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ARCHIV
. FÜR DAS
STUDIUM DER NEUEREN SPRACHEN
UND LITERATUREN.
HERAUSGEGEBEN
LUDWIG HERRIG.
XV. JAHRGANG, 27. BAND.
BRAÜNSCHWEIG,
DRUCK UND VERLAG VON GEORGE WE STE KMA NN.
18 60.
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Inhalts - Verzeichniss des XXYII. Bandes.
Abhandlunoren. „v
» Seite
Ueber die Lektüre des Herderschen Cid. Von Dr. E. Niemeyer. 1
Antigene und Polyt'ucte. Von Dr. Weiss 13
Ueber den provenzalischen Dicliter Goudouli nebst Uebersetzungs-
proben seiner Gei lichte. Von Dr. K. L. Kannegiesser. . . . 47
Ueber Ben Jonson's Ma^kenspiele. Von Immanuel Schmidt ... 5ü
Sitzungen der Berliner Gesellschaft für das Studium der neueren Sprachen. 91
B dränier und stine Lieder. Von H. Schmick 1^9
Was ist zu thun, wenn der Unterriclit in den neuen Sprachen in Schulen,
welche die alten Sprachen nicht pflegen, in einen organischen Zu-
sammenhang kommen soll? Von Prof. Dr. A. Gut hier. . . . 149
Die Runen der Finnen. Von J Alt mann 177
Ueber den Ursprung und die Bedeutung des Namens der Stadt Berlin.
Von Dr. CA. F. Mahn 241
Trois vieux poemes en l'honneur de la Sainte-Vierge. Von J. Wol-
lenberg 20 1
Hamlet, eine Schicksalstragödie. Von Alb. Jung 269
Giovanni Meli und die sicilianische Poesie. Von Dr. Wentrup. . . 295
Ueber Lomono.«s<)fF. Von A. Boltz 317
Das Lesen und Declamiren. Von Dr. Schroeder 353
Sir John Maundevvlie. Ein Beitrag zur Geschichte der englischen Li-
teratur und Sprache Von Dr. Gesenius 391
Leben und Schriften des neueren italienischen Dichters ßenedetti.
Von K. L. Kannegiesser 4'29
Sitzungen der Berliner Gesellschaft für das Studium der neueren Sprachen. 447
ßeurtheilungen und kurze Anzeigen.
Teut. Jahrbuch der Junggermanischen Gesellschaft, herausgegeben von
Fr. J. Kru}ier. ( Dr Büclisenschütz.) 103
Grundzüye der Neuhochdeutschen Grammatik, von Friedrich Bauer . iü6
Kurzgefasste Laut- und Formenlehre der mittelhochdeutschen Sprache,
von Dr. Wahlenberg . 107
Hülfsbuch für den deutschen Unterricht, von H. Viehoif. (Dr. Büch-
senschütz.) 107
Ueber ein charakteristisclies Element in der Lyrik Emanuel Geibels.
Von Dr C. H. Seibert lOS
Germania. Vierteljahr.'^sihrift für Deutsche Alterthumskunde. Heraus-
gegeben von Franz Pf« iffer. (Dr. Fr. Sachse.) 109
Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit (Dr. Sachse.) . . . . 110
Mittelhochdeutsches Lesebuch für Gymnasien. Von Dr. K. Reichel.
(Dr. Fr. M oller.) U2
Zeitschrift für Volkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Herausge-
geben von Dr. M. Lazarus und Dr. H. Steinthal. (Lassen.) . 209
Gedichte von Heinrich Prölile 216
Feidgarben. Beiträge zur Kirchen-, Literatur- und Culturgeschichte . 2 19
Altes Gold. Deutsche Sprichwörter und Redensarten. Herausgegeben
von W. Lohrengel. (C. Schulze.) 219
Grammatik der italienischen S{)rache. Von J. & M. "WIggers. (Prof.
Dr. Staedler.) 220
Anzeiger für Kunde der dentschen Vorzeit. (Dr. Saclise.} .... 331
Englische Grammatik in Beispielen von Dr. C v. Dalen. (G. Büch-
mann.) .••.•• • .," •. * ^°^
Von der Bedeutung der Sanskritstudien für griechische Philologie.
Von Dr. W. Christ. (Dr. 'Gu tb ier.) 335
Jahrbuch für Romanische und Englische Literatur, Herausgegeben
von Dr. A. Ebert. (G. Büchniiinn.) 33G
Germania. Ilerausgeaeben von F. Pfeifer 456
Katholische Kirchenlieder, Hymnen, Psalmen. Zusammengestellt von
.1. Kehreni 458
Wörterbuch der deutschen Sprache. Von Dr. Sanders, (Dr. Sachse.) 460
Torso und Korso. Von H. Le.'^sing. (P.) ', ," " '^^^
Deutsches Lesebuch für Gvmnasien , Real- und höhere Bürgerschulen.
Von F. Hnpf und K. Paulsiek. (Dr. Breysig.) 462
Englisches Lesebuch für Schulen und zum Selbstunterricht. Von E.
''Bernhardt. (Giseke.) *• • 464
Pro grammensch au.
Ueber das Nibelungenlied. Von Dir. Schornstein 113
Proben aus einer Bearbeitung der Trutznachtigall von Fr. von Spee.
Von Dir. Dr. J. B. Ahlemeyer 113
Ueber Scl)illers kleinere Lehr-Gedir'hte von R. Hauer. (K L K.) . 114
Zur Theorie des Casus. Von Prof C. F. A. Dewischeit. (Kölscher.) 114
Remarques sur le pleonasme de la langue fran9aise, von H. Mensch.
(H. Crouze.) .115
Observations sur l'Fnseignement de la langue fran^aise. Par Ch. Gill-
hMusen. (Prof. Dr. Staedler.). 224
Die Dichtungen Schiller's als Unterrichtsmittel höherer Lehranstalten.
Von Dr. Srhanenhurg 225
Metrische Uebersetzungen in's Griecliische und Lateinische aus Schiller
und Göthe etc. Von C. F. Crain 226
Lateinische Uehersetznngsproben. Von K W. Osterwald. (Hölscher.) 227
Beitrag zur Dinlckt Forschung in Ni'rdböhmen. Von I. Petters. . . 341
Beitrag zur Beh,indlungsvvei.<e der Aestbetik in der obersten Gymna-
siak'lasse. Von Th Hohenwarter 341
Der Alexandriner, mit besonderer Rücksicht auf seinen Gebrauch im
Deutschen. Von H. Viehoff 342
Die Alliterationsperiode der deutschen Dichtung. Von Dr. Schneider. 342
Das deutscht^ Kirchenlied in Siebenbürgen. Von F. F. Schuster. . . 343
Ueber die Bedeutung der Grosstliaten Friedrichs II. für die deutsche
Literatur. Von Colhib Einert. 344
Karl Frieilrich Kretschmann, der Barde Rhingulph. Von Dr. Knothe.
(Hölscher.) 345
On the study of Modern languages in general etc. Von Dr. D. Asher.
(I. Schmidt.) 465
Bemerkunjren zu Byron's Childe Harold Canto I. Von Dr. Struve.
(Dr. Philipp.) 468
M i s c e 1 1 e n.
Seite 118 — 125. 228 — 238. 347 — 350, 469—478,
Bibliographischer Anzeiger.
Seite 126— 128. 239 — 240. 351—352. 479 — 480.
Ueber die Lektüre
des
Herderschen Cid.
Die neulich von einigen Schulmännern ergangene Auffor-
derung, besonders die deutsche Lektüre in den Kreis der schrift-
lichen Debatte zu ziehen, kann gewiss nicht besser als auf prak-
tischem Wege erledigt werden, indem man die pädagogische
Brauchbarkeit und didaktische Behandlung gewisser klassischer
Lesestücke zur Erörterung bringt. Dass ich mir zu dem Zwecke
diesmal Herders Cid erwählt habe, geschieht nicht aus dem
Wahne, als ob ich mir hierüber eine völlig ausreichende Er-
fahrung zuschreiben dürfte, sondern nur gewisse in der Lese-
praxis gemachte Beobachtungen und gew^onnene Resultate dem
Urtheile und der Benutzung der Fachgenossen anheimzustellen.
Zugleich suchen die nachfolgenden Zeilen einen offiziellen Rück-
halt an der einmal auf einer Versammlung von Realschulmännern
zu Kosen gestellten Aufgabe, mit dem dort aufgestellten Codex
librorum legendorum, in welchen auch der Cid aufgenommen
W'Urde, in der Praxis Versuche zu machen und die Ergebnisse
solcher Experimente auf der nächsten Versammlung zur Sprache zu
bringen. Je weniger dies bis jetzt geschah, desto nachsichtiger möge
man das folgende Gutachten über die Lektüre des Herderschen
Cid aufnehmen, womit ein bescheidener Beitrag zur Lösung jener
Aufgabe geliefert werden soll.
Meine Bemerkungen beziehen sich übrigens nur auf die
öffentliche Lektüre der Dichtung. Allerdings wurde in Kosen
der Cid in die Sphäre der Privatlektüre verwiesen, und es ist
auch keine Frage, dass das Gedicht, wenn man die Ver-
Archiv f. n. Sprachen. XXVII. 1
2 Ueber die Lektüre
ständllchkeit desselben in Betracht zieht, recht wohl privatim
ofelesen werden kann.
o
Aber es würde ein ungerechtfertigter Schluss sein, wenn
man hieraus die Folgerung ableiten wollte, dass die« durchsich-
tige, überschauliche Kunstwerk von dem Cyclus der öffentlich
zu lesenden Gedichte ausgeschlossen werden müsse. Im Gegen-
theil sollte man sich freuen, an jener Epopöe statt der verein-
zelten Lesestücke, welche die Chrestomathieen bieten, eine grö-
sere Composition als Schullektüre schon für die Tertia, ge-
schweige für die Sekunda zu gewinnen, da die deutsche Lite-
ratur an umfassenderen Dichtungen für den Standpunkt solcher
Classen nicht gerade überfliesst. Wenigstens nicht an epischen,
welche doch dem jugendlichen Alter auf jener Stufe eine ge-
deihlichere Nahrung bieten als die verfrühte Einführung in die
dramatische Literatur.
Dann würde der Cid das zweite Glied in der Kette der
epischen Lektüre für die oberen Klassen bilden, als deren er-
stes der siebzigste Geburtstag von Voss gelten darf, während
Hermann und Dorothea die dritte , das Nibelungenlied in der
Ursprache die vierte und letzte Stelle einnehmen könnte. Auf
diese Weise würde ein planmässiger Wechsel zwischen einer
Idylle (der siebzigste Geburtstag) und einem Heldengedicht
(der Cid), einem idyllischen Epos (Hermann und Dorothea) und
einer heroischen Epopöe (Nibelungenlied) erreicht w^erden, so
dass zu gleicher Zeit eine methodische Steigerung vom Leich-
teren zum Schwereren stattfände und zwei Kunstdichtungen
(der siebzigste Geburtstag, Hermann und Dorothea) mit zwei
Volksdichtungen (Cid, Nibelungenlied) wechselten.
Doch, um auf den Cid selbst zurückzukommen, dürfen wir
nicht aus der Acht lassen, welche Bedenken etwa trotz aller
Empfehlung auf der Kösener Versammlung gegen diese Schul-
lektüre geltend gemacht w^erden könnten.
Da müssen wir zunächst dem etwa noch bestehenden Vor-
urtheil begegnen, dass diese Dichtung in die Kategorie einer
blossen Uebersetzung falle und nicht füglich zu den Werken
der deutschen NationalUteratur im strengeren Sinne gezählt
werden könne. Man geht hierbei von dem Grundsatze aus, dass
sich die Schule auf die Lektüre der deutschen Originalwerke
des Herderschen Cid. 3
beschränken und allen Uebersetzungen aus den Literaturen der
fremden Völker den Zugang versperren müsse. Wir brauchen
aber die Richtigkeit dieses methodischen Princips gar nicht näher
zu prüfen, um den gegen die Lesung der Herderschen Dichtung
erhobenen Einwand zu entkräften. Denn ist es denn wahr, dass
der Cid Herders im Range einer blossen Uebersetzung stehe?
Ist es nicht vielmehr das schönste Denkmal der poetischen Kraft,
zu welcher sich der Dichter aufschwingen konnte? Man ver-
gleiche doch nur einmal die Leistung Herders mit dem Original,
w enn man aufrichtige Belehrung sucht. Schon Wilhelm Wacker-
nagel bezeichnete den Cid Herders mindestens als eine solche
Uebersetzung, die man eigentlich eine Verdeutschung nennen
dürfe, weshalb er ihn auch in seine Proben der deutschen Poesie
aufgenommen hat, von Avelchen er sonst alle Uebersetzungen
grundsätzlich ausschliesst.
Viel wichtiger wäre ein zweites Bedenken, welches
gegen die pädagogische Zweckmässigkeit der vortrefflichen Dich-
tung erhoben werden könnte. Die Meisten werden allerdings
stets bezw^eifeln, dass aus der Feder jenes keuschen Priesters
der Morahtät irgend Etwas hervorgegangen sein solle, wovon
in allem Ernste nachtheilige Folgen für die Sittlichkeit der
Jugend zu befürchten wären. Doch müssen wir mit Rücksicht
auf jene Skrupel das Gedicht etwas genauer ansehen, damit wir
uns nicht einer Verschweigung schuldig machen, welche übel
gedeutet werden könnte. Da wird nun allerdings Einiges aus-
zuscheiden sein, weil es Dinge enthält, welche man mit Recht
vor jugendlichen Ohren nicht zu berühren oder gar zu erörtern
pflegt.
Die Stellen, w^elche hier in Betracht kommen, sind auch
von W. Wackernagel in der Auswahl vom Cid, welche er in
den Proben der deutschen Poesie liefert, ausgemerzt worden.
Ich meine zunächst in Romanze 16. Die beiden Abschnitte, wo
der Dichter, dem Originale folgend, um eine spanische National-
sitte bei Hochzeitsfeierlichkeiten nicht zu übergehen, den König
eine Menge Weizenkörner aus Ximenens Busenkrause, wohin
sie aus den Fenstern geworfen waren, ablesen und Alvar Fanez
den muthwilligen Wunsch äussern lässt, in diesem Augenblicke
des Königs Hand zu besitzen. Ferner wären in Romanze 17.
1*
4 Ueber die Lektüre
die vier Verse auszulassen, in welchen dem spanischen Texte
gemäss erzählt wird, dass die Tochter des gefangenen Grafen
Raimond von Savoyen, welche Fernando als Geisel für ihren
losgegebenen Vater genommen hatte, des Königs Geliebte ward
und ihm einen Sohn gebar, der nachher die Cardinais würde er-
langte. Diese Stellen wird man wohl überspringen müssen.
Dazu kommen noch die 19. und 20. Romanze, die man auf
jeden Fall ganz unberührt lassen muss, so dass also bei der
Lektüre von der 18. gleich zur 21. übergegangen wird. Es ist
nämlich dort die Rede von dem Kinde, welches unter Ximenens
Herzen schläft; von dem Säugling, welchen sie im Schosse hegt;
von der grausam - süssen Stunde der Entbindung, welche der
schon in Wehen liegenden bevorsteht. Das sind noch natürliche
Verhältnisse, welche nur wegen der Einkleidung, die ihnen der
Dichter gegeben hat, für die Schule unpassend erscheinen. Doch
giebt es in jenen beiden Romanzen Anderes, wo Herder, welcher
schon früh gegen die Ehrbarkeitspedanterie und die Gesetze der
Politesse als Massstab bei Beurtheilung solcher Naturgesänge
eiferte, obgleich er die Derbheiten des Originals mildert, doch
die naive Sinnlichkeit desselben nicht ganz verwischen wollte.
Wenn sich also bei Herder Xiraene in dem Briefe an den König
beklagt, dass der Cid kaum einmal im Jahr sie besuche und
dann, von ihren Liebkosungen ungerührt, vor Ermüdung durch
die Strapatzen des Kriegs an ihrer Seite einschlafe, um am
andern Morgen ebenso gefühllos wieder aufzuspringen; wenn
sich die zärtliche Gattin bei Fernando beschwert, dass statt ihres
Ehegemahls ihr nur seine alte Mutter geblieben , die ihr zur
Seite schlafe; wenn dann der König in seinem Antwortschreiben
mit echt spanischer Galanterie aus dem Umstände, dass der
Cid doch zuweilen an Ximenens Seite geschlafen, den Beweis
führt, dass Xiraene keinen vaterlosen Säugling gebären werde,
und sich erbietet, bei der Entbindung die Stelle ihres Gemahles
zu vertreten, — so wird wohl bei aller wahrhaft poetischen
Schönheit, durch welche sich jene beiden Lieder auszeichnen,
kein Lehrer solche Licenzen in die Schule hineinziehen wollen.
Mit diesen vorgeschlagenen Ausmerzungen werden sich die
meisten Fachgenossen begnügen. Andere mögen, wenn es ihnen
ihr Gewissen vorschreibt oder ihr Gefühl eingiebt, die Auswahl
des Herderschen Cid. 5
noch weiter beschränken und z. B. die von Herder selbständig
gedichteten, an sich recht anziehenden Romanzen 12. und 13.
ausschliessen, wo zwischen dem König und dem Cid über das
Regiment der Frauen eine förmliche Debatte geführt und die
Frage erörtert wird, ob Vermählung oder Ehelosigkeit den Vor-
zug verdiene. Am sichersten geht überhaupt, wer sich im
Ganzen an die von W. Wackernagel getroffene Auswahl hält,
aber diese lässt bei weitem mehr aus, als selbst die peinlichste
Skrupulosität für nöthig halten möchte. Es fehlen nämlich dort
die Romanzen 2. 3. 7. 11. 12. 13. 14., von der 16. und 17. die
oben näher bezeichneten Stücke, ferner die Nummern 19. und
20., von der 23. Alles ausser den drei ersten Abschnitten, sowie
die Lieder 27, 34, 35, 40, 44, 47, 48, 56, 57, 58, 59, 60, 61,
70. Obgleich nun diese Cid - Chrestomathie recht wohl gelesen
werden kann, da durch sie der Zusammenhang nirgend gestört
wird, so hiesse es doch einen Raub an der Dichtung begehen,
wenn man jene Auswahl, welche das Gedicht um ganze 23 Ro-
manzen verkürzt und bei welcher auch ein ganz äusserlicher
Grund, nämlich das Gesetz über den Nachdruck, einschränkend
mitwirkte, bei der Schullektüre zu Grunde legen wollte.
Wir sind oben bemüht gewesen, den eventuellen Vorwurf
der Sittengefährlichkeit durch Besprechung gewisser Stellen der
Dichtung auf seine wahre Bedeutung zurückzuführen. Ein um
60 leichteres Unternehmen würde es nimmehr sein, die durchaus
humane Weltanschauung, die Feinheit und Tiefe des moralischen
Gefühls, die würdige Gesinnung, mit anderen Worten den sitt-
lichen Geist, von welchem das Gedicht durchweht wird, über-
zeugend darzulegen. Schon die blosse Betrachtung der Sen-
tenzen, mit welchen der Dichter sein poetisches Gewebe durch-
wirkt, muss uns das Urtheil bestätigen, dass hier eine Kunde
des menschlichen Herzens und eine Auffassung des sittlichen
Lebens entfaltet wird, wie sie nur von einem Dichter im edelsten
Sinne des Wortes ausgehen kann. Auch sind diese allgemeinen
Gedanken neben ihrer fast immer überzeugenden Wahrheit so
durchaus fassHch eingekleidet, so volksmässig dargestellt, so an-
spruchslos vorgetragen, dass sie dem schUchtesten Menschen-
verstände einleuchten und vermöge ihrer körnigen Simplicität
ge Wissermassen einen poetischen Katechismus bilden. Ein so
G Ueber die Lektüre
reizender und erbaulicher Codex der Moral ist wohl werth, dass
ihn der Lehrer von den Schülern selbst schriftlich zusammen-
stellen lässt: es wird eine Blüthenlese werden, an welcher beide
Theile eine innige Freude haben müssen. Manche besonders
fruchtbare oder bestreitbare Denksprüche werden sich auch zu
Abhandlungen eignen. Wenn wir nun jetzt versuchen, eine
Uebersicht jener Sentenzen, Erfahrungssätze und Lebensregeln
zu liefern, so müssen wir, da wir immer den pädagogischen
Zweck verfolgen, einige für die Schule ungeeignete ausschliessen.
So die Sprüche über die Macht, das Wesen und das Glück der
Liebe (_R. 14. 23. 27.), mehrere allgemeine Betrachtungen, welche
der König Don Fernando und der Cid über die Natur der
Frauen, über das Regiment der Weiber und theils über die
Pflicht der Vermählung, theils über die Vortheile der Ehelosig-
keit anstellen (R. 12. und 13.), die Bemerkungen über die Wir-
kung der freien Rede eines Weibes (R. 22.), über die Offen-
herzigkeit der Frauen (R. 44.), über die Folgen der Rede-
frechheit eines Mädchens (R. 22.), über die Untreue der Männer
(R. 23.), und mehrere sehr beherzigenswerthe Verhaltungsregeln,
welche Cid, der Gatte und Vater, beim Abschiede Ximenen für
sie selbst und ihre beiden Töchter ertheilt (R. 48.). Alle übrigen
Sentenzen, bei deren Anführung wir uns zuweilen eine die stricte
Kunstform herstellende Modifikation durch Auslassung, Ergän-
zung oder Nachbesserung erlauben , wird man gern hier zu-
sammengestellt sehen. Ueber das Loos des Mannes und Wei-
bes heisst es: „Männer, in die Welt eintretend, bringen, Güter
zu erwerben, Kräfte sich und Ansehn mit. Was sie sich er-
werben konnten. Müssigen zu hinterlassen, hiesse das nicht . . .
seine Söhn' erniedrigen? Aber sagt: was kann die Tochter?
Was kann sich ein Weib erwerben? Hingeworfen auf die Erde,
hat sie nichts als des Gehorsams, als des Dieners niedern Lohn'-
(R. 21). Ueber das Schicksal, die Gesinnung und die Pflichten
der Könige: „Ach, der Kön'ge hartes Schicksal, dass, wenn
man sie nicht mehr fürchtet, dann nur ihnen Wahrheit spricht!"
(R. 32). — „Auch zu andern, andern Zeiten sagt man ihnen
wohl die Wahrheit; aber sie, sie hören nicht" (R. 32). —
Umringt von Hunden, Hunden, die ihm heute schmeicheln,
morgen bei dem ersten Fehltritt ihn anfallen, ihn zerreissen. —
des Herderschen Cid. 7
So umgeben ist ein König, der, von Günstlingen verblendet,
seiner Seele Blick verlor" (R. 44). — „Gleichen ... die Kin-
der, die um das, was glänzt, nur seufzen, gleichen sie nicht
Königen? Weiber, Könige und Kinder, eben ihrer Schwachheit
wegen werden sie uns achtenswerth ; denn der Schwachheit
nachzugeben ist des Starken Pflicht" (R. 45). — „Kön'ge
wollen ihre Diener nur an ihrem Platze sehen; den Erhabneren
darüber drücken sie, wie Buhlerinnen den verächtlich - stolz be-
handeln, der sich, ihnen zu gefallen, nicht verächtlich machen
Hess; oder, wie die grossen Götter, deren hoher Zorn im Donner
nur das Binsenrohr verschont" (R. 47). — „Könige sind nie
in Ruhe. Dieser will und der den Degen; und an Alles soll
der König denken, prüfen, widerstehn" (R. 47). — „Ehrenworte
kosten wenig, und sie sind so reich einträghch einem guten
Könige; sie gewinnen ihm die Herzen, wenn bei ungerechten
"Worten sich das treuste ihm entzieht" (R. 53). — „Wer ein-
mal den Schmeichlern wohltliut, leget sich die harte Noth auf,
immer ihnen schön zu thun. Schmeichler sind es, die sich
rächen; aus dem Honig ihrer Lippen machet euch ein Bollwerk,
König, und ihr werdet es erfahren, wie dies euch vertheidige"
(R. 53). — ., Freilich ging wohl mancher König irre durch zu
viele Lehren; aber der war stets verloren, dem kein Rath ge-
fällig Avar" (R. 53). — Undankbare Fürsten drücket, drückt
und dränget nichts so schrecklich, als grossmüth'ger Unterthanen
Edelmuth — auch gegen sie" (R. 44). — „Das Gesetz entehret
nicht der König" (R. 43). — „Das erobern, König, ist wohl
nicht das Hauptwerk; das Eroberte erhalten, dieses ist das
Schwerere" (R. 41). — „Nichts gefährlicher war öfters Fürsten
als Abwesenheit" (R. 41). — „Nur des schlecht'sten Menschen
— nie die Hand des Edelmannes waget an den König sich"
(R. 39). — „Wenn ein König unrecht zürnte, muss er sich zur
Ehrerstattung zwingen mit Erniedrigung" (R. 31). — „Gute
Kön'ge sind auf Erden Gottes Bild. Die ungerechten sind un-
dankbar ihren treuen Dienern, nähren Factionen, Hass, Ver-
folgung, ew'ge Feindschaft, Seufzer imd Verzweifelung" (R. 9).
— Bei den Sentenzen über das Verhältniss des Vasallen zum
Oberlehnsherrn dürfen wir zuweilen nicht ganz aus der Acht
lassen, dass wir es hier mit einer politischen Moral zu thun
8 lieber die Lektüre
haben, welche durch das mittelalterliche Feudalsystem bedingt
wird. „Unwerth ist ein ungerechter Fürst, dass ihm der Edle
diene" (R. 6). — „Wenn ein Herr auch unrecht zürnet muss
ihm der Vasall gehorchen; wenn ein König sich entschuldigt,
muss er ihm treu sein und hold" (R. 31). — „Seid ihr tapfer,
wohl, so zeiget euch auch ohne Leidenschaften. Unterwürfigkeit
gebühret dem Vasallen auch im Recht. Zeiget ,ihr im Felde
Kühnheit, Kopf und Herz, so zeigt am Hofe höfliche Be-
scheidenheit. Mit den Worten nimmt die Zunge weg die Hälfte
des Verdienstes, das der Arm sich kühn erwarb" (R. 39). —
„Rache des Vasallen gegen seinen angebornen Herrn, auch ge-
recht, erscheint sie immer nur als Aufruhr und Verrath" (R.
64). — „Jeder Edle ist dem König Dienste schuldig; dem Ge-
rechten leistet man sie pflichtenmässig, Undankbaren schenkt man
sie" (R. 48). • — Hieran schliessen sich die Sprüche über die
Pflichten des Edelmannes überhaupt: [Ein Edler] muss dem
Vaterlande dienen, muss in Rath und That dem Herren hold
und treu sein und gewärtig, muss ihm beistehn mit Gewicht.
Dazu also einen Namen, einen hohen Baum sich pflanzen, in
dess Schatten auch der Fremde Ruh und Schutz und Rettung
sucht" (R. 13). — „Der wahre Adel steht nicht im Ersparen,
doch auch im Vergeuden nicht" (R. 48). — Sehr kräftig sind
die Sentenzen über die Ehre, wobei wir die Strenge der Auf-
fassung mit auf Rechnung jenes spanischen National trieb s setzen
müssen: „Ehre duldet keine Flecken, jeder Fehl an ihr ist
Brandmal, Brandmal auf der schönsten Stirn. Diesen Makel
und sein Elend wegzutilgen, das vermögen Spaniens reiche
Schätze nicht. Eine Quelle, abzuwaschen solchen Flecken,
quellet in des Feindes Brust. Feindes Blut tilget die Schande
des Verzagten. Lieber sterben ... als scheu'n sich müssen und
sich nicht erkühnen dürfen, mit den Braven umzugehn" (R. 51).
— „Lieber unterm Fuss der Hindernisse sterben und zerquetscht,
zertreten werden, als dass Einer der lebend' gen Christen ehrlos
uns vertreib' aus der Gesellschaft" (R. 51). — „Bravheit ist
[der Jüngling] seiner Ehre schuldig; schadet der die Jugend?
Für sie stirbt aus achtem Stamme selbst das neugeborne Kind"
(R. 2). — „Eine Hälfte [des Lebens] ist, dem Edlen Ehr' er-
zeigen, und die andre, den Hochmüthigen zu strafen, mit dem
des Herderschen Cid. 9
letzten Tropfen Bluts abzuthun die angethane Schande" (R. 3).
— „Den Entehrten flieht die Freude, flieht die Zuversicht und
Hoffnung; alle kehren mit der Ehre froh und jugendlich zurück"
(R. 4). — Bei Anführung der übrigen Denksprüche, Lebens-
regeln oder Erfahrungssätze wird eine Gruppirung nicht gut
möglich sein, weil sie zu verschiedenartig sind und ganz ins
Allgemeine gehen. Wir müssen sie also ganz aus serlich nach
der Romanzenfolge aufreihen. „Recht muss beistehn jedem
Schwachen" (R. 6). — „Kein Volk thut seine Pflichten ohne
Straf und ohne Lohn" (R. 9). — „Dem, der einzig seine
Pflicht thut, dem ist keinen Dank man schuldig" (R. 11). —
„Reich: das sind so viele Narren." — „Weit berühmt: das
waren Viele . . . und sterben dennoch eingehüllet in die Tücher
menschlicher Vergessenheit" (R. 11). — „Die Liebe, sie allein
verzeihet ganz" (R. 15). — „Mehr spricht [ein] gerührtes
Schweigen als die lautste Fröhlichkeit" (R. 16). — „Die Aus-
fordrung ist des Königs; die Ausführung ist des Kriegers" (R.
17). — „Ehren, Glück und Macht und Güter, aller Ruhm und
Pracht der Erde, eine leichte Wasserblase seid ihr, auf den
Lüftchen schwebend einen kurzen Augenblick" (R. 21). —
„Die Bösen müssten abstehn von den Frevelthaten , wenn zu
solchen kein Rechtschaffner ihnen diente; denn der Beste wird
im Dienst der Bösen schlecht" (R. 25). — „Wer im Kampf
den ersten Stoss thut, hat das halbe Werk gethan" (R. 30). —
„Vor Verräthern hüte jeder sich; am meisten, wer Gewalt und
Unrecht thut" (R. 32). — „Verräther ist der selber, welcher
die Verräther schützt" (R. 33). ~ „Niederträcht'ge nur ver-
schonet feige Niederträchtigkeit; auf die edelsten Gemüther spri-
tzet sie zuerst ihr Gift" (R. 34). — „Die Liverei der Diener
zeigt des Herrn Reichthum und Stand" (R. 40). — „Ohne
Freunde ist der Redlichste auf Erden auch wohl der Unnützeste"
(R. 42). — „Kein Braver darf sich fürchten." — „Unschuld
geht zu Grund durch unzeitig Schweigen." — „Wer die Gut-
that nicht empfand, die ihn verbindet, dem wird sie umsonst
erklärt. Des Wohlthäters Rede löscht gleich dem Schwamm
die Wohlthat aus." — „Jedes brave edle Herz, indem es den
Fehl gestehet, fühlt es schmerzlicher die Schuld" (R. 43). —
„Eher schätzet man das Gute nicht, als bis man es verlor." —
10 Ueber die Lektüre
„Gunst und Wahrheit waren einmal nie beisammen in der Welt"
(R. 44). — „Achtung und Verdienst, sie haben nur an ihrer
Stelle Werth." — „Fürchterlicher ist den Bösen Nichts, als
derer, die sie hassen, fern erworbner, schöner Ruhm." — „Die
Beleidigung verschmerzen ist das Merkmal höh'rer Seelen, ob
sie sie gleich tief gefühlt" (R. 46)." — „Vom Schlosse, wenn
ein hoher Stein sich losreisst, folgen bald ihm andre nach" (R.
47). — „Arbeil ist des Blutes Balsam, Arbeit ist der Tugend
Quell." — «Nie erwirbt man sich Hochachtung, wo man alles
von sich wissen, alles übersehen lässt." — „Der Freude Bot-
schaft, sie verbirgt sich schwer" (R. 48). — „Welcher Ueber-
wundne klaget über Unrecht nicht?" (R. 49). — „Wo die
Thaten Rache fordern, schweigen Worte" (R. 59). — „TSIieder-
trächtige Verräther bleiben immer hinterlistig" (R. 61). — „Ach,
der Tod, er raubt uns Alles, wie ein Habicht raubt er uns"
(R. 67). —
Solche Sentenzen werden desto mehr ächten Reiz gewinnen,
ja eine desto eindringlichere Wirkung ausüben, je mehr sie einen
integrirenden Bestandtheil der Dichtung ausmachen, je un-
gezwungener ihre Einmischung aus der Situation oder aus der
Individualität der Charaktere hervorgeht. Es M'ürde zu weit
führen, die einzelnen Denksprüche im Cid nach diesem Mass-
stabe zu prüfen. Was aber die Charaktere betrifft, so hat der
Dichter manchmal schon mit ein Paar Pinselstrichen (denn es
gehört mit zur dichterischen Eigenthümlichkeit Herders, in die-
sem Theile der poetischen Schöpfung sich öfter mit leisen An-
deutungen zu begnügen, welche dann der Phantasie des Lesers
zur Ausmalung des völligen Charakterbildes überlassen werden)
die Wirkung zu erreichen gewusst, dass man sich an den Per-
sonen mit den Gefühlen der Liebe, der Achtung, des Hasses,
der Verachtung , des Mitleids , des Absehens und wie die Re-
gungen des Gemüths weiter heissen, betheiligt. Wir wollen
hiermit nur ganz im Allgemeinen den sittlichen Effekt angedeutet
haben, welchen die von dem Dichter theils zur Nacheiferung,
theils zur Warnung hingestellten Charaktere besonders auf
jugendliche Seelen machen müssen. Zum eindringlichen Beweise
selbst müssen jedenfalls einige Charakterbilder mit besonderer
Genauigkeit ausgemalt werden. Hierzu sowie zur leichteren
des Herderschen Cid. 11
Uebersicht über die Handlung Avird es nicht unwillkommen sein,
dass wir im nachfolgenden Verzeichniss eine sorgfältige Bekannt-
schaft mit dem Personal der Dichtung zu vermitteln suchen.
Ferdinand der Grosse (R. 5). hinterlässt -von seiner Ge-
mahlin (R. 10. 16. 22.) 5 Kinder: 3 Söhne und 2 Töchter.
Don Sancho scheint der älteste Erbe, da er das Hauptland Ca-
stilien erhielt (R. 23), der zweite Don Garzia, der jüngste Don
Alfonso (R. '22). Die ältere Infantin ist Donna Uraca (R. 10),
ihre jüngste Schwester Donna Elvira (R. 22. 25). Hiermit
schliesst die königliche Stammtafel, denn keiner von den Kin-
dern Don Fernando's vermählt sich. — Don Gormaz (R. 1),
aus Asturien (R. 2), von Helden abstammend, die mit ihren
Fahnen einst Pelagius, dem Christenkönig, folgten (R. 6), der
erste Rathgeber und Feldherr des Königs (R. 2), Graf (R. 3),
hat mit seiner Gattin (R. 7) eine Tochter, Donna Ximena (R.
5. 6.) erzeugt. — Don Diego, aus dem edlen alten tapfern
Hause der von Lainez (R. 1), der sein Geschlecht von Laynu
Calvo herleitet (R. 3), ein castilianischer (R. 5) Graf (R. 29)
von Vivar (R. 8), und seine Gemahlin (R. 10. 19.) haben meh-
rere Söhne (R. 1. 15.), von denen Rodrigo, in vertraulicher
Sprache Ruy, der jüngste ist (R. 1). Rodrigo Diaz, Graf von
Vivar, genannt der Cid, vermählt mit Ximene, erzeugt zwei
Töchter, Donna Sol und Donna Elvira (R. 40). Diese werden
verlobt mit Fernan und Diego Gonsalez (R. 61), Grafen von
Carrion (R. 56), deren Vater noch am Leben ist (R. 57. 61.)
und deren Oheim Suer Gonsalez heisst (R. 57. 60. 61).
Nachher vermählen sie sich mit Infanten, später gekrönten
Königen: Donna Sol mit Sancho von Arragonien, Donna Elvira
mit Garzia von Navarra (R. 62. 69. 70). Als ein Urenkel des
Cid durch seine Tochter Donna Elvira erscheint dann noch
Sancho, König von Navarra, der Heldenmüthige (R. 70). Zu
den Verwandten Rodrigo's gehören ausserdem der Bischof Luyn
Calvo, sein Onkel (R. 15); Ordono, sein Neffe (R. 58); Martin
Antolin von Burgos und Nuno Gustios, seine Vettern (R. 60.
61). Zwar nicht verwandt, aber doch vertraut mit dem Cid sind
Alvar Failez von Minaya, unter allen Freunden ihm stets der
Erste (R. 16. 24. 49); Gil Diaz, sein Vertrautester (R. 65. 66.
68); Pedro Bermudes, sein Fahnenträger und tapferer Freund
1-: l'eber vlio Lektüre vios Herdersohen Cid.
(^K. 5:?. 55. t>0. 61. 66. 68); der Bischof oder Erzbisohof Hie>
ronvmus oder Jeronimo, sein Treug^^Uebtor (^R. 55. 57. 65. 66.
6SV Dagi'gen stehen auf der Seite seiner Neider und Neben-
buhler der Abt Benuudo (R, 41.). der Gn»f von Consuegrj»
i^K. 50). Garria C«br» (^R. 60). imd Don Diego von Onlofia,
Blume der Kittersohj»l> w>n L.Hra (R, 31. 33). Unter seinen
W^tehlen treten noch auf: Antolinei (R. 5:?. 53), Martin Pelaez
vR- 51), Alvar Sah-:»do*er (^R. 54. 55). — Von Zaniorenern
muss ausser dem tückischen Mörvier BelUdo Doltor (.R. 3:?).
besonders hervorgehobt^n wenlen Anas Gons^lo (^R. 30.) und
seine vier berühmten Söhne (^R. 3<i). >"Ou denen der älteste Pe-
dro (^R. 36). der jüngste Fernando (R. 30. 36) heisst, die bei-
den übrigen aber nicht benannt werden (R. 36). —
(Fortset Euug folgt),
CrefeKL Dr. Eduard Niemever.
Antigene und Polyeucte.
Um den Geist eines Volkes oder überhaupt einer bestimm-
ten Epoche der Geschichte kennen zu lernen, gicbt es kein an-
deres Mittel als ilni in den Denkmälern aufzusuchen , welche
von ihm Zcugniss geben. Man wird weder in der Erzählung
der geschichtlichen Thatsachen, noch selbst in den Aeusserun-
gen hervorstechender Männer aus jener Zeit die eigentlichen
Bestrebungen einer Nation und den Geist, von dem sie getragen
werden, so sicher erkennen als z. B. aus den politischen und
l'Jechts- Institutionen, welche sie erschaffen, oder den Werken
der Kunst, welche sie hervorgebracht hat. Es sind dies die
Ablagerungen des allgemeinen, nationalen Bewusstseins mit
Ausscheidung alles Zufälligen, Individuellen. Vor allem aber
ist es das literarische Kunstwerk, welches das eigentlich theo-
retische Leben eines Volkes, seine socialen und religiösen An-
schauungen, die Objekte seiner Lust, seines Schmerzes, seines
Absehens, mit einem Worte den ganzen Inhalt seines I^wusst-
seins zur Erscheinung bringt. „Die Literatur spiegelt den Geist
des Volkes und ihrer Epoche," ist heut zu Tage beinahe ein
Gemeinplatz geworden, der indess viel häufiger im Munde ge-
führt als bei der kulturhistorischen Erforschung vergangener
Zeiten in Anwendung gebracht wird.
Es soll heut unsere Aufgabe sein, einen Versuch auf diesem
Wege zu machen und durch Betrachtung zweier Kunstwerke
aus dem Alterthum und der neueren Zeit uns einen Einblick
in die Unterschiede jener beiden Bildungsepochen zu verschaffen.
Wir haben dazu zwei AVerke gewählt, welche denselben Grund-
gedanken verarbeiten, sonst aber vollständig unabhängig von
14 Antigene und Polyeucte.
einander sind: Polyeucte von Pierre Corneille und Antigene
von Sophocles. Die Vergleichung beider wird für unseren Zweck
um so fruchtbarer sein, als wir den antiken und den modernen
Dichter mit demselben geistigen Stoffe — der materielle ist ein
anderer in beiden — in voller Freiheit und eigenster Weise
werden schalten sehen und auf die Vergleichungspunkte fast
unmittelbar hingeführt werden. Es ist zum besseren Verständ-
niss der folgenden Betrachtung nothwendig, zunächst eine kurze
Darstellung des Inhaltes beider Stücke zu geben. —
Nach dem abgeschlagenen Sturm auf Theben und der Flucht
des Adrastus mit seinem Heer hat Kreon, durch den Doppel-
mord der beiden Brüder Eteocles und Polynikes Herrscher der
Stadt, das Gebot erlassen, den Leichnam des im Kampfe gegen
sein Vaterland gefallenen Polynikes unbeerdigt liegen zu lassen
und hatte Todesstrafe gegen den Uebertreter des Gebots ver-
hängt. Es war aber diese Verweigerung der Bestattung die
grösste Beschimpfung, die man am Feinde verüben konnte und
selbst ein Frevel gegen die Götter, weil ohne dieselbe die ab-
geschiedene Seele nicht zur Ruhe des Hades eingehen konnte.
Zeus selbst gilt für den Stifter dieses uralt heiligen Gebrauchs.
Deshalb ertrug auch Antigene, die älteste der noch übrigen
Kinder des Oedipus, diese Schmach ihres Bruders nicht, und gegen
Kreons Verbot ging sie in früher Morgenstunde hinaus und schüt-
tete auf den Todten einige Hände voll Erde, das Symbol der Be-
stattung. Darüber ergrimmte Kreon heiss im Zorn, und als
Antigone, welche die beim Leichnam aufgestellten Wächter bei
einem zweiten Versuch, den inzwischen abgekehrten Sand auf
ihres Bruders Körper zu erneuen, ergriifen haben, vor ihn ge-
führt wurde, lasst er sie aufs Heftigste an. Die Jungfrau setzt
ihm Zeus Gebote und das heilige Recht der Todtenbestattung
entgegen, welches älter sei als sein Herrscherwille und nimmt
von dem ei'zürnten Kreon ihr Todesurtheil mit Ruhe, ja mit
Opferfreudigkeit entgegen. Bald erscheint Hämon, Kreons
Sohn und Verlobter der Antigone, um den Vater durch Bitten
und Vorstellungen zur Aufhebung des grausamen Befehls zu
bewegen. Vergebens I Kreon besteht hartnäckig auf seinem
Willen, er wird von Weibern seiner Gebote nicht spotten lassen.
Der Streit erhitzt sich, der Könis; vermisst sich in leidenschaft-
Autigone und Polyeucte. 15
liclier Heftigkeit, der Sohn geht in grosser Aufregung, dem
Vater drohend, davon. Antigone's Schicksal ist entschieden.
Sie soll in einem unterirdischen Gewölbe dem langsamen Hun-
gertode Preis gegeben werden. Speise und Trank soll ihr ge-
reicht werden, genug, um der Versündigung zu entgehen, aber
nicht hinreichend, um ihr das Leben zu fristen. — Unter hef-
tigen Klagen schreitet die Jungfrau ihrer Todtenkammer zu,
sie beweint ihren frühen Tod, ihre gemordeten bräutlichen
Freuden, das gemeinsame Schicksal ihres Geschlechtes, dem
sie nun selbst als letztes Opfer fiel; aber unerschütterlich bleibt
ihre Ueberzeugung von der Frömmigkeit ihrer That. Der
König bleibt ungerührt und kalt. Da erscheint der blinde Seher
Tiresias, um als Bote und DoUmetscher des göttlichen Willens
dem Könige das Frevelhafte seines Beginnens vorzuhalten. In
dem krächzenden Geschrei der Vögel so wie im missrathenen
Opfer haben es ihm die Götter offenbart, dass die Stadt vom
Frevel befleckt, die Altäre mit dem von Hunden zerfleischten
Leichnam des Polynikes entweiht sind. Kreon wird nur noch
zorniger. Er schilt den Seher einen feilen Betrüger, der die
Seherkunst zu schmachvollem Gewinst ausbeute und beharrt
mit einer leidenschaftlichen Hartnäckigkeit auf seinem Willen,
bis ihm Tiresias in zorniger Würde das Verderben weissagt,
welches dräuend schon an der Schwelle seines Hauses stehe.
Das endlich bricht den Sinn des Herrschers, dem es furchtbar
aufdämmert, dass er in blinder Leidenschaft seine Befugnisse
weit überschritten und den Zorn der Götter auf sein Haupt ge-
rufen habe. Das Herz bricht ihm darüber, aber er will um-
kehren und Alles gut machen, Polynikes begi'aben lassen und
Antigone aus ihrem Grabe befreien. Es ist zu spät. Schon
hat das lauernde Verderben die Schwelle seines Hauses über-
schritten. Antigone hat ihrem Leben durch den Strang ein
Ende gemacht, Haemon ist in ihre Gruft gedrungen und heult
seine Verzweiflung in grässlichen Verwünschungen gegen den
Mörder aus. Gegen seinen Vater, der mit den Dienern herbei-
eilt, kehrt er das blanke Schwerdt und durchsticht sich selbst
damit, nachdem jener entflohen ist. Endlich legt auch noch sein
Weib Euridike, als sie den Tod ihres Sohnes erfährt, Hand
an sich selbst und Kreon steht da, ein gebrochener Mann, den
16 Antigone und Polyeucte.
die schwere Hand des rächenden Zeus vom Gipfel seines hoch-
müthigen Trotzes tief in den Staub herabgeschleudert hat. Unter
Heulen und Wehklagen wirft er seinen Purpurmantel ab und
lässt sich hinwegführen, der nichts mehr ist, denn ein hohles
Nichts.
Im Polyeucte spielt die Handlung in Armenien im dritten
Jahrhundert nach Christo unter dem Kaiser Decius, welcher die
Christen hasste und grausam verfolgen Hess. Bekanntlich
zählte diese Sekte dort viele Anhänger. Der Römische Gouverneur
der Provinz, Namens Felix, hatte seine Tochter dem Polyeucte,
einem der reichsten und angesehensten Männer im Lande,
verheirathet. Als sie noch in Rom lebte, hatte ihr ein junger
Patricier, Namens Severe, seine Huldigungen dargebracht. Das
junge Mädchen liebte ihn, aber der Vater, ein ehrgeiziger Höf-
ling, verweigerte ihre Hand dem Severe, welcher damals noch
arm und unbekannt war. Gehorsam ihrem Vater, obgleich stets
das Bild ihres Severe im Herzen, war sie ihm nach Armenien
gefolgt und hatte ihre Hand dem mächtigen Polyeucte, den
Felix sich zu verbinden wünschte, in stiller Resignation gereicht
und bemühte sich nun, mit allem Ernst einer tugendhaften Frau,
Severe zu vergessen und ihrem Gemahl die Liebe und Treue
zuzuwenden, die ihre Pflicht von ihr verlangte und die jener
verdiente. Polyeucte war indess von einem seiner Freunde,
Namens Nearque, für die neue Religion gewonnen worden. Ein
Tag, kurz nach seiner Hochzeit, ist für seine Taufe angesetzt,
aber Polyeucte weigert sich, an diesem Tage mit Nearque zur
Versammlung der Christen zu gehen. Seine junge Gattin hat
gerade in dieser Nacht einen schrecklichen Traum gehabt. Se-
vere war ihr als stolzer Triumphator, umgeben von königlicher
Pracht erschienen und hatte ihr mit schrecklicher Stimme ge-
sagt: Undankbare, schenke wem Du willst die Zeichen Deiner
Gunst, welche mir gehören. Wenn dieser Tag vollendet ist,
wirst Du den Gatten beweinen, welchen Du mir vorgezogen
hast. Noch zitternd ob dieser Worte hatte sie gesehen, wie
eine Rotte von Christen, welche auch in ihrer Vorstellung freche
Räuber und gottlose Rebellen sind, ihren Gatten zu den Füssen
seines Nebenbuhlers gerissen. Sie habe ihren Vater zu Hülfe
gerufen, aber dieser selbst habe sich mit geschwungenem Dolch
Antigene und Polyeucte. 17
auf Polyeucte gestürzt. Da seien ihr die Sinne vergangen.
Ihren Gatten habe sie ermordet wieder gefunden, sie wisse
nicht, wer ihn getödtet, aber das wisse sie, dass sie Alle zu
seinem Tode beigetragen haben. In übeler Ahnung, dass ir-
gend eine Gefahr von Seiten der Christen drohe, beschwört sie
ihren Gemahl, diesen Tag nicht aus seinem Palast zu gehen
und Polyeucte, obgleich er nach Denkweise seines Volkes nicht
viel auf Träume giebt, hatte dennoch, gerührt von ihrer besorgten
Liebe, ihren Bitten nachgegeben. Nearque wirft ihm Lau-
heit vor und dringt so lange in ihn, bis er ihn bewegt, mit ihm
zu gehen. Er nimmt nur auf eine Stunde Abschied von seiner
Frau, welche ihn nochmals, wiewoW vergebens, beschwört, zu
bleiben. Natürlich verhehlt er ihr die Absicht seiner Entfernung.
Inzwischen trifft bei Felix die Nachricht ein, dass Severe, wel-
chen man in einer Schlacht gegen die Perser gefallen glaubte,
lebe und beim Kaiser Decius in hohem Ansehen stehe. Seine
erstaunliche Tapferkeit hatte die Aufmerksamkeit des Perser-
königs erregt, der ihn scheinbar entseelt vom Schlachtfelde hatte
tragen lassen. Man hatte ihn bei den Persern gepflegt, geheilt,
hoch in Ehren gehalten, und als man alle Versuche, ihn zu ge-
winnen, scheitern sah, gegen wichtige Gefangene ausgewechselt.
Aufs Neue war Krieg zwischen Römern und Persern ausge-
brochen, Severe's Heldenmuth hatte den Seinigen den Sieg ver-
schafft und der Kaiser hatte ihn nach diesem grossen Erfolge
nach Armenien gesendet, um durch ein allgemeines Opfer den
herrlichen Sieg zu feiern. Den Statthalter Felix trifft diese
Nachricht wie ein Donnerschlag. Seiner Ueberzeugung nach ist
das Opfer nur ein Vorwand. Severe kommt, um Pauline zu
heirathen und Alles hat er von der Rache des getäuschten Be-
werbers zu befürchten. In seiner Angst verlangt er von seiner
Tochter, ihre Macht über ihn geltend zu machen. Diese aber,
ihre eigene Schwäche fürchtend, will ihn gar nicht sehen und
entschliesst sich zögernd und nur auf dringendes Ermahnen
ihres Vaters dazu. Die Zusammenkunft hat indessen Statt.
Severe, bereits bekannt mit dem Schlage, der seine Hoffnungen
zerstört, trit4; ihr mit edler Selbstbeherrschung entgegen, sie mit
der freien Stirn der pflichtgetreuen Gattin, die dem früheren
Liebhaber auch nicht einen Schatten von Hoffnung lassen will
Archiv f. n. Sprachen. XXVU. 2
18 Antigene und Polyeucte.
und im lauten, offenen Bekenntniss ihrer Liebe zum Manne einen
Bundesgenossen gegen eine etwaige Anwandlung von Schwäche
sucht. Severe zieht sich zurück in Bewunderung ihrer strengen
Tugend und in Trauer über das, was er an ihr verloren hat,
PauHne mit Unruhe. Sie war stark gewesen ein erstes Mal,
aber ihr Herz muss sie doch vor dringender Gefahr, vielleicht
ein anderes Mal schwächer zu sein, warnen. Sie will
ihn nicht wieder sehen und hat ihm dies als ihren festen Ent-
schluss angekündigt.
Inzwischen kehrt Polyeucte, nunmehr in den Bund der
Christen aufgenommen, zurück, äusserlich derselbe, liebevoll
und zart gegen Pauline, voll Mitleid gegen Severe, klar und
ruhig sich über das Verhältniss äussernd. Ein Bote des Felix
kommt, ihn in den Tempel zum Opfer einzuladen. Da auf
einmal kommt der heilige Eifer des Neophyten über ihn und
die kürzlich empfangene Taufe zeigt sich in ihren Wirkungen
sichtbar. Er will in den Tempel, aber nicht, um das Opfer
feiern zu helfen, sondern um es zu verhöhnen. Laut bekennen
Avill er den wahren Gott vor allem Volk und die Götzen von
den Altären herunterreis sen. Er hat mit Nearque die Eollen
getauscht. Jener ist jetzt der Besonnene, Abgekühlte, und der
Mann, der vor einer Stunde noch den Thränen seiner Gemahlin
seine Taufe opfern wollte, ist jetzt, in vollem Bewusstsein der
Gafahr, zum opferfreudigen Zeugniss bereit, um seinem Gott
das Versprechen zu erfüllen, welches er ihm bei seiner Taufe
gegeben, und sein Feuereifer reisst den bedenklichen Nearque
mit fort.
Lizwischen erwartet Pauline mit ängstlicher Spannung, wie
die Zusammenkunft des Severe und ihres Gemahls ausschlagen
wird; sie fürchtet die Eifersucht zwischen Beiden, die Schwäche
ihres Vaters — als Begebenheiten von ganz anderer Tragweite
sich im Tempel zutragen. Polyeucte hat Wort gehalten. An-
fangs den heidnischen Opferdienst mit Schmähungen und Spott
unterbrechend, hat er sich endhch laut dagegen erhoben und im
Namen des wahren Gottes hat er mit seinem Freunde die hei-
ligen Gefässe und zuletzt die Götterbilder selbst vom Altar
herabgestürzt, bis man Beide ergriffen und in Fesseln gelegt
hat. Diese Nachricht bringt der Erstarrten ihre Vertraute
AntigoneundPolyeucte. 19
Stratonice. Bald folgt ihr Felix, Zorn im Blick und Angst im
Herzen. N^irque soll augenblicklich seinen Frevel mit dem
Tode Bussen, Polyeucte will er schonen und zur Reue und
Umkehr zu bewegen suchen. Seine Tochter fleht um Schonung
für ihren Gatten, obgleich sie seinen Irrthum beklagt und vor
seinem Frevel schaudert. Felix will ihm nur dann Verzeihung
gewähren, wenn er sich bekehrt. Der knechtische Höfling, ge-
wohnt vom Sonnenschein der kaiserlichen Gnade zu leben, ist
in heftiger Bestürzung; er fürchtet Severe. Dieser ist edel
und grossherzig, aber Felix kann es sich nicht vorstellen, dass
irgend ein edles Gefühl den Beleidigten zurückhalten könne,
eine so bequeme Gelegenheit zur Rache zu benutzen. Er darf
sich nicht biosgeben, und ist auch zu feig, sich beim Kaiser
selbst für seinen verleiteten Schwiegersohn zu verwenden. —
Und Polyeucte! Eitle Hoffnung, ihn zur Verleugnung
seines Glaubens zu bewegen. Die Hinrichtung seines Freundes
N^arque, weit entfernt, ihn zu erschrecken, hat seine Opfer-
freudigkeit nur vermehrt und seinen Entschluss befestigt. Er
singt Hymnen und Lobgesänge zur Ehre Gottes und preiset
ihn, dass er ihn zu seinem Werkzeug ausersehen.
Die Versuchung tritt an ihn heran in Gestalt seines
Weibes, die mit den tiefsten Accenten der Liebe und des
Schmerzes ihn anfleht, sich ihr zu erhalten und seinem Irr-
thum zu entsagen. Ein einziges helas entreisst ihm der An-
blick dieses tiefen Leidens, aber auch nur ein einziges. Schnell ruft
er Gottes Beistand und seine Stärke zurück und ermahnt seiner-
seits sein Weib, Christin zu werden und ihm in den Tod zu
folgen. — Machtloser noch als die bittende Liebe erweist sich
die List des Felix, der ihn unter gleissnerischen Vorspiege-
lungen zum scheinbaren Nachgeben, wenigstens während Se-
vere's Anwesenheit, zu bewegen sucht. Gleich schlechten Er-
folg hat die folgende Drohung. Felix ist in der äussersten
Verlegenheit. Seiner Tochter Thränen und Polyeucte's Helden-
muth haben selbst auf seine kleine Seele ihren Eindruck nicht
verfehlt. Severe In Bewunderung vor solcher Grösse hat seine
Fürsprache bei Decius verheissen. Er hasst persönlich die
Christen überhaupt nicht und hält Decius Strenge gegen diese
unschädliche Sekte für seine einzige Schwäche. Aber gerade
2*
20 Antigone und Polyeucte.
dieses Entgegenkommen ist Polyeucte's Verderben. Felix miss-
trauischer Geist sieht darin eine Falle, die ihm der Günstling
stellt, und um ihr zu entgehen, giebt er Befehl, Polyeucte zum
Tode zu führen. So stirbt der Märtyrer mit derselben Freu-
digkeit, mit der er lebend seinen Herrn bekannt hatte. Sein
Tod wirkt die Bekehrung Paulinens, die ihn hatte sterben sehen,
und seines Schwiegervaters, dem ebenfalls die Gnade des Herrn
erschienen war. Severe will nach Rom zurück und seinen
ganzen Einfluss daran setzen, den Christenverfolgungen Einhalt
zu thun. —
Es scheint auf den ersten Blick klar, dass, ungeachtet der
Verschiedenheit der Begebenheit, beide Stücke doch im Grunde
ein gemeinsames Sujet, das Märtyrerthum, behandeln, und wir
würden dies ohne Weiteres als zugestanden annehmen, wenn
nicht in Bezug auf Antigone das gewichtige Urtheil eines kom-
petenten Richters entgegenstände, welches diesem Kunstwerk
einen andern Grundgedanken vindizirt. Dies Meisterstück der
Athenischen Bühne hat das Privilegium des echten Kunstw^erks,
seinen Beurtheilern ein hartes Problem hinzustellen, in dessen
Lösung sie nach verschiedenen Seite hin auseinander gegangen
sind. Wie jedes wahre Kunstwerk entzieht es sich den Hand-
werksgriffen des ästhetisirenden Verstandes und hüllt sich keusch
in den Schleier der unnahbaren Schönheit.
Fast einstimmig erkannte man in der Antigone ein hohes
Ideal weiblichen Charakters, die Trägerin der höchsten, sitt-
lichen Gesetze, in welcher die ewige Macht heiliger Sitte über
ein Gebot blos menschlicher Abkunft siegte, doch aber war es
störend, dass es sich aus dem Codex der tragischen Gesetz-
gebung nicht rechtfertigen Hess, dass diese edle Heldengestalt
blos an fremder Schuld zu Grunde ging. Oehlenschläger hat
es ohne Rückhalt ausgesprochen, dass Antigone ohne Schuld
sei, Schlegel, Jakobs und Andere haben sich mit allgemei-
neren Ausdrücken begnügt, man hört aber aus ihren vorsichti-
gen Äusserungen die Skrupel ihres ästhetischen Gewissens heraus
über das verwegene Unternehmen, eine echt tragische Wirkung
einer Figur zuzuerkennen, in der das wesentliche Moment der
Tragik sich nicht wollte greifen lassen. Wäre Schlegel auf
Antigene und Polyeucte. 21
Polyeucte gefallen, so würde er nach der Methode der genialen
Kritik, die bekanntlich keine Gründe giebt und wenn Gründe
so wohlfeil wären wie Brombeeren, die ganze Märtyrertragödie
als französischen Ungeschmack über den Haufen gerannt haben.
Aber mit Sophocles kann mau so rüde nicht umgehen. In
diesem unstäten Umherschweifen der Meinungen hat auch der
grosse Philologe August Böckh sein Votum abgegeben und in
der Antigene das schmerzlich vermisste Moment der Schuld
nachgewiesen, zugleich aber auch den Schwerpunkt der Tra-
gödie gänzlich verlegt. — Er findet den Grundgedanken des
Stückes in dem Satz, dass leidenschafthches Streben, welches
sich überhebt, zum Untergange führt. Der Mensch messe
seine Befugnisse mit Besonnenheit, dass er nicht durch heftigen
Eigenwillen menschHche oder göttliche Rechte überschreite und
zur Busse grosse Schläge erleide. Die Vernunft ist das Beste
der Glückseligkeit. Dieser Gedanke soll sich nun in dem
Widerstreit der beiden, in Kreon und Antigone ausgedrückten
Gegensätze der ßehgion und Pietät und des Gehorsams gegen
die Gebote der weltlichen Macht entwickeln. Beide Ideen, an
sich sittlich und wohl berechtigt, werden mit so starrer Un-
beugsamkeit verfolgt, dass ihre Träger dadurch in einen un-
heilvollen Zwiespalt mit dem entgegenstehenden Gesetze gera-
then und zuletzt sich beide vernichten. —
Es lässt sich nicht leugnen, dass der berühmte Philologe
diese Ansicht mit vielem Scharfsinn vertheidigt und eine be-
trächtliche Menge sehr beachtungswerther Gründe aus dem
Stücke dafür beigebracht hat. Es ist namentlich richtig, dass
nach dem Urtheile des Chores Antigone durch Trotz ihr
Schicksal verschuldet hat und dass derselbe am Schluss die
von Böckh als Grundidee des Ganzen hingestellte Lehre in be-
deutungsvollen Worten zusammenfasst:
Glückselig zu sein thut Weisheit Noth
Vor Allem zuerst. Und des Göttlichen Scheu
Soll Keiner verschmähn. Denn gewaltige Wort
Hochmüthigen Sinns, mit gewaltigem Schlag
Schwer büssend zuletzt
Sie lehren im Alter die ^\'eisheit.
22 Antigene und Polyeucte.
Nach Böckh's Ansicht hätten wir also in der Antigene eine
nach den herkömmlichen Grundsätzen der Aesthetik echt tra-
gische Person. Sie wäre nicht mehr der Märtyrer, der im
Dienste seines Gottes durch den Frevel der Verächter des
göttlichen Willens zu Grunde geht, sondern eine fehlende
Sterbliche, die ursprünglich im guten Recht durch Leidenschaft
über die Grenzen des Rechts hinaus zur Schuld geführt wird.
Damit würde aber der Vergleichungspunkt zwischen Polyeucte
und Antigene wegfallen. Wir geben dem berühmten Alter-
thumsforscher zu, dass die von ihm als Grundgedanke der Tra-
gödie hingestellte Lehre darin enthalten sei, allein wir bestreiten,
dass sie wirklich der Grundgedanke derselben und dass die
Consequenzen, die er für die Schuld der Antigene daraus zieht,
richtig seien. —
Die äussere Handlung spiegelt allerdings einen sittlichen
Conflikt in dem Widerstreit zweier Menschen, die durch un-
beugsame Hartnäckigkeit eine friedliche Lösung desselben un-
möghch machen, Besonnenheit hätte den Conflikt vielleicht ganz
vermieden. Aber eben die Leidenschaft ist es, welche den Men-
schen jener Besonnenheit, welche der Griechische Dichter unter
(pQOviXv versteht, beraubt und ihn in tragische Conflikte hinein-
reisst, und somit wäre der von Böckh als Grundgedanke der
Antigene angegebene eigentlich der Grundgedanke einer jeden
Tragödie. Der Satz: leidenschaftliches Streben und Mangel an
Besonnenheit führt den Menschen selbst in dem besten Streben
zu sträflicher Vermessenheit und Verachtung anderer sittlicher
Schranken und somit zum Frevel, ist zwar der Moralj)hilesophie
entnommen, er ist aber kein bestimmt gefasstes Sittengesetz
wie die Gebote: Du sollst nicht tödten, sei getreu und andere,
es ist die ganz allgemeine Aufforderung, sittlich zu sein und
zwar die negativ gefasste Aufforderung, zu vermeiden, und ent-
behrt des positiven Inhalts. Wenn Wallenstein auf Abfall von
seinem Kaiser sinnt, Richard seine Verwandten ermordet, um
sich selbst den Weg zum Throne zu bahnen, Jago die giftige
Saat des Argwohns in das Gemüth seines Herrn streut, so
begreift sogleich ein Jeder, dass sie sich gegen ganz positive
götthche und menschliche Satzungen empören, aber wenn An-
tigene und Kreon, die beide an sich vollkommen berechtigte
Antigone und Polyeucte. 23
Grundsätze vertreten sollen, aus leidenschaftlichem Eifer zu
strafwürdigen Verbrechern werden, so müssen wir erst Avieder
fragen, worin nun eigentlich ihr Verbrechen besteht. Die
Antwort, dass Kreon das göttliche Gesetz, Antigone die Auto-
rität der staatlichen Obrigkeit verneint, führt uns erst auf den
positiven Boden des Conflikts, hebt aber damit zugleich jenen
allgemeinen Satz als Grundgedanken auf. Sie fehlen, nicht weil
sie leidenschaftlich handeln, sondern weil sie sich gegen eine
sittliche Schranke auflehnen, und da sich hier ihrer zwei ent-
gegen stehen, so bedarf zunächst die relative Geltung einer je-
den einer Kritik, die der Dichter praktisch in seinem Drama
giebt und der wir nachforschen müssen, wenn wir den wirkli-
chen Gedanken seiner Dichtung finden wollen. Freilich ist es
menschliche Leidenschaft, d. h. selbstsüchtiger, vom E^vigen
und Sittlichen abgewandter Wille, der den Kreon zu seinem
hartnäckigen Trotz, Antigone, — wenn wir hier einmal ihre
Schuld zugeben wollen — zur Verachtung der Befehle ihres
Königs verleitet, aber giebt es denn überhaupt einen tragischen
Conflikt, in dem menschliche Leidenschaft die Harmonie der
sittlichen Ordnung nicht erschütterte, und war es nicht unge-
messener Ehrgeiz und Herrschbegierde, ebenfalls ungezügelte
Leidenschaften, die Eichard und Wallenstein zum Bruch von
Lehnstreue und Blutliebe hingerissen haben, ohne dass es Je-
mandem in den Sinne gekommen wäre, jenen Grundgedanken
in ihnen finden zu wollen. W^ie jener Satz von der Verderb-
lichkeit der Leidenschaft ein an sich ganz abstrakter Gedanke
ist, so wäre auch ein Schauspiel, welches ihn zur Darstellung
zu bringen versuchte, nichts weiter als ein moralisches Spiel
etwa zur Erbauung einer HeiTnhuter Gemeinde. Ein ethischer
Gehalt erfordert ethischen Conflikt, welcher nur zwischen con-
creten Prinzipien stattfinden kann. Die Tragödie will etwas
Anderes als Beispiele für einen Lehrsatz aus der Moralphilo-
sophie liefern.
Es ist allerdings richtig, dass Sophocles selbst diese didak-
tische Tendenz seines Stückes stark hervorgehoben hat, indem
er sie am Schluss gleichsam als Tendenz des Ganzen seinem
Chor als Abschiedsgruss für die Zuhörer in den Mund legt.
Allein dies hat seinen Grund in der Ti'adition des Dichterberufs
24 Antigene und Polyeucte.
im Alterthum, welche Lehrer des Volkes sein und ihm nament-
lich von der Bühne herab Lehren der Weisheit einschärfen
wollten. Die didaktische Tendenz, die wir sowohl in der An-
tigene als auch überhaupt auf der Athenischen Bühne bemerken,
und die sich in der Wahl des Stoffes, einer tendentiösen Rede-
weise und in vielen anderen Zügen ausprägt, ist gewissermassen
eine Anomalie im Kunstwerk, welches alles Andere eher als
direkt lehren will, eine Anomalie, welche seinem eigentlichen
Wesen keinen Eintrag zu thun braucht und bei Sophocles auch
niemals Eintrag thut. Es ist ein äusserer Zierrath, gleichsam
die Zuthat, die ein Professor der Eloquenz zum Griechischen
Optativ, den er in einer Festrede abhandelt, hinzufügt, um der
Gelegenheit gerecht zu werden, oder wenn man will, eine Ge-
nugthuung des poetischen Gewissens, von dem der Genius beim
Schaffen des KunstAverkes nichts gewusst hat. So scheint z. B.
der grosse Piei're Corneille in seinen examens kein Bewusstsein
von den wahren Schönheiten seiner Poesien gehabt zu haben
und er rechnet nur mit ängstlicher Genauigkeit den Kritikern
vor, dass er wirklich die drei Einheiten gehalten und das Kunst-
stückchen der difficulte vaincue ausgeführt hat.
Sehen wir demgemäss die Darstellung des Sophocles ge-
nauer an, so wird sich bald herausstellen, dass der Dichter dem
durch Antigone vertretenen Prinzip vollkommen gerecht gewor-
den ist, und keinesweges den Märtyrertod der erhabenen Jung-
frau darstellt, um uns ein warnendes: Hüte Dich vor Ueber-
maass zuzurufen. —
So viel auch Kreon auf seine Herrschermacht pocht und
so richtig auch im Allgemeinen die Grundsätze sind, die er an-
fangs, scheinbar mit dem besonnenen Ernste des Landesherrn
aufstellt und später gegen Antigone's Widersetzlichkeit geltend
macht, sie werden hier ausgebeutet für eine schlechte Sache
und im Dienst des offenbaren Unrechts. Sein erstes Gebot,
Polynikes unbestattet auf dem Felde liegen zu lassen, den Vö-
geln und Hunden zum Frass, war ein ungerechtes, gottloses,
nicht von der strafenden Gerechtigkeit des Königs, sondern von
dem wilden Hass des Feindes diktirtes, welcher seine Rache
noch am todten Gegner kühlen will, während Zeus' Einsetzung
Antigene und Polyeucte. 25
der letzten Tocitenehren mahnend darauf hinweist, dass am
Grabe die Leidenschaft schweigen und der Todte einen andern
Richter im Hades finden solle. Hiermit ist der Kampf herauf-
beschworen, der beleidigten Schwester, welche die Entehrung
des Bruders als Nächste des Stammes nicht dulden darf, der
Fehdehandschuh hingeworfen, und die Schuld des Kreon wäre
um nichts geringer, wenn er in der muthigen Antigene eine
gehorsame Ismene gefunden hätte. Die Verletzung seines Ge-
botes von Seiten der Antigone steigern seinen Trotz und trei-
ben ihn zu einem zweiten, nicht kleineren Verbrechen, aber
Trotz und Schuld, Beides Avar vorhanden, noch ehe Antigone's
Ungehorsam ihn gereizt hatte. —
Der Chor freiUch hat kein Wort der Missbilligung dafür,
weder in Gegenwart des Königs, noch später als er sich ent-
fernt hat. Er hat in schweigendem Gehorsam das erste Ge-
bot des Königs hingenommen, ohne seine Rechtmässigkeit zu
prüfen. Der Antigone gegenüber, die mit lautem Wehklagen
über ihr unverdientes Schicksal an ihm vorüber zur Todten-
kammer geführt wird, zeigt er sich sogar als strenger Richter
der verletzten weltlichen Herrschaft.
Wohl heilig, Tochter, Heiligung;
Doch dessen Macht, dem Macht gebührt,
Zu überschreiten, ziemet nicht,
Ja Dich stürzt eigenwilFger Trotzsinn,
ruft er ihr zu. Es ist die personificirte Loyalität des Unter-
Chanen. Dass der Chor diese Gesinnung wirklich in unserem
Gedichte vertrete, ist aus seiner Zusammensetzung und ganzen
Stellung dem Kreon gegenüber, so wie aus manchen bestimmten
Aeusserungen der handelnden Personen ersichtlich. So sagt es
Antigone dem König laut ins Gesicht, dass alle Thebäer ihre
That billigten und der Chor nur aus Furcht nach ihm den
Mund schmiege, und Haemon beruft sich ebenfalls später auf
das Urtheil des Volkes, welches doch also Kreon nicht aus dem
Munde der Aeltesten, die als Chor um ihn versammelt sind,
erfährt. In der Folge wird sich dies Urtheil des Chores noch
innerlich motiviren.
26 Antigone und Polyeucte.
Allein wie man auch über das ürtheil des Chores denken
mag und welche Stellung man ihm überhaupt im antiken Drama
anweise, es giebt einen Mann von ganz anderem Gewicht, der
dem Könige sein Unrecht vorhält. Dies ist Thiresias, der
Seher, der berufene Anwalt des Göttlichen.
Auf seinem alten Vogelschauerthron hat er wildes Gekreisch
und Unheilstimmen in den Lüften gehört, vom Opfer war das
Fett der Schenkel herabgeschwelt ohne zu brennen und Kreon
ist es, wie die Götter ihm also offenbaret, dess wilder Sinn
Unheil auf die Stadt gebracht, so dass die Götter ihre Opfer
nicht mehr annehmen AvoUen.
Denn jeder Altar ist uns, jeder Opferbeerd
Vom Frass der Vögel und der Hunde ganz erfüllt.
Mit Oedipus unselig hingestrecktem Sohn.
Und in der furchtbaren Prophezeiung des hereinbrechenden
Verderbens formulirt er ihm seine zwiefache Schuld in folgenden
A\^orten :
Für dieses, dass ein Oberes Uu herabgestürzt
Und eine Seele schmählich in ein Grab gepflanzt.
Und dass den Untergöttern Du entzogen hältst
Hier einen Leichnam, unbestattet, ungeweiht,
Woran Du nicht betheiligt, noch der Oberwelt
Gottheiten, sondern ihnen zwingst Du dieses auf.
Die Schuld kann weder klarer bezeichnet, noch von einem com-
petenteren Richter ausgesprochen werden. Kreon's leidenschaft-
licher Hass hat den ersten Frevel begangen, seine Halsstarrig-
keit die zweite Gewaltthat hinzugefügt.
Es ist auch in Sophocles' Darstellung für Jeden, der ein
Auge dafür hat, Kreon das dem Verhängniss der Schuld verfallene,
dem Untergang geweihte Haupt. In grossen, bedeutungsvollen
Zügen vollzieht die Tragödie an ihm den Fluch der bösen That,
die fortzeugend Böses gebären muss. Die Natur hatte ihm
Verstand und Kraft gegeben, um ein guter Herrscher zu sein,
aber die Leidenschaft hat seinen Geist umnebelt und sein Herz
verhärtet. Die That der Rache hält er für die gerechte Strenge
des Herrschers, die schönsten Grundsätze der Staats Weisheit
werden in seinen Hunden zu Werkzeugen der Tyrannei, die
Antigene und Polyeucte. 27
mahnenden Stimmen, die zur Umkehr anrathen, kann er nicht
verstehen, er hört aus ihnen nur den Trotz der Auflehnung her-
aus. So fährt er dahin in Hochmuth und Halsstarrigkeit, bis
ihn das göttliche Gericht ereilt.
Und Antigone, hat sie ebenfalls Schuld auf sich geladen
und stirbt sie auch an dem Fluche dieser Schuld? Nur freilich
sagt es ihr der Chor mit dürren "Worten, dass ihre Auflehnung
gegen Kreons Gebot, ihr eigenwillVer Trotzsinu sie stürze.
Aber diese Auflehnung macht ja eben ihre Grösse aus. Dass
die Schwester es nicht mit ansehen konnte, dass ihr Bruder,
der Todtenehren beraubt, von reissenden Thieren auf dem Felde
zerfleischt würde, dass in der zarten Jungfrau der Entschluss
mächtig wurde, der Götter Gebot, das an ihrem Bruder ver-
letzt wurde, zu Ehren zu bringen, ohne Scheu vor der grau-
samen Strafe, welche die weltliche Macht darauf gesetzt hatte,
dieser Entschluss, ihr Leben daran zu setzen, dass ihrem Bru-
der sein Todtenrecht gewährt werde, ist es, welcher die Be-
Munderung aller Zeiten und, wenn wir dem Haemon glauben
dürfen, das innigste Mitgefühl ihrer Mitbürger erregt hat. Wie
fest und besonnen ist ihr Entschluss. Nicht leidenschaftliche
Aufregimg, sondern tiefe, stille Ueberzeugung, dass es ihre
Pflicht erheische, inniges Schwestergefühl haben ihn diktirt.
Sie will dem Herrscher nicht trotzen, aber die innere Stimme
sagt ihr vernehmlich, dass es ihm nicht zieme, sie von der ih-
rigen abzuhalten, sie weiss, dass sie sicherem Tode entgegen
geht, doch keine solche Rücksicht hält sie zurück, fest über-
zeugt, dass sie die Götter mit Wohlgefallen aufnehmen werden,
die ihre Ordnungen beschützt hat. Schon in der ersten Scene
hat sie, die Tiefgebeugte, die allen Jammer ihres Geschlechts,
selbst schuldlos, mit durchlebt, ihren blinden Vater bettelnd durch
die Länder geführt, zurückgekehrt nach Theben, den vernich-
tenden Hass ihrer Brüder, den langen Krieg, ihren Doppelmord
gesehen — die Resignation der Heldin, die den geringen Werth
des menschlichen Lebens und Treibens hat schätzen lernen, und
treu den göttlichen Gesetzen ohne Furcht ausführen will, was
sie für ihren Auftrag hält. Mit derselben gesammelten Klar-
heit tritt sie vor Kreon hin. Stilles Siegesbewusstsein ist der
Grundton ihrer Vertheidigung, die sie allen Vorwürfen des
28 Antigo ne und Polyeucte.
dräuenden Königs entgegensetzt, und mitten aus dem Geräusch
des Kampfes klingen wunderbare Tone aus einem tiefen und
reichen Gemüthe hinein.
Aeusserungen wie:
Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da,
und
O liebster Haemon, wie entehrt der Vater Dich,
darf man nicht, wie Böckh es thut, als blosse Wendungen des
Wortkampfes ansehen, sie passen vortrefflich zur Haltung der
Jungfrau in dieser Scene und werfen Streiflichter auf ihr Ge-
müthsleben, welche sehr wesentliche Züge zur Zeichnung ihres
Charakters liefern.
Man hat ihr Härte gegen Ismene zum Vorwurf gemacht
und sie ist davon nicht frei zu sprechen. Aber Antigone ist
auch kein weiches Mädchen, sie ist gehärtet in der rauhen
Schule des Unglücks. Lange Jahre auf seine eigenen Hülfs-
mittel angewiesen, hat ihr von Natur fester, entschlossener
Geist sich herb in sich selbst zurückgezogen, ist strenge
gegen sich selbst und strenge gegen Andere geworden. In diesem
hohen Augenblick, w^o sie ihr Leben für ihre Ueberzeugung
einzusetzen bereit ist, sieht sie Ismene furchtsam zurück weichen
und sogleich fühlt sie sich auf immer von ilir geschieden. Wer
nicht für sie ist, ist wider sie, und nun will sie von ihrer Ge-
nossenschaft nichts mehr Avissen, selbst in der Strafe nicht.
Es ist eine höchst merkwürdige Begegnung, dieser Ausspruch
des christlichen Apostels mit der Gesinnung der Antigone gegen
ihre Schwester. Beides ist aus derselben Quelle geflossen,
nämlich aus jener heiligen Begeisterung für eine erhabene Idee,
an welche der Mensch Alles, selbst seine Persönlichkeit hingiebt.
Wie sollte er Lauigkeit an Anderen ertragen. Wo eiliges,
energisches Handeln die einzige Rettung ist, da ist der ein
Feind, der zögert und sich besinnt.
Wo liegt also nach alle dem, fragen wir, eigentlich die
Schuld der Antigone? Einzig in der Ueberschreitung einer
formellen Schranke, eines obrigkeitlichen Ediktes. Allein die
pflichtgemässe Achtung vor dieser Schranke gerieth in Con-
flikt mit ihrer sittlichen Ueberzeugung, sie konnte jene nicht
Antigone und Polyeucte. 29
respektiren ohne einen Verrath an dieser zu begehen. Es waren
zwei Gegensätze, die sich schlechthin aufhoben, und sie zog
das höhere Gesetz in ihrem Busen dem untergeordneten der
Menschensatzung vor. Wir haben hier also allerdings eine
Handlung, die sich im Kampf zweier an sich berechtigten Prin-
zipien vollzieht, allein im Zusammenstoss beider, hat das eine
Unrecht gegen das andere. Der Kampf zwischen Antigone
und Kreon ist der Kampf des ewigen Rechtes gegen persönliche
Willkür, der Widerspruch der verletzten Pietät gegen den
Frevel, der frommraen Inspiration gegen gottlose Leidenschaft.
So wäre denn für Antigone das Märtyrerthum gerettet und
die hellenische Jungfrau tritt dem christlichen Armenier als eine
würdige Genossin zur Seite. Wir haben hier also denselben
Stoff im Alterthum und in der modernen Zeit zur Tragödie
verarbeitet und dieser Stoff ist das Märtyrerthum, d. h. das freie
Opfer der Persönlichkeit für eine sittliche Idee. Es ist für
unseren Zweck, durch einen Vergleich beider Kunstwerke uns
über das geistige Leben dieser beiden Bildungsstufen Auf-
schluss zu verschaffen, von der höchsten Wichtigkeit, gerade
diesen Inhalt und gerade in der Form der Tragödie neben ein-
ander zu haben. Die Tragödie führt uns, w-ie kein anderes
Werk menschlichen Ursprungs in die innerste Werkstatt des
Geistes und zeigt uns den sittlichen Gehalt des Lebens im Be-
wusstsein abgespiegelt. Das Märtyrerthum aber bringt uns als
tragische Helden Personen, welche des tragischen Moments der
Schuld entbehren, und somit scheinbar für die Tragödie un-
brauchbar sind. Ersteres ist zunächst nur Behauptung und
muss sich bei der Probe als wahr erweisen, letzteres nöthigt
uns zu genauer Untersuchung des tragischen Affekts. Dem
sich hier von selbst darbietenden Vorwurf einer contradictio in
adjecto, nämlich dass Kunstwerke Tragödien heissen und sein
sollen, obgleich ihnen die tragische Person fehlt, möge vor-
läufig die ästhetische Thatsache zur Antwort dienen, dass nach
dem einstimmigen LTtheil aller Hörer und Leser Antigone und
Polyeucte wirklich tragisch wirken und diese Instanz des ge-
bildeten Geschmacks ist für jedes Kunstwerk die entscheidende,
an welche die Reflexion immer ihre Theorien zu prüfen hat.
30 Antigene und Polyeucte.
Man hat bisher das Wesen des Tragischen nicht befriedi-
gend dargestellt. Man hatte wahrgenommen, dass, um eine
Person oder Situation tragisch zu machen, es eines Confliktes
bedürfe, allein über die Natur dieses Confliktes — bestand kein
festes Urtheil. Der Cid, Hamlet, Macbeth bieten drei Con-
flikte der unterschiedensten Art, dennoch gelten sie alle für
tragisch. Noch Lessing meinte, dass eine Tragödie sehr wohl
möglich wäre ohne den Untergang der Hauptperson, Schiller
nennt Nathan eine Tragödie und die französische Schule stellt
Beispiele in Menge auf, vor allen Cinna von Corneille, in denen
der Conflikt wirklich friedlich gelöst wird. Der richtige Takt neue-
rer Aesthetiker forderte für die Tragödie einen unlösbaren Conflikt,
schon die von Aristoteles gestellte, von den Neuern adoptirte For-
derung einer Schuld im tragischen Helden zeigt eine tiefere Ein-
sicht in das Wesen der Tragik, denn es schliesst die Prämisse
der Schuld die Nothwendigkeit von dem Untergang der tragi-
schen Person ein und vom Standpunkt dieser Nothwendigkeit
fand man es unpsychologisch, dass Jemand büssen sollte, wo
er nicht gefehlt hatte. Dass ein Mensch beim Baden ertrinkt,
im Walde von Räubern erschlagen wird oder durch irgend eine
Verkettung unglückHcher Umstände ums Leben kommt, das Alles
kann unser tiefstes Mitleid erregen, aber es ist darum noch nicht
tragisch. Der Causalnexus zwischen Schuld und Vergeltung
ist eine Grundbedingung jedes tragischen Eindrucks. Diese rich-
tige Anschauung liegt auch im Allgemeinen allen unseren neue-
ren Theorien über das Tragische zu Grunde. Der Riss, den
menschliche Schuld in die ewige Gerechtigkeit gemacht, muss
gesühnt werden durch eine entsprechende Vergeltung, welche
das Gleichgewicht in der sittlichen Welt wieder herstellt. Es
rechtfertigt sich hieraus ganz von selbst die Forderung, dass
zur tragischen Person die Schuld nothwendig sei.
Aber diese Anschauung, in welcher ein unzweideutig rich-
tiges Bewusstsein über die Natur des Tragischen enthalten ist,
enthüllt nicht das eigentliche Wesen der Tragik, welche tief in
die Lebensbedingungen des menschlichen Seins eingewurzelt
und mit Ihnen verzweigt ist und die somit ein allgemeines Le-
bensgesetz, eine Erscheinungsform der Menschlichkeit ist. Sie
besteht, mu es mit einem Wort zu sagen, aus dem zum Be-
Antigone und Polyeucte. 31
Avusstsein gebrachten und deshalb Yermittelten Gegensatz des
Endlichen und Unendlichen in der Schöpfung.
Der Mensch ist ein Individuum, d. h. ein begrenztes, end-
liches Wesen, welches durch seine Natur zum Untergange nach
kurzer Dauer bestimmt ist. Die Idee, als der konkrete Inbe-
griff aller vernünftigen Momente gefasst, ist unendlich. Ihre
Bestimmung ist, sich in ununterbrochenem Fortschreiten zu ent-
wickeln. In diesem Prozesse, in welchem der Mensch ein Mo-
ment ist, tritt jenes Verhältniss gegenseitiger Abhängigkeit ein,
dass die Jdee sich nur in und an dem Menschen entwickeln
kann und wiederum dieser von ersterer das Gesetz seiner Be-
wegung und seine sittliche Lebenskraft erhält. Sie sind beide
einander unentbehrlich, der Entwickelungsprozess der Idee kann
nur vermittelst des Menschen vor sich gehen. Indem aber der
Mensch in diesem Verhältniss als Mittel auftritt, bleibt er doch
ein sittliches, mit Vernunft begabtes Wesen, welches nicht als
todte Masse, sondern durch eigenthümlich selbstständige Arbeit
seines menschlichen Geistes sich bei dem Werke betheiligt, oder
es vielmehr dadurch erst in den Gang bringt. Es giebt kein
interessanteres Schauspiel als diesen Wettlauf der Kräfte, die
höchsten Fragen der Menschheit hommen hier zur Entscheidung,
das Leben in seiner ganzen Breite und Tiefe entfaltet sich hier
auf dem Schauplatz, das zu erreichende Ziel ist in gleicher
Weise wichtig als die Streiter in ihrem Thun und Leiden
merkwürdig. Es ist das innerste Eigenthum der Menschheit,
welches jeder Einzelne hier als das seinige erkennt, seine em-
pirische Subjektivität, d. h. was er von Natur ist, einmal, und
zweitens sein ideales Wesen, d. h. das Ziel, wonach er ver-
mittelst seiner sittlichen Organisation mit allen Kräften seiner
Seele strebt. Das Interesse gelangt auf seinen höchsten Gipfel,
weil wir die beiden Faktoren der Bewegung, den Menschen
und die Idee, in Conflikt sehen. Der Conflikt ist ein noth-
wendiger, durch den Gegensatz des Aligemeinen und des Indi-
viduums gegebener. Die Idee, ein ewiges, allgemeines Gesetz,
muss sich zur Geltung bringen, und der Mensch, eine mit Wil-
lensfreiheit begabte Organisation, lehnt sich gegen die entgegen-
stehende Schranke auf. Er wird sich um so heftiger dagegen
empören, je mehr er Individuum ist, d. h. je kräftiger und ge-
32 'Antigone und Polyeucte.
■waltiger sein eigener, vom Ewigen abgewendeter Wille ist. Es
liegt, wie wir wissen, in der Nothweudigkeit, dass in diesem
Widerstreit der Mensch untergehe, allein die Geschichte dieses
Streites und Unganges ist jedesmal ein Objekt regester mensch-
licher Theilnahme. Jenes gewaltige Wesen, welches wir im
vergeblichen Kampfe riesige Pläne entwerfen , gigantische
Kräfte entwickeln sehen, welches heiss mit seinem eigentlichen
Wesen ringt, dem es nur eine andere Gestaltung zu geben
trachtet, ist ein Wesen unserer Gattung. Seine Wünsche, seine
Entwürfe, sein Leiden ist das unsrige. Sein verfehltes Streben,
seine Leiden, seine tiefe Verirrung in die Abgründe sündlicher
Leidenschaft, sein endlicher Eall führen uns die Hinfälligkeit
alles Irdischen vor Augen. Wir sind gedemüthigt in unserem
Stolze, wir bedauern, lieben, verurtheilen ihn, und die Theil-
nahme, welche wir empfinden, ist im Grunde nur ein Mitleid
mit uns selbst. Doch unser Blick wird hinweggezogen von
dem gräulichem Schauspiel der Zerstörung zu den verklärten
Höhen, wo die Idee nach dem erfochtenen Siege im neuen
Glänze strahlt und dies erhebt uns aus der Beschränktheit ein-
seitigen Mitleidens zu einer höheren Anschauung, die uns über
den Verlust des Individuums tröstet. Es war ein Tod, der
neues Leben geboren hat, der einzelne Mensch ist aufgerieben,
aber die Menschheit hat einen Fortschritt gemacht. Dies ist
die Tragik des Lebens, wovon die der Schaubühne nur eine
Nachahmung ist.
Es sind also in der tragischen Rührung diese beiden Mo-
mente aufgehoben, Theilnahme an dem Leiden des Gattungswesens
und P^reude an dem Triumph der Humanität. Aus beiden ent-
steht jene tief innere AfFektion, welche mit Demuth und Be-
friedigung zugleich sich in den innersten Kern des Menschen-
geistes versenkt und welche Avir dem tragischen Kunstwerk am
reinsten und energischsten verdanken. In der Tragödie müssen
wir also jenen Conflikt des Endlichen und Unendlichen darge-
stellt finden. Der Künstler hat in seinem Stoffe ein Beispiel
gewählt und sein Held muss ein Typus des Menschen über-
haupt sein. Es giebt nun zwei Weisen, in denen die tragische
Handlung sich entwickeln kann. Es ist einmal die tragische
Person selber, welche sich mit der Idee im Kampfe befindet,
Antigene und Polyeucte. 33
und dies Verhältniss des Menschen ist das unmittelbarste im
tragischen Conflikt und deshalb am häufigsten in der dichteri-
schen Praxis angewendet. — Es kann der Conflikt aber auch
zweitens zwischen der tragischen Person und der widerstreben-
den Welt Statt finden. Dann ist der Held des Dramas der
Träger der sittlichen Idee, für die er kämpft und stirbt und
der er dadurch zum Siege über seine Feinde verhilft. Man
kann diese Gattung der Tragödie die Märtyrertragödie nennen,
obgleich es nicht nöthig ist, dass sie einen religiösen Stoff be-
handelt wie Polyeucte. Schon Antigone, obgleich dem Religiö-
sen nahe verwandt, weist uns auf weitere Stoffe hin, und heklen-
müthige Aufopferung für Vaterland, Familie oder jede andere
berechtigte Idee kann ganz eben so wohl tragischen Inhalt ha-
ben. — Und ist nicht im Grunde Alles, woran der Mensch
seine Kraft setzt, wofür er seine Persönlichkeit hingiebt, nicht
auch seine Keligion?
Es ist klar, dass die erste Art der Tragödie sich der dra-
matischen Behandlung viel bequemer fügt, wie ja auch fast nur
sie bearbeitet worden ist. Die tragische Person steht im Vor-
dergrunde und nimmt das Hauptinteresse in Anspruch. Der
Stoff kommt hier dem Dichter auf halbem Wege entgegen, da er
ihm die menschliche Creatur in ihrer Kraft und Mangelhaftig-
keit, in ihrem gewaltsamen Ringen und ihrer ohnmächtigen
Zerknirschung, ihrem haarsträubenden Vermessen und ihrem
bejammern swerthen Fall als Gegenstand hinstellt. Er hat nur
die Züge der moralischen Natur wiederzugeben, um seines Er-
folges gewiss zu sein. Denn was er schildert, ist das Pro-
blem des Lebens, die innersten Interessen jedes fühlenden
Menschen.
Viel spröder bietet der Stoff sich in der zweiten Gattung
der Tragödie dar. Das Individuum erscheint hier aufgegangen
in einen einzigen Gedanken, fast seiner Persönlichkeit entklei-
det und empfängt sein Leben nur von der Idee, der es dient.
Der ganze Nachdruck liegt auf letzterer, welche wir als stets
gegenwärtiges, gestaltendes und entwickelndes INIotiv vor uns
sehen müssen. Es ist dies eine Klippe für den Dichter, der
sich eine solche Aufgabe stellt, dem persönlichen Pathos und
Archiv f. n. Sprachen. XXVU. 3
34 Antigone und Polyeucte.
der Idee zugleich gerecht zu werden, und leicht kann letztere
zu leerer Abstraktion, ersteres zum moralischen Rührbrei aus-
arten, oder es wird, was des grossen Styles der Tragödie un-
würdig ist, das fehlende Interesse durch die spannende Ver-
wickelung äusserer Begebenheiten ersetzt.
Es ist aber nichts desto weniger diese zweite Art des tra-
gischen Conflikts eine wirkliche, von der Geschichte bezeugte
und im Wesen des Menschen begründete und also von der tra-
gischen Kunst als eine mit Recht zu ihrem Ressort gehörende
gefordert. Aber die Theorie ist stets nur das zum Bewusst-
seinkommen der bereits vorhandenen Praxis, und so konnte, ob-
gleich in der Antigone bereits ein Versuch der Art vorlag, in
der Theorie des Alterthums diese Spezies keinen Platz finden,
weil ihm überhaupt das Bewusstsein eines allgemeinen Prinzips
der Sittlichkeit fehlte. Wir Averden sogleich sehen, dass letz-
teres auch in der Antigone nicht vorhanden ist und ihr somit
eine eigentliche Sühne fehlt. Wir Neueren aber, für welche
das Tragische ein wesentlich Anderes geworden ist durch das
Hinzutreten eines Moments, welches dem Alterthum mangelte,
werden gebieterisch aufgefordert, jene zweite Spezies auch in
der dramatischen Theorie zu der Berechtigung zu erheben,
welche ihr in der Praxis die ästhetische Empfänglichkeit längst
zugestanden hat.
Wir stehen hier anscheinend vor einem seltsamen Wider-
spruch. Wir vergleichen die tragische Kunst der Alten mit
der unsrigen und sprechen doch ersterer eigentlich die tragische
Natur ab. Antigone vergleichen wir mit Polyeucte, um inner-
halb der Tragödie Gegensätze der antiken und christlichen An-
schauungsweise aufzufinden, und dennoch soll Antigone das
Moment der Versöhnung fehlen, welches wir so eben als noth-
wendig für die tragische Wirkung hervorhoben. Allerdings.
Aber hier ist gerade der Angelpunkt der Frage.
Ein Moment, welches für den Hörer einen gewissen Ab-
schluss, eine Art der Beruhigung bringt, enthält freilich die
Antigone, aber eben nicht denjenigen, welcher es auch für das
christliche Bewusstsein ist. Der tragischen Dichtung eben ist
es vorbehalten, die innersten Gegensätze christhchen und heid-
Antigene und Polyeucte. 35
nischen Bewusstseins in die Erscheinung hervorspringen zu
lassen. Die Erscheinungsform der tragischen Idee ist das
Glaubensbekenntniss der antiken und modernen Welt.
Wir kehren nun zu unseren beiden Tragödien, Antigone
und Polyeucte, zurück, Avelche Avir nunmehr als die Repräsen-
tanten einer antiken und einer modernen Auffassung desselben
Gegenstandes über die Gegensätze beider befragen werden.
Schon eine oberfläcliliche Lektüre beider Kunstwerke brinert
den Eindruck hervor, dass, abgesehen von den Verschieden-
heiten, welche der Nationalgeschmack und die zufällige Bega-
bung der Individuen hervorgebracht, in beiden ein durchaus
verschiedener Geist weht, der sich nicht bloss in der endlichen
Lösung des sittlichen Poblems , sondern in der Behandlung aller
Verhältnisse und Charaktere ausgeprägt hat.
Der heidnische Märtyrer ist aus ganz anderem Stoff ge-
macht als der christliche. Dieser begeistert sich für eine all-
gemeine Idee, für den Gott der Christen und seinen Ruhm, aus
freiem Antrieb ohne andere äussere Anregung, Antigone ver-
tritt hur ein einzelnes Gesetz, bei dessen Verletzung sie un-
mittelbar betheiligt ist, sie würde den Kreon jeden anderen
Frevel ruhig haben begehen lassen. Der Eifer für die Sache
des Zeus ist erst das zweite, abgeleitete Motiv, das eigentliche
Agens ihrer That ist die schwesterliche Pietät. Und dennoch
ist ihre Tugend nicht kleiner als die des Polyeucte, die Kraft
ihrer Ueberzeugung nicht geringer, ihre Opferwilligkeit nicht
weniger freudig, alle Wirkungen einer sittlichen Potenz treten
hier wie dort mit derselben göttlichen Macht zu Tage. Beide
begegnen sich überraschender Weise sogar in derselben An-
schauungs- und Ausdrucksweise, beider Thaten hat ihr religiö-
ses Bewusstsein seinen Stempel aufgedrückt. Auch im natür-
lichen Menschen kommt das Göttliche zum Bewusstsein, sonst
könnte ja überhaupt eine sittliche Ordnung unter den Völkern
des Alterthums nicht bestanden haben, aber er ergreift es nur
als einzelne Erscheinung und zwar immer gebunden in natür-
liche Verhältnisse und daraus entspringende Empfindungen —
viel tiefer und religiöser in dieser Scheu als z. B. das christ-
36 Antigone und Polyeucte.
liehe 18. Jahrhundert, welches diese sittlichen Bande in grob
materieller Weise aus dem li^goismus, der Hülfsbedürftigkeit
und der GeAvohuheit der Kreatur erklärte, allein die allgemeine
Vernünftigkeit, jener schöpferische Faktor, welcher die einzelnen,
starren Momente der Sittlichkeit zu einer höheren Einheit zu-
sammenführt, wie sie in der Bewusstseins8tufe des Christen-
thums lebt, ist dem Alterthum und folglich seiner Tragödie
fremd geblieben. Daher konnte unter Anderem auch der Chor
jenes formelle Vergehen der Antigone als eine wirkliche Ver-
schuldung bezeichnen, was von unserem Standpunkt aus unbe-
greiflich bleibt. Er blieb in dem starren Begriff der Gesetz-
lichkeit stecken und w^og den sittlichen Inhalt widerstreitender
Pflichten nicht. Das Moment der Versöhnung fehlte, daher
bleiben sittliche Gegensätze feindlich und unentwickelt stehen.
Dennoch aber ist es eines der gewichtigsten Zeugnisse von dem
sittlichen Inhalte, der unbewusst auch in der Anschauung der
Alten wirksam war, dass ungeachtet jenes ßaisonnements des
reflektirenden Verstandes dennoch, wie ich überzeugend nachge-
wiesen zu haben glaube, die Zeichnung der Antigone nichts
weniger als einen durch eigene Schuld dem Untergange ver-
fallenen Charakter vorführt. Wir könnten diese Charakterzüge
weiter ins Einzelne verfolgen, allein wir eilen zu dem Punkte,
in welchem die Gegensätze der alten und modernen Tragödie
in ihren Gipfelpunkten hervorspringen und das Urgestein ihres
AVesens dem Lichte enthüllen.
Im Polyeucte kommt das tragische Element zu seiner voll-
ständigen Entfaltung, die Momente des Streites vermitteln sich
und die durch das Mitleiden aufgehobene Freiheit des Geistes
stellt sich am Schluss wieder her. Im Polyeucte ist der Schluss
durchaus befriedigend für den Zuhörer. Der Märtyrer hat den
Tod erlitten, aber sterbend hat er seinen Gegner überwunden.
Die Sache, für die er gekämpft und geblutet hat, nach dem
Beispiele seines Herrn und Meisters, hat sich als die gerechte
erwiesen gerade an Denen, die ihn deswegen gescholten, verfolgt
und getödtet haben. Sein Weib Pauline, ein anderes Ideal
edler Weiblichkeit, setzt mit dieser Bekehrung den Schlussstein
auf das dornige Werk ihres Lebens, ihr Herz von allen Spuren
einer ersten, starken Leidenschaft zu reinigen und es als ein
Antigene und Polyeucte. 37
würdiges Opfer dem würdigen Gemahl in wahrhaft liebender
Hingebung darzubringen. Damit dass sie Christin wird, knüpft
sie die Bande aufs Neue, welche der Tod so eben zu zerreissen
schien, und vollzieht 'die vollständige Trennung mit ihrer Ver-
gangenheit. Es ist dies viel mehr als eine Resignation der
Pflicht, welche im Herzen neben dem Bewusstsein des erfoch-
tenen Sieges den Stachel wehmüthig schmerzlicher Erinnerun«-
zurücklässt. Sie gehört jetzt wirklich mit ganzem Herzen und
mit ganzer Seele dem Gemahl, der ihr vorangegangen ist in
das Keich des Lichts, wo sie einst in verklärter Weise mit
ihm wird wieder vereinigt werden. Severe hat keinen Theil
mehr an ihr und zugleich ist sie der erste Zeuge von der sie-
genden Kraft der Idee, von der Polyeucte durch seinen Tod
Zeugniss abgelegt hat. Es vereinigt sich in ihrer Bekehrung
die AVirkung ganz persönlicher Beziehungen des Weibes mit
jener anderen, einer allgemeinen, ewigen Idee, so dass wir eine
ganz ideale Erscheinung und doch gefüllt mit echt menschlichem,
individuellem Inhalt erhalten und wir dem Dichter hier für so-
viel Schönheit gern den spanisch ritterlichen Roman mit dem
tugendhaften Severe verzeihen.
Von Seiten der Kunst könnte die Bekehrimg des Felix
dem Verfasser als Vorwurf angerechnet werden. Sie ist weder
in seinen Antecedentien, noch in bedeutenden Umständen im
Augenblick der Entschliessung motivirt. Allein der Augenblick
ist so feierlich, die Ereignisse so erschütternd, der Schritt einer
neuen weltgeschichtlichen Aera lässt sich in dieser tragischen
Katastrophe so deutlich vernehmen, dass man sich auch etwas
Unwahrscheinliches gefallen lässt. Der Sinn ist so eingenommen
und erhoben von dem wunderbaren Walten der göttlichen Maclit,
dass er nicht einen Augenblick zu kalter Prüfung übrig hat
bei dem Eintreten eines Ereignisses, welches jene Macht aufs
Neue bezeugt. Nur dann zerstört der Dichter die poetische Il-
lusion bei seinem Zuhörer, Avenn er diesen unvorbereitet mit
Folgewidrigkeiten überfällt und damit ieine Kritik herausfordert.
Die Stärke des Pierre Corneille als Dramatiker liegt über-
haupt viel weniger auf der Seite der plastischen Gestaltung
seines Stoffes, als auf seiner Fähigkeit, allgemeine, sittliche
38 Antigene und Polyeucte.
Ideen zu drastischer Wirkung zu bringen. Der gute Geschmack
könnte am Polyeucte manches auszusetzen haben, was wir hier
auf sich beruhen lassen, da eine ästhetische Würdigung des
Werkes ausserhalb unserer Aufgabe lieg't. Es mag hier nur
noch der für uns bedeutendere Umstand angeführt werden,
dass der Held der Tragödie selbst eigentlich das Interesse des
Hörers zu wenig erregt. Er ist zu sehr Heiliger, hat den
Menschen zu sehr abgestreift, wir sehen ein Wesen anderer
Ordnung vor uns und können unsere Seele nicht giit echt
menschlicher Theihiahme an sein Geschick hängen. Wie die
meisten Corneille'schen Charaktere dringt er nur bis zu unserer
Bewunderung vor. Dennoch aber hat es der Dichter verstan-
den, die Idee, welche diese abstrakte Persönlichkeit vertritt,
durch seinen Opfertod zu einer solchen concreten Geltung zu
bringen , dass wir erschüttert und erhoben in jener wahrhaft
ethischen Stimmung den Blick abwenden von dem Individuum,
das gekämpft und gelitten, zu den grossen Ordnungen Gottes,
denen alles Menschliche dienen muss in seiner Herrlichkeit wie
in seinem Untergang. Man könnte in dieser Rücksicht Cor-
neille den spiritualistischen modernen Dichter nennen. Er ist
wirklich gross und bedeutend, wo sein Genius ihm diese ihm
eigene Bahn gewiesen hat, wie z. B. auch in Cinna und les
Horaces. Leider hat ihn falscher Geschmack und leidige Nach-
ahmungssucht auf IrrwTge geführt und seine Meisterwerke mit
einer Schaar seichter oder ungeheuerlicher Machwerke um-
geben.
Zu dieser Befriedigung, welche das Ende des Polyeucte
athmet, stehen die letzten Scenen der Antigone in einem schrei-
enden Gegensatz. AVie dort sich alle Misstöne harmonisch in
die vollen Ackorde einer vernünftigen Weltordnung auflösen, so
ist hier Alles Schrecken, dunkele Verzweiflung, Wehegeheul.
Der Mord hat den Mord erzeugt. Kreon ist der elende, zer-
schmetterte Wurm, dessen sinnlose Narrheit drei Opfer zum
Hades geliefert, unter ihnen seinen Sohn und sein Weib. Er
steht allein, zermalmt, verzweifelnd, von den Göttern mit bluti-
gem Mal gezeichnet, seine Kraft ist vernichtet, sein Herrscher-
thura gebrochen, er lässt sich abführen aus dem Anblick der
Menschen, der nichts mehr ist, denn ein Nichts. Ein wahrhaft
Antigene und Fol yeucte. 39
haarsträubendes Entsetzen, eine Ahndung ausser allem Ver-
hältniss mit seinem Vergehen, die vielmehr die erfinderische
Rache eines erzürnten Feindes als der gerechten Strafe der
richtenden Gottheit ähnlich sieht. Kein neuerer Dichter hat bei
der Vergeltung für ungerechte That sich bis zu diesem Raffi-
nement der Grausamkeit verstiegen. Die abscheulichsten Ver-
brecher Macbeth, Richard IL, Franz Moor büssen mit ihrem
Leben für ihre Unthaten und das beleidigte Gerechtigkeitsge-
fühl des Lesers ist befriedigt, es verlangt nicht, dass der Ver-
brecher stückweis zu Tode gemartert Avcrde. Es ist ein anderer
Geist als der der gegenwärtigen Menscliheit, der dem Dichter
solche Ueberlieferungen vermachen konnte. Doch wenn es auch
unser Gefühl verletzt, so können wir wenigstens nicht leugnen,
dass Kreon vollauf für seine Sünden gebüsst habe, aber wo
bleibt bei alle dem die Sühne für den Märtyrertod der Anti-
gone? Hätten wir eine Tragödie Kreon, so möchten wir in
seinem Jammergeschick den Finger der strafenden Gerechtio-
keit erkennen, und wiewohl mit Schauder den Riss, den der
Frevel darin gemacht, für geheilt erklären. Aber Antigone
bleibt die Person, um welche sich das Hauptinteresse lagert
und ihr Tod bleibt ungesühnt. Es ist keine Andeutung vor-
handen, dass die Idee der Familienpietät und der heiligen
Satzungen des Zeus durch ihren Untergang und die Vernich-
tung des Kreon eine neue Weihe empfinge. Die Vernichtung
hält ihren blutdürstigen Umgang, der Tod gebiert den Tod,
Leichenhügel erheben sich, aber kein freundlicher Stern schwebt
über dem Graus, der den Blick nach üben richtete und das
Herz mit neuer LebenshofFnung erfrischte. Wie ein dumpfer
Schmerz legt es sich aufs Gehirn, man schaudert und staunt,
aber man nimmt nicht mit Befriedigung Abschied von diesem
Bilde, und selbst die mahnenden \Yorte des Chores verhallen in
dem peinlichen Gefühl menschlicher Abhängigkeit und göttlicher
Willkür. Ja Antigone selbst , die gottbegeisterte Jungfrau,
bleibt sich nicht treu bis ans Ende. Die muthige Zuversicht,
mit der sie sich dem Kreon gegenüber stellt, hat sie verlassen,
als sie den letzten Weg nach ihrer Todtenkammer geht. Laute
Wehklagen über den Verlust ihrer bräutlichen Freuden, über
ihr Wehgeschick, welches dem Kampi" des ganzen Labdakidcn-
40 Antigone und Polyeucte.
hauses gleicht, wimmert sie an das Ohr der Greise, welche
taub für ihren Schmerz, ihr Hohn bieten statt der Tröstung.
So weit entweicht ihr Heldenmuth, dass sie dem Chor gegen-
über und vor sich selbst ihre That entschuldigen zu müssen
glaubt. Wären es ihre Kinder gewesen, oder ihr Gatte, so
möchte man sie der Vermessenheit und des Unsinns zeihen,
denn einen anderen Gatten könne sie wiederbekommen und von
diesem ein anderes Kind, da aber Vater und Mutter todt wären,
wo sollte sie einen anderen Bruder hernehmen. Man hatte
diese Klage echt menschlich schön und von echt antikem Geiste
getragen gefunden, ein Urtheil, welches ich unterschreibe. Aber
eben deshalb nimmt diese Antigone ihrem Todesgeschick jeden
Charakter der Sühne. So sehr war die Anschauungsweise des
Alterthums vom Idealen abgekehrt, dass nicht einmal einer An-
tigone die Idee, für die sie selbst gekämft, für die sie mit Be-
wusstsein in den Tod gegangen war, eine Stütze im letzten
Augenblick sein konnte. Das Jenseits, das Ewige, sittlich
Wahre ist ihr keine lebendige Wirklichkeit, sie sieht dort ein
Schattenleben, kalten Tod, und wendet ihr Auge nach dem
Diesseits und seiner vergänglichen Herrlichkeit zurück. Hier
also fehlt jeder Anknüpfungspunkt für eine Versöhnung der
moralischen Mislaute, die unsere Seele mit Pein und Schauder
erfüllen. Die Idee hält nicht einmal die Heldin im letzten
Kampfe aufrecht, wie soll sie an Andern Anhänger gewinnen?
Es ist ein bedeutungsvoller Umstand, dass die Genugthu-
ung, welche die von Antigone vertretene Pietät gegen die Götter
erhält, sich nicht in einer Verherrlichung dieser Idee, sondern
in einem Akt der Rache vollzieht. Die der Idee widerstrebende
Welt erhält in der Person des Kreon eine schreckliche Wei-
sung, vom Trotz gegen göttliche Gebote abzustehen ; da aber
auf der andern Seite der sittliche Gehalt des Gebotes, Avelches
hier in Frage stand, so wenig zur Geltung gebracht wird, da
dasselbe nicht eine lebendige Macht wird, so weiset das Ueber-
gewicht, welches auf die Seite der Strafe gelegt ist, auf eine
Gottheit hin, der es weniger auf Hervorbildung sittlicher Ord-
nungen als auf blinden Gehorsam gegen ihre Autorität ankommt.
Zeus hat gestraft, wie Kreon sich vergangen, mit Leidenschaft.
Er hat seine verletzte Autorität gerächt, wie Kreon die seinige,
Antigone und Polyeucte. 41
um Antigone, die Vertreterin seines ewigen Rechtes, kümmert er
sich so wenig als um dieses selbst. Die Gottheit ist noch
immer mit menschlicher Leidenschaft behaftet, der herodoteische
Neid tritt hier in anderer Form hervor. In dieser Auffassung
des göttlichen Wesens spiegelt sich nicht der reine Urquell alles
Guten und Vernünftigen, sondern der Eigensinn, die launenhafte
Willkühr, die übermüthige, grausame Ueberhebung der Stärke.
Wie anders das Walten der Gottheit im Polyeucte. Hier
liegt aller Nachdruck auf dem Triumph der Idee, der Offen-
barung des eigentlich Göttlichen; an ihr beweist der Gott
seine Macht, so wie gleicher Weise seinen auf das Gute ge-
richteten Willen. Die Verächter seines Willens werden nicht
vernichtet, sie werden nur besiegt und zwar von der siegreichen
Kraft seiner Wahrheit. Ihre Strafe ist, dass sie dieselbe aner-
kennen müssen und sich vor ihr beugen.
Es stellt sich also heraus, dass in der antiken Märtyrer-
tragödie keine Sühne vorhanden ist und zugleich führt uns das
eben Gesagte zur Erkenntniss des Grundes, weshalb eine solche
auch in allen übrigen antiken Tragödien nicht anzutreffen ist,
weil nämlich die Idee der Versöhnung überhaupt dem Bewusst-
sein des Alterthums fehlt. Die Tragödie ist eben der reinste
Abglanz des sittlichen Bewusstseins eines Volkes und nur auf
dieser Identität des Dargestellten mit dem Geistesleben des Zu-
hörers beruht die Möglichkeit einer tragischen Wirkung. Allein
bei allem Mangel einer Versöhnung bleibt, wie wir oben aufmerk-
sam gemacht haben, den Alten doch die tragische Rührung, ja
sie hat gerade im Alterthum ihre Wurzel und ist uns von den
Griechen erst überkommen. Die Affektion des Geistes ist die-
selbe, aber dennoch in beiden Völkern ein so unterschiedenes
Gefühl, als überhaupt ihre ganze Denk- und Anschauungsweise
verschieden ist. Man möge hier nicht eine Subtilität finden
wollen. Die einfachen Affektionen der Freude, des Schmerzes,
der Trauer, der Furcht, des Erstaunens müssen allerdings die-
selbe Bewegung in jeder Menschenseele hervorbringen, gehöre
sie einem Deutschen oder Lappländer, einem alten I'erser oder
einem modernen Russen an. Aber der tragische Affekt ist ein
gemischter Zustand, in welciicm die Reflexion der wesentliche
42 Antigene und Polyeucte.
Faktor, das eigentliche Agens ist, und der somit ein wirklich
anderer werden kann, je nachdem die Eeflexion sich wandelt,
und dennoch in seinem Gefühlsgehalt beständig derselbe bleiben
kann. Unsere Definition von den Momenten des Tragischen ist
dem modernen Bewusstsein entnommen und passt für das antike
Bewusstsein nur, wenn sich dort ein Surrogat für die Richtung
aufs Ideale findet, welche für uns das Moment der Versöhnung
enthält.
Dies Surrogat im Alterthum ist das Fatum, welches des-
wegen der antiken Tragödie durchgehend s seinen Stempel auf-
gedrückt hat. Die antike Tragödie ist die Schicksalstragödie
als solche. Das Fatum ist die dunkele, ungreifbare und unbegreif-
bare Macht, welche mit dem Menschen nach Willkür schaltet.
Nicht Verdienst, nicht Gnade, nicht eine allgemeine, erkennbare
Eichtschnur leitet dies schauerliche Mysterium. Es trägt den
Grundbedingungen der menschlichen Natur keine Rechnung,
ihre sittliche Freiheit achtet es nicht, ohne sein Verschulden
reisst es den Menschen in Sünde und Verderben. Es ist die
vollständige Negierung jeder sittlichen Weltordnung, es belohnt
und straft nicht nach Verdienst, vor ihm gilt keine Freiheit
der Selbstbestimmung, launenhafte Willkür hat ein dunkles
Verhängniss geschmiedet, an dem ohnmächtig alle Anstrengungen
zerschellen. Der Mensch ist der Spielball eines tückischen Dä-
monen geworden, die Gottheit selbst ist bloss ein Diener des
Fatums und eben so launenhaft und willkürlich als dieses
selbst. So haben wir es in der Antigone gesehen und so kehrt
es überall in den Mythen wieder. Sie lieben und hassen, ver-
folgen und hassen nach durchaus subjektiver Laune, keine an-
dere Richtschnur als etwa die Eifersucht, ihr Ansehn gegen die
Sterblichen aufrecht zu erhalten, ist in ihren Handlungen wahr-
zunehmen.
Die eigentlichen Vorstellungen von der Götterwelt mögen
im Alterthum sehr verschieden gewesen sein und haben sich
natürhch nach dem Bildungsgrade des Individuums gerichtet.
Die Philosophie suchte reinere Begriffe darüber zu verbreiten
und die naive Vorstellung einer wirklichen Eifersucht der Götter
auf die Sterblichen, wie wir sie im Herodot finden, mag in
Antigene und Polyeucte. 43
späterer Zeit gewichen sein in dem Maasse als die naive Hin-
gebung der Menschen überhaupt entwich und reflektirteren Be-
strebungen oder der FrivoHtät Platz machte. Allein im tiefsten
Grunde seiner Anschauung musste der alte Grieche eine ver-
nünftige Gesetzmässigkeit in der Weltregierung vermissen und
konnte demgemäss in seinem eigenen Geist die sittliche Bestim-
mung nicht finden. Die Weltordnung seiner Götter ist eine der
menschlichen Vernunft unzugängliche, menschliche und gött-
liche Vernunft sind hier schlechthin iücommensurable Grössen,
ein Riss ist zwischen göttlicher Ordnung und menschlicher Be-
dürftigkeit, welchen die Furcht, nicht die heilsame Scheu vor
einer ewigen Gerechtigkeit und Güte, sondern dies knechtische
Zittern vor einer unbekannten, dämonischen Macht, jene Furcht
des Calibar vor Prospero's Zauberkünsten, zuschliesst. Das
ganze sittliche Bewusstsein ist unfrei und fühlt sich macht- und
rechtlos in den Händen jener Tyrannin. Knechtisches Zittern
steht an der Stelle des kindlichen Vertrauens, dumpfe Resig-
nation an der Stelle froher Zuversicht. Dem Menschen ist
keine Entwickelung zur Humanität, dem Individuum keine Er-
lösung von seiner Schuld verheissen. So klammert der Mensch
sich an die Gegenwart an, die ihm hell aus dem Wein und
aus schönen Frauenaugen entgegen lacht, anstatt vorwärts zu
sehen, wo die Zukunft seines Wesens, d. h. seine eigentliche
Heimath, liegt.
Diesen Bewusstseinszustand drückt die Schicksalstragödie
aufs Vollkommenste aus. Das Individuum erscheint hier durch-
aus in jenem unfreien, eines vernünftigen Wesens unwürdigen
Verhältniss zu dunkeln Gewalten, ein seiner Natur adäquater
Beruf, den er wenigstens ahnet, ist nirgends anzutreffen. Auf
materielle Güter allein kann sein Streben gerichtet sein und da-
bei, ist ihm wohl bewusst, kann er ohne Absicht den Zorn jenes
Unheilsdämons auf sich laden, der mit eifersüchtiger Strenge
über seine Rechte wacht. Vielleicht ist er auch schon dem
Verderben geweiht, weil sein Stamm den Göttern verhasst ist.
Die Orakel werden ihn umsonst vor dem drohenden Verderben
warnen, die Flucht aus der Heimath wird ihn nur gewisser in
die Schlinge führen, die ihm der hinterlistige Gott auf dem
44 Antigene und Pol yeucte.
Kreuzwege gelegt hat. So schwindet jeder Halt und jedes
Vertrauen und nichts bleibt der schwachen Kreatur als die un-
bedingte Ergebung an den Stärkeren, eine trostlose, Entsetzen
erregende Ergebung eines denkenden, mit sittlichem Willen be-
gabten Wesens an die blosse boshafte Laune. Diese dumpfe
Resignation der Verzweiflung, bei der das hellenische Bewusst-
sein im letzten Stadium ankommen musste, ist es denn auch,
die nach den gewaltigen Erschütterungen des Unheils, eine ge-
wisse Beruhigung wieder herstellt, aber freilich, wie bereits
gesagt, nur die Euhe des Kirchhofs, die Fügung ins Unver-
meidliche, nicht jene Befriedigung, welche das Gemüth aus dem
Staube der Endlichkeit erhebt zur Anschauung des Ewigen,
Hier liegt auch der Schlüssel zur Lösung des Conflikts in
der Antigone. Sie ist ebenfalls eine Schicksalstragödie. Böckh
leugnet dies zwar, indem er behauptet, dass das Schicksal hier
eine sehr untergeordnete Rolle spiele und Niemand darin die
Einheit des Stückes suchen könne, und dass mit der Brüder
Wechselmord das Labdakidenschicksal und des Vaters Fluch
getilgt sei. — Aber Aver sagt dies Böckh? Antigone ist ein
Sprössling des Geschlechts und also, wie alle ihre Verwandten,
noch immer unter dem Einfluss des alten Fluches, auch hat sie
die^ Bewusstsein und spricht es deutlich aus:
O fluchvoll gräulich Ehebett,
Die Mutter dem eigenen Sohne,
Meinem Vater, gesellt, der Unseligen,
Von welchen ich entspross, die Unglücklichen,
Zu welchen eh'los, Fluches voll ich mich hinübersiedele.
Es ist das Verhängniss ihres Geschlechtes, welches ihr den
unbeerdigten Bruder in den Weg warf und sie so in den
Widerspruch mit Kreon hineintrieb, der ihr das Leben kostet.
% Während Antigone vom Leben scheidet, vernimmt man den
ehernen Tritt des Schicksals.
Es möchte hier am Platze sein, mit einigen Worten eine
Frage zu berühren, welche seit Jahrzehnden unseren ästhetischen
Kritikern viel zu schaffen gemacht, ich meine die neuere Schick-
salstragödie. Jedermann von geläutertem Geschmack hat sie
verurtheilt und sie verdient es. Sie ist ein Anachronismus und
Antigene und Polyeucte. 45
begeht den Irrthum, füi- ihre Wirkung auf einen Bewusstseins-
zustand zu spekuliren, der gänzlicli überwunden hinter uns liegt.
Wie der ahen Tragödie das Schicksal unentbehrlich Avar, so
muss es die neuere aufs entschiedenste zurückweisen. An die
Stelle des blinden Fatums haben wir eine sittlich vernünftige
Weltordnung gesetzt, in welcher wir allein Befriedigung finden.
So ist es denn auch gekommen, dass, während wir das Schick-
sal der Alten als die übermächtige, zermalmende Gewalt empfan-
den, das der Neueren ein Popanz, um kleine Kinder zu er-
schrecken, unfähig, eine poetische Eührung hervorzubringen.
Hoffentlich wird die Ahnfrau nun bei ihren Vätern ruhen und
alle die übrigen uno;eheuerlichen Produkte von der Bühne fern
bleiben. Ich muss mir hier versagen, die im Laufe der Be-
trachtung gefundenen Gedanken in ihren Consequenzen weiter
zu verfolgen und namentlich jenes sittliche Bewusstsein des
Alterthums gegenüber dem christlichen in seinen einzelnen Ent-
faltungen zu entwickeln. Wir haben, geleitet von einer jener
Offenbarungen des Volksgeistes, einen Blick in das innere Leben
der alten Hellenen gethan und haben gefunden, dass für sie das
Schiller'sche „Herb ist des Lebens innerster Kern" seine Wahr-
heit hat. Wir haben uns von Jugend auf gewöhnt, aus dem
Alterthum unsere Ideale zu holen, wir haben die heitere Kunst,
die gesunde, dem Realen zugewendete Lebensrichtung, die
Xaturfrische ihrer Anschauungen zu bew'undern Gelegenheit ge-
habt. Unter dem lachenden Himmel von Hellas sahen wir jede
schöne Geistesblüthe reifen. Hier erblicken wir die Kehrseite.
Unter dem vielgestaltigen, beweglichen Treiben brütet die unbe-
friedigte, trostlose Sehnsucht das mit seinem innersten Wesen
entzweite Bewusstsein. Es fühlt sich in seiner Unfreiheit, um
sich und über sich sieht es die Willkür und Laune an der Stelle
einer ew-igen Vernunft, es versenkt sich in dumpfe Resignation,
harrend des Tages des Erlösung. Ganz übereinstimmend hier-
mit sind die Worte Böckh's, die er am Schluss seiner Staats-
haushaltung der Athener spricht und die auch für uns den
Schluss machen mögen. „Rechnet man die grossen Geister ab,
die in der Tiefe ihres Gemüths eine Welt einschliessend, sich
selbst genug waren, so ei'kennt man, dass die Menge der Liebe
und des Trostes entbehrt, welche eine reinere Religion in die
46 Antigone und Polyeucte.
Herzen der Menschen gegossen hat. Die Hellenen waren in
dem Glänze ihrer Kunst und der Blüthe ihrer Freiheit un-
glücklicher als die Meisten glaviben und der Baum musste um-
gehauen werden, als er faul geworden." —
Dessau. Dr. Weiss.
lieber den
provenzalisclien Dichter Goudouli
nebst
üebersetzungsproben seiner Gedichte.
Peter Goudouli, wie er provenzalisch, oder Godolin, wie er
französisch meistens genannt wird, ward zu Toulouse 1579 ge-
boren und Avar der Sohn eines Wundarztes. Kr besuchte die
Jesuitenschule seiner Vaterstadt und machte gute Fortschritte
in den AVissenschaften, besonders in der Geschichte und My-
thologie, und in dem lateinischen Schriftenthum , wie sich diess
auch aus seinen Schriften ergibt, sowohl den dichterischen, wie
aus einer Abhandlung in Prosa zur Erklärung seiner Gedichte.
Er befliss sich der Rechtskunde und liess sich als Anwalt in
das Parlament aufnehmen, zog sich aber bald zurück, und wid-
mete sich der Dichtkunst, und zwar gleich im Beginn mit un-
gemeinem Glücke. Er machte nämlich noch als Jüngling die
Bekanntschaft des Grafen Carmaing, eines reichen Gutsbesitzers
in der Umgegend von Toulon, in welcher Stadt er wohnte,
wurde von diesem Gönner der Wissenschaft und Kunst und
ihrer Verehrer ausgezeichnet und blieb mit ihm fortwährend ver-
bunden. Als der Graf auf Richelieus Befehl die Bastille be-
ziehen musste, erheiterten ihn Godolins Dichtungen, die er dort
dem Herrn von Bassompierre vorzulesen und zu erklären pflegte.
Auch Herr von Mommorenci war sein Beschützer. Dieser
brachte die Fastenzeit gewöhnlich zu Toulouse zu, und liess es
nicht an einer prächtigen Hofhaltung fehlen. Für die Ballette,
welche er dort aufführen liess, musste Godolin Zwischenreden
in Prosa machen, und sie nach damaliger Sitte verlarvt vor-
48 Uebe? den pr ovenzalischen Dichter Goudouli
tragen. Godolin benahm sich dabei mit so viel Geschick und
Anmut, dass ihm bei diesen Festen der meiste Beifall gespendet
ward; denn er verstand es, mit Feinheit zu belustigen, ohne
doch ein blosser Spassmacher zu sein, wie er denn auch die
Freigebigkeit seiner Gönner so wenig in Anspruch nahm , dass
er arm blieb und nur eine kleine Besitzung von zwei Morgen
Landes hatte, welche er aber späterhin auch theilweise zu ver-
kaufen gezwungen war. Als er nichts mehr davon übrig hatte
als Haus und Garten, schrieb er mit grossen Buchstaben an
die Thür: „Meierhof zu verkaufen mit zwei Paaren" (Vendre
une metairie de deux paires) und darunter mit kleinerer Schrift:
„von Hühnern (de poulets)." Nach dem Tode seiner Gönner
hätte er hungern müssen , wenn ihm nicht der hohe Rath von
Toulouse zu Hülfe gekommen wäre und ihm einen Jahrgehalt
von 300 Livres verliehen hätte, der ihm bis an seinen Tod aus-
gezahlt wurde. Dieser Beschluss ist wol ein hinreichender Be-
weis der allgemeinen hohen Achtung, in welcher er stand; denn
diese Stadt hat, so viel man weiss, nichts Aehnliches für irgend
einen ihrer Dichter oder Philosophen gethan. Den !Namen des
Philosophen verdient Godolin übrigens vielleicht eben so sehr
Avie den des Dichters. Er besass mindestens die Weisheit des
Aristipp, der dem veredelten Genüsse huldigte; seine Sittlichkeit
und seine Sitten waren fleckenlos, und man weiss nichts an ihm
auszusetzen als etwa Vorliebe für die Freuden der Mahlzeit,
wiewol er auch diese nie im Uebermaass genoss, und sie mehr
wegen der geistigen Unterhaltung mit seinen Tischgenossen
schätzte. Die Gabe der Dichtkunst blieb ihm bis an sein Ende
getreu ; wenn er aber früherhin mehr im Geiste des Pindar, Anakreon
und Horaz gedichtet hatte, wandte er sich im Alter der heiligen
Dichtkunst zu. Er starb am 10. September 1649, etwa 70 Jahre
alt. Einige Tage vor seinem Tode begegnete ihm einer seiner
Freunde und fragte ihn, wie er sich befinde. „Sie sehen es, —
antwortete er, indem er mit seinem Stock auf den Boden stiess,
- — ich klopfe an, damit man mir öffne." Er war von mittlerer
Grösse , etwas beleibt , und hatte kastanienbraune Haare und
tiefrothe Gesichtsfarbe. Der hohe Rath von Toulouse stellte
seine von Maynard gefertigte Büste im Sitzungsaale auf mit
folgenden lateinischen Distichen:
nebst Uebersetzungsproben seiner Gedichte. 49
Musarum, Godoline, decus, sie ora ferebas,
Lirida cum caneres, Berteriumque nemiis.
Mon meliora tuis tentabit carmina Apollo,
Tectosagum grato cum volet ore loqui,
(Also warst du zu schaun, Godolin, du die Ehre der Musen,
Als du die Liris besangst und den Barterischen Hain.
Bessere Lieder als du wird nie anstimmen Apollo,
Hebt zum Gesang er die Stimm' in dem toulousischen Laut.)
Seine Gedichte nennt er Blumen des toulousischen Strausses,
fleurs du bouquet toulousain, und sie bestehen aus vier Samm-
lungen. Es gibt mehrere Ausgaben derselben, z. B.: Las poue-
sios de Pierre Goudouli etc. A Toulouse, 1831. — Oeuvres
complettes de Pierre Godolin avec traduction en regard, notes
historiques et lit^raires, par M. M. J. M. Cayla et Cl^obule
Paul. Toulouse, 1843.
Unter seinen ernsten Gedichten zeichnet sich das auf die
Ermordung des Königs Heinrich IV. vor allen aus, welche diese
Gräuelthat hervorrief, so dass sie wol ein unübertreffliches
Meisterwerk genannt ist. Ich theile sie daher in Uebersetzung
mit nebst einigen seiner kleineren Gedichte.
Dem glorreichen Andenken Heinrichs des Grossen,
des unüberwindlichen Königs von Frankreich und Navarra.
Ihr feinen Hirten, die in Haines Schattenhülle
Ihr euch zu lindern wisst der Sonne glühnden Schein,
Indess zum Liebesgruss die Schaar der Vögelein
Aus zarter Kehle strömt der Lieder süsse Fülle,
Ihr Flüsschen, die ihr euch ergiesst in Silborwellen,
Ihr Wiesen, die das Aug' ihr zauberisch entzückt.
Wenn euch mit jungem Grün der holde Lenz beglückt,
Tolosa's Nymphe weint, hört ihre Klagen quellen!
Als dunkler Wolkenschwall den ganzen Himmel schwärzte,
Der meinem schönen Stern auch seine Klarheit stahl,
Als uns der grause Tod mit seinem scharfen Stahl
Im Buche der Natur den grossen Heinrich märzte:
Archiv f. a. S|.raclitn. XXVU. 4
Ueber den provenzalischen Dichter Goudouli
Da ward von Schmerzes Dorn die Seele mir zerrissen,
Im Felsthal barg ich mich dem goldnen Sonnenglanz,
Erkrankt war Seel' und Leib, verweint das Auge ganz,
Die schöne Blume musst' itzt Frankreichs Garten missen,
Obwohl ich die Schalmei zu l)lasen heute kehre;
Dem Vielbeweinten sei ein Loblied angestimmt,
Das seinen Wiederhall zum biedern Ludwig nimmt,
Dem edlen Stamm entspringt ja auch die edle Beere.
Dass nur das Ohr uns nicht hinfort bet<äubt mehr werde
Von Cäsar und von dem, der an der Ferse starb!
Mit mehr als irgend sonst ein Fürst des Ruhms erwarb,
Hat Heinrich wundersam erfüllt die ganze Erde.
Die Fürsten, die geschmückt mit grünem Lorbeerkranze,
In Gold gefasseten Rubinen gleicht die Schaar;
Doch unser Heinrich, Herz und Arm zugleich, er war
Der Diamant, der sich beschien mit seinem Glänze.
Die Erde zitterte vor seinem Heergewimmel,
Als höchster Herr ward er einstimmig anerkannt.
Seht, wie erhöht sein Bild im Ehrentempel stand!
Denn reich austattet' ihn mit Tugenden der Himmel.
Ob Fried' erblüht', ob Lärm erscholl der Kriegesheere,
Die Gut' und Kraft, der Glaub' und die Gerechtigkeit,
Und was der Himmel sonst verleiht als Seltenheit,
Strömt' in sein Herz gleichwie die Flüsse zu dem Meere.
Sobald der Königsreif um seine Stirn sich schränkte:
In Lethe's Flut versank sogleich der Schrecken tief.
Der Friede kam und brach ein Zweiglein der Oliv',
Auf dass als Propfreis er's in Ares' Lorbeer senkte.
Der Schatz von Tugenden, der sich in ihm bewährte,
Jedwedes Herz erkauft' und Neigung er für ihn.
Indem sein Körper auch ein Musterbild erschien
Im Lichte seines Geists, den edle Weisheit klärte.
Er war's, der für die Wag' ein recht Gewicht erwählte,
Wenn die Vernunft zu ihm mit Klag' ob Kränkung kam ;
Er war's, der bei der Stirn des Glückes Göttin nahm,
Und sie dem Herrscherstab des Frankenreichs vermählte.
nebst Uebersetzungsproben seiner Gedichte. 51
Wo Stöss' und Schlag' es gab, sah man ihn unverdrossen,
Ein Donner war sein Arm, auch unbewehrt vom Stahl,
Ein Donner, veelchem folgt' ein blut'ger Blitzesstrahl,
Und der die Köpf umflog mit einer Flut von Schlössen.
Wol sah er eine Welt blutgierger Feind' in Waffen,
Um abzukämpfen ihm, was ihm zukam mit Fug,
Jedoch ein Atlas war er, welcher Alles trug.
Ein Herkules, die Feind' all' aus der Welt zu schaffen.
Gleichwie im Wald ein Schreck die Hindin wird erfassen,
Sobald des Hifthorns Schall ihr in die Ohren schwirrt.
Bei Heinrichs Namen ward also der Feind verwirrt,
Er flöh von Furcht entseelt, von Mute ganz verlassen.
Der Eine fühlte schon, wie ihn dass Schwert verletzte.
Wie dicke Tropfen Bluts entlockt der scharfe Schlag,
Der Andre, wie er schon betäubt am Boden lag,
Indem den armen Leib das Eisen ihm zerfetzte.
So in der Lämmer Schaar sieht man den Löwen hausen.
Wenn mit den Hunden auch der Schäfer ihn umringt,
Wie, Glut im Aug', er wetzt den Zahn, den Schweif er schwingt
Seht fassen ihn die Beut', und morden und zerzausen!
Wer da just plünderte, der war fürwahr zu preisen.
Und wer, gesenkt die Waff', und alles Kampfes baar;
Da halfen Hände nicht, half nur der Füsse Paar,
Als Briareus nicht, nur als Hirsch sich zu erweisen.
Drum hat kein König je erblickt so grosse Haufen
Bewaffneter den Streich des grimmen Tods empfahn,
Auch sähe Charon nie zu seinem schwarzen Kahn
So ungeheure Zahl entfleischter Geister laufen.
Drum Bär du, Tiger du vielmehr, du standst im Solde
Traun der Erinnyen, der wilden allzumal,
Als gegen den die Hand du mit verruchtem Stahl
Erhobst, der unsre Zeit umgab mit reinem Golde.
Wer war's, der dir den Arm mit solchem Frevel spannte,
Dass dir des Stosses Graus die Sehne nicht verzehrt?
Der Dämon traun der Nacht, dem es zu lang' gewährt,
Bis er zum Erdenschlund die Sonne Frankreichs sandte.
4*
Ueber den provenzaliscben Dichter Goudouli
Durch allgemeinen Krieg des Friedens sanfte Miene
Zu trüben, diesem Ziel zustrebte deine Gier,
Doch deine Wut und Glut nichts fruchtete sie dir,
Durch Gott ward ein Neptun aus unserem Delphine.
Der Frevler sterbe denn, er, dessen Faust, die grause,
Umwarf in Asch' und Staub der Tugend Hochaltar!
Denn wahrlich er ist noch ein wilderer Barbar
Als der ein Freudenfeur macht' aus Diana's Hause.
Des Lichtes Flamm' erlosch; es brach, das seines Gleichen
Nicht hatte, das der Welt unschätzbare Geräth,
Da, wie es gut ihm däucht, des Todes Sichel mäht,
Ins Grab versenkend gleich dem Armen auch den Reichen.
Die Welt ist gleich dem Meer, das Segel unsers Mastes
Erfasst so Nachts wie Tags der Sturm der Fährlichkeit,
Nur unserm König fehlt nichts an Vollkommenheit,
Die Sterne tritt der Fuss des selgen Himmelsgastes.
An den Herrn ersten Präsidenten,
Kanzler der Blumenspiele,
und an die Herren Richter und Beisitzer.
Kleine Begrüssung.
Heut, wo der holde Mai erglänzt,
Mit Blumen mehr als je bekränzt.
Wo Berg und Thal und Wies' und Feld
Ein neu hellgrün Gewand erhält.
Wo grossen Augs die Sonn' eiblickt
Air Holdes, das mit Gunst ihr nickt.
Dringt in das Herz die Freud' auch mir.
Zumal der Blumen schauend vier.
Mit Schmelz und Gold und Silbers Licht
Bekümmert Hitz' und Frost sie nicht.
Doch, Blumen, hallet's hoch und werth, .
Dass euch der grosse Berlhier ehrt.
Sein Nam' ist vollen Rechts geweiht
Der Ehre der Unsterblichkeit.
Und Herrn ihr, er, durch den Toulouse
Die Wohnung ist der heitern Muse,
Und der alljährlich feiern lässt
Ein wundersames Blumenfest,
nebst Ueberse tzungsproben seiner Gedichte, 53
Ihr, die ihr leert mit voller Tasse
Die drei Hahn' am Parnassusfasse,
Gewährt den kleinsten mir der Züge,
Damit ich besser euch vergnüge.
Nachdem ein Blümchen ich als Gabe
Für meine Müh' erhalten habe.
Im Rathhause.
Indess der Liebesgott das Nest anweist zu weben
Dem Nachtigallenpaar, wo es in Zweigen ruht,
Und dann das Männchen sucht in Hoffnung junger Brut
Mit Kuss und Zärtlichkeit das Weibchen zu umgeben ;
Indess sich auf der Au die Pimpernellen heben,
Und junger Hirten Schaar einflössen frischen Mut,
Wann sie die Lämmer führt zur allgemeinen Hut:
Ein neu Empfängniss fühl' ich da auch mich beleben.
Allhier, wo Anmut strahlt, wo duftet jede Trift,
Eines Sonetts Hebamm' itzt wird da dessen Ohr,
Der mich vernimmt, denn leis und heimlich schleicht's hei-vor.
0 hoher Herr, für den wohl hundert Sänger glühen,
Hoch wird und überhoch belohnt mein schwach Bemühen,
Wenn günstig euer Blick Kind sowie Mutter trifft.
Sonett.
Ihr, deren Angesicht der Himmel, will er krönen
Sein mächtiges Gewand mit Lichtglanz, euch entleiht,
Ihr schönen Fraun, die ihr so wunderfröhlich seid,
Dass Niemand wagt, den Pfeil des Amor zu verhöhnen,
Liris und Guigoulet, des Dorfes schönste Schönen,
Sie wünschen, dass ihr euch wie sie dem Feste weiht.
Zu welchem die Schalmei und Pfeife schon jiichheit
Mit ihren munteren und mutverleihnden Tönen.
Weist uns, nur Hirten zwar, nicht ab, kommt, kommt herbei!
Lasst uns, die Diener, Theil an unsrem Scherz euch geben,
Und tanzt und springt umher auf Gras und Klee daliie !
Geschäftsdecember wird bei uns es nun und nie,
Denn Heiterkeit macht uns das ganze Jahr zum Mai,
Ist ganz von Freud' und Lust erfüllt doch unser Leben.
1 Ueber den provenzallschen Dichter Goudouli etc.
Weihnachten, zu Ehren der helligen Jungfrau.
"Wir sammeln uns, o Hirtenschaar,
Und bringen unsern Gruss sammt Flehen,
Sowie es ehedem geschehen.
Der Königin der Engel dar.
Nie wird sich unser Angedenken
An Sie in öde Nacht versenken,
Und bis der letzte Hauch entflieht,
Klingt unser Weihnachtsfeierlied.
Erzengel Gabriel begann:
„0 Jungfrau, Du gebenedeite,
Du bist die von dem Herrn geweihte,
Die Mutter seines Sohns fortan.
Nie wird etc.
Maria drauf demütiglich.
Von Freude, wie von Reiz umflossen :
„So thue Gott, was er beschlossen:
Denn seinem Wort bequem ich mich."
Nie wird etc.
Da trieb sofort der heiige Geist
Sein Werk in ihrem Innern Wesen.
Wie Jungfrau sie bisher gewesen,
Sie auch hinfüro sich beweist.
Nie wird etc.
Ein grosses Wunderding geschah,
Nicht menschlichem Verstand zu fassen;
Denn ohn' ihr Mädchenthum zu lassen,
* Gebar ein schönes Kind sie da.
Nie wird etc.
So stimmt, ihr Hirten, stimmet ein!
Zur Jungfrau lasst uns bittend gehen,
Gott Sohn und Vater anzuflehen,
Das Paradies uns zu verleihn.
Nie wird sich unser Angedenken
An sie in öde Nacht versenken.
Und bis der letzte Hauch entflieht,
Klingt unser Weihnachtsfeierlied.
Berlin. K. L. Kannegies ser.
lieber
Ben Jonson's Maskenspiele.
Auf dem Gebiete der Poesie finden sich allerlei Produc-
tionen, welche zu sehr den Charakter von Gelegenheitsgedichten
an sich tragen, um als Kunstwerke im höchsten Sinne des
Wortes gelten zu dürfen , während wir uns doch wiederum
kaum für berechtigt halten, sie bloss der feinen geselligen Un-
terhaltung zuzuweisen oder als Spielereien der Liebhaberei bei
Seite zu schieben. Sie lassen sich mit einem Bau wie der Kry-
stallpalast zu Sydenham insofern vergleichen, als dieser, ohne
Anspruch auf streng abgemessne architektonische Schönheit,
den Zweck, welchem er seinen Ursprung zu danken hat, in
seiner ganzen Anlage offenbart; dennoch ist der Anblick köst-
lich, ja zauberhaft, das durchsichtige Gehäuse selbst gleicht den
Schlössern der Feenmährchen, und es birgt in sich zu gleicher
Zeit die mannigfaltigsten Erzeugnisse der Industrie, die herr-
lichsten Kunstschätze und den Tribut, welchen die Xatur aus
fernen Zonen gesandt hat. Ja selbst die Tonkunst wird dienst-
bar gemacht, um den Eindruck des Ganzen auf unsre Sinne
zu steigern. Etwas ganz Aehnliches lässt sich von den eng-
lischen Maskenspielen (Masques) sagen. Im Vergleich mit echten
Dramen erscheinen sie zweifelhafter Abstammung und verhehlen
nur allzuwenig, dass sie durch zufällige Lustbarkeiten, beson-
ders am Hofe, in's Leben getreten sind. Ihr Wesen bleibt zwit-
terhaft, weil der Dichter nicht bestrebt gewesen ist, den Stoff
in völlig freier und idealer Weise durch die Kunstform zu binden.
Es manjirclt ihnen fast durcho-ehcnds an einer genauen Glic-
56 Ben Jonson's Maskenspiele.
derung, die Theile fügen sich ohne innern und nothwendigen
Zusammenhang lose an einander, und von Charakterzeichnung
ist kaum die Rede, oder sie beschränkt sich auf allgemeine und
flüchtig angedeutete Züge. Dennoch lassen wir uns geneigt
finden, dem leichten Spiel der Grazie im Einzelnen zu Gefallen
den flüchtigen Entwurf des Ganzen zu übersehen, und in An-
betracht des phantastischen Charakters, welcher zu so arabes-
kenartigen Skizzen nothwendig zu gehören scheint, die Forde-
rungen der Kunstkritik herabzustimmen. Alle Künste, welche
frohen Lebensgenuss zu erhöhen vermögen, unterstützen den
Dichter, freilich in einer künstlichen Vereinigung, nicht wie in
den scenischen Dichtungen der Griechen als Abzweigungen vom
heitern, sinnlichen Cultus. Obgleich jene Werke nicht sowohl
den frei aus ihrem heimischen Boden entsprossenen Blumen,
als vielmehr den exotischen Zierpflanzen gleichen, welche man
in dem so eben erwähnten Glaspalaste künstlich pflegt, so hat
doch auch hier, gerade wie in der Blumenzucht, sinnreiches
Geschick die einfachen Blüten zu einem bunten Naturspiel zu
steigern gewusst.
Die englischen Maskenspiele als eine eigne, wenn gleich sehr
untergeordnete, dramatische Kunstgattung, oder, wenn man will,
als Zwitterform zwischen Gesellschaftsspiel und Komödie, knü-
pfen sich hauptsächlich an den Namen Ben Jonson's an. Zu
ihrer Charakteristik ist es nöthig, zuvor die Masqueraden im
englischen Mittelalter, die sogenannten pageants, und die ver-
schiedenen mit dem Worte entertainment bezeichneten öffent-
lichen Belustigungen in Betracht zu ziehen.
Was zunächst das Wort Maske (mask, masque) betrifft,
so ist es von Grimm (D. Myth. p. 1036) auf das mittellatei-
nische masca, die Hexe, zurückgeführt, von Andern mit dem
Ahd. mäsa (Fleck), masca (Netz) und dem Nhd. Masche (Engl,
mesh, gewöhnlich im plur. , vgl. to meash , to mesh = to en-
tangle) in Verbindung gesetzt worden. Diez, Wörterb. der Rom.
Sprachen, S. 219 AT. Vielleicht enthält das von dem Letztern
angeführte Ags. Wort mäscre die beiden Bedeutungen Fleck
und Masche wie das lateinische macula. Auch scheint es mir
nicht unwahrscheinlich, dass sich in dem Worte Maske selbst
Avirklich zwei verschiedene Fäden zu einer Masche verknüpft
Ben Jonson's Maskenspiele. 57
haben. Die Ableitung vom deutschen Worte, welcher Diez in
rein etymologischer Hinsicht den Vorzug einräumt, obgleich er
die andre ihrer Bedeutung wegen für besser erklärt, findet noch
mehr als durch die von ihm citirten Worte des Plinius, H. N.
XII, 32 (14 ist ein Druckfehler), persona adjicitur capiti , den-
susve reticulus, eine Bestätigung in der weitläuftigen Para-
phrase seines Uebersetzers Holland (c. 1600): „Hoodwinked
he (the workraann) is sure ynough for seeing the way too and
fro, and hath a thicke coife or mask about his he ad,
for doubt that he should bestow any (frankincense) in mouth or
eares. Richardson, Engl. Dict. v. mask. Unter den von Ri-
chardson angeführten Stellen ist die älteste Lydgate's Story of
Thebes entnommen; doch wird das Wort darin figürlich ge-
braucht, muss also schon gäng und gäbe gewesen sein. Bei Chaucer
scheint es, wenigstens in den Canterbury Tales, noch nicht vor-
zukommen, so wie ihm auch das von Gower gebrauchte viser
(visiere, später visure, visour, visor, vizor, vizard) fremd sein
dürfte. Dies blieb lange Zeit der gewöhnliche Ausdruck für
Maske, es ist in mehreren Stellen Edw. Hall's und Ben Jonson's*)
wie auch bekanntlich von Shakspere dafür gebraucht und häufig
von Dichtern und Prosaikern in figürlicher Bedeutung ange-
wandt. Milt. Com. 698 vizored falsehood. Vgl. die Stellen aus
Gower's Conf. Am. bei Rieh, h. v.
Von den eigentlichen Maskeraden, welche etwa ein Jahr-
hundert nach Chaucer und Lydgate aufkamen, müssen die schon
früher üblichen Mummereien wohl unterschieden Averden. Doch
scheint sich für das Wort mumming keine Autorität zu finden
vor Fabyan (stirbt wahrscheinlich 1512) ; die Inteijection mum und
das entsprechende Substantiv sind _davon zu trennen. In Brand's
Populär Antiquities of Great Britain Vol. I. p. 463, Bohn's
*) Vgl. Lord Bacon's essay on niasks and triumphs, in dem vizard die
Maske, mask das Maskenspiel bezeichnet, wie gewöhnlich bei Ben Jonson.
Shakspere gebraucht Romeo and Jul. I, 1 s. f. und Mcas. for Meas. II, 4
das Wort mask von den schwarzen Masken, welche Damen zu tragen pfleg-
ten, wahrend er sich sonst des Ausdrucks vizor bedient, so z. B. Romeo and
Jul. I, 5. Man vergleiche noch Ben Jonson, The Masque of Queens, in. —
where sometimes also they (the witches) are vizarded and masked (maskirt
und verkleidet).
58 Ben Jonson's Maskenspiele.
ed., ist eine Stelle aus Stow's berühmtem Werke „Survey of
London" (p. 97, ed. 1603) abgedruckt, worin ein von den Lon-
donern Bürgern, im Jahre 1377, zu Pferde und beim Scheine
von Fackeln, mit allerlei Vermummungen veranstalteter Aufzug
beschrieben wird. Einige stellten Ritter mit ihren Knappen vor,
Andre den Papst und das Cardinalcollegium , wieder Andre die
Gesandten fremder Fürsten. Sie trugen sämmtlich Masken,
zogen nach Kennington und spielten dort in der Halle mit Prinz
Richard, dem Sohne des schwarzen Prinzen, welchem zu Ehren
die Festlichkeit veranstaltet war, so wie mit den Herrn vom
Hofe allerlei Würfelspiele, worauf ein Tanz der Lords mit den
maskirten Bürgern folgte. Eine ganz ähnliche Vermummung,
heisst es in derselben Stelle, wurde von 12 Aldermen von London
und deren Söhnen zu Ehren König Heinrich's IV. veranstaltet,
als dieser im zweiten Jahre seiner Regierung das Weihnachts-
fest feierte. Dergleichen war auch bei Krönungsprocessionen
gebräuchlich ; ein recht anschauliches Bild gewährte vor einigen
Jahren die Darstellung einer solchen, die auf dem Princess's
Theatre unter Kean's Leitung in Shakspere's Richard IL ein-
gelegt zu werden pflegte, mit genauer Beobachtung des Kostüms
und alles Zubehörs — so trat in hergebrachter Weise ein Mann
in der Gestalt eines Bären auf. Besonders üblich waren ferner
Vermummungen um Weihnachten; sie bestanden theils aus un-
regelmässigen, improvisirten Verkleidungen, theils standen sie
mit dem komischen Hofstaate des Lord of Misrule, or Master
of merry Disports (Rex Fabarum) in Verbindung und entspra-
chen der römischen Festtracht an den Saturnalien (synthesis
nebst pileus) gerade so wie jener Narrenkönig dem in Rom wäh-
rend des genannten Festes erwählten Scheinfürsten. Das Nähere
über die beim Weihnachtsfeste des Merry Old England her-
kömmlichen Trachten ersehen wir aus Ben Jonson's'^'Masque of
Christmas, vom Jahre 1616. Christmas, old Christmas, Christ-
mas of London, captain Christmas ist ein ählicher Mann mit
langem, dünnem Bart ; sein Kopf wird von einem hohen Hut be-
deckt, in der Hand führt er einen Stab (truncheon) und seine
Kleidung besteht aus einem engen Wamms, Pluderhosen und
langen Strümpfen oder Tricots mit kreuzweis gebundenen Strumpf-
bändern ä la Malvolio. Ein Par Trabanten gehen ihm zur Seite,
Ben Jonson's Maskenspiele. 59
und vor ihm her wird eine Trommel gerührt. Seine zehn Kinder,
Söhne und Töchter, führt Cupido (Robin Cupid) herein, in
der Tracht eines LehrUngs, aber mit Fitticlien an den Schultern.
Es folgt der Zechbruder Misrule mit einem Zweige auf der
Sammetmütze, in kurzem Mantel und grosser gelber Halskrause ;
sein Fackelträger hält Strick, Käse und Korb, die gleich dar-
auf im Gesänge des Christmas wieder vorkommenden, jedoch
nicht weiter erklärten und von Brand in seinem ausführlichen
Artikel über den Lord of Misrule (Pop. Ant. Vol. I. p. 497 —
505) gar nicht berührten Embleme des lustigen Fürsten. Dann
kommen, gleichfalls eigenthümlich kostümirt, Christmas Ca-
rol, Minced Pie, Gambol, das alte Kartenspiel Post und Pair,
New Year's Gift, Mumming in scheckigem Kleide und mit
einer Maske (vizard), der Fackelträger des letztern schüttelt die
Würfel im Becher. Endlich schliessen sich ihnen noch an Wassel,
OfFering und Baby-cake, als kleiner Junge in langem Kleide,
mit Kindermütze und Geiferlätzchen, bewaffnet mit einem höl-
zernen Dolche; ein Begleiter trägt den Bohnenkuchen. Die Dar-
stellung des personificirten Christmas ist bis auf den heutigen
Tag bei englischen Dichtern und Komanschreibern im Wesent-
lichen dieselbe geblieben Avie die Ben Jonson's ; auch haben die
Engländer überhaupt an den meisten der so eben aufgezählten
Einzelheiten ganz conservativ festgehalten. Eins vermisst man
unter den Sinnbildern, den schon im lustigen Altengland wohl-
bekannten, noch aus dem Heidenthum stammenden Mistelzweig;
anderes Laubwerk jedoch, nur nicht die gleichfalls dem Weih-
nachtsfest angehörende Stechpalme (holly), dient zum Schmuck
oder zur Bezeichnung der maskirten Charaktere.
Von anderweitigen Mummereien erwähnen wir -nur einen
Tanz von Männern und Frauen, welcher in einem der Bodle-
janischen Bibliothek angehörigen Manuskripte des Roman dAle-
xandre auf dem Rande dargestellt ist. Brand, 1. c. Vol. IL, p.
388. Die Männer sind verkleidet und maskirt; der eine hat
einen Hirschkopf, der zweite den eines Wolfs , der dritte eines
Bären, also wie das Gefolge des Comus im ]Milton'schen Stücke.
Der Tanz maskirter Männer mit Frauen deutet auf die sogleich
zu beschreibenden, eigentlichen Masqueraden hin.
In der von Edward Hall verfissten und von ihm selbst
60 Ben Jonson's Maskenspiele.
nur bis zum Jahre 1532 geführten Chronik*) heisst es: „On
the daie of the epiphaine, at night (AD. 1512 — 13), the king
(Henry VIII.) with eleven others were disguised after the
manner of Italie, called a maske, a thing not seen
afore in England: thei were appareled in garmentes long
and brode, wrought all with golde, with visers and cappes of
golde ; and after the banket doen , these maskers came in with
the six gentlemen disguised in silke, beryng stafTe torches, and
desired the ladies to daunce: some were content; and some
that kneAV the fashion of it refused, because it was nota
thing commonly seen: and after thei daunced and
commoned together, as the fashion of the maskes is,
thei toke their leave and departed, and so did the quene and
all the ladies." Penny Cyclop. Art. Masquerade, Vol. XIV.,
p. 183. Die hier beschriebene Masquerade (maske) wird als
etwas aus Italien Stammendes, in England bisher Unbekanntes
bezeichnet, und der Unterschied von den früher geschilderten
Mummereien darin gesetzt, dass diemaskirten Herrn mit den Da-
men tanzten und dass die ganze Gesellschaft an der Unterhaltung
Theil nahm ; während früher keineswegs hohe Herrschaften selbst,
sondern Andre zu ihrer Erlustigung in Verkleidung, und zum
Theil mit Masken erschienen. Eine Masquerade grade 'wie die
von Hall bezeichnete, von Herrn allein aufgeführte, hat Shak-
spere in Heinrich VIII, (Akt I. zu Ende) auf die Bühne gebracht.
Es fehlen hier keineswegs die Fackelträger, denen wir schon so
eben in der Schilderung Hall's, so wie in der Masque of Christ-
mas begegnet sind und in andern Ben Jonson'schen Masken-
spielen begegnen werden. Auch in diesem Punkte fand Ueber-
einstimmung mit einem Gebrauche an den Saturnalien statt; ich
meine die von alten Schriftstellern oft erwähnten Kerzen (cerei),
die moccoli der Italiäner.
Wir müssen nun einen Blick auf die sogenannten pageants
werfen, die Ebert in dem Aufsatze über die englischen Myste-
rien (Jahrbuch für Romanische und Englische Lit. I., p. 70)
*) Gewöhnlich citirt Hall's Chronicle, der vollständige Titel lautet: The
Union of the two noble and illustrate families of Lancaster and Yorke, ed.
princ. 1542. Hall starb im Todesjahre Heinrich's VUI.
Ben Jonson's Maskenspiele. 61
folgendermassen erklärt: „pageants im eminenten Sinne" — d.h.
in der speciellen Bedeutung des Worts — „sind jene tableau-
artigen Darstellungen, die auf besondern, mit Inschriften und
Basreliefs verzierten Gerüsten bei feierlichen Einzügen von
Fürstlichkeiten an bestimmten Punkten der Strassen, durch
welche sich der Zug bewegte, stattfanden." Damit stimmt auch
der Ausdruck Gifford's überein: „Pageants (I do not speak of
those proud displays of pasteboard giants and monsters which
amazed the good Citizens on holidays) were the reliques of
knight-errantry . " Memoirs of Ben Jouson, p. 65, new ed. Lond.
1858. . Obgleich sich gegen die Bezeichnung reliques of knight-
errantry wohl Manches erinnern lässt, so bestätigen doch die
angeführten Worte die Bedeutung von pageants als tableauar-
tigen Darstellungen, die in der äussern Einrichtung den Bildern
von Mordgeschichten auf unsern Jahrmärkten ähneln mochten.
Darstellungen, die wir zur Klasse der pageantry rechnen
müssen, wuixlen nicht bloss auf der Bühne, sondern eben so
gut bei öffentlichen Aufzügen und andern festlichen Gelegen-
heiten angewandt. Die Art derselben, welche Gifford in der
angeführten Stelle von den gewöhnlichen pageants ausschliesst,
kommt in der Beschreibung der berühmten, zu Ehren der Kö-
nigin Elisabeth auf dem Schlosse Kenilworth im Jahre 1575
veranstalteten Feierlichkeiten vor. Bei ihrer Ankunft am Sonn-
abend, dem 9. Juli jenes Jahres wurde die Königin in der
Nähe des Schlosses von einer als Sibylle verkleideten Frau
empfangen , die dem Lande während ihrer Regierung Frieden
und Glück verhiess. Oberhalb des äussern Schlossthors standen
sechs gigantische Figuren mit Trompeten (also pasteboard-giants);
wirkliche Trompeter waren dahinter verborgen und fingen zu
blasen an, als die Fürstin herankam. Diese Figuren hatten eine
allegorische Bedeutung, zu der uns glücklicherweise der Schlüssel
überliefert ist; sonst würden wir sie schwerlich errathen. Man
wollte nämlich andeuten, die Menschen seien zu Zeiten des
Königs Arthur eme Elle länger gewesen als ihre körperlich de-
generirten Nachkommen; so sollten die Zuschauer folgerichtig
auf die Pointe kommen, dass das Schloss von den Erben des
alten mythischen Helden bewohnt werde. Beim Eintritte in den
untern Schlosshof ward die Königin von einer Dame begrüsst,
62 Ben Jonson's Maskenspiele.
die als Herrin des See's (lady of the lake) in Begleitung von
zwei Wassernymphen über ein dort befindliches Bassin schritt.
Um in den innern Schlosshof zu gelangen, musste eine Brücke
passirt werden, zu deren beiden Seiten auf dem Geländer allerlei
Embleme angebracht waren, Vögel in Käfichen, als Geschenke
des Gottes Silvanus, Früchte in silbernen Schalen, die Gaben
der Pomona, Weintrauben und Fische, von Bacchus und Neptun
herrührend, zuletzt die Waffen des Kriegsgottes nebst der Leier
des Apollo. Nachdem dies Alles in einer lateinischen Rede war
erklärt worden, hub ein ausgezeichnetes Musikcorps zu spielen
an, gerade in dem Augenblicke, da die Königin vom Pferde
stieg, um sich in die für sie in Stand gesetzten Gemächer des
ersten Stockwerks zu begeben. Am Sonntag Abend wurde
sie mit Feuerwerken unterhalten, die theils in der Luft, theils
auf dem Wasser spielten. Am Montag trat ihr bei der Rück-
kehr von einer Jagdpartie der als Wilder verkleidete Dichter
George Gascoigne entgegen und ertheilte ihr allerlei hochtra-
bende Complimente in einem Dialoge, wobei ein Echo die zweite
Rolle übernahm. So ging es die ganze Woche fort; bald gab
es Musik und Tanz, bald Spiele, bald Bärenhetzen, dann wieder
theatralische und pantomimische Aufführungen, Zwischenspiele
avif dem Wasser oder Vorstellungen von Gauklern, dazu kamen
noch Wettrennen und Wettstechen. Unter den übrigen der
Königin bereiteten Vergnügungen zeichnete sich eine theatra-
lische Darstellung auf dem Wasser aus. Arion ritt auf einem
24 Fuss langen Delphin und sang unter Begleitung von sechs
nach Art des Jonas im Fischleibe versteckten Musikanten ein
Lied, welches von Einem der Anwesenden, Laneham (the dif-
fuse and most entertaining coxcomb Laneham), in den über-
schwänglichsten Ausdrücken gepriesen ist und nach Knight's
Vermuthung im Leben Shakspere's dem Dichter Veranlassung
gegeben hat zu der bekannten analogen Schilderung im Som-
mernachtstraum. Bei dieser Gelegenheit soll auch der in dem-
selben Stück benutzte, jedoch von einzelnen Kritikern, wenigstens
in Bezug auf die Festlichkeit in Kenilworth, fortgeleugnete Witz
vorgekommen sein, dass ein gewisser Harry Goldingham, da er
wohl seine Stimme für die Rolle des griechischen Sängers zu
heiser finden mochte, plötzlich zum grossen Ergötzen der Königin
Ben Jonson's Maskenspiele. 63
die Kleider abgeworfen und geschworen habe, er sei kein Arion
sondern der ehrliche Harry üoldinghain.
Noch etwas näher steht den Hofmasquen Ben Jonson's
der Plan zu einer scenischen Auffühi-ung, welche bei einem
beabsichtigten Zusammentreffen der Königin Elisabeth mit Maria
Stuart auf dem Schlosse zu Nottingham im Mal des Jahres
1562 stattfinden sollte, aber unterbleiben musste, da die Zusam-
menkunft selbst bald wieder aufgegeben wurde. ColHer hat den-
selben in seinen Analen der englischen Bühne ausführlich mit-
getheilt ; da mir dies Werk augenblicklich nicht zu Gebote steht,
so muss ich mich an den Auszug in Chambers Cycl. of Engl.
Lit. 1., p. 199 halten. Zuerst sollte die Halle ein Gefängniss
vorstellen, das uns trotz des Namens der völligen Vergessen-
heit (Extreme Oblivion) jetzt allerdings wie ein übel gewähltes
Symbol der Zukunft erscheinen muss. Der Gefängnisswärter
sollte Argus, auch Vorsicht (Circumspection) heissen, und es sollte
ein Maskenzug von Frauen in folgender Ordnung auftreten.
Zuerst Pallas, auf einem Einhorn reitend und eine Fahne in der
Hand ti'agend, auf welcher man zwei in einander gefügte Frau-
enhände mit der Inschrift Fides in goldenen Buchstaben er-
blickte. Dann zwei neben einander reitende Damen, die eine
auf einem goldnen, die andre auf einem rothen und gleich dem
erstem mit goldner Krone geschmückten Löwen; sie sollten
zwei Tugenden, und zwar jene Prudentia, diese Tempe-
rantia bedeuten. Dann sollten sechs bis acht maskirte Damen
die Zwietracht und den falschen Leumund (Di s cor d undFalse
Report) an goldnen Ketten gefangen einbringen. Und nach-
dem sie durch die Halle gezogen, sollte Pallas in Versen er-
klären, sie hätten von d^r Zusammenkunft der beiden Köni-
ginnen gehört und ihnen mitzutheilen beschlossen , dass jenen
Tugenden, der Prudentia und Temperantia, auf ihre Bitte von
Jupiter die Zwietracht und der falsche Leumund zur Bestra-
fung ausgsliefert wären, sie würden daher in das Gefängniss
der Vergessenheit geworfen und von Argus bewacht werden;
diesem sollte Prudentia ein Schloss überreichen mit der Inschrift
In Eternum, Temperantia aber einen mit Nunquam be-
zeichneten Schlüssel. Nachdem dies geschehen, sollten die eng-
lischen Damen die fremden Herrn vom Adel zum Tanz auffordern.
64 Ben Jonson's Maskenspiele.
Am zweiten Abend sieht man ein Schloss, und der Friede
wird von einem Elephanten, auf dem die Freundschaft reitet,
in einem Wagen hereingezogen. Die letztere hält eine Rede
über das am vorigen Abend Geschehene, und der Friede bleibt,
um mit Weisheit und Massigung zusammen zu wohnen. Am
dritten Abend erscheint der übermüthige Trotz (Disdain) auf
einem wilden Eber in Begleitung der vorbedachten Bosheit
(Prepensed Malice) in Gestalt einer Schlange. Sie suchen
vergeblich die Zwietracht und den falschen Leumund zu be-
freien; denn Muth und Klugheit (Courage und Discretion)
leisten ihnen Widerstand. Der übermüthige Trotz muss ent-
fliehen und die vorbedachte Bosheit wird erschlagen. Es ist die
Erklärung hinzugefügt, dass zwar einige Schlechte dem zwischen
jenen Tugenden geschlossenen Frieden Ti'otz bieten mögen, dass
aber ihre vorbedachte Bosheit leicht zu Boden getreten wird.
Ausserdem wird noch erwähnt, dass zu Ende der zweiten Abend-
unterhaltung Wein aus Röhren fliessen sollte , während eines
Maskentanzes der englischen Lords mit den schottischen Ladies,
und dass zum Beschluss der dritten Aufführung sechs oder
acht maskirte Damen ein Lied singen sollten so harmonisch als
sie nur immer vermöchten.
So wie Gascoigne von den Vergnügungen in Kenilworth,
bei denen er selbst eine Rolle spielte, eine Beschreibung ge-
liefert hat, so auch Ben Jonsou von den Darstellungen bei Ge-
legenheit der Krönung Jakob's I. Sie steht in seinen Werken
unter der Ueberschrift : Part of King James's entertain-
ment, in passing to his coronation. Es traten darin wie
in den so eben besprochenen, von der Königin Elisabeth beab-
sichtigten'scenischen Aufführungen viele den Figuren der Mo-
ralities entsprechende allegorische Charaktere und Personifica-
tionen auf, z. B. Theosophia or Divine Wisdom, Euphrosyne
or Gladness, Prothymia or Promptitude, Agrypnia or Vigilance,
Agape or Loving Affections, Omothymia or Unanimity u. dgl. m.
in stummen Rollen auftreten, ein Flamen Martialis und der
Genius Urbis zum Theil sehr lange versificirte Anreden (speeches
of gratulation) halten. Die Procession bewegte sich von
Fen Church durch Temple Bar nach dem Strand, wo zwischen
zwei 70 Fuss hohen, mit dem schottischen und englischen
Ben Jonson's Maskenspiele. 65
Stammbaum des Königs geschmückten Pyramiden ein Eegen-
bogen ausgespannt war und Sonne und Mond nebst den 7 Ple-
jaden, mit Electra als ihrer Sprecherin, hervortraten. Ueberall
waren lateinische , theils eigens hierfür coraponirte . theils
alten Dichtern entnommene Inschriften angebracht. Beiläufig
erwähne ich, dass man bei derartigen GelQgenheiten die Worte
auch auf Zettel schrieb, welche den abgebildeten Figuren aus
dem Munde hingen; dies sagt ein Erklärer Shakspere's in der
Note zu painted imagery, Eich. IL, 5, 2, in. An einem
Punkte der City stand zwischen dem Wappen des Königs und
der Stadt nfit den Inschriften „his vireas," „his vincas," auf
einem Gerüste eine Tafel mit sechs lateinischen Distichen. Ben
Jonson's Beschreibung lautet: ,.In the centre, or midst of the
pegme, there was an aback, or Square, wherein this elogy
was written etc." Die Worte sind merkwürdig, weil wahr-
scheinlich in dieser Stelle allein pegme {nr^yuu, p'egma, Theater-
gerüst, Macleane Juv. 4, 122), allerdings wie aback fabacus)
mit gelehrter Ostentation gebraucht ist. Man leitet gewöhnlich
pageant davon ab, mit Unrecht , wie ich bei einer andern Ge-
legenheit nachweisen werde. Den übrigen Theil von King
James's entertainment kann ich füghch übergehen, da das An-
gegebene genügt, um zu zeigen, was Ben Jonson schon vor-
fand, als er in seinen Maskenspielen an die Lösung einer von
Seiten des Hofs an ihn gestellten Aufgabe ging.
Ben Jonsort verfasste, so weit es uns bekannt ist, seine
erste Masque im Jahre 1605, nachdem er schon seit dem Re-
gierungsantritte Jakob's I. ein Par entertainments für den Hof
geschrieben, die sich von den eigentlichen Masquen nicht we-
sentlich unterscheiden, nur im Vergleich mit ihnen eine noch
lockrere Textur zeigen. Von den Masken spielen fiillen 24 in
die Regierung Jakob's L, 6 wurden unter seinem Nachfolger
aufgeführt. Was die Werke andrer Dichter betrifft, so kommen,
ausser ein Par Intermezzos in Shakspere'schen Stücken und
dem Milton'schen Comus, hauptsächlich die epithalamischen Dich-
tungen in Betracht, welche Halpin in dem Aufsatze The Bridal
Run-away aufgezählt hat. Shakspeare Society's Papers H., p.
14 flf., übersetzt von Hense, Archiv für neuere Sprachen XVL,
436. Milton's Gedicht, unbedingt .das bedeutendste unter allen
Archiv f. n. Spia(i.cii XXVII. 5
66 Bon Jonson's Maskenspiele.
(lieser Gattung; angehörenden , stammt aus demselben Jahre wie
das letzte Maskenspiel seines altern Zeitgenossen, aus dem Jahre
1634. Mit Ben Jonson wurde also eigentlich die ganze, leicht
und schnell in's Dasein gesprungne Kunstform zu Grabe ge-
tragen. Zwar machte — so erzählt GifFord, Memoirs of Ben
Jonson p. 67 — Karl II. ein Par Jahre nach der Restauration
einen Versuch, diese Vergnügungen wieder in's Leben zu rufen.
Die Tochter Jakob's II., damals Herzogs von York, und viele
junge Personen beiderlei Geschlechts vom hohen Adel traten in
einer von Crowne geschriebenen Masque, Calisto, auf; aber
die Passion griff nicht weiter um sich, und konnte es auch
nicht. Der Verfasser dieses Werks war nicht ohne literarische
Bildung, besass aber keine Phantasie, und der Hof selbst war
zu oberflächlich, zu unwissend und zu ausschweifend, um feine
geistige Genüsse würdigen zu können. Wir hören von den
Masken seitdem nichts wieder.
Wenn die Maskenspiele in dem berühmten Katalog der
besondern Arten scenischer Kunst, welchen Polonius (Haml.
IL, 2) auftischt, gar keine Erwähnung finden, während alle
Klassen der Schauspiele mit pedantischer Gründlichkeit herge-
zählt und mit einer entsprechenden Nomenclatur versehen werden
als pastoral, pastorical -comical, historical- pastoral, tragical-co-
mical - historical - pastoral ; so liegt der Grund auf der Hand.
Shakspere's Tragödie erschien 2 Jahre vor der Abfassung der
ersten Ben Jonson'schen Masque. Der grosse Tragiker hatte
jedoch schon früher, indem er sich anschloss an die bei Hoch-
zeiten herkömmlichen theatralischen Scherze , in den letzten
Akt des Lustspiels As you like it (1598—1600), eine Art Mas-
kenspiel eingelegt, die lyrischen Verse des Hymen, welcher Ro-
salinde und Cebia ihren Geliebten zuführt, nebst einem Schluss-
gesang. Er hatte ferner sowohl durch das Elfenreich im Som-
raernachtstraum als durch den burlesken Theil dieser Dichtung
der Ben Jonson'schen Masken ihren doppelten Spielraum ange-
wiesen. Endlich hat er die neue Kunstschöpfung seines Ne-
benbuhlers in dem Sturme (1610 oder 1611) sich zu Nutzen
gemacht, zugleich aber — dadurch unterscheidet er sich we-
sentHch von diesem — dem an sich unbedeutenden Genre seine
wahre Stellung im Zusammenhange der Komödie zugetheilt,
Ben Jons on's Masken spiele. 67
während es bei Ben Jonson durchaus als selbstständig auftritt.
Die der Begrüssung Miranda's und ihres Geliebten gewidmeten
gereimten Wechselreden der Iris, Ceres und Juno, die Gesänge
der beiden letztern, und die Tänze der Nymphen mit den Schnit-
tern würden genügen,- wenn die Ben Jonson'schen Maskenspiele
nicht auf uns gekommen wären , ein deutliches Bild vom Cha-
rakter derselben zu geben.
Wir wenden uns nun zu den Stücken selbst, welche Ben
Jonson als eigne Nebenform der Komödie geschaffen und mit
dem Namen Masques bezeichnet hat. Sie stehen in der Mitte
zwischen regelrechten Lustspielen und den Improvisationen und
Vergnügungen heitrer Cirkel, wie wir dergleichen in unsern
Polterabendscherzen besitzen. Der Dichter trug darin den ge-
selligen Bedürfnissen des Hofs allzuviel Rechnung, insofern er
phantastische Komödien oder Burlesken eigens zu dem Zwecke
dichtete, um Tänze der Damen und Herrn vom Hofe in Cha-
raktermasken darin einzulegen. GifFord sagt a. a. O.: ..Jakob I.
besass mehr Bildung als eleganten Geschmack, aber er war
bieder und gefällig und hatte einen Hang zu kostspieligem Ge-
pränge. Was ihm aber abging, war bei der Königin in vollen-
detem Masse vorhanden. Sie war nach SuUy's Ausdruck eine
Frau von kühnem Unternehmungsgeist, liebte Pomp und ver-
stand sich darauf, und vor Allem fand sie Gefallen an Mas-
queraden und rauschenden Festlichkeiten. Sie strebte danach,
den Palast Whitehall, der noch vor Kurzem der Höhle des
Trophonius geglichen hatte, in einen Tempel der Freude zu
verwandeln. Zu dem Ende versammelte sie die Gebildetsten
vom Adel um sich und nahm ihre Mitwirkung in Anspruch für
die glänzenden Vergnügungen, welche sie in's Leben zu rufen
suchte, und welche allein sie vollständig zu geniessen vermochte,
da sie mit der englischen Sprache nie recht vertraut wurde.
Das Genie Ben Jonson's war ihr nicht unbekannt, denn sie
hatte zu Althorpe und sonst Proben davon gesehen ; und sie
scheint ihn bald nach ihrer Ankunft in Whitehall für die Aus-
führung ihrer Ideen gewonnen zu haben."
Dass der Dichter die einzelnen Elemente schon vorgefunden
habe, welche sich zur Lösung der vom Hofe gestellten Auf-
gabe benutzen Hessen, ist im Obigen mehrfach angedeutet worden;
68 Ben Jonson's Maskenspiele.
er vereinigte sie bloss zu einem Ganzen und nahm Schauspiel-
kunst, Tanz, Musik, Decorationsmalerei im Verein für das
Kind heitrer Stunden in Dienst. Die epithalamischen Dichtungen,
von denen wir Proben in den Werken andrer Dichter noch be-
sitzen, brauchten bloss erweitert zu Verden ; das Gepränge der
Processionen, Pantomimen (dumb shows) und Masqueraden
wurden requirirt; der Gebrauch der Maske, welcher auf der
Bühne zu jener Zeit theils für Frauenrollen gebräuchlich war,
theils bei andern Rollen vom Agiren der alten Mysterien her-
stammte (Ebert a. a. O. S. 65), half nicht wenig aus, um aller-
lei phantastische Einfälle durchzuführen. Das grotesk Komische
und das freie, visionsartige, aller Bedingungen des Raums und
der Zeit spottende Walten einer mit der Wirklichkeit kühn ver-
schlungenen Geisterwelt bildet das Lebenselement dieser Stücke,
als deren Charakteristik man die Verse ansehen kann, welche
die Nacht in der Vision of Delight spricht:*)
Tritt, Phantasie, an's Licht hervor,
Die Purpurschwingen ausgespannt,
Mit deiner Wesen luft'gem Chor —
Denn kein Gebilde sei verbannt —
Bevölkre rings um uns den Raum,
Ihr Blut sei frei von trübem Schaum ;
Und war' es auch ein wacher Traum, —
Chor. Doch steig' er hier vor unserm Sinn
Dem Rauch werk gleich empor.
Wie Schlaf sink' er aufs Auge hin,
Wie'n Lied dring' er in's Ohr.
*) The works of Ben Jenson with a biographical memoir by William
Gifford, Lond., Edw. Moxon, 1858, p. 605.
Night. Break, Phant'sie, from thy cave of cloud,
And spread thy purple wlngs;
Now all thy figures are allowVI,
And various shapes of things;
Create of airy forms a stream,
It must have blood, and nought of phlegm;
And though it be a waking dream,
Cho. Yet let it like an odour rise
To all the senses here,
And fall like sleep upon their eyes,
Or music in their ear.
Ben Jonson's Maskenspiele. 69
Die Scenerie entfaltete die kühnsten Wunder der Zauber-
mährchen. Während das Drama, wie sich aus den Bühnenan-
weisungen in den Shakspere'schen Stücken deuthch ersehen
lässt, nur wenig unterstützt durch äussere Mittel, auf die Kunst
des Mimen und des Dichters selber angewiesen war; stand dem
Maskenspiele Alles zu Gebote, was die untergeordneten sce-
nischen Künste zur Ergötzung der Sinne beitragen konnten.
Keine Kosten brauchte man zu scheuen. Die tüchtigsten Sänger,
Componisten und Balletmeister mussten den Dichter unterstützen.
Henry Lawes, wohl der grösste unter den englischen Musikern
jener Zeit, der auch die lyrischen Partien des Milton'schen
Comus in INIusik setzte , war in derselben Weise für Ben Jon-
son's Masquen thätig, und Avir wissen, dass er unter der Regie-
rung Karl's I. für eine solche Composition 100 Pfund Sterhng
erhielt, für die damalige Zeit eine sehr bedeutende Summe. Ja
die Aufführung einer von Beaumont gedichteten Maske im Jahre
1613 kostete die Juristen des Inner Temple und Gray 's Inn
nicht weniger als 1086 Pfd. Strl. Inigo lones, den man mit dem
Beinamen des englischen Palladio geehrt hat — ob mit Recht,
vermag ich nicht zu sagen — sorgte für Maschinerie und De-
coration. Auf dem Titel mehrerer Maskenspiele unsres Dichters
finden sich Zusätze wie der folgende: „The inventors — Ben
Jonson; Inigo Jones."
Der Hof selber bildete die Scene, und der höchste Adel
spielte darauf unter den Auspicien des Königs und der Königin.
So schien das Wort Shakspere's im Prolog zu Heinrich V. in
Erfüllung gegangen zu sein^
A kingdom for a stage, princes to act,
And monarchs to behold the swelling scene !
Man fühlt sich in der That versucht, Gifford's*) Beispiele
zu folgen und sich die Aufführungen idealisch auszumalen.
Statt geborgter Würde und erheuchelter Anmuth, welche Thea-
terprincessinnen häufig allein zu Gebote steht, mochte wahrer
Adel und angeborne Grazie den Schmuck jener hochgestellten
Schauspielerinnen und Tänzerinnen bilden. Der Dichter selbst,
*) Mem. of B. Jons. p. 66.
70 Ben Jonson"s Maskenspiele.
hingerissen vom schönen Rhythmus ihres Tanzes, hat seine Be-
geisterung wiederholt ausgesprochen, wie in folgenden Versen:*)
Chor. So lernte einst der Frühling gehn
Im Irrgewind, bunt anzusehn ;
Zephyr schlang so den luft'gen Reih'n,
Als er um Flora kam zu frei'n:
So schwebte Venus ihrem Chor
Im Ringeltanz auf Ida vor,
Kein Gras, kein Blümchen knickt' ihr Tritt,
' Als wär's des leisen Windes Schritt.
Ferner an einer andern Stelle:**)
Wenn Mancher, den der Irrthum plagt,
Die Seele sei dem Weib versagt,
Den Tanz gesehn; bekennt' er frei,
Das Weib des Mannes Seele sei:
Sie rissen hin beim süssen Schall
Durch Harmonie, die Seel' im All.
Zwar lässt sich nicht in Abrede stellen, dass, so wie Göthe
durch das lustige Treiben zu Weimar von ernsten Schöpfungen
abgelenkt wurde, auch Ben Jonson's Dichterkraft in den Masken
an unbedeutende Zwecke verschwendet ist. Andrerseits dürfen
wir aber nicht verkennen , dass er hier geniessbarer erscheint
als in seinen Dramen, ja selbst immer noch geniessbarer als in
seinen Komödien, indem die Zersplitterung der soHden Massen-
haftigkeit zu leichten und schönen Formen geführt hat. In
*) The Vision of Delight, p. 606 :
Che. In curious knots and mazes so
The Spring at first ^s taught-to go;
And Zephyr, when he came to woo
His Flora, had their motions too.
And thence did Venus learn to lead
The Idalian brawls, and so to tread
As if the wind, not she, did walk ;
Nor prest a flower, nor bow'd a stalk.
**) The Masque of Beauty, p. 550:
Had those that dwelt in error foul,
And hold that women have no soul,
But seen these move; they would have then
Said, women were the souls of men.
So they did move each heart and eye,
With the world's soul, true harmony.
Ben Jonson's Maskeiispielo. ' 71
seinen eigentlichen Lustspielen sind oft gleichsam die üppig an-
schiessenden Krystalle zu einem schwer übersehbaren Ganzen
zusammengeballt; hier dagegen erscheint dies, da der Stein sich
engen Kändern einfügen soll, in zierliche Säulchen zerschlagen
und wird zu prachtvollem Schmucke zugeschliften. Wir müssen
freilich hin und wieder eine Masse von Gelehrsamkeit noch mit
in den Kauf nehmen , so zu sagen als verschwenderische Fas-
sung, und wir staunen über den Notenapparat, worin der Dichter
sich selbst commentirt hat.*) Aber Hand in Hand damit gehen
elegante Schilderungen in überaus zierlicher, gefeilter und zum
Theil poetischer Sprache, so dass die Prosa hinter den Versen
kaum zurückbleibt. Besonders reich sind die Beschreibungen
der Scenerie und des Kostüms in den ersten Masquen; zur
Zeit ihrer Abfassung scheint der Dichter sich als Historio-
graphen der Feste und Vergnügungen am Hofe betrachtet zu
haben; später beschränkt er sich auf Mittheilung seiner Ge-
dichte, ohne weitläuftige Erörterungen des Zubehörs. Daneben
finden wir dann leicht hingeworfne und äusserst anmuthige
lyrische Verse, besonders Liedertexte, ^ie man bei der Cha-
rakteristik des Dichters meist zu wenig in Anschlag bringt.
Die Versmasse derselben bieten die grösste Mannigfaltigkeit
dar, so dass im Allgemeinen nichts weiter davon gesagt werden
kann , als dass sie im höchsten Grade fliessend und ohne alle
Härten, also gewiss auch geeignet sind, sich singen zu lassen.
Im Dialog herrscht der gereimte fünfi"üs8ige iambische Vers,
das Metrum der Canterbuiy Tales; doch stehen daneben ver-
*) Gegen diejenigen, welche an den mythologischen Sujets der iSIasken und
an deren gelehrter Behandlung Anstoss nehmen, hat sich Ben Jonson in folgenden
Worten ausgesprochen: Hymenaei; or the solemnities of Masque and Bar-
riers at a marrlage. Preface, Works p. 552: „And howsoever some may
squeamishly cry out, that all endeavour of learning and sharpness in these
transitory devices, especially where it steps beyond their little, or (let mc
not wrong them) no brain at all, is superHuous: I am contented, these
fastidious stomachs should leave my füll tables , and enjoy at home their
clean empty trenchers, fittest for such airy tastes; where perhaps a few
Italian herbs, picked up and made into a sallad, may find sweeter accep-
tance than all the most nourishing and sound meats of the world. For
these men's palates, let not rae answer, 0 Muses. It is not my fault, if I
fill them out nectar, and they run to metheglin."
72 Ben Jonson's Maskeuspiele.
einzelt Alexandriner, wie am Schluss der Spenser'schen Stanze,
und sehr häufig kürzere, besonders trochäische Verse; auch
sprechen komische Charaktere in Prosa, ja ein Par Masquen
enthalten bis auf die eingelegten Lieder gar keine Verse. Das
Sujet ist immer überaus einfach und ohne alle eigentliche Ver-
wicklung ; es Hesse sich rein pantomimisch fast eben so gut zu
Ende führen. Um das Gesagte nochmals mit andern Worten
zu Aviederholen , Ben Jonson's Masquen nehmen im Ver-
gleich mit seinen andern Werken dieselbe Stellung ein, wie
etwa Göthe's Satyros oder sein Jahrmarkt zu Plundersweilen,
wenn man diese gegen regelrechtere und bedeutungsvollere Er-
zeugnisse seiner dramatischen Muse hält.
Die beiden ersten unter den Ben Jonson'schen Masquen
führen den gemeinsamen Titel The Queen's Masques
(nicht zu vervvechseln mit The Masque of Queens), und
zwar heisst die eine The Masque of Blackness, die andre
The Masque of Beauty. Die Königin hatte gewünscht, im
ersten Stücke mit ihren Hofdamen im Kostüm von Mohrinnen
zu erscheinen. Daher theilte ihnen der Dichter die stumme
Rolle zu, als Töchter des äthiopischen Flussgottes Niger auf-
zutreten und gab ihnen Fackelträgerinnen (siehe oben) zur Seite
in 12 ihrer eignen Zahl entsprechenden Oceaniden. Durch ein
Meer von künstlichen Wellen reiten Oceanus und Niger auf
grossen Seepferden hervor; später wird der Mond auf hohem
silbernen Throne sichtbar, umgeben von Wolken mit Silberrand.
Den Dialog führen Oceanus und Niger; Tritonen und Meer-
jungfrauen singen, während andre Tritonen auf Muscheln blasen;
dazu tanzen die Töchter des Niger und die Oceaniden, erst
allein, dann mit den von ihnen gewählten Herren. Ein Lied
macht wie in den meisten derartigen Stücken den Beschluss.
In der Masque of Beauty erscheinen die Damen durch das Licht
des Mondes und den Einfluss der See in einem mildern Klima
von ihrer schwarzen Farbe befreit; sie tanzen verschiedene
Tänze und ziehen sich zuletzt auf den Thron der Schönheit
zurück, umgeben von Liebesgöttern und neun allegorischen Fi-
guren, Splendor, Serenitas, Germinatio, Laetitia, Temperies,
Venustas, Dignitas , Perfectio, Harmonia. Die Sprecher sind
Boreas, Januarius und Vulturnus, welcher auch ein Lied singt.
Ben Jonsou's Maskensp iele. 73
Doch kommen noch andre Sänger vor. Die letztern waren
wohl mimer, wie dies kaum anders zu erwarten steht, gleich
den Musikern, Männer von Fach. Wer die Schauspieler ge-
wesen seien, ob Herrn vom Hofe oder professionelle Jünger des
Thespis, lässt sich nicht immer entscheiden. Das Erstere war
wohl in der Regel der Fall ; denn der Titel vieler Stücke führt
den Zusatz, by Gentlemen, oder by the Lords and Gent-
lemen, the King's Servants.
Die so eben besprochnen Masquen stehen den für den Hof
verfassten Gelegenheitsgedichten, welche Ben Jonson entertain-
ments genannt hat, näher als seine spätem Masquen, indem
ihnen die Antimasque, ein wesentUcher Bestandtheil der letztern,
noch fehlt. Dies gilt auch von den in der Ausgabe seiner Werke
zunächst folgenden epithalamischen Masquen und den sich eng
daran schliessenden sogenannten Barriers ; die Ueberschriften
lauten: Hymenaei, or the solemnities of Masque and Barriers
at a marriage (bestehend aus zwei Theilen : The Masque of
Hymen und The Barriers), The Hue and Gry after Cupid, The
Speeches at Prince Henry's Barriers, A Ghalienge- at Tilt at
a marriage. Dass der Ausdruck barriers von den Schranken
auf das Kampfspiel selbst übertragen sei, sagt Eichardson h. v.
ausdrücklich; bei andern Lexikographen sucht man diese Be-
deutung vergeblich, die Ben Jonson'sche Masque, aus der sich
dieselbe ergibt, scheint von ihnen übersehen zu sein. Indem ich
mir vorbehalte, die epithalamischen Masquen später einmal aus-
führlich zu besprechen, theile ich für jetzt nur die Uebersetzung
des Wechselgesprächs der Grazien mit, dessen einmal als Ive-
frain wiederholten Vers He is Venus' Runaway Halpin in der
schon erwähnten Abhandlung zur Erläuterung des Monologs
in Romeo and Juliet herbeigezogen hat. The Hue and Gry
after Gupid p. 562 ff.
Erste Grazie.
Schöne, saht ihr diesen Tand,
Liebesgott, den kleinen Fant,
Beinah nackt, leichtfertig, blind,
Grausam, doch auch holdgesinnt?
Sagt's, wenn er zu euch geflohn,
Es ist Venus' flücht'ger Sohn.
74 Ben Jonson's Maskenspiele,
Zweite Grazie.
Die von euch mir will entdecken
Des beschwingten Schalks Verstecken,
Wird noch heut geküsst zum Lohn,
Wie und wo, wählt sie sich schon ;
Die ihn kann der Mutter bringen,
Darf der Küsse zwei bedingen.
Dritte Grazie.
Leicht erkennt man ihn an Zeichen >
Unter Zwanz'gen seines Gleichen,
Feuer ist sein Leib und Blut,
Und sein Athem, volle Glut,
Wundet Herzen schnell wie's blitzt,
Ohne dass die Haut geritzt.
Erste Grazie.
Sonne selbst ich vor ihm wandte,
Und Neptun im "Wasser brannte,
Hades fühlte grössre Hitze,
Jupiter entwich dem Sitze;
Von der Erde Tiefen reichen
Bis zum Himmel Siegeszeichen.
^ Zweite Grazie.
Stutzet ihr ihm gleich die Schwingen,
Wird von Lipp' zu Lipp' er springen
Ueber Lung' und Herzen fort,
Doch er weilt an keinem Ort;
Wenn ihr Ziel die Pfeile wissen.
So verschiesst er sich in Küssen. ,
Dritte Grazie.
Kommt mit einem goldnen Bogen
Und mit Köcher angeflogen.
Dessen Pfeil noch selt'ner fehlt
Als Diana's Schaft; er wählt
Den am schärfsten er gefunden,
Seine Mutter zu verwunden.
Erste Grazie.
Alle Schönen seine Beute,
Zu verzehren nie ihn reute
Herzen durch der Liebe Glut,
Und sein Bad ist warmes Blut,
Seine Hand schlägt Wunden stündlich.
Und er hasst Vernunft recht gründlich.
Ben Jonson's INJaskenspiele. 75
Zweite Grazie.
Traut ihm nicht ; wie süss er spricht,
Aus dem Herzen kommt's ihm nicht.
Trug bleibt ewig was er übt,
Und ein Köder was er gibt,
Ohne Gift ist nie sein Kuss, '
Voll Verrath der Thränen Fluss.
Dritte Grazie.
Herrscht in müss'gen Augenblicken,
' Nimmt sie wahr, um zu berücken
Jungfrau'n durch Geschenk' und Tand,
Die er beut als Freudenpfand.
Alle wünscht das Elfenkind
Kindisch gleich sich selbst gesinnt.
Erste Grazie.
"Ward so kund euch der Geselle,
Schöne, zeigt ihn auf der Stelle. •
Zweite Grazie.
Nicht mehr, bargt ihr gleich den Dreisten,
"Werdet ihr ihm Vorschub leisten.
Dritte Grazie.
Seine Falschheit kennt ihr schon,
Es ist Venus' flücht'ger Sohn.
Zu den Charakteren, welche in den bisher besprochenen
Masquen auftreten, welche theils Personificationen wie in den
Moralitäten , theils Elfengeister sind, theils dem griechischen
Olymp angehören , und welche in ihrer Gesammtheit eine luf-
tige Welt der idealen Phantasie ausmachen , kommt in den
Antimasques ein ganz verschiedenartiges Element hinzu. Es
verhält sich zu jenen Gestalten wie Bottora's Genossenschaft im
Sommernachtstraum zu dem Kreise vornehmer Athener und zu
Oberon's Geisterreiche. Die Antimasquen sind Parodien der
Masquen , Rüpelscenen und Rüpeltänze zum grossen Theil voll
derber und grotesker Komik, bestimmt nicht allein Abwechs-
lung hervorzubringen, sondern auch den erlauchtern Spielern,
Tänzern und Tänzerinnen Zeit zur Erholung zu vergönnen. In
ihnen trat ein niederes Personal auf, das zumeist aus Bedienten
des Hofs bestehen mochte. Eine Schilderung derselben findet
sich in einem Aufsatze Lord Bacon's, der den Titel führt „Of
76 Ben Jonso n's Maskenspiele.
Maskä and Triumphs" und unter seineri „Essays civil and
moral" steht. Der Philosoph leitet die Besprechung mit fol-
gendem Satze ein: „These things are but toys to come amongst
such serious observations ; but yet, since princes will have such
things, it is better they should be graced with elegancy, than
daubed with cost;" und er schliesst nicht weniger bezeichnend
mit den Worten: „But enough of these toys." Nachdem er
über die passendste Behandlungen der Tänze und Gesänge nebst
deren musikalischer Begleitung, über Scenerie und Kostüme
seine Meinung gesagt hat, lässt er sich über die Antimasken
folgendermassen vernehmen: „Let anti-masks not be long;
they have been commonly of fools, satyrs , baboons , wild men,
antics, beasts, spirits, witches, aethiops , pigmies, turquets,
nymphs , rustics , cupids , statues moving, and the like. As for
angels, it is not comical enough to put them in anti-masks : and
any thing that is hideous , as devils, giants, is, on the other
ßide, as unfit; but chiefly, let the music of them be recreative,
and with some stränge changes." Fast sämratliche hierin aufge-
zählte Charaktere kommen In den Ben Jonson'schen Masquen
wirklich vor, obgleich die Scenen, in denen sie auftreten, nicht immer
mit dem Namen Antimasques bezeichnet werden. Erst in den
spätem Stücken sind sie ausdrücklich als solche von den übrigen,
in der Regel nicht komischen Theilen unterschieden. Die Ben
Jonson'schen Masquen haben eine unverkennbare Aehnlichkeit
mit den jetzigen Christmas Pantomimes, welche in zwei
Thelle, the Opening und the Comic Part zerfallen.*) Der
erstere bringt in der Hegel eine Zauberwelt, entspricht also dem
Haupttheile jener; die Hanswurstiaden dagegen stimmen
im Wesen mit den Antimasquen ziemlich genau überein. Eine
fernere Analogie bietet der bunte Chor in der Alten Komö-
die der Griechen dar; doch hat sich Ben Jonson in den Anti-
masken auf Bipeden und Quadrupeden beschränkt und ausge-
schlossen „was da kreucht und fleugt."
Eins der Ben Jonson'schen Maskenspiele ist für uns von
besondrer Wichtigkeit, da Milton es im Comus offenbar vor
Augen gehabt hat. Der Titel lautet: „Pleasure reconciled
•; Vgl. Elze, Atlantis, S. 24 ff.
Ben Jonson's Maskenspiele. 77
to Virtue, a masque, as it was presented at Court,
before King James, 1619." Der König war von der Auf-
führung so entzückt, dass er sich eine Wiederhoking ausbat.
Das zweitemal kam als Vorspiel ein Gespräch zwischen drei
\Yallisern, Griff ith, Jenkin und Evan , in Prosa hinzu, mit ein
Par Gesängen und mit Tänzen von Menschen und Ziegen. Es
heisst: For the honour of Wales." Die Komik darin ist
ziemlich armseliger Natur und besteht fast ausschliessHch in der
Corruption der englischen Sprache im Munde der Wälschen.
Interesse wu'd das kleine Stück für denjenigen haben, der sich
die Mühe nicht verdriessen lässt, eine Vergleichung mit dem
Jargon des Sir Hugh Evans in den lustigen Weibern von
Windsor oder des Capitains Fluellen in Heinrich V. anzustellen.
In „Pleasure reconciled to Virtue" ist die Scene an den
Atlas verlegt. Der alte Titan mit greisem Bart und Haupthar
und mit schneebedeckten Schultern sieht aus Wald und Felsen
hervor; ein Dickicht von Epheu liegt zu seinen Füssen. Aus
diesem reitet unter der rauschenden Musik von Cymbeln, Flöten
und Tambourins Comus, der Gott der Tafelfreuden oder der
Wanst, im Triumphe hervor, das Lockenhar mit Rosen und
andern Blumen bekränzt; sein Gefolge ist mit Epheuguirlanden
geschmückt und führt -Speere von Epheu umrankt. Einer trägt
den Trinknapf des Hercules, des Haupthelden im Stücke. Sie
alle singen einen Chorgesang in anapästischen, hin und wieder
hyperkatalektischen Dimetern :
Platz ! Platz für den Dickwanst ! Ihm sei Preis,
Dem Vater der Saucen, Erfinder des Breis,
Dem Verleiher des Witzes, den jeder belacht,
Der die beste Maschine, den Bratspiess, erdacht, etc.
Nach dem Gesänge lässt eich der Trinkschalenträger in
Prosa hören. Seine Philosopheme über den Bauch schliessen
mit den Worten: „Ich bin für den Magen, die beste Uhr von
der Welt, nach der man sich richten kann." Es läuft dabei
eine Kraftstelle mit unter, nicht unähnlich den Aristophanischen
Versen : /waneQ ßqovTrj to Cco/iiidiov naxayti xul öiivä y.t'xouytv
X. T. X. Die Metapher ist hier nicht bloss vom Donner, sondern
auch von den Freudensalven der Geschütze entlehnt. Bezeich-
78 Ben Jonson's Mas kenspiele.
nend ist es übrigens für die damaligen Hofsitten, dass das
schlimme einsilbige Wort, um das eine berühmte Scene im Tom
Jones sich dreht, vor den Ohren des Königs erwähnt werden
durfte, noch gesteigert durch eine bedeutungsvolle Alliteration:
„Some in derision call him (the Belly) the father of farts."
Nun kommt die erste Antimasque, ein Tanz von Männern
in Gestalt von Flaschen und Fässern als Emblemen des Comus,
der personificirten Baucheslust. Den Gegensatz zu ihm bildet
Hercules, der am Scheidewege des Lebens sich die Tugend
statt der Wollust gewählt hat und ihr in allen Kämpfen treu
bleibt, ohne jedoch das irdische Vergnügen ganz von der Hand
zu weisen. Griechische Mythen aus spätrer Zeit setzen die
Pygmäen in ein verwandtschaftliches Verhältniss zum Riesen
Antäus. Nach dessen Tode überfallen sie Hercules während
des Schlafs ; doch als dieser erwacht , packt er die ganze Ge-
sellschaft in seine Löwenhaut.*) Diesen Ueberfall hat Ben
Jonson auf die Bühne gebracht, nur leider ohne das wunder-
volle, scenisch schwer darzustellende Finale, in dem die win-
zigen Helden wie Maikäfer behandelt werden. Nachdem die
Antimasque der Trinkgeschirre mit der Schaar des Comus von
Hercules verjagt und der ganze Epheuhain verschwunden ist,
werden die Tugend und das Vergnügen auf einem von Musikern
umgebnen Thron sichtbar. Hercules lagert sich nach einem
Chorgesange zu ihren Füssen und schläft ein. Nun kommen
die Helden der zweiten Antimasque , die Pygmäen, zum
Vorschein.
Erster Pygmäe.
Antäus todt und Hercules lebt noch!
Wo ist der Hercules? Was gab' ich doch,
Ihn jetzt zu treffen, ihn, sammt drei Gesellen,
Wenn sie ihm halfen, meinen Bruder fällen.
Mit drei, mit vier, mit zehn, so viel von ihnen
Das Wort nur fasst. O Zorn! dass sie erschienen,
' Damit nicht Einen meine Rache schont!
Wie tödt' ich ihn? Schleudr' ich ihn an den Mond?
Zerstückl' ich ihn, dass dir, o Hellas, werde
Sein Hirn, ein Stückchen jedem Theil der Erde ?
*) Preller, Grieclilsche Mythologie, IL, p. 15 1.
Dort ist
Ben Jonson's Maskenspiele.
Zweiter Pygmäe.
er.
Erster Pygmäe.
Wo?
Dritter Pygmäe.
Er schläft am Hügel dort.
Erster Pygmäe.
Stehlt ihm die Keul' !
Zweiter Pygmäe.
Ich schleiche mich zum Ort.
Triumph.
Vierter Pygmäe.
Erster Pygmäe.
Ja, still!
Dritter Pygmäe.
Wir müssen ihn bezwingen.
Vierter Pygmäe.
Wir haben ihn.
Erster Pygmäe.
Lasst uns vor Freuden springen.
(Musik.)
Am Ende ihres Tanzes denken sie Hercules zu überfallen;
da erhebt er sich plötzlich, durch die Musik erweckt, und hurtig
laufen sie alle in ihre Löcher.
Nach einem ganz kurzen Liede des Chors steigt Mercur
vom Atlas herab und krönt mit einem Pappelkranz den Helden,
den thatkräftigen Freund der Tugend, der Antäus erschlagen,
die Aepfel der Hesperiden gewonnen und so eben den Schwärm
des Comus verscheucht hat. Eine neue Zeit ist angebrochen ;
die Tugend und das Vergnügen sind versöhnt, und den Söhnen
jener steht der Eintritt in die Gärten der Hesperiden frei.
Ein Zug von zwölf maskirten Tänzerinnen wird nun durch
einen Chorgesang eingeführt. Aus diesem dürfen wir, jedoch
nicht mit Sicherheit, schliessen, dass sich die Königin in ihrer
Mitte befunden habe; über das Kostüm erfahren wir nichts. Es
folgen abwechselnd drei Tänze und Gesänge des Dädalus, der
in Uebereinstimmung mit alten Sagen *) , besonders dem laby-
*) Preller, Griech. Myth. II., 197.
80 Ben Jonson's Maskenspiele.
rinthischen, in Harmonie sich auflösendem Gewirr der Tänze
zwei Lieder widmet. Sein dritter Gesang lautet :
Frisch euch zu schicken nun beginnt
In Lieb', in's feinste Irrgewind;
Wollt ihr zu lange schau'n,
So scheint's ein Unrecht schönen Frau'n.
Nun wählt, doch seht, dass holdgesinnt
Ihr gleicht dem kosend sanften Wind
Auf sanfterm Blumenpfad.
Als gält's, der Stunden Lauf, kein Weib
Zu täuschen durch frohen Zeitvertreib,
So lächle jede That.
Nun ist der Frohsinn an der Reih',
Nicht leer geht Schönheit dabei hin;
Was edel ist, sei hold, doch frei
Von zügellosem Sinn.
Geb' ich Gesetz nun, wie man pflegt,
Dem Spiel und formulir' es ;
Selbst über'n Neid, den's wohl erregt,
Stets triumphir' es.
Den Schluss des lose gefügten Ganzen bildet endlich fol-
gender Gesang Mercur's:
Ein Rückblick wäre jetzt am Ort,
Auch sagt uns wohl ein leises Wort,
Was ihr gefühlt in tiefer Brust;
Die Lust
Wählt ihr zum Umgang, nicht zum Hort.
Die Stunden jetzt gönnt Tugend schon,
Sie selbst, sie ist ihr eigner Lohn ; »
Doch kündet sie, wie auch gefiel
Ihr Spiel,
Ein Weg voll Mühsal führt zum Thron.
Doch nun mit ernsten Schritten dringt
Zum Berg zurück,
Und wenn durch Arbeit ihr erringt
Die Krön' und steht
Auf seiner Höh', im Staub' ihr seht
Des blossen Zufall's Glück.
Ben Jonson 's Masken spiele. 81
Sie, sie ist's, die im Dunkel strahlt,
Sich eig'nen Licht's stets schöner malt,
Nur heller vor den Blicken steht.
Wenn Laster ihr zur Seite geht,
Sie hat, auf Erden heimathlos,
Den Stammsitz in des Himmels Schooss.
Dort ist der Tugend Thron,
Wählt sie zum Eigenthum ;
Nur sie macht gross den Erdensohn,
Wie hoch er steh' an Ehr' und Ruhm.
Ich will zum Schluss noch eine kleinere Maske: „The
Golden Age Restored," vielleicht die schönste von allen,
in einer üebersetzung vollständig mittheilen.*)
Die Wiederkehr des goldnen Weltalters.
Nachdem der Hof sich niedergelassen hatte und voll Er-
wartung dasass, ertönte laute Musik. Darauf stieg Pallas unter
Begleitung sanfterer Musik von ihrem Wagen herab.
Pallas.
Staunt, staunt! wenn ihr's vernommen,
Dass, Sterbliche, trotz eurer Schuld
Zu Theil euch ward des Gottes Huld,
Von dem die Donner komriien.
Zeus will es nicht mehr dulden,
Dass Schlauheit schlichten Sinn berückt,
• Der Starke Schwächre unterdrückt.
Wie schlimm auch ihr Verschulden.
Drum führt der Welt Erhalter
Asträa wieder auf den Thron ;
An goldner Kette**) lässt er schon
Herab ein goldnes Alter.
Er schickt sie euch aufs Neue,
Damit gestehe selbst der Neid,
Dass unter ihm nicht bloss die Zeit
Sich goldnen Hauptes fi-eue.***)
*) Das Original findet sich auch in Chambers' Cycl. of Engl. Lit. Vol.
1., p. 201 fr.
**) Hom. II. ^. 18 ff.
***) Mit dem Bilde in diesem Verse:
Archiv f. n. Sprachen. XXVU. 6
82 Ben Jonson's Maskenspiele.
Nein, mit der Zeit sein "Walten
Der Zeiten volle Ehr' erhält.
Nicht siehet aufs Verdienst der Welt
Des Himmels freies Schalten.
^ (Man hört Tumult und Waffengeklirr)
Doch horch ! Aus jener Höhle Aufruhr gellt,
"Welch Toben, welch Erdbeben sich empört,
Als furcht' um ihren Schöpfer bang' die "Welt,
Als ob das Eisenalter sich bewehrt!
Dass nicht der Frevler Auge mich erblickt,
"Verbirg mich, leicht Gewölk; erst wenn ihr Muth
Mit Plänen wächst, wenn sie in's Feld gerückt.
Zeig' ich den Schild, vereitle blinde "Wuth.
(Sie zieht sich hinter eine Wolke zurück.)
Das eiserne Zeitalter.
Heran, heran ! Ihr Avisst, schon lang'
Sinnt Zeus auf unsern Untergang,
Wir setzen uns zur "Wehre.
Ob selbst das Schicksal widerstrebt,
Das eiserne Geschlecht nicht bebt ;
Schmach gilt es oder Ehre. ,
Habsucht, die trotzet der Gefahr,
Steig' auf, du Ahnin meiner Schaar,
Bring' uns Verleumdung, Lüge,
Bestechung mit der goldnen Hand,
Verschmitztes Unheil, drauf verwandt
Zu herrschen zur Genüge.
Sollst dein Geschlecht, Stolz, Ehrgeiz, Hohn,
Den jüngsten gleissnerischen Sohn
Verrath zur Hülfe führen.
Bewaffne Thorheit, Ignoranz,
Und lehre sie den "Waffentanz,
"Wir mögen triumphiren
Which deed he doth the rather,
That even Envy may behold
Time not enjoy'd his head ofgold
Alone beneath his father,
vgl. die Worte in „The Masque of Oberen," p. 584:
'Tis he that stays the time from turning cid,
And keeps tlie age up in a head of gold.
Ben Jonson's Masken spiele. 83
Ob jenem übermüth'gen Feind ;
Und stürzt ihn unsre Schaar vereint
Einmal von seinem Sitze;
Dann sind wir Herrn der Himmelswelt,
Des Glücks, das sich der Macht gesellt,
Des Scepters und der Blitze.
Wer ist's, der von Gefahr umschwebt
Nicht gern der Narben Preis erstrebt,
Zu heissen unser Retter?
Wer ist von euch, der sich nicht beut
Als Waffe gegen Zeus im Streit,
Zu stürzen jene Götter ?
Zum Kampfe schaart euch allzumal,
Ein eisern Alter ward zu Stahl,
Zeus droht, er soll's erfahren.
Ob unser Körper auch nicht reicht
An die Giganten, keiner weicht
An Bosheit im Gebahren.
Die Laster treten auf in einer Antimasque und tanzen nach
zwei Trommeln, Trompeten und einer w^ilden, kriegerischen
Musik. Nach Beendigung ihres Tanzes erscheint Pallas und zeigt
ihren Schild. Die Laster werden in Bildsäulen verwandelt.
Pallas:
So sterbet hin, verwandelt und verkehrt,
Die ihr euch gegen Götter frech bewehrt.
Zu gleichen wahnt mit sterblicher Gestalt
Den Mächten frei von Schicksals Allgewalt.
's war Zeit, zu zeigen ihrem trüben Blick,
AVen sie befehdet gegen das Geschick.
Was von euch dauern kann, sterb' ab, nur Stein
Soll eine kurze Zeit noch sichtbar sein-.
Komm, holdes Par, das Zeus der Erde gibt,
Von ihm und allen Guten treu geliebt.
(Die Scene verwandelt sich und sie ruft Asträa und das
goldene Zeitalter.)
Steig' nieder, lange, lang' ersehntes Par;
Wie sanfter Ton durchdringt die Lüfte klar,
Streif ab die Wolken mit dem goldnen Haar;
6*
Ben Jonson's Maskenspiele.
Denn Hass ward lass*): das eiserne Geschlecht
Entfloh, sein Nam' erlosch, so siegt das Recht.
(Asträa und das goldene Zeitalter steigen singend hernieder.)
Asträa und das goldene Zeitalter:
Vom Sternenzelt
Sind wir gesellt
Der Welt?
Asträa:
Hat Zeus der Erde solch ein Pfand gezollt,
Gerechtigkeit?
Das goldene Zeitalter:
Und reines Gold?
Pallas:
So hold?
Das goldene Zeitalter:
Sehn ew'gen Frieden
Sie sich beschieden
Hienieden?
Asträa:
Erkennen sie's als Gnade, nicht als Recht?
Pallas:
Nur Schaden brach t's für ihr Geschlecht.
Asträa:
Recht.
Das goldene Zeitalter:
Recht.
Chor:
Was auch beschränkter Irrthum denkt und thut,
Die Edeln handeln ihretwegen gut.
Pallas:
Ihr sollt willkommen sein,
Asträa und das goldene Zeitalter:
Doch bleiben wir allein,
Wird unser Reich gedeih'n?
Pallas:
Zeus iiberlasst's, er sorgt für euch
Und seine Pallas fördert euer Reich.
Sogleich, sogleich —
*) Die schöne Aliitteration For Spite is spent liesse sich auch wieder-
geben: "DennHassisthin.
Ben Jonson's IMaskenspielc.
Berühmte Geister, die ilir einst entsprangt
Aus unserm Land, den Namen euch errangt
Der Phöbus- Söhne, Töne kühn verwebt,
Wetteifernd Thracischer Leier nachgestrebt,
Ihr, Chaucer, Gower, Lydgate, Spenser, eilt,
Mit heller Glut von ferne, wo ihr weilt.
Im Dienst der neuen Zeit soll euer Name glänzen.
Die Tugend athmet frei, die Kunst soll neu sich kränzen.
Chaucer, Gower:
Wir nah'n.
Lydgate, Spenser:
Wir nah'n.
Alle:
Die reinste Glut
Pflanzt Pallas ein in unser Blut.
(Sie steigen herab.)
Pallas:
Seht ihr der Seelen Schaar, die fern am schatt'gen Ort
Elysium's Laub' umfängt auf Sitzen hochbeglückt,
Die, weil sie treu gewirkt, Halbgötter wurden dort,
Die Tod gleich sanftem Schlaf dem Erdenreich entrückt?
Wir wecken sie ; denn stets bleibt ihre Kraft geweiht
Dem Schirm und Schutz des Rechts, der Hut der neuen Zeit.
Chorgesang:
Für euch brach dieses Alter an, erwacht !
Erwacht, als barg euch nimmer Schlaf und Nacht!
Hüllt euch in Luft, und steht für sie bereit,
Die flücht'gen Diensten ew'gen Lohn verleiht.
Pallas:
Seht, wie der Blitz vom Schild der Pallas schiesst.
(Die Scene des Lichts wird sichtbar.)
Chor:
Ein dämmernd Dunkel*) schnell, in Nichts zertliesst.
Asträa:
Nun Friede,
Das goldene Zeitalter:
Liebe,
*) doubtful darkness.
Ben Jonson's Maskenspiele.
Asträa:
Treue
Beide:
Sich verbinden.
C hau cer:
Und Streit
Gower:
Und Hass.
Lydgate:
Und Furcht
Spenser:
Und Pein
Alle:
Verschwinden.
Pallas:
Kein Trotz aus Eisenadern quillt;
Es schwand, was einst mit Trotz erfüllt.
Chorgesang:
Wie eh'dem werde zu Gold die Erde.
Schlingt Reihen zum Gesang,
Nicht bloss in abgemessnem Gang,
Nein, schwebt mit leichtem Flug entlang,
Des Ortes Genien freut muntrer Drang.
Pallas:
Natur schon lächelt weit und breit.
Asträa:
Doch freute sie sich eine Zeit
An dieses Alters Glühen:
Das goldene Zeitalter:
Dass der Gedanke Saaten bringt,
Dass jedem Blick ein Keim entspringt,
Und jedem Hauch ein Blühen: ,
Pallas:
Aus ungepflügtem Boden spriesst
Die Saat, von Eichen Honig fliesst,
Und Milch in Bächen rinnt :
Die Distel Lilien tragen soll.
Der Dornbusch prangt von Rosen voll,
Der Wurm nur Seide spinnt.
Ben Jons on 's Masken spiele. 87
Chor:
Vom Strauche träufelnd Balsam letzt,
Von Nektar schmilzt der Fels benetzt,
Bis satt der Grund sich trinkt;
Dass er kein Giftkraut treibt an's Licht,
Nicht Farren kennt, Alraunen nicht.
Noch Stein, der Unheil bringt,
(Nun folgt der Haupttanz.)
Pallas:
Doch nicht genügt's: thut ihr nicht mehr,
So bleibt es halbe Wiederkehr
Der freien, goldnen Zeit.
Dichter:
Das Weib geschmiegt an Mannes Brust, ,
So münzten sie zu voller Lust
Die lautre Einfachheit.
Gewalt blieb der Gestalt nicht fern,*)
Mit Schönheit tanzte Jugend gern.
Von Grazien beglückt.
Kein Misstrau'n kannte jene Zeit,
Nie kam mit Lüsten Lieb' in Streit, **)
Dem Neid war sie entrückt.
Das Wort drang schmelzend in das Ohr,
Rief nie der Wangen Glut hervor,
Die Treu' ward nie verletzt.
Chor:
Der sanfte Druck der Hand, der Kuss,
Keusch blieb der süsseste Genuss
So wie der eure jetzt.
(Sie tanzen mit den Damen).
A s t r ä a :
Doch welch ein Wechsel! Nimmer ruhn
Wollt' ich zuvor, doch wünsch' ich nun
Zu bleiben hier am Ort.
*) Die Allitteration der etwas abstracten Ausdrücke Feature, Form liat
der Uebersetzer wiederzugeben versucht durcli das von Schiller im „Ideal
und Leben," freilich nicht in der derselben Bedeutung gebrauchte A>'ort
Gestalt und das darauf reimende Gewalt.
**) Die Allitteration love, lust findet sich häufig, vergl. die Stelle in
Beaumont und Fletcher's Philasti-r: Alas: I found it love; Yet tär Irom lust.
88 Ben Jonson's Maskenspiele.
Mein Silberfuss fast Wurzeln treibt,
Das Schwingenpaar geschlossen bleibt,*)
Ich kann nicht weder fort.
Im All gibt Nengeburt sich kund,
Zum Himmel ward das Erdenrund,
Und Zeus uns selber naht;
Die Gottheit fühl' ich, und ich weiss,
Hier weilet, der den Weltenkreis
Regiert mit weisem Rath.
In solchem Land, wie ihr's bewohnt,
Die strahlende Asträa thront.
Wünscht nimmer andre Zeiten ;
Inmitten von so vielem Gold,
Nicht irr' durch Furcht, noch feil um Sold
Will sie die Menschheit leiten.
Hier werden Galliards und Corantos getanzt, lebhafte Tänze,
deren letzterer aus Shakspere bekannt ist. Die ersteren sollen
aus Italien stammen. Bescherelle, Dict. National, v. gaillarde.
Pallas steigt empor und ruft die Dichter:
Genug! Den Sternkreis, den ihr schaut,
Hat Zeus zu eurem Sitz erbaut,
Dorthin sollt ihr entschweben.
Wie seine Gut' euch stets beglückt,
So strebt, dass ihr die Welt entzückt
Durch Licht und Glanz und Leben.
Gleich Sternen um Asträa's Thron
Strahlt hier in dieser Region
In voller Einigkeit;
Dass, wenn freundschaftlich ihr verkehrt,
Durch euren treuen Dienst sich mehrt
Der Ruhm der goldnen Zeit,
Die gegen Hitz' und kalten Wind
Euch goldene Gewänder spinnt —
So treffe Noth euch nimmei-!
In Blumen, die der Boden treibt,
Die Göttin eure Namen schreibt,**)
Damit ihr lebt für immer.
*) Das Bild my wings are sheath'd ist offenbar von den Flügel-
decken sheaths, sheath- wings des Käfers (sharded beeile, Milt.) hergenommen.
**) Anspielung auf das delphinium Ajacis, ä y^anru vnxivdos. Theoer.
10, 28. Vergl. Ov. Met. X, 215 f. XIII, 394 ff".
Ben Jonson's Maskenspiele. 89
Chor:
Dem Zeus, dem Zeus soll Ruhm und Ehre werden,
Tribut dankbarer Herzen hier auf Erden!
Zur Vergleichung setze ich die Schilderung des paradie-
sischen Zustandes im goldnen Weltalter hinzu. Nur die erste
und letztee Strophe ist als Chorgesang in GifFord's Ausgabe
durch kleinern Druck hervorgehoben; doch wurden die beiden
niittlrn Strophen wohl schwerlich gesprochen, sondern wahr-
scheinlich als Eecitativ vorgetragen.
Chor:
But, as of old, all now be gold.
Move, move then to the sounds;
And do not only walk your solemn rounds,
But give tbose light and airy bounds,
That fit the Genii of these gladder grounds.
(The first Dance.)
Pallas:
Already do not all things smile?
'But when they have enjoy'd awhile
The Age's quickening power:
Age:
That every thought a seed doth bring,
And every look a plant doth spring.
And every breath a flower:
Pallas:
The earth unplough'd sliall yield her crop,
Pure honey from the oak shall drop,
The fountain shall run milk:
The thistle shall the lily bear,
And every bramble roses wear.
And every worni inake silk.
Chor:
The very shrub shall baisam sweat,
And nectar mclt the rock with hcat,
Till carth have drank her tili :
That slie no harniCul weed may know,
Nor barren fern, nor niandrake low,
Nor mineral to kill.
90 Ben Jonson's Maskenspiele.
Von den bekannten Schilderungen des goldnen Weltalters
bei griechischen und römischen Dichtern scheint Ben Jonson
nur die des Ovid vor Augen gehabt zu haben, und zwar fol-
gende Verse Met. I., 109 fF.
Mox etiam fruges tellus inarata ferebat,
nee renovatus ager gravidis canebat aristis^
fluraina jam lactis, jam flumina nectaris ibant,
flavaque de viridi stillabant ilice mella.
Mit der zweiten Hälfte der dritten Strophe lässt sich ver-
gleichen Theoer. I., 132 f.
Nvy \'a f.ify (foqloixt ßdroi, (fOQtoirt d^uxavd-ai,
a dt xaXu vuQxiGog in uQXtvd^oiGi xo/nuffai.
Immanuel Schmidt.
Sitzungen der Berliner Gesellschaft
für das Studium derneueren Sprachen.
Sitzung vom 22. November 1859. ~ Herr Kewitsch giebt eine
kurze Darstellung des Standpunktes, den die Frage über die aristo-
telische Katharsis zu Corneille's Zeiten einnahm, widerlegt die An-
sicht des französischen Dichters auf Grund der Lessingschen Beweis-
führung , stellt die Auffassung Lessing's selbst , wonach die Katharsis
in Verwandlung der Affecte des Mitleids und der Furcht in tugend-
hafte Fertigkeiten besteht , als unhaltbar dar und schreitet alsdann zu
einem Abriss der ferneren Geschichte dieser Frage. Er würdigt das
Verdienst Eduard MüUer's um dieselbe und bezeichnet endlich Jacob
Bernays als denjenigen, der in seinen „Grundziigen der verlorenen Ab-
handlung des Aristoteles über die Wirkung der Tragödie'" den Sinn des
Aristoteles richtig erkannt habe. Er setzt dessen Beweisführung aus-
führlich aus einander, theilt die von ihm aus Aristoteles Politik VIII, 7
gezogenen Schlüsse mit, nach denen die Katharsis in einer Hervor-
lockung der Affecte des Mitleids und der Furcht besteht, und erkennt
mit Bernays die in Jamblichus und Proclus vorkommenden Ausdrücke
ucfoauoatg und unfQuoig als Synonyma an, durch die Aristoteles
die Katharsis habe erläutern wollen. Eine Widerlegung der gegen
Bernays von Adolph Stahr in „Aristoteles und die Wirkungen der
Tragödie, Berlin 1859'' und Spengel „über die y.dd^uQaiq rröy na&r^-
/.idzioy" (Abhandl. der Königl. bairischen Acad. der Wissensch. I. Cl.,
Bd. 9, Abthl. 1. 1859) erhobenen Einwürfe bilden den Schluss des
Vortrags. — An der Debatte darüber betheiligen sich die Herren
Herrig, Lasson und Andere.
Dann begann Herr Michaelis eine lieihe von Vorträgen über das
th. In dem ersten gab er einen Abriss der Auffassung des th Seitens
der deutschen Grammatiker von der ältesten Zeit an , deren Ansichten
er grossentheils in ihren eignen , oft ergötzlichen Ausdrucken mittheilt.
Schon Ickelsamer, der die Reihe beginnt, bezeichnet das th als unnöthig
und ungeschickt. Später wird das h im th als Dehnungszeichen gefasst, und
die Grammatiker eifern dann mit Recht dagegen , dass es als solches
92 Sitzungen der Bei'liner Gesellschaft
von seinem Vokal getrennt wird. Auch Adelung's seltsame Theorie,
der Zweck des th sei, einem unscheinbaren Worte durch Erweiterung
mehr Stattlichkeit zu geben (es wäre also eine Art orthographischer
Crinoline), blieb nicht unerwähnt. Grimm's Worte über das th schlössen,
wie billig, diesen historischen Abriss.
Herr Sachse hielt einen Vortrag über das Niederdeutsche, nament-
lich über das in den letzten Jahren hervorgetretene Bestreben, dem
Plattdeutschen neben dem Hochdeutschen eine literarische Stellung zu
sichern, wohin vor Anderen Claus Groth, der Verfasser des Quickborn,
trachtet , und über die gegen diese Tendenz poleraisirenden Schriften
Keuter's und Freimund's. Zum Schluss giebt der Vortragende eine
Schilderung der Mundart Westphalen's. — Herr Strack knüpft an den
Vortrag eine Bemerkung über das Bremer Platt.
Sitzung vom G.December. Herr Michaelis hielt einen zweiten
Vortrag über das th. Er gab zunächst eine Uebersicht über das System
der Consonanten , insoweit sie mit dem Gesetze der Lautverschiebung
in Verbindung stehn, wobei er besonders auf den Unterschied zwischen
Aspiraten und Spiranten aufmerksam machte. Hierauf betrachtete er
speciell die Zahnlaute und erörterte die Veränderungen , welche die-
selben , vom Sanskrit aus , im Griechischen, Lateinischen und in den
germanischen Sprachen erlitten haben. Am Schlüsse dieser Betrach-
tung vertheidigte er im Gegensatze zu der Ansicht von Jacob Grimm
und R. von Raumer die Ansicht, dass die Lautverschiebung nicht von
der Steigerung der Muta, sondern von dem Herabsenken der Aspirata
zur Muta ausgegangen sei. Aus dem Gesetze der Lautverschiebung
folgerte der Vortragende, dass, da im Deutschen d, t und z oder sz
(tz, ss) die Stelle der media, tenuis, aspirata einnehmen, th in den Or-
ganismus desselben gar nicht hineinpasse und liberall durch einfaches
t zu ersetzen sei. Nur in Fremdwörtern und altdentschen Namen
z. B. Theoderidi, gothisch Thiudareiks, bei Gregor Theodoricus, hoch-
deutsch Dietrich, sei das th an seinem Orte.
Herr Döbbelin legte Ansichten des Walter Scott -Monuments in
Edinburgh vor und gab Erläuterungen zu denselben.
Ein Vortrag des Herrn P r ö h 1 e über Thymus, einen Pädagogen
des 1 6. sec, schloss die Sitzung. Es wurde in demselben eine aus-
führliche Inhaltsangabe des Thymusschen Gedichtes, ..Thedel von Wal-
moden," gegeben.
30. Sitzung vom 20. December. Herr Michaelis beendete seine
Vorträge über das th in der deutschen Rechtschreibung. Er ordnete
die Wörter, welche ohne Grund mit th statt t geschrieben werden , in
folgende 5 Gruppen :
1. Wörter aus fremden Sprachen mit ursprünglichem t, z. B.
für das Studium der neueren Sprachen. 93
Turm, Maut, Miete (Haufen) , Partei , Kartaune , Abenteuer , Lazaret,
Zibet ;
2. Wörter mit niederdeutschem t, wie Spat (Pferdekrankheit),
Träne u. s. w.
3. Regelmässiges hochdeutsches t, z. B. Tau (ros), tun, Tat, Un-
tertan, teuer, Tier, Tal, Teil, Rat u. s. av.
4. Ursprüngliches t, welches goth. in d statt th, hochdeutsch
wieder in t übergegangen ist, z.B. Mut, Not, Blut, Flut, Blüte, Drat,
Glut.
5. Hochdeutsches d in t verhärtet: tauen, Wittum, Abton , Wi-
derton. Ungewiss in seiner Stellung ist Wismut.
Der Vortragende schloss mit der Aufforderung, sich in wissen-
schaftlichen Werken und Zeitschriften des fehlerhaften th möglichst zu
enthalten.
Sodann gab Herr Leo in der Fortsetzung seines früher gehaltenen
Vortrags weiteres Material zu einer Geschichte der Shakspeare- Kritik.
Zunächst berichtigte er die falsche Auffassung, als ob er in seinem
ersten Vortrage die Gesellschaft zu einer kritischen Ausgabe des Shak-
speare habe veranlassen wollen , dahin , dass er der Meinung gewesen
sei, es würde ganz besonders in der Aufgabe gerade dieser Gesellschaft
liegen, die vorhandenen Kräfte anzuregen, zu concentriren und so durch
ihren moralischen Einfluss zu wirken. Die Idee einer Shakspeare-
Ausgabe durch deutsche Gelehrte Hess er überhaupt fallen: einerseits
habe die Verbalkritik des Shakspeare in Deutschland bisher zu Geringes
geleistet, als dass man hoffen könne, hinreichend befähigte Kräfte und
nennenswerth neues Material zu finden, andererseits sei durch die Aus-
gabe von AI. Dyce der Aufgabe einer kritischen Behandlung so weit
genügt, dass man sich darauf beschränken könne, ihm für spätere neue
Auflagen seines Werkes das verbessernde Material zu liefern. Der
Redner theilte im weitern Verlaufe seines Vortrages die Shakspeare-
Kritiker in 4 Klassen : in solche, welche die aus den Quart- und Folio-
Ausgaben uns überkommene Form sklavisch festhalten und einen Sinn
hineinzwängen; in solche, die im Gegensatz hierzu frivol mit der Form
umspringen; ferner in solche, welche nach bestimmten Gesetzen der
Metrik die Form des Dichters ihrem Geiste gemäss verstünuneln , und
endlich in solche (und nur diesen gestand er wirklichen Werth zu),
welche bei aller Pietät für die überlieferte l^^orm und genauer Kennt-
niss der Sprache und Sitten der Shakspeareschen Zeit, so wie bei aller
Achtung vor den Gesetzen der Metrik, eine gute Dosis von natürlichem
poetischen Gefühle , von gesundem Mensclienvcrslande und von der
Fähigkeit mitbringen, sich in den Geist und die Empfindung des
Dichters und seiner Gestalten hineinleben zu können. Zum Schluss
seines Vortrags besprach Herr Leo die berühmte Stelle aus Romeo
and Juliet:
94 ^ Sitzungen der Berliner Gesellschaft
that runnawayes eyes may wincke
(so die Lesart der zweiten Quartausgabe)
und beurtheilte die Emendationen und Erklärungen des Wortes „runn-
awayes" von Rowe an bis auf die neueste Zeit. ^
Herr B o 1 1 z schloss die Sitzung mit einem Vortrage über Schiller's
Bedeutung in der russischen Literatur. Er verglich die culturgeschicht-
lichen Momente, die in Deutschland dem Erscheinen Schiller's voran-
gegangen waren, mit denen Russlands bis zu derselben Epoche, um die
gänzliche Abwesenheit der Romantik daselbst zu constatiren, da das
epische Gedicht „vom Zuge Tgor's gegen die Polowzer" erst spät auf-
gefunden und in einer dem Kirchenslavischen nahe stehenden Sprache
verfasst sei, durch seinen Inhalt aber, ebenso wie „die Sagen von Wla-
dimir und seiner Tafelrunde'" mehr den nordischen Sagas nahestehe.
Letztere seien bereits zu Ammenliedern herabgesunken. Durch Peter
den Grossen kam Leben in die Volkssprache, die bisher nicht als
Schriftsprache gebraucht worden war. Durch Loraonnössow festge-
stellt, habe sie einen raschen Aufschwung genommen, und es habe sich
in der Folge ein thätiges, litterarisches Leben entwickelt. Von den sich
darbietenden Litteraturen habe man sich, aus inneren und äusseren
Gründen , der französischen zugewandt. Einen hohen Grad der Aus-
bildung erhielt die Sprache durch Karamsin , den Vorläufer der Ro-
mantik, den nur seine oentimentalität und sein Beruf, als Prosaiker
zu wirken, abhielt, das zu werden, was neben und nach ihm Shukowski
ward, der Uebersetzer Schiller's und hiedurch der Repräsentant der
romantischen Schule, von deren eifrigen Anhängern noch der Prof.
Stepan Schewürew und der Litterat Fedor Müller, letzterer der ge-
niale Uebersetzer von Wilh. Teil und der Braut von Messina, genannt
wurden. Aus dem Vortrag ergab sich, dass Schiller mit seinen Dich-
tungen den Begriff und das Wesen der Romantik zugeführt habe, und
dass die besten Kräfte noch immer aus dieser Fundgrube schöpften. —
Herr Pro hie knüpfte an den Umstand, dass der Sitzungstag
zugleich der Begräbnisstag Wilhelm Grimm's war, eine Gedächtniss-
rede auf den Verstorbenen , in der er die besonders charakteristischen
Schriften desselben -nach Form und Inhalt würdigte und dessen Nei-
gung zur Abfassung künstlerisch angelegter Monographien betonte.
Nach Besprechung seiner Arbeit über mittelalterliche Dichtungen , zer-
gliederte er die Sprache der Grimmschen Volksmärchen nach ihrem
Entstehen.
Zum ersten Male war Herr Bart hold Auerbach als Mitglied
des Vereins in einer Versammlung desselben zugegen. Ein Mitglied
begrüsste ihn in einer freundlichen Anrede und drückte ihm aus , dass
es dem Verein zu hoher Freunde gereiche, einen Schriftsteller in seiner
Mitte zu sehen, der nicht allein in Deutschland, sondern auch im Aus-
lande rühmlich bekannt sei bei den Völkern , mit deren Literatur auch
für das Studium der neueren Sprachen, 95
der Verein sich beschäftige; seien doch seine Werke in die Sprachen
der hauptsächlichsten europäischen Völker, und der letzte Jahrgang
seines Volkskalenders sogar in's RussitJche übertragen worden. Darauf
erwiederte Herr Auerbach: Es erscheine ihm als eigenthümlich, dass,
wie er in einem eben gehaltenen Vortrage gehört habe, nur in Einem
deutschen Verbum , in „werden,'" ein Vokalwechsel im Imperfectum
eintrete. Der harsche und knappe Laut: „ich ward" verwandle sich
in das volltönende und eindrucksvolle: „wir wurden." Um so viel
höher stehe das gemeinsame „Werden" einer Mehrheit in gegenseitiger
Anregung, als die traurige und arme Entwicklung des Einzelnen in
der Vereinzelung. Ebenso aber sei es auch mit den Nationen. Im
Alterthum hätten die Nationen, jede abgeschlossen für sich und eine
zeitlich auf die andere folgend , die Bahn ihrer Entwicklung durch-
laufen. In den neueren Zeiten offenbare sich der gemeinsame Werde-
trieb der Menschheit gleichzeitig in der eigenthümlichen Entwicklung
vieler einzelnen Nationen. In der gegenseitigen Einwirkung aber,
in Mittheilung und Anregung vermöchten die Völker erst ihre höchste
Bestimmung zu erfüllen. Die Deutschen aber verbänden mit ihrer
Volkseigenthümlichkeit die tiefe Kraft, das Eigenthümhchste aller
Völker im Tiefsten zu verstehen und sich anzueignen. So bilde das
deutsche Volk den Sammel- und Brennpunkt aller Culturbewegung.
Das deutsche Volk sei das wahrhaft kosmische Volk. Darum sei das
höchste Ziel deutscher Entwicklung zugleich die Vertiefung des eigenen
Charakters und die Aufnahme aller Cultur fremder Völker in den Kreis
der eigenen Bildung. Und so freue er sich denn, inmitten eines Vereins
von Männern zu sein , die es sich zur Aufgabe gemacht hätten , eben
diese Bildungselemente, die das geistige Leben der neueren Völker
böte, mit dem Geiste deutscher Wissenschaft zu bearbeiten. Er freue
sich um so mehr, als er in diesem Vereine ein Beispiel lebendigen Zu-
sammenwirkens, den Drang des gemeinsamen Werdens des einen durch
den anderen erblicke. — Der Redner schloss mit einem Hoch auf das
einige, grosse deutsche Vaterland und seine immer herrlichere Ent-
wicklung. Die Versammlung stimmte freudig ein.
Der Anfang der 31. Sitzung vom 10. Jan. 1860 war der Re\ ision
der Statuten gewidmet. Herr Kannegiesser hielt einen Vortrag über
den italienischen Dichter Francesco Benedetti. Benedetti waid in ärm-
lichen Verhältnissen zu Cortona 1785 geboren. Zum Juristen erzogen,
mit seinen Neigungen aber ganz der Poesie zugewandt, trat er in seinem
18. Jahre bereits mit einem Trauerspiele hervor. Durch äussere Noth
lioss er sich in die praktische juristische Laufbahn drängen, die er aus
Mangel an Erfolg bald wieder aufgab, um zur Poesie zurückzukehren,
freilich mit nicht viel grösserem Glücke. Ueberall abgewiesen , kaum
sein Leben fristend durch Stundengeben, fuhr er zu produciren fort;
sein „Drusus," seine „Pelopea" und Anderes fand einigen Beifall; im
Ganzen jedoch Hess die eigene Nation sein Streben zieailicli unbeachtet
96 * Sitzungen der Berliner Gesellschaft
und völlig unbelohnt.
in Versen und in Prosa reichen Ausdruck geliehen, glaubte er 1821
in's Ausland flüchten zu müssen. Er erschoss sich, als diese Hucht
ihm misslang. Den Beweis, dass Benedetti zu den besseren italienischen
Bühnendichtern gehöre und also auch im Auslande wohl bekannt zu
werden verdiene, versparte der Vortragende auf eine der nächsten
Sitzungen. — Darauf sprach Herr Hermes über Verminderung und
Vermehrung des Silbengewichts, besonders über Guna. Ausgehend
von der Bemerkung, dass die Sprache in fortschreitender Verkümme-
rung ihres Lautkörpers begriffen ist, wie die Schrift in steter Verein-
fachung ihrer Zeichen , wies der Redner an Beispielen den ursprüng-
lichen Reichthum der Beziehungslaute und die Bedeutung des Accentes
auf. Das Streben nach Wohllaut bahnt der Entartung die ersten
Wege; die Macht des Accentes verflüchtigt entlegene Endsilben; auf
den Wogen der Rede schleift sich die Lautmasse vollens ab. Im Ge-
gensatze zu dieser Erscheinung steht die Lautsteigerung durch Guna
(Erhebung des i und u zu ai und au) und die vermehrte durch Vriddhi
(Erhebung des i und u zu Jii und äu). Die Gunirung ist älter als die
Absonderung der europäischen Sprachstämme von der asiatischen Mutter;
Guna findet sich daher auch im Griechischen , Gothischen und in den
germanischen Zweigen. Näher wurde nun das Guna in der Conju-
gation betrachtet, wo es bei leichteren Personalendungen des Sing. Praes.
und des Imperf. Ind. Act., durchgängig aber bei gunafähigen Verben
im Fut., oft im 1., nie im 2. Aorist vorkommt, während das reduplicirte
Praeteritum, bei welchem der Vortragende länger verweilte, im Grie-
chischen anderen Gesetzen als im Sanskrit folgt. So erscheint denn
auch im Deutschen der sogenannte Ablaut als eine dem Umlaut ver-
gleichbare euphonische Begleitung der Flexion. Die Guna- und Ab-
lauts-Verhältnisse sind im Englischen sehr verwischt; im Lateinischen
und desshalb auch in den romanischen Sprachen ist das Guna ganz
aufgegeben ; kaum, dass überhaupt eine Wirkung des Flexionsgewichtes
nachweisbar ist. Auf diese Wirkung wurde der Vokalwechsel inner-
halb der französischen Conjugation, die weder Guna, noch Ablaut
kennt, zurückgeführt.
32. Sitzung vom 24. Januar. Der Vorschlag des Herrn Leo,
zunächst auf ein Jahr im Schoosse der Gesellschaft Special- Com-
missionen für die deutsche, die englische und die romanischen Sprachen
zu bilden, wurde erörtert und angenommen. Die Meisten der An-
wesenden traten sofort den einzelnen Abtheilungen bei.
Daraufsetzte Herr Las son seine Besprechung der „völkerpsy-
chologischen Zeitschrift" der Herren Lazarus und Steinthal fort. Er
leugne den Volksgeist nicht; nur sei es falsch, ihn als Seele zu fassen.
Der übelgewählte neue Titel bezeichne aber im Wesentlichen eine alte
Betrachtungsweise, die kulturhistorische. Da derselben Alles sich unter-
werfen lasse, so sei der Umfang der sogenannten Wissenschaft ein
für das Studium der neueren Sprachen. 97
unendlicher. Die Methode, aus Ursache und Wirkung die Genesis
der Dinge begreifen zu wollen, sei unvernünftig, weil mechanisch, die
Freiheit aufliebend. Der Versuch, die Erscheinungen der Sprache aus
Empfindungen und Vorstellungen abzuleiten, statt sie auf auf logische
Processe zurückzuführen , widerstreite dem Wesen der Sprache und
misslinge den Verfassern in den bis jetzt gelieferten Aufsätzen voll-
ständig. — Auf einige Einwendungen des Herrn von Holtzendorf ver-
wahrte sich der Vortragende gegen die Annahme , als wolle er , wie
die absolute, so auch die relative Berechtigung des psychologischen
Standpunktes bestreiten. —
Herr Strack las eine an die Gesellschaft gerichtete Zuschrift
des Herrn Pajeken aus Bremen , in welcher dieser ein hingeworfenes
Wort Fr. A. Wolfs, dass ein begabter, gebildeter Mann in 14 Tagen
Portugiesisch lernen könne, (vgl. Archiv Bd. 26. S. 187:) mit Gründen
und eigenen Erfahrungen bestritt. —
33. Sitzung vom 7. Februar. Herr Härtung hielt einen Vor-
trag über den amerikanischen Dichter Bryant. Er gab einen kurzen
Lebensabriss desselben und charakterisirte dann seine musterhafte Prosa
und seine durch Schönheit der Form, durch republikanischen Freiheits-
drang, vor allem aber durch ein tiefes natürlich religiöses Gefühl her-
vorragenden Poesien. Herr Härtung belegte sein Urtheil durch einige
von ihm selbst verdeutschte Proben. Ergänzend fügte Herr Herrig
einige Bemerkungen hinzu.
Darauf las Herr Kannegiesser ein scherzhaftes Gedicht in
Sachen Pajeken wider Fr. A. Wolf. —
Herr Leo zeigte die Entstehung der dänischen Versicherungs-
formeln so gu (s'gu) und so men aus den Eidesworten „So Gott mir
helfe und seine heiligen Männer" und verglich damit das schwedische
was erra oder was erra tri: ..Unsere Herren drei" (Vater, Sohn und
Geist) oder „Unseres Herren (Kreuzes-) Holz." —
Herr Schulze übergab zu späterer Besprechung seine Schrift
„Ueber die biblischen Sprichwörter der deutschen Sprache." —
Herr Michaelis unterhielt die Gesellschaft durch Mittbeilung
einiger Wunderlichkeiten aus dem „Gavlensografischen deutschen
Sonntagsblat."
Zuletzt sprach Herr Schmidt über Ben Jonson's Masken. Er
wies nach, wie der Hof Jacob's I. den Anlass zu diesen Productionen
gegeben , und wie dieselben einerseits auf dtn uralten weihnachtlichen
Mummenschanz, andererseits auf die seit Heinrich VIll. nachge-
ahmten italienischen Älasken zurückzuführen sind. Die Lebens- und
Dichtungskreise , denen Stoffe und Figuren entnommen sind , wurden
näher durchgegangen und sodann dargelegt , wie aus dem Maskenspiel
die Selbstpersifflage der von Bedienten gespielten Antimasken (llüpel-
scenen) entstanden. Für die Form der Bon Jonsonschen Masken wies
der Vortragende auf das Intermezzo im Tempest hin und schloss mit
Areliiv f. 11. Siirachen. XXVII. 7
98 Sitzungen der Berliner Gesellschaft
einer Inhaltsangabo der schönsten Maske Ben Jonson's, des „goldenen
Zeitalters."
34. Sitzung vom 28. Februar. — Herr Alt mann sprach über
die Runen der Finnen. Die Einleitung gab ein anschauliches Bild des
landschaftlichen Charakters von Finnland und machte den Einfluss der
eigenthümlichcn Reize des Terrains auf die poetische Begabung des
Volkes begreiflich. Dann wurde die Bedeutung von runot aus den
beiden Sanskritwurzeln ru , tönen lassen und wran , verwunden, ent-'
wickelt und mit Heranziehung der daraus abgeleiteten Wörter anderer
Sprachen Rune gedeutet als Kerb, Schi-ift, Geheimschrift, Zauberspruch,
endlich Lied, Gesang, Melodie. Es wurde ferner auseinandergesetzt,
wie die finnische Dichtung ein Erzeugniss des gesammten Volkes, ist,
sich vom Vater auf den Sohn vererbend, keine fertige, sondern noch
heute in stetiger Entwicklung begriffene, nur mündliche Nationaldichtung.
Was geschrieben da ist , ist von Deutschen gesammelt worden. Als
ein redendes Beispiel der poetischen Anlage der Nation wurde auf jene
finnische Improvisatorin hingewiesen , die vor nicht langer Zeit die
höchste Bewunderung des Petersburger Publikums erregte. Die Kale-
vala, der Name der finnischen Nationaldichtung, wird kurz als eine
reich mit Episoden ausgestattete Verherrlichung des finnischen Apollo
definirt. Nach einem kui'zen Abriss der noch jungen litterarischen
Bearbeitung des finnischen Kalevala und des verwandten esthnischen
Kalewipoeg geht der Vortragende zu einer Charakteristik der finnischen
Poesie über, die mhnnlieli, gesund, ernst ist, und deren unterschei-
dender Zug das Vorwalten des didaktischen Elementes ist, dem sich
das lyrische anreiht. Dann wird die Form der Poesie geschildert.
Der trochäische Tetrameter ist das vorherrschende Mass; seltener, fast
Ausnahme ist der trochäische Trimeter und Pentameter, sogar Dac-
tylen kommen vor. Die Allitteration ist höchst ausgebildet, fast kein
Vers entbehrt ihrer ; sie steigert sich oft bis zum Silbenreim im Anflmg
des Wortes. Forner ist der Parallelismus der Gedanken häufig. Um
einen Begriff' vom Klange der Sprache und zugleich einen Beleg für
seine Darstellung der Runenpoesie zu geben, las der Verfasser aus-
gewählte Texte in finnischer Sprache vor , zu denen er die deutsche,
metrische, die Eigenthümlichkeiten üer Originale in eben so strenger
Treue als in fliessender Spi'ache wiedergebende Uebersetzung hinzu-
fügte. —
Demnächst hielt Herr Mahn einen Vortrag über die Herkunft
der Wörter Büffet und Ananas.
A. Ueber das Wort Büffet.
Franz. buffet, der Silberschrank, Speiseschrank, Credenztiscb , Tafel-
aufsatz; ital. buffetto, Schenktisch, Credenztiscb, ein Schränkchen zum Trink-
geschirr; ppan. bufete, Schreibtiscli, Esstisch, Spieltisch; mittellat. bufetum
= lat. abacus. Nach dem franz. Wh. von 1549 bedeutet buffet s. v. a. dressoir,
iibacus, repositorium, ung hülfet d'or et d'ai'gent , c'est a dire, la vaisselle
für das Studium der neueren Sprachen. 99
qu'il fault pour le seruioe de la table, vasariuni , ung buffet desploye, ar-
gentum proposituni; en ce banquet la on nous seruoit en buflet, in eo con-
vivlo niiscebatur nobis. Das lat. -franz. AVb. von 1546 übersetzt abacus durch
dressoir ou buflet. Das Wb. von 16u6 erklärt: buflet, c'est un dressoir,
abacus, repositorium, et se prent pour ce dressoir haut esleu^ , ii armoires,
ou non, qui est en vne chambre ou salle, sur lequel on estale la vaisselle
d'argeut aus heures du souper, ou <lu disnor es inaisons des Princes et
grands Seigneurs, qui pour cete cause est par les Espagnols appele Parador,
et par figure, buflet est prlns pour l'assortissenient de toutc la vaisselle
d'argeut (juMl faut pour IVnlier seruice. Selon ce on dit, Jl a un buflet
d'argent, Suppellex vaseularia, et patinarla argentea illi est. Der Ursprung
des ^Vortes mit dieser liedeutung scheint in Frankreich gewesen zu sein.
Schon im Roman Fierabras kommt es vor: S'il vos plait, sire, ä manger
nie dones. A un bufet qui fu grans et quarres s'asist Aubri li prous et li
senes. Nach Menage konnnt das franz. und span. Wort vom iial. bufletto,
und dies von bufl'are, enÜer, les premiers buffets etarit d"une figure courte
et grosse, et pour user de ce mot, dune figure enflee. Einige glaubtenr
dass es für buvet .stehe, -weil buvette eine Art Weinschenke ist; aber dieses
Wechsel von f und v ist hier sehr bedenklich. Nach Burguy (Glossaire de
la langue d'oil), war bufet, dans le principe, une sorte de table placee pre-
de la porte, ä laquelle on admettait les pelerins, menetriers, etc.. qui re-
clamaient l'hospitalite. Les gens de cette espece etant doues d'un bon ap-
petit, tout ce qui venait du dois ou grande table, passait et disparaissait
ü l'endroit qu'on nomma bufet par Opposition au dois, c.-a-d. que bufet
fut d'abord le lieu ä se bouifir, le lieu bouffi, et de lä pcu-ä-peu les signi-
fications actuelles. Also zuerst der Ort, wo man sich durch vieles Essen
anschwellte, der durch vieles Essen angeschwollene Ort! Um nach latei-
nischer Art zu reden, erwiedere ich hierauf: Credat^ Judaeus ApcUa, non
ego. Nach Diez (Wb p. 76) ist es unbekannt, welcher Umstand dem Cre-
denztische franz. den Namen buffet gab. - Man konnte denken buflet, span.
bufete, heisse ursprünglich Weinschlauch, und alsdann ein 'J isch, auf welchem
AYein in Schläuchen aufgestellt und verkauft wurde; denn wirklich heisst iu
der spanischen Zigeunersprache büfla eine lederne Weinflasche und bufiador
ein Weinschenk. Ich glaube aber nicht, dass dies der wahre Ursprung des
Wortes sei. Er ist vielmehr in einem andern Umstände zu suchen. Buflet
sollte franz. genau das lat. abacus ausdrücken, welches sowohl ein zur Auf-
stellung der mit einem spitzigen Fusse versehenen Weinkrüge, in durch-
löcherte Felder abgetheilter Schenk- oder Credenztisch als auch haupt-
sächhch ein musivisch verzierter Prunktisch zur Aufstellung kostbarer
Gefässe i.st; daher abacus in den lat.'- franz. AVbb. durcl» buffet und buflet
durch abacus erklärt wird. Auch das griech. r'cßni bedeutet zuerst und ins-
besontlere einen Prunktisch, um Prunkgeräthe darauf zur Schau zu stellen.
Und dieses bedeutet nun unser buflet auch etymologisch, insofern man es
vom altfranz. bufler (= neufranz. bouffer, bouffir, itah buflTare, span., port.
und prov. bufar, s. Diez Wb. p. 75), blasen, aufblasen, schwellen, auf-
schwellen ableitet; denn hierin steckt zugleich der Begriff der Pracht und
des Prunkes; daher altfranz. bufloi durch vanite, orgueil, pompe, som])tu-
osite, ostentation erklärt wird Vgl. Berndeutsch geschwollen für auf-
geblasen, sich brüstend. Es liegt also der Begriff des Blasens, Aufblasens
in seiner figürlichen und uneigentlichen Bedeiitunfj zu Grunde. Aber auch
die eigentliche und sinnliche Bedeutung der Wurzel ist durch das Wort
vertreten; denn prov. ist bufet das Blasen des Windes, der Windshuuch,
altfranz. buffet ein Blascijalg, eine Ohrfeige und ein Faustschag. itid buflette,
ein Stüber, Nasenstüber und Schnippchen, altspan. bufete ein Blascdjalg
(und ein Possenreisser = bufon, franz. bouflon, der seinen Namen eljenfalis
von boufl'er, blasen, hat, indem er zur Belustigung der Zuschauer häufig die
Backen aufbläst.)
7*
100 Sitzungen der Berliner Gesellschaft
B. Ueber das Wort Ananas.
Franz. und span. anands, m., port. ananas, ananäz, m., ital. änanas, m.,
engl, anänas, anana (Thomson, Summer: witness thou best anana, thou the
pride of vegetable life, beyond whate'er the poets imag'd in the golden
age), und pine - apple, deutsch Ananas, f., und Königsapfel, neulat. bromelia
(zu Ehren des schwedischen Arztes und Botanikers ßrorael, v. 1G39 — 1705,
der eine flora gothica herausgegeben liat). Warum man im Deutschen den
Wbb. zufolge die Ananas sagen soll, begreife ich nicht. Man trägt doch
sonst so sehr allem Fremden Rechnung. Nach F. L. K. '\^^eigand ist das
Deutsche die Ananas zu uns gekommen aus span. und port. der ananas.
Woher dies Wort, sei unbekannt. In Hindostan heisse jene Frucht a'n-annus
und in Guiana solle man nanas sagen. Allerdings heisst die Frucht im Hin-
dos tanischeu 'an-annäs, 'ainannäs oder anannäs (wenn auch nicht gerade
a'n-annas). Nach einigen ist das Wort malayischen Ursprungs, und hierin
wäre nichts Unwahrscheinliches, da die Frucht in den tropischen Gegenden
Asiens und Afrikas wächst. Nach Marsden im Malayischen Wb. p. IG, 347
& 510 heisst pine-apple nänas und ananas, eben so nach Crawfurd p. 6 und
118. Allein das Wort und vielleicht sogar auch die Frucht scheint aus
Europa oder durch Europäer eingeführt, wie denn Crawfurd das Wort auch
als European kennzeichnet. Nach dem Dictionnaire de l'Academie fran^aise
stammt die Frucht aus Indien (plante originaire des Indes); es wird aber
nicht gesagt, aus welchem Indien. Nach Boiste kommt sie ursprünglich aus
Peru. Nach den meisten und besten Autoritäten stammt sie aus Südamerika,
und es wird also der Ursprung ihrer Benennung eher dort zu suchen sein.
In dem Peruanischen Wb. von Tschudi findet sich das Wort nicht, wohl
aber in dem der Tuxisprache oder allgemeinen Sprache Brasiliens vom Gon-
<^alves Dias, p. 1 6. anana öder nana = port. ananaz, und so wird das ^Vort
aller ^\'ahrscheinlichkeit nach brasilischer oder allgemeiner südamerikanischer
Herkunft sein. Was den Ursprung des enghschen Ausdrucks pine-apple,
wörtlich Fichtenapfel, betrifi't, so erklärt sich derselbe durch die Aehnlich-
keit der von Blättern durchwachsenen und auf allen Seiten mit dreieckigen
Schuppen besetzten Frucht mit einem Fichten- oder Tannenzapfen, ^^'enn
aber alle französisch - enghschen und deutsch -englischen Wörterbücher bis
auf den heutigen Tag, selbst das von J. G. Flügel vom Jahre 1856, an-
geben, dass pine-apple zuerst und auch Fichtenapfel oder Fichtenzapfen,
also so viel als cone of the pine-tree, bedeute, so ist dies ein Irrthum, der
durch eine zu wörtliche und sklavische Uebersetzung des englischen Wortes
ohne Kenntniss der Sache entstanden ist, und der sich wie eine Krankheit
durch alle diese Wörterbücher fortgeschleppt hat. Nie hat weder ein älteres
noch neueres durch Engländer in England entstandenes W^örterbuch pine-
apple durch cone of the pine-tree erklärt; alle geben nur die Bedeutung
Ananas. Es ist das Wort in jener Bedeutung auch nicht einmal landschaft-
lich englisch und überhaupt jedem Engländer gänzlich unbekannt. Der Fehler
ging wahrscheinlich zuerst von Frankreich aus; denn indem älteren englisch-
französischen Wörterbucha von Boyer (neue Ausg. vom Jahre 1768) finde
ich pine-apple nur durch une pomme de pin erklärt. In Folge dessen
pflegten die französischen Zeitungen, unter andern das Journal des Debats,
sich bis noch vor kurzem fast jedes Jahr bei Gelegenheit der Lord-Mayor's
Wahl in London in anzüglichen Bemerkungen gegen die barbarische Ge-
frässigkeit der Engländer zu ergehen, weil sie an diesem Feste so und so
viele Fichten- oder Tannenzapfen verzehrten.
Darauf hielt Herr Kannegiesser einen Vortrag „Jesus und die
Samariterin." In Goethe's Aufsatz „Ueber Italien, Fragmente eines
Relsejournals." (Cotta. 1856. Bd. 24, p. 310) theilt derselbe unter
dem Titel : Geistliches dialogisirtes Lied einen italienischen Zwiege-
für das Studium der neueren Sprachen. 101
sang: Sono giunto, sfanco e lasso efc. im Original mit, da, wie er
bemerkt, das Lied durch eine Uebersetzung alle Grazie verlieren würde.
Herr Kannegiesser erfreute die Gesellschaft mit einer deutschen Ueber-
setzung des ganzen Liedes. —
Herr Beauvais theilt die Entstehungsgeschichte der beiden fran-
zösischen Volkslieder: Malbrough s'en va-t-cn guerre, Mironton, mi-
ronton , mirontaine und la Marseillaise mit.
Herr Härtung theilt aus einer kleinen, von ihm angelegten.
Sammlung Volkslieder im pommerschen Dialect mit, als Tanzlieder,
Kinderlieder, Weihnachtslieder u. s. w. —
Herr Büchmann berichtet über die bis jetzt erschienenen Hefte
des in Berlin bei Dümmler und Asher verscheinenden Jahrbuchs für
romanische und englisciie Litteratur, das er seines geiliegcnen Inhalts
und 'seiner Reichhaltigkeit wegen angelegentlich empfiehlt. —
Der Vorsitzende legt alsdann eine Zuschrift an die Gesellschaft
vom Prof. Dr. Gutbier in IMünclien vor. Sie betrifft den Unterricht
in den neueren Sprachen an Schulen, wo nicht Lateinisch gelehrt wird.
Der Aufsatz wird, sobald er abgedruckt sein wird, in der Gesellschaft
zur Discussion kommen. — Aus einer zweiten Zuschrift des Herrn
Ministerialrathes Jacobi in Gotha an den Vorsitzenden theilt dieser
Folgendes mit: „Auf p. 438 des 3. und 4. Heftes des Archivs 1859
finde ich in der Recension des Zanderschen Programms über die Tann-
häusorsage erwähnt, dass der Name des Hörseiberges, der in dieser
Sage eine grosse Rolle spielt, aus der lat. Bezeichnung der Chronisten:
„mons horrisonus," entstanden sei. Zu Füssen des Berges liegt der
Hörseigau und das gleichnamige Dorf, und das Flüsschen Hörsei fliesst
durch das Thal. Die früheste Erwähnung des Dorfes in Urkunden,
die mir bekannt ist, rührt aus dem Jahre 1253 her. Es fragt sich,
was älter ist , die Urkunde oder die Chrunisten , und ob das Dorf
den Namen vom Berge oder der Berg vom Dorfe hat. ■ — Ferner:
p. 465 steht eine Miscelle über die ovid. Verse: si, nisi quae etc. Ich
entsinne mich , in irgend einer Zeitschrift die Uebersetzung gelesen zu
haben :
Wahrlich es wird, soll ausser der gleich Dir prangenden Scliönheit
Keine die Deinige sein, keine die Deinige sein.*)
*) Zur Vervollständigung des im Archiv p. 4G5 und hier Mitgefheilten
möge folgende Stelle aus Dr. Heinrich Pröbles „Gottfried August Bürger.
Sein Leben und seine Dichtungen," p. Cil, dienen:
„Die Wirkung des Lichtenberg -Kästnerschen Kreises, in welchoni er
(Bürger) lebte und bei einem gewissen beschriinkten Wetteifer mit England
sich wohl fühlte, war überhaupt nicht so eünslig als nirni glauben sollte:
man bewunderte seine „Frau Schnips" und regte Spielereien an. Ueber
eine dahin gehörige Versländelei findet man folgende Aiittheilung von Eduard
Mörike in Schad's Musenalmanach von 1856:"
102 Sitzungen der Berliner Gesellschaft etc.
Im Göttinger Musen- Almanach brachte Lichtenberg einst einen halb
scherzhaften Aufsatz, zu welchem die Behauptung Dryden's Veranlassung
gab, dass folgende Verse aus Ovid's Sappho an Phaon nicht in gleich
vielen Zeilen englisch gegeben werden könnten:
Si, nisi quae forma poterit te digna videri,
Nulla futura tua est: nulla futura tua est.
Es hatten sich zur Widerlegung dieses Ausspruchs bald zwei englische
Uebersetzungen eingefunden, die aber nicht genügen; sie heissen so:
1. If hut to one that's equally divine
Nene you'll incline to, you'll to none incllne.
2. If, save whose charms with equal lustre shine,
None ever thine can be, none ever can be thine.
Wäre es also nicht der INlühe werth, fragt der Göttinger Professor, ob
wir es im Deutschen nicht besser könnten? Er sprach eines Abends mit
unserm sei. Bürger über dies Dry.lensche Problem; es schien demselben zu
gefallen und schon am folgendenMorgen schickte er nicht weniger als fünf
Uebersetzungen, wovon aber zwei durch vorsätzlichen Muthwilleu mehr Pa-
rodien waren; überhaupt befriedigte die Arbeit nicht ganz. Das Blatt ging
leider vei-loren." (Hinzu fügt Pröhle in einer Note: Eduard Mörike ist es
entgangen, dass die drei anständigen Uebersetzungen bei Althof a. a. O. IV,
p. 178, wo man auch den Bericht über die Sache mit dem Lichtenbergischen
vergleiche, abgedruckt sind. Die beiden übrigen wollte Althof nicht mit-
theilen. Das Blatt, welches ja auch Lichtenberg nicht verloren glaubte,
sondern nur augenblicklich verlegt zu haben bedauerte (s. den von Mörike
ausgezogenen Aufsatz im 5. BmuiIc von Lichtenberg's vermischten Schriften
1803, wo er die Ueberschrift führt: „Eine kleine Aufgabe für die Ueber-
setzer des Ovid in Deutschland," p. 350 wird vielleicht noch jetzt unter
Nachlasspapieren von Lichtenberg, Althof oder Bürger aufzufinden sein. Es
heisst dann weiter im Text:) Lidem nun Lichtenberg den Gegenstand zu
einer Aufgabe der Dichter und Dichterinnen seiner Zeit macht, wünscht er,
dass die Herausgeber der Musenalmanache den besseren Versuchen, wenn
solche einliefen, ein Plätzchen in ihren Annalen einräumen möchten. Zur
Belohnung freilich habe er weiter nichts zu versprechen, als den Beifall der
Kenner und das Vergnügen, das mit Autlösung jeder schwierigen Aufgabe
verbunden sei. Vom Erfolge dieser Aufforderung ist dem Einsender nichts
bekannt. Er selber schrieb vor 2.5 Jahren einen gelegentlich von ihm ge-
raachten Versuch in sein Exemplar von Lichtenberg's Schriften, den er als
Curiosität hier mit vorlegt :
Wisse nur, dass, wenn ohne durch Schönheit dich zu verdienen,
Keine die deinige wird, — keine die deinige wird."
Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
Teilt. Jahrbuch der Junggermanischen Gesellschaft, heraus-
gegeben von Fr. J. Kruger. Hamburg 1859.
Der Zweck der Junggermanischen Gesellschaft, welche sich im vorigen
Jahre gebildet hat, ist die Herstellung einer geistigen Einheit unter allen
Deutschen in Bezug auf Literatur, Kunst und Wissenschaft; zur Erreichung
dieses Zweckes bat die Gesellschaft das obengenannte Jahrbuch gegründet,
dessen zweites Heft eben vorliegt. Es kann natürlich nicht meine Absicht
sein, über das Wirken und die Erfolge der Gesellschaft irgend eine Be-
merkung zu machen, zumal da ausser den in dem Jahrhuche niedergelegten
literarischen Erzeugnissen von derselben nicht viel in die Oeffentlichkeit ge-
langt ist und auch die am 20. August dieses Jahres in Nürnberg abgehaltene
erste Hauptversammlung der Gesellschaft, welche von zehn Mitgliedern be-
sucht war, keinen besonderen Anhalt für eine Beurtheilung gegeben hat; ich
werde mich daher auf einen Bericht über den Inhalt des angeführten Heftes
beschränken.
Ich übergehe die literarischen Producfionen der Junggermanen, welche
das Heft bietet , eine erzgebirgische Erzählung von Elfried von Taura und
eine ziemliche Anzahl lyrischer Gedichte von verschiedenen Verfassern, da
eine Beurteilung derselben mir hier niclit am rechten Orte zu sein scheint,
und wende mich zu dem wiclitigeren Theile, einer Abhandlung von Fr. J.
Kruger: Die Zukunft der deutschen Literatur.
Gegenüber den trostlosen Aussichten, welche man sich ziemlich all-
gemein von der Zukunft der deutschen Literatur, namentlich der poetischen,
gemacht hat, gelangt der Verfasser der genannten Abhandlung zu ganz ent-
gegengesetzten Hoffnungen. Indem er nämlich nach einer kurzen Uebersicht
über die letzten Kichtungen der Literatur und der Kritik zu dem Ergebniss
kommt, dass allerdings die neuere Literatur den (Tipfei ihres Verfalls erreicht
hat, schliesst er nach einem allgemeinen Naturgesetz zugleich auf eine Neu-
bildung aus diesem Verfall. Unsere Zustände, meint er, simJ ganz verwandt
mit denen des vorigen Jahrhunderts, aus denen sich die höchste Blüte deut-
scher Dichtkunst entwickelte; aber um so viel höher wir in wissenschaftlicher
und politischer (V) Minsicht stehen, um so viel höher Auerbachs und seiner
Nachfolger Dorfgeschichten stehen, als Gessners Idyllen, an AN'ahrheit, (ie-
müthstide und an cchtdeutschem Charakter, um so viel wird die neue Lite-
ratur die Schiller -Götheschc Blüte hinter sich zurücklassen. Die Aufgabe
nun, <1iese neue Zeit herbeizuf ühren, hat die JunL'gtrmanische Schule. Diese
Aufgabe ist gross und des Strcbens werth, und wenn man auch an das ver-
sate diu, quid ferre recu sent, (juid valeant liumeri erinnert wird, so ist
doch o;n Urteil über das Vorhaben nicht abzugeben, bevor Tbaten sprechen,
zumal da der Verf. selbst meint, man dürfe sich kginen überspannten Hofl-
1Q4- Beurtliellungen und kurze Anzeigen.
nungen auf die Nähe des literarischen Höhepunktes und die persönliche
Rolle, welche die heutigen Junggermanen dabei spielen werden, hingeben.
Der Weg, auf welchem die Losung dieser Aufgabe gefunden werden
soll, i-'^t nun von dem Verf. bereits aufgesucht worden. Da die Principien
unsrer jetzigen Kunstanschauungen sich ausgelebt haben, so bedarf es eines
neuen Princips, um diese letzteren neu zu befruchten und zu beleben. Eine
Literatur, aus welcher ein solches Princip gewonnen werden könnte, giebt
es in Europa nicht mehr, aber wir finden sie im Orient. Es Hesse sich viel-
leicht manches gegen diesen Weg sagen, den, wie es manchem scheinen wird,
nur die iiusserste Verzweiflung an allem andern einschlagen konnte ; aber der
Verf. hat jede Kritik seines Vorschlages dadurch abgeschnitten, dass er die-
jenigen, die bereits einen Einwand dagegen erhoben, der Selbsttäuschung
und der Unkenntniss mit der morgenländischen Literatur beschuldigt, und
dagegen lässt sich nichts erwidern, zumal einem Manne gegeniiber, der die
morgenländische Literatur besser als die Orientalen selbst versteht, z. B. in
Bezug auf Firdusis kSchachnamch, „dessen Verständniss selbst dt^n heutigen
Orientalen abhanden gekommen und nur dann zu gewinnen ist, wenn man,
wie der Verfasseü^ dieses Aufsatzes, Jahre lang nicht auf philologischem,
sondern auf geschichtlichem Wege ihm nachgestrebt hat." Also auf die ver-
botene Kritik des Vorschlages lasse ich mich nicht ein, sondern berichte
nur die weiteren Erörterungen des Verf., aus denen ich freilich, wie ich
oflen gestehen muss, keine klare Anschauung habe gewinnen können, wie
denn nun praktisch jene Befruchtung unsrer Kunstanschauung durch den
Orient vor sich gelien soll. Zwar sagt der Verfasser zunächst, wir müssten,
um zu einer tiefern Erkenntniss unsrer eignen Religion zu gelangen, auf den
Allgottglauben der Inder zurückgehen, unsre an Geist und Charakter schwäch-
liche Generation müsse sich geistig und moralisch stäskcn an den urwüchsigen
Krafterzeugnissen des Orients, deren phantastischen Gebilden der Verf. doch
selbst das Mass abspricht; aber es ist dies alles nichts als Phrase, der jeder
praktische Wink, dessen es doch hier gerade am meisten bedurfte, fehlt;
freilich -setzt er eigenkräftige Meister voraus, welche ihren Schwerpunkt in
sich selbst finden, aber gerade diese, meine ich, werden, sobald deren ein-
mal wieder erstehen, seiner Winke am allerwenigsten bedürfen, sondern mit
der Kraft ihres Genies sich selbst eine Bahn brechen, die sie auf die Höhen
des Geistes führt und geeignet ist, ihre Mitwelt ihnen nachzuziehen. Nicht
solche Phrasen waren es, mit denen Lessing einst der Literatur eine neue
Bahn vorzeichnete, sondern klare Hinweisungen, feste Regeln, die von muster-
gültigen praktischen Beispielen unterstützt waren, und solche erwarten wir
von dem, der unsrer Literatur zu einer neuen würdigen Stellung ver-
helfen will.
Der Verf. sucht nun der Poesie zunächst rücksichtlich des Stoßes auf-
zuhelfen, indem er eine neue Sagen- und Mythenlehre schafft. Die erstere
soll nicht weniger als die gcsammte indogermanische Sagenwelt umfassen
und an Bedeutung und Reichhaltigkeit alle Sagengeschichten der einzelnen
Völker übertreffen. Ua dieser Plan in seiner Allgemeinheit völlig unüber-
sehbar ist, der Verf. auch versprochen hat, in den nächsten Heften einen
Grundplan zum Ausbau der indogermanischen Sagengeschichte vorzulegen,
so lassen wir diesen Plan einstweilen auf sich beruhen, um die neue Mythen-
bildung zu betrachten. Die Mythe soll „die Ergänzung der Weltanschauung
über die Grenzen des wissenschaftlichen P>kennens hinaus sein, sie darf also
innerhalb dieser Grenzen kein Reich gründen, sondern nur dort, wo der
Verstand dasselbe nicht anzutasten vermag." Die Erde bietet demnach für
die Mythe keinen Raum mehr dar, der Himmel, der sich vor der V/isseR-
schaft aus einem begränzten Räume in die Unendlichkeit aufgelöst har, auch
nicht mehr; der Verf. weiss aber noch einen Ausweg: er bestimmt die Sonne
dazu. Vielleicht vvird mancher bei diesem Vorschlage bedenklich den Kopf
schütteln, wenn er aber die Auseinandersetzungen des Verf. über die phy-
Beurtheiinngen und kiirze Anzeigen. 105
sischen Verhältnisse der Sonne belegt durch ein Citat aus numboldts Kos-
mos, über die Sonne als einen Sitz von Göttern, als Schlachtfeld der Titanen-
kärapfe, über den Uebergang aus einem Zustande der Dunkelheit, in dem
siclv die Sonne einst befand, in ein Friedensreich, das Jesus Christus als
priesterlicher König beherrscht, gelesen und eingesehen hat, dass dies nicht
etwa poetische Phantasien oder wüste Träume einer erhitzten Einbildungs-
kraft, sondern Ergebnisse der liistorischen Forschungen des Verf. sind, und
mit der Wissenschaft heutigen Tages übereinstimmen, so wird ihm dieser
Vorschlag erklärlich vorkonunen. A\'ir erwarten mit Sehnsucht die poetischen
Werke, zu denen Herrn Krügers Abiiandlung begeistern wird!
Eine Hindeutung, wie dieselben beschaffen sein werden, finden wir in
dem Capitel: Die Zukunft der Dichtungsgattungen. Die Lvrik
wird namentlich in der vaterländischen und religiösen Lyrik besondere Hlüten
treiben, letztere jedoch erst nach Bildung einer neuen Welt- und (iottes-
anschauung; ich glaube, hier wird das Sonnenreicli recht gute Dienste thun.
Für beide Zweige übrigens, so wie auch für die Liebeslyrik, liegen in der
Junggermanischen Gesellschaft bedeutende Keime; wir müssen dies dem Verf,
auf das Wort glauben, da doch wohl erst die Zukunft den Beweis liefern
kann. Das Drama hat sich in Form und innerer Gestaltung überlebt, bietet
demnach wenig Hoffnung für die Zukunft; besser sieht es mit dem Stofl'aus,
den es noch in reicher Fülle aus dem INlittelalter schöpfen kann, für den es
aber eine Anschauung aus der katholischen Geschichtsphilosophie, wie sie bei
Görres, Lasaulx zu finden ist, mitbringen muss. So kann das Drama noch zu einer
Nachblüte gelangen, zu der O. v. Redwitz mit seiner Philippine Welser
schon einen recht erfreulichen Anfang gemaciit hat. Der Himmel behüte
uns vor dieser Nachblüte, namentlich, wenn noch, wie der Verf. verlangt,
das indische Drama seinen Einfluss auf dieselbe geltend macht! Für das
Lustspiel hoff't der Verf. noch mehr, namentlich von einer freieren Ent-
wicklung unsrer politischen Zustände. Er scheint dabei an ein Lustspiel im
Sinne der attischen alten Komödie gedacht zu haben, denn er meint, unsre
humoristische Tagesliteratur, besonders unsre Witzblätter könnten nach Stofi
und Form dazu ausserordentlich beitragen. Es ist ersichtlich, dass man nicht
leicht auf eine ungeheuerlichere Entwicklung fallen konnte, als die von Herrn
Kruger prophezeihte: eine Tragödie im Sinne von O. v. Redwitz oder
auch nach dem Muster des indischen Drama, eine Komödie nach dem Muster
der fliegenden Blätter oder des Kladderadatsch! Eine würdige Aufgabe für
die Junggermanen!
Das Hauptgewicht für die neue Entwicklung legt der Verf. auf die
epische Gattung, in der er namentlich auch dem Roman eine bedeutende
Stelle zuweist. Von diesem nämlich hält er besonders die Landschaftsnovelle
(Dorfgeschichten), den Zeitroman (Gutzkow) und den historischen Roman
einer besonderen Entwicklung fähig, ^\'ir müssen allerdings zugeben , dass
der Roman in der neueren deutschen Literatur eine hervorragende Stellung
eingenommen hat und auch wohl in Zukunft eine bedeutende Rolle .»spielen
wird, ob in der vom Verf. angedeuteten "Weise, möchte jedoch zweifelhaft
sein. Die Dorfgeschichten haben sich entschieden überlebt und werden
schwerlich noch kräftige IViebe hervorbringen, der Zeitroman in Gutzkow-
scher Manier hat gewiss nicht den Beifall gefunden und findet namentlich in
seinem letzten Erzeugnis.s nicht den Keifall, der ihn als Muster einer neuen Rich-
lung Ifezeichnen könnte, und auch der Geschichtsronian, wie ihn der Verf.
denkt, als dessen Muster er die Romane von Th. Mundt aufstellt, verspricht
in dieser "Weise keine grossen Erfolge, sondern kann leicht zu einer Anek-
dotensammlung werden, die auf den dünnen Faden einer schwächlichen Haupt-
handlung aufgereiht wird, wie dies z. B. die verwandten Produkte der L.
Mühlbach zeigen.
Von der Zukunft des eigentlichen Epos verspricht sich der Verf. ausser-
ordentlich viel; sein Muster soll dasselbe an dem Lieblingsbuche des Verf.,
106 Beurf lieihingen und kurze 'Anzeigen.
dem Schaclinameli des Firdusi haben; der Stoff iimfasst die Ursage des indo-
germanischen Vöikerstammes, die Erlösungsgescliichte und das germanische
Mittehihcr; die Bearbeitung dieses Stoffes fällt natürlich der Junggermanischen
Gesellschaft zu. Icli enthalte mich eines jeden Urtheils über die Ansichten
des Verf. in Betracht der Wichtigkeit und Lebensfähigkeit des Epos; der
Umstand, dass wir aus der neueren Zeit auch nicht ein epochemachendes,
ja nicht ein erwuhnenswerthes Epos haben, spricht deuthch genug; was die
Junggermanen leisten werden, muss die Zeit lehren. J^rwähnenswerth möchte
noch der Vorschlag sein, das Epos auf nlie Bühne zu bringen: „Während
im Vordergrund des Theaters ein auch mehrere Schauspieler abwechselnd
den Text recitiren oder absingen, wäre der Inhalt im Hintergrunde durch
lebende Bilder, Dekorationen, Nebelbilder und dergleichen darzustellen, und
auch eine Musikbegleitung könnte bis zu einem gewis.sen Grade stattfinden."
Ich halte diesen Vorschlag für bemerkenswerth, denn wenn man namentlich
als Schauspieler die geeigneten Persönlichkeiten, etwa unsre modernen
Rhetoren, wählt, auch im gehörigen Masse das Ballet mitwirken lässt, so
kann dies in Verbindung mit einem entsprecliend ungeheuerlichen Texte,
für den unter Leitung des Herrn Kruger die Junggernianen sorgen werden,
ein Spektakel werden, das unsre neusten Opern vollständig in den Schatten
stellt.
Was der Verf. in dem letzten Kapitel seines Aufsatzes über die deutsch -
amerikanische Literatur sagt, kann füglich übergangen werden.
Die ganze nichts weniger als klar und übersichtlich geschriebene Ab-
handlung macht durchaus den Eindruck eines subjectiven Einfalles ohne Be-
gründung, ohne innere Notliwendigkeit, den Eindruck des Strebens, einen
Gegenstand, mit dem der Verf. sich lange mit Vorliebe und besonderem
Eifer l)eschäftigt hat, in weitere Kreise zu bringen und demselben allgemein
dieselbe Wichtigkeit zu verschaffen, die er für den Verf seihst hat. Ob die
sogenannten Junggernianen denselben Brincipien huldigen, wie ihr Wort-
führer, wissen wir nicht, ob sie denselben Geltung verschaffen können, muss
der Zukunft überlassen bleiben. _
Berlin. Dr. Büchsen schütz.
Grundzüge der Neuhochdeutschen Grammatik für liöhere Bil-
dungsanstalten von Friedrich Bauer. Vierte sehr vermehrte
und verbesserte Auflage. Ausgabe für protestantische
Schulen. Nördlingen 1859.
Um der Ansicht entgegenzutreten, welche sich leicht aus dem oben
stehenden Titel des Buches ergeben könnte, als iiabe die deutsche Sprache
für Protestanten und Katholiken eine besondere Grammatik, diene die vom
Verf in der Vorrede gegebene Aufklärung, dass das Buch in den östrei-
chischeu Lehranstalten Eingang gefunden hat, dass aber für diese eine be-
sondere Ausgabe hat veranstaltet werden müssen, in welcher die für Ka-
tholiken etwa anstössigen Beispiele z. B. aus Luthers Bibelübersetzung be-
seitigt sind. Mit Recht hat nun der \'erf. die protestantischen Schulen,
welche sein Buch benutzen, nicht unter dieser komischeu Anforderung der
östreichischen Behörden wollen leiden lassen, und daher diese besondere
Ausgabe veranstaltet.
Dass das Buch praktisch brauchbar ist, wenn man es überhaupt für
nothwendig und zweckdienlich hält, auf den Schulen die deutsche Grammatik
systematisch zu betreiben, beweist die nicht unbedeutende Zahl der erneuten
Auflagen (die vorliegende ist seit 1S.50 im Ganzen die siebente); es dürfte
daher über diesen Punkt nichts zu bemerken sein. Dass in der Formenlehre
Beurtheilungcn iiml kurze Anzeigen. 107
In manchen Punkten vielleicht mehr gegeben ist, als für Schüler brauchbar
gemacht "werden kann, ist kein Vorwurf für das Buch, da ja dem geschickten
Lehrer die nöthige Auswahl des Lehrstoffes überlassen bleibt. Am stärksten
macht sich dies in dem Abschnitt von der Wortbildung bemerkbnr, der dem
äusseren Umfange nach einen sehr bedeutenden Theil des Buches ausmacht,
für die Schule aber am allerwenigsten zu vorwenden sein möchte.
Das Buch beruht in der Formenlehre auf J. (irimm, in der Syntax auf
K. F. Becker; die Eigenthümlichkeiten beider Systeme treten auch hier, in
den zusammengezogenen Bearbeitungen, deutlich' genug hervor, so dass eine
eingehende Beurteilung des wissenschaftlichen Werthes der' vorliegenden
Schulgrammatik hier keineswegs an ihrer Stelle sein dürfte, da dieselbe mit
einer Beurteilung der zu Grunde liegenden Systeme zusammenfallen müsste.
Nur scheint die Syntax, welche für die Schule gewiss eine viel grössere Be-
deutung hat, als die Formlehre, im Verhältniss zu dieser viel zu kurz ab-
gehandelt zu sein. Ein dem Buche beigefügter Anhang enthält ergänzende
Bemerkungen, die bestimmt, in ein tieferes Verständniss der Sprache ein-
zuführen, auf das Althochdeutsche zurückgehen.
"Wenn man das Studium der alt- und mittelhochdeutschen Spraclie und
Literatur in den Kreis des Schulunterrichts ziehen will, so ist als brauch-
bares Hülfsmittel auch zu empfehlen:
Kurzgefasste Laut - und Formenlehre der mittelhoclideutschen
Sprache für die obern Klassen der Gymnasien von Dr.
Wahlenberg. Sigmaringen 1858.
Dieses Büchlein giebt auf 19 Seiten eine meist in tabellarischer Form
abgefasste Uebersieht über die Laut- und Formenlehre, so wie über die
mittelhochdeutsche JNletrlk, die als Anhalt für einen eingehenderen granjnia-
lischen Unterricht wie auch bei der Erklärung der betreffenden Schriftsteller,
deren Kenntniss für die Schüler der oberen Klassen höchst wünschenswert!!
ist, gute Dienste leisten kann.
Zur Einleitung in die Bekanntschaft mit den Schriftstellern der älteren
Zeit dient:
Hülfsbuch für den deutschen Unterricht in den obern Klassen
höherer Lehranstalten von H. Viehoff. Braunschweig 1858.
Es enthält dieses Buch zunächst für den Unterricht in der Literatur-
geschichte eine Sammlung von Musterstücken aus -der deutschen Literatur
von den ältesten Zeiten bis zum Jahre 17:^5 und zwar zuerst die Prosa,
dann die Poesie. Da für ein Schulbuch möglichst geringer Umfang Be-
dingung war, so hat sieh die Auswahl auf das notliwendigste und am meisten
charakteristische beschränken müssen und es gebührt hier dem Heraus<reber
das Lob, dass er meistentlieils mit feinem Takt das Beste aus dem reichen
Schatze der Literatur ausgewählt hat. Dass dabei die Kürze der Stücke
namentlich in der Prosa zuweilen gar zu sehr an Dürftigkeit streitl, dürfte
dem Herausgeber nicht zum Vorwurf gemacht werden, sie war wohl nöthig,
um für die ungleich wichtigeren und nothwendigeren poetischen Stücke
grösseren Raum zu gewinnen. Aullallend aber ist es mir gewesen, dass eine
ganze Dichtungsgattung, die dramatische, so überaus kurz abgefertigt worden
ist, nämlich mit einem ganz kurzen Bruchstück eines Fastnachtsspieles von
Hans Folz und einem Stück aus A. Gryphius Horribilicribrifax. Ich würde
es sowohl für die Charakteristik einzelner Männer, wie Hans Sachs, Lohen-
stein, für wesentlich halten, mehrere und etwas umfangreichere Stücke auf-
zunehmen.
Zweckmässig ist die den althochdeutschen Stücken heigegebene neu-
108 Beurthcilungen und kurze Anzeigen.
deutsche Uebersetzung; ich glaube auch bei Notkers Uebersetzung des
Boethius wäre es besser gewesen, statt der einzelnen in Parenthese gesetzten
Ausdrücke den vollständigen leteinischen Text des Originals abzudrucken.
Bei den Stücken aus den nächsten Zeiten wird man beim Gebrauch gewiss
auf Schwierigkeiten im Verständniss stossen, die allerdings während des
Unterrichtes durch den Lehrer beseitigt werden können, aber ofienbar dann
sehr viel Zeit rauben, die erspart werden könnte, wenn die Schüler sich auf
die zu lesenden Abschnitte vorbereitet hätten. Wie dieser Umstand zu be-
seitigen ist, ob durch ein kurzes AVörterverzeichniss oder durch Erklärung
einzelner Ausdrücke neben dem Text, wage ich nicht z;u entscheiden.
Dieser Beispielsamnilung folgt dann zunächst ein Ueberblick der Literatur-
geschichte, in grossester Kürze überall das wichtigste hervorhebend: dann
ein Abriss der Verslehre, der wenigstens dazu dient, den Schüler mit Namen
und Form namentlich der fremden Versformen bekannt zu machen, die im
Deutschen Nachahmung gefunden. Ausführlicher und dem Bedürfnisse der
Schüler reichlich genügend ist der folgende Ueberblick über die Dichtungs-
arten. Den Beschlnss macht ein Abriss der Stillehre und eine Sammlung
von Aufgaben zu Aufsätzen. In dieser letzteien finden sich, nach den
eigenen AVorten des Verf, manche Themata, die er selbst nicht leicht den
Schülern zur Bearbeitung aufgeben würde, und nach meiner Ansicht ist
die Zahl dieser Aufgaben nicht gering. Ein jeder, der in dem Falle
gewesen ist, in den mittleren und oberen Gymnasialclass^en Aufsätze an-
fertigen zu lassen, weiss, wie schwierig es oft ist, passen'ie Aufgaben zu
denselben zu finden, er weiss aber auch, wie sehr man in der Regel von
Aufgabensammlungen im Stich gelassen wird. Dieselbe Erfahrung wird ihm
hier auch nicht erspart werden. ^Mr hofTen, dass bei einer erneuten Auf-
lage, die das Buch bei seiner besonderen Brauchbarkeit bald erlangen wird,
der Herr Verf. auch diesem Theile seine im Uebrigen bewährte Sorgfalt
widmen werde.
Berlin. Dr. Büchsenschütz.
Ueber ein charakteristisches Element in der Lyrik Eraanuel
Geibels. Von Dr. C. G. Seibert. Marburg, Elwert. 1860.
- Vorliegende kleine Schrift ist der Abdruck eines Vortrages, den der
Verfasser in dem Verein für junge Kaufleute zu Barmen zum Besten des
Gustav- Adolf- Vereines gehalten. Es ist eine sehr erfreuliche Erscheinung,
dass in dem Vereine ein Gegenstand wie dieser allgemeinen Anklang ge-
funden, und die Lektüre der kleinen Schrift zeigt andrerseits, dass gerade
für den Zweck der Stoß" passend gewählt war. Der Verfasser setzt nämlich
darin auseinander, dass zu der grossen Vorliebe des deutschen Volkes für
Geibel nicht bloss die unbezweifelte Formvollendung seiner Gedichte bei-
getragen habe, in welcher Beziehung nur Paul Heyse ihm zur Seite gestellt
werden kann, sondern die echt deutsche Grundstimmung seiner Poesie, der
ideale Schwung, der sittliche Ernst, der sich durch keine Verzerrungen der
Zeitideen habe beirren lassen, der patriotische Sinn, vor Allem der religiöse
Gehalt. Liegt dieser von vornherein auch nicht jedem gleich vor Augen,
so ist er doch von Anfang an in Geibels Gedicb.ten vorhanden und hat sich
mit der wachsenden innern Lebenserfahrung des Dichters immer klarer her-
ausgestellt. In dieser Beziehung lässt sich schon eine dreifache Entwicklung
wahrnehmen, und diese deutlich gemacht zu haben ist das Verdienst dieser
kleinen, sehr lebendig gehaltenen, frischen, warmen Schrift, die allen Ver-
ehi-ern des Dichters emj. fohlen sein mag. Auch Barthel hat in seiner deut-
schen Nationalliteratnr der Neuzeit S. 479 — 508 schon eine ähnliche gute
Charakteristik Geibels oeaeben. — H.
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 109
Germania. Vierteljahrsschrift für Deutsche Alterthuraskunde.
Herausgegeben von Franz Pfeiffer. 4. Jahrgang.
2. Heft. Wien bei Tendier & Comp. 1859.
Die deutschen Appellativnanien von W. Wackernagel. Nach
einer einleitenden Betrachtung über die Uebergänge der Appellativa und
Eigennamen in einander, unter denen ursprünglich kein Unterschied Statt
fand, bespricht der Verf. zunächst „die erste, älteste und ursprünglichste
Classe der Appeüativnamen, diejenigen Fälle, wo Gegenstände nicht mensch-
licher Art dennoch mit Namen nach Art der menschlichen belegt werden."
Es sind dies besonders Schwerter, Helme, Panzer, Hürner, Ringe, Rosse,
Hunde und andere gezähmte und au das Haus gewohnte Thiere, Schifle,
Geschütze, Thürme und Glocken. Wackernagel beschränkt sich in diesem
ebenso anregenden, als durch die Fülle von Einzelheiten belehrenden Auf-
satze streng auf das Gebiet der deutschen Philologie.
Haus, Kleid, Leib. Von L. Tobler. An eine gelegentliche Be-
merkung "W. Wackernagels, dass in der Sprache unseres Stammes die Be-
griffe Haus und. Kleid mehrfach in dieselben Worte zusammenfallen, an-
knüpfend, sucht er das genannte Begrifl'sfeld genauer durchzugehen und zu
untersuchen, ob und in wie weit die Etymologie sich für die Realien ver-
werthen lasse. Das Schwierige und Schlüpfrige der ganzen Sache ist ihm
nicht unbekannt. Es werden zuerst die verschiedenen Wörter von Haus und
Kleid, dann von Leib und Haus, endlich von Leib und Kleid in ihren ver-
wandtschaftlichen Beziehungen zueinandergestellt und besprochen.
lieber Hartmann von Aue. Von Franz Pfeiffer. „Unter den deut-
schen Sprachforschern giebt es noch immer manche, die es für eine Ver-
messenheit, oder gar für eine Fälschung, jedenfalls für unerlaubt halten,
Denkmäler altdeutscher Poesie, die nur einmal und in späten Handschriften
überliefert sind, kritisch zu bearbeiten." Sie nennen dies Tcxtmacherei.
Herr Pfeifier spricht sich dahin aus, dass eine „annäherungsweise Her-
stellung der ursprünglichen Schreibweise' erreichbar und daher ebenso, wie
in der classischen Philologie nicht bloss zulässig, sondern nothwendig sei."
Der Erek Hartmanns ist nun ein solches Buch, von dem es nachweisbar
mehrere ältere Handschriften gegeben hat, die aber bis jetzt verschollen sind.
Die einzige Handschrift ist die Ambraser von 1517. Moritz Haupt ver-
suchte es im Jahre 1839, — es war seine erste kritische Arbeit auf diesem
Felde, — den ursprünglichen Text herzustellen, und Lachmaiin, der ihn dabei
unterstützte, hat, wie Haupt selbst sagt, dabei das Besste gethan. Aber es
fehlt niclit an Irrungen, und wie viel überhaupt noch dem Scharfsinn und
Nachdenken Anderer übrig gelassen war, zeigte schon die Nachlese Haupts
in der Zeitschrift f. D. A. 3, -.'CG — 273. Seitdem sind 15 Jahre verflossen
und Niemand hat sich an den Erek gewagt. Herr Pfeifler lässt nun auf 40
Seiten eine ansehnliche Reihe längerer und kürzerer, allgemeiner und spe-
cieller Bemerkungen zum Erek folgen. Am Schlüsse- des sehr lehrreichen
Aufsatzes spricht er sich energisch gegen Moritz Haupt und dessen stur-
mischen Ausfälle gegen ihn wegen seiner Recension über den Minnesang
Frühling in (iermania HI, 484 aus (S. Haupt's Zeitschrift f d. D. A. XI,
503 — 593). Er sagt unter Anderem S. 233: „Was ich aber bekämpfe, ist
die Unsitte, neben derlei selbstgefälligen Bemerkungen mit Geringschätzung
auf Andere herabzusehen, und die Versuche, durch hochmülhicic Drohungen
der Kritik den Mund zu schliessen." Und S. 235: „Man hat aus Mattherzigkeit
und Rücksichten viel zu lange geschwiegen : es würde mit der deutschen Phi-
lologie anders und besser stehen, wenn man dem Dunkel und tier Verunglimpfung
zur rechten Zeit entgegengetreten wäre. Ich wiederhole, dass die althoch-
deutsche Literatur nicht bloss für einige Studenten und Professoreu gewachsen,
110 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
sondern dass sie ein Gemeingut für alle Gebildeten unseres
Volkes ist und werden soll." So hat Prof. Pfeifler meinen bei der
Anzeige des vorigen Heftes ausgesprochenen Wunsch, noch ehe er denselben
gelesen, theilweise erfüllt. —
Gedicht auf den Zauberer Virgilius. Mitgetheilt von Prof K.
Bartsch. Es ist dies nach dem Herausgeber die einzige deutsche poetische
Darstellung, die es giebt, und stammt aus dem H.Jahrhundert. Er verweist
über das Nähere der in dem Gedicht behandelten Sage auf Massmanns Kai-
serchronik 3, 448 flgd.
Zur Legende vom heiligen Nicolaus, wahrscheinlich aus dem 13.
Jahrhundert, aus^ einer Handschrift der Nürnberger Stadtbibliothek von K.
Bartsch niitgetheilt.
Bruchstück einer Passion des 12. Jahrhunderts. Von K. Bartsch.
Wörtlicher Abdruck eines Pergamentblattes in 12°. —
Recensionen. Neidhart von Reuenthal, herausgegeben von
Moritz Haupt, recensirt von K[arl Bart seh ; der Spiegel deutscher
Leute von Ju!. F icke rund: lieber dieEntstehun gszeitdesSachsen-
spiegels und die Ableitung des Schwabenspiegels aus dem Ueutschen-
spiegel von Jul, Ficker, recensirt von H. Spiegel; Der Welt Lohn
von Konrad von "Würzburg, ein Beitrag zum Verständniss mittelalter-
lichen Glaubens und Lebensansicht von Fr. Sachse rec. von Fr. Pfeiffer.
Berlin. Dr. Fr. Sachse.
Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit. Organ des Ger-
manischen Museums zu Nürnberg. 1859. Nro. 5 — 8.
Ueber eine Urkunde vom 12. IVIai 1268, worin auf die Ein-
f ä 1 1 e d e r T a r t a r e n in das L a n d S c h I e s i e n B e z u g g e n o m m e n wird.
Vom Geh. Justizrath Prof Gaupp in Breslau. Höchst interessant für die Ein-
sicht in eine Menge von Lebens- und Rechtsverhältnissen zwischen Polen
und Deutschen.
ZuT Geschichte der Bilderrätsel. Mitgetheilt von Jos. Mar.
Wagner in Wien. Rebus aus de Sunde's (Daniel Schwenters) Stenographia
et Steganologia aucta. Nürnberg o. J. (zwischen I6l9 und 1G24 gedruckt)
V. p. 173.
Aelteste Kriegsbauwerke. Von Prof Dr. Heinrich Schreiber
zu Freiburg. Ausgehend von den verglasten Wällen (S. Nro. 3 des Anzeigers)
bespricht der Verf die Entstehung genannter Befestigung und kommt dann
auf Münzen , die vermutblich dem keltisclien Volk der Kaleten angehören
und untermischt mit denen der Bojer aufgefunden sind.
DiefreieReichsritterschaftund der gemeinePfenning. Von
Dr. Roth von Schrecken st ein in Ulm. Angaben aus einem Notizen-
buche des Ritters Kunz von Wirsberg vom Jahre 1.501 über eine Verweigerung
des gemeinen Pfennings von Seiten der Fränkisclien Ritterschaft.
Ueber einen alten Handschriftenkatalog Von Prof Bartsch
in Rostock. Lii Besitz des Germanischen Museums zu Nürnberg befindet
sich eine Papierhandschrift des 1.5. Jahrhunderts in 4'-'., welche Handschriften
und Werke des ehemaligen ISenedictinerklosters in Nürnberg enthält, von
auJf^nen die meisten in dem Brande des Klosters im J. 1696 untergegangen sind.
wahn. Ein geistliches Spiel aus dem 12. Jahrhundert. Mitgetheilt von
kleinei^all Morel, Rector des Stifts l\Iaria- Einsiedeln. Bruchstück einer
ehrern oisirten Wundergeschichte des heil. Nicolaus in lat. leoninischen Versen.
sehen Nai Fund von Thonfiguren aus dem 14. Jahrhundert. Vor
Charakteritwurde eine Menge meistens weiblicher Thonfiguren unter dem
laster von Nürnberg aufgefunden, die in den Besitz des germanischen
ßeurtheilungen und kurze Anzeigen. 111
Museums gelangt sind. Anfangs wurden diese Figuren, die auch anderwärts
vorgekommen sind , für Votivbilder gelialten. Die Nürnberger Gelehrten
halten sie jetzt für Puppen und Spielzeug des 14. Jahrhunderts. Zur Xar-
anschaulichung ist dieser Mittheilung eine Tafel mit Abbildungen beigefügt.
Schöne Frauen als Lehen. Von Prof. Fickler in Mannheim. Die
in Nro. 4 des die.sjährigen Anzeigers mitgetlieilte Vennuthung beruht einfach
auf einem Druckfehler.
Vom Notrecht. Von Hofrath Dr. Zöpfl in Heidelberg. Krgänzung
und Berichtigung zu Nro. 12 des vorigen Jahrgangs.
Zur Geschichte der Vehmgerichte. Vom Archivar Herschel
in Dresden. Ueber Abschriften von Urkunden des 14. Jahrhunderts, in nieder-
deutscher Sprache abgefasst.
Zur Geschichte von Koldiz. (Stadtwillkür. Seelbäder). Von Ar-
chivar Her seh el in Dresden. Mittheilung von drei Urkunden über Stiftung
von Seelbädern, ein Gegenstand, über den die christlichen Archäologieen in
ihren Abschnitten über kirchliche Armen- und Krankenpflege wenig zu ent-
halten pflegen.
Zur Geschichte der Bilderrätsel. Von H. Otte, Pfarrer in
Fröhden. ,.Als älteste Bilderrätsel sind wohl die, bekanntlich bis in die
ältesten Zeiten hinaufreichenden, redenden Wappen zu bezeichnen." Versteht
man aber darunter eine Zusaumienstellung von Bild und Schrift, so werden
wir auf das 15. und 16. Jahrhundert zurückgeführt.
Die Siegel von Heidenheira und Heidingsfeld. Vom Freiherrn
V. Ledebur in Berlin. Die Siegel sind abgebildet und werden kurz be-
sprochen. Die Redaction nimmt Veranlassung, einen schon früher getassten
Vorsatz zur Ausführung zu bringen, nämlich: aus der Siegelsammlung des
Museums die Siegel mit Jahreszahlen namhaft zu machen.
Die Grafen von Hohenems nicht Pfandherrn zu Triberg.
Von Prof. Fickler in Mannheim. Kurze Erörterung über Eigentluimsrccht
der Burg und Stadt Triberg.
Die Familie von Fladung. Von C. Primber, Rechtspraktikanten
in Nürnberg. Kurze Notiz über ein im 16. Jahrhundert ausgestorbenes
adliges Geschlecht von Fladung zu Lindau.
Zur Geschichte des Baierischen Herzogs Heinrich XVI. Von
Archivar Herschel in Dresden. Mittheilung einer Urkunde von 1448 aus
der Dresdener Bibliothek, welche Lang in ^^einer Geschichte des Baierischen
Herzogs Ludwig VH (,des Bärtigen; anführt, aber deren Inhalt nicht näher
angiebt.
Volcher Coiter. Von Prof. Reuss in Nürnberg. Aus einer Nürn-
berger Handschrift wird zur Ergänzung der bisherigen biographischen Nach-
richten eine Aufzeichnurg über den Tod des berühmten Nürnberger Anatomen
mitgetheilt. Er starb 1.t7G den 2. Juni.
Anregung zu einer archäologischen Karte Deutschlands.
Ein Sendschreiben an alle Alterthumsfreunde von Dr. Riecke in Nordliausen.
Der Auflbrdenmg zur Anlegung von Karten und Verzeichnung vorhandener
alter Denkmäler, Landwehren, Landgräben, Schanzen, Ringwälle und dergl.
fügt der Verf. Vorschläge bei behufs Einrichtung derselben.
Der Gesellschaft der Rebleuten zu Lucern Ordnung. 1517.
Mitgetheilt von J. Schneller, Stadtarchivar in Lucern
Der Münzfund bei Weitersdorf in Franken. Von Dr. Joh.
Müller. Mittheilung über eine den 23. April dieses Jahres ungefähr drei
Meilen von Nürnberg in zwei ungehenkelten Thongefässen aufgelüudene
Menge (29 grössere und über 1000 kleinere) Silbernuiiizen.
Die Beilagen liringen in gewohnter Weise ausser Nachrichten über das
Museum Anfragen, MittheiLungen, Recensionen.
Berlin. Dr. Sr-chse.
112 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
Dr. K. Keicliel: Mittelhochdeutsches Lesebuch für Gymnasien.
Wien, K. Gerolds Sohn. 1858. 8o. VI u. 239.
Ein neues Buch auf diesem Gebiete! Ist es denn nöthig, zu den schon
vorhandenen noch eins hinzuzufügen? Haben wir nicht Kehreins, Simrocks,
Kohlrausch und Schädels, Pütz u. A. Lesebücher? So Treffliches auch von
den Genannten geleistet wurde, wir begrüssen das oben angeführte mit
wahrer Freude. JeJer hatte seine eignen Zwecke bei der Abfassung seines
Buches. Zu des Einen Zeit war Anregung zum Studium der altdeutschen
Sprache wünschenswerth, darum erleichterte der das Verst'andniss durch bei-
gefügte Uebersetzung. Der Andere hatte Studenten , Weitergeförderte im
Auge, darum knappe Behandlung. Der Dritte hatte wieder Schulen be-
rücksichtigt, darum Vermeiden von Verweisungen auf fremde Sprachen. Der
Vierte schrieb ebenfalls für Schulen, aber schon für höhere, darum mehr
erklärende Bemerkungen, obwohl Anfangs auch Uebersetzung des Textes.
Aber er lässt uns im Stich bei der selbständigen Darstellung der Sprache
und des Stoffes. Wir sind da verwiesen auf die Arbeiten Anderer. Der
Schüler soll schon einen grösseren Apparat von Hilfsmitteln besitzen. Unser
vorliegendes Buch ist gleichsam eine Vereinigung von all diesen Arbeiten.
Es bietet uns als Einleitung einen grammatischen Abriss der mittelhochdeutschen
Sprache, der mit klarem Bewusstsein die Zwecke einer höheren Lehranstalt
(und Klasse) im Auge behält. Die Arbeit zeigt uns einen denkenden, ge-
wandten Schulmann, der zugleich lehrt und bildet; sie zeigt uns einen tüch-
tigen Kenner der Sprache, der nicht nur von seinen grossen Meistern gelernt,
sondern der auch das Erlernte zu selbsteignen Zwecken zu gebrauchen ver-
steht. Dieser Abriss ist eine durchaus selbständige Arbeit , in welcher der
Kundige mit «irosser Befriedigung die besten Bausteine der Meister verwendet
findet. — Sodann folgen die Lesestücke in V Gruppen: Das volksthümliche
Epos. — Das kunstmässige Epos. — Die lyrische Poesie. — Die didactische
Poesie. — Prosa, mit dem Nibelungenlied beginnend bis zu einer Predigt
Bruder Bartholds und dem Schwabenspiegel. — Nibelungenlied und Gudrun
sind wohl nicht vollständig aufgenommen; aber da, wo der Text unterbrochen
ist, gibt ein kurzes Argument das Fehlende, so dass der volle Zusammenhang
dieser beiden Epen ersichtlich ist. Bei jeder Abtheilung ist ein kurzer Ueber-
blick vorausgeschickt, der mit wenigen kräftigen Zügen ein gutes Bild der
literarischen Gattung entwirft. Jedenfalls der Kernpunkt des Buches. Und
dass der Verfasser ein feines Verständniss für Auffassung seines Stoffes be-
sitzt, hat er seitdem auch weiter in der Empfangsschrift der Philologen-
versammlung zu Wien „über Parzival" bewiesen. Diese Einleitungen sind
treffende und meisterhafte Umrissse zu den Bildern, welche die anknüpfende
Erklärung d-.:s Lehrers ausfüllen mag. — Vielleicht etwas zu kurz sind die
erklärenden Zusätze hinter jedem Textstück, so anregend und trefflich ab-
gefasst sie im Einzelnen auch wieder sind. — In seiner ganzen Erscheinung
aber ist das Buch eine äusserst dankenswerthe Bereicherung der Lehrmittel
und wir möchten es allen betreffenden Anstalten auf's Beste empfohlen haben.
Biedenkopf. Dr. Fr. Möller.
Programmenschau.
Uebei' das Nibelungenlied unter besonderer Rücksicht auf den
deutschen Unterricht in einer höhern Töchterschule. Vom
Dir. Schornstein. Programm der höhern Töchterschule zu
Elberfeld. 1858.
Nicht um gelehrte Zwecke zu verfolgen, tritt der Verfasser mit dieser
Einladungsschrift hervor, sondern von dem Bedürfniss getrieben, aus der
Schule, hier der Mädchenschule, für die Schule sich zu besprechen sowohl
mit Collegen wie mit den Eltern. Für die Mädchenschule ist es namentlich
erforderlich, den literargeschichtlichen Unterricht zu beschränken und es ist
für die ältere Zeit hauptsächlich das Nibelungenlied zu wählen. Nachdem
er in der Schule das Gedieht nach der Uebersetzung von Simrock mit den
Schülerinnen gelesen hatte, bietet er nun zunächst für sie diese Blätter dar.
Sie haben aber nicht bloss diesen nächsten Zweck im Auge, sie wollen über-
haupt zeigen, wie die Leetüre für den Unterricht verwerthet werden könne.
Deshalb mag auch hier ihr Inhalt angezeigt werden.
Zuerst zeichnet der Verfasser in einer einfachen, schönen Sprache, indem
er sich grossentheils an die vortreffliche Inhaltsangabe bei Vilmar anschliest,
die Gestalten des Liedes: Krimhild, Brunhild, Sygfrid, Hagen, Rüdiser, Diet-
rich. Sodann betrachtet er das Lied als einen Spiegel deutschen Volkslebens,
indem er die historische Grundlage zunächst beleuchtet, darauf aber, wie es
der Zweck erforderte, das Familienleben, besonders die Stellung der Frauen,
ins Auge fasst, weiter das Vasalienthum und die Vasallentreue, die religiösen
Vorstellungen, den sittlichen Boden. Er knüpft schliesslich daran einige
Aufgaben, die wohl geeignet sind, zu tieferem Nachdenken -die Schülerinnen
anzuregen. Wenn in ähnlicher Weise die schönsten Gedichte unserer Vor-
zeit in Mädchenschulen behandelt werden, so ist nicht za zweifeln, dass die
Schülerinnen ein warmes Interesse für dieselben gewinnen werden. —
Proben aus einer alten und ungedruckten lateinischen Bearbeitung
der Trutznachtigall von Fr. von Spee. Vom Dir. Dr. J.
B. Ahlemeyer. Programm des Gymnasiums zu Paderborn
1858.
Diese lateinische Uebersetzung der Trutznachtigall unter dem Titel:
Philomela Friderici Spee, dudum germanica, nunc etiam latin«, dicta pro-
Tocatoria; divinae laudis ac humanae sapientiae, ut ante rhythmis teutonicis,
sie nunc metris ausoniis modulatri.x. Adiecta iuveniuntür alia viginti carmiua,
Axchiv f. u. Sprachen. XXYU. 8
114 Programmenschau.
ex eiusdem poetae chrysoaretobiblio i. e. aureo virtutis libello in Latinum
converso, ist wahrscheinlich von einem Landsmanns des Dichters verfasst.
Trotz einiger Kühnheiten zeichnet sicli die Uebersetzung durch Gewandtheit
aus. Die Proben enthalten: Erkenntniss und. Liebe des Schöpfers aus den
Geschöpfen, Christus am Üelberge, Xaverius. Der deutsche Text steht zur
Seite. —
Ueber Schillers kleinere Lehr- Gedichte von R. Hauer. Progr.
der Stadt. Töchterschule. Berlin 1859.
Unter den kleinem prosaischen Schriften, welche die Schillerfeier erzeugt
hat, zeichnet sich diese — als Beigabe zu einem Jahresbericht der ersten
städtischen höheren Töchterschule zu Berlin, — durch die Beschränkung auf
die Erläuterung von kleinern Lehrgedichten Schiller's aus. Diesen hätten noch
eine bedeutende Zahl angeschlossen werden können; aber die zehn hier be-
trachteten, — „Menschliches Wissen, Sprüche des Confuzius, Breite und
Tiefe, Kosmopoliten, das Neue, Hoffnung, Worte des Glaubens, Worte des
Wahns, Licht und Wärme« — sind zweckmässig ausgewählt als solche,
„welche in einfachem poetischen Gewände erhabene Lehren vorführen,
und in denen die vorwaltende Absicht, belehrend und bestimmend auf
unser Erkennen und ^Vollen zu wirken, nicht zu verkennen ist," wie sie denn
auch einer Periode angehören, in der sich der Dichter „ein gefasstes,
selbstbewusstes Wesen errungen hatte." Den diese Gedichte betreffenden
kurzen Bemerkungen ist eine etwas längere Vergleichung von Schiller's
„Licht und Wärme" mit einer Stelle aus Goethe's Gedicht „an Lottchen"
beigefügt. Von dem Ergebnisse der Betrachtung der ganzen kleinen Reihe
dieser Gedichte möge der Anfang und der Schluss hier stehen: „Sie sind
sämmtlich Darstellungen drs Menschlichen in edelster Idealität. Der
Zauber derselben ergreift nicht nur die Phantasie, sondern auch das Ge-
wissen. Alle haben endlich den Zweck, der Zeit die sittliche Richtung
anzugeben; sie wollen belehrend die Gedanken zum Ewigen erheben, bildend
das Nothwendige und Ewige in einen Gegenstand der Triebe verwandeln,
und tragen so das Element in sich, welches das Grundwesen der Schiller-
schen Poesie ist: Liebe zur Freiheit, zur Freiheit des Geistes und
deren Verwirklichung in der Welt.
Der Unparteiische wird sich bei diesen Worten, welche die Lichtseite
der Schillerschen Muse ausdrücken, freilich auch der Schattenseite bewusst
werden. K. L. K.
Zur Theorie der Casus. Zweites Stück. Von Prof. C. F. A.
Dewischeit. Progr. des Gymnasiums zu Gumbinnen 1857.
Vorliegende Abhandlung ist die Fortsetzung des Programms des Pro-
gymnasiums zu Hohenstein vom J. 1846, und behandelt weiter den Genitivus,
mit Bezug auf das Griechische und Deutsche. Es geht der Verfasser aus
von der Grundbedeutung des Genitivs als des Casus des Woher und hetft
hervor, dass die Präposition nur ein die Bestimmtheit des Ausdrucks heben-
der Zusatz ist. Er geht, zuerst zu dem Griechischen sich wendend, auf
kühnere Wendungen ein, die meist übersehen werden, wie der Genitiv bei
ct/.vo-KCo, ni'xt'o), Siarpißio, eliUi, wozu er auch deutsche Ausdrücke fügt, wie:
„da doch allbeide Gottes sind" (An. Grün), „seis ganz und gar des Ordens"
(Zach. Werner), wo eigentUch nicht der Prädicativus anzunehmen ist. Dana
Programmenschau. 115
bespricht er ausschliesslich das Deutsche und findet den Genitiv zunächst
a) bei den Verbis, die mit der Vorsilbe ent zusammengesetzt sind: entgelten,
entrathen, entlösen, entäussern, entkleiden, entschlagen, entlassen; b) bei
Verbis mit der Vorsilbe er, so ersihen bei Wigalois, erwegen bei Ilartmann,
erlassen, erlösen bei Konrad Flecke, erledigen, erholen, erwehren u. a., und
bei der Vorsilbe ver, die aus er entstanden ist, wie bei verjagen, verzinsen,
verzihen, verseilen, verstehen, verlögen, verhelen in älterer Sprache, und ver-
weisen, vermessen. Mit zahlreichen Beispielen ist überall dieser Gebrauch
bestätigt. Wie auch sonst im Gebrauche des einfachen Genitivs ohne Prä-
position die alte Sprache reicher war, wird an mehreren Beispielen nach-
gewiesen.
Herford. Hölscher.
Kemarques sur le pleonasme de la langue fran^aise
von H. Mensch. Programm der höheren Bürgerschule zu
Lübben. Ostern 1859.
Das vorliegende französisch geschriebene Programm giebt einleitend
eine Definition des Pleonasmus im weitern und engern Sinne. Nachdem
Beispiele aus Griechen und Römern mit deutscher Uebersetzung aufgeführt
worden, erklärt der Verfasser, sich auf den Pleonasmus im engern Sinne be-
schränken zu müssen, den er der Form nach eintheilt in: 1) pleonasme rhd-
torique, 2) pleonasme grammatical, 3) pleonasme populaire. Im ersten Ab-
schnitte, der betitelt ist: le pleonasme regarde comme figüre rhetorique, wird
zunächst die Berechtigung einer solchen Abhandlung, an der Spitze eines
Schulprogramms zu stehen, gezeigt, eine Auseinandersetzung, die unsers Da-
fürhaltens einen passenderen Platz am Anfange der Abhandlung gehabt hätte.
Darauf wird dieser pleonasme rhetorique selir kurz abgefertigt durch An-
führung einiger Beispiele aus dramatischen Dichtern, wo er zur Verschönerung
und Stärkung der Ptede beiträgt. Schliesslich werden Beispiele von Perisso-
logie und Battologie angeführt, beide Arten aber als dem Geiste der fran-
zösischen Sprache widerstrebend verworfen.
2) Le pleonasme purement grammatical. Veranlassung zu dieser Art
des Pleonasmus geben besonders die Formwörter, wohl hauptsächlich des-
wegen, weil dem Volke grossentheils die Erkenntniss des Ursprungs und
der Bedeutung dieser Wörter abhanden gekommen ist. Es wird hier besonders
besprochen : der pleonastische Gebrauch der persönlichen Fürwörter als Subject
und als reg. indir. im dativus ethicus; der Präpositionen, besonders bei den
umschreibenden Sätzen mit c'est und folgendem Relativsatze; der Adjectifs
determinatifs, besonders der possessifs. Am Ende dieses Abschnittes werden
die Ausdrücke zusammengestellt, in denen en in Verbindung mit Zeitwörtern
■wie: etre, avoir, finir, tenir, imposer u. a. m. pleonastisch gebraucht wird;
aus Mangel an Zeit wird aber leider keine nähere Erklärung dieser Pleo-
nasmen gegeben , denn der Verfasser würde gewiss weit häufiger auf ellip-
tischen als auf pleonastischen Gebrauch der Sprache gestossen sein.
3) Le pleonasme populaire. Was unter dieser Bezeichnung zu verstehen
ist, giebt der Verfasser selbst in folgenden Worten an: Nous entendous par
Ik la reunion ou l'accouplement de mots qui, rentrant Tun dans l'autre, ne
signifient pas plus qu'un seul, faute qui depend plus du goüt nue de la
violation des reples de la synta.\e. Auch hier wird eine Reihe von Beispielen
gegeben, von denen einzelne eingehend erklärt werden. Einige der an-
geführten Wendungen können wir jedoch nicht als pleonastisch gelten lassen;
so z. B. soll in folgendem Satze: Je saurai, moi, ce qu'il ne peut peut-etrc
pas vous dire ä vous, peut-etre pleonastisch stehen. Pleonasmus kann
8*
116 Prograramenschau.
hier nur für das Ohr oder das Auge, für das Verständniss aber nie sein,
was man durch den Vergleich folgender drei Sätze leicht erkennen kann:
1)11 ne peut peut-etre pas vous le dire; 2) II ne vous le dira peut-etre
pas ; 3) II ne peut pas vous le dire. — "\Veit weniger noch vermögen wir
einen Pleonasmus in dem pag. 21 angeführten Satze zu erkennen: C'est
prendre la chevre un peu bien vite. Auch buche de bois ist vielleicht nicht
so pleonastisch als es scheint; zunächst wenn bois noch näher bestimmt ist,
wie in buche de bois flotte, ist bois unerlässlich; und ohne nähere Bestimmung
ist es vielleicht im Gegensatz zur buche economique der Pariser gedacht.
Soviel über den Gang der Abhandlung; was den Inhalt betrifft, so
hätten wir, wie beim dritten Abschnitt, auch bei den früheren Beispiele her-
vorheben können , bei denen wir mit der Ansicht des Verfassers nicht ganz
übereinstimmen. Wenn auf pag. 8 in folgendem Satze : II v ä toujours des
gens qui se melent de ce dont ils n'ont que faire, dont als de pleonastisch
einführend dargestellt, und als Verbesserung dieses Ausdrucks de ce ä quoi
ils n'ont que faire angegeben wird, so ist dagegen nur zu bemerken, dass
man nicht sagt: je n'ai que faire ä cela, sondern de cela. Auf pag. 12
heisstes: La conjonction que se place par redondance apres pourquoi; dans
ce cas il y a Inversion. Als Beleg für diese Behauptung wird Scribe citirt:
„Cest votre faute, pourquoi que vous ne mettez pas Ik-dedans des choses
drüles. Zunächst müssen wir bemerken, dass Inversion hier in einem eigen-
thümlichen Sinne gebraucht, denn, damit der Satz richtig sei, muss es hier
soviel bedeuten, als Inversion der Frageconstruction , d. h. inversion de l'in-
version. Dann aber gehört das angeführte Beispiel nicht in den zweiten,
le pleonasme purement grammatical bezeichneten Abschnitt, sondern in den
dritten. Wir kennen zwar das Scribe'sche Stück, aus dem die Stelle citirt
wird, augenblicklich nicht, soviel dürfen wir aber mit Bestimmtheit annehmen,
dass diese Worte einem Ungebildeten aus dem Volke in den Mund gelegt
werden. Beim Volke aber ist dieses que nicht pleonastisch gemeint, sondern
gerade im Gegentheil aus einer Ellipse zu erklären, indem es aus dem Satze
pourquoi est-ce que vous ne mettez pas nach Wegfall des est-ce übrig ge-
blieben ist. Dies nämliche que finden wir im Munde des Ungebildeten nach
allen Fragepartikeln, theils unmittelbar, theils auch mit Beibehaltung des ce
aus est-ce z. B. oü-c'que tu vas, oder oü que tu vas? quoi que tu dis? —
Um endlich noch einen der wichtigeren Punkte zu berühren, heben wir fol-
gende Stelle auf pag. 13 hervor: „On ne peut pas se rendre compte de la
presence de la preposition de dans l'alternative qui s'e.xprime par qui, quel,
lequel: Lequel fut le plus intrepide, de Cesar ou d'Alexandre. ßchmidt (im
Quedlinburger Programm 1858) erklärt diesen Pleonasmus des de durch
Assimilation der beiden nomina mit dem vorangehenden genit. partit. Der
Verfasser des vorliegenden Aufsatzes stimmt ihm zwar bei, fügt aber gleich
hinzu: Mais dans la plupart des phrases il n'y a pas de genitif partitif; il
vaut mieux les regarder comme des inadvertances et eviter cette tournure.
Da aber gerade dieser Pleonasmus nac h den oben angeführten Fragewörtern
bei den besten Schriftstellern sehr häufig, und daher wohl schwerlich aus
Unachtsamkeit angewendet wird, selbst da, wo kein genitif partitif voraufgeht,
der indess jedes Mal ergänzt werden kann und muss, so dürfte man nicht
ohne weiteres über denselben als einen verwerflichen Flüchtigkeitsfehler
weggehen.
Was die Form der Abhandlung anbetriffl, um auch darüber zu berichten,
so finden sich, abgesehen von der Unklarheit vieler und gerade solcher
Stellen, in denen der Verfasser Resultate eigner Forschung in kurzen Sätzen
darlegen will, in derselben mehrfach Verstösse gegen den Geist der Sprache,
in welchen mehr einzuführen der Aufsatz ganz besonders bezweckt. Be-
sonders auß'ällig, und gewiss nicht gut französisch ist die häufige AViederkehr
des ce in erklärenden und umschreibenden Satze; wir führen hier nur das
auffälligste Beispiel dieser Ai't an von pag. 4 : Et c'est en effet ce qui est
Programmenschau. 117
fort h, plaindre. — Was heisst atteindre in folgendem Satze (pag. C):
C'est principalement le pleonasnie graramatical et populaire que j'ai
täche d'atteindre. Ist ein Druckfehler vorauszusetzen , wenn es (pag. 1 1 )
heisst: un pleonasme qui est difficile d' analyser d'une maniere satis-
faisante, da es doch entweder qu'il est difficile d'analyser, oder qui est diffi-
cile ä analyser heissen muss. Selbst auf die Gefahr hin, pleonastisch zu
sprechen würde ich aijf pag. 13 doch Heber sagen: niais dans la plupart de
CCS phrases, als mit dem Verfasser: mais dans la plupart d'elles (elles auf
phrases im vorhergehenden Satze bezogen).
H. Crouze.
M i s c e 1 1 e n.
Einige Bemerkungen zu dem Vortrag des Dr. Lasson
über Steinthal's Ursprung der Sprache.
Im 25. Bande des Archivs ist S. 1G9 ff. ein Bericht über die Sitzung
vom 2.3. November vorigen Jahres gegeben, worin der Vortrag des Herrn
Lazarusson mitgetheilt und hinzugefügt wird, dass sich daran einige Be-
merkungen von Herrn Härtung und mir geknüpft hätten. Der Inhalt jenes
Vortrages liisst es im Dienste der Wissenschaft und zur Orientirung der
Leser des Archivs wünschenswerth erscheinen, dass dem Vortrage einige
Bemerkungen auch schriftlich entgegentreten. Denn Herr Lazarusson schliesst
seinen Vortrag mit den Worten: „Er habe sich weder davon überzeugen
können, dass in vorliegender Abhandlung (über den Ursprung der Sprache)
irgend ein wesentlicher Fortschritt in der Erkenntniss der Sprache gewonnen
ist, noch davon, dass ein solcher auf dem von dem Verfasser eingeschlagenen
Wege überhaupt gewonnen werden kann." Es ist jetzt nicht unsere Absicht,
diese Ansicht hier zu widerlegen; aber die Bitte möchten wir an die geneigten
Leser des Archivs, die sich für die Frage interessiren , richten, dass sie die
beiden citirten Werke des Dr. Steinthal selbst zur Hand nehmen und durch-
studiren möchten, und sie dürften leicht eine etwas verschiedene Ansicht
darüber gewinnen, wie es wenigstens dem Unterzeichneten selbst ergangen ist. —
Herr Lazarusson tritt zunächst gegen die Schärfe der Kritik auf, welche
Steinthal gegen K. F. Becker geübt hat, indem er zugleich für Sehelling's
ergreifend tiefsinnige Construction der Kehgionsentwicklung, in welcher das
Bewusstseyn zum Kampfplatz der das Universum umfassenden allgemeinen
Potenzen gemacht werde, und die Entstehung der Sprache in einem Momente
dieses Kampfes vor sich gehe, eine Lanze bricht. Wir sind nicht geneigt,
das Herbe in der Form der Steinthalschen Kritik ganz zu leugnen, aber so
unglaublich masslos ist sie nicht, wie Herr Lazarusson annimmt. Becker
war zwar allerdings ein achtungswerther und redlicher Forscher, aber der
Einfluss, den er durch seine, wie es scheint, dem damals durch Schelling und
Hegel stark beeinflussten Zeitgeist zusagende, verführerische Darstellung
seines lauter allgemeine Begriffe zu Grunde legenden Sprachsystems ge-
wonnen hat, steht mit dem wahren Verdienst desselben in umgekehrtem
Verbältniss. Gerade er hat unglaublich viel zur unrichtigen Auffassung des
Wesens der Sprache, sowie zur verkehrten praktischen Behandlung derselben
auf Schulen beigetragen. Becker scheint nur auf einer neuen Bahn zu
wandeln: Er will die Sprache als ein Naturproduct, als einen Organismus
aufgefasst wissen, aber es schlägt bei ihm alles in das gerade Gegcntheil, in
die allerabstracteste Logik um. Statt die alte unrichtige Auffassung der
Sprache als logischen Mechanismus zu widerlegen und zu verdrängen, treibt
M i s c e 1 1 e 1). 119
er sie nur auf die äusserste Spitze; und daher bleibt, ihm gleichsam zum
Hohne, die Sprache neben seinen logischen Schcmaten stehen.
_ Nur unter dem verzweifeltsten Widerstände Uisst sie sich von ihm seine
logische Zwangsjacke anlegen, aus der sie aber nach allen Seiten wieder zu
entschlüpfen sucht und wirklich entschlüpft. Ist man nun selbst begeisterter
Beckerianer, so nimmt man es natürlich unwillkürlich leiclit iibel, wenn ein
anderer unserm geliebten Meister und unserer durch ihn von der Schule an
liebgewonnenen Ansicht polemisch scharf entgegentritt, und man glaubt, dass
der andere wohl zu masslos gegen die Person zu Werke gegangen sei, wäh-
rend es diesem doch nur um die Sache zu thun war. Der Ernst und Eifer
und die Ausführlichkeit und Gründlichkeit, mit welcher Steinthal Becker
kritisirt hat, machen seine Kritik, wie ablehnend sie auch immer sei, gerade
zu einer Art von wissenschaftlicher Ehrenerklärung, die er seinem kritisirten
Gegner angedeihen lässt. — Herr Lazarusson behauptet dann : „Steinthal
stehe auf demselben Flecke, wo Herder und seine Zeitgenossen auch standen,"
und zwar desshalb, weil sich in ganz allgemeinen Aus<lrücken die Theorie
über den Ursprung der Sprache ungefähr auf gleiche Weise ausdrücken lässt.
Das ist aber gerade so, als wenn man sagte, die Physiologie sei seit Herders
Zeiten nicht fortgeschritten ; denn wenn man nach dem Wesen z. B. der
Ernährung fragt, so hatte man damals auch schon gewusst, dass sie darin
besteht, dass man Speisen und Getränke zu sich nimmt un<l dieselben verdaut.
Dass aber der Process der Verdauung heut zu Tage (4egenstaud einer un-
endlich viel genaueren Erkenntniss ist, dass sie die anatomische Kenntniss
aller betheiligten Organe, eine chemische der Verwandlungen der Nahrungs-
mittel und eine physiologische der bedingenden Bewegungen einschliesst,
davon hatte man zu Herders Zeiten wohl kaum eine Ahnung. Für solche
positiven und exacten Forschungen sind wir aber mehr und stärker ein-
genommen als für den wenn auch noch so sehr ergreifenden Tiefsinn der
Gottlob! überwundenen Natur- und Identitätsphilosophie, die die mühsame
Zergliederung und Beobaciitung der Empirie verwirft und alles aus seinem
blossen, durch sogenannte speculative Betrachtung o<1er intellectuelle An-
schauung oder reines concretes Denken gewonnenen Begriff' zu bestimmen,
ja erst zu schaffen sucht. — Herr Lazarusson meint ferner: „Steinthal denkt
sich die menschlichen Individuen atomistisch etwa so wie die Steine in einem
Steinhaufen;" später aber berichtet er, wie Steinthal auf die Völkerpsycho-
logie hinweise, woraus sich die Verschiedenheit der Sprache solle begreifen
lassen. Aber wurde wohl jemand vom Volksgeiste reden, oder kann jemand
•wünschen, dass eine neue Wissenschaft des Volksgeistes gegründet werde,
wenn er die Individuen wie Steinhaufen ansieht und deren Gemeinsamkeit
läugnet? Aber Herr Lazarusson streitet auch dagegen, dass es eine Völker-
psychologie geben könne, denn „in der Erfahrung, sagt er, sehen wir immer
nur Einzelne." Aber ist denn alles, was er vorher und nachher gegen
Steinthal von der Einheit und (Jesiimmtheit, von der Substanz des Volks-
lebens (die aber, beiläufig gesagt, gerade Steinthal selbst annimmt und an-
nehmen muss) nicht in der Erfalu-ung gegeben '? Herr Lazarusson erklärt sich
näher darüber: „Die Vtdksgeister sind nicht sinnlich (sie) wahrnehmbar.
Die Erfahrung hört hier auf." Also nur die individuelle Psychologie ist
möglich, und zwar weil die einzelne Seele sinnlich wahrnehmbar ist, von
der einzelnen Seele kann man etwas erfahren, aber vom Volksgeiste nicht.
Dass dies aber unt dem Wesen der Psychologie selbst in Wi(leis|)ruch stehe,
werde ich ausführlicher zeigen, wenn ich bei einem anderen nuielicher ^Veisc
bald eintretenden Falle Veranlassung dazu finden werde. Die Vorstellungs-
und Denkart des Einzelnen, wenn sie auch noch so individuell und subjectiv
ist, und die einer Mehrheit oder Vielheit muss doch etwas Gemeinsames
haben, was eben die Völkerspychologie aufzuweisen hat. AVenn z. B. einige
Völker und Sprachen die Wolken als Berge und Felsen auffassen (englisch
cloud, "\^'olke, angelsächsisch clüd, Fels, Berg), ist das mir der Vorslellungs-
120 Miscellen.
art eines Einzelnen zuzuschreiben oder der einer Mehrheit, also dem Volks-
geiste? Wie kamen gerade diese Völker und Sprachen dazu und andere
nicht? Warum stellten andere sich die Wolken als etwas ganz anderes vor?
Nach Herrn Lazarusson darf man nur eine einzelne Seele darüber um Auf-
schluss bitten, aber das ganze Volk nicht; aber wie reimt sich das nun
wieder mit seiner Annahme, dass die Bildung der Sprache nur denkbar sei,
als es noch gar keine Individuen gab? Der Deutsche sagt: „Es gefällt mir
in Paris," und der Franzose: „Ich gefalle mir in Berlin." Ist dies ganz
dasselbe? Findet hier nicht ein bedeutender Unterschied in der Auffassungs-
weise statt? Und wie ist der Unterschied anders zu erklären als psychologisch,
und zwar völkerpsychologisch, aus dem verschiedenen Character der beiden
Nationen, aus der dadurch bedingten verschiedenen Vorstellungsweise derselben
für eine und dieselbe Sache? — Unter Apperception muss sich Herr Laza-
russon etwas anderes denken als Steinthal, wenn er als dessen Ansicht auf-
führt: Das Wort ist nur ein Apperceptionsmittel. gegen den Inhalt des Be-
griffes selbst gleichgültig, ein Zeichen." Steinthal hat aber das Wiesen der
Apperception überhaupt, so wie das Eigenthümliche derselben, insofern sie
im Worte vollzogen wird, in besonderen, häufig von ihm citirten Aufsätzen
in der philosophischen Zeitschrift von Fichte und Ulrici dargelegt. Ueberall
hat derselbe gegen die Ansicht gekämpft, welche das Wort als todtes Zeichen
fasst, ein Irrthum, welchen er selbst an Becker nachweisst, und überall zeigt
er dagegen, dass das W^ort eine Apperception, d. h. eine lebendige geistige
Thätigkeit sei.
Ueberhaupt befürchten wir, dass Herr Lazarusson oft Steinthals Ansicht
in einem ganz anderen Sinne nimmt als dieser selbst, und dass er oft gegen
ihn etwas anführt, was Steinthal selbst an anderen bekämpft hat.
Dr. C. A. F. Mahn.
Ehrenbezeugungen oder Ehrenbezeigungen? —
Bezüchtigen oder bezichtigen?
In Betreff der zweiten Frage kann eigentlich wohl niemand ernstlich in
Zweifel sein, und man würde gar nicht in Versuchung kommen ein W^ort
darüber zu verlieren, wenn nicht die falsche Schreibweise grade bei Neueren
so häufig zu finden wäre. „Bezichtigen" (Frequentativform von zeihen)
hat natürlich mit „Zucht" und „züchtigen" gar nichts zu thun. Die
meisten schreiben es daher auch richtig mit i: vgl. Schill. II, 372 (Mein
Vater wurde bezichtigt, in verrätherischem Vernehmen mit Frankreich zu
stehen.) III, 310. (So tief als man die Königin bezichtigt herabzusinken, kostet
viel). Nur W^ieland scheint unter den Aelteren die andre Schreibweise
vorgezogen zu haben: vgl. XXI, 48. ( . . . unbesorgt ob man uns Wankelmuths
bezüchtigen kann.). Manchmal, besonders in neueren Drucken, mögen
wohl auch superkluge Setzer die Hand im Spiele gehabt und den fahrlässigen
Autor in ihrer Weise „verbessert" haben — weshalb wir uns auch hierbei
nicht länger aufhalten wollen. — Weniger einfach, obwohl ebenfalls nicht
zweifelhaft, ist die Entscheidung in dem andern Falle. Die Schreibweise
„Ehrenbezeugungen" beruht offenbar auch auf einem etymologischen
Missverständnisse; nur liegt hier das wahre Sachverhältniss nicht so klar zu
Tage , und man lässt sich hier leichter durch den Schein täuschen. Denn
die Ableitung von „bezeugen" scheint ja einen ganz passenden Sinn zu geben,
sofern ich durch eine „Ehrenbezeugung" Zeugniss davon ablege, dass ich den
andern ehre. D i e s e A u ff a s s u n g i »t a 11 m ä h 1 i c h fa s t z u r h e r r s c h e n d e n
Miscellen. 121
geworden. Daher fast überall die Schreibweise mit u: vgl. Schill. IV, 273.
(Weil Du so viele Gunst ihm stets bezeugt.). Gleich darauf: Sind es die
Töchter, sind's die einz'gen Kinder, womit man seine Gunst bezeugt? u.
öfter. Ebenso erklärt man sich: „jemandem seinen Dank, seine Theilnahme,
seine Liebe bezeugen, und spricht daher auch von „Dankesbezeu-
gungen:" vgl. Morgenblatt, Jahrg. 18.=)9. Nro. 11. (... unter dea lebhaftesten
Dankesbezeugungen . . . ). Manche Autoren, besonders unter den Neueren,
schwanken und schreiben bald bezeugen, bald bezeigen, ohne Unterschied
des Sinnes: vgl. u. A. A. W. Grube Biographische Miniaturbilder der ge-
wöhnlich unrichtig „bezeugen" schreibt, dagegen S. 264 richtig: „Sie be-
zeigten ihre Theilnahme" d. h. sie legten sie an den Tag; sie gaben
ihre innere Gesinnung auch äusserlich (durch Worte u. s. w.) zu
erkennen. Denn dies ist die allein richtige Auffiissung. Gehen wir nämlich
näher auf die Sache ein, so ist zunächst dies klar, dass man schon des
Sinnes wegen unmöglich sagen kann: ich bezeuge Dir eine Ehre oder
eine Gunst, sondern höchstens etwa: ich bezeuge Dir meine Gunst, meine
Theilnahme, meinen Dank. Denn von einer Ehre, einer Gunst, einer
Theilnahme kann ich kein Zeugniss ablegen, sondern höchstens davon, dass
ich Dich ehre, dass ich theilnehmend oder günstig gegen Dich gesinnt bin.
„Jemandem eine F-hre oder eine Gunst bezeugen" ist also ent-
schieden vollständiger Unsinn, und, wie sich von selbst versteht, sind
damit auch alle Verbindungen ohne Artikel oder mit einem Adjektiv (Ehre
bezeugen, viel Ehre oder grosse Ehre bezeugen u. s. w.) als in sich wider-
sinnig ausgeschlossen. In dem zusammengesetzten Substantiv indess könnte
man dennoch das u durch eine andre Erklärungsweise zu retten suchen.
Man könnte nämlich den ersten Theil des W^ortes von dem Verbura „ehren"
ableiten, wodurch man allenfalls einen Sinn in die Verbindung zu bringen
vermöchte ; allein diese Erklärung wäre eben nur ein Nothbehelf, und sie ist
unzulässig, weil sie ganz gegen die Analogie der übrigen Ver-
bindungen ist. Man vgl. ,.jemandem eine Ehre erweisen, eine Ehre,
eine AVohlthat, einen Gefallen erzeigen. Ebenso „seine Liebe, seine
Freude, seine Hochachtung u. s. w. bezeigen." — Den Grund jenes Miss-
verständnisses hat man übrigens nicht weit zu suchen. Er liegt jedenfalls
zunächst und vorzugsweise in der doppelten Bedeutung des Verbums „be-
weisen" (a. = demonstrare, b. = declarare, ostendere, exhibere). Man sagt
nämlich ganz richtig; Einem seine Liebe, seine Achtung etc. beweisen. Nun
fasst man aber hier das V. „beweisen" fälschlich in dem Sinne von demon-
strare und glaubte daher statt dessen auch den verwandten Begrifl" des „be-
zeugens" setzen zu können. Oft mag indess auch hier die falsche Lesart
auf Rechnung des Setzers zu bringen sein. Dies aber ist sicher, dass die
Schreibweise „Ehrenbezeigungen, Gunstbezeigungen" u. s. w. die
allein richtige ist, und dass man einem ebensowenig eine Gunst oder Ehre
bezeugen, als eine AVohlthat erzeugen kann.
Fr. Ad. Wagler.
Nachtgesanfy.
Nach dem Italienischen.
(Vgl. Archiv, Bd. XXV. S. 428 fg.)
Du bist ein mildes Feuer,
Bist meine Seele, Du!
Und such' ich, was ich wünsche,
O schlaf nur, .«üss ist Ruh'!
122 Miscellen.
Und such' ich, was ich wünsche,
Den Schlüssel, den hast Du!
Und hier in meinem Herzen —
O schlaf nur, süss ist Ruh'!
Und hier in meinem Herzen
Allein regierest Du!
Und gerne will ich sterben —
O schlaf nur, süss ist Ruh'!
Und gerne will ich sterben
Für dich, gebietest Du!
Schlaf, o mein schöner Engel,
O schlaf" nur, süss ist Ruh'!
Anmerkung. Der italienische Liebhaber findet keine Ruhe in seinem
Innern; die Liebe lässt ihn nicht schlafen. Es ist der nur leise angedeutete
und darum tief ergreifende Contrast zwischen seinem von Liebe geplagten Her-
zen und dem, wie er annimmt, nicht verwundeten seiner Geliebten, den er
beständig betont : „Süss ist Ruh' !" (Göthe, der wörtlicher aber nicht verständ-
licher übersetzt: „Was willst Du mehr?" hat den Gegensatz zu diesem Grund-
ge'lanken kaum in den beiden letzten seiner fünf Strophen markiit.) Du,
will der Italiener seiner Geliebten sagen, wirst noch schlafen können, aber
ich kann es nicht; wüsstest Du jedoch, wie ich um dich leide, du würdest
Theilnahme empfinden — aber ich will nicht grausam sein , dich nicht aucji
gequält wissen, meine Liebe zu Dir wünscht dein Bestes: „O schlaf nur!"
Eine auf Grund dieser Betrachtung angestellte Verglcichung des Göthe-
schen Gedichtes: „O gib vom weichen Pfühle," zeigt sofort dessen Grund-
verschiedenheit. Die Uebersetzung des Schlussverses ausgenommen, ist alles
Uebrige nur eine metrische Nachbildung zu nennen; der Sinn beider Gedichte
divergirt auf das Entschiedenste.
Diese Bemerkung schien mir passend, da man, so viel ich weiss, die
Verschiedenheit beider Gedichte noch wenig der Beachtung empfohlen hat.
Man citirt das ganze italiänische Volkslied und sollte nur seinen Refrain
citiren.
Dr. Langensiepen.
Eine Berichtigung.
A. Pdschier in seinem Cours de litterature francjaise, 1839, bespricht auf
Seite 274 ff. Andr^ und Marie -Joseph Chenier, welchen letzteren er dann
weiterhin als J. Chenier bezeichnet. Trotzdem befindet sich in der Ueber-
schrift S. 272 _ die Angabe: Joseph et Marie Chenier. — Leber, Handbuch
der französischen Sprache, l. Band, 1842 erwähnt S. 80 Marie -Joseph de
Cheiner, S. 83 Andre Clienier (nicht de). So ist denn auch la Retraite, S.
169, M. J. de Chenier unterschrieben, während la jeune Captive, S. 142 und
le Malade (unrichtig statt: le jeune Malade) S. 498 gezeichnet sind: Andre
Chenier. — Castres de Tersac in seinen Blüthen aus dem Gebiete der neueren
französischen Literatur nennt den einen S. XIV und S. 268 ff. Marie de
Saint-Andre Chenier (wenigstens müsste es doch wohl heissen: Marie-Saint-
Andre de Chenier), den anderen Joseph de Chenier. — O. L. B. AVolff in
seiner France poetique, 1843, bezeichnet S. 188 den einen Andre Chenier,
später S. 404 und 405 wieder A. de Chenier; der andere wird b'. 848 M.
J. Chenier genannt.
Miscellen. 123
Die französischen Literarhistoriker und die französischen Herausgeber
nennen den einen gewöhnlich schlechtweg Andre Chdnier fiir das allerdings
richtige Marie -Andre Chenier, wie er in Herrig's la France littcraire heisst,
den andern Marie - Joseph Chdnier, und wir können mithin: Andre Chenier
und Marie -Joseph Chenier als ihre eigentlichen literarischen Namen be-
zeichnen. Die Bezeichnung adliger Geburt durch de mussten sie beide natür-
lich in der ersten Revolution fallen lassen, woher das Schwanken zwischen
Chenier und de Chenier, Welcher Autorität Castres für Saint -Andre folgte,
wissen wir nicht.
Schlecht ist es nun dem berühmten Gedichte Andr^ Chenier's La jeune
Captive in einigen Chrestomathien deutscher Herausgeber ergangen. Dies
Gedicht ist an eine junge Mitgefangene des Dichters in Saint -Lazare, an
Mademoiselle de Coigny gerichtet, der er auch noch ein anderes Gedicht ge-
weiht hat, überschrieben: A Mademoiselle de Coigny. Saint-Lazare. Es beginnt:
Blanche et douce colorabe, aimable prisonniere,
Quel injuste ennemi te cache a la lumiere?
Das Gedicht, la jeune Captive, enthält neun Strophen, jede zu sechs Versen,
Reimstellung a a b c c b. Die sieben ersten enthalten die Klage des Mäii-
chens über ihr Schicksal , ihre so natürliche Bangigkeit vor frühem Tode
und den Wunsch, von der süssen, freundliehen Gewohnheit des Daseins nicht
so bald scheiden zu müssen. Diesen eignen Worten derselben, die als solche
auch in correkten Ausgaben durch Anführungsstriche ausgezeichnet sind,
folgen dann in den beiden letzten Strophen die Worte des Dichters. Er hat
die Klagetöne der Gefangenen gehört, und die Laute ihrer lieblichen, kind-
lichen Mundart an die sanften Gesetze der Verse geschmiegt:
Aux douces lois des vers je pliais les accents
De sa bouche aimable et naive.
Wer war sie? wird man fragen. Er antwortet: Anmuth zierte ihre Stirn und
ihre Rede, und wie sie, werden alle, welche in ihrer Nähe leben, fürchten,
ihr eigenes Leben endigen zu sehn.
Die zwei letzten Verse der ersten Strophe lauten nun:
Quoi que l'heure presente ait de trouble et d'ennui.
Je ne veux pas mourir encore.
„Was auch immer die gegenwärtige Stunde an Trübsal und AVeh bietet,
sterben möchte ich noch nicht."
O. L. B. Wolff" S. 188 (s. o.) liesst nun den vorletzten Vers also:
Quoique l'heure presente ait de trouble et d'ennui,
was grammatisch ganz unerklärbar ist.
Castres de Tersac (s. o.) macht daraus sogar:
Quoi que l'heure presente ait etd trouble, ennui,
was vollends keinen Sinn giebt.
Selbst Lüdecking in seiner fünften Ausgabe der Le^ons fran^aises de
litterature et de morale par M. M. Noel et de la Place liest:
Quoi(jue l'heure presente ait et^ trouble, ennui,
was sich offenbar als eine Conjectur zu einem schleihten, fehlerhaften Text
bittet. "Wenn der Vers aber bei dieser Lesart wenigstens verständlich ist,
so enthält er immer noch schlechtes Französisch. Man erwartet doch
Quoique l'henre prdsente soit troulile ....
Ganz ebenso liest Robolsky, Französische Poetik, 1859, S. 182.
Holzapfel in seiner Au.-wahl französischer Gedichte 1854. S. 268 bricht
vielleicht aus pädagogischen Gründen, das Gedicht mitten in der drittletzten
Strophe ab, so dass das Keimwort devore ganz vereinzelt dasteht, da die
Consonanz erst drei Verse später erfolgen würde.
124 Miscellen.
Lamartine, Histoire des Girondins, 57. Buch IT. giebt den richtigen Text,
lässt aber die neunte Strophe ganz fort. —
Bei der weiten Verbreitung dieses herrlichen, in und ausser Frankreich
allgemein bekannten und in Büchern für den Unterricht vielfach verwertheten
Gedichtes einerseits, und andrerseits, weil bei der Zusammenstellung von
Chrestomathien selbst tüchtige Männer von Fach nicht immer auf die
Originalausgaben zurückzugehen scheinen, möchte es nicht unpassend sein,
auf jene sich einnistenden Sinn- und Textenstellungen öffentlich aufmerksam
zu machen und die Herren Recensenten zu ersuchen, hei Beurtheilung neuer
Gedichtsammlungen über jene Verse zu wachen. Einen richtigen Text bieten
unter anderen Leber im angeführten Buche und Herrig und Burguy's
Handbuch: La France litteraire.
Gern möchten wir allerdings auch in diesen beiden Büchern vor dem
Texte die Ortsangabe Saint -Lazare und in einer kurzen Note die historische
Veranlassung zu diesen Versen lesen.
Erst der scenische Hintergrund stellt das Gedicht in sein wahres Licht.
Der einunddreissigjährige Dichter, als „verdächtig" in den Kerker geworfen,
aus dem ihn der eigene Bruder, der Dichter Marie -Joseph Chenier, weil er
selbst von Robespierre persönlich gehasst wird, durch Fürsprache zu retten
nicht unternehmen darf, das niedersinkende Fallbeil der Guillotine voraus-
ahnend, das am 7. Thermidor, einen Tag vor Frankreichs und seiner Be-
freiung sein Haupt traf, legt seiner jungen, schönen Mitgefangenen Worte
in den Mund, welche, so weit sie die sich an's Leben und an den Gedanken
der Befreiung klammernde Hoff"nung schildern, ein Widerhall seiner eigensten
Empfindungen sind. L'illiision feconde habite dans mon sein. J'ai les alles
de l'esperance. Est-ce k moi de mourir. Je ne suis qu'au printemps. O
mort, tu peux attendre, alle diese Ausdrücke treffen auf ihn selbst zu, und
wir fühlen erst die ganze Wirklichkeit des Gedichtes, wenn uns unsre Phan-
tasie hinter die Eisengitter und die verschlossene Thür seines Kerkers und
in den Kreis seiner zwischen Leben und Tod schwebenden Mitverhafteten
^'""'- G.B.
Randglossen.
In Bezug auf Archiv. XXV. Seite 432 und die von Herrn Heller dort
aufgestellte „bisher in den deutschen Grammatiken vermisste" Regel:
Der Bindevokal „e" in der 2. und 3. Person des Präsens muss
weggelassen werden, wenn der Vocal des Stammes eine Modifika-
tion erleidet,
erlaube ich mir auf den 17. Abschnitt in meinem „Katechismus der Ortho-
graphie" 185C (Seite 68 — 71) zu verweisen, wo ich dieselbe Regel nur in
etwas weiterem Umfang entwickelt habe, indem sie nämlich auch für den
Imperativ gilt (Nimm, nicht: nimme; lies, fleug etc.) und fürs Particip
Präter. (Genannt, nicht: genannet; gekonnt; gedurft etc.) Na-
mentlich will ich hier die Worte Bürger's hersetzen, auf die ich a. a. O. nur
hinweisen konnte. Er hatte nämlich in seiner Leonoi-e als Entwurf den Vers:
(wie Wirbelwind) durch dürre Blätter fähret. „Aber" — setzt er gleich hinzu —
fähret ist doch auch Nichts, müsste fährt heissen. Einige Zeilen nachher
meint er dann: Fähret geht doch wohl an; denn man sagt: Der Wind
fähret, wo er will etc. und Voss macht dazu die Anmerkung: „Aus Luthers
Bibel schöpften mehrere unsrer Vorzüglichen ihr edleres Deutsch, welches
von Manchem, der nur die heutige Umgangssprache versteht. Undeutsch ge-
Miscellen. 125
schölten wird" etc. Darin ist, diiucht mir, das Vcrbältniss richtig angedeutet:
Die gewöhnliche Prosa fordprt heute in dem angegebenen Fall nothwendig
den Portfiall des Bindevokals „e," während ihn die gehobne Rede und zu-
mal die Sprache der Dichter noch hin und wieder duldet, obgleich auch
hier Formen wie „er laufet, nimmet, räthet, trittet" etc. einem
feinern Ohr Anstoss erregen. Sanders
Bibliographischer Anzeiger.
Allgemeines.
D. Asher. On the study of modern languages, and of the English lan-
guage in particular. (London, Triibner.) 2 Seh.
Lexicographie.
J. & W.Grimm. Deutsches Wörterbuch. 3. Bd. 3. Lfrg. (Leipzig, Hirzel.)
20 Sgr.
D. Sanders Wörterbuch der deutsch. Sprache. 8. Lfrg. (Leipzig, Wigand.)
20 Sgr.
Mittelhochdeutsches Wörterbuch von W. Müller & F. Zarncke. 3. Bd.
4. Lfrg. (Leipzig, Hirzel.) 1 Thlr.
D. H. Lehmann. Synonymisches Wörterbuch der engl. Sprache. 1 Lfrg.
(Berlin, Grieben) 6 Sgr.
P. Dahlmann. Nouveau Dict. polona!s-fran9ais et fran9ais-polonais. 2 Bde.
(Berlin, Schletter.) 2 Thlr.
C. P. Reiff. Neue Parallel - Wörterbücher der russisch - französischen,
deutschen und englischen Sprache. 1 Thlr. Russ. W. (Leipzig, Köhler.)
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Englisch, Deutsch. (Leipzig, Gump recht.) 20 Sgr.
Literatur.
G. Lucae, De Parzivalis poematis Wolframi Eschenbacensis aliquot locis.
(Halle, Buchhandlung des Waisenhauses.) 77.2 Sgr.
H. Pröhle. Harzsagen, gesammelt und mit Anmerkungen herausgegeben.
2 Bde^ 2. Ausg. (Leipzig, Mendelssohn.) 27.2 Thlr.
A. Kuhn.' Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen. Supplement.
(Leipzig, Brockhaus.) gratis
Deutsche Dichter der Gegenwart. Lyrisches Album herausgegeben von R.
Prutz. (Prag, Kober & Markgraf.) l'/a Thlr.
F. Kr e issig. Vorlesungen über Shakspeare, seine Zeit und seine Werke.
3 Bde. (Berlin, Nicolai.) 2 Thlr.
H. W. Longfellow's kleinere Gedichte. Uebersetzt von A. Rieke. (Osna-
brück, Backhorst.) 20 Sgr.
Essai sur l'origine de l'Epopde fran9aise et sur son histoire au moyen-äge
p. Ch. d'Hericault. (Paris, A. Frank.) 18 Sgr.
Bibliographischer Anzeiger. 127
Les anciens poetes de la France, publids sous la direction de M. F. Guessard.
2 vols.
1. Doon de Maience, chanson de geste p. p. M. A. Pey. 5 Frcs.
2. Gauffrey, chanson de geste p. p. A. Guessard et P. Chabaille.
(Paris, Vieweg.) 5 Frcs.
J. P. de Beranger's letzte Lieder, deutsch von K. Walter. (Leipzig,
Hunger.) 1 Thlr.
Goethe 's Hermann and Dorothea. Translated by H. Dale. (Dresden,
Gottschalck.) ' 17 Sgr.
G. V. Leinburg, Hausschatz der schwedischen Poesie mit gegenüberst.
Uebersetz. 3 Bde. (Leipzig, Arnold.) 2V2 Thlr.
Die Schillerfeier im Casino in Oldenburg. (Oldenburg, Schulze.) 4 Sgr.
Die Schillerfeier in Prag. (Prag, Lehmann.) 5 Sgr.
Das Schillerjubiläum in Leipzig. (Leipzig, Hinrichs.) 8 Sgr.
A. V. Keller. Beiträge zur Schillcrliteratur. (Tübingen, Fues.) 2u Sgr.
J. Günther. Die Schillerfeier in Jena. (Jena, Mauke.) 3 Sgr.
Weissgerber, Sophokles und Schiller. Eine poet. Vision. (Freiburg i. B.,
Diernfellner.) 4 Sgr.
Rütli - und Schillerfeier, schweizerische. (Aarau, Christen.) 16 Sgr.
Sammlung der vorzüglichsten Dichtungen , Prologe , Vorträge und Sprüche
zur Schillerfeier. (München, Fleischmann.) ä Heft 6 Sgr.
Weber & K. B. Stark. Zur Erinnerung an das Schillerfest in Heidelberg.
(Heidelberg, Mohr.) 4 Sgr.
0. Eiben. Das Schillerfest in Schiller's Heimath. (Stuttgart, Schaber.)
10 Sgr.
Schiller's Jubelfeier in Plauen. (Plauen, Neupert.) ~ 5 Sgr.
M. Meyer. Die Schillerfeier in den. V. St. Nordamerica's. (Philadelphia,
Schäfer & Koradi.J 12 Sgr.
W. As s mann. Schiller's nationale Bedeutung. (Braunschweig, Vieweg.)
5 Sgr.
A. Schaefer. Rede, gehalten in Greifswald. (Greifswald, Akademische
Buchhandlung.) 3 Sgr.
K. Regel. Goethe und Schiller. Zwei Festreden. (Gotha, Müller. 6 Sgr.
G. Ries s er. Festrede. (Hamburg, Meissner.) 5 Sgr.
W. B. Mönnich. Schiller, der Dichter nach dem Herzen der Nation. (Heil-
bronn, Scheu rlen.) 4 Sgr.
E. Köpke. Zu Schiller's Gedächtniss. (Brandenburg, Wiesike.) 2V2 Sgr.
G. Buchenau. Schiller, der Dichter der Jugend. (Marburg, Elwert.)
2 Sgr.
E. Curtius. Festrede. (Göttingen, Vandenhoeck.) 3 Sgr.
L. Doederlein. Festrede. (Erlangen, Bläsing.) 4 Sgr.
G. Gardthausen. Rede am Schillerfeste. (Kiel, Schroeder.) 5 Sgr.
J. Grimm. Rede auf Schiller, gehalten in der Academie der Wissenschaften.
(Berlin, Düramler.) 10 Sgr.
H. Masius. Festrede zur Schillerfeier in Halberstadt. (Glogau, Flemming.)
3 Sgr.
E. Meier. Festrede, gehalten in der Universität. (Tübingen, Fues.) 4 Sgr.
J. Mithner. Festrede, gehalten im Gymnasio. (Lissa, Günther.; 5 Sgr.
Th. Hoffe richten Festrede, gehalten in Schweidnitz. (Lauban, Bau-
meister.) 1 Vi Sgr.
E. Baltzer. Schiller, besonders in seiner religiösen Bedeutung. (Gotha,
Stollberg.) ö ^gr-
W. Kastein. Schiller's Lebensbild. (Hannover, Lohse.) 12 Sgr.
A. N. Niblett. Schiller — Dramatist, Historian and Poet, a Centennry
Lecture. (London, Williams & Norga te.) 3 Sh.
F. Vischer. Festrede, gehalten in Zürich. (Zürich, Orell, Füssli & Co.)
b Sgr.
128 Bibliographischer Anzeiger.
L. Walesrode. Friedrich Schiller und sein Volk. (Altona, Wendeborn.)
6 Sgr.
H. Wen dt. Festrede, gehalten im Fürstensaale zu Rostock. (Rostock,
Leopold.) 5 Sgr.
E. Dressel. Rede,. gehalten im Gymnasio. (Coburg, Riemann.) 2 Sgr.
K. Grün. Schillerrede, gehalten in Brüssel. (Trier, Lintz.) 4 Sgr.
G. Kinkel. Festrede, gehalten im Krystallpalast. (London, Petsch&Co.)
10 Sgr.
Hilfsbücher.
J. Spitzer. Aufsatzlehre. Für Schule und Haus theoretisch und praktisch.
(Wien, Mayer.) 18 Sgr.
J. Spitzer. Hilfsbuch für den Unterricht in der deutschen Sprache. 4.
Schuljahr. (Wien, Mayer.) 41/2 Sgr.
F. M. Gredy, Geschichte der deutschen Literatur für höhere Lehranstalten.
(Mainz, Kirchheim.) 15 Sgr.
C. Goldbeck. Auswahl französischer Gedichte von Malherbe bis auf die
Gegenwart. (Potsdam, Riegel.) 271/2 Sgr.
Masterpieces of english literature intended for the use of high - schools.
vol. n. Inh. Julius Caesar. (Leipzig, Graebner.) 10 Sgr.
B e r a n g e r
und seine Lieder
Der im Jahre 1856 von Staats wegen begrabene Sänger,
welcher während eines Vierteljahrhunderts seine Laute zu den
guten und bösen Geschicken seines Vaterlandes und zu allen
Gefühlen eines natürlichen Menschenherzens stimmte, ist schon
seit lange als eine der bedeutendsten Grössen auf" dem Gebiete
der französischen poetischen Literatur anerkannt worden. Die
meisten seiner Lieder sind bei seiner Nation zu Volksgesängen
geworden und schallen fort in Stadt, Wald und Flur des weiten
Kaiserreiches. Fremde Völker haben sich seine über den Lo-
calzweck hinausgehenden Elrzeugnisse angeeignet und erkennen
noch in den verkümmerten Nachbildern Muster der Gattung.
Den Landslcuten ist Beranger werth, weil sie alle singen möchten
wie er ; den Fremden, weil er von allen Franzosen am besten
singt.
Es fehlt allerdings nicht an Stimmen draussen, welche sich
nicht dem allgemeinen Lobe anschliesscn und welche sogar be-
dauern, dass die chansons jemals über die (irenzen der Gallo-
Franken hinüber geklungen (und solche Stimmen haben ohne
Zweifel ihre Berechtigung vom eigenen Standpunkte der Beur-
theilung aus); aber das reine Urtheil, welches Zeit, Zeitgeist
und Ort des Dichters berücksichtigt, wird, wie in andern Fällen,
so auch hier namentlich nicht seinen frischen Kranz zerpflücken
wollen. Deutsche und englische Begriffe von Sittlichkeit (denn
an diesen hat man Beranger bemessen) wird man doch nicht
in Frankreich und am wenigsten in dessen Hauptstadt suchen.
Archiv f. 11. Sprachen. XXVU 9
130 Bdranger und seine Lieder.
Abgesehen aber von dem in manchem Auslande verwerf-
lichen Inhalte eines Theiles der Producte B^ranger's lässt man
auch dort selbst sehr gern den andern gelten und verschliesst
sich nicht der Freude über diese lieblichen Früchte am allge-
meinen Baume der Poesie.
B^ranger als Franzose und Pariser ist ein reiner, edler
Mensch, voll des Hochgefühls für Alles, was den natürlichen
Erdensohn begeistern und erheben kann. Das Vaterland in
Ruhm und Schmach, die Tugend , wie sie das reine Herz ge-
biert, der Menschen Freude und Glück , wie sie natürlich und
zwangslos in der Menschenbrust sich regen und erwachsen, sind
seine liebsten Vorwürfe und entlocken ihm hochtönende Hymnen,
klangvolle Lieder ohne Misston, Verse zart wie Flötenstimmen.
Des Vaterlandes Feinde aber, fremde wie heimische, der Tugend
Zerrbild, Heuchelei, die Unnatur in jeder Form, das nachge-
äffte Schattenspiel der unbefangenen Herzenslust in den höhern
Kreisen der Gesellschaft erregen seinen tiefinnerlichsten Un-
willen und er fällt sie an mit den schärfsten Waffen der Satire,
des Spottes und des schnödesten Hohnes, wo nur solche Mittel
ihm M'irksam scheinen; wo freilich nicht der böse Wille ihm ge-
genübersteht, da weiss er auch mit sanft tadelndem Ernste
und harmlosem Humor eben so gut sein Ziel zu erreichen.
Beranger ist kein politischer Dichter im neuesten Sinne
dieser Bezeichnung. Er verficht kein System und keine Par-
tei; daher sein Abfall und seine Erklärung, als die letzte Ver-
gangenheit in ihrem Streben nach möchligster Anknüpfung an
die alte grosse Zeit auch nach ihm haschte. ,,Je chantais un
grand capitaine," sagte er kühl und abwehrend, als man ihn im
Anfange der fünfziger Jahre von hoher und niedriger Stelle aus
an seinen „Le Cinq Mai," „Les Souvenirs du Peuple" und der-
gleichen Gedichte erinnerte. Er sang von Frankreich's Grösse
und Frankreich's Hoffnung, unbekümmert um den, welcher
beide vermittelte und errang. Jedermann war ihm dazu recht,
wie dem ganzen Volke, das ja nur diesen beiden Zielen entge-
genexperimentirt. Eben so wenig war ihm aber nun auch
alles Das recht, was in der spätem Zeit bescheideneren Zwecken
nachstrebte und gegen den alten Aufschwung abfiel; daher der
fast durchgängige Tadel unter Karl und Louis Philipp; daher
Böranger und seine Lieder. 131
der politi8ch polemisirende Ton der spätem Lieder, ohne dass
sie selbst politisch sind. Nur die Erinnerung an Frankreich's
Glanz und WaiFenruhm liegt auch im Hintergründe der Gesänge
„Poniatowski," ,,Les Gaulois et les Francs" und anderer.
Wenn Mir in der Begeisterung Beranger's für das Vater-
land in dessen Eigenthümlichkeit, in seiner Ungefügigkeit unter
dem zu Recht Bestehenden, in seiner Flatterhaftigkeit der Ge-
fühle, in seinen für den Fremden unhaltbaren Begriffen über
Sittlichkeit und selbst das Heilige den Franzosen sehen, in seinem
Hasse gegen Unnatur und Heuchelei jeder Art den Menschen
sehen und lieben, so bewundern Avir in der Mannigfaltigkeit
und dem Innern Eeichthum seiner Erzeugnisse, in der acht
ideellen Auffassung und Behandlung des Gegebenen , in der
unaff'ectirten Lebendigkeit und Plastik seiner Sprache , in der
Glätte und Knappheit seiner Verse und im Strophenbau den
Dichter und Sprachkünstler. Er hat mitten in der Romantik
den Grundsatz der alten Schule festgehalten : Den schönen Ge-
danken giesse in die schönste Form. Diesem Streben nach
Classicität opfert er staudhaft allen Ehrgeiz, von vielen Seiten
her durch Gewinn und Schmeichelei geweckt, in Drama und
Epos sein Heil zu versuchen , und er hat wohl daran gethan,
dem andern Grundsatze der Neuzeit ernste Rechnung zu tragen:
Nimm dir ein Feld, und dort werde Meister.
Und er ist ein Meister geworden. Geworden, denn er hat
es sich, unter grossen Hindernissen mangelhafter Jugendbildung
und ungünstiger Berufsarten, sauer werden lassen, Muster zu
Studiren, seiner starren vaterländischen Sprache die verein-
zelten übrigen Biegsamkeiten abzuhorchen, die Kunstgriffe des
Liedersängers sich zusammenzulesen, mit denen er Vers und
Strophe dem Gedanken dienstbar machen und auf das knappste
Mass beschränken könne. So hat er es erreicht, sich eines
reichlich lohnenden Vortheils bedienen zu dürfen, des Vortheils
alter Melodie zu neuem Texte. So nahm er sich die Weise
des Bänkelsängers und Hirten, der "Werkstatt und Kinderstube
und stieg über sie wie eine Brücke in Kopf und Herz des
Volkes hinein, unbekümmert um Kritik und Presse, hohnlächelnd
über des Censors Stift und Scheere. Nicht allein aber hat er
die Unbequemlichkeit des Anschlusses an ein bestimmtes Mass
132 Be rang er und seine Lieder.
überwunden, sondern dasselbe sogar liebgewonnen und da ge-
schickt verwendet, wo er frei gestalten durfte. Der beliebte
Refrain, eine kraft- und schmuckreiche Eigenthümlichkeit Be-
ranger's, und mit welchem er verfährt, wie der Orator mit
Schlagworten, wie der Kanzelredner mit dem gewichtigen Grund-
spruche, ist ohne Zweifel dem alten Volksliede abgelernt. Das-
selbe darf man wohl von dem jNIasse für das Ganze seiner
kleinen Gemälde sagen, die er meist in den Rahmen von sechs
Strophen einengt, häufig auch in einen beschränktem , so epi-
grannnatische Schärfe und Reiz der bequemen Ueberschaulich-
keit zugleich erreichend. Verwässerung durch geschwätzige
Breite kommt ihm nie zu Schulden.
Die Lieder Beranger's umfassen alle Zweige dieser Gattung
mit alleiniger Ausnahme des Kirchenliedes. Sie gelten dem
Vaterlande, den Helden der letzten Grösse Frankreichs, hohen
wie niederen (zumeist aber den Letzteren), der Liebe, der Ge-
selligkeit und dem Weine, der Freundschaft, der Genügsamkeit,
dem Glücke der Armen etc. Bei weitem die meisten gehören
der Liebe (in französischer Auffassung) an. Die gleichfalls sehr
zahlreichen Lieder politischen Aufluges schildern fast lediglich
Zustände Frankreich's und sind, obwohl oft begeistert, doch nie
aufregender Natur.
Der Ton ist vorherrschend humoristisch und durchläuft
alle Nuancen von der gänzlichen Harmlosigkeit an bis zur bös-
artigsten Satire. Der ganz ernsten Dichtungen sind im Ver-
hältniss ziemlich wenige, denn bei vielen, die fast durchweg in
diesem Tone gehalten sind, bricht doch auch immer noch wieder die
natürliche Heiterkeit des Dichters durch. Er bleibt am liebsten
der Gehülfe des Moinus, wie er den Dichter in seiner „Gau-
driole" nennt. Der Humor Beranger's ist stets fein und beruht
nicht selten einzig auf der verstellt ernsten Behandlung solcher
Gegenstände, die schon an und für sich Lachen erregen und
zu welchen in Paris namentlich der betrogene Ehemann gehört.
Nach französischer Weise den Hahnrei in allen seinen Ent-
wikelungsphasen als einen unverfänglichen Gegenstand betrach-
tend, muss man eine grosse Menge der ßeranger'schen Scherz-
gesänffe für harmlos erklären ; doch sind auch nach den stren-
oereu deutschen Begriffen viele seiner humoristischen Lieder
B ^ r a n g e r und seine Lieder.
durchaus unver werflicli .
oft so boshaft als möglich, und müssen wir Ausländer nicht
selten über die Rücksichtslosigkeit staunen, mit welcher er ehr-
würdige, hohe und höchste Personen tractirt; freilich iet auch
hier dem lächerlichen und erniedrigenden Etl'ccte nie die gute
Form und französische Anständigkeit des Ausdrucks geopfert.
Durch den ganzen Kreis, vom feierlichen und erhabenen Ernste
durch den harmlosen Humor, die feine, schärfere und beissende
Satire bis wieder zum unwilligen Ernste zurück, herrscht die-
selbe gute, gewählte, glatte und knappe Sprache, die sich von
allem dem feinen Geschmacke Widrigen frei und rein bewahrt.
Auf seine Lebenszeit vertheilen sich Beranger's Prodnc-
tionen der Art, dass fast alle von grösserer Bedeutimg zwischen
sein 30. und 50. Lebensjahr fallen, und unter ihnen liegen die
ernsteren in ül)erwiegender Anzahl in der letzten Hälfte seiner
Dichterthätigkeit. Dass so äusserst wenige Lieder aus seinem
Jünglingsalter veröffentlicht worden sind, erklärt sich aus des
Dichters scharfer Selbstkritik und fortgesetzten tiefen Stil-
studien.
Nach dieser allgemeinen Betrachtung füglich auf das Ein-
zelne näher eingehend, führen wir des anschaulicheren Nach-
weises willen das Hervorragende und für ganze Gruppen Spre-
chende nicht nur dem Ldialte nach, sondern theils auch in eigener
deutscher L^ebertragung vor. Wir beginnen mit den ernstern
Liedern.
Die Ueberzeugung von seinem innern Berufe zum Dichter
und zugleich die allgemeinen Ziele seiner Muse spricht B6-
ranger auf eine sinnige Weise in seinem Geburtstagsliede, am
19. August 1822 seinen um ihn versammelten Festgenossen zu-
erst vorgetragen, aus. Wir meinen das halb epische Gedicht
,,Le Tailleur et la F^e" und lassen dasselbe hier folgen :
In dieser Stadt Paris, voll Gold und Jammer,
Just sieh/.ehnliuntlert a{;htzig seliriel) man da,
Als auf des Aeltervafers JScIineidorkanimer
Mir, neu geltorui'U) Kinde, diess jresclinli :
Auf einen Orpheus deuteten die Loose
An meiner Wiege nicht, die ann und kleiji ;
Doch fand der Schneider, kommend auf mein Schrein,
Beranger und seine Lieder.
Mich einst in eines Feeenweibes Schoosse.
Und diese Fee, mit Liedern voller Lust,
Beschwor den ersten Schmerz in meiner Brust.
Der Greis fragt sie mit ängstlichen Manieren:
„Was zeiget das Geschick dem Kinde an?"
„„Sieh' ihn, sprach sie, bei meines Stabes Rühren,
Als Kellner, Buche idrucker, Actenmann.
Ein Blitz soll diesen Wahlspruch so ergänzen :
Es wird Dein Sohn, getroflf'en, untergehn ;
Doch siehst Du neu als Vogel ihn erstehn
Und singend steigen zu der Lüfte Grenzen.""
Sodann beschwor, mit Liedern voller Lust,
Die Fee den ersten Schmerz in meiner Brust.
„„Die Leier wird in seiner Hand erwachen
Bei jeder Lust, die froher Jugend Theil.
Des Armen Hütte wird er heiter machen.
Dem Reichen scheuchen seine Langeweil'.
Doch welches Schauspiel trübet seine Lieder?!
Es ist des Ruhm's, der Freiheit Untergang!
Dem Schiffer gleich, erzählt er im Gesang,
Zum Hafen kehrend, ihren SchißPbruch wieder.""
Sodann beschwor, mit Liedern voller Lust,
Die Fee den ersten Schmerz in meiner Brust.
Der alte Schneider ruft: „Was soll das heissen?
Wird dieser Junge nur ein Verseschraied ?
Viel besser führte er das Bügeleisen,
Als, wie ein Echo, sich zu singen müd'."
„„Bah! sagt die Fee, ganz irrig ist Dein Wähnen:
Viel bess're Köpfe erndten Schlecht'res ein ;
Sein leichter Sang wird Frankreich's Freude sein
Und lindern des Verbannten heisse Thränen.""
Sodann beschwor, mit Liedern voller Lust,
Die Fee den ersten Schmerz in meiner Brust.
Als gestern. Freunde, schwach und trüb ich sitze,
Tritt vor mich hin die schöne Feengestalt.
An einer Rose pflückt der Finger Spitze;
Sie spricht zu mir: „Du siehst, Du bist schon alt.
Doch wie in Wüsten Luftgebilde glänzen.
Erfreut Erinn'rung oft des Lebens Rest.
Die Freunde machen morgen Dir ein Fest;
Beranger und seine Lieder. 135
Sei neu denn dort, wie einst in Deinen Lenzen."
Sodann beschwor, mit Liedern voller Lust,
Die Fee, wie einst, den Schmerz in meiner Brust.
Dass er in der Poesie, mit deren Pflege er eine Lebensauf-
gabe zu erfüllen überzeugt ist, auch Befriedigung und Trost
finde, versichert er in einem früheren (ledichte .,Ma Vocation,"
welches zugleich wieder sein entschiedenes Dichterbewusstsein
bekundet. Die Uebersetzung ist folgende:
Ich war auf diesem Balle
Gebrechlich, hässlich, schwach.
Erstickte fast im Schwalle,
Weil Länge mir gebrach.
Mich quälten diese Dinge
Und Klagen fehlten nicht :
Sprach Gott, der gute: Singe,
Singe, Du kleiner Wicht.
Des Reichthums prächt'ger Wagen
Hat fahrend mich bespritzt ;
Den Hohn hab' ich ertragen
Dess, der die Macht besitzt;
Ich las, dass ich geringe,
In seinem Spottgesicht:
Sprach Gott, der gute : Singe,
Singe, Du kleiner Wicht.
Da ungewisse Stätte
Und Mangel mich erschreckt,
Hab' ich des Dienstes Kette
Den Nacken hingestreckt.
Wohl liebt' ich frei die Schwinge,
Doch nicht der Kost Verzicht :
Sprach Gott, der gute : Singe,
Singe, Du kleiner Wicht.
Die Liebe Hess mich finden
Wohl Trost in meinem Leid ;
Doch mit der Jugend Schwinden
Entfloh sie schnell und weit.
Umsonst, wenn Amor's Klinge
Mir nun in's Herze sticht ;
Doch Gott spricht wieder: Singe,
Singe, Du kleiner Wicht.
13G Beranger und seine Lieder.
Singen ist zur Genüge
Gewiss mein irdisch Ziel.
Die, welclie ich vergnüge,
Sie lieben auch mein Spiel.
Wenn im Gesellschaflsringe
Der Wein die Sorgen bricht
Sagt Gott, der gute: Singe,
Singe, Du kleiner Wicht.
Seinen Standpunkt als Dicliter für das Volk, gegenüber
den Hohen und Grossen, fixlrt Beranger in dem wahrscheinlich
mit dem vorigen gleichzeitigen Liede, das ihm die mit der Ee-
stauration wieder auftauchende Aristokratie abdrängte, indem
sie ihn, auf sein „de Ber." füssend, gern zu sich und, versteht
sich, in ihren Dienst herüberziehen wollte. Er überschreibt
dieses Lied : Le Vilain ; unsere Uebersetzung ist die nach-
stehende :
Was denn? ich seh' und höre Glossen
Zum Wörtlein „von" im Namen mein? —
Bist du aus edlem Blut entsprossen? —
Ich Ritter? — oh Avahrhaftig nein!
Nein, keinen Adelsbrief, geschrieben
Auf Eselshaut, hab' ich im Schrein ;
Weiss nur mein Vaterland zu lieben.
Ich bin gemein , und sehr gemein.
Ich bin gemein.
Gemein, gemein.
Warum musst' auch das „von" ich erben!
Es sagt mir deutlicli doch mein Blut,
Dass meine Väter einst Verderben
Der Macht gewünscht mit kiihnem Muth.
Die Macht, auf alter Bahn getrieben
War .sie der Mühle Miihlenstcin ;
Sie waren's Korn, das er zerrieben.
Ich bin gemein, und sehr gemein.
Ich bin gemein,
Gemein, gemein.
Es war nie meiner Väter Ringen,
Dass sie die Sclaven frecih geplagt ;
Sie haben nie mit Adelskliugen
Beranger und seine LicMler. 137
Im Wald das Volk in Furcht gejagt;
Von Langeweile abgestosscn,
Moclit' Keiner je verwandelt sein
Zum Kammerherrn van Karl dem Grossen.
Ich bin gemein, und sehr gemein.
Ich bin gemein,
Gemein, gemein.
Nie haben meine wackern Ahnen
Dem Bürgerkrieg den Arm gelieh'n ;
Nie sah man sie mit England'« Falinen
Verrätherisch nach Frankreich zich'n.
Es hat, als einst den Staat getiieben
Der Kirche Trug zum blossen Schein,
Die Ligue Keiner unterschrieben
Ich bin gemein, und sehr gemein.
Ich bin gemein,
Gemein, gemein.
So lasst mich denn bei meiner Fahne ^
Ihr Knopflochritter, hochbenas't,
Die ihr, in eurem Adolswahne
Bei jedem Neuen jauchzt und ras't.
Ich achte Volk von niedci'm Schlage,
Denn fiihleud (mag ich boshaft sein),
Siug' ich filr's Unglück, ohne Frage;
Ich bin gemein, und sehr gemein.
Ich bin gemein,
Dem Volke nur will er angehören und wie ihn weder Glanz
noch Keichthum jemals mit Verlangen erfüllt und zu unehren-
haften vSchritten verleitet haben, so auch nicht einmal die Jyiebe,
welche doch sonst nicht nach Kang und Kaste fragt. Das
singt er in „La Fillc du Peujile" seinem iMiidchen vor, dessen
Herz und Schönheit njit denen einer Herzogin wetteifern und
das zugleich des Frohsinns voll ist bei bescheidenen Wünschen.
Als Zeugin der Treue und Wahrheit der Liebe, aiuh in seinem
Dichterstreben bekundet und seine stete Richtschnur, ruft er in
„La bonne Vieille" seine junge Geliebte an, wenn sie dereinst
in ihren alten Tagen über den todten Poeten werde befragt
werden.
138 B^ranger und seine Lieder.
Dass sich Beranger in dieser Stellung und Richtung seiner
Poesie einen bedeutenden Einfluss auf die französische Geschichte
nach der Kaiserzeit zugeschrieben, beweis't namentlich sein
Liederabschied „Adieu, Chansons," worin er sich als den Vor-
kämpfer zum Umsturz des ersten ßestaurationsthrones darstellt,
dessen treffende Pfeile das Volk (in seinen Gesängen) zum
zweiten Male aufgelesen und in den Königsmantel geschleudert
habe. In der schon angezogenen „La bonne Vieille" wünscht
er auch, dass man seiner Liebe zum Vaterlande gedenken möge,
dessen Leiden er beweint und beweinen gelehrt , dessen Muth
er mit Hoffnung zu beleben gesucht habe.
In der That ist Beranger nicht nur am innigsten und zum
höchsten Fluge begeistert in den ernsten Liedern, die Frank-
reichs Grösse (und Fall) zum Gegenstande haben , sondern
auch in seinen übrigen andern Charakters, welche ihn nur ent-
fernt und vorübergehend auf Frankreich führen, sind die Blicke
auf dasselbe entweder das Schwungvollste der kleinen Gemälde
oder führen ihn auf die glücklichsten nachfolgenden Gedanken.
Wie ein Hymnus klingt sein „Retour en Francer' sein
„Champ d'Asile," sein „Retour dans la Patrie,-' seine „En-
fants de la France" und sein „Exile" sind von herzinnigem Pa-
thos wahrhaft strotzende Ergüsse des im Gefühle seines Hei-
mathlandes freudig-stolzen Franzosen. „Les Tombeaux de
Juillet" und „Le Quatorze Juillet," Prachtgesänge der Freiheit,
sind zugleich grossartige Bilder fi-anzösischer Thatkraft, in der
neuesten Geschichte bewiesen, und feiern in ein paar mächtigen
Zügen namentlich den Träger des kaiserlichen Kriegsruhms
(Dans son linceul tiendraient tous vos [der Könige] aiieux). In
ihm, dem Kaiser, erkennt Beranger natürlich den Höhepunkt von
Frankreich's Glanz und ihm allein gelten einige der schönsten
Ergüsse des Dichters. „Le Cinq Mai" ist eine wahrhafte Apo-
theose aus dem Munde eines alten Kriegers ; „Les Souvenirs
du Peuple" sind eine unvergleichlich einfach-poetische Schilde-
rung des allgemeinen Kaiserrausches ; „Les Deux Grenadiers"
eine ergreifende Darstellung des Gefühls im Heere gegen den
fallenden Helden und seine französischen Feinde und treulosen
Freunde. Wenn hier des Dichters Freiheitsgluth mit der Ver-
ehrung Napoleon's schwer vereinbar scheint , so muss man be-
Bdranger und seine Lieder. 139
denken, dass ihn, wie jeden Franzosen, der Euhm vor Allem
fasst und ihm jedwedes Leid versüssen kann.
Die gemeinsame Ueberschrift „Frankreich's Grösse und
Ruhm" möchte man ebenso über eine Anzahl anderer Gedichte
setzen, obschon sie nicht immer auf diesen Inhalt hinweisende
Titel führen. Zu diesen gehören „Le Feu du Prisonnier "
„Couplets sur la Journ^e de Waterloo" (Preis in der Klage)
„Le Bon Fran^ais" (mit scharfen Seitenhieben auf das Aus-
land) und die beiden hei-rlichen Elegien aus dem Munde alter
Soldaten „Le Vieux Drapeau" und ,,Le Vieux Sergeant." Von
hierhergehörenden eigentlichen Kriegsliedern hat Beranger nur
eins in der drängenden Zeit (1814) geliefert, ,.Les Gaulois et
les Francs," das wir in der Uebersetzung mittheilen:
Frisch! frisch! schliesst die Reih'n !
Frankreich's schöne
Starke Söhne,
Frisch ! frisch ! schliesst die Reih'n !
Gallier, Franken, schlaget d'rein!
Folgend Attila's Gebot,
Zieh'n die Schaaren
Der Barbaren
Wieder in den sichern Tod,
Der auf Galliens Feldern droht.
Frisch ! frisch ! etc.
Flink verlassen Zelt, Morast
Die Kosaken,
Ostiaken,
Hoffend — wie es England passt —
Hier zu hausen im Palast.
Frisch ! frisch ! etc.
Und der Russ' in ew'gem Frost,
Wo die Ohren
Ihm erfroren,
Müd' des Oels, der Eiohelnkost,
Lechzt nach Weissbrod hier und Most.
Frisch ! frisch I etc.
Air die Weine, aufbewahrt
B^ür die Gäste,
140 Beranger und seine Lieder.
Siegesfeste,
Flössen in der Sachsen Bart ? ^
Sie, für uns're Lust gespart?
Frisch! frisch! etc.
Sicher für Kalmückenbint
Uns're Mädel
Sind zu edel,
Uns're Frauen viel zu gut;
Sind nur für Franzosenblut.
Frisch ! frisch ! etc.
Was die Zeit als Maler liess,
Der Geschichte
Steinberichte
Uns'res Ruhms, zertrümmert dies ? !
Wie ! die Preussen in Paris ? !
Frisch ! frisch ! etc.
Gallierhelden, Frankcnleu'n,
Aller Frieden,
Der hieuieden,
Kehret bald nun bei euch ein,
Soll der Thaten Lohn euch sein.
Frisch ! frisch ! sehliesst die Reih'n !
Frankreich's schöne
Starke Söhne,
Frisch ! frisch ! sehliesst die Reih'n !
Gallier, Franken, schlaget d'rein !
Die P^rinnerungen an die grossen Zeiten des Vaterlandes
niachen den sonst dem Auslände so abholden Dichter selbst für
fremde gleiche Bestrebungen theilnahmsvoll und geben ihm seine
Gesänge auf Griechenland .,Le Pigeon messager," „Le Voyage
iniaginaire," ,.L'Oml)re d'Anacreon-' ein, sowie sein Polenlied
„Hätons-nons!" und vor Allem die schöne, episch -grossartige
Elegie „Poniatovvski,'' welche wir übersetzt hierherstellen:
Wie! flieht ihr, deren Ruhm die Welt durchschollcn ?
Hat das Geschick vor Leipzig sich vertlian?
Wie! flieht ihr? ist's des F'lusses dumpfes Rollen,
Das Brückentrümmer wälzt auf nasser Bahn ?
Soldaten, Pferde, Waffen wild sich mengen
Beningi.'r und seine Lieder.
Den Fliithen hier; die Elster fliesset schwer.
Sie fliesset, taub den schrillen Schreckensklängen:
„Nur eine Hand, Franzosen, reicht mir lier!'*
.,Nur eine Hand! — Verflucht, wer sie begehret!
Fort! fort! — Hier stille steh'n ! — Für wen? und wie?
Für einen Held, den wild der Fluss verzehret.
Dreimal verwundet, für Poniatowski.
Was hilft's! man flielit. Der Schrecken macht Karbaren.
Sein Hülfernf rührt keine Herzen mehr.
Vom Rosse reisset ihn der Strömung Fahren :
„Nur eine Hand, Franzosen, reicht mir her!*'
Er .»sinket — nein — er kämpft — er steiget wieder.
Ergreift des Pferdes Mähnen noch einmal.
„Ertrinkend steiben! — ruft er — wenn hernieder
Vom Ufer blitzen Feuerrohr und Stahl!
Hieiher! ihr Brüder, die mein Schwei'dt gepriesen;
Ich liebe euch! mein Blut ist euch Gewähr!
Ach, könnt' es länger noch für Frankreich fliessen !
Nur eine Hand, Franzosen, reicht mir her!"
Kein Retter nahet! — und die Hand im Sinken
Lässt los den Halt. „Leb' wohl, o Polen, Du!"
Doch noch ein Traum, ein Bild wie Himmelsblinken
Lacht seinem Geist aus Gotteshöhen zu :
..Was seh' ich! — endlich steigt der Aar, der weisse —
Fliegt — kämpft — und Russenblut träuft um ihn her! —
Mein Ohr vernimmt des Siegsgesanges Weise! - —
Nur eine Hand, Franzosen, reicht mir her!"
Kein Retter kommt ! — und hin ist er. Bald ragen
Der Feinde Zelte aus des Ufers Rohr. —
Sind diese Zeiten nun auch fern — ein Klagen
Dringt stets aus Wasscrtiefeu noch hervor.
Und kürzlich noch — bei Gott! kein eitles Wähnen —
Scholl himmelwärts dasselbe gell und her.
Warum der Ruf, den Wolken wiedertönen:
„Nur eine Hand, Franzosen, reicht mir her!'"
Er ist für's Land und Volk der treuen Polen,
Die sich so oft im Kampf zu »ms geschaart.
Es schwimmt in Blut vom Kopf bis zu den Sohlen,
In Blut, das fliessend seinen Werlh bewahrt.
Wie dieser Held, für unser Land gefallen,
142 B^ranger und seine Lieder.
Dess Leib die Elster spie, kaum kenntlich mehr,
Lässt uns ein Volk an's Ohr den Wehruf prallen:
„Nur eine Hand, Franzosen, reicht mir her!"
In der nachnapoleonischen Zeit und unter der wachsenden
Beschränkung aller freieren Bewegung durch das ruhmlose neue
Ivönigsthum taucht bei dem Dichter mehr und mehr wieder die
Begeisterung für die republikanische Freiheit auf; sein Vater-
landslied wird wieder reines Freiheitslied und besingt und be-
klagt entweder den über dem Schlachtenbraus verlorenen und
vergessenen Aufschwung des Geistes der neunziger Jahre, wie
in „La Deesse," „Lafayette en Amerique," „Le Tombeau de
Manuel;" oder er sperrt sich mit dem Volke gegen die rück-
schreitende Gegenwart, tröstet sich selbst in „Le Malade" und
sagt in der „Prediction de Nostradamus" das demüthigende Ende
der Bedrücker vorher. Meistentheils aber wird der Ton bei
solchen Productionen sarkastisch, und sie gehören also nicht dem
ernsten Liede an.
Die Innigkeit der Vaterlandsliebe B^ranger's führt ihn na-
türlich zu einem ächt-französischen Hasse des Auslandes, das
dem Stolze des Franzosen schliesslich so mächtigen Abbruch
that, und es fehlt daher nicht bei ihm an zahlreichen erniedri-
genden Ausfällen, die freilich seltener geradezu zum Gegen-
stande eines Liedes gemacht sind und meist nur im Vorbei-
gehen seitab gezielt zu sein scheinen. „Le Violon brise," „Le
Prisonnier de Guerre" und viele Gedichte humoristischen und
satirischen Tones wimmeln davon. Als Repräsentanten dieser
so zu sagen negativen Vaterlandsgesänge führen wir das schon
erwähnte Lied „Le Bon Fran9ais" an und theilen wir den
„Chant du Cosaque" in der Uebersetzung mit, dieses seltene
P^xemplar eines vom Hasse dictirten begeisterten Kriegsliedes
für den Feind:
Heran, mein Ross, du Liebling des Kosaken !
Fleug', wenn dem Hörn entdröhnet das Signal !
Geschwind zum Plündern, kühn den Feind zu packen,
Leih' Flügel du dem Tod durch meinen Stahl.
Der Thaten Preise sollst du halb erheben.
Bis dass dir Gold an Zaum und Sattel blitzt.
B^ranger und seine Lieder. 143
Schrei' auf vor Sftolz ! mein Renner, mir ergeben,
Der Vollmer du und Könige zertrittst.
Der Krieg gab deinen Zügel mir zu Willen;
Europas Wälle wurden Staub und Dunst.
So komm, mit Schätzen meine Hand zu füllen ;
Komm, ruhen sollst Du in dem Land der Kunst.
In dem RebcUenflnsse Seine trinke Leben,
Der dich gewaschen als du Blut geschwitzt.
Schrei' auf etc.
Als einst die Fürsten, Edle, Kardinale
Belagerte der arme Untertlian,
Schrie'n sie uns zu: Kommt, gebet uns Befehle!
Wir werden Sclave, bleiben wir Tyrann.
Ich nahm die Lanze — Kreuz und Scepter .schweben
Voll Demuth bodenwärts, wo sie erblitzt.
Schrei' auf etc.
Ein riesiges Gespenst hab' ich gesehen ;
Auf unsrera Heer lag seines Auges Brand.
Es schrie herab : Mein Reich wird neu erstehen !
Gen Abend wies das Beil in .seiner Hand,
Des Hunnenkönigs Schatten war es eben.
Sohn Attila's — hab ich den Speer gespitzt.
Schrei' auf etc.
Air dieser Glanz, der Stolz beim Abendvolke,
Air dieses Wissen, d'rin es sorglos spielt,
Ersticken sollen sie in staub'ger Wolke,
Die ringsumher dein Hufschlag aufgewühlt.
Vertilg' in deines neuen Laufes Schweben.
Gesetze, Sitten, Tempel, Schlösser itzt.
Schrei' auf vor Stolz! mein Renner, mir ergeben.
Der Völker du und Könige zertrittst.
Nichts Geringeres, als diese ein Jahrtausend hinter der
Gegenwart zurückliegende Kohheit genügt dem Dichter, um es
dem Feinde, den er freilich noch nicht gesehen, zuzutrauen
und darin seine Motive des Handelns zu suchen. Eine ge-
nauere Bekanntschaft mit dem anerkannt sanftmüthigen An-
wohner des Don jedoch verschafft diesem sogar eine Mitglied-
schaft in der „Sainte Alliance des Peuples," welches Gedicht
144 Bäranger und seine Lieder.
überhaupt den nun (1818) eingetretenen Ivespect Be^ranger's für
die Fremden bekundet.
Von den übrigen nationalen Liedern vorläufig absehend,
die ihrer Richtung nach zwar hierher gehören würden , ihres
launigen und theilweise lustigen Tones zufolge aber nicht, zählen
wir noch die andern Gesänge Beranger's hier auf, welche sich
durch gleich ernste und würdige Stimmung anreihen.
Sie behandeln einander ganz fremde, meist schon an und
für sich ergreifende Vorwürfe und diese fast ohne Ausnahme
in echtpoetischer und tief-wirksamer Weise. Zu ihnen rechnen
wir in erster lieihe die erschütternden Trauerbilder „Le Vieux
Caporal'' (Hinrichtung eines alten , durch verletztes Ehrgefühl
zur Insubordination getriebenen , Soldaten der Kaiserarmee) ;
..Jacques" (Der Tod als letzter Retter des Armen); „Le Vieux
Vagabond" (Resignation des Aufgegebenen); „Le Juif Errant;"
..r.a Pauvre Femme" (Wechsel des Geschickes); „Le Suicide"
(Eitelkeit alles Irdischen); „Le Prisonnier" (Die Hoffnung als
Trösterin); „La Nostalgie;" „Jeanne-la- Rousse" (Die treue
Gattin und Mutter) und das schon längst durch Bevorzugung
bei Mustersammlungen ausgezeichnete Lied „Les Hirondelles,"
welches hier übersetzt folgen mag:
Ein Krieger, Sclav' am Mohrenstrande,
Gebeugt von Fesselnlast und Müh'n,
Spracli : Willkomm euch im Mittagslande,
Ihr Vögel, die den Winter flieli'n.
Ihr Schwalben, denen HofFnungsfrieden
Selbst folgte in der Wüsten Brand —
Gewiss ans Frankreich erst geschieden —
Erzählt ihr nichts von meinem Heimathland?
Drei Jahre bat mit Sehnsuchtsbeben
Ich um ein Angedenken euch
Vom Thälchen, wo mein stilles Leben
Verfloss, in Zukunftsträumen reich.
Wo eines Bächleins Wellen gehen
Durch Fliedergrün im Sonnenstrahl,
Habt uns're Hütte ihr gesehen;
Erzählt ihr nichts von meinem stillen Thal?
ß^ranger und seine Lieder.
An jenem Dach vielleicht geboren,
Wo mir der Morgen einst getagf,
Habt ihr die Mutter, leidverloren,
In ihrer Liebe Sclmierz beklagt.
Im Sterben, hört in eitlem Wähnen
Sie nah'n den Fuss, der ferne blieb —
Sie horcht — dann rinnen ihre Thränen.
Erzählt ihr nichts von meiner Mutter Lieb'?
Ist meine Schwester schon verbunden
Dem Liebsten? Sah't die Burschen ihr,
Die sich zur Hochzeit eingefunden,
Sie feiern durch der Lieder Zier?
Ur.d meiner Jugendzeit Gefährten,
Die mir gefolgt zum Schlachtonschwall,
Wisst ihr, ob alle wiederkehrten ?
Erzählt ihr nichts mir von den Freunden all' ?
Vielleicht, dass über sie die Schritte
Ein Fremder in dem Thale kehrt;
Dass er gebeut in meiner Hütte;
Den Frieden meiner Schwester stört.
Für mich bleibt keiner Mutter Flehen;
Nur Fesseln harren meiner hier.
Ihr Schwalben, die mein Land gesehen,
Erzählt ihr nichts von seinem Falle mir?
In zweiter Reihe ordnen sich hier die Lieder ein, welche
man nicht ganz unpassend Lehrgedichte nennen möchte und die
in der eigenthümlich lebhaften und plastischen Weise Beran-
ger's irgend eine philosophische Wahrheit zur Anschauung
bringen oder illustriren. Sie sind :
„Les Quatre Ages Historiques" (Phasen der Geschichte
und Richtungen des menschlichen Geistes im Grossen); „La
Nature'' (Der Friede und die Freude folgen jedem Schmerz und
Leide; Liebe und Wein bleiben die ewigen Tröster); „Les
Rossignols" (Nur das unbefangene und gute Herz ist den Reizen
der Natur geöffnet); „Les Etoiles qui filenl" (Wir müssen Alle
davon, ohne Unterschied, und plötzlich); „Lc Temps" (Die
Welt vergehet mit ihrer Lust); „Le Bonheur," welches wir in
der deutschen Uebertragung hersetzen :
Archiv f. n. Sprachen. XXVH. 10
146 Beranger und seine Lieder.
Seht ihr es nicht? seht dort! seht dort!
Seht dort das Glück ! so spricht das Hoffen.
Monarch, Vasall, Bedienter, Lord
Von P'erne grüssen's froh betroffen.
Das st das Glück ! so spricht das Hoffen.
Geschwind! geschwind! und eilig fort!
Das wir es treffen, dort ja dort.
Ja dort, ja dort !
Seht ihr es nicht? seht dort! seht dort!
Seht dort das Glück auf grüner Halde!
Da blüht die Schönheit ewig fort;
Da flieht, die Liobe nicht so balde.
Wie glücklich ist man doch im Walde!
Geschwind ! geschwind ! etc.
Seht ihr es nicht? seht dort! seht dort!
Seht dort das Glück auf Feld und Wiesen !
Man schwelgt in Hülf und Füll' auf Mord;
Kein Kuss wird da zurückgewiesen.
Wie schön ist's doch auf Feld und Wiesen !
Geschwind! geschwind! etc.
Seht ihr es nicht? seht dort! seht dort!
Seht dort das Glück im Wechselhause!
Es ist die Lust an diesem Ort,
Dem Goldesmarkt, zu reichem Schmause.
Wie schön ist's doch im Wechselhause !
Geschwind! geschwind! etc.
Seht ihr es nicht? seht dort! seht dort!
Seht dort das Glück im Kriegesheere!
Da ist der Freude rechter Hort
In Waffenlärm und Waffenehre.
Wie schön ist's doch im Kriegesheere !
Geschwind ! geschwind ! etc.
Seht ihr es nicht? seht dort! seht dort!
Seht dort das Glück auf stolzem Schiffe !
Sein Wimpel wallt im weiten Port;
Ihm lächeln Meere, Inseln, Riffe.
Wie glücklich ist man doch zu Schiffe !
Geschwind! geschwind! etc.
B^ranger und seine Lieder.
Seht ihr es nicht ? seht dort ! seht dort !
Seht dort das Gh'ick im schönen Osten !
Da schwingt man Säbel bester Sort'
Frei um das Haupt, die nimmer rosten.
Wie glücklich ist man doch im Osten !
Geschwind ! geschwind ! etc.
Seht ihr es nicht ? seht dort ! seht dort !
Seht dort das Glück im freien Westen.
Tm blossen Hemd, am Waldesbord,
Spricht man zum allgemeinen Besten.
Wie glücklieh ist man doch im Westeji !
Geschwind! geschwind! etc.
Seht ihr es nicht ? Seht dort ! seht dort !
^ Seht dort das Glück in Wolkenkreisen ! —
Doch — alt und müd' — bei diesem Wort
Sagt man : Genug mit schlechten Weisen.
Wer will, mag in die Wolken reisen.
Geschwind! geschwind! und eilig fort!
Dass ihr es trefiet dort, ja dort,
Ja dort, ja dort !
Drittens und schliesslich haben wir hier eine kleine Anzahl
von Gedichten zu nennen, welche sich unter gar keinen gemein-
samen Namen oiingen lassen.
Es sind die Lieder „Souvenirs d'Enfance" und „Passy"
(Couplet), Avelche des Dichters Jugend und Alter betreffen ; die
„Couplets aux Mauritiens" (Gelegenheitsgedicht), ein Ausdruck
seiner Freude über französisches Sinnen und Denken auch jen-
seits des Oceans; das Preislied auf Corinna „L'Ange exilt^;"
das dramatisch getheilte Lied über die Heilkraft der Liebe
..Le Voyagem-;" das Klagelied über die rücksichtslose Ver-
letzung des Briefgeheimnisses in Frankreich „Le Cachet;" das
Klagelied ,.Adieux de Marie Stuart;'- das gleichfalls elegische
Winterabschiedslied an die Vögel „Les Oiseaux;" das kleine
Geschichtsbild ,.Louis XI." und die Gelegenheitsgedichte
„L'Ecrivain public,", .Ma Lampe," „LeCommencementdeVoyagc,"
„Bouquet a une Dame ag^e de 70 ans," „Chant Fun(5raire,"
„Emile Debraux," meist Loblieder.
10*
148 B^ranger und seine Lieder.
Den grösseren und bunteren Kreis der heiteren Muse Be-
ranger's behalten wir uns für eine spätere kurze Betrach-
tung vor.
Bremen.
H. Schmick.
Was ist zu thun,
wenn der Unterricht in den neuen Sprachen
in Schulen, welche die alten Sprachen nicht pflegen,
in einen organischen Zusammenhang kommen soll?
Es ist nicht zu leugnen , dass der deutsche Sprachunter-
richt, wie er gegenwärtig in den bessern Schulen unsers deut-
schen Vaterlandes in die Hand genommen wird, eine so zweck-
und naturgemädse Beurbcitimg gefunden hat, wie sie ein jeder,
dem Fortschritte huldigender Schulmann nur wünschen kann.
Wir sind nicht bloss über die Aufgabe des Muttersprach-
unterrichtes in den höhern Lehranstalten, sondern auch in der
Volksschule im Klaren, oder können es doch wenigstens sein;
wir wissen, welche Ziele auf jeder Stufe des Unterrichtes zu
verfolgen, und welche Ziele auf jeder Unterrichtsstufe zu er-
streben und welche Wege zu deren Erreichung zu betreten
sind. Ausserdem fehlt es uns nicht an vortrefflichen Lehr-
mitteln, welche den Schülern in die Hände gegeben werden
können ; Avir haben Zeitschriften , so wie specielle Anleitungen,
aus denen zu erfahren ist, wie der praktische Schulmann zu
Werke zu gehen hat, wenn sein Unterricht Nutzen bringend,
geistig bildend sein soll.
Diese unverkennbaren Fortschritte auf dem Gebiete des
deutschen Sprachunterrichtes sind nicht ohne wohlthätigen Einfluss
auf den Unterricht in den neuen , namentlich in der französi-
schen und englischen Sprache geblieben. Die neuen Sprachen
haben Bearbeiter frofunden , welche verstanden, einen naturjjfp-
mässen, vom Leichten zum Schweren fortschreitenden Wejr vor-
150 Ueber den Unterricht
zuzeiclincn und den Lehrenden und Lernenden die Arbeit zu
erleichtern.
Dessen ungeachtet scheint es mir, als ob es noch Mancherlei
zu thun gebe, wenn, was doch wohl der Fall sein sollte, der
gesammte moderne Sprachunterricht, der in einer Schule Auf-
nahme findet, in einen organischen Zusammenhang konmien soll.
Nur eine sehr geringe Anzahl der Lehrer der neuen Sprachen
scheint über die Aufgabe des gesammtcn Sprachunterrichtes in
den höhern Lehranstalten im Klaren zu sein; noch weit ge-
ringer mag die Zahl derer sein, welche über die Aufgabe des
modernen Sprachunterrichtes in den niedern Schulen nachgedacht
haben. Selbst wenn ich dies nicht in Abrede stelle, so kann
ich doch mit Recht behaupten, dass noch kein strenger An-
schluss der Aufgabe des modernen Sprachunterrichtes in den
höhern und niedern Lehranstalten statt findet.
Gehen wir die Lchrpläne der verschiedensten Lehranstalten
durch, so werden wir in den wenigsten derselben die Aufgabe
des Unterrichtes in den neuen Sprachen besprochen, noch viel
weniger eine Einstimmigkeit in deren Feststellung finden. In
der Regel ist dem betrefi'enden Lehrer nur der Weg ganz im
Allgemeinen angedeutet; es wird gesagt: in der und der Gram-
matik musst Du in Deiner Klasse so weit kommen.
Bedenken Avir mm, wie gross die Zahl der Sprachmeister
und Meisterinnen Ist, die nie ein Wort über Pädagogik u. d. g.
gehört, keinen Blick in eine Erziehungslehre geworfen hat ; so
darf man sich wohl nicht wundern, wenn sie die Aufgabe eigent-
lich gar nicht kennen, die sie lösen sollen. So wie die Arbeiter
in einer Fabrik ihren Obliegenheiten nachkommen, so auch diese
Sprachmeister.
Sind wir über die Aufgabe des Unterrichtes im Unklaren,
so werden wir es auch in Bezug auf die Ziele sein, die auf
den verschiedensten Unterrichtstufen erreicht werden sollen;
wir werden die verschiedensten Wege zu den Zielen einschlagen
und deshalb der verschiedensten Lehrmittel bedürfen.
Ein zweiter Punkt , der nach meinem Dafürhalten fast
noch gar keine Berücksichtigung gefunden hat, betrifft das In-
einandergreifen des Unterrichtes in den verschiedenen Sprachen.
Soll die Schule wirklich nur einer guten Fabrik gleichen, so
i n d e n n e II e II S p 1- H r h e n. 151
\vird von der untersten Stufe bis zur höchsten Alles in einander
greifen und das Eine das Andere unterstützen und fördern
müssen.
Soll der Unterricht einer Anstalt ein organisches Ganze
bilden, so wird jeder Lehrzweig als ein Glied der ganzen Un-
terrichtskette angesehen und nicht als ein für sich bestehendes
Ganze betrachtet werden dürfen; entweder hat der eine Lehr-
zweig dem andern den Boden zu bereiten, oder er hat den andern
zu ergänzen, zu vervollständigen, zu unterstützen. Aus diesem
Grunde vei-langt man auch mit liecht, dass z. B. der Ge-
schichtsunterricht sich an den geographischen anschliesst und
dass mit diesem wieder der naturwissenschaftliche Unterricht in
Verbindung tritt. Dass von einem derartigen Anschluss und In-
einandergreifen des Sprachunterrichtes noch keine liede ist, lässt
sich leicht darthun ; einige wenige Ausnahmen hierin mögen sich
da oder dort vorfinden; sicher gehören sie aber zu den Selten-
heiten. Li der Eegel wird der Unterricht in einer fremden
Sprache als ein für sich bestehendes Ganzes angesehen ; keine
schliesst sich streng an die andere an und baut auf dem ge-
legten Grunde fort. Die natürliche Folge hiervon ist nicht nur
eine Zerrissenheit im Unterrichte, sondern der Jugend wird das
Erlernen der Sprachen auch uimöthiger Weise erschwert; sie
wird in ihren Fortschritten gehemmt, ja wohl dadurch mit
Abneigung gegen den Sprachunterricht erfüllt. Hierzu kömmt
fierner, dass die Lehrer der verschiedenen Sprachen, nament-
lich desjenigen, der nach dem Lehrer der Muttersprache
auftritt, in Collision kommen; der eine wird niederreissen, Avas
der andere aufgebaut hat, oder er wird Dinge verlangen, welche
der Andere nicht befriedigen konnte; hierdurch wird gar nicht
selten eine Missstimmung in den Lehrkörper gebracht, die den
Schülern nicht entgeht und sie zur Parteina'hme veranlasst.
Ein dritter Punkt, der wohl ebenfalls einer Beachtung werth
ist, betrifft den Uebergang von einer schon erlernten fremden
Sprache zu einer zweiten und dritten.
Werfen wir in irgend eine Lehranstalt einen Blick, wo
nach einer neuen schon gelehrten Sprache eine zweite beginnt,
eo werden wir finden, dass in der Begel diese zweite neue
Sprache eben so ABCmässig begonnen wird, als es bei der
152 Ueber den Unterricht
ersten geschehen niusste. Man nehme die Ollendorf sehen, Ro-
bertsüu'schen, Ahu-schen u. a. Sprachlehren zur Hand und man
wird meine Behauptung bestätigt finden. Es sind mir sogar
Gymnasien bekannt, in denen die Schüler, welche einen Cor-
nelius Nepos, einen Julius Caesar u. d. g. gelesen haben und
auf dem grammatischen Boden gar nicht fremd sind , den fran-
zösischen Srpachunterricht mit dem Ahn'schen ABCbüchlein be-
ginnen und dasselbe durchleiern müssen. Wer darf sich dann
wundern, dass Schülern dieser Classe alle Lust und Liebe zum
modernen Sprachstudium vergehen muss; die guten Leute sollen
auf einmal Wasser trinken, nachdem sie Jahre lang an den
Wein gewöhnt worden sind. Kann unter solchen Umständen
wohl noch ein Mensch, der seinen gesunden Verstand hat, be-
haupten, dass die Ursache der Abneigung gegen das moderne
Sprachstudium in der Sprache oder in der Faulheit der Schüler
u. d. g. zu suchen sei?
Ergibt sich aus diesen Andeutungen , dass der Unterricht
in den Sprachen noch in keinem organischen Zusammenhang
steht, so mag es wohl nicht unzweckmässig erscheinen, wenn
ich versuche, die Frage zu beantworten:
Was ist zu thun, wenn der Unterricht in den neuen
Sprachen, in Anstalten, die den alten keine Berücksich-
tigung schenken, in einen organischen Zusammenhang
kommen soll?
Da ich im Vorstehenden die Behauptung aufgestellt habe,
dass man in Betreff der Aufgabe des modernen Sprachunter-
richtes noch nicht so im Klaren sei, wie es erforderlich ist , so
will ich zuerst diesen Punkt besprechen, jedoch nur in Bezug
auf Lehranstalten, in denen keine alte Sprache gelehrt wird.
Sollten sich die Zeiten in München noch so gestalten, dass ich
als Protestant die alten Sprachen lehren darf, so werde ich
auch diesen meine Aufmerksamkeit zuwenden.
Dass das Auswendiglernen einer Grammatik und das Ein-
prägen einer tüchtigen Anzahl von Wörtern, als Aufgabe des
Unterrichtes zustellen sei, wird Niemand behaupten, der die
Bestimmung der Schule überhaupt kennt; selbst die zweckmäs-
in den neuen Si)ra che n. 153
sigste Behandlung der Grammatik wird nm- eine sehr einseitige
Bildung gewähren; die Grammatik soll nur das Mittel zum
richtigen Verständniss der Sprache sein, daher wir wohl auch
letzteres als den Zweck des Sprachstudiums ansehen und als
Aufgabe des modernen Sprachunterrichtes die Befähigung des
Schülers, sich mit der Denk- und Handlungsweise fremder Is'a-
tionen bekannt zu machen un<l mit denselben in mündlichen
mul schriftlichen Verkehr zu treten, gelten lassen werden.
Ich weiss sehr wohl, dass man auch von dem Einführen
in die Literatur, Literaturgeschichte u. d. g. redet, allein ich
weiss auch, was man in einer Schule leisten kann , und dass
man schon zufrieden sein muss, wenn die Schüler nur eine An-
zahl guter Musterstücke gelesen haben.
Bis zu welchem (Jrade die Befähigung, sich mit dem Na-
tionalgeiste eines fremden Volkes bekannt zu machen, gefördert
werden kann, das hängt von der Zeit ab, welche dem Sprach-
studium gewidmet werden kann. Die Mehrzahl der, Lernenden
wird schon zufrieden sein, wenn sie nur so weit kömmt, dass
sie sich mündlich und schriftlich über die gewöhnlichsten Le-
bensverhältnisse leidlich zu verständigen mag. Eine zweite
Klasse wird über das Alltagsleben hinaus gehen *und sich dem
Geiste der fremden Nation entsprechend mündlich und schrift-
lich ausdrücken lernen wollen. Die letzte Klasse werden end-
lich diejenigen bilden, a^ eiche wirklich in die I^iteratur einer
fremden Nation einzudringen wünschen. Ob die Schule wirk-
lich dazu Gelegenheit geben kann, will ich nicht entsclieiden.
Kann die oben gestellte Aufgabe des modernen Sprach-
unterrichtes keine andere sein, als die bezeichnete, ko werden
wir doch zwei Ziele erst zu erreichen streben müssen , bevor
die volle Aufgabe gelöst werden kann, wenn wir den Bedürf-
nissen der Zeit entsprechen wollen. Das erste Ziel wird sein,
den Schüler so weit zu führen, dass er im Stande ist, sich münd-
lich und schriftlich über die gewöhnlichsten Lebensverhältnisse
auszudrücken, und das zweite Ziel wird sein , den Schüler zu
befähigen, sich dem Geiste der betreffenden Nation entsprechend
mündlich und schriftlich auszudrücken.
154 Uebfir den Unterricht
Wer das erste Ziel erreichen will, dem wird zunächst zu
einer tüchtiy;eu Keuntniss vun Wörtern verh(jllen werden müssen,
die im Alltagsleben vorkommen und also vorzugsweise die sinn-
liche Welt betreften ; ausserdem wird er aber auch die wesent-
lichsten Sprachfornien, welche im einfachen und zusammenge-
setzten Satze vorkommen, kennen und richtig anwenden lernen
müssen; endlich wird er auch eine gewisse Fertigkeit im rich-
tigen Fragen und Antworten zu erlangen haben.
Derjenige, welcher höher strebt, wird die eben bezeichneten
Kenntnisse und Fertigkeiten nicht entbehren köimen und folg-
lich mit der erst genannten Klasse von Lernenden denselben
Weg zu verfolgen haben; hierauf wird er aber auch in ein hö-
heres, grammatisches Studium eingeführt und zum Lesen guter
Musterstücke veranlasst werden müse^en.
Diejenigen endlich , welche in die Iviteratur der fremden
Nationen gründlich eindringen wollen, werden wieder die Kennt-
nisse und Fertigkeiten erlangt haben müssen , welche zuletzt
genannt worden sind.
Aus dem Vorstehenden folgt, dass die bezeichneten Ziele
zur Lösung der Sprachaufgabe stufenmässig fuhren, dass sie
in der engsten Verbindung stehen und keins ohne Nachtheil für
das andere übersprungen werden kann; folglich der Unterricht
ein zusammenhängendes Ganze für sich bildet.
Soll nun aber auch der Unterricht in einer fremden Sprache
mit dem übrigen Sprachunterrichte in einen organischen Zu-
sammenhang gebracht werden ; so frngt es sich, welche fremde
Sprache die nächste Stelle nach der deutschen einnehmen und
welche auf diese folgen soll, indem die Sprache, welche nächst
der Muttersprache erlernt werden soll, sich viel enger an letztere
anschliessen rauss, als die andern und ausserdem auch ein weit
elementarer Weg zu betreten ist, als bei den nachfolgenden.
Dr. Ilauschild räumt der englischen Sprache die nächste Stelle
nach der Mutters]»rache ein, weil sie wenig Formen habe , ein
grosser Theil der Wörter deutschen Ursprunges sei, und sich
fbglich leichter erlernen lasse. Ich dagegen bin der Ansicht, dass
da, wo die italienische Sprache gelehrt wird, diese nächst der
Muttersprache auftreten sollte und zwar aus ganz entgegenge-
setzten Gründen, als die von Herrn Dr. Hauschild angeführten,
in den neuen Sprachen. 155
nämlich wegen ihres Fonnenreichthums und der grossen Ver-
wandtschaft mit der französischen. Dazu kömmt, dass die
Schüler, welche noch zum Studiiuu der lateinischen S{)rache
sollten übergehen Avollen, durch das Studium der italienischen
Sprache nicht nur im Besitze einer grosser Kenntniss lateini-
scher Wörter sind, sondern aucli leicht zu vielen lateinischen
Sprachformen übergeführt werden können.
Mögen wir die Sache ansehen, wie w ir wollen ; niögen wir
unsre Ansichten mit den schlagendsten Gründen unterstützen,
so werden wir doch immer nur eine geringe Partei für uns
gewinnen, und zwar eine Partei, die bich durch lokale Ver-
hältnisse und Bedürfnisse bestimmen lässt, auf unsre Seite zu
treten, oder, was auch der Fall sein kann , weil sie die eine
Sprache kennt und die andere nicht.
So lange die Mehrzahl der Deutschen französisch spricht
und schreibt; so lange wir so halb und halb unter französischem
Coramando stehen, so lange wird es heissen: „Die französische
Sprache muss nächst der Muttersprache auftreten."- JMit allem
gelehrten Apparate die Wichtigkeit des französischen S[)rach-
studiums darthun, ist eben so überflüssig, als wenn Herr Dr.
Hauschild und ich für unsre Ansichten auf dem Disputirplatze
auftreten wollten. Usus est tyrannus heisst es, und diesem
Tyrannen muss man sich unterthänigst unterwerfen ; gegen
den Volks -Willen lässt sich selbst in der Schule nichts aus-
richten.
Hieraus ergibt sich, dass, wenn wur Einheit in den Sprach-
unterricht bringen wollen, wir dem französischen Sprachunter-
richte die erste Stelle nach dem Muttersprachunterrichte ein-
räumen müssen, sofern wir nicht Sonderinteressen, sondern das
Interesse des deutschen Schulwesens überhaupt verfolgen
wollen.
Wird dem französischen Sprachunterrichte die genannte
Stelle eingeräumt, so dürfen wir ihm doch nicht gestatten, eine
unabhängige Rolle zu spielen, sondern wir müssen ihn unsrer
Muttersprache unterwerfen und ihm nicht mehr gestatten dürfen,
als einem Gliede der ganzen Sprachkette zukömmt; er wird also
auf dem, durch den Unterricht in der Muttersprache gelegten
Grunde auftreten und fortbauen müssen, wie dieser vorschreibt;
156 Ueber den Unterricht
ja er wird selbst zur Förderung gründlicher Kenntniss der
Muttersprache beitragen müssen; besitzt dann der Lehrer auch
noch etwas deutschen Patriotismus , so wird er auch oft Ge-
legenheit finden, den Schüler die Vorzüge der Muttersprache
vor der französischen fühlen zu lassen und also dazu beitragen,
dass der Schüler seine Muttersprache nicht der gallischen
nachsetzt.
Will ich nun nachweisen, was in dieser Hinsicht zu tliun
ist, so Averde ich den französischen Sprachunterricht von der
untersten bis zur obersten Stufe verfolgen und darthun müssen,
wie er zu betreiben ist, wenn er ein für sich bestehendes Ganze,
aber auch ein Glied der ganzen Sprachkette in der Schule sein
soll. Ist solches nachgewiesen, so werde ich dann erst zu den
andern fremden Sprachen übergehen.
I. Der französische Sprachunterricht.
Nachdem ich oben die verschiedenen Ziele bezeichnet habe,
die nach und nach zu verfolgen sein möchten, zwischen diesen
Zielpunkten aber immer wieder Zwischenzielpunkte zu verfolgen
sind, so will ich verschiedene Spracheurse hier durchgehen.
Erster französischer Sprachcursus.
Ist das Sprachgefühl des deutschen Schülers durch Sprach-
übungen gebildet worden, w^elche die Sprachformen des einfachen
und zusammengesetzten Satzes, nicht aber, wie der so genannte
Anschauungsunterricht, die Anschauung und Begriffe der sinn-
lichen Welt, zur liichtschnnr nehmen ; ist der Sprachstoff auch
schrifthch verarbeitet, das richtig betonte Lesen geübt worden;
haben wir ferner die Schüler die Sprachformen zerlegen und
die Beziehungsverhältnisse der Begriffe auf einander bezeichnen
lassen, und zwar auf ganz elementarem M'^ege: so ist der Schüler
befähigt zur Erlernung der französischen Sprache überzugehen,
aber nicht eher.
Da der Schüler auf dem bezeichneten Wege nicht nur alle
Kedetheile kennen lernte, sondern auch mit den wesentlichsten
Sprachformen im einfachen und zusammengesetzten Satze be-
kannt gemacht worden ist; so ergibt sich hieraus, dass auf der
ersten französischen Sprachstufe auch nichts anderes in Betracht
in den neuen Sprachen. 157
gezogen werden sollte, und dass nicht einmal das Verb in allen
seinen Zeitformen berücksichtigt werden kann , wenn wir der
Jugend nicht zu viel zumuthen wollen.
Der Weg, welcher zur Erreichung dieses Zieles einzu-
schlagen ist, lässt sich ohne grosse Calculationen finden , denn
ein guter deutscher Sprachunterricht hat ihn vorgezeichnet.
Derselbe begann mit dem einfachen, engen Satze, ging zum er-
weiterten über und schloss mit dem zusammengezogenen und
zusammengesetzten Satze. Da nun derjenige, welcher einen ein-
fachen engen Satz bilden will, einen Gegenstand haben muss,
von dem er Etwas aussagen kann, so wird er zunächst Namen
der Dinge, d. i. Personen oder Sachen kennen müssen; will er
ferner aussagen, wie ein Ding ist, was es thut oder was es
ist, so wird er Namen der iMgenschaften, Thätigkeiten und all-
gemeine Namen der Dinge wissen müssen. Mit den Namen
der Dinge lernt der Schüler die Geschlechtswörter, die Ge-
schlechter und die Pluralform der Dingwörter kennen. Hieran
werden sich am natürlichsten Sätze anknüpfen lassen, welche
aussagen, was das Ding ist. Ohne dem Schüler grosse Schwie-
rigkeiten zu bereiten, können ferner die Pronoms possessifs und
demonstratifs , an die Stelle des Artikel treten , und bei der
Pluralbildung finden die Grundzahlwörter ebenfalls ihre passende
Stelle.
Da jedoch mit blossen Substantiven sich kein Satz bilden
lässt, so müssen die Hilfszeitwörter etre und avoir auftreten.
Diese Verben sollten jedoch nicht wie blosse Vocabeln auswendig
gelernt werden, sondern es sollte der Schüler auch finden, wie
die verschiedenen Zeitformen gebildet werden.
Lernt der Schüler von dem Dinge aussagen, wie es ist, so
wird er denn auch bald das Adjectif als Attribut gebrauchen
lernen können. Nun kommen Sätze an die lieilie, welche aus-
sagen, was der Gegenstand thut oder in welchem Zustande er
sich befindet. In diesen Sätzen lernt der Schüler nicht nur das
Verb im Infinitif kennen; sondern auch die persönlichen Für-
wörter und die Bezeichnung der Personenbeziehujigen auf Jas
Verb in der Gegenwartsform.
Da der Schüler das Adjectif hat brauchen lernen, so werden
wir nun das Verb in der Adjectif- oder l^artici[)ibrm auftreten
158 Ueber den Unterricht
lassen können; fügen wir hierzu noch den Imperatif; so sind
dem Schüler alle im einfachen engen Satze vorkommende
Sprachformen bekannt und wir brauchen nur noch die fragende
und verneinende Rede zu üben.
In dem erweiterten Satze halten wir uns zunächst an das
Substantif und führen es als Attribut, Object und Adverbiale
auf und der Schüler lernt die wesentlichsten Prepositions und
Adverbes kennen.
Da das Pronom personnel der Stellvertreter des Substantif
ist, so schliesst es sich am natürlichsten an letzteres an.
Beginnen wir nun eine recapitulation der Adjectifs, so
finden wir hier Gelegenheit, den Schüler mit der Comparation
der Adjectifs bekannt zu machen, woran dann sich die übrigen
Zahhvörter anreihen.
Mit den Pronoms relatifs gehen wir zum zusammenge-
setzten Satz über, in welchem der Schüler nur noch die Con-
junctionen kennen lernt. Hier angelangt, steht der Schüler am
Schlüsse des ersten Cursus ; mehr auf dieser Stufe zu bieten,
ist nicht rathsam.
Bevor aber der Schüler mit den Sprachformen bekannt ge-
macht werden kann, wird er an eine richtige Auffassung der
fremden Laute, so wie an deren richtige Aussprache gewöhnt
werden müssen. Dem Schüler durch ausführliche Belehrungen
über die Aussprache zum richtigen Aussprechen der Laute zu
verhelfen, ist ein vergebliches Unternehmen auf dieser Stufe,
hier kann nicht anders geholfen werden als durch vieles Vor-
und Nachsprechen von Wörtern, in denen die zu erlernenden
Laute vorkommen ; die gesprochenen Wörter müssen dann viel
gelesen, auswendig gelernt und dictando geschrieben werden.
Dieses Sprechen, Lesen und Schieiben führt zur Lesefertig-
keit, welche so ziemlich erreicht sein sollte, bevor zur Formen-
kenntniss übergegangen wird. Durch ein blosses Vor- und Nach-
sprechen wird aber auch bei vielen Schülern nicht zum Ziele
zu kommen sein, da sie Avohl Ohren haben, aber noch nicht
hören, oder ihren Sprachwerkzeugen die erforderliche Biegsam-
keit abgeht. Aus diesem Grunde wird es nothwendig sein, die
fremden Laute mit den deutschen viel vergleichen zu lassen,
damit das Ohr die Unterschiede der Töne erfassen lernt ; wo
in tlen neuen Sprachen. 159
es angellt, sind selbst die mundartlichen Laute mit herbeizu-
ziehen. Dass ungeachtet dieser Uebiingen die Aussprache noch
vieles zu wünschen übrig lassen wird, ist ausser Zweifel und
der beste Lehrer Avird sie nicht auf einmal in's Leben rufen;
daher auch in der Folge derselben immei- die nöthige Sorgfalt
zu schenken ist.
In Betreff der Sprachformen ist hier noch zu bemerken,
dass die Einübung einer jeden neuen Form drei verschiedene
Uebungsaufgaben erfordert, als: 1. Sätze in deutscher und
französischer Sprache, damit der Schüler durch Vergleiclumg
mit der Muttersjirache die Form selbst finden kann. Hier sind
auch verschiedene Fragen über die betreffenden Satzglieder zu
geben, damit, wenn die betreffende Form gefunden worden ist,
die übrigen Sätze französisch abgefragt werden können. Z. B.
Der Vater lobt die Tochter. Le pere loue la fille. Com-
ment dit-on en fran^ais der Vater? Der Vater se dit en fran-
(,'ais le pere. Le pere que peut-il faire? Que fait-il? 11
loue. Qui est-ce que le p^re loue? — Sind alle Sätze, welche
der Schüler natürlich vor sich haben muss, abgefragt ; ist na-
mentlich auf eine richtige Aussprache gesehen worden, so werden
die Sätze nun mehrmals gelesen, zu Hause gut auswendig ge-
lernt und dann in der Schule dictando geschrieben. Anfangs
dictirt mau sie französisch , späterhin deutsch und der Schüler
corrigirt sein Dictat nach dem Buche.
Hierauf folgen zwei Sätze in französischer Sprache. Bevor
diese durchgenommen werden, sind alle darin vorkommenden,
dem Schüler fremden Wörter zu sprechen ; dann wird das Stück
gelesen, hierauf jeder Satz zergliedert und der Schüler muss
angeben, wie die verschiedenen Beziehungen der Satzglieder auf
einander bezeichnet worden sind. Sind diese Sätze mündlich ins
Deutsche übersetzt, so wird eine schriftliche Uebersetzung und
zwar in richtiger, deutscher Wortstellung geniacht, damit der
Schüler auch in seiner Sprache vorwärtsschreitet. Drittens folgen
deutsche Uebungsaufgaben, an denen der Schüler beweisen soll,
ob er das Gelernte auch anwenden kann. Die uebersetzung
corrigirt der Lehrer an der Wandtafel ; haben die Schüler viele
Fehler gemacht, so müssen sie die Arbeit copiren ; diese Copie
geht dann der Lehrer durch. Ist letzteres geschehen, so wird
160 ^ Ueber den Unterriclit
die Uebersetzung auswendig gelernt. Sowohl die deutsche als
die französische Uebersetzung wird in der Schule zurück über-
setzt; oder der Lehrer dictirt die Sätze deutsch und lässt sie
französisch nachschreiben; auch kann der Lehrer mit den, in
den Uebungsaufgaben vorgekommenen Wörtern selbst Sätze bil-
den und sie dictiren.
Der Stoff zu diesen Aufgaben ist so viel wie möglich aus
dem Alltagsleben zu nehmen, da der Schüler sich zunächst
über dieses ausdrücken lernen will.
Da die Fortschritte der Schüler durch Nichts mehr gehin-
dert werden, als wenn ein und und derselbe Gegenstand oft
auftritt und bis zu einem bestimmten Ziele in einem Zuge fort-
gesetzt wird, so erachte ich es für zweckmässig, das Lesen zu-
sammenhängender Lesestücke erst dann auftreten zu lassen,
wenn der Schüler die wesentlichsten Sprachformen kennt. Der
Inhalt dieser Lesestücke wird ebenfalls aus dem Alltagsleben
zu nehmen, und womöglich in einfachen Sätzen zu geben sein.
eJedem Lesestück sind Fragen über dasselbe hi französischer
Sprache beizufügen, damit der Schüler auf ein Abfragen des
Lesestückes vorbereitet werde. Die Antworten hat der Schüler
selbst auf die Frage zu ertheilen. Jedes der Lesestücke ist
aber auch zu Wiederholungen des Gelernten zu benutzen; da-
her es nicht unzweckmässig erscheinen möchte, wenn Aufgaben
beigefügt würden, die der Schüler zu lösen hat.
Sind eine massige Anzahl von Lesestücken mündlich und
schriftlich verarbeitet worden, hat der Schüler alle auf die
Sprachformen bezüglichen Uebungen durchgenommen und die
Aufgaben gut gelernt, so kann er nun zum
Zweiten französischen Sprachcursus
übergehen, dessen Aufgabe keine andere sein kann, als den
Schüler mit Allem bekannt zu machen, was sich auf die Formen
der regelmässigen und der unregelniässigen Verben bezieht;
ausserdem ist aber auch die Wortbildung und die Wortbedeutung,
das onomatische oder lexiaklische Element, in Betracht zu ziehen.
Auch hier wird eine jede Sprachform die oben beschrie-
benen drei Uebungen verlangen , daher auch hier Sätze in
in den neuen Sprachen. 161
deutscher und französischer, dann blos in französischer und
endlich blos in deutscher Sprache gegeben werden müssen.
Die Infinitiv form, das Präsent und die Participes hat der
Schüler auf der vorigen Stufe kennen gelernt, daher sie hier
zu repetiren und dann zum passe defini überzugehen ist. Von
diesen Grundformen werden nun nach und nach die andern
Zeitformen abgeleitet und eingeübt. Ist dieses geschehen, so
wird es nicht unzweckmässig sein, wenn nun noch eine Samm-
lung von Sätzen in französischer Sprache folgen, die zu öftern
Wiederholungen benutzt werden können. In allen diesen Sätzen
ist das Verb in den Infinitif zu stellen, und durch die Pronoms
zu bezeichnen, welche Person der Schüler in einer bestimmten
Zeitform bilden soll. Letzteres wird ganz besonders in Betreff
der unregelmässigen Verben noth wendig sein.
Neben diesen rein formalen Uebungen geht das Lesen und
Uebersetzen passender Lesestücke her und zwar so, dass immer
die o-elernte Form in Anwendung kommen muss. Dies wird
möghch sein, wenn nach jedem Lesestücke, wie im ersten Cur-
sus, Fragen, jedoch in deutscher Sprache, gegeben und diese
immer in die einzuübenden Zeitformen gestellt Averdcn. Auf
diese Fragen werden endlich onoraatische oder lexikalische
Uebungen folgen müssen, jedoch in der Ordnung, dass der
Schüler zunächst mit der Wortbildung und der Wortbedeutung
vertraut wird, zuletzt können ganze Wörterfamilien in guten
Beispielen vorgeführt werden. Auch diese Sätze können zur
Einübung der Verben sehr gut benutzt werden.
Die Wortbildung beginne ich mit den zusammengesetzten
Verben, wie:
Voir; pr^voir les evenements ; revoir sa patrie; revoir
un manuscrit: h revoir. — Lever: lever les mains au ciel;
relever une statue qui est renvers^e; se relever d'une grande
maladie. Courir: accourir en grande häte; accourir pour f(j-
liciter de son succ^s; concourir au bien pubUc; concourir pour
le prix de peinture; parcourir la carriere en cinq minutes etc.
Dem Schüler wird nur die Bedeutung des Grundwortes
gegeben, die Nebenbedeutungen muss er selbst finden.
Von den Verben gehe ich zu den Substantif- , Adjectif-,
Archiv f. n. Sprachen. XXVU. 1 1
162 lieber den Unterricht
Verb- und Adverbableitungen über und schliesse mit ganzen
Wörterfamilien. Z. B.
Pos er. Je trouvai une jeune servante qui avait pose ea
cruche sur la derniere marche de l'escalier. Qui p o s a les livres
dans la bibliotheque. Des bataillons entiers poserent les
armes. Dans une discussion, le plus important est de savoir
poser la question. Posons que cela sert. Comme une aigle
qu'on voit toujours, soit qu'elle vole au milieu des airs, soit
qu'elle se pose sur le haut de quelque rocher, porte de tous cotös
ses regards per9ants. La pose de grandes pierres est quelque
fois fort difficile. Cette question ne parait difficile ä resoudre
que parce qu'elle est mal posee. Pr^ferez l'habitude de parier
aussi pos^ment que l'on ecrit, h celle d'^crire aussi vile que
l'on parle. On nous a donn^ cela pour une chose positive.
Ce tableau offre des beautes positives. Ce jeune homme a
des connaissances positives. Cette ville est dans une posi-
tion agreable. Je voudrais bien etre en position de vous
rendre le service que vous me demandez. Dieu. en creant le
monde a dispos^ toutes choses dans cet ordre admirable oü
nous les voyons. Avez-vous dispos^ votre salle pour le bal?
Dieu en disposera peut-etre autrement. II dispose de tous
les emplois civiles et militaires. 11 se disposait h, venir lui-
meme h la tete d'une puissante armee. Tout se dispose pour
recevoir Monsieur le Duc. Tout etait dispos^ pour une re-
volution. Les danseurs de corde dolvent etre dispos. J'ai
Cent francs disponibles pour teile chose.
Nachdem alle die genannten Uebungen durchgenommen
worden sind , wird der Schüler nicht nur alle Sprachformen
kennen und anwenden können, sondern er wird auch im Be-
sitze einer tüchtigen Wortkenntnis s sein ; daher nun der
Dritte französische Sprachcursus
beginnen kann, welcher nicht blos die beiden ersten Curse zu
recapituliren, sondern auch zu ergänzen hat. Aus diesem Grunde
wird nun die Biegungslehre, sowie auch die Laut-, Silben-, Wort-
und Satzlehre durchzunehmen sein, jedoch in der Ordnung, dass
ein Redetheil nach dem andern, sowohl in formeller als in
syntaktischer Hinsicht vorgeführt wird.
i'n den neuen Sprachen. 163
Da der Schüler vielfach im Fragen und Antworten geübt
worden ist, so wird er nun auch zum Verständniss eines Lehr-
gespräches befähigt sein, wozu die Grammatik den besten Stoff
bietet. Da jedoch die grammatische Sprache dem Schüler noch
fremd ist, so erscheint es mir zweckmässig, ihm die Sprach-
lehre in deutscher und in französischer Sprache zu geben, da-
mit er sich auf den Unterricht vorbereiten kann , welchen der
Lehrer nun in französischer Sprache zu ertheilen hat.
Will der Lehrer mit seinen Schülern Lehrgespräche über
die Grammatik anstellen, so ist die Kunst im richtigen Fragen
so wie im Entwickeln der Begriffe nicht zu entbehren. Da diese
Kunst vielen Lehrern ganz fremd ist, so habe Ich dieselbe so
weit bearbeitet, als sie ein Sprachlehrer braucht imd sie unter
dem Titel: die Kunst zu fragen und Begriffe zu ent-
wickeln, zu Freysing, bei Datterer herausgegeben.
Die oben genannte Grammatik würde in zwei Theile zu
scheiden sein ; der eine Theil hätte die eigentlichen Sprach-
regeln zu umfassen, der andere den Stoff zu den Sprach- und
Denkübungen zu liefern und zwar so, dass letztere wieder eine
Vorschule zur Stylistik abgeben.
Wie gesagt worden ist, möchte die Grammatik die Rede-
theile nach der Reihe vorzuführen haben und zwar so, dass
Alles, was sich auf das Formale bezieht, vorangeht_ und hieran
sich sogleich die syntaktischen Regeln anschliessen. Vieles wäre
blos zu wiederholen, wozu am besten die Beispiele wieder be-
nutzt werden, die in den ersten Cursen sich vorfinden. Zu dem
Uebrigen wären dann weitere Beispiele zu liefern, jedoch mehr
in deutscher, als in französischer Sprache.
Der zweite Theil, welcher den Sprachstoff zu liefern hat,
würde mit der Lautlehre zu beginnen haben, dann zur Silben-,
Wort- und Satzlehre übergehen müssen und zwar in derselben
Weise, wie sie der Schüler in seiner Muttersprache hat kennen
gelernt.
Obgleich der Schüler Lesen gelernt und gesprochen hat,
so werden sich dessen ungeachtet noch Mängel und Fehler in
der Aussprache vorfinden, die nun beseitigt werden müssen.
Aus diesem Grunde die Lautlehre gründlich durchzunehmen ist,
namentlich in Hinsicht auf die Laute , welche dem Deutscheu
11 ♦
Ju4 Ueber den Unterricht
Schwierigkeiten bereiten. An die Lautlehre schliesst sich die
Silbenlehre an, in welcher die Ableitungsendungen in Hinsicht
ihrer Bedeutung besonders vorzuführen sind. Auch der Reim
der Silben möchte hier zu besprechen sein.
Die Wortlehre hat das Wort nach seinem Ursprünge, seiner
Bildung, nach seiner eigentlichen und uneigentlichen Bedeutung
zu besprechen; auch sind Uebungen im Vergleichen und Un-
terscheiden, im Ueber- und Unterordnen der Begriffe u. d. g.
anzustellen. Der hierzu erforderliche UebungsstofF möchte im
Lesebuche zu geben sein. Z. B.
1. Es wird der Theil gegeben und der Schüler soll das
Ganze nennen, z. B.
minute (heure); semaine (mois); jour (semaine); mois (an-
nee); ann^e (si^cle).
2. Es wird das Ganze genannt und der Schüler nennt
dessen Theile z. B.
Fleur. parties: p^tale, p^dencule, calice, corolle, ^tamine.
3. Es sollen die gleichen Merkmale zweier Gegenstände
angegeben werden, z. B.
La voiture et la charrue (ont des roues) — L'eau et le vin
(sont fluides) — L'aiguille et l'epine (piquent).
4. Es sollen die ungleichen Merkmale gesucht werden, z. B.
L'aiguille est faite de m^tal; l'epine est la partie d'une
plante. L'eau vient des sources et des nu^es ; le vin se fait des
grappes.
5. Die Begriffe werden über- oder untergeordnet, z. B.
Le fusil, le pistolet et le canon servent k tirer, ils sont
des armes k feu. Des corps sont: le soleil, la iune, la terre,
la pierre, la plante. On peut se mouvoir de diff^rentes manieres:
aller, courir, sauter, aller k cheval, aller en voiture. etc. etc.
6. Es soll das Gegentheil der Angabe genannt werden, z.B.
Vrai (faux); long (court) — la naissance (la mort) — la
guerre (la paix) — röcompenser (punir) — augmenter (di-
minuer).
Oder: Le plus fort a toujonrs raison (Le faible a toujours
tort). Un ^crivain a dit: Soyons indulgents envers les vivantsi
(Un ^crivain a dit: Soyons indulgents envers les morts). etc. etc.
in den neuen Sprachen. 165
Derartige Uebungen geben reichen Stoff zu Sprechübungen,
fördern das Denken und tragen zur Bildung des Styles bei.
Ehe zur Satzlehre übergegangen wird, erscheint es mir
nicht unzweckmässig, auch Hebungen im Bilden der Urtheile,
im Unterseheiden derselben u. d. g. anzustellen.
Die Satzlehre hat sich streng nach der, in unsern bessern
deutschen Sprachlehren aufgenommenen, Satzlehre zu accomodiren,
namentlich in Hinsicht auf Terminologie, Erklärungen u. d. g.
Die Analyse von Noel und Chapsal, welche bei manchem Pro-
feseeur noch das Non plus ultra ist, obschon sie selbst in Frank-
reich in den Hintergrund gestellt wird, muss aus unsern Schulen,
so wie aus dem Privatunterrichte verschwinden ; die Satzlehre
bietet ebenfalls reichen Stoff zu mündhchen und schriftlichen
Uebungen, die ich übergehen zu können glaube.
Neben diesen grammatischen Uebungen geht das Lesen
guter Musterstücke her, die jedoch mit den grammati-
schen Uebungen in Verbindung stehen müssen.
Während in den beiden ersten Cursen die jedem Lesestück
beigefügten Fragen keinen andern Zweck hatten, als den Schüler
im Abfragen des Gelesenen zu üben; so müssen sie nun dazu
dienen, den Schüler zu veranlassen, vergleichend, also denkend,
den erhaltenen Stoff zu überblicken. Des Schülers Antworten
sollen Urtheile sein.
Auch hier wird einem jeden Lesestück onomatischer oder
lexikalischer Uebungsstoff beizufügen sein. Die Synonymen
glaube ich in den folgenden Cursus verlegen zu müssen.
Hat der Schüler alle die so eben angedeuteten Uebungen
durchgemacht, so kann er so weit sein, dass er sich mündlich
und schriftlich über die gewöhnlichsten Lebensverhältnisse aus-
zudrücken vermag und er also das dem Sprachunterrichte ge-
steckte erste Ziel erreicht hat.
Sollten sich nun Schüler vorfinden, welche s*ich in kein
tieferes grammatikalisches Studium einlassen, dagegen sich mit
der feineren Umgangs- und mit der Geschäftssprache noch ver-
trauter machen wollen, so wird sich der ganze Unterricht nur
auf die Leetüre zu beschränken haben und zwar des Echo de
Paris, 60 wie auf das Lesen guter Briefe, Geschäftsaufsätze,
Handelsbriefe, u. d. g., die schriftlich zu imitiren sind.
166 Ueber den Unterricht
Der höhere Unterricht.
Vierte französische Sprachstufe.
Diese Stufe betreten diejenigen Schüler, welche nicht nur
tiefer in die Grammatik eindringen wollen, als auf der letzten
Stufe möglich war, sondern welche auch schön und richtig spre-
chen und schreiben lernen und sich mit der Sprache und den
Ideen anerkannt guter Schriftsteller bekannt machen wollen.
Um dieses Ziel zu erreichen, wird eine wissenschaftliche
Satzlehre durchzunehmen sein, aus welcher jedoch Alles fern
zu halten ist, was nur der eigentliche Sprachforscher zu wissen
braucht. Da wir jedoch hier Schüler vor uns haben, welche in
der Grammatik schon bewandert sind; so wird eine ausführliche
Erörterung der Regeln nicht mehr nothwendig sein. Der Schüler
kann die Grammatik selbst studiren und der Lehrer kurze Lehr-
gespräche über das Studirte anstellen. Am zweckmässigsten
erscheint es mir, wenn der Lehrer das, gute Musterstücke ent-
haltende, Lesebuch als das Centrum ansieht, um welches sich
Alles zu drehen hat, und mit dem Lesen die grammatikalischen
Lehren in Verbindung setzt.
Von dem Schüler muss verlangt werden, dass er sich auf
das zu lesende Stück gut vorbereitet. Beim Uebersetzen ins
Deutsche muss auf gutes, dem Französischen entsprechendes
Deutsch streng gehalten werden, indem er dadurch sehr viel für
seine Muttersprache gewinnt. Ist das Stück übersetzt, so wird,
wie wir es beim deutschen Unterrichte thun, der Inhalt des
Stückes abgefragt, der Grundgedanke desselben festgestellt und
zuweilen die Disposition zu demselben schriftlich geliefert und
die Darstellungsweise u. d. g. besprochen. Ganz besonders ist
der Schüler auf die schöne, edle Darstellung aufmerksam zu
machen und dieselbe mit der deutschen Darstsellungsweise zu
vergleichen. Ausserdem sind grammatikaüsche Belehrungen zu
geben und lexikalischer Stoff ist zu besprechen. Hier sind nun
ganz besonders die Synonymen in Betracht zu ziehen. Die
lexikalischen Uebungen sind anfangs in französischer Sprache
zu geben ; späterhin werden dieselben aber nur in deutscher
Sprache gegeben, jedoch nicht in Uebersetzungen aus dem Fran-
in den neuen Sprachen. 167
zösischen, sondern wie ich sie z. B. in meinem deutschen
Sprachbuche von Seite 80 bis 130 aufgestellt habe.
Die Synonymen muss dei- Schüler durch Beispiele kennen
und sie sogleich auch anwenden lernen, z. B,
Accusateur. Delateur.
L'a ccusateur denonce une mauvaise action au grand-
jour et la tete levee; le delateur epie et denonce sourdement.
L'accusateur peut etre un honnete homme irrite, indigne (le mot
se prend en bonne part). Le delateur est toujours un espion
vendu (ce mot se prend en mauvaise part).
Application. Le front du coupable est un terrible. . . . ')
Les . . . -) abondent ou la • . . ^) est recompensee. Le ..."*)
est un odieux personnage qui est ä la solde du gouvernement
soup9onneux et tyrannique. Quand les moeurs ont 6te outra-
g^es, tout bon citoyen doit s'eriger en . . . ') public.
1. accusateur. 2. delateurs. 3. la delation. 4. le delateur. 5. ac-
cusateur.
Hierauf können Uebungen im Unterscheiden des eigent-
lichen und bildlichen Sinnes folgen, z. B.
Le feu s'allume (pr.); et petille (pr.) ; l'eau bout (pr.)
Le courage s'allume (fig.) ; ses yeux p^tillent (fig.) ; son sang
bout (fig.).
Oder Sens figure:
II faut separer l'ivraie du bon grain.
II n'y a pas de roses sans ^pines.
etc. etc.
Sens propre.
II faut sdparer les bons des mechants.
Nos plaisirs sont toujours melds de peines.
Auch die Erklärung von Sprichwörtern können hier eine
Stelle finden, z. B. Pour un moine l'abbaye ne manque pas.
Quand plusieurs pcrsonnes ont projete quelque partie en-
semble et que Tune d'elles fait defaut, on ne laisse pas de s'a-
muser pour cela.
Tous les chiens qui aboient ne mordent pas.
Tous ceux qui menacent ne sont pas redoutables etc. etc.
Auch die Satzlehre bietet zu verschiedenen Uebungen Ver-
anlassung, z. B.
168 üeber den Unterricht
1. Zum Hauptsatz soll der Nebensatz angegeben werden, z. B.
Quand on a menti une fois, (on n'est plus cru de personne).
Si tu veux que les autres pensent du bien de toi, (fais-en).
Si quelqu'un te flatte, (sois persuad^ qu'il cherche k te tromper).
2. Zum Hauptsatz soll der Nebensatz gebildet werden, z. B.
On ne croit plus un enfant (quand il a menti).
Abraham aurait immole son fils, (si l'ange du Seigneur
n'eut arret^ sons bras).
So leicht es wäre, die Zahl dieser Uebungen zu vermehren,
so unterlasse ich es doch, indem ich hoffe, dass man aus diesen
Andeutungen schon ersehen wird, wie die Bildung des Styles,
worauf es hiermit ankömmt, gefördert werden kann.
Ist ein Musterstück auf die hier beschriebene Weise ge-
lesen , erläutert und verarbeitet , so gibt man noch eine kurze
Biographie des Verfassers, welche der Schüler zu Hause nie-
derschreiben kann.
Dass manches gelesene Stück zu Imitationen benutzt und
auswendig gelernt werden sollte, bedarf wohl keiner weitern
Erwähnung. Neben diesem statari sehen Lesen geht aber auch
das cursorische Lesen her, wozu ich besonders historischen
Stoff empfehlen mochte, über welchen sich eine Unterredung
anstellen lässt.
Ist der Schüler auf die hier beschriebene Weise geübt
worden, so wird nun auch zum Uebersetzen von deutschen Le-
sestücken ins Französische geschritten werden können, wie sie
sich in Wildermuths Musterstücken, bei de Castres und andern
vorfinden.
Soll auf dieser Stufe Alles gründlich durchgenommen werden,
was von mir angedeutet worden ist, so bezweifle ich, dass der
Lehrer noch Zeit finden wird zur Literatur und Literaturge-
schichte übergehen zu können. Aus diesem Grunde ich den
fünften französischen Sprachcursus
der Hochschule zuweise, welche dem, der in die Literatur der
französischen Nation gründlich eindringen imd sich auch in
stylistischer Hinsicht noch ausbilden will, Gelegenheit dazu
in den neuen Sprachen. 169
geben sollte. Wem es nicht vergönnt ist, eine höhere Anstalt
zu besuchen, der wird sich auf dem Privatwege oder durch
Selbststudium forthelfen müssen.
II. Englischer Sprachunterricht.
Soll der Unterricht in der englischen Sprache nicht ohne
nachtheilige Einwirkung auf den französischen bleiben und der
Schüler rasch vorwärts geführt werden können, ohne dessen
Kräfte zu sehr in Anspruch zu nehmen; so darf er nicht
eher auftreten, als bis der Schüler mit den wesentlichsten fran-
zösischen Sprachformen bekannt ist und sich eine tüchtige
Wortkenntniss erworben, er also die beschriebenen beiden ersten
französischen Spracheurse absolvirt hat.
Da die englische Sprache nicht den Formen-Keichthum der
französischen hat und in dieser Hinsicht dem Schüler weniger
Schwierigkeiten als die französische zu überwinden bietet; so
wird er dieselbe nicht nur leichter finden , sondern sie auch
lieber gewinnen und die französische Sprache , wenn er nicht
über den formellen Theil hinaus ist, zurücktreten lassen, ihr
nicht mehr den Pleiss zuwenden, den er ihr vielleicht zuge-
wendet hat und desshalb in seinen Fortschritten gehemmt werden.
Dass die Kräfte eines Schülers, der in der französischen Sprache
noch nicht hinreichend vorgeschritten ist, zu sehr in Anspruch
genommen Averden müssen, wenn der englische Sprachunterricht
zu zeitig begonnen wird, bedarf keines Beweises.
Betrachten wir nun die englische Sprache ebenfalls als ein
Glied der ganzen Sprachkette, so muss in Bezug auf den
Unterricht in derselben hier Alles das Anwendimg finden, was
oben von der französischen Sprache gesagt worden ist, d. i. er
muss mit dem Unterrichte in der französischen und deutschen
Sprache in die engste Verbindung gebracht werden und auf
dem schon gelegten Grunde fortbauen, zugleich aber auch zur
Förderung der Kenntnisse in den beiden vorangegangenen
Sprachen beitragen.
Aus diesem Grunde wird sie denselben Weg verfolgen
müssen, welchen die französische Sprache verfolgt hat, und da
das französische Element in der enghschen Sprache das deutsche
170 Ueber den Unterricht
Überwiegt, der Schüler auch in der französischen Sprache vor-
geschritten ist, so wird der englische Sprachunterricht sich vor-
herrschend mehr an den französischen, als an den deutschen
anzuschliessen haben.
Obgleich die englisclie Sprache weit weniger Sprachformen
als die französische hat, so wird es doch nothwendig sein, den
Schüler mit denselben gründlich vertraut zu machen. Aus
diesem Grunde erscheint es mir sehr dienlich, wenn auch hier
mit dem einflichen engen Satze begonnen und der Schüler mit
Allem bekannt gemacht wird, was in demselben vorkommen
kann. Dass hier schneller vorwärts gegangen werden kann als
im französischen Sprachunterrichte möglich war, versteht sich
von selbst. Von dem einfachen engen Satze wird zum erwei-
terten und dann zum zusammengezogenen und verbundenen
übergegangen. Dass hier schon verschiedene syntaktische Re-
geln mit gegeben werden können, bedarf keines Beweises. Auch
wird schon der erste Cursus sowohl die Formen der regelmäs-
sigen als der unregelmässigen Verben vorführen und also in
einem Curse sehr leicht das zum Abschlüsse bringen können,
wozu die französische Sprache zwei Curse in Anspruch nahm.
Mehr Schwierigkeiten als das Formale der Sprache stellt
die Aussprache, das richtige Sprechen, Lesen und Schreiben
entgegen ; desshalb die Sprechübungen hier ebenfalls nicht ent-
behrt werden können und mit diesen zu beginnen ist.
Diese Sprechübungen können zwei verschiedene Wege zum
Ziele einschlagen. Auf dem einen Wege werden dem Schüler
eine gewisse Anzahl von Wörtern vorgelegt , in welchen ein
einzuübender Laut nach dem andern auftritt. Der Lehrer spricht
das Wort vor, der Schüler nach und liest dann die aufgestellten
Wörter. So hat z. B. Degenhardt in seinem praktischen
Lehrgange zur schnellen und gründlichen Erlernung der engli-
schen Sprache eine sehr gute Sammlung von Wörtern. Ob
aber der Schüler, welcher in einigen wenigen Stunden diese
Wörter gelesen haben kann, sie auch richtig lesen wird, wenn
a\e ihm ausser der Reihe späterhin vorkommen , das ist eine
Frage, die ich nicht bejahen mag. Weit zweckmässiger er-
scheint es mir daher, den andern Weg zu betreten, auf welchem
der Schüler die betreffenden Laute in ganzen Sätzen findet,
in den neuen Sprachen. 171
welche der Lehrer, wie oben gezeigt worden ist, erst durch-
sprechen, dann lesen, lernen und zuletzt schreiben lassen kann.
Für Schüler, welche durch den franzöpischen Sprachunter-
richt an ein Vergleichen gewöhnt sind, wird es weit interes-
santer und bildender sein , wenn sie die Lautbczeichnungen
durch Vergleichungen mit den deutschen oder französischen Lau-
ten kennen lernen. Aus diesem Grunde sind die zu sprechenden
Sätze entweder in deutscher oder in französischer und englischer
Sprache zu geben, je nachdem es die Abstammung der Wör-
ter bedingt.
Bei diesen Vergleichungen stellt sich schon in wenigen Bei-
spielen heraus, dass die Vokale die wandelbarsten Laute sind
und dass ein und derselbe deutsche oder französische Laut in
der englischen Sprache in die verschiedensten Laute überge-
gangen ist und dass hier dasselbe Verhältniss statt findet,
\\ie wir es in unsrer Schriftsprache und in den Mundarten
finden. So wenig sich gegenwärtig mit Bestimmtheit nach-
weisen lässt, nach welchen Gesetzen die mundartlichen Laute
in die Schriftlaute übergegangen sind , eben so wenig können
hier keine Eegeln über den Lautwechsel in der englischen
Sprache gegeben Averden. Selbst wenn es möglich wäre, so
möchte hier nicht der Ort dazu sein. — Weit weniger Schwie-
rigkeiten als die Vokale stellen die Consonanten entgegen, da
sie ziemlich nach festen Regeln in die englische Sprache über-
gegangen sind.
Obgleich, wie gesagt worden ist, sich keine festen Regeln
über den Lautwechsel geben lassen, so scheint es mir doch
von grossem Nutzen, wenn dem Schüler Beispiele zur Verglei-
chung gegeben werden und zwar zuerst Wörter, die deutschen,
dann französischen Ursprunges sind, z. B.
1. Das deutsche a ist im Englischen geblieben,
bezeichnet aber verschiedene Laute.
Ape, Affe; — fiax, Flachs — axe, Achse — apple, Apfel
— arm, Arm — to bake, backen — bath, Bad — balk, Balken
— band. Band — balls , Ball — bank, Bank — cap, Kappe
— cat, Katze — fall, Fall — fast, fasten — flamme, Flamme
— u. s. w.
172 Ueber den Unterricht
Französisch.
L'acre, the acre — l'acte, the act — adorer, to adore —
l'äge, the age — la face, the face — changer, to change — la
päte, the paste — pale, pale — la page, the page — damnable,
damnable.
Deutsch.
2. Das deutsche a wird e oder ee.
Bank, bench - Thal, dell — Abend, even — Gast, guest
— lassen, to let — Schale, shell — Aal, eel — That, deed —
Nadel, needle — Schaf, sheep — schlafen, sleep — Stahl, steel
— Strasse, street.
3. Das deutsche a ist im Englischen i.
Kasten, kist — Macht, might — Nacht, night,
4. Das deutsche a ist im Englischen o.
Blasen, blow — kalt, cold — Falte, fold — Kamm, comb
— halten, hold — lang, long — Nase, nose — alt, old - sanft,
soft — Sang, song.
5. Das deutsche a ist im Englischen au oder aw.
Die Fracht, fraught - der Magen, maw — kauen, chaw —
lachen, laugh.
6. Das deutsche a ist im Englischen ea, ai.
Bart, beard — klar, clear — Mehl, meal — Haar, hair —
nahe, near — mager, meager — Nagel, nail.
7. Das deutsche a ist oo oder u.
Gans, goose — Amsel, ousel — Zahn, tooth — Wald,
wood.
Französisch.
Das französische a ist im Englischen ea, e.
L'apparence, the appearence — la Jalousie, the jealousy —
le messager, the messenger, u. s. w.
Es versteht sich, dass der vorstehende Stoff so zu ordnen
ist, dass der Laut a mehrmals nach einander als ein und das-
selbe Lautzeichen vorkommen muss, z. ß. i. ape, bake, cap,
flame — 2. act, brand, cat, cramp — 3. arm, bark hard, mark
— 4. ball, fall malt.
Werden auf diese Weise dem Schüler die Vokale und
Consonanten vorgeführt, dann auch die Ableitungsendungen
beigefügt , so wird der Schüler nicht nur mit grösserm Inter-
in den neuen Sprachen. 173
esse die Lautlehre studiren, sondern auch bald im Besitze einer
guten Wortkenntuiss sein. — Gibt man ihm dann noch eine
gute Sammlung solcher Wörter zum Selbststudium, so wird er
sie gewiss auch mit Interesse durchgehen und seinem Gedächt-
nisse einprägen.
Wenn ich hier weder das Altdeutsche, noch das Angel-
sächsische u. d. g. zur Sprache bringe, so wird dies keiner
Entschuldigung bedürfen, wenn man bedenkt, welche Schüler
ich im Auge habe.
Dass in dieser Leselehre gleich vom Anfange an Sprach-
forraen z. B. die von to have, to be u. d. g. mit auftreten
können, bedarf keines Beweises; dagegen bin ich der Ansicht,
dass es vortheilhaft ist, wenn man nicht zu schnell über die
Leseregeln hinweggeht. Sobald nur ein erweiterter Satz auf-
tritt, so wird der Schüler diesem seine Aufmerksamkeit mehr
zuwenden, als der Aussprache.
Der zweite Cursus
wird ganz dem dritten französischen Cursus gleich sein und
also einerseits die wesentlichsten Lehren der Grammatik ver-
gleichend mit dem Französischen und Deutschen theils recapi-
tuliren, theils ergänzen; anderseits wird er aber auch die Laut-,
Silben-, Wort- und Satzlehre zum SprachstofF benutzen und
hier die logischen Uebungen auftreten lassen, die oben als Vor-
schule zur Stylistik besprochen worden sind. Dessgleichen
wird auch hier die Onomatik oder Lexicologie mit in Betracht
zu ziehen sein.
Der dritte Cursus
hat dieselbe Aufgabe , die dem vierten französischen gestellt
worden ist; daher er auch denselben Weg zu verfolgen hat,
wie dieser.
Was über den fünften französischen Cursus bemerkt worden
ist, wird auch auf den vierten englischen Cursus Anwendung
finden müssen.
lU, Italienischer Sprachunterricht.
Auch dieser Unterricht muss sich, wie der englische, eng
an den französischen anschliessen und auf dem gelegten Grunde
174 Ueber den Unterricht
fortbauen. Da jedoch die italienische Sprache der französischen
noch viel näher als die englische steht und sich regelrecht mit
dieser aus der lingua rustica entwickelt hat, so ist es auch
leichter, von der französischen zur italienischen überzuleiten, als
von der französischen zur englischen.
Auch hier wird damit zu beginnen sein, den Schüler die
Gesetze kennen zu lehren, nach denen die italienischen Wörter
aus den französischen sich ableiten lassen.
Zuerst erfährt der Schüler, wie die italienischen Artikel sich
aus dem lateinischen ille, illa, illud und aus dem Zahlworte unus,
una entwickelten ; dann wie sich die französischen End-, Aus-
und Inlaute im Italienischen gestalten, z. B.
1. Das stumme weibliche e am Ende der Wörter wird
im Italienische a, z. B. Marie, Maria — Caroline, Carolina
— l'Europe, l'Europa.
La colonie, la colonia — la philosophie, la filosofia.
2. Die Endung as wird a, z. B. Epaminondas, Epaminonda.
3. Die Endungen ee und das stumme männliche e
werden a, z. B. En^e, Enea — Andr^e, Andrea — le pirate,
il pirata — le prophete, il profeta.
4. In Namen griechischen Ursprunges bleibt das e auch
im Italienischen, z. B. Rhodope, ßodope — Mitilene, Mitilene.
5. ^e aus dem latein. ae entstanden, wird e, z. B. Cann^e,
Canne.
6. Die Endung e (entstanden aus dem a der 3. latein.
Declinat.) wird a, z. B. Messie, Messia — le probleme, il pro-
blema.
Oder:
1. au wird aliauberge, albergo — sauter, saltare — sauver,
salvare.
2. ou wird ol: coup, colpo — couteau, coltello — cou,
collo.
3. ou wird o: bourse, borsa — boutique, bottega.
4. eau am Ende wird ello: chapeau, chappello — couteau,
coltello — chäteau, castello.
5. ai vor 1, m, n, r wird a: alle, ala — faim, fame —
vain, vano — air, aria.
In den neuen Sprachen. 175
6. ei wird e: veine, vena — baieine, balena — peine,
pena. u. s. w.
Wird die Verwandlung der Laute stufenmässig fortschrei-
tend durchgenommen, werden dem Schüler auch Uebungsauf-
gaben gegeben, an denen er beweisen muss, dass er das Ge-
lernte anzuwenden versteht, so wird er in kurzer Zeit im Be-
sitze einer reichen W'ortkenntniss sein. Neben diesen Uebuno-en
kann auch die Formlehre hergehen , die Bezeichnung der ver-
schiedenen Casus kann der Schüler bald wissen; desgleichen
lassen sich die Zeitformen der regelmässigen und der Hilfs-
verben in wenigen Stunden durchnehmen, selbst die unreo^el-
mässigen Verben werden, wenn man sich streng an die franzö-
sischen Verben hält, in kurzer Zeit erlernt sein. Hieraus ergibt
sich, dass man hier nicht so sorgfältig von einer Form zur
andern fortzuschreiten braucht, wie es in den französischen
Cursen nothwendig war, sondern dass man gleich mehrere
Uebungen in eine zusammenfassen kann. Alles, was im ein-
fachen engen Satze vorkömmt, kann der Schüler in wenigen
Stunden wissen , desgleichen Alles, was auf das Substantif als
Attribut, Object und Adverbiale Bezug hat. Da die Aussprache,
das Lesen und Schreiben der Wörter nicht die Schwierigkeiten
bereitet, welche sich in der englischen Sprache entgegenstellen ;
selbst die Formen der Pronomen und der Verben nicht viele
Zeit in Anspruch nehmen ; die italienische Syntax auch wenig
von der französischen abweicht, so kann binnen einem Jahre der
Schüler ganz gut das Ziel erreichen, was er in der französischen
Sprache erreichte, als er die beschriebenen drei ersten Curse
beendigt hatte. Wo er etwa noch zurück sein möchte, das
könnte die lexikalische Kenntniss sein. Lässt man jedoch den
für die französische Sprache gegebenen lexikalischen Stoff in's
Italienische übersetzen, so wird man finden, dass auch selbst
hier viel Uebereinstimmung statt findet.
Auch der höhere Sprachcursus wird keinen andern Weg
einschlagen können , als er für die französische Sprache oben
vorgezeichnet worden ist. Auch hier kömmt es darauf an, dass
der Schüler eine Sammlung guter Lesestücke in der Hand hat
und dass der Lehrer versteht, an dieselben Alles anzuknüpfen,
was eben angeknüpft werden sollte.
176 üeber den Unterricht in den neuen Sprachen.
Dass die Sprachbücher und Uebungsbücher, welche erfor-
derUch sind, um den Schüler von der französischen Sprache
zur englischen oder italienischen überzuleiten, eine ganz andere
Gestalt erhalten müssen, als die vorhandenen haben, geht aus
meinen Andeutungen hervor, welche Manchem noch nicht so
recht klar erscheinen werden. Ausführlicher den Gegenstand
hier zu behandeln, ist nicht wohl möglich; sollte es mir jedoch
vergönnt sein, meinen Plan durchzuführen, so werde ich solches
thun, zumalen da ich bereits viel Material gesammelt habe und
ausserdem ein Engländer, Franzose und Italiener mir zur Seite
stehen, die bereit sind, meinen Plan durchführen zu helfen.
München. Prof Dr. A. Gutbier.
Die
Runen der Finnen.
Wenn irgendwo ein Volk durch den imposanten Charakter
des von ihm bewohnten Landes einen mächtigen Impuls zur
Poesie empfangen konnte: so haben wir mit Recht die Nation
der Finnen , jenes hervorragendsten unter den tschudischen
Stämmen Russlands, in erster Linie zu nennen.
Sie bewohnen Bezirke, zwar nicht von einem heissen und
w^olkenfreien Himmel beschienen, zwar nicht durchweht von
Würzhauchen, die das Arom betäubender Lenzblüthendüfte ihnen
üppig zutragen , vielmehr ist die Flora des Landes eine sehr
bescheidene, wie die Fauna eine gar dürftige: aber das Terrain
jenes Landes, Avelches von Süden und Westen her amphithea-
tralisch emporsteigt in Gebirgsterrassen , die aus den Spiegeln
der klaren Golfe und Sunde des finnischen und bothnischen
Meers gleichsam als eine Fortsetzung der Wellenschwingungen,
dicht neben und über einander, bis zu den Säumen der Wolken
sich erheben; welches durchzickzackt ist von einer der male-
rischesten und pittoreskesten Ketten der Seen, die ein so reines,
krystallhelles Wasser haben, dass es fast farblos erscheint ;
welches durchbraust ist von Katarakten, deren Brandungen ihre
Donner auf Meilenweite durch die Urmoosfelsen des Landes
rollen lassen ; Avelches bekränzt ist zwar nicht mit einer Krone
von Palmen und Cedern, aber mit den Wipfeln elastischer,
schneeweisser Birken und starkstämmiger , nachtschwarzer
Tannen; welches auf seinen granitenen Klippen zwar nicht die
Gestalten zierlicher Gazellen und leichtfüssiger Antilopen zeigt,
Archiv f. n. S prachen. XXVII. 1 2
178 Di e Runen der Finnen,
aber die fliehenden Umrisse schlanker Rennthiere und wind-
schneller Elenne; — das Terrain jenes Landes, sage ich, bietet
Reliefverhältnisse dar, die zu den grossartigsten wie anmuthig-
sten PJuropas gehören.
Der Norden unsers Erdtheils hat auch seine Reize ; das
wissen Diejenigen wohl, die Schottland und Skandinavien ge-
sehen ; aber wechselreicher und schöner denn beide ist Finnland,
das Land der wogenwälzenden Golfe, der tief in das Herz der
i'elsen hineinschneidenden blauen Sunde, der weissschäumigen
Stromfälle , der blitzenden Seen, der wie ein Festungsgürtel vor
den Dünenstand hingegossenen Skären, der purpurfarbigen Gra-
nitklippen, der noch das Eis der Urschöpfung tragenden Fels-
wände, der glitzernden Schneeflächen und der reinen, klaren,
man möchte sagen keuschen Luft, der die Durchsichtigkeit an
Reiz hinzulegt, was die Schärfe an Werth ihr nimmt.
In solchem Lande kann nur ein frischer, gesunder, urkräf-
tiger Volksstamm leben. Und das sind die Finnen. Li solchem
— zwar schönem, jedoch kaltem Lande, ob da aber auch die
zarte der Wärme und des Frühlings frohlockende Poesie ge-
deiht? Oder scheint der Hauch der Dichtung unabhängig zu
sein von Lenzluft, Rosenduft und Sonnenlicht; und können die
Triebe der Poesie gedeihen, wenn auch ringsumher die Knospen
der Sträucher unter ewigem Schnee starren? — Nun, man be-
lausche die Runen der Finnen, und man wird überraschende
Antwort vernehmen auf jene Frage. —
Die Runen (Runot, vom Nom. Sing. Runo) der Finnen
haben nichts gemein mit den isländischen oder skandinavischen
Runen. Sie bezeichnen nicht Lettern — markirte Steine und
Stäbe giebt es in Finnland nirgends — sie bezeichnen Lieder,
Gesänge, Melodien. Die Etymologie mag sicher für beide
Worte gleiche Anhaltspunkte gewinnen:*) aber die finnischen
*) Gehen wir genauer auf die Etymologie des Wortes ein, so scheinen
es vornehmlich zwei Begriffe zu sein, die in dem Ausdruck „Runen" ihre
Vertretung finden : der Begriff" des Einritzens und des durch diese Ein-
ritzung hervorgebrachten Zeichens, der altnordischen Geheim- und Zauber-
schrift. Nebenher laufen noch eine Menge andere Begriffe, die sich aber
unschwer aus jenen beiden Stammbegriff'en deriviren lassen. Auch im San-
scrit, der grossen Sprachenmutter, an deren Brüste jede Sprachenforschung
Die Runen der Finnen. 179
Runot stellen sich in viel bedeutsamerer BegrifFsentwickelung
dar, als die Runen der alten Germanen des Nordens. Wie
Zeichen- und Bildersprache, wie Malerei und Musik, oder die
Lilie und ihr Duft sich unterscheiden : so der Geist der skan-
dinavischen und finnischen Runen.
Dort haben wir nur die öde Form, die todte Hieroglyphik,
den irdischen Leib des gefangenen Prometheus: hier den blü-
henden Gehalt, die lebensvolle Poetik, die göttliche Psyche des
entfesselten Titanen.
sich ansaugt — auch im Sanscrit giebt es zwei Stämme: ru tönen, ertönen
lassen (rana9 Ton: vrata Ausruf, Schwur; bhran murren; dhran seufzen,
dröhnen) und vran verwunden, in denen das doppelte Etymon des Wortes
..Rune" auffindbar ist.
Mit dem letztgedachten Sanscritstamme vran, verwunden-, schneiden,
ritzen, stehen in Verbindung eine Menge durch alle Sprachen Europas durch-
tönende Wertformen wie: im Altslawischen rana Wunde. Ebenso im Neu-
russischen, Bulgarischen, Serbischen, Slowenischen; ferner im Polnischen,
Cechischen und in den serbischen Dialekten der Lausitz. Im Littauischen
röna und ronä Wunde (ronas Schnitt Holz, Scheit, Kerb; rauka und raukas
Runzel, Falte: runku, rukti und raukiu , raukti falten; randas und rand^
Narbe, schemaltisch rundas, lettisch rehta). Im Griechischen qini Feile,
Raspel. Im Althochdeutschen : raunen schneiden, einschneiden, kerben (rann
AVallach, der Verschnittene). Im Deutschen der Gegenwart gehören hierher
Wortformen wie: Rain. Rand, Ranft, Strand, trennen, Rinne, Kriunen,
Grenze (russisch graniza).
Hiernach ist also „Rune" (Gothisch runa. Althochdeutsch run, rune.
Mittelhochdeutsch rune) der Kerb, Einschnitt, der in Stäbe, Steine u. s.w.
bewerkstelHgt wird. Daraus entwickelt sich sofort der Begrifl der Schrift,
des Eingekerbten, Eingeschnittenen. Diese Schrift war nur den Geweihten
kund: daher bedeutet denn Rune auch Geheimniss, Zauberformel
(goth. rüna Rath, Geheimniss; angels. , Island., irisch run, runa, i-une, ge-
ryne Weihe, Zauberspruch; althochd. run, chiruni Geheimniss, runstaba
Runenstab, Runen-, Krinnenschrift; mittclhochd. rune Geheimschrift ; schwed.
runa, dän. und engl, rune Letter, Buclistab, Geheimschrift: wallisisch rhyn,
rhin Zauberei, rhinian zaubern, spanisch adrunar rathen, errathen, Divina-
tionsgabe besitzen; diin. rune vertrauen, auf ein Gotteszeichen bauen).
Jenes Zaubern ist aber mit einem Hersagen von Sprüchen, mit einem
geheimnissvollen Gemurmel verbunden. Und so entsteht die anderweite Deu-
tung und Herleitung des Worts „Rune" von dem Sanscritetymon ru, einen
Ton von sich geben (ranag Ton, vrata Gelübde, bhran, dhran miirmeln,
grunnire). Auch im Hebräischen beisst ranan murmeln. Lateinisch ist rana
der Frosch: d. i. der Singende. Quakende. Im Altslawischen bezeichnet
rjnti, Stamm rju-, rugire brliUen brummen. Im Althochdeutschen ist rünen,
12*
180 Die Runen der Finnen.
Die skandinavischen Runen sind allein dem Archäologen
theuer, dem ein Strich genügt, um durch ihn die Erstanfange
der Kultur zu belauschen ; die Runen der Finnen sind werth,
werden ewig werth sein allen Jenen, die den Verlauf der Ci-
vilisation erspähen und die einen Höhenpunkt der Gesittung an-
erkennen bei einem Volke, dessen Geist geschwellt werden kann
durch den himmlischen Anhauch der Dichtung und dessen ganze
Seele sich ausgiesst in klangvollen, harmonischen Liedern.
Denn jene finnischen Runot sind das Erzeugniss nicht
rünön leise reden, raunen. Dasselbe bedeutet das angels. runian; das engl.
round, rown; das schwed. runa; das mittelhochd. und niedersächs. runen.
Im Isl. heisst rüni Unterreder; im Althochd. runa Ohrenbläser, Zischer, Zu-
träger. Im Lateinischen stimmen hierzu die Radices grunnire grunzen, g'rus
Kranich u. s. w. Im Slawischen würden wir wran und gawran , d. i. Rabe,
litt, varnas und wrana, d. i. Krähe, hieherzählen, wennnicht zugleich ein
Sanscritetymon varn färben, vorläge, auf welches jene Radices mit grösserer
Sicherheit zurückzuführen wären. Im Deutschen stehen dagegen entschieden
mit der Sanscritform ru in Verbindung Ausdrücke wie: raunen, röhren
(schreien wie Hirsche) ; dröhnen, greinen, grunzen, Kranich u. s. w. Auch
heisst schon althochd. rünazan, rünzan , mittelhochd. runzen murren (Bair.
raunein schmeichelnd knurren; raunzen winseln, weinerlich reden, greinen).
In diesen BegrifFskreis hinein gehört denn auch das finnische runo, plur.
runot, Lied, Sang, Gedicht, runoja, runolainen, runottaja, i'unoseppä u. s. w.
Runensänger, Runendichter, in Sawolax und Karelen auch runoniekka.
Das Altslawische runo Vliess, Fell, gehört durchaus nicht In diese ety-
mologischen Kreise hinein. Es hat seine Ableitung vielmehr vom Altslaw.
r'wati scheren, rupfen. Dagegen schliesst sich an die oben aufgeführten
Stämme sehr bestimmt an das Gothische rinnan (althochd. rinnan, runnan,
angs. rinan, irnan, isl., schwed. rinna, engl, run, spr. : ronn, nds. rönnen,
neuhochd. rinnen ; dänisch in Jütland rund ein Rinnsal, Bach), welche Worte
nicht bloss den Ton, sondern auch die damit in Verbindung stehende Be-
wegung ausdrücken, und zwar so, dass der erstere Begriff dem letzteren
gegenüber meist ganz untergeht. Hierher gehört auch rennen, laulen (goth.
runs und angels. ryne Lauf; isl. runa Linie, fortlaufende Rede, Rundung in
Schall und Bewegung, wo beide Begriffe also noch zusammentreffen). In
der Jagdsprache drücken raunen und reinen das Hin- und Herlaufen des
Hasen, sowie das Traben des Fuchses aus, wo auch die Begriffe Bewegung
und Klang in einander übergehen. — •
Wir enden hier unsere etymologischen Ermittelungen, um nicht zu weit-
läufig zu werden. Doch Hessen sich sicherlich den obigen noch verschiedene an-
dere Radices anreihen, käme es darauf an, die Vergesellschaftung der gesammten
zum Begriffe „Rune" gehörenden Gruppe von Wortstämmen herbeizuführen.
Der Verfasser.
Die Runen der Finnen. 181
einer durch Stand und Rang bevorzugten Volksklasse — Kasten
giebt es ja unter den Finnen nicht, die da sammt und sonders
als Bauern erscheinen, als unterjochte Autochthonen , erst den
Schweden, dann den Russen gegenüber — nein, jene Runot
sind Erb und Eigenthum des gesanimten finnischen Volks, eines
armen, darbenden, in Mühsalen aller Art grossgezogenen, un-
gelehrten und ungeschulten Volks, dessen Lchrmeisterin alleinzig
die Natur und dessen Kathgeber, Freund und Trostsprecher das
Unglück ist ; wir stehen hier im Angesicht einer wahrhaftigen,
ureigenen und urechten Nationalpoesie, vor deren Grösse und
Tragweite wir fast erschrecken !
Die Poesie der Runen (soweit sie unser noch immer be-
schränkter Blick überschaut, der einst noch mit stolzerem Tri-
umph auf den erweiterten Hterarischen Horizont blicken wird)
rollt hin wie ein gewaltiger, unaufhaltsamer Strom, der aller-
orten und Tag für Tag neue Quellen und Schleusen sich er-
öffnet i denn sie ist keine fertige und abgeschlossene, wie die
Volksdichtung im Romanen- und Germanenthum. Nur die Na-
tionalpoesie der Slawen, die auch noch fortwächst und fort-
wuchert , steht ihr darin , aber als Schwesterblume zur Seite,
deren Keime nicht viel über das Embryonenthum hinausgehen.
Die Arena des Finnismus, die Entwickelungssphäre des Runen-
thums ist eine weit grössere, glänzendere. Die finnische Poesie
gestaltet, reproducirt sich fort und fort aus sich selbst heraus,
belebt und beseelt sich immer wieder, dem Phönix gleich, der
sich aus der eigenen Asche erneuert. Sie gleicht einer Kry-
stallisation , die, durch das Sonnenmikroskop gesehen, immer
neue, überraschende Bildungen ansetzt, so ins Riesiege und Un-
geheuerliche anwachsend, dass den Beschauer fast Schwindel
ergreift, und er ungewiss bleibt, soll er die alten oder die neuen
Zweige dieser Poesie verfolgen. Es scheint kühn gesagt: jeder
Finne sei ein geborener Dichter, jede Finnin von Natur eine
Dichterin — und doch haben wir durch jenen Ausspruch nur
die Wahrheit constatirt. So echt, so tief, so allgemein poetisch,
wie das finnische, ist kein Volk der Erde. Die Natur scheint
das Füllhorn der Dichtung ausgegossen zu haben über die
Stämme Jumala's zur Entschädigung für manches Herbe, Herz-
zerschneidende, Untragbare, was Christuskult, Königsknecht-
182 Die Runen der Finnen.
Schaft und Zarenfrohn im Laufe der Zeiten über sie verhängt
haben. FreiHch hat das Sklaventhum der Finnen im Wortlaut
längst aufgehört, und dem INamen nach ist der finnische Bauer
ein Freier. Aber das Recht, das der Finne sucht, wird ilim
am grünen Tische von russischen Richtern gesprochen , einein
Beamtenthum, welches nach Art chinesischer Mandarine zum
Inquiriren wie zum Händeöffnen für gleich befähigt gilt. Der
arme, in kümmerlicher Noth lebende Finne' hat aber keine As-
signationen und Rubel, oft kaum Kopeken, in die weit aus-
gestreckten Hände seiner Richter hineinzulegen. Und daher
wird das Recht der empfindenden Seele des Klagenden wie des
Verklagten oft schmachvoll gekrümmt und zerbrochen wie das
Holz eines fühllosen Bogens. Es geht heutiges Tags in den
Marken Finnlands zu wie allerorten und zu aller Zeit, wo der
Knecht seinem Herrn, der Darbende dem Reichen, der Elende
dem Glücklichen gegenübersteht.
„Der Schwede ist des Finnen Voigt, der Russe des Finnen
Büttel." Ein ähnlicher Gedanke kehrt in hundert Sprüchen und
Sprüchwörtern der Finnen wieder. Das Deutschthum Avie das
Zarenthum , sie sind beide den tschudischen Völkern am russi-
schen Ostseestrande in gleicher Weise missliebig und von übler
Bedeutung. Aber der Finne ist gutherziger Art — wie könnte
er denn sonst Dichter sein? — Wehmuth tritt bei ihm an der
Rache Platz und seine Thränen lösen sich auf in Lieder. Und
jene Wehmuth wiegt schwer: denn sie ist die ernste, feierliche
Stimmung einer ächzenden zu Boden getretenen Mannesseele;
und schwer auch wiegen jene Lieder: denn sie gleichen wuch-
tigen ehernen Geschossen, die nicht meuchlings die Unterdrücker
tödten, aber, da sie ja selber unsterblich sind, auf ewighin vor
den Augen der Welt sie vernichten. AVie viele Runot der Finnen
sind nicht vorhanden, die da als schmerzliche Grabgesänge auf
die zarische Rechtspflege und als düstre Glockenklänge sich
dokumentiren , welche die Moskovitischen Verdammnissukase
betrauern, anklagen, verspotten!
Wohin man kommt in Finnland, da tönet Gesang; nicht
wüster, bacchantischer, lärmender: nein stiller, friedlicher, weihe-
voller. Mit der elegischen Stimmung ist fast innner die he-
roische, begeisterte und begeisternde unauflöslich verbunden.
Die Runen der Finnen. 183
In die seligen Tage der Vorzeit, einer ihm nebelhaft vorschwe-
benden Glanzzeit, in die Glorie der Freiheit, des Heldenthums
versenkt sich der Geist des Finnen zurück: die Mythe wird ihm
zur Aegis, die Poesie zum Palladium. Die Wellen des Ge-
sanges durchschifft er, um sich das goldene Vliess zu holen.
Ja, jeder Finne ist schöpferischer Dichter selbst, und zugleich
andachtvoller Zuhörer fremder Dichtungen !
Vor Kurzem ward in St. Petersburg eine Finnin als Im-
provisatorin bewundert, der eine erstaunenswerthe Begabung
eigen war, finnische Runot zu citiren wie selber zu dichten. Sie
war eine einfache Bauersfrau, Greta Jakobstochter geheissen,
und gebürtig aus Haapasalo in der Filialgemeinde Ober-Wetil
des Kirchspiels Gamla - Karleby. Von da reisete sie durch
ganz Finnland, und sang zur Kantele, der nordischen Harfe,
die sie sich selbst gebaut und besaitet, mit glockenreiner Stimme
die schönsten Melodien. Sie zog wandernd durch die Städte
des Landes: Gamla- und Ny- Karleby, Jakobstad, Brahestad,
IHcaborg, Jywäskylä, Tawastehus, Helsingfors, Wiborg lauschten
mit inniger Freude dem süssen, rührenden Liede, welches von
den Lippen dieser nordischen Sap})ho klang. Aber am liebsten
sang sie selbst in stillen, traulichen Kreisen, unter Ihresgleichen,
wo ihre Stimme am lebendigsten verstanden ward. Und ein
Scherflein für die Ihrigen, begleitet von einem freundlichen
Händedruck genügte ihr. „Das Kind des grünen Waldes, was
sollte es im Lampenschein eines Salons? Dafe Volkslied giebt
keine Conzerte I" so ruft Topelius, der talentvolle Kcdakteur der
Helsingforser Zeitung aus, der die liebliche Erscheinung bereits
im Jahre 1853 gesehen und bewundert. — Auch hätte sie
nimmer um Lohn gesungen, aber bittere Armuth drängte sie:
sie hatte Brot zu schaffen für einen kranken Mann und für
acht Kinder! Man befragte sie: wer sie dichten gelehrt? Sie
schlug die Augen nieder und sagte tonlos: „Waiwa," d. h. zu
deutsch: der Kummer! —
Das ist nun P^ine jener finnischen Kantelesängerinnen , die
berühmt geworden, just, weil sie die Welt durchzog, weil sie
in der Newastadt sich hören liess, weil öffentliche Zeitschriften
die Tuba ihres Ruhms erhoben. Denn auch die St. Peters-
burger Zeitung vom 10. (22.) März vorigen Jahres widmet
184 Die Runen der Finnen.
unter der Aufschrift: „Eine finnische Volkssängerin in St. Pe-
tersburg" dem Verdienste jener Bäuerin drei Spalten ihres Feuil-
letons. Wäre Greta Jakobstochter, die schon im 6. Jahre ihres
Lebens auf einer sechssaitigen Kantele sang, begleitend das
Lied eines heimathlichen Greises, in Haapasalo geblieben: Aver
hätte ihrer und ihrer Runen gedacht? In der Wildniss ihrer
Heimath sang ja ein Jeder, und als ein superkluger Dandy aus
St. Petersburg ihr die Frnge vordolmetschen liess : mein Täub-
chen, wie erlernt sich denn so süsser Gesang? Da antwortete
sie unbefangen, der erlerne sich ja von selber, sie sänge ja nur
Das heraus, was in ihrem Innern lebe. Und als ein Anderer
sie über den Gesang ihrer Landsleute befragte, da wunderte sie
sich ob der Frage und sprach: Unsere Bauern singen Alle;
der Sohn singt Das nach, was er vom Vater gehört hat, und
vergisst er's einmal, so erfindet er selber Neues. —
Aus diesem Umstand ist denn die Textvariation in den fin-
nischen Runot erklärlich. Nirgends circuliren soviel Abweichun-
gen eines Textes als in Finnland. Jedes Kirchspiel, jede Ge-
meinde hat ihre besonderen Volkslieder. Zudem fehlt ein
eigentlicher Grundtext, da das Lied nur im Munde lebt und nicht
aufgezeichnet ist. Was überhaupt von den Tagen Porthen's,
Gottlund's, Schröter's und Anderer her in Büchern zerstreut
und gesammelt ist, haben nicht Finnen geschrieben, sondern
Fremde, die sich für die Poesie des Nordens interessirten. Hatten
doch Goethe und Herder bereits den Sinn für die Schönheiten
des Volksliedes empfänglich gemacht; hatte doch neben der
Theilnahme für die antike Dichtung schon der Glaube sich gel-
tend gemacht, dass Classicität auch in der Poesie des Orients,
bei Indern, Persern, Arabern zu finden sei; hatte man sich doch
sogar berauscht durch den Nebelbecher, den des geistvollen und
urpoetischen Maepherson schlaue Hand der gläubigen Welt kre-
denzte: wie hätte man unempfindsam bleiben sollen, als die zau-
berhafte Rose der finnischen Poesie so mit einem Male ihren
duftreichen Kelch entfaltete? Wie wäre es denkbar gewesen,
dass nicht allüberall, wo die Phantasie noch ihre Wunder zu
üben weiss, alle Saiten der menschlichen Seele angeklungen und
gebebt hätten, bezwungen von der Harmonie der Tone, die in den
Liedern der Runot lebt? Und wie wäre es endheh zu erklären
Die Runen der Finnen. 185
gewesen, wenn nicht selbst die zur Wolkenburg Wäinämöinen's
(des nordischen Apollo) heranklimmende gelehrte Forschung
von der poetischen Uranlage des finnischen Volks entzückt ge-
wesen wäre und die Vollzahl der runischen Dichtunoen doku-
mentirt hätte.'' ~
Hinsichts des Numerischen hätten wir nun freilich nicht
Vieles zu bewundern, dafern es sich hier um gehaltlose und
unförmliche Dichtungen handelte, wie sie wohl der Genius manches
anderen halb verwilderten und unknltivirten Volkes zu Tage
fördert. Denn ein gewisser poetischer Schaffensdrang beseelt
nach unserm Dafürhalten ein jegliches Volk der Erde. Auch
der Barbar übt sich im Sänge. Er muss singen, da Ahnungen
der Gottheit durch seine Seele ziehn: und die Religion ist die
Mutter der Dichtung.
Aber Das ist das wahrhaft Int-eressante und in der That
Staunenswerthe, dass der Urtyp jener nordischen Poesien meist
von vollendeter Schönheit ist; dass der Genius der finnischen
Sänge nicht bloss eine freie und fröhliche Seele zeigt, sondern
auch einen stolzflatternden Königsmantel um die blendenden
Schultern geschlagen; und dass selbst die Splitter jener durch
Jahrhunderte fortgewachsenen Runeneiche noch so zahlreich und
so zierlich sind, dass sie die blühendste aller Zauberschöpfungen,
das wunderherrliche Nationalepos der Finnen, die Kalewala oder
KalcAvsage, zur Entfaltung zu bringen vermochten.
Ueber diese Dichtung, die den Glanzpunkt der Runenpoesie
bildet und die mir recht eigentlich eine Verherrlichung jenes
finnischen Apollo, Wäinämöinen, zu sein scheint, die aber auch
treffliche Elpisoden enthält, die mit jener Göttersage in Ver-
bindung stehen und mit ihr zusammen ein abgeschlossenes und
harmonisches Ganze bilden, will ich hier kein Wort verlieren.
Der Altvater Grimm und viele Andere haben sattsam ihrer ge-
dacht und sich für sie begeistert, wie einst der Altmeister Goethe
sich an der Sakuntala erfreute.
Hier liegt übrigens keine Mystifikation vor, wie bei Mac-
pherson's Ossian. Denn dem schönen in Helsingfors im Jahre
1852 erschienenen deutschen Texte von Anton Schiefner, läuft
der finnische Urtext, gesammelt von der Finnischen Literarischen
Gesellschaft und herausgegeben von Dr. Lönnroth, vom Jahre
186 Die Runen der Finnen.
1849, zur Seite. Er enthält 50 Runengesänge in 22,793 Versen.
Männer von europäischem Ruf wie Castren, Sjögren, Kellgren,
Renvall und unser gelehrter Sino-, Fino- und Philologe Schott
haben die Wahrheit und den Werth der Kalewala auf der Wage
der Forschung gewogen. Am gründlichsten und zugleich zu-
gänglichsten ist Jakob Grimm's Untersuchung: „Ucber das fin-
nische Epos" in Hoefer's Zeitschrift für die Wissenschaft der
Sprache (Bd. I. S. 13 — 55). Diese Abhandlung erschien im
Jahre 1846, als der ursprünglich gesammelte und gesichtete
Text der Kalewala nicht viel über 10,000 Verse enthielt. Eine
fleissige Forschung fügte im Laufe weniger Jahre, Avie aus
unserer obigen Angabe zu ersehen , mehr als das Doppelte an
Versen hinzu, und begeisterte Gelehrte im benachbarten sprach-
und stammverwandten Estland , auch die Rudera der Kalevv-
sage aufzuzeichnen und zusammenzustellen , Avie sie im Munde
der Bauern in der Umgegend des vielbesungenen und Sagen-
reichen Peipussees lebt. Schon Fählmann in Dorpat, mein
theurer, unvergesslicher Freund, der Gelehrteste unter den Esten,
und für die Wissenschaft viel zu früh Dahingeschiedene , gab
den ersten, starken Impuls dazu. Sein Tod riss eine Lücke in
die Forschung. Dann begeisterte sich Kreutzwald in Werro
aufs Lebendigste dafür. Und ihm verdanken wir bereits die
Ansammlung von 13 Gesängen in 12,145 Versen, welche die
(jielehrtc Estnische Gesellschaft in Dorpat zugleich mit der
fiiessenden, vielleicht etwas zu elegisch gehaltenen, deutschen
Version von Reinthal seit dem Jahre 1857 herausgiebt. Vor
wenigen Tagen erst ward mir aus dem Centralpunkte der ge-
lehrten estnischen Forschung, aus Dorpat her, die vierte Lie-
ferung dieses estnischen Natioualepos zugesendet, Avelches die
Aufschrift trägt: „Kalewi poeg," d. i. Kaiews Sohn, worunter
/f«r' l'SßyJiV der jüngste der drei Kalewiden verstanden wird.
Obschon ein Vergleich lockend erscheint zwischen den
Nationalepopüen der beiden Hauptstämme der baltischen Finnen*)
*) Es scheint hier der Ort zu sein, wenigstens andeutungsweise die
grosse ethnographische Schaubühne des Finuismus zu überblicken. Die
Finnen gehören zur Gruppe jener Völkerschaften, deren Ursitz das Ural-
gebirge war, von wo aus sie strahlenförmig durch die Tiefebenen Europas
und Asiens sich vor aller historischen Zeit verbreitet haben. In Europa
Die Runen der Finnen. 187
und Anhaltspunkte genug vorhanden sind, selbst heut schon,
wo die Kalewidensage noch unfertig vorliegt, kritische Gegen-
sätze festzustellen zwischen einer hier und da mehr vorwaltenden
poetischen Tendenz im Finnisinus oder Estonismus — so un-
terdrücken wir doch für heut jede derartige Ausführung und
kannten Griechen und Römer jene Völkerschaften schon unter dem Sammel-
namen der Skythen. Damit scheint der Name Tschuden, den sie bei den
Slawen (den Sarmaten der alten Geschichte) führen, verwandt. Die ganze
ungeheuere Völker- und Sprachengi-uppe nennen wir am besten „Uraler."
Sie scheidet sich in zwei Sondergruppen: die der „Tschuden" und „Ugrer."
Jene reichen vom Ural bis zum Baltischen Meere ; diese bis zum Oby.
Jeder dieser beiden llaiiptstamme zerfällt wieder füglich in drei Seiten-
stämme. Der Tschudische Ilauptstamm besteht aus den germanisirten oder
eigentlichen Finnen, den Wolgischen Finnen und den Permiern, die einst
das alte Kulturland Biarmien innehatten. Sirjänen, Permjäken und Wotjakon
bilden heut die drei Unterabtheilungen der Perniier; Mordwinen, Mok-
schaner und Tscheremissen die drei Unterabtheilungcn der Wolgischen
Finnen und die eigentlichen Finnen, Esten und Lappen die drei Zweige der
baltischen oder germanisirten Finnen. Die Lappen haben nur eine gemein-
same Ilauptsprache, die Esten ihrer zwei, diejenige, die in Reval, und jene,
die in Dorpat geredet wird. Unter den Fijuien selbst hat man auf mehr
sprachliche Nuancen zu reflektiren. Die Kareier im Norden und Osten reden
einen sehr rauhen Dialekt, die harte Obersprache, beeintlusst durch die
Nähe der Russen, deren scharfe Zischlaute sie selbst übernommen haben,
die südlichen Finnen, die eigentlichen Suomalaiset, um Abo, sprechen einen
überaus weichen Dialekt, die schmeidige, consonantarme und vokalreiche
Untersprache, beeinflusst durch die Nähe der Schweden und durch das flüs-
sige pjlement des Meeres. Mitteninne zwischen dem Dorismus der finnischen
Sprache (dem karelischen Dialekt) und ihrem Ionismu.s (dem aboschen Dia-
lekt) finden wir den eigentlichen Atticismus des Finnenthums in den mitt-
leren Distrikten des Landes, in Satakunta, Tawastland und Oesterbotten.
Hier fehlen die entstellenden Russicismen und Sueticisuien in der finnischen
Sprache und sie giebt sich dar in aller ihrer Reinheit, Correktheit und Glätte.
Diesen edelsten Kern des Finnismus können wir als den tawastischen Dialekt
kennzeichnen. Ein vierter Dialekt ist der olonzische, gesprochen von den
Finnen des Gouvernements Olonez; er gilt für rauh, unbit'gsani. aller Ela-
sticität in der Flexion entbehrend, die doch gerade das ILauptkriteriuni der
finnischen Sprache ist. Ausserdem zeigt sich dieser Dialekt mit vielfachen
russischen Elementen amalgamirt. Dasselbe gilt von einem fünften Dialekt,
den die Watialaiset um Narwa reden. Hier ist zwar nicht Rauhheit und
Härte in den Formen vorhanden, aber eine anderseitige Entstellimg durch
abschwächende und erweichende Elemente, die durch die Deutschen in ihn
eingedrungen sind. — Koimten wir den bis jetzt betrachteten ersten Haupt-
188 Die Runen der Finnen.
wollen vor der Hand nur folgende, ganz allgemeine und ober-
flächliche Andeutungen uns erlauben, die schon ein flüchtiger
Hinblick auf die beiderseitigen Sagenkreise uns an die Hand
gab. Ich möchte sagen: ich habe die estnische Sage mit Ent-
zücken gelesen, aber die finnische mit Ehrfurcht. Durch das
stamm der Uraler. den tschudischen, zugleich als den Nord- und Weststamm
dieser weitverbreiteten Sprachen- und Völkergruppe betrachten, so bilden
die ugrischen Völker den Süd- und Oststamm derselben, der sich, mit Aus-
nahme der INIagyaren zumeist in den Niederungen Sibiriens ausdehnt. Auch
er enthält drei Unterabtheilungen, die Magyaren, die Wogulen und die
Ostjaken. Die Einreihung der Völker Ungarns in dieses Sprachengeschlecht
ist längst nachgewiesen und über allen Zweifel erhoben. Sie bilden nebst
den baltischen Finnen das einzige Kulturvolk des ganzen riesigen uralischen
Stamms. Keiner der übrigen Zweige hat Literatur und Schrift, oder doch
höchstens nur das Neue Testament und die Psalmen. Vermöge der poli-
tischen Lage hat das Magyarenthum sich mit Elementen des Germanen-,
Slawen- und Tatarentliums befruchtet. Aber indem es alle jene Sprachen
in sich absorbirt, hat es die schöne Selbständigkeit nicht zum Opfer ge-
bracht. Ja die türkischen Spraehreste der Kumanen und Jazygen sind
spurlos in dem Wohllaut und der Fülle der magyarischen Sprache unter-
oder vielmehr aufgegangen. Was die eigentlichen Finnen in der Nordgruppe,
das sind die Ungarn in der Südgruppe der uralischen Völker. AVogulen
und Ostjaken bihleten, wie wir zeigten, die weiteren Stämme dieser letzteren
Gruppe. Bei den Wogulen lassen sich vier, bei den Ostjaken fünf Unter-
abtheilungen mit dialektischen Spriichimterschieden herausstellen. Die Wo-
gulen an der Tschussowaja reden anders, als jene um Werchoturje, Tscher-
dym oder Beresow. Bei Beresow reiht sich an die wogulische Sprachen-
sphäre der Kreis der ostjakischen Dialekte an; wir zählen als solche die
von Beresow, am Narym, am Jugan, bei Lumpokolsk und Wassjugansk.
Die übrigen Stämme der Ostjaken, die sich bis zum Jenisei und drüber
hinaus verbreiten, gehören zum samnjedisehen Sprachengeschlecht, das zwar
"Wortbildungen mit den Uralern gemein hat, in der Syntax aber gewaltig
abweicht. — Klaproth hat in seiner z. Th. veralteten, oft unkritischen Asia
polyglotta, Sjögren in seiner gediegenen Abhandlung „über die finnische
Sprache und ihre Literatur" (St. Petersb. 1821) vergleichende Uebersichten
zur Linguistik der uralischen Sprachen gegeben. Leider fehlen bei Sjögren
mehrere Hauptsprachen; so das Estnische, worüber Hügel, das Lappische,
worüber Possart belehren konnte. Auch kann der sirjänische Theil jenes
Verzeichnisses nunmehr bereichert werden durch Flörow, Castren und v. d.
Gabelentz, welcher letztere auch hinsichts des Wotjakischen zu vergleichen
ist. Für die Sprachen der Ostjaken können nun die Forschungen Erman's
wie Erdmann's als rechtgültig eintreten. Das Ungrische aber hätte Sjögren
aus zahllosen Compendien und Lexicis entlehnen und einschalten können.
Die Runen der Finnen. 189
Epos der Esten ward ich im innersten Herzen gerührt, durch
das Epos der Finnen bis in die Nerven der Seele erschüttert.
Die Kalewala der Finnen gleicht einer im Feisten des festen,
ewigen Urgebirges wurzelnden Ceder; der Kalewi poeg der
Esten ist einer Cypresse gleich , aus weichem , schwellendem
Wir wollen hier nicht zu ausführlich sein, uud nur ein paar Wortbe-
griffe durch die Reihen des uralisehen Sprachstarames hindurchführen, ül)er-
haupt aber nur da die Radices aufzeichnen, wo sie sich auf ein gemein-
sames Etymon zuriickleiten lassen. Wir wählen folgende Worte :
Gott: Tawastisch - finnisch Juniala, Karelisch jumala, Olonzisch jumal,
jomal; Estnisch in beiden Hauptdialekten jummal; Lappisch jupmel,
ipmel. Tscheremlssiseh jumü. Sirjiinisch, permisch jen; Wotju-
kisch jumar.
Wasser: Finnisch (bei Tawastern, Karelen, Olonzen) wesi ; Estnisch (bei
Revalern und Dörptern) wessi ; Lappisch tjatse. Mordwinisch, mok-
schanisch wied; Tscheremissisch wiiit. Sirjänisch, permisch wa;
AVotjakisch wu. W^ogulisch uti, wti. Ungrisch vis.
Feuer: Finnisch (in allen Dialekten) tuli; Estnisch (R. D.)tulli; Lappisch
tällä (spr. toUo). Mordwinisch toi, Mokschanisch toi, Tschere-
missisch tili. Permjäkisch toi; Wotjakisch tlil. Ungrisch tüz. Wo-
gulisch taut, tat. Ostjakisch tut, tjod.
Stein: Tawastisch kiwi. Karelisch - Olonzisch kiwi, ziwi, tschiwi; Estnisch
(R. D.) kiwwi; Lappisch ketke, kalle. Mordwinisch käw; Mok-
schan. kew; Tscher. kju. WoguUsch ku, kow. Ungrisch kö. Ost-
jakisch kiw, keu, koch, kooch.
Wolke: Finnisch (in allen Dialekten) pilwi; Estnisch (R. D.) pilw : Lappisch
palw, palwa. Mordwinisch pjel, Tscheremissisch pil. Wotjakisch
pilem. Wogulisch pul. (Türkisch-tschuwaschisch pjult.)
Nacht : Tawastisch üö; Karelisch üö; Olonzisch üo; Estnisch (R. D.) ö; Lap-
pisch ija. Mordwinisch, mokschanisch wä, wei; Tscherem. jut. Sir-
jänisch woi; Permisch oi; Wotjakisch ui. Wogulisch ji , jy. Un-
garisch ej. Ostjakisch ei, jig.
Schnee: Finnisch (in allen Dialekten) lumi; Estnisch {R. D.) lunimi; Lap-
pisch lopme. Mordwinisch, mokschanisch lo, liiu; Tscherem. lüm,
Sirjänisch Ijym ; Permisch lüm; AVotjakisch lümü. Ostjakisch lontsch,
lontschi, lans.
Erde: Tawastisch niaa, mulda; Karelisch ma, nuia, niüa; Olonzisch ma;
Estnisch (R. D.) ma, muld. Mordwinisch, mokschanisch moda.
Sirjänisch, permisch mu, ma; Wotjakisch musjöm. W^ogulisch ma,
mag. Ostjakisch my, mü, müg.
Winter: Tawastisch talwi; Karelisch talawi; Estnisch (R. D.) talwe, talw
(Rev. auchtalli); Lappisch talwe. Mordwinisch, tscheremissisch tele.
Wotjakisch tollte Ungarisch tdl. Wogulisch teli. Ostja kisch telli.
180 Die Runen der Finnen.
Moosgriinde emporsteigend. Diese rührt an den rosigen Saum
der vorüberschwebenden Wolke, jene erreicht das unsterbliche
Blau des himmlischen Aethers. Schmetternde Nachtigallenklänge
dringen aus der Kalewala an die Seele des sich selber ver-
gessenden Horchers und betäuben ihn und reissen ihn stürmisch
Mond: Tawastisch kuu; Karelisch kudonia; Olonzisch ku, köu; Estiiiscb
(R. D.) ku; Mordwinisch ko; Mokschanisch kdu.
Thon: Tawastisch sawi, sawwii ; Karelisch sawi, schawi ; Olonzisch sawi-;
Estnisch (R. D.) sawwi. Mordwinisch söwon, siiwon^ Mokscha-
nisch siiwan; Tscheremissisch schun. Sirjäniscb, perniisch, wot-
jakisch siiii. "Wogiüisch sul. Ostjakisch sare.
Eiche: Finnisch (in allen Dialekten) tammi; Estnisch (R. D.) tarn. Mord-
winisch tuma; Tscheremissisch tümo. Wotjakisch tii.
Birke: Finnisch (in allen Dialekten) koiwu; Estnisch (D.) köiw; (R.)
kask. Tscheremissisch kuä. Permisch küidsch; Wotjakisch kuits.
Hand: Tawastisch käsi ; Karelisch, olonzisch kasi, käsi, zäsi, tscbäsi;
Estnisch (R. D.) kässi ; Lappisch kät, käta. Mordwinisch kede,
kcd; Mokschanisch käd; Tscheremissisch kit. Sirjänisch, permisch,
wotjakisch ki, ku. Wogulisch kata, kat, kät. Ungarisch kez.
Ostjakisch ket, köt.
Zunge: Tawastisch kieli; Karehsch, olonzisch kijali, keH, kelli, zieh, tschieli;
Estnisch (R. D.) keel; Lappisch kläl, kiäll. Mordwinisch, mokscha-
nisch kjel, kel; Tscheremissisch jolma. Sirjänisch kyw; Permisch,
Wotjakisch kyl.
Herz: Tawastisch - finnisch siidän, sülän ; Karelisch sui wän ; Olonzisch süwen :
Estnisch (R. D.) südda (D.) söa. Mordwinisch, moksclianisch sidi ;
Tscheremissisch schium', schym. Sirjänisch sjölöm; Permisch
tschöllem ; Wotjakisch siulem. Wogulisch scbim, schyraa. Un-
garisch szii, sziv. Ostjakisch sem, semel.
Blut: Finnisch (in allen Dialekten) weri. Estnisch (R. D.) werri. Lap-
pisch warr, warra. Mordwinisch war; Mokschanisch wer; Tsche-
remissisch wor, wiur'. Sirjänisch, wotjakisch wir. Woguhsch ur,
ure, wygr. Ungarisch ver. Ostjakisch wyr.
Bein, Knochen: Tawastisch, karehsch luu; Olonzisch lu; Estnisch (R.D.)
lu. Tscheremissisch lu. Sirjänisch, permisch, wotjakisch ly. Wo-
gulisch lu. Ostjakisch luu, lu, ly, luch.
Leber: Finnisch (in allen Dialekten) maksa; Estnisch (R.) maks ; (D.)
mas, mass ; Lappisch muekse. Tscheremissisch möksch. Wot-
jakisch muss.
Ader: Finnisch (in allen Dialekten) suoni; Estnisch (R. D.) soon. Tsche-
remissisch schdn'. Wotjakisch sän.
Auge: Tawastisch, olonzisch silmä; Karelisch silmä, schilniä; Estnisch
(R. D.) silm ; Lappisch tjalme. Mordwinisch sielmä ; Mokschanisch
Die Runen der Finnen. 191
hinfort mit der feierlichen Magie des Gesanges ; leise, liebliche
Lerchentriller wiegen im Kalewi poeg den Lauschenden ein
und stehlen sich süss und spielend in die Tiefen seiner Brust.
Dem Leser des Letzteren begegnet es Avohl, dass er sanft ent-
schlunmiert während des weichen Gesanges, aber der Leser des
Erstoren bleibt in ewiger Spannung : alle Fibern seines Herzens
sind straff angezogen und seine Pulse flammen empor. Die
Kalevvala ist eine Zauberin, sie trägt in Händen einen mäch-
tigen goldenen Zauberstab und eine demantene Fessel; damit
berührt und umschlingt sie Alle, die in die VVunderkreise ihrer
Dichtung treten. Der Kalewi poeg ist auch ein Zauberer, aber
er berührt die Herzen nur leise mit silberner Ruthe und die
selma. Sirjänisch, pennisch, wotjalrisch sin. Wogulisch schara,
schem. Ungarisch szem. Ostjakisch sem.
Fuss: Tawastisch jalka; Kareh'sch jalja; Olonzisch jalgu; Estnisch (R.
D.) jalg: Lappisch juolke. Tscheremissisch jal, jol.
Fisch: Finnisch (in allen Dialekten) kala; P>stnisch (R. D.)kalla; Lappisch
kwele. Mordwinisch kal, kala; Mokschanisch kal; Tscheremissisch
kol. Wogulisch kol, kiil, kwol, chul. Ungarisch hal. Ostjakisch
kul, chul. Samojedisch chäla, chälle, chfilija, charre, kdrre, kuUe;
kolle, kuäl, kuölle; kola, käilä, kele. Bei den Südost- Asiaten in
Annam und Fegu ka, ki\. Tschuwaschisch bei Klaproth pöla, piilo,
bei Sjögren pdla. In allen übrigen türkischen Sprachen: balych,
balyk, baläk, bal(5k, baluch, palach u. s. w.
Ei: Finnisch (in allen Dialekten) niuna; Estnisch (R. D.) munna ; Lap-
pisch manne. Mordwinisch monäh ; Tscheremissisch müno. Wo-
gulisch mong; Ungarisch mony. Ostjakisch mok. Samojedisch
mona, mönna, mönu, müni.
Dieses Verzeichniss, welches zwar nur eine sehr geringe Anzahl von
Wörtern enthält, die wir durch die sprachlichen Kreise des Uraler -Stammes
hindurchgeführt haben, wird gleichwohl genügen, die Verwandtschaftsver-
hältnisse aller derjenigen Sprachen darzuthun, die zu jenen Kreisen gehören.
Unter allen hier verglichenen Sprachen ist die eigentlich finnische die weichste,
biegsamste, schmeidigste. Man könnte sie als den italienischen Dialekt in
der Gruppe jener uralischen Sprachen bezeichnen. An Flexibilität und For-
menreichthum, sowohl was Declination (die 14 Casus zälilt) als Conjugation
betrifft (wo sie in Hinsicht auf Tempora und Derivation. Unglaubliches
leistet), kommt der finniischen Sprache vielleicbt keine Sprache der Erde
gleich. Sie überbietet hierin nicht nur weit die germanischen und roma-
nischen Sprachen, sondern selbst die slawischen, vor welchen sie ausserdem
den Wohlklang voraus hat. Der Verf.
J92 Die Runen der Finnen.
magische Kette, die er schlingt, ist aus edelen Steinen gewebt,
die zwar flimmern, jedoch des Diamantgefunkeis entbehren. Der
Kalewidengesang, das Lied vom Kalewi poeg, ist dem falben
mitternächtlichen Mondlicht gleich, das über Sümpfen und llaiden
hinsterbend und zaghaft zittert; der Sang von Wäinämöinen,
das Lied der Kalewala, ist dem brennenden mittäglichen Son-
nenstrahl gleich, der über Seespiegeln und Granitfelsen lebens-
kräftig und freudig leuchtet. Die Kalewala ist ein Götterepos,
der Kalewi poeg ein Heldenepos. Jenes ist die nordische Ilias,
dieses die nordische Odyssee. Beide sind der Kränze der Ewigkeit
werth, beide ergänzen sich, Avie Goethe und Schiller, wie Geist
und Seele, wie Verstand und Gefühl sich ergänzen, vervoll-
ständigen, durchdringen. Etwas Charakteristischeres zur Be-
zeichnung der Hauptunterschiede beider tschudischen Dichtungen
wissen wir in der That nicht zu sagen. —
Und somit lassen wir das estnische Nationalepos fallen und
kehren zum finnischen Nationalepos zurück. Es drängt sich uns,
wenn wir dieser letzteren grossen Dichtung gegenüberstehen —
denn vergessen wir nicht, dass der Umfang der Kalewala durch
23,000 Verse bestimmt wird — unabweisbar die Betracht nähme
auf, dass das Homeridenthum jener Nationaldichtung ein ur-
poetisches, sang- und gottbegabtes, hochgeniales sein müsse.
Ein Volk, welches im Stande ist, eine so umfang- und inhalt-
reiche Heldendichtung, wie sie uns in der Kalewala vor Augen
lieo-t, rein aus sich selbst herauszuschaffen, ohne dass ihm eine
Anregung und Unterstützung von Aussen ward, ohne dass
fremde Poesien und Sagenkreise bei der geistigen Conception
und dichterischen Zeugung influirten ; ein Volk , welches solche
Wunderschöpfungen hinstellte ohne Ehrgeiz, ohne Ruhmsucht,
ohne Anspruch auf VeröfFenthchung , auf Bekanntwerdung , auf
Verbreitung jener Dichtimgen (denn der Finne liest nicht, schreibt
nicht, und der Deutsche, Schwede und Russe versteht kein
Wort seiner vokalreichen, melodischen Sprache); ein Volk, welches
gar keinen Werth legt auf die eigenen Poesien , die da würdig
sind unvergänglicher Palmen, und welches es Fremden überlässt,
dieselben zu sammeln und zum ewigen Kranze zusammenzu-
flechten; ein Volk also, welches rein aus poetischem Urtriebe,
unbewusst, wie es die Nachtigall thut, sinnt, schaflft, dichtet und
Die Runen der Finnen. 193
singt und Runot ersinnt, dichtet und singt, wie die Kalewala: —
ein solches Volk ist als ein hochbegabtes , poesiereiches , benei-
denswerthes, fast einzig dastehendes zu kennzeichnen. —
Wir haben oben die Finnen charakterisirt als eine voll-
kräftige, markige und un verderbte Nation, einen Abdruck wie-
derspiegelnd ihrer unberührten Berge, ihrer jungfräulichen Seen,
ihrer keuschen Luft — wie das Volk der Finnen , so ist nun
auch seine Poesie eine reine, urgemiithliche und kerngesunde.
Da ist nichts Klägliches, Weinerliches, Fröstelndes, was Schauer
und Unbehagen weckt und die Saiten der Seele herabstimmt:
vielmehr ist vorhanden in ihr Ernst, Kernigkeit, Vollkraft ; kein
Kastratenthura weder in Gedanken noch Bildern, nein eine Mann-
heit, die sich ebenbürtig zeigt jedem vollkommenen Volksge-
sange, wo immer Klänge desselben angeschlagen worden sind
von den Tagen Griechenlands her bis zu den Zeiten hinab, wo
das Lied der provencalischen Troubadours, der britischen Min-
strels, der nordischen Skalden oder der deutschen Minnesänger
tönte.
Etwas merkwürdig Unterscheidsames hat die Poesie der
finnischen Runot gleichwohl von fast jedweder anderen Volks-
dichtung. Während das epische Element in der einen, das ly-
rische Element in der andern Nationalpoesie sich vorwiegende
Geltung schuf, ja manchem Voiksliede, wie dem italischen, sogar
eine dramatische Färbung eigen ist, bedingt durch die gesti-
kulirende Lebhaftigkeit und das feurige Naturel des Südländers :
so erscheint die Runenpoesie der Finnen als eine belehrende,
berathende , warnende , tröstende , sittliche , ernste , die aus den
Schätzen der Erfahrung goldene Lehren und Heilsprüche in das
Leben mitgiebt und die Jugend zur Tugend und Tapferkeit im
Ertragen der Uebel des Lebens befeuert. Selbst mitten in das
ruhige, klare IMeer des Epos hinein springt der flüssige Born
der Didaktik und die Weisheit gränzt Thaten und Gedanken
ab und giebt dem Drange der Handlung eine sichere Haltung
und dem Feuer der Gefühle eine wohlthuende Schattirung: wie
wenn ein frischer, fröhlicher Windhauch über den majestätischen
Spiegel eines Sees daherweht und auf demselben ein stets wech-
selndes Wellengekräusel hervorbringt.
Die finnische Kalewala ist reich an Sentenzen ; der estnische
Archiv f. n. Sprachen. XXVII. 13
194 Die Runen der Finnen.
Kalewi poeg nicht minder. Zwar will der verdienstvolle Schröter,
der uns Deutschen vor Zeit die ersten finnischen Runot vor-
gelegt hat (Stuttg. und Tüb., Cotta, 1834), auch der epischen
Gattung derselben eine rein lyrische Färbung abgemerkt haben:
dem Sammlertalent jenes Mannes die Ehre ! aber wir meinen
dennoch, er habe in seinem Urtheil sehr geirrt. In einem zu
Leipzig (bei Falcke und Rösler) bereits vor 4 Jahren erschie-
nenen Büchlein, u. d. T. : „Runen finnischer Volkspoesie'' habe
ich die Ansicht Schröter's durch vielfach beigebrachte Citate
zu widerlegen versucht. Ich beziehe mich denn hier auf die-
selben. Ein genaueres Studium der tschudischen Dichtungen
hat mich belehrt, dass mein Abweichen von der Schröter'schen
Ansicht durchaus gerechtfertigt sei. Ich habe seitdem eine
Menge Beweisstellen gesammelt, die meine frühere Meinung
unterstützen und begründen. Die Kalewala hat mir hierbei als
weitere logische Handhabe gedient, und neuerlich auch der Ka-
lewi poeg, worüber Näheres zu melden einer späteren Gelegen-
heit und einem anderen Orte vorbehalten bleiben mag. —
So hat denn also, wie man mir hier ohne scharfe mathe-
matische Deduction glauben mag, das finnische Epos die Stütze
der Didaktik gewonnen. Aber auch der finnischen Lyrik ranken
sich Gnoraologie und Parömiosophie wie üppige, sie von allen
Seiten umschlingende Blumen zu. Ja, Didaktik ist die blü-
hende Liane am Stamm der grünen Runeneiche. Das eigent-
liche finnische Lied selbst, Leid oder Liebe athmend, ist reich
an Bedacht, Ernst und Würde, bei aller Glut, Inbrunst und
Schalkheit. Das ist eben eine Folge seiner didaktischen Fär-
bung. Darin sind die finnischen Liebesrunot völlig das Gegen-
theil von den erotischen Volksdichtungen der russischen und
überhaupt slawischen Völker. Der Ernst fehlt bei den letzteren
fast immer, die Würde geht verloren in Wehmuth und Weich-
lichkeit, daneben herrscht oft plumper, massiver Witz, Unge-
bundenheit und Rohheit. Dem Finnen geht die Grazie selten
ab; es giebt finnische Volkslieder, die man den zartesten und
edelsten an die Seite stellen kann, die je in einem Lande gesun-
gen wurden. Und wenn man die Luwut oder Zaubergesänge der
Finnen aus ihrer Poesie hinwegrechnet, Dichtungen, die in jeder
Volkspoesie als überflüssige Auswüchse erscheinen, so darf man
Die Runen der Finnen. 19S
sagen, dass der Baum der finnischen Nationalliteratur nur über-
haupt frische, kräftige und blüthenreiche Triebe hervorgebracht
habe. —
Dabei ist die metrische Form der finnischen Lieder, der
trochäische Tetrameter, als Verstaktik geschickt angewandt vne
zur Technik des Gesanges sehr wohl geeignet. Mit dem vier-
mal aneinandergereihten Trochäus schlägt der Finne die rohe
Ausgelassenheit und den üppigen Aufschwung der Gefühle nieder,
wo solche Empfindungen sich je in den Vers hineindrängen
wollen. Wie man Sonnenstrahlen wohl Pfeile nennt, so könnte
man — denn der Sonnengott ist ja zugleich der Gott des Ge-
sanges — so könnte man , meine ich , die Lieder der P^innen
auch Schwerter heissen, geschwungen wider das Unrecht, die
Unmoral, die Feigheit, die Lieblosigkeit und Herzenskälte.
Das Herz des Finnen schlägt für Recht mid Gerechtigkeit ;
Biederkeit, Redlichkeit, Wahrheit, diese hohen Güter des Lebens
sucht man in der niederen Hütte des Finnen nicht vergebens.
„Miestä sanast', härkää sarwest'" (den Stier beim Hörn, den
Mann beim Worte) : das ist ein Spruch, den jeder Finne kennt.
Für die Heiligthümer der Tugend, in der Verfechtung der Ehre,
der Sitte, der Treue opfert der Finne sein Leben.
Und so auch spricht sich in den Runen der Finnen ein
Abglanz jener Gesinnung aus, die, weil sie edel und adelig ist,
auch oft dem Vers eine aristokratische Glätte und eine saubere,
harmonische Abrundung verleiht. Denn mit der Hoheit des
Gedankens wächst jederzeit auch die Erhabenheit der Form wo
eines vollendet ist, ist, meine ich, auch das andere vollkommen.
Die schönste der Blumen, die Rose, verstreut auch den lieb-
lichsten Duft. —
Wir sprachen vom trochäischen Tetraraeter der finnischen
Runot, als dem gewissermassen legalen Metrum derselben. Der
heitere, aufspringende Jamb, oder gar der kecke, hüpfende Ana-
päst würden ganz unpassend und unharmonisch erscheinen dem
ernsten , sittlichen Gehalte der finnischen Runot gegenüber.
Ausser dem trochäischen Tetrameter, der oft, aber nicht immer,
als trochäische Dipodie erscheint , besitzt der Finne nur noch
den trochäischen Trimetcr und den trochäischen Pentameter.
13*
196 Die Runen der Finnen.
Beides sind aber höchst seltene Ausnahmen und gleichsam als
regelwidrige Abweichungen und metrische Nachlässigkeiten zu
kennzeichnen. Sie mischen sich (und besonders gern geschieht
dies in den Luw'ut, jenen Zaubersängen) auch wohl zuweilen
absichtvoll ein imd dienen dann zur Erhöhung des Nachdrucks,
wie Virgils unfertige Daktylen und Spondeen zwischen den fer-
tigen Hexametern, die von einigen Philologen ja in solcher Weise
gedeutet werden, obwohl Andere nur eben das noch Unvoll-
endete, einer späteren Ausglättung Vorbehaltene, darin erkennen
wollen.
Auch tritt der Trochäus der Finnen zuweilen untermischt
mit Daktylen auf, aber auch dies ist selten, und bei weitem die
Mehrzahl aller finnischen (sowie estnischen und lappischen) Verse
ist gebildet durch das Metrum des zu vier Malen wiederkehrenden
Trochäus.
Um ein paar Beispiele solcher trochäischen Rhythmen an-
zuführen, setzen wir nachfolgende Verse her, die zugleich dem,
der keine Ahnung von der finnischen Sprache hat, die fremd-
ländischen Klänge derselben verdeutlichen werden:
Tülee I naies me- | r^n ta- | käinen,
Waan ei | tule | turpeen | alta.
Deutsch: Wohl zurück vom fernen Meere
Kehrt der Greis, nicht aus dem Grabe.
Hü'wä I kdllo I käuwas | kiiulu,
Paha 1 sano- [ ma e- | demmäs.
Weithin schallt die gute Glocke
Weiter schallt die böse Rede.
Säapi I tü'hjän | pü'ütä- | mä'tä,
Kowan] | onnen | osta- | mata.
Nicht'ges findet man ohn' Suchen,
Ohne Kauf ein herbes Schicksal.
Ue'ksi I lämmas | w^ttä i mä'äkii,
Koko I karsi- | na ja- | noopi.
Blökt auch nur Ein Lamm nach Wasser,
Durstet gleich die ganze Heerde.
Tikka I kirja- | wä met- | sässä,
I'hmTsen | ikä ( kirja- | wampi.
Schillernd ist der Specht im Walde,
Schillernder ist das Menschenleben.
Die Runen der Finnen. 197
Ae'mmät I ä'hkü- | dn e- ( la wät,
Küuset I paukku | en pa- | lawat.
Stöhnend leben stets die Frauen,
In dem Feuer knattern Tannen.
Kewe- I ä't les- | kengin | k^ngät,
Miestä I toista | toiwo- | essa.
Auch die Wittwe drückt der Schuh nicht,
Harret sie des neuen Freiers.
Willai- I nen on | a iden | witsa,
Isäa I ruoska | runte- | lewa,
Witsa I wiera- I han we- [ rinen.
Wollig ist der Mutter Ruthe,
Strenger geisselt die des Vaters,
Blutig schlägt des Fremden Ruthe.
Diese Verse sind, wie tausend und abertausend andere
finnische, ganz rein im trochäischen Metrum gehalten. Nur
einmal in dem "Verse :
ITimisen | ikä u. s. w.
mischte sich, wie wir sahen, ein Daktylus ein.
Auch in folgenden Beispielen gesellen sich einzeln, oder
mehrfach , Daktylen dem trochäischen Grundrhythmus , und
schwächen denselben ab , ohne ihn indess zerstören zu können :
Ky'llä mä j süllen | ky'ywin | ännan
Oder: I'tkisin | itkisin ( kulla- I stani.
Gerne den Reisezelter geb' ich.
Weinen um meinen Geliebten sollt' ich.
Dagegen erscheint der trochäische Rhythmus allerdings
beinahe aufgehoben in solchen Fällen , wo der Finne den sonst
gebräuchlichen Tetrameter abwarf, und ihn gegen den Trimeter
oder Pentameter vertauschte. Hier wird das Metrum denn oft
ganz frei und die Rhythmen erscheinen gar locker , zumal wenn
die Daktylen an den Ausgang des Verses treten. Da macht
sich denn beinah ein dithyrambisches Versmass geltend, welches
sich leichter zum Gesänge eignet als zur Deklamation.
Wir geben einen Beleg für den finnischen trochäischen
Trimeter :
198 Die Runen der Finnen.
Si'lmäm i wettä ] wüotawät,
Nun kuin | wirta | wäkewä,
Köskest I alas | mänewä.
Thränen dem Aug' entperleten,
Wie die Bach' ergiessen sich,
Die vom Hochberg schäumen her.
Und ferner ein Beispiel eines finnischen trochäischen Pen-
tameters :
Kii'win j mfuä | käunistä ) källiötä | myö'ten,
Hiekka- | rannan j liewettä | myöten,
Mänin | minä | piskÖni | karta- | nohon,
Sisköpä I minun | syömään | pani.
Ging ich längshin eines entzückenden Hügels,
Längs des dünentragenden Strandes,
Ging zum Hof ich meiner geliebten Schwester,
Speise mir setzte vor die Schwester.
Man wird zugeben, dass hier der trochäische Rhythmus dem
Zerfall nahe ist, während derselbe immer noch durch ein zartes
Band zusammengehalten erscheint, Avenn der trochäische Tetra-
meter in Daktylen ausläuft ; denn der Tonanschlag ist hier doch
wenigstens ein trochäischer, da er wiederholt die ersten Arsen
trifft.
So klingen die finnischen Tetrameter:
Hü'wät I pijat, I kduniit | tü'ttäret;
Mistä I pahat | woimot | tulewät?
Gute Mägdlein, liebe Töchterchen ;
Sagt: woher die bösen Gattinnen?
fast regelrecht, zun;ial die beiden Kürzen am Ausgange im
Finnischen sehr schnell gesprochen und fast in eine Sylbe con-
trahirt werden.
'■ " "Was den Eeim betrifft, dies Kennzeichen germanischer und
romanischer Dichtkunst, der aber auch dem Orient und selbst
der slawischen Poesie der Ileutzeit eigen ist, so kennen die
finnischen Runot davon auch nicht die leiseste Spur. In den
Sprichwörtern der Finnen kommen wohl ein paar vereinzelte
Beispiele von Reimversuchen vor, es sind aber das solche Fälle,
wo es unzweifelhaft erscheint, dass hier das deutsche oder
schwedische Vorbild influirt habe. Diese so ganz ausnahms-
weise auftretenden Reime verdienen demnach gar keine Be-
achtung. Wo aber in den lyrischen oder epischen Liedern der
Die Runen der Finnen. 199
Finnen, vor allen in der „Kalewala," einmal ein Reimklang sich
hörbar macht, da ist derselbe ganz unvvillkiirlich und keineswegs
zur Erwirkung eines Effekts in die Dichtung hineingekommen.
Da die finnische klangvolle und mit Vokalen so reich ausge-
stattete Sprache den ßeim so leicht ermöglichen könnte, so
muss man eben bei der Verzichtleistung des Finnen auf den-
selben um so entschiedener die Absichtlichkeit des Reimes be-
zweifeln, wo immer derselbe einmal auftritt.
So hat denn also die finnische Poesie freiwillig sich eines
der Hauptmittel entschlagen, um dichterische Effekte zu er-
zielen. Und welches ist denn die Ausgleichung, wodurch der
Finnismus die Magie der Klänge zu ersetzen weiss , die
In den übrigen abend- und morgenländischen Poesien so zau-
berische Wirkungen für das Ohr, und nicht für das Ohr
allein , sondern auch für den Geist und die Seele her-
vorbringt? Oder hätte die finnische Dichtung gar kein Er-
satzmittel für den fehlenden Reim? — Man blicke doch auf
die Vertheilung der Gaben hin , welche die mütterliche Hand
der Schöpfung spendet : der farblosen Lilie lieh sie den ent-
zückenden Duft; für den Misston der Stimme entschädigte sie
den Papagei durch den Farbenglanz der Federn; unten dem
grauen Gefieder der Lerche liess sie pochen ein sangreiches
Herz. — Und so auch suchte und fand die Poesie der Runen
einen Schatz, der sie die Entbehrniss des Reimes vergessen machte.
Das ist die Alliteration. Vorhanden und bräuchlich ist dieselbe
in so ausgebildetem Masse, dass sie einem Uebersetzer, wenn
derselbe sie nachbilden wollte, eine w^ahrhafte Herkulesarbeit
verursachen müsste.
In der L'ebersetzung der finnischen Runen, deren ich oben
gedachte, habe ich mich wohl zuweilen an die finnische Alli-
teration herangewagt: aber ich gestehe freimüthig, dass mich
fast die darangesetzte Zeit gereut. Was in der Ursprache ge-
sund und ursprünglich ersclieint, will zudem in fiemder Sprache
stets matt und kränkelnd erscheinen, wenn der (ienius dieser
letzteren überhaupt solcher Eigcnthümlichkeit abhold ist. Man
füge dem Schwan des Pfauen Schweif hinzu und Keiner wird
jauchzen: seht den stolzen, königlichen Vogel! Und so auch
ist jene Alliteration das ureigene, alleinige und wesentliche Kenn-
200 Die Runen der Finnen.
zeichen der finnischen Poesie, wie sie diese Anlage und Eigen-
thümlicjilveit in solcher Erscheinung und in solchem Masse mit
keiner andern Dichtung Europas und Asiens theilt.
Fast kein Vers kommt ohne das eine oder andere Genus
derselben vor. Es giebt nämlich erstlich den sogenannten Buch-
stabenreim oder diejenige Art der AlHteration, wo in einem und
demselben Verse zweimal oder mehrfach derselbe Konsonant
zu Häupten eines Wortes auftritt,
Z. B. : Hüwä I kello | kauwas | kuuluu
Oder: Tule | iänne | luttu | wani.
AVeithin gellen gute Glocken.
Komm keck her, Du mein Bekannter.
Und zweitens hat man im Finnismus den sogenannten Syl-
benreira, d. i. jene Art der AlHteration, avo die Wiederholung
nicht bloss den Konsonant, sondern auch den sich zunächst an-
reihenden Vokal trifft.
Z. B.: Tule | turka | fuutu | huni,
Iiiki I liki I lintu- | seni,
Ruki I kiski I kulta- | senil
liSigre dich langhin aufs l.ager,
IVahe, nahe, UTachtigallchen,
Ijiege, lieg' hier, liebes Goldchen!
Und so in unzähligen Fällen!
Diese Alliterationen, zumal die letztere, schlingen sich wie
lachende Knospen und frisch aufspringende ßlüthen durch den
ganzen Kranz der finnischen Dichtung, und leihen ihr von an-
derer Seite her Duft und Farbenfülle, da, wie wir bemerkten,
der schillernde Kelch der Reimblume hier verschlossen ist.
Die Alliterationen sind die spielenden Blitze des Finnismus,
die sich durch alle Runot flimmernd und funkelnd hindurch-
schlängeln, und die leicht hinrollenden Wellen derselben gleich-
sam vor dem Staguiren und der Monotonie beschützen.
Eine Alliteration übrigens in dem Sinne der germanischen
und romanischen Völker, deren Konsonanten aus einer Versreihe
in die andere überspringen, giebt es, was wohl zu beachten ist,
im Finnismus nicht, oder sie kommt wenigstens nur höchst
selten und wahrscheinUch ohne künstlich bezweckt zu sein» vor.
Die Runen der Finnen. 201
Auch die Assonanz ist nicht eben häufig. Doch giebt es
einige Beispiele, wie:
Astu I armas | sänky | hyni
Oder: IhmTsen | ikä | kirja- | wampi
Oder: Aemmät | »hkü | en e- | läwiit
Komm in meine Arme, Armer!
Immer ist schillernd Menschenleben.
Durch Aeonen ächzen Frauen.
Zu den eben angeführten charakteristischen Merkmalen
der finnischen Poesie kommt endlich noch als weiteres bedeutsam
hervortretendes Kriterium der sogenannte Sinnreim, wie ihn
Renwall geistreich nennt, d. h. der Parallelismus der Gedanken.
Eine Eigenthümlichkeit, welche die finnische Sprache, hervor-
gegangen aus den östlichen Sprachen, zunächst aus der grossen
tatarischen Sprachgruppe, mit allen orientalischen Völkern,
besonders den semitischen, gemein hat.
Besondere Beispiele hier anzuführen, enthalten wir uns, da
wir sofort Gelegenheit finden werden, die letztgedachte Eigen-
thümlichkeit in den finnischen Liedern häufig genug Avahrzu-
nehmen.
Wir erlauben uns nämlich nunmehr, einige dieser Runot dem
geneigten Zuhörer vorzulegen, und bemerken dazu, dass dieselben
keineswegs als ein Extrakt aus der oben angezeigten, vom Vor-
tragenden früher veranstalteten Lese u. d. T. „Runen finnischer
Volkspoesie" sich geriren, sondern dass sie einer neuen grösseren
Sammlung von Runen entlehnt sind, welche in die 3 Abschnitte:
„Jumala," „Wäinämöinen" und „die Kantele" zerfallen soll.
Die Uebertragung dieser von mir durch besondere Gunst
der Umstände veranstalteten Aufzeichnung, die grossentheils auf
der prächtigen Schaubühne der finnischen Poesie selber ermög-
licht ward, wird zugleich die oben aufgestellte Ansicht, dass
das didaktische Element im Finnismus sehr bedeutsam vertreten
sei, über jeden Zweifel erheben. —
Die Runot , welche ich ausgehoben habe und zwar ohne
alle ängstlich -kritische Wahl, da mir zu solchem Geschäft Müsse
wie Laune gebricht, lauten, mit Beiseitelassung des finnischen
Textes, in der deutschen Uebersetzung, wie folgt:
202
Die Runen der Finnen.
Unbeständig ziehn die Winde
Ueberm Haupt der Menschenkinder,
Itzt aus Norden, itzt aus Süden,
Nun aus Osten, nun aus Westen,
Wechselnd täglich in der Richtung,
Aendernd sich mit jeder Stunde.
Unbeständig schwankt im Sunde
Auch die Welle, friedlich heute.
Aber morgen aufgewühlet.
Unbeständig treibt die Wolke
Auch entlang am blauen Himmel,
Ist bald klar und mild und friedlich.
Wie ein Lämmchen, welches spielet;
Ist bald wüthig. Blitze dräuend.
Wie ein Wolf, der tückisch blicket.
Unbeständig ist der Tag auch.
Streitet stets sich mit dem Abend;
Unbeständig ist das Licht auch,
Streitet stets sich mit dem Dunkel;
Unbeständig ist der Sommer,
Streitet stets sich mit dem Winter;
Unbeständig ist auf Erden,
Ungewiss und schwankend jedes,
ünterthan dem Wechsel alles:
Aber eines Weibes Sinne,
Eines Mägdeleins Gedanken,
Einer Jungfrau Herzgefühle,
Und Empfindung und Gesinnung,
Und ihr Will und ihre Neigung
Wechseln schneller noch als Winde,
Sind noch schwankender als Wellen,
Ungewisser noch als AYolken,
Unbeständiger als Tage,
Flücht'ger als des Lichtes Strahlen,
Und verändern sich viel rascher
Als die raschen Jahreszeiten.
Sehr zu preisen ist ein Jüngling
Und fürwahr der Ehre würdig.
Er der starke, kecke, kräft'ge,
Den die Dirnen selber locken,
Dem die Jungfraun gerne dienen.
Und die Mägdlein freudig winken
Mit den schönen weissen Händen,
Mit den süssen rothen Lippen,
Und den lieben hellen Augen:
Wenn er wehrt den Liebesküssen,
Und entgeht der Anmuth Netzen,
Und zerreisst der Wollust Stricke,
Schwingend nur das Schwert mit
Wonne
Und nachlebend stolzem Ruhme,
Aechtem Preis und wahrer Ehre,
Schlachtenfroh und kriegesfreudig,
Thatendurstig, siegbegehrend.
Kranzeswerth und runenwürdig.
Aber welcher Ruhm, ihr Leutchen,
Krönt den Greis, den ausgezehrten,
Abgelebten, abgewelkten,
AVie er auch enthaltsam wandelt
Und Versuchung standhaft meidet?
Flieh'n Ihn selber doch die Dirnen
Und enteilen ihm mit Lachen,
Meiden selbst ihn doch die Mägdlein
Und verspotten ihn den Alten,
Rufen pfui ! doch alle Jungfraun
Und enthüpfen Ihm hohnlachend.
Der Gerechtigkeit, es fehlen
Nicht allein Ihr beide Augen,
Ihr gebrechen beide Ohren
Auch, und lahm sind ihre Hände,
Und auf jedem Fusse hinkt sie,
So auf rechtem, wie auf linkem.
Und gekrümmt ist ihr der Buckel,
Gänzlich steif sind ihre GHeder
Und zu keinem Dienste tauglich;
Ja, Gerechtigkeit ist völHg
Ein spottaltes Weib zum Ekel,
Eine hässHch leid'ge Vettel,
Eine widerwärtige Hexe.
Aber alle Richter prahlen:
Seht die schöne liebe Jungfrau,
Seht die holde schmucke Dirne,
Seht das ros'ge süsse Mägdlein!
Ist sie werth nicht der Umarmung?
Und nicht würdig eines Kusses?
Süssigkeit verführet Fliegen,
Und die Liebe locket Menschen.
Doch den Adler reizt nicht Zucker,
Und den Helden nicht die Schönheit.
Die Runen der Finnen.
203
Berg und Felsen können schwinden,
Und die Meerflut kann vergehen:
Nur des Mannes Tugend bleibet,
Nur des Wackern Name währet.
Immer findet sich sich ein Sänger,
Ist nur Heldenwerk zu singen.
Und die Runen sie gesellen
Sich dem Ruhm, wie Gold dem Ringe.
Schlage einen breiten Schleier
Ueber die empfang'ne Wunde,
Wenn die Hand, die sie geschlagen.
Sich dir neu zum Segen öfliiet.
Nur der Zornige vergisst nicht,
Der Unlautre nur vergiebt nicht;
Aber stets bereit ziu- Sühne,
Und stets willig zur Vergebung
Ist die lieb'erfüllte Seele,
Ist das Herz des edlen Mannes.
Mehr zu fürchten als der Tod selbst
Ist des Alters leid'ge Schwäche.
Bruder ist gar hoch betrübet,
Stirbt ihm die geliebte Schwester;
Aber bald hört auf sein Trauern,
Hat ja mehr wohl der Geschwister,
Bräutigam ist gar bekümmert,
Steht er an der Liebsten Sarge,
Aber bald hört auf sein Kummer,
Giebt ja andrer Dirnen mehr noch;
Mutterherz ist ganz zerbrochen,
Stirbt der Sohn ihr, er der einz'ge,
Nie hört auf ihr stilles Klagen,
Der ihr schied, er war ifir Alles.
Wider Fieber dienen Pillen,
Wider Kopfweh helfen Säfte,
Wider Zahnweh frommen Tropfen,
Magenweh kuriren Kräuter,
Bei Verrenkung ziemt ein Umschlag,
Brüchen nutzen die Verbände:
Wider Herzweh nutzt kein Tröpflein,
Seelenleid kurirt kein Tränklein,
Raschen Pulsschlag zähmt kein Pill-
chen,
Schnellen Blutlauf hemmt kein Kräut-
lein,
Heisse Sehnsucht stillt kein Säftlein,
Heft'ge Liebe heilt kein Bändlein
Als allein — das Band der Ehe !
Hoffnung ist der Erde Speise,
Ist der WasserqueU des Lebens.*)
Alsolange lebt der Mensch nur.
Alsolang' er Hoffnung heget.
Aus den Augen quillt die Thräne,
Welche weint der Lieb'erfüllte;
Aus dem Herzen jene Zähre,
Die vergiesst der Kummervolle.
Wenn es wettert auf dem Felde,
Flüchte zu des Fürsten Eiche:
Denn sie wird der Blitz nicht treffen,
Und der Strahl sie nicht berühren.
Schaut der Edelherr die Sonne,
Sagen Alle: ja sie blendet!
Schaut die Edelfrau die Wolken,
Spricht ein Jeder: o wie dunkel!
Jenes ist ein schlechtes Lachen,
Welches Andrer Thrän' hervorlockt;
Jenes ist ein böses Scherzen,
Welches Andrer Herz zerschneidet.
Freue dich, Du wackrer Kämpe,
Wenn man Opfer von dir heische*!
Hast du schon gehört, dass (Grosses
Von den Schelmen man gefordert?
*) Wie edel und einfach! Die Hoffnung wird hier als Dasjenige be-
zeichnet, was dem Menschen das Nöthigste auf Erden ist — als Speise und
Trank. Viel emphatischer würden südliche Dichter, der Schlichtheit dieser
nordischen Poesie gegenüber, sich ausgedrückt haben. Worte wie Manna,
Nektar u. s. w. wurden da nicht gefehlt haben.
204
Die Runen der Finnen.
Eines Wack'ren Namen singet
Gern der wack're Runensänger;
Von des Schwächlings Preise klinget
Die Kantele nur des Schwachen.
Schaut der Zwerg empor zum Berge,
Trocknet er sich schon den Schweiss
ab.
Doch der Ries' er schreitet muthig,
Siebet gar nicht auf zum Gipfel.
»
Gold zu sagen lernt der Stumme,
Dem die Rubel du verheissest.
Deine Tochter sieht der Blinde,
Dem du sie versprichst zur Gattin.
Wenn die Magd fiel in den Brunnen,
Wird ihr Ungeschick getadelt;
Fällt hinein die Herrentochter,
Einzig trägt die Schuld der Brunnen.
An der Klippe leckt die Brandung,
Und die Missgunst an der Tugend.
Schluckt die Scheegans zu viel Steine,
Kann sie leicht daran ersticken.
A^'^er ein Strecklein auf dem Sunde
Fuhr, das Meer von Ferne schauend,
Immer spricht vom Meere Jener,
Und von aufgewühlten Wellen.
Wer sog Kraft schon aus dem Wasser?
Wer Begeistrung aus der Quelle?
Trinke, wackrer Runenmeister,
Trinke Muth aus vollem Home.
Hoffe nicht zuviel vom Glücke,
Gründe selber dir dein Schicksal.
Eig'ncs Schwert thut bessre Schläge
Als der Schwertstreich der Genossen.
Alle müssen wir hinunter
In des Grabes tiefen Abgrund,
Und des Todes öde Strasse
Wandeln muss von uns ein Jeder.
Lasst uns denn, solang' wir athmen,
Ruhmvoll leben und in Ehren,
Lasst uns denn, solang' wir leben,
Freudvoll leben und in Frieden.
Jener nur hilft aus der Noth dir,
AVer empfunden selbst dein Wehe;
Und nur der weiss dich zu trösten,
Wer selbst litt, was dich bedrücket.
Schön entfaltet sich der Liebe
Blume, reich mit Meth begossen.
Ei, der Freundschaft Blüth' erschliest
sich.
Trägst aufs Beet du Gold als Dünger.
Michtmehr lockte uns das Fliegen,
War' des Fluges Kunst erfunden.
Könnte Jeder auf dem Meere
Wandeln, Keiner riefe: Wunder!
AVard gefragt der Weise: Lieber,
Sage: wo doch wohnt Jumala?
Sprach der Weise: ei du Närrlein,
Allda, wo du selbst nicht weilest.
Sünderstrick ist leicht gedrehet',
Henkerschleife leicht geschlungen.
Willst du, dass der Brave büsse,
Willst du, dass der Wackre hange.
Als der Schmied starb, seiner Reden
Allerletzte war: bringt Kohlen!
Als der Müller enden musste,
Rief er sterbend: her den Mehlsack!
Hoffen ist des Thoren Sache,
Fürchten aber Thun der Feigen;
Der vernünft'ge Mann ist ruhig,
Und es schwingt das Schwert der
Tapfre.
Rufest in den AVald du: Feuer!
Nicht antworten wird es: Kohlen!
Rufest in den Wald du: Kohlen!
Leicht antwortet es dir: Feuer!
Beispringt Alles einem König,
Für ihn kämpfet selbst sein Schatten,
Die Runen der Pinnen.
205
Doch verloren ist der Arme,
Steht er selbst in voller Rüstung.
Wäinämöinen sprach, der Alte,
Wäinämöinen sprach, der Gute :
Laut vom Kriege spricht der Feige,
Still im Kriege kämpft der Wack're.
Zeit, du gleichst der Eisensäge,
Du zerschneidest harte Felsen ;
Zeit, du bist ein ehr'ner Hammer,
Du zerklopfest starke Mauern.
Lieb' ist eine Maienblume,
Ach wie bald wird sie verwelken!
Doch des Maienblümchens Same,
Streut sich aus, wird neu erblühen.
Lieb' ist eine schöne Rose,
Die im edlen Herzen keimet,
Die entknospt in reinem Busen,
Und in milder Seel' erblühet.
Wer sah wuchern eine Rose
Wild im ungepüügten Acker?
Wer sah wachsen eine Rose
Anders als im schönen Garten?
Wie das Harz quillt aus der Tanne
In der schönen Zeit des Lenzes,
Quillet Muth auf in den Herzen
Junger in der Liebe Tagen.
Frohe haben viele Runen,
Freud'ge Lieder ohne Ende;
Doch Betrübte haben viele
Thränen nur und ew'ge Klagen.
Selbst der Lerche Trillern locket
Den nicht, dessen Herz voll Harm ist;
Doch des Raben heisres Krächzen
Freuet Jenen, der voll Lust ist.
Und der Eule Schrei rührt Jenen,
Dem die Brust erfüllt von Lieb' ist.
Wenn die Rubel zu uns sollen,
Sind sie eckig, gehn an Krücken;
Wenn die Rubel von uns wollen,
Sind sie rund und haben Flügel.
Ist des Klugen Krug zerborsten.
Schöpft er Wasser mit den Händen,
Ist des Dummen Krug zerbrochen.
Guckt er an das Loch verzweifelnd.
Wenn von Wachs sind deine Gäste,
Hüte sanft sie vor dem Feuer.
Will der Fürst das Meer durchwaten,
Trocken findet er es immer:
Will der Bauer in der Wüste
Wandern, stets ist sie durchnässet.
Wenn der Graue*) stirbt, nicht feiern
Ihm ein Todtenfest die Weissen.
Selbst die Weisen nicht durchspähen,
AVas verbirgt der Zukunft Schleier.
Jumala allein erkennet,
Was da ist und war und sein wird.
Streckt der Fürst sich auch gewaltig,
Und erhebt auch stolz das Haupt er.
Nicht drückt er des Himmels Dach
Sorg' ist überall zu finden,
Doch nach Freude musst du suchen;
Allerorten wuchern Nesseln,
Nur in Gärten blühen Nelken.
Selbst der Nachtigall Geflöte
Aergert Jenen, der voll Gram ist,
Und zertrümmert nicht die Sterne.
Langt der König auch zur Fackel,
Nimmt zur Hand er eine grosse,
Brennende mit hellen Flammen,
Sprühende mit glühen Funken:
Doch das Herz ist mir gar ruhig
♦) Der Graue d.
Schafe gemeint.
der Wolf; unter den Weissen dagegen sind die
206
Die Runen der Finnen.
Wegen meines kleinen Sees,
Nicht wird er ihn mir verbrennen,
Nicht versengen nur ein wenig.
Schnelle Flügel hat die Rede,
Und der Ruf gar leichte Schwingen ;
Auch der Held, er wird beschrieen,
Und der Weise selbst bekrittelt.
Leichte Fersen hat das Rennthier,
Doch des Jägers Pfeil hat Flügel.
Wenn sich Will' und Wort vermählen,
Wird die schöne That geboren.
Als Jumala sprach: es werde!
Gleich entspross die Wunderschö-
pfung.
Ausgespannt sind Jumals Garne,
Menschen fanget er gleich Vögeln;
Ausgelegt sind Jumals Reusen,
Menschen fanget er wie Fische.
Gelten will für eine Krähe
Jener Sperling, der da sitzet
Auf dem obern Ast der Tanne;
Gelten will für einen Adler
Jene Krähe, die sich wieget
Auf der Tanne höchstem Wipfel.
Schenkt der Wirth Bier statt des
Methes,
Alle Welt schreit: du Betrüger!
Füllt er Meth ein statt des Bieres,
Nicht ein Einz'ger ruft: du irrtest!
Leicht ins Sieden kommt ein Tropfe,
Schwer erwärmt des Wassers Fülle;
Einen magst du leicht begeistern.
Aber nicht des Volkes Menge.
Dir gilt mehr nicht als ein Knöch-
lein
Deines Nachbars Zahn im Munde;
So auch deinem Nachbar, wisse,
Dünkt dein ganzer Kopf ein Schädel.
Stets vor andern Erzen strahlet
Hell an Glanz das Gold, das gelbe;
Immer glänzt des Helden Name
Ruhmesreich vor andern Namen.
Wer ein Schwan ist, der bespiegelt
Sich im Bach und denkt: schön bin
ich!
Wer ein Weib ist, der besiebet
Sich im Glas' und ruft: ei, seht mich!
Aendert ihren Klang die Glocke,
Weh, geborsten ist die Glocke.
Blut säuft stets des Krieges Rachen,
Aber aus nur speit er Wasser.
Wann denn höret auf zu brausen
Der Wuoksen? wann zu schäumen
Der Imatra? und der Nordsturm
Wann ist er ohn' Schneeswehen?
Ach so wird auch nie des Mannes
Herz dem wilden Kampf entsagen,
Nie der Qualen sich entschngen,
Nicht der Noth entfliehn und Arbeit,
Bis es einging in Tuonl's*)
Reich, ins Reich der ew'gen Schatten,
In das Reich der dumpfen Ruhe.
Schaue doch vom Erdenjammer,
Thränend Aug', empor zum Himmel,
Bitte hoffend von Jumala,
Dass er ende deinen Kummer,
Dass er stille deinen Jammer.
Ei, wer schuf den schönen Luftkreis,
Und die schöne Frühlingserde,
Und die blauen Meeressunde,
Und die hohen Felsenberge,
Und die ew'gen Eisesrücken,
Und die Tannen auf den Höhen,
Und die Blumen in den Thalen :
Ei, der schuf auch dich zur Freude,
Schuf dich nimmermehr zur Trübsal ;
Er wird enden deine Trauer,
*) Tuoni ist der Gott des Todes, Tuonela das Schattenreich.
Die Runen der Finnen.
207
Er wird stillen deine Thränen,
Ists nicht heut, so ist es morgen,
Oder nächstens ganz gewisslich;
Aber nicht nmsst du verzweifeln.
Aber nicht musst du verzagen,
Und im Jammer nicht vergehen
Und im Kummer nicht erliegen,
Sondern Hoffnung musst du hegen.
So im Lächeln, wie in Thränen:
Denn die Hoffnung ist das Beste,
Ist der armen Menschenseele,
Was der Thau ist für die Rose,
Und der Wolke Fluth dem Saatfeld.
Wenn das Laster offen schreitet.
Frei mit Frechheit, baar in Blosse,
Nackt in täppischer Gemeinheit,
Widrig, niedrig, unverhohlen,
Nicht gegürtet mit Verstellung,
Eingeschleiert nicht in Ärglist,
Aufgeputzet nicht mit Tücke,
Und gehüllet nicht in Bosheit:
Ei, wohl ist es werth der Hölle,
Und der ew'gen Flammen würdig.
Aber schlimm'res Uebel giebt es.
Und verderblicheres Laster,
Welches zweier Höllen werth ist
Und verdient der Flammen Schürung,
Dass sie doppelt qualvoll lodern,
Und im heissern Brande glühen
Jones Laster ist's (o hüte
Dich, mein Sohn, zumeist vor diesem!)
Welches schlau sich deckt und birget
Und sich herrlich schmückt und
schminket,
Bunt sich gürtet und staffiret.
Und in goldnen Flittern prunket,
Und mit Himmelsmiene gleisset.
Lieblich nickt und schelmisch blinzelt,
Süss bestrickt und sanft umhalset.
An das Herz drückt, leiselächelnd.
Zärtlich winkt und küsst und koset,
Und Verrath übt durch Verblendung,
Und betrüget durch Verleitung;
Hintergehet durch Verlockung,
Fälscht und täuschet durchVerstellung,
Netze stellt und Garne breitet,
Ais ob's gälte Vöglein fangen.
Und wann du im Netze hangest,
Laut auflacht und triumphiret —
Just wie es die Priester treiben
Und der Kirche Diener- machen.
Wäinämöinen sprach, der Gute,
Wäinämöinen sang, der Wackre:
Huldigt nicht dem Streit, ihr Leute,
Fröhnet nicht dem Zank, ihr Bauern,
Seid geduldig und geruhig,
Seid einträchtig und verträglich.
Gütig, friedlich und gemüthlich.
Lasset fahren Zwist und Zwietracht,
Alle Fehde und Entzweiung,
Und entsagt dem Groll und Grimme,
Und der Heuchelei und Bosheit,
Der Verleumdung und der Tücke,
Der Verlästrung und der Lüge,
Und dem Trug und dem Verrathe.
Lebt in Ruhe, lebt in Frieden,
Und in Harmonie und Eintracht;
Steht wie Felsen bei einander,
Wie die festen Urgebirge;
Haltet fest und treu zusammen
AVie des Baumes starke Wurzeln;
Drängt euch schützend an einander
Wie der Eisenkette Glieder:
Denn vereinte Kraft, sie fördert.
Und geschaarte Macht, sie schirmet.
Und verbundne Arme schaffen.
Auch die Götter sind nur Götter,
Weil der Liebe Kraft sie einet
Und der Himmel sie verbindet.
Hundertmal den Düngerkäfer
Trug der Narr hin auf die Rosen.
Hundertmal weg von den Rosen
Flog der Käfer nach dem Dünger.
Heftig schalt der Narr die Rosen,
Rief mit grimmiger Geberde:
O ihr garstig bösen Blumen!
Was nicht fesselt ihr den Käfer?
Sah's ein andrer Narr und lachte,
Sprach: was zürnest du den Rosen?
208
Die Runen der Finnen.
Mit dem Käfer musst du zanken,
Mit dem gottlos dummen Käfer.
Was deim achtet nicht der Res' er?
Was denn locket ihn der Dünger?
Sah's ein weiser Mann und lachte,
Sprach: ihr Beide seid zu schelten,
Weil ihr scheltet Beide thöricht,
Du die Rose, du den Käfer.
«Jeder lebt nach seiner Weise,
Und nach seiner Art ein Jeder,
Wie's Jumala ihm beschieden,
Er, der ew'ge Hort des Himmels,
Er, der Bringer ew'ger Wonnen,
Er, der ew'ge Gnadengeber.
Wie er kann, so schwirrt der Käfer,
Schwirret ganz nach seiner Weise,
Flattert nimmer hin zu Rosen,
Fliegt nur immer um den Dünger.
Wie sie mag, so blüht die Rose,
Blühet ganz nach ihrer Weise,
Duftet nicht fm- Düngerkäfer,
Duftet nur für liebe Mägdlein.
Julius Altmann.
Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft.
Herausgegeben von Dr. M. Lazarus und Dr. H. Stein-
thal. Bd. I. Heft 1 — 3. Berlin. Dümraler, 1859.
„Völkerpsychologie" bedeutet im Sinne der Verfasser nicht die Psy-
chologie, die die Völiier treiben, sondern die an ihnen getrieben wird. Das
Volk, die Gemeinschaft vieler Menschen, habe wie der einzelne Älenscli
eine eigne Seele und eigenthüraliche seelische Prozesse. Sonst versteht
man unter Seele das lebendige Prinzip eines körperlichen Organismus, die
sinnlich vermittelten Prozesse eines lebenden Wesens. Es wäre daher wohl
richtiger, von Volks ge ist und Nationalgeist zu sprechen, wie es bisher
immer geschah. Von einer Volksseele zu sprechen, nicht bei Gelegenheit
eines Gleichnisses und vorübergehend, sondern im vollem Ernste und um
eine wissenschaftliche Theorie auf solchen Sprachgebrauch zu bauen : das
scheint höchst gewagt zu sein, — Die Völkerpsychologie ist eine neu er-
fundene "NVissenschatt, „ihr Gedanke noch völlig neu und vermuthlich vielen
unserer Leser noch unerhört." (rieft I. p. 1.) Es ist dies das Zeitalter der
Ei findungen: wir werden nicht iiberrascht sein, auch wenn neue Wissen-
schalten erfunden werden. Wir möchten wünschen, dieser allerneuesten
Ei-findung eine längere Lebensdauer weissagen zu können, als der Phy-
siognomik oder Phrenologie oder dem Mesmerismus. Patentirt ist sie noch
nicht, so wenig wie die neue „Entwicklungswissenschaft" des Herrn Fridegar
Mone, vor dem es bekanntlich noch keine "Wissenschaft der Geschichte ge-
geben hat.
Die Aufgabe auch der ..Völkerjjsychologie" ist keine geringere, als die
Restauration aller geschichtlichen Dis'ciplinen auf solideren Grundlagen der
„Erfahrung," besonders eine Restauration der Sprachwissenschaft, und bei-
läufig wird noch so Manches abfallen , wie die Stärkung des deutschen Na-
tionalgefühls (Heft L p. G6) und die Lösung der homerischen Frage (ibid.
p. 59). Es giebt ohne Zweifel wissenschaftliche Epidemien. Wir bitten, davon,
als von einer völkerpsychologiscben Thatsaclie, Akt zu nehmen. Die ab-
solute Dialektik sind wir los: die absolute Methode ist geblieben. Heut zu
Tage giebt es nur eine Wissenschaft : die Physik, und nur eine Methode:
die physikalisch -mathematische. Das Widersprechendste wird in diese Form
gespannt. Die alten Identitäten kehren wieder, nur auf entgegengesetzte
Weise. Geist und Materie sind identisch; das heisst jetzt: es giebt keinen
Geist; auch der Geist ist nur verkappte Materie. Die Krankheit hat nur
eine andere Form angenommen. Der physikalische Aberglaube herrscht
überall, und sein schlimmstes Symptom ist die „Psychologie." Mit Schwer-
tern und Stangen ziehn sie aus, die arme Psyche in das Netz mathematisch
behandelter „Empirie" einzulangen. Nur eine Domäne gab es noch, in
welcher der Idealismus ungehindert schalten konnte: die Geschichte. Hier
Archiv f. n. Sprachen. XXVII- 14
210 Beurth eilungen und kurze Anzeigen.
brach doch noch die freie That durch alle Armseligkeit der Regel; hier
hörte doch der langweilige Coniplexus der Ursachen mit seiner eintönigen
Nothwendigkeit auf; hier erschien doch noch in der Form des Glaubens
die wissenschaftliche Hypothese, dass sich die Freiheit als ein Reich von
Zwecken verwirklicht. Auch aus dieser letzten Zuflucht muss der Idealismus
vertrieben werden. Auch die Geschichte muss in Mechanismus verwandelt,
die geistigen Prozesse des freien Willens in mathematisch nothwendige Vor-
stellungsprozesse umgesetzt, die Schöpfung des Genies dem Calkul unter-
worfen werden. Das prätendirt die ,.Völkerps)'choIogie."
Jede Wissenschaft muss ein Objekt haben. Das Objekt der Völker-
psychologie ist die Volksseele. Ganz gut. Die Prozesse des individuellen
Geistes können aus sich selbst nicht verstanden werden. Das Individuum
wird mehr geschoben , als es schiebt. Die (iesammtheit hat eine geistige
Geschichte; die Absichten und Ansichten des Einzelnen richten nichts aus
gegen den grossen unbewussten Drang der Gemeinschaft. Unsre Gedanken
beruhen, so weit sie Werth haben, auf der grossen Tradition der Bildung ;
unsern Charakter, die bestimmte Art unsres Fühlens bedingt die Nation,
der wir angehören. Wir schwimmen in einem grossen, mächtigen Elemente;
der Gewaltigste kann sich ihm nicht entziehen. Grade solche Ueberzeu-
gungen bilden das eigenthümHche Wesen unsrer neueren Bildung und ins-
besondre unsrer Geschichtsschreibung. Die Gesichtspunkte der Völker-
psychologie aber kündigen sich als neu an. Es handelt sich darum, wie
man den Begriff der Volksseele fasst. Will man von einer Volksseele
sprechen, so muss man zuerst wissen: was ist ein Volk? Die Verfasser
geben bereitwilligst Antwort. Ein Volk wird nicht konstituirt durch ge-
meinsame Abstammung, nicht durch gemeinsame Sprache oder Sitte. Was
ist denn aber das Volk? Nun, ein Volk — ist eine Menge von Menschen,
welche sich für ein Volk ansehen! (Heft I. p. 35.) Die Verfasser meinen
selbst, dass sich die Definition besser geben Hesse. Gesagt ist mit diesem
kostbaren Beispiel von Tautologie, dass die Einheit des Volks auf der Ge-
meinsamkeit des Selbstbewusstseins beruhe. Welches aber der bestimmte
Inhalt dieses Selbstbewusstseins ist, der es bedingt, dass diese Menge grade
ein Volk, und nicht etwa eine Gemeinde, eine Provinz, eine Armee bildet,
das ist nicht angegeben. Und Religion, Sprache, Gesetz, Kunst sind wohl
Manifestationen dieses Bewusstseins der Einheit, machen aber die Einheit
keineswegs aus. Es bleibt also die Frage: was ist denn nun ein Volk? Das
Objekt der Völkerpsychologie ist keineswegs genau begränzt. Sie soll
überhaupt im Gegensatze zur individuellen Psychologie die Gesetze erforschen
in dem geistigen Leben einer Mehrheit von Menschen, die in irgend
einem Sinne geistig zusammengehören. Wir haben also ausser der Psy-
chologie der Völker und Staaten auch eine Psychologie der Clubs, der
Zünfte, der Akademien und vielleicht gar der Actiengesellschaften zu
erwarten.
In solchen Gemeinschaften wird eine eigne Seele und eigne seelische
Prozesse vorausgesetzt. Wer will denn aber an solch ein mystisches Wesen
glauben? Haben wir hier irgend mehr, als eine mythische Fiktion? Es
glebt eine allgemeine Form über allem individuellen Geistesleben, eine ideale
Slacht und Einheit, und man nennt sie wohl Nationalgeist. Aber wo ist
hier das Zeichen konkreter Existenz ? Es existiren die Individuen und ihre
Thätigkeiten und ihre Seelen. Alle diese einzelnen stehen in Wechsel-
wirkung des Gebens und Empfangens. Die Natur des Landes und die Tra-
dition der Vorfahren und die Gemeinschaft des Lebens und mehr als Alles
die ideale Form der nationalen Einheit, die der Einzelne nicht mit Be-
wusstsein, nur als Ahnung dunkel in seiner Seele trägt, deren Macht er
sich aber nicht entziehen kann, — alle diese schlagen die Brücke von dem
Einzelnen zum Einzelnen und machen aus der Summe von Individuen eine
geistige Einheit, aber doch auch nur eine geistige. Seele haben nur die
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 211
Individuen, wie nur diese einen körperlichen Organismus haben, und die
physisch bedingten Prozesse des Vorstellens, "Willens , Empfindens gehen
nur in den ludividuen vor sich. Jener gemeinsame Typus denkt nicht und
empfindet niclit. (4iebt. es eine Psychologie, die die Naturgesetze des Vor-
stellens erforscht, so giebt es doch in jedem Falle nur eine Psychologie des
Individuums. Sie könnte dahin erweitert werden, dass auch die Form der
Seelenthätigkeiten erforscht wird, welche im Individuum aus der Wech-
selwirkung mit den andern Individuen und aus den Beziehungen zu den all-
gemeinen Foi-men des nationalen Lebens entspringen. Aber eine Volksseele
und Prozesse einer solchen Seele giebt es nicht, also auch keine Wissen-
schaft derselben. Volksseele ist ein uneigentlicher Ausdruck, eine Metapher,
die man vorübergehend im Gleichniss wohl gebrauchen mag. Aber es ist
abenteuerlich, diese Metapher in bitterm Ernste zu nehmen und auf ihr eine
neue Wissenschaft zu begründen. Die Völkerpsychologie nimmt unter den
historisch - philosophischen Doktrinen etwa dieselbe Stellung ein, wie die
Pflanzengeographie des Mondes in der Astronomie oder die Ausmessung
des kreisrunden Quadrats in der Geometrie.
Die Völkerpsychologie hat also kein Objekt. Zu einer Wissenschaft
gehört aber zweitens auch eine Methode. Geben wir einmal zu, die grossen
Bewegungen des geschichtlichen Lebens Hessen sich auf die Prozesse der
Volksseelen zurückführen. Wie sollte man die letzeren erkennen? Die psy-
chologischen Anschauungen der Verftisser sind im AVesentlichen die Her-
bartischen. Es lasst sich über dergleichen nicht streiten. Die Thatsache
ist da: wie es Leute giebt, die an die Homöopathie glauben, so giebt es
andere, die auf die „Enge des Bewusstseins" schwören, obgleich wir doch
vergleichen und unterscheiden; die aus Strebungen, Hemmungen und Ver-
schmelzungen, Apperception und Verdichtung etc. die niedrigsten wie die
höchsten Erscheinungen des Geisteslebens, Wille und Gefühl, wie das Denken,
erklären zu können meinen. Und doch ist das von Anfang zu Ende eine
Avüste Bildersprache, bei der sich kaum etwas Vernünftiges denken lässt.
Die Mechanik der Körperwelt wird auf das geistige Gebiet angewandt, und
das absolut Inkommensurable in den Kalkül gezogen. Denn das ist der
S.ache wesenthch, so gern man auch das Rechnen bei Seite lasst, weil darin
<ler Widersinn der ganzen Betrachtungsweise am schreiendsten hervortritt.
Dagegen aber streiten wir nicht. Es könnte das sein Recht haben bei
der Betrachtung der individuellen Seele, es könnte manche ihrer Prozesse
verdeutlichen. Aber selbst dann wäre es noch immer dieseif^e Verkehrtheit,
diejenige Methode, deren eigentlichste Absicht es ist, alles Geistige in Me-
chanik zu verwandeln, auf die grossen Thatsachen der gescbiclitlichen Ent-
wicklung anzuwenden. Die erste Kategorie in dieser ist die Freiheit. Nie-
mand will die Naturbestimmtheit des Geistes leugnen Aber auch diese
maclit er durch freie Absicht zu seiner eignen That. Will man aber durch
die psycholonische Methode alle Erscheinungen des Geisteslebens auf die
Mechanik und den Causalnexus, auf die äusserlichste und he<j;riftloseste Noth-
wendigkeit zurückführen, so versündigt man sich auf das Scnreiendste gegen
die erste aller geistigen Bestimmungen: gegen die Freiheit. Was man nach
Gesetzen zu bestimmen unternimmt: man mag sich wenden, wie man will:
der Geist ist nicht das Objekt, das sich solchem Verfaiiren unterwerfen lässt;
der fügt sich unmöglich so geistlosem Thnn.
Schon in der äusseren Natur vermag das Gesetz keineswegs, den Inhalt
der Erscheinungen zu begreifen. Es verallgemeinert nur unsre Wahrnehmung,
es bestätigt uns, dass wir nichts Einzelnes als solches sehen ; dass das Ein-
zelne nur 'der besondere Fall eines Allgemeinen ist, und für dieses Allge-
meine statuirt es das Maass in der quantitativen Be.^^timratheit der Bedin-
gungen. So wird die Qualität der Erscheinung grade durch das Gesetz
aufgehohen; es gilt nur das Verhältnis» von Zahlen, und alle Veränderung
wird räumliche Bewegung. Was ist in den Schwingungszahlen des Licht-
14*
212 Beurtbeilungen und kurze Anzeigen.
äthers noch übrig geblieben von der Natur der Farbe, die wir sehen? Nur
wo das Einzelne das absolut Gleichgültige ist, hat das Gesetz einen Sinn.
Wo das Individuum grade das absolut "VVerthvolle ist, hat das Gesetz keine
Macht über dasselbe, das nicht bloss fordert, sondern zwingt. Ja, gesetzt,
es Hessen sich Gesetze aufstellen, so wären sie uns schlechthin gleichgültig
auf diesem Gebiet. Denn nicht um die Ursachen handelt es sich, sondern
um den Sinn der Erscheinungen, der nicht in der Art ihrer Abhängigkeit
von andern, sondern in ihrer selbstständigen Bedeutung liegt, die sie an
sich haben. Die Erforschung der Gesetze träfe also in keinem Falle den
eigentlichen Gegenstand unsrer Wissbegierde.
AVir gestehen: wir haben von je an vor der Psychologie ein eignes
Grauen empfunden. So sonderbar das ist, es sind nicht eben üble Männer, mit
denen wir eine solche Empfindung theilen. Zu wahrem Entsetzen steigert
sich dies Grauen dem blossen Namen der Völkerpsychologie gegenüber. Es
ist ein so ungeheuerer Begriff von so undeutlichen Umrissen; man kann sich
so viel und so wenig dabei denken ; die Phantasie hat einen so ungeheueren
Spielraum; das Oxymoron in dem Namen ist so pikant: dass ein hoher Grad
des Staunens gewiss natürlich ist. Freihch, wenn man die Sache genauer
kennen lernt, so erscheint sie um Vieles harmloser.
Es ist das die alte psychologische Flachheit, das angeborne Erbtheil
aller Mittelmässigkeit, die idealen Mächte, welche dem Leben und Dasein
des Menschengeschlechts den Inhalt geben, in tausendfacher Vermittlung
aus der Natur der Seele entspringen zu lassen. Das Verhältniss wird so
grade umgekehrt: das Bedingende wird zum Bedingten; das, was seiner
Natur nach thätige Substanz ist, zum Attribut seines Attributs. Nur dass
diesmal nicht freie Erfindsamkeit mit ihrer Willkühr, sondern in noch viel
missverständlicherer Weise die nothwendigen mechanischen Vorstellungs-
prozesse als Grund angesehen werden, welcher die Ideen erzeugen soll.
Solcher Irrthum liegt in diesen schwachmüthigen Zeiten in der Luft, wie
die Hypothese der Erfindung in dem Zeitalter der Popularphilosophie. Aber
nichtsdestoweniger, nur das stumpfeste Auge sieht nicht, dass er durch die
wissenschaftliche Bewegung des Gedankens längst überholt ist.
Der Unterschied zwischen den Anschauungen der Erfinder der Völker-
psychologie und dem, was als unzweifelhafter Gewinn unsrer historischen
und philosophischen Wissenschaften bisher galt, besteht in Folgendem:
1. Bisher glaubte man, dass die Ideen selbst ein eignes Leben führen in
dem Geiste der Menschen, und dass mit der innern Gliederung der Ideen
auch der nothwendige Prozess ihrer Entwicklung in der geschichtlichen Er-
scheinung gegeben ist, dass also die Vernunft der Dinge die Prozesse des
Menschengeists leite und bestimme. An die Stelle der innern, vernünftigen
Entwicklung der Ideen setzen die Verfasser die psychologische Thätigkeit
der Einzelnen und der Gesammtheit und überlassen daher den Inhalt dem
durch Causalzusammenhang nothwendigen, aber gegen den Begriff der
Sache zufälligen Spiele der Seelenprozesse. 2. Die Methode der Erkennt-
niss jenes idealen Inhalts bestand darin, dass man die symbohsche Bedeu-
tung der geschichtlichen Formen für den Ausdruck der geistigen Mächte
darzustellen versuchte. Das Aeussere ist Darstellungsmittei für das Innere,
und die herrschende Kategorie dieser Betrachtung ist der Zweck. Die
Verfasser suchen dasselbe auf das Gebiet der Ursachen zurückzuführen. Die
innere Nothwendigkeit des Organischen , wonach immer erzeugt wird , was
der Natur der Sache nach erzeugt werden musste, lässt die Freiheit in der
Entstehung bestehen und zeigt nur, dass alle freie Absicht zuletzt nach der
innern vernünftigen Ordnung der Dinge zustrebt. In der Betrachtungsweise
der Verfasser ist die Freiheit aufgehoben. Statt einer Erklärung geistiger
Prozesse geben sie uns daher höchstens physikalische Theorien. Sie spalten
Holz mit einem Strohhalm und ersticken das Feuer, indem sie ein Gewand
darüber breiten.
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 213
Die neue Wissenschaft der Völkerpsychologie hat daher weder ein Ob-
jekt, noch eine Methode, die an die Erkenntniss jenes Objekts heranreichte.
Sie ist wie jenes Messer ohne Stiel, dem die Klinge fehlt.
Aber naher besehen, ist die Volkerpsychologie nichts als ein neuer
tönender Name für eine alte Sache. Es ist der eigenthümliche Fortschritt
in der Geschichtswissenschaft dieses Jahrhunderts , dass es sich für uns in
der Geschichte nicht mehr um einzelne Individuen handelt, sondern um die
Entwicklung der Völker. Immer mehr tritt das Individuum in unsrer An-
schauungsweise zurück, so weit es nicht ein charaktcristisclier Träger der
nationalen Ideen ist. Unsre Geschichte ist einerseits Volksgeschichte, an-
drerseits die Erkenntniss, wie sich die idealen Lebensmächte Recht, Sprache,
Keligion, Kunst, AVissenschaft, Sitte in der Sphäre des Volkslebens ausge-
prägt und gestaltet haben, d. h. Kulturgeschichte. Wie unterscheidet sich
denn nun die Völkerpsychologie von der Kulturgeschichte? Eigentlich, bisher
wenigstens, nur durch den Anlauf und ,die Forderungen, im Verlauf aber bloss
durch den vielleicht vornehmer klingenden Namen. Alles, was wir in den Be-
reich der Kulturgeschichte zu ziehen gewohnt sind, tritt auch in die Völkerpsy-
chologie ein. Es gilt, zu erforschen, wie sich in den geschichtlichen That-
sachen des Völkerlebens die innere geistige Anlage der Gesammtheit aus-,
drückt. Die Völkerpsychologie möchte diesen ganzen Kreis von Erschei-
nungen auf seine abstrakteste Formel reduziren und diese allgemeinsten
Gesetze aus dem nothwendigen Verlauf der Vorstellungsprozesse einer Ge-
sammtseele ableiten. Aber es ist zu einer Ausführung dieses Gedankens
auch noch nicht im entferntesten ein Anlauf genommen, und wir müssen
zweifeln, ob es überhaupt einen Weg giebt, der Gesammtseele auf die Spur
zu kommen und jenes phantastische, traumhafte Projekt der Aurführung
näher zu bringen. Natürlich wünschen wir, durch eine wirkliche Leistung
dessen, was wir als unmöglich bezeichnen, widerlegt zu werden. Aber wie
sich die Hefte der Zeitschrift für Völkerpsychologie bis jetzt ])räsentiren,
enthalten sie ausser der Einleitung nichts , was nicht in einer Zeitschrift
für Kulturgeschichte eben so wohl stehen könnte. An irgend eine abstrakte
Grundlegung ist wenigstens im Mindesten nicht zu denken. So ungeeignet
daher der Titel an sich ist, so unpassend ist er in Bezug auf das bisher
Gebotene.
Aber wir müssen auch die Einrichtung der Zeitschrift als durchaus
unpraktisch bezeichnen. Die Zeitschrift nennt sich „für Völkerpsychologie
und Sprachwissenschaft." In der That, — und das i^t keineswegs von
den Verfassern zuerst ausgesprochen worden, — ist die Sprache die innerste
Manifestation des Volksgeistes und darf daher eine besondre Berücksichtigung
in Anspruch nehmen als wichtigste Quelle völkerps3'chologisclier Tliatsachen.
Aber wir denken, die Sprachwissenschaft ist für sich selbst so umfangreich,
ilass sie nicht nebenbei auch noch einen Theil einer Zeitschritt füllen kann,
ohne weniger als das dilettantischste Bedürfniss zu befriedigen. Und welchen
Umfang hat die Völkerpsychologie schon an sich! Im Grunde ist nichts
von ihr ausgeschlossen: denn zuletzt steht alles Studium zur Erkenntniss
des Volksgeistes in natürlicher Beziehung. Alles geistige Streben und alles
Geschehen geht auf dem Grunde des Volkslebens vor, und die Naturwissen-
schaften beschäftigen sich nur mit der Erkenntniss der natürlichen Bedin-
gungen, unter denen die Völker auf Erden lel)en. So soll denn die Zeit-
schrift nach dem Plane mehr nicht als bloss Folgendes umfassen: ., [.Abhand-
lungen, welche die Erforschung und Aufstellung von völkerpsychologischen
(icsetzen auf dem (irunde von ge<.'fl)eneu Tliatsachen bezwecken, gh'ichviel
ob das Gesetz die psychische Einheit einer Nation oder aber eines Staates
oder einer andern geistigen Gemeinschaft und Einheit betriö"t;(!)
2. Darstellungen von historischen, ethnologischen oder geographischen
Thatsachen (!), dergestalt dass sie die Erkenntniss von allgemeinen psycho-
logischen Gesetzen veranlassen oder unterstützen können. 3. Ueber Werke,
214 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
welche unmittelbar Gegenstände unsrer Wissenschaft zum Inhalt haben,
sollen Berichte und Urtheile geliefert werden ; aber auch auf solche Schriften,
welche zu den Hilfsquellen derselben gehören und sich darum mittelbar
auf sie beziehen , soll hingewiesen werden" etc. Das ist aber noch nicht
alles. Zum Besten der Sprachwissenschaft kommt dazu noch: „1. Allge-
meine sprachwissenschaftliche Aufsätze, in welchen etc. 2. übersichtHche
Darstellungen eigenthümlicher Spraehbildungen, Charakteristiken der ver-
schiedenen Sprachstämme oder einzelner Sprachen oder auch besonderer
Gruppen von Formen, wie z. B. verbale ]<'ormen u. s. w. .3. Endlich Be-
sprechungen solcher Schriften, welche entweder auf dasselbe Ziel wie wir
absichtlich hinsteuern oder zu demselben hinführen etc." Nicht wahr, das
heisst doch ein Jagdgebiet, wie es sich nur ein Indianer wünschen kann!
Und das sich in dieser hochcivilisirten Zeit, wo Alles künstlich umhegt ist
und jeder Zollbreit Landes seinen eignen Herrn hat, mitten unter der Ge-
sellschaft, die nur durch Theilung der Arbeit besteht, zu beschaffen, das
ist doch ein Kunststück!
Und in wie verwegenem Sinne die Verfasser dieses grossartige Projekt
eines unbegrenzten Sammelsurium , eines Sprechsaales für alles Mögliche
und noch einiges andere ausführen, davon zeugt gleich das erste Heft.
Da finden wir ausser „einleitenden Gedanken über Völkerpsychologie" und
einer Abhandlung über die unpersönlichen Zeitwörter Anzeigen von „Riehl,
<iie Volkskunde als Wissenschaft," von Duncker's Vortrag über Feudalität
und Aristokratie, von einer Festrede von Boeckh über das Verhältniss des
Volksthümlichen und Dynastischen.
Trotz alledem: Die Verfasser haben ehrenwerthe Mitarbeiter, und aus
der Zeitschrift könnte etwas werden. Entschliessen sie sich dazu, den In-
halt mehr zu konzentriren ; beschränken sie sich etwa auf Studien über
den Zusammenhang der sprachlichen Erscheinungen mit den
Innern Anlagen und dem geschichtlichen Leben der Völker:
so mag der absonderliche Titel nicht schaden, und ein solches Unternehmen
kann ein höchst förderliches sein. Denn mit Entschiedenheit nach dieser
Richtung ist noch Keiner vorwärts gegangen, und die Verfasser haben Recht,
von solchen Studien interessante Resultate zu erwarten.
Aber freilich müssten diese sprachlichen Forschungen auch noch in
anderer AVeise betrieben werden, als sie Dr. Steinthal in den bisher er-
schienenen Heften betrieben hat. Wir wollen schliesslich noch davon sprechen.
Herr Dr. Steinthal zeichnet sich durch nichts so sehr aus, als durch
die erbitterte Bekämpfung des Standpunkts, der in der Architektonik der
Sprache die leibgewordene Logik sieht. Trotzdem kommt es in dem Auf-
satze über die unpersönlichen Zeitwörter (Heft I., p. 73) wenigstens zu
keinem Resultate, das nicht die „organische" Hypothese längst gehabt hätte.
Dass keine Thätigkeit ohne ein thätiges Sein gedacht oder sprachlich aus-
gedrückt werden kann, und dass dieses thätige Sein ursprünglich als Person
vorgestellt wird, darf man Herrn Steinthal in jedem Sinne zugestehen. Ganz
originelle Resultate dagegen ergeben sich in der längeren Abhandlung des-
selben Verfassers über die Assimilation und Attraktion (Heft II., p. 91).
Schon die Gleichstellung dieser beiden Begriffe entspricht der Sache nicht.
Eine gewisse Analogie lässt sich wohl behaupten in Fällen, wie die grie-
chische Attraktion des Relativs; aber Herr Steiuthal nimmt auch solche
Metaphern viel zu ernst. Was haben Fälle, wo das Wort, das wir in den
Hauptsatz stellen, in den alten Sprachen im Nebensatz steht mit der Assi-
milation zu thun? Und doch werden sie als Beispiele der Attraktion an-
geführt. Der Verfasser giebt sich nun Mühe, die Erscheinungen der laut-
lichen Assimilation auf psychische Gesetze zurückzuführen. Nun leidet aber
seine Entwicklung an einer, für uns wenigstens, schier unleidlichen Breite
und Ausführlichkeit, bei der man Seiten lang nicht vom Fleck kommt. Die
Erhabenheit des Standpunkts, von dem der Verfasser die sprachlichen
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 215
Erscheinungen betrachtet, offenbart sich auch in mancherlei angeführtem
Detail, von Köchinnen, die „Morim" statt „Mohrrüben" schreiben, von ver-
kannten Aschbechern, von Freunden , die die Gabe des freien Vortrags in
so hohem Grade besitzen , dass sie die abgerundetsten Perioden drechsehi,
ohne ein Bewusstsein von solchem ihrem Thun zu haben , von den Erleb-
nissen des Verfassers, als er einst auf Sprichwörter Jagd machte. Solcherlei
ist keineswegs gleichgültig, sondern ein Beleg für die eigenthümliche Grösse
der Anschauungsweise des Verfassers.
Der Verfasser leugnet nun zunächst, dass die Assimilation auf rein
physiologischen Beschaffenheiten der Sprachwerkzeuge beruhe: nur aus psy-
chischen Gesetzen lasse sie sich genügend erklären. Und nun gilt das
Wort als eine Reihe von Lauten! und nun müssen wir, um eines Wortes
uns zu erinnern, uns erst alle seine einzelnen Bestandtheile reproduziren !
So müssten wir also auch, um einen Freund wiederzuerkennen, erst alle die
unendlichen Einzelheiten der körperlichen Erscheinung, wie sie in unsrer
Erinnerung haften, stückweise mit dem vergleichen, was wir in Wirklich-
keit vorfinden! und würden also in endlicher Zeit nicht damit zu Stande
kommen! Und die in der Assimilation erscheinende Verschmelzung der
Laute ist also in Wahrheit ein Gedächtnissfehler, eine mangelliafte Repro-
duktion. (Heft IL, p. 138.) Und wenn denn doch diese Verschmelzung ein
Gesetz ist, warum tritt sie einmal ein und unterbleibt das andre Mai? Ist
das ein Gesetz , das unter gegebenen Bedingungen nicht Nothwendiges
schafft? Die allgemeinen psychischen Verhältnisse, wie sie Herr Steintiial
entwickelt, sind ferner für alle Menschen gleich. Woher kommt denn doch
das verschiedene Verhalten der einzelnen Sprachen zu dem durch psycho-
logische Gesetze NothwendigenV Es ist das derselbe Fehler Becker's, der
über die logisch gleiche Grundlage alles Sprachbaues vergessen hat anzu-
geben, aus welchem Prinzip sich nun die geschichtlich gegebene Verschie-
denheit in dem Bau der einzelnen Sprachen erklären lässt. — Und nun erst
die Erklärung der Attraktion! Auch der Satz ist ganz antediluvianisch eine
Reihe von Worten, die in ähnlicher Weise reproduzirt werden, wie die
Laute eines Wortes. Um die allgemeinen psychischen Gesetze darzustellen,
auf denen die sprachliche Erscheinung der Attraktion beruht, zeigt der Ver-
fasser an einer Reihe von einzelnen Fällen, me ein gewisses Wort nach der
Natur dieser Fälle sich an eine beson<lers wichtige Stelle gedrängt habe!
Ist denn die Attraktion ein Ergebniss der einzelnen Stellen und ihres Sinnes,
wie lassen sich über sie allgemeine psychische Gesetze geben ? So gewinnt
man höchstens eine Gruppe gleichartiger Anomalien. Und mit welchem
seltsamen Bombast wird das Vordrängen eines Begriff's an eine ihm eigent-
lich nicht gebührende Stelle geschildert! Man sehe der Kuriosität wegen
p. 148 — 150, p. 158, 15S, 161, U;7. Zugleich aber will der Verfasser die
Attraktion weder für Anomalie, noch für das Erzeugniss bewusster stylisti-
scher Kunst gelten lassen. Stylistische Kunst ist al)er selbstverständlich
nicht durchgängig bewusst , sondern beruht auf dem Talent leichter Erreg-
barkeit, die ganz im Gegenstande zu leben vermag und dem Zuge d.^r Be-
griffe mit Leichtigkeit folgt. Ist die Attraktion also nicht bewusste Kunst,
so kann sie doch immer das Zeichen des stylistischen Talentes sein und aus
der eigenthumhchen Begabung des Individuums Iblgen, das die allgemeinen
Formen des sprachlichen Organismus seiner Empfindungsweise anpas.-t. Nun
bezeichnet aber der Verfasser eine Reihe von Krscheinnngen als Attraktion,
die nur vom Standpunkte des deutschen Sprachgebrauchs aus so erscheinen,
Ttnvras ovtoi vö/ioi sloiv or^ ro -n'/.Tjd-os tygaxff , alle iliese (nämlich Ge-
setze) sind Gesetze, erscheint auff'ällij: nur dem deutschen «dies" gegenüber.
Nur von demselben Standpunkt aus kann die Wortstellung: quam quisque
norit arteni, in hac se exerceat auffallig erscheinen u. s.w. Das ist also eine
Analogie zu Beckers Art, die deutsche Sprache nh die absolute, als die
verwiÄlicbte Sprachidee zu betrachten und nach ihr die andern Sprachen
216 Beui-theilungen und kurze Anzeigen.
zu messen. Jedenfalls ein seltsames Zusammentreffen mit dem angefeindeten
Urheber des „Organismus." Ueberhaupt aber: werrlen gewisse sprachliche
Ersclieinungen , als Attraktion, d. h. als etwas Auffälliges herausgehoben,
so wird damit zugestanden, dass sie als Ausnahme gegen eine Regel Ver-
stössen. Und diese Regel, was kann sie anders sein, als der einfache Aus-
druck des logischen Verhältnisses der Begriffe? Es können also besondre
psychische Prozesse Ausnahmen begründen. Aber grade dadurch wird ja
das Logische als die Regel, als die Grundform der Sprache zugegeben, eben
das, wogegen der Verfasser am heftigsten streitet. Dass aber psychische
Erregung im Stande ist, den logischen Bau der Sprache zu unterbrechen, das
wird der euragirteste Anhänger der logisch organischen Theorie nicht leugnen.
Zur Grundlegung seiner psychologischen Theorie hat der Verfasser die schöne
Hypothese „schwingender Vorstellungen" erfunden: „eine Erregtheit dei
nicht im Bewusstsein sich befindenden Vorstellungen, welche dadurch ver-
anlasst wird, dass eine lange Reihe oder Kette von Vorstellungen durch
Irgend eine Ursache in das Bewusstsein gehoben ist, ohne dass sie sich hier,
wegen der Enge des Bewusstseins, vollständig entwickeln könnte. Dann
werden einzelne wenige Glieder jener Kette bewusst ssin, während andere,
besonders vorangehende, aber auch folgende, unter dem Bewusstsein bleiben
werden, aber natürhch nicht ruhig." „Zappelnde" Vorstellungen also wäre
besser gesagt. Dabei denke sich etwas , wer's kann. Wir möchten meinen,
dass des Verfassers Theorie der Attraktion selbst ein Beleg für die „schwin-
genden Vorstellungen" sei. — Wenn die psychologische Betrachtung der
Sprache nichts Besseres zu proiluziren vermag, so würde es leicht werden,
sie zu entbehren.
Lassen.
Gedichte von Heinrich Pröhle. Leipzig. Verlag von Gustav
Gräbner. 1859.
In einer Zeit industrieller Erfindungen und praktischer Schöpfungen,
einer Zeit, die vom Stoff' und vom Bedürfniss beherrscht wird, kann die
Dichtkunst keine guten Tage haben; sie muss naturgemäss mehr als je ein
fremder Gast auf Erden, mehr als je ein schönes Jenseitige sein, dessen
AVi^nderfüUe mehr geahnt, als lebenskräftig empfunden und tief ergreifend
erfahren wird. Jene Ahnung poetischer Schönheitswunder ist der Vater des
Mäcenatenthums, das im Mutterschoosse materiellen Behagens und höfischen
Glanzes zur Reife getragen wird. Aber das Mäcenatenthum des materiellen
Behagens ist unbehaglich und nichts weniger als fördernd für die poetische
Kunst, weil es durch die Natur seiner Ansprüche den Dichter stets zum
dienenden Gelegenheitsdichter herabsetzen wird-, ja wir dürfen behaupten,
alle Beispiele erspriesshchen Mäcenatenthums lassen sich auf das eine Ver-
hältniss zurückführen des poetischen Mögens zum poetischen Vermögen,
des dichterischen Sinns zur dichterischen Schöpferkraft, der Svva/u,is zur
evsQysia. Mit andern Worten, der Mäcen muss selbst ein Dichter sein, der
Reception, der Reproduction , ja der Anfänge poetischer Gestaltung fähig
und an der Vollendung dieser nur durch eigne Schwäche oder durch fremde
Schuld gehindert. So bedurfte Mäcenas selbst der gestaltenden Kraft des
Horaz, um seine eigne Poesie, die sich nur zu schnell zerfliessenden
Wellenpulsen zusammenzuraffen wusste, in feste Formen gebracht zu sehen.
So Hessen die hohenstaufigchen , babenbergischen, thüringischen und andre
deutsche Fürsten den Hoch- und Feinsinn ihres höfischen und ritterlichen
Lebens im Minnegesang und im Kunstepos ausprägen, oft auch nur mit
ausprägen, weil sie selbst als Sänger auftraten. So endlich musste Goethe
Beurtheilungen und k^irze Anzeigen. 217
ilen stürmischen Drang seines genialen Herzogs poetisch entbinden und
verklären.
Diese geistig ebenbürtigen Mäcene können in einer vorherrschend ma-
terialistischen Zeit nur seltene Vögel sein, und darum ist es ein Glück, dass
der so protegirten Dichter nicht zu viele sind. Die nicht protegirten zer-
fallen in zwei Ivlassen : die einen leben von ihren Erzeugnissen, die andern
verwerlhen ihre Nebenstunden mit Poesie und poetischen Versuchen. Eine
dritte und höchste Khisse mag ziemlich ausgestorben ?ein; das sind die-
jenigen, welche im wahren und vollen Siune des Worts für die Dichtkunst
leben. Sidb.st Lenau, der nichts vom Leben wollte als dichten, konnte be.«ser
sterben für die Poesie, als er für sie zu leben wusste; er gewann die dich-
terischen Impulse und Auschauungen durch Aufreibung seines Organismus,
er „macerirte" sich, wie er selbst in einem Briefe sagt, um ein schönes
Gedicht zu machen. Hieraus erklärt sich Ton und Stimmung in Lenau's
Gedichten; aber wir wollen nicht verkennen, dass jeder Dichter, dem es
wahrer Lebenszweck und Lebensernst ist um die Poesie, und dem es so
unmögHch fällt, den e]>ischen Geist zu beschwören, wie Lenau, sich durch
die Poesie aufreiben wird und muss, wenn er nicht in reiehbewegter, voll-
begeisterter Zeit sich von dem hohen Strome tragen lässt. Lohenstein sagt,
nur dichten können sei so gut, wie ein Kleid bloss von Spitzen tragen, und
jeder Dichter der schlesischen Zeit hätte es mit ihm sagen können, denn
für eine Epoche, wo die Dichtung nur ein Spiel des Verstandes und ein
sprachlicher Zierrat war, hat das Wort seine volle 'Wahrheit. Bei unsern
heutigen Lyrikern, wenn wir das Wort auf sie anwenden wollten, hätten die
Spitzen eine andre Bedeutung, es wären Dorn- und Dolchspitzen, mit denen
sie sich hundert und tausendfach die Lebensader öflnen, um ihr eigen Herz-
blut fliessen [zu sehen. Wer uns nur seine „überflüssigen Gedanken,"
wer uns „Rosen, Himmelschlüsseln und Hyacinthen ," wer uns „Tände-
leien" oder „Kleinigkeiten" bietet, den rechnen wir nicht mehr zu den
Dichtern. Und ist nun die Zeit arm an poetischen Impulsen , was bleibt
da dem Lyriker anders, als er selbst, als sein individueller Geist, den
er immer wieder aufstacheln, immer wieder reizen rauss, nicht Stoße zu ge-
stalten, sondern rein aus sich heraus zu schaffen. Der Epiker, der
Dramatiker, überhaupt jeder Dichter, der zum Stofle noch ein Verhältniss
hat, findet an diesem einen Halt, findet im Ringen mit dem Stoff dieselbe
Erkräftigung und Erfrischung, dieselbe Erhöhunji des Selbstbewusstseins,
welche dem Menschen der Kampf mit dem Leben und seinen feindlichen
Gewalten giebt. Unsere Gefuhlslyriker , welche diesen Wiederhalt und Ge-
gensatz am StolTe nicht haben, hören auf zu singen, wenn die Wogen ju-
gendlicher Empfindung minder hoch zu gehen anfangen, oder sie reiben sich
auf, wie Lenau, Hölderlin, Heine, auch Bürger und schon Günther sich
aufgerieben haben. Nicht durch ihr Leben, wie man mir in Betreff mehrerer
von diesen entgegnen könnte, nein durch ihr Dichten haben sie sich aufge-
rieben, weil sie den Gegenstand und Gegensatz, den sonst der Stoff giebt,
stets in sich selbst erzeugen mussten und so in sehnlicher Selbstbeschauung
und wolhustigpin Selbstgeniiss zu Grunde gingen. Der Conflict muss sein,
sie schufen ihn in sich, und ihr edleres Theil rieb das unedlere auf
Der Brotdichter, wenn es wirklich solche giebt, und der Dichter der
Nebenstunden sind vor diesem Schicksal sicher; der erstere, weil ja die Er-
haltung seiner Existenz eben sein Zweck ist, der andere, weil er die Dich-
tung zu seiiitm Privatvergnügen herabsetzt, zu einem Erholungsmittel, einem
Spaziergang, bei dem der Geist einmal die Arbeitslast abwirft und seine
Glieder in harmonischer Freiheit zu bewegen sucht. Natürlich gehorchen
die Glieder nicht immer, denn sie sind an Last gewöhnt: da ist hier eine
Wendung oteif, da eine Bewegung ohne Anmutli, dort ein Schritt ohne
Schwung: mit einem Wort, der Geist, welcher der AValirheit der Wissen-
schaft öder der Nützlichkeit im praktischen Leben so lange gedient hat,
218 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
kann nicht so ohne Weiteres hineinspringen in die Welt des Schönen, die
andre Gesetze, aber eben auch Gesetze hat, welche ganz angeeignet, ganz
unser Fleisch und Blut werden müssen, wenn wir Schönes schaffen wollen.
Pröhle ist ein Dichter der Nebenstunden. Der Abfall von seiner Zeit
und grossentheils der Abfall von seinen Studien ist in Gedichten verwerthet :
den Eindruck verliert man nur bei einem oder dem anderen seiner erzäh-
lenden Gedichte. Es hat nicht die Vollkraft eines gesammelten Geistes im
tiefen Mutterschoosse des Gemütlies die Stoffe umgeschaffen und wiederge-
boren, sondern der unüberwundene Stoff ist mit metrischem und klingendem
Zierrat versehen, also es ist mehr versificirt und gereimt als gedichtet.
Nro. 1. „Die Osterjungfrau" ist nach Prölile's Harzsagen S. 161 ge-
macht. In den drei ersten Strophen ist die poetische That des Verfassers,
dass er an die Stelle des Ritters in der Sage „Ich" gesetzt hat. In dem
Folgenden heisst die poetische That Combination, Combination mit der
Sage von der Wunderblume, vor der sich alle Wunderschätze und Geheim-
nisse des Gebirges offenbaren. Diese Combination ist nicht ungeschickt, da
der Verfasser in der That die Schätze des Harzes in sehr verdienstlicher
Weise gehoben hat, und so mag das Gedicht als recht passende Einführung
gelten. Aber es Ist eben der Nebenzweck , der das Gedicht hebt , es ist
ein gutes Gelegenheitsgedicht.
Nro. 2. „Kaiserwoort" gehört zu den besterzählten. Die Sage an und
für sich ist anmuthig und patriotisch anregend. Die Fiction des Dichters,
dass der ^Virth in der Kaiserwoort seinem Gaste oder seinen Gästen bei der
Flasche die Sage erzählt, ist recht glücklich, führt aber zuletzt zu einem
toastartigen Schluss, wodurch das Gedicht seine Einheit verliert. Der erste
Vers: „Noch eine Flasche gebt heraus" erweckt die Vorstellung, als raffte
sich der Sprecher zu etwas Schwerem, Gewaltigem zusammen, es frappirt
daher der zweite V^ers mit seinem friedlichen „Herr Wirth, und sagt, wer
schuf dies Haus." Wenn ein schweres Sciieiden , ein Gang in die Schlacht
so eingeleitet wäre, würde man es vielleicht natürlicher finden.
Nro. 3. „Der Kaiserbrunnen" ist mehr aus einem Guss, doch fehlt es
an Einheit der Anschauungen.
„Die Auswanderer" sind wirklich ein schönes Gedicht; es spricht nicht
bloss eine Stimmung des Verfassers, es spricht zugleich eine allgemeine
krankhafte Zeitstimmung aus und legt sich uns deshalb erschütternd ans
Herz. Der vaterländische Sinn, der sonst durch das ganze Büchlein geht,
bildet eine schöne Folie für dies Gedicht. Es erschüttert uns tief, dass selbst
in die einsame Dichterzelle eines so patriotischen Sängers der Wanderruf:
„Wer kommt mit?" hineintönen konnte.
Im allgemeinen: je weniger die Gedichte mit dem Stoffe zu tbun haben,
desto besser sind sie. Stoffe sich zu assimiliren und dann als eignes Herz-
blut wiederzugeben, hat der Dichter der Nebenstundun keine Zeit; solche
Früchte reifen still langsam, während Gedanke und Empfindung, oft
in Verse gestiefelt und mit Reimen gespornt, plötzlich aus dem Menschen-
hirne springen, wie ihre Patronin Ajthene aus dem Haupte des Zeus. Es
ist daher viel leichter, in diesen lyrischen Kurzwaareu etwas Rundes, in sich
Vollendetes zu schaffen, als in der epischen Lyrik, und wenn wir eben dem
Dichter aus Passion eine möglichst nahe Beziehung zum Stoff gewünscht
haben, so dürfte sich dagegen für die Dichter der Nebenstunden die Maxime
empfehlen, mit poetischer Schöpfung zu warten, bis der Impuls dazu drängt.
Sonst wird er unfehlbar in dieses fatale Machen gerathen, gegen welches
die deutsche Welt seit Goethe sehr empfindlich ist. Man will jetzt gewach-
sene Gedichte, und trotz der Vorrede des Dichters kann ich diesen Cha-
rakter nur in den lyrischen Gedichten Pröhle's und auch da nicht überall
finden.
Wohlthuend ist, abgesehen von allem poetischen Schaffen und Gestalten,
Beurtheilungcn und kurze Anzeigen. 219
der patriotische Sinn, der dem ganzen Büchlein als gemeinsamer Grund
unterliegt.
Gleichzeitig liegt mir noch ein zweites Buch von Pröhle zur Beur-
iheilung vor:
Feldgarben. ßeitiäge zur Kirchengeschichte, Literaturgeschichte
und Culturgeschichte. Leipzig. Verlag von Gust. Graebner.
Der Titel kennzeichnet das Buch gut, wenn gleich der Singular nofh
besser wäre. Es ist eine auf verschiedenen Feldern gesammelte Garbe,
aus der das Korn noch nicht gedroschen, geschweige denn das Brodt ge-
backen ist, dass aber Korn darin ist, kann nicht geleugnet werden. Das
Buch, die Garbe ist nun dadurch entstanden , dass Verfasser die einzelnen
Aehren, die er früher gefunden und zerstreut in Zeitschriften aufgehoben
hatte, äusserhch zusammengebunden hat. "Wenn diese Art, ein Buch zu
Stande zu bringen, einer Entschuldigung bedürfen sollte, so glaube ich,
Verfasser würde sich behufs einer solchen auf das vnn Varnhagen zu ihm
gesprochene 'Wort berufen, das er p. 474 mittheilt, das "Wort: „Ja, ja,
■wenn man etwas recht verstecken will, braucht man es nur in einem Jour-
nal abdrucken zu lassen."
Die erstere Hälfte des Buches bildet eine Darstellung der kirchlichen
Bewegungen in der Provinz Sachsen seit den vierziger Jahren und ist auch
selbständig ohne Angabe des Verfassers erschienen unter dem Titel: „Pro-
testantische Freunde und freie Gemeinden m der Provinz Sachsen." Auch
die zweite Abhandlung „Johann Christian Edelmann," hat noch vor-
herrschend kirchengeschichtliches Interesse, und du diese Zeitschritt einem
solchen nicht zu dienen hit, müssen wir uns mit der Bemerkung begnügen,
dass beide Abhand hingen für jeden Gebildeten höchst le.senswerth sind.
Indessen constatire ich auch hier wieder die mehrgerügte Methode des so
zu sagen stofflichen Aphorismus.
Die folgenden Aufsätze enthalten so mannigfaltige literar- und cultur-
historische Notizen, dass sie in einer Anzeige füglich nicht charakterisirt
■werden können. Mit besonderem Interesse habe ich die mythologischen
Sachen, darunter die Briete von J. W. Wolf, und das Reisegespräch Fried-
richs des Grossen nach Gleim gelesen.
Altes Gold. Deutsche Sprichwörter und Redensarten nebst
einem iVnhange. Gesammelt und herausgegeben von W.
L obren gel, Lehrer. Clausthal, Vei'lag der Grosse'schen
Buchhandlung. 1860. (VIL und S3.) kl. 8.
Der Titel des kleinen Buches ist gut gewählt, doch mehr in Bezug auf
die Bedeutung des Sprichworts selbst, als zur Bezeichnung <ier hier ge-
botenen Sammlung; denn es befinden sich in derselben auch viele aus dem
frischen Quell der Gegenwart genouunene neuere Sprichwörter und Redens-
arten in niederdeutscher und Oberharzer Mundart. Vorherrschend gibt der
Verfasser meist ältere, mehr oder weniger schon bekannte hochdeutsche
Sprichwörter; es wäre indessen jisdenfalls besser gewesen, wenn er die aus
dem Volksmunde oder aus dem Dialekte gesammelten Sprichwörter allein
gestellt und so eine klarere Uebersicht dessen gegeben hätte, was der Ober-
harz an sprichwörtlichen Eigenthiünlichkeiten und bemerkenswertiier Fassung
einzelner Sprichwörter bietet. Auch hätte er die Begriffe „Sprichwort"
und „sprichwörtliche Redensart" schärfer begränzen sollen, denn unter den
220 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
525 sprichwörtlichen und bildlichen Redensarten befinden sich viele wirk-
liche Sprichwörter, vgl. Nro. 93. 118. 131. 172. 173. 175. 298. 4'27. 478 etc.
Der Anhang enthält: eine kleine Sammlung synonymer Sprichwörter, über
den Ursprung einiger Sprichwörter und Kedensarten, einige Sprichwörter
mit Auslegung und zuletzt Wort- und Sinnerklärungen; — bietet aber durch-
iius nichts Neues. Das Büchlein ist trotz dieser Ausstellungen mit seinen
925 Sprichwörtern immer ein dankenswerther Beitrag für das seit Kurzem
neu angeregte Studium der deutschen Mundarten und hilft eine kleine Lücke
in der Reihe der landschaftlichen SprichwörtersaiTimlungen ausfüllen, deren
wir jetzt folgende besitzen: niederdeutsihe (Dortmund, 1800. — Schütze
holst. Idiot. 1800 — Goldschmidt, holst. 1847.— Schambach, Götting. iS.il
— Raabe, Mecklbg. 18.t4 - Musaeus und Günther, 1854 — Lübben, 1855
— Höfer, 1856— Eichwald, 1860 — ), Trierische i Laven, 1858), Meursische
(]84C), vonderEifel (Schmitz, 1853), elsässische (Stöber, 1842), waldeckische
(Curtze, 1860), schwäbische (1780), schweizerische (Kirchhofer, 1824), bas-
leiische (1857), bairische (Zaupser, 1789. Meyer, 1812). hennebergische
(1803. Spiess, 1855), meininger (Schleicher, 1857), schlesische (Robinson,
1720), preussische (Pisanski, 1760), und niederländische (Willems, 182G.
Scheltema, 1826 — 31. Harrebomde, 1853).
C. Schulze.
Grammatik der italienischen Sprache. Nebst einem Abriss der
itnlienischen Metrik. Von Julius Wisigers und Moritz Wiggers.
Hamburg, HofFmann und Campe. ''1859. 8«. S. XVI, 448.
Die italienische Grammatik hiit sich weit weniger als die französische
und englische einer wissenschaftlichen Behandlung zu erfreuen gehabt. Die
Theilnahme für dieselbe ist in unserm nördlichen Deutschland immer noch
zu spärlich, als dass es hätte gelingen können, sie von jener eingewurzelten
Oberflächlichkeit zu befreien, welche sich damit begnügt, dem sogenannten
praktischen Bedürfnisse zu dienen, aber die Mühe scheut, den Stoff und Kern
der Sprache selbst zu untersuchen.
Um so mehr muss man eine Arbeit willkommen heissen wie die vor-
liegende, welche dahin strebt, die italienische Sprachlehre — nach den
Worten der Vorrede — aus der Sphäre des Mechanischen auf eine wissen-
schaftliche Stufe zu erheben und ihr dadurch zugleich, wie mit Recht
hinzugesetzt wird, die wahre praktische Brauchbarkeit zu verleihen.
Hier wiederholen sich nicht jene der Geschichte widersprechenden Be-
hauptungen von dem absonderlichen Wohlklange, unter dessen Einflüsse sich
die italienische Sprache gebildet haben solle; hier wird der Artikel nicht für
ein Geschlechtszeichen ausgegeben; hier werden nicht unverstandene Wort-
verbindunficn durch den Nothbehelf absurder Ellipsen erklärt, hier wird nicht
von Füllwörtern gefabelt — und was man dergleichen sonst noch in den
gewöhnlichen Lehrbüchern antrifft.
Im Gegentheil sieht man hier zu seiner Befriedigung manches alte Vor-
urtheil beseitigt, wie z. B. da?s der Comparativ durch Hinzufügung des Ar-
tikels zu einem Superlativ werde, dass den possessiven Fürwörtern der Artikel
nothwendig sei, dass das reflexive Fürwort si „man" heisse, dass die Nega-
tionen nulla und niente auch „Etwas" bedeuten, dass der Luperativ auch
Formen für die dritte Person habe, dass die Verba fare und dire zur ersten
und dritten Conjugation gehören statt zur zweiten u. s. f.
Als besonders wohlgelungen verdienen bezeichnet zu werden: die Dar-
stellung der Fürwörter, deren oft sehr verdunkelte Formen überdies in den
hinzugefügten lateinischen Urformen ihre willkommene Erklärung finden ; die
ßeurtheilungen und kurze Anzeigen. 221
Behandlung der um-egelmässigen Verba, deren abweichende Bildung mit rich-
tiger Einsicht auf den Charakter oder Endconsonanten der Stammsylbe zu-
rückgeführt wird; die Besprechung der Zeitformen, der Zeitfolge, des Con-
junctivs und des Gerundiums, die einen Haupttheil der Syntax ausmacht.
Denn diese, die Syntax, ist mit Recht von der Formenlehre unterschieden
worden, mit der sie bisher in eben so ungerechter als störender Weise ver-
mengt zu werden pflegte.
Die Darstellungsweise ist durchaus einfach und gediegen zu nennen.
Man sieht ihr die gründlichen Studien an, welche dem Gegenstande gewidmet
worden, und so wird sie auch nicht verfehlen, dem Lernenden überall die
klare und richtige Auffassung des Vorgetragenen zu erleichtern.
Im Ganzen und Wesentlichen muss sich daher die Kritik, auch wenn sie
Strenge üben will, mit dem hier (ieleisteten einverstanden erklären. Doch
sei es erlaubt, auch auf Einiges hinzuweisen, was einer Berichtigung oder
schärferen Bestimmung fähig oder bedürftig erscheint.
Hierzu gehören vor Allem die Lautverhältnisse, die, obwohl in der
Hauptsache gut und einsichtsvoll behandelt, doch hie und da noch sorgfältiger
in Acht zu nehmen gewesen wären. So lautet z. B. die Consunantverbindung
gn (S. 4) wie nj nicht nur „in der Mitte von Wörtern," wie in di-in Bei-
spiele ignudo, sondern auch am Anfange derselben, wie in dem abgekürzten
gnudo oder in gnucca, gnacchera u. a. — S. 233 werden die Verba auf
gliere (cogliere etc.) als auf iere ausgehend betrachtet; aber das i ist hier
nicht Bestandtheil der P^ndung und überhaupt ohne eigentlichen Buchstaben-
werth, sondern gehört in Gemeinschaft mit dem g zur Bezeichnung des dem
1 eigenthümlichen Quetschlautes oder suono schiacciato. — S. l'28 wäre von
den Verben auf dere (z. B. evailere) das Perfectum (evasi) besser durch die
Ausstossung des d vor dem Endungs-s als durch eine Verwandlung desselben
in dies s zu erklären. Auf ähnliche AVeise stossen die Verba auf gere mit
vorangehendem Consonanten (z. B. volgere) vor jenem s das g aus (volsi),
wählend die mit vorangehendem Vocal (z. B. dirigere). dasselbe dem s assi-
miliren (diressi, lat. direxi, d i. diregsi). — S. 236 ist von den Verben auf
iiere mit Recht gesagt, dass sie in mehreren Formen des Präsens das n durch
ein g (tenere, tengo) „verstärken;" hiermit würde besser übereinstimmen,
wenn auch S. 234 in Betreff" der Verba auf lere der Zutritt eines ganz ähn-
lichen g (dolere, dolgo) als eine Verstärkung, nicht „Erleichterung" be-
zeichnet wäre. — Dass S. 183 suadere denjenigen Verben beigezählt worden,
welche im Lateinischen ein kurzes Endungs - e Qere) gehabt, ist wohl nur ein
zufalliges Verselien.
Mehr von principiellem Interesse ist die Frage: Giebt es im Ita-
lienischen Diphthongen? Die Herren Verfasser scheinen dies (S. 2)
nicht anzunehmen und sind dabei allerdings weit mehr im Rechte als die-
jenigen, welche so oft einen Diphthongen vor sich zu haben glauben als sie
zwei Vokale neben einander stehen seTien. Gleichwohl wird man angesichts
von Wörtern wie aura, reuma das Vorhandensein von Diphthongen auch
trotz der getrennten Aussprache ihrer Bostandtheile und trotz der geringen
Anzahl dafür aufzubringender Beispiele nicht ganz verleugnen dürfen. Die
Sylbentheilung würde z. B. unbedenklich pa-ura (lat, pa-vor), aber nicht
a'-ura gestatten. — Von Triphthongen und gar Quadriphtliongen zu reden
(sonst ein Lieblingsthema italienischer Grammatiker) ist dagegen mit Recht
vermieden worden.
In der Darstellung des Doppelklanges der Vocale e und o, die
' überdies in einen besondern Anhang verwiesen ist, sind die Herrn Verfasser
ihrer sonst so glücklich behaupteten Selbständigkeit untreu geworden und
der heri sehenden Theorie gelolgt. Diese Theorie ist jedoch bei näherer
Untersuchung nicht haltbar. Anstatt eines festen, bestimmt erkannten Grund-
satzes stützt und beruft sie sich auf zufällige Beobachtungen, die, unsicher
an sich selbst, auch ihren Gegenstand um so weniger mit Sicherheit zu er-
222 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
fassen vermögen als dieser auch seinerseits manchen Zufälligkeiten und
Schwankungen unterliegt. Es sei erlaubt, in dieser Hinsicht auf meine in
Band XXVI, Uel't 2 (ö. 190 Ö.) dieses Archivs mitgetheilte Abliaudiung zu
verweisen, welche in gedrängter Kürze, aber doch vollständig das hier in
Betracht koumiende Princip zu entwickeln versucht.
Zu den alten Vorurtheilen, deren die Herrn Verfasser so viele beseitigt
haben, dürfte auch dies zu rechnen sein, dass das Accentzeichejn unter
Anderm den Zweck habe, gleichlautende Wörter zu unterscheiden (8. IG).
Die angeführten \^ örter si, li, ne, costä haben das Accentzeicben, weil sie,
wenn auch nicht in Ansehung einer Sylbe, sondern nur eines Consonanten,
vüci tronche sind (lat. sie, illic, nee, iste-hac); si, li, ne, costa (lat. se, ilU,
inde oder altital. inne, costa) sind dies nicht, und dies ist der Grund, weshalb
ihnen auch jenes Zeichen nicht zakommt.
Mit näherer Rücksichtnahme auf die Betonung hätte sich auf S. 104
auch leicht der Grund angeben lassen, warum die Pronominalfoniien mi, ti,
si, ci, vi, gli, vor andern Fürwörtern (lo, la etc.) ihr i in e verwandeln; diese
Verwandlung ist eigentlich eine Verstärkung, herbeigeführt durch den in
solchen Verbindungen auf das sonst tonlose i fallenden Accent.
In etym ologischer Hinsicht mögen hier folgende Bemerkungen Raum
finden: Gire und ire (S. 246) sind nicht verschiedene Verba, sondern nur
verschiedene Formen eines und desselben Verbs. — Mente (S. 7 4\)) ist streng
genommen nicht Adverbial- Endung, sondern das Substantiv mente (lat.
mens), so dass dolcemente, lentamente u. dergl. (wofiir die Alten nach la-
teinischem Vorbilde noch getrennt dolce mente, lenta mente etc. schrieben)
nicht sowohl Ableitungen als vielmehr Zusammensetzungen oder eigentlich
blosse Zusammenschiebungen sind. — Mica oder miga Seite 2.ö8 ist als das
lat. mica (franz. mie) wohl nicht mit dem franz. guere (ital. guari) zusammen zu
stellen. — Sino (Seite 278) ist Nichts als eine durch Irrthum veranlasste andere
Schreibart statt tino (vom lat. finis), also nicht aus dem lat. tenus entstanden.
In Betreff des Syntaktischen ist es unter Anderm wohl nicht, wie
S. 64 und S. 255 gesagt wird, gleichgültig, ob dem Comparative di oder che
folge. Das durch di bezeichnete Genitiv -Verhältniss (das in ähnlichen Fällen
übrigens an den griechischen Genitiv oder den lateinischen Ablativ erinnert)
drückt werüger eine eigentliche Vergleichung als vielmehr eine Massbestimmung
aus, wobei nur in Betracht kommt, dass der Italiener für diese eine so grosse
Vorliebe hat, dass er sie oft (besonders bei folgendem Fürworte) auch da
aufrecht erhält, wo im Grunde eine Vergleichimg vorliegt und che richtiger
wäre. — Eben so darf es nicht für schlechthin beliebig erachtet werden,
das Participium mit seinem nachfolgenden Objecte congruiren zu lassen oder
nicht (S. 202). Häufig soll, sobald das Particip mit dem nachfolgenden Ob-
jecte in Uebereinstimmung gesetzt ist, die Handlung als an Letzterem in zu-
ständlicher Weise fortdauernd gedacht werden; z. B. avevano atterrati gli
alberi sie hatten die Bäume gefällt, so dass diese nunmehr am Boden lagen;
wogegen nur die Handlung als solche ins Gewicht fällt, wenn ohne Rück-
sicht auf das Object bloss gesagt wird: avevano atterrato gli alberi. — S. 49
scheint eine fehlerhafte Interpunction zu einer irrigen Auffiissung des Bei-
spiels: per impetrare dal papa soccorso, di danaro e di truppe Veranlassung
gegeben zu haben. Wenn man das offenbar falsche Komma hinter soccorso
tilgt: so heissen die Worte nicht: „Beistand, Geld und Truppen," sondern:
Beistand an Geld und Truppen. Die Sache ist darum erheblich, weil die
Herrn Verfasser auf den Ausdruck di danaro (und zwar mit sichtbarem und
nur allzu gerechtem Widerstreben) die Behauptung gründen, dass der Thei-
lungssinn gelegentlich auch ohne Artikel vorkomme. — Auch ist es wohl
nicht richtig, in Beispielen wie tra colle sue prediche e le sue lagrime oder
tra per l'una cosa e per l'altra (S. 2 79) eine Verbindung von tra con oder
tra per (wie sonst su per, in su u. dergl.) anzunehmen, da tra hier Nichts
weiter als ein Correlativum zu dem folgenden e ist.
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 223
Man sieht jedoch, dass diese Ausstellungen von geringem Belang sind
und den allgemeinen Werth des Buches nicht beeinträchtigen. Wer nicht
unverständiger Weise gleich in der ersten Lehrstunde auf das leidige „Par-
iiren" ausgeht, sondern darauf bedacht ist, sich die Sprache mit ernster und
nachhaltiger Einsicht auzueignen, darf sich von dem Gebrauche der vor-
liegenden Grammatik sowohl unter der Leitung eines tüchtigen Lehrers als
auf Grund schon anderweitig erworbener (lateinischer oder französischer)
ISprachkenntnisse auch beim Selbststudium den besten Erfolg versprechen.
Der anhangsweise hinzugefügte Abriss der italienischen Metrik
enthält in Kürze und gleichfalls auf guter Grundlage das W' issenswertheste
des bezeichneten Gegenstandes; doch wäre zu wünschen, dass dabei auf die
Cäsuren und die Accentuation der italienischen Verse näher eingegangen
worden wäre.
Auch im Aeusseren zeichnet sich das Buch durch Sauberkeit und Cor-
rectheit des Druckes sehr gefällig und vortteilhaft aus.
Prof. Dr. Staedler.
Programmenschau.
Observations sur TEnseignement de la Langue Fran^aise dans
les Classes nioyennes de l'lnstitution dite Ecole secondaire
supt5rleure, par Cli. Gill hausen. Programm der höheren
Bürgerschule zu Aachen, 1859.
Der Verfasser hgt hier im Anschluss an eine frühere (1841) Arbeit,
welche sich auf die unteren Classen bezog, seine Methode des gedachten
Unterrichtes in den mittleren Classen dar. Diese Methode in ihren Einzel-
heiten zu verfolgen, würde eine umfangreiche Wiederholung der vorliegenden
Schrift erfordern, ohne doch das allgemeine Interesse in entsprechendem
Masse fesseln zu können , da theils der Lehrslofi', theils die zu seiner Ver-
arbeitung ausgesetzte Stundenzahl dem Lehrer die Momente des Unterrichtes
im Ganzen überall auf dieselbe Weise vorschreiben. Nichts desto weniger
verdient hervorgehoben zu werden , dass Herr Gillhausen mit ernster und
strenger Sorgfalt dai-auf Bedacht nimmt, dem französischen Unterricht, der
für jede höhere ßüi-gerschule ein Hauptobject ausmacht, eine durch alle
Classen derselben hindurchgehende organische, sachgemäss gegliederte Stufen-
folge zu sichern, selbst auf die Gefahr hin, dass Schüler, welche von andern
Schulen her in diese übergehen, in Folge der abweichenden Vorbereitung,
die sie dort erhalten haben, manche Schwierigkeiten überwinden müssen, be-
vor es ihnen gelingt, sich dem hier befolgten Unterrichtsgange auf die ge-
wünschte Weise einzuordnen. Denn wenn eine Lehranstalt eigentlich nur
für diejenigen Schüler verantwortlich zu machen ist, welche sie mit dem
Zeugniss der Reife aus ihrer obersten Classe entlässt: so hat sie wesentlich
die Verpflichtung, schon von der untersten Classe an einen Weg einzuschlagen,
der mit Sicherheit zu dem erstrebten Endziele hinführe , und hierauf weist
Herr Gillhausen mit Nachdruck hin. Dazu gehört nach des Verfassers
Ansicht hauptsächlich, dass in jeder folgenden Classe das Pensum der vor-
hergehenden sorgfältig repetirt, befestigt und angemessen erweitert werde,
ehe der weitere Fortschritt unternommen wird. Mit gleichem Rechte ver-
langt Herr Gillhausen, dass die mündlichen und schriftlichen Leistungen, die
häuslichen Exercitien und die in der Classe anzufertigenden Extemporalien,
die Gedächtniss- und Sprechübungen stets in einem solchen Einklänge und
Zusammenhange erhalten werden, dass sie sich wechselseitig ergänzen und
fördern, und dass das in der einen Richtung erworbene Material stets In der
andern zu einer entsprechenden Anwendung komme. Herr Gillhausen em-
pfiehlt überdies das Rückübersetzen und das Uebersetzen aus dem Stegreife.
Ein vorzügliches Gewicht aber legt er darauf, dass die schriftlichen Arbeiten
der Schüler von dem Lehrer sorgfältig durchgesehen und corrlgirt werden;
denn nur so könne der Lehrer ein sicheres ürtheil über die einzelnen Schüler
Programmenschau. 225
gewinnen und auch sie zu der erforderlichen Sorgfalt und Genauigkeit an-
halten.
Die Tendenz der vorliegenden Schrift ist demnach nicht sowohl eine
wissenschaftliclie als eine pädagogische. Ist sie deshalb schon für Lehrer
von Interesse, so hat sie vielleicht noch einen grösseren Werth für die
Eltern, die ihre Söhne der gedachten Schule anvertrauen. Diesen ist es
ohne Zweifel nicht gleichgültig, wie ihre Kinder unterrichtet werden. Es
niuss ihnen daher erwünscht und willkommen sein, wenn ihnen auf eine so
klire und ausführliche Weise, wie hier geschieht, eine Einsicht in die Methode
des Unterrichtes, welchen ihre Kinder geniessen, gegeben wird und sie da-
durcli in Stand gesetzt werden, sich über die Zweckmässigkeit desselben ein
deutliches Urtheil zu bilden, ^^'enn wissenschaftliclie Arbeiten von den
Kenntnissen des Lehrers Zeugniss ablegen, so dienen solche pädagogische
dazu, nicht nur die Lehrgeschicklicbkeit desselben erkennen zu lassen, sondern
auch die Schule mit dem elterlichen Hause zu vermittehi und dieses mit jener
in Uebereinstimmung zu setzen. In Programmen, welche vorzugsweise dazu
bestimmt sind, in die Hände der Eltern zu gelangen, haben sie daher be-
sonders eine berechtigte Stelle, und es wäre zu wünschen, dass sie an dieser
Stelle öfter angetroffen würden.
Prof. Dr. Staedler.
Die Dichtungen Schillers als Unterrichtsmittel höherer Lehr-
anstalten. Von Oberlehrer Dr. Schauen bürg. Progr. der
Realschule zu Düsseldorf. 1859.
Es macht dem Ref. Vergnügen, seine Collegen auf diesen Aufsatz auf-
merksam machen zu können. In warmen begeisterten Worten weist der
Verf auf den grossen Schatz hin, der uns für den deutschen Unterricht in
Schillers Dichtungen geboten ist. Mit Recht hebt er hervor, dass das nicht
ihr Hauptwerth ist, dass sie wie von selbst den, der sieh einige Zeit mit
ihnen beschäftigt hat, an einen edelern geschmackvollen Ausdruck gewöhnen,
und warnt davor, im Unterricht die grammatische wie die ästhetisch -kri-
tische Betrachtungsweise zu sehr hervorzukehren; diese letztere besonders
^chiesse gar leicht über das Ziel hinaus, verkümmere gar leicht den Genuss,
reisse die Form unnatürlich vom Inhalt los und lege den Schülern Fragen
vor, die über ihren Standpunkt hinausgehen. Dagegen sei die ethische Be-
deutung der Dichtungen Schillers nicht hoch genug anzuschlagen, an ihnen
sei für eine edlere Lebensauffassung der Schüler zu gewinnen und sein Ge-
müth zu läutern. Ueberall sei daher der Geist zu erkennen, aus welchem
die Dichtungen Schillers hervorgegangen sind. Nicht auf ein System Schil-
lerscher Ethik, bemerkt mit Recht der Verf., kommt es dabei an, sondern
es bedarf nur eines Nachweises des Reichthums der sittlichen Ide<^n aus den
einzelnen Gedichten bei ihrer Leetüre. Wie diese dahin führen solle, zeigt
er an mehreren der kleineren Gedichte, welche zuerst dem Schüler vorge-
legt werden, an den Balladen zunächst , von denen er sechs der wichtitjsten
auswählt. An dem Ring des Polykrates zuerst soll nicht blos die Ansicht
der Alten von dem Neide der Götter dargelegt, sondern auch eine bedeu-
tungsvolle Wahrheit , wenn auch in verhüllendem Gewände vorgeführt
werden, die Wahrlieit nämlich, dass der Mensch niunner sein höchstes Glück
in äusseren Gaben suchen solle, sonst werden sie ihm selbst zum Verderben.
In ähnlicher Weise ist die tiefe sittliche Idee in den Kranichen des Ibykus,
in der Bürgschaft (die Gewalt des idealen Charakters), im Taucher, im
Kampf mit dem Drachen, im Grafen von Habsburg zur Erkenntniss zu
Archiv f. u. Si>racheii. XXVII.
15
226 Frogrammenschau.
bringen und zum Eigenthum des jugendlichen Herzens zu machen. Wie in
ähnücher Weise die culturhistorischen Gedichte zu behandeln sind, um die
Würde und Macht der göttlichen weltbeherrschenden Ordnung dem Schüler
zum Bewusstsein zu bringen, führt an dem eleusischen Fest , dem Spazier-
gange, den Künstlern der Verf. in einer gründlichen Uebersicht vor.
Metrische Uebersetzungen ins Griechische und Lateinische aus
Schiller und Göthe, nebst einem Anhange aus der Bibel. Von
C. F. Crain. Progr. der grossen Stadtschule zu Wismar.
1858.
Der Verf. entschuldigt die Bekanntmachung seines Versuchs mit ähn-
lichen Arbeiten , wie mit den Uebersetzungen der Bruchstücke aus Göthes
Iphigenie von Th. Kork im Stolper Programm von 1858. Zunächst ward er
aufmerksam auf die Aehnlichkeit des Abschiedsgesanges des Philoktetes mit
dem Monolog der Jungfrau von Orleans am Ausgang des Prologs. Dies
brachte ihm den Gedanken an den Einfluss der antiken Dichterwerke auf
Schiller und Göthe selbst in Inhalt und Ausdruck nahe. Schiller, meint er,
habe freilich weniger als Göthe sich mit dem Griechischen beschäftigt; er
bringt dafür die bekannten Stellen aus dem Humboldtschen Briefwechsel
bei. Indess möchte hier zuviel die Bescheidenheit mitsprechen, und ein ein-
dringlicheres Studium Schillers wohl anzunehmen sein, und zwar nicht blos
der Uebersetzungen, sondern auch des Originals. Abgesehen von direkten
Beziehungen auf griechischen Ausdruck in kleineren Gedichten, wie in den
Kranichen des Ibykus, mag vor Allem hingewiesen werden auf die Braut
von Messina, in der Gerlingers Verdienst es ist, die P^ntlehnungen aus So-
phokles aufgezählt zu haben.
Die Verwandtschaft des Götheschen und Schlllerschen Geistes mit dem
Alterthum, bemerkt weiter der Verf., wird sich aber auch daraus erkennen
lassen , dass sich beider Gedichte grossentheils leicht in das Gewand der
griechischen und lateinischen Sprache hüllen. Das deutUch zu machen hat
er vorliegende Uebersetzungen gemacht und erscheinen lassen. Die Be-
sorgniss, dass sie dem Schicksale der meisten Programme, ungelesen bei
Seite gelegt zu werden, nicht entgehen möchten, hat Ref aufheben wollen,
und theilt daher hier schliesslich mit, was die Leser in dem Programme zu
suchen haben. Zuerst aus Göthes Iphigenie I, 2. (Gespräch zwischen Iphi-
genie und Arkas) in Trimetern. (Beiläufig sei bemerkt, dass eine prosaische
Uebersetzung der Götheschen Iphigenie unter dem Titel : /usTncpoaod-elon
ix Tor Peoftnriy.ov vtto 'hoävrov IlaTinSoTiovXov , mit deutscher Dedication
an Göthe, und einem griechischen Vorwort tt^os rovs "Ekltji'as in Jena 1818
erschien; über dieselbe vergl. Göthe an E. Weller, 18. Aug. 1818 in Göthes
Briefen von Döring S. 321. Gesellschafter 1826. Bl. 39. S. 195). Es folgt
das Gebet Iphigenias I, 4 (S. 8), dann des Orestes III, 2 (S. 9), dem der
Verf die Kocksche Uebersetzung beigefügt hat. Daran schliessen sich aus
Schiller die Uebersetzung der Jungfrau von Orleans Prolog I. Auftr. (die
Rede Thibauts) und 4. Auftr. (Johannas Abschied), dann II, 7 , endlich Braut
von Messina Anfang. Hierauf die lateinischen Uebersetzimgen (S. 18) des
Ringes des Polykrates, der Theilung der Erde (S. 20). Ferner kommen die
Stücke aus der Bibel, nämlich Buch der Richter IX, 8 — 15., Sprüche Sa-
lom. 25, 5. 6. 11. 14. 20. 27. Der Göthesche Spruch: was in der Zeilen
Bildersaal einmal ist trefflich gewesen, wird immer wieder einmal Jemand
auffrischen und lesen, ist, um eine Probe des Ganzen zu geben, übersetzt:
Quas vetus egregie res scriptas exhibet aetas,
Quisquam qui repetat, qui legat, alter erit. —
Programmenschau. 227
Wie im obigen Programm der Versuch gemacht ist, neuere deutsche
Dichter in die Sprache von Hellas und Latium zu übertragen, so hat
K. W. Osterwald in: Lateinische Uebersetzungsproben.
Progr. des Domgymnasiums zu Merseburg. 1858.
zwei alte Gedichte , nämlich von Walther von der Vogelweide die
Lieder: „Ir sult sprechen willekomen" und „Niemau kann mit gerten"
meisterhaft in Distichen übersetzt. Ausserdem enthält das genannte Pro-
gramm eine Reihe vorzüglicher Uebersetzungen. wie melirerer andrer Ge-
dichte, so längerer prosaischer Stücke (aus Bernhardys romischer Literatur-
geschichte, Momrasens römischer Geschichte und eines Aufsatzes über den
ücean und sein Leben im Magazin f. Literatur des Auslandes) und me-
trische Bearbeitungen von Sentenzen Senecas. —
Herford. Hölscher
15*
M i s c e 1 1 e n.
Einige Bemerkungen über die Fügungen des deutschen
Hilfszeitworts lassen.
I.
Dass in der Fügung des Accus, mit dem Infinitiv, wenn das Ztitw.
zu denen gehört, die einen doppelten Nominativ bei sich haben, wie „sein,
werden, bleiben, scheinen" etc., nicht bloss das Subjekt, sondern auch das
Prädikat in den Accus, zu setzen sei, darüber herrscht bekanntlich im La-
teinischen nicht das geringste Schwanken. Anders aber ist es im Deutschen,
wo der Accusativ mit dem Infin. eines mit doppeltem Nomin. verbundnen
Zeitworts überhaupt nur von sehr wenigen Verben abhängen kann, z. B. von
„heissen". Da fragt es sich denn, wie der latein. Satz: „Jussit eum ty-
rannum fieri" deutsch lauten muss, ob, dem Lateinischen gemäss: „Er hiess
ihn einen Tyrannen werden" — oder: „Er hiess ihn ein Tyrann werden,"
wie sich das Letztere z. B. bei Pfeffel, Poet. Versuche (Basel 1790) 3,
152 findet:
„Den Vesier des Borboniden,
Der ein Tyrann ihn werden hiess," —
ferner noch häufiger bei „lassen," wo Diejenigen, welche in der Fügung
des Accus, mit dem Infinitiv das Praedikat nicht in den Accusativ setzen,
sondern im Nomin. bleiben lassen, sich auf eine sehr gewichtige Auktorität
stützen können, auf die Lessing's nämlich, der Bd. 12, p. 348 (Lachmann'-
sche Ausg.) an seinen Bruder in einem Brief, wo es sich um die Korrektur
der Emilia Galotti handelt, schreibt:
„Lassen Sie den Grafen diesen Gesandten sein. So habe ich
gewiss nicht geschrieben und es ist undeutsch. Es muss heissen:
Lassen Sie den Grafen dieser Gesandte sein."
Ich habe diese Stelle schon im Arch. 18, 221 und 21, 334 besprochen
und Belege für den von Lessing für undeutsch erklärten Gebrauch nicht
nur aus andern mustergültigen Schriftstellern, sondern aus Lessing's Werken
selbst beigebracht, woraus denn wohl erhellen dürfte, dass Lessing das
Setzen des Praedikats in den Accus, nicht immer für so entschieden un-
deutsch kann gehalten haben, wie er es in dem flüchtig hingeworfnen Zettel
an seinen Bruder zu thun scheint. Wenn nun aber vielleicht die Gegner
des Accus, den Gebrauch desselben als durch das Lateinische herbeige-
führt bezeichnen möchten, so ist dagegen, wie ich es schon früher ge-
than, hervorzuheben, dass grade in einer entschieden volksthümlichen Wen-
dung der Accusativ, nicht der Nominativ des Prädikats, herrschend ist,
nämlich: „Gott einen guten Mann (den Kaiser einen guten Kaiser) sein
lassen," s. Arch. 18, 221. Zu den für diese Redensart dort angeführten
Miscellen. 229
Belegen Hessen sich mit leicliter Mühe eine Menge andrer fügen; aber —
so sorgfaltig ich auch darauf gerechnet — es ist mir nie der Nomin. des
Prädikats in dieser sprichwörtl Wendung vorgekommen, der sich allerdings
in andern Wendungen bei Schriftstellern findet, doch viel seltner als der
Accus., wie die folgenden Belege zeigen werden (wobei wir der Vollstän-
digkeit halber die schon früher im Archiv mitgetheilten wiederholen und
zum Behuf der Uebersichtlichkeit die Stellen nach den Autorennamen *)
alphabetisch ordnen):
1. Belege für den Nomin. des Prädikats:
Lass mich der Fels sein. Hartmann Petöfi 144; Lass mich der Erste
sein, der etc. Khnger Faust 401; Lass mich ein Bauer werden. Kompert
Pflug 1, 119; Lass mich der Narr sein. 2, 319; Lassen Sie den Grafen
dieser Gesandte sein. Lessing (s. o.) ; Ich lass es ein Vorzug des lieben
Gottes sein 12. 505; Lassen Sie Alles ein Traum sein. Mügge Roman
2, 29; Lass mich dein Wesie.r, o Harun Alraschid, sein. Platen 4, 275;
Lasst mich arm und meinetwegen ein Lump sein. Spindler Stadt 1, 28;
Lass ihn der Gott der Odendichter sein. Sturz 2, .340 — wozu wir eine
für das Schwanken sehr bezeichnende Stelle fügen:
Lass mich nur dein Werkzeug bleiben, deinen Hammer, Nagel,
lass mich sein deine Säge, dein Stock. Stilett, was du willst.
Alexis Dorothe 1, 85 (ebenso Natioualzeitung 1855 Nro. 590).
Dagegen: 2. Belege für den Accusativ des Prädikats:
Lass es ihren Trost sein. Bürger 309a; Du lassest deiner Heerde mich
nun einen Hirten sein. S. Dach (Wh. Müller Bibl. 5, 159); Den Verstand,
das eigene Urtheil den Meister sein zu lassen. Devrient 2, 117 (s. u. Schlegel):
Lasset mich in den Savannen euren Patriarchen sein. Freiligrath 1, 93;
Lasst mich euren Zweiten sein. Goethe 8, 52; Lass das Büchlein deinen
Freund sein. 14, 3; Wir lassen uns dies einen Wink sein. Herder Rel. 7,
234; So lass denn mich den Ersten sein. Kinkel 419: Einen Schlosser
habt ihr ihn müssen werden lassen. Kompert Böhm. 335; Mein Vater
hätte mich sollen einen Frankfurter Kaufmann werden lassen oder einen
Mainzer Domherrn. König Klub. 1. 113; Lassen Sie ihn den Ersten und
Letzten sein, der etc. Lessing 1, 283; Das lasst uns emen rechtschaffenen
Advoknten sein 373; Dass lasst mir den Mann sein, der sich rühmen darl etc.
11, 528; Ich hab das Geld noch nie lassen meinen Trost und Zuversicht
sein. Luther 1, 254a; Man inuss den auch einen guten Scliützen sein lassen,
der etc. 5, 246a; Wir wollen ihn einen Menschen lassen bleiben, 500b;
Und will die Herrschaft und Majestät nicht lassen sein einen seligen, guten,
göttlichen Stand. 6. 10b; Damit lasst er Christum den Schatz und den
Mittler bleiben. 405b; Lasse man dies einen ewigen und seligen Ruhm
sein. Mathesius Ltlir. XXXIII; Jedoch lassen Sie immer Gottsched den
grossen Deutschen sein. Mendelssohn 4, 2, 343 ; Vielleicht hätten Sie sich's
als<lann einen Abendzeitvertreib sein lassen. Ders. Lessing 13, 16); So lasst
mich diesen glücklichen Sterblichen sein. Musaeus Märch. 1, 41 ; Lasst
mich euren Diener sein. Palleske Seh. I, 117; Lass diesen Augenblick den
letzten meines kummervollen Lebens sein. Pfeffel Pros. 2, 12G; Lass mich
den Aermern sein. Raupach Isid. 50; Musen, lasset mich .sein eueren
Hirten hinfort. Ilückert 2,280: Lass mich ileiuen Engel sein. Schiller 263b;
So lasst mich nicht mehr Staatsbeamten sein. Schlegel Hamlet 2, 2; Lasst
euer eignes Urtheil euren Meister sein. 3, 2; Las.^t mich euren Diener
sein, Shakesp. 2, 19C; Lassen Sie mich doch einen rasch e n Menschen .sein.
•) Ueber die Ausgaben der Schriften s. das Quellenverzeichniss zu
meinem \^'ö^te^buch (noch nicht gedruckt).
230 Miscellen.
Schücking Ges. Erz. 3, 121; Lass Du mich Deinen Gesellen sein. Uhland
3H3; Lasst mich euren Diener sein. Voss Shakesp. 2, 305; Lasst mich stets
euren Ilausvogt sein. 3, 57G: Lass ihn immerhin nur einen beseelten Atom
auf einem Planeten sein. Wieland 6, 297; Lass mich deinen Sohn bleiben.
8, 121; Will mich Gott lassen einen Fürsten bleiben. Ziukgräf ], 103; Den
lass mir einen Baumeister sein. 257.
Danach möchten wir den Accusativ des Prädikats, wie im Lateinischen
und aus denselben Gründen wie in dieser Sprache, auch im Deutschen, so-
wohl in der Volks- als Schriftspraclie als Regel bezeichnen, doch so, dass
sich dafür auch (vgl. namentlich die oben angeführte Stelle Lessing's) der
•Nominativ findet, wie z. B. schon im Parzival 71,5, 29 die Lesart schwankt:
Läz nnch sin din oder diuen dienstman (s. Weigand). Die Fügung mit dem
Nomin. aber scheint uns hervorgegangen theils aus dem formellen Zusam-
menfallen des Accus, mit dem Nomin. in vielen Fällen, z. B.: Lass uns
Freunde sein; Lass das unsre Aufgabe sein; Verhülle | des schönen Busens
Fülle I mit des Habites Grün ! | Lass, mohrumspannt, mit seinen | göttlichen
Formen scheinen j ein süsses Räthsel ihm. Freiligrath 1 , 294. Du lassest
deine Kirch' ein reines Herze sein. Opitz 1, 10; Lass mich ein Kind sein.
Schiller 425a etc., vgl. namentlich auch Archiv 18, 221. Dann aber scheint
auch besonders die gedankliche Vermischung mit gleichbedeutenden Wen-
dungen, die nach der Regel das Prädikat im Nominativ verlangen, einzu-
wirken, so namentlich im Lnperativ, vgl. z. B. Lass das — (das mag immer)
— der Fall sein, was schadet's mir? Lass das Büchlein dein Freund sein !
(es sei dein Freund) u. ä. m.
Anders urtheilt freilich ein Lexikograph, der nicht die Regel aus dem
sich im Munde des Volks und in den Werken unsrer Schriftsteller kund-
gebenden Sprachgebrauch abziehn zu müssen, sondern vielmehr die Meister
deutschen Stils nach einer von ihm ohne Angabe eines Grundes aufgestellten
Regel meistern zu können glaubt. Weigand in seinem kurzen deutschen
Wörterb. 2, 13 dekretiert:
„Der doppelte Accus, bei sein lassen" = wofür gelten lassen,
wofür annehmen, ist zu meiden und das, wofür Jemand oder Etwas
gelten soll, im [in den] Nominativ zu setzen. So müsste z. B.
Schiller's „lass mich deinen Engel sein! (Don Carlos 2, 8)" richtig:
„lass mich dein Engel sein!" lauten.
„Die Worte Schiller's müssten richtig so lauten," nicht etwa: „sie
könnten so lauten." Kann ein Wörterbuchschreiber seinen Standpunkt
einem Meister deutscher Rede, wie Schiller, gegenüber ärger verkennen?
Trotz dem Machtbefehl Weigand's aber wird immer für richtig gelten, was
Schiller und Goethe, Luther und Voss, Herder und Wieland, Bürger und
Lessing, Uhland, Rüokert, Schlegel u. A. m. übereinstimmend mit dem in
sprichwörtlichen Wendungen sich kundgebenden Sprachgebrauch des Volks
schreiben.
n.
Weigand lehrt ferner, dass das Verbum den blossen Infinitiv, d. h. ohne
„zu" neben sich hat, — „wobei indessen Fügungen mit dem Dativ wie „Hip-
pokrates liess ihnen Nichts von seinem Erstaunen merken" (Wieland's Ab-
deriten) selten und nicht empfehlenswerth sind."
Zuvörderst ist der Ausdruck verfehlt; denn Fügungen mit dem Dativ
sind zuweilen die ausschhesshch richtigen, z. B. : Er Hess ihnen zum Tanz
aufspielen ; Er liess ihnen melden, dass etc. , wo der Accusativ statt des
Dativs einen ganz andern Sinn geben würde (s. u.). Weigand wollte sagen,
dass in der Fügung des Accus, mit dem Infin. bei „lassen" das Subjekt in
den Accus, zu setzen sei, dass aber dafür auch wohl nach französischem
Miscellen. 231
Muster, wenn bei dem Zeitwort schon ein Objekt oder ein Objektsatz steht,
der Dativ der l'erson (zuweilen auch personificiiter Gegenstände) vorkommt.
Und zwar ist dieser nicht so selten, wie 'NVeigand es darstellt. AVir geben
Belege, alphabetisch geordnet nach dem daneben stehenden Infinitiv (bei
Zsstzg. nach dem Grundwort, also: vermissen, wie missen unter „m"; ge-
messen unter „n" etc.):
Von welchen mir deine Briefe so vielen Genuss ahnen lassen.
J. Faul H. V. 47.
Ihr hattet | den Schatten eines Wunsches nur nach Recha | ihm
blicken lassen Lessing Nath. 3, 10.
Ihm sodann es doppelt empfinden zu lassen. Lessing 12, 386.
Es Ihnen empfinden zu lassen etc. 12, 405; Goethe 33, 104.
Ihm alle die Verachtung fühlen lassen. Iffland 5, 3, 18; Kom-
pert Pfi. 1, 145; Moser Ph. 3, 117; Rabener 4, 369; Streckfuss
Kol. 12, 49.
Doch warum soll ich meiner Gesundheit seine Grobheit ent-
gelten lassen. Lessing 1, 511; Gotthelf G. 22.
Ihm Nichts als Wahrheit hören, Nichts als gute Beispiele sehen
zu lassen. Wieland 'J7, 304.
Deren ähnlicher Charakter mir ihre Eigenschaften näher kennen
liess. Goethe 23, 103.
Ohne der Tochter sie lesen zu lassen. Mörike Nob. 137.
Man muss den Männern niemals merken lassen, dass etc. ße-
nedix 8, 185.
Wenn er's mir gleich sonst nicht will merken lassen. Goethe 9, 375.
Wenn er mir diesen zu stark merken lässt. Lessing 1, 563.
Ich lasse ihm merken, dass etc. 8, 190.
Davon Öie mir kurz vor Ihrer Abreise Etwas merken Hessen. 13,
21 (Mendelssohn).
Was hab' ich merken lassen? Wem habe ich es merken lassen?
Schiller 204b.
Sie haben mir es niemals merken lassen, dass ich zu eitel sei. F.
Schlegel Flor. 5ti.
Darf ich ihm diese Gesinnung auch nicht merken lassen. Tieck
Nor. Kr. 2, 414.
Dummer..., als Mancher... | dem Andern merken lassen wollte.
Wieland 3, 176.
Die jungen, artigen Leuten nicht ungern merken liess | wie viel
sie etc. 15, 251.
Es wäre unartig gewesen, ihr merken zu lassen, dass etc. 23,
50; 105.
Als ich Ihnen etwas merken liess. 33, 31G und oft (s. u.).
Die mir eine Mutter | so wenig missen lassen. Lessing Nath. 5,6.
Ihr die edle Gastfreundschaft vermissen lassen. Forster Sakont.
XXVIII.
Den abgehärmten Frauenzimmern einige Ruhe geniessen zu
lassen. Heinse Ard. 1, 159.
Wollen Sie mir diesen Schatz geniessen lassen? Lessing 13, 167
(Reiske).
[Dies] wird Ihnen den Inhalt ungefähr errat hen lassen. Les.sing
3, 290.
Der Plan des Vf. nöthigle Ihn, verschiedene Wahrheiten zu sagen,
die in dem Munde einer Mannsperson Beleidigungen gewesen
wären. Er musste sie also einem Frauenzimmer sagen lassen.
Lessing 3, 161 (s. u).
Die ihr . . . euch schauen lasset | ungefiilschten Sinn. Kosegarten
Po 2, 264.
232 Miscellen.
Mir doch einmal Ihren Schatten sehen zu lassen. Chamisso
4, 276.
Drauf Hess ich mich auf einer höhern Bühne | Gesichtern voll von
Ernst und tiefer Weisheit sehn. Geliert 1, 220.
Liess mir im Traum sie sehen. Gessner 4, 194.
Wo man's so nach und nach den Leuten sehen lässt. Goethe
11, 123.
Und wenn Ihr mich denn ja behalten wollt, | so lasst es mir ilurch
Eintracht sehn. 13, 134.
Er liess ihr im Allgemeinen seinen Plan, seine Wünsche sehen
16, 44.
Da ich ihr alle Briefe, die ich erhielt, sehen liess. 22, 128.
Was ihr Kleid, gebläht vom losen West, | und bis an's Knie ge-
schürzt, dem Jüngling sehen lässt. Wieland 10, 79.
Dem Oberon die Geschichte | des treuen Paars im Bilde sehen
liess. 20, 270.
Ihm auch die Malerin sehen zu lassen. 23, 315.
Während... | dem Türk der Kaiseradler | seine Fang' verspüren
lässt. Scheffel 7, 187.
Dem selbst die Gefahr, in der er schwebte, die Worte nicht ab-
wägen liess. Alexis Hof 2, 3, 145.
Fern sei es, diesem Einfall auch nur durch unser Stillschweigen
das Ansehen einer Regel gewinnen zu lassen. Lessing 6, 460.
Lass es mir bei Zeiten wissen. Goethe Stein 3, 15.
Dieses Blatt lässt Dir die Namen wissen. Lessing 3, 342.
Lassen Sie mir ja ihre Ankunft voraus wissen. 12, 417; 13, 654.
Sie Hessen mir erst die Bitte wissen. Moser Phant. 4, 98.
Meiner Schwester wissen zu lassen, dass etc. Schiller 647b; Seals-
field Leg. 1, 38.
Dein Bruder ... lässt Dir wissen, dass etc. Wieland 23, 316; Merk
2, 90 u. o.
So will er Ihnen diese Freundschaft . . . sehr theuer bezahlen
lassen. Lessing 12, 320 u. ä. m.
Das durch das Vorstehende wohl zur Genüge belegte Vorkommen des
persÖnl. Dativs bei lassen mit einem trausit. (von einem Objekt oder Ob-
jektssatz begleiteten) Zeitwort ist wahrscheinlich , wie oben angedeutet, auf
Rechnung des Französischen zu schreiben, wo der Dativ in demselben Falle
bekanntlich Regel ist, vgl. die entsprechenden Wendungen mit machen,
z. B : Indem Sie mir . . . mein Unrecht lebhaft empfinden machen. Goethe
9, 2 66. So musste er ihr nur glauben machen, es sei etc. 3, 194; 10, 24 etc.
und die Fügung sinnverwandter Wörter, z. B : Einem Etwas sehn lassen
oder zeigen. Einem Etwas wissen lassen oder kundthun, anzeigen, melden etc.
Doch veraltet dieser immer vereinzelt gebliebne Gebrauch wieder, und im
Allgemeinen gilt heute die Fügung des Accusativs, nicht des Dativs, mit
dem Infinitiv, wie es z. B. schon bei Luther heisst: Du lassest mich er-
fahren viel und grosse Angst. Psalm 71, 20 (bei Mendelssohn : Viel Angst
und Leiden liessest du mich dulden). Er liess es die Leute fühlen. Rieht.
8, 16 etc. — wofür aus neuern Schriftstellern kaum Beipiele nöthig er-
scheinen, wie: Freilich Hessen ihn die Folgen seiner Handelsweise keine
Entschuldigung aufbringen. Goethe If, 375. Der Fürst hatte sie bemerken
bissen, wie etc. .'386. Ich habe mich wohl gehütet, den jungen Kleist meine
Empfindlichkeit darüber merken zu lassen. Lessing 12, 148. Seine eigne
Einfalt den armen Dichter entgelten lassen. Schiller 102b etc.
Damit ist aber nicht (s. oO ein neben dem von lassen abhängigen In-
finitiv stehender nnd dazu gehörender Dativ zu verwechseln , vgl. : Er liess
die Musikanten zum Tanz aufspielen [ordnete an, dass sie aufspielten] und:
Er liess den Gästen zum Tanz aufspielen [ordnete an , dass ihnen aufge-
Miscellen. 233
spielt würde]. Er Hess den Diener dies melden [veranstaltete, dass er es
meldete] und : Er iiess es dem Könige melden [veranstaltete, dass es ihm
gemeldet würde] u. s. w. So würde es z. 15. namentlich in der oben unter
„sagen lassen" angeführten Stelle nach dem heutigen (iebrauche heissen:
Er muss also ein Frauenzimmer diese Wahrheiten sagen lassen,
sie ihr in den Mund legen, während die von Lessing gebrauchte Wendung :
Er muss sie einem Frauenzimmer sagen lassen,
eher bedeuten würde, dass ein Frauenzimmer sie hören, nicht sagen soll,
— wenn man nicht das Zusamnienstossen der })eiden Accusative durch eine
dem passiven Sinn des von lassen abhängigen Infinitivs entsprechende Prä-
position vermeiden will (s. darüber an andrer Stelle, in meinem Wörterb.
s. V. lassen):
Er muss sie von einem Frauenzimmer oder durch ein Frauen-
zimmer sagen lassen,
vgl. : Die Schmähsucht lässt sich doch den Eifer nicht bekehren. Günther
533 [oder durch den, — von dem Eil'erJ. Lass Dich den [oder: von dem]
Teufel bei einem Haare fassen und Du bist sein auf ewig. Lessing Gal.
2, 3. Dass ich mich den [oder vom] Teufel reiten liesse und einmal spielte.
Lessing 13, 165 (Ebert). Da ward ich wie ein Kind entwehnt, ] das .«ich
nach seiner IMutter sehnt I und lässt sich Niemand [oder von Niemand]
schweigen. Waldis Ps. 131, 3 etc.
Dem heutigen Gebrauch gemäss heisst es nun auch: Einen Andern
Jjtwas merken lassen, — und : Sich (Dativ) Etwas merken [im Sinne von
anmerken, ansehn etc.] lassen, z. B. : Doch Hess ich mir Nichts merken.
Goethe 20, 215; Wieland 27, 25-i u. o. Wir heben dies hervor, weil Ade-
lung, der unter „lassen" dem heutigen Gebrauch gemäss die Fügung des
Accusativs und Infinitivs bei lassen von dem Dativ, der neben einem von
lassen abhängigen Infinitiv steht, richtig sclieidet, doch, Beidos vermischend,
unter „merken," unter welchem Worte man weder bei Campe noch bei
Weigand Etwas über die Fügung findet — sagt:
„Lass dir Nichts merken," wie Viele sprechen und schreiben ist
eben so [?] unrichtig, als: lass mir es nicht empfinden, lassen
Sie mir es thun,
wobei er eben übersieht, dass es aufgelöst nicht heissin würde: Gieb keinen
Anlass, dass Du Etwas merkst, — sondern: dass Andre dir Etwas an-
merken (wofür ausser dieser Wendung freilich eben das blusse merken mit
dem Dativ nicht üblich ist). Zu erwähnen aber ist dab»;!, <iass auch Lessing,
von dem wir oben gesehn, dass er scliwankend schreibt: Einem und Einen
Andern Etwas merken lassen, — Adelung's Vorschrift gemäss schreibt:
Durch welches Wort habe ich mich merken lassen, dass ich ihn
weiter als aus seinen Büchern kenne? 8, 207,
vgl. vereinzelt: Ich lasse mich nicht von dir befehlen (s. u. 3 in meinem
Wörterb. I, 423a). Gotthelf Geld ob. — Ich lasse mich hier wedir von
einem Professor noch von sonst Jemand Grobheiten machen. Stilling 4,
165. Eine vereinzelte Anwendung des Dativs statt des Accus, bei lassen
mit dem Infin. s. III.
III.
Ist das von lassen abhängige Zeitwort ein reflexives (oder reciprokes),
so kann der Fall eintreten, dass dieselbe Form des persönl. Fuiw. zweimal
unmittelbar hinter einander stehen müsste , wie z. B. in der That Brockeg
!), 4? 5 schreibt:
234 Miscellen.
So lasst uns uns annoch bemühn.
Die Härte dieses Zusammenstosses wird aber gewöhnlich vermieden (vgl.
in unserm Wörterb. I, S. 325c dia kurze Bern, unter „Du" 8), indem theils
zwischen die beiden Fürwörter Etwas tritt, so dass sie nicht unmittelbar
ziisaniraentrefien (So lasst uns annoch uns bemühn) oder sonst ein Für-
wort fortfallt, z. B. Jenes :
Lass mich in Andacht, | lass mich in Demuth | mich verneigen
dem Herren mein. Chamisso 3, 13.
Lasst uns auf nächsten Samstag uns vertagen. 4, 77.
Lass , I von irgend einem alten zuverläss'gen Knecht | begleitet,
mich in Hoflhung einer künft'gen I beglückten Auferstehung
mich begraben. Goethe 13, 352 etc.,
vgl: Ein stärker Laster lieisst Dich schwächern dich entziehn. Heller 86.
Ferner Beispiele vom Fortfall des einen Fürworts schon bei Luther:
Lasset uns freuen und fröhlich drinnen sein. Fsalm 118, 24.
In allen Dingen lasset uns beweisen als die Diener Gottes.
2, Korinth. C, 4.
Lasset ihn sich gebaren, wie es seine Art ist. Und sie Hessen
Dich gebaren etc. Alexis Doroth. l, Cap. 5.
Lass mich hier ausweinen. Freytag, Dr. W. 477.
Lasset mit Rebschossen uns kränzen. Gessner 2, 175.
Lasst wieder satt an Blüthenduft mich saugen | ... Lass mich
an deine Kniee wieder drängen. Mosen Ahasv. 95.
Lasst umarmen uns bei der Musik. Schlegel Shak. 6, 164.
Lasst mit Entschlossenheit gerüstet, wieder | uns in der Halle
treffen. Tieck Makb. 2, 2.
Lasst zu neuem Feste jetzt uns schmücken. Viel Lärm. 5, 3.
Lass, ewig treu, dem Treuen mich vereinen. Werner Osts. 1,218 etc.
Lasst hurtig uns entgürten. Wielaiid Ober. 3, 55, wo die neuere
Lesart lautet: Lasst hurtig euch entgürten.
Vereinzelt findet sich auch hier (s. H.) der Dativ mit dem Infin.:
Lasse Dir Gott Dich freuen. Goethe Kestner 160,
etwa = Gebe er Dir Freude, — Dich zu freuen.
Statt der Umschreibung des Imperativs wendet man, wie auch sonst
näulig, die Wendung an: Freuen wir uns! etc., was, nebenbei bemerkt,
Mendelssohn 4, 2, 527 noch „eine unerlaubte Neuerung" bei Iselin nennt. —
Daniel S anders.
Niederdeutsche Sprichwörter und Redensarten
von, Karl Eichwald.
Seit Dr. Bärmann in Hamburg seine plattdeutschen Gedichte, Lust-
spiele und Redensarten herausgegeben, hat die Literatur in dieser alten,
herzigen Sprache fast ganz geruht, bis Claus Groth sie wieder in's Leben
gerufen und dabei einen gewiss unerwarteten Erfolg gehabt hat.
Hier in Bremen, wie in andern Städten Niederdeutschlands, verschwindet
das Plattdeutsche seit 30 Jahren zusehends, und obgleich es früher die Hau-s-
sprache der meisten Familen war, so versteht es die heranwachsende (lene-
ration kaum, deshalb wird auch der Bürgereid jetzt auf Hochdeutsch ge-
leistet, und selten findet man in einem Localblatte ein plattdeutsches Geilicht,
welches aufbewahrt zu werden verdiente. Nur unter den Landleuten und
Schiffern wird es sich länger erhalten; Erstere kleben zu sehr an der Ge-
Miscellen. 235
wohnheit, um sich eine andere Mundart anzugewöhnen, und den letztern
ist sie wegen ihrer Kürze und Bestimmtheit unentbehrlich, denn zu Schifts-
commandos wird sie an Zweckmässigkeit nur von der englischen und dä-
nischen erreicht, während die hochdeutsche, französische und spanische
«Sprache sich sehr schlecht dazu eignen.
Claus Groth hat aber noch einmal die alte Muttersprache der Nieder-
devitschen zu P^liren gebracht und dadurch Andere veranlasst, aucii in dieser
Sprache dem Publikum etwas zu bieten. So erschienen kürzlich bei H.
Llübner, Leipzig: „Niederdeutsche Sprichwörter und Ketlensarten von Karl
Eicliwald," eine reichhaltige Sammlung echter Kernsprüche, wie sie im
Munde des Volks leben, die jeder Kenner der niederdeutschen Sprache mit
Vergnügen lesen wird. Der Verfasser ist augenscheinlich ein Fi-iese, oder
aus den Marschen, denn manche Kedensarten und auch viele einzelne Aus-
drücke erinnern an das Leben in den Marschgegenden, z. B. : Eenen an'n
Dik jagen. He fritt asn Diker.
Von holländischen Wörtern findet sich JütTer, Gatt und Baas, letzteres
nur in der Redensart:
He sitt Baas an.
Wenn nun auch im Allgemeinen das AVirt Baas in der ganzen Weser-
gegend einen Schiffsbanmeister bedeutet , so kommt es doch auch vielfach
in der ursprünglichen Bedeutung in Kedensarten vor, wie:
He finn't nich lichte sienen Baas.
Ick will di wiesen wer dien Baas is.
Auch von Redensarten, die unter den Schiffern entstanden sind, und
sich durch den Verkehr mit denselben im Volke eingebiü-gert haben, finden
sich eine Menge, wie:
W&t to Backbord inkummt niutt to Stürbord ut.
Gissen ist missen.
Von echten Bremer Redensarten der Seeschißer finde ich nur:
So lank as Leverenz sin Kind.
Bei einigem Verkehr unter den Bremer Seeleuten wird man aber auch,
ausser Capitain Lewerentz, dessen Kind an Länge, Dicke, Weisse, Klugheit
u. dgl. alle andern übertraf', noch Kläner, Martin Peper, Harm Janssen,
Sagemähl , L.ippenbarg und andre merkwürdige Persönlichkeiten aus dem
Ende des vorigen und dem Anfange dieses Jahrhunderts kennen lernen,
und die Sammlung wesentlich bereichern können.
Obgleich , wie schon erwähnt , der Verkehr in plattdeutscher Sprache
sehr abgenommen hat, so findet man doch noch vielfach Gelegenheit, na-
mentlich unter alten Leuten , Redensarten zu sammeln , woran das Bremer
Plattdeutsch besonders reich ist. Herr Eichwald hat z. B. :
Art let von Art nich.
De Appel fallt nich wit vunn Stamm,
welche beide aus (lern Hochdeutschen übertragen sein können, dagegen
fehlt das hier sehr bekannte und treffende :
Uhlen sitt't Uhlen uht. (Eulen brüten Eulen aus.)
Vom Bauer handeln natürlich eine Menge Redensarten, doch köinite
auch diese Sammlung darin aus hiesiger Gegend bedeutend vermehrt werden.
So sagt man z. B von einem Bauer, der sich bemüht, die Sitten des Städters
nachzuahmen :
De Bu'r bliffl en Bu'r und wenn he ok bit Middag sloppt.
Von einem Bauer oder einem Menschen ohne Bildung, der, weil er
Vermögen hat, in seiner äussern Erscheinung mit vorneimien Leuten wett-
eifern will, sagt man:
He gemahnt mi asn koppern halben Groten, man kaim em (einmal
vergnlden, he gelt doch nich mehr as'n halben Groten.
I3as fiesagle soll aber keineswegs dem fleissigen Sammler zum Vor-
wurf gereichen, sondern nur zeigen, dass ausser den 2096 Sprichwörtern
236 Miscellen.
und Redensarten, die sein Werk enthält, es noch manche giebt, die eben-
falls aufgeführt zu werden verdienen.
Das Einzige, was wir anders gewünscht hätten, ist die Orthographie,
die freilich in manchen Stücken der in Cl. Groth's Quickborn gleich ist,
doch ist sie nicht durchgehends befolgt. Cl. Groth sagt selbst , dass das
Plattdeutsche sich schwer schreiben lässt, dabei gilt seine Orthographie nur
für die üitmarscher Mundart, welche mir viele Aehnlichkeit mit dem harten
Hamburger Plattdeutsch zu haben scheint, da das e am Ende der Wörter
imd in der Endsilbe en meistens stumm ist. Dies ist aber im andern, bei
A^'citem dem grössern Theile von Niederdeutscliland nicht der Fall, wo den
Endsilben, auch in der Declination und Conjugation, mehr Aufmerksamkeit
geschenkt wird, denn wir sagen: Föte, Straate, Lue (auch Lüde), Göse,
verteilen, backen, kriegen, lopen u. s. w. ; dagegen sagt man in jenen öst-
lichen Gegenden: För, Straat, Lü, Gös, vertelln, backn, kriegn, lopn, was
uns hier nicht anders als sehr hart vorkommen k;inn. — Auch sind die
langen Silben von den kurzen zu wenig unterschieden, so dass ein Unkun-
diger vieles gar nicht lesen kann , auch der in der Sprache Wohlerfahrne
manchen Satz zum zweiten Male erst richtig hest. Wenn z. B. : Nro. 47
statt „Beter enAp as en Schap," „Beter en Aap as en Schaap" geschrieben
Aväre, so könnte man es beim ersten Durchlesen verstehen. So sind kurz :
um , tut, is , wit, wat , al, in , vun , dagegen sollen lang gelesen werden : ut,
gan, sin, fin, wis, wit, lat, ful, vel, Flesk u. s. w., welche daher besser: übt,
gabn , sien, fien, wies, wiet, laat, fühl, veel, Fleesk geschrieben würden.
Ferner finden wir Dak in zwei Bedeutungen, doch würden wir empfehlen
Dack (Dach) und Daak (Tliau) zu schreiben. Ebenfalls drapen (getrollen)
und Drapen (Tropfen), welches letztere AVort in hiesiger Gegend Druppen
und auch Drüppen ausgesprochen wird. Viele Wörter sind jedoch mit dem
richtigen Dehnungszeichen geschrieben, wie Aantvagel, Been, keen, Sleen,
Stohl, Dehl, Tähn u. s. w.
Wörter wie Eesken , Flesk, Fisk, Kleweräsken , wusken , Taske, Döwel
und andre der Art sind ganz ostlriesisch, und würden jedenfalls der grossen
Mehrzahl der Niederdeutschen verständlicher sein, wenn sie : Eeschen, Fleesch,
Fisch, Kleweräschen , wuschen, Tasche, Düwel geschrieben wären, welches
auch die Schreibart im Quickborn ist.
Bei der grossen Abweichung in der Aussprache des Niederdeutschen in
den verschiedenen Provinzen und Städten, sogar in einzelnen sich ganz nahe
liegenden Dörfern ist es gewiss schwer, die in verschiedenen Gegenden ge-
sammelten Sprichwörter richtig zu schreiben, daher sollte eine Mundart
befolgt werden, und würde es jedenfalls besser sein, wenn die Orthographie
von Cl. Groth ganz befolgt, oder wenn sie ganz nach der Hamburger, der
Bremer, der ostfriesischen oder der westphälischen Mundart wäre.
Bremen. C. A. Pajeken.
Die neueren Sprachen an den preussischen Universitäten
im Sommersemester 1859.
Bonn. Simrock, ordentlicher Professor: Erklärung ausgewählter alt-
deutscher Gedichte. (Oeffentlich.j Deutsche Mythologie. (Privatim.) — Diez,
ordentlicher Professor: Elemente althochdeutscher Grammatik. (Privatim.)
Geschichte der italienischen Literatur. (Privatim.) Praktischer Unterricht im
Italienischen. (Privatim.) Dante's göttliche Komöihe, 1. Theil. (Oefientlich.)
— Monnard, ordentlicher Professor: Ausgewählte Theaterstücke Racine's
nebst Sprech- und Schreibübungen. (Privatim.) Französische Literatur seit
1815. (Oeffenthch.) — Delius, ausserordentlicher Professor: Vergleichende
Miscellen. 287
Grammatik der romanischen Sprachen. (Privatim.) Shakspeare's lyrische Ge-
dichte. (Oeffentlich.) — Nadaud, Lector : Geschichte der französischen
Sprache bis zum 18. Jahrhundert in französischer Sprache. — Disputir- und
Schreibübungen verbunden mit Erklärung ausgewählter französischer Autoren.
(Ob die beiden letzten Vorlesungen publice oder privatim gehalten werden,
geht aus den Katalogen nicht hervor.)
Breslau. Kahlert, ausserordentlicher Professor: Die schlesische
Dichterschule. (Oeffentlich.) — Rueckert, ausserordentlicher Professor:
Die Anfänge der christlichen und kirchlichen Literatur in Deutschland.
(Oeffentlich.) — Das Nibelungenlied. (Privatim.) — Gothisch. iPrivatissime.)
— Pfeiffer, Privatdocent: Deutsch. (Privatissime und gratis.) Der Heliand.
(Oeflentlich.) Deutsche Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts. (Oeffentlich.)
— Karow, Privatdocent: Altfranzösische Grammatik verbunden mit Er-
klärung altfranzösischer Schriftsteller. (Oeflentlich.) Don (^uixote. (Oeflentlich.)
Parallele zwischen Calderon, Shakspeare, Goethe. (Oeffentlich.) — Behnsch
Lector: Englische Grammatik. (Privatim.) Byron's Cain. (Oeffentlich.) —
Freymond, Lector: Französische Grammatik mit Sprech- und Schreib-
übungen. (Privatim.) Lamartine's Confidences. (Oeffentlich ) — Marochetti,
Lector: Italienische Grammatik. (Privatissime.) Didactische Dichter Italien's
des sechszehnten See. (Oeffentlich.) — Fritz, Lector: Polnische Grammatik
mit Sprech - und Schreibübungen. (Oeffentlich.) Erklärung eines zu be-
stimmenden polnischen Schriftstellers. (Oeffentlich.) — Krainski, Lector
honorarius: Polnische Grammatik. (Oeffentlich.) Polnische Literaturgeschichte.
(Oeffentlich.) Polnische Kanzelredner. (Oeffentlich.)
Koenigsberg. Gieseb recht, ordentlicher Professor: Erklärung deut-
scher Geschichtschreiber des Mittelalters. (Privatissime und gratis.) —
Herbst, Privatdocent: Englische Grammatik. (Oeffentlich.) Französische
Schreib- und Di.'Jputlrübungen. (Oeffentlich.) Ariost's rasender Roland.
(Oeffentlich.) — Michaelis, Privatdocent: Englische Literaturgeschichte.
(Oeffentlich.) Auserwäblte Gedichte Lamartine's. (Oeffentlich.) — Gregor,
Privatdocent. Polnische Grammatik mit praktischen Uebungen im polnischen
Seminar. (Oeffentlich.)
NB. 1) Für deutsche Sprache und deutsche Litteratm-, das (xlesebrechtsche,
mehr der Geschichte angehörige Privatlssimum abgerechnet, geschah nichts. —
2) Unter der Ueberschrift: Linguarum recentiorum et artlum liberallum ma-
gistri finden wir: Gesangübungen, Generalbass und — — Reitstunde!
Sonst nichts.
H all e. Leo (ordentlicher Prof). Angelsächsische Grammatik. (Privatim.) —
Blanc (ordentlicher Prof). Komödien Moliere's. (Oeffentlich.) Italienische
Literaturgeschichte. (Oeffentlich.) — Ulrlci (ausserordentlicher Professor).
Shak.speare's Leben und Werke. (Oeffentlich.) — Prutz (ausserordentlicher
Professor). Leber Goethe's Leben und Werke. (Oeffentlich.) — Deutsche
Literaturgeschichte bis zum 15. sec. (Privatim.) — Zacher (ausserordent-
licher Professor, seit Michaelis in Königsberg). Gothisch. (Oeffentlich.) Deut-
sche Llteraturgeschic'hte. (Privatim.) Deutsche Uebungen. (Privatissime.) —
Haym (Privatdocent). Ueber Schlller's Leben und Schriften. (Oeffentlich.) —
Hollmann (Lector). Spanisch. (Oeffentlich.) Französisch. (Privatim).
Greifswald. Hoefer (ordentlicher Professor). Das Nibelungenlied,
(Oeffentlich.) Derselbe leitet (privatissime) die Uebungen der deutsclien Ge-
sellschaft. — Schmitz (Lector). Montesquieu sur les causes etc. (Oeffentlich.)
Englische Grammatik. (Oeffentlich.) Einleitung In das Studium der neueren
Sprachen. (Privatim.) Englisch, Französisch, Italienisch. (Privatissime.)
Berlin. Haupt (ord. Prof.). Die Gedichte Neithart's von Reuenthal.
(Oeffentlich.) — Müllenhoff (ord. Prof). Deutsche Grammatik. (Privatim.)
Deutsche Uebungen. (Oeffentlich.) — Massmann (Hon. Prof). Das
238 Miscellen.
Nibelungenlied. (Oeffentlich.) Mannhardt (Privatdocent). Altsäclisisclie
Grammatik. (Privatim.) — Solly (Lector). P2nglische Literatur. (Oeffentlich.)
Privatissima im Englischen. Fabrucci (Lector). Italienische Grammatik.
(Privatim.) Italienische und Französische Privatissima.
Die neueren Sprachen an den preussischen Universitäten
im Wintersemester 1859 — 1860.
Bonn. Deutsch: Die Uebersclzung des Marcus von Ulphilas. (Diez.)
Erklärung ausgewählter altdeutscher Gedichte. Gescliichte der deutschen
Sprache und Literatur. (Simrock.) Uebersicht der deutschen Literatur vom
Anfange des 18. sec. (Löbell, ord. Professor.) — Englisch. Shakspeare's
Twelfth- Night. Englische Literaturgeschichte. (Delius.) — Französisch
und Provenzalisch. lieber provenzalische Sprache upd Poesie. (Diez.)
Altfranzösische und provenzalische Grammatik. (Delius.) Französische Lite-
raturgeschichte bis zum 17. sec. Dramen von Corneille, mit sich anschliessenden
Sprach- und Schreibübungen. (Monnard.) Franz. Granmiatik mit Uebungen.
Französische Lustspiele. (Nadaud.) — Italienisch. Praktische Uebungen.
(Diez.) Spanisch, (vacat). Portugiesisch. Os Lusiadas. (Diez). Sla-
visch. (Nicht vertreten.)
Breslau. Deutsch. Encyklopädie der deutschen Alterthümer. Walther
von der Vogelweide. Die gothische Bibel. (Rückert.) Gothische Grammatik.
(Rumpelt.) Deutsche Uebungen. Gothische Grammatik. Altnordisch. Geschichte
der deutschen Bühne. Geschichte der Universitäten. (Pfeiffer.) Ueber Schiller
als Philosophen. (Oginski.) Englisch. Marlow's Faust. Englische Grammatik.
(Behnsch.) Romanische Sprachen: Romanische Grammatik. (Karow.)
Französisch. Recits des temps meroviugiens par Thierry. Französische
Syntax. Die Chansons. (Freymond, Lect.) Italienisch. Die Romantiker der
italienischen Litteratur. Praktische Uebungen. Italienische Grammatik. (Ma-
rochetti.) S lavisch. Polnische Grammatik. Praktische Uebungen im Ueber-
setzen. (Fritz.) Polnische Grammatik. Polnische Literaturgeschichte. Pol-
nische Kanzelberedtsamkeit. (Krainski.)
Halle. Deutsch. Gothisch. (Pott.) Angelsächsische Gedichte. (Leo.)
Englisch. Englische Grammatik und holländische. N. B. Es bleibt im lat.
und deutschen Index unklar, ob beide Sprachen comparativ in denselben
Stunden vorgetragen werden. (Hollmann, Lector.) Französisch. Moliere's
Comödien. (Blanc.) Italienisch. Die göttliche Comödie, Inferno. (Blanc.)
Portugiesisch. (Hollmann.) Slavisch. (Nicht vertreten.)
Greifswald. Deutsch. Iwein. Uebungen der deutschen Gesellschaft.
(Hoefer.) Vergleichende Litteratnrgeschichte von Frankreich, England,
Deutschland. (Schmitz.) Englisch. Shakespeares Romeo and Juliet. Priva-
tissima. (Schmitz.) Französisch. Moliere's Misanthrop. Privatissima. (Schmitz.)
Italienisch. Privatissima. (Schmitz.) Slavisch. (Nicht vertreten.)
Berlin. Deutsch. Geschichte der deutschen Poesie. Erec. Uebungen
im Gothischen und Althochdeutschen. (Müllenhoff".) Das Nibelungenlied.
Gothische Sprachdenkmäler. (Massmann.) Deutsche Mythologie. Gothische
und althochdeutsche Grammatik. (Mannhardt.) Englisch. Literaturgeschichte
bis zum 17. sec. Privatissima. (Solly.) Französisch. Privatissima. (Fabrucci.)
Italienisch. Literaturgeschichte. Italienische Grammatik. Privatissima.
(Fabrucci.) Slavisch. Slavische Literaturgeschichte des 1. sec. Privatissima
im Polnischen, Böhmischen, Russischen, Serbischen. (Cybulski.)
Bibliographischer Anzeiger.
Allgemeines.
B. Bendsen, die nordfriesische Sprache nach der Moringer Mundart, zur
Vergleichung ni. d. verwandten Sprachen und Mundaften. Hrsg. von
j\I. de Vries. (Leiden, Brill.) 3 Thlr. 13 Sgr.
Lexicographie.
D. Sanders Wörterbuch der deutseben Sprache. 10 Lfrg. (Leipzig,
Wigand.) 20 Sgr.
J. &W. Grimm, deutsches Wörterbuch, 2 Bde. 7 Lfrg. (Leipzig, Ilirzel.)
1 Thlr.
Cassell's Pronouncing Dictionary of the English Language. By Noah
Webster, carefully revised. (London, Cassel.) 77-2 sh.
K. Rotteck, Nouveau "dictionnaire allemand-l'ranc^ais et fr. all. du langage
litteraire, scientifique et usuel. (Paris, Garnier.) 4 fr. 50 c.
J. Rank, Taschen - Wörterbuch der böhmischen und deutschen Sprache.
(Prag, Haase.) iVa Thlr.
Hilfsbücher.
K. Hansen, deutsches Lesebuch. 4 Thle. (Harburg, Elkan.) I2V2 Sgr.
J. Spitzer, theoret. prakt. Handb. der deutschen Sprache. 2 Thlr. Die
Satzlehre. (Wien, Mayer.) 10 Sgr.
AV. Fricke, deutsche Schulgrammatik. (Mainz, Kunze.) 15 Sgr.
C. F. Koch, deutsche Elementargrammatik für höhere Lehranstalten. (Jena,
Mauke.) "'/a Sgr.
C. F. Koch, deutsche (Grammatik nebst den Tropen und Figuren und den
Grundzügen der Metrik und Poetik. (Jena, Mauke.) 24 Sgr.
H. Viehoff, Vorschule der Dichtkunst. Theoret. prakt. Anleitung zum
deutschen Vers- und Strophenbau mit vielen Aufgaben und beigegebenen
Lösungen. (Braunschweig, Westermann.) I-/3 Thlr.
H. Vieh off, Handbuch der deutschen Nationalliteratur nebst einem Abriss
der Literaturgeschichte, Verslehre, Poetik und Stylistik mit Aufgaben-
sammlung. 2. Aufl. 3 Thle. (Braunschweig, Westermann.) 1. u. 2. Theil.
zusammen 1 Thlr. 10 Sgr.
— — 3. Theil apart 12 Sgr.
240 Bibliographischer Anzeiger.
Herrig, the British Classical Authors. Select speciraens of the National
Literature of England with blographical and critical sketches. 9. Aufl.
(Braunschweig, West ermann.) 1 Thlr. 10 Sgr.
Herrig & Burguy, la France Littdraire. Morceaux choisis de Litterature
Fran9aise ancienne et moderne. Recueillis et annotds par L. Herr ig
et G. F. Burguy. 4. Aufl. (^Braunschweig , Westermann.)
1 Thlr. 10 Sgr.
E. Höchsten, Uebungen zum Uebersetzen aus dem Deutschen ins Fran-
zösische. 8 Aufl. (Coblenz, Bädeker.) T'/a Sgr.
C. A. Wittenhaus, die Syntax der franz. Sprache für die Schule bearb.
und mit vielen Uebungsstücken versehen. (Erfurt, Villaret,) 12 Sgr.
C. Treutier, moderne Prosa. Eine Auswahl von Stellen aus engl. Schrift-
stellern, mifr Wörterbuch. (Berlin, Springer.) 15 Sgr.
R. H. Westley, englisches Lesebuch für Knaben, mitWörterb. (Leipzig,
Gumprecht.) 12 Sgr.
Lamb, Six tales from Shakspeare. Lesebuch für mittl. Classen. Mit gram.
Anmerkungen uud vollst. W^örterb. versehen von F. Balty. (Altenburg,
Schnuphase.) 8 Sgr.
H. W'ild, Lehrgang zur Erlernung der italienischen Sprache für deutsche
Schulen. (Leipzig, Brockhaus.) 16 Sgr.
Literatur.
J. Scherr, die Nibelungen. In Prosa übersetzt, eingeleitet und erläutert.
(Leipzig, 0. Wigand.) 15 Sgr.
R. Wager, über Volkspoesie und Umdichtung. (Barmen, Langewiesche.)
Vj Thlr.
Die Hamburger Schillerfeier. (Flamburg, Richter.) 3 Sgr.
B. Kooke, P^estgabe zur Schiller- Feier. (Kiel, Akadem. Buchhandlung.)
2 Sgr.
F. Lübker, Festworte bei der Schillerfeier im Hörsaale der Friedr. -Franz-
Gymnas. zu Parchim. (Parchim, Wedemann.) 2V2 Sgr.
H. G. F. Mahler, Unser Schiller. Nachklänge. Hrsg. von H, Marggraff.
(Magdeburg, Bans eh.) 2/3 Thlr.
J. Minckwitz, der illustrirte neuhochdeutsche Tarnass. Eine Grundlage
zum besseren Verständniss unserer Literaturgeschichte in Biographien,
Charakteristiken. 3. u. 4. Lfrg. (Leipzig, Arnold.) h 6 Sgr.
lieber den Ursprung
und die
Bedeutung des Namens der Stadt Berlin.
Keinem Urtheilsfäbigen wird es haben entgehen können, wie un-
befriedigend und einer wirklichen wissenschaftlichen und kritischen
Erkenntniss zuwider laufend die Erklärungen geographischer Namen,
sobald ihr Sinn nach dem heutigen Sprachstande nicht gleich auf den
ersten Blick erkennbar ist, sondern tieferer Nachforschung bedarf, bis-
her häufig ausgefallen sind. In älteren Zeiten erschwerte es der Zustand
der Etymologie als Wissenschaft überhaupt ; aber es ist auch be-
greiflich, dass selbst bei dem jetzigen höheren Standpunkte, den diese
Wissenschaft einnimmt, ihre Anforderungen und Principien deswegen
nicht in alle Köpfe, die sich damit beschäftigen, und bei jedem ein-
zelnen natürlich auch nicht auf gleichmässige Art Eingang finden. Noch
immer wie ehemals ziehen es viele vor, anstatt sich die erforderlichen
Kenntnisse und feste Principien anzueignen , sich lieber dem wilden
und regellosen Spiel einer den Verstand überwuchernden Einbildungskraft
zu überlassen. Hierin stehen einige Neuere hinter den Alten nicht
nur nicht zurück , sondern sie leisten darin noch ein Mehreres und
Grösseres. Auch die beiden Namen von Preussens Hauptstadt, Berlin
und Köln, sind diesem allgemeinen Schicksal geographischer Namen
nicht entgangen. Geschichtsforscher, Geographen, Städtebeschreiber,
Sprachgelehrte und Dilettanten haben es sich angelegert sein lassen,
die eigentliche «prachliche Bedeutung des Namens der Städte Berlin
und Köln zu erforschen , und haben die mannichfachsten Erklärungen
davon gegeben und die kühnsten und mitunter sonderbarsten Hypo-
thesen darüber aufgestellt. Die Geschichte schweigt gewöhnlich über
die Veranlassung und den Urspning eines geographischen oder Städte-
Archiv f. n. Sprachen, xxvii. 16
242 Ueber den Ursprung und die Bedeutung
namens. Wo aber die Geschichte schweigt, tritt dann oft die Sprach-
forschung mit Erfolg ein und ergänzt die von derselben gelassenen
Lücken. Zuweilen können beide Hand in Hand gehen, und dann ist
der Erfolg um so sicherer. Durch die Anwendung beider Methoden,
durch die vereinigte Berücksichtigung sowohl des Geschichtlich - Geogra-
phischen als des Sprachlichen, gelang es mir, die schwierige und dunkle
sprachliche Bedeutung des Namens der Stadt Berlin herauszubringen,
und die leichter zu findende von Köln fest zu bestimmen und zu be-
stätigen. Der Name Berlin ist weder slavischen noch germanischen,
sondern celtischen Ursprungs. Davon nun soll der Beweis mif sprach-
lichem und historisch - geographischem "Wege im Folgenden geführt
werden. Zuerst müssen wir aber eine kurze Musterung der bisherigen
Erklärungen vorangehen lassen. Die beliebteste Ableitung für Berlin
ist, dass es für Bärlein stehe, indem Albrecht der Bär (v. 1106 —
1170) es im Jahre 1140, nachdem er die Wenden gänzlich besiegt,
gegründet und mit seinem Beinamen bezeichnet halje, wofür der Bär
im Wappen der Stadt Berlin den sichersten Beweis liefere. Allein
zur Zeit Albrechts des Bären bestanden sowohl Berlin als auch Köln
längst als D()rfer, und der Bär im Wappen beweist nichts, indem er
erst hinterdrein entweder der falschen und eingebildeten Etymologie zu
Gefallen, oder einfach Albrecht dem Bären zu Ehren hineingesetzt
wurde; in den ältesten Zeiten soll es aber auch nicht bloss ein Bär
gewesen sein, sondern ein Adler, der von zwei Bären gehalten wurde.
Auch besass Albrecht der Bär die Gegend selbst, wo Berlin liegt, noch
gar nicht; er konnte also den Ort weder gründen noch zur Stadt er-
heben, welches letztere erst um das Jahr 1240 geschah. Zuerst er-
wähnt wird Berlin erst in einer Urkunde vom Jahre 1244. Ferner
passt der nackte Ausdruck Bärlein gar nicht für eine Stadt; es müsste
doch wenigstens Bärleinstadt oder Bärleinburg oder ähnliches heissen.
Ausserdem passt Bärlein auch nicht zum Berliner Dialekt, nach dem
es nicht Bärlein, sondern nur Bärken heissen könnte, welches überdies
generis neutrius ist, während Berlin früher stets der Berlin genannt
wird. Und warum sollte man gerade das Verminderungswort gewählt
haben, da er nicht Albrecht das Bärlein oder das Bärken, sondern
Albrecht der Bär hiess. Ferner wesAvegen sollte man die Stadt nach
dem Zunamen benannt haben, und nicht lieber nach seinem wirklichen
Namen? Albrechtsstadt oder Albrechtsburg würde das einzige Pas-
sende gewesen sein (wie Constantinopel, Petei-sburg, Alexandria).
des Namens der Stadt Berlin. 243
Frisch in seinem deutsch - lateinischen Wb. I, p. SO, hält Berlin für
ein Deniinutivum von Bär, einem Fischer - Hamen , und glaubt daher,
dass es einen zur Fischerei bequemen Ort bedeute; aber ein kleiner
Fischerhamen ist noch nicht ohne weiteres ein zur Fischerei bequemer
Ort. Aber er will Berlin auch von Bär oder Wehr, einem Wasser-
gebäude oder Damme herleiten , wovon Berlin ebenfalls ein Deminu-
tivum sei. Wb. I, 62 erklärt er das Wort Bär als einen Damm,
meistens von Stein, mit einer runden Höhe, dass man nicht darauf
über den Graben gehen oder rutschen und reiten kann; er dient, um
das Wasser in einem Graben an einer Festung aufzuhalten und auch
wieder abzulassen, und scheint nach ihm vom franz. batardeau abge-
kürzt zu sein. Nach Grimm im Wb. ist Bär im Festungsbau ein
starkgemauerter Querdanim mit scharfem Rücken, franz. batardeau, und
soll aus einem mittellat. herum stammen. Dieser Bär oder Berlin soll
nach anderen, die dieser Etymologie von Frisch beitreten, der jetzige
Mühlendamm sein. Diesen Namen führte früher die Wasserseite der
Poststrasse von den Mühlen an, die zu den ältesten Anlagen der Stadt
gehören und schon in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts erwähnt
werden (s. Fidicin Berlin historisch und topographisch 60, 59). Noch
im 17. Jahrhundert führte diese nach der Spree hin belegene Seite
der Strasse diesen Namen und zwar in der Form „am Mühlen-
damm." Der noch jetzt so genannte Mühlendamm war in älteren
Zeiten ein schmaler unansehnlicher Gang, mit schlechten hölzernen
Buden besetzt, dem erst von dem grossen Kurfürsten eine bessere
Gestalt gegeben wurde, indem er im Jahre 1683 die Mühlen nebst
den Fangedämmen neu bauen Hess. Wollte man auf das Sachliche
allein Rücksicht nehmen , so wäre eine Möglichkeit vorhanden , dass
dieser Damm Veranlassung zur Benennung der Stadt Berlin gegeben
hätte. Allein die Rücksicht auf die sprachliche Seite und die anderen
Berline erlaubt es nicht. Auch ist es auffallend, dass der ]\Iühlen-
damm, von dem doch die Benennung der Siadt ausgegangen sein soll,
nie selbst der Berlin heisst, sondern immer nur der ganze Platz, auf
welchem Berlin steht. Andere, die umsichtiger zu Werke gehen wollten,
versuchten ganz natur- und sachgemäss eine Deutung aus den sla-
vischen Sprachen, den Schwestern der ehemaligen wendischen Sprache,
die bekanntlich in und bei Berlin gesprochen wurde , und wovon sich
selbst heut zu Tage noch Ueberreste in der Ober- und Niederlausitz
(um Bauzen und Kottbus herum) erhalten liaben. Einige derjenigen,
16'
244 Ueber den Ursprung und die Bedeutung
welche Berlin aus diesen Sprachen abzuleiten suchten, Hessen es vom
polnischen bor, Föhren- oder Fichtenwald (russ. bor, Wald in einer
Sandgegend) und rola, Acker, oder einem hypothetisch davon abge-
leiteten rolina, kommen, also Föhren - oder Fichtenwaldacker bedeutend,
wobei man nicht erfährt , in wiefern diese Endung ina möglich ist , da
sie nicht vermindernd sein kann, indem das Deminutivum rolka lautet
und lauten muss. Andere leiteten es von ber (der Wurzel vom sla-
vischen brati nehmen, russ. beru, ich nehme, beri, nimm) und lin , die
Schleihe, ein Fisch (poln.; russ. linj), also nach der Absicht dieser
Etymologen ein Ort, wo man Schleihen fängt, oder wie es eigentlich
heisst: „nimm oder ich nehme Schleihe." Nach noch anderen bedeutet
Berlin einen wüsten Lehmboden. Es werden zwar allerdings östlich
von Berlin vor dem Königsthore neben überwiegendem Sand Lehm
und Lehmgruben angetroffen, und Glienike (Glinick, Fidicin Beitr.III,
506) bei Potsdam hat wirklich vom slavischen glina, Lehm, seinen
Namen, ja es wird sogar (bei Fidicin Beitr. IV, p. 1) ein ganzer
Bezirk oder Kreis, der Glien genannt, erwähnt, welcher dem Teltow,
worin Köln liegt, und dem Barnim, worin Berlin gelegen ist, gegen-
über gestellt wird. Man würde also diese Erklärung wenigstens er-
träglich finden können , wenn zu dem Sachlichen auch die sprachliche
Form gut stimmte; aber die Bedeutung: „nimm Lehm" oder „ich nehme
Lehm" ist doch gar zu kindisch. Auf so burleske Art wurden Ge-
genden oder Städte wohl nie oder doch nur höchst selten benannt;
und wenn man es glauben soll, so muss wenigstens die Veranlassung
dazu historisch überliefert sein. Dessen ungeachtet ist gerade dieser
Ableitung von unsern Encyclopädieen und Conversationslexicis (na-
mentlich von Brockhaus und Pierer) der meiste Geschmack abgewonnen
worden. Bei Brockhaus, zehnte Aufl. , v. Berlin heisst es: „Ueber
die erste Gründung von Berlin und Köln , den beiden ältesten Stadt-
theilen, so wie über den Namen Berlin, der nach wendischer Abstam-
mung einen wüsten Lehm- oder auch Waldboden , nach keltischer eine
weite Ebene bezeichnen soll, sind die Meinungen getheilt. Neuere
Forschungen bezeichnen als den wahrscheinlichsten Gründer der ge-
nannten beiden Städte den Enkel Markgraf Albrechts des Bären , Al-
brecht II, der von 1206 — 20 regierte." Dieser wüste Lehmboden
stützt sich eben auf unser „nimm Lehm," wobei das Epitheton wüst
aus der Phantasie hinzugefügt ist. Waldboden ist ebenfalls erwei-
ternder Zusatz des Verfassers des Artikels, oder gründet sich auf das
des Namens der Stadt Berlin. 245
oben angeführte hypothetische bor - rolina , Fichtenwaldacker. Dass
aber nach keltischer Abstammung Berlin eine weite Ebene bezeichnen
soll, hat ausser dem Verf. noch niemand behauptet, und es würde
ihm offenbar sehr schwer, ja unmöglich werden, seine Behauptung zu
beweisen, wenn jemand diese Anforderung an ihn stellen wollte. Dass
Albrecht IL Berlin und Köln gegründet habe, kann wahr sein, wenn
man unter „eine Stadt gründen" ein Dorf zur Stadt erheben versteht.
Nach Fidicin geschah dies aber erst 1240. In der neusten 4. Auflage
von Pierer ist die Abstammung von Lehm aufgegeben, aber nichts an-
deres dafür in die Stelle gesetzt, also die Etymologie des Namens ganz
unaufgeklärt gelassen. Nach Ersch und Gruber ist das eigentliche Berlin
1163 vom Markgrafen Albrecht dem Bären erbaut worden und führt
seinen Namen von der buschigen wüsten Gegend, in der sich die hollän-
dischen Ankömmlinge anbauten. Dies ist eine ganz unbestimmte Annahme,
die sich, ohne Angabe von Quelle und Sprache, auf nichts Reales, sondern
nur wie auf ein fernes Gerücht von "Wald und Wüste gründet. Aber auch
dieses war einigen noch nicht unbestimmt und verallgemeinert genug;
es haben sich selbst Schriftsteller gefunden, die ohne Weiteres behaup-
teten und annahmen, dass Berlin im Wendischen einen Platz bedeute.
In noch grössere Unbestimmtheit und Allgemeinheit kann das Gerücht
und das Wissen vom Hörensagen , welches immer mehr Bestimmtes
und Besonderes weglässt, nun wohl nicht weiter herabsinken. Noch
eine andere slavische Ableitung ist vom polnischen berlo , Scepter,
welches ehemals auch eine Stange oder einen Stock bedeutet haben soll,
und wenigstens auch noch jetzt nach den Wörterbüchern in der Jägerei
eine Stange oder Vogelstange bezeichnet, also nach der Ansicht des
Etymologen ein durch Stangen bezeichneter oder abgesteckter Ort, ein
eingezäunter, mit Einzäimung oder Mauern umgebener Ort, etwa wie
das engl, town, verwandt mit unserm Zaun, angels. und niederd. tun,
althochd. zun. Sehr unwahrscheinlich; indem der Berlin, als die Be-
nennung aufkam, gewiss nicht mit Stangen abgesteckt oder eingezäunt
war. Dazu lag nicht die geringste Veranlassung vor. Auch aus dem
Celtischen hat man Berlin bereits abzuleiten versucht. Nicolai T, VIII
drückt sich darüber folgendermassen aus : ,,Ich habe eine Ableitung
des Namens Berlin aus der celtischen Sprache gefunden , die der Lage
von Berlin ziemlich entsprechen könnte. Diese Sprache redeten die
Vorfahren der Niederländer und Rheinländer, denen Berlin seinen Ur-
sprung zu danken hat, und man findet Spuren davon in allen europäi-
246 Ueber den Ursprung und die Bedeutung
echen Sprachen. Ber heisst im Celtischen Krümmung, und Lin ein
Fluss. Es könnte der Namen to dem Berlin daher kommen, dass
sich die Niederländer wirklich an einer Krümmung der Spree an-
bauten. Ich würde diese Herleitung allen andern vorziehen, wenn nur
die Bedeutung auf die anderen Plätze, welche auch der Berlin heissen,
sich passete." Diese Erklärung Nicolai's stützt sich auf Bullet Memoires
sur la langue Celfique, T. I, p. 285, welcher dort mehrere Ortsnamen durch
das celtische ber, Krümmung, Quelle, courbure, source, erklärt. Aber
niemals bedeutet ber oder selbst bar in irgend einer celtischen Sprache
Krümmung, und, obgleich es Bullet in der Einleitung seines ersten
Theiles angiebt, so hat er es im Wörterbuche selbst doch nicht, so viele
Bedeutungen er dem ber oder bar auch zuschreibt, und andere celtische
Wörterbücher haben es eben so wenig. Das einzige celtische Wort
mit dieser Bedeutung, welches einige Aehnlichkeit darbietet, wäre das
niederbretannische gwar, goar, courbe, courbure, wallis. guyr, crooked,
oblique , slant , slanting , bending ; aber hieran dachte Bullet gewiss
nicht. Bei Angaben aus dem Celtischen darf man sich nie auf die
blossen Behauptungen anderer verlassen, sondern man rauss selbst in
den zuverlässigsten Hülfsmitteln nachsehen, ob es wahr ist, sonst wird
man stets von den früheren und neueren Celtomanen an der Nase her-
umgeführt. Abgesehen von dieser falschen Etymologie und der falschen
Behauptung, dass Berlin den Niederländern seinen Ursprung zu danken
habe, ist wenigstens der letzte Zusatz Nicolai's vernünftig, dass die
Bedeutung von Berlin auch auf die anderen Plätze, die der Berlin
heissen, passen müsse, und da darf man wenigstens nicht die Bedeutung
Fluss oder Wasser darin suchen, die ausser auf unser Berlin nur noch
auf wenige andere passt. Auch an spasshaften und geradezu lächer-
lichen Ableitungen fehlt es nicht, wie z. B. die des Jesuiten Bissei,
welcher meint, eine so schöne Stadt wie Berlin müsse den Namen von
einer Perle haben , und gleichsam ein Perlein heissen , und wirklich
heisst bei Keisersberg an mehreren Stellen eine kleine Perle ein Berlin;
und Leutinger ist der Meinung , dass diese uralte Stadt Berlin , die
schon zu Arminius Zeiten bestanden habe, und nur von Albrecht dem
Bären erweitert und mit Mauern versehen worden sei, eben so gut von
dem Bärlein, das heisst von dem Gestirne des kleinen Bären, unter
welchem es liege, benannt worden sein könne. Die allerneueste Ety-
mologie ist aber die von dem Leipziger Professor Victor Jacobi. Nach
ihm bedeutet Berlin so viel als an oder bei dem Berge oder etwas
des Namens der Stadt Berlin. 247
bergig oder kleiner Berg, vom slavischen pri = böhni. przi, bei, an,
in der Zusammensetzung auch etwas, ein wenig bedeutend, und lin,
durch Corruption aus dem Böhmisclien lapa für tlapa entstanden, wobei er
sachlich von dem hochgelegenen Platze, auf dem die Nicolaikirche liegt,
ausgeht, da das Erdreich vom Molkenmarkte aus sich links erhebt.
Zuerst muss hierbei schon diese merkwürdige Corruption lin aus lapa
auffallen, und dann die Begriffsentwicklung Berg aus Fuss, Tatze, weil
man mit denselben unter andern auch einen Berg hinangeht.
Ich für mein Theil habe früher (im Jahre 1848) Berlin auch aus
dem Celtischen, nämlich von dem niederbretannischeu berle, Brachfeld,
unbebautes Land, abgeleitet, und diese Ableitung damals mit starken
sprachlichen , sachlichen und historischen Gründen unterstützt. Die-
selbe ist bis auf die neueste Zeit von niemand, so viel ich weiss, weder
ernstlich noch überhaupt widerlegt worden; jedoch wurde sie, die Wahr-
heit erfordert es zu sagen, von dem grösseren Publicum in der Regel
zwar nicht gerade verworfen, aber doch häufig bezweifelt, natürlich
ohne dass man Gründe angab oder angeben konnte. Erst in der aller-
neuesten Zeit hat nun der obengenannte Professor V. Jacobi in dem
Correspondenzblatt des Gesammtvereins der deutschen Geschichts- und
Alterthumsvereine, Stuttgart 1860, No. 4, eine angebliche Widerlegung
geliefert , auf die ich mich aber hier nicht näher einlassen kann noch
will. Ich sage nur so viel, dass ich, obgleich ich die Etymologie von
celtischem berle jetzt selbst aufgegeben habe , um eine andere aus der-
selben Sprache und von fast gleichem Inhalt an die Stelle zu setzen,
ich gerade seine Einwürfe dagegen nicht annehmen oder anerkennen
kann. Jacobi stützt alle seine eigenen Etymologieen von Ortsnamen
und Widerlegungen fremder hauptsächlich auf angebliche Orts- und
Terrainverhältnisse, was an und für sich lobenswerth ist, aber nicht
ausreicht , insofern eine blosse subjective Annahme eines willkürlich
ausgedachten oder ausgewählten Verhältnisses die Sache nicht allein
entscheiden kann, indem bei einem Orte sich in der Regel so viele und
so mannichfache Verhältnisse und Merkmale finden , dass man ohne
das Hinzutreten des historischen und sprachlichen Moments bei aller
Kunde von agrarischen und Terrainverhältnissen den wahren Grund
der Benennung nicht herausbringen kann. Was Hesse sich bei Berlin
nicht alles in Anschlag bringen, wenn man bloss auf sachliche Verhält-
nisse sehen wollte; die entgegengesetztesten Dinge würden gleich pas-
send sein, Berg und Ebene, Wald und Wiese, Bäume und Gesträuch
248 Ueber den Ursprung und die Bedeutung
der verschiedensten Art, angebautes und unangebautes Land, Lehm
und Sand, Wasser und Trockenheit, Fluss und Sumpf, Krümmung des
Flusses und gerader Lauf, Fischfang und Viehzucht, Heide und Weide
etc. etc. mit unzähligen Unter- und Nebenabtheilungen. Um nun aber
sein ausgewähltes Merkmal , das zufällig jedesmal eben so wahr als
falsch sein kann, sprachlich zu unterstützen, bedient sich V. Jacobi
einer Methode, die an Willkürlichkeit und Unsicherheit alles bis jetzt
sowohl in alter als neuer Zeit da Gewesene weit hinter sich lässt.
Nach ihm wird aus allem alles, was er will. Wieland behauptete ein-
mahl, dass die Etymologie in den Händen eines Weisen Aufschlüsse
über die wichtigsten Dinge gäbe, in den Händen eines Unvorsichtigen
und Thoren aber zu Gift und Narrheit würde. Ohne einen so strengen
Ausspruch thun zu wollen, kann ich doch nicht umhin zu vermuthen,
dass vielen , die Jacobi's Verfahren kennen lernen , die Etymologie als
die unsicherste und bemitleidenswertheste aller Wissenschaften , wenn
nicht geradezu als eine Gaukelei oder ein Possenspiel vorkommen muss,
wobei der Urheber eigentlich selbst über die Verkehrtheit derer, die
dergleichen Dingen Glauben schenken, lachen müsste. In seinem Buche
über die Ortsnamen um Potsdam erleidet nach seiner Theorie z. B. der
Buchstabe L allein im Anlaut 40 — 50 Metamorphosen, er wird zu
hl, zu gl, zu chl und cl, zu kl, zu h, zu g, zu j, zl, zu sl, zu s, zu z,
zu seh, zu cz, zum Vocal, zu k, zu kh, zu w, zu v und f, zu dl, tl
und t, zu tel, zu lig, zu d, zu n, zu b und p, zu r, zu 11, zu x, zu Ih,
zu In, zu Iw, etc. Wenn dieses schon im Anlaut geschieht, wo in der
Regel die Laute fester verharren, was hat man nun erst im Inlaut oder
gar im Auslaut und bei den übrigen Buchstaben des Alphabets zu er-
warten ? Jeder Buchstabe ist hiernach nicht nur fast jedem anderen
gleich, sondern steht auch noch für mehrere Buchstaben zusammen und
sogar für ganze Sylben. So weit ging bis jetzt noch niemand zu ir-
gend einer Zeit. Gegen V. Jacobi sind Ottavio Ferrari und Menage
nur zahme Stümper zu nennen. Was wollen deren Jacobsleitern und
Leporellolisten fingirter Formen gegen diese grottesken Willkürlichkeiten
besagen? Es ist wohl wahr, dass die Sprachforscher bei Etymologieen
von geographischen Namen oft zu wenig Rücksicht auf die sachlichen,
auf die geographischen und geschichtlichen Verhältnisse nehmen , aber
wenn jemand dieselben, wie Jacobi, so rein subjectiv berücksichtigt,
und um diese seine individuelle Meinung sprachlich zu unterstützen,
dann den Sprachen, die das Etymon hergeben müssen, die äusserste
des Namens der Stadt Berlin. 249
Gewalt anthut, so wird das Uebel dadurch nur ärger, so wird, um die
Sprache der Schrift zu reden, hier gleichsam der Teufel durch den
Beelzebub, den obersten der Teufel, ausgetrieben.
Ich habe mir viele Mühe gegeben, den sich so natürlich darbieten-
den Ansprüchen des slavischen Ursprungs des Namens Berlin gerecht
zu werden, es hat mir aber nicht gelingen wollen. Ich rauss den cel-
tischen Ursprung aufrecht erhalten, obgleich mir das Etymon jetzt ein
etwas verschiedenes ist. Um planmässig und regelrecht zu Werke zu
gehen, muss zuerst berücksichtigt werden, ob es ausser unserm Berlin
noch andere gebe und wie viele, zweitens muss man dann ein Etymon
zu finden suchen, welches, wenn nicht auf alle, doch auf die meisten
oder wenigstens viele passe, nicht bloss auf eins und die anderen dann
nicht, und drittens muss die geschichtliche Berechtigung dieses Etymons
dargelegt werden.
Es giebt ausser unserm Berlin, das in alten Zeiten nicht schlecht-
weg Berlin, sondern immer der Berlin heisst, noch mehrere andere Oert-
lichkeiten, die diesen Namen führen: 1) der grosse und kleine Berlin
in Halle, zwei Plätze im östlichen Theile der Stadt an deren Gränze,
nicht an der Saale, und wahrscheinlich etwas hoch liegend, Avie V. Ja-
cob! von einem das Terrain untersucht habenden jungen Gelehrten ge-
hört haben will. Nach Dreyhaupt in der Beschreibung des Saalkreises
(l.Theil, S. 676) war der Berlin „in gar alten Zeiten ein Hoff gewesen,
der einem Namens Berlin zugehöret; davon hernach der Platz, als er
bebauet worden, den Nahmen behalten. Der grosse Berlin ist nachher
mit zwei Reihen Häusern bebauet gewesen, welche in dem grossen
Brande am 17. Septbr. 1683 mit abgebrannt, und nachher nicht wieder
aufgebauet, sondern dagegen anno 1693 und folgende Jahre eine Reihe
neue egale Häuser längst der Stadtmauer auf den Platz , wo vor dem
Feuer des Raths alter und neuer Bauhoff gewesen, wieder erbauet
worden." Dass dieser Hof von einem Älanne Namens Berlin, dem er
zugehöret, den Namen erhalten habe, braucht nicht widerlegt zu werden.
Auf diese Art pflegen sich viele den Ursprung von Ortsnamen, wenn
sie nichts Gewisses darüber wissen, ohne weiteres zu erklären. Wenn
wirklich zuweilen eine Person einem Ort den Namen verleiht, so muss
es auch nachgewiesen oder durch Gründe wahrscheinlich gemacht wer-
den, wenn man es glauben soll. Ohne dies giebt es sonst nichts Hoh-
leres und Unzuverlässigeres. 2) Der Berlin, ein mit Buschwerk be-
wachsener Platz , eine Meile von der Stadt Nordheim , der zur Vieh-
250 Ueber den Ursprung und tue Bedeutung
weide dient, und weder irgend ein Wasser noch einen Fluss in der
Nähe hat. 3) Der grosse und kleine Berlin, zwei Seen bei Wittstock
in der Priegnitz. Frisch im Wb. p. 86 erwähnt sie mit folgenden
Worten : In dem Register der churfürstlichen Fischerei steht bei den
Witstockischen Fischziigen, der grosse Berlin, der kleine Berlin etc.
nebst anderen Seen so aus dem Amt Zechlin gefischt werden, aus-
genommen der Browser -See, die Baien und gedachte Berlinicher See,
darauf das Amt Wittstock fischt. 4) Ein Dorf Namens Berlin in
Frankreich in der Gascogne unweit Bazas, zwei Lieues von der Ga-
ronne und der Reolle, also an keinem Flusse. 5) Der Berlin in Augs-
burg (Fidicin, Beitr. III, 2. V, XIX) nach Reichard, E. C, Matthäus
und Veit Konrad Schwarz, nach ihren merkwürdigsten Lebensumständen
und abwechselnden Kleidertrachten beschrieben und mit Anmerkungen
erläutert, ein Beitrag zur Geschichte der Kleidermoden und zur Kennt-
niss der deutschen Sprache des 16. Jahrb. Magdeburg 1786. Unter
die Merkwürdigkeiten der Bibliothek zu Wolfenbiittel gehörten zwei
eheraahls darin befindliche Originalmanuscripte , die von zwei Augs-
burgern, Vater und Sohn, Namens Matthäus und Veit Konrad Schwarz,
herrühren, welche in der ersten Hälfte des 16. Jahrb. lebten und sich
nach den verschiedenen Veränderungen und Abwechselungen ihrer Le-
bensumstände, vorzüglich in Beziehung auf Kleidung, abmalen Hessen.
Dort heisst es p. 83: Die 125ste Figur stellt M. Schwarz über und
über vom Haupt bis auf die Füsse gepanzert dar, und in der rechten
Hand führet er eine Partisane oder Hellebarthe. Die Veranlassung zu
dieser Ausrüstung war eine Feuersbrunst in Augsburg, welche man
auch hier mit vorgestellt sieht. Das Uebrige erklärt die Beischrift :
„27 Decemb. 1543 in der nacht als Erdingers Haus bei St. Jacob ab-
brann, was fast (sehr) kalt: ich was haubtmann aufm Berlin über
16 Perschon, die örmel und gses (Aermel und das Gesäss) mit Bantzer."
•Reichard fügt hinzu: Der Berlin ist ohne Zweifel ein öffentlicher Platz
oder ein Quartier der Stadt Augsburg, so wie zu Halle an der Saale
zwei dergleichen Plätze den Namen des grossen und kleinen Berlins
führen. (Merkwürdiger Weise werden in demselben Buche auch ein
Berlin Sackpfeif und Berline Bendel erwähnt). Es wird sonst in Augs-
burg häufig der Perlachberg und der darauf liegende Perlachthurm, von
dem man die einzige und schönste Aussicht auf die Stadt hat, erwähnt.
Dass der Perlach aber mit dem Berlin identisch sei, schliesse ich aus
Grimm's Wörterbuch, wo es Theil I, p. 1526 heisst: Berlinthurm zu
des Namens der Stadt Berlin. 251
Augsburg, sonst Berlach. Es wird als Beleg zu dem ersteren Fischart's
Gargantua, 274, b, Ausgabe von 1594 und Henisch 293 (Augsb. 1617)
citirt. 6) Gr. Perlin, Kr. Lauenburg in Pommern, welches auf dem
Plateauhang zwischen dem Chotschowsee und dem Bychownaflusse liegt.
(Victor Jacobi, Ortsnamen um Potsdam, p. 16). 7) Perlin, nordöstlich
von Wittenburg in Mecklenburg auf der schmalen Wasserscheide zwi-
schen dem Dümmer- und dem Döbbersensee gelegen (ibid. p. 16).
8) Ich trage kein Bedenken, hierher auch Beilin zu rechnen (mit assi-
milirtem r), ein Ländchen von 21/0 Quadratmeilen im Regierungsbezirk
Potsdam, mit dem Hauptort Fehrbellin , d. h. Bellin, wo eine Fähre
ist oder vielmehr war, am Zusammenfluss der aus dem Ruppinischen
See kommenden beiden Rhinarme , des alten und neuen Rhin. Fehr-
bellin (zuerst erwähnt in einer Urkunde von 1217) hiess in den ältesten
Zeiten nur Bellin ; damahls führte von Nauen nur ein einziger Pass nach
Bellin und von hier vermittelst einer Fähre über das Rhin - luch nach
dem Ruppiner Lande, so lange das Luch noch eine Wasserfläche bil-
dete (Berghaus Landbuch 1,406). 9) Es giebt ferner bei Rathenow
zwei Landgüter, die den Namen der alte und der neue Bellin führen.
10) Ausserdem giebt es einige Berlinchen, die gewiss nicht nach un-
serer Hauptstadt genannt sind : a) Stadt im Regierungsbezirk Frank-
furt an einem See, aus dem die Plöne fliesst, ehemals Neu-Berlyn ge-
nannt, das erst unter den Markgrafen Otto und Albrecht 1278 zu einer
deutschen Stadt ausgebildet wurde , also schon lange vorher als sla-
visches Dorf vorhanden war, indem zugleich in dem Fundations -Briefe
einer Mühle Erwähnung getban wird, und seinen Namen später in
Berlinchen , d. i. Lütken oder Klein-Berlin verwandelt hat. Es liegt
in einem Thale am grossen Stadtsee, Nisperwitz genannt (s. Bergbaus
3,427 — 33). Mit dem Zusätze Neu wurde es sicher gerade zu der
Zeit versehen, als es zur Stadt erhoben wurde, um es von unserm Ber-
lin zu unterscheiden. Bei Zimnitz im Kreise Kalau in der Niederlausitz
werden alle jenseits des Ssrake-Fliesses gelegenen Ländereien die Feld-
mark Berlinchen genannt, weil ein Dorf, Namens Berlinchen, dessen
Stelle noch genau nachweisbar ist, darauf gestanden hat, das im 30jäh-
rigen Kriege eingegangen sein soll (Berghaus 3, 575).
Nachdem ich nun diese stattliche Reihe von Berlinen vorgeführt
habe, muss es meine Aufgabe sein, aus irgend einer Sprache, die in den
Gegenden, wo sich dieselben finden, gesprochen wurde, ein Etymon
nachzuweisen, Avelches, wo nicht auf alle, doch auf die meisten passe,
252 Ueber den Ursprung und die Bedeutung
und den Character einer gewissen inneren Wahrheit und Natürlichkeit
an sich trage. Im Deutschen und Slavischen habe ich mich vergeblich
darnach umgesehen. Aber im Celtischen bin ich glücklicher gewesen ;
dort habe ich die Elemente unseres Namens mit einer Bedeutung ge-
funden, die auf sämmtliche Berline ohne alle Ausnahme passt, und diese
Bedeutung ist der Art, dass man sich bloss darüber wundern muss,
dass sie sich nicht öfter als ein passender Begriff für einen später mit
einer Stadt oder Ansiedelung bedeckten und vorher unbebaut oder
unangebaut gewesenen Ort findet. Der Berlin würde nach dem Cel-
tischen unter regelmässigem und ganz gewöhnlich vor sich gehendem
Lautwandel Weidewald oder Waldweide, einen Wald oder ein Gebüsch,
das zur Viehweide dient, bedeuten. Es besteht nämlich aus dem cel-
tischen paür, peür, por, Weide, weiden, und lliiyn, ein Hain, Wald oder
Busch. Aus paür, peür, por entsteht regelrecht durch eine natürlich
und gewöhnlich eintretende Schwächung des Vocals und Consonanten
per und ber, und llüyn wird durch den blossen Ausfall des ü zu llyn
contrahirt, wobei noch zum Nachtheil der Etymologie in Anschlag zu
bringen ist, dass wir vom Celtischen ja nur die Dialecte, welche noch
heut zu Tage in England und Frankreich fortleben, und auch diese
nur unvollständig kennen, und also nur das mit mathematischer Sicher-
heit beweisen können, was diesen regelrecht entspricht, und nun thut
es das sogar in unserem Falle, so dass an der Beweiskraft nicht das
Geringste fehlt. Wallis, paür, Weide, ist armorikan. schon peür, und
gehört zu Wallis, pori, weiden, armorikan. peüri. Ja im Armorikanischen
ist in dem Dialect von Vannes perach, d. i. peür, por, mit einer neuen
Ableitungssylbe , selbst schon Weide, und Bullet führt per geradezu
für peür mit der Bedeutung päturage auf. Im Celtischen selbst wird p
im Zusammenhange schon häufig zu b, und umgekehrt sahen wir
mehrere unserer Berline mit p geschrieben. Auch kommen Zusammen-
setzungen mit llüyn im Celtischen, d. i. im Wallisischen selbst vor,
z. B. grüg-lüyn, the sweet broom, wörtlich heath-bush, also auch
paür-lüyn, Weidewald, welches selbst im Deutschen kein gemachter,
sondern ein wirklich bestehender Begriff ist. Dagegen findet sich das
im Wallisischen sehr gebräuchliche llüyn in dem sehr verarmten armo-
rikanischen Dialect schon nicht mehr. Es wird also, wenn wir den
Begriff Weidewald auf unser Berlin anwenden , den ältesten celtischen
Bewohnern in Köln der gegenüber liegende Berlin ihr Wald oder ihre
Heide oder Hütung für das Vieh gewesen sein , dessen Fortsetzung
des Namens der Stadt Berlin. 253
oder Trümmer auf beiden Seiten die Jungfernheide und die Hasenheide
sind, die sich beide in älteren Zeiten viel weiter an die Stadt erstreckten,
ja es gab grosse Wiesen innerhalb der Stadt selbst, zum Beweise, dass
der Wald wirklich Viehweiden enthalten konnte. Unter anderen wird
eine Wiese zwischen der langen Brücke und dem Mühlenhofe erwähnt.
Und wer noch jetzt einen kleinen Berlin ira alten Sinne des Worts,
nur ins Deutsche übersetzt und sachlich modificirt, d. h. der Bäume
und des Buschwerks beraubt, sehen will, der gehe vor das hallische
Thor links hinaus und sehe sich den zwischen dem seit 1705 bestehen-
den Floss- oder Landwehrgraben (jetzt SchifFahrtskanal) und der
Hasenheide gelegenen Platz an, der die Schlächterhütung heisst. Dass
der Begriff Weidewald allen übrigen Berlinen zu Grunde liegen kann,
ist offenbar, aber recht auffallend ist es bei dem Berlin unweit Nord-
heim, von dem ausdrücklich gemeldet wird (man sehe Nicolai I, VIII),
dass er zur Viehweide diene und mit Buschwerk bewachsen sei. Nur
ein oder vielmehr zwei Berline scheinen zu widersprechen , nämlich die
Seen bei Wittstock, und ich war früher geneigt, sie anders, obgleich
auch aus dem Celtischen, zu erklären. Ich habe aber bei genauerer
Nachforschung gefunden, dass dieses nicht nöthig sei. Sie haben näm-
lich keinen selbstständigen Namen, sondern entlehnen denselben von
umliegenden Dörfern, die Berlin oder Berlinchen hiessen. In einer
Beschreibung der Amelungsborner Klostergüter zwischen Zechlin und
Wittstock aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts wird die Dorfschaft
Klein Berlin (Berlinchen) erwähnt. In dem Kaufbriefe von 1431
werden die an den Bischof und das Domkapitel von Havelberg über-
lassenen Amelungsborner Klostergüter auf der Lytze folgendermassen
genannt; „De hoffstede to deme drantze, dat dorpp to deme dranze
unde de nagescreven dorpere Swynreke, Sewekow, beyde Bale, beyde
Roderanke, Zempow, Vchtorpe, luttiken Berlin unde de zee to groten
Berlyn, de kulemoUen (Mühle), den schild unde schildermolen (Berg-
haus Landbuch 1, 635, 636).
Es bleibt nun drittens noch übrig, die geschichtliche Berechtigung
der Ableitung des Namens Berlin aus dem Celtischen darzulegen. Denn
mancher Leser wird bis dahin kaum die Frage haben ixnterdrücken
können, wie man den Namen Berlin, trotz dem dass es noch einige
andere Berline in wahrscheinlich oder sicher celtischen Gegendon giebt,
aus dem Celtischen ableiten könne, da die Geschichte von Celten in
der Mark Brandenburg nichts weiss , und der sprachliche und topo-
254 Ueber den Ursprung und die Bedeutung
graphische Beweis, wenn auch noch so natürlich, ohne den geschicht-
lichen Nachweis der Möglichkeit, die Sache nicht vollständig entscheiden
kann. Die geschriebene Geschichte weiss manches nicht, was aber die
Sprachforschung der Geschichte, d. h. vorzugsweise der Urgeschichte,
mit grösserer oder geringerer Sicherheit zueignen kann. Die mit Kritik
ausgeübte Sprachforschung bringt oft die seltsamsten und ungeahndet-
sten Dinge an den Tag, und erlaubt da, wo alles schweigt, Fol-
gerungen, die einen hohen Grad der Gewissheit oder Wahrscheinlichkeit
an sich tragen. Gerade eben so weiss die Geschichte auch nichts da-
von, dass Gelten in Halle waz-en ; aber durch Sprachforschung und
Sprachvergleichung ist man im Stande zu beweisen, dass Halle ur-
sprünglich eine celtische Stadt war; die Halloren und die Salzwerke
sind noch Zeugniss ablegende Ueberbleibsel davon; der Name der
Stadt Halle (slavisch Dobrogora, d. i. Gutberg, nach einer Urkunde
von 966) selbst ist celtisch und bedeutet Salzstadt (vom wallisischen
hal, halen, niederbret. halen, holen, choalen , Salz; Wallis, halenür,
niederbret. halennür, hoUener, choallener, Salzarbeiter, woraus Hallore
nur eine ganz gewöhnliche Zusammenziehung ist); ausserdem sind auch
einzelne in den Hallischen Salzwerken übliche technische Ausdrücke
nur aus dem Celtischen zu erklären. Ferner erklärt sich die Saale
durch den irisch-gälischen Dialect des Celtischen als der Salzfluss. So
wie der Flussname älter ist als der Stadtname, eben so ist auch der
irisch -gälische Dialect des Celtischen älter und alterthümlicher als der
wallisisch- arm orikanische. Früher wusste man, gerade wie man den
Namen unseres Berlin nur aus dem Slavischen , wenn auch noch so
gezwungen, erklären zu müssen glaubte, mit den Halloren und ihren
Salzwerken auch nichts weiter anzufangen, als dass man sie ohne be-
deutende Gründe bald den Slaven, bald den Germanen zuschob. Nun
giebt es aber, wie wir oben gesehen haben, gerade in dieser ehemals
celtischen Stadt zwei Plätze, die der grosse und der kleine Berlin ge-
nannt werden , offenbar ursprünglich aus eben demselben Grunde, aus
welchem man ähnliche Oerter in anderen Gegenden und auch unsern
Ort in der Mark, wo dann später unsere Stadt aus den kleinsten An-
fängen emporwuchs, Berlin benannte. Ja in den ältesten Zeiten, als
Berlin noch nicht auf den Namen einer bedeutenden Stadt Anspruch
machen konnte, erinnerte man sich auch der durch die Tradition gege-
benen und festgehaltenen appellativen Bedeutung noch besser als später,
indem man nicht Berlin, sondern , wie schon vorhin angedeutet, immer
des Namens der Stadt Berlin. 255
der Berlin sagte. Erst allmählich, als unser mit dem Namen der
Gegend, wo er angelegt war, bezeichneter Ort an Grösse und Wachs-
thum zunahm, verlor sich der Artikel. Vielleicht aber haben die
Haller ihre Plätze nach unserer Stadt erst später, als sie schon gross
und berühmt war, so benannt, so wie wir hier in Berlin selbst Plätze
nacli grossen Städten benennen, wie wir z. B. einen Pariser, einen
Leipziger Platz haben ? Mit nichten ; denn wenn dieses der Fall wäre,
so könnte man es gewiss leicht genug historisch nachweisen, da die
Grösse und Bedeutung Berlins als Stadt verhältnissmästig zu jung ist,
als dass die Haller darauf kommen konnten , ihre Plätze in frühster
Zeit nach unserer Stadt zu benennen, und in späterer Zeit würden sie
der Berliner Platz, aber nicht Berlin oder gar der Berlin gesagt haben,
indem der Artikel der in dieser späteren Zeit bereits verschwunden
war. Selbst das Berlin wäre eher denkbar als der Berlin. Nach
meiner festen Ueberzeugung lässt sich nicht bloss aus dem Namen
unserer Stadt selber, der seine ungezwungenste Erklärung nur durch
die beiden oben angegebenen celtischen Wörter findet (denn den Namen
für Gegenden und Oerter liegen in früheren Zeiten ganz einfache, ge-
wöhnlich ihre örtliche Lage und Beschaffenheit berücksichtigende Be-
griffe zu Grunde, sondern auch aus der gehörig festgestellten Oertlich-
keit und richtigen Aufeinanderfolge der durch die Geschichte erwähnten
in Europa auftretenden Hauptvölkerstämme schliessen, dass vor den
Germanen celtische Völkerschaften in der Mark Brandenburg waren,
dass diese die Benennung Berlin den Germanen überlieferten, von
welchen sie nach der A^ölkerwanderung die darauf folgenden Slaven
annahmen, bis die Germanen bei Verdrängung oder Verschmelzung der
Slaven mit sich sie abermahls von den letzteren zurück erhielten. Na-
türlich folgt daraus noch nicht, dass sich noch sehr viele andere cel-
tische Benennungen in der Mark finden müssen ; denn die Germanen
und Slaven benannten ihrerseits nach Verdrängung oder Vernichtung
der Gelten das meiste mit Wörtern aus ihrer eigenen Sprache; aber es
konnte nicht fehlen, dass sie auch manches von ihren Vorgängern, den
Gelten, beibehielten, wie schon das Beispiel der Deutschen selbst lehren
kann, die in den slavischen, von ihnen germanisirlen Ländern vieles
deutsch benannt, aber auch eben so viel mit slavischen Namen über-
nommen haben. Auch der Platz bei Nordheim und der Berlin in
Augsburg liegen in Gegenden, wohin niemals Slaven gekommen sind.
Wie weit sich auch der slavische Zweig der Polaben über die Elbe
256 Ueber den Ursprung und die Bedeutung
hinaus ausgebreitet haben möge, und obgleich man mit Grund annimmt,
dass Slaven in dem thüringer Gau Winidon, am Main und an der
Rednitz, an der oberen Nah, Kaub und am Regen sassen, so findet sich
doch nicht die geringste Spur davon , dass je ein Slave seinen Fuss in
das Fiirstenthum Göttingen, in welchem Nordheim liegt, gesetzt habe,
weder geschichtlich noch in den Ortsnamen. Auch in Augsburg,
wenn es, wie ich nicht zweifle, mit dem Berlin für Berlach seine Rich-
tigkeit hat, konnten nie Slaven sein. Augsburg heisst bekanntlich
bei den Römern Augusta Vindelicorum. Dass die Vindeliker Gelten
und nicht Germanen waren, wird von bewährten Forschern auf diesem
Gebiete, von Zeuss (in seinem Buche die Nachbarstämme der Deutschen
und Gram. Celt. p. 771) und L. Diefenbach (Celtica II, 137) an-
erkannt, und ihre Annahme muss vor der älterer Gelehrten, die in
ihnen Germanen sahen, den Vorzug haben, da sie sich auf gediegene
Sprach- und Geschichtsforschung stützt, während jener Angabe mehr
durch allerhand unbedeutende Scheingründe bestimmt wurde. J. Grimm
(Geschichte der deutschen Sprache p. 476) scheint sich zwar auch für
den germanischen Ursprung der Vindelicier zu erklären, weil ihr Namen
eine Verwandtschaft mit dem Wandali und Windili zeigt; aber mir
scheint die Ableitung des Namens von den Flüssen Vindo oder Virdo
(Wertach) und Licus (Lech) , zwischen denen das Volk ursprünglich
sass (vgl. Sickler alte Geogr. I, 235), so wie der entschieden celtische
Charakter der ganzen Gegend südlich von der Donau, ein bedeutendes
Uebergewicht in die Wagschale zu werfen. Ueber das Alter und die
Topographie Berlins in der Gascogne vermag ich weiter keinen nähern
Aufschluss zu geben. Nicolai I, VIII erwähnt es, und giebt als seine
Quelle das Dictionnaire geographique de la France par Expilly T. I,
p. 584 an. Es genügt hier zu bemerken, dass es in einem celtischen
Lande liegt, und dass es schwerlich seinen Namen von unserem be-
rühmteren Berlin entlehnt hat.
Die Gelten waren anerkanntermassen nächst den Iberern unter
den ersten Einwanderern Europa's und gingen den Germanen unmit-
telbar vorauf, weswegen sie auch sprachlich und geschichtlich als eng
mit ihnen zusammenhängend gefunden und dargestellt werden. Ja im
Anfange kannten die Griechen und Römer nur Gelten, die Germanen
waren für dieselben in den Gelten mit enthalten, und erst später lernten
sie sie allraählig besser unterscheiden; und es ist auch jetzt noch nicht
immer sicher ausgemacht, ob manche Völkerschaften Gelten oder Ger-
des Namens der Stadt Berlin. 257
manen waren, Z. B. die Cimbern, welche nach Pliniiis und Ptoleniäus
in der nach ihnen benannten cimbrischcn Halbinsel (in dem jetzigen
Schlesswig und Jütland) wohnten , werden von einigen für Germanen,
von anderen für Gelten gehalten. Ich entscheide mich mit Diefenbach
(Celtica II, 188. 204 ff.) und H. Müller (die Marken des Vaterlandes
Bd. I.) und anderen für die celtische Herkunft, nehme mit Müller an,
dass nordwestlich sich die stammverwandten Beigen unmittelbar an sie
anschlössen, und vergleiche sie, trotz aller Einwendungen, mit den
noch in England vorhandenen Gelten, mit den Gymmry oder Wallisern,
sing. Gymmro, altwallis. Kemro, pl. Kemry, latinisirt Gamber, Gambri,
Gumbri, bestehend aus wallis. can, cyn, mit, und bro, brog, Land, also
s. V. a. lat. conterraneus , eandem terram habitans, indigena, armorik.
kenvro, kenvröad, pl. kenvröiz od. kenvröidi, compatriota, qui est ejus-
dem terrae, i. e. kenbro = wallis. cymro (vgl. Zeusz Gr. 226, 873).
J. Grimm jedoch in seiner Geschichte der deutschen Sprache (p. 636)
schreibt ihnen, gleich den Vindelikern, germanisch« Abstamnumg zu,
und erklärt ihren Namen aus einem hypothetischen angels. cempere
oder cimpor, althochd. chemphari oder chimphar, d. i. Kämpfer, Krieger,
und meint, damit wäre leicht aller keltischen Abkunft der Kimbern ein
Ende gemacht. Wie dem auch sei, so viel scheint mir gewiss, dass
den Germanen in Deutschland überall Gelten voraufgingen , und dass
sie in frühster Zeit auf der nördlichen Seite an die Finnen, und später
auf der südlichen Seite an die Griechen und Römer stiessen , deren
Wohnsitze aber früher die Gelten selbst inne hatten. Es ist durchaus
nicht erlaubt, sich einzubilden, dass die Germanen und Slaven die
ersten Bewohner unserer Gegenden waren , bloss weil die Geschichte
hier keine anderen vor ihnen erwähnt. Giebt es nicht Beispiele genug
von Völkern , die so gänzlich verdrängt und untergegangen sind, dass
auch nicht eine Spur mehr von ihnen übrig geblieben ist, und es nur
der speculativen Sprachforschung gelingt, das undurchdringliche Dunkel
hier und da etwas zu lüften. Ich bin überzeugt, dass wenn man die
Ortsnamen , besonders die Fluss - und Bergnamen diesseit und jenseit
der Elbe, so wie in Holstein, Schlesswig und Jütland und dem nord-
westlichen Deutschland einer genauen und kritischen linguistischen
Prüfung unterwerfen wollte, man noch manche Spur des untergegan-
genen Geltenthums wieder auffinden würde. Und lande sich gar ein
zweiter W. v. Humboldt, der das von demselben vermittelst der bas-
kischen Sprache auf Spanien angewandte Verfahren mit den celtischen
Archiv f. n. Sprachen. XXVII. 17
268 lieber den Ursprung und die Bedeutung
Sprachen nicht bloss auf unsere Gegend, sondern auf ganz Europa an-
wenden wüllle, so würde man eine ganz andere Vorstellung von der
ehemaligen Grösse, Macht und Ausdehnung der celtischen Völker ge-
winnen, während man jetzt nur so viel davon glaubt annehmen zu
müssen, als die Geschichte mit dürftigen Zügen verzeichnet hat, und
auch dieses wenige soll noch von Gelehrten ä la Holtzmann in Ger-
manenthum umgewandelt werden.
Noch einige in Berlin vorkommende dunkle Ortsbezeichnungen
laden zu dem Versuch einer Deutung ein :
1) Der Krögel oder Kröwel oder Krouwel, eine enge lange Gasse
rechter Hand am Molkenmarkte zwischen der Stadtvogtei und Padden-
gasse, die nach der Spree führt, in früherer Zeit ein Wasserzugang
für die Wagen in Feuersgefahren, bis er im 17. Jahrh. so verbaut
wurde, dass er auch als solcher nicht mehr benutzt werden könnte
(vgl. Fidicin Beitr. 3, 547). Nach Nicolai 1, 25 hei.«st eigentlich die
hinter diesem Gässchen befindliche Bucht der Spree der Krewel, welches
nach ihm vermuthlich ein wendisches Wort ist. Ich halte aber dafür,
dass er seine Erklärung eher durch das celtisch - wallisische crigyll,
a ravine, a creek, findet, indem hier Form und Bedeutung auf das ge-
naueste stimmen.
2) Da Berlin und der Krögel aus dem Celtischen kommen, so
sieht man sich versucht, den Fluss, die Spree selbst, eben daselbst
aufzusuchen, da die Namen der Flüsse, besonders der grösseren, überall
zu den ältesten und unveränderlichsten gehören. Ich habe ihn zwar
anderswo, und ich glaube mit Glück, aus wendischen oder slavischen
Verhältnissen zu erklären gesucht. Jedoch ist die Möglichkeit eines
celtischen Ursprungs nicht ausgeschlossen. Wenigstens ist es schon
auffallend, dass das Wort Spree geradezu in derselben Form im Cel-
tischen vorkommt, wenn auch mit einer nicht recht zusagenden Bedeu-
tung. Es findet sich nämlich im Irischen ein Wort spre, welches aber
a spark, flash of fire, animation, spirit bedeutet, und mit sanskritischem
spri, leben, athmen, verwandt scheint. Käme unsere Spree davon her,
so wäre es als lebendiges Wasser zu fassen.
3) Der Krank (Fidicin Beitr. 5, XXII) war eine Gegend zwi-
schen der heutigen Nikolaikirche, dem Molkenmarkte und der Post-
und Spandauer Strasse , hart am Mühlendamm und dem Dorfe Köln
gegenüber. In dem Berliner Stadtbuche aus der letzten Hälfte des
14. Jahrhunderts heisst es: In deme Krank sind 17 woninge di
wortyns geuen, eyn dell och rüden- tyns, und an einer anderen Stelle,
wo es schon zu Kran abgeschwächt oder verderbt ist, heisst es : Hynder
sunte Nicolsschole den kran umme stan XVII wonunge. Man hat es
durch Kranich zu erklären und als ein mit einer Winde versehenes
Gerüst zum Bau des Nicolaikirchthurms darzustellen gesucht. Ich
erkläre es durch das altslavische und polnische krong, Kreis, Umkreis
des Namens der Stadt Berlin. 259
(russ. ohne Nasal krug), welches ihm in der Form äusserst nahe steht
und eine sehr passende Bedeutung hat.
4) Der Kak oder Kaik, d. i. der Pranger, wird im Berliner
Stadtbuche öfter erwähnt. Dies ist kein wendisches, sondern ein nieder-
deutsches Wort. Es wird zwar in polnischen Wörterbüchern auf-
geführt, aber als dem preussisch-polnischen Dialect angehörend bezeich-
net. Dorthin ist es von Deutschland aus eingedrungen. Holländisch
heisst er ebenfalls kaak, schwed. kak, dän. kag, armorik. kelchen oder
kerchen, von kelch, kerch, cercle, cerceau, rond. Es kann coltisch sein,
indem sich kerch in niederdeutschem Munde fast wie kaak .ausspricht,
und das r dort wie im Englischen so schwach lautet, dass es in dem
Munde vieler ganz stumm zu sein scheint.
5) Der Molkenmarkt ist der älteste Markt in Berlin, und war bis
ins 13. Jahrhundert, in welchem der Neue Markt angelegt wurde,
der einzige. Nach Nicolai 1, 24, soll die Benennung erst um 1600
daher entstanden sein, dass die Kurfürstin Katharina, .Joachim Frie-
drich's erste Gemahlin, von ihrem in der Kölnischen Vorstadt angeleg-
ten Viehhofe, hier Milch zu Markte bringen Hess, welches vorhin in
Berlin nicht gewöhnlich gewesen war. Eine ziemlich frostige Erklärung.
Man begreift nicht, warum er alsdann nicht der Milchmarkt hiess, in-
dem man doch nicht das Allerschlechteste und Unbedeutendste, was
zuletzt von der Milch übrig bleibt, wie die Molken ist, gerade zu IVlarkte
zu bringen pflegt, sondern in der Regel zu Hause lässt. Nach Fidicin
führte derselbe schon im 14. Jahrhundert diesen Namen, und er habe
nach ihm wahrscheinlich von einer in der dortigen Gegend belegen
gewesenen Kuhmelkerei des Mühlenhofes seinen Namen erhalten. Ich
halte Molkenmarkt für eine Entstellung aus Molenmarkt, Mollenmarkt,
d. i. Mühlenmarkt, indem er am Mühlendamm und also dicht bei den
Mühlen liegt. So heisst auch der Mühlendamm selbst in einer Urkunde
von 1298 (Fidicin 1, 52) Molendäm, und der Mühlenhoff im Berliner
Stadtbuche (Fidicin 1, 32) Mollenhoff. Diese Erklärung wird niemand
befremden , der da weiss , wie häufig der Volksverstand sich unver-
standene oder durch Veraltung unverständlich gewordene Wörter in
seiner Art verständlich und mundgerecht zu machen sucht. Auch das
ist volksgemäss, dass er nicht alle Mollen in IMoIken umwandelte, son-
dern die einen in's Hochdeutsche übersetzte und den andern sich aus-
legte. So bekam er doch einen Unterschied, worauf er in der Sprache
überall Jagd macht.
6) Zuletzt will ich noch des Namens einer Nachbar- und Schwe-
sterstadt gedenken, nämlich Spandau's, die als Stadt etwas älter ist
als Berlin selbst, aber jünger als Brandenburg, weswegen Berlin sein
Recht von Spandau bekommen hat, das sich seinerseits, wie der Aus-
druck damals war, sein Recht von Brandenburg geholt hatte. Die
Anstrengungen der Etymologen sind, wie es mii- scheint, bis jetzt ver-
gebens gewesen, eine vernünftige Erklärung des Namens dieser Stadt
17*
260 Ueber den Ursprung und diu Bedeutung des Namens der Stadt Berlin-
zu erzielen. Ich glaube, dass derselbe recht gut von dem altböhmischen
Worte s})anda kommen kann, welches in alten böhmischen Glossarien
durch das mittellateinische stipa erklärt wird, d. i. quaedam parva arbor,
ut dicunt, copa, (juia ex ea stipentur tecta oder un petit arbre bon pour
balayer, scopa. Spandau liegt in einer sehr niedrigen und sumpfigen
Gegend, und es mag dort an dergleichen Strauch- und Buschwerk nicht
gefehlt haben, ja es mag da in Menge gewachsen sein und zum Theil
noch wachsen. Die einzige Etymologie , die ich bis jetzt bei anderen
gefunden habe, war von dem slavischen Worte spanie, der Schlaf. Ich
weiss nicht, wie man sich das gedacht haben mag, worauf man den
Schlaf oder die Schläfrigkeit hat beziehen wollen, ob auf die Gegend
oder die Bewohner oder irgend einen anderen Umstand ; auch scheint
man sich hierbei kein grosses Gewissen daraus gemacht zu haben, die
sprachliche Erklärung des d, woher dieses kommen soll, mit Still-
schweigen zu übergehen. Vielleicht hat man dabei den in manchen
Städtenamen vorkommenden Begriff der Ruhe im Sinne gehabt, der
aber ohne bestimmenden Zusatz, wie in Karlsi'uhe, Ruhleben, abgesehen
von der berührten sprachlichen Schwierigkeit, zu allgemein und abstract
ist, um als Städtenamen dienen zu können.
7) Auf dem Wege einer Anmerkung bemerke ich noch , dass ich
das celtische Wort berle mit der identischen Nebenform brelle, von dem
ich früher Berlin ableitete, nicht mehr mit berlim, brelim, breolim,
blerim, Schleifstein, vielleicht auch Sandstein, in Verbindung bringe,
sondern es ähnlich wie unser Berlin erkläre , nämlich als Weideort,
von eben demselben celtischen pat'ir, peur, por, per, Weide, und wallis.
lle. Ort, welches in der Zusammensetzung zu le werden muss. Auch
der Perlachberg lässt sich aus dem Cellischen deuten , ebenfalls von
dem celtischen Worte für Weide, und armorik. leach, lech, leh, Ort,
oder weniger sicher von celtischem her, hoch (Bullet), wallis. bar, top,
armorik. bar, harr, sommet, cime, und leach, lech, leh, Ort, also hoher
Ort, altus tumulus. Im Altdeutschen heisst der Perlach bei GrafF
perleih, perleich, perlaich, perlach. GrafF sucht nach dem Vorgange
von Henisch, Otto von Freisingen und der Auersberger Chronik das
Wort aus dem Germanischen zu deuten, aber ohne Erfolg. J. Grimm
(Mythol. p. 270) führt aus den Excerpten aus der gallica historica an:
denique pretorem, qui paulo altiorem tumulum (perleih) frustra ceperat,
roraana vi resistentem, obtruncant. Dies würde unsere letztere Deutung
stützen. Grimm erklärt sich nicht bestimmt darüber. Er bemerkt
bloss: der Name perleih, den die Sage auf periens oder perdita legio
zieht, gemahnt an das althochdeutsche eikileihi, aigilaihi, phalanx; leih
ist auch in anderen Zusammensetzungen vieldeutig (Mythol. p. 274).
Wenn man perlach so auslegt, wie ich es zuerst gethan habe, so be-
greift man auch, wie der Ausdruck Berlin als synonym daneben auf-
treten kann, indem sie alsdann beide beinahe dasselbe bedeuten, nämlich
perlach, Weideort, und berlin, Weidewald.
Dr. C. A. F. Mahn.
Trois vieux poemes
en l'honneur de la Sainte-Vierge.
I-*)
A toy, reine de liault parage,
Dame du ciel et de la terre,
Me vien complaindre de l'outrage
De l'ennemy qiü me fait gnerre.
Mon poure euer au Corps me serre:
Helas, dame, secoures moy,
Quar ie ne say ou confort querre,
Vierge, se ie ne Tay de toy.
De toy nous vient toute bonte,
Tres doulce dame gracieuse.
S'aucun peche m'a surmontee,
Vueilles moy estre gracieuse.
La mort qui est si tres hideuse
Me vient haper, ie ne say Teure.
M'ame en est si angoisseuse
Que de paour chascun iour pleure.
Pleurer me fault mes grans mesfais,
Quar i'ay vescu toute ma vie
En peche par ditz et par fais.
Helas, dame, ie te supplie,
Prie ton filz, Ie fruit de vie,
Que tu alaytas doulcement,
Qu'il luy plaise par courtoysie
A moy pardoner hurablement.
*) Le poferae Nro. I. sert de preface aux „HeuresEnlumindes de-
la reine Anne de Bretagne," raanuscrit precieux da XV. aiöcle sur par
chemin, qui est conserve dans la bibliothöque de la ville de Tours en
Touraine.
Trois vieux poemes
Humblement te fay priere,
Mere de nostre redemptour,
Que ta benigne grace acquiere,
En perseverant en t'amour.
Tu es le chastel et la tour,
Ou les pecheurs se vienent rendre:
Si te suppli, oy ma clamour,
Et a mon fait vueilles entendre.
Atten a moy, tres sainte vierge,
Qui portas le doulz Ihesus,
De qui tu fus mere et concierge,
Cyerge, lumiere sans refus.
Oncques refusante tu ne fus
Vers les pecheurs, vierge pucelle :
Celle tu es de plus en plus,
Plus doulce, gracieuse et belle.
Belle sans per et sans nul si,
Plus doulce fleur que n'est la rose,
Met mon ame hors de souzi,
Que de tous peches est enclose
Tant que a ton filz parier ie n'oze
Pour les grans peches ou ie suy.
Si te suppli sur toute chose,
Pries luy qu'il ait de moy mercy.
Mercy requier a iointes mains
A toy, tresoriere de grace!
Fay, que mes maulx soient estains
Et que ton filz pardon me face,
Quar l'ennemy o lui me lasce,
Se par ta grace n'ay secour.
Et d'aultre part la mort me chasce
Par quoy ie vitz en grant tristour.
Tristour me fait plus noir que meure,
Dame plaine de courtoysie,
Quar orgueil si m'a couru sure
Et le peche d'ire et d'enuie.
Luxure ausy et gloutonie
Auecque auarice et paresse
Auront sur moy leur seigneurie,
Se o moy ta grace ne s'adresce.
Dresce mon cueur, ie te requier,
En la uertu d'umilite.
en l'honneur de la Sainte - Vierge. 263
Charite ausy ; que requier,
Me soit donnee par pitie,
Bonne abstinance, chastete
Avecque largesce et pacience:
Souffisance par ta bonte
Me soit donnee et diligence.
Diligence m'est necessaire,
Mere dieu, fay donc que ie l'aye
Tant que a ton filz ie puisse plaire
En quelconque lieu que ie soye.
I'ai prins de touz peches la voye,
Se par toy n'ay misericorde,
Tant que de dieu ie me denoye,
Se 0 moy ta grace ne s'acorde.
Acorde donc ma pouure ame
A Ihesu - Crist Ie roy des cieulx.
Et te suppli, tres chiere dame,
Prie luy qu'il me soit gracieux,
Et que son saint corps precieux
Dignement puisse recepuoir
Tant qu'au royaujne delicieux
Ie puisse paradis auoir.
Auoir ne pourray aduocat,
Quant uandra[y] au point de la mort.
Si toy, dame, n'y metz debat,
Ie suy en peril d'auoir tort.
Si suy en si grand desconfort,
Que ie ne say que deuenir:
Si par toy ne suy a bon port,
En orrant dangier me fault tenir.
Tenir me fault, vierge Marie!
Conduy mon ame hors de paine,
Garde la de mal et nettie,
Ie te pri, vierge souveraine.
Tu es Ie rusel et fontaine
Qui laues chascune ame tainte.
Garde m'ame de mort vilaine!
A tant finera ma complainte.
Trois vieux poeraes
II.*)
Virge gloriose,
Necte, pure, munde,
Mere preciose,
Lumere dou monde,
En toy toz biens habunde.
Dame graciose,
De dieu f'u[s] elite:
De toy fit s'esponse
Por ton grant merite
Dieux qui au cieus habite.
Tu es rose coloree
Toz iors et vermoylle,
Ta eolor n'ert ia muee,
^o n'est pas meruelle,
Nus ne uit ta parelle.
Tu es Hs et violete,
To[s]temps munde et pure,
De tot peche nepte,
Sur tote nature,
Quar dieux i mist sa eure.
Tu es baumes natures,
Pimenz et lectuayres,
.**) et sauorez,
Pucele debonayre,
Nos cuers purge et esciayre.
Tu es flors,
De cuy Todors
No desfaut ne empire,
Tu es fruyz,
Que nos conduys
Et maynes a l'empire,
Que tint Ihesus li sire.
Tu es soleauz,
Tu es iornaus,
Estele marine,
De ta clarte
Por ta bonte
Noz enlumine,
Des angels la rayne.
Tu es li porz
Et li deporz,
Li deduyz et la ioye.
Tu es conforz
Et li acorz,
Chemins et droyte uoye
A celuy qui te proye.
Tu es clarte,
Tu es purte,
Tu es esperites hoteis.
One ne fu tel,
Quar dou saynt ciel
Dessendit la rosee,
Dont tu fus arosee.
Tu es uergiers,
Tu es rosers,
Tu es li douz paradis
Pleyns de deliz,
Ont Ihesu - Crist
Ou lo saynt esperite
Se deduyt et delite.
Tu es sacrayres enbaumez.
Tu es celers enpimentez,
Ont li fiz dieu fu delitez,
Quant senz dolor et payne
En toy pris[t] char humayne.
*) Les Nro. II. et III. sont tirds de meme d'un ms. de la bibliotheque
de Tours, du XIV. siecle en parchemin, lequel, comme chose principale,
contient les miracles de notre dame par Gautier de Coinsy dans une redac-
tion inferieure h celle du ms. Nro. 7987 de la bibliotheque imperiale de
Paris.
♦*) Ms.: enheluez.
en l'honneur de la Sainte-Vierge.
265
Tu es la virge Aaron,
Tu es li tenples Salonion,
Tu es la mayson d'orayson,
De totes uertuz playne
Et de toz biens fontayne.
Rayne coronee,
Dame beneuree,
Bien doyt estre honoree
L'ore que tu fus nee.
Por toy fu deliuree
La genz maleuree,
Que fu enprisonnee
En enfer et enserree.
Qui bien te sert,
II en desiert
Son luec en la contree,
Que eil hauront,
Qui bien t'auront
Seruie et honoree.
Doce dame que dieu portas,
Que de ton saynt layt l'alaytas,
Virge fus et uirge enfantas,
Por ta niisericorde
A ton fil nos acorde.
Si por toy n'iemes acorde,
Moult en seront descorde
Noz cuers qui sunt mal acorde,
Si tu ne les acordes,
Fontayne de concorde.
Sayntisme pucele,
Gente de fayture,
Gentis damaysele,
De la grant ardure
D'enfer, que toz iorz dure,
Defendez nos armes
Et metez a uie,
Qui sus totes dames
Auez segnorie,
Dame saynte Marie.
m.
La uirge, en cuy j'ay m'esperance,
Volo laudare carmine,
Quar lo fil dieu, 90 est ma creance,
Concepit sine semine,
Qui nos redemit sanguine,
Quant il fu mis en la balance
Crucis pro nostro crimine,
O il morit a grant uitance.
La uirge, 90 dit l'escripture,
Tunc stabat ante filium,
Quant il sofrit mort et laydure
Propter salutem gentium :
Vere dolorem nimium
Soffrit la uirge nepte, pure,
Quant uidit per martirium
En croyz pendre sa porteüre.
He dieux! qui bien porroyt entendrc,
Quantos dolores habuit,
Quant e[n] la croyz uit son fil pendre,
266 Trois vieux poemes
Quem uirgo mater genuit.
Vere miraculum fuit,
Quant li syens cuers se cuit de fendre,
De mal tantum sustinuit,
Quant a son fil uit l'arme rendre.
[B]yen fu en la uirge aconplie
Prophetia Symeonis,
Qua dist de la uirge Marie
In die purgationis,
Quod gladio passionis
Sera sa saynte char parcee.
Mucrone dilectionis
Fu la uirge martiriee.
Toz iorz deuroyt estre nouele
Homini Christi passio
Et li deaus que fit la pucele
Ante crucem pro filio.
Purgemus nos a uitio
Et saluons souent la bele:
Non defraudatur praemio
Qui docement de euer l'apele.
A la uirge plena de grace
Debemus omnes credere
Et li prier qu'ela nos face
Sic in hoc mundo uiuere
Et sie mores corrigere,
Que deables ne nos enlacce,
Vt possimus euadere
Enfer, o est la froyde glace.
Or te prions, uirge Marie,
Qui (sie!) iam regnas in superis,
Que tu nos soyes en aye
In die nostri funeris.
Virgo, succurre raiseris,
Que Sathan ne hayt en nos ballie;
Libera nos ab inferis
Et nos met en ta conpagnie!
Chant, uay t'en a may[s]tre Nichole
Et die aperto carmine,
Qu'il ne -chant mays chant de corole,
Quia non caret crimine.
en l'honneur de la Sainte-Vierge.
Sed de beata uirgine
la ne perdra pas sa parole
Atqiie de Christo homine,
Qui per toz nos la croyz acole.
2G;
IV.')
Dame deu est en haute gloire,
Loenge et iiertii et uitoire.
Et pais est as homes del mont
En terre que bon uoloir ont.
Beau sire deu, nos te loons,
Sire, nos te beneissons,
Nos t'aorons glorefiant,
Por ta gloire graces rendant,
Dex sire, reis celestiaus,
Peres poissans, esperitaus.
L'aignel de deu, fill del Saint pere,
Qui des pechies yes saluierre,
Beau sire aies dex pitie,
Qui esfaces iniquite:
Qui fas as pecheors pardon,
Dex recei la nostre oreison:
Qui a destre ton pere sies,
Esface et oste noz pechies.
Car tu es sains tant solement,
E tu yes sire senglement,
Et [Ih]esus sol yes sans mentir,
Et le pere et le saint espir.
Pere nostre qui es es ciels,
Le tien nom soit saintifies.
Uiegne tez parmanables regnes,
Que tu touz tens mais sur nos regnes,
Que ton uoloir plenierement
Faisomes tuit comunalment.
Done nos pain de sostenance,
De dotrine et de penitance,
Pain del sacrement de l'autel
*) Nous y ajoutons quatre petits poemes du XIII. siede, qui se trouvent
dans le manuscrit Nro. 8177 de la bibl. imperiale, h. la suite des psaumes
de David, en vieux fran9ais du meme sifecle.
Trois vieux poemes.
Qui nos guart de pechie mortel.
Fai nos de noz pechies pardom,
Si con nos a autrui pardonora.
Fai que pechie ne nos enyure,
Et de trestouz mal nos deliure.
Done nos yces set requestes,
Qui trestouz autres biens nos prestes.
VI.
le crei en deu de gloire, le pere tout poissant,
Qui crea ciel et terre et toute rien uiuant.
En Ihesu Crist son fill, qui en terz-e nasquit
De Marie la uirge per le saint esperit.
Qui SOS Ponce Pylate por nos tant mal sofri,
Batus, crucefies, mors et enceuelis,
En enfer descendis, au tiers ior resuresis.
Et en geta les armes o soi de scs amis,
E la destre son pere monta en paradis,
Qui uendra a iuger et les mors et les uis.
le croi el fill, el pere, et el saint esperit.
le crei que sainte yglize fu, est et yert tos dis.
le crei el uerai cors de Ihesu Crist, ton fiz.
le crei que tu pardones pechies as repentis.
le crei que ceste char, que nos auons meisme,
Resuresuteron nos tuit al ior del iuise,
Et que li bon seront en uie pardurable,
Et li mauais toz tens en paine pardurable.
Amen , si com ie croi soit ferm et
VII.
Dex t'esaut et henort, dame sainte Marie,
De grace, de docor, de touz biens replenie.
Nostre sire est o toi dex qui te saintefie.
Sur toutes autres fernes yes sainte et beneye.
Et benois soit tez fiz Ihesu Crist, nostre uie!
Julius Wollenberg.
Hamlet,
eine Schicksalstragödie.
Zeigt sich der Glückliche mir, ich vergesse die Götter
des Himmels ;
Aber sie stehn vor mir, wenn ich den Leidenden
seh'.
Schiller.
Es haben die Bücher und Büchlein ihre Schicksale, die
ihnen oft verhängnissvoll genug ihr Titel bestimmt. So dürfte
auch die Ueberschrift, welche ich diesem Aufsatze gegeben habe,
in doppelter Hinsicht den Leser mit so grossem Misstrauen
gegen den Inhalt erfüllen, dass er ihn unbedenklich aus der
Hand legte und seine Zeit einem Gegenstande widmete, der
ihm mehr Ausbeute für die Mühe des Lesens verspräche. Hamlet
— eine Schicksalstragödie! Und auch überhaupt — Hamlet!
Scheint es doch , als ob man im Hinblick auf die betreffende
Literatur nunmehr unwillig ausrufen könnte : Hamlet und kein
Ende! Wie Jeder, der, mit einiger Bildung und einem ge-
wissen natürlichen Gefühl ausgerüstet, heutzutage eine Reise
nach Italien macht, uns Bücher oder wenigstens unvermeidliche
Journalartikel von dorther sendet, so werden die Leser unserer
Shakspeare, Schiller, Goethe u. s. w., ehe man sich dessen ver-
sieht, zu Schriftstellern. Besonders nun ist die Hamletliteratur
zu einer Masse angewachsen , die sich schon schwer übersehen
und noch schwerer in einen kritisch gesichteten Zusammenhang
bringen lässt. Indessen ein jedes ächte Kunstwerk ist uner-
schöpflich. Eine neue Betrachtung ist an sich inmierdar erlaubt,
weil der Kest, welcher bei der jedes Mal angestellten Unter-
suchung übrig bleibt, immer wieder den kritischen Verstand
auÖbrdert, ein Minimum daraus zu machen. Freilich gilt dieses
270 Hamlet.
nur von den grössten Kunstwerken, von denen, welche die Natur
dergestalt abspiegeln, dass der denkende Geist sie in ihnen wie-
derfindet, nur mit dem Unterschiede, dass er, gebannt, wie in
einem Zauberkreise, die ewigen Ideen ungestörter darin anschaut,
während ihn die Wirklichkeit zerstreut und dem schweifenden
Gedanken nicht gleichsam ein Haus bietet, in welchem er wohnen
kann, um der Arbeit des philosophischen Erkennens mit um so
grösserem Erfolge nachzugehen. Daraus ergiebt sich, dass,
wie jeder Mensch und jede Zeit , ihr besonderes Verhältniss zu
den Ideen haben, so auch jedes Kunstwerk, welches uns diese
wahrhaft vergegenwärtigt, eine verschiedene Stellung je nach
der Beschaffenheit der Individuen wie des jedesmaligen Zeit-
alters einnehmen wird. Es erweist sich auch, wie wir sehen,
jedes Werk der wirklichen Kunst, fruchtbar für alle philoso-
phischen Systeme, wie sie der Reihe nach im Laufe der Zeiten
aufgestellt worden sind. Die Zeit, in welcher das Verständniss
für die erhabensten Schöpfungen des menschlichen Geistes ent-
weder mangelhaft oder völlig verloren gegangen ist, beweist
eben dadurch ihre Unfähigkeit, die Ideen als die Urbilder der
Dinge zu erkennen. In dieser Beziehung ist gerade die Ge-
schichte des Verständnisses, welches Hamlet seit seiner Ent-
stehung gefunden hat, äusserst lehrreich. Der Mangel an phi-
losophischer Erkenntniss geht immer mit dem einer Betrachtung,
die in die Tiefen der Kunstwerke dringt, Hand in Hand. Wer
freilich nur das Sinnliche auffassend oder noch als Zugabe hier
und da eine moralische Sentenz zur obligaten Veredlung des
inneren Menschen mit in den Kauf nehmend wie der Wirklich-
keit so auch der Kunst gegenüber sich verhält, wie könnten
wir dem ein gewisses Verständniss absprechen? Es wäre ja
so, als ob wir von dem, der sich gut nährt und kleidet, sagen
wollten, dass er noch nicht lebt. —
Ich weiss nicht, ob von diesem Gesichtspunkt aus beur-
theilt, der Beifall, welchen unser Zeitalter der Biographie Göthe's
von der Hand eines gewissen Engländers gezollt hat, zu Gunsten
der Krönenden wie des Gekrönten spricht. Jedenfalls steht mir
fest, dass, wenn wir Deutsche da in der Beurtheilung Shak-
speare's stehen geblieben wären , wo Lewes für gut befindet,
die Betrachtung einzelner Göthe'scher Werke abzubrechen, das
Hamlet. 271
Verständniss eines Gedichtes wie Hamlet vielleicht überhaupt
nicht viel weiter gediehen wäre als in Voltaire's Geiste, der
dieses tiefsinnigste Produkt des Dichterkönigs für das Werk
eines Wilden erklärte, dessen Phantasie dabei in der Irre ge-
gangen wäre. Der Deutsche hat die freilich mitunter unbe-
queme Gewohnheit, in die Tiefe zu gehen. Wenn die Vertreter
anderer Nationen mit der Betrachtung von Kunstwerken lange
fertig sind und es glücklich dahin gebracht haben , dass
ihnen ihr eigenes oft genug einfältiges Angesicht daraus ent-
gegenlächelt, sind wir es an dem deutschen Forschergeist ge-
wohnt, dass er, wo jene müde werden, noch immer das Alp-
horn aus der Heimath der Ideen klingen hört , das ihn zurück-
ruft und antreibt, des Suchens nicht müde zu werden. —
Diese allgemeine Beziehung auf ihren idealen Gehalt ist es
also, welche die Schöpfungen der Kunst zu einem Gegenstande
der Betrachtung für jede Zeit macht. Davon verschieden ist
die allegorische Bedeutung, die jedes Kunstwerk mehr oder
minder hat; man kann sie auch die symbolische oder divina-
torische nennen. Sie beruht auf der Analogie gewisser Verhält-
nisse, die in dem Kunstwerke zur Darstellung kommen, mit
zufälligen Umständen der Zeit oder mit besondern Eigenthüm-
lichkeiten der Individuen. Die symbolische Auftassungsweise
ist daher untergeordnet. Sie lässt der Willkür einen zu weiten
Spielraum , weil sie nicht das , was e\\ ig und immer dasselbe
ist, zum Gegenstande hat, wie die Platonischen Ideen, sondern
das, was der Zeit und ihrer Vergänglichkeit angehört. Ich gebe
darum nicht zu viel auf die Deutungen und Deuteleien , die
man unserem Hamlet gegenüber vorgenommen hat, wenn ich
auch nicht leugne, dass sie wirksam sind, auf das Schwache
und Mangelhafte bestimmter Zustände aufmerksam zu machen,
weil sie uns hier im Bilde ausser uns gegenüberstehen.
Die allegorischen Beziehungen , die man im Hamlet ge-
funden hat, lassen sich etwa auf drei Punkte zurückführen: auf
den Charakter des Helden, auf sein besonderes Verhältniss zu
dem Geiste seines Vaters und auf einzelne Aeusserungen, denen
man eine prophetische Bedeutung für unsere Zeit gegeben hat.
In erster Beziehung dürft' es am Orte sein, an die Briefsamm-
lungen zu erinnern, welche in unseren Tagen so überaus zahl-
272 Hamlet
reich erscheinen und zu einer Vergleichung aufzufordern zwischen
den Enthüllungen von Gemüthszuständen, die dort gegeben
werden, mit Aussprüchen Hamlets. Es wird sich dann von
neuem zeigen, ein wie tiefer Seelenkenner Shakspeare ist. In
Briefen theilt sich ja der Mensch am unbefangensten mit ; hier
liegt seine Seele offen. Es ist mir nun begegnet, dass ich oft
auf die merkwürdige Uebereinstimmung aufmerksam wurde,
die z. B. in den Briefen des unglücklichen Heinrich von Kleist
mit Aeusserungen des Dänenprinzen sich findet, ohne dass ich
doch genöthigt gewesen wäre, darin nur Reminiscenzen zu sehen.
So dass ich den Schluss machen möchte, dass, wenn der Un-
tergang Hamlets in seinen Gründen uns klar ist, dieses auch
mit dem Geschicke jenes Dichters der Fall ist.
Dass Hamlet und sein Geschick vielfach auf den Cha-
rakter der deutschen Nation gedeutet ist, liegt eigentlich zu
nahe, als dass ich es erwähnen dürfte. Was die Erscheinung
des Geistes betrifft, so hat sie für uns, wenn wir uns immer
noch mit Hamlet als die Epigonen einer grossen Vergangenheit
betrachten wollen, den Sinn, dass sich auch für uns der Geist
edler Vorfahren aufrichtet in der Dämmerung einer besseren
Zeit mit dem Mahnruf, das Vermächtnis s der Vergangenheit
treu zu verwalten und an eine glücklichere Generation zu über-
liefern. In der Verwaltung dieser Pflicht dürfen wir uns dann
Hamlet nicht zum Muster nehmen.
Um die Ilinweisung auf diese symbolischen Beziehungen
zu beendigen, führ' ich eine Aeusserung Hamlets zu Horatio
an, die mir treffender als es sonst irgendwo geschehen ist, das
Halbe und Erlogene in manchen Zuständen der modernen Bil-
dung und Gesellschaft abzumalen scheint. Sie bezieht sich zu-
nächst auf Osorik, den würdigen Nachfolger des Polonius , und
lautet: „Er machte Umstände mit seiner Mutter. Brust , eh er
daran sog. Auf diese Art hat er, und viele Andre von dem-
selben Schlage, in die das schale Zeitalter verliebt ist, nur den
Ton der Mode und den äusserlichen Schein der Unterhaltung
erhascht: eine Art von aufbrausender Mischung, die sie durch
die blödesten und gesichtetsten Urtheile mitten hindurch führt;
aber man treibe sie nur zu näherer Prüfung und die Blasen
platzen."
Hamlet. 273
In der von Jahr zu Jahr sich mehrenden Shakspeare-
literatur nehmen, wie gesagt, die Besprechungen des Hamlet
den bei weitem grössten Kaum ein. Es tritt also das Bedürf-
niss ein, das Gute von dem Schlechten auch auf diesem Ge-
biete zu sondern und vereinzelte Beobachtungen, welche die
Sache treffen, zu sammeln und in Beziehung zu der das Ganze
leitenden Idee zu setzen. Ich kann mich hier nur auf die Er-
wähnung der hervorragendsten und wichtigsten Erscheinungen
der betreffenden Literatur beschränken. Es genügt, wenn ich
angebe, weshalb ich es für nöthig halte, nachdem ein Göthe
und Gervinus sich über diesen Gegenstand haben vernehmen
lassen, denselben von neuem aufzunehmen.
Es ist bekannt, wie lange unser Hamlet auch als Tragödie
von Shakspeare in der Welt herumirren musste, ehe er das-
jenige Verständniss fand, welches ihm gebührte. Gemahnt uns
doch das oben angeführte Urtheil Voltaire's an manche thörichte
Kedeweise, mit welcher in dem Stücke selbst Polonius und
seines Gleichen dem verkannten Prinzen begegnen. Gewiss ist
zu Shakspeare's Zeit selbst die richtige Einsicht in das Trauer-
spiel vorhanden gewesen, wenn man den Schilderungnn trauen
darf, die uns von der Darstellung Shakspeare'scher Kollen durch
den Schauspieler Burbadge gemacht werden. Es lässt sich an-
nehmen, dass ein Publikum und ein Theater, welche , wie wir
wissen, den übrigen Schauspielern Shakspeare's eine im Ganzen
ausreichende Gerechtigkeit bewiesen, auch in Hamlet mehr sah
als ein buntes Durcheinander von Geistererscheinungen , philo-
sophischen Betrachtungen und Mordthaten. Ein tieferes Ver-
ständniss von Seiten der damaligen Zeit lässt sich sogar mit
einiger Sicherheit aus zwei besonderen Gründen annehmen.
Einmal konnte der persönliche Einfluss des Dichters selbst auf
die Einsicht der Schauspieler und dadurch des Publikums wirken.
Das Stück ist in den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts ge-
schrieben, bald nach dem Tode seines Sohnes Hamlet 1596,
ein Umstand, welcher, zusammengehalten mit dem 6G. Sonett,
einen pathologischen Antheil des Dichters an der Tragödie mit
Recht vermuthen lässt. Ich verweise in Bezug auf die übrigen
Zeitverhältnisse, welche die Abfassung begleiteten, auf Ger-
vinus. Den anderen (irund bctreffeiul , ist neuerdings im
Archiv f. II. Sprachen. XXVII. 18
274 Hamlet.
deutschen Museum von Prutz die HyjDotliese aufgestellt worden
(in diesen Blättern von K. Silberschlag) , dass der Dichter
wohl durch den Charakter und das Geschick Jakobs I. (1603
bis 1625) auf die Conception seines Hamlet könnte geführt
worden sein. Wenn dem so ist, so sehen wir auch hier, wie
bei Abfassung des tiefsinnigsten Gedichts zufällige Umstände
mitgewirkt haben. Dieselben konnten zugleich einen Anhalt
zum tieferen Verständniss abgeben, welcher der späteren Zeit
verloren gegangen war. Wie weit Garrick's Auffassimg richtig
war, muss man dahingestellt sein lassen. Lichtenberg's Bericht
darüber ist zu wenig eingehend, als dass wir uns daraus ein
Urtheil bilden könnten. Möglich ist es jedoch, dass selbst ein
80 grosser Schauspieler wie Garrick aus diesem Charakter das
machte, was ihm beliebte. Der Reiz, der von seiner Darstel-
lung ausging, kann deshalb immer noch ein gewaltiger gewesen
sein ; denn ganz abgesehen von der Kunst des Schauspielers,
ist Hamlet ein so populäres Stück nicht wegen der Antworten,
die er auf die höchsten Fragen des menschlichen Geistes er-
theilt, sondern wegen der Spannung, in welcher uns die Hand-
lung trotz des Gedankenreichthums der Rede erhält. Auch
hier steht er auf gleicher Linie mit Göthe's Faust, von dem
der Prolog sagt: wer vieles bi-ingt , wird Manchem etwas
bringen.
Das wissenschaftliche Verständniss fand Hamlet erst in
Deutschland , wenn man diesen Ausdruck braucht , um zu be-
zeichnen, dass diese Stimmung, in die das Gemüth durch ein
Kunstwerk versetzt ist , auf Begriffe zurückgeführt und durch
den Hinweis auf die leitende Idee die einzelnen Theile des
Ganzen als Glieder eines Organismus zum Bewusstsein gebracht
werden. Ich scheue mich nicht, von einer leitenden Idee zu
sprechen, obwohl ich weiss , dass diese Wendung bei Manchen
einen gewissen Verdacht erregen wird. Deshalb muss ich mich
etwas genauer darüber erklären. Man macht den Bemühungen
der Kunstrichter gegenüber häufig den Einwand, dass sie den
Dichtwerken gewisse allgemeine Ideen unterlegten , welche ein
Jeder nach Belieben mit andern vertauschen könnte , da nicht
einzusehen wäre, warum man dem einen versagen sollte, was
man dem andern zugestehe. Eigentlich bin ich diesem Vor-
Hamlet. 275
Avurf schon oben begegnet durch die Unterscheidung des Ver-
ständnisses einmal aus den Ideen und dann aus der allegorischen
Auffassung. Jener Einwand richtet sich juit Grund nur gegen
die letztere, wenn sie mit der Miene eines objectiven Verhaltens
an die Stelle des ersteren tritt. Jeder wird zugeben, dass es
Ideen von solchem Inhalt und zugleich von so allgemeiner Gel-
tung giebt, dass der menschliche Geist im Laufe der Geschichte
immer wieder darauf zurückkommt. Sie stehen gleichsam als
Marksteine seines Reiches da, über welche er nicht hinaus-
gehen darf, ohne durch diese Ueberschreitung seiner Grenzen
gewissermassen eine Kriegserklärung gegen höhere Geister ab-
zugeben. Ich verstehe darunter vorzugsweise die Platonischen
Ideen, wiewohl diese noch eine andere Bedeutung haben. AVer
nun an solche Grundpfeiler des menschlichen Denkens die Werke
der Kunst anlehnt, der erlaubt sich nichts A\'illkürliches, der
ist nur von dem Streben beseelt, den Zusammenhang des Schönen
und Wahren nachzuweisen.
Derjenige nun, welcher bis jetzt den besten Schlüssel für
das Verständniss des Hamlet gab, ist und bleibt nach meiner
Ansicht Göthe in seinem Wilhelm Meister. Ich setze das Rai-
sonnement in dem genannten Roman, welches diesen Gegenstand
betrifft, als bekannt voraus. Seitdem ist meines Wissens nichts
geschehen, das dort angebahnte Verständniss zu vervollkommnen,
vielmehr hat man, statt die genialen Andeutungen des deutschen
Dichters wissenschafthch auszuführen und zu begründen, Alles
gethan , um die richtige Ansicht Avieder zu verwirren. Börnc's
Aufsatz über Hamlet ist mit feiner Anempfindung geschrieben
und entbehrt nicht einiger sehr dankenswerther Winke, im
Ganzen aber unklar und eigentlich ein neues Geständniss, dass
das Gedicht ein Buch mit sieben Siegeln sei. Besonders aber
muss ich gegen die Auffassung von Gervinus protestiren, wie-
Avohl ich diese Gelegenheit nicht versäumen kann, meiner Hoch-
achtung für diesen Mann Ausdruck zu geben. Ich zähle sein
Werk über Shakspeare zu den Büchern, die man nie auslesen
sollte. Es führt unser Nachdenken auf geebneten Wegen zu
den reichsten Entdeckungen. Aber — man wird gut thun, auf
dieser Reise noch einen Führer mitzunehmen, wenn es möglich
ist — Apollo, den Gott der Dichter selljst. Dann wird man
276 Hamlet.
in würdigem Geleite den Einzug halten in das Reich des Dich-
terkönigs. Gervinus ist zu häufig mehr Moralist als Aesthe-
tiker. Er behandelt seinen Leser auch bei Besprechung des
Hamlet wie ein Vater seinen Sohn ; er belehrt uns , statt von
seiner Hinweisung auf das Schöne den Erfolg abzuwarten, dass
wir uns selbst belehren. Indem er überall den Gewinn im
Auge hat, den die Lektüre Shakspeare's für das praktische
Leben absetzen soll, wählt er die Gesichtspunkte in seiner Ab-
handlung über Hamlet so, dass das ganze Stück in eine Be-
leuchtung tritt, welche der Dichter zunächst nicht beabsichtigt
haben kann. Er stellt Reflexionen an, ehe noch die anschau-
ende Phantasie zu ihrem Rechte gekommen ist. Nun hat aber
der Kritiker die Aufgabe , auch auf diese durch entsprechende
Mittel zu wirken. Auch ich kann die ethische Betrachtung
nicht von den ästhetischen trennen, aber der Uebergang muss
in der Kritik eben so allmählich gemacht werden wie er in Wirk-
lichkeit ist. Ja, der Kritiker hat das eben so schöne wie schwie-
i'ige Geschäft, vermittelnd zwischen Kunst und Wirklichkeit
aufzutreten. Am wenigsten darf er den Weg, welchen der
Dichter uns führen will, durch irgend eine Ermahnung ab-
kürzen, dass wir ermüden oder uns verirren könnten.
Nach dem Bisherigen ist nun meine Aufgabe, nachzuweisen,
wie das Richtige, was namentlich von Göthe über Hamlet ge-
sagt worden ist, in Uebereinstimmung mit der diese Tragödie
leitenden Grundidee steht, welche, wie ich glaube, noch nicht
mit derjenigen Schärfe angegeben ist, deren es bedürfte, um
sie zu einem wissenschaftlichen Erwerb zu machen. Unter
einem solchen verstehe ich in diesem Fall einen neuen Zuwachs,
den die Theorie der Tragödie überhaupt erhält. Dabei werd'
ich nicht umhin können, die Vergleichung mit den anerkannt
vorzüglichsten Kunstwerken dieser Gattung herbeizuziehen.
Ich gehe von dem Satz aus, dass die Tragödie überhaupt
im Wesentlichen es mit dem leidenden Menschen zu thun hat.
Diese Bestimmung scheint mir völlig ausreichend.
Sehen wir darauf zunächst den Charakter des Hamlet an.
Ich fasse die Grundzüge desselben in folgende Bestim-
mungen zusammen: er ist Ideahst, er ist Zweifler, er ist ehr-
Hamlet. 277
geizig, er ist in der Gesinnung edel und es fehlt ihm nach
Göthe's Ausdruck an der sinnlichen Stärke des Helden.
Er ist Idealist. Mit dieser Eigenschaft sondert er sich aus
seiner Umgebung völlig aus. Sein Gefolge ist abscheulich.
Warum dieses? Er hat den Unterschied dessen erkannt, was
sein soll und was nicht sein soll. Er hat die Sonne zu sehr
lieb und die Sterne. Sein Blick ist tiefer gedrungen in das
Wesen der Dinge als alle die, welche ihm zur Seite stehen,
mit denen er sogar im Umgange steht, Horatio nicht ausge-
nommen. Auch dieser, welcher ihm am nächsten steht in der
Erkenntniss der Ideen, drückt sich den derben Kriegern gegen-
über philosophisch genug aus. Auf die Frage , ob er da sei,
antwortet er: „ein Stück von ihm," als ob ihm das Fichte'sche
Ich vorschwebte, das ja, indem es die Dinge erst werden lässt,
gewissermassen mit diesen immer ein anderes wird. Aber —
er hängt doch nicht so an der idealen Welt, dass sie ihn in
Conflict mit .der realen bringt. Was ihm in dieser Widriges
begegnet, ist nur „ein Stäubchen, des Geistes Aug' zu trüben."
Wie anders Hamlet ! Ihm ist das Stäubchen eine rudis indi-
gestaque moles, weil er, geboren für eine andere Welt, in dieser
sich nicht zurecht finden kann. Darum bedauert er, dass er
doch an das unfreundliche Gestade dieses Lebens ausgesetzt
ist. Er drückt sich immer bildlich aus, weil er in dem Wahne
lebt, dass die Ideen überall, wo er sich befindet, sich verwirk-
licht zeigen müssten. Es spricht sich in dieser Ueberfülle der
Phantasie die Sehnsucht nach der Fassbarkeit des Idealen aus.
Er liebt die Einsamkeit , weil er hier seiner amabilis insania
ungestört nachgehen kann , und wenn er mit anderen die Luft
theilen muss, ist er entweder ironisch oder nimmt die Gelegen-
heit wahr, sich in längeren Reden zu expectoriren. Dieses ist
der Fall gleich in der ersten Scene seines Auftretens im An-
gesichte des versammelten Hofes. Der Ort ist unpassend genug,
aber der innere Drang noch lebhafter. Was ist Wahrheit, was
ist Schein? — Diese brennende Frage schwebt auf seinem Munde
das ganze Stück hindurch. Denn die Antworten des hausbackenen
Verstandes genügen ihm eben so wenig wie die praktische
Lebensweisheit, welche Horatio zur Richtschnur seines Han-
delns gemacht zu haben scheint. Nun aber — was seine
278 Hamlet.
Ironie betrifft, es ist sonderbar, zu welchen Erklärungen sie
tlcnjenigen Veranlassung gegeben hat, die davon nichts verstehen.
Noch mehr Verwunderung muss es freilich erregen,wenn Ger-
vinus dem Schatten des ehrwürdigen Brutus keine Ruhe lässt, um
Hamlet's Wahnsinn zu erklären. Es hat einmal in der Geschichte
Jemand gelebt, haben wir in der Schule alle gelernt, der sich wahn-
sinnig stellte, um durch den Schein der Thorheit sich vor Nachstel-
lungen feindlicher Machthaber zu sichern. Ich glaube, Solon that
es auch in ähnlichem Falle. Was hat dieses mit Hamlet's ver-
stelltem Wahnsinn zu thun? Als ob es bei Hamlet überhaupt
noch des Vorsatzes bedürfte, sich wahnsinnig zu stellen, nach-
dem der Geist mit ihm geredet hat. Brutus that es mit völliger
Ueberlegung. Bei Hamlet ist dieses der erste Schritt des Wahn-
sinns selbst. Freilich auch der letzte. Denn er streift hier die
Grenze des Wahnsinns, wo sich seine Einbildung in der höch-
sten Verzückung befindet. Es ist hier nicht die Stelle, auf den
Zusammenhang näher einzugehen, in welchem der Wahnsinn
und eine vorzügliche Fähigkeit stehen, die Ideen zu schauen.
Nur so viel sei gesagt, dass Shakspeare hier mit einem Meister-
zuge uns die Genialität Hamlet's vergegenwärtigt. Ein solcher
Mensch zeigt sich dann am wahrsten in Monologen. Hier
stört ihn Niemand. Er darf dem Zuge seines Inneren folgen
und gleichsam in Gedichten ausströmen, was er leidet. Von
dieser Seite angesehen, erscheint der von ihm angenommene
Wahnsinn als ein Bedürfniss , fortdauernd in Selbstgesprächen
zu reden, auch in Gegenwart anderer. Wir sehen, wie er sich
mit einer gewissen Angst bemüht, auszuweichen, wenn das Ge-
spräch sich auf alltägliche Dinge wendet. Er will lieber wahn-
sinnig scheinen , als die Bemerkung bestätigen , dass heute
schönes Wetter ist. — Woher nun dieser bis zum Krankhaften
gesteigerte Idealismus, der Schlegel's Ausdruck hervorgerufen
hat, Hamlet sei ein Gedankentrauerspiel?
Hamlet ist Zweifler. Er sagt einmal, dass Claudius seinem
Vater ähnlich sei wie er dem Herkules, Hamlet ist als Zweifler
Herkules am Scheidewege, aber wenn dieser sich entschliesst
und vorwärts geht, bleibt er eigentlich immer am Scheidewege
stehen. Ihm mangelt die Festigkeit, die nur aus dem Glauben
oder — um mich schulmässig auszudrücken — aus dem Stu-
Hamlet. 279
diuni der systematischen Philosophie — kommt. Er hätte viel-
leicht einmal dazu gelangen können, wenn das Schicksal ihn
nicht mitten aus seinen Studien abgerufen und ihm gerade in
dem Augenblicke eine That auferlegt hätte, welche durchaus
die Uebereinstimmung mit sich selbst von ihm verlangte. Hier
prägt sich uns, die wir ausserhalb stehen , die Lehre ein, dass
es durchaus des Glaubens bedarf, der unbedingten Ueberzeu-
gung, dass das reine Denken nur die Verzweiflung oder Ent-
sagung zum Gefolge hat, wenn wir den Forderungen der Wirk-
lichkeit genügen und handelnd in's Leben treten wollen. In
Hamlet's Seele selbst muss dieser Gedanke vor der überwäl-
tigenden Macht der Schicksalsschläge, die ihn treffen, in den
Hintergrund treten. Wir können ihm also seine Thatlosigkeit
nicht als Schuld anrechnen und ihn höchstens um eines Irr-
thums Avillen bemitleiden, den er begeht, wenn er Metaphysik
treibt, wo er doch die Sachlage vor Augen haben sollte.*) Aus
dieser metaphysischen Grundstimmung in seinem Auftreten ist
die krankhafte Richtung zu erklären, die sein Idealismus nimmt
und die sich namentlich in seiner Ironie zeigt. Diese dient ihm
zur Waffe gegen überlästige Besucher und Frager. Gegen
Horatio wendet er sie nicht an. Ihm giebt er sich offen hin.
Zugleich — von tief innen sich vollziehenden Revolutionen ist
diese Ironie ein Kennzeichen, von schweren Seelenkämpfen, die
eben aus dem Zweifel entstehen. Denn dieser ewige Wider-
spruch entsteht ja nur aus dem Bedürfniss, statt des Mangels
an positiver Wahrheit wenigstens dem Umwahren das Kleid
und den Schein der Wahrheit zu leihen. Mephistopheles wird
mit Krone und Purpur angethan, da die Insignien der Herr-
schaft doch irgendwie verwandt werden müssen. Aber — Ham-
let ist aus germanischem Blut. Sein Zweifel nimmt nicht den
Charakter der Verneinung alles Positiven an. Der Hohn bildet
einen fremden Tropfen in seinem Blut. Gleich in seinem ersten
Monologe gedenkt er des Höchsten, der sein Gebot gerichtet
Mehr die Erfahrungen, die er macht, als
•) Ich bemerke hierbei , dass die von Aristoteles erwähnte Reinigung
der Leidenschaften, welche die Tragödie zum Zweck hat, nur auf den Zu-
schauer gehen kann.
280 Hamlet.
seine Natur bringen ihn zu der Frage: Sein oder Nichtsein?
Dass seine Antwort darauf nicht die unbedingte Bejahung des
Seins wird, Hegt in der Stellung, die ihm das Geschick ge-
geben hat. Er sagt: „Ich habe vor kurzem, ich weiss nicht
wodurch, alle meine Munterkeit eingebüsst." Er möchte gern ein-
stimmen in den eTubel der Freude , aber er sieht diese nur in
der Gestalt der Selbstsucht und Avüsten Schwelgerei um sich.
Was in ihm von skeptischer Ader ist, das greift wie eine
Feuersbrunst um sich, die das Gebäude seiner Ideale zu Asche
macht, durch die Allgewalt des Schicksals. Sein Dualismus
spricht sich besonders in dem Schlussmonolog des zweiten
Aktes aus, wo fast unwillkürlich aus der Tiefe seiner Seele ein
Strom von Scheltworten in wahrhaft dämonischer Weise gegen
sein eigenes Selbst heranbricht. Ueberhaupt muss man sich hüten,
das persönlich zu verstehen , was er durchaus allgemein aus-
spricht. Das Sentenziöse ist bei einer solchen Charakteranlage
nicht fehlerhaft. Sonst wäre die Klage um den Uebermuth der
Aemter im Munde eines Prinzen unnatürlich.
Man fragt nun mit Recht: wenn Hamlet durch seine An-
lage und das Stadium , in welchem seine Geistesentwicklung
steht, mehr zur stillen Contemplation als zum Hofleben sich
eignet, warum geht er nicht nach Wittenberg zurück und giebt
den Bitten der Mutter nach, in Dänemark zu bleiben? Noch
ist ihm der Geist nicht erschienen. I^r kann dort der Trauer
wie der Philosophie ungestörter sich hingeben. Die Rücksicht
auf sein Verhältniss zu Ophelia kann die Ursache nicht sein ;
denn nachdem er an seiner eigenen JNIutter erfahren , was die
Liebe des Weibes zu bedeuten habe, ist er darin ein eben so
guter Philosoph wie schlechter Empiriker, dass er seine allge-
meinen Schlüsse zu frühe thut und an der Liebe des Weibes
überhaupt zu zweifeln keinen Anstand nimmt. „Schwachheit,
dein Nam' ist Weib." Der Grund seines Verweilens muss
anderswo gesucht werden. Hamlet ist ehrgeizig. Er hat einen
unbestimmten Drang, sich auszuzeichnen, ja, er meint, er sei
zur Welt gekommen, sie, die aus den Fugen kam, wieder ein-
zurichten. Dieser Trieb zum Ruhm ist es, mit welchem er an
dieser Welt hängt. Wem konnten sich aber bessere Aussichten
eröffnen, seinen Namen bei Mit- und Nachwelt berühmt zu
Hamlet. 281
machen, als einem Prinzen, auf den die Hoffnung der ganzen
Generation gesetzt ist? Wenn Spinoza und Schopenhauer sich
von der Welt zurückziehen und nur der Beschauung leben, so
könnte man Gründe dafür angeben, die an die Fabel vom Fuchs
und der Traube erinnern. „Wie? Hamlet kann die Möglich-
keit vor sich sehen, ein Idealreich zu begründen, die Vernunft
als Herrscherin neben seinen Thron zu setzen und doch zau-
dern? Er kann die Liebe des Volkes für sich haben, das bei
der Wahl des neuen Königs nur gezwungen die Regentschaft
eines Claudius, „des geflickten Lumpenkönigs" annahm, er kann
die Gewissheit besitzen, dass dieser ein Verbrecher ist, und
dennoch sprechen wir ihm Ehrgeiz zu? Ja, er mag ehrgeizig
sein, aber um so grössere Verachtung verdient er, wenn er diese
Leidenschaft nicht zu edlen Zwecken verwendet, deren Aus-
führung ihm so nahe liegt."
Solchen Einwänden hab' ich zu begegnen, die man na-
mentlich bei Börne finden kann. Ich antworte zunächst mit
Shakspeare's eigenen AVorten, der den Ehrgeiz so definirt:
„Diese Träume (Hamlet's) sind in der That Ehrgeiz; denn das
eigentliche Wesen des Ehrgeizes ist nur der Schatten eines
Traumes." Also — der Träumer Hamlet ist doch ehrgeizig:
je träumerischer, desto ehrgeiziger. Nur dass er sich bei ihm
nicht wie bei anderen Helden in siegreichen Schlachten kund
giebt, sondern in geistreichen Reden verpuflft, in Anweisungen
an Schauspieler, die den Aristoteles nicht gelesen haben, in
Reden vor seiner Mutter, noch dazu in ihrem Schlafgemach,
in Reden , wie sie besser gesetzt und rhetorischer aufgeputzt
nicht von Demosthenes und Cicero vor dem versammelten Volke
können gehalten sein!
Wenn die Moral doch nicht so häufig am unrechten Ort
ihre hausmütterlichen Rechte geltend machte! Ich sehe in dem
Allen keine Verschuldung, im Gegentlicil nur immer neuen
Grund zum Mitleiden. Gerade weil Hamlet Prinz ist und
gerade weil er die höchsten Aufforderungen zum Handeln er-
hält, darum kommt sein Ehrgeiz in einen acht tragischen Con-
flict. Denn Avir haben gesehen, dass seine ideale Natur und
sein philosophischer Standpunkt es ihm durchaus unmöglich
machen , sich mit den Mitteln zu befassen , deren er benöthist
282 Hamlet.
ist, um sein Werk auszurichten, als da sind: Mord des Oheims
und VcröfFenthchung der Schande, die seine eigene Mutter auf
sich geladen hat. In dieser Beziehung liegt der Vergleich mit
Orest nahe. Dieser kommt vor der That des Muttermordes
in keinen Zwiespalt, weil er nicht auf die Folgen reflectirt: das
Gebot der Rache des Vaters ist ihm heilig. Hamlet hat mit
der Ammenmilch das Gebot eingesogen: die Rache ist Mein,
Ich will vergelten, spricht der Herr. Er weiss, dass „jede böse
That schon ihren eigenen Racheengel im Mutterschoosse trägt"
und überlässt auch Claudius „den Schlangen, die im Busen
ihm stechend wohnen." Dass ein anderer in seinem Falle das
Schwert gebraucht hätte, ohne ein Unrecht damit zu begehen,
ist noch kein Beweis dafür, dass er schuldig an Vernachläs-
sigung irgend einer Pflicht ist. Wie bedauernswerth steht er
da! Er will lieber Unrecht leiden, als thun. Ja, noch mehr.
Nicht umsonst werden wir mehr als einmal an die Weihnachts-
zeit erinnert, in welche die Handlung fällt. Abgesehen von dem
erschütternden Contrast, in den dadurch die ringsum verbreitete
Zufriedenheit des kindlichen Glaubens mit der wühlerischen
Skepsis flamlet's tritt — der Stifter des Christenthums hat ja
gelehrt: Liebet eure Feinde! Kann Hamlet seinen Oheim vom
Throne stürzen?
Doch angenommen, er könnte seinen Vater rächen, ohne
sein Gewissen zu beschweren — was darf er sich unter den
Umständen, von denen seine Erhebung zum Thron begleitet
wäre , für einen Erfolg von seiner Regierung versprechen ?
Es widersteht dem Philosophen, über Sklaven zu herrschen.
Er kann nicht fassen, wie eine Welt möglich ist, in der, wie
in einem wüsten Garten das Unkraut, Laster und Uebel wuchern.
Muss er nicht von seinem Standpunkt aus einen Herrscher erst
recht als einen Sisyphus ansehen? Gerade in dem Augenblick,
wo die ganze Entschiedenheit einer mit dem Leben versöhnten
Seele nöthig war, ist der metaphysische Hang so mächtig in
ihm geworden, dass Alles, was ihm begegnet, sich ihm unter
dem Bilde der Sphinx darstellt, die das Räthsel dieser Welt
ihm aufgiebt. Vielleicht — wenn sein Vater zu einer andern
Zeit gestorben, seine Mutter nicht den treulosen Verrath be-
gangen und Claudius ihn nicht der nächsten Anrechte auf den
Hamlet. 283
Tluon beraubt hätte — sein P^hrgeiz würde ihn auf dem Thron
zu einem Förderer von Kunst und Wissenschaft gemacht haben.
So kann es nicht fehlen, dass sein Ehrgeiz in der Art und
Weise, wie er hervortritt , mehr nach Eitelkeit aussieht. Er
feiert Triumphe in der Dialektik über Köpfe von gewöhnlichem
Schlage. Er freut sich über den P>folg seines Einfalls, durch
ein Schauspiel des Königs Gewissen zu prüfen. Armer Hamlet,
das ist nicht der Weg zum Kuhm an der Stelle , zu der dich
dein Schicksal gerufen hat! Dein Reich ist nicht von dieser
Welt!
Denn dass seine Gesinnung im Grund edel ist, trotz der
Schwächen, die w^ir eben aufgewiesen haben, daran können wir
nicht zweifeln. Wie innig schliesst er sich an Horatio an ! Wie
liebebedürftig erscheint er gleich zu Anfang gegen Bernardo
und Marcellus! Wie bewahrt er das Andenken seines Vaters
im innersten Heiligthum seiner Seele! Wie sehr ist er überall
o-eneio-t, sich allein anzuklao;en! Wie versöhnUch ist er geo-en
Laertes ! Wie liebenswürdig selbst gegen den König! Er will
gegen ihn nicht ungefällig sein, als zwischen ihm und Laertes
jene Wette eingegangen ist, die ihm selbst das Leben kosten
soll. Es wird ihm schwer, an das Schlechte in andern zu
glauben; darum der lange Weg bis zur Vollziehung des Straf-
gerichts an Claudius! Kührend ist es, wie er kurz vor seinem
Tode fast zu bewussten Illusionen seine Zuflucht zu nehmen
sdheint.
Was ihm fehlt, um seinen ]Mann zu stehen, hat Göthe
treffend die sinnliche Stärke des Helden genannt. Ich verstehe
darunter die Krai't, die den Menschen nicht im Stiche lässt, im
Angesichte dos Gegners. Von dem Mangel dieser Ausdauer,
welche nicht zurückbebt vor der wirklichen Entscheidimg, spricht
schon Tacitus*) als von einer Eigenschaft jener Völker, von
denen Hamlet als ein Abkömmling zu betrachten ist: er nennt
sie eine die Gefahr aufbietende Kühnheit und eine Scheu, wenn
jene wirklich eingetreten ist. So ist Hamlet. „Jedwede Ader
seines Leibes so fest wie Sehnen des Nemeer Löwen," „rasch,
wie Andacht und der Liebenden Gedanken" im Augenblicke
Tac. Agric. 11.
284 Hamlet.
vor der That; sobald er sie wirklich vollbringen soll, muss er
sich selbst verspotten: ,.Lasst Herkuln selbst nach Vermögen
thun, die Katze maut, der Hund will doch nicht ruhn." Was
vermag gegen diese Naturnothwendigkeit, welche gewiss auch
physische Gründe hat, das Bewusstsein der Willensfreiheit, selbst
wenn ihm, dem Zweifler, diese fest stände? Er kann nun einmal
nicht Blut vergiessen sehen; es müsste ihn denn das Gefähr-
liche, was auch in ihm ist, im Augenblicke fortreissen, wie bei
der Ermordung des Polonius und des Königs.
Nachdem wir den Charakter des Hamlet uns in diesen
Zügen vergegenAvärtigt haben, stellen wir die Beziehung fest,
die er zu unserem Hauptsatz hat, dass die Tragödie es mit dem
Leiden des Menschen zu thun hat. Ich meine, um diesen Zweck
zu erreichen, kann kein Charakter geeigneter sein als ein solcher.
Er ist vorzugsweise zum Leiden geschaffen. Wo er handelt,
wird es auch mehr ein Leiden als ein Thun sein.
Dieses finden wir denn auch, wenn wir die Handlung der
Tragödie zergliedern. Ich konnte nicht umhin, schon in der
Charakteristik Hamlet' s auf einzelne Momente der Handlung
mich zu berufen. Ich werde daher jetzt kürzer sein.
Wir sind während des ganzen Stückes in einer Atmosphäre
der Trauer um Verstorbene und Sterbende. Schwarz ist die
Farbe, die Hamlet's Kleid hat, schwarz von der ersten bis zur
letzten Scene die Draperie, in der Personen und Gegenstände
erscheinen. Hier herrscht der Tod, nicht Claudius. Der Humor
darf sich auch nur auf dem Kirchhof vernehmen lassen: Tod-
tengräber repräsentiren ihn. Die Vergänglichkeit, unter welcher
die unsterbliche Seele sich windet, übt ihr unbestrittenes Ma-
jestätsrecht aus. Ich glaube, schon durch diesen Grundton, in
dem das Ganze gehalten ist, prägt uns der Dichter ein: hier
siehst du keinen Helden im stattlichen Gang auftreten, an un-
sichtbaren Fäden leitet eine Macht Menschen und Handlungen,
und ihr sollst du allein huldigen. Wir wei'den sehen , welchen
Namen wir dieser im Verborgenen einherschreitenden Gewalt
zu geben haben.
„Etwas ist faul im Staate Dänemark." Unheimlich ist dieser
Pomp bald nach dem Tode des alten Hamlet, unheimlich diese
Hochzeit. Der Geist ist nur die Bestätigung banger Ahnungen.
Hamlet. 285
In Bezug auf Hamlet giebt der Erfolg seines Ersch^ens einen
neuen Beleg zu der alten Wahrheit: hören sie Mosen und die
Propheten nicht, so werden sie auch nicht glauben, ob jemand
von den Todten auferstände. Welche Tiefe, welche Weltweite
der Anschauung in dieser Gegenüberstellung von dem skep-
tischen Hamlet und dem Geiste, dessen Auferistehung den Ge-
setzen der Vernunft spottet! „Diese ewige Offenbarung fasst
kein Ohr von Fleisch und Blut." Freilich giebt es auch für
Hamlet selbst „Ding' im Himmel und auf Erden, von denen sich
die Schulweisheit nichts träumt." Aber — der Zweifel ist so
mächtig in ihm, dass er eher den eigenen Augen und Ohren
misstraut als seiner Vernunft; denn die Erscheinung des Vaters
gehört der Zeit an und damit auch der Vergangenheit. Kann
sie ihm noch ein sicherer Bürge sein am andern Tage, da er
wieder im vollen Besitz seiner V^ernunft ist und seine Phan-
tasie nicht mehr spazieren geht?
Wir sehen mit Bewunderung, wie auch darin der Cha-
rakter des Drama's sich als ein metaphysischer geltend macht.
Hamlet ist der Märtyrer der Vernunft , indem er andere Be-
weise für die Schuld des Königs fordert als diejenigen, welche
im Gebiete des Irrationalen liegen. Doch die Erscheinung des
Geistes ist wirklich: wir haben sie mit eigenen Augen gesehen.
Wird also dieses Irrationale zum Siege kommen?
Fast scheint es, als ob es an der Skepsis des Prinzen
scheitern wird. Er brütet und brütet. Man hält ihn für ver-
rückt. Dazu kommt noch die Liebe. Man hat gefragt, ob Hamlet
Opheha wirklich liebe. Ich antworte : ja, wie ein Zweifler lieben
kann. Er ist kein llomeo. Es ist eben seine Liebe in einem
andern Sinne unglücklich als die des heissblütigen Italieners.
Sie beherrscht ihn nicht in dem Grade, dass er in ihr seine
ganze Befriedigung finden und wie Romeo jähen Genuss um
schnellen Untergang erkaufen sollte. Jede aufkeimende Leiden-
schaft wird durch den Fluch der Reflexion neutralisirt. Ophelia
ist ganz Unschuld und unverdorbene Naivetät, abhängig bis
zur Aufopferung ihrer Liebe von der Sitte des Hauses, von
den Ermahnungen des Vaters und Bruders. Ihr Untergang ist
286 Hamlet.
um SO rührender, als man ihn fast vergisst vor der Zahl der
Opfer, die bis zum Schlüsse fallen. Wenn der Sturm die Eiche
bricht, achten wir der Blüthe nicht, die sein Gang niedertritt.
Auch ihren Fall hat man dem armen Hamlet aufgebürdet. Ich
brauche nach dem Obigen kein Wort darüber zu verlieren.
Denn ich muss eilen , den Prinzen von anderen Vorwürfen zu
reinigen, die mehr für sich zu haben scheinen.
Der König sucht ihn auszuforschen und zu zerstreuen. Die
Schauspieler kommen. Man giebt das Stück vor dem König,
genannt „die Mausefalle." Die Schuld des Königs wird zur
Gewissheit. Hamlet ist ganz Leidenschaft. Aber die Krisis,
vor welcher ihm die Rachethat noch möglich gewesen wäre, ist
bereits eingetreten. Der Geist der Verneinung hat ihn ganz
in Besitz genommen: schon verhält er sich in Bezug auf die
Wirklichkeit und alle bestimmten Handlungen völlig indifferent.
Was er noch thut, ist nicht mehr Ueberlegung, sondern Hitze
des Augenblicks oder Nothwehr. Dass er, zu seiner Mutter
gerufen, den Polonius hinter der Tapete ersticht, diesen Philo-
sophen für die Welt, diesen alberneu Moralisten, der sich etwas
darauf thut, einige Maximen auf seinem Schlendrian durch's
Leben mit heimgebracht zu haben, — ich sage, dass Hamlet
diesen Halbschelm, wie er treffend genannt ist, bei Seite schafft,
ist seine erste That, in welcher er als Werkzeug in der Hand
jenes unsichtbaren Helden erscheint, den wir immer mehr als
den Mittelpunkt der Handlung erkennen werden. Er sagt selbst
an seiner Leiche: „Der Himmel hat gewollt, um mich durch
diess, und diess durch mich zu strafen, dass ich ihm Diener
muas und Geissei sein." Also auch für sich selbst sieht er eine
Strafe darin. Gewiss. Er muss dieses thun und wir müssten
es auch, Avenn wir in demselben Falle uns befänden, aber wehe
dem Aesthetiker, welcher hier den Begriff der Strafe zur An-
wendung bringt und etwa so argumentirt, wie z. B. Hettner:*)
„Hamlet hat sich geweigert, Blutrache zu vollstrecken ; die noth-
wendige Strafe dafür ist, dass er eine That begeht, durch welche
er sich selbst der Blutrache aussetzt." Das heisst nach einer
*) Gutzkow, Unterbaltgn. am häusl. Herd. Bd. H. Nro. 6.
Hamlet. 287
gangbaren Redewendung dem lieben Gott in die Karten sehen.
Uebrigens ist das Spiel der Worte, welches in dieser Erklärung
zu Tage tritt, nicht ganz schlecht.
In dieser That sieht der König gewissermassen das erste
Lebenszeichen Hamlet's. Sein Gewissen wird immer unruhiger.
Ueberhaupt ist der wesentliche Charakterzug dieses Tyrannen
Unsicherlieit, die bis zur Reue in der Gebetscene culminirt;
denn Alles, was er thut, sein offensives Verhalten vor dem
Stück wie seine Defensive während desselben, entspringt nicht
aus dem Bewusstsein, herrschen zu können, sondern aus
Egoismus. Er schmiedet den ersten Plan gegen Hamlet's Leben.
Wie kurzsichtig ist er auch hiebei in dem Verständniss von
Hamlet's eigentlichem Wesen ! Dass dieser ihn durchschaut,
dass er den Inhalt der dem Rosenkranz und Güldenstern über-
gebeiren Briefe erräth , entspringt nicht aus einem von Natur
argwöhnischen Gemüth , wiewohl er sich auch dessen anklagt,
sondern aus den Erfahrungen, die er gemacht und die ihn nun-
mehr lehren, auf seiner Hut zu sein. Auf den ersten Blick er-
scheint die Wendung zur Hinterlist, die jetzt sein Benehmen
nimmt, in Betracht der sonstigen Reinheit seines Gemüthes be-
denklich. Aber — auch schon das aufgeführte Schauspiel war
eine List. Freilich jetzt werden die Mittel immer niedriger,
immer gemeiner, nur dass man dieses nicht in Bezug auf seinen
Charakter verstehen muss. Mit einem Wort — der Idealist
ist zu einem Realisten geworden, der keine Handgriffe scheut,
um zum Ziele zu kommen. Handschriften nachmachen, be-
trügen, seine Jugendgenossen unter das Messer liefern — das
sind ihm nur Kleinigkeiten. Nun — ich denke , da ragt etwas
herein in den Bau der hier abgespiegelten AVelt, was uns immer
aufmerksamer auf sich machen muss, zugleich immer begieriger,
die unbekannte Grösse zu finden. Also wirklich — auch Hamlet
ist verstrickt in das Netz dieser Welt ; der hohe, erhabene Geist
dem Gesetz der Wirklichkeit anheim gefallen; denn dieser will
und muss sich behaupten. Das ist das Loos des Schönen auf
der Erde! So interpretirt der grösste Dichter den Satz, auf
den wir noch zurückkommen werden: der Mensch legt auch
seine Natur ab wie ein altes Kleid, wenn er muss. Warum
288 Hamlet.
muss Hamlet zum Intriguanten werden? Zunächst wohl, weil
er sein Leben lieb hat und nicht selbst in sein Verderben
rennen will. Aber die bessere Antwort giebt nur der weitere
Fort- und Ausgang der Tragödie.
Jetzt übernimmt Laertes die Rolle des Handelnden, denn
es darf gesagt werden : hier spielen alle Personen nur die Rollen,
die ihnen gegeben werden. Der Dichter, der noch immer ein
Anonymus für uns ist, hält sich im Hintergrunde, bis das
Stück von den Schauspielern zu Ende gespielt ist; dann erst
tritt er hervor und verlangt sein plaudite!
Es ist wahr, die Sache, die Laertes gegen Hamlet auszu-
fechten hat, ist das Gegenstück zu der That , die von diesem
verlangt wird. Laertes hält sich den grössten Theil des Stückes
in Paris auf; das Leichte, Rasche, schnell Entschlossene der
Franzosen behagt seiner Natur, die in diesen Eigenschaften
ihren Schwerpunkt hat. Er dringt mit einer Rotte in den Palast
des Königs, Rache an dem Mörder seines Vaters zu nehmen.
Das weiss der König geschickt zu benutzen. Sogleich steht
ihm fest, durch die Hand des Laertes muss er sich des lästigen
Hamlet entledigen. Alles scheint ihm nach Wunsch zu gehen.
Laertes erklärt sich bereit, in einem zur Schau angestellten
Fechterspiel Hamlet mit einem vergifteten Rapier zu er-
morden. Wie prächtig hebt sich die immer im mühsamen
Kampf gegen das Geschick begriffene Gestalt Hamlets gegen
solchen gedankenlosen Leichtsinn dieses „französischen Mode-
helden" ab ! Das Begegnen, das beide auf dem Kirchhofe haben,
prägt uns diesen Gegensatz tief ein. Laertes' Schmerz selbst
um das Unglück der Schwester hat immer etwas Geschrobenes;
er deklamirt mehr, als dass er wahren Gefühlen Ausdruck giebt.
Shakspeare scheint hier in ahnendem Geiste die Racine und
Corneille zu persifliren. Diese hohle Schmerzsucht empört
Hamlet, so dass beide im Grabe Opheliens handgemein werden.
Aber — anders ist der Ausgang bestimmt. Bange Ahnungen
erfüllen Hamlet. In diesen letzten Scenen bringt er auf den
heutigen Leser einen Eindruck hervor, welcher eine Analogie
hat mit dem weltmüden, melancholischen Geiste, den die Schriften
Schopenhauer's aihmen.
Hamlet. 289
Zur grösseren Sicherheit lässt Claudius einen vergifteten
Kelch für Hamlet bereit stehen. Die Königin trinkt davon.
In der Hitze des Gefechtes verwechseln Hamlet und Laertes
die Rapiere, so dass auch diesen der Tod trifft. Sterbend ver-
räth er den König. Da ereilt auch diesen sein Geschick endlich
von Hamlet'ö Hand. Fortinbras kommt gerade von seinem Zuge
gegen Polen an und empfängt das sterbende AVort Hamlet's
für seine Nachfolge auf dem Thron. An die Erscheinung dieses
wackeru Haudegens am Schluss hat man wiederum eine selt-
same Anklage gegen Hamlet geknüpft. Nicht das Zuviel des
Denkens, das Hamlet darstelle, auch nicht das Zuviel des Han-
delns, in Laertes repräsentirt, empfange die Krone, sondern das
rechte Maass beider an sich gleichberechtigter Factoren, welches
in Fortinbras realisirt sei. Das heisst doch wohl: „Wenn sich
das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch." Fortin-
bras erscheint als ein tüchtiger Mann, der tapfer sein Recht
vertheidigt, aber im Ganzen erfahren wir eo wenig von ihm,
dass wir mit Recht anstehen, in ihm das Ideal des wahren
Menschen verwirkhcht zu sehen. Er muss in jeder Beziehung
gegen Hamlet in unserer Theilnahme zurückstehen.
Ich komme jetzt auf den tieferen Sinn der Erscheinung
des Geistes zurück. In ihm gewinnt das schattenhafte, unheim-
liche Wesen, Avelches wir im Hintergrunde der Handlung bis
zuletzt thätig gesehen haben, seine entsprechende Gestalt. Was
der Geist von vorn herein wollte, ist geschehen. Hamlet hat
nichts gegen die Königin unternommen, aber den König ge-
tödtet. Die irrationale Macht, von der wir oben sprachen, ist
zum Siege gekommen. „Es giebt mehr Ding' im Himmel und
auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumt."
Ich gehe über zu den Andeutungen, die der Dichter an-
geblich selbst für die richtige Auffassung der Tragödie gegeben
hat. Zum voraus erklär' ich , dass auf ein solches gleichsam
am Rahmen des Bildes angeklebtes haec fabula docet, um die
Einsicht in die Grundidee zu erleichtern , der wahre Dichter
immer Verzicht leistet. Die richtige Erklärung kann nur dem
Zusammenhang des Ganzen entnommen werden. Die ächte
Archiv f. n. Sj.raclicn. XXVU. 19
290 Hamlet.
Poesie beweist dadurch recht ihre göttliche Herkunft, dass sie
sich keiner ausdrücklichen und direkten Offenbarung bedient,
um zum Menschen zu sprechen; wo sie schweigt, spricht sie
am lautesten. Der Mensch soll selbst denken und selbst sich
leiten. Sie reicht ihm nicht die Hand, um ihn zu führen, son-
dern überlässt es seiner eigenen Vernunft, auf den rechten Pfad
zu kommen, der wiederum für Jeden ein anderer sein wird.
Die Wegweiser, welche der Wanderer mitten in den herrlichen
Landschaften findet, wo die Natur ihre höchste Pracht entfaltet,
sind ein Wei'k von Menschenhand. Ich finde demnach, dass
auch die Moralsprüche im Hamlet einen anderen Zweck haben,
als den, welchen man ihnen untergelegt hat.
Es ist das Schauspiel im Schauspiel, welches jene Finger-
zeige enthalten soll. Schon diesen Umstand, dass wir es hier
mit Poesie innerhalb der Poesie zu thun haben , hätte man sich
nicht entgehen lassen sollen. In der Rede des Schauspielers
am Schluss des zweiten Akts von der Ermordung des Priamus
fällt der Ton gleichfalls in's Geschrobene und Stelzenhafte, weil
die Poesie gewissermassen hier sich selbst überbieten muss.
Nicht allein gegen die Wirklichkeit, sondern gegen sich
selbst soll sie in Contrast zu stehen kommen.*) Nicht als ob
Hamlet in den Versen als ein Schwächling dargestellt werden
sollte, der es sich nur selbst zuzuschreiben hätte, wenn er
untergeht :
Nothwendig ist's, dass jeder leicht vergisst
Zu zahlen, was er selbst sich schuldig ist.
Das Ungestüm sowohl von Freud' und Leid
Zerstört mit sich die eigne Wirksamkeit.
Allerdings finden diese Wahrheiten ihre Anwendung auf
Hamlet's Natur, aber sie enthalten keine Anklage gegen ihn.
*) AehnHch wie der Chor in der alten Tragödie keineswegs immer den
Schlüssel bietet zum Verständniss der Handlung.
Hamlet. 291
Die Kritiker, welche sie dahin ausbeuteten, sind hier auch in
die Mausefalle gegangen, die ihnen der Dichter gestellt hat.
Wenn dagegen die Betrachtungen , die Hamlet im Vorge-
fühl seines nahen Todes anstellt, mit dem Kcsultat überein-
stinmien, Avelches die Zergliederung der Action ergicbt, so liegt
darin eine Bestätigung für unsere Ansicht. Wir finden, dass
die tiefsten Aussprüche über das menschliche Leben gerade hier
eine Stelle gefunden haben:
Lasst uns einsebn,
Dass Unbesonnenheit uns manchmal dient,
Wenn tiefe Pliine scheitern; und das lehr' uns,
Dass eine Gottheit unsre Zwecke formt,
Wie wir sie auch entwerfen.
Ferner: „Es waltet eine besondere Vorsehung über den
Fall eines Sperlings," und: „In Bereitschaft sein ist Alles."
Der letztere Gedanke tritt uns in einer eben so bedeutungs-
vollen Situation des Lear entgegen, wo es heisst: „Reif sein
ist Alles." Es wäre ein durchaus verfehltes Unternehmen, von
solchen vereinzelten Aeusserungen Schlüsse auf Shakspeare's
eigene Weltansicht zu thun. Wir haben es hier nur mit Hamlet
zu thun. Dieser prägt uns von Anfang bis zu Ende die Unter-
werfung unter ein höheres Gesetz ein als dasjenige, auf dessen
Vernachlässigung man die Schuld Hamlets hat begründen
wollen.
Ich höre nun meine Gegner also reden: ..Wo bleibt die
Freiheit des AVillens, wo die moralische Zurechnungsfähigkeit,
wo der sittliche Werth, den ja aucli nach deiner Ansicht die
Betrachtung eines Kunstwerks hat, wenn ein stockblindes Fatum
den Menschen zum Werkzeug erniedrigt? Wenn du kein bes-
seres Ergebniss aus deiner Zerlegung dieses Trauerspiels ge-
winnst, hättest du dir wie uns die Mühe ersparen sollen.**
Meine Gegner können noch weiter gehen. Der unheim-
liche Spuk, der am Anfang dieses Jahrhunderts auf den deut-
schen Theatern in sogenannten Tragödien gewaltet liat, das
19*
292 Hamlet.
Gespenst der Ahnfrau und ähnliches kann gegen mich auf-
gerufen werden.
Hier kann ich nur antworten , dass der missverstandene
Gott, weil er missverstanden wird, nicht aufhört zu sein. Es
werden viele als Atheisten verschrieen, die doch nur beschränkte
menschliche Vorstellungen von Gott leugnen. So hoft' ich auch,
die Gegner der dem Hamlet zu Grunde gelegten Schicksals-
idee auf meine Seite zu ziehen, wenn sie sich mit mir über die
Bedeutung dieses Begriffes geeinigt haben. Ja, es wird sich
vielleicht zeigen, dass unser Streit und derjenige, welcher gegen
die Atheisten geführt wird, nicht so durchaus verschiedene Ge-
genstände zum Grunde haben. Ich muss jedoch in Betracht
des mir gestatteten Raumes die Untersuchung darüber in einige
kurze Andeutungen zusammenfassen.
Es ist hier nur von dem Schicksal in jener hohen Bedeu-
tung die Rede, welche die Alten ihm gegeben haben, wie es von
einem Aeschylus und Sophokles in Scene gesetzt ist. In Hamlet
zeigt es sich noch von der alten, gediegenen Art, die seine Her-
kunft aus wahrhaft poetischer AnschauungsAveise kennzeichnet. Ein
schöner Lohn für die Mühe des Forschens , wenn wir die ent-
fernten Zeiten und Geister sich in derselben Auffassung mensch-
licher Dinge begegnen sehen! Es ist schwer, dem eine Be-
schreibung von dem Schicksal in diesem Sinne zu machen, der
es nicht aus der Quelle kennt. Keine geographische Schil-
derung kann den Anblick erhabener Gebirgszüge ersetzen, und
um das Meer in seiner Grösse zu begreifen, muss man ein
Dichter sein oder es gesehen haben. Das Schicksal steht in
der Meinung der Griechen bekanntlich über den Göttern. Man
kann sagen, sie fassten in dieser Vorstellung Alles zusammen,
was das Unbegreifliche, Incommensurable in der Welt ausmacht ;
sie waren bescheiden genug, dem Schicksal nur den Namen des
Verhängten, derNothwendigkeit zugeben, weil sie fühlten, dass
alle übrigen Eigenschaften, die aus der Analogie des Menschen
entlehnt werden konnten, sie in Widersprüche verwickelt haben
würden , als ob auch sie eine Ahnung gehabt hätten von jenem
ersten Gebot: Ihr sollt euch kein Bild noch Gleichniss von
Hamlet. 293
Mir machen. — Die moderne Auffassung warf sich vor das
goldene Kalb nieder. —
Die Vergleichung des Hamlet mit den vorzüglichsten Tra-
gödien alter und neuer Zeit ergiebt gleichfalls, dass das Schick-
sal als der active Factor, der dem Leiden des Menschen ge-
genübersteht, der eigentliche Gegenstand des Tragikers ist. Ich
erinnere nur an die Oedipodie, Antigone und Lear. Auch Oedi-
pus klagt sich selbst an wie Hamlet,*) und sieht in dem über ihn
hereinbrechenden Verhängnisse nichts weiter als die Bestrafung
seiner Schuld. Das aber ist eben der Fluch des Unglücks, dass
der davon Getroffene nicht so klar wie wir beim Anschauen
einer Tragödie den Zusammenhang übersieht, in dem er steht,
und daher, an sich selbst irre werdend, auf sich zu dem äus-
seren Unheil noch das Sündenbewusstsein wälzt. Die Tra-
gödie weist das Gesetz nach, unter dem der Mensch zum Leiden
bestimmt ist , ohne dass der Grad desselben ein Verhältniss zu
seiner Schuld zu haben braucht. Aehnlich wie Hamlet hat
man auch Antigone einer Schuld bezüchtigt, die ihren Unter-
gang herbeiführe. Wenn dieses möglich war, darf es nicht
Wunder nehmen, dass es in Betreff Hamlet's geschehen ist.
Was König Lear betrifft, so spricht er selbst eine Erfahrung
aus , von der es nicht schwer wäre , sie als übereinstimmend
mit den Gesetzen nachzuweisen, die Aristoteles dem Tragiker
giebt. Lear sagt: ,,Ich bin ein Mann, an dem man mehr ge-
Wir hätten demnach vielleicht jetzt „dem grossen gigan-
tischen Schicksal" Eingang verschafft, aber noch nicht dem Schik-
sal, „welches den Menechen erhebt, wenn es den INIenschen
zermalmt." Man fragt mich nach einer Erklärung des zweiten
Theils des Schiller'schen Distichojis. Ich antworte: wer in die
Sonne sieht und noch immer fragt, wo die Sonne denn wäre,
der ist vielleicht geblendet. Mit andern Worten: denen, welche
das Erhabene in dem Auftreten des Schicksals nicht fühlen,
*) König Oedipus V. 1155. Vgl. Hamlet, Akt 4. Sc. 4.
••) Lear, Akt III. Sc. 2.
294 Hamlet.
ist nicht zu helfen, sie miissten denn ihre Zuflucht nehmen zu
Begrifi^en, die populärer sind, als welche ich nennen kann: sitt-
liche "Weltordnung-, Alles ausgleichende Gerechtigkeit u. s. w.
— Hamlet jedoch stirbt mit den Worten: „der Rest ist
Sclnvcigen."
Königsberg i. P. A 1 b e r t J u n g.
Giovanni Meli
und die s i c i 1 i a n i 8 c h e Poesie
(nach Gregorovius).
Im Nebel der Sage tritt uns Sicilien zuerst in den Gesän-
gen Homer's entgegen, wenn es anders gestattet ist, in dieser
Insel die heilige Thrinakia wiederzufinden (später als Trinakria,
die Insel mit den drei Vorgebirgen gedeutet), wo die Ileerden
des in der Höiie wandelnden Helios weideten und das unge-
schlachte Riesengeschlecht der Cyklopen wohnte. In der lich-
teren historischen Zeit finden wir auf der Insel das Volk der
Sikuler oder Sikaner. Wir lassen es dahin gestellt sein , ob
beides ein Volksstamm oder verschiedene, ob Eingeborne
oder Eingewanderte. Die günstige Lage, die Milde des
Himmels lockten bald die Handelsvölker der alten Welt : die
Ph(3nizier und die Griechen an die Gestade Siciliens und ver-
anlassten sie zu dauernden Niederlassungen. Die Phönizier
gründeten Matya, Solus , Panormus (Palermo); die Griechen
verdrängten sie aus den südlichen und östlichen Gegenden und
bauten dort von 735 bis 580 v. Chr. die bald herrlicii aul'blii-
henden Bäder Zancle, später Messana genannt (Messina), Syra-
cusae (Siragosa), Catana (Catania), Gela, Sclinus, Acragas
(Agrigentum). Es waren meist Dorer, und in kurzer Zeit ent-
faltete sich das dorische Element zu regem politischen und lite-
rarischen Leben. Vor allen ragte Syracus hervor, das bald
als Vorort an die Spitze einer dorischen Städtcgemeinschait
trat. In raschem Wechsel der mannigfachsten Staatsformen hob
es sich zu immer grösserer Blütlie , besonders nach der un-
296 Giovanni Meli
olückliclien Expedition der Athener, die der geniale, aber gründ-
lich leichtsinnige Alcibiades zur Verwirklichung hochfliegender
Pläne, doch in der That zum Kuin seines Vaterlandes veran-
lasst hatte. Im fünften Jahrhundert erhält das zurückgedrängte
semitische Element neue Verstärkung durch die Carthuger.
Nach heftigem Ringen muss ihnen die ^^'esthälfte der Insel
überlassen Averden. Die Osthälfte bleibt griechisch unter der
Herrschaft der Tyrannen von Syracus , die in diesen Kämpfen
noch festere Wurzel geschlagen hatte. Unterdess aber war
Rom emporgekommen. Beherrscherin des italischen Festlan-
des, grifl^' es nun auch nach der Oberherrschaft auf dem Meere
und begann den Vernichtungskampf mit seiner Nebenbuhlerin
Carthago. Nach dem ersten puni sehen Kriege (241) wurde
die karthagische AVesthälfte der Insel römisch, im zweiten nach
dem Falle von Syracus die ganze Insel (212) und genoss von
jetzt ab das Glück, dem weltherrschenden Volke sein tägliches
Brot zu liefern und von römischen Statthaltern ausgesogen zu
werden. Mit Roms Fall wurde Sicilien wieder frei, aber nur,
um noch schlimmem Herren in die Hände zu fallen. Von
493 bis 535 n. Chr. stand es unter der Botmässigkeit der
Ostgothen, denen sich die Sicilianer auf Cassiodor's Vorstellun-
gen gutwillig ergeben hatten; später unter der Herrschaft der
verrufenen Vandalen , die von Africa herübergekommen waren.
Als aber das oströmische Reich noch einmal einen neuen Auf-
schwung nahm unter der Herrschaft des weisen Justinian, als
die germanischen Völker Italiens sich noch einmal unter das
römische Scepter in den Händen des griechischen Kaisers beu-
gen mussten, wurde auch Sicdien von dem tapfern, später so
unglücklichen Belisar erobert und bildet von 535 bis 827 einen
Theil des byzantinischen Reiches. Aus jener Zeit stammt die
Benennung beider Sicilien, diesseits und jenseits des Faro di
Messina, da die griechischen Statthalter von Palermo aus auch
das jetzige Festland von Neapel verwalteten. Drei Jahrhunderte
lang herrschte also wieder das Griechenthum ; kein Wunder,
wenn es sich noch jetzt in dem sicilianischen Volkscharakter
bemerklich macht. Aber zum dritten Male ei-neuerte sich der
Kampf mit den Semiten: die Sarazenen griffen nach der Ero-
berung der Nordküst e von Afria auch Sicilien an. Anfangs
und die sicili anische Poesie. 297
wieder vertrieben, setzten sie sich um 827 fest und gründeten
ein sclbstständiges Emirat, das bis zum Jahre 1000 bestand.
Da kamen die Söhne des normannischen Ritters Tankred von
Hauteville, die auf dem Festlande von Unteritalien ein neues
Reich gegründet hatten, auch über die ]\Ieerenge herüber. Ro-
ger vertrieb die Sarazenen und nannte sich Graf von Sicilien.
Sein Sohn Roger IL (Ruggiero) verband unter dem Titel eines
Königs von Sicilien und Italien auch das Festland mit der In-
sel (1130) und nahm seinen Sitz in Palermo. Das Erbe der
Normannen ging aber schon nach fünfzig Jahren an das Ge-
schlecht der Hohenstaufen über als ein köstlicher, aber unheil-
voller Besitz. Der Gemahl der Constanze, der Erbin von Sici-
lien, Heinrich VI., unterwarf mit blutiger Strenge die aufrühre-
rischen Barone seinem eisernen Scepter. Unter seinem grossen
Sohne Friedrich II. begannen die Kämpfe mit dem Papstthunie,
da.s eine solche fremde Machtentwickelung in Italien nicht zu-
geben wollte. Nach kurzem Glänze ging das leuchtende Ge-
stirn der Hohenstaufen blutig unter. Der letzte Spross, der
junge Konradin, erlag dem unheiligen Bruder des heiligen Lud-
wig, Karl von Anjou, den der Papst herbeigerufen (1268).
Doch dem edeln, durch Franzosenhand vergossenen Blute ei^
Avuchs .schrecldiche Rache in dem Franzosenmorde, der unter
dem Namen der sicilianischen Vesper bekannt ist (1282).
Ein Verwandter Konradins, Peter von Aragonien, wurde König
von Sicilien, Seine Nachkommen bestiegen mit Alfons V. um
die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts auch den Thron von
Neapel (1442).
Vergebens suchte Frankreich die Ansprüche der Anjou's
mit Waffengewalt geltend zu machen ; es gelang ihm zwar, die
herrschende Königsfamilie zu verdrängen, aber Neapel und Si-
cilien wurden eine Beute des listigen Ferdinand des Katholi-
schen und seines tapfern Feldherrn Gonsalvo di Cordova. Von
1505 bis 1713 regierten spanische Statthalter. Im Utrechter
Frieden sodann (1713) trennt die Willkür der Diplomaten aber-
mals die beiden verbundenen Reiche. Sicilien kam an Savoyen,
wurde jedoch schon 1720 gegen Sardinien an die in Neapel
herrschenden Habsburji^cr vertauscht. Im Jahre 1735 kommt
298 Giovanni Meli
mit dem trefflichen Karl III. (Carlo terzo) ein Seitenast der
spanischen Bourbons zur Regierung. 1806 in Folge der fran-
zösischen Kevolution aus Neapel vertrieben, das nach dem kur-
zen Taumel der parthenopäischen Republik, nach den blutigen
Restaurationsversuchen des Cardinal Ruffo und der Räuberban-
den eines Fra Diavolo unter das Scepter des Napoleoniden Jo-
seph und dann unter die wohlthätige Herrschaft des phantasti-
schen Murat kam, blieben die vertriebenen Bourbonen bis 1815
auf Sicilien beschränkt. Nach Murat's tragischem Ende in
Pizzo fällt auch Neapel wieder an sie zurück. In blutigen
Aufständen haben seitdem die Sicilianer ihre Selbständigkeit zu
erringen gesucht, so 1821, 1836, 1837, 1848; aber früher
sind alle Versuche gescheitert an der Tapferkeit der schweize-
rischen Söldlinge, die dem Könige von Neapel bisher den Be-
sitz Siciliens sicherten.
Nachdem Avir uns so über die politische Geschichte Sici-
liens orientirt haben , werfen wir einen Blick auf die Stellung,
die Sicilien in der poetischen Literatur des Alterthums ein-
nimmt. Das vorherrschende Element in den griechischen Colo-
nien war, wie gesagt, das dorische. Es entwickelte sich in
denselben bald eine eigenthümliche dorisch - sicilische Bildung,
die, obwohl vom Mutterlande unabhängig, doch wieder in
Wechselwirkung mit demselben stand, ähnlich wie in den grie-
chischen Colonien in Kleinasien. Dass die sicilischen Griechen
regen Antheil an der geistigen Entwickelung des Mutterlandes
nahmen, beweist die enge Verbindung, in welcher die bedeutend-
sten griechischen Dichter und Philosophen zu Sicilien standen.
Aeschylus verweilte längere Zeit an dem Hofe des Tyran-
nen Hieron von Syracus, der damals einen Kreis hervorragen-
der Männer um sich sammelte , dort führte er mehrere seiner
Tragödien mit grossem Beifall auf und schrieb zur Einweihung
der auf den Trümmern von Catana erbauten Stadt Aetna ein
eigenes Stück (die AhvaTui). Als er später Athen gänzlich
verliess, nahm er seinen Wohnsitz in Gela, wo man noch heu-
tiges Tages sein Grab zeigt. Sein Andenken w^urde hoch in
Ehren gehalten und jährlich durch Kampfspiele sicilischer Dich-
ter an seinem Grabe gefeiert. — In wie naher Beziehung Pin-
und die sicilianische l'oesu!. 299
dar zu SIcilien stand, beweisen die vielen Siegeshyninen auf
Hieron von Syracus und Theron von Gela ; auch weilte er län-
gere Zeit mit Bacchylides zueanunen am Hofe des Hieron.
Ebenso reiste Plato dreimal an den Hof des altern und Jün-
gern Dionysius nach Syracus. Aber trotz dieser Einflüsse ent-
wickelte sich auf der Insel eine selbständige Literatur beson-
ders nach zwei Seiten hin: in der Lyrik und in der Mimik.
In der Lyrik wird uns Stesichorus aus Himera (um 640
V. Chr.) genannt, als der Begründer einer neuen Art Chor-
dichtung. Worin diese bestanden, ist freilich nicht mehr genau
anzugeben , da wir niu- Bruchstücke aus seinen Werken be-
sitzen. Die Alten erzählen aber, er habe zuerst den Chor zum
Stehen gebracht — daher sein Name Stesichorus , während er
eigentlich Tisias geheissen haben soll — indem er zu der
Strophe und Antistrophe, die der Chor durch eine vor- und
rückgängige Bewegung begleitete, die Epode hinzufügte, die
stehend gesungen wurde. Dies die eine, rein äusserliche Neue-
rung. Eine andere bestand darin, dass er zuerst das epische
Element mit dem lyrischen Chorgesange verband, indem er
ausführliche Mythen einflocht , so jedoch , dass sie nur zu an- "
schaulicher Begründung des lyrischen Elements dienten, nicht
selbständige Geltung hatten. Er trug, wie Quinctilian sagt,
die Wucht des Epos mit der Leier. Endlich soll er, was mit
der Einfügung des Mythus als lyrisches Element zusammen-
hängt, sich grössere Freiheit in der Behandlung desselben ge-
stattet und seiner Phantasie einen freiem Flug erlaubt haben.
Auch erotische Lieder werden von ihm genannt, die ersten,
welche die griechische Poesie aufzuweisen hat. — AVährend
sich aber Stesichorus doch immer noch an die ältere dorische
Lyrik des Stammlandes anlehnte, entwickelte sich ganz selbstän-
dig der sicilischc Mimus aus den Scherzen der ausgelassenen
Menge bei den besonders in Sicilien gefeierten agrarischen Fe-
sten der Ceres und des Bacchus. Die Siciüaner besasscn fiu-
komische Darstellungen und witziges Gesjuäch eine besondere
Begabung. Cicero sagt von ihnen: Nunquam tam male est Si-
culis , quin aliquid facetc et commode dicant. Dieses Talent
brachte nun E picharm us aus Kos, der aber Sicilien zu sei-
ner zweiten Heimat gemacht hatte, und Sophron aus Syra-
300 Giovanni Meli
cus zur Geltung; jener grösser in glänzenden Compositionen,
lustigen Motiven und lächerlichen Contrasten, dieser in getreuer
Zeichnung einzelner Charaktere und ganzer Stände. Es waren
Farcen, nicht regelrecht gegliederte Komödien, im lebendigsten
Wechselgespräch und mit sprudelndem Witze durchgeführt,
ohne strenge Form. Plato schienen diese Mimen wichtig ge-
nug, um sie mit nach Athen zu nehmen und an ihnen die
Schöilheit des dramatischen Dialogs zu studiren. Von der po-
litischen Komödie der Attiker ist der sicilische Mimus gänz-
lich verschieden. Eine politische Komödie ist nur möglich in
einem freien Staate ; auf dem von Tyrannen beherrschten Sici-
lien konnte sie nicht aufkommen. Dagegen wurde der Mimus
in einer andern Richtung weiter entwickelt: in der bukoli-
schen Poesie, dem lebendigen Bilde (Idyllion) des Hirtenlebens,
wie es der Syracusaner Theokrit (um 170 v. Chr.) entwirft.
Zwar war das Hirtenlied schon uralt auf der Insel, uralt die
Sage vom schönen Daphnis und seinem grausamen Tode, uralt
die Wettgesänge der Hirten in Begleitung der Pfeife: aber
Theokrit hat das Verdienst, diese rohen Gesänge zu künstleri-
scher Vollendung erhoben zu haben. Man würde sich ganz
falsche Vorstellungen von seinen Idyllen machen, wenn man
unsere moderne Schäferpoesie darin suchen wollte. Theokrit tritt
keineswegs aus der überfeinerten Cultur des Stadtlebens hin-
aus in die freie Natur, um sich an dem harmlosen Glücke des
unverdorbenen Landmannes zu erfrischen und in dem Traume
eines goldenen Zeitalters zu schwärmen; er nimmt das Leben,
wie es ist; durch keine Reflexion gestört, schildert er nur die
Hirten und Bauern seiner Heimat, wie sie wirklich sind.
Bei ihm ist keine Spur von Allegorie, wie bei Virgil, keine
Spur von Sentimentalität, wie in den Schäferspielen eines Gua-
rini, dagegen Leben und Bewegung, Licht und Schatten und
scharfe Zeichnung der Charaktere. Er ist darin das unüber-
troffene Vorbild aller spätem Bukoliker bis auf den Sicilianer
Meli und unsern Voss herab geworden. — Der einmal ange-
schlagene Ton klang nun Aveiter. Wir haben noch von zwei
andern Dichtern bukolische Poesien: von Bion aus Smyrna
und Moschus aus Syracus. Der Erstere lebte vielleicht mit
Theokrit gleichzeitig in Sicilien, der Letztere gehört der gelehr-
und die slcilianische Poesie. 301
ten Alexandrinerzeit an. Seine Idyllen tragen den Stempel des
Gemachten und Gesuchten, während die dem Bion zugeschrie-
benen die Anmuth und Naivetät der theokritischen , nur viel
grössere Weichheit zeigen. Hiermit schliesst die classische Li-
teratur in der griechischen Zeit ab. Das römische Wesen, Avel-
ches nun immer weiter um sich griff, trieb keine neuen Blüthen
auf dem erstorbenen Stamme.
Bevor eine neue Literatur sich entwickeln konnte, musste
sich erst aus dem wüsten Treiben der Völkerwanderung ein
neues Volk auf der Insel bilden. Es dauerte Jahi-hunderte hin-
durch, ehe dieser neue Verschmelzungsprocess beendet war.
Das jetzige sicilische Volk ist ein Gemisch aus allen den Na-
tionen, die einst über Sicilien geherrscht haben, doch ist der
allgemeine Typus, mit Ausnahme einiger wenigen griechischen
und albanesischen Colonien, durchaus der italienische. Das
germanische Element ist unverkennbar; an manchen Orten zeigt
schon das hellere Haar und die blauen Augen die deutsche Ab-
kunft der Bewohner an; an andern dagegen deutet die dunke-
lere Hautfarbe und die Elasticität der schlanken Glieder auf
Sarazenenblut. Dass sich viel griechisches Wesen erhalten hat,
ist aus der langen Herrschaft der Griechen leicht begreiflich;
dagegen tritt das spanische — ebenso wie in Neapel — mehr
zurück; es scheint, als ob die Sprödigkeit des Spaniers keine
Mischung begünstige.
Ueber den Charakter der Sicilianer hat der bekannte Bo-
gumil Golz, der geschworne Feind der italienischen Nationalität,
ein hartes Urtheil gefüllt. „Ganz Italien," sagt er, „stellt sich
wie ein Theaterkram dar. Hinter die antiken Coulissen darf
man nicht gucken : desinit in pisccm etc. All diese Kunst und
Natur läuft in einen Fisch aus. Ganz besonders aber sind die
Sicilianer ihren Meerfischen ähnlich, bunte, farbenschillerndc,
gold- und silberlügende Ungeheuerchen, und fischblütig in allen
Augenblicken, wo nicht eine sinnliclic Leidenschall und bestiale
Wuth den Fisch in einen geilen Pavian oder in einen rache-
schnaubenden Tiger verwandelt hat." Dies Urtheil darf uns
aber nicht irre führen. So weit ich B. Golz kennen gelernt
3Ö2 Gi ovannl Meli
habe (ich traf ihn im Jahre 1851 in Neapel), ist es eine origi-
nelle, in sich abgeschlossene Natur, wenig geeignet, fremdes
Wesen zu verstehen. Noch dazu felilt ihm der rechte Sinn für
Kunst und Alterthum. Die alten Griechen und Römer stehen
bei ihm nicht besser angeschrieben, als ihre jetzigen Nachkom-
men. Der einseitige moralische Massstab aber, den er an-
legt, reicht für Italien nicht aus. Hören wir lieber auf das
Urtheil anderer unbefangener Männer, die Sicilien gründlich
kennen. Sie rühmen fast einstimmig die Biederkeit, Massig-
keit, Gutmüthigkeit und Gastfreiheit der Sicilianer; sie rühmen
die begeisterte Vaterlandsliebe, die zu allen Opfern fähig ist,
freilich auch vor keinem Mittel zurückschreckt, selbst vor dem
Morde nicht. Darin hat Bog. Golz recht, dass es den Italie-
nern überhaupt an der rechten Zucht des Geistes fehlt, aber
wer trägt die Schuld, dass das mit so herrlichen geistigen An-
lagen ausgestattete Volk ohne alle Zucht, ohne allen Unterricht
aufwächst? Diese Zucht des Geistes fehlt dem Sicilianer aller-
dings auch. Doch behauptet er immer noch den Vorrang vor
dem Neapolitaner. Es liegt in seinem Wesen mehr sittlicher
Halt, etwas Feineres und Edleres, während die leidenschaftliche
Heftigkeit , die grosse natürliche Begabung , der drastische
Witz, die üppige, fast orientalisch- überschwängliche Phantasie
beiden Völkern gemeinsam sind. Merkwürdigerweise scheint
dem Sicilianer der allen Italienern eigene Sinn für bildende
Kunst abzugehen, wenigstens ist es auffallend, wie wenig Ma-
ler und Bildhauer aus Sicilien hervorgegangen sind ; eine eigene
sicilianische Kunstschule gibt es nicht. Dagegen haben
aber die Sicilianer eine treffliche Literatur und behaupten hierin
entschieden den Vorrang vor ihren Nachbarn. „So zarte, duf-
tige Blüthen der Lyrik, so schmelzende Töne, wie sie die sici-
lianische Poesie aufzuweisen hat, finden sich nicht in Neapel."
Hier ist die niedere Komik heimisch: die Volkskomödie mit
ihrem unerschöpflichen , aber in niederer Sphäre sich bewegen-
den Witze. Dergleichen muss man sehen und hören, nicht
lesen. Die Komik des Neapolitaners liegt hauptsächlich in
seinem lebhaften Mienenspiel und heftigen Gesticulationen , mit
denen er ja schon allein reden kann, ohne ein Wort zu sagen.
Das lässt sich nicht niederschreiben. Anders in Sicilien. Frei-
und die sicilianische Poesie. 30",
lieh macht auch ein sicilianisches Volkslied einen ganz andern
Kindruck, wenn es zu den Tönen der calascione in den zaube-
rischen Nächten des Südens sanft-klagend ertönt, als wenn man
es liest — aber es liest sich doch noch gut, weil es Ge-
halt hat.
Nun sollte man meinen, der sicilianische Dialect sei ein be-
sonders wohlklingender und weicher — das ist aber keineswegs
der Fall. Im Gegentheil, er berührt das an toscanische Klänge
gewöhnte Ohr unangenehm mit seinen dumpfen U- Lauten und
spitzen I- Lauten und durch die eigenthümlich singende Aus-
sprache. Das italienische e und o ist nämlich im Sicilianischen
fjist immer dem i und u gewichen ; dies sind namentlich die
einzigen Vocale , die am Ende yorkommen , mit Einschluss des
a, welches sein gewöhnliches Verhältniss behauptet. Eigenthüm-
lich ist die Verwandlung des 11 in dd, das einen Mittellaut zwi-
schen 1 und d bildet, der für eine fremde Zunge schwer her-
vorzubringen ist, cavaddu, beddu für cavallo, hello; ferner der
Uebergang von gl in ggh, z. B. famigghie, figghia st. famiglia,
figlia, ähnlich Avie die neuere Aussprache das 1 auch im Fran-
zösischen ganz verschwinden lässt. Mit den übrigen süditali-
schen Dialecten, dem neapolitanischen und calabresischen hat
das Sicilianische den Wechsel des fia, fio, flu in scia, scio, sein
(xa, xo, xu) gemein, z. B. sciamma st. fiamma, sciuri st. fiore;
die Assimilation von nd in nn: linnu, quannu st. lindo, quando;
chi für pi mit folgendem Vocal: chiü st. piü u. dergl. ist
ebenfalls allen diesen Mundarten gemeinsam. Der sicilianische
Dialect ist übrigens im Wesentlichen auf der ganzen Insel der-
selbe, die kleinen Abweichungen abgerechnet, die in allen Volks-
dialecten fast von Dorf zu Dorf vorkommen. So haben Pa-
lermo, Messina und Syracus, die südliche Küste und das In-
nere der Insel manche Eigenthümlichkeiten für sich. In eini-
gen Gegenden finden sich viele griechische Wörter, aber ver-
stümmelt und italicnisirt; in andern finden sich Spuren des
Provenzalischen, und an der Südwestküste merkt man die Nähe
Africa's an mehreren arabischen und maurischen ^^'^örtern, die
in andern Theilen der Insel nicht üblich sind, obwohl von eben
diesen Sprachen dem Sicilianischen überhaupt eine Menge von
Wörtern beigemischt ist. Auf das Arabische pflegt man auch
304 Giovanni Meli
manche Eigenheiten der Syntax, z. B. den Gebrauch des Da-
tivs statt des Accusativs zur Bezeichnung des nähern Objects
zurückzuführen, der gar nicht selten vorkommt, z. B. amu a
tia St. amo te; ebenso wie in andern Sprachen, namentHch im
Spanischen, die lange Zeit unter dem Einflüsse des Arabischen
gestanden haben. Die Volkssprache von Palermo ist die gebil-
detste, und ihrer haben sich daher die vaterländischen Schrift-
steller und Dichter von jeher bedient. Die schriftlichen Ur-
kunden aus dem dreizehnten Jahrhundert übrigens beweisen,
dass sich der Volksdialect in diesem langen Zeiträume wenig
oder gar nicht verändert hat.
Was nun die Literatur des modernen Sicilianischen anbe-
trifft, so kann man in der Eutwickelung desselben drei Blüthen-
perioden unterscheiden: die erste im zwölften und dreizehnten,
die zweite im sechzehnten und siebzehnten, die dritte am
Schlüsse des vorigen und Anfang dieses Jahrhunderts.
Die erste Periode bildet die normannische oder schwä-
bische Zeit. Die Sicilianer rühmen sich mit Recht, die ersten
Gedichte in der Volkssprache aufweisen zu können, während
man bisher lateinisch gedichtet und geschrieben hatte. Daher
nannte man solche Gedichte allgemein sicilianische, und der si-
cilianische Dialect war nahe daran, die Sprache der Gebildeten
in ganz Italien zu werden, bis Dante, Boccaccio und Petrarca,
dies leuchtende Dreigestirn am italienischen Himmel aufging
und mit seinem Glanz alle übrigen Sterne überstrahlte. Ihre
Sprache war aber die toscauische, und ihrem Einfluss ist es
zuzuschreiben, dass dieser Dialect die allgemeine Büchersprache
geworden ist. Es war im Italienischen also derselbe Vorgang
wie im Deutschen, wo die Reformation und vor allem Luther's
Bibelübersetzung dem Hochdeutschen allgemeine Geltung ver-
schaflften, während bisher der schwäbische Dialect in der Dich-
tung vorgeherrscht hatte. Dante sagt über das Sicihsche in sei-
ner Schrift über die Volkssprache (de vulgari eloquentia):
„Alles, was die Italiener dichten, wird sicihanisch genannt,
aber dieser Ruhm des Landes Trinakria scheint, wenn wir recht
seine Bedeutung beachten, nur den italienischen Fürsten zur
Schmach sich erhalten zu haben , welche nicht auf heroische,
sondern auf plebejische Weise ihrer Hoffarth folgen. Weil
und die s icilianische Poesie. 305
doch die berühmten Heroen , der Kaiser Friedrich und sein
wohlgeborner Manfred, dem Adel und der Gerechtigkeit ihres
Geschlechts huldigend, so lange das Glück es erlaubte, der
Menschlichkeit nachlebten und das Brutale verabscheuten, wess-
halb alle, die mit einem edlen Herzen und mit Gaben der Gra-
zien beschenkt waren, der Majestät so grosser Fürsten nachzu-
gehen sich bemühten. "Weil nun alles, worin zu ihrer Zeit aus-
gezeichnete Lateiner glänzten , zu allererst aus der Aula so
gi'osser Herren hervorging, und weil Sicilien ein königlicher
Boden war, so geschah es, dass alles, was unsere Vorfahren
in der Muttersprache hervorbrachten , sicilisch genannt wird,
und das haben wir beibehalten und unsere Nachkommen wer-
den es nicht ändern können." — Wir sehen, wie Dante keine
Ahnung davon hat, dass er selber dies schon ändern sollte.
Es beweisst dies wieder, wie wenig Werth er auf seine Ge-
dichte in der Volkssprache legte. Erwartete er doch seinen
Nachruhm von dem lateinischen Epos Scipio Africanus, das
heutzutage Niemand mehr liest , während die divina commedia
in Aller Munde ist.
Es war also der glänzende Hof zu Palermo, der Hof Fried-
rich's n. , von dem dieser erste Aufschwung der sicilianischen
Poesie ausging. „Dorthin kamen," so erzählt ein alter Novel-
list, „alle Leute, die tüchtig waren, von allen Seiten, und der
Mann gab gern und reichlich und zeigte ein freundliches Ge-
sicht, und wer irgend eine besondere Tüchtigkeit besass, kam
zu ihm: Minnesänger und gute Erzähler (trovatori e belli par-
latori)." Hier erblühte die Minnepoesie zum ersten Male in
Italien. Ob sie aus der Provence hierher verpflanzt wurde oder
ob ihre Anfänge in der sarazenischen Poesie zu suchen sind,
das ist fraglich ; die Sicilianer entscheiden sich für das Letz-
tere — wohl mit Unrecht. In Palermo schienen die alten Zei-
ten wieder aufzuleben, avo an dem Hofe der Tyrannen von Sy-
racus sich die Lieblinge der griechischen Muse sammelten.
Auf den klassischen Fluren , über denen noch der Hauch der
theokritischen Dichtung schwebte , erklang schüchtern wieder
der Laut der sicilianischen Leier. Aber wie anders war die
Welt geworden! In Trümmern lag der griechische Kosmos,
ne Herrlichkeit war
Archiv f. n. Sprachen. XXVH.
306 Giovanni Meli
rel; verklungen waren die unsterblichen Gesänge Homer's ; die
herrlichen Gestalten des antiken Drama's, der erhabene Flug
Pindar's, wer kannte sie noch? Man musste gleichsam von
vorne wieder anfangen. „Der Mensch griff denkend in seine
Brust" und sang, was das Herz bewegte: die süsse Minne.
Der gewaltige Friedrich selbst griff mit seiner schwertgewohn-
ten Hand in die Saiten und entlockte ihnen schmachtende Lie-
besklänge. Eins seiner Lieder ist uns noch erhalten.*)
Die Söhne Friedrich's, Enzio und Manfred, ahmten dem
Vater nach in der Liebe zur Dichtkunst. Von dem Letztern
erzählt der alte Chronist Matteo Spinelli, dass er häufig des
Nachts ausging, Lieder und Wechselgesänge anstimmend; er
lustwandelte, indem er die Kühle des Abends genoss , und mit
ihm gingen zwei sicilianische Musiker, die grosse Romanzen-
sänger waren." Von dem unglückHchen Enzio, der später be-
kanntlich den Bolognesern in die Hände fiel und lebenslänglich
im Kerker schmachten musste, von diesem Lieblingssohne Fried-
rich's haben wir ebenfalls ein sicilianisches Gedicht, worin er
seine Liebespein schildert und schliesslich in die Worte aus-
bricht: „Keinen Tag habe ich Ruhe, wie das Meer und die
Wellen. Herz, warum brichst Du nicht? Entflieh der Qual,
scheide vom Körper! Denn es ist viel besser, eine Stunde zu
sterben als fortwährende Qual zu erdulden. Keine Ruhe ja
findet der Mensch, der in Schmerzen lebt und keine Freude
hat und keinen Gedanken, den das Glück eingibt."
Neben den Gliedern der kaiserlichen Familie dichteten viele
hochgestellte Staatsmänner, vor allen der ausgezeichnete, hoch-
begabte Petrus de Vincis (Pietro delle Vigne), lange der ver-
trauteste Freund und Rathgeber Friedrich's , bis giftige Ver-
läumdung ihn in den Kerker warf, wo er in Verzweiflung sich
selber den Kopf an einer Säule zerschmetterte. In seinen Lie-
dern singt er:
*) Man findet es in der Sammlung italienischer Lieder des hohenstaufi-
schen Hofes in Sicilien, welche der literarische Verein in Stuttgart aus dem
Werke des Rosario di Gregorio : discorso intorno alla Sicilia, Palermo
1821, besonders hat abdrucken lassen.
und die sicilianische Poesie. 307
„Wie auf dem Meer der SchifTor, hoflend gute Fahrt,
Die Segel ausspannt bei des Himmels Bliiue;
So schwellet Lieb', mit Sehnsuchtsdrang gepaart,
In Hollnung mir das Herz, das liebestreue,
Dass ich, verachtend Schmerz und bittre Todespein,
An eines nur gedenk — bei Euch zu sein."
Vor dieser Blüthe des sicilianischen Hofes wird uns nur
der Name eines einzigen Dichters genannt, der für den älte-
sten überhaupt gilt, den Sicilien aufzuweisen hat: Ciullo d'Al-
camo (um 1190). Von seinen Lebensumständen ist nichts be-
kannt. Einige seiner Gedichte sind erhalten, unter andern ein
Wechselgesang zwischen einem Liebenden und seiner Geliebten.
Er steht im Garten und will sie durch süssen Gesang herab-
locken, sie antwortet vom hohen Balcone spröde und stolz; sie
droht mit ihrem Vater und ihren Brüdern, er aber lässt sich
nicht abschrecken; er will sich vor ihren Augen durchbohren,
wenn sie ihn abweist; sie aber verlangt von ihm einen Schwur
auf das Evangelium, dass er sie zum Altar führen wolle vor
allem Volk, und erst als er dies geschworen, gesteht sie ihm
ihre Gegenliebe.
Von den übrigen sicilianischen Sängern, deren uns noch
viele genannt werden (auch eine Sängerin: die Nina Siciliana),
ist am ausgezeichnetsten der Notar Jacopo von Lentini (Leon-
tini) an Lieblichkeit und Fruchtbarkeit. Wir haben von ihm
noch mehrere Canzonen und fünfzehn Sonette. Eins davon hat
Gregorovius übersetzt (Lieder des Giovanni Meli, Leipzig
1856, S. XXV). Ein anderes, von ihm nicht übersetztes, lau-
tet etwa so:
„So schüchtern bin ich und so ganz befangen,
So oft ich ihr nur gegenüberstehe,
Dass ich nicht sagen kann mein heiss Verlangen
Und tief im Herzen berg' mein heimlich Wehe.
Wie oft schon hielt verschwunden ich mein Bangen,
Zu sagen, andern gleich, was ich erflehe!
, Doch seh ich euch, ihr minniglichen Wangen,
So fühl ich, dass mein Denken schier vergehe.
Und solche Furcht will mir das Herz erfassen.
Ich macht euch, Herrin, minder wohl gefallen,
Das ich mich zügle, eh' das Wort gefunden.
20*
308 Giovanni Meli
Und diese Furcht will nimmer mich verlassen.
Kühn biet' ich wohl im Streit die Stirne allen,
Doch Euer Drohn ist schrecklicher als Wunden."
Dieser Liederfrühling, der unter den Hohenstaufen auf
Sicilien erblühte , war von kurzer Dauer. Die politischen
Stürme, die nach Friedrich's II. Tode über die Insel dahinbrau-
sten, streiften die zarten Blüthen ab; unter dem blutigen Scep-
ter der Anjou's konnte die Dichtung nicht gedeihen, und auch
nachdem die sicilianische Vesper das Land von den anmassen-
den und sittenlosen Fremdlingen gereinigt hatte, kehrte unter
der schlechten Regierung der spanischen Vicekönige die Behag-
lichkeit des Daseins nicht wieder, welcher die Musen hold sind.
Sie kehrten bei andern Stämmen ein, die lingua Toscana er-
rang die Herrschaft. Mit ihrer Anmuth und Feinheit, mit
ihrer vollendeten Technik, die sie durch ihre grossen Meister in
kurzer Frist gewann, konnte sich das Sicilianische bald nicht
mehr messen; neben der vornehmen Schwester spielt sie von
jetzt ab eine untergeordnete Rolle. Die eingebornen Dichter
verschmähten es, in der Landessprache zu reden; diese blieb
nur noch in dem Munde des gemeinen Volkes. Sie theilt nun
mit allen Volksmundarten dasselbe Schicksal ; sie lebt weiter
ohne eigentliche Geschichte; sie bleibt auf derselben Stufe ste-
hen, wo sie im dreizehnten Jahrhundert stand , und es bedarf
erst wieder eines hervorragenden Genies, um sie aus der Bauern-
hütte wieder in den Fürstenpalast einzuführen.
Die zweite Blüthenperiode beginnt mit dem fünfzehn-
ten Jahrhundert. Es war die Zeit, wo in dem benachbarten
Neapel der berühmte Sannazaro blühte und durch seine Arca-
dia den Reigen der arcadischen Dichter eröffnete. Es war für
dag Sicilianische von besonderer Bedeutung, dass er es nicht
verschmähte, von der Höhe des lateinischen Parnass , auf dem
er sich heimisch fühlte, in die niedrigen Regionen des calabre-
sischen Dialects hinabzusteigen. Vor allem aber fand die arca-
dische Poesie Anklang auf der Insel, die einst ihre Heimat
gewesen war. Hier weidete der Rinderhirt noch das röthliche
Hornvieh, wie zu den Zeiten Theokrit's, und der Ziegenhirt
trieb die Heerde auf die schroffen Felsabhänge der kräuterrei-
chen Berge; noch hing ihm, wie ihn Theokrit schildert:
und die sicilianische Poesie. 309
„— des rauhen und dichtgezottelten Bockes
Weissliches Fell um die Schulter, vom frischen Labe noch duftend,
Rings auch war um den Busen ein altes Gewand ihm geschnüret
Mit dem geflochtenen Gurt — und den waldölbaumenen Krummstab
Trug er daher in der Rechten."
Noch jetzt lebte die alte Lust am Wettgesange; noch jetzt
setzte er seine Hirtentasche oder einen künstlich geschnitzten
Stab zum Preise und ernannte einen Kampfrichter aus seinen
Genossen, die ihn begierig lauschend umstanden. Man brauchte
nur in's Leben hineinzugreifen, um Poesie zu finden.
Anders freilich war die Welt der arcadischen Schäfer, wie
sie Guarini in seinem pastor fido schuf und wie sie bald in
den Köpfen aller Dichter inner- und ausserhalb Italiens spukte.
Diese schmachtenden , sentimentalen Schäfer und Schäferinnen,
die nur zum Scherz das liirtcngewand über die parfümirten
Modekleider geworfen hatten, existirten nirgends, am wenigsten
in Sicilien. Und doch trieb auch hier eine Zeitlang die spie-
lende Schäferpoesie ihr Wesen, und es kostete viel, ehe sie
wieder der Naturwahrheit wich und zu der ursprünglichen
Frische und Lebendigkeit zurückkehrte.
Wie im übrigen Italien in dieser Periode, bildeten sich auch
in Sicilien Akademien zur Pflege der Dichtkunst, mit allem
dem tändelnden Flitterstaate, der uns aus der Geschichte der
deutschen fruchtbringenden Gesellschaft, des Blumenordens oder
der Pegnitzschäfer u. s. w. hinreichend bekannt ist. In Pa-
lermo wurde 1568 die Akademie digli Accesi (der Entbrannten)
gestiftet. Ihr Wahrzeichen war der wachsende Mond mit der
Inschrift: Revertens colligit ignes. Kurz, Sicilien machte mit
dem übrigen Italien ganz dieselbe Entwickelimg durch, nur
ohne Meister aufweisen zu können, die den Toscancrn ebenbür-
tig an die Seite treten konnten.
Da erhob sich in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahr-
hunderts die sicilianische Poesie zu neuer Blüthe durch das be-
deutende Talent eines Mannes, dem man den Ehrentitel Pocsis
Siculae princeps et magister mit Fug und Recht gegeben hat.
Es ist Don Antonio Vcncziano von Monrcale, aus dem alten
Geechlechte der Olor (geboren 1543). Seine umfassenden
Kenntnisse, seine ausgezeichneten Gaben erwarben ihm die Be-
310 Giovanni Meli
wunderung seiner Zeitgenossen ; seine romanhaften Schicksale
— er war eine zeitlang Sclave in Algier — und sein tragisches
Ende erregen die Theilnahme der Nachwelt. Von seiner Be-
gabung zeugt der Umstand, dass er in vier Sprachen: latei-
nisch, spanisch, toscanisch und sicilianisch mit gleichem Glücke
dichtete. Sein Hauptverdienst aber blieb die Pflege, die er der
Volkssprache nach so langer Vernachlässigung wieder angedei-
hen Hess. Er brachte den slcilianischen Dialect nicht nur Avie-
der zu Ehren, sondern erhob ihn auch zu solchem Grade der Aus-
bildung, dass seine Werke eine unerschöpfliche Fundgrube des
reinen volksthümlichen Ausdrucks für alle Folgenden geblieben
sind. Die Mannigfaltigkeit seiner Dichtungen ist erstaunlich:
er schrieb geistliche und weltliche Lieder, Canzonen, Epigramme,
burleske Lieder, gereimte Sprichwörter, aber mit Geist und
Grazie und sprühendem Witze, der ihm in der hervorragend-
sten Weise zu Gebote stand. Er gebrauchte ihn namentlich,
um seine Gegner mit der beissendsten Satire zu geissein. Da
er aber auch die Regierung nicht schonte, Hess ihn der spa-
nische Vicekönig in den Thurm von Castellamare bei Palermo
werfen. Eines Tages fiel Feuer in die Pulverkammer; der
Thurm flog in die Luft, mit ihm der unglückliche Dichter, der
also ein plötzliches und beklagenswerthes Ende fand. Der
grosse Torquato Tasso, der eben über das Meer herübergekom-
men war, um den Freund zu besuchen, fand nur noch den
grässlich verstümmelten Leichnam. Sein Kopf war lange in
der Kirche St. Vitale in Palermo öflfentlich ausgestellt und trug
einen Zettel im Munde mit der Inschrift: Hoc caput est bonae
memoriae Antonii Venetiani de civitatate Montis Regalis (das
will uns barbarisch dünken, ist aber in Sicilien nichts unge-
wöhnliches, wo man am Allerseelentage sogar Pyramiden von
Todtengebeinen und Schädeln in den Kirchen aufzubauen pflegt).
Veneziano hatte der volksthümlichen slcilianischen Poesie Avie-
der Bahn gebrochen. Das siebzehnte Jahrhundert Avimmelt von
Dichtern und Dichterlingen, die in seine Fusstapfen traten. Wir
können sie mit Stillschweigen übergehen, da sie ganz dem da-
mals herrschenden Geschmacke huldigen. Dieser begünstigte
vor allem das Melodrama. Man pflegte dergleichen zur Ver-
herrlichung der Hoffeste in den Residenzen mit grosser Pracht
und die sicilianische Poesie. 311
aufzuführen. Es ist der Anfang der Oper, die in Italien zu-
erst aufkam und dann die Runde durch ganz Europa machte,
so dass es bald Sitte an den Höfen wurde, einen italienischen
Hofpoeten und einen italienischen Sängerchor zu halten. Auch
in Sicilien wurden öfters am Hofe des Vicekönigs Melodramen
aufgefülu-t, in denen die ersten Barone und die vornehmsten
Frauen mitspielten.
Unter den eigentlichen Volksdichtern verdienen vor Meli
nur noch zwei der Erwähnung. Pio Fulconi, ursprünglich ein
Steinhauer , aber ein unerschöpflich fruchtbares Dichtergenie,
dessen Lobgesang auf die heilige Rosalie, die Schutzpatronin
Palermo's, grossen Kuf erlangte (gestorben 1670), und der
Marchese Eao y Requesens (geboren 1609, gestorben 1659),
später Bischof, als Gelehrter und Dichter gleich ausgezeichnet.
Er schrieb in lateinischer, toscauischer und sicilianischer Sprache,
aber seine Berühmtheit verdankt er den sicilianischen Liedern,
die neben denen des Yeneziano noch jetzt als Muster gelten.
Giovanni Meli hat aus ihnen geschöpft.
Dieser nun ist unstreitig der bedeutendste Dichter, der
eigentliche Volksdichter Siciliens.
Giovanni Meli wurde den 4. März 1740 in Palermo ge-
boren. Wenn das Sprichwort nomen et omen wahr ist, so
konnte man unserm Meli aus seinem Namen eine glückliche
Zukunft prophezeien, mochte man ihn nun aus dem griechischen
ILiikog deuten oder aus dem sicilianischen meli {/naXi, mel) und
sich dabei der Sage erinnern, die von mehr als einem Dichter
und AN^eisen des Alterthums im Schwange ging, dass Bienen
ihnen noch in der Wiege den Mund mit Honigseim netzten,
damit die Rede süsser als Honig ihren Lippen entströme. Meli
studirte in Palermo Medizin, trieb aber daneben auch philoso-
phische Studien; er machte sich sogar mit der Wolfischen Phi-
losophie bekannt, die ihren Weg bis Sicilien gefunden hatte.
Aber bald trieb den jungen Mediziner ein unbczwinghcher
Drang zur schönen Literatur; er las Dante, Petrarca, Ariosto,
besonders den letztern, der seinem heitern Naturell am meisten
zusagte. Der in ihm schlummernde Dichtergenius begann nun
seine Schwingen zu regen. Meli verfasste mehrere Gedichte in
toscauischer Sprache, die eine ungewöhnliche Begabung verrie-
312 Giovanni Meli
then. Hierdurch zog er die Aufmerksamkeit des principe An-
tonio Luccheri Palli von Campofranco, eines glühenden Patrio-
ten, auf sich, der damals in seinem Palaste von Palermo eine
Akademie von Gelehrten und Dichtern um sich sammelte. Er
zog den jungen Meli an sich , und seinem Einflüsse ist es zu-
zuschreiben, dass dieser sich entschloss, von nun an nur in si-
cilianischer Mundart zu dichten. Es war ein Opfer, das er sei-
nem Vaterlande brachte, wenn er so auf Anerkennung in wei-
tern Kreisen verzichtete; er glaubte aber, es bringen zu müs-
sen und brachte es gern. Denn grade damals regte sich die Va-
terlandsliebe der Sicilianer mächtig ; es war die Zeit, wo unter der
milden Regierung des Bourbonen Karl's III. ein reges geistiges
Leben in dem benachbarten Neapel aufzublühen begann. Da
wollten auch die Sicilianer nicht zurückbleiben , und es begann
ein edler Wettstreit zwischen den Nachbarvölkern, an dem auch
Meli sich betheiligte. Er warf sich nun mit Leidenschaft auf
das Studium der altern sicilianischen Dichtern, besonders des
Veneziano und des Rao, doch lauschte er auch der Ausdrucks-
weise des Volks auf den Märkten und Gassen und auf den
Feldern und Triften und lernte seine kernigen Sprüche , seine
poetischen Bilder und seine treffenden Spottreden. Aber dies
alles verklärt er mit dem Hauche edler Anmuth und warmer
Begeistei'ung; er vermeidet die gefährliche Klippe, an Avelcher
der Volksdichter so leicht scheitern kann, wenn er recht popu-
lär sein will: er vermeidet das Gemeine, Platte, Anstössige; er
stellt den ganzen, vollen Volkscharakter dar, aber gleichsam in
idealer Verklärung, wie es der wahren Dichtung ziemt. Meli
umfasste als classisch gebildeter Mann zugleich auch das gi'ie-
chische und römische Alterthum und vereinigt somit alle ßil-
dungselemente in sich, die auf der Insel leben. Hätten damals
schon die sarazenischen Studien geblüht, die man in neuester
Zeit dort mit grossem Eifer begonnen , so würde sich Meli
sicherlich auch dieses Element angeeignet haben. Vor allem
blühte in ihm wieder die bukolische Poesie auf, wie sie einst
auf der Insel heimisch gewesen Avar. Da alle die Bedingungen,
welche die alte bukolische Poesie hervorgerufen hatten, noch
damals auf der Insel vorhanden waren, so bedurfte es für ein
natürliches, unbefangenes Dichtergemüth nur eines Schrittes,
und die sicilianische Poesie. 313
um aus der Unnatur, zu welcher die arcadische Poesie gewor-
den war, wieder zur Natur zurückzukehren. Diesen Schritt
that Meli. Die Hirten, die er uns vorführt, sind lebenskräftige
Gestalten, die Situation ist ungezwungen, die Charaktere, Sitten
und Gebräuche aus dem Leben gegriffen. Die Namen freilich
sind aus Theokrit entlehnt, aber diese Damötas und Phyllis sind
leibhafte Sicilianer ; Apollo , Venus und Amor nehmen sich —
Avie Gregorovius so schön bemerkt — in diesem Wildgarten der
Poesie grade so heimisch und altehrwürdig aus, wie die griechi-
schen, von Lianen umschlungenen Säulen in der Landschaft Sici-
liens. Meli steht dem Geiste nach Theokrit am nächsten, doch
reicht er bei weitem nicht an dessen durchsichtige Klarheit und
plastische Form; wie sollte auch der ungebildete sicilianische
Dialect mit der vollendeten Schönheit der hellenischen Sprache
wetteifern können! Ausserdem ist Meli zu sehr Lyriker, um
diese Verschmelzung des Epischen und Lyrischen, des Anschau-
lichen mit dem Empfundenen, wie sie die Idylle verlangt, durch-
führen zu können. Dagegen besitzt er in vollem Masse die
uralte sicilianische Gabe der Mimik, die seinen Hirtenliedern
denselben Zauber der Frische und Lebendigkeit verleiht, wie
denen des Theokrit. Meli hat seine Idyllen, die er Jahres-
zeiten nennt, in wechselnden Versmassen geschrieben.; Terzi-
nen und versi scialti wechseln darin ab, die eingeflochtenen ly-
rischen Stücke haben die gewöhnlichen italienischen Versmasse.
Gregorovius hat sie, mit Ausnahme der lyrischen Partien, in
Hexameter übersetzt, gewiss mit Eecht. Die lebendigste unter
ihnen ist „die Fischer-Idylle,'' das Liebesgeschwätz dreier Mäd-
chen, in denen sich jungfräuliche Anmuth auf's reizendste mit
ländlicher Derbheit paart (S. 203).
Das mimische Talent Meli's, das sich so schön in diesen
Gedichten zeigt, tritt besonders hervor in seinem Dithyram-
bus. Es ist ein scherzhaftes Gedicht, das Trunkenbolde in
einer Weinschenke reden und gastiren lässt; voll unerschöpflicher
Laune und Komik. Als Vorbild mag ihm Redi's berühmter
Dithyrambus „Bacchus in Toscana" gedient haben, :ibcr er lässt
seinen Vorgänger weit hinter sich zurück. Zu solchen Gedich-
ten ist grade der sicilianische Dialect am meisten geeignet; hier
kann er am besten seinen Keichthum an komischen Wörtern,
314 Giovanni Meli
Wendungen und Bildern offenbaren. Eine Uebersetzung ist
fast unmöglich, doch hat sie Gregorovius mit Glück versucht
(in der Mitte hat er freilich zur Prosa seine Zuflucht nehmen
müssen). Er nennt dies Gedicht den sicilianischen Weinschwelg,
nach dem bekannten deutschen Gedichte des Mittelalters. Inter-
essant ist es, beide in Bezug auf den verschiedenen Volkscha-
rakter mit einander zu vergleichen. Der deutsche Weinschwelg
zeichnet sich besonders durch die enormen Quantitäten aus, die
er zu sich nimmt. Je länger er trinkt, desto mächtiger werden
seine Züge und endlich muss er einen eisernen Panzer anlegen,
um gegen die Geister des Weins, die ihre Hülle zu sprengen
drohen, gewappnet zu sein. Dabei ergeht er sich in gemüth-
licher Weise im Preise des Weins, ohne seinen Sitz zu verlas-
sen, nur einmal heisst es : do begunde er springen unde treten
manigen sprunc seltsaenen.'' Anders der sicilianische Zecher.
Das Vieltrinken ist bei ihm Nebensache, auch steht er darin
entschieden dem Deutschen nach; aber die Wirkung des Wei-
nes macht sich in viel lauterer Weise bemerklich ; das Gemach
wird ihm bald zu enge, aufgeregt durchzieht er die Strassen,
geräth in dithyrambische Verzückung und bricht in bacchanti-
schen Jubel aus (S. 127). Der Weinschwelg beweist Meli's
Meisterschaft in der Behandlung der Sprache, es ist ein förm-
licher Sprachstrudel, in den er uns hineinreisst; aber seine
Hauptstärke liegt doch in den Oden. Wie dort Aristophanes,
so ist hier Aiiakreon wieder lebendig geworden. Ueber diesen
Liedern, den schönsten, die Italien überhaupt hervoi-gebracht
hat, ruht eine heitere Klarheit, wie über den lichten Fluren
Siciliens der sonnenhelle Tag ; es weht darüber ein zarter Duft,
wie um die würzigen Kräuter, auf denen die hybläischen Bie-
nen ihren Honig sammeln. Zu den gelungensten möchten fol-
gende gehören: die Locken (S. 8), die Augenbrauen (S. 12),
die Lippe (S. 16), die Stimme (S. 20), die Grille (Nachahmung
des Anakreon, S. 42), die Trennung (S. 67), die Fischer (S. 89).
Weniger gelungen sind Meli's Sonette, dagegen sind die
sogenannten C a p i t e 1 , Gedichte vermischten Inhalts, didaktisch,
komisch, burlesk, durch Witz und Phantasie höchst angenehm.
So die Akademie der Antiquare (S. 97), Lob der Fliege (S. 149),
Lebensregeln (S. 134).
und die sicilianische Poesie. 315
Am glücklichsten ist Meli im heitern Spiel des Scherzes,
als echter Südländer, dem die Schwermuth von Natur fremd
ist. Daher ist ihm die Elegie nicht gelungen. Wenn er trau-
rig sein will, so macht es den Eindruck, wie Gregorovius sagt,
als ob ein schönes , lebenslustiges Kind sich die Maske eines
schwermüthigen Gesichts vorhält, dahinter es doch nur kichert.
Dagegen zeichnen sich seine Fabeln durch Originalität,
Leichtigkeit und Sinnigkeit aus. So die Schnecken (S. 171), die
Krebse (S. 172), die Haubenlerche und der Bachstelz (S. 174),
Aesop und der Vogel Langzunge (S. 177), die Fliegen und die
Spinne (S. 182).
Die dramatische Poesie ist von Meli nicht gepflegt worden,
wie denn die Sicilianer überhaupt kein Nationaldrama besitzen,
so wenig wie sie es im Alterthume besessen haben. Ansätze
dazu finden sich allerdings in den vorhin erwähnten Mimen
des Epicharmus und des Sophron , aber es sind nur einzelne
Scenen , Genrebilder aus dem Volksleben , ohne strenge Form
und regelrechte Entwickelung. Darüber sind auch die heutigen
Sicilianer nicht hinausgekommen.
Ebensowenig ist Meli das Epos gelungen, obwohl er sich
auch darin versucht hat, freilich nur im komischen Helden-
gedicht. Am besten liest sich noch sein Don Chisciotto und
Sancin Panza. Die Schwäche der Erfindung Avird einigermassen
verdeckt durch die höchst komische Behandlung der einzelnen
Scenen. Interessant ist dieser Versuch auch desshalb, weil er
das Verhältniss der Sicilianer zu den Spaniern, unter deren
Herrschaft sie so lange standen, beleuchtet. Für uns ist wenig
Ansprechendes darin.
Meli starb am 20. December 1815 zu Palermo. Seine kurze
Lebensbeschreibung, die man seinen Werken vorgedruckt hat,
rühmt von ihm: „Er hatte zu Bewunderern das Vaterland, Ita-
lien, Frankreich, England, Deutschland, und allerwärts wurden
seine AVerkc begehrt und in fremde Sprachen übersetzt. Na-
mentlich lobte ihn ein Alficri, ein Cesarotti, ein Kezzonico, ein
Denina, ein Metastasio, l*ananti und Costi, der eigens nach Pa-
lermo kam, um seine Meinung zu hören , bevor er seine „Re-
denden Thiere" und seine „Novellen" veröffentlichte. Zu seinen
Lebzeiten liess Leopold von Bourbon in Deutschland eine
316 Giovanni Meli etc.
Münze auf ihn prägen , so dass er noch bei seinem Leben in
dem allgemeinen Lobe seine Fortdauer zu ahnen vermochte.
Er war klein von Gestalt, eher beleibt als hager, lebhaften
Auges; seine Stirn war breit und gefurcht, seine Nase, Lippen,
Kinn und alle Formen waren stark, seine Gesichtsfarbe war
braun. Seine Seele war sanft und gutmüthig, und nie weder
von Neid, noch von Hass oder von niedriger Empfindung erregt.
Er war beredt im Gespräch und von schnellfertigem , sinnrei-
chem Witze. Er war der sanftesten Eindrücke fähig, des Mit-
leids, der Freundschaft, der Liebe und Dankbarkeit."
In der Kirche des heiligen Franciscus zu Palermo liegt
Meli begraben. Seine lateinische Grabschrift nennt ihn mit vol-
lem Rechte den Ruhm und die Lust der sicilianischen Musen
und den zweiten Theokrit und- Anakreon ; und sehr wahr sagt
jener Lebensabriss am Ende: „Der Stolz des dankbaren Vater-
landes auf einen solchen Sohn ist um so grösser, je trauriger
das Elend der Gegenwart ist."
Wittenberg. Dr. Wentrup.
U e b e r L o m o n ö s s o f f.
geb. 1711 — gest. 176.5.
Bevor ich mir erlaube die beiden Bildchen, die ich als Cartons
zum Leben dieses grossen Mannes gezeichnet habe, vor dem Leser auf-
zustellen, sei es mir vergönnt, einige allgemeine Vorbemerkungen vor-
auszuschicken, bestimmt, diesen flüchtig entworfenen Skizzen als Hinter-
grund zu dienen und den Grundton für dieselben anzugeben.
Peter der Grosse hatte bei den mannichfaltigen Neuerungen, die
er in seinem Riesenreiche einführte, die Regeneration der Sprache nicht
vergessen. Er hatte ein neues, vereinfachtes Alphabet anfertigen und
eine russische Druckerei — letztere freilich zunächst nur zu Staats-
zwecken — errichten lassen und den Befehl ertheilt, sich der russischen
Sprache fortan in allen Ministerialbüreaus ausschliesslich zu bedienen.
Er hatte ferner in St. Petersburg eine Akademie der Wissen-
schaften begründet und reich dotirt, deren Hauptaufgabe es mit sein sollte,
auch die Landessprache zu ergründen, sie festzustellen, zu pflegen und
zu iördern.
An diese Akademie waren aus dem In- und Auslande Männer
von Gelehrsamkeit, oder solche, die im Rufe derselben standen, berufen
worden, die anfangs auch recht Tüchtiges zusammenakademlsirten.
Unter ihnen glänzen die Namen des russischen Gottsched, Tredjaköwski,
eines talentlosen Pedanten, der sich im Heldengedicht versuchte und
Reime machte, wie etwa folgende:
Als auf der Flur ich kam zu
Gehn, brüllt' grad' laut eiu' Kuh ! ,
wofür er nichts desto weniger als Professor der Eloquenz glänzte
und mit stolzem Selbstgefühle auf die andern, poesiearmen Erdenkinder
herabsah; ferner der Professor Müller, der sich mit allerliand Historie
beschäftigte und sich später den Namen flagelliun professorum erwarb;
318 Ueber Lomonössoff.
Professor Beier, der Chinesisch trieb, aber kein Wort Russisch verstand,
ebensowenig wie sein Kollege, Professor Euler. Alle diese deutschen
Herren beschäftigten sich auf's Eifrigste mit ihren Liebhabereien, ohne
für die zur Herrschaft gelangte Volkssprache auch nur das Mindeste
zu thun, ja ohne sich nur in Besitz derselben zu setzen!
An den Seminarien, die einen mehr kirchlichen Charakter trugen,
wurden sämmtliche Lehrobjecte neben andern Gründen schon deshalb
in lateinischer Sprache vorgetragen, weil die jungen Leute, die sie be-
suchten, aus allen Theilen des unermesslichen Reiches stammten und
selten den ostslawischen russischen Dialekt kannten, so dass sie selbst
in ihrem häuslichen Verkehr genöthigt waren, sich des Lateinischen zu
bedienen. Russisch konnten sie also hier nicht lernen, um so weniger
als nur streng philosophische Disciplinen in der allerscholastischsten
Form gelehrt wurden, wozu die Lehrbücher vorlagen, und es Keinem
auch nur im Traum einfiel, an die Cultur des Volksdialektes zu denken,
der ohne Reiz und ohne Zukunft für sie war.
Die Kanzeleien — nun ja, die kamen dem Befehle nach und
schrieben russisch, so gut es ohne jede Quelle der Belehrung eben gehen
wollte. Ob sie aber sprachbildend und anregend wirkten, wage ich
stark in Zweifel zu ziehen , wenn ich an den Kanzeleistil so mancher
Staaten denke, die jahrhundertelang inmitten des reichsten Culturlebens
stehen und noch heutzutage mitunter so Ungeheuerliches zu Tage
fördern.
Hierzu kam die grenzenlose Unwissenheit aller Schichten des
Volkes (trotzten doch die Bojaren Peter dem Grossen bei Einführung
des neuen Alphabetes mit den Worten: „Das fehlte grade noch, dass
unsere Kinder diese überseeischen Kunststücke lernen sollten!") und
der Tod Peter's im Jahre 1725.
Er hinterliess Alles im Zustande der höchsten Gährung, welche wäh-
rend der kurzen Regierung MentschikofF's unter Catharinan. (1725 — 27),
so wie der der Dolgoruki's unter Peter IL, (1727 — 30), ja selbst
während der des Herzogs Byron unter Anna Iowanovna (1730 — 40),
zu keinem Abklärungsprozesse gelangen konnte. Das fermentirende
Element vegetirte, erstarb. Ein dicker, ungeniessbarer Teig war der
Rückstand. Die Akademie dessen Kern. Unter Anna sprach man
bei Hofe deutsch, denn die meisten Minister und Hofleute, wie Biron,
Münnich, Ostermann, KorflP und unzählige andere, waren Deutsche und
konnten nur mit Mühe einige russische Phrasen zusammenstoppeln.
lieber Lomondssoff. 319
Für die Russen und die russische Sprache waren nur die letzten unbe-
setzten Plätze frei.
^ Dies alles krönte noch der Umstand, dass bis in die Mitte des 18.
Jahrhunderts vom Buchhandel in Russland keine Rede war. Es gab
zu LomonossofF's Zeiten nicht einen Buchladen in Petersburg. Die
wenigen Bücher, die ihren Weg nach Russland fanden, wurden von
zwei deutschen Buchbindern, Tidselius und Wäge, bezogen, welcher
letztere auch den Druck und die Herausgabe der in Russland etwa er-
scheinenden Privatliteratur besorgte.
Diese wenigen Andeutungen werden genügen, um uns ein Bild
von den Schwierigkeiten zu geben, mit denen ein Mann zu kämpfen
haben musste, der berufen Avar, als erster russischer Gelehrter aufzu-
treten! Er hat denn auch sein ganzes Leben hindurch ununterbrochen
dagegen zu kämpfen gehabt.
Erster Carton.
An einem frostigen Wintertage des Jahres 1728 zog gegen Abend
eine lange Reihe einspänniger Telegenschlitten zu den Thoren der alten
Zarenstadt Moskau ein. Sie brachten gefrorene Fische zur Stadt und
hatten zu diesem Zwecke den ungeheuren Weg vom Eismeer bis nach
Moskau — neun Breitengrade in fast grader Linie — bei der grim-
migsten Kälte zurückgelegt. Auf eine solche Fahrt rüsten die Be-
wohner des hohen Nordens sich schon lange vorher, indem sie alles,
was ihnen Haide, Meer und Wald an Beute liefern, fest gefrieren lassen
um es später, wenn der fusshohe Schnee alle Hindernisse des Trans-
portes beseitigt liat, nach den beiden Residenzen des weiten Zaren-
reiches zu führen.
Zu dieser Karawane hatte sich 100 Werst diesseits Archangelsk
ein junger Mann gesellt und die Führer gebeten, sich ihnen anschliesscn
zu dürfen, da sein Weg auch ihn nach Moskau führe. Da ihn mehrere
derselben als den Sohn eines wohlhabenden Fischers aus Cholmogorsk,
einem Fischerdorfe bei Archangelsk, erkannten, so hatten sie nichts da-
wider, staunten aber, als sie erfuhren, dass er weder einen Zehrpfennig
noch andere Kleidung mit sich führe, als die er am Leibe trug. Die
war in der That dürftig genug; denn ausser einem weiten Beinkleide
und der rothen Rubäsehka, d. i. einem kattunen Hemde, trug er nur
noch einen Tulnp oder Jacke aus weissem HasenlVll und eine Pelz-
320 Ueber Lomondssoff.
mutze. Der Jüngling aber versicherte, es friere ihn nicht und sein keckes,
energisches Gesicht, aus welchem eine unbändige Thatkraft hervor-
leuchtete, so wie die feste Haltung seines kräftigen Körpers strafte
diese Versicherung nicht Lügen. So Hessen sie ihn denn gewähren,
indem sie ihr karges Mahl mit ihm theilten , im Uebrigen aber, nach
schweigsamer Nordländer Art, sich wenig weiter um ihn kümmerten,
ja, ihn nicht einmal mit einer einzigen Frage über den Zweck seiner
Reise belästigten.
Nichtsdestoweniger durchdrang der scharfe Frost seine dünnen
Gewänder und mit Sehnsucht schaute er oft nach der Gegend, von wo
die goldenen Kuppeln der Kirchen ihm entgegenstrahlen sollten und wo
er, ach, so Vieles, Alles erwartete. Wie jauchzte er daher auf, als
er sie endlich erblickte, jene zahlreichen, funkelnden Thürme der Haupt-
stadt, wo sich Alles erfüllen sollte, wonach sein ungestüm pochendes Herz
sich sehnte. Aber bald versank er wieder in tiefes Sinnen und, in sich ge-
kehrt, hielt er, an der Seite der Schlitten einherschreitend, seinen Einzug
in die Zarenstadt.
Mit ihnen übernachtete er in einer Ausspannung. Am nächsten
Morgen zog er mit aus nach dem Markte, woselbst die Fischer sich
ihrem Handel hingaben und sich wenig kümmerten um den jungen
Mann, der, in sich gekehrt und rathlos, an einen der Schlitten gelehnt
stand und darüber zu sinnen schien, was er denn nun eigentlich in der
fremden Stadt, ohne Geld und ohne Freunde, beginnen solle.
Da trat ein Hausverwalter an ihn heran und fragte nach Fischen.
Diese simple Frage durchzuckte den jungen Mann wie ein elektrischer
Schlag und schien ihm Muth und Freudigkeit wiederzugeben; denn er
hatte, trotz des überwuchernden moskowifischen Dialektes in der Frage
den Nordländer erkannt und zwar den Nordländer seines Distriktes.
Sehr bald theilte er nun dem Fremden seine Lage und seine Ab-
sichten mit und es stellte sich heraus, dass letzterer aus Archangelsk
war, den Vater des jungen Mannes kannte und sich seiner anzunehmen
nicht nur versprach, sondern ihn sofort mit sich nahm und ihn im Be-
dientenzimmer seines herrschaftlichen Hauses einstweilen unterbrachte,
bis er weitere Schritte für ihn werde thun können. Hierzu fand sich
schon am dritten Tage Gelegenheit, indem den Gönner unsers Jüng-
lings ein Mönch aus dem Saikono-Spasski-Kloster besuchte, wie er öfter
zu thun pflegte. Diesen machte nun der Verwalter mit den Wünschen
und Verhältnissen des jungen Mannes bekannt und trug ihm das drin-
Ueber Lomonössoff. 321
gende Verlangen desselben vor, in Moskau eine gute Schule besuchen
zu können, ihn um seine Mitwirkung bittend.
Der Mönch , dem das offene Wesen des Burchen gefiel , nahm,
von der Erzählung seines Freundes ergriffen, den jungen Mann gleich
mit sich und schmuggelte ihn in das Seminar ein. Da jedoch in dem-
selben nur Bojarenkinder aufgenommen werden durften, unser Jüngling
aber der Sohn eines leibeigenen Fischers war, so war es nicht zu um-
gehen, zu seiner Einstellung in's Seming[r die Erlaubniss des Priors ein-
zuholen.
Dieser , der Erzpriester Theofan Proköpowitsch , ein würdiger,
leutseliger Mann von felsenfester Zuverlässigkeit, beschied den jungen
Mann zu sich, musterte ihn scharf und sagte dann nach diesem schwei-
genden Examen freundlich :
— Nun, mein Sohn, Du willst studieren, nachdem Du das Alter
eigentlich schon überschritten hast, das den Eintritt in unser Seminar
ermöglicht. Jch höre aber, dass Du Ungewöhnliches gethan hast, um
Deinen Zweck zur Ausführung zu bringen ; erzähle mir Dein Leben,
so weit Deine Erinnerung reicht, treu und ohne Hehl, und finde ich
Dich dann noch würdig, bei uns einzutreten, so wird sich das Weitere
finden.
Der junge Mann begann:
Jch bin im Fischerdorfe Cholmogorsk bei Archangelsk geboren
und heisse Michail Wassiljewitsch Lomonossoff. Mein Vater ist dort
Fischer und in guten Verhältnissen, ja, er gilt im Dorfe für einen rei-
chen Mann ; auch hat er mir schon zum öftern gesagt , dass ich mich
nun bald verheirathen müsse und ich solle nur kühn nach den reichsten
unserer Bräute trachten, es werde mich keine verschmähen. Mir aber
ist es im Dorfe zu eng. Schon seit meinem zehnten Jahre musste ich
mit meinem Vater hinaus aufs hohe Meer und ihm helfen bei seinem
Gewerbe. Und wenn ich dann im schwanken Boote sass und hinaus
schaute in die unendliche Ferne, da war es mir oft, als lägen jenseit
des grossen Wassers schöne Länder voll Städte und Dörfer, die ich
alle sehen müsste, und die Sehnsucht nach ihnen ward gross in mir.
Und wenn ich in den hellen Sommernächten heimsegelte mit dem
Vater und der allmächtige Friede ausgegossen war über Woge und
Land, und der frische Morgenwind mich durchschauerte, da regte es
sich in mir und ich brannfe nach Aufschluss über alle Räthsel der
Natur, die mich umgaben, über die geheimen Stätten, aus welchen
Archiv f. n. Sprachen. XXVII- 2 l
322 Ueber Lomonössoff.
strömet das Licht und die Finsterniss, der milde West und der wü-
thende Orkan, von wo das Nordlicht, die Sonne, der Mond und die
Gestirne alle ihren Ausgang nehmen, der Winter seine Eisberge baut
und der kurze Sommer flüchtig über unser Land dahinzieht nach den
warmen Gegenden und auch unser Saatkörnlein im Fluge reift. Und
dann gedachte ich der Fische und ihres Treibens, und wie sie so schlau
sind, als ob ein Geist in ihnen steckte, und aller andern Thiere, und
wie ein jegliches von ihnen so gar eigen beschaffen, und wie der Mensch
es ihnen allen doch zuvorthut. Und da dachte ich , es müsse doch
recht viel zu lernen geben, ach, und ich hätte Alles wissen mögen.
Vor Allem der Pope, wenn er am Sonntag in die Kirche trat und
der Küster das grosse Buch vor ihm hertrug, und er der Gemeinde
die Gebete und Litanei daraus vorlas — wie kam er mir als ein Mann
der Offenbarung vor, der entziffern konnte, was in jenem Buche mit
geheimnissvollen Zeichen geschrieben stand. Und wenn ich dann sah
und es an mir selbst verspürte, wie aus jenem Buche das lebendige
Wort der Lehre und Ermahnung in unsere Seele drang, ach, dann
•nagte es mir am Herzen, dass ich nicht auch lesen, nicht auch meinen
Mitmenschen solchen Trost und solche Erbauung spenden konnte.
Ich empfand einen förmlichen Neid und sann auf Mittel, denn
lesen lernen musste ich; ich wollte es. So gewann ich denn den
Küster durch hundert kleine Dienste in der Kirche und im Dorfe und
durch Gänge in den Wald, von wo ich ihm Holz herbeischleppte, und
durch beständiges Bitten und Liebkosen — denn er that's nicht gern
— dass er mir, so viel er davon wusste, beibrachte. Und es ward
uns Beiden oft recht sauer. Allein, ich lernte es — und nun fing ich
an, mich durch die slawonischen Bücher durchzuarbeiten. Jede freie
Stunde brachte ich im Sommer auf dem Kirchboden zu, um ungestört
zu sein, und lernte jeden Satz so lange, bis ich ihn vollständig aus-
wendig wusste, und da es mir an Zeit nicht fehlte , so ging mein Stu-
dium zwar langsam, doch sicher weiter.
So vorlebte ich mehrere Jahre. Ich hatte mittlerweile die vorhan-
denen Kirchenbücher alle wörtlich auswendig gelernt, ebenso die sla-
wonische (kirchenslawische) Grammatik von Smotritzki, das einzige
Buch, welches der Pope neben dem Rechenbuche von Magnitzki besass,
welches letztere ihm irgendwie in die Hände gekommen war, das er
aber selber nicht verstand.
Es war aber ein Buch und es stand allerlei darin, was ich nicht
lieber Lomonossoff. 323
verstand, und lesen miisste ich es, denn es war meine einzige weitere
Hiüfsquelle. Ich iing also allein an und quälte mit Fragen über die
Exempel jeden, dem ich nur begegnete, besonders die wenigen Fremden,
die etwa unser Dorf passirten und so gelang es mir denn nach aber-
mals 2 Jahren, das ganze Buch zu verstehen.
Inzwischen war mir eine neue Welt aufgegangen. Ich musste
Bücher haben, und fragte überall nach Büchern, ohne welche zu finden.
Von meinem Vater war nichts zu hoffen, denn der wollte von meinem
ganzen Lernen nichts wissen. Eines Tages als ich wieder auf dem
Kirchboden sass und mich anschickte, das Kirchenbuch zu 100. Male
durchzulesen, fiel es mir ein, doch einmal all das Gerumpel zu durch-
stöbern, das in einem dunkeln Winkel des Bodens lag. Ich machte
mich sogleich daran und wollte nach langem vergeblichen Suchen meine
Arbeit bereits aufgeben, als ich unter einem Haufen alten Bleches etwas
gewahrte, das einem Buche ähnlich sah. Ich räumte alles fort, was
mir im Wege lag und entdeckte zu meiner Freude ein altes, an den
beiden Seiten angemodertes, geschriebenes, dickes Buch. Wer war
glücklicher. als ich! Ich zog meinen Fund an's Tageslicht, säuberte
ihn sorgfältigst und fing sofort an, nach seinem Inhalte zu forschen.
Es waren Heiligengeschichten, wie unsere guten Väter sie in der Vor-
zeit so emsig zusammengetragen hatten, und mit ihnen erschloss sich
mir ein ganz neuer Kreis von Anschauungen. Von diesem Schatze
habe ich mich nicht eher getrennt, als bis ich ihn in Stücke gelesen
hatte, was leider im vorigen Sommer der Fall war. Und nun litt es
mich nicht mehr im Dorfe und in den engen Verhältnissen. Jetzt
wusste ich aus den Schicksalen der grossen heiligen Männer, Avie sie es
angefangen hatten und dass ich eine ordentliche Schule durchmachen
müsste, und dass es in Moskau solche gäbe. Und da war mein Ent-
schluss gefasst, meinen Vater, den meine Stiefmutter ohnehin immer
bitterer gegen mich stimmte, wegen meines unnützen Lesens, — zu
verlassen , mich der Fischerkarawane anzuschliessen und hierher zu
kommen, da würde der liebe Gott wohl weiter helfen. Und das ist
Alles!
Der greise Archierej hatte mit ruhiger Spannung dieser einfachen
Erzählung gelauscht, gleich als ob auch vor seiner Seele manch Bild
der Erinnerung vorüberziehe. Dann ergriff er die Hand des Knaben,
legte seine Rechte auf dessen Haupt und sagte:
,,Ja, Gott wird weiter helfen. Du bleibst bei uns, und sie sollen
21'
324 Ueber Lomondssoff.
Dich uns nicht entreissen und Dich der Anmaassung des Bojarenrechtes
nicht anschuldigen, und wenn sie mit der grossen Glocke Sturm
läuteten!"*)
Und er ward eingestellt als Zögling in das Seminar des Saikono-
Spasski- Klosters, wo ihm zu eigener Beköstigung und Beschaffung der
Schreibmaterialien das, von den wenigsten Schülern in Anspruch ge-
nommene, etatsmässige Gehalt von 3 Rubel 50 Kopeken für vier
Monate angewiesen wurde! Dass er hierbei Noth litt, leuchtet ein.
Er selber schreibt später hierüber an den Grafen Schuwaloff" folgendes :
Es blieb mir in dieser unendlichen Armuth für meinen Unterhalt kaum
mehr als ein Kreuzer für Brod und ein Kreuzer zu Kwas täglich. Dazu
kam das nagende Gefühl, dass mein Vater ein wohlhabender Mann war
und mich bereits reich verheirathen wollte und hier musste ich von kleinen
Schuljungen mit Fingern auf mich zeigen lassen und anhören, wie sie
ausriefen: „Seht mal den Oelgötzen (tOMS.B.'b) l Kommt der mit 20
Jahren in die Schule um Lateinisch zu lernen!" Und so verlebte ich
fünf Jahre und gab doch die Wissenschaft nicht auf !
Und er gab nicht nach. Mit eisernem Fleisse benutzte er jede
freie Stunde zum Studium des Lateinischen und Griechischen, und
während seine Kameraden nur das Nothdürftigste lernten und sich
durch Vernachlässigung ihrer Pflichten oft Ruthen zuzogen, wurde Lo-
monossoff im Jahre 1735, nach glänzend bestandenem Examen nach
Kiew und von dort nach Petersburg in das akademische Gymnasium
geschickt, wo er in ferneren zwei Jahren die Anfangsgründe der Ma-
thematik, der Experimentalphysik, Chemie und Mineralogie und Philo-
sophie mit solchem Erfolge studirte, dass er im Anfange des Jahres
1737 auf mehrere Jahre nach Deutschland geschickt wurde, iim sich
an den dortigen Universitäten weiter auszubilden.
[Der Vortrageride las nunmehr in mündlicher Uebersetzung aus
einem russischen Werke eine reizende Palastscene vor , in welcher das
Plofleben im letzten Regierungsjahre der Kaiserin Anna Iowanovna
ebenso charakteristisch als anschaulich geschildert wurde. Der Inhalt
derselben ist folgender:
Die Kaiserin, die schon sehr kränklich und verstimpit war, gab
einen jener Abende, an welchen es die Hauptaufgabe der Hofleute war,
sie zu unterhalten und zu zerstreuen, wobei auch die Karten ihre Rolle
spielten. Ihre Umgebung bestand grossentheils aus Deutschen, welche
*) Ipsissiiiui verba.
Ueber Lomondssoff. 325
die höchsten Ehrenstellen inne hatten und mit Nichtachtung und Ueber-
hebung auf die Russen und alles was russisch hiess, herabblickten, unter
denen der Herzog Biron, Ostermann, Baron KorflT u. A. die hervorra-
gendsten Persönlichkeiten waren.
Diesmal war die Kaiserin besonders gnädig , da ihr der Baron
Korff, der Präsident der Akademie war , Tages zuvor eine russische
Ode überreicht hatte, die von einem jungen Dichter, dem ersten, der
auf diesen Namen mit Recht Anspruch machen durfte, bei Gelegenheit
eines über die Türken erfochtenen Sieges, gedichtet und aus Marburg
an die Akademie, nebst einer Abhandlung „Ueber die Regeln der rus-
sischen Dichtkunst" eingesandt worden war.
Dies Ereigniss brachte die grösste Sensation hervor, einmal, weil
der Dichter ein Fischersohn aus Cholmogorsk war, den die Akademie,
wie Baron Korff sich in einer besonders studierten russischen Rede
ausdrückte, nach Marburg geschickt hatte, um beim Pro/'essor Wolff die
Dichtkunst zu lernen, und zweitens, weil die Kaiserin es selbst mit
solcher Freude betrachtete, dass sie das Gedicht in vielen Exemplaren
hatte drucken lassen und es jetzt unter die versammelten Hofleute
vertheilen liess, deren Jubel und Bewunderung keine Gränze fanden.
In den hierbei statt findenden Gesprächen tritt der Gegensatz zwischen
der herrschenden deutschen Partei und den zurückgedrängten Russen,
die Charakteristik der Hauptfiguren , sowie endlich die Unwissenheit
des Adels und der nur deutsch redenden Akademiker, die weder diese
Ode noch die sie begleitende Abhandlung verstanden noch sie zu beur-
theilen wussten, in das schärfste Relief.
Die Scene schloss mit dem Befehle der Kaiserin an Korff, den
jungen Dichter im Auge zu behalten und über dessen Wohlfahrt zu
wachen (was leider nie geschah) und mit der huldvollen Verabschie-
dung der glänzenden Versammlung.]
Zweiter Ca rton.
Mittlerweile studierte Lomonossoff in Marburg, unter Wolff's spe-
zieller Leitung, dem er auf's Angelegentlichsie empfohlen Avorden war.
Nachdem er drei Jahre hier verlebt hatte, begab er sich nach Freiburg,
um das Bergfach und die Metallurgie zu studieren und kehrte von dort
im Frühlinge 1741 nach Marburg zurück.
Das Burschenleben jener Zeit ist zu bekannt . als dass ich hier
näher darauf einzugehen hätte. "Was Wunder, da«s es eine so derbe,
geborene, acht russische Zechematur ansprach, wie die Lomonossoff's.
Im russischen Volkscharakter liegt in reichster Fülle das Element des
326 Ueber Lomondssoff.
grobsinnlichen Genusses, der lauten, tobenden Lustigkeit, der rücksichts-
losesten Hingabe an den Augenblick und an das, was sich bei uns zum
Kneipenleben entwickelt hat. Lomonossoff mit 400 Rubel jährlich,
einer ansehnlichen Summe für jene Zeit, glaubte Alles mitmachen zu
können und zu müssen. Und hatte er etwa nicht genug gedarbt, ge-
fastet und entsagt ? Hatte er nicht ein Recht zu geniessen , und zwar
zu geniessen a tout prix ? So gab er sich denn bald schon nach seiner
ersten Ankunft in Marburg dem raaasslosesten Kneipenleben hin, ohne
jedoch die Vorlesungen seiner Professoren zu verabsäumen. Allein,
das Geld war immer zu Ende, ehe er recht wusste wie? Er wäre
vielleicht ganz untergegangen, hätte nicht Christine, die Tochter seines
Wirthes, eines Schneiders, den ungestümen Brausekopf so gar lieb gehabt
und ihn endlich in ihren Reizen ganz gefangen gehalten. Sie regte
ihn immer und immer wieder zur Ordnung und Thätigkeit an und rief
sein besseres Selbst wach. In diese Zeit ihrer Bekanntschaft fällt auch
die Verfertigung jener Ode, welche die kaiserliche Huld in so hohem
Maasse hervorgerufen hatte. Leider blieb dem Pärchen bald nichts an-
deres übrig als sich zu heirathen und so sehen wir denn unsern nor-
dischen Helden, den deutschen Studenten, vermählt und gar bald auch
als Familienvater.
Eine Zeit lang mochte es ganz gut gehen. Doch nur zu bald
wieder sehen wir ihn inmitten der entsetzlichsten Geldnoth und zwar
diesmal inmitten einer sein Herz zerreissenden Armuth , denn zwei
theure Wesen litten mit ihm und durch seine Schuld. Dieser Zustand
wurde ihm unerträglich. War er dazu nach Deutschland gekommen,
um hier ein klägliches Philisterleben zu führen, um zu kämpfen gegen
die erbärmlichsten Anforderungen des Lebens ? Wo blieb die Verwirk-
lichung aller der Pläne , die seit lange in seinem Gehirne sprossten,
die gebieterisch nach Gestaltung verlangten, ihn ruhelos und unstät um-
hertrieben ?
Was aber sollte er thun, um sich diesem gefolterten Dasein zu
entreissen? Es blieb ihm nichts übrig als die Flucht. Und zu dieser
entschloss er sich. Mit Zurücklassung des letzten Hellers , rückte er
heimlich aus, entschlossen, sich bis Amsterdam durchzufechten, wo ihm
bei der russischen Gesandtschaft Hülfe werden musste. Drei Tage
schon hatte er sich so durchgebettelt, gleich Dante auf seiner Flucht,
erfahrend
Ueber L omonössoff. 327
come sa di sale
II pane altrui, e com' e duro calle
Lo scendere e il salir per le altrui scale, *)
als er am Abend in einer Schenke in die Hände preussischer Werber
fallt, die den stämmigen, hochwüchsigen Burschen sofort auf's Korn
nehmen, ihm beim Klange der Becher wacker zutrinken, ihm das Hand-
geld zuspielen und am nächsten Morgen ihn ohne Weiteres in den Rock
mit dem rothen Kragen stecken. Auf sein Sträuben antwortet ihm die
breite Hand des Wachtmeisters mit einem kräftigen Backenstreiche und
der Befehl an einen Sergeanten, ihn mit andern Rekruten nach Wesel
abzuführen.
Wer möchte es wagen, die bittern Empfindungen zu schildern, die
seine Seele folterten, die die ganze Gefühlsskala seines Innern auf und
ab durchjagten, von der unbändigsten Verzweiflung bis zur nagenden,
stillen Wehmuth. Vergebens war alles Zureden seiner Mitrekruten.
Stumm und verbissen schritt er neben ihnen einher. Er brütete be-
reits über Befreiung. Also das sollte das Ende seiner wunderbaren
Geschicke sein, als preussischer Soldat in einer Festung zu verkommen?
Dazu wäre er vom Eismeere zu Fuss herabgewandert und hätte gelitten
und gedarbt und gekämpft, um hier in einem Winkel Deutschlands zu
verschellen, er, der eine Welt voll Pläne in sich trug, der die rhythmi-
schen Gesetze der russischen Sprache entdeckt und für alle Zeiten be-
stimmt hatte, der als erster wahrhafter Dichter seines Volkes aufge-
standen war und der das Zeug in sich verspürte für die russische
Sprache und Wissenschaft das zu werden, was Feter I. für die politi-
schen und administrativen Beziehungen Russlands gewesen war! Nim-
mermehr! Die Grösse seines Berufes stellte sich ihm in fast leib-
licher Anschauung dar, um ihm nie wieder zu schwinden. Ent-
kommen musste er und sollte er sein Leben daran setzen ! Und er
entkam. In einer entsetzlichen Nacht entschlüpft er durch's Fenster,
überklettert den Wall, durchschwimmt zwei Gräben, gelangt über die
Contre-Escarpe, durch den bedeckten Gang, durch die Palisaden und
über das Glacis. Kaum ins Freie gelangt, nimmt der rauhe Sohn des
hohen Nordens seine ganze gewaltige Kraft zusammen und eilt stür-
menden Schrittes der holländischen Gränze zu. Als von den Wällen
der Festung die Signalschüsse donnernd die Entweichung eines Deser-
•) Parad. XVII. 58.
328 Ueber Lomonössoff.
tenis v.erkiinden, war er schon längst ausser dem Bereiche der Verfol-
gung. Aber noch bebt keine Faser an ihm. In der höchsten An-
spannung arbeitet jede seiner Muskeln, der Raum schwindet unter
seinen Füssen; ü-iefend und athemlos erreicht er die Grande, flüchtet
sich rasch in ein Dickicht, reisst sich die nassen Kleider vom Leibe,
die er zuvor noch zum Trocknen ausbreitet ^ stürzt dann wie betäubt
nieder und ■ — schläft seine geschlagenen zwölf Stunden , nach deren
Verlauf er seine getrockneten Kleider wieder anzieht und sich frisch
und munter weiter auf den ^yeg begiebt.
In Amsterdam wurde er gut aufgenommen , nach St. Petersburg
befördert, wo er sofort zum Adjunkt -Professor an der Akademie er-
nannt wurde und binnen Kurzem den Lehrstuhl für Physik und Chemie
einnahm.
Sein Erstes war seine treue Christine, die sich und ihr Kind durch
ihrer Hände Arbeit kärglich durchgebracht hatte, nachkommen zu lassen
und sich dann unausgesetzt den umfassendsten Arbeiten zu widmen.
Und er hatte einen schweren Stand. Die Akademie war gänzlich
heruntergekommen ; die Stellung eines Akademikers zur Sinekur ge-
worden. Was Wunder, dass die Herren Akademiker vereint Front
machten gegen einen Störenfried, der dieses idyllische dolce far niente
mit rauher Hand vernichtete, der sie alle übersah und dessen rastloser
schöpferischer Geist diesem Schlendrian sich nimmermehr anzuschliessen
vermochte. Ihren Intrigen und der kalten chinesischen Höflichkeit, die
sie seinem feurigen Ungestüm entgegensetzten, gelang es denn auch,
dass er während der ganzen Regierungszeit der Kaiserin Elisabeth, von
1741 — 1762, also volle 21 Jahre, mit unerhörten Schwierigkeiten
zu kämpfen, ja fort und fort an dem schändlichsten aller Mängel, an
Geldmangel zu leiden hatte, denn sein väterliches Erbtheil war längst
in andere Hände übergegangen. Mit Mühe erwirkte er vom Direktor
der Akademie die Erlaubniss zur Erbauung eines Laboratoriums, das
ihm zugleicli Wohnung gewährte. Richten wir ihn also nicht zu streng,
wenn er nach seinen unermüdlichen Forschungen , nach den mannich-
fachen Anstrengungen und vielseitigen Arbeiten , und den vielen Miss-
he ligkeiten mit seinen neidischen Amtsgenossen bisweilen Vergessen-
heit da suchte, wo er sie in seinen Studentenjahren so oft gefunden
hatte, im Genüsse des aquae vitae.
Die Vielseitigkeit seines Wissens und seiner Werke ist ganz er-
staunlich. Er ist ganz der Mann der Wissenschaft, wie Lessing, doch
Ueber Lomondssoff. 329
wie dieser, Dichter, malgre lui, aus Ueberfülle an Meisterschaft in Be-
herrschung der Form.
Zunächst bestimmte er die Sprache und schrieb
1. eine umfassende russische Grammatik in 592 §. §., die noch
heute von Werth ist.
2. Ihr folgte eine Rhetorik in 326 §. §., die musterhaft durch-
geführt ist, und für welche er erst alle erläuternden Stellen aus den
Klassikern metrisch zu übersetzen hatte. In diesen Proben schon
zeigte er die Fähigkeit der russischen Sprache, sich jedem Metrum ir-
gend welcher Sprache aufs Biegsamste anzupassen, und dass sie über-
haupt zum Ausdrucke poetischer Gedanken vorzüglich geeignet sei. —
3. Eine alte Geschichte Russlands, zu weicherer alle Ma-
terialien erst aus den Chroniken zusammentragen musste, und
4. eine Chronologie Russlands, bekundeten sein Talent als
Historiker.
5. Vier erschöpfende Abhandlungen über Chemie.
6. Die Elemente der Metallurgie in 2 Theilen.
7. Eine Serie mathematischer und astronomischer For-
schungen und Beobachtungen, mit zum Theil ganz neuen Theorien, zu
welchen Werken allen er selbst die erläuternden bildlichen Darstellungen
zeichnete; ferner
8. Mehrere Artikel über Mosaik und deren Darstellung.
9. Eine Anzahl von Programmen für die Regeneration der
Akademie und die zu errichtende Univers^ität, jedes einzelne eine Ar-
beit von Bedeutung.
10. Berichte, Reden, Kritiken und Briefe in mehreren Sprachen;
hierzu noch, als Erholung
11. eine Uebersetzung Anacreon's und der Werke Jean Jacques
Rousseau's; zwei Tragödien, ein grösseres Epos und mehrere Oden,
und dies alles in einer Sprache, der er erst den lebendigen Odem ein-
geblasen hatte und umgeben von Ignoranten und Neidern , die jede
seiner Handlungen imd Schriften zu verdächtigen suchten I
Er aber schritt einher unter ihnen mit dem unaufhaltbaren Schritte
des Genies, das Hindernisse nicht kennt, nein, ihrer bedarf, um sie zu
besiegen und sich gross daran zu ringen. Seine Bestimmung war der
geistige Aufbau seines Vaterlandes, das er glühend liebte, und seine
markige nordische Natur lii'h ihm Kraft, mit dem Eifer und die Be-
geisterung der Propheten zu wiiken und nimmer müde zu werden.
330 Ueber Lomondssoff.
Und er sollte es erleben, dass sein Streben anerkannt wurde. Die
Kaiserin Catharina nahm sofort nach ihrer Thronbesteigung den al-
ternden Lomonossoff in ihre Gunst und bereitete ihm und seiner Chri-
stine ein sorgenfreies Alter. Fürsten und Würdenträger buhlten um
die Ehre seines Besuches , um ihren goldstrotzenden Sälen durch die
Zierde der Wissenschaft eine höhere Weihe zu geben. Er aber ver-
schmähte es, Coulisse zu sein und lebte still und eingezogen noch drei
Jahre, bis der Tod ihn am 4. April 1765 ereilte. Seine Leiche wurde
mit grosser Pracht in der Klosterkirche des heiligen Alexander-Newski,
diesem Westminster Petersburgs, beigesetzt.
Graf Woronzoff setzte diesem Luther, diesem Lessing und fast
auch Humboldt Russlands ein beide ehrendes Marmordenkmal.
Berlin. A. Boltz.
Beurtheilnngen und kurze Anzeigen.
Anzeiger für Kunde der Deutschen Vorzeit. 6. Jahrg. 1859.
Nro. 9 — 12.
Zur Geschichte der Truchsässen von Alzei. Von Archivrath
Ed. Kau sie r in Stuttgart. — Zu Alzei in Rheinhessen blühte am Anfange
liis Ende des 13. Jahrhunderts und noch später ein edles pfälzisches Dienst-
mannengeschlecht. In seinem ^^'appen führte es die Geige. Neuerdings
hat Mone in der Zeitschrift für die Gesciiichte des Überrheins Notizen und
Urkunden über dasselbe gegeben und auch die Beziehung auf den kühnen
Alzeier Fiedler des Nibelungenliedes, Volker, hervorgehoben. Eine kürzlich
aufgefundene Urkunde giebt einige wichtige Data zur Geschichte des Ge-
schlechts und drei wohlerhaltene Wachssiegel. Die Urkunde und das Siegel
sind mitgetheilt.
Johannes Nas, Weihbischof von Brixen. Von Dr. Zingerle.
Kurze biographische Skizze zur Ergänzinig und Berichtigung des von K.
Gödeke in seinem Grundriss zur deutschen Dichtung 1 , p. 385 Beigebrachten.
Der als Polemiker berühmte Prediger und Bischof wurde geb. den 19. März
1534 und starb den 16. Mai 1590 zu Insbruck.
Zur Lebensgeschichte Dr. M. Luthers. Mitgetheilt von Prof.
Dr. Voigt in Königsberg. Theiluehmendes Schreiben der Grätin Dorothea
zu Mansfeld an Luther aus dem Jahre 1.543.
Eine Handschrift des Hans Ilosenplüt. Von Dr. Adelbert
von Keller in Tübingen. Eine der merkwürdigsten Handschriften des
Germau. Museums ist die unter Nro. .5339, a aufgestellte Papierhandschrift
des 1'). Jahrhunderts in 4", welche Dichtungen aus der Zeit des Schreibers,
vorzüglich Erzählungen , Eastnachtsspiele und Priauielu von Hans Ilosenplüt
enthält. Weniger lür die Fastnachtsspiele als für die Priameln findet sich
in derselben manche gute Ausbeute. Der Inhalt wird unter Hinweis auf das
schon gedruckt Voriiandene im Einzelnen angegeben.
Satirischer Holzschnitt auf die Erfmdung des Schiesspulvers.
Von Jos. Mor. AV'agner in ^\■ien. Nachweis, dafs ein in S. 176 des An-
zeigers von 18.5C Ix'sprnchener satirischer Holzschnitt aus Joh. Stunififis
Schwytzer Chronika Zürich 1554 genommen ist; ein Werk, das auch sonst
viel Beachtenswerthes bietet.
Nienburger Bruchstück zur Geschi c h tc der Lausitz. Von
Oberlehrer F. Kindsciier in Zerbst. — Auf der Bibliothek des llerzogl.
Francisceums zu Zerbst befindet sith ein Pergamentfoliant, entlialtend Gregors
Moraüen vielleicht im 10. Jahrhundert in Italien geschrieben. Unmittelbar
unter dem Buchdeckel sind geschichtliche Bemerkungen eines Nieuburger
332 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
Mönchs ans der 2. Iliilfte des 12. Jahrhunderts aufgezeichnet, die hier niit-
getheilt werden.
Alte Schweizer Kalender. Von Emil "Weller in Zürich. Mit-
iheilung von den im März 1858 in einem ehemaligen Druckzimmer der alten
Froschau aufgefimdenen Kalenderblättern aus dem IR. Jalirhundert , die an
die Wand geklebt wurden und bildliche Darstellungen nebst Reimsprüchen,
Fabeln etc. enthielten.
Die Bader, Truckenscherer und Wintuser zu Ulm. 1470. Von
Dr. Roth von Seh recken st ein. Ein für die Geschichte der Heilkunde
nicht uninteressanter Rathsbeschluss im Archiv der ehemaligen Reichsstadt
Ulm.
Die Scherergasse in Nürnberg. Von Dr. Lochner in Nürnberg.
Nachricht aus dem 15. Jahrhundert über einen später in Vergessenheit ge-
rathenen Namen Scherergasse. Die Läden der Tuciiseherer waren statisches
Eigen und gehörten unter das Zinsmeisteramt
Siegel mit Jahreszahlen. Von Dr. Märcker, Geh. Archiv-Rath
in Berlin. Ergänzung zu einer Notiz in Nro. 7 des diesjährigen Anzeigers
durch Abbildung eines Siegels des Landgrafen Johann zu Leuchtenberg aus
d. J. ia68.
Zur deutschen Sittengeschichte. Von Dr. Söltl in München.
Auszug aus dem Testament der Pfalzgräfin Margaretha, Gemahlin des Kur-
fürsten von der Pfalz aus d. J. 1488.
War Worms der Sitz eines Erzbischofs? Von J. Hohen-
reuther in Worms. Einige Materialien zu -der noch nicht entschiedenen
Differenz, ob zu Worms Erzbischöfe oder Bischöfe residirt haben.
Zur Geschichte des grossen Städtekrieges. Von Dr. Freih.
Roth von Schreckenstein. Abdruck einer Urkunde vom 23. April 1372.
Dieselbe befindet sich im Stadtarchiv zu Ulm und griebt einen nicht uner-
heblichen Beitrag zur Signatur jener merkwürdigen Zeit.
Lied auf den Krieg des Markgrafen Albrecht mit Nürnberg
und den Fränkischen Bischöfen 1554. Mitgetheilt vom Stadtbibliothekar
Lutz eiber ger in Nürnberg. Der Herausgeber vindicirt dieses noch nicht
gedruckte in mancher Beziehung interessante Gedicht von 34 fünfzeiligen
Strophen einem Job. Ketzniann, der es wenigstens geschrieben hat.
Neu aufgefundene Actenstücke zur Kunst- und Kulturge-
schichte des 16. Jahrhunderts. Bericht über einige in Nürnberg auf-
gefundene Actenstücke , die für Kunst - und Kulturgeschichte, besonders in
Bfzug auf Albrecht Dürer von Wichtigkeit sind. Ein Manuscript ist durch
Geschenk in den Besitz des Museums gelangt. Es ist dies ein „Inventarium
aller über weiland des Erbarn urmd Ehrnvesten Willibalden Im Hofs des
Eltern Burgers vnd genanten des grösern Raths alhie zu Nürmberg seeligen
Verlasner Haab und Güetere aufgericht Im Jar 1580." Es besteht aus 26
Foliobogen, von denen gegenwärtig die beiden letzten Blätter fehlen.
Bemalte Holzschüssel des 15. Jahrhunderts. Nebst Abbildung.
Die Schüssel ist 2' 10" gross; in der Mitte thront ein König tnid über
seinem Haupte ist ein fliegendes Band mit einer Aufschrift. Umher auf
dem breiten platten Rande sind 16 Narren oder Schälke abgebildet, die
Bandrollen und ähnliche Inschriften in Versen zu ihren Füssen haben. Das
Ganze erinnert sogleich an das im 16. Jahrhundert so ausgebildete Schalks-
und Narrenwesen und dessen Spiele , bei denen diese Schüssel vielleicht ge-
braucht wurde.
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 333
Die Abstammung des Astronomen Herscliel. Vom Archivar
Hers che 1 in Dresden. Da die drei in deutscher Sprache geschriebenen
dem Verfasser bekannten Biograpliieen nur das Datum der Geburt llerschels
(den 15. Novbr. 1728 zu Hannover) angeben, ohne über die Herkunft der
Familie Etwas hinzuzulügen, so wird hier nach einer Fan\iiientradition be-
richtet, dass im 17. Jahrhundert drei Gebrüder Herschel durch die östrei-
chische Gegenreformation aus ihrer Heimat Mähren vertrieben wurden und
sich im Sachsischen ansiedelten. Von dort wendete sich der Stammvater
des Astronomen nach Hannover.
Meister Hans Felber von Ulm. Von Prof. Dr. Hassler in Ulm.
In Bezug auf die Aufibrderung des Rector Lochner in Nro. « des Anzeigers
von 1858 macht Dr. Hassler Mittheilung aus älteren Urkunden v. J. 1424
und folgd. Danach ist Hans Felber nicht bloss Stück- und Kanonengiesser,
sondern nach einer Urkunde von 1426 mehr als Inspector oder Director des
Giesswesens zu betrachten. Dass er mit dem Architekten „Hans von Ulm"
identisch sei, ist höchst wahrscheinlich.
Zur Bedeutung des Titels „Herr" im Mittelalter. Von Dr.
Freih. Roth v. Schreckenstein. Anfrage des ür. Roth v. Schreckenstein,
wie es komme, dass die Juden, die im Mittelalter bekanntlich missachtet
wurden, in Urkunden von| 13)4 einen Titel erhalten, der um jene Zeit
eine Prärogative des hohen Adels, hoher Magistratur etc. zu sein pflegte.
Erhielten die vier Meister den Herrentitel in der Urkunde etwa in ihrer
Eigenschaft als Vorstände der Synagoge?
Die alten Gewerksrollen zu Greifswald. Von Dr. Prof. Kose-
garten zu Greifswald. — Zur festen Begrenzung der Innungen war es noth-
wendig, die Gebiete derselben genau zu bestimmen. Prof. K. theilt in nie-
derdeutscher Sprache geschriebene Urkunden der Art aus dem 13 — 15.
Jahrhundert mit und fügt jeder eine Uebersetzung einiger technischen oder
im Hochdeutschen unverständlichen Wörter bei.
Die grossen silbernen Geldstücke des Mittelalters. Von
Rechnungsrath Seh lickeysen. Mittheilung über die im Mittelalter ge-
bräuchhche Art , gegossene Markstücke , die mit dem Stempel einer Stadt
versehen waren, — deshalb „geteknete mark" genannt, — als grössere Sil-
bermünze zu gebrauchen. Herr Schi, fügt dieser Notiz eine Beschreibung
der Markstücke und Mittheilung von zwei Auffindungen sc)lcher in neuester
Zeit bei.
Ein R(Mtersiegel der Familie Thumb von Neuburg. Von Dr.
Roth von Schrecken stein. Ausser der Beschreibung des Siegels ge-
nannter Familie wird ans einigen Urkunden des H.Jahrhunderts der Herren-
stand derselben dargethan.
Dr. Sachse.
Englische Grammatik in Beispielen von Dr. Carl van Dalen.
Berlin. Nicolaisclic Buchhandlung. (G. Parthey.) liSHO.
Der Thatsache gegenüber, dass selbst namhafte englische Grammatiken,
um von werthloscn (Jompilationen gar nicht zu reiien, den J^scr in
einzelnen Fällen in Stich lassen, oder dass sie uns Behauptungen hin-
werfen, für deren Annahme oder Zurückweisung wir einzig j'uf unser grös-
seres oder minderes Zutrauen zu dem Verfasser angewiesen sind, ist das
vorliegende Buch von van Dalen wie ein Labetrunk aus einer frischen Quelle.
Es giebt uns nichts, als Beispiele und überliisst es ihn englischen Autoren
selbst, uns in der englischen Grammatik zu unterrichten ; er beobachtet und
334 Beur theilungen und kurze Anzeigen.
sammelt, er selbst schweigt schonungslos, da wir von ihm doch selbst hin
und wieder bei doppelten Formen, bei schwankendem Gebrauche eine Ent-
scheidung hören möchten. Er enthält sich jedoch derselben grundsätzlich,
da er nicht lehren will, sondern die Autoren zu Lehrern macht.
Erkennen wir nun von vorn herein den überaus grossen Fleiss des ge-
ehrten Verfassers biemit dankbar an. Sammeln ist eine mühselige Arbeit,
über die mancher geistreiche Kopf die Nase rümpft, und doch muss die
Arbeit geschehen. Wünschen wir uns Glück, wenn wir es mit einem fleis-
sigen und gewissenhaften Arbeiter zu thun haben. Diese Gewissenhaftig-
keit bezeugen dem Verfasser alle die Autoren, die er hinter einem jeden
seiner Beispiele citirt hat.
Ein denkender Mensch sammelt nun nicht, ohne seine Sammlungen zu
classificircn; auch er systematisirt von vorn herein. Dies hat denn auch der
Verfasser gethan und zwar so, dass er sich, wie er in der Vorrede sagt,
keiner vorhandenen Grammatik anschliesst, worin er einen Vorzug seines
Buches zu sehen scheint, worin wir nur eine Eigenthümlichkeit desselben
sehen, da wir ihm bekennen müssen, dass wir nicht immer ohne Schwierig-
keit die für streitige Punkte nöthige Aufklärung aus seinem Buche zu
schöpfen vermochten; jedoch möchte dies mehr an Mangel an Gewohnheit,
also an uns, nicht an ihm liegen. Denn zur Orientirung dient dem Leser
ein die Seiten IX — XX füllendes, sehr genaues, Hauptabschnitte und Ab-
theilungen wie Unterabtheilungen durch Einrückungen des Drucks auch
äusserlich sehr übersichtlich bezeichnendes Inhaltsverzeichniss, das uns im
Ganzen eine Eintheilung nach Wortclassen zeigt , wie sich denn überhaupt
das Syntaktische eng an die betreffenden Formen bindet.
Wenn jedoch der Fleiss des Verfassers die grösste Anerkennung ver-
dient, so ist andrerseits nicht zu läugnen, dass dieser Fleiss mitunter ver-
geudet wird. So hätte für die §§. , die sich mit der Flexion des Verbums
beschäftigen, der dritte Theil der angeführten Beispiele vollständig aus-
gereicht. Dasselbe lässt sich von §. 573, Bildung des Adverbs durch by,
§. 323 Plural des Substantivs etc. etc. sagen. Diese Partieen leiden an
einer UeberfüUe von Belegen. Und wenn wiederum die Selbstständigkeit
des Verfassers uns als eine auf diesem Gebiete nicht gar zu häufige schrift-
stellerische Tugend entgegentritt, so ist doch diese Selbstständigkeit von
einer gewissen Ai-t von Eigensinn nicht freizusprechen. Denn der Verfasser
hätte hin und wieder eine Lücke ausfüllen können, hätte er die in früheren
"S"\'erken über englische Granunatik gegebenen Beispiele benutzt und einer
Revision unterworfen. Man muss der Mehrzahl der Verfasser englischer
Grammatiken vorwerfen, ihre Vorgänger zu unselbstständig benutzt zu haben.
Hier tritt der ungleich seltenere Fall ein, dem Verfasser vorwerfen zu müssen,
dieselben im Gefühle und Bestreben der Selbstständigkeit zu. wenig ausge-
beutet zu haben.
Dass hie und da keine oder nicht umfangreiche Auskunft über diesen
und jenen Punkt erf heilt wird, soll kein Vorwurf für den Verfasser sein
— es wäre überdies ein sehr billiger, da er auf jeden Verfasser jedes Buches
passen möchte , — er soll vielmehr eine Aulforderung an die Leser des
Baches sein, wünschenswerthe Ergänzungen, instructive Beispiele aus der
eigenen Leetüre dem Verfasser zugehen zu lassen. Dass diesen Einsen-
dungen ein freundlicher Empfang und eine billige Erwägung wird, weiss
Refer. aus eigener Erfahrung zu bestätigen.
In welcher Weise sich das Buch für den Unterricht verwerthen lässt,
wird den Freunden der heuristischen Methode, deren sich der Verf. seit
Jahren befleissigt und der auch dies Buch seinen Ursprung verdankt, ohne
Weiteres einleuchtend sein. Selbst da, wo diese Methode nicht eingeführt
ist, wird das Buch als Beispielsammlung und Ergänzung der Grammatik recht
gute Dienste leisten. Vor allen Dingen empfehlen wir es aber jedem Lehrer.
Ihm bietet es Stoff" zu Exercitien und grammatischen Uebungen und Aus-
ßeurtheilungen und kurze Anzeigen. 335
kunft über viele Punkte, selbst der Formenlehre, die in vielen Graomuatiken
unklar und dunkel bleiben. Beispielsweise möge auf §§. 136 — 164, Par-
ticipium perfecti und §§. 370 und 397, Wortbildung, verwiesen werden.
G. Blich mann.
Von der Bedeutung der Sanskritstudien für griechische Philo-
logie. Festrede, gehalten in der oftentlichen Sitzung der
k. Akademie der Wissenschaften zu München zur Feier
ihres einhundert und ersten Stiftungstages im JNIärz 18G0
von Dr. Wilhelm Christ, ausserordentl. Mitgliede der
philos.-philolog. Classe der k. Akademie der Wissenschaften.
Dass die Sanskritstudien nicht nur f iir die griechische Philologie, sondern
auch für die moderne Philologie, die theilweise aus der alten hervorge-
gangen ist, von grosser Bedeutung sind, wird Niemand bestreiten , der dem
vergleichenden Sprachunterrichte huldigt. Da nun diese Zeitschrift dem
vergleichenden Sprachstudium besonders ihi-e Aufmerksamkeit schenkt, so
glauben wir auch hier über eine Rede berichten zu können, welche zunächst
nur die griechische Philologie im Auge hat.
Der Festredner Dr. Christ ist ein geborner Nassauer, welcher seine
Universitätsstudien in München und Berlin machte und durch seine gedie-
gene Kenntniss die Aufmerksamkeit eines v. Thiersch u. A. so auf sich zog,
dass er als Lehrer an d. Maxim. Gymnasien gewonnen wurde. Kurze Zeit
nach seinem Eintritt in den baier. Staatsdienst wurde er zum Mitgliede der
k. Akademie ernannt und durch seine „Grundzüge der griechischen
Lautlehre" hat er sich der philolog. Welt rühmlichst bekannt gemacht.
In der Festrede geht Dr. Christ von dem Satze aus: die oberste und
höchste Aufgabe der Wissenschaft ist es, von dem, was ist und geschieht,
den Grund zu erforschen; demnach hat auch die Geschichte nicht blos den
Verlauf der politischen und geistigen Entwickelung der einzelnen Völker zu
ermitteln, sondern auch die Grundzüge zu erforsclien, die in den einzelnen
Fallen eine bestimmte Entwickehmg hervorgerufen haben; hierauf geht der
Kedner auf den Einfluss über, den das römische AVesen auf die Entwickelung
sämmtlicher modernen Staaten Europa's geäussert hat, zeigt aber auch, dass
das Griechenthum auf die gesellschaftlichen Verhältnisse der Römer, be-
sonders auf die Entwickelung ihrer Literatur entscheidend eingewirkt hat.
Von selbst wirft sich daher die Frage auf, durch welchen Eintiuss die helle-
nische Entwickelung bedingt und gefördert worden ist. Der Redner beant-
wortet diese Frage, indem er Klein;isien, Phönizien und Aegyptcn als die
alten Culturstatiten bezeichnet, welche dem frisch aufkeimenden hellenischen
Culturleben manche Nahrung zugeführt haben. Zur grundlichen Beant-
wortung der Franc hat jedoch die vergleicliende Sprachforschung den besten
AN'eg vorgezeichuet, welche evident darthut, dass »las (Griechische ein Zweig
des grossen indogermanischen Sprachstanunes ist und dass es mit dem Sans-
krit in näherer Beziehung als irgend eine andere der europäischen Schwester-
sprachen steht.
Um nun die Bedeutung des Sanskrit für die Erkenntniss des Griechischen
im Einzelnen zu beleuchten, lieht der Redner in allgemeinen Umrissen die
Theile der griecliischen Sprache hervor, die auf diese Weise Licht und
Klarheit erhalten halten.
Zuerst ist dun.h die Kenntniss der Sanskritspracbe eine sichere Er-
kenntniss über die Natur der griechischen Laute und die Gesetze ihrer
Verknüpfung gegeben worden.
Zweitens hat die Etymologie, welche den materiellen Inhalt, die geistigen
Ideen, die sich in jenen Lauten und Lautcomplexen gleichsam verkörpert
336 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
haben, eine sichere Grundlage und einen festern Ausbau erhalten. Wenn
auch durch Nachweis des gleichen Wortes im Sanskrit noch nicht der Ursprung
gegeben ist, so wird doch durch Beispiele nachgewiesen, dass sich durch das
Sanskrit derselbe leicht und sicher nachspüren liisst.
Durcli Anfügung der Nominal- und Verbal -Suffixe haben die Stämme
eine conkrcte Gestalt und bestimme Bedeutung angenommen, aber diese fest
ausgeprägten Worter wurden wiederum zur Bezeichnung der Verhältnisse
des Ortes, der Zeit, des Grades in der Deklination, Conjugatlon und Com-
paration abgewandelt, welche Abwandlungen in dem speciell sogenannten
etymologischen Theil der Grammatik abgehandelt zu werden pflegen. Aus
der genauen Uebereinstimmung der zum Ausdruck der Casus, der Grad-
steigerungen, der Tempora und Modi verwandten Suffixe hat man am
sichersten auf die Verwandtschaft des Griechischen mit den übrigen Zweigen
des arischen Stammes und auf die enge Beziehung desselben zum Sanskrit
geschlossen.
Aber nicht nur in der Form stimmen die Deklinationen und Con-
jugationen des Griechischen mit denen des Sanskrit im AVesentlichen über-
ein, sondern auch in der Anwendung und in dem syntaktischen Gebrauche
jener Formen haben beide Sprachen überraschende Aehnlichkeiten. Aus
demGesaglen ergiebt sich, dass die Kenntniss des Sanskrit zum Verständniss
der griechischen Sprache von den Lautgesetzen an bis zur syntaktischen
Fügung von Wichtigkeit ist. Weniger Aufschluss giebt es über die spe-
cielle hellenische Culturentwickelung; dessen ungeachtet sind diese For-
schungen von grosser Bedeutung für die griechische Philologie; der Redner
weist hier auch die Quellen nach, aus denen die bezüglichen Kenntnisse zu
schöpfen sind.
Dr. Gut hier.
Jahrbuch für Romanische und Englische Literatur. Unter be-
sonderer Mitwirkung von Ferdinand Wolf, herausgegeben
von Dr. Adolf Ebert. Berlin 8". Ferd. Dümmlers Verlag
& A. Ascher & Comp.
Seit dem Anfang des vorigen Jahres erscheint dieses Jahrbuch in regel-
mässigen Quartalheften. Unter seinen Mitarbeitern, die es in Deutschland,
Frankreich, England, Spanien und Italien hat, besitzt es die auf dem Felde
der englischen und romanischen Sprachforschung und Literatur bedeutendsten
Namen. Ueber die jetzt vorliegenden sechs Hefte, (die vier ersten bilden
Band I ,) soll liier in Kürze berichtet werden. —
Ein französisch geschriebener Aufsatz von Edelestand du Meril über
das Leben und die Werke des Reimchronikers Wace eröffnet den ersten
Band. Es werden darin der Name und die Lebensumstände des Dichters
erörtert und seine Werke: La Conception Nostre-Dame, Vie de St. Nicholas,
le Roman de Brut und le Roman de Rou besprochen. Bemerkenswerth ist,
dass du Meril gegen ilie allgemeine Ansicht die Unabhängigkeit des Brut
von der Chronik des Gottfried von Monmoutli nachweist, und ihn vielmehr
aus kymrischen Quellen scliöpfen lässt, was selbst aus dem Titel seines
AVerkes hervorgeht; denn in allen Manuscripten lautet derselbe nicht, wie
er nach le Roux de Lincy's Conjectur allgemein ausgesprochen wird, Roman
de Brut d. h. Roman vom Brutus, sondern Roman du brut , d. h. also, da
brut im Kymrischen Histoire bedeutet, Romanische Uebersetzung der bri-
tischen Sagen. So nennt Robert de Brunne seine altenglische Uebersetzung
der kynn-Ischen Ueberlieferungen : The Brut, so Layamon seine mittelsäch-
sische Bearbeitung unsres Dichters u. s. w.
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 337
Der zweite Aufsatz, einer der bedeutendsten des Jahrbuchs, ist vom
Herausgeber und behandelt die englischen Mysterien mit besonderer Berück-
sichtigung der Towneleysamndung. Die zwei Hauptverdienste dieses Auf-
satzes sind, a) dass darin zum ersten Male ein anschauliches Bild von der
Inscenesetzung der Mysterien entworfen wird, b) dass darin der Unterschied
zwischen den englischen und französischen Mysterien erörtert und die Un-
abhängigkeit der ersteren von den letzteren nachgewiesen wird. Es wird an
den englischen Mysterien gerühmt a) die grössere Einheit der Handlung.
Himmel, Hölle und Erde erscheinen selten zusammen, was im ausgebildeten
französischen Mysterium dagegen sogar Regel ist, b) die grössere Individua-
lisirung in der Zeichnung der Charactere, c) die nationale Färbung, der Ver-
fasser sagt, der Anglieismus der Charactere, d) die bis in's Einzelnste durch-
geführte Handwerksthlitigkeit der Spielenden, die ja Handwerker waren.
Ich schreite nun zu einer näheren Darlegung des Gesammtinhalts des Auf-
satzes. Die Mirakelspiele, von Anfang an eine Sache des Clerus und der
Laien, da sie die Schutzheiligen der einzelnen Zünfte verherrlichten, eman-
cipirten sich zuerst von der Kirche, erst nach ihnen die Mysterien. Sie
wurden von einzelnen Zünften aufgeführt. Die einzelnen Spiele wurden an
grossen kirchlichen Feiertagen zu Collectivmysterien verbunden, die mit der
Schilderung der Schöpfung begannen und die Hauptmomente der biblischen
Geschichte darstellend, mit dem jüngsten Gerichte abschlössen. Es folgt,
aus den drei vorhandenen Sammlungen zusammengestellt , eine Inhalts-
übersicht der einzelnen Spiele, die sich demnach auf 30 — 40 beliefen. Die
einzelnen Spiele, pageant, lat. pagina genannt, wurden von den einzelnen
Zünften gespielt. Die einzelnen Spiele fielen nun immer derjenigen Zunft
zu, die handwerksmUssig dabei besonders betheiligt war, das Spiel der hei-
ligen drei Könige den Goldschlägern wegen der drei goldenen Kronen, die
Fusswaschung den Wasserträgern, die Hochzeit von Cana den Weinhändlern,
der Bau der Arche den Zimmerleuten, die Kreuzigung den Nagelschmieden
u. s. w. — Die Schauspieler wurden bezahlt je nach der Grösse der Arbeit,
Pilatus bekam 4 Schilling. Christus 2, der Teufel und Judas zusammen 18
pence. — Es folgt eine Schilderung des Kostüms, das sich an bemalte kirch-
liche Sculpturen anlehnte. Christus trug einen Rock von weissem Schatleder
mit Aermeln, die in Handschuh ausliefen, rothe Sandalen und eine goldene
Perrücke, die Hohenpriester das bischöfliche Ornat, die Henker Jacken von
schwarzer Steitleinwand, Pilatus einen grünen Mantel und, was noch un-
erklärt ist, eine lederne Keule mit 16 ledernen Bällen u. s. w. Eine solche
Keule ist noch jetzt vorhanden. (Sollte nicht in den Bällen, pilae, eine An-
spielung auf den Namen Pilatus enthalten sein?) Einzelne Rollen, die des
Teufels und des Herodes wurden maskirt gespielt. Die verschiedenen Sce-
nerien wurden auf verschiedenen, von einander unabhängigen Bühnen dar-
gestellt, die weiter geschafft werden konnten, so dass also, war das erste
Spiel vor dem Haus des Bürgermeisters zu Ende, das zweite Gerüst vorfuhr,
wahrend das erste sich vor das Haus des ersten Aldermann begab u. s. w.
(In Frankreich dagegen bestand die eine Bühne aus mehreren Etagen.)
Die Verfasser, respect. Bearbeiter waren Geistliche und bekamen Honorar. —
Hienach lässt Ebert eine eingehende Analyse der Towneleymysterien folgen.
\\'ie sich in diesen Scherz mit Ernst mischt, um die Aufmerksamkeit des
Publikums rege zu erhalten, mögen die beiden in unsrer Darstellung ver-
einigten Schäferspiele zeigen, die zwischen der Begrüssung Maria's durch
Elisabeth und der Verejirung der Magier mitten inne liegen.
Zu drei Schäfern gesellt sich Mak, ein berüchtigter Schafdieb. Er klagt
ihnen seine Noth, weil seine Frau alle Jahr ein bis zwei Kinder gebäre.
Die für ihre Heerden besorgten Hirten nöthigcn ihn, sich zwischen sie zu
legen. Bald sind sie jedoch tief eingeschlafen. Da steht Mak leise auf,
stiehlt den fettesten Bock, bringt ihn in das auf der Bühne selbst vorgestellte
Haus seiner Frau kehrt zurück, und legt sich unter die Schäfer. Diese er-
Archiv f. n. Sprachen. XXVII. 22
338 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
wachen, der eine mit den Worten : Resurrex a raortruis (sie), der zweite, indem
er rühmt, wie ihn der Schlaf erquickt; der dritte hat einen bösen Traum
fchabt, Mak habe ihm ein Schaf gestohlen, Mak aber liegt tief schnarchend
da, muss aufgerüttelt werden, und theilt mit, ihm habe geträumt, seine Frau
habe schon wieder gegackert und einen Knaben gezeugt. Er bittet die
Scliiifer, ihn zu untersuchen, damit er gar nichts mitnähme, eilt nach Hause
und befiehlt seiner Frau, den gestohlenen Bock in die Wiege zu legen.
Bald überzeugen sich die zurückgebliebenen Hirten, dass ihnen ein Schaf
fehlt; sie begeben sich nach Mak's Wohnung, suchen und finden nichts, bis
einer von ihnen beim Abschied den Neugeborenen zu sehen wünscht. Wem
fällt hierbei nicht der avocat Pathelin ein! Da entdeckt er seinen Bock.
Naiver Weise will auch jetzt noch Mak seine Vaterschaft vertheidigen; umsonst!
er wird geprellt. Als sich die Schäfer erschöpft von ihrer Anstrengung
niedersetzen, erscheint ein Engel: Gloria in excelsis singend. Nach einem
komischen Intermezzo, veranlasst durch den schwachen Versuch eines der
Hirten, den himmlischen Gesang nachzuahmen, ziehen sie dem Sterne nach
zur Geburtsstätte und preisen das Gotteskind in naiv komischer Weise mit
Ausraufen wie: Heil, du kleiner dünner Flederwisch. Heil, du kleiner Milch-
tunker. — Der Aufsatz schliesst mit Erörterung des Verhältnisses zwischen
Rlysterien und Moralitäten, und weist die Ansicht zurück, als hätten sich
letztere aus den ersten entwickelt.
Die folgenden Aufsätze sind: Der Troubadour Cercamon von Mahn.
Dieser Dichter gehört zu den ältesten Ti'oubadours ; seine volksthümlichen
Dichtungen sind nicht mehr erhalten. Als Proben seiner höfischen Poesie
werden vier Lieder mit einer Uebersetzung in Prosa mitgetheilt; eins findet
sich bereits im Parnasse Occitanien, die drei andern sind vom Verfasser aus
Pariser Handschriften gezogen. — Die Reimkunst der Troubadours von Bartsch,
dem bekannten Verfasser des provenzalischen Lesebuchs. — Ein französisch
geschriebener Aufsatz von Paulin Paris über die von Francisque Michel her-
ausgegebene Chanson: Reise Carls des Grossen nach Jerusalem und Con-
stantinopel. — Ueber den realistischen Roman und das Sittengemälde bei
den Spaniern in der neuesten Zeit von Ferdinand Wolf. Der Aufsatz hebt
die hohe Bedeutung der in Spanien und Frankreich hochgeschätzten, jetzt
auch bereits nach Deutschland Einlass findenden Pseudonymen Schriftstellerin
Fernan Caballero hervor. Sie heisst Cäcilie Arrom, ist 1797 zu Morges in der
Schweiz geboren und eine Tochter Bohl de Faber's. Vergl. einen Aufsatz
von P. Heyse im Maiheft 1858 des Literaturbl. zum Stuttgarter Kunstblatt,
S. 65 ff. J. N. Bohl de Faber und seine Tochter CäciUe. Der Verfasser
schliesst mit einem Anruf an die deutschen Uebersetzer, die Werke dieser
bedeutenden Schriftstellerin in's Deutsche zu übertragen, (womit bereits der
Anfang gemacht ist.) Siehe übrigens Magazin des Auslandes vom dritten
December 1859. — Li dem nächsten Aufsatz giebt Lemcke einen Beitrag zur
Geschichte der Monstrositäten der Literatur und der erzählenden Dichtung
in Italien. Von Zeit zu Zeit erscheint nämlich kometenartig ein Buch auf
Pariser oder Londoner Auctionen, wird mit Gold aufgewogen und ver-
schwindet dann wieder. Dies seltene Buch ist das Libro dell' Origine dei
volgari proverbii von Aloise Cintio dei Fabrizii. Es enthält 45 Erzählungen
in terze rime, deren jedesmaliger Titel ein Sprichwort ist, das aber sehr
selten in einem leidlich vernünftigen Bezüge zu der folgenden Erzählung
steht. Die Tendenz ist, ein möglichst krasses Bild menschlicher Verruchtheit
zu geben. Der Cynismus der Schilderung und des Ausdrucks übersteigt alle
Grenzen; der Dichter ist unerschöpfiich in Schimpfwörtern für das sesso per-
verso e infame der Frauen und die rea canaglia der Geistlichen. Andre Er-
zählungen sind ganz albern und Versificirungen von Venediger Stadtklatsch,
wie sie nach Lemcke bis in die neuere Zeit in Venedig gebräuchlich gewesen
sind ; das Buch wurde auf Befehl Clemens des Siebenten verbrannt. Von des
Verfassers Person ist wenig mehr bekamit, als dass er Dr. der Medizin in
Beurtheilungcn und kurze Anzeigen. 339
Venedig war. Lemcke schildert nacli einem Exemplar der ^^'ol^enbüttler
Bibliothek den Charakter des Buches und giebt eine Inhaltsübersicht der
einzelnen Erzählungen. — Es folgt Notice sur Doon de Mayence, ein fran-
zösisch geschriebener Aufsatz von Alexandre Pey. Er enthält eine gedrängte,
sehr hübsch geschriebene Inhaltsangabc eines bis vor Kurzem noch unedirten,
in drei iNIanuscripten vorhandenen, altfranzösischen Romanes aus dem Carlo-
vingischen Sagenkreise , der jetzt unter Guessard's Leitung in den Anciens
poütes de la France erschienen ist. Der Roman enthält zwei Theile, deren
erster G038 Verse, die jeunessos Doolin besingt; der zweite hat 546 7 Verse.
Leider fehlt der Raum, diesen an naiven Zügen reichen Roman hier ein-
gehender mitzuthcilen. Der Inhalt ist jedoch ganz verschieden von dem der
bis jetzt bekannten Doonromane. (Auch verdient der Name des Helden eine
Besprechung, der überall, wo er als Satzsubiect auftritt, nicht Doon, sondern
Do ist, daher auch der Titel eigentlich Do de Mayence lauten müsste.
Eigennamen unterschieden suj. und reg. im Altfranzosischen häutig durch die
Endung on, Othes, Üthon, Hues, Hujon, Gui, Guion. — Doolin endlich ist
eine durch Dissimilation entstandene Diminutivform für Doonin wie orphelin
für das in Kellers Romwart vorkommende orphenin, welches selbst wieder
für orphin (phain) steht.) .
Der folgende, französisch geschriebene Aufsatz ist von demselben Ver-
fasser. Es wird darin nachgewiesen, dass die Aeueide von Heinrich von
Veldecke dem Roman d'Eneas de Benoit de Sainte-More nachgebildet, ja
an vielen Stellen wörtlich daraus übersetzt ist, wodurch eine früher aus-
gesprochene Vermuthung EttmüUer's bestätigt wird. — Der nächste Aufsatz:
die spanischen Sprichwörter, als Element der Verskunst betrachtet, von
Amador de los Rios ist ein Abschnitt der noch ungedruckten Historia critica
de la literatura espaüola des Verfassers, — «
Es folgt, von Tobler mitgetheilt, ein altfranzösisches dit, le dit du
magnificat von Jean de Conde. Dieses dit ist einer Handschrift der cata-
natensischen Bibliothek in Rom entnommen. Keller hat in seiner Romwart
der altfranzösischen Manuscripte dieser Bibliothek nicht Erwähnung gethan.
Diese Handschrift enthält den Roman von der Rose und 37 kürzere Gedichte,
die von Tübler grösstentheils copirt worden sind, und von denen er eins im
letzten Hefte des Ilerrig'schen Archiv's mitgetheilt hat. 21 Gedichte gehören
mit Sicherheit Johann aus Conde im Heunegau an. Tobler stellt zuerst die
aus den Gedichten selbst zu entnehmenden Lebensumstände des Dichters
zusammen, giebt dann eine Inhaltsangabe von 20 Gedichten und theilt den
altfranzösischen Text des 21. in 470 Zeilen mit. Der Inhalt ist derselbe,
wie Strickers Königin im Bade und folgender. Ein gerechter und wohl-
thätiger, aber sehr stolzer Fürst, König von Sicilien, Bruder der Könige von
ßaiern und Arragonien hört einst in der Kirche den Vers : deposuit potentes
de sede und verbietet den Priestern, diesen Vers jemals wieder zu lesen, da
er so mächtig sei, dass ihm weder Gott noch ein Mensch schaden könne.
Dafür straft ihm Gott also. Als er in's Bad geht, schickt Gott einen Engel
in Gestalt des Fürsten in das Vorzimmer, der sich dort des Königs Ornat
anzieht und mit dem Hof zur Jag<l zieht. Unterdessen ist der in einen
alten Mann verwandelte König aus dem Bade gestiegen und ruft nach den
Dienern, um ihn anzuziehen. Diese, von der Jagd zurückgekehrt, sind über
den frechen Bettler ergrimmt. Sie verhöhnen und schlafen ihn. Niemand
nimmt ihn auf oder will ilim ein Almosen reichen. Da verlässt er sein Reich
und zieht hülfesuchond nach Aragonien und Baiern zu seinen Brüdern. Diese
aber erkennen ihn nicht und weisen ihn schnöde ab. So kehrt er wieder in
sein Reich zurück und setzt sich zu den Bettlern vor das königliche Schloss.
Allen werden Gaben goreicht, nur ihm niciit. Er ])rlcht darüber in Thränen
aus. Jedoch war er nur übergangen worden, weil der das Land verwaltende
Engel ihn aus dem Fenster erblickt und dem Almosenier aufgetragen hatte,
ihn vor sich zu rufen. Der Engel tlieilt ilmi mit, dass Gott ihm wegen seiner
21*
340 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
AVohlthätigkeit und Gerechtigkeit seine Sünde verziehen habe und giebt ihm
seine "Würde wieder.
In aller Kürze folgt hier eine Aufzählung der vier Aufsätze des Heftes
Januar bis März 1860. Zur Geschichte der romantischen Poesie von
Felix Liebrecht, die Verwandtschaft der bei verschiedenen Völkern um-
laufenden Sagen gleichen Inhalts besprechend, des spanischen Dichters Virue
Leben und Werke von Münch-Bellinghausen, der erste historische Roman
im spanischen Südamerika Amalia por Jose Märmol von Ferdinand Wolf,
das Neueste zur Ossian- Frage von Dr. Heller. — Ausserdem sind noch zwei
höchst werthvolle Beigaben eines jeden Jahrgangs zu erwähnen. Diese be-
stehen 1) in Jahresberichten über die verschiedenen Nationalliteraturen : den
italienischen lieferte Justus Grion in Fadua, den französischen in französischer
Sprache (iaston Paris, den englischen H. B. in London; der spanisch -por-
tugiesische, den Millan y Caro in Madrid übernommen hatte, ist diesmal
ausgeblieben. 2) in einer ausgezeichneten Bibliographie des verflossenen Jahres,
in folgenden Abschnitten: Zur französischen, zur englischen, zur italienischen,
zur spanischen, zur portugiesischen, zur allgemeinen Literaturgeschichte, Phi-
lologie, Kulturgeschichte. Diese Zusammenstellung verdient um so grösseres
Lob, als die bibhographischen Hülfsquellen und Indexe mancher Länder, wie
Italiens, noch höchst mangelhaft sind. Ebcrt giebt nicht blos den Titel an,
sondern fügt, wo er selbst zu urtheilen vermag, seine eigene Meinung über
das angeführte Werk an, oder entlehnt anerkannten Zeitschriften ein Ur-
theil über solche, die ihm selbst noch nicht zu Gesichte gekommen sind.
Auch über die beigefügten Kritiken und Miscellen lässt sich nichts als
Löbliches sagen. Nur beispielsweise erwähnen wir einer Kritik der Etudes
historiques sur les Clercs de la Bazoche par Adolphe Fahre von Ebert (^erster
Jahrgang, S. 230), in welcher eine kurze Geschichte der Bazoche gegeben
wird, ferner einer Besprechung der zweiten Ausgabe der Grammatik von
Diez von Delius (erster Jahrgang, S. 350). Von den Miscellen heben wir
beispielsweise „Spanische Miscellen" von Helfferich (erster Jahrgang S. 426)
und über den Schlachtenruf: „Real, real" von Liebrecht (zweiter Jahrgang
S. 120) hervor.
Die besprochene Zeitschi'ift wird der in ihr vertretenen AVissenschaft
neue Freunde gewinnen : dafür bürgt die überraschende Reichhaltigkeit
ihrer bisherigen Leistungen , dafür bürgen die Namen ihrer Mitarbeiter.
Sie gewährt ausserdem den Nebenvortheil einer ansprechenden, französischen
Leetüre. — Druck und Papier sind gut, der Preis, 3 Thaler für den Jahr-
gang, überaus gering.
G. Büchmann.
P r o g r a m m e n s c h a u.
Beitrag zur Dialekt - Forschung in Nordböhmen. Von Ignaz
Petters. Progr. des Gymn. zu Leitmeritz. 1858.
Die Mundart Nordböhmens, von der uns bier Proben mitgetheilt werden,
ist eine mitteldeutsche. Der Vf. zeigt sich mit den Dialektforschungen wohl
vertraut und bezieht sich überall auf die Arbeiten von Grimm, Weinhold,
die Froramannsche Zeitschrift etc., folgt auch in der Bezeichnung der Laute
"NYeinhold. Er gibt Proben aus den Buchstaben A bis L. Von Einzelnen
sei bemerkt, dass das niederd. Fem. bache auch im mitteld. Nordböhmen
Fem. ist, dass bis als Imp. von sein vorkommt, dass ene galere ist = egal
(niederd. eingal), und dass man aus dem Nordböhmischen sogar Schriftdeutsch
gemacht hat „eingelb." Das Wort sich abeschern = sich abmühen ist der
Vf. geneigt von Esche abzuleiten , in welchem Worte er die heftige Bewe-
gung findet. Grete als Frauenzimmer überhaupt ist nicht blos mitteldeutsch,
sondern auch ober- und niederdeutsch. Zu kaviller = Schinder sei bemerkt,
dass im Niederd. Filier die allgemein übliche Bezeichnung ist. Interessant
ist, dass sich für Bergabhang noch das alte Leite erhalten hat. — Möge
der Verf. seine Mittheilungen fortsetzen!
Beitrag zur ßehandlungsweise der Aesthetik in der obersten
Gymnasialciasse. Von Thomas Hohenwarter. Progr. des
Obergymn. zu Görz. 1858.
Da nach den Bestimmungen des österr. Gvmnasialunterrichtsentwurfs
die ästhetischen Ilauptbegriile bei uns nach der Lectüre den Sclüilern klar
gemacht werden sollen, hat der Verf zum Versuch, wie dies einzurichten
sei, den Begriff des Erhabenen gewählt. Er will die Entwicklung des Be-
griffs anknüpfen an die Lectüre der Abhandlungen Schillers „über das
Schöne und Erhabene" und Jean Pauls „über das Erhabene," die Idee der
Grös.se als die zunächst uns entgegentretende festhaltend, geht er über auf
die Grundformen der Grösse, und bespricht demnächst das extensiv, das
numerisch und das dynamis'h Erhabene. Er zeigt, wie leicht die Ausdeh-
nung die Idee der Unendlichkeit erwecken könne, und warum Alles, was der
früheren Vergangenheit angehöre, das Gefühl des Erhabenen in uns errege.
Wie das Massenhafte von der Dichtkunst in diesem Zwecke benutzt und sein
Eindruck durch Zerlegung in Tlieile erhöht werde, zeigt er an einzelnen Bei-
342 ri'ograiamenschau.
spielen. Den Eindruck des dynamisch Erhabenen macht er an einzelnen
Beispielen an Geschichte und Poesie klar. Das Ganze ist in einer für
Schüler fasslichen Weise auseinandergesetzt.
Der Alexandriner, mit besonderer Rücksicht auf seinen Ge-
brauch im Deutschen. Von H. Viehoff. Progr. der höhern
Bürgerschule zu Trier. 1859.
Wir erhalten in dieser Schrift einen sehr werthvoUen Beitrag zur ge-
nauem Kenntniss des Alexandriners. Gegen die gewöhnliche Definition er-
klärt ihn, wegen der Entstehung aus der alten epischen Langzeile von acht
Hebungen, der Verf. als einen ein- oder zweisilbig katalektischen jambischen
Octonar mit einer einfüssigen Pause nach dem dritten Jambus, mit zwei
festen Hebungen auf der sechsten und zwölften Silbe und mehreren beweg-
lichen anderweitigen Hebungen (Wortaccenten). "\^'eil in dem französischen
Ale.xandriner der jambische Rhythmus innerhalb der Hemistichien durch
widerstrebende Wort- und Satzaccente vielfach verdeckt ist, ist er leichter,
schwebender als der deutsche. Seiner Natur nach entspricht er der Vor-
liebe der Franzosen für Antithesen, Vergleichungen und andere rednerische
Figuren, er ist somit aus dem Volksgeiste hervorgegangen, und nicht mit
Schiller zu sagen, dass er den Charakter der französischen Poesie bedingt
habe. Die deutschen Dichter des 16. und 17. Jahrh. bauten den Alexan-
driner nach dem accentuirenden Princip; aber die in der Mitte und am Ende
eintretenden rhythmischen Pausen, die wohl von den bei jeder Cäsur und
am Versschlusse eintretenden Pausen zu unterscheiden sind, die daher zur
Bildung kurzer, meist symmetrlsclier Siitze und Satzglieder zwingen, geben
diesem Alexandriner den Charakter der Einförmigkeit. Daher schon früh
Widerspruch, schon bei DroUinger, noch mehr beim Beginn der classischen
Periode unserer Litteratur; dennoch bleibt er für die didaktische Poesie
nicht ungeeignet und ist mit Glück von Rückert angewandt. Er ist aber
modificirt auch für epische Gedichte von Freiligrath benutzt, indem nämlich
durch das Uebergreifen der AVorte in die zweite Hälfte der Einschnitt we-
niger bemerklich, sodann durch die Verbindung des Alexandriners mit andern
Metren die Eintönigkeit gebrochen wird; der mit dem Alexandriner verbun-
dene Vers ist überall der jambische Dimeter und zwar der akatalektische,
welcher eine Pause nicht zulässt. Diese Freiligrathsche Strophenform hält
der Verf mit Recht für eine dankenswerthe Bereicherung unseres poetischen
Formenschatzes ; aber nur für den nachahmbar, der wie Freiligrath das Ver-
dichten der poetischen Gedanken verstehe. —
Die Alliterationsperiode der deutschen Dichtung. Von Dr. J.
Im. Schneider. Progr. des evang. Gymn. zu Bistritz in
Siebenbürgen. 1858.
Mit Zugrundlegung der neuesten Forschungen über den vorliegenden
Gegenstand bemerkt der Verf., dass die älteste Form der deutschen Dich-
tung die Alliteration gewesen sein müsse, wie aus den erhaltenen Namen,
so wie aus der Form der ersten erhaltenen Gedichte erhelle. Er bespricht
sodann die metrische Beschaffenheit der alliterirenden Gedichte, den Rhyth-
mus, wobei er sich für die Abtheilung nach Langzeilen entscheidet, den
Strophenbau und die Reimform, indem er für die verschiedenen Fälle der
Programmen sclia 11. 343
Verknüpfung, die Dreizahl der Allitjuration, die Aliiteration von zwei und
vier Anlauten und die Abweichungen von der Regel, wobei aber Verderbniss
der Lesart anzunehmen ist, Beispiele beibringt. Was das Verhältniss der
Senkungen betrilFt, so hält er an den von Lac^hniann in der Abb. über alt-
hochdeutsche Betonung und Verskunst gefundenen (iesetzcn fest. "Weiter
vom Uebergange vom .Stabreim zum Endreim handelnd weist er die Alli-
teration an wenigen Beispielen aus der späteren Zeit nach ; wie stark sie
noch im Nibelungenliede hervortritt, hat ln'kanntlich (). Vilmar nachgewiesen.
Zuletzt gibt der Verf. noch wenige Alliterationsspuren in der griech. und
röm. Literatur. Die ganze Abh. zeugt von Kenntniss des betrelfenden Ge-
genstandes; der Verf. bietet sie als eine Probe aus einem grösseren die
Geschichte der deutschen Metrik behandelnden "Werke , das er durch den
Druck zu verofientlichen geneigt sei. Dazu nun aber bietet die vorUegeude
Px'obe noch keine Veranlassung dar.
Das deutsche Kirchenlied iu Siebenbürgen. (Forts.) Von Fr.
Franz Schuster. Progr. des evang. Gynin. A. C. zu Mc-
diasch in Siebenbüi-gen. 1858.
Den ersten Theil hat Ref. früher im Archiv angezeigt. Der 2. Theil
handelt zunächt von den Kron.städter (iesangbüchern. Vor allen andern
siebenbürgischen Orten entwickelte sieh naturgemäss und sicher die Refor-
mation in Kronstadt. Der Reformator Johann Honterns erri<htete 1533 eine
Buchdruckerei, aus der 153ö Luthers Katechismus und die Augsb. Conf,
154 7 eine Agende für die Seelsorger und Kirchendiener in Siebenbürgen
hervorgingen. Nach Honterns Tode (1,549) ging die Druckerei an seinen
Nachfolger, Pfarrer Valemin Wagner über; aus dieser Zeit, aus 15.t5, ist
von dem ältesten Gesangbuch Nachricht erhalten. — Aus der folgenden Pe-
riode ist das älteste aus dem J. 1676, heraus^iegeben von Steph. Schelker,
das nächste von 1731, auch noch »/um Theile die lateinischen Gesänge: In
dulci juhilo, Puer natus in Bethlehem etc. enthaltend; ein weiteres von 173'',
das reichhaltigste von 1751 vom Stadtpfarrer Peter Glos, welches sieb ganz
auf das Freylinghausensehe Gesangbuch (Halle 1741) stützt. Alle Kron-
städter Gesangbücher enthalten, wie die Hermannstädter, eine nicht geringe
Anzahl lateinischer Hymnen, viele Lieder aus der Reformationszeit, auch aus
der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. fehlt kein hervorragender Dichter; am
reichsten aber ist die Periode von 1600 — 17 so vertreten. Gegenwärtig
aber gilt »las seitlSuö eingeführte rationalistische Ge.»angbuch, welches auch
die Bukare.^ter evang. (iemeinde bis 1857, d. h. bis zur Einführung des
Würtemberger Gesanabuches iStnttg. 1841) gebrauchte. Dies Gesangbuch
ward entworfen vom Kronstädter Pfarrer (ieorg Preist; die Anzahl di'r l^ieder
ist von 80" auf 492 beschränkt, die meisten stammen aus der Periode von
17.50 — 1800, von Geliert 25, Munter 14, Dietrich 17, Gramer 12. — Spe-
ciell siebenbürgische Lieder und Liederdichter la.ssen sich nicht viele nach-
wfiisen, aber doch einige, so der Socinianer Jo. Sommer aus Pirna in Sachsen,
gest. 1574 als Leiter an der unitar. Schule zu Klausenburg; Georg Deidrich;
von einem Siebenbürger Eranz Rheter aus Kronstadt stammt das 1664 in
Oels erschienene Liederbuch: Himmlische Seelenlust etc., in dem Gedanken
und Empfindungen meist gekünstelt, die Sprache schwülstig ist; ferner Marcus
Fronius aus Kronstadt, gest. 1713 als Pfarrer das., von dem drei Lieder
bekannt sind; Andreas Teutsch „Davidische HarlVen," eine Psalmenbear-
beitung 1707, der Verf., Bürgermeister in Hermannstadt, war ein frommer
Mann, drei der Lieder sind in die siebenbürg. Gesangbücher übergegangen.
344 Pro gram mense hau.
Als Kircbenliederdichter ist dann zu nennen der Kronstädter Pfarrer Peter
Glos, Herausgeber des Kronstädter Gesangbuches von 1751, in Avelches aber
seine Lieder nicht alle aufgenommen, sondern vielmehr einige schon gedruckte
•wieder verworfen wurden; endlich der siebenbürgische gelehrte Historiker
Joh. Sievert, Prediger in Hermannstadt und Hammersdorf (gest. 1785). Dies
ist Dasjenige, was bis jetzt über siebenbürgische Kirchenliederdichter be-
kanTit geworden ist; auch dies Wenige bezeugt, dass auch auf diesem Ge-
biete die Geistesregungen Deutschlands bei dem Sachsenstamme allezeit
Anklang gefunden haben. — In den Anhängen zu seiner verdienstlichen
Arbeit gibt der Verf. eine Beschreibung der alten Kronstädter Gesang-
bücher von 1676, 1731, 1739, 1751, des neuen von 1805 und eines Klausen-
hurger socinianischen Gesangbuchs von 1650; sodann die Liederdichter der
Kronstädter Gesangbücher; endlich ein Verzeichniss derjenigen Lieder der
Kronstädter Gesangbücher, welche in den Hermannstädter Gesangbüchern
nicht vorkommen.
Ueber Hie hohe Bedeutung, welche die Grossthaten Friedrichs II.
im siebenjährigen Kriege , besonders sein Sieg bei Koss-
bach für die Entwicklung der deutschen Literatur gehabt
haben. Vom Collaborator E inert. Progr. des Gymn. zu
Arnstadt. 1858.
Die hohe Bedeutung, welche für die Entwicklung des deutschen Sinnes
die Persönlichkeit des grossen Königs, namentlich der Sieg von Rossbach
gehabt hat, ist allgemein anerkannt. Der Verf. stellt die Hauptpunkte gut
zusammen: Der gerächte Nationalstolz, das erhöhte Selbstbewnsstsein, der
Sieg der protestantischen Richtung. Er geht dann aber speciell , und das
ist das Hauptverdienst, auf die erhebenden Eindrücke über, welche die ver-
schiedenen Träger des geistigen Lebens damahger Zeit dadurch empfingen,
und stellt mit Recht Lessing oben an. Ihm folgen Herder, Göthe, Schiller,
und selbst Klopstock konnte sich mitunter der Anerkennung Friedrichs
nicht entziehen. Gleim, Kleist, Ramler etc. sind unmittelbar berührt, und
in Schuberts Liedern klingt der Eindruck wieder, den die Grossthaten des
Königs nothwendig auf die junge Generation machen mussten. Es war ein
neuer, grosser Inhalt für die Poesie gewonnen; war der Krieg ja ein Frei-
heitskampf gewesen; wie der König gegen die Convenienz auf dem Throne,
gegen die erstarrte Politik der Zeit kämpfte, so Lessing gegen die Herr-
schaft des französischen Geschmacks, so Herder, so Göthe. Die Poesie
kehrte zur Natur und Wahrheit zurück, damit betheihgte sie sich an den
grossen Interessen der Zeit, sie wurde deutsch; es erwachte der geschicht-
liche Sinn und das geschichtliche Interesse (man vergleiche Göthes Götz mit
der Klopstockschen Richtung), das volksthümliche Element brach sich Bahn
(Bürger und Herder); von diesem Boden aus wurde das klassische Alterthum
erst verstanden und wurde nun ein neues Element. Welche Bedeutung in
politischer Richtung die Erscheinung Friedrichs gehabt, ist bekannt; auch
diese wirkte natürlich auf die Literatur zurück. — Der Verf. hat die ein-
zelnen Behauptungen durch Belegstellen aus den Schriften der genannten
Dichter hinlänglich bewiesen.
Programmenschau. 345
Karl Friedrich Kretschmann, der Barde Rhingulph. Ein Beitrag
zur Geschichte des Bardenwesens. Von Dr. Knothe. Progr.
des Gymn. zu Zittau. 1858.
Kretschmann gehört zwar nicht zu den hervorragenden Erscheinungen
auf dem Gebiete der Literaturgeschichte; die ganze itichtung aber, die er
repriisentirt , verdiente wohl eine besondere Betrachtung, und mit Dank
haben wir den grossen Fleiss anzuerkennen, der auf diesen Gegenstand und
die Kenntniss des Lebens und der Schriften Krctschmanns, eines gebornen
Zittauers, in dieser Zittauer Schulschrift verwandt ist.
Karl Wilhelm Kretschmann ward zu Zittau am 4. Decbr. 1738 geboren
als erster Sohn der zweiten Ehe seines Vaters, des Oberamtsadvokaten Job.
Gottfr. Kretschmann. Es herrschte ein reges literarisches Leben in Zittau,
und es ist wahrscheinlich, dass der junge K. als Gymnasiast an einem be-
stehenden coUegium teutonico - poeticum Theil nahm. K. bezog 1757 die
Universität Wittenberg, um die Rechte zu studiren: aus dieser Zeit stammt
sein ältestes erhaltenes Gedicht, eine poetische Epistel, eine freie Ueber-
setzung aus dem Französischen. Heimgekehrt ward er Oberamtsadvokat
1764 in Zittau. Er Hess Uebersetzunj;en aus dem Franz. und Italien, und
1768 seinen „Gesang Rhingulphs des Barden" erscheinen. So kam er in regen
Briefwechsel mit Gleim, Weisse und Denis. 1774 ward er Gerichtsaktuar
beim Stadtdepartement zu Zittau, seine äussere Stellung sehr günstig, und
schloss, nachdem er seine erste Frau früh verloren, seine zweite Ehe, aus
der ihm ein Sohn geboren wurde. Trotz seines umfangreichen Amtes war
er literarisch sehr thätig, und liess 1784 zuerst unter Beifügung seines
Namens eine Gesammtausgabe seiner Werke in .'S Bdn. erscheinen. Von
Arbeiten überhäuft kam er nach einer schweren Krankheit um seine Ent-
lassung ein; mit dem Range eines Stadtgerichtsaktuarius erhielt er 1797 eine
Pension von 400 Thalern. Er benutzte die Müsse zu zahlreichen literarischen
Arbeiten in Versen und Prosa. Er starb 1809 am 16. Jan. in Zittau, sein
einziger Sohn 183 2. — Von grossem EInfluss auf K. waren Klopstock und
Gleim, besonders aber Ossian, den 1768 Denis In Hexametern iibersetzte.
Die Ossiansche Poesie ahmte mit Verpflanzung der nordischen Mythologie
zuerst nach Gerstenberg 17GG In dem Gedichte eines Skalden. Vor Klop-
stocks Hermannsschlacht erschien schon 1768 Krctschmanns Gesang Rhin-
gulphs. 1771 folgte die „Klage Rhingulphs des Barden," 1772 die „Jägerin,"
Schilderung des altgermanischen Liebeslebens. Hierdurch kam nun K. in
Briefwechsel mit Denis, Gleim, Michaelis In Hamburg, und ward Mitarbeiter
an allen Musenalmanachen. Die Bardenpoesie ward gefördert durch Klop-
stock, Denis, Weisse, Bodmer, die Göttinger; Denis hless jetzt, nach der
Taufe durch Kretschmann, Sined, Klopstock Werdomar, Gerstenberg Thor-
lang, Gleim der Führer der Brennenheere, Rander Friedrichs Barde, AVeisse
der Oberbarde an der Plelsse, Michaelis Miniiehold, Jakobi Tauthard, Hart-
mann (In Tübingen, sjjätcr in Mitau) Telynhard. Eine nationale Gesinnung
Ist der ganzen Richtung nicht abzusprechen, und der Verf. bemerkt mit Recht,
dass auch diese Barden[)oesIe beigetragen hat zur Befreiung vom Auslande;
freilich aber als gar diese Dichter die Thaten der Gegenwart bardisch zu
besingen anfingen , nahm bald ilie Dichtung den Charakter der Lächerlich-
keit an. So erscheint schon Krctschmanns „Barde am Grabe Kleists" in
gespreizter Deutschthümclei, so besonders Denis. Das Publikum aber wollte
an der Bardenpoesie keinen rechten Geschmack finden. So urtheilte schon
Goethe 1769 In einem Briefe an Friederike Oeser (in den Briefen an Leip-
ziger Freunde S. l.'J4 IT.;, der hier mitgetheilt ist, sich überhaupt über die
fanze Richtung aussprechend , namentlich aber (der Verf. hat S. 20 diese
teilen übergangen) über Rhingulf „oder Rhlnglufl oder Gott weiss wie er
helsst." So auch Wieland, noch härter Herder. Klopstock aber dichtete
346 Programmenschau.
nach wie vor bardische Oden, Denis und Kretscbmann besangen bardisch
den Tescbener Frieden, aber im Ganzen war schon Mitte der 70ger Jahre
die Bardenpoesie wieder verstummt. Kretscbmann bUeb am längsten der
Richtung treu, er dichtete auf Friedrich den Grossen eine „Friedrichiade"
1794, ein episches Gedicht in 12 Gesängen, von dem ein Bruchstück er-
schien, eine Beschreibung des ersten und zweiten schlesischen Krieges ; die
Sprache in den hier mitgetheilten Proben (S. 23 tT.) ist noch nicht ganz
verscIioMen, sie klingt in vieh^n Parthit-n in Scherenbergs Waterk)o wieder.
Inzwischen belehrte Dr. Anton in Görlitz Kretscbmann in einigen Aufsätzen
in Folge seines Connnentars zu Tacitus Germania, dass die alten Deutschen
so wenig Barden wie Druiden gekannt. Dennoch tauchte die Bardenpoesie
noch einmal auf, in der „deutschen Bardenfeier, " Berlin 1801, und im
„deutschen Bardenalmanach von Gräter," Neustrclitz 1802, in dem noch K.
ein Bardiat „Hermann in Walhalla" erscheinen liess; K. bUeb also der alten
Fahne treu. —
Kretschmanns lyrische Gedichte sind meist Spiele des Verstandes und
des Witzes, sie tragen alle den Stempel Anakreontischer Dichtung; Leich-
tigkeit der Sprache ist ihr Vorzug. Seine Hymnen zeigen ein tief reUgiöses
Gemüth. Die vielen Gelegenheitsgedichte sind gespreizt. Am besten sind
seine Epigramme, meist witzig, einige geistreich, nie persönlich. Am schalsten
sind seine Fabeln. Ganz misslungen sind seine Dramen, ohne spannende
Verwicklung und Entwicklung, mit unwahren Charakteren, in langweiliger
Sprache. Weit besser sind seine Erzählungen und Novellen. Seine wissen-
schaftlichen Arbeiten (über Bardiat, Drama und Epigramm) zeigen den
denkenden Kopf, geben aber nichts Neues. Uebersetzt hat er viel, sowohl
aus dem Französischen und Italienischen, wie aus dem Lateinischen. —
Herford. Hüls eher.
M i s c e 1 1 e n.
Seb. Franck.
Eine eindringliche und anerkannte Würdigunfr dieses Mannes hat Bi-
schof in seiner trefflichen Preisschrift: „Sebastian Franck und deutsche
Geschichtschreibung'' Tübingen 1857 gegeben. Minder ist es ihm gelungen,
was er selbst beabsichtigte und was unter andern auch H. Kurz Blätter für
literarische Unterhalt. 1858 Nro. 11. Seite 190 an seiner Arbeit hervorhebt,
die äusseren Data zu Franck's Leben und schriftstellerischer Thätigkeit voll-
ständig zu sammeln: schon deshalb nicht, weil er die gründliche Schrift
Erbkam's, Geschichte der protestantischen Secten im Zeitalter der Kefor-
mation. Hamburg 1848, ausser Acht Hess. Unabhängig von diesem stelle ich
hier noch einiges kritische Material zusammen:
1) Bischof Seite 9 verlegt die Uebersetzung der. „Diallage des pro-
testantischen Theologen Andreas Althammer in das Jahr 1527 " „Franck da-
tirt seine Vorrede „zu Feld" vom 5. September 1.^27." Daran knüpft Bischof
eine Folgerung über S. Franck"s damaligen Aufenthalt.
Franck hat hier nur die Worte seines Originals E rure V. Sept. an.
1527 getreu wiedergegeben; seine Uebersetzung erschien erst 15'28.
Siehe den sorgfältigen bio -bibliographischen Artikel Althammer im Jour-
nal von und für Deutschland 1792 Seite 689 ff., namentlich 092.
2) Bischof verlegt Seite 14, wie Erbkam die Schrift von dem greüwlichen
laster der trunckenheyt" in das Jahr 1531.
Das ist aber nur die zweite Aullage. Die Schrift gehört gleichfalls zu
den Erstlingsarbeiten Franck's (wie Bischof selber im Widerspruch mit der
obigen Behauptung Seite 274 eine Aehnlichkeit von Seiten des Inhaltes mit
der Ueber.«elzung der Diallage hervorhebt), und erschien mit der Diallage
im Jahre 1528.
Erwähnt war diese Ausgabe bereits von K. Hagen, Deutschlands lite-
rarische und rehgiöse Verhältnisse im Reformationszeitalter HI (1844) Seite
318 ff.
H. Merz, Art. Seb. Franck in Herzog's Real-Encyklopädie für pro-
testantische Theologie und Kirche IV. 451., und im Katalog der Bibliothek
des germanischen Museums zu Nürnberg.
Mit diesem letzteren Exemplar stimmt mein eigenes völlig überein, das
ich aus dem Köhler'schen Anti(]uariat in Leipzig erworben und auf seinen
Wunsch an Wiechmann-Kadow abgetreten habe. Wegen der Seltenheit
des Buches veröffentliche ich hier zugleich eine gedrängte bibliographische
Beschreibung.
Titel: Von dem greüwlichen laster | der trunckenhayt, so inn disen
letzten zeytten erst | schier mit den Frantzosen aufkommen. Was füllerey,
sauffen vn zutrin | cken, für Jammer vn vnratb, schade der seel vnd dess
leibs, auch armut | vnd schedlich not anrieht, vn mit sich bringt. Vn wie
348 Miscellen.
dem V- I bei zuraten wer, gründlicher bericlit vnd rathschlag | auss göttlicher
geschriffit. Sebastian Franck.
Titelholzschnitt mit der Darstellung eines Trinkgelages.
Darunter: Hut euch das ewer hertz nit beschwert werd mit fressen vü
saufien | vnd sorg der narung, vnd komm diser tag schnell vber euch. Lucc. xxi.
Rückseite des Titelblattes leer.
Bl. A ii beginnt die Dedication: dem Edlen vnnd vesten Wolffen von |
Hessberg, amptmann zu Colmbui-g, Gnad, frid vii | erkantnus Gottes , durch
Christum vnseren | Hayland, Amen, und endet auf der Rückseite mit der
Datirung: Geben zu Justenfelden. Anno Domini. M. D. xx viii. E. V. Williger
Sebastian Franck von Werd. — 38 ungezeichnete Blätter in 4"; letzte Seite
leer; Signatur A — K; auf J nur zwei Blatter. Nach W.-K. ist der Titel-
holzschnitt von H. Burgkmair, und dem Verzeichniss der Arbeiten dieses
Meisters in Naumann's Arch. f. die zeichn. Künste hinzuzufügen; die Ausg.
von 1531 enthält eine gegenseitige Copie dieses Holzschnittes; sie ist wie
die von 1528 nach W\-K. bei H. Stainer in Augsburg gedruckt; weicht aber
in der Orthographie u. a oft erheblich ab ; die Dedication ist hier wie in
der spätem Ausgabe von 1539 vom Jahre 1531 datirt.
Die Irrthümer Bischofs a. a. O., soweit sie sich auf das Leben Franck's
und seinen Aufenthalt beziehn, ergeljen sich hieraus unmittelbar.
Aus einem Briefe Fromman's, Nürnberg 20. Juni 1857 theile ich für
spätere Forscher noch folgendes mit:
Wolf V. Hessberg in S. Franck's dedication ist ohne Zweifel der näm-
liche, von welchem Biedermann (geschlechtsregister des reichsfr. unmittelb.
ritterschaft Landes zu Franken, löbl. orte Steigerwald, tab. LX) sagt:
„WoUr V. Hessberg zu Haundorft' u. Ampforach, hochfürstl. brandenb.
onolsbach. amtmann zu Colmberg anno 1529, war anno 1530 mit dem herrn
marggrafen v. Brandenburg zu Äugspurg als das glaubens-bekänntniss über-
göben wurde u. f anno 1533 etc.
Justenfelden scheint mir das heutige Gustenfelden (alt Justmannsfelden)
zu sein, ein dorf, das, nur wenige stunden von Colmberg entfernt, im heu-
tigen landger. Schwabach (kr. Mittelfranken) liegt."
Im Vorübergehen bemerke ich noch, dass Franck sich vielfach auf Brenz
Comment. zum Prediger Salomo bezieht, den Luther im Jahre 1527 befür-
wortete. Hartmann setzt demnach unrichtig dieses Werk in das Jahr 1529
in Herzog's Real-Encykl. s. v. Brenz; vgl. auch Heyse Bücherschatz 1854
S. 26 Nr". 34G.
Die Abfassungszeit des „Laster der Trunckenheit" ergiebt sich auch aus
folgender Stelle von Franck's Sprichwörtern: II, 161 b (1541) was schad an
leib, seel, ehr und gut auss dem spil erwuchs/ nit weniger dann auss hurey
vn sauffen/ davon ich etwa vor zwölfjarn geschrieben hab.
In dem Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit 1857. Seite 148 ist
diese Stelle irrtbümlich zu einem Rückschluss auf die Abfassung der Sprich-
wörter benutzt worden.
Gi-imm's Wörterbuch hat abAvechselnd Citate aus beiden Ausgaben von
1528 und 1531 ; das Quellenverzeichniss nennt nur die letztere.
3) Bischof Seite 33 erwähnt, wie alle seine Vorgänger, dass Luther die
Uebersetzung der türkischen Chronik befürwortet habe. Keiner der heu-
tigen Literaturen hat diese Vorrede in Händen geh abt, und die
ganze Sache ist höchst zweifelhaft.
So felilt, was Erbkam hervorhebt, jene Vorrede in der Walch'schen Aus-
gabe von Luther's Schriften; sie fehlt auch in der neuen vollständigen Er-
langer Ausgabe von Irmischer. Die einzige unzureichende Nachricht finde
ich bei Clir. K. am Ende Fortgesetzte kleine Nachlese zu Seb. Franck's
Leben und Schriften Nürnberg 1798.
Dieser führt, Seite 6, 3 Ausgaben von 1530 an, 2 Augsburger gedruckt
von H. Steiner und eine Nürnberger von Fr. Peypul. Auf dem Titel dieser
Miscellen. 349
Nürnberger Ausgabe wird auch Luther's Vorrede erwähnt. Dass sie in spä-
tem Ausgaben fehlt, weiss ich u. a. auch durch eine freundhche Mittheilung
aus dem Antiquariat der Herren Kirchhof!' und Wigand in Leipzig.
Es wäre endlich wohl an der Zeit, dass aus dem Staube der Bibliotheken
Luther zu seinem Rechte gelangte, oder aber festgestellt würde, wie jene
Vorrede mit einer ähnlichen auf die Türkei bezüglichen, die sich in Luthers
gesummten "Werken abgedruckt findet, ist verwechselt worden.
4) Zum Erweis der mangelnden classischen Bildung bei S. Franck hat
man wiederholt die Verwechslung von vespillo und vespertilio, hirundo und
hirudo angeführt; Irrthümer, deren Möglichkeit seinerseits auch heutzutage
mancher gute Mann einzuräumen sich nicht bedenken würde. Aber Franck
selbst hat sich nicht einmal so geirrt, vespillo hatte Jemand vor ihm durch
Fledermaus übersetzt, den er in seiner naiven Art ohne Weiteres ausschrieb.
(Bischof Seite 72). AVenn er aber in der Uebersetzung von Erasmi Moriae
Encomium bei den Worten: nostri temporis rhetores qui plane deos esse
sese credunt, si hirudinum ritu bilingues appaieant ; ac praeclarum facinus
esse ducunt, latinis orationibus subinde graeculas aliquot voculas velut emble-
mata intertexere, davon redet, dass solche „wie die schwalben zweyer
Zungen kündig erscheinen:" so berichtigt er selber diesen Irrthum in einer
Ausgabe am Schlüsse, in der Ausg. v. J. Ulm J. Varnier. Hier heisst es
im Verzeichniss der Errata: Fol. 4 die 29 zeil liss äglen für schwalben.
Das erst E.xemplar hat mich verfürt, darumb hab ich Hirundo funden, im
andern Hirudo, die bei llinio zweizüngig ist, vnd böss hieher sich gattet.
Diese Verbesserung war Ch. K. am Ende Fortges. kleine Nachl. 1788
S. 1 1 gleichfalls in seinem E.xemplar bemerkbar geworden , und ich würde
sie nach meinem hier nicht erwähnt haben, hätte nicht am Ende es für
gut befunden, Seb. Franck noch zu guter letzt einen Hieb zu versetzen mit
dem Zusatz: „Allein sie gattet sich gut hierher, und Franck schnitzerte im
Verbessern schon wieder." Den gelehrten Herrn muss das Tadeln oft recht
willkommen sein; hätte sich doch der gute am Ende lieber gefragt, ob
Francks böss wirklich sein böse (male) sei. Franck meint dasselbe, was
am Ende; böss ist b(^i ihm nicht mehr und nicht weniger als unser heutiges:
besser. Dafür einige Belege: Franck Laster der trunckenh. 1528.
A jjjj a Es ist trawreu bössser dann lachen.
G jj a wie man spricht: Ist der Hunger der böst Koch.
— jjj a als sey diser der böss der am meisten gold trag.
ib. wöllicher= welcher; F jjj b die da schlaffen mitten im mör.
Schliesslich sei noch bemerkt, dass Franck jene Notiz über die hirudo
bilinguis des Plinius nicht diesem Schriftsteller selbst verdankt — er hätte
sie auch dort schwerlich gefunden — , sondern ganz unbedenklich schreibt
er wie öfter den Conmientar des Ger. Listrius aus. Dieser sagt von den
hiruilines: Has vuljro sanguisugas vocant. Est autem huic animanti liugua
bisulca, ut tradit Plin.
5) In der angeführten Ausgabe von der Uebersetzung der Schrift des
Erasmus, der verschiedene kleine Schriften wie Agrippa de vanitate scien-
tiarum (gleichfalls in freier Uebertragung) u. a. angehängt sind, heisst es:
Blatt 150 a Liss den Böl'ei abgcmalet in meinem Weltbuch.
Die Cosmographie erschien demnach vor dieser Uebersetzung; nach ihr
aber die Paradoxen, die sich wiederholt auf eine der mit dem Encom. Moriae
verbundenen kleinen Schriften beziehn. So u. a. in der Einleitung; Parad.
Nr. C3. 149 und selbst auf der letzten Seite (.-^usg. s. a. Ulm. -L Varnier)
„Dauon liss überflüssig mein angehenckt Buchlein an die Moriam Erasmi."
850 Miscellen.
G. Henisch.
Die Unterbrechung seines Wörterbuches oder die unterbliebene Fort-
setzung leitet J. Grimm aus den Einwirkungen des dreissigjährigen Krieges
her. Vermuthung gegen Vermuthung; so liegt der Gedanke an den bereits
im Jahre 1618 erfolgten Tod des Verfassers doch ungleich näher.
Eberh. Tappius.
Zu den von Zacher verzeichneten Werken dieses verdienten Sprich-
würtersammlers, den Jördens in seinem Lexikon deutscher Dichter und Pro-
saisten ganz übergangen hat, habe ich andere, zum Theil noch unaufgcfundene
in dem Noveraberheft des Anzeigers für Kunde der deutschen Vorzeit 185G
nachgewiesen. Für den Werth des Mannes, dem Scheller in seiner Sass.
Bücherkunde ein schmähliches Unrecht getban, spricht auch der Umstand,
dass Gesner in seiner historia animalium die proverbia des Tappius voll-
ständig excerpirt hat (beispielshalber nenne ich die Sprichwörter über den
Kukuk s. Mannhardt Z. f. deutsch. Mythol. III S. 408>.
Unter seinen Quellen führt Gesner noch weiter an:
Eberh. Tappius Liraensis de accipitribus.
Vorsteher von Bibliotheken und Literaturfreunde würden mich durch
weitere Nachrichten zum Danke verpflichten.
Ueber das Verhältniss , in dem Tappius einerseits zu den älteren deut-
schen, mehr aber noch zu den niederländischen Sprichwörtersammlern steht,
hoffe ich in Bälde nähere Mittheilungen und Nachweise in A. de Jager's
Arch. der Nederl. Taal veröffentlichen zu können.
Schiller.
In dem Gedicht: Das Ideal und das Leben hatte ich früher im Archiv
die ursprüngliche Lesart: „wenn dort Priams Sohn der Schlangen | sich
erwehrt" gegen die, wie mir scheint, Verschlimmbesserung Laocoon in
Schutz genommen. Aus J. Meyer's Beitr. zur Feststellung, Verbesserung
und Vermehrung des Schiller'schen Textes. Sendschreiben an Herrn Dr.
Heinrich Viehoff, Niü-nberg 1858. Seite 21 sehe ich aber, dass Schiller
gleich vom Anfang an Laocoon vorzog, da er schon in den Hören selber
(die ich auch hier vergleichen konnte) die Worte dort Priams Sohn als
Druckfehler verwarf. Für den Druck genügt vollständig dieser deuthch
ausgesprochene Wille; ob aber sein Grund stichhaltig ist, bleibt mir noch
fortwährend zweifelhaft.
Neustreliz. Friedrich Latendorf.
Bibliographischer Anzeiger.
Allgemeines.
P. E. Chase, Sanscrit and English Analogues. Extracted from the pro-
ceedings of the American philosophical Society. (London.) 6 s.
L e X i c 0 g r a p h i e.
D. Sanders, 'Würterbuch der deutschen Sprache. 10. Lfrg. (Leipzig,
Wigand.) 20 Sgr.
Gram-matik.
R. G. Latham, Philological Essays. London, Williams «& N. 10 s. 6 d.
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Hoffmann v. Fallersieben, Findlinge. Zur Geschichte deutscher Sprache
und Dichtung. 3. u. 4. Heft. (Köln, Eisen.) ä 24 Sgr.
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Schiller, Wilhelm Teil, trad. dans le metre de 1' original p. F. Sabatier-
Ungher. (Koenigsberg, Bon.) 18 Sgr.
Goethe's Grösse in s. E. Hermann und Dorothea v. R. H. Hiecke. (Leip-
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Schillers Grösse in den Dichtungen seiner reiferen Jahre v. R. H. Hiecke.
(Leipzig, Werner.) 71/2 Sgr.
Das Schillerfest in Hamburg von B. Endrulat. (Hamburg, Meissn er.)
IV2 Thlr.
Nach Westen! Britische und amerikanische Gedichte, übersetzt von D. C.
Elze. (Dessau, Aue.) 15 Sgr,
Songs in the Night: Translations from the Gennan, Hynms etc. by Ch. T.
Astley. (London, Bennett.) 4 s. 6 d.
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J. Ch. Beecknill, The medical knowledge of Shakspeare. (London, Long-
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L. G. B 1 a n c , Versuch einer blos philologischen Erklärung mehrer dunkler
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heim, Kern.) 1 Thlr. 6 Sgr.
A. Baumgarten, Deutsche Musterstücke zur Uebung in der franz. und
engl. Composition. 1. Heft. (Coburg, Meusel.) 7 Sgr.
Das Lesen und Declamiren.
Dass zwischen Lesen und Declamiren, in so enger
Verbindung sie auch mit einander stehen , dennoch ein grosser
Unterschied statt findet, braucht nicht erst weitläufig auseinander
gesetzt zu werden. Denn Jedermann weiss, dass der Lesende,
als ein blos Recitirender, eine ruhigere Haltung zu bewahren
hat als der Declamator, welcher, je nach dem Inhalt seines
Declamationsstücks, bald ruhig erzählt oder schildert, bald in
dialogischer Form Gegebenes mit grösserer Abwechselung der
Modulation der Stimmtöne, bald sogar leidenschaftliche Ergüsse
in entsprechender Weise seinen Zuhörern vorzutragen hat. Da-
zu kommt ferner, dass der Declamator auch das Geberdcn-
und Mienenspiel anzuwenden hat, um seinen Vortrag mehr auch
äusserlich gleichsam zur Anschauung zu bringen, während der
Vorlesende auf so etwas gänzlich Verzicht leisten muss.
Das richtige Lesen aber ist das Fundament aller Declamation.
Wenn daher in neuerer Zeit herumwandernde Vorleser das
Lesen nicht nur mit der Declamation sondern sogar mit der
Schauspielkunst vermengen, indem sie z. B. alle Personen eines
Drama — (denn vorzugsweise sind es Bühnenstücke, welche sie
für ihre Vorlesungen zu wählen lieben) — in ihrer einzigen Per-
son zu repräsentircn bemüht sind und die sämmtlichen Rollen
durch verschiedenartig modulirte Stimmen darzustellen suchen,
wobei es gar nicht fehlen kann , dass sie oft höchst ergötzlich
carikiren und den verständigen Zuhörern ein Lächeln abnöthigen :
80 müssen wir ein solches Unternehmen als eine Verirrung des
Geschmacks der Neuzeit beklagen , welches die festen Grenzen
zwischen der Vorlese, - Declamations - und Schauspielkunst ver-
rückt. Denn sogar der Declamator soll kein Schauspieler sein,
Archiv f. n. Sprachen. XXVU. 23
354 Das Lesen und Declamiren.
(während dagegen der Schauspieler gut declamiren können muss)
geschweige denn ein Vorleser. Auch der Declaniator agirt ja
nicht auf der Bühne und stellt nur eine Person in allen ihren
Geberden, Reden und Handlungen dar, welche der Schauspieler
schon durch sein Aeusseres, durch die entsprechende Costümirung
u. s. w. stets als diese eine Person fortwährend kenntlich macht.
Wie überhaupt die Rede davon sein könne, dass, wie von
Enthusiasten oft gerühmt wird, eine solche Vorlesung erst im
Stande sei, ein Drama zu rechtem, wahrem Verständnisse zu
bringen, das vermögen wir wenigstens nicht zu begreifen, und
gestehen daher unsern Mangel an Scharfsinn in diesem Punkte
offenherzig ein. Doch trösten wir uns damit, dass es auch
andern verständigen Leuten eben so geht wie uns. Und so
müssen wir es wiederholen, dass wir den Geschmack der Neu-
zeit an solchen Vorlesungen, und hielten sie auch ein Tieck,
Holtey u. s. w., als eine ästhetische Verirrung beklagen, und
dies nur dazu beitragen kann, der Schauspielkunst zu schaden
und Eintrag zu thun. Nur wer gar keine Gelegenheit hat, eine
gute Bühnendarstellung zu sehen, weil er in einer kleinen Stadt
wohnt, wo es keine gute Schauspielertruppe giebt, dürfte sich
vielleicht , als Surrogat für etwas Besseres , was ihm nicht ge-
boten wird, mit einer solchen Darstellung eines Drama durch
einen Einzelnen zufrieden stellen; er Avürde wenigstens Ge-
legenheit haben, zu sehen und zu hören, was ein Mensch alles
zu Stande bringen könne.
Doch wir sind zu weit von unserem Thema abgekommen,
konnten uns aber nicht enthalten, hier unsere Meinung unum-
wunden über etwas zu äussern, was wir durchaus als einen
Missbrauch der Kunst, als eine Geschmacksverirrung der Neu-
zeit tadeln müssen. — Wir kommen jetzt zu unserer Aufgabe
zurück.
Auf ein ausdrucksvolles und richtiges Lesen wurde bisher
in unseren Schulen noch nicht die gehörige Sorgfalt verwendet,
und daher sind auch die Declamirübungen der Schüler
meistens misslungene geblieben. Das ist aber wohl lediglich
daher gekommen, dass den Lehrern selbst feste Regeln fehlten,
auf welche sie sich bei dem Unterrichte in der Kunst des
schönen Vortrags stützen konnten. Auch dem Verf., welcher
Das Lesen und Declamlren. 355
die Rede- und Declamationsübungen in den oberen Classen
eines Gymnasiums lange Jahre hindurch leitete, ging es nicht
besser; er schwankte lange hin und her und naturalisirte, d. h.
er folgte seinem Gefühle ohne alle feste Begründung durch
Kegeln. Das war ihm ein peinlicher Zustand und er sann auf
Abhülfe. ^ ach langer Prüfung und vielen Versuchen, in das Chaos
seiner Bemerkungen und Gedanken Eegel und Ordnung zu
bringen, gelangte er endlich zu einem festen Resultate und bil-
dete sich eine Art von System für seinen Declamationsunterricht
aus, oder, was dasselbe ist, für ein richtiges, auf feste
Normen gegründetes Lesen, da, ehe man declamiren will,
man ja vorher das Declamationsstück erst richtig lesen können
muss.
Diese Resulte seines mehrjährigen Forschens hat er in einem
kleinen Buche*) veröfientlicht, welches von dem Königl. Ober-
schulcollegium zu Hannover allen höheren Schulanstalten des
Landes zur Einführung empfohlen worden ist, und in den ver-
schiedensten Zeitschriften, vor allen aber in der „pädag. Revue"
Lob und Anerkennung gefunden hat.
Dieser Leitfaden für den Declamationsunterricht ist zwar,
wie sein Titel angiebt, zunächst für höhere Schulanstalten be-
rechnet; allein er bietet auch allen Lehrern das, Avas sie be-
dürfen: feste Regeln für den Vortrag der verschiedenartigsten
Lese- oder Declamationsstücke.
Bei den alten Griechen und Römern schon war das Lesen
zu einer Kunst ausgebildet, und es gab Bücher, welche von
derselben handelten, die uns aber bis auf AVeniges verloren ge-
gangen sind. Die vornehmen Römer hielten bekanntlich eigene
Vorleser. Lasen diese nicht richtig, so mussten sie oft das
Gelesene wiederholen. Mit dem Sinken der Wissenschaften
verschwand aucli die Kunst des schönen Vortrags.
Es giebt allerdings Manche unter den Neueren, — und auch
unter den Alten haben sie nicht ganz gefehlt, — welche der
Meinung sind, dass die Vortragskunst gar nicht gelehrt werden
könne und brauche, sondern dass sie eine Naturanlage sei;
*) Theoretisch -praktischer Leitfaden für den Declamationsunterricht in
den oberen Classen der Gymnasien und höheren Lehranstalten u. s. w.
Bremen bei Geisler 1851. {XR. 154 S. 8. Preis 12 «/i Ngr.)
23*
356 Das Lesen und Declamiren.
allein, wie schon der Ausdruck besagt, ist es ja eine Kunst,
um die es sich handelt, und die zugleich einen wichtigen Theil
der Ehetorik bildet (pronunciatio et actio). Jede Kunst aber
kann und muss gelehrt und gelernt werden. Kann aber das
Ganze (die Rhetorik, Redekunst) gelehrt werden, so muss diess
auch voü einem einzelnen Theile gelten. Und warum sollte in
Beziehung auf den richtigen Gebrauch der Stimmtöne, Mienen
und Geberden keine bestimmte Anweisung gegeben werden
können?
Das Declamiren (also auch das Lesen) ist eine Art von
Musik, und Declamation und Musik sind mithin Schwestern.
Schon Lessing nennt eine Periode ein musikalisches Stück.
(S. Lessing's Werke [Berlin bei Voss] Th. 24. S. 64.)
In meinem Lehrbuche habe ich die einzelnen Punkte, in
welchen beide Künste zusammentreffen, so angegeben: 1) Ein
musikalisches Stück enthält Noten, welche die hervorzubringenden
Töne bezeichnen. Ein Declamirstück enthält nun zwar äusser-
lich nicht das Geringste, was einer Note ähnlich sähe; allein
dennoch lässt es sich, wenn auch nicht so vollkommen als ein
Musikstück, auf Noten setzen, und der Declamationskünstler
kennt diese Noten, ohne dass sie für ihn da zu stehen brauchen.
Für jeden Satz nämlich, für jede Periode und für alle einzelne
Arten von Verbindungen derselben giebt es einen genau be-
stimmten Tonfall und eine musikalische Modulation, welche ausser-
dem noch durch das Gefühl, welches der Sinn eines jeden Satzes
in dem Recitirenden wie Hörenden wecken soll, modificirt wird.
2) Eben so hat die Declamation mit der Musik die Pau-
sen gemein und für diese giebt es auch, gerade wie in den
Musikstücken, besondere Zeichen, nämlich Comma, Semicolon,
Colon, Punkt u. s. w., welche mit eben derselben Genauigkeit
gehalten werden müssen wie die Pausen in der Musik.
3) Jedes Tonstück hat einen Grundton oder eine Ton-
art, aus welcher es geht, und welche man aus der Vorzeichnung
ersieht. Eben so hat auch jedes Declamationsstück eine be-
sondere Tonart, welche aber durch den Inhalt desselben, nicht
durch eine äussere besondere Bezeichnung, angegeben wird.
4) Auch den Takt (oder das Zeitmass) haben Musik
und Declamation mit einander gemein, welcher bald langsamer,
Das Lesen und Declamiren. 357
bald geschwinder zu nehmen ist, je nachdem es der Inhalt des
Ganzen oder der einzelnen Theile fordert.
5) Endlich, da das Organ beider Künste die Stimme ist,
d. h. Töne, durch dieselbe hervorgebracht; so ergibt sich von
selbst, dass auch beim Lesen und bei der Declamation von Höhe
und Tiefe derselben, ferner von einem Anschwellen, Nachlassen
u. s. w. der Stimme die Rede sein müsse; dass es also auch
für Lesen und Declamiren ein Piano, Crescendo, Forte, Pia-
nissimo u. s. w. gebe.
So wie nun, wenn der Musicus in irgend einem Stücke
fehlt, eine Störung der Harmonie eintritt; so wird auch noth-
wendig der Declamator oder Vorlesende, wenn er die Zeichen
seiner Kunst nicht versteht, beim Zuhörer entweder gar keinen
oder einen falschen Effect hervorbringen, oder, wenn ihm auch
Einzelnes gelingt, doch durch seine Fehler die Harmonie des
Ganzen stören. — Ein gut gelesenes (oder declamirtes) Stück
ist also ebenfalls eine Musik, welche genau vorgetragen sein
will, wenn sie harmonisch wirken soll.
Ehe von einem richtigen und regelrechten Lesen oder De-
clamiren die Rede sein kann, muss der Lehrer erst die fehler-
hafte Aussprache seiner Schüler in Ansehung der Vocale sowohl
als der Consonanten berichtigen; alle Solöcismen imd Provinzia-
lismen müssen beseitigt werden. Eine schwere Aufgabe nament-
lich für so manche Gegenden unseres lieben Vaterlandes, wo
ei, eu, äu u. s. w., so wie b und p, t und d nicht unterschieden
werden, selbst nicht einmal von den Gebildeten, wenn sie sich
nicht etwa durch den mündlichen Gebrauch einer fremden neueren
Sprache in dieser Beziehung gebessert haben!
In Betreff der von mir aufgestellten Declamations-
Tonleiter verweise ich auf den Leitfaden, da eine Erörterung
hier zu weit führen würde, und ich bemerke nur für Diejenigen,
welche ihn nicht kennen, dass ich die Kehlpunkte, aus welchen
ein Jeder in ungezwungener Betonung und ohne etwa
SU singen (da der Singende diese Laute willkürlich hoch
oder niedrig hervorbringen kann) die Vocale u, o, a, e, und i
nach seiner besonderen Stimmlage, oder, um in einem Räume
verstanden zu werden, in welchem er seinen Vortrag zu halten
hat, ausspricht, als die Grund töne angenommen habe, aus
358 Das Lesen und Declamiren.
welchen die einzelnen Stücke zu sprechen sind. Den Uton,
aus dem untersten Kehlpunkte, habe ich den Geisterton, den
Oton den Gebetston, den Aton den Lehrton, den Eton
den Conversations-oder Erzählungston und den Iton
den Ruf- oder Schrei ton genannt. Man wird bei angestellter
Probe sich sogleich überzeugen, dass, wenn man ein Declamations-
stück z. B. aus dem Conversationstone u. s. w. spricht, welches
aus dem Utone oder einem anderen gesprochen werden raüsste,
eine vollständige Travestirung eingetreten ist. Ein Gebet, aus
dem I- oder Etone gesprochen, erregt ein tiefes Gefühl der
Empörung des Herzens; selbst der Aton würde es entstellen,
wenn es anders ein wirkliches Gebet ist und nicht, wie gar manche,
kalte Demonstrationen u. s. w. enthält, kurz Gedanken, welche
gar nicht in ein Gebet, sondern zu einem Katheder vortrage
passen. Dann wäre freilich der Aton gerechtfertigt!
Nach dem Grundtone, aus welchem ein Lese- (Declamations-)
stück geht, richtet sich auch das Tempo, das Zeitmass. Das
langsamste Tempo bedingt ein Stück aus dem Utone, dem
Geistertone; denn die Stimmen der Geisterwelt tönen tief,
schauerlich und langsam, zunächst folgen Stücke aus dem O-
oder Gebetstone; denn das Gebet ist ein feierlicher Ausdruck
der erhabensten Gedanken und edelsten Empfindungen, also ist
das Tempo dem Maestoso in der Musik zu vergleichen. Der
A- oder Lehrton bedingt das musikalische Tempo, welches man
Andante nennt, und ein Stück aus dem Etone, dem Conver-
sations- oder Erzählungstone, fordert eine schnellere Bewegung,
etwa dem musikalischen Allegretto ähnlich. Das Tempo des
I- oder des Schreilautes kann bald ein langsameres, bald ein
schnelleres sein, je nachdem sich Leidenschaftlichkeit oder Ruhe
des Gemüths dabei ausspricht, wie z. B. bei einem blossen
Nachrufe an einen, der sich von uns entfernt hat. Worte, aus
der Entfernung zugerufen, müssen, wenn die Töne sich nicht
verwirren, also unverständlich werden sollen, langsam auf ein-
ander folgen.
Ein Declamations- oder Lesestück lässt sich aber nicht, wie
ein musikahsches , in ganz gleiche Theile oder Takte theilen.
Eine solche Takteintheilung ist schon aus dem Grunde nicht
möglich, weil die Sprachorgane des Einen ein Wort oder eine
Das Lesen und Declamiren. 359
Sylbe schneller hervorzubringen im Stande sind als die eines
Anderen , welcher daher auch im Ganzen langsamer spricht.
Auch ist eine Takteintheilung darum gar nicht nöthig, weil nur
Einer liest oder declamirt und nicht, wie bei MusikaufFührungen,
Mehrere zusammenzuwirken haben, welche also auch genau
zusammenhalten müssen. Auch in der Musik giebt es dann
oft ein Adlibitum, wenn der Sänger oder Musiker eine Passage
allein auszuführen hat.
Die wirklichen Eintheilungen eines Declamationsstückes
bilden die Lese- oder Trennungs- d. i. die Interpunktions-
oder Pausezeichen; denn sie scheiden allerdings das Ganze
in Theile, wenn auch unter einander ungleiche. Sie sind aber
aus diesem Grunde nicht mit den musikalischen Taktstrichen
zu vergleichen, welche nicht bestimmt sind, Trennungen zu be-
zeichnen.
Kann aber auch die Declamation mit der Musik in Beziehung
auf Takteintheilung nicht verglichen werden, so giebt es doch
in derselben einen gewissen Numerus oder Rhythmus im
Allgemeinen, der eben so genau gehalten werden muss als der
Takt in der Musik, und der Lesende oder Declamirende hat
sich mithin eben so zu hüten, dass er nicht anfange zu eilen,
wenn er im langsameren Tempo begonnen hat, oder immer lang-
samer zu sprechen, da er doch schneller zu Anfange ge-'
sprochen hat.
Das soll aber nicht so viel heissen, als dass das Tempo in
einem Stücke gar nicht geändert Averden dürfte, vielmehr macht
der Inhalt einzelner Stellen einen Wechsel desselben nöthig; ja
sogar einzelne Sylben müssen oft angehalten und zögernd ge-
sprochen werden. Der Lesende oder Declamator hat sich also,
nach genau erwogenem Inhalte des ganzen Stücks, das Tempo
für die einzelnen Theile vorzuschreiben, und es giebt auch für
ihn ein Rallentando, piü allegro u. s. av.
Was nun die wichtigsten Interpunktions- oder Pause-
zeichen anlangt, so enthält mein Leitfaden darüber folgende
Bemerkungen und Vorschriften:
Wenn man in Ansehung der l'ausen (je nach dem all-
gemeinen Tempo des Stücks) dreiviertel- oder dreiachtel-
takt annimmt, so kommt aul" das Comma eine Viertel- oder
360 Das Lesen und Declamiren.
Achtelpause, auf ein Colon oder Semicolon kommen
zwei, auf einen Punkt aber drei solcher Viertel oder Achtel.
Steht aber neben dem Punkte etwa noch ein Gedankenstrich,
so pausire man vier. Das Ausrufe- und Fragezeichen
kann bald die Geltung eines Comma, bald die eines Semi-
colon, ja sogar die eines Punktes haben, und so treten bei
demselben verschiedene Pausen ein. — Hält der Lesende oder
Declamirende diese Pausen gar nicht, oder setzt er dafür falsche
und trennt so, wo er verbinden, oder verbindet, wo er trennen
sollte, so bringt er den Zuhörer in Verwirrung. Was für eine
Confusion kann schon ein ausgelassenes oder falsch gesetztes
Comma anrichten!
Da man eine Periode, zumal wenn sie lang ist, nicht in
einem Athem sprechen kann; so fragt sich, wann der Sprechende
am schickhchsten Athem holen solle? Natürlich bei den grös-
seren Pausezöichen, nicht aber beim Comma (oder dem Aus-
rufe- oder Fragezeichen, welches mit demselben gleiche Geltung
hat), da durch dieses Zeichen nur Nebenbestimrnungen, Zusätze
zu dem Uebrigen u. s. w. gegeben Averden, aber kein vollständiger
Abschluss des Gedankens statt findet. Die Stimme muss also
beim Comma blos angehalten oder gehemmt werden
(entrecouper nennt es der Franzose).
Daher muss der Lesende oder Declamator, gleich dem
Flötenbläser u. s. w., mit seinem Athem haushälterisch umgehen.
Er muss freiHch eine gute Brust und Lunge zu seinem Geschäft
mitbringen. Zu lange Perioden sind ein Fehler von Seiten der
Schriftsteller, da man sie zwar mit den Augen übersehen, aber
nicht mit der Stimme kunstgemäss ausführen kann; und so
bleibt dem Declamator dann kaum etwas Anderes bei seinem
Vortrage übrig, als etwas minder Wichtiges aus solchen unförm-
lichen Perioden wegzulassen.
Aus dem über die Interpunktionen hier Bemerkten folgt
von selbst, dass ein zu lesendes oder zu declamirendes Stück
richtig interpungirt sein müsse, und so muss man denn, wenn
in den gedruckten Büchern nachlässig interpungirt ist, zuvor
erst die Fehler der Interpunktion berichtigen, ehe man sich zum
Vorlesen anschickt.
Das Lesen und Declamiren. 361
Dass man in Ansehung der Betonung den Wortton vom
Satztone unterscheiden müsse, ist eine bekannte Sache. Ein
jedes Wort hat seine betonte Sylbe und diese ist im Deut-
schen die Stamm sylbe desselben, und wenn das Wort aus
mehreren Stammwörtern zusammengesetzt ist, diejenige Sylbe,
welche den Haupt- oder Unterscheidungsbegriff desselben
enthält, z. B. Kopftuch u. s. w., im Gegensatze zu einem
anderen Tuche, welches nicht zur Bedeckung des Kopfes dient.
Die zu einem Satze verbundenen Wörter haben aber ausser-
dem einen Satz ton, d. h. man muss ein Wort welches den
Hauptbegriff des Satzes in sich schliesst, zu welchem man sich
einen Gegensatz zu denken hat, welcher nicht gemeint ist,
durch den Ton der Stimme vor den übrigen hervorheben, wo-
bei sich die Stimme entweder zu heben oder zu senken hat.
Das Erstere geschieht, und zwar ungefähr (denn ganz genau
können gesprochene Töne nicht fixirt werden) um eine
musikalische Quarte, wenn der Satz die Periode schliesst.
Nach dieser Erhebung fällt die Stimme in die Schlussmodulation,
d. h. sie senkt sich zum Schlüsse. P'olgt aber auf den Satz
noch ein zweiter, dritter u. s. w., so senkt sich die Stimme
bei einem solchen Tonworte, und zwar ohngefähr um eine
musikalische Tertie unter den Grundton des Stücks. Nach
dieser Senkung geht aber die Stimme, wie sich von selbst
versteht, wieder in den Grundton zurück. — Gegen diese
Regel wird von den Lesenden so häufig gesündigt, dass der
Lehrer, wie ich aus eigener langjähriger Praxis weiss, die
grössten Schwierigkeiten hat, seinen Schülern diesen Fehler
abzugewöhnen, indem sie die erstere Art von Sätzen fast immer
wie die der zweiten und unigekehrt zu sprechen geneigt sind.
— La Beziehung der Klangfiguren, Avelche solche Sätze bilden,
verweise ich ^auf den Leitfaden.
Wenn so eben von einem blos zu denkenden Gegensatze,
welcher nicht gemeint ist, die Kede war; so ergiebt sich zu-
gleich hieraus, dass, je nachdem man das eine oder das andere
Wort eines Satzes betont, jedesmal ein anderer Hauptgedanke
hervortritt. Wenn man also z. B. in dem Satze: „Er hat
sechs Tage gearbeitet" der Reihe nach einem jeden ein-
zelnen Worte den Satzton giebt, so kommt jedesmal auch ein
362 Das Lesen und Declamiren.
anderer Sinn heraus. Betont man „er" so heisst es: gerade er
und kein Anderer hat gearbeitet; er „hat" etc. deutet den
stillen Gegensatz an, dass die Handlung schon vollzogen ist
und nicht erst vollzogen werden soll. Betont man „sechs,"
80 setzt man dieser Zahl in Gedanken eine andere entgegen,
welche nicht gemeint ist. Das Tonwort „Tage" setzt ein
Gegentheil wie Nächte, Wochen u. s. w. voraus, und betont
man das Wort „gearbeitet" so steht ihm ein anderes Zeit-
wort in Gedanken entgegen, welches nicht gemeint ist, z. B.
er ist nicht müssig gegangen, hat nicht gelesen u. s. f.
Aus diesen Bemerkungen ergiebt sich, dass in einem Satze
auch nur ein einziges Tonwort sein könne. Ausnahmen von
dieser Kegel treten ein 1) wenn in einem Satze wirklich zwei
Gedanken vereinigt sind; 2) wenn ein Wort, welches
sonst den Ton nicht haben würde, weil das eigentliche
Tonwort schon vorausgegangen ist, so zu stehen kommt , d a s s
es mit anderen die Schlussmodulation zu bilden hat,
wodurch es eine Art Arsis enthält. Auch selbst einsylbige
Wörter haben dann eine Art von Ton, wenn sie am Ende des
Satzes stehen.
Wenn aber in einem und demselben Satze zwei Wör-
ter betont werden sollen, weil sich ein doppelter Gegensatz in
demselben befindet; so muss man nach dem ersten Tonworte
eine Commapause machen, d. h. die Stimme abbrechen, da
es auf keine andere Weise möglich ist, noch ein anderes Wort
in demselben Satze zu betonen. Z. B. wenn man den Satz
sprechen will: „Arm hat er sich noch satt gegessen;"
so muss man nach arm pausiren, da es alsdann möglich wird,
auch „satt" zu betonen. Dass aber in diesem Satze eigentlich
zwei verschiedene Sätze mit einander verschmolzen sind, erkennt
man ja, wenn man ihn so erweitert: „als er arm war, hat er
sich noch satt gegessen."
Sind zwei Wörter paarweise mit einander verbunden,
z. B. Berg und Thal, Schritt für Schritt, denken und
handeln u. s. w. ; so bildet dies für die Betonung keine Aus-
nahme von der Regel, da immer nur das eine oder das andere
Wort (in den meisten Fällen das zweite) den überwiegenden
Ton hat.
Das Lesen und Declamiren. 363
Auch bildet sogar der Fall keine Ausnahme für die Be-
tonung, wenn zwei Wörter, welche zusammen gehören, in
der Satzstellung aus einander treten, z. B. gleich — theilen,
indem doch nur das eine Wort den Satzton bekommt, wie hier
die Sylbe gleich.
Eine scheinbare Ausnahme von dem obersten Betonungs-
gesetze findet dann statt, wenn mehrere Adjectiva mit einem
Substantive ohne und verbunden werden; denn ein jedes
dieser Adjectiva muss man mit seinem Hauptworte und dem
Verbum des Satzes verbunden denken, z. ß. „Er sprach mit
voller, fester, ernster Stimme." Dieser Satz enthält die
drei abgekürzten Urtheile: seine Stimme, als er sprach, war a)
voll, b) fest, c) ernst.
Eben dies gilt für den Fall, wo mehrere Substantiva als
Gegensätze neben einander stehen, z. B. Tod oder Leben.
— Diese Zusammenstellung gehört zu der paar weisen Ver-
bindung der Wörter.
Wenn Zeitwörter in einer Gradation aufeinander folgen,
so sind dies vollständige Sätze (z. B. und es wallet
und siedet und brauset und zischt u. s. w.), da das Subject
bei einem jeden Verbo supplirt werden muss. Wenn also ein
jedes dieser Zeitwörter betont wird, so geschieht diess der
Hauptregel gemäss.
Ein etwas anderer Fall ist der, wenn ein Wort des Nach-
drucks wegen wiederholt wird, z. B. hier, hier betet' er etc.,
um dieses hier, im Gegensatze von einem anderen Orte, noch
mehr hervorzuheben. Das ist aber nur eine Unterbrechung
der Rede, und das erste hier hat blos einen Halteton, der
aber bei der Einsilbigkeit des Wortes, welches ausserdem zu
Anfange steht, länger erscheint.
Da neben einem solchen Worte wirklich ein Comma steht
und nicht bloss vom Declamator gedacht werden muss ; so bildet
auch ein solcher Fall keine Ausnahme von der Regel.
Es giebt aber auch ganz tonlose Sätze. Es sind zunächst
solche, welche, obgleich sie durch Trennungszeichen von der
übrigen Rede geschieden, und so, dem äusseren Anscheine nach,
vollständige Sätze sind, es dennoch nicht Avirklich sind. Ferner
haben vollständig ausgebildete Sätze dann keinen Ton,
364 Das Lesen und Declamiren.
wenn sie Zwischensätze sind, welche die Rede einer Person
einführen, z. B. „so sprach er" u. s. w.; so wie Anreden und
ähnliche Einschiebsel. Endlich solche Sätze, welche ihrem Sinne
nach nur ein Prädicat zum Vorhergehenden bilden, z. B. „Das
Brod, das er den Seinen gab," d. h. Das Brod für die
Seinen. Hier muss die Stimme mit ganzer Kraft auf Brod
ruhen, und der Zusatz darf nur, wie vorübergehend, sich ihm
anreihen.
Nach allen Zwischensätzen muss die Stimme wieder
in den Ton fallen, welchen sie vor denselben gehalten hatte, da
nur auf diese Weise der Zuhörer in den Stand gesetzt werden
kann, die zu einander gehörenden, aber durch Zwischensätze
auseinander gehaltenen Theile leicht zusammenzufinden. Weil
der Anfänger in der Declamationskunst durch solche Zwischen-
sätze sich leicht verwirren lässt und eine falsche Betonung wählt,
so lasse man ihn zunächst den Satz ohne die Zwischensätze
mehrmals sprechen und dann erst dieselben wieder einfügen.
Sein Gehör wird ihn dann belehren, welche Modulation er wieder
nach den Zwischensätzen eintreten lassen müsse.
Von dem oben genannten Hülfsmittel der gedachten
Commapause kann auch ausnahmsweise dann Gebrauch ge-
macht werden, wenn es gilt, ein Wort vor den übrigen mehr
hervorzuheben, welches, obwohl es an und für sich den Satz-
ton nicht haben könnte, dennoch im Satze ein bedeutendes Mo-
ment, eine Hauptbeziehung bildet. Doch muss man mit diesem
Hülfsmittel sparsam umgehen, weil die Rede leicht durch viele
solcher Haltetöne zerrissen wird und weil das Ganze dann,
wie ein fehlerhaftes Gemälde, — um von der Malerei den Ver-
gleich zu wählen, — zu viele Lichter bekommen würde, so dass
man Schatten und Licht, — Vorder- und Hintergrund nicht ge-
hörig unterscheiden könnte.
Wenn oben gelehrt wurde, dass ein jedes Stück aus einem
gewissen Grund tone gehe, so heisst das nicht, dass sogleich
das erste oder zweite Wort, die ersten Sylben des Satzes aus
diesem Tone gesprochen werden sollen; das kann nur dann ge-
schehen, wenn gleich das erste Wort einer Rede ein solches ist,
welches nur die Stammsylbe enthält, oder welches mit der Stamm-
sylbe anfängt, z. B. Hoffnungslos verloren ist der u. s. w. ;
Das Lesen und Declamiren. 366
früh beginnen u. s. w. Am häufigsten geht ein Auftakt vorher,
welcher in höherem Tone modulirt werden muss, worauf bei
dem Tonworte erst die Stimme in den Grundton des Stückes
übergeht. Für den vor einer Versammlung Auftretenden ist
dies sehr vortheilhaft ; denn er kann so gevvissermassen erst
prüfen, wie viele Stimmkraft er anwenden müsse, um sich in
dem ihm gegebenen Kaume gut verständlich zu machen. —
(Die Arsis gleich zu Anfange eines Kedestücks scheint, um bei-
läufig eine Bemerkung über den Styl zu machen, besonders für
solche Sätze passend zu sein, welche eine Behauptung ohne
alle Modification aussprechen sollen, während ein Auftakt sich
für solche eignet, welche eine Demonstration, Erzählung
u. 8. w. beginnen.)
Soll von einer Kunst des Vortrags die Rede sein, so muss
der sie Ausübende auch ganz bestimmte Regeln kennen,
welche er bei der Betonung aller einzelnen Sätze an-
zuwenden hat; er darf nicht nach launischer Willkür verfahren,
wie dies der hergebrachte Schlendrian zu thun pflegt, eben
weil er von solchen Regeln gar nichts weiss oder wissen will.
Schon oben sind in Beziehung auf Modulation ein paar An-
weisungen gegeben worden und dabei auf den Leitfaden ver-
wiesen. Wir wollen diesen Unterricht hier etwas vervollständigen.
Für einen Satz, welchen ein Comma endet, bedarf es nur
der Bemerkung, dass, da er nur den Nebentheil einer Periode
bildet, also nicht den Sinn abschliesst, man die Modulation
kurz zu unterbrechen hat , also sich hüten muss , die Stimme,
wie bei einem grösseren Trennungszeichen, sinken zu lassen;
denn sonst würde der Zuhörer leicht irre geführt werden, wenn
er z. B. einen Schlusstonfall vernähme, während doch das Fol-
gende mit dem eben Gesprochenen noch ganz eng zusammenhängt.
Auch beim Semicolon darf nicht so modulirt werden, als
wäre es ein Punkt; denn das Semicolon bildet zwar ein Ende,
aber nur das Ende eines grösseren Theiles der Periode, die aus
mehreren Gliedern besteht, aber nicht das Ende der Periode
selbst. Mithin muss beim Semicolon ganz anders modulirt
werden als beim Punkt. Die Stimme muss sich zwar senken,
aber nur in so weit, dass der Zuhörer merkt, dass der Satz,
d. h. die Periode, noch nicht ganz zu Ende sei, sondern dass
866 Das Lesen und Declamiren.
noch etwas folgen werde. Das zu bildende Intervall musikalisch
genau zu bestinuuen hält schwer, es dürfte indess eine Secunde
oder kleine Tertie betragen. Der Unterschied zwischen dem
Punkt und dem Semicolon in Ansehung der Betonung be-
steht ausserdem noch hauptsächlich darin, dass beim Semicolon
die Stimme den zu Ende angeschlagenen Ton festhalten
mu88, während sie sich beim Punkt lässig zur Ruhe senkt,
ohne sich einen bestimmten Ton zum Ziele zu setzen , sondern
sich gehen läast, wie das Organ eines Jeden dies ihm gerade
zu thun lehrt.
Anders verhält es sich jedoch mit einem Semicolon in Gra-
dationssätzen, von denen weiterhin gesprochen werden wird.
Die Fragesätze unterscheiden sich in ihrer Betonung
hauptsächlich dadurch, dass sich die Stimme am Ende derselben
nicht senkt, sondern im Gegentheile über den Grundton bis
zum Schlüsse erhebt. Es ist also fehlerhaft, wenn man erst
bei dem letzten oder bei einem der letzten Wörter des Satzes
den Frageton erklingen lässt; denn nicht ein einzelnes oder ein
paar Wörter zu Ende des Satzes bilden die Frage, sondern der
ganze Satz hat ihre Form. Da ein Fragesatz auch aus meh-
reren kleineren Sätzen zusammengesetzt sein kann, so entsteht
natürlich bei jedem Trennungszeichen (Interpunktion) ein Ein-
schnitt, eine kleine Pause, welche genau gehalten werden
muss. Selbst kleine Gradationen können in Fragesätzen vor-
kommen.
Fragesätze können entweder, wie andere, sogleich mit
dem Satztonworte beginnen oder auch nicht. Ist das Erstere
der Fall, so schlägt die Stimme nicht sogleich den Grund ton
an, wie dies in assertorischen u. s. w. Sätzen dann geschehen
rauss, sondern sie steigt erst von einer musikalischen klei-
nen Quarte chromatisch zum Grundton empor, z. B. liebst
du deine Eltern u. s. w.?
Im zweiten Falle beginnt man die Frage wie jeden anderen
Satz, welcher mit einem Vorschlage oder Auftakte anfängt,
und senkt bei dem Satztonworte die Stimme um eine
kleine Tertie, wie in solchen Sätzen, auf welche noch ein
anderer folgt. Nach dieser Senkung aber erhebt sich chromatisch
die Stimme über den Grundton und steigt bis zu Ende des
Das Lesen und Declamlren. 367
Satzes, also gerade in entgegengesetzter Modulation des Schlusses
eines Erzählungssatzes u. s. w. — Da es sehr verschiedene
Arten von Fragen giebt, so versteht es sich von selbst, dass
durch das Mienenspiel, die Art der Stimmmodiilation u. s. w.
diese verschiedenen Gattungen modificirt werden müssen und
dass es in dieser Beziehung eines grossen , sehr mühevollen
Studiums hedüife. Es gieht keine Schablone, nach welcher
man sie bilden kann!
Die Betonung eines Ausrufesatzes hat mit der eines
Fragesatzes das gemein, dass in beiden sich der Ton, namentlich
am Ende, über den Grundton erhebt; sie sind aber darin wieder
von einander verschieden, dass die Stimme beim Ausrufe nicht,
wie beim Fragesatze, sich am Ende gleichsam noch zuspitzt
oder höher aufsteigt, sondern den Ton festhält. Beim Ausrufe
ist der Grundton der Eton, beim Rufe- oder Sehr eisatze
aber der Iton. Die letzteren Sätze haben ausserdem noch das
Eigenthümliche, dass sie — (wie schon oben beiläufig bemerkt
wurde) — langsam gesprochen werden müssen, um in der Ferne
verstanden zu werden. Die Betonung des Rufsatzes trifft im
Allgemeinen mit der des blossen Ausrufs zusammen.
Da es sehr verschiedene Arten von Ausrufen giebt (der
Bewunderung, des Staunens oder der Verwunderung, der Freude,
des Zornes u. s. w»), so ist auch hier Studium erforderlich, um
den diesen besonderen Arten gemässen Ton zu treffen.
Zwischen- und Nebensätze gehören , wie früher be-
merkt wurde, unter die unbetonten Sätze, z. B. Alexander,
dieser Welteroberer, u. s. w. der Schlaf, sagte ein
griechischer Sophist, u. s. w. Alle solche Sätze müssen
1) schneller und 2) mit tieferer, weniger lauter Stimme gesprochen
werden, und so klingen sie, 3) fast monoton. — Oben ist be-
reits die Mahnung ertheilt, die Nebensätze recht genau von
der übrigen Rede im Sprechen zu unterscheiden und lieber solche
Einschiebsel, wenn sie zumal etwas lang sind, für's Erste weg-
zulassen und das Andere zusammen zu sprechen, um die Stimme
nach denselben richtig einsetzen zu lernen. Diese Mahnung
kann nicht genug wiederholt werden.
Vorder- und Nachsatz müssen dem Zuhörer schon als
solche durch den Vortrag bezeichnet werden; folglich hat sich
368 Das Lesen und Declamiren.
der Redende zu hüten, am Ende eines Vordersatzes eine
Schlussmodulation eintreten zu lassen. Bei einem Vorder-
satze hat sich zwar die Stimme (wie früher gelehrt wurde) bei
dessen Tonworte zu senken, allein nur um sich sogleich
nach der Tonsylbe desselben wieder zum Grundtone des Satzes
zu erheben. — Beim Nachsatze erhebt sich zuerst die
Stimme (etwa um eine musikalische Secunde) und geht dann
wieder in den Grundton zurück. Hat der Nachsatz noch einen
anderen Satz nach sich, so wird der früher gegebenen Anweisung
gemäss modulirt. Ist dieser Satz der Schlusssatz des Ganzen,
so tritt natürlich die Punktmodulation ein.
Das Sprechen hypothetischer Sätze, zumal der durch
sie gebildeten Gradationssätze, erfordert eine noch grössere
Aufmerksamkeit und üebung als das anderer Sätze. — Der
Vordersatz eines hypothetischen Satzes bildet gleichsam eine
Art von Auftakt oder Vorschlag zum folgenden. Also muss
dieser Vordersatz mit tieferer Stimme gesprochen werden als
der Nachsatz und die Stimme muss am Ende desselben um
einen Ton steigen. Das „so" des Nachsatzes aber beginnt
um eine kleine Tertie höher als der vorige Satz endete.
Von da an wird dieser Nachsatz gesprochen wie jeder andere
Schlusssatz, d. h. der Ton steigt bei der Tonsylbe seines
Haupttonwortes um eine musikalische Quarte und sinkt
dann bei den tonlosen Worten in die Schlussmodulation. Folgen
indess auf den Nachsatz noch andere Sätze, so wird er wieder
wie ein Vordersatz behandelt.
Wie bemerkt, bilden Bedingungssätze häufig Gradationen,
d. h. der Vordersatz besteht aus mehreren Sätzen, was auch
wieder beim Nachsatze der Fall sein kann.
Für den Vortrag eines solchen Gradationssatzes gelten fol-
gende Regeln:
1) Die Stimme erhebt sich am Schlüsse eines jeden Gliedes
desselben um einen halben Ton, und dieser Ton muss fest-
gehalten werden, indem er auf den folgenden Satz übergeht, bis
beim Nachsatze die oben bemerkte Betonung eintritt.
2) Solche Gradationssätze müssen tiefer angefangen
werden als der eigentUche Grundton der Rede es sonst erfordert
Das Lesen und Declamiren. 369
haben würde , weil man mit der Stimme andernfalls nicht aus-
reichen könnte.
3) Solche Sätze sind mit zunehmender Geschwindig-
keit zu sprechen. Denn jemehr sich Gedanken an Gedanken
reihen und gleichsam drängen, desto mehr wird der Sprechende
in Eifer und Anstrengung gerathen, bis er beim Nachsatze
an einem vorläufigen Ruhepunkte angelangt ist.
Der Sprung der Stimme in die Tertie bei diesem Nach-
satze, während sie sich vorher bei jedem neuen Gliede des
Vordersatzes nur um eine S e c u n d e erhob, bezeichnet charak-
teristisch diesen Endpunkt.
Eine Gradation kann übrigens auch schon durch einzelne
Wörter gebildet werden, durch Adjective, Substantive und Zeit-
wörter, z. B. eine treue, emsige, besonnene, wohl-
geordnete, unermüdete Thätigkeit u. s. w. — Endlich tan-
zen alle Katzen, poltern, lärmen, dass es kracht, zischen,
heulen, sprudeln, kratzen u. s. w. — ■ Hoheit, Ehre,
Macht und Ruhm sind eitel u. s. w.
Die Form der Gradationssätze und ihr Inhalt kann von
sehr verschiedener Beschaffenheit sein; sie können also eine
Frage-, eine assertorische und andere Formen haben.
Der Gradation aufwärts, welche zugleich ein Crescendo
der Stimme bedingt, ist die Degradation (das Herabsteigen
vom Höheren zum Niederen) entgegen gesetzt, bei welcher auch
die Stimme eine Modulation abwärts zu machen hat. Also muss
bei einem solchen Decrescendo die Stimme am Ende gleichsam
wie ermattet klingen und verhallen, z. B. Rette! kämpfe,,
dulde! trage! — Auf dem Throne, im Palaste, in der
Hütte u. s. w. — Sie bebte, weinte, seufzte, sank!
Die hypothetischen Sätze sind auch einer Umgestaltung
fähig: sie können invertirt werden. Man kann z. B. statt
zu sagen: „AVenn es einen allgerechten, allgütigen und allweisen
Gott giebt, der unser Schicksal lenkt; so kann der Schuldlose
getrost in die Zukunft sehen, u. s. w." den Satz auch so aus-
drücken: „Der Schuldlose kann getrost in die Zukunft sehen, wenn
(da) es einen allgerechten, allgütigen und alhveisen Gott giebt."
Diese Inversion hat auf die Modulation solcher Sätze
grossen Einfluss, d. h., der zum Vordersatze gewordene Nach-
Archiv f. n. Sprachen. XXVU. 24
370 Das Lesen und Declamiren.
eatz behält auch in seiner neuen Stellung seine frühere, eigent-
liche Betonung, nur dass das Ende desselben, da es nicht mehr
den Schluss des Satzes bildet, wie ein solcher Satz gesprochen
werden muss, auf welchen noch ein anderer folgt.
Ein solcher zum Vordersatze gewordener Nachsatz
muss also auch in höherem Tone als der folgende modulirt
werden. Um die richtige Betonung zu treffen , spreche man
also den Satz erst so, wie er eigentlich in seiner hypothetischen
Stellung lauten müsste, und beachte die Betonung des Nach-
satzes, um sie nach geschehener Umstellung ihm wiedergeben
zu können.
Uebrigens müssen die Schreibenden gewarnt werden, keine
zu lange Gradationssätze zu bilden, damit man im .'stände sei,
sie vorzutragen und nicht genöthigt werde, beim Sprechen ein-
zelne Glieder auszulassen. Bei manchen solcher Sätze — (na-
mentlich in einigen gedruckten Predigten kommen sie vor) —
reicht auch die stärkste Lunge und die umfangreichste Stimme
nicht aus, wenn sie kunstgemäss, also allein lüchtig vorgetragen
werden sollen.
Viele Recitirende begehen den Fehler, den Reim in Ge-
dichten zu sehr hervorzuheben, als wenn er die Hauptsache
wäre, da er doch nur eine Verschönerung der Rede ist; sie
lassen ihn auch da hervortreten, wo er den Sinn nicht schliesst.
Als Regel muss aber gelten: „Sprich dem Sinne gemäss!"
d. h., trenne richtig Satz von Satz und mache um des Reimes
willen keine Einschnitte oder Pausen da, wo der Sinn nicht ge-
schlossen, der Satz nicht beendigt ist. Ein solches Herleiern
von Reimgeklingel wird für den Zuhörer unerträglich. Die
Dichter sollten freilich auch durch die Reime sich keine so ge-
waltsamen Trennungen erlauben, wie z. B. Matthisson: „ich
allein bin in den trüben — Herbstestagen übrig blieben u. s. w."
Da übrigens der Lesende oder Declamirende bei seinem
Vortrage nur die Regeln seiner Kunst vor Augen haben muss,
so ist er nicht für die Fehler des Dichters verantwortlich.
Es ist oft gefragt worden, wie sich der Declamator bei so-
genannten unreinen, d. i. falschen Reimen verhalten solle,
von denen sich selbst unsere besten Dichter (bei der Armuth
der deutschen Sprache an Reimen) nicht frei gehalten haben.
Das Lesen und Declamireu. 371
Soll der Declaraator solche Fehler verdecken und, wie Falk-
mann (in seiner Declamatorik Th. II. S. 199) vorschlägt,
einen zarten Mittelweg einschlagen? „Hat," so drückt er
sich aus, „der Dichter z. B. gereimt:
Und hemmet des Wanderers Eile
Mit drohend geschwungener Keule;
so darf weder die Eile zur Eule, noch aus der Keule eine
Keile, werden, aber es kann doch eine Aussprache vermieden
werden, welche die Verschiedenheit der beiden Laute in ein
recht grelles Licht stellt."
Wir können uns mit Falk mann nicht einverstanden er-
klären, denn abgesehen davon, dass eine Vereinbarung nicht
homogener Laute geradezu eine Unmöglichkeit ist: so wird
durch eine solche Schminke, welche den einen Fehler verdecken
soll, ein doppelter hervorgerufen, indem keines der beiden Wör-
ter richtig gesprochen wird. Leicht wird der Declamator bei
seinem Versuche, die Scylla zu vermeiden, in die Charybdis
gerathen. Ist übrigens nur der Gedanke schön, so wird der
Zuhörer so leicht auch nicht an dem fehlerhaften Reime Anstoss
nehmen. Dazu kommt aber noch ferner, dass die Aussprache
in manchen Theilen Deutschlands der Art ist, dass solche Reime
kaum in derselben als fehlerhafte hervortreten.
Eine Ausnahme von der aufgestellten Regel, den Reim nicht
über Gebühr hervorzuheben, bilden die witzigen Reime, in
denen es geradezu vom Dichter auf den Reim abgesehen ist.
Hier soll also der Reim hervortreten.
Nachträglich müssen wir noch über die Betonung der Sätze
einige Bemerkungen hinzufügen. Es tritt nämlich bisweilen der
Fall ein, dass ein Hauptbegriff durch mehrere Wörter
ausgedrückt wird, d. h. , dass ein ganzer Satz als ein
Begriff hervorgehoben werden soll, z. B. in den Lehren und
Nutzanwendungen der Fabeln u. s. w. Solche Sätze müssen
in langsamerem Tempo gesprochen werden und zwar im Lehr-
tone; allein der Accent darf nicht, wie Manche lehren, auf die
Ideenreihe verthcilt werden, was ja an und für sich ein
Ding der Unmöglichkeit ist. Auch in solchen Sätzen giebt es
nur ein Haupttonwort, welches den vorherrschenden Accent
haben muss. Es findet also in solchen Sätzen nur ein ge-
24*
372 Das Lesen und Declamiren.
tragener Ton, ein langsamerer Gang statt als in den
übrigen.
Dass eine einzelne Stelle oft sehr verschiedene Betonungen
zulasse und dass es mithin die Sache des Recitirenden sei, aus
dem Zusammenhange den richtigen Ton zu ermitteln, ist im
Leitfaden an einem Beispiele weitläufig nachgewiesen worden.
Ileberhaupt aber darf der Declamator solche Stellen seines
vorzutragenden Stücks nicht übersehen, welche ihm genau an-
geben, wie er sprechen müsse. Wenn z. B. Schiller sagt:
Entgegnet ihm finster der Wütherich;
SO liegt in dem Worte finster für den Recitirenden die An-
gabe, wie er die Worte der Rede zu sprechen hat.
Zum Schlüsse noch ein paar Worte über den elegischen
Ton. — So wie es in der Musik ein Dur und ein Moll giebt,
so auch in der Declamation. Die Molltonart für diese bil-
det der elegische Ton.
Der Ton bei der Recitation einer Elegie muss ein weicher,
dem Zustande der Resignation und der Wehmuth angemessener
sein. Er ist also von dem hellen, kräftigen Klange der Stimme
beim Vortrage von Stücken aus dem Etone u. s. w. ganz ver-
schieden ; er ist ein Ton, welchem gleichsam die Spitze ab-
gebrochen ist. Denn die Klage des Schwermüthigen zeigt eine
matte, erschlaffte Stimmung an, welcher die Kraft zum Handeln
fehlt. — Der Mollton zieht sich übrigens nicht durch das ganze
elegische Stück hin, da die Elegie aus Gefühlen der Trauer
und der Hoffnung oder Freude gemischt ist, mit einem Worte,
Gefühle der süssen Wehmuth darstellt, welche sich auch
dann und wann wieder emporrichtet. Daher tritt auch ab-
wechselnd in einer Elegie statt des Moll wieder ein frisches,
lebendiges Dur ein.
Dass Derjenige, welcher bloss vorliest, aber nicht ein
auswendig gelerntes Stück vorträgt, nur einen sehr eingeschränkten
Gebrauch von Mimik oder Geberdenspiel machen könne und
dürfe, versteht sich von selbst. Denn die Anwendung der mi-
mischen Kunst setzt einen vollkommen freien Gebrauch aller
Glieder des Körpers voraus, welcher dem Vorleser versagt
ist, da er, sitzend oder stillstehend sein Buch in der Hand und
Das Lesen und Declaniiren. 373
die Augen auf dasselbe gerichtet, nach doj)pelter Seite hin in
diesem Gebrauche seiner Glieder gehemmt ist.
Ehe ich jetzt genauer auf Mimik und Geberdenspiel über-
haupt eingehe, halte ich es für zweckmässig, erst noch ein paar
Worte über declamatorische oder rhetorische Pausen
vorauszuschicken, welche, weil sie dazu dienen sollen, die
Erwartung der Zuhörer zu spannen, gewöhnlich mit Mimik ver-
bunden sein und folglich hier erwähnt werden müssen.
Wenn es z. B. in Wieland's Musarion heisst:
„Ihr Zeitvertreib war in der That kein Spass,
Denn — kurz: — sie hatten sich einander bei den Haaren u. s. w."
und der Declamator den letzten Vers ohne Unterbrechungspausen
sprechen wollte, so würde der ganze komische Effect verloren
gehen.
Solche Pausen sind anderwärts durch andere Umstände
geboten. Denn wenn es in Schiller's Bürgschaft heisst:
„Ich flehe Dich um drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit u. s. w."
so muss der Declamator die Punktpause nach diesen Worten
noch um eine rhetorische vermehren. Denn man muss sich
denken, dass der Bittende vom Tyrannen eine günstige Nach-
richt erwarte und, da er aus dessen Mienen liest, dass er sie ihm
nicht geben wolle, noch einen Umstand hinzufügt, von dem er
hofft, dass er den Dionys bestimmen könne, ihm die Bitte zu
gewähren. Er muss also erst die Mienen des Tyrannen be-
obachtet haben, ehe er weiter spricht; er muss mithin in seiner
Rede eine längere Pause eintreten lassen.
Solche Pausen werden auch durch die Aposiopesen und
Unterbrechungen der Rede überhaupt gebildet. Z. B. in dem
Processe von Geliert heisst es:
„Lasst dem Processe seinen Lauf,
Ich schwör' euch, endlich durchzudringen!
Doch — " „Herr, ich hör' es schon, ich will
das Geld gleich bringen u. s. w."
Dieses zögernde „doch" des Advocaten mit dem gehörigen
Geberdenspiele der rechten Hand und der fordernden ]\Iiene
verbunden, müssen den Zuhörern den Gedanken des Herrn
GHmpf eben so deutlich machen als dem Bauer. Ohne die
rhetorische Pause und den sie begleitenden Gestus des
374 Dhs Lesen und Declamiren.
Declamators würde aber ein solches Verständniss nicht eintreten
können.
Eine solche Pause hängt aber auch oft von der Willkür
des Declamators ab , und er kann in Worte einen Sinn legen,
von welchem vielleicht mancher Leser des Declamationsstückes
gar keine Ahnung hatte. Denn wenn Pfeffel in seiner Fabel
von den beiden Hunden sagt:
„Und dieser (der junge Hund) lernte so geschwind,
Als mancher Knabe kaum das Lesen u. s. w."
so kann der Declamator sich nach „als" unterbrechen und
durch die Erwartungspause dem folgenden eine scherzhafte
Wendung geben.
Ich komme jetzt auf allgemeine Bemerkungen über
die Geberden spräche.
Unter Geberdensprache versteht man alle Bewegungen und
Stellungen des Körpers und seiner Glieder, also das ganze
Spiel der Hände, die Bewegungen der Augen, des Mundes
u. s. w. — Die Geberdensprache kann sich eben so gut, wie
die Stimme durch Töne, durch äussere Zeichen verständlich
machen, wie die Unterhaltungen der Taubstummen unter ein-
ander beweisen. Also muss der Declamator auch diese Sprache
Studiren.
Die äusseren Geberden sind entweder natürliche oder
conventioneile, also entweder ganz allgemeine, nicht
auf einer gesellschafthchen Uebereinkunft beruhende, oder be-
sondere, welche einzelne Stände und selbst ganze Völker
charakterisiren, folglich erst erlernt werden müssen.
Die Mimik umfasst die BcM^egungen des Unter- wie des
Oberkörpers, die der Hände und die des Gesichts, wie
schon oben bemerkt wurde. Steht der Declamator hinter einem
Pulte, so hat er auf seinen Unterkörper allerdings nicht be-
sonders zu achten. Steht er aber frei da und kann man seine
ganze Gestalt überblicken; so ist es schon nicht einmal gleich-
gültig, welche Stellung seine Füsse einnehmen. Die passendste
Position derselben ist die dritte (nach der Benennung der
Tanzlehrer), da sie dem Declamirenden die möglich freiste und
festeste Haltung gewährt. Doch wird er bei seinem Vortrage
namentlich bei leidenschafdichen Stellen, wenn er nicht steif und
Das Lesen und Declarairen. 375
unnatürlich erscheinen will, mit den Positionen auch zu wechseln
haben. Denn leidenschaftliche Erregtheit und Ruhe in der Hal-
tung des Körpers stehen mit einander durchaus in Widerspruch.
Steht der Declamator hinter einem Pulte, so hat er sich
vor einer nachläseigen Haltung des Unterkörpers, wenn
dieser auch von den Zidiörern nicht gesehen wird, zu hüten;
er darf also den Körper nicht gemüthlich hin- und herschaukeln,
sich dabei mit den Händen am Pulte festhaltend u. s. w.
Obgleich er seinen Platz nicht verlassen darf, um herum-
zugehen, Avie ein Schauspieler; so kann das zu declamirende
Stück ihn doch veranlassen, bei einzelnen Stellen einen Schritt
vorwärts, rückwärts oder seitwärts zu thun, letzteres namentlich
dann, wenn das Stück einen Dialog enthält und der Declamator
in verjjchiedener Person zu reden hat. Durch eine solche Seiten-
bewegung werden die sprechenden Personen auch dem Zuhörer
noch deutlicher markirt.
Wenn manche Lehrer der Meinung sind, dass man die
Schüler gar nicht dazu anhalten solle, Gea^tikulationen zu machen,
weil dieselben oft gar zu unbeholfen und hölzern gemacht werden ;
so ist dieser schlechte Gebrauch der Hände u. s. w. noch kein
Grund, von demselben ganz abzusehen, da auch in diesem Falle
wie in allen anderen durch Uebung die Unvollkommenheit nach
und nach beseitigt wird. Es wäre gerade so, als wollte man
Jemandem anbefehlen, er solle nicht eher in's Wasser gehen,
als bis er schwimmen könnte. Auch ist es geradezu natur-
widrig, einen Vortrag gar nicht mit irgend einer Körperbewegung
zu begleiten. Der Knabe gestikulirt sehr lebhaft, wenn er seinen
Kameraden etwas mittheilt, sie zu etwas zu überreden bemüht
ist u. s. w.
In Beziehung auf den Gebrauch der Hände beobachte
man folgende Punkte:
1) Man vermeide bei der Bewegung der Arme und Hände
das Steife und Eckige, welches auch in der Tanzkunst als
fehlerhaft gilt. Man zucke, schleudere und vagire nicht mit
denselben herum ; wechsele nicht schnell und ganz regelmässig
mit der .rechten und linken Hand bei den Gesticulationen ab,
obne dass dazu irgend ein Grund vorhanden ist. Man strecke
die Arme nicht horizontal vor sich hin als wenn man schwimmen
376 Das Lesen und Declarairen.
wollte; greife nicht mit den Händen und ziehe die Finger ein,
ohne damit etwas zu bezwecken; balle nicht die Fäuste, wenn
man nicht drohen will; verstecke nicht die eine Hand in der
Rocktasche oder hinter sich u. s. av.
2) Man erhebe die Hände nicht über den Kopf, selbst nicht
beim flehenden Ausdrucke! Man verstecke aber auch nicht den
Oberarm, so dass man bloss mit dem Vorderarme die Bewegung
macht, während der Ellenbogen fest an den Oberkörper an-
geschlossen liegt.
3) Man bemühe sich, beide Arme geschickt zu gebrauchen,
nicht immer ausschliesslich fast den rechten oder den linken,
je nachdem sich Jemand von Jugend auf etwa gewöhnt hat, mit
dieser oder jener Hand körperliche Verrichtungen vorzunehmen.
Denn schon das Auge fordert Abwechselung, noch mehr aber
gebietet eine solche der Inhalt der meisten Declamationsstücke
schlechterdings.
4) Bei ruhiger Erzählung oder in Stücken aus dem
A- und Otone, wenn nicht der Inhalt ein ganz besonderer ist,
gestikulire man nicht zu viel, weil hier das Ganze gehaltener,
gemässigter, frei von leidenschaftlicher Aufregung ist.
5) Unter den Geberden selbst, so wie wiederum unter Ge-
berden und Mienen, muss Uebereinstimmung herrschen
und sie dürfen einander nicht widersprechen. Man darf also
z. B. nicht mit der Hand einen Gegenstand als zur Rechten
befindlich andeuten, den man vorher als zur Linken stehend be-
zeichnet hatte und umgekehrt; denn dadurch macht man die
Zuhörer irre. Eben so muss, wie bemerkt, unter Mienen und
Geberden Uebereinstimmung herrschen. Man soll also nicht
mit der Hand hnks hinzeigen und mit den Augen nach einer
anderen Richtung blicken. (Eine Ausnahme von dieser Regel
findet nur dann statt, wenn mit der Hand eine abweisende
Bewegung nach einem Gegenstande hin gemacht wird, den man
flieht oder verabscheut. Dann wehrt man mit der einen
Hand oder auch mit beiden Händen diesen Gegenstand von sich
ab und blickt, um den Abscheu oder die Furcht vor ihm aus-
zudrücken, mit den Augen nach der entgegengesetzten Rich-
tung.) — Man muss ferner nicht die Stellung, die Geberde und
Das Lesen und Declamiren. 377
Miene eines drohenden annehmen, wenn man freundlich blicken
sollte, und umgekehrt bei einer Drohung eine freundliche Miene
machen.
6) Die Gesticulation darf nicht früher eintreten als der
durch diese zu bezeichnenden Empfindung Worte geliehen
werden, sondern mit ihr zugleich, ihr also auch nicht erst
nachfolgen, wenn sie schon durch Worte ausgesprochen ist.
— (Eine Ausnahme von dieser Regel findet dann statt, wenn
durch Geberden eine Situation oder eine Gemüthsbewegung ein-
geleitet oder vorbereitet werden soll.)
7) Da jedes Alter, jeder Stand, ja Zustand des Menschen
seine eigenthümlichen Zeichen und Gestikulationen hat: so darf
der Declamator auch nicht immer dieselben Bewegungen mit
den Händen u. s. w. machen, sondern diejenigen, welche dem
Individuum angemessen sind. Welche Gestikulationen aber
jedes Alter, Geschlecht u. s. w. eigenthümlich habe, das muss
der Declamator durch sorgfältige Beobachtung und durch Stu-
dium sich bekannt machen.
8) Jede Leidenschaft, jede Gemüthsbewegung entsteht,
Avächst, erreicht ihren höchsten Grad und nimmt dann in eben
derselben Art und Weise wieder ab, wie sie erst zugenommen
hatte. Daher muss der Declamator diese Zustände unterscheiden
und seine Geberden, seine Stimme und Mienen darnach ab-
messen, nicht aber eine Leidenschaft, die erst im Entstehen ist,
gleich in ihrer ganzen Stärke äusserlich darstellen. Das würde,
nach dem bekannten SpricHworte, mit der Thür' in's Haus fallen
heissen.
Was nun s p c c i e 1 1 die Bewegungen der H ä n'd e anlangt,
so sind sie so mannichfaltig, dass sie kaum aufgezählt oder ge-
nau beschrieben werden können, zumal da wiederum eine jede
noch vieler kleinen Modificationen fähig ist.
Man kann nämlich 1) die Hände, in Ansehung der Räum-
lichkeit, in der niederen, mittleren und höheren Richtung be-
wegen; 2) sie in diesen Räumen entweder geradeaus oder seit-
wärts, links imd rechts, wenden; 3) man kann den Arm mehr
oder weniger gekrümmt halten, die Finger einziehen, oder einen
oder auch alle zualeich ausstrecken und dieses wieder in ver-
378 Das Lesen und Declamiren.
schiedener Form ; 4) man kann alle diese Bewegungen langsamer
oder schneller machen und 5) sich entweder nur der einen Hand
oder beider dabei bedienen.
Wegen der Mannichfaltigkeit dieser Bewegungen, welche
noch ausserdem, wie oben bemerkt, nach Geschlecht, Alter,
Stand, Nationalität u. s. w. der Individuen sich modificiren, ist
es gar nicht mögHch^ sie genau mit Worten deutlich zu machen
und sie müssen durchaus an lebenden Mustern studirt werden.
Da der Declamator ferner Charakter und Stimmung der
darzustellenden Personen nach seiner besonderen Erwägung
verschieden auffassen kann ; so wird er auch seine Gesten dieser
Auffassung gemäss einrichten, und so kann es kommen, dass er
auch anders als ein Anderer an den einzelnen Stellen gestikulirt.
Allgemein feststehende Gestikulationen sind etwa folgende:
1) Die Begriffe Alles, überall oder eine Gesamtheit drückt
man dadurch aus, dass man die Arme und Hände nach beiden
Seiten aus einander bewegt, um so den Gesichtskreis anzudeuten,
von welchem man etwas als umfasst darstellen will.
2) Der ruhig Demonstrirende oder Erzählende
streckt den Oberarm nicht weit vom Körper weg, sondern ge-
stikulirt mehr mit dem Vorderarme und bringt die Handfläche
mit sanftgeöffneten Fingern durch eine kleine Wendung nach
oben, doch so, dass der Zuhörerkreis ihm nicht in die Hand
sehen kann. Der Gebrauch beider Hände kann nur bei grös-
serer Lebendigkeit der Darstellung vorkommen. — AVährend
die eine Hand gestikulirt, muss die andere eine ruhige, un-
gezwungene Haltung haben.
3) Der Befehlende streckt den rechten Arm gegen den
aus, welchem er den Befehl ertheilt. Der Zeigefinger steht da-
bei gebieterisch ausgestreckt, während die übrigen Finger ein-
gezogen sind.
4) Eine ähnliche Bewegung dient dazu, um auf einen
Gegenstand hinzuweisen, doch mit dem Unterschiede, dass
die Hand sich der Richtung zuwendet, avo sich der zu zeigende
Gegenstand befindet. Das Mienenspiel dabei aber unterscheidet
beide Gesten ausserdem hinlänglich.
Das Lesen undDeclamiren. 379
5) Der Drohende erhebt die rechte Hand und hält den
Zeigefinger in die Höhe, indem er mit demselben eine schnelle,
fast zitternde Bewegung macht. Bei einer heftigen Drohung
beugt sich ausserdem der Körper wie zum Angriff nach vorn,
und der so zornig Drohende ballt auch wohl die Fäuste wie
zum Schlage.
6) Der Horchende erhebt die Hand nach dem Ohre, und
zwar nach der Seite hingeneigt, woher er etwas vernehmen will.
7) Der Hülfeflehende streckt die Arme dem entgegen,
von welchem er Hülfe erwartet, fast wie der Betende.
8) Für das Gebet ist die ästhetische Hahung der Hände
die Gegeneinanderhaltung der Handflächen oder auch die Er-
hebung beider Hände in der Richtung nach oben; jedoch dürfen
sie nicht zu hoch erhoben werden, nicht über den Kopf hinaus.
9) Der Schwörende erhebt die rechte Hand, die innere
Flächenach sich zugekehrt; er streckt den Zeigefinger und ^Mittel-
finger empor und die anderen werden sammt den) Daumen ein-
gezogen.
10) Aufregung der Gefühle im Allgemeinen wird be-
zeichnet, indem man die rechte Hand sanft dem Herzen zu be-
wegt und sie gegen dasselbe drückt, gleichsam als wollte man
die innere Aufregung so beschwichtigen.
11) Die Erwartung und die Hoffnung drücken sich
mehr durch das Mienenspiel aus, sind aber doch auch mit einer
Bewegung der Arme und Hände nach vorn verbunden, bis das
Erwartete sich zeigt, oder bis man die Hoffnung aufgiebt.
12) Der Aengstliche macht heftige, unstäte Bewegungen
mit den Armen und Händen, und auch die Mienen seines Ge-
sichts wechseln schnell. Die Unruhe bewegt seinen ganzen
Körper.
13) Die Gesten des Schreckens sind sehr mannichfahig,
je nach dem Grade des Schreckens oder der Individualität des
Erschreckenden. Das Mienenspiel ist, wie bei der Erwartung
und Hoffnung, die Hauptsache. Die Hände des heftig Er-
schreckten bewegen sich schnell, fast zuckend und convulsivisch
nach vorn, und ihre Flächen sind gewöhnlich einander zugekehrt.
Sie halten sich in der mittleren Kegion des Körpers, der sich
bei dieser Bewegung der Hände etwas zurückbeugt.
380 Das Lesen und Declaniiren.
14) Vor einem Gegenstande, welcher Furcht, Ekel oder
Abscheu erregt, beugt sich der Körper ebenfalls, und zwar
noch mehr, zurück; das Gesicht wendet sich von ihm ab und
die Hände ziehen sich entweder nach dem Körper zurück, um
auszudrücken, dass sie jede Berührung mit dem verabscheuten
Gegenstande vermeiden wollen, oder sie strecken sich, wenn es
gilt, ihn abzuwehren, gegen denselben vor und zwar mit aus-
gebreiteten Handflächen.
15) Die Verzweiflung hat eine doppelte Geberde. Ent-
weder ringt sie die Hände und bewegt sie masslos und heftig,
oder sie giebt sich durch gänzliche Regungslosigkeit und Er-
starrung kund , welche sich vorzüglich in den Mienen des Ge-
sichts ausdrückt. Das Letztere ist vorzüglich der Fall, wenn
ein plötzlich eintretendes schreckliches Ereigniss sie hervor-
ruft, welches alle Widerstandskraft vernichtet und alle geistigen
und körperlichen Kräfte schlagähnlich lähmt. Doch kommt dabei
viel auf den Charakter und das Temperament der Individuen an.
16) Bei den Regungen der Sehnsucht, Liebe und
Zärtlichkeit findet eine entgegengesetzte Haltung des Körpers
statt als bei der Furcht, indem sich derselbe nach vorn, dem
ersehnten Gegenstande entgegenbeugt. Auch die Hände strecken
sich demselben entgegen und zwar so, als wenn sie ihn um-
fassen wollten.
17) Der sich Freuende erhebt beide Hände und schlägt
sie auch wohl, wenn die Freude eine recht überraschende, nicht
gehoifte ist, in froher Aufregung zusammen.
18) Das Zeichen des innigen Schmerzes ist das Kreuzen
der Hände auf der Brust und das Senken des Hauptes, oder
auch das Ineinanderfalten der Hände wie zum Gebete. — Das
Thränenvergiessen, welches meistens mit dem Schmerze ver-
bunden ist, steht nicht in der Gewalt des Declamators und ist
ihm auch aus dem Grunde zu erlassen, weil er ja nicht als
Schauspieler agirt, sondern Zustände nur referirt; doch mag
er immerhin auch eine Bewegung der Hand nach den Augen
machen, wie wenn er hervorbrechende Thränen abwischen wollte.
Da der Declamator bei seinen Darstellungen gewisse
Schranken zu halten hat, so darf er Handlungen und Zustände
Das Lesen und Declamiren. 381
nur eben andeuten. Also er darf nicht, wie der Schauspieler,
vollständig alle Geberden machen, mithin nicht wirklich hauen,
stechen u. 8. w. wollen, sonst Avürde er in das Gebiet der Schau-
spielkunst überstreifen.
Mit den Bewegungen der Hände muss das Mienenspiel
zusammenhängen, denn sonst würde der Declamator wie eine
am Drahte gezogene Marionette erscheinen, welche kein Leben
hat. Obwohl aber alle Theile des Gesichts bei leidenschaftlichen
Aufregungen des Gemüths einen gewissen charakteristischen
Ausdruck annehmen; so sind es doch besonders die Augen,
in denen sich die Seele am deutlichsten abspiegelt, und so will
ich hier zunächst über die Thätigkeit derselben für die einzelnen
Fälle genauere Andeutungen folgen lassen.
1) Der Bescheidene schlägt die Augen nieder. Eben
dasselbe geschieht bei dem Gefühle der Scham oder Be-
schämung, während sich zugleich das Angesicht röthet. Da
dieses Erröthen aber etwas Unwillkürliches ist, so steht es
nicht in der Macht des Declamators, es hervorzurufen.
2) Sanft muth drückt sich durch einen stillen, ruhigen
Blick des Auges aus ; sein Glanz erscheint matter und es ist
nicht weit geöffnet.
3) Hinterlist und Tücke blicken unsicher und schlagen
schnell das Auge nieder, wenn sie einem festen Blicke des An-
deren begegnen, weil sie sich dann entdeckt glauben. Wenn
sie dem beobachtenden Blicke entgangen zu sein meinen, schlagen
sie die Augen wieder auf, zwingen sich aber zur Katzenfreund-
lichkeit, sobald sie ein neuer Blick des Beobachters trifft.
4. Der Heuchler, der Scheinheilige ist das Schatten-
bild oder die Caricatur des Gläubigen; daher sind seine Blicke
und sein ganzes Mienenspiel auch denen dieses Letzteren sehr
ähnlich, aber doch nicht gleich. Der Heuchler des Glau-
bens blickt zwar auch mit scheinheiliger Augenverdrehung nach
oben, allein er schlägt gewöhnlich schnell wieder den Blick zu
Boden. Es ist, als wenn er sich nicht würdig fühlte, die Augen
frei emporzurichten. Er zeigt eine hündische Demuth.
5) Der Befehlende schaut den fest an, welchem er einen
Befehl n-icbt. Auch der Zornige, der Drohende thut dies;
S82 Das Lesen und Declamiren.
allein sein Blick ist dabei feurig und blitzend. (Vergl. ausser-
dem im Vorigen Nro. 5.) fle nach dem Grade der ihn be-
wegenden Leidenschaft schaut er den Bedrohten bald ernst und
streng, bald wild an und rollt die Augen. — Auch die Augen-
brauen sind bei ihm in Bewegung und der Mund zuckt
leidenschaftlich.
6. Der Horchende oder Lauschende wendet nicht allein
den Kopf seitwärts und das Ohr dahin, woher er etwas ver-
nehmen will , sondern auch sein Auge ist halb und halb dieser
Richtung zugewendet, als wenn dieses Organ das Ohr unter-
stützen sollte.
7. Der Betende hält seine Augen nach oben gerichtet;
ihr inniger Ausdruck kündet, nach der Verschiedenheit des Ge-
bets, die Seelenstimmungen an : Vertrauen und Hoffnung, Bangen
und Zagen, Erhebung und Bewunderung, freudige Dank-
empfindung u. s. w.
8. Der Erwartende und Hoffende drückt in allen seinen
gespannten Zügen, aber vornehmlich in den Augen, ein
Streben nach einem äusseren Gegenstande aus. Sein Auge
ist nach der Seite hingewendet, von welcher her er die Er-
füllung seiner Hoffnung und Erwartung verwirklicht zu sehen
glaubt. Die Ungewissheit aber, ob seine Hoffnung in Erfüllung
gehen werde, macht, dass seine Blicke etwas Unstätes haben
und nicht immer derselben Richtung fest zugewendet erscheinen.
Ein Strahl der Freude erglänzt im Auge, wenn die Hoffnung
auf Erfüllung wächst.
9) Der Schwörende richtet sein Auge, wie der Betende,
nach oben und blickt fest und ruhig.
10) Der Hülfe flehende schaut mit Innigkeit den an,
dessen Hülfe er erflehen will; sein Auge ist umschleiert, selbst
oft von Thränen gefeuchtet.
11) Die Begierde im Allgemeinen giebt sich durch einen
fast starren Blick kund, der auf den begehrten Gegenstand ge-
richtet ist. Bei der rohen Begierde erscheint das Auge gleich-
sam verglast, stier und voll Wildheit.
Das Lesen und Declamiren. 383
12) Der Aengstliche blickt unatät bald hierhin bald
dorthin (vergl. oben Nr. 12), als wenn er mit den Augen einen
Ort suchen wollte, wo er Schutz und Sicherheit fände. Von
der Furcht unterscheidet sich die Aengstlichkeit insofern,
als die Erstere schon ein stärkerer Grad der Zweiten ist und
ein bestimmtes Object hat, von welchem sie erregt wii'd oder
ausgeht, weshalb die Blicke und der ganze Ausdruck des Ge-
sichts des Fürchtenden denen des Ekel oder Abscheu
Empfindenden sehr ähnlich sind.
13) Der Schrecken ist eine plötzlich erregte Furcht
und hat, nach seinen verschiedenen Graden, auch verschiedene
Bewegungen der Augen zur Folge; indem diese sich entweder
halb schliessen oder, wenn der Gegenstand des Schreckens in
der Nähe ist, sich auf denselben weit geöffnet richten. Bei
jähem Schrecken blickt das Auge stier; es scheint sich aus
seinen Höhlen drängen zu wollen und öffnet sich weit. Dieser
höchste Grad des Schreckens ist das Entsetzen.
14) Ueber den Gesichtsausdruck des Verzweifelnden
ist schon oben Nr. 15. mehreres bemerkt worden. Die Augen
des Verzweifelnden rollen entweder wild, ähnlich denen des
heftig Zürnenden oder Wüthenden, oder sie stehen starr
und wie leblos, je nachdem der eine oder der andere an der
angeführten Stelle bemerkte Fall eintritt. Auch richtet sich der
äussere Ausdruck nach dem Charakter des Individuums.
15) Abscheu und Ekel (ähnlich wie die Furcht) drücken
sich durch ein zusammengezogenes Auge aus, dessen Blick sich
von dem verabscheuten Gegenstande abwendet. Auch die übrigen
Gesichtsmuskeln ziehen sich mehr zusammen und verkleinern
so das Auge.
16) Der Ausdruck des Auges bei Liebe, Zärtlichkeit
oder Sehnsucht ist sich im Ganzen sehr ähnlich, nur dass
bei der Sehnsucht, die ja von einem ungestillten Verlangen
ausgeht, der Blick des Auges zwar sanft aber zugleich matt,
gleichsam hinschmachtend ist. Liebe und Zärtlichkeit
offenbaren sich dagegen durch ein heiter- und hellblickendea
Auge, durch einen seelenvollen Blick, der den geliebten Gegen-
stand gleichsam durchdringen zu wollen echeint und sich, so zu
sagen, in ihn versenkt.
384 Das Lesen und Declamiren.
17) Der Schmerz verschleiert und trübt den Blick des
Auges; es ist nur beim höchsten Grade desselben ganz geöffnet,
bewegt sich aber dann convulsivisch, oder es schliesst sich im
Gegentheile auch ganz, je nach der Individualität des Schmerz
Empfindenden. — Traurigkeit trübt ebenfalls den Blick; das
Auge senkt sich und erscheint halbgeschlossen.
18) Die Freude blickt heiter und lächelnd; die Augen
sind frei geöffnet.
Die Augenbrauen geben dem ganzen Gesichte des
Menschen einen besonders charakteristischen Ausdruck, je nach-
dem sie stark, buschig, oder weniger stark sind. Auch die
Form derselben, z. B. wenn sie mehr oder weniger geschweift
und gebogen sind u. s. w. , ändert den Ausdruck des Gesichts
sehr wesentlich. Da sie unmittelbar mit den Augen in Ver-
bindung stehen, so sind sie auch besonders geeignet, den leiden-
schaftlichen Ausdruck derselben zu verstärken. Zorn, Traurig-
keit und Freude veranlassen sie zu von einander verschiedenen
Bewegungen.
Vor allen andern Leidenschaften bewegt der Zorn die
Augenbrauen sehr lebhaft; sie ziehen sich bei demselben stark
zusammen und es runzelt sich zugleich die Stirn, wie bei
einem Ungewitter der Himmel sich mit düstern Wolken um-
zieht. Beim blossen Unwillen sind diese Zeichen nicht so
stark ausgeprägt.
Bei der Freude ebnen sich Stirn und Augenbrauen;
bei der Traurigkeit, wo das Auge sich senkt und matt
blickt, folgen sie der Richtung des Auges, so weit dies ihrer
Natur nach geschehen kann.
Bei andern Leidenschaften sind die Bewegungen der Augen-
brauen weniger charakteristisch und kaum zu beschreiben.
Die Bewegung der Augenlider ist eine doppelte: man
schlägt sie auf oder nieder. So einfach aber und so gleich-
massig diese Bew^egungen sind, so haben sie dennoch eine grosse
Wirkung. Der Bescheidene, der sich Schämende schlägt
sie nieder; der Gekränkte, der Beleidigte schlägt sie, im
Gefühle des Unmuths über das ihm wiederfahrene Unrecht,
schnell auf und richtet einen ernsten, strafenden Blick auf den
Das Losen und Dcclamiren. 385
Beleidiger. — Wenn die Unschuld die Augenlider erhebt
und ihr seelenvolles, reines Auge, das nach oben blickt, wie
um den Allwissenden zum Zeugen ihrer Reinheit anzurufen,
aufschlägt, welch' eine Macht liegt dann in dieser einfachen
Bewegung der Augenlider!
Die Stirn hat nur eine Bewegung, das Kunze In der-
selben im Zorne oder Unwillen, wie schon oben bemerkt, und
es ist über diese einfache Bewegung nichts weiter hinzuzu-
fügen.
Der Mund, weil er das Organ ist, durch welches sich
der Sprechende Anderen mittheilt, ist in beständiger Bewegung,
und so könnte es scheinen, als wenn von seinen Bewegungen
hier gar nicht weiter die Rede sein könnte; allein dem ist nicht
so. Denn der Mund spricht nicht nur Worte aus, sondern er
begleitet sie auch mit allerlei charakteristischen Bewegungen.
Er ist mit den Augen zusammen thätig, um Lachen oder Weinen
hervorzubringen; die Lippen beben beim Zorne; es schliesst
sich der Mund beim Ingrimme und die zusammengebissenen
Zähne knirschen; er verzieht sich bei'm Hohne u. s. w. Das
Schliessen des Mundes mit den auf ihn gelegten Fingern der
rechten Hand bedeutet das Schweigen. Die Schadenfreude
grinst, d. i. sie verzieht den Mund hämisch und zeigt die
Zähne. — Wie reizend erscheint ein Mund, welchen ein fireund-
liches Lächeln umspielt!
Viele Bewegungen desselben, so charakteristisch und wirk-
sam sie auch sind, lassen sich gar nicht mit Worten beschreiben,
weil sie zu zart und zu fein sind und zu schnell wechseln.
Lavater sagt: „Alles liegt im menschlichen Munde, was in
dem menschlichen Geiste liegt; der Mund in seiner Ruhe und
der Mund in seinen Bewegungen, welch' ein Charakter!"
Die Nase kommt in einem dreifachen Falle in Betracht,
1) wenn es gilt, Unmuth und Verdruss auszudrücken; 2) beim
Stolze oder Dünkel und 3) beim Zorne!
Beim Unmuthe oder Verdruss wird die Nase, wie man
sagt, gerümpft. Dieses Zucken der Nasenflügel ist auch
denen eigenthümlich, welche sich, wie man im gemeinen Leben
sagt, über eine Person aufhalten oder spitze Bemerkungen machen.
Archiv f. n. Sprachen. XXVU. 2')
386 "Das Lesen und Declamiren.
Allein der Grund zu dergleichen Ausfällen ist eben gewöhnlich
Neid, Aerger, Unmuth; und so ist die Sache dieselbe.
Der Dünkel, der lächerliche Stolz drückt sich da-
durch aus, dass der Dünkelhafte die Nase hoch trägt und da-
bei den Kopf zurückwirft, gleichsam als wollte er sich grösser
machen als er ist. Die Sprache des gemeinen Lebens kennt
eine Naseweisheit, und diese ist eben solchen Dünkelhaften
gewöhnlich eigen, nur dass sich dieselbe, ausser jenen äusseren
Zeichen, besonders noch durch anmassendes und selbstgenüg-
sames Gebaren kundgiebt.
Der Zornige bläst die Nasenflügel auf, und schnaubt
heftig. Die hebräische Sprache hat sehr charakteristisch die
Nase und den Zorn durch ein und dasselbe Wort bezeichnet.
Die Wangen, die mit Nase und Mund so eng zusammen-
hängen, sind für den Declamator keiner besonderen Bewegung
fähig, wenn man nicht das Aufblasen derselben, welches dem
gemeinen, dem lächerlichen Stolze eigen ist , in An-
schlag bringen will. Der zweifache, charakteristische Ausdruck
aber, welchen die Wangen besitzen, das Erröthen derselben
bei dem Gefühle von Scham oder Beschämung, so wie das Er-
blassen bei Schrecken oder Furcht ist ein unwillkürlicher
und stellt mithin dem Declamator nicht zu Gebote, eben so
wenig als er im Stande ist, das Haar zu sträuben, was beim
Entsetzen geschieht. Auch selbst dem Schauspieler wird es
nicht gelingen, so etwas darzustellen. — So weit die Bemer-
kungen über Mimik!
Da von jeder declamatorischen Darstellung sowohl Schön-
heit als Wahrheit gefordert wird, so fragt es sich, welche
Eigenschaft überwiegen müsse. In jedem Falle steht die Wahr-
heit höher als die Schönheit, welche bloss eine äussere
Form ist, und Grazie, Würde, Anstand, kurz Schönheit über-
haupt, sind nicht die Hauptsache, sind nicht der Hauptzweck
der Darstellung. Sollte also durch das Streben nach Schön-
heit die Wahrheit beeinträchtigt werden, so opfere man lieber
etwas von der Schönheit auf.
Allgemeine recapitulirende Schlussbemerkungen.
Der Declamator wähle gleich bei seinem Auftreten die
richtige Stellung der Füsse, wenn er frei steht.
Das Lesen und Declamiren. 387
Er denke stets daran, dass er kein Schauspieler ist, und
bewege sich also nicht unruhig hin und her.
In Ansehung der Armbewegungen vermeide er das Steife
und Eckige.
Er gewöhne sich, beide Arme geschickt zu gebrauchen
und gestikulire nicht bloss mit der rechten oder der linken
Hand allein.
Bei Erzählungs- und Lehrtonstücken gestikulire
man nicht zu viel, weil das Ganze gehaltener, gemässigter ist,
als wenn man leidenschaftliche Aufregungen darzustellen hat.
Man erhebe die Hände nicht über den Kopf, schliesse aber
auch nicht den Oberarm fest an den Körper an.
Niemand declamire ein Stück, wenn er es nicht vorher
durchstudirt und überlegt hat, welche Modulationen der Stimme,
welche Gestus u. s. w. er an den einzelnen Stellen anwenden
müsse. — (Das genauste Memoriren versteht sich von selbst.)
Man male den Ausdruck nicht zur Caricatur aus! Man
übertreibe nicht in Miene, Stimme und Geberden!
Man hüte sich, den Ausdruck der Natur, wie man ihn an
lebenden Mustern studirt hat, nicht gar zu natürlich, d. i. zu
roh, darzustellen.
Beim Vortreten, was mit Anstand geschehen muss, hat
man, ehe man beginnt, erst den Namen des zu declamirenden
Stückes und seines Verfassers zu nennen, z. B. „Die Glocke.
Von Schiller," damit sich die Zuhörer auf das vorbereiten
können, was sie zu hören bekommen sollen.
Die Declamation ist, wie gewiss Alle zugestehen, eine
Kunst. Wer eine Kunst lehren will, unterrichtet seine Schüler
zuerst in den Anfangsgründen derselben, um eine feste Grund-
lage zu gewinnen, auf welcher er fortbauen kann. Der Schüler
muss also vom Einfachen und Leichten zum Zusammengesetzten
und Schweren fortschreiten. Der Zeichenunterricht beginnt mit
einfachen Strichen, der Unterricht in der Musik mit der Kennt-
niss der Noten, der Scala u. s. w. Ein ähnhches Verfahren
muss bei dem Declamationsunterrichte stattfinden. Wollte man
auf einmal den Schüler mit allen Regeln der Kunst der Reihe
nach gleichsam überschütten, so würde man ihn nur verwirren
2b*
388 Das Lesen und Declamiren.
und er würde keine einzige gut anwenden lernen. Es ist also
ein propädeutischer Unterricht nöthig.
Nach noeiner Ansicht muss dieser vorbereitende, vorübende
Unterricht in der Declamation schon beginnen, während die
Kinder lesen lernen, indem der Lehrer zunächst auf die richtige
Aussprache der Buchstabenlaute hält und alle Fehler bei seinen
Leseschülern zu verbannen sich bemüht, welche ich p. 22, §. 2.
in meinem Leitfaden in dieser Hinsicht kurz bemerkt habe.
Denn ein richtiges Aussprechen der Sylben und Wörter ist
das Fundament einer guten Declamation. Daher muss freilich
der Lehrer selbst sich zuvor solche Fehler abgewöhnt haben
und z. B. eu, ei, äu, t und d u. s. w. unterscheiden können.
Sobald dann die Schüler grössere Fertigkeit im Lesen er-
langt haben, müssen sie gewöhnt werden, die Interpunktions-
zeichen, d. h. die Lesepausen, gehörig zu halten. Ist dies er-
reicht, so muss der Unterschied der Stimmmodulation bei Comma,
Semicolon, Punkt u. s. \v. gelehrt werden. Ist hierin ebenfalls
die nöthige Fertigkeit erlangt, so folge eine Belehrung über die
Satztonwörter nach Anleitung des §. 8 ff. p. 40 ff. — Dieses
Kapitel bietet dem Lehrer, da er es jetzt schon mit vorge-
rückteren Schülern zu thun hat, zugleich einen guten und sehr
reichhaltigen Stoff zu Denkübungen, indem er seine Schüler
in den einzelnen Sätzen die Tonwörter selbst aufsuchen lässt
und sie auffordert, die Gründe anzugeben, warum gerade dieses
oder jenes , aber nicht ein anderes Wort den Satzton haben
müsse.
Während die vorhergehenden Uebungen fast ausschliesslich
mehr mechanischer Art waren, treten hier die Schüler schon
in ein höheres Gebiet ein. Successive gehe man dann zu der
richtigen Betonung der einzelnen Sätze über nach den Regeln,
welche in den §§. 13 — 19 gegeben sind.
Alles dieses kann indess geschehen, ohne dass der Lehrer
noch bei seinem Unterrichte das Lehrbuch den Schülern in die
Hände zu geben nöthig hätte; nur er selbst muss mit dessen
Inhalte genau vertraut sein.
Erst nach allen diesen mannigfaltigen Vorübungen trete
dann in der obersten Klasse einer Mittelschule, oder an einem
Das Lesen und Deolamiren. 3?9
Gymnasium in Secunda oder auch in Tertia, wenn ihr Stand-
punkt es zulässt, der scicntifisch gestaltete, vollständige Declama-
tionsunterricht nach dem Leitfaden ein, da auf dieser Alters-
und ünterrichtsstufe die Schüler befähig sind, genauer und tiefer
in die Sachen einzugehen. Das Lehrbuch ist zwar, wie sein
Titel besagt, zunächst für die obern Klassen der Gelehrten-
schulen und höheren Unterrichtsanstaltcn bestimmt; allein es
kann allen Lehrern dienen und selbst in der obersten Klasse
einer Mittelschule gebraucht werden, wenn das weggelassen
wird, was der Lehrer für «einen Cötus nicht ganz für passend
hält. Vornehmlich aber, ich wiederhole es, wird es allen Lehrern
von Nutzen sein, welche Declamationsunterricht zu ertheilen
haben, um selbst eine sichere Grundlage für denselben zu ge-
winnen. Der zweite Theil eignet sich vorzugsweise für höhere
Schulanstalten, da nur gereiftere junge Leute im Stande sein
dürften, davon eine nützliche Anwendung zu machen.
Aus den obigen Andeutungen über die beim Declamations-
unterrichte anzuwendende Methode ergiebt sich übrigens von
selbst, dass alle Lehrer einer Anstalt, wie in allen andern
Unterrichtszweigen, sich gegenseitig in die Hände ar-
beiten und mit einander einverstanden sein müssen, wenn
sie ein einigermassen günstiges Eesultatat erzielen wollen.
Im Allgemeinen möchte ich noch wünschen, dass man
kleinere Schüler nicht öffentlich auftreten Hesse, um ein
kürzeres oder längeres Stück zu declamiren, da sie noch nicht
den gehörigen Verstand dazu haben und gewöhnlich nur mit
grösster Hast eilen, mit ihrer Aufgabe zu Ende zu kommen
und vor einer Versammlung ihre Sache noch weit schlechter
machen als in der Classe vor dem Lehrer. Sie haben, wenn
sie auftreten, in der Regel Alles wieder vergessen, was ihnen
der Lehrer mühsain eingeprägt hatte. — Es kommt noch
ausserdem der Umstand hinzu, dass man sie zu Hause häufig
das Stück hersagen lässt, welches sie declamiren sollen, damit
sie nicht stecken bleiben, was an und für sich allerdings eine
sehr lobenswerthc Nachhülfe sein würde, wenn die die Kinder
L'eberhörenden stets Solche wären , die etwas von der Decla-
mation verstehen. Allein dies ist eben nicht oft der Fall, und
390 Das Lesen und Declamiren.
80 hat denn der Lehrer gewöhnlich sich ganz umsonst abge-
müht und das Stück wird höchst fehlerhaft declamirt. Erwachsene
Schüler dagegen üben sich selbst ihre vorzutragenden Stücke
ein und so fällt dieser Uebelstand bei ihnen weg.
Hildesheim.
Eector Dr. Schroeder.
Sir John Maundevylle.
Ein Beitrag zur Geschichte der englischen Literatur und Sprache.
Wie Chaucer als der Vater der englischen Poesie be-
zeichnet worden ist, so kann man Sir John Maundevylle den
Vater der englischen Prosa nennen. Er verdient diesen Namen
nicht sowohl wegen der grossen Popularität, die er als Verfasser
seiner Reisebeschreibung besass, als, weil er der Erste war, der
sich des durch Mischung des Normannischen und Angelsächsi-
schen neugebildeten Idioms mit grosser Klarheit und Einfach-
heit in ungebundener Rede zu bedienen wusste. Deshalb haben
seine Reisen vor Allem ein sprachliches Interesse, und von
diesem Gesichtspunkte beabsichtigen wir In den folgenden Seiten
dieselben in's Auge zu fassen, indem wir aus dem Gebiete der
Formenlehre nur diejenigen Punkte hervorheben, worin dieselbe
von der heutigen Sprache abweicht und dann ein Glossar der
jetzt veralteten AVörter folgen lassen. Vorher wollen wir aber
einige kurze Mittheilungen über des Verfassers Leben machen,
soweit es uns aus seinem Buche bekannt ist, ferner über die
Ausdehnung und das Ziel seiner Reise und endlich über die
Verbreitung, welche die Reisebeschreibung fand.
John Maundevylle war geboren In St. Albans. Schon in
seiner Jugend erweckten die Erzählungen eines Reisenden, der
die ganze Welt umsegelt hatte , in Ihm die Lust ferne Länder
zu sehen und, wo möglich, seine Reisen ebensoweit auszudehnen.
Er legte sich deshalb mit besonderer Vorliebe auf das Studium
der Arznei- und Sternkunde und trat Im Jahre 1322 seine Wan-
derschaft an. Zunächst begab er sich über Constantinopel nach
392 Sir Jülin Maundevylle.
Aegypten, wo er im Dienste des Sultan Melek Madaron län-
gere Zelt als Soldat gegen die Beduinen kämpfte (S. 35. der
HalliweH'schen Ausg.). Durch seine Tapferkeit oder Kennt-
nisse scheint er sich die Zuneigung des Sultans erworben zu
haben, so dass dieser ihm die glänzendsten Anerbietungen
machte , wenn er ferner an seinem Hofe bleiben und seinen
Glauben abschwören wollte. Obgleich ihm sogar die Hand
einer Prinzessin angeboten vA'urde, so war er doch ein zu guter
Christ, als dass er auf solche Vorschläge eingegangen wäre.
Er verliess deshalb den Hof seines Gönners und begab sich
nach Palästina, wo ihm, wie überall im Reiche des Sultans,
Briefe des Herrschers und sein grosses Siegel bereitwillige Auf-
nahme in allen Städten und Zutritt zu allem Sehenswürdigen
verschafften (S. 82). Dort kam er vielfach mit Reisenden aus
dem Innern Asiens in Berührung, welche in flandelsangelegen-
heiten die Häfen des mittelländischen Meeres besuchten. Ihre
Schilderungen von dem Reichthume und den Kostbarkeiten jener
Länder erweckten in ihm den Wunsch, weiter nach Osten vor-
zudringen und das Land des Chan von Cathay zu sehen. Die-
sem mächtigen Beherrscher des grossen Tartarenreiches diente
er nebst seinen vier Begleitern wieder 15 Monate lang als Sol-
dat in einem Kriege gegen den König von Mancy, Aveil, wie er
S. 220. selbst sagt, er auf diese Weise sich am besten mit dem
Leben am fürstlichen Hofe und der Regierung des Landes habe
bekannt machen können. Beobachtungen am Astrolabium über-
zeugten ihn, dass er die eine Halbkugel der Erde ganz, von
der andern mehr als die Hälfte gesehen habe, und „gern,"- sagt
er, „hätten wir die ganze Erde umfvhren, hätten wir Schiffe
und Gesellschaft gefunden, um weiter zu gehen." Er knüpft
hieran Bemerkungen über die Kugelgestalt der Erde, wobei es
ihm übrigens schwer wird, eine genügende Erklärung für den
Umstand zu finden, dass unsere Antipoden nicht von der Erde
in den Himmel fallen (S. 184). Nach seiner Rückkehr nahm
seine Kränklichkeit, welche ihn vielleicht zum Theil mit an der
Weiterreise verhindert hatte, zu und er beschrieb im Jahre 1356,
34 Jahre nach der Abreise, seine Wanderungen. Am Schlüsse
der Einleitung (The Prologue, S. 5) und am Ende des Werks
(S. 314 ff.) erzählt er , er habe das Buch zuerst in lateinischer
Sir JoLn Maundevylle. 393
Sprache geschrieben , *) um es dem Papste in Rom vorzulegen,
und dann habe er es in das Französische und Englische über-
setzt, damit jeder seiner Landsleute es verstehen könne. Maun-
devylle starb am 7. Februar 1372 in Lüttich, wo er auch be-
graben liegt. **)
Wenn wir nun den Inhalt der Reisebeschreibung näher ins
Auge fassen, so erklärt sich leicht das grosse Interesse, mit
welchem dieselbe im Mittelalter gelesen wurde. Die Geschichte
und die Thaten Alexanders des Grossen, der mit seinem sieg-
reichen Schwerte sich einen Weg in die bis dahin unbekannten
Länder des Ostens gebahnt und so den Innern und äussern Ge-
sichtskreis erweitert hatte, wurde im zwölften und dreizehnten
Jahrhundert der Gegenstand zahlreicher Dichtungen. Er, der
in seiner unersättlichen Eroberungf^^lust selbst das Paradies für
sich zu gewinnen trachtete, wurde der Held und Mittelpunkt
eines neuen Kreises von Sagen, die sich in verschiedenen
Sprachen über die Welt verbreiteten. Sein Zug durch Indien
wurde auf das Seltsamste mit allerhand Fabeln und Lingeheuer-
*J Direktor Schönborn hat in einem Breslauer Programme vom Jahre
1840, betitelt: „Biblioj,'rapliische Untersuchungen über die Reisebeschreibung
des Sir J. Maundevile" die Vermuthung aufgestellt, dass jene Stelle (p.
314 f.), die sich nur in dein abgedruckten Codex der Cotton'schen Biblio-
thek findet, wahrscheinlich unächt sei, und dass weder die am meisten ver-
breitete gedruckte lateinische Rei«ebeschreibung (bei Halliwell mit L. 3 be-
zeichnet», noch die in England vorhandenen lateinischen Hamlschriften von
Maundevylle selbst herrühren, sondern erst spätere, von anderen Verfassern
gefertigte Bearbeitungen des französischen oder englischen Originalwerkes
seien. Die Behauptung, dass sämmtliche lateinische Bearbeitungen von
Anderen herrühren, Hess sich indess kaum mit Bestimmtheit aufstellen, da
dieselben nicht zum Vergleiche vorlagen; dass aber die oben erwähnte ge-
druckte lateinische Reisebeschreibung nicht von Maumlevylle selbst verfasst
sein kann, hat Schönborn durch einen sorgfältigen Vergleich dieses Werks
mit der englischen Bearbeitung mit überzeugendem Scharfsinne nachge-
wiesen.
**) Ueber sein Grab zu Lüttich und die Grabschrift vgl. Pütrich in
Haupt's Zeitschrift G. 5G. Die Grabschrift lautet : llic iacet Nobilis Dominus
Joannes de Monteuilla Miles, alias dictu.«, ad Barbam Dominus de Compredri
natus de Anglia medicinae professor et devotissinms orator et bonorum Suo-
rum largissimus pauperibus erogator qui totum orbem peragravit in Stratu
Leodij diem vitae Suae clausit extremum Anno Dni Millesimo Trecentesimo
Septuagesimo Secundo mensis Februarij Septimo.
394 Sil" John Maundevylle.
lichkeiten ausgeschmückt; die Erzählungen des Strabo, Ctesias
und Plinius von den Ameisen, so gross wie Füchse, die Gold
graben, von den Pygmäen, von den Quellen, welche flüssiges
Gold ausströmen lassen u. s. w. erschienen ebenfalls als pas-
sende Stoffe, um in das Gewand der Poesie gekleidet zu werden ;
die Beschreibung des Paradieses im fernen Indien auf einem
Berge von Diamanten, der hinaufreicht bis zum Monde, von
dem düstern Höllenthale, wo der Teufel in der Gestalt eines
greulichen Hauptes unter Donner und Blitz schwebt, von den
22 Königen, die Alexander zwischen zwei Bergen einschloss,
von dem goldenen Baume mit den künstlichen Singvögeln, dem
Vogel Phönix, den Riesen, den Zwergen, den Greifen, den Ama-
zonen — alle diese Mythen, Fabeln, Abenteuer und Legenden
finden sich in dem Romane mit den Heldenthaten Alexanders
verflochten und mussten die Phantasie der Leser um so mehr
fesseln, als sich seit den Kreuzzügen die allgemeine Aufmerk-
samkeit ganz besonders auf den fernen Osten gerichtet hatte.
Indem nun Maundevylle diese Wunder in seine Reisebeschrei-
bung aufnahm und erwähnte, dass er sie zum Theil selbst ge-
sehen und erlebt , zum Theil von Andern vernommen habe^ *)
gab er den flüchtigen Träumen der Phantasie gewissermassen
einen realen Boden und machte sich zum lebendigen Zeugniss
für viele dieser Fabeln. Dass unser Autor dabei die Absicht
gehabt habe, mit der Leichtgläubigkeit seiner Leser Missbrauch
zu treiben, darf uns nicht in den Sinn kommen. Ohne Zweifel
schenkte er jenen wunderbaren weltlichen Sagen ebenso bereit-
willig Glauben, wie er als eifriger Katholik die seltsamsten Le-
genden und heiligen Sagen für wahr hielt. Die Beschuldigung,
Maundevylle sei ein grosser Aufschneider und Lügner gewesen,
muss deshalb als ungegründet zurückgewiesen werden. Diese
konnte erst in späterer Zeit gegen ihn erhoben werden, als der
Verstand mehr zur Herrschaft gelangte, als die Mythe ihre Be-
deutung verlor, und die Religion die Beimischung heidnischer
Wunder nicht mehr duldete.
*) And amonges alle, I schewed hym [the Pope] this Tretys, that I had
made aftre informacion of men , that knewen of thinges, that I had not seen
my seif; and also of Marveyles and Customes, that I hadde seen my seif.
Sir John Maundevylle. 395
Eine andere Quelle, aus welcher Maundevylle schöpfte, war
die Reisebeschreibung Marco Polo's, welcher ein halbes Jahr-
hundert früher fast dieselben Gegenden durchreist hatte. Es
unterliegt keinem Zweifel, dass das Werk dieses Reisenden un-
serm Autor bei Abfassung seiner Beschreibung vorlag, denn in
vielen Schilderungeu und P>zählungen findet sich eine fast
wörtliche Uebereinstimmung. Hierher gehört die Erzählung
von dem Alten, welcher ein „Paradies" auf einem Berge an-
legte, in welches er Fremde lockte, um sie zu Meuchelmördern
zu machen; ferner die Schilderung des Grabes des heiligen Tho-
mas, die Berichte über die Sitten der Tartaren und den Hof
des grossen Chan, an dem sich Marco Polo ebenfalls lange Zeit
aufgehalten hatte, u. a. m.*)
Viele Parthien des Buches lassen sich nun aber auf keinen
fremden Ursprung zurückführen, sondern gründen sich auf des
Verfassers eigene Erfahrungen und Erlebnisse. Er erwähnt z.
B. den Bau des Pfeffers, die Verbrennung der Wittwen auf
dem Scheiterhaufen ihrer Männer, die Bäume mit Wolle, die
zur Kleidung benutzt wird, die Brieftauben, die Gymnosophisten,
die Vorliebe der Ciiinesen für kleine Füsse, die verschiedenen
Arten der Diamanten , die künstliche Ausbrütung der Eier in
Aegypten, den Balsamhandel, das Krokodil, die Giraffe, die
Klapperschlange, die Papageyen, den Baumwollenstrauch u. A.
Mit grosser Ausführlichkeit schildert er die Sitten und Ge-
wohnheiten der Tartaren und die Pracht, welche am Hofe ihres
Fürsten, des mächtigen Chan von Cathay, herrschte.
Als Probe lassen wir hier die aus den Mährchen von 1001
Nacht bekannte Erzählung von dem Bündel Pfeile folgen, wel-
ches der erste Chan, der Gründer des Reiches, seinen 12 Söhnen
zum Zerbrechen vorlegte, woran er dann die Ermahnung knüpfte,
dass nur die Eintracht sie stark machen könne.
„And whan he feite wel, that he scheide dye, he seyde to
*) Görres, „die teutschen Volksbücher" erwähnt in dem zehnten Ab-
schnitte, der unsern Autor zum Gegenstande hat, ein Werk „De Tartaris
Liber" von Hayton, aus denen MaundeviUe mehrere historische, auf das Tar-
tarenreich bezügliche Begebenheiten, so wie die Entthronung des Chalifea
von Baldak (Bagdad) und seinen Hungertod, und die Geschlechtsfolge der
Sultane von Aegypten, entlehnt habe.
396 Sir John MaundevyUe.
his 12 Sones, fhat everyche of hem scholde brynge him on of
his Arewes; and so thei diden anon. And thanne he coman-
ded, that raen scholde bynden hem to gedre, in 3 places ; and
than he toke hem to his eldest Sone, and bad him breke hem
alle to gedre. And he enforeed hem with alle his myght to
breken hem: but he ne myghte not. And than the Chane bad
his seconde sone to breke hem; and so schortly to alle, eche
aftre other: but non of him myght breke hem. And than he
bad the zongest*) Sone dissevere everyche from other, and
breken everyche be him seif: and so he dide. And than seyde
the Chane to his eldest Sone, and to alle the othere , wherfore
myght zee not breke hem? And thei answeredcn, that thei
myght not, be cause that thei weren bounden to gydre. And
vt'herfore, quothe he, hathe zoure litylle zongest Brother broken
hem? Because, quothe thei, that thei weren departed eche from
other. And thanne seyde the Chane, My Sones, quoth he,
treuly thus wil it faren be zou. For als longe as zee ben
bounden to gedere, in 3 places, that is to seyne, in Love, in
Trouthe and in gode Accord, no man schalle ben of powere to
greve zöu : but and zee ben dissevered fro theise 3 places, that
zoure on helpe not zoure other, zee schulle be destroyed and
brought to nought: and zif eche of zou love other, and helpe
othere, zee schulle be Lordes and Sovereynes of alle othere.
And whan he hadde made his Ordynances, he dyed."
Der noch jetzt herrschende Aberglaube, dass das Begegnen
gewisser Thiere von guter oder böser Vorbedeutung sei, war
schon damals verbreitet, wie aus folgender Stelle hervorgeht:
„And there ben also sum Cristene men, that seyn, that
sume Bestes han gode meetynge, that is to seye, for to meete
with hem first at morwe; and sume Bestes wykked meetynge:
and that thei han preved ofte tyme, that the Hare hathe fülle
evylle meetynge, and Swyn, and many othere Bestes. And the
Sparhauk and other Foules of Raveyne, whan thei fleen aftre
*) Statt zongest, zee, zou, zif etc. steht in der diesem Texte zu Grunde
liegenden Handschrift 3ongest, 3ee, 30U, 3if Der Bequemlichkeit wegen
haben wir es vorgezogen, diese von Halliwell gemachte Vertauschung beizu-
Sir John Maundevylle. 397
here praye, and take it before men of Armes, it is a gode Signe:
and zif he fayle of takynge his praye, it is an evylle sygne.
And also to suche folk, it is an evylle meetynge of Ravenes."
Aethiopien beschreibt er folgender Massen:
„Ethiope is departed in 2 princypalle parties; and that is,
in the Est partie and in the Meridionelle partie: the whiche
partie meridioiielle is clept Moretane. And the folk of that
Contree ben blake y now, and more blake than in the tother
partie; and thei ben clept Mowres. In that partie is a Welle,
that in the day is so cold, that no man may drynke there offe;
and in the nyght it is so hoot, that no man may suffre his hond
there in. And bezonde that partie, toward the Southe, to passe
by the See Occean, is a gret Lond and a gret Contrey: but
men may not duelle there, for the fervent brennynge of the
Sonne; so is it passynge hoot in that Contrey. In Ethiope
alle the Ryveres and alle the Watres ben trouble, and thei ben
somdelle sähe, for the gret hete that is there. And the folk
of that Contree been lyghtly dronken, and han but litille appe-
tyt to mete: And thei han comounly the FIux of the Wonibe:
and thei lyven not longe. In Ethiope ben many dyverse folk:
and Ethiope is clept Cusis. In that Contree ben folk, that han
but o foot: and thei gon so fast, that it is marvaylle: and the
foot is so large, that it schadewethe alle the Body azen the
Sonne, whanne thei wole lye and reste hem.*) In Ethiope,
whan the Children ben zonge and lytille, thei ben alle zelowe:
and whan that thei wexen of Age, that zelownesse turnethe to
ben alle blak. In Ethiope is the Cytee of Saba ; and the Lond,
of the whiche on of the 3 Kynges , that presented oure Lord
in Bethleem, was kyng offe."
Die Fabel von der Entstehung der Rosen endlich erzählt
er S. 6i):
„And betweene the Cytee (of Bethelem) and the Chirche is
the Felde Ploridus; that is to seyne, the Feld florisched: For
als moche as a fayre Mayden was blamed with wrong, and
sclaundred, that sehe hadde don Fornycacioun ; for whiche cause
*) Vgl. PHn. Hist. Nat. VII. 2. 16, der diese fabelhaften Monosceli
Oilor Sciopodes auch erwähnt.
398 Sir John Maundevylle.
sehe was demed to the üethe, and to be brent in that place, to
the whiche sehe was ladd. And as the Fyre began to brenne
aboute hire, sehe made hire Preyeres to oure Lord, that als
wissely as sehe was not gylty of that Synne, that he wold helpe
hire, and make it to be knowen to alle men, of his mercyfuUe
graee. And whan sehe hadde thus seyd, sehe entred in to the
Fuyer; and anon was the Fuyr quenehed and oute: and the
Brondes that were brennynge, becoinen rede ßoseres ; and the
Brondes that weren not kyndled, becomen white Roseres, fülle
of Roses. And theise weren the first Roseres and Roses, bothe
white and rede, that evere ony Man saughe. And thus was
this Mayden saved be the Grace of God. And therfore is that
Feld clept the Feld of God florysscht: for it was fülle of
Roses."
Den schlagendsten Bew^els für die grosse Verbreitung,
welche das Werk Maundevylle's im 14. und 15. Jahrhundert
fand, liefert die grosse Menge von Handschriften und gedruckten
Ausgaben in englischer, französischer, lateinischer und italieni-
scher Sprache. Die grosse Mehrzahl derselben befindet sich in
England. Der neueste Herausgeber Plalliwell,*) dessen Ausgabe,
der Abdruck eines Manuskriptes in der Cotton'schen Bibliothek
(Tit. C. XVI.) dieser Abhandlung zu Grunde liegt, zählt in
der Einleitung 19 Handschriften dieses Werks auf, die sich in
der Bibliothek des Brit. Museums befinden und 22 der Samm-
lung eines englischen Edelmannes angehörige. Er fügt hinzu,
dass in den Bibliotheken von Oxford und Cambridge und in
fast jeder Sammlung noch zahlreiche Exemplare existiren, und
dass mit Ausnahme der heil. Schrift von keinem Werke so
viele Abschriften aus dem Ende des 14. und dem Anfange des
15. Jahrhunderts zu finden seien. Natürlich haben dieselben
grössern oder geringern Werth, weil sich die üebersetzer jede
Art von Misshandlung und Verstümmelung, Auslassungen, Zu-
sätze und Umstelluno;en erlaubten und namentlich mit den ihnen
*) The Voiage and Travaile of Sir John Maundevile, Kt. which treateth
of the way to Hierusalem; and of Marvayles of Inde, with other Ilands ana
Countryes. Reprinted from the Edition of A. D. 1725, with an Introduction,
Additional Notes, and Glossary by J. O. Halliwell, Esq. London, published
by E. Lumley 1839.
Sir John Maundevylle. 399
unbekannten geographischen Namen so gewissenlos verfuhren,
dass aus ihrer verkrüppeUen Gestalt kaum das Richtige heraus-
zufinden ist. In das Deutsche wurde Maundevylle übersetzt
von Michel Felser, zu Augsburg 1481 und 1482 gedruckt, und
von Otto von Diemeringen, Domherrn zu Metz, gedruckt zu
Strassburg 1484, 1489 und öfter. Es fand das Werk auch
bei uns eine so grosse Verbreitung, dass es in die unter dem
Titel „Bewehrtes Reyssbuch des Heiligen Landes, Nürnberg
1659" mehrmals abgedruckte Sammlung aufgenommen und als
wirkliches Volksbuch in Separat- Abdrücken sogar auf Jahr-
märkten verkauft wurde.
I. Formenlehre.
1. Das Substantiv.
Pluralbildung. Das Zeichen des Plurals ist es oder s: Frydayes,
monkes, comandementes, lyounes, reisins, places, apples; selten Is: bastardis,
prestis (p. 19), marchauntis (p. 51).
Die schwache Pluralform auf en haben folgende Wörter aus dem
Angelsächsischen behalten: oxen; eyen, eyzen (ags. eägan); schoon, schon
(ags. scön und scös); hosen; colveren (ags. culufran = Tauben) p. 118, da-
neben auf derselben Seite zweimal colveres; endlich pesen (ags. pisan
Erbsen) p. 199, 250, welches noch jetzt mundartlich im südlichen England
vorkommt, neben pese (p. 129).
Folgende Wörter haben eine gehäufte Pluralform, indem die schwache
Endung en an den ags. starken Plural gehängt worden ist: eyren (ags. ägru
Eier); caiveren (ags. cealfru Kälberj; children; bretheren, brethren = leib-
liche Brüder: kyzn (ags. cy), jetzt kine neben cows. Von suster kommt bei
Chaucer und Maundevylle neben sustres die schwache Form sustren vor,
während im Ags. sich nur der starke Plural sveostra findet.
Der Umlaut findet sich aus.ser in bretheren und kyzn noch in den
Pluralen: men; wommen; gees; feet; lyzs: mees oder myse; breech, breek
(ags. Sing broc. Plur, brec) = Hose, jetzt breeches, also eine doppelte Plu-
ralbildung.
Gleichlautend im Sing, und Plural sind wie im Ags.: swyn, scheep,
hors. Ebenso die roman. Wörter voys (p. 2G0) vers (p. 113) be.ste (p. 33)
und furneys (p. 49), wofür jedoch gewöhnlicher bestes und furneyses steht.
Knyf, lyf, wyf und thefe (p. 250) verwandeln das f meist noch nicht
in V (theves p. 78). Peny hat penyes und pens, ohne Unterschied in der
Bedeutung.
400 Sir John Maundevylle.
Einige Gattungsnamen, welche ein Maass, Gewicht oder einen Zeitraum
bezeichnen, werden, wie zum Theil noch jetzt, nach Zahlbestimmungen in
der Singularform gebraucht. Solche sind zeer, zere; paas, pas; fote, span,
fadme, score, Bow schote, myle (mitunter auch myles), z. ß. He was 78
zeer of Age (p. 151). At 140 paas (p. 92). 4 Myle fro Nazarethe (p.
111). 3040 Myles (p. 143). Dagegen stehen cubytes, degrees, furlonges
stets in der Pluralform.
Die Genitivendung ist es, z.B. Goddes Sone (p. 35). Abrähames
Brother (p. 68). Swynes Flessche (p. '2). Josephes Modre (ibid.). Auch
in den nicht auf s endigenden Pluralen: Other mennes children (p. 288),
während bei den regelmässig gebildeten Pluralen der Genitiv nur an seiner
Stellung zu erkennen ist, z. B. The Book of Fadres (patruni) Lyfes (p.
79).
In Bezug auf das Geschlecht der Hauptwörter gilt im Allgemeinen
schon die Regel, dass das grammatische Geschlecht mit dem natürlichen
übereinstimmt und dass die leblosen Gegenstände meist als sächlichen Ge-
schlechtes angesehen werden. So sind die franz. l'eminina ryvere, ile, cytee,
contree u. a. als Neutra gebraucht; ebenso kyngdom ston, see u. a. ohne
Rürksicht auf ihr männliches Geschlecht im Ags. Schwankend ist der Ge-
brauch bei welle = Brunnen (ags. vell, m.); brid (ags. bridd, m.); schippe
(ags. scip, neutr.); sonne = sol (ags. sunne, f.), denen männliches und säch-
liches Geschlecht zugleich beigelegt wird. Beispiele: He (the welle) chaunge
the odour und kurz darauf: It is so vertuous (p. 169). — He (the brid)
fleethe his wey. And so there is no mo Briddes of that kynde in alle the
World, but it allone (p. 48), — The Sonne, whan he is upon the Southe
(p. 131). Because that he (the Sonne) chaungethe the tyme und gleich darauf:
God lovethe it more ihan any other thing (p. 165) u. s. w.
2. Das Adjektiv.
Von den Geschlechts- und Kasusendungen der ags. und altfrz. Adjektiva
finden wir nur noch wenige Spuren erhalten, z, B. in den französ. Adjek-
tiven Seynte Kateryne (pp. 55, 62); Seynte Elyne (p. 78); that glori-
ouse Virgyne (p. 59). vgl. Seynt Johne (p. 62); Seynt Mark tp. 62).
Sonst wird dem Singular ohne Unterschied der Geschlechter ein e beigefügt
oder es wird abgeworfen, als Unterscheidungszeichen des Plural hingegen
behauptet sich dieses e fast durchgängig, z. B.: Many perilouse Passages
(p. 51); dyverse Langages (p. 52); principalle Festes (p. 58); the
othere Chirches (p. 56); stronge Men (p. 64) etc.
Wenn zwei Adjektiva Attribute desselben Substantivs sind, so steht ge-
wöhnlich nur eins vor demselben, das andere wird ohne Hinzufügung von
one oder ones nachgestellt, z. B. fair verres and clere; a gay Citee
and a riche; a gret Ile and a gode; a fair Tour and a highe; a
lityl dore and a low. Nur selten werden beide Adjektiva vorangestellt,
wie a litylle and a low thing (p. 139).
Steigerung der Adjektiva. Ueberreste des ags. Umlautes zeigen
Sir John Maundevylle. 401
sich noch in den Komparativen lenger und strengere, welche sich auch bei
Chaucer finden. Daneben longer rp. 63).
Unregelmässig gesteigert sind:
mochel, mechel
_^ t ^ rv,^ v,^ — more, mo — moste, most.
mocne, meche
gode, good — bettre — beste, best,
lytille — lasse, lesse — leste, lest,
bad — worse — worste, worst.
Nere, neere — nahe (ursprünglich selbst Komparativ von neyghe, neye,
ags. neäh) hat im Komparativ nerrer (p. 30), im Superlativ nexte, next;
neyest (p. 12C).
Fer (ags. adv. feor = weit) hat im Komp. mnre fer und ferthere, ags.
fyrre. Das th hat sich wahrscheinlich nach Analogie des verwandt en for-
there in diesen Komparativ eingeschlichen S. iSO: more forthere, ags. fur-
dra, neuengl. further, vgl. unser für der. Gleich darauf steht more forthe.
Der Superlativ foremest, ags. formest a, fyrmesta vom Positiv forma, in der
neueren Sprache wegen missverstandener Emlung in foremost verwandelt,
findet sich p. 303. Vgl. über diese Formen Fiedler's Engl. GrHmmatik §. 154 f.
Die einsilbigen Adjektive erhalten die ableitende sowohl als die um-
schreibende Steigerung, z. B. more longe und longer ip. 53); more highe
und hiere. Ferner more nye (p. 55), more righte (p. 5ö) more huge, more
schort, most schort etc.
Doppelte Steigerung ist nicht selten, wie in more hottere (p. 29); more
gladdere (p. 40).
Grete und swete verdoppeln den letzten Konsonannten und verkürzen
den vorhergehenden Vokal. Komparat. : grettere, grettre, gretter; Superl.
gretteste, swettest.
In more plenerly (p. 42) ist die Adverbialendung ly an den Kompa-
rativ gehängt.
3. Das Zahlwort.
Von den Grundzahlen werden in der vorliegenden Au«gabe alle mit
Ziffern geschrieben, mit Ausnahme von on, o und two. Die bei Chauc. so
häufigen Formen tweine, tweie (ags. tvegen) kommen nicht vor. Zuweilen
stehen die Grundzahlen statt der Ordnung.«Ziihh'n , z. B. The h und red
part (p. 151). The sevene (degreu' is of Crisolyte (p. 270).
Die vorkommenden Ordnungszahlen sind: the firste, first; the secounde,
secunde; the thrydde, thridde; the fourthe; the seventhe.
Zahladverbien: ones; twyes; thrj-es oder 3 sithes; 4 sithes (ags. feöver
sidum von sid eig. Weg, Reise) u. s. w.
4. Das Pronomen.
a. Persönhche:
Singular.
Nominativ. Objektiv.
1. I me
2. thou, thow the
Archiv f. n. Sprachen. XXVII. 25
Sir John Mauudevvlle.
3. masc. he, hee
him, hym
fem. sehe, schee
hire
neutr. hyt, it
him, it.
Plural.
1. wee
US
2. zee
zou
3. thei
hem
Eine enklitische Verbindung von thou mit der 2. Person des Verb findet
sich besonders nach shalt, wo th sich mit dem Endkonsonanten t assimilirt :
And from hens schaltow bere no thyng (p. 295). Vgl. Chaucer C. T. ed.
Wright 3.t7o: Than schaltow swymme. Menestow = Meanest thou (Piers
Ploughmnn).
Die ags. Dativform him in der .3. Pers. Sing, des Neutrums ist noch
nicht ganz verschwunden und wechselt im Gebrauche oft mit der Akkusativ-
form it: It (this ryvere) receyvethe into him 40 othere ryveres. (p. 7). —
There is another Hille, that is so highe, that the Schadewe of hym rechethe
to Lempne (p. 16). — It (Cypre) hathe 4 principalle Cytees witliin him
(p. 27). It is gode resoun, to don it (the Sonne, masc.) VVorschipe and
Reverence (p. IGö),
b. Possessiva:
Singular.
Plural.
1.
2.
myn, my
thin, thi
eure
zoure
3.
masc. his (hise p. 109).
fem. hire
neutr. his
here, hire.
Hires, theires
Alle diese Formen werden sowohl conjunctiv als absolut gebraucht, mit
Ausnahme von hires und theires, welche nie in Verbindung mit dem Haupt-
worte stehen, z. B. Thei that marchen upon zou, schuUe ben undre zoure
Subieccioun, as zee han ben undre hires (p. 225). And zif ony man seye
to hem, that thei norisschen other mennes Children, thei answeren, that so
don other men hires (p. 288). The dyversiiee betwene our Feythe and
theires. Here steht nur einmal nicht in Verbindung mit dem Hauptworte:
Koght aftir oure Lawe, but aftir here (p- 80). Ueber das s in den unver-
bundeiieu Fürwörtern vgl. Mätzner Engl. Gramm, p. 28S.
My und thi stehen vor Konsonanten, myn und thin vor Vokalen und
der Aspirata: Thin Hosen aud thi Schon (p. 59). My Wyf, myn Hus-
bonde (p. 179).
Das Pronomen der 3. Person hat im Singul. für Masknl. und Neutrum
noch dieselbe Form his. Die Bildung des Neutrums its gehört erst einer
spätem Zeit an. Beispiele: The Ademand, of his kynde, drawethe the
Iren to him: and so wolde it drawe to him the Schipp etc. (p. 164). Of
Sir John Maunderylle. 403
that Monnt the Cytee hathe bis name (p. 169). Of that Cytee bereite the
Contree bis name (p. 256). Vgl. Cliaucer C. T. ed. Wrigbt 7838: But loke
that it (the •whel) have bis spokes alle.
c. Refle.xiva:
Die?e sind noch meist mit den persönlichen Fürwörtern gleichlautend,
ein Gebrauch, der sirh noch in der heutigen Dichtersprache erhalten hat,
z. B : Some Men hasten hem and peynen hera (p. 58). Wbere oure Lady
rested bire (p. 71). Thei rejoyssen hem iiugely (p. 3'^9). Daneben fin'len
sich, obwohl seltener, die durch seif verstärkten Formen, aber nur in der
3. Pers. Sing, und Plur.: The Tree that Judas benge bim seif upon (p. 93).
As the Sarazines seyn hem seif (p. 50).
d. Demonstrativa:
Singular. Plural,
tbis dieser thfise. theyse
that jener tho (ags l)ä)
tbilke = talis (ags. P\\\'; Pylc) steht nur p. K.6.
that ylke = idera, the same (ags, se ylca, ^■dt ylca) steht nur pp. 127
und 129, welche Stellen einer andern Handschritl entnommen sind. Bei
Chaucer finden sieb beide Pronomina ebenfalls, jetzt sind sie nur noch in
Dialekten vorhanden.
e. Interrogativa:
who, whiche und what.
f Relativa:
who. Gen. whoos. Acc. wbom.
whiche. that. what.
Who, wplches nur auf Personen bezogen wird, ist zuweilen verstärkt
durch das hinzugefügte so: wboso = quicunq-ie, z. B. Wlioso brt-ketbe
hem, he sibaÜe fynde within hem etc. (p. lOl). Wboso wil go longe tyme
on the See, and conie nerrer to Jerusalem, he schal go etc. (p. 30). Wboso
Stoppel that Watie from bem, tbei mygbt'- not endure there (p. 47^, wo
wboso eine conditionale Bedeutung hat: Wenn etwa einer ....
Vor whiclie, welches von Personen und Sachen gebraucht wird, tritt oft
der bestimmte Artikel, wie im franz. lequel, ital. il quäle. .Ausserdem folgt
zuweilen noch that, vgl. griecb. bsTtg. He besonghte tlie HeremUe, that
he wolde preye God for him, the whiche that cam from Hevene (p. -17).
that ist das bti weitem gebräuchlichste, auf Personen und Sieben he-
zogene Relativpronomen. Die Prä|)Osition of steht davor p. 1S1: Toward
this Contree of that I have spoke: meist aber am Kn^le des Relativsatzes.
Auch hier tritt zuweilen noch ein zweites that hinzu, z. B. To holden lu-m
payil , of that that he wolde give hera of bis Grace (p. i-lu). I schalle
retornen to that that I have seen (p. SOG). Ue preyed to God of Natura,
26»
404 Sir John M a u n d e v y 1 1 e.
that he wolde parforine that that he had begönne (p. 265). Das erste that
ist demonstrativ, das zweite relativ, beide vertreten also what. Zuweilen
finden wir auch das einfache that in derselben Bedeutung, z. B. No straun-
gere comethe before him, but that he makethe him sum Promys and Graunt,
of that the Straungere askethe (p. 40). The 1000 part of that he hadde
(p. 147).
What wird ebenfalls verstärkt durch ein hinzutretendes that und bekommt
dann die Bedeutung des heutigen whatever, z. B. Every man takethe what
part that him lykethe (p. 179). — Of what nacyoun that thei ben
(p. 181).
g. Indefinita:
Von diesen nur einige.
Everyth (= ever each, ags. aefre aelc)
oder every wird, wenn es substantivisch gebraucht ist, meist nicht mit one
verbunden, z. B. Everyche of hem (p. 38). Ebenso p. 226, wo aber auch
ever\ch one steht.
Das sub tantivische none, non vertritt vor Vokalen und einem h häufig
die Stelle des adjektivischen no, z. B. None Houses (p. 63). Non Hors
(p. 58).
Some (ags. sum) ist seiner mannichfaltigen Orthographie wegen be-
merkenswerth. Ausser some finden sich die Formen: summe, süme, sume,
sum S. 101: Sum men clepen that See, the Lake Dalfelidee; summe the
Flom of Develes; and süme, the Flom that is ever stynkynge. Das plura-
lische e ist schon oft abgeworfen.
Oihere nimmt im Plural noch kein s an; the tothere, jetzt nur noch
in der Vulgär.spraohe und dialektisch üblich, ist nach Mätzner's wahrschein-
licher Hypothese aus other in Verbindung mit dem als bestimmten Artikel
gebrauchten that entstanden, wie griech. d-are^ov aus tb i'repor, niederl.
dandre aus de andre. Der Artikel that steht häufig grade vor other: In
Egipt there ben 5 Provynces; that on highte Sahythe, that other highte
Demeseer (p. 46). — At Alisandre is that other. (ibid). — To desceyven
that on that other der Eine den Andern = einander (p. 137). — That on
and that othre (pp. 63, 44 etc.). Wenn man, wie die meisten Grammatiker
thun, das t aus the entstehen lässt, so wäre die doppelte Anwendung des
Artikels schwer erklärbar. Die obige Erklärung ist jedenfalls die einfachere.
Vgl. Mätzner Engl. Gramm, p. 306 f.
5. Der Artikel.
Der bestimmte Artikel ist the, zuweilen, namentlich vor on und othei*,
that (ags. I)ät), welches übrigens für alle drei Geschlechter gilt.
Die beiden Formen des unbestimmten Artikels a und an werden oft
mit einander vertauscht, so dass a vor Vokalen steht und an vor einem
aspirirten h, z. B. a Amyralle; a Eremyte; an highe Hille; an half; an hille.
Sir JohnMaundevylle. 405
Vor den übrigen Konsonanten steht immer die Form a, deshalb ist p. 117.
2 statt an brennynge Dart zu verbessern: a br. Dart.
Bemerkenswerth ist ferner der Gebrauch des unbestimmten Artikels vor
Zahlwörtern zur Bezeichnung einer unbestimmten, ungefähren Angabe: Fro
that Eivere a 15 journeys in lengthe weren the Trees of the Sonne (p.
298). — The Lond conteynethe well a 180 Myles (p. 116). — A 7 Myle
fro Nazarethe is the Mount Kayn.
6. Das Verb.
Endungen des Präsens Indicativ:
Sing. 1. — e
2. — est, st
3. — ethe. eth (ith), the, z. B. begynnethe, lyethe, pas-
seth, lyghtith, lythe.
Flur. 1. 2. 3. — en (yn), e, n, z. B. we callen, thei duellen
(duellyn p. 63), seye, seyn.
Das e der ersten Person Sing, wird schon zuweilen apokopirt. Der
Flexionsvokal e der 2. und 3. Pers. Sing, und Plur. wird, wie im Ags. zu-
weilen synkopirt; die vollere Form en ist indessen, wenigstens im Plural, die
häufigere. Das heutige s der 3. Pers. Sing, findet sich noch nirgends.
AVenn in der 3. Pers. Sing, die Synkope des Flexionsvokals eintritt bei
einem Worte, dessen Wurzel sich auf einen der Zungenlaute d, t eniligt, so
wird die media zur tenuis, th wird in t verwandelt oder ganz von dem
Zungenlaute verschlungen, z. B. he rytt statt rydeth (p. 241); fynt
(p. 58); smytt; stont etc. Zuweilen finden sich die regelmässige und zu-
sammengezogene Form zugleich, z. B. it syttethe (p. 173) und sytt
(pp. 44, 45, 55); holt (pp. 42, 54, 182) und holdethe (p. 42). Dieselbe
Kontraktion findet sich im Ags. und bei Chaucer. Vgl. das Präteritum.
Die ags. Pluralendung ad ist, wie bei Chaucer, ganz verschwunden und
hat entweder der auf die gothischen Endungen ra und nd (n) des Präsens
und Prät. Plur. zurückgehenden oder, was wahrscheinlicher ist, der nach
Anologie der Perfektformen eingeführten Endung en Platz gemacht.
Präsens Konjuktiv:
Singular. — [e]
Plural — [e] n
Endungen des Präteritums der schwachen Verba:
Sing. 1. u. 3. — ede, ed, de, d
2. — edest
Plur. 1 — 3. — eden, den, d,
z. B. Sing.: translatede und translated (p. 71); duelied; wende;
betokend. Plural: accordeden (p. 38); dwelleden (p. 44); seyden
Cp. 17); seyd (p. 11).
Die Synkope und Apokope des e findet also auch hier Statt, im Plural
jedoch seltener. Eine ähuliche Kontraktion wie im Präs. zeigt sich in den
406 Sir John Maundevylle.
Formen departe (p. 295) statt departede; alyghte (pp. 103, 113) statt
alyghtede; lifte (p. 54) statt liftede.
Die Endungen des Präter. der starken Verba sind im Singular
— e, welibes mitunter wegfallt, im Plural — en oder — e. Der Singular
lautet diiher oft mit dem Plural gleich. Die von Wrigbt (Introduction to
Chiiucer's Cant. 'J'ales p. 34) angeführte Regel, dass nämlich der Singul.
des Piäter. noch wie im Ags. immer konsonantisch auslaute, hat für unsern
Schriftsteller wenigstens keine Geltung. Denn wir finden: He cam (p. 25)
und it came (p. 27); he toke (p. 11) und tok pl. (p. 98); wrot, wrote
und wroot; bare häufiger als baar u. s. w. Zuweilen wird die Plural-
endung en auf den Singular übertragen, z. B. : No thing.that he behighten
me (p. 35). It is the place where oure Lord betau ghten the Ten Com-
mandementes to JMoyses. (p. G3). — Gayus, that was Emperour of Rome,
putten theise 2 monethes there to (p. 77). The whiche is the same Lond,
that oure Lord behighten us in Herittige (p. 3).
Der Imperativ huitet iin Singular der 1. Präs. Ind. gleich; im Plural
findet sieh noch die Endung ethe (eth), welche indessen häufig wegfällt;
Also takethe a litjUe Baume and touche it to the fuyr (p. 51). — Wy-
tethe wel (p 44) und wyte zee wel (p. 51).
Das Partizipium Präs. endigt schon auf enge, eng, ynge oder yng,
z. ß. goenge, prayeng, lyggynge. Von der ags Endung ende, welche
sich bei .Wörtern deutschen Ursprungs noch oft bei Chaucer im Romaunt
of ihe Rose findet, ist kein Beispiel mehr vorhanden. (R. R. v. 1928; le-
pande: v. 22G3: sittand; v. 2708: doand). Wahrscheinlich hat der
französ. Nasallaut Einflups auf diese Verwandlung des nd in ng gehabt.
Vgl. im Franz. die heutige Aussprache von grand und sang.
Im Partiz. Präter. haben die schwachen Verba die Endungen ede, ed
und d, z. B. With bis blessede Feet (p. J); examyned und examynd
(p. 14); bylded (p. 58). Endigt sich die Wurzel auf p, 1, n oder seh, so
wird im Priiter. und Partiz. Präter. die media oft in die tenuis verwandelt.
Doppeltes 1 und n werden dann vereinfacht, z. B. worschiped und wor-
schypt; cleped und clept; brente, brent von brennen; abasscht;
pollischt; norysscht; perisscht; ravysscht; fulfilt neben ful-
filled (p. S9); duelte neben duelled u. s. w. \"gl. Unregelmässigkeiten der
schw. Konjugation. Die Präfixe y, ags. ge, ist noch häufig beibehalten, z. B.
ynayled, ycrowned, yvowted u. s. w. Die starken Pariicipien ver-
lieren das n zuweilen, wie das folgende Verzeichniss zeigt.
Im Infinitiv gehen die Endungen en, n und ne, e neben einander
her. So finden sich für das heutige to SHy die vier Formen : seyne, seyn,
seye ung sey. To drede und sewen (p. 8); ehacen etc.
Die Zeitwörter der starken Konjugation, welche bei Maunde-
vylle vorkommen, sind im folg. Verzeichnisse nach der Grimm'schen Eiathei-
lung geordnet.
Praes. Praeter. Part, praet.
1 Falle feile fallen
Sir John Maundevvlle.
40'
holde helde
hange, bonge henge
Honged steht auch bei Chaucer C.
steht a. a. O. v. 9757.
3. Knowe
jrrowe
holden
honged
T. V. 10253. — Heng als Partiz.
knowen
knewe
grewe —
— creew = krähte —
(p. 91).
Statt grewe findet sich das schw. Prät. growed (p. 117). Von blowen
kommen nur Infin. u. Präs. vor (pp. 114, 243).
4. Lat, late leet, lete —
lete
Im Ags. lautet dieses Verb laetan — ledt, let — laeten. Es ist
im Altengl. nicht zu verwechseln mit letten = hindern (\>. 4 5), welches
dem ags. letjan, lettan entspricht und schwach conjugirt wird.
7. Take
tok. toke
taken
stonde
stode
stonden
forsake
forsoke
forsaken
■wake = bewachen
woke, wooke
—
waxe, wexe
wax
sie
slowe, sloughe,
slowghe (ags.
sing, slöh, plur.
slogon)
slain
schave
' _
scbaven
grave (begraben)
—
graven
wassche
wossche
wasschen
drawe
(with) drowghe
(p. 104.) ags. droh,
plur. drögon
drawen
cast
cast, caste
casten, cast.
Statt wossche auch das schw. Präter, wassched wie bei Chauc. —
Das Prät. von drawe lautet bei Chauc: drough, drow und drew. — In
cast ist wahrscheinlich die Flexionsendung de dem t assimilirt. Auch
casted steht p. 87. — Ueber take s. Gloss. v. toke.
8. Abide, abyde abode
ryde
rode, rood
rydea
rise, ryse
roos (aros, aroos)
rysen
dryve
drof
dryven
schryve
—
schryven
smyte
smot, smoot
smyten,
smytten
write
wroot, wrot,
wrote
writen
408
Sir John Maundevylle.
Von schynen kommt blos die 3. Pers. Plur. Präs. thei schynen
(p. 216) und das Part. Präs. schynynge (p. 32) vor. — Ebenso bytynge
(p. 254) und thei byten (p. 54). — Thei chiden, praes. (p. 250).
9. Lese —
chese (cheese) ches, chees, chose
cleve
stye (ags. stigan)
= steigen
fly(enge)
cleef
steigbe, steyghe
fleighe, fleyghe,
fleyhe, Ags. fleäh
pl. flowen, ags. flugon.
lost, ylost.
soden = gesotten
(pp. 208, 251)
chosen, for-
chosen (p. 132)
cloven
Das bei Chauc. vorkommende Part, loren von lese, welches noch jetzt
in forlorn erhalten ist, findet sich nicht bei Maund. - Von frese ist
nur die 3. Pers. Präs. it fresethe (p. 256) vorbanden. — Zu dieser Klasse
gehört auch scheten = to shoot schiessen (p. 54), welches wahrscheinlich
noch einen Infinitiv schoten gehabt hat, denn die 3. Pers. Plur. Präs.
lautet thei schooten (p. 249), thei schoten, thei schote (pp. 155,
190) — fly kommt nur im Part. Präs. flyenge vor und wird in seiner
Bedeutung häufig mit fle, flee verwechselt, wie sich schon im Ags. fleö-
gan == volare mit fledhan = fugere mischte.
10. Se, see
saghe, saughe,
seyn, sene,
sawghe, saw,
Seen
seyghe
lygge, lye
lay, 3 p. leyen
leyn, yleye
sitte, sytte
sat, satt
sytt t,p. 124)
ete
ete, eet
eten
gete
gat, gatt, 3 pl.
geten (p. 19)
goten
begoten
bete
beet
beten.
11. Come
eam, came, com
come, pl. camen,
comen
comen, come
(for)bede
bad
(for)boden,
(for)bode
speke
spak
spoken, spoke
bere
baar, bare, pl.
baren, beren,
beeren
born, bore
swere
—
sworn
breke
—
broken
—
teren 3 pl. (p. 81)
ags. taeron
—
Sir John Maundevylle. 409
Aus 10 rauss wegen des Part, hierhergezogen werden:
zeve zaf, (for)zaf, pl. zoven
zaven
Vor broken steht p. 175 die Präfixe to, ags. to, deutsch zer, welche
bei Chauc. sehr häufig ist, z. B. v. 4275 with nose and mouth to-broke;
to-tore; to-rent = zerrissen u. s. w. Das o im Part, zoven findet sich
noch jetzt mundartlich im Englischen, vgl. Fiedler p. 274. Wycliffe hat es
auch. Bei Chauc. lautet es given, geven vom ags. gifen.
12. Drinke, drynke — pl. dronken dronken
(=: getrunken
und betrunken)
—
clomb
helpe
halp Cp. 284)
—
renne
ran
rönne
—
—
dolven (p. 62)
de (jetzt to yield) — pl. zolden
zolden
synke
sank, pl. sonken
—
stynke
stank
stonken
spynge
spronge, pl. sprengen
—
singe, synge
— pl. songen
—
—
— pl. Stengen
—
bynde
—
bounden
fynde
fond, fonde,
pl. founden,
fownden
founden
fighte, fyghte
faughte
foughten
wynne
wan
Wonnen
begynne
began, pl. begonnen begonnen
begönne
Von swyrame =: schwimmen kommt nur das Part. Präs. swymmynge
(p. 42) vor. — Von rynge = läuten die 3 PI. Präs. thei ryngen (p. 244).
— Von to grynde = mahlen blos der Infinitiv (p. 189). — Ebenso von
dyggen^ graben (p. 107). —
Defektive Zeitwörter sind:
Go wente, wende gon
zede; pl. wenten,
zeden
Wente ist das schwache Präter. von dem jetzt veralteten to wend,
bei Chauc kommt diese Form auch noch als Part. Präter. vor. zede, ags.
eode, lat. ivi von einem verlorenen Stamme, in Mundarten noch yode.
Quothe, quoth, p. 229 als 3. Pers. Sing, und Plur. gebraucht, lat.
inquit, ist das jetzt noch meist scherzweise und in der Poesie angewandte
Präter. von dem ags. Infinitiv cvedan, der noch in to bequeath er-
halten ist.
410 Sir John Maundevylle.
Unregelm. starke Verba.
Die folgenden 7 sind starke Perfektformen mit Präsensbedeutung und
neuen schwachen Perfekten.
1. Sing. 1. 3. schalle, schal; 2. schalt; plur. schulle, schull, schul. Praet.
Sing. 1. 3. scholde; 2. scheidest; plur. scholden, scholde..
2. Sing. 1. 3. wille, wile, wil — wole, wol. 2. — ; pl. wolen. Conj. 2. pl.
wile. Praeter. Sing. 1. 3. -wolde, wold; pl. weiden, wolde: wulden (p. 4),
3. Sing. 1. 3. can, 2. — ; pl. conne, conen, cone, can. Conj. 3. sing. cone.
Praeter, cowde. Infin. conne.
Das 1 des Präter. could hat sich erst später nach Analogie von should
und would eingeschlichen, cowd ist aus conned entstanden, v;ie be-
gouthe bei Chauc. und im Schottischen aus begounede und im Griech.
oBovaiv aus oSövr-aiv. — Oft hat can bei Maundevylle die selbständige Be-
deutung kennen, wissen = to know: Thei conne meche ofHoly Wrytt
p. 13C) — Thei (the Pygmeyes) connen bothen Wytt and gode and ma-
lice ynow (p. 213). — Chauc. C. T. 3128: I can a noble tale. — V. 11578:
I can no termes of astrologie. Vgl. GIoss. conne.
4. Sing. 1. 3. may, 2. may. No thing thou may tuke fro us Cp. 294);
pl. may, mai (ags. maegen), niowen, mowe, mow (ags. magon); Pi-aeter. 1. 3.
myghte; plur. myghten, myghte, myght.
I may wird bei Maundevylle oft da gesetzt, wo die heutige Sprache I
can erfordert, z. B. In alle haste that thei may (p. 301). — Sehe was so
highe that the Flode of Noe ne myght not come to hire (p. 304). Auch
bei Chauc. C. T.: It schal be amendid, if that I may. Vgl. v. 6560.
5. Sing. 3. mote, moste, most; pl. 3. most. Die ags. Formen des Präs.
und Praeter, mot und moste existiren zwar noch, aber die Bedeutung
beider ist präsentisch.
6. Sing. 1. wot (ags. vät); plur. 3. wyten, witen (ags. viton). Praet. Sing,
und Plur. wiste. Imp. wyte, Infin. wytene, wite.
Chaucer hat im Praes. Sing. 1. 3. wote, 2. wotest, wost; plur. woten,
wote, wot, witen, wete.
7. Sing. 3. dar, plur. dur (ags. durron). Praeter. Sing. 3. durste, durst;
plur. 1. dursten.
8. Praes. Sing. — pl. done, don. Conj. Sg. 3 do. Praet. Sing. 3 dide,
did, dyd, dede; plur. diden. Part, praet. ydon, don, do. Inf. done, don, do.
Ueber die umfassende Bedeutung dieses Verbs vgl. folg. Beisp. : The
Cros that Crist was don (= gekreuzigt) on (pp. 10, 14, 76, 77). — Sehe
was don (begraben) in a tombe of marble (p. 27). — Zif ony man do the-
reinne (hineinthut) ony manner Metalle (p. 32). — The Soudan haihe do
make (hat machen lassen p. 76). — Gret plentee of Wyn that the Chri-
stene Men han don let make (p. 71). — He dide hem to Dethe = he put
them to death (p. 83). — Thei don of (= they take ofl) bothe Hosen and
Schoon (p. 59) etc. Ueber die Bedeutung von tuon im Ahd. und Mhd.
vgl. Grimm Gramm. IV. 594 ff.
9. Praes Ind. Sing. 1. am, 2. art, 3. is, ys; plur. ben, bethe, beth (3.
Sir John Maundevylle. 411
pl. am p. 255). Conj. be. Praet. lud. Sing. 1. was, 2. were (p. 230, 295),
3. was; plur. weren, were (wereinn Conj. 1 — 3. were, plur. weren. Part.
praet. ben. Imper. be. Infin. ben, be.
Die Form arn findet sich nur a. a. O. Bei Chauc. öfter, z. B. C. T.
8218. R. R. 2183. 3747 etc. immer in der 3. Pers. Plur. Ebenso im Ormu-
lum: arrn Vgl. Mohnicke's Abhandlung über d. Ormulum im Progr. der
Leipz. Handelslehranstalt 1853 p. 35.
Unregelmässigkeiten der schwachen Konjugation.
1. Veränderung des Vokals, sowie der Schlusskonsonanten und Anhän-
gung der tenuis als schwache Endung haben folgende Verba:
Brynge broughte, broughte, brought
seche soughte (besoughte) —
bygge, byze, bye boughte, bnghte boughte
thenke, thinke thoaghte, thoghte —
•worche — wroughte
teche taughte taughte
2. Vokalveränderung und Vereinfachung des doppelten Schlusskonso-
nanten haben: —
Seile solde (ags. sealde) sold
teile tolde (ags tealde) told
3. Wenn der Schlusskonsonant ein d oder t ist, so wird das erste c
der schwachen Endung ede ausgestossen und der lange Stammvokal ver-
kürzt :
Drede
dredde
fede
fedde, fed
hyde
hid
hidde, hydde,
hidd
lede
ledde, ladde
ladd, ylad,
lad
meete,
mete
mette, mett
—
rede
—
radd, rad
swete
swette
—
— grette, vgl. Gloss. —
— — bebledd, vgl. GloBS.
Von spede, schede, sprede kommen nur Infin. u. Präs. vor.
4. Der Stammvokal wird verkürzt und die tenuis tritt im Präter. und
Partiz. ein bei folgenden Verben, deren Schlusskonsonant 1, p, s oder f (aus
dem V des Präs. entstanden) ist.
Leve lafte, laft left, laft
slepe slepte ) bei Chauc. noch die ags.
wepe wepte | starken Formen neben
lepe lepte ) den schwachen im Part.
und Präter.
kepc kepte —
412 Sir John Maundevylle.
clepe clept, cleped clept, ycleped,
lose lost loste, lost
— feite —
knele = hat regelm. knelede (p. 260),
5. Der Endkonsonant des Stammes t oder tt hat die schwache Endung
ganz verschluckt in:
Lil'te lifle lift
putte putte, putt, put putt, put
sette sette sett, set
hurt — hurt
— — slytt = auf-
geschlitzt.
Gaste mit seinem starken Partizip c asten ist unter den starken Verben
aufgeführt. Cutte kommt nur im Präs. vor. Hierher gehört auch das un-
persönl. gebrauchte liste, welches im Prias. und Präter. gleichlautet.
6. Endigt der Stamm auf Id, nd, rd, so tritt zuweilen die tenuis ein :
Sende sente (sende p. 1 8) —
— — gyrt
— - gyit
Regelm. sind die Partiz. bylded (p. 58) und bended = gebeugt
(p. 27C). Das Letztere kann nicht, wie Halliw. zu glauben scheint, zu
bynde (binden) gehören.
7. Durch Kontraktion oder Assimilation unregelmässig sind:
Make made made
Have Praes. Sing. 1. have, 2. hast, 3. hathe, hath; plur. haven, have,
han. Praet. Sing. 1. 3. hadde, had. 2. haddest; plur. hadden. Infin. have,
han. Part, praet. had.
Ciadde 3. pl. praet. (p. 13) ags. cläpode von cläpjan, jetzt clothe,
clad, clad. Diesem vereinzelt stehenden Präter. liegt wahrscheinlich ein
Infinitiv clathen oder clothen im Altengl. zu Grunde.
8. Vereinzelt stehen:
Flee, fle fledde fled
here (ags. heran) herde (ags. herde) herd (ags. bered).
9. Endlich:
Dyghte part. = gearbeitet, gebaut (pp. 12, 17, 70.) Vom ags. dihtan,
ahd. ticton, dihton, lat. dictare. Bei Chauc. C. T. 6349 steht noch der
gleichlautende Infin. dyghte, auch bei Spenser findet er sich noch.
pighte part. = festgemacht. Ags. pyccan, praet. pycte. Chauc. pike,
jetzt pi tch.
highte, hihte, hight, entstanden aus dem ags. Präter. hebt von hat an
ist 3. Pers. Sing. Präs. sowohl als Präter. und Part. Präter. Die Bedeutung
ist „hiess, wurde genannt." Vgl. pp. 46, 255, 72, 30. Nur p. 20 steht
es in der aktiven Bedeutung „nennen." Das Kompositum behighte (p. 109)
und behighte u (pp. 3, 35), 3. sing, praet. hat die Bedeutung „versprach, ver-
hiess;" p. 279 ist behighte Part. Praet.
Sir John Maundevylle. 418
Der unpersönliche Gebrauch der Verben, die eine Lust, ein Vergnügen,
Bedürfen, Sich dünken oder Bedauern ausdrücken, ist in der heutigen
Sprache meist verschwunden, z. ß. Whan hem ly st wenn es sie gelüstet (p. 38).
— He hathe as m<my Paramours, as hym lykethe als ihm beliebt (p. 39), —
zif it lyke you (p. 51). — It nedethe not to teile you (p. 54). — Alle
that hem nedethe of vytaylle (p. 34). — Whan hem thinkethe time
(p. 234). — That forthinkethe me das thut mir leid (p. 303). Bei
Chauc. findet sich dieser Gebrauch bei denselben Verben, sowie bei remember
u. A. C. T. 6051: It remembrith me. — 6591: It hapnyd hira. —
8561: Him no thing ne rought er kümmerte, sich um nichts. — 15187:
Hirn deigned not. — 16640: It dulleth me es thut mir leid u. s. w.
Die ags. Verschmelzung der Negationspartikel ne mit einigen Verbal-
formen hat sich bei Maundevylle noch erhalten in nys und nolde statt ne
is =: is not und ne wolde statt wolde not, z. B. Because that there nys
no God but on (p. 48). — There nys no Purgatorie {p. 19). — That nolde
nevere brenne (p. 107). Vpl. lat. noile = non volle. Bei Shak. Haml. 5. 1
findet sich noch will he nill he. Die Häufung von 2 oder 3 Negationen,
ohne dass dadurch der Satz affirmativ wird , zeigt sich in folgenden Bei-
spielen: The Sarazines ne tylen not no Vynes, ne thei drynken no Wyn
(p. 71). — Justice ne hathe not among us no place (p. 294). — That Saha-
ladyn ne myghte not passen (p. 36) u. s. w.
II. Glossar.
Bei einem nähern Vergleiche des von Halliwell seiner Aus-
gabe des Maundevylle beigefügten Glossars mit dem folgenden
stellt sich, abgesehen von der Trennung der ags. und roraan.
Wörter, insofern eine Verschiedenheit heraus, als über 150 von
unserm Schriftsteller gebrauchte, jetzt veraltete Wörter von
Halliwell gar nicht aufgeführt sind, während er auf der andern
Seite eine ziemlich grosse Anzahl von Wörtern berücksichtigt
hat, deren Orthographie nur wenig von der heutigen abweicht.
Auf diese, sowie auf die in der Formenlehre schon erwähnten
Wörter und Formen ist im Glossar meist keine Rücksicht ge-
nommen w^orden. Das einigen Wörtern beigefügte Ch. und Sh.
bedeutet, dass dieselben sich auch bei Chaucer und Shakespeare
finden.
414 Sir John Maundevylle.
1. Wörter ags. Ursprungs.
Agasten, v. a. p. 282. 3. pl. praes. erschrecken; zum ags, gast, gaest =
halitus gehörig. Ch. Shak.: to gast,
agen, agenes, agenst, praep. 82. 305. 40. wider, entgegen; ags. ongegn,
ongen, ägen. Ch.
alemesse, almesse, n. 199. 211. Almosen; ags. älmässe, jetzt alms als Sing,
und Plur. gebraucht. Ch. hat den Sing, almesse und Plur. almesses.
allgnges, adv. 189: It (the bred) semethe as it were of whete, but it is not
allgnges (durchaus nicht) of suche Savour. Ags. eallinga, eallenga
= omnino, prorsus.
als, adv, und conj. = as, welches häufiger vorkommt, 1. 84, 126. 173.
ebenso, wie; ags. ealsvä, alsvä. Ch.
and, conj. = if, wenn. 171. 229. Ch. Bei Shak, häufig an, welches auch
mit if verbunden wird,
anen, aneyntes, praep. u. adv. 80. 143. gegenüber, entgegen; agg. on
efn (on eran); p. 298: The wylde Bestes that slen and devouren alle
that comen aneyntes hem (alle die ihnen in den Weg kommen). Vgl.
Mäfzner Engl. Gramm, p. 40.5.
arrere, v. 38. ausheben (von Soldaten); ags, äraeran.
Ballokke. n. 162; testiculus; ags. bealluc.
be, praep. 30. 53. bei, zu, auf etc. ; ags. be, bi. Ch.
bebleild, part. praet. 3. mit Blut bedeckt. Ch.
beclippe, V. a. 52. gerinnen machen; ags, beclyppan = amplecti.
beheste, n. 1. Verheissung; ags. behaes. Ch.
behighte, behighten, part. und 3. sing, praet, verhiess, verheissen; vgl.
oben unter Unregelniässigk. der schw. Konj. Nro. 9. Ch.
behote, v. 120. 251. ',^52. geloben, versprechen; ags. behätan. Ch. behete.
betaughten, 3. sing, praet. 63. er theilte mit, schrieb vor (von betechen?);
ags. betaecan. Ch.
betake, v. praet. betoke, 71. 98. 138. geben, übergeben; ags, betäcan.
Ch, Ueber die Verwechslung dieses und des vorigen Wortes vgl. Tyr-
whitt Note zu C. T. v. 138.^2.
brede, n. 41. 117. Breite, auch schon breadtlie; ags. braedo. Ch,
breek, n. pl, 50. Hosen: A Mannes Breek Girdille; ags. bröc, plur, brec,
jetzt breeches, lat. braca, Ch. brech,
brenne, v, 48. brennen; ags. beornan, byrnan, brinnan, jetzt to burn. Ch.
brid, bridde, n. 45, 48. Vogel; ags. bridd und bird, Ch. Ueber die Meta-
these des r in diesem und dem vorigen Worte vgl. Mätzner Englische
Gramm, p. 184 f.
byggere, n. »6, Räufer von to bygge, byzen, kaufen. 159; ags. bycgan,
jetzt to buy mit eingeschobenem, aber nicht ausgesprochenem u.
Cheep, chep, n. 83. 208, 270, Kauf, Handel; Seite 49. 23.^: grettere cheep
wohlfeiler, vgl, frz. meilleur marche; ags. ceäp. Ch: chepe.
childe, V. 133. gebären; ags. cildjan, vgl. frz. enfanter.
clee, n. 198. Klaue; ags. clä, cleo.
Sir John Maundevylle. 415
clepe. V. 1. 43. 225. nennen, rufen; ags. clypjan. Ch. Shak.
conne, v. 5, 58. 136. wissen, können = to know. Noch jetzt häufig to
con a lesson eine Aufgabe beim Lernen halblaut hersagen; ags cunnan. Ch.
Graft, n. Kraft. 305: Thoughe he cryede with alle the crafte that he cowde;
ags. cräft.
culver, colver, n. im Plur. colveren und colveres, 11. 103. 118. Taube; ags.
culfre. Noch jetzt in Devonshire Holztaube. Ch.
Deme, v. 133. 287. richten, verurtheilen; ags. deman. Ch.
dere, v. 13. schaden, verletzen; ags. derjan. Ch.
dereworthe, adj. 56. werthvoll; ags. dedrvyrde. Ch.
deve, adj. 306. taub; ags. deaf. Ch.
dubbed, part. praet. 233. 241. Dubbed with precious Stones and grete Perles.
besetzt, verziert; ags. dubban, alr. dober, douber. Das Wort ist
nord. Ursprungs und bed. zum Ritter schlagen. Nach Burguy Gloss.
Etymol. p. 116. ist aduber, adouber = orner, garnir; mlat. adobare =
exornare, ital. addobbare.
dwerghe, n. 205. 297. Zwerg; ags. pveorg.
dyglite, part. praet. vgl. oben Unregelm. der schw. Konj. 9. Ch.
Eddere, n. 27. Natter, Schlange; mit weggeworfenem n aus dem ags.
näddre, jetzt adder. Wie auf der andern Seile der Nasallaut n dem
Anlaute eines Wortes vorgesetzt wird, zeigt sich bei ewt, jetzt newt.
eft, adv. 14. wiederum; ags. eft, äft. Ch.
eftsones, adv. 51. -.10. zum zweiten Male, gleich wieder;~ags. eftsona.
Ch. Shak: eftsoons.
eke, conj. 127. auch; ags. eäc, ec. Ch. Shak.
elde, n. 72. 293. Alter; ags. yldo, eldo. Ch. Shak.
elles, adv. 47. 254. sonst, or eile oder aber; ags. elles, jetzt^[else. Ch.
ere, v. 44. 72. beackern; ags. erjan. Ch. Shak. ear.
ewte, n. 61. Eidechse; ags. efete, jetzt eft und newt, beide Wörter ur-
sprünglich gleich, vgl. eddere.
eyselle, n. 10. Essig; ags. eisile. Ch. eisel.
Fere, n. 24 2; vom ags. gefera = socius. A. a. O. und bei Ch. immer in
Verbindung mit der Priipos. in = in Gemeinschaft, zusammen
Vgl. Grimm's Grammatik IL 7f)0.
fetten, v. 32. holen; ags. fetjan. Bei Ch. im Part. Präter. fette, fet.
tiessche. n. 20. Fleisch, gleichbedeutend mit meat; ags. flae.sc.
for, conj. weil, zur Bezeichnung des Grundes vor einem Ni^bensatze: And
for thei trowed, that thei hadden the Victorye of Crist Jesus, therfore
made thei the overthwart pece of Palme (p. 11). Vgl. p. 29. Vor dem
Infinitiv mit to drückt es den Zweck aus, wie das franz. pour, z. B.
' Men comen fro fer, for to fetten of that Gravelle (p. 32). — He
slounhe Tympieman, for to be Soudan (p. 36).
forby, adv. II. vorbei: „Men that wenten forby." Ch. forthby.
forden, v. 56. vernichten; ags. fordon. Ch. Shak.
416 Sir John Maundevylle.
forthinke, v. impers. it forthinkethe me es thut mir leid, ich bereue es
(p, 303.); ags. forI)yncan. Ch.
fro = from, welches auch häufig vorkommt, praep. 30. 39. von, aus; ags.
fram, frora. Ch.
frusschen, v. 238: Thei frusschen to gidere fülle fiercely von Kittern, die im
Turniere heftig gegen einander rennen; ags.?
Gabbere, n. 160. Betrüger; ags. gabbere.
galowe, adj. 4«. gelb; ags. gelu, geolu. Gealla = bilis. Vgl. mlat. galvus.
zif, conj. 40. 211. wenn = if, ags. gif, gef.
zit, conj 211. 26. doch, noch = yet, ags. git, get.
grave, v. 12. 93. begraben; ags. grafan. Ch. Sliak.
grette, 3. sing, praet (von grete) 133: Sehe grette sie schrie, klagte;
ags. graetan, greötan. Vgl. ital. gridare, span. gritar. — S. 112. Ga-
brielle grette our Lady, wo es begrüssen bedeutet vom ags. gretan,
jetzt to greet.
Halewe, v. 1. 24!). heiligen; ags. hä'gjan.
halewe, adj. 85. Holy of halewes Sancta sanctorum; ags. häleg. Ch.
halfondelle, halfendel n. 165. 166. 181. Hälfte; aus ags. healf und dael zu-
sammengesetzt,
hele, n. 11. 104. 123. Gesundheit, Heil; ags. haelo. Ch.
helefuUe, adj. 133. heilbringend.
helynge, n. 247. Bedachung; vom ags. helan = bedecken, verbergen,
herberghage, n 97. Herberge; ags. hereberge, jetzt harbour, harbourage. Ch.
herberwe, v. 97. herbergen; ags. herebirigan. Ch.
heved, n. 10. 103 heed, 12. 107. hede, hed 24. Kopf; ags. beafud. Ch.
howsele, v. 261. Das Abendmahl empfangen, reflexiv gebr: And there
ben manye of hem, that howsele hem every day. S. 283: Wee made
every man to ben houseld; ags. hüsljan. Ch.
hoole. hole, hol, adj. 88. 104. 107. gesund, heil, ganz, unversehrt; ags.
hal. Ch.
hucche, n. 8=>. That arke or hucche. Kiste, Lade; ags. hoecca.
huyre, n. 285. Lohn; ags. hyr.
Kembe, v. 24. kämmen; ags. cemban, jetzt to comb. Ch.
kynde, n. 248. 302. 193. Natur, Art; ags. cyude. Kyndely adj. 19. 59.
natürlich. Ch.
knave, n. 154: knave child=:male child Knabe; ags. cnafa. Ch. C. T. 5135.
Laste, V. 252: Thei lasten noghte that thei behoten sie halten nicht was
sie versprechen; ags, laestan = observare.
leche, n 238. Arzt; ags. laece. Ch. Sh.
lemman, limman, n 24. plur. lemmannes, 72. 135. Geliebter und Geliebte,
entweder durch Assimilation entstanlen aus leof und man oder aus l'ai-
mant, wie lendemain aus Ten demain. Für den franz. Ursprung spricht
die Pluralform. Auch bei Ch. kommt das AVort häufig in der weibl.
Bedeutung vor, z. B. C. T. 3719. i:i718. 14069.
lentone, n. 19. Fastenzeit; ags. lencten, jetzt Subst. lent, Adj. lenten. Ch.
Sir John Maundevylle. 417
lette, V. 27. unterlassen; ags. lettan, gelettsin. S. 173 lette of verhindern,
abhalten: Thei loken ntvere upward, but down to the Erthe, for ilrede
to see onything aboute bem, tb;it scliolde lette hem of here Devo-
cyoun. Ch.
leeve, leve, auch beleve, v, 108. 221. glauben; ags. gelefan. Ch.
lever, comp. 29. 12G. lieber; ags. leofra. Ch.
lewed, adj. 122. weltlich, lewed man Laie. S. 137: Lewed people die
gewölinlichen Leute, in welcher Bedeutung es häufig bei Ch. und
Shak. steht. S. 146: wollüstig, ausschweifend. Vgl. Milt P. L.
IV. 193: So since into bis tburch lewd hirelings climb; ags. laeved.
leyte, n. 129. 292. Blitz; ags. legut. Ch.
liflode, n. 293. Lebensunterhalt; ags. liflädu, jetzt livelibood.
liggvnge, part. praes. (von iigsren) 11. 14». liegend; itgs. li^^gan. Ch.
loggen, V. 193. refl. gebr. sich legen. There ben in that Contree a kynde
of Snayles, that btn so grete, that many Personcs may loggen hem
in here Schelles; ags. logjin = ponere.
lodesman, n. 27i. Lothse; ags. lädman. Ch. Vgl. lodesterre, jetzt loadstar
vom ags. lädu = iter.
loos, n. 89. Ruf; ags. hlysa, hlidsa = fama.
Mochelle, mochel, mechele, mocheles, moche, meche, adj. und adv. 198. 304.
48. 71. 291. gross, viel: ags. micel, mucel; im Schottischen muckle. Ch.
more, comp, von mochelle. 12. 29. 48. grösser; Brytayiie the more =: Bri-
tannia rnnjor; ags. mära, maera. Ch.
morwen, morwe, n. 164. 16G. Morgen. At morwen des Morgens; ags.
morgen. Ch.
myddes, n. 2. Mitte: The myddes of the World; ags. midda.
mysbere, v. 135. sich schlecht betragen; ags. misberan. Ch.
Namt-lyche, adv. 199. namentlich, besonders; ags. nemh'c.
natheles, adv. 14. 95. = nevertheless; ags. nö py las. S. 20: nevertheles. Ch.
ne, conj. 2. 13. noch, steht nach der Negation; z. B. He thoughte nevere
evylle n e dyd evylle ; ags. ne = neque. Ch.
nempne, v. 147. 23!. nennen; ags. nemnan. Ch.
nessche. adj. 30 3. weich; ags. hnesce. Ch.
neyghe, neyhe, v. 40. 220. 243. sich nähern; vgl. ags. neohan, nehvan. Ch.
noughte, adv. 22. 25. 1) nichts. 2) nicht, verstärkte Negation; ags. näviht,
näuht, Ch. hat naught und nought.
nouther — mit folg. ne, coiij. 19. .58. 100. 146. weder — noch, z. B.:
And nouther mHune, best, ne no thing that bereihe lif in him, ne
may not dyen in that See; ags. nähväder, nädor, näder. Ch. nother.
Or. conj. (zuw. mit folg. that), 53. 166. 197. bevor; aer, aßror, jetzt ere. Ch.
outher mit folg. or , conj. 115. 141. entweder — oder; ags. ähväder,
ävder, ädor. Cli. : other.
outtake, v. 246. ausnehmen. 250. 307. out taken ausgenommen. Ch.
Pylch, n. 24 7. Pelzkleid; ag«. pylce, ahd. pelliz, mlat. pellicium, ital.
pelllccia, frz. pelisse. Ch. : pilche.
Archiv f. n. Sprachuu. XXVII. 27
418 Sir John Maundevy lle.
Quyk, adj. 22. 193. 48. lebendig; 289. brennend. Jetzt veraltet, ausser
in der Verbindung The quick and the dead. Iq Lancashire wick =
lebendig; ags. cvic. Ch.
Rathere, (compar. von ratlie) 40: The rathere Toun of Damyete die frü-
here, ältere Stadt D., entgegengesetzt einer später gebauten desselben
Namens; ags. rade, radör = frühe, schnell.
recche, v. mit of verbunden. 64. 137. sich kümmern um . . .; ags. recan.
Ch. Shak. Byron Sardan. Act. I. Sc. 2: reck.
redye, v. reflexiv gebrauiht 185. sich zurecht finden; hängt wohl zus.
mit dem ags. adj. räd, raede.
releef, n. 210. Ueberbleibsel; lefa, oferlifa, Ch. relefe.
rightewisnesse, n. 294. Rechtschaffenheit; ags. rihtvisness. Ch.
Scant, adv. 252. kaum: And whan thei wil fighte, thei wille schokken hem
to gidre in a plomp; that zif there be 20000 men, men schalle not
wenen, that there be scant 10000. Hängt dies Wort mit dem ags. scae-
nan , scenan = frangere zusammen oder gehört es zum afr. eschantelet,
mittelat. scantellatus = truncatus?
Scherethors Day, n. 19. Der grüne Donnerstag (auch Maundy Thursday
genannt). Vgl. Brand, Populär Anticjuities I. 83 ff. Dort wird das Wort
hergeleitet entw. vom ags. scir = purus, mundus, bezüglich auf die Fuss-
waschung der Jünger Ev. Job. 13. 5 ff'.; oder von sceran = tondere
„bfcause in old Father's days the people would that day schere theyr
hefU's and clypp theyr berdes, and pool theyr heedes, and so make them
honest ayenst Easter day;" oder von sciran = dividere, weil an diesem
Tage Almosen vertheilt wurden.
scleye, n. 130. Schlitten. And than most thei let carye here Vitaylle upon
the Yse, with Carres that have no \^'heeles, that thei clepen Scleyes.
Hängt vielleicht zus. mit nhd. Schleife.
seohe, v. 97. suchen, ags. secan.
sely, adj. 293. And for to apparaylle with oure Bodyes, wee usen a sely
litylle Clout, for to wrappen in our Careynes, wo es einfach zu bedeuten
scheint; ags. saelig? Ch. C. T. gebraucht es nur von Personen in der
Bedeutung von silly, harmless.
syker, adj. 193. sicher = sure; sykerlyche und sikerly, adv. 198. 34 = sa-
fely, noch jetzt in Schottland gebräuchlich, ahd. sihhar. Ch.
sithe, n. 108. 158. Mal. Four sithes, ofte sithes; ags. sid. Ch.
sithen, siththen, sithe, sithens, später zu since contrahirt, praep. und conj.
seit, seitdem; ags. sidden, sid|)an. Ch.: sithen, sith, sin. Shak.: sith,
sithence.
skylle, n. 29. Grund, Zweck; ags. seile. Ch.
sloutihe, adj. 16>. langsam; ags. sleac, slav, jetzt slow.
somdelle, adv. 168. etwas, gewissermassen; aus ags. sum und dael zu-
sammengesetzt. Ch: somdel.
soothe, sothe, n. 251. 313. Wahrheit; ags. sod. Ch. Sh.
sothefastnesse, n. 133. Wahrhaftigkeit; ags. sodfästnyss. Ch.
Sir John Maundevylle. 419
sowce, V. a. 251. eintauchen, tränken; ags. sücan.
sprote, n. 238. Splitter (?): Thei breken here speres so rudely, that the
Tronchouns flen in sprotes and peces alle aboute the Halle; ags. spreöt
= trudis, contus oder zusammenhängend mit spritan, praet. sprät =
Andere,
stede, n. 6. Ort, Stelle, Stätte; ags. stede.
stere, v. 22. sich bewegen; ags. steran. Ch. '
stree, n. 253. Stroh; ags. streä. Ch.
stye, V. 134. steigen; ags. stigan. Ch. steye.
swfloghe, n. 33. Strudel, Abgrund; ags. geswelge. Ch. swolowe.
swythe, adv. 27. schnell, geschwinde; ags. svide. Ch.
sytte, V. 45. liegen (von einer Stadt); ags. sittan.
Therf, adj. 18. 121. ungesäuert. Therf bred; ags. peorf.
thorghe, thorge, praep. IG, 305. durch; ags. |)urh, Cb.: thurgh, jetzt through.
Vgl. bridde. brene = bird, burn.
thralle, v. 2. zum Sklaven machen, hingeben; vom ags. I)rael = servus.
Ch. Sh., jetzt to inthral.
toke, praet. 131. lehrte, zeigte, schrieb vor: The whiche Book (Al-
karon) Machamete toke hem. Die Verba take (ags. tacan, praet. töc
= suraere) und teche (ags. taecan, praet. taehte = monstrare, docere,
jubere) scheinen früher zuw. verwechselt worden zu sein, denn der Form
nach ist a. a. O. toke d. Praet. von take, mit der Bedeutung des Praeter.
von teche.
toothille, n. 3. Erhöhung, Hügel; hängt wohl zus. mit dem ags. totjan
= eminere. Halliwell Gloss. führt totehill = an eminence als ein in
Cheshire noch gebräuchliches Wort auf.
tother, pron. 9. 16G. 253. stets mit vorhergehendem best. Artikel. Vgl. oben
unt. Pronomen. S. 305: He (the Tigris) rennethe more faste than ony
of the tother ist the tother gleichbedeutend mit the two others.
trowe, V. 4. 100. 242. glauben, meinen, trauen; ags. trüvjan, tr^ovan
Ch. Sh.
Undernemen, v. 139.: „Alias! that it is gret sclaundre to oure Feythe and
to oure Lawe, whan folk that ben with outen Lawe schuUe repreven
US and undernemen us of oure Synnes," wo es schelten, schmähen
heissen muss; vom ags. nemnan = nominure?
undurne, n. 163. die neunte Morgenstunde; ags. undern, goth. un-
daurn?. Ch.: undern.
unethes. unnethe, unethe, adv. 19-'. 207. 2 IG. kaum, mit Mühe; ags. uneäde.
Ch. Sh. : uneath.
Wanhope, n. 285. Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung: das ags. Präfix
van, von = deliciens bezeichnet den Mangel, wie un oder dis. Ch.
wedde, n. ]3. 167: To wedde zum Pfände; ags. vedd, goth. vadi = Pfand;
mittellat, vadium, guadium. Ch.
wene, v. 51. 79. 134. meinen, wähnen, ags. venan. Ch.
where, conj. 51. ob; ags. hväder. Ch.
27*
420 Sir John Maundevylle.
wissely, adv. 69. sicherlich, gewiss; ags. viss. Ch: wisly.
woke, n. 273 2P9. Woche; ags. \dce, veoce, vuce.
■wove, n. 247. Wand; ags. vag.
•wra the, v. a. 37. erzürnen; ags. vrädjan. Ch.
wyten, wite, v. 25. 300. 304. wissen (novisse) ; ags. vitan. Ch.
wylne, V. 295. wollen, wünschen; ags. villan. Cli.
wyndwe, v. 107. wegblasen; ags. vindvjan, jetzt to winnow.
Ynowghe, ynowe, adv. 49. 137. 1^6. genug; ags. genöh, genög. Ch.
2. Wörter romanischen Ursprungs.
Abayst, part. praet. 295. betreten, verlegen; vom afr. abaiser. Ch.
adaniant, ademand, n. 2<0. 161. Magnet; lat. adamas, antis.
albespyne, n. 13. Weissdorn; lat. alba spina, frz. aubepine.
Almayne, n. 6. Deutschland; afr. Alemaine.
Antartyk, n. 1^0. Süd-Polarstern; lat. antarcticus.
appertely, apertly, adv. 22. 119. offen, klar, deutlich; afr. adj. apert.
Ch. C. T. 6696. 0718. hat apert als Adveib.
apyjele, v. 139. anklagen; lat. appellare, jetzt to appeal.
apropre, v. 35. sich zueignen; hit. appropriare, jetzt appropriate.
arberye, n. 256. Waldung; mlat. arborea.
arrescn, v. 131. anreden, mit Jemand verhandeln; mlat. arrationare,
afr. arresoner. Ch. : aresone.
artetyke, n. 315. Gicht; mlat. artetica (sc. gutta.) Nach Du Cange wahrsch.
eine corrumpirte Ableitung vom griech. aQd-Qmyri vöoos = a^ß'olris.
assaye. v. 91. 225. 256. prüfen, untersuchen; mlat. assaia = examen, pro-
batio, und assaghare; afr. asaier, essaier; ital. assag>;iare.
assoille, v. 18. 3!4. von Sünden freisprechen; lat. ab.solvere. Ch. CT.
12321. 9528: Assoileth me this question Löset mir diese Frage.
astoneyed, part. praet. erstaunt; afr. estoner (zu vergl. mit ags. stunjan,
jetzt stun). Dem heutigen astound ist ein d angehängt wie in sound,
afr. soner etc. Vgl. Mätzner Engl. Grammatik, p. 178. Ch.: astonied,
astoned.
atempree, attempree, tempree, adj. 157. 276. 168. gemässigt, mild; (vom
Klima und vom Pfeffer) ; mlat. temperius, afr. tempre adv. Ch. attempre.
avale, v. 266. herabsteigen (von einem Berge); afr. avaler, mlat avalare. Ch.
avaunte, avaunt, v. mit dem reff. 176. sich rühmen, prahlen; 309. n.
Alle bis freniies maken hire avaunt; afr. avanter. Ch.
aveer, n. 292. Vermögen; afr. aver.
avisioun, n. 114. 296. Vision; afr. avisioun. Ch.
avowe, n. 105. Gelübde; afr. vou, n. avoer v. Ch.
avowtrie, n. 54. 86. 249. Ehebruch; afr. avoutrie, jetzt adultery. Ch.
avys, n. 180. 136. Rath, Meinung; afr. avis, jetzt advice. Ch.
awtiere, awtier, awteer, awtere, n. 48. 59. 60. 112. 16. Altar; afr. alter,
autier. Ch.: auter.
Babewyne, n. 210. Pavian; mlat. babewynus; afr. babouin , ital. babbuino.
Sir John Maundevylle. 421
barette, n. 272. List, Betrug; mlat. barata, (Du Gange: = fraus, dolus
qui fit in contractibus vel venditionibus): afr. barate, barete; brelon.
barad =: VeiTath.
bestaylle, n. 284. Vieh; vom lat. bestialia, fr. betail.
boyst, n. 85. Kasten, Schachtel; mlat. buxis, buxida, umgestellt in bux-
dia, bustia; prov. bostia, afr. boiste. Vgl. Dicz Wörterb. p. 573. und
Du Gange v. buxis. Gh.
ßrace, n. 15. Arm; „And there is an Arm of the See Hclle.';pont: and sum
Men caüen it the Mouthe of Gonstanfynoble ; and sum Men callen it
the Brace of Seynt George." Vgl. Du Gange: Brachium St. Georgii,
Bosphorus, seu Fretum Hellt- spontiacum, sie dictum a templo St. Georgii
extra urbemConstantinopolitanam, quod ad littus istius freti exstructum erat.
bügle, n. 269. Büffel; afr. bügle, lat. buculus. Gh.
buscaylle, n. 271. Gebüsch; mlat. busoalia.
Careyne, n. 293 : „And for to apparaylle with oure Bodyes, wee usen a sely
litylle Glout, for to wrappen in oure Careynes," wo es „Membra
genitalia" zu bedeuten scheint. Afr. caroigne, ital, carogna, nfr. cbarogne,
engl. Carrion (Aas, LeichnamJ, vom lat. caro. Gh.: carraine v. 2015.
14 42 =: Carrion.
catelle, n. 2. Gut, Vermögen. Ursprünglich hiess capitale das Vermögen
an Vieh (caitle), später alle beweglichen Güter. Daraus wurde catallum,
afr. catel, chatel. Jetzt cattle = Vieh, chattel = bewegUches und un-
bewegliches Vermögen. Gh. G. T. 542. 4447.
cautele, cawtele, n. 272. 277. 280. Betrug, List, Schlauheit; mlat. cau-
tela, fr. cautele.
chamberere, chambrere, n. 102. 140. wo Hagar Abrahams chambrere genannt
wird; mlat. cameraria, fr. chambriere. Gh.
chesteyne, n. 307. Kastanienbaum; afr. chastaigne. Gh.
cheve, v. 147. zum Ziele kommen; mlat. cheviare; afr. chevir, venir ^
Chief. Nach Halliw. Gloss. ist das Wort in dieser Form noch im Nor-
den Englands gebräuchlich. Jetzt achieve. Gh.
cheventeyn, n. 3. Anführer, Gapitän; afr. chevetaine, lat. capitanus. Gh.:
chevetain v. 2557. VVahrscheinl. ist das erste n in cheventeyn zu streichen.
circumcyde, ▼. 80. 102. beschneiden; lat. circumcidere.
claretee, n. 86. Licht, Klarheit; lat. claritas.
close, v. 15. einschliessen, umgeben =: to enclose ; vom lat. includere.
cocodrille, cokadrille, n. 198. Krokodil. Die ^let.ithese des r in cocodrillus
statt crocodilus kommt nach du Gange schon im mlat. vor.
compassement, n. 180. U eher legung. Von compas (cum-passus) gleicher
Schritt, später Zirkel; nfr. compassement. Gh.: corapasment.
corage, n. 146. Neigung, Lust; vom lat. cor; afr. corage. Gh.
costage, n. 125. 174; costages 240. Kosten; mlat. costagiura, afr. ccstage. Gh.
costifous, adj. 208. kostbar. (Das f ist eingeschoben wie in plentifous).
covenable, adj. 120; covenably, adv. 49. auch zusammengez in connable, 293,
passend, angemessen, ziemlich; fr. convenable. Gh.
422 Sir John Maundevylle.
covetyse, n. 18. Habsucht; mlat. cupiditia: ital. cupidizia, cupidezza; afr.
coveitise, nfr. convoitise, engl, oovetousness.
creance, n. 292. Glaube; mlat. credentia, afr. creance. Ch.
cuniant, n. sing, cumanez, cumantz, cumanz (sing. u. plur.) 213. 238. 240.
Zahl von 10,0Ü0.?
cylours, n. pl. 239. Wahrscheinlich vom mlat. celura nach Du Gange = lecti
supremum tegmen, dann überh. Decke eines Zimmers, wie a. a. O.
Defaute, n. 3. 151. Fehler, Schuld, Mangel; for defaute of . . . aus
Mnngel an . . .; afr. defaulte. Ch.
defoule, v. 138. verletzen, übertreten, (ein Gesetz); mlat. defolare
Ch. 11708 ff. in der Bedeutung „schänden."
delytable, adj. 3. köstlich; afr. delitable. Ch.
delyverly, adv. 29. behende, gewandt; afr. delivre. Ch.
departe, v. 13. 85. 135. t heilen; afr. departir, neuengl. dispart. Ch.
desparple, v. 3. sich zerstreuen: „A semblee of Peple withouten a Che-
ventevn is as a Flock of Shet^p withliouten a Schepperde; the which
departeth and desparpleth, and wyten never whidre to go." Vgl.
Dii'z Wörterb» s. v. parpaglione, welches er für entstellt aus papilio er-
klärt; afr. esparpeiller; nfr. eparpiller; ital. sparpagliare ; span. desparpajar.
despence, n. 125. Unkosten; afr. despense. Ch. : dispence.
desport, n. 123. 216. Zeitvertreib, Belustigung; mlat. disportus, afr.
desport, neuengl. sport. Ch,
disporte, v. 210, sich u nterh alten ;, afr. desporter. Ch.
de.vtrere, n. 241. 291. Pferd; mlat. dextrarius, afr. destrier. Ch.
deveer, n. 28G. Pflicht, Schuldigkeit; mlat. deverium. Gh.: devoir.
devyse, v. 270. theilen; afr. deviser.
discrece, v. 273. kleiner werden; mlat. discrescere, neuengl. decrease. Ch.
disencrese,
displesance, n. 40. Missfallen; afr, desplaisance, Ch,
disp tous, adj. 112. streitsüchtig; afr. despiteux. Ch.
dissert, n. 115. Verdienst; afr. desserte.
distreyne, v. 315, quälen; mlat. distringere; afr. destraigner. Ch.
doel, n. 74. 202. Klage, Jammer; mlat. dolia; afr. dol; ital. doglia. Ch.:
dole. Shak. Mach. I. 2.
dowte, V. 64. fürchten; afr. douter Ch.
dure, V. 43. 46. 142. 209. sich erstrecken, z. B. „Arabye durethe fro
the endes of the Reme of Caldee unto the laste ende of Affryk," in
welcher Bedeutung es wechselt mit strecche. Vergl. Du Cange s. v.
durare = extendi. S. 58 hat es die Irans. Bedeutung: das Leben fris-
ten, erhalten; S. 144: leben; S. 294: dauern. Bei Ch. steht es
nur in der letzten Bedeutung.
Eglentier, n. 14. die wilde Rose; afr. aiglentier, nfr. eglantier. Diez
Wörterbuijh s. v. aiglent leitet es her von aiguille mit dem Suffix ent,
lat. gleichsam acuculentus stachelicht, neuengl. eglantine.
Sir John Maundevylle. 423
encerche, v. 314. durchsuchen; mlat. encercare, afr. encerchier, ital. cer-
care, fr. chercher, engl, search. Vgl. Diez s. v. cercare.
enleved, part. praet. 188: „In tho Plates ben IStonis and Batayles of knyghtes
enleved," wo es „erhaben gearbeitet" zu heissen scheint. Es hängt
wohl mit levare zusammen?
enoumbre, v. refl. 1. 136: „And whan men speken to hem of the Incarnaciön,
how that — God sente his Wysdora in to Erthe, and enumbred him
in the Virgyne Marie." Hall. Closs. erklärt es to join in anything und
leitet es daher wahrscheinlich von numerus ab. Es bedeutet aber an
den angef Stellen Mensch werden (im Schosse der Jungfrau Maria),
wie im afr. enombrer, aombrer, lat. inumbrare.
ensample, n. 133. 137. Beispiel, Muster; mit Einschiebung des Nasallautes
vom afr. essample.
enstrangle, strangle, v. 194. tödten (von Hunden, welche Kranke tödten
müssen, um sie vor ferneren Leiden zu bewahren); lat. strangulare,
fr. etrangler.
entre messe, n. sio. Zwischengericht; von inter und missum = das Auf-
getragene, (ital. messe); afr. entreraes, frz. entremets. Ch.: entremees.
entrete, v. 91. 9.5. behandeln, und zwar an beiden Stellen von schlechter
Behandlung; afr. entraiter von tractare.
eschewe, v. 292. meiden; afr. eschiver, escheveir; vgl. nhd. scheuen, ahd.
skiuhan, ags. scedh adj. Ch. : escheve, ^schue.
eysement. n. 214. Bequemlichkeit; mlat. aisiamentum; afr, aisement;
ital. agiamento. Vgl. Diez Wörterbuch s. v. agio.
Fawty, aclj. 175. mangelhaft, von fallere, fallitare; neuengl. faulty.
fertre, n. 225. CO. Todtenbahre; lat. feretrum; griech, cpeqerQov, fsQrqov;
afr. fertere = Rehquienkästchen.
festyfulle, adj. 137. festlich; jetzt feastful.
ferrom, n. 271. Eisenmasse; lat. ferrum.
flom, n. 98. 99. 147. Fluss; atl. flumen; afr. flum. Daneben oft ryvere.
folyly, adv. 184. thörichter Weise, vom mlat. foUis. Ch.
forcelette, n. 47. Festung, Fort; mlat. forcelletum.
formyour, n. 2. 135. Schöpfer; von formare.
fosse, n. 32. Höhle, Loch; lat. fossa.
fourrures, n. pl. 247. Pelzwerk; mlat. furrura, frz. fourrure.
frote, V. 60. 170. reiben; fr. frotter von fricare, frictum. Vergleiche Diez
Wörterbuch s. v. frettare. Ch.
frayed, part. praet. 153. verziert, besetzt; hängt wohl zusammen mit
dem ital. fregiare.
Galaothe, n. 244: „He (the Emperour) dothe a down his Galaothe, that
syt upon his Hede, in manere of a Chapelet, that is made of Gold and
preciouse Stone and gret Perles," wo es also Krone, Diadem oder
etwas Aehnliches bedeuten muss. Wahrscheinlich vom lat. galea = Helm.
VergL Diez Wörterbuch s. v. Im lat. Texte steht nach Hall, galiotam.
424 Sir John Maundevylle.
garnement, n. 153. Gewaud; mlat. garnimentum, afr. garnement, neuengl.
garment. Ch.
garnere, gerncre. gerner, n. 52. Kornspeicher; mlat. granarium, afr. grenier
und gernier mit transpon. r; neuengl. granary. Ch.
geste, n. 220. Heldenthat, Abenteuer; vgl. Du Gange s. v. gesta. Ch.
graff'e, v. 100. pfropfen, wahrscheinlich von graphium, yqafiov; neuengl.
to grafr, frz. greff'er.
greces, grees, n. pl. 70. 79. 80. Stufen, neben degree, pl. degrees 71. 217.
Lat. gradus, (gressus) afr. grct und degre von degradare. Ch. Denselben
Ursprung hat
grecynges, n. pl. 220. Treppen. Durch die angehängte Endung ing be-
kommt das Wort eine kollektive Bedeutung, wie footing, flooring, schirt-
ing etc.
gree, n. 295: „I trowe fidle, that God lovethe hem, and that God take hire
Servyse to gree." huldreich anneh men , von gratum = Gefälligkeit;
afr. a gre, davon agreer, neuengl. agree.
,greve, v. 71, schmerzen, weh thun (vom körperl. Schmerze), von gravis,
fr. grever.
grucche, v. 57. murrren; afr. groucer, groucher, neuengl. grudge, nach
Diez vom ahd. grunzSn. Ch. : groche.
gylofre, n. 51. IS7. Clowes of gylofre, clowegylofres Gewürznelken; lat.
caryopliylli clavus, fr. clou de girofle, afr. gilofer, neuengl gillyflower
Ch. : cloue gilofre.
gyngevere, n. 170. 187. Ingwer; lat. zingiber, frz. gingembre, neuengl.
ginger. Ch. : gingiver.
gysarmez, n. pl. 40. eine scharfe, leichte Waffe; afr. gisarme. Vgl. Du
Cange s. v. gisarme und Diez Wörterb. Ch.
He, n. 4. Insel, afr. isle, ille, nfr. ile; neuengl. isle.
insulfisance, n. 315. U ntauglichkeit; lat. insufficientia, neuengl. insufficiency.
jonkes, n. pl. 13. Binsen (nicht joukes, wie Halliw. in beiden Glossaren
hat) „Jonkes of the See, that is to sey, Rushes of the See;" lut. jun-
cus, fr. Jone.
joutes, n. pl. 5<: „Thei ben fülle devoute Men, and lyven porely and sym-
pely, with Joutes and with Dates," wo es Halliw. durch gourds (Kür-
bisse) erklärt. Wahrsch. hängt es aber zusammen mit dem armorik.
joud ein Brei aus Mehl oder Hülsenfrüchten, wek-ber den Armen zur
Speise diente, oder dem mlat. Jutta, jutia = lactare. Vgl. Du Cange s. v.
journey, n. 255. 271. Tagereise^ von diurnum; mlat. jorneia = labor diur-
nus, afr. jornee, jurnee. Ch.
Latynes, n. pl. 19. Anhänger der römischen Kirche.
latynere, n. 58. Dolmetscher; mlat. latinarius; afr. latinier.
Mareyes, n. pl. 130. Moräste; mlat. mareseum, ital. marese, fr. marais.
Ch. : mareis.
mawgre, maugre, praep. 24. 266. ungeachtet. Vgl. lat, male gratus, ital.
malgrado, afr. malgre, maugre. Ch.
Sir John Maundevylle. 425
mawndeo, n. 18. 19. 91.: „And there is a partje of the Table, that he (oure
Lor'l) madc his Souper onne, whan he inade his Maundee, with his
Discyples." Wahrscheinlich vom mlat. niandum = dispositio testa-
mentaria. Vgl. Du Gange s. v. Daher Maundy-Thursday, der grüne
Donnerstag; vgl. oben Scherethors Day und die angef. Stelle aus Brand
Pop. Antiq.
maystrie, n. 286. Geschicklichkeit; mlat magisterium, afr. maistrie. Ch.
mend\fauntes, n. pl. 210. Mendynantes. 167. Bettelmönche, lat. mendi-
cantes; fr. mendiants; neuengl mendicants. Vielleicht hat sich das f
unorganisch in mendiauntes einf>eschlichen wie in costifous, plentvfous
etc. Ch. C. T. V. 74 88. 7494 (ed. Wright) hat mendinauntz und mendeaunts.
menoures, n. pl. 282: „Frere Menoures," Minoriten, Frauziscaner-
mönche; lat. minores, afr. menour.
meselle, adj. 104. aussätzig; mlat. misellus = leprosus, afr. mesel. Ch.
meve, v. 13. 88. bewegen; lat. movere, afr. muevre, movoir, neuengl. to
move. Vgl. repreve. Ch.
meynee, n. 226. 275. Hausgenossenschaft, Dienerschaft, Gefolge;
mlat. maisnada, mainada „familia, quasi man^ionata." Du Gange; ital.
masnada, abgel. von magione = maison ; afr. maisnee, maisgnee. Chevy
Chase: „Then the Perse owt of Barbarowe cam, with him a myghtye
meany." (Jagdgefolge). Ch. Sh.
montance, mountance, n. 38. 6."). 240. Betrag, Strecke, von montare;
afr. montance, neuengl. araount. Ch.
mure, v. 278. mit einer Mauer umgeben, von murare, afr. murier.
Nakeres, n. pl. 281. Heerpauke. Nach Diez orientalischer Herkunft, afr.
nacaire, fr. nacre, ital. näcchera. Ch.
naperye, n. 2fi0. leinenes Tischzeug; mlat. naperii.
Doblesse, n. 294. Glanz, Würde; alr. noblece, nobleche. Ch.
Obeyssant, adj. 15.5. 197. gehorsam. Ch.
orfrayes, n. 233. ein mit Gold gestickter Rand: mlat. aurifrisium; afr.
orfrais; fr. orfroi. Ch. Davon
orfrayed, part. praet. 233. mit einem goldgestickten Rande ver-
sehen.
oriloge, n. 234. Uhr, von horologium, afr. orloge. Gh.: orloge.
Papyonn, n. 29: „In Gipre Men hunten with Papyonns, that ben lyche
Lepardes." Vgl. Du Gange s. v. papio, der eine Stelle anführt von Jac.
de Vitriaco: „Sunt ibi (in terra lerosolymitana) cameli et bubali abun-
daater et papimes, quos appellant canes silvestres, acriores quam lupi."
partie, n. 42. 45. Theil; fr. partie. neuengl. part. Ch.
pask, n. 92. Osterfest, vom hebr. pesach, lat. pascha, afr. pasque, prov.
pasca, fr. päques.
pece, n. iL 12. Stück; mlat. petium, petia = Stück Land, ital. pezza,
prov. pessa; fr. piece.
peraunter, adv. 286. 314. vielleicht; zusgez. aus peraventare, afr. pera-
venture. Gh.: peraventure, para unter.
426 Sir John Maundevylle.
perfyt, adj. 48; perfitely, adv. 135. vollkommen; afr. parfeit, parfit. Ch.:
parfit.
pes, n. 11. Friede; afr. pes. Ch.: pees, pese.
pese, n. 158. Erbse: „As grete as a pese." S. 129. als Plural; lat. pisum;
afr. peis, pois, nfr. pois; vgl. ags. pisa. Die pg. 7 erwähnte schw. Plu-
ral form pesen findet sich auch bei Ch. Die Abwerfung des s im beu-
tigen pea hat wohl darin seinen Grund, dass man dasselbe irrthümlicher
Weise für ein pluralisches hielt.
peynen, v. mit dem pron. refl. 3. 58. 293. sich anstrengen, sich
Mühe geben; afr. se peiner; vgl. ags. pinan, pinjan. Ch.
plentyfous, plentifous, plentevous, plenteevous, adj. 187. 211. 255. 258.
fruchtbar von plenus; afr. plentivose, planteuouse, neuengl. plenteous.
plesance, 12. 39. 151. 2C0. Geschmack, Gefallen; mlat. placentia. fr,
plaisance. Ch.
pleyne, v. 286. beklagen, von plangere; fr. plaindre, neuengl. to complain.
Ch. : plaine.
pomelee, adj. 289. gefleckt; mlat. pomellatus von pomellus = globulus,
dimin. von pomum. Ch.
prestre, n. 42. 182, preste 47, preest 71, Priester, von presbyter, afr.
prestre.
prevytee, n. 124. Gewohnheit, geheimes Geschäft; afr. privete. Ch.
privetee.
Pruysse, n. 7. Preussen. Ch. : Pruce.
pure, V. 158. 286. 301. reinigen, von purus. Ch.
Quarelle, n. 190. 269. viereckiger Bolzen; mlat. quadrellus. Du Gange
quadrelli, quarelli = tela balistnrum, brevia, spissiora et forma qua-
drata, unde nomen nostris quarreaux. Afr. quarel, ital. quadrello,
prov. cariel. Ch.
quarteroun, n. 301. Viertel: „And tbere is not the Mone seyn in alle
Lunacioun, saf only the seconde quarteroun." Mlat. quartaronum =
1 Viertel Pfund, fr. quarteron.
quybybe, n. 50. Kubebe, eine dem Pfeffer ähnliche Frucht, die auf Java
wächst und in Apotheken gebraucht wird ; lat. cubeba.
quyrboylle, n. 251. In der lat. Uebers. corium bullitum. Hall. Gloss. : „A
peculiar preparation of hather. by boillng it to a condition in which it
oould be moulded to any shäpe, and then giving it, by an artificial pro-
cess, any degree of requisite hardness."
quyten, v. 174. die Kosten bestreiten, von quietus. Vgl. Diez Gloss.
V. cheto; neuengl. to acquit. Ch.
RatouD, n. 129. Ratte; mlat., span. u. port. rato; ital. ratto, ahd. rato, ags.
raet. Ch.
rayed, part. praet. 290. gestreift, von radiäre, afr. roie, nfr. raye. Ch.
roialme, rewme, reme, n. 256. 6. 42. Reich, vielleicht aus dem mlat. rega-
lengum entstanden, nach du Gange = dominium. Diez leitet es von re-
galimen her. Afr. realme, reaugme, reaume. Ch. reaume, reme.
Sir John Maundevylle. 427
remewe, v. 39. fortziehen; afr. remuer von mutare. Ch. remue, remewe,
remeve.
reneye, v. 173. abschwören, verläugnen; mlat. renegare, reneare; afr.
reneier, afr. renier. Ch.
repreve, v. 14. 41. tadeln, verweisen, schmähen von reprobare; afr.
reprover, neuengl. to reprove, Ch. Davon
reprevinge, u. l. Schmach, Vorwurf.
Salve, v. 274. grüssen, vom mlat. salvare = saluf are, saluer. Ch.: salue.
sawtere, n. 86, psawtere 109, psautre 110. Psalm, Psalter von psalterium;
afr. psaltere, sautier.
schokken, v. 252. mit dem pron. refl. sich zusammendrängen: „And whan
thei wil fighte, thei wille schokken hem to gidre in a plomp." In
diesem Worte scheinen sich deutscher und romau. Ursprung zu mischen ;
afr. choque = Stamm; ital ciocco = Klotz. Vgl. das deutsche „Schock,"
niederdeutsch: schocken = aufhäufen.
scomfyte, V. 85. schlagen, vernichten; mlat. disconficere, afr. desconfire,
neuengl. discomfic.
sege, n. 215. Sitz, Thron, von sedes abgeleitet, fr. siege. Ch.
semblee, n. 3. Versammlung von simul, jetzt assembly.
sensen, v. 174. mit Weihrauch räuchern; mlat. incensare, fr. encenser.
septemtryon, n. 42. Norden; lat, septentrio.
servage, n. 36. Knechtschaft; mlat. servagiiim, afr. servage. Ch.
sewen, v. 191. 226. sewyngly, part. praes. 263. folgen, von sequi; afr.
sevre, seure. Ch. : sue, sewe.
sikonye, n. 45. Storch; lat. ciconia.
soudyour, n. 35. besoldeter Kriegsmann von solidus (eine Münze);
afr. soudoier, soudeer.
sowd, n. 155. Sold; afr. soudee, nfr. solde; (nicht Krieg, wie Hall, meint).
specyaltee, n. .13. Freundschaft; mlat. specialitas (nicht Seltenheit,
wie Hall, meint).
speliiiike, n. 66. Höhle; lat. spehmca, afr. spelonque.
stank, n. 115. 20'. Teich, von stagnum; afr. estanche, nfr. ^tang.
sukkarke, u. 13'.'.? Halliw. erklärt es durch dainty. Eine ähnliche Bedeu-
tung muss das Wort allerdings a. a. O. haben; vielleicht hängt es mit
succarum zusammen, das k wird jedoch dadurch nicht erklärt.
Superficialtee, n. 183. Oberfläche, von superficies.
symulacre, n. 41. 164: Symulacres ben Ymages made aftre lyknesse of
Men or AVomen, or of the Sonne or of the Mone, or of ony Best, or of
ony kyndely thing: aml Ydoles, is an Ymage made of lewed wille of
man, that man may not fynden among kyndely thinges."
terapre, adj. 240. s. atempree.
tentyfly, adv. 299. aufmerksam; jetzt attentively.
tcrrestre, adj. irdisch; jetzt terrestrial. Ch.
Trachye, n. 16. Thracien.
transmontayne, n. 180. Norden, Nord-Polarstern von transmontana, bei
428 Sir John Maundevylle.
den Römern der Nordwind, weil er a partibus transmontanis weht; fr.
tramontane.
travaylle, travayle, v. 44. 72. arbeiten; 159. 314. v. a. quälen, afr. tra-
veiller, ital. travagliare. Nach Diez Gloss.: p. 353. vom rem. Verb tra-
var = hemmen herzuleiten,
travayle, n. 128. 208. Mühe, Beschwerde,
travers, S. 48. wo der Vogel Phönix beschrieben wird: „Castynge his Taylle
in travers," erklärt Halliw. = streaks , bleibt aber die Etymologie
des Wortes schuldig. In travers ist vielmehr so viel als in transversum,
en oder a travers. Der Vogel Ph. breitet seinen Schweif aus wie ein
Pfau oder Truthahn,
trenchant, adj. 46. 251. 291. schneidend, scharf, von afr. trencher, nfr.
trancher. Ch.
trepassable, adj. 182. durchfahrbar, vom mlat. transpassare.
trompe, n. 86. 114. Trompete; mlat. trumpa; fr. trompe, ital. tromba. Ch.
trouble, adj. 108. 156.305. trüb (vom Wasser) vom lat. turbula = Schwärm.
Urchoune, n. 290. Igel; ital. riccio, pg. ouri9o, afr. eri9on, nfr. herisson
von erinaceus; neuengl. urchin. Ch.: urchon.
use, V. 121: „Thei usen alle Berdes" sie tragen Alle Barte.
Vacrie, n. 18: „The Pope, that is Goddis Vacrie on Erthe. Wahrscheinl.
vom mlat. vacquerius, vacherius = vacearura custos, pastor.
varyaunt, adj. 122. anders denkend, verschiedener Meinung, von
varians. Ch.
veutour, n. 237. Geier; lat. vultur, fr. vautour.
verray, adj. 151. acht, vom mlat. veragus = verax, afr. verai, vrai. Ch.
verre, n. 32. Glas; lat. vitrum, fr. verre. Auf derselben Seite steht das
deutsche glasse. Ch.
viage, n. 4. 130. 306. Reise; lat. viaticum = Reisegeld, afr. veiage,
voiage. Ch.
vif, adj. 48. brennend; lat. vivus.
vowt, n. 124. Gewölbe, von volutus, part. von volvere, fr. voüte, neuengl.
voult.
vynere, n. 216. Weinberg; mlat. vinera, rinearium.
vytaylle, vitaille, n. 34. 58. 240. Lebensmittel; von victualia, afr. vitaille,
neuengl. victuals (spr. vitt'ls). Ch.
vyvere, n. 174. Weiher, Fischteich; lat. viveriura, vivarium, fr. vi vier.
Stettin. Dr. Gesenius.
Leben und Schriften
des
neueren italienischen Dichters Benedetti.
Misero nacqui,
Misero vissi, e misero morii.
Elend ward ich geboren, elend lebt' ich,
Und elend starb ich.*)
I.
Francesco Benedetti ward am 5. Oktober 1785 in Cortona
geboren, und erhielt, obgleich seine Eltern Pasqnale Benedetti und Rosa
Tamburi, deren fünfter Sohn er war, sich als Krämerleute in mittel-
mässigen Umständen befimden, eine gelehrte Erziehung, zuerst in
der Schule seiner Vaterstadt, dann bei einem Pfarrer, und endlich in
einem geistlichen Seminar, wo er bereits im 18. Jahre sein erstes
Trauerspiel, Telegonus , dichtete, und sich Alfieri dabei zum Muster
nahm. Bald darauf bezog er die Hochschule zu Pisa, und wandte
sich dem Studium der Rechte zu, fühlte sich aber doch vorzugsweise
zu den schönen Wissenschaften hingezogen , war desswegen einer der
eifrigsten Zuhörer des bekannten Professors Rosini, und errang in der
Akademie di eraulazione mit drei lyrischen Gedichten drei Jahre nach
einander den ersten Preis , welcher in einer silbernen Schaumünze be-
stand. Um dieselbe Zeit dichtete er eine Satire , „die GuUomanie,"
und im Verein mit zwei Freunden ein Lustspiel, „die Dichterin," die
sich beide nicht erhalten haben. Sacchetti, der diese Nachricht gibt,
*) Diese auf den Dichter selbst sehr anwendbaren Worte, welche in
einem Trauerspiele (Teleplms) desselben vorkommen, hat der Herausgeber
seiner Schriften, Orlandini (Florenz bei Monnier 1858) der Einleitung, die
dem folgenden Umrisse zum Grunde liegt, vorangesetzt.
430 Leben und Schriften
erwähnt dabei, dass der Dichter sich auch als Schauspieler, besonders
in einer weiblichen Rolle eines Lustspiels von Goldoni auf einer Lieb-
haberbühne ausgezeichnet, und davon den Spitznamen „Signora Ro-
saura" in Pisa bekommen habe. Nachdem er den Doktorgrad 1809
erworben hatte, sollte er Sachwalter in Florenz werden; aber statt
Rechtshändel zu führen, verfasste er zunächst ein Klagelied auf den
Tod eines seiner Freunde, die ersten Verse von ihm, welche gedruckt
wurden, und sodann ein zweites Ti'auerspiel „Mithridat," das aber von
der napoleonischen Akademie zu Lucca nicht gekrönt, sondern dem
Trauerspiel „Castruccio" der Dichterin Moschena nachgesetzt wurde.
Diess entmuthigte ihn zwar nicht, wohl aber hatte er von dieser Zeit
an mit zum Theil bitterer Armut fortwährend zu kämpfen. Damals
unterstützte ihn jedoch seine Vaterstadt noch ; als er aber nachher,
weniger seinetwegen, als um seine dürftigen Eltern und nächsten Ver-
wandten zu unterstützen, sich um Aemter bewarb, begünstigte ihn das
Schicksal nicht, so dass er fast gezwungen war, seine Zuflucht wieder
zur Dicihtkunst zu nehmen. 1811 dichtete er eine neue Tragödie,
„üejanira," bei welcher er einen neuen Weg einschlug, indem er den
fünffüssigen reimlosen Jambus mit längeren und kürzeren gereimten
Versen vertauschte, einen Chor im zweiten Akt einmischte, und das
Trauerspiel so, doch ohne besondern Erfolg und ohne einen neuen
Versuch dieser Art zu machen, der Oper annäherte. Zu den Leiden
der Armut und des Misslingens seiner dichterischen Bestrebungen nach
Beifall und Ruhm kam um diese Zeit noch ein andres, das fast seinen
Tod heibeiführte. Die Veranlassung dazu gab eine Liebschaft mit
einem Mädchen in Cortona, dessen Gunst er mit zwei Nebenbulern
theilen musste, von denen der eine durch den andern gegen ßengdetti
aufgehetzt, diesen bei Nacht überfiel, um ihn aus dem Wege zu räumen.
Der Stoss brach sich an den Knochen des Arms ; er hatte aber an
der Heilung der Wunde längere Zeit zu leiden. Bei der gerichtlichen
Untersuchung, welche dieser Vorfall nach sich zog, wurde er sich einer
bis dahin noch nicht entwickelten Fähigkeit bewusst, indem er sich
als sein eigener Sachwalter mit grosser Geschicklichkeit und Beredsam-
keit vertheidigte. Auch machte er seine Lebensgefahr zum Gegenstand
einer Ode, und schilderte in einer Elegie auf den Tod eines Freundes
seinen eigenen betrübten leiblichen und geistigen Zustand. Dann
folgten ein paar Oden auf den König von Neapel, Joachim Mürat, und
auf Italien, in welcher letzleren er seine Begeisterung für das Vater-
des Dichters Benedetti. 431
land ausströmte. In der Hoffnung aber, durch die erstere seine äussere
Lage zu verbessern und namentlich von Mürat nach Neapel eingeladen
zu werden, täuschte er sich. Von seinem Lehrer Rosini glaubte er
sich in dieser Zeit kalt bohandelt, ein Reisevorhaben mit dem drama-
tischen Improvisator Sgricci nach der Lombardei kam nicht zu Stande,
eine Professur an der Akademie der schönen Künste in Florenz , um
die er sich bewarb, ward ihm nicht ertheilt, und eben so wenig eine
Sekretärstelle bei der Gesandtschaft. An prosaischen wie dichterischen
Erzeugnissen liess er es dennoch nicht fehlen. Zu den ersteren gehört
eine auf den Kongress zu Aachen im Jahr 1818 sich beziehende Rede,
welche durch einen seiner Freunde in Edinburg gedruckt erschien, und
zu den letzteren eine Ode abermals auf Italien ; von der er in einem
Briefe schreibt: „Diese Ode liebe ich vor meinen übrigen Gedichten.
Ich habe darin die dummen Sklaven (stupidi schiavi) geschüttelt.
Möchten meine Verse dem Vaterlande frommen, ich brächte ihm gern
mein Leben zum Opfer, und vielleicht ist der Tag nicht fern." Man
ahnt leicht , wie eine solche vaterländische Gesinnung und deren un-
verholene Aeusserung ihm bei vielen Hochstehenden und Gönnern nicht
förderlich war; ja er konnte bisweilen die dringendsten Bedürfnisse
kaum befriedigen. Selbst bei kleinen Gunstbezeigungen war das Schicksal
spröde und qnälerlsch gegen ihn. So erzählt er in einem Briefe, dass
er einem östreichischen Gesandten Unterricht in der italienischen Sprache
und Literatur ertheilt habe, und schliesst die Nachricht mit den Worten:
„Der Deutsche (il Teutono) schenkte mir Weihnachten einen Ruspone
(etwa einen Ducaten) zum Frühstück, aber zum Mittag- und Abend-
essen habe ich noch nichts." Und in einem folgenden Briefe fügt er
hinzu: „Bezahlt hat mich der Deutsche noch nicht." Wenn er auf
diese Weise kaum sein Leben fristete, und noch weniger, wie er es
wünschte und häufig in seinen Briefen äussert, seine Eltern und Ge-
schwister unterstützen konnte, so hinderte ihn diess doch nicht, auf
seiner dichterischen Laufbahn fortzuschreiten und sich hauptsächlich
dem Trauerspiele zu widmen. Zu diesem glaubte er sich berufen und
sähe seine Leistungen in diesen bisweilen glänzend anerkannt. Sein
„Drusus" war im Jahr 1815 mit grossem Beifall aufgenommen und
wurde mehrmals wiederholt. Er schreibt darüber: „Der Abend des
24. Januars war der schönste meines Lebens. An diesem wie bei der
Wiederholung hatte mein Drusus den glücklichsten Erfolg. Wenn es
dem elenden Menschengeschöpf erlaubt wäre, stolz zu sein , so würde
482 Leben und Schriften
ich es sein können; aber dieser allgemeine, und von einer der gebil-
detsten Zuhörerschaften in Italien mir gespendete Beifall verpflichtet
mich zu immer angestrengterem Eifer." Er ergeht sich hierauf in den
heitersten Hoffnungen für die Zukunft. „Aber der Leser möge wissen, —
setzt sein Lebensbeschreiber hinzu, — dass er an jenem so gliicklichen
Tage hätte verhungern, oder sich damit begnügen müssen, die Blatter
seines tragischen Lorbeers zu kauen, wenn sich nicht ein mitleidiger
Freund seiner angenommen, und das eigene, wenngleich auch karg-
liche Mahl mit ihm getheilt hätte." Am folgenden Morgen erschien
freilich der Schauspielunternehmer, und bat ihn, für die Erlaubniss, die
Vorstellung zu wiederholen , fünf Zechinen anzunehmen , worauf Be-
nedetti einem grade anwesenden Freunde zurief: „Gott sei gelobt!
Schaue, das ist das erste Brot, das mir die Musen geben!" Mit Rück-
sicht auf diese Tragödie empfal ihn auch der erwähnte östreichische
Gesandte zu einer Anstellung oder zu einem Jahrgehalte. Aber die
Angelegenheit verzögerte sich und gerieth in der damals stürmischen
Zeit, besonders durch die Rückkehr Napoleons von Elba nach Paris,
in Vergessenheit. Benedetti dichtete auf dieses Ereigniss eine sapphische
Ode und ein Sonett, und strömt auch in Briefen seine neuen vater-
ländischen Hoffnungen und Besorgnisse aus. Er schreibt am 30. März
jenes Jahres: „Europa ist nie in einer gewaltsameren Lage gewesen,
und Italien hat nie grössere Hoffnungen nähren dürfen als jetzt. In
Kurzem wei'den wir Italien vereinigt sehen , oder niemals, unser
Schicksal scheint von den Sonderabsichten zweier oder dreier Aus-
länder abzuhängen. "Wenn es nur Einer sein sollte, dessen Eigen wohl,
denn die Könige kennen kein anderes, mit dem öffentlichen Wohl Ita-
liens übereinstimmte, so wird Italien eins werden; wenn nicht, so kehren
wir in die alte Schmach zurück. Die Versammlung der Hirten hatte
jauchzend uns sämmtlichen Heerden verhängniss volle Schlafsucht zu-
geschworen; aber aus seiner Hole herausgebrochen ist das grosse Wild,
und hat die ruchlose Versammlung zerstreut. Eine italienische Vesper
gegen alle Fremde und Könige müsste unser heiliges Geschäft sein ;
aber man muss das kleinere Uebel wählen. Alle Hoffnung beruht auf
einem Fremden, der Hunderttausende der Unsern in seiner Gewr.lt
hat. Gebe der Himmel , dass er sie nicht täusche ! Es ist Zeit, das
Schwert mit der Feder zu verbinden. Ich glaube , dass ich werde ge-
sucht werden. Aeschylus brachte die Niederlage der Perser auf die Bühne,
und war in den Gefilden von Marathon nicht weniger gross als auf der
des Dichters Benedetti. 433
attischen Bühne. Ich murre und verzehre mich. Ich hätte andre Rache zu
üben, aher die öffentliche liegt mir am Herzen." Benedetti's Aussichten
verdunkelten sich bald, zunächst durch Mürats Untergang, und bald
darauf musste er alle Hoffnungen aufgeben, und froh sein, den neuen
östreichischen Gesandten wie den früheren mit Vorlesungen zu be-
dienen. Er drückt sich über diesen folgendermassen aus: „Man sagt,
er sei freigebig. Rara avis in teriis (teutoniois) nigroque simillima
cygno. Wenn er so ist wie der andre, so habe ich Grosses zu hoffen.
Fürsprache und einen R'ispone. Ich habe in diesen Tagen einige
Verse gemacht. Sulatia victis." So wandte er sich denn wieder der
geliebten tragischen Dichtkunst zu und schuf ein neues Trauerspiel,
„die Verschwörung Mailands" (la Congiura di Milano) , von dem er
sagt: „Die Missgeschicke Italiens sind immer gross gewesen, aber die
Zwingherren klein. Letztere zur Würde des Kothurns zu erheben,
heisst daher, sich um sie verdient machen. Dieses Trauerspiel hat
dazu gedient, mir das Uebermaass von Galle aus der Brust und den
Augen zu vertreiben. Der Auftritt im vierten Aufzuge, wo sich die
Verschwornen im Hause Olgiato's Nachts an einem unterirdischen
Orte versammeln, muss meiner Meinung nach auch den kältesten Zu-
schauer in Flammen setzen. Aber — wann wird das Trauerspiel auf-
geführt werden und wo?" — »t)ie Verschwörung Mailands" wird
übrigens für eine seiner gelungensten dramatischen Werke gehalten.
Ob es jemals aufgeführt wurde, ist mir nicht bekannt. Dagegen kam
sein früher gedichteter „Mithridat" jetzt auf die Bühne, und wurde
zwei boshaften Schauspielern zum Trotz beifällig aufgenommen. Seine
äussere Lage wurde dadurch dennoch nicht verbessert, er mu.sste sein
Leben durch Stundengeben fristen, er bittet in einem Briefe einen Freund,
es nicht übel zu nehmen, dass er den Brief nicht frei mache, da er
keinen Dreier (soldo) habe. Für die Herausgabe seiner Schriften
empfing er nicht nur keinen Ehrensold, sondern musste meistens den
Druck aus seiner Tasche bezahlen. Er lebte aber nicht bloss für seinen
eigenen Ruhm , sondern sorgte auch für das rühmliche Andenken von
Vorgängern. Auf sein Anstiften wurde der Geburtstag des Torquato
Tasse 1816 von Gelehrten und Künstlern gefeiert, wobei es, wie vor
einigen Jahrzehenden bei uns auf der Wartburg, nicht ohne ein Auto-
dafe abging. Er erzählt davon , dass er ein Sonett und einen Lebens-
abriss des Dichters vorgelesen und damit seine Zuhörer wie sich selbst
abwechselnd zu Thränen gerührt und zum Zorn entflammt habe, dass
Archiv f. n. Sprachen. XXVII. 28
434 Leben und Schriften
von Andern aus dem befreiten Jerusalem und dem Amintas, aber auch
Stellen aus den Schriften von Dichtern und Gelehrten, welche der Ge-
sellschaft verhasst waren, vorgelesen und die Namen der letzteren dem
Feuer übergeben wurden. „Welch eine Verwegenheit, — ruft er aus,
— den Namen Cesarotti's zu verbrennen!" Den Lebensabriss liess
er auch in einer von ihm gegründeten Zeitschrift der Literatur und
schönen Künste, sowie einen Aufsatz über die italienische Bühne ab-
diucken, mit welchem letzteren er aufs Neue Anstoss gab, weil er
darin die Trauerspiele Alfieri's einer scharfen Beurtheilung unterwarf.
Aber er wehrte sich tüchtig gegen die Angriffe, die man auf ihn machte,
und selbst häusliche Verdriesslichkeiten, ja nicht bloss Mangel, .«ondern
auch Kränklichkeit und Krankheit, sowie abermalige missfällige Auf-
nahme seiner früheren oder neuen Trauerspiele, z B. des „Tamerlan,"
hemmten seine schriftstellerische Thatigkeit nicht. Unter seinen da-
maligen Unternehmungen zeichnete sich eine aus, nämlich, nach Art
des Plutarch , das Leben berühmter Italiener zu beschreiben und sie
mit alten Griechen und Römern zu vergleichen. Er hatte sechzehn
dazu ausgewählt, aber er vollendete nur zwei dieser Lebensbeschrei-
bungen, des Nicolo Capponi und des Cola di Rienzi, welcher letztere
auch der Held seines letzten Trauerspiels wurde. Zu gleicher Zeit
sammelte er seine lyrischen Gedichte, um sie herauszugeben, und da
ihm die Censur in seiner Heimat Schwierigkeiten machte, reiste er nach
Mailand, wo er von Trivulzio und besonders von Monti ehi'envoll und
freundschaftlich aufgenommen wurde , und die Sammlung im Druck
erschien. Von seinen letzten Trauerspielen machte die „Pelopea" am
meisten Glück , obgleich ihm Zufall oder missgünstige Schauspieler
dabei einen bösen Streich spielten. Er erzählt diess folgendermassen :
„Als der Vorhang aufgezogen wurde, fiel eine Stange mit Lampen auf
die Bühne. Pelopea und Ismene traten zugleich mit dem Lampen-
diener auf und die sämmtHche Zuhörerschaft war im Begriff, in Ge-
lächter auszubrechen , aber aus Achtung vor der beliebten Schauspie-
lerin Perotti blieb Alles ruhig, und der Beifall war am Ende so gross,
dass selbst meine Feinde einstimmen mussten. In Frankreich, in
England, ja sogar bei den Baibaren hätte mich diese Darstellung zum
reichen Manne gemacht, aber nicht so im schönen Italien." 1820
wollte er auf Einladung eines Gönners Rom besuchen , aber Krankheit
hielt ihn zurück. In seiner Vaterstadt gewann er sich damals die
Freundschaft einer trefflichen Malerin, Elisabeth Castellani, welche
des Dichters Benedetti. 435
ihn malte; und dieses Bildniss ist bei der Familie Castellani in Cor-
tona noch vorhanden. In diesem Jahre aber fingen in Folge des Auf-
standes in Neapel und des Kongresses zu Laibach die polizeilichen
Nachforschungen an. Das gerichtliche Verfahren gegen einen ver-
trauten Freund Benedetti's lief zwar unschädlich ab, indess er selbst
wurde des Karbonarismus verdächtig, und er beschloss seiner Sicher-
heit wegen Italien zu verlassen und nach England zu gehen, wurde
aber, da er dieses Vorhaben nicht ausi'ühren konnte, unschlüssig, wohin
er sich wenden solle. Fassung und Mut verliessen ihn. .Er irrte
flüchtig umher und kam eines Abends im April 1821 nach Pistoja.
Hier hörte er, dass die Kaibonari's in Flon^nz in das Gefängniss zu
Volterra gebracht werden sollten. Auf diese Nachricht begab er sich
in sein Zimmer und schloss sich ein. Aber es war Essenszeit und die
Wiithin bat ihn, zu Tische zu kommen. Er antwortete, dass er kommen
werde. Nicht lange jedoch nachdem sie sich entfernt hatte, hörten die
Tischgenossen den Knall eines Feuergewehrs. Man forschte sotrlf^ich
nach und fand ihn am Fuss des Bettes niedergestreckt, blutig und todt.
Die Kugel hatte die rechte Schläfe durchbohrt. Die barmherzigen
Brüder in Pistoja übernahmen die Beerdigung.
Sein Lebensbeschreiber schliesst mit einigen Bemerkungen über
ihn als Menschen. Benedetti war von mittlerem Wuchs und eher
beleibt als hager, hatte schwarzes Haar und kleine, aber lebhafte Augen,
frische Gesichtsfarbe, und ein ernstes Wesen, das sich auch in seinem
Gange zeigte. Auch liebte er die Einsamkeit. Von Natur heftig,
ungeduldig und aufbrausend, war er doch leicht zu besänftigen. Lei-
denschaftlicher Liebe scheint er nicht ergeben gewesen zu sein, und
der erzählte Vorfall daher nur eine Ausnahme zu machen. Dagegen
war er ein warmer und treuer Freund, und, so sehr er alles Geschwätz
vermied und verabscheute, so gern und eifi-ig unterhielt er sich über
wichtige Gegenstände, und pflegte sich dabei wol wie ein Schauspieler
zu geberden. Ueber Alles liebte er das Vaterland, ''Inid endete in der
Blüte des Lebens im 36. Jahre aus vaterländischer Schwermut und
Verzweiflung. Er ist in dieser, sowie in künstlerischer Hinsicht mit
unserm Heinrich von Kleist zu vergleichen. Wie dieser hätte er bei
längerem Leben noch viel leisten können und wahrscheinlich noch
trefflichere Werke hervorgebracht. Wenn er zuerst zu seinen Trauer-
spielen nur Stoffe aus dem griechischen und römischen Alterthum
wählte, so wandte er sich späterhin auch der neueren Zeit, und in
4S6 Leben und Schriften
„Cola di'Rienzi" dem letzten Bühnenwerk, das er acht Tage vor seinem
Tode beendete, der vaterländischen Geschichte zu.
Wenn er also auch die Stufe der Vollkommenheit nicht erreichte,
welche bei einem längeren Leben ihm zu erreichen möglich gewesen
sein würde, so gehört er doch zu den besseren italienischen Bühnen-
dichtern, und darf die Vergleichung selbst mit Alfieri nicht scheuen.
Es ist desswegen, zumal da er bis jetzt, wenigstens ausserhalb Italien,
fast unbekannt geblieben ist, wohl an der Zeit, ihn, besonders hin-
sichtlich seiner Trauerspiele, näher zu würdigen, und wenigstens bei
einem derselben länger zu verweilen. Ich wähle dazu „die Verschwö-
rung Mailands" (la Congiura di Milano) , behalte aber diese Unter-
suchung einem besonderen Aufsatze vor.
II.
Unter den Schriften Benedetti's, welche Orlandini in seine Samm-
lung aufgenommen hat, befindet sich eine kleine Anzahl von pro-
saischen, beurtheilenden , rednerischen und geschichtlichen, die, wenn
sie gleich den dichterischen an Werth nachstehen , doch schon dess-
wegen Erwähnung verdienen, weil sich in ihnen die Wehmut über
das Schicksal des Vaterlandes, über den Zustand der neuern italienischen
Dichtkunst, zumal der Bühne, lebhaft ausspricht. Am wenigsten tritt
diese in den beiden Lebensbeschreibungen hervor , mit welchen er sein
wiewohl ebenfalls ganz vaterländisches Werk begann, das sechzehn be-
deutende Landsleute darstellen sollte. Sie betreffen den Nicolo Capponi,
und den bekannteren römischen Volkstribun Cola de Rienzo, und er
zeigt dabei eine nicht gewöhnliche Anlage für die Geschicht-
schreibung, indem er den ersteren mit dem Aristides und dem
älteren Cato, den letzteren mit mehreren älteren und neueren be-
rühmten Männern vergleicht. Die Schreibart ist einfach und klar,
ohne trocken zu sein. Eher streift sie bisweilen in's Rednerische hin-
über , wozu er vorzugsweise ausgerüstet war. Zwei Schriften dieser
Art nennt er selbst Reden ; die eine derselben zum Andenken Tor-
quato Tasso's an dessen Geburtstag, die andre an den heiligen Bund
bei Gelegenheit des Aachner Kongresses gehalten. Die dritte ist eine
Abhandlung über die italienische Beredsamkeit, und nicht ohne Eigen-
thiimlichkeit. Er tröstet darin den künftigen Gesolu'chtschreiber der
des Dichters Benedetti. 437
neuern Zeit, und redet ihn so an: „0 du, der du zu so Grossem be-
rufen bist, verzage nicht, wenn du vielleicht den öffentlichen Verhand-
lungen fern stehst! Freue dich dessen vielmehr! Du wirst dann un-
parteiischer sein. Denke an den grossen Ausspruch eines grossen
Staatsmannes : Um die Fürsten richtig zu beurtheilen, muss man ein
Mann des Volkes sein. — Allerdings nahmen Xenophon und Andre
Theil an dem, was sie erzählen, aber bei Herodot und Livius war diess
nicht der Fall. Wenn das Glück, das hohe Geistesgaben selten be-
günstigt, es dir versagt, im Rathe zu sitzen oder die Waffen zu führen,
so lass dich das nicht abhalten, Geschichtschreiber zu werden. Frage,
forsche, betrachte, sammle, erwäge und schreib. Ich will dir nicht die
Vorschriften wiederholen, von denen die Bücher der Lehrer der Be-
redsamkeit voll sind ; ich will dir nicht sagen, wie man sich vor der
herrschenden Befleckung sichert; denn wenn du deines Amtes würdig
bist, so wird dich das Beispiel der wenigen Edlen , die dir auf deiner
Laufbahn vorangegangen sind, nicht ermatten lassen. Zu einem solchen
Werke ladet dich der Griffel Macchiavelli's, das Vaterland des Tacitus
und Livius. Ein solches Werk ist der Seufzer meiner Jugend ! Möchten
meine Augen , noch ehe sie sich schliessen , es erblicken , das würdige
Werk eines Heimatgenossen, eines italischen Mannes, damit unser Va-
terland den Herrscherstab der Wissenschaft fest halte, den es trotz seiner
Missgeschicke, trotz des Neides der Ausländer, trotz seines Alters noch
immer ohne Widerspruch zu behaupten gewusst hat."
Wenn Benedetti in diesen letzten Worten eine eitle Parteilichkeit
für sein Vaterland, die mit dem Tadel, den er so häufig ausspricht, in
Widerspruch steht, und zugleich völlige Unbekannfschaft mit den gei-
stigen Fortschritten des übrigen Europa verräth, so fallen diese Mängel,
sowie Unreife und Einseitigkeit des Urtheils noch mehr in seinen
kunstiichterlichen Schriften auf, die ich bei Gelegenheit der dichterischen
näher zu bezeichnen Veranlassung habe« werde.
Benedetti's Dichtungen hat der Herausgeber in lyrische und dra-
matische getheilt, epische fehlen ganz, und die ersteren bestehen aus
mehreren Oden, drei Elegieen und einer Canzone, denen einige Sonette
und Epigramme beigefügt sind. Der Inhalt ist durchaus ernst, strenge,
klagend und tadelnd, mit Ausnahme eines einzigen Sonetts „die Sen-
dung des Kusses," das durch seine Zartheit an die lateinischen Küsse
(basia) des Johannes Secundus erinnert.
438 Leben und Schriften
Du schönster in dem Amorettenkreis,
Anmutig, lauter, artig, doch verschlagen,
Nimm diesen meinen Kiiss, um ihn zu tragen
Zu ihr, die aller Fraueji Ehr' und Preis.
Bewahr' ihn, dass er bleibe sanft und heiss!
Mit meines Lippendnickes Wohlbehagen
Ihn ihrem Mund aufdrückend musst du sagen:
„Ich bring' ihn auf des Liebenden Geheiss."
Geh, schleich geheim dich hin und triff auf Keinen!
Vielleicht schon legte sie zu Ruh sich nieder,
Und thaute Schlaf auf ihre Augenlieder.
Geh ! Hab' ich nichts zu hoffen, doch verzieh
Bei ihr, und kehre nicht hieher, bis sie
Zurückgibt ihren Kuss, wenn nicht, doch meinen!
Den Oden ist eine Bemerkung vorangesetzt, worin der Dichter
sagt, dass bei dem Wechsel der Geschicke Europa's und insbesondre
Italiens in seinen Dichtungen ihn stets Vaterlandsliebe geleitet habe;
statt ehrlos und träge zu schweigen, sei er dem Beispiel der freisinnigen
Altvordern, eines Juvenal und Dante gefolgt. In diesen Oden waltet
eine ungemeine Begeisterung. Man höre nur den Anfang gleich der
ersten „auf die Geburt des Sohns Napoleon I."
Ich bin in eurer Haft,
Ihr Musen, und weit über Meer' und Lande
Fühl' ich mich neu entrafft
Zu der Sequana kriegerischem Strande.
Psalm, Hymne wallt mit Jauchzen dort empor,
Betäubend fast mein Ohr.
Gelübde hör' ich, Anruf und Gebet
Sich zur Lucina in die Wolken schwingen.
Auch meine Saiten klingen,
Von eurem Hauch, ihr Musen, angeweht.
Nicht wehr' ich eurem Drang,
Und es ertönt mein feiernder Gesang.
Einige dieser Oden gehören zu den schönsten, welche Italien her-
vor<yebracht hat, und stehen denen von Monti und Petrarca nicht nach ;
eine der an Italien gerichteten erinnert z. B. an die erste von Leo-
pardi, welche in meiner Uebersetzung anfängt:
Mein Vaterland, ich seh die Mauern, sehe
Die Säulen, Bogen, Thürme, die zuvor
des Dichters Benedetti. 439
Der Ahnen Eij^enthum,
Nur seh' ich nicht den Ruhm,
Den Lorbeer seh' ich nicht, den Stahl, der ehe
Die Viiter schmückte!
Benedelti's erste und letzte Strophe seiner an Italien wahrschein-
lich 1814 gedichteten Ode, als Mürat Italien unter seinem Scepter zu
vereinigen suchte, lauten nicht minder lebhaft :
Was thust, was sinnst du, Welschland ? Mächtiglich
Ruft Mars, dich einzuladen,
Von fernesten Gestaden.
Hörst du es nicht? Erwach', erhebe dich!
Was einst den Aencaden
Mit dunklem Spruch enthüllt
Die Seherin von Cumä, wird erfüllt.
Von Alpenhöhn bis wo die Scylla bellt,
Tyrrhenums, Adria's Fluten,
Mitinnen wird gern bluten
Jetzt jeder Heimatsuhn als Freiheitsheld.
Entbrannt von Zornes Gluten
Nenn' ich, Glück^herold bin
Auch ich, Italien, dich Siegerin.
Kurz vor seinem Tode betrat er eine neue lyrische Laufbahn mit
einer biblischen Ode, in welcher er, gleich Klopstock in vielen seiner
Oden, der griechischrömischen Mythologie entsagte. Ein Bruchstück
derselben ist nach seinem Tode aufgefunden, der Herausgeber theilt es
aber nicht mit.
Ich komme zu seinen Hauptdichtungen , den Trauerspielen , deren
er zwischen 1802 und 21, also in noch nicht zwanzig Jahren, dreizehn
verfasst, und den Stoff dazu für die meisten früheren, Telegonus , De-
janira, Timocares, die Eleusinien, Pelopea , Telephus, Mithridates und
Drusus aus der griechischrömischen Mythe und der römischen Geschichte,
für die übrigen, Gismonda, Tamerlan, Richard III., die Verschwörung
in Mailand und Cola de Rienzo aus der neueren, besonders italienischen
Geschichte entnommen hat.
Um bei der Beurtheilung derselben unparteiisch zu sein, muss
man auf seine kunstrichterlichen und kunstgeschichtlichen Aufsätze
über die italienische Bühne und die Noth wendigkeit einer Volksbühne,
440 Leben und Schriften
und auf seine Briefe an den Grafen Galeani Napione Rücksicht nehmen.
In diesen lässt er sich besonders über Alfieri's Trauerspiele aus , und
trifft so ziemlich mit dem Unheil deutscher Kunstrichter, z. B. A. W.
Schlegel'ö zusammen , der Alfieri's Muse eine mannweibliche Amazone
nennt, und ihm Düsterheit, Mangel an Einbildungskraft und Trocken-
heit des Ausdrucks vorwirft. Wenn er nun aber auch die Fehler seines
Landsmannes vermied , so konnte er sich schon desswegen zu einer
richtigeren Ansicht nicht erheben, weil er die deutsche Bühne fast gar
nicht (von Schiller erwähnt er den Don Carlos nur obenhin), und die
englische zwar etwas mehr kannte, aber vor Shakspeare warnt, und fast
mit Entsetzen von ihm spricht. So heisst es in einer der erwähnten
Abhandlungen: „O über die Mitleidswiirdigen, welche den Shakspeare
nachahmen, der in einer seiner Tragödien 38 Personen gebraucht, und
die Tribunen mit Handwerkern, Tischlern und Schustern sprechen lässt !
Die Handlung ist doppelt und dreifach, die Bühnenstücke sind übermässig
lang, manche einzelne so lang wie drei von den unsern; Prosa und
Verse, Lachen und Weinen, Schatten, Furien und Hexen bilden einen
Mischmasch der wunderlichsten und unverträglichsten Dinge. Solche
Leckerbissen mögen den Engländern , den Deutschen und sämmtlichen
mittei-nächtlichen Völkern munden! Wir Italiener haben einen zar-
teren Geschmack, wir lieben das Edle und Schöne." So geht es noch
eine Weile fort, und der Herausgeber, nebenbei gesagt, missbilligt diess
nicht nur nicht, sondern drückt sich in einer Anmerkung über den
Hamlet und den Mohren von Venedig noch stärker aus. Wer freilich
die französische Bühne, namentlich Corneille, Racine und Voltaire, fast
abgöttisch verehrt, kann füglich nicht anders urtheilen. Und eine
solche Bewunderung vereinigt sich, wie bei den Italienern nicht selten,
bei Benedetti mit einer Ueberschätzung des Vaterlandischen, z. B. in
folgenden Worten: „Möchte doch die Zeit kommen, wo unser Vater-
land, das in jedem Zweige der Dichtkunst den übrigen neueren Völkern
überlegen ist, sich auch im Trauerspiele den Franzosen zur Seite stellen
könnte, welche nach meiner Meinung hierin die einzigen Nebenbuler
der Griechen sind." Die Griechen kannte Benedetti allerdings , aber
eben auch nur im französischen Geiste. Unter diesen Umständen muss
man es ihm hoch anrechnen , dass er sich , vielleicht ohne sich dessen
deutlich bewusst zu sein, der deutschen und englischen Bühne in seinem
letzten Stücke annäherte. Im Cola de Rienzo beläuft sich die Zahl
der Personen auf vierzehn , statt dass er sich sonst meistens mit der
des Dichters Benedetti. 441
Hälfte begnügt; dabei spielt das Volk, und zwar nicht bloss im Ganzen,
sondern in Vertretern mit, und von den Verschwornen sind elf, von
den Soldaten gleichfalls einzelne, mit ganzen oder halben Versen be-
dacht. Hiemit war er auf gutem Wege, auch die äussere Handlung zu
bereichern und zu vermannichfachen, denn an der inneren, wie an der
Kennzeichnung der Personen, den Haupteigenschaften aller guten Büh-
nendichtungen, fehlt es seinen meisten Stücken nicht. „Die Verschwö-
rung in Mailand" zeichnet sich dadurch aus, und ich wähle sie dess-
wegen zu einer näheren Beleuchtung. Der Inhalt ist folgender:
Galeazzo, Herzog von Mailand, aus dem Geschlechte der Sforza,
hat die ihm feindlichgesinnte Partei der Visconti unterdrückt. Aber
seine Gemahlin Bona, Tochter des Beherrschers von Savoyen Amadeus,
bringt ihm keinen Erben und er will sich desshalb von ihr trennen,
zumal da er für Klarissa, eine der Hofdamen, in Liebe entbranntest.
Diese ist aber die Braut des Visconti und die Schwester des Olgiato,
und beide, nebst Campognano , die Häupter der Gegenpartei. Gereizt
durch die Beleidigung, die ihnen durch Galeazzo's unverholene Er-
klärung, sich mit Klai'issa vermählen zu wollen, zugefügt ist, ver-
schwöron sie sich, den Gewalthaber zu ermorden, und hoffen, dass das
vielfältig gemisshandelte Volk sich ihnen anschliessen werde. Ihr Vor-
haben gelingt. Galeazzo wird bei der Feier seiner Vermählung mit
Klarissa erdolcht ; aber das Volk unterstützt sie nicht nur nicht, sondern
tritt auf die Seite der Sforza. Es entsteht ein Kampf; die beiden
Häupter der Verschwörung, Visconti und Olgiato, werden getödtet, und
die Herzogin Wittwe übernimmt die Regierung.
Die Handlung ist freilich auch in diesem Stücke sehr einfach,
Hindernisse durch Zwischenfälle sind nicht eingewebt, Personen sind
nur sieben, und die ganze Dichtung einem französischen der sogenannten
goldenen Zeit, oder auch einem griechischen Trauerspiele ähnlich. Aber
es hat manche Fehler derselben vermieden. Statt des euripidei-chen
Prologs und des oder der französischen Vertrauten finden wir zwar
letzteren scheinbar auch hier, aber er dient keinesweges bloss dazu,
die Verhältnisse klar zu machen, sondern es ist, wie alle übrigen Per-
sonen, ein wirklicher Charakter, nämlich ein treuer, aber aufrichtiger
und die Handlungen seines Herrn nicht immer billigender, und zugleich
gegen die Feinde desselben nachsichtiger und milder Diener. Der er.«te
Aufzug ist meisterhaft. Man könnte ihm, wie es manche PVanzo,«en,
z. B. Victor Hugo, gethan haben, eine besondre Ueberschrift, nämlich
442 Leben und Schriften
Galeazzo, geben; denn dieser tritt hier sogleich in seiner ganzen Lei-
denschaftlichkeit und im Bewusstsein seiner Macht und Gewalt auf.
Er setzt Alles daran, seinen Zweck, die Trennung von seiner Gemahlin
und die neue Vermählung, zu erreichen, und diess geschieht in drei
Auftritten. Nachdem er seinen Plan dem Gernando, seinem Diener
und Freunde, mitgetheilt, und dessen Vorstellungen mit dem kurzen
Schlusswort: „Ich will es so," unterbrochen und abgeschnitten hat,
erklärt er sich auch gegen seine Gemahlin , zuerst zwar mit einiger
Schonung, dann aber nicht minder entschieden, und bricht das Ge-
spräch ab mit dem rauhen Worte: „Schweig, nicht mehr!*' Endlich
ist er verwegen genug, sich der Braut seines Feindes als Bewerber um
ihre Hand anzutragen, indem er ihr zugleich zumutet, diesem ihre
Liebe sofort aufzukündigen. Eingeschüchtert thut sie diess im letzten
Auftritte, zwar nur mit halben Worten, aber doch so, dass dieser die
Ursache ahnt, und ausruft:
So, so verlässt sie mich. — Ruchloser Herzog,
Du hast ihr Herz geraubt mir; aber theuer
Sollst du den Schimpf mir zahlen. 0 Klarissa!
Dieser Antrag des Herzogs an Klarissa erinnert übrigens an einen
ganz ähnlichen des Nero an Junia in Racine's Britanniens. Benedetti
benutzte seinen Vorgänger gewiss absichtlich, aber er verliert bei der
Vergleichung nicht. Die Steigerung der Leidenschaftlichkeit in drei
Auftritten ist ihm eigenthüralich.
Im zweiten Aufzug nimmt der Uebermut Galeazzo's noch zu. Er
verlangt nun auch von Visconti, dass er ihm seine Braut abtrete, und
macht ihn dann zum Zeugen eines ebenfalls hierauf bezüglichen Ge-
spräches mit Klarissa's Bruder, Olgiato, in welchem dieser sich mög-
lichst mässigt. Aber es folgen darauf die Verschwörungsauftritte. Die
drei Hauptpersonen , Olgiato , Visconti und Campognano , wozu man
noch als vierte die Herzogin Bona rechnen kann, zeigen hier, wie ihre
Uebereinstimmung, doch eben so sehr die Verschiedenheit ihrer Theil-
nahme an der Verschwörung. Olgiato ist der verwegenste ; Visconti,
obgleich am meisten gekränkt, der bedächtigere, und mit Rücksicht
auf die Gefahr, in welcher die in der herzoglichen Burg gleichsam ge-
fangen gehaltene Klarissa schwebt, der gemässigfere; Campognano ist
des Gewalthabers Feind theils aus allgemeinen Gründen, weil die Rechte
der Bürger mit Füssen getreten werden, theils aus besonderen , 'weil er
des Dichters Benedetti. 443
von Galeazzo seiner väterlichen Güter beraubt ist, und dieser seine
Beschwerde über diese Gewaltthat nicht anhören will; Bona endlich
aus gerechtem Zorn über die beabsichtigte Trennung des Herzogs von
ihr, wiewol sie noch immer hofft, diese rückgängig zu machen, und
daher vor einer Ermordung ihres Gemahls zurückschaudert, ja, im Fall
man darauf beharre, Alles zu entdecken droht. Auch Klarissa bittet,
von dem grausen Vorhaben abzulassen, denkt den Herzog umzustimmen,
und lässt sogar merken, dass sie, um Visconti's Leben zu retten, nach-
geben und sich in ihr Schicksal fügen wolle, welches Letztere die ge-
nannten drei Männer, jeder auf seine Weise, durchaus missbilligen.
Gernando unterbricht das Gespräch und bescheidet Visconti zum
Herzog. Er entschliesst sich, dieser Aufforderung Genüge zu leisten,
obgleich Klarissa für ihn fürchtet. Bona versucht es , die Gemüther
zu beruhigen, indem sie sagt:
Gehorche
Dem Herzog, Campognano, und verlass
Die Knnigsburg! Du komm mit mir, Olgiato !
In meiner Brust steigt ein Gedank' auf, dtn*
So grosse Uebel heilen könnte.
Der dritte Aufzug beginnt mit einem Gespräch zwischen Olgiato
und Visconti, von dem Galeazzo verlangt hat, dass er Klarissa nicht
nur aufgebe, sondern ihr auch zu dem neuen Bunde rathe, und sodann
zwischen diesem, Bona und Klarissa, deren Flucht aus dem herzog-
lichen Pallast Bona veranstaltet hat, so dass sie in die Wohnung ihres
Bruders zurückgekehrt ist. Bona tröstet den Visconti damit, dass er
nach Turin zu ihrem Vater entfliehen, Klarissa mitnehmen, und sich
dort mit ihr vermählen , der Bruder sie aber vorher anmelden »solle.
Visconti will nicht darauf eingehen, weil die Herzogin, allein zurück-
bleibend, der ganzen Wut ihres Gemahls ausgesetzt werde. Ger-
nando bringt denn auch die Nachricht, dass Galeazzo über die Flucht
Klarissa's wie von Sinnen sei, und sie zurückfordere. Bona und Vis-
conti läugnen, dass sie Klarissa's Aufenthalt wissen , die sich vorher
mit Olgiato entfernt hat, um sich in dessen Hause zu verbergen. Ger-
nando geht ab, um dem Herzog diese Weigerung zu melden ; aber
dieser kommt nun selbst, bietet der aufs Neue mit ihrem Vater dro-
henden Bona Trotz und lässt den Visconti gefangen nehmen, wird aber
noch wiithender, als ihm dieser sagt, dass er, Galeazzo, niemals die
Zuneigung Klarissa's sich gewinnen werde.
444 Leben und Schriften
Der vierte Aufzug spielt bei Nacht in einem unterirdischen Ge-
wölbe der Wohnung Olgiato's. Klarissa ist in Angst für Visconti,
und mit Recht. Olgiato's Trost beruhigt sie nicht. Gernando er-
zwingt sich den Einlass und fordert Klarissa im Namen des Herzogs
auf, ihm~zu folgen. Sie entschliesst sich endlich, um Visconti zu retten,
dem Herzog ihre Hand zu reichen, sich aber dann sofort das Leben zu
nehmen. Olgiato gibt dieser Hochherzigkeit nach, obgleich mit höchstem
Widerstreben. — Nun erscheinen die Verschwornen, und der Tod
Galeazzo's wird beschlossen. Wider Erwarten kommt auch Visconti.
Der Herzog hat ihn freigelassen zum Lohn für Klarissa's Entschluss.
Aber sie werden gestört, die Verschwornen müssen sich verbergen;
denn Gernando erscheint abermals , um den Olgiato zum Herzog ab-
zuholen, und dieser verspricht, sich sofort einzustellen , damit seine
Weigerung den Herzog nicht etwa die Verschwörung ahnen lasse.
Der fünfte kürzeste Aufzug enthält zuerst ein etwas längeres
Selbstgespräch Bona's, in welchem diese ihren Argwohn äussert, als
ob Klarissa bei ihrem letzten Schritte nicht frei von Ehrsucht gewesen
sei. Gernando berichtet ihr sodann den Tod ihres Gemahls durch die
Hand zunächst des Olgiato auf dem Wege zu seiner Vermählung, aber
zugleich den Kampf der Parteien und den Sieg der herzoglichen. Kla-
rissa eilt herbei, um Mitleid für die Mörder wie für sich selbst flehend,
bald auch der tödtlich verwundete Visconti. Olgiato stirbt nicht minder,
erhält jedoch vorher von Bona Verzeihung. Die Verschwornen sind
indess völlig besiegt, und das Schauspiel schliesst mit dem allgemeinen
Ruf: „Die Sforza sollen leben!" in welchen nur Klarissa nicht ein-
stimmt.
Statt nun eine Vergleichung dieses Trauerspiels mit andern ähn-
lichen Inhalts , z. B. mit Alfieri's Verschwörung der Pazzi , Schiller's
Fiesco, Shakspeare's Julius Caesar oder auch mit Benedetti's zweitem
Verschwörungsdrama, Cola de Rienzo, anzustellen, begnüge ich mich,
noch einmal zu den Personen zurückzukehren, namentlich zu dem Ga-
leazzo, denn die eigentlichen drei Hauptverschwornen , Olgiato, Vis-
conti und Campognano, sind schon vorher näher bezeichnet. Dieser
verschwindet mit dem Schluss des dritten Aufzugs von der Bühne,
etwa wie Julius Caeser bei Shakspeare , und wol mit Recht. Die lei-
denschaftliche Wut desselben hatte sich in den ersten drei Aufzügen
hinreichend ausgesprochen, im vierten, besonders in den Verschwörungs-
auftritten, spielt er unsichtbar mit , und die Erzählung seines der Ver-
des Dichters Benedetti. 445
mählung kurz vorhergehenden Todes versöhnt gewissermassen mit ihm.
Zunächst verdienen die beiden Frauen noch ein Wort, Klarissa, die bei
aller Zartheit eine Heldin ist , und besonders Bona , eine eigenthüm-
liche Schöpfung des Dichters. Sie liebt den Herzog aufrichtig, aber
sie zürnt, sie kann ihm drohen, als er sie Verstössen will, sie tritt
sogar der Verschwörung bei, aber nur, um ihn zu retten. Als sie seinen
Tod erfährt, ruft sie aus: „O Gott, wohl war er treulos, doch fühl'
ich Mitleid." Sie ergreift sogleich die Zügel der Regierung, und, ob-
gleich sie dem Gernando, der in den Kampf zurückkehrt, Olgiato's und
Visconti's Schonung zur Pflicht macht, sagt sie doch zu Klarissa:
Dein Bruder doch vielleicht lebt noch, und er
Ist einer von den grausen Rädelsführern,
Er ziltr', ich herrsche.
Und bald nachher :
Den Herzog, den lebend'gen, dürft' ich hassen,
Den todten muss ich rächen. —
Worte, die an den berühmten Vers der Antigene bei Sophokles er-
innern :
Mitfeindin war ich nimmer, nur Mitliebende.
Wohl mag man auch es loben, dass die Dichtung im Ganzen eben
so sehr gegen die Zwingherrschaft als gegen die Pöbelherrschaft ge-
richtet ist. Eine Verschwörung ist überhaupt wol niemals zu billigen,
aber sie ist es noch weniger und sie kann nicht gelingen, wenn sie nicht
vom Volke getheilt wird. Und theilt es dieselbe, so „lösen sich alle
Bande frommer Scheu, und alle Laster w^alten frei." Im dritten Aufzug
prophezeit hier Visconti den Ausgang in der Unterredung mit Olgiato:
Aufs Volk verlässt du dich ? Das Avechselt immer
Zorn so wie Lieb', hasst den lebend'gen Wütrich,
Seufzt nach dem todten, bringt den Mörder um.
Ich weiss nicht, durch welch unbekannten Zauber
Das Volk dem Zwingherrn anhängt.
Und bald nachher:
Schon lang' ist in dem Herzen der Lombarden
Der Freiheit alte Feuerglut erloschen.
Sie halten, obgleich stolz, an Tyrannei
Gewöhnt, sie für die wahr' und rechte Staatsform.
446 Leben und Schriften des Dichters Benedetti.
Der Pöbel liebt stets pomphaften Betrug.
Wenn einen Götzen er in Purpur schaut,
Ist er zufiiedon, und ein günst'ger Bück
Lässt alle seine Leiden ihn vergessen. —
eine Schilderung, die Benedetti, wenn er noch lebte, jetzt mit Freude
zurücknehmen wüi-de, — Dagegen führen die Verschworenen eine ge-
waltige Sprache. Man glaubt Shakspeare in folgenden Darstellungen
zu hören:
Welch eine Nacht, Olgiato ' Wiederkehrte
Des ungestalten Chaos wilde Zwietracht.
Die Hemisphär' umkreist den Höllenabgrund
JVlit Regen, Wind und Wirbel und Geschossen.
Ein hohles Krachen, wildes Thiergeschrei,
Schweifende Schemen, grause Ungeheuer! —
Es wirren Krieger sich und Elemente,
Ein wahres Abbild unserer Gedanken,
An Blut und Dunkel sind sie ihnen gleich.
Oder:
Schreckliche Hungersnoth herrscht in der Stadt.
Die Felder sind beraubt der Ackerleute,
Kraltlos sinkt Mancher auf dei- Strasse nieder,
Ein jammervoller Häuf' umringt vergebens
Die Königsbufg, indess bei vollen Tischen
Sardannpal frohlockend schwelgt und tanzt.
Des Volkes Wehgeschick verhöhnt, und gütig
Die gieren Rachen mit dem Schwerte stopft. —
Wir haben keine Wohnung, die uns aufnimmt,
Nicht Raum zum Grabe, selbst der Luft
Wird nachgestellt. Olgiato, enden muss
So grosses Weh. Zu sterben ist viel besser
Als solch ein Leben führen, darf man es
Noch Leben nennen. Lasst uns denn ein Zeichen
Von Menschen geben, und nicht länger uns
Wie nackte Würmer mit den Füssen treten!
Benedetti's Verschwörung in Mailand gehört unstreitig zu seinen
besten Bühnendichtungen; aber sie ist auch in Vergleich mit den
Werken Anderer aller Beachtung werth, und verdient, dass eine deutsche
Bühne sie der Aufführung würdigt. Sie würden keine rauschenden
Beifall finden, aber ehrende Anerkennung, ein succes d'estime, ihr ohne
Zweifel zu Theil werden.
K. L. Kannegiesser.
Sitzungen der Berliner Gesellschaft
für das Studium der neueren Sprachen.
35. Sitzung. 13. März 1860. — Herr Lassen sprach über
Wilhelm von Humboldt's ästhetische Anschauungen, indem er dabei
dessen Abhandlung über Hermann und Dorothea zu Grunde legte.
Er wies nach , wie seine Auffassungswei-'e der Kunst und ihrer Gat-
tungen die Kehrseite zu derjenigen Schillers bildete, wie bei Je>iem
Alles subjectiv gefasst, in die Stimmung, die Gemüthslage, den Zu-
stand der Phantasie gelegt sei, aus dem das Kunstwerk einerseits ent-
stehe, den es androrseits hervorrufe. Es wurden dann die beiden
Hanpttheile dpr Abhandlung in Betracht gezogen und zunächst Hum-
boldt's Definition der Kunst und ihrer allgemeinsten Bestimmungen,
sodann seine Anschauungen vom Wesen der Poesie und vom Unter-
schiede ihrer Galtungen dargelegt. Es ward dann gezeigt, wie aus
diesen Prinzipien in sinniger Weise eine Kritik des Goethe' sehen Ge-
dichts sich ergebe, das Humboldt mit Recht zu den ^vollendetsten
Dichtungen aller Zeiten zähle. —
Nächstdem hielt Herr Boltz einen Vortrag über den russischen
Dichter Lomonössoff. In der Einleitung wurden die Bemühungen
Peter's des Grossen um die Hebung der Nationalsprache und die ihm
in diesem Streben entgegentretenden Schwierigkeiten geschildert, Schwie-
rigkeiten, mit denen auch L. später zu kämpfen hatte. Darauf wurde
in novellistisch -humoristischer Form eine Beschreibung des bewegten
Lebens des Dichters gegeben , wie er als Jüngling das Haus seines
Vaters, eines wohlhabenden Fischers im hohen Norden, ohne Mittel
verlässt , um in Moskau seinen Wissensdurst zu befiiedigen, wie er
dann von dort, wo ihn ein günstiger Zufall gleich am ersten Tage Ge-
legenheit zur Ausbildung seiner Talente finden Hess, im Jahre 1737
auf Kosten der Regierung nach Mai biirg geschickt wird, um dort weiter
zu Studiren, und wie er sich die Siiten eines damaligen deutschen Stu-
denten, tinter andern die, viel Bier zu trinken, aneignet. Von hier
aus sendet er der Akademie eine russische Ode mit einer jetzt noch
448 Sitzungen der Berliner Gesellschaft
massgebenden russischen Abhandlang über Metrik nach Petersburg.
In Marburg verheirathet er sich aus einem gewissen Grunde in aller
Schnelle mit Clirii^tine, der Tochter eines Schneiders, seines Wirthes.
Drückende Geldnoth zwingt ihn zur Flucht. Auf derselben nöthigen
ihm preussische Werber das Handgeld auf und schleppen ihn nach
Wesel. Er entspringt und flüchtet nach Amsterdam, von wo ihn der
russische Gesandte nach Peter.^burg ziirückbefördert. Hier wird er zu-
erst Adjiinct der Akademie, alsdann Professor. Er lasst nun seine
Frau nachkommen. Fortwährend hat er mit dem Schlendrian der
Akndemie, den Intriguen seiner CoUegen und mit Geldmangel zu
kämpfen. Erst unter Katharina, die ihm ihre Gunst zuwendet, erfreut
er sich sorgenloser Tage und lebt von nun an still und eingezogen bis
zu seinem Ende. Es schloss der Vortrag mit einer Aufzählung seiner
überaus zahlreichen dichterischen und wissenschaftlichen Schriften. Die
letztern beziehen sich auf Grammatik , Rhetorik, Geschichte, Chrono-
logie, Chemie, Metallurgie, Mathematik, Astronomie u. s. w. Diese so-
wohl , wie seine poetischen Werke und Uebersetzungen in einer Zeit,
wo für russische Spraclie kaum etwas geschehen war, berechtigen ihn,
schloss der Vortragende, zu dem Beinamen eines Lessing, ja eines
Humboldt der russischen Literatur.
Herr Beauvais gibt eine Notiz über die Mangelhaftigkeit des
französischen Kirchengesangs und Kirchenliedes. Er erwähnt, dass
die französisch- reformirte Kirche in Berlin sich für ihr Gesangbuch:
Recueil de Psaumes et de Cantiques k Tusage de l'Eglise fran9aise re-
fugiee de Berlin an die katholischen Dichter Frankreich's hat halten
müssen, da protestantische Dichter entsprechender Lieder gar nicht vor-
handen sind, und dass Canlique 69 dieser Sammlung: Tolerance des
erreurs, beginnend :
Fuis les emportements d'un zele atrabilaire, '
Voltaire zum Verfasser hat.
Zweitens macht derselbe auf Guizot's französische Synonyme in
der neuen Ausgabe von Victor Figarot und ein andres Buch über die-
selben von Lafaye aufmerksam.
Herr Michaelis überreichte ein Exemplar seiner: Drei Vorle-
sungen über das th, gehalten in dieser Gesellschaft.
36. Sitzung. 27. März. Herr Kanq^egiesser liest Fortsetzung und
Schluss seines Vortrags über Francesco Benedetti. Den vollständigen
Vortrag wird das Archiv bringen.
Darauf hielt Herr P röh le einen Vortrag über Arn d t und Varn-
hagen von Ense. Varnhagen von Ense wurde darin nach seinen
Lebensschicksalen und seinen Schriften charakterisirt. Es wurde be-
sonders hervorgehoben, dass er im Jahre 1809 durch persönliche Ta-
pferkeit sich ausgezeichnet habe und sogar verwundet worden sei und
in Uebereinstimmung hiermit eine patriotische Ge^^innung nie verleugnet
habe. Dem spätem Diplomaten Varnhagen warf man vor , dass er
für das Studium der neueren Sprachen. 449
zur Friedenszeit der Regierung feindlichen Kreisen zu nahe gestanden
habe. Auch sei wohl ein innerer Widerspruch vorhanden gewesen
zwischen seiner amtlichen Stellunj^ und seiner Vermählung mit Rahel,
welche ihn ganz dem Esprit und der Literatur zugewiesen habe. Wenn
man aber die Freiheitskriege im Auge behalte , so müsse man sagen,
dass die Verstimmung \'arnhagens bei den Ansprüchen eines so ta-
pfern und verdienten Mannes in spräterer Zeit keineswegs ohne Grund
gewesen sei. Sie sei im hohem Grade zu beklagen. An den von
Varnhagen verfassten Schriften wurde die Form im Einzelnen nicht un-
bedingt gelobt. In den Gedichten, wurde gesagt, herrsche auch der,
von der Gesellschaft, die Varnhagen trug, gleichsam geschaffene elegante
Conversationston seiner prosaischen Arbeilen vor. Varnhagen's Novellen
erschienen wie Ergänzungen seiner Erinnerungen, wo die einfache Mit-
theilbarkeit der Letztern aufhöre. Wo er sich auf das Gebiet der Li-
teraturgeschichte oder der ästhetischen Kritik begeben, seien seine Lei-
stungen utibedeutend. Auf dem Gebiete der Geschichte und besonders
der Selbstbiographie habe er jedoch manches quellenmassige Buch gleich-
sam entdeckt und auf die uneigennützigste W'eise empfohlen und so
einigermassen der Verborgenheit entzogen. Auf die Vorzüglichkeit seiner
Biographien aus dem siebenjährigen Kriege wurde besonders hinge-
wiesen. Dieselbe sei aus Varnhagens ganzem Bildungsgange erklärlich.
Bei Varnhagens Denkwürdigkeiten aus den Freiheitskriegen, deren Ele-
mente bei aller Treue doch nicht alle vollkommen in ihm lebendig ge-
worden wären, komme ihm dagegen die Autopsie zu statten. In seinem
Blücher contrastire die glatte Form mit der Heldengestalt selbst. Sein
1853 erschienener Bülow sei unter dem Einflüsse von Steins Leben
von Pertz geschrieben. Da aber der tiefe Ernst und das schwere Ge-
wicht der Schrift von Pertz fehle, so sei das Buch, obgleich in der
P'orm noch ziemlich elegant, fast eine unerquickliche Materialiensamm-
lung geworden. — In den Bemerkungen über Arndt wurde eine Pa-
rallele zwischen Jahn und Arndt zu einer Feier für den letztern, von
Avelchem Piöhle, Jahns Biograph, bekannte, dass Arndt bei soliden
Kenntnissen und religiösem Sinne dem wahren Deutschthume näher
gekommen sei als Jahn. Mit Arndts politischer Haltung im vergan-
genen Jahre erklärte sich jedoch der Redner nicht einverstanden. Vater
Arndt habe, so sagte Pröhle, das Ürtheil der Nachwelt über unsre Zeit
gleichsam vorwegnehmen wollen, aber selbst seinem Volke, wenn auch
keine Steine, doch auch kein Brot mehr gegeben und sich über unsre
Stellung zum jetzigen Frankreich nicht so thalkrät'tig geäussert, wie
man von dem Freunde Steins hätte erwarten können.
Herr Riebet trägt alsdann eine Abhandlimg über das franzö-
sische Verbum vor, die auf eine andre Classiticirung desselben und
eine Beschrankung der Stammformen abzielt.
37. Sitzung. 17. April. Herr Mahn eröffnet die Sitzung mit
einem etymologischen Vortrag über das Wort: Berlin. Nach Muste-
Archiv f. u. Sprachen. XXVII. 29
450 Sitzungen der Berliner Gesellschaft
runw und Zurückweisung der bisher versuchten Herleitungen aus dem
Germanischen und Slavischen bestimmt er Berlin aus dem Keltischen
als „Waldweide," eine auf alle den Namen Berlin führende Oertlich-
keiten zutreffende Bezeichnung. (Nebenbei wurden die Benennungen :
Colin, Molkenmarkt, Krögel erklärt.) Die geschichtliche Berechtigung
der keltischen Herleitung nachzuweisen , verschob er auf eine andere
Gelegenheit.
Herr Weisser gibt eine Biographie Arnold's. des Verfassers des
im Strassburger Dialect geschriebenen Lustspiels : Der Pfingstmontag,
und theilt Proben des Stückes mit.
Herr Michaelis unterzieht die „Regeln für die deutsche Recht-
schreibung" von Betzenberger einer scharfen Kritik.
Herr Traxel spricht in englischer Sprache über die Herleitung
von drawing room aus withdrawing room.
Zugesendet wurde von der Societe Liegeoise deren neuestes Bulletin.
38. Sitzung. 8. Mai. Hr. Pro hie theilte einige Gedichte von
Finckelthaus, einem Dichter des 17. Jahrhunderts, mit, von dem er
schon S. 322 bis 336 seiner „Feldgarben" (Leipzig, Gräbner, 1859)
gehandelt hat und von dem er ebenda S. 322 sagt:
„So weit ich nach Lesung der ihn betreffenden Artikel in Rass-
mann's Dichternekrolog, in Jöcher's Gelehrtenlexikon, und in Gödeke's
Grundriss , sowie der ausfühi lichein Erwähnung bei Gervinus unter
Zuziehung von G. F. „XXX Teutsche Gesänge. Leipzig, 1624," von
„Gottfried Finckelthausen's deutsche Gesänge. Hamburg, Gundermann"
in Queroctav (nach Gervinus um 1640), von G. Finckelthaus' Brun-
nengedichte und G. F. „Lustige Lieder. Lübeck, Anno 1648" ersehen
kann, bedeuten alle diese Bezeichnungen und ausserdem der Name G.
Federfechter von Lützen immer den Stadtrichter oder Stadtschreiber
von Leipzig, den Freund Paul Fleming's. Mein Freund Gödeke wird
ungerecht gegen ihn, indem er nur den nöthigen Tadel ausspricht. Ger-
vinus hatte wenigstens mit gewohnter Feinheit Finckelthaus' Bezie-
hungen und Anregungen ausgespürt. Ich stelle Finckelthaus als noth-
wendiges Glied einer Kette zwischen Fleming und Günther. Sein Ta-
lent war viel begrenzter als das der beiden. Für das Liebeslied aber
fehlt es ihm weder an Naturwahrheit noch an Innigkeit. Wenn jener
ihn lehrte, hat dieser doch wohl etwas von ihm gelernt."
Nach einem Referate des Herrn J. Schmidt über das Programm
von David Ascher: On the study of modern languages in general and
(m the English language and its treatment in the commercial school of
Leipzic in particular,
trägt Herr Altmann einen Aufsatz „Flüchtiger Blick über ältere
und neuere Literaturzustände in Russland" vor.
Schliesslich berichtete der Vorsitzende, Herr Herr ig, über einen
Artikel des Londoner Critic. Es bezieht sich derselbe auf das Buch
von Hamilton: An Inquiry into the Genuineness of the Manuscript
für das Studium der neueren Sprachen. 451
Corrections in Mr. J. Payne Cnllier's Annotated Shakspere and of
certain Shaksperian Docnments likewise published by Mr. Payne Collier.
Bis zur Evidenz wird in die.'^em Buche nachgewiesen und vom Critic
bestätigt, dass die im Titel erwähnten Documente von Collier selbst
mit Bleistift gefälscht wurden.
Von dem correspondiri-nden Mitgliede der Gesellschaft, Herrn
William Lowes Rushton in Liverpool, war nachstehende Mittheilung
eingegangen, welche zu einer eingehenden Debatte Veranlassung gab.
Shakspeare's Tenures.
The Works of William Shakespeare contain many allusions to the Te-
nures of the English Law.
Tenure in Villenage.
Antipholus ofSyracuse.
A trusty vilhiin. Sir; that very oft,
When I am dull with care and melancholy,
Lightens my humour with liis meiry jests.
Ooniedy ot Errors Act 1. Scene 1.
Vlllain, (villanus low Latin, It. and sp. villano. Norm vilaint) either
of vilain, Fr. mean or vile, or villa, Lat. a couiilry farm, whereto vlllains
were appoint d to do service, anciently a man of a servile base dcgree,
who was a mere bimil-slave to the lotd of the Manor, and in this sense it
is sonietimes used by Shaks^peare ; now commonly used in a bad scnse, for
a wicked wretch, or roL'ue. There is a villcin regardant, and a vilK'in in
gross. A villein regardant is , as if a man be seist-d of a manor to which
a villein is regardant, ami he which is seised of the said manor, or tiiey
whüse estate lie hath in the same. have beim seised of the villein and of his
ancestors as villeins and neifs (bondswonien) regardant to the same manor
tiine out of memory of man (Litt. S. 1«1) The villein is called regardant
to the manor, because he hath the Charge to do all base or villenous Ser-
vices within the same.
Cleopatra.
Slave, soul-less villain, dog!
O rarely base!
Act 5. Scene 2.
and to gard and kcep the same from all fillhy or loathsome things that
might annoy it: and his service is not certain but he must have regard to
that which is commanded unto him.
nie qui tenet in villenagio faciet quicquid ei praeceptum
fnerit, nee scire debet sero (juid facere debet in crastino, et
semper tenebitur ad incerta. (Bracton C. 4. tr. ). c. 28 S. ö). And
villein in gross is, whfre a man is seised of a manor wherennto a villein is
regardant, and granteth the same villein by his deed to another, then he is
a villein in gross, and not regardant. (Litt. S. 181). Thus according to
Littleton, villeins were of two sorts; villeins regardant, that is anno.xed to
the manor er land , or villeins in gross . or at large . that is aime.xed to the
person of their lord and transferable by deed from one owner to another.
Enobarbus.
I am alone the villain of the carth.
And feel 1 am so niost O Antony
Thou mine of hounty, how wouldst thou have paid
My better service, when my tnrpiiude
Thou dost so crown with gold !
Antony and Cleopatra Act 4. Scene 6.
29*
452 Sitzungen der Berlinei' Gesellschatt
Enobarbus may refer to villain service, and consüler himself as a villain
regardant to the manor, or land, or „of the earth" and Antony as bis Lord.
Ferdinand.
1 am in my condition
A prince Miranda; I do think, a king,
(I wuuld not so) and would no niore endure
This wooden slavery, that I would sufTer
The flesh-tiy blow my mouth. Hear my soul speak;
The very instant tliat I saw you, did
My heart fly to your service; there resides,
To make nie shive to it, and, for your sake,
I am this patient log -man.
Tempest Act 3. Scene 1.
And it seems probable that the „wooden slavery" which Ferdinand alludes
to is Bordiode, which was an ancient service required of tenants to carry
timber out of the woods of the Lord to bis house.
York.
Base dunghill villain, and mechanical,
ril have tliy head for this thy traitor's speech: —
1 do beseech your royal majesty,
Let him have all the rigour of the law.
S. P. Henry VI. Act 1. Scene 3.
Bigot.
But dunghill! dar'st thou brave a nobleman?
King John Act 4. Scene 3.
Steward.
Out dunghill!
Lear Act 4. Scene 6.
Tenure in villenage is most properly when a villein holdeth of bis lord,
to whom he is a villein, certain lands or tenements awording to the custom
of the manor, or otherwise, at the will of the lord, and to do bis lord vil-
lein service; as to carry and recarry düng of.his lord out of the city, or
out of bis lords manor, unto the land of bis lord and to spread the same
upon the land, and such like. And some free men hold their tenements
according to the custom of ceitain nianors, by such Services. And tlieir
tenure also is calied tenure in villenage, and yet they are not villeins, for
no land holden in villenage, or villein land, nor any custom arising out of
the land, shall ever make a free man a villein (Litt. S. 172).
Horatiü.
Is it a custom?
Hamlet.
Ay marry is 't:
But to my mind, — though 1 am native here,
And tu the manner born, — it is a custom
More honour'd in the breach, than the observance.
Act 1. Scene 4.
King.
What wouldst thou beg Laertes,
That shall not be my off'er, not thy asking?
The head is not more native to the heart,
The band more instrumental to the mouth,
für das Studium der neueren Sprachen. 453
Than is the throne of Denmark to thy father.
What wouldst thou have Laertes.
Hamlet Act 1. Scene 1.
Servi anciently signified bondsmen, or servile tenants. They were called
servi, quia servabantur ä dominus et non occidebant ur, et non
ä serviendo: for the life and members of them, as of free men, were in
the hands and protection of kings, and it was in conscquence of the c.ruelty
of some lords ordained that he who killed his villein shotdd have the same
judjrment as if he had killed a free man. The pro})er .servi were of four
sorts; the first such as sold themselves (or a liveliliood; the second, (iebtors
who were sohl for payment of their debts; the third, captives made in war,
who were niaintainied and employed as slaves; the fourth, nativi sucli as
were the children of villeins liorn in servitude within a particular district or
manor and were by descent the sole property of the lord A manor, (k
manendo, because the lord did usually dwell in the manor liouse, or ä
mamorium, from mamoring the land] or k mesner from guiding and
governing) is an ancient lloyalt or Lordsbip,
Dick.
I have a suit unto your lordsliip.
C a d e.
Be it a lordsbip, thou shalt have it for that word.
S. P. Henry VI. Act 4. Scene 7.
in former times called a Barony,
Bardolph.
My lord, l'll teil you what;
If my young lord your son have not the day,
Upon mine honour for a silken point
l'll give my barony: never talk of it.
J>. P. Henry IV. Act 1. Scene 1.
consisting of demesnes and Services and of a Court Baron as inoident
to it. (Coke's Compl. Copyh. S. .31. 4 Hep. -26. 1 Cro. 1;», 38, 39 Wood's
Inst. 2nil ed. p. 130). The origin of Mani)rs was this: the king anciently
granted a certain compass of ground to some men of merit, l'or them and
their heirs to dwell iipon and exercise some Jurisdiction more or less, within
that circuit; for which the Lords performed such servioes, and pail such
annual rtnts, as were required by the Grant. (Cowell). The Lords re-
tained so much land as was nece.'jsary for the maintenance of thcmselves
and their families which were called terrae domin icales, or desmesne
lands. '
Capulet.
A gentlemen of princely parentage
Of fair desmesnes, youthful, and nobly trained
Romeo and Juliet Act :>. Scene 1.
Abont the year 1554 Henry the Eighth manumitted two of his villeins
in these words „W hereas God created all men free, but afterwards the
laws and custonis of nations suhjected some undcr the yoke of servitude,
we think it pious and meritorious with God to maiiumit Henry Knighf, a
taylor and John Herle, a husbandman, our natives, as beiiig born within
the manor of Stoke Ciynmiysland, in our County of Cornwal, togelhi-r with
all their goods, lands and chatteis acquireil, or to be ac(|nired, so as the said
persons and their issue shall from hencei'orth by us be free, aml of free
condition" (Barr. Stats. 276). The reader will perceive that Hamlet says,
( „I am native here
And to the manner born."
454 Sitzungen der Berliner Gesellschaft
and also tbat in the form of enfranchisement tbe king manuniits „tfenry
Knight and Jiilin Herle. our natives," as being born witbin the manor
of 8toke Clynimysland. The word ustd by Hamlet is not ?pelt manor but
it is idem sonans; and be niay speak figuratively considering Denmark
or Elifimore as tbe Manor, himself as nativus (to the manor born) and tbe
»heary headed revel" as a custom incident to the Manor.
King Richard.
I am a villain: yet, I lie I am not.
Riebard III. Act 5. Scene 3.
The characters in Sbakspeare's Works frequently play upon words and
„palter with us in a double sense"
evon in situations wbore punning would seem unseasonable, so tbat it is not
improhnble that Hamlet may use tbe word matmer in a double sense, and
tbat RiJiard may mean tbat he is a villain in tbe ordinary tbough not in
the legal acceptation of the term, not forgetling however tbat le says,
Act 1 Scene 1,
I am determined to prove a villain"
and tbat Queen Margaret, act 4 scene 4, calls him „villain slave."
Oliver.
Wilt thou lay hands on me villain?
Orlando.
I am no villain: I am tbe youngest son of Sir Rowland de Bois; he
was my father; and he is thrice a villain tbat says, such a fatber begot
viilains.
At You Like It Act 1. Scene 1.
When the same word has more than one signification, it is .«ometimes
doubtful in wliat sense it is useil by Shakespeare. It seems to be used by
Oliver in Its ordinary sense of wicked wretcb or rogue, and by Orlando m
its legal and ancient sense of bondslave. Tbe reailer will perceive from
these explanatiims ihat tbe term villain when used by Shakespeare in the
sense of bondslave bas a peculiar force, particularly as tenure in villenage
seems to have existed in England in bis time, for in Rymer there is a
commission of Queen Eüzabetli, of tbe year 1.574, directed to Lord Burghley
and Sir Walter Mildmay, for inquiring into the lamls, tenenients, and otlier
goods, of all h<T bondsn)en and bondswomen in the counties of Cornwal,
Devonsliire. Somerset, and Glouce^ter, sucb as were by blood in a slavish
condition, by being born in any of her manors, and to Compound with all
or any such bon' Ismen, or bondswomen, for tbeir manumission and free-
dom. As the tenure in villenage existed in early tiraes, tbroughout Europe,
the word villain when Uf^etl in tbe legal sense of bondslave may probably be
represented in every P>uropean language by a word of a similar meaning.
But unless those words wbioh in otber languages correctly represent tbe
term villein or bondsbive of the P^nglish Law, also signify a wicked wretch
or rogue, the double meaning cannot be conveyed.
W. L. Rushton.
39. Sitzung. 4. Juni. Herr Strack spricht über die Lebensver-
hältnisse von Albin de Chevallet und geht ausführlich auf den Inhalt
des ersten Theils der Origine et formation de la langue frantjaise nach
<Jer 2. Auflage ein.
für das Studium der neueren Sprachen. 455
Herr Mahn spricht über die slavische Herkunft des von Schiffers-
leuten bei Berlin (in den Pichelsbergen , in Köpnick) gebrauchten
Wortes „Pristavel," Aufseher und Ordner in Schiffahrtssachen.
Herr Beauvais beantwortet die Frage: Welche Mittel wenden
die Franzosen an, um ein einzelnes Wort aus dem Satze hervorzuheben,
da wo im Deutschen einfache Betonung genügt? durch eine Fülle von
französischen Beispielen.
Herr Holtze theilt aus einer 1832 in Paris erschienenen franzö-
sischen Uebersetzung der „Berliner Nachte" L. Schneider's eine reiche
Auswahl höchst ergötzlicher Uebersetzungsfehler mit und zeigt dann,
wie es dem Uebersetzer durch Auslassungen, Fälschungen, Zusätze
und Noten gelungen, aus dem harmlosen, in gut preussischer Gesin-
nung geschriebenen Buche ein ultramontanes und preussenfeindliches
Pamphlet zu machen.
Nach der Sitzung macht der Vorsitzende, von einem Mitgliede
darum ersucht, eine Mittheilung über das hierselbst errichtete Seminar
für Lehrer der neueren Sprachen.
Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
Germania. Vierteljahrsschrift für deutsche Aherthumskunde,
herausgegeben von Franz Pfeifer. Vierter Jahrgang,
3. Heft. Wie« 1859.
lieber den Zauherer Virgilius. Von K. L. Roth. In dieser in
der historischen Gesellschaft zu Basel gelesenen Atihamllung wurden zuerst
die Sagen von den \A umlerwerken des Virgilius, die n:ich Neapel verlegt
■werden, besprochen. Es sind dies besonders die wunderthätigen Gebeine
Virgils, der Vesnvregulator , das Bad ohne Arzt, die gesunde Metzig das
SchlanL'enthor, die eherne Fliege. Ausserdem werden noch erwähnt: ein
wunderbarer Garten, ein ehernes Pferd, eine Gla.sflasche mit dem Bilde der
Stadt , die Ringmauern der Stadt Neapel. Zu diesen Sagen gesellen sich
andere, die nach Rom und selbst über Italien hinaus verlegt werden Diese
sind aber späteren Ursprungs und von den Ni apnlitanischen wesentlich ver-
schie'len. „Während nändich diese den Charakter der Gemeinnützigkeit an
siih tragen und vom Stadtchronisten als Belege für die Liebe des Dichters
zu Nea[)el dargestellt werden, dringt in die späteren und auswärtigen Sagen
je länger je mehr die Lust am Curiosen und Hurlesken und Hand in Hand
damit das durchaus fremdartige Element des Dämonischen ein " Er schliesst
sieh so den dämoni.'-chen Gi stalten Merlin, Papst Gerbert und Klinschor
an und wird, wie Enenkel sagt, „der helle kint." Nachdem der Verf. noch
weiter die Vertleclitung und Vermischung orientalischer Sagen mit Vir-
gilius Zauiiereien besprochen und deren Vorhandensein auch in der deutschen
mittelalt'rlichen Literatur nachgewiesen hat, sucht er deren Ursprung und
Verbreitung aus einer Begebenheit des 1 2. Jahrhunderts zu erklären. Nach
Gervasius von Tilburg nämlich fand, sich bei König Roger ein kluger, in
allen Künsten und V\ iss^enschaften wohl bewanderter Meister aus England
ein. der um die Erlaubniss bat, Virgils Gebeine aufsuchen und erheben zu
dürfen. Niemand kannte seine Grabesstätte. Er aber fand sie vermittelst
seiner Kunst in einem Berge ohne alle Spuren irgend einer jemaligen Oeff-
nung. Der Körper war unversehrt; ihm zu Häupten iajr ein wohlerhaltenes
Bu'h mit unverständlichen Charakteren. Das Volk widersetzte sich dem
Entführen der Gebeine. Der Engländer durfte sie 40 Tage behalten, damit
sie ihm durch Besehwöruntjen alle Kunst des Virgilius mittheilen müssten.
Das Buch durlte er behalten. Diesem Ereigniss schreibt Roth es zu, dass,
da bisher in der Literatur des Auslandes keine, in der einheimischen nur
eine schwache Spur vom Zauberer Virgilius zu entdecken gewesen, nun wie
mit einem Zauberschlaire Alles von ihm erfüllt ist.
Zum Titurel. Von ^''ranz Pfeifer. An Worte San Martes über
die Nothwendigkeit einer kritischen Ausgabe des jüngeren Titurel anknüpfend
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 457
macht Herr Pfeifer nuf die Schwierigkeit aufmerksam, ein Citat des mittel-
hochileutschen Wörterhuclis von Benet ke aus dem Titurel in Hahn's un-
kritischer Ausgabe aufzufinden, da Benecke nach dem alten Druck citirt
und die Fortsetzer dies beibehalten haben. Zur Erleichterung der Auffin-
dung giebt er eine tabellarische Uebersieht beider Ausgaben. An diese
ßchätzenswerthe Zusammenstellung knüpft er eine Erörterung über Wolframs
Titurel Er gelangt aus Inlialt und Form desselben zu dem Resultat, der
Titurel sei vor den Farcival zu setzen und als Jugendarbeit zu betrachten.
Eine eben so feine als anziehende Untersuchung, ähnlich denen über Frei-
dank und Erek.
Zur Räthselliteratur. Von K. Bartsch. Der Verfasser bespricht
zunächst die !Samralung von Räthselfragen, die er in seinen Denkmälern der
provetizalischen Literatur herausgegeben hat und verbindet damit ähnliche
Erzeugnisse aus anderen Werken, besonders aus einer Handschrift des 9.
Jahrhunderts ,joca monachorum " Mittheilungen der Art lassen das Be-
dürfniss einer niöglifh-t vollständigen und geordneten Sammlung der alten
Räthsel immer lebliafter empfinden.
Nibelungen. Handschrift K. Der Nibelungen liet. Von A. Holtzmann.
Aus einer Papierhandschrift des IS. Jahrhunderts auf der Bibliothek des Pia-
risten-Collegiums zu Wien werden vorläufig einige Proben mitgetheilt. Pfeifler
verspricht in einer Anmerkung eine ausführliche Beschreibung bei Darlegung
des reichen Inhalts dieser Handschrift folgen zu lassen. Die Handschrift
giebt übrigens nicht das Lied selbst, sondern eine Bearbeitung oder Ueber-
setzung des 15. Jahrhunderts, wie dies schon Zarncke und (Joedeke bemerkt
haben. Das Ganze ist für manche Stellen nicht unwichtig, zumal für sprach-
geschichtliche Studien des Deutschen.
Künzelsauer Fronleichnamsspiel aus dem Jahr 1479. Im Aus-
zuge mitgetheilt von H. Werner. AVie viel Aehnlichkeit auch das Stück
nach Inhalt und Anhige mit den übrigen älteren Spielen darbietet, so ist die
Miitheilung desselben schon deswegen dankenswert!), weil ein vollständiges
Fronleichnamsspiel noch nicht gedruckt vorliegt. Die Vergleicliung mit
andern Dramen unter Hervorhebung des Characteristischen dieses Spieles
lässt zwar eine ziemlich genaue Keimtniss von dem Inhalte des Ganzen ge-
winnen, genügt aber nicht, um den Druck des Ganzen übertliissig gemacht
zu haben.
Zwei Lieder auf Albrecht Achilles. Von K. Bartsch. Beide
Lieder einer Nürnberger Papierhandschrift (Cent. VII. 80) entnommen, be-
ziehen sich auf die Fehden des Markgrafen Albrecht Achilles mit den Nürn-
bergern, und zwar auf das Treffen bei Pillenreuth am St. Georgenabend
14 50. Das eine von 18 fünfzeiligen Strophen ist schon mehrmals gedruckt,
das zweite um 7 Strophen längere hier zum ersten Male.
Kleine Mittheilungen von Felix Liebrecht über Brautlauf,
Reinhard Fuchs, eine englische Priamel, eine schwedische
Maistange, das Grab and seine Länge.
Ueber Deutsche Ortsnamen von Ignatz Petters. Die mit
tegar gebildeten Ortsnamen gehören sämmtlich Süddeutschland an, und
tegar scheint hier gross zu bedeuten. Die Namen auf hövel, den alten
aut liuvila entsprechend, finden sich nur in Norddeutschland, anderwärts
auch in der Form — hübel. Das "Wort i-^t gleichbedeutend mit Hügel.
Kritiken. Ferd. Wolfs un<l Ad. Ebert's Jahrbuch für romanische
und englische Literatur angezeigt von K. Bartsch; Lüning's Ausgabe der
Edda angez. v. Franz Stark.
458 Beurtlieilungen und kurze Anzeigen.
Katholische Kirchenlieder, Hymnen, Psalmen, aus
den ältesten deutschen p-odruckten Gesanjr- und Gebet-
büchern zusammengestellt von Joseph Kehrein.
1. Band. Würzburg 1859.
Diesem Haupttitel ist ein zweiter beigegeben: die ältesten katholischen
Gesangbiiclier von Vehe, Leisentrit, Corner und Andern in einer Samm-
lung vereinigt I. Bd. Nach dem Inhaltsverzeichniss wird das unter dem
speciellen Titel mit dem 1. Bande begonnene Werk aus 720 Liedern be-
stehen, von denen der erste Band 372 enthält. — Der um das Studium der
deutsolien Sprache und Literatur wohlverdiente Herausgeber wünscht, um
eine Geschichte des deutschen Kirchenliedes vom katholischen Stand-
punkte aus möchlich zu machen, zuvörderst zu einer Sammlung .«ämmt-
licher katholischer deutscher Kirchenh'eder von den ältesten Zeiten bis zur
Gegenwart anzuregen. Er seihst giebt hier sämmtliche Lieder vom Ende
des i5. Jahrhunderts bis zum Jahre 1631, in welchem Jalire nämlich die
2. Aufl. von Corners grossem Gesangbuche erschienen ist Die zweite Ab-
theilung des Werks soll in 277 Nummern die vollständige Uebersetzung
der hiteinischen Kirchenhymnen von R, Edingius, die Bearbeitung der Psalmen
von Ulenberg und verschiedene religiöse Gedichte enthalten, die nur zum
Theil als Kirchenlieder gelten können.
Wie sehr ich nun auch dem Herausgeber die WichtiL'keit und Ver-
dienstllchki'It des ganzen Unternehmens vom wissenschaftlichen Standpunkte
aus zugestehe, finde ich die Motive, die er für dasselbe angiebt, weder ver-
ständlich noch stichhaltig. Er sagt: „Ist eine solche Sammlung einestheils
eine nothwendige Ehrenrettung unserer heiligen Kirche, dann wird
sie von der anderen Seite eine lautere Quelle werden, aus der die Zusanimen-
steller von Gesangbüchern für einzelne Gemeinden oder Diöcesen schöjifen
können; sie wird zugleich ein Erbauungsbuch im schönsten Sinne."
Erstens begreife ich nicht, wie eine Sammlung von Liedern eine Ehren-
rettung der Kirche könne genannt werden: mir sclieint es, -als habe der
Herausgeber die Kirche selbst mit denen, die der katholischen Confession
angehören, verwechselt; und dann vermag ich nicht einzusehen, wie Gedichte
aus dem l^. und 16. Jahrhundert, die möglicher Weise noch Reste aus
älteren Jahrhunderten enthalten, ein Erbauungsbuch im schönsten Sinne des
Worts sein können. So sehr nämlich oft diese alten Lieder wegen der Tiefe
der Empfindung, der Innigkeit des religiösen Gefühls und der Reinheit des
Glaubens ansprechen, so liegt doch gegen die Möglichkeit, sich daraus heute
noch religiös zu erbauen. Manches vor. Einmal bietet die Sprache manches
völlig Unverständliche dar. Dieses Verständniss zu erzielen, ist weder mög-
lich noch rathsam. Denn es stellt sich sogleich noih ein anderes Gehrechen
für das völlige Verständniss ein Nicht bloss nach ^^'ortbildung und Wort-
bedeutung ist die Sprache vielfach ■■eine andere geworden, sondern auch nach
dem ganzen Gepräge des Ausdrucks. Manche Anschauungen und Bilder sind
für uns unverständlich, ungeniessbar, ja von Seiten des gebildeten Sprach-
gefühls oder Kunstgeschmacks widerwärtig. Wie kann da von religiöser
Erbauung, von bewusster Erfassung religiöser Empfindungen die Rede s^^in!
Der dritte Punkt, den der Verfasser im Auge hat, ist wohl der allein
richtige : Das wissenschaftliche Bedürfniss verlangt genaue Bekanntschaft mit
den alten und ältesten Liedern. Von diesem Standpunkte allein kann ein
soh'hes Werk genossen werden, von ihm allein nmss es au^^gehen. üb eine
solche Sammlung darum oder dadurch im Stande sei, „der heiligen katho-
lischen Kirche reiche Sympathien zu erwerben," ist dabei ganz gleichgültig.
Sie gehören dem deutschen christlichen Bewusstsein älterer Zeit an und das-
jenige, was an ihnen etwa dem modernen, wissenschaftlich gebildeten christ-
lichen Bewustsela zuwider sein möchte, wird schwerlich irgendwo auch nur
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 459
einige Sympathien zu erwecken iin Stande sein. Die.«er etwas einseitige
Standpunkt des Herausgebers mag durch seine persönh'che oder amtliche
Stellung gerechtfertigt erscheinen; er ist uns his dahin bei ihm noch nicht
störend entgegentretreten und wird auch für diese wissenschaftliche Arbeit
nicht weiter hemmend eingewirkt haben.
Aus der Vorrede hebe ich noch hervor, dass dem zweiten ßande ein
"Wörterbuch beigegeben werden soll, welches, da Grinmi auf <las prote?t;in-
tische Kirchenlied nur wenig, auf das katholische gar keine Rücksicht ge-
nommen hat, liir die spätere Lexicographie einige Ausbeute liefern möchte.
In der Einleitung (S. i — 107) verbreitet sich der Verf. zuerst über
die Griechische und Lateinische Kirchensprache, über den ön'entlichen Culfus,
über die Kirchensprache in Deutschland, alles dieses nach B. Hölschers
Werk über das deutsche Kirchenlied vor der Reformation. Es ist kein.
Zweifel, dass ihm ausser diesem und Hoffmanns vortrefflichem Buche, „Ge-
schichte des deutschen Kirchenlieles vor der Reformation" auch andere Ar-
beiten über diese Gejicenstände bekannt sind. z. B. über die Kirchenspruche
Ru'l. V. Raumers grösseres "\\ crk, oder über den ältesten Kirchengesang die
Abhandhing von Prof Müller in Basel (Das chiistliche Lied im apostoli-
schen Zeitalter im Schweizerischen Museum von Gerlach, Hettinger, W.
Wackernagel ^. Bd. p 231 — ?5 7) und andere: aber er führt sie wolil
deswegen nicht an, weil er in wenigen Sätzen die Resultate jenes genannten
Buches hinstellt, und nicht eigene Untersuchungen anfresfelU hat. —
Im 4. Abschnitte giebt er eine geschichtliche Uebersicht des deutschen
Kirchenliedes bis auf Luther. Es ist auffallend, dass er hier die Gränze
zwischen dem Kirchenlied und geistlichem Liede nicht genau cczogen hat.
ISIögen immerhin hier geistliche Lieder, „die bei Wallfahrten, Processionen,
Bittgängen und anderen {remeinsamen religiösen Handlungen" gesungen
wonlen sind, unter dem Namen Kirchenlieder Berücksichtigung finden, so
sini! doch keineswegs alle Lieder und Dichtungen des Mittelalters, grössere
oder kleinere, die relioiösen Inii^its sind, unter die Kirchenlieder zu zählen.
Von seinem katholischen Standpunkte aus würde er docii wenigstens alle
die unherücksichtiijt lassen müssen, welche unkatholische, ketzerische oder
antikatholi<che Anklänge und Ideen enthielten.
Im 5. Abschnitte bespricht der VerfHsser die Lieder, die in katholischen
und protestantischen Gesan^hüehern verkommen und sucht bei vielen zu er-
mitteln, ob sie eigentlich katholischen oder protestantischen Ursprungs sind.
Der ganze Abschnitt beweist, dass der Verfasser eindringlichere Studien
nicht cescheut und auch die LTntersuchnngen und Sammlungen protestanti-
scher Gelehrten, wie Wackernagels, Mützeis, von \> interfelds u, A. nicht
verschmäht hat.
Der 6. Abschnitt giebt eine literarhistorische Uebersicht über die alten
hatholischen Gesangbücher und Sammlungen geistlicher Lieder vom Ende
des 1?>. Jahrhunderts bis 1631, über neue Gesangbücher und Sammlungen
mit alten Liedern, ein Verzeichniss der Uehersetzungen lateinischer Kirchen-
hymnen, und endlich literurjreschichtlicher Werke
Die beiden letzten Abschnitte enthalten eine Beschreibung der vom
Verf. benutzten Lücher und Vorreden aus verschiedenen Gesangbüchern.
Schon au^ dieser mögli-hst kurz gehaltenen Anjrabe ist es ersichtlich'
welche mannigfaltige und gründliehe Belehrung über ältere Gesänge und
Gesanirbücher hier zu finden ist. Der erste Band der Sammlungr enthält
in 6 Abtheilungen 1) Morgen-, Abend-, und Tischlieder; '2) \\'eihnachts-,
Oster-, l'fingst-, Frohnleichnamslieder: 3) Lieder fürs gnnze Jahr. Jedem
Liede geht der NHchweis vorauf, welcher älteren Sammlung es angehört,
es foljit ihm ein Verzeichniss von Lesarten und oft Hinwei-ung auf andere
Sammlungen.
Das ganze Werk verdient wegen des Umfangs sowohl, als wegen der
460 B e urt heil un gen und kurze Anzeigen.
Gründlichkeit der Behandlung nioht bloss Literarhistorikern oder Literatur-
freunden, sondern überhaupt gebildeten Lesern, zumal Katholiken, bestens
empfohlen zu werden.
Wörterbuch der deutschen Sprache, Von Dr. Da-
niel Sanders. 10. Lieferung. Leipzig b. Wigand.
Was ich bei der Anzeige der ersten Hefte als unzweifelhaft hinstellte,
dass das Wörterbuch, wie es beabsichtigt und versprochen, in regelmässigen
Lieferungen erscheinen werde, hat sich erfüllt. Wir haben nun mit der 10.
Lieferung weini nicht die Hälfte, doch einen grossen Tlieil unseres Sprach-
schatzes vor uns liegen. Die grossen Vorzüge des Sander^chen Werks vor
allen andern der Art treten, je länger und gründlicher man dasselbe benutzt,
desto mehr und überraschender hervor. Diese Vorzüge bestehen nicht bloss
in der sicheren und gediegenen Ausführung des Planes, die ganze Sprache
in ihrer Gesanimtheit durch Zusanimenordnung des Zusammengehörigen zu
erfassen, in der genauen und gründlichen Beachtung der grammatischen
Formen, in der möglichst scharfen Erfassung der Wortbedeutungen und
Vergleichung sinnverwandter Ausdrücke, in der geschickten Auswahl der
Belegstellen, sondern auch vorzüglich darin, dass auf weit geringeren) Räume
ein weit reichhaltigerer Inhalt gegeben wird, als irgend anderswo. Ja, wor-
auf es hier wesentlich nicht ankonmit und worauf Sanders selbst wenig Ge-
wicht legt, in der Zahl der Wörter ühertriff't sein Werk bedeutend das der
Gebrüder Grimm. Er hat dies selbst schon im Archiv XVIII, 212 ff. durch
Aufzählung von etwa siebentehalhhuiidert bei Grimm auf den ersten lOl
Spalten fehlenden Wörtern nachgewiesen. Rechnen wir dazu die hierbei
absichtlich übergangenen, in seinem Programm S. 10 und S 17 der Zahl
nach über 400 schon aufgeführten, so ist das Tausend reichlich voll, und
es würden demnach durchschnittlich auf jede Spalte bei Grimm etwa C dort
fehlende Beispiele kommen. Das ist doch bei einem Wörterbuche, welches
auf die Herbeischaffung a'ler Wörter den geringsten Nachdruck legt, ein
besonderes (gewicht dagegen auf die Zusammenfassung des Zusammenge-
hörigen, die in wenigen Zeilen iibersichtlich und in innerer Vollständigkeit
ersci)öpft, während die rein alphabetischen Wörterbücher nach Willkür
Einzelnes herausgreifen und planlos auffuhren, ein eigenthümlich merk-
würdiger Umstand, indem es bei den unbestreitbaren inneren Vorzügen in
Bezug auf den äusseren Reichthum nicht nur nicht nachsteht, sondern jedes
andere, im gros.sartigsten Massstabe angeh gte Wörterbuch noch übertrifft.
Fast jeder grössere Artikel des Sanderschen Wörterbuchs ist geeignet, diese
wesentlichen und ganz eigenthümlichen Vorgänge ins Licht zu setzen. Es
■würde zu weit führen, dies in einiger Ausführlichkeit darzulegen. Ja es
bedarf überhaupt das Wörterbuch jetzt weder einer ausführlichen An-
zeige, noch besonderer Lobpreisung seiner Vorzüge. Es ist anerkannter
Massen ein Werk von unschätzbarem ^^'erthe, das mit jeder neuen Liefe-
rung neue Genüsse zuführt, aber auch immer wieder zu neuem Dank gegen
den Verfasser auffordert. P^iner solchen Verpflichtung zu genügen, ist der
Zweck dieser Zeilen. Möge es dem Verfasser vergönnt sein, seine mühe-
volle und schwierige, aber auch reich gesegnete Arbeit glücklich zu voll-
enden!
Berlin.
Dr. Sachse.
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 461
Torso und Korso. Aus dem alten und neuem Rom
von Hermann Lessing. Berlin. Verlag von Ju-
lius Springer. 1859.
Die Schrift ist von einem Mitgliede der Gesellschaft für neuere Sprachen
und Literaturen gesclirieben worden. Um so wi^niger genau wollen wir
untersuchen, ob in dieser Zeitschrift unbedingt eine Recension derselben
erwartet werden dürfte. Jedenfalls jilauben wir einer Anzahl unserer
Leser über ein Buch erwünschten Bericht zu geben, das an so vielen andern
Orten schon empfohlen und das ihnen darum, weil es die Literatur wenig
in sein (lebiit zieht , doch nicht uninteressant sein wird. Doch werden
wir die dieser Zeitschrift gesteckten Grenzen gar nicht überschreiten, wenn
wir uns auf die Betrachtung des 7. Capitels von Torso und Korso be-
schranken. Zugleich zur Bezeichnung der bchreibart des Verfassers theilen
wir folgende Stelle mit:
„.ausser der grossen Oper e.xistiren noch 5 Theater: Argentina für das
Trauerspiel und Schauspiel, das Theater della Valle für das Lustspiel, Kon-
versationsstück und Operetten, das 'l'heaier Metastasio, wo die Ristori im
feineren Lustspiel ihre ersten Triumphe feierte, endlich das Theater Ka-
pranika und Teatro nuovo. wo niedere Bossen und Farci^n das Volk vergnügen
und an die aiten komischen Masken der Italiener eiinnern. Um berühmt
zu wt'rden, mnsste die Ristori erst nach Frankreich gehen; von Rom aus
lässt sich selbst auf der Buhne die \\ eltherrschaft nicht mehr errinjicn. Die
Buhne nährt sich Im Koni auch grösstentheils von Fianzbsischen Stücken
und auch an der Tiber hat Charlotte Birch ihre Kommanditen, die das Ge-
schäft des Zuschneidens nach der Elle besorgen. Die Eintrittspreise sind in
diesen Theatern Im Ganzen um die Hälfte niedriger als in der Oper. Ein
Parquetplatz für das Schauspiel kostet i Paul (ungefähr 8 Sgr. ), und nach
diesem \erhältniss richten sich die übrigen Plätze. In den Volkstheatern,
die in ihren Ankünditrungen den JSJund am vollsten nehmen, und Ritter und
Rauher aus allen Zeitaltern agiren lassen, wird nur eine kleine Scheidemünze
auf dem Altar der Kunst niedergelegt. Einer der populärsten Helden Ist
Friedrich der Grosse, i\er oft wie ein deus e.\ maihina erscheint, mit
seiner Schnupftabacksdose droht, und schon allein durch diese Drohung die
Feinde, die Vertreter des bösen Prinzips, in ilie Flucht schlägt. Das V olks-
bewusstsein hat den nordischen Helden verklärt, und der alte Friiz ist fast
schon ein .Mythus geworden,*) <ler alles Gute, Edle und Rltlerllclic in dieser
charakteiistlsciien Erscheinung zusammenfasst. Ganze Scenen aus .«einem
Leben werden dargestellt seine Kampfe mit seinem sti-engen Vater. Scenen,
die insofern höchst ergötzlich slml , als mit den Kostümen und mit den
Kamen gleich willkürlich umgesprungen wird, aber der junge Kronprinz
zeigt schon im Ertragen seiner halten Schiiksale sein« stoische Festlf:keit
und seinen keiken Humor, und der „Sergeant" Friedrich schüttelt seine
Ijclden so muthig ab, wie der Löwe Thautropfen aus seiner Mähne. Das
haben sich die Päpste gewiss nicht träumen lassen, dass einst an der Tiber
der protestantische, der ketzerische Regent so gefeiert wurde und wie ein
guter Genius mit dem Heiligenscheine geschniüekt. In starrsinniger Ver-
blendung haben sie erst seinen Nachfolger, Friedrich Wilhelm IL, als König
anerkannt, und jetzt Ist »ler Markgraf von Brandenburg bei weitem popu-
lärer jreworden, als die ganze Reihe heiliger Väter, welche nieht müde wurden,
den Kreuzzng gegen Preussen zu predigen und es nkht verschmerzen konnten,
dass die (iebnrt des preussischen Staates der Tod des Mittelalters und das
Ende ihrer Macht ist."
*) Ueber Friedrich den Grossen als deutsche Märchenfigur vgl. H.
Pröhle, Kinder- und Volksmärchen, 1853, Vorwort S. XXXI.
462 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
Schliesslich noch für Fernstehende eine Bemerkung über den Verfasser.
Derselbe bildet mit Kossak, Titus Ullrich und Julius Rodenberg jetzt das
tüchtige und geistreiche Vierkleelilatt der Beiliner Feuillf tonisten. Während
jentr zugleich Musiker ist und diese zugleich Dichter sind , wichuet
gerade unser Lessing sich ausschliesslich der feuilletonistischen Description.
Hierauf beruhen seine Fehler wie seine Tugenden. Im Feuilleton herrscht
die Form. Sie überwiegt und noch dazu in der Alles mit Ironie umfassenden
Art in Lessings Aufsätzen, wie in den daraus entstandenen Schritten. Zum
Gluck ist jedoch Lest.iiig im Stande, nicht allein auf seine Form ungewölin-
lichen Fleiss zu verwenden, wobei wir keineswegs ans Erfahrung wissen,
ob er ihn wirklich darauf verwendet; sondern er ist auch im btande, zu
seinen Aufsätzen und Schriften ganz ungewöhnliche Studien zu machen.
Dass er in letzterer Beziehung es an nichts fehlen lässt, hnt er durch Torso
und Korso von neuem auf eine ebenso seltene als feine Art bewiesen. Äföie
er es auih feiner beweisen! — Sein Name ist der unsres grossen Dichters
und ni(.ht Lestoq, wie das literarische Centralblatt in einer Recension von
Torso und Korso sagte. Der Name Lessing und Lestoq sind vielmehr in-
sofern identisch, als umgekehrt Lestoq in den Berliner Zeitungen ein falscher
Name für Hermann Lessing ist. p
Deutsches Lesebuch für Gymnasien, Real- und höhere Bürger-
schulen von F. Hopf und K. Paulsiek. Zweiter Theil.
Erste Abtheilung. (Für Tertia). Berlin, E. S. Mittler und
Sohn. lfS59.
Im Laufe der Jahre 1855 und 18.'i6 erschien der erste Theil des deut-
schen Lesebuchs von Hopf und Faulsiek, in drei Abtheilungen gesondert,
die je für eine der drei unteien Klassen einer höheren Lehranstalt berechnet
waren. (Hamm. G. Grote'sche Buchhandlung (C. iMüller). Dieses Bneh,
nach kurzer Zeit zum zweiten Male aufgelegt, fand sowohl günstige Beur-
theilungen in Zeitschriften (Herrig, Archiv für das Studium der neueren
Sprachen ISof. S. 4 1 .■3. Mützell, Zeitschrift für das Gymnasialwesen IX. 11.
S. 832) als auch eine bileibende Aufnahme in mehreren preussischen uinl ausser-
preussischen Schulen, so dass, hierdurch ermuntert, die Herausgeber jetzt
als Fortsetzung die vorliegende Abtheilung für Tertia haben folgen
lassen.
Das Verliältniss dieses Tiieiles zu dem ersten wird durch das Motto des
Titelblattes ebenso sinnig als richtig angedeutet:
Wenn du zum Thurm aufklimmst auf gewundener Staffel, erscheint dir
Oefter das nämliche BihI, doch es erweitert sich stets.
So auch kommst du zumeist, aufstrebend im Reich der Erkenntniss,
Auf ein Bekanntes zurück, aber du schaust es erhöht.
In diesem Sinne schliesst sich die Abtheihmg für Tertia enge an die
vorangehenden Stufen an. Auch hier ist Poesie und Prosa vertreten, jedoch
so, dass diesmal der Poesie „die Ehre des Vortritts" eingeräumt wni-den ist,
und zwar nicht bloss äuvserlich, sondern auch durch grösseren Umfang. Der
prosaische Theil umfasst 132 Seiten, während der poetische 236 Seiten ein-
ninnnt. Die Herau.sgeber gingen bei dieser Bevorzugung des poetischen
Abschnittes von der Ansicht aus, dass dem heranwachsenden Knaben (in der
Tertia) die Zunge zu prosaischer Rede schon einigermassen gelöst sein müsse.
Sie haben wohl Recht; jedoch ist das einigermassen sehr zu betonen,
und der prosaische Abschnitt wird auch in der Tertia thun müssen, was
seines Amtes ist.
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 463
In dem poetischen Abschnitte tritt, dem Standpunkte und dem zwei-
jährigen Cursus der Tertia angemessen, die Gliederung der Poesie nach ihren
Hauptgattungen hcvor. Die Ordnung der Stiii.'ke nach den Dichtungsarten
setzt den Lehrer in Stand, an der Hand des Buches die Scliüler empirisch
mit den hauptsächlichsten epischen Versmassen bekannt zu machen und
überhebt ihn tiucr systematischen Unterweisung in den JNIefris, welche auf
dieser Stufe nicht angebracht wäre. Der poetische Theil ist folgendermassen
geordnet:
\. Epische Poesie. A. Rein epische Poesie. I. Heroisches Epos.
n. Thierepos. III. Idylh'n. B. Lyrisch epische Poesie. IV. Aus grösseren
lyrisch fpis<'hen Dichtungen. V. Poetische Erzählungen, Balladen, Koraanzen.
ä. Sagerihaite Stoffe, b. Geschichtliche Stoffe, c. Stoffe aus dem Völker- und
]Menschenleb(ai überhaupt. VI. Poetische Beschreibungen. C. Didaktisch
epische Poesie. VlI. Fabeln. VIII. Parabeln und Paramyihien. IX. Le-
genden. X. Allegorien und Räthsel. XI. Lehrgedichte. XII. Gnomen und
Epigramme.
BS. Lyrische Poesie. A. Rein lyrische und episch lyrische Poesie.
XIII. Weltliche Lieder. XIV. Cieistliche Lieder. B. Didaktisch lyrische
Poesie. XV. Elegische Gedichte.
C. Dramatische Pot'sie.
Die prosaische Abtheilung lehnt sich in ihrem ersten Abschnitte, den
Sagen, fast ganz an die poetische, in ihrem zweiten Theile, dt-n gt-schicht-
licl)en Darstellungen, welche hauptsächlich zur Belebung deutsciier und preussi-
scht-r Geschichtskunde dienen sollen, an das hi^torische Pensum der Tertia
an. Diese Abtheilung hat folgende Gliederung erhalten:
A. Erzählende Prosa. I. Siigcn. IL Geschichtliche Darstellungen.
1. Schilderungen geschichtlicher Begebenheiten und Verhältnisse. 2. Ge-
schichtliche (Jharakterzeichnungen. III. Erzählungen. IV. Fabeln und Pa-
rabeln.
B. Beschreibende Prosa. V. Naturbilder. VI. Bilder aus dem Menschen-
leben.
C. Didaktische Prosa. VII. Abhandlungen. VIII. Ein Dialog. IX. Syn-
onymen.
ö. Eine Probe rhetorischer Prosa.
E. Briefe.
In stoffl.cher Beziehung ist als ein Vorzug des Lesebuches hervorzu-
heben, dass es in der poetischen Abtheilung Stücke aus Walter und Hilde-
gunde, den Nibelungen und der Gudrun giebt. an welche si( h in der pro-
saischen Ahtheilung Wall her und Hildegunde, die Siegfriedsage, die Gu-
drunsage und ähnliche Stoffe anschliessen. Hierdurch ist dafür gesorgt,
dass der Schüler zeitig mit den deutschen Sagen vertraut wird, für welche
in den Geschichtsstunden nur wenig Zeit übrig zu bleiben pflegt, während
den Sagen des griechisch-römischen Alterthums andere Lehrstunden hin-
reichen<len Raum vergönnen. iJoch auch den Sagen der Alten ist, wie in
den früheren Theilen. so auch in diesem ihre Stelle eingeräumt worden: sie
sind namentlich auch im V. Absi'hnitre vertreten. Wenn, um eine Einzel-
heit herauszugreifen, der Inhalt der Nibelungen nur bis zur Versenkung
des Hortes mitgetheilt ist, so erscheint dies als kein Mangel, da der andere
Theil der Sage Motive enthält, die erst dem reiferen Junglingsalter ver-
ständlich werden können. Wohl aber hätten noch einijfe Lessing'sche Fabeln
mehr aufgenommen werden können. Es liesse sich ferner über die Scene
aus Comggio (von Oehlenschläger) mit dem Herausgeber rechten Ref.
säht', an dieser Stelle litbei- eint- Scene aus Schiller, etwa die Schlussscene
aus W ilhelm Teil; denn, wie 1*. selber zugiebt, wird die Probe aus Oehlen-
schläger „nicht allen Schillern" einen Blick in die ideale Welt der Kunst
eröffnen, woge^^en <lie bezeichnete Scene aus 1 'eil sicher einem jeden Schüler
etwas bieten möchte.
464 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
Von diesen meist streitigen Punkten abgesehen, maoht das Ganze einen
gewinnenden Kimiruok. Die Auswahl zeigt si'heren pädagogisclien Takt;
der Zweck des Buches leuchtet ü'Derall liindurch, er ist Bildung des
Geistes und Herzens durch Läuterung des Geschmacks, Be-
fruchtung der Phantasie und Anregung des religiösen und
patriotischen Sinnes.
Somit möge das Buch angelegentlich Allen empfohlen sein, welche
deutschen Unterricht zu ertheilen haben; es verdient dieselbe anerkennende
Aufnahme zu finden, wie die ersten drei Cursen.
Die typographische Ausstattung ist gut, der Druck korrekt.
Posen. Dr. Breysig.
Englisches Lesebuch, zusammengestellt aus den Werken der
besten englischen Geschichtschreiber zum Gebrauch für
Schulen und zum Selbstunterricht von E. Bernhardt, Pro-
fessor. Meiningen , Brückner und Renner, (ohne Jahres-
zahl). IX. u. 482 S. 8.
Der Verfasser ist eine Zeit lang in Zweifel gewesen, ob es zweckmässig
sei, auf das bekannte ^^'erk von HiTrig so bald ein neues ähnlicher Art
folgen zu lassen, ist aber zu der Ueberzengung gekommen, dass beide Kücher
recht wohl neben einamlt^r bestehen können. Referent, der anfangs jenes
Bedenken theilte, muss dem Vfr. auch im zweiten Punkte Reciit geben.
Das vorliegende Lesebm h ist ein willkommener Nachtrag zu dem Herrig-
schen Werke und kann von jedem Frennde der englischen Literatur gleich-
zeitig mit demselben benutzt werden. Denn wälirind Herrig, um die ^anze
Literatur nach (Tochichte und augenblicklichem Umfamie darzustellen, auch
Schrittsteller aufnehmen muss, die dem grossen Lesepul)licum weit ablie<zen,
beschränkt sich das Lesebuch auf solche (ieschichtsehreiber, welche sich
noch gegenwärtig in den Händen jedes gebildeten Lesers in En(.'land finden.
Dieses kleinere Feld ist glücklich gewählt, weil England gerade an guten
Gescbichtsclireibern reich und die Verbreitung derselben in immer weitern
Kreisen wünschenswertli ist. Natürlich ist auf dem engeren Gebiet eine
ziemliche V^ollständigkeit erreicht. Die Auswahl ist mit Geschmack und viel
Belesenheit getroffen Die Biographie, ein reicher Zweig der englischen
Literatur, ist nicht mit aufgenommen. Von den Geschichtschreibern im
engern Sinne könnte man vielleicht Carlyle vermissen, der allerdings für die
Schule wenig bietet. Dagegen ist von den Amerikanern Prescott aufire-
nommen. Die abgedruckten Stücke sind charakteristisch für die Schrift-
steller und in sich selbst interessant. Die beigefügten Anmerkungen und
biographischen Notizen wer<len nicht allein dem Selbststudium zu Hülfe
kommen, sondern auch dem Lehrer manchen dankenswerthen Fingerzeig
geben. So ist namentlich der Abschnitt aus Macaulay in seinen Einzeln-
heiten gewiss auch für den verständlich geworden, dem die eingehende Per-
sonen- und Sachkenntniss, wie Macaulay sie voraussetzt, abgeht. Ueber das
Mass in diesen Dingen wird man immer rechten können: doch wäre, um eine
solche Einzelnheit zu erwähnen, eine Bemerkung nöthig gewesen zu p. 87,
wo Dickens von einem Kaiser Agricola spricht. Leider haben sich verhält-
nissmä^^sig viele Druckfehler eingeschlichen, sonst ist die Ausstattung des
Buches vortrefflich.
Kl. Rosleben. Giseke.
Programmen schau.
On the study of Modern languages in general, and of the Eng-
lish language and its treattnent in the connnercial school of
Leipsic in particiliar by Dr. David Asher. Programm der
öffentlichen Handelslehranstalt zu Leipzig. Ostern 1859.
Der Titel iler Abhandlung lässt seinem ersten Theil narh Allgemein-
heiten über ein schon oft behandeltes Thema erwarten; und in der Ttiai hat
der Verfasser zu Anfang derselben ein <:anz allgemeines Ra.sonnement ange-
stellt, ohne den Gegenstand durch neue Gesiehtspnnkte oder eigenthumliche
Behandlung wesentlich zu fordern. Hierin liegt schon angedeutet, dass wir
diesen Tlieil für den schwä>hsten der Arheit halten; jemthr der Verf. auf's
Einzelne kommt, desto interessanter wird seine Darstellung. Zieht man von
den Erörterungen im Eingange die Anführuiiiren bekannter Schriftsteller ab,
so bleiben nur (Gemeinplätze ührig. Diesen Tlieil können wir füglich als
variae leetiones bezeichnen. Es wird davon ausgegangen, dass man vielfach
dem Stuiiium der neuern Sprachen die bildende Kraft oder die Fähigkeit den
Geist zu entwickeln abgesprochen und behauptet habo. Spraehkenn;nisse setzten
uns nur m den Mand, unsre Gedanken mii grosserer Fülle des Ansdru* ks dar-
zustellen, ohne den Ideenkreis selbst zu erweitern. Die Umichtigkeit dieser An-
sicht will der X'erf nachweisen, und wir werd-n gleich sehen, worin ^ein Nach-
weis besteht Der Ausgangspunkt ist aber an und für sich schon eine unnöthige
Anknüpfung an etwas, was man als abgethan auf sich beruhen lassen sollte.
Dass die Sprache als Form der Meen mit diesen auf das Innigste zusamnicn-
hange und die Erweitreung des Inhalts bedinge, dass f« rner durch das ilinzu-
tieten eines aii'lern Organismus sj)racldicher Formen eine Bereicherung nnsrer
Ans. hauungen und Gedanken der eine neue imd ei^-enthümlii he Begrenzung
derselben im Verhältniss zu tinander herheigeführt werde, braucht man wirk-
lich heut zu Tage einem treliildeten Leser nicht mehr zu deinonstriren. Et-
was .Andres wäre eine eingehende Erläuterung «ier logischen und psycholo-
gischen Momente, welche der geschichtlichen Sprachentwicklung z i (irumie
liegen. Unnöthig ist ferner IL Dr. Ashers's Digression über die gi-iechische
und römische Literaiur. insofern er nicht dazu foitgeht, di-n W ertli <ier mo-
dernen Sprachen als HiMnngsmitiel im Unterschiede vom Lateinischen und
Griechischen zu charakterisiren. Die Uehcrsclirift des ersten Kapitels The
advantages to be derived from the study of modern languages liess eine
derartige V ergleichung erwarten; was der Verfasser beibringt, kann ganz
im Allgemeinen von jeder beliebigen Sprache gesagt werden. Es besteht
ans der Angabe, da^s Sprachkenntniss rien Schlüssel zur Literatur andrer
Völker enthält, welche nuthwendigerweise den Geist ausdehnen und ihm
neue Ideen zuführen muss, ferner aus einem Hinweis auf die Leistun;/« n der
comparativen Philologie, endlich aus dem Citat einer langen Stelle der
Schopenhauer'schen Parergn and Paralipomena, welche IL Dr. Asher in
Archiv f. n. Sprachtii. XX\ U. 30
466 Frogranimens chau.
englischer Uebersetzung mittheilt. Sie bildet den eigenthümlichen Schwer-
punkt (IfS Riisonneuient ; Jiber zur Charakteristik moderner Sprachen im Ver-
hältniss zu den classischen trägt sie nichts bei. H. Dr. Aslier scheint dies
selbst gefühlt zu haben; denn er schliesst seinen ersten Theil mit den
"Worten: It has been, I trust. sa tisf actorily shown that, whether ms re-
garded by itstdf, or as affecting the mind ol' the student (nicht glü. küch
gewählter Ausdruck), the study of hmguages — betheyancient ormo-
dern, dead or living — may clHira equal rank with any other science,
and is well caiculated to form an imporiant branch of education. Lm dies
bescheidne Resultat zu erreichen, bedurlte es keines grossen Aufwandes von
Gelehrsamkeit, ke'nes Apparats von Citaten. Der Verf. hat viele Namen
genannt, Si eilen und Seiten citirt wie blosse Büchertitel; wir erfahren ge-
legentlich, .Ihss Rask zur Entdeckung der Lautverschiebung den Weg ge-
balmt — beiläufig gesagt etwas allgemein Bekanntes, dass Eugen Aram nach Bu-
cher's Miitheilung in der N; tionalzeitung die erste Ahnung einer verg'ei-
chenden Sprachwissenschaft gehabt habe, wir bekommen allerlei Gelehrten-
namen in den Kauf, nur Diez ist unerwähnt gelassen.
Es soll weiterhin vom Verf. bewiesen werden, dass unter allen moder-
nen Sprachen die englische dem Deutschen die grössten Vortheile bringe
und den höchsten Anspruch auf sein Studium erheben dürfe. Dies wird
von einem linguistisciieu , hterarischen und praktischen Gesichtspunkte
aus gezeigt. Der zwtiie Paragraph der Abhandlung (the Euglish language
considered from a linguistic point oi' vievv) ist nach meiner Ansicht der in-
teressanteste, weil er zu Anfang etwas nicht allgemein Bekanntes brin<:t,
einen Berliht über die von der Berliner Akademie im Jahre 1794 gestellte
Prcisaiifgabe. das Ideal einer voUkomnmen Sprache aufzustellen und durch
Prüfung der bekanntesten älteren und neueren Sprachen Europa's nachzu-
weisen, welche dieser Sprachen jenem Ideale am nächsten komme, ferner
über die gekrönte Preisschrift des Berliner Predigers Dr. Jenisch, welche
zwei Jahre später unter dem Titel erschien: Philosophisch kritische Ver-
gleicimng und Würdigung von 14 älteren und neueren Sprachen Europa's,
namentlich der larieclüschen u. s. w. Nachdem H. Dr. Ashec an der Be-
hanllung des Gegenstandes in diesem Werke den niedrigen Stand der
Sprachwissenschaft zu jener Zeit nachgewiesen, theilt er mit, dass Jenisch
4 Bedingungen aufgestellt habe, denen eine vullkommne Sprache genügen
müsse, l) Fülle, 2) Kraft des Ausdrucks, 3) Klarheit, und 4) Euphonie. In
allen Punkten mit Ausnahme des letzten wird der englischen Sprache vor
den übrigen der Preis zuerkannt. Nachdem das von Jenisch gefällte Urtheil
durch allerlei Citate unterstützt worden, setzt H. Dr. Asher die bekannte
Stelle in J. Grimm".; Abh. über den Ursprung der Sprache, worin das Eng-
lische im \ erh. zum Deutschen wie zu den lonianischen Sprachen charakterl-
sirt wird, halb in eigner Uebersetzung. halb in den Worten Trench's (Eng-
lish Past and Present p. 36) dazu. Zweckmässig wäre es gewesen, er hätte
sich auch bei der folgenden Analyse der Bestandtheile des Englischen statt
an Sharon Turner, den er nebst Latham anführt, an <las erste Capitel des
erwähnten Trench'schen Werkes (vgl. besonders S. 14) gehalten; dort, wer-
den die von verschiedenen Sprachen dem Englischen gelieferten Wort-
elemente nach ihrer Bedeutung chaiakterisirt, nicht bloss mechanisch abge-
zählt Nun versucht H. Dr. Asher ziemlich kurz (auf drittehalb Seiten)
die Einführung der verschiedenen Elemente, aus denen das Englische gebildet
ist, von der Zeit der Römer herab bis zur Entstehung des Neuengli.-chen
im Zeitalter der Elisabeth nach Perioden zu sondern. Er hätte wohl nicht
nöihig gehabt bei dieser Gelegenheit die Hauptwerke der angelsächsischen
Literatur so' wie die verschiednen Ausgaben derselben aufzuzählen. Cui
bono? Dass Kemble den Beovulf und Thorpe den Cädmon edirt hat u. s. w.,
ist doch wirklich zu bekannt, um einer Angabe zu bedürfen. Was der Verf.
zu Ende des Capitels noch zur Charakteristik der englischen Sprache bei-
Programmenschau. 467
bringt, ist sehr unerheblidi. Wie er sich über schwierige Aufgaben weg-
zusetzen versteht, zeigt folgende Stelle: There is no ahitmriness (in English
graniiiiar) in any oiie instauce. (?) The language aeknowledges no law, but
the Ihw of reason and good sense. Hcnce, tue, there is no absurdity to be
niet with in English eramrnar. such as — but no. I will not institute conipari-
sons, these beinsr proverbially odious, and peiluips nowhire niore so than
here. wh'-re they tonch natiiMial st-tisibility without henefiting science.
Der dritte Faragr.ipli der Ahh. ('he Kn^lish languagf considered frora
a literary point of vievy) soll in drei Tlieik- zerfallen, die Verwandtschaft der
ent;lis.h.-n Literatur mit unsrer eigem^i, der gegenst-iiige Einfluss, welchen
bei<ie Literaturen zu vers. hiedenen Zeiten auf einander geül't haben, und
der hohe innere Wertli der engiis'h-n Literatur. Es finden s\ch darin
reiht schäl z^-nswerthe literarische Notizen, von denen wold tnanche den
meisten Lesern neu s<in dürften; nur sind dieselben durch einander gewür-
felt Mit (lern heicjeb'aehten Material Hesse sich viel mehr anfangen, wenn
wirklich aus den 'Ihatsachen Schlüsse gezc^nn würden, üas scheint aber
Hr. Dr. Asher's schwache Seite zu sein. Zwei Beispiele werden frcniigen
zu zeij^en, wie bt-qu m er es sich macht und mit welcher Leichtigkeit er
üher ßeweisfiihrungen hingeht: p -.^4. Now in F^nglish liierature. by which
I would be understood to refer to tlie works just indieated, we discöver. as
in the lanouage. a i-pirii akin to ihat pervad ng our own liierature. and, in-
stead of all elaborate argument it will snffiee to point to tlie hiihe.-t in-
stance, to Shakspeare — the poet who above all others Stands mo-t pro-
minently forward as the exponent and representative i-f the national mind,
and whom we have suceeeded in makini; entirely our own. Des Verfassers
it will suffice bestreiten wir; es bedarf allerdings eines elaborate ar:ument,
um die Versieheiung zu rechtfertigen: we tiiscover in English lit a splrit
akin to that pervading our own; ohne den Nachweis, woiin diese Verwandt-
schaft wirklich besteht, sind wir versucht, dergleichen Behauptungen für
blosse Phrasen zu halten. Ferner S. M f : As to tlie third reason which I
assigned at the commencenient of tliis ehapter in as-^ertion of the claims of
English literature, viz its high intrinsic nierit, I helieve so much has lieen
Said on that head in this Essay that it would be a woik of supererogation
on my part to dwell upon thi.^ point again ar any length. The gnat names
I have mentioned. sliinmg forth pie -eminent in the multifarious walks of
literature — as (of) historians, philosophers, orators — as dramatic. ep c,
and lyric poets — as novelists and hum mrists — are a sufficient jjuaraiitee
for the Sterling rnerit of the works consiiiuiing Engli.-ili literature, and the
acquaintance ot my reailers with the majoiity of theiii, which. I Inlieve, I
may unhesitatin^Iy presume on, dispenses me fiom all elaborate argu-
ment. Obgleich der Verf gelegentlich ilies und jene.« erwähnt hat, was
si<h auf ilen innern Werth der eiiglisehen Literatur bezieht, hätte er doch
oline bcheu vor dem elaborate arijument durch .\ufstelluny; bestimmter Ge-
sichtspunkte einen thesaurns supererogationis anlegen sollen. Hinweis auf
berühmte Namen kann kein Argument ersetzen. Unter der Würde der
Wissenschaft bleibt, was llr. Dr. Asher S :iJ hinzufügt, die sogenannte
leichte Literatur der Euiiländer sei so moralischer Natur, dass eine Mutter
fa^t jeden engliscin'n Rotnan ihrer Tochter in die Hand geben köime. Ab-
gesehen von der Reden.sart the hiiih moral tone of English socIety, die
immer ein P^ngländer dem andern nachspricht, ohne dass wir sie gleich zu
acceptiren brauchten, ist die ganze Behauptung: übertrieben und darum un-
richtig. Thackeray hat zwar vollkonnnen Recht, wenn er dies von Di. ken's
Schriften rühmt, aber gleich auf manche der Bulwer'schen Romane passt es
nicht. Decenz ist noch keine Moralitat.
Was endlich den vierten Para<:raphen der Arbeit betrifft (the English
laneuage considered from a praciical point of view), worin der Verf auch
auf Methode des englischen Unterrichts in einer Handelsschule zu sprechen
•168 Programmen schau.
kommt, so enthält derselbe wenig Eigenthümliches, oder das Eigenthiimliche
ist nicht haltbar. Wenn es z. b. von der untersten Klasse heisst : Etymo-
logical analyst's er parting aided by (.'omparative philology, will have to ac-
conipany the exercises in translation, so lässt sich dies nur durch die An-
nahme rechtfertigen, dass die coniparative Philologie hier für die allerelemen-
tarsten Dinge den Namen hergeben müsse. Vielleicht habe ich an die ganze
Arbeit einen falschen Massstab angelegt, dass sie ntimlich gleich andern Pro-
grammen für Gelehrte bestimmt sei. Sollte der Verf. sich etwa an seine
Schüler und an die Eltern derselben haben wemien wollen, so Hesse sich
das Öchriftchen als eine ganz hübsche Einpfehlung der englis-hen Studien
betrachten. Der Stil des Verf. zeigt ungewöhnliche Vertrautheit mit dem
englischen Idiom, nur ist er etwas zu wortreich.
Immanuel Schmidt.
Bemerkungen zu Byron's Childe Harold Canto I, vom Collabo-
rator Dr. Struve, in den zwei Programmen von 1859 und
1860 der Kieler*) Gelehrtenschule.
Um den Freunden Byron's einen Beitrag zur Erklärung seines so be-
rühmten \^'erkes zu liefern, hat Herr Sruve zahlrei'he Beläge aus den ein-
zelnen Schriften des Dichters selbst, sowie aus den bisher wenig benutzten
Leiters and Journals of Lord Byron by Thomas Moore und aus den \\'erken
Sliitkspeare's, Milton's, Pope's, W. Scott's und Thomas Moore's gegeben.
Indem wir den Fleiss des Verfassers gebührend anerkennen, bemerken wir,
dass seine Erläuterungen vorzugsweise die im Gedichte vorkommenden histo-
rischen Thatsachen betreffen; so die persönlichen Verhältnisse des Dichters,
namentlich das zu seinen Freunden und zum andern Geschlechte, ferner die
Geschichte des Mädchens von Saragossa, die er bis zum Tode der lieldin
fortsetzt, die Schlachten im spanisch-französisciien Kriege u. s. w. Was die
sprachlichen Eigenthimdichkeiten, namentlich die dichterischen Ausdrücke
und Wendungen anlangt, so giebt er uns theils eine reiche Anzaiil von Paral-
lelstellen aus Byron selbst und den obengenannten Autoren, sogar aus rö-
mischen Dichtern, wie Ovid und Virgil, theils sucht er den Sinn nach eige-
nem Ermessen zu erklären, wobei er mit der in Berlin (in der Herrii;'schen
Sammlung englischer Schriltsteller) erschienenen Angabe des Childe Harold
von Brockerhuff' im Wesentlichen übereinstimmt und nur zweimal (Stanze 15:
Oh, Christ, und :iö : To the gale) davon abweicht. Seine Erklärungen sind
klar und ungezwungen und lassen kaum einen für das Verständniss schwie-
rigen Punkt unberührt, während wir in der gewiss auch sehr schäizenswer-
then Broekerhoff'schen Äusgalte nicht selten eine zu weit gehende Erklä-
rung der einzelnen Redensarten aiitr' ffen, bei der alle nur möglichen, oft
sehr fern liegenden und dem Dichter schwerlich in den Sinn gekommenen
Bedeutungen angegeben weiden.
*) Merkwürdiger Weise steht auf dem Titel beider Programme nur:
Unsre Gelehrtenschule, und auf dem ersteren ist nicht einmal der Dnick-
ort angegeben ; der Inhalt der S( hulnachrichten jedoch scheint die Annahme,
dass Kiel gemeint sei, zu rechtfertigen.
Berlin.
Dr. Philipp.
M i s c e 1 1 e n.
Rion n'est plus instructif que d'observer, le texte latin de la vulgata
en regard, comment, d'un cöte. Ics forines latines se sont changdes et ddve-
lopp^es (lans les langues d'origine romaine, et de l'autre, comment, dans ces
traductions, meine beaucoup de mots lutins ont ete tradnits et remplaces par
des expressions qui, quant ä la signification de leur racine dans la langue
maternelle. passaient pour synonymes ou signifiaient meme autre chose.
Car assurement on ne parlait pas, dans les provinces conqnises, la langue
elegante de Rome: et les langues romaines tirant leur origine de cette
langue rustique. on |)Ournnt. a mon avis, en examinant Ifs trailuctions
faites sur la vulgnta, ddcouvrir encore anjourd'hui bcaucoup de locutions
reprocliöes jadis aux provinciaux comn)e harbarismes. Pour coniribuer tant
soit peu k l'etude des deux Inngues le plus favorisees pjir nos contem-
porains , le vieux francais et le provenpal, j'aurais bien voulu, en publiant
les psaumes 74 et 13:? dans la belle langue fran(;aise du Xllle siecle, dripres
le ms. nO 8177 de la bibliotheque imperiale de Paris, mettre ä cöte' une tra-
duetion provencjale de ces menies psanmes: mais (]uoique les catalogues de
cet'e bibliotheque en indiquent plu«ieurs, j'ai pourtant trouve, en les
feuilletant, que tous les manuscrits indicpies ne contenaieiit pas de traduction
proven(;ale. Ainsi le beau manuscrit n"^' 8178 du Xllle siöcle donne une
traduction cata'ane dans une langue d'une rare purete et d'une orthogniphe
assez ronstante: puis. le ms. nO 8170 du XVe siecle est meme ecrit, comme
Ton voit par une lettre de charge, copiee de la meme main a la i^uite des
psaumes, dans Tidiome valencien : et enfin le ms. n^ 757 Suppl. du XVe
sifefle contient une langue mel^e de proven^al, de catalan et qu<'lquefois
meme, a. ce qu'il parait, de francais. J ai donc donnö h cöte du texte. t'ran-
9ais, les traductions catalane et vaiemienne, parce qu'il n'y a rien de plus
facile que de reproduire, d'aprfes ces deux idiomes, une traduction proven^ale.
Voici ces deux psaumes:
Psaume 74 (75).
Vulgata:
Confitebimur tibi, Deus, confitebimur, et invocabinms nomen tuum.
Narrabimus mirabilia tua: (3) quum accepero tempus, ego justitias judi-
cabo.
(4) Liquefacta est terra, et omnes qui habitant in ea: ego confirmavi
columnas ejus
(o) Dixi iniquis: Nolite inique agere ; et delintjuentibus: Nolite exaltare
cornu.
((;) Nolite extollere in altum cornu vestrum: nolite loqui adversus
Deum iniquitatem;
(7) Quia neque ab Oriente, neque ab üccidente, neque a desertis mon-
tibus;^(8) quoniam Deus judex est.
470 Miscellen.
Hunc humiliat, et hunc exaltat: (9) quia calix in manu Domini vini
meri phnus mixto.
Et, inclinavit ex hoc in hoc; verumtamen faex ejus non est exinanita:
bibent omnös peccatores terrae.
(10) Ego autem annuntiabo in seculnm: cantabo l)eo Jacob.
(11) Et omnia cornua peccatorum confringam, et exaltabuntur cornua justi.
Vieux fran^ais.
(Ms. no 8177, fol. 118 vso. et fol. 119 r.)
Nous confesserons a toi, dex, nos confesserons et apenrons ton nom.
Nos raconterons tez merueilles: quant ie aurai pris tens, ie iugerai iu-
stises.
Deoorans est faite la terra, e tuit li habitant en lui: ie confermai les
colompnes (dex) de lui.
Je dis a fi-lons : ne uoilles felenessement faire; et as pechans: ne uoilles
eshaucer la corne.
Me uoilles leuer en haut uostre corne: ne uoilles parier encontre deu
iniquite ;
Quar ne d'orient, ne d'occident, ne des desers des montaignes; car dex
est ingi's.
Oiu btirailie e cestui essausse: car li calices est en la main de nostre
seignnr piain mehle de uin pur.
E il enclina de ce en ce; neporquant la He de lui nen est amermee: e
beuront de ce tuit li pecheor de la terre.
Mnis ie anuncerai el ciecle: ie chanterai au deu de Jacob.
E toutes les cornes des pecheors briserai: e les cornes des iustes seront
essaucees.
Catalan.
(Ms. no 8178, fol 91 r. — 92 r.)
Senyor deu, a tuns confessarem, confessar nos em e apellarem lo teu nom.
Recomptarem les [tues] marauelles : com pendre temps, yo iutgere en
dretura.
Fusa es la terra, e tots aqu<^lls qni stan en aquella:
Jo dixi als maliiats: no uulles maluadament obrar; e als peccadors: no
uulles axal^ar la*) senyoria.
No uuiies lauar en alt la uostra**) senyoria: no uulles parlar contra
deu iniqiütat.
Cor de sol ixent, ne de sol ponent, ne de munts deserts; cor deu es
iutge.
Aquest humilia e aquest exal9a: en la ma de nostre senyor de ui pur
[calix] umplida.***)
Enclina de 9a e del la la podridura dell e no sclarira: beuran tots los
pecca'lors de la terra.
Mas yo anunciare a tot lo mon e cantare a deu de Jacob.
E totes les senyories dels peccadors trencare: e seran exal9ades les
senyories dels iusts.
Valencien.
(Ms. nO 8179, fol. 133 — 134 r.)
Confessarem a tu, deu, confessarem a tu hi inuoccarem el teu nom.
Recomptarem les tues marauelles: com baiire temps, yo les iusticies iutyare.
Que rtgalada es la terra hi tots los que habiten en ella :
*) ms.: lur.
"■*) ms : alt t e senyoria.
***) ms.: pur umplira.
Miscellen. 471
Mes yo digui alsmaluats: no uullau ffer iniquament, bi als peccants: no
iiuUau elleiiar lo corn.
No uullau exal9ar en alt lo uostre corn: ni uullau parlar contra deu
iniqiiitat.
Que no de Orient, ni de occident, ni dels dezerts; car deu es iust iutge.
Aquest liurailia \n aquest exal9a: que el calix en ma del senyor de ui
pur ple remesclat (sobre uessmit).
I abaixa d'aqnest en aquell; einpero la fegalada dell no es diniinuhida:
beuran della tots los peccadors de la terra.
Mes yo declarare en lo setgle la tua lahor: cantare el deu de Jacob.
I tots los corns dels peccadors trencare: hi seran exalsats los corns dels
iusts.
P säume 133 (134.)
V u 1 g a t a :
Ecce nunc benedicite Dominum, omnes servi Domini.
Qui statis in domo Douiini. in atriis domus Dei nostri.
(2) In noctibus extnllite manus vestras in sancta, et benedicite Dominum.
(3) Benedicat te Dominus ex Sion, qui fecit coelum et terram.
Vieux fran^ais.
(fol. 211 vso.)
Estes uos, ores beneissies nostre seignor, tuit si cerf.
Qui estes en la maison de nostre seignor, es aitres de la maison de
nostre deu.
Es nuis esleues uos mains*) es saintes cboses, e beneissies nostre seignor.
Beneisse toi uostre 8ire[s^ de Syon qui fist e le ciel e la terre.
Catalan.
(ibl. 171 r.)
O beneyts deu, tots los seruidors de deu.
Qui stau en la casa del senyor, en los palatis de la casa del den' nostre.
Uenits e leuats les mans uostres als sanctnaris e beneyts lo senyor.
[Lo senyor] te beneescha de Syon, qui feu lo cel e la terra.
Valencien.
(fol. 2-10 r.)
Veus ara benehiu lo senyor, tots los seruents del senyor.
Qui estau en la casa del senyor, en los palaus de la casa del nostre deu.
En les nits ellcuau les uostres mans en les coses sanctes bi benebiu lo
senyor.
Bcnebexquet el senyor de Sion, el quäl feu el cel bi la terra.
Julius AVollenberg.
Jesus und die Samariterin.
Goetbe erwähnt 'Band 3«, S. 202 der Cotta'scbcn Ausgabe 1830) in
dem Aufsatze „über Italien, Fragmente eines Keiscjournals" ein geistliches
dialogisirtes Lied, binsichtlicb anderer Volkslieder, mit den Worten: „Ar-
tiger, angenehmer, dem Geiste der Nation und den Grun<lsärzen des katho-
lischen Glaubens angemessener ist die Bearbeitung der Unterhaltung Christi
und der Samariterin zu einem dramatischen Liede. Es bat innerlich die
*) ms.: uos benemis.
472 Miscellen.
völlio-e Form eines Intermezzo zu zwei Stimmen, und wird nach einer fass-
lichen Melodie von zwt-i armen Personen auf der Strasse gesuneen. Mann
und Frau setzen sich in einiger Entfernung von einander, und tragen wech-
selsweis ihren Dialog vor; sie erhalten zuletzt ein kleines Almosen, und
verkaufen ihre gedruckten Gesänge an die Zuhörer." I h will nicht ver-
schweigen, (iass Goethe fortfährt: „Wir geben hier das Lied selbst im Ori-
ginal, das durch eine Uebersetzung alle Grazie verlieren würde." Ich habe
desswegen alle Ursache, für den folgenden Uebersetzungsversuch um Nach-
sicht zu bitten, dem ich die ersten vier italienischen Verse voransetze:
Sono giunto stanco e lasso
Dal niio lungo camminar.
Ecco il pozzo, e questo e il sasso
Per potermi riposar.
Jesus. Zwischen Waldgestrüpp und Dorne
"Wandelnd ward ich müd' und matt;
Auf dem Steine hier am Borne
Find' ich eine Ruhestatt.
Wartend will ich hier verweilen,
His ich eine Frau erblickt.
Schöner Quell, o Quell, zu heilen
Eine Set-le, wie geschickt!
Lämmer, welche fern vom Stalle
In der Wüste sich verirrt,
Heim zur Heerde führ' ich alle,
Als ein guter, treuer Hirt.
Schau, da kommt so eben eine
Arme Frau, sie ist allein.
Komm nur her, du arme, kleine!
Komm zu mir, ich harre dein.
Samariterin. Nun. das fehlte mir noch eben!
Wer nur ists, der dorten sitzt?
Muss ich das auch noch erleben,
Jemand hier zu finden itzt!
Und er ist vom Nachbarlande,
Lt nicht aus Samaria.
An dem Haar, Gesicht, Gewände
Seh' ich, 's ist ein Jude ja.
Jud' und Samariter hassen
Sich einander, weiss ich wol,
Lange Jahre schon, und la.«sen
Nimmermehr von ihrem Groll.
Doch was kütnmerts mich was zag' ich?
Zn dem Brunnen geh' ich hin.
Fragt er, wer ich sei, S'> sag' ich:
Nun ich bin die, die ich bin.
Jesus. Heil euch, Frau, an dieser State!
Miscellen.
Samariter in. Ihr auch, Mann, gogrüsset seid!
Jesus. Kommt ihr heut zum Born doch späte!
Samariter in. Eber hatt' ich keine Zeit.
Jesus. Durst, o liebe, plagt mich Armen,
Seid so gütig, tränket mich!
Reicht mir Labung aus Erbarmen,
Tränket, tränkt mich mildigliih!
Samariterin. AVie! Ihr wollt zu trinken nehmen
Von der Samariterin!
Müsst als Jud' ihr euch nicht schämen?
"Wie kommt das euch in den Sinn?
Denn die Euren un 1 die Meinen
Hassen sich einander schwer;
Solch Verfahren würd' erscheinen
Beiden wunderlich gar sehr.
Jesus. Wiisstet, wü?st(-t ihr, o liebe,
Wen ihr jetzo vor euch habt,
"Wiinschtet ihr mit heissem Triebe
Euch durch seinen Quell gelabt.
Samariterin, Euren Quell? ihr macht mich lachen!
Kuer Wasser i<t wol seicht.
Alt ist Jakob; wollt ihrs machen
Gleichwie unser Ahn vielleicht?
Sei gesegnet er desswegen,
Der uns diesen Born verliehn!
Seinen Kindern gab zum Segen,
Seinen Heerden gab er ihn.
Jesus. Tochter, wer am Born des Lebens,
Meinem Borne sich erfreut,
Lö-clite nicbt den Dur.^^t veigeliens,
Weil sein Durst sich nie erneut.
Samariterin. Könnt ihr nicht ein wenig geben
Mir davon, o Herr, sofort?
Nie dann wieder zu begeben
Brauch' ich mich an diesen Ort.
Jesus. Gerne sollt ihr's haben, gerne,
Holt zuvor nur euren Mann!
Denkt niclit, dass ich midi entferne!
Nein, ich bleib' und geb's euch dann.
Samariterin. Meinen Mann? Ei, Gott bewahre!
Noch bin ich von Manne frei.
Jesus. Wie, wenn ich euch oflennare,
Dass ihr mehr gehabt als drei?
Fiinfe hattet ihr schon deren,
"Wenn der jetz'ge euer ist.
4 Miscellen.
Samariterin. Lassen muss ich ihn gewähren —
(bei Seite) Herr, ich höre, dass ihr wisst.
Ja fürwahr, ihr seid ein Seher,
Eurer Weisheit schweig' ich still,
(b, S.) Drum von dannen ich je eher,
Desto lieber sclileichen will.
Jesus. Nein, nein, nein, nicht von der State,
Da die Zeit sich jetzt erweist,
Dass man zum Messias bete
In der Wahrheit und im Geist.
Samariterin. Wohl haV ich es auch vernommen,
Dass man vom Messias spricht;
Aber ob er schon gekommen,
Kann ich euch berichten nicht.
Jesus. Tochter, schon ist er erschienen.
Der Messias, traut auf mich.
Meine 'Worte, glaubet ihnen,
Künden's euch, ich bin es, ich.
Samariter in. Ja, ich glaub' es, mein Gebieter,
Ich verehr' eu' h, und mein Mund
Macht an alle Samariter
Flugs das grosse Wunder kund.
Jesus. Geht, zu eurer Heimat Ehre
Wird dort gläubig Weib und Mann.
Die gesammten Himmelsheere
Stimmen Jubellieder an.
Samariterin. O der hohen Huld und Gnade,
AVenn im Herzen Glaub' erwacht!
Jesus. Auf der Liebe lichtem Pfade
Zeigt zumeist sich Gottes Macht.
IL
Samariterin. Nehmet wahr der sündigarmen,
Wie sie wieder vor euch steht!
Ja, mit freundlichem Erbarmen
Schaut mich an, o Majestät 1
Meine Seele war am reinen
W^asserquelle euer Gast;
Andres Wasser wird mir scheinen
Ekler Sumpf nun und Morast.
Tausend Dank sei euch gespendet!
Wollt, ihn zu empfahn. geruhn,
Dass mein Herz ihr so gewendet!
Weltlich war ich, heilig nun.
Miscellen. 475
Jesus. Meine Tochter, lasst mich nennen
Euch nun mehr als jemals so;
Und zu scliönem AV'eik entbiennen
Wtrd' ich oft noch selig frob.
Gott ja bin ich, wie ihr wisset,
Mächtig schafft mein Ann und hehr.
"Wenn ihr nie den Glauben misset,
"Wirk' ich einst durch euch noch mehr.
Samariterin. Eben hab' ich als den wahren
Gott der Allmacht euch erkannt;
Denn der Samariter Schaaren
Haben sich euch zugewandt.
Jesus. Hab' ich doch von ew'gen Zeiten
Euch die Ehre zugedacht,
Meine Lehre zu verbreiten
Und der Wahrheit hohe Macht.
Samariterin. Herr, mein Herr, o was vernehm' ich?
\^ ie wird mir die% Gunst zu Theil ?
Ach, ich stehe vor euch schämig.
Nicht verdien' ich solches Heil.
Jesus. Das ist meine Sitt' und Weise,
Die so manches Wunder schafll.
Für die That zu Gottes Preise
Braucht es nur geringe Kraft.
Eingedenk seid, wer den grassen
Hololernes überwand!
Liess ihn nicht im Bett erblassen
Eine schwache Frauenhand?
Denkt an Goliath, den Riesen,
Was das Lehen ihm geraubt!
Nur ein Steinchen fällte diesen,
Und zur Erde fiel sein Haupt.
Schaut, hier meine Hand vollbrachte
Diese ganze weite Welt !
Und ich habe, was ich machte,
Aus dem Nichts an's Lijht gestellt.
Wohl um meinen Ruhm zu mehren,
Hab' ich, was ich that, gethan;
Doch auch Nutzen zu gewahren
Denen, die mir gläubig nahn.
Samariterin. O das Liebst' ist mir von Allen
Doch das Evangelium:
Lasst damit als Botin wallen
In der Welt mich um und um.
Euch gewidmet sei mein Leben,
Milder Jesus, euch allein!
476 Miscellen,
Euch will ich mich ganz ergeben,
Keines Andern fürder sein.
Jesus. Gerne will ich euch mich fügen,
Dessen Herz ich mir gewann.
Euer wonnigstes Vergnügen
Findet denn an mir fortan!
Samariterin. O mein Trauter, Heb und theuer!
Jesus. Liebe Freundin seid ihr mir.
Samariterin. Ich bin euer!
Jesus. Ich bin euer!
Beide. Ew'ge Treue halten wir.
K. L. Kannegiesser.
Sprachliche Fragen.
Bei 'näherer Prüfung der Rechtschreibungsregeln der französischen
Sprache sind mir mehrere Seltsamkeiten aufgefallen, welche ich mir nicht
erklären konnte, und über welche ich bei allen bedeutenden Fachmännern
vergeblich Aufschluss suchte. Vielleicht ist die Sache andirswo bereits
gründlich erörtert, und bewarf es nur einer Nachweisnng der mir und Andern
unbekannten Quelle, viellficht hat ein Mitglied des Vereins für das Studium
der neueren Sprachen dem Gegenstände seine Aufmerksamkeit zugewendet
und die Schwierickeiten gelöst. Ich würde jedenfalls für eine ausreichende
Belehrung darüber sehr dankbar sein
In der Feststellung der neuern, von der altern Worstchreibung, — die
wohl bis über die Mitte des vorigen Jahrhunderts herun'erreii-ht — sehr ab-
weichenden, muss doch wohl irgend welches grundsätzliche Verfahren , oder
wie man kunstniässig sagt, ein Prinzip, herrschen, wenn man nicht annehmen
will, die sogenaimte Akademie habe willkürlich entschieden, und alle
Siirachkenner hätten dies ohne weiteres anerkannt, sogar gegen die längst
eingewurzelte Gewohnheit. Der Forscher ist daher verpflichtet, die Grund-
ansichten, welche die jüngere Schreibweise empfuhlcn haben und die Ab-
änderung des Ueberkommenen rechtfertigen, aufzusuchen, und wofern sie
nicht irgendwo dargelegt worden, aus dem Ergebniss sell»st möglichst zu
entwickeln Mir ist dies in mehreren Fällen nicht gelungen. Ich belege
dies hier mit eirTem Beispiel, das viele Wörter umfasst.
Girault-Duvivier (ich habe die Ausg Bruxelles 1842) sagt in dem §.
Du doubUment des Consonnes: Une re<:le generale, et qui ne souffre que
trcs-peu d'exceptions (wie so ist sie denn generale? wenn nicht die Aus-
nahme wie.lerum ihren Gnmd hat?) c'est que quand les consonnes sont dou-
blees, & que ce n'est pas par raison d'etj'mologie. c'est presque (!) toujuurs
paTce(]ue les syllabes qu'elles forment sont breves. Dies und alles was folgt,
giebt sogleich die Unwissenschaitlichkeit der Regeln zu erkennen, welche
«len Leser anleiten, erst aus der Be>cliaffenheit der Schreibung sich selbst
die etwaigen Gründe zu schaffen, anstatt ihn sofort auf den Standpunkt zu
stellen, von welchem aus er die richtiire Schreibung von selbst bilden könne.
W^iiklich vermisst man in den Angaben, ausser da wo die Ableitung oder
die Fremdheit der Wörter die Schreibung ohne Weiteres rechtfertigt, jede
allgemeine Idee.
Die Verdoppelung des B findet er nur ztdässig in Fremdwörtern: Abbe,
u. s. f. Aber man hatte früher Abb^cher, Abbee , und schwankend Abbois
Abois, offenbar aus Abbayer und Abboyer, ohne Zweifel aus ad -baubare, also
Miscellen. 477
durcli Ableitung richtig; dahin gehört auch abbreuver fauch abbreuvrer) mit
seinen Abh-ituiigen. In allt-n diesen liegt der Bejzriff des lat. ad, wie bei
allen französischen Anfkngssylben Acc. u Acqu und oce. (weder bacchanale,
noch oculiste, noch ocean u. a. bilden Ausnahmen, sie gehören gar nicht
dahin). Die mit Add. beginnenden sind rein lateinischen Ursprungs. Doch
ist zu bemeiken, dass die englische Schreibung Address aus dem mittel-
alterlichen addretio, addresso herrührt, folglich gewiss der alteren tran-
zösischen Rechtschreibung entspricht, gegenüber dem auch schon ziemlich
alten adresse.
Die Umänderung des Afdier u. s. w. in Affilier lässt sich leicht begreifen.
AVir übergehen manches Andere, um besonders beim p zu verweilen. Man
schrieb früher: Appaiser, Appercevoir, Appertement, Appelis.^er, Applaner,
Applanir. alle augensilifinlieli vom ßegrifle ad bestimmt, wie kommt es nun,
dass die Verdoppelung des p. in der neuen Schreibart geändert wurde? —
"Wir begnügen uns mit diesem Beispiele. Wir nehmen vorläufig an,
dass die Erledigung des einen l'unktes höchst wahrscheinlich auf die
Lösung aller weitern Rathsel l'ühren werde.
Bei dieser Gelegenheit möchten wir auch eine deutsche Frage berühren.
Der Ausdruck S])iegelfecli ten als Zeitwort, und Spiegelfechterei ist
jedenfalls schon alt. Adelung erklärt ihn mit dem Gefühle der Unsicherheit
und gewiss ungenau. Ein hiesiger Gelehrter erzählt mir, er habe einst in
seiner Jugend ein Spielzeug für Kinder am Spiegel hängen gesehen, welches
aus zwei Liewegliihen Puppen bestand, die mit einander fochten, wenn man
an einem Drahte zog, so dass der Spiegel eine Art Kampfspiel wieilergab.
Ist so etwas auch sonst bekannt ? In bcheible's Kloster 1 S .t77. in einem
Aufsalze, der 1.599 gedruckt worden, finde ich in einem Brit-ft-, den man «lein
Dr. l'aust (einem Zeitgenossen Luthei-'s) zuschreibt: „Kr, Faust, habe durch
sein Spiegel fechten von einem Boten, der ihn zu einem vornehmen
Herrn einladen sollte, aber nicht zu Hause traf, Kunde erlangt, und s<hreibe
deshalb an den Herrn, um sieh zu entschuldigen." Hiernach erscheint das
Spiegelfechten als ein Mittel, unbekannte Dinge zu erforschen. Giebt
es hierüber noch sonstige Auskunft?
Frankfurt a/M. - Dr. J. M. Jost.
In einem Hefte des Archivs fand ich unter den Miscellen vier deutsche
Uehersetzungen der ersten Strofe des bekannten „Mihi est propositum."
Ich wagte mich gleichfalls daran und da einigen Freunden der Versuch ge-
lungen schien, so übersetzte i<'h das gmze Lied.
Ich meine, un-ere edle Muttersprache dürfe kiihn jede andere heraus-
fordern, es ihr in einer derartigen Aufgabe gleichzuthun.
Cantilena potatoria.
In der Schenke muss ich, traun ! enden einst mein Leben ;
Netzt mir dann ilie Lippen noch nüt dem Salt der Reben,
Dass die lieben Engelein, wenn sie niederschweben,
Sagen: „Herr, dem Zecher sei alle Schuld vergeben!"
Humpen! ihr entzündet hell meines Geistes Leuchte;
Auf zum Himmel schwel)et mein Herz, das nektarfeuchte.
Süsser in der hchenkc stets Wein dem Munde dauchte.
Als, den man zu Hause mir stark verwässert reichte.
478 Miscellen.
Wie des Weines Güte, so sind auch meine Lieder;
Soll iih schreiben, stärke erst Speise meine Glieder.
Was ich niichtern mache, ist herzlich mir zuwider,
Doch wenn mich der Becher füllt, sing' ich Naso nieder
Jedem hnt Natur verlieh'n seine eigne Gabe;
Schreiben könnt' ich nimmermehr oline süsse Labe,
Nüclittrn wirft micli in den Staub jeder sciiwaclie Knabe,
Durst und Hunger hass' ich, als gings zum finstern Grabe.
Nie wird ein prophetisch Wort meinem Geist, gelingen,
Kann' ich früher nicht den Leib satt zur Kulie brinjren;
Doch, wenn BMCihus mein Gehirn mäclitig will durchdiingen,
Dann entflammt auch Bhoebus mich zu erhab'nem Singen!
Marcus Holter,
Benediktiner in Kremsmünster,
Oberösterreich.
Bibliographischer Anzeiger.
Grammatik.
F. Müller, über das grammatische geschlecht (genus). (Wien, Gerold.)
4 Sgr.
F. Böttcher, unseres Alphabetes Ursprünge gemeinfasslich dargelegt.
(Dresden, Kunze.) 16 Sgr.
Lexicographie.
J. & W. Grimm, deutsches Wörterbuch III. Bd. 4 Lfg. (Leipzig, Hirzel.)
20 Sgr,
L. Smith & H. Hamilton, The international english and french dictio-
nary. (Paris, Hingray.) 15 frcs.
Literatur.
"W. Grimm. Bruchstücke aus einem unbekannten Gedichte vom Rosengarten.
(Berlin, Dümmler.) 8 Sgr.
Gudrun. Altdeutsches Heldengedicht neudeutsch bearb. v. A. Bacmeister.
(Reuiingen, Palm.) 20 Sgr.
Les Nibelungen trad. p. E. de Laveleye. (Brüssel, Sehnde.) 25 bgr.
E. Otto, SchillerblütUen. Zur Erinnerung a. d. Heidelberger Schillerfest.
(Heidelberg, Groos.) 2 Sgr.
K. Weinbüld, über den Antheil Steiermarks an der deutschen Dichtkunst.
(Wien, Gerold.) 5 Sgr.
J. B. Friedreich, Geschichte des Räthsels. (Dresden, Kunze.) iV^Thlr.
Les anciens Poetes de la France p. p. Guessard vol. IV. Fierabras , Parise
la Duchesse. (Paris, Franck.) 1 Thlr. 20 «gr.
E. Hülsmann, Shakspeare. Sein Geist und seine Werke. 3. Aufl. (.Leipzig,
O. WigMnd.) 20 Sgr.
J. F. Hollings, Lord Macaulay: a L(!Cture delivered before the Leicester
literary & pliilosophical society. (London, .Simpkin.) l s.
H. Reed, Lectures on English literatiire, aiid on euglish history as iilustrated
by Shak.^peare. (London, Bhu kwood.) 3 s. 6 d.
480 * Bibliographischer Anzeiger.
J, Feifalik, Studien zur Gesch. der altböhniischen Literatur. (Wien,
Gerold.) 3 Sgr.
Hilfsbücher.
H. Koepert, Lehrbuch der Poetik. (Leipzig, Arnoldl.) 12 Sgr.
W. Pütz, Uebersicht der Gesch. der deutschen Literatur für höhere Lehr-
anstalten. 2. Aufl. (Coblenz, Baedeker.) 6 Sgr.
F. Bouffier, Theoret. prakt. Lehrgg. f. d. Unter, in d. franz. Spr. (Wies-
baden, Limbartb.) l^/^ Sgr.
Brueys, Tavocat Patelin. Mit literarhist. Einleitg. hrsg. v. H. Schütz.
(Arnsberg, Grote.) 37-, Sgr.
A. Dumas, Jeanne d'Arc mit gram. Anm. hrsg. v. H. Schütz. (Arnsberg,
Grote) 15 Sgr.
J. Nissen, Leitfaden f. d. Unterricht in d. englischen Sprache. L Curs :
Die Formen der engl. Sprache. (Hamburg, Nolte & Köhler.) 10 Sgr.
C. H. V. de Castres, Dicionario espanol-aleman para uso de los escri-
torios de comercio. (Hamburg, Nestler &. Melle.) 16 Sgr.
F. de Mordax, primo dizionario e frasaiio di corrispondenza mercantile,
italiano-tedesco. Disp. L (Triest, Schubart,) 6 Sgr.
PB Archiv für das Studium
3 der neueren Sprachen
A5
Bd. 27
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