   Selbststudium   den    besten  Erfolg  versprechen. 

Der  anhangsweise  hinzugefügte  Abriss  der  italienischen  Metrik 
enthält  in  Kürze  und  gleichfalls  auf  guter  Grundlage  das  W' issenswertheste 
des  bezeichneten  Gegenstandes;  doch  wäre  zu  wünschen,  dass  dabei  auf  die 
Cäsuren  und  die  Accentuation  der  italienischen  Verse  näher  eingegangen 
worden  wäre. 

Auch  im  Aeusseren  zeichnet  sich  das  Buch  durch  Sauberkeit  und  Cor- 
rectheit  des  Druckes  sehr  gefällig  und  vortteilhaft  aus. 

Prof.  Dr.  Staedler. 


Programmenschau. 


Observations  sur  TEnseignement  de  la  Langue  Fran^aise  dans 
les  Classes  nioyennes  de  l'lnstitution  dite  Ecole  secondaire 
supt5rleure,  par  Cli.  Gill hausen.  Programm  der  höheren 
Bürgerschule  zu  Aachen,   1859. 

Der  Verfasser  hgt  hier  im  Anschluss  an  eine  frühere  (1841)  Arbeit, 
welche  sich  auf  die  unteren  Classen  bezog,  seine  Methode  des  gedachten 
Unterrichtes  in  den  mittleren  Classen  dar.  Diese  Methode  in  ihren  Einzel- 
heiten zu  verfolgen,  würde  eine  umfangreiche  Wiederholung  der  vorliegenden 
Schrift  erfordern,  ohne  doch  das  allgemeine  Interesse  in  entsprechendem 
Masse  fesseln  zu  können ,  da  theils  der  Lehrslofi',  theils  die  zu  seiner  Ver- 
arbeitung ausgesetzte  Stundenzahl  dem  Lehrer  die  Momente  des  Unterrichtes 
im  Ganzen  überall  auf  dieselbe  Weise  vorschreiben.  Nichts  desto  weniger 
verdient  hervorgehoben  zu  werden ,  dass  Herr  Gillhausen  mit  ernster  und 
strenger  Sorgfalt  dai-auf  Bedacht  nimmt,  dem  französischen  Unterricht,  der 
für  jede  höhere  ßüi-gerschule  ein  Hauptobject  ausmacht,  eine  durch  alle 
Classen  derselben  hindurchgehende  organische,  sachgemäss  gegliederte  Stufen- 
folge zu  sichern,  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  dass  Schüler,  welche  von  andern 
Schulen  her  in  diese  übergehen,  in  Folge  der  abweichenden  Vorbereitung, 
die  sie  dort  erhalten  haben,  manche  Schwierigkeiten  überwinden  müssen,  be- 
vor es  ihnen  gelingt,  sich  dem  hier  befolgten  Unterrichtsgange  auf  die  ge- 
wünschte Weise  einzuordnen.  Denn  wenn  eine  Lehranstalt  eigentlich  nur 
für  diejenigen  Schüler  verantwortlich  zu  machen  ist,  welche  sie  mit  dem 
Zeugniss  der  Reife  aus  ihrer  obersten  Classe  entlässt:  so  hat  sie  wesentlich 
die  Verpflichtung,  schon  von  der  untersten  Classe  an  einen  Weg  einzuschlagen, 
der  mit  Sicherheit  zu  dem  erstrebten  Endziele  hinführe ,  und  hierauf  weist 
Herr  Gillhausen  mit  Nachdruck  hin.  Dazu  gehört  nach  des  Verfassers 
Ansicht  hauptsächlich,  dass  in  jeder  folgenden  Classe  das  Pensum  der  vor- 
hergehenden sorgfältig  repetirt,  befestigt  und  angemessen  erweitert  werde, 
ehe  der  weitere  Fortschritt  unternommen  wird.  Mit  gleichem  Rechte  ver- 
langt Herr  Gillhausen,  dass  die  mündlichen  und  schriftlichen  Leistungen,  die 
häuslichen  Exercitien  und  die  in  der  Classe  anzufertigenden  Extemporalien, 
die  Gedächtniss-  und  Sprechübungen  stets  in  einem  solchen  Einklänge  und 
Zusammenhange  erhalten  werden,  dass  sie  sich  wechselseitig  ergänzen  und 
fördern,  und  dass  das  in  der  einen  Richtung  erworbene  Material  stets  In  der 
andern  zu  einer  entsprechenden  Anwendung  komme.  Herr  Gillhausen  em- 
pfiehlt überdies  das  Rückübersetzen  und  das  Uebersetzen  aus  dem  Stegreife. 
Ein  vorzügliches  Gewicht  aber  legt  er  darauf,  dass  die  schriftlichen  Arbeiten 
der  Schüler  von  dem  Lehrer  sorgfältig  durchgesehen  und  corrlgirt  werden; 
denn  nur  so  könne  der  Lehrer  ein  sicheres  ürtheil  über  die  einzelnen  Schüler 


Programmenschau.  225 

gewinnen  und  auch   sie  zu    der  erforderlichen  Sorgfalt  und  Genauigkeit  an- 
halten. 

Die  Tendenz  der  vorliegenden  Schrift  ist  demnach  nicht  sowohl  eine 
wissenschaftliclie  als  eine  pädagogische.  Ist  sie  deshalb  schon  für  Lehrer 
von  Interesse,  so  hat  sie  vielleicht  noch  einen  grösseren  Werth  für  die 
Eltern,  die  ihre  Söhne  der  gedachten  Schule  anvertrauen.  Diesen  ist  es 
ohne  Zweifel  nicht  gleichgültig,  wie  ihre  Kinder  unterrichtet  werden.  Es 
niuss  ihnen  daher  erwünscht  und  willkommen  sein,  wenn  ihnen  auf  eine  so 
klire  und  ausführliche  Weise,  wie  hier  geschieht,  eine  Einsicht  in  die  Methode 
des  Unterrichtes,  welchen  ihre  Kinder  geniessen,  gegeben  wird  und  sie  da- 
durcli  in  Stand  gesetzt  werden,  sich  über  die  Zweckmässigkeit  desselben  ein 
deutliches  Urtheil  zu  bilden,  ^^'enn  wissenschaftliclie  Arbeiten  von  den 
Kenntnissen  des  Lehrers  Zeugniss  ablegen,  so  dienen  solche  pädagogische 
dazu,  nicht  nur  die  Lehrgeschicklicbkeit  desselben  erkennen  zu  lassen,  sondern 
auch  die  Schule  mit  dem  elterlichen  Hause  zu  vermittehi  und  dieses  mit  jener 
in  Uebereinstimmung  zu  setzen.  In  Programmen,  welche  vorzugsweise  dazu 
bestimmt  sind,  in  die  Hände  der  Eltern  zu  gelangen,  haben  sie  daher  be- 
sonders eine  berechtigte  Stelle,  und  es  wäre  zu  wünschen,  dass  sie  an  dieser 
Stelle  öfter  angetroffen  würden. 

Prof.  Dr.  Staedler. 


Die  Dichtungen  Schillers  als  Unterrichtsmittel  höherer  Lehr- 
anstalten. Von  Oberlehrer  Dr.  Schauen  bürg.  Progr.  der 
Realschule  zu  Düsseldorf.     1859. 

Es  macht  dem  Ref.  Vergnügen,  seine  Collegen  auf  diesen  Aufsatz  auf- 
merksam machen  zu  können.  In  warmen  begeisterten  Worten  weist  der 
Verf  auf  den  grossen  Schatz  hin,  der  uns  für  den  deutschen  Unterricht  in 
Schillers  Dichtungen  geboten  ist.  Mit  Recht  hebt  er  hervor,  dass  das  nicht 
ihr  Hauptwerth  ist,  dass  sie  wie  von  selbst  den,  der  sieh  einige  Zeit  mit 
ihnen  beschäftigt  hat,  an  einen  edelern  geschmackvollen  Ausdruck  gewöhnen, 
und  warnt  davor,  im  Unterricht  die  grammatische  wie  die  ästhetisch -kri- 
tische Betrachtungsweise  zu  sehr  hervorzukehren;  diese  letztere  besonders 
^chiesse  gar  leicht  über  das  Ziel  hinaus,  verkümmere  gar  leicht  den  Genuss, 
reisse  die  Form  unnatürlich  vom  Inhalt  los  und  lege  den  Schülern  Fragen 
vor,  die  über  ihren  Standpunkt  hinausgehen.  Dagegen  sei  die  ethische  Be- 
deutung der  Dichtungen  Schillers  nicht  hoch  genug  anzuschlagen,  an  ihnen 
sei  für  eine  edlere  Lebensauffassung  der  Schüler  zu  gewinnen  und  sein  Ge- 
müth  zu  läutern.  Ueberall  sei  daher  der  Geist  zu  erkennen,  aus  welchem 
die  Dichtungen  Schillers  hervorgegangen  sind.  Nicht  auf  ein  System  Schil- 
lerscher Ethik,  bemerkt  mit  Recht  der  Verf.,  kommt  es  dabei  an,  sondern 
es  bedarf  nur  eines  Nachweises  des  Reichthums  der  sittlichen  Ide<^n  aus  den 
einzelnen  Gedichten  bei  ihrer  Leetüre.  Wie  diese  dahin  führen  solle,  zeigt 
er  an  mehreren  der  kleineren  Gedichte,  welche  zuerst  dem  Schüler  vorge- 
legt werden,  an  den  Balladen  zunächst ,  von  denen  er  sechs  der  wichtitjsten 
auswählt.  An  dem  Ring  des  Polykrates  zuerst  soll  nicht  blos  die  Ansicht 
der  Alten  von  dem  Neide  der  Götter  dargelegt,  sondern  auch  eine  bedeu- 
tungsvolle Wahrheit ,  wenn  auch  in  verhüllendem  Gewände  vorgeführt 
werden,  die  Wahrlieit  nämlich,  dass  der  Mensch  niunner  sein  höchstes  Glück 
in  äusseren  Gaben  suchen  solle,  sonst  werden  sie  ihm  selbst  zum  Verderben. 
In  ähnlicher  Weise  ist  die  tiefe  sittliche  Idee  in  den  Kranichen  des  Ibykus, 
in  der  Bürgschaft  (die  Gewalt  des  idealen  Charakters),  im  Taucher,  im 
Kampf  mit    dem  Drachen,    im    Grafen    von    Habsburg    zur    Erkenntniss    zu 


Archiv  f.  u.  Si>racheii.  XXVII. 


15 


226  Frogrammenschau. 

bringen  und  zum  Eigenthum  des  jugendlichen  Herzens  zu  machen.  Wie  in 
ähnücher  Weise  die  culturhistorischen  Gedichte  zu  behandeln  sind,  um  die 
Würde  und  Macht  der  göttlichen  weltbeherrschenden  Ordnung  dem  Schüler 
zum  Bewusstsein  zu  bringen,  führt  an  dem  eleusischen  Fest ,  dem  Spazier- 
gange, den  Künstlern  der  Verf.  in  einer  gründlichen  Uebersicht  vor. 


Metrische  Uebersetzungen  ins  Griechische  und  Lateinische  aus 
Schiller  und  Göthe,  nebst  einem  Anhange  aus  der  Bibel.  Von 
C.  F.  Crain.     Progr.  der   grossen    Stadtschule   zu  Wismar. 

1858. 

Der  Verf.  entschuldigt  die  Bekanntmachung  seines  Versuchs  mit  ähn- 
lichen Arbeiten ,  wie  mit  den  Uebersetzungen  der  Bruchstücke  aus  Göthes 
Iphigenie  von  Th.  Kork  im  Stolper  Programm  von  1858.  Zunächst  ward  er 
aufmerksam  auf  die  Aehnlichkeit  des  Abschiedsgesanges  des  Philoktetes  mit 
dem  Monolog  der  Jungfrau  von  Orleans  am  Ausgang  des  Prologs.  Dies 
brachte  ihm  den  Gedanken  an  den  Einfluss  der  antiken  Dichterwerke  auf 
Schiller  und  Göthe  selbst  in  Inhalt  und  Ausdruck  nahe.  Schiller,  meint  er, 
habe  freilich  weniger  als  Göthe  sich  mit  dem  Griechischen  beschäftigt;  er 
bringt  dafür  die  bekannten  Stellen  aus  dem  Humboldtschen  Briefwechsel 
bei.  Indess  möchte  hier  zuviel  die  Bescheidenheit  mitsprechen,  und  ein  ein- 
dringlicheres Studium  Schillers  wohl  anzunehmen  sein,  und  zwar  nicht  blos 
der  Uebersetzungen,  sondern  auch  des  Originals.  Abgesehen  von  direkten 
Beziehungen  auf  griechischen  Ausdruck  in  kleineren  Gedichten,  wie  in  den 
Kranichen  des  Ibykus,  mag  vor  Allem  hingewiesen  werden  auf  die  Braut 
von  Messina,  in  der  Gerlingers  Verdienst  es  ist,  die  P^ntlehnungen  aus  So- 
phokles aufgezählt  zu  haben. 

Die  Verwandtschaft  des  Götheschen  und  Schlllerschen  Geistes  mit  dem 
Alterthum,  bemerkt  weiter  der  Verf.,  wird  sich  aber  auch  daraus  erkennen 
lassen ,  dass  sich  beider  Gedichte  grossentheils  leicht  in  das  Gewand  der 
griechischen  und  lateinischen  Sprache  hüllen.  Das  deutUch  zu  machen  hat 
er  vorliegende  Uebersetzungen  gemacht  und  erscheinen  lassen.  Die  Be- 
sorgniss,  dass  sie  dem  Schicksale  der  meisten  Programme,  ungelesen  bei 
Seite  gelegt  zu  werden,  nicht  entgehen  möchten,  hat  Ref  aufheben  wollen, 
und  theilt  daher  hier  schliesslich  mit,  was  die  Leser  in  dem  Programme  zu 
suchen  haben.  Zuerst  aus  Göthes  Iphigenie  I,  2.  (Gespräch  zwischen  Iphi- 
genie und  Arkas)  in  Trimetern.  (Beiläufig  sei  bemerkt,  dass  eine  prosaische 
Uebersetzung  der  Götheschen  Iphigenie  unter  dem  Titel :  /usTncpoaod-elon 
ix  Tor  Peoftnriy.ov  vtto  'hoävrov  IlaTinSoTiovXov ,  mit  deutscher  Dedication 
an  Göthe,  und  einem  griechischen  Vorwort  tt^os  rovs  "Ekltji'as  in  Jena  1818 
erschien;  über  dieselbe  vergl.  Göthe  an  E.  Weller,  18.  Aug.  1818  in  Göthes 
Briefen  von  Döring  S.  321.  Gesellschafter  1826.  Bl.  39.  S.  195).  Es  folgt 
das  Gebet  Iphigenias  I,  4  (S.  8),  dann  des  Orestes  III,  2  (S.  9),  dem  der 
Verf  die  Kocksche  Uebersetzung  beigefügt  hat.  Daran  schliessen  sich  aus 
Schiller  die  Uebersetzung  der  Jungfrau  von  Orleans  Prolog  I.  Auftr.  (die 
Rede  Thibauts)  und  4.  Auftr.  (Johannas  Abschied),  dann  II,  7  ,  endlich  Braut 
von  Messina  Anfang.  Hierauf  die  lateinischen  Uebersetzimgen  (S.  18)  des 
Ringes  des  Polykrates,  der  Theilung  der  Erde  (S.  20).  Ferner  kommen  die 
Stücke  aus  der  Bibel,  nämlich  Buch  der  Richter  IX,  8  —  15.,  Sprüche  Sa- 
lom.  25,  5.  6.  11.  14.  20.  27.  Der  Göthesche  Spruch:  was  in  der  Zeilen 
Bildersaal  einmal  ist  trefflich  gewesen,  wird  immer  wieder  einmal  Jemand 
auffrischen  und  lesen,  ist,  um  eine  Probe  des  Ganzen  zu  geben,  übersetzt: 
Quas  vetus  egregie  res  scriptas  exhibet  aetas, 
Quisquam  qui  repetat,  qui  legat,  alter  erit.  — 


Programmenschau.  227 

Wie  im  obigen  Programm  der  Versuch  gemacht  ist,  neuere  deutsche 
Dichter  in  die  Sprache  von  Hellas  und  Latium  zu  übertragen,  so  hat 

K.    W.     Osterwald     in:     Lateinische     Uebersetzungsproben. 
Progr.  des  Domgymnasiums  zu  Merseburg.  1858. 

zwei  alte  Gedichte ,  nämlich  von  Walther  von  der  Vogelweide  die 
Lieder:  „Ir  sult  sprechen  willekomen"  und  „Niemau  kann  mit  gerten" 
meisterhaft  in  Distichen  übersetzt.  Ausserdem  enthält  das  genannte  Pro- 
gramm eine  Reihe  vorzüglicher  Uebersetzungen.  wie  melirerer  andrer  Ge- 
dichte, so  längerer  prosaischer  Stücke  (aus  Bernhardys  romischer  Literatur- 
geschichte, Momrasens  römischer  Geschichte  und  eines  Aufsatzes  über  den 
ücean  und  sein  Leben  im  Magazin  f.  Literatur  des  Auslandes)  und  me- 
trische Bearbeitungen  von  Sentenzen  Senecas.  — 

Herford.  Hölscher 


15* 


M  i  s  c  e  1 1  e  n. 


Einige  Bemerkungen   über  die  Fügungen    des    deutschen 
Hilfszeitworts  lassen. 

I. 

Dass  in  der  Fügung  des  Accus,  mit  dem  Infinitiv,  wenn  das  Ztitw. 
zu  denen  gehört,  die  einen  doppelten  Nominativ  bei  sich  haben,  wie  „sein, 
werden,  bleiben,  scheinen"  etc.,  nicht  bloss  das  Subjekt,  sondern  auch  das 
Prädikat  in  den  Accus,  zu  setzen  sei,  darüber  herrscht  bekanntlich  im  La- 
teinischen nicht  das  geringste  Schwanken.  Anders  aber  ist  es  im  Deutschen, 
wo  der  Accusativ  mit  dem  Infin.  eines  mit  doppeltem  Nomin.  verbundnen 
Zeitworts  überhaupt  nur  von  sehr  wenigen  Verben  abhängen  kann,  z.  B.  von 
„heissen".  Da  fragt  es  sich  denn,  wie  der  latein.  Satz:  „Jussit  eum  ty- 
rannum  fieri"  deutsch  lauten  muss,  ob,  dem  Lateinischen  gemäss:  „Er  hiess 
ihn  einen  Tyrannen  werden"  —  oder:  „Er  hiess  ihn  ein  Tyrann  werden," 
wie  sich  das  Letztere  z.  B.  bei  Pfeffel,  Poet.  Versuche  (Basel  1790)  3, 
152  findet: 

„Den  Vesier  des  Borboniden, 

Der  ein  Tyrann  ihn  werden  hiess,"  — 

ferner  noch  häufiger  bei  „lassen,"  wo  Diejenigen,  welche  in  der  Fügung 
des  Accus,  mit  dem  Infinitiv  das  Praedikat  nicht  in  den  Accusativ  setzen, 
sondern  im  Nomin.  bleiben  lassen,  sich  auf  eine  sehr  gewichtige  Auktorität 
stützen  können,  auf  die  Lessing's  nämlich,  der  Bd.  12,  p.  348  (Lachmann'- 
sche  Ausg.)  an  seinen  Bruder  in  einem  Brief,  wo  es  sich  um  die  Korrektur 
der  Emilia  Galotti  handelt,  schreibt: 

„Lassen  Sie  den  Grafen  diesen  Gesandten  sein.  So  habe  ich 
gewiss  nicht  geschrieben  und  es  ist  undeutsch.  Es  muss  heissen: 
Lassen  Sie  den  Grafen  dieser  Gesandte  sein." 

Ich  habe  diese  Stelle  schon  im  Arch.  18,  221  und  21,  334  besprochen 
und  Belege  für  den  von  Lessing  für  undeutsch  erklärten  Gebrauch  nicht 
nur  aus  andern  mustergültigen  Schriftstellern,  sondern  aus  Lessing's  Werken 
selbst  beigebracht,  woraus  denn  wohl  erhellen  dürfte,  dass  Lessing  das 
Setzen  des  Praedikats  in  den  Accus,  nicht  immer  für  so  entschieden  un- 
deutsch kann  gehalten  haben,  wie  er  es  in  dem  flüchtig  hingeworfnen  Zettel 
an  seinen  Bruder  zu  thun  scheint.  Wenn  nun  aber  vielleicht  die  Gegner 
des  Accus,  den  Gebrauch  desselben  als  durch  das  Lateinische  herbeige- 
führt bezeichnen  möchten,  so  ist  dagegen,  wie  ich  es  schon  früher  ge- 
than,  hervorzuheben,  dass  grade  in  einer  entschieden  volksthümlichen  Wen- 
dung der  Accusativ,  nicht  der  Nominativ  des  Prädikats,  herrschend  ist, 
nämlich:  „Gott  einen  guten  Mann  (den  Kaiser  einen  guten  Kaiser)  sein 
lassen,"  s.  Arch.  18,  221.     Zu    den    für    diese    Redensart    dort    angeführten 


Miscellen.  229 

Belegen  Hessen  sich  mit  leicliter  Mühe  eine  Menge  andrer  fügen;  aber  — 
so  sorgfaltig  ich  auch  darauf  gerechnet  —  es  ist  mir  nie  der  Nomin.  des 
Prädikats  in  dieser  sprichwörtl  Wendung  vorgekommen,  der  sich  allerdings 
in  andern  Wendungen  bei  Schriftstellern  findet,  doch  viel  seltner  als  der 
Accus.,  wie  die  folgenden  Belege  zeigen  werden  (wobei  wir  der  Vollstän- 
digkeit halber  die  schon  früher  im  Archiv  mitgetheilten  wiederholen  und 
zum  Behuf  der  Uebersichtlichkeit  die  Stellen  nach  den  Autorennamen  *) 
alphabetisch  ordnen): 

1.     Belege  für  den  Nomin.  des  Prädikats: 

Lass  mich  der  Fels  sein.  Hartmann  Petöfi  144;  Lass  mich  der  Erste 
sein,  der  etc.  Khnger  Faust  401;  Lass  mich  ein  Bauer  werden.  Kompert 
Pflug  1,  119;  Lass  mich  der  Narr  sein.  2,  319;  Lassen  Sie  den  Grafen 
dieser  Gesandte  sein.  Lessing  (s.  o.) ;  Ich  lass  es  ein  Vorzug  des  lieben 
Gottes  sein  12.  505;  Lassen  Sie  Alles  ein  Traum  sein.  Mügge  Roman 
2,  29;  Lass  mich  dein  Wesie.r,  o  Harun  Alraschid,  sein.  Platen  4,  275; 
Lasst  mich  arm  und  meinetwegen  ein  Lump  sein.  Spindler  Stadt  1,  28; 
Lass  ihn  der  Gott  der  Odendichter  sein.  Sturz  2,  .340  —  wozu  wir  eine 
für  das  Schwanken  sehr  bezeichnende  Stelle  fügen: 

Lass  mich  nur  dein  Werkzeug  bleiben,  deinen  Hammer,  Nagel, 
lass  mich  sein  deine  Säge,  dein  Stock.  Stilett,  was  du  willst. 
Alexis  Dorothe  1,  85    (ebenso  Natioualzeitung  1855  Nro.  590). 

Dagegen:  2.  Belege  für  den  Accusativ  des  Prädikats: 

Lass  es  ihren  Trost  sein.  Bürger  309a;  Du  lassest  deiner  Heerde  mich 
nun  einen  Hirten  sein.  S.  Dach  (Wh.  Müller  Bibl.  5,  159);  Den  Verstand, 
das  eigene  Urtheil  den  Meister  sein  zu  lassen.  Devrient  2,  117  (s.  u.  Schlegel): 
Lasset  mich  in  den  Savannen  euren  Patriarchen  sein.  Freiligrath  1,  93; 
Lasst  mich  euren  Zweiten  sein.  Goethe  8,  52;  Lass  das  Büchlein  deinen 
Freund  sein.  14,  3;  Wir  lassen  uns  dies  einen  Wink  sein.  Herder  Rel.  7, 
234;  So  lass  denn  mich  den  Ersten  sein.  Kinkel  419:  Einen  Schlosser 
habt  ihr  ihn  müssen  werden  lassen.  Kompert  Böhm.  335;  Mein  Vater 
hätte  mich  sollen  einen  Frankfurter  Kaufmann  werden  lassen  oder  einen 
Mainzer  Domherrn.  König  Klub.  1.  113;  Lassen  Sie  ihn  den  Ersten  und 
Letzten  sein,  der  etc.  Lessing  1,  283;  Das  lasst  uns  emen  rechtschaffenen 
Advoknten  sein  373;  Dass  lasst  mir  den  Mann  sein,  der  sich  rühmen  darl  etc. 
11,  528;  Ich  hab  das  Geld  noch  nie  lassen  meinen  Trost  und  Zuversicht 
sein.  Luther  1,  254a;  Man  inuss  den  auch  einen  guten  Scliützen  sein  lassen, 
der  etc.  5,  246a;  Wir  wollen  ihn  einen  Menschen  lassen  bleiben,  500b; 
Und  will  die  Herrschaft  und  Majestät  nicht  lassen  sein  einen  seligen,  guten, 
göttlichen  Stand.  6.  10b;  Damit  lasst  er  Christum  den  Schatz  und  den 
Mittler  bleiben.  405b;  Lasse  man  dies  einen  ewigen  und  seligen  Ruhm 
sein.  Mathesius  Ltlir.  XXXIII;  Jedoch  lassen  Sie  immer  Gottsched  den 
grossen  Deutschen  sein.  Mendelssohn  4,  2,  343  ;  Vielleicht  hätten  Sie  sich's 
als<lann  einen  Abendzeitvertreib  sein  lassen.  Ders.  Lessing  13,  16);  So  lasst 
mich  diesen  glücklichen  Sterblichen  sein.  Musaeus  Märch.  1,  41  ;  Lasst 
mich  euren  Diener  sein.  Palleske  Seh.  I,  117;  Lass  diesen  Augenblick  den 
letzten  meines  kummervollen  Lebens  sein.  Pfeffel  Pros.  2,  12G;  Lass  mich 
den  Aermern  sein.  Raupach  Isid.  50;  Musen,  lasset  mich  .sein  eueren 
Hirten  hinfort.  Ilückert  2,280:  Lass  mich  ileiuen  Engel  sein.  Schiller  263b; 
So  lasst  mich  nicht  mehr  Staatsbeamten  sein.  Schlegel  Hamlet  2,  2;  Lasst 
euer  eignes  Urtheil  euren  Meister  sein.  3,  2;  Las.^t  mich  euren  Diener 
sein,  Shakesp.  2,  19C;  Lassen  Sie  mich  doch  einen  rasch e n  Menschen  .sein. 

•)  Ueber  die  Ausgaben  der  Schriften  s.  das  Quellenverzeichniss  zu 
meinem  \^'ö^te^buch  (noch  nicht  gedruckt). 


230  Miscellen. 

Schücking  Ges.  Erz.  3,  121;  Lass  Du  mich  Deinen  Gesellen  sein.  Uhland 
3H3;  Lasst  mich  euren  Diener  sein.  Voss  Shakesp.  2,  305;  Lasst  mich  stets 
euren  Ilausvogt  sein.  3,  57G:  Lass  ihn  immerhin  nur  einen  beseelten  Atom 
auf  einem  Planeten  sein.  Wieland  6,  297;  Lass  mich  deinen  Sohn  bleiben. 
8,  121;  Will  mich  Gott  lassen  einen  Fürsten  bleiben.  Ziukgräf  ],  103;  Den 
lass  mir  einen  Baumeister  sein.  257. 

Danach  möchten  wir  den  Accusativ  des  Prädikats,  wie  im  Lateinischen 
und  aus  denselben  Gründen  wie  in  dieser  Sprache,  auch  im  Deutschen,  so- 
wohl in  der  Volks-  als  Schriftspraclie  als  Regel  bezeichnen,  doch  so,  dass 
sich  dafür  auch  (vgl.  namentlich  die  oben  angeführte  Stelle  Lessing's)  der 
•Nominativ  findet,  wie  z.  B.  schon  im  Parzival  71,5,  29  die  Lesart  schwankt: 
Läz  nnch  sin  din  oder  diuen  dienstman  (s.  Weigand).  Die  Fügung  mit  dem 
Nomin.  aber  scheint  uns  hervorgegangen  theils  aus  dem  formellen  Zusam- 
menfallen des  Accus,  mit  dem  Nomin.  in  vielen  Fällen,  z.  B.:  Lass  uns 
Freunde  sein;  Lass  das  unsre  Aufgabe  sein;  Verhülle  |  des  schönen  Busens 
Fülle  I  mit  des  Habites  Grün !  |  Lass,  mohrumspannt,  mit  seinen  |  göttlichen 
Formen  scheinen  j  ein  süsses  Räthsel  ihm.  Freiligrath  1 ,  294.  Du  lassest 
deine  Kirch'  ein  reines  Herze  sein.  Opitz  1,  10;  Lass  mich  ein  Kind  sein. 
Schiller  425a  etc.,  vgl.  namentlich  auch  Archiv  18,  221.  Dann  aber  scheint 
auch  besonders  die  gedankliche  Vermischung  mit  gleichbedeutenden  Wen- 
dungen,  die  nach  der  Regel  das  Prädikat  im  Nominativ  verlangen,  einzu- 
wirken, so  namentlich  im  Lnperativ,  vgl.  z.  B.  Lass  das  —  (das  mag  immer) 
—  der  Fall  sein,  was  schadet's  mir?  Lass  das  Büchlein  dein  Freund  sein  ! 
(es  sei  dein  Freund)  u.  ä.  m. 

Anders  urtheilt  freilich  ein  Lexikograph,  der  nicht  die  Regel  aus  dem 
sich  im  Munde  des  Volks  und  in  den  Werken  unsrer  Schriftsteller  kund- 
gebenden Sprachgebrauch  abziehn  zu  müssen,  sondern  vielmehr  die  Meister 
deutschen  Stils  nach  einer  von  ihm  ohne  Angabe  eines  Grundes  aufgestellten 
Regel  meistern  zu  können  glaubt.  Weigand  in  seinem  kurzen  deutschen 
Wörterb.  2,  13  dekretiert: 

„Der  doppelte  Accus,  bei  sein  lassen"  =  wofür  gelten  lassen, 
wofür  annehmen,  ist  zu  meiden  und  das,  wofür  Jemand  oder  Etwas 
gelten  soll,  im  [in  den]  Nominativ  zu  setzen.  So  müsste  z.  B. 
Schiller's  „lass  mich  deinen  Engel  sein!  (Don  Carlos  2,  8)"  richtig: 
„lass  mich  dein  Engel  sein!"  lauten. 

„Die  Worte  Schiller's  müssten  richtig  so  lauten,"  nicht  etwa:  „sie 
könnten  so  lauten."  Kann  ein  Wörterbuchschreiber  seinen  Standpunkt 
einem  Meister  deutscher  Rede,  wie  Schiller,  gegenüber  ärger  verkennen? 
Trotz  dem  Machtbefehl  Weigand's  aber  wird  immer  für  richtig  gelten,  was 
Schiller  und  Goethe,  Luther  und  Voss,  Herder  und  Wieland,  Bürger  und 
Lessing,  Uhland,  Rüokert,  Schlegel  u.  A.  m.  übereinstimmend  mit  dem  in 
sprichwörtlichen  Wendungen  sich  kundgebenden  Sprachgebrauch  des  Volks 
schreiben. 

n. 

Weigand  lehrt  ferner,  dass  das  Verbum  den  blossen  Infinitiv,  d.  h.  ohne 
„zu"  neben  sich  hat,  —  „wobei  indessen  Fügungen  mit  dem  Dativ  wie  „Hip- 
pokrates  liess  ihnen  Nichts  von  seinem  Erstaunen  merken"  (Wieland's  Ab- 
deriten)  selten  und  nicht  empfehlenswerth  sind." 

Zuvörderst  ist  der  Ausdruck  verfehlt;  denn  Fügungen  mit  dem  Dativ 
sind  zuweilen  die  ausschhesshch  richtigen,  z.  B. :  Er  Hess  ihnen  zum  Tanz 
aufspielen ;  Er  liess  ihnen  melden,  dass  etc. ,  wo  der  Accusativ  statt  des 
Dativs  einen  ganz  andern  Sinn  geben  würde  (s.  u.).  Weigand  wollte  sagen, 
dass  in  der  Fügung  des  Accus,  mit  dem  Infin.  bei  „lassen"  das  Subjekt  in 
den  Accus,  zu  setzen  sei,   dass  aber  dafür  auch  wohl   nach  französischem 


Miscellen.  231 

Muster,  wenn  bei  dem  Zeitwort  schon  ein  Objekt  oder  ein  Objektsatz  steht, 
der  Dativ  der  l'erson  (zuweilen  auch  personificiiter  Gegenstände)  vorkommt. 
Und  zwar  ist  dieser  nicht  so  selten,  wie  'NVeigand  es  darstellt.  AVir  geben 
Belege,  alphabetisch  geordnet  nach  dem  daneben  stehenden  Infinitiv  (bei 
Zsstzg.  nach  dem  Grundwort,  also:  vermissen,  wie  missen  unter  „m";  ge- 
messen unter  „n"  etc.): 

Von  welchen    mir  deine  Briefe    so    vielen  Genuss    ahnen  lassen. 

J.  Faul  H.  V.  47. 
Ihr  hattet  |  den  Schatten  eines  Wunsches   nur   nach  Recha  |  ihm 

blicken  lassen      Lessing  Nath.  3,   10. 
Ihm  sodann  es  doppelt  empfinden  zu  lassen.     Lessing  12,  386. 
Es  Ihnen  empfinden  zu  lassen  etc.   12,  405;  Goethe  33,   104. 
Ihm  alle  die  Verachtung  fühlen  lassen.    Iffland   5,  3,  18;    Kom- 

pert  Pfi.  1,   145;  Moser  Ph.  3,  117;  Rabener  4,  369;  Streckfuss 

Kol.  12,  49. 
Doch    warum    soll    ich  meiner   Gesundheit    seine  Grobheit    ent- 
gelten lassen.     Lessing  1,  511;  Gotthelf  G.  22. 
Ihm  Nichts  als  Wahrheit  hören,  Nichts  als  gute  Beispiele  sehen 

zu  lassen.     Wieland  'J7,  304. 
Deren  ähnlicher  Charakter  mir  ihre  Eigenschaften  näher  kennen 

liess.  Goethe  23,   103. 
Ohne  der  Tochter  sie  lesen  zu  lassen.  Mörike  Nob.   137. 
Man  muss  den  Männern  niemals  merken  lassen,    dass  etc.    ße- 

nedix  8,  185. 
Wenn  er's  mir  gleich  sonst  nicht  will  merken  lassen.  Goethe  9,  375. 
Wenn  er  mir  diesen  zu  stark  merken  lässt.  Lessing  1,  563. 
Ich  lasse  ihm  merken,  dass  etc.  8,  190. 
Davon  Öie  mir  kurz   vor  Ihrer  Abreise  Etwas  merken  Hessen.  13, 

21  (Mendelssohn). 
Was  hab'  ich  merken  lassen?     Wem  habe  ich   es   merken  lassen? 

Schiller  204b. 
Sie  haben  mir  es  niemals  merken  lassen,  dass  ich  zu  eitel  sei.    F. 

Schlegel  Flor.  5ti. 
Darf  ich    ihm   diese  Gesinnung   auch    nicht  merken  lassen.     Tieck 

Nor.  Kr.  2,  414. 
Dummer...,  als  Mancher...  |  dem  Andern   merken   lassen  wollte. 

Wieland  3,   176. 
Die  jungen,   artigen  Leuten   nicht  ungern   merken  liess  |   wie  viel 

sie  etc.   15,  251. 
Es   wäre    unartig    gewesen,    ihr   merken    zu    lassen,    dass  etc.  23, 

50;  105. 
Als  ich  Ihnen  etwas  merken  liess.  33,  31G  und  oft  (s.  u.). 
Die  mir  eine  Mutter  |  so  wenig  missen  lassen.  Lessing  Nath.  5,6. 
Ihr   die    edle  Gastfreundschaft  vermissen    lassen.     Forster  Sakont. 

XXVIII. 
Den    abgehärmten    Frauenzimmern     einige    Ruhe    geniessen    zu 

lassen.  Heinse  Ard.   1,   159. 
Wollen  Sie    mir  diesen  Schatz  geniessen  lassen?   Lessing  13,  167 

(Reiske). 
[Dies]  wird  Ihnen  den  Inhalt  ungefähr  errat hen  lassen.  Les.sing 

3,  290. 
Der  Plan  des  Vf.  nöthigle  Ihn,  verschiedene  Wahrheiten  zu  sagen, 

die  in   dem   Munde  einer   Mannsperson    Beleidigungen    gewesen 

wären.     Er  musste  sie  also  einem  Frauenzimmer  sagen  lassen. 

Lessing  3,    161    (s.  u). 
Die  ihr . .  .  euch  schauen  lasset  |   ungefiilschten  Sinn.    Kosegarten 

Po  2,  264. 


232  Miscellen. 

Mir   doch    einmal   Ihren   Schatten    sehen    zu    lassen.     Chamisso 

4,  276. 
Drauf  Hess  ich  mich  auf  einer  höhern  Bühne  |  Gesichtern  voll  von 

Ernst  und  tiefer  Weisheit  sehn.  Geliert  1,  220. 
Liess  mir  im  Traum  sie  sehen.  Gessner  4,  194. 
Wo  man's    so    nach    und    nach    den  Leuten    sehen   lässt.     Goethe 

11,   123. 
Und  wenn  Ihr  mich  denn  ja  behalten  wollt,  |  so  lasst  es  mir  ilurch 

Eintracht  sehn.  13,  134. 
Er  liess    ihr    im  Allgemeinen    seinen  Plan,    seine  Wünsche   sehen 

16,  44. 
Da  ich  ihr  alle  Briefe,  die  ich  erhielt,  sehen  liess.  22,  128. 
Was  ihr  Kleid,  gebläht  vom  losen  West,  |  und  bis  an's  Knie  ge- 
schürzt, dem  Jüngling  sehen  lässt.  Wieland   10,  79. 
Dem  Oberon    die  Geschichte  |  des    treuen  Paars    im    Bilde    sehen 

liess.  20,  270. 
Ihm  auch  die  Malerin  sehen  zu  lassen.  23,  315. 
Während...  |  dem  Türk   der  Kaiseradler  |   seine  Fang'  verspüren 

lässt.      Scheffel  7,   187. 
Dem  selbst  die  Gefahr,  in  der  er  schwebte,  die  Worte  nicht  ab- 
wägen liess.     Alexis  Hof  2,  3,  145. 
Fern  sei  es,  diesem  Einfall   auch   nur   durch   unser  Stillschweigen 

das  Ansehen  einer  Regel  gewinnen  zu  lassen.  Lessing  6,  460. 
Lass  es  mir  bei  Zeiten  wissen.  Goethe  Stein  3,  15. 
Dieses  Blatt  lässt  Dir  die  Namen  wissen.  Lessing  3,  342. 
Lassen  Sie  mir  ja  ihre  Ankunft   voraus  wissen.   12,  417;    13,  654. 
Sie  Hessen  mir  erst  die  Bitte  wissen.  Moser  Phant.  4,  98. 
Meiner  Schwester  wissen  zu  lassen,  dass  etc.  Schiller  647b;  Seals- 

field  Leg.   1,  38. 
Dein  Bruder ...  lässt  Dir  wissen,  dass  etc.  Wieland  23,  316;  Merk 

2,  90  u.  o. 
So  will  er  Ihnen  diese  Freundschaft  . .  .  sehr  theuer  bezahlen 
lassen.  Lessing  12,  320  u.  ä.  m. 
Das  durch  das  Vorstehende  wohl  zur  Genüge  belegte  Vorkommen  des 
persÖnl.  Dativs  bei  lassen  mit  einem  trausit.  (von  einem  Objekt  oder  Ob- 
jektssatz begleiteten)  Zeitwort  ist  wahrscheinlich ,  wie  oben  angedeutet,  auf 
Rechnung  des  Französischen  zu  schreiben,  wo  der  Dativ  in  demselben  Falle 
bekanntlich  Regel  ist,  vgl.  die  entsprechenden  Wendungen  mit  machen, 
z.  B  :  Indem  Sie  mir  .  .  .  mein  Unrecht  lebhaft  empfinden  machen.  Goethe 
9,  2  66.  So  musste  er  ihr  nur  glauben  machen,  es  sei  etc.  3,  194;  10,  24  etc. 
und  die  Fügung  sinnverwandter  Wörter,  z.  B  :  Einem  Etwas  sehn  lassen 
oder  zeigen.  Einem  Etwas  wissen  lassen  oder  kundthun,  anzeigen,  melden  etc. 
Doch  veraltet  dieser  immer  vereinzelt  gebliebne  Gebrauch  wieder,  und  im 
Allgemeinen  gilt  heute  die  Fügung  des  Accusativs,  nicht  des  Dativs,  mit 
dem  Infinitiv,  wie  es  z.  B.  schon  bei  Luther  heisst:  Du  lassest  mich  er- 
fahren viel  und  grosse  Angst.  Psalm  71,  20  (bei  Mendelssohn  :  Viel  Angst 
und  Leiden  liessest  du  mich  dulden).  Er  liess  es  die  Leute  fühlen.  Rieht. 
8,  16  etc.  —  wofür  aus  neuern  Schriftstellern  kaum  Beipiele  nöthig  er- 
scheinen, wie:  Freilich  Hessen  ihn  die  Folgen  seiner  Handelsweise  keine 
Entschuldigung  aufbringen.  Goethe  If,  375.  Der  Fürst  hatte  sie  bemerken 
bissen,  wie  etc.  .'386.  Ich  habe  mich  wohl  gehütet,  den  jungen  Kleist  meine 
Empfindlichkeit  darüber  merken  zu  lassen.  Lessing  12,  148.  Seine  eigne 
Einfalt  den  armen  Dichter  entgelten  lassen.     Schiller  102b  etc. 

Damit  ist  aber  nicht  (s.  oO  ein  neben  dem  von  lassen  abhängigen  In- 
finitiv stehender  nnd  dazu  gehörender  Dativ  zu  verwechseln  ,  vgl. :  Er  liess 
die  Musikanten  zum  Tanz  aufspielen  [ordnete  an,  dass  sie  aufspielten]  und: 
Er  liess   den   Gästen   zum   Tanz  aufspielen   [ordnete  an ,   dass  ihnen  aufge- 


Miscellen.  233 

spielt  würde].  Er  Hess  den  Diener  dies  melden  [veranstaltete,  dass  er  es 
meldete]  und :  Er  iiess  es  dem  Könige  melden  [veranstaltete,  dass  es  ihm 
gemeldet  würde]  u.  s.  w.  So  würde  es  z.  15.  namentlich  in  der  oben  unter 
„sagen  lassen"  angeführten  Stelle  nach  dem  heutigen  (iebrauche  heissen: 

Er  muss  also  ein  Frauenzimmer  diese  Wahrheiten  sagen   lassen, 

sie  ihr  in  den  Mund  legen,  während  die  von  Lessing  gebrauchte  Wendung : 

Er  muss  sie  einem  Frauenzimmer  sagen  lassen, 

eher  bedeuten  würde,  dass  ein  Frauenzimmer  sie  hören,  nicht  sagen  soll, 
—  wenn  man  nicht  das  Zusamnienstossen  der  })eiden  Accusative  durch  eine 
dem  passiven  Sinn  des  von  lassen  abhängigen  Infinitivs  entsprechende  Prä- 
position vermeiden  will  (s.  darüber  an  andrer  Stelle,  in  meinem  Wörterb. 
s.  V.  lassen): 

Er  muss  sie   von   einem   Frauenzimmer    oder    durch    ein    Frauen- 
zimmer sagen  lassen, 

vgl. :  Die  Schmähsucht  lässt  sich  doch  den  Eifer  nicht  bekehren.  Günther 
533  [oder  durch  den,  —  von  dem  Eil'erJ.  Lass  Dich  den  [oder:  von  dem] 
Teufel  bei  einem  Haare  fassen  und  Du  bist  sein  auf  ewig.  Lessing  Gal. 
2,  3.  Dass  ich  mich  den  [oder  vom]  Teufel  reiten  liesse  und  einmal  spielte. 
Lessing  13,  165  (Ebert).  Da  ward  ich  wie  ein  Kind  entwehnt,  ]  das  .«ich 
nach  seiner  IMutter  sehnt  I  und  lässt  sich  Niemand  [oder  von  Niemand] 
schweigen.  Waldis  Ps.   131,  3  etc. 

Dem  heutigen  Gebrauch  gemäss  heisst  es  nun  auch:  Einen  Andern 
Jjtwas  merken  lassen,  —  und  :  Sich  (Dativ)  Etwas  merken  [im  Sinne  von 
anmerken,  ansehn  etc.]  lassen,  z.  B. :  Doch  Hess  ich  mir  Nichts  merken. 
Goethe  20,  215;  Wieland  27,  25-i  u.  o.  Wir  heben  dies  hervor,  weil  Ade- 
lung, der  unter  „lassen"  dem  heutigen  Gebrauch  gemäss  die  Fügung  des 
Accusativs  und  Infinitivs  bei  lassen  von  dem  Dativ,  der  neben  einem  von 
lassen  abhängigen  Infinitiv  steht,  richtig  sclieidet,  doch,  Beidos  vermischend, 
unter  „merken,"  unter  welchem  Worte  man  weder  bei  Campe  noch  bei 
Weigand  Etwas  über  die  Fügung  findet  —  sagt: 

„Lass  dir  Nichts  merken,"  wie  Viele  sprechen  und  schreiben  ist 
eben  so  [?]  unrichtig,  als:  lass  mir  es  nicht  empfinden,  lassen 
Sie  mir  es  thun, 

wobei  er  eben  übersieht,  dass  es  aufgelöst  nicht  heissin  würde:  Gieb  keinen 
Anlass,  dass  Du  Etwas  merkst,  —  sondern:  dass  Andre  dir  Etwas  an- 
merken (wofür  ausser  dieser  Wendung  freilich  eben  das  blusse  merken  mit 
dem  Dativ  nicht  üblich  ist).  Zu  erwähnen  aber  ist  dab»;!,  <iass  auch  Lessing, 
von  dem  wir  oben  gesehn,  dass  er  scliwankend  schreibt:  Einem  und  Einen 
Andern  Etwas  merken  lassen,  —  Adelung's  Vorschrift  gemäss  schreibt: 

Durch  welches  Wort  habe  ich  mich  merken  lassen,    dass   ich  ihn 
weiter  als  aus  seinen  Büchern  kenne?  8,  207, 

vgl.  vereinzelt:     Ich  lasse  mich   nicht  von  dir    befehlen  (s.  u.  3  in  meinem 

Wörterb.    I,  423a).    Gotthelf  Geld  ob.  —  Ich    lasse    mich   hier  wedir  von 

einem   Professor   noch   von   sonst    Jemand    Grobheiten    machen.  Stilling  4, 

165.  Eine  vereinzelte  Anwendung  des  Dativs  statt  des  Accus,  bei  lassen 
mit  dem  Infin.  s.  III. 

III. 

Ist  das  von  lassen  abhängige  Zeitwort  ein  reflexives  (oder  reciprokes), 
so  kann  der  Fall  eintreten,  dass  dieselbe  Form  des  persönl.  Fuiw.  zweimal 
unmittelbar  hinter  einander  stehen  müsste ,  wie  z.  B.  in  der  That  Brockeg 
!),  4? 5  schreibt: 


234  Miscellen. 

So  lasst  uns  uns  annoch  bemühn. 
Die  Härte  dieses  Zusammenstosses  wird  aber  gewöhnlich  vermieden  (vgl. 
in  unserm  Wörterb.  I,  S.  325c  dia  kurze  Bern,  unter  „Du"  8),  indem  theils 
zwischen  die  beiden  Fürwörter  Etwas  tritt,  so  dass  sie  nicht  unmittelbar 
ziisaniraentrefien  (So  lasst  uns  annoch  uns  bemühn)  oder  sonst  ein  Für- 
wort fortfallt,  z.  B.  Jenes  : 

Lass  mich  in  Andacht,   |   lass  mich  in  Demuth  |  mich  verneigen 

dem  Herren  mein.  Chamisso  3,    13. 
Lasst  uns  auf  nächsten  Samstag  uns  vertagen.  4,   77. 
Lass ,  I   von    irgend   einem   alten   zuverläss'gen  Knecht  |   begleitet, 

mich    in    Hoflhung    einer    künft'gen  I  beglückten    Auferstehung 

mich  begraben.     Goethe  13,  352  etc., 
vgl:    Ein  stärker  Laster  lieisst  Dich  schwächern   dich  entziehn.  Heller  86. 

Ferner  Beispiele  vom  Fortfall  des  einen  Fürworts  schon  bei  Luther: 
Lasset  uns  freuen  und  fröhlich  drinnen  sein.  Fsalm   118,  24. 
In    allen    Dingen    lasset    uns    beweisen    als    die    Diener    Gottes. 

2,  Korinth.  C,  4. 
Lasset   ihn   sich  gebaren,    wie  es  seine  Art  ist.     Und  sie  Hessen 

Dich  gebaren  etc.  Alexis  Doroth.  l,  Cap.  5. 
Lass  mich  hier  ausweinen.  Freytag,  Dr.  W.  477. 
Lasset  mit  Rebschossen  uns  kränzen.  Gessner  2,   175. 
Lasst   wieder   satt   an  Blüthenduft   mich   saugen  |  ...    Lass  mich 

an  deine  Kniee  wieder  drängen.  Mosen  Ahasv.  95. 
Lasst  umarmen  uns  bei  der  Musik.  Schlegel  Shak.  6,  164. 
Lasst    mit  Entschlossenheit  gerüstet,  wieder  |   uns   in   der  Halle 

treffen.  Tieck  Makb.  2,  2. 
Lasst  zu  neuem  Feste  jetzt  uns  schmücken.  Viel  Lärm.  5,  3. 
Lass,  ewig  treu,  dem  Treuen  mich  vereinen.  Werner  Osts.  1,218  etc. 
Lasst  hurtig  uns  entgürten.  Wielaiid  Ober.  3,  55,    wo  die   neuere 

Lesart  lautet:     Lasst  hurtig  euch  entgürten. 

Vereinzelt  findet  sich  auch  hier  (s.  H.)  der  Dativ  mit  dem  Infin.: 

Lasse  Dir  Gott  Dich  freuen.  Goethe  Kestner  160, 
etwa  =  Gebe  er  Dir  Freude,  —  Dich  zu  freuen. 

Statt  der  Umschreibung  des  Imperativs  wendet  man,  wie  auch  sonst 
näulig,  die  Wendung  an:  Freuen  wir  uns!  etc.,  was,  nebenbei  bemerkt, 
Mendelssohn  4,  2,  527  noch  „eine  unerlaubte  Neuerung"  bei  Iselin  nennt.  — 

Daniel  S  anders. 


Niederdeutsche  Sprichwörter  und  Redensarten 
von, Karl  Eichwald. 

Seit  Dr.  Bärmann  in  Hamburg  seine  plattdeutschen  Gedichte,  Lust- 
spiele und  Redensarten  herausgegeben,  hat  die  Literatur  in  dieser  alten, 
herzigen  Sprache  fast  ganz  geruht,  bis  Claus  Groth  sie  wieder  in's  Leben 
gerufen  und  dabei  einen  gewiss  unerwarteten  Erfolg  gehabt  hat. 

Hier  in  Bremen,  wie  in  andern  Städten  Niederdeutschlands,  verschwindet 
das  Plattdeutsche  seit  30  Jahren  zusehends,  und  obgleich  es  früher  die  Hau-s- 
sprache  der  meisten  Familen  war,  so  versteht  es  die  heranwachsende  (lene- 
ration  kaum,  deshalb  wird  auch  der  Bürgereid  jetzt  auf  Hochdeutsch  ge- 
leistet, und  selten  findet  man  in  einem  Localblatte  ein  plattdeutsches  Geilicht, 
welches  aufbewahrt  zu  werden  verdiente.  Nur  unter  den  Landleuten  und 
Schiffern  wird  es  sich  länger  erhalten;    Erstere  kleben  zu  sehr  an  der  Ge- 


Miscellen.  235 

wohnheit,  um  sich  eine  andere  Mundart  anzugewöhnen,  und  den  letztern 
ist  sie  wegen  ihrer  Kürze  und  Bestimmtheit  unentbehrlich,  denn  zu  Schifts- 
commandos  wird  sie  an  Zweckmässigkeit  nur  von  der  englischen  und  dä- 
nischen erreicht,  während  die  hochdeutsche,  französische  und  spanische 
«Sprache  sich  sehr  schlecht  dazu  eignen. 

Claus  Groth  hat  aber  noch  einmal  die  alte  Muttersprache  der  Nieder- 
devitschen  zu  P^liren  gebracht  und  dadurch  Andere  veranlasst,  aucii  in  dieser 
Sprache  dem  Publikum  etwas  zu  bieten.  So  erschienen  kürzlich  bei  H. 
Llübner,  Leipzig:  „Niederdeutsche  Sprichwörter  und  Ketlensarten  von  Karl 
Eicliwald,"  eine  reichhaltige  Sammlung  echter  Kernsprüche,  wie  sie  im 
Munde  des  Volks  leben,  die  jeder  Kenner  der  niederdeutschen  Sprache  mit 
Vergnügen  lesen  wird.  Der  Verfasser  ist  augenscheinlich  ein  Fi-iese,  oder 
aus  den  Marschen,  denn  manche  Kedensarten  und  auch  viele  einzelne  Aus- 
drücke erinnern  an  das  Leben  in  den  Marschgegenden,  z.  B. :  Eenen  an'n 
Dik  jagen.     He  fritt  asn  Diker. 

Von  holländischen  Wörtern  findet  sich  JütTer,  Gatt  und  Baas,  letzteres 
nur  in  der  Redensart: 

He  sitt  Baas  an. 

Wenn  nun  auch  im  Allgemeinen  das  AVirt  Baas   in  der  ganzen  Weser- 
gegend einen  Schiffsbanmeister  bedeutet ,   so   kommt  es   doch   auch  vielfach 
in  der  ursprünglichen  Bedeutung  in  Kedensarten  vor,  wie: 
He  finn't  nich  lichte  sienen  Baas. 
Ick  will  di  wiesen  wer  dien  Baas  is. 

Auch  von  Redensarten,  die  unter  den  Schiffern  entstanden  sind,  und 
sich  durch  den  Verkehr  mit  denselben  im  Volke  eingebiü-gert  haben,  finden 
sich  eine  Menge,  wie: 

W&t  to  Backbord  inkummt  niutt  to  Stürbord  ut. 
Gissen  ist  missen. 

Von  echten  Bremer  Redensarten   der  Seeschißer  finde  ich  nur: 
So  lank  as  Leverenz  sin  Kind. 

Bei  einigem  Verkehr  unter  den  Bremer  Seeleuten  wird  man  aber  auch, 
ausser  Capitain  Lewerentz,  dessen  Kind  an  Länge,  Dicke,  Weisse,  Klugheit 
u.  dgl.  alle  andern  übertraf',  noch  Kläner,  Martin  Peper,  Harm  Janssen, 
Sagemähl ,  L.ippenbarg  und  andre  merkwürdige  Persönlichkeiten  aus  dem 
Ende  des  vorigen  und  dem  Anfange  dieses  Jahrhunderts  kennen  lernen, 
und  die  Sammlung  wesentlich  bereichern  können. 

Obgleich ,    wie   schon    erwähnt ,   der  Verkehr   in   plattdeutscher  Sprache 
sehr  abgenommen  hat,    so    findet   man    doch  noch  vielfach  Gelegenheit,    na- 
mentlich unter  alten  Leuten  ,   Redensarten  zu  sammeln ,    woran  das  Bremer 
Plattdeutsch  besonders  reich  ist.     Herr  Eichwald  hat  z.  B. : 
Art  let  von  Art  nich. 
De  Appel  fallt  nich  wit  vunn  Stamm, 
welche   beide    aus    (lern   Hochdeutschen    übertragen    sein    können,    dagegen 
fehlt  das  hier  sehr  bekannte  und  treffende : 

Uhlen  sitt't  Uhlen  uht.   (Eulen  brüten  Eulen  aus.) 

Vom  Bauer  handeln  natürlich  eine  Menge  Redensarten,  doch  köinite 
auch  diese  Sammlung  darin  aus  hiesiger  Gegend  bedeutend  vermehrt  werden. 
So  sagt  man  z.  B  von  einem  Bauer,  der  sich  bemüht,  die  Sitten  des  Städters 
nachzuahmen : 

De  Bu'r  bliffl  en  Bu'r  und  wenn  he  ok  bit  Middag  sloppt. 

Von  einem  Bauer  oder  einem  Menschen  ohne  Bildung,  der,  weil  er 
Vermögen  hat,  in  seiner  äussern  Erscheinung  mit  vorneimien  Leuten  wett- 
eifern will,  sagt  man: 

He  gemahnt  mi  asn  koppern  halben  Groten,  man  kaim  em  (einmal 
vergnlden,  he  gelt  doch  nich  mehr  as'n  halben  Groten. 

I3as  fiesagle  soll  aber  keineswegs  dem  fleissigen  Sammler  zum  Vor- 
wurf gereichen,    sondern   nur  zeigen,    dass    ausser  den    2096  Sprichwörtern 


236  Miscellen. 

und  Redensarten,  die  sein  Werk  enthält,  es  noch  manche  giebt,  die  eben- 
falls aufgeführt  zu  werden  verdienen. 

Das  Einzige,  was  wir  anders  gewünscht  hätten,  ist  die  Orthographie, 
die  freilich  in  manchen  Stücken  der  in  Cl.  Groth's  Quickborn  gleich  ist, 
doch  ist  sie  nicht  durchgehends  befolgt.  Cl.  Groth  sagt  selbst ,  dass  das 
Plattdeutsche  sich  schwer  schreiben  lässt,  dabei  gilt  seine  Orthographie  nur 
für  die  üitmarscher  Mundart,  welche  mir  viele  Aehnlichkeit  mit  dem  harten 
Hamburger  Plattdeutsch  zu  haben  scheint,  da  das  e  am  Ende  der  Wörter 
imd  in  der  Endsilbe  en  meistens  stumm  ist.  Dies  ist  aber  im  andern,  bei 
A^'citem  dem  grössern  Theile  von  Niederdeutscliland  nicht  der  Fall,  wo  den 
Endsilben,  auch  in  der  Declination  und  Conjugation,  mehr  Aufmerksamkeit 
geschenkt  wird,  denn  wir  sagen:  Föte,  Straate,  Lue  (auch  Lüde),  Göse, 
verteilen,  backen,  kriegen,  lopen  u.  s.  w. ;  dagegen  sagt  man  in  jenen  öst- 
lichen Gegenden:  För,  Straat,  Lü,  Gös,  vertelln,  backn,  kriegn,  lopn,  was 
uns  hier  nicht  anders  als  sehr  hart  vorkommen  k;inn.  —  Auch  sind  die 
langen  Silben  von  den  kurzen  zu  wenig  unterschieden,  so  dass  ein  Unkun- 
diger vieles  gar  nicht  lesen  kann ,  auch  der  in  der  Sprache  Wohlerfahrne 
manchen  Satz  zum  zweiten  Male  erst  richtig  hest.  Wenn  z.  B. :  Nro.  47 
statt  „Beter  enAp  as  en  Schap,"  „Beter  en  Aap  as  en  Schaap"  geschrieben 
Aväre,  so  könnte  man  es  beim  ersten  Durchlesen  verstehen.  So  sind  kurz : 
um ,  tut,  is ,  wit,  wat ,  al,  in  ,  vun ,  dagegen  sollen  lang  gelesen  werden  :  ut, 
gan,  sin,  fin,  wis,  wit,  lat,  ful,  vel,  Flesk  u.  s.  w.,  welche  daher  besser:  übt, 
gabn ,  sien,  fien,  wies,  wiet,  laat,  fühl,  veel,  Fleesk  geschrieben  würden. 
Ferner  finden  wir  Dak  in  zwei  Bedeutungen,  doch  würden  wir  empfehlen 
Dack  (Dach)  und  Daak  (Tliau)  zu  schreiben.  Ebenfalls  drapen  (getrollen) 
und  Drapen  (Tropfen),  welches  letztere  AVort  in  hiesiger  Gegend  Druppen 
und  auch  Drüppen  ausgesprochen  wird.  Viele  Wörter  sind  jedoch  mit  dem 
richtigen  Dehnungszeichen  geschrieben,  wie  Aantvagel,  Been,  keen,  Sleen, 
Stohl,  Dehl,  Tähn  u.  s.  w. 

Wörter  wie  Eesken ,  Flesk,  Fisk,  Kleweräsken ,  wusken ,  Taske,  Döwel 
und  andre  der  Art  sind  ganz  ostlriesisch,  und  würden  jedenfalls  der  grossen 
Mehrzahl  der  Niederdeutschen  verständlicher  sein,  wenn  sie  :  Eeschen,  Fleesch, 
Fisch,  Kleweräschen ,  wuschen,  Tasche,  Düwel  geschrieben  wären,  welches 
auch  die  Schreibart  im  Quickborn  ist. 

Bei  der  grossen  Abweichung  in  der  Aussprache  des  Niederdeutschen  in 
den  verschiedenen  Provinzen  und  Städten,  sogar  in  einzelnen  sich  ganz  nahe 
liegenden  Dörfern  ist  es  gewiss  schwer,  die  in  verschiedenen  Gegenden  ge- 
sammelten Sprichwörter  richtig  zu  schreiben,  daher  sollte  eine  Mundart 
befolgt  werden,  und  würde  es  jedenfalls  besser  sein,  wenn  die  Orthographie 
von  Cl.  Groth  ganz  befolgt,  oder  wenn  sie  ganz  nach  der  Hamburger,  der 
Bremer,  der  ostfriesischen  oder  der  westphälischen  Mundart  wäre. 

Bremen.  C.  A.  Pajeken. 


Die  neueren  Sprachen  an  den  preussischen  Universitäten 

im  Sommersemester  1859. 

Bonn.  Simrock,  ordentlicher  Professor:  Erklärung  ausgewählter  alt- 
deutscher Gedichte.  (Oeffentlich.j  Deutsche  Mythologie.  (Privatim.)  —  Diez, 
ordentlicher  Professor:  Elemente  althochdeutscher  Grammatik.  (Privatim.) 
Geschichte  der  italienischen  Literatur.  (Privatim.)  Praktischer  Unterricht  im 
Italienischen.  (Privatim.)  Dante's  göttliche  Komöihe,  1.  Theil.  (Oefientlich.) 
—  Monnard,  ordentlicher  Professor:  Ausgewählte  Theaterstücke  Racine's 
nebst  Sprech-  und  Schreibübungen.  (Privatim.)  Französische  Literatur  seit 
1815.  (Oeffenthch.)  —  Delius,  ausserordentlicher  Professor:   Vergleichende 


Miscellen.  287 

Grammatik  der  romanischen  Sprachen.  (Privatim.)  Shakspeare's  lyrische  Ge- 
dichte. (Oeffentlich.)  —  Nadaud,  Lector :  Geschichte  der  französischen 
Sprache  bis  zum  18.  Jahrhundert  in  französischer  Sprache.  —  Disputir-  und 
Schreibübungen  verbunden  mit  Erklärung  ausgewählter  französischer  Autoren. 
(Ob  die  beiden  letzten  Vorlesungen  publice  oder  privatim  gehalten  werden, 
geht  aus  den  Katalogen  nicht  hervor.) 

Breslau.  Kahlert,  ausserordentlicher  Professor:  Die  schlesische 
Dichterschule.  (Oeffentlich.)  —  Rueckert,  ausserordentlicher  Professor: 
Die  Anfänge  der  christlichen  und  kirchlichen  Literatur  in  Deutschland. 
(Oeffentlich.)  —  Das  Nibelungenlied.  (Privatim.)  —  Gothisch.  iPrivatissime.) 

—  Pfeiffer,  Privatdocent:  Deutsch.  (Privatissime  und  gratis.)  Der  Heliand. 
(Oeflentlich.)  Deutsche  Literaturgeschichte  des  19.  Jahrhunderts.  (Oeffentlich.) 

—  Karow,  Privatdocent:  Altfranzösische  Grammatik  verbunden  mit  Er- 
klärung altfranzösischer  Schriftsteller.  (Oeflentlich.)  Don  (^uixote.  (Oeflentlich.) 
Parallele  zwischen  Calderon,  Shakspeare,  Goethe.  (Oeffentlich.)  —  Behnsch 
Lector:  Englische  Grammatik.  (Privatim.)  Byron's  Cain.  (Oeffentlich.)  — 
Freymond,  Lector:  Französische  Grammatik  mit  Sprech-  und  Schreib- 
übungen. (Privatim.)  Lamartine's  Confidences.  (Oeffentlich  )  —  Marochetti, 
Lector:  Italienische  Grammatik.  (Privatissime.)  Didactische  Dichter  Italien's 
des  sechszehnten  See.  (Oeffentlich.)  —  Fritz,  Lector:  Polnische  Grammatik 
mit  Sprech  -  und  Schreibübungen.  (Oeffentlich.)  Erklärung  eines  zu  be- 
stimmenden polnischen  Schriftstellers.  (Oeffentlich.)  —  Krainski,  Lector 
honorarius:  Polnische  Grammatik.  (Oeffentlich.)  Polnische  Literaturgeschichte. 
(Oeffentlich.)    Polnische  Kanzelredner.    (Oeffentlich.) 

Koenigsberg.  Gieseb recht,  ordentlicher  Professor:  Erklärung  deut- 
scher Geschichtschreiber  des  Mittelalters.  (Privatissime  und  gratis.)  — 
Herbst,  Privatdocent:  Englische  Grammatik.  (Oeffentlich.)  Französische 
Schreib-  und  Di.'Jputlrübungen.  (Oeffentlich.)  Ariost's  rasender  Roland. 
(Oeffentlich.)  —  Michaelis,  Privatdocent:  Englische  Literaturgeschichte. 
(Oeffentlich.)  Auserwäblte  Gedichte  Lamartine's.  (Oeffentlich.)  —  Gregor, 
Privatdocent.  Polnische  Grammatik  mit  praktischen  Uebungen  im  polnischen 
Seminar.    (Oeffentlich.) 

NB.  1)  Für  deutsche  Sprache  und  deutsche  Litteratm-,  das  (xlesebrechtsche, 
mehr  der  Geschichte  angehörige  Privatlssimum  abgerechnet,  geschah  nichts.  — 
2)  Unter  der  Ueberschrift:  Linguarum  recentiorum  et  artlum  liberallum  ma- 
gistri  finden  wir:  Gesangübungen,  Generalbass  und  —  —  Reitstunde! 
Sonst  nichts. 

H  all  e.  Leo  (ordentlicher  Prof).  Angelsächsische  Grammatik.  (Privatim.)  — 
Blanc  (ordentlicher  Prof).  Komödien  Moliere's.  (Oeffentlich.)  Italienische 
Literaturgeschichte.  (Oeffentlich.)  —  Ulrlci  (ausserordentlicher  Professor). 
Shak.speare's  Leben  und  Werke.  (Oeffentlich.)  —  Prutz  (ausserordentlicher 
Professor).  Leber  Goethe's  Leben  und  Werke.  (Oeffentlich.)  —  Deutsche 
Literaturgeschichte  bis  zum  15.  sec.  (Privatim.)  —  Zacher  (ausserordent- 
licher Professor,  seit  Michaelis  in  Königsberg).  Gothisch.  (Oeffentlich.)  Deut- 
sche Llteraturgeschic'hte.  (Privatim.)  Deutsche  Uebungen.  (Privatissime.)  — 
Haym  (Privatdocent).  Ueber  Schlller's  Leben  und  Schriften.  (Oeffentlich.)  — 
Hollmann  (Lector).  Spanisch.    (Oeffentlich.)  Französisch.   (Privatim). 

Greifswald.  Hoefer  (ordentlicher  Professor).  Das  Nibelungenlied, 
(Oeffentlich.)  Derselbe  leitet  (privatissime)  die  Uebungen  der  deutsclien  Ge- 
sellschaft. —  Schmitz  (Lector).  Montesquieu  sur  les  causes  etc.  (Oeffentlich.) 
Englische  Grammatik.  (Oeffentlich.)  Einleitung  In  das  Studium  der  neueren 
Sprachen.   (Privatim.)    Englisch,  Französisch,  Italienisch.    (Privatissime.) 

Berlin.  Haupt  (ord.  Prof.).  Die  Gedichte  Neithart's  von  Reuenthal. 
(Oeffentlich.)  —  Müllenhoff  (ord.  Prof).  Deutsche  Grammatik.  (Privatim.) 
Deutsche     Uebungen.      (Oeffentlich.)    —    Massmann     (Hon.     Prof).     Das 


238  Miscellen. 

Nibelungenlied.  (Oeffentlich.)  Mannhardt  (Privatdocent).  Altsäclisisclie 
Grammatik.  (Privatim.)  —  Solly  (Lector).  P2nglische  Literatur.  (Oeffentlich.) 
Privatissima  im  Englischen.  Fabrucci  (Lector).  Italienische  Grammatik. 
(Privatim.)    Italienische  und  Französische  Privatissima. 


Die  neueren  Sprachen  an  den  preussischen  Universitäten 
im  Wintersemester  1859  —  1860. 

Bonn.  Deutsch:  Die  Uebersclzung  des  Marcus  von  Ulphilas.  (Diez.) 
Erklärung  ausgewählter  altdeutscher  Gedichte.  Gescliichte  der  deutschen 
Sprache  und  Literatur.  (Simrock.)  Uebersicht  der  deutschen  Literatur  vom 
Anfange  des  18.  sec.  (Löbell,  ord.  Professor.)  —  Englisch.  Shakspeare's 
Twelfth- Night.  Englische  Literaturgeschichte.  (Delius.)  —  Französisch 
und  Provenzalisch.  lieber  provenzalische  Sprache  upd  Poesie.  (Diez.) 
Altfranzösische  und  provenzalische  Grammatik.  (Delius.)  Französische  Lite- 
raturgeschichte bis  zum  17.  sec.  Dramen  von  Corneille,  mit  sich  anschliessenden 
Sprach-  und  Schreibübungen.  (Monnard.)  Franz.  Granmiatik  mit  Uebungen. 
Französische  Lustspiele.  (Nadaud.)  —  Italienisch.  Praktische  Uebungen. 
(Diez.)  Spanisch,  (vacat).  Portugiesisch.  Os  Lusiadas.  (Diez).  Sla- 
visch.   (Nicht  vertreten.) 

Breslau.  Deutsch.  Encyklopädie  der  deutschen  Alterthümer.  Walther 
von  der  Vogelweide.  Die  gothische  Bibel.  (Rückert.)  Gothische  Grammatik. 
(Rumpelt.)  Deutsche  Uebungen.  Gothische  Grammatik.  Altnordisch.  Geschichte 
der  deutschen  Bühne.  Geschichte  der  Universitäten.  (Pfeiffer.)  Ueber  Schiller 
als  Philosophen.  (Oginski.)  Englisch.  Marlow's  Faust.  Englische  Grammatik. 
(Behnsch.)  Romanische  Sprachen:  Romanische  Grammatik.  (Karow.) 
Französisch.  Recits  des  temps  meroviugiens  par  Thierry.  Französische 
Syntax.  Die  Chansons.  (Freymond,  Lect.)  Italienisch.  Die  Romantiker  der 
italienischen  Litteratur.  Praktische  Uebungen.  Italienische  Grammatik.  (Ma- 
rochetti.)  S lavisch.  Polnische  Grammatik.  Praktische  Uebungen  im  Ueber- 
setzen.  (Fritz.)  Polnische  Grammatik.  Polnische  Literaturgeschichte.  Pol- 
nische Kanzelberedtsamkeit.  (Krainski.) 

Halle.  Deutsch.  Gothisch.  (Pott.)  Angelsächsische  Gedichte.  (Leo.) 
Englisch.  Englische  Grammatik  und  holländische.  N.  B.  Es  bleibt  im  lat. 
und  deutschen  Index  unklar,  ob  beide  Sprachen  comparativ  in  denselben 
Stunden  vorgetragen  werden.  (Hollmann,  Lector.)  Französisch.  Moliere's 
Comödien.  (Blanc.)  Italienisch.  Die  göttliche  Comödie,  Inferno.  (Blanc.) 
Portugiesisch.   (Hollmann.)  Slavisch.  (Nicht  vertreten.) 

Greifswald.  Deutsch.  Iwein.  Uebungen  der  deutschen  Gesellschaft. 
(Hoefer.)  Vergleichende  Litteratnrgeschichte  von  Frankreich,  England, 
Deutschland.  (Schmitz.)  Englisch.  Shakespeares  Romeo  and  Juliet.  Priva- 
tissima. (Schmitz.)  Französisch.  Moliere's  Misanthrop.  Privatissima.  (Schmitz.) 
Italienisch.    Privatissima.    (Schmitz.)   Slavisch.    (Nicht  vertreten.) 

Berlin.  Deutsch.  Geschichte  der  deutschen  Poesie.  Erec.  Uebungen 
im  Gothischen  und  Althochdeutschen.  (Müllenhoff".)  Das  Nibelungenlied. 
Gothische  Sprachdenkmäler.  (Massmann.)  Deutsche  Mythologie.  Gothische 
und  althochdeutsche  Grammatik.  (Mannhardt.)  Englisch.  Literaturgeschichte 
bis  zum  17.  sec.  Privatissima.  (Solly.)  Französisch.  Privatissima.  (Fabrucci.) 
Italienisch.  Literaturgeschichte.  Italienische  Grammatik.  Privatissima. 
(Fabrucci.)  Slavisch.  Slavische  Literaturgeschichte  des  1.  sec.  Privatissima 
im  Polnischen,  Böhmischen,  Russischen,  Serbischen.  (Cybulski.) 


Bibliographischer  Anzeiger. 


Allgemeines. 

B.  Bendsen,  die  nordfriesische  Sprache  nach  der  Moringer  Mundart,  zur 
Vergleichung  ni.  d.  verwandten  Sprachen  und  Mundaften.  Hrsg.  von 
j\I.  de  Vries.  (Leiden,  Brill.)  3  Thlr.   13  Sgr. 


Lexicographie. 

D.  Sanders    Wörterbuch    der    deutseben    Sprache.      10    Lfrg.     (Leipzig, 

Wigand.)  20  Sgr. 

J.  &W.  Grimm,  deutsches  Wörterbuch,  2  Bde.  7  Lfrg.   (Leipzig,  Ilirzel.) 

1  Thlr. 
Cassell's  Pronouncing    Dictionary    of   the    English    Language.     By  Noah 

Webster,  carefully  revised.     (London,  Cassel.)  77-2  sh. 

K.  Rotteck,  Nouveau  "dictionnaire  allemand-l'ranc^ais  et   fr.  all.  du  langage 

litteraire,  scientifique  et  usuel.  (Paris,  Garnier.)  4  fr.  50  c. 

J.  Rank,    Taschen  -  Wörterbuch    der    böhmischen    und  deutschen    Sprache. 

(Prag,  Haase.)  iVa  Thlr. 


Hilfsbücher. 

K.  Hansen,  deutsches  Lesebuch.     4  Thle.     (Harburg,  Elkan.)     I2V2  Sgr. 

J.  Spitzer,  theoret.  prakt.  Handb.  der  deutschen  Sprache.  2  Thlr.  Die 
Satzlehre.  (Wien,  Mayer.)  10  Sgr. 

AV.  Fricke,  deutsche  Schulgrammatik.     (Mainz,  Kunze.)  15  Sgr. 

C.  F.  Koch,  deutsche  Elementargrammatik  für  höhere  Lehranstalten.  (Jena, 
Mauke.)  "'/a  Sgr. 

C.  F.  Koch,  deutsche  (Grammatik  nebst  den  Tropen  und  Figuren  und  den 
Grundzügen  der  Metrik  und  Poetik.  (Jena,  Mauke.)  24  Sgr. 

H.  Viehoff,  Vorschule  der  Dichtkunst.  Theoret.  prakt.  Anleitung  zum 
deutschen  Vers-  und  Strophenbau  mit  vielen  Aufgaben  und  beigegebenen 
Lösungen.  (Braunschweig,  Westermann.)  I-/3  Thlr. 

H.  Vieh  off,  Handbuch  der  deutschen  Nationalliteratur  nebst  einem  Abriss 
der  Literaturgeschichte,  Verslehre,  Poetik  und  Stylistik  mit  Aufgaben- 
sammlung. 2.  Aufl.  3  Thle.  (Braunschweig,  Westermann.)  1.  u.  2.  Theil. 
zusammen  1   Thlr.  10  Sgr. 

—     —     3.  Theil  apart  12  Sgr. 


240  Bibliographischer  Anzeiger. 

Herrig,  the  British  Classical  Authors.  Select  speciraens  of  the  National 
Literature  of  England  with  blographical  and  critical  sketches.  9.  Aufl. 
(Braunschweig,  West  ermann.)  1   Thlr.  10  Sgr. 

Herrig  &  Burguy,  la  France  Littdraire.  Morceaux  choisis  de  Litterature 
Fran9aise  ancienne  et  moderne.  Recueillis  et  annotds  par  L.  Herr  ig 
et  G.  F.  Burguy.     4.  Aufl.     (^Braunschweig ,    Westermann.) 

1  Thlr.  10  Sgr. 

E.  Höchsten,  Uebungen  zum  Uebersetzen  aus  dem  Deutschen  ins  Fran- 
zösische.    8  Aufl.     (Coblenz,  Bädeker.)  T'/a  Sgr. 

C.  A.  Wittenhaus,  die  Syntax  der  franz.  Sprache  für  die  Schule  bearb. 
und  mit  vielen  Uebungsstücken  versehen.     (Erfurt,  Villaret,)     12  Sgr. 

C.  Treutier,  moderne  Prosa.  Eine  Auswahl  von  Stellen  aus  engl.  Schrift- 
stellern, mifr  Wörterbuch.     (Berlin,  Springer.)  15  Sgr. 

R.  H.  Westley,  englisches  Lesebuch  für  Knaben,  mitWörterb.  (Leipzig, 
Gumprecht.)  12  Sgr. 

Lamb,  Six  tales  from  Shakspeare.  Lesebuch  für  mittl.  Classen.  Mit  gram. 
Anmerkungen  uud  vollst.  W^örterb.  versehen  von  F.  Balty.  (Altenburg, 
Schnuphase.)  8  Sgr. 

H.  W'ild,  Lehrgang  zur  Erlernung  der  italienischen  Sprache  für  deutsche 
Schulen.     (Leipzig,  Brockhaus.)  16  Sgr. 


Literatur. 


J.  Scherr,  die  Nibelungen.     In  Prosa  übersetzt,  eingeleitet   und  erläutert. 

(Leipzig,  0.  Wigand.)  15  Sgr. 

R.  Wager,  über  Volkspoesie  und  Umdichtung.  (Barmen,  Langewiesche.) 

Vj  Thlr. 
Die  Hamburger  Schillerfeier.     (Flamburg,  Richter.)  3  Sgr. 

B.  Kooke,    P^estgabe   zur    Schiller- Feier.     (Kiel,  Akadem.  Buchhandlung.) 

2  Sgr. 
F.  Lübker,  Festworte  bei  der  Schillerfeier  im  Hörsaale  der  Friedr. -Franz- 

Gymnas.  zu  Parchim.     (Parchim,  Wedemann.)  2V2  Sgr. 

H.  G.  F.  Mahler,  Unser  Schiller.    Nachklänge.    Hrsg.  von  H,  Marggraff. 

(Magdeburg,  Bans  eh.)  2/3  Thlr. 

J.  Minckwitz,   der   illustrirte    neuhochdeutsche  Tarnass.     Eine    Grundlage 

zum  besseren  Verständniss   unserer  Literaturgeschichte    in  Biographien, 

Charakteristiken.     3.  u.  4.  Lfrg.     (Leipzig,  Arnold.)  h   6  Sgr. 


lieber    den    Ursprung 
und  die 

Bedeutung   des   Namens    der   Stadt  Berlin. 


Keinem  Urtheilsfäbigen  wird  es  haben  entgehen  können,  wie  un- 
befriedigend und  einer  wirklichen  wissenschaftlichen  und  kritischen 
Erkenntniss  zuwider  laufend  die  Erklärungen  geographischer  Namen, 
sobald  ihr  Sinn  nach  dem  heutigen  Sprachstande  nicht  gleich  auf  den 
ersten  Blick  erkennbar  ist,  sondern  tieferer  Nachforschung  bedarf,  bis- 
her häufig  ausgefallen  sind.  In  älteren  Zeiten  erschwerte  es  der  Zustand 
der  Etymologie  als  Wissenschaft  überhaupt ;  aber  es  ist  auch  be- 
greiflich,  dass  selbst  bei  dem  jetzigen  höheren  Standpunkte,  den  diese 
Wissenschaft  einnimmt,  ihre  Anforderungen  und  Principien  deswegen 
nicht  in  alle  Köpfe,  die  sich  damit  beschäftigen,  und  bei  jedem  ein- 
zelnen natürlich  auch  nicht  auf  gleichmässige  Art  Eingang  finden.  Noch 
immer  wie  ehemals  ziehen  es  viele  vor,  anstatt  sich  die  erforderlichen 
Kenntnisse  und  feste  Principien  anzueignen ,  sich  lieber  dem  wilden 
und  regellosen  Spiel  einer  den  Verstand  überwuchernden  Einbildungskraft 
zu  überlassen.  Hierin  stehen  einige  Neuere  hinter  den  Alten  nicht 
nur  nicht  zurück ,  sondern  sie  leisten  darin  noch  ein  Mehreres  und 
Grösseres.  Auch  die  beiden  Namen  von  Preussens  Hauptstadt,  Berlin 
und  Köln,  sind  diesem  allgemeinen  Schicksal  geographischer  Namen 
nicht  entgangen.  Geschichtsforscher,  Geographen,  Städtebeschreiber, 
Sprachgelehrte  und  Dilettanten  haben  es  sich  angelegert  sein  lassen, 
die  eigentliche  «prachliche  Bedeutung  des  Namens  der  Städte  Berlin 
und  Köln  zu  erforschen ,  und  haben  die  mannichfachsten  Erklärungen 
davon  gegeben  und  die  kühnsten  und  mitunter  sonderbarsten  Hypo- 
thesen darüber  aufgestellt.  Die  Geschichte  schweigt  gewöhnlich  über 
die  Veranlassung  und  den  Urspning  eines  geographischen  oder  Städte- 
Archiv  f.  n.  Sprachen,  xxvii.  16 


242  Ueber  den  Ursprung  und  die  Bedeutung 

namens.  Wo  aber  die  Geschichte  schweigt,  tritt  dann  oft  die  Sprach- 
forschung mit  Erfolg  ein  und  ergänzt  die  von  derselben  gelassenen 
Lücken.  Zuweilen  können  beide  Hand  in  Hand  gehen,  und  dann  ist 
der  Erfolg  um  so  sicherer.  Durch  die  Anwendung  beider  Methoden, 
durch  die  vereinigte  Berücksichtigung  sowohl  des  Geschichtlich  -  Geogra- 
phischen als  des  Sprachlichen,  gelang  es  mir,  die  schwierige  und  dunkle 
sprachliche  Bedeutung  des  Namens  der  Stadt  Berlin  herauszubringen, 
und  die  leichter  zu  findende  von  Köln  fest  zu  bestimmen  und  zu  be- 
stätigen. Der  Name  Berlin  ist  weder  slavischen  noch  germanischen, 
sondern  celtischen  Ursprungs.  Davon  nun  soll  der  Beweis  mif  sprach- 
lichem und  historisch  -  geographischem  "Wege  im  Folgenden  geführt 
werden.  Zuerst  müssen  wir  aber  eine  kurze  Musterung  der  bisherigen 
Erklärungen  vorangehen  lassen.  Die  beliebteste  Ableitung  für  Berlin 
ist,  dass  es  für  Bärlein  stehe,  indem  Albrecht  der  Bär  (v.  1106  — 
1170)  es  im  Jahre  1140,  nachdem  er  die  Wenden  gänzlich  besiegt, 
gegründet  und  mit  seinem  Beinamen  bezeichnet  halje,  wofür  der  Bär 
im  Wappen  der  Stadt  Berlin  den  sichersten  Beweis  liefere.  Allein 
zur  Zeit  Albrechts  des  Bären  bestanden  sowohl  Berlin  als  auch  Köln 
längst  als  D()rfer,  und  der  Bär  im  Wappen  beweist  nichts,  indem  er 
erst  hinterdrein  entweder  der  falschen  und  eingebildeten  Etymologie  zu 
Gefallen,  oder  einfach  Albrecht  dem  Bären  zu  Ehren  hineingesetzt 
wurde;  in  den  ältesten  Zeiten  soll  es  aber  auch  nicht  bloss  ein  Bär 
gewesen  sein,  sondern  ein  Adler,  der  von  zwei  Bären  gehalten  wurde. 
Auch  besass  Albrecht  der  Bär  die  Gegend  selbst,  wo  Berlin  liegt,  noch 
gar  nicht;  er  konnte  also  den  Ort  weder  gründen  noch  zur  Stadt  er- 
heben, welches  letztere  erst  um  das  Jahr  1240  geschah.  Zuerst  er- 
wähnt wird  Berlin  erst  in  einer  Urkunde  vom  Jahre  1244.  Ferner 
passt  der  nackte  Ausdruck  Bärlein  gar  nicht  für  eine  Stadt;  es  müsste 
doch  wenigstens  Bärleinstadt  oder  Bärleinburg  oder  ähnliches  heissen. 
Ausserdem  passt  Bärlein  auch  nicht  zum  Berliner  Dialekt,  nach  dem 
es  nicht  Bärlein,  sondern  nur  Bärken  heissen  könnte,  welches  überdies 
generis  neutrius  ist,  während  Berlin  früher  stets  der  Berlin  genannt 
wird.  Und  warum  sollte  man  gerade  das  Verminderungswort  gewählt 
haben,  da  er  nicht  Albrecht  das  Bärlein  oder  das  Bärken,  sondern 
Albrecht  der  Bär  hiess.  Ferner  wesAvegen  sollte  man  die  Stadt  nach 
dem  Zunamen  benannt  haben,  und  nicht  lieber  nach  seinem  wirklichen 
Namen?  Albrechtsstadt  oder  Albrechtsburg  würde  das  einzige  Pas- 
sende   gewesen    sein    (wie    Constantinopel,     Petei-sburg,    Alexandria). 


des  Namens  der  Stadt  Berlin.  243 

Frisch  in  seinem  deutsch  -  lateinischen  Wb.  I,  p.  SO,  hält  Berlin  für 
ein  Deniinutivum  von  Bär,  einem  Fischer  -  Hamen ,  und  glaubt  daher, 
dass  es  einen  zur  Fischerei  bequemen  Ort  bedeute;  aber  ein  kleiner 
Fischerhamen  ist  noch  nicht  ohne  weiteres  ein  zur  Fischerei  bequemer 
Ort.  Aber  er  will  Berlin  auch  von  Bär  oder  Wehr,  einem  Wasser- 
gebäude oder  Damme  herleiten ,  wovon  Berlin  ebenfalls  ein  Deminu- 
tivum  sei.  Wb.  I,  62  erklärt  er  das  Wort  Bär  als  einen  Damm, 
meistens  von  Stein,  mit  einer  runden  Höhe,  dass  man  nicht  darauf 
über  den  Graben  gehen  oder  rutschen  und  reiten  kann;  er  dient,  um 
das  Wasser  in  einem  Graben  an  einer  Festung  aufzuhalten  und  auch 
wieder  abzulassen,  und  scheint  nach  ihm  vom  franz.  batardeau  abge- 
kürzt zu  sein.  Nach  Grimm  im  Wb.  ist  Bär  im  Festungsbau  ein 
starkgemauerter  Querdanim  mit  scharfem  Rücken,  franz.  batardeau,  und 
soll  aus  einem  mittellat.  herum  stammen.  Dieser  Bär  oder  Berlin  soll 
nach  anderen,  die  dieser  Etymologie  von  Frisch  beitreten,  der  jetzige 
Mühlendamm  sein.  Diesen  Namen  führte  früher  die  Wasserseite  der 
Poststrasse  von  den  Mühlen  an,  die  zu  den  ältesten  Anlagen  der  Stadt 
gehören  und  schon  in  der  ersten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  erwähnt 
werden  (s.  Fidicin  Berlin  historisch  und  topographisch  60,  59).  Noch 
im  17.  Jahrhundert  führte  diese  nach  der  Spree  hin  belegene  Seite 
der  Strasse  diesen  Namen  und  zwar  in  der  Form  „am  Mühlen- 
damm." Der  noch  jetzt  so  genannte  Mühlendamm  war  in  älteren 
Zeiten  ein  schmaler  unansehnlicher  Gang,  mit  schlechten  hölzernen 
Buden  besetzt,  dem  erst  von  dem  grossen  Kurfürsten  eine  bessere 
Gestalt  gegeben  wurde,  indem  er  im  Jahre  1683  die  Mühlen  nebst 
den  Fangedämmen  neu  bauen  Hess.  Wollte  man  auf  das  Sachliche 
allein  Rücksicht  nehmen ,  so  wäre  eine  Möglichkeit  vorhanden ,  dass 
dieser  Damm  Veranlassung  zur  Benennung  der  Stadt  Berlin  gegeben 
hätte.  Allein  die  Rücksicht  auf  die  sprachliche  Seite  und  die  anderen 
Berline  erlaubt  es  nicht.  Auch  ist  es  auffallend,  dass  der  ]\Iühlen- 
damm,  von  dem  doch  die  Benennung  der  Siadt  ausgegangen  sein  soll, 
nie  selbst  der  Berlin  heisst,  sondern  immer  nur  der  ganze  Platz,  auf 
welchem  Berlin  steht.  Andere,  die  umsichtiger  zu  Werke  gehen  wollten, 
versuchten  ganz  natur-  und  sachgemäss  eine  Deutung  aus  den  sla- 
vischen  Sprachen,  den  Schwestern  der  ehemaligen  wendischen  Sprache, 
die  bekanntlich  in  und  bei  Berlin  gesprochen  wurde ,  und  wovon  sich 
selbst  heut  zu  Tage  noch  Ueberreste  in  der  Ober-  und  Niederlausitz 
(um  Bauzen   und  Kottbus   herum)  erhalten   liaben.      Einige  derjenigen, 

16' 


244  Ueber  den  Ursprung  und  die  Bedeutung 

welche  Berlin  aus  diesen  Sprachen  abzuleiten  suchten,  Hessen  es  vom 
polnischen  bor,  Föhren-  oder  Fichtenwald  (russ.  bor,  Wald  in  einer 
Sandgegend)  und  rola,  Acker,  oder  einem  hypothetisch  davon  abge- 
leiteten rolina,  kommen,  also  Föhren  -  oder  Fichtenwaldacker  bedeutend, 
wobei  man  nicht  erfährt ,  in  wiefern  diese  Endung  ina  möglich  ist ,  da 
sie  nicht  vermindernd  sein  kann,  indem  das  Deminutivum  rolka  lautet 
und  lauten  muss.  Andere  leiteten  es  von  ber  (der  Wurzel  vom  sla- 
vischen  brati  nehmen,  russ.  beru,  ich  nehme,  beri,  nimm)  und  lin ,  die 
Schleihe,  ein  Fisch  (poln.;  russ.  linj),  also  nach  der  Absicht  dieser 
Etymologen  ein  Ort,  wo  man  Schleihen  fängt,  oder  wie  es  eigentlich 
heisst:  „nimm  oder  ich  nehme  Schleihe."  Nach  noch  anderen  bedeutet 
Berlin  einen  wüsten  Lehmboden.  Es  werden  zwar  allerdings  östlich 
von  Berlin  vor  dem  Königsthore  neben  überwiegendem  Sand  Lehm 
und  Lehmgruben  angetroffen,  und  Glienike  (Glinick,  Fidicin  Beitr.III, 
506)  bei  Potsdam  hat  wirklich  vom  slavischen  glina,  Lehm,  seinen 
Namen,  ja  es  wird  sogar  (bei  Fidicin  Beitr.  IV,  p.  1)  ein  ganzer 
Bezirk  oder  Kreis,  der  Glien  genannt,  erwähnt,  welcher  dem  Teltow, 
worin  Köln  liegt,  und  dem  Barnim,  worin  Berlin  gelegen  ist,  gegen- 
über gestellt  wird.  Man  würde  also  diese  Erklärung  wenigstens  er- 
träglich finden  können ,  wenn  zu  dem  Sachlichen  auch  die  sprachliche 
Form  gut  stimmte;  aber  die  Bedeutung:  „nimm  Lehm"  oder  „ich  nehme 
Lehm"  ist  doch  gar  zu  kindisch.  Auf  so  burleske  Art  wurden  Ge- 
genden oder  Städte  wohl  nie  oder  doch  nur  höchst  selten  benannt; 
und  wenn  man  es  glauben  soll,  so  muss  wenigstens  die  Veranlassung 
dazu  historisch  überliefert  sein.  Dessen  ungeachtet  ist  gerade  dieser 
Ableitung  von  unsern  Encyclopädieen  und  Conversationslexicis  (na- 
mentlich von  Brockhaus  und  Pierer)  der  meiste  Geschmack  abgewonnen 
worden.  Bei  Brockhaus,  zehnte  Aufl. ,  v.  Berlin  heisst  es:  „Ueber 
die  erste  Gründung  von  Berlin  und  Köln ,  den  beiden  ältesten  Stadt- 
theilen,  so  wie  über  den  Namen  Berlin,  der  nach  wendischer  Abstam- 
mung einen  wüsten  Lehm-  oder  auch  Waldboden ,  nach  keltischer  eine 
weite  Ebene  bezeichnen  soll,  sind  die  Meinungen  getheilt.  Neuere 
Forschungen  bezeichnen  als  den  wahrscheinlichsten  Gründer  der  ge- 
nannten beiden  Städte  den  Enkel  Markgraf  Albrechts  des  Bären ,  Al- 
brecht II,  der  von  1206  —  20  regierte."  Dieser  wüste  Lehmboden 
stützt  sich  eben  auf  unser  „nimm  Lehm,"  wobei  das  Epitheton  wüst 
aus  der  Phantasie  hinzugefügt  ist.  Waldboden  ist  ebenfalls  erwei- 
ternder Zusatz  des  Verfassers  des  Artikels,  oder  gründet  sich  auf  das 


des  Namens  der  Stadt  Berlin.  245 

oben  angeführte  hypothetische  bor  -  rolina ,  Fichtenwaldacker.  Dass 
aber  nach  keltischer  Abstammung  Berlin  eine  weite  Ebene  bezeichnen 
soll,  hat  ausser  dem  Verf.  noch  niemand  behauptet,  und  es  würde 
ihm  offenbar  sehr  schwer,  ja  unmöglich  werden,  seine  Behauptung  zu 
beweisen,  wenn  jemand  diese  Anforderung  an  ihn  stellen  wollte.  Dass 
Albrecht  IL  Berlin  und  Köln  gegründet  habe,  kann  wahr  sein,  wenn 
man  unter  „eine  Stadt  gründen"  ein  Dorf  zur  Stadt  erheben  versteht. 
Nach  Fidicin  geschah  dies  aber  erst  1240.  In  der  neusten  4.  Auflage 
von  Pierer  ist  die  Abstammung  von  Lehm  aufgegeben,  aber  nichts  an- 
deres dafür  in  die  Stelle  gesetzt,  also  die  Etymologie  des  Namens  ganz 
unaufgeklärt  gelassen.  Nach  Ersch  und  Gruber  ist  das  eigentliche  Berlin 
1163  vom  Markgrafen  Albrecht  dem  Bären  erbaut  worden  und  führt 
seinen  Namen  von  der  buschigen  wüsten  Gegend,  in  der  sich  die  hollän- 
dischen Ankömmlinge  anbauten.  Dies  ist  eine  ganz  unbestimmte  Annahme, 
die  sich,  ohne  Angabe  von  Quelle  und  Sprache,  auf  nichts  Reales,  sondern 
nur  wie  auf  ein  fernes  Gerücht  von  "Wald  und  Wüste  gründet.  Aber  auch 
dieses  war  einigen  noch  nicht  unbestimmt  und  verallgemeinert  genug; 
es  haben  sich  selbst  Schriftsteller  gefunden,  die  ohne  Weiteres  behaup- 
teten und  annahmen,  dass  Berlin  im  Wendischen  einen  Platz  bedeute. 
In  noch  grössere  Unbestimmtheit  und  Allgemeinheit  kann  das  Gerücht 
und  das  Wissen  vom  Hörensagen ,  welches  immer  mehr  Bestimmtes 
und  Besonderes  weglässt,  nun  wohl  nicht  weiter  herabsinken.  Noch 
eine  andere  slavische  Ableitung  ist  vom  polnischen  berlo ,  Scepter, 
welches  ehemals  auch  eine  Stange  oder  einen  Stock  bedeutet  haben  soll, 
und  wenigstens  auch  noch  jetzt  nach  den  Wörterbüchern  in  der  Jägerei 
eine  Stange  oder  Vogelstange  bezeichnet,  also  nach  der  Ansicht  des 
Etymologen  ein  durch  Stangen  bezeichneter  oder  abgesteckter  Ort,  ein 
eingezäunter,  mit  Einzäimung  oder  Mauern  umgebener  Ort,  etwa  wie 
das  engl,  town,  verwandt  mit  unserm  Zaun,  angels.  und  niederd.  tun, 
althochd.  zun.  Sehr  unwahrscheinlich;  indem  der  Berlin,  als  die  Be- 
nennung aufkam,  gewiss  nicht  mit  Stangen  abgesteckt  oder  eingezäunt 
war.  Dazu  lag  nicht  die  geringste  Veranlassung  vor.  Auch  aus  dem 
Celtischen  hat  man  Berlin  bereits  abzuleiten  versucht.  Nicolai  T,  VIII 
drückt  sich  darüber  folgendermassen  aus  :  ,,Ich  habe  eine  Ableitung 
des  Namens  Berlin  aus  der  celtischen  Sprache  gefunden ,  die  der  Lage 
von  Berlin  ziemlich  entsprechen  könnte.  Diese  Sprache  redeten  die 
Vorfahren  der  Niederländer  und  Rheinländer,  denen  Berlin  seinen  Ur- 
sprung zu  danken  hat,  und  man  findet  Spuren  davon  in  allen  europäi- 


246  Ueber  den  Ursprung  und  die  Bedeutung 

echen  Sprachen.  Ber  heisst  im  Celtischen  Krümmung,  und  Lin  ein 
Fluss.  Es  könnte  der  Namen  to  dem  Berlin  daher  kommen,  dass 
sich  die  Niederländer  wirklich  an  einer  Krümmung  der  Spree  an- 
bauten. Ich  würde  diese  Herleitung  allen  andern  vorziehen,  wenn  nur 
die  Bedeutung  auf  die  anderen  Plätze,  welche  auch  der  Berlin  heissen, 
sich  passete."  Diese  Erklärung  Nicolai's  stützt  sich  auf  Bullet  Memoires 
sur  la  langue  Celfique,  T.  I,  p.  285,  welcher  dort  mehrere  Ortsnamen  durch 
das  celtische  ber,  Krümmung,  Quelle,  courbure,  source,  erklärt.  Aber 
niemals  bedeutet  ber  oder  selbst  bar  in  irgend  einer  celtischen  Sprache 
Krümmung,  und,  obgleich  es  Bullet  in  der  Einleitung  seines  ersten 
Theiles  angiebt,  so  hat  er  es  im  Wörterbuche  selbst  doch  nicht,  so  viele 
Bedeutungen  er  dem  ber  oder  bar  auch  zuschreibt,  und  andere  celtische 
Wörterbücher  haben  es  eben  so  wenig.  Das  einzige  celtische  Wort 
mit  dieser  Bedeutung,  welches  einige  Aehnlichkeit  darbietet,  wäre  das 
niederbretannische  gwar,  goar,  courbe,  courbure,  wallis.  guyr,  crooked, 
oblique ,  slant ,  slanting ,  bending ;  aber  hieran  dachte  Bullet  gewiss 
nicht.  Bei  Angaben  aus  dem  Celtischen  darf  man  sich  nie  auf  die 
blossen  Behauptungen  anderer  verlassen,  sondern  man  rauss  selbst  in 
den  zuverlässigsten  Hülfsmitteln  nachsehen,  ob  es  wahr  ist,  sonst  wird 
man  stets  von  den  früheren  und  neueren  Celtomanen  an  der  Nase  her- 
umgeführt. Abgesehen  von  dieser  falschen  Etymologie  und  der  falschen 
Behauptung,  dass  Berlin  den  Niederländern  seinen  Ursprung  zu  danken 
habe,  ist  wenigstens  der  letzte  Zusatz  Nicolai's  vernünftig,  dass  die 
Bedeutung  von  Berlin  auch  auf  die  anderen  Plätze,  die  der  Berlin 
heissen,  passen  müsse,  und  da  darf  man  wenigstens  nicht  die  Bedeutung 
Fluss  oder  Wasser  darin  suchen,  die  ausser  auf  unser  Berlin  nur  noch 
auf  wenige  andere  passt.  Auch  an  spasshaften  und  geradezu  lächer- 
lichen Ableitungen  fehlt  es  nicht,  wie  z.  B.  die  des  Jesuiten  Bissei, 
welcher  meint,  eine  so  schöne  Stadt  wie  Berlin  müsse  den  Namen  von 
einer  Perle  haben ,  und  gleichsam  ein  Perlein  heissen ,  und  wirklich 
heisst  bei  Keisersberg  an  mehreren  Stellen  eine  kleine  Perle  ein  Berlin; 
und  Leutinger  ist  der  Meinung ,  dass  diese  uralte  Stadt  Berlin ,  die 
schon  zu  Arminius  Zeiten  bestanden  habe,  und  nur  von  Albrecht  dem 
Bären  erweitert  und  mit  Mauern  versehen  worden  sei,  eben  so  gut  von 
dem  Bärlein,  das  heisst  von  dem  Gestirne  des  kleinen  Bären,  unter 
welchem  es  liege,  benannt  worden  sein  könne.  Die  allerneueste  Ety- 
mologie ist  aber  die  von  dem  Leipziger  Professor  Victor  Jacobi.  Nach 
ihm   bedeutet   Berlin    so    viel    als    an   oder  bei  dem  Berge  oder  etwas 


des  Namens  der  Stadt  Berlin.  247 

bergig  oder  kleiner  Berg,  vom  slavischen  pri  =  böhni.  przi,  bei,  an, 
in  der  Zusammensetzung  auch  etwas,  ein  wenig  bedeutend,  und  lin, 
durch  Corruption  aus  dem  Böhmisclien  lapa  für  tlapa  entstanden,  wobei  er 
sachlich  von  dem  hochgelegenen  Platze,  auf  dem  die  Nicolaikirche  liegt, 
ausgeht,  da  das  Erdreich  vom  Molkenmarkte  aus  sich  links  erhebt. 
Zuerst  muss  hierbei  schon  diese  merkwürdige  Corruption  lin  aus  lapa 
auffallen,  und  dann  die  Begriffsentwicklung  Berg  aus  Fuss,  Tatze,  weil 
man  mit  denselben  unter  andern  auch  einen  Berg  hinangeht. 

Ich  für  mein  Theil  habe  früher  (im  Jahre  1848)  Berlin  auch  aus 
dem  Celtischen,  nämlich  von  dem  niederbretannischeu  berle,  Brachfeld, 
unbebautes  Land,  abgeleitet,  und  diese  Ableitung  damals  mit  starken 
sprachlichen ,  sachlichen  und  historischen  Gründen  unterstützt.  Die- 
selbe ist  bis  auf  die  neueste  Zeit  von  niemand,  so  viel  ich  weiss,  weder 
ernstlich  noch  überhaupt  widerlegt  worden;  jedoch  wurde  sie,  die  Wahr- 
heit erfordert  es  zu  sagen,  von  dem  grösseren  Publicum  in  der  Regel 
zwar  nicht  gerade  verworfen,  aber  doch  häufig  bezweifelt,  natürlich 
ohne  dass  man  Gründe  angab  oder  angeben  konnte.  Erst  in  der  aller- 
neuesten  Zeit  hat  nun  der  obengenannte  Professor  V.  Jacobi  in  dem 
Correspondenzblatt  des  Gesammtvereins  der  deutschen  Geschichts-  und 
Alterthumsvereine,  Stuttgart  1860,  No.  4,  eine  angebliche  Widerlegung 
geliefert ,  auf  die  ich  mich  aber  hier  nicht  näher  einlassen  kann  noch 
will.  Ich  sage  nur  so  viel,  dass  ich,  obgleich  ich  die  Etymologie  von 
celtischem  berle  jetzt  selbst  aufgegeben  habe ,  um  eine  andere  aus  der- 
selben Sprache  und  von  fast  gleichem  Inhalt  an  die  Stelle  zu  setzen, 
ich  gerade  seine  Einwürfe  dagegen  nicht  annehmen  oder  anerkennen 
kann.  Jacobi  stützt  alle  seine  eigenen  Etymologieen  von  Ortsnamen 
und  Widerlegungen  fremder  hauptsächlich  auf  angebliche  Orts-  und 
Terrainverhältnisse,  was  an  und  für  sich  lobenswerth  ist,  aber  nicht 
ausreicht ,  insofern  eine  blosse  subjective  Annahme  eines  willkürlich 
ausgedachten  oder  ausgewählten  Verhältnisses  die  Sache  nicht  allein 
entscheiden  kann,  indem  bei  einem  Orte  sich  in  der  Regel  so  viele  und 
so  mannichfache  Verhältnisse  und  Merkmale  finden ,  dass  man  ohne 
das  Hinzutreten  des  historischen  und  sprachlichen  Moments  bei  aller 
Kunde  von  agrarischen  und  Terrainverhältnissen  den  wahren  Grund 
der  Benennung  nicht  herausbringen  kann.  Was  Hesse  sich  bei  Berlin 
nicht  alles  in  Anschlag  bringen,  wenn  man  bloss  auf  sachliche  Verhält- 
nisse sehen  wollte;  die  entgegengesetztesten  Dinge  würden  gleich  pas- 
send sein,  Berg  und  Ebene,   Wald  und  Wiese,  Bäume  und  Gesträuch 


248  Ueber  den  Ursprung  und  die  Bedeutung 

der  verschiedensten  Art,  angebautes  und  unangebautes  Land,  Lehm 
und  Sand,  Wasser  und  Trockenheit,  Fluss  und  Sumpf,  Krümmung  des 
Flusses  und  gerader  Lauf,  Fischfang  und  Viehzucht,  Heide  und  Weide 
etc.  etc.  mit  unzähligen  Unter-  und  Nebenabtheilungen.  Um  nun  aber 
sein  ausgewähltes  Merkmal ,  das  zufällig  jedesmal  eben  so  wahr  als 
falsch  sein  kann,  sprachlich  zu  unterstützen,  bedient  sich  V.  Jacobi 
einer  Methode,  die  an  Willkürlichkeit  und  Unsicherheit  alles  bis  jetzt 
sowohl  in  alter  als  neuer  Zeit  da  Gewesene  weit  hinter  sich  lässt. 
Nach  ihm  wird  aus  allem  alles,  was  er  will.  Wieland  behauptete  ein- 
mahl, dass  die  Etymologie  in  den  Händen  eines  Weisen  Aufschlüsse 
über  die  wichtigsten  Dinge  gäbe,  in  den  Händen  eines  Unvorsichtigen 
und  Thoren  aber  zu  Gift  und  Narrheit  würde.  Ohne  einen  so  strengen 
Ausspruch  thun  zu  wollen,  kann  ich  doch  nicht  umhin  zu  vermuthen, 
dass  vielen ,  die  Jacobi's  Verfahren  kennen  lernen ,  die  Etymologie  als 
die  unsicherste  und  bemitleidenswertheste  aller  Wissenschaften ,  wenn 
nicht  geradezu  als  eine  Gaukelei  oder  ein  Possenspiel  vorkommen  muss, 
wobei  der  Urheber  eigentlich  selbst  über  die  Verkehrtheit  derer,  die 
dergleichen  Dingen  Glauben  schenken,  lachen  müsste.  In  seinem  Buche 
über  die  Ortsnamen  um  Potsdam  erleidet  nach  seiner  Theorie  z.  B.  der 
Buchstabe  L  allein  im  Anlaut  40  —  50  Metamorphosen,  er  wird  zu 
hl,  zu  gl,  zu  chl  und  cl,  zu  kl,  zu  h,  zu  g,  zu  j,  zl,  zu  sl,  zu  s,  zu  z, 
zu  seh,  zu  cz,  zum  Vocal,  zu  k,  zu  kh,  zu  w,  zu  v  und  f,  zu  dl,  tl 
und  t,  zu  tel,  zu  lig,  zu  d,  zu  n,  zu  b  und  p,  zu  r,  zu  11,  zu  x,  zu  Ih, 
zu  In,  zu  Iw,  etc.  Wenn  dieses  schon  im  Anlaut  geschieht,  wo  in  der 
Regel  die  Laute  fester  verharren,  was  hat  man  nun  erst  im  Inlaut  oder 
gar  im  Auslaut  und  bei  den  übrigen  Buchstaben  des  Alphabets  zu  er- 
warten ?  Jeder  Buchstabe  ist  hiernach  nicht  nur  fast  jedem  anderen 
gleich,  sondern  steht  auch  noch  für  mehrere  Buchstaben  zusammen  und 
sogar  für  ganze  Sylben.  So  weit  ging  bis  jetzt  noch  niemand  zu  ir- 
gend einer  Zeit.  Gegen  V.  Jacobi  sind  Ottavio  Ferrari  und  Menage 
nur  zahme  Stümper  zu  nennen.  Was  wollen  deren  Jacobsleitern  und 
Leporellolisten  fingirter  Formen  gegen  diese  grottesken  Willkürlichkeiten 
besagen?  Es  ist  wohl  wahr,  dass  die  Sprachforscher  bei  Etymologieen 
von  geographischen  Namen  oft  zu  wenig  Rücksicht  auf  die  sachlichen, 
auf  die  geographischen  und  geschichtlichen  Verhältnisse  nehmen ,  aber 
wenn  jemand  dieselben,  wie  Jacobi,  so  rein  subjectiv  berücksichtigt, 
und  um  diese  seine  individuelle  Meinung  sprachlich  zu  unterstützen, 
dann  den  Sprachen,   die  das  Etymon  hergeben  müssen,  die  äusserste 


des  Namens  der  Stadt  Berlin.  249 

Gewalt  anthut,  so  wird  das  Uebel  dadurch  nur  ärger,  so  wird,  um  die 
Sprache  der  Schrift  zu  reden,  hier  gleichsam  der  Teufel  durch  den 
Beelzebub,  den  obersten  der  Teufel,  ausgetrieben. 

Ich  habe  mir  viele  Mühe  gegeben,  den  sich  so  natürlich  darbieten- 
den Ansprüchen  des  slavischen  Ursprungs  des  Namens  Berlin  gerecht 
zu  werden,  es  hat  mir  aber  nicht  gelingen  wollen.  Ich  rauss  den  cel- 
tischen  Ursprung  aufrecht  erhalten,  obgleich  mir  das  Etymon  jetzt  ein 
etwas  verschiedenes  ist.  Um  planmässig  und  regelrecht  zu  Werke  zu 
gehen,  muss  zuerst  berücksichtigt  werden,  ob  es  ausser  unserm  Berlin 
noch  andere  gebe  und  wie  viele,  zweitens  muss  man  dann  ein  Etymon 
zu  finden  suchen,  welches,  wenn  nicht  auf  alle,  doch  auf  die  meisten 
oder  wenigstens  viele  passe,  nicht  bloss  auf  eins  und  die  anderen  dann 
nicht,  und  drittens  muss  die  geschichtliche  Berechtigung  dieses  Etymons 
dargelegt  werden. 

Es  giebt  ausser  unserm  Berlin,  das  in  alten  Zeiten  nicht  schlecht- 
weg Berlin,  sondern  immer  der  Berlin  heisst,  noch  mehrere  andere  Oert- 
lichkeiten,  die  diesen  Namen  führen:  1)  der  grosse  und  kleine  Berlin 
in  Halle,  zwei  Plätze  im  östlichen  Theile  der  Stadt  an  deren  Gränze, 
nicht  an  der  Saale,  und  wahrscheinlich  etwas  hoch  liegend,  Avie  V.  Ja- 
cob! von  einem  das  Terrain  untersucht  habenden  jungen  Gelehrten  ge- 
hört haben  will.  Nach  Dreyhaupt  in  der  Beschreibung  des  Saalkreises 
(l.Theil,  S.  676)  war  der  Berlin  „in  gar  alten  Zeiten  ein  Hoff  gewesen, 
der  einem  Namens  Berlin  zugehöret;  davon  hernach  der  Platz,  als  er 
bebauet  worden,  den  Nahmen  behalten.  Der  grosse  Berlin  ist  nachher 
mit  zwei  Reihen  Häusern  bebauet  gewesen,  welche  in  dem  grossen 
Brande  am  17.  Septbr.  1683  mit  abgebrannt,  und  nachher  nicht  wieder 
aufgebauet,  sondern  dagegen  anno  1693  und  folgende  Jahre  eine  Reihe 
neue  egale  Häuser  längst  der  Stadtmauer  auf  den  Platz ,  wo  vor  dem 
Feuer  des  Raths  alter  und  neuer  Bauhoff  gewesen,  wieder  erbauet 
worden."  Dass  dieser  Hof  von  einem  Älanne  Namens  Berlin,  dem  er 
zugehöret,  den  Namen  erhalten  habe,  braucht  nicht  widerlegt  zu  werden. 
Auf  diese  Art  pflegen  sich  viele  den  Ursprung  von  Ortsnamen,  wenn 
sie  nichts  Gewisses  darüber  wissen,  ohne  weiteres  zu  erklären.  Wenn 
wirklich  zuweilen  eine  Person  einem  Ort  den  Namen  verleiht,  so  muss 
es  auch  nachgewiesen  oder  durch  Gründe  wahrscheinlich  gemacht  wer- 
den, wenn  man  es  glauben  soll.  Ohne  dies  giebt  es  sonst  nichts  Hoh- 
leres und  Unzuverlässigeres.  2)  Der  Berlin,  ein  mit  Buschwerk  be- 
wachsener Platz ,   eine  Meile   von  der  Stadt  Nordheim ,  der  zur  Vieh- 


250  Ueber  den  Ursprung  und  tue  Bedeutung 

weide  dient,  und  weder  irgend  ein  Wasser  noch  einen  Fluss  in  der 
Nähe  hat.  3)  Der  grosse  und  kleine  Berlin,  zwei  Seen  bei  Wittstock 
in  der  Priegnitz.  Frisch  im  Wb.  p.  86  erwähnt  sie  mit  folgenden 
Worten :  In  dem  Register  der  churfürstlichen  Fischerei  steht  bei  den 
Witstockischen  Fischziigen,  der  grosse  Berlin,  der  kleine  Berlin  etc. 
nebst  anderen  Seen  so  aus  dem  Amt  Zechlin  gefischt  werden,  aus- 
genommen der  Browser -See,  die  Baien  und  gedachte  Berlinicher  See, 
darauf  das  Amt  Wittstock  fischt.  4)  Ein  Dorf  Namens  Berlin  in 
Frankreich  in  der  Gascogne  unweit  Bazas,  zwei  Lieues  von  der  Ga- 
ronne  und  der  Reolle,  also  an  keinem  Flusse.  5)  Der  Berlin  in  Augs- 
burg (Fidicin,  Beitr.  III,  2.  V,  XIX)  nach  Reichard,  E.  C,  Matthäus 
und  Veit  Konrad  Schwarz,  nach  ihren  merkwürdigsten  Lebensumständen 
und  abwechselnden  Kleidertrachten  beschrieben  und  mit  Anmerkungen 
erläutert,  ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Kleidermoden  und  zur  Kennt- 
niss  der  deutschen  Sprache  des  16.  Jahrb.  Magdeburg  1786.  Unter 
die  Merkwürdigkeiten  der  Bibliothek  zu  Wolfenbiittel  gehörten  zwei 
eheraahls  darin  befindliche  Originalmanuscripte ,  die  von  zwei  Augs- 
burgern, Vater  und  Sohn,  Namens  Matthäus  und  Veit  Konrad  Schwarz, 
herrühren,  welche  in  der  ersten  Hälfte  des  16.  Jahrb.  lebten  und  sich 
nach  den  verschiedenen  Veränderungen  und  Abwechselungen  ihrer  Le- 
bensumstände, vorzüglich  in  Beziehung  auf  Kleidung,  abmalen  Hessen. 
Dort  heisst  es  p.  83:  Die  125ste  Figur  stellt  M.  Schwarz  über  und 
über  vom  Haupt  bis  auf  die  Füsse  gepanzert  dar,  und  in  der  rechten 
Hand  führet  er  eine  Partisane  oder  Hellebarthe.  Die  Veranlassung  zu 
dieser  Ausrüstung  war  eine  Feuersbrunst  in  Augsburg,  welche  man 
auch  hier  mit  vorgestellt  sieht.  Das  Uebrige  erklärt  die  Beischrift : 
„27  Decemb.  1543  in  der  nacht  als  Erdingers  Haus  bei  St.  Jacob  ab- 
brann,  was  fast  (sehr)  kalt:  ich  was  haubtmann  aufm  Berlin  über 
16  Perschon,  die  örmel  und  gses  (Aermel  und  das  Gesäss)  mit  Bantzer." 
•Reichard  fügt  hinzu:  Der  Berlin  ist  ohne  Zweifel  ein  öffentlicher  Platz 
oder  ein  Quartier  der  Stadt  Augsburg,  so  wie  zu  Halle  an  der  Saale 
zwei  dergleichen  Plätze  den  Namen  des  grossen  und  kleinen  Berlins 
führen.  (Merkwürdiger  Weise  werden  in  demselben  Buche  auch  ein 
Berlin  Sackpfeif  und  Berline  Bendel  erwähnt).  Es  wird  sonst  in  Augs- 
burg häufig  der  Perlachberg  und  der  darauf  liegende  Perlachthurm,  von 
dem  man  die  einzige  und  schönste  Aussicht  auf  die  Stadt  hat,  erwähnt. 
Dass  der  Perlach  aber  mit  dem  Berlin  identisch  sei,  schliesse  ich  aus 
Grimm's  Wörterbuch,  wo  es  Theil  I,  p.  1526  heisst:    Berlinthurm  zu 


des  Namens  der  Stadt  Berlin.  251 

Augsburg,  sonst  Berlach.  Es  wird  als  Beleg  zu  dem  ersteren  Fischart's 
Gargantua,  274,  b,  Ausgabe  von  1594  und  Henisch  293  (Augsb.  1617) 
citirt.  6)  Gr.  Perlin,  Kr.  Lauenburg  in  Pommern,  welches  auf  dem 
Plateauhang  zwischen  dem  Chotschowsee  und  dem  Bychownaflusse  liegt. 
(Victor  Jacobi,  Ortsnamen  um  Potsdam,  p.  16).  7)  Perlin,  nordöstlich 
von  Wittenburg  in  Mecklenburg  auf  der  schmalen  Wasserscheide  zwi- 
schen dem  Dümmer-  und  dem  Döbbersensee  gelegen  (ibid.  p.  16). 
8)  Ich  trage  kein  Bedenken,  hierher  auch  Beilin  zu  rechnen  (mit  assi- 
milirtem  r),  ein  Ländchen  von  21/0  Quadratmeilen  im  Regierungsbezirk 
Potsdam,  mit  dem  Hauptort  Fehrbellin ,  d.  h.  Bellin,  wo  eine  Fähre 
ist  oder  vielmehr  war,  am  Zusammenfluss  der  aus  dem  Ruppinischen 
See  kommenden  beiden  Rhinarme ,  des  alten  und  neuen  Rhin.  Fehr- 
bellin (zuerst  erwähnt  in  einer  Urkunde  von  1217)  hiess  in  den  ältesten 
Zeiten  nur  Bellin  ;  damahls  führte  von  Nauen  nur  ein  einziger  Pass  nach 
Bellin  und  von  hier  vermittelst  einer  Fähre  über  das  Rhin  -  luch  nach 
dem  Ruppiner  Lande,  so  lange  das  Luch  noch  eine  Wasserfläche  bil- 
dete (Berghaus  Landbuch  1,406).  9)  Es  giebt  ferner  bei  Rathenow 
zwei  Landgüter,  die  den  Namen  der  alte  und  der  neue  Bellin  führen. 
10)  Ausserdem  giebt  es  einige  Berlinchen,  die  gewiss  nicht  nach  un- 
serer Hauptstadt  genannt  sind  :  a)  Stadt  im  Regierungsbezirk  Frank- 
furt an  einem  See,  aus  dem  die  Plöne  fliesst,  ehemals  Neu-Berlyn  ge- 
nannt, das  erst  unter  den  Markgrafen  Otto  und  Albrecht  1278  zu  einer 
deutschen  Stadt  ausgebildet  wurde ,  also  schon  lange  vorher  als  sla- 
visches  Dorf  vorhanden  war,  indem  zugleich  in  dem  Fundations -Briefe 
einer  Mühle  Erwähnung  getban  wird,  und  seinen  Namen  später  in 
Berlinchen ,  d.  i.  Lütken  oder  Klein-Berlin  verwandelt  hat.  Es  liegt 
in  einem  Thale  am  grossen  Stadtsee,  Nisperwitz  genannt  (s.  Bergbaus 
3,427  —  33).  Mit  dem  Zusätze  Neu  wurde  es  sicher  gerade  zu  der 
Zeit  versehen,  als  es  zur  Stadt  erhoben  wurde,  um  es  von  unserm  Ber- 
lin zu  unterscheiden.  Bei  Zimnitz  im  Kreise  Kalau  in  der  Niederlausitz 
werden  alle  jenseits  des  Ssrake-Fliesses  gelegenen  Ländereien  die  Feld- 
mark Berlinchen  genannt,  weil  ein  Dorf,  Namens  Berlinchen,  dessen 
Stelle  noch  genau  nachweisbar  ist,  darauf  gestanden  hat,  das  im  30jäh- 
rigen  Kriege  eingegangen  sein  soll  (Berghaus  3,  575). 

Nachdem  ich  nun  diese  stattliche  Reihe  von  Berlinen  vorgeführt 
habe,  muss  es  meine  Aufgabe  sein,  aus  irgend  einer  Sprache,  die  in  den 
Gegenden,  wo  sich  dieselben  finden,  gesprochen  wurde,  ein  Etymon 
nachzuweisen,  Avelches,   wo  nicht  auf  alle,   doch  auf  die  meisten  passe, 


252  Ueber  den  Ursprung  und  die  Bedeutung 

und  den  Character   einer  gewissen  inneren  Wahrheit  und  Natürlichkeit 
an  sich  trage.     Im  Deutschen  und  Slavischen  habe  ich  mich  vergeblich 
darnach   umgesehen.     Aber  im  Celtischen  bin  ich  glücklicher  gewesen ; 
dort  habe  ich   die  Elemente   unseres  Namens   mit  einer  Bedeutung  ge- 
funden, die  auf  sämmtliche  Berline  ohne  alle  Ausnahme  passt,  und  diese 
Bedeutung  ist  der  Art,  dass  man  sich  bloss  darüber  wundern  muss, 
dass  sie  sich  nicht  öfter  als  ein  passender  Begriff  für  einen  später  mit 
einer  Stadt  oder  Ansiedelung  bedeckten    und    vorher    unbebaut    oder 
unangebaut  gewesenen  Ort  findet.     Der  Berlin  würde  nach  dem  Cel- 
tischen  unter  regelmässigem   und   ganz   gewöhnlich  vor  sich  gehendem 
Lautwandel  Weidewald  oder  Waldweide,  einen  Wald  oder  ein  Gebüsch, 
das  zur  Viehweide  dient,   bedeuten.     Es  besteht  nämlich  aus  dem  cel- 
tischen paür,  peür,  por,  Weide,  weiden,  und  lliiyn,  ein  Hain,  Wald  oder 
Busch.     Aus  paür,   peür,   por    entsteht  regelrecht   durch  eine  natürlich 
und  gewöhnlich  eintretende  Schwächung  des  Vocals   und  Consonanten 
per  und  ber,  und  llüyn  wird  durch  den  blossen  Ausfall  des  ü  zu  llyn 
contrahirt,    wobei  noch  zum  Nachtheil  der  Etymologie  in  Anschlag  zu 
bringen  ist,   dass  wir  vom  Celtischen  ja  nur  die  Dialecte,    welche  noch 
heut  zu   Tage   in   England  und   Frankreich   fortleben,   und  auch  diese 
nur  unvollständig  kennen,  und  also  nur  das  mit  mathematischer  Sicher- 
heit beweisen  können,   was  diesen  regelrecht  entspricht,    und  nun   thut 
es  das  sogar  in  unserem  Falle,   so  dass  an   der   Beweiskraft   nicht  das 
Geringste  fehlt.      Wallis,  paür,  Weide,  ist  armorikan.  schon   peür,   und 
gehört  zu  Wallis,  pori,  weiden,  armorikan.  peüri.   Ja  im  Armorikanischen 
ist  in  dem  Dialect  von  Vannes  perach,  d.  i.  peür,  por,  mit  einer  neuen 
Ableitungssylbe ,   selbst  schon  Weide,   und   Bullet  führt  per  geradezu 
für  peür  mit  der  Bedeutung  päturage  auf.    Im  Celtischen  selbst  wird  p 
im   Zusammenhange   schon   häufig   zu   b,    und    umgekehrt  sahen    wir 
mehrere  unserer  Berline  mit  p  geschrieben.    Auch  kommen  Zusammen- 
setzungen  mit   llüyn   im   Celtischen,   d.   i.   im  Wallisischen  selbst  vor, 
z.  B.   grüg-lüyn,   the   sweet   broom,  wörtlich   heath-bush,   also  auch 
paür-lüyn,   Weidewald,   welches   selbst  im  Deutschen  kein  gemachter, 
sondern  ein    wirklich  bestehender  Begriff  ist.     Dagegen  findet  sich  das 
im  Wallisischen  sehr  gebräuchliche  llüyn  in  dem  sehr  verarmten  armo- 
rikanischen Dialect  schon  nicht  mehr.     Es   wird  also,   wenn   wir  den 
Begriff  Weidewald  auf  unser  Berlin  anwenden ,  den  ältesten  celtischen 
Bewohnern  in  Köln  der  gegenüber  liegende  Berlin  ihr  Wald  oder  ihre 
Heide  oder  Hütung  für  das   Vieh  gewesen  sein ,    dessen  Fortsetzung 


des  Namens  der  Stadt  Berlin.  253 

oder  Trümmer  auf  beiden  Seiten  die  Jungfernheide  und  die  Hasenheide 
sind,  die  sich  beide  in  älteren  Zeiten  viel  weiter  an  die  Stadt  erstreckten, 
ja  es  gab  grosse  Wiesen  innerhalb  der  Stadt  selbst,  zum  Beweise,  dass 
der  Wald  wirklich  Viehweiden  enthalten  konnte.  Unter  anderen  wird 
eine  Wiese  zwischen  der  langen  Brücke  und  dem  Mühlenhofe  erwähnt. 
Und  wer  noch  jetzt  einen  kleinen  Berlin  ira  alten  Sinne  des  Worts, 
nur  ins  Deutsche  übersetzt  und  sachlich  modificirt,  d.  h.  der  Bäume 
und  des  Buschwerks  beraubt,  sehen  will,  der  gehe  vor  das  hallische 
Thor  links  hinaus  und  sehe  sich  den  zwischen  dem  seit  1705  bestehen- 
den Floss-  oder  Landwehrgraben  (jetzt  SchifFahrtskanal)  und  der 
Hasenheide  gelegenen  Platz  an,  der  die  Schlächterhütung  heisst.  Dass 
der  Begriff  Weidewald  allen  übrigen  Berlinen  zu  Grunde  liegen  kann, 
ist  offenbar,  aber  recht  auffallend  ist  es  bei  dem  Berlin  unweit  Nord- 
heim, von  dem  ausdrücklich  gemeldet  wird  (man  sehe  Nicolai  I,  VIII), 
dass  er  zur  Viehweide  diene  und  mit  Buschwerk  bewachsen  sei.  Nur 
ein  oder  vielmehr  zwei  Berline  scheinen  zu  widersprechen  ,  nämlich  die 
Seen  bei  Wittstock,  und  ich  war  früher  geneigt,  sie  anders,  obgleich 
auch  aus  dem  Celtischen,  zu  erklären.  Ich  habe  aber  bei  genauerer 
Nachforschung  gefunden,  dass  dieses  nicht  nöthig  sei.  Sie  haben  näm- 
lich keinen  selbstständigen  Namen,  sondern  entlehnen  denselben  von 
umliegenden  Dörfern,  die  Berlin  oder  Berlinchen  hiessen.  In  einer 
Beschreibung  der  Amelungsborner  Klostergüter  zwischen  Zechlin  und 
Wittstock  aus  dem  Anfang  des  15.  Jahrhunderts  wird  die  Dorfschaft 
Klein  Berlin  (Berlinchen)  erwähnt.  In  dem  Kaufbriefe  von  1431 
werden  die  an  den  Bischof  und  das  Domkapitel  von  Havelberg  über- 
lassenen  Amelungsborner  Klostergüter  auf  der  Lytze  folgendermassen 
genannt;  „De  hoffstede  to  deme  drantze,  dat  dorpp  to  deme  dranze 
unde  de  nagescreven  dorpere  Swynreke,  Sewekow,  beyde  Bale,  beyde 
Roderanke,  Zempow,  Vchtorpe,  luttiken  Berlin  unde  de  zee  to  groten 
Berlyn,  de  kulemoUen  (Mühle),  den  schild  unde  schildermolen  (Berg- 
haus Landbuch  1,  635,  636). 

Es  bleibt  nun  drittens  noch  übrig,  die  geschichtliche  Berechtigung 
der  Ableitung  des  Namens  Berlin  aus  dem  Celtischen  darzulegen.  Denn 
mancher  Leser  wird  bis  dahin  kaum  die  Frage  haben  ixnterdrücken 
können,  wie  man  den  Namen  Berlin,  trotz  dem  dass  es  noch  einige 
andere  Berline  in  wahrscheinlich  oder  sicher  celtischen  Gegendon  giebt, 
aus  dem  Celtischen  ableiten  könne,  da  die  Geschichte  von  Celten  in 
der  Mark  Brandenburg  nichts   weiss ,    und    der    sprachliche    und    topo- 


254  Ueber  den  Ursprung  und  die  Bedeutung 

graphische  Beweis,  wenn  auch  noch  so  natürlich,  ohne  den  geschicht- 
lichen Nachweis  der  Möglichkeit,  die  Sache  nicht  vollständig  entscheiden 
kann.  Die  geschriebene  Geschichte  weiss  manches  nicht,  was  aber  die 
Sprachforschung  der  Geschichte,  d.  h.  vorzugsweise  der  Urgeschichte, 
mit  grösserer  oder  geringerer  Sicherheit  zueignen  kann.  Die  mit  Kritik 
ausgeübte  Sprachforschung  bringt  oft  die  seltsamsten  und  ungeahndet- 
sten Dinge  an  den  Tag,  und  erlaubt  da,  wo  alles  schweigt,  Fol- 
gerungen, die  einen  hohen  Grad  der  Gewissheit  oder  Wahrscheinlichkeit 
an  sich  tragen.  Gerade  eben  so  weiss  die  Geschichte  auch  nichts  da- 
von, dass  Gelten  in  Halle  waz-en ;  aber  durch  Sprachforschung  und 
Sprachvergleichung  ist  man  im  Stande  zu  beweisen,  dass  Halle  ur- 
sprünglich eine  celtische  Stadt  war;  die  Halloren  und  die  Salzwerke 
sind  noch  Zeugniss  ablegende  Ueberbleibsel  davon;  der  Name  der 
Stadt  Halle  (slavisch  Dobrogora,  d.  i.  Gutberg,  nach  einer  Urkunde 
von  966)  selbst  ist  celtisch  und  bedeutet  Salzstadt  (vom  wallisischen 
hal,  halen,  niederbret.  halen,  holen,  choalen ,  Salz;  Wallis,  halenür, 
niederbret.  halennür,  hoUener,  choallener,  Salzarbeiter,  woraus  Hallore 
nur  eine  ganz  gewöhnliche  Zusammenziehung  ist);  ausserdem  sind  auch 
einzelne  in  den  Hallischen  Salzwerken  übliche  technische  Ausdrücke 
nur  aus  dem  Celtischen  zu  erklären.  Ferner  erklärt  sich  die  Saale 
durch  den  irisch-gälischen  Dialect  des  Celtischen  als  der  Salzfluss.  So 
wie  der  Flussname  älter  ist  als  der  Stadtname,  eben  so  ist  auch  der 
irisch -gälische  Dialect  des  Celtischen  älter  und  alterthümlicher  als  der 
wallisisch- arm orikanische.  Früher  wusste  man,  gerade  wie  man  den 
Namen  unseres  Berlin  nur  aus  dem  Slavischen ,  wenn  auch  noch  so 
gezwungen,  erklären  zu  müssen  glaubte,  mit  den  Halloren  und  ihren 
Salzwerken  auch  nichts  weiter  anzufangen,  als  dass  man  sie  ohne  be- 
deutende Gründe  bald  den  Slaven,  bald  den  Germanen  zuschob.  Nun 
giebt  es  aber,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  gerade  in  dieser  ehemals 
celtischen  Stadt  zwei  Plätze,  die  der  grosse  und  der  kleine  Berlin  ge- 
nannt werden ,  offenbar  ursprünglich  aus  eben  demselben  Grunde,  aus 
welchem  man  ähnliche  Oerter  in  anderen  Gegenden  und  auch  unsern 
Ort  in  der  Mark,  wo  dann  später  unsere  Stadt  aus  den  kleinsten  An- 
fängen emporwuchs,  Berlin  benannte.  Ja  in  den  ältesten  Zeiten,  als 
Berlin  noch  nicht  auf  den  Namen  einer  bedeutenden  Stadt  Anspruch 
machen  konnte,  erinnerte  man  sich  auch  der  durch  die  Tradition  gege- 
benen und  festgehaltenen  appellativen  Bedeutung  noch  besser  als  später, 
indem  man  nicht  Berlin,  sondern ,   wie  schon  vorhin  angedeutet,  immer 


des  Namens  der  Stadt  Berlin.  255 

der   Berlin   sagte.     Erst  allmählich,    als   unser  mit   dem   Namen   der 
Gegend,  wo  er  angelegt  war,   bezeichneter  Ort  an  Grösse  und  Wachs- 
thum   zunahm,    verlor    sich   der    Artikel.       Vielleicht  aber  haben   die 
Haller  ihre  Plätze  nach  unserer  Stadt  erst  später,   als  sie  schon  gross 
und  berühmt  war,   so  benannt,    so  wie  wir  hier  in  Berlin  selbst  Plätze 
nacli   grossen  Städten  benennen,    wie  wir  z.  B.   einen   Pariser,   einen 
Leipziger  Platz  haben  ?  Mit  nichten ;  denn  wenn  dieses  der  Fall  wäre, 
so  könnte  man   es   gewiss  leicht   genug   historisch   nachweisen,   da  die 
Grösse  und  Bedeutung  Berlins  als  Stadt  verhältnissmästig  zu  jung  ist, 
als  dass  die  Haller  darauf  kommen   konnten ,    ihre   Plätze   in    frühster 
Zeit  nach  unserer  Stadt  zu  benennen,    und  in  späterer  Zeit  würden  sie 
der  Berliner  Platz,  aber  nicht  Berlin  oder  gar  der  Berlin  gesagt  haben, 
indem   der  Artikel   der  in   dieser   späteren  Zeit  bereits   verschwunden 
war.     Selbst   das   Berlin   wäre   eher  denkbar   als   der  Berlin.     Nach 
meiner    festen  Ueberzeugung    lässt    sich    nicht    bloss    aus    dem  Namen 
unserer  Stadt  selber,   der   seine  ungezwungenste   Erklärung  nur  durch 
die  beiden  oben  angegebenen  celtischen  Wörter  findet  (denn  den  Namen 
für  Gegenden  und  Oerter   liegen   in   früheren  Zeiten   ganz  einfache,  ge- 
wöhnlich ihre  örtliche   Lage   und  Beschaffenheit  berücksichtigende  Be- 
griffe zu  Grunde,   sondern  auch  aus  der  gehörig  festgestellten  Oertlich- 
keit  und  richtigen  Aufeinanderfolge  der  durch  die  Geschichte  erwähnten 
in   Europa   auftretenden   Hauptvölkerstämme   schliessen,   dass   vor  den 
Germanen  celtische  Völkerschaften   in   der  Mark   Brandenburg   waren, 
dass  diese    die  Benennung  Berlin    den    Germanen    überlieferten,    von 
welchen   sie   nach   der  A^ölkerwanderung  die    darauf   folgenden   Slaven 
annahmen,  bis  die  Germanen  bei  Verdrängung  oder  Verschmelzung  der 
Slaven   mit  sich  sie  abermahls  von  den  letzteren  zurück  erhielten.   Na- 
türlich folgt  daraus  noch  nicht,  dass  sich  noch  sehr  viele  andere  cel- 
tische Benennungen  in  der  Mark   finden   müssen ;   denn   die   Germanen 
und   Slaven   benannten  ihrerseits  nach  Verdrängung  oder  Vernichtung 
der  Gelten  das  meiste  mit  Wörtern  aus  ihrer  eigenen  Sprache;  aber  es 
konnte  nicht  fehlen,  dass  sie  auch  manches  von  ihren  Vorgängern,  den 
Gelten,  beibehielten,  wie  schon  das  Beispiel  der  Deutschen  selbst  lehren 
kann,  die  in  den   slavischen,   von   ihnen   germanisirlen  Ländern  vieles 
deutsch  benannt,   aber   auch   eben  so  viel  mit  slavischen  Namen  über- 
nommen  haben.      Auch    der  Platz    bei   Nordheim    und    der   Berlin   in 
Augsburg  liegen  in  Gegenden,  wohin  niemals  Slaven    gekommen   sind. 
Wie   weit  sich  auch  der  slavische  Zweig  der  Polaben   über   die   Elbe 


256  Ueber  den  Ursprung  und  die  Bedeutung 

hinaus  ausgebreitet  haben  möge,  und  obgleich  man  mit  Grund  annimmt, 
dass  Slaven  in  dem  thüringer  Gau  Winidon,  am  Main  und  an  der 
Rednitz,  an  der  oberen  Nah,  Kaub  und  am  Regen  sassen,  so  findet  sich 
doch  nicht  die  geringste  Spur  davon ,  dass  je  ein  Slave  seinen  Fuss  in 
das  Fiirstenthum  Göttingen,  in  welchem  Nordheim  liegt,  gesetzt  habe, 
weder  geschichtlich  noch  in  den  Ortsnamen.  Auch  in  Augsburg, 
wenn  es,  wie  ich  nicht  zweifle,  mit  dem  Berlin  für  Berlach  seine  Rich- 
tigkeit hat,  konnten  nie  Slaven  sein.  Augsburg  heisst  bekanntlich 
bei  den  Römern  Augusta  Vindelicorum.  Dass  die  Vindeliker  Gelten 
und  nicht  Germanen  waren,  wird  von  bewährten  Forschern  auf  diesem 
Gebiete,  von  Zeuss  (in  seinem  Buche  die  Nachbarstämme  der  Deutschen 
und  Gram.  Celt.  p.  771)  und  L.  Diefenbach  (Celtica  II,  137)  an- 
erkannt, und  ihre  Annahme  muss  vor  der  älterer  Gelehrten,  die  in 
ihnen  Germanen  sahen,  den  Vorzug  haben,  da  sie  sich  auf  gediegene 
Sprach-  und  Geschichtsforschung  stützt,  während  jener  Angabe  mehr 
durch  allerhand  unbedeutende  Scheingründe  bestimmt  wurde.  J.  Grimm 
(Geschichte  der  deutschen  Sprache  p.  476)  scheint  sich  zwar  auch  für 
den  germanischen  Ursprung  der  Vindelicier  zu  erklären,  weil  ihr  Namen 
eine  Verwandtschaft  mit  dem  Wandali  und  Windili  zeigt;  aber  mir 
scheint  die  Ableitung  des  Namens  von  den  Flüssen  Vindo  oder  Virdo 
(Wertach)  und  Licus  (Lech) ,  zwischen  denen  das  Volk  ursprünglich 
sass  (vgl.  Sickler  alte  Geogr.  I,  235),  so  wie  der  entschieden  celtische 
Charakter  der  ganzen  Gegend  südlich  von  der  Donau,  ein  bedeutendes 
Uebergewicht  in  die  Wagschale  zu  werfen.  Ueber  das  Alter  und  die 
Topographie  Berlins  in  der  Gascogne  vermag  ich  weiter  keinen  nähern 
Aufschluss  zu  geben.  Nicolai  I,  VIII  erwähnt  es,  und  giebt  als  seine 
Quelle  das  Dictionnaire  geographique  de  la  France  par  Expilly  T.  I, 
p.  584  an.  Es  genügt  hier  zu  bemerken,  dass  es  in  einem  celtischen 
Lande  liegt,  und  dass  es  schwerlich  seinen  Namen  von  unserem  be- 
rühmteren Berlin  entlehnt  hat. 

Die  Gelten  waren  anerkanntermassen  nächst  den  Iberern  unter 
den  ersten  Einwanderern  Europa's  und  gingen  den  Germanen  unmit- 
telbar vorauf,  weswegen  sie  auch  sprachlich  und  geschichtlich  als  eng 
mit  ihnen  zusammenhängend  gefunden  und  dargestellt  werden.  Ja  im 
Anfange  kannten  die  Griechen  und  Römer  nur  Gelten,  die  Germanen 
waren  für  dieselben  in  den  Gelten  mit  enthalten,  und  erst  später  lernten 
sie  sie  allraählig  besser  unterscheiden;  und  es  ist  auch  jetzt  noch  nicht 
immer  sicher  ausgemacht,  ob  manche  Völkerschaften  Gelten  oder  Ger- 


des  Namens  der  Stadt  Berlin.  257 

manen  waren,  Z.  B.  die  Cimbern,  welche  nach  Pliniiis  und  Ptoleniäus 
in  der  nach  ihnen  benannten  cimbrischcn  Halbinsel  (in  dem  jetzigen 
Schlesswig  und  Jütland)  wohnten ,  werden  von  einigen  für  Germanen, 
von  anderen  für  Gelten  gehalten.  Ich  entscheide  mich  mit  Diefenbach 
(Celtica  II,  188.  204  ff.)  und  H.  Müller  (die  Marken  des  Vaterlandes 
Bd.  I.)  und  anderen  für  die  celtische  Herkunft,  nehme  mit  Müller  an, 
dass  nordwestlich  sich  die  stammverwandten  Beigen  unmittelbar  an  sie 
anschlössen,  und  vergleiche  sie,  trotz  aller  Einwendungen,  mit  den 
noch  in  England  vorhandenen  Gelten,  mit  den  Gymmry  oder  Wallisern, 
sing.  Gymmro,  altwallis.  Kemro,  pl.  Kemry,  latinisirt  Gamber,  Gambri, 
Gumbri,  bestehend  aus  wallis.  can,  cyn,  mit,  und  bro,  brog,  Land,  also 
s.  V.  a.  lat.  conterraneus ,  eandem  terram  habitans,  indigena,  armorik. 
kenvro,  kenvröad,  pl.  kenvröiz  od.  kenvröidi,  compatriota,  qui  est  ejus- 
dem  terrae,  i.  e.  kenbro  =  wallis.  cymro  (vgl.  Zeusz  Gr.  226,  873). 
J.  Grimm  jedoch  in  seiner  Geschichte  der  deutschen  Sprache  (p.  636) 
schreibt  ihnen,  gleich  den  Vindelikern,  germanisch«  Abstamnumg  zu, 
und  erklärt  ihren  Namen  aus  einem  hypothetischen  angels.  cempere 
oder  cimpor,  althochd.  chemphari  oder  chimphar,  d.  i.  Kämpfer,  Krieger, 
und  meint,  damit  wäre  leicht  aller  keltischen  Abkunft  der  Kimbern  ein 
Ende  gemacht.  Wie  dem  auch  sei,  so  viel  scheint  mir  gewiss,  dass 
den  Germanen  in  Deutschland  überall  Gelten  voraufgingen ,  und  dass 
sie  in  frühster  Zeit  auf  der  nördlichen  Seite  an  die  Finnen,  und  später 
auf  der  südlichen  Seite  an  die  Griechen  und  Römer  stiessen ,  deren 
Wohnsitze  aber  früher  die  Gelten  selbst  inne  hatten.  Es  ist  durchaus 
nicht  erlaubt,  sich  einzubilden,  dass  die  Germanen  und  Slaven  die 
ersten  Bewohner  unserer  Gegenden  waren ,  bloss  weil  die  Geschichte 
hier  keine  anderen  vor  ihnen  erwähnt.  Giebt  es  nicht  Beispiele  genug 
von  Völkern ,  die  so  gänzlich  verdrängt  und  untergegangen  sind,  dass 
auch  nicht  eine  Spur  mehr  von  ihnen  übrig  geblieben  ist,  und  es  nur 
der  speculativen  Sprachforschung  gelingt,  das  undurchdringliche  Dunkel 
hier  und  da  etwas  zu  lüften.  Ich  bin  überzeugt,  dass  wenn  man  die 
Ortsnamen ,  besonders  die  Fluss  -  und  Bergnamen  diesseit  und  jenseit 
der  Elbe,  so  wie  in  Holstein,  Schlesswig  und  Jütland  und  dem  nord- 
westlichen Deutschland  einer  genauen  und  kritischen  linguistischen 
Prüfung  unterwerfen  wollte,  man  noch  manche  Spur  des  untergegan- 
genen Geltenthums  wieder  auffinden  würde.  Und  lande  sich  gar  ein 
zweiter  W.  v.  Humboldt,  der  das  von  demselben  vermittelst  der  bas- 
kischen Sprache  auf  Spanien  angewandte  Verfahren   mit  den  celtischen 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXVII.  17 


268  lieber  den  Ursprung  und  die  Bedeutung 

Sprachen  nicht  bloss  auf  unsere  Gegend,  sondern  auf  ganz  Europa  an- 
wenden wüllle,  so  würde  man  eine  ganz  andere  Vorstellung  von  der 
ehemaligen  Grösse,  Macht  und  Ausdehnung  der  celtischen  Völker  ge- 
winnen, während  man  jetzt  nur  so  viel  davon  glaubt  annehmen  zu 
müssen,  als  die  Geschichte  mit  dürftigen  Zügen  verzeichnet  hat,  und 
auch  dieses  wenige  soll  noch  von  Gelehrten  ä  la  Holtzmann  in  Ger- 
manenthum  umgewandelt  werden. 

Noch  einige  in  Berlin  vorkommende  dunkle  Ortsbezeichnungen 
laden  zu  dem  Versuch  einer  Deutung  ein  : 

1)  Der  Krögel  oder  Kröwel  oder  Krouwel,  eine  enge  lange  Gasse 
rechter  Hand  am  Molkenmarkte  zwischen  der  Stadtvogtei  und  Padden- 
gasse, die  nach  der  Spree  führt,  in  früherer  Zeit  ein  Wasserzugang 
für  die  Wagen  in  Feuersgefahren,  bis  er  im  17.  Jahrh.  so  verbaut 
wurde,  dass  er  auch  als  solcher  nicht  mehr  benutzt  werden  könnte 
(vgl.  Fidicin  Beitr.  3,  547).  Nach  Nicolai  1,  25  hei.«st  eigentlich  die 
hinter  diesem  Gässchen  befindliche  Bucht  der  Spree  der  Krewel,  welches 
nach  ihm  vermuthlich  ein  wendisches  Wort  ist.  Ich  halte  aber  dafür, 
dass  er  seine  Erklärung  eher  durch  das  celtisch  -  wallisische  crigyll, 
a  ravine,  a  creek,  findet,  indem  hier  Form  und  Bedeutung  auf  das  ge- 
naueste stimmen. 

2)  Da  Berlin  und  der  Krögel  aus  dem  Celtischen  kommen,  so 
sieht  man  sich  versucht,  den  Fluss,  die  Spree  selbst,  eben  daselbst 
aufzusuchen,  da  die  Namen  der  Flüsse,  besonders  der  grösseren,  überall 
zu  den  ältesten  und  unveränderlichsten  gehören.  Ich  habe  ihn  zwar 
anderswo,  und  ich  glaube  mit  Glück,  aus  wendischen  oder  slavischen 
Verhältnissen  zu  erklären  gesucht.  Jedoch  ist  die  Möglichkeit  eines 
celtischen  Ursprungs  nicht  ausgeschlossen.  Wenigstens  ist  es  schon 
auffallend,  dass  das  Wort  Spree  geradezu  in  derselben  Form  im  Cel- 
tischen vorkommt,  wenn  auch  mit  einer  nicht  recht  zusagenden  Bedeu- 
tung. Es  findet  sich  nämlich  im  Irischen  ein  Wort  spre,  welches  aber 
a  spark,  flash  of  fire,  animation,  spirit  bedeutet,  und  mit  sanskritischem 
spri,  leben,  athmen,  verwandt  scheint.  Käme  unsere  Spree  davon  her, 
so  wäre  es  als  lebendiges  Wasser  zu  fassen. 

3)  Der  Krank  (Fidicin  Beitr.  5,  XXII)  war  eine  Gegend  zwi- 
schen der  heutigen  Nikolaikirche,  dem  Molkenmarkte  und  der  Post- 
und  Spandauer  Strasse ,  hart  am  Mühlendamm  und  dem  Dorfe  Köln 
gegenüber.  In  dem  Berliner  Stadtbuche  aus  der  letzten  Hälfte  des 
14.  Jahrhunderts  heisst  es:  In  deme  Krank  sind  17  woninge  di 
wortyns  geuen,  eyn  dell  och  rüden- tyns,  und  an  einer  anderen  Stelle, 
wo  es  schon  zu  Kran  abgeschwächt  oder  verderbt  ist,  heisst  es :  Hynder 
sunte  Nicolsschole  den  kran  umme  stan  XVII  wonunge.  Man  hat  es 
durch  Kranich  zu  erklären  und  als  ein  mit  einer  Winde  versehenes 
Gerüst  zum  Bau  des  Nicolaikirchthurms  darzustellen  gesucht.  Ich 
erkläre  es  durch  das  altslavische  und  polnische  krong,  Kreis,  Umkreis 


des  Namens  der  Stadt  Berlin.  259 

(russ.  ohne  Nasal  krug),   welches  ihm  in  der  Form  äusserst  nahe  steht 
und  eine  sehr  passende  Bedeutung  hat. 

4)  Der  Kak  oder  Kaik,  d.  i.  der  Pranger,  wird  im  Berliner 
Stadtbuche  öfter  erwähnt.  Dies  ist  kein  wendisches,  sondern  ein  nieder- 
deutsches Wort.  Es  wird  zwar  in  polnischen  Wörterbüchern  auf- 
geführt, aber  als  dem  preussisch-polnischen  Dialect  angehörend  bezeich- 
net. Dorthin  ist  es  von  Deutschland  aus  eingedrungen.  Holländisch 
heisst  er  ebenfalls  kaak,  schwed.  kak,  dän.  kag,  armorik.  kelchen  oder 
kerchen,  von  kelch,  kerch,  cercle,  cerceau,  rond.  Es  kann  coltisch  sein, 
indem  sich  kerch  in  niederdeutschem  Munde  fast  wie  kaak  .ausspricht, 
und  das  r  dort  wie  im  Englischen  so  schwach  lautet,  dass  es  in  dem 
Munde  vieler  ganz  stumm  zu  sein  scheint. 

5)  Der  Molkenmarkt  ist  der  älteste  Markt  in  Berlin,  und  war  bis 
ins  13.  Jahrhundert,  in  welchem  der  Neue  Markt  angelegt  wurde, 
der  einzige.  Nach  Nicolai  1,  24,  soll  die  Benennung  erst  um  1600 
daher  entstanden  sein,  dass  die  Kurfürstin  Katharina,  .Joachim  Frie- 
drich's  erste  Gemahlin,  von  ihrem  in  der  Kölnischen  Vorstadt  angeleg- 
ten Viehhofe,  hier  Milch  zu  Markte  bringen  Hess,  welches  vorhin  in 
Berlin  nicht  gewöhnlich  gewesen  war.  Eine  ziemlich  frostige  Erklärung. 
Man  begreift  nicht,  warum  er  alsdann  nicht  der  Milchmarkt  hiess,  in- 
dem man  doch  nicht  das  Allerschlechteste  und  Unbedeutendste,  was 
zuletzt  von  der  Milch  übrig  bleibt,  wie  die  Molken  ist,  gerade  zu  IVlarkte 
zu  bringen  pflegt,  sondern  in  der  Regel  zu  Hause  lässt.  Nach  Fidicin 
führte  derselbe  schon  im  14.  Jahrhundert  diesen  Namen,  und  er  habe 
nach  ihm  wahrscheinlich  von  einer  in  der  dortigen  Gegend  belegen 
gewesenen  Kuhmelkerei  des  Mühlenhofes  seinen  Namen  erhalten.  Ich 
halte  Molkenmarkt  für  eine  Entstellung  aus  Molenmarkt,  Mollenmarkt, 
d.  i.  Mühlenmarkt,  indem  er  am  Mühlendamm  und  also  dicht  bei  den 
Mühlen  liegt.  So  heisst  auch  der  Mühlendamm  selbst  in  einer  Urkunde 
von  1298  (Fidicin  1,  52)  Molendäm,  und  der  Mühlenhoff  im  Berliner 
Stadtbuche  (Fidicin  1,  32)  Mollenhoff.  Diese  Erklärung  wird  niemand 
befremden ,  der  da  weiss ,  wie  häufig  der  Volksverstand  sich  unver- 
standene oder  durch  Veraltung  unverständlich  gewordene  Wörter  in 
seiner  Art  verständlich  und  mundgerecht  zu  machen  sucht.  Auch  das 
ist  volksgemäss,  dass  er  nicht  alle  Mollen  in  IMoIken  umwandelte,  son- 
dern die  einen  in's  Hochdeutsche  übersetzte  und  den  andern  sich  aus- 
legte. So  bekam  er  doch  einen  Unterschied,  worauf  er  in  der  Sprache 
überall  Jagd  macht. 

6)  Zuletzt  will  ich  noch  des  Namens  einer  Nachbar-  und  Schwe- 
sterstadt gedenken,  nämlich  Spandau's,  die  als  Stadt  etwas  älter  ist 
als  Berlin  selbst,  aber  jünger  als  Brandenburg,  weswegen  Berlin  sein 
Recht  von  Spandau  bekommen  hat,  das  sich  seinerseits,  wie  der  Aus- 
druck damals  war,  sein  Recht  von  Brandenburg  geholt  hatte.  Die 
Anstrengungen  der  Etymologen  sind,  wie  es  mii-  scheint,  bis  jetzt  ver- 
gebens gewesen,    eine  vernünftige  Erklärung  des  Namens  dieser  Stadt 

17* 


260     Ueber  den  Ursprung  und  diu  Bedeutung  des  Namens  der  Stadt  Berlin- 

zu  erzielen.  Ich  glaube,  dass  derselbe  recht  gut  von  dem  altböhmischen 
Worte  s})anda  kommen  kann,  welches  in  alten  böhmischen  Glossarien 
durch  das  mittellateinische  stipa  erklärt  wird,  d.  i.  quaedam  parva  arbor, 
ut  dicunt,  copa,  (juia  ex  ea  stipentur  tecta  oder  un  petit  arbre  bon  pour 
balayer,  scopa.  Spandau  liegt  in  einer  sehr  niedrigen  und  sumpfigen 
Gegend,  und  es  mag  dort  an  dergleichen  Strauch-  und  Buschwerk  nicht 
gefehlt  haben,  ja  es  mag  da  in  Menge  gewachsen  sein  und  zum  Theil 
noch  wachsen.  Die  einzige  Etymologie ,  die  ich  bis  jetzt  bei  anderen 
gefunden  habe,  war  von  dem  slavischen  Worte  spanie,  der  Schlaf.  Ich 
weiss  nicht,  wie  man  sich  das  gedacht  haben  mag,  worauf  man  den 
Schlaf  oder  die  Schläfrigkeit  hat  beziehen  wollen,  ob  auf  die  Gegend 
oder  die  Bewohner  oder  irgend  einen  anderen  Umstand ;  auch  scheint 
man  sich  hierbei  kein  grosses  Gewissen  daraus  gemacht  zu  haben,  die 
sprachliche  Erklärung  des  d,  woher  dieses  kommen  soll,  mit  Still- 
schweigen zu  übergehen.  Vielleicht  hat  man  dabei  den  in  manchen 
Städtenamen  vorkommenden  Begriff  der  Ruhe  im  Sinne  gehabt,  der 
aber  ohne  bestimmenden  Zusatz,  wie  in  Karlsi'uhe,  Ruhleben,  abgesehen 
von  der  berührten  sprachlichen  Schwierigkeit,  zu  allgemein  und  abstract 
ist,  um  als  Städtenamen  dienen  zu  können. 

7)  Auf  dem  Wege  einer  Anmerkung  bemerke  ich  noch ,  dass  ich 
das  celtische  Wort  berle  mit  der  identischen  Nebenform  brelle,  von  dem 
ich  früher  Berlin  ableitete,  nicht  mehr  mit  berlim,  brelim,  breolim, 
blerim,  Schleifstein,  vielleicht  auch  Sandstein,  in  Verbindung  bringe, 
sondern  es  ähnlich  wie  unser  Berlin  erkläre ,  nämlich  als  Weideort, 
von  eben  demselben  celtischen  pat'ir,  peur,  por,  per,  Weide,  und  wallis. 
lle.  Ort,  welches  in  der  Zusammensetzung  zu  le  werden  muss.  Auch 
der  Perlachberg  lässt  sich  aus  dem  Cellischen  deuten ,  ebenfalls  von 
dem  celtischen  Worte  für  Weide,  und  armorik.  leach,  lech,  leh,  Ort, 
oder  weniger  sicher  von  celtischem  her,  hoch  (Bullet),  wallis.  bar,  top, 
armorik.  bar,  harr,  sommet,  cime,  und  leach,  lech,  leh,  Ort,  also  hoher 
Ort,  altus  tumulus.  Im  Altdeutschen  heisst  der  Perlach  bei  GrafF 
perleih,  perleich,  perlaich,  perlach.  GrafF  sucht  nach  dem  Vorgange 
von  Henisch,  Otto  von  Freisingen  und  der  Auersberger  Chronik  das 
Wort  aus  dem  Germanischen  zu  deuten,  aber  ohne  Erfolg.  J.  Grimm 
(Mythol.  p.  270)  führt  aus  den  Excerpten  aus  der  gallica  historica  an: 
denique  pretorem,  qui  paulo  altiorem  tumulum  (perleih)  frustra  ceperat, 
roraana  vi  resistentem,  obtruncant.  Dies  würde  unsere  letztere  Deutung 
stützen.  Grimm  erklärt  sich  nicht  bestimmt  darüber.  Er  bemerkt 
bloss:  der  Name  perleih,  den  die  Sage  auf  periens  oder  perdita  legio 
zieht,  gemahnt  an  das  althochdeutsche  eikileihi,  aigilaihi,  phalanx;  leih 
ist  auch  in  anderen  Zusammensetzungen  vieldeutig  (Mythol.  p.  274). 
Wenn  man  perlach  so  auslegt,  wie  ich  es  zuerst  gethan  habe,  so  be- 
greift man  auch,  wie  der  Ausdruck  Berlin  als  synonym  daneben  auf- 
treten kann,  indem  sie  alsdann  beide  beinahe  dasselbe  bedeuten,  nämlich 
perlach,  Weideort,  und  berlin,  Weidewald. 

Dr.  C.  A.  F.  Mahn. 


Trois   vieux  poemes 

en  l'honneur    de   la  Sainte-Vierge. 


I-*) 
A  toy,  reine  de  liault  parage, 
Dame  du  ciel  et  de  la  terre, 
Me  vien  complaindre  de  l'outrage 
De  l'ennemy  qiü  me  fait  gnerre. 
Mon  poure  euer  au  Corps  me  serre: 
Helas,  dame,  secoures  moy, 
Quar  ie  ne  say  ou  confort  querre, 
Vierge,  se  ie  ne  Tay  de  toy. 

De  toy  nous  vient  toute  bonte, 
Tres  doulce  dame  gracieuse. 
S'aucun  peche  m'a  surmontee, 
Vueilles  moy  estre  gracieuse. 
La  mort  qui  est  si  tres  hideuse 
Me  vient  haper,  ie  ne  say  Teure. 
M'ame  en  est  si  angoisseuse 
Que  de  paour  chascun  iour  pleure. 

Pleurer  me  fault  mes  grans  mesfais, 
Quar  i'ay  vescu  toute  ma  vie 
En  peche  par  ditz  et  par  fais. 
Helas,  dame,  ie  te  supplie, 
Prie  ton  filz,  Ie  fruit  de  vie, 
Que  tu  alaytas  doulcement, 
Qu'il  luy  plaise  par  courtoysie 
A  moy  pardoner  hurablement. 


*)  Le  poferae  Nro.  I.  sert  de  preface  aux  „HeuresEnlumindes  de- 
la  reine  Anne  de  Bretagne,"  raanuscrit  precieux  da  XV.  aiöcle  sur  par 
chemin,  qui  est  conserve  dans  la  bibliothöque  de  la  ville  de  Tours  en 
Touraine. 


Trois  vieux  poemes 

Humblement  te  fay  priere, 
Mere  de  nostre  redemptour, 
Que  ta  benigne  grace  acquiere, 
En  perseverant  en  t'amour. 
Tu  es  le  chastel  et  la  tour, 
Ou  les  pecheurs  se  vienent  rendre: 
Si  te  suppli,  oy  ma  clamour, 
Et  a  mon  fait  vueilles  entendre. 

Atten  a  moy,  tres  sainte  vierge, 
Qui  portas  le  doulz  Ihesus, 
De  qui  tu  fus  mere  et  concierge, 
Cyerge,  lumiere  sans  refus. 
Oncques  refusante  tu  ne  fus 
Vers  les  pecheurs,  vierge  pucelle : 
Celle  tu  es  de  plus  en  plus, 
Plus  doulce,  gracieuse  et  belle. 

Belle  sans  per  et  sans  nul  si, 
Plus  doulce  fleur  que  n'est  la  rose, 
Met  mon  ame  hors  de  souzi, 
Que  de  tous  peches  est  enclose 
Tant  que  a  ton  filz  parier  ie  n'oze 
Pour  les  grans  peches  ou  ie  suy. 
Si  te  suppli  sur  toute  chose, 
Pries  luy  qu'il  ait  de  moy  mercy. 

Mercy  requier  a  iointes  mains 
A  toy,  tresoriere  de  grace! 
Fay,  que  mes  maulx  soient  estains 
Et  que  ton  filz  pardon  me  face, 
Quar  l'ennemy  o  lui  me  lasce, 
Se  par  ta  grace  n'ay  secour. 
Et  d'aultre  part  la  mort  me  chasce 
Par  quoy  ie  vitz  en  grant  tristour. 

Tristour  me  fait  plus  noir  que  meure, 
Dame  plaine  de  courtoysie, 
Quar  orgueil  si  m'a  couru  sure 
Et  le  peche  d'ire  et  d'enuie. 
Luxure  ausy  et  gloutonie 
Auecque  auarice  et  paresse 
Auront  sur  moy  leur  seigneurie, 
Se  o  moy  ta  grace  ne  s'adresce. 

Dresce  mon  cueur,  ie  te  requier, 
En  la  uertu  d'umilite. 


en  l'honneur  de  la  Sainte  -  Vierge.  263 

Charite  ausy  ;  que  requier, 
Me  soit  donnee  par  pitie, 
Bonne  abstinance,  chastete 
Avecque  largesce  et  pacience: 
Souffisance  par  ta  bonte 
Me  soit  donnee  et  diligence. 

Diligence  m'est  necessaire, 
Mere  dieu,  fay  donc  que  ie  l'aye 
Tant  que  a  ton  filz  ie  puisse  plaire 
En  quelconque  lieu  que  ie  soye. 
I'ai  prins  de  touz  peches  la  voye, 
Se  par  toy  n'ay  misericorde, 
Tant  que  de  dieu  ie  me  denoye, 
Se  0  moy  ta  grace  ne  s'acorde. 

Acorde  donc  ma  pouure  ame 
A  Ihesu  -  Crist  Ie  roy  des  cieulx. 
Et  te  suppli,  tres  chiere  dame, 
Prie  luy  qu'il  me  soit  gracieux, 
Et  que  son  saint  corps  precieux 
Dignement  puisse  recepuoir 
Tant  qu'au  royaujne  delicieux 
Ie  puisse  paradis  auoir. 

Auoir  ne  pourray  aduocat, 
Quant  uandra[y]  au  point  de  la  mort. 
Si  toy,  dame,  n'y  metz  debat, 
Ie  suy  en  peril  d'auoir  tort. 
Si  suy  en  si  grand  desconfort, 
Que  ie  ne  say  que  deuenir: 
Si  par  toy  ne  suy  a  bon  port, 
En  orrant  dangier  me  fault  tenir. 


Tenir  me  fault,  vierge  Marie! 
Conduy  mon  ame  hors  de  paine, 
Garde  la  de  mal  et  nettie, 
Ie  te  pri,  vierge  souveraine. 
Tu  es  Ie  rusel  et  fontaine 
Qui  laues  chascune  ame  tainte. 
Garde  m'ame  de  mort  vilaine! 
A  tant  finera  ma  complainte. 


Trois  vieux  poeraes 
II.*) 


Virge  gloriose, 
Necte,  pure,  munde, 
Mere  preciose, 
Lumere  dou  monde, 
En  toy  toz  biens  habunde. 

Dame  graciose, 
De  dieu  f'u[s]  elite: 
De  toy  fit  s'esponse 
Por  ton  grant  merite 
Dieux  qui  au  cieus  habite. 

Tu  es  rose  coloree 
Toz  iors  et  vermoylle, 
Ta  eolor  n'ert  ia  muee, 
^o  n'est  pas  meruelle, 
Nus  ne  uit  ta  parelle. 

Tu  es  Hs  et  violete, 
To[s]temps  munde  et  pure, 
De  tot  peche  nepte, 
Sur  tote  nature, 
Quar  dieux  i  mist  sa  eure. 

Tu  es  baumes  natures, 
Pimenz  et  lectuayres, 

.**)  et  sauorez, 
Pucele  debonayre, 
Nos  cuers  purge  et  esciayre. 

Tu  es  flors, 
De  cuy  Todors 
No  desfaut  ne  empire, 
Tu  es  fruyz, 
Que  nos  conduys 
Et  maynes  a  l'empire, 
Que  tint  Ihesus  li  sire. 


Tu  es  soleauz, 
Tu  es  iornaus, 
Estele  marine, 
De  ta  clarte 
Por  ta  bonte 
Noz  enlumine, 
Des  angels  la  rayne. 

Tu  es  li  porz 
Et  li  deporz, 
Li  deduyz  et  la  ioye. 
Tu  es  conforz 
Et  li  acorz, 

Chemins  et  droyte  uoye 
A  celuy  qui  te  proye. 

Tu  es  clarte, 
Tu  es  purte, 
Tu  es  esperites  hoteis. 
One  ne  fu  tel, 
Quar  dou  saynt  ciel 
Dessendit  la  rosee, 
Dont  tu  fus  arosee. 

Tu  es  uergiers, 
Tu  es  rosers, 
Tu  es  li  douz  paradis 
Pleyns  de  deliz, 
Ont  Ihesu  -  Crist 
Ou  lo  saynt  esperite 
Se  deduyt  et  delite. 

Tu  es  sacrayres  enbaumez. 
Tu  es  celers  enpimentez, 
Ont  li  fiz  dieu  fu  delitez, 
Quant  senz  dolor  et  payne 
En  toy  pris[t]  char  humayne. 


*)  Les  Nro.  II.  et  III.  sont  tirds  de  meme  d'un  ms.  de  la  bibliotheque 
de  Tours,  du  XIV.  siecle  en  parchemin,  lequel,  comme  chose  principale, 
contient  les  miracles  de  notre  dame  par  Gautier  de  Coinsy  dans  une  redac- 
tion  inferieure  h  celle  du  ms.  Nro.  7987  de  la  bibliotheque  imperiale  de 
Paris. 

♦*)  Ms.:  enheluez. 


en  l'honneur  de  la  Sainte-Vierge. 


265 


Tu  es  la  virge  Aaron, 
Tu  es  li  tenples  Salonion, 
Tu  es  la  mayson  d'orayson, 
De  totes  uertuz  playne 
Et  de  toz  biens  fontayne. 

Rayne  coronee, 
Dame  beneuree, 
Bien  doyt  estre  honoree 
L'ore  que  tu  fus  nee. 
Por  toy  fu  deliuree 
La  genz  maleuree, 
Que  fu  enprisonnee 
En  enfer  et  enserree. 

Qui  bien  te  sert, 
II  en  desiert 
Son  luec  en  la  contree, 
Que  eil  hauront, 
Qui  bien  t'auront 
Seruie  et  honoree. 


Doce  dame  que  dieu  portas, 
Que  de  ton  saynt  layt  l'alaytas, 
Virge  fus  et  uirge  enfantas, 
Por  ta  niisericorde 
A  ton  fil  nos  acorde. 

Si  por  toy  n'iemes  acorde, 
Moult  en  seront  descorde 
Noz  cuers  qui  sunt  mal  acorde, 
Si  tu  ne  les  acordes, 
Fontayne  de  concorde. 

Sayntisme  pucele, 
Gente  de  fayture, 
Gentis  damaysele, 
De  la  grant  ardure 
D'enfer,  que  toz  iorz  dure, 

Defendez  nos  armes 
Et  metez  a  uie, 
Qui  sus  totes  dames 
Auez  segnorie, 
Dame  saynte  Marie. 


m. 

La  uirge,   en    cuy  j'ay  m'esperance, 
Volo  laudare  carmine, 
Quar  lo  fil  dieu,  90  est  ma  creance, 
Concepit  sine  semine, 
Qui  nos  redemit  sanguine, 
Quant  il  fu  mis  en  la  balance 
Crucis  pro  nostro  crimine, 
O  il  morit  a  grant  uitance. 

La  uirge,  90  dit  l'escripture, 
Tunc  stabat  ante  filium, 
Quant  il  sofrit  mort  et  laydure 
Propter  salutem  gentium  : 
Vere  dolorem  nimium 
Soffrit  la  uirge  nepte,  pure, 
Quant  uidit  per  martirium 
En  croyz  pendre  sa  porteüre. 

He  dieux!  qui  bien  porroyt  entendrc, 
Quantos  dolores  habuit, 
Quant  e[n]  la  croyz  uit  son  fil  pendre, 


266  Trois  vieux  poemes 

Quem  uirgo  mater  genuit. 

Vere  miraculum  fuit, 

Quant  li   syens  cuers  se  cuit  de  fendre, 

De  mal  tantum  sustinuit, 

Quant  a  son  fil  uit  l'arme  rendre. 

[B]yen  fu  en  la  uirge  aconplie 
Prophetia  Symeonis, 
Qua  dist  de  la  uirge  Marie 
In  die  purgationis, 
Quod  gladio  passionis 
Sera  sa  saynte  char  parcee. 
Mucrone  dilectionis 
Fu  la  uirge  martiriee. 

Toz  iorz  deuroyt  estre  nouele 
Homini  Christi  passio 
Et  li  deaus  que  fit  la  pucele 
Ante  crucem  pro  filio. 
Purgemus  nos  a  uitio 
Et  saluons  souent  la  bele: 
Non  defraudatur  praemio 
Qui  docement  de  euer  l'apele. 

A  la  uirge  plena  de  grace 
Debemus  omnes  credere 
Et  li  prier  qu'ela  nos  face 
Sic  in  hoc  mundo  uiuere 
Et  sie  mores  corrigere, 
Que  deables  ne  nos  enlacce, 
Vt  possimus  euadere 
Enfer,  o  est  la  froyde  glace. 

Or  te  prions,  uirge  Marie, 
Qui  (sie!)  iam  regnas  in  superis, 
Que  tu  nos  soyes  en  aye 
In  die  nostri  funeris. 
Virgo,  succurre  raiseris, 
Que  Sathan  ne  hayt  en  nos  ballie; 
Libera  nos  ab  inferis 
Et  nos  met  en  ta  conpagnie! 

Chant,  uay  t'en  a  may[s]tre  Nichole 
Et  die  aperto  carmine, 
Qu'il  ne -chant  mays  chant  de  corole, 
Quia  non  caret  crimine. 


en  l'honneur  de  la  Sainte-Vierge. 

Sed  de  beata  uirgine 
la  ne  perdra  pas  sa  parole 
Atqiie  de  Christo  homine, 
Qui  per  toz  nos  la  croyz  acole. 


2G; 


IV.') 

Dame   deu  est   en   haute   gloire, 
Loenge  et  iiertii  et  uitoire. 
Et  pais  est  as  homes  del  mont 
En  terre  que  bon  uoloir  ont. 
Beau  sire  deu,  nos  te  loons, 
Sire,  nos  te  beneissons, 
Nos  t'aorons  glorefiant, 
Por  ta  gloire  graces  rendant, 
Dex  sire,  reis  celestiaus, 
Peres  poissans,  esperitaus. 

L'aignel  de  deu,  fill  del   Saint  pere, 
Qui  des  pechies  yes  saluierre, 
Beau  sire  aies  dex  pitie, 
Qui  esfaces  iniquite: 
Qui  fas  as  pecheors  pardon, 
Dex  recei  la  nostre  oreison: 
Qui  a  destre  ton  pere  sies, 
Esface  et  oste  noz  pechies. 
Car  tu  es  sains  tant  solement, 
E  tu  yes  sire  senglement, 
Et  [Ih]esus  sol  yes  sans  mentir, 
Et  le  pere  et  le  saint  espir. 


Pere   nostre  qui  es  es  ciels, 
Le  tien  nom  soit  saintifies. 
Uiegne  tez  parmanables  regnes, 
Que    tu   touz    tens    mais    sur   nos    regnes, 
Que  ton  uoloir  plenierement 
Faisomes  tuit  comunalment. 
Done  nos  pain  de  sostenance, 
De  dotrine  et  de  penitance, 
Pain  del  sacrement  de  l'autel 


*)  Nous  y  ajoutons  quatre  petits  poemes  du  XIII.  siede,  qui  se  trouvent 
dans  le  manuscrit  Nro.  8177  de  la  bibl.  imperiale,  h.  la  suite  des  psaumes 
de   David,  en  vieux  fran9ais  du  meme  sifecle. 


Trois  vieux  poemes. 

Qui    nos    guart    de    pechie    mortel. 

Fai  nos  de  noz  pechies  pardom, 

Si  con  nos  a  autrui  pardonora. 

Fai  que  pechie  ne  nos  enyure, 

Et  de  trestouz  mal  nos  deliure. 

Done  nos  yces  set  requestes, 

Qui   trestouz    autres   biens    nos   prestes. 


VI. 

le  crei  en  deu  de  gloire,  le  pere  tout  poissant, 
Qui  crea  ciel  et  terre  et  toute  rien  uiuant. 
En  Ihesu  Crist  son  fill,  qui  en  terz-e  nasquit 
De  Marie  la  uirge  per  le  saint  esperit. 
Qui  SOS  Ponce  Pylate  por  nos  tant  mal  sofri, 
Batus,  crucefies,  mors  et  enceuelis, 
En  enfer  descendis,  au  tiers  ior  resuresis. 
Et  en  geta  les  armes  o  soi  de  scs  amis, 
E  la  destre  son  pere  monta  en  paradis, 
Qui  uendra  a  iuger  et  les  mors  et  les  uis. 
le  croi  el  fill,  el  pere,  et  el  saint  esperit. 
le  crei  que  sainte  yglize  fu,  est  et  yert  tos  dis. 
le  crei  el  uerai  cors  de  Ihesu  Crist,  ton  fiz. 
le  crei  que  tu  pardones  pechies  as  repentis. 
le  crei  que  ceste  char,  que  nos  auons  meisme, 
Resuresuteron  nos  tuit  al  ior  del    iuise, 
Et  que  li  bon  seront  en  uie  pardurable, 
Et  li  mauais  toz  tens  en  paine  pardurable. 
Amen ,   si    com   ie   croi   soit  ferm   et 


VII. 

Dex  t'esaut  et  henort,  dame    sainte    Marie, 
De  grace,  de  docor,  de  touz  biens  replenie. 
Nostre  sire  est  o  toi  dex  qui  te  saintefie. 
Sur  toutes   autres  fernes   yes   sainte  et  beneye. 
Et  benois  soit  tez  fiz  Ihesu  Crist,  nostre  uie! 

Julius  Wollenberg. 


Hamlet, 

eine    Schicksalstragödie. 


Zeigt  sich  der  Glückliche  mir,   ich  vergesse  die  Götter 
des  Himmels ; 
Aber  sie  stehn  vor   mir,    wenn  ich   den  Leidenden 
seh'. 

Schiller. 

Es  haben  die  Bücher  und  Büchlein  ihre  Schicksale,  die 
ihnen  oft  verhängnissvoll  genug  ihr  Titel  bestimmt.  So  dürfte 
auch  die  Ueberschrift,  welche  ich  diesem  Aufsatze  gegeben  habe, 
in  doppelter  Hinsicht  den  Leser  mit  so  grossem  Misstrauen 
gegen  den  Inhalt  erfüllen,  dass  er  ihn  unbedenklich  aus  der 
Hand  legte  und  seine  Zeit  einem  Gegenstande  widmete,  der 
ihm  mehr  Ausbeute  für  die  Mühe  des  Lesens  verspräche.  Hamlet 
—  eine  Schicksalstragödie!  Und  auch  überhaupt  —  Hamlet! 
Scheint  es  doch ,  als  ob  man  im  Hinblick  auf  die  betreffende 
Literatur  nunmehr  unwillig  ausrufen  könnte :  Hamlet  und  kein 
Ende!  Wie  Jeder,  der,  mit  einiger  Bildung  und  einem  ge- 
wissen natürlichen  Gefühl  ausgerüstet,  heutzutage  eine  Reise 
nach  Italien  macht,  uns  Bücher  oder  wenigstens  unvermeidliche 
Journalartikel  von  dorther  sendet,  so  werden  die  Leser  unserer 
Shakspeare,  Schiller,  Goethe  u.  s.  w.,  ehe  man  sich  dessen  ver- 
sieht, zu  Schriftstellern.  Besonders  nun  ist  die  Hamletliteratur 
zu  einer  Masse  angewachsen ,  die  sich  schon  schwer  übersehen 
und  noch  schwerer  in  einen  kritisch  gesichteten  Zusammenhang 
bringen  lässt.  Indessen  ein  jedes  ächte  Kunstwerk  ist  uner- 
schöpflich. Eine  neue  Betrachtung  ist  an  sich  inmierdar  erlaubt, 
weil  der  Kest,  welcher  bei  der  jedes  Mal  angestellten  Unter- 
suchung übrig  bleibt,  immer  wieder  den  kritischen  Verstand 
auÖbrdert,  ein  Minimum  daraus  zu  machen.    Freilich  gilt  dieses 


270  Hamlet. 

nur  von  den  grössten  Kunstwerken,  von  denen,  welche  die  Natur 
dergestalt  abspiegeln,  dass  der  denkende  Geist  sie  in  ihnen  wie- 
derfindet, nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  er,  gebannt,  wie  in 
einem  Zauberkreise,  die  ewigen  Ideen  ungestörter  darin  anschaut, 
während  ihn  die  Wirklichkeit  zerstreut  und  dem  schweifenden 
Gedanken  nicht  gleichsam  ein  Haus  bietet,  in  welchem  er  wohnen 
kann,  um  der  Arbeit  des  philosophischen  Erkennens  mit  um  so 
grösserem  Erfolge  nachzugehen.  Daraus  ergiebt  sich,  dass, 
wie  jeder  Mensch  und  jede  Zeit ,  ihr  besonderes  Verhältniss  zu 
den  Ideen  haben,  so  auch  jedes  Kunstwerk,  welches  uns  diese 
wahrhaft  vergegenwärtigt,  eine  verschiedene  Stellung  je  nach 
der  Beschaffenheit  der  Individuen  wie  des  jedesmaligen  Zeit- 
alters einnehmen  wird.  Es  erweist  sich  auch,  wie  wir  sehen, 
jedes  Werk  der  wirklichen  Kunst,  fruchtbar  für  alle  philoso- 
phischen Systeme,  wie  sie  der  Reihe  nach  im  Laufe  der  Zeiten 
aufgestellt  worden  sind.  Die  Zeit,  in  welcher  das  Verständniss 
für  die  erhabensten  Schöpfungen  des  menschlichen  Geistes  ent- 
weder mangelhaft  oder  völlig  verloren  gegangen  ist,  beweist 
eben  dadurch  ihre  Unfähigkeit,  die  Ideen  als  die  Urbilder  der 
Dinge  zu  erkennen.  In  dieser  Beziehung  ist  gerade  die  Ge- 
schichte des  Verständnisses,  welches  Hamlet  seit  seiner  Ent- 
stehung gefunden  hat,  äusserst  lehrreich.  Der  Mangel  an  phi- 
losophischer Erkenntniss  geht  immer  mit  dem  einer  Betrachtung, 
die  in  die  Tiefen  der  Kunstwerke  dringt,  Hand  in  Hand.  Wer 
freilich  nur  das  Sinnliche  auffassend  oder  noch  als  Zugabe  hier 
und  da  eine  moralische  Sentenz  zur  obligaten  Veredlung  des 
inneren  Menschen  mit  in  den  Kauf  nehmend  wie  der  Wirklich- 
keit so  auch  der  Kunst  gegenüber  sich  verhält,  wie  könnten 
wir  dem  ein  gewisses  Verständniss  absprechen?  Es  wäre  ja 
so,  als  ob  wir  von  dem,  der  sich  gut  nährt  und  kleidet,  sagen 
wollten,  dass  er  noch  nicht  lebt.  — 

Ich  weiss  nicht,  ob  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  beur- 
theilt,  der  Beifall,  welchen  unser  Zeitalter  der  Biographie  Göthe's 
von  der  Hand  eines  gewissen  Engländers  gezollt  hat,  zu  Gunsten 
der  Krönenden  wie  des  Gekrönten  spricht.  Jedenfalls  steht  mir 
fest,  dass,  wenn  wir  Deutsche  da  in  der  Beurtheilung  Shak- 
speare's  stehen  geblieben  wären ,  wo  Lewes  für  gut  befindet, 
die  Betrachtung  einzelner  Göthe'scher  Werke  abzubrechen,  das 


Hamlet.  271 

Verständniss  eines  Gedichtes  wie  Hamlet  vielleicht  überhaupt 
nicht  viel  weiter  gediehen  wäre  als  in  Voltaire's  Geiste,  der 
dieses  tiefsinnigste  Produkt  des  Dichterkönigs  für  das  Werk 
eines  Wilden  erklärte,  dessen  Phantasie  dabei  in  der  Irre  ge- 
gangen wäre.  Der  Deutsche  hat  die  freilich  mitunter  unbe- 
queme Gewohnheit,  in  die  Tiefe  zu  gehen.  Wenn  die  Vertreter 
anderer  Nationen  mit  der  Betrachtung  von  Kunstwerken  lange 
fertig  sind  und  es  glücklich  dahin  gebracht  haben ,  dass 
ihnen  ihr  eigenes  oft  genug  einfältiges  Angesicht  daraus  ent- 
gegenlächelt, sind  wir  es  an  dem  deutschen  Forschergeist  ge- 
wohnt, dass  er,  wo  jene  müde  werden,  noch  immer  das  Alp- 
horn aus  der  Heimath  der  Ideen  klingen  hört ,  das  ihn  zurück- 
ruft und  antreibt,  des  Suchens  nicht  müde  zu  werden.   — 

Diese  allgemeine  Beziehung  auf  ihren  idealen  Gehalt  ist  es 
also,  welche  die  Schöpfungen  der  Kunst  zu  einem  Gegenstande 
der  Betrachtung  für  jede  Zeit  macht.  Davon  verschieden  ist 
die  allegorische  Bedeutung,  die  jedes  Kunstwerk  mehr  oder 
minder  hat;  man  kann  sie  auch  die  symbolische  oder  divina- 
torische  nennen.  Sie  beruht  auf  der  Analogie  gewisser  Verhält- 
nisse, die  in  dem  Kunstwerke  zur  Darstellung  kommen,  mit 
zufälligen  Umständen  der  Zeit  oder  mit  besondern  Eigenthüm- 
lichkeiten  der  Individuen.  Die  symbolische  Auftassungsweise 
ist  daher  untergeordnet.  Sie  lässt  der  Willkür  einen  zu  weiten 
Spielraum ,  weil  sie  nicht  das ,  was  e\\  ig  und  immer  dasselbe 
ist,  zum  Gegenstande  hat,  wie  die  Platonischen  Ideen,  sondern 
das,  was  der  Zeit  und  ihrer  Vergänglichkeit  angehört.  Ich  gebe 
darum  nicht  zu  viel  auf  die  Deutungen  und  Deuteleien ,  die 
man  unserem  Hamlet  gegenüber  vorgenommen  hat,  wenn  ich 
auch  nicht  leugne,  dass  sie  wirksam  sind,  auf  das  Schwache 
und  Mangelhafte  bestimmter  Zustände  aufmerksam  zu  machen, 
weil  sie  uns  hier  im  Bilde  ausser  uns  gegenüberstehen. 

Die  allegorischen  Beziehungen ,  die  man  im  Hamlet  ge- 
funden hat,  lassen  sich  etwa  auf  drei  Punkte  zurückführen:  auf 
den  Charakter  des  Helden,  auf  sein  besonderes  Verhältniss  zu 
dem  Geiste  seines  Vaters  und  auf  einzelne  Aeusserungen,  denen 
man  eine  prophetische  Bedeutung  für  unsere  Zeit  gegeben  hat. 
In  erster  Beziehung  dürft'  es  am  Orte  sein,  an  die  Briefsamm- 
lungen zu  erinnern,  welche  in  unseren  Tagen  so  überaus  zahl- 


272  Hamlet 

reich  erscheinen  und  zu  einer  Vergleichung  aufzufordern  zwischen 
den  Enthüllungen  von  Gemüthszuständen,  die  dort  gegeben 
werden,  mit  Aussprüchen  Hamlets.  Es  wird  sich  dann  von 
neuem  zeigen,  ein  wie  tiefer  Seelenkenner  Shakspeare  ist.  In 
Briefen  theilt  sich  ja  der  Mensch  am  unbefangensten  mit ;  hier 
liegt  seine  Seele  offen.  Es  ist  mir  nun  begegnet,  dass  ich  oft 
auf  die  merkwürdige  Uebereinstimmung  aufmerksam  wurde, 
die  z.  B.  in  den  Briefen  des  unglücklichen  Heinrich  von  Kleist 
mit  Aeusserungen  des  Dänenprinzen  sich  findet,  ohne  dass  ich 
doch  genöthigt  gewesen  wäre,  darin  nur  Reminiscenzen  zu  sehen. 
So  dass  ich  den  Schluss  machen  möchte,  dass,  wenn  der  Un- 
tergang Hamlets  in  seinen  Gründen  uns  klar  ist,  dieses  auch 
mit  dem  Geschicke  jenes  Dichters  der  Fall  ist. 

Dass  Hamlet  und  sein  Geschick  vielfach  auf  den  Cha- 
rakter der  deutschen  Nation  gedeutet  ist,  liegt  eigentlich  zu 
nahe,  als  dass  ich  es  erwähnen  dürfte.  Was  die  Erscheinung 
des  Geistes  betrifft,  so  hat  sie  für  uns,  wenn  wir  uns  immer 
noch  mit  Hamlet  als  die  Epigonen  einer  grossen  Vergangenheit 
betrachten  wollen,  den  Sinn,  dass  sich  auch  für  uns  der  Geist 
edler  Vorfahren  aufrichtet  in  der  Dämmerung  einer  besseren 
Zeit  mit  dem  Mahnruf,  das  Vermächtnis  s  der  Vergangenheit 
treu  zu  verwalten  und  an  eine  glücklichere  Generation  zu  über- 
liefern. In  der  Verwaltung  dieser  Pflicht  dürfen  wir  uns  dann 
Hamlet  nicht  zum  Muster  nehmen. 

Um  die  Ilinweisung  auf  diese  symbolischen  Beziehungen 
zu  beendigen,  führ'  ich  eine  Aeusserung  Hamlets  zu  Horatio 
an,  die  mir  treffender  als  es  sonst  irgendwo  geschehen  ist,  das 
Halbe  und  Erlogene  in  manchen  Zuständen  der  modernen  Bil- 
dung und  Gesellschaft  abzumalen  scheint.  Sie  bezieht  sich  zu- 
nächst auf  Osorik,  den  würdigen  Nachfolger  des  Polonius ,  und 
lautet:  „Er  machte  Umstände  mit  seiner  Mutter. Brust ,  eh  er 
daran  sog.  Auf  diese  Art  hat  er,  und  viele  Andre  von  dem- 
selben Schlage,  in  die  das  schale  Zeitalter  verliebt  ist,  nur  den 
Ton  der  Mode  und  den  äusserlichen  Schein  der  Unterhaltung 
erhascht:  eine  Art  von  aufbrausender  Mischung,  die  sie  durch 
die  blödesten  und  gesichtetsten  Urtheile  mitten  hindurch  führt; 
aber  man  treibe  sie  nur  zu  näherer  Prüfung  und  die  Blasen 
platzen." 


Hamlet.  273 

In  der  von  Jahr  zu  Jahr  sich  mehrenden  Shakspeare- 
literatur  nehmen,  wie  gesagt,  die  Besprechungen  des  Hamlet 
den  bei  weitem  grössten  Kaum  ein.  Es  tritt  also  das  Bedürf- 
niss  ein,  das  Gute  von  dem  Schlechten  auch  auf  diesem  Ge- 
biete zu  sondern  und  vereinzelte  Beobachtungen,  welche  die 
Sache  treffen,  zu  sammeln  und  in  Beziehung  zu  der  das  Ganze 
leitenden  Idee  zu  setzen.  Ich  kann  mich  hier  nur  auf  die  Er- 
wähnung der  hervorragendsten  und  wichtigsten  Erscheinungen 
der  betreffenden  Literatur  beschränken.  Es  genügt,  wenn  ich 
angebe,  weshalb  ich  es  für  nöthig  halte,  nachdem  ein  Göthe 
und  Gervinus  sich  über  diesen  Gegenstand  haben  vernehmen 
lassen,  denselben  von  neuem  aufzunehmen. 

Es  ist  bekannt,  wie  lange  unser  Hamlet  auch  als  Tragödie 
von  Shakspeare  in  der  Welt  herumirren  musste,  ehe  er  das- 
jenige Verständniss  fand,  welches  ihm  gebührte.  Gemahnt  uns 
doch  das  oben  angeführte  Urtheil  Voltaire's  an  manche  thörichte 
Kedeweise,  mit  welcher  in  dem  Stücke  selbst  Polonius  und 
seines  Gleichen  dem  verkannten  Prinzen  begegnen.  Gewiss  ist 
zu  Shakspeare's  Zeit  selbst  die  richtige  Einsicht  in  das  Trauer- 
spiel vorhanden  gewesen,  wenn  man  den  Schilderungnn  trauen 
darf,  die  uns  von  der  Darstellung  Shakspeare'scher  Kollen  durch 
den  Schauspieler  Burbadge  gemacht  werden.  Es  lässt  sich  an- 
nehmen, dass  ein  Publikum  und  ein  Theater,  welche ,  wie  wir 
wissen,  den  übrigen  Schauspielern  Shakspeare's  eine  im  Ganzen 
ausreichende  Gerechtigkeit  bewiesen,  auch  in  Hamlet  mehr  sah 
als  ein  buntes  Durcheinander  von  Geistererscheinungen ,  philo- 
sophischen Betrachtungen  und  Mordthaten.  Ein  tieferes  Ver- 
ständniss von  Seiten  der  damaligen  Zeit  lässt  sich  sogar  mit 
einiger  Sicherheit  aus  zwei  besonderen  Gründen  annehmen. 
Einmal  konnte  der  persönliche  Einfluss  des  Dichters  selbst  auf 
die  Einsicht  der  Schauspieler  und  dadurch  des  Publikums  wirken. 
Das  Stück  ist  in  den  ersten  Jahren  des  17.  Jahrhunderts  ge- 
schrieben, bald  nach  dem  Tode  seines  Sohnes  Hamlet  1596, 
ein  Umstand,  welcher,  zusammengehalten  mit  dem  6G.  Sonett, 
einen  pathologischen  Antheil  des  Dichters  an  der  Tragödie  mit 
Recht  vermuthen  lässt.  Ich  verweise  in  Bezug  auf  die  übrigen 
Zeitverhältnisse,  welche  die  Abfassung  begleiteten,  auf  Ger- 
vinus.     Den    anderen    (irund    bctreffeiul ,     ist     neuerdings    im 

Archiv  f.  II.  Sprachen.  XXVII.  18 


274  Hamlet. 

deutschen  Museum  von  Prutz  die  HyjDotliese  aufgestellt  worden 
(in  diesen  Blättern  von  K.  Silberschlag) ,  dass  der  Dichter 
wohl  durch  den  Charakter  und  das  Geschick  Jakobs  I.  (1603 
bis  1625)  auf  die  Conception  seines  Hamlet  könnte  geführt 
worden  sein.  Wenn  dem  so  ist,  so  sehen  wir  auch  hier,  wie 
bei  Abfassung  des  tiefsinnigsten  Gedichts  zufällige  Umstände 
mitgewirkt  haben.  Dieselben  konnten  zugleich  einen  Anhalt 
zum  tieferen  Verständniss  abgeben,  welcher  der  späteren  Zeit 
verloren  gegangen  war.  Wie  weit  Garrick's  Auffassimg  richtig 
war,  muss  man  dahingestellt  sein  lassen.  Lichtenberg's  Bericht 
darüber  ist  zu  wenig  eingehend,  als  dass  wir  uns  daraus  ein 
Urtheil  bilden  könnten.  Möglich  ist  es  jedoch,  dass  selbst  ein 
80  grosser  Schauspieler  wie  Garrick  aus  diesem  Charakter  das 
machte,  was  ihm  beliebte.  Der  Reiz,  der  von  seiner  Darstel- 
lung ausging,  kann  deshalb  immer  noch  ein  gewaltiger  gewesen 
sein ;  denn  ganz  abgesehen  von  der  Kunst  des  Schauspielers, 
ist  Hamlet  ein  so  populäres  Stück  nicht  wegen  der  Antworten, 
die  er  auf  die  höchsten  Fragen  des  menschlichen  Geistes  er- 
theilt,  sondern  wegen  der  Spannung,  in  welcher  uns  die  Hand- 
lung trotz  des  Gedankenreichthums  der  Rede  erhält.  Auch 
hier  steht  er  auf  gleicher  Linie  mit  Göthe's  Faust,  von  dem 
der  Prolog  sagt:  wer  vieles  bi-ingt ,  wird  Manchem  etwas 
bringen. 

Das  wissenschaftliche  Verständniss  fand  Hamlet  erst  in 
Deutschland ,  wenn  man  diesen  Ausdruck  braucht ,  um  zu  be- 
zeichnen, dass  diese  Stimmung,  in  die  das  Gemüth  durch  ein 
Kunstwerk  versetzt  ist ,  auf  Begriffe  zurückgeführt  und  durch 
den  Hinweis  auf  die  leitende  Idee  die  einzelnen  Theile  des 
Ganzen  als  Glieder  eines  Organismus  zum  Bewusstsein  gebracht 
werden.  Ich  scheue  mich  nicht,  von  einer  leitenden  Idee  zu 
sprechen,  obwohl  ich  weiss ,  dass  diese  Wendung  bei  Manchen 
einen  gewissen  Verdacht  erregen  wird.  Deshalb  muss  ich  mich 
etwas  genauer  darüber  erklären.  Man  macht  den  Bemühungen 
der  Kunstrichter  gegenüber  häufig  den  Einwand,  dass  sie  den 
Dichtwerken  gewisse  allgemeine  Ideen  unterlegten ,  welche  ein 
Jeder  nach  Belieben  mit  andern  vertauschen  könnte ,  da  nicht 
einzusehen  wäre,  warum  man  dem  einen  versagen  sollte,  was 
man   dem   andern    zugestehe.      Eigentlich    bin   ich    diesem  Vor- 


Hamlet.  275 

Avurf  schon  oben  begegnet  durch  die  Unterscheidung  des  Ver- 
ständnisses einmal  aus  den  Ideen  und  dann  aus  der  allegorischen 
Auffassung.  Jener  Einwand  richtet  sich  juit  Grund  nur  gegen 
die  letztere,  wenn  sie  mit  der  Miene  eines  objectiven  Verhaltens 
an  die  Stelle  des  ersteren  tritt.  Jeder  wird  zugeben,  dass  es 
Ideen  von  solchem  Inhalt  und  zugleich  von  so  allgemeiner  Gel- 
tung giebt,  dass  der  menschliche  Geist  im  Laufe  der  Geschichte 
immer  wieder  darauf  zurückkommt.  Sie  stehen  gleichsam  als 
Marksteine  seines  Reiches  da,  über  welche  er  nicht  hinaus- 
gehen darf,  ohne  durch  diese  Ueberschreitung  seiner  Grenzen 
gewissermassen  eine  Kriegserklärung  gegen  höhere  Geister  ab- 
zugeben. Ich  verstehe  darunter  vorzugsweise  die  Platonischen 
Ideen,  wiewohl  diese  noch  eine  andere  Bedeutung  haben.  AVer 
nun  an  solche  Grundpfeiler  des  menschlichen  Denkens  die  Werke 
der  Kunst  anlehnt,  der  erlaubt  sich  nichts  A\'illkürliches,  der 
ist  nur  von  dem  Streben  beseelt,  den  Zusammenhang  des  Schönen 
und  Wahren  nachzuweisen. 

Derjenige  nun,  welcher  bis  jetzt  den  besten  Schlüssel  für 
das  Verständniss  des  Hamlet  gab,  ist  und  bleibt  nach  meiner 
Ansicht  Göthe  in  seinem  Wilhelm  Meister.  Ich  setze  das  Rai- 
sonnement  in  dem  genannten  Roman,  welches  diesen  Gegenstand 
betrifft,  als  bekannt  voraus.  Seitdem  ist  meines  Wissens  nichts 
geschehen,  das  dort  angebahnte  Verständniss  zu  vervollkommnen, 
vielmehr  hat  man,  statt  die  genialen  Andeutungen  des  deutschen 
Dichters  wissenschafthch  auszuführen  und  zu  begründen,  Alles 
gethan ,  um  die  richtige  Ansicht  Avieder  zu  verwirren.  Börnc's 
Aufsatz  über  Hamlet  ist  mit  feiner  Anempfindung  geschrieben 
und  entbehrt  nicht  einiger  sehr  dankenswerther  Winke,  im 
Ganzen  aber  unklar  und  eigentlich  ein  neues  Geständniss,  dass 
das  Gedicht  ein  Buch  mit  sieben  Siegeln  sei.  Besonders  aber 
muss  ich  gegen  die  Auffassung  von  Gervinus  protestiren,  wie- 
Avohl  ich  diese  Gelegenheit  nicht  versäumen  kann,  meiner  Hoch- 
achtung für  diesen  Mann  Ausdruck  zu  geben.  Ich  zähle  sein 
Werk  über  Shakspeare  zu  den  Büchern,  die  man  nie  auslesen 
sollte.  Es  führt  unser  Nachdenken  auf  geebneten  Wegen  zu 
den  reichsten  Entdeckungen.  Aber  —  man  wird  gut  thun,  auf 
dieser  Reise  noch  einen  Führer  mitzunehmen,  wenn  es  möglich 
ist  —  Apollo,    den   Gott    der  Dichter  selljst.     Dann    wird    man 


276  Hamlet. 

in  würdigem  Geleite  den  Einzug  halten  in  das  Reich  des  Dich- 
terkönigs. Gervinus  ist  zu  häufig  mehr  Moralist  als  Aesthe- 
tiker.  Er  behandelt  seinen  Leser  auch  bei  Besprechung  des 
Hamlet  wie  ein  Vater  seinen  Sohn ;  er  belehrt  uns ,  statt  von 
seiner  Hinweisung  auf  das  Schöne  den  Erfolg  abzuwarten,  dass 
wir  uns  selbst  belehren.  Indem  er  überall  den  Gewinn  im 
Auge  hat,  den  die  Lektüre  Shakspeare's  für  das  praktische 
Leben  absetzen  soll,  wählt  er  die  Gesichtspunkte  in  seiner  Ab- 
handlung über  Hamlet  so,  dass  das  ganze  Stück  in  eine  Be- 
leuchtung tritt,  welche  der  Dichter  zunächst  nicht  beabsichtigt 
haben  kann.  Er  stellt  Reflexionen  an,  ehe  noch  die  anschau- 
ende Phantasie  zu  ihrem  Rechte  gekommen  ist.  Nun  hat  aber 
der  Kritiker  die  Aufgabe ,  auch  auf  diese  durch  entsprechende 
Mittel  zu  wirken.  Auch  ich  kann  die  ethische  Betrachtung 
nicht  von  den  ästhetischen  trennen,  aber  der  Uebergang  muss 
in  der  Kritik  eben  so  allmählich  gemacht  werden  wie  er  in  Wirk- 
lichkeit ist.  Ja,  der  Kritiker  hat  das  eben  so  schöne  wie  schwie- 
i'ige  Geschäft,  vermittelnd  zwischen  Kunst  und  Wirklichkeit 
aufzutreten.  Am  wenigsten  darf  er  den  Weg,  welchen  der 
Dichter  uns  führen  will,  durch  irgend  eine  Ermahnung  ab- 
kürzen, dass  wir  ermüden  oder  uns  verirren  könnten. 

Nach  dem  Bisherigen  ist  nun  meine  Aufgabe,  nachzuweisen, 
wie  das  Richtige,  was  namentlich  von  Göthe  über  Hamlet  ge- 
sagt worden  ist,  in  Uebereinstimmung  mit  der  diese  Tragödie 
leitenden  Grundidee  steht,  welche,  wie  ich  glaube,  noch  nicht 
mit  derjenigen  Schärfe  angegeben  ist,  deren  es  bedürfte,  um 
sie  zu  einem  wissenschaftlichen  Erwerb  zu  machen.  Unter 
einem  solchen  verstehe  ich  in  diesem  Fall  einen  neuen  Zuwachs, 
den  die  Theorie  der  Tragödie  überhaupt  erhält.  Dabei  werd' 
ich  nicht  umhin  können,  die  Vergleichung  mit  den  anerkannt 
vorzüglichsten  Kunstwerken  dieser  Gattung  herbeizuziehen. 

Ich  gehe  von  dem  Satz  aus,  dass  die  Tragödie  überhaupt 
im  Wesentlichen  es  mit  dem  leidenden  Menschen  zu  thun  hat. 
Diese  Bestimmung  scheint  mir  völlig  ausreichend. 

Sehen  wir  darauf  zunächst   den  Charakter   des  Hamlet  an. 
Ich   fasse    die    Grundzüge    desselben    in    folgende   Bestim- 
mungen zusammen:  er  ist  Ideahst,    er  ist  Zweifler,    er   ist  ehr- 


Hamlet.  277 

geizig,  er  ist    in    der   Gesinnung  edel    und    es    fehlt    ihm  nach 
Göthe's    Ausdruck   an    der  sinnlichen  Stärke   des    Helden. 

Er  ist  Idealist.  Mit  dieser  Eigenschaft  sondert  er  sich  aus 
seiner  Umgebung  völlig  aus.  Sein  Gefolge  ist  abscheulich. 
Warum  dieses?  Er  hat  den  Unterschied  dessen  erkannt,  was 
sein  soll  und  was  nicht  sein  soll.  Er  hat  die  Sonne  zu  sehr 
lieb  und  die  Sterne.  Sein  Blick  ist  tiefer  gedrungen  in  das 
Wesen  der  Dinge  als  alle  die,  welche  ihm  zur  Seite  stehen, 
mit  denen  er  sogar  im  Umgange  steht,  Horatio  nicht  ausge- 
nommen. Auch  dieser,  welcher  ihm  am  nächsten  steht  in  der 
Erkenntniss  der  Ideen,  drückt  sich  den  derben  Kriegern  gegen- 
über philosophisch  genug  aus.  Auf  die  Frage ,  ob  er  da  sei, 
antwortet  er:  „ein  Stück  von  ihm,"  als  ob  ihm  das  Fichte'sche 
Ich  vorschwebte,  das  ja,  indem  es  die  Dinge  erst  werden  lässt, 
gewissermassen  mit  diesen  immer  ein  anderes  wird.  Aber  — 
er  hängt  doch  nicht  so  an  der  idealen  Welt,  dass  sie  ihn  in 
Conflict  mit  .der  realen  bringt.  Was  ihm  in  dieser  Widriges 
begegnet,  ist  nur  „ein  Stäubchen,  des  Geistes  Aug'  zu  trüben." 
Wie  anders  Hamlet !  Ihm  ist  das  Stäubchen  eine  rudis  indi- 
gestaque  moles,  weil  er,  geboren  für  eine  andere  Welt,  in  dieser 
sich  nicht  zurecht  finden  kann.  Darum  bedauert  er,  dass  er 
doch  an  das  unfreundliche  Gestade  dieses  Lebens  ausgesetzt 
ist.  Er  drückt  sich  immer  bildlich  aus,  weil  er  in  dem  Wahne 
lebt,  dass  die  Ideen  überall,  wo  er  sich  befindet,  sich  verwirk- 
licht zeigen  müssten.  Es  spricht  sich  in  dieser  Ueberfülle  der 
Phantasie  die  Sehnsucht  nach  der  Fassbarkeit  des  Idealen  aus. 
Er  liebt  die  Einsamkeit ,  weil  er  hier  seiner  amabilis  insania 
ungestört  nachgehen  kann ,  und  wenn  er  mit  anderen  die  Luft 
theilen  muss,  ist  er  entweder  ironisch  oder  nimmt  die  Gelegen- 
heit wahr,  sich  in  längeren  Reden  zu  expectoriren.  Dieses  ist 
der  Fall  gleich  in  der  ersten  Scene  seines  Auftretens  im  An- 
gesichte des  versammelten  Hofes.  Der  Ort  ist  unpassend  genug, 
aber  der  innere  Drang  noch  lebhafter.  Was  ist  Wahrheit,  was 
ist  Schein? —  Diese  brennende  Frage  schwebt  auf  seinem  Munde 
das  ganze  Stück  hindurch.  Denn  die  Antworten  des  hausbackenen 
Verstandes  genügen  ihm  eben  so  wenig  wie  die  praktische 
Lebensweisheit,  welche  Horatio  zur  Richtschnur  seines  Han- 
delns   gemacht    zu    haben    scheint.      Nun    aber  —    was    seine 


278  Hamlet. 

Ironie  betrifft,  es  ist  sonderbar,  zu  welchen  Erklärungen  sie 
tlcnjenigen  Veranlassung  gegeben  hat,  die  davon  nichts  verstehen. 
Noch  mehr  Verwunderung  muss  es  freilich  erregen,wenn  Ger- 
vinus  dem  Schatten  des  ehrwürdigen  Brutus  keine  Ruhe  lässt,  um 
Hamlet's  Wahnsinn  zu  erklären.  Es  hat  einmal  in  der  Geschichte 
Jemand  gelebt,  haben  wir  in  der  Schule  alle  gelernt,  der  sich  wahn- 
sinnig stellte,  um  durch  den  Schein  der  Thorheit  sich  vor  Nachstel- 
lungen feindlicher  Machthaber  zu  sichern.  Ich  glaube,  Solon  that 
es  auch  in  ähnlichem  Falle.  Was  hat  dieses  mit  Hamlet's  ver- 
stelltem Wahnsinn  zu  thun?  Als  ob  es  bei  Hamlet  überhaupt 
noch  des  Vorsatzes  bedürfte,  sich  wahnsinnig  zu  stellen,  nach- 
dem der  Geist  mit  ihm  geredet  hat.  Brutus  that  es  mit  völliger 
Ueberlegung.  Bei  Hamlet  ist  dieses  der  erste  Schritt  des  Wahn- 
sinns selbst.  Freilich  auch  der  letzte.  Denn  er  streift  hier  die 
Grenze  des  Wahnsinns,  wo  sich  seine  Einbildung  in  der  höch- 
sten Verzückung  befindet.  Es  ist  hier  nicht  die  Stelle,  auf  den 
Zusammenhang  näher  einzugehen,  in  welchem  der  Wahnsinn 
und  eine  vorzügliche  Fähigkeit  stehen,  die  Ideen  zu  schauen. 
Nur  so  viel  sei  gesagt,  dass  Shakspeare  hier  mit  einem  Meister- 
zuge uns  die  Genialität  Hamlet's  vergegenwärtigt.  Ein  solcher 
Mensch  zeigt  sich  dann  am  wahrsten  in  Monologen.  Hier 
stört  ihn  Niemand.  Er  darf  dem  Zuge  seines  Inneren  folgen 
und  gleichsam  in  Gedichten  ausströmen,  was  er  leidet.  Von 
dieser  Seite  angesehen,  erscheint  der  von  ihm  angenommene 
Wahnsinn  als  ein  Bedürfniss ,  fortdauernd  in  Selbstgesprächen 
zu  reden,  auch  in  Gegenwart  anderer.  Wir  sehen,  wie  er  sich 
mit  einer  gewissen  Angst  bemüht,  auszuweichen,  wenn  das  Ge- 
spräch sich  auf  alltägliche  Dinge  wendet.  Er  will  lieber  wahn- 
sinnig scheinen ,  als  die  Bemerkung  bestätigen ,  dass  heute 
schönes  Wetter  ist.  —  Woher  nun  dieser  bis  zum  Krankhaften 
gesteigerte  Idealismus,  der  Schlegel's  Ausdruck  hervorgerufen 
hat,  Hamlet  sei  ein  Gedankentrauerspiel? 

Hamlet  ist  Zweifler.  Er  sagt  einmal,  dass  Claudius  seinem 
Vater  ähnlich  sei  wie  er  dem  Herkules,  Hamlet  ist  als  Zweifler 
Herkules  am  Scheidewege,  aber  wenn  dieser  sich  entschliesst 
und  vorwärts  geht,  bleibt  er  eigentlich  immer  am  Scheidewege 
stehen.  Ihm  mangelt  die  Festigkeit,  die  nur  aus  dem  Glauben 
oder  —  um  mich  schulmässig   auszudrücken  —  aus   dem  Stu- 


Hamlet.  279 

diuni  der  systematischen  Philosophie  —  kommt.  Er  hätte  viel- 
leicht einmal  dazu  gelangen  können,  wenn  das  Schicksal  ihn 
nicht  mitten  aus  seinen  Studien  abgerufen  und  ihm  gerade  in 
dem  Augenblicke  eine  That  auferlegt  hätte,  welche  durchaus 
die  Uebereinstimmung  mit  sich  selbst  von  ihm  verlangte.  Hier 
prägt  sich  uns,  die  wir  ausserhalb  stehen ,  die  Lehre  ein,  dass 
es  durchaus  des  Glaubens  bedarf,  der  unbedingten  Ueberzeu- 
gung,  dass  das  reine  Denken  nur  die  Verzweiflung  oder  Ent- 
sagung zum  Gefolge  hat,  wenn  wir  den  Forderungen  der  Wirk- 
lichkeit genügen  und  handelnd  in's  Leben  treten  wollen.  In 
Hamlet's  Seele  selbst  muss  dieser  Gedanke  vor  der  überwäl- 
tigenden Macht  der  Schicksalsschläge,  die  ihn  treffen,  in  den 
Hintergrund  treten.  Wir  können  ihm  also  seine  Thatlosigkeit 
nicht  als  Schuld  anrechnen  und  ihn  höchstens  um  eines  Irr- 
thums  Avillen  bemitleiden,  den  er  begeht,  wenn  er  Metaphysik 
treibt,  wo  er  doch  die  Sachlage  vor  Augen  haben  sollte.*)  Aus 
dieser  metaphysischen  Grundstimmung  in  seinem  Auftreten  ist 
die  krankhafte  Richtung  zu  erklären,  die  sein  Idealismus  nimmt 
und  die  sich  namentlich  in  seiner  Ironie  zeigt.  Diese  dient  ihm 
zur  Waffe  gegen  überlästige  Besucher  und  Frager.  Gegen 
Horatio  wendet  er  sie  nicht  an.  Ihm  giebt  er  sich  offen  hin. 
Zugleich  —  von  tief  innen  sich  vollziehenden  Revolutionen  ist 
diese  Ironie  ein  Kennzeichen,  von  schweren  Seelenkämpfen,  die 
eben  aus  dem  Zweifel  entstehen.  Denn  dieser  ewige  Wider- 
spruch entsteht  ja  nur  aus  dem  Bedürfniss,  statt  des  Mangels 
an  positiver  Wahrheit  wenigstens  dem  Umwahren  das  Kleid 
und  den  Schein  der  Wahrheit  zu  leihen.  Mephistopheles  wird 
mit  Krone  und  Purpur  angethan,  da  die  Insignien  der  Herr- 
schaft doch  irgendwie  verwandt  werden  müssen.  Aber  —  Ham- 
let ist  aus  germanischem  Blut.  Sein  Zweifel  nimmt  nicht  den 
Charakter  der  Verneinung  alles  Positiven  an.  Der  Hohn  bildet 
einen  fremden  Tropfen  in  seinem  Blut.  Gleich  in  seinem  ersten 
Monologe  gedenkt  er  des  Höchsten,  der  sein  Gebot  gerichtet 
Mehr   die   Erfahrungen,  die    er  macht,    als 


•)  Ich  bemerke  hierbei ,  dass  die  von  Aristoteles  erwähnte  Reinigung 
der  Leidenschaften,  welche  die  Tragödie  zum  Zweck  hat,  nur  auf  den  Zu- 
schauer gehen  kann. 


280  Hamlet. 

seine  Natur  bringen  ihn  zu  der  Frage:  Sein  oder  Nichtsein? 
Dass  seine  Antwort  darauf  nicht  die  unbedingte  Bejahung  des 
Seins  wird,  Hegt  in  der  Stellung,  die  ihm  das  Geschick  ge- 
geben hat.  Er  sagt:  „Ich  habe  vor  kurzem,  ich  weiss  nicht 
wodurch,  alle  meine  Munterkeit  eingebüsst."  Er  möchte  gern  ein- 
stimmen in  den  eTubel  der  Freude ,  aber  er  sieht  diese  nur  in 
der  Gestalt  der  Selbstsucht  und  Avüsten  Schwelgerei  um  sich. 
Was  in  ihm  von  skeptischer  Ader  ist,  das  greift  wie  eine 
Feuersbrunst  um  sich,  die  das  Gebäude  seiner  Ideale  zu  Asche 
macht,  durch  die  Allgewalt  des  Schicksals.  Sein  Dualismus 
spricht  sich  besonders  in  dem  Schlussmonolog  des  zweiten 
Aktes  aus,  wo  fast  unwillkürlich  aus  der  Tiefe  seiner  Seele  ein 
Strom  von  Scheltworten  in  wahrhaft  dämonischer  Weise  gegen 
sein  eigenes  Selbst  heranbricht.  Ueberhaupt  muss  man  sich  hüten, 
das  persönlich  zu  verstehen ,  was  er  durchaus  allgemein  aus- 
spricht. Das  Sentenziöse  ist  bei  einer  solchen  Charakteranlage 
nicht  fehlerhaft.  Sonst  wäre  die  Klage  um  den  Uebermuth  der 
Aemter  im  Munde  eines  Prinzen  unnatürlich. 

Man  fragt  nun  mit  Recht:  wenn  Hamlet  durch  seine  An- 
lage und  das  Stadium ,  in  welchem  seine  Geistesentwicklung 
steht,  mehr  zur  stillen  Contemplation  als  zum  Hofleben  sich 
eignet,  warum  geht  er  nicht  nach  Wittenberg  zurück  und  giebt 
den  Bitten  der  Mutter  nach,  in  Dänemark  zu  bleiben?  Noch 
ist  ihm  der  Geist  nicht  erschienen.  I^r  kann  dort  der  Trauer 
wie  der  Philosophie  ungestörter  sich  hingeben.  Die  Rücksicht 
auf  sein  Verhältniss  zu  Ophelia  kann  die  Ursache  nicht  sein ; 
denn  nachdem  er  an  seiner  eigenen  JNIutter  erfahren ,  was  die 
Liebe  des  Weibes  zu  bedeuten  habe,  ist  er  darin  ein  eben  so 
guter  Philosoph  wie  schlechter  Empiriker,  dass  er  seine  allge- 
meinen Schlüsse  zu  frühe  thut  und  an  der  Liebe  des  Weibes 
überhaupt  zu  zweifeln  keinen  Anstand  nimmt.  „Schwachheit, 
dein  Nam'  ist  Weib."  Der  Grund  seines  Verweilens  muss 
anderswo  gesucht  werden.  Hamlet  ist  ehrgeizig.  Er  hat  einen 
unbestimmten  Drang,  sich  auszuzeichnen,  ja,  er  meint,  er  sei 
zur  Welt  gekommen,  sie,  die  aus  den  Fugen  kam,  wieder  ein- 
zurichten. Dieser  Trieb  zum  Ruhm  ist  es,  mit  welchem  er  an 
dieser  Welt  hängt.  Wem  konnten  sich  aber  bessere  Aussichten 
eröffnen,    seinen   Namen    bei   Mit-    und   Nachwelt    berühmt    zu 


Hamlet.  281 

machen,  als  einem  Prinzen,  auf  den  die  Hoffnung  der  ganzen 
Generation  gesetzt  ist?  Wenn  Spinoza  und  Schopenhauer  sich 
von  der  Welt  zurückziehen  und  nur  der  Beschauung  leben,  so 
könnte  man  Gründe  dafür  angeben,  die  an  die  Fabel  vom  Fuchs 
und  der  Traube  erinnern.  „Wie?  Hamlet  kann  die  Möglich- 
keit vor  sich  sehen,  ein  Idealreich  zu  begründen,  die  Vernunft 
als  Herrscherin  neben  seinen  Thron  zu  setzen  und  doch  zau- 
dern? Er  kann  die  Liebe  des  Volkes  für  sich  haben,  das  bei 
der  Wahl  des  neuen  Königs  nur  gezwungen  die  Regentschaft 
eines  Claudius,  „des  geflickten  Lumpenkönigs"  annahm,  er  kann 
die  Gewissheit  besitzen,  dass  dieser  ein  Verbrecher  ist,  und 
dennoch  sprechen  wir  ihm  Ehrgeiz  zu?  Ja,  er  mag  ehrgeizig 
sein,  aber  um  so  grössere  Verachtung  verdient  er,  wenn  er  diese 
Leidenschaft  nicht  zu  edlen  Zwecken  verwendet,  deren  Aus- 
führung ihm  so  nahe  liegt." 

Solchen  Einwänden  hab'  ich  zu  begegnen,  die  man  na- 
mentlich bei  Börne  finden  kann.  Ich  antworte  zunächst  mit 
Shakspeare's  eigenen  AVorten,  der  den  Ehrgeiz  so  definirt: 
„Diese  Träume  (Hamlet's)  sind  in  der  That  Ehrgeiz;  denn  das 
eigentliche  Wesen  des  Ehrgeizes  ist  nur  der  Schatten  eines 
Traumes."  Also  —  der  Träumer  Hamlet  ist  doch  ehrgeizig: 
je  träumerischer,  desto  ehrgeiziger.  Nur  dass  er  sich  bei  ihm 
nicht  wie  bei  anderen  Helden  in  siegreichen  Schlachten  kund 
giebt,  sondern  in  geistreichen  Reden  verpuflft,  in  Anweisungen 
an  Schauspieler,  die  den  Aristoteles  nicht  gelesen  haben,  in 
Reden  vor  seiner  Mutter,  noch  dazu  in  ihrem  Schlafgemach, 
in  Reden ,  wie  sie  besser  gesetzt  und  rhetorischer  aufgeputzt 
nicht  von  Demosthenes  und  Cicero  vor  dem  versammelten  Volke 
können  gehalten  sein! 

Wenn  die  Moral  doch  nicht  so  häufig  am  unrechten  Ort 
ihre  hausmütterlichen  Rechte  geltend  machte!  Ich  sehe  in  dem 
Allen  keine  Verschuldung,  im  Gegentlicil  nur  immer  neuen 
Grund  zum  Mitleiden.  Gerade  weil  Hamlet  Prinz  ist  und 
gerade  weil  er  die  höchsten  Aufforderungen  zum  Handeln  er- 
hält, darum  kommt  sein  Ehrgeiz  in  einen  acht  tragischen  Con- 
flict.  Denn  Avir  haben  gesehen,  dass  seine  ideale  Natur  und 
sein  philosophischer  Standpunkt  es  ihm  durchaus  unmöglich 
machen ,    sich   mit  den  Mitteln  zu    befassen ,    deren  er  benöthist 


282  Hamlet. 

ist,  um  sein  Werk  auszurichten,  als  da  sind:  Mord  des  Oheims 
und  VcröfFenthchung  der  Schande,  die  seine  eigene  Mutter  auf 
sich  geladen  hat.  In  dieser  Beziehung  liegt  der  Vergleich  mit 
Orest  nahe.  Dieser  kommt  vor  der  That  des  Muttermordes 
in  keinen  Zwiespalt,  weil  er  nicht  auf  die  Folgen  reflectirt:  das 
Gebot  der  Rache  des  Vaters  ist  ihm  heilig.  Hamlet  hat  mit 
der  Ammenmilch  das  Gebot  eingesogen:  die  Rache  ist  Mein, 
Ich  will  vergelten,  spricht  der  Herr.  Er  weiss,  dass  „jede  böse 
That  schon  ihren  eigenen  Racheengel  im  Mutterschoosse  trägt" 
und  überlässt  auch  Claudius  „den  Schlangen,  die  im  Busen 
ihm  stechend  wohnen."  Dass  ein  anderer  in  seinem  Falle  das 
Schwert  gebraucht  hätte,  ohne  ein  Unrecht  damit  zu  begehen, 
ist  noch  kein  Beweis  dafür,  dass  er  schuldig  an  Vernachläs- 
sigung irgend  einer  Pflicht  ist.  Wie  bedauernswerth  steht  er 
da!  Er  will  lieber  Unrecht  leiden,  als  thun.  Ja,  noch  mehr. 
Nicht  umsonst  werden  wir  mehr  als  einmal  an  die  Weihnachts- 
zeit erinnert,  in  welche  die  Handlung  fällt.  Abgesehen  von  dem 
erschütternden  Contrast,  in  den  dadurch  die  ringsum  verbreitete 
Zufriedenheit  des  kindlichen  Glaubens  mit  der  wühlerischen 
Skepsis  flamlet's  tritt  —  der  Stifter  des  Christenthums  hat  ja 
gelehrt:  Liebet  eure  Feinde!  Kann  Hamlet  seinen  Oheim  vom 
Throne  stürzen? 

Doch  angenommen,  er  könnte  seinen  Vater  rächen,  ohne 
sein  Gewissen  zu  beschweren  —  was  darf  er  sich  unter  den 
Umständen,  von  denen  seine  Erhebung  zum  Thron  begleitet 
wäre ,  für  einen  Erfolg  von  seiner  Regierung  versprechen  ? 
Es  widersteht  dem  Philosophen,  über  Sklaven  zu  herrschen. 
Er  kann  nicht  fassen,  wie  eine  Welt  möglich  ist,  in  der,  wie 
in  einem  wüsten  Garten  das  Unkraut,  Laster  und  Uebel  wuchern. 
Muss  er  nicht  von  seinem  Standpunkt  aus  einen  Herrscher  erst 
recht  als  einen  Sisyphus  ansehen?  Gerade  in  dem  Augenblick, 
wo  die  ganze  Entschiedenheit  einer  mit  dem  Leben  versöhnten 
Seele  nöthig  war,  ist  der  metaphysische  Hang  so  mächtig  in 
ihm  geworden,  dass  Alles,  was  ihm  begegnet,  sich  ihm  unter 
dem  Bilde  der  Sphinx  darstellt,  die  das  Räthsel  dieser  Welt 
ihm  aufgiebt.  Vielleicht  —  wenn  sein  Vater  zu  einer  andern 
Zeit  gestorben,  seine  Mutter  nicht  den  treulosen  Verrath  be- 
gangen und  Claudius  ihn  nicht  der   nächsten  Anrechte  auf  den 


Hamlet.  283 

Tluon  beraubt  hätte  —  sein  P^hrgeiz  würde  ihn  auf  dem  Thron 
zu  einem  Förderer  von  Kunst  und  Wissenschaft  gemacht  haben. 

So  kann  es  nicht  fehlen,  dass  sein  Ehrgeiz  in  der  Art  und 
Weise,  wie  er  hervortritt ,  mehr  nach  Eitelkeit  aussieht.  Er 
feiert  Triumphe  in  der  Dialektik  über  Köpfe  von  gewöhnlichem 
Schlage.  Er  freut  sich  über  den  P>folg  seines  Einfalls,  durch 
ein  Schauspiel  des  Königs  Gewissen  zu  prüfen.  Armer  Hamlet, 
das  ist  nicht  der  Weg  zum  Kuhm  an  der  Stelle ,  zu  der  dich 
dein  Schicksal  gerufen  hat!  Dein  Reich  ist  nicht  von  dieser 
Welt! 

Denn  dass  seine  Gesinnung  im  Grund  edel  ist,  trotz  der 
Schwächen,  die  w^ir  eben  aufgewiesen  haben,  daran  können  wir 
nicht  zweifeln.  Wie  innig  schliesst  er  sich  an  Horatio  an !  Wie 
liebebedürftig  erscheint  er  gleich  zu  Anfang  gegen  Bernardo 
und  Marcellus!  Wie  bewahrt  er  das  Andenken  seines  Vaters 
im  innersten  Heiligthum  seiner  Seele!  Wie  sehr  ist  er  überall 
o-eneio-t,  sich  allein  anzuklao;en!  Wie  versöhnUch  ist  er  geo-en 
Laertes !  Wie  liebenswürdig  selbst  gegen  den  König!  Er  will 
gegen  ihn  nicht  ungefällig  sein,  als  zwischen  ihm  und  Laertes 
jene  Wette  eingegangen  ist,  die  ihm  selbst  das  Leben  kosten 
soll.  Es  wird  ihm  schwer,  an  das  Schlechte  in  andern  zu 
glauben;  darum  der  lange  Weg  bis  zur  Vollziehung  des  Straf- 
gerichts an  Claudius!  Kührend  ist  es,  wie  er  kurz  vor  seinem 
Tode  fast  zu  bewussten  Illusionen  seine  Zuflucht  zu  nehmen 
sdheint. 

Was  ihm  fehlt,  um  seinen  ]Mann  zu  stehen,  hat  Göthe 
treffend  die  sinnliche  Stärke  des  Helden  genannt.  Ich  verstehe 
darunter  die  Krai't,  die  den  Menschen  nicht  im  Stiche  lässt,  im 
Angesichte  dos  Gegners.  Von  dem  Mangel  dieser  Ausdauer, 
welche  nicht  zurückbebt  vor  der  wirklichen  Entscheidimg,  spricht 
schon  Tacitus*)  als  von  einer  Eigenschaft  jener  Völker,  von 
denen  Hamlet  als  ein  Abkömmling  zu  betrachten  ist:  er  nennt 
sie  eine  die  Gefahr  aufbietende  Kühnheit  und  eine  Scheu,  wenn 
jene  wirklich  eingetreten  ist.  So  ist  Hamlet.  „Jedwede  Ader 
seines  Leibes  so  fest  wie  Sehnen  des  Nemeer  Löwen,"  „rasch, 
wie    Andacht    und    der   Liebenden    Gedanken"    im    Augenblicke 


Tac.  Agric.   11. 


284  Hamlet. 

vor  der  That;  sobald  er  sie  wirklich  vollbringen  soll,  muss  er 
sich  selbst  verspotten:  ,.Lasst  Herkuln  selbst  nach  Vermögen 
thun,  die  Katze  maut,  der  Hund  will  doch  nicht  ruhn."  Was 
vermag  gegen  diese  Naturnothwendigkeit,  welche  gewiss  auch 
physische  Gründe  hat,  das  Bewusstsein  der  Willensfreiheit,  selbst 
wenn  ihm,  dem  Zweifler,  diese  fest  stände?  Er  kann  nun  einmal 
nicht  Blut  vergiessen  sehen;  es  müsste  ihn  denn  das  Gefähr- 
liche, was  auch  in  ihm  ist,  im  Augenblicke  fortreissen,  wie  bei 
der  Ermordung  des  Polonius  und  des  Königs. 

Nachdem  wir  den  Charakter  des  Hamlet  uns  in  diesen 
Zügen  vergegenAvärtigt  haben,  stellen  wir  die  Beziehung  fest, 
die  er  zu  unserem  Hauptsatz  hat,  dass  die  Tragödie  es  mit  dem 
Leiden  des  Menschen  zu  thun  hat.  Ich  meine,  um  diesen  Zweck 
zu  erreichen,  kann  kein  Charakter  geeigneter  sein  als  ein  solcher. 
Er  ist  vorzugsweise  zum  Leiden  geschaffen.  Wo  er  handelt, 
wird  es  auch  mehr  ein  Leiden  als  ein  Thun  sein. 

Dieses  finden  wir  denn  auch,  wenn  wir  die  Handlung  der 
Tragödie  zergliedern.  Ich  konnte  nicht  umhin,  schon  in  der 
Charakteristik  Hamlet' s  auf  einzelne  Momente  der  Handlung 
mich  zu  berufen.     Ich  werde  daher  jetzt  kürzer  sein. 

Wir  sind  während  des  ganzen  Stückes  in  einer  Atmosphäre 
der  Trauer  um  Verstorbene  und  Sterbende.  Schwarz  ist  die 
Farbe,  die  Hamlet's  Kleid  hat,  schwarz  von  der  ersten  bis  zur 
letzten  Scene  die  Draperie,  in  der  Personen  und  Gegenstände 
erscheinen.  Hier  herrscht  der  Tod,  nicht  Claudius.  Der  Humor 
darf  sich  auch  nur  auf  dem  Kirchhof  vernehmen  lassen:  Tod- 
tengräber  repräsentiren  ihn.  Die  Vergänglichkeit,  unter  welcher 
die  unsterbliche  Seele  sich  windet,  übt  ihr  unbestrittenes  Ma- 
jestätsrecht aus.  Ich  glaube,  schon  durch  diesen  Grundton,  in 
dem  das  Ganze  gehalten  ist,  prägt  uns  der  Dichter  ein:  hier 
siehst  du  keinen  Helden  im  stattlichen  Gang  auftreten,  an  un- 
sichtbaren Fäden  leitet  eine  Macht  Menschen  und  Handlungen, 
und  ihr  sollst  du  allein  huldigen.  Wir  wei'den  sehen  ,  welchen 
Namen  wir  dieser  im  Verborgenen  einherschreitenden  Gewalt 
zu  geben  haben. 

„Etwas  ist  faul  im  Staate  Dänemark."  Unheimlich  ist  dieser 
Pomp  bald  nach  dem  Tode  des  alten  Hamlet,  unheimlich  diese 
Hochzeit.    Der  Geist  ist  nur  die  Bestätigung  banger  Ahnungen. 


Hamlet.  285 

In  Bezug  auf  Hamlet  giebt  der  Erfolg  seines  Ersch^ens  einen 
neuen  Beleg  zu  der  alten  Wahrheit:  hören  sie  Mosen  und  die 
Propheten  nicht,  so  werden  sie  auch  nicht  glauben,  ob  jemand 
von  den  Todten  auferstände.  Welche  Tiefe,  welche  Weltweite 
der  Anschauung  in  dieser  Gegenüberstellung  von  dem  skep- 
tischen Hamlet  und  dem  Geiste,  dessen  Auferistehung  den  Ge- 
setzen der  Vernunft  spottet!  „Diese  ewige  Offenbarung  fasst 
kein  Ohr  von  Fleisch  und  Blut."  Freilich  giebt  es  auch  für 
Hamlet  selbst  „Ding'  im  Himmel  und  auf  Erden,  von  denen  sich 
die  Schulweisheit  nichts  träumt."  Aber  —  der  Zweifel  ist  so 
mächtig  in  ihm,  dass  er  eher  den  eigenen  Augen  und  Ohren 
misstraut  als  seiner  Vernunft;  denn  die  Erscheinung  des  Vaters 
gehört  der  Zeit  an  und  damit  auch  der  Vergangenheit.  Kann 
sie  ihm  noch  ein  sicherer  Bürge  sein  am  andern  Tage,  da  er 
wieder  im  vollen  Besitz  seiner  V^ernunft  ist  und  seine  Phan- 
tasie nicht  mehr  spazieren  geht? 

Wir  sehen  mit  Bewunderung,  wie  auch  darin  der  Cha- 
rakter des  Drama's  sich  als  ein  metaphysischer  geltend  macht. 
Hamlet  ist  der  Märtyrer  der  Vernunft ,  indem  er  andere  Be- 
weise für  die  Schuld  des  Königs  fordert  als  diejenigen,  welche 
im  Gebiete  des  Irrationalen  liegen.  Doch  die  Erscheinung  des 
Geistes  ist  wirklich:  wir  haben  sie  mit  eigenen  Augen  gesehen. 
Wird  also  dieses  Irrationale   zum    Siege  kommen? 

Fast  scheint  es,  als  ob  es  an  der  Skepsis  des  Prinzen 
scheitern  wird.  Er  brütet  und  brütet.  Man  hält  ihn  für  ver- 
rückt. Dazu  kommt  noch  die  Liebe.  Man  hat  gefragt,  ob  Hamlet 
Opheha  wirklich  liebe.  Ich  antworte :  ja,  wie  ein  Zweifler  lieben 
kann.  Er  ist  kein  llomeo.  Es  ist  eben  seine  Liebe  in  einem 
andern  Sinne  unglücklich  als  die  des  heissblütigen  Italieners. 
Sie  beherrscht  ihn  nicht  in  dem  Grade,  dass  er  in  ihr  seine 
ganze  Befriedigung  finden  und  wie  Romeo  jähen  Genuss  um 
schnellen  Untergang  erkaufen  sollte.  Jede  aufkeimende  Leiden- 
schaft wird  durch  den  Fluch  der  Reflexion  neutralisirt.  Ophelia 
ist  ganz  Unschuld  und  unverdorbene  Naivetät,  abhängig  bis 
zur  Aufopferung  ihrer  Liebe  von  der  Sitte  des  Hauses,  von 
den  Ermahnungen  des  Vaters  und  Bruders.    Ihr  Untergang  ist 


286  Hamlet. 

um  SO  rührender,  als  man  ihn  fast  vergisst  vor  der  Zahl  der 
Opfer,  die  bis  zum  Schlüsse  fallen.  Wenn  der  Sturm  die  Eiche 
bricht,  achten  wir  der  Blüthe  nicht,  die  sein  Gang  niedertritt. 
Auch  ihren  Fall  hat  man  dem  armen  Hamlet  aufgebürdet.  Ich 
brauche  nach  dem  Obigen  kein  Wort  darüber  zu  verlieren. 
Denn  ich  muss  eilen ,  den  Prinzen  von  anderen  Vorwürfen  zu 
reinigen,  die  mehr  für  sich  zu  haben  scheinen. 

Der  König  sucht  ihn  auszuforschen  und  zu  zerstreuen.  Die 
Schauspieler  kommen.  Man  giebt  das  Stück  vor  dem  König, 
genannt  „die  Mausefalle."  Die  Schuld  des  Königs  wird  zur 
Gewissheit.  Hamlet  ist  ganz  Leidenschaft.  Aber  die  Krisis, 
vor  welcher  ihm  die  Rachethat  noch  möglich  gewesen  wäre,  ist 
bereits  eingetreten.  Der  Geist  der  Verneinung  hat  ihn  ganz 
in  Besitz  genommen:  schon  verhält  er  sich  in  Bezug  auf  die 
Wirklichkeit  und  alle  bestimmten  Handlungen  völlig  indifferent. 
Was  er  noch  thut,  ist  nicht  mehr  Ueberlegung,  sondern  Hitze 
des  Augenblicks  oder  Nothwehr.  Dass  er,  zu  seiner  Mutter 
gerufen,  den  Polonius  hinter  der  Tapete  ersticht,  diesen  Philo- 
sophen für  die  Welt,  diesen  alberneu  Moralisten,  der  sich  etwas 
darauf  thut,  einige  Maximen  auf  seinem  Schlendrian  durch's 
Leben  mit  heimgebracht  zu  haben,  —  ich  sage,  dass  Hamlet 
diesen  Halbschelm,  wie  er  treffend  genannt  ist,  bei  Seite  schafft, 
ist  seine  erste  That,  in  welcher  er  als  Werkzeug  in  der  Hand 
jenes  unsichtbaren  Helden  erscheint,  den  wir  immer  mehr  als 
den  Mittelpunkt  der  Handlung  erkennen  werden.  Er  sagt  selbst 
an  seiner  Leiche:  „Der  Himmel  hat  gewollt,  um  mich  durch 
diess,  und  diess  durch  mich  zu  strafen,  dass  ich  ihm  Diener 
muas  und  Geissei  sein."  Also  auch  für  sich  selbst  sieht  er  eine 
Strafe  darin.  Gewiss.  Er  muss  dieses  thun  und  wir  müssten 
es  auch,  Avenn  wir  in  demselben  Falle  uns  befänden,  aber  wehe 
dem  Aesthetiker,  welcher  hier  den  Begriff  der  Strafe  zur  An- 
wendung bringt  und  etwa  so  argumentirt,  wie  z.  B.  Hettner:*) 
„Hamlet  hat  sich  geweigert,  Blutrache  zu  vollstrecken ;  die  noth- 
wendige  Strafe  dafür  ist,  dass  er  eine  That  begeht,  durch  welche 
er  sich  selbst   der  Blutrache    aussetzt."     Das  heisst  nach  einer 

*)  Gutzkow,  Unterbaltgn.  am  häusl.  Herd.    Bd.  H.  Nro.  6. 


Hamlet.  287 

gangbaren  Redewendung  dem  lieben  Gott  in  die  Karten  sehen. 
Uebrigens  ist  das  Spiel  der  Worte,  welches  in  dieser  Erklärung 
zu  Tage  tritt,  nicht  ganz  schlecht. 

In  dieser  That  sieht  der  König  gewissermassen  das  erste 
Lebenszeichen  Hamlet's.  Sein  Gewissen  wird  immer  unruhiger. 
Ueberhaupt  ist  der  wesentliche  Charakterzug  dieses  Tyrannen 
Unsicherlieit,  die  bis  zur  Reue  in  der  Gebetscene  culminirt; 
denn  Alles,  was  er  thut,  sein  offensives  Verhalten  vor  dem 
Stück  wie  seine  Defensive  während  desselben,  entspringt  nicht 
aus  dem  Bewusstsein,  herrschen  zu  können,  sondern  aus 
Egoismus.  Er  schmiedet  den  ersten  Plan  gegen  Hamlet's  Leben. 
Wie  kurzsichtig  ist  er  auch  hiebei  in  dem  Verständniss  von 
Hamlet's  eigentlichem  Wesen !  Dass  dieser  ihn  durchschaut, 
dass  er  den  Inhalt  der  dem  Rosenkranz  und  Güldenstern  über- 
gebeiren  Briefe  erräth ,  entspringt  nicht  aus  einem  von  Natur 
argwöhnischen  Gemüth ,  wiewohl  er  sich  auch  dessen  anklagt, 
sondern  aus  den  Erfahrungen,  die  er  gemacht  und  die  ihn  nun- 
mehr lehren,  auf  seiner  Hut  zu  sein.  Auf  den  ersten  Blick  er- 
scheint die  Wendung  zur  Hinterlist,  die  jetzt  sein  Benehmen 
nimmt,  in  Betracht  der  sonstigen  Reinheit  seines  Gemüthes  be- 
denklich. Aber  —  auch  schon  das  aufgeführte  Schauspiel  war 
eine  List.  Freilich  jetzt  werden  die  Mittel  immer  niedriger, 
immer  gemeiner,  nur  dass  man  dieses  nicht  in  Bezug  auf  seinen 
Charakter  verstehen  muss.  Mit  einem  Wort  —  der  Idealist 
ist  zu  einem  Realisten  geworden,  der  keine  Handgriffe  scheut, 
um  zum  Ziele  zu  kommen.  Handschriften  nachmachen,  be- 
trügen, seine  Jugendgenossen  unter  das  Messer  liefern  —  das 
sind  ihm  nur  Kleinigkeiten.  Nun  —  ich  denke ,  da  ragt  etwas 
herein  in  den  Bau  der  hier  abgespiegelten  AVelt,  was  uns  immer 
aufmerksamer  auf  sich  machen  muss,  zugleich  immer  begieriger, 
die  unbekannte  Grösse  zu  finden.  Also  wirklich  —  auch  Hamlet 
ist  verstrickt  in  das  Netz  dieser  Welt ;  der  hohe,  erhabene  Geist 
dem  Gesetz  der  Wirklichkeit  anheim  gefallen;  denn  dieser  will 
und  muss  sich  behaupten.  Das  ist  das  Loos  des  Schönen  auf 
der  Erde!  So  interpretirt  der  grösste  Dichter  den  Satz,  auf 
den  wir  noch  zurückkommen  werden:  der  Mensch  legt  auch 
seine  Natur    ab  wie  ein  altes  Kleid,    wenn   er  muss.     Warum 


288  Hamlet. 

muss  Hamlet  zum  Intriguanten  werden?  Zunächst  wohl,  weil 
er  sein  Leben  lieb  hat  und  nicht  selbst  in  sein  Verderben 
rennen  will.  Aber  die  bessere  Antwort  giebt  nur  der  weitere 
Fort-  und  Ausgang  der  Tragödie. 

Jetzt  übernimmt  Laertes  die  Rolle  des  Handelnden,  denn 
es  darf  gesagt  werden :  hier  spielen  alle  Personen  nur  die  Rollen, 
die  ihnen  gegeben  werden.  Der  Dichter,  der  noch  immer  ein 
Anonymus  für  uns  ist,  hält  sich  im  Hintergrunde,  bis  das 
Stück  von  den  Schauspielern  zu  Ende  gespielt  ist;  dann  erst 
tritt  er  hervor  und  verlangt  sein  plaudite! 

Es  ist  wahr,  die  Sache,  die  Laertes  gegen  Hamlet  auszu- 
fechten  hat,  ist  das  Gegenstück  zu  der  That ,  die  von  diesem 
verlangt  wird.  Laertes  hält  sich  den  grössten  Theil  des  Stückes 
in  Paris  auf;  das  Leichte,  Rasche,  schnell  Entschlossene  der 
Franzosen  behagt  seiner  Natur,  die  in  diesen  Eigenschaften 
ihren  Schwerpunkt  hat.  Er  dringt  mit  einer  Rotte  in  den  Palast 
des  Königs,  Rache  an  dem  Mörder  seines  Vaters  zu  nehmen. 
Das  weiss  der  König  geschickt  zu  benutzen.  Sogleich  steht 
ihm  fest,  durch  die  Hand  des  Laertes  muss  er  sich  des  lästigen 
Hamlet  entledigen.  Alles  scheint  ihm  nach  Wunsch  zu  gehen. 
Laertes  erklärt  sich  bereit,  in  einem  zur  Schau  angestellten 
Fechterspiel  Hamlet  mit  einem  vergifteten  Rapier  zu  er- 
morden. Wie  prächtig  hebt  sich  die  immer  im  mühsamen 
Kampf  gegen  das  Geschick  begriffene  Gestalt  Hamlets  gegen 
solchen  gedankenlosen  Leichtsinn  dieses  „französischen  Mode- 
helden" ab !  Das  Begegnen,  das  beide  auf  dem  Kirchhofe  haben, 
prägt  uns  diesen  Gegensatz  tief  ein.  Laertes'  Schmerz  selbst 
um  das  Unglück  der  Schwester  hat  immer  etwas  Geschrobenes; 
er  deklamirt  mehr,  als  dass  er  wahren  Gefühlen  Ausdruck  giebt. 
Shakspeare  scheint  hier  in  ahnendem  Geiste  die  Racine  und 
Corneille  zu  persifliren.  Diese  hohle  Schmerzsucht  empört 
Hamlet,  so  dass  beide  im  Grabe  Opheliens  handgemein  werden. 
Aber  —  anders  ist  der  Ausgang  bestimmt.  Bange  Ahnungen 
erfüllen  Hamlet.  In  diesen  letzten  Scenen  bringt  er  auf  den 
heutigen  Leser  einen  Eindruck  hervor,  welcher  eine  Analogie 
hat  mit  dem  weltmüden,  melancholischen  Geiste,  den  die  Schriften 
Schopenhauer's  aihmen. 


Hamlet.  289 

Zur  grösseren  Sicherheit  lässt  Claudius  einen  vergifteten 
Kelch  für  Hamlet  bereit  stehen.  Die  Königin  trinkt  davon. 
In  der  Hitze  des  Gefechtes  verwechseln  Hamlet  und  Laertes 
die  Rapiere,  so  dass  auch  diesen  der  Tod  trifft.  Sterbend  ver- 
räth  er  den  König.  Da  ereilt  auch  diesen  sein  Geschick  endlich 
von  Hamlet'ö  Hand.  Fortinbras  kommt  gerade  von  seinem  Zuge 
gegen  Polen  an  und  empfängt  das  sterbende  AVort  Hamlet's 
für  seine  Nachfolge  auf  dem  Thron.  An  die  Erscheinung  dieses 
wackeru  Haudegens  am  Schluss  hat  man  wiederum  eine  selt- 
same Anklage  gegen  Hamlet  geknüpft.  Nicht  das  Zuviel  des 
Denkens,  das  Hamlet  darstelle,  auch  nicht  das  Zuviel  des  Han- 
delns, in  Laertes  repräsentirt,  empfange  die  Krone,  sondern  das 
rechte  Maass  beider  an  sich  gleichberechtigter  Factoren,  welches 
in  Fortinbras  realisirt  sei.  Das  heisst  doch  wohl:  „Wenn  sich 
das  Laster  erbricht,  setzt  sich  die  Tugend  zu  Tisch."  Fortin- 
bras erscheint  als  ein  tüchtiger  Mann,  der  tapfer  sein  Recht 
vertheidigt,  aber  im  Ganzen  erfahren  wir  eo  wenig  von  ihm, 
dass  wir  mit  Recht  anstehen,  in  ihm  das  Ideal  des  wahren 
Menschen  verwirkhcht  zu  sehen.  Er  muss  in  jeder  Beziehung 
gegen  Hamlet  in  unserer  Theilnahme  zurückstehen. 

Ich  komme  jetzt  auf  den  tieferen  Sinn  der  Erscheinung 
des  Geistes  zurück.  In  ihm  gewinnt  das  schattenhafte,  unheim- 
liche Wesen,  Avelches  wir  im  Hintergrunde  der  Handlung  bis 
zuletzt  thätig  gesehen  haben,  seine  entsprechende  Gestalt.  Was 
der  Geist  von  vorn  herein  wollte,  ist  geschehen.  Hamlet  hat 
nichts  gegen  die  Königin  unternommen,  aber  den  König  ge- 
tödtet.  Die  irrationale  Macht,  von  der  wir  oben  sprachen,  ist 
zum  Siege  gekommen.  „Es  giebt  mehr  Ding'  im  Himmel  und 
auf  Erden,  als  eure  Schulweisheit  sich  träumt." 

Ich  gehe  über  zu  den  Andeutungen,  die  der  Dichter  an- 
geblich selbst  für  die  richtige  Auffassung  der  Tragödie  gegeben 
hat.  Zum  voraus  erklär'  ich ,  dass  auf  ein  solches  gleichsam 
am  Rahmen  des  Bildes  angeklebtes  haec  fabula  docet,  um  die 
Einsicht  in  die  Grundidee  zu  erleichtern ,  der  wahre  Dichter 
immer  Verzicht  leistet.  Die  richtige  Erklärung  kann  nur  dem 
Zusammenhang    des    Ganzen    entnommen    werden.      Die    ächte 

Archiv  f.  n.  Sj.raclicn.  XXVU.  19 


290  Hamlet. 

Poesie  beweist  dadurch  recht  ihre  göttliche  Herkunft,  dass  sie 
sich  keiner  ausdrücklichen  und  direkten  Offenbarung  bedient, 
um  zum  Menschen  zu  sprechen;  wo  sie  schweigt,  spricht  sie 
am  lautesten.  Der  Mensch  soll  selbst  denken  und  selbst  sich 
leiten.  Sie  reicht  ihm  nicht  die  Hand,  um  ihn  zu  führen,  son- 
dern überlässt  es  seiner  eigenen  Vernunft,  auf  den  rechten  Pfad 
zu  kommen,  der  wiederum  für  Jeden  ein  anderer  sein  wird. 
Die  Wegweiser,  welche  der  Wanderer  mitten  in  den  herrlichen 
Landschaften  findet,  wo  die  Natur  ihre  höchste  Pracht  entfaltet, 
sind  ein  Wei'k  von  Menschenhand.  Ich  finde  demnach,  dass 
auch  die  Moralsprüche  im  Hamlet  einen  anderen  Zweck  haben, 
als  den,  welchen  man  ihnen  untergelegt  hat. 

Es  ist  das  Schauspiel  im  Schauspiel,  welches  jene  Finger- 
zeige enthalten  soll.  Schon  diesen  Umstand,  dass  wir  es  hier 
mit  Poesie  innerhalb  der  Poesie  zu  thun  haben ,  hätte  man  sich 
nicht  entgehen  lassen  sollen.  In  der  Rede  des  Schauspielers 
am  Schluss  des  zweiten  Akts  von  der  Ermordung  des  Priamus 
fällt  der  Ton  gleichfalls  in's  Geschrobene  und  Stelzenhafte,  weil 
die  Poesie  gewissermassen  hier  sich  selbst  überbieten  muss. 

Nicht  allein  gegen  die  Wirklichkeit,  sondern  gegen  sich 
selbst  soll  sie  in  Contrast  zu  stehen  kommen.*)  Nicht  als  ob 
Hamlet  in  den  Versen  als  ein  Schwächling  dargestellt  werden 
sollte,  der  es  sich  nur  selbst  zuzuschreiben  hätte,  wenn  er 
untergeht : 

Nothwendig  ist's,  dass  jeder  leicht  vergisst 
Zu  zahlen,  was  er  selbst  sich  schuldig  ist. 


Das  Ungestüm  sowohl  von  Freud'  und  Leid 
Zerstört  mit  sich  die  eigne  Wirksamkeit. 

Allerdings  finden   diese   Wahrheiten    ihre    Anwendung   auf 
Hamlet's  Natur,    aber   sie  enthalten   keine  Anklage    gegen  ihn. 


*)  AehnHch  wie  der  Chor  in   der  alten  Tragödie  keineswegs  immer  den 
Schlüssel  bietet  zum  Verständniss  der  Handlung. 


Hamlet.  291 

Die  Kritiker,   welche  sie  dahin  ausbeuteten,    sind  hier  auch   in 
die  Mausefalle  gegangen,  die  ihnen  der  Dichter  gestellt  hat. 

Wenn  dagegen  die  Betrachtungen ,  die  Hamlet  im  Vorge- 
fühl seines  nahen  Todes  anstellt,  mit  dem  Kcsultat  überein- 
stinmien,  Avelches  die  Zergliederung  der  Action  ergicbt,  so  liegt 
darin  eine  Bestätigung  für  unsere  Ansicht.  Wir  finden,  dass 
die  tiefsten  Aussprüche  über  das  menschliche  Leben  gerade  hier 
eine  Stelle  gefunden  haben: 

Lasst  uns  einsebn, 
Dass  Unbesonnenheit  uns  manchmal  dient, 
Wenn  tiefe  Pliine  scheitern;  und  das  lehr'  uns, 
Dass  eine  Gottheit  unsre  Zwecke  formt, 
Wie  wir  sie  auch  entwerfen. 

Ferner:  „Es  waltet  eine  besondere  Vorsehung  über  den 
Fall  eines  Sperlings,"  und:  „In  Bereitschaft  sein  ist  Alles." 
Der  letztere  Gedanke  tritt  uns  in  einer  eben  so  bedeutungs- 
vollen Situation  des  Lear  entgegen,  wo  es  heisst:  „Reif  sein 
ist  Alles."  Es  wäre  ein  durchaus  verfehltes  Unternehmen,  von 
solchen  vereinzelten  Aeusserungen  Schlüsse  auf  Shakspeare's 
eigene  Weltansicht  zu  thun.  Wir  haben  es  hier  nur  mit  Hamlet 
zu  thun.  Dieser  prägt  uns  von  Anfang  bis  zu  Ende  die  Unter- 
werfung unter  ein  höheres  Gesetz  ein  als  dasjenige,  auf  dessen 
Vernachlässigung  man  die  Schuld  Hamlets  hat  begründen 
wollen. 

Ich  höre  nun  meine  Gegner  also  reden:  ..Wo  bleibt  die 
Freiheit  des  AVillens,  wo  die  moralische  Zurechnungsfähigkeit, 
wo  der  sittliche  Werth,  den  ja  aucli  nach  deiner  Ansicht  die 
Betrachtung  eines  Kunstwerks  hat,  wenn  ein  stockblindes  Fatum 
den  Menschen  zum  Werkzeug  erniedrigt?  Wenn  du  kein  bes- 
seres Ergebniss  aus  deiner  Zerlegung  dieses  Trauerspiels  ge- 
winnst, hättest  du  dir  wie  uns  die  Mühe  ersparen  sollen.** 

Meine  Gegner  können  noch  weiter  gehen.  Der  unheim- 
liche Spuk,  der  am  Anfang  dieses  Jahrhunderts  auf  den  deut- 
schen Theatern    in    sogenannten    Tragödien    gewaltet    liat,    das 

19* 


292  Hamlet. 

Gespenst  der  Ahnfrau  und    ähnliches    kann   gegen   mich   auf- 
gerufen werden. 

Hier  kann  ich  nur  antworten ,  dass  der  missverstandene 
Gott,  weil  er  missverstanden  wird,  nicht  aufhört  zu  sein.  Es 
werden  viele  als  Atheisten  verschrieen,  die  doch  nur  beschränkte 
menschliche  Vorstellungen  von  Gott  leugnen.  So  hoft'  ich  auch, 
die  Gegner  der  dem  Hamlet  zu  Grunde  gelegten  Schicksals- 
idee auf  meine  Seite  zu  ziehen,  wenn  sie  sich  mit  mir  über  die 
Bedeutung  dieses  Begriffes  geeinigt  haben.  Ja,  es  wird  sich 
vielleicht  zeigen,  dass  unser  Streit  und  derjenige,  welcher  gegen 
die  Atheisten  geführt  wird,  nicht  so  durchaus  verschiedene  Ge- 
genstände zum  Grunde  haben.  Ich  muss  jedoch  in  Betracht 
des  mir  gestatteten  Raumes  die  Untersuchung  darüber  in  einige 
kurze  Andeutungen  zusammenfassen. 

Es  ist  hier  nur  von  dem  Schicksal  in  jener  hohen  Bedeu- 
tung die  Rede,  welche  die  Alten  ihm  gegeben  haben,  wie  es  von 
einem  Aeschylus  und  Sophokles  in  Scene  gesetzt  ist.  In  Hamlet 
zeigt  es  sich  noch  von  der  alten,  gediegenen  Art,  die  seine  Her- 
kunft aus  wahrhaft  poetischer  AnschauungsAveise  kennzeichnet.  Ein 
schöner  Lohn  für  die  Mühe  des  Forschens ,  wenn  wir  die  ent- 
fernten Zeiten  und  Geister  sich  in  derselben  Auffassung  mensch- 
licher Dinge  begegnen  sehen!  Es  ist  schwer,  dem  eine  Be- 
schreibung von  dem  Schicksal  in  diesem  Sinne  zu  machen,  der 
es  nicht  aus  der  Quelle  kennt.  Keine  geographische  Schil- 
derung kann  den  Anblick  erhabener  Gebirgszüge  ersetzen,  und 
um  das  Meer  in  seiner  Grösse  zu  begreifen,  muss  man  ein 
Dichter  sein  oder  es  gesehen  haben.  Das  Schicksal  steht  in 
der  Meinung  der  Griechen  bekanntlich  über  den  Göttern.  Man 
kann  sagen,  sie  fassten  in  dieser  Vorstellung  Alles  zusammen, 
was  das  Unbegreifliche,  Incommensurable  in  der  Welt  ausmacht ; 
sie  waren  bescheiden  genug,  dem  Schicksal  nur  den  Namen  des 
Verhängten,  derNothwendigkeit  zugeben,  weil  sie  fühlten,  dass 
alle  übrigen  Eigenschaften,  die  aus  der  Analogie  des  Menschen 
entlehnt  werden  konnten,  sie  in  Widersprüche  verwickelt  haben 
würden ,  als  ob  auch  sie  eine  Ahnung  gehabt  hätten  von  jenem 
ersten  Gebot:     Ihr   sollt  euch   kein  Bild  noch  Gleichniss  von 


Hamlet.  293 

Mir   machen.    —   Die    moderne    Auffassung   warf    sich   vor    das 
goldene  Kalb  nieder.    — 

Die  Vergleichung  des  Hamlet  mit  den  vorzüglichsten  Tra- 
gödien alter  und  neuer  Zeit  ergiebt  gleichfalls,  dass  das  Schick- 
sal als  der  active  Factor,  der  dem  Leiden  des  Menschen  ge- 
genübersteht, der  eigentliche  Gegenstand  des  Tragikers  ist.  Ich 
erinnere  nur  an  die  Oedipodie,  Antigone  und  Lear.  Auch  Oedi- 
pus  klagt  sich  selbst  an  wie  Hamlet,*)  und  sieht  in  dem  über  ihn 
hereinbrechenden  Verhängnisse  nichts  weiter  als  die  Bestrafung 
seiner  Schuld.  Das  aber  ist  eben  der  Fluch  des  Unglücks,  dass 
der  davon  Getroffene  nicht  so  klar  wie  wir  beim  Anschauen 
einer  Tragödie  den  Zusammenhang  übersieht,  in  dem  er  steht, 
und  daher,  an  sich  selbst  irre  werdend,  auf  sich  zu  dem  äus- 
seren Unheil  noch  das  Sündenbewusstsein  wälzt.  Die  Tra- 
gödie weist  das  Gesetz  nach,  unter  dem  der  Mensch  zum  Leiden 
bestimmt  ist ,  ohne  dass  der  Grad  desselben  ein  Verhältniss  zu 
seiner  Schuld  zu  haben  braucht.  Aehnlich  wie  Hamlet  hat 
man  auch  Antigone  einer  Schuld  bezüchtigt,  die  ihren  Unter- 
gang herbeiführe.  Wenn  dieses  möglich  war,  darf  es  nicht 
Wunder  nehmen,  dass  es  in  Betreff  Hamlet's  geschehen  ist. 
Was  König  Lear  betrifft,  so  spricht  er  selbst  eine  Erfahrung 
aus ,  von  der  es  nicht  schwer  wäre ,  sie  als  übereinstimmend 
mit  den  Gesetzen  nachzuweisen,  die  Aristoteles  dem  Tragiker 
giebt.     Lear  sagt:  ,,Ich  bin  ein  Mann,    an   dem  man  mehr  ge- 


Wir  hätten  demnach  vielleicht  jetzt  „dem  grossen  gigan- 
tischen Schicksal"  Eingang  verschafft,  aber  noch  nicht  dem  Schik- 
sal,  „welches  den  Menechen  erhebt,  wenn  es  den  INIenschen 
zermalmt."  Man  fragt  mich  nach  einer  Erklärung  des  zweiten 
Theils  des  Schiller'schen  Distichojis.  Ich  antworte:  wer  in  die 
Sonne  sieht  und  noch  immer  fragt,  wo  die  Sonne  denn  wäre, 
der  ist  vielleicht  geblendet.  Mit  andern  Worten:  denen,  welche 
das  Erhabene  in    dem   Auftreten    des    Schicksals   nicht    fühlen, 


*)  König  Oedipus  V.  1155.     Vgl.  Hamlet,  Akt  4.  Sc.  4. 
••)  Lear,  Akt  III.  Sc.  2. 


294  Hamlet. 

ist  nicht  zu  helfen,  sie  miissten  denn  ihre  Zuflucht  nehmen  zu 
Begrifi^en,  die  populärer  sind,  als  welche  ich  nennen  kann:  sitt- 
liche "Weltordnung-,  Alles  ausgleichende  Gerechtigkeit  u.  s.  w. 
—  Hamlet  jedoch  stirbt  mit  den  Worten:  „der  Rest  ist 
Sclnvcigen." 

Königsberg  i.  P.  A 1  b  e  r  t  J  u  n  g. 


Giovanni    Meli 

und    die    s  i  c  i  1  i  a  n  i  8  c  h  e    Poesie 
(nach  Gregorovius). 


Im  Nebel  der  Sage  tritt  uns  Sicilien  zuerst  in  den  Gesän- 
gen Homer's  entgegen,  wenn  es  anders  gestattet  ist,  in  dieser 
Insel  die  heilige  Thrinakia  wiederzufinden  (später  als  Trinakria, 
die  Insel  mit  den  drei  Vorgebirgen  gedeutet),  wo  die  Ileerden 
des  in  der  Höiie  wandelnden  Helios  weideten  und  das  unge- 
schlachte Riesengeschlecht  der  Cyklopen  wohnte.  In  der  lich- 
teren historischen  Zeit  finden  wir  auf  der  Insel  das  Volk  der 
Sikuler  oder  Sikaner.  Wir  lassen  es  dahin  gestellt  sein ,  ob 
beides  ein  Volksstamm  oder  verschiedene,  ob  Eingeborne 
oder  Eingewanderte.  Die  günstige  Lage,  die  Milde  des 
Himmels  lockten  bald  die  Handelsvölker  der  alten  Welt :  die 
Ph(3nizier  und  die  Griechen  an  die  Gestade  Siciliens  und  ver- 
anlassten sie  zu  dauernden  Niederlassungen.  Die  Phönizier 
gründeten  Matya,  Solus ,  Panormus  (Palermo);  die  Griechen 
verdrängten  sie  aus  den  südlichen  und  östlichen  Gegenden  und 
bauten  dort  von  735  bis  580  v.  Chr.  die  bald  herrlicii  aul'blii- 
henden  Bäder  Zancle,  später  Messana  genannt  (Messina),  Syra- 
cusae  (Siragosa),  Catana  (Catania),  Gela,  Sclinus,  Acragas 
(Agrigentum).  Es  waren  meist  Dorer,  und  in  kurzer  Zeit  ent- 
faltete sich  das  dorische  Element  zu  regem  politischen  und  lite- 
rarischen Leben.  Vor  allen  ragte  Syracus  hervor,  das  bald 
als  Vorort  an  die  Spitze  einer  dorischen  Städtcgemeinschait 
trat.  In  raschem  Wechsel  der  mannigfachsten  Staatsformen  hob 
es  sich    zu   immer   grösserer   Blütlie ,    besonders    nach    der    un- 


296  Giovanni   Meli 

olückliclien  Expedition  der  Athener,  die  der  geniale,  aber  gründ- 
lich leichtsinnige  Alcibiades  zur  Verwirklichung  hochfliegender 
Pläne,  doch  in  der  That  zum  Kuin  seines  Vaterlandes  veran- 
lasst hatte.  Im  fünften  Jahrhundert  erhält  das  zurückgedrängte 
semitische  Element  neue  Verstärkung  durch  die  Carthuger. 
Nach  heftigem  Ringen  muss  ihnen  die  ^^'esthälfte  der  Insel 
überlassen  Averden.  Die  Osthälfte  bleibt  griechisch  unter  der 
Herrschaft  der  Tyrannen  von  Syracus ,  die  in  diesen  Kämpfen 
noch  festere  Wurzel  geschlagen  hatte.  Unterdess  aber  war 
Rom  emporgekommen.  Beherrscherin  des  italischen  Festlan- 
des, grifl^'  es  nun  auch  nach  der  Oberherrschaft  auf  dem  Meere 
und  begann  den  Vernichtungskampf  mit  seiner  Nebenbuhlerin 
Carthago.  Nach  dem  ersten  puni sehen  Kriege  (241)  wurde 
die  karthagische  AVesthälfte  der  Insel  römisch,  im  zweiten  nach 
dem  Falle  von  Syracus  die  ganze  Insel  (212)  und  genoss  von 
jetzt  ab  das  Glück,  dem  weltherrschenden  Volke  sein  tägliches 
Brot  zu  liefern  und  von  römischen  Statthaltern  ausgesogen  zu 
werden.  Mit  Roms  Fall  wurde  Sicilien  wieder  frei,  aber  nur, 
um  noch  schlimmem  Herren  in  die  Hände  zu  fallen.  Von 
493  bis  535  n.  Chr.  stand  es  unter  der  Botmässigkeit  der 
Ostgothen,  denen  sich  die  Sicilianer  auf  Cassiodor's  Vorstellun- 
gen gutwillig  ergeben  hatten;  später  unter  der  Herrschaft  der 
verrufenen  Vandalen ,  die  von  Africa  herübergekommen  waren. 
Als  aber  das  oströmische  Reich  noch  einmal  einen  neuen  Auf- 
schwung nahm  unter  der  Herrschaft  des  weisen  Justinian,  als 
die  germanischen  Völker  Italiens  sich  noch  einmal  unter  das 
römische  Scepter  in  den  Händen  des  griechischen  Kaisers  beu- 
gen mussten,  wurde  auch  Sicdien  von  dem  tapfern,  später  so 
unglücklichen  Belisar  erobert  und  bildet  von  535  bis  827  einen 
Theil  des  byzantinischen  Reiches.  Aus  jener  Zeit  stammt  die 
Benennung  beider  Sicilien,  diesseits  und  jenseits  des  Faro  di 
Messina,  da  die  griechischen  Statthalter  von  Palermo  aus  auch 
das  jetzige  Festland  von  Neapel  verwalteten.  Drei  Jahrhunderte 
lang  herrschte  also  wieder  das  Griechenthum ;  kein  Wunder, 
wenn  es  sich  noch  jetzt  in  dem  sicilianischen  Volkscharakter 
bemerklich  macht.  Aber  zum  dritten  Male  ei-neuerte  sich  der 
Kampf  mit  den  Semiten:  die  Sarazenen  griffen  nach  der  Ero- 
berung  der  Nordküst  e    von  Afria  auch    Sicilien    an.      Anfangs 


und    die  sicili  anische  Poesie.  297 

wieder  vertrieben,  setzten  sie  sich  um  827  fest  und  gründeten 
ein  sclbstständiges  Emirat,  das  bis  zum  Jahre  1000  bestand. 
Da  kamen  die  Söhne  des  normannischen  Ritters  Tankred  von 
Hauteville,  die  auf  dem  Festlande  von  Unteritalien  ein  neues 
Reich  gegründet  hatten,  auch  über  die  ]\Ieerenge  herüber.  Ro- 
ger vertrieb  die  Sarazenen  und  nannte  sich  Graf  von  Sicilien. 
Sein  Sohn  Roger  IL  (Ruggiero)  verband  unter  dem  Titel  eines 
Königs  von  Sicilien  und  Italien  auch  das  Festland  mit  der  In- 
sel (1130)  und  nahm  seinen  Sitz  in  Palermo.  Das  Erbe  der 
Normannen  ging  aber  schon  nach  fünfzig  Jahren  an  das  Ge- 
schlecht der  Hohenstaufen  über  als  ein  köstlicher,  aber  unheil- 
voller Besitz.  Der  Gemahl  der  Constanze,  der  Erbin  von  Sici- 
lien, Heinrich  VI.,  unterwarf  mit  blutiger  Strenge  die  aufrühre- 
rischen Barone  seinem  eisernen  Scepter.  Unter  seinem  grossen 
Sohne  Friedrich  II.  begannen  die  Kämpfe  mit  dem  Papstthunie, 
da.s  eine  solche  fremde  Machtentwickelung  in  Italien  nicht  zu- 
geben wollte.  Nach  kurzem  Glänze  ging  das  leuchtende  Ge- 
stirn der  Hohenstaufen  blutig  unter.  Der  letzte  Spross,  der 
junge  Konradin,  erlag  dem  unheiligen  Bruder  des  heiligen  Lud- 
wig, Karl  von  Anjou,  den  der  Papst  herbeigerufen  (1268). 
Doch  dem  edeln,  durch  Franzosenhand  vergossenen  Blute  ei^ 
Avuchs  .schrecldiche  Rache  in  dem  Franzosenmorde,  der  unter 
dem  Namen  der  sicilianischen  Vesper  bekannt  ist  (1282). 
Ein  Verwandter  Konradins,  Peter  von  Aragonien,  wurde  König 
von  Sicilien,  Seine  Nachkommen  bestiegen  mit  Alfons  V.  um 
die  Mitte  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  auch  den  Thron  von 
Neapel  (1442). 

Vergebens  suchte  Frankreich  die  Ansprüche  der  Anjou's 
mit  Waffengewalt  geltend  zu  machen ;  es  gelang  ihm  zwar,  die 
herrschende  Königsfamilie  zu  verdrängen,  aber  Neapel  und  Si- 
cilien wurden  eine  Beute  des  listigen  Ferdinand  des  Katholi- 
schen und  seines  tapfern  Feldherrn  Gonsalvo  di  Cordova.  Von 
1505  bis  1713  regierten  spanische  Statthalter.  Im  Utrechter 
Frieden  sodann  (1713)  trennt  die  Willkür  der  Diplomaten  aber- 
mals die  beiden  verbundenen  Reiche.  Sicilien  kam  an  Savoyen, 
wurde  jedoch  schon  1720  gegen  Sardinien  an  die  in  Neapel 
herrschenden    Habsburji^cr   vertauscht.      Im   Jahre    1735    kommt 


298  Giovanni   Meli 

mit  dem  trefflichen  Karl  III.  (Carlo  terzo)  ein  Seitenast  der 
spanischen  Bourbons  zur  Regierung.  1806  in  Folge  der  fran- 
zösischen Kevolution  aus  Neapel  vertrieben,  das  nach  dem  kur- 
zen Taumel  der  parthenopäischen  Republik,  nach  den  blutigen 
Restaurationsversuchen  des  Cardinal  Ruffo  und  der  Räuberban- 
den eines  Fra  Diavolo  unter  das  Scepter  des  Napoleoniden  Jo- 
seph und  dann  unter  die  wohlthätige  Herrschaft  des  phantasti- 
schen Murat  kam,  blieben  die  vertriebenen  Bourbonen  bis  1815 
auf  Sicilien  beschränkt.  Nach  Murat's  tragischem  Ende  in 
Pizzo  fällt  auch  Neapel  wieder  an  sie  zurück.  In  blutigen 
Aufständen  haben  seitdem  die  Sicilianer  ihre  Selbständigkeit  zu 
erringen  gesucht,  so  1821,  1836,  1837,  1848;  aber  früher 
sind  alle  Versuche  gescheitert  an  der  Tapferkeit  der  schweize- 
rischen Söldlinge,  die  dem  Könige  von  Neapel  bisher  den  Be- 
sitz   Siciliens    sicherten. 

Nachdem  Avir  uns  so  über  die  politische  Geschichte  Sici- 
liens orientirt  haben ,  werfen  wir  einen  Blick  auf  die  Stellung, 
die  Sicilien  in  der  poetischen  Literatur  des  Alterthums  ein- 
nimmt. Das  vorherrschende  Element  in  den  griechischen  Colo- 
nien  war,  wie  gesagt,  das  dorische.  Es  entwickelte  sich  in 
denselben  bald  eine  eigenthümliche  dorisch  -  sicilische  Bildung, 
die,  obwohl  vom  Mutterlande  unabhängig,  doch  wieder  in 
Wechselwirkung  mit  demselben  stand,  ähnlich  wie  in  den  grie- 
chischen Colonien  in  Kleinasien.  Dass  die  sicilischen  Griechen 
regen  Antheil  an  der  geistigen  Entwickelung  des  Mutterlandes 
nahmen,  beweist  die  enge  Verbindung,  in  welcher  die  bedeutend- 
sten griechischen  Dichter  und  Philosophen  zu  Sicilien  standen. 
Aeschylus  verweilte  längere  Zeit  an  dem  Hofe  des  Tyran- 
nen Hieron  von  Syracus,  der  damals  einen  Kreis  hervorragen- 
der Männer  um  sich  sammelte ,  dort  führte  er  mehrere  seiner 
Tragödien  mit  grossem  Beifall  auf  und  schrieb  zur  Einweihung 
der  auf  den  Trümmern  von  Catana  erbauten  Stadt  Aetna  ein 
eigenes  Stück  (die  AhvaTui).  Als  er  später  Athen  gänzlich 
verliess,  nahm  er  seinen  Wohnsitz  in  Gela,  wo  man  noch  heu- 
tiges Tages  sein  Grab  zeigt.  Sein  Andenken  w^urde  hoch  in 
Ehren  gehalten  und  jährlich  durch  Kampfspiele  sicilischer  Dich- 
ter an  seinem  Grabe  gefeiert.  —  In  wie  naher  Beziehung  Pin- 


und   die   sicilianische   l'oesu!.  299 

dar  zu  SIcilien  stand,  beweisen  die  vielen  Siegeshyninen  auf 
Hieron  von  Syracus  und  Theron  von  Gela ;  auch  weilte  er  län- 
gere Zeit  mit  Bacchylides  zueanunen  am  Hofe  des  Hieron. 
Ebenso  reiste  Plato  dreimal  an  den  Hof  des  altern  und  Jün- 
gern Dionysius  nach  Syracus.  Aber  trotz  dieser  Einflüsse  ent- 
wickelte sich  auf  der  Insel  eine  selbständige  Literatur  beson- 
ders nach  zwei  Seiten  hin:  in  der  Lyrik  und  in  der  Mimik. 
In  der  Lyrik  wird  uns  Stesichorus  aus  Himera  (um  640 
V.  Chr.)  genannt,  als  der  Begründer  einer  neuen  Art  Chor- 
dichtung. Worin  diese  bestanden,  ist  freilich  nicht  mehr  genau 
anzugeben ,  da  wir  niu-  Bruchstücke  aus  seinen  Werken  be- 
sitzen. Die  Alten  erzählen  aber,  er  habe  zuerst  den  Chor  zum 
Stehen  gebracht  —  daher  sein  Name  Stesichorus ,  während  er 
eigentlich  Tisias  geheissen  haben  soll  —  indem  er  zu  der 
Strophe  und  Antistrophe,  die  der  Chor  durch  eine  vor-  und 
rückgängige  Bewegung  begleitete,  die  Epode  hinzufügte,  die 
stehend  gesungen  wurde.  Dies  die  eine,  rein  äusserliche  Neue- 
rung. Eine  andere  bestand  darin,  dass  er  zuerst  das  epische 
Element  mit  dem  lyrischen  Chorgesange  verband,  indem  er 
ausführliche  Mythen  einflocht ,  so  jedoch ,  dass  sie  nur  zu  an- " 
schaulicher  Begründung  des  lyrischen  Elements  dienten,  nicht 
selbständige  Geltung  hatten.  Er  trug,  wie  Quinctilian  sagt, 
die  Wucht  des  Epos  mit  der  Leier.  Endlich  soll  er,  was  mit 
der  Einfügung  des  Mythus  als  lyrisches  Element  zusammen- 
hängt, sich  grössere  Freiheit  in  der  Behandlung  desselben  ge- 
stattet und  seiner  Phantasie  einen  freiem  Flug  erlaubt  haben. 
Auch  erotische  Lieder  werden  von  ihm  genannt,  die  ersten, 
welche  die  griechische  Poesie  aufzuweisen  hat.  —  AVährend 
sich  aber  Stesichorus  doch  immer  noch  an  die  ältere  dorische 
Lyrik  des  Stammlandes  anlehnte,  entwickelte  sich  ganz  selbstän- 
dig der  sicilischc  Mimus  aus  den  Scherzen  der  ausgelassenen 
Menge  bei  den  besonders  in  Sicilien  gefeierten  agrarischen  Fe- 
sten der  Ceres  und  des  Bacchus.  Die  Siciüaner  besasscn  fiu- 
komische  Darstellungen  und  witziges  Gesjuäch  eine  besondere 
Begabung.  Cicero  sagt  von  ihnen:  Nunquam  tam  male  est  Si- 
culis ,  quin  aliquid  facetc  et  commode  dicant.  Dieses  Talent 
brachte  nun  E picharm us  aus  Kos,  der  aber  Sicilien  zu  sei- 
ner zweiten  Heimat    gemacht    hatte,    und  Sophron    aus  Syra- 


300  Giovanni  Meli 

cus  zur  Geltung;  jener  grösser  in  glänzenden  Compositionen, 
lustigen  Motiven  und  lächerlichen  Contrasten,  dieser  in  getreuer 
Zeichnung  einzelner  Charaktere  und  ganzer  Stände.  Es  waren 
Farcen,  nicht  regelrecht  gegliederte  Komödien,  im  lebendigsten 
Wechselgespräch  und  mit  sprudelndem  Witze  durchgeführt, 
ohne  strenge  Form.  Plato  schienen  diese  Mimen  wichtig  ge- 
nug, um  sie  mit  nach  Athen  zu  nehmen  und  an  ihnen  die 
Schöilheit  des  dramatischen  Dialogs  zu  studiren.  Von  der  po- 
litischen Komödie  der  Attiker  ist  der  sicilische  Mimus  gänz- 
lich verschieden.  Eine  politische  Komödie  ist  nur  möglich  in 
einem  freien  Staate ;  auf  dem  von  Tyrannen  beherrschten  Sici- 
lien  konnte  sie  nicht  aufkommen.  Dagegen  wurde  der  Mimus 
in  einer  andern  Richtung  weiter  entwickelt:  in  der  bukoli- 
schen Poesie,  dem  lebendigen  Bilde  (Idyllion)  des  Hirtenlebens, 
wie  es  der  Syracusaner  Theokrit  (um  170  v.  Chr.)  entwirft. 
Zwar  war  das  Hirtenlied  schon  uralt  auf  der  Insel,  uralt  die 
Sage  vom  schönen  Daphnis  und  seinem  grausamen  Tode,  uralt 
die  Wettgesänge  der  Hirten  in  Begleitung  der  Pfeife:  aber 
Theokrit  hat  das  Verdienst,  diese  rohen  Gesänge  zu  künstleri- 
scher Vollendung  erhoben  zu  haben.  Man  würde  sich  ganz 
falsche  Vorstellungen  von  seinen  Idyllen  machen,  wenn  man 
unsere  moderne  Schäferpoesie  darin  suchen  wollte.  Theokrit  tritt 
keineswegs  aus  der  überfeinerten  Cultur  des  Stadtlebens  hin- 
aus in  die  freie  Natur,  um  sich  an  dem  harmlosen  Glücke  des 
unverdorbenen  Landmannes  zu  erfrischen  und  in  dem  Traume 
eines  goldenen  Zeitalters  zu  schwärmen;  er  nimmt  das  Leben, 
wie  es  ist;  durch  keine  Reflexion  gestört,  schildert  er  nur  die 
Hirten  und  Bauern  seiner  Heimat,  wie  sie  wirklich  sind. 
Bei  ihm  ist  keine  Spur  von  Allegorie,  wie  bei  Virgil,  keine 
Spur  von  Sentimentalität,  wie  in  den  Schäferspielen  eines  Gua- 
rini,  dagegen  Leben  und  Bewegung,  Licht  und  Schatten  und 
scharfe  Zeichnung  der  Charaktere.  Er  ist  darin  das  unüber- 
troffene Vorbild  aller  spätem  Bukoliker  bis  auf  den  Sicilianer 
Meli  und  unsern  Voss  herab  geworden.  —  Der  einmal  ange- 
schlagene Ton  klang  nun  Aveiter.  Wir  haben  noch  von  zwei 
andern  Dichtern  bukolische  Poesien:  von  Bion  aus  Smyrna 
und  Moschus  aus  Syracus.  Der  Erstere  lebte  vielleicht  mit 
Theokrit  gleichzeitig  in  Sicilien,  der  Letztere  gehört  der  gelehr- 


und  die  slcilianische  Poesie.  301 

ten  Alexandrinerzeit  an.  Seine  Idyllen  tragen  den  Stempel  des 
Gemachten  und  Gesuchten,  während  die  dem  Bion  zugeschrie- 
benen die  Anmuth  und  Naivetät  der  theokritischen ,  nur  viel 
grössere  Weichheit  zeigen.  Hiermit  schliesst  die  classische  Li- 
teratur in  der  griechischen  Zeit  ab.  Das  römische  Wesen,  Avel- 
ches  nun  immer  weiter  um  sich  griff,  trieb  keine  neuen  Blüthen 
auf  dem  erstorbenen  Stamme. 

Bevor  eine  neue  Literatur  sich  entwickeln  konnte,  musste 
sich  erst  aus  dem  wüsten  Treiben  der  Völkerwanderung  ein 
neues  Volk  auf  der  Insel  bilden.  Es  dauerte  Jahi-hunderte  hin- 
durch, ehe  dieser  neue  Verschmelzungsprocess  beendet  war. 
Das  jetzige  sicilische  Volk  ist  ein  Gemisch  aus  allen  den  Na- 
tionen, die  einst  über  Sicilien  geherrscht  haben,  doch  ist  der 
allgemeine  Typus,  mit  Ausnahme  einiger  wenigen  griechischen 
und  albanesischen  Colonien,  durchaus  der  italienische.  Das 
germanische  Element  ist  unverkennbar;  an  manchen  Orten  zeigt 
schon  das  hellere  Haar  und  die  blauen  Augen  die  deutsche  Ab- 
kunft der  Bewohner  an;  an  andern  dagegen  deutet  die  dunke- 
lere Hautfarbe  und  die  Elasticität  der  schlanken  Glieder  auf 
Sarazenenblut.  Dass  sich  viel  griechisches  Wesen  erhalten  hat, 
ist  aus  der  langen  Herrschaft  der  Griechen  leicht  begreiflich; 
dagegen  tritt  das  spanische  —  ebenso  wie  in  Neapel  —  mehr 
zurück;  es  scheint,  als  ob  die  Sprödigkeit  des  Spaniers  keine 
Mischung  begünstige. 

Ueber  den  Charakter  der  Sicilianer  hat  der  bekannte  Bo- 
gumil  Golz,  der  geschworne  Feind  der  italienischen  Nationalität, 
ein  hartes  Urtheil  gefüllt.  „Ganz  Italien,"  sagt  er,  „stellt  sich 
wie  ein  Theaterkram  dar.  Hinter  die  antiken  Coulissen  darf 
man  nicht  gucken  :  desinit  in  pisccm  etc.  All  diese  Kunst  und 
Natur  läuft  in  einen  Fisch  aus.  Ganz  besonders  aber  sind  die 
Sicilianer  ihren  Meerfischen  ähnlich,  bunte,  farbenschillerndc, 
gold-  und  silberlügende  Ungeheuerchen,  und  fischblütig  in  allen 
Augenblicken,  wo  nicht  eine  sinnliclic  Leidenschall  und  bestiale 
Wuth  den  Fisch  in  einen  geilen  Pavian  oder  in  einen  rache- 
schnaubenden Tiger  verwandelt  hat."  Dies  Urtheil  darf  uns 
aber   nicht   irre    führen.      So    weit    ich    B.  Golz    kennen  gelernt 


3Ö2  Gi  ovannl  Meli 

habe  (ich  traf  ihn  im  Jahre  1851  in  Neapel),  ist  es  eine  origi- 
nelle, in  sich  abgeschlossene  Natur,  wenig  geeignet,  fremdes 
Wesen  zu  verstehen.  Noch  dazu  felilt  ihm  der  rechte  Sinn  für 
Kunst  und  Alterthum.  Die  alten  Griechen  und  Römer  stehen 
bei  ihm  nicht  besser  angeschrieben,  als  ihre  jetzigen  Nachkom- 
men. Der  einseitige  moralische  Massstab  aber,  den  er  an- 
legt, reicht  für  Italien  nicht  aus.  Hören  wir  lieber  auf  das 
Urtheil  anderer  unbefangener  Männer,  die  Sicilien  gründlich 
kennen.  Sie  rühmen  fast  einstimmig  die  Biederkeit,  Massig- 
keit, Gutmüthigkeit  und  Gastfreiheit  der  Sicilianer;  sie  rühmen 
die  begeisterte  Vaterlandsliebe,  die  zu  allen  Opfern  fähig  ist, 
freilich  auch  vor  keinem  Mittel  zurückschreckt,  selbst  vor  dem 
Morde  nicht.  Darin  hat  Bog.  Golz  recht,  dass  es  den  Italie- 
nern überhaupt  an  der  rechten  Zucht  des  Geistes  fehlt,  aber 
wer  trägt  die  Schuld,  dass  das  mit  so  herrlichen  geistigen  An- 
lagen ausgestattete  Volk  ohne  alle  Zucht,  ohne  allen  Unterricht 
aufwächst?  Diese  Zucht  des  Geistes  fehlt  dem  Sicilianer  aller- 
dings auch.  Doch  behauptet  er  immer  noch  den  Vorrang  vor 
dem  Neapolitaner.  Es  liegt  in  seinem  Wesen  mehr  sittlicher 
Halt,  etwas  Feineres  und  Edleres,  während  die  leidenschaftliche 
Heftigkeit ,  die  grosse  natürliche  Begabung ,  der  drastische 
Witz,  die  üppige,  fast  orientalisch- überschwängliche  Phantasie 
beiden  Völkern  gemeinsam  sind.  Merkwürdigerweise  scheint 
dem  Sicilianer  der  allen  Italienern  eigene  Sinn  für  bildende 
Kunst  abzugehen,  wenigstens  ist  es  auffallend,  wie  wenig  Ma- 
ler und  Bildhauer  aus  Sicilien  hervorgegangen  sind ;  eine  eigene 
sicilianische  Kunstschule  gibt  es  nicht.  Dagegen  haben 
aber  die  Sicilianer  eine  treffliche  Literatur  und  behaupten  hierin 
entschieden  den  Vorrang  vor  ihren  Nachbarn.  „So  zarte,  duf- 
tige Blüthen  der  Lyrik,  so  schmelzende  Töne,  wie  sie  die  sici- 
lianische Poesie  aufzuweisen  hat,  finden  sich  nicht  in  Neapel." 
Hier  ist  die  niedere  Komik  heimisch:  die  Volkskomödie  mit 
ihrem  unerschöpflichen ,  aber  in  niederer  Sphäre  sich  bewegen- 
den Witze.  Dergleichen  muss  man  sehen  und  hören,  nicht 
lesen.  Die  Komik  des  Neapolitaners  liegt  hauptsächlich  in 
seinem  lebhaften  Mienenspiel  und  heftigen  Gesticulationen ,  mit 
denen  er  ja  schon  allein  reden  kann,  ohne  ein  Wort  zu  sagen. 
Das  lässt  sich  nicht  niederschreiben.    Anders  in  Sicilien.    Frei- 


und  die  sicilianische  Poesie.  30", 

lieh  macht  auch  ein  sicilianisches  Volkslied  einen  ganz  andern 
Kindruck,  wenn  es  zu  den  Tönen  der  calascione  in  den  zaube- 
rischen Nächten  des  Südens  sanft-klagend  ertönt,  als  wenn  man 
es  liest  —  aber  es  liest  sich  doch  noch  gut,  weil  es  Ge- 
halt hat. 

Nun  sollte  man  meinen,  der  sicilianische  Dialect  sei  ein  be- 
sonders wohlklingender  und  weicher  —  das  ist  aber  keineswegs 
der  Fall.  Im  Gegentheil,  er  berührt  das  an  toscanische  Klänge 
gewöhnte  Ohr  unangenehm  mit  seinen  dumpfen  U- Lauten  und 
spitzen  I- Lauten  und  durch  die  eigenthümlich  singende  Aus- 
sprache. Das  italienische  e  und  o  ist  nämlich  im  Sicilianischen 
fjist  immer  dem  i  und  u  gewichen ;  dies  sind  namentlich  die 
einzigen  Vocale ,  die  am  Ende  yorkommen ,  mit  Einschluss  des 
a,  welches  sein  gewöhnliches  Verhältniss  behauptet.  Eigenthüm- 
lich ist  die  Verwandlung  des  11  in  dd,  das  einen  Mittellaut  zwi- 
schen 1  und  d  bildet,  der  für  eine  fremde  Zunge  schwer  her- 
vorzubringen ist,  cavaddu,  beddu  für  cavallo,  hello;  ferner  der 
Uebergang  von  gl  in  ggh,  z.  B.  famigghie,  figghia  st.  famiglia, 
figlia,  ähnlich  Avie  die  neuere  Aussprache  das  1  auch  im  Fran- 
zösischen ganz  verschwinden  lässt.  Mit  den  übrigen  süditali- 
schen Dialecten,  dem  neapolitanischen  und  calabresischen  hat 
das  Sicilianische  den  Wechsel  des  fia,  fio,  flu  in  scia,  scio,  sein 
(xa,  xo,  xu)  gemein,  z.  B.  sciamma  st.  fiamma,  sciuri  st.  fiore; 
die  Assimilation  von  nd  in  nn:  linnu,  quannu  st.  lindo,  quando; 
chi  für  pi  mit  folgendem  Vocal:  chiü  st.  piü  u.  dergl.  ist 
ebenfalls  allen  diesen  Mundarten  gemeinsam.  Der  sicilianische 
Dialect  ist  übrigens  im  Wesentlichen  auf  der  ganzen  Insel  der- 
selbe, die  kleinen  Abweichungen  abgerechnet,  die  in  allen  Volks- 
dialecten  fast  von  Dorf  zu  Dorf  vorkommen.  So  haben  Pa- 
lermo, Messina  und  Syracus,  die  südliche  Küste  und  das  In- 
nere der  Insel  manche  Eigenthümlichkeiten  für  sich.  In  eini- 
gen Gegenden  finden  sich  viele  griechische  Wörter,  aber  ver- 
stümmelt und  italicnisirt;  in  andern  finden  sich  Spuren  des 
Provenzalischen,  und  an  der  Südwestküste  merkt  man  die  Nähe 
Africa's  an  mehreren  arabischen  und  maurischen  ^^'^örtern,  die 
in  andern  Theilen  der  Insel  nicht  üblich  sind,  obwohl  von  eben 
diesen  Sprachen  dem  Sicilianischen  überhaupt  eine  Menge  von 
Wörtern  beigemischt  ist.     Auf  das  Arabische   pflegt    man  auch 


304  Giovanni  Meli 

manche  Eigenheiten  der  Syntax,  z.  B.  den  Gebrauch  des  Da- 
tivs statt  des  Accusativs  zur  Bezeichnung  des  nähern  Objects 
zurückzuführen,  der  gar  nicht  selten  vorkommt,  z.  B.  amu  a 
tia  St.  amo  te;  ebenso  wie  in  andern  Sprachen,  namentHch  im 
Spanischen,  die  lange  Zeit  unter  dem  Einflüsse  des  Arabischen 
gestanden  haben.  Die  Volkssprache  von  Palermo  ist  die  gebil- 
detste, und  ihrer  haben  sich  daher  die  vaterländischen  Schrift- 
steller und  Dichter  von  jeher  bedient.  Die  schriftlichen  Ur- 
kunden aus  dem  dreizehnten  Jahrhundert  übrigens  beweisen, 
dass  sich  der  Volksdialect  in  diesem  langen  Zeiträume  wenig 
oder  gar  nicht  verändert  hat. 

Was  nun  die  Literatur  des  modernen  Sicilianischen  anbe- 
trifft, so  kann  man  in  der  Eutwickelung  desselben  drei  Blüthen- 
perioden  unterscheiden:  die  erste  im  zwölften  und  dreizehnten, 
die  zweite  im  sechzehnten  und  siebzehnten,  die  dritte  am 
Schlüsse  des  vorigen  und  Anfang  dieses  Jahrhunderts. 

Die  erste  Periode  bildet  die  normannische  oder  schwä- 
bische Zeit.  Die  Sicilianer  rühmen  sich  mit  Recht,  die  ersten 
Gedichte  in  der  Volkssprache  aufweisen  zu  können,  während 
man  bisher  lateinisch  gedichtet  und  geschrieben  hatte.  Daher 
nannte  man  solche  Gedichte  allgemein  sicilianische,  und  der  si- 
cilianische  Dialect  war  nahe  daran,  die  Sprache  der  Gebildeten 
in  ganz  Italien  zu  werden,  bis  Dante,  Boccaccio  und  Petrarca, 
dies  leuchtende  Dreigestirn  am  italienischen  Himmel  aufging 
und  mit  seinem  Glanz  alle  übrigen  Sterne  überstrahlte.  Ihre 
Sprache  war  aber  die  toscauische,  und  ihrem  Einfluss  ist  es 
zuzuschreiben,  dass  dieser  Dialect  die  allgemeine  Büchersprache 
geworden  ist.  Es  war  im  Italienischen  also  derselbe  Vorgang 
wie  im  Deutschen,  wo  die  Reformation  und  vor  allem  Luther's 
Bibelübersetzung  dem  Hochdeutschen  allgemeine  Geltung  ver- 
schaflften,  während  bisher  der  schwäbische  Dialect  in  der  Dich- 
tung vorgeherrscht  hatte.  Dante  sagt  über  das  Sicihsche  in  sei- 
ner Schrift  über  die  Volkssprache  (de  vulgari  eloquentia): 
„Alles,  was  die  Italiener  dichten,  wird  sicihanisch  genannt, 
aber  dieser  Ruhm  des  Landes  Trinakria  scheint,  wenn  wir  recht 
seine  Bedeutung  beachten,  nur  den  italienischen  Fürsten  zur 
Schmach  sich  erhalten  zu  haben ,  welche  nicht  auf  heroische, 
sondern    auf  plebejische   Weise    ihrer   Hoffarth    folgen.     Weil 


und  die  s  icilianische  Poesie.  305 

doch  die  berühmten  Heroen ,  der  Kaiser  Friedrich  und  sein 
wohlgeborner  Manfred,  dem  Adel  und  der  Gerechtigkeit  ihres 
Geschlechts  huldigend,  so  lange  das  Glück  es  erlaubte,  der 
Menschlichkeit  nachlebten  und  das  Brutale  verabscheuten,  wess- 
halb  alle,  die  mit  einem  edlen  Herzen  und  mit  Gaben  der  Gra- 
zien beschenkt  waren,  der  Majestät  so  grosser  Fürsten  nachzu- 
gehen sich  bemühten.  "Weil  nun  alles,  worin  zu  ihrer  Zeit  aus- 
gezeichnete Lateiner  glänzten ,  zu  allererst  aus  der  Aula  so 
gi'osser  Herren  hervorging,  und  weil  Sicilien  ein  königlicher 
Boden  war,  so  geschah  es,  dass  alles,  was  unsere  Vorfahren 
in  der  Muttersprache  hervorbrachten ,  sicilisch  genannt  wird, 
und  das  haben  wir  beibehalten  und  unsere  Nachkommen  wer- 
den es  nicht  ändern  können."  —  Wir  sehen,  wie  Dante  keine 
Ahnung  davon  hat,  dass  er  selber  dies  schon  ändern  sollte. 
Es  beweisst  dies  wieder,  wie  wenig  Werth  er  auf  seine  Ge- 
dichte in  der  Volkssprache  legte.  Erwartete  er  doch  seinen 
Nachruhm  von  dem  lateinischen  Epos  Scipio  Africanus,  das 
heutzutage  Niemand  mehr  liest ,  während  die  divina  commedia 
in  Aller  Munde  ist. 

Es  war  also  der  glänzende  Hof  zu  Palermo,  der  Hof  Fried- 
rich's  n. ,  von  dem  dieser  erste  Aufschwung  der  sicilianischen 
Poesie  ausging.  „Dorthin  kamen,"  so  erzählt  ein  alter  Novel- 
list, „alle  Leute,  die  tüchtig  waren,  von  allen  Seiten,  und  der 
Mann  gab  gern  und  reichlich  und  zeigte  ein  freundliches  Ge- 
sicht, und  wer  irgend  eine  besondere  Tüchtigkeit  besass,  kam 
zu  ihm:  Minnesänger  und  gute  Erzähler  (trovatori  e  belli  par- 
latori)."  Hier  erblühte  die  Minnepoesie  zum  ersten  Male  in 
Italien.  Ob  sie  aus  der  Provence  hierher  verpflanzt  wurde  oder 
ob  ihre  Anfänge  in  der  sarazenischen  Poesie  zu  suchen  sind, 
das  ist  fraglich ;  die  Sicilianer  entscheiden  sich  für  das  Letz- 
tere —  wohl  mit  Unrecht.  In  Palermo  schienen  die  alten  Zei- 
ten wieder  aufzuleben,  avo  an  dem  Hofe  der  Tyrannen  von  Sy- 
racus  sich  die  Lieblinge  der  griechischen  Muse  sammelten. 
Auf  den  klassischen  Fluren ,  über  denen  noch  der  Hauch  der 
theokritischen  Dichtung  schwebte ,  erklang  schüchtern  wieder 
der  Laut  der  sicilianischen  Leier.  Aber  wie  anders  war  die 
Welt  geworden!  In  Trümmern  lag  der  griechische  Kosmos, 
ne  Herrlichkeit  war 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXVH. 


306  Giovanni  Meli 

rel;  verklungen  waren  die  unsterblichen  Gesänge  Homer's ;  die 
herrlichen  Gestalten  des  antiken  Drama's,  der  erhabene  Flug 
Pindar's,  wer  kannte  sie  noch?  Man  musste  gleichsam  von 
vorne  wieder  anfangen.  „Der  Mensch  griff  denkend  in  seine 
Brust"  und  sang,  was  das  Herz  bewegte:  die  süsse  Minne. 
Der  gewaltige  Friedrich  selbst  griff  mit  seiner  schwertgewohn- 
ten Hand  in  die  Saiten  und  entlockte  ihnen  schmachtende  Lie- 
besklänge.    Eins  seiner  Lieder  ist  uns  noch  erhalten.*) 

Die  Söhne  Friedrich's,  Enzio  und  Manfred,  ahmten  dem 
Vater  nach  in  der  Liebe  zur  Dichtkunst.  Von  dem  Letztern 
erzählt  der  alte  Chronist  Matteo  Spinelli,  dass  er  häufig  des 
Nachts  ausging,  Lieder  und  Wechselgesänge  anstimmend;  er 
lustwandelte,  indem  er  die  Kühle  des  Abends  genoss ,  und  mit 
ihm  gingen  zwei  sicilianische  Musiker,  die  grosse  Romanzen- 
sänger waren."  Von  dem  unglückHchen  Enzio,  der  später  be- 
kanntlich den  Bolognesern  in  die  Hände  fiel  und  lebenslänglich 
im  Kerker  schmachten  musste,  von  diesem  Lieblingssohne  Fried- 
rich's haben  wir  ebenfalls  ein  sicilianisches  Gedicht,  worin  er 
seine  Liebespein  schildert  und  schliesslich  in  die  Worte  aus- 
bricht: „Keinen  Tag  habe  ich  Ruhe,  wie  das  Meer  und  die 
Wellen.  Herz,  warum  brichst  Du  nicht?  Entflieh  der  Qual, 
scheide  vom  Körper!  Denn  es  ist  viel  besser,  eine  Stunde  zu 
sterben  als  fortwährende  Qual  zu  erdulden.  Keine  Ruhe  ja 
findet  der  Mensch,  der  in  Schmerzen  lebt  und  keine  Freude 
hat  und  keinen  Gedanken,  den  das  Glück  eingibt." 

Neben  den  Gliedern  der  kaiserlichen  Familie  dichteten  viele 
hochgestellte  Staatsmänner,  vor  allen  der  ausgezeichnete,  hoch- 
begabte Petrus  de  Vincis  (Pietro  delle  Vigne),  lange  der  ver- 
trauteste Freund  und  Rathgeber  Friedrich's ,  bis  giftige  Ver- 
läumdung  ihn  in  den  Kerker  warf,  wo  er  in  Verzweiflung  sich 
selber  den  Kopf  an  einer  Säule  zerschmetterte.  In  seinen  Lie- 
dern singt  er: 


*)  Man  findet  es  in  der  Sammlung  italienischer  Lieder  des  hohenstaufi- 
schen  Hofes  in  Sicilien,  welche  der  literarische  Verein  in  Stuttgart  aus  dem 
Werke  des  Rosario  di  Gregorio :  discorso  intorno  alla  Sicilia,  Palermo 
1821,  besonders  hat  abdrucken  lassen. 


und  die  sicilianische  Poesie.  307 

„Wie  auf  dem  Meer  der  SchifTor,  hoflend  gute  Fahrt, 

Die  Segel  ausspannt  bei  des  Himmels  Bliiue; 

So  schwellet  Lieb',  mit  Sehnsuchtsdrang  gepaart, 

In  Hollnung  mir  das  Herz,  das  liebestreue, 

Dass  ich,  verachtend  Schmerz  und  bittre  Todespein, 

An  eines  nur  gedenk  —  bei  Euch  zu  sein." 

Vor  dieser  Blüthe  des  sicilianischen  Hofes  wird  uns  nur 
der  Name  eines  einzigen  Dichters  genannt,  der  für  den  älte- 
sten überhaupt  gilt,  den  Sicilien  aufzuweisen  hat:  Ciullo  d'Al- 
camo  (um  1190).  Von  seinen  Lebensumständen  ist  nichts  be- 
kannt. Einige  seiner  Gedichte  sind  erhalten,  unter  andern  ein 
Wechselgesang  zwischen  einem  Liebenden  und  seiner  Geliebten. 
Er  steht  im  Garten  und  will  sie  durch  süssen  Gesang  herab- 
locken, sie  antwortet  vom  hohen  Balcone  spröde  und  stolz;  sie 
droht  mit  ihrem  Vater  und  ihren  Brüdern,  er  aber  lässt  sich 
nicht  abschrecken;  er  will  sich  vor  ihren  Augen  durchbohren, 
wenn  sie  ihn  abweist;  sie  aber  verlangt  von  ihm  einen  Schwur 
auf  das  Evangelium,  dass  er  sie  zum  Altar  führen  wolle  vor 
allem  Volk,  und  erst  als  er  dies  geschworen,  gesteht  sie  ihm 
ihre  Gegenliebe. 

Von  den  übrigen  sicilianischen  Sängern,  deren  uns  noch 
viele  genannt  werden  (auch  eine  Sängerin:  die  Nina  Siciliana), 
ist  am  ausgezeichnetsten  der  Notar  Jacopo  von  Lentini  (Leon- 
tini)  an  Lieblichkeit  und  Fruchtbarkeit.  Wir  haben  von  ihm 
noch  mehrere  Canzonen  und  fünfzehn  Sonette.  Eins  davon  hat 
Gregorovius  übersetzt  (Lieder  des  Giovanni  Meli,  Leipzig 
1856,  S.  XXV).  Ein  anderes,  von  ihm  nicht  übersetztes,  lau- 
tet etwa  so: 

„So  schüchtern  bin  ich  und  so  ganz  befangen, 
So  oft  ich  ihr  nur  gegenüberstehe, 
Dass  ich  nicht  sagen  kann  mein  heiss  Verlangen 
Und  tief  im  Herzen  berg'  mein  heimlich  Wehe. 

Wie  oft  schon  hielt  verschwunden  ich  mein  Bangen, 
Zu  sagen,  andern  gleich,  was  ich  erflehe! 
,  Doch  seh  ich  euch,  ihr  minniglichen  Wangen, 

So  fühl  ich,  dass  mein  Denken  schier  vergehe. 

Und  solche  Furcht  will  mir  das  Herz  erfassen. 
Ich  macht  euch,  Herrin,  minder  wohl  gefallen, 
Das  ich  mich  zügle,  eh'  das  Wort  gefunden. 

20* 


308  Giovanni  Meli 

Und  diese  Furcht  will  nimmer  mich  verlassen. 
Kühn  biet'  ich  wohl  im  Streit  die  Stirne  allen, 
Doch  Euer  Drohn  ist  schrecklicher  als  Wunden." 

Dieser  Liederfrühling,  der  unter  den  Hohenstaufen  auf 
Sicilien  erblühte ,  war  von  kurzer  Dauer.  Die  politischen 
Stürme,  die  nach  Friedrich's  II.  Tode  über  die  Insel  dahinbrau- 
sten,  streiften  die  zarten  Blüthen  ab;  unter  dem  blutigen  Scep- 
ter  der  Anjou's  konnte  die  Dichtung  nicht  gedeihen,  und  auch 
nachdem  die  sicilianische  Vesper  das  Land  von  den  anmassen- 
den  und  sittenlosen  Fremdlingen  gereinigt  hatte,  kehrte  unter 
der  schlechten  Regierung  der  spanischen  Vicekönige  die  Behag- 
lichkeit des  Daseins  nicht  wieder,  welcher  die  Musen  hold  sind. 
Sie  kehrten  bei  andern  Stämmen  ein,  die  lingua  Toscana  er- 
rang die  Herrschaft.  Mit  ihrer  Anmuth  und  Feinheit,  mit 
ihrer  vollendeten  Technik,  die  sie  durch  ihre  grossen  Meister  in 
kurzer  Frist  gewann,  konnte  sich  das  Sicilianische  bald  nicht 
mehr  messen;  neben  der  vornehmen  Schwester  spielt  sie  von 
jetzt  ab  eine  untergeordnete  Rolle.  Die  eingebornen  Dichter 
verschmähten  es,  in  der  Landessprache  zu  reden;  diese  blieb 
nur  noch  in  dem  Munde  des  gemeinen  Volkes.  Sie  theilt  nun 
mit  allen  Volksmundarten  dasselbe  Schicksal ;  sie  lebt  weiter 
ohne  eigentliche  Geschichte;  sie  bleibt  auf  derselben  Stufe  ste- 
hen, wo  sie  im  dreizehnten  Jahrhundert  stand ,  und  es  bedarf 
erst  wieder  eines  hervorragenden  Genies,  um  sie  aus  der  Bauern- 
hütte wieder  in  den  Fürstenpalast  einzuführen. 

Die  zweite  Blüthenperiode  beginnt  mit  dem  fünfzehn- 
ten Jahrhundert.  Es  war  die  Zeit,  wo  in  dem  benachbarten 
Neapel  der  berühmte  Sannazaro  blühte  und  durch  seine  Arca- 
dia  den  Reigen  der  arcadischen  Dichter  eröffnete.  Es  war  für 
dag  Sicilianische  von  besonderer  Bedeutung,  dass  er  es  nicht 
verschmähte,  von  der  Höhe  des  lateinischen  Parnass  ,  auf  dem 
er  sich  heimisch  fühlte,  in  die  niedrigen  Regionen  des  calabre- 
sischen  Dialects  hinabzusteigen.  Vor  allem  aber  fand  die  arca- 
dische  Poesie  Anklang  auf  der  Insel,  die  einst  ihre  Heimat 
gewesen  war.  Hier  weidete  der  Rinderhirt  noch  das  röthliche 
Hornvieh,  wie  zu  den  Zeiten  Theokrit's,  und  der  Ziegenhirt 
trieb  die  Heerde  auf  die  schroffen  Felsabhänge  der  kräuterrei- 
chen Berge;  noch  hing  ihm,  wie  ihn  Theokrit  schildert: 


und  die  sicilianische  Poesie.  309 

„—   des  rauhen  und  dichtgezottelten  Bockes 
Weissliches  Fell  um  die  Schulter,  vom  frischen  Labe  noch  duftend, 
Rings  auch  war  um  den  Busen  ein  altes  Gewand  ihm  geschnüret 
Mit  dem  geflochtenen  Gurt  —  und  den  waldölbaumenen  Krummstab 
Trug  er  daher  in  der  Rechten." 

Noch  jetzt  lebte  die  alte  Lust  am  Wettgesange;  noch  jetzt 
setzte  er  seine  Hirtentasche  oder  einen  künstlich  geschnitzten 
Stab  zum  Preise  und  ernannte  einen  Kampfrichter  aus  seinen 
Genossen,  die  ihn  begierig  lauschend  umstanden.  Man  brauchte 
nur  in's  Leben  hineinzugreifen,  um  Poesie  zu  finden. 

Anders  freilich  war  die  Welt  der  arcadischen  Schäfer,  wie 
sie  Guarini  in  seinem  pastor  fido  schuf  und  wie  sie  bald  in 
den  Köpfen  aller  Dichter  inner-  und  ausserhalb  Italiens  spukte. 
Diese  schmachtenden ,  sentimentalen  Schäfer  und  Schäferinnen, 
die  nur  zum  Scherz  das  liirtcngewand  über  die  parfümirten 
Modekleider  geworfen  hatten,  existirten  nirgends,  am  wenigsten 
in  Sicilien.  Und  doch  trieb  auch  hier  eine  Zeitlang  die  spie- 
lende Schäferpoesie  ihr  Wesen,  und  es  kostete  viel,  ehe  sie 
wieder  der  Naturwahrheit  wich  und  zu  der  ursprünglichen 
Frische  und  Lebendigkeit  zurückkehrte. 

Wie  im  übrigen  Italien  in  dieser  Periode,  bildeten  sich  auch 
in  Sicilien  Akademien  zur  Pflege  der  Dichtkunst,  mit  allem 
dem  tändelnden  Flitterstaate,  der  uns  aus  der  Geschichte  der 
deutschen  fruchtbringenden  Gesellschaft,  des  Blumenordens  oder 
der  Pegnitzschäfer  u.  s.  w.  hinreichend  bekannt  ist.  In  Pa- 
lermo wurde  1568  die  Akademie  digli  Accesi  (der  Entbrannten) 
gestiftet.  Ihr  Wahrzeichen  war  der  wachsende  Mond  mit  der 
Inschrift:  Revertens  colligit  ignes.  Kurz,  Sicilien  machte  mit 
dem  übrigen  Italien  ganz  dieselbe  Entwickelimg  durch,  nur 
ohne  Meister  aufweisen  zu  können,  die  den  Toscancrn  ebenbür- 
tig an  die  Seite  treten  konnten. 

Da  erhob  sich  in  der  zweiten  Hälfte  des  sechzehnten  Jahr- 
hunderts die  sicilianische  Poesie  zu  neuer  Blüthe  durch  das  be- 
deutende Talent  eines  Mannes,  dem  man  den  Ehrentitel  Pocsis 
Siculae  princeps  et  magister  mit  Fug  und  Recht  gegeben  hat. 
Es  ist  Don  Antonio  Vcncziano  von  Monrcale,  aus  dem  alten 
Geechlechte  der  Olor  (geboren  1543).  Seine  umfassenden 
Kenntnisse,  seine  ausgezeichneten  Gaben  erwarben  ihm  die  Be- 


310  Giovanni  Meli 

wunderung  seiner  Zeitgenossen ;  seine  romanhaften  Schicksale 
—  er  war  eine  zeitlang  Sclave  in  Algier  —  und  sein  tragisches 
Ende  erregen  die  Theilnahme  der  Nachwelt.  Von  seiner  Be- 
gabung zeugt  der  Umstand,  dass  er  in  vier  Sprachen:  latei- 
nisch, spanisch,  toscanisch  und  sicilianisch  mit  gleichem  Glücke 
dichtete.  Sein  Hauptverdienst  aber  blieb  die  Pflege,  die  er  der 
Volkssprache  nach  so  langer  Vernachlässigung  wieder  angedei- 
hen  Hess.  Er  brachte  den  slcilianischen  Dialect  nicht  nur  Avie- 
der  zu  Ehren,  sondern  erhob  ihn  auch  zu  solchem  Grade  der  Aus- 
bildung, dass  seine  Werke  eine  unerschöpfliche  Fundgrube  des 
reinen  volksthümlichen  Ausdrucks  für  alle  Folgenden  geblieben 
sind.  Die  Mannigfaltigkeit  seiner  Dichtungen  ist  erstaunlich: 
er  schrieb  geistliche  und  weltliche  Lieder,  Canzonen,  Epigramme, 
burleske  Lieder,  gereimte  Sprichwörter,  aber  mit  Geist  und 
Grazie  und  sprühendem  Witze,  der  ihm  in  der  hervorragend- 
sten Weise  zu  Gebote  stand.  Er  gebrauchte  ihn  namentlich, 
um  seine  Gegner  mit  der  beissendsten  Satire  zu  geissein.  Da 
er  aber  auch  die  Regierung  nicht  schonte,  Hess  ihn  der  spa- 
nische Vicekönig  in  den  Thurm  von  Castellamare  bei  Palermo 
werfen.  Eines  Tages  fiel  Feuer  in  die  Pulverkammer;  der 
Thurm  flog  in  die  Luft,  mit  ihm  der  unglückliche  Dichter,  der 
also  ein  plötzliches  und  beklagenswerthes  Ende  fand.  Der 
grosse  Torquato  Tasso,  der  eben  über  das  Meer  herübergekom- 
men war,  um  den  Freund  zu  besuchen,  fand  nur  noch  den 
grässlich  verstümmelten  Leichnam.  Sein  Kopf  war  lange  in 
der  Kirche  St.  Vitale  in  Palermo  öflfentlich  ausgestellt  und  trug 
einen  Zettel  im  Munde  mit  der  Inschrift:  Hoc  caput  est  bonae 
memoriae  Antonii  Venetiani  de  civitatate  Montis  Regalis  (das 
will  uns  barbarisch  dünken,  ist  aber  in  Sicilien  nichts  unge- 
wöhnliches, wo  man  am  Allerseelentage  sogar  Pyramiden  von 
Todtengebeinen  und  Schädeln  in  den  Kirchen  aufzubauen  pflegt). 
Veneziano  hatte  der  volksthümlichen  slcilianischen  Poesie  Avie- 
der  Bahn  gebrochen.  Das  siebzehnte  Jahrhundert  Avimmelt  von 
Dichtern  und  Dichterlingen,  die  in  seine  Fusstapfen  traten.  Wir 
können  sie  mit  Stillschweigen  übergehen,  da  sie  ganz  dem  da- 
mals herrschenden  Geschmacke  huldigen.  Dieser  begünstigte 
vor  allem  das  Melodrama.  Man  pflegte  dergleichen  zur  Ver- 
herrlichung der  Hoffeste   in  den  Residenzen  mit  grosser  Pracht 


und  die  sicilianische  Poesie.  311 

aufzuführen.  Es  ist  der  Anfang  der  Oper,  die  in  Italien  zu- 
erst aufkam  und  dann  die  Runde  durch  ganz  Europa  machte, 
so  dass  es  bald  Sitte  an  den  Höfen  wurde,  einen  italienischen 
Hofpoeten  und  einen  italienischen  Sängerchor  zu  halten.  Auch 
in  Sicilien  wurden  öfters  am  Hofe  des  Vicekönigs  Melodramen 
aufgefülu-t,  in  denen  die  ersten  Barone  und  die  vornehmsten 
Frauen  mitspielten. 

Unter  den  eigentlichen  Volksdichtern  verdienen  vor  Meli 
nur  noch  zwei  der  Erwähnung.  Pio  Fulconi,  ursprünglich  ein 
Steinhauer ,  aber  ein  unerschöpflich  fruchtbares  Dichtergenie, 
dessen  Lobgesang  auf  die  heilige  Rosalie,  die  Schutzpatronin 
Palermo's,  grossen  Kuf  erlangte  (gestorben  1670),  und  der 
Marchese  Eao  y  Requesens  (geboren  1609,  gestorben  1659), 
später  Bischof,  als  Gelehrter  und  Dichter  gleich  ausgezeichnet. 
Er  schrieb  in  lateinischer,  toscauischer  und  sicilianischer  Sprache, 
aber  seine  Berühmtheit  verdankt  er  den  sicilianischen  Liedern, 
die  neben  denen  des  Yeneziano  noch  jetzt  als  Muster  gelten. 
Giovanni  Meli  hat  aus  ihnen  geschöpft. 

Dieser  nun  ist  unstreitig  der  bedeutendste  Dichter,  der 
eigentliche  Volksdichter  Siciliens. 

Giovanni  Meli  wurde  den  4.  März  1740  in  Palermo  ge- 
boren. Wenn  das  Sprichwort  nomen  et  omen  wahr  ist,  so 
konnte  man  unserm  Meli  aus  seinem  Namen  eine  glückliche 
Zukunft  prophezeien,  mochte  man  ihn  nun  aus  dem  griechischen 
ILiikog  deuten  oder  aus  dem  sicilianischen  meli  {/naXi,  mel)  und 
sich  dabei  der  Sage  erinnern,  die  von  mehr  als  einem  Dichter 
und  AN^eisen  des  Alterthums  im  Schwange  ging,  dass  Bienen 
ihnen  noch  in  der  Wiege  den  Mund  mit  Honigseim  netzten, 
damit  die  Rede  süsser  als  Honig  ihren  Lippen  entströme.  Meli 
studirte  in  Palermo  Medizin,  trieb  aber  daneben  auch  philoso- 
phische Studien;  er  machte  sich  sogar  mit  der  Wolfischen  Phi- 
losophie bekannt,  die  ihren  Weg  bis  Sicilien  gefunden  hatte. 
Aber  bald  trieb  den  jungen  Mediziner  ein  unbczwinghcher 
Drang  zur  schönen  Literatur;  er  las  Dante,  Petrarca,  Ariosto, 
besonders  den  letztern,  der  seinem  heitern  Naturell  am  meisten 
zusagte.  Der  in  ihm  schlummernde  Dichtergenius  begann  nun 
seine  Schwingen  zu  regen.  Meli  verfasste  mehrere  Gedichte  in 
toscauischer  Sprache,  die  eine  ungewöhnliche  Begabung  verrie- 


312  Giovanni  Meli 

then.  Hierdurch  zog  er  die  Aufmerksamkeit  des  principe  An- 
tonio Luccheri  Palli  von  Campofranco,  eines  glühenden  Patrio- 
ten, auf  sich,  der  damals  in  seinem  Palaste  von  Palermo  eine 
Akademie  von  Gelehrten  und  Dichtern  um  sich  sammelte.  Er 
zog  den  jungen  Meli  an  sich ,  und  seinem  Einflüsse  ist  es  zu- 
zuschreiben, dass  dieser  sich  entschloss,  von  nun  an  nur  in  si- 
cilianischer  Mundart  zu  dichten.  Es  war  ein  Opfer,  das  er  sei- 
nem Vaterlande  brachte,  wenn  er  so  auf  Anerkennung  in  wei- 
tern Kreisen  verzichtete;  er  glaubte  aber,  es  bringen  zu  müs- 
sen und  brachte  es  gern.  Denn  grade  damals  regte  sich  die  Va- 
terlandsliebe der  Sicilianer  mächtig ;  es  war  die  Zeit,  wo  unter  der 
milden  Regierung  des  Bourbonen  Karl's  III.  ein  reges  geistiges 
Leben  in  dem  benachbarten  Neapel  aufzublühen  begann.  Da 
wollten  auch  die  Sicilianer  nicht  zurückbleiben ,  und  es  begann 
ein  edler  Wettstreit  zwischen  den  Nachbarvölkern,  an  dem  auch 
Meli  sich  betheiligte.  Er  warf  sich  nun  mit  Leidenschaft  auf 
das  Studium  der  altern  sicilianischen  Dichtern,  besonders  des 
Veneziano  und  des  Rao,  doch  lauschte  er  auch  der  Ausdrucks- 
weise des  Volks  auf  den  Märkten  und  Gassen  und  auf  den 
Feldern  und  Triften  und  lernte  seine  kernigen  Sprüche ,  seine 
poetischen  Bilder  und  seine  treffenden  Spottreden.  Aber  dies 
alles  verklärt  er  mit  dem  Hauche  edler  Anmuth  und  warmer 
Begeistei'ung;  er  vermeidet  die  gefährliche  Klippe,  an  Avelcher 
der  Volksdichter  so  leicht  scheitern  kann,  wenn  er  recht  popu- 
lär sein  will:  er  vermeidet  das  Gemeine,  Platte,  Anstössige;  er 
stellt  den  ganzen,  vollen  Volkscharakter  dar,  aber  gleichsam  in 
idealer  Verklärung,  wie  es  der  wahren  Dichtung  ziemt.  Meli 
umfasste  als  classisch  gebildeter  Mann  zugleich  auch  das  gi'ie- 
chische  und  römische  Alterthum  und  vereinigt  somit  alle  ßil- 
dungselemente  in  sich,  die  auf  der  Insel  leben.  Hätten  damals 
schon  die  sarazenischen  Studien  geblüht,  die  man  in  neuester 
Zeit  dort  mit  grossem  Eifer  begonnen ,  so  würde  sich  Meli 
sicherlich  auch  dieses  Element  angeeignet  haben.  Vor  allem 
blühte  in  ihm  wieder  die  bukolische  Poesie  auf,  wie  sie  einst 
auf  der  Insel  heimisch  gewesen  Avar.  Da  alle  die  Bedingungen, 
welche  die  alte  bukolische  Poesie  hervorgerufen  hatten,  noch 
damals  auf  der  Insel  vorhanden  waren,  so  bedurfte  es  für  ein 
natürliches,  unbefangenes   Dichtergemüth  nur   eines   Schrittes, 


und  die  sicilianische  Poesie.  313 

um  aus  der  Unnatur,  zu  welcher  die  arcadische  Poesie  gewor- 
den war,  wieder  zur  Natur  zurückzukehren.  Diesen  Schritt 
that  Meli.  Die  Hirten,  die  er  uns  vorführt,  sind  lebenskräftige 
Gestalten,  die  Situation  ist  ungezwungen,  die  Charaktere,  Sitten 
und  Gebräuche  aus  dem  Leben  gegriffen.  Die  Namen  freilich 
sind  aus  Theokrit  entlehnt,  aber  diese  Damötas  und  Phyllis  sind 
leibhafte  Sicilianer ;  Apollo ,  Venus  und  Amor  nehmen  sich  — 
Avie  Gregorovius  so  schön  bemerkt  —  in  diesem  Wildgarten  der 
Poesie  grade  so  heimisch  und  altehrwürdig  aus,  wie  die  griechi- 
schen, von  Lianen  umschlungenen  Säulen  in  der  Landschaft  Sici- 
liens.  Meli  steht  dem  Geiste  nach  Theokrit  am  nächsten,  doch 
reicht  er  bei  weitem  nicht  an  dessen  durchsichtige  Klarheit  und 
plastische  Form;  wie  sollte  auch  der  ungebildete  sicilianische 
Dialect  mit  der  vollendeten  Schönheit  der  hellenischen  Sprache 
wetteifern  können!  Ausserdem  ist  Meli  zu  sehr  Lyriker,  um 
diese  Verschmelzung  des  Epischen  und  Lyrischen,  des  Anschau- 
lichen mit  dem  Empfundenen,  wie  sie  die  Idylle  verlangt,  durch- 
führen zu  können.  Dagegen  besitzt  er  in  vollem  Masse  die 
uralte  sicilianische  Gabe  der  Mimik,  die  seinen  Hirtenliedern 
denselben  Zauber  der  Frische  und  Lebendigkeit  verleiht,  wie 
denen  des  Theokrit.  Meli  hat  seine  Idyllen,  die  er  Jahres- 
zeiten nennt,  in  wechselnden  Versmassen  geschrieben.;  Terzi- 
nen und  versi  scialti  wechseln  darin  ab,  die  eingeflochtenen  ly- 
rischen Stücke  haben  die  gewöhnlichen  italienischen  Versmasse. 
Gregorovius  hat  sie,  mit  Ausnahme  der  lyrischen  Partien,  in 
Hexameter  übersetzt,  gewiss  mit  Eecht.  Die  lebendigste  unter 
ihnen  ist  „die  Fischer-Idylle,''  das  Liebesgeschwätz  dreier  Mäd- 
chen, in  denen  sich  jungfräuliche  Anmuth  auf's  reizendste  mit 
ländlicher  Derbheit  paart  (S.  203). 

Das  mimische  Talent  Meli's,  das  sich  so  schön  in  diesen 
Gedichten  zeigt,  tritt  besonders  hervor  in  seinem  Dithyram- 
bus. Es  ist  ein  scherzhaftes  Gedicht,  das  Trunkenbolde  in 
einer  Weinschenke  reden  und  gastiren  lässt;  voll  unerschöpflicher 
Laune  und  Komik.  Als  Vorbild  mag  ihm  Redi's  berühmter 
Dithyrambus  „Bacchus  in  Toscana"  gedient  haben,  :ibcr  er  lässt 
seinen  Vorgänger  weit  hinter  sich  zurück.  Zu  solchen  Gedich- 
ten ist  grade  der  sicilianische  Dialect  am  meisten  geeignet;  hier 
kann   er   am   besten   seinen  Keichthum   an   komischen  Wörtern, 


314  Giovanni  Meli 

Wendungen  und  Bildern  offenbaren.  Eine  Uebersetzung  ist 
fast  unmöglich,  doch  hat  sie  Gregorovius  mit  Glück  versucht 
(in  der  Mitte  hat  er  freilich  zur  Prosa  seine  Zuflucht  nehmen 
müssen).  Er  nennt  dies  Gedicht  den  sicilianischen  Weinschwelg, 
nach  dem  bekannten  deutschen  Gedichte  des  Mittelalters.  Inter- 
essant ist  es,  beide  in  Bezug  auf  den  verschiedenen  Volkscha- 
rakter mit  einander  zu  vergleichen.  Der  deutsche  Weinschwelg 
zeichnet  sich  besonders  durch  die  enormen  Quantitäten  aus,  die 
er  zu  sich  nimmt.  Je  länger  er  trinkt,  desto  mächtiger  werden 
seine  Züge  und  endlich  muss  er  einen  eisernen  Panzer  anlegen, 
um  gegen  die  Geister  des  Weins,  die  ihre  Hülle  zu  sprengen 
drohen,  gewappnet  zu  sein.  Dabei  ergeht  er  sich  in  gemüth- 
licher  Weise  im  Preise  des  Weins,  ohne  seinen  Sitz  zu  verlas- 
sen, nur  einmal  heisst  es :  do  begunde  er  springen  unde  treten 
manigen  sprunc  seltsaenen.''  Anders  der  sicilianische  Zecher. 
Das  Vieltrinken  ist  bei  ihm  Nebensache,  auch  steht  er  darin 
entschieden  dem  Deutschen  nach;  aber  die  Wirkung  des  Wei- 
nes macht  sich  in  viel  lauterer  Weise  bemerklich ;  das  Gemach 
wird  ihm  bald  zu  enge,  aufgeregt  durchzieht  er  die  Strassen, 
geräth  in  dithyrambische  Verzückung  und  bricht  in  bacchanti- 
schen Jubel  aus  (S.  127).  Der  Weinschwelg  beweist  Meli's 
Meisterschaft  in  der  Behandlung  der  Sprache,  es  ist  ein  förm- 
licher Sprachstrudel,  in  den  er  uns  hineinreisst;  aber  seine 
Hauptstärke  liegt  doch  in  den  Oden.  Wie  dort  Aristophanes, 
so  ist  hier  Aiiakreon  wieder  lebendig  geworden.  Ueber  diesen 
Liedern,  den  schönsten,  die  Italien  überhaupt  hervoi-gebracht 
hat,  ruht  eine  heitere  Klarheit,  wie  über  den  lichten  Fluren 
Siciliens  der  sonnenhelle  Tag ;  es  weht  darüber  ein  zarter  Duft, 
wie  um  die  würzigen  Kräuter,  auf  denen  die  hybläischen  Bie- 
nen ihren  Honig  sammeln.  Zu  den  gelungensten  möchten  fol- 
gende gehören:  die  Locken  (S.  8),  die  Augenbrauen  (S.  12), 
die  Lippe  (S.  16),  die  Stimme  (S.  20),  die  Grille  (Nachahmung 
des  Anakreon,  S.  42),  die  Trennung  (S.  67),  die  Fischer  (S.  89). 
Weniger  gelungen  sind  Meli's  Sonette,  dagegen  sind  die 
sogenannten  C  a  p  i  t  e  1 ,  Gedichte  vermischten  Inhalts,  didaktisch, 
komisch,  burlesk,  durch  Witz  und  Phantasie  höchst  angenehm. 
So  die  Akademie  der  Antiquare  (S.  97),  Lob  der  Fliege  (S.  149), 
Lebensregeln  (S.  134). 


und  die  sicilianische  Poesie.  315 

Am  glücklichsten  ist  Meli  im  heitern  Spiel  des  Scherzes, 
als  echter  Südländer,  dem  die  Schwermuth  von  Natur  fremd 
ist.  Daher  ist  ihm  die  Elegie  nicht  gelungen.  Wenn  er  trau- 
rig sein  will,  so  macht  es  den  Eindruck,  wie  Gregorovius  sagt, 
als  ob  ein  schönes ,  lebenslustiges  Kind  sich  die  Maske  eines 
schwermüthigen  Gesichts  vorhält,  dahinter   es  doch  nur  kichert. 

Dagegen  zeichnen  sich  seine  Fabeln  durch  Originalität, 
Leichtigkeit  und  Sinnigkeit  aus.  So  die  Schnecken  (S.  171),  die 
Krebse  (S.  172),  die  Haubenlerche  und  der  Bachstelz  (S.  174), 
Aesop  und  der  Vogel  Langzunge  (S.  177),  die  Fliegen  und  die 
Spinne  (S.  182). 

Die  dramatische  Poesie  ist  von  Meli  nicht  gepflegt  worden, 
wie  denn  die  Sicilianer  überhaupt  kein  Nationaldrama  besitzen, 
so  wenig  wie  sie  es  im  Alterthume  besessen  haben.  Ansätze 
dazu  finden  sich  allerdings  in  den  vorhin  erwähnten  Mimen 
des  Epicharmus  und  des  Sophron ,  aber  es  sind  nur  einzelne 
Scenen ,  Genrebilder  aus  dem  Volksleben ,  ohne  strenge  Form 
und  regelrechte  Entwickelung.  Darüber  sind  auch  die  heutigen 
Sicilianer  nicht  hinausgekommen. 

Ebensowenig  ist  Meli  das  Epos  gelungen,  obwohl  er  sich 
auch  darin  versucht  hat,  freilich  nur  im  komischen  Helden- 
gedicht. Am  besten  liest  sich  noch  sein  Don  Chisciotto  und 
Sancin  Panza.  Die  Schwäche  der  Erfindung  Avird  einigermassen 
verdeckt  durch  die  höchst  komische  Behandlung  der  einzelnen 
Scenen.  Interessant  ist  dieser  Versuch  auch  desshalb,  weil  er 
das  Verhältniss  der  Sicilianer  zu  den  Spaniern,  unter  deren 
Herrschaft  sie  so  lange  standen,  beleuchtet.  Für  uns  ist  wenig 
Ansprechendes  darin. 

Meli  starb  am  20.  December  1815  zu  Palermo.  Seine  kurze 
Lebensbeschreibung,  die  man  seinen  Werken  vorgedruckt  hat, 
rühmt  von  ihm:  „Er  hatte  zu  Bewunderern  das  Vaterland,  Ita- 
lien, Frankreich,  England,  Deutschland,  und  allerwärts  wurden 
seine  AVerkc  begehrt  und  in  fremde  Sprachen  übersetzt.  Na- 
mentlich lobte  ihn  ein  Alficri,  ein  Cesarotti,  ein  Kezzonico,  ein 
Denina,  ein  Metastasio,  l*ananti  und  Costi,  der  eigens  nach  Pa- 
lermo kam,  um  seine  Meinung  zu  hören ,  bevor  er  seine  „Re- 
denden Thiere"  und  seine  „Novellen"  veröffentlichte.  Zu  seinen 
Lebzeiten    liess  Leopold    von    Bourbon    in    Deutschland    eine 


316  Giovanni  Meli  etc. 

Münze  auf  ihn  prägen ,  so  dass  er  noch  bei  seinem  Leben  in 
dem  allgemeinen  Lobe  seine  Fortdauer  zu  ahnen  vermochte. 

Er  war  klein  von  Gestalt,  eher  beleibt  als  hager,  lebhaften 
Auges;  seine  Stirn  war  breit  und  gefurcht,  seine  Nase,  Lippen, 
Kinn  und  alle  Formen  waren  stark,  seine  Gesichtsfarbe  war 
braun.  Seine  Seele  war  sanft  und  gutmüthig,  und  nie  weder 
von  Neid,  noch  von  Hass  oder  von  niedriger  Empfindung  erregt. 
Er  war  beredt  im  Gespräch  und  von  schnellfertigem ,  sinnrei- 
chem Witze.  Er  war  der  sanftesten  Eindrücke  fähig,  des  Mit- 
leids, der  Freundschaft,  der  Liebe  und  Dankbarkeit." 

In  der  Kirche  des  heiligen  Franciscus  zu  Palermo  liegt 
Meli  begraben.  Seine  lateinische  Grabschrift  nennt  ihn  mit  vol- 
lem Rechte  den  Ruhm  und  die  Lust  der  sicilianischen  Musen 
und  den  zweiten  Theokrit  und- Anakreon ;  und  sehr  wahr  sagt 
jener  Lebensabriss  am  Ende:  „Der  Stolz  des  dankbaren  Vater- 
landes auf  einen  solchen  Sohn  ist  um  so  grösser,  je  trauriger 
das  Elend  der  Gegenwart  ist." 

Wittenberg.  Dr.  Wentrup. 


U  e  b  e  r   L  o  m  o  n  ö  s  s  o  f  f. 

geb.  1711  —  gest.  176.5. 


Bevor  ich  mir  erlaube  die  beiden  Bildchen,  die  ich  als  Cartons 
zum  Leben  dieses  grossen  Mannes  gezeichnet  habe,  vor  dem  Leser  auf- 
zustellen, sei  es  mir  vergönnt,  einige  allgemeine  Vorbemerkungen  vor- 
auszuschicken, bestimmt,  diesen  flüchtig  entworfenen  Skizzen  als  Hinter- 
grund zu  dienen  und  den  Grundton  für  dieselben  anzugeben. 

Peter  der  Grosse  hatte  bei  den  mannichfaltigen  Neuerungen,  die 
er  in  seinem  Riesenreiche  einführte,  die  Regeneration  der  Sprache  nicht 
vergessen.  Er  hatte  ein  neues,  vereinfachtes  Alphabet  anfertigen  und 
eine  russische  Druckerei  —  letztere  freilich  zunächst  nur  zu  Staats- 
zwecken —  errichten  lassen  und  den  Befehl  ertheilt,  sich  der  russischen 
Sprache  fortan  in  allen  Ministerialbüreaus  ausschliesslich  zu  bedienen. 

Er  hatte  ferner  in  St.  Petersburg  eine  Akademie  der  Wissen- 
schaften begründet  und  reich  dotirt,  deren  Hauptaufgabe  es  mit  sein  sollte, 
auch  die  Landessprache  zu  ergründen,  sie  festzustellen,  zu  pflegen  und 
zu  iördern. 

An  diese  Akademie  waren  aus  dem  In-  und  Auslande  Männer 
von  Gelehrsamkeit,  oder  solche,  die  im  Rufe  derselben  standen,  berufen 
worden,  die  anfangs  auch  recht  Tüchtiges  zusammenakademlsirten. 
Unter  ihnen  glänzen  die  Namen  des  russischen  Gottsched,  Tredjaköwski, 
eines  talentlosen  Pedanten,  der  sich  im  Heldengedicht  versuchte  und 
Reime  machte,  wie  etwa  folgende: 

Als  auf  der  Flur  ich  kam  zu 
Gehn,  brüllt'  grad'  laut  eiu'  Kuh ! , 
wofür  er  nichts  desto  weniger  als  Professor  der  Eloquenz  glänzte 
und  mit  stolzem  Selbstgefühle  auf  die  andern,  poesiearmen  Erdenkinder 
herabsah;  ferner  der  Professor  Müller,  der  sich  mit  allerliand    Historie 
beschäftigte  und  sich  später  den  Namen  flagelliun  professorum   erwarb; 


318  Ueber  Lomonössoff. 

Professor  Beier,  der  Chinesisch  trieb,  aber  kein  Wort  Russisch  verstand, 
ebensowenig  wie  sein  Kollege,  Professor  Euler.  Alle  diese  deutschen 
Herren  beschäftigten  sich  auf's  Eifrigste  mit  ihren  Liebhabereien,  ohne 
für  die  zur  Herrschaft  gelangte  Volkssprache  auch  nur  das  Mindeste 
zu  thun,  ja  ohne  sich  nur  in  Besitz  derselben  zu  setzen! 

An  den  Seminarien,  die  einen  mehr  kirchlichen  Charakter  trugen, 
wurden  sämmtliche  Lehrobjecte  neben  andern  Gründen  schon  deshalb 
in  lateinischer  Sprache  vorgetragen,  weil  die  jungen  Leute,  die  sie  be- 
suchten, aus  allen  Theilen  des  unermesslichen  Reiches  stammten  und 
selten  den  ostslawischen  russischen  Dialekt  kannten,  so  dass  sie  selbst 
in  ihrem  häuslichen  Verkehr  genöthigt  waren,  sich  des  Lateinischen  zu 
bedienen.  Russisch  konnten  sie  also  hier  nicht  lernen,  um  so  weniger 
als  nur  streng  philosophische  Disciplinen  in  der  allerscholastischsten 
Form  gelehrt  wurden,  wozu  die  Lehrbücher  vorlagen,  und  es  Keinem 
auch  nur  im  Traum  einfiel,  an  die  Cultur  des  Volksdialektes  zu  denken, 
der  ohne  Reiz  und  ohne  Zukunft  für  sie  war. 

Die  Kanzeleien  —  nun  ja,  die  kamen  dem  Befehle  nach  und 
schrieben  russisch,  so  gut  es  ohne  jede  Quelle  der  Belehrung  eben  gehen 
wollte.  Ob  sie  aber  sprachbildend  und  anregend  wirkten,  wage  ich 
stark  in  Zweifel  zu  ziehen ,  wenn  ich  an  den  Kanzeleistil  so  mancher 
Staaten  denke,  die  jahrhundertelang  inmitten  des  reichsten  Culturlebens 
stehen  und  noch  heutzutage  mitunter  so  Ungeheuerliches  zu  Tage 
fördern. 

Hierzu  kam  die  grenzenlose  Unwissenheit  aller  Schichten  des 
Volkes  (trotzten  doch  die  Bojaren  Peter  dem  Grossen  bei  Einführung 
des  neuen  Alphabetes  mit  den  Worten:  „Das  fehlte  grade  noch,  dass 
unsere  Kinder  diese  überseeischen  Kunststücke  lernen  sollten!")  und 
der  Tod  Peter's  im  Jahre  1725. 

Er  hinterliess  Alles  im  Zustande  der  höchsten  Gährung,  welche  wäh- 
rend der  kurzen  Regierung  MentschikofF's unter  Catharinan.  (1725 — 27), 
so  wie  der  der  Dolgoruki's  unter  Peter  IL,  (1727  —  30),  ja  selbst 
während  der  des  Herzogs  Byron  unter  Anna  Iowanovna  (1730  —  40), 
zu  keinem  Abklärungsprozesse  gelangen  konnte.  Das  fermentirende 
Element  vegetirte,  erstarb.  Ein  dicker,  ungeniessbarer  Teig  war  der 
Rückstand.  Die  Akademie  dessen  Kern.  Unter  Anna  sprach  man 
bei  Hofe  deutsch,  denn  die  meisten  Minister  und  Hofleute,  wie  Biron, 
Münnich,  Ostermann,  KorflP  und  unzählige  andere,  waren  Deutsche  und 
konnten  nur  mit  Mühe  einige   russische  Phrasen    zusammenstoppeln. 


lieber  Lomondssoff.  319 

Für  die  Russen  und  die  russische  Sprache  waren  nur  die  letzten  unbe- 
setzten Plätze  frei. 

^  Dies  alles  krönte  noch  der  Umstand,  dass  bis  in  die  Mitte  des  18. 
Jahrhunderts  vom  Buchhandel  in  Russland  keine  Rede  war.  Es  gab 
zu  LomonossofF's  Zeiten  nicht  einen  Buchladen  in  Petersburg.  Die 
wenigen  Bücher,  die  ihren  Weg  nach  Russland  fanden,  wurden  von 
zwei  deutschen  Buchbindern,  Tidselius  und  Wäge,  bezogen,  welcher 
letztere  auch  den  Druck  und  die  Herausgabe  der  in  Russland  etwa  er- 
scheinenden Privatliteratur  besorgte. 

Diese  wenigen  Andeutungen  werden  genügen,  um  uns  ein  Bild 
von  den  Schwierigkeiten  zu  geben,  mit  denen  ein  Mann  zu  kämpfen 
haben  musste,  der  berufen  Avar,  als  erster  russischer  Gelehrter  aufzu- 
treten! Er  hat  denn  auch  sein  ganzes  Leben  hindurch  ununterbrochen 
dagegen  zu  kämpfen  gehabt. 


Erster  Carton. 

An  einem  frostigen  Wintertage  des  Jahres  1728  zog  gegen  Abend 
eine  lange  Reihe  einspänniger  Telegenschlitten  zu  den  Thoren  der  alten 
Zarenstadt  Moskau  ein.  Sie  brachten  gefrorene  Fische  zur  Stadt  und 
hatten  zu  diesem  Zwecke  den  ungeheuren  Weg  vom  Eismeer  bis  nach 
Moskau  —  neun  Breitengrade  in  fast  grader  Linie  —  bei  der  grim- 
migsten Kälte  zurückgelegt.  Auf  eine  solche  Fahrt  rüsten  die  Be- 
wohner des  hohen  Nordens  sich  schon  lange  vorher,  indem  sie  alles, 
was  ihnen  Haide,  Meer  und  Wald  an  Beute  liefern,  fest  gefrieren  lassen 
um  es  später,  wenn  der  fusshohe  Schnee  alle  Hindernisse  des  Trans- 
portes beseitigt  liat,  nach  den  beiden  Residenzen  des  weiten  Zaren- 
reiches zu  führen. 

Zu  dieser  Karawane  hatte  sich  100  Werst  diesseits  Archangelsk 
ein  junger  Mann  gesellt  und  die  Führer  gebeten,  sich  ihnen  anschliesscn 
zu  dürfen,  da  sein  Weg  auch  ihn  nach  Moskau  führe.  Da  ihn  mehrere 
derselben  als  den  Sohn  eines  wohlhabenden  Fischers  aus  Cholmogorsk, 
einem  Fischerdorfe  bei  Archangelsk,  erkannten,  so  hatten  sie  nichts  da- 
wider, staunten  aber,  als  sie  erfuhren,  dass  er  weder  einen  Zehrpfennig 
noch  andere  Kleidung  mit  sich  führe,  als  die  er  am  Leibe  trug.  Die 
war  in  der  That  dürftig  genug;  denn  ausser  einem  weiten  Beinkleide 
und  der  rothen  Rubäsehka,  d.  i.  einem  kattunen  Hemde,  trug  er  nur 
noch   einen  Tulnp  oder  Jacke  aus  weissem   HasenlVll  und   eine   Pelz- 


320  Ueber  Lomondssoff. 

mutze.  Der  Jüngling  aber  versicherte,  es  friere  ihn  nicht  und  sein  keckes, 
energisches  Gesicht,  aus  welchem  eine  unbändige  Thatkraft  hervor- 
leuchtete, so  wie  die  feste  Haltung  seines  kräftigen  Körpers  strafte 
diese  Versicherung  nicht  Lügen.  So  Hessen  sie  ihn  denn  gewähren, 
indem  sie  ihr  karges  Mahl  mit  ihm  theilten ,  im  Uebrigen  aber,  nach 
schweigsamer  Nordländer  Art,  sich  wenig  weiter  um  ihn  kümmerten, 
ja,  ihn  nicht  einmal  mit  einer  einzigen  Frage  über  den  Zweck  seiner 
Reise  belästigten. 

Nichtsdestoweniger  durchdrang  der  scharfe  Frost  seine  dünnen 
Gewänder  und  mit  Sehnsucht  schaute  er  oft  nach  der  Gegend,  von  wo 
die  goldenen  Kuppeln  der  Kirchen  ihm  entgegenstrahlen  sollten  und  wo 
er,  ach,  so  Vieles,  Alles  erwartete.  Wie  jauchzte  er  daher  auf,  als 
er  sie  endlich  erblickte,  jene  zahlreichen,  funkelnden  Thürme  der  Haupt- 
stadt, wo  sich  Alles  erfüllen  sollte,  wonach  sein  ungestüm  pochendes  Herz 
sich  sehnte.  Aber  bald  versank  er  wieder  in  tiefes  Sinnen  und,  in  sich  ge- 
kehrt, hielt  er,  an  der  Seite  der  Schlitten  einherschreitend,  seinen  Einzug 
in  die  Zarenstadt. 

Mit  ihnen  übernachtete  er  in  einer  Ausspannung.  Am  nächsten 
Morgen  zog  er  mit  aus  nach  dem  Markte,  woselbst  die  Fischer  sich 
ihrem  Handel  hingaben  und  sich  wenig  kümmerten  um  den  jungen 
Mann,  der,  in  sich  gekehrt  und  rathlos,  an  einen  der  Schlitten  gelehnt 
stand  und  darüber  zu  sinnen  schien,  was  er  denn  nun  eigentlich  in  der 
fremden  Stadt,  ohne  Geld  und  ohne  Freunde,  beginnen  solle. 

Da  trat  ein  Hausverwalter  an  ihn  heran  und  fragte  nach  Fischen. 
Diese  simple  Frage  durchzuckte  den  jungen  Mann  wie  ein  elektrischer 
Schlag  und  schien  ihm  Muth  und  Freudigkeit  wiederzugeben;  denn  er 
hatte,  trotz  des  überwuchernden  moskowifischen  Dialektes  in  der  Frage 
den  Nordländer  erkannt  und  zwar  den  Nordländer  seines  Distriktes. 

Sehr  bald  theilte  er  nun  dem  Fremden  seine  Lage  und  seine  Ab- 
sichten mit  und  es  stellte  sich  heraus,  dass  letzterer  aus  Archangelsk 
war,  den  Vater  des  jungen  Mannes  kannte  und  sich  seiner  anzunehmen 
nicht  nur  versprach,  sondern  ihn  sofort  mit  sich  nahm  und  ihn  im  Be- 
dientenzimmer seines  herrschaftlichen  Hauses  einstweilen  unterbrachte, 
bis  er  weitere  Schritte  für  ihn  werde  thun  können.  Hierzu  fand  sich 
schon  am  dritten  Tage  Gelegenheit,  indem  den  Gönner  unsers  Jüng- 
lings ein  Mönch  aus  dem  Saikono-Spasski-Kloster  besuchte,  wie  er  öfter 
zu  thun  pflegte.  Diesen  machte  nun  der  Verwalter  mit  den  Wünschen 
und  Verhältnissen  des  jungen  Mannes  bekannt  und  trug  ihm  das  drin- 


Ueber  Lomonössoff.  321 

gende  Verlangen  desselben  vor,  in  Moskau  eine  gute  Schule  besuchen 
zu  können,  ihn  um  seine  Mitwirkung  bittend. 

Der  Mönch ,  dem  das  offene  Wesen  des  Burchen  gefiel ,  nahm, 
von  der  Erzählung  seines  Freundes  ergriffen,  den  jungen  Mann  gleich 
mit  sich  und  schmuggelte  ihn  in  das  Seminar  ein.  Da  jedoch  in  dem- 
selben nur  Bojarenkinder  aufgenommen  werden  durften,  unser  Jüngling 
aber  der  Sohn  eines  leibeigenen  Fischers  war,  so  war  es  nicht  zu  um- 
gehen, zu  seiner  Einstellung  in's  Seming[r  die  Erlaubniss  des  Priors  ein- 
zuholen. 

Dieser ,  der  Erzpriester  Theofan  Proköpowitsch ,  ein  würdiger, 
leutseliger  Mann  von  felsenfester  Zuverlässigkeit,  beschied  den  jungen 
Mann  zu  sich,  musterte  ihn  scharf  und  sagte  dann  nach  diesem  schwei- 
genden Examen  freundlich : 

—  Nun,  mein  Sohn,  Du  willst  studieren,  nachdem  Du  das  Alter 
eigentlich  schon  überschritten  hast,  das  den  Eintritt  in  unser  Seminar 
ermöglicht.  Jch  höre  aber,  dass  Du  Ungewöhnliches  gethan  hast,  um 
Deinen  Zweck  zur  Ausführung  zu  bringen ;  erzähle  mir  Dein  Leben, 
so  weit  Deine  Erinnerung  reicht,  treu  und  ohne  Hehl,  und  finde  ich 
Dich  dann  noch  würdig,  bei  uns  einzutreten,  so  wird  sich  das  Weitere 
finden. 

Der  junge  Mann  begann: 

Jch  bin  im  Fischerdorfe  Cholmogorsk  bei  Archangelsk  geboren 
und  heisse  Michail  Wassiljewitsch  Lomonossoff.  Mein  Vater  ist  dort 
Fischer  und  in  guten  Verhältnissen,  ja,  er  gilt  im  Dorfe  für  einen  rei- 
chen Mann ;  auch  hat  er  mir  schon  zum  öftern  gesagt ,  dass  ich  mich 
nun  bald  verheirathen  müsse  und  ich  solle  nur  kühn  nach  den  reichsten 
unserer  Bräute  trachten,  es  werde  mich  keine  verschmähen.  Mir  aber 
ist  es  im  Dorfe  zu  eng.  Schon  seit  meinem  zehnten  Jahre  musste  ich 
mit  meinem  Vater  hinaus  aufs  hohe  Meer  und  ihm  helfen  bei  seinem 
Gewerbe.  Und  wenn  ich  dann  im  schwanken  Boote  sass  und  hinaus 
schaute  in  die  unendliche  Ferne,  da  war  es  mir  oft,  als  lägen  jenseit 
des  grossen  Wassers  schöne  Länder  voll  Städte  und  Dörfer,  die  ich 
alle  sehen  müsste,  und  die  Sehnsucht  nach  ihnen  ward  gross  in  mir. 
Und  wenn  ich  in  den  hellen  Sommernächten  heimsegelte  mit  dem 
Vater  und  der  allmächtige  Friede  ausgegossen  war  über  Woge  und 
Land,  und  der  frische  Morgenwind  mich  durchschauerte,  da  regte  es 
sich  in  mir  und  ich  brannfe  nach  Aufschluss  über  alle  Räthsel  der 
Natur,  die   mich   umgaben,   über    die  geheimen  Stätten,   aus   welchen 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXVII-  2  l 


322  Ueber  Lomonössoff. 

strömet  das  Licht  und  die  Finsterniss,  der  milde  West  und  der  wü- 
thende  Orkan,  von  wo  das  Nordlicht,  die  Sonne,  der  Mond  und  die 
Gestirne  alle  ihren  Ausgang  nehmen,  der  Winter  seine  Eisberge  baut 
und  der  kurze  Sommer  flüchtig  über  unser  Land  dahinzieht  nach  den 
warmen  Gegenden  und  auch  unser  Saatkörnlein  im  Fluge  reift.  Und 
dann  gedachte  ich  der  Fische  und  ihres  Treibens,  und  wie  sie  so  schlau 
sind,  als  ob  ein  Geist  in  ihnen  steckte,  und  aller  andern  Thiere,  und 
wie  ein  jegliches  von  ihnen  so  gar  eigen  beschaffen,  und  wie  der  Mensch 
es  ihnen  allen  doch  zuvorthut.  Und  da  dachte  ich ,  es  müsse  doch 
recht  viel  zu  lernen  geben,  ach,  und  ich  hätte  Alles  wissen  mögen. 

Vor  Allem  der  Pope,  wenn  er  am  Sonntag  in  die  Kirche  trat  und 
der  Küster  das  grosse  Buch  vor  ihm  hertrug,  und  er  der  Gemeinde 
die  Gebete  und  Litanei  daraus  vorlas  —  wie  kam  er  mir  als  ein  Mann 
der  Offenbarung  vor,  der  entziffern  konnte,  was  in  jenem  Buche  mit 
geheimnissvollen  Zeichen  geschrieben  stand.  Und  wenn  ich  dann  sah 
und  es  an  mir  selbst  verspürte,  wie  aus  jenem  Buche  das  lebendige 
Wort  der  Lehre  und  Ermahnung  in  unsere  Seele  drang,  ach,  dann 
•nagte  es  mir  am  Herzen,  dass  ich  nicht  auch  lesen,  nicht  auch  meinen 
Mitmenschen  solchen  Trost  und  solche  Erbauung  spenden  konnte. 

Ich  empfand  einen  förmlichen  Neid  und  sann  auf  Mittel,  denn 
lesen  lernen  musste  ich;  ich  wollte  es.  So  gewann  ich  denn  den 
Küster  durch  hundert  kleine  Dienste  in  der  Kirche  und  im  Dorfe  und 
durch  Gänge  in  den  Wald,  von  wo  ich  ihm  Holz  herbeischleppte,  und 
durch  beständiges  Bitten  und  Liebkosen  —  denn  er  that's  nicht  gern 
—  dass  er  mir,  so  viel  er  davon  wusste,  beibrachte.  Und  es  ward 
uns  Beiden  oft  recht  sauer.  Allein,  ich  lernte  es  —  und  nun  fing  ich 
an,  mich  durch  die  slawonischen  Bücher  durchzuarbeiten.  Jede  freie 
Stunde  brachte  ich  im  Sommer  auf  dem  Kirchboden  zu,  um  ungestört 
zu  sein,  und  lernte  jeden  Satz  so  lange,  bis  ich  ihn  vollständig  aus- 
wendig wusste,  und  da  es  mir  an  Zeit  nicht  fehlte ,  so  ging  mein  Stu- 
dium zwar  langsam,  doch  sicher  weiter. 

So  vorlebte  ich  mehrere  Jahre.  Ich  hatte  mittlerweile  die  vorhan- 
denen Kirchenbücher  alle  wörtlich  auswendig  gelernt,  ebenso  die  sla- 
wonische  (kirchenslawische)  Grammatik  von  Smotritzki,  das  einzige 
Buch,  welches  der  Pope  neben  dem  Rechenbuche  von  Magnitzki  besass, 
welches  letztere  ihm  irgendwie  in  die  Hände  gekommen  war,  das  er 
aber  selber  nicht  verstand. 

Es  war  aber  ein  Buch  und  es  stand  allerlei  darin,  was  ich  nicht 


lieber   Lomonossoff.  323 

verstand,  und  lesen  miisste  ich  es,  denn  es  war  meine  einzige  weitere 
Hiüfsquelle.  Ich  iing  also  allein  an  und  quälte  mit  Fragen  über  die 
Exempel  jeden,  dem  ich  nur  begegnete,  besonders  die  wenigen  Fremden, 
die  etwa  unser  Dorf  passirten  und  so  gelang  es  mir  denn  nach  aber- 
mals 2  Jahren,  das  ganze  Buch  zu  verstehen. 

Inzwischen  war  mir  eine  neue  Welt  aufgegangen.  Ich  musste 
Bücher  haben,  und  fragte  überall  nach  Büchern,  ohne  welche  zu  finden. 
Von  meinem  Vater  war  nichts  zu  hoffen,  denn  der  wollte  von  meinem 
ganzen  Lernen  nichts  wissen.  Eines  Tages  als  ich  wieder  auf  dem 
Kirchboden  sass  und  mich  anschickte,  das  Kirchenbuch  zu  100.  Male 
durchzulesen,  fiel  es  mir  ein,  doch  einmal  all  das  Gerumpel  zu  durch- 
stöbern, das  in  einem  dunkeln  Winkel  des  Bodens  lag.  Ich  machte 
mich  sogleich  daran  und  wollte  nach  langem  vergeblichen  Suchen  meine 
Arbeit  bereits  aufgeben,  als  ich  unter  einem  Haufen  alten  Bleches  etwas 
gewahrte,  das  einem  Buche  ähnlich  sah.  Ich  räumte  alles  fort,  was 
mir  im  Wege  lag  und  entdeckte  zu  meiner  Freude  ein  altes,  an  den 
beiden  Seiten  angemodertes,  geschriebenes,  dickes  Buch.  Wer  war 
glücklicher. als  ich!  Ich  zog  meinen  Fund  an's  Tageslicht,  säuberte 
ihn  sorgfältigst  und  fing  sofort  an,  nach  seinem  Inhalte  zu  forschen. 
Es  waren  Heiligengeschichten,  wie  unsere  guten  Väter  sie  in  der  Vor- 
zeit so  emsig  zusammengetragen  hatten,  und  mit  ihnen  erschloss  sich 
mir  ein  ganz  neuer  Kreis  von  Anschauungen.  Von  diesem  Schatze 
habe  ich  mich  nicht  eher  getrennt,  als  bis  ich  ihn  in  Stücke  gelesen 
hatte,  was  leider  im  vorigen  Sommer  der  Fall  war.  Und  nun  litt  es 
mich  nicht  mehr  im  Dorfe  und  in  den  engen  Verhältnissen.  Jetzt 
wusste  ich  aus  den  Schicksalen  der  grossen  heiligen  Männer,  Avie  sie  es 
angefangen  hatten  und  dass  ich  eine  ordentliche  Schule  durchmachen 
müsste,  und  dass  es  in  Moskau  solche  gäbe.  Und  da  war  mein  Ent- 
schluss  gefasst,  meinen  Vater,  den  meine  Stiefmutter  ohnehin  immer 
bitterer  gegen  mich  stimmte,  wegen  meines  unnützen  Lesens,  —  zu 
verlassen ,  mich  der  Fischerkarawane  anzuschliessen  und  hierher  zu 
kommen,  da  würde  der  liebe  Gott  wohl  weiter  helfen.  Und  das  ist 
Alles! 

Der  greise  Archierej  hatte  mit  ruhiger  Spannung  dieser  einfachen 
Erzählung  gelauscht,  gleich  als  ob  auch  vor  seiner  Seele  manch  Bild 
der  Erinnerung  vorüberziehe.  Dann  ergriff  er  die  Hand  des  Knaben, 
legte  seine  Rechte  auf  dessen  Haupt  und  sagte: 

,,Ja,  Gott  wird  weiter  helfen.      Du  bleibst  bei  uns,  und  sie  sollen 

21' 


324  Ueber  Lomondssoff. 

Dich  uns  nicht  entreissen  und  Dich  der  Anmaassung  des  Bojarenrechtes 
nicht  anschuldigen,  und  wenn  sie  mit  der  grossen  Glocke  Sturm 
läuteten!"*) 

Und  er  ward  eingestellt  als  Zögling  in  das  Seminar  des  Saikono- 
Spasski- Klosters,  wo  ihm  zu  eigener  Beköstigung  und  Beschaffung  der 
Schreibmaterialien  das,  von  den  wenigsten  Schülern  in  Anspruch  ge- 
nommene, etatsmässige  Gehalt  von  3  Rubel  50  Kopeken  für  vier 
Monate  angewiesen  wurde!  Dass  er  hierbei  Noth  litt,  leuchtet  ein. 
Er  selber  schreibt  später  hierüber  an  den  Grafen  Schuwaloff"  folgendes : 
Es  blieb  mir  in  dieser  unendlichen  Armuth  für  meinen  Unterhalt  kaum 
mehr  als  ein  Kreuzer  für  Brod  und  ein  Kreuzer  zu  Kwas  täglich.  Dazu 
kam  das  nagende  Gefühl,  dass  mein  Vater  ein  wohlhabender  Mann  war 
und  mich  bereits  reich  verheirathen  wollte  und  hier  musste  ich  von  kleinen 
Schuljungen  mit  Fingern  auf  mich  zeigen  lassen  und  anhören,  wie  sie 
ausriefen:  „Seht  mal  den  Oelgötzen  (tOMS.B.'b)  l  Kommt  der  mit  20 
Jahren  in  die  Schule  um  Lateinisch  zu  lernen!"  Und  so  verlebte  ich 
fünf  Jahre  und  gab  doch  die  Wissenschaft  nicht  auf ! 

Und  er  gab  nicht  nach.  Mit  eisernem  Fleisse  benutzte  er  jede 
freie  Stunde  zum  Studium  des  Lateinischen  und  Griechischen,  und 
während  seine  Kameraden  nur  das  Nothdürftigste  lernten  und  sich 
durch  Vernachlässigung  ihrer  Pflichten  oft  Ruthen  zuzogen,  wurde  Lo- 
monossoff  im  Jahre  1735,  nach  glänzend  bestandenem  Examen  nach 
Kiew  und  von  dort  nach  Petersburg  in  das  akademische  Gymnasium 
geschickt,  wo  er  in  ferneren  zwei  Jahren  die  Anfangsgründe  der  Ma- 
thematik, der  Experimentalphysik,  Chemie  und  Mineralogie  und  Philo- 
sophie mit  solchem  Erfolge  studirte,  dass  er  im  Anfange  des  Jahres 
1737  auf  mehrere  Jahre  nach  Deutschland  geschickt  wurde,  iim  sich 
an  den  dortigen  Universitäten  weiter  auszubilden. 

[Der  Vortrageride  las  nunmehr  in  mündlicher  Uebersetzung  aus 
einem  russischen  Werke  eine  reizende  Palastscene  vor ,  in  welcher  das 
Plofleben  im  letzten  Regierungsjahre  der  Kaiserin  Anna  Iowanovna 
ebenso  charakteristisch  als  anschaulich  geschildert  wurde.  Der  Inhalt 
derselben  ist  folgender: 

Die  Kaiserin,  die  schon  sehr  kränklich  und  verstimpit  war,  gab 
einen  jener  Abende,  an  welchen  es  die  Hauptaufgabe  der  Hofleute  war, 
sie  zu  unterhalten  und  zu  zerstreuen,  wobei  auch  die  Karten  ihre  Rolle 
spielten.     Ihre  Umgebung  bestand  grossentheils  aus  Deutschen,  welche 


*)     Ipsissiiiui  verba. 


Ueber  Lomondssoff.  325 

die  höchsten  Ehrenstellen  inne  hatten  und  mit  Nichtachtung  und  Ueber- 
hebung  auf  die  Russen  und  alles  was  russisch  hiess,  herabblickten,  unter 
denen  der  Herzog  Biron,  Ostermann,  Baron  KorflT  u.  A.  die  hervorra- 
gendsten Persönlichkeiten  waren. 

Diesmal  war  die  Kaiserin  besonders  gnädig ,  da  ihr  der  Baron 
Korff,  der  Präsident  der  Akademie  war ,  Tages  zuvor  eine  russische 
Ode  überreicht  hatte,  die  von  einem  jungen  Dichter,  dem  ersten,  der 
auf  diesen  Namen  mit  Recht  Anspruch  machen  durfte,  bei  Gelegenheit 
eines  über  die  Türken  erfochtenen  Sieges,  gedichtet  und  aus  Marburg 
an  die  Akademie,  nebst  einer  Abhandlung  „Ueber  die  Regeln  der  rus- 
sischen Dichtkunst"  eingesandt  worden  war. 

Dies  Ereigniss  brachte  die  grösste  Sensation  hervor,  einmal,  weil 
der  Dichter  ein  Fischersohn  aus  Cholmogorsk  war,  den  die  Akademie, 
wie  Baron  Korff  sich  in  einer  besonders  studierten  russischen  Rede 
ausdrückte,  nach  Marburg  geschickt  hatte,  um  beim  Pro/'essor  Wolff  die 
Dichtkunst  zu  lernen,  und  zweitens,  weil  die  Kaiserin  es  selbst  mit 
solcher  Freude  betrachtete,  dass  sie  das  Gedicht  in  vielen  Exemplaren 
hatte  drucken  lassen  und  es  jetzt  unter  die  versammelten  Hofleute 
vertheilen  liess,  deren  Jubel  und  Bewunderung  keine  Gränze  fanden. 
In  den  hierbei  statt  findenden  Gesprächen  tritt  der  Gegensatz  zwischen 
der  herrschenden  deutschen  Partei  und  den  zurückgedrängten  Russen, 
die  Charakteristik  der  Hauptfiguren ,  sowie  endlich  die  Unwissenheit 
des  Adels  und  der  nur  deutsch  redenden  Akademiker,  die  weder  diese 
Ode  noch  die  sie  begleitende  Abhandlung  verstanden  noch  sie  zu  beur- 
theilen  wussten,  in  das  schärfste  Relief. 

Die  Scene  schloss  mit  dem  Befehle  der  Kaiserin  an  Korff,  den 
jungen  Dichter  im  Auge  zu  behalten  und  über  dessen  Wohlfahrt  zu 
wachen  (was  leider  nie  geschah)  und  mit  der  huldvollen  Verabschie- 
dung der  glänzenden  Versammlung.] 


Zweiter  Ca rton. 

Mittlerweile  studierte  Lomonossoff  in  Marburg,  unter  Wolff's  spe- 
zieller Leitung,  dem  er  auf's  Angelegentlichsie  empfohlen  Avorden  war. 
Nachdem  er  drei  Jahre  hier  verlebt  hatte,  begab  er  sich  nach  Freiburg, 
um  das  Bergfach  und  die  Metallurgie  zu  studieren  und  kehrte  von  dort 
im  Frühlinge  1741   nach  Marburg  zurück. 

Das  Burschenleben  jener  Zeit  ist  zu  bekannt .  als  dass  ich  hier 
näher  darauf  einzugehen  hätte.  "Was  Wunder,  da«s  es  eine  so  derbe, 
geborene,  acht  russische  Zechematur  ansprach,  wie  die  Lomonossoff's. 
Im  russischen  Volkscharakter  liegt  in  reichster   Fülle  das  Element  des 


326  Ueber  Lomondssoff. 

grobsinnlichen  Genusses,  der  lauten,  tobenden  Lustigkeit,  der  rücksichts- 
losesten Hingabe  an  den  Augenblick  und  an  das,  was  sich  bei  uns  zum 
Kneipenleben  entwickelt  hat.  Lomonossoff  mit  400  Rubel  jährlich, 
einer  ansehnlichen  Summe  für  jene  Zeit,  glaubte  Alles  mitmachen  zu 
können  und  zu  müssen.  Und  hatte  er  etwa  nicht  genug  gedarbt,  ge- 
fastet und  entsagt  ?  Hatte  er  nicht  ein  Recht  zu  geniessen ,  und  zwar 
zu  geniessen  a  tout  prix  ?  So  gab  er  sich  denn  bald  schon  nach  seiner 
ersten  Ankunft  in  Marburg  dem  raaasslosesten  Kneipenleben  hin,  ohne 
jedoch  die  Vorlesungen  seiner  Professoren  zu  verabsäumen.  Allein, 
das  Geld  war  immer  zu  Ende,  ehe  er  recht  wusste  wie?  Er  wäre 
vielleicht  ganz  untergegangen,  hätte  nicht  Christine,  die  Tochter  seines 
Wirthes,  eines  Schneiders,  den  ungestümen  Brausekopf  so  gar  lieb  gehabt 
und  ihn  endlich  in  ihren  Reizen  ganz  gefangen  gehalten.  Sie  regte 
ihn  immer  und  immer  wieder  zur  Ordnung  und  Thätigkeit  an  und  rief 
sein  besseres  Selbst  wach.  In  diese  Zeit  ihrer  Bekanntschaft  fällt  auch 
die  Verfertigung  jener  Ode,  welche  die  kaiserliche  Huld  in  so  hohem 
Maasse  hervorgerufen  hatte.  Leider  blieb  dem  Pärchen  bald  nichts  an- 
deres übrig  als  sich  zu  heirathen  und  so  sehen  wir  denn  unsern  nor- 
dischen Helden,  den  deutschen  Studenten,  vermählt  und  gar  bald  auch 
als  Familienvater. 

Eine  Zeit  lang  mochte  es  ganz  gut  gehen.  Doch  nur  zu  bald 
wieder  sehen  wir  ihn  inmitten  der  entsetzlichsten  Geldnoth  und  zwar 
diesmal  inmitten  einer  sein  Herz  zerreissenden  Armuth ,  denn  zwei 
theure  Wesen  litten  mit  ihm  und  durch  seine  Schuld.  Dieser  Zustand 
wurde  ihm  unerträglich.  War  er  dazu  nach  Deutschland  gekommen, 
um  hier  ein  klägliches  Philisterleben  zu  führen,  um  zu  kämpfen  gegen 
die  erbärmlichsten  Anforderungen  des  Lebens  ?  Wo  blieb  die  Verwirk- 
lichung aller  der  Pläne ,  die  seit  lange  in  seinem  Gehirne  sprossten, 
die  gebieterisch  nach  Gestaltung  verlangten,  ihn  ruhelos  und  unstät  um- 
hertrieben ? 

Was  aber  sollte  er  thun,  um  sich  diesem  gefolterten  Dasein  zu 
entreissen?  Es  blieb  ihm  nichts  übrig  als  die  Flucht.  Und  zu  dieser 
entschloss  er  sich.  Mit  Zurücklassung  des  letzten  Hellers ,  rückte  er 
heimlich  aus,  entschlossen,  sich  bis  Amsterdam  durchzufechten,  wo  ihm 
bei  der  russischen  Gesandtschaft  Hülfe  werden  musste.  Drei  Tage 
schon  hatte  er  sich  so  durchgebettelt,  gleich  Dante  auf  seiner  Flucht, 
erfahrend 


Ueber  L  omonössoff.  327 

come  sa  di  sale 
II  pane  altrui,  e  com'  e  duro  calle 
Lo  scendere  e  il  salir  per  le  altrui  scale,  *) 

als  er  am  Abend  in  einer  Schenke  in  die  Hände  preussischer  Werber 
fallt,  die  den  stämmigen,  hochwüchsigen  Burschen  sofort  auf's  Korn 
nehmen,  ihm  beim  Klange  der  Becher  wacker  zutrinken,  ihm  das  Hand- 
geld zuspielen  und  am  nächsten  Morgen  ihn  ohne  Weiteres  in  den  Rock 
mit  dem  rothen  Kragen  stecken.  Auf  sein  Sträuben  antwortet  ihm  die 
breite  Hand  des  Wachtmeisters  mit  einem  kräftigen  Backenstreiche  und 
der  Befehl  an  einen  Sergeanten,  ihn  mit  andern  Rekruten  nach  Wesel 
abzuführen. 

Wer  möchte  es  wagen,  die  bittern  Empfindungen  zu  schildern,  die 
seine  Seele  folterten,  die  die  ganze  Gefühlsskala  seines  Innern  auf  und 
ab  durchjagten,  von  der  unbändigsten  Verzweiflung  bis  zur  nagenden, 
stillen  Wehmuth.  Vergebens  war  alles  Zureden  seiner  Mitrekruten. 
Stumm  und  verbissen  schritt  er  neben  ihnen  einher.  Er  brütete  be- 
reits über  Befreiung.  Also  das  sollte  das  Ende  seiner  wunderbaren 
Geschicke  sein,  als  preussischer  Soldat  in  einer  Festung  zu  verkommen? 
Dazu  wäre  er  vom  Eismeere  zu  Fuss  herabgewandert  und  hätte  gelitten 
und  gedarbt  und  gekämpft,  um  hier  in  einem  Winkel  Deutschlands  zu 
verschellen,  er,  der  eine  Welt  voll  Pläne  in  sich  trug,  der  die  rhythmi- 
schen Gesetze  der  russischen  Sprache  entdeckt  und  für  alle  Zeiten  be- 
stimmt hatte,  der  als  erster  wahrhafter  Dichter  seines  Volkes  aufge- 
standen war  und  der  das  Zeug  in  sich  verspürte  für  die  russische 
Sprache  und  Wissenschaft  das  zu  werden,  was  Feter  I.  für  die  politi- 
schen und  administrativen  Beziehungen  Russlands  gewesen  war!  Nim- 
mermehr! Die  Grösse  seines  Berufes  stellte  sich  ihm  in  fast  leib- 
licher Anschauung  dar,  um  ihm  nie  wieder  zu  schwinden.  Ent- 
kommen musste  er  und  sollte  er  sein  Leben  daran  setzen !  Und  er 
entkam.  In  einer  entsetzlichen  Nacht  entschlüpft  er  durch's  Fenster, 
überklettert  den  Wall,  durchschwimmt  zwei  Gräben,  gelangt  über  die 
Contre-Escarpe,  durch  den  bedeckten  Gang,  durch  die  Palisaden  und 
über  das  Glacis.  Kaum  ins  Freie  gelangt,  nimmt  der  rauhe  Sohn  des 
hohen  Nordens  seine  ganze  gewaltige  Kraft  zusammen  und  eilt  stür- 
menden Schrittes  der  holländischen  Gränze  zu.  Als  von  den  Wällen 
der  Festung  die  Signalschüsse  donnernd  die  Entweichung  eines  Deser- 


•)     Parad.  XVII.  58. 


328  Ueber    Lomonössoff. 

tenis  v.erkiinden,  war  er  schon  längst  ausser  dem  Bereiche  der  Verfol- 
gung. Aber  noch  bebt  keine  Faser  an  ihm.  In  der  höchsten  An- 
spannung arbeitet  jede  seiner  Muskeln,  der  Raum  schwindet  unter 
seinen  Füssen;  ü-iefend  und  athemlos  erreicht  er  die  Grande,  flüchtet 
sich  rasch  in  ein  Dickicht,  reisst  sich  die  nassen  Kleider  vom  Leibe, 
die  er  zuvor  noch  zum  Trocknen  ausbreitet  ^  stürzt  dann  wie  betäubt 
nieder  und  ■ —  schläft  seine  geschlagenen  zwölf  Stunden  ,  nach  deren 
Verlauf  er  seine  getrockneten  Kleider  wieder  anzieht  und  sich  frisch 
und  munter  weiter  auf  den  ^yeg  begiebt. 

In  Amsterdam  wurde  er  gut  aufgenommen  ,  nach  St.  Petersburg 
befördert,  wo  er  sofort  zum  Adjunkt -Professor  an  der  Akademie  er- 
nannt wurde  und  binnen  Kurzem  den  Lehrstuhl  für  Physik  und  Chemie 
einnahm. 

Sein  Erstes  war  seine  treue  Christine,  die  sich  und  ihr  Kind  durch 
ihrer  Hände  Arbeit  kärglich  durchgebracht  hatte,  nachkommen  zu  lassen 
und  sich  dann  unausgesetzt  den  umfassendsten  Arbeiten  zu  widmen. 
Und  er  hatte  einen  schweren  Stand.  Die  Akademie  war  gänzlich 
heruntergekommen  ;  die  Stellung  eines  Akademikers  zur  Sinekur  ge- 
worden. Was  Wunder,  dass  die  Herren  Akademiker  vereint  Front 
machten  gegen  einen  Störenfried,  der  dieses  idyllische  dolce  far  niente 
mit  rauher  Hand  vernichtete,  der  sie  alle  übersah  und  dessen  rastloser 
schöpferischer  Geist  diesem  Schlendrian  sich  nimmermehr  anzuschliessen 
vermochte.  Ihren  Intrigen  und  der  kalten  chinesischen  Höflichkeit,  die 
sie  seinem  feurigen  Ungestüm  entgegensetzten,  gelang  es  denn  auch, 
dass  er  während  der  ganzen  Regierungszeit  der  Kaiserin  Elisabeth,  von 
1741  —  1762,  also  volle  21  Jahre,  mit  unerhörten  Schwierigkeiten 
zu  kämpfen,  ja  fort  und  fort  an  dem  schändlichsten  aller  Mängel,  an 
Geldmangel  zu  leiden  hatte,  denn  sein  väterliches  Erbtheil  war  längst 
in  andere  Hände  übergegangen.  Mit  Mühe  erwirkte  er  vom  Direktor 
der  Akademie  die  Erlaubniss  zur  Erbauung  eines  Laboratoriums,  das 
ihm  zugleicli  Wohnung  gewährte.  Richten  wir  ihn  also  nicht  zu  streng, 
wenn  er  nach  seinen  unermüdlichen  Forschungen ,  nach  den  mannich- 
fachen  Anstrengungen  und  vielseitigen  Arbeiten ,  und  den  vielen  Miss- 
he  ligkeiten  mit  seinen  neidischen  Amtsgenossen  bisweilen  Vergessen- 
heit da  suchte,  wo  er  sie  in  seinen  Studentenjahren  so  oft  gefunden 
hatte,  im  Genüsse  des  aquae  vitae. 

Die  Vielseitigkeit  seines  Wissens  und  seiner  Werke  ist  ganz  er- 
staunlich.    Er  ist  ganz  der  Mann  der  Wissenschaft,  wie  Lessing,  doch 


Ueber   Lomondssoff.  329 

wie  dieser,  Dichter,  malgre  lui,  aus  Ueberfülle  an  Meisterschaft  in  Be- 
herrschung der  Form. 

Zunächst  bestimmte  er  die  Sprache  und  schrieb 

1.  eine  umfassende  russische  Grammatik  in  592  §.  §.,  die  noch 
heute  von  Werth  ist. 

2.  Ihr  folgte  eine  Rhetorik  in  326  §.  §.,  die  musterhaft  durch- 
geführt ist,  und  für  welche  er  erst  alle  erläuternden  Stellen  aus  den 
Klassikern  metrisch  zu  übersetzen  hatte.  In  diesen  Proben  schon 
zeigte  er  die  Fähigkeit  der  russischen  Sprache,  sich  jedem  Metrum  ir- 
gend welcher  Sprache  aufs  Biegsamste  anzupassen,  und  dass  sie  über- 
haupt zum  Ausdrucke  poetischer  Gedanken  vorzüglich  geeignet  sei.   — 

3.  Eine  alte  Geschichte  Russlands,  zu  weicherer  alle  Ma- 
terialien erst  aus  den  Chroniken  zusammentragen  musste,  und 

4.  eine  Chronologie  Russlands,  bekundeten  sein  Talent  als 
Historiker. 

5.  Vier  erschöpfende  Abhandlungen  über  Chemie. 

6.  Die  Elemente  der  Metallurgie  in  2  Theilen. 

7.  Eine  Serie  mathematischer  und  astronomischer  For- 
schungen und  Beobachtungen,  mit  zum  Theil  ganz  neuen  Theorien,  zu 
welchen  Werken  allen  er  selbst  die  erläuternden  bildlichen  Darstellungen 
zeichnete;  ferner 

8.  Mehrere  Artikel  über  Mosaik  und  deren  Darstellung. 

9.  Eine  Anzahl  von  Programmen  für  die  Regeneration  der 
Akademie  und  die  zu  errichtende  Univers^ität,  jedes  einzelne  eine  Ar- 
beit von  Bedeutung. 

10.  Berichte,  Reden,  Kritiken  und  Briefe  in  mehreren  Sprachen; 
hierzu  noch,  als  Erholung 

11.  eine  Uebersetzung  Anacreon's  und  der  Werke  Jean  Jacques 
Rousseau's;  zwei  Tragödien,  ein  grösseres  Epos  und  mehrere  Oden, 
und  dies  alles  in  einer  Sprache,  der  er  erst  den  lebendigen  Odem  ein- 
geblasen hatte  und  umgeben  von  Ignoranten  und  Neidern ,  die  jede 
seiner  Handlungen  imd  Schriften  zu  verdächtigen  suchten  I 

Er  aber  schritt  einher  unter  ihnen  mit  dem  unaufhaltbaren  Schritte 
des  Genies,  das  Hindernisse  nicht  kennt,  nein,  ihrer  bedarf,  um  sie  zu 
besiegen  und  sich  gross  daran  zu  ringen.  Seine  Bestimmung  war  der 
geistige  Aufbau  seines  Vaterlandes,  das  er  glühend  liebte,  und  seine 
markige  nordische  Natur  lii'h  ihm  Kraft,  mit  dem  Eifer  und  die  Be- 
geisterung der  Propheten  zu  wiiken  und  nimmer  müde  zu  werden. 


330  Ueber  Lomondssoff. 

Und  er  sollte  es  erleben,  dass  sein  Streben  anerkannt  wurde.  Die 
Kaiserin  Catharina  nahm  sofort  nach  ihrer  Thronbesteigung  den  al- 
ternden Lomonossoff  in  ihre  Gunst  und  bereitete  ihm  und  seiner  Chri- 
stine ein  sorgenfreies  Alter.  Fürsten  und  Würdenträger  buhlten  um 
die  Ehre  seines  Besuches ,  um  ihren  goldstrotzenden  Sälen  durch  die 
Zierde  der  Wissenschaft  eine  höhere  Weihe  zu  geben.  Er  aber  ver- 
schmähte es,  Coulisse  zu  sein  und  lebte  still  und  eingezogen  noch  drei 
Jahre,  bis  der  Tod  ihn  am  4.  April  1765  ereilte.  Seine  Leiche  wurde 
mit  grosser  Pracht  in  der  Klosterkirche  des  heiligen  Alexander-Newski, 
diesem  Westminster  Petersburgs,  beigesetzt. 

Graf  Woronzoff  setzte  diesem  Luther,  diesem  Lessing  und  fast 
auch  Humboldt  Russlands  ein  beide  ehrendes  Marmordenkmal. 

Berlin.  A.  Boltz. 


Beurtheilnngen  und  kurze  Anzeigen. 


Anzeiger  für  Kunde   der  Deutschen  Vorzeit.     6.  Jahrg.  1859. 
Nro.  9  —  12. 

Zur  Geschichte  der  Truchsässen  von  Alzei.  Von  Archivrath 
Ed.  Kau  sie r  in  Stuttgart.  —  Zu  Alzei  in  Rheinhessen  blühte  am  Anfange 
liis  Ende  des  13.  Jahrhunderts  und  noch  später  ein  edles  pfälzisches  Dienst- 
mannengeschlecht.  In  seinem  ^^'appen  führte  es  die  Geige.  Neuerdings 
hat  Mone  in  der  Zeitschrift  für  die  Gesciiichte  des  Überrheins  Notizen  und 
Urkunden  über  dasselbe  gegeben  und  auch  die  Beziehung  auf  den  kühnen 
Alzeier  Fiedler  des  Nibelungenliedes,  Volker,  hervorgehoben.  Eine  kürzlich 
aufgefundene  Urkunde  giebt  einige  wichtige  Data  zur  Geschichte  des  Ge- 
schlechts und  drei  wohlerhaltene  Wachssiegel.  Die  Urkunde  und  das  Siegel 
sind  mitgetheilt. 

Johannes  Nas,  Weihbischof  von  Brixen.  Von  Dr.  Zingerle. 
Kurze  biographische  Skizze  zur  Ergänzinig  und  Berichtigung  des  von  K. 
Gödeke  in  seinem  Grundriss  zur  deutschen  Dichtung  1  ,  p.  385  Beigebrachten. 
Der  als  Polemiker  berühmte  Prediger  und  Bischof  wurde  geb.  den  19.  März 
1534  und  starb  den  16.  Mai  1590  zu  Insbruck. 

Zur  Lebensgeschichte  Dr.  M.  Luthers.  Mitgetheilt  von  Prof. 
Dr.  Voigt  in  Königsberg.  Theiluehmendes  Schreiben  der  Grätin  Dorothea 
zu  Mansfeld  an  Luther  aus  dem  Jahre  1.543. 

Eine  Handschrift  des  Hans  Ilosenplüt.  Von  Dr.  Adelbert 
von  Keller  in  Tübingen.  Eine  der  merkwürdigsten  Handschriften  des 
Germau.  Museums  ist  die  unter  Nro.  .5339,  a  aufgestellte  Papierhandschrift 
des  1').  Jahrhunderts  in  4",  welche  Dichtungen  aus  der  Zeit  des  Schreibers, 
vorzüglich  Erzählungen ,  Eastnachtsspiele  und  Priauielu  von  Hans  Ilosenplüt 
enthält.  Weniger  lür  die  Fastnachtsspiele  als  für  die  Priameln  findet  sich 
in  derselben  manche  gute  Ausbeute.  Der  Inhalt  wird  unter  Hinweis  auf  das 
schon  gedruckt  Voriiandene  im  Einzelnen  angegeben. 

Satirischer  Holzschnitt  auf  die  Erfmdung  des  Schiesspulvers. 
Von  Jos.  Mor.  AV'agner  in  ^\■ien.  Nachweis,  dafs  ein  in  S.  176  des  An- 
zeigers von  18.5C  Ix'sprnchener  satirischer  Holzschnitt  aus  Joh.  Stunififis 
Schwytzer  Chronika  Zürich  1554  genommen  ist;  ein  Werk,  das  auch  sonst 
viel  Beachtenswerthes  bietet. 

Nienburger  Bruchstück  zur  Geschi  c  h  tc  der  Lausitz.  Von 
Oberlehrer  F.  Kindsciier  in  Zerbst.  —  Auf  der  Bibliothek  des  llerzogl. 
Francisceums  zu  Zerbst  befindet  sith  ein  Pergamentfoliant,  entlialtend  Gregors 
Moraüen  vielleicht  im  10.  Jahrhundert  in  Italien  geschrieben.  Unmittelbar 
unter  dem  Buchdeckel  sind  geschichtliche   Bemerkungen    eines  Nieuburger 


332  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Mönchs  ans  der  2.  Iliilfte  des  12.  Jahrhunderts  aufgezeichnet,    die  hier  niit- 
getheilt  werden. 

Alte  Schweizer  Kalender.  Von  Emil  "Weller  in  Zürich.  Mit- 
iheilung  von  den  im  März  1858  in  einem  ehemaligen  Druckzimmer  der  alten 
Froschau  aufgefimdenen  Kalenderblättern  aus  dem  IR.  Jalirhundert ,  die  an 
die  Wand  geklebt  wurden  und  bildliche  Darstellungen  nebst  Reimsprüchen, 
Fabeln  etc.  enthielten. 

Die  Bader,  Truckenscherer  und  Wintuser  zu  Ulm.  1470.  Von 
Dr.  Roth  von  Seh  recken  st  ein.  Ein  für  die  Geschichte  der  Heilkunde 
nicht  uninteressanter  Rathsbeschluss  im  Archiv  der  ehemaligen  Reichsstadt 
Ulm. 

Die  Scherergasse  in  Nürnberg.  Von  Dr.  Lochner  in  Nürnberg. 
Nachricht  aus  dem  15.  Jahrhundert  über  einen  später  in  Vergessenheit  ge- 
rathenen  Namen  Scherergasse.  Die  Läden  der  Tuciiseherer  waren  statisches 
Eigen  und  gehörten  unter  das  Zinsmeisteramt 

Siegel  mit  Jahreszahlen.  Von  Dr.  Märcker,  Geh.  Archiv-Rath 
in  Berlin.  Ergänzung  zu  einer  Notiz  in  Nro.  7  des  diesjährigen  Anzeigers 
durch  Abbildung  eines  Siegels  des  Landgrafen  Johann  zu  Leuchtenberg  aus 
d.  J.  ia68. 

Zur  deutschen  Sittengeschichte.  Von  Dr.  Söltl  in  München. 
Auszug  aus  dem  Testament  der  Pfalzgräfin  Margaretha,  Gemahlin  des  Kur- 
fürsten von  der  Pfalz  aus  d.  J.   1488. 

War  Worms  der  Sitz  eines  Erzbischofs?  Von  J.  Hohen- 
reuther  in  Worms.  Einige  Materialien  zu -der  noch  nicht  entschiedenen 
Differenz,  ob  zu  Worms  Erzbischöfe  oder  Bischöfe  residirt  haben. 

Zur  Geschichte  des  grossen  Städtekrieges.  Von  Dr.  Freih. 
Roth  von  Schreckenstein.  Abdruck  einer  Urkunde  vom  23.  April  1372. 
Dieselbe  befindet  sich  im  Stadtarchiv  zu  Ulm  und  griebt  einen  nicht  uner- 
heblichen Beitrag  zur  Signatur  jener  merkwürdigen  Zeit. 

Lied  auf  den  Krieg  des  Markgrafen  Albrecht  mit  Nürnberg 
und  den  Fränkischen  Bischöfen  1554.  Mitgetheilt  vom  Stadtbibliothekar 
Lutz  eiber ger  in  Nürnberg.  Der  Herausgeber  vindicirt  dieses  noch  nicht 
gedruckte  in  mancher  Beziehung  interessante  Gedicht  von  34  fünfzeiligen 
Strophen  einem  Job.  Ketzniann,  der  es  wenigstens  geschrieben  hat. 

Neu  aufgefundene  Actenstücke  zur  Kunst-  und  Kulturge- 
schichte des  16.  Jahrhunderts.  Bericht  über  einige  in  Nürnberg  auf- 
gefundene Actenstücke ,  die  für  Kunst  -  und  Kulturgeschichte,  besonders  in 
Bfzug  auf  Albrecht  Dürer  von  Wichtigkeit  sind.  Ein  Manuscript  ist  durch 
Geschenk  in  den  Besitz  des  Museums  gelangt.  Es  ist  dies  ein  „Inventarium 
aller  über  weiland  des  Erbarn  urmd  Ehrnvesten  Willibalden  Im  Hofs  des 
Eltern  Burgers  vnd  genanten  des  grösern  Raths  alhie  zu  Nürmberg  seeligen 
Verlasner  Haab  und  Güetere  aufgericht  Im  Jar  1580."  Es  besteht  aus  26 
Foliobogen,  von  denen  gegenwärtig  die  beiden  letzten  Blätter  fehlen. 

Bemalte  Holzschüssel  des  15.  Jahrhunderts.  Nebst  Abbildung. 
Die  Schüssel  ist  2'  10"  gross;  in  der  Mitte  thront  ein  König  tnid  über 
seinem  Haupte  ist  ein  fliegendes  Band  mit  einer  Aufschrift.  Umher  auf 
dem  breiten  platten  Rande  sind  16  Narren  oder  Schälke  abgebildet,  die 
Bandrollen  und  ähnliche  Inschriften  in  Versen  zu  ihren  Füssen  haben.  Das 
Ganze  erinnert  sogleich  an  das  im  16.  Jahrhundert  so  ausgebildete  Schalks- 
und Narrenwesen  und  dessen  Spiele ,  bei  denen  diese  Schüssel  vielleicht  ge- 
braucht wurde. 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  333 

Die  Abstammung  des  Astronomen  Herscliel.  Vom  Archivar 
Hers  che  1  in  Dresden.  Da  die  drei  in  deutscher  Sprache  geschriebenen 
dem  Verfasser  bekannten  Biograpliieen  nur  das  Datum  der  Geburt  llerschels 
(den  15.  Novbr.  1728  zu  Hannover)  angeben,  ohne  über  die  Herkunft  der 
Familie  Etwas  hinzuzulügen,  so  wird  hier  nach  einer  Fan\iiientradition  be- 
richtet, dass  im  17.  Jahrhundert  drei  Gebrüder  Herschel  durch  die  östrei- 
chische  Gegenreformation  aus  ihrer  Heimat  Mähren  vertrieben  wurden  und 
sich  im  Sachsischen  ansiedelten.  Von  dort  wendete  sich  der  Stammvater 
des  Astronomen  nach  Hannover. 

Meister  Hans  Felber  von  Ulm.  Von  Prof.  Dr.  Hassler  in  Ulm. 
In  Bezug  auf  die  Aufibrderung  des  Rector  Lochner  in  Nro.  «  des  Anzeigers 
von  1858  macht  Dr.  Hassler  Mittheilung  aus  älteren  Urkunden  v.  J.  1424 
und  folgd.  Danach  ist  Hans  Felber  nicht  bloss  Stück-  und  Kanonengiesser, 
sondern  nach  einer  Urkunde  von  1426  mehr  als  Inspector  oder  Director  des 
Giesswesens  zu  betrachten.  Dass  er  mit  dem  Architekten  „Hans  von  Ulm" 
identisch  sei,  ist  höchst  wahrscheinlich. 

Zur  Bedeutung  des  Titels  „Herr"  im  Mittelalter.  Von  Dr. 
Freih.  Roth  v.  Schreckenstein.  Anfrage  des  ür.  Roth  v.  Schreckenstein, 
wie  es  komme,  dass  die  Juden,  die  im  Mittelalter  bekanntlich  missachtet 
wurden,  in  Urkunden  von|  13)4  einen  Titel  erhalten,  der  um  jene  Zeit 
eine  Prärogative  des  hohen  Adels,  hoher  Magistratur  etc.  zu  sein  pflegte. 
Erhielten  die  vier  Meister  den  Herrentitel  in  der  Urkunde  etwa  in  ihrer 
Eigenschaft  als  Vorstände  der  Synagoge? 

Die  alten  Gewerksrollen  zu  Greifswald.  Von  Dr.  Prof.  Kose- 
garten zu  Greifswald.  —  Zur  festen  Begrenzung  der  Innungen  war  es  noth- 
wendig,  die  Gebiete  derselben  genau  zu  bestimmen.  Prof.  K.  theilt  in  nie- 
derdeutscher Sprache  geschriebene  Urkunden  der  Art  aus  dem  13  —  15. 
Jahrhundert  mit  und  fügt  jeder  eine  Uebersetzung  einiger  technischen  oder 
im  Hochdeutschen  unverständlichen  Wörter  bei. 

Die  grossen  silbernen  Geldstücke  des  Mittelalters.  Von 
Rechnungsrath  Seh  lickeysen.  Mittheilung  über  die  im  Mittelalter  ge- 
bräuchhche  Art ,  gegossene  Markstücke ,  die  mit  dem  Stempel  einer  Stadt 
versehen  waren,  —  deshalb  „geteknete  mark"  genannt,  —  als  grössere  Sil- 
bermünze zu  gebrauchen.  Herr  Schi,  fügt  dieser  Notiz  eine  Beschreibung 
der  Markstücke  und  Mittheilung  von  zwei  Auffindungen  sc)lcher  in  neuester 
Zeit  bei. 

Ein  R(Mtersiegel  der  Familie  Thumb  von  Neuburg.  Von  Dr. 
Roth  von  Schrecken  stein.  Ausser  der  Beschreibung  des  Siegels  ge- 
nannter Familie  wird  ans  einigen  Urkunden  des  H.Jahrhunderts  der  Herren- 
stand derselben  dargethan. 

Dr.  Sachse. 

Englische  Grammatik  in  Beispielen  von  Dr.  Carl  van  Dalen. 
Berlin.     Nicolaisclic  Buchhandlung.  (G.   Parthey.)  liSHO. 

Der  Thatsache  gegenüber,  dass  selbst  namhafte  englische  Grammatiken, 
um  von  werthloscn  (Jompilationen  gar  nicht  zu  reiien,  den  J^scr  in 
einzelnen  Fällen  in  Stich  lassen,  oder  dass  sie  uns  Behauptungen  hin- 
werfen, für  deren  Annahme  oder  Zurückweisung  wir  einzig  j'uf  unser  grös- 
seres oder  minderes  Zutrauen  zu  dem  Verfasser  angewiesen  sind,  ist  das 
vorliegende  Buch  von  van  Dalen  wie  ein  Labetrunk  aus  einer  frischen  Quelle. 
Es  giebt  uns  nichts,  als  Beispiele  und  überliisst  es  ihn  englischen  Autoren 
selbst,  uns  in  der  englischen  Grammatik  zu  unterrichten ;  er  beobachtet  und 


334  Beur theilungen  und  kurze  Anzeigen. 

sammelt,  er  selbst  schweigt  schonungslos,  da  wir  von  ihm  doch  selbst  hin 
und  wieder  bei  doppelten  Formen,  bei  schwankendem  Gebrauche  eine  Ent- 
scheidung hören  möchten.  Er  enthält  sich  jedoch  derselben  grundsätzlich, 
da  er  nicht  lehren  will,  sondern  die  Autoren  zu  Lehrern  macht. 

Erkennen  wir  nun  von  vorn  herein  den  überaus  grossen  Fleiss  des  ge- 
ehrten Verfassers  biemit  dankbar  an.  Sammeln  ist  eine  mühselige  Arbeit, 
über  die  mancher  geistreiche  Kopf  die  Nase  rümpft,  und  doch  muss  die 
Arbeit  geschehen.  Wünschen  wir  uns  Glück,  wenn  wir  es  mit  einem  fleis- 
sigen  und  gewissenhaften  Arbeiter  zu  thun  haben.  Diese  Gewissenhaftig- 
keit bezeugen  dem  Verfasser  alle  die  Autoren,  die  er  hinter  einem  jeden 
seiner  Beispiele  citirt  hat. 

Ein  denkender  Mensch  sammelt  nun  nicht,  ohne  seine  Sammlungen  zu 
classificircn;  auch  er  systematisirt  von  vorn  herein.  Dies  hat  denn  auch  der 
Verfasser  gethan  und  zwar  so,  dass  er  sich,  wie  er  in  der  Vorrede  sagt, 
keiner  vorhandenen  Grammatik  anschliesst,  worin  er  einen  Vorzug  seines 
Buches  zu  sehen  scheint,  worin  wir  nur  eine  Eigenthümlichkeit  desselben 
sehen,  da  wir  ihm  bekennen  müssen,  dass  wir  nicht  immer  ohne  Schwierig- 
keit die  für  streitige  Punkte  nöthige  Aufklärung  aus  seinem  Buche  zu 
schöpfen  vermochten;  jedoch  möchte  dies  mehr  an  Mangel  an  Gewohnheit, 
also  an  uns,  nicht  an  ihm  liegen.  Denn  zur  Orientirung  dient  dem  Leser 
ein  die  Seiten  IX  —  XX  füllendes,  sehr  genaues,  Hauptabschnitte  und  Ab- 
theilungen wie  Unterabtheilungen  durch  Einrückungen  des  Drucks  auch 
äusserlich  sehr  übersichtlich  bezeichnendes  Inhaltsverzeichniss,  das  uns  im 
Ganzen  eine  Eintheilung  nach  Wortclassen  zeigt ,  wie  sich  denn  überhaupt 
das  Syntaktische  eng  an  die  betreffenden  Formen  bindet. 

Wenn  jedoch  der  Fleiss  des  Verfassers  die  grösste  Anerkennung  ver- 
dient, so  ist  andrerseits  nicht  zu  läugnen,  dass  dieser  Fleiss  mitunter  ver- 
geudet wird.  So  hätte  für  die  §§. ,  die  sich  mit  der  Flexion  des  Verbums 
beschäftigen,  der  dritte  Theil  der  angeführten  Beispiele  vollständig  aus- 
gereicht. Dasselbe  lässt  sich  von  §.  573,  Bildung  des  Adverbs  durch  by, 
§.  323  Plural  des  Substantivs  etc.  etc.  sagen.  Diese  Partieen  leiden  an 
einer  UeberfüUe  von  Belegen.  Und  wenn  wiederum  die  Selbstständigkeit 
des  Verfassers  uns  als  eine  auf  diesem  Gebiete  nicht  gar  zu  häufige  schrift- 
stellerische Tugend  entgegentritt,  so  ist  doch  diese  Selbstständigkeit  von 
einer  gewissen  Ai-t  von  Eigensinn  nicht  freizusprechen.  Denn  der  Verfasser 
hätte  hin  und  wieder  eine  Lücke  ausfüllen  können,  hätte  er  die  in  früheren 
"S"\'erken  über  englische  Granunatik  gegebenen  Beispiele  benutzt  und  einer 
Revision  unterworfen.  Man  muss  der  Mehrzahl  der  Verfasser  englischer 
Grammatiken  vorwerfen,  ihre  Vorgänger  zu  unselbstständig  benutzt  zu  haben. 
Hier  tritt  der  ungleich  seltenere  Fall  ein,  dem  Verfasser  vorwerfen  zu  müssen, 
dieselben  im  Gefühle  und  Bestreben  der  Selbstständigkeit  zu.  wenig  ausge- 
beutet zu  haben. 

Dass  hie  und  da  keine  oder  nicht  umfangreiche  Auskunft  über  diesen 
und  jenen  Punkt  erf heilt  wird,  soll  kein  Vorwurf  für  den  Verfasser  sein 
—  es  wäre  überdies  ein  sehr  billiger,  da  er  auf  jeden  Verfasser  jedes  Buches 
passen  möchte ,  —  er  soll  vielmehr  eine  Aulforderung  an  die  Leser  des 
Baches  sein,  wünschenswerthe  Ergänzungen,  instructive  Beispiele  aus  der 
eigenen  Leetüre  dem  Verfasser  zugehen  zu  lassen.  Dass  diesen  Einsen- 
dungen ein  freundlicher  Empfang  und  eine  billige  Erwägung  wird,  weiss 
Refer.  aus  eigener  Erfahrung  zu  bestätigen. 

In  welcher  Weise  sich  das  Buch  für  den  Unterricht  verwerthen  lässt, 
wird  den  Freunden  der  heuristischen  Methode,  deren  sich  der  Verf.  seit 
Jahren  befleissigt  und  der  auch  dies  Buch  seinen  Ursprung  verdankt,  ohne 
Weiteres  einleuchtend  sein.  Selbst  da,  wo  diese  Methode  nicht  eingeführt 
ist,  wird  das  Buch  als  Beispielsammlung  und  Ergänzung  der  Grammatik  recht 
gute  Dienste  leisten.  Vor  allen  Dingen  empfehlen  wir  es  aber  jedem  Lehrer. 
Ihm  bietet   es  Stoff"  zu  Exercitien  und   grammatischen  Uebungen   und  Aus- 


ßeurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  335 

kunft  über  viele  Punkte,  selbst  der  Formenlehre,  die  in  vielen  Graomuatiken 
unklar  und  dunkel  bleiben.  Beispielsweise  möge  auf  §§.  136  —  164,  Par- 
ticipium  perfecti  und  §§.  370  und  397,  Wortbildung,  verwiesen  werden. 

G.  Blich  mann. 


Von  der  Bedeutung  der  Sanskritstudien  für  griechische  Philo- 
logie. Festrede,  gehalten  in  der  oftentlichen  Sitzung  der 
k.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  München  zur  Feier 
ihres  einhundert  und  ersten  Stiftungstages  im  JNIärz  18G0 
von  Dr.  Wilhelm  Christ,  ausserordentl.  Mitgliede  der 
philos.-philolog.  Classe  der  k.  Akademie  der  Wissenschaften. 

Dass  die  Sanskritstudien  nicht  nur  f  iir  die  griechische  Philologie,  sondern 
auch  für  die  moderne  Philologie,  die  theilweise  aus  der  alten  hervorge- 
gangen ist,  von  grosser  Bedeutung  sind,  wird  Niemand  bestreiten ,  der  dem 
vergleichenden  Sprachunterrichte  huldigt.  Da  nun  diese  Zeitschrift  dem 
vergleichenden  Sprachstudium  besonders  ihi-e  Aufmerksamkeit  schenkt,  so 
glauben  wir  auch  hier  über  eine  Rede  berichten  zu  können,  welche  zunächst 
nur  die  griechische  Philologie  im  Auge  hat. 

Der  Festredner  Dr.  Christ  ist  ein  geborner  Nassauer,  welcher  seine 
Universitätsstudien  in  München  und  Berlin  machte  und  durch  seine  gedie- 
gene Kenntniss  die  Aufmerksamkeit  eines  v.  Thiersch  u.  A.  so  auf  sich  zog, 
dass  er  als  Lehrer  an  d.  Maxim.  Gymnasien  gewonnen  wurde.  Kurze  Zeit 
nach  seinem  Eintritt  in  den  baier.  Staatsdienst  wurde  er  zum  Mitgliede  der 
k.  Akademie  ernannt  und  durch  seine  „Grundzüge  der  griechischen 
Lautlehre"  hat  er  sich  der  philolog.   Welt  rühmlichst  bekannt  gemacht. 

In  der  Festrede  geht  Dr.  Christ  von  dem  Satze  aus:  die  oberste  und 
höchste  Aufgabe  der  Wissenschaft  ist  es,  von  dem,  was  ist  und  geschieht, 
den  Grund  zu  erforschen;  demnach  hat  auch  die  Geschichte  nicht  blos  den 
Verlauf  der  politischen  und  geistigen  Entwickelung  der  einzelnen  Völker  zu 
ermitteln,  sondern  auch  die  Grundzüge  zu  erforsclien,  die  in  den  einzelnen 
Fallen  eine  bestimmte  Entwickehmg  hervorgerufen  haben;  hierauf  geht  der 
Kedner  auf  den  Einfluss  über,  den  das  römische  AVesen  auf  die  Entwickelung 
sämmtlicher  modernen  Staaten  Europa's  geäussert  hat,  zeigt  aber  auch,  dass 
das  Griechenthum  auf  die  gesellschaftlichen  Verhältnisse  der  Römer,  be- 
sonders auf  die  Entwickelung  ihrer  Literatur  entscheidend  eingewirkt  hat. 
Von  selbst  wirft  sich  daher  die  Frage  auf,  durch  welchen  Eintiuss  die  helle- 
nische Entwickelung  bedingt  und  gefördert  worden  ist.  Der  Redner  beant- 
wortet diese  Frage,  indem  er  Klein;isien,  Phönizien  und  Aegyptcn  als  die 
alten  Culturstatiten  bezeichnet,  welche  dem  frisch  aufkeimenden  hellenischen 
Culturleben  manche  Nahrung  zugeführt  haben.  Zur  grundlichen  Beant- 
wortung der  Franc  hat  jedoch  die  vergleicliende  Sprachforschung  den  besten 
AN'eg  vorgezeichuet,  welche  evident  darthut,  dass  »las  (Griechische  ein  Zweig 
des  grossen  indogermanischen  Sprachstanunes  ist  und  dass  es  mit  dem  Sans- 
krit in  näherer  Beziehung  als  irgend  eine  andere  der  europäischen  Schwester- 
sprachen steht. 

Um  nun  die  Bedeutung  des  Sanskrit  für  die  Erkenntniss  des  Griechischen 
im  Einzelnen  zu  beleuchten,  lieht  der  Redner  in  allgemeinen  Umrissen  die 
Theile  der  griecliischen  Sprache  hervor,  die  auf  diese  Weise  Licht  und 
Klarheit  erhalten  halten. 

Zuerst  ist  dun.h  die  Kenntniss  der  Sanskritspracbe  eine  sichere  Er- 
kenntniss über  die  Natur  der  griechischen  Laute  und  die  Gesetze  ihrer 
Verknüpfung  gegeben  worden. 

Zweitens  hat  die  Etymologie,  welche  den  materiellen  Inhalt,  die  geistigen 
Ideen,    die    sich    in  jenen  Lauten    und  Lautcomplexen    gleichsam   verkörpert 


336  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

haben,  eine  sichere  Grundlage  und  einen  festern  Ausbau  erhalten.  Wenn 
auch  durch  Nachweis  des  gleichen  Wortes  im  Sanskrit  noch  nicht  der  Ursprung 
gegeben  ist,  so  wird  doch  durch  Beispiele  nachgewiesen,  dass  sich  durch  das 
Sanskrit  derselbe  leicht  und  sicher  nachspüren  liisst. 

Durcli  Anfügung  der  Nominal-  und  Verbal -Suffixe  haben  die  Stämme 
eine  conkrcte  Gestalt  und  bestimme  Bedeutung  angenommen,  aber  diese  fest 
ausgeprägten  Worter  wurden  wiederum  zur  Bezeichnung  der  Verhältnisse 
des  Ortes,  der  Zeit,  des  Grades  in  der  Deklination,  Conjugatlon  und  Com- 
paration  abgewandelt,  welche  Abwandlungen  in  dem  speciell  sogenannten 
etymologischen  Theil  der  Grammatik  abgehandelt  zu  werden  pflegen.  Aus 
der  genauen  Uebereinstimmung  der  zum  Ausdruck  der  Casus,  der  Grad- 
steigerungen, der  Tempora  und  Modi  verwandten  Suffixe  hat  man  am 
sichersten  auf  die  Verwandtschaft  des  Griechischen  mit  den  übrigen  Zweigen 
des  arischen  Stammes  und  auf  die  enge  Beziehung  desselben  zum  Sanskrit 
geschlossen. 

Aber  nicht  nur  in  der  Form  stimmen  die  Deklinationen  und  Con- 
jugationen  des  Griechischen  mit  denen  des  Sanskrit  im  AVesentlichen  über- 
ein, sondern  auch  in  der  Anwendung  und  in  dem  syntaktischen  Gebrauche 
jener  Formen  haben  beide  Sprachen  überraschende  Aehnlichkeiten.  Aus 
demGesaglen  ergiebt  sich,  dass  die  Kenntniss  des  Sanskrit  zum  Verständniss 
der  griechischen  Sprache  von  den  Lautgesetzen  an  bis  zur  syntaktischen 
Fügung  von  Wichtigkeit  ist.  Weniger  Aufschluss  giebt  es  über  die  spe- 
cielle  hellenische  Culturentwickelung;  dessen  ungeachtet  sind  diese  For- 
schungen von  grosser  Bedeutung  für  die  griechische  Philologie;  der  Redner 
weist  hier  auch  die  Quellen  nach,  aus  denen  die  bezüglichen  Kenntnisse  zu 
schöpfen  sind. 

Dr.  Gut  hier. 


Jahrbuch  für  Romanische  und  Englische  Literatur.  Unter  be- 
sonderer Mitwirkung  von  Ferdinand  Wolf,  herausgegeben 
von  Dr.  Adolf  Ebert.  Berlin  8".  Ferd.  Dümmlers  Verlag 
&  A.  Ascher   &  Comp. 

Seit  dem  Anfang  des  vorigen  Jahres  erscheint  dieses  Jahrbuch  in  regel- 
mässigen Quartalheften.  Unter  seinen  Mitarbeitern,  die  es  in  Deutschland, 
Frankreich,  England,  Spanien  und  Italien  hat,  besitzt  es  die  auf  dem  Felde 
der  englischen  und  romanischen  Sprachforschung  und  Literatur  bedeutendsten 
Namen.  Ueber  die  jetzt  vorliegenden  sechs  Hefte,  (die  vier  ersten  bilden 
Band  I ,)  soll  liier  in  Kürze  berichtet  werden.  — 

Ein  französisch  geschriebener  Aufsatz  von  Edelestand  du  Meril  über 
das  Leben  und  die  Werke  des  Reimchronikers  Wace  eröffnet  den  ersten 
Band.  Es  werden  darin  der  Name  und  die  Lebensumstände  des  Dichters 
erörtert  und  seine  Werke:  La  Conception  Nostre-Dame,  Vie  de  St.  Nicholas, 
le  Roman  de  Brut  und  le  Roman  de  Rou  besprochen.  Bemerkenswerth  ist, 
dass  du  Meril  gegen  ilie  allgemeine  Ansicht  die  Unabhängigkeit  des  Brut 
von  der  Chronik  des  Gottfried  von  Monmoutli  nachweist,  und  ihn  vielmehr 
aus  kymrischen  Quellen  scliöpfen  lässt,  was  selbst  aus  dem  Titel  seines 
AVerkes  hervorgeht;  denn  in  allen  Manuscripten  lautet  derselbe  nicht,  wie 
er  nach  le  Roux  de  Lincy's  Conjectur  allgemein  ausgesprochen  wird,  Roman 
de  Brut  d.  h.  Roman  vom  Brutus,  sondern  Roman  du  brut ,  d.  h.  also,  da 
brut  im  Kymrischen  Histoire  bedeutet,  Romanische  Uebersetzung  der  bri- 
tischen Sagen.  So  nennt  Robert  de  Brunne  seine  altenglische  Uebersetzung 
der  kynn-Ischen  Ueberlieferungen :  The  Brut,  so  Layamon  seine  mittelsäch- 
sische Bearbeitung  unsres  Dichters  u.  s.  w. 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  337 

Der  zweite  Aufsatz,  einer  der  bedeutendsten  des  Jahrbuchs,  ist  vom 
Herausgeber  und  behandelt  die  englischen  Mysterien  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung der  Towneleysamndung.  Die  zwei  Hauptverdienste  dieses  Auf- 
satzes sind,  a)  dass  darin  zum  ersten  Male  ein  anschauliches  Bild  von  der 
Inscenesetzung  der  Mysterien  entworfen  wird,  b)  dass  darin  der  Unterschied 
zwischen  den  englischen  und  französischen  Mysterien  erörtert  und  die  Un- 
abhängigkeit der  ersteren  von  den  letzteren  nachgewiesen  wird.  Es  wird  an 
den  englischen  Mysterien  gerühmt  a)  die  grössere  Einheit  der  Handlung. 
Himmel,  Hölle  und  Erde  erscheinen  selten  zusammen,  was  im  ausgebildeten 
französischen  Mysterium  dagegen  sogar  Regel  ist,  b)  die  grössere  Individua- 
lisirung  in  der  Zeichnung  der  Charactere,  c)  die  nationale  Färbung,  der  Ver- 
fasser sagt,  der  Anglieismus  der  Charactere,  d)  die  bis  in's  Einzelnste  durch- 
geführte Handwerksthlitigkeit  der  Spielenden,  die  ja  Handwerker  waren. 
Ich  schreite  nun  zu  einer  näheren  Darlegung  des  Gesammtinhalts  des  Auf- 
satzes. Die  Mirakelspiele,  von  Anfang  an  eine  Sache  des  Clerus  und  der 
Laien,  da  sie  die  Schutzheiligen  der  einzelnen  Zünfte  verherrlichten,  eman- 
cipirten  sich  zuerst  von  der  Kirche,  erst  nach  ihnen  die  Mysterien.  Sie 
wurden  von  einzelnen  Zünften  aufgeführt.  Die  einzelnen  Spiele  wurden  an 
grossen  kirchlichen  Feiertagen  zu  Collectivmysterien  verbunden,  die  mit  der 
Schilderung  der  Schöpfung  begannen  und  die  Hauptmomente  der  biblischen 
Geschichte  darstellend,  mit  dem  jüngsten  Gerichte  abschlössen.  Es  folgt, 
aus  den  drei  vorhandenen  Sammlungen  zusammengestellt ,  eine  Inhalts- 
übersicht der  einzelnen  Spiele,  die  sich  demnach  auf  30  —  40  beliefen.  Die 
einzelnen  Spiele,  pageant,  lat.  pagina  genannt,  wurden  von  den  einzelnen 
Zünften  gespielt.  Die  einzelnen  Spiele  fielen  nun  immer  derjenigen  Zunft 
zu,  die  handwerksmUssig  dabei  besonders  betheiligt  war,  das  Spiel  der  hei- 
ligen drei  Könige  den  Goldschlägern  wegen  der  drei  goldenen  Kronen,  die 
Fusswaschung  den  Wasserträgern,  die  Hochzeit  von  Cana  den  Weinhändlern, 
der  Bau  der  Arche  den  Zimmerleuten,  die  Kreuzigung  den  Nagelschmieden 
u.  s.  w.  —  Die  Schauspieler  wurden  bezahlt  je  nach  der  Grösse  der  Arbeit, 
Pilatus  bekam  4  Schilling.  Christus  2,  der  Teufel  und  Judas  zusammen  18 
pence.  —  Es  folgt  eine  Schilderung  des  Kostüms,  das  sich  an  bemalte  kirch- 
liche Sculpturen  anlehnte.  Christus  trug  einen  Rock  von  weissem  Schatleder 
mit  Aermeln,  die  in  Handschuh  ausliefen,  rothe  Sandalen  und  eine  goldene 
Perrücke,  die  Hohenpriester  das  bischöfliche  Ornat,  die  Henker  Jacken  von 
schwarzer  Steitleinwand,  Pilatus  einen  grünen  Mantel  und,  was  noch  un- 
erklärt ist,  eine  lederne  Keule  mit  16  ledernen  Bällen  u.  s.  w.  Eine  solche 
Keule  ist  noch  jetzt  vorhanden.  (Sollte  nicht  in  den  Bällen,  pilae,  eine  An- 
spielung auf  den  Namen  Pilatus  enthalten  sein?)  Einzelne  Rollen,  die  des 
Teufels  und  des  Herodes  wurden  maskirt  gespielt.  Die  verschiedenen  Sce- 
nerien  wurden  auf  verschiedenen,  von  einander  unabhängigen  Bühnen  dar- 
gestellt, die  weiter  geschafft  werden  konnten,  so  dass  also,  war  das  erste 
Spiel  vor  dem  Haus  des  Bürgermeisters  zu  Ende,  das  zweite  Gerüst  vorfuhr, 
wahrend  das  erste  sich  vor  das  Haus  des  ersten  Aldermann  begab  u.  s.  w. 
(In  Frankreich  dagegen  bestand  die  eine  Bühne  aus  mehreren  Etagen.) 
Die  Verfasser,  respect.  Bearbeiter  waren  Geistliche  und  bekamen  Honorar.  — 
Hienach  lässt  Ebert  eine  eingehende  Analyse  der  Towneleymysterien  folgen. 
\\'ie  sich  in  diesen  Scherz  mit  Ernst  mischt,  um  die  Aufmerksamkeit  des 
Publikums  rege  zu  erhalten,  mögen  die  beiden  in  unsrer  Darstellung  ver- 
einigten Schäferspiele  zeigen,  die  zwischen  der  Begrüssung  Maria's  durch 
Elisabeth  und  der  Verejirung  der  Magier  mitten  inne  liegen. 

Zu  drei  Schäfern  gesellt  sich  Mak,  ein  berüchtigter  Schafdieb.  Er  klagt 
ihnen  seine  Noth,  weil  seine  Frau  alle  Jahr  ein  bis  zwei  Kinder  gebäre. 
Die  für  ihre  Heerden  besorgten  Hirten  nöthigcn  ihn,  sich  zwischen  sie  zu 
legen.  Bald  sind  sie  jedoch  tief  eingeschlafen.  Da  steht  Mak  leise  auf, 
stiehlt  den  fettesten  Bock,  bringt  ihn  in  das  auf  der  Bühne  selbst  vorgestellte 
Haus  seiner  Frau  kehrt  zurück,  und  legt  sich  unter  die  Schäfer.  Diese  er- 
Archiv f.  n.  Sprachen.  XXVII.  22 


338  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

wachen,  der  eine  mit  den  Worten :  Resurrex  a  raortruis  (sie),  der  zweite,  indem 
er  rühmt,  wie  ihn  der  Schlaf  erquickt;  der  dritte  hat  einen  bösen  Traum 
fchabt,  Mak  habe  ihm  ein  Schaf  gestohlen,  Mak  aber  liegt  tief  schnarchend 
da,  muss  aufgerüttelt  werden,  und  theilt  mit,  ihm  habe  geträumt,  seine  Frau 
habe  schon  wieder  gegackert  und  einen  Knaben  gezeugt.  Er  bittet  die 
Scliiifer,  ihn  zu  untersuchen,  damit  er  gar  nichts  mitnähme,  eilt  nach  Hause 
und  befiehlt  seiner  Frau,  den  gestohlenen  Bock  in  die  Wiege  zu  legen. 
Bald  überzeugen  sich  die  zurückgebliebenen  Hirten,  dass  ihnen  ein  Schaf 
fehlt;  sie  begeben  sich  nach  Mak's  Wohnung,  suchen  und  finden  nichts,  bis 
einer  von  ihnen  beim  Abschied  den  Neugeborenen  zu  sehen  wünscht.  Wem 
fällt  hierbei  nicht  der  avocat  Pathelin  ein!  Da  entdeckt  er  seinen  Bock. 
Naiver  Weise  will  auch  jetzt  noch  Mak  seine  Vaterschaft  vertheidigen;  umsonst! 
er  wird  geprellt.  Als  sich  die  Schäfer  erschöpft  von  ihrer  Anstrengung 
niedersetzen,  erscheint  ein  Engel:  Gloria  in  excelsis  singend.  Nach  einem 
komischen  Intermezzo,  veranlasst  durch  den  schwachen  Versuch  eines  der 
Hirten,  den  himmlischen  Gesang  nachzuahmen,  ziehen  sie  dem  Sterne  nach 
zur  Geburtsstätte  und  preisen  das  Gotteskind  in  naiv  komischer  Weise  mit 
Ausraufen  wie:  Heil,  du  kleiner  dünner  Flederwisch.  Heil,  du  kleiner  Milch- 
tunker.  —  Der  Aufsatz  schliesst  mit  Erörterung  des  Verhältnisses  zwischen 
Rlysterien  und  Moralitäten,  und  weist  die  Ansicht  zurück,  als  hätten  sich 
letztere  aus  den  ersten  entwickelt. 

Die  folgenden  Aufsätze  sind:  Der  Troubadour  Cercamon  von  Mahn. 
Dieser  Dichter  gehört  zu  den  ältesten  Ti'oubadours ;  seine  volksthümlichen 
Dichtungen  sind  nicht  mehr  erhalten.  Als  Proben  seiner  höfischen  Poesie 
werden  vier  Lieder  mit  einer  Uebersetzung  in  Prosa  mitgetheilt;  eins  findet 
sich  bereits  im  Parnasse  Occitanien,  die  drei  andern  sind  vom  Verfasser  aus 
Pariser  Handschriften  gezogen.  —  Die  Reimkunst  der  Troubadours  von  Bartsch, 
dem  bekannten  Verfasser  des  provenzalischen  Lesebuchs.  —  Ein  französisch 
geschriebener  Aufsatz  von  Paulin  Paris  über  die  von  Francisque  Michel  her- 
ausgegebene Chanson:  Reise  Carls  des  Grossen  nach  Jerusalem  und  Con- 
stantinopel.  —  Ueber  den  realistischen  Roman  und  das  Sittengemälde  bei 
den  Spaniern  in  der  neuesten  Zeit  von  Ferdinand  Wolf.  Der  Aufsatz  hebt 
die  hohe  Bedeutung  der  in  Spanien  und  Frankreich  hochgeschätzten,  jetzt 
auch  bereits  nach  Deutschland  Einlass  findenden  Pseudonymen  Schriftstellerin 
Fernan  Caballero  hervor.  Sie  heisst  Cäcilie  Arrom,  ist  1797  zu  Morges  in  der 
Schweiz  geboren  und  eine  Tochter  Bohl  de  Faber's.  Vergl.  einen  Aufsatz 
von  P.  Heyse  im  Maiheft  1858  des  Literaturbl.  zum  Stuttgarter  Kunstblatt, 
S.  65  ff.  J.  N.  Bohl  de  Faber  und  seine  Tochter  CäciUe.  Der  Verfasser 
schliesst  mit  einem  Anruf  an  die  deutschen  Uebersetzer,  die  Werke  dieser 
bedeutenden  Schriftstellerin  in's  Deutsche  zu  übertragen,  (womit  bereits  der 
Anfang  gemacht  ist.)  Siehe  übrigens  Magazin  des  Auslandes  vom  dritten 
December  1859.  —  Li  dem  nächsten  Aufsatz  giebt  Lemcke  einen  Beitrag  zur 
Geschichte  der  Monstrositäten  der  Literatur  und  der  erzählenden  Dichtung 
in  Italien.  Von  Zeit  zu  Zeit  erscheint  nämlich  kometenartig  ein  Buch  auf 
Pariser  oder  Londoner  Auctionen,  wird  mit  Gold  aufgewogen  und  ver- 
schwindet dann  wieder.  Dies  seltene  Buch  ist  das  Libro  dell'  Origine  dei 
volgari  proverbii  von  Aloise  Cintio  dei  Fabrizii.  Es  enthält  45  Erzählungen 
in  terze  rime,  deren  jedesmaliger  Titel  ein  Sprichwort  ist,  das  aber  sehr 
selten  in  einem  leidlich  vernünftigen  Bezüge  zu  der  folgenden  Erzählung 
steht.  Die  Tendenz  ist,  ein  möglichst  krasses  Bild  menschlicher  Verruchtheit 
zu  geben.  Der  Cynismus  der  Schilderung  und  des  Ausdrucks  übersteigt  alle 
Grenzen;  der  Dichter  ist  unerschöpfiich  in  Schimpfwörtern  für  das  sesso  per- 
verso  e  infame  der  Frauen  und  die  rea  canaglia  der  Geistlichen.  Andre  Er- 
zählungen sind  ganz  albern  und  Versificirungen  von  Venediger  Stadtklatsch, 
wie  sie  nach  Lemcke  bis  in  die  neuere  Zeit  in  Venedig  gebräuchlich  gewesen 
sind ;  das  Buch  wurde  auf  Befehl  Clemens  des  Siebenten  verbrannt.  Von  des 
Verfassers  Person  ist   wenig   mehr  bekamit,   als   dass    er  Dr.  der  Medizin  in 


Beurtheilungcn  und  kurze  Anzeigen.  339 

Venedig  war.  Lemcke  schildert  nacli  einem  Exemplar  der  ^^'ol^enbüttler 
Bibliothek  den  Charakter  des  Buches  und  giebt  eine  Inhaltsübersicht  der 
einzelnen  Erzählungen.  —  Es  folgt  Notice  sur  Doon  de  Mayence,  ein  fran- 
zösisch geschriebener  Aufsatz  von  Alexandre  Pey.  Er  enthält  eine  gedrängte, 
sehr  hübsch  geschriebene  Inhaltsangabc  eines  bis  vor  Kurzem  noch  unedirten, 
in  drei  iNIanuscripten  vorhandenen,  altfranzösischen  Romanes  aus  dem  Carlo- 
vingischen  Sagenkreise  ,  der  jetzt  unter  Guessard's  Leitung  in  den  Anciens 
poütes  de  la  France  erschienen  ist.  Der  Roman  enthält  zwei  Theile,  deren 
erster  G038  Verse,  die  jeunessos  Doolin  besingt;  der  zweite  hat  546  7  Verse. 
Leider  fehlt  der  Raum,  diesen  an  naiven  Zügen  reichen  Roman  hier  ein- 
gehender mitzuthcilen.  Der  Inhalt  ist  jedoch  ganz  verschieden  von  dem  der 
bis  jetzt  bekannten  Doonromane.  (Auch  verdient  der  Name  des  Helden  eine 
Besprechung,  der  überall,  wo  er  als  Satzsubiect  auftritt,  nicht  Doon,  sondern 
Do  ist,  daher  auch  der  Titel  eigentlich  Do  de  Mayence  lauten  müsste. 
Eigennamen  unterschieden  suj.  und  reg.  im  Altfranzosischen  häutig  durch  die 
Endung  on,  Othes,  Üthon,  Hues,  Hujon,  Gui,  Guion.  —  Doolin  endlich  ist 
eine  durch  Dissimilation  entstandene  Diminutivform  für  Doonin  wie  orphelin 
für  das  in  Kellers  Romwart  vorkommende  orphenin,  welches  selbst  wieder 
für  orphin  (phain)  steht.)  . 

Der  folgende,  französisch  geschriebene  Aufsatz  ist  von  demselben  Ver- 
fasser. Es  wird  darin  nachgewiesen,  dass  die  Aeueide  von  Heinrich  von 
Veldecke  dem  Roman  d'Eneas  de  Benoit  de  Sainte-More  nachgebildet,  ja 
an  vielen  Stellen  wörtlich  daraus  übersetzt  ist,  wodurch  eine  früher  aus- 
gesprochene Vermuthung  EttmüUer's  bestätigt  wird.  —  Der  nächste  Aufsatz: 
die  spanischen  Sprichwörter,  als  Element  der  Verskunst  betrachtet,  von 
Amador  de  los  Rios  ist  ein  Abschnitt  der  noch  ungedruckten  Historia  critica 
de  la  literatura  espaüola  des  Verfassers,  —  « 

Es  folgt,  von  Tobler  mitgetheilt,  ein  altfranzösisches  dit,  le  dit  du 
magnificat  von  Jean  de  Conde.  Dieses  dit  ist  einer  Handschrift  der  cata- 
natensischen  Bibliothek  in  Rom  entnommen.  Keller  hat  in  seiner  Romwart 
der  altfranzösischen  Manuscripte  dieser  Bibliothek  nicht  Erwähnung  gethan. 
Diese  Handschrift  enthält  den  Roman  von  der  Rose  und  37  kürzere  Gedichte, 
die  von  Tübler  grösstentheils  copirt  worden  sind,  und  von  denen  er  eins  im 
letzten  Hefte  des  Ilerrig'schen  Archiv's  mitgetheilt  hat.  21  Gedichte  gehören 
mit  Sicherheit  Johann  aus  Conde  im  Heunegau  an.  Tobler  stellt  zuerst  die 
aus  den  Gedichten  selbst  zu  entnehmenden  Lebensumstände  des  Dichters 
zusammen,  giebt  dann  eine  Inhaltsangabe  von  20  Gedichten  und  theilt  den 
altfranzösischen  Text  des  21.  in  470  Zeilen  mit.  Der  Inhalt  ist  derselbe, 
wie  Strickers  Königin  im  Bade  und  folgender.  Ein  gerechter  und  wohl- 
thätiger,  aber  sehr  stolzer  Fürst,  König  von  Sicilien,  Bruder  der  Könige  von 
ßaiern  und  Arragonien  hört  einst  in  der  Kirche  den  Vers :  deposuit  potentes 
de  sede  und  verbietet  den  Priestern,  diesen  Vers  jemals  wieder  zu  lesen,  da 
er  so  mächtig  sei,  dass  ihm  weder  Gott  noch  ein  Mensch  schaden  könne. 
Dafür  straft  ihm  Gott  also.  Als  er  in's  Bad  geht,  schickt  Gott  einen  Engel 
in  Gestalt  des  Fürsten  in  das  Vorzimmer,  der  sich  dort  des  Königs  Ornat 
anzieht  und  mit  dem  Hof  zur  Jag<l  zieht.  Unterdessen  ist  der  in  einen 
alten  Mann  verwandelte  König  aus  dem  Bade  gestiegen  und  ruft  nach  den 
Dienern,  um  ihn  anzuziehen.  Diese,  von  der  Jagd  zurückgekehrt,  sind  über 
den  frechen  Bettler  ergrimmt.  Sie  verhöhnen  und  schlafen  ihn.  Niemand 
nimmt  ihn  auf  oder  will  ilim  ein  Almosen  reichen.  Da  verlässt  er  sein  Reich 
und  zieht  hülfesuchond  nach  Aragonien  und  Baiern  zu  seinen  Brüdern.  Diese 
aber  erkennen  ihn  nicht  und  weisen  ihn  schnöde  ab.  So  kehrt  er  wieder  in 
sein  Reich  zurück  und  setzt  sich  zu  den  Bettlern  vor  das  königliche  Schloss. 
Allen  werden  Gaben  goreicht,  nur  ihm  niciit.  Er  ])rlcht  darüber  in  Thränen 
aus.  Jedoch  war  er  nur  übergangen  worden,  weil  der  das  Land  verwaltende 
Engel  ihn  aus  dem  Fenster  erblickt  und  dem  Almosenier  aufgetragen  hatte, 
ihn  vor  sich  zu  rufen.    Der  Engel  tlieilt  ilmi  mit,  dass  Gott  ihm  wegen  seiner 

21* 


340  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

AVohlthätigkeit  und  Gerechtigkeit  seine  Sünde  verziehen  habe  und  giebt  ihm 
seine  "Würde  wieder. 

In  aller  Kürze  folgt  hier  eine  Aufzählung  der  vier  Aufsätze  des  Heftes 
Januar  bis  März  1860.  Zur  Geschichte  der  romantischen  Poesie  von 
Felix  Liebrecht,  die  Verwandtschaft  der  bei  verschiedenen  Völkern  um- 
laufenden Sagen  gleichen  Inhalts  besprechend,  des  spanischen  Dichters  Virue 
Leben  und  Werke  von  Münch-Bellinghausen,  der  erste  historische  Roman 
im  spanischen  Südamerika  Amalia  por  Jose  Märmol  von  Ferdinand  Wolf, 
das  Neueste  zur  Ossian- Frage  von  Dr.  Heller.  —  Ausserdem  sind  noch  zwei 
höchst  werthvolle  Beigaben  eines  jeden  Jahrgangs  zu  erwähnen.  Diese  be- 
stehen 1)  in  Jahresberichten  über  die  verschiedenen  Nationalliteraturen :  den 
italienischen  lieferte  Justus  Grion  in  Fadua,  den  französischen  in  französischer 
Sprache  (iaston  Paris,  den  englischen  H.  B.  in  London;  der  spanisch -por- 
tugiesische, den  Millan  y  Caro  in  Madrid  übernommen  hatte,  ist  diesmal 
ausgeblieben.  2)  in  einer  ausgezeichneten  Bibliographie  des  verflossenen  Jahres, 
in  folgenden  Abschnitten:  Zur  französischen,  zur  englischen,  zur  italienischen, 
zur  spanischen,  zur  portugiesischen,  zur  allgemeinen  Literaturgeschichte,  Phi- 
lologie, Kulturgeschichte.  Diese  Zusammenstellung  verdient  um  so  grösseres 
Lob,  als  die  bibhographischen  Hülfsquellen  und  Indexe  mancher  Länder,  wie 
Italiens,  noch  höchst  mangelhaft  sind.  Ebcrt  giebt  nicht  blos  den  Titel  an, 
sondern  fügt,  wo  er  selbst  zu  urtheilen  vermag,  seine  eigene  Meinung  über 
das  angeführte  Werk  an,  oder  entlehnt  anerkannten  Zeitschriften  ein  Ur- 
theil  über  solche,  die  ihm  selbst  noch  nicht  zu  Gesichte  gekommen  sind. 

Auch  über  die  beigefügten  Kritiken  und  Miscellen  lässt  sich  nichts  als 
Löbliches  sagen.  Nur  beispielsweise  erwähnen  wir  einer  Kritik  der  Etudes 
historiques  sur  les  Clercs  de  la  Bazoche  par  Adolphe  Fahre  von  Ebert  (^erster 
Jahrgang,  S.  230),  in  welcher  eine  kurze  Geschichte  der  Bazoche  gegeben 
wird,  ferner  einer  Besprechung  der  zweiten  Ausgabe  der  Grammatik  von 
Diez  von  Delius  (erster  Jahrgang,  S.  350).  Von  den  Miscellen  heben  wir 
beispielsweise  „Spanische  Miscellen"  von  Helfferich  (erster  Jahrgang  S.  426) 
und  über  den  Schlachtenruf:  „Real,  real"  von  Liebrecht  (zweiter  Jahrgang 
S.   120)  hervor. 

Die  besprochene  Zeitschi'ift  wird  der  in  ihr  vertretenen  AVissenschaft 
neue  Freunde  gewinnen :  dafür  bürgt  die  überraschende  Reichhaltigkeit 
ihrer  bisherigen  Leistungen ,  dafür  bürgen  die  Namen  ihrer  Mitarbeiter. 
Sie  gewährt  ausserdem  den  Nebenvortheil  einer  ansprechenden,  französischen 
Leetüre.  —  Druck  und  Papier  sind  gut,  der  Preis,  3  Thaler  für  den  Jahr- 
gang, überaus  gering. 

G.  Büchmann. 


P  r  o  g  r  a  m  m  e  n  s  c  h  a  u. 


Beitrag  zur  Dialekt  -  Forschung  in   Nordböhmen.     Von   Ignaz 
Petters.     Progr.  des  Gymn.  zu  Leitmeritz.  1858. 

Die  Mundart  Nordböhmens,  von  der  uns  bier  Proben  mitgetheilt  werden, 
ist  eine  mitteldeutsche.  Der  Vf.  zeigt  sich  mit  den  Dialektforschungen  wohl 
vertraut  und  bezieht  sich  überall  auf  die  Arbeiten  von  Grimm,  Weinhold, 
die  Froramannsche  Zeitschrift  etc.,  folgt  auch  in  der  Bezeichnung  der  Laute 
"NYeinhold.  Er  gibt  Proben  aus  den  Buchstaben  A  bis  L.  Von  Einzelnen 
sei  bemerkt,  dass  das  niederd.  Fem.  bache  auch  im  mitteld.  Nordböhmen 
Fem.  ist,  dass  bis  als  Imp.  von  sein  vorkommt,  dass  ene  galere  ist  =  egal 
(niederd.  eingal),  und  dass  man  aus  dem  Nordböhmischen  sogar  Schriftdeutsch 
gemacht  hat  „eingelb."  Das  Wort  sich  abeschern  =  sich  abmühen  ist  der 
Vf.  geneigt  von  Esche  abzuleiten ,  in  welchem  Worte  er  die  heftige  Bewe- 
gung findet.  Grete  als  Frauenzimmer  überhaupt  ist  nicht  blos  mitteldeutsch, 
sondern  auch  ober-  und  niederdeutsch.  Zu  kaviller  =  Schinder  sei  bemerkt, 
dass  im  Niederd.  Filier  die  allgemein  übliche  Bezeichnung  ist.  Interessant 
ist,  dass  sich  für  Bergabhang  noch  das  alte  Leite  erhalten  hat.  —  Möge 
der  Verf.  seine  Mittheilungen  fortsetzen! 


Beitrag  zur  ßehandlungsweise  der  Aesthetik  in  der  obersten 
Gymnasialciasse.  Von  Thomas  Hohenwarter.  Progr.  des 
Obergymn.  zu  Görz.  1858. 

Da  nach  den  Bestimmungen  des  österr.  Gvmnasialunterrichtsentwurfs 
die  ästhetischen  Ilauptbegriile  bei  uns  nach  der  Lectüre  den  Sclüilern  klar 
gemacht  werden  sollen,  hat  der  Verf  zum  Versuch,  wie  dies  einzurichten 
sei,  den  Begriff  des  Erhabenen  gewählt.  Er  will  die  Entwicklung  des  Be- 
griffs anknüpfen  an  die  Lectüre  der  Abhandlungen  Schillers  „über  das 
Schöne  und  Erhabene"  und  Jean  Pauls  „über  das  Erhabene,"  die  Idee  der 
Grös.se  als  die  zunächst  uns  entgegentretende  festhaltend,  geht  er  über  auf 
die  Grundformen  der  Grösse,  und  bespricht  demnächst  das  extensiv,  das 
numerisch  und  das  dynamis'h  Erhabene.  Er  zeigt,  wie  leicht  die  Ausdeh- 
nung die  Idee  der  Unendlichkeit  erwecken  könne,  und  warum  Alles,  was  der 
früheren  Vergangenheit  angehöre,  das  Gefühl  des  Erhabenen  in  uns  errege. 
Wie  das  Massenhafte  von  der  Dichtkunst  in  diesem  Zwecke  benutzt  und  sein 
Eindruck  durch  Zerlegung  in  Tlieile  erhöht  werde,  zeigt  er  an  einzelnen  Bei- 


342  ri'ograiamenschau. 

spielen.  Den  Eindruck  des  dynamisch  Erhabenen  macht  er  an  einzelnen 
Beispielen  an  Geschichte  und  Poesie  klar.  Das  Ganze  ist  in  einer  für 
Schüler  fasslichen  Weise  auseinandergesetzt. 


Der  Alexandriner,  mit  besonderer  Rücksicht  auf  seinen  Ge- 
brauch im  Deutschen.  Von  H.  Viehoff.  Progr.  der  höhern 
Bürgerschule  zu  Trier.     1859. 

Wir  erhalten  in  dieser  Schrift  einen  sehr  werthvoUen  Beitrag  zur  ge- 
nauem Kenntniss  des  Alexandriners.  Gegen  die  gewöhnliche  Definition  er- 
klärt ihn,  wegen  der  Entstehung  aus  der  alten  epischen  Langzeile  von  acht 
Hebungen,  der  Verf.  als  einen  ein-  oder  zweisilbig  katalektischen  jambischen 
Octonar  mit  einer  einfüssigen  Pause  nach  dem  dritten  Jambus,  mit  zwei 
festen  Hebungen  auf  der  sechsten  und  zwölften  Silbe  und  mehreren  beweg- 
lichen anderweitigen  Hebungen  (Wortaccenten).  "\^'eil  in  dem  französischen 
Ale.xandriner  der  jambische  Rhythmus  innerhalb  der  Hemistichien  durch 
widerstrebende  Wort-  und  Satzaccente  vielfach  verdeckt  ist,  ist  er  leichter, 
schwebender  als  der  deutsche.  Seiner  Natur  nach  entspricht  er  der  Vor- 
liebe der  Franzosen  für  Antithesen,  Vergleichungen  und  andere  rednerische 
Figuren,  er  ist  somit  aus  dem  Volksgeiste  hervorgegangen,  und  nicht  mit 
Schiller  zu  sagen,  dass  er  den  Charakter  der  französischen  Poesie  bedingt 
habe.  Die  deutschen  Dichter  des  16.  und  17.  Jahrh.  bauten  den  Alexan- 
driner nach  dem  accentuirenden  Princip;  aber  die  in  der  Mitte  und  am  Ende 
eintretenden  rhythmischen  Pausen,  die  wohl  von  den  bei  jeder  Cäsur  und 
am  Versschlusse  eintretenden  Pausen  zu  unterscheiden  sind,  die  daher  zur 
Bildung  kurzer,  meist  symmetrlsclier  Siitze  und  Satzglieder  zwingen,  geben 
diesem  Alexandriner  den  Charakter  der  Einförmigkeit.  Daher  schon  früh 
Widerspruch,  schon  bei  DroUinger,  noch  mehr  beim  Beginn  der  classischen 
Periode  unserer  Litteratur;  dennoch  bleibt  er  für  die  didaktische  Poesie 
nicht  ungeeignet  und  ist  mit  Glück  von  Rückert  angewandt.  Er  ist  aber 
modificirt  auch  für  epische  Gedichte  von  Freiligrath  benutzt,  indem  nämlich 
durch  das  Uebergreifen  der  AVorte  in  die  zweite  Hälfte  der  Einschnitt  we- 
niger bemerklich,  sodann  durch  die  Verbindung  des  Alexandriners  mit  andern 
Metren  die  Eintönigkeit  gebrochen  wird;  der  mit  dem  Alexandriner  verbun- 
dene Vers  ist  überall  der  jambische  Dimeter  und  zwar  der  akatalektische, 
welcher  eine  Pause  nicht  zulässt.  Diese  Freiligrathsche  Strophenform  hält 
der  Verf  mit  Recht  für  eine  dankenswerthe  Bereicherung  unseres  poetischen 
Formenschatzes ;  aber  nur  für  den  nachahmbar,  der  wie  Freiligrath  das  Ver- 
dichten der  poetischen  Gedanken  verstehe.  — 


Die  Alliterationsperiode  der  deutschen  Dichtung.  Von  Dr.  J. 
Im.  Schneider.  Progr.  des  evang.  Gymn.  zu  Bistritz  in 
Siebenbürgen.     1858. 

Mit  Zugrundlegung  der  neuesten  Forschungen  über  den  vorliegenden 
Gegenstand  bemerkt  der  Verf.,  dass  die  älteste  Form  der  deutschen  Dich- 
tung die  Alliteration  gewesen  sein  müsse,  wie  aus  den  erhaltenen  Namen, 
so  wie  aus  der  Form  der  ersten  erhaltenen  Gedichte  erhelle.  Er  bespricht 
sodann  die  metrische  Beschaffenheit  der  alliterirenden  Gedichte,  den  Rhyth- 
mus, wobei  er  sich  für  die  Abtheilung  nach  Langzeilen  entscheidet,  den 
Strophenbau  und  die  Reimform,  indem   er  für  die  verschiedenen  Fälle  der 


Programmen  sclia  11.  343 

Verknüpfung,  die  Dreizahl  der  Allitjuration,  die  Aliiteration  von  zwei  und 
vier  Anlauten  und  die  Abweichungen  von  der  Regel,  wobei  aber  Verderbniss 
der  Lesart  anzunehmen  ist,  Beispiele  beibringt.  Was  das  Verhältniss  der 
Senkungen  betrilFt,  so  hält  er  an  den  von  Lac^hniann  in  der  Abb.  über  alt- 
hochdeutsche Betonung  und  Verskunst  gefundenen  (iesetzcn  fest.  "Weiter 
vom  Uebergange  vom  .Stabreim  zum  Endreim  handelnd  weist  er  die  Alli- 
teration an  wenigen  Beispielen  aus  der  späteren  Zeit  nach ;  wie  stark  sie 
noch  im  Nibelungenliede  hervortritt,  hat  ln'kanntlich  ().  Vilmar  nachgewiesen. 
Zuletzt  gibt  der  Verf.  noch  wenige  Alliterationsspuren  in  der  griech.  und 
röm.  Literatur.  Die  ganze  Abh.  zeugt  von  Kenntniss  des  betrelfenden  Ge- 
genstandes; der  Verf.  bietet  sie  als  eine  Probe  aus  einem  grösseren  die 
Geschichte  der  deutschen  Metrik  behandelnden  "Werke ,  das  er  durch  den 
Druck  zu  verofientlichen  geneigt  sei.  Dazu  nun  aber  bietet  die  vorUegeude 
Px'obe  noch  keine  Veranlassung  dar. 


Das  deutsche  Kirchenlied  iu  Siebenbürgen.  (Forts.)  Von  Fr. 
Franz  Schuster.  Progr.  des  evang.  Gynin.  A.  C.  zu  Mc- 
diasch  in  Siebenbüi-gen.     1858. 

Den  ersten  Theil  hat  Ref.  früher  im  Archiv  angezeigt.  Der  2.  Theil 
handelt  zunächt  von  den  Kron.städter  (iesangbüchern.  Vor  allen  andern 
siebenbürgischen  Orten  entwickelte  sieh  naturgemäss  und  sicher  die  Refor- 
mation in  Kronstadt.  Der  Reformator  Johann  Honterns  erri<htete  1533  eine 
Buchdruckerei,  aus  der  153ö  Luthers  Katechismus  und  die  Augsb.  Conf, 
154  7  eine  Agende  für  die  Seelsorger  und  Kirchendiener  in  Siebenbürgen 
hervorgingen.  Nach  Honterns  Tode  (1,549)  ging  die  Druckerei  an  seinen 
Nachfolger,  Pfarrer  Valemin  Wagner  über;  aus  dieser  Zeit,  aus  15.t5,  ist 
von  dem  ältesten  Gesangbuch  Nachricht  erhalten.  —  Aus  der  folgenden  Pe- 
riode ist  das  älteste  aus  dem  J.  1676,  heraus^iegeben  von  Steph.  Schelker, 
das  nächste  von  1731,  auch  noch  »/um  Theile  die  lateinischen  Gesänge:  In 
dulci  juhilo,  Puer  natus  in  Bethlehem  etc.  enthaltend;  ein  weiteres  von  173'', 
das  reichhaltigste  von  1751  vom  Stadtpfarrer  Peter  Glos,  welches  sieb  ganz 
auf  das  Freylinghausensehe  Gesangbuch  (Halle  1741)  stützt.  Alle  Kron- 
städter Gesangbücher  enthalten,  wie  die  Hermannstädter,  eine  nicht  geringe 
Anzahl  lateinischer  Hymnen,  viele  Lieder  aus  der  Reformationszeit,  auch  aus 
der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrh.  fehlt  kein  hervorragender  Dichter;  am 
reichsten  aber  ist  die  Periode  von  1600  —  17  so  vertreten.  Gegenwärtig 
aber  gilt  »las  seitlSuö  eingeführte  rationalistische  Ge.»angbuch,  welches  auch 
die  Bukare.^ter  evang.  (iemeinde  bis  1857,  d.  h.  bis  zur  Einführung  des 
Würtemberger  Gesanabuches  iStnttg.  1841)  gebrauchte.  Dies  Gesangbuch 
ward  entworfen  vom  Kronstädter  Pfarrer  (ieorg  Preist;  die  Anzahl  di'r  l^ieder 
ist  von  80"  auf  492  beschränkt,  die  meisten  stammen  aus  der  Periode  von 
17.50  —  1800,  von  Geliert  25,  Munter  14,  Dietrich  17,  Gramer  12.  —  Spe- 
ciell  siebenbürgische  Lieder  und  Liederdichter  la.ssen  sich  nicht  viele  nach- 
wfiisen,  aber  doch  einige,  so  der  Socinianer  Jo.  Sommer  aus  Pirna  in  Sachsen, 
gest.  1574  als  Leiter  an  der  unitar.  Schule  zu  Klausenburg;  Georg  Deidrich; 
von  einem  Siebenbürger  Eranz  Rheter  aus  Kronstadt  stammt  das  1664  in 
Oels  erschienene  Liederbuch:  Himmlische  Seelenlust  etc.,  in  dem  Gedanken 
und  Empfindungen  meist  gekünstelt,  die  Sprache  schwülstig  ist;  ferner  Marcus 
Fronius  aus  Kronstadt,  gest.  1713  als  Pfarrer  das.,  von  dem  drei  Lieder 
bekannt  sind;  Andreas  Teutsch  „Davidische  HarlVen,"  eine  Psalmenbear- 
beitung 1707,  der  Verf.,  Bürgermeister  in  Hermannstadt,  war  ein  frommer 
Mann,  drei  der  Lieder  sind  in  die  siebenbürg.  Gesangbücher  übergegangen. 


344  Pro  gram  mense  hau. 

Als  Kircbenliederdichter  ist  dann  zu  nennen  der  Kronstädter  Pfarrer  Peter 
Glos,  Herausgeber  des  Kronstädter  Gesangbuches  von  1751,  in  Avelches  aber 
seine  Lieder  nicht  alle  aufgenommen,  sondern  vielmehr  einige  schon  gedruckte 
•wieder  verworfen  wurden;  endlich  der  siebenbürgische  gelehrte  Historiker 
Joh.  Sievert,  Prediger  in  Hermannstadt  und  Hammersdorf  (gest.  1785).  Dies 
ist  Dasjenige,  was  bis  jetzt  über  siebenbürgische  Kirchenliederdichter  be- 
kanTit  geworden  ist;  auch  dies  Wenige  bezeugt,  dass  auch  auf  diesem  Ge- 
biete die  Geistesregungen  Deutschlands  bei  dem  Sachsenstamme  allezeit 
Anklang  gefunden  haben.  —  In  den  Anhängen  zu  seiner  verdienstlichen 
Arbeit  gibt  der  Verf.  eine  Beschreibung  der  alten  Kronstädter  Gesang- 
bücher von  1676,  1731,  1739,  1751,  des  neuen  von  1805  und  eines  Klausen- 
hurger  socinianischen  Gesangbuchs  von  1650;  sodann  die  Liederdichter  der 
Kronstädter  Gesangbücher;  endlich  ein  Verzeichniss  derjenigen  Lieder  der 
Kronstädter  Gesangbücher,  welche  in  den  Hermannstädter  Gesangbüchern 
nicht  vorkommen. 


Ueber  Hie  hohe  Bedeutung,  welche  die  Grossthaten  Friedrichs  II. 
im  siebenjährigen  Kriege ,  besonders  sein  Sieg  bei  Koss- 
bach  für  die  Entwicklung  der  deutschen  Literatur  gehabt 
haben.  Vom  Collaborator  E inert.  Progr.  des  Gymn.  zu 
Arnstadt.     1858. 

Die  hohe  Bedeutung,  welche  für  die  Entwicklung  des  deutschen  Sinnes 
die  Persönlichkeit  des  grossen  Königs,  namentlich  der  Sieg  von  Rossbach 
gehabt  hat,  ist  allgemein  anerkannt.  Der  Verf.  stellt  die  Hauptpunkte  gut 
zusammen:  Der  gerächte  Nationalstolz,  das  erhöhte  Selbstbewnsstsein,  der 
Sieg  der  protestantischen  Richtung.  Er  geht  dann  aber  speciell ,  und  das 
ist  das  Hauptverdienst,  auf  die  erhebenden  Eindrücke  über,  welche  die  ver- 
schiedenen Träger  des  geistigen  Lebens  damahger  Zeit  dadurch  empfingen, 
und  stellt  mit  Recht  Lessing  oben  an.  Ihm  folgen  Herder,  Göthe,  Schiller, 
und  selbst  Klopstock  konnte  sich  mitunter  der  Anerkennung  Friedrichs 
nicht  entziehen.  Gleim,  Kleist,  Ramler  etc.  sind  unmittelbar  berührt,  und 
in  Schuberts  Liedern  klingt  der  Eindruck  wieder,  den  die  Grossthaten  des 
Königs  nothwendig  auf  die  junge  Generation  machen  mussten.  Es  war  ein 
neuer,  grosser  Inhalt  für  die  Poesie  gewonnen;  war  der  Krieg  ja  ein  Frei- 
heitskampf gewesen;  wie  der  König  gegen  die  Convenienz  auf  dem  Throne, 
gegen  die  erstarrte  Politik  der  Zeit  kämpfte,  so  Lessing  gegen  die  Herr- 
schaft des  französischen  Geschmacks,  so  Herder,  so  Göthe.  Die  Poesie 
kehrte  zur  Natur  und  Wahrheit  zurück,  damit  betheihgte  sie  sich  an  den 
grossen  Interessen  der  Zeit,  sie  wurde  deutsch;  es  erwachte  der  geschicht- 
liche Sinn  und  das  geschichtliche  Interesse  (man  vergleiche  Göthes  Götz  mit 
der  Klopstockschen  Richtung),  das  volksthümliche  Element  brach  sich  Bahn 
(Bürger  und  Herder);  von  diesem  Boden  aus  wurde  das  klassische  Alterthum 
erst  verstanden  und  wurde  nun  ein  neues  Element.  Welche  Bedeutung  in 
politischer  Richtung  die  Erscheinung  Friedrichs  gehabt,  ist  bekannt;  auch 
diese  wirkte  natürlich  auf  die  Literatur  zurück.  —  Der  Verf.  hat  die  ein- 
zelnen Behauptungen  durch  Belegstellen  aus  den  Schriften  der  genannten 
Dichter  hinlänglich  bewiesen. 


Programmenschau.  345 

Karl  Friedrich  Kretschmann,  der  Barde  Rhingulph.  Ein  Beitrag 
zur  Geschichte  des  Bardenwesens.  Von  Dr. Knothe.  Progr. 
des  Gymn.  zu  Zittau.     1858. 

Kretschmann  gehört  zwar  nicht  zu  den  hervorragenden  Erscheinungen 
auf  dem  Gebiete  der  Literaturgeschichte;  die  ganze  itichtung  aber,  die  er 
repriisentirt ,  verdiente  wohl  eine  besondere  Betrachtung,  und  mit  Dank 
haben  wir  den  grossen  Fleiss  anzuerkennen,  der  auf  diesen  Gegenstand  und 
die  Kenntniss  des  Lebens  und  der  Schriften  Krctschmanns,  eines  gebornen 
Zittauers,  in  dieser  Zittauer  Schulschrift  verwandt  ist. 

Karl  Wilhelm  Kretschmann  ward  zu  Zittau  am  4.  Decbr.  1738  geboren 
als  erster  Sohn  der  zweiten  Ehe  seines  Vaters,  des  Oberamtsadvokaten  Job. 
Gottfr.  Kretschmann.  Es  herrschte  ein  reges  literarisches  Leben  in  Zittau, 
und  es  ist  wahrscheinlich,  dass  der  junge  K.  als  Gymnasiast  an  einem  be- 
stehenden coUegium  teutonico  -  poeticum  Theil  nahm.  K.  bezog  1757  die 
Universität  Wittenberg,  um  die  Rechte  zu  studiren:  aus  dieser  Zeit  stammt 
sein  ältestes  erhaltenes  Gedicht,  eine  poetische  Epistel,  eine  freie  Ueber- 
setzung  aus  dem  Französischen.  Heimgekehrt  ward  er  Oberamtsadvokat 
1764  in  Zittau.  Er  Hess  Uebersetzunj;en  aus  dem  Franz.  und  Italien,  und 
1768  seinen  „Gesang  Rhingulphs  des  Barden"  erscheinen.  So  kam  er  in  regen 
Briefwechsel  mit  Gleim,  Weisse  und  Denis.  1774  ward  er  Gerichtsaktuar 
beim  Stadtdepartement  zu  Zittau,  seine  äussere  Stellung  sehr  günstig,  und 
schloss,  nachdem  er  seine  erste  Frau  früh  verloren,  seine  zweite  Ehe,  aus 
der  ihm  ein  Sohn  geboren  wurde.  Trotz  seines  umfangreichen  Amtes  war 
er  literarisch  sehr  thätig,  und  liess  1784  zuerst  unter  Beifügung  seines 
Namens  eine  Gesammtausgabe  seiner  Werke  in  .'S  Bdn.  erscheinen.  Von 
Arbeiten  überhäuft  kam  er  nach  einer  schweren  Krankheit  um  seine  Ent- 
lassung ein;  mit  dem  Range  eines  Stadtgerichtsaktuarius  erhielt  er  1797  eine 
Pension  von  400  Thalern.  Er  benutzte  die  Müsse  zu  zahlreichen  literarischen 
Arbeiten  in  Versen  und  Prosa.  Er  starb  1809  am  16.  Jan.  in  Zittau,  sein 
einziger  Sohn  183  2.  —  Von  grossem  EInfluss  auf  K.  waren  Klopstock  und 
Gleim,  besonders  aber  Ossian,  den  1768  Denis  In  Hexametern  iibersetzte. 
Die  Ossiansche  Poesie  ahmte  mit  Verpflanzung  der  nordischen  Mythologie 
zuerst  nach  Gerstenberg  17GG  In  dem  Gedichte  eines  Skalden.  Vor  Klop- 
stocks  Hermannsschlacht  erschien  schon  1768  Krctschmanns  Gesang  Rhin- 
gulphs. 1771  folgte  die  „Klage  Rhingulphs  des  Barden,"  1772  die  „Jägerin," 
Schilderung  des  altgermanischen  Liebeslebens.  Hierdurch  kam  nun  K.  in 
Briefwechsel  mit  Denis,  Gleim,  Michaelis  In  Hamburg,  und  ward  Mitarbeiter 
an  allen  Musenalmanachen.  Die  Bardenpoesie  ward  gefördert  durch  Klop- 
stock, Denis,  Weisse,  Bodmer,  die  Göttinger;  Denis  hless  jetzt,  nach  der 
Taufe  durch  Kretschmann,  Sined,  Klopstock  Werdomar,  Gerstenberg  Thor- 
lang, Gleim  der  Führer  der  Brennenheere,  Rander  Friedrichs  Barde,  AVeisse 
der  Oberbarde  an  der  Plelsse,  Michaelis  Miniiehold,  Jakobi  Tauthard,  Hart- 
mann (In  Tübingen,  sjjätcr  in  Mitau)  Telynhard.  Eine  nationale  Gesinnung 
Ist  der  ganzen  Richtung  nicht  abzusprechen,  und  der  Verf.  bemerkt  mit  Recht, 
dass  auch  diese  Barden[)oesIe  beigetragen  hat  zur  Befreiung  vom  Auslande; 
freilich  aber  als  gar  diese  Dichter  die  Thaten  der  Gegenwart  bardisch  zu 
besingen  anfingen ,  nahm  bald  ilie  Dichtung  den  Charakter  der  Lächerlich- 
keit an.  So  erscheint  schon  Krctschmanns  „Barde  am  Grabe  Kleists"  in 
gespreizter  Deutschthümclei,  so  besonders  Denis.  Das  Publikum  aber  wollte 
an  der  Bardenpoesie  keinen  rechten  Geschmack  finden.  So  urtheilte  schon 
Goethe  1769  In  einem  Briefe  an  Friederike  Oeser  (in  den  Briefen  an  Leip- 
ziger Freunde  S.  l.'J4  IT.;,  der  hier  mitgetheilt  ist,  sich  überhaupt  über  die 
fanze  Richtung  aussprechend ,  namentlich  aber  (der  Verf.  hat  S.  20  diese 
teilen  übergangen)  über  Rhingulf  „oder  Rhlnglufl  oder  Gott  weiss  wie  er 
helsst."     So    auch  Wieland,    noch  härter  Herder.     Klopstock    aber  dichtete 


346  Programmenschau. 

nach  wie  vor  bardische  Oden,  Denis  und  Kretscbmann  besangen  bardisch 
den  Tescbener  Frieden,  aber  im  Ganzen  war  schon  Mitte  der  70ger  Jahre 
die  Bardenpoesie  wieder  verstummt.  Kretscbmann  bUeb  am  längsten  der 
Richtung  treu,  er  dichtete  auf  Friedrich  den  Grossen  eine  „Friedrichiade" 
1794,  ein  episches  Gedicht  in  12  Gesängen,  von  dem  ein  Bruchstück  er- 
schien, eine  Beschreibung  des  ersten  und  zweiten  schlesischen  Krieges ;  die 
Sprache  in  den  hier  mitgetheilten  Proben  (S.  23  tT.)  ist  noch  nicht  ganz 
verscIioMen,  sie  klingt  in  vieh^n  Parthit-n  in  Scherenbergs  Waterk)o  wieder. 
Inzwischen  belehrte  Dr.  Anton  in  Görlitz  Kretscbmann  in  einigen  Aufsätzen 
in  Folge  seines  Connnentars  zu  Tacitus  Germania,  dass  die  alten  Deutschen 
so  wenig  Barden  wie  Druiden  gekannt.  Dennoch  tauchte  die  Bardenpoesie 
noch  einmal  auf,  in  der  „deutschen  Bardenfeier, "  Berlin  1801,  und  im 
„deutschen  Bardenalmanach  von  Gräter,"  Neustrclitz  1802,  in  dem  noch  K. 
ein  Bardiat  „Hermann  in  Walhalla"  erscheinen  liess;  K.  bUeb  also  der  alten 
Fahne  treu.  — 

Kretschmanns  lyrische  Gedichte  sind  meist  Spiele  des  Verstandes  und 
des  Witzes,  sie  tragen  alle  den  Stempel  Anakreontischer  Dichtung;  Leich- 
tigkeit der  Sprache  ist  ihr  Vorzug.  Seine  Hymnen  zeigen  ein  tief  reUgiöses 
Gemüth.  Die  vielen  Gelegenheitsgedichte  sind  gespreizt.  Am  besten  sind 
seine  Epigramme,  meist  witzig,  einige  geistreich,  nie  persönlich.  Am  schalsten 
sind  seine  Fabeln.  Ganz  misslungen  sind  seine  Dramen,  ohne  spannende 
Verwicklung  und  Entwicklung,  mit  unwahren  Charakteren,  in  langweiliger 
Sprache.  Weit  besser  sind  seine  Erzählungen  und  Novellen.  Seine  wissen- 
schaftlichen Arbeiten  (über  Bardiat,  Drama  und  Epigramm)  zeigen  den 
denkenden  Kopf,  geben  aber  nichts  Neues.  Uebersetzt  hat  er  viel,  sowohl 
aus  dem  Französischen  und  Italienischen,  wie  aus  dem  Lateinischen.  — 

Herford.  Hüls  eher. 


M  i  s  c  e  1 1  e  n. 


Seb.  Franck. 

Eine  eindringliche  und  anerkannte  Würdigunfr  dieses  Mannes  hat  Bi- 
schof in  seiner  trefflichen  Preisschrift:  „Sebastian  Franck  und  deutsche 
Geschichtschreibung''  Tübingen  1857  gegeben.  Minder  ist  es  ihm  gelungen, 
was  er  selbst  beabsichtigte  und  was  unter  andern  auch  H.  Kurz  Blätter  für 
literarische  Unterhalt.  1858  Nro.  11.  Seite  190  an  seiner  Arbeit  hervorhebt, 
die  äusseren  Data  zu  Franck's  Leben  und  schriftstellerischer  Thätigkeit  voll- 
ständig zu  sammeln:  schon  deshalb  nicht,  weil  er  die  gründliche  Schrift 
Erbkam's,  Geschichte  der  protestantischen  Secten  im  Zeitalter  der  Kefor- 
mation.  Hamburg  1848,  ausser  Acht  Hess.  Unabhängig  von  diesem  stelle  ich 
hier  noch  einiges  kritische  Material  zusammen: 

1)  Bischof  Seite  9  verlegt  die  Uebersetzung  der.  „Diallage  des  pro- 
testantischen Theologen  Andreas  Althammer  in  das  Jahr  1527  "  „Franck  da- 
tirt  seine  Vorrede  „zu  Feld"  vom  5.  September  1.^27."  Daran  knüpft  Bischof 
eine  Folgerung  über  S.  Franck"s  damaligen   Aufenthalt. 

Franck  hat  hier  nur  die  Worte  seines  Originals  E  rure  V.  Sept.  an. 
1527  getreu  wiedergegeben;  seine  Uebersetzung  erschien  erst  15'28. 

Siehe  den  sorgfältigen  bio -bibliographischen  Artikel  Althammer  im  Jour- 
nal von  und  für  Deutschland  1792  Seite  689  ff.,  namentlich  092. 

2)  Bischof  verlegt  Seite  14,  wie  Erbkam  die  Schrift  von  dem  greüwlichen 
laster  der  trunckenheyt"  in  das  Jahr  1531. 

Das  ist  aber  nur  die  zweite  Aullage.  Die  Schrift  gehört  gleichfalls  zu 
den  Erstlingsarbeiten  Franck's  (wie  Bischof  selber  im  Widerspruch  mit  der 
obigen  Behauptung  Seite  274  eine  Aehnlichkeit  von  Seiten  des  Inhaltes  mit 
der  Ueber.«elzung  der  Diallage  hervorhebt),  und  erschien  mit  der  Diallage 
im  Jahre   1528. 

Erwähnt  war  diese  Ausgabe  bereits  von  K.  Hagen,  Deutschlands  lite- 
rarische und  rehgiöse  Verhältnisse  im  Reformationszeitalter  HI  (1844)  Seite 
318  ff. 

H.  Merz,  Art.  Seb.  Franck  in  Herzog's  Real-Encyklopädie  für  pro- 
testantische Theologie  und  Kirche  IV.  451.,  und  im  Katalog  der  Bibliothek 
des  germanischen  Museums  zu  Nürnberg. 

Mit  diesem  letzteren  Exemplar  stimmt  mein  eigenes  völlig  überein,  das 
ich  aus  dem  Köhler'schen  Anti(]uariat  in  Leipzig  erworben  und  auf  seinen 
Wunsch  an  Wiechmann-Kadow  abgetreten  habe.  Wegen  der  Seltenheit 
des  Buches  veröffentliche  ich  hier  zugleich  eine  gedrängte  bibliographische 
Beschreibung. 

Titel:  Von  dem  greüwlichen  laster  |  der  trunckenhayt,  so  inn  disen 
letzten  zeytten  erst  |  schier  mit  den  Frantzosen  aufkommen.  Was  füllerey, 
sauffen  vn  zutrin  |  cken,  für  Jammer  vn  vnratb,  schade  der  seel  vnd  dess 
leibs,  auch  armut  |  vnd  schedlich  not  anrieht,   vn   mit  sich  bringt.     Vn  wie 


348  Miscellen. 

dem  V-  I  bei  zuraten  wer,  gründlicher  bericlit  vnd  rathschlag  |  auss  göttlicher 
geschriffit.     Sebastian  Franck. 

Titelholzschnitt  mit  der  Darstellung  eines  Trinkgelages. 

Darunter:  Hut  euch  das  ewer  hertz  nit  beschwert  werd  mit  fressen  vü 
saufien  |  vnd  sorg  der  narung,  vnd  komm  diser  tag  schnell  vber  euch.  Lucc.  xxi. 

Rückseite  des  Titelblattes  leer. 

Bl.  A  ii  beginnt  die  Dedication:  dem  Edlen  vnnd  vesten  Wolffen  von  | 
Hessberg,  amptmann  zu  Colmbui-g,  Gnad,  frid  vii  |  erkantnus  Gottes ,  durch 
Christum  vnseren  |  Hayland,  Amen,  und  endet  auf  der  Rückseite  mit  der 
Datirung:  Geben  zu  Justenfelden.  Anno  Domini.  M.  D.  xx  viii.  E.  V.  Williger 
Sebastian  Franck  von  Werd.  —  38  ungezeichnete  Blätter  in  4";  letzte  Seite 
leer;  Signatur  A  — K;  auf  J  nur  zwei  Blatter.  Nach  W.-K.  ist  der  Titel- 
holzschnitt von  H.  Burgkmair,  und  dem  Verzeichniss  der  Arbeiten  dieses 
Meisters  in  Naumann's  Arch.  f.  die  zeichn.  Künste  hinzuzufügen;  die  Ausg. 
von  1531  enthält  eine  gegenseitige  Copie  dieses  Holzschnittes;  sie  ist  wie 
die  von  1528  nach  W\-K.  bei  H.  Stainer  in  Augsburg  gedruckt;  weicht  aber 
in  der  Orthographie  u.  a  oft  erheblich  ab ;  die  Dedication  ist  hier  wie  in 
der  spätem  Ausgabe  von  1539  vom  Jahre  1531   datirt. 

Die  Irrthümer  Bischofs  a.  a.  O.,  soweit  sie  sich  auf  das  Leben  Franck's 
und  seinen  Aufenthalt  beziehn,  ergeljen  sich  hieraus  unmittelbar. 

Aus  einem  Briefe  Fromman's,  Nürnberg  20.  Juni  1857  theile  ich  für 
spätere  Forscher  noch  folgendes   mit: 

Wolf  V.  Hessberg  in  S.  Franck's  dedication  ist  ohne  Zweifel  der  näm- 
liche, von  welchem  Biedermann  (geschlechtsregister  des  reichsfr.  unmittelb. 
ritterschaft  Landes  zu  Franken,  löbl.  orte  Steigerwald,  tab.  LX)  sagt: 

„WoUr  V.  Hessberg  zu  Haundorft'  u.  Ampforach,  hochfürstl.  brandenb. 
onolsbach.  amtmann  zu  Colmberg  anno  1529,  war  anno  1530  mit  dem  herrn 
marggrafen  v.  Brandenburg  zu  Äugspurg  als  das  glaubens-bekänntniss  über- 
göben  wurde  u.  f  anno  1533  etc. 

Justenfelden  scheint  mir  das  heutige  Gustenfelden  (alt  Justmannsfelden) 
zu  sein,  ein  dorf,  das,  nur  wenige  stunden  von  Colmberg  entfernt,  im  heu- 
tigen landger.  Schwabach  (kr.  Mittelfranken)  liegt." 

Im  Vorübergehen  bemerke  ich  noch,  dass  Franck  sich  vielfach  auf  Brenz 
Comment.  zum  Prediger  Salomo  bezieht,  den  Luther  im  Jahre  1527  befür- 
wortete. Hartmann  setzt  demnach  unrichtig  dieses  Werk  in  das  Jahr  1529 
in  Herzog's  Real-Encykl.  s.  v.  Brenz;  vgl.  auch  Heyse  Bücherschatz  1854 
S.  26  Nr".    34G. 

Die  Abfassungszeit  des  „Laster  der  Trunckenheit"  ergiebt  sich  auch  aus 
folgender  Stelle  von  Franck's  Sprichwörtern:  II,  161  b  (1541)  was  schad  an 
leib,  seel,  ehr  und  gut  auss  dem  spil  erwuchs/  nit  weniger  dann  auss  hurey 
vn  sauffen/  davon  ich  etwa  vor  zwölfjarn  geschrieben  hab. 

In  dem  Anzeiger  für  Kunde  der  deutschen  Vorzeit  1857.  Seite  148  ist 
diese  Stelle  irrtbümlich  zu  einem  Rückschluss  auf  die  Abfassung  der  Sprich- 
wörter benutzt  worden. 

Gi-imm's  Wörterbuch  hat  abAvechselnd  Citate  aus  beiden  Ausgaben  von 
1528  und  1531  ;  das  Quellenverzeichniss  nennt  nur  die  letztere. 

3)  Bischof  Seite  33  erwähnt,  wie  alle  seine  Vorgänger,  dass  Luther  die 
Uebersetzung  der  türkischen  Chronik  befürwortet  habe.  Keiner  der  heu- 
tigen Literaturen  hat  diese  Vorrede  in  Händen  geh  abt,  und  die 
ganze  Sache  ist  höchst  zweifelhaft. 

So  felilt,  was  Erbkam  hervorhebt,  jene  Vorrede  in  der  Walch'schen  Aus- 
gabe von  Luther's  Schriften;  sie  fehlt  auch  in  der  neuen  vollständigen  Er- 
langer Ausgabe  von  Irmischer.  Die  einzige  unzureichende  Nachricht  finde 
ich  bei  Clir.  K.  am  Ende  Fortgesetzte  kleine  Nachlese  zu  Seb.  Franck's 
Leben  und  Schriften  Nürnberg  1798. 

Dieser  führt,  Seite  6,  3  Ausgaben  von  1530  an,  2  Augsburger  gedruckt 
von  H.  Steiner  und  eine  Nürnberger  von  Fr.  Peypul.     Auf  dem  Titel  dieser 


Miscellen.  349 

Nürnberger  Ausgabe  wird  auch  Luther's  Vorrede  erwähnt.  Dass  sie  in  spä- 
tem Ausgaben  fehlt,  weiss  ich  u.  a.  auch  durch  eine  freundhche  Mittheilung 
aus  dem  Antiquariat  der  Herren  Kirchhof!'  und  Wigand  in   Leipzig. 

Es  wäre  endlich  wohl  an  der  Zeit,  dass  aus  dem  Staube  der  Bibliotheken 
Luther  zu  seinem  Rechte  gelangte,  oder  aber  festgestellt  würde,  wie  jene 
Vorrede  mit  einer  ähnlichen  auf  die  Türkei  bezüglichen,  die  sich  in  Luthers 
gesummten  "Werken  abgedruckt  findet,  ist  verwechselt  worden. 

4)  Zum  Erweis  der  mangelnden  classischen  Bildung  bei  S.  Franck  hat 
man  wiederholt  die  Verwechslung  von  vespillo  und  vespertilio,  hirundo  und 
hirudo  angeführt;  Irrthümer,  deren  Möglichkeit  seinerseits  auch  heutzutage 
mancher  gute  Mann  einzuräumen  sich  nicht  bedenken  würde.  Aber  Franck 
selbst  hat  sich  nicht  einmal  so  geirrt,  vespillo  hatte  Jemand  vor  ihm  durch 
Fledermaus  übersetzt,  den  er  in  seiner  naiven  Art  ohne  Weiteres  ausschrieb. 
(Bischof  Seite  72).  AVenn  er  aber  in  der  Uebersetzung  von  Erasmi  Moriae 
Encomium  bei  den  Worten:  nostri  temporis  rhetores  qui  plane  deos  esse 
sese  credunt,  si  hirudinum  ritu  bilingues  appaieant ;  ac  praeclarum  facinus 
esse  ducunt,  latinis  orationibus  subinde  graeculas  aliquot  voculas  velut  emble- 
mata  intertexere,  davon  redet,  dass  solche  „wie  die  schwalben  zweyer 
Zungen  kündig  erscheinen:"  so  berichtigt  er  selber  diesen  Irrthum  in  einer 
Ausgabe  am  Schlüsse,  in  der  Ausg.  v.  J.  Ulm  J.  Varnier.  Hier  heisst  es 
im  Verzeichniss  der  Errata:  Fol.  4  die  29  zeil  liss  äglen  für  schwalben. 
Das  erst  E.xemplar  hat  mich  verfürt,  darumb  hab  ich  Hirundo  funden,  im 
andern  Hirudo,  die  bei  llinio  zweizüngig  ist,  vnd  böss  hieher  sich  gattet. 

Diese  Verbesserung  war  Ch.  K.  am  Ende  Fortges.  kleine  Nachl.  1788 
S.  1 1  gleichfalls  in  seinem  E.xemplar  bemerkbar  geworden ,  und  ich  würde 
sie  nach  meinem  hier  nicht  erwähnt  haben,  hätte  nicht  am  Ende  es  für 
gut  befunden,  Seb.  Franck  noch  zu  guter  letzt  einen  Hieb  zu  versetzen  mit 
dem  Zusatz:  „Allein  sie  gattet  sich  gut  hierher,  und  Franck  schnitzerte  im 
Verbessern  schon  wieder."  Den  gelehrten  Herrn  muss  das  Tadeln  oft  recht 
willkommen  sein;  hätte  sich  doch  der  gute  am  Ende  lieber  gefragt,  ob 
Francks  böss  wirklich  sein  böse  (male)  sei.  Franck  meint  dasselbe,  was 
am  Ende;  böss  ist  b(^i  ihm  nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  unser  heutiges: 
besser.     Dafür  einige  Belege:  Franck  Laster  der  trunckenh.   1528. 

A  jjjj  a  Es  ist  trawreu  bössser  dann  lachen. 

G  jj  a  wie  man  spricht:  Ist  der  Hunger  der  böst  Koch. 

—  jjj  a  als  sey  diser  der  böss  der  am  meisten  gold  trag. 

ib.  wöllicher= welcher;  F  jjj  b  die  da  schlaffen  mitten  im  mör. 

Schliesslich  sei  noch  bemerkt,  dass  Franck  jene  Notiz  über  die  hirudo 
bilinguis  des  Plinius  nicht  diesem  Schriftsteller  selbst  verdankt  —  er  hätte 
sie  auch  dort  schwerlich  gefunden  — ,  sondern  ganz  unbedenklich  schreibt 
er  wie  öfter  den  Conmientar  des  Ger.  Listrius  aus.  Dieser  sagt  von  den 
hiruilines:  Has  vuljro  sanguisugas  vocant.  Est  autem  huic  animanti  liugua 
bisulca,  ut  tradit  Plin. 

5)  In  der  angeführten  Ausgabe  von  der  Uebersetzung  der  Schrift  des 
Erasmus,  der  verschiedene  kleine  Schriften  wie  Agrippa  de  vanitate  scien- 
tiarum  (gleichfalls  in  freier  Uebertragung)  u.  a.  angehängt  sind,  heisst  es: 
Blatt  150  a  Liss  den  Böl'ei  abgcmalet  in  meinem  Weltbuch. 

Die  Cosmographie  erschien  demnach  vor  dieser  Uebersetzung;  nach  ihr 
aber  die  Paradoxen,  die  sich  wiederholt  auf  eine  der  mit  dem  Encom.  Moriae 
verbundenen  kleinen  Schriften  beziehn.  So  u.  a.  in  der  Einleitung;  Parad. 
Nr.  C3.  149  und  selbst  auf  der  letzten  Seite  (.-^usg.  s.  a.  Ulm.  -L  Varnier) 
„Dauon  liss   überflüssig  mein  angehenckt  Buchlein  an  die  Moriam  Erasmi." 


850  Miscellen. 

G.  Henisch. 

Die  Unterbrechung  seines  Wörterbuches  oder  die  unterbliebene  Fort- 
setzung leitet  J.  Grimm  aus  den  Einwirkungen  des  dreissigjährigen  Krieges 
her.  Vermuthung  gegen  Vermuthung;  so  liegt  der  Gedanke  an  den  bereits 
im  Jahre  1618  erfolgten  Tod  des  Verfassers  doch  ungleich  näher. 


Eberh.  Tappius. 

Zu  den  von  Zacher  verzeichneten  Werken  dieses  verdienten  Sprich- 
würtersammlers,  den  Jördens  in  seinem  Lexikon  deutscher  Dichter  und  Pro- 
saisten ganz  übergangen  hat,  habe  ich  andere,  zum  Theil  noch  unaufgcfundene 
in  dem  Noveraberheft  des  Anzeigers  für  Kunde  der  deutschen  Vorzeit  185G 
nachgewiesen.  Für  den  Werth  des  Mannes,  dem  Scheller  in  seiner  Sass. 
Bücherkunde  ein  schmähliches  Unrecht  getban,  spricht  auch  der  Umstand, 
dass  Gesner  in  seiner  historia  animalium  die  proverbia  des  Tappius  voll- 
ständig excerpirt  hat  (beispielshalber  nenne  ich  die  Sprichwörter  über  den 
Kukuk  s.  Mannhardt  Z.  f.  deutsch.  Mythol.  III  S.  408>. 

Unter  seinen  Quellen  führt  Gesner  noch  weiter  an: 

Eberh.  Tappius  Liraensis  de  accipitribus. 

Vorsteher  von  Bibliotheken  und  Literaturfreunde  würden  mich  durch 
weitere  Nachrichten  zum  Danke  verpflichten. 

Ueber  das  Verhältniss ,  in  dem  Tappius  einerseits  zu  den  älteren  deut- 
schen, mehr  aber  noch  zu  den  niederländischen  Sprichwörtersammlern  steht, 
hoffe  ich  in  Bälde  nähere  Mittheilungen  und  Nachweise  in  A.  de  Jager's 
Arch.  der  Nederl.  Taal  veröffentlichen  zu  können. 


Schiller. 


In  dem  Gedicht:  Das  Ideal  und  das  Leben  hatte  ich  früher  im  Archiv 
die  ursprüngliche  Lesart:  „wenn  dort  Priams  Sohn  der  Schlangen  |  sich 
erwehrt"  gegen  die,  wie  mir  scheint,  Verschlimmbesserung  Laocoon  in 
Schutz  genommen.  Aus  J.  Meyer's  Beitr.  zur  Feststellung,  Verbesserung 
und  Vermehrung  des  Schiller'schen  Textes.  Sendschreiben  an  Herrn  Dr. 
Heinrich  Viehoff,  Niü-nberg  1858.  Seite  21  sehe  ich  aber,  dass  Schiller 
gleich  vom  Anfang  an  Laocoon  vorzog,  da  er  schon  in  den  Hören  selber 
(die  ich  auch  hier  vergleichen  konnte)  die  Worte  dort  Priams  Sohn  als 
Druckfehler  verwarf.  Für  den  Druck  genügt  vollständig  dieser  deuthch 
ausgesprochene  Wille;  ob  aber  sein  Grund  stichhaltig  ist,  bleibt  mir  noch 
fortwährend  zweifelhaft. 

Neustreliz.  Friedrich  Latendorf. 


Bibliographischer  Anzeiger. 


Allgemeines. 

P.  E.  Chase,    Sanscrit   and   English   Analogues.     Extracted  from   the   pro- 
ceedings  of  the  American  philosophical  Society.     (London.)  6  s. 


L  e  X  i  c  0  g  r  a  p  h  i  e. 

D.  Sanders,    'Würterbuch    der    deutschen    Sprache.     10.    Lfrg.     (Leipzig, 
Wigand.)  20  Sgr. 


Gram-matik. 

R.  G.  Latham,  Philological  Essays.     London,  Williams  «&  N.         10  s.  6  d. 


Literatur. 


Hoffmann  v.  Fallersieben,  Findlinge.  Zur  Geschichte  deutscher  Sprache 
und  Dichtung.  3.  u.  4.  Heft.     (Köln,  Eisen.)  ä  24  Sgr. 

F.  "\V.  Sommerlad,  Paul    Gerhard.     Ein  Lebensbild.     (Leipzig,  Schlicke). 

16  Sgr. 

Schiller,  Wilhelm  Teil,  trad.  dans  le  metre  de  1' original  p.  F.  Sabatier- 
Ungher.  (Koenigsberg,  Bon.)  18  Sgr. 

Goethe's  Grösse  in  s.  E.  Hermann  und  Dorothea  v.  R.  H.  Hiecke.  (Leip- 
zig, Werner.)  T'/a  Sgr. 

Schillers  Grösse  in  den  Dichtungen  seiner  reiferen  Jahre  v.  R.  H.  Hiecke. 
(Leipzig,  Werner.)  71/2  Sgr. 

Das  Schillerfest  in  Hamburg  von  B.  Endrulat.   (Hamburg,  Meissn  er.) 

IV2  Thlr. 

Nach  Westen!  Britische  und  amerikanische  Gedichte,  übersetzt  von  D.  C. 
Elze.     (Dessau,  Aue.)  15  Sgr, 

Songs  in  the  Night:  Translations  from  the  Gennan,  Hynms  etc.  by  Ch.  T. 
Astley.     (London,  Bennett.)  4  s.  6  d. 

Ch.  Joliet,  Tesprit  de  Diderot,  Ma.\imes,  pensees,  fragments.  (Leipzig, 
Dürr.)  10  Sgr. 


352  Bibliographischer  Anzeiger. 

J.  Ch.  Beecknill,  The  medical  knowledge  of  Shakspeare.  (London,  Long- 
man.)  71/2  s. 

L.  G.  B 1  a  n  c ,  Versuch  einer  blos  philologischen  Erklärung  mehrer  dunkler 
Stellen  der  göttlichen  Komödie,    I.Heft.     (Halle,  Anton.)  20  Sgr. 


Hilfsbücher. 

W.  Hahn,  Geschichte  der  poetischen  Literatur  der  Deutschen.  (Berlin, 
Besser.)  V/^  Thlr. 

L.  Frauer,  Lehrbuch  der  althochdeutschen  Sprache  und  Literatur.  (Oppen- 
heim, Kern.)  1  Thlr.  6  Sgr. 

A.  Baumgarten,  Deutsche  Musterstücke  zur  Uebung  in  der  franz.  und 
engl.  Composition.    1.  Heft.     (Coburg,  Meusel.)  7  Sgr. 


Das   Lesen   und   Declamiren. 


Dass  zwischen  Lesen  und  Declamiren,  in  so  enger 
Verbindung  sie  auch  mit  einander  stehen ,  dennoch  ein  grosser 
Unterschied  statt  findet,  braucht  nicht  erst  weitläufig  auseinander 
gesetzt  zu  werden.  Denn  Jedermann  weiss,  dass  der  Lesende, 
als  ein  blos  Recitirender,  eine  ruhigere  Haltung  zu  bewahren 
hat  als  der  Declamator,  welcher,  je  nach  dem  Inhalt  seines 
Declamationsstücks,  bald  ruhig  erzählt  oder  schildert,  bald  in 
dialogischer  Form  Gegebenes  mit  grösserer  Abwechselung  der 
Modulation  der  Stimmtöne,  bald  sogar  leidenschaftliche  Ergüsse 
in  entsprechender  Weise  seinen  Zuhörern  vorzutragen  hat.  Da- 
zu kommt  ferner,  dass  der  Declamator  auch  das  Geberdcn- 
und  Mienenspiel  anzuwenden  hat,  um  seinen  Vortrag  mehr  auch 
äusserlich  gleichsam  zur  Anschauung  zu  bringen,  während  der 
Vorlesende  auf  so  etwas  gänzlich  Verzicht  leisten  muss. 
Das  richtige  Lesen  aber    ist  das  Fundament  aller  Declamation. 

Wenn  daher  in  neuerer  Zeit  herumwandernde  Vorleser  das 
Lesen  nicht  nur  mit  der  Declamation  sondern  sogar  mit  der 
Schauspielkunst  vermengen,  indem  sie  z.  B.  alle  Personen  eines 
Drama  —  (denn  vorzugsweise  sind  es  Bühnenstücke,  welche  sie 
für  ihre  Vorlesungen  zu  wählen  lieben)  —  in  ihrer  einzigen  Per- 
son zu  repräsentircn  bemüht  sind  und  die  sämmtlichen  Rollen 
durch  verschiedenartig  modulirte  Stimmen  darzustellen  suchen, 
wobei  es  gar  nicht  fehlen  kann ,  dass  sie  oft  höchst  ergötzlich 
carikiren  und  den  verständigen  Zuhörern  ein  Lächeln  abnöthigen : 
80  müssen  wir  ein  solches  Unternehmen  als  eine  Verirrung  des 
Geschmacks  der  Neuzeit  beklagen ,  welches  die  festen  Grenzen 
zwischen  der  Vorlese,  -  Declamations  -  und  Schauspielkunst  ver- 
rückt.    Denn  sogar  der  Declamator  soll  kein  Schauspieler  sein, 

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354  Das  Lesen  und  Declamiren. 

(während  dagegen  der  Schauspieler  gut  declamiren  können  muss) 
geschweige  denn  ein  Vorleser.  Auch  der  Declaniator  agirt  ja 
nicht  auf  der  Bühne  und  stellt  nur  eine  Person  in  allen  ihren 
Geberden,  Reden  und  Handlungen  dar,  welche  der  Schauspieler 
schon  durch  sein  Aeusseres,  durch  die  entsprechende  Costümirung 
u.  s.  w.  stets  als  diese  eine  Person  fortwährend  kenntlich  macht. 

Wie  überhaupt  die  Rede  davon  sein  könne,  dass,  wie  von 
Enthusiasten  oft  gerühmt  wird,  eine  solche  Vorlesung  erst  im 
Stande  sei,  ein  Drama  zu  rechtem,  wahrem  Verständnisse  zu 
bringen,  das  vermögen  wir  wenigstens  nicht  zu  begreifen,  und 
gestehen  daher  unsern  Mangel  an  Scharfsinn  in  diesem  Punkte 
offenherzig  ein.  Doch  trösten  wir  uns  damit,  dass  es  auch 
andern  verständigen  Leuten  eben  so  geht  wie  uns.  Und  so 
müssen  wir  es  wiederholen,  dass  wir  den  Geschmack  der  Neu- 
zeit an  solchen  Vorlesungen,  und  hielten  sie  auch  ein  Tieck, 
Holtey  u.  s.  w.,  als  eine  ästhetische  Verirrung  beklagen,  und 
dies  nur  dazu  beitragen  kann,  der  Schauspielkunst  zu  schaden 
und  Eintrag  zu  thun.  Nur  wer  gar  keine  Gelegenheit  hat,  eine 
gute  Bühnendarstellung  zu  sehen,  weil  er  in  einer  kleinen  Stadt 
wohnt,  wo  es  keine  gute  Schauspielertruppe  giebt,  dürfte  sich 
vielleicht ,  als  Surrogat  für  etwas  Besseres ,  was  ihm  nicht  ge- 
boten wird,  mit  einer  solchen  Darstellung  eines  Drama  durch 
einen  Einzelnen  zufrieden  stellen;  er  Avürde  wenigstens  Ge- 
legenheit haben,  zu  sehen  und  zu  hören,  was  ein  Mensch  alles 
zu  Stande  bringen  könne. 

Doch  wir  sind  zu  weit  von  unserem  Thema  abgekommen, 
konnten  uns  aber  nicht  enthalten,  hier  unsere  Meinung  unum- 
wunden über  etwas  zu  äussern,  was  wir  durchaus  als  einen 
Missbrauch  der  Kunst,  als  eine  Geschmacksverirrung  der  Neu- 
zeit tadeln  müssen.  —  Wir  kommen  jetzt  zu  unserer  Aufgabe 
zurück. 

Auf  ein  ausdrucksvolles  und  richtiges  Lesen  wurde  bisher 
in  unseren  Schulen  noch  nicht  die  gehörige  Sorgfalt  verwendet, 
und  daher  sind  auch  die  Declamirübungen  der  Schüler 
meistens  misslungene  geblieben.  Das  ist  aber  wohl  lediglich 
daher  gekommen,  dass  den  Lehrern  selbst  feste  Regeln  fehlten, 
auf  welche  sie  sich  bei  dem  Unterrichte  in  der  Kunst  des 
schönen   Vortrags    stützen   konnten.     Auch   dem    Verf.,  welcher 


Das  Lesen  und  Declamlren.  355 

die  Rede-  und  Declamationsübungen  in  den  oberen  Classen 
eines  Gymnasiums  lange  Jahre  hindurch  leitete,  ging  es  nicht 
besser;  er  schwankte  lange  hin  und  her  und  naturalisirte,  d.  h. 
er  folgte  seinem  Gefühle  ohne  alle  feste  Begründung  durch 
Kegeln.  Das  war  ihm  ein  peinlicher  Zustand  und  er  sann  auf 
Abhülfe.  ^  ach  langer  Prüfung  und  vielen  Versuchen,  in  das  Chaos 
seiner  Bemerkungen  und  Gedanken  Eegel  und  Ordnung  zu 
bringen,  gelangte  er  endlich  zu  einem  festen  Resultate  und  bil- 
dete sich  eine  Art  von  System  für  seinen  Declamationsunterricht 
aus,  oder,  was  dasselbe  ist,  für  ein  richtiges,  auf  feste 
Normen  gegründetes  Lesen,  da,  ehe  man  declamiren  will, 
man  ja  vorher  das  Declamationsstück  erst  richtig  lesen  können 
muss. 

Diese  Resulte  seines  mehrjährigen  Forschens  hat  er  in  einem 
kleinen  Buche*)  veröfientlicht,  welches  von  dem  Königl.  Ober- 
schulcollegium  zu  Hannover  allen  höheren  Schulanstalten  des 
Landes  zur  Einführung  empfohlen  worden  ist,  und  in  den  ver- 
schiedensten Zeitschriften,  vor  allen  aber  in  der  „pädag.  Revue" 
Lob  und  Anerkennung  gefunden  hat. 

Dieser  Leitfaden  für  den  Declamationsunterricht  ist  zwar, 
wie  sein  Titel  angiebt,  zunächst  für  höhere  Schulanstalten  be- 
rechnet; allein  er  bietet  auch  allen  Lehrern  das,  Avas  sie  be- 
dürfen: feste  Regeln  für  den  Vortrag  der  verschiedenartigsten 
Lese-  oder  Declamationsstücke. 

Bei  den  alten  Griechen  und  Römern  schon  war  das  Lesen 
zu  einer  Kunst  ausgebildet,  und  es  gab  Bücher,  welche  von 
derselben  handelten,  die  uns  aber  bis  auf  AVeniges  verloren  ge- 
gangen sind.  Die  vornehmen  Römer  hielten  bekanntlich  eigene 
Vorleser.  Lasen  diese  nicht  richtig,  so  mussten  sie  oft  das 
Gelesene  wiederholen.  Mit  dem  Sinken  der  Wissenschaften 
verschwand  aucli  die  Kunst  des  schönen  Vortrags. 

Es  giebt  allerdings  Manche  unter  den  Neueren,  —  und  auch 
unter  den  Alten  haben  sie  nicht  ganz  gefehlt,  —  welche  der 
Meinung  sind,  dass  die  Vortragskunst  gar  nicht  gelehrt  werden 
könne    und    brauche,    sondern   dass    sie    eine  Naturanlage   sei; 


*)  Theoretisch -praktischer  Leitfaden  für  den  Declamationsunterricht  in 
den  oberen  Classen  der  Gymnasien  und  höheren  Lehranstalten  u.  s.  w. 
Bremen  bei  Geisler  1851.     {XR.  154  S.  8.  Preis  12 «/i  Ngr.) 

23* 


356  Das  Lesen  und  Declamiren. 

allein,  wie  schon  der  Ausdruck  besagt,  ist  es  ja  eine  Kunst, 
um  die  es  sich  handelt,  und  die  zugleich  einen  wichtigen  Theil 
der  Ehetorik  bildet  (pronunciatio  et  actio).  Jede  Kunst  aber 
kann  und  muss  gelehrt  und  gelernt  werden.  Kann  aber  das 
Ganze  (die  Rhetorik,  Redekunst)  gelehrt  werden,  so  muss  diess 
auch  voü  einem  einzelnen  Theile  gelten.  Und  warum  sollte  in 
Beziehung  auf  den  richtigen  Gebrauch  der  Stimmtöne,  Mienen 
und  Geberden  keine  bestimmte  Anweisung  gegeben  werden 
können? 

Das  Declamiren  (also  auch  das  Lesen)  ist  eine  Art  von 
Musik,  und  Declamation  und  Musik  sind  mithin  Schwestern. 
Schon  Lessing  nennt  eine  Periode  ein  musikalisches  Stück. 
(S.  Lessing's  Werke  [Berlin  bei  Voss]  Th.  24.  S.  64.) 

In  meinem  Lehrbuche  habe  ich  die  einzelnen  Punkte,  in 
welchen  beide  Künste  zusammentreffen,  so  angegeben:  1)  Ein 
musikalisches  Stück  enthält  Noten,  welche  die  hervorzubringenden 
Töne  bezeichnen.  Ein  Declamirstück  enthält  nun  zwar  äusser- 
lich  nicht  das  Geringste,  was  einer  Note  ähnlich  sähe;  allein 
dennoch  lässt  es  sich,  wenn  auch  nicht  so  vollkommen  als  ein 
Musikstück,  auf  Noten  setzen,  und  der  Declamationskünstler 
kennt  diese  Noten,  ohne  dass  sie  für  ihn  da  zu  stehen  brauchen. 
Für  jeden  Satz  nämlich,  für  jede  Periode  und  für  alle  einzelne 
Arten  von  Verbindungen  derselben  giebt  es  einen  genau  be- 
stimmten Tonfall  und  eine  musikalische  Modulation,  welche  ausser- 
dem noch  durch  das  Gefühl,  welches  der  Sinn  eines  jeden  Satzes 
in  dem  Recitirenden  wie  Hörenden  wecken   soll,  modificirt  wird. 

2)  Eben  so  hat  die  Declamation  mit  der  Musik  die  Pau- 
sen gemein  und  für  diese  giebt  es  auch,  gerade  wie  in  den 
Musikstücken,  besondere  Zeichen,  nämlich  Comma,  Semicolon, 
Colon,  Punkt  u.  s.  w.,  welche  mit  eben  derselben  Genauigkeit 
gehalten  werden  müssen  wie  die  Pausen  in  der  Musik. 

3)  Jedes  Tonstück  hat  einen  Grundton  oder  eine  Ton- 
art, aus  welcher  es  geht,  und  welche  man  aus  der  Vorzeichnung 
ersieht.  Eben  so  hat  auch  jedes  Declamationsstück  eine  be- 
sondere Tonart,  welche  aber  durch  den  Inhalt  desselben,  nicht 
durch   eine    äussere    besondere   Bezeichnung,    angegeben    wird. 

4)  Auch  den  Takt  (oder  das  Zeitmass)  haben  Musik 
und  Declamation  mit  einander  gemein,  welcher  bald  langsamer, 


Das  Lesen  und  Declamiren.  357 

bald  geschwinder  zu  nehmen  ist,  je  nachdem  es  der  Inhalt  des 
Ganzen  oder  der  einzelnen  Theile  fordert. 

5)  Endlich,  da  das  Organ  beider  Künste  die  Stimme  ist, 
d.  h.  Töne,  durch  dieselbe  hervorgebracht;  so  ergibt  sich  von 
selbst,  dass  auch  beim  Lesen  und  bei  der  Declamation  von  Höhe 
und  Tiefe  derselben,  ferner  von  einem  Anschwellen,  Nachlassen 
u.  s.  w.  der  Stimme  die  Rede  sein  müsse;  dass  es  also  auch 
für  Lesen  und  Declamiren  ein  Piano,  Crescendo,  Forte,  Pia- 
nissimo  u.  s.  w.  gebe. 

So  wie  nun,  wenn  der  Musicus  in  irgend  einem  Stücke 
fehlt,  eine  Störung  der  Harmonie  eintritt;  so  wird  auch  noth- 
wendig  der  Declamator  oder  Vorlesende,  wenn  er  die  Zeichen 
seiner  Kunst  nicht  versteht,  beim  Zuhörer  entweder  gar  keinen 
oder  einen  falschen  Effect  hervorbringen,  oder,  wenn  ihm  auch 
Einzelnes  gelingt,  doch  durch  seine  Fehler  die  Harmonie  des 
Ganzen  stören.  —  Ein  gut  gelesenes  (oder  declamirtes)  Stück 
ist  also  ebenfalls  eine  Musik,  welche  genau  vorgetragen  sein 
will,  wenn  sie  harmonisch  wirken  soll. 

Ehe  von  einem  richtigen  und  regelrechten  Lesen  oder  De- 
clamiren die  Rede  sein  kann,  muss  der  Lehrer  erst  die  fehler- 
hafte Aussprache  seiner  Schüler  in  Ansehung  der  Vocale  sowohl 
als  der  Consonanten  berichtigen;  alle  Solöcismen  imd  Provinzia- 
lismen müssen  beseitigt  werden.  Eine  schwere  Aufgabe  nament- 
lich für  so  manche  Gegenden  unseres  lieben  Vaterlandes,  wo 
ei,  eu,  äu  u.  s.  w.,  so  wie  b  und  p,  t  und  d  nicht  unterschieden 
werden,  selbst  nicht  einmal  von  den  Gebildeten,  wenn  sie  sich 
nicht  etwa  durch  den  mündlichen  Gebrauch  einer  fremden  neueren 
Sprache  in  dieser  Beziehung  gebessert  haben! 

In  Betreff  der  von  mir  aufgestellten  Declamations- 
Tonleiter  verweise  ich  auf  den  Leitfaden,  da  eine  Erörterung 
hier  zu  weit  führen  würde,  und  ich  bemerke  nur  für  Diejenigen, 
welche  ihn  nicht  kennen,  dass  ich  die  Kehlpunkte,  aus  welchen 
ein  Jeder  in  ungezwungener  Betonung  und  ohne  etwa 
SU  singen  (da  der  Singende  diese  Laute  willkürlich  hoch 
oder  niedrig  hervorbringen  kann)  die  Vocale  u,  o,  a,  e,  und  i 
nach  seiner  besonderen  Stimmlage,  oder,  um  in  einem  Räume 
verstanden  zu  werden,  in  welchem  er  seinen  Vortrag  zu  halten 
hat,    ausspricht,   als   die  Grund  töne  angenommen   habe,   aus 


358  Das  Lesen  und  Declamiren. 

welchen  die  einzelnen  Stücke  zu  sprechen  sind.  Den  Uton, 
aus  dem  untersten  Kehlpunkte,  habe  ich  den  Geisterton,  den 
Oton  den  Gebetston,  den  Aton  den  Lehrton,  den  Eton 
den  Conversations-oder  Erzählungston  und  den  Iton 
den  Ruf- oder  Schrei  ton  genannt.  Man  wird  bei  angestellter 
Probe  sich  sogleich  überzeugen,  dass,  wenn  man  ein  Declamations- 
stück  z.  B.  aus  dem  Conversationstone  u.  s.  w.  spricht,  welches 
aus  dem  Utone  oder  einem  anderen  gesprochen  werden  raüsste, 
eine  vollständige  Travestirung  eingetreten  ist.  Ein  Gebet,  aus 
dem  I-  oder  Etone  gesprochen,  erregt  ein  tiefes  Gefühl  der 
Empörung  des  Herzens;  selbst  der  Aton  würde  es  entstellen, 
wenn  es  anders  ein  wirkliches  Gebet  ist  und  nicht,  wie  gar  manche, 
kalte  Demonstrationen  u.  s.  w.  enthält,  kurz  Gedanken,  welche 
gar  nicht  in  ein  Gebet,  sondern  zu  einem  Katheder  vortrage 
passen.     Dann  wäre  freilich  der  Aton  gerechtfertigt! 

Nach  dem  Grundtone,  aus  welchem  ein  Lese-  (Declamations-) 
stück  geht,  richtet  sich  auch  das  Tempo,  das  Zeitmass.  Das 
langsamste  Tempo  bedingt  ein  Stück  aus  dem  Utone,  dem 
Geistertone;  denn  die  Stimmen  der  Geisterwelt  tönen  tief, 
schauerlich  und  langsam,  zunächst  folgen  Stücke  aus  dem  O- 
oder  Gebetstone;  denn  das  Gebet  ist  ein  feierlicher  Ausdruck 
der  erhabensten  Gedanken  und  edelsten  Empfindungen,  also  ist 
das  Tempo  dem  Maestoso  in  der  Musik  zu  vergleichen.  Der 
A-  oder  Lehrton  bedingt  das  musikalische  Tempo,  welches  man 
Andante  nennt,  und  ein  Stück  aus  dem  Etone,  dem  Conver- 
sations-  oder  Erzählungstone,  fordert  eine  schnellere  Bewegung, 
etwa  dem  musikalischen  Allegretto  ähnlich.  Das  Tempo  des 
I-  oder  des  Schreilautes  kann  bald  ein  langsameres,  bald  ein 
schnelleres  sein,  je  nachdem  sich  Leidenschaftlichkeit  oder  Ruhe 
des  Gemüths  dabei  ausspricht,  wie  z.  B.  bei  einem  blossen 
Nachrufe  an  einen,  der  sich  von  uns  entfernt  hat.  Worte,  aus 
der  Entfernung  zugerufen,  müssen,  wenn  die  Töne  sich  nicht 
verwirren,  also  unverständlich  werden  sollen,  langsam  auf  ein- 
ander folgen. 

Ein  Declamations-  oder  Lesestück  lässt  sich  aber  nicht,  wie 
ein  musikahsches ,  in  ganz  gleiche  Theile  oder  Takte  theilen. 
Eine  solche  Takteintheilung  ist  schon  aus  dem  Grunde  nicht 
möglich,   weil  die  Sprachorgane  des  Einen  ein  Wort  oder  eine 


Das  Lesen  und  Declamiren.  359 

Sylbe  schneller  hervorzubringen  im  Stande  sind  als  die  eines 
Anderen ,  welcher  daher  auch  im  Ganzen  langsamer  spricht. 
Auch  ist  eine  Takteintheilung  darum  gar  nicht  nöthig,  weil  nur 
Einer  liest  oder  declamirt  und  nicht,  wie  bei  MusikaufFührungen, 
Mehrere  zusammenzuwirken  haben,  welche  also  auch  genau 
zusammenhalten  müssen.  Auch  in  der  Musik  giebt  es  dann 
oft  ein  Adlibitum,  wenn  der  Sänger  oder  Musiker  eine  Passage 
allein  auszuführen  hat. 

Die  wirklichen  Eintheilungen  eines  Declamationsstückes 
bilden  die  Lese-  oder  Trennungs-  d.  i.  die  Interpunktions- 
oder Pausezeichen;  denn  sie  scheiden  allerdings  das  Ganze 
in  Theile,  wenn  auch  unter  einander  ungleiche.  Sie  sind  aber 
aus  diesem  Grunde  nicht  mit  den  musikalischen  Taktstrichen 
zu  vergleichen,  welche  nicht  bestimmt  sind,  Trennungen  zu  be- 
zeichnen. 

Kann  aber  auch  die  Declamation  mit  der  Musik  in  Beziehung 
auf  Takteintheilung  nicht  verglichen  werden,  so  giebt  es  doch 
in  derselben  einen  gewissen  Numerus  oder  Rhythmus  im 
Allgemeinen,  der  eben  so  genau  gehalten  werden  muss  als  der 
Takt  in  der  Musik,  und  der  Lesende  oder  Declamirende  hat 
sich  mithin  eben  so  zu  hüten,  dass  er  nicht  anfange  zu  eilen, 
wenn  er  im  langsameren  Tempo  begonnen  hat,  oder  immer  lang- 
samer zu  sprechen,  da  er  doch  schneller  zu  Anfange  ge-' 
sprochen  hat. 

Das  soll  aber  nicht  so  viel  heissen,  als  dass  das  Tempo  in 
einem  Stücke  gar  nicht  geändert  Averden  dürfte,  vielmehr  macht 
der  Inhalt  einzelner  Stellen  einen  Wechsel  desselben  nöthig;  ja 
sogar  einzelne  Sylben  müssen  oft  angehalten  und  zögernd  ge- 
sprochen werden.  Der  Lesende  oder  Declamator  hat  sich  also, 
nach  genau  erwogenem  Inhalte  des  ganzen  Stücks,  das  Tempo 
für  die  einzelnen  Theile  vorzuschreiben,  und  es  giebt  auch  für 
ihn  ein  Rallentando,  piü  allegro  u.  s.  av. 

Was  nun  die  wichtigsten  Interpunktions-  oder  Pause- 
zeichen anlangt,  so  enthält  mein  Leitfaden  darüber  folgende 
Bemerkungen  und  Vorschriften: 

Wenn  man  in  Ansehung  der  l'ausen  (je  nach  dem  all- 
gemeinen Tempo  des  Stücks)  dreiviertel-  oder  dreiachtel- 
takt  annimmt,  so  kommt  aul"  das  Comma  eine  Viertel-  oder 


360  Das  Lesen  und  Declamiren. 

Achtelpause,  auf  ein  Colon  oder  Semicolon  kommen 
zwei,  auf  einen  Punkt  aber  drei  solcher  Viertel  oder  Achtel. 
Steht  aber  neben  dem  Punkte  etwa  noch  ein  Gedankenstrich, 
so  pausire  man  vier.  Das  Ausrufe-  und  Fragezeichen 
kann  bald  die  Geltung  eines  Comma,  bald  die  eines  Semi- 
colon, ja  sogar  die  eines  Punktes  haben,  und  so  treten  bei 
demselben  verschiedene  Pausen  ein.  —  Hält  der  Lesende  oder 
Declamirende  diese  Pausen  gar  nicht,  oder  setzt  er  dafür  falsche 
und  trennt  so,  wo  er  verbinden,  oder  verbindet,  wo  er  trennen 
sollte,  so  bringt  er  den  Zuhörer  in  Verwirrung.  Was  für  eine 
Confusion  kann  schon  ein  ausgelassenes  oder  falsch  gesetztes 
Comma  anrichten! 

Da  man  eine  Periode,  zumal  wenn  sie  lang  ist,  nicht  in 
einem  Athem  sprechen  kann;  so  fragt  sich,  wann  der  Sprechende 
am  schickhchsten  Athem  holen  solle?  Natürlich  bei  den  grös- 
seren Pausezöichen,  nicht  aber  beim  Comma  (oder  dem  Aus- 
rufe- oder  Fragezeichen,  welches  mit  demselben  gleiche  Geltung 
hat),  da  durch  dieses  Zeichen  nur  Nebenbestimrnungen,  Zusätze 
zu  dem  Uebrigen  u.  s.  w.  gegeben  Averden,  aber  kein  vollständiger 
Abschluss  des  Gedankens  statt  findet.  Die  Stimme  muss  also 
beim  Comma  blos  angehalten  oder  gehemmt  werden 
(entrecouper  nennt  es  der  Franzose). 

Daher  muss  der  Lesende  oder  Declamator,  gleich  dem 
Flötenbläser  u.  s.  w.,  mit  seinem  Athem  haushälterisch  umgehen. 
Er  muss  freiHch  eine  gute  Brust  und  Lunge  zu  seinem  Geschäft 
mitbringen.  Zu  lange  Perioden  sind  ein  Fehler  von  Seiten  der 
Schriftsteller,  da  man  sie  zwar  mit  den  Augen  übersehen,  aber 
nicht  mit  der  Stimme  kunstgemäss  ausführen  kann;  und  so 
bleibt  dem  Declamator  dann  kaum  etwas  Anderes  bei  seinem 
Vortrage  übrig,  als  etwas  minder  Wichtiges  aus  solchen  unförm- 
lichen Perioden  wegzulassen. 

Aus  dem  über  die  Interpunktionen  hier  Bemerkten  folgt 
von  selbst,  dass  ein  zu  lesendes  oder  zu  declamirendes  Stück 
richtig  interpungirt  sein  müsse,  und  so  muss  man  denn,  wenn 
in  den  gedruckten  Büchern  nachlässig  interpungirt  ist,  zuvor 
erst  die  Fehler  der  Interpunktion  berichtigen,  ehe  man  sich  zum 
Vorlesen  anschickt. 


Das  Lesen  und  Declamiren.  361 

Dass  man  in  Ansehung  der  Betonung  den  Wortton  vom 
Satztone  unterscheiden  müsse,  ist  eine  bekannte  Sache.  Ein 
jedes  Wort  hat  seine  betonte  Sylbe  und  diese  ist  im  Deut- 
schen die  Stamm  sylbe  desselben,  und  wenn  das  Wort  aus 
mehreren  Stammwörtern  zusammengesetzt  ist,  diejenige  Sylbe, 
welche  den  Haupt-  oder  Unterscheidungsbegriff  desselben 
enthält,  z.  B.  Kopftuch  u.  s.  w.,  im  Gegensatze  zu  einem 
anderen  Tuche,  welches  nicht  zur  Bedeckung  des  Kopfes  dient. 

Die  zu  einem  Satze  verbundenen  Wörter  haben  aber  ausser- 
dem einen  Satz  ton,  d.  h.  man  muss  ein  Wort  welches  den 
Hauptbegriff  des  Satzes  in  sich  schliesst,  zu  welchem  man  sich 
einen  Gegensatz  zu  denken  hat,  welcher  nicht  gemeint  ist, 
durch  den  Ton  der  Stimme  vor  den  übrigen  hervorheben,  wo- 
bei sich  die  Stimme  entweder  zu  heben  oder  zu  senken  hat. 
Das  Erstere  geschieht,  und  zwar  ungefähr  (denn  ganz  genau 
können  gesprochene  Töne  nicht  fixirt  werden)  um  eine 
musikalische  Quarte,  wenn  der  Satz  die  Periode  schliesst. 
Nach  dieser  Erhebung  fällt  die  Stimme  in  die  Schlussmodulation, 
d.  h.  sie  senkt  sich  zum  Schlüsse.  P'olgt  aber  auf  den  Satz 
noch  ein  zweiter,  dritter  u.  s.  w.,  so  senkt  sich  die  Stimme 
bei  einem  solchen  Tonworte,  und  zwar  ohngefähr  um  eine 
musikalische  Tertie  unter  den  Grundton  des  Stücks.  Nach 
dieser  Senkung  geht  aber  die  Stimme,  wie  sich  von  selbst 
versteht,  wieder  in  den  Grundton  zurück.  —  Gegen  diese 
Regel  wird  von  den  Lesenden  so  häufig  gesündigt,  dass  der 
Lehrer,  wie  ich  aus  eigener  langjähriger  Praxis  weiss,  die 
grössten  Schwierigkeiten  hat,  seinen  Schülern  diesen  Fehler 
abzugewöhnen,  indem  sie  die  erstere  Art  von  Sätzen  fast  immer 
wie  die  der  zweiten  und  unigekehrt  zu  sprechen  geneigt  sind. 
—  La  Beziehung  der  Klangfiguren,  Avelche  solche  Sätze  bilden, 
verweise  ich  ^auf  den  Leitfaden. 

Wenn  so  eben  von  einem  blos  zu  denkenden  Gegensatze, 
welcher  nicht  gemeint  ist,  die  Kede  war;  so  ergiebt  sich  zu- 
gleich hieraus,  dass,  je  nachdem  man  das  eine  oder  das  andere 
Wort  eines  Satzes  betont,  jedesmal  ein  anderer  Hauptgedanke 
hervortritt.  Wenn  man  also  z.  B.  in  dem  Satze:  „Er  hat 
sechs  Tage  gearbeitet"  der  Reihe  nach  einem  jeden  ein- 
zelnen Worte  den  Satzton  giebt,    so   kommt  jedesmal   auch  ein 


362  Das  Lesen  und  Declamiren. 

anderer  Sinn  heraus.  Betont  man  „er"  so  heisst  es:  gerade  er 
und  kein  Anderer  hat  gearbeitet;  er  „hat"  etc.  deutet  den 
stillen  Gegensatz  an,  dass  die  Handlung  schon  vollzogen  ist 
und  nicht  erst  vollzogen  werden  soll.  Betont  man  „sechs," 
80  setzt  man  dieser  Zahl  in  Gedanken  eine  andere  entgegen, 
welche  nicht  gemeint  ist.  Das  Tonwort  „Tage"  setzt  ein 
Gegentheil  wie  Nächte,  Wochen  u.  s.  w.  voraus,  und  betont 
man  das  Wort  „gearbeitet"  so  steht  ihm  ein  anderes  Zeit- 
wort in  Gedanken  entgegen,  welches  nicht  gemeint  ist,  z.  B. 
er  ist  nicht  müssig  gegangen,   hat   nicht   gelesen  u.  s.  f. 

Aus  diesen  Bemerkungen  ergiebt  sich,  dass  in  einem  Satze 
auch  nur  ein  einziges  Tonwort  sein  könne.  Ausnahmen  von 
dieser  Kegel  treten  ein  1)  wenn  in  einem  Satze  wirklich  zwei 
Gedanken  vereinigt  sind;  2)  wenn  ein  Wort,  welches 
sonst  den  Ton  nicht  haben  würde,  weil  das  eigentliche 
Tonwort  schon  vorausgegangen  ist,  so  zu  stehen  kommt ,  d  a  s  s 
es  mit  anderen  die  Schlussmodulation  zu  bilden  hat, 
wodurch  es  eine  Art  Arsis  enthält.  Auch  selbst  einsylbige 
Wörter  haben  dann  eine  Art  von  Ton,  wenn  sie  am  Ende  des 
Satzes  stehen. 

Wenn  aber  in  einem  und  demselben  Satze  zwei  Wör- 
ter betont  werden  sollen,  weil  sich  ein  doppelter  Gegensatz  in 
demselben  befindet;  so  muss  man  nach  dem  ersten  Tonworte 
eine  Commapause  machen,  d.  h.  die  Stimme  abbrechen,  da 
es  auf  keine  andere  Weise  möglich  ist,  noch  ein  anderes  Wort 
in  demselben  Satze  zu  betonen.  Z.  B.  wenn  man  den  Satz 
sprechen  will:  „Arm  hat  er  sich  noch  satt  gegessen;" 
so  muss  man  nach  arm  pausiren,  da  es  alsdann  möglich  wird, 
auch  „satt"  zu  betonen.  Dass  aber  in  diesem  Satze  eigentlich 
zwei  verschiedene  Sätze  mit  einander  verschmolzen  sind,  erkennt 
man  ja,  wenn  man  ihn  so  erweitert:  „als  er  arm  war,  hat  er 
sich  noch  satt  gegessen." 

Sind  zwei  Wörter  paarweise  mit  einander  verbunden, 
z.  B.  Berg  und  Thal,  Schritt  für  Schritt,  denken  und 
handeln  u.  s.  w. ;  so  bildet  dies  für  die  Betonung  keine  Aus- 
nahme von  der  Regel,  da  immer  nur  das  eine  oder  das  andere 
Wort  (in  den  meisten  Fällen  das  zweite)  den  überwiegenden 
Ton  hat. 


Das  Lesen  und  Declamiren.  363 

Auch  bildet  sogar  der  Fall  keine  Ausnahme  für  die  Be- 
tonung, wenn  zwei  Wörter,  welche  zusammen  gehören,  in 
der  Satzstellung  aus  einander  treten,  z.  B.  gleich  —  theilen, 
indem  doch  nur  das  eine  Wort  den  Satzton  bekommt,  wie  hier 
die  Sylbe  gleich. 

Eine  scheinbare  Ausnahme  von  dem  obersten  Betonungs- 
gesetze findet  dann  statt,  wenn  mehrere  Adjectiva  mit  einem 
Substantive  ohne  und  verbunden  werden;  denn  ein  jedes 
dieser  Adjectiva  muss  man  mit  seinem  Hauptworte  und  dem 
Verbum  des  Satzes  verbunden  denken,  z.  ß.  „Er  sprach  mit 
voller,  fester,  ernster  Stimme."  Dieser  Satz  enthält  die 
drei  abgekürzten  Urtheile:  seine  Stimme,  als  er  sprach,  war  a) 
voll,  b)  fest,  c)  ernst. 

Eben  dies  gilt  für  den  Fall,  wo  mehrere  Substantiva  als 
Gegensätze  neben  einander  stehen,  z.  B.  Tod  oder  Leben. 
—  Diese  Zusammenstellung  gehört  zu  der  paar  weisen  Ver- 
bindung der  Wörter. 

Wenn  Zeitwörter  in  einer  Gradation  aufeinander  folgen, 
so  sind  dies  vollständige  Sätze  (z.  B.  und  es  wallet 
und  siedet  und  brauset  und  zischt  u.  s.  w.),  da  das  Subject 
bei  einem  jeden  Verbo  supplirt  werden  muss.  Wenn  also  ein 
jedes  dieser  Zeitwörter  betont  wird,  so  geschieht  diess  der 
Hauptregel  gemäss. 

Ein  etwas  anderer  Fall  ist  der,  wenn  ein  Wort  des  Nach- 
drucks wegen  wiederholt  wird,  z.  B.  hier,  hier  betet'  er  etc., 
um  dieses  hier,  im  Gegensatze  von  einem  anderen  Orte,  noch 
mehr  hervorzuheben.  Das  ist  aber  nur  eine  Unterbrechung 
der  Rede,  und  das  erste  hier  hat  blos  einen  Halteton,  der 
aber  bei  der  Einsilbigkeit  des  Wortes,  welches  ausserdem  zu 
Anfange  steht,  länger  erscheint. 

Da  neben  einem  solchen  Worte  wirklich  ein  Comma  steht 
und  nicht  bloss  vom  Declamator  gedacht  werden  muss ;  so  bildet 
auch  ein  solcher  Fall  keine  Ausnahme  von  der  Regel. 

Es  giebt  aber  auch  ganz  tonlose  Sätze.  Es  sind  zunächst 
solche,  welche,  obgleich  sie  durch  Trennungszeichen  von  der 
übrigen  Rede  geschieden,  und  so,  dem  äusseren  Anscheine  nach, 
vollständige  Sätze  sind,  es  dennoch  nicht  Avirklich  sind.  Ferner 
haben    vollständig   ausgebildete  Sätze  dann   keinen  Ton, 


364  Das  Lesen  und  Declamiren. 

wenn  sie  Zwischensätze  sind,  welche  die  Rede  einer  Person 
einführen,  z.  B.  „so  sprach  er"  u.  s.  w.;  so  wie  Anreden  und 
ähnliche  Einschiebsel.  Endlich  solche  Sätze,  welche  ihrem  Sinne 
nach  nur  ein  Prädicat  zum  Vorhergehenden  bilden,  z.  B.  „Das 
Brod,  das  er  den  Seinen  gab,"  d.  h.  Das  Brod  für  die 
Seinen.  Hier  muss  die  Stimme  mit  ganzer  Kraft  auf  Brod 
ruhen,  und  der  Zusatz  darf  nur,  wie  vorübergehend,  sich  ihm 
anreihen. 

Nach  allen  Zwischensätzen  muss  die  Stimme  wieder 
in  den  Ton  fallen,  welchen  sie  vor  denselben  gehalten  hatte,  da 
nur  auf  diese  Weise  der  Zuhörer  in  den  Stand  gesetzt  werden 
kann,  die  zu  einander  gehörenden,  aber  durch  Zwischensätze 
auseinander  gehaltenen  Theile  leicht  zusammenzufinden.  Weil 
der  Anfänger  in  der  Declamationskunst  durch  solche  Zwischen- 
sätze sich  leicht  verwirren  lässt  und  eine  falsche  Betonung  wählt, 
so  lasse  man  ihn  zunächst  den  Satz  ohne  die  Zwischensätze 
mehrmals  sprechen  und  dann  erst  dieselben  wieder  einfügen. 
Sein  Gehör  wird  ihn  dann  belehren,  welche  Modulation  er  wieder 
nach  den  Zwischensätzen  eintreten  lassen  müsse. 

Von  dem  oben  genannten  Hülfsmittel  der  gedachten 
Commapause  kann  auch  ausnahmsweise  dann  Gebrauch  ge- 
macht werden,  wenn  es  gilt,  ein  Wort  vor  den  übrigen  mehr 
hervorzuheben,  welches,  obwohl  es  an  und  für  sich  den  Satz- 
ton nicht  haben  könnte,  dennoch  im  Satze  ein  bedeutendes  Mo- 
ment, eine  Hauptbeziehung  bildet.  Doch  muss  man  mit  diesem 
Hülfsmittel  sparsam  umgehen,  weil  die  Rede  leicht  durch  viele 
solcher  Haltetöne  zerrissen  wird  und  weil  das  Ganze  dann, 
wie  ein  fehlerhaftes  Gemälde,  —  um  von  der  Malerei  den  Ver- 
gleich zu  wählen,  —  zu  viele  Lichter  bekommen  würde,  so  dass 
man  Schatten  und  Licht,  —  Vorder-  und  Hintergrund  nicht  ge- 
hörig unterscheiden  könnte. 

Wenn  oben  gelehrt  wurde,  dass  ein  jedes  Stück  aus  einem 
gewissen  Grund  tone  gehe,  so  heisst  das  nicht,  dass  sogleich 
das  erste  oder  zweite  Wort,  die  ersten  Sylben  des  Satzes  aus 
diesem  Tone  gesprochen  werden  sollen;  das  kann  nur  dann  ge- 
schehen, wenn  gleich  das  erste  Wort  einer  Rede  ein  solches  ist, 
welches  nur  die  Stammsylbe  enthält,  oder  welches  mit  der  Stamm- 
sylbe   anfängt,   z.  B.  Hoffnungslos  verloren   ist   der  u.  s.  w. ; 


Das  Lesen  und  Declamiren.  366 

früh  beginnen  u.  s.  w.  Am  häufigsten  geht  ein  Auftakt  vorher, 
welcher  in  höherem  Tone  modulirt  werden  muss,  worauf  bei 
dem  Tonworte  erst  die  Stimme  in  den  Grundton  des  Stückes 
übergeht.  Für  den  vor  einer  Versammlung  Auftretenden  ist 
dies  sehr  vortheilhaft ;  denn  er  kann  so  gevvissermassen  erst 
prüfen,  wie  viele  Stimmkraft  er  anwenden  müsse,  um  sich  in 
dem  ihm  gegebenen  Kaume  gut  verständlich  zu  machen.  — 
(Die  Arsis  gleich  zu  Anfange  eines  Kedestücks  scheint,  um  bei- 
läufig eine  Bemerkung  über  den  Styl  zu  machen,  besonders  für 
solche  Sätze  passend  zu  sein,  welche  eine  Behauptung  ohne 
alle  Modification  aussprechen  sollen,  während  ein  Auftakt  sich 
für  solche  eignet,  welche  eine  Demonstration,  Erzählung 
u.  8.  w.  beginnen.) 

Soll  von  einer  Kunst  des  Vortrags  die  Rede  sein,  so  muss 
der  sie  Ausübende  auch  ganz  bestimmte  Regeln  kennen, 
welche  er  bei  der  Betonung  aller  einzelnen  Sätze  an- 
zuwenden hat;  er  darf  nicht  nach  launischer  Willkür  verfahren, 
wie  dies  der  hergebrachte  Schlendrian  zu  thun  pflegt,  eben 
weil  er  von  solchen  Regeln  gar  nichts  weiss  oder  wissen  will. 
Schon  oben  sind  in  Beziehung  auf  Modulation  ein  paar  An- 
weisungen gegeben  worden  und  dabei  auf  den  Leitfaden  ver- 
wiesen.   Wir  wollen  diesen  Unterricht  hier  etwas  vervollständigen. 

Für  einen  Satz,  welchen  ein  Comma  endet,  bedarf  es  nur 
der  Bemerkung,  dass,  da  er  nur  den  Nebentheil  einer  Periode 
bildet,  also  nicht  den  Sinn  abschliesst,  man  die  Modulation 
kurz  zu  unterbrechen  hat ,  also  sich  hüten  muss ,  die  Stimme, 
wie  bei  einem  grösseren  Trennungszeichen,  sinken  zu  lassen; 
denn  sonst  würde  der  Zuhörer  leicht  irre  geführt  werden,  wenn 
er  z.  B.  einen  Schlusstonfall  vernähme,  während  doch  das  Fol- 
gende mit  dem  eben  Gesprochenen  noch  ganz  eng  zusammenhängt. 

Auch  beim  Semicolon  darf  nicht  so  modulirt  werden,  als 
wäre  es  ein  Punkt;  denn  das  Semicolon  bildet  zwar  ein  Ende, 
aber  nur  das  Ende  eines  grösseren  Theiles  der  Periode,  die  aus 
mehreren  Gliedern  besteht,  aber  nicht  das  Ende  der  Periode 
selbst.  Mithin  muss  beim  Semicolon  ganz  anders  modulirt 
werden  als  beim  Punkt.  Die  Stimme  muss  sich  zwar  senken, 
aber  nur  in  so  weit,  dass  der  Zuhörer  merkt,  dass  der  Satz, 
d.  h.  die  Periode,  noch  nicht  ganz  zu  Ende  sei,  sondern   dass 


866  Das  Lesen  und  Declamiren. 

noch  etwas  folgen  werde.  Das  zu  bildende  Intervall  musikalisch 
genau  zu  bestinuuen  hält  schwer,  es  dürfte  indess  eine  Secunde 
oder  kleine  Tertie  betragen.  Der  Unterschied  zwischen  dem 
Punkt  und  dem  Semicolon  in  Ansehung  der  Betonung  be- 
steht ausserdem  noch  hauptsächlich  darin,  dass  beim  Semicolon 
die  Stimme  den  zu  Ende  angeschlagenen  Ton  festhalten 
mu88,  während  sie  sich  beim  Punkt  lässig  zur  Ruhe  senkt, 
ohne  sich  einen  bestimmten  Ton  zum  Ziele  zu  setzen ,  sondern 
sich  gehen  läast,  wie  das  Organ  eines  Jeden  dies  ihm  gerade 
zu  thun  lehrt. 

Anders  verhält  es  sich  jedoch  mit  einem  Semicolon  in  Gra- 
dationssätzen, von  denen  weiterhin  gesprochen  werden  wird. 

Die  Fragesätze  unterscheiden  sich  in  ihrer  Betonung 
hauptsächlich  dadurch,  dass  sich  die  Stimme  am  Ende  derselben 
nicht  senkt,  sondern  im  Gegentheile  über  den  Grundton  bis 
zum  Schlüsse  erhebt.  Es  ist  also  fehlerhaft,  wenn  man  erst 
bei  dem  letzten  oder  bei  einem  der  letzten  Wörter  des  Satzes 
den  Frageton  erklingen  lässt;  denn  nicht  ein  einzelnes  oder  ein 
paar  Wörter  zu  Ende  des  Satzes  bilden  die  Frage,  sondern  der 
ganze  Satz  hat  ihre  Form.  Da  ein  Fragesatz  auch  aus  meh- 
reren kleineren  Sätzen  zusammengesetzt  sein  kann,  so  entsteht 
natürlich  bei  jedem  Trennungszeichen  (Interpunktion)  ein  Ein- 
schnitt, eine  kleine  Pause,  welche  genau  gehalten  werden 
muss.  Selbst  kleine  Gradationen  können  in  Fragesätzen  vor- 
kommen. 

Fragesätze  können  entweder,  wie  andere,  sogleich  mit 
dem  Satztonworte  beginnen  oder  auch  nicht.  Ist  das  Erstere 
der  Fall,  so  schlägt  die  Stimme  nicht  sogleich  den  Grund  ton 
an,  wie  dies  in  assertorischen  u.  s.  w.  Sätzen  dann  geschehen 
rauss,  sondern  sie  steigt  erst  von  einer  musikalischen  klei- 
nen Quarte  chromatisch  zum  Grundton  empor,  z.  B.  liebst 
du  deine  Eltern  u.  s.  w.? 

Im  zweiten  Falle  beginnt  man  die  Frage  wie  jeden  anderen 
Satz,  welcher  mit  einem  Vorschlage  oder  Auftakte  anfängt, 
und  senkt  bei  dem  Satztonworte  die  Stimme  um  eine 
kleine  Tertie,  wie  in  solchen  Sätzen,  auf  welche  noch  ein 
anderer  folgt.  Nach  dieser  Senkung  aber  erhebt  sich  chromatisch 
die   Stimme  über  den    Grundton  und    steigt    bis   zu   Ende  des 


Das  Lesen  und  Declamlren.  367 

Satzes,  also  gerade  in  entgegengesetzter  Modulation  des  Schlusses 
eines  Erzählungssatzes  u.  s.  w.  —  Da  es  sehr  verschiedene 
Arten  von  Fragen  giebt,  so  versteht  es  sich  von  selbst,  dass 
durch  das  Mienenspiel,  die  Art  der  Stimmmodiilation  u.  s.  w. 
diese  verschiedenen  Gattungen  modificirt  werden  müssen  und 
dass  es  in  dieser  Beziehung  eines  grossen ,  sehr  mühevollen 
Studiums  hedüife.  Es  gieht  keine  Schablone,  nach  welcher 
man  sie  bilden  kann! 

Die  Betonung  eines  Ausrufesatzes  hat  mit  der  eines 
Fragesatzes  das  gemein,  dass  in  beiden  sich  der  Ton,  namentlich 
am  Ende,  über  den  Grundton  erhebt;  sie  sind  aber  darin  wieder 
von  einander  verschieden,  dass  die  Stimme  beim  Ausrufe  nicht, 
wie  beim  Fragesatze,  sich  am  Ende  gleichsam  noch  zuspitzt 
oder  höher  aufsteigt,  sondern  den  Ton  festhält.  Beim  Ausrufe 
ist  der  Grundton  der  Eton,  beim  Rufe-  oder  Sehr  eisatze 
aber  der  Iton.  Die  letzteren  Sätze  haben  ausserdem  noch  das 
Eigenthümliche,  dass  sie  —  (wie  schon  oben  beiläufig  bemerkt 
wurde)  —  langsam  gesprochen  werden  müssen,  um  in  der  Ferne 
verstanden  zu  werden.  Die  Betonung  des  Rufsatzes  trifft  im 
Allgemeinen  mit  der  des  blossen  Ausrufs  zusammen. 

Da  es  sehr  verschiedene  Arten  von  Ausrufen  giebt  (der 
Bewunderung,  des  Staunens  oder  der  Verwunderung,  der  Freude, 
des  Zornes  u.  s.  w»),  so  ist  auch  hier  Studium  erforderlich,  um 
den  diesen  besonderen  Arten  gemässen  Ton  zu  treffen. 

Zwischen-  und  Nebensätze  gehören ,  wie  früher  be- 
merkt wurde,  unter  die  unbetonten  Sätze,  z.  B.  Alexander, 
dieser  Welteroberer,  u.  s.  w.  der  Schlaf,  sagte  ein 
griechischer  Sophist,  u.  s.  w.  Alle  solche  Sätze  müssen 
1)  schneller  und  2)  mit  tieferer,  weniger  lauter  Stimme  gesprochen 
werden,  und  so  klingen  sie,  3)  fast  monoton.  —  Oben  ist  be- 
reits die  Mahnung  ertheilt,  die  Nebensätze  recht  genau  von 
der  übrigen  Rede  im  Sprechen  zu  unterscheiden  und  lieber  solche 
Einschiebsel,  wenn  sie  zumal  etwas  lang  sind,  für's  Erste  weg- 
zulassen und  das  Andere  zusammen  zu  sprechen,  um  die  Stimme 
nach  denselben  richtig  einsetzen  zu  lernen.  Diese  Mahnung 
kann  nicht  genug  wiederholt  werden. 

Vorder-  und  Nachsatz  müssen  dem  Zuhörer  schon  als 
solche  durch  den  Vortrag  bezeichnet  werden;    folglich    hat   sich 


368  Das  Lesen  und  Declamiren. 

der  Redende  zu  hüten,  am  Ende  eines  Vordersatzes  eine 
Schlussmodulation  eintreten  zu  lassen.  Bei  einem  Vorder- 
satze hat  sich  zwar  die  Stimme  (wie  früher  gelehrt  wurde)  bei 
dessen  Tonworte  zu  senken,  allein  nur  um  sich  sogleich 
nach  der  Tonsylbe  desselben  wieder  zum  Grundtone  des  Satzes 
zu  erheben.  —  Beim  Nachsatze  erhebt  sich  zuerst  die 
Stimme  (etwa  um  eine  musikalische  Secunde)  und  geht  dann 
wieder  in  den  Grundton  zurück.  Hat  der  Nachsatz  noch  einen 
anderen  Satz  nach  sich,  so  wird  der  früher  gegebenen  Anweisung 
gemäss  modulirt.  Ist  dieser  Satz  der  Schlusssatz  des  Ganzen, 
so  tritt  natürlich  die  Punktmodulation  ein. 

Das  Sprechen  hypothetischer  Sätze,  zumal  der  durch 
sie  gebildeten  Gradationssätze,  erfordert  eine  noch  grössere 
Aufmerksamkeit  und  üebung  als  das  anderer  Sätze.  —  Der 
Vordersatz  eines  hypothetischen  Satzes  bildet  gleichsam  eine 
Art  von  Auftakt  oder  Vorschlag  zum  folgenden.  Also  muss 
dieser  Vordersatz  mit  tieferer  Stimme  gesprochen  werden  als 
der  Nachsatz  und  die  Stimme  muss  am  Ende  desselben  um 
einen  Ton  steigen.  Das  „so"  des  Nachsatzes  aber  beginnt 
um  eine  kleine  Tertie  höher  als  der  vorige  Satz  endete. 
Von  da  an  wird  dieser  Nachsatz  gesprochen  wie  jeder  andere 
Schlusssatz,  d.  h.  der  Ton  steigt  bei  der  Tonsylbe  seines 
Haupttonwortes  um  eine  musikalische  Quarte  und  sinkt 
dann  bei  den  tonlosen  Worten  in  die  Schlussmodulation.  Folgen 
indess  auf  den  Nachsatz  noch  andere  Sätze,  so  wird  er  wieder 
wie  ein  Vordersatz  behandelt. 

Wie  bemerkt,  bilden  Bedingungssätze  häufig  Gradationen, 
d.  h.  der  Vordersatz  besteht  aus  mehreren  Sätzen,  was  auch 
wieder  beim  Nachsatze  der  Fall  sein  kann. 

Für  den  Vortrag  eines  solchen  Gradationssatzes  gelten  fol- 
gende Regeln: 

1)  Die  Stimme  erhebt  sich  am  Schlüsse  eines  jeden  Gliedes 
desselben  um  einen  halben  Ton,  und  dieser  Ton  muss  fest- 
gehalten werden,  indem  er  auf  den  folgenden  Satz  übergeht,  bis 
beim  Nachsatze  die  oben  bemerkte  Betonung  eintritt. 

2)  Solche  Gradationssätze  müssen  tiefer  angefangen 
werden  als  der  eigentUche  Grundton  der  Rede  es  sonst  erfordert 


Das  Lesen  und  Declamiren.  369 

haben  würde ,  weil  man  mit  der  Stimme  andernfalls  nicht  aus- 
reichen könnte. 

3)  Solche  Sätze  sind  mit  zunehmender  Geschwindig- 
keit zu  sprechen.  Denn  jemehr  sich  Gedanken  an  Gedanken 
reihen  und  gleichsam  drängen,  desto  mehr  wird  der  Sprechende 
in  Eifer  und  Anstrengung  gerathen,  bis  er  beim  Nachsatze 
an  einem  vorläufigen  Ruhepunkte  angelangt  ist. 

Der  Sprung  der  Stimme  in  die  Tertie  bei  diesem  Nach- 
satze, während  sie  sich  vorher  bei  jedem  neuen  Gliede  des 
Vordersatzes  nur  um  eine  S  e  c  u  n  d  e  erhob,  bezeichnet  charak- 
teristisch diesen  Endpunkt. 

Eine  Gradation  kann  übrigens  auch  schon  durch  einzelne 
Wörter  gebildet  werden,  durch  Adjective,  Substantive  und  Zeit- 
wörter, z.  B.  eine  treue,  emsige,  besonnene,  wohl- 
geordnete, unermüdete  Thätigkeit  u.  s.  w.  —  Endlich  tan- 
zen alle  Katzen,  poltern,  lärmen,  dass  es  kracht,  zischen, 
heulen,  sprudeln,  kratzen  u.  s.  w.  — ■  Hoheit,  Ehre, 
Macht  und  Ruhm  sind  eitel  u.   s.  w. 

Die  Form  der  Gradationssätze  und  ihr  Inhalt  kann  von 
sehr  verschiedener  Beschaffenheit  sein;  sie  können  also  eine 
Frage-,  eine  assertorische  und  andere  Formen  haben. 

Der  Gradation  aufwärts,  welche  zugleich  ein  Crescendo 
der  Stimme  bedingt,  ist  die  Degradation  (das  Herabsteigen 
vom  Höheren  zum  Niederen)  entgegen  gesetzt,  bei  welcher  auch 
die  Stimme  eine  Modulation  abwärts  zu  machen  hat.  Also  muss 
bei  einem  solchen  Decrescendo  die  Stimme  am  Ende  gleichsam 
wie  ermattet  klingen  und  verhallen,  z.  B.  Rette!  kämpfe,, 
dulde!  trage!  —  Auf  dem  Throne,  im  Palaste,  in  der 
Hütte  u.  s.  w.  —  Sie  bebte,  weinte,  seufzte,  sank! 

Die  hypothetischen  Sätze  sind  auch  einer  Umgestaltung 
fähig:  sie  können  invertirt  werden.  Man  kann  z.  B.  statt 
zu  sagen:  „AVenn  es  einen  allgerechten,  allgütigen  und  allweisen 
Gott  giebt,  der  unser  Schicksal  lenkt;  so  kann  der  Schuldlose 
getrost  in  die  Zukunft  sehen,  u.  s.  w."  den  Satz  auch  so  aus- 
drücken: „Der  Schuldlose  kann  getrost  in  die  Zukunft  sehen,  wenn 
(da)  es  einen  allgerechten,  allgütigen   und  alhveisen  Gott  giebt." 

Diese  Inversion  hat  auf  die  Modulation  solcher  Sätze 
grossen  Einfluss,  d.  h.,  der  zum  Vordersatze  gewordene  Nach- 
Archiv f.  n.  Sprachen.  XXVU.  24 


370  Das  Lesen  und  Declamiren. 

eatz  behält  auch  in  seiner  neuen  Stellung  seine  frühere,  eigent- 
liche Betonung,  nur  dass  das  Ende  desselben,  da  es  nicht  mehr 
den  Schluss  des  Satzes  bildet,  wie  ein  solcher  Satz  gesprochen 
werden  muss,  auf  welchen  noch  ein  anderer  folgt. 

Ein  solcher  zum  Vordersatze  gewordener  Nachsatz 
muss  also  auch  in  höherem  Tone  als  der  folgende  modulirt 
werden.  Um  die  richtige  Betonung  zu  treffen ,  spreche  man 
also  den  Satz  erst  so,  wie  er  eigentlich  in  seiner  hypothetischen 
Stellung  lauten  müsste,  und  beachte  die  Betonung  des  Nach- 
satzes, um  sie  nach  geschehener  Umstellung  ihm  wiedergeben 
zu  können. 

Uebrigens  müssen  die  Schreibenden  gewarnt  werden,  keine 
zu  lange  Gradationssätze  zu  bilden,  damit  man  im  .'stände  sei, 
sie  vorzutragen  und  nicht  genöthigt  werde,  beim  Sprechen  ein- 
zelne Glieder  auszulassen.  Bei  manchen  solcher  Sätze  —  (na- 
mentlich in  einigen  gedruckten  Predigten  kommen  sie  vor)  — 
reicht  auch  die  stärkste  Lunge  und  die  umfangreichste  Stimme 
nicht  aus,  wenn  sie  kunstgemäss,  also  allein  lüchtig  vorgetragen 
werden  sollen. 

Viele  Recitirende  begehen  den  Fehler,  den  Reim  in  Ge- 
dichten zu  sehr  hervorzuheben,  als  wenn  er  die  Hauptsache 
wäre,  da  er  doch  nur  eine  Verschönerung  der  Rede  ist;  sie 
lassen  ihn  auch  da  hervortreten,  wo  er  den  Sinn  nicht  schliesst. 
Als  Regel  muss  aber  gelten:  „Sprich  dem  Sinne  gemäss!" 
d.  h.,  trenne  richtig  Satz  von  Satz  und  mache  um  des  Reimes 
willen  keine  Einschnitte  oder  Pausen  da,  wo  der  Sinn  nicht  ge- 
schlossen, der  Satz  nicht  beendigt  ist.  Ein  solches  Herleiern 
von  Reimgeklingel  wird  für  den  Zuhörer  unerträglich.  Die 
Dichter  sollten  freilich  auch  durch  die  Reime  sich  keine  so  ge- 
waltsamen Trennungen  erlauben,  wie  z.  B.  Matthisson:  „ich 
allein  bin  in  den  trüben  —  Herbstestagen  übrig  blieben  u.  s.  w." 

Da  übrigens  der  Lesende  oder  Declamirende  bei  seinem 
Vortrage  nur  die  Regeln  seiner  Kunst  vor  Augen  haben  muss, 
so  ist  er  nicht  für  die  Fehler  des  Dichters   verantwortlich. 

Es  ist  oft  gefragt  worden,  wie  sich  der  Declamator  bei  so- 
genannten unreinen,  d.  i.  falschen  Reimen  verhalten  solle, 
von  denen  sich  selbst  unsere  besten  Dichter  (bei  der  Armuth 
der  deutschen   Sprache   an  Reimen)   nicht  frei  gehalten   haben. 


Das  Lesen  und  Declamireu.  371 

Soll  der  Declaraator  solche  Fehler  verdecken  und,  wie  Falk- 
mann  (in  seiner  Declamatorik  Th.  II.  S.  199)  vorschlägt, 
einen  zarten  Mittelweg  einschlagen?  „Hat,"  so  drückt  er 
sich  aus,  „der  Dichter  z.  B.  gereimt: 

Und  hemmet  des  Wanderers  Eile 
Mit  drohend  geschwungener  Keule; 
so  darf  weder   die  Eile  zur  Eule,   noch  aus  der  Keule  eine 
Keile,  werden,  aber  es  kann  doch  eine  Aussprache  vermieden 
werden,    welche    die    Verschiedenheit    der    beiden   Laute    in   ein 
recht  grelles  Licht  stellt." 

Wir  können  uns  mit  Falk  mann  nicht  einverstanden  er- 
klären, denn  abgesehen  davon,  dass  eine  Vereinbarung  nicht 
homogener  Laute  geradezu  eine  Unmöglichkeit  ist:  so  wird 
durch  eine  solche  Schminke,  welche  den  einen  Fehler  verdecken 
soll,  ein  doppelter  hervorgerufen,  indem  keines  der  beiden  Wör- 
ter richtig  gesprochen  wird.  Leicht  wird  der  Declamator  bei 
seinem  Versuche,  die  Scylla  zu  vermeiden,  in  die  Charybdis 
gerathen.  Ist  übrigens  nur  der  Gedanke  schön,  so  wird  der 
Zuhörer  so  leicht  auch  nicht  an  dem  fehlerhaften  Reime  Anstoss 
nehmen.  Dazu  kommt  aber  noch  ferner,  dass  die  Aussprache 
in  manchen  Theilen  Deutschlands  der  Art  ist,  dass  solche  Reime 
kaum  in  derselben  als  fehlerhafte  hervortreten. 

Eine  Ausnahme  von  der  aufgestellten  Regel,  den  Reim  nicht 
über  Gebühr  hervorzuheben,  bilden  die  witzigen  Reime,  in 
denen  es  geradezu  vom  Dichter  auf  den  Reim  abgesehen  ist. 
Hier  soll  also  der  Reim  hervortreten. 

Nachträglich  müssen  wir  noch  über  die  Betonung  der  Sätze 
einige  Bemerkungen  hinzufügen.  Es  tritt  nämlich  bisweilen  der 
Fall  ein,  dass  ein  Hauptbegriff  durch  mehrere  Wörter 
ausgedrückt  wird,  d.  h. ,  dass  ein  ganzer  Satz  als  ein 
Begriff  hervorgehoben  werden  soll,  z.  B.  in  den  Lehren  und 
Nutzanwendungen  der  Fabeln  u.  s.  w.  Solche  Sätze  müssen 
in  langsamerem  Tempo  gesprochen  werden  und  zwar  im  Lehr- 
tone; allein  der  Accent  darf  nicht,  wie  Manche  lehren,  auf  die 
Ideenreihe  verthcilt  werden,  was  ja  an  und  für  sich  ein 
Ding  der  Unmöglichkeit  ist.  Auch  in  solchen  Sätzen  giebt  es 
nur  ein  Haupttonwort,  welches  den  vorherrschenden  Accent 
haben   muss.     Es   findet    also    in    solchen   Sätzen   nur    ein  ge- 

24* 


372  Das  Lesen  und  Declamiren. 

tragener  Ton,    ein    langsamerer  Gang   statt   als   in   den 
übrigen. 

Dass  eine  einzelne  Stelle  oft  sehr  verschiedene  Betonungen 
zulasse  und  dass  es  mithin  die  Sache  des  Recitirenden  sei,  aus 
dem  Zusammenhange  den  richtigen  Ton  zu  ermitteln,  ist  im 
Leitfaden  an  einem  Beispiele  weitläufig  nachgewiesen  worden. 

Ileberhaupt  aber  darf  der  Declamator  solche  Stellen  seines 
vorzutragenden  Stücks  nicht  übersehen,  welche  ihm  genau  an- 
geben, wie  er  sprechen  müsse.     Wenn  z.  B.  Schiller  sagt: 

Entgegnet  ihm  finster  der  Wütherich; 
SO  liegt   in  dem  Worte   finster  für    den  Recitirenden  die  An- 
gabe, wie  er  die  Worte  der  Rede  zu  sprechen  hat. 

Zum  Schlüsse  noch  ein  paar  Worte  über  den  elegischen 
Ton.  —  So  wie  es  in  der  Musik  ein  Dur  und  ein  Moll  giebt, 
so  auch  in  der  Declamation.  Die  Molltonart  für  diese  bil- 
det der  elegische  Ton. 

Der  Ton  bei  der  Recitation  einer  Elegie  muss  ein  weicher, 
dem  Zustande  der  Resignation  und  der  Wehmuth  angemessener 
sein.  Er  ist  also  von  dem  hellen,  kräftigen  Klange  der  Stimme 
beim  Vortrage  von  Stücken  aus  dem  Etone  u.  s.  w.  ganz  ver- 
schieden ;  er  ist  ein  Ton,  welchem  gleichsam  die  Spitze  ab- 
gebrochen ist.  Denn  die  Klage  des  Schwermüthigen  zeigt  eine 
matte,  erschlaffte  Stimmung  an,  welcher  die  Kraft  zum  Handeln 
fehlt.  —  Der  Mollton  zieht  sich  übrigens  nicht  durch  das  ganze 
elegische  Stück  hin,  da  die  Elegie  aus  Gefühlen  der  Trauer 
und  der  Hoffnung  oder  Freude  gemischt  ist,  mit  einem  Worte, 
Gefühle  der  süssen  Wehmuth  darstellt,  welche  sich  auch 
dann  und  wann  wieder  emporrichtet.  Daher  tritt  auch  ab- 
wechselnd in  einer  Elegie  statt  des  Moll  wieder  ein  frisches, 
lebendiges  Dur  ein. 

Dass  Derjenige,  welcher  bloss  vorliest,  aber  nicht  ein 
auswendig  gelerntes  Stück  vorträgt,  nur  einen  sehr  eingeschränkten 
Gebrauch  von  Mimik  oder  Geberdenspiel  machen  könne  und 
dürfe,  versteht  sich  von  selbst.  Denn  die  Anwendung  der  mi- 
mischen Kunst  setzt  einen  vollkommen  freien  Gebrauch  aller 
Glieder  des  Körpers  voraus,  welcher  dem  Vorleser  versagt 
ist,  da  er,  sitzend  oder  stillstehend  sein  Buch  in  der  Hand  und 


Das  Lesen  und  Declaniiren.  373 

die  Augen  auf  dasselbe   gerichtet,   nach   doj)pelter  Seite  hin   in 
diesem  Gebrauche  seiner  Glieder  gehemmt  ist. 

Ehe  ich  jetzt  genauer  auf  Mimik  und  Geberdenspiel  über- 
haupt eingehe,  halte  ich  es  für  zweckmässig,  erst  noch  ein  paar 
Worte  über  declamatorische  oder  rhetorische  Pausen 
vorauszuschicken,  welche,  weil  sie  dazu  dienen  sollen,  die 
Erwartung  der  Zuhörer  zu  spannen,  gewöhnlich  mit  Mimik  ver- 
bunden sein  und  folglich  hier  erwähnt  werden  müssen. 
Wenn  es  z.  B.  in  Wieland's  Musarion  heisst: 
„Ihr  Zeitvertreib  war  in  der  That  kein  Spass, 

Denn  —  kurz:  —  sie  hatten  sich  einander  bei  den  Haaren  u.  s.  w." 
und  der  Declamator  den  letzten  Vers  ohne  Unterbrechungspausen 
sprechen  wollte,  so  würde  der  ganze  komische  Effect  verloren 
gehen. 

Solche    Pausen    sind    anderwärts    durch    andere    Umstände 
geboten.     Denn  wenn  es  in  Schiller's  Bürgschaft  heisst: 
„Ich  flehe  Dich  um  drei  Tage  Zeit, 
Bis  ich  die  Schwester  dem  Gatten  gefreit  u.  s.  w." 
so    muss    der  Declamator  die  Punktpause   nach    diesen    Worten 
noch  um  eine  rhetorische    vermehren.     Denn  man   muss  sich 
denken,   dass  der  Bittende   vom  Tyrannen  eine   günstige  Nach- 
richt erwarte  und,  da  er  aus  dessen  Mienen  liest,  dass  er  sie  ihm 
nicht  geben  wolle,  noch  einen  Umstand  hinzufügt,  von  dem  er 
hofft,    dass  er  den  Dionys  bestimmen  könne,    ihm    die  Bitte  zu 
gewähren.     Er  muss   also   erst   die   Mienen   des   Tyrannen  be- 
obachtet haben,  ehe  er  weiter  spricht;  er  muss  mithin  in  seiner 
Rede  eine  längere  Pause  eintreten  lassen. 

Solche  Pausen  werden  auch  durch  die  Aposiopesen  und 
Unterbrechungen  der  Rede  überhaupt  gebildet.  Z.  B.  in  dem 
Processe  von  Geliert  heisst  es: 

„Lasst  dem  Processe  seinen  Lauf, 

Ich  schwör'  euch,  endlich  durchzudringen! 

Doch  — "  „Herr,  ich  hör'  es  schon,  ich  will 

das  Geld  gleich  bringen  u.  s.  w." 

Dieses  zögernde  „doch"  des  Advocaten  mit  dem  gehörigen 
Geberdenspiele  der  rechten  Hand  und  der  fordernden  ]\Iiene 
verbunden,  müssen  den  Zuhörern  den  Gedanken  des  Herrn 
GHmpf  eben  so  deutlich  machen  als  dem  Bauer.  Ohne  die 
rhetorische    Pause    und     den     sie    begleitenden    Gestus    des 


374  Dhs  Lesen  und  Declamiren. 

Declamators  würde  aber  ein  solches  Verständniss  nicht  eintreten 
können. 

Eine  solche  Pause  hängt  aber  auch  oft  von  der  Willkür 
des  Declamators  ab ,  und  er  kann  in  Worte  einen  Sinn  legen, 
von  welchem  vielleicht  mancher  Leser  des  Declamationsstückes 
gar  keine  Ahnung  hatte.  Denn  wenn  Pfeffel  in  seiner  Fabel 
von  den  beiden  Hunden  sagt: 

„Und  dieser  (der  junge  Hund)  lernte  so  geschwind, 
Als  mancher  Knabe  kaum  das  Lesen  u.  s.  w." 
so    kann    der    Declamator    sich    nach    „als"    unterbrechen    und 
durch    die    Erwartungspause    dem    folgenden    eine    scherzhafte 
Wendung  geben. 

Ich  komme  jetzt  auf  allgemeine  Bemerkungen  über 
die  Geberden  spräche. 

Unter  Geberdensprache  versteht  man  alle  Bewegungen  und 
Stellungen  des  Körpers  und  seiner  Glieder,  also  das  ganze 
Spiel  der  Hände,  die  Bewegungen  der  Augen,  des  Mundes 
u.  s.  w.  —  Die  Geberdensprache  kann  sich  eben  so  gut,  wie 
die  Stimme  durch  Töne,  durch  äussere  Zeichen  verständlich 
machen,  wie  die  Unterhaltungen  der  Taubstummen  unter  ein- 
ander beweisen.  Also  muss  der  Declamator  auch  diese  Sprache 
Studiren. 

Die  äusseren  Geberden  sind  entweder  natürliche  oder 
conventioneile,  also  entweder  ganz  allgemeine,  nicht 
auf  einer  gesellschafthchen  Uebereinkunft  beruhende,  oder  be- 
sondere, welche  einzelne  Stände  und  selbst  ganze  Völker 
charakterisiren,  folglich  erst  erlernt  werden  müssen. 

Die  Mimik  umfasst  die  BcM^egungen  des  Unter-  wie  des 
Oberkörpers,  die  der  Hände  und  die  des  Gesichts,  wie 
schon  oben  bemerkt  wurde.  Steht  der  Declamator  hinter  einem 
Pulte,  so  hat  er  auf  seinen  Unterkörper  allerdings  nicht  be- 
sonders zu  achten.  Steht  er  aber  frei  da  und  kann  man  seine 
ganze  Gestalt  überblicken;  so  ist  es  schon  nicht  einmal  gleich- 
gültig, welche  Stellung  seine  Füsse  einnehmen.  Die  passendste 
Position  derselben  ist  die  dritte  (nach  der  Benennung  der 
Tanzlehrer),  da  sie  dem  Declamirenden  die  möglich  freiste  und 
festeste  Haltung  gewährt.  Doch  wird  er  bei  seinem  Vortrage 
namentlich  bei  leidenschafdichen  Stellen,  wenn  er  nicht  steif  und 


Das  Lesen  und  Declarairen.  375 

unnatürlich  erscheinen  will,  mit  den  Positionen  auch  zu  wechseln 
haben.  Denn  leidenschaftliche  Erregtheit  und  Ruhe  in  der  Hal- 
tung des  Körpers  stehen  mit  einander  durchaus  in  Widerspruch. 

Steht  der  Declamator  hinter  einem  Pulte,  so  hat  er  sich 
vor  einer  nachläseigen  Haltung  des  Unterkörpers,  wenn 
dieser  auch  von  den  Zidiörern  nicht  gesehen  wird,  zu  hüten; 
er  darf  also  den  Körper  nicht  gemüthlich  hin-  und  herschaukeln, 
sich  dabei  mit  den  Händen  am  Pulte  festhaltend  u.  s.  w. 

Obgleich  er  seinen  Platz  nicht  verlassen  darf,  um  herum- 
zugehen, Avie  ein  Schauspieler;  so  kann  das  zu  declamirende 
Stück  ihn  doch  veranlassen,  bei  einzelnen  Stellen  einen  Schritt 
vorwärts,  rückwärts  oder  seitwärts  zu  thun,  letzteres  namentlich 
dann,  wenn  das  Stück  einen  Dialog  enthält  und  der  Declamator 
in  verjjchiedener  Person  zu  reden  hat.  Durch  eine  solche  Seiten- 
bewegung werden  die  sprechenden  Personen  auch  dem  Zuhörer 
noch  deutlicher  markirt. 

Wenn  manche  Lehrer  der  Meinung  sind,  dass  man  die 
Schüler  gar  nicht  dazu  anhalten  solle,  Gea^tikulationen  zu  machen, 
weil  dieselben  oft  gar  zu  unbeholfen  und  hölzern  gemacht  werden  ; 
so  ist  dieser  schlechte  Gebrauch  der  Hände  u.  s.  w.  noch  kein 
Grund,  von  demselben  ganz  abzusehen,  da  auch  in  diesem  Falle 
wie  in  allen  anderen  durch  Uebung  die  Unvollkommenheit  nach 
und  nach  beseitigt  wird.  Es  wäre  gerade  so,  als  wollte  man 
Jemandem  anbefehlen,  er  solle  nicht  eher  in's  Wasser  gehen, 
als  bis  er  schwimmen  könnte.  Auch  ist  es  geradezu  natur- 
widrig, einen  Vortrag  gar  nicht  mit  irgend  einer  Körperbewegung 
zu  begleiten.  Der  Knabe  gestikulirt  sehr  lebhaft,  wenn  er  seinen 
Kameraden  etwas  mittheilt,  sie  zu  etwas  zu  überreden  bemüht 
ist  u.  s.    w. 

In  Beziehung  auf  den  Gebrauch  der  Hände  beobachte 
man  folgende  Punkte: 

1)  Man  vermeide  bei  der  Bewegung  der  Arme  und  Hände 
das  Steife  und  Eckige,  welches  auch  in  der  Tanzkunst  als 
fehlerhaft  gilt.  Man  zucke,  schleudere  und  vagire  nicht  mit 
denselben  herum  ;  wechsele  nicht  schnell  und  ganz  regelmässig 
mit  der  .rechten  und  linken  Hand  bei  den  Gesticulationen  ab, 
obne  dass  dazu  irgend  ein  Grund  vorhanden  ist.  Man  strecke 
die  Arme  nicht  horizontal  vor  sich  hin  als  wenn  man  schwimmen 


376  Das  Lesen  und  Declarairen. 

wollte;  greife  nicht  mit  den  Händen  und  ziehe  die  Finger  ein, 
ohne  damit  etwas  zu  bezwecken;  balle  nicht  die  Fäuste,  wenn 
man  nicht  drohen  will;  verstecke  nicht  die  eine  Hand  in  der 
Rocktasche  oder  hinter  sich  u.  s.  av. 

2)  Man  erhebe  die  Hände  nicht  über  den  Kopf,  selbst  nicht 
beim  flehenden  Ausdrucke!  Man  verstecke  aber  auch  nicht  den 
Oberarm,  so  dass  man  bloss  mit  dem  Vorderarme  die  Bewegung 
macht,  während  der  Ellenbogen  fest  an  den  Oberkörper  an- 
geschlossen liegt. 

3)  Man  bemühe  sich,  beide  Arme  geschickt  zu  gebrauchen, 
nicht  immer  ausschliesslich  fast  den  rechten  oder  den  linken, 
je  nachdem  sich  Jemand  von  Jugend  auf  etwa  gewöhnt  hat,  mit 
dieser  oder  jener  Hand  körperliche  Verrichtungen  vorzunehmen. 
Denn  schon  das  Auge  fordert  Abwechselung,  noch  mehr  aber 
gebietet  eine  solche  der  Inhalt  der  meisten  Declamationsstücke 
schlechterdings. 

4)  Bei  ruhiger  Erzählung  oder  in  Stücken  aus  dem 
A-  und  Otone,  wenn  nicht  der  Inhalt  ein  ganz  besonderer  ist, 
gestikulire  man  nicht  zu  viel,  weil  hier  das  Ganze  gehaltener, 
gemässigter,  frei  von  leidenschaftlicher  Aufregung  ist. 

5)  Unter  den  Geberden  selbst,  so  wie  wiederum  unter  Ge- 
berden und  Mienen,  muss  Uebereinstimmung  herrschen 
und  sie  dürfen  einander  nicht  widersprechen.  Man  darf  also 
z.  B.  nicht  mit  der  Hand  einen  Gegenstand  als  zur  Rechten 
befindlich  andeuten,  den  man  vorher  als  zur  Linken  stehend  be- 
zeichnet hatte  und  umgekehrt;  denn  dadurch  macht  man  die 
Zuhörer  irre.  Eben  so  muss,  wie  bemerkt,  unter  Mienen  und 
Geberden  Uebereinstimmung  herrschen.  Man  soll  also  nicht 
mit  der  Hand  hnks  hinzeigen  und  mit  den  Augen  nach  einer 
anderen  Richtung  blicken.  (Eine  Ausnahme  von  dieser  Regel 
findet  nur  dann  statt,  wenn  mit  der  Hand  eine  abweisende 
Bewegung  nach  einem  Gegenstande  hin  gemacht  wird,  den  man 
flieht  oder  verabscheut.  Dann  wehrt  man  mit  der  einen 
Hand  oder  auch  mit  beiden  Händen  diesen  Gegenstand  von  sich 
ab  und  blickt,  um  den  Abscheu  oder  die  Furcht  vor  ihm  aus- 
zudrücken, mit  den  Augen  nach  der  entgegengesetzten  Rich- 
tung.) —  Man  muss  ferner  nicht  die  Stellung,  die  Geberde  und 


Das  Lesen  und  Declamiren.  377 

Miene  eines  drohenden  annehmen,  wenn  man  freundlich  blicken 
sollte,  und  umgekehrt  bei  einer  Drohung  eine  freundliche  Miene 
machen. 

6)  Die  Gesticulation  darf  nicht  früher  eintreten  als  der 
durch  diese  zu  bezeichnenden  Empfindung  Worte  geliehen 
werden,  sondern  mit  ihr  zugleich,  ihr  also  auch  nicht  erst 
nachfolgen,  wenn  sie  schon  durch  Worte  ausgesprochen  ist. 
—  (Eine  Ausnahme  von  dieser  Regel  findet  dann  statt,  wenn 
durch  Geberden  eine  Situation  oder  eine  Gemüthsbewegung  ein- 
geleitet oder  vorbereitet  werden  soll.) 

7)  Da  jedes  Alter,  jeder  Stand,  ja  Zustand  des  Menschen 
seine  eigenthümlichen  Zeichen  und  Gestikulationen  hat:  so  darf 
der  Declamator  auch  nicht  immer  dieselben  Bewegungen  mit 
den  Händen  u.  s.  w.  machen,  sondern  diejenigen,  welche  dem 
Individuum  angemessen  sind.  Welche  Gestikulationen  aber 
jedes  Alter,  Geschlecht  u.  s.  w.  eigenthümlich  habe,  das  muss 
der  Declamator  durch  sorgfältige  Beobachtung  und  durch  Stu- 
dium sich  bekannt  machen. 

8)  Jede  Leidenschaft,  jede  Gemüthsbewegung  entsteht, 
Avächst,  erreicht  ihren  höchsten  Grad  und  nimmt  dann  in  eben 
derselben  Art  und  Weise  wieder  ab,  wie  sie  erst  zugenommen 
hatte.  Daher  muss  der  Declamator  diese  Zustände  unterscheiden 
und  seine  Geberden,  seine  Stimme  und  Mienen  darnach  ab- 
messen, nicht  aber  eine  Leidenschaft,  die  erst  im  Entstehen  ist, 
gleich  in  ihrer  ganzen  Stärke  äusserlich  darstellen.  Das  würde, 
nach  dem  bekannten  SpricHworte,  mit  der  Thür'  in's  Haus  fallen 
heissen. 

Was  nun  s  p  c  c  i  e  1 1  die  Bewegungen  der  H  ä  n'd  e  anlangt, 
so  sind  sie  so  mannichfaltig,  dass  sie  kaum  aufgezählt  oder  ge- 
nau beschrieben  werden  können,  zumal  da  wiederum  eine  jede 
noch  vieler  kleinen  Modificationen  fähig  ist. 

Man  kann  nämlich  1)  die  Hände,  in  Ansehung  der  Räum- 
lichkeit, in  der  niederen,  mittleren  und  höheren  Richtung  be- 
wegen; 2)  sie  in  diesen  Räumen  entweder  geradeaus  oder  seit- 
wärts, links  imd  rechts,  wenden;  3)  man  kann  den  Arm  mehr 
oder  weniger  gekrümmt  halten,  die  Finger  einziehen,  oder  einen 
oder  auch   alle    zualeich  ausstrecken  und  dieses    wieder   in  ver- 


378  Das  Lesen  und  Declamiren. 

schiedener  Form ;  4)  man  kann  alle  diese  Bewegungen  langsamer 
oder  schneller  machen  und  5)  sich  entweder  nur  der  einen  Hand 
oder  beider  dabei  bedienen. 

Wegen  der  Mannichfaltigkeit  dieser  Bewegungen,  welche 
noch  ausserdem,  wie  oben  bemerkt,  nach  Geschlecht,  Alter, 
Stand,  Nationalität  u.  s.  w.  der  Individuen  sich  modificiren,  ist 
es  gar  nicht  mögHch^  sie  genau  mit  Worten  deutlich  zu  machen 
und  sie  müssen  durchaus  an  lebenden  Mustern  studirt   werden. 

Da  der  Declamator  ferner  Charakter  und  Stimmung  der 
darzustellenden  Personen  nach  seiner  besonderen  Erwägung 
verschieden  auffassen  kann ;  so  wird  er  auch  seine  Gesten  dieser 
Auffassung  gemäss  einrichten,  und  so  kann  es  kommen,  dass  er 
auch  anders  als  ein  Anderer  an  den  einzelnen  Stellen  gestikulirt. 

Allgemein  feststehende  Gestikulationen  sind  etwa  folgende: 
1)  Die  Begriffe  Alles,  überall  oder  eine  Gesamtheit  drückt 
man  dadurch  aus,  dass  man  die  Arme  und  Hände  nach  beiden 
Seiten  aus  einander  bewegt,  um  so  den  Gesichtskreis  anzudeuten, 
von  welchem  man  etwas  als  umfasst  darstellen  will. 

2)  Der  ruhig  Demonstrirende  oder  Erzählende 
streckt  den  Oberarm  nicht  weit  vom  Körper  weg,  sondern  ge- 
stikulirt mehr  mit  dem  Vorderarme  und  bringt  die  Handfläche 
mit  sanftgeöffneten  Fingern  durch  eine  kleine  Wendung  nach 
oben,  doch  so,  dass  der  Zuhörerkreis  ihm  nicht  in  die  Hand 
sehen  kann.  Der  Gebrauch  beider  Hände  kann  nur  bei  grös- 
serer Lebendigkeit  der  Darstellung  vorkommen.  —  AVährend 
die  eine  Hand  gestikulirt,  muss  die  andere  eine  ruhige,  un- 
gezwungene Haltung  haben. 

3)  Der  Befehlende  streckt  den  rechten  Arm  gegen  den 
aus,  welchem  er  den  Befehl  ertheilt.  Der  Zeigefinger  steht  da- 
bei gebieterisch  ausgestreckt,  während  die  übrigen  Finger  ein- 
gezogen sind. 

4)  Eine  ähnliche  Bewegung  dient  dazu,  um  auf  einen 
Gegenstand  hinzuweisen,  doch  mit  dem  Unterschiede,  dass 
die  Hand  sich  der  Richtung  zuwendet,  avo  sich  der  zu  zeigende 
Gegenstand  befindet.  Das  Mienenspiel  dabei  aber  unterscheidet 
beide  Gesten  ausserdem  hinlänglich. 


Das  Lesen  undDeclamiren.  379 

5)  Der  Drohende  erhebt  die  rechte  Hand  und  hält  den 
Zeigefinger  in  die  Höhe,  indem  er  mit  demselben  eine  schnelle, 
fast  zitternde  Bewegung  macht.  Bei  einer  heftigen  Drohung 
beugt  sich  ausserdem  der  Körper  wie  zum  Angriff  nach  vorn, 
und  der  so  zornig  Drohende  ballt  auch  wohl  die  Fäuste  wie 
zum  Schlage. 

6)  Der  Horchende  erhebt  die  Hand  nach  dem  Ohre,  und 
zwar  nach  der  Seite  hingeneigt,  woher  er  etwas  vernehmen  will. 

7)  Der  Hülfeflehende  streckt  die  Arme  dem  entgegen, 
von  welchem  er  Hülfe  erwartet,  fast  wie  der  Betende. 

8)  Für  das  Gebet  ist  die  ästhetische  Hahung  der  Hände 
die  Gegeneinanderhaltung  der  Handflächen  oder  auch  die  Er- 
hebung beider  Hände  in  der  Richtung  nach  oben;  jedoch  dürfen 
sie  nicht  zu  hoch  erhoben  werden,  nicht  über  den  Kopf  hinaus. 

9)  Der  Schwörende  erhebt  die  rechte  Hand,  die  innere 
Flächenach  sich  zugekehrt;  er  streckt  den  Zeigefinger  und  ^Mittel- 
finger empor  und  die  anderen  werden  sammt  den)  Daumen  ein- 
gezogen. 

10)  Aufregung  der  Gefühle  im  Allgemeinen  wird  be- 
zeichnet, indem  man  die  rechte  Hand  sanft  dem  Herzen  zu  be- 
wegt und  sie  gegen  dasselbe  drückt,  gleichsam  als  wollte  man 
die  innere  Aufregung  so  beschwichtigen. 

11)  Die  Erwartung  und  die  Hoffnung  drücken  sich 
mehr  durch  das  Mienenspiel  aus,  sind  aber  doch  auch  mit  einer 
Bewegung  der  Arme  und  Hände  nach  vorn  verbunden,  bis  das 
Erwartete  sich  zeigt,  oder  bis  man  die  Hoffnung  aufgiebt. 

12)  Der  Aengstliche  macht  heftige,  unstäte  Bewegungen 
mit  den  Armen  und  Händen,  und  auch  die  Mienen  seines  Ge- 
sichts wechseln  schnell.  Die  Unruhe  bewegt  seinen  ganzen 
Körper. 

13)  Die  Gesten  des  Schreckens  sind  sehr  mannichfahig, 
je  nach  dem  Grade  des  Schreckens  oder  der  Individualität  des 
Erschreckenden.  Das  Mienenspiel  ist,  wie  bei  der  Erwartung 
und  Hoffnung,  die  Hauptsache.  Die  Hände  des  heftig  Er- 
schreckten bewegen  sich  schnell,  fast  zuckend  und  convulsivisch 
nach  vorn,  und  ihre  Flächen  sind  gewöhnlich  einander  zugekehrt. 
Sie  halten  sich  in  der  mittleren  Kegion  des  Körpers,  der  sich 
bei  dieser  Bewegung  der  Hände  etwas  zurückbeugt. 


380  Das  Lesen  und  Declaniiren. 

14)  Vor  einem  Gegenstande,  welcher  Furcht,  Ekel  oder 
Abscheu  erregt,  beugt  sich  der  Körper  ebenfalls,  und  zwar 
noch  mehr,  zurück;  das  Gesicht  wendet  sich  von  ihm  ab  und 
die  Hände  ziehen  sich  entweder  nach  dem  Körper  zurück,  um 
auszudrücken,  dass  sie  jede  Berührung  mit  dem  verabscheuten 
Gegenstande  vermeiden  wollen,  oder  sie  strecken  sich,  wenn  es 
gilt,  ihn  abzuwehren,  gegen  denselben  vor  und  zwar  mit  aus- 
gebreiteten Handflächen. 

15)  Die  Verzweiflung  hat  eine  doppelte  Geberde.  Ent- 
weder ringt  sie  die  Hände  und  bewegt  sie  masslos  und  heftig, 
oder  sie  giebt  sich  durch  gänzliche  Regungslosigkeit  und  Er- 
starrung kund ,  welche  sich  vorzüglich  in  den  Mienen  des  Ge- 
sichts ausdrückt.  Das  Letztere  ist  vorzüglich  der  Fall,  wenn 
ein  plötzlich  eintretendes  schreckliches  Ereigniss  sie  hervor- 
ruft, welches  alle  Widerstandskraft  vernichtet  und  alle  geistigen 
und  körperlichen  Kräfte  schlagähnlich  lähmt.  Doch  kommt  dabei 
viel  auf  den  Charakter  und  das  Temperament  der  Individuen  an. 

16)  Bei  den  Regungen  der  Sehnsucht,  Liebe  und 
Zärtlichkeit  findet  eine  entgegengesetzte  Haltung  des  Körpers 
statt  als  bei  der  Furcht,  indem  sich  derselbe  nach  vorn,  dem 
ersehnten  Gegenstande  entgegenbeugt.  Auch  die  Hände  strecken 
sich  demselben  entgegen  und  zwar  so,  als  wenn  sie  ihn  um- 
fassen wollten. 

17)  Der  sich  Freuende  erhebt  beide  Hände  und  schlägt 
sie  auch  wohl,  wenn  die  Freude  eine  recht  überraschende,  nicht 
gehoifte  ist,  in  froher  Aufregung  zusammen. 

18)  Das  Zeichen  des  innigen  Schmerzes  ist  das  Kreuzen 
der  Hände  auf  der  Brust  und  das  Senken  des  Hauptes,  oder 
auch  das  Ineinanderfalten  der  Hände  wie  zum  Gebete.  —  Das 
Thränenvergiessen,  welches  meistens  mit  dem  Schmerze  ver- 
bunden ist,  steht  nicht  in  der  Gewalt  des  Declamators  und  ist 
ihm  auch  aus  dem  Grunde  zu  erlassen,  weil  er  ja  nicht  als 
Schauspieler  agirt,  sondern  Zustände  nur  referirt;  doch  mag 
er  immerhin  auch  eine  Bewegung  der  Hand  nach  den  Augen 
machen,  wie  wenn  er  hervorbrechende  Thränen  abwischen  wollte. 

Da  der  Declamator  bei  seinen  Darstellungen  gewisse 
Schranken  zu  halten  hat,  so  darf  er  Handlungen  und  Zustände 


Das  Lesen  und  Declamiren.  381 

nur  eben  andeuten.  Also  er  darf  nicht,  wie  der  Schauspieler, 
vollständig  alle  Geberden  machen,  mithin  nicht  wirklich  hauen, 
stechen  u.  8.  w.  wollen,  sonst  Avürde  er  in  das  Gebiet  der  Schau- 
spielkunst überstreifen. 

Mit  den  Bewegungen  der  Hände  muss  das  Mienenspiel 
zusammenhängen,  denn  sonst  würde  der  Declamator  wie  eine 
am  Drahte  gezogene  Marionette  erscheinen,  welche  kein  Leben 
hat.  Obwohl  aber  alle  Theile  des  Gesichts  bei  leidenschaftlichen 
Aufregungen  des  Gemüths  einen  gewissen  charakteristischen 
Ausdruck  annehmen;  so  sind  es  doch  besonders  die  Augen, 
in  denen  sich  die  Seele  am  deutlichsten  abspiegelt,  und  so  will 
ich  hier  zunächst  über  die  Thätigkeit  derselben  für  die  einzelnen 
Fälle  genauere  Andeutungen  folgen  lassen. 

1)  Der  Bescheidene  schlägt  die  Augen  nieder.  Eben 
dasselbe  geschieht  bei  dem  Gefühle  der  Scham  oder  Be- 
schämung, während  sich  zugleich  das  Angesicht  röthet.  Da 
dieses  Erröthen  aber  etwas  Unwillkürliches  ist,  so  steht  es 
nicht  in  der  Macht  des  Declamators,  es  hervorzurufen. 

2)  Sanft muth  drückt  sich  durch  einen  stillen,  ruhigen 
Blick  des  Auges  aus ;  sein  Glanz  erscheint  matter  und  es  ist 
nicht  weit  geöffnet. 

3)  Hinterlist  und  Tücke  blicken  unsicher  und  schlagen 
schnell  das  Auge  nieder,  wenn  sie  einem  festen  Blicke  des  An- 
deren begegnen,  weil  sie  sich  dann  entdeckt  glauben.  Wenn 
sie  dem  beobachtenden  Blicke  entgangen  zu  sein  meinen,  schlagen 
sie  die  Augen  wieder  auf,  zwingen  sich  aber  zur  Katzenfreund- 
lichkeit, sobald  sie  ein  neuer  Blick  des  Beobachters  trifft. 

4.  Der  Heuchler,  der  Scheinheilige  ist  das  Schatten- 
bild oder  die  Caricatur  des  Gläubigen;  daher  sind  seine  Blicke 
und  sein  ganzes  Mienenspiel  auch  denen  dieses  Letzteren  sehr 
ähnlich,  aber  doch  nicht  gleich.  Der  Heuchler  des  Glau- 
bens blickt  zwar  auch  mit  scheinheiliger  Augenverdrehung  nach 
oben,  allein  er  schlägt  gewöhnlich  schnell  wieder  den  Blick  zu 
Boden.  Es  ist,  als  wenn  er  sich  nicht  würdig  fühlte,  die  Augen 
frei  emporzurichten.     Er  zeigt  eine  hündische  Demuth. 

5)  Der  Befehlende  schaut  den  fest  an,  welchem  er  einen 
Befehl  n-icbt.     Auch  der  Zornige,   der  Drohende  thut  dies; 


S82  Das  Lesen  und  Declamiren. 

allein  sein  Blick  ist  dabei  feurig  und  blitzend.  (Vergl.  ausser- 
dem im  Vorigen  Nro.  5.)  fle  nach  dem  Grade  der  ihn  be- 
wegenden Leidenschaft  schaut  er  den  Bedrohten  bald  ernst  und 
streng,  bald  wild  an  und  rollt  die  Augen.  —  Auch  die  Augen- 
brauen sind  bei  ihm  in  Bewegung  und  der  Mund  zuckt 
leidenschaftlich. 

6.  Der  Horchende  oder  Lauschende  wendet  nicht  allein 
den  Kopf  seitwärts  und  das  Ohr  dahin,  woher  er  etwas  ver- 
nehmen will ,  sondern  auch  sein  Auge  ist  halb  und  halb  dieser 
Richtung  zugewendet,  als  wenn  dieses  Organ  das  Ohr  unter- 
stützen sollte. 

7.  Der  Betende  hält  seine  Augen  nach  oben  gerichtet; 
ihr  inniger  Ausdruck  kündet,  nach  der  Verschiedenheit  des  Ge- 
bets, die  Seelenstimmungen  an  :  Vertrauen  und  Hoffnung,  Bangen 
und  Zagen,  Erhebung  und  Bewunderung,  freudige  Dank- 
empfindung u.  s.  w. 

8.  Der  Erwartende  und  Hoffende  drückt  in  allen  seinen 
gespannten  Zügen,  aber  vornehmlich  in  den  Augen,  ein 
Streben  nach  einem  äusseren  Gegenstande  aus.  Sein  Auge 
ist  nach  der  Seite  hingewendet,  von  welcher  her  er  die  Er- 
füllung seiner  Hoffnung  und  Erwartung  verwirklicht  zu  sehen 
glaubt.  Die  Ungewissheit  aber,  ob  seine  Hoffnung  in  Erfüllung 
gehen  werde,  macht,  dass  seine  Blicke  etwas  Unstätes  haben 
und  nicht  immer  derselben  Richtung  fest  zugewendet  erscheinen. 
Ein  Strahl  der  Freude  erglänzt  im  Auge,  wenn  die  Hoffnung 
auf  Erfüllung  wächst. 

9)  Der  Schwörende  richtet  sein  Auge,  wie  der  Betende, 
nach  oben  und  blickt  fest  und  ruhig. 

10)  Der  Hülfe  flehende  schaut  mit  Innigkeit  den  an, 
dessen  Hülfe  er  erflehen  will;  sein  Auge  ist  umschleiert,  selbst 
oft  von  Thränen  gefeuchtet. 

11)  Die  Begierde  im  Allgemeinen  giebt  sich  durch  einen 
fast  starren  Blick  kund,  der  auf  den  begehrten  Gegenstand  ge- 
richtet ist.  Bei  der  rohen  Begierde  erscheint  das  Auge  gleich- 
sam verglast,  stier  und  voll  Wildheit. 


Das  Lesen  und  Declamiren.  383 

12)  Der  Aengstliche  blickt  unatät  bald  hierhin  bald 
dorthin  (vergl.  oben  Nr.  12),  als  wenn  er  mit  den  Augen  einen 
Ort  suchen  wollte,  wo  er  Schutz  und  Sicherheit  fände.  Von 
der  Furcht  unterscheidet  sich  die  Aengstlichkeit  insofern, 
als  die  Erstere  schon  ein  stärkerer  Grad  der  Zweiten  ist  und 
ein  bestimmtes  Object  hat,  von  welchem  sie  erregt  wii'd  oder 
ausgeht,  weshalb  die  Blicke  und  der  ganze  Ausdruck  des  Ge- 
sichts des  Fürchtenden  denen  des  Ekel  oder  Abscheu 
Empfindenden  sehr  ähnlich  sind. 

13)  Der  Schrecken  ist  eine  plötzlich  erregte  Furcht 
und  hat,  nach  seinen  verschiedenen  Graden,  auch  verschiedene 
Bewegungen  der  Augen  zur  Folge;  indem  diese  sich  entweder 
halb  schliessen  oder,  wenn  der  Gegenstand  des  Schreckens  in 
der  Nähe  ist,  sich  auf  denselben  weit  geöffnet  richten.  Bei 
jähem  Schrecken  blickt  das  Auge  stier;  es  scheint  sich  aus 
seinen  Höhlen  drängen  zu  wollen  und  öffnet  sich  weit.  Dieser 
höchste  Grad  des  Schreckens  ist  das  Entsetzen. 

14)  Ueber  den  Gesichtsausdruck  des  Verzweifelnden 
ist  schon  oben  Nr.  15.  mehreres  bemerkt  worden.  Die  Augen 
des  Verzweifelnden  rollen  entweder  wild,  ähnlich  denen  des 
heftig  Zürnenden  oder  Wüthenden,  oder  sie  stehen  starr 
und  wie  leblos,  je  nachdem  der  eine  oder  der  andere  an  der 
angeführten  Stelle  bemerkte  Fall  eintritt.  Auch  richtet  sich  der 
äussere  Ausdruck  nach  dem  Charakter  des  Individuums. 

15)  Abscheu  und  Ekel  (ähnlich  wie  die  Furcht)  drücken 
sich  durch  ein  zusammengezogenes  Auge  aus,  dessen  Blick  sich 
von  dem  verabscheuten  Gegenstande  abwendet.  Auch  die  übrigen 
Gesichtsmuskeln  ziehen  sich  mehr  zusammen  und  verkleinern 
so  das  Auge. 

16)  Der  Ausdruck  des  Auges  bei  Liebe,  Zärtlichkeit 
oder  Sehnsucht  ist  sich  im  Ganzen  sehr  ähnlich,  nur  dass 
bei  der  Sehnsucht,  die  ja  von  einem  ungestillten  Verlangen 
ausgeht,  der  Blick  des  Auges  zwar  sanft  aber  zugleich  matt, 
gleichsam  hinschmachtend  ist.  Liebe  und  Zärtlichkeit 
offenbaren  sich  dagegen  durch  ein  heiter-  und  hellblickendea 
Auge,  durch  einen  seelenvollen  Blick,  der  den  geliebten  Gegen- 
stand gleichsam  durchdringen  zu  wollen  echeint  und  sich,  so  zu 
sagen,  in  ihn  versenkt. 


384  Das  Lesen  und  Declamiren. 

17)  Der  Schmerz  verschleiert  und  trübt  den  Blick  des 
Auges;  es  ist  nur  beim  höchsten  Grade  desselben  ganz  geöffnet, 
bewegt  sich  aber  dann  convulsivisch,  oder  es  schliesst  sich  im 
Gegentheile  auch  ganz,  je  nach  der  Individualität  des  Schmerz 
Empfindenden.  —  Traurigkeit  trübt  ebenfalls  den  Blick;  das 
Auge  senkt  sich  und  erscheint  halbgeschlossen. 

18)  Die  Freude  blickt  heiter  und  lächelnd;  die  Augen 
sind  frei  geöffnet. 

Die  Augenbrauen  geben  dem  ganzen  Gesichte  des 
Menschen  einen  besonders  charakteristischen  Ausdruck,  je  nach- 
dem sie  stark,  buschig,  oder  weniger  stark  sind.  Auch  die 
Form  derselben,  z.  B.  wenn  sie  mehr  oder  weniger  geschweift 
und  gebogen  sind  u.  s.  w. ,  ändert  den  Ausdruck  des  Gesichts 
sehr  wesentlich.  Da  sie  unmittelbar  mit  den  Augen  in  Ver- 
bindung stehen,  so  sind  sie  auch  besonders  geeignet,  den  leiden- 
schaftlichen Ausdruck  derselben  zu  verstärken.  Zorn,  Traurig- 
keit und  Freude  veranlassen  sie  zu  von  einander  verschiedenen 
Bewegungen. 

Vor  allen  andern  Leidenschaften  bewegt  der  Zorn  die 
Augenbrauen  sehr  lebhaft;  sie  ziehen  sich  bei  demselben  stark 
zusammen  und  es  runzelt  sich  zugleich  die  Stirn,  wie  bei 
einem  Ungewitter  der  Himmel  sich  mit  düstern  Wolken  um- 
zieht. Beim  blossen  Unwillen  sind  diese  Zeichen  nicht  so 
stark  ausgeprägt. 

Bei  der  Freude  ebnen  sich  Stirn  und  Augenbrauen; 
bei  der  Traurigkeit,  wo  das  Auge  sich  senkt  und  matt 
blickt,  folgen  sie  der  Richtung  des  Auges,  so  weit  dies  ihrer 
Natur  nach  geschehen  kann. 

Bei  andern  Leidenschaften  sind  die  Bewegungen  der  Augen- 
brauen weniger   charakteristisch    und  kaum  zu  beschreiben. 

Die  Bewegung  der  Augenlider  ist  eine  doppelte:  man 
schlägt  sie  auf  oder  nieder.  So  einfach  aber  und  so  gleich- 
massig  diese  Bew^egungen  sind,  so  haben  sie  dennoch  eine  grosse 
Wirkung.  Der  Bescheidene,  der  sich  Schämende  schlägt 
sie  nieder;  der  Gekränkte,  der  Beleidigte  schlägt  sie,  im 
Gefühle  des  Unmuths  über  das  ihm  wiederfahrene  Unrecht, 
schnell  auf  und  richtet  einen   ernsten,    strafenden  Blick  auf  den 


Das  Losen  und  Dcclamiren.  385 

Beleidiger.  —  Wenn  die  Unschuld  die  Augenlider  erhebt 
und  ihr  seelenvolles,  reines  Auge,  das  nach  oben  blickt,  wie 
um  den  Allwissenden  zum  Zeugen  ihrer  Reinheit  anzurufen, 
aufschlägt,  welch'  eine  Macht  liegt  dann  in  dieser  einfachen 
Bewegung  der  Augenlider! 

Die  Stirn  hat  nur  eine  Bewegung,  das  Kunze  In  der- 
selben im  Zorne  oder  Unwillen,  wie  schon  oben  bemerkt,  und 
es  ist  über  diese  einfache  Bewegung  nichts  weiter  hinzuzu- 
fügen. 

Der  Mund,  weil  er  das  Organ  ist,  durch  welches  sich 
der  Sprechende  Anderen  mittheilt,  ist  in  beständiger  Bewegung, 
und  so  könnte  es  scheinen,  als  wenn  von  seinen  Bewegungen 
hier  gar  nicht  weiter  die  Rede  sein  könnte;  allein  dem  ist  nicht 
so.  Denn  der  Mund  spricht  nicht  nur  Worte  aus,  sondern  er 
begleitet  sie  auch  mit  allerlei  charakteristischen  Bewegungen. 
Er  ist  mit  den  Augen  zusammen  thätig,  um  Lachen  oder  Weinen 
hervorzubringen;  die  Lippen  beben  beim  Zorne;  es  schliesst 
sich  der  Mund  beim  Ingrimme  und  die  zusammengebissenen 
Zähne  knirschen;  er  verzieht  sich  bei'm  Hohne  u.  s.  w.  Das 
Schliessen  des  Mundes  mit  den  auf  ihn  gelegten  Fingern  der 
rechten  Hand  bedeutet  das  Schweigen.  Die  Schadenfreude 
grinst,  d.  i.  sie  verzieht  den  Mund  hämisch  und  zeigt  die 
Zähne.  —  Wie  reizend  erscheint  ein  Mund,  welchen  ein  fireund- 
liches  Lächeln  umspielt! 

Viele  Bewegungen  desselben,  so  charakteristisch  und  wirk- 
sam sie  auch  sind,  lassen  sich  gar  nicht  mit  Worten  beschreiben, 
weil  sie  zu  zart  und  zu  fein  sind  und  zu  schnell  wechseln. 
Lavater  sagt:  „Alles  liegt  im  menschlichen  Munde,  was  in 
dem  menschlichen  Geiste  liegt;  der  Mund  in  seiner  Ruhe  und 
der  Mund  in  seinen  Bewegungen,  welch'  ein  Charakter!" 

Die  Nase  kommt  in  einem  dreifachen  Falle  in  Betracht, 
1)  wenn  es  gilt,  Unmuth  und  Verdruss  auszudrücken;  2)  beim 
Stolze  oder  Dünkel  und  3)  beim  Zorne! 

Beim  Unmuthe  oder  Verdruss  wird  die  Nase,  wie  man 
sagt,  gerümpft.  Dieses  Zucken  der  Nasenflügel  ist  auch 
denen  eigenthümlich,  welche  sich,  wie  man  im  gemeinen  Leben 
sagt,  über  eine  Person  aufhalten  oder  spitze  Bemerkungen  machen. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXVU.  2') 


386  "Das  Lesen  und  Declamiren. 

Allein  der  Grund  zu  dergleichen  Ausfällen  ist  eben  gewöhnlich 
Neid,  Aerger,  Unmuth;  und  so  ist  die  Sache  dieselbe. 

Der  Dünkel,  der  lächerliche  Stolz  drückt  sich  da- 
durch aus,  dass  der  Dünkelhafte  die  Nase  hoch  trägt  und  da- 
bei den  Kopf  zurückwirft,  gleichsam  als  wollte  er  sich  grösser 
machen  als  er  ist.  Die  Sprache  des  gemeinen  Lebens  kennt 
eine  Naseweisheit,  und  diese  ist  eben  solchen  Dünkelhaften 
gewöhnlich  eigen,  nur  dass  sich  dieselbe,  ausser  jenen  äusseren 
Zeichen,  besonders  noch  durch  anmassendes  und  selbstgenüg- 
sames Gebaren  kundgiebt. 

Der  Zornige  bläst  die  Nasenflügel  auf,  und  schnaubt 
heftig.  Die  hebräische  Sprache  hat  sehr  charakteristisch  die 
Nase  und  den  Zorn  durch  ein  und  dasselbe  Wort  bezeichnet. 

Die  Wangen,  die  mit  Nase  und  Mund  so  eng  zusammen- 
hängen, sind  für  den  Declamator  keiner  besonderen  Bewegung 
fähig,  wenn  man  nicht  das  Aufblasen  derselben,  welches  dem 
gemeinen,  dem  lächerlichen  Stolze  eigen  ist ,  in  An- 
schlag bringen  will.  Der  zweifache,  charakteristische  Ausdruck 
aber,  welchen  die  Wangen  besitzen,  das  Erröthen  derselben 
bei  dem  Gefühle  von  Scham  oder  Beschämung,  so  wie  das  Er- 
blassen bei  Schrecken  oder  Furcht  ist  ein  unwillkürlicher 
und  stellt  mithin  dem  Declamator  nicht  zu  Gebote,  eben  so 
wenig  als  er  im  Stande  ist,  das  Haar  zu  sträuben,  was  beim 
Entsetzen  geschieht.  Auch  selbst  dem  Schauspieler  wird  es 
nicht  gelingen,  so  etwas  darzustellen.  —  So  weit  die  Bemer- 
kungen über  Mimik! 

Da  von  jeder  declamatorischen  Darstellung  sowohl  Schön- 
heit als  Wahrheit  gefordert  wird,  so  fragt  es  sich,  welche 
Eigenschaft  überwiegen  müsse.  In  jedem  Falle  steht  die  Wahr- 
heit höher  als  die  Schönheit,  welche  bloss  eine  äussere 
Form  ist,  und  Grazie,  Würde,  Anstand,  kurz  Schönheit  über- 
haupt, sind  nicht  die  Hauptsache,  sind  nicht  der  Hauptzweck 
der  Darstellung.  Sollte  also  durch  das  Streben  nach  Schön- 
heit die  Wahrheit  beeinträchtigt  werden,  so  opfere  man  lieber 
etwas  von  der  Schönheit  auf. 
Allgemeine    recapitulirende    Schlussbemerkungen. 

Der  Declamator  wähle  gleich  bei  seinem  Auftreten  die 
richtige  Stellung  der  Füsse,  wenn  er  frei  steht. 


Das  Lesen  und  Declamiren.  387 

Er  denke  stets  daran,  dass  er  kein  Schauspieler  ist,  und 
bewege  sich  also  nicht  unruhig  hin  und  her. 

In  Ansehung  der  Armbewegungen  vermeide  er  das  Steife 
und  Eckige. 

Er  gewöhne  sich,  beide  Arme  geschickt  zu  gebrauchen 
und  gestikulire  nicht  bloss  mit  der  rechten  oder  der  linken 
Hand  allein. 

Bei  Erzählungs-  und  Lehrtonstücken  gestikulire 
man  nicht  zu  viel,  weil  das  Ganze  gehaltener,  gemässigter  ist, 
als  wenn  man  leidenschaftliche  Aufregungen  darzustellen  hat. 

Man  erhebe  die  Hände  nicht  über  den  Kopf,  schliesse  aber 
auch  nicht  den  Oberarm  fest  an  den  Körper  an. 

Niemand  declamire  ein  Stück,  wenn  er  es  nicht  vorher 
durchstudirt  und  überlegt  hat,  welche  Modulationen  der  Stimme, 
welche  Gestus  u.  s.  w.  er  an  den  einzelnen  Stellen  anwenden 
müsse.  —  (Das    genauste  Memoriren    versteht  sich  von  selbst.) 

Man  male  den  Ausdruck  nicht  zur  Caricatur  aus!  Man 
übertreibe  nicht  in  Miene,  Stimme  und  Geberden! 

Man  hüte  sich,  den  Ausdruck  der  Natur,  wie  man  ihn  an 
lebenden  Mustern  studirt  hat,  nicht  gar  zu  natürlich,  d.  i.  zu 
roh,  darzustellen. 

Beim  Vortreten,  was  mit  Anstand  geschehen  muss,  hat 
man,  ehe  man  beginnt,  erst  den  Namen  des  zu  declamirenden 
Stückes  und  seines  Verfassers  zu  nennen,  z.  B.  „Die  Glocke. 
Von  Schiller,"  damit  sich  die  Zuhörer  auf  das  vorbereiten 
können,  was  sie  zu  hören  bekommen  sollen. 

Die  Declamation  ist,  wie  gewiss  Alle  zugestehen,  eine 
Kunst.  Wer  eine  Kunst  lehren  will,  unterrichtet  seine  Schüler 
zuerst  in  den  Anfangsgründen  derselben,  um  eine  feste  Grund- 
lage zu  gewinnen,  auf  welcher  er  fortbauen  kann.  Der  Schüler 
muss  also  vom  Einfachen  und  Leichten  zum  Zusammengesetzten 
und  Schweren  fortschreiten.  Der  Zeichenunterricht  beginnt  mit 
einfachen  Strichen,  der  Unterricht  in  der  Musik  mit  der  Kennt- 
niss  der  Noten,  der  Scala  u.  s.  w.  Ein  ähnhches  Verfahren 
muss  bei  dem  Declamationsunterrichte  stattfinden.  Wollte  man 
auf  einmal  den  Schüler  mit  allen  Regeln  der  Kunst  der  Reihe 
nach  gleichsam  überschütten,    so  würde  man  ihn  nur  verwirren 

2b* 


388  Das  Lesen  und  Declamiren. 

und  er  würde  keine  einzige  gut  anwenden  lernen.     Es    ist  also 
ein  propädeutischer  Unterricht  nöthig. 

Nach  noeiner  Ansicht  muss  dieser  vorbereitende,  vorübende 
Unterricht  in  der  Declamation  schon  beginnen,  während  die 
Kinder  lesen  lernen,  indem  der  Lehrer  zunächst  auf  die  richtige 
Aussprache  der  Buchstabenlaute  hält  und  alle  Fehler  bei  seinen 
Leseschülern  zu  verbannen  sich  bemüht,  welche  ich  p.  22,  §.  2. 
in  meinem  Leitfaden  in  dieser  Hinsicht  kurz  bemerkt  habe. 
Denn  ein  richtiges  Aussprechen  der  Sylben  und  Wörter  ist 
das  Fundament  einer  guten  Declamation.  Daher  muss  freilich 
der  Lehrer  selbst  sich  zuvor  solche  Fehler  abgewöhnt  haben 
und  z.  B.  eu,    ei,   äu,    t  und  d   u.  s.  w.    unterscheiden   können. 

Sobald  dann  die  Schüler  grössere  Fertigkeit  im  Lesen  er- 
langt haben,  müssen  sie  gewöhnt  werden,  die  Interpunktions- 
zeichen, d.  h.  die  Lesepausen,  gehörig  zu  halten.  Ist  dies  er- 
reicht, so  muss  der  Unterschied  der  Stimmmodulation  bei  Comma, 
Semicolon,  Punkt  u.  s.  \v.  gelehrt  werden.  Ist  hierin  ebenfalls 
die  nöthige  Fertigkeit  erlangt,  so  folge  eine  Belehrung  über  die 
Satztonwörter  nach  Anleitung  des  §.  8  ff.  p.  40  ff.  —  Dieses 
Kapitel  bietet  dem  Lehrer,  da  er  es  jetzt  schon  mit  vorge- 
rückteren Schülern  zu  thun  hat,  zugleich  einen  guten  und  sehr 
reichhaltigen  Stoff  zu  Denkübungen,  indem  er  seine  Schüler 
in  den  einzelnen  Sätzen  die  Tonwörter  selbst  aufsuchen  lässt 
und  sie  auffordert,  die  Gründe  anzugeben,  warum  gerade  dieses 
oder  jenes ,  aber  nicht  ein  anderes  Wort  den  Satzton  haben 
müsse. 

Während  die  vorhergehenden  Uebungen  fast  ausschliesslich 
mehr  mechanischer  Art  waren,  treten  hier  die  Schüler  schon 
in  ein  höheres  Gebiet  ein.  Successive  gehe  man  dann  zu  der 
richtigen  Betonung  der  einzelnen  Sätze  über  nach  den  Regeln, 
welche  in  den  §§.  13  —  19  gegeben  sind. 

Alles  dieses  kann  indess  geschehen,  ohne  dass  der  Lehrer 
noch  bei  seinem  Unterrichte  das  Lehrbuch  den  Schülern  in  die 
Hände  zu  geben  nöthig  hätte;  nur  er  selbst  muss  mit  dessen 
Inhalte  genau  vertraut  sein. 

Erst  nach  allen  diesen  mannigfaltigen  Vorübungen  trete 
dann  in  der  obersten  Klasse  einer  Mittelschule,    oder  an  einem 


Das  Lesen  und  Deolamiren.  3?9 

Gymnasium  in  Secunda  oder  auch  in  Tertia,  wenn  ihr  Stand- 
punkt es  zulässt,  der  scicntifisch  gestaltete,  vollständige  Declama- 
tionsunterricht  nach  dem  Leitfaden  ein,  da  auf  dieser  Alters- 
und ünterrichtsstufe  die  Schüler  befähig  sind,  genauer  und  tiefer 
in  die  Sachen  einzugehen.  Das  Lehrbuch  ist  zwar,  wie  sein 
Titel  besagt,  zunächst  für  die  obern  Klassen  der  Gelehrten- 
schulen und  höheren  Unterrichtsanstaltcn  bestimmt;  allein  es 
kann  allen  Lehrern  dienen  und  selbst  in  der  obersten  Klasse 
einer  Mittelschule  gebraucht  werden,  wenn  das  weggelassen 
wird,  was  der  Lehrer  für  «einen  Cötus  nicht  ganz  für  passend 
hält.  Vornehmlich  aber,  ich  wiederhole  es,  wird  es  allen  Lehrern 
von  Nutzen  sein,  welche  Declamationsunterricht  zu  ertheilen 
haben,  um  selbst  eine  sichere  Grundlage  für  denselben  zu  ge- 
winnen. Der  zweite  Theil  eignet  sich  vorzugsweise  für  höhere 
Schulanstalten,  da  nur  gereiftere  junge  Leute  im  Stande  sein 
dürften,  davon  eine  nützliche  Anwendung  zu  machen. 

Aus  den  obigen  Andeutungen  über  die  beim  Declamations- 
unterrichte  anzuwendende  Methode  ergiebt  sich  übrigens  von 
selbst,  dass  alle  Lehrer  einer  Anstalt,  wie  in  allen  andern 
Unterrichtszweigen,  sich  gegenseitig  in  die  Hände  ar- 
beiten und  mit  einander  einverstanden  sein  müssen,  wenn 
sie  ein  einigermassen  günstiges  Eesultatat  erzielen  wollen. 

Im  Allgemeinen  möchte  ich  noch  wünschen,  dass  man 
kleinere  Schüler  nicht  öffentlich  auftreten  Hesse,  um  ein 
kürzeres  oder  längeres  Stück  zu  declamiren,  da  sie  noch  nicht 
den  gehörigen  Verstand  dazu  haben  und  gewöhnlich  nur  mit 
grösster  Hast  eilen,  mit  ihrer  Aufgabe  zu  Ende  zu  kommen 
und  vor  einer  Versammlung  ihre  Sache  noch  weit  schlechter 
machen  als  in  der  Classe  vor  dem  Lehrer.  Sie  haben,  wenn 
sie  auftreten,  in  der  Regel  Alles  wieder  vergessen,  was  ihnen 
der  Lehrer  mühsain  eingeprägt  hatte.  —  Es  kommt  noch 
ausserdem  der  Umstand  hinzu,  dass  man  sie  zu  Hause  häufig 
das  Stück  hersagen  lässt,  welches  sie  declamiren  sollen,  damit 
sie  nicht  stecken  bleiben,  was  an  und  für  sich  allerdings  eine 
sehr  lobenswerthc  Nachhülfe  sein  würde,  wenn  die  die  Kinder 
L'eberhörenden  stets  Solche  wären ,  die  etwas  von  der  Decla- 
mation  verstehen.     Allein    dies  ist   eben  nicht  oft  der  Fall,  und 


390  Das  Lesen  und  Declamiren. 

80  hat  denn  der  Lehrer  gewöhnlich  sich  ganz  umsonst  abge- 
müht und  das  Stück  wird  höchst  fehlerhaft  declamirt.  Erwachsene 
Schüler  dagegen  üben  sich  selbst  ihre  vorzutragenden  Stücke 
ein  und  so  fällt  dieser  Uebelstand  bei  ihnen  weg. 

Hildesheim. 

Eector  Dr.  Schroeder. 


Sir  John    Maundevylle. 

Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  englischen  Literatur  und  Sprache. 


Wie  Chaucer  als  der  Vater  der  englischen  Poesie  be- 
zeichnet worden  ist,  so  kann  man  Sir  John  Maundevylle  den 
Vater  der  englischen  Prosa  nennen.  Er  verdient  diesen  Namen 
nicht  sowohl  wegen  der  grossen  Popularität,  die  er  als  Verfasser 
seiner  Reisebeschreibung  besass,  als,  weil  er  der  Erste  war,  der 
sich  des  durch  Mischung  des  Normannischen  und  Angelsächsi- 
schen neugebildeten  Idioms  mit  grosser  Klarheit  und  Einfach- 
heit in  ungebundener  Rede  zu  bedienen  wusste.  Deshalb  haben 
seine  Reisen  vor  Allem  ein  sprachliches  Interesse,  und  von 
diesem  Gesichtspunkte  beabsichtigen  wir  In  den  folgenden  Seiten 
dieselben  in's  Auge  zu  fassen,  indem  wir  aus  dem  Gebiete  der 
Formenlehre  nur  diejenigen  Punkte  hervorheben,  worin  dieselbe 
von  der  heutigen  Sprache  abweicht  und  dann  ein  Glossar  der 
jetzt  veralteten  AVörter  folgen  lassen.  Vorher  wollen  wir  aber 
einige  kurze  Mittheilungen  über  des  Verfassers  Leben  machen, 
soweit  es  uns  aus  seinem  Buche  bekannt  ist,  ferner  über  die 
Ausdehnung  und  das  Ziel  seiner  Reise  und  endlich  über  die 
Verbreitung,  welche  die  Reisebeschreibung  fand. 

John  Maundevylle  war  geboren  In  St.  Albans.  Schon  in 
seiner  Jugend  erweckten  die  Erzählungen  eines  Reisenden,  der 
die  ganze  Welt  umsegelt  hatte ,  in  Ihm  die  Lust  ferne  Länder 
zu  sehen  und,  wo  möglich,  seine  Reisen  ebensoweit  auszudehnen. 
Er  legte  sich  deshalb  mit  besonderer  Vorliebe  auf  das  Studium 
der  Arznei-  und  Sternkunde  und  trat  Im  Jahre  1322  seine  Wan- 
derschaft an.     Zunächst  begab  er  sich  über  Constantinopel  nach 


392  Sir    Jülin   Maundevylle. 

Aegypten,  wo  er  im  Dienste  des  Sultan  Melek  Madaron  län- 
gere Zelt  als  Soldat  gegen  die  Beduinen  kämpfte  (S.  35.  der 
HalliweH'schen  Ausg.).  Durch  seine  Tapferkeit  oder  Kennt- 
nisse scheint  er  sich  die  Zuneigung  des  Sultans  erworben  zu 
haben,  so  dass  dieser  ihm  die  glänzendsten  Anerbietungen 
machte ,  wenn  er  ferner  an  seinem  Hofe  bleiben  und  seinen 
Glauben  abschwören  wollte.  Obgleich  ihm  sogar  die  Hand 
einer  Prinzessin  angeboten  vA'urde,  so  war  er  doch  ein  zu  guter 
Christ,  als  dass  er  auf  solche  Vorschläge  eingegangen  wäre. 
Er  verliess  deshalb  den  Hof  seines  Gönners  und  begab  sich 
nach  Palästina,  wo  ihm,  wie  überall  im  Reiche  des  Sultans, 
Briefe  des  Herrschers  und  sein  grosses  Siegel  bereitwillige  Auf- 
nahme in  allen  Städten  und  Zutritt  zu  allem  Sehenswürdigen 
verschafften  (S.  82).  Dort  kam  er  vielfach  mit  Reisenden  aus 
dem  Innern  Asiens  in  Berührung,  welche  in  flandelsangelegen- 
heiten  die  Häfen  des  mittelländischen  Meeres  besuchten.  Ihre 
Schilderungen  von  dem  Reichthume  und  den  Kostbarkeiten  jener 
Länder  erweckten  in  ihm  den  Wunsch,  weiter  nach  Osten  vor- 
zudringen und  das  Land  des  Chan  von  Cathay  zu  sehen.  Die- 
sem mächtigen  Beherrscher  des  grossen  Tartarenreiches  diente 
er  nebst  seinen  vier  Begleitern  wieder  15  Monate  lang  als  Sol- 
dat in  einem  Kriege  gegen  den  König  von  Mancy,  Aveil,  wie  er 
S.  220.  selbst  sagt,  er  auf  diese  Weise  sich  am  besten  mit  dem 
Leben  am  fürstlichen  Hofe  und  der  Regierung  des  Landes  habe 
bekannt  machen  können.  Beobachtungen  am  Astrolabium  über- 
zeugten ihn,  dass  er  die  eine  Halbkugel  der  Erde  ganz,  von 
der  andern  mehr  als  die  Hälfte  gesehen  habe,  und  „gern,"-  sagt 
er,  „hätten  wir  die  ganze  Erde  umfvhren,  hätten  wir  Schiffe 
und  Gesellschaft  gefunden,  um  weiter  zu  gehen."  Er  knüpft 
hieran  Bemerkungen  über  die  Kugelgestalt  der  Erde,  wobei  es 
ihm  übrigens  schwer  wird,  eine  genügende  Erklärung  für  den 
Umstand  zu  finden,  dass  unsere  Antipoden  nicht  von  der  Erde 
in  den  Himmel  fallen  (S.  184).  Nach  seiner  Rückkehr  nahm 
seine  Kränklichkeit,  welche  ihn  vielleicht  zum  Theil  mit  an  der 
Weiterreise  verhindert  hatte,  zu  und  er  beschrieb  im  Jahre  1356, 
34  Jahre  nach  der  Abreise,  seine  Wanderungen.  Am  Schlüsse 
der  Einleitung  (The  Prologue,  S.  5)  und  am  Ende  des  Werks 
(S.  314  ff.)  erzählt  er ,  er  habe  das  Buch  zuerst  in  lateinischer 


Sir  JoLn  Maundevylle.  393 

Sprache  geschrieben ,  *)  um  es  dem  Papste  in  Rom  vorzulegen, 
und  dann  habe  er  es  in  das  Französische  und  Englische  über- 
setzt, damit  jeder  seiner  Landsleute  es  verstehen  könne.  Maun- 
devylle starb  am  7.  Februar  1372  in  Lüttich,  wo  er  auch  be- 
graben liegt.  **) 

Wenn  wir  nun  den  Inhalt  der  Reisebeschreibung  näher  ins 
Auge  fassen,  so  erklärt  sich  leicht  das  grosse  Interesse,  mit 
welchem  dieselbe  im  Mittelalter  gelesen  wurde.  Die  Geschichte 
und  die  Thaten  Alexanders  des  Grossen,  der  mit  seinem  sieg- 
reichen Schwerte  sich  einen  Weg  in  die  bis  dahin  unbekannten 
Länder  des  Ostens  gebahnt  und  so  den  Innern  und  äussern  Ge- 
sichtskreis erweitert  hatte,  wurde  im  zwölften  und  dreizehnten 
Jahrhundert  der  Gegenstand  zahlreicher  Dichtungen.  Er,  der 
in  seiner  unersättlichen  Eroberungf^^lust  selbst  das  Paradies  für 
sich  zu  gewinnen  trachtete,  wurde  der  Held  und  Mittelpunkt 
eines  neuen  Kreises  von  Sagen,  die  sich  in  verschiedenen 
Sprachen  über  die  Welt  verbreiteten.  Sein  Zug  durch  Indien 
wurde  auf  das  Seltsamste  mit  allerhand  Fabeln  und  Lingeheuer- 


*J  Direktor  Schönborn  hat  in  einem  Breslauer  Programme  vom  Jahre 
1840,  betitelt:  „Biblioj,'rapliische  Untersuchungen  über  die  Reisebeschreibung 
des  Sir  J.  Maundevile"  die  Vermuthung  aufgestellt,  dass  jene  Stelle  (p. 
314  f.),  die  sich  nur  in  dein  abgedruckten  Codex  der  Cotton'schen  Biblio- 
thek findet,  wahrscheinlich  unächt  sei,  und  dass  weder  die  am  meisten  ver- 
breitete gedruckte  lateinische  Rei«ebeschreibung  (bei  Halliwell  mit  L.  3  be- 
zeichnet», noch  die  in  England  vorhandenen  lateinischen  Hamlschriften  von 
Maundevylle  selbst  herrühren,  sondern  erst  spätere,  von  anderen  Verfassern 
gefertigte  Bearbeitungen  des  französischen  oder  englischen  Originalwerkes 
seien.  Die  Behauptung,  dass  sämmtliche  lateinische  Bearbeitungen  von 
Anderen  herrühren,  Hess  sich  indess  kaum  mit  Bestimmtheit  aufstellen,  da 
dieselben  nicht  zum  Vergleiche  vorlagen;  dass  aber  die  oben  erwähnte  ge- 
druckte lateinische  Reisebeschreibung  nicht  von  Maumlevylle  selbst  verfasst 
sein  kann,  hat  Schönborn  durch  einen  sorgfältigen  Vergleich  dieses  Werks 
mit  der  englischen  Bearbeitung  mit  überzeugendem  Scharfsinne  nachge- 
wiesen. 

**)  Ueber  sein  Grab  zu  Lüttich  und  die  Grabschrift  vgl.  Pütrich  in 
Haupt's  Zeitschrift  G.  5G.  Die  Grabschrift  lautet :  llic  iacet  Nobilis  Dominus 
Joannes  de  Monteuilla  Miles,  alias  dictu.«,  ad  Barbam  Dominus  de  Compredri 
natus  de  Anglia  medicinae  professor  et  devotissinms  orator  et  bonorum  Suo- 
rum  largissimus  pauperibus  erogator  qui  totum  orbem  peragravit  in  Stratu 
Leodij  diem  vitae  Suae  clausit  extremum  Anno  Dni  Millesimo  Trecentesimo 
Septuagesimo  Secundo  mensis  Februarij  Septimo. 


394  Sil"   John    Maundevylle. 

lichkeiten  ausgeschmückt;  die  Erzählungen  des  Strabo,  Ctesias 
und  Plinius  von  den  Ameisen,  so  gross  wie  Füchse,  die  Gold 
graben,  von  den  Pygmäen,  von  den  Quellen,  welche  flüssiges 
Gold  ausströmen  lassen  u.  s.  w.  erschienen  ebenfalls  als  pas- 
sende Stoffe,  um  in  das  Gewand  der  Poesie  gekleidet  zu  werden ; 
die  Beschreibung  des  Paradieses  im  fernen  Indien  auf  einem 
Berge  von  Diamanten,  der  hinaufreicht  bis  zum  Monde,  von 
dem  düstern  Höllenthale,  wo  der  Teufel  in  der  Gestalt  eines 
greulichen  Hauptes  unter  Donner  und  Blitz  schwebt,  von  den 
22  Königen,  die  Alexander  zwischen  zwei  Bergen  einschloss, 
von  dem  goldenen  Baume  mit  den  künstlichen  Singvögeln,  dem 
Vogel  Phönix,  den  Riesen,  den  Zwergen,  den  Greifen,  den  Ama- 
zonen —  alle  diese  Mythen,  Fabeln,  Abenteuer  und  Legenden 
finden  sich  in  dem  Romane  mit  den  Heldenthaten  Alexanders 
verflochten  und  mussten  die  Phantasie  der  Leser  um  so  mehr 
fesseln,  als  sich  seit  den  Kreuzzügen  die  allgemeine  Aufmerk- 
samkeit ganz  besonders  auf  den  fernen  Osten  gerichtet  hatte. 
Indem  nun  Maundevylle  diese  Wunder  in  seine  Reisebeschrei- 
bung aufnahm  und  erwähnte,  dass  er  sie  zum  Theil  selbst  ge- 
sehen und  erlebt ,  zum  Theil  von  Andern  vernommen  habe^  *) 
gab  er  den  flüchtigen  Träumen  der  Phantasie  gewissermassen 
einen  realen  Boden  und  machte  sich  zum  lebendigen  Zeugniss 
für  viele  dieser  Fabeln.  Dass  unser  Autor  dabei  die  Absicht 
gehabt  habe,  mit  der  Leichtgläubigkeit  seiner  Leser  Missbrauch 
zu  treiben,  darf  uns  nicht  in  den  Sinn  kommen.  Ohne  Zweifel 
schenkte  er  jenen  wunderbaren  weltlichen  Sagen  ebenso  bereit- 
willig Glauben,  wie  er  als  eifriger  Katholik  die  seltsamsten  Le- 
genden und  heiligen  Sagen  für  wahr  hielt.  Die  Beschuldigung, 
Maundevylle  sei  ein  grosser  Aufschneider  und  Lügner  gewesen, 
muss  deshalb  als  ungegründet  zurückgewiesen  werden.  Diese 
konnte  erst  in  späterer  Zeit  gegen  ihn  erhoben  werden,  als  der 
Verstand  mehr  zur  Herrschaft  gelangte,  als  die  Mythe  ihre  Be- 
deutung verlor,  und  die  Religion  die  Beimischung  heidnischer 
Wunder  nicht  mehr  duldete. 


*)  And  amonges  alle,  I  schewed  hym  [the  Pope]  this  Tretys,  that  I  had 
made  aftre  informacion  of  men ,  that  knewen  of  thinges,  that  I  had  not  seen 
my  seif;  and   also   of  Marveyles  and  Customes,  that  I  hadde  seen  my  seif. 


Sir  John   Maundevylle.  395 

Eine  andere  Quelle,  aus  welcher  Maundevylle  schöpfte,  war 
die  Reisebeschreibung  Marco  Polo's,  welcher  ein  halbes  Jahr- 
hundert früher  fast  dieselben  Gegenden  durchreist  hatte.  Es 
unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  das  Werk  dieses  Reisenden  un- 
serm  Autor  bei  Abfassung  seiner  Beschreibung  vorlag,  denn  in 
vielen  Schilderungeu  und  P>zählungen  findet  sich  eine  fast 
wörtliche  Uebereinstimmung.  Hierher  gehört  die  Erzählung 
von  dem  Alten,  welcher  ein  „Paradies"  auf  einem  Berge  an- 
legte, in  welches  er  Fremde  lockte,  um  sie  zu  Meuchelmördern 
zu  machen;  ferner  die  Schilderung  des  Grabes  des  heiligen  Tho- 
mas, die  Berichte  über  die  Sitten  der  Tartaren  und  den  Hof 
des  grossen  Chan,  an  dem  sich  Marco  Polo  ebenfalls  lange  Zeit 
aufgehalten  hatte,  u.  a.  m.*) 

Viele  Parthien  des  Buches  lassen  sich  nun  aber  auf  keinen 
fremden  Ursprung  zurückführen,  sondern  gründen  sich  auf  des 
Verfassers  eigene  Erfahrungen  und  Erlebnisse.  Er  erwähnt  z. 
B.  den  Bau  des  Pfeffers,  die  Verbrennung  der  Wittwen  auf 
dem  Scheiterhaufen  ihrer  Männer,  die  Bäume  mit  Wolle,  die 
zur  Kleidung  benutzt  wird,  die  Brieftauben,  die  Gymnosophisten, 
die  Vorliebe  der  Ciiinesen  für  kleine  Füsse,  die  verschiedenen 
Arten  der  Diamanten ,  die  künstliche  Ausbrütung  der  Eier  in 
Aegypten,  den  Balsamhandel,  das  Krokodil,  die  Giraffe,  die 
Klapperschlange,  die  Papageyen,  den  Baumwollenstrauch  u.  A. 
Mit  grosser  Ausführlichkeit  schildert  er  die  Sitten  und  Ge- 
wohnheiten der  Tartaren  und  die  Pracht,  welche  am  Hofe  ihres 
Fürsten,  des  mächtigen  Chan  von  Cathay,  herrschte. 

Als  Probe  lassen  wir  hier  die  aus  den  Mährchen  von  1001 
Nacht  bekannte  Erzählung  von  dem  Bündel  Pfeile  folgen,  wel- 
ches der  erste  Chan,  der  Gründer  des  Reiches,  seinen  12  Söhnen 
zum  Zerbrechen  vorlegte,  woran  er  dann  die  Ermahnung  knüpfte, 
dass  nur  die  Eintracht  sie  stark  machen  könne. 

„And  whan  he  feite  wel,  that  he  scheide  dye,  he  seyde  to 


*)  Görres,  „die  teutschen  Volksbücher"  erwähnt  in  dem  zehnten  Ab- 
schnitte, der  unsern  Autor  zum  Gegenstande  hat,  ein  Werk  „De  Tartaris 
Liber"  von  Hayton,  aus  denen  MaundeviUe  mehrere  historische,  auf  das  Tar- 
tarenreich  bezügliche  Begebenheiten,  so  wie  die  Entthronung  des  Chalifea 
von  Baldak  (Bagdad)  und  seinen  Hungertod,  und  die  Geschlechtsfolge  der 
Sultane  von  Aegypten,  entlehnt  habe. 


396  Sir  John  MaundevyUe. 

his  12  Sones,  fhat  everyche  of  hem  scholde  brynge  him  on  of 
his  Arewes;  and  so  thei  diden  anon.  And  thanne  he  coman- 
ded,  that  raen  scholde  bynden  hem  to  gedre,  in  3  places ;  and 
than  he  toke  hem  to  his  eldest  Sone,  and  bad  him  breke  hem 
alle  to  gedre.  And  he  enforeed  hem  with  alle  his  myght  to 
breken  hem:  but  he  ne  myghte  not.  And  than  the  Chane  bad 
his  seconde  sone  to  breke  hem;  and  so  schortly  to  alle,  eche 
aftre  other:  but  non  of  him  myght  breke  hem.  And  than  he 
bad  the  zongest*)  Sone  dissevere  everyche  from  other,  and 
breken  everyche  be  him  seif:  and  so  he  dide.  And  than  seyde 
the  Chane  to  his  eldest  Sone,  and  to  alle  the  othere  ,  wherfore 
myght  zee  not  breke  hem?  And  thei  answeredcn,  that  thei 
myght  not,  be  cause  that  thei  weren  bounden  to  gydre.  And 
vt'herfore,  quothe  he,  hathe  zoure  litylle  zongest  Brother  broken 
hem?  Because,  quothe  thei,  that  thei  weren  departed  eche  from 
other.  And  thanne  seyde  the  Chane,  My  Sones,  quoth  he, 
treuly  thus  wil  it  faren  be  zou.  For  als  longe  as  zee  ben 
bounden  to  gedere,  in  3  places,  that  is  to  seyne,  in  Love,  in 
Trouthe  and  in  gode  Accord,  no  man  schalle  ben  of  powere  to 
greve  zöu :  but  and  zee  ben  dissevered  fro  theise  3  places,  that 
zoure  on  helpe  not  zoure  other,  zee  schulle  be  destroyed  and 
brought  to  nought:  and  zif  eche  of  zou  love  other,  and  helpe 
othere,  zee  schulle  be  Lordes  and  Sovereynes  of  alle  othere. 
And  whan  he  hadde  made  his  Ordynances,  he  dyed." 

Der  noch  jetzt  herrschende  Aberglaube,  dass  das  Begegnen 
gewisser  Thiere  von  guter  oder  böser  Vorbedeutung  sei,  war 
schon  damals  verbreitet,  wie  aus  folgender  Stelle  hervorgeht: 

„And  there  ben  also  sum  Cristene  men,  that  seyn,  that 
sume  Bestes  han  gode  meetynge,  that  is  to  seye,  for  to  meete 
with  hem  first  at  morwe;  and  sume  Bestes  wykked  meetynge: 
and  that  thei  han  preved  ofte  tyme,  that  the  Hare  hathe  fülle 
evylle  meetynge,  and  Swyn,  and  many  othere  Bestes.  And  the 
Sparhauk   and   other  Foules  of  Raveyne,  whan  thei  fleen  aftre 


*)  Statt  zongest,  zee,  zou,  zif  etc.  steht  in  der  diesem  Texte  zu  Grunde 
liegenden  Handschrift  3ongest,  3ee,  30U,  3if  Der  Bequemlichkeit  wegen 
haben  wir  es  vorgezogen,  diese  von  Halliwell  gemachte  Vertauschung  beizu- 


Sir   John  Maundevylle.  397 

here  praye,  and  take  it  before  men  of  Armes,  it  is  a  gode  Signe: 
and  zif  he  fayle  of  takynge  his  praye,  it  is  an  evylle  sygne. 
And   also  to  suche  folk,  it  is  an  evylle  meetynge  of  Ravenes." 

Aethiopien  beschreibt  er  folgender  Massen: 

„Ethiope  is  departed  in  2  princypalle  parties;  and  that  is, 
in  the  Est  partie  and  in  the  Meridionelle  partie:  the  whiche 
partie  meridioiielle  is  clept  Moretane.  And  the  folk  of  that 
Contree  ben  blake  y  now,  and  more  blake  than  in  the  tother 
partie;  and  thei  ben  clept  Mowres.  In  that  partie  is  a  Welle, 
that  in  the  day  is  so  cold,  that  no  man  may  drynke  there  offe; 
and  in  the  nyght  it  is  so  hoot,  that  no  man  may  suffre  his  hond 
there  in.  And  bezonde  that  partie,  toward  the  Southe,  to  passe 
by  the  See  Occean,  is  a  gret  Lond  and  a  gret  Contrey:  but 
men  may  not  duelle  there,  for  the  fervent  brennynge  of  the 
Sonne;  so  is  it  passynge  hoot  in  that  Contrey.  In  Ethiope 
alle  the  Ryveres  and  alle  the  Watres  ben  trouble,  and  thei  ben 
somdelle  sähe,  for  the  gret  hete  that  is  there.  And  the  folk 
of  that  Contree  been  lyghtly  dronken,  and  han  but  litille  appe- 
tyt  to  mete:  And  thei  han  comounly  the  FIux  of  the  Wonibe: 
and  thei  lyven  not  longe.  In  Ethiope  ben  many  dyverse  folk: 
and  Ethiope  is  clept  Cusis.  In  that  Contree  ben  folk,  that  han 
but  o  foot:  and  thei  gon  so  fast,  that  it  is  marvaylle:  and  the 
foot  is  so  large,  that  it  schadewethe  alle  the  Body  azen  the 
Sonne,  whanne  thei  wole  lye  and  reste  hem.*)  In  Ethiope, 
whan  the  Children  ben  zonge  and  lytille,  thei  ben  alle  zelowe: 
and  whan  that  thei  wexen  of  Age,  that  zelownesse  turnethe  to 
ben  alle  blak.  In  Ethiope  is  the  Cytee  of  Saba ;  and  the  Lond, 
of  the  whiche  on  of  the  3  Kynges ,  that  presented  oure  Lord 
in  Bethleem,  was  kyng  offe." 

Die  Fabel  von  der  Entstehung  der  Rosen  endlich  erzählt 
er  S.  6i): 

„And  betweene  the  Cytee  (of  Bethelem)  and  the  Chirche  is 
the  Felde  Ploridus;  that  is  to  seyne,  the  Feld  florisched:  For 
als  moche  as  a  fayre  Mayden  was  blamed  with  wrong,  and 
sclaundred,  that  sehe  hadde  don  Fornycacioun ;  for  whiche  cause 


*)  Vgl.  PHn.    Hist.   Nat.   VII.    2.    16,  der  diese    fabelhaften  Monosceli 
Oilor  Sciopodes  auch  erwähnt. 


398  Sir  John  Maundevylle. 

sehe  was  demed  to  the  üethe,  and  to  be  brent  in  that  place,  to 
the  whiche  sehe  was  ladd.  And  as  the  Fyre  began  to  brenne 
aboute  hire,  sehe  made  hire  Preyeres  to  oure  Lord,  that  als 
wissely  as  sehe  was  not  gylty  of  that  Synne,  that  he  wold  helpe 
hire,  and  make  it  to  be  knowen  to  alle  men,  of  his  mercyfuUe 
graee.  And  whan  sehe  hadde  thus  seyd,  sehe  entred  in  to  the 
Fuyer;  and  anon  was  the  Fuyr  quenehed  and  oute:  and  the 
Brondes  that  were  brennynge,  becoinen  rede  ßoseres ;  and  the 
Brondes  that  weren  not  kyndled,  becomen  white  Roseres,  fülle 
of  Roses.  And  theise  weren  the  first  Roseres  and  Roses,  bothe 
white  and  rede,  that  evere  ony  Man  saughe.  And  thus  was 
this  Mayden  saved  be  the  Grace  of  God.  And  therfore  is  that 
Feld  clept  the  Feld  of  God  florysscht:  for  it  was  fülle  of 
Roses." 

Den  schlagendsten  Bew^els  für  die  grosse  Verbreitung, 
welche  das  Werk  Maundevylle's  im  14.  und  15.  Jahrhundert 
fand,  liefert  die  grosse  Menge  von  Handschriften  und  gedruckten 
Ausgaben  in  englischer,  französischer,  lateinischer  und  italieni- 
scher Sprache.  Die  grosse  Mehrzahl  derselben  befindet  sich  in 
England.  Der  neueste  Herausgeber  Plalliwell,*)  dessen  Ausgabe, 
der  Abdruck  eines  Manuskriptes  in  der  Cotton'schen  Bibliothek 
(Tit.  C.  XVI.)  dieser  Abhandlung  zu  Grunde  liegt,  zählt  in 
der  Einleitung  19  Handschriften  dieses  Werks  auf,  die  sich  in 
der  Bibliothek  des  Brit.  Museums  befinden  und  22  der  Samm- 
lung eines  englischen  Edelmannes  angehörige.  Er  fügt  hinzu, 
dass  in  den  Bibliotheken  von  Oxford  und  Cambridge  und  in 
fast  jeder  Sammlung  noch  zahlreiche  Exemplare  existiren,  und 
dass  mit  Ausnahme  der  heil.  Schrift  von  keinem  Werke  so 
viele  Abschriften  aus  dem  Ende  des  14.  und  dem  Anfange  des 
15.  Jahrhunderts  zu  finden  seien.  Natürlich  haben  dieselben 
grössern  oder  geringern  Werth,  weil  sich  die  üebersetzer  jede 
Art  von  Misshandlung  und  Verstümmelung,  Auslassungen,  Zu- 
sätze und  Umstelluno;en  erlaubten  und  namentlich  mit  den  ihnen 


*)  The  Voiage  and  Travaile  of  Sir  John  Maundevile,  Kt.  which  treateth 
of  the  way  to  Hierusalem;  and  of  Marvayles  of  Inde,  with  other  Ilands  ana 
Countryes.  Reprinted  from  the  Edition  of  A.  D.  1725,  with  an  Introduction, 
Additional  Notes,  and  Glossary  by  J.  O.  Halliwell,  Esq.  London,  published 
by  E.  Lumley  1839. 


Sir  John  Maundevylle.  399 

unbekannten  geographischen  Namen  so  gewissenlos  verfuhren, 
dass  aus  ihrer  verkrüppeUen  Gestalt  kaum  das  Richtige  heraus- 
zufinden ist.  In  das  Deutsche  wurde  Maundevylle  übersetzt 
von  Michel  Felser,  zu  Augsburg  1481  und  1482  gedruckt,  und 
von  Otto  von  Diemeringen,  Domherrn  zu  Metz,  gedruckt  zu 
Strassburg  1484,  1489  und  öfter.  Es  fand  das  Werk  auch 
bei  uns  eine  so  grosse  Verbreitung,  dass  es  in  die  unter  dem 
Titel  „Bewehrtes  Reyssbuch  des  Heiligen  Landes,  Nürnberg 
1659"  mehrmals  abgedruckte  Sammlung  aufgenommen  und  als 
wirkliches  Volksbuch  in  Separat- Abdrücken  sogar  auf  Jahr- 
märkten verkauft  wurde. 


I.    Formenlehre. 

1.  Das   Substantiv. 

Pluralbildung.  Das  Zeichen  des  Plurals  ist  es  oder  s:  Frydayes, 
monkes,  comandementes,  lyounes,  reisins,  places,  apples;  selten  Is:  bastardis, 
prestis  (p.  19),  marchauntis  (p.  51). 

Die  schwache  Pluralform  auf  en  haben  folgende  Wörter  aus  dem 
Angelsächsischen  behalten:  oxen;  eyen,  eyzen  (ags.  eägan);  schoon,  schon 
(ags.  scön  und  scös);  hosen;  colveren  (ags.  culufran  =  Tauben)  p.  118,  da- 
neben auf  derselben  Seite  zweimal  colveres;  endlich  pesen  (ags.  pisan 
Erbsen)  p.  199,  250,  welches  noch  jetzt  mundartlich  im  südlichen  England 
vorkommt,  neben  pese  (p.   129). 

Folgende  Wörter  haben  eine  gehäufte  Pluralform,  indem  die  schwache 
Endung  en  an  den  ags.  starken  Plural  gehängt  worden  ist:  eyren  (ags.  ägru 
Eier);  caiveren  (ags.  cealfru  Kälberj;  children;  bretheren,  brethren  =  leib- 
liche Brüder:  kyzn  (ags.  cy),  jetzt  kine  neben  cows.  Von  suster  kommt  bei 
Chaucer  und  Maundevylle  neben  sustres  die  schwache  Form  sustren  vor, 
während  im  Ags.  sich  nur  der  starke  Plural  sveostra  findet. 

Der  Umlaut  findet  sich  aus.ser  in  bretheren  und  kyzn  noch  in  den 
Pluralen:  men;  wommen;  gees;  feet;  lyzs:  mees  oder  myse;  breech,  breek 
(ags.  Sing  broc.  Plur,  brec)  =  Hose,  jetzt  breeches,  also  eine  doppelte  Plu- 
ralbildung. 

Gleichlautend  im  Sing,  und  Plural  sind  wie  im  Ags.:  swyn,  scheep, 
hors.  Ebenso  die  roman.  Wörter  voys  (p.  2G0)  vers  (p.  113)  be.ste  (p.  33) 
und  furneys  (p.  49),    wofür  jedoch  gewöhnlicher   bestes  und  furneyses  steht. 

Knyf,  lyf,  wyf  und  thefe  (p.  250)  verwandeln  das  f  meist  noch  nicht 
in  V  (theves  p.  78).  Peny  hat  penyes  und  pens,  ohne  Unterschied  in  der 
Bedeutung. 


400  Sir  John  Maundevylle. 

Einige  Gattungsnamen,  welche  ein  Maass,  Gewicht  oder  einen  Zeitraum 
bezeichnen,  werden,  wie  zum  Theil  noch  jetzt,  nach  Zahlbestimmungen  in 
der  Singularform  gebraucht.  Solche  sind  zeer,  zere;  paas,  pas;  fote,  span, 
fadme,  score,  Bow  schote,  myle  (mitunter  auch  myles),  z.  ß.  He  was  78 
zeer  of  Age  (p.  151).  At  140  paas  (p.  92).  4  Myle  fro  Nazarethe  (p. 
111).  3040  Myles  (p.  143).  Dagegen  stehen  cubytes,  degrees,  furlonges 
stets  in  der  Pluralform. 

Die  Genitivendung  ist  es,  z.B.  Goddes  Sone  (p.  35).  Abrähames 
Brother  (p.  68).  Swynes  Flessche  (p.  '2).  Josephes  Modre  (ibid.).  Auch 
in  den  nicht  auf  s  endigenden  Pluralen:  Other  mennes  children  (p.  288), 
während  bei  den  regelmässig  gebildeten  Pluralen  der  Genitiv  nur  an  seiner 
Stellung  zu  erkennen  ist,  z.  B.  The  Book  of  Fadres  (patruni)  Lyfes  (p. 
79). 

In  Bezug  auf  das  Geschlecht  der  Hauptwörter  gilt  im  Allgemeinen 
schon  die  Regel,  dass  das  grammatische  Geschlecht  mit  dem  natürlichen 
übereinstimmt  und  dass  die  leblosen  Gegenstände  meist  als  sächlichen  Ge- 
schlechtes angesehen  werden.  So  sind  die  franz.  l'eminina  ryvere,  ile,  cytee, 
contree  u.  a.  als  Neutra  gebraucht;  ebenso  kyngdom  ston,  see  u.  a.  ohne 
Rürksicht  auf  ihr  männliches  Geschlecht  im  Ags.  Schwankend  ist  der  Ge- 
brauch bei  welle  =  Brunnen  (ags.  vell,  m.);  brid  (ags.  bridd,  m.);  schippe 
(ags.  scip,  neutr.);  sonne  =  sol  (ags.  sunne,  f.),  denen  männliches  und  säch- 
liches Geschlecht  zugleich  beigelegt  wird.  Beispiele:  He  (the  welle)  chaunge 
the  odour  und  kurz  darauf:  It  is  so  vertuous  (p.  169).  —  He  (the  brid) 
fleethe  his  wey.  And  so  there  is  no  mo  Briddes  of  that  kynde  in  alle  the 
World,  but  it  allone  (p.  48),  —  The  Sonne,  whan  he  is  upon  the  Southe 
(p.  131).  Because  that  he  (the  Sonne)  chaungethe  the  tyme  und  gleich  darauf: 
God  lovethe  it  more  ihan  any  other  thing  (p.  165)  u.  s.  w. 

2.   Das   Adjektiv. 

Von  den  Geschlechts-  und  Kasusendungen  der  ags.  und  altfrz.  Adjektiva 
finden  wir  nur  noch  wenige  Spuren  erhalten,  z,  B.  in  den  französ.  Adjek- 
tiven Seynte  Kateryne  (pp.  55,  62);  Seynte  Elyne  (p.  78);  that  glori- 
ouse  Virgyne  (p.  59).  vgl.  Seynt  Johne  (p.  62);  Seynt  Mark  tp.  62). 
Sonst  wird  dem  Singular  ohne  Unterschied  der  Geschlechter  ein  e  beigefügt 
oder  es  wird  abgeworfen,  als  Unterscheidungszeichen  des  Plural  hingegen 
behauptet  sich  dieses  e  fast  durchgängig,  z.  B.:  Many  perilouse  Passages 
(p.  51);  dyverse  Langages  (p.  52);  principalle  Festes  (p.  58);  the 
othere  Chirches  (p.  56);  stronge  Men  (p.  64)  etc. 

Wenn  zwei  Adjektiva  Attribute  desselben  Substantivs  sind,  so  steht  ge- 
wöhnlich nur  eins  vor  demselben,  das  andere  wird  ohne  Hinzufügung  von 
one  oder  ones  nachgestellt,  z.  B.  fair  verres  and  clere;  a  gay  Citee 
and  a  riche;  a  gret  Ile  and  a  gode;  a  fair  Tour  and  a  highe;  a 
lityl  dore  and  a  low.  Nur  selten  werden  beide  Adjektiva  vorangestellt, 
wie  a   litylle    and    a    low  thing  (p.    139). 

Steigerung   der   Adjektiva.     Ueberreste  des  ags.  Umlautes  zeigen 


Sir  John  Maundevylle.  401 

sich  noch  in  den  Komparativen  lenger  und  strengere,  welche  sich  auch  bei 
Chaucer  finden.     Daneben  longer  rp.  63). 

Unregelmässig  gesteigert  sind: 

mochel,  mechel 

_^  t  ^    rv,^  v,^       —     more,  mo    —     moste,  most. 

mocne,  meche 

gode,  good  —         bettre       —    beste,  best, 

lytille  —    lasse,  lesse     —     leste,  lest, 

bad  —         worse         —     worste,  worst. 

Nere,  neere  —  nahe  (ursprünglich  selbst  Komparativ  von  neyghe,  neye, 
ags.  neäh)  hat  im  Komparativ  nerrer  (p.  30),  im  Superlativ  nexte,  next; 
neyest  (p.  12C). 

Fer  (ags.  adv.  feor  =  weit)  hat  im  Komp.  mnre  fer  und  ferthere,  ags. 
fyrre.  Das  th  hat  sich  wahrscheinlich  nach  Analogie  des  verwandt  en  for- 
there  in  diesen  Komparativ  eingeschlichen  S.  iSO:  more  forthere,  ags.  fur- 
dra,  neuengl.  further,  vgl.  unser  für  der.  Gleich  darauf  steht  more  forthe. 
Der  Superlativ  foremest,  ags.  formest a,  fyrmesta  vom  Positiv  forma,  in  der 
neueren  Sprache  wegen  missverstandener  Emlung  in  foremost  verwandelt, 
findet  sich  p.  303.  Vgl.  über  diese  Formen  Fiedler's  Engl.  GrHmmatik  §.  154  f. 
Die  einsilbigen  Adjektive  erhalten  die  ableitende  sowohl  als  die  um- 
schreibende Steigerung,  z.  B.  more  longe  und  longer  ip.  53);  more  highe 
und  hiere.  Ferner  more  nye  (p.  55),  more  righte  (p.  5ö)  more  huge,  more 
schort,  most  schort  etc. 

Doppelte  Steigerung  ist  nicht  selten,  wie  in  more  hottere  (p.  29);  more 
gladdere  (p.  40). 

Grete  und  swete  verdoppeln  den  letzten  Konsonannten  und  verkürzen 
den  vorhergehenden  Vokal.  Komparat. :  grettere,  grettre,  gretter;  Superl. 
gretteste,  swettest. 

In  more  plenerly  (p.  42)  ist  die  Adverbialendung  ly  an  den  Kompa- 
rativ gehängt. 

3.  Das  Zahlwort. 
Von  den  Grundzahlen  werden  in  der  vorliegenden  Au«gabe  alle  mit 
Ziffern  geschrieben,  mit  Ausnahme  von  on,  o  und  two.  Die  bei  Chauc.  so 
häufigen  Formen  tweine,  tweie  (ags.  tvegen)  kommen  nicht  vor.  Zuweilen 
stehen  die  Grundzahlen  statt  der  Ordnung.«Ziihh'n ,  z.  B.  The  h  und  red 
part  (p.  151).    The  sevene  (degreu'  is  of  Crisolyte  (p.  270). 

Die  vorkommenden  Ordnungszahlen  sind:  the  firste,  first;  the  secounde, 
secunde;  the  thrydde,  thridde;  the  fourthe;  the  seventhe. 

Zahladverbien:  ones;  twyes;  thrj-es  oder  3  sithes;  4  sithes  (ags.  feöver 
sidum  von  sid  eig.  Weg,  Reise)  u.  s.  w. 

4.   Das   Pronomen. 

a.  Persönhche: 

Singular. 

Nominativ.  Objektiv. 

1.  I  me 

2.  thou,  thow  the 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXVII.  25 


Sir  John   Mauudevvlle. 


3.  masc.  he,  hee 

him,  hym 

fem.  sehe,  schee 

hire 

neutr.  hyt,  it 

him,  it. 

Plural. 

1.  wee 

US 

2.  zee 

zou 

3.  thei 

hem 

Eine  enklitische  Verbindung  von  thou  mit  der  2.  Person  des  Verb  findet 
sich  besonders  nach  shalt,  wo  th  sich  mit  dem  Endkonsonanten  t  assimilirt : 
And  from  hens  schaltow  bere  no  thyng  (p.  295).  Vgl.  Chaucer  C.  T.  ed. 
Wright  3.t7o:  Than  schaltow  swymme.  Menestow  =  Meanest  thou  (Piers 
Ploughmnn). 

Die  ags.  Dativform  him  in  der  .3.  Pers.  Sing,  des  Neutrums  ist  noch 
nicht  ganz  verschwunden  und  wechselt  im  Gebrauche  oft  mit  der  Akkusativ- 
form it:  It  (this  ryvere)  receyvethe  into  him  40  othere  ryveres.  (p.  7).  — 
There  is  another  Hille,  that  is  so  highe,  that  the  Schadewe  of  hym  rechethe 
to  Lempne  (p.  16).  —  It  (Cypre)  hathe  4  principalle  Cytees  witliin  him 
(p.  27).  It  is  gode  resoun,  to  don  it  (the  Sonne,  masc.)  VVorschipe  and 
Reverence  (p.  IGö), 


b.  Possessiva: 

Singular. 

Plural. 

1. 

2. 

myn,  my 
thin,  thi 

eure 
zoure 

3. 

masc.  his  (hise  p.  109). 
fem.  hire 
neutr.  his 

here,  hire. 
Hires,  theires 

Alle  diese  Formen  werden  sowohl  conjunctiv  als  absolut  gebraucht,  mit 
Ausnahme  von  hires  und  theires,  welche  nie  in  Verbindung  mit  dem  Haupt- 
worte stehen,  z.  B.  Thei  that  marchen  upon  zou,  schuUe  ben  undre  zoure 
Subieccioun,  as  zee  han  ben  undre  hires  (p.  225).  And  zif  ony  man  seye 
to  hem,  that  thei  norisschen  other  mennes  Children,  thei  answeren,  that  so 
don  other  men  hires  (p.  288).  The  dyversiiee  betwene  our  Feythe  and 
theires.  Here  steht  nur  einmal  nicht  in  Verbindung  mit  dem  Hauptworte: 
Koght  aftir  oure  Lawe,  but  aftir  here  (p-  80).  Ueber  das  s  in  den  unver- 
bundeiieu  Fürwörtern  vgl.  Mätzner  Engl.  Gramm,  p.  28S. 

My  und  thi  stehen  vor  Konsonanten,  myn  und  thin  vor  Vokalen  und 
der  Aspirata:  Thin  Hosen  aud  thi  Schon  (p.  59).  My  Wyf,  myn  Hus- 
bonde  (p.  179). 

Das  Pronomen  der  3.  Person  hat  im  Singul.  für  Masknl.  und  Neutrum 
noch  dieselbe  Form  his.  Die  Bildung  des  Neutrums  its  gehört  erst  einer 
spätem  Zeit  an.  Beispiele:  The  Ademand,  of  his  kynde,  drawethe  the 
Iren  to  him:  and  so  wolde  it   drawe   to   him  the   Schipp  etc.    (p.    164).    Of 


Sir  John  Maunderylle.  403 

that  Monnt  the  Cytee  hathe  bis  name  (p.  169).  Of  that  Cytee  bereite  the 
Contree  bis  name  (p.  256).  Vgl.  Cliaucer  C.  T.  ed.  Wrigbt  7838:  But  loke 
that  it  (the  •whel)  have  bis  spokes  alle. 

c.  Refle.xiva: 
Die?e  sind  noch  meist  mit  den  persönlichen  Fürwörtern  gleichlautend, 
ein  Gebrauch,  der  sirh  noch  in  der  heutigen  Dichtersprache  erhalten  hat, 
z.  B  :  Some  Men  hasten  hem  and  peynen  hera  (p.  58).  Wbere  oure  Lady 
rested  bire  (p.  71).  Thei  rejoyssen  hem  iiugely  (p.  3'^9).  Daneben  fin'len 
sich,  obwohl  seltener,  die  durch  seif  verstärkten  Formen,  aber  nur  in  der 
3.  Pers.  Sing,  und  Plur.:  The  Tree  that  Judas  benge  bim  seif  upon  (p.  93). 
As  the  Sarazines  seyn  hem  seif  (p.  50). 

d.  Demonstrativa: 
Singular.  Plural, 

tbis  dieser  thfise.  theyse 

that  jener  tho  (ags    l)ä) 

tbilke  =  talis  (ags.  P\\\';  Pylc)  steht  nur  p.   K.6. 

that  ylke  =  idera,  the  same  (ags,  se  ylca,  ^■dt  ylca)  steht  nur  pp.  127 
und  129,  welche  Stellen  einer  andern  Handschritl  entnommen  sind.  Bei 
Chaucer  finden  sieb  beide  Pronomina  ebenfalls,  jetzt  sind  sie  nur  noch  in 
Dialekten  vorhanden. 

e.  Interrogativa: 
who,  whiche  und  what. 

f  Relativa: 
who.     Gen.  whoos.     Acc.  wbom. 
whiche.  that.  what. 

Who,  wplches  nur  auf  Personen  bezogen  wird,  ist  zuweilen  verstärkt 
durch  das  hinzugefügte  so:  wboso  =  quicunq-ie,  z.  B.  Wlioso  brt-ketbe 
hem,  he  sibaÜe  fynde  within  hem  etc.  (p.  lOl).  Wboso  wil  go  longe  tyme 
on  the  See,  and  conie  nerrer  to  Jerusalem,  he  schal  go  etc.  (p.  30).  Wboso 
Stoppel  that  Watie  from  bem,  tbei  mygbt'-  not  endure  there  (p.  47^,  wo 
wboso   eine    conditionale  Bedeutung  hat:  Wenn  etwa  einer  .... 

Vor  whiclie,  welches  von  Personen  und  Sachen  gebraucht  wird,  tritt  oft 
der  bestimmte  Artikel,  wie  im  franz.  lequel,  ital.  il  quäle.  .Ausserdem  folgt 
zuweilen  noch  that,  vgl.  griecb.  bsTtg.  He  besonghte  tlie  HeremUe,  that 
he  wolde  preye  God  for  him,  the  whiche  that  cam  from  Hevene  (p.  -17). 

that  ist  das  bti  weitem  gebräuchlichste,  auf  Personen  und  Sieben  he- 
zogene  Relativpronomen.  Die  Prä|)Osition  of  steht  davor  p.  1S1:  Toward 
this  Contree  of  that  I  have  spoke:  meist  aber  am  Kn^le  des  Relativsatzes. 
Auch  hier  tritt  zuweilen  noch  ein  zweites  that  hinzu,  z.  B.  To  holden  lu-m 
payil ,  of  that  that  he  wolde  give  hera  of  bis  Grace  (p.  i-lu).  I  schalle 
retornen  to  that  that  I  have  seen  (p.  SOG).    Ue  preyed  to  God  of  Natura, 

26» 


404  Sir  John  M  a  u  n  d  e  v  y  1 1  e. 

that  he  wolde  parforine  that  that  he  had  begönne  (p.  265).  Das  erste  that 
ist  demonstrativ,  das  zweite  relativ,  beide  vertreten  also  what.  Zuweilen 
finden  wir  auch  das  einfache  that  in  derselben  Bedeutung,  z.  B.  No  straun- 
gere  comethe  before  him,  but  that  he  makethe  him  sum  Promys  and  Graunt, 
of  that  the  Straungere  askethe  (p.  40).  The  1000  part  of  that  he  hadde 
(p.  147). 

What  wird  ebenfalls  verstärkt  durch  ein  hinzutretendes  that  und  bekommt 
dann  die  Bedeutung  des  heutigen  whatever,  z.  B.  Every  man  takethe  what 
part  that  him  lykethe  (p.  179).  —  Of  what  nacyoun  that  thei  ben 
(p.  181). 

g.  Indefinita: 

Von  diesen  nur  einige. 

Everyth  (=  ever  each,  ags.  aefre  aelc) 
oder  every  wird,   wenn  es   substantivisch   gebraucht  ist,  meist  nicht  mit  one 
verbunden,  z.  B.  Everyche  of  hem  (p.  38).     Ebenso   p.  226,  wo    aber  auch 
ever\ch  one  steht. 

Das  sub  tantivische  none,  non  vertritt  vor  Vokalen  und  einem  h  häufig 
die  Stelle  des  adjektivischen  no,  z.  B.  None  Houses  (p.  63).  Non  Hors 
(p.  58). 

Some  (ags.  sum)  ist  seiner  mannichfaltigen  Orthographie  wegen  be- 
merkenswerth.  Ausser  some  finden  sich  die  Formen:  summe,  süme,  sume, 
sum  S.  101:  Sum  men  clepen  that  See,  the  Lake  Dalfelidee;  summe  the 
Flom  of  Develes;  and  süme,  the  Flom  that  is  ever  stynkynge.  Das  plura- 
lische e  ist  schon  oft  abgeworfen. 

Oihere  nimmt  im  Plural  noch  kein  s  an;  the  tothere,  jetzt  nur  noch 
in  der  Vulgär.spraohe  und  dialektisch  üblich,  ist  nach  Mätzner's  wahrschein- 
licher Hypothese  aus  other  in  Verbindung  mit  dem  als  bestimmten  Artikel 
gebrauchten  that  entstanden,  wie  griech.  d-are^ov  aus  tb  i'repor,  niederl. 
dandre  aus  de  andre.  Der  Artikel  that  steht  häufig  grade  vor  other:  In 
Egipt  there  ben  5  Provynces;  that  on  highte  Sahythe,  that  other  highte 
Demeseer  (p.  46).  —  At  Alisandre  is  that  other.  (ibid).  —  To  desceyven 
that  on  that  other  der  Eine  den  Andern  =  einander  (p.  137).  —  That  on 
and  that  othre  (pp.  63,  44  etc.).  Wenn  man,  wie  die  meisten  Grammatiker 
thun,  das  t  aus  the  entstehen  lässt,  so  wäre  die  doppelte  Anwendung  des 
Artikels  schwer  erklärbar.  Die  obige  Erklärung  ist  jedenfalls  die  einfachere. 
Vgl.  Mätzner  Engl.  Gramm,  p.  306  f. 

5.   Der  Artikel. 

Der  bestimmte  Artikel  ist  the,  zuweilen,  namentlich  vor  on  und  othei*, 
that  (ags.  I)ät),  welches  übrigens  für  alle  drei  Geschlechter  gilt. 

Die  beiden  Formen  des  unbestimmten  Artikels  a  und  an  werden  oft 
mit  einander  vertauscht,  so  dass  a  vor  Vokalen  steht  und  an  vor  einem 
aspirirten  h,  z.  B.  a  Amyralle;  a  Eremyte;  an  highe  Hille;  an  half;  an  hille. 


Sir  JohnMaundevylle.  405 

Vor  den  übrigen  Konsonanten  steht  immer  die  Form  a,   deshalb  ist   p.   117. 
2  statt  an  brennynge  Dart  zu  verbessern:  a  br.  Dart. 

Bemerkenswerth  ist  ferner  der  Gebrauch  des  unbestimmten  Artikels  vor 
Zahlwörtern  zur  Bezeichnung  einer  unbestimmten,  ungefähren  Angabe:  Fro 
that  Eivere  a  15  journeys  in  lengthe  weren  the  Trees  of  the  Sonne  (p. 
298).  —  The  Lond  conteynethe  well  a  180  Myles  (p.  116).  —  A  7  Myle 
fro  Nazarethe  is  the  Mount  Kayn. 

6.  Das  Verb. 

Endungen  des  Präsens  Indicativ: 
Sing.  1.  —  e 

2.  —  est,  st 

3.  —  ethe.  eth  (ith),  the,  z.  B.  begynnethe,  lyethe,  pas- 
seth,  lyghtith,  lythe. 

Flur.  1.  2.  3.  —  en  (yn),  e,  n,  z.  B.  we  callen,  thei  duellen 
(duellyn  p.  63),   seye,  seyn. 

Das  e  der  ersten  Person  Sing,  wird  schon  zuweilen  apokopirt.  Der 
Flexionsvokal  e  der  2.  und  3.  Pers.  Sing,  und  Plur.  wird,  wie  im  Ags.  zu- 
weilen synkopirt;  die  vollere  Form  en  ist  indessen,  wenigstens  im  Plural,  die 
häufigere.     Das  heutige  s  der  3.  Pers.  Sing,  findet  sich  noch  nirgends. 

AVenn  in  der  3.  Pers.  Sing,  die  Synkope  des  Flexionsvokals  eintritt  bei 
einem  Worte,  dessen  Wurzel  sich  auf  einen  der  Zungenlaute  d,  t  eniligt,  so 
wird  die  media  zur  tenuis,  th  wird  in  t  verwandelt  oder  ganz  von  dem 
Zungenlaute  verschlungen,  z.  B.  he  rytt  statt  rydeth  (p.  241);  fynt 
(p.  58);  smytt;  stont  etc.  Zuweilen  finden  sich  die  regelmässige  und  zu- 
sammengezogene Form  zugleich,  z.  B.  it  syttethe  (p.  173)  und  sytt 
(pp.  44,  45,  55);  holt  (pp.  42,  54,  182)  und  holdethe  (p.  42).  Dieselbe 
Kontraktion  findet  sich  im  Ags.  und  bei  Chaucer.    Vgl.  das  Präteritum. 

Die  ags.  Pluralendung  ad  ist,  wie  bei  Chaucer,  ganz  verschwunden  und 
hat  entweder  der  auf  die  gothischen  Endungen  ra  und  nd  (n)  des  Präsens 
und  Prät.  Plur.  zurückgehenden  oder,  was  wahrscheinlicher  ist,  der  nach 
Anologie  der  Perfektformen  eingeführten  Endung  en  Platz  gemacht. 

Präsens  Konjuktiv: 
Singular.  —  [e] 
Plural       —  [e]  n 
Endungen   des  Präteritums   der  schwachen   Verba: 
Sing.   1.  u.  3.  —  ede,  ed,  de,  d 

2.  —  edest 

Plur.    1  —  3.  —  eden,  den,  d, 
z.  B.   Sing.:    translatede   und  translated   (p.  71);   duelied;    wende; 
betokend.     Plural:    accordeden  (p.  38);  dwelleden  (p.  44);  seyden 
Cp.  17);  seyd  (p.  11). 

Die  Synkope  und  Apokope  des  e  findet  also  auch  hier  Statt,  im  Plural 
jedoch  seltener.     Eine  ähuliche  Kontraktion    wie  im  Präs.   zeigt   sich  in  den 


406  Sir  John  Maundevylle. 

Formen  departe  (p.  295)  statt  departede;  alyghte  (pp.  103,  113)  statt 
alyghtede;  lifte  (p.  54)  statt  liftede. 

Die  Endungen  des  Präter.  der  starken  Verba  sind  im  Singular 
—  e,  welibes  mitunter  wegfallt,  im  Plural  —  en  oder  —  e.  Der  Singular 
lautet  diiher  oft  mit  dem  Plural  gleich.  Die  von  Wrigbt  (Introduction  to 
Chiiucer's  Cant.  'J'ales  p.  34)  angeführte  Regel,  dass  nämlich  der  Singul. 
des  Piäter.  noch  wie  im  Ags.  immer  konsonantisch  auslaute,  hat  für  unsern 
Schriftsteller  wenigstens  keine  Geltung.  Denn  wir  finden:  He  cam  (p.  25) 
und  it  came  (p.  27);  he  toke  (p.  11)  und  tok  pl.  (p.  98);  wrot,  wrote 
und  wroot;  bare  häufiger  als  baar  u.  s.  w.  Zuweilen  wird  die  Plural- 
endung en  auf  den  Singular  übertragen,  z.  B. :  No  thing.that  he  behighten 
me  (p.  35).  It  is  the  place  where  oure  Lord  betau ghten  the  Ten  Com- 
mandementes  to  JMoyses.  (p.  G3).  —  Gayus,  that  was  Emperour  of  Rome, 
putten  theise  2  monethes  there  to  (p.  77).  The  whiche  is  the  same  Lond, 
that  oure  Lord  behighten  us  in  Herittige  (p.  3). 

Der  Imperativ  huitet  iin  Singular  der  1.  Präs.  Ind.  gleich;  im  Plural 
findet  sieh  noch  die  Endung  ethe  (eth),  welche  indessen  häufig  wegfällt; 
Also  takethe  a  litjUe  Baume  and  touche  it  to  the  fuyr  (p.  51).  —  Wy- 
tethe  wel  (p    44)  und  wyte  zee  wel  (p.  51). 

Das  Partizipium  Präs.  endigt  schon  auf  enge,  eng,  ynge  oder  yng, 
z.  ß.  goenge,  prayeng,  lyggynge.  Von  der  ags  Endung  ende,  welche 
sich  bei  .Wörtern  deutschen  Ursprungs  noch  oft  bei  Chaucer  im  Romaunt 
of  ihe  Rose  findet,  ist  kein  Beispiel  mehr  vorhanden.  (R.  R.  v.  1928;  le- 
pande:  v.  22G3:  sittand;  v.  2708:  doand).  Wahrscheinlich  hat  der 
französ.  Nasallaut  Einflups  auf  diese  Verwandlung  des  nd  in  ng  gehabt. 
Vgl.  im  Franz.  die  heutige  Aussprache  von  grand  und  sang. 

Im  Partiz.  Präter.  haben  die  schwachen  Verba  die  Endungen  ede,  ed 
und  d,  z.  B.  With  bis  blessede  Feet  (p.  J);  examyned  und  examynd 
(p.  14);  bylded  (p.  58).  Endigt  sich  die  Wurzel  auf  p,  1,  n  oder  seh,  so 
wird  im  Priiter.  und  Partiz.  Präter.  die  media  oft  in  die  tenuis  verwandelt. 
Doppeltes  1  und  n  werden  dann  vereinfacht,  z.  B.  worschiped  und  wor- 
schypt;  cleped  und  clept;  brente,  brent  von  brennen;  abasscht; 
pollischt;  norysscht;  perisscht;  ravysscht;  fulfilt  neben  ful- 
filled  (p.  S9);  duelte  neben  duelled  u.  s.  w.  \"gl.  Unregelmässigkeiten  der 
schw.  Konjugation.  Die  Präfixe  y,  ags.  ge,  ist  noch  häufig  beibehalten,  z.  B. 
ynayled,  ycrowned,  yvowted  u.  s.  w.  Die  starken  Pariicipien  ver- 
lieren das  n   zuweilen,    wie  das  folgende  Verzeichniss  zeigt. 

Im  Infinitiv  gehen  die  Endungen  en,  n  und  ne,  e  neben  einander 
her.  So  finden  sich  für  das  heutige  to  SHy  die  vier  Formen :  seyne,  seyn, 
seye  ung  sey.     To  drede  und  sewen  (p.  8);  ehacen  etc. 

Die  Zeitwörter  der  starken  Konjugation,  welche  bei  Maunde- 
vylle vorkommen,  sind  im  folg.  Verzeichnisse  nach  der  Grimm'schen  Eiathei- 
lung  geordnet. 

Praes.  Praeter.  Part,  praet. 

1     Falle  feile  fallen 


Sir  John  Maundevvlle. 


40' 


holde  helde 

hange,  bonge  henge 

Honged  steht  auch  bei  Chaucer  C. 
steht  a.  a.  O.  v.  9757. 
3.  Knowe 
jrrowe 


holden 
honged 

T.  V.  10253.  —  Heng  als  Partiz. 
knowen 


knewe 

grewe  — 

—  creew  =  krähte  — 

(p.  91). 

Statt  grewe  findet  sich  das  schw.  Prät.  growed  (p.  117).  Von  blowen 
kommen  nur  Infin.  u.  Präs.  vor  (pp.  114,  243). 

4.  Lat,  late  leet,  lete  — 

lete 

Im  Ags.  lautet  dieses  Verb  laetan  —  ledt,  let  —  laeten.  Es  ist 
im  Altengl.  nicht  zu  verwechseln  mit  letten  =  hindern  (\>.  4  5),  welches 
dem  ags.  letjan,  lettan  entspricht  und  schwach  conjugirt  wird. 


7.  Take 

tok.  toke 

taken 

stonde 

stode 

stonden 

forsake 

forsoke 

forsaken 

■wake  =  bewachen 

woke,  wooke 

— 

waxe,  wexe 

wax 



sie 

slowe,  sloughe, 
slowghe  (ags. 
sing,  slöh,  plur. 
slogon) 

slain 

schave 

'             _ 

scbaven 

grave  (begraben) 

— 

graven 

wassche 

wossche 

wasschen 

drawe 

(with)  drowghe 

(p.   104.)  ags.  droh, 

plur.  drögon 

drawen 

cast 

cast,  caste 

casten,  cast. 

Statt  wossche  auch  das  schw.  Präter,  wassched   wie  bei  Chauc.  — 
Das  Prät.  von  drawe  lautet  bei  Chauc:  drough,  drow  und    drew.  —  In 
cast     ist    wahrscheinlich    die    Flexionsendung    de    dem   t   assimilirt.     Auch 
casted  steht  p.  87.  —  Ueber  take  s.  Gloss.  v.  toke. 
8.  Abide,  abyde  abode 


ryde 

rode,  rood 

rydea 

rise,  ryse 

roos  (aros,  aroos) 

rysen 

dryve 

drof 

dryven 

schryve 

— 

schryven 

smyte 

smot,  smoot 

smyten, 
smytten 

write 

wroot,  wrot, 
wrote 

writen 

408 


Sir  John  Maundevylle. 


Von   schynen   kommt  blos   die    3.   Pers.  Plur.   Präs.   thei  schynen 

(p.  216)  und  das  Part.  Präs.  schynynge  (p.  32)  vor.  —  Ebenso  bytynge 

(p.  254)  und  thei  byten  (p.  54).  —  Thei  chiden,  praes.  (p.  250). 

9.  Lese  — 


chese  (cheese)        ches,  chees,  chose 


cleve 
stye  (ags.  stigan) 
=  steigen 
fly(enge) 


cleef 
steigbe,  steyghe 

fleighe,  fleyghe, 

fleyhe,  Ags.  fleäh 

pl.  flowen,  ags.  flugon. 


lost,  ylost. 

soden  =  gesotten 

(pp.  208,  251) 

chosen,  for- 

chosen  (p.  132) 

cloven 


Das  bei  Chauc.  vorkommende  Part,  loren  von  lese,  welches  noch  jetzt 
in  forlorn  erhalten  ist,  findet  sich  nicht  bei  Maund.  -  Von  frese  ist 
nur  die  3.  Pers.  Präs.  it  fresethe  (p.  256)  vorbanden.  —  Zu  dieser  Klasse 
gehört  auch  scheten  =  to  shoot  schiessen  (p.  54),  welches  wahrscheinlich 
noch  einen  Infinitiv  schoten  gehabt  hat,  denn  die  3.  Pers.  Plur.  Präs. 
lautet  thei  schooten  (p.  249),  thei  schoten,  thei  schote  (pp.  155, 
190)  —  fly  kommt  nur  im  Part.  Präs.  flyenge  vor  und  wird  in  seiner 
Bedeutung  häufig  mit  fle,  flee  verwechselt,  wie  sich  schon  im  Ags.  fleö- 
gan  ==  volare  mit  fledhan  =  fugere  mischte. 


10.  Se,  see 

saghe,  saughe, 

seyn,  sene, 

sawghe,  saw, 

Seen 

seyghe 

lygge,  lye 

lay,  3  p.  leyen 

leyn,  yleye 

sitte,  sytte 

sat,  satt 

sytt  t,p.  124) 

ete 

ete,  eet 

eten 

gete 

gat,  gatt,  3  pl. 

geten  (p.  19) 

goten 

begoten 

bete 

beet 

beten. 

11.  Come 

eam,  came,  com 
come,  pl.  camen, 
comen 

comen,  come 

(for)bede 

bad 

(for)boden, 
(for)bode 

speke 

spak 

spoken,  spoke 

bere 

baar,  bare,  pl. 
baren,  beren, 
beeren 

born,  bore 

swere 

— 

sworn 

breke 

— 

broken 

— 

teren  3  pl.  (p.  81) 
ags.  taeron 

— 

Sir  John  Maundevylle.  409 

Aus  10  rauss  wegen  des  Part,  hierhergezogen  werden: 

zeve  zaf,  (for)zaf,  pl.  zoven 

zaven 

Vor  broken  steht  p.  175  die  Präfixe  to,  ags.  to,  deutsch  zer,  welche 
bei  Chauc.  sehr  häufig  ist,  z.  B.  v.  4275  with  nose  and  mouth  to-broke; 
to-tore;  to-rent  =  zerrissen  u.  s.  w.  Das  o  im  Part,  zoven  findet  sich 
noch  jetzt  mundartlich  im  Englischen,  vgl.  Fiedler  p.  274.  Wycliffe  hat  es 
auch.  Bei  Chauc.  lautet  es  given,  geven  vom  ags.  gifen. 
12.  Drinke,  drynke        —  pl.  dronken  dronken 

(=:  getrunken 


und  betrunken) 

— 

clomb 



helpe 

halp  Cp.  284) 

— 

renne 

ran 

rönne 

— 

— 

dolven  (p.  62) 

de  (jetzt  to  yield)        —  pl.  zolden 

zolden 

synke 

sank,  pl.  sonken 

— 

stynke 

stank 

stonken 

spynge 

spronge,  pl.  sprengen 

— 

singe,  synge 

—  pl.  songen 

— 

— 

—  pl.  Stengen 

— 

bynde 

— 

bounden 

fynde 

fond,  fonde, 
pl.  founden, 
fownden 

founden 

fighte,  fyghte 

faughte 

foughten 

wynne 

wan 

Wonnen 

begynne 

began,  pl.  begonnen    begonnen 

begönne 

Von  swyrame  =:  schwimmen  kommt  nur  das  Part.  Präs.  swymmynge 
(p.  42)  vor.  —  Von  rynge  =  läuten  die  3  PI.  Präs.  thei  ryngen  (p.  244). 
—  Von  to  grynde  =  mahlen  blos  der  Infinitiv  (p.  189).  —  Ebenso  von 
dyggen^ graben  (p.  107).  — 

Defektive  Zeitwörter  sind: 
Go  wente,  wende  gon 

zede;  pl.  wenten, 
zeden 

Wente  ist  das  schwache  Präter.  von  dem  jetzt  veralteten  to  wend, 
bei  Chauc  kommt  diese  Form  auch  noch  als  Part.  Präter.  vor.  zede,  ags. 
eode,  lat.  ivi  von  einem  verlorenen  Stamme,  in  Mundarten  noch  yode. 

Quothe,  quoth,  p.  229  als  3.  Pers.  Sing,  und  Plur.  gebraucht,  lat. 
inquit,  ist  das  jetzt  noch  meist  scherzweise  und  in  der  Poesie  angewandte 
Präter.  von  dem  ags.  Infinitiv  cvedan,  der  noch  in  to  bequeath  er- 
halten ist. 


410  Sir   John  Maundevylle. 

Unregelm.  starke  Verba. 

Die  folgenden  7  sind  starke  Perfektformen  mit  Präsensbedeutung  und 
neuen  schwachen  Perfekten. 

1.  Sing.  1.  3.  schalle,  schal;  2.  schalt;  plur.  schulle,  schull,  schul.  Praet. 
Sing.  1.  3.  scholde;  2.  scheidest;  plur.  scholden,  scholde.. 

2.  Sing.  1.  3.  wille,  wile,  wil  —  wole,  wol.  2. — ;  pl.  wolen.  Conj.  2.  pl. 
wile.    Praeter.  Sing.  1.  3.  -wolde,  wold;  pl.  weiden,  wolde:  wulden  (p.  4), 

3.  Sing.  1.  3.  can,  2.  — ;  pl.  conne,  conen,  cone,  can.  Conj.  3.  sing.  cone. 
Praeter,  cowde.     Infin.  conne. 

Das  1  des  Präter.  could  hat  sich  erst  später  nach  Analogie  von  should 
und  would  eingeschlichen,  cowd  ist  aus  conned  entstanden,  v;ie  be- 
gouthe  bei  Chauc.  und  im  Schottischen  aus  begounede  und  im  Griech. 
oBovaiv  aus  oSövr-aiv.  —  Oft  hat  can  bei  Maundevylle  die  selbständige  Be- 
deutung kennen,  wissen  =  to  know:  Thei  conne  meche  ofHoly  Wrytt 
p.  13C)  —  Thei  (the  Pygmeyes)  connen  bothen  Wytt  and  gode  and  ma- 
lice  ynow  (p.  213).  —  Chauc.  C.  T.  3128:  I  can  a  noble  tale.  —  V.  11578: 
I  can  no  termes  of  astrologie.     Vgl.  GIoss.  conne. 

4.  Sing.  1.  3.  may,  2.  may.  No  thing  thou  may  tuke  fro  us  Cp.  294); 
pl.  may,  mai  (ags.  maegen),  niowen,  mowe,  mow  (ags.  magon);  Pi-aeter.  1.  3. 
myghte;  plur.  myghten,  myghte,  myght. 

I  may  wird  bei  Maundevylle  oft  da  gesetzt,  wo  die  heutige  Sprache  I 
can  erfordert,  z.  B.  In  alle  haste  that  thei  may  (p.  301).  —  Sehe  was  so 
highe  that  the  Flode  of  Noe  ne  myght  not  come  to  hire  (p.  304).  Auch 
bei  Chauc.  C.  T.:  It  schal  be  amendid,  if  that  I  may.     Vgl.  v.  6560. 

5.  Sing.  3.  mote,  moste,  most;  pl.  3.  most.  Die  ags.  Formen  des  Präs. 
und  Praeter,  mot  und  moste  existiren  zwar  noch,  aber  die  Bedeutung 
beider  ist  präsentisch. 

6.  Sing.  1.  wot  (ags.  vät);  plur.  3.  wyten,  witen  (ags.  viton).  Praet.  Sing, 
und  Plur.  wiste.  Imp.  wyte,  Infin.  wytene,  wite. 

Chaucer  hat  im  Praes.  Sing.  1.  3.  wote,  2.  wotest,  wost;  plur.  woten, 
wote,  wot,  witen,  wete. 

7.  Sing.  3.  dar,  plur.  dur  (ags.  durron).  Praeter.  Sing.  3.  durste,  durst; 
plur.  1.  dursten. 

8.  Praes.  Sing.  —  pl.  done,  don.  Conj.  Sg.  3  do.  Praet.  Sing.  3  dide, 
did,  dyd,  dede;  plur.  diden.   Part,  praet.  ydon,  don,  do.    Inf.  done,  don,  do. 

Ueber  die  umfassende  Bedeutung  dieses  Verbs  vgl.  folg.  Beisp. :  The 
Cros  that  Crist  was  don  (=  gekreuzigt)  on  (pp.  10,  14,  76,  77).  —  Sehe 
was  don  (begraben)  in  a  tombe  of  marble  (p.  27).  —  Zif  ony  man  do  the- 
reinne  (hineinthut)  ony  manner  Metalle  (p.  32).  —  The  Soudan  haihe  do 
make  (hat  machen  lassen  p.  76).  —  Gret  plentee  of  Wyn  that  the  Chri- 
stene  Men  han  don  let  make  (p.  71).  —  He  dide  hem  to  Dethe  =  he  put 
them  to  death  (p.  83).  —  Thei  don  of  (=  they  take  ofl)  bothe  Hosen  and 
Schoon  (p.  59)  etc.  Ueber  die  Bedeutung  von  tuon  im  Ahd.  und  Mhd. 
vgl.  Grimm  Gramm.  IV.  594  ff. 

9.  Praes    Ind.  Sing.  1.  am,  2.  art,  3.  is,  ys;  plur.  ben,  bethe,  beth  (3. 


Sir  John  Maundevylle.  411 

pl.  am  p.  255).  Conj.  be.  Praet.  lud.  Sing.  1.  was,  2.  were  (p.  230,  295), 
3.  was;  plur.  weren,  were  (wereinn  Conj.  1  —  3.  were,  plur.  weren.  Part. 
praet.  ben.  Imper.  be.  Infin.  ben,  be. 

Die  Form  arn  findet  sich  nur  a.  a.  O.  Bei  Chauc.  öfter,  z.  B.  C.  T. 
8218.  R.  R.  2183.  3747  etc.  immer  in  der  3.  Pers.  Plur.  Ebenso  im  Ormu- 
lum:  arrn  Vgl.  Mohnicke's  Abhandlung  über  d.  Ormulum  im  Progr.  der 
Leipz.  Handelslehranstalt  1853  p.  35. 

Unregelmässigkeiten  der  schwachen  Konjugation. 

1.  Veränderung  des  Vokals,  sowie  der  Schlusskonsonanten  und  Anhän- 
gung der  tenuis  als  schwache  Endung  haben  folgende  Verba: 

Brynge  broughte,            broughte,  brought 

seche  soughte  (besoughte)  — 

bygge,  byze,  bye  boughte,  bnghte  boughte 

thenke,  thinke  thoaghte,  thoghte  — 

•worche  —  wroughte 

teche  taughte  taughte 

2.  Vokalveränderung  und  Vereinfachung  des  doppelten  Schlusskonso- 
nanten haben:  — 

Seile  solde  (ags.  sealde)  sold 

teile  tolde  (ags  tealde)  told 

3.  Wenn  der  Schlusskonsonant  ein  d  oder  t  ist,  so  wird  das  erste  c 
der  schwachen  Endung  ede  ausgestossen  und  der  lange  Stammvokal  ver- 
kürzt : 


Drede 

dredde 



fede 

fedde,  fed 



hyde 

hid 

hidde,  hydde, 
hidd 

lede 

ledde,  ladde 

ladd,  ylad, 
lad 

meete, 

mete 

mette,  mett 

— 

rede 

— 

radd,  rad 

swete 

swette 

— 

—  grette,  vgl.  Gloss.  — 

—  —  bebledd,  vgl.  GloBS. 
Von  spede,  schede,  sprede  kommen  nur  Infin.  u.  Präs.  vor. 

4.  Der  Stammvokal  wird  verkürzt  und  die  tenuis  tritt  im  Präter.  und 
Partiz.  ein  bei  folgenden  Verben,  deren  Schlusskonsonant  1,  p,  s  oder  f  (aus 
dem  V  des  Präs.  entstanden)  ist. 

Leve  lafte,  laft  left,  laft 

slepe  slepte  )  bei  Chauc.  noch  die  ags. 

wepe  wepte  |  starken   Formen   neben 

lepe  lepte     )  den  schwachen  im  Part. 

und  Präter. 
kepc  kepte  — 


412  Sir  John  Maundevylle. 

clepe  clept,  cleped  clept,  ycleped, 

lose  lost  loste,  lost 

—  feite  — 
knele  =  hat  regelm.  knelede  (p.  260), 

5.  Der  Endkonsonant  des  Stammes  t  oder  tt  hat  die  schwache  Endung 
ganz  verschluckt  in: 

Lil'te  lifle  lift 

putte  putte,  putt,  put  putt,  put 

sette  sette  sett,  set 

hurt  —  hurt 

—  —  slytt  =  auf- 

geschlitzt. 
Gaste  mit  seinem  starken  Partizip  c asten  ist  unter  den  starken  Verben 
aufgeführt.    Cutte  kommt  nur  im  Präs.  vor.     Hierher  gehört  auch  das  un- 
persönl.  gebrauchte  liste,  welches  im  Prias.  und  Präter.  gleichlautet. 

6.  Endigt  der  Stamm  auf  Id,  nd,  rd,   so   tritt  zuweilen  die  tenuis   ein  : 

Sende  sente  (sende  p.  1 8)  — 

—  —  gyrt 

—  -  gyit 

Regelm.  sind  die  Partiz.  bylded  (p.  58)  und  bended  =  gebeugt 
(p.  27C).  Das  Letztere  kann  nicht,  wie  Halliw.  zu  glauben  scheint,  zu 
bynde  (binden)  gehören. 

7.  Durch  Kontraktion  oder  Assimilation  unregelmässig  sind: 

Make  made  made 

Have  Praes.  Sing.  1.  have,  2.  hast,  3.  hathe,  hath;   plur.  haven,  have, 

han.    Praet.  Sing.  1.  3.  hadde,  had.    2.  haddest;  plur.    hadden.   Infin.    have, 

han.    Part,  praet.  had. 

Ciadde  3.  pl.  praet.  (p.  13)  ags.  cläpode  von  cläpjan,  jetzt  clothe, 

clad,   clad.     Diesem  vereinzelt  stehenden  Präter.   liegt  wahrscheinlich   ein 

Infinitiv  clathen  oder  clothen  im  Altengl.  zu  Grunde. 

8.  Vereinzelt  stehen: 

Flee,  fle  fledde  fled 

here  (ags.  heran)     herde  (ags.  herde)        herd  (ags.  bered). 

9.  Endlich: 

Dyghte  part.  =  gearbeitet,  gebaut  (pp.  12,  17,  70.)  Vom  ags.  dihtan, 
ahd.  ticton,  dihton,  lat.  dictare.  Bei  Chauc.  C.  T.  6349  steht  noch  der 
gleichlautende  Infin.  dyghte,  auch  bei  Spenser  findet  er  sich  noch. 

pighte  part.  =  festgemacht.  Ags.  pyccan,  praet.  pycte.  Chauc.  pike, 
jetzt  pi tch. 

highte,  hihte,  hight,  entstanden  aus  dem  ags.  Präter.  hebt  von  hat  an 
ist  3.  Pers.  Sing.  Präs.  sowohl  als  Präter.  und  Part.  Präter.  Die  Bedeutung 
ist  „hiess,  wurde  genannt."  Vgl.  pp.  46,  255,  72,  30.  Nur  p.  20  steht 
es  in  der  aktiven  Bedeutung  „nennen."  Das  Kompositum  behighte  (p.  109) 
und  behighte  u  (pp.  3,  35),  3.  sing,  praet.  hat  die  Bedeutung  „versprach,  ver- 
hiess;"  p.  279  ist  behighte  Part.  Praet. 


Sir  John  Maundevylle.  418 

Der  unpersönliche  Gebrauch  der  Verben,  die  eine  Lust,  ein  Vergnügen, 
Bedürfen,  Sich  dünken  oder  Bedauern  ausdrücken,  ist  in  der  heutigen 
Sprache  meist  verschwunden,  z.  ß.  Whan  hem  ly  st  wenn  es  sie  gelüstet  (p.  38). 
—  He  hathe  as  m<my  Paramours,  as  hym  lykethe  als  ihm  beliebt  (p.  39),  — 
zif  it  lyke  you  (p.  51).  —  It  nedethe  not  to  teile  you  (p.  54).  —  Alle 
that  hem  nedethe  of  vytaylle  (p.  34).  —  Whan  hem  thinkethe  time 
(p.  234).  —  That  forthinkethe  me  das  thut  mir  leid  (p.  303).  Bei 
Chauc.  findet  sich  dieser  Gebrauch  bei  denselben  Verben,  sowie  bei  remember 
u.  A.  C.  T.  6051:  It  remembrith  me.  —  6591:  It  hapnyd  hira.  — 
8561:  Him  no  thing  ne  rought  er  kümmerte,  sich  um  nichts.  —  15187: 
Hirn  deigned  not.  —  16640:  It   dulleth   me   es  thut  mir  leid  u.  s.  w. 

Die  ags.  Verschmelzung  der  Negationspartikel  ne  mit  einigen  Verbal- 
formen hat  sich  bei  Maundevylle  noch  erhalten  in  nys  und  nolde  statt  ne 
is  =:  is  not  und  ne  wolde  statt  wolde  not,  z.  B.  Because  that  there  nys 
no  God  but  on  (p.  48).  —  There  nys  no  Purgatorie  {p.  19).  —  That  nolde 
nevere  brenne  (p.  107).  Vpl.  lat.  noile  =  non  volle.  Bei  Shak.  Haml.  5.  1 
findet  sich  noch  will  he  nill  he.  Die  Häufung  von  2  oder  3  Negationen, 
ohne  dass  dadurch  der  Satz  affirmativ  wird ,  zeigt  sich  in  folgenden  Bei- 
spielen: The  Sarazines  ne  tylen  not  no  Vynes,  ne  thei  drynken  no  Wyn 
(p.  71).  —  Justice  ne  hathe  not  among  us  no  place  (p.  294).  —  That  Saha- 
ladyn  ne  myghte  not  passen  (p.  36)  u.  s.  w. 


II.     Glossar. 

Bei  einem  nähern  Vergleiche  des  von  Halliwell  seiner  Aus- 
gabe des  Maundevylle  beigefügten  Glossars  mit  dem  folgenden 
stellt  sich,  abgesehen  von  der  Trennung  der  ags.  und  roraan. 
Wörter,  insofern  eine  Verschiedenheit  heraus,  als  über  150  von 
unserm  Schriftsteller  gebrauchte,  jetzt  veraltete  Wörter  von 
Halliwell  gar  nicht  aufgeführt  sind,  während  er  auf  der  andern 
Seite  eine  ziemlich  grosse  Anzahl  von  Wörtern  berücksichtigt 
hat,  deren  Orthographie  nur  wenig  von  der  heutigen  abweicht. 
Auf  diese,  sowie  auf  die  in  der  Formenlehre  schon  erwähnten 
Wörter  und  Formen  ist  im  Glossar  meist  keine  Rücksicht  ge- 
nommen w^orden.  Das  einigen  Wörtern  beigefügte  Ch.  und  Sh. 
bedeutet,  dass  dieselben  sich  auch  bei  Chaucer  und  Shakespeare 
finden. 


414  Sir  John  Maundevylle. 

1.  Wörter  ags.  Ursprungs. 
Agasten,  v.  a.  p.  282.  3.  pl.  praes.  erschrecken;  zum  ags,  gast,  gaest  = 

halitus  gehörig.     Ch.  Shak.:  to  gast, 
agen,  agenes,  agenst,  praep.  82.  305.  40.  wider,   entgegen;   ags.   ongegn, 

ongen,  ägen.  Ch. 
alemesse,  almesse,  n.  199.  211.  Almosen;  ags.  älmässe,  jetzt  alms  als  Sing, 

und  Plur.  gebraucht.  Ch.  hat  den  Sing,  almesse  und  Plur.  almesses. 
allgnges,  adv.   189:  It  (the  bred)  semethe  as  it  were  of  whete,  but  it  is  not 

allgnges  (durchaus  nicht)  of  suche  Savour.    Ags.  eallinga,  eallenga 

=  omnino,  prorsus. 
als,    adv,    und   conj.    =   as,    welches    häufiger    vorkommt,    1.   84,    126.    173. 

ebenso,  wie;  ags.  ealsvä,  alsvä.   Ch. 
and,   conj.  =  if,   wenn.  171.  229.   Ch.    Bei  Shak,  häufig  an,    welches  auch 

mit  if  verbunden  wird, 
anen,  aneyntes,   praep.  u.  adv.  80.  143.  gegenüber,   entgegen;    agg.  on 

efn  (on  eran);  p.  298:   The  wylde  Bestes  that  slen  and   devouren  alle 

that   comen   aneyntes  hem  (alle  die  ihnen  in  den  Weg  kommen).     Vgl. 

Mäfzner  Engl.  Gramm,  p.  40.5. 
arrere,  v.  38.  ausheben  (von  Soldaten);  ags,  äraeran. 
Ballokke.  n.  162;  testiculus;  ags.  bealluc. 
be,  praep.  30.  53.    bei,  zu,  auf  etc. ;  ags.  be,  bi.  Ch. 
bebleild,  part.  praet.  3.  mit  Blut  bedeckt.   Ch. 
beclippe,  V.  a.  52.  gerinnen  machen;  ags,  beclyppan  =  amplecti. 
beheste,  n.  1.  Verheissung;  ags.  behaes.  Ch. 
behighte,  behighten,  part.  und  3.  sing,  praet,  verhiess,  verheissen;  vgl. 

oben  unter  Unregelniässigk.  der  schw.  Konj.  Nro.  9.  Ch. 
behote,  v.   120.  251. ',^52.  geloben,  versprechen;  ags.  behätan.  Ch.  behete. 
betaughten,  3.  sing,  praet.  63.  er  theilte  mit,  schrieb  vor  (von  betechen?); 

ags.  betaecan.  Ch. 
betake,  v.  praet.  betoke,  71.  98.  138.  geben,  übergeben;  ags,    betäcan. 

Ch,  Ueber  die  Verwechslung  dieses   und  des  vorigen  Wortes  vgl.  Tyr- 

whitt  Note  zu  C.  T.  v.    138.^2. 
brede,  n.  41.  117.  Breite,  auch  schon  breadtlie;  ags.  braedo.  Ch, 
breek,  n.  pl,  50.  Hosen:  A  Mannes  Breek  Girdille;  ags.  bröc,  plur,  brec, 

jetzt  breeches,  lat.  braca,  Ch.  brech, 
brenne,  v,  48.  brennen;  ags.  beornan,  byrnan,  brinnan,  jetzt  to  burn.  Ch. 
brid,  bridde,  n.  45,  48.  Vogel;    ags.  bridd  und  bird,  Ch.    Ueber  die  Meta- 
these des  r  in   diesem  und  dem  vorigen  Worte  vgl.  Mätzner  Englische 

Gramm,  p.    184  f. 
byggere,  n.  »6,  Räufer  von  to  bygge,   byzen,   kaufen.  159;  ags.  bycgan, 

jetzt  to  buy  mit  eingeschobenem,  aber  nicht  ausgesprochenem  u. 
Cheep,  chep,  n.  83.  208,  270,  Kauf,  Handel;  Seite  49.  23.^:  grettere  cheep 

wohlfeiler,  vgl,  frz.  meilleur  marche;  ags.  ceäp.  Ch:  chepe. 
childe,  V.  133.  gebären;  ags.  cildjan,  vgl.  frz.  enfanter. 
clee,  n.  198.  Klaue;  ags.  clä,  cleo. 


Sir  John  Maundevylle.  415 

clepe.  V.  1.  43.  225.  nennen,  rufen;  ags.  clypjan.  Ch.  Shak. 

conne,  v.  5,  58.  136.  wissen,  können  =  to  know.     Noch  jetzt  häufig   to 

con  a  lesson  eine  Aufgabe  beim  Lernen  halblaut  hersagen;  ags  cunnan.  Ch. 
Graft,  n.  Kraft.  305:  Thoughe  he  cryede  with  alle  the  crafte  that  he  cowde; 

ags.  cräft. 
culver,  colver,  n.  im  Plur.  colveren  und  colveres,  11.  103.  118.  Taube;  ags. 

culfre.     Noch  jetzt  in  Devonshire  Holztaube.  Ch. 

Deme,  v.  133.  287.  richten,  verurtheilen;  ags.  deman.  Ch. 

dere,  v.   13.  schaden,  verletzen;  ags.  derjan.  Ch. 

dereworthe,  adj.  56.  werthvoll;  ags.  dedrvyrde.  Ch. 

deve,  adj.  306.  taub;  ags.  deaf.  Ch. 

dubbed,  part.  praet.  233.  241.  Dubbed  with  precious  Stones  and  grete  Perles. 

besetzt,   verziert;  ags.   dubban,   alr.  dober,  douber.     Das  Wort  ist 

nord.  Ursprungs  und  bed.  zum  Ritter  schlagen.    Nach  Burguy  Gloss. 

Etymol.  p.   116.  ist  aduber,  adouber  =  orner,  garnir;   mlat.  adobare  = 

exornare,  ital.  addobbare. 
dwerghe,  n.  205.  297.  Zwerg;  ags.  pveorg. 
dyglite,  part.  praet.  vgl.  oben  Unregelm.  der  schw.  Konj.  9.  Ch. 

Eddere,  n.  27.  Natter,  Schlange;  mit  weggeworfenem  n  aus  dem  ags. 
näddre,  jetzt  adder.  Wie  auf  der  andern  Seile  der  Nasallaut  n  dem 
Anlaute  eines  Wortes  vorgesetzt  wird,  zeigt  sich  bei  ewt,  jetzt  newt. 

eft,  adv.  14.  wiederum;  ags.  eft,  äft.   Ch. 

eftsones,  adv.  51.  -.10.  zum  zweiten  Male,  gleich  wieder;~ags.  eftsona. 
Ch.  Shak:  eftsoons. 

eke,  conj.  127.  auch;  ags.  eäc,  ec.  Ch.  Shak. 

elde,  n.  72.  293.  Alter;  ags.  yldo,  eldo.  Ch.  Shak. 

elles,  adv.  47.  254.  sonst,  or  eile  oder  aber;   ags.  elles,  jetzt^[else.   Ch. 

ere,  v.  44.  72.  beackern;  ags.  erjan.  Ch.  Shak.  ear. 

ewte,  n.  61.  Eidechse;  ags.  efete,  jetzt  eft  und  newt,  beide  Wörter  ur- 
sprünglich gleich,  vgl.  eddere. 

eyselle,  n.  10.  Essig;  ags.  eisile.  Ch.  eisel. 

Fere,  n.  24  2;  vom  ags.  gefera  =  socius.  A.  a.  O.  und  bei  Ch.  immer  in 
Verbindung  mit  der  Priipos.  in  =  in  Gemeinschaft,  zusammen 
Vgl.  Grimm's  Grammatik  IL  7f)0. 

fetten,  v.  32.  holen;  ags.  fetjan.     Bei  Ch.  im  Part.  Präter.  fette,  fet. 

tiessche.  n.  20.  Fleisch,  gleichbedeutend  mit  meat;  ags.  flae.sc. 

for,  conj.  weil,  zur  Bezeichnung  des  Grundes  vor  einem  Ni^bensatze:  And 
for  thei  trowed,  that  thei  hadden  the  Victorye  of  Crist  Jesus,  therfore 
made  thei  the  overthwart  pece  of  Palme  (p.  11).  Vgl.  p.  29.  Vor  dem 
Infinitiv  mit  to  drückt  es  den  Zweck  aus,  wie  das  franz.  pour,  z.  B. 
'  Men  comen  fro  fer,  for  to  fetten  of  that  Gravelle  (p.  32).  —  He 
slounhe  Tympieman,  for  to  be  Soudan  (p.  36). 

forby,  adv.   II.  vorbei:  „Men  that  wenten  forby."  Ch.  forthby. 

forden,  v.   56.  vernichten;  ags.  fordon.  Ch.  Shak. 


416  Sir  John  Maundevylle. 

forthinke,  v.  impers.  it  forthinkethe  me  es  thut  mir  leid,  ich  bereue  es 

(p,  303.);  ags.  forI)yncan.  Ch. 
fro  =  from,  welches  auch   häufig  vorkommt,    praep.  30.  39.  von,  aus;    ags. 

fram,  frora.  Ch. 
frusschen,  v.  238:  Thei  frusschen  to  gidere  fülle  fiercely  von  Kittern,  die  im 

Turniere  heftig  gegen  einander  rennen;  ags.? 
Gabbere,  n.  160.  Betrüger;  ags.  gabbere. 

galowe,  adj.  4«.  gelb;  ags.  gelu,  geolu.   Gealla  =  bilis.  Vgl.  mlat.   galvus. 
zif,  conj.  40.  211.  wenn  =  if,  ags.  gif,  gef. 
zit,  conj    211.  26.  doch,  noch  =  yet,  ags.  git,  get. 
grave,  v.   12.  93.  begraben;  ags.  grafan.  Ch.  Sliak. 
grette,  3.  sing,  praet    (von  grete)  133:   Sehe  grette   sie  schrie,  klagte; 

ags.  graetan,   greötan.     Vgl.  ital.   gridare,   span.    gritar.  —  S.  112.  Ga- 

brielle  grette  our  Lady,   wo  es   begrüssen   bedeutet  vom  ags.  gretan, 

jetzt  to  greet. 
Halewe,  v.  1.  24!).  heiligen;  ags.  hä'gjan. 

halewe,  adj.  85.  Holy  of  halewes  Sancta  sanctorum;  ags.  häleg.  Ch. 
halfondelle,  halfendel  n.  165.  166.  181.  Hälfte;  aus  ags.  healf  und  dael  zu- 
sammengesetzt, 
hele,  n.  11.   104.  123.  Gesundheit,  Heil;  ags.  haelo.   Ch. 
helefuUe,  adj.  133.  heilbringend. 

helynge,  n.  247.  Bedachung;  vom  ags.  helan  =  bedecken,  verbergen, 
herberghage,  n  97.  Herberge;  ags.  hereberge,  jetzt  harbour,  harbourage.  Ch. 
herberwe,  v.  97.  herbergen;  ags.  herebirigan.  Ch. 
heved,  n.  10.  103  heed,  12.   107.  hede,  hed  24.  Kopf;  ags.  beafud.  Ch. 
howsele,  v.  261.  Das  Abendmahl  empfangen,  reflexiv  gebr:    And  there 

ben  manye  of  hem,  that  howsele  hem  every  day.  S.  283:   Wee  made 

every  man  to  ben  houseld;  ags.  hüsljan.  Ch. 
hoole.  hole,  hol,  adj.  88.  104.  107.  gesund,  heil,  ganz,  unversehrt;  ags. 

hal.  Ch. 
hucche,  n.  8=>.  That  arke  or  hucche.  Kiste,  Lade;    ags.  hoecca. 
huyre,  n.  285.  Lohn;  ags.  hyr. 

Kembe,  v.  24.  kämmen;  ags.  cemban,  jetzt  to  comb.  Ch. 
kynde,  n.  248.  302.    193.    Natur,    Art;    ags.   cyude.   Kyndely  adj.    19.   59. 

natürlich.  Ch. 
knave,  n.  154:  knave  child=:male  child  Knabe;  ags.  cnafa.  Ch.  C.  T.  5135. 
Laste,  V.  252:  Thei  lasten  noghte  that  thei  behoten  sie  halten  nicht  was 

sie  versprechen;  ags,  laestan  =  observare. 
leche,  n    238.  Arzt;  ags.  laece.  Ch.  Sh. 
lemman,  limman,  n   24.  plur.  lemmannes,  72.  135.  Geliebter  und  Geliebte, 

entweder  durch  Assimilation  entstanlen  aus  leof  und  man  oder  aus  l'ai- 

mant,  wie  lendemain  aus  Ten  demain.     Für  den  franz.  Ursprung  spricht 

die  Pluralform.    Auch    bei   Ch.   kommt  das   AVort  häufig    in   der  weibl. 

Bedeutung  vor,  z.  B.  C.  T.  3719.  i:i718.  14069. 
lentone,  n.  19.  Fastenzeit;  ags.  lencten,  jetzt  Subst.  lent,  Adj.  lenten.  Ch. 


Sir  John  Maundevylle.  417 

lette,  V.  27.  unterlassen;  ags.  lettan,  gelettsin.  S.  173  lette  of  verhindern, 

abhalten:  Thei  loken  ntvere  upward,  but  down  to  the  Erthe,  for  ilrede 

to  see   onything  aboute  bem,   tb;it   scliolde  lette   hem    of  here  Devo- 

cyoun.  Ch. 
leeve,  leve,  auch  beleve,  v,  108.  221.  glauben;  ags.  gelefan.  Ch. 
lever,  comp.  29.   12G.  lieber;  ags.  leofra.    Ch. 
lewed,  adj.   122.  weltlich,   lewed  man   Laie.     S.  137:   Lewed  people  die 

gewölinlichen  Leute,   in  welcher  Bedeutung  es  häufig  bei  Ch.  und 

Shak.  steht.     S.   146:   wollüstig,    ausschweifend.    Vgl.   Milt   P.  L. 

IV.   193:  So  since  into  bis  tburch  lewd  hirelings  climb;  ags.  laeved. 
leyte,  n.  129.  292.  Blitz;  ags.  legut.  Ch. 

liflode,  n.  293.  Lebensunterhalt;  ags.  liflädu,  jetzt   livelibood. 
liggvnge,  part.  praes.  (von  iigsren)   11.   14».  liegend;  itgs.  li^^gan.  Ch. 
loggen,  V.    193.  refl.  gebr.  sich  legen.  There  ben  in  that  Contree  a  kynde 

of  Snayles,  that  btn  so  grete,   that  many  Personcs  may   loggen   hem 

in  here  Schelles;  ags.  logjin  =  ponere. 
lodesman,  n.  27i.  Lothse;  ags.  lädman.     Ch.  Vgl.  lodesterre,  jetzt  loadstar 

vom  ags.  lädu  =  iter. 
loos,  n.  89.  Ruf;  ags.  hlysa,  hlidsa  =  fama. 
Mochelle,  mochel,  mechele,  mocheles,  moche,  meche,  adj.  und  adv.  198.  304. 

48.  71.  291.  gross,  viel:  ags.  micel,  mucel;  im  Schottischen  muckle.  Ch. 
more,  comp,  von  mochelle.  12.  29.  48.  grösser;  Brytayiie  the  more  =:  Bri- 

tannia  rnnjor;  ags.  mära,  maera.  Ch. 
morwen,   morwe,  n.  164.  16G.  Morgen.    At  morwen   des   Morgens;   ags. 

morgen.   Ch. 
myddes,  n.  2.  Mitte:  The  myddes  of  the  World;  ags.  midda. 
mysbere,  v.   135.  sich  schlecht  betragen;  ags.  misberan.  Ch. 
Namt-lyche,  adv.  199.  namentlich,  besonders;  ags.  nemh'c. 
natheles,  adv.  14.  95.  =  nevertheless;  ags.  nö  py  las.  S.  20:  nevertheles.  Ch. 
ne,  conj.  2.  13.  noch,   steht  nach  der  Negation;  z.  B.  He  thoughte  nevere 

evylle  n  e  dyd  evylle ;  ags.  ne  =  neque.  Ch. 
nempne,  v.  147.   23!.  nennen;  ags.  nemnan.  Ch. 
nessche.  adj.  30  3.  weich;  ags.  hnesce.   Ch. 

neyghe,  neyhe,  v.  40.  220.  243.  sich  nähern;  vgl.  ags.  neohan,  nehvan.  Ch. 
noughte,  adv.  22.  25.   1)  nichts.  2)  nicht,   verstärkte   Negation;   ags.  näviht, 

näuht,  Ch.  hat  naught  und  nought. 
nouther  —  mit  folg.   ne,  coiij.     19.  .58.    100.    146.  weder  —  noch,  z.   B.: 

And  nouther  mHune,   best,   ne   no  thing   that   bereihe   lif  in  him,  ne 

may  not  dyen  in  that  See;  ags.  nähväder,  nädor,  näder.  Ch.  nother. 
Or.  conj.  (zuw.  mit  folg.  that),  53.  166.  197.  bevor;  aer,  aßror,  jetzt  ere.  Ch. 
outher   mit   folg.   or ,    conj.    115.    141.   entweder  —   oder;   ags.   ähväder, 

ävder,  ädor.  Cli. :  other. 
outtake,  v.  246.  ausnehmen.  250.  307.  out  taken  ausgenommen.  Ch. 
Pylch,    n.  24  7.   Pelzkleid;    ag«.   pylce,   ahd.   pelliz,    mlat.   pellicium,    ital. 

pelllccia,  frz.  pelisse.  Ch. :  pilche. 
Archiv  f.  n.  Sprachuu.  XXVII.  27 


418  Sir  John  Maundevy lle. 

Quyk,  adj.  22.  193.  48.  lebendig;  289.  brennend.  Jetzt  veraltet,  ausser 
in  der  Verbindung  The  quick  and  the  dead.  Iq  Lancashire  wick  = 
lebendig;  ags.  cvic.  Ch. 

Rathere,  (compar.  von  ratlie)  40:  The  rathere  Toun  of  Damyete  die  frü- 
here, ältere  Stadt  D.,  entgegengesetzt  einer  später  gebauten  desselben 
Namens;  ags.  rade,  radör  =  frühe,  schnell. 

recche,  v.  mit  of  verbunden.  64.  137.  sich  kümmern  um  .  .  .;  ags.  recan. 
Ch.  Shak.  Byron  Sardan.  Act.  I.  Sc.  2:  reck. 

redye,  v.  reflexiv  gebrauiht  185.  sich  zurecht  finden;  hängt  wohl  zus. 
mit  dem  ags.  adj.  räd,  raede. 

releef,  n.  210.  Ueberbleibsel;  lefa,  oferlifa,  Ch.  relefe. 

rightewisnesse,  n.  294.  Rechtschaffenheit;  ags.  rihtvisness.  Ch. 

Scant,  adv.  252.  kaum:  And  whan  thei  wil  fighte,  thei  wille  schokken  hem 
to  gidre  in  a  plomp;  that  zif  there  be  20000  men,  men  schalle  not 
wenen,  that  there  be  scant  10000.  Hängt  dies  Wort  mit  dem  ags.  scae- 
nan ,  scenan  =  frangere  zusammen  oder  gehört  es  zum  afr.  eschantelet, 
mittelat.  scantellatus  =  truncatus? 

Scherethors  Day,  n.  19.  Der  grüne  Donnerstag  (auch  Maundy  Thursday 
genannt).  Vgl.  Brand,  Populär  Anticjuities  I.  83  ff.  Dort  wird  das  Wort 
hergeleitet  entw.  vom  ags.  scir  =  purus,  mundus,  bezüglich  auf  die  Fuss- 
waschung  der  Jünger  Ev.  Job.  13.  5  ff'.;  oder  von  sceran  =  tondere 
„bfcause  in  old  Father's  days  the  people  would  that  day  schere  theyr 
hefU's  and  clypp  theyr  berdes,  and  pool  theyr  heedes,  and  so  make  them 
honest  ayenst  Easter  day;"  oder  von  sciran  =  dividere,  weil  an  diesem 
Tage  Almosen  vertheilt  wurden. 

scleye,  n.  130.  Schlitten.  And  than  most  thei  let  carye  here  Vitaylle  upon 
the  Yse,  with  Carres  that  have  no  \^'heeles,  that  thei  clepen  Scleyes. 
Hängt  vielleicht  zus.  mit  nhd.  Schleife. 

seohe,  v.  97.  suchen,  ags.  secan. 

sely,  adj.  293.  And  for  to  apparaylle  with  oure  Bodyes,  wee  usen  a  sely 
litylle  Clout,  for  to  wrappen  in  our  Careynes,  wo  es  einfach  zu  bedeuten 
scheint;  ags.  saelig?  Ch.  C.  T.  gebraucht  es  nur  von  Personen  in  der 
Bedeutung  von  silly,  harmless. 

syker,  adj.  193.  sicher  =  sure;  sykerlyche  und  sikerly,  adv.  198.  34  =  sa- 
fely,  noch  jetzt  in  Schottland  gebräuchlich,  ahd.  sihhar.    Ch. 

sithe,  n.   108.   158.  Mal.  Four  sithes,  ofte  sithes;  ags.  sid.  Ch. 

sithen,  siththen,  sithe,  sithens,  später  zu  since  contrahirt,  praep.  und  conj. 
seit,  seitdem;  ags.  sidden,  sid|)an.  Ch.:  sithen,  sith,  sin.  Shak.:  sith, 
sithence. 

skylle,  n.  29.  Grund,  Zweck;  ags.  seile.  Ch. 

sloutihe,  adj.    16>.  langsam;  ags.  sleac,  slav,  jetzt  slow. 

somdelle,  adv.  168.  etwas,  gewissermassen;  aus  ags.  sum  und  dael  zu- 
sammengesetzt. Ch:  somdel. 

soothe,  sothe,  n.  251.  313.  Wahrheit;  ags.  sod.  Ch.  Sh. 

sothefastnesse,  n.  133.  Wahrhaftigkeit;  ags.  sodfästnyss.  Ch. 


Sir  John  Maundevylle.  419 

sowce,  V.  a.  251.  eintauchen,  tränken;  ags.  sücan. 

sprote,  n.  238.  Splitter  (?):  Thei  breken  here  speres  so  rudely,    that  the 

Tronchouns  flen  in  sprotes  and  peces  alle  aboute  the  Halle;  ags.  spreöt 

=  trudis,    contus    oder   zusammenhängend    mit   spritan,    praet.  sprät  = 

Andere, 
stede,  n.  6.  Ort,  Stelle,  Stätte;  ags.  stede. 

stere,  v.  22.  sich  bewegen;  ags.  steran.  Ch.  ' 

stree,  n.  253.  Stroh;  ags.  streä.  Ch. 
stye,  V.   134.  steigen;  ags.  stigan.  Ch.  steye. 

swfloghe,  n.  33.  Strudel,  Abgrund;  ags.  geswelge.     Ch.  swolowe. 
swythe,  adv.  27.  schnell,  geschwinde;  ags.  svide.  Ch. 
sytte,  V.  45.  liegen  (von  einer  Stadt);  ags.  sittan. 
Therf,  adj.  18.   121.  ungesäuert.  Therf  bred;  ags.  peorf. 
thorghe,  thorge,  praep.  IG,  305.  durch;  ags.  |)urh,  Cb.:  thurgh,  jetzt  through. 

Vgl.  bridde.  brene  =  bird,  burn. 
thralle,  v.  2.  zum  Sklaven  machen,  hingeben;  vom  ags.  I)rael  =  servus. 

Ch.  Sh.,  jetzt  to  inthral. 
toke,   praet.   131.  lehrte,   zeigte,  schrieb  vor:   The  whiche  Book  (Al- 

karon)  Machamete  toke   hem.     Die  Verba  take  (ags.  tacan,   praet.  töc 

=  suraere)  und  teche  (ags.  taecan,  praet.  taehte  =  monstrare,  docere, 

jubere)  scheinen  früher  zuw.  verwechselt  worden  zu  sein,  denn  der  Form 

nach  ist  a.  a.  O.  toke  d.  Praet.  von  take,  mit  der  Bedeutung  des  Praeter. 

von  teche. 
toothille,  n.  3.  Erhöhung,  Hügel;  hängt  wohl  zus.  mit  dem  ags.  totjan 

=  eminere.     Halliwell  Gloss.  führt  totehill  =  an  eminence    als  ein  in 

Cheshire  noch  gebräuchliches  Wort  auf. 
tother,  pron.  9.   16G.  253.  stets  mit  vorhergehendem  best.  Artikel.  Vgl.  oben 

unt.  Pronomen.    S.  305:   He  (the  Tigris)  rennethe  more  faste  than  ony 

of  the  tother  ist  the  tother  gleichbedeutend  mit  the  two  others. 
trowe,  V.  4.  100.  242.  glauben,   meinen,   trauen;    ags.  trüvjan,  tr^ovan 

Ch.  Sh. 
Undernemen,  v.  139.:  „Alias!   that  it  is  gret   sclaundre  to   oure  Feythe  and 

to  oure  Lawe,    whan  folk  that  ben  with   outen  Lawe    schuUe    repreven 

US  and  undernemen  us  of  oure  Synnes,"  wo  es  schelten,  schmähen 

heissen  muss;  vom  ags.  nemnan  =  nominure? 
undurne,  n.    163.  die   neunte  Morgenstunde;   ags.   undern,    goth.  un- 

daurn?.  Ch.:  undern. 
unethes.  unnethe,  unethe,  adv.  19-'.  207.  2 IG.  kaum,  mit  Mühe;  ags.  uneäde. 

Ch.  Sh. :  uneath. 
Wanhope,  n.  285.  Hoffnungslosigkeit,   Verzweiflung:  das  ags.  Präfix 

van,  von  =  deliciens  bezeichnet  den  Mangel,  wie  un  oder  dis.  Ch. 
wedde,  n.  ]3.  167:  To  wedde  zum  Pfände;  ags.  vedd,  goth.  vadi  =  Pfand; 

mittellat,  vadium,  guadium.  Ch. 
wene,  v.  51.  79.  134.  meinen,  wähnen,  ags.  venan.  Ch. 
where,  conj.  51.  ob;  ags.  hväder.  Ch. 

27* 


420  Sir  John  Maundevylle. 

wissely,  adv.  69.  sicherlich,  gewiss;  ags.  viss.  Ch:  wisly. 

woke,  n.  273  2P9.  Woche;  ags.  \dce,  veoce,  vuce. 

■wove,  n.  247.  Wand;  ags.  vag. 

•wra  the,  v.  a.  37.  erzürnen;  ags.  vrädjan.  Ch. 

wyten,  wite,  v.  25.  300.  304.  wissen  (novisse)  ;  ags.  vitan.  Ch. 

wylne,  V.  295.  wollen,  wünschen;  ags.  villan.  Cli. 

wyndwe,  v.  107.  wegblasen;  ags.  vindvjan,  jetzt  to  winnow. 

Ynowghe,  ynowe,  adv.  49.  137.  1^6.  genug;  ags.  genöh,  genög.  Ch. 


2.  Wörter  romanischen  Ursprungs. 
Abayst,  part.  praet.  295.  betreten,  verlegen;  vom  afr.  abaiser.  Ch. 
adaniant,  ademand,  n.  2<0.   161.  Magnet;  lat.  adamas,  antis. 
albespyne,  n.  13.  Weissdorn;  lat.  alba  spina,  frz.  aubepine. 
Almayne,  n.  6.  Deutschland;  afr.  Alemaine. 
Antartyk,  n.  1^0.  Süd-Polarstern;  lat.  antarcticus. 
appertely,   apertly,   adv.   22.  119.  offen,  klar,   deutlich;   afr.  adj.  apert. 

Ch.  C.  T.  6696.  0718.  hat  apert  als  Adveib. 
apyjele,  v.  139.  anklagen;  lat.  appellare,  jetzt  to  appeal. 
apropre,  v.  35.  sich  zueignen;  hit.  appropriare,  jetzt  appropriate. 
arberye,  n.  256.  Waldung;  mlat.  arborea. 
arrescn,  v.  131.  anreden,  mit  Jemand  verhandeln;  mlat.  arrationare, 

afr.  arresoner.  Ch. :  aresone. 
artetyke,  n.  315.  Gicht;  mlat.  artetica  (sc.  gutta.)  Nach  Du  Cange  wahrsch. 

eine  corrumpirte  Ableitung  vom  griech.  aQd-Qmyri  vöoos  =  a^ß'olris. 
assaye.  v.  91.  225.  256.  prüfen,  untersuchen;  mlat.  assaia  =  examen,  pro- 

batio,  und  assaghare;  afr.  asaier,  essaier;  ital.  assag>;iare. 
assoille,  v.  18.  3!4.  von  Sünden  freisprechen;  lat.  ab.solvere.  Ch.  CT. 

12321.  9528:  Assoileth  me  this  question  Löset  mir  diese  Frage. 

astoneyed,  part.  praet.  erstaunt;   afr.    estoner  (zu  vergl.  mit  ags.   stunjan, 

jetzt  stun).    Dem   heutigen   astound  ist   ein  d  angehängt   wie    in   sound, 

afr.   soner  etc.    Vgl.   Mätzner  Engl.  Grammatik,  p.    178.   Ch.:   astonied, 

astoned. 

atempree,  attempree,  tempree,  adj.  157.  276.  168.  gemässigt,  mild;  (vom 

Klima  und  vom  Pfeffer) ;  mlat.  temperius,  afr.  tempre  adv.  Ch.  attempre. 

avale,  v.  266.  herabsteigen  (von  einem  Berge);  afr.  avaler,  mlat  avalare.  Ch. 

avaunte,  avaunt,   v.  mit   dem  reff.  176.  sich  rühmen,   prahlen;   309.   n. 

Alle  bis  freniies  maken  hire  avaunt;  afr.  avanter.  Ch. 
aveer,  n.  292.  Vermögen;  afr.  aver. 
avisioun,  n.   114.  296.  Vision;  afr.  avisioun.  Ch. 
avowe,  n.  105.  Gelübde;  afr.  vou,  n.  avoer  v.  Ch. 
avowtrie,  n.  54.  86.  249.  Ehebruch;  afr.  avoutrie,  jetzt  adultery.  Ch. 
avys,  n.  180.  136.  Rath,  Meinung;  afr.  avis,  jetzt  advice.  Ch. 
awtiere,   awtier,  awteer,   awtere,    n.  48.  59.  60.   112.    16.  Altar;   afr.    alter, 

autier.  Ch.:  auter. 
Babewyne,  n.  210.  Pavian;   mlat.  babewynus;    afr.  babouin ,  ital.  babbuino. 


Sir  John  Maundevylle.  421 

barette,  n.  272.  List,  Betrug;  mlat.  barata,  (Du  Gange:  =  fraus,  dolus 
qui  fit  in  contractibus  vel  venditionibus):  afr.  barate,  barete;  brelon. 
barad  =:  VeiTath. 

bestaylle,  n.  284.  Vieh;  vom  lat.  bestialia,  fr.  betail. 

boyst,  n.  85.  Kasten,  Schachtel;  mlat.  buxis,  buxida,  umgestellt  in  bux- 
dia,  bustia;  prov.  bostia,  afr.  boiste.  Vgl.  Dicz  Wörterb.  p.  573.  und 
Du  Gange  v.  buxis.  Gh. 

ßrace,  n.  15.  Arm;  „And  there  is  an  Arm  of  the  See  Hclle.';pont:  and  sum 
Men  caüen  it  the  Mouthe  of  Gonstanfynoble ;  and  sum  Men  callen  it 
the  Brace  of  Seynt  George."  Vgl.  Du  Gange:  Brachium  St.  Georgii, 
Bosphorus,  seu  Fretum  Hellt- spontiacum,  sie  dictum  a  templo  St.  Georgii 
extra  urbemConstantinopolitanam,  quod  ad  littus  istius  freti  exstructum  erat. 

bügle,  n.  269.  Büffel;  afr.  bügle,  lat.  buculus.  Gh. 

buscaylle,  n.  271.  Gebüsch;  mlat.  busoalia. 

Careyne,  n.  293 :  „And  for  to  apparaylle  with  oure  Bodyes,  wee  usen  a  sely 
litylle  Glout,  for  to  wrappen  in  oure  Careynes,"  wo  es  „Membra 
genitalia"  zu  bedeuten  scheint.  Afr.  caroigne,  ital,  carogna,  nfr.  cbarogne, 
engl.  Carrion  (Aas,  LeichnamJ,  vom  lat.  caro.  Gh.:  carraine  v.  2015. 
14  42  =:  Carrion. 

catelle,  n.  2.  Gut,  Vermögen.  Ursprünglich  hiess  capitale  das  Vermögen 
an  Vieh  (caitle),  später  alle  beweglichen  Güter.  Daraus  wurde  catallum, 
afr.  catel,  chatel.  Jetzt  cattle  =  Vieh,  chattel  =  bewegUches  und  un- 
bewegliches Vermögen.  Gh.  G.  T.  542.  4447. 

cautele,  cawtele,  n.  272.  277.  280.  Betrug,  List,  Schlauheit;  mlat.  cau- 
tela,  fr.  cautele. 

chamberere,  chambrere,  n.  102.  140.  wo  Hagar  Abrahams  chambrere  genannt 
wird;  mlat.  cameraria,  fr.  chambriere.  Gh. 

chesteyne,  n.  307.  Kastanienbaum;  afr.  chastaigne.  Gh. 

cheve,  v.  147.  zum  Ziele  kommen;  mlat.  cheviare;  afr.  chevir,  venir  ^ 
Chief.  Nach  Halliw.  Gloss.  ist  das  Wort  in  dieser  Form  noch  im  Nor- 
den Englands  gebräuchlich.     Jetzt  achieve.  Gh. 

cheventeyn,  n.  3.  Anführer,  Gapitän;  afr.  chevetaine,  lat.  capitanus.  Gh.: 
chevetain  v.  2557.  VVahrscheinl.  ist  das  erste  n  in  cheventeyn  zu  streichen. 

circumcyde,  ▼.  80.  102.  beschneiden;  lat.  circumcidere. 

claretee,  n.  86.  Licht,  Klarheit;  lat.  claritas. 

close,  v.   15.  einschliessen,  umgeben  =:  to  enclose ;  vom  lat.  includere. 

cocodrille,  cokadrille,  n.  198.  Krokodil.  Die  ^let.ithese  des  r  in  cocodrillus 
statt  crocodilus  kommt  nach  du  Gange  schon  im  mlat.  vor. 

compassement,  n.  180.  U  eher  legung.  Von  compas  (cum-passus)  gleicher 
Schritt,  später  Zirkel;  nfr.  compassement.  Gh.:  corapasment. 

corage,  n.  146.  Neigung,  Lust;  vom  lat.  cor;  afr.  corage.  Gh. 

costage,  n.  125.  174;  costages  240.  Kosten;  mlat.  costagiura,  afr.  ccstage.  Gh. 

costifous,  adj.  208.  kostbar.  (Das  f  ist  eingeschoben  wie  in  plentifous). 

covenable,  adj.  120;  covenably,  adv.  49.  auch  zusammengez  in  connable,  293, 
passend,  angemessen,  ziemlich;  fr.  convenable.  Gh. 


422  Sir  John  Maundevylle. 

covetyse,  n.  18.  Habsucht;  mlat.  cupiditia:  ital.  cupidizia,  cupidezza;    afr. 

coveitise,  nfr.  convoitise,  engl,  oovetousness. 
creance,  n.  292.  Glaube;  mlat.  credentia,  afr.  creance.  Ch. 
cuniant,   n.  sing,   cumanez,    cumantz,   cumanz   (sing.  u.  plur.)  213.  238.  240. 

Zahl  von   10,0Ü0.? 
cylours,  n.  pl.  239.  Wahrscheinlich  vom  mlat.  celura  nach  Du  Gange  =  lecti 

supremum  tegmen,  dann  überh.  Decke  eines  Zimmers,  wie  a.  a.  O. 

Defaute,  n.    3.    151.  Fehler,   Schuld,   Mangel;   for  defaute   of  .  .  .  aus 

Mnngel  an  .  .  .;  afr.  defaulte.  Ch. 
defoule,    v.    138.  verletzen,    übertreten,   (ein  Gesetz);    mlat.    defolare 

Ch.   11708  ff.  in  der  Bedeutung  „schänden." 
delytable,  adj.  3.  köstlich;  afr.  delitable.  Ch. 
delyverly,  adv.  29.  behende,  gewandt;  afr.  delivre.  Ch. 
departe,  v.   13.  85.  135.  t heilen;  afr.  departir,  neuengl.  dispart.  Ch. 

desparple,  v.  3.  sich  zerstreuen:  „A  semblee  of  Peple  withouten  a  Che- 
ventevn  is  as  a  Flock  of  Shet^p  withliouten  a  Schepperde;  the  which 
departeth  and  desparpleth,  and  wyten  never  whidre  to  go."  Vgl. 
Dii'z  Wörterb»  s.  v.  parpaglione,  welches  er  für  entstellt  aus  papilio  er- 
klärt; afr.  esparpeiller;  nfr.  eparpiller;  ital.  sparpagliare ;  span.  desparpajar. 

despence,  n.  125.  Unkosten;  afr.  despense.  Ch. :  dispence. 

desport,  n.  123.  216.  Zeitvertreib,  Belustigung;  mlat.  disportus,  afr. 
desport,  neuengl.  sport.  Ch, 

disporte,  v.  210,  sich  u  nterh alten ;, afr.  desporter.  Ch. 

de.vtrere,  n.  241.  291.  Pferd;  mlat.  dextrarius,  afr.  destrier.  Ch. 

deveer,  n.  28G.  Pflicht,  Schuldigkeit;  mlat.  deverium.  Gh.:  devoir. 

devyse,  v.  270.  theilen;  afr.  deviser. 

discrece,  v.  273.  kleiner  werden;  mlat.  discrescere,  neuengl.  decrease.  Ch. 
disencrese, 

displesance,  n.  40.  Missfallen;  afr,  desplaisance,  Ch, 

disp  tous,  adj.   112.  streitsüchtig;  afr.  despiteux.  Ch. 

dissert,  n.  115.  Verdienst;  afr.  desserte. 

distreyne,  v.  315,  quälen;  mlat.  distringere;  afr.  destraigner.  Ch. 

doel,  n.  74.  202.  Klage,  Jammer;  mlat.  dolia;  afr.  dol;  ital.  doglia.  Ch.: 
dole.  Shak.  Mach.  I.   2. 

dowte,  V.  64.  fürchten;  afr.  douter    Ch. 

dure,  V.  43.  46.  142.  209.  sich  erstrecken,  z.  B.  „Arabye  durethe  fro 
the  endes  of  the  Reme  of  Caldee  unto  the  laste  ende  of  Affryk,"  in 
welcher  Bedeutung  es  wechselt  mit  strecche.  Vergl.  Du  Cange  s.  v. 
durare  =  extendi.  S.  58  hat  es  die  Irans.  Bedeutung:  das  Leben  fris- 
ten, erhalten;  S.  144:  leben;  S.  294:  dauern.  Bei  Ch.  steht  es 
nur  in  der  letzten  Bedeutung. 

Eglentier,  n.  14.  die  wilde  Rose;  afr.  aiglentier,  nfr.  eglantier.  Diez 
Wörterbuijh  s.  v.  aiglent  leitet  es  her  von  aiguille  mit  dem  Suffix  ent, 
lat.  gleichsam  acuculentus  stachelicht,  neuengl.  eglantine. 


Sir  John  Maundevylle.  423 

encerche,  v.  314.  durchsuchen;  mlat.  encercare,  afr.  encerchier,  ital.  cer- 
care,  fr.  chercher,  engl,  search.    Vgl.  Diez  s.  v.  cercare. 

enleved,  part.  praet.  188:  „In  tho  Plates  ben  IStonis  and  Batayles  of  knyghtes 
enleved,"  wo  es  „erhaben  gearbeitet"  zu  heissen  scheint.  Es  hängt 
wohl  mit  levare  zusammen? 

enoumbre,  v.  refl.  1.  136:  „And  whan  men  speken  to  hem  of  the  Incarnaciön, 
how  that  —  God  sente  his  Wysdora  in  to  Erthe,  and  enumbred  him 
in  the  Virgyne  Marie."  Hall.  Closs.  erklärt  es  to  join  in  anything  und 
leitet  es  daher  wahrscheinlich  von  numerus  ab.  Es  bedeutet  aber  an 
den  angef  Stellen  Mensch  werden  (im  Schosse  der  Jungfrau  Maria), 
wie  im  afr.  enombrer,  aombrer,  lat.  inumbrare. 

ensample,  n.  133.  137.  Beispiel,  Muster;  mit  Einschiebung  des  Nasallautes 

vom  afr.  essample. 
enstrangle,   strangle,   v.  194.  tödten  (von  Hunden,    welche    Kranke    tödten 

müssen,    um    sie   vor    ferneren  Leiden  zu   bewahren);   lat.  strangulare, 

fr.  etrangler. 
entre  messe,  n.  sio.  Zwischengericht;  von  inter  und  missum  =  das  Auf- 
getragene, (ital.  messe);  afr.  entreraes,    frz.  entremets.  Ch.:  entremees. 
entrete,  v.  91.  9.5.  behandeln,  und  zwar  an  beiden  Stellen  von  schlechter 

Behandlung;  afr.  entraiter  von  tractare. 
eschewe,  v.  292.  meiden;   afr.  eschiver,  escheveir;  vgl.  nhd.  scheuen,  ahd. 

skiuhan,  ags.  scedh  adj.  Ch. :  escheve,  ^schue. 
eysement.  n.   214.   Bequemlichkeit;    mlat.   aisiamentum;    afr,   aisement; 

ital.  agiamento.  Vgl.  Diez  Wörterbuch  s.  v.  agio. 

Fawty,  aclj.  175.  mangelhaft,  von  fallere,  fallitare;  neuengl.  faulty. 
fertre,  n.  225.  CO.  Todtenbahre;  lat.  feretrum;  griech,  cpeqerQov,  fsQrqov; 

afr.  fertere  =  Rehquienkästchen. 
festyfulle,  adj.  137.  festlich;  jetzt  feastful. 
ferrom,  n.  271.  Eisenmasse;  lat.  ferrum. 

flom,  n.  98.  99.  147.  Fluss;  atl.  flumen;  afr.  flum.    Daneben  oft  ryvere. 
folyly,  adv.  184.  thörichter  Weise,  vom  mlat.  foUis.  Ch. 
forcelette,  n.  47.  Festung,  Fort;  mlat.  forcelletum. 
formyour,  n.  2.  135.  Schöpfer;  von  formare. 
fosse,  n.  32.  Höhle,  Loch;  lat.  fossa. 

fourrures,  n.  pl.  247.  Pelzwerk;  mlat.  furrura,  frz.  fourrure. 
frote,  V.  60.  170.  reiben;  fr.  frotter  von  fricare,  frictum.     Vergleiche  Diez 

Wörterbuch  s.  v.  frettare.  Ch. 
frayed,  part.  praet.  153.  verziert,    besetzt;    hängt  wohl  zusammen  mit 

dem  ital.  fregiare. 

Galaothe,  n.  244:  „He  (the  Emperour)  dothe  a  down  his  Galaothe,  that 
syt  upon  his  Hede,  in  manere  of  a  Chapelet,  that  is  made  of  Gold  and 
preciouse  Stone  and  gret  Perles,"  wo  es  also  Krone,  Diadem  oder 
etwas  Aehnliches  bedeuten  muss.  Wahrscheinlich  vom  lat.  galea  =  Helm. 
VergL  Diez  Wörterbuch  s.  v.    Im  lat.  Texte  steht  nach  Hall,  galiotam. 


424  Sir  John  Maundevylle. 

garnement,  n.  153.  Gewaud;  mlat.  garnimentum,  afr.   garnement,    neuengl. 

garment.  Ch. 
garnere,  gerncre.  gerner,  n.  52.  Kornspeicher;  mlat.  granarium,  afr.  grenier 

und  gernier  mit  transpon.  r;  neuengl.  granary.  Ch. 
geste,  n.  220.  Heldenthat,  Abenteuer;   vgl.  Du  Gange  s.  v.  gesta.  Ch. 
graff'e,  v.  100.  pfropfen,  wahrscheinlich  von  graphium,   yqafiov;   neuengl. 

to  grafr,  frz.  greff'er. 
greces,  grees,  n.  pl.  70.  79.  80.  Stufen,  neben  degree,  pl.  degrees  71.  217. 

Lat.  gradus,  (gressus)    afr.  grct  und  degre  von  degradare.  Ch.  Denselben 

Ursprung  hat 
grecynges,  n.  pl.  220.   Treppen.     Durch  die   angehängte  Endung  ing  be- 
kommt das  Wort  eine  kollektive  Bedeutung,  wie  footing,  flooring,  schirt- 

ing  etc. 
gree,  n.  295:  „I  trowe  fidle,  that  God  lovethe  hem,  and  that  God  take  hire 

Servyse  to  gree."  huldreich  anneh  men  ,  von  gratum  =  Gefälligkeit; 

afr.  a  gre,  davon  agreer,  neuengl.  agree. 
,greve,  v.  71,  schmerzen,  weh  thun  (vom  körperl.  Schmerze),  von  gravis, 

fr.  grever. 
grucche,  v.  57.   murrren;  afr.    groucer,   groucher,   neuengl.   grudge,   nach 

Diez  vom  ahd.  grunzSn.   Ch. :  groche. 
gylofre,  n.  51.  IS7.  Clowes  of  gylofre,  clowegylofres   Gewürznelken;   lat. 

caryopliylli  clavus,  fr.  clou  de   girofle,   afr.  gilofer,  neuengl    gillyflower 

Ch. :  cloue  gilofre. 
gyngevere,   n.    170.    187.   Ingwer;   lat.    zingiber,    frz.    gingembre,    neuengl. 

ginger.  Ch. :  gingiver. 
gysarmez,  n.  pl.  40.  eine  scharfe,  leichte  Waffe;  afr.  gisarme.  Vgl.  Du 

Cange  s.  v.  gisarme  und  Diez  Wörterb.  Ch. 

He,  n.  4.  Insel,  afr.  isle,  ille,  nfr.  ile;  neuengl.  isle. 

insulfisance,  n.  315.  U ntauglichkeit;  lat.  insufficientia, neuengl.  insufficiency. 

jonkes,  n.  pl.  13.  Binsen  (nicht  joukes,  wie  Halliw.  in  beiden  Glossaren 
hat)  „Jonkes  of  the  See,  that  is  to  sey,  Rushes  of  the  See;"  lut.  jun- 
cus,  fr.  Jone. 

joutes,  n.  pl.  5<:  „Thei  ben  fülle  devoute  Men,  and  lyven  porely  and  sym- 
pely,  with  Joutes  and  with  Dates,"  wo  es  Halliw.  durch  gourds  (Kür- 
bisse) erklärt.  Wahrsch.  hängt  es  aber  zusammen  mit  dem  armorik. 
joud  ein  Brei  aus  Mehl  oder  Hülsenfrüchten,  wek-ber  den  Armen  zur 
Speise  diente,  oder  dem  mlat.  Jutta,  jutia  =  lactare.    Vgl.  Du  Cange  s.  v. 

journey,  n.  255.  271.  Tagereise^  von  diurnum;  mlat.  jorneia  =  labor  diur- 
nus,  afr.  jornee,  jurnee.  Ch. 

Latynes,  n.  pl.  19.  Anhänger  der  römischen  Kirche. 

latynere,  n.  58.  Dolmetscher;  mlat.  latinarius;  afr.  latinier. 

Mareyes,   n.  pl.    130.   Moräste;   mlat.    mareseum,   ital.   marese,  fr.   marais. 

Ch. :  mareis. 
mawgre,  maugre,  praep.  24.  266.   ungeachtet.    Vgl.  lat,  male  gratus,  ital. 
malgrado,  afr.  malgre,  maugre.  Ch. 


Sir  John   Maundevylle.  425 

mawndeo,  n.  18.  19.  91.:  „And  there  is  a  partje  of  the  Table,  that  he  (oure 
Lor'l)  madc  his  Souper  onne,  whan  he  inade  his  Maundee,  with  his 
Discyples."  Wahrscheinlich  vom  mlat.  niandum  =  dispositio  testa- 
mentaria.  Vgl.  Du  Gange  s.  v.  Daher  Maundy-Thursday,  der  grüne 
Donnerstag;  vgl.  oben  Scherethors  Day  und  die  angef.  Stelle  aus  Brand 
Pop.  Antiq. 

maystrie,  n.  286.  Geschicklichkeit;   mlat  magisterium,  afr.  maistrie.  Ch. 

mend\fauntes,  n.  pl.  210.  Mendynantes.  167.  Bettelmönche,  lat.  mendi- 
cantes;  fr.  mendiants;  neuengl  mendicants.  Vielleicht  hat  sich  das  f 
unorganisch  in  mendiauntes  einf>eschlichen  wie  in  costifous,  plentvfous 
etc.  Ch.  C.  T.  V.  74  88.  7494  (ed.  Wright)  hat  mendinauntz  und  mendeaunts. 

menoures,  n.  pl.  282:  „Frere  Menoures,"  Minoriten,  Frauziscaner- 
mönche;  lat.  minores,  afr.  menour. 

meselle,  adj.  104.  aussätzig;  mlat.  misellus  =  leprosus,  afr.  mesel.  Ch. 

meve,  v.  13.  88.  bewegen;  lat.  movere,  afr.  muevre,  movoir,  neuengl.  to 
move.    Vgl.  repreve.  Ch. 

meynee,  n.  226.  275.  Hausgenossenschaft,  Dienerschaft,  Gefolge; 
mlat.  maisnada,  mainada  „familia,  quasi  man^ionata."  Du  Gange;  ital. 
masnada,  abgel.  von  magione  =  maison  ;  afr.  maisnee,  maisgnee.  Chevy 
Chase:  „Then  the  Perse  owt  of  Barbarowe  cam,  with  him  a  myghtye 
meany."  (Jagdgefolge).  Ch.  Sh. 

montance,  mountance,  n.  38.  6.").  240.  Betrag,  Strecke,  von  montare; 
afr.  montance,  neuengl.  araount.  Ch. 

mure,  v.  278.  mit  einer  Mauer  umgeben,  von  murare,  afr.  murier. 

Nakeres,  n.  pl.  281.  Heerpauke.  Nach  Diez  orientalischer  Herkunft,  afr. 
nacaire,   fr.  nacre,  ital.  näcchera.  Ch. 

naperye,  n.  2fi0.  leinenes  Tischzeug;  mlat.  naperii. 

Doblesse,  n.  294.  Glanz,  Würde;  alr.  noblece,  nobleche.  Ch. 

Obeyssant,  adj.   15.5.   197.  gehorsam.  Ch. 

orfrayes,  n.  233.  ein  mit  Gold  gestickter  Rand:  mlat.  aurifrisium;  afr. 
orfrais;  fr.  orfroi.  Ch.    Davon 

orfrayed,  part.  praet.  233.  mit  einem  goldgestickten  Rande  ver- 
sehen. 

oriloge,  n.  234.  Uhr,  von  horologium,  afr.  orloge.  Gh.:  orloge. 

Papyonn,  n.  29:  „In  Gipre  Men  hunten  with  Papyonns,  that  ben  lyche 
Lepardes."  Vgl.  Du  Gange  s.  v.  papio,  der  eine  Stelle  anführt  von  Jac. 
de  Vitriaco:  „Sunt  ibi  (in  terra  lerosolymitana)  cameli  et  bubali  abun- 
daater  et  papimes,  quos  appellant  canes  silvestres,  acriores  quam  lupi." 

partie,  n.  42.  45.  Theil;  fr.  partie.  neuengl.  part.  Ch. 

pask,  n.  92.  Osterfest,  vom  hebr.  pesach,  lat.  pascha,  afr.  pasque,  prov. 
pasca,  fr.  päques. 

pece,  n.  iL  12.  Stück;  mlat.  petium,  petia  =  Stück  Land,  ital.  pezza, 
prov.  pessa;  fr.  piece. 

peraunter,  adv.  286.  314.  vielleicht;  zusgez.  aus  peraventare,  afr.  pera- 
venture.    Gh.:  peraventure,  para unter. 


426  Sir  John  Maundevylle. 

perfyt,  adj.  48;  perfitely,  adv.  135.  vollkommen;  afr.  parfeit,  parfit.  Ch.: 
parfit. 

pes,  n.  11.  Friede;  afr.  pes.    Ch.:  pees,  pese. 

pese,  n.  158.  Erbse:  „As  grete  as  a  pese."  S.  129.  als  Plural;  lat.  pisum; 
afr.  peis,  pois,  nfr.  pois;  vgl.  ags.  pisa.  Die  pg.  7  erwähnte  schw.  Plu- 
ral form  pesen  findet  sich  auch  bei  Ch.  Die  Abwerfung  des  s  im  beu- 
tigen pea  hat  wohl  darin  seinen  Grund,  dass  man  dasselbe  irrthümlicher 
Weise  für  ein  pluralisches  hielt. 

peynen,  v.  mit  dem  pron.  refl.  3.  58.  293.  sich  anstrengen,  sich 
Mühe  geben;  afr.  se  peiner;  vgl.  ags.  pinan,  pinjan.  Ch. 

plentyfous,  plentifous,  plentevous,  plenteevous,  adj.  187.  211.  255.  258. 
fruchtbar  von  plenus;  afr.  plentivose,  planteuouse,  neuengl.  plenteous. 

plesance,  12.  39.  151.  2C0.  Geschmack,  Gefallen;  mlat.  placentia.  fr, 
plaisance.  Ch. 

pleyne,  v.  286.  beklagen,  von  plangere;  fr.  plaindre,  neuengl.  to  complain. 
Ch. :  plaine. 

pomelee,  adj.  289.  gefleckt;  mlat.  pomellatus  von  pomellus  =  globulus, 
dimin.  von  pomum.  Ch. 

prestre,  n.  42.  182,  preste  47,  preest  71,  Priester,  von  presbyter,  afr. 
prestre. 

prevytee,  n.  124.  Gewohnheit,  geheimes  Geschäft;  afr.  privete.  Ch. 
privetee. 

Pruysse,  n.  7.  Preussen.  Ch. :  Pruce. 

pure,  V.  158.  286.  301.  reinigen,  von  purus.  Ch. 

Quarelle,  n.  190.  269.  viereckiger  Bolzen;  mlat.  quadrellus.  Du  Gange 
quadrelli,  quarelli  =  tela  balistnrum,  brevia,  spissiora  et  forma  qua- 
drata,  unde  nomen  nostris  quarreaux.  Afr.  quarel,  ital.  quadrello, 
prov.  cariel.  Ch. 

quarteroun,  n.  301.  Viertel:  „And  tbere  is  not  the  Mone  seyn  in  alle 
Lunacioun,  saf  only  the  seconde  quarteroun."  Mlat.  quartaronum  = 
1  Viertel  Pfund,  fr.  quarteron. 

quybybe,  n.  50.  Kubebe,  eine  dem  Pfeffer  ähnliche  Frucht,  die  auf  Java 
wächst  und  in  Apotheken  gebraucht  wird ;  lat.  cubeba. 

quyrboylle,  n.  251.  In  der  lat.  Uebers.  corium  bullitum.  Hall.  Gloss. :  „A 
peculiar  preparation  of  hather.  by  boillng  it  to  a  condition  in  which  it 
oould  be  moulded  to  any  shäpe,  and  then  giving  it,  by  an  artificial  pro- 
cess,  any  degree  of  requisite  hardness." 

quyten,  v.  174.  die  Kosten  bestreiten,  von  quietus.  Vgl.  Diez  Gloss. 
V.  cheto;  neuengl.  to  acquit.  Ch. 

RatouD,  n.  129.  Ratte;  mlat.,  span.  u.  port.  rato;  ital.  ratto,  ahd.  rato,  ags. 
raet.  Ch. 

rayed,  part.  praet.  290.  gestreift,  von  radiäre,  afr.  roie,  nfr.  raye.  Ch. 

roialme,  rewme,  reme,  n.  256.  6.  42.  Reich,  vielleicht  aus  dem  mlat.  rega- 
lengum  entstanden,  nach  du  Gange  =  dominium.  Diez  leitet  es  von  re- 
galimen  her.  Afr.  realme,  reaugme,  reaume.  Ch.  reaume,  reme. 


Sir  John  Maundevylle.  427 

remewe,  v.  39.  fortziehen;  afr.  remuer  von  mutare.  Ch.  remue,  remewe, 
remeve. 

reneye,  v.  173.  abschwören,  verläugnen;  mlat.  renegare,  reneare;  afr. 
reneier,  afr.  renier.  Ch. 

repreve,  v.  14.  41.  tadeln,  verweisen,  schmähen  von  reprobare;  afr. 
reprover,  neuengl.  to  reprove,  Ch.  Davon 

reprevinge,  u.  l.  Schmach,  Vorwurf. 

Salve,  v.  274.  grüssen,  vom  mlat.  salvare  =  saluf are,  saluer.  Ch.:  salue. 

sawtere,  n.  86,  psawtere  109,  psautre  110.  Psalm,  Psalter  von  psalterium; 
afr.  psaltere,  sautier. 

schokken,  v.  252.  mit  dem  pron.  refl.  sich  zusammendrängen:  „And  whan 
thei  wil  fighte,  thei  wille  schokken  hem  to  gidre  in  a  plomp."  In 
diesem  Worte  scheinen  sich  deutscher  und  romau.  Ursprung  zu  mischen ; 
afr.  choque  =  Stamm;  ital  ciocco  =  Klotz.  Vgl.  das  deutsche  „Schock," 
niederdeutsch:  schocken  =  aufhäufen. 

scomfyte,  V.  85.  schlagen,  vernichten;  mlat.  disconficere,  afr.  desconfire, 
neuengl.  discomfic. 

sege,  n.  215.  Sitz,  Thron,  von  sedes  abgeleitet,  fr.  siege.  Ch. 

semblee,  n.  3.  Versammlung  von  simul,  jetzt  assembly. 

sensen,  v.  174.  mit  Weihrauch  räuchern;   mlat.  incensare,   fr.  encenser. 

septemtryon,  n.  42.  Norden;  lat,  septentrio. 

servage,  n.  36.  Knechtschaft;  mlat.  servagiiim,  afr.  servage.  Ch. 

sewen,  v.  191.  226.  sewyngly,  part.  praes.  263.  folgen,  von  sequi;  afr. 
sevre,  seure.  Ch. :  sue,  sewe. 

sikonye,  n.  45.  Storch;  lat.  ciconia. 

soudyour,  n.  35.  besoldeter  Kriegsmann  von  solidus  (eine  Münze); 
afr.  soudoier,  soudeer. 

sowd,  n.  155.  Sold;  afr.  soudee,  nfr.  solde;  (nicht  Krieg,  wie  Hall,  meint). 

specyaltee,  n.  .13.  Freundschaft;  mlat.  specialitas  (nicht  Seltenheit, 
wie  Hall,  meint). 

speliiiike,  n.  66.  Höhle;  lat.  spehmca,  afr.  spelonque. 

stank,  n.   115.  20'.  Teich,  von  stagnum;  afr.  estanche,  nfr.  ^tang. 

sukkarke,  u.  13'.'.?  Halliw.  erklärt  es  durch  dainty.  Eine  ähnliche  Bedeu- 
tung muss  das  Wort  allerdings  a.  a.  O.  haben;  vielleicht  hängt  es  mit 
succarum  zusammen,  das  k  wird  jedoch  dadurch  nicht  erklärt. 

Superficialtee,  n.  183.   Oberfläche,  von  superficies. 

symulacre,  n.  41.  164:  Symulacres  ben  Ymages  made  aftre  lyknesse  of 
Men  or  AVomen,  or  of  the  Sonne  or  of  the  Mone,  or  of  ony  Best,  or  of 
ony  kyndely  thing:  aml  Ydoles,  is  an  Ymage  made  of  lewed  wille  of 
man,  that  man  may  not  fynden  among  kyndely  thinges." 

terapre,  adj.  240.  s.  atempree. 

tentyfly,  adv.  299.  aufmerksam;  jetzt  attentively. 

tcrrestre,  adj.  irdisch;  jetzt  terrestrial.  Ch. 

Trachye,  n.    16.   Thracien. 

transmontayne,  n.  180.  Norden,  Nord-Polarstern  von  transmontana,  bei 


428  Sir  John   Maundevylle. 

den  Römern  der  Nordwind,    weil  er  a   partibus  transmontanis  weht;  fr. 

tramontane. 
travaylle,  travayle,  v.  44.  72.  arbeiten;    159.  314.  v.  a.    quälen,   afr.  tra- 

veiller,  ital.  travagliare.     Nach  Diez  Gloss.:  p.  353.  vom  rem.  Verb  tra- 

var  =  hemmen  herzuleiten, 
travayle,  n.  128.  208.  Mühe,  Beschwerde, 
travers,  S.  48.  wo  der  Vogel  Phönix  beschrieben  wird:  „Castynge  his  Taylle 

in  travers,"   erklärt   Halliw.  =  streaks ,   bleibt    aber  die    Etymologie 

des  Wortes  schuldig.    In  travers  ist  vielmehr  so  viel  als  in  transversum, 

en  oder  a  travers.     Der  Vogel  Ph.   breitet  seinen    Schweif  aus  wie  ein 

Pfau  oder  Truthahn, 
trenchant,  adj.  46.  251.  291.  schneidend,  scharf,   von  afr.  trencher,  nfr. 

trancher.  Ch. 
trepassable,  adj.  182.  durchfahrbar,  vom  mlat.  transpassare. 
trompe,  n.  86.  114.  Trompete;  mlat.  trumpa;  fr.  trompe,  ital.  tromba.  Ch. 
trouble,  adj.  108.  156.305.  trüb  (vom  Wasser)  vom  lat.  turbula  =  Schwärm. 
Urchoune,  n.  290.  Igel;   ital.  riccio,   pg.   ouri9o,    afr.  eri9on,   nfr.   herisson 

von  erinaceus;  neuengl.  urchin.  Ch.:  urchon. 
use,  V.  121:  „Thei  usen  alle  Berdes"  sie  tragen  Alle  Barte. 
Vacrie,  n.  18:  „The  Pope,  that  is  Goddis  Vacrie  on  Erthe.    Wahrscheinl. 

vom  mlat.  vacquerius,  vacherius  =  vacearura  custos,  pastor. 
varyaunt,    adj.    122.  anders  denkend,   verschiedener  Meinung,   von 

varians.  Ch. 
veutour,  n.  237.  Geier;  lat.  vultur,  fr.  vautour. 

verray,  adj.  151.  acht,  vom  mlat.  veragus  =  verax,  afr.  verai,  vrai.  Ch. 
verre,  n.  32.   Glas;    lat.  vitrum,   fr.   verre.     Auf  derselben  Seite    steht  das 

deutsche  glasse.  Ch. 
viage,    n.    4.    130.    306.   Reise;    lat.   viaticum  =  Reisegeld,    afr.    veiage, 

voiage.  Ch. 
vif,  adj.  48.  brennend;  lat.  vivus. 
vowt,  n.  124.  Gewölbe,  von  volutus,  part.  von  volvere,  fr.  voüte,  neuengl. 

voult. 
vynere,  n.  216.  Weinberg;  mlat.  vinera,  rinearium. 
vytaylle,  vitaille,  n.  34.  58.  240.  Lebensmittel;  von  victualia,  afr.  vitaille, 

neuengl.  victuals  (spr.  vitt'ls).  Ch. 
vyvere,  n.  174.  Weiher,  Fischteich;  lat.  viveriura,  vivarium,  fr.  vi  vier. 

Stettin.  Dr.  Gesenius. 


Leben    und    Schriften 

des 
neueren    italienischen   Dichters    Benedetti. 


Misero  nacqui, 
Misero  vissi,  e  misero  morii. 

Elend  ward  ich  geboren,  elend  lebt'  ich, 
Und  elend  starb  ich.*) 

I. 

Francesco  Benedetti  ward  am  5.  Oktober  1785  in  Cortona 
geboren,  und  erhielt,  obgleich  seine  Eltern  Pasqnale  Benedetti  und  Rosa 
Tamburi,  deren  fünfter  Sohn  er  war,  sich  als  Krämerleute  in  mittel- 
mässigen  Umständen  befimden,  eine  gelehrte  Erziehung,  zuerst  in 
der  Schule  seiner  Vaterstadt,  dann  bei  einem  Pfarrer,  und  endlich  in 
einem  geistlichen  Seminar,  wo  er  bereits  im  18.  Jahre  sein  erstes 
Trauerspiel,  Telegonus ,  dichtete,  und  sich  Alfieri  dabei  zum  Muster 
nahm.  Bald  darauf  bezog  er  die  Hochschule  zu  Pisa,  und  wandte 
sich  dem  Studium  der  Rechte  zu,  fühlte  sich  aber  doch  vorzugsweise 
zu  den  schönen  Wissenschaften  hingezogen ,  war  desswegen  einer  der 
eifrigsten  Zuhörer  des  bekannten  Professors  Rosini,  und  errang  in  der 
Akademie  di  eraulazione  mit  drei  lyrischen  Gedichten  drei  Jahre  nach 
einander  den  ersten  Preis ,  welcher  in  einer  silbernen  Schaumünze  be- 
stand. Um  dieselbe  Zeit  dichtete  er  eine  Satire ,  „die  GuUomanie," 
und  im  Verein  mit  zwei  Freunden  ein  Lustspiel,  „die  Dichterin,"  die 
sich  beide   nicht  erhalten  haben.     Sacchetti,  der  diese  Nachricht  gibt, 


*)  Diese  auf  den  Dichter  selbst  sehr  anwendbaren  Worte,  welche  in 
einem  Trauerspiele  (Teleplms)  desselben  vorkommen,  hat  der  Herausgeber 
seiner  Schriften,  Orlandini  (Florenz  bei  Monnier  1858)  der  Einleitung,  die 
dem  folgenden  Umrisse  zum  Grunde  liegt,  vorangesetzt. 


430  Leben  und  Schriften 

erwähnt  dabei,  dass  der  Dichter  sich  auch  als  Schauspieler,  besonders 
in  einer  weiblichen  Rolle  eines  Lustspiels  von  Goldoni  auf  einer  Lieb- 
haberbühne ausgezeichnet,  und  davon  den  Spitznamen  „Signora  Ro- 
saura" in  Pisa  bekommen  habe.  Nachdem  er  den  Doktorgrad  1809 
erworben  hatte,  sollte  er  Sachwalter  in  Florenz  werden;  aber  statt 
Rechtshändel  zu  führen,  verfasste  er  zunächst  ein  Klagelied  auf  den 
Tod  eines  seiner  Freunde,  die  ersten  Verse  von  ihm,  welche  gedruckt 
wurden,  und  sodann  ein  zweites  Ti'auerspiel  „Mithridat,"  das  aber  von 
der  napoleonischen  Akademie  zu  Lucca  nicht  gekrönt,  sondern  dem 
Trauerspiel  „Castruccio"  der  Dichterin  Moschena  nachgesetzt  wurde. 
Diess  entmuthigte  ihn  zwar  nicht,  wohl  aber  hatte  er  von  dieser  Zeit 
an  mit  zum  Theil  bitterer  Armut  fortwährend  zu  kämpfen.  Damals 
unterstützte  ihn  jedoch  seine  Vaterstadt  noch ;  als  er  aber  nachher, 
weniger  seinetwegen,  als  um  seine  dürftigen  Eltern  und  nächsten  Ver- 
wandten zu  unterstützen,  sich  um  Aemter  bewarb,  begünstigte  ihn  das 
Schicksal  nicht,  so  dass  er  fast  gezwungen  war,  seine  Zuflucht  wieder 
zur  Dicihtkunst  zu  nehmen.  1811  dichtete  er  eine  neue  Tragödie, 
„üejanira,"  bei  welcher  er  einen  neuen  Weg  einschlug,  indem  er  den 
fünffüssigen  reimlosen  Jambus  mit  längeren  und  kürzeren  gereimten 
Versen  vertauschte,  einen  Chor  im  zweiten  Akt  einmischte,  und  das 
Trauerspiel  so,  doch  ohne  besondern  Erfolg  und  ohne  einen  neuen 
Versuch  dieser  Art  zu  machen,  der  Oper  annäherte.  Zu  den  Leiden 
der  Armut  und  des  Misslingens  seiner  dichterischen  Bestrebungen  nach 
Beifall  und  Ruhm  kam  um  diese  Zeit  noch  ein  andres,  das  fast  seinen 
Tod  heibeiführte.  Die  Veranlassung  dazu  gab  eine  Liebschaft  mit 
einem  Mädchen  in  Cortona,  dessen  Gunst  er  mit  zwei  Nebenbulern 
theilen  musste,  von  denen  der  eine  durch  den  andern  gegen  ßengdetti 
aufgehetzt,  diesen  bei  Nacht  überfiel,  um  ihn  aus  dem  Wege  zu  räumen. 
Der  Stoss  brach  sich  an  den  Knochen  des  Arms  ;  er  hatte  aber  an 
der  Heilung  der  Wunde  längere  Zeit  zu  leiden.  Bei  der  gerichtlichen 
Untersuchung,  welche  dieser  Vorfall  nach  sich  zog,  wurde  er  sich  einer 
bis  dahin  noch  nicht  entwickelten  Fähigkeit  bewusst,  indem  er  sich 
als  sein  eigener  Sachwalter  mit  grosser  Geschicklichkeit  und  Beredsam- 
keit vertheidigte.  Auch  machte  er  seine  Lebensgefahr  zum  Gegenstand 
einer  Ode,  und  schilderte  in  einer  Elegie  auf  den  Tod  eines  Freundes 
seinen  eigenen  betrübten  leiblichen  und  geistigen  Zustand.  Dann 
folgten  ein  paar  Oden  auf  den  König  von  Neapel,  Joachim  Mürat,  und 
auf  Italien,    in  welcher  letzleren  er  seine  Begeisterung  für  das  Vater- 


des  Dichters  Benedetti.  431 

land  ausströmte.  In  der  Hoffnung  aber,  durch  die  erstere  seine  äussere 
Lage  zu  verbessern  und  namentlich  von  Mürat  nach  Neapel  eingeladen 
zu  werden,  täuschte  er  sich.  Von  seinem  Lehrer  Rosini  glaubte  er 
sich  in  dieser  Zeit  kalt  bohandelt,  ein  Reisevorhaben  mit  dem  drama- 
tischen Improvisator  Sgricci  nach  der  Lombardei  kam  nicht  zu  Stande, 
eine  Professur  an  der  Akademie  der  schönen  Künste  in  Florenz ,  um 
die  er  sich  bewarb,  ward  ihm  nicht  ertheilt,  und  eben  so  wenig  eine 
Sekretärstelle  bei  der  Gesandtschaft.  An  prosaischen  wie  dichterischen 
Erzeugnissen  liess  er  es  dennoch  nicht  fehlen.  Zu  den  ersteren  gehört 
eine  auf  den  Kongress  zu  Aachen  im  Jahr  1818  sich  beziehende  Rede, 
welche  durch  einen  seiner  Freunde  in  Edinburg  gedruckt  erschien,  und 
zu  den  letzteren  eine  Ode  abermals  auf  Italien ;  von  der  er  in  einem 
Briefe  schreibt:  „Diese  Ode  liebe  ich  vor  meinen  übrigen  Gedichten. 
Ich  habe  darin  die  dummen  Sklaven  (stupidi  schiavi)  geschüttelt. 
Möchten  meine  Verse  dem  Vaterlande  frommen,  ich  brächte  ihm  gern 
mein  Leben  zum  Opfer,  und  vielleicht  ist  der  Tag  nicht  fern."  Man 
ahnt  leicht ,  wie  eine  solche  vaterländische  Gesinnung  und  deren  un- 
verholene Aeusserung  ihm  bei  vielen  Hochstehenden  und  Gönnern  nicht 
förderlich  war;  ja  er  konnte  bisweilen  die  dringendsten  Bedürfnisse 
kaum  befriedigen.  Selbst  bei  kleinen  Gunstbezeigungen  war  das  Schicksal 
spröde  und  qnälerlsch  gegen  ihn.  So  erzählt  er  in  einem  Briefe,  dass 
er  einem  östreichischen  Gesandten  Unterricht  in  der  italienischen  Sprache 
und  Literatur  ertheilt  habe,  und  schliesst  die  Nachricht  mit  den  Worten: 
„Der  Deutsche  (il  Teutono)  schenkte  mir  Weihnachten  einen  Ruspone 
(etwa  einen  Ducaten)  zum  Frühstück,  aber  zum  Mittag-  und  Abend- 
essen habe  ich  noch  nichts."  Und  in  einem  folgenden  Briefe  fügt  er 
hinzu:  „Bezahlt  hat  mich  der  Deutsche  noch  nicht."  Wenn  er  auf 
diese  Weise  kaum  sein  Leben  fristete,  und  noch  weniger,  wie  er  es 
wünschte  und  häufig  in  seinen  Briefen  äussert,  seine  Eltern  und  Ge- 
schwister unterstützen  konnte,  so  hinderte  ihn  diess  doch  nicht,  auf 
seiner  dichterischen  Laufbahn  fortzuschreiten  und  sich  hauptsächlich 
dem  Trauerspiele  zu  widmen.  Zu  diesem  glaubte  er  sich  berufen  und 
sähe  seine  Leistungen  in  diesen  bisweilen  glänzend  anerkannt.  Sein 
„Drusus"  war  im  Jahr  1815  mit  grossem  Beifall  aufgenommen  und 
wurde  mehrmals  wiederholt.  Er  schreibt  darüber:  „Der  Abend  des 
24.  Januars  war  der  schönste  meines  Lebens.  An  diesem  wie  bei  der 
Wiederholung  hatte  mein  Drusus  den  glücklichsten  Erfolg.  Wenn  es 
dem  elenden  Menschengeschöpf  erlaubt  wäre,   stolz   zu   sein ,   so  würde 


482  Leben  und  Schriften 

ich  es  sein  können;  aber  dieser  allgemeine,  und  von  einer  der  gebil- 
detsten Zuhörerschaften  in  Italien  mir  gespendete  Beifall  verpflichtet 
mich  zu  immer  angestrengterem  Eifer."  Er  ergeht  sich  hierauf  in  den 
heitersten  Hoffnungen  für  die  Zukunft.  „Aber  der  Leser  möge  wissen, — 
setzt  sein  Lebensbeschreiber  hinzu,  —  dass  er  an  jenem  so  gliicklichen 
Tage  hätte  verhungern,  oder  sich  damit  begnügen  müssen,  die  Blatter 
seines  tragischen  Lorbeers  zu  kauen,  wenn  sich  nicht  ein  mitleidiger 
Freund  seiner  angenommen,  und  das  eigene,  wenngleich  auch  karg- 
liche Mahl  mit  ihm  getheilt  hätte."  Am  folgenden  Morgen  erschien 
freilich  der  Schauspielunternehmer,  und  bat  ihn,  für  die  Erlaubniss,  die 
Vorstellung  zu  wiederholen ,  fünf  Zechinen  anzunehmen ,  worauf  Be- 
nedetti  einem  grade  anwesenden  Freunde  zurief:  „Gott  sei  gelobt! 
Schaue,  das  ist  das  erste  Brot,  das  mir  die  Musen  geben!"  Mit  Rück- 
sicht auf  diese  Tragödie  empfal  ihn  auch  der  erwähnte  östreichische 
Gesandte  zu  einer  Anstellung  oder  zu  einem  Jahrgehalte.  Aber  die 
Angelegenheit  verzögerte  sich  und  gerieth  in  der  damals  stürmischen 
Zeit,  besonders  durch  die  Rückkehr  Napoleons  von  Elba  nach  Paris, 
in  Vergessenheit.  Benedetti  dichtete  auf  dieses  Ereigniss  eine  sapphische 
Ode  und  ein  Sonett,  und  strömt  auch  in  Briefen  seine  neuen  vater- 
ländischen Hoffnungen  und  Besorgnisse  aus.  Er  schreibt  am  30.  März 
jenes  Jahres:  „Europa  ist  nie  in  einer  gewaltsameren  Lage  gewesen, 
und  Italien  hat  nie  grössere  Hoffnungen  nähren  dürfen  als  jetzt.  In 
Kurzem  wei'den  wir  Italien  vereinigt  sehen ,  oder  niemals,  unser 
Schicksal  scheint  von  den  Sonderabsichten  zweier  oder  dreier  Aus- 
länder abzuhängen.  "Wenn  es  nur  Einer  sein  sollte,  dessen  Eigen  wohl, 
denn  die  Könige  kennen  kein  anderes,  mit  dem  öffentlichen  Wohl  Ita- 
liens übereinstimmte,  so  wird  Italien  eins  werden;  wenn  nicht,  so  kehren 
wir  in  die  alte  Schmach  zurück.  Die  Versammlung  der  Hirten  hatte 
jauchzend  uns  sämmtlichen  Heerden  verhängniss volle  Schlafsucht  zu- 
geschworen; aber  aus  seiner  Hole  herausgebrochen  ist  das  grosse  Wild, 
und  hat  die  ruchlose  Versammlung  zerstreut.  Eine  italienische  Vesper 
gegen  alle  Fremde  und  Könige  müsste  unser  heiliges  Geschäft  sein ; 
aber  man  muss  das  kleinere  Uebel  wählen.  Alle  Hoffnung  beruht  auf 
einem  Fremden,  der  Hunderttausende  der  Unsern  in  seiner  Gewr.lt 
hat.  Gebe  der  Himmel ,  dass  er  sie  nicht  täusche !  Es  ist  Zeit,  das 
Schwert  mit  der  Feder  zu  verbinden.  Ich  glaube ,  dass  ich  werde  ge- 
sucht werden.  Aeschylus  brachte  die  Niederlage  der  Perser  auf  die  Bühne, 
und  war  in  den  Gefilden  von  Marathon  nicht  weniger  gross  als  auf  der 


des  Dichters  Benedetti.  433 

attischen  Bühne.  Ich  murre  und  verzehre  mich.  Ich  hätte  andre  Rache  zu 
üben,  aher  die  öffentliche  liegt  mir  am  Herzen."  Benedetti's  Aussichten 
verdunkelten  sich  bald,  zunächst  durch  Mürats  Untergang,  und  bald 
darauf  musste  er  alle  Hoffnungen  aufgeben,  und  froh  sein,  den  neuen 
östreichischen  Gesandten  wie  den  früheren  mit  Vorlesungen  zu  be- 
dienen. Er  drückt  sich  über  diesen  folgendermassen  aus:  „Man  sagt, 
er  sei  freigebig.  Rara  avis  in  teriis  (teutoniois)  nigroque  simillima 
cygno.  Wenn  er  so  ist  wie  der  andre,  so  habe  ich  Grosses  zu  hoffen. 
Fürsprache  und  einen  R'ispone.  Ich  habe  in  diesen  Tagen  einige 
Verse  gemacht.  Sulatia  victis."  So  wandte  er  sich  denn  wieder  der 
geliebten  tragischen  Dichtkunst  zu  und  schuf  ein  neues  Trauerspiel, 
„die  Verschwörung  Mailands"  (la  Congiura  di  Milano) ,  von  dem  er 
sagt:  „Die  Missgeschicke  Italiens  sind  immer  gross  gewesen,  aber  die 
Zwingherren  klein.  Letztere  zur  Würde  des  Kothurns  zu  erheben, 
heisst  daher,  sich  um  sie  verdient  machen.  Dieses  Trauerspiel  hat 
dazu  gedient,  mir  das  Uebermaass  von  Galle  aus  der  Brust  und  den 
Augen  zu  vertreiben.  Der  Auftritt  im  vierten  Aufzuge,  wo  sich  die 
Verschwornen  im  Hause  Olgiato's  Nachts  an  einem  unterirdischen 
Orte  versammeln,  muss  meiner  Meinung  nach  auch  den  kältesten  Zu- 
schauer in  Flammen  setzen.  Aber  —  wann  wird  das  Trauerspiel  auf- 
geführt werden  und  wo?"  —  »t)ie  Verschwörung  Mailands"  wird 
übrigens  für  eine  seiner  gelungensten  dramatischen  Werke  gehalten. 
Ob  es  jemals  aufgeführt  wurde,  ist  mir  nicht  bekannt.  Dagegen  kam 
sein  früher  gedichteter  „Mithridat"  jetzt  auf  die  Bühne,  und  wurde 
zwei  boshaften  Schauspielern  zum  Trotz  beifällig  aufgenommen.  Seine 
äussere  Lage  wurde  dadurch  dennoch  nicht  verbessert,  er  mu.sste  sein 
Leben  durch  Stundengeben  fristen,  er  bittet  in  einem  Briefe  einen  Freund, 
es  nicht  übel  zu  nehmen,  dass  er  den  Brief  nicht  frei  mache,  da  er 
keinen  Dreier  (soldo)  habe.  Für  die  Herausgabe  seiner  Schriften 
empfing  er  nicht  nur  keinen  Ehrensold,  sondern  musste  meistens  den 
Druck  aus  seiner  Tasche  bezahlen.  Er  lebte  aber  nicht  bloss  für  seinen 
eigenen  Ruhm  ,  sondern  sorgte  auch  für  das  rühmliche  Andenken  von 
Vorgängern.  Auf  sein  Anstiften  wurde  der  Geburtstag  des  Torquato 
Tasse  1816  von  Gelehrten  und  Künstlern  gefeiert,  wobei  es,  wie  vor 
einigen  Jahrzehenden  bei  uns  auf  der  Wartburg,  nicht  ohne  ein  Auto- 
dafe abging.  Er  erzählt  davon ,  dass  er  ein  Sonett  und  einen  Lebens- 
abriss  des  Dichters  vorgelesen  und  damit  seine  Zuhörer  wie  sich  selbst 
abwechselnd  zu  Thränen  gerührt  und  zum  Zorn  entflammt   habe,   dass 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXVII.  28 


434  Leben  und  Schriften 

von  Andern  aus  dem  befreiten  Jerusalem  und  dem  Amintas,  aber  auch 
Stellen  aus  den  Schriften  von  Dichtern  und  Gelehrten,  welche  der  Ge- 
sellschaft verhasst  waren,  vorgelesen  und  die  Namen  der  letzteren  dem 
Feuer  übergeben  wurden.  „Welch  eine  Verwegenheit,  —  ruft  er  aus, 
—  den  Namen  Cesarotti's  zu  verbrennen!"  Den  Lebensabriss  liess 
er  auch  in  einer  von  ihm  gegründeten  Zeitschrift  der  Literatur  und 
schönen  Künste,  sowie  einen  Aufsatz  über  die  italienische  Bühne  ab- 
diucken,  mit  welchem  letzteren  er  aufs  Neue  Anstoss  gab,  weil  er 
darin  die  Trauerspiele  Alfieri's  einer  scharfen  Beurtheilung  unterwarf. 
Aber  er  wehrte  sich  tüchtig  gegen  die  Angriffe,  die  man  auf  ihn  machte, 
und  selbst  häusliche  Verdriesslichkeiten,  ja  nicht  bloss  Mangel,  .«ondern 
auch  Kränklichkeit  und  Krankheit,  sowie  abermalige  missfällige  Auf- 
nahme seiner  früheren  oder  neuen  Trauerspiele,  z  B.  des  „Tamerlan," 
hemmten  seine  schriftstellerische  Thatigkeit  nicht.  Unter  seinen  da- 
maligen Unternehmungen  zeichnete  sich  eine  aus,  nämlich,  nach  Art 
des  Plutarch ,  das  Leben  berühmter  Italiener  zu  beschreiben  und  sie 
mit  alten  Griechen  und  Römern  zu  vergleichen.  Er  hatte  sechzehn 
dazu  ausgewählt,  aber  er  vollendete  nur  zwei  dieser  Lebensbeschrei- 
bungen, des  Nicolo  Capponi  und  des  Cola  di  Rienzi,  welcher  letztere 
auch  der  Held  seines  letzten  Trauerspiels  wurde.  Zu  gleicher  Zeit 
sammelte  er  seine  lyrischen  Gedichte,  um  sie  herauszugeben,  und  da 
ihm  die  Censur  in  seiner  Heimat  Schwierigkeiten  machte,  reiste  er  nach 
Mailand,  wo  er  von  Trivulzio  und  besonders  von  Monti  ehi'envoll  und 
freundschaftlich  aufgenommen  wurde ,  und  die  Sammlung  im  Druck 
erschien.  Von  seinen  letzten  Trauerspielen  machte  die  „Pelopea"  am 
meisten  Glück ,  obgleich  ihm  Zufall  oder  missgünstige  Schauspieler 
dabei  einen  bösen  Streich  spielten.  Er  erzählt  diess  folgendermassen : 
„Als  der  Vorhang  aufgezogen  wurde,  fiel  eine  Stange  mit  Lampen  auf 
die  Bühne.  Pelopea  und  Ismene  traten  zugleich  mit  dem  Lampen- 
diener auf  und  die  sämmtHche  Zuhörerschaft  war  im  Begriff,  in  Ge- 
lächter auszubrechen ,  aber  aus  Achtung  vor  der  beliebten  Schauspie- 
lerin Perotti  blieb  Alles  ruhig,  und  der  Beifall  war  am  Ende  so  gross, 
dass  selbst  meine  Feinde  einstimmen  mussten.  In  Frankreich,  in 
England,  ja  sogar  bei  den  Baibaren  hätte  mich  diese  Darstellung  zum 
reichen  Manne  gemacht,  aber  nicht  so  im  schönen  Italien."  1820 
wollte  er  auf  Einladung  eines  Gönners  Rom  besuchen ,  aber  Krankheit 
hielt  ihn  zurück.  In  seiner  Vaterstadt  gewann  er  sich  damals  die 
Freundschaft    einer    trefflichen   Malerin,    Elisabeth   Castellani,    welche 


des  Dichters  Benedetti.  435 

ihn  malte;  und  dieses  Bildniss  ist  bei  der  Familie  Castellani  in  Cor- 
tona  noch  vorhanden.  In  diesem  Jahre  aber  fingen  in  Folge  des  Auf- 
standes in  Neapel  und  des  Kongresses  zu  Laibach  die  polizeilichen 
Nachforschungen  an.  Das  gerichtliche  Verfahren  gegen  einen  ver- 
trauten Freund  Benedetti's  lief  zwar  unschädlich  ab,  indess  er  selbst 
wurde  des  Karbonarismus  verdächtig,  und  er  beschloss  seiner  Sicher- 
heit wegen  Italien  zu  verlassen  und  nach  England  zu  gehen,  wurde 
aber,  da  er  dieses  Vorhaben  nicht  ausi'ühren  konnte,  unschlüssig,  wohin 
er  sich  wenden  solle.  Fassung  und  Mut  verliessen  ihn.  .Er  irrte 
flüchtig  umher  und  kam  eines  Abends  im  April  1821  nach  Pistoja. 
Hier  hörte  er,  dass  die  Kaibonari's  in  Flon^nz  in  das  Gefängniss  zu 
Volterra  gebracht  werden  sollten.  Auf  diese  Nachricht  begab  er  sich 
in  sein  Zimmer  und  schloss  sich  ein.  Aber  es  war  Essenszeit  und  die 
Wiithin  bat  ihn,  zu  Tische  zu  kommen.  Er  antwortete,  dass  er  kommen 
werde.  Nicht  lange  jedoch  nachdem  sie  sich  entfernt  hatte,  hörten  die 
Tischgenossen  den  Knall  eines  Feuergewehrs.  Man  forschte  sotrlf^ich 
nach  und  fand  ihn  am  Fuss  des  Bettes  niedergestreckt,  blutig  und  todt. 
Die  Kugel  hatte  die  rechte  Schläfe  durchbohrt.  Die  barmherzigen 
Brüder  in  Pistoja  übernahmen  die  Beerdigung. 

Sein  Lebensbeschreiber  schliesst  mit  einigen  Bemerkungen  über 
ihn  als  Menschen.  Benedetti  war  von  mittlerem  Wuchs  und  eher 
beleibt  als  hager,  hatte  schwarzes  Haar  und  kleine,  aber  lebhafte  Augen, 
frische  Gesichtsfarbe,  und  ein  ernstes  Wesen,  das  sich  auch  in  seinem 
Gange  zeigte.  Auch  liebte  er  die  Einsamkeit.  Von  Natur  heftig, 
ungeduldig  und  aufbrausend,  war  er  doch  leicht  zu  besänftigen.  Lei- 
denschaftlicher Liebe  scheint  er  nicht  ergeben  gewesen  zu  sein,  und 
der  erzählte  Vorfall  daher  nur  eine  Ausnahme  zu  machen.  Dagegen 
war  er  ein  warmer  und  treuer  Freund,  und,  so  sehr  er  alles  Geschwätz 
vermied  und  verabscheute,  so  gern  und  eifi-ig  unterhielt  er  sich  über 
wichtige  Gegenstände,  und  pflegte  sich  dabei  wol  wie  ein  Schauspieler 
zu  geberden.  Ueber  Alles  liebte  er  das  Vaterland,  ''Inid  endete  in  der 
Blüte  des  Lebens  im  36.  Jahre  aus  vaterländischer  Schwermut  und 
Verzweiflung.  Er  ist  in  dieser,  sowie  in  künstlerischer  Hinsicht  mit 
unserm  Heinrich  von  Kleist  zu  vergleichen.  Wie  dieser  hätte  er  bei 
längerem  Leben  noch  viel  leisten  können  und  wahrscheinlich  noch 
trefflichere  Werke  hervorgebracht.  Wenn  er  zuerst  zu  seinen  Trauer- 
spielen nur  Stoffe  aus  dem  griechischen  und  römischen  Alterthum 
wählte,   so  wandte  er  sich   späterhin    auch   der    neueren  Zeit,   und  in 


4S6  Leben  und  Schriften 

„Cola  di'Rienzi"  dem  letzten  Bühnenwerk,  das  er  acht  Tage  vor  seinem 
Tode  beendete,  der  vaterländischen  Geschichte  zu. 

Wenn  er  also  auch  die  Stufe  der  Vollkommenheit  nicht  erreichte, 
welche  bei  einem  längeren  Leben  ihm  zu  erreichen  möglich  gewesen 
sein  würde,  so  gehört  er  doch  zu  den  besseren  italienischen  Bühnen- 
dichtern, und  darf  die  Vergleichung  selbst  mit  Alfieri  nicht  scheuen. 
Es  ist  desswegen,  zumal  da  er  bis  jetzt,  wenigstens  ausserhalb  Italien, 
fast  unbekannt  geblieben  ist,  wohl  an  der  Zeit,  ihn,  besonders  hin- 
sichtlich seiner  Trauerspiele,  näher  zu  würdigen,  und  wenigstens  bei 
einem  derselben  länger  zu  verweilen.  Ich  wähle  dazu  „die  Verschwö- 
rung Mailands"  (la  Congiura  di  Milano) ,  behalte  aber  diese  Unter- 
suchung einem  besonderen  Aufsatze  vor. 


II. 

Unter  den  Schriften  Benedetti's,  welche  Orlandini  in  seine  Samm- 
lung aufgenommen  hat,  befindet  sich  eine  kleine  Anzahl  von  pro- 
saischen, beurtheilenden ,  rednerischen  und  geschichtlichen,  die,  wenn 
sie  gleich  den  dichterischen  an  Werth  nachstehen ,  doch  schon  dess- 
wegen Erwähnung  verdienen,  weil  sich  in  ihnen  die  Wehmut  über 
das  Schicksal  des  Vaterlandes,  über  den  Zustand  der  neuern  italienischen 
Dichtkunst,  zumal  der  Bühne,  lebhaft  ausspricht.  Am  wenigsten  tritt 
diese  in  den  beiden  Lebensbeschreibungen  hervor ,  mit  welchen  er  sein 
wiewohl  ebenfalls  ganz  vaterländisches  Werk  begann,  das  sechzehn  be- 
deutende Landsleute  darstellen  sollte.  Sie  betreffen  den  Nicolo  Capponi, 
und  den  bekannteren  römischen  Volkstribun  Cola  de  Rienzo,  und  er 
zeigt  dabei  eine  nicht  gewöhnliche  Anlage  für  die  Geschicht- 
schreibung, indem  er  den  ersteren  mit  dem  Aristides  und  dem 
älteren  Cato,  den  letzteren  mit  mehreren  älteren  und  neueren  be- 
rühmten Männern  vergleicht.  Die  Schreibart  ist  einfach  und  klar, 
ohne  trocken  zu  sein.  Eher  streift  sie  bisweilen  in's  Rednerische  hin- 
über ,  wozu  er  vorzugsweise  ausgerüstet  war.  Zwei  Schriften  dieser 
Art  nennt  er  selbst  Reden ;  die  eine  derselben  zum  Andenken  Tor- 
quato Tasso's  an  dessen  Geburtstag,  die  andre  an  den  heiligen  Bund 
bei  Gelegenheit  des  Aachner  Kongresses  gehalten.  Die  dritte  ist  eine 
Abhandlung  über  die  italienische  Beredsamkeit,  und  nicht  ohne  Eigen- 
thiimlichkeit.      Er   tröstet   darin   den   künftigen   Gesolu'chtschreiber  der 


des  Dichters  Benedetti.  437 

neuern  Zeit,  und  redet  ihn  so  an:  „0  du,  der  du  zu  so  Grossem  be- 
rufen bist,  verzage  nicht,  wenn  du  vielleicht  den  öffentlichen  Verhand- 
lungen fern  stehst!  Freue  dich  dessen  vielmehr!  Du  wirst  dann  un- 
parteiischer sein.  Denke  an  den  grossen  Ausspruch  eines  grossen 
Staatsmannes :  Um  die  Fürsten  richtig  zu  beurtheilen,  muss  man  ein 
Mann  des  Volkes  sein.  —  Allerdings  nahmen  Xenophon  und  Andre 
Theil  an  dem,  was  sie  erzählen,  aber  bei  Herodot  und  Livius  war  diess 
nicht  der  Fall.  Wenn  das  Glück,  das  hohe  Geistesgaben  selten  be- 
günstigt, es  dir  versagt,  im  Rathe  zu  sitzen  oder  die  Waffen  zu  führen, 
so  lass  dich  das  nicht  abhalten,  Geschichtschreiber  zu  werden.  Frage, 
forsche,  betrachte,  sammle,  erwäge  und  schreib.  Ich  will  dir  nicht  die 
Vorschriften  wiederholen,  von  denen  die  Bücher  der  Lehrer  der  Be- 
redsamkeit voll  sind ;  ich  will  dir  nicht  sagen,  wie  man  sich  vor  der 
herrschenden  Befleckung  sichert;  denn  wenn  du  deines  Amtes  würdig 
bist,  so  wird  dich  das  Beispiel  der  wenigen  Edlen ,  die  dir  auf  deiner 
Laufbahn  vorangegangen  sind,  nicht  ermatten  lassen.  Zu  einem  solchen 
Werke  ladet  dich  der  Griffel  Macchiavelli's,  das  Vaterland  des  Tacitus 
und  Livius.  Ein  solches  Werk  ist  der  Seufzer  meiner  Jugend !  Möchten 
meine  Augen ,  noch  ehe  sie  sich  schliessen ,  es  erblicken ,  das  würdige 
Werk  eines  Heimatgenossen,  eines  italischen  Mannes,  damit  unser  Va- 
terland den  Herrscherstab  der  Wissenschaft  fest  halte,  den  es  trotz  seiner 
Missgeschicke,  trotz  des  Neides  der  Ausländer,  trotz  seines  Alters  noch 
immer  ohne  Widerspruch  zu  behaupten  gewusst  hat." 

Wenn  Benedetti  in  diesen  letzten  Worten  eine  eitle  Parteilichkeit 
für  sein  Vaterland,  die  mit  dem  Tadel,  den  er  so  häufig  ausspricht,  in 
Widerspruch  steht,  und  zugleich  völlige  Unbekannfschaft  mit  den  gei- 
stigen Fortschritten  des  übrigen  Europa  verräth,  so  fallen  diese  Mängel, 
sowie  Unreife  und  Einseitigkeit  des  Urtheils  noch  mehr  in  seinen 
kunstiichterlichen  Schriften  auf,  die  ich  bei  Gelegenheit  der  dichterischen 
näher  zu  bezeichnen  Veranlassung  habe«  werde. 

Benedetti's  Dichtungen  hat  der  Herausgeber  in  lyrische  und  dra- 
matische getheilt,  epische  fehlen  ganz,  und  die  ersteren  bestehen  aus 
mehreren  Oden,  drei  Elegieen  und  einer  Canzone,  denen  einige  Sonette 
und  Epigramme  beigefügt  sind.  Der  Inhalt  ist  durchaus  ernst,  strenge, 
klagend  und  tadelnd,  mit  Ausnahme  eines  einzigen  Sonetts  „die  Sen- 
dung des  Kusses,"  das  durch  seine  Zartheit  an  die  lateinischen  Küsse 
(basia)  des  Johannes  Secundus  erinnert. 


438  Leben  und  Schriften 

Du  schönster  in  dem  Amorettenkreis, 
Anmutig,  lauter,  artig,  doch  verschlagen, 
Nimm  diesen  meinen  Kiiss,  um  ihn  zu  tragen 
Zu  ihr,  die  aller  Fraueji  Ehr'  und  Preis. 

Bewahr' ihn,  dass  er  bleibe  sanft  und  heiss! 
Mit  meines  Lippendnickes  Wohlbehagen 
Ihn  ihrem  Mund  aufdrückend  musst  du  sagen: 
„Ich  bring'  ihn  auf  des  Liebenden  Geheiss." 

Geh,  schleich  geheim  dich  hin  und  triff  auf  Keinen! 
Vielleicht  schon  legte  sie  zu  Ruh  sich  nieder, 
Und  thaute  Schlaf  auf  ihre  Augenlieder. 

Geh !  Hab'  ich  nichts  zu  hoffen,  doch  verzieh 
Bei  ihr,  und  kehre  nicht  hieher,  bis  sie 
Zurückgibt  ihren  Kuss,  wenn  nicht,  doch  meinen! 

Den  Oden  ist  eine  Bemerkung  vorangesetzt,  worin  der  Dichter 
sagt,  dass  bei  dem  Wechsel  der  Geschicke  Europa's  und  insbesondre 
Italiens  in  seinen  Dichtungen  ihn  stets  Vaterlandsliebe  geleitet  habe; 
statt  ehrlos  und  träge  zu  schweigen,  sei  er  dem  Beispiel  der  freisinnigen 
Altvordern,  eines  Juvenal  und  Dante  gefolgt.  In  diesen  Oden  waltet 
eine  ungemeine  Begeisterung.  Man  höre  nur  den  Anfang  gleich  der 
ersten  „auf  die  Geburt  des  Sohns  Napoleon  I." 

Ich  bin  in  eurer  Haft, 
Ihr  Musen,  und  weit  über  Meer'  und  Lande 
Fühl'  ich  mich  neu  entrafft 
Zu  der  Sequana  kriegerischem  Strande. 
Psalm,  Hymne  wallt  mit  Jauchzen  dort  empor, 
Betäubend  fast  mein  Ohr. 
Gelübde  hör'  ich,  Anruf  und  Gebet 
Sich  zur  Lucina  in  die  Wolken  schwingen. 
Auch  meine  Saiten  klingen, 
Von  eurem  Hauch,  ihr  Musen,  angeweht. 
Nicht  wehr'  ich  eurem  Drang, 
Und  es  ertönt  mein  feiernder  Gesang. 

Einige  dieser  Oden  gehören  zu  den  schönsten,  welche  Italien  her- 
vor<yebracht  hat,  und  stehen  denen  von  Monti  und  Petrarca  nicht  nach ; 
eine  der  an  Italien  gerichteten  erinnert  z.  B.  an  die  erste  von  Leo- 
pardi,  welche  in  meiner  Uebersetzung  anfängt: 

Mein  Vaterland,  ich  seh  die  Mauern,  sehe 
Die  Säulen,  Bogen,  Thürme,  die  zuvor 


des  Dichters  Benedetti.  439 

Der  Ahnen  Eij^enthum, 

Nur  seh'  ich  nicht  den  Ruhm, 

Den  Lorbeer  seh'  ich  nicht,  den  Stahl,  der  ehe 

Die  Viiter  schmückte! 

Benedelti's  erste  und  letzte  Strophe  seiner  an  Italien  wahrschein- 
lich 1814  gedichteten  Ode,  als  Mürat  Italien  unter  seinem  Scepter  zu 
vereinigen  suchte,  lauten  nicht  minder  lebhaft : 

Was  thust,  was  sinnst  du,  Welschland  ?  Mächtiglich 
Ruft  Mars,  dich  einzuladen, 
Von  fernesten  Gestaden. 
Hörst  du  es  nicht?  Erwach',  erhebe  dich! 
Was  einst  den  Aencaden 
Mit  dunklem  Spruch  enthüllt 
Die  Seherin  von  Cumä,  wird  erfüllt. 


Von  Alpenhöhn  bis  wo  die  Scylla  bellt, 
Tyrrhenums,  Adria's  Fluten, 
Mitinnen  wird  gern  bluten 
Jetzt  jeder  Heimatsuhn  als  Freiheitsheld. 
Entbrannt  von   Zornes  Gluten 
Nenn'  ich,  Glück^herold  bin 
Auch  ich,  Italien,  dich  Siegerin. 

Kurz  vor  seinem  Tode  betrat  er  eine  neue  lyrische  Laufbahn  mit 
einer  biblischen  Ode,  in  welcher  er,  gleich  Klopstock  in  vielen  seiner 
Oden,  der  griechischrömischen  Mythologie  entsagte.  Ein  Bruchstück 
derselben  ist  nach  seinem  Tode  aufgefunden,  der  Herausgeber  theilt  es 
aber  nicht  mit. 

Ich  komme  zu  seinen  Hauptdichtungen ,  den  Trauerspielen ,  deren 
er  zwischen  1802  und  21,  also  in  noch  nicht  zwanzig  Jahren,  dreizehn 
verfasst,  und  den  Stoff  dazu  für  die  meisten  früheren,  Telegonus ,  De- 
janira,  Timocares,  die  Eleusinien,  Pelopea ,  Telephus,  Mithridates  und 
Drusus  aus  der  griechischrömischen  Mythe  und  der  römischen  Geschichte, 
für  die  übrigen,  Gismonda,  Tamerlan,  Richard  III.,  die  Verschwörung 
in  Mailand  und  Cola  de  Rienzo  aus  der  neueren,  besonders  italienischen 
Geschichte  entnommen  hat. 

Um  bei  der  Beurtheilung  derselben  unparteiisch  zu  sein,  muss 
man  auf  seine  kunstrichterlichen  und  kunstgeschichtlichen  Aufsätze 
über  die  italienische  Bühne  und  die  Noth wendigkeit  einer  Volksbühne, 


440  Leben  und  Schriften 

und  auf  seine  Briefe  an  den  Grafen  Galeani  Napione  Rücksicht  nehmen. 
In  diesen  lässt  er  sich  besonders  über  Alfieri's  Trauerspiele  aus ,  und 
trifft  so  ziemlich  mit  dem  Unheil  deutscher  Kunstrichter,  z.  B.  A.  W. 
Schlegel'ö  zusammen ,  der  Alfieri's  Muse  eine  mannweibliche  Amazone 
nennt,  und  ihm  Düsterheit,  Mangel  an  Einbildungskraft  und  Trocken- 
heit des  Ausdrucks  vorwirft.  Wenn  er  nun  aber  auch  die  Fehler  seines 
Landsmannes  vermied ,  so  konnte  er  sich  schon  desswegen  zu  einer 
richtigeren  Ansicht  nicht  erheben,  weil  er  die  deutsche  Bühne  fast  gar 
nicht  (von  Schiller  erwähnt  er  den  Don  Carlos  nur  obenhin),  und  die 
englische  zwar  etwas  mehr  kannte,  aber  vor  Shakspeare  warnt,  und  fast 
mit  Entsetzen  von  ihm  spricht.  So  heisst  es  in  einer  der  erwähnten 
Abhandlungen:  „O  über  die  Mitleidswiirdigen,  welche  den  Shakspeare 
nachahmen,  der  in  einer  seiner  Tragödien  38  Personen  gebraucht,  und 
die  Tribunen  mit  Handwerkern,  Tischlern  und  Schustern  sprechen  lässt ! 
Die  Handlung  ist  doppelt  und  dreifach,  die  Bühnenstücke  sind  übermässig 
lang,  manche  einzelne  so  lang  wie  drei  von  den  unsern;  Prosa  und 
Verse,  Lachen  und  Weinen,  Schatten,  Furien  und  Hexen  bilden  einen 
Mischmasch  der  wunderlichsten  und  unverträglichsten  Dinge.  Solche 
Leckerbissen  mögen  den  Engländern ,  den  Deutschen  und  sämmtlichen 
mittei-nächtlichen  Völkern  munden!  Wir  Italiener  haben  einen  zar- 
teren Geschmack,  wir  lieben  das  Edle  und  Schöne."  So  geht  es  noch 
eine  Weile  fort,  und  der  Herausgeber,  nebenbei  gesagt,  missbilligt  diess 
nicht  nur  nicht,  sondern  drückt  sich  in  einer  Anmerkung  über  den 
Hamlet  und  den  Mohren  von  Venedig  noch  stärker  aus.  Wer  freilich 
die  französische  Bühne,  namentlich  Corneille,  Racine  und  Voltaire,  fast 
abgöttisch  verehrt,  kann  füglich  nicht  anders  urtheilen.  Und  eine 
solche  Bewunderung  vereinigt  sich,  wie  bei  den  Italienern  nicht  selten, 
bei  Benedetti  mit  einer  Ueberschätzung  des  Vaterlandischen,  z.  B.  in 
folgenden  Worten:  „Möchte  doch  die  Zeit  kommen,  wo  unser  Vater- 
land, das  in  jedem  Zweige  der  Dichtkunst  den  übrigen  neueren  Völkern 
überlegen  ist,  sich  auch  im  Trauerspiele  den  Franzosen  zur  Seite  stellen 
könnte,  welche  nach  meiner  Meinung  hierin  die  einzigen  Nebenbuler 
der  Griechen  sind."  Die  Griechen  kannte  Benedetti  allerdings ,  aber 
eben  auch  nur  im  französischen  Geiste.  Unter  diesen  Umständen  muss 
man  es  ihm  hoch  anrechnen ,  dass  er  sich ,  vielleicht  ohne  sich  dessen 
deutlich  bewusst  zu  sein,  der  deutschen  und  englischen  Bühne  in  seinem 
letzten  Stücke  annäherte.  Im  Cola  de  Rienzo  beläuft  sich  die  Zahl 
der  Personen  auf  vierzehn ,   statt  dass  er  sich  sonst  meistens  mit  der 


des  Dichters  Benedetti.  441 

Hälfte  begnügt;  dabei  spielt  das  Volk,  und  zwar  nicht  bloss  im  Ganzen, 
sondern  in  Vertretern  mit,  und  von  den  Verschwornen  sind  elf,  von 
den  Soldaten  gleichfalls  einzelne,  mit  ganzen  oder  halben  Versen  be- 
dacht. Hiemit  war  er  auf  gutem  Wege,  auch  die  äussere  Handlung  zu 
bereichern  und  zu  vermannichfachen,  denn  an  der  inneren,  wie  an  der 
Kennzeichnung  der  Personen,  den  Haupteigenschaften  aller  guten  Büh- 
nendichtungen, fehlt  es  seinen  meisten  Stücken  nicht.  „Die  Verschwö- 
rung in  Mailand"  zeichnet  sich  dadurch  aus,  und  ich  wähle  sie  dess- 
wegen  zu  einer  näheren  Beleuchtung.     Der  Inhalt  ist  folgender: 

Galeazzo,  Herzog  von  Mailand,  aus  dem  Geschlechte  der  Sforza, 
hat  die  ihm  feindlichgesinnte  Partei  der  Visconti  unterdrückt.  Aber 
seine  Gemahlin  Bona,  Tochter  des  Beherrschers  von  Savoyen  Amadeus, 
bringt  ihm  keinen  Erben  und  er  will  sich  desshalb  von  ihr  trennen, 
zumal  da  er  für  Klarissa,  eine  der  Hofdamen,  in  Liebe  entbranntest. 
Diese  ist  aber  die  Braut  des  Visconti  und  die  Schwester  des  Olgiato, 
und  beide,  nebst  Campognano ,  die  Häupter  der  Gegenpartei.  Gereizt 
durch  die  Beleidigung,  die  ihnen  durch  Galeazzo's  unverholene  Er- 
klärung, sich  mit  Klai'issa  vermählen  zu  wollen,  zugefügt  ist,  ver- 
schwöron  sie  sich,  den  Gewalthaber  zu  ermorden,  und  hoffen,  dass  das 
vielfältig  gemisshandelte  Volk  sich  ihnen  anschliessen  werde.  Ihr  Vor- 
haben gelingt.  Galeazzo  wird  bei  der  Feier  seiner  Vermählung  mit 
Klarissa  erdolcht ;  aber  das  Volk  unterstützt  sie  nicht  nur  nicht,  sondern 
tritt  auf  die  Seite  der  Sforza.  Es  entsteht  ein  Kampf;  die  beiden 
Häupter  der  Verschwörung,  Visconti  und  Olgiato,  werden  getödtet,  und 
die  Herzogin  Wittwe  übernimmt  die  Regierung. 

Die  Handlung  ist  freilich  auch  in  diesem  Stücke  sehr  einfach, 
Hindernisse  durch  Zwischenfälle  sind  nicht  eingewebt,  Personen  sind 
nur  sieben,  und  die  ganze  Dichtung  einem  französischen  der  sogenannten 
goldenen  Zeit,  oder  auch  einem  griechischen  Trauerspiele  ähnlich.  Aber 
es  hat  manche  Fehler  derselben  vermieden.  Statt  des  euripidei-chen 
Prologs  und  des  oder  der  französischen  Vertrauten  finden  wir  zwar 
letzteren  scheinbar  auch  hier,  aber  er  dient  keinesweges  bloss  dazu, 
die  Verhältnisse  klar  zu  machen,  sondern  es  ist,  wie  alle  übrigen  Per- 
sonen, ein  wirklicher  Charakter,  nämlich  ein  treuer,  aber  aufrichtiger 
und  die  Handlungen  seines  Herrn  nicht  immer  billigender,  und  zugleich 
gegen  die  Feinde  desselben  nachsichtiger  und  milder  Diener.  Der  er.«te 
Aufzug  ist  meisterhaft.  Man  könnte  ihm,  wie  es  manche  PVanzo,«en, 
z.  B.  Victor  Hugo,  gethan  haben,  eine  besondre  Ueberschrift,  nämlich 


442  Leben  und  Schriften 

Galeazzo,  geben;  denn  dieser  tritt  hier  sogleich  in  seiner  ganzen  Lei- 
denschaftlichkeit und  im  Bewusstsein  seiner  Macht  und  Gewalt  auf. 
Er  setzt  Alles  daran,  seinen  Zweck,  die  Trennung  von  seiner  Gemahlin 
und  die  neue  Vermählung,  zu  erreichen,  und  diess  geschieht  in  drei 
Auftritten.  Nachdem  er  seinen  Plan  dem  Gernando,  seinem  Diener 
und  Freunde,  mitgetheilt,  und  dessen  Vorstellungen  mit  dem  kurzen 
Schlusswort:  „Ich  will  es  so,"  unterbrochen  und  abgeschnitten  hat, 
erklärt  er  sich  auch  gegen  seine  Gemahlin ,  zuerst  zwar  mit  einiger 
Schonung,  dann  aber  nicht  minder  entschieden,  und  bricht  das  Ge- 
spräch ab  mit  dem  rauhen  Worte:  „Schweig,  nicht  mehr!*'  Endlich 
ist  er  verwegen  genug,  sich  der  Braut  seines  Feindes  als  Bewerber  um 
ihre  Hand  anzutragen,  indem  er  ihr  zugleich  zumutet,  diesem  ihre 
Liebe  sofort  aufzukündigen.  Eingeschüchtert  thut  sie  diess  im  letzten 
Auftritte,  zwar  nur  mit  halben  Worten,  aber  doch  so,  dass  dieser  die 
Ursache  ahnt,  und  ausruft: 

So,  so  verlässt  sie  mich.  —  Ruchloser  Herzog, 
Du  hast  ihr  Herz  geraubt  mir;  aber  theuer 
Sollst  du  den  Schimpf  mir  zahlen.  0  Klarissa! 

Dieser  Antrag  des  Herzogs  an  Klarissa  erinnert  übrigens  an  einen 
ganz  ähnlichen  des  Nero  an  Junia  in  Racine's  Britanniens.  Benedetti 
benutzte  seinen  Vorgänger  gewiss  absichtlich,  aber  er  verliert  bei  der 
Vergleichung  nicht.  Die  Steigerung  der  Leidenschaftlichkeit  in  drei 
Auftritten  ist  ihm  eigenthüralich. 

Im  zweiten  Aufzug  nimmt  der  Uebermut  Galeazzo's  noch  zu.  Er 
verlangt  nun  auch  von  Visconti,  dass  er  ihm  seine  Braut  abtrete,  und 
macht  ihn  dann  zum  Zeugen  eines  ebenfalls  hierauf  bezüglichen  Ge- 
spräches mit  Klarissa's  Bruder,  Olgiato,  in  welchem  dieser  sich  mög- 
lichst mässigt.  Aber  es  folgen  darauf  die  Verschwörungsauftritte.  Die 
drei  Hauptpersonen ,  Olgiato ,  Visconti  und  Campognano ,  wozu  man 
noch  als  vierte  die  Herzogin  Bona  rechnen  kann,  zeigen  hier,  wie  ihre 
Uebereinstimmung,  doch  eben  so  sehr  die  Verschiedenheit  ihrer  Theil- 
nahme  an  der  Verschwörung.  Olgiato  ist  der  verwegenste ;  Visconti, 
obgleich  am  meisten  gekränkt,  der  bedächtigere,  und  mit  Rücksicht 
auf  die  Gefahr,  in  welcher  die  in  der  herzoglichen  Burg  gleichsam  ge- 
fangen gehaltene  Klarissa  schwebt,  der  gemässigfere;  Campognano  ist 
des  Gewalthabers  Feind  theils  aus  allgemeinen  Gründen,  weil  die  Rechte 
der  Bürger  mit  Füssen  getreten  werden,  theils  aus  besonderen ,  'weil  er 


des  Dichters  Benedetti.  443 

von  Galeazzo  seiner  väterlichen  Güter  beraubt  ist,  und  dieser  seine 
Beschwerde  über  diese  Gewaltthat  nicht  anhören  will;  Bona  endlich 
aus  gerechtem  Zorn  über  die  beabsichtigte  Trennung  des  Herzogs  von 
ihr,  wiewol  sie  noch  immer  hofft,  diese  rückgängig  zu  machen,  und 
daher  vor  einer  Ermordung  ihres  Gemahls  zurückschaudert,  ja,  im  Fall 
man  darauf  beharre,  Alles  zu  entdecken  droht.  Auch  Klarissa  bittet, 
von  dem  grausen  Vorhaben  abzulassen,  denkt  den  Herzog  umzustimmen, 
und  lässt  sogar  merken,  dass  sie,  um  Visconti's  Leben  zu  retten,  nach- 
geben und  sich  in  ihr  Schicksal  fügen  wolle,  welches  Letztere  die  ge- 
nannten drei  Männer,  jeder  auf  seine  Weise,  durchaus  missbilligen. 
Gernando  unterbricht  das  Gespräch  und  bescheidet  Visconti  zum 
Herzog.  Er  entschliesst  sich,  dieser  Aufforderung  Genüge  zu  leisten, 
obgleich  Klarissa  für  ihn  fürchtet.  Bona  versucht  es ,  die  Gemüther 
zu  beruhigen,  indem  sie  sagt: 

Gehorche 
Dem  Herzog,  Campognano,  und  verlass 
Die  Knnigsburg!     Du  komm  mit  mir,  Olgiato ! 
In  meiner  Brust  steigt  ein  Gedank'  auf,  dtn* 
So  grosse  Uebel  heilen  könnte. 

Der  dritte  Aufzug  beginnt  mit  einem  Gespräch  zwischen  Olgiato 
und  Visconti,  von  dem  Galeazzo  verlangt  hat,  dass  er  Klarissa  nicht 
nur  aufgebe,  sondern  ihr  auch  zu  dem  neuen  Bunde  rathe,  und  sodann 
zwischen  diesem,  Bona  und  Klarissa,  deren  Flucht  aus  dem  herzog- 
lichen Pallast  Bona  veranstaltet  hat,  so  dass  sie  in  die  Wohnung  ihres 
Bruders  zurückgekehrt  ist.  Bona  tröstet  den  Visconti  damit,  dass  er 
nach  Turin  zu  ihrem  Vater  entfliehen,  Klarissa  mitnehmen,  und  sich 
dort  mit  ihr  vermählen ,  der  Bruder  sie  aber  vorher  anmelden  »solle. 
Visconti  will  nicht  darauf  eingehen,  weil  die  Herzogin,  allein  zurück- 
bleibend, der  ganzen  Wut  ihres  Gemahls  ausgesetzt  werde.  Ger- 
nando bringt  denn  auch  die  Nachricht,  dass  Galeazzo  über  die  Flucht 
Klarissa's  wie  von  Sinnen  sei,  und  sie  zurückfordere.  Bona  und  Vis- 
conti läugnen,  dass  sie  Klarissa's  Aufenthalt  wissen ,  die  sich  vorher 
mit  Olgiato  entfernt  hat,  um  sich  in  dessen  Hause  zu  verbergen.  Ger- 
nando geht  ab,  um  dem  Herzog  diese  Weigerung  zu  melden ;  aber 
dieser  kommt  nun  selbst,  bietet  der  aufs  Neue  mit  ihrem  Vater  dro- 
henden Bona  Trotz  und  lässt  den  Visconti  gefangen  nehmen,  wird  aber 
noch  wiithender,  als  ihm  dieser  sagt,  dass  er,  Galeazzo,  niemals  die 
Zuneigung  Klarissa's  sich  gewinnen  werde. 


444  Leben  und  Schriften 

Der  vierte  Aufzug  spielt  bei  Nacht  in  einem  unterirdischen  Ge- 
wölbe der  Wohnung  Olgiato's.  Klarissa  ist  in  Angst  für  Visconti, 
und  mit  Recht.  Olgiato's  Trost  beruhigt  sie  nicht.  Gernando  er- 
zwingt sich  den  Einlass  und  fordert  Klarissa  im  Namen  des  Herzogs 
auf,  ihm~zu  folgen.  Sie  entschliesst  sich  endlich,  um  Visconti  zu  retten, 
dem  Herzog  ihre  Hand  zu  reichen,  sich  aber  dann  sofort  das  Leben  zu 
nehmen.  Olgiato  gibt  dieser  Hochherzigkeit  nach,  obgleich  mit  höchstem 
Widerstreben.  —  Nun  erscheinen  die  Verschwornen,  und  der  Tod 
Galeazzo's  wird  beschlossen.  Wider  Erwarten  kommt  auch  Visconti. 
Der  Herzog  hat  ihn  freigelassen  zum  Lohn  für  Klarissa's  Entschluss. 
Aber  sie  werden  gestört,  die  Verschwornen  müssen  sich  verbergen; 
denn  Gernando  erscheint  abermals ,  um  den  Olgiato  zum  Herzog  ab- 
zuholen,  und  dieser  verspricht,  sich  sofort  einzustellen ,  damit  seine 
Weigerung  den  Herzog  nicht  etwa  die  Verschwörung  ahnen  lasse. 

Der  fünfte  kürzeste  Aufzug  enthält  zuerst  ein  etwas  längeres 
Selbstgespräch  Bona's,  in  welchem  diese  ihren  Argwohn  äussert,  als 
ob  Klarissa  bei  ihrem  letzten  Schritte  nicht  frei  von  Ehrsucht  gewesen 
sei.  Gernando  berichtet  ihr  sodann  den  Tod  ihres  Gemahls  durch  die 
Hand  zunächst  des  Olgiato  auf  dem  Wege  zu  seiner  Vermählung,  aber 
zugleich  den  Kampf  der  Parteien  und  den  Sieg  der  herzoglichen.  Kla- 
rissa eilt  herbei,  um  Mitleid  für  die  Mörder  wie  für  sich  selbst  flehend, 
bald  auch  der  tödtlich  verwundete  Visconti.  Olgiato  stirbt  nicht  minder, 
erhält  jedoch  vorher  von  Bona  Verzeihung.  Die  Verschwornen  sind 
indess  völlig  besiegt,  und  das  Schauspiel  schliesst  mit  dem  allgemeinen 
Ruf:  „Die  Sforza  sollen  leben!"  in  welchen  nur  Klarissa  nicht  ein- 
stimmt. 

Statt  nun  eine  Vergleichung  dieses  Trauerspiels  mit  andern  ähn- 
lichen Inhalts ,  z.  B.  mit  Alfieri's  Verschwörung  der  Pazzi ,  Schiller's 
Fiesco,  Shakspeare's  Julius  Caesar  oder  auch  mit  Benedetti's  zweitem 
Verschwörungsdrama,  Cola  de  Rienzo,  anzustellen,  begnüge  ich  mich, 
noch  einmal  zu  den  Personen  zurückzukehren,  namentlich  zu  dem  Ga- 
leazzo,  denn  die  eigentlichen  drei  Hauptverschwornen ,  Olgiato,  Vis- 
conti und  Campognano,  sind  schon  vorher  näher  bezeichnet.  Dieser 
verschwindet  mit  dem  Schluss  des  dritten  Aufzugs  von  der  Bühne, 
etwa  wie  Julius  Caeser  bei  Shakspeare ,  und  wol  mit  Recht.  Die  lei- 
denschaftliche Wut  desselben  hatte  sich  in  den  ersten  drei  Aufzügen 
hinreichend  ausgesprochen,  im  vierten,  besonders  in  den  Verschwörungs- 
auftritten, spielt  er  unsichtbar  mit ,  und  die  Erzählung  seines  der  Ver- 


des  Dichters  Benedetti.  445 

mählung  kurz  vorhergehenden  Todes  versöhnt  gewissermassen  mit  ihm. 
Zunächst  verdienen  die  beiden  Frauen  noch  ein  Wort,  Klarissa,  die  bei 
aller  Zartheit  eine  Heldin  ist ,  und  besonders  Bona ,  eine  eigenthüm- 
liche  Schöpfung  des  Dichters.  Sie  liebt  den  Herzog  aufrichtig,  aber 
sie  zürnt,  sie  kann  ihm  drohen,  als  er  sie  Verstössen  will,  sie  tritt 
sogar  der  Verschwörung  bei,  aber  nur,  um  ihn  zu  retten.  Als  sie  seinen 
Tod  erfährt,  ruft  sie  aus:  „O  Gott,  wohl  war  er  treulos,  doch  fühl' 
ich  Mitleid."  Sie  ergreift  sogleich  die  Zügel  der  Regierung,  und,  ob- 
gleich sie  dem  Gernando,  der  in  den  Kampf  zurückkehrt,  Olgiato's  und 
Visconti's  Schonung  zur  Pflicht  macht,  sagt  sie  doch  zu  Klarissa: 

Dein  Bruder  doch  vielleicht  lebt  noch,  und  er 
Ist  einer  von  den  grausen  Rädelsführern, 
Er  ziltr',  ich  herrsche. 

Und  bald  nachher : 

Den  Herzog,  den  lebend'gen,  dürft'  ich  hassen, 
Den  todten  muss  ich  rächen.  — 

Worte,  die  an  den  berühmten  Vers  der  Antigene  bei  Sophokles  er- 
innern : 

Mitfeindin  war  ich  nimmer,  nur  Mitliebende. 

Wohl  mag  man  auch  es  loben,  dass  die  Dichtung  im  Ganzen  eben 
so  sehr  gegen  die  Zwingherrschaft  als  gegen  die  Pöbelherrschaft  ge- 
richtet ist.  Eine  Verschwörung  ist  überhaupt  wol  niemals  zu  billigen, 
aber  sie  ist  es  noch  weniger  und  sie  kann  nicht  gelingen,  wenn  sie  nicht 
vom  Volke  getheilt  wird.  Und  theilt  es  dieselbe,  so  „lösen  sich  alle 
Bande  frommer  Scheu,  und  alle  Laster  w^alten  frei."  Im  dritten  Aufzug 
prophezeit  hier  Visconti  den  Ausgang  in  der  Unterredung  mit  Olgiato: 

Aufs  Volk  verlässt  du  dich  ?  Das  Avechselt  immer 
Zorn  so  wie  Lieb',  hasst  den  lebend'gen  Wütrich, 
Seufzt  nach  dem  todten,  bringt  den  Mörder  um. 
Ich  weiss  nicht,  durch  welch  unbekannten  Zauber 
Das  Volk  dem  Zwingherrn  anhängt. 

Und  bald  nachher: 

Schon  lang'  ist  in  dem  Herzen  der  Lombarden 
Der  Freiheit  alte  Feuerglut  erloschen. 
Sie  halten,  obgleich  stolz,  an  Tyrannei 
Gewöhnt,  sie  für  die  wahr'  und  rechte  Staatsform. 


446  Leben  und  Schriften  des  Dichters  Benedetti. 

Der  Pöbel  liebt  stets  pomphaften  Betrug. 
Wenn  einen  Götzen  er  in  Purpur  schaut, 
Ist  er  zufiiedon,  und  ein  günst'ger  Bück 
Lässt  alle  seine  Leiden  ihn  vergessen.  — 

eine  Schilderung,  die  Benedetti,  wenn  er  noch  lebte,  jetzt  mit  Freude 
zurücknehmen  wüi-de,  —  Dagegen  führen  die  Verschworenen  eine  ge- 
waltige Sprache.  Man  glaubt  Shakspeare  in  folgenden  Darstellungen 
zu  hören: 

Welch  eine  Nacht,  Olgiato '  Wiederkehrte 
Des  ungestalten  Chaos  wilde  Zwietracht. 
Die  Hemisphär'  umkreist  den  Höllenabgrund 
JVlit  Regen,  Wind  und  Wirbel  und  Geschossen. 
Ein  hohles  Krachen,  wildes  Thiergeschrei, 
Schweifende  Schemen,  grause  Ungeheuer!  — 
Es  wirren  Krieger  sich  und  Elemente, 
Ein  wahres  Abbild  unserer  Gedanken, 
An  Blut  und  Dunkel  sind  sie  ihnen  gleich. 
Oder: 

Schreckliche  Hungersnoth  herrscht  in  der  Stadt. 
Die  Felder  sind  beraubt  der  Ackerleute, 
Kraltlos  sinkt  Mancher  auf  dei-  Strasse  nieder, 
Ein  jammervoller  Häuf'  umringt  vergebens 
Die  Königsbufg,  indess  bei  vollen  Tischen 
Sardannpal  frohlockend  schwelgt  und  tanzt. 
Des  Volkes  Wehgeschick  verhöhnt,  und  gütig 
Die  gieren  Rachen  mit  dem  Schwerte  stopft.  — 
Wir  haben  keine  Wohnung,  die  uns  aufnimmt, 
Nicht  Raum  zum  Grabe,  selbst  der  Luft 
Wird  nachgestellt.      Olgiato,  enden  muss 
So  grosses  Weh.   Zu   sterben  ist  viel  besser 
Als  solch  ein  Leben  führen,  darf  man  es 
Noch  Leben  nennen.  Lasst  uns  denn  ein  Zeichen 
Von  Menschen  geben,  und  nicht  länger  uns 
Wie  nackte  Würmer  mit  den  Füssen  treten! 

Benedetti's  Verschwörung  in  Mailand  gehört  unstreitig  zu  seinen 
besten  Bühnendichtungen;  aber  sie  ist  auch  in  Vergleich  mit  den 
Werken  Anderer  aller  Beachtung  werth,  und  verdient,  dass  eine  deutsche 
Bühne  sie  der  Aufführung  würdigt.  Sie  würden  keine  rauschenden 
Beifall  finden,  aber  ehrende  Anerkennung,  ein  succes  d'estime,  ihr  ohne 
Zweifel  zu  Theil  werden. 

K.  L.  Kannegiesser. 


Sitzungen  der  Berliner  Gesellschaft 

für  das  Studium  der  neueren  Sprachen. 


35.  Sitzung.  13.  März  1860.  —  Herr  Lassen  sprach  über 
Wilhelm  von  Humboldt's  ästhetische  Anschauungen,  indem  er  dabei 
dessen  Abhandlung  über  Hermann  und  Dorothea  zu  Grunde  legte. 
Er  wies  nach ,  wie  seine  Auffassungswei-'e  der  Kunst  und  ihrer  Gat- 
tungen die  Kehrseite  zu  derjenigen  Schillers  bildete,  wie  bei  Je>iem 
Alles  subjectiv  gefasst,  in  die  Stimmung,  die  Gemüthslage,  den  Zu- 
stand der  Phantasie  gelegt  sei,  aus  dem  das  Kunstwerk  einerseits  ent- 
stehe, den  es  androrseits  hervorrufe.  Es  wurden  dann  die  beiden 
Hanpttheile  dpr  Abhandlung  in  Betracht  gezogen  und  zunächst  Hum- 
boldt's Definition  der  Kunst  und  ihrer  allgemeinsten  Bestimmungen, 
sodann  seine  Anschauungen  vom  Wesen  der  Poesie  und  vom  Unter- 
schiede ihrer  Galtungen  dargelegt.  Es  ward  dann  gezeigt,  wie  aus 
diesen  Prinzipien  in  sinniger  Weise  eine  Kritik  des  Goethe' sehen  Ge- 
dichts sich  ergebe,  das  Humboldt  mit  Recht  zu  den  ^vollendetsten 
Dichtungen  aller  Zeiten  zähle.  — 

Nächstdem  hielt  Herr  Boltz  einen  Vortrag  über  den  russischen 
Dichter  Lomonössoff.  In  der  Einleitung  wurden  die  Bemühungen 
Peter's  des  Grossen  um  die  Hebung  der  Nationalsprache  und  die  ihm 
in  diesem  Streben  entgegentretenden  Schwierigkeiten  geschildert,  Schwie- 
rigkeiten, mit  denen  auch  L.  später  zu  kämpfen  hatte.  Darauf  wurde 
in  novellistisch -humoristischer  Form  eine  Beschreibung  des  bewegten 
Lebens  des  Dichters  gegeben ,  wie  er  als  Jüngling  das  Haus  seines 
Vaters,  eines  wohlhabenden  Fischers  im  hohen  Norden,  ohne  Mittel 
verlässt ,  um  in  Moskau  seinen  Wissensdurst  zu  befiiedigen,  wie  er 
dann  von  dort,  wo  ihn  ein  günstiger  Zufall  gleich  am  ersten  Tage  Ge- 
legenheit zur  Ausbildung  seiner  Talente  finden  Hess,  im  Jahre  1737 
auf  Kosten  der  Regierung  nach  Mai  biirg  geschickt  wird,  um  dort  weiter 
zu  Studiren,  und  wie  er  sich  die  Siiten  eines  damaligen  deutschen  Stu- 
denten, tinter  andern  die,  viel  Bier  zu  trinken,  aneignet.  Von  hier 
aus  sendet  er   der   Akademie  eine   russische  Ode   mit  einer  jetzt  noch 


448  Sitzungen  der  Berliner  Gesellschaft 

massgebenden  russischen  Abhandlang  über  Metrik  nach  Petersburg. 
In  Marburg  verheirathet  er  sich  aus  einem  gewissen  Grunde  in  aller 
Schnelle  mit  Clirii^tine,  der  Tochter  eines  Schneiders,  seines  Wirthes. 
Drückende  Geldnoth  zwingt  ihn  zur  Flucht.  Auf  derselben  nöthigen 
ihm  preussische  Werber  das  Handgeld  auf  und  schleppen  ihn  nach 
Wesel.  Er  entspringt  und  flüchtet  nach  Amsterdam,  von  wo  ihn  der 
russische  Gesandte  nach  Peter.^burg  ziirückbefördert.  Hier  wird  er  zu- 
erst Adjiinct  der  Akademie,  alsdann  Professor.  Er  lasst  nun  seine 
Frau  nachkommen.  Fortwährend  hat  er  mit  dem  Schlendrian  der 
Akndemie,  den  Intriguen  seiner  CoUegen  und  mit  Geldmangel  zu 
kämpfen.  Erst  unter  Katharina,  die  ihm  ihre  Gunst  zuwendet,  erfreut 
er  sich  sorgenloser  Tage  und  lebt  von  nun  an  still  und  eingezogen  bis 
zu  seinem  Ende.  Es  schloss  der  Vortrag  mit  einer  Aufzählung  seiner 
überaus  zahlreichen  dichterischen  und  wissenschaftlichen  Schriften.  Die 
letztern  beziehen  sich  auf  Grammatik ,  Rhetorik,  Geschichte,  Chrono- 
logie, Chemie,  Metallurgie,  Mathematik,  Astronomie  u.  s.  w.  Diese  so- 
wohl ,  wie  seine  poetischen  Werke  und  Uebersetzungen  in  einer  Zeit, 
wo  für  russische  Spraclie  kaum  etwas  geschehen  war,  berechtigen  ihn, 
schloss  der  Vortragende,  zu  dem  Beinamen  eines  Lessing,  ja  eines 
Humboldt  der  russischen  Literatur. 

Herr  Beauvais  gibt  eine  Notiz  über  die  Mangelhaftigkeit  des 
französischen  Kirchengesangs  und  Kirchenliedes.  Er  erwähnt,  dass 
die  französisch- reformirte  Kirche  in  Berlin  sich  für  ihr  Gesangbuch: 
Recueil  de  Psaumes  et  de  Cantiques  k  Tusage  de  l'Eglise  fran9aise  re- 
fugiee  de  Berlin  an  die  katholischen  Dichter  Frankreich's  hat  halten 
müssen,  da  protestantische  Dichter  entsprechender  Lieder  gar  nicht  vor- 
handen sind,  und  dass  Canlique  69  dieser  Sammlung:  Tolerance  des 
erreurs,  beginnend : 

Fuis  les  emportements  d'un  zele  atrabilaire,  ' 
Voltaire  zum  Verfasser  hat. 

Zweitens  macht  derselbe  auf  Guizot's  französische  Synonyme  in 
der  neuen  Ausgabe  von  Victor  Figarot  und  ein  andres  Buch  über  die- 
selben von  Lafaye  aufmerksam. 

Herr  Michaelis  überreichte  ein  Exemplar  seiner:  Drei  Vorle- 
sungen über  das  th,  gehalten  in  dieser  Gesellschaft. 

36.  Sitzung.  27.  März.  Herr  Kanq^egiesser  liest  Fortsetzung  und 
Schluss  seines  Vortrags  über  Francesco  Benedetti.  Den  vollständigen 
Vortrag  wird  das  Archiv  bringen. 

Darauf  hielt  Herr  P  röh  le  einen  Vortrag  über  Arn  d  t  und  Varn- 
hagen  von  Ense.  Varnhagen  von  Ense  wurde  darin  nach  seinen 
Lebensschicksalen  und  seinen  Schriften  charakterisirt.  Es  wurde  be- 
sonders hervorgehoben,  dass  er  im  Jahre  1809  durch  persönliche  Ta- 
pferkeit sich  ausgezeichnet  habe  und  sogar  verwundet  worden  sei  und 
in  Uebereinstimmung  hiermit  eine  patriotische  Ge^^innung  nie  verleugnet 
habe.     Dem   spätem   Diplomaten   Varnhagen   warf  man  vor ,   dass   er 


für  das   Studium  der   neueren   Sprachen.  449 

zur  Friedenszeit  der  Regierung  feindlichen  Kreisen  zu  nahe  gestanden 
habe.  Auch  sei  wohl  ein  innerer  Widerspruch  vorhanden  gewesen 
zwischen  seiner  amtlichen  Stellunj^  und  seiner  Vermählung  mit  Rahel, 
welche  ihn  ganz  dem  Esprit  und  der  Literatur  zugewiesen  habe.  Wenn 
man  aber  die  Freiheitskriege  im  Auge  behalte ,  so  müsse  man  sagen, 
dass  die  Verstimmung  \'arnhagens  bei  den  Ansprüchen  eines  so  ta- 
pfern und  verdienten  Mannes  in  spräterer  Zeit  keineswegs  ohne  Grund 
gewesen  sei.  Sie  sei  im  hohem  Grade  zu  beklagen.  An  den  von 
Varnhagen  verfassten  Schriften  wurde  die  Form  im  Einzelnen  nicht  un- 
bedingt gelobt.  In  den  Gedichten,  wurde  gesagt,  herrsche  auch  der, 
von  der  Gesellschaft,  die  Varnhagen  trug,  gleichsam  geschaffene  elegante 
Conversationston  seiner  prosaischen  Arbeilen  vor.  Varnhagen's  Novellen 
erschienen  wie  Ergänzungen  seiner  Erinnerungen,  wo  die  einfache  Mit- 
theilbarkeit der  Letztern  aufhöre.  Wo  er  sich  auf  das  Gebiet  der  Li- 
teraturgeschichte oder  der  ästhetischen  Kritik  begeben,  seien  seine  Lei- 
stungen utibedeutend.  Auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  und  besonders 
der  Selbstbiographie  habe  er  jedoch  manches  quellenmassige  Buch  gleich- 
sam entdeckt  und  auf  die  uneigennützigste  W'eise  empfohlen  und  so 
einigermassen  der  Verborgenheit  entzogen.  Auf  die  Vorzüglichkeit  seiner 
Biographien  aus  dem  siebenjährigen  Kriege  wurde  besonders  hinge- 
wiesen. Dieselbe  sei  aus  Varnhagens  ganzem  Bildungsgange  erklärlich. 
Bei  Varnhagens  Denkwürdigkeiten  aus  den  Freiheitskriegen,  deren  Ele- 
mente bei  aller  Treue  doch  nicht  alle  vollkommen  in  ihm  lebendig  ge- 
worden wären,  komme  ihm  dagegen  die  Autopsie  zu  statten.  In  seinem 
Blücher  contrastire  die  glatte  Form  mit  der  Heldengestalt  selbst.  Sein 
1853  erschienener  Bülow  sei  unter  dem  Einflüsse  von  Steins  Leben 
von  Pertz  geschrieben.  Da  aber  der  tiefe  Ernst  und  das  schwere  Ge- 
wicht der  Schrift  von  Pertz  fehle,  so  sei  das  Buch,  obgleich  in  der 
P'orm  noch  ziemlich  elegant,  fast  eine  unerquickliche  Materialiensamm- 
lung geworden.  —  In  den  Bemerkungen  über  Arndt  wurde  eine  Pa- 
rallele zwischen  Jahn  und  Arndt  zu  einer  Feier  für  den  letztern,  von 
Avelchem  Piöhle,  Jahns  Biograph,  bekannte,  dass  Arndt  bei  soliden 
Kenntnissen  und  religiösem  Sinne  dem  wahren  Deutschthume  näher 
gekommen  sei  als  Jahn.  Mit  Arndts  politischer  Haltung  im  vergan- 
genen Jahre  erklärte  sich  jedoch  der  Redner  nicht  einverstanden.  Vater 
Arndt  habe,  so  sagte  Pröhle,  das  Ürtheil  der  Nachwelt  über  unsre  Zeit 
gleichsam  vorwegnehmen  wollen,  aber  selbst  seinem  Volke,  wenn  auch 
keine  Steine,  doch  auch  kein  Brot  mehr  gegeben  und  sich  über  unsre 
Stellung  zum  jetzigen  Frankreich  nicht  so  thalkrät'tig  geäussert,  wie 
man  von  dem  Freunde  Steins  hätte  erwarten  können. 

Herr  Riebet  trägt  alsdann  eine  Abhandlimg  über  das  franzö- 
sische Verbum  vor,  die  auf  eine  andre  Classiticirung  desselben  und 
eine  Beschrankung  der  Stammformen  abzielt. 

37.  Sitzung.  17.  April.  Herr  Mahn  eröffnet  die  Sitzung  mit 
einem  etymologischen  Vortrag   über  das  Wort:   Berlin.     Nach  Muste- 

Archiv  f.  u.  Sprachen.  XXVII.  29 


450  Sitzungen   der   Berliner  Gesellschaft 

runw  und  Zurückweisung  der  bisher  versuchten  Herleitungen  aus  dem 
Germanischen  und  Slavischen  bestimmt  er  Berlin  aus  dem  Keltischen 
als  „Waldweide,"  eine  auf  alle  den  Namen  Berlin  führende  Oertlich- 
keiten  zutreffende  Bezeichnung.  (Nebenbei  wurden  die  Benennungen : 
Colin,  Molkenmarkt,  Krögel  erklärt.)  Die  geschichtliche  Berechtigung 
der  keltischen  Herleitung  nachzuweisen ,  verschob  er  auf  eine  andere 
Gelegenheit. 

Herr  Weisser  gibt  eine  Biographie  Arnold's.  des  Verfassers  des 
im  Strassburger  Dialect  geschriebenen  Lustspiels :  Der  Pfingstmontag, 
und  theilt  Proben  des  Stückes  mit. 

Herr  Michaelis  unterzieht  die  „Regeln  für  die  deutsche  Recht- 
schreibung" von  Betzenberger  einer  scharfen  Kritik. 

Herr  Traxel  spricht  in  englischer  Sprache  über  die  Herleitung 
von  drawing  room  aus  withdrawing  room. 

Zugesendet  wurde  von  der  Societe  Liegeoise  deren  neuestes  Bulletin. 

38.  Sitzung.    8.    Mai.    Hr.  Pro  hie   theilte    einige   Gedichte   von 

Finckelthaus,   einem  Dichter  des   17.   Jahrhunderts,  mit,   von   dem  er 

schon  S.   322  bis   336  seiner  „Feldgarben"  (Leipzig,  Gräbner,  1859) 

gehandelt  hat  und  von  dem  er  ebenda  S.  322  sagt: 

„So  weit  ich  nach  Lesung  der  ihn  betreffenden  Artikel  in  Rass- 
mann's  Dichternekrolog,  in  Jöcher's  Gelehrtenlexikon,  und  in  Gödeke's 
Grundriss ,  sowie  der  ausfühi lichein  Erwähnung  bei  Gervinus  unter 
Zuziehung  von  G.  F.  „XXX  Teutsche  Gesänge.  Leipzig,  1624,"  von 
„Gottfried  Finckelthausen's  deutsche  Gesänge.  Hamburg,  Gundermann" 
in  Queroctav  (nach  Gervinus  um  1640),  von  G.  Finckelthaus'  Brun- 
nengedichte und  G.  F.  „Lustige  Lieder.  Lübeck,  Anno  1648"  ersehen 
kann,  bedeuten  alle  diese  Bezeichnungen  und  ausserdem  der  Name  G. 
Federfechter  von  Lützen  immer  den  Stadtrichter  oder  Stadtschreiber 
von  Leipzig,  den  Freund  Paul  Fleming's.  Mein  Freund  Gödeke  wird 
ungerecht  gegen  ihn,  indem  er  nur  den  nöthigen  Tadel  ausspricht.  Ger- 
vinus hatte  wenigstens  mit  gewohnter  Feinheit  Finckelthaus'  Bezie- 
hungen und  Anregungen  ausgespürt.  Ich  stelle  Finckelthaus  als  noth- 
wendiges  Glied  einer  Kette  zwischen  Fleming  und  Günther.  Sein  Ta- 
lent war  viel  begrenzter  als  das  der  beiden.  Für  das  Liebeslied  aber 
fehlt  es  ihm  weder  an  Naturwahrheit  noch  an  Innigkeit.  Wenn  jener 
ihn  lehrte,  hat  dieser  doch  wohl  etwas  von  ihm  gelernt." 

Nach  einem  Referate  des  Herrn  J.  Schmidt  über  das  Programm 
von  David  Ascher:  On  the  study  of  modern  languages  in  general  and 
(m  the  English  language  and  its  treatment  in  the  commercial  school  of 
Leipzic  in  particular, 

trägt  Herr  Altmann  einen  Aufsatz  „Flüchtiger  Blick  über  ältere 
und  neuere  Literaturzustände  in  Russland"  vor. 

Schliesslich  berichtete  der  Vorsitzende,  Herr  Herr  ig,  über  einen 
Artikel  des  Londoner  Critic.  Es  bezieht  sich  derselbe  auf  das  Buch 
von  Hamilton:    An  Inquiry  into  the  Genuineness   of   the   Manuscript 


für  das   Studium  der  neueren  Sprachen.  451 

Corrections  in  Mr.  J.  Payne  Cnllier's  Annotated  Shakspere  and  of 
certain  Shaksperian  Docnments  likewise  published  by  Mr.  Payne  Collier. 
Bis  zur  Evidenz  wird  in  die.'^em  Buche  nachgewiesen  und  vom  Critic 
bestätigt,  dass  die  im  Titel  erwähnten  Documente  von  Collier  selbst 
mit  Bleistift  gefälscht  wurden. 

Von   dem    correspondiri-nden    Mitgliede    der    Gesellschaft,    Herrn 
William   Lowes   Rushton   in  Liverpool,    war  nachstehende  Mittheilung 
eingegangen,   welche   zu   einer  eingehenden  Debatte  Veranlassung  gab. 
Shakspeare's    Tenures. 
The  Works  of  William  Shakespeare  contain  many  allusions  to  the  Te- 
nures   of  the  English  Law. 

Tenure  in  Villenage. 
Antipholus  ofSyracuse. 
A  trusty  vilhiin.  Sir;  that  very  oft, 
When  I  am  dull  with  care  and  melancholy, 
Lightens  my  humour  with  liis  meiry  jests. 

Ooniedy  ot  Errors  Act  1.  Scene  1. 
Vlllain,  (villanus  low  Latin,  It.  and  sp.  villano.  Norm  vilaint)  either 
of  vilain,  Fr.  mean  or  vile,  or  villa,  Lat.  a  couiilry  farm,  whereto  vlllains 
were  appoint  d  to  do  service,  anciently  a  man  of  a  servile  base  dcgree, 
who  was  a  mere  bimil-slave  to  the  lotd  of  the  Manor,  and  in  this  sense  it 
is  sonietimes  used  by  Shaks^peare ;  now  commonly  used  in  a  bad  scnse,  for 
a  wicked  wretch,  or  roL'ue.  There  is  a  villcin  regardant,  and  a  vilK'in  in 
gross.  A  villein  regardant  is ,  as  if  a  man  be  seist-d  of  a  manor  to  which 
a  villein  is  regardant,  ami  he  which  is  seised  of  the  said  manor,  or  tiiey 
whüse  estate  lie  hath  in  the  same.  have  beim  seised  of  the  villein  and  of  his 
ancestors  as  villeins  and  neifs  (bondswonien)  regardant  to  the  same  manor 
tiine  out  of  memory  of  man  (Litt.  S.  1«1)  The  villein  is  called  regardant 
to  the  manor,  because  he  hath  the  Charge  to  do  all  base  or  villenous  Ser- 
vices within  the  same. 

Cleopatra. 

Slave,  soul-less  villain,  dog! 
O  rarely  base! 

Act  5.  Scene  2. 
and  to   gard    and    kcep    the    same    from  all    fillhy  or  loathsome   things  that 
might  annoy  it:   and  his  service   is   not   certain    but  he  must  have  regard  to 
that  which  is  commanded  unto  him. 

nie  qui   tenet   in    villenagio  faciet   quicquid  ei  praeceptum 
fnerit,  nee  scire  debet   sero   (juid   facere   debet    in    crastino,   et 
semper   tenebitur   ad   incerta.    (Bracton  C.  4.  tr.   ).  c.  28    S.  ö).     And 
villein  in  gross  is,  whfre  a  man  is  seised    of  a  manor  wherennto  a  villein  is 
regardant,  and  granteth  the  same  villein  by  his  deed  to  another,  then  he  is 
a   villein   in   gross,    and   not   regardant.     (Litt.  S.  181).     Thus   according   to 
Littleton,  villeins  were  of  two  sorts;    villeins  regardant,   that  is  anno.xed  to 
the  manor  er  land ,  or  villeins  in  gross .  or  at  large .   that  is  aime.xed  to  the 
person  of  their    lord  and   transferable  by   deed   from  one  owner  to   another. 
Enobarbus. 
I  am  alone  the  villain  of  the  carth. 
And  feel  1  am  so  niost    O  Antony 
Thou  mine  of  hounty,  how  wouldst  thou  have  paid 
My  better  service,  when  my  tnrpiiude 
Thou  dost  so  crown  with  gold  ! 

Antony  and  Cleopatra  Act  4.  Scene  6. 
29* 


452  Sitzungen   der  Berlinei'  Gesellschatt 

Enobarbus  may  refer  to  villain  service,  and  consüler  himself  as  a  villain 
regardant  to  the  manor,  or  land,  or  „of  the  earth"  and  Antony  as  bis  Lord. 

Ferdinand. 

1  am  in  my  condition 
A  prince  Miranda;  I  do  think,  a  king, 
(I  wuuld  not  so)  and  would  no  niore  endure 
This  wooden  slavery,  that  I  would  sufTer 
The  flesh-tiy  blow  my  mouth.     Hear  my  soul  speak; 
The  very  instant  tliat  I  saw  you,  did 
My  heart  fly  to  your  service;  there  resides, 
To  make  nie  shive  to  it,  and,  for  your  sake, 
I  am  this  patient  log -man. 

Tempest  Act  3.  Scene  1. 

And  it  seems  probable  that  the  „wooden  slavery"  which  Ferdinand  alludes 
to  is  Bordiode,  which  was  an  ancient  service  required  of  tenants  to  carry 
timber  out  of  the  woods  of  the  Lord  to  bis  house. 

York. 
Base  dunghill  villain,  and  mechanical, 
ril  have  tliy  head  for  this  thy  traitor's  speech:  — 
1  do  beseech  your  royal  majesty, 
Let  him  have  all  the  rigour  of  the  law. 

S.  P.  Henry  VI.  Act  1.  Scene  3. 

Bigot. 
But  dunghill!  dar'st  thou  brave  a  nobleman? 

King  John  Act  4.  Scene  3. 

Steward. 
Out  dunghill! 

Lear  Act  4.   Scene  6. 

Tenure  in  villenage  is  most  properly  when  a  villein  holdeth  of  bis  lord, 
to  whom  he  is  a  villein,  certain  lands  or  tenements  awording  to  the  custom 
of  the  manor,  or  otherwise,  at  the  will  of  the  lord,  and  to  do  bis  lord  vil- 
lein service;  as  to  carry  and  recarry  düng  of.his  lord  out  of  the  city,  or 
out  of  bis  lords  manor,  unto  the  land  of  bis  lord  and  to  spread  the  same 
upon  the  land,  and  such  like.  And  some  free  men  hold  their  tenements 
according  to  the  custom  of  ceitain  nianors,  by  such  Services.  And  tlieir 
tenure  also  is  calied  tenure  in  villenage,  and  yet  they  are  not  villeins,  for 
no  land  holden  in  villenage,  or  villein  land,  nor  any  custom  arising  out  of 
the  land,  shall  ever  make  a  free  man  a  villein  (Litt.  S.  172). 

Horatiü. 

Is  it  a  custom? 

Hamlet. 
Ay  marry  is  't: 

But  to  my  mind,  —  though  1  am  native  here, 
And  tu  the  manner  born,  —  it  is  a  custom 
More  honour'd  in  the  breach,  than  the  observance. 

Act  1.  Scene  4. 

King. 
What  wouldst  thou  beg  Laertes, 
That  shall  not  be  my  off'er,  not  thy   asking? 
The  head  is  not  more  native  to  the  heart, 
The  band  more  instrumental  to  the  mouth, 


für   das   Studium  der  neueren   Sprachen.  453 

Than  is  the  throne  of  Denmark  to  thy  father. 

What  wouldst  thou  have  Laertes. 

Hamlet  Act  1.  Scene  1. 
Servi  anciently  signified  bondsmen,  or  servile  tenants.  They  were  called 
servi,  quia  servabantur  ä  dominus  et  non  occidebant  ur,  et  non 
ä  serviendo:  for  the  life  and  members  of  them,  as  of  free  men,  were  in 
the  hands  and  protection  of  kings,  and  it  was  in  conscquence  of  the  c.ruelty 
of  some  lords  ordained  that  he  who  killed  his  villein  shotdd  have  the  same 
judjrment  as  if  he  had  killed  a  free  man.  The  pro})er  .servi  were  of  four 
sorts;  the  first  such  as  sold  themselves  (or  a  liveliliood;  the  second,  (iebtors 
who  were  sohl  for  payment  of  their  debts;  the  third,  captives  made  in  war, 
who  were  niaintainied  and  employed  as  slaves;  the  fourth,  nativi  sucli  as 
were  the  children  of  villeins  liorn  in  servitude  within  a  particular  district  or 
manor  and  were  by  descent  the  sole  property  of  the  lord  A  manor,  (k 
manendo,  because  the  lord  did  usually  dwell  in  the  manor  liouse,  or  ä 
mamorium,  from  mamoring  the  land]  or  k  mesner  from  guiding  and 
governing)  is  an  ancient  lloyalt  or  Lordsbip, 

Dick. 
I  have  a  suit  unto  your  lordsliip. 

C  a  d  e. 
Be  it  a  lordsbip,  thou  shalt  have  it  for  that  word. 

S.  P.  Henry  VI.  Act  4.  Scene  7. 
in  former  times  called  a  Barony, 

Bardolph. 

My  lord,  l'll  teil  you  what; 
If  my  young  lord  your  son  have  not  the  day, 
Upon  mine  honour  for  a  silken  point 
l'll  give  my  barony:  never  talk  of  it. 

J>.  P.  Henry  IV.  Act  1.  Scene  1. 

consisting  of  demesnes  and  Services  and  of  a  Court  Baron  as  inoident 
to  it.  (Coke's  Compl.  Copyh.  S.  .31.  4  Hep.  -26.  1  Cro.  1;»,  38,  39  Wood's 
Inst.  2nil  ed.  p.  130).  The  origin  of  Mani)rs  was  this:  the  king  anciently 
granted  a  certain  compass  of  ground  to  some  men  of  merit,  l'or  them  and 
their  heirs  to  dwell  iipon  and  exercise  some  Jurisdiction  more  or  less,  within 
that  circuit;  for  which  the  Lords  performed  such  servioes,  and  pail  such 
annual  rtnts,  as  were  required  by  the  Grant.  (Cowell).  The  Lords  re- 
tained  so  much  land  as  was  nece.'jsary  for  the  maintenance  of  thcmselves 
and  their  families  which  were  called  terrae  domin icales,  or  desmesne 
lands.  ' 

Capulet. 
A  gentlemen  of  princely  parentage 
Of  fair  desmesnes,  youthful,  and  nobly  trained 

Romeo  and  Juliet  Act  :>.  Scene  1. 

Abont  the  year  1554  Henry  the  Eighth  manumitted  two  of  his  villeins 
in  these  words  „W  hereas  God  created  all  men  free,  but  afterwards  the 
laws  and  custonis  of  nations  suhjected  some  undcr  the  yoke  of  servitude, 
we  think  it  pious  and  meritorious  with  God  to  maiiumit  Henry  Knighf,  a 
taylor  and  John  Herle,  a  husbandman,  our  natives,  as  beiiig  born  within 
the  manor  of  Stoke  Ciynmiysland,  in  our  County  of  Cornwal,  togelhi-r  with 
all  their  goods,  lands  and  chatteis  acquireil,  or  to  be  ac(|nired,  so  as  the  said 
persons  and  their  issue  shall  from  hencei'orth  by  us  be  free,  aml  of  free 
condition"  (Barr.  Stats.  276).  The  reader  will  perceive  that  Hamlet  says, 
(  „I  am  native  here 

And  to  the  manner  born." 


454  Sitzungen   der  Berliner  Gesellschaft 

and  also  tbat  in  the  form  of  enfranchisement  tbe  king  manuniits  „tfenry 
Knight  and  Jiilin  Herle.  our  natives,"  as  being  born  witbin  the  manor 
of  8toke  Clynimysland.  The  word  ustd  by  Hamlet  is  not  ?pelt  manor  but 
it  is  idem  sonans;  and  be  niay  speak  figuratively  considering  Denmark 
or  Elifimore  as  tbe  Manor,  himself  as  nativus  (to  the  manor  born)  and  tbe 
»heary  headed  revel"  as  a  custom  incident  to  the  Manor. 

King  Richard. 
I  am  a  villain:  yet,  I  lie  I  am  not. 

Riebard  III.  Act  5.  Scene  3. 

The  characters  in  Sbakspeare's  Works  frequently  play  upon  words  and 

„palter  with  us  in  a  double  sense" 

evon  in  situations  wbore  punning  would  seem  unseasonable,  so  tbat  it  is  not 
improhnble  that  Hamlet  may  use  tbe  word  matmer  in  a  double  sense,  and 
tbat  RiJiard  may  mean  tbat  he  is  a  villain  in  tbe  ordinary  tbough  not  in 
the  legal  acceptation  of  the  term,  not  forgetling  however  tbat  le  says, 
Act  1  Scene  1, 

I  am  determined  to  prove  a  villain" 
and  tbat  Queen  Margaret,  act  4  scene  4,  calls  him  „villain  slave." 

Oliver. 
Wilt  thou  lay  hands  on  me  villain? 

Orlando. 
I  am  no  villain:    I  am  tbe   youngest  son   of  Sir  Rowland  de   Bois;   he 
was  my  father;   and   he   is   thrice  a  villain  tbat   says,   such  a   fatber  begot 
viilains. 

At  You  Like  It  Act  1.  Scene  1. 

When  the  same  word  has  more  than  one  signification,  it  is  .«ometimes 
doubtful  in  wliat  sense  it  is  useil  by  Shakespeare.  It  seems  to  be  used  by 
Oliver  in  Its  ordinary  sense  of  wicked  wretcb  or  rogue,  and  by  Orlando  m 
its  legal  and  ancient  sense  of  bondslave.  Tbe  reailer  will  perceive  from 
these  explanatiims  ihat  tbe  term  villain  when  used  by  Shakespeare  in  the 
sense  of  bondslave  bas  a  peculiar  force,  particularly  as  tenure  in  villenage 
seems  to  have  existed  in  England  in  bis  time,  for  in  Rymer  there  is  a 
commission  of  Queen  Eüzabetli,  of  tbe  year  1.574,  directed  to  Lord  Burghley 
and  Sir  Walter  Mildmay,  for  inquiring  into  the  lamls,  tenenients,  and  otlier 
goods,  of  all  h<T  bondsn)en  and  bondswomen  in  the  counties  of  Cornwal, 
Devonsliire.  Somerset,  and  Glouce^ter,  sucb  as  were  by  blood  in  a  slavish 
condition,  by  being  born  in  any  of  her  manors,  and  to  Compound  with  all 
or  any  such  bon' Ismen,  or  bondswomen,  for  tbeir  manumission  and  free- 
dom.  As  the  tenure  in  villenage  existed  in  early  tiraes,  tbroughout  Europe, 
the  word  villain  when  Uf^etl  in  tbe  legal  sense  of  bondslave  may  probably  be 
represented  in  every  P>uropean  language  by  a  word  of  a  similar  meaning. 
But  unless  those  words  wbioh  in  otber  languages  correctly  represent  tbe 
term  villein  or  bondsbive  of  the  P^nglish  Law,  also  signify  a  wicked  wretch 
or  rogue,  the  double  meaning  cannot  be  conveyed. 

W.  L.  Rushton. 

39.  Sitzung.  4.  Juni.  Herr  Strack  spricht  über  die  Lebensver- 
hältnisse von  Albin  de  Chevallet  und  geht  ausführlich  auf  den  Inhalt 
des  ersten  Theils  der  Origine  et  formation  de  la  langue  frantjaise  nach 
<Jer  2.  Auflage  ein. 


für  das   Studium  der  neueren  Sprachen.  455 

Herr  Mahn  spricht  über  die  slavische  Herkunft  des  von  Schiffers- 
leuten bei  Berlin  (in  den  Pichelsbergen ,  in  Köpnick)  gebrauchten 
Wortes  „Pristavel,"  Aufseher  und  Ordner  in  Schiffahrtssachen. 

Herr  Beauvais  beantwortet  die  Frage:  Welche  Mittel  wenden 
die  Franzosen  an,  um  ein  einzelnes  Wort  aus  dem  Satze  hervorzuheben, 
da  wo  im  Deutschen  einfache  Betonung  genügt?  durch  eine  Fülle  von 
französischen  Beispielen. 

Herr  Holtze  theilt  aus  einer  1832  in  Paris  erschienenen  franzö- 
sischen Uebersetzung  der  „Berliner  Nachte"  L.  Schneider's  eine  reiche 
Auswahl  höchst  ergötzlicher  Uebersetzungsfehler  mit  und  zeigt  dann, 
wie  es  dem  Uebersetzer  durch  Auslassungen,  Fälschungen,  Zusätze 
und  Noten  gelungen,  aus  dem  harmlosen,  in  gut  preussischer  Gesin- 
nung geschriebenen  Buche  ein  ultramontanes  und  preussenfeindliches 
Pamphlet  zu  machen. 

Nach  der  Sitzung  macht  der  Vorsitzende,  von  einem  Mitgliede 
darum  ersucht,  eine  Mittheilung  über  das  hierselbst  errichtete  Seminar 
für  Lehrer  der  neueren  Sprachen. 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 


Germania.  Vierteljahrsschrift  für  deutsche  Aherthumskunde, 
herausgegeben  von  Franz  Pfeifer.  Vierter  Jahrgang, 
3.  Heft.     Wie«  1859. 

lieber  den  Zauherer  Virgilius.  Von  K.  L.  Roth.  In  dieser  in 
der  historischen  Gesellschaft  zu  Basel  gelesenen  Atihamllung  wurden  zuerst 
die  Sagen  von  den  \A  umlerwerken  des  Virgilius,  die  n:ich  Neapel  verlegt 
■werden,  besprochen.  Es  sind  dies  besonders  die  wunderthätigen  Gebeine 
Virgils,  der  Vesnvregulator ,  das  Bad  ohne  Arzt,  die  gesunde  Metzig  das 
SchlanL'enthor,  die  eherne  Fliege.  Ausserdem  werden  noch  erwähnt:  ein 
wunderbarer  Garten,  ein  ehernes  Pferd,  eine  Gla.sflasche  mit  dem  Bilde  der 
Stadt ,  die  Ringmauern  der  Stadt  Neapel.  Zu  diesen  Sagen  gesellen  sich 
andere,  die  nach  Rom  und  selbst  über  Italien  hinaus  verlegt  werden  Diese 
sind  aber  späteren  Ursprungs  und  von  den  Ni  apnlitanischen  wesentlich  ver- 
schie'len.  „Während  nändich  diese  den  Charakter  der  Gemeinnützigkeit  an 
siih  tragen  und  vom  Stadtchronisten  als  Belege  für  die  Liebe  des  Dichters 
zu  Nea[)el  dargestellt  werden,  dringt  in  die  späteren  und  auswärtigen  Sagen 
je  länger  je  mehr  die  Lust  am  Curiosen  und  Hurlesken  und  Hand  in  Hand 
damit  das  durchaus  fremdartige  Element  des  Dämonischen  ein  "  Er  schliesst 
sieh  so  den  dämoni.'-chen  Gi  stalten  Merlin,  Papst  Gerbert  und  Klinschor 
an  und  wird,  wie  Enenkel  sagt,  „der  helle  kint."  Nachdem  der  Verf.  noch 
weiter  die  Vertleclitung  und  Vermischung  orientalischer  Sagen  mit  Vir- 
gilius Zauiiereien  besprochen  und  deren  Vorhandensein  auch  in  der  deutschen 
mittelalt'rlichen  Literatur  nachgewiesen  hat,  sucht  er  deren  Ursprung  und 
Verbreitung  aus  einer  Begebenheit  des  1 2.  Jahrhunderts  zu  erklären.  Nach 
Gervasius  von  Tilburg  nämlich  fand,  sich  bei  König  Roger  ein  kluger,  in 
allen  Künsten  und  V\  iss^enschaften  wohl  bewanderter  Meister  aus  England 
ein.  der  um  die  Erlaubniss  bat,  Virgils  Gebeine  aufsuchen  und  erheben  zu 
dürfen.  Niemand  kannte  seine  Grabesstätte.  Er  aber  fand  sie  vermittelst 
seiner  Kunst  in  einem  Berge  ohne  alle  Spuren  irgend  einer  jemaligen  Oeff- 
nung.  Der  Körper  war  unversehrt;  ihm  zu  Häupten  iajr  ein  wohlerhaltenes 
Bu'h  mit  unverständlichen  Charakteren.  Das  Volk  widersetzte  sich  dem 
Entführen  der  Gebeine.  Der  Engländer  durfte  sie  40  Tage  behalten,  damit 
sie  ihm  durch  Besehwöruntjen  alle  Kunst  des  Virgilius  mittheilen  müssten. 
Das  Buch  durlte  er  behalten.  Diesem  Ereigniss  schreibt  Roth  es  zu,  dass, 
da  bisher  in  der  Literatur  des  Auslandes  keine,  in  der  einheimischen  nur 
eine  schwache  Spur  vom  Zauberer  Virgilius  zu  entdecken  gewesen,  nun  wie 
mit  einem  Zauberschlaire  Alles  von  ihm  erfüllt  ist. 

Zum  Titurel.  Von  ^''ranz  Pfeifer.  An  Worte  San  Martes  über 
die  Nothwendigkeit  einer  kritischen  Ausgabe  des  jüngeren  Titurel  anknüpfend 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  457 

macht  Herr  Pfeifer  nuf  die  Schwierigkeit  aufmerksam,  ein  Citat  des  mittel- 
hochileutschen  Wörterhuclis  von  Benet  ke  aus  dem  Titurel  in  Hahn's  un- 
kritischer Ausgabe  aufzufinden,  da  Benecke  nach  dem  alten  Druck  citirt 
und  die  Fortsetzer  dies  beibehalten  haben.  Zur  Erleichterung  der  Auffin- 
dung giebt  er  eine  tabellarische  Uebersieht  beider  Ausgaben.  An  diese 
ßchätzenswerthe  Zusammenstellung  knüpft  er  eine  Erörterung  über  Wolframs 
Titurel  Er  gelangt  aus  Inlialt  und  Form  desselben  zu  dem  Resultat,  der 
Titurel  sei  vor  den  Farcival  zu  setzen  und  als  Jugendarbeit  zu  betrachten. 
Eine  eben  so  feine  als  anziehende  Untersuchung,  ähnlich  denen  über  Frei- 
dank und  Erek. 

Zur  Räthselliteratur.  Von  K.  Bartsch.  Der  Verfasser  bespricht 
zunächst  die  !Samralung  von  Räthselfragen,  die  er  in  seinen  Denkmälern  der 
provetizalischen  Literatur  herausgegeben  hat  und  verbindet  damit  ähnliche 
Erzeugnisse  aus  anderen  Werken,  besonders  aus  einer  Handschrift  des  9. 
Jahrhunderts  ,joca  monachorum  "  Mittheilungen  der  Art  lassen  das  Be- 
dürfniss  einer  niöglifh-t  vollständigen  und  geordneten  Sammlung  der  alten 
Räthsel  immer  lebliafter  empfinden. 

Nibelungen.  Handschrift  K.  Der  Nibelungen  liet.  Von  A.  Holtzmann. 
Aus  einer  Papierhandschrift  des  IS.  Jahrhunderts  auf  der  Bibliothek  des  Pia- 
risten-Collegiums  zu  Wien  werden  vorläufig  einige  Proben  mitgetheilt.  Pfeifler 
verspricht  in  einer  Anmerkung  eine  ausführliche  Beschreibung  bei  Darlegung 
des  reichen  Inhalts  dieser  Handschrift  folgen  zu  lassen.  Die  Handschrift 
giebt  übrigens  nicht  das  Lied  selbst,  sondern  eine  Bearbeitung  oder  Ueber- 
setzung  des  15.  Jahrhunderts,  wie  dies  schon  Zarncke  und  (Joedeke  bemerkt 
haben.  Das  Ganze  ist  für  manche  Stellen  nicht  unwichtig,  zumal  für  sprach- 
geschichtliche Studien  des  Deutschen. 

Künzelsauer  Fronleichnamsspiel  aus  dem  Jahr  1479.  Im  Aus- 
zuge mitgetheilt  von  H.  Werner.  AVie  viel  Aehnlichkeit  auch  das  Stück 
nach  Inhalt  und  Anhige  mit  den  übrigen  älteren  Spielen  darbietet,  so  ist  die 
Miitheilung  desselben  schon  deswegen  dankenswert!),  weil  ein  vollständiges 
Fronleichnamsspiel  noch  nicht  gedruckt  vorliegt.  Die  Vergleicliung  mit 
andern  Dramen  unter  Hervorhebung  des  Characteristischen  dieses  Spieles 
lässt  zwar  eine  ziemlich  genaue  Keimtniss  von  dem  Inhalte  des  Ganzen  ge- 
winnen, genügt  aber  nicht,  um  den  Druck  des  Ganzen  übertliissig  gemacht 
zu  haben. 

Zwei  Lieder  auf  Albrecht  Achilles.  Von  K.  Bartsch.  Beide 
Lieder  einer  Nürnberger  Papierhandschrift  (Cent.  VII.  80)  entnommen,  be- 
ziehen sich  auf  die  Fehden  des  Markgrafen  Albrecht  Achilles  mit  den  Nürn- 
bergern, und  zwar  auf  das  Treffen  bei  Pillenreuth  am  St.  Georgenabend 
14  50.  Das  eine  von  18  fünfzeiligen  Strophen  ist  schon  mehrmals  gedruckt, 
das  zweite  um  7  Strophen  längere  hier  zum  ersten  Male. 

Kleine  Mittheilungen  von  Felix  Liebrecht  über  Brautlauf, 
Reinhard  Fuchs,  eine  englische  Priamel,  eine  schwedische 
Maistange,  das  Grab  and  seine  Länge. 

Ueber  Deutsche  Ortsnamen  von  Ignatz  Petters.  Die  mit 
tegar  gebildeten  Ortsnamen  gehören  sämmtlich  Süddeutschland  an,  und 
tegar  scheint  hier  gross  zu  bedeuten.  Die  Namen  auf  hövel,  den  alten 
aut  liuvila  entsprechend,  finden  sich  nur  in  Norddeutschland,  anderwärts 
auch  in  der  Form  —  hübel.     Das  "Wort  i-^t  gleichbedeutend  mit  Hügel. 

Kritiken.  Ferd.  Wolfs  un<l  Ad.  Ebert's  Jahrbuch  für  romanische 
und  englische  Literatur  angezeigt  von  K.  Bartsch;  Lüning's  Ausgabe  der 
Edda  angez.  v.  Franz  Stark. 


458  Beurtlieilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Katholische  Kirchenlieder,  Hymnen,  Psalmen,  aus 
den  ältesten  deutschen  p-odruckten  Gesanjr-  und  Gebet- 
büchern zusammengestellt  von  Joseph  Kehrein. 
1.  Band.     Würzburg  1859. 

Diesem  Haupttitel  ist  ein  zweiter  beigegeben:  die  ältesten  katholischen 
Gesangbiiclier  von  Vehe,  Leisentrit,  Corner  und  Andern  in  einer  Samm- 
lung vereinigt  I.  Bd.  Nach  dem  Inhaltsverzeichniss  wird  das  unter  dem 
speciellen  Titel  mit  dem  1.  Bande  begonnene  Werk  aus  720  Liedern  be- 
stehen, von  denen  der  erste  Band  372  enthält.  —  Der  um  das  Studium  der 
deutsolien  Sprache  und  Literatur  wohlverdiente  Herausgeber  wünscht,  um 
eine  Geschichte  des  deutschen  Kirchenliedes  vom  katholischen  Stand- 
punkte aus  möchlich  zu  machen,  zuvörderst  zu  einer  Sammlung  .«ämmt- 
licher  katholischer  deutscher  Kirchenh'eder  von  den  ältesten  Zeiten  bis  zur 
Gegenwart  anzuregen.  Er  seihst  giebt  hier  sämmtliche  Lieder  vom  Ende 
des  i5.  Jahrhunderts  bis  zum  Jahre  1631,  in  welchem  Jalire  nämlich  die 
2.  Aufl.  von  Corners  grossem  Gesangbuche  erschienen  ist  Die  zweite  Ab- 
theilung des  Werks  soll  in  277  Nummern  die  vollständige  Uebersetzung 
der  hiteinischen  Kirchenhymnen  von  R,  Edingius,  die  Bearbeitung  der  Psalmen 
von  Ulenberg  und  verschiedene  religiöse  Gedichte  enthalten,  die  nur  zum 
Theil  als  Kirchenlieder  gelten  können. 

Wie  sehr  ich  nun  auch  dem  Herausgeber  die  WichtiL'keit  und  Ver- 
dienstllchki'It  des  ganzen  Unternehmens  vom  wissenschaftlichen  Standpunkte 
aus  zugestehe,  finde  ich  die  Motive,  die  er  für  dasselbe  angiebt,  weder  ver- 
ständlich noch  stichhaltig.  Er  sagt:  „Ist  eine  solche  Sammlung  einestheils 
eine  nothwendige  Ehrenrettung  unserer  heiligen  Kirche,  dann  wird 
sie  von  der  anderen  Seite  eine  lautere  Quelle  werden,  aus  der  die  Zusanimen- 
steller  von  Gesangbüchern  für  einzelne  Gemeinden  oder  Diöcesen  schöjifen 
können;  sie  wird  zugleich  ein  Erbauungsbuch  im  schönsten  Sinne." 
Erstens  begreife  ich  nicht,  wie  eine  Sammlung  von  Liedern  eine  Ehren- 
rettung der  Kirche  könne  genannt  werden:  mir  sclieint  es,  -als  habe  der 
Herausgeber  die  Kirche  selbst  mit  denen,  die  der  katholischen  Confession 
angehören,  verwechselt;  und  dann  vermag  ich  nicht  einzusehen,  wie  Gedichte 
aus  dem  l^.  und  16.  Jahrhundert,  die  möglicher  Weise  noch  Reste  aus 
älteren  Jahrhunderten  enthalten,  ein  Erbauungsbuch  im  schönsten  Sinne  des 
Worts  sein  können.  So  sehr  nämlich  oft  diese  alten  Lieder  wegen  der  Tiefe 
der  Empfindung,  der  Innigkeit  des  religiösen  Gefühls  und  der  Reinheit  des 
Glaubens  ansprechen,  so  liegt  doch  gegen  die  Möglichkeit,  sich  daraus  heute 
noch  religiös  zu  erbauen.  Manches  vor.  Einmal  bietet  die  Sprache  manches 
völlig  Unverständliche  dar.  Dieses  Verständniss  zu  erzielen,  ist  weder  mög- 
lich noch  rathsam.  Denn  es  stellt  sich  sogleich  noih  ein  anderes  Gehrechen 
für  das  völlige  Verständniss  ein  Nicht  bloss  nach  ^^'ortbildung  und  Wort- 
bedeutung ist  die  Sprache  vielfach  ■■eine  andere  geworden,  sondern  auch  nach 
dem  ganzen  Gepräge  des  Ausdrucks.  Manche  Anschauungen  und  Bilder  sind 
für  uns  unverständlich,  ungeniessbar,  ja  von  Seiten  des  gebildeten  Sprach- 
gefühls oder  Kunstgeschmacks  widerwärtig.  Wie  kann  da  von  religiöser 
Erbauung,  von  bewusster  Erfassung  religiöser  Empfindungen  die  Rede  s^^in! 
Der  dritte  Punkt,  den  der  Verfasser  im  Auge  hat,  ist  wohl  der  allein 
richtige :  Das  wissenschaftliche  Bedürfniss  verlangt  genaue  Bekanntschaft  mit 
den  alten  und  ältesten  Liedern.  Von  diesem  Standpunkte  allein  kann  ein 
soh'hes  Werk  genossen  werden,  von  ihm  allein  nmss  es  au^^gehen.  üb  eine 
solche  Sammlung  darum  oder  dadurch  im  Stande  sei,  „der  heiligen  katho- 
lischen Kirche  reiche  Sympathien  zu  erwerben,"  ist  dabei  ganz  gleichgültig. 
Sie  gehören  dem  deutschen  christlichen  Bewusstsein  älterer  Zeit  an  und  das- 
jenige, was  an  ihnen  etwa  dem  modernen,  wissenschaftlich  gebildeten  christ- 
lichen Bewustsela  zuwider  sein  möchte,   wird  schwerlich  irgendwo  auch  nur 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  459 

einige  Sympathien  zu  erwecken  iin  Stande  sein.  Die.«er  etwas  einseitige 
Standpunkt  des  Herausgebers  mag  durch  seine  persönh'che  oder  amtliche 
Stellung  gerechtfertigt  erscheinen;  er  ist  uns  his  dahin  bei  ihm  noch  nicht 
störend  entgegentretreten  und  wird  auch  für  diese  wissenschaftliche  Arbeit 
nicht  weiter  hemmend  eingewirkt  haben. 

Aus  der  Vorrede  hebe  ich  noch  hervor,  dass  dem  zweiten  ßande  ein 
"Wörterbuch  beigegeben  werden  soll,  welches,  da  Grinmi  auf  <las  prote?t;in- 
tische  Kirchenlied  nur  wenig,  auf  das  katholische  gar  keine  Rücksicht  ge- 
nommen hat,  liir  die  spätere  Lexicographie  einige  Ausbeute   liefern  möchte. 

In  der  Einleitung  (S.  i  —  107)  verbreitet  sich  der  Verf.  zuerst  über 
die  Griechische  und  Lateinische  Kirchensprache,  über  den  ön'entlichen  Culfus, 
über  die  Kirchensprache  in  Deutschland,  alles  dieses  nach  B.  Hölschers 
Werk  über  das  deutsche  Kirchenlied  vor  der  Reformation.  Es  ist  kein. 
Zweifel,  dass  ihm  ausser  diesem  und  Hoffmanns  vortrefflichem  Buche,  „Ge- 
schichte des  deutschen  Kirchenlieles  vor  der  Reformation"  auch  andere  Ar- 
beiten über  diese  Gejicenstände  bekannt  sind.  z.  B.  über  die  Kirchenspruche 
Ru'l.  V.  Raumers  grösseres  "\\  crk,  oder  über  den  ältesten  Kirchengesang  die 
Abhandhing  von  Prof  Müller  in  Basel  (Das  chiistliche  Lied  im  apostoli- 
schen Zeitalter  im  Schweizerischen  Museum  von  Gerlach,  Hettinger,  W. 
Wackernagel  ^.  Bd.  p  231  —  ?5  7)  und  andere:  aber  er  führt  sie  wolil 
deswegen  nicht  an,  weil  er  in  wenigen  Sätzen  die  Resultate  jenes  genannten 
Buches  hinstellt,  und  nicht  eigene  Untersuchungen  anfresfelU  hat.  — 

Im  4.  Abschnitte  giebt  er  eine  geschichtliche  Uebersicht  des  deutschen 
Kirchenliedes  bis  auf  Luther.  Es  ist  auffallend,  dass  er  hier  die  Gränze 
zwischen  dem  Kirchenlied  und  geistlichem  Liede  nicht  genau  cczogen  hat. 
ISIögen  immerhin  hier  geistliche  Lieder,  „die  bei  Wallfahrten,  Processionen, 
Bittgängen  und  anderen  {remeinsamen  religiösen  Handlungen"  gesungen 
wonlen  sind,  unter  dem  Namen  Kirchenlieder  Berücksichtigung  finden,  so 
sini!  doch  keineswegs  alle  Lieder  und  Dichtungen  des  Mittelalters,  grössere 
oder  kleinere,  die  relioiösen  Inii^its  sind,  unter  die  Kirchenlieder  zu  zählen. 
Von  seinem  katholischen  Standpunkte  aus  würde  er  docii  wenigstens  alle 
die  unherücksichtiijt  lassen  müssen,  welche  unkatholische,  ketzerische  oder 
antikatholi<che  Anklänge  und  Ideen  enthielten. 

Im  5.  Abschnitte  bespricht  der  VerfHsser  die  Lieder,  die  in  katholischen 
und  protestantischen  Gesan^hüehern  verkommen  und  sucht  bei  vielen  zu  er- 
mitteln, ob  sie  eigentlich  katholischen  oder  protestantischen  Ursprungs  sind. 
Der  ganze  Abschnitt  beweist,  dass  der  Verfasser  eindringlichere  Studien 
nicht  cescheut  und  auch  die  LTntersuchnngen  und  Sammlungen  protestanti- 
scher Gelehrten,  wie  Wackernagels,  Mützeis,  von  \>  interfelds  u,  A.  nicht 
verschmäht  hat. 

Der  6.  Abschnitt  giebt  eine  literarhistorische  Uebersicht  über  die  alten 
hatholischen  Gesangbücher  und  Sammlungen  geistlicher  Lieder  vom  Ende 
des  1?>.  Jahrhunderts  bis  1631,  über  neue  Gesangbücher  und  Sammlungen 
mit  alten  Liedern,  ein  Verzeichniss  der  Uehersetzungen  lateinischer  Kirchen- 
hymnen, und  endlich  literurjreschichtlicher  Werke 

Die  beiden  letzten  Abschnitte  enthalten  eine  Beschreibung  der  vom 
Verf.  benutzten  Lücher  und  Vorreden  aus  verschiedenen  Gesangbüchern. 

Schon  au^  dieser  mögli-hst  kurz  gehaltenen  Anjrabe  ist  es  ersichtlich' 
welche  mannigfaltige  und  gründliehe  Belehrung  über  ältere  Gesänge  und 
Gesanirbücher  hier  zu  finden  ist.  Der  erste  Band  der  Sammlungr  enthält 
in  6  Abtheilungen  1)  Morgen-,  Abend-,  und  Tischlieder;  '2)  \\'eihnachts-, 
Oster-,  l'fingst-,  Frohnleichnamslieder:  3)  Lieder  fürs  gnnze  Jahr.  Jedem 
Liede  geht  der  NHchweis  vorauf,  welcher  älteren  Sammlung  es  angehört, 
es  foljit  ihm  ein  Verzeichniss  von  Lesarten  und  oft  Hinwei-ung  auf  andere 
Sammlungen. 

Das  ganze   Werk  verdient  wegen  des  Umfangs  sowohl,   als   wegen   der 


460  B e urt heil un gen  und  kurze  Anzeigen. 

Gründlichkeit  der  Behandlung  nioht  bloss  Literarhistorikern  oder  Literatur- 
freunden, sondern  überhaupt  gebildeten  Lesern,  zumal  Katholiken,  bestens 
empfohlen  zu  werden. 


Wörterbuch   der   deutschen    Sprache,      Von  Dr.   Da- 
niel Sanders.     10.  Lieferung.     Leipzig  b.  Wigand. 

Was  ich  bei  der  Anzeige  der  ersten  Hefte  als  unzweifelhaft  hinstellte, 
dass  das  Wörterbuch,  wie  es  beabsichtigt  und  versprochen,  in  regelmässigen 
Lieferungen  erscheinen  werde,  hat  sich  erfüllt.  Wir  haben  nun  mit  der  10. 
Lieferung  weini  nicht  die  Hälfte,  doch  einen  grossen  Tlieil  unseres  Sprach- 
schatzes vor  uns  liegen.  Die  grossen  Vorzüge  des  Sander^chen  Werks  vor 
allen  andern  der  Art  treten,  je  länger  und  gründlicher  man  dasselbe  benutzt, 
desto  mehr  und  überraschender  hervor.  Diese  Vorzüge  bestehen  nicht  bloss 
in  der  sicheren  und  gediegenen  Ausführung  des  Planes,  die  ganze  Sprache 
in  ihrer  Gesanimtheit  durch  Zusanimenordnung  des  Zusammengehörigen  zu 
erfassen,  in  der  genauen  und  gründlichen  Beachtung  der  grammatischen 
Formen,  in  der  möglichst  scharfen  Erfassung  der  Wortbedeutungen  und 
Vergleichung  sinnverwandter  Ausdrücke,  in  der  geschickten  Auswahl  der 
Belegstellen,  sondern  auch  vorzüglich  darin,  dass  auf  weit  geringeren)  Räume 
ein  weit  reichhaltigerer  Inhalt  gegeben  wird,  als  irgend  anderswo.  Ja,  wor- 
auf es  hier  wesentlich  nicht  ankonmit  und  worauf  Sanders  selbst  wenig  Ge- 
wicht legt,  in  der  Zahl  der  Wörter  ühertriff't  sein  Werk  bedeutend  das  der 
Gebrüder  Grimm.  Er  hat  dies  selbst  schon  im  Archiv  XVIII,  212  ff.  durch 
Aufzählung  von  etwa  siebentehalhhuiidert  bei  Grimm  auf  den  ersten  lOl 
Spalten  fehlenden  Wörtern  nachgewiesen.  Rechnen  wir  dazu  die  hierbei 
absichtlich  übergangenen,  in  seinem  Programm  S.  10  und  S  17  der  Zahl 
nach  über  400  schon  aufgeführten,  so  ist  das  Tausend  reichlich  voll,  und 
es  würden  demnach  durchschnittlich  auf  jede  Spalte  bei  Grimm  etwa  C  dort 
fehlende  Beispiele  kommen.  Das  ist  doch  bei  einem  Wörterbuche,  welches 
auf  die  Herbeischaffung  a'ler  Wörter  den  geringsten  Nachdruck  legt,  ein 
besonderes  (gewicht  dagegen  auf  die  Zusammenfassung  des  Zusammenge- 
hörigen, die  in  wenigen  Zeilen  iibersichtlich  und  in  innerer  Vollständigkeit 
ersci)öpft,  während  die  rein  alphabetischen  Wörterbücher  nach  Willkür 
Einzelnes  herausgreifen  und  planlos  auffuhren,  ein  eigenthümlich  merk- 
würdiger Umstand,  indem  es  bei  den  unbestreitbaren  inneren  Vorzügen  in 
Bezug  auf  den  äusseren  Reichthum  nicht  nur  nicht  nachsteht,  sondern  jedes 
andere,  im  gros.sartigsten  Massstabe  angeh  gte  Wörterbuch  noch  übertrifft. 
Fast  jeder  grössere  Artikel  des  Sanderschen  Wörterbuchs  ist  geeignet,  diese 
wesentlichen  und  ganz  eigenthümlichen  Vorgänge  ins  Licht  zu  setzen.  Es 
■würde  zu  weit  führen,  dies  in  einiger  Ausführlichkeit  darzulegen.  Ja  es 
bedarf  überhaupt  das  Wörterbuch  jetzt  weder  einer  ausführlichen  An- 
zeige, noch  besonderer  Lobpreisung  seiner  Vorzüge.  Es  ist  anerkannter 
Massen  ein  Werk  von  unschätzbarem  ^^'erthe,  das  mit  jeder  neuen  Liefe- 
rung neue  Genüsse  zuführt,  aber  auch  immer  wieder  zu  neuem  Dank  gegen 
den  Verfasser  auffordert.  P^iner  solchen  Verpflichtung  zu  genügen,  ist  der 
Zweck  dieser  Zeilen.  Möge  es  dem  Verfasser  vergönnt  sein,  seine  mühe- 
volle und  schwierige,  aber  auch  reich  gesegnete  Arbeit  glücklich  zu  voll- 
enden! 

Berlin. 

Dr.  Sachse. 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  461 

Torso  und  Korso.  Aus  dem  alten  und  neuem  Rom 
von  Hermann  Lessing.  Berlin.  Verlag  von  Ju- 
lius Springer.     1859. 

Die  Schrift  ist  von  einem  Mitgliede  der  Gesellschaft  für  neuere  Sprachen 
und  Literaturen  gesclirieben  worden.  Um  so  wi^niger  genau  wollen  wir 
untersuchen,  ob  in  dieser  Zeitschrift  unbedingt  eine  Recension  derselben 
erwartet  werden  dürfte.  Jedenfalls  jilauben  wir  einer  Anzahl  unserer 
Leser  über  ein  Buch  erwünschten  Bericht  zu  geben,  das  an  so  vielen  andern 
Orten  schon  empfohlen  und  das  ihnen  darum,  weil  es  die  Literatur  wenig 
in  sein  (lebiit  zieht ,  doch  nicht  uninteressant  sein  wird.  Doch  werden 
wir  die  dieser  Zeitschrift  gesteckten  Grenzen  gar  nicht  überschreiten,  wenn 
wir  uns  auf  die  Betrachtung  des  7.  Capitels  von  Torso  und  Korso  be- 
schranken. Zugleich  zur  Bezeichnung  der  bchreibart  des  Verfassers  theilen 
wir  folgende  Stelle  mit: 

„.ausser  der  grossen  Oper  e.xistiren  noch  5  Theater:  Argentina  für  das 
Trauerspiel  und  Schauspiel,  das  Theater  della  Valle  für  das  Lustspiel,  Kon- 
versationsstück und  Operetten,  das  'l'heaier  Metastasio,  wo  die  Ristori  im 
feineren  Lustspiel  ihre  ersten  Triumphe  feierte,  endlich  das  Theater  Ka- 
pranika  und  Teatro  nuovo.  wo  niedere  Bossen  und  Farci^n  das  Volk  vergnügen 
und  an  die  aiten  komischen  Masken  der  Italiener  eiinnern.  Um  berühmt 
zu  wt'rden,  mnsste  die  Ristori  erst  nach  Frankreich  gehen;  von  Rom  aus 
lässt  sich  selbst  auf  der  Buhne  die  \\  eltherrschaft  nicht  mehr  errinjicn.  Die 
Buhne  nährt  sich  Im  Koni  auch  grösstentheils  von  Fianzbsischen  Stücken 
und  auch  an  der  Tiber  hat  Charlotte  Birch  ihre  Kommanditen,  die  das  Ge- 
schäft des  Zuschneidens  nach  der  Elle  besorgen.  Die  Eintrittspreise  sind  in 
diesen  Theatern  Im  Ganzen  um  die  Hälfte  niedriger  als  in  der  Oper.  Ein 
Parquetplatz  für  das  Schauspiel  kostet  i  Paul  (ungefähr  8  Sgr. ),  und  nach 
diesem  \erhältniss  richten  sich  die  übrigen  Plätze.  In  den  Volkstheatern, 
die  in  ihren  Ankünditrungen  den  JSJund  am  vollsten  nehmen,  und  Ritter  und 
Rauher  aus  allen  Zeitaltern  agiren  lassen,  wird  nur  eine  kleine  Scheidemünze 
auf  dem  Altar  der  Kunst  niedergelegt.  Einer  der  populärsten  Helden  Ist 
Friedrich  der  Grosse,  i\er  oft  wie  ein  deus  e.\  maihina  erscheint,  mit 
seiner  Schnupftabacksdose  droht,  und  schon  allein  durch  diese  Drohung  die 
Feinde,  die  Vertreter  des  bösen  Prinzips,  in  ilie  Flucht  schlägt.  Das  V  olks- 
bewusstsein  hat  den  nordischen  Helden  verklärt,  und  der  alte  Friiz  ist  fast 
schon  ein  .Mythus  geworden,*)  <ler  alles  Gute,  Edle  und  Rltlerllclic  in  dieser 
charakteiistlsciien  Erscheinung  zusammenfasst.  Ganze  Scenen  aus  .«einem 
Leben  werden  dargestellt  seine  Kampfe  mit  seinem  sti-engen  Vater.  Scenen, 
die  insofern  höchst  ergötzlich  slml ,  als  mit  den  Kostümen  und  mit  den 
Kamen  gleich  willkürlich  umgesprungen  wird,  aber  der  junge  Kronprinz 
zeigt  schon  im  Ertragen  seiner  halten  Schiiksale  sein«  stoische  Festlf:keit 
und  seinen  keiken  Humor,  und  der  „Sergeant"  Friedrich  schüttelt  seine 
Ijclden  so  muthig  ab,  wie  der  Löwe  Thautropfen  aus  seiner  Mähne.  Das 
haben  sich  die  Päpste  gewiss  nicht  träumen  lassen,  dass  einst  an  der  Tiber 
der  protestantische,  der  ketzerische  Regent  so  gefeiert  wurde  und  wie  ein 
guter  Genius  mit  dem  Heiligenscheine  geschniüekt.  In  starrsinniger  Ver- 
blendung haben  sie  erst  seinen  Nachfolger,  Friedrich  Wilhelm  IL,  als  König 
anerkannt,  und  jetzt  Ist  »ler  Markgraf  von  Brandenburg  bei  weitem  popu- 
lärer jreworden,  als  die  ganze  Reihe  heiliger  Väter,  welche  nieht  müde  wurden, 
den  Kreuzzng  gegen  Preussen  zu  predigen  und  es  nkht  verschmerzen  konnten, 
dass  die  (iebnrt  des  preussischen  Staates  der  Tod  des  Mittelalters  und  das 
Ende  ihrer  Macht  ist." 

*)  Ueber  Friedrich  den  Grossen  als  deutsche  Märchenfigur  vgl.  H. 
Pröhle,  Kinder-  und  Volksmärchen,  1853,  Vorwort  S.  XXXI. 


462  Beurtheilungen  und   kurze  Anzeigen. 

Schliesslich  noch  für  Fernstehende  eine  Bemerkung  über  den  Verfasser. 
Derselbe  bildet  mit  Kossak,  Titus  Ullrich  und  Julius  Rodenberg  jetzt  das 
tüchtige  und  geistreiche  Vierkleelilatt  der  Beiliner  Feuillf tonisten.  Während 
jentr  zugleich  Musiker  ist  und  diese  zugleich  Dichter  sind ,  wichuet 
gerade  unser  Lessing  sich  ausschliesslich  der  feuilletonistischen  Description. 
Hierauf  beruhen  seine  Fehler  wie  seine  Tugenden.  Im  Feuilleton  herrscht 
die  Form.  Sie  überwiegt  und  noch  dazu  in  der  Alles  mit  Ironie  umfassenden 
Art  in  Lessings  Aufsätzen,  wie  in  den  daraus  entstandenen  Schritten.  Zum 
Gluck  ist  jedoch  Lest.iiig  im  Stande,  nicht  allein  auf  seine  Form  ungewölin- 
lichen  Fleiss  zu  verwenden,  wobei  wir  keineswegs  ans  Erfahrung  wissen, 
ob  er  ihn  wirklich  darauf  verwendet;  sondern  er  ist  auch  im  btande,  zu 
seinen  Aufsätzen  und  Schriften  ganz  ungewöhnliche  Studien  zu  machen. 
Dass  er  in  letzterer  Beziehung  es  an  nichts  fehlen  lässt,  hnt  er  durch  Torso 
und  Korso  von  neuem  auf  eine  ebenso  seltene  als  feine  Art  bewiesen.  Äföie 
er  es  auih  feiner  beweisen!  —  Sein  Name  ist  der  unsres  grossen  Dichters 
und  ni(.ht  Lestoq,  wie  das  literarische  Centralblatt  in  einer  Recension  von 
Torso  und  Korso  sagte.  Der  Name  Lessing  und  Lestoq  sind  vielmehr  in- 
sofern identisch,  als  umgekehrt  Lestoq  in  den  Berliner  Zeitungen  ein  falscher 
Name  für  Hermann  Lessing  ist.  p 


Deutsches  Lesebuch  für  Gymnasien,  Real-  und  höhere  Bürger- 
schulen von  F.  Hopf  und  K.  Paulsiek.  Zweiter  Theil. 
Erste  Abtheilung.  (Für  Tertia).  Berlin,  E.  S.  Mittler  und 
Sohn.     lfS59. 

Im  Laufe  der  Jahre  1855  und  18.'i6  erschien  der  erste  Theil  des  deut- 
schen Lesebuchs  von  Hopf  und  Faulsiek,  in  drei  Abtheilungen  gesondert, 
die  je  für  eine  der  drei  unteien  Klassen  einer  höheren  Lehranstalt  berechnet 
waren.  (Hamm.  G.  Grote'sche  Buchhandlung  (C.  iMüller).  Dieses  Bneh, 
nach  kurzer  Zeit  zum  zweiten  Male  aufgelegt,  fand  sowohl  günstige  Beur- 
theilungen in  Zeitschriften  (Herrig,  Archiv  für  das  Studium  der  neueren 
Sprachen  ISof.  S.  4 1  .■3.  Mützell,  Zeitschrift  für  das  Gymnasialwesen  IX.  11. 
S.  832)  als  auch  eine  bileibende  Aufnahme  in  mehreren  preussischen  uinl  ausser- 
preussischen  Schulen,  so  dass,  hierdurch  ermuntert,  die  Herausgeber  jetzt 
als  Fortsetzung  die  vorliegende  Abtheilung  für  Tertia  haben  folgen 
lassen. 

Das  Verliältniss  dieses  Tiieiles  zu  dem  ersten  wird  durch  das  Motto  des 
Titelblattes  ebenso  sinnig  als  richtig  angedeutet: 

Wenn  du  zum  Thurm  aufklimmst  auf  gewundener  Staffel,  erscheint  dir 
Oefter  das  nämliche  BihI,  doch  es  erweitert  sich  stets. 

So  auch  kommst  du  zumeist,  aufstrebend  im  Reich  der  Erkenntniss, 
Auf  ein  Bekanntes  zurück,  aber  du  schaust  es  erhöht. 

In  diesem  Sinne  schliesst  sich  die  Abtheihmg  für  Tertia  enge  an  die 
vorangehenden  Stufen  an.  Auch  hier  ist  Poesie  und  Prosa  vertreten,  jedoch 
so,  dass  diesmal  der  Poesie  „die  Ehre  des  Vortritts"  eingeräumt  wni-den  ist, 
und  zwar  nicht  bloss  äuvserlich,  sondern  auch  durch  grösseren  Umfang.  Der 
prosaische  Theil  umfasst  132  Seiten,  während  der  poetische  236  Seiten  ein- 
ninnnt.  Die  Herau.sgeber  gingen  bei  dieser  Bevorzugung  des  poetischen 
Abschnittes  von  der  Ansicht  aus,  dass  dem  heranwachsenden  Knaben  (in  der 
Tertia)  die  Zunge  zu  prosaischer  Rede  schon  einigermassen  gelöst  sein  müsse. 
Sie  haben  wohl  Recht;  jedoch  ist  das  einigermassen  sehr  zu  betonen, 
und  der  prosaische  Abschnitt  wird  auch  in  der  Tertia  thun  müssen,  was 
seines  Amtes  ist. 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  463 

In  dem  poetischen  Abschnitte  tritt,  dem  Standpunkte  und  dem  zwei- 
jährigen Cursus  der  Tertia  angemessen,  die  Gliederung  der  Poesie  nach  ihren 
Hauptgattungen  hcvor.  Die  Ordnung  der  Stiii.'ke  nach  den  Dichtungsarten 
setzt  den  Lehrer  in  Stand,  an  der  Hand  des  Buches  die  Scliüler  empirisch 
mit  den  hauptsächlichsten  epischen  Versmassen  bekannt  zu  machen  und 
überhebt  ihn  tiucr  systematischen  Unterweisung  in  den  JNIefris,  welche  auf 
dieser  Stufe  nicht  angebracht  wäre.  Der  poetische  Theil  ist  folgendermassen 
geordnet: 

\.  Epische  Poesie.  A.  Rein  epische  Poesie.  I.  Heroisches  Epos. 
n.  Thierepos.  III.  Idylh'n.  B.  Lyrisch  epische  Poesie.  IV.  Aus  grösseren 
lyrisch  fpis<'hen  Dichtungen.  V.  Poetische  Erzählungen,  Balladen,  Koraanzen. 
ä.  Sagerihaite  Stoffe,  b.  Geschichtliche  Stoffe,  c.  Stoffe  aus  dem  Völker-  und 
]Menschenleb(ai  überhaupt.  VI.  Poetische  Beschreibungen.  C.  Didaktisch 
epische  Poesie.  VlI.  Fabeln.  VIII.  Parabeln  und  Paramyihien.  IX.  Le- 
genden. X.  Allegorien  und  Räthsel.  XI.  Lehrgedichte.  XII.  Gnomen  und 
Epigramme. 

BS.  Lyrische  Poesie.  A.  Rein  lyrische  und  episch  lyrische  Poesie. 
XIII.  Weltliche  Lieder.  XIV.  Cieistliche  Lieder.  B.  Didaktisch  lyrische 
Poesie.     XV.  Elegische  Gedichte. 

C.  Dramatische  Pot'sie. 

Die  prosaische  Abtheilung  lehnt  sich  in  ihrem  ersten  Abschnitte,  den 
Sagen,  fast  ganz  an  die  poetische,  in  ihrem  zweiten  Theile,  dt-n  gt-schicht- 
licl)en  Darstellungen,  welche  hauptsächlich  zur  Belebung  deutsciier  und  preussi- 
scht-r  Geschichtskunde  dienen  sollen,  an  das  hi^torische  Pensum  der  Tertia 
an.     Diese  Abtheilung  hat  folgende  Gliederung  erhalten: 

A.  Erzählende  Prosa.  I.  Siigcn.  IL  Geschichtliche  Darstellungen. 
1.  Schilderungen  geschichtlicher  Begebenheiten  und  Verhältnisse.  2.  Ge- 
schichtliche (Jharakterzeichnungen.  III.  Erzählungen.  IV.  Fabeln  und  Pa- 
rabeln. 

B.  Beschreibende  Prosa.  V.  Naturbilder.  VI.  Bilder  aus  dem  Menschen- 
leben. 

C.  Didaktische  Prosa.  VII.  Abhandlungen.  VIII.  Ein  Dialog.  IX.  Syn- 
onymen. 

ö.  Eine  Probe  rhetorischer  Prosa. 

E.  Briefe. 

In  stoffl.cher  Beziehung  ist  als  ein  Vorzug  des  Lesebuches  hervorzu- 
heben, dass  es  in  der  poetischen  Abtheilung  Stücke  aus  Walter  und  Hilde- 
gunde,  den  Nibelungen  und  der  Gudrun  giebt.  an  welche  si(  h  in  der  pro- 
saischen Ahtheilung  Wall  her  und  Hildegunde,  die  Siegfriedsage,  die  Gu- 
drunsage und  ähnliche  Stoffe  anschliessen.  Hierdurch  ist  dafür  gesorgt, 
dass  der  Schüler  zeitig  mit  den  deutschen  Sagen  vertraut  wird,  für  welche 
in  den  Geschichtsstunden  nur  wenig  Zeit  übrig  zu  bleiben  pflegt,  während 
den  Sagen  des  griechisch-römischen  Alterthums  andere  Lehrstunden  hin- 
reichen<len  Raum  vergönnen.  iJoch  auch  den  Sagen  der  Alten  ist,  wie  in 
den  früheren  Theilen.  so  auch  in  diesem  ihre  Stelle  eingeräumt  worden:  sie 
sind  namentlich  auch  im  V.  Absi'hnitre  vertreten.  Wenn,  um  eine  Einzel- 
heit herauszugreifen,  der  Inhalt  der  Nibelungen  nur  bis  zur  Versenkung 
des  Hortes  mitgetheilt  ist,  so  erscheint  dies  als  kein  Mangel,  da  der  andere 
Theil  der  Sage  Motive  enthält,  die  erst  dem  reiferen  Junglingsalter  ver- 
ständlich werden  können.  Wohl  aber  hätten  noch  einijfe  Lessing'sche  Fabeln 
mehr  aufgenommen  werden  können.  Es  liesse  sich  ferner  über  die  Scene 
aus  Comggio  (von  Oehlenschläger)  mit  dem  Herausgeber  rechten  Ref. 
säht',  an  dieser  Stelle  litbei-  eint-  Scene  aus  Schiller,  etwa  die  Schlussscene 
aus  W  ilhelm  Teil;  denn,  wie  1*.  selber  zugiebt,  wird  die  Probe  aus  Oehlen- 
schläger „nicht  allen  Schillern"  einen  Blick  in  die  ideale  Welt  der  Kunst 
eröffnen,  woge^^en  <lie  bezeichnete  Scene  aus  1 'eil  sicher  einem  jeden  Schüler 
etwas  bieten  möchte. 


464  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Von  diesen  meist  streitigen  Punkten  abgesehen,  maoht  das  Ganze  einen 
gewinnenden  Kimiruok.  Die  Auswahl  zeigt  si'heren  pädagogisclien  Takt; 
der  Zweck  des  Buches  leuchtet  ü'Derall  liindurch,  er  ist  Bildung  des 
Geistes  und  Herzens  durch  Läuterung  des  Geschmacks,  Be- 
fruchtung  der  Phantasie  und  Anregung  des  religiösen  und 
patriotischen   Sinnes. 

Somit  möge  das  Buch  angelegentlich  Allen  empfohlen  sein,  welche 
deutschen  Unterricht  zu  ertheilen  haben;  es  verdient  dieselbe  anerkennende 
Aufnahme  zu  finden,  wie  die  ersten  drei  Cursen. 

Die  typographische  Ausstattung  ist  gut,  der  Druck  korrekt. 

Posen.  Dr.  Breysig. 


Englisches  Lesebuch,  zusammengestellt  aus  den  Werken  der 
besten  englischen  Geschichtschreiber  zum  Gebrauch  für 
Schulen  und  zum  Selbstunterricht  von  E.  Bernhardt,  Pro- 
fessor. Meiningen ,  Brückner  und  Renner,  (ohne  Jahres- 
zahl).    IX.  u.  482  S.  8. 

Der  Verfasser  ist  eine  Zeit  lang  in  Zweifel  gewesen,  ob  es  zweckmässig 
sei,  auf  das  bekannte  ^^'erk  von  HiTrig  so  bald  ein  neues  ähnlicher  Art 
folgen  zu  lassen,  ist  aber  zu  der  Ueberzengung  gekommen,  dass  beide  Kücher 
recht  wohl  neben  einamlt^r  bestehen  können.  Referent,  der  anfangs  jenes 
Bedenken  theilte,  muss  dem  Vfr.  auch  im  zweiten  Punkte  Reciit  geben. 
Das  vorliegende  Lesebm  h  ist  ein  willkommener  Nachtrag  zu  dem  Herrig- 
schen  Werke  und  kann  von  jedem  Frennde  der  englischen  Literatur  gleich- 
zeitig mit  demselben  benutzt  werden.  Denn  wälirind  Herrig,  um  die  ^anze 
Literatur  nach  (Tochichte  und  augenblicklichem  Umfamie  darzustellen,  auch 
Schrittsteller  aufnehmen  muss,  die  dem  grossen  Lesepul)licum  weit  ablie<zen, 
beschränkt  sich  das  Lesebuch  auf  solche  (ieschichtsehreiber,  welche  sich 
noch  gegenwärtig  in  den  Händen  jedes  gebildeten  Lesers  in  En(.'land  finden. 
Dieses  kleinere  Feld  ist  glücklich  gewählt,  weil  England  gerade  an  guten 
Gescbichtsclireibern  reich  und  die  Verbreitung  derselben  in  immer  weitern 
Kreisen  wünschenswertli  ist.  Natürlich  ist  auf  dem  engeren  Gebiet  eine 
ziemliche  V^ollständigkeit  erreicht.  Die  Auswahl  ist  mit  Geschmack  und  viel 
Belesenheit  getroffen  Die  Biographie,  ein  reicher  Zweig  der  englischen 
Literatur,  ist  nicht  mit  aufgenommen.  Von  den  Geschichtschreibern  im 
engern  Sinne  könnte  man  vielleicht  Carlyle  vermissen,  der  allerdings  für  die 
Schule  wenig  bietet.  Dagegen  ist  von  den  Amerikanern  Prescott  aufire- 
nommen.  Die  abgedruckten  Stücke  sind  charakteristisch  für  die  Schrift- 
steller und  in  sich  selbst  interessant.  Die  beigefügten  Anmerkungen  und 
biographischen  Notizen  wer<len  nicht  allein  dem  Selbststudium  zu  Hülfe 
kommen,  sondern  auch  dem  Lehrer  manchen  dankenswerthen  Fingerzeig 
geben.  So  ist  namentlich  der  Abschnitt  aus  Macaulay  in  seinen  Einzeln- 
heiten gewiss  auch  für  den  verständlich  geworden,  dem  die  eingehende  Per- 
sonen- und  Sachkenntniss,  wie  Macaulay  sie  voraussetzt,  abgeht.  Ueber  das 
Mass  in  diesen  Dingen  wird  man  immer  rechten  können:  doch  wäre,  um  eine 
solche  Einzelnheit  zu  erwähnen,  eine  Bemerkung  nöthig  gewesen  zu  p.  87, 
wo  Dickens  von  einem  Kaiser  Agricola  spricht.  Leider  haben  sich  verhält- 
nissmä^^sig  viele  Druckfehler  eingeschlichen,  sonst  ist  die  Ausstattung  des 
Buches  vortrefflich. 

Kl.  Rosleben.  Giseke. 


Programmen  schau. 


On  the  study  of  Modern  languages  in  general,  and  of  the  Eng- 
lish  language  and  its  treattnent  in  the  connnercial  school  of 
Leipsic  in  particiliar  by  Dr.  David  Asher.  Programm  der 
öffentlichen  Handelslehranstalt  zu  Leipzig.     Ostern  1859. 

Der  Titel  iler  Abhandlung  lässt  seinem  ersten  Theil  narh  Allgemein- 
heiten über  ein  schon  oft  behandeltes  Thema  erwarten;  und  in  der  Ttiai  hat 
der  Verfasser  zu  Anfang  derselben  ein  <:anz  allgemeines  Ra.sonnement  ange- 
stellt, ohne  den  Gegenstand  durch  neue  Gesiehtspnnkte  oder  eigenthumliche 
Behandlung  wesentlich  zu  fordern.  Hierin  liegt  schon  angedeutet,  dass  wir 
diesen  Tlieil  für  den  schwä>hsten  der  Arheit  halten;  jemthr  der  Verf.  auf's 
Einzelne  kommt,  desto  interessanter  wird  seine  Darstellung.  Zieht  man  von 
den  Erörterungen  im  Eingange  die  Anführuiiiren  bekannter  Schriftsteller  ab, 
so  bleiben  nur  (Gemeinplätze  ührig.  Diesen  Tlieil  können  wir  füglich  als 
variae  leetiones  bezeichnen.  Es  wird  davon  ausgegangen,  dass  man  vielfach 
dem  Stuiiium  der  neuern  Sprachen  die  bildende  Kraft  oder  die  Fähigkeit  den 
Geist  zu  entwickeln  abgesprochen  und  behauptet  habo.  Spraehkenn;nisse  setzten 
uns  nur  m  den  Mand,  unsre  Gedanken  mii  grosserer  Fülle  des  Ansdru*  ks  dar- 
zustellen, ohne  den  Ideenkreis  selbst  zu  erweitern.  Die  Umichtigkeit  dieser  An- 
sicht will  der  X'erf  nachweisen,  und  wir  werd-n  gleich  sehen,  worin  ^ein  Nach- 
weis besteht  Der  Ausgangspunkt  ist  aber  an  und  für  sich  schon  eine  unnöthige 
Anknüpfung  an  etwas,  was  man  als  abgethan  auf  sich  beruhen  lassen  sollte. 
Dass  die  Sprache  als  Form  der  Meen  mit  diesen  auf  das  Innigste  zusamnicn- 
hange  und  die  Erweitreung  des  Inhalts  bedinge,  dass  f«  rner  durch  das  ilinzu- 
tieten  eines  aii'lern  Organismus  sj)racldicher  Formen  eine  Bereicherung  nnsrer 
Ans.  hauungen  und  Gedanken  der  eine  neue  imd  ei^-enthümlii  he  Begrenzung 
derselben  im  Verhältniss  zu  tinander  herheigeführt  werde,  braucht  man  wirk- 
lich heut  zu  Tage  einem  treliildeten  Leser  nicht  mehr  zu  deinonstriren.  Et- 
was .Andres  wäre  eine  eingehende  Erläuterung  «ier  logischen  und  psycholo- 
gischen Momente,  welche  der  geschichtlichen  Sprachentwicklung  z  i  (irumie 
liegen.  Unnöthig  ist  ferner  IL  Dr.  Ashers's  Digression  über  die  gi-iechische 
und  römische  Literaiur.  insofern  er  nicht  dazu  foitgeht,  di-n  W  ertli  <ier  mo- 
dernen Sprachen  als  HiMnngsmitiel  im  Unterschiede  vom  Lateinischen  und 
Griechischen  zu  charakterisiren.  Die  Uehcrsclirift  des  ersten  Kapitels  The 
advantages  to  be  derived  from  the  study  of  modern  languages  liess  eine 
derartige  V  ergleichung  erwarten;  was  der  Verfasser  beibringt,  kann  ganz 
im  Allgemeinen  von  jeder  beliebigen  Sprache  gesagt  werden.  Es  besteht 
ans  der  Angabe,  da^s  Sprachkenntniss  rien  Schlüssel  zur  Literatur  andrer 
Völker  enthält,  welche  nuthwendigerweise  den  Geist  ausdehnen  und  ihm 
neue  Ideen  zuführen  muss,  ferner  aus  einem  Hinweis  auf  die  Leistun;/«  n  der 
comparativen  Philologie,  endlich  aus  dem  Citat  einer  langen  Stelle  der 
Schopenhauer'schen  Parergn  and  Paralipomena,  welche  IL  Dr.  Asher  in 
Archiv  f.  n.  Sprachtii.  XX\  U.  30 


466  Frogranimens  chau. 

englischer  Uebersetzung  mittheilt.  Sie  bildet  den  eigenthümlichen  Schwer- 
punkt (IfS  Riisonneuient ;  Jiber  zur  Charakteristik  moderner  Sprachen  im  Ver- 
hältniss  zu  den  classischen  trägt  sie  nichts  bei.  H.  Dr.  Aslier  scheint  dies 
selbst  gefühlt  zu  haben;  denn  er  schliesst  seinen  ersten  Theil  mit  den 
"Worten:  It  has  been,  I  trust.  sa  tisf actorily  shown  that,  whether  ms  re- 
garded  by  itstdf,  or  as  affecting  the  mind  ol'  the  student  (nicht  glü.  küch 
gewählter  Ausdruck),  the  study  of  hmguages  —  betheyancient  ormo- 
dern,  dead  or  living  —  may  clHira  equal  rank  with  any  other  science, 
and  is  well  caiculated  to  form  an  imporiant  branch  of  education.  Lm  dies 
bescheidne  Resultat  zu  erreichen,  bedurlte  es  keines  grossen  Aufwandes  von 
Gelehrsamkeit,  ke'nes  Apparats  von  Citaten.  Der  Verf.  hat  viele  Namen 
genannt,  Si eilen  und  Seiten  citirt  wie  blosse  Büchertitel;  wir  erfahren  ge- 
legentlich, .Ihss  Rask  zur  Entdeckung  der  Lautverschiebung  den  Weg  ge- 
balmt  —  beiläufig  gesagt  etwas  allgemein  Bekanntes,  dass  Eugen  Aram  nach  Bu- 
cher's  Miitheilung  in  der  N;  tionalzeitung  die  erste  Ahnung  einer  verg'ei- 
chenden  Sprachwissenschaft  gehabt  habe,  wir  bekommen  allerlei  Gelehrten- 
namen in  den   Kauf,  nur  Diez  ist  unerwähnt  gelassen. 

Es  soll  weiterhin  vom  Verf.  bewiesen  werden,  dass  unter  allen  moder- 
nen Sprachen  die  englische  dem  Deutschen  die  grössten  Vortheile  bringe 
und  den  höchsten  Anspruch  auf  sein  Studium  erheben  dürfe.  Dies  wird 
von  einem  linguistisciieu ,  hterarischen  und  praktischen  Gesichtspunkte 
aus  gezeigt.  Der  zwtiie  Paragraph  der  Abhandlung  (the  Euglish  language 
considered  from  a  linguistic  point  oi'  vievv)  ist  nach  meiner  Ansicht  der  in- 
teressanteste, weil  er  zu  Anfang  etwas  nicht  allgemein  Bekanntes  brin<:t, 
einen  Berliht  über  die  von  der  Berliner  Akademie  im  Jahre  1794  gestellte 
Prcisaiifgabe.  das  Ideal  einer  voUkomnmen  Sprache  aufzustellen  und  durch 
Prüfung  der  bekanntesten  älteren  und  neueren  Sprachen  Europa's  nachzu- 
weisen, welche  dieser  Sprachen  jenem  Ideale  am  nächsten  komme,  ferner 
über  die  gekrönte  Preisschrift  des  Berliner  Predigers  Dr.  Jenisch,  welche 
zwei  Jahre  später  unter  dem  Titel  erschien:  Philosophisch  kritische  Ver- 
gleicimng  und  Würdigung  von  14  älteren  und  neueren  Sprachen  Europa's, 
namentlich  der  larieclüschen  u.  s.  w.  Nachdem  H.  Dr.  Ashec  an  der  Be- 
hanllung  des  Gegenstandes  in  diesem  Werke  den  niedrigen  Stand  der 
Sprachwissenschaft  zu  jener  Zeit  nachgewiesen,  theilt  er  mit,  dass  Jenisch 
4  Bedingungen  aufgestellt  habe,  denen  eine  vullkommne  Sprache  genügen 
müsse,  l)  Fülle,  2)  Kraft  des  Ausdrucks,  3)  Klarheit,  und  4)  Euphonie.  In 
allen  Punkten  mit  Ausnahme  des  letzten  wird  der  englischen  Sprache  vor 
den  übrigen  der  Preis  zuerkannt.  Nachdem  das  von  Jenisch  gefällte  Urtheil 
durch  allerlei  Citate  unterstützt  worden,  setzt  H.  Dr.  Asher  die  bekannte 
Stelle  in  J.  Grimm".;  Abh.  über  den  Ursprung  der  Sprache,  worin  das  Eng- 
lische im  \  erh.  zum  Deutschen  wie  zu  den  lonianischen  Sprachen  charakterl- 
sirt  wird,  halb  in  eigner  Uebersetzung.  halb  in  den  Worten  Trench's  (Eng- 
lish  Past  and  Present  p.  36)  dazu.  Zweckmässig  wäre  es  gewesen,  er  hätte 
sich  auch  bei  der  folgenden  Analyse  der  Bestandtheile  des  Englischen  statt 
an  Sharon  Turner,  den  er  nebst  Latham  anführt,  an  <las  erste  Capitel  des 
erwähnten  Trench'schen  Werkes  (vgl.  besonders  S.  14)  gehalten;  dort,  wer- 
den die  von  verschiedenen  Sprachen  dem  Englischen  gelieferten  Wort- 
elemente nach  ihrer  Bedeutung  chaiakterisirt,  nicht  bloss  mechanisch  abge- 
zählt Nun  versucht  H.  Dr.  Asher  ziemlich  kurz  (auf  drittehalb  Seiten) 
die  Einführung  der  verschiedenen  Elemente,  aus  denen  das  Englische  gebildet 
ist,  von  der  Zeit  der  Römer  herab  bis  zur  Entstehung  des  Neuengli.-chen 
im  Zeitalter  der  Elisabeth  nach  Perioden  zu  sondern.  Er  hätte  wohl  nicht 
nöihig  gehabt  bei  dieser  Gelegenheit  die  Hauptwerke  der  angelsächsischen 
Literatur  so'  wie  die  verschiednen  Ausgaben  derselben  aufzuzählen.  Cui 
bono?  Dass  Kemble  den  Beovulf  und  Thorpe  den  Cädmon  edirt  hat  u.  s.  w., 
ist  doch  wirklich  zu  bekannt,  um  einer  Angabe  zu  bedürfen.  Was  der  Verf. 
zu  Ende  des  Capitels  noch   zur  Charakteristik   der   englischen   Sprache   bei- 


Programmenschau.  467 

bringt,  ist  sehr  unerheblidi.  Wie  er  sich  über  schwierige  Aufgaben  weg- 
zusetzen versteht,  zeigt  folgende  Stelle:  There  is  no  ahitmriness  (in  English 
graniiiiar)  in  any  oiie  instauce.  (?)  The  language  aeknowledges  no  law,  but 
the  Ihw  of  reason  and  good  sense.  Hcnce,  tue,  there  is  no  absurdity  to  be 
niet  with  in  English  eramrnar.  such  as  —  but  no.  I  will  not  institute  conipari- 
sons,  these  beinsr  proverbially  odious,  and  peiluips  nowhire  niore  so  than 
here.    wh'-re    they  tonch  natiiMial  st-tisibility  without  henefiting  science. 

Der  dritte  Faragr.ipli  der  Ahh.  ('he  Kn^lish  languagf  considered  frora 
a  literary  point  of  vievy)  soll  in  drei  Tlieik-  zerfallen,  die  Verwandtschaft  der 
ent;lis.h.-n  Literatur  mit  unsrer  eigem^i,  der  gegenst-iiige  Einfluss,  welchen 
bei<ie  Literaturen  zu  vers.  hiedenen  Zeiten  auf  einander  geül't  haben,  und 
der  hohe  innere  Wertli  der  engiis'h-n  Literatur.  Es  finden  s\ch  darin 
reiht  schäl z^-nswerthe  literarische  Notizen,  von  denen  wold  tnanche  den 
meisten  Lesern  neu  s<in  dürften;  nur  sind  dieselben  durch  einander  gewür- 
felt Mit  (lern  heicjeb'aehten  Material  Hesse  sich  viel  mehr  anfangen,  wenn 
wirklich  aus  den  'Ihatsachen  Schlüsse  gezc^nn  würden,  üas  scheint  aber 
Hr.  Dr.  Asher's  schwache  Seite  zu  sein.  Zwei  Beispiele  werden  frcniigen 
zu  zeij^en,  wie  bt-qu  m  er  es  sich  macht  und  mit  welcher  Leichtigkeit  er 
üher  ßeweisfiihrungen  hingeht:  p  -.^4.  Now  in  F^nglish  liierature.  by  which 
I  would  be  understood  to  refer  to  tlie  works  just  indieated,  we  discöver.  as 
in  the  lanouage.  a  i-pirii  akin  to  ihat  pervad  ng  our  own  liierature.  and,  in- 
stead  of  all  elaborate  argument  it  will  snffiee  to  point  to  tlie  hiihe.-t  in- 
stance,  to  Shakspeare  —  the  poet  who  above  all  others  Stands  mo-t  pro- 
minently  forward  as  the  exponent  and  representative  i-f  the  national  mind, 
and  whom  we  have  suceeeded  in  makini;  entirely  our  own.  Des  Verfassers 
it  will  suffice  bestreiten  wir;  es  bedarf  allerdings  eines  elaborate  ar:ument, 
um  die  Versieheiung  zu  rechtfertigen:  we  tiiscover  in  English  lit  a  splrit 
akin  to  that  pervading  our  own;  ohne  den  Nachweis,  woiin  diese  Verwandt- 
schaft wirklich  besteht,  sind  wir  versucht,  dergleichen  Behauptungen  für 
blosse  Phrasen  zu  halten.  Ferner  S.  M  f :  As  to  tlie  third  reason  which  I 
assigned  at  the  commencenient  of  tliis  ehapter  in  as-^ertion  of  the  claims  of 
English  literature,  viz  its  high  intrinsic  nierit,  I  helieve  so  much  has  lieen 
Said  on  that  head  in  this  Essay  that  it  would  be  a  woik  of  supererogation 
on  my  part  to  dwell  upon  thi.^  point  again  ar  any  length.  The  gnat  names 
I  have  mentioned.  sliinmg  forth  pie -eminent  in  the  multifarious  walks  of 
literature  —  as  (of)  historians,  philosophers,  orators  —  as  dramatic.  ep  c, 
and  lyric  poets  —  as  novelists  and  hum  mrists  —  are  a  sufficient  jjuaraiitee 
for  the  Sterling  rnerit  of  the  works  consiiiuiing  Engli.-ili  literature,  and  the 
acquaintance  ot  my  reailers  with  the  majoiity  of  theiii,  which.  I  Inlieve,  I 
may  unhesitatin^Iy  presume  on,  dispenses  me  fiom  all  elaborate  argu- 
ment. Obgleich  der  Verf  gelegentlich  ilies  und  jene.«  erwähnt  hat,  was 
si<h  auf  ilen  innern  Werth  der  eiiglisehen  Literatur  bezieht,  hätte  er  doch 
oline  bcheu  vor  dem  elaborate  arijument  durch  .\ufstelluny;  bestimmter  Ge- 
sichtspunkte einen  thesaurns  supererogationis  anlegen  sollen.  Hinweis  auf 
berühmte  Namen  kann  kein  Argument  ersetzen.  Unter  der  Würde  der 
Wissenschaft  bleibt,  was  llr.  Dr.  Asher  S  :iJ  hinzufügt,  die  sogenannte 
leichte  Literatur  der  Euiiländer  sei  so  moralischer  Natur,  dass  eine  Mutter 
fa^t  jeden  engliscin'n  Rotnan  ihrer  Tochter  in  die  Hand  geben  köime.  Ab- 
gesehen von  der  Reden.sart  the  hiiih  moral  tone  of  English  socIety,  die 
immer  ein  P^ngländer  dem  andern  nachspricht,  ohne  dass  wir  sie  gleich  zu 
acceptiren  brauchten,  ist  die  ganze  Behauptung:  übertrieben  und  darum  un- 
richtig. Thackeray  hat  zwar  vollkonnnen  Recht,  wenn  er  dies  von  Di.  ken's 
Schriften  rühmt,  aber  gleich  auf  manche  der  Bulwer'schen  Romane  passt  es 
nicht.     Decenz  ist  noch  keine  Moralitat. 

Was  endlich  den  vierten  Para<:raphen  der  Arbeit  betrifft  (the  English 
laneuage  considered  from  a  praciical  point  of  view),  worin  der  Verf  auch 
auf  Methode  des  englischen  Unterrichts  in  einer  Handelsschule  zu  sprechen 


•168  Programmen  schau. 

kommt,  so  enthält  derselbe  wenig  Eigenthümliches,  oder  das  Eigenthiimliche 
ist  nicht  haltbar.  Wenn  es  z.  b.  von  der  untersten  Klasse  heisst :  Etymo- 
logical  analyst's  er  parting  aided  by  (.'omparative  philology,  will  have  to  ac- 
conipany  the  exercises  in  translation,  so  lässt  sich  dies  nur  durch  die  An- 
nahme rechtfertigen,  dass  die  coniparative  Philologie  hier  für  die  allerelemen- 
tarsten  Dinge  den  Namen  hergeben  müsse.  Vielleicht  habe  ich  an  die  ganze 
Arbeit  einen  falschen  Massstab  angelegt,  dass  sie  ntimlich  gleich  andern  Pro- 
grammen für  Gelehrte  bestimmt  sei.  Sollte  der  Verf.  sich  etwa  an  seine 
Schüler  und  an  die  Eltern  derselben  haben  wemien  wollen,  so  Hesse  sich 
das  Öchriftchen  als  eine  ganz  hübsche  Einpfehlung  der  englis-hen  Studien 
betrachten.  Der  Stil  des  Verf.  zeigt  ungewöhnliche  Vertrautheit  mit  dem 
englischen  Idiom,  nur  ist  er  etwas  zu  wortreich. 

Immanuel  Schmidt. 


Bemerkungen  zu  Byron's  Childe  Harold  Canto  I,  vom  Collabo- 
rator  Dr.  Struve,  in  den  zwei  Programmen  von  1859  und 
1860  der  Kieler*)  Gelehrtenschule. 

Um  den  Freunden  Byron's  einen  Beitrag  zur  Erklärung  seines  so  be- 
rühmten \^'erkes  zu  liefern,  hat  Herr  Sruve  zahlrei'he  Beläge  aus  den  ein- 
zelnen Schriften  des  Dichters  selbst,  sowie  aus  den  bisher  wenig  benutzten 
Leiters  and  Journals  of  Lord  Byron  by  Thomas  Moore  und  aus  den  \\'erken 
Sliitkspeare's,  Milton's,  Pope's,  W.  Scott's  und  Thomas  Moore's  gegeben. 
Indem  wir  den  Fleiss  des  Verfassers  gebührend  anerkennen,  bemerken  wir, 
dass  seine  Erläuterungen  vorzugsweise  die  im  Gedichte  vorkommenden  histo- 
rischen Thatsachen  betreffen;  so  die  persönlichen  Verhältnisse  des  Dichters, 
namentlich  das  zu  seinen  Freunden  und  zum  andern  Geschlechte,  ferner  die 
Geschichte  des  Mädchens  von  Saragossa,  die  er  bis  zum  Tode  der  lieldin 
fortsetzt,  die  Schlachten  im  spanisch-französisciien  Kriege  u.  s.  w.  Was  die 
sprachlichen  Eigenthimdichkeiten,  namentlich  die  dichterischen  Ausdrücke 
und  Wendungen  anlangt,  so  giebt  er  uns  theils  eine  reiche  Anzaiil  von  Paral- 
lelstellen aus  Byron  selbst  und  den  obengenannten  Autoren,  sogar  aus  rö- 
mischen Dichtern,  wie  Ovid  und  Virgil,  theils  sucht  er  den  Sinn  nach  eige- 
nem Ermessen  zu  erklären,  wobei  er  mit  der  in  Berlin  (in  der  Herrii;'schen 
Sammlung  englischer  Schriltsteller)  erschienenen  Angabe  des  Childe  Harold 
von  Brockerhuff'  im  Wesentlichen  übereinstimmt  und  nur  zweimal  (Stanze  15: 
Oh,  Christ,  und  :iö :  To  the  gale)  davon  abweicht.  Seine  Erklärungen  sind 
klar  und  ungezwungen  und  lassen  kaum  einen  für  das  Verständniss  schwie- 
rigen Punkt  unberührt,  während  wir  in  der  gewiss  auch  sehr  schäizenswer- 
then  Broekerhoff'schen  Äusgalte  nicht  selten  eine  zu  weit  gehende  Erklä- 
rung der  einzelnen  Redensarten  aiitr'  ffen,  bei  der  alle  nur  möglichen,  oft 
sehr  fern  liegenden  und  dem  Dichter  schwerlich  in  den  Sinn  gekommenen 
Bedeutungen  angegeben  weiden. 


*)  Merkwürdiger  Weise  steht  auf  dem  Titel  beider  Programme  nur: 
Unsre  Gelehrtenschule,  und  auf  dem  ersteren  ist  nicht  einmal  der  Dnick- 
ort  angegeben  ;  der  Inhalt  der  S(  hulnachrichten  jedoch  scheint  die  Annahme, 
dass  Kiel  gemeint  sei,  zu  rechtfertigen. 

Berlin. 

Dr.  Philipp. 


M  i  s  c  e  1  1  e  n. 


Rion  n'est  plus  instructif  que  d'observer,  le  texte  latin  de  la  vulgata 
en  regard,  comment,  d'un  cöte.  Ics  forines  latines  se  sont  changdes  et  ddve- 
lopp^es  (lans  les  langues  d'origine  romaine,  et  de  l'autre,  comment,  dans  ces 
traductions,  meine  beaucoup  de  mots  lutins  ont  ete  tradnits  et  remplaces  par 
des  expressions  qui,  quant  ä  la  signification  de  leur  racine  dans  la  langue 
maternelle.  passaient  pour  synonymes  ou  signifiaient  meme  autre  chose. 
Car  assurement  on  ne  parlait  pas,  dans  les  provinces  conqnises,  la  langue 
elegante  de  Rome:  et  les  langues  romaines  tirant  leur  origine  de  cette 
langue  rustique.  on  |)Ournnt.  a  mon  avis,  en  examinant  Ifs  trailuctions 
faites  sur  la  vulgnta,  ddcouvrir  encore  anjourd'hui  bcaucoup  de  locutions 
reprocliöes  jadis  aux  provinciaux  comn)e  harbarismes.  Pour  coniribuer  tant 
soit  peu  k  l'etude  des  deux  Inngues  le  plus  favorisees  pjir  nos  contem- 
porains ,  le  vieux  francais  et  le  provenpal,  j'aurais  bien  voulu,  en  publiant 
les  psaumes  74  et  13:?  dans  la  belle  langue  fran(;aise  du  Xllle  siecle,  dripres 
le  ms.  nO  8177  de  la  bibliotheque  imperiale  de  Paris,  mettre  ä  cöte'  une  tra- 
duetion  provencjale  de  ces  menies  psanmes:  mais  (]uoique  les  catalogues  de 
cet'e  bibliotheque  en  indiquent  plu«ieurs,  j'ai  pourtant  trouve,  en  les 
feuilletant,  que  tous  les  manuscrits  indicpies  ne  contenaieiit  pas  de  traduction 
proven(;ale.  Ainsi  le  beau  manuscrit  n"^'  8178  du  Xllle  siöcle  donne  une 
traduction  cata'ane  dans  une  langue  d'une  rare  purete  et  d'une  orthogniphe 
assez  ronstante:  puis.  le  ms.  nO  8170  du  XVe  siecle  est  meme  ecrit,  comme 
Ton  voit  par  une  lettre  de  charge,  copiee  de  la  meme  main  a  la  i^uite  des 
psaumes,  dans  Tidiome  valencien :  et  enfin  le  ms.  n^  757  Suppl.  du  XVe 
sifefle  contient  une  langue  mel^e  de  proven^al,  de  catalan  et  qu<'lquefois 
meme,  a.  ce  qu'il  parait,  de  francais.  J  ai  donc  donnö  h  cöte  du  texte. t'ran- 
9ais,  les  traductions  catalane  et  vaiemienne,  parce  qu'il  n'y  a  rien  de  plus 
facile  que  de  reproduire,  d'aprfes  ces  deux  idiomes,  une  traduction  proven^ale. 
Voici  ces  deux  psaumes: 

Psaume  74  (75). 

Vulgata: 

Confitebimur  tibi,  Deus,  confitebimur,  et  invocabinms  nomen  tuum. 

Narrabimus  mirabilia  tua:  (3)  quum  accepero  tempus,  ego  justitias  judi- 
cabo. 

(4)  Liquefacta  est  terra,  et  omnes  qui  habitant  in  ea:  ego  confirmavi 
columnas  ejus 

(o)  Dixi  iniquis:  Nolite  inique  agere ;  et  delintjuentibus:  Nolite  exaltare 
cornu. 

((;)  Nolite  extollere  in  altum  cornu  vestrum:  nolite  loqui  adversus 
Deum  iniquitatem; 

(7)  Quia  neque  ab  Oriente,  neque  ab  üccidente,  neque  a  desertis  mon- 
tibus;^(8)  quoniam  Deus  judex  est. 


470  Miscellen. 

Hunc  humiliat,  et  hunc  exaltat:  (9)  quia  calix  in  manu  Domini  vini 
meri  phnus  mixto. 

Et,  inclinavit  ex  hoc  in  hoc;  verumtamen  faex  ejus  non  est  exinanita: 
bibent  omnös  peccatores  terrae. 

(10)  Ego  autem    annuntiabo   in  seculnm:    cantabo  l)eo  Jacob. 

(11)  Et  omnia  cornua  peccatorum  confringam,  et  exaltabuntur  cornua  justi. 

Vieux  fran^ais. 
(Ms.  no  8177,  fol.   118  vso.  et  fol.   119  r.) 

Nous  confesserons  a  toi,  dex,   nos   confesserons  et   apenrons  ton   nom. 

Nos  raconterons  tez  merueilles:  quant  ie  aurai  pris  tens,  ie  iugerai  iu- 
stises. 

Deoorans  est  faite  la  terra,  e  tuit  li  habitant  en  lui:  ie  confermai  les 
colompnes  (dex)  de  lui. 

Je  dis  a  fi-lons :  ne  uoilles  felenessement  faire;  et  as  pechans:  ne  uoilles 
eshaucer  la  corne. 

Me  uoilles  leuer  en  haut  uostre  corne:  ne  uoilles  parier  encontre  deu 
iniquite ; 

Quar  ne  d'orient,  ne  d'occident,  ne  des  desers  des  montaignes;  car  dex 
est  ingi's. 

Oiu  btirailie  e  cestui  essausse:  car  li  calices  est  en  la  main  de  nostre 
seignnr  piain  mehle  de  uin  pur. 

E  il  enclina  de  ce  en  ce;  neporquant  la  He  de  lui  nen  est  amermee:  e 
beuront  de  ce  tuit  li  pecheor  de  la  terre. 

Mnis  ie  anuncerai  el  ciecle:  ie  chanterai  au  deu  de  Jacob. 

E  toutes  les  cornes  des  pecheors  briserai:  e  les  cornes  des  iustes  seront 
essaucees. 

Catalan. 
(Ms.  no  8178,  fol    91  r.  —  92  r.) 

Senyor  deu,  a  tuns  confessarem,  confessar  nos  em  e  apellarem  lo  teu  nom. 

Recomptarem  les  [tues]  marauelles :  com  pendre  temps,  yo  iutgere  en 
dretura. 

Fusa  es  la  terra,  e  tots  aqu<^lls  qni  stan  en  aquella: 

Jo  dixi  als  maliiats:  no  uulles  maluadament  obrar;  e  als  peccadors:  no 
uulles  axal^ar  la*)  senyoria. 

No  uuiies  lauar  en  alt  la  uostra**)  senyoria:  no  uulles  parlar  contra 
deu  iniqiütat. 

Cor  de  sol  ixent,  ne  de  sol  ponent,  ne  de  munts  deserts;  cor  deu  es 
iutge. 

Aquest  humilia  e  aquest  exal9a:  en  la  ma  de  nostre  senyor  de  ui  pur 
[calix]  umplida.***) 

Enclina  de  9a  e  del  la  la  podridura  dell  e  no  sclarira:  beuran  tots  los 
pecca'lors  de  la  terra. 

Mas  yo  anunciare  a  tot  lo  mon  e  cantare  a  deu  de  Jacob. 

E  totes  les  senyories  dels  peccadors  trencare:  e  seran  exal9ades  les 
senyories  dels  iusts. 

Valencien. 
(Ms.  nO  8179,  fol.   133  —  134  r.) 
Confessarem  a  tu,  deu,  confessarem  a  tu  hi  inuoccarem  el  teu  nom. 
Recomptarem  les  tues  marauelles:  com  baiire  temps,  yo  les  iusticies  iutyare. 
Que  rtgalada  es  la  terra  hi  tots  los  que  habiten  en  ella : 

*)  ms.:   lur. 

"■*)  ms  :  alt  t  e  senyoria. 

***)  ms.:  pur  umplira. 


Miscellen.  471 

Mes  yo  digui  alsmaluats:  no  uullau  ffer  iniquament,  bi  als  peccants:  no 
iiuUau  elleiiar  lo  corn. 

No  uullau  exal9ar  en  alt  lo  uostre  corn:  ni  uullau  parlar  contra  deu 
iniqiiitat. 

Que  no  de  Orient,  ni  de  occident,  ni  dels  dezerts;  car  deu  es  iust  iutge. 

Aquest  liurailia  \n  aquest  exal9a:  que  el  calix  en  ma  del  senyor  de  ui 
pur  ple  remesclat  (sobre  uessmit). 

I  abaixa  d'aqnest  en  aquell;  einpero  la  fegalada  dell  no  es  diniinuhida: 
beuran  della  tots  los  peccadors  de  la  terra. 

Mes  yo  declarare  en  lo  setgle  la  tua  lahor:   cantare  el   deu  de  Jacob. 

I  tots  los  corns  dels  peccadors  trencare:  hi  seran  exalsats  los  corns  dels 
iusts. 

P  säume  133  (134.) 

V  u  1  g  a  t  a : 
Ecce  nunc  benedicite  Dominum,  omnes  servi  Domini. 
Qui  statis  in  domo  Douiini.  in  atriis  domus  Dei  nostri. 

(2)  In  noctibus  extnllite  manus  vestras  in  sancta,  et  benedicite  Dominum. 

(3)  Benedicat  te  Dominus  ex  Sion,  qui  fecit  coelum  et  terram. 

Vieux  fran^ais. 
(fol.  211   vso.) 
Estes  uos,  ores  beneissies  nostre  seignor,  tuit  si  cerf. 
Qui  estes    en  la  maison  de  nostre   seignor,    es  aitres   de  la   maison   de 
nostre  deu. 

Es  nuis  esleues  uos  mains*)  es  saintes  cboses,  e  beneissies  nostre  seignor. 
Beneisse  toi  uostre  8ire[s^  de  Syon  qui  fist  e  le  ciel  e  la  terre. 

Catalan. 
(ibl.   171  r.) 
O  beneyts  deu,  tots  los  seruidors  de  deu. 

Qui  stau  en  la  casa  del  senyor,  en  los  palatis  de  la  casa  del  den' nostre. 
Uenits  e  leuats  les  mans  uostres  als  sanctnaris  e  beneyts  lo  senyor. 
[Lo  senyor]  te  beneescha  de  Syon,  qui  feu  lo  cel  e  la  terra. 

Valencien. 
(fol.  2-10  r.) 
Veus  ara  benehiu  lo  senyor,  tots  los  seruents  del  senyor. 
Qui  estau  en  la  casa  del  senyor,  en  los  palaus  de  la  casa  del  nostre  deu. 
En  les  nits  ellcuau  les  uostres  mans  en  les  coses  sanctes  bi  benebiu  lo 
senyor. 

Bcnebexquet  el  senyor  de  Sion,  el  quäl  feu  el  cel  bi  la  terra. 

Julius  AVollenberg. 


Jesus  und  die  Samariterin. 

Goetbe  erwähnt  'Band  3«,  S.  202  der  Cotta'scbcn  Ausgabe  1830)  in 
dem  Aufsatze  „über  Italien,  Fragmente  eines  Keiscjournals"  ein  geistliches 
dialogisirtes  Lied,  binsichtlicb  anderer  Volkslieder,  mit  den  Worten:  „Ar- 
tiger, angenehmer,  dem  Geiste  der  Nation  und  den  Grun<lsärzen  des  katho- 
lischen Glaubens  angemessener  ist  die  Bearbeitung  der  Unterhaltung  Christi 
und  der  Samariterin   zu   einem   dramatischen    Liede.     Es    bat    innerlich    die 


*)  ms.:  uos  benemis. 


472  Miscellen. 

völlio-e  Form  eines  Intermezzo  zu  zwei  Stimmen,  und  wird  nach  einer  fass- 
lichen Melodie  von  zwt-i  armen  Personen  auf  der  Strasse  gesuneen.  Mann 
und  Frau  setzen  sich  in  einiger  Entfernung  von  einander,  und  tragen  wech- 
selsweis  ihren  Dialog  vor;  sie  erhalten  zuletzt  ein  kleines  Almosen,  und 
verkaufen  ihre  gedruckten  Gesänge  an  die  Zuhörer."  I  h  will  nicht  ver- 
schweigen, (iass  Goethe  fortfährt:  „Wir  geben  hier  das  Lied  selbst  im  Ori- 
ginal, das  durch  eine  Uebersetzung  alle  Grazie  verlieren  würde."  Ich  habe 
desswegen  alle  Ursache,  für  den  folgenden  Uebersetzungsversuch  um  Nach- 
sicht zu  bitten,  dem  ich  die  ersten  vier  italienischen  Verse  voransetze: 

Sono  giunto  stanco  e  lasso 

Dal  niio  lungo  camminar. 
Ecco  il  pozzo,  e  questo  e  il  sasso 
Per  potermi  riposar. 


Jesus.  Zwischen  Waldgestrüpp  und  Dorne 

"Wandelnd  ward  ich  müd'  und  matt; 
Auf  dem  Steine  hier  am  Borne 
Find'  ich  eine  Ruhestatt. 

Wartend  will  ich  hier  verweilen, 
His  ich  eine  Frau  erblickt. 

Schöner  Quell,  o  Quell,  zu  heilen 
Eine  Set-le,  wie  geschickt! 

Lämmer,  welche  fern  vom  Stalle 
In  der  Wüste  sich  verirrt, 

Heim  zur  Heerde  führ'  ich  alle, 
Als  ein  guter,  treuer  Hirt. 

Schau,  da  kommt  so  eben  eine 
Arme  Frau,  sie  ist  allein. 

Komm  nur  her,  du  arme,  kleine! 
Komm  zu  mir,  ich  harre  dein. 

Samariterin.  Nun.  das  fehlte  mir  noch  eben! 

Wer  nur  ists,  der  dorten  sitzt? 
Muss  ich  das  auch  noch  erleben, 
Jemand  hier  zu  finden  itzt! 

Und  er  ist  vom  Nachbarlande, 

Lt  nicht  aus  Samaria. 
An  dem  Haar,  Gesicht,  Gewände 

Seh'  ich,  's  ist  ein  Jude  ja. 

Jud'  und  Samariter  hassen 
Sich  einander,  weiss  ich  wol, 

Lange  Jahre  schon,  und  la.«sen 
Nimmermehr  von  ihrem  Groll. 

Doch  was  kütnmerts  mich    was  zag'  ich? 

Zn  dem  Brunnen  geh'  ich  hin. 
Fragt  er,  wer  ich  sei,  S'>  sag'  ich: 

Nun  ich  bin  die,  die  ich  bin. 

Jesus.  Heil  euch,  Frau,  an  dieser  State! 


Miscellen. 

Samariter  in.       Ihr  auch,  Mann,  gogrüsset  seid! 

Jesus.  Kommt  ihr  heut  zum  Born  doch  späte! 
Samariter  in.       Eber  hatt'  ich  keine  Zeit. 

Jesus.  Durst,  o  liebe,  plagt  mich  Armen, 
Seid  so  gütig,  tränket  mich! 
Reicht  mir  Labung  aus  Erbarmen, 
Tränket,  tränkt  mich  mildigliih! 

Samariterin.  AVie!  Ihr  wollt  zu  trinken  nehmen 
Von  der  Samariterin! 
Müsst  als  Jud'  ihr  euch  nicht  schämen? 
"Wie  kommt  das  euch  in  den  Sinn? 

Denn  die  Euren  un  1  die  Meinen 
Hassen  sich  einander  schwer; 

Solch  Verfahren  würd'  erscheinen 
Beiden  wunderlich  gar  sehr. 

Jesus.  Wiisstet,  wü?st(-t  ihr,  o  liebe, 

Wen  ihr  jetzo  vor  euch  habt, 
"Wiinschtet  ihr  mit  heissem  Triebe 
Euch  durch  seinen  Quell  gelabt. 

Samariterin,  Euren  Quell?  ihr  macht  mich  lachen! 
Kuer  Wasser  i<t  wol  seicht. 
Alt  ist  Jakob;  wollt  ihrs  machen 
Gleichwie  unser  Ahn  vielleicht? 

Sei  gesegnet  er  desswegen, 
Der  uns  diesen  Born  verliehn! 

Seinen  Kindern  gab  zum  Segen, 
Seinen  Heerden  gab  er  ihn. 

Jesus.  Tochter,  wer  am  Born  des  Lebens, 
Meinem  Borne  sich  erfreut, 
Lö-clite  nicbt  den  Dur.^^t  veigeliens, 
Weil  sein  Durst  sich  nie  erneut. 

Samariterin.  Könnt  ihr  nicht  ein  wenig  geben 
Mir  davon,  o  Herr,  sofort? 
Nie  dann  wieder  zu  begeben 
Brauch'  ich  mich  an  diesen  Ort. 

Jesus.  Gerne  sollt  ihr's  haben,  gerne, 
Holt  zuvor  nur  euren  Mann! 
Denkt  niclit,  dass  ich  midi  entferne! 
Nein,  ich  bleib'  und  geb's  euch  dann. 

Samariterin.  Meinen  Mann?  Ei,  Gott  bewahre! 
Noch  bin  ich  von  Manne  frei. 
Jesus.  Wie,  wenn  ich  euch  oflennare, 

Dass  ihr  mehr  gehabt  als  drei? 

Fiinfe  hattet  ihr  schon  deren, 
"Wenn  der  jetz'ge  euer  ist. 


4  Miscellen. 

Samariterin.  Lassen  muss  ich  ihn  gewähren  — 
(bei  Seite)  Herr,  ich  höre,  dass  ihr  wisst. 

Ja  fürwahr,  ihr  seid  ein  Seher, 
Eurer  Weisheit  schweig'  ich  still, 
(b,  S.)  Drum  von  dannen  ich  je  eher, 

Desto  lieber  sclileichen  will. 

Jesus.  Nein,  nein,  nein,  nicht  von  der  State, 
Da  die  Zeit  sich  jetzt  erweist, 
Dass  man  zum  Messias  bete 
In  der  Wahrheit  und  im  Geist. 

Samariterin.  Wohl  haV  ich  es  auch  vernommen, 
Dass  man  vom  Messias  spricht; 
Aber  ob  er  schon  gekommen, 
Kann  ich  euch  berichten  nicht. 

Jesus.  Tochter,  schon  ist  er  erschienen. 
Der  Messias,  traut  auf  mich. 
Meine  'Worte,  glaubet  ihnen, 
Künden's  euch,  ich  bin  es,  ich. 

Samariter  in.  Ja,  ich  glaub'  es,  mein  Gebieter, 

Ich  verehr'  eu' h,  und  mein  Mund 
Macht  an  alle  Samariter 

Flugs  das  grosse  Wunder  kund. 

Jesus.  Geht,  zu  eurer  Heimat  Ehre 

Wird  dort  gläubig  Weib  und  Mann. 
Die  gesammten  Himmelsheere 
Stimmen  Jubellieder  an. 

Samariterin.  O  der  hohen  Huld  und  Gnade, 

AVenn  im  Herzen  Glaub'  erwacht! 
Jesus.  Auf  der  Liebe  lichtem  Pfade 

Zeigt  zumeist  sich  Gottes  Macht. 


IL 

Samariterin.   Nehmet  wahr  der  sündigarmen, 
Wie  sie  wieder  vor  euch  steht! 
Ja,  mit  freundlichem  Erbarmen 
Schaut  mich  an,  o  Majestät  1 

Meine  Seele  war  am  reinen 
W^asserquelle  euer  Gast; 

Andres  Wasser  wird  mir  scheinen 
Ekler  Sumpf  nun  und  Morast. 

Tausend  Dank  sei  euch  gespendet! 

Wollt,  ihn  zu  empfahn.  geruhn, 
Dass  mein  Herz  ihr  so  gewendet! 

Weltlich  war  ich,  heilig  nun. 


Miscellen.  475 


Jesus.  Meine  Tochter,  lasst  mich  nennen 
Euch  nun  mehr  als  jemals  so; 
Und  zu  scliönem  AV'eik  entbiennen 
Wtrd'  ich  oft  noch  selig  frob. 

Gott  ja  bin  ich,  wie  ihr  wisset, 

Mächtig  schafft  mein  Ann  und  hehr. 

"Wenn  ihr  nie  den  Glauben  misset, 

"Wirk'  ich  einst  durch  euch  noch  mehr. 

Samariterin.  Eben  hab'  ich  als  den  wahren 

Gott  der  Allmacht  euch  erkannt; 
Denn  der  Samariter  Schaaren 
Haben  sich  euch  zugewandt. 

Jesus.  Hab'  ich  doch  von  ew'gen  Zeiten 
Euch  die  Ehre  zugedacht, 
Meine  Lehre  zu  verbreiten 

Und  der  Wahrheit  hohe  Macht. 

Samariterin.  Herr,  mein  Herr,  o  was  vernehm'  ich? 
\^  ie  wird  mir  die%  Gunst  zu  Theil  ? 
Ach,  ich  stehe  vor  euch  schämig. 
Nicht  verdien'  ich  solches  Heil. 

Jesus.  Das  ist  meine  Sitt'  und  Weise, 

Die  so  manches  Wunder  schafll. 
Für  die  That  zu  Gottes  Preise 
Braucht  es  nur  geringe  Kraft. 

Eingedenk  seid,  wer  den  grassen 

Hololernes  überwand! 
Liess  ihn  nicht  im  Bett  erblassen 

Eine  schwache  Frauenhand? 

Denkt  an  Goliath,  den  Riesen, 
Was  das  Lehen  ihm  geraubt! 

Nur  ein  Steinchen  fällte  diesen, 
Und  zur  Erde  fiel  sein  Haupt. 

Schaut,  hier  meine  Hand  vollbrachte 
Diese  ganze  weite  Welt ! 

Und  ich  habe,  was  ich   machte, 
Aus  dem  Nichts  an's  Lijht  gestellt. 

Wohl  um  meinen  Ruhm  zu  mehren, 
Hab'  ich,  was  ich  that,  gethan; 

Doch  auch  Nutzen  zu  gewahren 
Denen,  die  mir  gläubig  nahn. 

Samariterin.  O  das  Liebst'  ist  mir  von  Allen 
Doch  das  Evangelium: 
Lasst  damit  als  Botin  wallen 
In  der  Welt  mich  um  und  um. 

Euch  gewidmet  sei  mein  Leben, 
Milder  Jesus,  euch  allein! 


476  Miscellen, 

Euch  will  ich  mich  ganz  ergeben, 
Keines  Andern  fürder  sein. 

Jesus.  Gerne  will  ich  euch  mich  fügen, 
Dessen  Herz  ich  mir  gewann. 
Euer  wonnigstes  Vergnügen 
Findet  denn  an  mir  fortan! 

Samariterin.  O  mein  Trauter,  Heb  und  theuer! 

Jesus.       Liebe  Freundin  seid  ihr  mir. 
Samariterin.  Ich  bin  euer! 

Jesus.  Ich  bin  euer! 

Beide.      Ew'ge  Treue  halten  wir. 


K.  L.  Kannegiesser. 


Sprachliche  Fragen. 

Bei  'näherer  Prüfung  der  Rechtschreibungsregeln  der  französischen 
Sprache  sind  mir  mehrere  Seltsamkeiten  aufgefallen,  welche  ich  mir  nicht 
erklären  konnte,  und  über  welche  ich  bei  allen  bedeutenden  Fachmännern 
vergeblich  Aufschluss  suchte.  Vielleicht  ist  die  Sache  andirswo  bereits 
gründlich  erörtert,  und  bewarf  es  nur  einer  Nachweisnng  der  mir  und  Andern 
unbekannten  Quelle,  viellficht  hat  ein  Mitglied  des  Vereins  für  das  Studium 
der  neueren  Sprachen  dem  Gegenstände  seine  Aufmerksamkeit  zugewendet 
und  die  Schwierickeiten  gelöst.  Ich  würde  jedenfalls  für  eine  ausreichende 
Belehrung  darüber  sehr  dankbar  sein 

In  der  Feststellung  der  neuern,  von  der  altern  Worstchreibung,  —  die 
wohl  bis  über  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  herun'erreii-ht  —  sehr  ab- 
weichenden, muss  doch  wohl  irgend  welches  grundsätzliche  Verfahren ,  oder 
wie  man  kunstniässig  sagt,  ein  Prinzip,  herrschen,  wenn  man  nicht  annehmen 
will,  die  sogenaimte  Akademie  habe  willkürlich  entschieden,  und  alle 
Siirachkenner  hätten  dies  ohne  weiteres  anerkannt,  sogar  gegen  die  längst 
eingewurzelte  Gewohnheit.  Der  Forscher  ist  daher  verpflichtet,  die  Grund- 
ansichten, welche  die  jüngere  Schreibweise  empfuhlcn  haben  und  die  Ab- 
änderung des  Ueberkommenen  rechtfertigen,  aufzusuchen,  und  wofern  sie 
nicht  irgendwo  dargelegt  worden,  aus  dem  Ergebniss  sell»st  möglichst  zu 
entwickeln  Mir  ist  dies  in  mehreren  Fällen  nicht  gelungen.  Ich  belege 
dies  hier  mit  eirTem  Beispiel,  das  viele  Wörter  umfasst. 

Girault-Duvivier  (ich  habe  die  Ausg  Bruxelles  1842)  sagt  in  dem  §. 
Du  doubUment  des  Consonnes:  Une  re<:le  generale,  et  qui  ne  souffre  que 
trcs-peu  d'exceptions  (wie  so  ist  sie  denn  generale?  wenn  nicht  die  Aus- 
nahme wie.lerum  ihren  Gnmd  hat?)  c'est  que  quand  les  consonnes  sont  dou- 
blees,  &  que  ce  n'est  pas  par  raison  d'etj'mologie.  c'est  presque  (!)  toujuurs 
paTce(]ue  les  syllabes  qu'elles  forment  sont  breves.  Dies  und  alles  was  folgt, 
giebt  sogleich  die  Unwissenschaitlichkeit  der  Regeln  zu  erkennen,  welche 
«len  Leser  anleiten,  erst  aus  der  Be>cliaffenheit  der  Schreibung  sich  selbst 
die  etwaigen  Gründe  zu  schaffen,  anstatt  ihn  sofort  auf  den  Standpunkt  zu 
stellen,  von  welchem  aus  er  die  richtiire  Schreibung  von  selbst  bilden  könne. 
W^iiklich  vermisst  man  in  den  Angaben,  ausser  da  wo  die  Ableitung  oder 
die  Fremdheit  der  Wörter  die  Schreibung  ohne  Weiteres  rechtfertigt,  jede 
allgemeine  Idee. 

Die  Verdoppelung  des  B  findet  er  nur  ztdässig  in  Fremdwörtern:  Abbe, 
u.  s.  f.  Aber  man  hatte  früher  Abb^cher,  Abbee ,  und  schwankend  Abbois 
Abois,  offenbar  aus  Abbayer  und  Abboyer,  ohne  Zweifel  aus  ad -baubare,  also 


Miscellen.  477 

durcli  Ableitung  richtig;  dahin  gehört  auch  abbreuver  fauch  abbreuvrer)  mit 
seinen  Abh-ituiigen.  In  allt-n  diesen  liegt  der  Bejzriff  des  lat.  ad,  wie  bei 
allen  französischen  Anfkngssylben  Acc.  u  Acqu  und  oce.  (weder  bacchanale, 
noch  oculiste,  noch  ocean  u.  a.  bilden  Ausnahmen,  sie  gehören  gar  nicht 
dahin).  Die  mit  Add.  beginnenden  sind  rein  lateinischen  Ursprungs.  Doch 
ist  zu  bemeiken,  dass  die  englische  Schreibung  Address  aus  dem  mittel- 
alterlichen addretio,  addresso  herrührt,  folglich  gewiss  der  alteren  tran- 
zösischen  Rechtschreibung  entspricht,  gegenüber  dem  auch  schon  ziemlich 
alten  adresse. 

Die  Umänderung  des  Afdier  u.  s.  w.  in  Affilier  lässt  sich  leicht  begreifen. 
AVir  übergehen  manches  Andere,  um  besonders  beim  p  zu  verweilen.  Man 
schrieb  früher:  Appaiser,  Appercevoir,  Appertement,  Appelis.^er,  Applaner, 
Applanir.  alle  augensilifinlieli  vom  ßegrifle  ad  bestimmt,  wie  kommt  es  nun, 
dass   die  Verdoppelung  des  p.  in   der   neuen  Schreibart  geändert   wurde?  — 

"Wir  begnügen  uns  mit  diesem  Beispiele.  Wir  nehmen  vorläufig  an, 
dass  die  Erledigung  des  einen  l'unktes  höchst  wahrscheinlich  auf  die 
Lösung  aller  weitern  Rathsel  l'ühren  werde. 


Bei  dieser  Gelegenheit  möchten  wir  auch  eine  deutsche  Frage  berühren. 
Der  Ausdruck  S])iegelfecli ten  als  Zeitwort,  und  Spiegelfechterei  ist 
jedenfalls  schon  alt.  Adelung  erklärt  ihn  mit  dem  Gefühle  der  Unsicherheit 
und  gewiss  ungenau.  Ein  hiesiger  Gelehrter  erzählt  mir,  er  habe  einst  in 
seiner  Jugend  ein  Spielzeug  für  Kinder  am  Spiegel  hängen  gesehen,  welches 
aus  zwei  Liewegliihen  Puppen  bestand,  die  mit  einander  fochten,  wenn  man 
an  einem  Drahte  zog,  so  dass  der  Spiegel  eine  Art  Kampfspiel  wieilergab. 
Ist  so  etwas  auch  sonst  bekannt  ?  In  bcheible's  Kloster  1  S  .t77.  in  einem 
Aufsalze,  der  1.599  gedruckt  worden,  finde  ich  in  einem  Brit-ft-,  den  man  «lein 
Dr.  l'aust  (einem  Zeitgenossen  Luthei-'s)  zuschreibt:  „Kr,  Faust,  habe  durch 
sein  Spiegel  fechten  von  einem  Boten,  der  ihn  zu  einem  vornehmen 
Herrn  einladen  sollte,  aber  nicht  zu  Hause  traf,  Kunde  erlangt,  und  s<hreibe 
deshalb  an  den  Herrn,  um  sieh  zu  entschuldigen."  Hiernach  erscheint  das 
Spiegelfechten  als  ein  Mittel,  unbekannte  Dinge  zu  erforschen.  Giebt 
es  hierüber  noch  sonstige  Auskunft? 

Frankfurt  a/M.  -  Dr.  J.  M.  Jost. 


In  einem  Hefte  des  Archivs  fand  ich  unter  den  Miscellen  vier  deutsche 
Uehersetzungen  der  ersten  Strofe  des  bekannten  „Mihi  est  propositum." 
Ich  wagte  mich  gleichfalls  daran  und  da  einigen  Freunden  der  Versuch  ge- 
lungen schien,  so  übersetzte  i<'h  das  gmze  Lied. 

Ich  meine,  un-ere  edle  Muttersprache  dürfe  kiihn  jede  andere  heraus- 
fordern, es  ihr  in  einer  derartigen  Aufgabe  gleichzuthun. 

Cantilena   potatoria. 

In  der  Schenke  muss  ich,  traun !  enden  einst  mein  Leben ; 
Netzt  mir  dann  ilie  Lippen  noch  nüt  dem  Salt  der  Reben, 
Dass  die  lieben  Engelein,  wenn  sie  niederschweben, 
Sagen:  „Herr,  dem  Zecher  sei  alle  Schuld  vergeben!" 

Humpen!  ihr  entzündet  hell  meines  Geistes  Leuchte; 
Auf  zum   Himmel  schwel)et  mein  Herz,  das  nektarfeuchte. 
Süsser  in  der  hchenkc  stets   Wein  dem   Munde  dauchte. 
Als,  den  man  zu  Hause  mir  stark  verwässert  reichte. 


478  Miscellen. 

Wie  des  Weines  Güte,  so  sind  auch  meine  Lieder; 
Soll  iih  schreiben,  stärke  erst  Speise  meine  Glieder. 
Was  ich  niichtern  mache,  ist  herzlich  mir  zuwider, 
Doch  wenn  mich  der  Becher  füllt,  sing'  ich  Naso  nieder 

Jedem  hnt  Natur  verlieh'n  seine  eigne  Gabe; 
Schreiben  könnt'  ich  nimmermehr  oline  süsse  Labe, 
Nüclittrn  wirft  micli  in  den  Staub  jeder  sciiwaclie  Knabe, 
Durst  und  Hunger  hass'  ich,  als  gings  zum  finstern  Grabe. 

Nie  wird  ein  prophetisch  Wort  meinem  Geist,  gelingen, 
Kann'  ich  früher  nicht  den  Leib  satt  zur  Kulie  brinjren; 
Doch,  wenn  BMCihus  mein  Gehirn  mäclitig  will  durchdiingen, 
Dann  entflammt  auch  Bhoebus  mich  zu  erhab'nem  Singen! 

Marcus   Holter, 

Benediktiner  in  Kremsmünster, 

Oberösterreich. 


Bibliographischer  Anzeiger. 


Grammatik. 

F.  Müller,    über  das   grammatische  geschlecht   (genus).     (Wien,  Gerold.) 

4  Sgr. 

F.   Böttcher,    unseres    Alphabetes    Ursprünge    gemeinfasslich    dargelegt. 

(Dresden,  Kunze.)  16  Sgr. 


Lexicographie. 

J.  &  W.  Grimm,  deutsches  Wörterbuch  III.  Bd.  4  Lfg.     (Leipzig,  Hirzel.) 

20  Sgr, 

L.  Smith  &  H.  Hamilton,   The  international  english   and   french  dictio- 

nary.     (Paris,  Hingray.)  15  frcs. 


Literatur. 


"W.  Grimm.    Bruchstücke  aus  einem  unbekannten  Gedichte  vom  Rosengarten. 

(Berlin,  Dümmler.)  8  Sgr. 

Gudrun.    Altdeutsches  Heldengedicht  neudeutsch  bearb.  v.   A.  Bacmeister. 

(Reuiingen,  Palm.)  20  Sgr. 

Les  Nibelungen   trad.  p.  E.  de  Laveleye.     (Brüssel,  Sehnde.)  25  bgr. 

E.  Otto,    SchillerblütUen.     Zur  Erinnerung  a.  d.  Heidelberger   Schillerfest. 

(Heidelberg,  Groos.)  2   Sgr. 

K.  Weinbüld,  über  den  Antheil  Steiermarks  an  der  deutschen  Dichtkunst. 

(Wien,  Gerold.)  5  Sgr. 

J.  B.  Friedreich,  Geschichte  des  Räthsels.  (Dresden,  Kunze.)  iV^Thlr. 
Les  anciens  Poetes  de  la  France  p.  p.    Guessard   vol.  IV.  Fierabras ,  Parise 

la  Duchesse.     (Paris,  Franck.)  1   Thlr.  20  «gr. 

E.  Hülsmann,  Shakspeare.    Sein  Geist  und  seine  Werke.    3.  Aufl.    (.Leipzig, 

O.  WigMnd.)  20  Sgr. 

J.  F.  Hollings,   Lord  Macaulay:  a  L(!Cture  delivered  before   the  Leicester 

literary  &  pliilosophical  society.     (London,  .Simpkin.)  l  s. 

H.  Reed,  Lectures  on  English  literatiire,  aiid  on  euglish  history  as  iilustrated 

by  Shak.^peare.     (London,  Bhu  kwood.)  3  s.  6  d. 


480  *  Bibliographischer  Anzeiger. 

J,  Feifalik,     Studien   zur   Gesch.    der   altböhniischen   Literatur.     (Wien, 
Gerold.)  3  Sgr. 


Hilfsbücher. 

H.  Koepert,  Lehrbuch  der  Poetik.     (Leipzig,  Arnoldl.)  12  Sgr. 

W.  Pütz,  Uebersicht  der  Gesch.  der  deutschen  Literatur  für  höhere  Lehr- 
anstalten.    2.  Aufl.     (Coblenz,  Baedeker.)  6  Sgr. 

F.  Bouffier,  Theoret.  prakt.  Lehrgg.  f.  d.  Unter,  in  d.  franz.  Spr.  (Wies- 
baden, Limbartb.)  l^/^  Sgr. 

Brueys,  Tavocat  Patelin.  Mit  literarhist.  Einleitg.  hrsg.  v.  H.  Schütz. 
(Arnsberg,  Grote.)  37-,  Sgr. 

A.  Dumas,  Jeanne  d'Arc  mit  gram.  Anm.  hrsg.  v.  H.  Schütz.  (Arnsberg, 
Grote)  15  Sgr. 

J.  Nissen,  Leitfaden  f.  d.  Unterricht  in  d.  englischen  Sprache.  L  Curs  : 
Die  Formen  der  engl.  Sprache.     (Hamburg,  Nolte  &  Köhler.)     10  Sgr. 

C.  H.  V.  de  Castres,  Dicionario  espanol-aleman  para  uso  de  los  escri- 
torios  de  comercio.     (Hamburg,  Nestler  &.  Melle.)  16  Sgr. 

F.  de  Mordax,  primo  dizionario  e  frasaiio  di  corrispondenza  mercantile, 
italiano-tedesco.    Disp.  L     (Triest,  Schubart,)  6  Sgr. 


PB       Archiv  für  das  Studium 
3  der  neueren  Sprachen 

A5 

Bd.  27 


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