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Archiv
für
Geschichte der Philosophie.
Archiv
für
Gescliiclite der Philosophie
in Gemeinschaft mit
Hermann Diels, Wilhelm Dilthey, Benno Erdmann
und Eduard Zeller
herausgegeben
von
Ludwig Stein.
Band IL
Berlin.
Druck und Verlag von Georg Reimer.
1889.
3
Inhalt.
Seite
I. 'Hy£jjiov(a und otarzorzia bei Xenophanes. Von E. Zell er. . 1
IL Zu Aristoteles De memoria 2. ■452al7f. Von J. Freuden-
thal 5
III. BI02 TEAEIOi: in der aristotelischen Ethik. Von Emil
Arleth 13
IV. Zur Psychologie der Scholastik. Von H. Siebeck. . . . . 22
V. Zur Synderesis der Scholastiker. Von Dr. L. Rabus. . . 29
VI. Paläographische Bemerkungen zu Kants nachgelassener Hand-
schrift. Von Julius von Pflugk-Harttung 31
VII. Zu Goethes Philosophie der Natur. Von W i 1 h e 1 m D i 1 1 h e y. 45
VIII. Die Philosophie in Dänemark im 19. Jahrhundert. Von Pro-
fessor Harald Höffding 49
IX. Se un processo evolutivo si osservi nella storia dei sistemi
filosofici italiani. Von Prof. F. Puglia 75
X. Thaies ein Semite? Von H. Diels 165
XI. Die Hypothesis in Piatons Menon. Von Alfred Gercke. . 171
XII. Zu der platonischen Atlantissage. Von Otto Kern. . , . 175
XIII. Zur Psychologie der Scholastik. Von H. Siebeck 180
XIV. Antike und mittelalterliche Vorläufer des Occasionalismus.
Von Ludwig Stein 193
XV. Ein Hymnus auf Immanuel Kant. Mitgetheilt von Karl
Köstlin 246
VI I II h a 1 t.
Seite
XVI. Zwei Briefe Kants. Mitgetheilt von B. Erdinann 249
X\il. Archive der Litteratur in ihrer liedeiitung für das Studium
der Geschichte der Philosophie. Von "Wilhelm Dilthey. 343
XVIII. Protagoras et Democrite. Par Victor Brochard 368
XIX. Sur un fragment de Philolaos. Par Paul Tannery. . . . 379
XX. KPATHPEi: des Orpheus. Von Otto Kern 387
XXI. Ueber Grundabsicht und Entstehungszeit von Piatons Gor-
gias. Von Prof. P. Xatorp 304
XXII. Zur Psychologie der Scholastik. Von H. Siebeck 414
XXIII. Der Humanist Theodor Gaza als Philosoph. Von Ludwig
Stein. ..." 4-26
XXIV. Ueber Gassendi's Atomistik. Von Kurd Lasswitz. . . . 451»
XXV. Leibniz und Montaigne. Von Gregor Itelson 471
XXVI. I/hypothese geometrique du Menon de Piaton. Par Paul
Tannery . 509
XXVII. Zu Thaies" Abkunft. Von ü. Immisoh 515
XXVIII. Zur Psychologie der Scholastik. Von H. Siebeck 517
XXIX. Jordani Bruni Nolani Opera inedita, manu propria scripta.
Von W. Lutoslawski 526
XXX. Einige Bemerkungen über die sogenannte empiristische Pe-
riode Kant's. Von G. Hey maus 572
XXXI. Die Rostocker Kanthandschriften. Von W 11 hei m Dil they. 592
Jahresbericht
über
sämmtliche Erscheinungen auf dem Gebiete der Geschichte
der Philosophie.
I. Bericht über die deutsche Litteratur der Vorsokratiker. 1887.
Von IL Diels 87
IL Bericht über die deutsche Litteratur der sokratischen, plato-
nischen und aristotelischen Philosophie 1886, 1887. Zweiter
Artikel: Plato. Von E. Zeller 95
In half. VII
Seite
III. Jaliresbeiicht über die neuere Philosophie bis auf Kant für
1887. Von Benno Knlmann 99
IV. Die Geschichte der Philosophie in Holland in den letzten
zehn Jahren. Von Prof. C. B. Spruyt r22
V. Delle opere pubblicate in Italia nel I88G e 1887 intorno
alla storia della Filosofia. Von Feiice Tocco 141
VI. Bericht über die deutsche Litteratur der sokratischen, plato-
nischen und aristotelischen Philosophie 1886, 1887. Dritter
Artikel: Aristoteles. Von E. Zell er 259
VII. Jahresbericht über die neuere Philosophie bis auf Kant für
1887. Von Benno Erdiuann 300
VIII. The Literature of Modern Philosophy in England and Ame-
rica, 1886—1888. By J. G. Schurman 330
IX. Jahresbericht über die deutsche Litteratur zur Philosophie
der Renaissance 1886—1888. Von Lud wig St ein. . . . 475
X. L"Histoire de la Philosophie en France pendant Pannee 1887.
Par Paul Tannery 488
XL The Literature of Ancient Philosophy in England in 1887.
By Ingram By wate r 499
Xll. Bericht über die deutsche Litteratur der Vorsokratiker. 1888.
Von H. Diels 653
XIII. Die deutsche Litteratur über die sokratische und platonische
Philosophie 1888. Von E. Zeller 661
Neueste Erscheinungen auf dem Gebiete der Geschichte der Philo-
sophie ICI. 341. SOG. 704
Archiv
für
Geschichte der Philosophie.
IL Band 1. Heft.
L
'H^sfi-ovia und oeanozda bei XcllOplianeS.
Von
E. Zeller in Berlin.
Die pseudoplutarchisclien STpiotxaTci? (b. Eus. pr. ev. I, 8, 4)
berichten über Xenophanes, unzweifelhaft nach Theophrast: dno-
cpaiv£-at ok xott utrA \}e&\> oj; ouosjx'.S? ■fj'i'sijLovi'as £v auToT? ous"/]?' ou
",'ap oaiov OEa~6Ci3i}at xiva tojv i}s(ov ETtioöraDat ts ixt^osvo? auiÄv
u.r,o£va |jLr|0' oXu)c. Diese Stelle schien mir und andern die Meinung,
dass die Götter ein Oberhaupt über sich haben, unbedingt zu be-
streiten, ebendamit aber die Vielheit der Götter, die ohne ein
solches nicht gedacht werden kann und von den Griechen nicht
gedacht wurde, aufzuheben. FreudentliaP) glaubt jedoch, die-
selbe gestatte auch eine andere Deutung. Von einer Hegemonie
iter den Göttern werde X. selbst in diesem. Zusammenhang nicht
' 'rochen, sondern nur „die despotische Beherrschung" der unteren
^^Sr durch Zeus bestritten haben; und dies habe er ebensogut
^'"'"'können, als es Euripides (Herc. für. 1343) in Nachbildung
"'^i"s Fragments thut, ohne darum die Vielheit der Götter in
-■ ^^ömL.,^ stellen. Allein bedeutet oesiröCsiv (um damit zu beginnen)
^ o' was wir unter einer despotischen Herrschaft verstehen,
etwas ät-
er beströ^S^® ^- Xenoph. 10 f. Archiv I, 33'Jir. ^
schichte d. IMiilosopliie. II. •*•
2 E. Zeller,
eine harte, rücksichtslose, die Rechte der Unterthanen nicht achtende
Herrschaft? Was den osatiror/j^, das ossttoCs'-v, die osa-OTö-'a von
andern die Herrschaft bezeichnenden Ausdrücken unterscheidet, ist
lediglich die Unbeschränktheit der Herrschergewalt, nicht die Härte
und Gewaltthätigkeit, mit der sie ausgeübt wird. Asaro-r^c ist der
Herr im Yerhältniss zum Sklaven, die Seele (s. u.) im Verhältniss
zu ihrem Leüje, der Eigenthümer im Verhältniss zu seinem Eigen-
thura: der osa-oxsta entspricht als ilu' Correlatbegrilf (z. B. bei
Plato Phädo 80 A. Parm. 133 D f.) die oouXsia. Die Götter sind
osaTTo-ai der Menschen, wie sie ja stehend genannt werden, weil
diese ihr Eigenthum (x-r^ixa Plato Phädo 62 B) sind; ihre Herr-
schaft kann überhaupt nur eine „Despotie" sein, weil sie kein
Gesetz über sich haben, durch welches dieselbe beschränkt würde:
die OcSTiOTSia auiTj ist (Parm. 134 D) bei den Göttern. Schon hier-
aus folgt, dass bei derselben nicht an eine harte und gewalt-
thätige Herrschaft, sondern lediglich an die absolute Herrscher-
macht zu denken ist, deren Besitz ein Attribut der Gottheit ist:
in jenem Sinn hätte ihr nicht blos das oss-oCscii^at sondern auch
das osaTTÖ^siv abgesprochen werden müssen. Das gleiche ergibt
sich für den allgemeinen Sprachgebrauch aus dem platonischen
Phädo 63 C. 69 D, wo Sokrates die Hoffnung ausspricht, in den
Göttern der Unterwelt wie in denen der Oberwelt oEtj-otac ct^aHouc,
gütige Herreu, zu flndeu: von Despoten in unserem Sinn kann ja
in diesem Fall nicht gesprochen werden. Wenn endlich bei
Theophrast (Ps. Plutarch) an den Satz, dass kein Gott einen Herrn
haben könne, sich das Wort von der Bedürfnisslosigkeit der Götter
anschliesst, so sehen wir aus der Stelle des Euripides, in welcher
Freudenthal so überzeivgend eine Benützung derselben Xeuo-
phanes-Verse aufgezeigt hat, deren Inhalt der angebliche Plutar
wiedergibt, dass die Bedürfnisslosigkeit der Götter von dem pb '
sophischeu Dichter zur Begründung der Behauptung verwe
worden war, keiner von ihnen sei der Herr des andern.
Herakles sagt hier, indem er die herrschenden Vorstellungf^r
die Götter bestreitet: out' r|;ia>3a Ticuiro-' ou-s -ctaoixai — oi'
osvoc. Was Hess sich aber durch die Bedürfnisslosigkeit (
'Hysp-ovia uiiil OEairoTEta bei Xenophanes. 3
begründen? Dass ihre Herrschaft keine gewaltthätige sei, offenbar
nicht. Auch das aber nur sehr gezwungen, dass kein Gott einen Herrn
über sich habe; sondern nur das, wovon auch Euripides allein redet,
dass keiner Herr sei, weil keiner eines Dieners bedürfe. Xenophanes
muss daher an der Stelle, von der uns bei Euseb. nur ein knapper
Auszug erhalten ist, nicht blos ausgefüln-t haben, dass das osaTto-
Csaöai, sondern auch, dass das oscj-oCsiv sich mit dem Wesen der Gott-
heit nicht vertrage; und von dem osa-oCsiv kann er nicht im Sinn
einer despotischen, d. h. gewaltthätigen Herrschaft gesprochen haben,
die das \Vort als solches gar nicht bezeichnet, sondern nur in
demselben Sinn, in dem die Götter allgemein osaTroiott genannt
werden, in dem einer unbedingten Herrschaft. Es entspricht daher
seiner Meinung vollkommen, wenn ihm der angebliche Aristoteles
De Xenoph. 3.977 a 23ff. die Behauptung zuschreibt, als der
xpa-icJTo; 7.~avTU)v könne Gott nur Einer sein, touto 7«p Osov xal
ösoo O'jvoiaiv Eivcti, xoa-cTv, c/DA ar, xocttsia&ai . . . Tts^-cuxivai 77.0
f)£ov IJL7J xpoTsTaöoti, wenn also das osa-oCsaöai hier durch xpaTstcr-
1)7.1 erklärt wird, und wenn ebenso Theophrast a. a. 0. Yi-j'cixov'a
dafür setzt — das gleiche Wort, welches auch bei Plato, vielleicht
in Erinnerung an die Verse des Xenophanes, einem oss-oCstv
entspricht. Plato sagt nämlich Phädo BOA über Leib und
Seele: xcö [xsv oouXsusiv x7.i ap"/£a&7i vj cpuai;: •i:poaT7'TX3i, iq oi
ap/£ty xal Ö£5i:o^£iv, und er iindet, dass die Seele eben darin
ihre Gottverwandtschaft an den Tag lege; 7^ ou ooxeI aoi xo ;j.£v
x^eTov orov ot'pyöiv xs xal TiYsixo veusiv iTEcpuxivai, xo 0£ övr^xciv ap"/£3-
1)71' x£ xal öouX£u£'.v ; Um so weniger haben wir Anlass zu der A^er-
muthung, die r]7£[xovi7 in der Plutarchstelle sei Xenophanes erst
von Theophrast oder seinem Bearbeiter geliehen. Denn kann auch
dieses Substantiv freilich in seinen Hexametern nicht gestanden
haben, so hindert doch nichts, dass das entsprechende Verbum,
7j7£[xov£U£iv, darin stand; und dieses ist auch nicht allein für Xe-
nophanes, der es damit nicht sehr genau nimmt, sondern auch für
Homer und Pindar nicht zu „prosaisch". Gesetzt, Xenophanes
habe geschrieben: ou 77p xoi Deixic iaxt Oöo'j Oeov T;Y£tj,ov£u£iv , oder
etwas ähnliches, so liätte Theophrast allen Anlass gehabt, zu sagen:
er bestreite, dass unter den Göttern eine Hegemonie sei. Ja es
1*
E. Zeller
scheint mir, dass er ohne eine solche Veranlassung sich dieses von
der Herrschaft des Zeus über die Olympier sonst nie oder nur sehr
selten vorkommenden Ausdrucks kaum bedient haben würde.
Dass nun aber Xenophanes die Beherrschung der Götter durch
einen aus ihrer Mitte hätte bestreiten können, ohne darum die
Vielheit der Götter aufzugeben, dies wird m. E. durch das Bei-
spiel des Euripides nicht dargethan. Ob dieser Schüler des Ana-
xagoras und der Sophisten den Polytheismus seines Volks für seine
Person wirklich getheilt hat, mag dahiu gestellt bleiben — mir ist
es sehr zweifelhaft. Aber wie Dem sei, so lässt sich doch seine
Stellung zu unserer Frage mit der des Xenophanes nicht ver-
gleichen. Er ist ein Dramatiker und braucht das, was er seinen
Helden in den Mund legt, so wenig zu vertreten als etwa Schiller
den Atheismus Talbots und den Katholicismus Mortimers; und er
lässt bekanntlich die widersprechendsten Dinge, gerade über die
Götter, oft in Einem Athem vortragen. Bei Xenophanes dagegen
handelt es sich um die ernsten Ueberzeuguugen eines bedeutenden
Denkers; und einem solchen darf man augenscheinliche Wider-
sprüche nicht ohne zwingende Gründe schuldgeben. Freuden-
thal sucht dies durch seine Erklärung des oss-oCsa&ai zu ver-
meiden; wer sich von der Zulässigkeit dieser Erklärung nicht über-
zeugen kann, wird sich auch den weiteren Folgerungen aus
Theophrast's Aussage nicht entziehen können.
IL
Zu Aristoteles De memoria 2. 452 a 17 f.
Von
J. Freudenthal in Breslau.
In seinen lehrreichen Untersuchungen zur Philosophie
der Griechen giebt Siebeck eine interessante Deutung der schwie-
rigen Worte des Aristoteles De memor. 2. 452 a 17 f. Dieselbe ist
durchaus originell, beseitigt aber die vorliegenden Schwierigkeiten
nicht, sondern vermehrt sie durch die, wie es scheint, ungerecht-
fertigte Einführung logischer Beziehungen in eine psychologische
Erkenntniss. Da es sich hier um die von Aristoteles zuerst ent-
wickelte'), für die moderne Psychologie grundlegend gewordene
Lehre von der Association der Vorstellungen handelt, seien die Be-
denken gegen Siebecks Erklärung offen ausgesprochen.
Aristoteles' Worte lauten bei Bekker (Z. 17):
loixs OYj zctöoXou dpyjf] xal xo [xsaov iravtcuv st yap [jlyj
rpoTspov, oTotv 37:1 Touxo sXö^j [xvr^aövjOicTai, ri ouxet' ouos
äXXoöev. otov et.' xi? voVjastev £<p' («y ABrAEZH6- ei
20 yap [X7] £7rl xou E fisjxvrjxai, IttI xou E6 s[j.vr^(ji)7j • svxöuf^öv
"l-ap stt' otficpu) xtvr^{>T^vat IvMysTOii, xat stti xo A xott sttI
XO t,. £1 0£ [XYj XOUXtUV XI £TriCl']t£l, £irt XO l £AÜU)V [XVr^aOTj-
a£X(Zi, £t XO H 7] XO /, £TriCr|X£f £t ö£ ji.Y] , £7ti XO A" xat
ouxco? dst'.
Zu diesem Texte, der vollständig sinnlos ist, bieten die Hand-
schriften, alten Commentatoren und Uebersetzungen zahlreiche
^) Den Grund aber zur Lehre von der Association der Vorstellungen hat
schon Pluton gelegt, wie das aus Phaedon 73 Bf. hervorgeht.
ß J. Freudenthal,
Varianten dar^), von denen bald diese bald jene von den neueren
Erklärern und Herausgebern benutzt worden sind. Auch Siebeck
giebt, wie billig, die Yulgata auf und schlägt (S. 155 f.) folgende
Acnderungen vor: Z. 17 wird mit B^) to vor xoiOoXou eingefügt,
Z. 20 H6 statt E0 mit T gelesen, das. i-\ ohne handschriftliche
Gewähr gestrichen und endlich Z. 23 A statt A (mit T) geschrieben.
Hierdurch soll das Recht zu folgender Erklärung gewonnen sein.
'Das Allgemeine (xö xotOoXou) und der Mittelbegrift" (to [jisaov) sind
das Princip fiir_ das richtige Treffen bei der absichtlichen Wieder-
erinneruug' . . . 'H9 steht als Schema des xa&oXou gegenüber den
einzelnen E und A. Wenn man sich auf E (das Einzelne) nicht
besinnt, so kommt man vielleicht bei (durch) H6 (dem Allgemeinen)
darauf, denn von dort aus ist es leicht, sich auf Beides, sowohl
auf E als auf A zu besinnen'. Als Zeichen für das Allgemeine
sind die am Ende der Eeihe stehenden H0 gewählt, weil das xaBoXou
vom Inhalte der gegebenen AVahrnehmungen am weitesten abliegt.
Von H0 aus soll aber gerade E und A leicht reproducirbar sein,
weil unter dem H das E, unter 9 das A mitenthalten gedacht wird,
wie das Einzelne unter der Gattung.
Mit dem Satze (Z. 22 — 23) d os [Ar; — sttI to A soll dagegen die
Association durch den Mittelbegriff veranschaulicht werden, der ja
nach Aristoteles ' Wesen und Grund einer Sache enthält' . ' F und
A gehören zur Mitte EAE; insofern bedingen sie die Reproduction
durch den engen begrifflichen Zusammenhang, in welchem sie zu
den gesuchten Z und H stehen und zwar um so besser, je näher
sie diesen sind'. Als Beispiel wird die von Aristoteles so oft ge-
gebene Definition der l'xXsi'ln? angeführt, für die Siebeck folgendes
Schema aufstellt (S. 157):
£xX£nj>i? = uTTo 7"?,; avTtcppa^iUjc 7.7to azXfi'jr^: ctspr^st; (ptuioc.
A(B) ^~^ A E Z H
Das Allgemeine und der Mittel begriff' sollen also Ausgangs-
punkte (ap/aQ, oder nach Siebeck 'Principien' für die Erinnerung
-) Die wichtigsten derselben sind Rh. Mus. 1869 S..410 mitgetheilt.
^) Ueber diese und andere hier angewendete Abiiürzungen vgl. Rh. Mus.
1869 S. 87.
Zu Aristoteles De memoria 2. 452 a 17 f. 7
durch Ideenassociation sein. Nicht aber von der logischen Verbin-
dung der Begriffe, sondern von der Verknüpfung der Einzelvorstelluu-
gen auf Grund ihres zeitlichen oder räumlichen Zusammenhanges, ihrer
Aehnlichkeit oder ihres Gegensatzes (451 b 19) spricht Aristoteles
in den zwei Capiteln seiner Abhandlung über das Gedächtniss —
seiner ausführlich entwickelten Lehre gemäss, dass Gedächtniss und
Erinnerung Thätigkeiten des Sinnesorganes sind, dem Denken aber
imr accidenteller Weise zukommen, d. h. nur insofern Begriffe von
Einzelvorstellungen begleitet werden; denn 'der Vorgang der Er-
innerung ist somatischer Art'*). Dass Aristoteles hier die Ideen-
association auf die logischen Beziehungen des Allgemeinen zum
Einzelnen, des Mittelbegriffes zu den äusseren Begriffen zurückge-
führt haben sollte, ist nicht glaublich. Wendet man ein, dass die
ausgeführte Verbindung der Begriffe auch eine Association der ent-
sprechenden Vorstellungen schaffe, so ist das richtig, aber nirgends
von Aristoteles hervorgehoben worden. Er erkennt nur die bekannten
oben erwähnten vier Principien der Association an (451 b 19f.).
Warum, wenn Siebecks Deutung richtig wäre, fügte er daselbst diesen
vier nicht das Allgemeine und den Mittelbegriff als weitere Principien
hinzu? — Aber es ist gar nicht zuzugeben, dass das xaöoXou als
solches zur Auffindung der vergessenen Einzelvorstellung uns führen
könne. Denn alle Einzelvorstellungen haben zu dem ihnen über-
geordneten Allgemeinen die gleiche Verwandschaft. Soll uns also
ein allgemeines H durch Association zu einem bestimmten Einzelnen
E führen, so muss das aus anderen Gründen geschehen, als weil
jenes xaUo/.ou, dieses ein xci)' ixaaiov ist, so muss eine der ge-
nannten vier Principien der Association den Uebergang vermitteln:
das xrAUjkoo an sich ist also nicht d^'/j] ttocvkuv.
Mit dem x7.i>oXoü fällt auch das «xssov in Siebecks Erklärung;
denn das von Aristoteles gewählte Schema verliert, bloss auf den
Mittelbegrift' bezogen, jeden Sinn. Doch lässt sich die Unhaltbar-
keit der Siebeekschen Deutung auch in Bezug auf das [xsaov be-
sonders darthun.
*) De mem. 1. 451a 14 p-v/jur] -/7.1 tö jj.vrjij.ov£'j£iv ... cf ctvTaa[j.aTOS ^^i? xal . .
Toü rpwTO'j «(aDrjTixoü. 450a 12 ij oe [J-vr^arj xai tj tiöv votjtiöv oyx li'veu cpavxa-
afJ!.aTO? äaxiv. 2. 453a 14 aci)[j.c(Ttxov xi t6 tisOo;.
3 J. Freudenthal,
Vom Mittelbegriffe sollen wir auf dem Wege der Association
leicht zu den äusseren Begriffen gelangen, weil er ^das Wesen und
den Grund einer Sache enthält' (nach Anal. post. II 2. 90a9f.).
Ist aber die eigentliche Ursache der Association die causale Ver-
knüpfung des [xsaov mit den axfja, warum bezeichnet Aristoteles
nicht, wie z. B. Hume und Beueke es thuu, die Causalität als ap/T)
ravTtov, sondern vielmehr die durch ein Schlussverfahren hergestellte
logische Verbindung durch den Mittelbegriff? — Nicht jedes jxsaov
ferner enthält das otttiov '). Ist auch in diesem Falle das {xicjov die
ap/y] Tav-tüv? Bejahen wir das, weil Aristoteles keine Ausnahme
angiebt, warum sollte da nicht jede durch irgend ein Urtheil ge-
schaffene Verknüpfung' von Begriffen zur Erzeugung einer Association
genügen ?
Und nun prüfe man auch den aristotelischen Text im einzelnen.
Es ist zunächst auffällig, dass Aristoteles zwei so verschiedene Be-
Ziehungen, wie die des Allgemeinen zum Einzelnen und des Mittel-
begriffs zu den äusseren Begriffen an Einem und demselben Bei-
spiele, ohne den Uebergang vom xaOoÄou zum txssov irgendwie anzu-
deuten, veranschaulicht haben sollte. Wer sagt uns, dass H Z. 19
das Allgemeine, Z. 23 aber das axpov, dass A Z. 22 das Einzelne,
Z. 23 aber das [xssov bezeichnet?
.Dass in dem Satze loixs ovj xta. (Z. 17) thatsächlich nicht von
zwei doyai die Rede sein kann, beweist der Singular touto (Z. 18),
der auf die ap/vj zurückweist. Und dass nicht das Verhältniss des
Allgemeinen zu den einzelnen Gliedern Z. 19 — 22 erörtert wird,
geht aus dem a;x'i(ü (Z. 21) hervor, das nach Siebeck zwei beliebige
vorher nicht genannte Einzelne bezeichnen müsste.
Wie unpassend sind ferner nach Siebecks Erklärung die Zeichen
für die associirten Begriffe gewählt! Die am Ende der Reihe stehen-
den 116 hat Aristoteles nach Siebeck zum Zeichen für das Allge-
meine gebraucht, ' weil das Begriffliche, Gattungsmässige vom sinn-
lich Einzelnen.. . am weitesten abliegt'. Liegt aber E, das Ein-
*) Anal. post. I c. 13: tö oe oxi otacpeptt xal t6 oidxt iTn'cTaaöcd eva [xev
Tp(5-ov .... aXXov OE d Ol' djjiEawv jjiev, dXXct fxrj 5tä toO aktou, dXXd xüiv dv-t-
aTpecpo'vTüjv otd xoü yvcupiiAiuxepou (yi^vExai 6 ouXXoytafxö;).
Zu Aristoteles De memoria 2. 452 a 17 f. 9
zelne, wirklich von H0 am weitesten ab? Und ist nicht auch Z,
das H Zunächstliegende, ein Einzelnes in diesem Schema? —
Wann ferner hat Aristoteles zur Bezeichnung von Gegensätzen,
wie einzelne Glieder und Allgemeines, die gleichartige Folge einer
Buchstabenreihe, wie hier ABTAEZRÖ, gewählt? AVarum be-
zeichnet er das Allgemeine durch zwei Buchstaben H6? Warum
bedient er sich zur Bezeichnung des Verhältnisses vom [j.£aov zu
den zwei axpa hier der Reihe ABFAEZH, während er es doch sonst
nur durch drei Buchstaben selbst da veranschaulicht, wo ein Glied
aus mehreren Begriffen besteht. So z, B. bei dem von Siebeck
selbst gewählten Beispiele von der Mondfinsterniss (Anal. post. II
8. 93 a 30 f. 37 f.): as^r^v-/] F, sxXstt]/i? A, -o TraaasXrjVou axiäv [j-tj
ouvaaOai ttoiciv [xr^osvo; vjtjLÜJy [xsTotEu ovro? ©avspou, e<p ou B.
Doch diese wunderliche Wahl der Buchstaben mag dahinge-
stellt bleiben; jedenfalls aber dürfte man wohl erwarten, dass das
von Siebeck gewählte Schema die aristotelische Lehre von der
Association durch den Mittelbegriff einigermaassen veranschauliche.
Das ist aber keineswegs der Fall. Das Schema ist nach Siebeck:
sxXsi'jii? = uTto '^Tj? avTicppaqc«)? dno asÄr^v/j^ 3-£p-/jai; cpcDXoc
A(ß) r A E Z ' H
Und zur Erläuterung fügt Siebeck hinzu (S. 157): ' Worauf man
sich zu besinnen sucht, ist der Vorgang und das Wesen der sxX£t'}ic.
Die Erinnerung blos an A und B (lxXct'];t?) bringt die gewünschte
Einsicht noch nicht zurück, wohl aber, wenn man auf V (dass die
Erde Ursache ist) und noch mehr, wenn man auf A (durch ihr
Dazwischentreten) kommt'. Um dies Schema mit Aristoteles'
Worten vereinigen zu können, ist Siebeck also gezwungen, IxXöi'^ic
für einen Doppelbegriflf (= A und ß) zu erklären, das |j,£Sov gar
durch drei Buchstaben FAE auszudrücken, das zum axpov gehörige
airo asXr^v/js noch zum Mittelbegriffe zu schlagen und das untrenn-
bare '(r^<; avxicppa^i; als eine Zweiheit von Begriffen anzusehen, an
deren einen man sich erinnern kann, ohne des andern zu gedenken.
Wie anders urtheilt Aristoteles über die Einheitlichkeit der eine
Definition bildenden Glieder! Wie ist es überhaupt möglich zu
wissen, dass die Erde Ursache der Mondfinsterniss ist, ohne zugleich
zu wissen, dass sie es durch ihr Dazwischentreten ist? — Und
10 J. Freiidenthal,
wesscü sucht man sich eigentlich zu entöinuen? Des 'Vorganges
und des Wesens der e/Xst <!;!?', sagt Siebeck. Aber der Vorgang ist
ja die l'xXsi'k? (Aß), und von ihr geht man aus: sie ist also be-
kannt. Das 'Wesen der sxXsi'in^' ferner ist vom ascjov nicht zu '
trennen — nach bekannter aristotelischer Lehre, auf die Siebeck
selbst sich beruft: auch das Wesen der iy.lz>.'\n; kann also nicht
das sein, 'worauf man sich zu besinnen sucht'. So schwebt Alles
in der Luft.
Hat sich somit Siebecks Erklärung als unhaltbar erwiesen, so
wird man zu der früheren einfachen Auffassung der aristotelischen
Worte zurückkehren müssen, welche die alten Commentatoren vor-
tragen und die ich (Rhein. Mus. 1869 S. 410f.) zu begründen
versucht habe. Demnach ist zu lesen: Z. 17—19 wie Bekker.
Z. 19: El -jOtp U.7J ETti xo5 6 lu-vr^aör^, i-l loü E [i-itxvrj-ai, si zo H
Tj To Z i-iCr^izi' svTcüOiV y^-p £-' a[j.cp(ü xtv/jUr^va'. ivoiys-a'., X7.i s-i
tO a /.ai wTTi to L. £1 0£ [xr^ toutcuv ti £-i,/;tci, ötii to 1 öAüouv
\lvr^'j{)r^(3^T'y.l' zi o£ [jltj, £-1 to A.
Nur zwei grössere Aenderungen sind nothweudig: die Um-
kehrung der beiden Sätzchen (Z. 20) und die Versetzung der Worte
£1 — ETriCr^-ct von Z. 23 nach Z. 20. Die erste dieser Aenderungen
findet an der Lesart der ersten Handschriftenclasse Unterstützung,
in w^elcher die ^\'orte £-1 tol» E \}.iiivr,-rj.i fehlen. Dies Sätzchen
war also schon im Archetypos nach den Worten £-1 toü 0 savr^cji)r^
— des gleichen Anfangs wegen — ausgefallen und ist in B an die
falsche Stelle geschrieben. — Die Umsetzung der Worte Z. 23 et —
£7riC"/iT£t empfiehlt sich aus den Rh. Mus. 1869 S. 411 angegebenen
Gründen. Z. 20 ist 6 für E6 mit der guten Handschrift .\, Th.
Mich, und der alten lat. Uebers. zu schreiben; Z. 22 bietet auch
die letztere Z für E dar.
Der Sinn des Ganzen ist klar. 452a 7 f. war ausgeführt wor-
den, dass man durch ein beliebiges Glied einer Reihe von ^'or-
stellungen auf die vergessene Vorstellung geführt werden könne.
Hierauf fährt Aristoteles fort (Z. 17 f.): 'Im allgemeinen scheint
auch*") das Mittelglied einer Reihe Ausgangspunkt (dp'/r,) für alle
^) 'Auch' das Jlittelglied ist Ausgangspunkt und nicht bloss das eigent-
Zu Aristoteles De memoria 2, 452 a 17 f. 11
Glieder zu sein', da man von ihm aus vorwärts und rückwärts zu
den gesuchten Vorstellungen geführt werden kann. Geht man also
z. B. in der Reihe ABFAEZHÖ von dem zuletzt wahrgenommeneu
6 zu den früheren Vorstellungen zurück, so kann man von
ihm aus zu H und Z geführt werden, aber auch in umgekehrter
Folge, wenn man von E ausgeht. Erinnert man sich aber auch
bei E nicht an Z und H, dann wird man auch von keinem an-
deren Gliede aus sich erinnern können. Von E aus führt nun die
Association nach beiden Seiten, nach Z und nach A. Sucht man
aber keine dieser Vorstellungen, sondern eine noch weiter zurück-
liegende ß, so kann man sich dieser, geht man auf gleicher Linie
weiter, von F aus entsinnen, oder wenn nicht von dieser, so in
umgekehrter Folge von A aus.
liehe Anfangsglied, von dem 451a31f. die Rede war. 'Im allgemeinen'
(xaSdXo'j) sagt Aristoteles; denn bisweilen versagt die Thütigkeit der associativeu
Erinnerung, wie 452 a 30 f. ausgeführt wird. Auf diese Bedeutung des -/aöo^.o'j,
der zufolge es das 'unbestimmt Allgemeine', daher der Ergänzung und Berich-
tigung durch Erkenntniss des Einzelnen Bedürftige bezeichnet, haben die Er-
klärer des Aristoteles, soviel ich weiss, bisher nicht hingewiesen, und auch in
Bonitz' Index Aristotelicus tritt sie nicht klar hervor. Und doch ist sie
durch zahlreiche Beispiele zu belegen. So heisst xa&dXo'j Äeysiv bisweilen
'unbestimmt' 'nur im allgemeinen' reden. Vgl. Metaph. A4. 1070 a 31 av
■/.aöoXo'j ÄEyr) ti? xa\ -/.ax' ävaXoyt'av: Polit. F 15. 1286a 10 ooxoüat z6 -^löoXou
tj.ovov o't voij-ot Äeyeiv, dcXX' oi) Tcpö; lä rrporj-rtTTTOvro'. sTciTaTtitv; Eth. Nik. E 14.
1137 b 14 -cpi bnui-^ 5' oby oKv ts öpöws £t7:£lv 7,a&oXo'j; Eth. Nik. B 7. 1107a29
^v yäp TOt; Trspl T(i? TTpct^ei? Xoyot; ol f/ev xaöoXo'j -/£VüJT£p&i £(giv; De an. gen.
B 8. 748 a 7 ou-o; 6 Xoyo; xa8o/.o'j ?.!otv xat Xcvd; (denn wie es das. 747 b 29
heisst <jSm xot.'dö/.OM f^vXXov, -oppiuTEpu) twv ofxii'tuv Eaxiv dp^^uJv) ; Polit. A 13.
1260a24 otjXov oe toüxo -/.cn-AaTa [AEpo? [ActXXov £-iaxo:TO\3aiv xctildXo'j yäp oi AEyov-
xe; l^araxüüaiv sauxoü;; Anal. post. A 13. 79a5 oi xä xaödXou t}£iopoüvx£; ~o)JA-/.ii
Evia xü)v ~Aa%' Exaaxov oüx l'aaac oi' dvETrtoxEitav. Zu beachten ist auch Eth.
Nik. E 14. 1137 b 14 iv ois ouv ävayv-rj [).bj ti-.zlv -/.a^dXou, [xt] otov xe Se öpöw;,
x6 w; £7:1 x6 ttXeov Xa[Aßavct 6 vd[j.o?. — Wie xaJldXo'j bezeichnet auch das ver-
wandte oXü)? die unbestimmte Allgemeinheit (nach Bonitz' Ausdruck ind. Arist.
506a32). Es wird daher dem (b? inl xö tioXu gleichgesetzt De long. vit. 5. 466a26
oiö xal xct [AEycEXa w? oXio; e^tteiv (xotxpoßicuxEoot, ib. a 13 aber xal or] y.ai xä
[j.Et'Cw (i)c IttI x6 tioX'j Et-Eiv xüjv EXctxxdvcüv [j.axpoßiu)X£pc(. — Ebenso wird
«TiXö); bisweilen in der Bedeutung 'nur im allgemeinen' gebraucht und einem
cacfsaxEpov gegenübergestellt, wie Bernays (Dialoge S. 42. 150) hervorgehoben
hat. — üeber einen ähnlichen Gebrauch von xö aüvoXov ferner ist Vahlen (Beitr,
zu Aristotel. Poetik I S. 35) zu vergleichen.
12 J- Freudenthal,
Hierbei könnte auffällig erscheinen, dass Aristoteles anzunehmen
scheint, die Reproduction einer Vorstellungsreihe gehe nach beiden
Richtungen — vom Anfange zum Endgliede hin und umgekehrt —
gleich gut von statten, und das widerspräche einer bekannten
psychologischen Lehre. Aber Aristoteles hebt nur die Möglich-
keit des Wiederauftretens der vergessenen Vorstellungen hervor,
ohne über die grössere oder geringere Leichtigkeit der Reproduction
in der einen oder der anderen Richtung etwas zu bestimmen. Von
dem Endgliede 0 aber geht er wahrscheinlich aus, weil hiermit das
zeitliche Ende der Wahrnehmungen bezeichnet sein soll; 6 ist also
das uns zunächst liegende, bekanntere, daher im Bewusstsein am
klarsten hervortretende Glied der Vorstellungsreihe. In ähnlicher
Weise hat Aristoteles (451b 19) das vosTv drCo xou vüv zuerst her-
vorgehoben.
Man darf hierbei an den von Lipps (Gruudthatsachen des Seelen-
lebens S. 400) ausgesprochenen Gedanken erinnern, den Aristoteles
freilich nur flüchtig streift: 'Der associative Zusammenhang mit
meinem der unmittelbaren Gegenwart und dem räumlichen Punkte,
auf dem ich stehe, angehörigen Empfinden macht allein, dass es
für mich noch ausser dem, was ich jetzt grade erlebe, festgegrün-
dete Wirklichkeit giebt. Mein Jetzt und Hier ist der letzte Angel-
punkt für alle Wirklichkeit.'
m.
Bioi TEAE102 in (lei aristoteliscilen Ethik.
Von
!Emil Arleth in Prag.
Eth. N. I, 6 bestimmt Aristoteles den Begriff der Glückselig-
keit mit folgenden Worten: „ . . . xo dvöpwTitvov dyaöov 'l^u/jp ivlp-
-,'cia '((vzmi xax' dpsxr^v, si os ttXsiou? ai dpsxai, xaxa xtjv dpiaxr^v
xat xsXsioxdxrjv. Ixt o' £v ßtVo xöXsiü). ;j.ia ^dp ysXiSwv eap ou -KOiel,
ouSs [xia T|[jL£pa* ouxw 6s ouos [laxdpiov X7t suooci'jj.ova [xia 7i;x£p7. ou5'
oXqo? /povoc."
Gewöhnlich wird diese Stelle dahin verstanden, Aristoteles
habe für den Begriff der Glückseligkeit die Erstreckung des glück-
seligen Zustandes, genauer, das Vorhandensein aller sonstigen Be-
stimmungsstücke dieses Begriffes durch das ganze Leben eines
Menschen bis zu seinem Tode in Anspruch genommen'). Aber
nicht alle Forscher sind dieser fast traditionell gewordenen Ansicht
beigetreten. So muss sich nach Ritter (Gesch. d. Phil. III. S. 328)
die Glückseligkeit auf den grösseren Theil des Lebens erstrecken,
Schw^egler (Gesch. d. griech. Philos.) hält ein langes Leben für er-
forderlich, ja L. V. Hennig (Principien d. Ethik in histor. Entwick-
lung § 24) glaubt, mit ß. x. sei der Staat gemeint.
Besonders eingehend hat sich Rassow (Forschungen über d.
1) Eth. Eud. II. 1. 1219b6, Mag. mor. I. 4. 1185a4, Thomas v. Aquino
(Commentar lib. I. lect. X.), Laas (£Üoai[j.ov(a Aristotelis, Diss. inaiig. § 5, S. 10),
Teichmüller (Die Einheit der arist. Eudümonie, Bull, de la cl. bist, de l'Acad.
imp. de St. Petersbourg XVI, 321), Ziegler (Ethik d. Griech. u. Römer S. 110),
Ueberweg (Grundr. I. § 50 mit Berufung auf Eth. N. X. 7. 1077 b 24), Ramsauer
(Arist. Eth. N. ed. et commem. instr. G. R.).
14 Emil Arleth,
nik. Ethik des Aristoteles) mit dieser Frage beschäftigt; nach ihm
bedeutet ßi'oc xsXsio; „ein Leben, das seinen Zweck oder sein Ziel
erreicht" (a.a.O. S. llßft'.)'). Allein trotz der Genauigkeit und
Ausführlichkeit seiner Untersuchung >Yill er dieses Ergebnis nicht
für völlig gesichert gelten lassen: „... fraglich ist, ob Aristoteles
sich mit dieser, wie es scheint, vollkommen hinreichenden allge-
meinen Bedeutung begnügt, oder ob er, wie seine Schule, die zweck-
entsprechende Lebensdauer mit dem vollen Leben bis zAim Tode
zusammenfallen lässt". Für die letztere Auslegung spricht nach
Rassow :
1) Der Schluss des Cap. 10 (1100a4flf.): Es gibt Wechselfälle
des Glückes; denjenigen, der im hohen Alter das Schicksal eines
Priamus erfährt, preist niemand glückselig.
2) Das Zeugnis anderer Peripatetiker; Rassow nennt Eth. End.,
Magn. Mur. (siehe Anmkg. 1) und Stobaeus ecl. eth. ed. Gaisford
S. 624: „tsXsiov 8' sivai toutov (sc. tov )^p6vov), oaov oipiasv ■fjjj.iv TiXsiatov
6 ösoc."
Diesen Gründen setzt er die Eth. N. L 11. 1101 a9 — 13 gelehrte
Möglichkeit der Wiedererlangung der verlorenen Glückseligkeit ent-
gegen^), ein Argument, welches nach seiner Meinung von ent-
scheidendem Gewichte wäre, wenn nicht ein Zusatz erfolgte, der
Alles wieder in Frage stellt: T; TrpoailsTsov xai ßt(u50(x£vov oG'ttu;
xal. T£?^£utT^aovT7. xotxa Xo^ov, STüSioTj ~o ijLsXXov acpavs; riaTv, z-qv suoai-
{JL0V17.V ok TsXo; xal tsXöiov xiüsjj-sv Ttavcifj Trav-ojc;"
Um den Ueberblick zu erleichtern und Missverständnissen vor-
zubeugen will ich den Gang meiner Darlegung kurz angeben:
A) Nachweis, dass die Behauptung, zur Glückseligkeit sei nach
Aristoteles das ganze Leben notwendig, unrichtig ist.
L Widerlegung der liir diese Behauptung angeführten
Gründe.
-) Dieser Auslegung schliosst sich auch Susemihl au (Aristoteles' Politik.
Griech. u. Deutsch, II. S. 195, Verhandlungen d. 35. Philol. Versamml. S. 24).
^) 1101 a9 — 10: GUTE ydp iv. ttj? £uoat[j.ovta; xtvrJ^>■/JaeTal pao((u;, O'jS' bno TÜJv
TuyovTwv (ituyr([AaTcuv dAX' Ü7:ö [j.£ydAu)v zcci TioXXüJv, ex te xiüv toic/Ötiüv o'JX dv
YEvciiTO iidXtv e6oatjj.u)v iv öXfyui ypovw, äXX eiTiep, ev t^qXXw Ttvt xal TeXeiw,
[j.EydAiov xai xaXöiv iv aünü y£vd[jiEvo; ETi/jßoXo?.
BIOS TEAEIOS in der aristotelischen Ethik. 15
IL Gründe, welche gegen dieselbe sprechen.
B) Widerlegung der Ansicht Rassows, ßioc xsXsioc: bedeute ein
Leben, das seinen Zweck erreicht.
C) Versuch einer neuen Erklärung des Ausdruckes ßio? xeXsioc.
A.
1. Wenn man das Verhältnis des oben genannten Zusatzes zu
den ihm unmittelbar vorausgehenden aristotelischen Ausführungen
ins Auge fasst, so zeigt sich seine vollständige Unvereinbarkeit mit
denselben, mag man nun ßio? -sX. = ganzes Leben nehmen oder
nicht.
Unter der Voraussetzung, ßi'o? xsXsio? bedeute das ganze Leben
würde die Stelle 1101 a9 — 19 folgenden Sinn haben: „üen Glück-
seligen kann man definiren als einen gemäss der vollendeten Tugend
Thätigen und mit äusseren Gütern hinreichend Ausgestatteten und
zwar Beides nicht für eine beliebige Zeit genommen, sondern für
das ganze Leben; vielleicht aber ist doch noch hinzuzusetzen, der
Betreffende müsse auch in Zukunft bis zu seinem Tode so leben."
Bass dies nichts anderes ist, als eine ganz sinnlose Tautologie,
leuchtet ein.
Aber auch dann, wenn unter ß. x. nicht das ganze Leben ver-
standen wird, ist keine befriedigende Erklärung möglich. Bie in
ß. T. enthaltene Zeitbestimmung*) erfährt durch den Zusatz keine
Aenderung, sondern es tritt eine ganz neue Forderung hinzu, nach
welcher es unter Umständen nicht genügt, dass Einer für die Bauer
des ßio; xikzi'-j- gemäss der besten Tugend etc. thätig ist, um den
Namen des Glückseligen zu verdienen, er muss vielmehr in dieser
Thätigkeit und in guten äusseren Verhältnissen bis an sein Lebens-
ende verharren, ßto? tsXöio? würde hier jenes kleinste Zeitausmass
bedeuten, unter welches die Lebensdauer nicht sinken darf, wenn
in ihr die Glückseligkeit zur Verwirklichung gelangen soll, bei einer
darüber hinausgehenden Lebenszeit aber müsste der Betreffende
auch nocli die weitere Frist bis zum Tode in der besprochenen
Weise verbringen.
*) . i . fJ.Yj TGv •z'jyrynoL /[jvivi iXk' x^Xeiov ßt'ov . . . Etil. N. 1 IUI :i 11.
16 Emil Arleth,
Diese Ansicht ist darum unhaltbar, weil nach ihr im Falle
eines über die Dauer des ßio; tsXsio; hinausreichenden Lebens der
süoat'ijitüv selbst während des ßto; teXsio? nur insofern glückselig ge-
priesen werden dürfte, als ihm die Anwartschaft auf zukünftige
Glückseligkeit (vom Ende des ß. t. bis zum Tode) zukäme; es
würde also die Glückseligkeit im eigentlichen Sinne von der Glück-
seligkeit im nneigentlichen Sinne (der Anwartschaft) abhängig ge-
macht, während Aristoteles ausdrücklich das umgekehrte Verhält-
niss lehrt ^).
Da sonach unter Beibehaltung des Zusatzes eine widerspruchs-
freie Erklärung unmöglich erscheint, ist der Zweifel gegen seine
Echtheit berechtigt; als ein fremdes Einschiebsel aber ist er un-
geeignet, unserer Frage zum entscheidenden Beweisgrunde zu dienen.
Neben dem genannten Zusatz führt Rassow noch den Schluss
des Cap. 10 (1100a 4 ff.) als Grund für die Ansicht an, dass Aristo-
teles das ganze Leben für die Glückseligkeit in Anspruch genommen
habe, allein, wie eine genauere Betrachtung des Zusammenhanges
darthun soll, mit Unrecht.
Eth. N. L 10. wirft Aristoteles die Frage nach der L^rsache
der Eudämonie auf und findet, sie werde dem Menschen zu Theil
Ol' acicxrjv xoti xiva |iai>T^aiv r^ dcV/r^civ, ganz besonders sucht er daselbst
die Meinung auszuschliesen, der Zufall (yoyji) sei Ursache der
Eudämonie, und beruft sich dabei auf seine früheren Erö'-terungen.
Während nämlich alle anderen Güter entweder zu den von der
Natur gegebenen notwendigen Voraussetzungen gehören oder den
Rang von Mitteln einnehmen (L 10. 1099b 27. 28), besteht die
Eudämonie in einer gewissen tugendmässigen Seelenthätigkeit (ib.
25 — 28) und zwar bedarf es zu derselben nicht nur der vollende-
ten Tugend, sondern auch eines ßio? xsXsio?, denn es ereignen sich
mannigfache Wandlungen des Schicksals, wie dies z. B. von Priamus
berichtet wird, der erst im hohen Alter vom Unglück heimgesucht
wurde.
^) Eth. N. I. 10. 1100a2: . . . ouoe Trat? £uoat'(x(uv iari'v . . . oi oe X£yo'[xevoi
oiä Ty)V IX-i'oa [/.axapiCovTOtt; vgl. 11. 1101a 19: zi o oüttus, [Aotxapt'ou; ipoüij.£v
Ttüv ^ujvTcuv ol; ij-c(p/£t 7.0(1 ÜTiap^et Ta >,£-/&£VTa . . .
BIOIS TEAEIOS in der aristotelischen Ethik. 17
Um diese Fälle richtig zu verstehen, muss man sich vergegen-
wärtigen, was Aristoteles Eth. N. I. 11. über das Verhältnis der
äus.seren Schicksale zur Glückseligkeit lehrt.
Von dem bekannten Ausspruche Solons ausgehend, dass Nie-
mand vor seinem Tode glückselig zu preisen sei, sucht er die in
demselben ausgedrückte Ueberschätzung der Bedeutung der äusseren
Schicksale auf das richtige Mass zurückzuführen, indem er gelteud
macht, dass nicht in ihnen, sondern in der tugendmässigen Thätig-
keit das Wesen der Glückseligkeit bestehe; verhielte es sich um-
gekehrt, so dürfte man keinen Menschen glückselig nennen, während
er es wirklich ist, sondern erst nachdem er es gewesen ist. Die
äusseren Schicksale üben nach Aristoteles ihren Einfluss, indem sie
als günstige das Leben schmücken und als ungünstige es trüben,
ja in besonders schweren Fällen sogar den Verlust der Glückselig-
keit zur Folge haben. Aber auch dann ist die Wiedererlangung
derselben nicht ausgeschlossen; nur wird sie nicht innerhalb kurzer
Zeit erfolgen, sondern wenn überhaupt sv -rAhu tivt (sc. "/povto)
Da man nun, wie bemerkt wurde, bei der Interpretation der
Schlussworte des zehnten Capitels von der in Cap. 11 enthaltenen
Lehre des Aristoteles über die Bedeutung der äusseren Schicksale
ausgehen muss, so ergiebt sich mit voller Deutlichkeit, dass die
erstgenannte Stelle geradezu gegen die These beweist, für welche
sie von Rassow (a. a. 0. S. 116) als Argument angeführt wurde,
denn wenn ßioc (ypovoc) xsXsio? resp. Glückseligkeit in einem Leben
öfter als einmal zur Verwirklichung gelangen können, dann kann
weder ß. t. ganzes Leben heissen, noch auch das ganze Leben zur
Glückseligkeit notwendig sein*^).
IL Die Ansicht, Aristoteles habe gelehrt, der Mensch müsse,
um glückselig genannt werden zu dürfen, alle sonst geforderten
^) Die oben wiedergeg-ebenen Ausführungen des Cap. 1 1 legen ein weiteres
Zeugnis für die Unechtheit des Zusatzes (llOlalß— 19) ab, indem aus ihnen
hervorgeht, dass derselbe gar keinen neuen Einwand enthält, sondern eine
gänzlich unbegründete Wiederholung der zu Anfang des Capitels erhobeneu
Frage ist, ob ein Mensch, um glückselig genannt werden zu dürfen, sein ganzes
Leben bis zum Tode von grossem Unglück frei lileiben müsse.
9
Archiv 1. Geschichte der FhilüMophie. II. -"
18
Emil Arletli,
Bediuguiigeii sein ganzes Leben hindurch venvirklichen , steht mit
anderen gesicherten Lehren in Widerspruch.
1. Den Kindern kommt nach Aristoteles (1 100a 1 ff.) keine
Glückseligkeit zu, was nach der obigen Annahme der Fall sein
miisste; eine gewisse Lebensreife ^) ist die Vorbedingung für die
Glückseligkeit und dann wohl auch für die Unseligkeit, denn Kinder
und Thiere sind der Sittlichkeit oder Unsittlichkeit im eigentlichen
Sinne nicht l'ähig.
2. Die Glückseligkeit soll ein erreichbares und allgemein zu-
gängliches Gut") sein, geht aber durch grosses Unglück verloren:
nun bringt es- schon der Naturlauf mit sich, dass jeder Mensch in
seinem Leben von irgend einem wahrhaft schweren Unglück be-
troffen wird, z. B. durch den Tod von Eltern, Gatten, Freunden
u. s. w., es scheint also, dass eine solche Glückseligkeit weit entfernt,
allgemein zugänglich zu sein, überhaupt unerreichbar ist^).
B.
Während Rassow in der unter A. behandelten Frage auf eine
Entscheidung verzichten zu müssen glaubte, versuchte er eiue
Interpretation des Ausdruckes ß-'oc xsActoc und zwar bedeutet der-
selbe nach ihm ein Leben, das seinen Zweck oder sein Ziel erreicht
(a. a. 0. S. 117).
• Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die aristotelische Unter-
suchung darauf ausgeht, den Begriff der Eudämonie genauer zu be-
stimmen, wird man dieser Ansicht nicht beiptlichten können.
Der Zweck des Menschen ist tlie Glückseligkeit und diese wird
nun definirt als 'i^u/j/* svep^sia xaxä tyjv dpiax'/jv zott TsXsio-dTr^v
apsxr.v, £-'. o' £v 3t(i) xsXsuo ■ — nach Rassow würde das heissen:
Die Glückseligkeit (d, i. der Zweck des Menschen) besteht in
der Seelenthätigkeit gemäss der besten Tugend und zwar innerhalb
') Vgl. Zeller, Philos. cl. Griech. II. 2. S. 616.
») Eth. N. I. 2. 1095al6, vgl. VI. 8. lUlbU, 12; I. 10. lODBblS.
") Anmerkungsweise sei noch erwähnt, liass Aristoteles an einer Stelle,
wo er von dem ganzen Leben spricht, sich des Ausdruckes ar.az ßi'o; be-
dient (Etil. N. X. G. 1176b28: xat yäp äxo-o^i t6 teXo; slvat Ttcttotctv, xai -pc<Y[i.ot-
BIOS TEAEIOS in der aristotelischeu Ethik. 19
eines Lebens, welches seinen Zweck, der kein anderer ist als der
Zweck des Menschen, erreicht. Soll Aristoteles vor dem Tadel
bewahrt bleiben, idem per idem definirt zu haben, so muss eine
andere Erklärung versucht werden.
C.
Im dritten Capitel des ersten Buches der Ethik lobt Aristoteles
diejenigen, welche ihre Ansicht über das höchste Gut und die
Eudämonie aus der Betrachtung der verschiedenen Lebensweisen
oder Lebensformen entnehmen; als die hauptsächlichsten zählt er
daselbst auf das der Lust gewidmete, das politische und das theore-
tische Leben ^°). In gleichem Sinne verwendet er das Wort ßto^
in der Politik"). Indem die Menschen, heisst es dort, auf ver-
schiedene Art und mit verschiedenen Mitteln dem höchsten Zwecke,
der Glückseligkeit, nachstreben, bringen sie die verschiedenen
Lebensweisen und Staatsverfassungen hervor. Wenden wir diese
Bedeutung auf unsere Stelle an, so entsteht die Frage: Was für
eine Lebensform ist ßt'oc -s^sioc? Eine sehr naheliegende Antwort
wäre: die vollendete Lebensform, aber was heisst das wieder? Ist
damit die beste unter den verschiedenen Lebensformen gemeint
oder überhaupt eine Lebensform, welche als solche zu ihrer Vollen-
dung gelangt, d. h. mit allen charakteristischen Eigenthümlichkeiten.
Dispositionen u. s. w. in einem Menschen verwirklicht ist im Unter-
schiede von der erst im Werden begriffenen? Wenn wir unter
Vollendung den inneren Wert verstehen, so ist dieser durch die
Angabe, dass die Eudämonie in der Thätigkeit gemäss der besten
Tugend bestehe, hinreichend bestimmt und der Beisatz Iv [i(m tsXst'to
würde gar nichts Neues besagen.
Anders verhält es sich, wenn wir annehmen, [iloc xlXstoc be-
^^) Eth. N. I. 3. 1095 b 14: tö y^p äy^Söv v.ai xtjv E'joataovt'ocv oux (i>.oyoj?
JotV.'xstv i'A. TüJv ßt'cov Ü7roXa[j.ßavEiv. ol ij.Z'j 7roÄ?,ol v.cd cpopTiv.wTctxot tt)v r^oov/jV
oiö xal Tov ßi'ov dya-üJai tov dtTrrjXauSTiKOv. TpsT; yap £(ai [xaXiaxa o't 7ipo^/ovT£;,
0 Xc vüv £{pTj[j.£Vo; xcn 6 TioXixixö; y.cd xpi'xo? 6 dEwpTjXtv.oj.
") Pol. VII. 8. 1.328a42: cc'Uov ydp xpoTiov -Acd oi' aXXiov Exaaxot xoüxo (sc.
xö ä'piaxov = £'jo7.t[j.ovi'7) tlrjpi'jovxc; xo'j; x£ ßio'j; £XEpO'j; -oioOvxai xoti xc<;
"oXixeia;.
2*
20 Kmil Arleth,
deute eine zur vollständigen Entwicklung gelangte Lebensform im
Unterschiede von der erst im Werden begriftenen, denn oflenbar
kann eine Lebensform nicht etwas im Augenblicke Vollendetes sein,
wie es nach Aristoteles das Sehen oder die Lust ist '^), vielmehr wird
sie sich erst nach und nach ausbilden. Von dieser Anschauung
ausgehend hätten wir Folgendes als aristotelische Lehre zu betrachten:
Die Eudämonie besteht in tugendmässiger vSeelenthätigkeit, doch
ist die Dauer dieser Thätigkeit nicht gleichgültig. Wer nur eine
ganz kurze Weile in derselben verharrt, wird nicht glückselig,
ebensowenig als eine Schwalbe den Frühling macht; es ist vielmehr
eine längere Zeit erforderlich und zwar eine solche, dass durch die
während derselben geübte Thätigkeit das Leben eine bestimmte
Richtung gewinnt; d. h. dass eine Lebensform zur vollständigen
Ausbildung gelangt. In diesem Sinne verlangt Aristoteles für die
Eudämonie das volle zeitliche Ausmass einer Lebensform'"') oder
einen vollendeten Zeitabschnitt'^).
Vielleicht erhebt jemand gegen die eben vorgetragene Ansicht den
Einwand, es dürfe auch nach ihr nicht der im ßwc tsXsioc Begriffene
glückselig genannt werden, es bestehe also die gleiche Schwierigkeit,
wie bei Annahme der Echtheit des Zusatzes.
Dem ist aber keineswegs so. Allerdings wird der im ßioc
TsXsioc Begriffene so lange nicht den Namen eines Glückseligen ver-
dienen, als die zur Ausbildung der tugendhaften Lebensweise er-
forderliche Zeit noch nicht abgelaufen ist, denn alles Vorhergehende
gehört nicht zu dem vollendeten Sein, sondern zum Werden der
Lebensform; ist aber dieser Punkt erreicht, so braucht man nicht
weiter zu zögern, geschweige denn auf das Lebensende zu warten,
sondern kann mit vollem Recht den Betreffenden glückselig nennen,
während er es wirklich ist.
'-') Etil. N. X. ?). 1174ai;'i: oo/cT -lao i^ \J.bi opccJt; -/.c.D' ^jvxtvojv ypovov
■Ztkti.1 Elvat . . . TOtO'JT(tJ O' EOIXEV 7.at rjOOVTj.
'■') Ktli. N. X. 7. 11771)2.'): arjxo? ßi'o'j teXeiov.
'•') Ktll. N. 1. 11. 1101 all: £7. T£ TIÖV TOtOUTtUV O'JVC av Y£VOtTO TÄ'I.Vt
E'jSai'lJitov i-i (iÄiyti) /povoj, a)}' eiTTcp, £v zoXXuj Ttvt -/Ott teXeiiu • • •. Vgl. Metapli.
V. 1(1. iiiit.: TeXeiov X^YETCd hi [j.ev oj (j.tj estiv e'^uj ti Xctßstv \xtrA ev aopiov,
Otov 6 ypovos TEXsto; Ixct'JTO'J o'jto? O'j uTj saTtv £;iu Xctjictv yprjvov tivi &; to'JTO'j
U^pOt in-X TOJ /pOVO'J.
BIOS TEAEIOS in der aristotelischen Ethik. 21
Es erübrigt noch zu erweisen, dass der Schluss des zeimtcn
Capitels mit den Ergebnissen unserer Untersuchung übereinstimmt.
Dies geschieht, wenn mau die in ßtoc TeXitoc enthaltene Zeitbe-
stimmung mit der Lehre des Aristoteles von der Bedeutung der
äusseren Schicksale für die Glückseligkeit in Zusammenhang bringt.
Zur (ilückseligkeit, heisst es am Schluss von Cap. 10, gehört
die vollendete Tugend und die vollendete d. h. zur Vollendung
gelangte Lebensform. Nun gibt es aber äussere Schicksale, welche
das Zustandekommen (resp. Wiedergewinnen) der Glückseligkeit
hindern; darum ist es notwendig, dass solche wenigstens für jene
Zeit fern bleiben, welche zur Bildung einer Lebensform, in unserem
Falle der tugendmässigen Lebensform, erforderlich ist. Wären
schwere Unglücksfälle über ein wenn auch noch so langes Leben
derart vertheilt, dass die Zeit zwischen je zweien immer weniger
betrüge, als eine Lebensform zu ihrer Ausbildung braucht, so käme
keine Glückseligkeit zu Stande.
IV.
Zur Psychologie der Scholastik.
Von
H. Siebeck.
4.
Avicenna.
Inhalt und Gliederung der Psychologie Avicenna"« sind bereits
in der Geschichte der Psychologie (I, 2 S.431f. 436 f.) zur Darstellung
gekommen. Der Zweck und Zusammenhang der gegenwärtigen
Untersuchungen macht es aber erforderlich, dem dort Ausgeführten,
(auf welches übrigens verschiedentlich zurückzuweisen sein wird),
eine Erörterung des Einflusses hinzuzufügen, welchen die Werke
des arabischen Arztes und Aristotelikers auf die allgemeine Aus-
bildung des Interesses für die empirische Psychologie, sowie auf
die. Met ho de derselben ausgeübt haben.
Der grösste Theil von Avicenna's Werken lag dem 12. Jahrh.
in Uebersetzungen vor; schon im elften aber benutzte man seine
Lehren an Stelle der noch nicht hinlänglich bekannten oder ver-
breiteten aristotelischen Ansichten'). Sein Einfluss war so mass-
gebend, dass selbst das Hervortreten der aristotelischen Original-
vverke zunächst nur dazu beigetragen hat, die von ihm begründete
Richtung zu verstärken, sodass abgesehen von der Bedeutung des
Augustinismus erst das Aufkommen der averroistischen Strömung
einen wesentlich neuen Faktor in das wissenschaftliche Leben des
MA hineinbrachte. Avicenna begründet für alle Parteien der
') Jourd. 202. Wie dnrchgreifencl auch für die Folgezeit seine Erörte-
rung der logischen Frage hinsichtlich der Existenz der Universalien war, s.
bei Prantl, Gesch. d. Log. II, 318; Münchener Sitz -Ber. 18G4, II S. 58 ft'.
Zur Psychologie der Scholastik. 23
Scholastik ohne Ausnahme einen gemeinsamen Bestand au em-
pirisch-psychologischen Ansichten und Unterscheidungen ■^); der ob-
jektiv-empiristische Zug der Psychologie, der, wie früher (§ 1) ge-
zeigt wurde, bereits im Nominalismus selbständige Keime getrieben
hatte, kommt ^) durch seine AVerke z.ur vollen Geltung namentlich
auch auf der Seite der Realisten. Was nun aber an ihm in dieser
Beziehung ausschlaggebend war, liegt nicht so vorwiegend in dem
Inhalt und der Substanz seiner Erörterungen (deren Material ohne-
hin bald genug durch die Aufgrabung der antiken Originalien
überdeckt wurde), als vielmehr in der Eigenthiiralichkeit seiner
methodisch-lehrhaften Behandlung derselben. Diese nämlich
hat auch seinem Meister Aristoteles gegenüber etwas Selbständiges.
Obgleich er zu ihm sich weniger kritisch verhält, wie vor Zeiten
Galen, so haben doch, wie bei diesem, so auch bei Avicenna, dem
Arzte, in der Psychologie die Interessen des auf Thatsachen ge-
richteten Physiologen das Uebergewicht über die spekulativen.
Bezeichnend für diesen Unterschied ist schon seine strenge Unter-
scheidung der medizinischen Psychologie von der philosophischen,
deren Verschiedenheit sich auch für die gemeinsamen Objekte zur
Geltung bringe*). Gleich die Behandlung .des obersten Problems
vom Wesen der Seele und ihrem Verhältnisse zum Leibe zeigt diesen
Unterschied der Methode. Als Definition der Seele erscheint hier
die bekannte Formel des Aristoteles '), jedoch nicht bevor das Da-
sein der Seele und ihre wesentliche Verschiedenheit vom Körper
'^) Von eigentlichen Untersuchiiugen auf diesem Felde kann iiaau vor
Thomas und Duns wohl nicht reden.
•') Ungeachtet der unleugbaren neuplatonischen Färbung, welche seine
Lehre von der Vernunft an den Tag legt (s. Gesch. d. Psych. I, 2 S. 436 f.).
*) Für den Mediziner machen z. B. Gemeinsinn und Anschauung (phanta-
sia) e ine Kraft aus; der Philosoph dagegen unterscheide jenen als das aufneh-
mende, diese als das bewahrende Vermögen für äussere Eindrücke. Ebenso
sei für den Mediziner die Unterscheidung zwischen der imaginativa, die unter dem
Einflüsse der aestimativa, und der cogitativa, die unter dem der rationalis
stehe, unwesentlich; dsgl. die von Gedächtuiss und Erinnerung, da was beiden
schade, sich auf einen und denselben Gehirntheil beziehe. Canon I, 1, () Kap. b
(ed. Yen. 1523).
^) prima perfectio corporis naturalis organici (d. an., übers, von Andr.
Alpagus, Ven. 1.34G, Kap. 2).
24 H. Siebeck,
bestimmt worden ist aus der thatsächlichen Verschiedenheit zweier '^|
Arten von Bewegung (der natürlich -organischen und der rein
mechauischen), sowie zweier Arten von Körpern (mit und ohne die
Fähigkeit der „Apprehcnsion"), sodass die Seele schon von hier aus
als das Prinzip der lebendigen Bewegung und des Bewustseins her-
vortritt. Als solches (d. an. Kap. 3) entstehe sie nicht aus der
Mischung der Elemente, sondern komme von aussen dazu. Als
Beweis dafür wird an andrer Stelle die Thatsache der Ermüdung
angezogen"). Hinsichtlich der Substanzialität und „Trennbarkeit"
der Seele wird nach Abhörung der dialektischen Gründe gleichfalls
auf Thatsachen der Erfahrung verwiesen ^). In der gleichen Richtung
bewegen sich die Angaben über die Theile der Seele.
Von den drei Arten der Vegetativa (Erzeugung, Ernährung,
Wachsthum) wird die zweite in vier Unterabtheilungen (attractiva,
retentiva, digestiva, expulsiva) gespalten *) und überhaupt die ver-
schiedenen Vermögen noch weiter zu theilen gesucht auf Grund
der verschiedenen Leistungen der Organe. Die Nothwendigkeit
ihres Bestehens ferner wird (teleologisch) mit den thatsächlichen
Bedürfnissen des Organismus begründet. Ausserdem finden sich
manche Beobachtungen über den Zusammenhang der einzelnen
Vermögen verwerthet: Empfindung, heisst es (d. an. Kap. 5) ist
immer zusammen mit Bewegung und umgekehrt, selbst Thiere, die
^) Aphorism. 40 (in der angeführten Ausgabe von de anima): Wäre die
„Complexion" des Leibes das alleinige Bewegungsprinzip desselben, so könnte
es zu dem bei Anstrengung eintretendem Gefühle oder Bewusstsein einer der
Natur des Organismus auf die Dauer widerstrebenden Thätigkeit gar nicht
kommen.
0 d. an. Kap. 6: f. 30a. Der Leib nimmt nach dem 40. Lebensjahre
ab, während die Seele von diesem Zeitpunkte ab in der Regel erst ihre volle
Kraft erreicht. Die Formen und Gegenstände des Denkens und Wissens sind
unendlich, mithin nur durch eine immaterielle Kraft zu bewältigen (vgl. ebd.
de Almahad Kp. 5; f. 68 b). Die intentionalen Species der Wahrnehmung haben
einen körperlichen Ort (im Auge) und zeigen sich hier je nach der Grösse des
(gegenständes grösser oder kleiner : die intelligiblen Species aber sind an
keinem Orte (f. 69 b f.). Uebermässige Sinneseindrücke schädigen das Organ,
die seelische Kraft aber wird durch starke Eindrücke vermehrt u. s. w.
*) Die Eintheilung des äussern und Innern Wahrnehmungsvermögens s.
Gesch. d. Psych. I, 2, S. 431.
Zur Psychologie der Scholastik. 25
keine Fortbewegung kennen, haben doch Ausdehnung und Zusam-
menziehung und machen bei verkehrter Lage Anstrengungen, die
normale zu gewinnen. Die verschiedenen Sinne ferner fördern einer
den andern, der Geschmack z. B. den Geruch, der seinerseits weiter
zu einem Urtheile über Zuträglichkeit oder Schädlichkeit der Nah-
rung verhilft und darin vom Gesichtsinn unterstützt wird, sowie
auch von den verschiedenen Vermögen des inneru Sinnes und dem
der Bewegung. Die sinnlichen Gefühle der Lust und t'nlust be-
ruhen auf Affektionen des im Herzen befindlichen Pneuma, welche
eintreten, je nachdem eine gegebene Wahrnehmung der Natur des
betreffenden Sinnes naturgemäss ist oder ihr widerstreitet. Daher
entsteht Lust namentlich auch bei dem Uebei'gange von einem
der Natur des Organs unzuträglichen Affekte zu einem „natür-
lichen" ^). Als allgemeinste Eintheilung der bewegenden Kraft
findet sich die in der Scholastik so folgenreiche Unterscheidung
der vis concupiscibilis und irascibilis bereits bei Avicenna (d. an.
Kap. 5; f. 13a). Nach der praktischen Seite hin betont er
vom Standpunkte des Empirikers aus den EinHuss der Uebung
(de cord. S. 21).
AVie ich anderwärts (Gesch. d. Psych, a. a. 0. 407) gezeigt
habe, bringt sich das empirische Interesse in der Psychologie der
älteren Scholastik nicht sowohl durch neue Ergebnisse selbständiger
Beobachtung zur Wirkung, als vielmehr in dem Bestreben, in den
gegebenen Stoff' möglichst ausgiebige und feste (ziffermässige) Ein-
t hei hin gen hineinzutragen. Auch diese methodische Eigenthüm-
lichkeit hat in Avicenna ihren Begründer. Die sinnlichen Quali-
täten z. B. bilden bei ihm (d. an. 6) acht Paare von Gegensätzen,
von denen auf den Tastsinn vier, auf die andern je eins kommen;
als dem Inhalte der verschiedenartigen Sinnesempfindungen gemein-
sam werden (ebd.) fünf Qualitäten (Gestalt, Zahl, Grösse, Bewegung,
Ruhe) aufgeführt u. dgl. Hand in Hand hiermit geht das Streben
nach möglichst präciser Herausstellung der wesentlichsten That-
sachen und Verhältnisse, sowie nach einer gewissen Ausgiebigkeit
^) De corde ejiisque facultatibiis, übs. v. Joann. Bruyerinus (Lugd. 1559)
S. 14 f.
26
H. S i e b e c k ,
derartiger Paragraphirimgen '"). Die präcise Fassung verleiht dabei
manchem den Schein der Neuheit^').
Durchgehend ist ferner schon bei Avicenna der teleologische
Gesichtspunkt der Erklärung psychologischer Thatsachen. Jede Ein-
zelseele, lehrt er, gehört zu einem bestimmten einzelnen Leibe, zu
demjenigen niimlich, dessen Beschaffenheit ihrer individuellen
Eigenthümlichkeit angemessen ist (Aphor. 22). Die Individuen
unterscheiden sich daher nach den Graden der Vortrefflichkeit ihrer
Komplexion und ihres Temperamentes und demgemäss auch in den
Dispositionen zum Guten und Bösen (ebd. 38). Die Seele bedarf
des ihr angemessenen Körpers als eines Mittels zu ihrer eigenen
Vervollkommnung (45). Der Hauptunterschied von Mensch und
Thier liegt in dem umgekehrten Verhältniss, in welchem bei beiden
Bewegung und Erkenntniss zu einander stehen: bei den vernunft-
losen Wesen sind die apprehensiven Funktionen nurMittel zumZwecke
der Bewegung; bei den vernünftigen dagegen dient das Bewegungs-
vermögen zur Vervollkommnung der Vernunft-Einsichten (d. an. 5).
Dass die Empfindung des Hellen angenehm ist, Dunkelheit aber
Unlust erweckt, kommt daher, dass das Seh-Pneuma sich durch
Licht und Glanz als etwas seiner Natur Verwandtes kräftigt, in der
Finsterniss dagegen etwas seiner Natur Entgegengesetztes erfährt
(d. cord. S. 13) u. a.
Auch ein genetischer Charakter endlich, oder wenigstens
'°) So bei der Erörterung der Verhältnisse, vermittelst welcher jede der
erwähnten gemeinsamen Qualitäten für jeden spezirischeu Sinn zur Apprehension
gelangt: das Gehör vernimmt in der Verschiedenheit der Stimmen zugleich
die Zahl der tongebenden Dinge, sowie mit der Stärke des Tons ihre Grösse (!);
aus der Art jener Verschiedenheit erkennt es Ruhe und Bewegung u. dgl.
(d. an. 6 f. 19 b). Kp. 7 stellt kurz die seelischen Thätigkciten, auf welchen
die Unterscheidung der verschiedenen Formen des inneren Sinnes beruht,
neben einander; ebenso Kap. 8 die unterschiedenen Operationen der Denk-
Seele.
") Zu dem Satze, dass das Wesentliche der Erkenntniss in der der Form
eigenthümlichen Abstreifung der Materie (denudatio formae a materia) bestehe,
wird (a. a. 0. f. 24a f.) hinzugefügt, diese denudatio erfolge für die Sinne
nicht spontan sondern mit Hilfe des Mediums und entweder per accidens oder
mit Hilfe der bewegenden Kraft: die aktive Seele dagegen vollziehe sie selb-
ständig und mit Willkür.
Zur Psychologie der Scholastik. 27
ein Streben darnach, lässt sich in Avicenna's Psychologie nicht ver-
kennen. Allerdings kommt, nach seinen Ausführungen (Aphor. 1. 5)
dem Sinne nur Empfindung, wirkliche Erkenntniss dagegen nur der
Seele zu: bei angestrengtem Denken achten wir nicht auf äussere
Eindrücke. Aber die menschliche Seele erkennt nur vermittelst
der sinnlichen Inhalte, welche die Grundlage für die begrifflichen
sind. Die Prinzipien des Wissens sind der Seele angeboren und
somit der Anlage nach schon im Kinde vorhanden. Unter ihrer
Mitwirkung entwickelt sich die Erkenntniss auf Grundlage der
Wahrnehmungen. Zu einer wirklichen Einsicht in ihr eigenes We-
sen kann die Seele freilich während der Verbindung mit dem Kör-
per nicht gelangen; sie neigt vielmehr zum Sinnlichen und geräth
leicht in den Irrthum, dass es überhaupt nichts Intelligibles gebe
(Aphor. 4. 8) ; zur vollen Erkenntniss ihrer selbst und des Ueber-
sinnlichen kommt sie erst nach der Befreiung von der Materie
(ebd. 27; f. 116 b). Aus demselben Grunde kommt sie aber auch
dem Wesen der Dinge nicht eigentlich auf die Spur: sie erkennt
nur deren Qualitäten und Accidenzen "), so statt der Substanz am
Körper die drei Dimensionen, am lebenden Wesen die Eigenschaften
des Wahrnehmens, Denkens und Handelns, an der Seele die Fähig-
keit der organischen Bewegung, an Gott die Begriffe des obersten
Wesens und des nothwendigen Seins '^). Die Erkenntniss durch De-
finition (Genus und Artunterschied) ist nicht die des einheitlichen
Wesens (ebd. f. 108a)'0-
12) Neu seit differentias esseiitiales vel substantiales unicuique earum sig-
iiificantes essentias rei ipsius. Aphor. 11; f. 108a.
'■') Esse est pars detinitionis dei et uon pars essentiae ejus, denn dies
ist supra esse und das „Sein" nur ein praesuppositum et attributum ei
a nostro intellectu, ebd.
") Auf die Relativität in der Auffassung des Inhalts anschaulicher
Eindrücke macht A. aufmerksam, wenn er ausführt (d. cord. S. 26), die Ima-
gination wirke nicht nach Massgabe des wirklichen Wesens der Dinge sondern
nach der Art, wie sie uns je nach Umständen (secundum oblata et occurrentia)
erscheinen: selbst der Anblick von Honig werde unangenehm, wenn er zufällig
an Ekelhaftes von ähnlichem Aussehen erinnere. Zur Klarlegung des Unter-
schiedes in den Leistungen des äussern und des innern Sinnes wird darauf
hingewiesen, dass die Wahrnehmung z.B. des Falles der Regentropfen, der
in gerader Linie erfolgt, die Vorstellung des Geraden als solche nicht ein-
28 H. Siebeck,
Man erkennt unschwer, wie diese Richtung der Avicenna"schen
Psychologie mit den kritizistischen Anfängen im Nominalismus sich
begegnet und den letzteren neue Triebkräfte zuzuführen geeig-
net war. Hieran hinderte auch nicht der Umstand, dass ihr Ur-
heber die Möglichkeit wirklicher und wesenhafter Erkenntniss ver-
mittelst der inspirirten Vernunft ausdrücklich offen Hess'"). Denn
dies war eine auch der christlichen Philosophie geläufige Vor-
stellung, neben der hier wie dort der empiristische Zug der Unter-
suchung ungestört seinen Fortgang nehmen konnte.
Von Avicenna im Wesentlichen kam dem MA die Richtung
auf bestimmtere Kodifizirung des empirisch -psychologischen
Materials").
schliesst tmd bei erstmaliger Wahrnehmung auch nicht enthalten kann, dass
diese vielmehr erst ein Resultat der Art und Weise ist, wie der Inhalt des
äusseren Vorgangs vom Innern Sinne aufgefasst wird. S. bei Haureau, Phil,
scolast. II, 1 S. 206 f.
^^) S. Gesch. d. Psych. I, 2 S. 437 f.
''^) Die psychologischen Anschauungen des arabischen Geheim bundes der
lauteren Brüder, die im 11. Jahrh. von Spanien her auch im christlichen
A benlande Eingang gefunden haben sollen, haben hier Avicenna und Averroes
gegenüber allem Anschein nach keinen hervorragenden Einfluss gewonnen. Die 1.
Br. waren auch nicht wie jene vorwiegend Theoretiker und Systematiker sondern
Vertreter eines praktischen common sense, (was sie nicht verhindert, allerlei
astrologischen Aberglauben mit den Zeitgenossen zu theilen). Hiermit hängt auch
der durchweg eklektische Charakter ihrer theoretischen Sätze zusammen, die
im lockeren Nebeneinander Spekulatives und Empirisches, Medizinisches, Pla-
tonisches und Aristotelisches aufweisen. Ihr Hauptaugenmerk geht mehr auf
die Anwendung jener Sätze zur Erklärung mancher Erscheinungen des charaktero-
logischen und sozialen Lebens sowie ausserdem zur Begründung einer ratio-
nalistisch gerichteten Theologie. Ihr Denken steht in oberster Linie überall unter
derLeitung nicht von theoretisch-wissenschaftlichen und spekulativ-theologischen,
sondern von praktisch-anthropologischen und den höhern Bedürfnissen des kon-
kreten weltlichen Lebens entnommenen Gesichtspunkten, — Grund genug zur
Erklärung des Umstandes, dass ihre Lehren für die Zwecke der christlichen
Scholastik wenig in Betracht kommen. Vgl. Dieterici, die Philosophie der
Araber im 10. Jahrh. etc. Vll. d. Anthropologie (Lpz. 1871) S. SiT. 28 f. 32 tf.
147. IV. Logik und Psychologie (ebd. 1868) 104ff. Aug. Müller in den Gott.
Gel. Anz. 1887. no. 24. S. 902 f.
V.
Zur Syuderesis der Scholastiker.
Von
Dr. li. RabllS ia Erlangen.
In der p.sychologisch-ethischeii Terminologie der Scholastiker
und auch bei protestantischen Theologen des 16. und 17. Jahr-
hunderts kehrt das Wort Synderesis immer wieder. Man pflegte
damit das natürliche Wesen des Menschen zu bezeichnen, welches
durch die Sünde nicht zerstört werde, sondern, den Regungen des
Gewisssens vorstehend, zum Guten antreibe und vom Bösen ab-
mahne'); angelegentlich erörterte man das Verhältnis der Synde-
resis zum Gewissen und zum übrigen Seelenleben. Zurückverfolgen
aber lässt sich der Gebrauch des Wortes bis auf des Hieronymus
C'ommentar zum Propheten Ezechiel, wo der gelehrte Kirchenvater
zu A'^ers 6 und 7 des ersten Kapitels bemerkt, dass sehr Viele zur
Erklärung der Vision des Propheten die psychologische Dreiteilung
Piatons herbeiziehen und ausserdem noch eine vierte und oberste
psychische Potenz annehmen, eine Synderesis „wie die Griechen
sagen". Da es nun dieses Wort im Griechischen nicht gibt und
auch bei den Scholastikern verschiedentlich geschrieben erscheint,
hat man zufolge der bisherigen Unmöglichkeit, aus Handschriften
eine sichere Lesart zu entnehmen, sich auf Konjekturen geworfen.
Seit dem 16. Jahrhundert findet sich in den gedruckten Ausgaben
scholastischer Werke und in den Wörterbüchern Synteresis; ebenso
haben neuerdings sich für cjuvir^f>-/jat€ Jahnel, R. Hofmann und Gass
ausgesprochen, Nitzsch dagegen hat die Lesung amzßr^aig empfohlen
und Ziegler in seiner Geschichte der Ethik (2. Abt. S. 312(1'.) tov-
i>opi(3i; vermutet. Ueberhaupt ist, wenn man einmal Synderesis
') Vergl. auch U. Siebeck, Gesch. d. Psychologie I, 2. Al.t. S. 424
und 445 t'.
30 I- Rabus, \
streicht, dem Vermuten ein weiter Spielraum gegeben. Daher
dürfte der Versuch gerechtfertigt sein, mit Beachtung der ganzen
Stelle bei Hieronymus und namentlich des griechischen Sprach-
gebrauchs, auf welchen doch der Autor ausdrücklich hinweist, aus
dem Worte Synderesis selbst die Meinung des Urhebers zu eruieren.
Solcher Versuch aber führt schlechterdings auf das Wort Synaeresis,
so dass hiernach der Kirchenvater, der ohne Zweifel das stoische
7)"i'£[i.ovix6v im Sinne hatte, das oberste psychische Princip zunächst
nur nach dessen formaler (synthetischer) Bedeutung und Funktion
liezeichnet und erst weiterhin inhaltlich als scintilla conscientiae
und als spiritus erklärt: zu jenem Behufe bedient sich der grosse
Schüler des berühmten Grammatikers eines griechischen Terminus,
welcher, sowohl in der gewöhnlichen Sprache der Griechen (auvs-
Xoüv) als auch seit Plato und Aristoteles in der Ausdrucksweise
der Dialektiker begründet (auvcnipziai^ai opp. oim[jzXa[\rj.C). synonym
mit a'jvbzai: oder i'vwcric bei einem Plutarch und Longin hervor-
tritt, sich aber vornehmlich bei den Grammatikern festgesetzt hat,
von den lateinischen Grammatikern gewöhnlich mit dem Beisatz
„wie die Griechen sagen" angeführt wird und schon aus der Gram-
matik den damaligen Gebildeten geläufig war. Von der Grammatik
her musste der Terminus auch den Scholastikern bekannt sein.
Indem sie aber bezüglich der Stelle bei Hieronymus und bei denen,
dies ihm nachschrieben, die griechische Benennung eines besonderen
Seelenvermögens erwarteten, waren sie von vorneherein geneigt, für
Synaeresis ein anderes AVort zu lesen. Wie nun thatsächlich
Synderesis daraus wurde, darüber lassen sich mancherlei Vermutun-
gen aufstellen: am wahrscheinlichsten dürfte sein, dass bei der
aspirierten Aussprache von Synaeresis (wie man ja auch proheresis
sprach, vgl. Alexander Haies. Summa H, qu. 76 ff.) gemäss dem
Lautgesetz ein d (t, th) eingeschoben wurde, dies durch den münd-
lichen Unterricht sich verbreitete und, nachdem man auf die ur-
sprüngliche Schreibung nicht weiter geachtet hatte, die fernere
Schreibung selbst sich demgemäss gestaltete. Hieraus wird zugleich
die vielgeschraähte Angabe Alberts des Grossen verständlich: Syn-
deresis componitnr ex Graeca praepositione syn et haeresis.
i
VI.
Paläograpliisclie Bemerkungen zn Kants nach-
gelassener Handsclirift.
Von
Julius von Pflugk-Harttnng in Basel.
Das Manuscript jenes Nachlasses Immanuel Kants „vom Ueber-
gange von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissen-
schaft 7AIY Physik" und „System der reinen Philosophie in iltrem
ganzen Inbegriff", befindet sich jetzt bekanntlich im Besitze des
Herrn Pastors A. Krause in Hamburg, bei dem es der Verfasser
dieser Abhandlung einsah und untersuchte ').
Es besteht wesentlich aus Foliobogen mit schmalem (etwa zwei
Finger breitem) Rande, welche in 13 Konvolute, je in einem Um-
schlage, vertheilt wurden, nur dass das 12 te und lote durch den
gleichen zusammengehalten werden. Die Konvolute erweisen sich
von sehr verschiedener Dicke: das erste enthält 10 Foliobogen,
11 = 12, 111 = 8, IV = 2 und dazu 36 Blätter verschiedener
Grösse, V = 13V,, VI = 4, VII = 10V4. VIH = 7V,, IX = 7,
X=12 nebst mehreren Blättern, XI = 8, XII =97,, Xin=l.
In Summa allein 105 Bogen zu je 4 Seiten = 420 Folioseiten,
und, das Uebrige hinzugerechnet, mehr als deren 500.
Wie man sieht, fällt nur das vierte Konvolut stärker aus dem
Ptahmen: die Foliobogen treten zurück vor kleineren Blättern.
') Bemerkt mag- werden, dass dieser Artikel vor nahezu 1'/... Jahren ge-
schrieben ist und dass seitdem die Publikation Krauses erschien: „Das nacli-
gelassene Werk Immanuel Kants." Frankfurt u. Lahr 1888, die eine wesent-
liche Verkürzung ermöfflichte. Immerhin bleibt das Werk noch Manuskri|)t,
weil Krause blus eine „Populäre Darstellung^' mit Belegen giebt.
52 von Pflugk-Harttung,
Doch ist dies mehr äusserlich als dem Inhalte geltend. Die Haupt- |4
masse besteht nämlich nicht aus einzelnen Papierstücken, oder,
wenn man will, Zetteln, sondern aus in einandergelegten Oktav-
bogen, worauf ein langer Entwurf des Elemeutarsystems niederge-
schrieben und streng ordentlich in 24 Paragraphen getheilt ist.
Offenbar haben irgend zufällige Umstände obgewaltet, welche die
Benutzung des abweichenden Papierformates bewirkten, wie solche
ja jedem aufstossen, der sich mit umfangreichen Arbeiten be-
schäftigt. Was noch vom vierten Konvolute übrig bleibt, sind
ebenfalls philosophische Abhandlungen auf kleineren Blättern, ein-
zelne aus Sparsamkeit auf bereits gebrauchtem Papiere geschrieben.
Und dazu gesellen sich schliesslich mehrere Privatuotizen, welche
im Anhange mitgetheilt werden, weil sie Einblick in Kants All-
tagsleben gewähren.
Schon hier konnten wir Sparsamkeit, fast möchte man sagen
Kuauserei, mit dem Beschreibstoffe beobachten; das gleiche bleibt
überall und hat den Hauptgrund für die Schwerbenutzl)arkeit des
Manuscriptes abgegeben: der Rand erwies sich für häufigen Ge-
brauch viel zu schmal. Vorder- und Rückseite des Papiers wurden
gleicher Weise in Anspruch genommen.
Der Eintragung nach lässt sich das Manuscript in zwei Grup-
pen zerlegen: in den eigentlichen Text und in Nachträge, Zusätze
und Umarbeitungen. Ersterer nimmt die Hauptmasse des Papieres
ein, letztere wurden meistens dem Rande zugewiesen, greifen aber
doch nicht selten in den Textraum über und wuchsen wohl gar
zu eigenem Texte an, der wegen der losen Blätter leicht zwischen-
gelegt werden konnte.
Der Text pflegt in mittelgrosser, gleichmässig klarer Schrift
eingetragen zu sein, die Reihen sind gerade, die Abstände gut.
Deutlich erkennt man, dass keine fortlaufende Abschrift sondern
die erste Niederschrift vorliegt. Bisweilen wurden längere Stücke
auf einmal ausgeführt, bisweilen lassen sich zahlreiche Neuansätze
beobachten.
Nehmen wir z.B. II Konvoi. 1,3, so ergiebt sich: S. 3aundb
sind offenbar in einem Zuge geschrieben, bis zum letzten Viertel
von b. hier setzt ein etwas anderer Duktus ein, der sich über 4a
Paliiogi-apliisphe Bemerkungen zu Kants nachgelassener Handschrift. 3B
bis 4b ei'streckt, uu or iiofli zweimal wechselt. Eine weniiiev ab-
geschriebene Feder iiiul dunldere Dinte zeist 5a. welches in drei
malen einji'etragen zn sein scheint'''). Auf S. 5b haben wir wieder
eine stark benutzte Feder, doch anderen Duktus als auf S. 3
und 4.
In dieser Weise verhält es sich bald mehr, bald weniger mit
dem ganzen Maiiuscripte. ^lituntcr ist mitten im Satze abgebrochen,
z. B. Y Konv. 4. 7. wo die Ueberschrift und ersten drei Worte von
einer spitzen und harten Feder herrühren, dann folgen Vj., Sätze
(„werden können'') mit al)geschriebener, worauf abermals eine spitze
Feder einsetzt, welche jedoch nicht die der Ueberschrift sein dürfte.
Alles dies ergiebt mit voller Deutlichkeit ein immer erneutes Ab-
brechen und Fortsetzen, ein durchaus ruckweises Arbeiten.
Vergleichen wir ferner die Schriften der verschiedenen Koji-
volute, .so lässt sich bei der eigenartig gleichmässigen Hand des
Verfassers, welche ihm bis zum höchsten Alter verblieb, nichts
völlig Sicheres sagen. Dennoch deuten zumal die Anfänge der
Hauptstücke dahin, dass ein Theil derselben ziendich gleichzeitig
geschrieben wurde, jedenfalls früher als Abtheilungon der furt-
schreitenden Arbeit. Dies entspräche einer au sich schon wahr-
scheinlichen Thatsache, dass Kant nicht hinter einander wegschrieb,
sondern das Werk, nach dem Entwürfe, einzeln auszuführen be-
oann. bald hier, bald dort, wie ihn gerade Stoff und Gei.st gelenkt
haben.
Für alles dies zeugt auch der Umstand, dass er mitunter
ganze und halbe Seiten freiliess: sie sollten jedenfal's meistens ge-
füllt werden, was unterblieb, l^esonders belehrend für das stück-
weise Vorgehen ist HI Konv. B, G. Hier bietet Ga auf zwei Dritt-
theilen der Seite Text, der sich dem frühereu von S. 5 a b an-
schliesst; darunter steht: „zur Vorrede gehörig", von deutlich
nicht gleichzeitiger Hand. Wenden wir um, so zeigt ()b oben eine
Ueberschrift: „Erstes Hauptstück von <ler Quantität der Materie",
sie ist durchstrichen und darunter gesetzt: „Einleitung". ^lit '\(^\Vi
-) „Wenn ... berühren. Die Begriffe ... vorgestellt werden. Die be-
3
wegende . . . Seneca."
Arcliiv f. Geschichte d. Pliilosophie. H.
34
von Pflugk-Ha ittung,
tlazugehöriiien Texte fiillt sie nicht ganz die Hälfte der Seite, um
oben S. 7a weiter zu gehen, auch 7a nur zur Hälfte fidleiid,
ahermals alibrecliend und oben S. 7li fortfahrend. Auf S. (il) In
der Mitte reiht sich der Text der Vorrede an. welche (ia unten
aufhörte; er bedeckt aber die Seite nicht ganz, sondern deutet
mit einem Doppelkugelzeichen auf die Mitte von 7n. unterhalb
(k's Einleitungstextes. Da geht die Vorrede weiter, springt im
letzten Drittel der Seite auf den Rand über, während unten in
der Mitte von 6b und 7a etwas anderes, nicht zugehöriges, steht.
Hieraus ergiebt sich nun folgender Sachverhalt: Kant schrieb erst
den fortlaufenden Text auf S. Ga und setzte die Ueberschrift auf
Ob, verfasste dann die Vorrede von 6a, fuhr 6b in der Mitte fort,
weil er den oberen Raum für das „erste Hauptstiick" behalten
wollte und machte es auf 7a ebenso. Nachträglich strich er die
Ueberschrift, begann die Einleitung und benutzte für sie den oben
freien Platz. Die Vorrede sollte auf 7a zuerst kürzer werden,
weshalb er raumverschvvenderisch eintrug mitten hin setzend: „Die
bewegenden Kräfte der ^laterie werden am besten nach der Ord-
nung der Categorien eingetheilt: nach ihrer Quantität. Qualität,
Relation und Modalität". Dies scheint ihm nachträglich nicht ganz
zugesagt zu haben, er strich den letzten vorausgehenden Satz, um
Neues an dessen Statt zu bringen. Dafür gebrach e^ aber au
Platz; deshall) begann er hinter dem lelztgestrichenen Worte ein-
zusetzen, um alsbald rechts auf den Rand ül)erzugehen. Hier kam
er ebensowenig aus und grill' nunmehr auf den noch übrigen
eigentlichen Textraum zurück, erst auf S. 7a unten, dann gar
noch nach S. 6b unten hinüber. Wiederholt erwuchsen ihm neue
Gedanken, die zwischen- und untergeschoben wurden, wo gerade
ein Oertchen vorhanden.
Hiermit sind wir aui' die Umarbeitung gekommen. Das text-
lii h Eingetragene wurde nachkorrigirt und zwar so stark. (la.ss
keine Seite verbesserungslos geblieben ist, manche auf das un-
barmherzig.ste vorgenommen wurde. Da zeigt sich: Durchstreichung
einzelner Worte, Zeilen und Sätze, halber, ja uanzer Seiten, die
Verbesserungen l)isweilen über dem Durchstrichenen geschrieben,
bisweilen zwischen die ursprünglichen Zeilen geklemmt; vor allem
Paläographische Bemerkungen zu Kants nachgelassener FTanflschrift. P,5
fesselt die starke lienutzung des Randes den Blick, Wegen des
knappen Raumes sind die Handkovrekturen meistens in verkleiner-
ter Schrift gehalten, mitunter umfassen sie mehr als der Text,
bezw. als das, was von diesem nach allem Ueberarbeiten geblie-
ben. Wenn der Raum nicht reichte, linden sie sich auch oben,
unten oder zu Mitten in den Text hineingeschoben.
In den Korrekturen tritt deutlich das immer und immer er-
neute Durcharbeiten des Manuscriptes zu Tage, man sieht ver-
schiedenen Duktus, andere Feder und Dinte, bisweilen sechsfach
wechselnd und mehr. Nehmen wir z. B. die untere Hälfte der
Randbemerkungen II. Konv. 13. 24, so bieten sich mit ziemlicher
Sicherheit fünf Einzeleinträge. Der erste derselben umfasst nur
fünf Worte und eine kleine Zeichnung, der zweite zwei Sätze in
neun Zeilen, der dritte neun Zeilen, der vierte elf Zeilen und
der fünfte deren dreizehn. Jedes dieser Stücke hebt sich von dem
anderen ab, und damit nicht genug, vom dritten Machtrag steht
das letzte Wort „berührt" rechts unter dem vorletzten, neben der
ersten Zeile vom vierten Nachtrage und ausserdem wurden die
drei Schlusszeilen des dritten zusammengedrängt; d. h. also: der
Nachtrag Nr. 4 wurde früher hergestellt als Nr. 3, der Autor kam
bei Ausführung des letzteren zu kurz und half sich so gut es eben
ging. Aehnliche Fälle späterer Niederschrift einer oberen Note
als der unteren giebt es viele. Kant trug ein, wie ihm gerade
der Gedanke kam, bald hoch, bald tief. Es finden sich sogar
blosse Randbemerkungen ohne allen Text, sei es, dass dessen Raum
unbeschrieben blieb, sei es, dass er zwar gefüllt, aber nachträglich
durchstrichen wurde.
Ergaben sich der Korrekturen und Nachträge viele, so nahm
Kaut zu allerlei Zeichen seine Zuflucht, um jene auf den gehöri-
gen Ort hinzuweisen: er verwendete einfache Striche, Kreuze,
Sterne, Kreise, Kreise und Striche verbunden, mehrere Kreise und
dergl. Schien das alles noch nicht zu genügen, so ündet sich auch
wohl ein weiterer Vermerk, etwa ein „verte" bei dem Zeichen
und auf dei- anderen Seite wurde alsdann fortgefahren (z. B.
II. Kon. 1. 1 und 2). Oft steht das dem Zeichen entsprechende
Gegenstück nicht daneben, .sondern an ziemlich entlegener Stelle,
3*
36
von P fing k- IIa rttuiig,
;iii iialio/.u fronidem Orto. wenn am richtigen kein T?aiim vorlinn-
(Icii. ()der OS ist ein kleineres Rlalt einoelegt, wie \'. Koiiv. "2. IJ.
in weleheni wieder erharnningslos heriimkorrioirt wurde. Sehr
liilufig zeigt sich dieselbe Sache in verschiedenen Bearbeitungen '').
selbst ein Dutzendmal und mehr l)ehandelt. um eiidlicl) die rich-
tige Fassung zu erringen, stets den neuen Ergebnissen gerecht
zu werden. Solciie Entwürle bieten grossentheils gleiche Worte
und AVendungeii und sind nur einfach beigelegt, was diMi P»e-
sihuuer völlig irre machen, den Glauben erwecken kann, als habe
sie!) der grosse Denker immerfort wiederholt. Dies scheint um so
näher zu liegen, als Kant auch hier eine unveikennl)are Peinlich-
keit, ja, wir dürfen wohl sagen, eine gewisse Pedanterie walten
Hess. Unzählige Male steht bei dem AVorte „AVahrnehmung" in
Klammer „empirische Vorstellung mit Bewusstsein''. Wenn er
auf das Wort ,,fest'' stfisst, macht er gern eine P)emerkung, dass
es richtiger mit v statt f geschrieben werde. Gebraucht er das
Wort „Physikus" mit lateinischer Endung, so pflegt er in Klammer
zu setzen „Stadt und J.and'\ was er nicht bei dei- jMirni „Phy-
siker" thut und dergl.
Hin und wieder können Text- und Pandl)emerkungen gleich-
zeitig sein, gewöhnlich gehören diese einer späteren Zeit an. Wir
finden, wie die Notizen offenbare Verwandtschaft mit :inei' Text-
sclirift zeigen, die früher oder später vorkommt. So hat i'in Theil
dei- liandnachträge von \. Konv. S, 1Gb gar keine Aehnlichkeit mit
den daneben stehenden Textbuchstaben, desto grössere aber mit
denen von A'. 8, 6b unten, welche auch S. 7 beginnen, oder denen
von \'. 10, li) zweite Hälfte. Anderseits scheint Jene Notiz zeit-
lich wieder der nahe zu stehen, die sich A', 10, 19b in der Alitte
befindet, während dariil)er uml darunter eine wesentlich schwerere
Hand gewaltet hat.
Dei-artiiie Dinge lassen sich zu hunderten mehren, immer aber
bleibt im Auge zu behalten, dass Kaut's Schrift nirgends sichei'en
Anhalt gewährt, das.s man im l.)e.sten Falle mit Wahischeinliclikei-
") Im 111. Konv. 1 lliuU't sicii die riiferscliril'l : zweiter Veisiicli (Keicke,
.Vltpr. .Monscbr. VlII, S. ;VJ1;.
n
Paläogiaphische Bemeikungeri zu Kants nachgelassener Handschrift. 37
ten rechnen miiss. Kants versale und klare Schrift gestaltete sich
je nach Raum und Zeit sauberer oder flüchtiger, grösser uder klei-
ner; eigentlich hastig hingeworfene l'artien sind selten. Nach dem
vielfach etwas zitterigen und unsicheren Duktus, der bisweilen
hervortretenden Neigung zu Kleiuschrift möchte man das zehnte
und namentlich das elfte Konvolut für die späteren halten, doch
könnten Krankheit, Nervosität und dergleichen eingewirkt haben.
Auch Nr. 1 und 7 sind gewiss recht jung, zumal jenes.
Das tiesagte bietet einen lehrreichen Einblick in die Arbeits-
art des Gelehrten. Er entwarf das Werk erst in seiner Gesammt-
heit, gliederte es in Theile und begann diese einzeln zu l)ehaii-
deln. jeden selbständig l'iir sich. .Seine Gedanken trug er nicht
ununterbroclien im Kopfe herum, bis sie völlig ausgereift und in
die endgültige l-'orm gediehen waren, sondern schrieb sie nieder,
wenn sie ihn vorläufig fertig dünkten. Diese Niederschrift, der
erste Text, gestaltete sich dann aber allmählich zu einem Oebäude
auf Abbruch, von dem er nahm und stehen Hess, je nach späterer
Erwägung. Uncrmtidlich wurde gefeilt, umgearbeitet, bereichert,
neu entworfen; neben dem Ringen nach dem stofflich Richtigen
steht das, nach dem entsprechendsten Au.sdrucke.
Eine derartige Thätigkeit verlangt Zeit, viel Zeit, das gleiche
die schwör auszudenkende Materie, ihre vorläufige Eormulierung
und dies alles erstreckt sich über 500 Folioseiteu in sparsamster
Schrift, mit starker Benutzung sonst freibleibenden Papieres. Schon
hiemit ist äusserlich erhärtet, dass die Arbeit sich über Jahre
ausgedehnt haben muss. Die Schrift deutet in gleiche Richtung.
Wie lange Kant an dem Werke thätig gewesen, lässt'sich
aus diesem selber natürlich nicht darthun , wir müssen dafür
äussere Anhaltspunkte suchen. Nach einem Briefe an Garve (S.
Stern, Die Beziehung Kant's zu Garve S. 34, vom 7. Aug. 1783)
soll er über 12 Jahre an der Kritik der reinen Vernunft gearbeitet
und sie in etwa 4 — 5 Monaten niedergeschrieben haben. Dies ist
nicht dahin zu verstehen, als ob der Philosoph das Werk 12 Jahre
blos in seinem Kopfe durchgegohren und es dann in einem Zuge
hingeschrieben habe, sondern bei der Arbeitsart Kaufs, wie unser
Manuscript sie zeigt, dahin: dass er 12 Jahre geschrieben und ge-
38 von ri'iiigk-llarttung,
ieilt hat, his er das Ganze zu dem Punkte der Vollendung brachte,
wu es in 3 — 4 Monaten drucklertig ledigiert werden konnte. \\ ir
sehen, der J)enker arbeitete sehr langsam, that sich selber schwer
Geniige. war er aber fertig, dann schloss er schnell ab. Dieses
Ergebuiss darf auch ITir unsei- Wrrk in Anspruch genommen wer-
den, wobei noch zu erwägen bleibt, dass es fast von doppeltem
Umfange ist und einer höheren Altersstufe angehört, als die Ar-
beitskraft geringer w'ar, wie in jüngeren Jahren.
Hiezu gesellen sich einige bestim)nte Daten der Ihuulschrift.
Auf einem der benutzten l^apierstiicke steht unter anderem „Zwey
Briefe des Fräulein (?) Cruse an Hartknoch und Baron Ungern von
Sternberij. imuieichen an Director Euler in Petersburg". Mag man
diese Xotiz fassen, wie man will, soviel scheint gewiss, dass es
sich um lebemle Personen handelt und Euler starb am 7. .Septem-
ber 1783. Wir besässen damit ein sehr frühes Datum.
Ein zweiter Zettel beginnt: „Gratuiti Anthropol. nDö"'. Auch
er bietet viele Aufzeichnungen zur Ariieit.
Ein dritter, von dem das gleiche gilt, trägt: „Robert Motheriiy,
11. Aug. 179..., die letzte Zahl leider undeutlich, sie kann 0, 5 und
8 sein; mir scheint 5 das AVahrscheinlichste.
Ein vierter Arbeitszettel wurde von Kant sell»er unterzeichnet
mit dem Beisatze: 8. Aug. 99.
Im Jalire 1798 erwähnt er das Werk briellich an Garve und
Kiesewetter.
Auf dem Umschlage des siebenten Konvolutes steht: „Im
8Usichseschsten Jahr meines Alters." Kant ist 1724 geboren, die
Bemerkung ergäbe mithin das Jahr 180(). Schliesslich besitzen wir
Nachricht, dass er bis zu seinem Tode an dem Manuscripte gear-
beitet hat, also bis 1804 (vergl. Krause, das nachgelassene AVerk
S. XIV, XVI).
Es ist wahrscheinlich, dass jemand, dem die Königs-
berger Archive und Privatnachrichten zu Gebote stehen, aus Ein-
zelheiten, zumal Xamen, noch weitere Daten zu Tage fördern
kann, l'iir uns genügt es, die Endpunkte 1783 und 1804 gefun-
den zu iiation, die sich ohne Gewaltsamkeit kaum wegdeuten lassen.
\ \u\ «labei bleibt noch zu erwägen, dass 1783, als die für den
,
Paläographische Bemerkungen zu Kants nachgelassener Handschrift. 39
ersten Zettel späteste Zahl erscheint, dass er wahrscheinlich
etwas früherer Zeit angehört. In runder Zahl können wir nach
den Daten ungefähr 25 Jahre Thätigkeit für das ^lanuscript in An-
spruch nehmen. Das erscheint auf den ersten Blick sehr hoch,
doch stimmt es /um Aeusseren des Manuscriptes und zu dem, was
bei der Bearbeitung der Kritik der reinen Vernunft gesagt wor-
den. Hinzu gesellt sich, dass der Stott" unseres Werkes oder sagen
wir unserer zwei AVerke ein noch schwierigerer als der des
früheren ist, dass es dem Verfasser offenbar aus den Fugen
ging, er seiner nicht Herr werden, er es nicht zur Drucklegung
fertig bringen konnte; alles Umstände, die dem. der selber geistig
thätig ist, starke Gründe für Verzögerung abgeben. Selbstver-
ständlich hat Kant nicht 25 Jahre ununterbrochen bei dem Ma-
nuscripte gesessen, eine hochgradigere Thätigkeit dürfte sogar erst
in den letzten 10 Jahren eingesetzt haben, aus denen die Mehrzahl
der Daten stammt und wo der Wunsch herantrat, das Werk noch
vor dem Tode fertig zu bringen. Aus den Briefen an Garve und
Kiesewetter geht hervor, dass er sich 1798 in voller Thätigkeit
befand; das Werk war noch nicht vollendet, scheint sich aber
nach seiner Auffassung dem Abschlüsse zuzuneigen.
Mit diesen Ergebnissen dürfen wir an die weitere Thatsache
treten, dass Kant einigemale ein bereits anderweitig gebrauchtes
Papier verwendete und hie und da persönliche Notizen aufzeichnete.
Ersteres kann schwerlich jemand auffallen, am allerwenigsten, wenn
er sich jene Sparsamkeit vorstellt, wie sie das ganze Manuscript
beweist. Wohl jeder Autor benutzt gelegentlich die Kiickseite eines
Briefes, oder einer Rechnung, wenn sie ihm gerade bei Fixirung
eines Gedankens in die Hände fällt, und so that es auch Kant,
wenngleich nur vereinzelt, wie aus der Beilage dieses Artikels zu
ersehen. Hiehin gehört es auch, wenn sich im X. Konvolute zwei
Entwürfe ül)er die Pockennoth finden, deren Rückseite philoso-
phische Untersuchungen bedecken. Und nicht viel anders steht es
mit den gelegentlichen Privatnotizen. Es sind Dinge, die Kant sich
aus irgend einem Grunde aufschrieb, meistens ganz unten rechts
am Rande oder ganz unten quer unterhalb des Textes, einmal auch
an der Seite, quer gegen den Text. — Doch solche Bemerkungen
4U von Pt'l iijik-IIart tung.
sind obeuf";dls >cl1oii. wie die zweite Beilage {larthut. IJfi weitem
Läufiger sind Nutizen aiii den gedruckten l mscldägen der Kunvu-
]ut<.'. Aber .stets muss man wi Augen behalten, dass es sich um
ein nucli unlertigcs Manuscrij)! handelt. iil)er welches der Autor
Jahre, Jahrzehnte gebrütet hat. und das er l'iir sich und seine Be-
dürfnisse einrichtete, uhue daran zu denken, dass von späteren Ge-
schlechtern einmal jeder Punkt unter die Lupe genommen und
kommenlirt werde. — Oder ahnte er es l)ereits. und verlangte in
pessimistischen Anwandlungen, dass die llandschril't nach seinem
Tode verbrannt werde (AVasianski, bei Krause S. XIV). Ein un-
fertiges Manuscript ist anders zu l)ehandeln als ein abgeschlossen
redigirtes Buch.
Noch Kant selber schlug die 13 Konvolute je In einen Druck-
bogen ein (Druckpapier ulleiibar wieder aus Sparsamkeit), welche
er theilweise mit der Konv(dutenzahl und sonstiger Angabe be-
zeichnete. Die Umschläge bestehen aus Zeitungen und anderen
Sachen, welche leider keine Zeitbestimmung ermöglichen, weil die
Bogen und Umschläge sowohl von anhing an zusammengehört halien,
als diese auch erneuert sein können. Jjetzteres erscheint als das
bei weitem A\'ahrscheinlichere. da die Umschläge am meisten zu
leiden hatten und Druckpapier wenig AViderstandskrai't besitzt.
Die Reihenrolge der Bogen innerhalb der Konvolute zeigt sich jetzt
durch Bleistiltbezeichnungen lixiert, die wahrscheinlich vom Propste
Schön herstammen. Aber theilweis hat Kant persönlich noch die
Bogen vermerkt, so im X. und XI. Konvolute, wo sie mit A. P).
C bis Z. und dann mit AA, BB, u. s. w. versehen wurden. Xicht
unbedeutende Abschnitte des eigentlichen Elementarsystems sind
sogar wiederholt in ParagTaj)hen. zum Theile mit Zahlbezeichnun-
gen, gebracht. In den einzelnen Konvoluten tritt ein gew'isser
gemeinsamer Gedankengang hervor; wenn er nicht immer inne ge-
halten, so bleiJjt zu l)edenken, dass tlas Werk noch unvollendet,
überhaupt wohl, wie schon angedeutet, etwas aus dem Rahmen
gegangen war. Dazu gesellt sich, dass einige Bogen nicht in
ursprünglicher Ordnung zu liegen scheinen, was schon Ueicke bei
deren zwei bemerkte. Vom l'ünCten Bogen des VII. Konvolutes ist
durch Kants Bezeichnung sicher, dass er nicht dahin gehört (Altpr.
Paläographisi'he Bemerkungen zu Kants nachgelassener Ilanil-clirilt. 41
Monatsschr. XIll. 8. i)4o, 652). Im Xll. Kunv. 1,4 liat Kant am
Rande bemerkt: „viel. Bog. A. Uebergang .S. 4 mit ruther Tinte"
(vgl. Reicke I, S. 17), ein su be/eichiieter Bugen lindet sich nicht
im Konvülnte, wohl aber als (h'itter dc^ neunten und zwar in der
Weise, dass die beiden Innenseiten zwar rein sind, die beiden
äusseren dagegen schmutzig, als üb sie auf nnsaul)erem Tische oder
Buden gelegen hätten. Es wäre mithin möglich, dass das Papier
auf die Erde liel und (htbei aufklappte uder sonst durcheinander
geworfen wurde (vergl. Krause S. XV). Zufolge der Paginierung
miisste es vor der Thätigkeit Schöns geschehen sein. Wie leiclit
kommen nicht lose Blätter in Unordnung und wie vielen Zufällig-
keiten, ja Gefahren war unsere Handschrift nicht ausgesetzt!
Nach alledem ist eine gute Textedition äusserst erschwert,
wenn nicht gar bisweilen unmöglich. Es handelt sich um ein un-
fertiges, geradezu erdrückend durch- und umgearbeitetes Manuscript.
Beihii^e I.
Notizen aus Kants Privatleben.
Herr cand. rer. nat. J. Noelting hat die folgenden Notizen aus
dein Manuscripte zusammengestellt:
Konvolut 1 uiul YJl sind in Händen des Herrn Dr. Reicke in
Königsberg.
Im Konvolut 11 lindet sich nichts auf liiiusliche Angelegenheiten
liezüglich.
Konv. 111, Bog. 5 S. o (11), rechts unten an der Ecke neben
dem Texte die Multiplication von 15x15. — .S. o (Hb) eine Be-
rechnung und ein Zeichen.
Konv. IV. Zettel 36 ein gebrauchtes Blatt mit: Gratuiti An-
tropol. 1795. I Joh. Freytag. | Zymanowsky. | From. | AVenslawsk. |
Gregorovius. 1 — Auf der sonst leeren Rückseite von Zettel 37
steht: Gottfried Christoph Wilhelm Grünmüller. — Auf Zettel 44
rechts oben fern vom Text: Fuchs Lichtzieher (durchstrichen). —
Auf Zettel 46, quer gegen den Rand: Zwey Briefe des (oder durch)
Fl. Cruse an Hartknoch und Baron Ungern von Sternberg imgleichen
an Director Euler in Petersburg.
Kon. V, keine Notiz; ebenso VI, Mü, IX.
42
vnii l'l'l II uk- II ;i it tiiiiK-
Kullv. \, Bog. l S. '.>. Zettel 2. Üben vur dem Texte, von
diesem tlieilvveisc bedeckt, mit Bleistilt: .Sittenleiire Jesu von Stäiid-
liu dem II. Inspector Ehrenbütts abgeben, zwey Briefe von Tiel-
drunk. — Bog. 12 Zettel 4: war vor der Benutzung für das Manu-
script als Brief gebraucht. Darauf steht:
Da Ew. Hochedelgeboren
das Inserat in das Intelligenzblatt der Jenaischen A. L. Z.
abzusenden gesonnen sind, so will ich nur erinnern, dass der
Brief morgen (Freytags) vor 8 Ulir — etwa um hall» 8 —
auf die Post gegeben werden müsse. ••
J. Kant,
d. 8 ten Aug. '.)9.
— Auf demselben Zettel quer gegen den Text: an Prof. Rincx.
Poselger. Stadtraths. — Halbbogen II und Bogen 111 p. 1 handelt
von der Pockennoth und ist bereits von Reicke verötfentlicht (Aus
Kants Briefwechsel, Königsberg 188;")). — Auf IMhb. IV p. 2 unten
am Rande: NB. Die Marke vom weissen Wein ist noch nicht ab-
gegeben worden, wohl aber eine vom rothen Wein schon vorher. —
Heute Crimiiuil R. Jensch und Ehrenbnth und trockenes Obst zur
Gesundheit zu geben oder Pfarrer Sommer. — Zeitung von Nico-
lovius von der Revolution in Paris. — Von Seh . . . . se am Sonn-
abend zu erfahren, wer das Stück Miinchener Abhandlung des
[Ungl . . durchstrichen] Verunglückten hat. — Haibb. VI p. 2, unten
links am Rande: [Durchstrichen: Neue Groschen anzuschaffen].
Heute Pro!'. Porschke. Criminal R. Jensch. — An G. Rath Pott
Danksagung wegen Beitritt Azorenweiu die noch fehlenden
schwarzen Bouteillen. — Unten ganz am Rande: [Durchstrichen:
Sonntags Abstäubung der Studirstube doch sehr vorsehen durch
die Köchin. Verstopfen von Decken der Fenster in der Studir-
und Schlafstube, vielleicht auch in der Essstul)e]. — Halbb. XVI
unten rechts am Rande: Lampe hat auf seiner oberen Stube einen
Bund Schlüssel und die Tochter hat's auch dem L. zu melden, dass
das ihm bedingtervveise versprochene Quartal bis zum zweyten auf-
behalten werde .... das die Tochter .... — Zu bemerken
ist, dass alle diese Notizen auf dem Iwinde tler Ilalbliögen stehen.
Paläügriiphische Bemerkungen /,u K;uits nachgelassener Ilanil.schrift. 43
Kuiiv. XL Bog. 1 8. 4, links oben am Rande: Teltovver. | Prüf.
Kincx. Doct. Mütherhy. — Bog. 6 S. 2, links unten in der Ecke:
H. Schirrmacher und Mag. [durchstr. : Schultz, eingeschaltet: Gänsch.
IJurchsti-.: Der H. Magister Schult/, und M. (Üinsch oder H. Schirr-
macher und ]M. Gänsch ....].— S. 4 links unten in der Ecke:
Religion die höchste Angelegenheit des Menschen in einer Anrede
der Vernunit an sich selbst vorgestellt von J. K. und gewidmet
dem 11. G. R. Pott.
Konv. XII Bog. A. S. 4, links unten eine Berechnung.
Konv. Xlll bietet keine Notiz.
J)ie auf den Umschlägen angebrachten Aurzeichnungen sind
hier nicht gegeben.
ßeilaiie II.
Benutztes Papier.
Wiederholt hat Kaut l)e.reits benutztes Papier noch einmal
verwendet, und zwar in lolgenden Fällen, aus dem IV. Konvolute.
1. lileistii'tbezeichnung o und 4. Quartblatt, lang 0,2o, l)reit
0,l8ö. ursprünglich zusammengefalteter Brief an Kant, jetzt nur
noch in der Mitte gebrochen, so (hiss vier Seiten entstehen. Auf
der ersten Seite, die Adresse: Des | Herrn Prof. Kant ] Wohlge-
bohren. Ujiten in der Mitte der runde Siegellackfleck. Auf der
dritten Seite der Brief: Hierbey erhalten Ew. Wohlgebohrnen einen
Schein über die letzt empfangenen 232 und 204 Rtl..r., zusammen
also für 436 Rthlr. Den Uten Schein über 232 Rthlr. werde mich
also zurückerbitten. — Robert Motherby. -- Uten Aug. 17'J . . .
[die letzte Zahl kann 0, 5 oder 8 sein]. Vor dem Briefe oben in
der rechten Ecke, abgetrennt durch einen schrägen Strich: S. J.
2. Blstbz. 5. Quartblatt 0,23 zu 0,185, den Adressentheil einer
Zuschrift an Kant bietend, diese selber wurde abgerissen. Auf der
Vorderseite: Sr. AVohlgebohrnen | dem Herrn Professor Kant | zu |
Königsberg 1 in Pr. | Hiebei eine Rolle | in gr. Wachs Leinw. | sign.
K. worin 55 Rthlr. | W. \ König. Ober Schul- | Kassen Gelder. — Links
oben von der Adresse tindet sich ein undeutlicher Zahlenvermerk,
vielleicht 21 et 22 Rthlr. Rechts am Rande das unversehrte Siegel
der Königlich Preussischen Oberschulkasse.
44
von Pflugk-Harttung,
o. HIstl.z. G. Quartl'lMÜ O/i /u 0.1'.). Wioder der Afire.«sen-
tlu'il einer Zuscluill. Aul' der \ (»rder.seite: Dem Herrn PruJ'essor
Kiiiil. Xncli deutüelie Spuren der urspriingliclien Oblate zeigend.
4. .Schmaler Papienstrcif 0,21 /u (),0o5. Trägt auf der einen
Seite in giinzer Länge den Namen: (Juttfried Christoph Wilhelm
rirünmiiller.
Blei.stililjezeichnung 4: ß riefe nl warf an Oarve.
Bei allen diesen P)lättern wurde der IVeigeliJiehene Kaum von
Kant je nach Hedürfniss liir seine Arheit benutzt. Nr. 4 auf der
Rückseite halb eng lieschrieben. hall) mit [)hysikalischen und
mathematischen Figuren bedeckt, wie sukhe auch sonst im Manu-
scripte vorkommen.
Wegen Wasianski"s Brie!' an Kant aus dem MI. Kunv. vergl.
Aitpr. Monatsschr. XII S. 5(31».
VIT.
Zu Goetlies Pliilosopliie der Natur.
Vuu
Wilhelm Dillliey in Berlin.
Als ich in dem „Leben Schleiennachers" die Naturphilosophie
Schellings und Hegels zuriickvcrfolgte in ilie Goethes und hierbei
die älteste Urkunde dieser Naturphilosophie, Goethes Aufsatz „Natur"
erörterte, konnte über das Verhältnis der Naturansicht Goethes zu
der Herders in dieser Zeit (1782), kein litterarisches Zeugnis Licht
verbreiten. Wenn auch der intime Austausch zwischen Herder
und Goethe in dieser Zeit eine völlige Auflösung der Frage, wel-
chen Anteil diese beiden Personen an der Ausbildung des deut-
schen Pantheismus haben, unmöglich macht, so werden uns doch
Aeusserungen willkommen sein, welche wenigstens die Frage be-
stimmter begrenzen. Das Verhältnis ist dasselbe als es in Bezug
aul' die Ausbildung der mechanischen Weltansicht gegen die Mitte
des 17. Jahrh. besteht. Die Abgrenzung des Anteils von Galilei,
Descartes und Hobbes lässt sich auch hier wegen des lebendigen,
mündlichen und brieflichen Verkehrs der entscheidenden Personen
und ihrer Freunde nicht endgültig feststellen.
Die ausgezeichnete Ausgabe Herders, welche wir Suphan
verdanken, bringt in ihrem neuerschienenen 13. Bande ') ältere
Niederschriften und ausgesonderte Kapitel aus einem Entwurf zu
den ersten drei Büchern der Ideen. Schon die erste Ueberschrift,
die uns hier aufstösst: Vorzüge des Menschen vor seinen Brüdern,
1) Herders süuimll. ^Y. lierausg. von Suphan Bd. 13. Berlin, Weidmann
1887.
46
Williolin Diltliey,
tleu Enltiereii, erinnert ;in den .Monolog „Wald und ilölile": ..Du
führst die Reihe der J^ebendigen vor mir vorbei und lehrst mich
meine Brüder im stillen Busch, in Jjul't und Wasser kennen,"
Dann aber zeigt sich dieser Entwurf im Ton. in den Hauptsätzen,
ja in einzelnen Stellen dem Aufsatz Goethes über die Natur ver-
wandt.
Goethe. Herder.
Natur! ^Vir sind von ihr um- AVelche Unendlichkeit umfasst
geben und umschlungen — un- mich, wenn ich. überzeugt und
vermögend, aus ihi- herauszutre- betroffen von tausend Proben die-
ten, und unvermögend, tiefer in ser Art, Natur! in deinen heili-
sie hineinzukommen. "Ungebeten gen Tempel trete. Kein Geschöpf
und ungewarnt nimmt sie uns bist du vorbeigegangen: du teil-
in den Kreislauf ihres Tanzes fest tiich allem in deiner Uuer-
auf.
Sie liebt sich selber und haf-
messlichkeit mit und jeder Punkt
der Erde ist Mittelpunkt deines
Kreises.
Die Schöpfung ist dazu ge-
tet ewig mit Augen und Herzen schaffen, dass sie auf jedem
Punkte genossen, gefühlt, ge-
kostet werde; es mussten also
mancherlei Organisation sein,
sie überall zu fühlen und zu
kosten . , .
. . . wenn sie von Millionen
Geschöpfen auf allen ihren Sei-
ten durchgenossen, durchempfun-
den wird.
Jedes deiner Werke machtest
du yanz und Eins und sich nur
ohne Zahl an sich selbst,
hat sich auseinandergesetzt, um
sich, selbst zu geniessen. Immer
lässt sie neue Geniesser erwach-
sen, unersättlich, sich mitzuteilen.
Sie freut sich . . .
Jedes ihrer Werke hat ein
eigenes ^Vesen, jede ihrer Er-
aus.
scheinungen den isolirtesten Be- selbst gleich; du schufst es gleich-
griff, und (\nv\t macht Alles Eins sam von innen heraus . . .
Grosse Mutter! deine Kraft ist
überall ganz und unendlich;
allenthalben hast du compen-
siret.
Zu Goetlies Philosoiihie der Natur. 47
Der Aufsatz Goethes ist im „Tiefui-ter Journal" 1782 er-
schienen. Schon (1. 7. Dez. 1781 schreibt Goethe an Frau von Stein.
dass er einen Roman über das Weltall durchgedacht habe und
seiner Freundin diktieren zu können wünsche. Das Fragment ist
augenscheinlich im Zusammenhang dieser Gedanken entstanden.
Herder hat nach Haym II. S. 196 seit dem Frühjahr 1783 über
den Plan seiner Ideen gegrübelt, am 28. August 83 war es zur Er-
neuerunu- der Freundschaft zwischen Goethe und Herder am Ge-
burtstag Goethes und Gottfried Herders gekommen. In den ersten
Tagen des Dezember las dann Herder die ersten Kapitel des be-
gonnenen Werkes vor. So rücken die verwandten Stellen Goethes
und Herders auch zeitlich nahe aneinander. Man könnte denken,
dass Herder das ihm natürlich aus dem Tiefurter Journal bekannte
Goethe'sche Fragment in Erinnerung gehabt, als er schrieb. So
stimmt der hier bemerkbare Einfluss Goethes auf Herders Ideen
wohl überein mit einem ausdrücklichen Zeugnis über dies sein
Verhältnis zu Herders Werk, das uns bei dem allerdings nicht
immer zuverlässigen Falk erhalten ist. „In dem ersten Band des
Herderschen A\'erks sind viele Ideen, die mir gehören; diese
Gegenstände wurden damals von uns gemeinsam durchgesprochen."
Die Anschauung, welche bei Goethe entschiedener, bei Herder
hier unbestimmter auftritt, ist im Gegensatz zu Spinozas Trennung
der Eigenschaften der Natur, sofern sie räumlich ist und sofern sie
denkt, eine genetische Auflassung des Naturzusammenhangs, nach
welcher die in der anorganischen Xatur unbewusst wirkende Bil-
dungskraft sich in den bewussten, empfindenden Organismen „aus-
einandergesetzt" hat, „um sich selbst zu geniessen". Die
Natur blickt aus den Augen der Tiere und Menschen, und sie
geniesst sich selbst in dem Wechsel der Gefühle derselben. Eine
solche Betrachtungsweise ist in Einklang mit Spinozas Satz, dass
die Natur oder Gott oder die Substanz in den mensclilichen Geistern
als ihren Teilen sich selber erkennt und liebt. Aber der Satz
Spinozas empfängt bei Goethe einen ästhetischen Charakter. Die
Natur wird hier in ein sich selbst geniessendes einheitliches Wesen
verwandelt. Die ästhetische Auffassung betrachtet die Natur als
ein sich Genügsames, in sich Ruhendes, nus seinen unbewussten
48 AVilliolm Diltliey.
Krärton AVirkondos und fieuicsseiules. Und diese jistlietiselie .Xatiir-
uuffassuiig ist hier iu diesem Fragment „Xatur" /um ersten Mal
diirehgeliilirt. An dem empirischen Material geologischer Beschäf-
tigungen hat dann Goethe bald danach deutlicher aus diesen A'^or-
aussetzungen den Gedanken einer Entwickelung in der Natur ab-
geleitet, welche von dem materiellen, dunklen, unbewussten auf-
wärtsfiihrt zu den im Licht des Bewusstseins geniessendeu Ge-
schüpt'en.
VIII.
Die Philosophie in Dänemark im
19. Jahrhundert.
Von
Professor Harald Höft'diiig iu Kopenhagen.
Das geistige Leben hier im Norden hat sich — seit der Re-
t'ormationszeit — in genauem Zusammenhange mit und unter star-
kem Eintlusse von dem deutschen Geistesleben entwickelt. Dies
gilt besonders in philosophischer Rücksicht. Aus Dänemark ist
kein Denker hervorgegangen, welcher einen Wendepunkt in der
Geschichte des philosophischen Forschens herbeigeführt hätte. Aber
wie auf anderen Gebieten hat man auch hierin die vom Auslande
kommenden Strömungen auf eigentümliche Weise zu assimiliren und
7Ai verarbeiten versucht. Im Anfange dieses Jahrhunderts trat bei uns
die Philosophie der Romantik auf und übte einen grossen, Anfangs
sogar einen ülterwältigenden Eiulluss auf unser ganzes Geistesleben,
besonders auf die Poesie und die Entwickelung der religiösen Ideen
aus. Unsere neuere nationale Literatur wurde durch diese Ein-
wirkung und die dadurch erweckte frische und tiefe Lebensautt'assuug
hervorgerufen. Die Philosophie Schellings und Hegels übte lange
Zeit eine grosse Herrschaft. Aber man darf behaupten, dass der
der dänischen Geistesrichtung eigentümliche Sinn für die reale
Natur und die psychologische wie geschichtliche Wirklichkeit
es uns möglich machte, dass die bedeutungsvollen Ideen jener
Philosophie unsere Entwicklung befruchten konnten, ohne dass wir
uns doch in abstrakte und hyperidealistische Speculationen ver-
loren. — In den letzten Decennien hat sich bei uns wie in Deutsch-
land die kritische Pliilosophie wieder hervorgonrbcitet. Neben
Arcliiv f. Cicscliiclitf d. l'lnli.s.,|)hM'. II. 4
50 Harald Höffcling,
deutscher Einwirkuno; cjelit jetzt ein sehr starker Einfluss von Eng-
liind aus, indem die jüngere Generation von Stuart ^liil. Darwin
und IlerlMMt Spencer entscheidende Impulse empfangen hat.
T.
Henrik Steffens, in Norwegen (1773) geboren, auf väter-
liclier Seite aus Holstein, auf mütterlicher aus einem altdäni-
schen, bis ins Mittelalter zurückgehenden Geschlechte stammend,
ein feuriger Redner, welcher besonders die Gabe besass die Eigen-
tümlichkeit anderer zu erblicken und zu erwecken, führte die
Schellingsche Philosophie in Dänemark durch die in der dänischen
Litteraturgeschichte berühmten Vorlesungen ein. welche er im
November 1802 in Kopenhagen begann, und welche im folgenden
Jahre teilweise gedruckt wurden. (Indledning til lilosotiske Fore-
loesninger 180.3). Er stellte hier die naturphilosophischen Gedanken
(hir, welche er früher in einer deutschen Schrift (Beiträge zur Innern
Naturgeschichte der Erde, 1801) ausführlich entwickelt hatte; aber
er behandelte auch Probleme, welche der Aesthetik, der Religions-
philosophie und der l'hilosophie der Geschichte angehörten. Es war
ja eben M>' Aufgabe der Scliellingschen Philosophie, den inneren Zu-
saniinenhang oder gar die Identität aller dieser Probleme zu zeigen.
Sie. machte keinen scharfen Unterschied zwischen Geist lukI Natur,
zwischen dem Revvussten und dem Unbewussten, zwischen dem
Gedanken und der Phantasie, zwischen Gott und dem Universum.
Die Natur ist eine Stufenreihe, innerhalb welcher das geistige Leben
.sich nach und nach entwickelt. In allem ist eine uml dieselbe
Eiidieit; in der Welt der Natur und der des Geistes regen sich
dieselben Kräfte und dasselbe Leben, wenn das Auge nur aufgetan
ist sie zu erblicken. Steffens begann darum seine Vorlesung mit
der Erklärung, dass er bei seinen Zuhörern „den inneren Drang,
(bis eigentliche ^Vesen der Dinge zu erkennen, das Rätsel des
Daseins zu lösen, und (he innere Anschauung, welche jeden Teil
zu einem Ganzen zusammenfasst und das absolute Ganze und Eine
als das Reale setzt", voraussetzte. Er appellirte also an ein höheres
Organ, eine „intellektuelle An.schauung". Er suchte dann die Ein-
heit in der Natui- und in dei- (ieschichte aufzuzeigen. Es gilt für
Die Philosophie in Däueraaik im 19. Jahrhundert. 51
ilin „die Freiheit der Veruunft in der Notwendigkeit der Natur, die
Notwendigkeit der Natur in der Geschichte 7a\ erkennen". iJie
unorganische ^^'^elt erreicht erst in der organischen ihr eigenes
Ziel, und innerhalb dieser entsteht der freie Geist, dessen not-
wendige Entwickelung die Geschichte darbietet. Durch die ganze
Natur ist eine individualisirende Kraft zu spüren, die im Menschen
ihre Vollendung erreicht. In der poetischen Genialität und der
religiösen Begeisterung haben wir die höchsten Offenbarungsformen
der grossen, in Allem sich regenden Kraft vor uns. Aber dies alles
ist nur einer höheren Anschauung zugänglich, während es dem
experimentellen Forschen und dem kritischen Verstände verborgen
ist. „Unsere Wissenschaften haben uns die Natur verschlossen!"
Von den physischen und chemischen Theorien appellirt Steffens
kühn an „die ewige Natur selbst". Er wollte einen Standpunkt
einnehmen, auf welchem sich die höcliste Wissenschaft, die höchste
Religiosität und die höchste Poesie begegneten, und legte einen
gewaltigen Protest gegen die kritische, analy.sirende Tendenz des
IS. Jahrhunderts ein. Als lichter Romantiker pries er die Urzeit,
als das Geistesleben noch ungeteilt war, und die Menschen der
Natur und der Gottheit näher standen. „Ist nicht das Schönste,
Herrlichste, was unsere Zeit durchdringt, der Sinn für jene alte,
verschwundene?" — Diesen Vorlesungen verdanken nach ihren
eigenen Erklärungen die hervorragendsten Führer der poetischen
und religiösen Entwicklung in Dänemark, Männer wie Oehlen-
schhiger, Grundtvig und Mynster, ihre erste Anregung. A^ielerlei
Ideen wurden angeregt; ein reicher Gährungsstoff war jetzt vor-
handen. Steffens selbst M'ar es nicht vergönnt, diese Keime zu
pflegen; die Autoritäten betrachteten ihn mit Misstrauen ; man be-
schuldigte ihn, bald dem Atheismus, bald dem Katholicismus zu
huldigen. Er war auch mehr dazu geeignet die Bewegung hervor-
zurufen als sie zu leiten. 1804 ging er nach Halle, und seine
weitere Entwicklung gehört der deutschen Literatur an.
Einem klareren und besonneneren Denker war es vorbehalten, das
philosophische Forschen hier in Dänemark weiter zu führen. Im Jahre
1803 wurde Niels Treschow (geb. bei Drammen in Norwegen 17')!.
gest. in Kristiania 1833), welcher als Rektor in Kristiania eine
4*
52 Harald HO ff ding, |
4
Heihe vortrelVlicher Vorträge über die Kantische Philosophie ge^
halten hatte, als Professor der Philosophie an die Universität in
Kopenhagen berufen, und er libte hier in den zehn Jahren seiner
AMrksanikeit (bis er nach der neuen Universität in Kristiania ging)
einen sehr grossen Eintluss nicht nur auf die Studirenden, sondern
auch durch seine AOrlesungen auf weitere Kreiso aus. Erst als
reifer und in der lMiiloso[)hie d(}s l>^. Jahrhunderts wohl bewander-
ter .Mann wurde Treschow mit der neuen spekulativen Lehre be-
kainit. Va- stellte sich ihr kritisch prüfend gegenüber, indem sein
lebhafter und kühner (ieist ihr nur dasjenige entnahm, was ihm
brauchbar und lierechtigt erschien, in seiner Selbstbiographie gibt
er seine Stcdbnm sd-an: „Ohne Anhänger entweder der älteren,
vorkjuitischeu «»der ih'r neuesten Philosophie zu sein, behielt ich
aus jener die Lust zur Klarheit der Pegritte und zur Genauigkeit
in der Gethmkenentwickelung; von dieser wurde ich auf das In-
konsequente Acs gewöhnlichen Dualismus und auf die Notwendig-
keit, alles )\'irkliche und Mögliche aus einem Principe zu ent-
wickeln, aufmerksam gemacht." Der Unterschied zwischen Treschow
und den sjiekulativen Philosophen ist clor, dass während diese im
Gedanken in der Einheit des Daseins schwelgen und sich dadurch
der Mystik nähern, liii- ihn dieser (iedanke eine Voraussetzung ist.
auf welcher unsere Eorschung beruht, wenn sie den Zusammenhang
der Dinge sucht, ^\'eil die Erfahrung selbst dieses Suchen immer
wieder erweckt, muss jener (Jedanke mehr als eine Idos subjective
und menschliche Voraussetzung sein. Durch diese Begründung
des Einheitsgedankens steht Treschow der Erfahrungswissenschaft
näher als Schelling und Steffens. — Seine bedeutendsten Schriften
sind: „Elementer til Ilistoriens Filosoli" (1811) und „<)m den
menneskelige Natur'' (1812), welche den psychologischen und histo-
rischen Sinn (h's Verfassers zeigen und die noch jetzt nicht ohne
Interesse sind.
Tresclittw huldigt der Identitätshypothese, nach welcher Geist
und Kiirper mir verschiedene Seiten eines Dinges sind, indem
dieses sich dem inneren Sinne anders als den äusseren Sinnen dar-
stellt. Peidcn liegt nur ein l'i-in<'i|) /.u (irnnde. „welches zu er-
kennen wol schwierig, ;dier vielleicht nicht unmöglich ist". Es
Die Philosophie in Dänemark im ID. Jahrhundert. 53
gibt kein Kaiisalverhjilliiis.s zwischen Empfinfhino- und Bewegung;
Bewegung kann nur Bewegung, Emplindung nur Empfindung hervor-
bringen. Aber jede Bewegung ist mit einer entsprechenden Empfin-
dung, jede Empfindung mit einer Bewegung verbunden. Die all-
gemeine Materie ist der sichtbare Gott, eine Offenbarung des höch-
sten Wesens; die Kriilte der Natur sind von der Kraft der Gottheit
nicht verschieden. — J)ie Klarheit, mit welcher Treschow die
Identitätshypothese aufstellt, die seine Lehre vor der Schelling-
Heoelschen auszeichnet, wird doch durch seinen A'italismus einiger-
massen gestört. Die Seele ist nach ihm mit der „Lebenskraft"
eins, und wirkt als solche auch in den körperlichen Funktionen.
Dieser mythologische BegrilV, welchen er mit der Physiologie seiner
Zeit teilt, macht es ihm nur anscheinend leichter das Problem
zu lösen.
Durch die ganze Natur und Geschichte nimmt Treschow
eine kontinuirliche Entwickelung an. „Von Stoffen, welche roh
zu .sein .scheinen, weil man noch keine Form in ihnen entdeckt,
vollzieht sich ein allmählicher Uebergang zu bestimmteren Gestalten,
deren Reihenfolge nur in allgemeinen Zügen angegeben werden
kann. Durch scharf bezeichnete Grenzen sind sie nicht zu unter-
scheiden, weil der Gang der Natur in den Abweichungen oder
Ausartungen, durch welche die früheren Geschlechter und Arten
in ganz neue verwandelt werden, nicht blus kriechend ist, sondern
so langsam, dass weder Erfahrung noch Geschichte uns befähigen,
seinen beinahe unmerklichen Spuren zu folgen." Alles Lebendige
hat dieselbe AVurzel. ^^'enn wir hinlänglich zurückgehen, kommen
wir zu einer Stufe, „wo das moralische Wesen kaum vom physi-
schen zu unterscheiden war, — wo der Mensch noch nicht Mensch
war". Nun zeigt uns die Geologie, dass es Wasserthiere gab, noch
ehe das feste Land seine Einwohner bekam. Auch der Mensch
muss also Wasserthiere unter seinen Ahnen haben. Wir haben
uns dieses Ursprungs nicht zu schämen. Ist ja doch jedes Indivi-
duum noch immer in seinem Anfang ein Wesen, das tief unter
vielen Thieren, ja PHanzen steht. Die Geschichte des Individuums
und des Geschlechts bietet dieselben Grundziige. — Treschow be-
wundert also nicht, wie die Romantiker, die Urzeit. Für ihn
54 Harald Höffding,
streitet es gegen die allgemeinen Gesetze der Entwickelung, dass
die ersten Menschen Genien oder Götter gewesen sein sollten,
und nicht Jnstinktwescn, welche erst durch einen langen und müh-
samen Entwickelungsgang Vernunftwesen werden konnten. Er
nimmt bei allen lebendigen Wesen einen Entwickelungstrieb an,
welcher besonders als ein Trieb nach Selbstwirksarakeit hervor-
tritt. Im Menschen geht dieser Trieb endlich darauf aus. nach
Vernunftideen selbstwirksam zu sein. — Diese Lehre stärkt nach
Treschow unsere Hoffnung und unsere Geduld. Sie macht die
Menschheit gross und heilig in unseren Augen, indem wir sehen,
dass an ihrer Vollkommenheit seit Jahrtausenden gearbeitet wurde
und noch immer gearbeitet wird.
Jn seiner Schrift „Ueber die menschliche Natur, besonders von
der geistigen Seite" gibt Treschow eine klare und gesunde Dar-
stellung der psychologischen Hauptphänomene und Gesetze. Sie zer-
fällt in drei Abschnitte: 1. Ueber das Vorstellungsvermögen (hier-
unter: über die Empfindungen, üi)cr die Reproduktion und die
Association, über die Denkkraft). 2. Ueber das Gefühlsvermögen.
3. Ueber den Willen. (Hierunter auch über Triebe und Neigun-
gen, über Gewohnheiten und Fertigkeiten, über Leidenschaften und
Affekte.) — Obgleich Treschow nicht wenig \un der vorkantischen
Autfassung lieeinilusst ist, weist er doch entschieden die lichre
I^eibniz's von den Gefühlen als verworrenen Vorstellungen ab. Diese
Lehre gründet sich, wie er zu zeigen sucht, auf eine unvullstän-
disfe Induktion. — Im Einzelnen finden sich bei Treschow sehr viele
feine und trelfendc Bemerkungen und Analysen. \'on älteren
Autoren scheint ihn l)esonders Tetens (welcher ja ein geborener
Däne war) beeinüusst zu haben.
Die spätere Wirksamkeit Treschow's, nach seiner Rückkehr
nach Kristiania, war besonders der Religionsphilosophie gewidmet.
Er gab eine platonisirende „Ghristenthumsphilosophie" heraus.
Al>er seine AVirksamkeit in Kopenhagen hatte doch die Bedeutung,
dass die Philosophie bei uns \on dem Evangelium der Romantik
sich entfernte, und dass naturwissenschaftliche, psychologische und
historische Studien als Grundlagen der Philosophie behauptet
wurden.
Die Philosophie in Dänemark im 19. Jahrhundert. 55
Auch von der religiösen Seite lier erhob man der romantischen
Schule gegenüber ernste Bedenken, unter den von Steffens be-
eintlussten Männern habe ich oben auch N. F. S. Grundtrig ge-
nannt, den grossen Dichter und eifrigen Vorkämpfer für Orthodoxie,
Nationalität und volkstümliche Erziehung, dem unser ganzes Volks-
leben ausserordentlich viel verdankt. Philosophisches Studium und
Denken hat in die Entwickelung dieses mächtigen Geistes stark
hineingegriffen. Es gab eine Zeit, wo er, seiner eigenen Aussage
nach, „mit Fichte, Schiller und Schelling über die Rätsel des Le-
bens sann". Besonders hat Fichte einen grossen Eintluss auf ihn
gehabt, einen grösseren vielleicht, als er sich klar bewusst war,
obgleich er ihn immer hoch verehrte und ihm, selbst nachdem er
seinerseits der weltlichen Wissenschaft den Rücken gekehrt hatte,
durch ein Gedicht ein schönes Denkmal nach seinem Tode setzte.
Nicht nur wirkten die ideale Begeisterung und der ethische Ernst
Fichte's tief auf Grundtrig ein, sondern viele der historischen und
pädagogischen Ideen des deutscheu Philosophen (besonders die-
jenigen, welche er in den „Grundzügen des gegenwärtigen Zeit-
alters" und den „Reden an die deutsche Nation" entwickelte) findet
man in den Anschauungen des dänischen Dichtertheologen wieder.
Der Kampf gegen die geistlose Gelehrsamkeit und das blosse Auf-
sammeln von Stoff", die Polemik gegen den allzu grossen Raum,
den in neuerer Zeit das geschriebene („todte") Wort auf Kosten
des mündlichen („lebendigen") einnimmt, die Arbeit für eine
nationale und volkstümliche Erziehung, welche die ursprüng-
lichen Vermögen des Individuums und des Volks sich frei ent-
falten lässt und das Volk nicht in verschiedene Klassen zerspaltet,
— alles dies kann Punkt für Punkt in Fichtes Schriften nach-
gewiesen werden und gibt ein lehrreiches Beispiel davon ab, wie
Gedanken in einem ganz andern Boden als demjenigen, in welchem
sie zuerst hervorgesprossen sind, wurzeln und Früchte tragen können.
Unsere vorwiegend „nationale" Richtung in Schule und Leben ver-
dankt der deutschen Philosophie einige ihrer bedeutendsten Ideen.
Auch vonSchelling wurde Grundtrig stark beeinflusst. DieSchellingsche
Philosophie zeigte ihm die ganze Natur und die Geschichte als ein
grosses Weltdrama, \velches die Poesie, die Religion und die "Wissen-
56 Ilarald Hoff ding,
schart, jede auf ihre Weise, darzustellen suchen. Als aber che Zeit
für Grundtrig kam, da sein gährcnder Geist in dem „alten, ein-
fältigen Glauben" Ruhe fand, musste er an einer Lehre Anstuss
nehmen, nach welcher Gott nicht ist, sondern sich ewig durch das
AVeltleben entwickelt, und für welche das christliche Dogma von
der leidenden Gottheit, welche die Sünde durch ihren Tod sühnt,
nur ein grosses Symbol der durch Leiden und Kämpfe fortschrei-
tenden Weltentwicklung ist. Er schrieb dann (1815), als Antwort
auf einen Angriff des Physikers IL B. Oersted, eine Streitschrift, in
der er beweisen Avollte, „dass Schelling's Philosophie unchristlich,
gottlos und lügenhaft ist". — An die Philosophie der Romantik
erinnert doch auch später die Stellung Grundtrig's und vieler seiner
Anhänger der experimentellen und kritischen Wissenschaft gegen-
über. Er gab eigentlich niemals die Ansicht auf, welche ihn in der
genannten Schrift aussprechen Hess, dass „das leidenschaftliche
Studium und die hohe Werthschät/AUig der Physik, besonders
der experimentellen, auf Mechanik gegründeten, ein Zeichen des
nahen Todes der Wissenschaftlichkeit ist". Sein Begriff von
Wissenschaft trug, wie seine ganze Lebeusauschauung. fortwährend
das Gepräge der Romantik. Die geistigen Visionen mit ihrer Ge-
nialität und ilirem Irrtum waren bei ihm immer stärker als die
[irüfende Kritik. Der Sinn für die ideale Bedeutung der Erschei-
nungen wurde nicht mit Interesse für ihren realen Zusammenhang
vereint. Hierin liegt die Begrenzung des an und für sich frucht-
baren Einflusses des grossen Mannes auf das Geistesleben unseres
Volkes, eine Begrenzung, welche zum Teil der Zeit zu verdanken
ist, innerhalb welcher seine Lehrjahre Helen. —
Der Gegner Grundtrig's, Hans Christian Oersted, der be-
ridimte Physiker, Entdecker des Elektromagnetismus, war zuerst in
seiner allgemeinen jSaturauffassung ein Schüler Schelling's. Selbst
später, als er mit nüchternen Augen auf die spekulative ^Natur-
philosophie zurücksah, behauptete er, dass „die grosse Bewegung,
welche geistreiche ^länner am Anfang des Jahrhunderts in Rück-
sicht auf die wissenschaftliche Auffa.ssung hervorgerufen hatten.
einen wichtigen Einfluss auf die iS'aturforscher Deutschlands und dos
Nordens gehabt hat und auch nicht ohne Einfluss auf den wissen-
Die Philosophie in Dänemark im 19. Jahrhundert. 57
schaftlichen Geist in der übrigen Welt geblieben ist". Die Idee
der Einheit der Naturkräfte, welche die Schellingsche Philo-
sophie behauptete, hat gewiss auch bei den Untersuchungen mit-
gewirkt, welche zu seiner lierühmten Entdeckung Anlass gaben. —
Er sonderte später bestimmt zwischen Spekulation und Erfahrung
und erklärte, dass es eben für den, welcher die Ueberzeugung hat,
dass eine Grundeinheit die ganze Natur durchdringt, doppelt not-
wendio- wird, seinen Blick auf die AVolt des Mannigfaltigen zu
richten, innerhalb welcher diese Wahrheit erst seine Bestätigung
finden kann. Tnd er meinte, dass sich eben aus einer gründlichen
Naturforschung eine tiefere Philosophie entwickeln würde, als die-
jenige ist. welche sicii in den meisten philosophischen Systemen findet,
und eine echtere Poesie als diejenige, welche sich in den meisten
Dichtungen lindet, ja dass auch die religiösen Anschauungen da-
durch berichtigt werden könnten.
In „Aanden i Naturen" (1849—50), eins der bedeutendsten
Werke unserer Literatur (welches auch in deutscher Üebersetzung:
„Der Geist in der Natur" vorliegt), sammelte Oer.sted eine Reihe
von Abhandlungen, welche zu sehr verschiedenen Zeiten verfasst
sind, aber vereint ein klares und schönes Bild seiner Welt-
anschauung geben. Sein Hauptgedanke ist, dass dasjenige in der
Natur, welches sich bei der ununterbrochenen Veränderung erhält,
die Kräfte sind, welche zuletzt zu einer Grundkraft zurückführen,
und die Gesetze, welche sich zuletzt als eine die ganze Natur
durchdringende Allvernunft zeigen. Die körperliche Wirklichkeit
ist nicht die wahre; die Körper sind nur Aeusserungen leben-
diger Wirksamkeiten. Körper und Geist sind unzertrennlich in
einem Princip verbunden. Im Denken erwacht die schaftende
Natur zum Bewusstsein in uns; daher sind wir fähig, die Natur
zu verstehen. ZAvischen Gottes Willen, der nicht als dem mensch-
lichen ähnlich gedacht werden muss, und dem Wesen der Natur,
kann kein Streit sein, weil beide eins sind. —
Auch auf specielleren Gebieten hat Oersted interessante Ge-
sichtspunkte entwickelt. So z. B. in seinen „To Kapiter af dch
Skönnes Naturlaere" (1845). (Auch in deutscher Üebersetzung:
Naturlehre des Schönen.) —
I
58 Harald Höffding-,
Treschow's Nachlolger als Piolessor der Philosophie in Kopen-
hagen ^val• Freclerik Christian Sibbern (1785—1872). Er ^
wurde in seiner Jugend von der Romantik und ihrer Philosophie !,!
stark ergritten. In ihnen fand er Nahrung für Herz und Geist.
Er war eine dichterische Natur, und hat für die Gährung seiner
Jugend in den „Briefen Gabrielis'" einen poetischen Ausdruck ge-
sucht. Seine Lehre ist eine der gesündesten Formen, in welchen 1:
die deutsche Philosophie auf das dänische Geistesleben Einduss ge-
wonnen hat. Sein Sinn für das Konkrete, sein Beobachtungsinter-
esse und seine warme Sympathie für das individuelle Leben be-
wirkten, dass er kein Anhänger des abstrakten und apriorischen
Deducirens und Konstruirens werden konnte. Nach seiner Ueber-
zeugung musste die Philosophie immer von einem gegebenen In-
halt ausgehen, und erst durch die Bearbeitung dieses Inhalts
konnten die höchsten Ideen gewonnen werden. Die Philosophie
muss explikativ sein, ehe sie spekulativ werden kann: und
die spekulative Erkenntniss muss selbst wieder durch beständige
„Konferenz" mit dem wirklich Gegebenen bestätigt werden.
Wenn die Ideen, die uns die Welt verständlich machen, sich uns
bei unserer Bearbeitung der gegebenen Erfahrungen kundgeben, so ist
dies nach Sibbern (welcher hier seiner Erkenntnisslehrc einen meta-
physischen Hintergrund gibt) dadurch möglich, (hiss wir selbst
Glieder des AVeltzusammenhangs sind, und dass das innerste ^^'esen
der Welt sich auch in uns regt. Dass aber eine absolute Erkennt-
niss nicht erreicht werden kann, ist in der sporadischen Entwicke-
lungswcisc der Welt begründet, in grosser Mannigfaltigkeit, in
vielen einzelnen Erscheinungen auf einmal erscheint uns die Welt,
und es ist eine unendliche Aufgabe, das gemeinsame Centrum der
verschiedenen Entwickelungsreihen zu bestimmen. (Vergl. die
Schrift von Sibbern „über den BegriiV, die Natur und das Wesen ,
der Philosophie" 1843.)
Seine allgemeine AVeltanschauung hat Sibbern besonders in
seiner „Spekulativen Kosmologie" (1846) dargelegt. Alles Entstehen
und .dies Werden wird durch zwei Faktoren möglich: der eine ist die
in Allem wirkende Ordnung, der andere ist etwas bestimmt Ge-
gebenes, welches mit sich Jiihrt, dass in jedem einzelnen Falle jener
Die Philosophie in Dänemark im 10. Jahrhundert. 59
Ordnung gemäss eben diese bestimmte Erscheinung und keine an-
dere entsteht. Es gibt immer verschiedene Ausgangspunkte, aus
welchen die Processe der Natur ihren Lauf nehmen. Diese Aus-
gangspunkte stehen in gegenseitiger Wechselwirkung, so dass sie
nicht nur Aktiouspunkte, sondern auch Heaktionspunkte sind. Da-
her erscheint uns die Natur als ein grosser Wechselwirkungspro-
cess, eine grosse „Debatte, ein Kampf von allem gegen alles", und
erst durch diese grosse Weltdebatte entfaltet das Dasein seine
ganze Fülle. — Sibbern tritt durch diese Auflassung in bestimmtem
Gegensatz zu Hegel und der deutschen Schule, denen er vorwirft,
dass sie keine wirklich historische Auflassung des Daseins be-
gründen können. Historische Entwickelung setzt gesonderte Aus-
gangspunkte in gegenseitiger Wechselwirkung voraus. Die Ent-
wickelung geht darauf aus, Harmonie zwischen den sporadisch ein-
geleiteten Processen, Ordnung in das Chaos zu bringen. Beim
Krystallisationsprocesse z. B. (wie wenn das Wasser friert) entstehen
die Nadeln an vielen verschiedenen Punkten, aber schliessen sich
nach und nach zusammen und bilden einen k(»mpakten Zusammen-
hang. Einen ähnlichen Verlauf finden wir bei der Entwickelung
des Foetus, bei der Bildung eines Staates. Und wenn wir zum
Ursprünge der Erde und des ganzen Planetensystemes zurückgehen.
muss jede Partikel des Urnebels Ausgangspunkt für Anziehung und
Abstossung gewesen sein; durch die so hervorgebrachten unendlich
mannigfaltigen AVechselwirkungen entstand die jetzige Form der
Himmelskörper. Innerhalb dieses grossen Entwickelungsprocesses ist
das Entstehen des Menschen aus den langen Reihen früherer orga-
nischer Vorfahren eine einzelne Episode.
Trotz der sporadischen Ausgangspunkte vollzieht sich nach
Sibbern ein kontinuirlicher Fortgang zu grösserer Harmonie und
höheren Lebensformen. Aber wie der Foetus auf gewissen Stadien
seiner Entwickelung dem unkundigen Beobachter eine Missgestalt zu
sein scheint, kann auch bisweilen die Entwickelung der Welt in
eine ganz andere Richtung als die nach grösserer Vollkommenheit
zu gehen scheinen. Dies sind doch nur Krümmungen des Weges,
welche die immer wachsende Harmonie zwischen dem Einheitsgrunde
des Daseins und den mannigfaltigen Ausgangspunkten nicht aus-
60
Hai-iild Ilöffdins:,
schliessen. — Die Weltentwickclung ist ewig, weil eine unendliche
Inhaltsfiillo (liuch sie realisirt werden soll. — Die "Welt ist als eine
wi'üsse Individualität zu hctrachten. deren Cenlrum die fJottlieit
ist. Die Mannigfaltigkeit der Elemente (der sporadi.schen Ausgangs-
ininkte) ist die „Weltseite" des Daseins; das Einlieitsprincip, welches
sich in der Weltordnung kundgiebt, i.st die „Gotte.sseite" des Daseins.
Obgleich Sibbern sich so dem Pantheismus nähert, betrachtet er
doch den innersten Grund des Daseins als ein persönliches Wesen.
Während Sibbern in seiner Jugend der Kirchenlchrc sehr nahe
stand und gegen den Kationalismus kämpfte, konnte er der immer
mehr zugespitzten Orthodoxie nicht folgen. Es bildete sich bei ihm
ein freier religiöser Standpunkt aus, den er in seinen späteren
Schriften (besonders in rniversitätsprogrammen aus den Jahren
1846—1849) ausgesprochen hat. Er betonte jetzt die rein humane
Seite des Christenthums und wandte seine Theorie der sporadischen
Entwickelung auch auf das religiöse Eel)en an: dieses entwickelt
sich durch Wechselwirkung verschiedener Richtungen und Persön-
lichkeiten und ist nur wahr und gesund, wenn jedes Individuum
nur dasjeniue sucht, was ihm zur Förderung seines geistigen Wuhles
dienen kann. Gegen den Versuch der Kirche alle religiöse \ or-
stellungen nach einem Muster zu formen tritt Siidiern sehr be-
stimmt auf. Sein Standpunkt ist hier Subjektivismus, aber durch
den festen Glauben an das in allen Subjekten sich regende uni-
verselle Iiel)en Itegriindet. —
Von einzelnen Disciplinen hat Sibbern sich besonders mit der
Psychologie beschäftigt. Er brachte liierzu in mehrfacher Richtung
glückliche Voraussetzungen mit: einen frischen und lel)endigen
Natursinn, gutes Jicobachtungsvermögen, besonders für die Er-
scheinungen dvs Gefühls- und Triel)lebens, und nicht geringe Ein-
sichten in Naturwissenschaft und Physiologie. Seine psychologischen
Arbeiten (deren älteste 1819 erschien) leiden teils unter dem
herrschenden teleologischen ^'italismus, teils — l)esonders in den
späteren Ausgaben — unter einem Hange zum Rubriciren und
Katalogisiren, welcher zu seiner grossen und warmen Sympathie für
die seelischen Lebensäusserujigen in einem eigentümlichen Gegen-
satz steht. Die besten Abschnitte seiner psychologischen Werke
Die Philosophie in Dänemark im 19. Jahrhundert. 61
.sind diejenigen, welche das Gefühlsleben behandeln. Besonders die
Bedeutung der Kontrast- und Mischungsverhältnisse auf diesem
Gebiete hat er in grossen Zügen klar hervorgehoben. — In
seinem Buche „Om Forholdet mellun Sjael og Legeme" (1849)
[üeber das Verhiiltniss zwischen Seele und Körper] erklärt er sich
gegen jede dualistische Auflassung und legt die Theorie zu Grunde,
dass das Leben als Bewusstseinslebcn und als materielles Leben
luir ein Leben ist. „Die körperliche Wirksamkeit und die Geistes-
wirksamkeit sind wesentlich zusammenhängende koordinirte Wir-
kungen einer gemeinsamen, gleichzeitig in beiden wirkenden
Irsache." Er weist die spiritualistische Lehre von der Seele als
einer Substanz oder eines für sich bestehenden AVesens entschieden
ab: „Seele ist nur seelisches Leben." — Wie bei Treschow hat
auc'li bei Sibbern die Identitätshypothese noch nicht jene Klarheit
und Nothwendigkeit, welche zuerst Fechner ihr gegeben hat, indem
er sie nur als nothwendige Konsequenz des Gesetzes der physischen
Enei'gie darstellte. —
Sibbern hatte ein grosses Interesse für alle Seiten des Lebens.
!Xicht nur an der religiösen, auch an der politischen Debatte nahm
er eifrigen Anteil. In allen Stadien unserer inneren politischen Ent-
wickelung von 1830 — 1870 hat er durch Brochuren und Abhand-
handluugen seine oft sehr gründlichen und originellen Beiträge zu den
brennenden Fragen gegeben. Er ging aber immer seinen eigenen
Weg, und seine unbeholfene Darstellungsart nebst seinen vielen
Idiosynkrasien hinderten ihn hier — wie auch auf anderen Ge-
bieten — daran, einen solchen Eiutluss zu ülten, wie seine Ideen
und sein warmes Herz es an und für sich verdienten. — In seinen
letzten Jahren beschäftigte er sich viel mit der socialen Frage, welche
er schon 1849 als weit wichtiger als die konstitutionelle bezeich-
nete und schrieb u. a. eine Utopie von einem kommunistischen
Zukunftsstaate, die er in tler Form von „Mitteilungen aus einer
Schrift aus dem Jahre 2135" herausgab. —
Alles in Allem eine der originellsten Persönlichkeiten, welche
das dänische Geistesleben in diesem Jahrhundert aufzuzeigen hat. —
l nter den öft'entlichen Diskussionen, an welchen Sibbern Teil
nahm, war auch der interes.saute Streit, welcher in den Jaliren
62 Harald Uö f f.lin g.
3824 — 1825 in unserer Literatur ül)er die Freiheit des menschlichen
Willens geführt wurde. Er begann mit einer Meinungsverschieden-
heit zwischen Aerzten und Juristen darüber, ob es — wie diese
l)ehaupteten — eine scharfe Grenze zwischen Wahnsinn und nor-
maler menschlicher Vernunft gäbe, oder ob — wie jene behaupteten
— Uebergänge und Zvvischensjrade vorhanden seien. In einer scharf-
sinnigen und interessanten Schrift „Om Afsindighed und Tilregnelse,
et Bidrag til Psykologien og Retslaeren" (1824) [Ueber Wahnsinn und
Zurechnung, ein Beitrag zur Psychologie und Rechtslehre] unternahm
F. G. Howitz, Professor der Medicin an der Universität, eine tiefer-
gehende Untersuchung der Begriffe von Freiheit und Zurechnung.
In philosophischer Hinsicht ist er am meisten von Spinoza
und Ilume beeinfiusst. Er fordert eine rein psychologische und
physiologische Betrachtung des menschlichen Willenslebens und
sucht darzutun , dass eine solche sehr wol mit einer ethischen
Betrachtung vereinbar ist. Howitz ist ein klarer und geschmack-
vdller Autor, dessen Standpunkt dem in der neueren Psycho-
logie und Ethik herrschenden entschieden verwandt ist. In seiner
eigenen Zeit stand er einsam. Eine Reihe der ersten Namen der
(huiischen Literatur traten gegen ihn auf. A. S. Oersted (Däne-
marks grösster Jurist) und J. P. Mynster (später Bischof in Kopen-
hagen) bekämpften ilin wesentlich vom Standpunkte der gangbaren
moralischen Vorstellungen aus, während Sibbern und .1. L. Hei-
berg eine höhere Einheil von l^-eiheit und Notwendigkeit aufzu-
zeigen suchten.
IL
Der oben genannte Johann Ludwig Heiberg (1791 — 1860)
war der erste Vertreter der HegeFschen Philosophie in der dänischen
liiteratur. Sein Name ist bei uns besonders als Dichter und ästhe-
tischer Kritiker sehr geschätzt; aber seine philosophischen Studien
hatten einen grossen Einlluss auf seine Entwickelung nach beiden
Richtungen. Als Professor der dänisclien Literatur in Kiel (1822 —
1825) wurde er mit der Hegerschen Philosophie l)ekannt und suchte
mit Ernst in sie einzudiingen. Es iiel ihm aber sehr schwer, und selbst
ein Aufenllialt in IkmHii. wo ei' Hegel's persünlichen Umgang ge-
■
Die Philosophie in Dänemark im 19. Jahrhundert. 6B
noss, half ihm noch niclit, den Grundgedanken des Systems zu
erfassen. Auf der Rückreise aber hatte er dann seine philoso-
phische Erleuchtung. Er hielt sich einige Zeit in Hamburg auf.
immer mit den neuen Gedanken beschäftigt. Eines Tages — er-
zählt er selbst — „wurde ich plötzlich in einer AVeise, welche ich
niemals vorher noch später erlebt habe, von einer momentanen
inneren Anschauung ergriffen, welche wie ein Blitzstrahl mir auf
einmal die ganze Region erleuchtete und den mir bis jetzt verbor-
genen Centralgedanken in mir weckte. Von diesem Augenblicke
an war mir das System in seinen grossen Umrissen klar, und ich
war vollkommen davon überzeugt, dass ich es in seinem innersten
Kern erfasst hatte . . . Ich kann wahrheitsgcmäss sagen, dass jener
wunderbare Augenblick wol die wichtigste Epoche in meinem
Leben war." Diese Erleuchtung (über welche die Gegner des Hegelia-
nismus und Heibergs sich oft lustig gemacht haben) war für ihn
auch als Dichter fruchtbar, und seine eigene Erklärung hierüber
ist wohl geeignet zu zeigen, in welcher Weise er die Hegel'sche
Philosophie aufi'asste. „Ich hätte niemals meine Yaudevillen ge-
schrieben und wäre gar nicht Theaterdichter geworden, wenn ich
nicht durch die Hegel'sche Phih>sophie das Verhältniss des Endlichen
zum Unendlichen zu verstehen gelernt und dadurch einen Respekt
vor den endlichen Dingen i)ekommen hätte, welchen ich vorher nicht
fühlte, dessen aber der dramatische J)ichter unmöglich entbehren
kann, und wenn ich nicht durch dieselbe IMiilosophie die Bedeutung
der Begrenzung zu erfassen gelernt hätte. Denn ohne eine solche
hätte ich mich weder beschränkt, noch kleine und begrenztere, vor-
her von mir verachtete Rahmen zu meiner Darstellung gewählt."
Heiberg machte also die neue Einsicht besonders in seiner poetischen
Produktion fruchtbar; aber er hat sie auch in interessanten und geist-
vollen Abhandlungen auf die theoretische Aesthetik (besonders bei Be-
stimmung der gegenseitigen Verhältnisse der Kunstarten) angewandt.
Ausserdem hat er einen „Leitfaden zu Vorlesungen über spekula-
tive Logik" geschrieben, und in seiner Abhandlung „idjer die Be-
deutung der Philosophie für die jetzige Zeit" suchte er zu zeigen,
wie durch die Hegersche Philosophie eine freiere um! tiefere Welt-
anschauung erreicht wird: „Das Ideal wird mit der Wirklichkeit,
(54 Harald Ilöfftling,
unsere Forderungen werden mit demjenigen, was wir besitzeu, unsere
Wünsche mit demjenigen, was erreicht worden ist, versöhnt." In
(irr von ileiberg herausgegebenen Zeitschrift „Perseus, Journal für
die spekulative Idee" hatte diese Philosophie sogar eine kurze Zeit
ihr eigenes Organ.
Neben der Aesthetik wurde der Hegelianismus besonders auf
die Theologie angewandt. Eine neue Aera schien Vielen durch die
Art. in welcher Hegel Glauben und Wissen versöhnt hatte, einge-
leitet zu sein. Was auf dem Gebiete des Glaubens in der anschau-
lichen, konkreten Form der Vorstellung oder der Phantasie hervor-
tritt, sollte dasselbe sein, was für den philosophischen Denker als
abstrakter Begriff hervortritt; der Unterschied sollte nur formal
sein. „Der Gedanke stieg" — wie Heiberg in einer Universitäts-
kantate sagt — „in die Höhe hinauf, als er in sich selbst nieder-
stieg." Unter diesen grossen Verheissungen ergriff die studirende
Jugend eine spekulative Raserei. ^lau führte ininuM- Hegersche For-
meln im Munde und verachtete diejenigen, welche auf dem Stand-
punkte der „Unmittelbarkeit" standen, ohne sich zum „BegrilVe"
erhoben zu haben. Alles konnte man auflösen und zu einer
„höheren Einheit" verbinden. — Vorliiuüg war es die sogenannte
„rechte" (orthodoxe, konservative) Seite der Hegerschen Scliule.
welche Anhänger gewann. Als Gegner des Hegelianismus tra-
ten Mynster und Sibbern auf. Paul ^^löller (f 1838), Sib-
berns Kollege an der Universität, auch als Dichter bekannt, hatte
sich eine Zeitlang dem Hegelianismus genähert, aber entfernte sich
später von ihm und nahm einen, dem jüngeren Fichte am nächsten
verwandten Standpunkt ein. Er hat sich zumeist mit der Ge-
schichte der Philosophie beschäftigt. H, Martensen, der Theologe,
Mynster's Nachfolger als Bischof in Kopenhagen, stand Heiberg
nahe und war ^litarbeiter am „Perseus"; aber erfühlte sich durch
IlegcKs Versuch einer autoritätslosen und voraussetzungslosen Philo-
soi>hie abgestossen, und wollte, dass die Philosophie statt eines
„autonomen" einen „theonomeu" Ausgangspunkt nehmen solle. A'on
der entgegengesetzten Seite wurde der Versöhnungsversuch durch
Anhänger der linken Seite des Hegelianismus, besonders A. F.
Beck und II. P)röcliner. bedroht. Doch der bedeutungsvollste
Die Philosophie in Dänemark im 19. Jahrhundert. 65
Widerstand gegen diese ganze Philosophie kam von dem Manne,
welcher Dänemarks grösstes Denkergeuie in diesem Jahrhundert ist,
Sören Kierkegaard (1813— 1855) ')•
Es ist für Kierkegaard charakteristisch, dass er sich in seiner
Jugend viel mit Sokrates beschäftigt hat. Seine Doktordisputation :
„Om Begrebch Ironi med saerligt Hensyn til Sokrates" (1841)
[üeber den Begriff der Ironie mit besonderer Rücksicht auf Sokrates]
gibt eine sehr geistvolle, obgleich einseitige Charakteristik des So-
krates. Bei der ganzen folgenden literarischen Wirksamkeit Kierke-
gaards blieb Sokrates sein Vorbild. Er liebte die indirekte nnd
experimentirende Darstellungsart im Gegensatz zu der direkten und
dogmatischen, welche von den spekulativen Philosophen und Theo-
logen angewandt wurde. Die Gymnastik der Gedanken war seine
Lust, und sein grosses Talent mit Begriffen zu operiren war
mit einer ausserordentlichen Sprachkunst, freilich auch mit einer
Neigung sowohl mit Begriften als mit Worten zu spielen, verbun-
den. Alle diese Talente wandte er im Dienste des religiösen
Glaubens an. Er betrachtete es als seine Aufgabe, das religiöse
Problem wieder in seiner strengen christlichen Form zu stellen,
nachdem die Versöhnung des Christenthums mit der Welt im
Staatskirchentume („dem officiellen Christentume") und die Ver-
söhnung von Glauben und Wissen in der spekulativen Philosophie
die Einsicht verdrängt hatte, dass es sich hier nur um das per-
sönliche Verhältniss des Einzelnen der absoluten Forderung gegen-
über handelt. Für diese Aufgabe wirkte er durch seine ganze
Produktion, durch seine ästhetischen und philosophischen sowol wie
durch seine religiösen Schriften, auch dann, als er als einsamer
Denker und Schriftsteller seine nur von Wenigen recht verstandenen
W^erke schrieb, da er — in seiner letzten Lebenszeit — als leiden-
schaftlicher Polemiker imd Agitator einen gewaltigen Kampf gegen
die Staatskirche begann.
') Ueber die Persönlichkeit, das Leben und Wirken dieses merkwürdigen
Mannes vgl. die von sehr verschiedenen Standpunkten geschriebenen Karak-
teristiken von Georg Brandes („Sören Kierkegaard, eine kritische Darstellung")
und A. Bärthold („S. K., eine Autor -Existenz eigener Art" ; „Noten zu
S. K.'s Lebensgeschichte"; „Die Bedeutung der ästhetischen Schriften S. K.'s").
Archiv f. Gescliiclite d. Pliilusupliii'. II. '-'
66 Harald Höffding,
In philosophischer Hinsicht ist die bedeutendste Schrift
Kierkegaard's „üvidenskabelig Efterskrift" (1846) [Unwissenschaft-
liche Nachschrift]. Er bekämpft hier den spekulativen Idealismus.
Seine Hauptsätze sind: Ein logisches System kann es geben, aber
ein System der Wirklichkeit kann es — für uns Menschen —
nicht geben. Und selbst was das logische System, welches die all-
gemeinen Kategorien des Daseins darstellt, betrifft, muss zwi-
schen den rein apriorischen und den von der Wirklichkeit ab-
strahirten Begriffen unterschieden werden. Das logische System
soll keine Mystifikation sein, in welcher der Inhalt der Wirklichkeit
durch Subreption entwickelt wird. Man muss sich ferner darüber
klar sein, dass der Anfang des Systems nur durch Reflexion und
Abstraktion gemacht wird, so dass von einem absoluten Anfang
keine Rede sein kann. Endlich muss scharf zwischen dem empiri-
schen Leben und der dem logischen Systeme zu Grunde liegenden
reinen oder abstrakten Subjektivität unterschieden werden. — Ein
System der Wirklichkeit kann es für uns nicht geben, weil unsere
Existenz in die Zeit fällt. Existiren ist Werden. System bedeutet
Abgeschlossenheit, Totalität, aber so lange wir existiren, streben
wir und können nicht unser und das ganze Dasein zusammenfassen.
Nur für Gott bildet die Wirklichkeit ein System, weil er über das
Werden erhaben ist. Ein jedes System muss pantheistisch sein und
nicht nur den Unterschied zwischen Gut und Böse aufheben, son-
dern auch den Begriff der Existenz in phantastischer Art verflüch-
tigen. Eben die Abgeschlossenheit macht das System pantheistisch.
[Kierkegaard sieht nicht die naheliegende eigentümliche Konsequenz,
dass Gott also Pantheist sein muss!] Es hilft nichts, dass man
einen Paragraphen einschiebt, in welchem man sagt, dass man die
Existenz urgire. Wenn man wirklich die Existenz urgirt, muss
dies sich darin zeigen, dass man kein System (der Wirklichkeit)
aufstellt. — Ein solches System würde keine Ethik aufstellen können.
Das ethische Willensleben setzt die Realität der Aufgabe und der
Wahl voraus, und verschwindet in seiner Bedeutung, wenn man
die Welt sub specie aeterni sieht.
Für die in der Zeit existirende Subjektivität kann die Wahr-
heit nur im Glauben erfasst werden; eine objektive Gewissheit ist
Die Philosophie in Dänemark im 19. Jahrhundert.
67
unmöglich. Nur durch leidenschaftliche Anschliessung kann die
Wahrheit unter dem Wechsel der Wirklichkeit festgehalten werden.
Die Wahrheit ist das Ewige, aber wir sind in der Zeit. Aber der
Glaube erreicht seine höchste Potenz, wenn sein Gegenstand nicht
nur die ewige Einheit ist, die wir nur wegen des Wechsels der
Wirklichkeit nicht objektiv begründen können, sondern wenn die
ewige Wahrheit selbst in der Zeit entsteht, wie Gott im Christen-
tume in einem bestimmten Zeitpunkte Mensch wird. Der christ-
siclie Glaube ist der Glaube an das Paradoxe, und nur die Ver-
zweiflung des Siindenbewusstseins macht es möglich, den Sprung
von jenem sokratischen Glauben zu dieser höchsten Potenz des
Glaubens zu macheu.
Kierkegaard accentuirt mit solcher Energie die Bedeutung der
einzelnen Subjektivität, dass er alle Kontinuität zwischen den In-
dividuen und der übrigen Welt aufhebt. Er polemisirt gegen die
Lehre von den „zurückgelegten Stadien". Geistesentwickelung —
sagt er — ist Selbstentwickelung; jedes folgende Individuum muss
von vorn anfangen. Das menschliche Individuum verhält sich
nicht zur Entwickelung des Menschengeistes, wie das Thierexemplar
sich zur Thierart verhält. — Man kann hieraus urteilen, wie
Kierkegaard sich zur modernen Entwickelungslehre gestellt haben
würde. Er würde deren Bedeutung nicht anerkannt haben, wie
er im Ganzen eigentlich gegen eine jede zusammenhängende und
rationelle (physiologische, psychologische und historische) Auffassung
des Menschenlebens protestirt. Anderseits hat er Recht darin, dass
man den Unterschied zwischen autogenetischer und phylogenetischer
Entwickelung nicht verwischen darf; es ist dies — wie früher in
der spekulativen Philosophie, so jetzt in der spekulativen Biologie
— oft geschehen. —
Kierkegaard's Kritik der spekulativen Philosophie bezeichnet
bei uns einen Wendepunkt und bahnt der Erneuerung der kri-
tischen Philosophie den Weg. — Seine strenge Betonung des
Vernunftwidrigen des christlichen Glaubensinhalts zog eine scharfe
Grenzlinie zwischen positiv-religiösem Glauben und humaner Lebens-
anschauung, eine Grenzenlinie, welche die Philosophie der Romantik
verwischt hatte. Er wirkte als Stromteiler, führte die einen zu
68 Harald Hüffding,
innigerer Vertiefung in das Glauben.sleben, aber machte es für die
anderen klar, dass ihre Lebensanschauung eigentlich gar nicht auf
dem Boden des Christentums beruhe. Er steht in unserer Literatur
als eine sokratische Gestalt da, welche auf viele Menschen, mögen sie
auch sehr verschiedene Standpunkte einnehmen, einen anregenden
und erlösenden Eiufiuss geübt hat. —
Ein Anhänger der HegePschen Religionsphilosophie war in
seinen ersten Arbeiten Rasraus Nielsen (f. 1809, von 1841 au
Professor der Philosophie an der Universität, gest. 1884). Eine
Aeuderung seiner Ansichten wurde durch S. Kierkegaard's Schriften
hervorgerufen und er brachte sie zuerst in „Evangelietroen og den mo-
derne Bevidsthed" (1849) [Der Evangelienglaube und das moderne
Bewusstsein] und dann in einem scharfen Angriffe auf die Dogmatik
Martenseu's zum Ausdruck. Nielsen unterschied von dieser Zeit an
zwischen Glauben und ^Vissen als zwei absolut verschiedenen Prin-
cipien. Der (lilaul)e ist die Sache des Lebens, der Existenz und
hat im Wollen seine Wurzel; das Wissen ist die Sache der objek-
tiven Theorie. Der Wille selbst i.st antirational, unbegreifbar; denn
die Theorie begreift nur eine Freiheit, die mit innerer Notwendig-
keit eins ist. Je energischer der Wille entwickelt ist, desto schärfer
ist der Gegensatz des Willenslebens gegen die Theorie, und der
Mensch kann nicht unbedingt wollen, ohne die Gottheit als unbe-
dingt allmächtigen \Villen zu postuliren. Der Glaube ist ein Glaube
an das Wunder. Aber eben darum hat das Wunder auch nur
Realität für den Glauben, hat nur eine geistige Wirklichkeit.
Darum ist keine Theologie als Wissenschaft möglich. Nielsen pole-
misirt gegen die Theologie, aber behauptet den (Jlauben. Die
Kritik der Theologie geht seiner Auffassung nach zu weit, wenn
sie den religiösen Glauben selbst angreift. Eben weil Glaube und
Wissen absolut verschiedene Principien sind, können sie beide
festgehalten werden. Der Glaube ist die Sache der persönlichen
Lebensanschauung und muss daher die höchste Stelle einnehmen;
die Wissenschaft ist nur eine relative Aufgabe und kann dem
Existirenden in seinem persönlichen Leben nicht helfen. — In
seiner „Religionsphilosophie" (18G9) hat Nielsen diese Gedanken
ausführlich entwickelt.
Die Philosophie in Dänemark im 19. Jahrhundert. 69
Der Bruch mit der spekulativen Religionsphilosopliie führte
Nielsen zu einer neuen Prüfung des Verhältnisses zwischen Speku-
lation und Erfahrung und dadurcli zu einem eifrigen Studium von
Mathematik und Naturwissenschaft. Doch gab er niemals die
HegeFsche Methode auf. Er hoffte nur, sie auf einer solideren Grund-
lage durchführen zu können. In „Grundideernes Logik" (1864—1860)
und „Natur og Aand" (1873) [Natur und Geist] findet man seine
allgemeinen philosophischen Anschauungen. Es ist die Aufgabe der
Philosophie den Inhalt der Fachwissenschaften zu assimiliren und
die Begriffe von ihrer ursprünglichen empirischen Begrenzung zu
befreien, damit das Bewusstsein den so erworbenen Inhalt zu einer
Totalität mit innerem Zusammenhang formen kann. Hegel hatte
in unklarer Weise das Subjektive und das Objektive, den Begriff
und die Existenz identificirt. Im Gegensatz zu ihm behauptet
Nielsen den Unterschied zwischen der wissenden Subjektivität und
der objektiven Realität und stellt darum — statt einer „Logik der
Idee" — eine „Logik der Grundideen" auf, indem die Idee des
Wissens und die Idee der Macht ihren Dualismus in der Idee der
Wahrheit, welche mit der absoluten (ontologischeu) Subjektivität
eins ist, überwinden. Hegers Grundfehler war — nach Nielsen —
dass das absolute Wissen bei ihm wol einen Inhalt, aber keinen
Gegensatz hat. Die absolute Subjektivität muss nicht nur das ab-
solute Wissen, sondern auch die absolute Macht sein; nur dann
können die logischen Kategorien Wirklichkeits-Kategorien werden.
Die Philosophie führt also zu einem Theismus; aber dieser ist
zu abstrakt, um Grundlage der praktischen Lebensanschauung zu
sein; darum muss man — wenn das persönliche Leben nicht er-
schlaffen soll — vom Wissen zum Glauben übergehen. — Es ist für Nielsen
eigentümlich, dass er die Gegensätze so stark hervorhebt. Dies
hängt gewiss damit zusammen, dass bei ihm die Phantasie bei-
nahe der Reflexion ebenbürtig war, wie er denn überhaupt ein leb-
hafter und energischer Redner war, der es besonders liebte, sich in
Antithesen zu bewegen. Grossen Einfluss hat er durch seine zün-
denden Vorträge auf die akademische Jugend und auf weitere Kreise
ausgeübt. Die Gegensätze stellen ja eben die Probleme und fordern
die Denkkraft heraus. —
70 Harald Höffding,
Die liehre iSielseu".s vom Glauben und Wi.ssen gab in den
Jahren 1865—1868 zu einer Polemik Anlass, in welcher eine
Reihe iiltcrer und jüngerer Autoren auftraten. Die grösste Aufmerk-
samkeit erregte von der einen Seite eine Schrift von Martensen,
von der anderen Georg Brandes durch seine Schrift „gegen
den Dualismus unserer neuesten Philosophie" (1866). Aber die
gründlichste Untersucimng der ganzen Frage gab H. Bröchner's
Schrift „Problemet om Tro og Viden" (1868) [„Das Problem vom
Glauben und Wissen"].
Hans Bröchner (geb. 1820, von 1857 Professor der Philo-
sophie an der Universität, gest. 1875) war von der Theologie zur
Philosophie übergega.ngen, hatte Strauss's „Glaubenslehre" übersetzt
und später (1857) eine gründliches Studium und tiefe Sympathie
bekundende Abhandlung über Spinoza geschrieben. Auch Bröch-
ner gehörte der HegePschen Schule an und arbeitete sich, eben so
wenig wie Nielsen, niemals aus ihrem Gedankengang und ihrer
Methode heraus. Er suchte doch zu zeigen, dass dieser Gedanken-
gang so entwickelt werden könnte, dass die Erfahrung und die re-
ale Wirklichkeit ihr Recht bekämen. Am meisten beschäftigte er
sich mit der Geschichte der Philosophie. Die Frucht dieser Stu-
dien hat er teils in der geistreichen Schrift: „Bidrag til Opfattel-
sen af Philosophiens historiske Udvikling" (1869) [Beiträge zur
Auffassung der historischen Entwickelung der Philosophie], teils in
seinem Handbuch der Geschichte der Philosophie (1873 — 1874)
niedergelegt. Der oben genannten Streitschrift, in welcher er sich
sowol gegen Martensen („die philosophirende Theologie"), als gegen
Kierkegaard und Nielsen („den antitheologischen religiösen Stand-
punkt") wendet, gab er ein positives Supplement in der Schrift:
„Det Religiöse i dets Enhed med det Humaue" (1869) [Das Reli-
giöse in seiner Einheit mit dem Humanen]. Nach Bröchner ist die
wahre Religiosität nicht etwas von dem wahren Erkennen und dem
wahren (etiiischen) Handeln Verschiedenes. Sie ist die Versöhnung
und die Ruhe, welche der Menschengeist findet, wenn er sich aus
dem unmittelbaren sinnlichen Leben, wo er von streitenden Kräften
geteilt wird, und wo der Zweifel au der Wahrheit der Erkeuntniss
und der Gültigkeit der Handlung entstehen kann, zu seinem Innern,
Die Philosophie in Dänemark im 19. Jahrhundert. 71
dem Grunde seines Wesens zurückzieht. Hier findet er die innere
Quelle seiner Kräfte, und hier sieht er seinen Geist in seinem Ur-
sprünge aus dem allgemeinen Princip des Daseins. Diese Einsicht
kann wegen der Begrenzung des menschlichen Wesens nicht voll-
ständig bewiesen werden; sie ist ein rationeller Glaube, welcher aus
dem Wesen des Menschen entspringt. Die Erkenntniss hat hier
eine regulirende Macht; sie kann w^ol einem Glaubenspostulate
gegenüber ihr non liquet aussprechen, behält aber immer ihr
Veto. Sonst würde jedes Kriterium zwischen wahrem und falschem
Glauben mangeln. — Das Princip des Daseins muss als ideal-reales
gedacht werden, so dass es die reale Möglichkeit der Materie
in sich fasst. Es ist eine absolute Subjectivität, die Quelle
des persönlichen Lebens, aber selbst über alles persönliche Dasein
erhaben.
Diese seine Auffassung, welche er durch viele tiefgehende psy-
chologische Entwickelungen (so namentlich über das Problem des
Bösen) begründet, stellt Bröchner in Gegensatz teils zu solchen
Ansichten, welche das Religiöse entweder in metaphysische Abstrak-
tionen oder psychologische Illusionen auflösen, teils zu den positiven
Religionen, welche das w^ahrhaft Religiöse verendlichen, indem sie
es in äusserliche und endliche Formen kleiden. — Bröchner hat
— obgleich er sowol durch seine abstrakte und schwer zugäng-
liche Darstellungsart als durch die Richtung seiner Ideen in seiner
Zeit sehr einsam stand — durch die Idealität und Energie seiner
Persönlichkeit auf nicht wenige jüngere Männer gewirkt, die er
in eine freie und humane Lebensanschauung eingeführt hat. —
III.
Nur eine kurze Uebersicht über die Literatur der letzten De-
cennien soll noch hinzugefügt werden. Bis 1870 war die spekula-
tive Philosophie die allein herrschende in dem öff"entlichen philoso-
phischen Unterricht. Die Reaktion gegen sie ist dem Einflüsse
teils der englisch-französischen Philosophie, teils den Fachwissen-
schaften zuzuschreiben. Die erste Arbeit, in welcher eine solche
Reaktion hervortritt, ist die Doktorabhandlung des bekannten
Aesthetikers Georg Brandes (geb. 1842) über Taine's Aesthetik
72 Harald Höffding,
(187(j). — 1,1 clen iolgeiulcu Jahren gab der Verfasser dieser
Uebersicht (geb. 1843), seit 1883 Professor an der Universität, Ar-
beiten über die nachhegelsche. Philosophie in Deutschland (1872)
und über die englische Philosophie unserer Zeit (1874) heraus,
lunerhalb der deutschen Philosophie wurde hier namentlich Lotze's
Bedeutung hervorgehoben, innerhalb der englischen auf Stuart
U\\\ und namentlich auf Herbert Spencer hingewiesen. In einer
Abhandlung über „die Grundlage der humanen Ethik" (1876) (in
deutscher Ueberset7,ung 1880) versuchte ich eine rein psychologisch-
historische Grundlegung der Ethik. In den folgenden Jahren be-
schäftigten mich namentlich psychologische Studien, deren Frucht
die im Jahre 1882 erschienene „Psychologie im Umriss" war.
(Zweite Auflage 1885. Deutsche Uebersetzung 1887). Ich habe
hier eine rein empirische Darstellung der psychologischen Haupt-
fragen versucht, mit grösstmöglicher Benutzung der Physiologie
und der Experimentalpsychologie. Obgleich ich der englischen
Schule sehr viel verdanke, habe ich doch verschiedene ihrer Resul-
tate zu berichtigen versucht, und in philosophischer Rücksicht führen
meine Untersuchungen mich dazu, die Grundgedanken des Kriticis-
mus als Ergebnisse der psychologischen Analysen und Hypothesen
zu behaupten. In meiner „Ethik" (1887) (Deutsche Uebersetzung
1888) habe ich versucht, teils eine Darstellung der ethischen Prin-
cipien zu geben, teils diese Principien durch eine Untersuchung
der wichtigsten Lebensverhältnisse zu prüfen und anzuwenden. —
Sophus Heegaard (geb. 1835, seit 1875 Professor der Philosophie,
gest. 1884) bildete seine philosophischen Ansichten namentlich
unter dem Einfluss eines eifrigen Studiums von Kant und Lotze,
später auch von Mill und Spencer aus. Als Schriftsteller ist er am
meisten durch seine populäre Schrift über „Intoleranz" (1878) be-
kannt, in welcher er das Recht der einzelnen Individuen, ihre reli-
giösen Anschauungen auf eine mit ihrer Persönlichkeit stimmende
Weise zu formen, behauptet. Er steht jedem Versuche einer wissen-
schaftlichen Entscheidung religiöser Fragen skeptisch gegenüber,
aber betont sehr stark, dass die Möglichkeit, der Glaube (besonders
der Unsterblichkeitsglaube) könnte Recht haben, von grosser Be-
deutung für die Lebensführung ist. („Wir leben von Möglichkeiten/')
Die Philosophie in Dänemark im 19. Jahrhundert.
73
Später hat er ein Handbuch der Erziehungslehre geschrieben. —
Kristiau Kroman (geb. 1846, seit 1884 Professor der Universi-
tät) gab schon in seiner Doktorabhandlung „über die Lehre der
exakten Wissenschaft von der Existenz der Seele" (1877) Andeu-
tungen über den Standpunkt, welcher in seinem Hauptwerke: „Vor
Naturerkendelse" (1883) (Deutsche Uebersetzung 1883) hervortritt.
Er nimmt allen spekulativen Anschauungen und dogmatischen Be-
hauptungen gegenüber einen skeptischen Standpunkt ein. Die
Principien unserer Erkenntniss sind ihm nur Postulate, welche
weder deduktiv, noch induktiv begründet werden können. Die er-
kenntnisstheoretischen Fragen werden mit gründlicher mathematischer
und naturwissenschaftlicher Einsicht auf das Gebiet der Fach-
wissenschaften hinüber verfolgt. In seinen allgemeinen philoso-
phischen Ansichten scheint Kroman Lotze am nächsten zu stehen.
Ausser einem Kompendium über Logik und Psychologie (1882)
(Zweite Auflage 1888) hat er noch „über Ziele und Wege des
höheren Schulunterrichts" (1886) geschrieben. Diese letzte Schrift,
welche in lebhafter Form die pädagogische Bedeutung der verschie-
denen Lehrfächer diskutirt und sich namentlich gegen das Vor-
herrschen des Sprachunterrichts wendet, hat grosse Aufmerksamkeit
erregt und den Streit um die Ordnung der Schule belebt. —
Claudius W^ilckens, seit 1884 Docent der Philosophie und der
Sociologie an der Universität, hat in seiner Doktorabhandlung „über
das Erkeuntnissproblem" (1875) einen durch den Einfluss der Be-
neke'schen Philosophie modificirten Kriticismus aufgestellt. In seiner
„Sociologie" (1881) gibt er eine auf fleissiges Studium gebaute Dar-
stellung dieser Disciplin, und so eben ist (1888) von seiner Hand eine
„Aesthetik" erschienen. — Auf sociologischem Gebiete arbeitet auch
Dr. C. N. Starcke, dessen Buch „Die primitive Familie" (1888 in
Leipzig erschienen) eine eingehende Untersuchung über die primi-
tiven Familienverhältnisse, welche ja in den letzten Jahren mehrere
gewagte Theorien veranlasst haben, liefert. Früher hat Starcke
über Ludwig Feuerbach (1883) (Deutsche Uebersetzung 1885) ge-
schrieben. — In Dr. Alfred Lehmann haben wir einen selbstän-
digen Arbeiter auf dem Gebiete der experimentellen Psychologie.
Ausser seiner Doktorabiiandluug „über die elementare Aesthetik
74 Harald Höffding,
der Farl)cn" (1884) hat er in Wimdfs „Studien" verschiedene
Abhandlungen veröffentlicht. —
Als gemeinsam für die jüngere philosophirende Generation in
J)änemark darf ich gewiss die Ueberzeugung angeben, dass es in
der Philosophie jetzt vor allem darum zu thun ist, durch Unter-
suchungen auf dem Gebiete der Erkenntnisslehre, der Psychologie, der
Ethik und der Socialwissenschaft eine solche Grundlage herbeizu-
schaffen, durch welche die grossen philosophischen Probleme beleuchtet
werden können. Aber trotz aller unserer Kritik und alles unseren
Realismus müssen wir einräumen, dass der Grundgedanke des
Idealismus die letzte Voraussetzung ist, zu welcher die Reflexion
uns zurückführt, selbst wenn wir diesen Gedanken nicht in so dog-
matischer Weise aussprechen oder so grosse Hoftnungen auf seine
wissenschaftliche Durchführung setzen können , wie es bei unseren
Vorgängern der Fall war. —
IX.
Se un processo evolutivo si osservi nella storia
dei sistemi filosoftci italiani.
Von
Prof. F. Pllglia in Messina.
In im precedente i'ascicolo di questa Rivista abbiamo affer-
mato, che nella storia dei sistemi filosofici italiani si osserva un
processo evolutivo, e che si sono ingannati coloro che hanno
sostenuto il contrario. Eccone ora la dimostrazioue.
Osserviamo dapprima, che non accogliamo la opinione di co-
loro, i quali ritengono, che la filosofia italiana incominci col pe-
riodo dei Risorgimento ed escludono dalla storia dei nostro pen-
siero filosofico il pitagorismo, che annoverano tra i momenti
essenziali dei pensiero greco, e la scolastica, che,' credono, non
abbia colore di sorta ed appartenga piii al cristianesimo in generale,
che a questa o a quella nazione in particolare ^). E le ragioni,
che ci determinano a respingere questa opinione sono le seguenti:
1" che la coltura greca non disfece la primitiva coltura dei Siculi,
e il pitagorismo non puo quindi considerarsi come uno dei mo-
menti essenziali dei pensiero greco, ma deve ritenersi, come di-
mostreremo, prodotto in gran parte dei genio italico: e lo stesso
e a dirsi della filosofia eleatica: 2" che la maggior parte dei
') Fiorentino, La filosofia contemporanea in Italia, Napoli. 1876,
76 V- Piiglia,
liliixifi italiiini. anco fiel periodu del visurgiineiit o. rileiiiitu da
alcuiii il primo periodo della vera filosofia italiana, dicliiaranu di
vülere rannodare le loro dottrine a quelle dei pitagorici c degli
eleatici; 3" che anco in quei pochi periodi storici, lungo i quali
il pensiero italiano subi Tinflnenza di sistemi filosofici stranieri, le
dottrine filosofiche insegnatc in Jtalia lianno assunto un carattere
tutto loro proprio.
In ordine alla scolastica anco noi conveniamo che essa non
cl appartiene esclusivamente, affermiamo anzi qualcosa di piü, e ne
daremo la dimostrazione, che la filosofia scolastica e importazione
straniera, e che durante il medio evo il pensiero ülosottco italiano
e rappresentato dalla scienza del diritto.
Premesse queste idee, veniamo alla dimostrazione della tesi
propostaci :
In Sicilia e nell' Italia meridionale al tempo del maggiore
sviluppo di vita delle colonie greche sorgono due scuole iilosofiche,
la Pitagorica e la Eleatica, e sebbene i fondatori siano greci
di origine, pure le dottrine da questi propugnate presentano ca-
ratteri molto diversi da quelli che si osservano nei sistemi filo-
sofici della scuola ionica. E molti storici della filosofia dichiarauo
di non sapere trovare le vere cause della diflercnza: ma queste
debbono ricercarsi nell" ambiente fisico, nel carattere etnico
degli antichi abitatori di qaella regioue, nella precedente cultura,
ecc. ecc. E percio noi riteniamo, che la filosofica pitagorica ed
eleatica facciano parte della storia del nost.ro pensiero filo-
sofico.
Or hone, i pitagorici si diedero, come i filosofi ionici,
allo studio della natura, e tentarono, a differenza di questi ultimi,
elevarsi al di sopra dei fenomeni per trovare il principio delle
cose tiitte. Per essi i numeri sono i principi delle cose.
principi materiali, non giä essenzc spirituali, perche i
numeri nel sistema di quei filosofi divengono qualcosa di esteso.
Onde ben disse Aristotele che i pitagorici non distiusero lo spirito
dalla materia, e non conobbero che la sola realta sensibile.
Anche lo Zeller sostiene, che uno dei caratteri essenziali del
pitagorismo e quello di non stabilire diflercnza tra forma o ma-
Se un processo evolutivo si osservi nella storia dei sisteini fllosofici italiani. 77
teria e cercare immecliatamente l'essenza e sostanza delle cose nei
numeri ^).
Per i pitagorici le cose tutte, i numeri, clerivano dal Numero
per eccellenza, dall' üno (moiiismo filosofico), che iiou chia-
marono Dio, come han creduto alcuni. Ammisero l'eternita dei
mondi, non ostante i cangiamenti: la iiecessita dei diveiiire
delle cose, ecc. ecc.
II sistema dei pitagorici, come si scorge, e uaturalistico,
monistico e matematico. Tutte le cose essi ridussero a nu-
mero e misura, nou esclusi i principi di esse, e queste e quelle
fecero derivare da unico principio.
Quanta differenza fra questo sistema e quell i dei filosofi
i 0 n i c i !
Un' evoluzione <lelle dottrine pitagoriche puo considerarsi il
iii«lj sistema degli eleati(;i. Parmenide insegnö, che il tntto non puo
Öc'iB essere coucepito, che come unita, e che TEssere solo e. Cosi al
:rei| Numero ed ai numeri si sostituiva un principio piu reale di essi,
l'Essere, che e il reale sensibile (naturalismo monistico).
La filosofia di Parmenide non lascia posto alle dottrine teologiche,
e relativamente alla cosmologia si avvicina molto alle dottrine
pitagoriche.
Sembraci che l'evoluzione dal pitagorismo all" eleatismo
siasi avverata in questi due soinmi concetti fondamentali: sostitu-
zione delF Essere all' Uno, affermazioiie che il solo reale e
l'Essere, ed il molteplice un' apparenza.
Anche i sistemi di altri autichi filosoli soiio evoluzione dei
due precedenti.
Empedocle sostenne, che elementi diversi concorrono alla lur-
mazione delle cose; che in uno stato originario quelli erano rac-
colti nello Sfero (unitä dell' Essere) ne distinse l'anima dal
corpo.
II sistema dei fdosofo di Agrigento e monistico e uaturalis-
tico, e puo considerarsi una evoluzione dei sistemi dei pitagorici
e degli eleatici. E per questo gli storici sono discordi nel giiidi-
-) Zeller, Histoire de la pliilosopliie des Grecs, Paris, 188U.
78 T"- Puglia,
Carlo, cd alcuni voiTobl)ero considcrarlo come pitagorico, altri
cüme eleatico.
In Roma, socondo il giudizio di illustri sorittori, uon vi fu
filosofia originale, e prevalsero due sistemi importati dalla Grecia,
lo stoicismo e repicureismo: sistemi ainbedue naturalis-
tici e monistici. E clii bene esamiua Fintima natura di questi
due sistemi scorge in modo evidente il nesso orgauico tra essi
e le dottrine fondamentali dei pitagorici, degli eleatici e di
Empedocle. E non troviamo difficolta ad affermare, che lo
stoicismo e Fepicureismo siano una evoluzione degli antichi
sistemi lilosofici dell' Italia, compiutasi sul suolo greco. E questa
e ragioue principale per dare spiegazioue della prevaleuza di quei
due sistemi presso il popolo romano.
In Lucrezio inoltre rinascono Parmenide ed Empedocle: col
poema della Natura si rinnovella il pensiero lilosofico dei nostri
avi, onde si puo dire, che sino a Lucrezio il processo evolutivo
nei sistemi lilosofici non soffri interruzione in Italia.
Ma cio non e tutto. La piii splendida manifestazione dei pen-
siero e dei sentimento dei romaui e il diritto, meravigliosa
evoluzione di un nucleo di idee, che erano sparsc nei sistemi dei
pitagorici, degli eleatici, e degli stoici. Si ricordi che i filosofi
della scuola pitagorica ed eleatica furono riformatori politici. e
che i Romani molto stimarono la sapienza politica dei filosofi
delhi [)rima scuola. Ed ecco un addentellato tra il pensiero dei
romani e quelle dei filosofi delle scuole cennate relativamente
alla vita sociale e politica, della quäle il diritto e elemento
essenziale. Vero e che lo stoicismo scmbra avere avuto graude
influenza nello sviluppo della giurisprudenza, ma se ben si con-
sideru si osserva, che esso nei diritto romano apparisce come una
reminescenza storica, perche il sentimento giuridico avea raggiuuto
il i)iii elevato gi-ado di sviluppo e si era sostituito ad ogni altro
sentimento etico.
Or bene per i romani la scienza dei diritto o la giurispru-
denza e la filosofia direttricc della vita, la vera e sana filosofia.
Lo ha delto Ülpiano, sintetizrando il concetto dei pensatori ro-
mani, quando con orgoglio cosi si espresse: „ veram nisi f aller
Se un processo evolutivo si osservi nella storia dei sistemi filosofici italiani. 79
philosophiam, non simulatam, affectantes" (L. 1. D. 1. De
Just it. et jure).
Dimqiie, a comiiiciare dai pitagorici a venire giii siiio ai ro-
niani vi e im processo evolutivo nel pensiero filosofico nostro.
Caduto rimpero romano di occidente, le tradizioni romane in
Italia non vennero meno ed il diritto fu sempre in vigore. Senza
questa contiuuita storica non si potrebbe spiegare il passaggio
dal mondo antico al moderno nel nostro paese. Ed osserva lo
Stintzing, che nel medio evo il sentimento di cotesta continuita fu
molto piü vivo di quanto noi non immaginiamo ^). In Italia
nel medio evo si tento anco, come in Oriente erasi fatto, la con-
ciliazione tra la filosofia e le idee cristiane, e quando la filosofia
scolastica sorse in Francia, anco qui vi furono propugnatori di essa,
0 superiore a tutti Tommaso d'Aquino. E poiche dualistica, tras-
• ■endentale, religiosa, formalistica fu anco in Italia la sco-
lastica, si potrebbe credere, che luugo il medio evo la evoluzione
del pensiero filosofico italiano abbia subito una interruzione. Sa-
rebbe questa una credenza erronea, come or dimostriamo.
Certaraente la scolastica in Italia non puö considerarsi come
una fase evolutiva del nostro pensiero filosofico, perche presenta
I caratteri opposti a quelli dei sistemi filosofici italiani precedenti
*' posteriori. Essa, come bene osserva il Chiappelli, fu importa-
izione straniera, scesa ad aff'uscare la splendidezza del pensiero
i italiano^). E si noti, che la reazione centro di essa fu segnata
idal ritorno all' antica filosofia nostra, come fra breve si vedra, e
' che la scolastica non ebbe valorosi rappresentanti in Italia, tranne
Tommaso d'Aquino, che, se ben si considera, si stacca in certo
modo dair indirizo comune dei filosofi scolastici, e si da in braccio
;id Aristotele, la filosofia del quäle e piü conforme che non la
platonica al genio filosofico nostro. L'Aquinate e senza dubbio
uu grande ingegno italiano, che subisce la influenza della scolastica,
'' che pure si ribella a talune dottrine di questa, e tuttavia egli
fuori deir evoluzione del pensiero filosofico nostro.
1
•') Stintzing, Ulric Zasius, Basel, 1857.
■*) Cliiappelli, Vita e opere giuv. tl i C'iiio du Pistoia, Pistoia, 1881.
gQ F. Puglia,
A nostro giiulizio, la tradi/jone clella coltura filosolica italiana
nel medio ovo o vappreseotata dal diritto o meglio dalla filo-
sofia giiiridica. 11 diritto l"u la vera forza integratrice della
vita sociale del popolo oppresso luDgo la barbarie medioevale, ed l
i giuristi possono considerarsi come i coutiuuatori del sapere antico
e gli avvevsari della scolastica. Si ricordi, che mentre Abelardo
imprimeva carattere dialettico alla teologia medioevale, Iruerio
illustrava il diritto romano e divulgava la sapienza giuridica degli
avi nostri.
E dopo il risorgimento degli studi di diritto romano troviamo
in Italia due correnti di idee, due ordini di pensatori, che, per i
dire cosi, si divideno Feredita del passato, i teologi ed i giu-
risti. E quesiti ultimi, che sono i continuatori delle patrie tradi-
zioiii, della coltura scientifica, lottaiio coiitro i primi, e combattono
le pretese della Chiesa ed i canouisti. Ed e opportuno ricordare
col Carle, che le vicende della teologia scolastica e lo studio della
giurisprudenza romana procedettero di pari passo^). Era ciö con-
seguenza della lotta, che si agitava fra le due correnti di idee, e
che ebbe termiue col trionfo della scieuza laica, ciöe degli studi
giuridici, prodotto naturale del nostro geuio speculativo e pratico.
I/erudizione classica del secolo XV riuvigori l'ingegno italiano,
e ad essa tenne immediatamente dietro il risorgimento filosolico,
che fu reazione energica contro la scolastica, importazione i
straniera.
Pomponazzi combatte i miracoli, il soprannaturale, la ira-
raortalita delT anima, ecc. ecc. Monistico e naturalis! ico e
il sistema di lui e per metodo e per contenuto, e si connette ai
sistemi iilosofici italiani antichi.
Telesio, che precedette Bacone nel propugnare il metodo speri-
mentale e di osservazione per lo studio di qualunque ordine di l'eno-
meni naturali, tenne in seria considerazione le dottrine di Par-
menide nel fondare il suo sistema cosmologico. Sostenne essere
eterno il mundo, materiale Tanima, ecc. Patrizzi insegnava, che
^) Carle, La vila del diritln iiei suoi rapporti (^olhi vita so-
ciale, Tuiiuo, 1884.
Se uTi processo evolutivo si osservi nella stoiia dei sistemi filosofiri italiani. ftl
la natura emana da Dir», die tntro in se comprende ed unilica,
ed a tutto da vita; donde la sua eternita ed iutinita. Car(iano
ritiene, che le cose tutte (feuomeui ed esseri), nou esclusi i fatti
(lello spirito, sono sottoposte a leggi naturali. Rruiio, la figura
piii splendida del periodo del nostro risorgimento tilosofico, sceglie
per modello Lucrezio Caro , tiene in cousiderazione la filosofia dei
Pitagorici e di Parmenide. Egli e vero coiitinuatore della filosofia
tradizionale italiana. e getta la fondanienta di un importante sistema
filosofico, che. piiü dirsi. ha dato origine alla filosofia raoderna.
La spiegazione, che egli ci da della formazione de! nioiido e una
evoluzione scientifica delle idee filosofiche prevalse sempre in Italia.
I/infinita varieta delle forme, dice egli, sotto le qiiali la materia
oi apparisce. essa iion le riceve da un altro essere. dal di fuori,
raa le trae da se st essa, le fa uscire fuori dal proprio seno.
Chi ha couosceuza chiara del sistema filosofico del Bruno e co-
stretto a riconoscere, che k- idee fondamentali, che lo costituiscono,
soiio una vasta e complessa evoluzione delle piii importanti dot-
trine, che si iusegnarono uei periodi piü splendidi della coltura
filosofica italiana. II sistema di Bruno sembrerebbe una creazione
ex nihil 0, se non fosse messo in rapporto col Poema della
Natura di Lucrezio, col sistema pitagorico ed eleatico. Fi-
nauco prevale ed e comune a questi la forma geometrica di
esposizione.
E bene osserva, a proposito dei filosofi del rinascimento, il Fio-
rentino, che stabilendo un confronto fra Telesio, Patrizi e Bruno
vi trova non solo somiglianza nella critica verso la filosofia aristo-
telica, uua anco analogia nel modo del rinnovarla, perche in tutti
e additata come sorgente di errori la separazione assoluta della
materia e della forma; in tutti additata come necessitä la spie-
gazione della natura secondo principi schiettamente naturali'').
E vedremo fra breve, come fra i filosofi cennati e gli altri. di cui
t'aremo menzione, sianvi legami ideativi molto iutimi.
Jl Campanella, a nostro giudizio, e solo nella dottrina della
conoscenza un continuatore della filosofia antica italiana, poiche per
^ Fiorentino, Stovia della filosofia, Napoli, 188G.
r*
Archiv f. Geschichte der Philosophie. II. -^
82 ^- Pnglia,
lui sapere e seutire, la scienza e una collfezione di esperienze sen-
sibili cd il metodo adatto alla scoperta del vero e l'induttivo.
Nelle altre parti della filosofia il Campauella segna uü regresso
rispetto al Bruno.
Galileo va anco annoverato fra quei filosoli che si ribellarono
alla scolastica per riunovare il pensiero filosofico nostro. Fii egli
strenuo propugnatore di quel metodo sperinientale e di osserva-
zione, che piii tardi applicato allo studio delle scienze morali e
sociali doveva potentemente contribuire al rinnovamento di esse.
Vico dava ampio svolgimento ad uu ordine di idee, che forma
parte integrante della filosofia generale, alla filosofia della
storia. Seguendo il metodo a posteriori, sempre prediletto dai
filosofi italiaui, penetra nella natura intima delle civili istituzioni,
e per contraddire ai dogmi cristiani (tristi erano invero i tempi!)
ammette, che lo svolgimento della civilta si compie sotto Fazione
della ProYvidenza. Ma la Provvidenza del Vico, a nostro parere,
e la natura naturans di Bruno, Tüno della scuola eleatica,
il Numero per eccellenza o la Monade suprema dei Pitagorici.
Ecco il fdo della tradizione filosofica italiana. E se si considerano
le dottrine psicologiche del Vico si vedra come fra esse e le
dottrine dei filosoti del rinascimento vi e intimo uesso. Vico e il
fondatore di quella scienza positiva delle societa, che oggi ha avuto
il nome di Sociologia.
Dopo il Vico i piii illustri pensatori italiani coltivarono a
preferenza la fdosofia civile, perche incominciara Tagitazione per
liberare la patria dal giogo straniero. Ed ecco il Genovesi, il
Romagnosi, il Gioia, il Filangieri, ecc, i quali per metodo di ricerca
scientifica non si allontanano del Vico e lo seguono nelle piü im-
portanti dottrine tilosotiche.
In tempi a noi piii vicini il Galluppi richiamo le menti allo
studio della realta, ma non segui le tradizioni filosoliche italiane.
iSe ne allontanarono del tutto Gioberti, Rosmini e Mamiani, il
quäle ultimo dapprima con molto entusiasmo aveva sostenuto do-
versi rinnovare l'antica filosofia italiana fondata sulla esperienza.
L'idealismo ontologico di questi tre filosofi prevalse per
un tempo troppo breve, perche non adatto al genio filosofico ita-
Se nn processo evolutivo si osservi nella storia dei sistemi filosofici italiani. 83
liauo, e tosto si scaiiliarono contro elevati ingegni. i] Ferrari, il
Cattaueo, TAusonio Frauchi, ecc. Si richiamaroiio in vita le dut-
triue del Vico, e dei filosofi del rinascimeuto.
Oggi pol si iuseguano dottriue iilosofiehe diverse, delle quali
alcune si possono considerare come t'usione di idee tradizionali e
(li idee di sistemi stranieri. Tende pero a prevalere il iiatura-
lismo filosofico, che e sistema monistico, carattere proprio
delle filosofia italiana.
Esso non e, come vanno ripeteudo alcuiii, importazione stra-
niera, una evoluzione delle piii importanti dottrine lilosoliche, che
da tempi antichi si sono sostenute in Italia. In esso perö sono
messi a profitto i risiiltati degli studi moderui di biologia, socio-
logia. ecc. ecc.
E gia in nn rarao delle scienze antropo-sociologiche,
nel diritto penale. nna rivoluzione in senso naturalistico ha
avuto luogo, ed e sorta una nnova scuola penale, la quäle ha
gia sostenitori all' estero.
E dopo queste fugaci considerazioni domandiarao; e possibile
negare che nella storia dalla filosofia italiana non vi sia un pro-
cesso evolutivo? Crediamo che no.
Ed invero tutti i problemi fisici, morali e sociali, ecc, sono
stati dalla maggior parte dei nostri filosofi risoluti coli' aiuto
del metodo di osservazione ed oggi col metodo sperimentale;
ed ecco l'unita del metodo scientifico o filosofico. Essi si sono
tenuti lontani dall' idealismo ontologico, dal misticismo e dal
dualismo. e se qualche momento per Influenza di particolari
circostanze sorse qualche pensatore tendente al trascendentalismo,
immediatamente ne e venuta fuori la reazione, e sono riprese le.
fila della tradizione filosofica italiana. Inoltre chi osserva a fondo
i sistemi, dei (|uali abbiamo fatto fugacissimo cenno, scorge uu
nucleo di idee l'ondamentali, che nel corso di tanti secoli sono
State ampiameute discusse, sviluppate e sostenute dai nostri filo-
sofi con un metodo, che potremmo dire uniforme, E poiche i
problemi della filosofia sono di natura diversa, troviamo che in un
periodo storico oggetto di studio furono i problemi del moudo
fisico, in uu altro quelli del mondo sociale, ecc. ecc, che piü
6*
84 ^- ^'"?iiii,
tardi gli stossi problemi fiirono riprodotti, e che le dimostrazioni
date e le lisoluzioni sostenute presentano uu nesso intimo ideativo.
II che mostra, che un processo evolutivo nei nostvi sistemi filo-
sofici vi e').
■) Veili il bellissimo discorso del Prof. Morselli su Giordano Bruno,
e l'altro La filosofia mouistica in Italia (nella Rivista di filosofia
scientifica, an. VI, 1887).
Jahresbericht
über
-ämmtliche Erscheinungen auf dem Gebiete der Geschichte
der Philosophie
in Gemeinschaft mit
Ingram Bywater, Hermann Diels, Wilhelm Dilthey, Benno Erdmann,
J. Gould Schurman, Paul Tannery, Feiice Tocco und Eduard Zeller
herausgegeben
von
Ludwig Stein.
I.
Bericht über die deutsche Litteratur der
Vorsokratiker. 1887.
Vou
H. DielS in l?erlin.
Ueberweg, Fb. Grundriss der Geschichte der Philosophie. I. Theil.
Das Alterthum. Siebente Aufl. bearb. von Dr. i\l. Heinze.
Berlin 1886. 360 Seiten. 8°.
Der Ueberweo'sche Grundriss scheint durch ähnliche Bücher
in neuerer Zeit etwas in den Hintergrund gedrängt zu werden, ist
aber immer noch unentbehrlich für den, der sich rasch namentlich
über die Litteratur dieses Gebietes orientieren will. Diese biblio-
graphische Seite ist auch in der neuen Auflage wieder sorgfältig
berücksichtigt worden. Es fehlt aber auch nicht an andern gut
begrüudeten Zusätzen und noch besser begründeten Streichungen.
Die ersten Abschnitte enthalten freilich auch noch in der neuesten
Auflage manches Verwunderliche. Wie lange soll S. 2 das Pseu-
docitat: „Herodot I 50 wird 'ftXoao'fta auf die Kenntnis der Gestirne
bezogen" noch fortgeschleppt werden? Statt dessen könnte auf
Gorgias Hei. § 13 und Wilamowitz Ph. Unters. I 214 verwiesen
werden, mit dessen Ansicht Ref. freilich nicht übereinzustimmen
bekennt. Auch in der Uebersicht über die Quellen ist manches
bedenklich. Wir treften S. 25 Diogenes aus Laerte(?) in Cilicieu (?)
um 220 (?) n. Chr. an. Was S. 27 über Origenes gesagt ist, kann
kein Neuling verstehen; und das danach über Eusebios gesagte ist
unrichtig.
Mit den neueingefügten Stellen, die neueren Forschungen ihre
Anregung verdanken, wird man sich meist, wenn auch nicht immer,
88 ^- '"'iels,
einverstanden erkljiren können. iSiitzlich wäre es, das Buch dem-
nächst einer gründlicheren Umarbeitung zu unterziehen, wobei
meines Erachtens die tautologische und unübersichtliche Doppelgestalt
des Buches (Gross- und Kleingedrucktes) geändert werden miisste.
Jacobi, K. G. Gesammt-Repetitorium über alle Prüfungsfächor der
allgemeinen Bildung. Für Candidaten des höheren Schulamts.
IV. V. Bändchen: Geschichte der Philosophie. Leipzig 1887.
89 und 88 Seiten. Kl. 8".
Zur Characteristik diene das Motto:
0 socii . . . revocate animos maestumqne timorem
Mittue: forsan et haec olim metninisse iuvabit.
Ku)aTOjxotprj, A. rstop-j'ioc. Hspl o'fUaX'xoXoYiotc xotl (otoXoYtas twv
d[jya((j)V 'E)ArjV<i)V ä-o tcov dp)^atOTa-tov /povojv iJeyp'-? 'Itttto-
xpatooc. 'Rv Any-votu: 1887. 248 Seiten. 8".
Das Thema, das hier von einem griechischen Augen- und Ohren-
arzte sehr lleissig und eingehend behandelt wird, könnte auch der
Erkenntnis der griechischen Physik zu Gute kommen, wenn der
Verf. historisch-philosophische Betrachtung mit seiner medizinischen
Fachkenntnis vereinigte. Aber er hat lediglich eine äusserliche Zu-
sammenstellung und Paraphrasierung der Quellennotizen gegeben mit
besonderer Betonung des Lexicalischen. Die Bestrebung den wissen-
schaftlichen Zusammenhang in den Lehren der griechischen Physiker
nachzuweisen hat ihm fern gelegen; das Ganze liest sich vielmehr wie
die Arbeiten eines Psellos oder Tzetzes. Da der Verf. die neuere,
namentlich deutsche Litteratur nach S. u' kennt (Philippson''s uXr^
7.vi>pa)7:ivr^ u. A. ist ihm freilich entgangen), so begreift man diesen
byzantinischen Standpunkt nicht recht.
Orphiker.
Gruppk, 0. Die griechischen (iiltc und Mythen in iiiren Beziehun-
gen zu den orientalischen -Keligionen. I. Band. Einleitung.
I>eipzig 1887. XVIII und 706 Seiten. Gr. S'\
Ein kleiner Abschnitt dieses weitblickenden und wcitangelegten
Werkes bezieht sich auf die griechische Philosophie und ihre In-
Bericht über die deutsche Litteratiir der Vorsokratiker. 1887. 89
cunaheln. J)ei- Verf. geleitet von dem im Titel ausgesprochenen
(Jrundgedanken kommt /u dem Resultate, dass die Anlange der
griechischen Philosophie in sehr bemerkenswerter Weise durch die
Speculation der orphischen Gedichte und diese wiederum durch
orientalische Originalgedichte angeregt worden seien. Die Art, wie
>ich der Verf. diese Uebertragung oder vielmehr Uebersetzung
durch die verschiedenen Nationen denkt ist so paradox, dass man
zunächst dauben könnte, der Verf. erlaube sich mit dem Leser einen
Scherz. Aber diese Vermutung zerfällt sofort gegenüber dem Ernste
des Studiums, der ausgebreiteten Gelehrsamkeit und der Gründlich-
keit der Quellenforschung, die hier, wenigstens auf dem erwähnten
Teilgebiete, uns entgegentritt. Und das Problem selbst verdient
wirklich das eindringlichste Nachdenken, da wol nur noch wenige
an die völlige Autochthonie der griechischen Speculation glauben
werden. Aber freilich die Resultate und noch mehr die Methode
flieses Buches werden eher abschreckend als anlockend wirken, da
selbst die richtigen Ergebnisse dieser Untersuchungen, an denen es
keineswegs ganz fehlt, auf falscher oder wenigstens vorschneller
Schlussfülgorung beruhen.
Der Verf. unterscheidet hauptsächlich drei orphische Theogo-
nien. Die älteste, die Plato, Aristoteles und Eudemos kennen, ist
das älteste in griechischer Zunge verfasste Gedicht. Das Buch Z der
Ilias kennt in der Aih; arArq eine „Travestie" (S. 614) oder
„Parodie" (8. 623) jener ältesten Theogonie, deren Verse sich zum
Teil noch aus der Bearbeitung Homers in ursprünglicher Form her-
stellen lassen. Dieses elirwürdige Gedicht ist nun seinerseits weiter
nichts als eine fast wörtliche .Uebersetzung aus der uralten phöni-
kischen Theogonie, die sich ebenfalls noch in beachtenswerten Frag-
menten aus dem Sanchuniathon des Philon von Bybl'os herstellen
lässt. Zwar ist dieser Sanchuniathon, wie der Verf. zugibt, nichts
als eine leichtfertige Fälschung des Philon; aber dabei ist doch
jenes alte phöuikische Gedicht zugezogen worden, wie sich eben aus
der merkwürdigen Uebereinstimmuug mit dem griechischen Urgedicht
ergibt. Denn es kann, meint der Verf., doch nicht zweifelhaft sein,
dass der Kpövoc der Orphiker, der mit xpcdvw zusammenhänge und
„Fürst" bedeute (?), eine Uebersetzung (?) des phönikischen (?) 7N (?)
90 H. Diels,
bei Philon darstelle. Ref. gibt gerne zu, dass die Atoc ctTtaTr^ be-
merkenswerte Reminiscenzen eines theogouischen Gedichtes zeigt,
aber alle andern Ergebnisse: die Restitution des orphischen Urge-
dichtes, die Verbindung desselben mit den platonischen und peri-
patetischen Anführungen der Orphiker, endlich gar die Berührungen
mit der phönikischen Urtheogonie scheinen mir Träume zu sein,
die durch die elfenbeinerne Pforte gekommen sind.
Die zweite durch Athenagoras und Damaskios bezeugte Theo-
gonie (des Hieronymos) hält Gruppe ebenfalls für alt. Genauer
beschäftigt er sich mit der sog. rhapsodischen orphischen Theogonie,
auf die, wie er in Uebereinstimmung mit 0. Kern ') behauptet,
sich alle Citate der .^'euplatoniker beziehen. Hier sucht erspeciell
den kosmischen Grundgedanken des orphischen Systems nachzu-
weisen. Er bezeichnet als solchen „das Zusammenfliessen und Aus-
einanderflicssen als die Geschichte des Weltenlebens" (S. 643).
Dieser Gedanke (der in der Formulierung jedoch nicht orphisch,
sondern Gruppisch ist) verrate seine innere Verwandtschaft mit dem
griechischen Denken des ausgehenden 6. Jahrhunderts. Daher könne
die orphische Theogonie nicht spät entstanden, sondern müsse mit
den Anfängen der ionischen Physik gleichzeitig sein. ^Vie schon
die Fassung des Grundgedankens als Fliessen andeuten soll, wozu
in den orphischen Stellen gar keine Veranlassung vorliegt, findet
Gruppe eine engere Berührung mit Heraklit, wobei er in unklarer
Interpretation namentlich auch auf das Fr. 127 Byw. zi \xr, -(äp
A'ovuaoi 7ro'i7ry,v i-oio'jvt'; eingeht. Der Anstoss. dass Heraklit nur
3 Elemente kenne, während die Orphiker bereits mit der Vier-
zähl arbeiten, beunruhigt ihn nicht. Heraklit habe das eine eben
wieder aufgegeben. Auch zu Empedokles und Pherekydes weist
der Verf., freilich in oberHächlicher Weise, Beziehungen in den
orphischen Gedichten nach. In Bezug auf Heraklit, der natürlich
den ausgiebigsten Stoff darbietet, fasst er sein Ergebnis S. 653 so
zusammen:
') De Orphei Kpiraenidis Pherecydis theogoniis quaestiones criticae. Ber-
lin (Nicolai) 188S. Diese Schrift wird im Jatiresber. des Jahres 1888 be-
sprochen werden.
Bericlit über die deutsche Litteratur der Vorsokratiker. 1887. 91
„In dem ungeheuren Prozess, den auf griechischem Boden das
menschliche Denken durchmachte, indem es von der religiösen Er-
kenntnis /um voraussetzungslosen Forscheu, vom Mythos zum Logos
lortschritt, in diesem Prozess bezeichnen unsere Gedichte die früliere,
Herakleitos die spätere Phase. Die Dichter erfinden den Mythos von
der Verschlingung der Welt durch das Urfeuer; Herakleitos denkt
den Gedanken aus, indem er daraus eine in alle Ewigkeit fest-
stehende periodische Welterneuerung macht. Die Dichter führen
Ideen aus, die consequent zu der grossen Erkenntnis von der An-
fangslosigkeit der Welt führen müssen, aber hart vor dieser Er-
kenntnis machen sie Halt: sie wagen noch nicht von der über-
lieferten Vorstellung der gewordenen Welt zu lassen; erst Hera-
kleitos spricht es aus [Fr. 8]: /oajj-ov tovos tov auiov ä-av-ojv
o'jtc TIC üsä)v ryjxz 7.vi>pu)i:tuv i-oir^asv, dW y^v 7.£t ztX."
Es sei, mir gestattet, ehe diese Dogmen vergleichung weiter um
sich greift, welche die Originalität jener griechischen Denker nicht
nur beeinträchtigen, sondern vernichten würde, einen Vorbehalt
anzuknüpfen.
Auch ich halte es für wahrscheinlich, dass die Urform der
orphischen rhapsodischen Theogonie dem 6. Jahrh. angehört (die
orphische eschatologische Mystik scheint mir noch beträchtlich älter),
auch ich halte es für möglich, dass Heraklit, wie andere gleichzeitige
Denker, durch einzelne wenige Wendungen und Gedanken der orphi-
schen Gedichte angeregt worden sei, wenn ich auch nicht den Quell-
punkt heraklitischer Spekulation darin zu linden glaube'^). Aber was
Gruppe als hcraklitisch anspricht in der Spekulation der Orphiker
(wie jenem Grundgedanken des wechselnden Entstehens und Ver-
gehens in dem einheitlichen Princip), das liegt der ganzen hylo-
zoistischen Anschauung jener Zeit zu Grunde und nähert sich in
der eigentümlichen Form iles Gedankens teilweise mehr dem Pan-
theismus des Xenophanes.
Anders aber steht es z. B. mit jenem bei Gruppe sinnlos und
■) Wie E. Pfleiderer uaciiweisen wollte. S. Archiv I lO.j. (Mit Rücksicht
auf eine Aeusserung Zellers ebenda S. 1^1 2 bemerke ich, dass die Niedrigkeit
des in Pfleiderers Entgegnung gegen iiiii'h augeschlageueii Tones mir eine
Antwort verbietet.)
92 H- Diels,
metrisch fehlerhaft abgedruckten Fragmente bei Clemens, das, wenn
man iliin mit Bywater (zu lleraclit Fr. 78) einen sprachlich mög-
lichen Gedanken unterlegt:
£x o' uootTo; |i.ev 7^(17., to 0' sx 'i'y.iq; -dhy Gocup*
nur aus Heraklit geschöpft sein kann. Denn dieser Gedanke ist
ebenso unorphisch als ganz eigentümlich heraklitisch. Gäbe man
hier die Originalität des Ephesiers auf. so wäre er selbst in dem
Allerindividuellsten, seinem Stile, ein elender Nachahmer. Hier
scheint denn auch (iruppen das Gewissen zu schlagen. J)enn drei
Seiten nachdem er jene urphischen Verse als Original des Heraklit
verwertet hat, giebt er mit r)ezug auf sie Zellern zu, dass „die
naheliegende Ideenverwandtschaft hin und wicihM- zur Einschwärzung
heraklitischer Züge geführt haben mag". Ist diese Möglichkeit spä-
terer Interpolationen einmal zugegeben, so sieht mau leicht, dass die
Benutzung der Orphica einen ganz anderen Grad von Vorsicht und
Fernsicht erheischt, als ihn der \'crf. angewandt hat. Dass derartige
Religionsbücher späteren Interpolationen ausgesetzt sind, liegt ja so
sehr in der Natur der Sache und zeigt sich in den Hesiod'schea
Gedichten so handgreiflich, dass man auf alle Fälle sehr stark damit
rechnen muss'^).
Der durchschlagende Beweis für das Alter der orphischeu
Litteratur liegt für den Verf. der griechischen Cultc in ihrer an-
geblichen F'ebereinstimmung mit der altorientalischen Weisheit.
Auf dieses Gebiet ihm weiter zu folgen, fehlt es mir an Kenntnissen
nicht minder als an Mut. Denn der kaleidoscopische Wirbel aller
möglichen ägyptischen, phöjiikischen, assyrischen, indischen Philoso-
pheme verwirrt den klaren Blick nicht minder als die verblülfende
Methode, diese orientalische ITrphilosophie nicht aus den alten ächten
Quellen, sondern oft aus den trübsten Lachen spätesten Griechen-
tums zu schöpfen oder ächte alte L'rkunden, wie die bekannte
■') Aehriliohe Inferpolatiorien lassen si'h auch in df m ^^. (i47 aus Macmb.
Hnfjeführten orph. Frajrm. für Knipeilulxles luuMi weisen. Man vgl. ferner
was aus der Theogonie des .,1^1008" Heraklitisciies angeführt wiid (Gruppe
S. 628).
Berielit iibev die deutsche Litteratnr der Vorsokratiker. 1887. 93
Höllenfahrt der Lstar durch chaldäisch-neuplatonisehen Allegorien-
dunst zu verdunkeln.
Solchem AVuste gegenüber sinkt die kritische Feder aus der
Hand. Orientalische Phantasmagorien umgaukeln das Auge und aus
den wunderlichen Fratzen paradiesischer Urweisheit sieht man die
Schatten von Creuzer. Roth und Gladisch auftauchen, die ihrem
jungen Adepten freundlich grüssend zuwinken.
Xenophanes.
DüMMLER, F. Rheinisches Mus. XLII (1887) 139f.O.
Bei Athenäus IV 174 f. liest man -('q^pdivoiai -(«,0 o{ <I)orvix£?,
Ä? cor^aiv 0 Hsvocpuiv, sypwvxo aiiXotc; siriv^afi-iottoi; xo [irjcöo; o?u xal
70£pov '^Ö£-f(0[x=vois. Da die Stelle bei Xenophon nicht steht und
der Dialect auf die las weist, so vermutet der Verf. nicht ohne Wahr-
scheinlichkeit, das Fragment stamme aus Xenophanes, dessen Po-
lemik gegen die 9p7;vo'. der Aegypter (und Eleaten) erwähnt wird;
er stellt, da die Threnoi der Phönicier auf Adonis in der Athenäos-
stelle mit 7q7p7.ivoiai in Verbindung gesetzt werden, beispielsweise
folgende Verse her:
tpotvixc, o' auXotöiv "Aotuviv -(i-f^pciivoicii
o^u T3 /od yjt^w cp&rfi'OVTOii . . .
[Warum nicht cpÖsY-jOuivoic beibehalten?]
Pindar.
LüBBERT, E. Commentatio de Pindaro dogmatis de migratione ani-
marum cultore. Index Schol. hib. Bonnae 1887.
Der Verf. beabsichtigt vor allem eine religionsgeschichtliche
Aufklärung der mystischen Worte der zweiten Ol. Ode zu geben
(63 Chr. 5G M.) z(r{z . . . xic olosv xo fxlXXov oxi Oavovxmv jib Ivilaö'
a6xiV.' dTraXajxyjt cppsvsc Toivac i'xtaav, xa 8' sv xaos Aik ap/a dXixpot
xaxa 7«? otzotCst ti? lyOpa Xo-'ov cipatjaic avcz'-ix?- Er billigt mit Recht
•*) Den ebenda S. 140 stehenden Aufsatz von Suseuiilil über die Chrono-
logie des Pittakos, wie andere neuere Arbeiten von WöltHiu, Studemund,
Brunco über die Sprüche der 7 Weisen kann ich in diesem Jahresberichte
nicht berücksichtigen, da sonst dem Begriffe der Philosophie eine unziemliche
Ausdehnung gegeben werden müsste.
94 TT. l^iels,
die Erklärung Aristarchs, dass hier eine doppelte Strafe vorliege: die
Sünden des Lebens werden im Tode gebüsst, die Sünden des Todes
im Leben.
Das letztere erläutert er nun dahin, dass Pindar in Ueberein-
stiramung mit pythagoreischer (uicht-orphischer) Anschauung unter
den Sünden der Unterwelt nicht bestimmte Vergehungen, sondern
eine Art Erbsünde verstanden habe, welche namentlich bei der
Wahl des Lebensberufes vor der Palingenesie die sündigen Menschen
verstricke. So wird Pindar in diesem Punkte, wie der Verf. auch
in Einzelheiten ausführt, zum Vorläufer Piatons.
Die sehr ausführliche Darlegung des Verf.. welche die Escha-
tologie der Pythagoreer und Orphiker anziehend darstellt, würde
noch überzeugender wirken, wenn der historische Anlass zu diesem
seltsamen Excurse Pindars aufgeklärt wäre. Denn die ganze Ode
von der 2. Strophe an scheint mir auf gewisse Mysterien hinzuweisen,
bei denen der Agrigentiner Theron. der Landsmann und Zeitgenosse
des mystischen Empedokles, beteiligt war. Es würde gewiss belehrend
sein, wenn ein solcher Kenner Pindars und der Religionsgeschichte
sich hierüber verbreiten wollte.
Heussler, IL in Fichte's Zeitschr. f. Philosophie. N. F. XXIL
(1887) 137.
• Der Verf. sucht in einer Anzeige der Schwegler'schen Geschichte
der Philosophie im ümriss. 14. Auß. durcligesehen und ergänzt
von B. Koeber unter A, nachzuweisen, dass das bekannte Prota-
goreische Dictum übersetzt werden müsse: „Aller Dinge Massstab
ist der Mensch, der Seienden, wie er ist (sich gerade befindet),
der Nichtseienden. wie er nicht ist."
II.
Bericht über die deutsclie Litteratiir der
sokratisclieii, platoiiisclien und aristotelisclien
Philosopliie 1886, 1887. Zweiter Artikel: Plato.
Von
E. Zeller in Berlin.
(Schluss.)
Als Nachtrag zu meiner Uebersicht über die platonische Lite-
ratur dieser Jahre nenne ich noch:
1. ZiNGERLE, Zu Piatons Laches (Philol. Abhandl. 4. H. S. 40—43).
2. Schönborn, Zur Erklärung des Phädrus. Pless 1887 (Progr.).
3. R. HocHEGGER, Ueber die platonische Liebe. Berlin. R. Eck-
stein Nachf. s. a. 22 S.
4. B. RoTHLAUF, Die Physik Plato's. 1. 2. München 1887. 1888.
(Progr.) 51 u. 90 S.
5. C. Demme, Die platonische Zahl. Zeitschr. für Mathematik und
Physik. Lpz. 1887, H. 3. Histor. Abth. S. 81—99. H. 4,
121—132.
Von Nr. 1 und 2 kann ich indessen nur die Titel anführen,
da es der Verlagshandlung nicht gelang, sie mir zu verschaffen. -
Nr. 3 ist ein Vortrag, der unverkennbar nicht den Anspruch macht,
einem Kenner Plato's irgend etwas Neues zu sagen. Sehr viel
Neues enthält auch Nr. 4 nicht; aber doch ist es recht dankens-
werth, dass Vf. es unternommen hat, in diesen fleissigen und an-
spruchslosen Abhandlungen alles zusammenzustellen, was sich bei
Plato, vorzugsweise natürlich im Timäus, auf die Physik im enge-
ren Sinn (mit Ausschluss der Mathematik und der organischen
9ß K. Z.'ller,
l'hysik) beziigliclios liiuli-1. Don Stellen aus Plato, die in Ueber-
set/Aing raitgetheilt werden, sind Bemevkimgen beigefügt, welche
tlieils VAX ihrer sachlichen Erläuterung dienen, theils ihr \'erhält-
niss 7A1 der heutigen Naturwissenschaft betreffen; unter denselben
ziemlich viele Auszüge aus neueren Werken zur Geschichte der
Physik und ihrer einzelnen Theile, welche dem philologischen Er-
klärer Plato's weniger zur Hand zu sein ptlegeu; wogegen Vf.
seinerseits selbst sagt, dass er auf erschöpfende Benutzung der ein-
schlägigen Literatur verzichte. Einzelheiten betreffend will ich
folgendes bemerken. Dass Plato jedem Element seineu natürlichen
Ort anweist, ist zwar unbestreitbar; aber auf Phädo 110. Krat.
410 durfte sich \{. (I, 13) dafür nicht berufen. — Zu weit her-
geholt scheinen mir seine Yermuthungen (I. 31) über die Gründe,
weshalb Plato Tim. 55 D f. die Elemente hinsichtlich ihrer Beweg-
lichkeit so ordnet: Feuer. Luft. AVasser, Erde. Ich denke, er hält
sich hiebei einfach an den Augenschein; und er sagt ja auch a. a. 0.
nicht: weil die Erde die AVürfelform hat, sei sie das unbeweg-
lichste Element, sondern: weil sie das unbeweglichste ist, wolle er
diese Form ihr zuweisen. — Dass es sich bei der pythagoreisch-
platonischen Messung der Tonhöhe uach Zahleu nicht um die
Schwiugungszahlen (I, 41. IL 17 u. ö.) der Töne handelt, von
denen jene Zeit noch nichts wusste, sondern um die Längen-
verhältnisse der tönenden Saiten, und dass die 7:Xr^7ai, aus denen
die Töne zusammengesetzt sind, nicht „Schwingungen" (IL 1)
sind, sondern Stösse, hätte Verf. aus meiner, ihm, wie es scheint,
unbekannt gebliebenen, Phil. d. Gr. I '. 372. IIa', 654L abneh-
men können. — 11.27 glaubt VL mit andern, der Kreis des
Selbigen und des Andern Tim. 36 0 werden beide von dem
Himmelsgewölbe umfasst. Allein der Kreis des Selbigen, der
Fixsternhimmel, ist vielmehr selbst das Himmelsgewölbe: umhüllt
wird er nebst den sieben Planetensphären von der xtv/jötc xatot
TauT« xotl £v xotuTiui -sjiia-j'ojJLSvr^; zivr^aic ist aber nicht ^r=. y.6/.Xos,
ofcpaTpa oder oupavoc, diese die Welt umgebende xivr^si; ist vielmehr
das gleiche, wie die sie (nach Tim. 36 E) umgebende Seele, die ja
auch (Gess. X, 896 A) als eine sich selbst bewegende Bewegung be-
zeichnet wird. Dass die Planeten kein eigenes Licht haben, son-
Herioht üb. d.deutscheLitt. d.sokiat. piaton. u.aristot. Philosophie 1886, 1887. 97
(U'rn ihre ganze Beleuchtung von ilor Sonne erhalten (IL 40), geht
au.s Tim. B9B nicht hervor: Rep. \. ßlßJ) 1'. Tim. 40A f. sprirlit
vielmehr dafür, dass dies nur vom Monde gilt, mag auch I'hito
vielleicht den andern Planeten neben dem eigenen noch ein von
der Sonne entlehntes Licht zugeschrieben haben, wie Anaxagoras.
Nr. 5 versucht eine neue Erklärung des Zahlenräthsels. welches
Plato Rep. VII, 546 B f. seinen Lesern aufgibt. Indessen werden
durch diese Abhandlung die von den bisherigen Erklärungsversuchen
übriggelassenen Dunkelheiten so wenig aufgehellt, dass sie viel-
mehr aucli da. wo die.selben festen Grund unter sich haben, diesen
wieder verlä.sst. um statt dessen mit einer neuen Deutung in die
Irre zu gehen. Der Hauptgrund dieses unbefriedigenden Ergebni.sses
liegt aber darin, dass es der Arbeit des \f. an einer haltbaren
exegetischen Grundlage allzusehr gebricht, wie dies denn freilich
nicht liberraschen kann, wenn er beispielsweise S. 132 in den
"^Aorten: c'ju7:7.c os ootoc 7.pit>ij.o? -'c(U}x£Tf/i/oc toioutou xupioc, aast-
vovojv '/.r/A yiijO'iVwv -^svicfscuv das xoi'jtjiou mit -'stuasTjOi/o; verbindet
und von /.-jfy.oc abtrennt (wie sie dann aber zu erklären sein sollen,
wird uns nicht gesagt). AVährend bisher, so viel ich mich erinnere,
niemand bezweifelte, dass a. a. 0. unter dem OsTov -|'£vv-/;trjv die Welt
verstanden werde, unter dem ocviipui-stov die Menschengeschlechter,
will D. jenes (angeblich mit dem Bekker'schen Scholiasten, der
aber vielmehr die Gesammtheit des Körperlichen darunter ver-
steht) auf die Seele beziehen, dieses auf den Leil), und die ganze
Beschreibung auf die Rep. X, 6140'. erwähnten 1000jährigen Pe-
rioden für die Wanderung der Seelen, l^m nun in unserer Stelle
diesen Sinn hnden zu können, deutet er den otoiibao; -ilzin: auf
die Zehnzahl und die Zahl des ctvtJptuTTE'.ov -/svvr^Tov auf die Hun-
dert: dass aber von einer Verbindung dieser beiden Zahlen zu einer
dritten bei Plato kein ^Vort stellt, eine solche vielmehr ganz un-
möglich, und die Zahl des ctvDf/w-siov ^ew/^tov die einzige ist, um
die es sich liei der richtigen Anordnung der Zeugungen handelt,
macht ihm keine Sorge. J)ass ferner a. a. 0. mit den Worten iv
(u TT&ioxm auHa-i:: — -y.-ecir.vav auf die Zahl hundert hingewiesen
werde, wird mittelst einer durchaus unannehmbaren Erklärung dar-
gethan. Für otTioaTofasi; liest D. mit einem Theil der Handschriften
Archiv f. Geschiditc cl. Pliik i^upliic. II. •
«»«
i:. ZelU'V,
a-rj-Ao.-.OL'yzd^tK . giebt diesem die Bedeutung: „Zurückkehren z.um
Ausgangspunkt", die freilich für dieses Wort aus den apiUaol 7.-0-
•/.'xx'n-o.-vK'A (in ihren höheren Potenzen wieder auftretende Zahlen,
wie 5 und 0) noch lange nicht folgt, hält -[jzXz ct-oxaxacyraasi; //y-
ßoOacd für gleichbedeutend mit: dreimal zu sich selbst addirt. -h-
-OLrji: ooo'jc X7ßou3C(t mit: vervierfacht, und bringt so heraus, dass
die fraglichen Worte die Generationszahl als das Vierfache von 5^
(als ob die ouvctusvir; 5 mit oüvotasvott' ts •/.'■ja oüvaiTS-jousvat —
5. 4, 3 — bezeichnet werden könnte) beschreiben wollen. Was
endlich die, gegenwärtig, wie ich glaube, (u. a. von Susemihl
Arist. Polit. II. :5711f.) vollkommen befriedigend erklärten Worte:
(üv s-iTf/iTo; -ül)uY,v -7- y.'jßtov TO['70o: betrifi't. so meint Vf. zuiiiichst
Tpu: aü^jOslc sei gleichfalls so viel als: dreimal zu sich selbst addirt;
er macht sodann aus dem iTiiTpiToc kuUjxyjv TsjjL-aoi au^u-j'sic still-
schweigend die Fünf allein, und übersetzt schlies.slich t->,v usv (sc.
apiioviav) i3-/;v ticrxic, ixot-ov -:o3«'jtoizic : „die eine, eine gleiche,
gleichvielmal genommen gibt, ebensovielmal wie oben (dreimal um
sich selbst) vermehrt, hundert." In den nächstfolgenden Worten:
Tr,v fjt tdouLTj/y, uEv t^, -poixY''.yj os, giebt er der Variante 7:poav;xEt
den Vorzug, lässt diesen Dativ von dem zu ergänzenden ctp'xovtoiv
regiert sein, und erklärt, wie laut auch das asv und os protestiren
mögen: „die andere ist die Beziehung gleicher Seiten zu ungleichen
Seiten". Unter den ix7tov apii}u.r.t 7-0 ot7u.stpu)V p/jTtuv Tsa-aotuv
(wie I). statt -z\xrAZrjz liest) n. s. w. soll die Zahl Hundert (wie
wenn diese mit k-m-bj otpii^jxot bezeichnet werden könnte!) als Pro-
dukt aus den Quadraten der Diagonalen von zwei Quadraten von
5 zu verstehen sein; wobei aber die zwei Quadrate ganz willkür-
lich eingeschwärzt werden. Bei den ix^-ov x6ßot tpiaooc versagt
die Exegese des Vf.: er ändert daher den Text, setzt: Ixottov 02
xüßcov xGtt TO'j 'j.-', ~rj\rpjrtt und übersctzt dieses klassische Griechisch
eben.so klassisch: „andererseits aber hindert als Summe von Kuben
[nämlich f)4 und 27] und des Dreiquadrats". — Dies der neueste
Beitrag zur KrkhnunL; Piatos von mathematischer Seite.
III.
Jaliresbericlit über die neuere Philosophie
bis auf Kant für 1887
Vou
Benno Srdniann in Breslau
Erster Teil
Descartes und Locke
Es sei gestattet, den Jahresbericht diesmal mit einer Erörte-
rung zu beginnen, welche die Grenzen zwischen einen) solchen Be-
richt und einer selbständigen Abhandlung im wesentlichen ver-
wischt. Die Gründe dafür liegen fürs erste darin, dass die Er-
gebnisse der beiden gleich zu nennenden Arbeiten mehrfach eine
Zustimmung gefunden haben, welche schwerlich gerechtfertigt wer-
den kann, und fürs zweite darin, dass der gemeinsame Gegen-
stand derselben nicht bloss für die Systeme der beiden Philosophen,
auf die er sich unmittelbar bezieht, sondern für die Entwicklungs-
geschichte der philosophischen Probleme im siebzehnten Jahrhundert
überhaupt bedeutsam ist.
Die Arbeiten sind eine Strassburger und eine Berliner Disser-
tation :
1. Geh., G. Ueber die Abhängigkeit Lockes von Descartes, 98 S.,
Strassburg. J. H. Ed. Heitz.
2. SoMMEH, R. Lockes Yerhältniss zu Descartes. 63 S., Berlin,
Mayer und Müller.
Das glücklich gew^ählte Thema ist dort von Windelband an-
angeregt, hier als Gegenstand einer akademischen Preisfrage auf-
gegeben.
7*
\{){) Wcnno Kid mann,
Nach Anlage uiul Methode siiul beide Abhandlunyeii <:>•;> 'i^'lit^'Ji
verschieden. Die erstere ist im ganzen sorgsam fundirt, wenn
schon die Interpretation im Einzelnen von INIissverständnissen nicht
frei ist : iine Methode ist wesentlich induktiv: die Ergebnisse ver-
bleiben, abgesehen von den einleitenden Bemerkungen gegen die
in der Tat ans systematischen Gründen mehrlach überschätzte und
zu ausschliesslich l>etonte Trennung der philosophischen Strömun-
gen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts in eine ratio-
nalistische und eine empiristische, mehr im Einzelnen: die Dis-
position ist etwas undurchsichtig; die Darstellung öfters schwerfällig
und nicht l'rei von Wiederholungen. Die andere geht auf Einzelnes
kaum ein; das A'^erfahren ist hauptsächlich deduktiv; die Ausfüh-
rung reich an Einfällen u\n\ Aussichten, die öfter ohne kritische
Zurückhaltung systematisirt werden; die Darstellung ist gewandt
und lebendig. ^
Sclmn in Folge unvollständiger Heranziehung des Materials
iiat keiner von beiden Autoren den Gegenstand erschöpft; keines
der hauptsächlicheren Ergebnisse beider winl. wenn die nach-
stehende Erörterung beweiskräftig ist, uulrecht erhalten werden
können: Beide jedoch sind als Erstlingsarbeiten Leistungen, die den
Durchschnitt der Dissertationen überragen. Sie liefern Vorarbeiten,
die Jedem zu statten kommen werden, der den historischen Be-
ziehungen zwischen Descartes und liocke vollständiger nachgeht,
und die damalige Eage der philosophischen Probleme umfassender
und unbefangener wür(bgt. . \
Von eilirr kritischen Besprechung der Aulfassungen des Car-
lesianischen Systems hei beiden Autoren wer(h> liier abgesehen,
(leij lindet den (irundzug desselben ganz wie bei Locke in der
Zuspitzung t\ov |)hil(tsopliischen J'rdMenie ;iur die Erkenntnistheorie.
Sommer dagegen sieht als den „Centralpunkt" derselben eine „dog-
matisch starre" Metaphysik, welche in Locke „die Forderung einer
Kritik der Erkenntnisniittel erweckt'\ Jener behauptet in aus-
liilirlicher, übrigens dui-ch unl)eachtet gebliebene Nachweise Bau-
manns leicht zu ergänzeniler Darstellung, dass das himen naturale
im engeren Sinne, als das Vermögen (Um- Erkenntnis des unmittel-
bar Evidenten, „in dem Svsteme Descartes die wichtigste Stelle
Jahresbericht über die neuere Philosopliie bis auf Kaut fiir 18.S7. JOl
einnimmt". Dieser konstfuirt sich, die systematisirte Dichtnng
in dei' dissertatio de methodo fiir historische Wahrheit nehmend,
die Metaphysik des Philosophen aus den nachträglich „rational for-
inulirten" „inneren Erfahrungen" Gottes, der AVillensfreiheit und
der eeistioen Natur des Menschen.
In der Abhängigkeitsbestimmung beider Philosophen legt Geil
besonderen Nachdruck auf dii; Uebereinstimmung derselben in
der Lehre von den angebornen Ideen, die S. als einen offen-
baren Bestandteil der Opposition Lockes gegen Descartes kanm
erwähnt. Geil sucht zu erweisen: Lockes Definition der innated
idi'ds frifft nicht die Fassung der idme innatae bei Descartes; die
von Lücke kritisirteu Beweisgründe l'iii' solche Ideen ferner fehlen
bei Descartes; die Gesichtspunkte dieser Lockeschen Kritik ent-
sprechen vielmehr im ganzen den Annahmen des frauzösischen Pliilu-
sophen; Locke erkennt sogar in den Vorstellungen des Ich und
der Gottheit angeborene Ideen im Sinne Descartes an {Essay IV
7,7; IV 10,1, 4,6); die von Locke bekämpfte Hypothese endlich
findet sich nicht bei Descartes, sondern bei Denkern wie Ralph
Cudworth. Henry More, Samuel Parker und Theophilus Gale,
also bei den platonisirenden Theologen jener Zeit, sowie bei Her-
bert von Cherbury. Nach dem Allen war „Locke sich bewusst,
dass Descartes nicht in dem Sinne angeborne Ideen behauptet hat,
in dem er sie leugnet".
Beiden Philosophen ist nach Geil ferner die Lehre von der
intuitiven Erkenntnis gemeinsam, sofern beide anerkennen, dass
das lumen naturale uns unmittelbar gewisse Grundsätze in uns
auffinden lässt. Auch die Lehre von der demonstrativen Erkenntnis
zeigt „Locke durchaus abhängig von Descartes": des letzteren Idee
einer mathesis universalis klingt in Lockes Sätzen von der demonstra-
tiven Gewissheit der Mathematik, der Moral und des Gottesbeweises
wieder. Sommer dagegen lässt Locke sich Descartes LTnterscheidung
der Vorstellungswelt und der Welt der bewegten Materie „ganz zu
eigen machen": sie gibt ihm den scharf begrenzten Begriff der
Sensation als der Sinneswahrnehmung, die als subjectiv erregte
Empfindung streng von dem erregenden materiellen Vorgang ge-
schieden wird. Er findet ferner im Gegensatz zu Geil in Lockes
jQO Benno Knlmann,
Tliooiio (lor (Ifinunstiativcii I',ikcimtiiis als der mittelbaren implicit,
eine Kritik der Methoilc J)os(artfs.
(ü'il wie Sommer hoben sudann die Anerkennung hervur, die
Locke dem Carte^^ianisclieii coijiio ergo sum zu Teil werden lässt
(IV 10.2 11. \\ o, (>): -ff <-^ p<"^f controversij , that we hace in us
sonidhiiKj that thinks; our cen/ doubts about irhnt it is conp'rni the
ccrtaintii of its beinfj.'' Sommer lässt aus der „Aufnalime uml
\ trtieruiig" dieser „eiulachsten inneren Erfahrung" den Ikgrift' der
rpßevtion entstehen.
Scllisl I.ockes rrteilslelire „trägt" nach einem kühnen Piiide
(leiis ^deutlich Descartes' Cieist auf der Stirn", sofern er lehrt:
error As not a fault of our hioirlnbjc, but mistake of our judq-
ment, i/'cinf/ assent to that which is 7iot true.''
Hinsichtlich des Gottesbeweises finden beide Interpreten wieder
Entgegengesetztes. Nach Geil leitet Locke „ganz in Cartesianischer
Weise aus dem Begriff Gottes die Vollkommenheit Gottes ab mit
Hilfe des himen naturale, ein Beweis der erkenntnistheoretisch
ganz auf einer Linie mit den Cartesianischeu Auslassungen über
den Gottesbegriff steht, und nur allzusehr Descartes' Einiluss ver-
rät.'' Sommer dagegen urteilt: „Locke macht (durch seine Analyse
der Gottesvorstellung) für den aufmerksamen Leser den Cartesiani-
scheu Gottesbeweis zu nichte, selbst wenn er sich nicht in directer
AViderlegung gegen denselben wendet."
Sogar für Lockes Stellung zur Offenbarung lässt Geil „die
Mojilichkeit einer Beeinlhissung" bestehen, während Sommer aus
der .Aulfassuns der tlffenbaruiiu Ihm bi'idcn Philosophen zwei Ent-
Wicklungsperioden systematisirt: doit Anwendung der Vernunl't nur
auf Diuge >le (fuibus fixles divina nihil docef: hier flic \ ernuiilt ein
dem Glaulten ebenbürtiges Princip.
Geil .>ucht endlich auch auf dem Gebiet der Natnrerkenntni>s
tiefgehende Abhängigkeit aufzudecken: „das Wirken der Objecten-
welt geschieht nach Descartes wie nach Locke durch Stoss": Lockes
Erörterung der secondarif (/ualifies zeigt „bis auf einzelne Wendungen
in der Darstellung frappante Aehidiclikcit mit Locke;" gleiche l'clier-
einstimmung bieten, abgesehen von der :oliditij, die Ausführungen
beider l'hilosophen über die von Locke sogenannten ^'/7'/«(/yv/ qmditie^.
I
I
Jahre-,lieriflit über die neuere Philosophie bis auf Kant für 1887. 103
Sommer andrerseits hebt hervor, dass die Lehre von den
Spiritus animales, „welche sich Descartes bei der konsequenten
\'erfolgung seines Gedankens von der materia extenso, ergeben hatte",
von liücke acceptirt, aber nur als mögliche Hypothese eingeführt
sei. Er sieht endlich in Lockes Aeusserungen über unsere Un-
wissenheit hinsichtlich der Substanzsn (II 23, 16, 26) „den absoluten
Idealismus schon vullkommen vorgebildet", und glaubt in dem Um-
stand, dass Locke diesen Idealismus in seiner Lehre von den j>ri-
mary qualities so gar nicht erkennliar macht, „den Eintluss der
physikalischen Denkart" Descartes' 7ai erkennen.
Es bedarf nach dieser vergleichenden Aufzählung kaum der
Bemerkung, dass auch diejenigen Argumente beider Interpreten,
die sich nicht direkt entgegengesetzt sind, zum Teil nur geringe
Beweiskraft haben. Dahin gehören vor allem die Aehnlichkeiten,
welche Locke zwar mit Descartes, aber doch auch mit andern
seiner Zeitgenossen und Vorgänger verbinden, so dass aus ihnen
auf eine specielle Abhängigkeit von Descartes nur geschlossen wer-
den könnte, wenn die Abhängigkeit von jenen andern ausgeschlossen
würde. Zu solchem Ausschluss findet sich aber abgesehen von der
Theorie der sekundären und primären Qualitäten weder bei Geil
noch bei Sommer ein Versuch.
So fällt das liinum naturale^ ein Begriff, der schon durch die
Art wie beide Philosophen ihn einführen und venverten, seine
scholastische Abstammung verrät. Geil versperrt sich allerdings
nicht von vornherein den Weg zu einer historischen Ableitung,
wie gelegentlich E. Grimm (1873) getan hat, welcher erklärte, dass
das himen naturale „zwar ein herkömmlicher Begriff der Scholastik
war", dass man jedoch „bei der Unabhängigkeit von aller scho-
lastischen Philosophie, welche das System Descartes' auszeichnet",
die Bestimmung desselben „nicht aus der Scholastik, sondern nur
aus Descartes selbst zu gewinnen suchen" müsse. Aber er glaubt
doch aus dem Mangel einer ausdrücklichen Definition desselben
bei Descartes (und bei Locke!) „ruhig den Schluss ziehen zu dür-
fen, dass es seiner (Descartes') Ansicht nach nur aus den Wirkun-
gen zu beschreiben sei". Er betritt also den freigelassenen Weg
1(4
Beiin 0 F. nl man u ,
iiiclit. Liicke gebraucht iiluTilics den Terminus li<j]it 0/ 7w.fure
iiirlit in ilt'iii engeren SiiiiH>. in dem das Itiincn rnifura/t' hei Des-
carles (wir später bei Lcümi/.) |iriiici|»ielltM-e Hedfulung hat, son-
dern üan/, wie llul»lies >trls in (h-m weilen tiaditiunenm Sinne, der
durch t\rn (Ii-gensat/ zu der jid^ifirc' irrrUdion gegelM'ii isl. Su im
Ksstn/ I ,'), ji) und in den vun (i. unhenulzl gehisscnen IJriel'en, bei
Lurd King (Life of John Locke'^ ISoOJ) z. B. 1 807.
Ebenso fällt als Argument, um nur dies eine nueh zu erwähnen,
die ll\ imtliese der siiirifiis animales^ die Ja nicht nur eine bis in
(li(> IMiitezeit der griechischen l'hihtsuphie verlblgiiarc (ieschichte
liesit/.t. siiiiderii auch gerade um den Aniang ^\i^s sechzehnten Jahr-
hunderts weiteste Verbreitung gefunden hatte. War sie doch ein
Gemeingut der wissenschaftlichen ^ledicin jener Zeit, l nd Locke
hat sie gewiss hauptsächlicl) wie vur ihm Descartes aus dieser
(^Uiellc geschöpft, wenngleich es möglich, aber irrelevant ist, dass
er sie zuerst bei Descartes kennen gelernt hat. i*^r fand sie bei
Servet. 1mm Cesalpin, liei llarvey, kurz l>ei seinen mediclnischen
Studien idierall ebenso, wie wir heutzutage etwa die Lehre von
den M'iisurischen und motorischen Nerven.
\'on solchen Gesichtspunkten aus fallen die meisten der von
(ieil wie von Sommer i)eigebrachten Argumente in sich zusammen.
\'i)u (h'ii idirig bhMbeuden beruht die lu'ziehung der Urteilslehre
Lockes auf ilie i\v:^ J)escartes aui' einer irrtümlichen Deutung der
Worte des englischen Philosuphen. Es geht dies aus der Willens-
und Kreiheitslehre J.ückes, die G. nicht erörtert, unzweifelhaft her-
vor. Keine der iieiden Abhängigkeiten ferner, die G. und S. in
dem liockeschcn Gottesbeweis linden, ist zud-effend. Sie hätten
auch hier Entscheidendes in dem mannigfachen biographischen
Material bei Jjord King und l'ox Bourne {The l/j'c of John
/voc/v, 2 Vol. 1S7()) sehen k(")nii('ii. (his sie vollständig unbeachtet
gelassen haben. Jiocke hat sich in der Tat mit dem Gottesbeweise
Descartes' beschäftigt , jedoch nicht ihn anerkennend, wie G. be-
hauptet, sundern ihn verwerfend, alter nicht aus den (irünih-n ihn
verwerfend, die S. vermul(^t. Der Beweis endlich lindet sich nicht
in dem Ktisdij, wo lieide ihn gesucht haben, sondern in eiiitMU
Hlatt seiner Miso'/lfOifous Phihis^ unrj zwar vum Jahre Kjl't), und
Jahresbericht über die neuere Philosophie bis auf Kant für 1887. 105
hebt mit folgenden, Lockes Vertrautheit mit der Cartesianischen
Lehre charakteristisch illustrierenden Worten an: „Thoioj/i I had
heard Descartess opinion conceniing fhe being of a God offen
questiojied Inj sober inen, and no enemiea to his nnme, yet I sus-
pended inij judgment of hlm tili /atelt/ sctthir/ mijself to
examine his proof of a God , I foiind llmf l>ij it senseless matter
might be fhe frst etenwl being and cause of all fhings as well as
an immatcrial intelligent spirit; this, Joined to his shut/ing out fhe
consideration of final canses oiit of his jiliilosophg, and his bdiounng
to invalidate all ofher proof s of a God but his own, does un-
avoidablij drair upon liiin soine suspicio7r' (bei Lord King II 133
—139). In gleichem (leiste stimmt er wenige Jahre später, als
er seinem Freunde, dem Theologen van Limborch, einen Beweis
der Einzigkeit Gottes mitteilte, dem Urteil 7ai, dass die herkömm-
liche Anordnung der Argumente in den Guttesbeweisen dartue,
^que les Theologiens, les Philosophes, et JJescartes lui-meme, siop-
posent l'u7Üte (die Einzigkeit) de Dieu, sa7is la prouver' (W. in ten
volumes'' 1812, X TT, T5).
Es bleuten nach dem Allen drei Argumente zur Prüfung übrig.
Fürs erste Lockes Anerkennung des in der Cartesianischen Formel
cogito ergo sitm enthaltenen Gedankens. Denn eine solche darf in
den oben angeführten Worten gesehen werden, auch wenn man
sich bei der verneinenden Frage Geils: 'Wo ist jene als ein Satz,
wie das Cartesianische cogito ergo sutu vor Dcscartes aufgestellt
worden?' an Augustinus, Campanella, Montaigne, Charron und
Sanchez erinnert. Diese Anerkennung will jedoch wenig besagen:
Bei Locke fehlen alle jene Voraussetzungen und all" jene Con-
sequenzen, die den Gedanken bei Descartes grundlegende Bedeu-
tung gewiuucn lassen. Ausserdem kann diese gelegentliche Ueber-
einstimmung dem aufmerksunien Beolmchter den Unterschied nicht
verdecken, der in Lockes Polemik gegen die cogitatio als Attribut
der Seele vorliegt. Hier hat A. de Fries (18T9), dessen scharf-
sinnige Abhandlung beide Interpreten unverwertet gelassen haben,
um vieles genauer gesehen.
leberzeugond ferner ist Geils Beweis aus der Aehnlichkeit in
der Theorie der primären und secundären Qualitäten nicht, selbst
\{)[\ P.iMiiio Kr'liiiaiin,
wenn in;iii von ilcii s|i;it{M- auszuführenden allgemeinen Bomerkun-
gfii alisiolit. Eine direkte Aldiiingigkeit der Darlegung Lockes
von den Erörterungen Descartes' aus den mehrfachen, von Geil
allerdings iiherschiifzteii Analugicn einzelner Beweisgründe, sowie
aus den geringeren Analogien zu (Umi Auslassungen von Hohbes
wird man Bedenken tragen anzunehmen, sobald mun sieh der
weiten Verbreitung und Anerkennung der Grundlagen dieser Theorie
seit dem vierten Jalnzelint des siebzehnten Jahrhunderts bewusst
bleibt, so lange ferner die Beziehung der Lehre Lockes auf die
pn'man'dc und secni7ulafiae qualitates bei R. Boyle, auf die Eu(;ken
hingewiesen hat. nicht ebenfalls in den Kreis der Untersuchung ge-
zogen ist. Die Historiker der Philusophie haben zu dlt gegen den Geist
der Sache gesündigt, als dass wir uns nicht lebendig halten müssten,
wie solche Aehnliclikeiten ohne jeden direkten historischen Ein-
lluss, rein aus der Gleichheit des Gegenstandes, entstehen können.
Am bestechendsten möchte der ausführliche Beweisversuch Geils
wirken können, da eine bewusste Abhängigkeit zu konstatieren, wo
die Tradition eiilen principiellen, absichtlich hervorgehobenen Ge-
gensatz annimmt, in der Lehre von den angebornen Ideen. Denn
es i>~l uiizweifellmft. übrigens aber schon überzeugend von de Fries
nachgewiesen, dass die Annahmen von Locke der Lehre Descartes,
wird die letztere im Sinne der Deutungen verstanden, die Descartes
selb>t ihr besonders in den Briefen und an einer Stelle der Oeuvres i
irKklites, aber auch in Avw Respo7iiiio}ies der Meditationes de prima .
ji/u'losop/i/'a gegeben hat. nicht principiell entgegenstehn. Geil aller-
dings überschätzt auch hier die Aehnüclikeit. De Fries hat treffend '
bemerkt, dass es nach Locke „keine ideae innatae geben kann als
i/nacthtm diiipositio)ies. die ohne entsprechender Reize zu bedürfen '
und (dme von Bestimmungen des ^Villeus abhängig zu sein, im
entwickelteren Geistesleben sich bekunden, sei es als Vorstellungen,
sei es als notiones communea oder ceritates aeternae"''.
Aber es ist trotz der Anerkennung solcher Aehulichkeit fest- i
zuhalten, dass Descartes nicht bloss das Vorhandensein von ideae \
innaidc behauptet, das Locke leugnet, sondern auch nach dem '
"Wortlaut der augenfälligsten Ausführungen in einem Sinne be- i
haiijilel, dem Locke ausdrücklich widerspricht.
Jahresheiicht über die neuere Philosophie bis auf Kant für 1887. 107
Locke definirt die aiigel)unien Ideen, die er bekämpft, als pn-
mary nofiona, xoival Ivvota'. , c/iaraeters, as it irerc, staviped upon
(u-occn into, iniprinted o)t) tlw mind of mun irldch the sauf receioes
in its cery jii'st being, and örüu/s into the iroiid icith it. Er schliesst
sodann: 1) dass sie als ////'/»/■m/c/ auch pcrtriced, d.i. bewiisst, also
auch Jmoirn and ussented to sein müssen: 2) dass »w jai/'ct^t and,
c/carest and ntost perspieuous nearest the fountain in the ehildren
erscheinen müssen; 3) (Uiss sie — im (iegensatz zu den adcentiti-
ous notion^ — ilie foundation and (/aide of all acquired knowledge
and future reasonings sein müssen; 4) dass sie can neither icant
nor receice any proof; 5) dass tliere irould he nothing n/ore easg,
than to k)ioii', what and hoir inani/ fheg are.
Dass diese Bestimmungen nicht uhne polemische Rücksicht auf
Descartes getroffen sind, wird scliuii (Unrli die Aufnahme des Carte-
-ianischen Terminus adcentitious (ideae adcentitiae') bei Locke nahe-
gelegt. Sodann aber erkhirt Descartes in den Meditationes: Deum
me creando (= the sonl reeeices in its very ßrst being) ideani illam
(sc. Dei) indidisse (== to stamp npon), tit esset tamquam nota
(= characters as it ivere) articißcis operi suo impressa (= to
imprint on). Er wiederholt in den Responsiones., dass die idea Dei
omniinn mentibns eodem modo est iyidita. Gleiches steht in den
Pnncipia philosophiae. Ebenda handelt er von den veritates, ([uae
in mente nostra sedem habent. Aus Descartes' Erklärungen folgt
sodann: 1) dass diese Ideen bewusst sein müssen; denn, wie bekannt,
definirt er: ideae nomine intelligo cuinslibet cogitationis forma m illam..
per ciiius immediatam perceptionem ipsius eiusdem cogitationis con-
scius SU/n. Dass dieselben 2) von Anfang a.n fairest and clearest
sein müssen, erkennt er allerdings nicht an. Aber er hat seinen
Ciegnern diese Konsequenz doch nahe gelegt, wenn er z. B. hervor-
hebt: non dubium est, quin clare ac distincte percipi possint;
alioqui enini communes notiones ?ion esse?it dieendae, wenn er sich
ferner überraschend oft auf ihnen zugehörige Prinzipien als lumine
naturali notissima lieruft. Dass die angebornen Ideen 3) die
Grundlage unseres Eikeniieiis bilden, hat Descartes zwar wol nirgends
so gerade heraus gesagt, aijer an den entscheidendsten Punkten sei-
ner Lehre hat er ihnen entstammende Axiome in solcher Funktion
jjjg Benno KihImkuui.
einffpführt. Es goniige dafür auf jenes der axiomata sice notiones
ro/minnu's zu Ncrweisen, das so notwendig anzunehmen ist, „uf ab
iiiso uno omnlniii rerum tarn semihiliam quam insenaiOilium cognitio
ilcjH'iuh'aV'- , auf das sechste Axiom niiralich der ndiones more gea-
nK'fn'co (h'sj)osif(n^: militatem ohjecümm idearum nostranim requi-
rere cansam, in (jua eadem ipsa. rcalltas non tantuin objcctive, aed
ronna/ifcr cd eminenter contineainr. Die angebornen Ideen hediirfen
und vertragen 4) keinen Beweis: nam quaecunqne lumine natu-
i-idi mihi ostenduntur . . . millo modo dvhia esse possunf, quia mala
alia facullas esse potest , ad aeqiie jidain ac hiiiiini isfi, qnaeqiie
illa non rera esse possit docere. Nur für die letzte Lockesclie
IJestinniuing lindet si^^'li hei DtscarU-s kein Aequivaleut, sundern ein
Oegenstüfk. Denn Dcscartes lehrt an bekannter Stelle der Princi-
pini. dass es sehr viele angeborne Ideen giebt, ^qiiae quidem oninia
facile recenseri non possunt"-. Aber diese Differenz verschwindet
nicht bluss unter drr ImiIIc des rebereiustimmenden, sondern sie
Itetrilft auch eine Annahme, bei der das sachliche Recht so offen-
bar auf Leckes Seite ist, dass dieselbe als eine direkte, allerdings
erst von Kant bestimmt gezogene Konsequenz der rationalistischen
Ideenlehre angesehen werden muss.
Mir scheint demnach, hätten de Fries und Geil den Versuch
"eraacht, Luckes weitzerstreute Voraussetzungen über den von ihm
bekämpften Begriff sich wie oben geschehen zusammenzusuchen,
und sie mit denjenigen Descartes" zusammenzusehen, sie würden sich
der Einsicht nicht haben verschliessen können, dass Lockes Pole-
mik in (Irr That Descartes mehr noch gilt als etwa Herbert von
Clierlniry. '
Es klimmt noch hinzu, dass Descartes' angeborne Ideen als i
veritates aeti rnae, uder notiones communes rationalistische Etiquetten
zeigen, flie Locke zw.ir in seinem Essaij nicht ausdrücklich als unge- i
hörig zurückweiht, dir al)er auf die f><-Iii(Mi desselben über die
fiiltigkeit unserer Erkenntnisse ganz und gar nicht passen.
N'ielleicht ilaii es jiach dem Allen als iil)erHüssig angesehen !
werden, auch noch nachzuweisen, dass selbst die Argumente, die
Locke für die gegnerische Ansicht anfuhrt, der Lehre Descartes nicht
so fern stehen, wie es (ieil erscheint, tiass spezioll das gre<d avgu- \
Jahresbericht iilier die neuere PhÜMsnphie his aiit Kaut t'i'ir LSSi. 1{J[)
menf des yeneraJ assent in JJescartes'' Einführung des lunieii. naturale
deutlich vorgebildet ist.
Nicht überflüssig jedoch ist es. darauf hinzuweisen, dass zwar
im Grunde Lockes Lehre vom Ursprung der Ideen sich nicht allzu-
weit von den Interpretationen entfernt, die Descartes selbst seinen
Behauptungen über die ideae innataey wennschon im Widerspruch
mit dem Wortlaut ihrer Beschreibung und der ihnen zugewiesenen
Erkenntnisl'unktion hat angedeihen lassen, dass jedoch Locke
diese Verwandschaft wol gesehen und in seiner Polemik
kritisch v e r w e r t e t h a t. Denn wenn Descartes 2L\x'i eine facultas ideas
i'iftas formandi verweist, wenn er behauptet, tantum nos habere in
nobis ipsis facultatem illas eh'ciendi, wenn er erklärt, elles sont
dans notre entendement seulement en pmssance comme diverses ßgu-
res dans un morceau de cire, wenn er ausführt, illas innafas esse
eodem sensu, quo dicimus f/enerosifatem esse quibusdam familiis inna-
tam, aliis vero quosdam morbos u. s. w., so ist in der That ,^t/ie
capacity of inoicing the natural impression contended for''^ . Dann
aber, will all the truths a man ever comes to know , by this ac-
count, be everi/ one of tJwin innate; (tnd this i/reat point tcill amount
to no more, but onhj to a very improper way of spieaking ; ivhich
whilst it pretends to assert the contrary, says nothing diferent from
those, who deny innate principles.
Locke leugnet ja in der Tat gar nicht das Vorhandensein von
natural imjyressions on the mind. Er erkennt ausdrücklich vielmehr
solche innate principles, solche characters, trhich God has stamped
upon onen's minds an. Er zählt dazu aber nur Bedingungen wie
the desire of happiness and the crversion to misery (Ess. I 3, 3) oder
original tempers wie the gay, the pensioe and grave und andere.
(On Educ. § 6S.) Und er behauptet, dass diese natural tenden-
cies imprinted on the mind nichts für das Vorhandensein von Prin-
cipien beweisen, wie Descartes sie im Auge hatte, von Prinzipien
nämlich, n-hich are to be the principles of knou-ledge regulating
our practice. Sie widerlegen dasselbe sogar aus dem oben unter
B) angegebenen Grunde. Denn ^re could not but perceive them
constantly operate in us and infuence our knowledge, as we do those
others on tiie will and appetite. So sehr ist er vielmehr im Gegen-
] \{) ]{enno Krdmann,
s:itz geffon Dest-arto.s uiul die iiiulci-oii Hatioiialislon l)efangen. dass
tT es unterlässt. aucli die Grundlagen unseres A^erstandes von diesem
Gesichtspunkt aus zu betrachten, jene infellectuaJ fticultios, von
deren operatiom^ wir durch rcjlection Ideen erhalten, dass er sogar
das Platonisch-Aristotelische Gleichniss von der Wachstafel im tra-
ditionellen scholastischen Sinne festhält, ohne es durch seine Vor-
aussetzungen über solche fanilties einzuschränken.
Ik'zeichnend endlich für diese Stellung des englischen Philo-
sophen ist auch die Art wie er die Angriffe seiner Gegner auf
diesen ]*unkt charakterisirt. Solche waren z. B. in dem Werke
von Henry Lee, Änfl-Scepticism; or notes upon euch chapter of
Mr. Lockes Essai/, hi-four hooks, 1702, in LouHle's Discourse concer-
ni)Hi the Naiure of Mmi und in desselben Moral Essays, in John
Nori'is Essai/ foicarcls the tlieovi/ of ihe ideal or intelligibh' icorld
!'. II. 1704 und inSherlocks Discourse conceiming the happiness \
of c/ood me^i, 1704 (in der Digression concerning Connate Ideas,
or i'onhied Knou'ledge) enthalten. Im Hinblick auf diese, abge-
sehen von Norris" Buch jetzt verschollenen Arbeiten, schrieb Locke
1704 an Anthony Collins: ^,What i/ou sag ahout mg Essay of
Human Understanding, that nothing ran he advanced against
lt. hut upon the principle of innate ideas, is certainly \
fo; and therefore all irho do not argue against it frovi innate i
ideas, in the sense I speak of innate ideas . . . at lasr . . . state ',
the question so, as to leace no contradiction in it to my Essay"' '■
(^^ . X. '2-S5, 293). Ein solches Urteil aber wäre schlechterdings ''
unmöglich gewesen, wenn Locke jemals sich jener Uebereiustimmung i
mit Descartes, als einem Vertreter dieser Lehre, bewusst gewesen !
wäre, die Geil behauptet. '
Locke also hat im ersten Buch seines Essay auf Descartes'
(und seiner Schüler) Theorie der angebornen Ideen durchgängige, '
bestimmte, polemische Rücksicht genommen, polemische Rücksicht
selbst gegen diejenige Fassung der Cartesianischen Lehre, die seiner j
eigenen Ueberzeugung am nächsten liegt. Alle Ausführungen des !
ersten Buchs stehen unter dem Einfluss dieser bewussten Kritik.
Gewiss aber ist. dass Descartes, wenn auch wie es scheint der
hauptsächlichste, so doch nicht der einzitfe Gegner war. den Locke
Jahresberirlit iilier die neuere Philosopliie bis iiut Kaut l'iir ISST. Hl
dabei vor Augen hatte. Unzweifelhaft gehört, wie die Anführungen
Lockes zeigen, auch Herbert von Cherbury dazu. Tatsächlich ge-
trotten werden auch alle Cartesianer, sowie die Cartesianisirenden
Skeptiker und Mystiker, die an diesem Punkte mit Descartes auf
gleichem Boden .stehen. Auf Differenzen in der Schule hinsichtlich
dieser Lehrmeinung hat Bouillier (Hisfoirp de la Plii/osophi'e Carte-
sienne) mehrfach aufmerksam gemacht. ^^ en Locke von diesen
Schülern ebenfalls im Sinne gehabt hat. ist nicht auszumachen,
und wenig bedeutsam.
Bemerkt zu werden aber verdient, dass wir ii1)er die Entwick-
lung der Lehre von den angebornen Ideen seit dem Anfang des
siebzehnten Jahrhunderts bis auf Locke, und über die Lehren in
der Philosophie der Renaissance sowie der Scholastik, welche den
begrifflichen Zusammenhang derselben mit der Platonischen Meta-
physik, der letzten Quelle der ganzen Lehre, vermitteln, nur ganz
unzulänglich unterrichtet sind.
Lebrigens sei hier ausdrücklich einmal hervorgehoben, dass
jene ganze Kritik Lockes die Bedeutung, welche ihr in fast allen
' Darstellungen seiner Lehre zugeschrieben wird, weder für den L^r-
-^prung noch für den Bestand derselben besitzt.
Nicht aus dem Gegensatz gegen die rationalistischen LTeber-
zeugungeu seiner Zeit, sondern aus dem breiten Boden der empi-
ristischen Lehren, die er bei Vorgängern wie Lord Bacon uud
besonders Hobbes fand, die ihm in den L^ntersuchungsmethoden
.der Mediziner und Naturforscher seiner Epoche, speziell seines Volkes
entgegentraten, die ihm endlich aus der eigenen Beschäftigung mit
mit den politischen, socialen und religiösen Fragen seiner Cultur-
periode erwuchsen, hat sich die Lehre Lockes entwickelt. Das Ma-
terial zur Entscheidung über die Entwicklung Lockes bei Lord King
und Fox Bourne sowie in den Briefen des Philosophen gegen den
Bischof von Worcester hätten Geil und Sommer benutzen müssen.
Zum Beweise des eben behaupteten Ursprungs der Lockeschen
Lehre sei zunächst auf die Geringschätzung historischer Vorprüfung
vor der sachlichen Entscheidung über die Probleme hingewiesen, die
Locke, wie viele seiner Zeitgenossen, charakterisirt. Es ist dies
vielleicht um so notwendiger, als wir gegenwärtig geneigt sind, den
] j •> l>(»ii 110 II nl man ii,
Wert solclier liislorisch-kritisclion Studien zu iibersoliiitzeii. Locke
schreibt in einem von Lord King (!'■ 171) mitgeteilten Auf-iatz aus
dem Jalire ItiTT /u dem die §§ 20, 24 des späteren Conduct of the
Uiuhrstanihnf/ zu vergleichen sind: „Converse in'fh books isnof, inmy
opitu'on, f/if principal pari of sfudi/ ; there arc tiro ofJiPi's that ought
to be joined in'fli i'f, eacli vhereof contribufes their sliare to our im-
procement in hioirled(/e; and ffiose are viedifatioii and discourse.
Readitiy, wetlimh, i's but collect ine/ f/ie rou(/Ii maten'als, amongst
ivlilch a ffjraf deal miist be laid aside as useless. Meditation is,
as it were, choosing and jitting the matenah, framing the timbers,
sqiiaring and hiijing the stones, and raising the buihling; and discourse
irith a friend . . . is, as it irere, surveipng the structure, walhing
in tlie rooms, and observing the symmetrij and agreemenf of the parfs,
ta/iing notice of the soliditg or defects of the worh, and the best way
to find out and correct irhat is amiss." In diesem Sinne erklärt
er gegen den Bischof von Worcester (Works JV " der grossen Aus-
gabe, lo6): „ The great end to we, in co7iversing with mg oirn or
other men's thoughts in matters of speciüation, is to find truthj
u'ithout being much concerned, tcether my own spinning of it out of
mine, or their spinning of it out of their oim thoughts help me to it.^'.
Denn ,Jhe distinction of invention, or not invention, lies not in thinking
ßrst ornotfirst, but in borrowing or not borrowing your thoughts from
dnother." Von solchem Gesichtspunkt aus will daher aufgefasst sein,
was Locke demselben Gegner vorhält, als dieser durchblicken Hess,
der Philosoph habe seinen Begrift' der Gewissheit Descartes ent-
nommen: „Though J must ahrays achioicledge to that justly admired
gcntlenian (nämlich Descartes) the great Obligation of my jirst de^
lirerance from the unintelligible vay of talking of the j^hilosophy
in use in the schools in time, yet I am so far from entitUng his
imtings to any of the errors or imperfections wJiirlt are to be found i
in niy Jissay, as dericing their original from him, that T must oum\
to your lordship tliey vrre spun barely out of my oion thoughts, I
rtjlecting as weil as I could on my oirn mind, and the ideas I had \
there; and teere not, that I hioir, dericed from auy other ori-'
ginal."
Diese Erklärungen des Philosophen erhallen ihren "Wert aller-
I
1
Jahiesliericlit über die neuere Plii!u»u|iliie liis auf Kaut t'i'ir 1S87. HB
(lings erst diircli die Bestiitigunfr. die ilineii aus den Dokumenten
seiner Entwicklung erwächst, welciie besonders Lord King und Fox
liourne allgemein zugänglich gemacht haben.
Es war wie allbekannt ein Gespräch über einen Gegenstand,
der von dem Thema des Easay weit ablag '), das die ersten h(tsf;i
and indigested thouglifs zu dem späteren Hauptwerk zur Folge hatte.
Jene Gedanken hat kein gefälliger Zufall aufbewahrt. Jedoch eine
Notiz in des Philosophen rommon-plncp booh aus jener Zeit, 1671.
ist erhalten, welche die erste F'assung des Grundgedankens der
späteren Arbeit wiedergibt (bei Lord King T 10). Die Wdrte lassen
keine Spur einer kritischen Reaktion gegen rationalistische Lehr-
meinungen erkennen. Sie dienen vielmehr einem dogmatischen Em-
pirismus zum Ausdruck, der dem Sensualisnms ungleich näher steht
als der spätere Essai/. ,J imaghie'' , heist es dort, „iltaf all
h7iorvledg e is founded on, and nltimateiy derices itself froni sense,
or somefliing anaJogons fo if , and nnay be valJed Sensation . . .
and therefore I think tliat t/tose things tvhich we call sensible quali-
ties, are the simplesf ideas we have, and the prst object of our un-
derstanding.^' Man erkennt tue Nachwirkung der Oxforder Studien,
insbesondere den Einfluss von Hobbes, den schon die zehn Jahre
früheren politischen und moralischen Erörterungen, welche Fox
Bourne I 147 — 165 teils zuerst veröffentlicht, teils aus Lord Kings
Werk neu abgedruckt hat, dem aufmerksamen Leser verraten.
Aus dem gleichen Geist sind die Betrachtungen über den Raum
in den Jahren 1675, 1677. 1678 geschrieben, in deren letzter er
sich mit dem Cartesiauischen Begrift" der ausgedehnten Substanz
kritisch auseinandersetzt (bei Lord King I 123, 175, 179), sowie
die Erörterungen über hioirledge, ifs e.vtent and measure und über
study aus der gleichen Zeit (a. a. 0. II 161f. 171 f.). Selbst da,
wo wir in ihnen wieder das Programm seines späteren Werks ent-
wickelt finden (H' 197), leitet keine Spur auf Descartes hin. Da-
gegen könnten Reflexionen aus dem Jahr 1781 (IP 225 f.) den
') „Offenbar metaphysischer Art" fügt Sommer seinem Bericht bei.
Aber dies „Offenbar" verdeckt einen Fehlschluss. Tyrrel, einer der Teilneh-
mer an jenem Gespräch, berichtet, dasselbe bezug sich auf ,,^//e principles uf
morality and revealed veligion'''' (Fox ßoiirne II 88).
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. IT. 8
114
Benno Kid mann,
Schein erwecken, als üb sie rationalistischen Einwirkungen zu/ai-
schreiben seien. Locke nahm schon damals an: „Tlie ßrst great
str/>y f/u'irf'oir, fo hiowh'df/e, ?s to gcf tlie mind furnhhed icith fnie
idcas, u'hiclt ihc mind being capabJe of hiowing of moral tkingn as
well (IS ß'gurea, I cannot hut think moralitg, as tvell as mathematics,
vapable of demonstration . . . knou-ledge then depende upon right
and trut' idcas; opinion upon histori/ and matter of facti and
heiice it commes to pass, that our hnoa-ledge of general things
arr aetemae veritates, and depend not upon fhe existence or acci-
dents of things, for the triiths of mathematics and momlity are
rertain, vhetJier men make true mathematical ßgures, or suit their
artions to tlie ruJes ^of morcdity or no."' Er behauptet dem ent-
sprechend, es sei unzweifelhaft wahr, dass die Summe der Dreiecks-
winkel gleich zwei Rechten sei, gleichviel ob eine solche Fi-
gur wie ein Dreieck existire oder nicht. Diese Annahmen
decken sich in der Tat nicht ganz mit den entsprechenden Er-
örterungen im vierten Buch des Essag. Und man kann behaupten,
sie haben eine mehr rationalistische Färbung als jene. Aber man \\
mus.s sich in erster Reihe erinnern, dass dieselben sich bei Locke
doch noch eher mit den empiristischen Grundlagen seiner Lehre
vertragen, als die ganz gleichen Annahmen über die Giltigkeit der
relations of ideas bei seinem ungleich konsequenteren Nachfolger
Hüme. Denn dieser behauptet wie hier Locke: ^/Fhat the square^
of the hgpothenuse is equal to the Squares of the two sides, is a pro- ■ |
jiosition, irh/cli e.ipresses a relation between these figures . . . -P'"0-|l
prositions of this kind are discoverabJe by the mere Operation of
thought, irithout dependence on ichat is anyiHiere ea-istent in flu
inrirerse. Thoiigh there never rcere a circle or triangle in naturc,
the fruths, demojuitrated by Eiiclid, would for ever retain their cer-
tainty and evidenre" (bei Green und Grose' vol. TV 21). Ausser-
den; aber dürften wir nach dem Bisherigen au eine Einwirkung
Cartesianischer Lehren erst denken, wenn zwei Wege histori.scheu
Begreifens verschlossen wären, von denen keiner verschlossen werden
kann, die sogar aller Wahrscheinlichkeit nach beide als Erkenntnis-
pfade von Locke gewandelt worden sind. Erstens nämlich haben
wir .'in Hubbes zu denken, der doch ebenfalls lehrt: „^i cogitatione
.Jaliresl)ericl]t über die neuere Philo.sopliie l)is auf Kant für 1887. ]lf)
tiosfi'u seine] ronc/'pen'mus avfpihi^^ iriaiuiuli omnes stnnil aequari
(luobus reetis, et nomen hoc alterwm dederimus triangulo, /labens fres
anqulos aequides duohus rectis: efsi ntilJus angtilus ea'isferef
in mundo, tarnen nomen maueret, et sempiterna erit veritas
propositionis htius, trianguJum est IiafM'ns tres angulos duohus rec-
tis aequalesJ"^ llobbes geht so weit, anzuerkennen, dass die demon-
strative Gewissheit der Geometrie daher stamme, weil wir die Fi-
guren selbst erzeugen. Es hat sogar den Anschein, dass jene ganze
Ausführung Loekes sich direkt auf Hobbes bezieht. Denn Locke sagt
an der oben ausgelassenen Stelle: Pliijsique, politii and /irudence are
not capahle of demonstratio7i, hut a man is prmcijjady Iie/ped in them
hg the Iiistorij of matter of fact, and a sagacity of enquiring into
prohahle causes, and jinding out an analogy in tlieir Operations a)id
eff'ects. Hobbes dagegen hatte behauptet: Certitiido scientlarum oni-
nium aequalis est, alioqui enim scientiae non essent, cum Scire no7i
suscipiat otiagis et minus. Pliysica, Etliioa, Politica. si bene demon-
stratae essent non minus certae essent quam pronuntiata mathema-
tica (Contra Geometras, Anfang^. Denn dass Locke die Ethica bei
llobbes durch prudence ersetzt, ist notwendig, weil er der Ethik
ebenfalls den rationalen Charakter zuerkennt. Doch solche speziellen
Beziehungen bleiben unsicher. Es sei deshalb nur noch erwähnt,
dass Locke hier, trotzdem er von aeternae veritates spricht, doch
nicht den Cartesianischen Sinn des Wortes damit verbindet. Denn
abgesehen von seiner entgegengesetzten Auffassung ihres Ursprungs
würde er nach dem. was er in den angeführten Stellen schon da-
mals hinsichtlich des Raumes lehrte, niemals mit Descartes be-
hauptet haljen: est profecto determinata quaedam trianguH natura,
sice essentia, sice forma immutabilis et aeterna, qae a me non
efficta est, nee a mea mente dependet , ut patet e.v eo quod
possint demonstrari variae proprietates de isto triangulo, nempe
quod ejus anguli sint aequales duohus rectis" (Med. V).
Gewiss jedoch ist Loekes Lehre von dem rationalen Wesen
der Mathematik nicht nur auf Hobbes verwandte Lehre zurückzu-
führen. Fliesst doch für ihn derselbe Quell, aus dem Descartes wie
auch der Gegner desselben, Hobbes, trotz der Yerschiedenheit ihrer
Ausgangspunkte ihre ähnliche Auffassung und Wertschätzung der
8*
11(5
Benno Knlmaiin,
uiathcmatischen Methode geschöpft haben, die geometrisch-mechani-
sche Wissenscliaft, die seit dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts
Hie Dürre der aristotelisch -scholastischen Naturkunde erstaunlich
fruchtbar zu nuichen begonnen hatte. Und es bedarf keines Be-
weises, dass er wie jene aus diesem Quell, und zwar früh und an-
dauernd sich gestärkt hat.
Eine Abhiinsigkeit von Descartes würde also auch an dieser
Stelle unangebracht sein.
AVas sich sonst an Beziehungen auf Descartes und seine Schüler
bei Locke findet, lässt kein Beweismaterial für die vorliegende
Frage gewinnen. So die Beziehung auf Descartes als Mathematiker
bei Lord King 1223, ferner die L'^ebersetzung von Nicoles Essais
de morale 1672. die 1828 als ,.Discourses, iranshited from Nicoles
Essays bij John Locke" von Th. Hancock verölfentlicht worden
sind. So auch die wiederholte Ablehnung sich mit dem System des
französischen Philosophen auseinanderzusetzen, das der Bischof von
Worcester überflüssiger Weise in seinen Streit mit Locke hinein-
gezogen hatte: W. IV 237, 348, 362, 418. Ferner die kritischen
Bemerkungen über einzelne Lehren Descartes, wie gegen seine
mechanistische Auflassung der Tierseelen (Lord King 1 238) oder
seine Lichthyporhese (W. IV 416). Endlich die Aufsätze über Male-
branches Hypothese des Schauens der Dinge in Gott, sowol die um
1694 ausgearbeitete, ursprünglich für die zweite Auflage des Essay be-
stimmte Examination als auch die Remarks upon sovie of Mr. Norris' .
books, die Mr. Maizeaux und Collins 1719 veröffentlicht haben.
Ebenso wenig spricht es für eine Anerkennung des Geistes
der fartesianischen Metaphysik, wenn Locke gelegentlich dem oben
erwähnten Remonstranten van Limborch schreibt: Cartesianonim
quam in ejmfohi lua reperio loquendi formuJam, nullatenus capio.
Quid enim sibi velit cogitatio inßnifa, plane mefugit^ (W. X 81).
Schwerlich vielmehr wiirde irre gehen, wer behaupten wollte, dass
das Urteil des Philosophen über John Norris" Methode als ein re-
präsentativer Ausdruck seiner Meinung über den Cartesianismus
überhaupt aufgefasst werden könne. Ich meine das Urteil, das er
1704 an Collins schreibt: Men of Mr. Norris's way seem to me
to decree, rathrr fliun fo argue. They, against all evidence of sense
Jahresbeiiiiit über die neiiore Philosophie bis auf Kant für 1887. 117
itncl reason, decvee brutes to he machines, onlif hecause theiv Ji'jpo-
thesis requires it; and then irifh a Uhe mithority suppose, as you
rirfliUy observe, whaf thei/ should prove: viz. that whatsoever thinks,
/.s iminaterial" (W. X 283).
Als ein ähnliches Symptom <l;ii'f es endlich vielleicht an-
gesehen werden, dass Descartes' Name bei einer Gelegenheit fehlt,
wo wir erwarten dürften ihn zu lin(k'n, falls jene erste Befreiung
seines Geistes von den Fesseln der scholastischen Methode, die
Locke Dcscartes verdankt, ah einer dauernden Anerkennung der
Methuehi und der Ergebnisse desselben geführt hätte. Locke er-
widert dem Bischof von Worcester, der sich auf den Gegensatz der
Methode Lockes zu dem Verfahren der griechischen Philosophen
berufen hatte: „ßut supposinc/ they (w. the old pJiüo&eplwrs) necer
thotuihf of it (sc. Locke's demonsfration), must we put out our eyes,
and not see wliatever they ocerlooked? Are all the discoveries made
by Galileo, my Lord Bacon, Mr. Boyle and Mr. Newton etc. to be
rejected as false, because thetj teached us irhat the old philosophers
never thoiight of . . ?'' Man sieht auch hier, welcher Boden es war,
aus dem die Wurzeln seines Geistes Nahrung gezogen haben.
Aber nicht bloss die Entwicklung der Philosophie Lockes,
sondern auch die Stellung, welche die Kritik der angeborenen
Ideen in dem Bestände seiner späteren Theorien einnimmt, legt
für die untergeordnete Bedeutung dieser Kritik Zeugniss ab. Es
ist vielleicht unziemlich, aber schwerlich ganz unrichtig zu be-
haupten, sie habe ihre traditionelle Bedeutung in den Augen
mancher späteren Philosophen und vieler Historiker zum Teil dem
Umstände zu danken, dass sie die ersten Bogen des Essay ein-
nimmt, wie auch die unbillige Vernachlässigung des principiell so
bedeutsamen vierten Buches in gleichem Masse auf seine äussere
Stellung zurückzuführen sein möchte. Denn über die geringe sach-
liche Bedeutung der Lehre belehrt fürs erste der Abstract of the
Essay, den Leclerc 1686 in französischer Uebersetzung veröffent-
licht hat. Locke beginnt denselben (Lord King II 237) mit den
Worten: In the thouc/hts I have had coricerning the understajidim:/,
I have endeavoured to prove that the mind is at first rasa tabida.
But that heing only to remove the prejudice that lies in some
\\<
Benno E r li m a n n ,
mnt's nn'inls, I fhink if brsf, in ih/'s sliorf cieir I desiyn here of my
iirim-i/i/is, fo jkiss In/ all llutf pri' li )ii i n<i nj debate ichich makes
f/ir fiist booh, since 1 prdciul fo s/ioir iit irhat folloirs fhe original
j'rotn irJwnce, and the n-ui/s ir/irrc/)'/, ice receioe all fhe ideas our
UndrrstondiiK/s air /•ii/j'/oi/cd (dxmf in thinking. Sudan ii hat Fox
Huiiriio in seinem Life of J. Locke wulir-scheinlicli /u machen ge-
sucht, «hiss «las ganze erste Ikich zuletxt geschrieben sei, eine An-
nahme, die durch seine Anfilhrungen in (Um- Tat nahe gelegt wird.
Hestiitigt sie sich, so dient sie der cl)en angeluhrten Aeusserung
(h's l'hihisophen zu Icslcr Stütze. Sie erfordert allerdings eine
genauere Prüfung, die, wenn sie auch den anderen von Locke ge-
legentlich hiniieworfenen Winken über die Geschichte seines Essay
nachgeht, noch J)ankenswerteres über den Ursprung der Lockeschen |
Lehren gewinnen kann. Nutwendig würde für eine solche Unter-
suclning allerdings die entsagungsvolle philulogische Vorarbeit sein,
das Textverhiiltnis der verschiedenen von Locke selbst veranstalte-
ten Ausgaben und der von ihm veranlassten Uebersetzüngen fest-,
zustellen. Keine der späteren Ausgaben, die ich kenne, giebt
darüber Auskunft. Und doch beweist Lockes Briefwechsel mit
Molyneux (W. IX 2S1I— 472), wie zahlreich die Veriinderungen sind,
wie ganze principiell bedeutsame Abschnitte, so. um nur einen zu
nennen, das Kapitel über Jdenfifij and Diven^iig nicht tiem ur-
sprünglichen Kontext angehörten.
Die vorstehenden Erörterungen genügen vielleicht die Ueber-
zeugung zu erwecken, dass die Abhängigkeit Lockes von Descartes
durch beide Interpreten weil überschätzt worden ist, dass speziell
die bestechende ^leinung. Locke stehe hinsichtlich des Ursprungs
rlcr Ideen in l)ewusstcr Abhängigkeit zu dem französischen Philo-
sophen, zu dunsten der traditionellen Auffassnng wieder aufzu-
geben sein wird.
Sie geniigen jedoch bei weitem nicht, die Gesamtheit der
Hr/,i(«hungen liOckes zu Descartes khir zu legen.
Denn fürs erste ist von den Lehren, durch dir sich bocke in
licwiisstcn Gegensatz zu Descartes setzt, hier nur die eine genauer
lu'handelt worden. Es fehlt Lockes Kritik des Substanzbegritfs, der
liegrilVc der denkenden und der körperlichen Substanz sowie der
Jahresbericht über die neuere Philosophie bis auf Kant für 1887. 119
(Jottesidee, der metaphysischen Grundbegriffe also des Cartesiani-
111 US. Ebenso ist, um auch ein Glied des positiven Lehrbestandes
anzuführen, die Hypothese Lockes ausser Acht gelassen worden,
ilass es nicht widersprechend sei, der materiellen Substanz die
l'ahif'keit zu denken beizulegen. J)as aber ist eine die Grund-
lai^en des Cartesianismus aufhebende Annahme, welche von den
neueren Darstellern der Lehre Lockes zu sehr in den Hintergrund
gedrängt wird, obschon sie für Locke selbst wie seine Briefe und
Streitschriften beweisen, bedeutsamer ist, als die vursichtigen An-
deutungen im Essay erkennen lassen, obgleich sie ferner für die
Entwicklung des Materialismus im vorigen Jahrhundert einen da-
mals oft anerkannten Stützpunkt abgegeben hat.
Auch in Bezug auf diese JJehren ist es jedoch irrig, so aus-
schliesslich an Descartes zu denken, wie der Regel nach geschehen
ist. Es zeigt sich vielmehr auch hier, dass Lockes Essay im gan-
zen nicht nur einer Reaktion gegen Descartes und seine engere und
weitere Schule, sondern auch insbesondere gegen die Nachscholastik
zugeschrieben werden müsse. Lockes Hauptwerk gibt nicht eine
Kritik, welche sowol die speciellen Lehren der einen und der
andern dieser Schulen bekämpft, sondern einen Li begriff psycho-
logisch fundirter empiristischen Lehrmeinungen, welche ihre kriti-
schen Spitzen gegen die erkenntnistheoretisch ungeläuterten, beiden
gemeinsamen metaphysischen Voraussetzungen kehren. Die Beweis-
gründe gegen die ausschliessliche Beziehung jener Kritik, speciell
des Substanzbegriffs auf Descartes, stecken in den Streitschriften
des Philosophen gegen den Bischof von Worcester. Mr. Stilling-
fleet hatte Lockes Definition des Substanzbegrifts bemängelt. Locke
aber beruft sich dagegen nicht etwa auf Descartes, obgleich ihm
dieser schon durch häufige Berufungen seines Gegners auf die
Lehren desselben nahe gelegt war, sondern er führt aus: „He that
shoidd shoiv me a more cleai and distinct idea of substance (als
die im Essay angegebenen), would do nie a kindness I should thank
him for. But this is the best I can liitherto find, either in my
own thouglits, or — in the books of Logicians: for tlieir account
or idea of it is, that it is „Ens^ or ,.res per se subsistens et snb-
stans accidentibus-' , which in efect is no more, but that substance
l-2<)
Ren HCl Kr il mann
is (I fx'iiitf nr ihinij. Als ..Loiiicians of note in the schooh^^ werden
sodann ans dorn „irltole trihe nf I.ot/icians" jetzt unbillig ver-
schollene, alter Inr ihre Zeit wie das Beispiel Spinozas zeigt, ein-
lliissreiolie Männer wie Hiii-ger.sdicius und Sanderson aufgeführt.
Lockes Kritik des .Substanzbeifritfs also trill't zwar Descartes, sofern
er den seit Aristoteles überlieferten Öubstanzbegrilf ohne Bedenken
in seine voraussetzungslose Forschung hineingenomnien hat, sie ist
aber nieht etwa ausschliesslich, nicht einmal vorzugsweise gegen
ihn mM-ichtet, sondern vielmehr gegen die scholastische Tradition.
(ianz unberücksichtigt geblieben endlich sind in der vorliegen-
den l]r<irterung die Einwirkungen Descartes" auf Locke, dnrch die
sich der letztere als ein Fortbildncr der Probleme zeigt, die bei
jenem vorliegen. Sie mögen zum Schluss nur angedeutet werden.
\'(»r aijcni kommt hier jener frühe, v<»n Locke selbst aner-
kannte Eiidluss in Betracht, durch den der Philosoph ^froin fhe
tniintelligiblc iraij of tulking of the philosophi/ in use m the schools
in tinie'' befreit worden war. Allerdings war der letztere, dem er
während seiner Studienzeit in Oxfurd ausgesetzt war, niemals tief
eingedi'ungeu. Er hatte ihm vielmehr nur den Cdauben gegeben,
„that his no fjreater j>rof/ress in knoH-[e<l<je proceeded fvom his not
beimj ßtted or atiHicitated to he a sclioha"' (Lady ]\LTsham bei Fo.^
Bourne I 47. danach Ledere in seinem Ehyjc). Was er daher
durch Descartes damals gewonnen, war ,,the relish nf philosophical
thinr/H, öecuuse . . . that ichat he s(u'(l /cr^s cerij inteili(/H>le froni
irht'nce he was encouraged to' think thaf his not hacin<j understood
others h<id poaaiblij not proceeded front a defect in his lüiderstanding"
(A. a. (). (U. aus gleicher Quelle, danach bei Leclerc in der Biblioth.
chnis. Xl o4'l). Was er demnach Descartes damals zu danken
hatte, bestellt erstens in dem Interesse für Philosophie und zwei-
tens in der Anerkennung der Forschungsmethode desselben, sofern
diese von dem scholastischen Verfahren abwich, des Geistes also
selbständiger, auf den Stand des damaligen Einzelwissens gestützter
rntersuchungsweise des Wirklichen. Ausdrücklich wird uns aus
seinem .Munde bezeugt, da.ss er .schon damals ..«v/vy (i/'fen difeird
in opininn front Descartes". Durch die Schule des Iranzösischeu
I'hilosophen also ist Locke niemals hindurch gegangen. Was ihn
Jahie^berichi über die neuere Philosophie bis auf Kaut für 1887. 121
damals vuii Descartes trennte, wissen wir nicht. Vermuten aber
(lürlon wir nach dem Stand seiner Üeberzeugungen um 1660 — 1670,
(hiss schon in jenen Jahren der Geist des Empirismus seine Ge-
danken beherrschte.
Die speziellen Abhängigkeitsbeziehungen seiner späteren Lehre
vun dem Systeme Descartes' sind demnach vor allem in den Sätzen
zu suchen, in denen er auf Grund der Voraussetzungen und der
Methode des Empirismus über Descartes" traditionelle Bestimmung
der Substanz und der Gottheit, und filier die jenem eigenen Fas-
sungen d<'s Ich und des Körpers hinausgeführt wird. In jedem
solchen bestimmt zugespitzten und eingehend ausgeführten Wider-
spruch liegt ja ebenfalls eine nicht geringe Annerkennung. Mög-
lich ist es lerner, dass der Begriff der rcf/ection, soweit Locke sich
durch ihn von Baco und llobbes trennt, auf den Eintluss der Car-
tesianischen Lehre zurückgeführt werden darf. Angelegt ist der-
selbe in den oben citirten ^Vorten „o/- wmething analogoiis to .sen-
satio/i'' schon 1671. Aber der Wege, auf denen dieser Keim in
seine Seele gelegt werden konnte, sind viele, und neben alT den
verschiedenen historischen Vermittlungsweisen von Piatuns Ideen-
lehre an Ideibt die sachliche, das qtinning of it out of hin oini
thouf/hts, so dass es willkürliche Konstruction ist, sie gar zu einem
bestimmten Lehrbestandteile des Cartesianismus in Beziehung zu
setzen. Und es bleibt zu bedenken, dass Locke zu einer rechten
AVürdigung der Konsequenzen seiner Theorie der reßection nirgends
gelangt.
Der Zweck dieser Zeilen ist erfüllt, wenn sie zu erneuter
Untersuchung ihres Gegenstandes anregen.
IV.
Die Gescliiclite der Philosophie iu Holland
in den letzten zelin Jahren.
Von
Prof. C B. Spi'liyt in Amsterdam.
Die Arbeiten auf dem Gebiete der Geschichte der Philosophie
waren in den letzten Jahrzehnten in Holland nicht so zahlreich,
wie man mit Riick?>icht auf die Traditionen unseres Volkes erwar-
ten und für seine Zukunft linffen möchte. In den zwanziger und
dreissigor Jahren dieses Jahriuuidcrts, als van Heusde, der Plato-
niker. und Schroeder, der zur Philosophie des common-sense be-
kehrte Kantianer, in Utrecht docirten, war diese Universität eine
wahre Pllegestätte ornstlichor Studien in der Griechischen Philo-
sophie und breitete sie iiiren Kiidluss weit iiber die Grenzen des
engeren Kreises ihrer Studenten aus. Karsten "s Ausgabe von
Xenuphanes. Parmenidcs und Empedodes, die Arbeiten von Bak-
huyzen van den P>rink Vuriae Lectiones ex liistoria philompldae
<inti(jK(U', Groen van Piinstcrer's Prosopof/raphia Piatonis und
viele andere tüchtige Schriften datireu aus dieser Periode. Noch
erfreulicher war das allgemeine Interesse, mit welchem solche,
*
^^ erke emjifangen wurden. „Unsere Studenten" — sagt vaai
lleusde mit Hecht — „ohne im strengen Sinne des Wurtes So-
cratici oder Platouici zu werden, unterlassen doch uiclit die Prin-
cipien dieser Philosophie in iiirem Leben und in der Praxis, zu
welcher ihre speciellen Studien sie vorbereitet haben, anzuwenden.
Wie manchen giltt es unter den Tiieologcn und Juristen, ja selbst
unter den Medicineru. die i( h hier und anderswo seit zwanzig.
DJ
Die Gesch. der Philosophie in Holland in den letzten zehn Jahren. 123
(Ircissig Jahren gekannt habe, der sich nuch öfters mit der Lectiire
der Platonischen Werke und der Arbeiten, welche hier und im
Auslande über Plato herauskommen, auch mit meinen eigenen
Schriften über diesen Gegenstand beschäftigt!"')
Jetzt haben sich die Zustände gänzlich geändert, und es haben
thoils die Naturwissenschaften, theils die philologisch - kritischen
Untersuchungen die Mehrzahl der besseren Köpfe unserer Lands-
leute in Anspruch genommen. Die Philusophie überhaupt, und
besonders die Geschichte der Philosophie wurde vernachlässigt.
Zum Theil ist diese Aenderung der wissenschaftlichen Hichtnng
unseres \'olkes damit zu erklären, dass ausgezeichnete Forscher,
wie Mulder, der Chemiker und Physiologe, Kaiser, der Astronom,
Co bot, der Philologe das Streben der Jugend in andere Bahnen
lenkten. Waren doch diese Männer nicht gerade begeisterte Ver-
ehrer der Philosophie. Sie entsprachen mehr oder weniger dem
Bilde, das Land von dem eigenthümlichen Verhalten des Nieder-
länders zur Philusophie oder vielmehr gegen die Philosophie ent-
worfen hat.
„Die Philosophie hat in den Niederlanden wenig Beifall ge-
funden. Man fand sie unfruchtbar, kalt wie Eis und vor allem
neologisoh; drei ernste Beschwerden für ein Volk, das einen ehr-
lichen Gewinn, einen häuslichen Heerd und feste Grmidsätze als die
wichtigsten Lebensinteressen hochhält. "■ ')
Andere Gründe für die relative Verwahrlosung der Philusuphie
wird der denkende Leser nicht so sehr in als zwischen den Zei-
len des klar und geistreich geschriebenen Büchleins liutlen, in
welchem G. von Antal eine Skizze der Holländischen Philo.>ophie
im letzten Jahrhundert giebt. ■^) Der Verfasser, ein früherer Student
der Lotrechter Universität, aus Ungarn gebürtig, und jetzt wieder
in seinem Vaterlande leliend, besitzt eine für einen Ausländer
wahrhaft staunenswerthe Beleseuheit in der Holländischen Litteratur.
') Biitven over lief beoefenen der wysbegterie, Utrecht 1837, Seite 26.
-) In der Zeitschrift de Oids von 1864 in einem Artikel ^Dienende Philo-
sophie", eine Kritik der Opzoomersrhen Philosophie.
'') G. von Antal. IJie HoUändishe Philosophie im . neunzehnten Jahr-
hundert. Eine Studie. Utrecht 1888 (112 Seiten).
124 C. B. Spruyt,
Mit einem sf^i'f'iften Urtheil lilier phiKtsophische Fragen, verbindet
er so viel Anerkennung, dass er mit Iieil)nitz sagen könnte: ,,Ich
billige last alles, was ich lese . . . kleine Gemiithsstimmung ist
von Natur so, dass ich in den Schriften Anderer lieber den
eigenen Nutzen, als die fremden Mängel aufsuche."
^'u^ Antal längt seine Arbeit an mit der Erzählung des
vieljährigen und heftigen Streites zwischen klassischer Philologie
und Kantianismus, der im ersten Dezennium dieses Jahrhunderts in
Holland geführt wurde, und liei welchem der redliche Paulus van
Hemert sich den schweren und derben \Vaffen Wyttenbach's
iiiclil vollkommen gewachsen zeigte. Die ernsteren Elemente dieses
Kampfes kann der .deutsche Leser in PrantFs einschlägiger Ab-
handlung linden:^) das komische Beiwerk, zur Characteristik der
Zeit nicht ohne ^^'ertll. wird er w(thl zum ersten Male bei von
Antal lesen können. Fügen wir zur Characteristik des gehässigen
Wvttenbach noch hinzu, dass er, der Fremde, der in diesem
Lande Gastfreiheit genoss, sich nicht schämte, während der fran-
zösischen Gewaltherrschaft (1810 — 1813) seinen wissenschaftlichen
Gegner -heimlich bei den Behörden zu denunciren. ') j
Die wenigen Seiten, die virn Antal unseren , .verstorbenen und
verschollenen'" common- sense Philosophen und Eklektikern widmet,
haben einen spöttischen Anstrich. Wohl nicht ganz mit Recht,
denn die Mäuiirr. die der Autor erwähnt, standen nicht so weit
hinter ihren Schottischen Geistesverwandten, einem Beattie und k
anderen zurück. Freilich, sie hatten Hume nicht begriften; aber
war das nicht damals das allgemeine Loos der Sterblichen? \li
Schrocder und van Heusde, deren Werth von Antal so ge-
recht zu schätzen weiss, befanden sich den Problemen Hume's
und Kant's gegenüber in demselben Stande der Unschuld wie
Ilennert und Genossen. Dass Jemand im Ernste fragen könnte:
..Auf welch(Mn Grunde beruht die Beziehung desjenigen, was man in
*) I»aiiiel Wyttenltach als Gegner Kaut^. Sitzuugslier. der ]). p. uud h.
Classe der Münchener Akad. 1877.
•■) I». W y I f en Itachi i E/ns/o/arum seleclnrum fasc. jirimus, herausgegeben
\'iii Mahne, W y t ten bach's Biograph Gent, 1829, pag. 101.
Die Gesch. der Philosophie in Holland in den letzten zehn Jahren. 125
uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand'"^) — das war ihnen
eine unverständliche Subtilität. Von diesem Gesichtspunkte aus ist
ihre tiefe Antipathie gegen die deutsche Philosophie zu verstehen;
damit begreift man auch, wie ihre überaus segensreiche Wirksam-
keit mehr der allgemeinen Cultur der Nation, als dem Studium der
Philosophie zu Gute kam. I)ai)ei bedenke man. dass die Systeme
von Kant, Fichte, Schelling und Hegel ihnen an den Grundsätzen
der Christlichen Religion zu rütteln schienen. ..AVir wollen — sagt
van Heusde — beim Philosophiren Einfachheit, guten, gesunden
Verstand und dabei vor Allem gute Principien, die jedenfalls nicht
gegen unsere Theologie streiten." ')
In der Befreiung der Philosophie aus der Knechtschaft, in
welcher sie Theologie und Philologie gefangen hielten, sieht von
Antal das grosse Verdienst von C. W. Opzoomer, dessen System
er im Umriss darstellt. Der Einfluss dieses universellen und frucht-
baren Gelehrten auf die Generation, die in 1845 und 1846 seine
ersten Werke wie ein Phänomen anstaunte , ist jedenfalls ausser-
ordentlich tief gewesen. Doch ist es fraglich, ob seine Wirkung,
Alles zusammen genommen, dem ernsten Studium der Philosophie
förderlich war. Aufgetreten als begeisteter Jünger der Krause'schen
Lehre, sodann bald bekehrt zu einer Philosophie, die dem Comte'
sehen Positivismus und dem Stuart MilPschen Empirismus ihre
wesentlichen Züge abborgte, stand Opzoomer nicht hinter Schroe-
der und van Heusde zurück in der dringenden Warnung vor
„den Dornen der Speculation", in denen die anerkannt grossen
Meister der Philosophie, ein Descartes, Spinoza, Hegel, stecken ge-
blieben wären. In seiner Logik, die erst unter dem Titel „die Me-
thode der Wissenschaft", später in geänderter Form mit wesentlich
ungeändertem Inhalt unter dem Namen „das Wesen der Erkeunt-
uiss" — ein Titel der für eine empiristisehe Logik oder Methodo-
logie nicht recht passend ist — erschien, giebt er eine Beschreibung
der Methode der Naturwissenschaft und versucht zu beweisen,
dass diese Methode auch in den „Geisteswissenschaften" die einzig
«) Kaut an Marcus Heze. 4. Brief. Hartenstein YIIL 689.
') van Heusde pag. 41.
12()
C. B. Spniyt.
brauchbare sei. Natürlich kann eine ilorartige Tendenz den Leser
nicht anlocken, sich in dem schwer ZAigänglichen Gedankenbau
der t'rossen Denker heimisch zai machen. Denn diese haben nach
Opzoomer fast immer eine fehlerhafte Methode gebraucht, und fan-
den nur (Umn und wann zufälliger Weise eine Wahrheit, wenn
sie, ohne es zu bemerken, „bei der Erfahrung um die Ecke geguckt
hatten". Die Befreiung der Philosophie, welche von Antal Opzoomer
zuschreibt, ist dann auch eine sehr relative. Freilich ist die Phi-
losophie bei ihm nicht eine Dienerin der Philologie, noch eine
unciUa iheoJogiae; sondern sie steht im Dienste der Praxis und
soll sich, dem AVorte Bacon's gemäss: Nisi utile est quod facias,
rana est (floria vestra aller Metaphysik und Speculation enthalten.
Der Streit zwischen Idealisten und Realisten wird z. B. mit der
Bemerkung abgefertigt, dass die Kämpfer eine Antwort auf eine
Frage suchen, „die keine Antwort zulässt".
Bei solcher Sachlage kann es uns nicht wundern, dass unter den
hunderten von Schülern, die Opzoomer's treffliche Vorlesungen mit
jugendlicher Begeisterung folgten, sehr wenige für die Philosophie
ein bleibendes Interesse gewonnen haben und dass O.'s grosse Ta-?J
lente nicht im Stande waren, der Philosophie in Holland die Ehre
zu erhalten, die ihr gebührt. Das Bild der Holländischen Philo-
sophie seit den fünfziger Jahren ist wahrlich nicht so erfreulich,
wie der wohlwollende von Antal am Schlüsse seiner Abhandlung
sagt. Ein trauriges Zeugniss ihres heruntergekommeneu Zu.staudes
ist das Unterrichtsgesetz von 1876, welches das obligatorische,
Studium der Philosophie für fast alle Studenten aufhob, und statt
dessen ein Doctorat in der ..speculativen Philosophie" einführte,
um welches sich natürlich kein Mensch bewirbt. Solcher Gesetz-
gebung gebührt die scharfe Beurtheilung Land"s in Mind, 1878:
..The (special Doctor of Philosophy) will be diflerent froifl
anything yet known in history. A young man of eighteen , fresh
from Ins gymnasium, is to be instructed in Logic, Psychology and
the history of Greek and Roman Philosophy, and then to take the
degree of candidate. By another examination. concerning Mediaeval
and Modern Systems, and Metaphysics, „in its füll extent and all
its applicatlons", togetber with a dissertation to be argued on for
Die Gesell, der Philcsophie in Holland in den letzten zehn Jahren. 127
an hour, lie may coiiquer the title of a Doctor and afterwards —
lepent of his neglected education." **)
In der That kommt diese formelle Anerkennung der pliilo-
-npliischeu Studien so ziemlich mit ihrer Aufhebung überein und
man kann davon sagen:
..Philosophy at large can dispense with Universities, but lUii-
versities. tliat try to dispense with Philosophy will be found in
the long run to tamper with the mainspring of their own Con-
stitution."
Trotz dieser ungünstigen Verhältnisse ist die Geschichte der
Philosophie im letzten Jahrzehnt natürlich nicht ganz unbearbeitet
geblieben. Zur Griechischen Religionsphilosophie gab Hoekstra
einen Beitragt), in welchem er zu zeigen sucht, dass die bekannte
Lehre des «f>6voc: twv f^söiv i-i r?] TÖiv -/prjSTtov sutuyt'o:, die Herodot
zum schärfsten Ausdruck bringt, eine jüngere Erfindung sei, ,,ein
Symptom des irreligiösen Aberglaubens, das sich immer zu offen-
baren scheint, so bald der Hauch eines gottlosen Skepticismus über
die alten Olijckte der Verehrung geht". „AVäre" — sagt Hoekstra
weiter — „Herodot's Theorie vom Neide der Götter schon in der
Periode der mehr naiven Frömmigkeit bei den Griechen herrschend
gewesen" — wie z. B. Nägelsbach in der Nachhomerischen Theo-
logie zu meinen scheint — .,so hätten wir hier auf dem Gebiete
der Phänomenologie des religiösen Bewusstseins eine Erscheinung
vor uns, die nicht allein einzig, sondern auch in psychologisch-
religiöser Hinsicht räthselhaft, ja vielleicht ganz unbegreiflich wäre."
Hoekstra glaubt, dass die Stellen bei Homer, Hesiod, den Gno-
mikern, Aeschylus, Sophokles, aus welchen mau bei oberflächlicher
Durchsicht die Vorstellung vom csöovoc täv f>£(ov herauslesen kann,
eine andere Deutung erfordern. Seine Behandlung der vielen Dich-
terstellen eingehend zu besprechen ist hier nicht möglich. Nur
möchte ich bemerken, dass Hoekstra sich vielleicht die Religion
der alten Griechen zu erhaben gedacht hat, wenn er meint, dass
'*) Land Philosophy in the Dutch universities. Mind Vol. III, pag'. 104.
^) Hoekstra l)e wangunst der Goden op het geluk, ook der reclitvaardigen.
Verslagen en Mededeelingen der K. Akademie vau Wetenschappen. 1883
(89 Seiten).
^og C. B. Spriiyt,
fliese sich über <leii j^Unbegriff des Gütteriieides"'") ebensosehr er-
eifert liätteo, wie der Christ des neunzehnten Jahrhunderts. Im
•/X£-T£iv. }iot/£Uciv y.7t dUr^lw: a-aTS-kiv fanden die Homerischen
(iötter nichts Unanständiges, und doch sind diese Handlungen
d})öu.i3-:iot io-rx. wie Xenophanes sagt. Wohl meint Hoekstra, dass
„die Götter, zu welchen die Frommen in der Ilias ihre Gebete richten,
in ihrer Vorstellung immer reine und heilige Wesen sind". ..Denn
das Göttliche ist bei Homer das ideelle, das höchste, das schönste,
u. s. w.'* Aber man könnte fragen, ob diese Anhäufung von ehren-
den epitheta im Gebete nicht etwa ihren Grund hat in dem selbst-
süchtigen Streben des Betenden, der seinen Gott gnädig stimmen
will und dabei in der Schmeichelei ein Mittel findet, das so be-
quem als billig i.st. Thun wir nicht besser, die alt-griechischen
Vorstellungen über die Götter aus den Mythen abzuleiten, an deren
Ungeheuerlichkeiten der alte Grieche keinen Anstoss nahm, als mit
Hoekstra die beim Anreden der Götter reichlich gespendeten Lobes-
erhebungen ganz ernst zu nehmen? ., fli
Auch K. Kuiper, welcher die Philosophie und Religion im
Drama von Euripides in einem ausführlichen Werke") bespricht,
und in der Person des Tragikers ein Gemälde des Kampfes ent-
wirft, ..der am Ende des fünften Jahrhunderts vor Christus die
Harmonie des geistigen Lebens der Athener zu zerstören anfing,
des Kampfes zwischen neuer AVahrheit und altem Glauben", schlägt
diesen alten Glauben ziemlich hoch an. In den Vorstellungen über
die Gottheit bei Homer liegen nach Kuiper die Begritt'e der All-
macht, der Allwissenheit, der Allgegenwart, freilich nur m nuce.
Denn vielerlei Umstände, z. B. anthropomorphische Anschauungen,
verhindern die volle Anerkennung dieser göttlichen Attribute. Noch
mehr ist der Begriff der sittlichen ^'ollkommenheit als Attribut der
(lottheit rudimentär geblieben: aber doch findet der Autor eine I
Ahnung davon in der Bezeichnung der Götter als otu-r^osc sacov — :
eine Ansicht, die wohl nicht viel Beifall finden wird. Dieser Glaube |
'"; ,liet waiiliegrip van de wangunst der GdQen", e. d. S. 20.
") I>r. K. Kuiper. Wi/sbegeerte en yodsdienst in het drnma van Euripides,
Uaarleui 1888 (436 Seiten).
Die Gesch. der Philosophie in Holland in den letzten zehn Jahren. 129
tihält sich nach K. nahezu unverändevt bis Pindar. T5ei diesem
Dichter vernehmen wir „neue Töne", die Lehre der Belohnungen
und Strafen nach dem Tode und des göttlichen Ursprungs der
Seele.
Die Herkunft dieser neuen Elemente der Religion wird aus der
Philosophie abgeleitet. Der Autor giebt eine weitläufige Kritik der
Ansicht Zellers. nach welcher der Unsterblichkeitsglaube — oder
vielmehr die neue Form, die der uralte Unsterblichkeitsghiube im
fünften Jahrhundert annahm — aus der Theologie in die Philoso-
phie aufgenommen sei. Bei Cicero TuscuLl, 16, ?>8 soll die Phrase
,^quod lifteris exstef beweisen, dass Cicero seinen Bericht „Phere-
ci/des Syrius primus di.vit animos esse Jtomhium sempifenios" Pliere-
cydes selbst oder w^enigstens „dem Zeugniss eines alten Autors"
entnommen hat. Ist Zeller im Rechte, dass im Zeitalter Pindars die
pythagoreische Lehre noch nicht in Thebe bekannt war, warum
sollte Pindar die Lehre der Unsterblichkeit nicht aus Plierecy-
des geschöpft haben können? Wenn llerodot sagt, dass die Lehre
der Metempsychose aegyptisch ist und dass Griechen sie von den
Aegyptern entlehnt haben, kann er unter den Leuten, imv i'((o
£iO(b; xa ouvotj,7-a ou ypa'fuj, auch wohl Pherecydes und Pythagoras
meinen.
Ich verweilte etwas länger bei dieser Auseinandersetzung, weil
sie die schwachen Seiten der mit Liebe geschriebenen und an-
sprechenden Abhandlung Kuiper's in ein helles Licht stellt. Er
geht von der Voraussetzung aus, dass die Fragen von Gott und Un-
sterblichkeit, wie bei Kant so auch im Denken der vorsokratischeu
Philosophen den ersten Rang behaupteten. Aber diese Männer
waren, wie Aristoteles sagt, cpuaixoi, Naturforscher. Zwar bringen
die Consequenzen ihrer physischen Theorieen sie bei Gelegenheit
mit den landläufigen Vorstellungen über die Götter und die Men-
Scheuseelen in Streit. Aber diese Themata werden nur sehr ober-
flächlich behandelt, und consequeutes Denken darüber ist vor
Plato gar nicht zu finden. Darum kann man nicht mit Kuiper
die Unsterblichkeitslehre, die in gewissem Sinne schon bei
Homer vorkommt, in der vorsokratischeu Philosophie ihren Ur-
sprung nehmen lassen, wie dies schon Bakhuyzen van den Brink in
Archiv f. Geschichte d. Philosophip. 11.
9
130 f- P- •'^P'-'iyt,
seinen Variup Lediones in musterhafter Weise gezeigt hat. Wenn
Kuiper aus llerodot's Bericht über das döavaTi'Cätv der Geten ablei-
ten will, dass die Unsterblichkeitslehre Herodot sehr originell vor-
kam, so übersieht er, dass otöavot-i'Csiv hier „unsterblich machen"
bedeutet. Die Eigenthiimlichkeit der Geten bestand gewiss nicht
in ihrem Glauben an Unsterblichkeit, aber in ihrer Gewohnheit,
jedes fünfte Jahr einen Mann zum Unsterblichen zu machen, d.
h. ihn zu tüdton und dabei mit einer Mission an Zamolxis zu be-
ehren. Dass Herodot mit den Griechen. t<ov syoj 3ioa); -zd ouvo[ji.7.Ta
oü 7pa'f(ü, den längst verstorbenen Pherecydes oder Pythagoras ge-
raeint haben sollte, ist nicht anzunehmen, da Herodot keinen Grund
hatte, diese Namen zu verschweigen. Aus dem Umstände, dass
Herodot noch zweimal dieselbe Phrase anw'endet, und in beiden
Fällen gelegentlich der ^littheilung nicht sehr ehrenvoller Thaten
noch Lebender, wird es sehr wahrscheinlich, dass der Grieche, dessen
Namen er H, 123 nicht nennen wnll, der berühmte Empedokles ist.
Was Kuiper über den Einfluss der Philosophie auf die An-
schauungen der Dichter sagt, steht natürlich mit seiner Vorstellung
über ihren Inhalt im engsten Zusammenhang. So findet er eine
grosse Aehnlichkeit zwischen „diesen zwei Ueberzeugungen. dem
Glauben an die innere Stimme des göttlichen Verstandes (des Logos)
bei den Philosophen und dem Vertrauen auf die Mantik, als Offen-
barung Gottes bei den Gläubigen", und lässt er Heraklit „gewisser-
maassen" den Schlaf des Körpers als einen Zustand betrachten,
der für mehr exacte innere oder geistige AVahrnehmung vorzüglich
geeignet ist. Aber die ^lantik der Gläubigen beruht auf sinnlicher
Wahrnehmung von Zeichen; der Glaube der Philosophen an die
Stimme des Logos auf völliger Negation der Wahrheit des sinnlichen
Eindrucks. Und Heraklit sagt in einem bekannten Fragment, das
wir im Schlafe unseren Verstand verlieren, wie Kuiper selbst an
einer anderen Stelle seines Werkes citirt.
Die Beschreibung der Theologie und Philosophie des Euripides i
ist natürlich durch die Auffassung der vorsokratischeu Philosophie
-stark beeinflusst. Wie Kuiper den homerischen Helden und den
alten Philosophen eine mehr ethisch-religiöse Gesinnung zusehreibt,
als aus den Quellen belegt werden kann . so bekommt auch der
Die Gesell, der Philosopliie in Holland in den letzten zelin Jahren. 131
.Skeptiker Euripide.s bei ilim einen religiösen Charakter, der sich
u. A. in seiner Sympathie für den C'retensischen Zeus-C Kultus und
für die Verehrung von Dionysos und Demeter zeigen soll. Auch
Stellen aus den Pirithous, dessen Uuächtheit Kuiper leugnef, spielen
hei der Argumentation für diese Behauptung eine erste Rolle.
Zu ganz anderen Ergebnissen kommt die Inaugural-Dissertation,
in welcher Berlage denselben Gegenstand behandelt'"). Berlage
sieht in Euripides nicht einen Anhänger einer bestimmten philo-
sophischen Schule, sondern einen Mann von grosser rnconstonfia
und rerum nocarum Studium, dessen Glaube den zerstörenden Zeit-
einflüssen nicht widerstanden hatte; der im mittleren Lebensalter
in seinen Tragödien die Erzählungen über die Götter zum Gegen-
stand einer scharfen und Intteren Satire machte, aber älter gewor-
den, mit Socrates und Plato der Ansicht war, dass die Bekämpfung
dieser Mythen ohne Nutzen und vielleicht verderblich sei. Die
Schrift verdient die Beachtung derjenigen, die sich mit Euripides
beschäftigen. )Vas Berlage's Ansichten über die Geschichte der
Griechischen Philosophie betrifft, so würde er besser gethan haben,
einige zweifelhafte Theorieen, z. B. seine vollkommene Ehrenrettung
der Sophisten, nicht so unbedingt zu vertreten. Dass er Grote
„primum eorum paftwium ff vindicem" nennt, beweist zur Geniige,
dass er die Litteratur über die Sophisten nicht mit der Genauig-
keit kennt, die ein so entschiedenes Auftreten motiviren würde.
Plato und seiner Zeit widmet H. Was seit Jahren ein gründ-
liches Studium, dessen Früchte uns in vier Abhandlungen vorliegen ' '')•
Leider sind sie nicht so bekannt, wie sie es verdienten, weil die
'■'') J. Berlage. Commeniatio de Euripide phitosopho. Lugduni-Batavorum
1888 (216 Seiten).
'^) H. Was. De dichter en zyne vaderstad. Eene iuleidiug tot den
Staat van Plato. Leiden 1881 (42 Seiten).
„ Plato's Politeia. Een kritisch-aesthetisch onderzoeli. Arn-
hem 1885 (72 Seiten).
„ Athene s Democratie. Im Tydspiegel 1886 (30 Seiten).
„ Plato s Symposion. Eene erotische Studie. Arnhein 1887
(103 Seiten).
9*
132 ^- B- ■'^P'uyt,
liolläiulische Sprache nur weuigen Plato-Forschern zugänglich ist.
Wie schon der Titel seiner ersten Schrift über Plato zeigt, will
Was besonders den dichterischen Charakter der platonischen
Lebens- und Weltanschauung beleuchten. In diesem Charakter
liegt nach ihm der Grund der Unmöglichkeit einer Exposition
der Lehre Plato's, die in gewissem Grade befriedigend wäre. „Eine
derartige Philosophie rauss die Systemsucht mit Rathlosigkeit
und Verzweiflung schlagen. Daraus entspringt die Sprachver-
wirrung unter denjenigen, die sich mit der Exposition des wahren
Inhalts der Lehre beschäftigen, die Plato verkündet hat." Die
Widersprüche zwischen den Behauptungen des platonischen Socrates
in verschiedenen Dialogen (und öfters in demselben Dialog) werden
ihren zureichenden Grund darin finden, dass Plato's Seele „mit sich
selber spricht" und entgegengesetzte Anschauungen vorträgt, in
welcher die Kunst des Dichters eine „gewissermassen zufällige"
Einheit bringt, und die Poesie dort die Hand bot, wo die Logik
ihn im Stiche Hess. „Bei der Deutung der Platonischen Ansichten
verbleibe daher das Endurtheil nicht bloss der Kritik, sondern man
gebe dabei auch der Aesthetik eine Stimme." So wird man sich
/. B. vor der unbilligen Kritik bew^ahren. die Krohn an der Politeia
geübt hat, und man wird überhaupt den „daimonischen Mann" in
der passenden Beleuchtung sehen.
Erinnert diese Betrachtungsweise des Autors an die Johes ceri-
6/*a?M- des skeptischen Renan, die in dessen Dio/ogues jj/dhsophiques
im heftigsten Kampfe begriffen sind und diametral entgegengesetzte
Meinungen verfechten, sowüe an die Anschauung Grote's, der in
Plato vor allem den dialectischen Forscher findet, welcher auch
mit negativen Resultaten vollkommen zufrieden ist, so verdient sie
doch Beachtung. Es wäre zu wünschen, dass Was seinen Gesichts-
punkt in der platonischen Frage bald in einem grösseren Werke
beleuchtete und näher begründete. Allerdings kann man schwer-
lich glauben, dass die Äleinuug von Was — Plato sei ein philo-
sophirender ^lythendichter — den Sieg behalten wird über die ge-
wöhnliche Ansicht, dass Plato ein Denker ist, der seine ausser-
ordentliche dichterische Anlage nur da zum Worte kommen lässt,
wo das Denken ihm die Hülfe versagt, und, seiner wissenschaft-
V
k
iÜ
Die Gesch. der Philosophie in Holland in den letzten zehn Jahren. 133
liehen Theorie gemäss, versagen muss; aber die tüchtigen vStudien
und das eindringende Verständniss dieses Plato-Verelirers können
zu einer Berichtigung der Theorieen, die in Plato bloss oder beson-
ders den Systematiker schätzen, einen dankenswcrthen Beitrag
liefern.
Der Aufsatz über Athens Democratie ist eine tiefangelegte
Beurtheilung des bekannten AVerkes von Julius Schvarcz. Für die
Geschichte der Philosophie ist daraus nichts zu entnehmen als
des Autors Urtheil über die verschiedenen Methoden der Geschichts-
betrachtung. Er verwirft mit AV. von Humboldt die teleologische
Geschichtsschreibung, in welcher der Historiker seine eigenen Ideen
den Thatsachen aufdrängt, und zeigt im Einzelneu, wie diese
Methode Schvarcz bei der Kritik der Democratie Athen's und Taine
in seinem Urtheil über die französische Revolution in die Irre ge-
führt hat. Höher schätzt er die „stasiotische" Methode, welche in
der Darstellung der Geschichte die Ideen einer der streitenden
Parteien zu den ihrigen macht — wie dies Macaulay in der engli-
schen, Grote in der griechischen Geschichte thun — und so wenig-
stens theilweise ihre Ideen aus den Thatsachen herleitet. Die
„kallopistische" Geschichtsschreibung, Avelche, von wahrer Begeiste-
rung beseelt, den behandelten Stoff in feurigen Herzensergiessungen
feiert, rühmt er nicht nur als zulässig, sondern sogar, treffend ange-
bracht, als sehr verdienstlich. Aber die Krone gebührt dem „dyna-
mischen" Geschichtswerke, das unparteiisch „den Kräften nachspürt,
von denen die Ereignisse und die handelnden Personen der Aus-
druck und die Verkörperung sind". Solche Geschichtsschreibung
ist freilich ein Ideal, welchem etwa ein Ranke sich nähert.
Diese Betrachtungen über die Aufgabe der Geschichtsschreibung
machen es mir möglich, ohne weither geholte Erörterungen anzu-
deuten, warum das Urtheil über das letzte Werk des trefflichen
Autors nicht unbedingt günstig sein kann. In seiner Schrift über
Plato's Symposion tadelt Was das Lob und die Verklärung, die
der platonische Eros bei vielen älteren Schriftstellen, und noch in
den letzten Jahren u. A. bei Weygoldt und Schmelzer gefunden
hat. Er ereifert sich über das „Apostolat" der wahren Liebe,
als dessen Träger Plato von Vielen betrachtet ist. Er stellt die
134
C. B. Spruyt,
Entwickehing der Vorstellungen über den Eros von Homer bis
Platü dar. und findet am Ende dieser Auseinandersetzung den
Tirund der bedenklichen Verschmelzung von Paederastie und Philo-
sophie bei Plato in der Absicht des Philosophen, das Xenophon-
tische Symposion zu verspotten. Dass das Bild, welches Xenoplion
von Socrates entworfen hat, naturgetreu ist, kann Plato freilich
nicht leugnen. Aber er hat den guten Xenophon zum Besten und
belacht z. B. dessen Streben nach historischer Genauigkeit im An-
fang seines Dialogs, wo der eine unbedeutende Jünger des Socrates,
Apollodoros. sagt, dass er seine Nachrichten von einem anderen
unbedeutenden Jünger, Aristodemus hat, dessen Mittheilungen auch
nicht sehr vertrauenswürdig sind. Und gegen den Schluss des
Xenophontischen Symposion, in welchem durch die Heirath des
Jünglings mit dem Mädchen die Liebe zwischen Mann und Weib
gefeiert wird, stellt Plato als Contrast die dialectische Untersuchung
des Begriffes vom Eros und die Rede der Diotima hin. Offenbar
will er mit dem paradoxen Ergebniss, dass Eros ein Philosophos
ist und mit der Herabwürdigung der lÄebe zum weiblichen Ge-
schlechte die hausbackene Weisheit von Xenophon's Gastmahl
lächerlich machen. Und das gelingt ihm, allerdings nicht ohne
einen grossen Aufwand der allergröbsten Sophistik und nicht ohne
den verderblichsten Einfluss auf die griechischen Sitten, wäe Was
zu zeigen unternimmt. Denn „zwischen Plato's Eros und dem
Geschlechtstrieb besteht kein Causalverband". „Das Band zwischen
platonischer Ideenlehrc und Plato's erotischer Weltanschauung ist
rein zufällig", und dabei entsteht der Schein, als ob die Tugend
ein Bündniss geschlossen hätte mit „unfläthigen" Begierden.
Was der reformatorische Plato gethan halben müsstc, um die
griechischen Sitten zu verbessern, ist etwas ganz anderes, als seia
verunglückter Versuch, die Paederastie zu verfeinern. Wer „den
Augiasstall reinigen" wollte, der hätte die Gymnasien und Palaestren
vernichten und den Männern bei Todesstrafe verbieten müssen, sich
im Beisein Anderer zu entkleiden; er hätte die Hetairien auflösen
und den Mädchen eine Erziehung zuwenden müssen, die der ge^
fährliclien foncurrenz der Iletaeren für immer ein Ende machl
Doch Platu dachte nicht au derartige Hcfürmeu, und seine unzi
Die Gesch. der Philosophie ia Holland in den letzten zehn Jahren. 135
liiDglicheii und zweideutigen Betrachtungen über den Eros raussten
(las Uebel vergrössern.
Dieses Hauptergebniss der Schrift von Was scheint mir ein
wahres Modell „teleologischer" Geschichtsbetrachtung zu sein. Ich
will darauf kein Gewicht legen, dass er selbst die Unmöglichkeit
solcher Reformen im alten Hellas anerkennt. Aber er hätte be-
denken sollen, dass Plato's ethisches Ideal unzweifelhaft die Xusic z7.t
/ojpia|xoc 'J/u/rjC drJj a<h\m-oc ist und dass die geschlechtliche Liebe
zwischen Mann und Weib nach seiner Anschauung für den besseren
Menschen eine nicht minder grobe Veiirrung ist, als die Paederastie.
Der Mensch soll durch die Liebe zum Schönen zur Gemeinschaft
mit der Ideenwelt gelangen. Aber um dieses Ziel zu erreichen,
muss er die Sinnenlust unbedingt verwerfen. Nur die Seele, die
standhaft und felsenfest dem Treiben des schlechten Pferdes wider-
standen hat, geht GTroTtTspo; aus dem irdischen Leben — wie es
im Phaedrus heisst, dessen Inhalt Was in dieser Schrift gar
nicht in Betracht zieht. Dieses asketische Ideal des Plato spricht
Was nicht an; die Xenophontische Denkart berührt ihn sympa-
tischer. Niemand wird ihm das verargen. Aber wie kann er die
teleologische Geschichtsbetrachtung rügen, die „dynamische" loben
und doch übersehen, dass in Plato sich die gewaltige Kraft der
ascetischen Weltanschauung erhebt, die viele Jahrhunderte später
in Mönchswesen und Coelibat ihre tief eingreifende Wirkung zeigt,
die noch Schiller reden lässt von der „bangen Wahl zwischen
Sinnenglück und Seelenfrieden*', und die auch noch heute einer der
grössten Factoren ist, mit denen der Historiker zu rechnen hat.
Die vielen interessanten Einzelnheiten können diesen Grundfehler
von Was' „erotische Studie'- — sollte wohl heissen „Studie über
Erotik'' — nicht gut machen.
Die gelegentlichen Bemerkungen über Sokrates in der erstge-
nannten Schrift von Was gaben mir Anlass , die Bedeutung des
Sokrates als Denkers etwas näher zu beleuchten"). Gegen die Au-
'■*) C. H. Spruyt. Socrates als toysgeer, in der Zeitschrift de Gids, 188'2
(36 Seiten).
inPi C. R. Sprint,
nähme von Was, dass Sucrates niit den Israelitischen Nabi, den
durch die CJdtthoit Inspirirten zu vergleichen sei, erinnerte ich an
die prosaische Nüchternheit des Xenophonlischen Sukrates, und im
Anschluss an die bekannte Aristotelische .Stelle, Metaph. ]\I. 4
8. 1078. b 27 — 32, versuchte icli zu /.eigen, dass 8okrates jnit
Recht als der Mann geehrt wird, mit dem eine ganz neue wissen-
schaftliche Richtung l)Cginnt. Das würde man kaum verkennen,
wenn nicht die Bedeutung, die das Wort huhicUo in den späteren
Zeiten angenommen hat, Viele und u. a. auch Was veranlasst hätte,
die sokratische i-i^iui-^y^ und die i-ax-ixoi Xo-j'oi falsch zu deuten.
Diese s-a-j-w/v) ist zwar in gewissem Sinne ein specieller Fall der
Methode, die man jetzt Induction nennt, das Schliesseu vom Be-
sonderen auf das Allgemeine. Doch ihre wahre Natur besteht
darin, dass aus dem gegebenen Umfang eines Begriffs, z. B. der
avof.£t7. im Laches, der ot/ctioauv-/) im ersten Buche der Republik,
sein Inhalt gesucht wird durch ein Substitutionsverfahren, bei wel-
chem man das Prädikat der versuchsweise aufgestellten Dehnition,
das (Ifi/ifiiens, für den Namen des Begriffs, das de/initum, oder um-
gekehrt, in Sätze substituirt, die im Kreise der untersuchenden
Dialektiker als wahr anerkannt sind. Die bei diesem Verfahren
an"s Licht kommenden Widersprüche fordern eventuell eine Aeu-
derung oder Verbesserung der Deünition, und die neue Definition
wird auf die nämliche Weise geprüft. Das ist die Methode der
Dialectik, die Sokrates und Plato mit grossartiger Virtuosität hand-
habten, und deren Werth aus ihrem Wesen mit derselben Be-
stimmtheit hervorgeht, wie die Grenzen ihrer Anwendung. Unent-
behrlich zur Herstellung eines consequenten Denkens beruht sie auf
der N'oraussetzung, dass die allgemeinen Sätze, auf welche sie ihr
Sub>titutionsverfahren anwendet, unzweifelhaft wahr sind.
Im Anschluss an diese Characteristik der Sokratisch-Plato-
nischen Dialectik versuchte C. j\I. van D eventer den Angriff von
Was auf das 8ymposion durch die Behauptung zu parircn ''), dass :
'■*) C. .M. Vau Deverilcr. lets over den Eros van Plato. Jii der Zeif.schrift
Ue Nituwe Uids 1887 (0 Seiten).
Die Gesch. der Philosophie in Holland in den letzten zehn Jahren. 137
Eros an der Stelle Sympos. 199 D — 201 C nicht Liebe, sondern
Begierde bedeute — ein Versuch, der nur beweisen kann, dass
auch eine genaue Prüfung einer einzelneu platonischen Betrachtung
nicht zum Ziele führt, wenn man es unterlässt, andere mit der-
selben zu vergleichen.
Derselbe Autor bot in seiner Inaugural-Dissertation eine Mono-
graphie über die Geschichte des Begriffes des chemischen Elements
im Alterthum und im Mittelalter"^). Die Schrift zeugt von Scharf-
sinn und grossem Fleiss. ^Vesentlich Neues bringt sie jedoch nur
in einer ausführlichen Kritik der Behauptung Berthelots ''), dass
die Alchemisten ihre Theorie von der gemeinsamen materia prima
aller MetaUe dem platonischen Timaeus entlehnt haben. Van De-
venter meint, dass der Timaeus den Alchemisten doch wohl etwas
zu schwer gewesen sei, was Berthelot vielleicht selbst eingesehen
hätte, wenn er nicht die freie Martin'sche Uebersetzung citirt hätte;
dass bei Berthelofs Hypothese unbegreiflich bleibe, warum die
Alchemisten nur an eine prima materia der Metalle, nicht aber
aller Körper glaubten; und endlich, dass der im Timaeus ange-
deutete und bei Aristoteles deutlicher entwickelte Begriff der materia
prima so unbestimmt ist, dass die Alchemisten ihn ebenso gut aus
eigenen Mitteln hätten erfinden können, wie die alten Junier die
Vorstellung des lebendigen Grundstofles.
H. G. L. A. Bakhoven gab eine instructive Studie über die pla-
tonische Frage '^) heraus, in welcher er die Auffassungen von Plato"s
Ideenlehre bei Auttarth, Teichmüller nnd anderen neueren Autoren
ablehnend, eigene Anschauungen vorträgt, die meines Erachtens
nicht haltbar sind. Er nimmt an, dass das Wort losa hei Plato
öfters in der Bedeutung von Vorstellung gebraucht wird. Dadurch
kommt er zur Hypothese, in Plato's System sei eine logische, eine
psychologische und eine metaphysische Seite zu unterscheiden. Dass
"') C. M. viin Deveuter. Schetsen uit de geschiedenis van de Scheikunde.
Dordrecht, 1884 (U8 Seiten).
'') In les oriyines de V Alchimie, 1884.
'-) H. (I. L. A. Bakhoven. Flatonislen van den lautsten li/d. Im Tydspieyel
1885 (32 Seiten).
138 C. B. Spruyt,
die Termiui si5o;, ioia und ov oder ovtoj; ov, durch welche diese
drei Seiten des Objekts der platonischen STTKj-rr^ixTrj angedeutet wer-
den sollen, ,so ziemlich promiscue gebraucht werden, gesteht er ein.
Auch fühlt er wohl, dass die platonischen Ideen' doch eigentlich
nicht Vorstellungen, sondern die Objekte von gewissen Vorstellungen
sind. Denn er missbilligt Auffarth's Erklärung der platonischen
Lehre, weil dieser vergessen habe, dass die Ideen auch ein Objekt
der höchsten Erkenntniss sind. Dass die platonische Lehre bei
dieser Auflassung der Ideen als Objekte von Vorstellungen, über
deren Richtigkeit in den letzten Jahrzehnten doch wohl annähernd
eine commrmis opinio besteht, sich in „eine mystische Contempla-
tion, in ein geistiges Schauen verirren" würde, hat Bakhoven Avohl
gesagt, aber nicht begründet.
.1
In meiner Abhandlung über die Bedeutung der Termini
a-s'.pov und -ipa? im Philebus'^) bemerkte ich in Anschluss an
M. Cantor, dass die Entdeckung der Irrationalität des Verhältnisses
zwischen Diagonal und Seite des Quadrats und der damit zusam-
menhängende Gegensatz zwischen den discontiuuirlichen Grössen —
wie die Reihe der Zahlen, wenn man die Zahl als eine Summe
von Einheiten delinirt — und die continuirlichen, wie die Länge,
den l'vthagoreern sehr wichtig vorkam. Dann zeige ich, dass
Plato's Beschreil)uug des ocTrsipov im Philebus nicht auf das Un-
endliche, odev das Unbegrenzte oder das Unbestimmte, sondern
allein auf die continuirlichc Grösse, seine Definition des -ipa? nur
auf die discontinuirliche Grösse passt. Unter der Voraussetzung,
dass diese Ausdrücke auch bei den Pythagoreern denselben Sinn
hatten, und noch nicht die mehr allgemeine Bedeutung, die Ari-
stoteles ihnen gewöhnlich giebt, gebe ich eine Erklärung der be-
kannten Stelle der Metaphysik A 5 S. 986 a, 15 — 22, wo Aristote-
les die Pythagoreische Lehre mehr andeutet, als beschreibt, und
widerlege die Kritik, welche Schaarschmidt in seiner „angeblichen
'^ C. H. Spruyt. Ovei de beteekenis der woorden dcTTEtpov en Tzepa; in Piatos
l'hUehus. In ilcii Verslagon en Mededceliugcn der Kouinki. Akademie, 1885,
(31 Seiten).
Die Gesch. der Philosophie in Holland in den letzten zehn Jahren. 139
Schriftstelleiei des Philolaus" an dem Philolaos-Fragment bei Sto-
haeus Ecl. I. pag. 468 geübt hat.
B. H. C. K. van der Wyck versucht in seiner Abhandhing
über den Begriff der saoottaovta bei Aristoteles -°) eine principielle
Vertheidiguug der Aristotelischen Etliik, nicht nur wider die An-
griffe Kant's, Lewes' und Thilo"s, deren Auffassungen über die
Meinungen des Aristoteles sich bei Kennern wohl keiner grossen
Autorität erfreuen, sondern auch gegen den Hinweis auf die logi-
schen Fehler in ihren eigenen Grundsätzen in Zeller's Geschichte.
Der Zirkel, den Zeller II, 2, 657 darin (indet, dass unsere Zwecke
von unserem AVillen, unser Willen von unserer Tugend abhängen,
und insofern unsere Einsicht durch unsere Tugend bedingt ist,
während umgekehrt unsere Tugend von unserer Einsicht (^povr^aic)
abhängt, — soll nicht bestehen, weil Aristoteles wegen seiner Lehre
von der Ewigkeit der Welt das Problem, wie die Tugend im Laufe
der Zeiten entstanden sei, nicht zu lösen hatte. Aber die Anmerkung
von Zeller bezieht sich wahrlich nicht auf die Zeitfolge von Tugend
und Einsicht, sondern, wie er selbst, S. 658 sagt, liegt „die Haupt-
schwierigkeit darin, dass beide (cfpstV) und 'fpov/jctic) auch ihrem
Wesen nach durch einander bedingt sind". Der 9povt[xoc im zweiten
Buche der Ethik ist vor Allem der Mann, der die verschiedenen
menschlichen Zwecke richtig abschätzt und nur in zweiter Reihe
der scharfsinnige Beurtheiler der Mittel, durch welche diese Zwecke
realisirt werden können. Aber im sechsten Buche, wo das Wesen
des cppovijioc absichtlich behandelt und endgültig tixirt wird, hat er
nur die zweite Aufgabe vor Augen. Daher hängt die richtige
Mitte, in deren Einhaltung die Tugend bestehen und zu deren Be-
stimmung der cfpoviij.0^ nicht nur über die Mittel, sondern auch
über die Ziele urtheilen soll, bei Aristoteles wirklich in der Luft.
Soll die Lösung dieser Schwierigkeit vielleicht darin zu suchen
sein, dass die wahre oder „höhere" menschliche Natur in jedem die
nämliche ist, wie van der Wyck au einer anderen Stelle anzuneh-
^*') B. H. C. K. van der Wyck. Ooer fiel be/rip der eiulaimonia by Aristo-
teles. In den Verslagen en ilededeeliugen der Koninkl. Akademie, 1882,
(33 Seiten).
140
C. B. Spruyl,
men scheint, so fragt es sich doch, wie diese höhere Natur eine
Norm für die menschlichen Handlungen abgeben könne, wenn man
sie nur in einem theoretischen Vermögen, dem vo-jc, sucht.
Ebenso scheint mir die zweideutige Stellung, welche die äusseren
Güter bei Aristoteles zum Begriffe der Glückseligkeit einnehmen,
wahrlich nicht erklärt durch v. d. W/s Bemerkung, dass die äusseren
Güter wühl Bedingunfien, aber nicht BestandtheUe des Glückes seien.
Die schwachen Seiten der Aristotelischen Ethik halien ihren Grund
im Intellectualismus der griechischen Philosophie; auch die subtilsten
Ausführungen werden sie dem Einsichtigen nicht verdecken können.
Glücklicherweise hindern sie uns nicht, in die tiefgefühlte Bewun-
derung für den Genius des Aristoteles, die van der Wyck's Abhand-
lung auszeichnet, einzustimmen.
Hiermit möchte ich die Uebersicht der wichtigeren holländi-
schen Arbeiten zur Geschichte der griechischen Philosophie be-
endigen. Ich hoffe in einem späteren Hefte, einen Bericht über
die Litteratur zur neueren Philosophie geben zu können.
V.
Delle opere piibblicate in Italia nel 1886 e 1887
intorno alla storia della Filosolia.
Von
Felioe ToCOO in Florenz.
Alkssandro Chiapi'eli.i. II iiaturalisnio di Socrate e le prime Nubi
dl Aristofane (Reudicouti della R. Accademia dei Lincei
Roma 1886).
II Prof. Chiappelli, del quäle uella passata ras.segna esposi uu
lavoro SU Erac-lito, avea precedeiitemente scritta questa iiota sul
naturalismo di Socrate. Ed a torto io la trascurai credendola di
data piü antica. Riparo ora e ben voleiitieri all' error mio, e .sono
io il primo a riconoscere che se le ipotesi del professore napoletano
11011 sono lacilmente accettabili, certo non potevaiio essere difese
coii maggiore ingegno e copia di dottrina. L'ipotesi del Chiappelli
e questa, che nella prima redazioiie della Nubi Aristofane, legger-
mente punzecchiando Socrate, io avrebbe rappresentato come uu
filosofo uaturalista e acchiappa-nuvole, che perde il suo tempo a
cercar quante volte la pulce salti la hmghezza dei suoi piedi, o
come faccia il cielo a mandar guizzi di lampi e fragori di tuoni.
Invece nella seconda redazione Io avrebbe rappresentato con piii
fosca tiuta e come uu corruttore di costumi, che a forza di sotti-
gliezze toglie ogni difierenza tra giusto e ingiusto, e sa beue al
secondo dare tutte le apparenze del primo. Questa diversitä nelle
due redazioui sarebbe nata dal mutamento stesso del tilosofare
socratico, che nei primi anni non era diverso da quello dei uatu-
ralisti presocratici, e uon prese un indirizzo etico se non molto tardi,
1 J-J Fclice Topco,
(.' (lopo la rappresentazione delle prirae Xul)i. Siffatta mutazione,
che rencleva ancor piü pericoloso riuseguamento di Socrate. avra
coiitribuito ad inipermalize un conservatore come Aristofaue, il (juale
all" inuocua e in parte vcridica satira della prima redazione avrebbe
sostituita una piü violeuta ed ingiusta. facendosi eco di quelle
accuse, che piii tardi condussero alla condauna del piü virtuoso
degli ateuiesi. Ammessa questa ipotesi, bene si spiega come Seuo-
fonte e Piatone, iion conoscendo se uon la prima redazione, che la
seconda non pare sia stata mai recitata, non serbino nessiin ran-
corc contro Aristofane, a segno che questi nel Convito platouico e
rapi)resentato come un geniale amico di Socrate. -^j
A me in verita Fipotesi che Socrate abbia mutato d'iudirizzo
a quarantacinque anni, quanti ne contava quando furono rappre-
sentate le Nubi, parmi molto ardita. Ne saprei spiegare come di
questo mutamento ne Piatone ne Aristotele abbian saputo nulla.
Del resto anche in quella parte della commedia aristofauesca, che
il Chiappolli riconosce per antica, Socrate e rappresentato non solo
come un meteorologo, ma bensi come un sofista che sa colle
arti sue dare tal rilievo al discorso piü debole da f'arlo apparire piü
forte. Che sotto questo discorso debole si debba intendere il torto,
che a forza di sofismi appaja poi diriito. lo dice chiaramente
Strepsiade (v. 115). il quäle appunto per questo si rivolge a Socrate,
nella speranza che apprendendo quell' arte possa frodare i suoi
creditori (v. 24;")). E dato anche che il dialogo dei due parlari sia stato
aggiunto di pianta nella seconda redazione, come par che opini il |
Chiappelli, senza dubbio deve tenersi come una legittima conseguenza !
delle premesse poste fin dalla prima redazione. La dimostrazione
adiiuque del ('hiappelli, a parte anche qualche inesattczza, come l'in- i
terpetrazione data a pag. 291 dol verso 4.S5, parmi dia luogo a
molte dubbiezze. Ed ha contro tli se Tautorita delF Apologia pla-
tonica, dove e detto esplicitamente che il primo e piü grave capo
di accusa contro Socrate era contenuto intero nella prima reda- :
zione delle Nubi. E in questo stesso luogo dalF Apologia So- ,
crate si meraviglia d'essere messo a paro di Gorgia e di Prodico
alludendo evidentemente al verso 361 della prima redazione delle
Nubi.
Delle opere pubblicute in Italia nel 188G e 1887 etc. 143
Alessandro Chiappelli. Ancora sui rapporti fra le EcclesuizLise
cli Aristofane e la Repubblica tli Piatone (Rivista di Filologia
e cl'Istruzione classica anuo XY. fasc. 7 — 8 Geunajo — Febbrajo
1887 p. 343—352).
In uua precedente memoria inserita nella stessa Rivista (anno
XII e XIII), il Chiappelli avea tentato di sostenere che le Eccle-
siazuse di Aristofane mettano in burla le opinioni del 4". libro
della Repubblica platonica, e che alle accuse aristofanesche Piatone
risponda nel quinto libro. Sa qnesta te.si il uostro autore ritorna
per ribadirla ancor meglio, e salvarla da alcune critiche, come
quelle, che io stesso gli avevo fatte nella Coltura (anno III. vol. 5).
Non e il caso di ritornare sulla discussione, ma diro solo che i
nuovi argoraenti addotti dal Chiappelli nü convincono poco. Pla-
ioue nel Timeo 18 C poteva senza dubbio accennare alla stranezza
e novita delle proposte da lui fatte nella Repubblica; Aristotele
avra potuto dire che la teoria della comunanza dei beni, dei figli
e delle donne appartiene in proprio a Platonc; ma queste testi-
inonianze non vogliono dire altro se non che il primo a discutere
scientificamente le suddette riforme politiche, fu appunto il filosofo
ateniese, che le ricavo come conseguenze necessarie del fine, che
a.ssegnava allo Stato. II che non esclude che simiglianti idee
abbiano potuto eziandio pullulare per intemperanza di propositi e
vaghezza di novitji nelle agitazioni demagogiche. La comunanza delle
donne non e accennata nel frammento del Protesilao di Euripide
(fr. 655 Nauck)?
Prof. Giovanni Cesca, La teorica della conoscenza nella filosofia
greca. A^erona Drucker e Tedeschi 1887. pp. 66.
E un lavoro d'insieme, che sopra un punto speciale percorre
tutta la filosofia greca dalle origini sino ai neoplatonici. L'autore
s' e giovato largamente della storia ormai classica dello Zeller, e
delle acute ricerche del Natorp, ne certo in un lavoro cosi com-
plessivo si puo aspettare grande novita; ma in molti punti dissente
dalle sue guide, e interpetra le fouti con piena liberta di giudizio.
Citero ad esempio la pagina 47, dalla quäle si puo anche ricavare
la convinzione propria dell' autore, che gli serve di norma nel
144 Feiice Tnccti,
I
"iiidicnro di tnuto o svariate dottrine. Trattasi di Enesidemo. che
in (jualche puiilo parrebbe si iosse discostato dal suu lelativisuio,
come a diro in quelle proposizioni dogmatiche sul tempo, sulla
meute e suH' esseuza, che seguendo Eraclito, sostenue. „Queste.
dice il nostro aiitore, prese nel loro siguificato verbale, coiitrastano
realmeute col fenomenismo, il quäle iion ammette che si possa dare
alcuna dottriua sulF essenza delle cose, e questa contraddizioue lu
fatta anche notare dagli scettici posteriori, che tolsero quelle pro-
posizioni dalla dottrina scettica. Malgrado pero che i successori di
Enesidemo facciano menzioue di questa contraddizioue, parve im-
possibile ai recenti storici della filosotia, che uno spirito critico cosi
acuto e sottilc possa esser caduto in siniile errore, e cercarono
percio di giustificarlo in due modi, o attribuendo la contraddizione
;ii suoi espositori, o togliendola del tutto. AI primo mezzo si
attenne lo Zeller, il quäle riconosce la completa opposizioue. ma j
la attribuisce a Sesto Empirico ed ai giovani scettici e non ad |^j,
Enesidemo, il quäle, ricercando storicamente gli antecedenti della''"
sua dottrina, cito quelle proposizioni di Eraclito, ma non le fece
sue, mentre invece i suoi successori le diedero come sue. Questa
spiegazione e combattuta ben a ragione dal Natorp, il quäle dice
essere impossibile che Sesto abbia commesso un tale errore in tanti
luoghi; percio egli ritiene che quelle proposizioni sieno realmeute
di Enesidemo, e cerca di togliere la contraddizione, mostrandol
come esse nou devono veuir intese in un senso dogmatico, ma inj
uno l'enomenico, il quäle fu disconosciuto dai suoi successori in|
segulto al siguificato dogmatico delle parole. In cio egli ha pieua-
mente ragione, giacche anche il fenomenalista ammettendo la veritä
nel l'enomeno, nou respinge ogni conoscenza ed ogni ricerca eni- .
pirica, ne ogni spiegazione dei fatti dell' esperienza; auch' egli'
ricerca. osserva, cspcrimenta e cerca le leggi ed i fattori dei i'atti,
soltanto in questo modo crede di aver descritte ed esplicate le :
cose cnnie appaiono a noi, e non come sono in se. Egli da cosi alle!
sue proposizioni un siguificato fenomenico del tutto opposto al.
uuumenico, ma dovendo esprimersi coUe parole usate da tutti glii
uomini. ed essendo queste state formate in conformitä al dogmati-
smo e realismo volgare dell' uomo primitivo, le di lui proposizioni I
Delle opere pubblicate in Italia nel 1886 e 1887 etc. 145
vengono spesso prese alla lettera in uii seuso dogmatico, tlal quäle
tanto difficilmeiite si puo liberare la mente iimaua. Per cio le
proposizioni ienomeniche di Ene.sidemo, in seguito alle parole, colle
quali erano formulate, vennero prese in uu senso dogmatico, e cio
pote succedere allora con tanta maggior facilita, che la dottrina
ieuomenalista era appena abbozzata, e delineata soltanto nel suo
priucipiü fondameutale, e quindi nou potera venir ben compresa
dai suoi contemporanei e siiccessori, dominati interamente dal dog-
matismo assoluto. ... II Natorp nel togliere quella contraddi-
zione in Enesidemo e nelT inlerpretare la sua dottrina, lo fa cadere
in un' altra contraddizione ancor niaggiore, giacclie egli ammette
nella di lui teoria un elemento razionalistico nel logos posto come
base e garanzia dei fenomeni . . . Questa dottrina che il Natorp vuole
attribuire al filosofo scettico, non risulta direttamente e chiaramente
dalle notizie che Sesto ci da di lui, e non e neppure necessaria-
mente iniplicata nel fenomenalismo. E vero che questo al di la
del fenomeno deve amuiettere una cosa in se, ma perciö non a
alcun bisogno di una intuizione raziouale del noumeno, non essende
questo mai conosciuto da noi, ma soltanto posto necessariamente
come base e fondamento del fenomeno".
Dr. GiiDO BiGONi. Ipazia Allessandrina Studio Storico (Estratto
dal Tomo V Serie VI degli atti del R. Istituto Veneto
Venezia, Antonelli 1887) p. 105.
Debbo ripetere a proposito di questo lavoro le stesse cose che
scrisse il direttore del nostro Archivio sulla consimile memoria del
Meyer. D'Ipazia si sa tanto poco, e quel poco che si sa fu gia cosi
abilmente sfruttato dalF Hoche, che nulla di nuovo si puo aggiungere.
Lo stesso Dr. Bigoni lo confessa: „lo, egli scrive a p. 46, avea
gia raccolto quanto mi facea per il preseute studio, quando, per
cortesia di due professori della nostra Universita, ebbi notizia di
un saggio deir Hoche pubblicatosi piii recentemente in Germania e
d'uno studio scritto quest' anno dal Meyer sullo stesso argomento.
Lettili riscontrai che le loro conclusioni si accordavano nei punti
essenziali con quelle a cui io pure era giunto." Cio non pertanto
TAutore credette opportuno di pubblicare i suoi studi, supplendo alla
Aichiv f. Geschichte d. Philosuphie. H. ^ -^
146 Feiice Tocco,
niaiu-aiizn dolla materia con una larga iiitroduzione sulla coltura
alossaiulrina (j). 1 — 4H), e con una hiogralia del discepolo d'Ipazia,
il vescovo Sinesio, che occupa altre diciotto pagine, dalla 58 alla
76. Inline del volume sono tradotte quattro lettere di Sinesio, e
la cliiusa della costui orazione contro i barbari.
liii parte serbata ad Ipazia e ben poca, ne si poteva altrimenti,
II Bigoni (lice come il Meyer che Ipazia „probabilmente, nutrita
com' ella era di severi studi, avrä anticipato il tentativo di Proclo
[)er ricondurre ai suni principii una scuola cosi degenerata con
Gianiblico e Crisanto, con Massimo e Oinliano (p. 56)". Sulla
misera line d'Ipazia il nostro cosi scrive a pag. 93: „Esaminando
le testimonianze, e daudo a ciascuna il suo giusto valore, racco-
yliendo hilto qucllo che gli scrittori piii ortodossi ci tramandarono .
sul carattere di Cirillo, tenendo conto del naturale, prontissimo
alle violenze che in iiiolti latti avea diniostrata la plebe di
Alessandria, bisogna concludere che i Parabolani del partito di
( 'irillo l'urono gli autori della strage, senza forse che il vescovo
1 avesse espressamente ordinata, nia perche la precedente condotta
di Uli rispetto ad Oreste lasciava loro sperare che Topera sarebbe
stata da lui ratilicata, e che avrebbero in lui trovato senipre
appuggio e dif'esa".
AciosriNo Mrifn.iA, L'aristotelismo e FEnciclica di Leone XIII
Piacenza 1887.
Non e un lavoro storicio questo del Moglia, nia interpetrativo
deir Enciciica di Leone XIII. II Inion sacerdote non vuol negare
rintallibilifä dol Papa, nia (Taltra parte non intende ili rinunziare
al sistema rosniiniano, cui da niolti anni e addetto. lnter})etra quindi
rEncicIica Artcnii Pairis nel senso che si debba tornare non alla
.sctdastica, bensi alla tradi/.ione dei padri e dei dottori, la quäle
della scolaslica antica l'acea la Inrza e la lortuna, e nella scolastica
piii recente venne quasi del tutio oscurata. „l'oiche, egli dice
(p. 3U), sarebbe un errore assai grossolano Tojjinare che S. Toinniaso
abbia preferito la lilosofia di Aristotele. cuniune a tutte le scuole
dt'l snn secolo. all" antica dei Padri che era stata universalmeitte
abbandonata. anclie [xisto che Tavesse purgata dalle eresie, che
I
1
Delle opere pubblicate in Italia uel 188G e 1887 etc. 147
portava nella scuola degli Arabi; pevoccbe sarebbe sempre ribelle
alla tratlizione filosofica di S. Agostino". Eppero i moderoi tomisti,
dandosi per aristotelici, souo degeneri discepoli del loro maestro,
e rEiiciclica implicitamente li condanua e li esorta a rimettersi
sulla diritta via. „Dopo il coucilio vaticauo, aggiunge il nialcauto
interprete, rinfallibilita del Papa non ba data prova si cbiara di
se in ali'un altro atto, quanto in questo. poiche i razionalisti
dovraiiüo coiilessare cbe Leone da Papa coiidauno quella filosofia
cui da Yescovo al par degli altri avea iutrodotto nella sua diocesi
credendobi sana e legittinia." Sfortunatamente per il Moglia la
Congregazione delF Indice, condanuando il Rosmini, ha ben provato,
contro la interpetrazione del pio sacerdote, che il linguaggio del
Papa üou era diverse da quello del vescovo. E che nelle scuole
ecclesiasticbe di qui innanzi o il piii leggero .soffio di libertä in-
tellettuale si disperdera, e perlino nelle quistioni deü' intelletto
agente e del possibile bisognera che tiitti pensino come il Papa
ha decretato.
Monsignor Ai.fonso ^Iakia ('an. Vkspiunani. II Rosniinianisrao ed
il lume deir intelletto umano. Studio critico - iilosofico.
Bologna 1887.
Questo grave volume di pag. 932, dedicato al Cardinale Giu-
seppe dei conti Pecci, fratello del Papa, non e uno studio storico
sul sistenia rosminiano, ma uu libro polemico da servire di ri-
sposta ad un altro di egual mole, anonimo, pubblicato nel 1881
sotto il titolo: Del lume delb intelletto secondo la dottrina dei
St. Dottori Agostino, Bonaventura e Tommaso d'Aquino. Yeramente
non tocca a noi di parlare di questa pubblicazione, dove, non meno
che nella precedente del Moglia, della storia si fa strazio; ne si
ammette alcuna diflferenza tra il periodo patristico e lo scolastico
propriamente detto. Che silbitti libri sieno scritti contro il Ros-
niini, o in di lui favore, non monta; Tindirizzo e sempre lo stesso.
Mostrare come nessun divario corra tra S. Agostino, S. Tommaso
e S. Bonaventura, e che tutti insegnino le stesse dottrine, favore-
vuli secondo gli uui, ed ostili secondo gli altri al Rosniinianisrao,
questo e lo scopo dei polemisti, e non si stancano dal torcere e
lü*
148 Feiice Tocco,
ritorcere i testi linclu' iion dicaiio cio che loro accomoda. Se
S. Agostino per esempio dice nel De libero avbitrio lib. 1 cap. 12:
„(^»uapropter iiullo modü nogaveris esse incommutabilem veritatem
. . . tamquam niiris modi.s secretum et publicum lumeu, praesto
esse ac se praebere communiter" , cio non ha iiulla che fare colla
dottrina phitonica, ma vuol dire soltanto che „la verita non e uiia
creazioue o una i'attura dalla meute uniana, ma invece un che in-
dipeudente attatto nelhi siia entita l'oudanientale (hdhi meute me-
desima". tale quäle come piii tardi Tha ripetiito il Balmes, che
certo uou si puo accusare di platonismo. Tutti i padri e i dottori
sono in loudo d"accordo, che tutti uello stesso modo seppero
iimestare al tionco ligoglioso della dottrina rivelata i nimi piii
verdi della sapieuza antica. Beati tempi, in cui tutti credevano
e pensavano ad un modo, ne la ragione umana si smarriva fra
tanti sistemi e indirizzi opposti, come accadde quando i filosofi
inoderni, ribelhitisi alla tradizione, accesero nella scienza e nella
vita la face della discordia.
A quei tempi, seguita il Vespignani, e a quella filosotia bisogoa
l'ar ritorno. Lo disse solenuemente il S. Padre; per combattere gli
errori dri presente, principalmente il razionalismo e il liberalismo,
il sole mezzo efficace e: restaurare la iilosofla tomistica, che tutte
le altre dei padri e dei dottori riassume e compie. Anche il
liiiguaggio iilosolico bisogna modificare, tornando alla dicitura degli
scolastici. E Tanima la diremo forma sostanziale nel senso attri-
buitole da 8. Tommaso, vale a dire principium intrinsecum
per quod substantia a substantia substantialiter differt
(p. 02). Faremo nostra la dottrina e la dicitura scolastica che
„tanto nella visione sensitiva, quanto nella conoscenza intellettiva
concorrono o almeno ponno concorrere tre diversi mezzi, siib quo,
quo, in quo. Il primo di essi . . . e nella ragione di [)rincipio
formale dispositivo . . . , il secondo, vale a dire medium quo
videtur. non e altro che la specie intenzionale di uu visibile
secundum quamcumque cognitionem, informante la potenza
visiva cousentanea . . . il terzo, o medium in quo aliquid vi-
detur, non e altro che una qualsivoglia cosa od obbietto (p. 12(i—
134). Qualuuque sia il signiticato attribuito dai moderni alla parola
Delle opere pubblicate in Italia nel 188G e 1887 etc. 149
soggettivo ed oggettivo, iioi torneremo all" uso meclievale „subjectns.
subjectum, participium a subjicio, posto sotto, 'j-o-tbEtc, subtus posi-
tus. cosa in cui o sopra cui sia posta alcun" altra. Oggetto vale
cio che e messo dinanzi o contro. ... La figura di Mercurio e
soggettiva in qiianto al sas«o, in cui e ricevuto, ed e oggettiva in
quanto a Mercurio oggetto rappresentato per essa."
Ma non val la pena di continuare. I moderni tomisti ritornano
all" antico non per isvecchiarlo ed accomodarlo ai bisogni uuovi.
bensi per riprudurlo nell" integrita sua. E credono clie una tilosolia,
nata in determinate condizioni di coltura, possa attecchire e riger-
mogliare, quando tutto e profondamente ed irremediabilmente mu-
tato. Strana illusione codesta di fare il vuoto intorno a se nella
speranza di attingervi nuove sorgenti di vita!
Prof. PiKTKO Ragn'isco. \\ PoMPONA/.zi 0 G. Zabakella (Estratto
daali atti del R. Istituto veneto di scienze, lettere, ed arti
Tom. V. Serie VI. Venezia 1887).
II Prof. Ragnisco dopo avere studiate le polemiche insorte
neir universiti di Padova tra lu Zabarclla il Petrella e il Piccolo-
mini, in questa memoria espone le dottrine dello Zabarella intorno
air anima in confronto principalmente del Pompunazzi. Le con-
clusioni. a cui arriva Pautore sono queste, che io riproduco colle
stesse sue parole „Zabarella sorpassa per due ragioni il Pompo-
nazzi. La prima e: teuer per fermo, come massima indiscutibile,
che ogni forma della materia prende l'essere dalla materia stessa:
negazione percib della forma astratta dalla materia. Anche il pen-
siero non cessa di essere inerente alla materia, perche tutte le
potenze e tutte le anime sono edotte dalla materia. . . . Tanto la
sensazione che rintellezionc in origine sono materiali, nelP atto
•sono in certo modo senza materia. . . . Inoltre, egli ha un buon
concetto intorno alle facolta delP anima; poiche dice che sono
attitudini che vanno a determinarsi in certe parti del corpo ; ne
nega per fino la preformazione, e non perde di vista Punita delP
anima nelle funzioni di queste potenze. L'anima produce il pen-
siero come la sensazione, questa e locale ed e generale, cosi il
pensiero e nella fantasia ed e in tutta l'anima. A questa dottrina
150 Feiice Tocco,
faoeva eco la differenza soltanto di grado tra senso ed intellctto,
ammettendo che una lacolta piii nobile devc anche potere abbrac-
ciare cio che e della facolta inferiore. L'intelletto in quanto
appunto percepisce i particolari. puo csso stes.so soUevarsi agli
universali".
Se una cosa c da de.siderarsl in questi l'aticosi studi del pro-
fessore padovano e la chiarezza. Talvolta Tesposizione italiana e
piii oscura del testo latiuo riprodotto a pie di pagina. Cosi a
pag. 29 il testo dice cosi: Nam poteutia scnsitiva est orga-
nica, ideo in sua operatione est materialis, quodammodo,
quia in recipiendo utitur corpore; est tarnen aliquo modo
immaterialis rati-one judicii, quia sola ipsa animajudicat.
Lo Zabarella da buon aristotelico attribuisce al senso non solo la
percezione, ma benanche rapprezzamento del percepito. II senso
non coglie solo il colore, Todore, il sapore; ma li giudica o piace-
voli 0 dolorosi. Or se la percezione e in qualche modo corporea,
perche legata coli' organo che le serve d'istrumento, non cosi il
giudizio 0 la valutazione, che sta nel rapporto di quella data sen-
sazione con tutta Tanima, o per meglio dire col soggetto senziente.
11 Hagnisco invece espone cosi: „il viso in atto e in certo m.odo
senza materia, perche se Timmagine e nel corpo, Tanima nel gui-
dicare non si serve delT organo." 11 lettore non puo intendere se
si tratti del giudizio in generale, ovvero di quel particolare giudi-
zio 0 estimazione, che e proprio del senso.
Prof. PiKTRo RA<iMsc<). Carattere dolla lilosofia patavina (Estratto
dal Tomo V Serie VI degli atti del K. Istituto vcneto.
Venezia 1887).
Lo scopo di questa memoria c di mettere in confronto la scuula ;
patavina colla platonica del Ficino del Cusano e del Bruno, c di
tanto esaltaro. quella, quanto abbassar questa „Chi si e piii avvi-
cinato non solo, ma ha potentemente cooperato nelF ordine seien- 1
tilico della storia alF avvenimento della fisica sperimentalc di '
Halileo, la filosolia platonica e ncoplatonica italiana iufetta di
misticismo e di tcosolia, che era fuori le universita italiane, ovvero
1 Universita patavina coi continui commenti, i quali o correggevano
Delle opere pubblicatc in Italia nel 1886 e 1887 etc. 151
Aristotele, ovvero esteuclevano la scienza a nuovi problemi?" (p. 28).
La rlsposta secondo il Prof. Ragnisco non e diibbia „Aristotele uon
cumauderä piii nella scienza: ma chi ne affretto la catastrofe non
In la fisica a priori ne di Telesio ne di Bruno, ma Fopera lenta e
tenace della interpetrazione scientifica delF Aristotele ellenico, che
pose al chiaro la necessita dell' osservazione, perche il metodo fasse
proücuo alla ricerca della natura, e questa fu l'opera di Padova"
(p. 29). A me ripugna di entrare in questa via di apprezzamenti
e valutazioni subbiettive. Diro solo che per provare la sua tesi il
Ragnisco dovea mostrarci come i commcntatori di Padova, lungi
dair esser ligii ad Aristotele, mettessero a nudo i vizii aprioristici
della sua Fisica, meglio di quel che avesse fatto il Brnno, nello
Acrotismus camoeracensis, poniamo. Ma il nostro autore e beu
lontano dalF avere financo tentata questa prova. E se non vuole
torcere i fatti a modo suo, deve pur confessare che il Cremonini
e il frutto piü maturo della scuola padovana, e ne segue fedelmente
le tradizioni e il metodo. Sieche vero precursore di Galileo
dovremmo chiamare costui, che chiudeva gli occhi per non vedere
i fatti alle teorie d'Aristotele ripugnanti, e non diremo precursore
il Bruuo, che prima del Galileo avea accettata e sostenuta la teorica
copernicana, impernandovi il suo sistema filosofico.
A questo proposito io scrissi nella mia conferenza su G. Bruno :
„La grandezza, la novita del Bruno sta nella costruzione di una
filosofia rispondente alla nova scienza e ai novi bisogni dello spirito""
Questo giudizio non e mio, ma del Keplero, la cui lettera al Galilei
e uotissima. AI Ragnisco non place, e crede di combattermi e di
mettermi in contraddizione con me stesso, perche in altro luogo
dissi: ,,üna gran parte di quella materia propria dei teologi ei crede
si debba trasformare col comodo metodo delle allegorie". Ma quäle
ripugnanza scoprite tra queste due propo.sizioni? Un filosofo puö
bensi costruire un sistema filosofico movendo dai dati della scienza
contemporanea, e poscia mostrare che questo sistema non discorda
dalla Religione, purche liberamente interpetrata. Ho detto io forse
che il motive principale del iilosofare bruniauo fosse il religioso,
come par che opiui il Ragnisco, o non l'ho anzi esplicitamente
negato? Sarö dunque in contraddizione col professore padovano,
152
Feiice Tocco,
\^
e nie ue duule; ma cgli uon devc al'fibbiarmi le opiiiiniuui sue per
mcttermi alle presc con me medesimo.
Un altro pimto merita d'essere toccato, e quello della doppia
vcrita. Secondo il Ragnisco „il parlito migliore lo scclse s^nza
dubbio la filo.sofia patavina, che distinse il campo della l'ede da'
quello della scienza: e ssiccome questa slutendeva espressa in Ari-
stotele, che era il lilosulb della natura, cosi, secondo Aristotele,
voleva dire secondo la ragione naturale". Questa interpetrazione
troppo benevola del famoso espediente della doppia verita nun regge
a parer mio. Se i (ilosoii padovani' avessere proclamatu alcuni
problemi filosolici, poniamo quello dell" immortalita dell" anima o
della provvidenza, come insolul)ili dalla ragione umana, allora ci
sarebbe stato posto per la fede; ma quando li risolvevano in un
modo reciso e delinitivo, non si puö ammetterc sul serio che alle
opposte soluzioni dell' insegnamento religioso prestassero verace
assenso. La doppia verita i'u sempre, da Averroe in poi, una
scappatoja, cd un filosofo che quel commodo sutterfugio disdegna,
ed oflre la sua vita in olocausto alle sue convinzioni, non solo
dalla politica „incerta ed agitata" e proclamato eroe, come pretende
il Ragnisco, ma da cliiunque abbia sgombra la mente da ire di
parte, o da falsi preconcetti.
David Levi. Ciiordano Bruno o la Religione del pensieru. Torino
1887.
TI titolo stesso spiega gl'intendimenti del Libro. Giordano
Hruno non h fondatore di una nuova filosofia, ma di una nuova
religione. „Tutto cio era piii che un' eresia e uno scisma, era una
nuova religione, che potrebbe agevolmente informarsi in culto
proprio, avere i suoi riti e costituire un quinto Evangelo, il nuovo
T'redo. non piii fondato sopra leggende ipotetiche, ma sopra leggi in-
fallibili e incontrovertibili della natura, elevare il tempio luturo
suir adamanto e costituire un sistema, il quäle, al pari del catto-
lico, abbracci l'ordine spirituale, il fisico e sociale, tal che governi
e domini del pari individui lamiglie, nazioni, e potrebbe com-
prendere e abbracciare nella sua vastita ogui manifestazione del
divino, e tutte le varieta del genere umano. Era la rivoluzione
Delle opeie pubblicate in Italia nel 1886 e 1887 etc. 153
piii radicale, che abbia osato promuovere qiiel seculo audace e
irrequieto" (p. 421). Indarno cerchi le prove di qiieste e consimili
asserzioni, che dei concetti del Bruno intorno alle religione, dei
^iiulizii che egli porta suUe vaiie forme del seutimento religioso,
(Ici rapporti che secondo lui debbono intercedere fra la Religione
e la Scienza, non v'ha se non un cenno fugace ed imperfctto in
due pagine sole, p. 407—408. Fisso nel concettu di lare del Bruno
Tapostolo della Religione del pensiero, che deve .succedere alle due
precedenti, quclla dei sensi, e quella del sentimento o della
passione (p. 441), lo confronta con Gesii, e scopre tra i due no-
\ atori fautastiche analogie. Cosi „Gesii dichiara d'es.sere venuto non
a mutare la legge, ma a compierla, dichiara se Dio e figlio di
Dio, predica moralitä giustizia ed araore; Bruno proclama di voler
continuare e completare Fantica dottrina filosolica italiana negletta
(m1 obbliata, dimostra alla sua volta Finfinita di Dio, la sua imma-
iienza e presenza nell' universo . . . risveglia non solo la coscienza
In noi. ma il sentimento morale per renderci perl'etti come J)io . . .
yVmbedue nel termine del loro apostolato sono tratti da una l'orza
misteriosa e provvidenziale nella capitale religiosa del mondo; Tuno
iiella Gerusalemme antica, Taltro nella Gerusalerame moderna, in
K*oma" (p. 423— 25). Bruno dunque oltre e piii che filosofo e
profeta, e al pari di tutti i grandi rivelatori delF Umanita, ha,
come a dire, una seconda vista, e con meravigliosa esattezza fino
dal 1585, quando scrive gli Eroici furori, divina la tremenda cata,
strofe del 1600. „Mira il tradimento del giuda veneto che lo vende
e lo accusa alF inquisizione; la barca che lo transita alle carceri,
e poi di prigione in prigione a Venezia, a Roma'); le torture,
dalle quali avra le carni lacerate, le vampe del rogo che dovranno
divorarlo')" (p. 237). Questa riforma religiosa, che al pari della
') Eroici furori sonetto 52 op. it. II. 399 (ed. Wagner). Levi p. 347.
Gentil garzon, che dal lido scioglieste
La pargoletta barca . . .
Vedi del traditor Tonde funeste.
E nel sonetto 53 p. 400, Levi p. 313.
Che invan ritento a lidi piü siciiri.
'0 Eroici furori p. 373 (Levi p. 38-2) Cicada vede una ,face ardente circa
154 Felice Tocco,
pitagorica i' insieme lilu.suiica. il Bruno raviclibc cli gia abl)07./.ata
ncl piimu libro, che di lui abbiamo, il cui titolo secondo il Levi
nun .s"ha da intendere nel senso, che s"e inteso finora, di concetti
umani in contrapposso degli archetipi divini, bensi in quest' altro
piii profundo „i misteri religioisi non ritraggouo che ombre della |
verita e devono diliguarsl quando il concetto del divino brilli alle
menti in tuttu il suo splendore e nella sua infinitudine; l'uomo
allora passera dalle tenebre alla vera luce" (p. 135). Allo stesso
scopo ma per altra via intenderebbe la commedia 11 candclajo „II
candelajo e la lanterna di Diogene in mano al ülosofo. II cinico
greco portava la lanterna intorno per trovare l'uomo, il fdosofo
nolano per ritrovare la verita, la sinceritä, e chiarire, mettere a
nude le ipocrisie, le buaggiui, le laidezze sociali e per servirmi
delle stesse parole del Bruno: la candela del suo candelajo
potra chiarire certe ombre d'idee le quali invano spaven-
tano le bestie" (p. 80). ^Secondo ogni probabilita Bruno, nel
dedicare la commedia a qualciie amica od amante. che abitava nel
Reame di Napoli, allude pure ad alcuna societä misteriosa, lilosofica
e religiosa ad un tempo, quali abbondarono sempre nella terra dei
Pitagorici .... La fata morgana, com' e noto, e il miraggio, e vero
miraggio sono spesso gliscritti antipapali dei nostri poeti e lilosoli ...
sono fantasic che adombrano il vero" (p. 83). j
Queste torte e fallaci interpetrazioui bastano a chiarire il con- ,
cetto fondamentale del libro, e il metodo che vi si adopera. Sl'or-
tunatamcnte non scarseggiano gli errori. Non terro conto di alcuni i
lapsus come a pag. 7: Des Dorides in luogo di Desdouits, a
p. 103: De clavis magi.s in luogo di Clavis magna, a p. 253
e passim AVurtemborg in luogo di Vittemberga, ed altri con- •
simili. Ma non posse mandargli buono, che seguiti a negare (p. 97
6 98) la conversione al protestantesimo in Ginevra, mentre conosce
i documenti pubblicati dul Dufour, secondo i quali il Nolano mede-
simo chiede di cssere riammesso alla comunione calvinistica. Ne ,
tampoco posso dargli ragione, quando egli (p. 233) rivendica al i
la quäle e scritto. Ad vitam, non ad horam" e a p. 375 uno ,strale infocato,
che ha le fiainine in luogo di ferrigna punta, circa il quäle e avvolto un laccio j
et ha il motte; Amor iustat ut iustans". i
Delle opere pubblicate in Ilulia iiel 1886 e 1887 etc. 155
Bruno il sonetto: Poiche spiegate ho l'ali al bei desio, come
se il Fiorentino solo per congettura Fabbia restituito al Tansillo,
(', iion perche di fatto si trovi nella raccolta autentica delle poesie
tansilliam. Se il Levi avesse consultata questa raccolta, ripubblicata
dallo stesso Fiorentino, avrebbe visto che non solo il sonetto 16
decli Eroici furori. ma benanche il 13 D'un si bei fuoco e d'un si
nobil laccio, sono tansilliani. Non so poi che cosa sia l'Oratio
valetudinaria di cui egli parla a p. 256 e 258, il cui soggetto
sarebbe stato l'elogio della sapienza; il brano che ne adduce
il Levi appartiene alla oratio valedictoria da lui stesso citata
iiella nota 2 di p. 258 in seguito alla pretesa valetudinaria. E
potrei seguitare ancora per un pezzo, ma quel che ho detto lui
autorizza a conchiudere che 11 libro del Levi, sebbene abbia pregi
letterarii indiscutibili, e ben lonlano dall' essere una vora ricostru-
zione storica.
Mr. PiKTKo Bai.an. Di Giordano Brimo e dei meriti di lui ad
un monumento. Saggio storico popolare. Bologna 1886.
E un libercolo d'occasione, d'indole polemica e senza valore
alcuno. Per dare qualche esempio del metodo tenuto da Monsi-
<;nore accenuero al cap. VIJ, dove espone i giudizii portati sul Bruno
da diverse parti, e sapete su quäle autorita si fonda? Sul Tira-
boschi, suir Andres, sul Rivato, e sul Cant^, tutti filosofi di prima
riga secondo Fautore. Cita anche ad avvalorare la sua tesi il
Fiorentino e lo Spaventa, ma sentite in quäl modo. Fiorentino
dice che invano si cerca in Bruno la rigida e metodica dimo-
strazione; Spaventa aggiunge che Fetica del Bruno e avvi-
luppata in cento allegorie e figure strane e bizzarre, e
che il Nolauo non pote rinvenire il centro, smarrito come fu
nel girare attorno alla circonferenza, ed il nostro Monsignore
dando a questi giudizii maggior portata di quel che intendessero i
due scrittori, ne inferisce che „negli scritti filosofici del Bruno non
v'e ordine, non precisione, non chiarezza; egli e verboso, confuso
oscuro, sieche alcuna volta si puo dubitare se intendesse quel che
diceva" (pag. 63). Diamo ora un esempio della critica filosofica,
Bruno chiaraa „Dio prima causa, in quanto che le cose tutte son da lui
156 ^ <^l '*'<^ Tocco,
(listintc. cumc Teffetto da rerficieiite, la cosa produtta dal produccnte".
E Monsignore ribattc „ma diinque Dio e distinto dal creato, comei
qui si dice, od e aiiima del moiido e quindi conluso, come potenzal
di tiitto e piii ancora tutto in tutto?" (p. 68). Come se produzionei
fosse lo stesso di creazione, e dicendo, poniamo, che il germe dell'
urgani-smo sia distinto dall' organismo stesso, si voglia porre tra i
due una diversita di natura. Delhi critica storica poi noii parliamo.
Monsignore par che dubiti del rogo del Bruno „Unico ricordo, in-i
certo e vago si ha in certi Avvisi di Roma del 12 e 19 Febbrajo
1600, i quali parlano di un l'rate Domenichino da Nola che eral
stato a Ginevra due anni. che avea insegnato a Tolosa ed a Lione,
che in Germania avea piii volte disputato col cardinale Bellarmiuo . . .
Ora e certo che G. Bruno fu a Ginevra appena due mesi e non
due anni, che a Lione non insegno; ne pare che abbia pur visto ili
cardinale Bellarmiuo in Germania o altrove" (p. 108). Come sei
Testensore degli Avvisi solo perche fosse inesattamente inforraato
dei casi passati della vita del Bruno, dovesse prendere piii grossil
abbagli su fatti, che si svolgevano sotto ai snoi occhi. Lasciamol
Stare che il Balan ignora i decreti pubblicati dal Berti, e la notizia]
estratta dal Fiorentino dal libru della Depositeria generale di Papa
Clemente VI II. E cosi si scrive la storia!
Sante Ferkaki. G. Bkuno, f. Fiokentino, T. Mamiam. Comme-
morazioni lette nella. R. Accademia di iMantova. Mantuva
1887.
La piü importante di queste tre commemorazioni e la prima,
dove il giovane professore porta un giudizio sereno c coscienzioso
suir opera del Bruno „Una volta, ei scrive, succeduta ai deliri delT
ascesi la festa delT umanisrao, il pensiero procedette anche oltre
Bruno : nc il pensatorc del secolo decimonono accetterebbe piii per
iutero le teoriche di lui. Ma ciö non scema il merito di quel
valoroso. Che a renderlo degno delF ammirazione e della ricono-
sccnza dei popoli basterebbe l'aver egli strenuamente propugnati i
dritti della natura e Temancipazione della coscienza, anche se a
questa libcrta non fosse giunto a dare un contenuto durevolc.
Sta il Catto invece che il mondo moderno c"e tutto, benche alle
Delle opere pubblicate in Ttalia nel 188G e 1887 etc. 157
\ stato di fermeiitazione, nel cervello di Bruno; e che molte delle
tesi da lui sostenute forniarono, e sono ancora oggi, la base grani-
tica della Scienza. La lüce emanata da lui, se ebbe dei bagliori
incerti per il velo di nebbia che la ciiigeva, ando nel tempo affoi-
zandosi lino a brillare in tutta la sua purezza nel sereno meriggio"
(p. 11).
A. CiiiAPPELLi, La dottrine della Realtä del mondo esterno nella
lilorfofia modevna prima di Kant. Firenze 1886. pp. 141.
E un volume nou grande di mole, ma ricco di soda dottrina
e di non comune erudizioue; ne io ho d'uopo di presentarlo ai
lettori tedeschi dopo la larga receusioue del Natorp. L'autore in-
tende di studiare il modo come il problema sulla vealta del mondo
esteriore sia stato risoluto nella filosolia moderna da Cartesio a
Kant. Giustamente egli osserva, che questo problema e pressocche
straniero alla lilosofia antica; perche „se le sottili analisi di Pirrone
e di Carneade rieseono a dimostrare che nulla possiamo conoscere
con certezza, e che quindi di due proposizioni contradittorie Tiina
non e meno vera delF altra, con questo non intendono punto
affermare che nulla esista oltre le nostre rappresentazioni, ma solo
che la conoscenza nostra non puo oltrepassare la verosimiglianza,
e che quindi bisogna sospeudere ogni giudizio intoino alla realta"
(p. 8). Tutto al contrario dobbiamo dire della filosolia moderna
che „fin dai suoi principii annunziandosi come una critica della
conoscenza" dovrä discutere il problema della realtä esteriore come
uno „dei piü caratteristici e capitali".
Alla soluzione, che il Cartesio dette di questo problema, il
Chiappelli consacra un intero capitolo, esponendo largamente la
teorica gnoseologica, che ne e il pressupposto. E col Natorp, che
SU questa via lo precedette, non sempre si trova d'accordo. Cosi
a p. 21 nega che a mente del Cartesio „le idee matematiche
debbano svolgersi in noi all' occasione delT esperienza", anzi secondo
il coucetto platonico dal Cartesio riprodotto „dovrebbe dirsi che
l'esperienza si svolge secondo quella idee ed e illuminata da essa".
A pau-. 27 non consente al Natorp, che Cartesio e Kant si accor-
dino nel motivo fondamentale che la validitä e certezza dei nostri
concetti sia garantita dai principii immanenti del nostru conoscere,
158 Feiice Toceo,
perche secondo C'artesio „l'idea di Dio non ha piii ragione in altre
idee. ma in una realtii" e quindi „l'idea supronia ha valore di un
giudizio assertorio o esistenziale; non e dunque immanente alla
conoscenza il principio, ma transcendente" (p. 28). Ed a me pare
che il Chiappelli abbia ragione, ma neanche il Xatorp ha torto. E
la contraddizione piii che tra i diie espositori e uel Cartesio stesso,
nelle cui filosofia cozzano due principii e direi qnasi due indirizzi ^
all'atto opposti, quelle ehe non ammette altra verita certa all' ia-
fnori deir lo penso, e quello che mette la fönte di ogni verita
al di \i\ deir lo, nell' essere perfettissimo. Un aspetto particolare]
di q liest' opposizionc e rilevato acutamente dal Chiappelli nei motivi
che inducono il Cartesio a superare il dubbio intoino alla realta
del mondo esteriore. „Se difatti, ei scrive a p. 52, con uno sguardo
abbracciamo tutto il [)rocesso di questa dimostrazione cartesiaua
d"nna res extensa, e facile vedere come resulti da due serie d'ar*.
gomenti, che Descartes ha invano tentato di comporre in unitä.
Questi due presupposti sono la veracita, e il ragionamento dall'
effetto alla causa, cioe dalla sensazione involontaria all' oggetto che
l.t produce". Ai quali motivi se ne aggiungo un terzo „poco rile-
vato dagli storici. Dalle ricerche suir errore lisultava come questo
sia in fondo un prodotto della volonta. Ora si dimostra che la
i'ede nella realtä corporea non i)u6 essere erronea, perche indipen-
deute dalla volonta" ([). oT).
AI caintolo sul Cartcsianismo il Chiappelli f;i seguire un nitro
sul periodo cartesiano; che comprende Geulinx, Malebranche e
Spinoza. J/autore stesso riconosce che il probiema sulla realta
del mondo esterno „nel periodo cartesiano si perde, a cosi dire, di ;
vista" (p. 07); perche „non si ricerca piii in quäl modo abbiamo
conoscenza dei corpi esterni, ma come e possibile spiegare la rela-
zione IVa questi e l'anima". Tuttavia egli park dili'usamente di .
questo periodo in quanto che „nelle forme varie dell' occasionalismo
si puo ricercare il progressive complicarsi dei termini nei quali i
sar;i posto il probiema idealistico". Per queste ragioni il uostro |
Aulore tratta cun arapiezza del CJeulinx, e tocca anche della quistioue ;
insorta a nidtivu di (|uesto lilosolb tra il l^lleiderer, TEucken e lo ,
Zeller. In funiiu il Chiappelli, sebbene faccia qualche concessione
t
Delle opere puliblieate in Italia uel 1886 e 1887 etc. 159
,ii due primi, e sostanzialmeiite d'accordo con quest' ultimo.
Saltando su questa quistione, che non e strettameiite legata col
iio.stro argomento, io mi restriugo a riferire un passo, dove il Chiap-
iielli sa connettere il Geulinx col Malebrancho e collo Spinoza
raegllo, a parer mio, di qiiel die faccia FErdmanu. „Geulinx, ei
Miive a p. 81, rimane ancora cartesiano, perclie serba la dualita
del pensiero e del corpo esteso. Accanto a Dio, unita sostanziale
delli spiriti, rimane la sostanza corporea, unita dei corpi. Da
questo dualismo, Spinoza potra facilmente svolgere il concetto mo-
nistico. . . . Ma per giungere a codesto puiito deve farsi un altro
passe, e appianare la difiicolta di conciliare Festensione colla natura
divina, e fare precisamente Finverso di quello che avea fatto
Cieulinx. . . . (^)uesto momento dovra .svolger.si in Malebranche"'.
11 terzo e ultimo capitolo, intitolato: Passaggio alF idealismo
dogmatico, prende le messe dalF empirismo del Locke, nel quäle
il problema del mondo esteriore torna di nuovo ad avere capitale
importanza. Imperocche il Locke delle tre realta, vale a dire
Fanima, Dio, e il mondo esteriore, crede che la prima s'abbia,
come dicevano anche i Cartesiani „per intiiizione, la seconda per
dimostrazione, la terza solo per sensazione". E poiche „la semplice
esistenza di una rappresentazione nel nostro spirito non prova la
realta del suo oggetto, come la ligura dipinta di uu uomo non
prova la sua esistenza reale" (pag. 115), cosi il Locke e costretto
a darne una dimostrazione, come avea fatto Cartesio. E se trala-
scia „quasi affatto il criterio della veracitas Dei, dc\ piü largo
svolgimento ol principio delF argomentazione dalF effetto alla causa,
die Foccasionalismo aveva abbandonato" (p. 118). Per tal guisa
il Locke riesce ad un realismo empirico; ma d'altra parte egli
avea messa in evidenza la distinzione, che rimonta a Cartesio, e
se vogliamo anche a Democrito, tra qualita primarie e secondarie,
e le prime sole avea tenute per reali, le seconde no. Poste queste
premesse „la conseguenza d'un assoluto f'enomenismo era inevitabile.
Ammessa la natura fenomenica delle proprieta seconde, non vi
era piii ragione nessuna di negarla alle primarie" p. 127. E cosi
era apertu la via all" idealismo del Berkeley, e del Collier.
Questo e in succo il libro del Chiappelli, che desidero vedere
l(')(j Feiice Tocco,
condotto a terniine al piii presto. lo non sono d'accordo coli' Autore
in parecchi punti. e credo che egli stesso, ritornando sul suo lavoro,
lo ritocclierebbe iiou poco. Cosi non saprei animettere che „per
Kaut la stessa esperienza interna . . . e possibile solo presupponendo
Tesperienza esterna", e che „questa e appuuto la novita dell' idea-
lismo trascendentale e la dill'erenza capitale nelle confutazione delT
ideali.smo fra la prima e' la seconda edizione" (p. 42). Ne direi
che „nel sistema cartesiano v'era pure il germe del sensismo"
(p. 66), e molto meno che per il Locke „la riflessione ricava tutta
la .sua materia dalle seusazioni esterne" (p. 128). Ma queste sono
piccole meude, che non tolgono nulla <il pregio del libro, il quäle
e un notevole „contributo alla storia del!" idealismo prekantiano".
GiLSRPPK Tarantino. Saggio sul Criticismo e suir associazionismo
di Davide llume. Napoli 1887.
In un saggio storico sul Locke pubblicato nella Rivista di Fi-
losofia scientifica Serie 2' anno V vol. V Settembre 1886, ripreu-
dendo una tesi dello Zimmermann, il Tarantino avea diniostrato
che il criticismo Kautiano prende Ic messe dal Locke. E sebbeue
qualche esagerazione si notasse in quelle scritto, che a me riucresce
di non avere qui a mia disposizione per renderne conto piii esatta-
mente, pure e innegabile che nel saggio del lilosofo inglese oltre
la parte genetica e anche la critica, e la seconda nou ha minoi
valore della prima. Seguitando i suol studi sulla iilosofia inglese
l'Autore vuole dimostrare che „Davide llume, oltre al merito
d'essere stato il creatore della Psicologia delT associazione, ha pure
quello d'aver portato il Criticismo al massimo punto del suo svi-
luppo, e che la sua posizione non Tu da. Kant siiperata". L la
stessa tesi, che nel 1792 sosteneva lo Schulze, e che parecchi anni
or sono io combattei col testo stesso dell" llume (Tocco, Fenomen
e Noumeno. Nella filosofia delle scuole italiane anno 1881). A m
pare che il Tarantino non usi rispetto a Kant la stessa diligenzf
che mo.stra nel riassumere ITlume. E trascuri un elcmento impoi
tantissiino di coufronto, vale a dire il valore che II Kant, a dill'e
renza dell" llume, attribuisce alla mateniatica, la quäle penetrandc
Tesperienza, la tramuta in una costruzione uecessaria^ su cui
dublti deir llunie non hanuo piii presa.
Neueste Erscheiniiiigen auf dem Gebiete der
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Archiv
für
Geschichte der Philosophie.
II. Band 2. Heft.
X.
Tliales ein Semite?
Von
H. Diels iu Berlin.
Bei dem eifrigen Bestreben, das im Altertum nicht minder
wie in der Neuzeit hervorgetreten ist, die Anfänge der griechischen
Speculation irgendwie an den Orient anzuknüpfen, ist es nicht zu
verwundern, dass Thaies der ehrwürdige ap/r^7ST-/)c der ionischen
Naturphilosophie mit orientalischen Einflüssen in Verbindung ge-
setzt wird, insofern er seine nautischen, astronomischen und mathe-
matischen Kenntnisse sich bei den Aegyptern, Phönikiern, Chaldäern,
dl-^ er besucht habe, erworben haben soll. Bereits im fünften Jahr-
ndert scheint dergleichen geglaubt worden zu sein. Und Ilerodot
leitet an einer der drei Stellen, wo er des weisen Milesiers Erwäh-
nung thut, sogar sein Geschlecht von den Phönikiern al). Es ge-
schieht dies da, wo er den Vorschlag des Thaies erwähnt, den
ionischen Städtebund mehr zu centralisieren (I 170). Bernays
(Phokion S. 25) sieht in dieser genealogischen Bemerkung eine
„iMalice", die gegen den Mangel an Lokalpatriotismus gerichtet sei,
wie er in jenem Vorschlag hervorträte. Dieser Ansicht möchte ich
nicht beitreten, weil die politische Anschauung des Ilalikarnassiers
von Hause aus gar nicht mit dem Particularismus der ionischen
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. II.
IGG
11. Di eis,
Zwölfstädte .sympathisiert (vgl. z. 1). I 146), sondern wol mehr mit dem
A^orschlag des Thaies, den er ja als eine "/pr^ctr) ^ycOar^ bezeichnet.
Und bei diesem Vorschlage wird Herodot gewiss nicht an phöiiikische
Staatsverfassung, sondern eher an sein politisches Ideal. Athen,
gedacht haben, wie er selbst andeutet ').
Vielmehr liegt der genealogisclien Bemerkung des Herodot tö
ävi/.ctOäv "i'svoc sovTo; 4)oivixo; eine völlig ehrliche Anerkennung zii
Grunde. Den Zeitgenossen erschien der gewaltige Manu, der die-
Flii-ssc ableitete und die Sonnenfinsternisse voraussagte, (Herod. I
74 75) wie ein Verkiinder übernatürlicher Weisheit, die nicht
aus Griechenland, sondern nur aus dem Ursitze der Cultur, dem
Oriente, stammen konnte. Er war z, B. der erste, der den Pul
schärfer bestimmte und den kleinen Bären der Schiffahrt als Leitsteral
empfahl. Man wusste, dass dies phönikische Tradition war^). He-jj
rodot konnte daher um so leichter an einen genealogischen Zusam-
menhang mit Phönikien glauben, als er auch au einer andern
Stelle die Gephyräer, die selbst aus Eretria stammen wollen, mit
den unter Kadmos Führung ausgewanderten Phönikiern in \'erlnii-
dung setzt'). Diese Colonisten werden hier als die Pioniere einer!
höheren Cultur geschildert und namentlich die Einführung des Al-^
phabets auf sie zurückgeführt. Da es nun eine alte, zuerst wie es
scheint bei ])emokrit nachweisbare Ueberliefcrung gab, welche da-s
Geschlecht des Thaies, die Theliden. mit jenen Kadmeern in \'er-
bindung setzte*), und Herodot selbst die Einwanderung der Kad-
') a. 0. I 170 ^"/.äXc'JEV h/ ß(>'j/,£'j-:/,rjic/v "Ituvc«; EXTr^ailai . . . ., Tot; oe aXXa;
-oXci;, oix£0[A£vc(; lufib^ rj530v, voat^£j!)c(i xa-cz-tf« zi orj|j.ot eTev. Das oixeo- |
|j.Evc(; u.T|0£v f^aiov bezieht sich auf den uoeh weitergeheuden Vorschlag deS'
Bias, einen Synoikismos aller luuier in Sardes /.u veranstalten, was Herodot
als yprjat[j.u)'rc(TYj yvoitArj bezeichnet.
■■*) Kaliiinachos Fr. 94 H 259 Sehn. G'x/.TjTo; o; t' yjv TaXÄct 0£;to; yvw[i.Tg
7.0(1 Tr^; iac(;rj; DdyiTo aTai)jj.Tjaaa8ai to-j; cüaTspfaxo-j;, ^ -Xso'jat iDoi'vixe;.
■') I ')! (Ij; jj.Ev OL'j-ol AEyO'jat, lycyrivEjav I; 'Ep£~[JiVj; Tr,v ctoyTjV, w; oe lycb
dvcc,T'jvi)oivo;j.£vo; E'jpt'sxto, y^lctv (l'ot'vtxE; TÖJv O'jv Kctoaii) ötr.VAOixvKow tpoivt'xwv.
*) Lacrf. I '22 yjv toi'v'jv 6 0a/.fjS w? (jev HpoSox^; -aoli AoOpt; xott Ar,aoxpiTOS
'.50(5'., -ctTpö; (J.EV 'E;oc[j.'jO'j , (j.TjTpo? 0£ K/.£0|3o'j"/.tvrj;, h. T(Lv t)rj}ao(7)v, oi £^31
tPoivixE; £ÜY£v£3-o(-cii Tiüv cJ-ö Kototj.O'j xo(l 'AyTjVopo;. Das folgende (§ 23) ^ttoXito-
Yp<z'fv/)'j 5^ ^/ .NhX/,T(i) ci't£ r,?.i)£ oov Nei'Xew £x-E3ovtt <I>oiviV.Tj; ist so th()riclit
kompiliert, dass man den nrspnnigliclien Zusammenhang nicht einmal ahnen
Thaies ein Semite? 167
mecr in Tonien nnnimmt (I 146), so ist es leicht begreiflicli, wie
wahrscheinlich diese C4enealogie dem Herodot erscheinen musste.
Weniger gesichert möchte uns, die Richtigkeit aller dieser Zusam-
menhänge vorausgesetzt, der behauptete phönikische Ursprung er-
scheinen. Und selbst wenn Thaies' Ahnen von den Kadmeern und
diese aus Paliistina stammten, so wäre es doch etwas verwegen,
die eigentümliche Begabung des späten Epigonen mit jeuer semiti-
schen Urabstammung in Verbindung bringen zu wollen.
Wie aber, wenn diese Theliden doch mit angeborner Zähigkeit
;in dem alten Ursprünge und den Traditionen des Geschlechtes fest-
uvohalten und selbst in dem Namen noch der Urheimat eingedenk
noblieben wären? Der Vater des Thaies führt den ungriechischen
Xamen Examyes und da sich unter den zahlreichen Varianten auch
die Form 'Ec7.[xuo6Xoü behndet, so ist P. Schuster (Acta Soc. phil.
Lips. IV, 1875, 328 ff.) auf den Gedanken verfallen in diesem
Examyul einen phönikischen Namensvetter des Samuel zu erkennen.
Da diese Darlegung vielfach Eindruck gemacht hat, so möchte
ich hier darzulegen versuchen, dass es sich mit jenem Namen ganz
anders verhält. Qrxlr^t; 'Ecot^uou ^) ist die gewöhnlich überlieferte
Form, wie sie Diog. I 22 und 29 in der guten Ueberlieferung er-
scheint, wie sie bei Suidas und dem aus derselben Quelle geschöpften
IMatoscholion (Rep. 600 A), bei Stobaios, bei Eusebios (Synkellos,
Chronicon paschale , Hieronymus) überliefert ist, wie sie endlich
auf der Herme des Thaies in der Sala delle Muse im A^atikan in
;intiker Schrift eingemeisselt ist. Aber der Name klingt griechi-
-chem Ohre nicht verständlich. Daher haben die Schreiber zum
feil auf ihre Weise eine Verbesserung versucht, indem sie im
ersten Bestandteile die Präposition I? zu erkennen vermeinten.
kann. 0rjXto(I)v lieisst das Geschlecht in der besten Ueberlieferung BP, 0r,X'j-
ocüv in F. Meineke wollte Br^Xiotöv lesen, NrjXaocüv Bywater. Es scheint vor-
läuiijT geraten, nichts zu ändern, obgleich ein sprachlicher Zusammenhang mit
HoiÄr,;, den Schuster annimmt, abzuweisen ist.
^) Eine nur orthographische Var. ist lcc(|j.c/to'j bei Steph. v. Byzanz s. v.
Mi/.TjTo; S. 452, 15 Mein, und beim sog. Aristoteles de Nilo (Fr. ed. Rose
Leip/.. 1S8G) S. 192 Thaies qui de nmeo. Auch das in Vulgattexten hier und
da Yorkommendu 'E?a-j.iou ist durch byzantinische Aussprache des 'j leicht
entstellt.
12=^=
So losen Simpl. Phys. S. 23. 22 die guten Hdss. ix act'aou. Auf j
dasselbe sx sap-ou ist unabhiingig davon ein Schreiber des Stobaios
(Flor. 3, 79) verfallen. Aelinliclier Verderbnis mag auch das aus
Porphyrios' Philosophengeschichte (Fr. 5 Nauck) gellossene C'itat ji
im Fihrist des Muhammed ibu Ishak den Vatersnamen Mallos statt ji
Examyes verdanken'^). Noch weiter hat sich die gesammte Ueber- [
lielerung des Laertios von dem Ursprünglichen II 4 entfernt, wo i
das handschriftliche »'Ar,? ix xaXou längst von M. Gudius in HctXr,; ji
'Ecaauou überzeugend gebessert worden ist. So begreifen wir nun auch
eine Lesart des Vaticanus 140 im Laertios I 22 scottj-üo'-), wo der
Schreiber das unverständliche Wort sich offenbar durch die Besse-
rung i? ocjiuXoL) zu verdeutlichen suchte. Wenn die Worte nur
griechisch aussehen, um den Sinn kümmern sich diese braven
Schreiber wenig. Es bedarf nun für ein philologisch geschultes
Auge keines besonderen Scharfblickes, um das verfängliche i^ijjiuouXa
des florentiuer Codex (F), von dem Schuster ausging, als eine weitere
Entstellung jener Lesart zu erkennen. Auch hier wird in der Vor-
k-
lage i^otauou gestanden haben , wovon der in F ausradierte Accent
über tjL'j noch eine Spur zurückgelassen hat^). So wenig also die A ari-
ante der armenischen Uebersetzung Examilas neben der Ueberein-
stimmung der griechischen Excerptoren und d^r lat. Uebers. des
irieronymus in 'E;ot[i.6ou irgendwie selbständigen AVert beanspruchen
darf, ebensowenig kann eine noch dazu missverstaudene Conjektur
in F. einer unzuverlässig und lüderlich geschriebenen Handschrift,
^) A. Müller, Die gr. Philos. in d. arahi selten Udierl. Halle 1873 S. 5
I»ic Verderbnis will Müller S. 30^ anders erklären. Mains statt Thaies er-
scheint l)ci Kntychius ann. 1 p. 267. S. Rüper lect. Ahulfarar/h. 18-'. j
'') Ich entnehme diese Thatsache der scharfen Collation des Hrn. I. Hvwater, i
welche dieser mit gewohnter Liebenswürdigkeit mir znr Verfügung gestellt
hat. (Ur. G. Vitelli, der sich gütigst einer Nachprüfung der Stelle unterzogen
hat, schreibt mir: sollo alt' indice del nome proprio (~) pare vi sia una nisura,
ma non la garentisco.) Ich nehme an, dass die durch Ueberschreiben des ). au-
gedeutete Conjectur aus einem älteren Exemplare in F und Vatic. 140, die
sonst unabhängig von einander zu sein scheinen, übertragen worden ist, wie
ja das gegenseitige Durchcurrigieron in den älteren Lacrtioshilss. in ungewöhn-
lichem Masse sUiitgufunden hat.
Thaies ein Semite? Iß9
neben der giiteu Ueberlieferung des Laertios in Betracht kommen.
'Eca[A6"/jc steht also nicht nur in der sonstigen Ueberlieferung, son-
dern auch bei Laertios vollkommen sicher und wird zum Ueberfluss
durch die Analogie einiger auf ionischen Inschriften erhaltenen ta-
rnen bestätigt. Ein mit Thaies gleichzeitiges Anathem, das im He-
raion zu Samos stand, trägt als Namen des Weihenden Xr^rjOi^{ir,q
(Bechtel Jon. Inschr. 211), eine halikarnassische Inschrift (Bechtel
240, 11) hat den Namen [iavau-ürp (gen. nctvaa'joj). Es ist jetzt
kein Zweifel mehr, dass diese mit dem Suftixe urjc (üoc, üä, üy;)
gebildeten Eigennamen der karischen Sprache angehören -). Also
trägt Thaies Vater wie der des Herodot einen karischen Namen.
Das ist nicht zu leugnen. Wer aber daraus nun weitergehende genea-
logische Schlüsse ziehen und auf diesem Wege wieder zur semitischen
Herkunft gelangen möchte, würde vermutlich wiederum in die Irre
gehen. Denn die semitische Abkunft der Karier, die früher ziemlich
allgemein geglaubt wurde, ist durch die Sprachforschung widerlegt
worden. Es herrscht jetzt vielmehr entschieden die Anschauung vor,
dass die Karier, wie die nahverwandten vorderasiatischen Völkerstämme
der Phrygier, Pamphylier, Lydier u. s. w. Arier sind ^). Und die Namen
ihrer Städte und Personen zeigen allerdings arische Suffixe und arische
Compositionsweise. Wie dem auch sein mag, ein besonderer, höherer
Cultureinfluss des karischen Elementes kann zu Thaies' Zeit un-
möglich bestanden haben. Denn einerseits hören wir nicht, dass
diese Leute sich damals ausser durch Seeraub und Söldnerdienst
bekannt gemacht hätten. Andrerseits ist die karische Cultur die
entschieden niedere, die früh und vollständig in der griechischen
") S. Georg ileyer in Bezzenberger's Beitr. s. iiulog. Sprach/. X (ISSf!) l-tT.
Die karischen Eigennamen hat HaussouUier Bulletin de con: hell. IV ol5 ge-
sammelt. Doch fehlt Manches.
^ S. Eduard Meyer in Ersch u. Gruber's Encycl. Art. Karier, desselben
Geschichte d. Alt. I 299 u. a. 0. Milchhöfer Anf. d. Kunst in Griech. S. 109.
Georg Meyer a. 0. Den schwachen Argumenten für semitischen Ursprung hat
Kaibel ein nicht eben stärkeres hinzugefügt, bei Ribbeck Archestra/i rel. fr. 55,
wo es von Teichioessa heisst WO.r^zoj y.wij.ri Kapwv -sXa; dy/.'J^.oy. wXoj v.
Kaibel bemerkt dazu: an /uit ex eomm numero Archestratus, (/ui Semiticae stirpi.^
esse pularent Cures? quos guidni etium veteres pulahiinus obsercasse incnrvati.'i
crurilus prae ceteris inortalibus a natura donatos fuisse?
j-jQ II. Diels,
uiiftrCiTangoii ist. Ilire nuiulcsvcrtassuiif^^ das Xo'j3ao[>r/.ov (j'j-j-r^yj.,
zeigt mit der Einrichtung der ioni.schen Zwölf'städte grosse Achnlich-
keit, im iunisclion Aufstande treiben sie dieselbe antipersisclie Politik-,
und in den jonischen und dorischen Colonien der Küste zeigen sich
im (5. und 5. Jahrhundert die Karier den Griechen vullkommen
gleichberechtigt. Die erhaltenen umfangreichen Namenslisten, na-
mentlich der Inschriften von Halikarnass, wo das karische Element
allerdings sich immer besonders deutlich ausgeprägt hat, weisen ein
Durcheinander von griechischen und karischen Namen auf, wie sich
etwa in unseren Gegenden deutsche und slavische Namengebung
mischt. Reingriechische Familiennamen, wie noojxa-i'Of;-/); 'HpaxXstOcto
und reinkarische wie^Flapa-jastoXo; riavuascnoc stehen neben griechiscli-
karischen Mischnamen wie Mos/oc Tsvossaio,- und umgekehrt lla-
vuasdu: A/,a-/;Tpioy. AVenn nun auch für Milet und Umgegend eine
so stark ausgesprochene Mischung wie in Halikarnass nicht anzu-
nehmen ist'"), so bin ich doch versichert, dass Thaies, des Examyes
Sohn, trotz des barbarischen Namens seines Vaters für nicht weni-
ger hellenisch und für nicht weniger erlaucht gegolten hat als jener
Zeitgenosse Thaies, des Orion Sohn, der seinen Namen auf dem
marmornen Löwen an der heiligen Strasse bei Milet verewigt hat").
Die höhere Culf ur Yorderasiens ist damals längst eine einheitlich grie-
chische gewesen, und aus ihr ist als ihre schönste Blüte die Spe-
cülation des Thaies und seiner Schule hervorgewachsen. Wie viel
oder wie wenig fremder Anregung dabei zu verdanken ist, dies zu
ermitteln, bleibt weiterer nüchterner Forschung vorbehalten. Sicher-
lich aber wird der Stannnbaum des Thaies hierlici keine Rolle
spielen.
'") Vgl. die Li.ste iles bcu;ichbartoii lasos (Bechtel 104).
") Bechtel 93. Kirchhoff Sind. z. Gesch. d. <jr. Alph. ^ 2Gcl.
XI.
f
Die Hypotliesis in Platoiis Meiiou.
Von
Alfred Gereke in Berlin.
Vermöge seiner Dunkelheit liat der locus mathcmaticus in dem
platonischen Dialoge Menon (S. 86 f.) auf denkende Leser seit jeher
eine starke Anziehungskraft ausgeübt. Doch scheint er eine endgiltige
Lösung nicht linden zu sollen. Nur der neueste Beurtheiler dieser
Materie, Günther, schreibt in seiner Geschichte der Mathematik etc.
[Iwan Müllers Handbuch V 1] 1888 S. 30,7 einer früheren Arbeit die
richtige Deutung der vielbehandelten Stelle zu, jedoch ohne überhaupt
zu wissen, von welcher Stelle des Menon die zahllosen Dissertationen
und Programme handeln (nicht Menon S. 82 f.!). Mit vereintem
Bemühen haben Mathematiker, Philosophen und Philologen die Ele-
mente sehr verschiedenartiger Konstruktionsaufgaben in den Worten
des Sokrates gefunden und Vierecke, Rechtecke, Quadrate, gleich-
schenklige, rechtwinklige, gleichschenklig-rechtwinklige und gleich-
seitige Dreiecke, den Andeutungen jener Stelle folgend, in Kreise ein-
gezeichnet und die Bedingungen dieses Verfahrens bestimmt. Aber
schon das Auseinandergehen der Meinungen muss dem Unbefangenen
sagen, dass keiner der einzelnen Versuche das Problem löst, dass
vielmehr, wenn jede einzelne Konstruktion aus den Worten herauszu-
lesen ist, alle in den griechischen Worten liegen, oder auch keine:
dass man eine spezielle geometrische Aufgabe gesucht hat, wo der
Philosoph nur eine methodologische Anlehnung an ein allgemeines
Verfahren exakter Wissenschaft beabsichtigt hat. So fordert Cicero
von seinem Sohne de olf. III 7,33 'ut geometrae solent non omnia
docere sed postulare ut quaedam sibi concedantur, quo facilius
|-2 Alfred Ocrckc,
quac voluiit oxplicciit. sie ogo a tc posluld, nii Cit'cro. ut mihi
cüncedas, si [»utcs, nihil praeter n\ ({uod honestum sit projjlor se
esse expetciulum'. Cicero spricht von unbewiesenen aber vurhiulig
als richtig angenommenen Sätzen, aus welchen die Folgerungen
streng wissenschaftlich gezogen werden sollen, und ebenso sagt (hn-
platonische Sokrates, die von Menon gestellte Frage, ob die Tugend
Ichrbar sei, könne er erst beantworten, wenn Menon ihm gewisse
Voraussetzungen zugestanden habe, z. B. dass die Tugend ein
Wissen sei. Wie Cicero belegt er die Korrektheit seiner dorn
Laien springend erscheinenden Gedankenführung durch ein in der
Geometrie wie in tlen Naturwissenschaften oft eingeschlagenes
\crfahren, eine Voraussetzung, welche sich vielleicht durch den
Augenschein oder die Erfahrung empfiehlt, vorläuiig als richtig
anzunehmen und darauf folgerichtig weitere Schlüsse zu bauen.
Eine spezielle, nicht ohne weiteres lösbare Aufgabe und eine
spezielle Voraussetzung hierbei anzuführen, hatte für Piaton so
wenig Zweck wie für Cicero. Wollte er aber sich trotzdem auf
ein einzelnes Beispiel mit exakten Angaben statt auf die ganze
Methode berufen, so durfte er die genauen Angaben nicht weg-
lassen: denn nur dem Menon zeigte Sokrates im Sande die Figuren,
für den Leser musste er sie mit der Ausführlichkeit und Gründlich-
keit beschreiben, welche wir von ihm auch sonst überall gewohnt
sind. Was er nicht sagt, hat er nicht in den Sand gezeichnet: er
denkt auch nicht an eine Verwandlungsaufgabe, da er von einem
Verwandeln so wenig als von einer vier- oder mehr-eckigen Figur
redet. Was Sokrates klar machen will, pllegt eher einfiiltig breit als
kurz angedeutet und gelehrt zu sein, um wie viel mehr aber das, was
Licht auf die folgenden Erwägungen werfen soll; trotzdem 'ereignet
sich hierbei das Merkwürdige: während die Erwägungen nicht die
geringsten Schwierigkeiten boten, erschien das angeführte geo-
metrische Beispiel um so dunkler'. So äussert sich derjenige,
welcher zuletzt mit achtbarer Gelehrsamkeit die Spuren der ge-
suchten Figuren im Sande aufgespürt hat (Carl Demme, Progr,
No. 522 Dresden 1888 S. 7 f.).
Mir scheinen die AVorte Philuns nicht nudir bes gen zu sollen
als die Ciceros: sie lauten mit meiner Uebersetzung folgendcrmassen:
Die Hypothesis in Platnns Jlenon.
173
86 E 7.XX7. a;j-tzpoy 73 ij/ji gicb mir ein wenig im An-
TTjC 7.0/7); yäXaarjy xotl aoy/io- fange nach und gestatte, dass
ry-/;30V s?
uTCo&sustü? c.uTo axo-
TTSrailat, 8110 SlOaXTOV SÖtlV Sl'tö
5 OTKO'JOUV. Xs^fO 0£ TO »SC UTTO-
Oc'ciHCÜC« (003, (ScjTicp Ol YcCO|X£-
Tooti TroXX^xi; öxoTTOuvTcti [eher
cxoTiO'jvxöc] sTrs'Oav Tic 3pr|T7.i
aurouc, oTov Ticpl '/(urAu'j zl oiov
10 Ti i; TOVOÖ TOV XUxXoV TOOi TO
yojplc Tprj'wvov ivTaOrjV^i —
si'kOI av TU OTi „o'jiToj oioa si
e'aTiv TO'JTO ToiouTov, aXX' fis-
-£p }X£V TlVa UTiOÖcOlV TTpO'Jp^OU
15 oi'xoti £/civ upoc ~o -p^yua
TOtaVO£' £1 jJ.£V £aTlV TOUTO TO
yiM[}Wj ToioÜTOV oTov ~r).[Ä t)jv
ooilöiaav OLUTO'j Ypc(ix[jL7jv rapa-
TStvaVTa £XXt-£rv (so b, £XX£t'TC£lV
•20 T, sXXlTTElV ß) TOIOUTU) 7tüpt<l>
OFOV av a'JTO TO 7rG(p0tT£T0tU.£VOV
■(,, ä'XXo Tt au;xßaiv£tv jxoi ooxst
X0(1 ä'XXo 7.Ü 31 7.o6y7.TOV cdTtV
Ta[>T7 TraOElV. UüOt)£[Jl£VO? ouv
2J 3i)3X(ü siäciv aoi TO cuaßaivov
7r£pl TTjC £VTaC5£(U; OtUTO'J 31>J TOV
X'JXXOV SITE 70UVaT0V 31T3 [X"//."
jenes unter einer Voraussetzung
untersucht wird, ob sie Ichrbar
sei oder was sonst. Ich ver-
stehe dieses „unter einer Vor-
aussetzung" so, wie etwa die
Mathematiker oft bei ihren Un-
tersuchungen, wenn einer sie
fragt z. B. über eine Figur, ob
es möglich ist, in diesen Kreis
hier dieses ausserhalb befind-
liche Dreieck einzutragen —
wie dann einer sagen würde
„ich weiss es noch nicht, ob
dies so beschaffen ist, aber ich
denke für diese Sache eine Art
Voraussetzung bereit zu haben
in Iblgender Weise: falls diese
Figur (A) derartig ist, dass
man, wenn man sie an die
gegebene Linie (0) angetragen
hat, Platz hat für eine der-
artige Figur, wie die angetra-
gene eben ist, dann scheint
mir das ein Fall zu sein, und
wieder ein anderer, wenn es
unmöglich ist, dass dies geschieht. Wenn ich also eine Vor-
aussetzung gemacht habe, will ich ilir das sagen, was das Ein-
schreiben derselben in den Kreis betrifft, ob es unmöglich ist oder
nicht."
Geändert habe ich nur Zeile 11 to "/topk xpqtuvov für das
überlieferte to /«opiov Tpr,'(uvov, denn die Bestimmung, dass Kreis
und Dreieck bezw. Vieleck gesondert gegeben sind, ist unerlässlich
für die mathematische Genauigkeit in einer Zeit, wo die termini
noch nicht entwickelt waren; andererseits kann Sokrates niclit uu-
174 Alfred Gcrcke,
Ijcstininit andeuten, das Gebilde (/(upiov) solle „als (iuhaltsgluiches?
äliiiliclics?) Dreieck" in den Kreis eingeschrieben werden; und das
Gebilde selbst muss als Dreieck, Viereck oder Vieleck bezeichnet
sein, wenn eine bestimmte Aufgabe hierin liegen soll.
Nach meiner Auffassung ist also Sokrates einfältig genug, vuin
Mcnon nur das Zugeständnis zu verlangen: ein Dreieck müsse klein
genug sein, in einen Kreis hineinzupassen, wenn die Aufgabe, es
liineinzutragen, möglich sein solle, wie aucli die Tugend in den
Begriff des Wissens sich einfügen muss, wenn sie gleich allem
Wissen lehrbar sein soll.
xn.
Zu der platonisclieii Atlantissage.
Von
Otto Kern in ]]erlin.
Six hat in der fünfzehnten der seiner Dissertation De Gorgone
Amstelodami 1885 angehängten Thesen die Behauptung aufgestellt,
dass der platonische Atlantismythos ,mutatis mutandis' auf die
Niederlage der Perser yai beziehen sei. Ev hat sich also der von
Susemihl vor mehr als dreissig Jahren vorgetragenen Vermutung
angeschlossen. Es mag sein, dass er neue Argumente beizubringen
weiss, dass er sichere Beziehungen auf die Perserkriege gefunden
hat, das aber steht fest, dass Susemihls und seines Schülers Brieger
Gründe nicht genügen'). Und mag uns auch dieses und jenes an
die gewaltige That des themistokleischen Athens erinnern, mag Plato
unter dem Eindruck geschrieben haben, den auf ihn die Heldenthat
seiner Väter gemacht hat, die Anregung zu seiner Atlantisepisode
haljen ihm die Perserkriege ganz gewiss nicht gegeben. Denn Plato
erzählt von einem Kriege, der vor 9000 Jahren (Timaios p. 23 E)^)
zwischen den Athenern und Atlantinern geführt sei. Schon Solon
hat von dem Kriege keine directe Ueberlieferung mehr erhalten,
durch ägyptische Priester hat er erst von ihm erfahren. Durch
diese Zeitangabe wird die von Susemihl aufgestellte Hypothese
widerlegt, nicht minder aber auch dadurch, dass das Reich der
0 Znerst in der Uebersetzung des Kritias Stuttgart 1857, dann Genetische
Entwickelung der platonischen Philosophie 11 2 (1860) 486 f.
-) Vgl. Susemihl Genetische Entwickelung der platonischen IMiilosophic
II 477 f.
] 7 ( ) 0 1 1 0 K 0 1- n ,
Alhiiitis im AVesten liegt. Nach einem Kriege müssen wir sucheu,
welchen die Athener mit westlichen ^sachharn in hohem Altertum
gelührt haben.
Betrachten wir den Feind, mit welchem Altathen kämpft.
Im Anfang des Timaios wird uns der Krieg und seine Folgen ge-
schildert, im Kritias giebt uns Plato eine genaue Schilderung des
Atlantisreiches, welches Poseidon bei der Theiluug der Erde als
seinen Antheil erhalten hat. lieber die im fernen Westen woh-
nenden Atlantiner herrschen zehn Könige, welche Poseidon mit
Kleito, der Tochter des Euenor und der Leukippe, gezeugt hat.
Die Etvmoloo;ie des letztgenannten F'rauennamens hat besondere
Bedeutung: wir befinden uns im Poseidonreiche. Zu beachten ist
auch, dass der eine Poseidonsohn Elasippos (Kritias p. 114 C) heisst.
Auf der Insel stand ein grosser, prächtiger Tempel des Poseidon,
in welchem sich ein plastisches Bild des Meergottes befand, um den
hundert Nereiden auf {]cn Rücken von Delphinen schw'ammen.
Bei dieser Beschreibung kommen uns sofort die schönen Verse in
den Sinn , in denen Ilias N 27 f. der Ritt des Poseidon durch das
Meer geschildert wird, wir erinnern uns der zahlreichen Kunstwerke,
auf denen wir die Bewohner des Meers in den anmutigsten Grup-
pierungen dargestellt sehen. Die genaue Beschreibung Piatos
macht es sehr wahrscheinlich, dass er ein bestimmtes Kunstwerk
vor Augen hat.
Die Herrschaft der zehn Könige richtet sich (Kritias p. 119 C)
•/.7.t7. i-i3-o)A: za; to'j noasioüjvjc, wc 6 voixo, auxoic Traosotoxs, xal
■(paauaT7. u-o täv -(icoTcov iv ^^'r^^-'r^ ^EYpoitxjxsva opsi/aXxivrj , r, v.n-A
]x£ay,v TYjv vr^sov i'/cito iv tsf/oj HodötoÄvo? .... So sehen w'ir, dass
die Atlantis dem Poseidon gehört, auf ihn als seinen Stammherrn
geht das Herrschergeschlecht zurück. Dass aber Athena auch im
Kritias Athens Schutzgöttin ist, versteht sich von selbst,
i'lT'.v "j'7.f> otV/. 7'ar|U0? 'EX^.r^vojv TioXt?
"V /p'JCio/vO-j'/ou [UAhdoo; xixX-/);xsvyj.
Auf der einen Seite stehen also die Poseidonsöhue, auf der
anderen die Schützlinge der Athena; zwischen Beiden kommt es
zu einem heftigen Kampf, in welche Zeit derselbe fällt, hat Plato
selber klar angegeben, sagt er doch , dass der Kampf vor Theseus'
Zu der platonisrlien Atlautissag-e. 177
Zeit ausgefochten sei, p. 110 A. B Xr,«« os auta Tcy.tj.7.ipotji3voc, oti
1 Kr/.fX^KOC TS y.ai 'Ef>3/i>i«)c xal 'Epi/öovioü xo-.». 'Epuar/ f)ovoc töjv ts
ocXÄ(üV TV. -/.siGTOt, oaa-cp x'/i B-zjasto; töjv avco 7:spl tojv ovoaatojv
exaSTojv a7:oii.vr^ij.ovsu£t<z',, -out(uv sxeivciUC toc -oXXa STiOvoji.ccC'JVtctc tob;
ISpSOtC ^LoXojV SCp-/] TOV TOTE O'./fj'sTstiai TroXiiJLOV. X7.1 TV. T(T)V "i'UVy'.XOiV
X7.T7. Ta au-7'. Also Kekrops, Erechtheus, Erichthonios, Erysiclitlion.
Mit Kekrops beginnen die Könige der Athener, der letzte König
aus dem Geschlecht des Erichthonios ist Erechtheus. Seine Gestalt
macht in der sagenhaften, ältesten Geschichte Athens Epoche, er
i.st der letzte von Piato Erwähnte, welcher zu den av(o Qr^'sLo: ge-
hört. Ist es verwegen, wenn wir hiernach den Krieg in die Re-
gierungszeit des Erechtheus fallen lassen? Diese Spur zu verfolgen
wird nicht fruchtlos sein.
Vor den Perserkriegen ist kein Krieg, welchen Athen geführt
hat, zu solcher Berühmtheit gelangt wie der eleusinische. Plato
(Menexenos p. 2o9B)'') stellt selbst beide Kriege einander gegen-
über, vgl. B.Giseke Thrak. pelasgische Stämme und ihre Abänderungen
S. 4B. Und wenn also der Gedanke, dass der Perserkrieg in der
Atlantiserzähluug gemeint sei, nicht aufrecht gehalten werden kann,
liegt es von Anfang an am nächsten an den eleusinischen Krieg zu
denken. Der platonischen Dichtung liegt die loi? der Athena und
des Poseidon zu Grunde, nach meiner Ansicht auch der Sage vom
eleusinischen Krieg. So hat Isokrates Panathen. 193 auch die Sache
aufgefasst: Gpaxs; [asv "j-ap ;xet' Euji-oX-ou tou riocic'.oöuvoc stssßv.Xov st?
TYjv ya)p7.v "/jutöv, o; Tju-iiiaß/jr/j^sv 'Eps/üsi ~r^; ttoXsüuc, odav.vyy [lo-
GilOtt) ■üpOTEpOV 'Ai}-/]V7.c xvTaXv^ctv auTv^v.
Im Atlantisreiche gebieten zehn Könige, welche die Vertreter
der Perserhypothese zu Satrapen zu machen kein Bedenken getragen
haben. In Eleusis herrschen vor der Vereinigung mit Athen ver-
schiedene Fürsten, von welchen uns der homerische Demeterhymnos
Triptolemos, Diokles, Eumolpos, Keleos, Polyxenos, Dolichos nennt ■*).
^) Nach den Ausfühmngeu von Diels Abhandlungen der Preuss. Alsademie
der Wissenschaften 1886 S. 2Hf. halte ich die Echtheit des Menexenos für
erwiesen, anders auch jetzt Zeller Archiv I 614.
"*) Vgl. Friedrieh Hiller von Gaertringen De Graccorum faliulis ad Tluaces
pertinentiltus lU'roliiii ISSG p. ]',) s.
ITS
Oltö Korn.
Poseidon wurde in Eleusis hocliverehrt, nach Pausanias I B8, 6
gab CS dort einen Tempel des Poseidon llottr^p. Zum Kampfe
mit den Athenern hinaus ziehen die Poseidonsöhne Eumolpos
und Phorbas (Ilarpokration u. d. \V. Oopßotv-Eiov). Den (iegen-
satz zwischen den unter dem Scliutz des Poseidon kämpfenden
Eleusiniern und den Athenern drücken am schärfsten aus die AVorte
der Praxithea im Euripideischen Erechtheus (fr. 362, 45 Nauck):
"zpiaiyj.y of>i>rjv ataaocv iv -6Xs<u; ßai),ooic fli
KotJ-OX-OC 0003 6p?-^ C/.VCtatS'Söl XcOjC '
CTc'iOt'vj'.a'., ric(XX<ZC ö' O007.a00 T'.urCiETCC..
Nach diesen Erwägungen scheint es mir nicht zu kühn zu
sein, wenn icli die platonische Atlantis als ein Zeugniss für den
eleusinischen Krieg in Anspruch nehme. Plato hat frei mit seinem
Stoff geschaltet hier, wie anderwärts; aber woher ihm die Anre-
gung kam. wollen wir doch nicht verkennen.
Auch im Einzelnen linden wir im Kritias Eleusis Avieder. Von
Demeter freilich kein Wort, ihrer scheint auch nicht im Euripidei-
schen Stück gedacht worden zu sein, das nur den Conllict zwischen
den Poseidonsöhnen und den Athenern behandelte. Aber die
Fruchtbarkeit des Atlantislandes wird ganz besonders gerühmt
p. 113 (', UTA— C. Sehr entschieden betont Plato den Kult der
Atlantincr, und zwei gottesdienstliche Einrichtungen erinnern direct
an Eleusis, die 'z-otp/ott, von denen die grosse eleusinische Inschrift
(vgl. Tl. Sauppe Attica et Eleusinia Ind. scliol. hiem. Gottingae
1881) genaue Kunde gegeben hat, und die Jagd auf den Opferstier,
welche Artemidor I 8 (vgl. A. Nebe De mysteriorum Eleusiniorum
tempore et administratione publica. Diss. Halenses Mll (188())
p. 110) berichtet.
Der eleusinische Krieg ist, wie U. von AVihimowitz Aus Kyd-
athen S. 125 sagt, 'der Kampf zweier stammfremder Völker und
zwoiei- Keligionen, des thrakischen Speers wider die attische Gorgo'.
So haben ihn die attischen Redner immer aufgefasst. Dasselbe
gilt von dem Krieg der Atlantiner mit den Athenern, auch diese
beiden \'ölker sind einander stammfremd, hat (k)ch tue Poseidon-
stalue des Athintinertempels ein siooc ßc(pßc(pixov, s. Kritias p. IIG D,
Zu der |)I;itonisclien Atlaiitissage. 179
Sasemihl genetische Entwickelung II 485. Die Invasion der Po-
seidonsöhne ist im Kritias sowohl wie in der attischen Sage ein
Einfall des vereinigten westlichen Continents, wie Grote (Geschichte
iliiechenlands I 103, 32 Dentsche üebersetzung) den eleusinischen
Krieg mit Recht bezeichnet hat, man vergleiche nur Kritias
p. 108E TravTcuv otj -pcoTOV |xv/;cfi)ti)[i.3V, OTi xo Xc'iv'Xaiov r^v sva-
■/i? /tÄia E~"/]. <zcp' oü -|'3-'OV(oc iixrjV'ji)"/] t:oX3|xoc toi«? !)' utceo 'Hpa-
xXsi'otc a-r^).o.c ilüi xcToixo'jai xal toi^ svto; -as'.v z. B. mit
Xenophon Memorab. III 5, 9 oTaai ijiv, zl to'j; 7s -aXaioTatouc (ov
ci(xotjO[xsv Kpo^ovouc rzuTÖJv avctixtavT^axr/tiJ-EV ctutouc '7.xr|X''jOTac ctfitaTOuc:
-,'£Y0V3vai. W[>7 XrjS'.c tr,v Ttöv Dsuiv xr>t'3iv. y)v 01 -spl Ksxpo-a 01
7(viTr,v i'xp'.votv; Xs-;oj 77.0 X7.1 tr,v 'Ep3/_i}i<juc -■£ tpocpr^v X7.l -'ivsS'.v,
v/jx Tov roXsaov 1 0 v c - ' i x s i v 0 u 7 e v 0 ;j. s v '^z v t: 0 0 c 1 0 ü c s x t 9] c
3 V 0 a i V r^ c i^~z i rj 0 u ~ 7 G r^ c.
Das hoho Lol), welches v. Wilamowitz Homerische Untersnclnm-
gen S. 398 dem platonischen Kritias ertheilt hat, verdient er voll
und ganz. Die Zeit, in der man dieses ^leisterwerk, das ein Toiso
bleiben sollte, Plato absprach, ist längst voriiljer. Mit staunender
Bewunderung sehen wir, wie sein Genius aus der Anregung, welche
ihm eine attische Sage gegeben, ein "W'erk schuf, dessen Nicht-
vollendung für jedes poetisch empfindende Gemüt ein unersetzlicher
\'erlust ist.
XIII.
Zur Psycliologie der Scliolastik.
Von
H. Siebeck.
Alexander von Haies und Johann von Rochelle.
])as Inleres.se, den Thatsachen der äussern und Innern Erfah-
rung, wenn auch nicht vermittelst eigner Beobachtung sondern an
der Hand der zugänglich gewordenen antiken Autoritäten, nachzu-
zugehen, war mit dem Anfange des 13. Jahrh. durch die Einflüsse
vom Orient her kräftig angeregt worden. Auch die spezifisch theo-
logische und realistisch-dialektische Richtung der Scholastik mochte
sich dieser Strömung nicht länger verschliessen '). Ein entschie-
dener Realist wie xMexander Neckam war zugleich der hellissene
Eürilerer physikalischen Wissens, und Alfred der Engländer, in
dessen Ansichten man den Uebergang von der platonischen Theo-
logie zu der empirisch-psychologischen Richtung des Aristotelismus )
verfolgen kann^), war allem Anscheine nach dessen Schüler. Seit
dem Ende des zwölften Jahrhunderts wird die empirische Psycho-)
logie mehr und mehr in den Dienst der dogmatischen Theologie
gezogen und gewinnt dadurch ihrerseits wieder in Bezug auf Ge-
halt wie auf l'mfang. Erörterungen wie die über die Erkennbar-
keit Gottes, p.sychologische Konstiuktionen über das Geistesleben
der Engel trugen nicht minder wie Untersuchungen über das Ver-j
') Ohschon es anfangs an Sp\iron einer vun (loitliei- kuinmeu'len Alige-
ncigllieit nicht mangelt. S. LIaureuu 11, 1 S. Giill'. I
*) Vgl. cIkI. S. G4 f. Gesell, tl. Psych. 1, 2, S. 4-20. 428. i'M. '
Zur Psychologie der Scliolastik. ^81
liältiiiss von Sünde, Freiheit und Gnade u. a. da/Ai bei, tlieils ober-
lläcliliohe Beobachtungen zu vertiefen, tlieils innere Zusammen-
hänge in den wissenschaftlichen Gesichtskreis zu rücken, für welche
der arabische Lehrmeister noch keinen Sinn hatte; und dies alles
umsomehr als man bereits namentlich in Augustins Schriften für
derartige Tendenzen unerreichte Vorbilder besass^). Immerhin wird
der Einfluss des letzteren in der ersten Hälfte des 13. Jahrh. noch
von Aristoteles oder vielmehr von Avicenna überwogen. Man er-
kennt das besonders deutlich in der an theologischen wie psycho-
logischen Einzelproblemen schon sehr reichen Summa des Alexan-
der von Haies (f 1245).
Von Haus aus mehr der victorinischen Richtung zuneigend,
aber alten und neuen Bildnngseinflüssen gleichermassen zugäng-
lich, bezeichnet Alexander in der mittelalterlichen Psychologie den
)Vendepunkt, an welchem der mehr platonische Charakter der
früheren Epoche auf lange hin zu Gunsten des aristotelischen auf
die Seite gedrängt wird*). Er ist der erste Scholastiker, der den
Ansichten der Araber, insbesondere des Avicenna, in das theolo-
i^ische System Zutritt gewährt. Wo diese nicht zureichen , sucht
er bei Augustin, gelegentlich auch bei Johannes Damascenus,
Roetius, Avicebron, Bernhard von Clairveaux u. a. sich Rath zu
holen, ohne dabei für seine dogmatischen Interessen auf eingehende
Untersuchungen Verzicht zu leisten. Die Methode des Avicenna
erkennt man u. a. in seinen Erörterungen ') über dtis gegenseitige
Verhältniss der Seelenkräfte: die seelische Kraft als solche steht,
wie er lehrt, hoher als die blosse Lebenskraft, kommt aber im Or-
ganismus später als diese zur Wirkung. Die Gründe und Gegen-
gründe hierfür beziehen sich unter schliesslicher Berufung auf den
;irabischen Lehrmeister wesentlich auf physiologische Thatsachen
wie Herzbewegung, Emphndung, Embryonalleben. Für Einthei-
^) Ueber den Einfluss des Augustinismus in der PsyclioTogie des MA s.
/.ciisHir. f. Philos. u. philos. Krit. Band 93, S. 162 ff.
') Vgl. Gesch. d. Psych, a. a. 0. S. 422f. 428 f. 448 f. Ueber A.'s Meta-
physik der Seele und sein Verhiiitniss zu aristotelischen Ansichten vgl. Ruders
Uli Piiiiüs. .Jahrbuch (Fulda 1888) 1, S. 43ff.
'") Alex.' Hai. Summ. uuiv. theol. (ed. 1489) II, Gö, 2, 3.
Ari-liiv f. Geschichte d. Thilosophie. II. 1^
\p,2 H- Siebeck,
liingcn ist Aviconiia oft ohne weiteres massgebend''). Bei tiefer
gehenden Erörterungen wendet er sich allerdings an Augustin. Im
Hinblick auf diesen unterscheidet er als Stufen der Erkenntuiss:
ingenium, ratio, memoria und intellectus^), nicht ohne zu bemer-
ken, dass in den drei ersteren nur drei verschiedene Grade einer
und derselben Kraft wirken, yax denen die Intelligenz als Erkenut-
niss des üebersinnlichen hinzutrete (II, 69, 5, 1). Den ebenfalls
von Augustin entlehnten Begriff der sensualitas bestimmt er da-
hin, dass sie als erkennender Faktor die äussern Objekte wahr-
nehme, als bewegender aber die Vernunft auf sinnliche Anlässe
zum Handeln anrege ("ebd. 68, 2). Das concupiscible und das
irascible Vermögen unterscheiden sich nach A. nicht nur, (wie Joh.
Damasc. sagte), dadurch dass jenes das Gute begehrt und dieses das
Uebel flieht, sondern namentlich durch die verschiedene Art des posi-
tiven Begehrens: das erstere strebt nach dem Gefallenden (delecta-
bile^, das andere nach dem Schwierigen (arduum und honoralnle);
ausserdem aber kommt in Betracht, ol) chts Gute (bzw. sein Gegen-
theil) als gegenwärtiges oder als zukünftiges vorgestellt wird. \n ähn-
licli vertiefender Weise behandelt er die Ansichten des Johannes über
das Verhältniss des Willens zum liberum arbitrium (IV, 55, 3, 2).
"Wie der Einlluss der Araber der abendländischen Wissenschaft
gelegentlich auch neue Probleme zuführte, zeigt die eingehende
Untersuchung, welche A. an der Hand von Avicenna. der Schrift
de motu cordis u. a. über die Ursache und Eigenthiimlichkeit des
Lebens anstellt^). Das Leben, wie er ausführt, ist als Potenz
zu betrachten in dem Sinne, dass es den übrigen (seelischen) Po-
tenzen als organischer Grund vorausliegt. Seine "Wurzel hat es im
''') So in der Lelire vüiu iiineru Sinu und der cerehralen Lolialisatloii von
dessen Kräften; II, 67, 1. 2. 3.
0 Ingenium investigat, ratio judieat, memoria servat, intellectus compre-
hendit, II, G9, 5, 1.
^) Dass sie auch den Eindruck der Neuheit maclite, erkennt man aus dem
Umstände, dass Vincenz von IJeauvais, der (Spec. (juadr. XXIV, 1(5 ff.) diese Aus-
führungen A.'s exccri)irt, ausdriK-klich daliei die Frage erhebt (18), waniin
diesen Gegenstand nicht schon Aristoteles behandelt habe. Der Grund liege
darin, dass letzterer die Psychologie nicht sowold als Mediziner (d. ii. Kmpiri-
kci). denn als l'hilosoph ausführe.
Zur Psychologie der Scliolastik. 18o
ITcrzeD, diircli dessen Bewegung es den andern Thätigkeiteii die
Kräfte zuführt. Die Erlialtung der Lebenstliätigkeit auf Grund des
Lebens geschieht wesentlich durcii die Konserviruug des Pneuma
als des A^'ehikcls für Empfindung und Bewegung. Man muss daher
an einem und demselben Organe seine Lebenskraft noch von der
seelischen Kraft unterscheiden; letztere kann vernichtet sein, wäh-
rend die erstere fortbesteht"). Das Leben ist die ursprünglichste
(grundwesentliche) stetige Thätigkeit der Seele als erkennender
und handelnder Substanz. In diesem Sinne ist es genauer als
habituale Potenz zu bezeichnen; es ist nicht habitus im eigent-
lichen Sinne, nicht eine bestimmte Disposition zu irgend einer
Thätigkeit, welche der Potenz äusserlich zuwächst oder anhängt
und ihr den Üebergang in Handlung erleichtert; sondern es ist
Disposition im Sinne der Wurzel für die Kräfte der Substanz selbst:
die Organe der verschiedenen Potenzen werden durch die Aus-
strahlung (irradiatio) der Lebenskraft vermittelst des Pneuma in
Thätigkeit versetzt'"). Die Lebensthätigkeit ist kontinuirlich und
unermüdlich, weil die Herzthätigkeit dies ist. Das Herz selbst be-
sitzt diese Eigenschaften wegen seiner engeren Beziehung zur Seele
und seiner grösseren Vollkommenheit als Organ"). Au diese Er-
örterungen schliesst sich eine naturphilosophische Hypothese über
den Ursprung des Lebens. Das kosmische Prinzip desselben wird
i^anz im Sinne der aristotelischen Physis (s. Gesch. d. Psych. I, 2,
S. 137) bestimmt: die Elemente der Welt enthalten eine einfache
und unkörperliche „Natur", die als solche von der der Elemente
noch verschieden ist. Hn-e Mitwirkung bei der bewegenden Kraft
in Pflanzen und Thieren bedingt unter dem Hinzutreten astralischer
Einflüsse in den organischen Wesen die Beseelung. Auf Grund-
lage dieser Annahme findet dann auch die aristotelische Lehre,
dass der tiefste Grund aller Bewegung in dem Verlangen (nach
(iott als dem Schönsten und Besten) liege, eine Ausführung, die,
wenn sie nicht ausdrücklich auf das erwähnte Prinzip der Physis
sich stützte, einen entschieden pantheistischen Charakter heraus-
9) Alex. Hai. II, 90, 2, 3: vgl. Viuc. Bell. XXIV, 16. 17.
'") Ebd. 2, 4. 5. Vinc. 19. 22.
") Alex. 91, 1, 1. Viuc. 24.
13*
l,c;4 IT. Siebeck,
kehren würde. Auf dem Verlangen (appetitus), heisst es, beruht
die Kraft (vigor) der Bewegung und weiterhin auch die des Lebens.
Verlangen ist in allen materialen Dingen, nur verschieden nach
Art und Grad, gemäss der Verschiedenheit der Dinge. In den-
jenigen, welche mehr Materie als Form haben, ist das Verlangen
stumpf und gleichsam schlafend; im umgekehrten Falle aber (wie
bei dem Feuer) heftig und lebhaft, und aus diesem Grunde in der
Seele besonders kräftig und scharf. Das Verlangen ist auch schon
der Grund dafür, dass die Materie mit der Form, die Potenz mit
dem Aktus sich vereinigt'^). Bei einem kräftigen und scliarfen
Verlangen in einem einfachen "Wesen wie die Seele werden deni-
gemäss Potenz und -Aktus immer zusammengehn, daher in diesem
Falle nicht nur Substanz, sondern lebendige Substanz vorliegt.
Das Leben als aktuelle Thätigkeit ist nun das stetig von der
Potenz zum Aktus übergeführte ^^'irken der Seele selbst und da-
mit zugleich die Erfüllung des ihr immanenten Verlangens, (hiher
Leben für die Seele zugleich Lust ist'"*). j\lit dieser Lust hat (h'e
Seele zugleich die Vollkommenheit ihrer Thätigkeit; mit iler Ver-
minderung des Verlangens wird mithin das Leben von selbst
schwächer und neigt sich dem Ende zu. Hätte chis A'erlangen der
Seele die Befriedigung schon in sich selbst, so würde sie sich nie-
mals mit dem Leibe wesentlich verbinden. Diese Vereinigung ge-
schieht aber, damit das Verlangen sein Objekt erreiche und hier-
durch zum aktuellen Wirken komme. Durcli das Verlangen bewegt
auch die Seele den Leib in den verschiedenartigen Bewegungen,
um ihn und sich selbst zu vervollkommnen. Dass die Verbindung
beider sich schliesslich wieder löst, liegt nicht an der Seele, son-
dern an der eintretenden Schwäche des Körpers. Der GratI der
Verschmelzung (colligatio) von Seele und Leib ist übrigens bei den
verschiedenen Arten des Belebten verschieden. Das Lebensprinzip
(d. h. die Seele) des Vegetabilen und Sensil)ebi geht voll und ganz
'^) analog der aristotclisicheii Ansicht, es sei iler Muteric weseullii'ii, narii
Form zu streben.
■3) Alex. ;il. 1. •_>. -2, 1. Vinc. .".1. 3.Sf. Alex. "2, 2. Tino. 30: ('um autem
acdii siio conjiingitur et suo liesidcrahili uuitur et in ejus uiiione delectatur,
|H'rtVctiis est et vifam operatur. Tuuc eiiim viget aninia et delectatur.
Zur Psychologie der Scholastik. 185
in der Belebung des Körpers auf, ohne für sich etwas zu sein oder
zu bedeuten. Bei den Vernunftwesen dagegen hat die Seele dem
Körper gegenüber ein Eigenleben und ist daher (im Unterschiede
von jenem) vom Leibe trennbar, ohne dies einzubüssen (a. a. 0.).
Der Schüler Alexanders, Johann von Rochelle (de Rupella),
von dessen Werken uns nur einige Mittheilungen aus Handschriften
und eine Anzahl von Exzerpten bei Viucenz von Beauvais zu
Gebote stehen, hat sich neben Alexander im wesentlichen an
dieselben Autoritäten gehalten, scheint aber, und vielleicht in
noch weitergreifendem Anschluss an Avicenna, vorzugsweise die
Psychologie ausgeführt zu haben'*). Sein Hauptaugenmerk hat
i'V, so viel man hiernach beurtheilen kann, auf Eintheilungen ge-
richtet. Die Unterschiede der Seelenvermögen sind nach seiner
wie seines Lehrers Ansicht nicht lediglich Modifikationen der ein-
heitlichen Seeleuthätigkeit durch Organe oder Objekte, sondern reale
Unterschiede im Wesen der Seele selbst, deren Dasein durch Or-
gane, Objekte und Handlungen nur kenntlich wird ^^). Die äussern
' Sinne unterscheiden sich nach Massgabe dessen, dass sie entweder
; wie Gesicht und Gehör, mehr im Dienste der Seele, oder, wie die
drei andern, mehr in dem des Leibes stehen. Die Empfindung
selbst geschieht entweder aus der Entfernung oder durch unmittel-
bare Berührung (Vinc. Bell. XXV, 20). Dass der Sinn in der
Emplindang nur die Species (Form) des Dinges und nicht dessen
Substanz selbst wahrnehme, wird begründet durch den Satz, dass
er im letzteren Falle unfähig sein würde, Entgegengesetztes (z. B.
Schwarz neben Weiss) auf- d.h. wahrzunehmen'*^). Von den Ver-
mögen der Innern AVahrnehmung, für deren Stufenleiter und Ob-
jekte hier Avicenna massgebend ist, gehen nach Johannes' Ansicht
der Gemeinsinn und die Imagination auf die formalen Eigenthüm-
lichkeiten des Empfundenen, instinktive Beurtheilung (aestimatio)
aber und Gedächtniss auf die Qualität (intentiones) selbst ''). Ge-
dächtniss und Imagination sind lediglich apprehendirend, die übrigen
ausserdem zugleich wirkend (operautur; Vinc. Bell. ebd. So). Die
'^) s. Haureau II, 1, 195 ff. Erdmanii, § 195, 6. Renan, Averroes (Par.
1852) S. -208. '■■) Haureau 196. Vgl. Alex. Hai. 65, 2, 3.
'«) Haureau 204. '0 Ebd. 210.
13ß H. Siebeck,
IMiantasic tritt als apprehcnsivcs Vermögen besonders während des
8c-lilafcs (in den Traumbildern) hervor; im Wachen dagegen kommt
ihre Thätigkcit vor den äussern Sinneseindrücken seitens der Seele
nicht zur 13cachtung'*). In dieser ihrer „natürlichen" Thätigkeit
ist sie der Vernunft gegenüber selbständig; als inneres sinnliches
Erkeuntnissvcrmögcn dagegen steht sie mit ihren Anschauungsin-
halten unter deren Leitung. Gedächtniss im Allgemeinen haben
auch die Thiere; willkürliche Erinnerung auf Grund der A'ernunft
(und zwar vermittelst der Ideenassoziation) besitzt nur der Mensch.
Vom Intellekt als dem Vermögen der Vernunfterkenntniss für ir-
dische Dinge wird die Intelligenz als die Fähigkeit der (auf Er-
leuchtung beruhenden) Erkcnntniss des Uebersiunlichen unter-
schieden (Vinc. Bell. XXVII, 14. 29. 41). Die intellektuelle Kraft
ist zwar auch ihrerseits nicht vom Organismus unabhängig, haftet
aber nicht an einem bestimmten Theile desselben, sondern an dem
Ganzen als solchen (ebd. 33). Die höhere Funktion derselben (die
Intelligenz) ist (nach Augustin) als Abbild der Triuität die höhere
Einheit von Gedächtniss, Vernunft und Wille. Ausserdem besitzt
die Vernunft, sofern sie sich auf Sinnliches bezieht, vier dienende
Kräfte: die vis inventiva, judicativa, memorativa, interpretativa,
die dann ihrerseits weiteren Untertheiluugen unterliegen (ebd. 53).
Johannes' Lehre vom Begehren zeigt die nachstehende Einthei-
lung (Vinc. Bell. XXVII, 62. 64):
Vires appctitivae
Rationales Irrationales (nach Joh. Dam.)
luobedientes Obedieutes
rationi
die verschiedenen or-
ganischen Lebenskräfte befehlend ausführend
Concupisc. Irascib.
'^) Ofienit eniin semper, secl inteuta ;iiiima circa .sensibilia in vigilia non
attenilit contiiuiara opcrationein fantasiae. Ebd. "202.
Zur Psychologie der Scholastik. 187
Definition, Ein- und Untertheilung des Willens (Vinc. Bell. XXVII,
S3) ist die des Damasceners. Die bewegende Kraft zerfällt nach
! Johannes in die organische und die vernünftige; jene wirkt ent-
weder im Allgemeinen (generaliter) oder im Besondern (ebd. 76);
diese entweder als vernünftiger AVille oder als (indeterminirte)
Freiheit (91). Die organische Bewegung regiert die Glieder vom
Herzen aus vermittelst der Athmung unter Mitwirkung von Wärme
und Kälte; die von der Vernunft abhängige bewegt auf Grund der
Vorstellung (Apprehension) (ebd. XXV, 102).
Aus alledem scheint hervorzugehn , dass die Psychologie des
Johann von Rochelle trotz ihrer geflissentlicheren Aus- und Durch-
führung im Wesentlichen ein jNIosaik überlieferter Ansichten dar-
stellte, dass ihre Tendenz besonders auf genauere Katalogisirung
der psychischen Vermögen hinauskam, und dass ihr Autor hinter
seinem Lehrer Alexander an Originalität des Denkens erheblich
zurückstand.
An dieser Stelle unserer Berichterstattung gebührt nun auch
der Enzyklopädie des Vincenz von Beauvais (f 1264) eine aus-
drückliche Erwähnung. Das 25. — 27. Buch derselben giebt eine
Zusammenstellung der überlieferten psychologischen Lehren und
„Thatsachen", exzerpirt aus den verschiedensten Quellen, aber in
lesbarer Weise auf einen Faden gereiht, wenn auch mit sehr un-
gleicher Berücksichtigung der einzelnen Fragen"). Man erkennt
namentlich auch bei ihm, wie sehr Avicenna daran gewöhnt hatte,
die Thatsachen der sinnlichen Wahrnehmung, sowie diejenigen
Gebiete des organisch -psychischen Lebens eingehender in's Auge
zu fassen, in denen sich die physiologischen Prozesse mit den
seelischen Vorgängen am unmittelbarsten verschmolzen zeigen. So
handelt (d. h. kompilirt) Vincenz sehr eingehend über Schlaf und
Traum, über Wesen und Verhältniss der Vis concupiscibilis und
irascibilis u. dgl. Die Fragen der spekulativen Psychologie, vom
Wesen des Intellekts, der Synteresis u. a. treten dagegen bei ihm
mehr in den Schatten.
•3) üeber das ganze Werk vgl. v. Liliencron, üeber den Inhalt der allge-
meinen Bildung zur Zeit der Scholastik (München 1876).
jgg H. Siebeck,
6.
Albert il. (Ir.
Diese l ngleichmässigkeit der Beliandkiug beseitigt zu haben,
ist (las [)sychologische Verdienst Albert des Gr. Die Tendenz,
das alte Material in grösstev Fülle und Verständlichkeit und in
möglichst didaktischer Anordnung der abendländischen AVeit zu-
gänglich zu machen, ist in seinen Schriften mit grosser Konsequenz
und entschiedenem Erfolge zur Durchführung gelangt. Neben
Aristoteles herrscht auch bei ihm vorzugsweise noch Aviceuua,
wenngleich ihm auch Averroes bereits genügend bekannt ist*").
Selbständigkeit in der Darstellung des Materiales besitzt Albert im
Grunde nicht im höheren Masse wie Vincenz; das Vorwiegen je-
doch des pädagogischen Gesichtspunktes vor dem enzyklopädischen
bringt es mit sich, dass er zu denjenigen Punkten, hinsichtlich
deren er Meinungs- Verschiedenheiten vorfand, sich ein eigenes Ur-
theil zu bilden suchte.
In den Schriften de anima, de sensu et sensibili, de memoria
u. s. w. kommeutirt Albert die aristotelischen Untersuchungen in
der gegebenen Reihenfolge, jedoch in der Weise, dass die aus der
Methode und den Resultaten der empirischen Psychologie seither
aufgetretenen Erörterungen in der Form von Digressiouen einge-
schaltet oder wenigstens kritisch beleuchtet werden. Gleich zu An-
fang (d. an. I, 1, 1) wird der Psychologie ausdrücklich der Cha-
rakter einer scientia naturalis zugesprochen, da die Seele ja nur
die Vollendung und Vollkommenheit des Menschen ausmache. Von
der Formwirkung bei Naturdingen wird jedoch die der Seele ge-
nauer unterschieden: sie steht im Unterschied von jener über dem
Körper, ist der obersten Ursache unmittelbar verwandt, ist daher
ein unkörperlich Bewegendes und wirkt ihrer Natur nach nicht
eins sondern vieles (II, 1, 8). Unter den Kräften der Seele wird
zunächst die bei Aristoteles in der Psychologie nur nebenbei be-
handelte virtus generativa in breiter Eintheilung nach Faktoren,
Materien und "Wirkungen dargestellt (ebd. 2, 7) und sodann (8) die
den drei Kräften der vegetativen Seele untergebenen vier virtutes
'.'0'
•'") vgl. Jourdaiu 285. Ivcuuii, Averroes 183.
Zur Psychologie der Scholastik. 189
materiales (appetitiva, attractiva, digcstiva, expulsiva) behandelt.
Der Verfasser bemüht sich zu diesem Punkte, die genannten Kräfte
nicht bloss aufzuweisen, sondern auch die organischen Bedingungen
zu zeichnen, in deren Zusammenwirken jede derselben sich dar-
stellt. II, 3, 4 beschreibt die vier Stufen der mit der Apprehension
sich vollziehenden Abstraktionsthätigkeit: Wahrnehmung, Imagina-
tion, Urtheil (aestimatio) und Erfassen des Begriffes. Es folgt (3, 6)
die Vertheidigung der aristotelisch-scholastischen Emphndungstheorie
(Aufnahme der Species intentionalis in den Sinn und die Seele)
>o\vohl gegen die entgegengesetzte platonisch- augustinische (bzw.
neuplatonische) Lehre (vgl. Gesch. d. Psych. I, 2, S. 433) wie gegen
die Ansicht derjenigen, welche auf die Vermittelung durch ein
physikalisches Medium, wie das Licht, besonderes Gewicht legen").
Beim Gemeinsinn werden die Avicenna'schen Unterscheidungen
der imaginatio, aestimativa und phantasia behandelt^'). II, 4, 12
bestimmt das grundbedingende Verhältniss des Gemeiusinns zu den
iiusseren Sinnen -^). Ueber die drei in ihm beschlosseneu Vermögen
bringt die dritte Abtheilung des Werkes eingehendere Bestimmun-
gen: die Imagination behält von dem Inhalte der Wahrnehmungen
besonders die Vorstellungen von Grössen und Gestalten'-'), vermag
aber auch (bei Einsiedlern und Propheten) überirdische Eindrücke
in sinnliche Gebilde (Zukunfts-Träume u. dgl.) umzusetzen (III,
1, 1). Die aestimativa ergänzt den Wahrnehmungsinhalt durch Er-
zeugung darauf bezüglicher Gefühle der Zu- oder Abneigung; sie
verhält sich zur Lnagination, wie der praktische Intellekt zum
-') Forma seusati per se ipsain generat se in medio sensus secimduin esse
sensibile. Es ist daher zwecklos zu fragen, quid conferat ei illud, sicut si
quaeritur quid conferat luci lucere secundum actum. II, 3, 6. (ed. Lugd. 1651).
Vf. Haureau II, 1, 287 f.
-2) ebd. 4. 7. die phantasia ist es, welclie die wahrgenommenen Formen
(auch die in der imaginatio aufbewahrten) trennt und verbindet, und zwar
sowohl im Wachen wie im Schlafe. Sie dient auch (p. lUia) zur Wieder-
criimerung des Vergessenen, weil sie die Intentionen zu den Formen und
umgekehrt bewegt; per hoc enim venitur in simile aliqnid ejus (|uod prius
scitum fuit, und dadurch in oblituin.
") Der sens. comm. est origo sensuum propriorum; diese sind von ihm be-
dingt, nicht umgekehrt, nee aliquid sui esse habet ab eis (p. 121a).
^*) Daher (ebd.) haben die bene imaginantes Talent zur Mathematik.
J90 ^- Siebeck,
spekulativen, denn sie ist nicht nur appreliendirend, sondern auch
bewegend; sie bedingt (auch bei Thieren) das instinktive Fliehen
oder Ilinstreben auf Veranlassung der ^Vahrnehmuug, ist aber eben ^
desv.cgcn nicht mit der schon zur Dcnkscele gehörigen Meinung
(opinio) identisch (ebd. 2, p. 123a f.). Die Phantasie (die Aristo-
teles noch nicht hinlänglich von den beiden eben genannten A^er-
mögen unterschieden hat), verbindet und trennt die sinnlichen
r^ilder und bedingt bei den höheren Thieren '') die Auswahl unter
den Dingen zum Behuf des Gebrauchs. Sie ist innerhalb dieser |
Stufe des Seelenlebens das Analogon der auf Vernunft begründeten i
electio, wirkt aber selbst lediglich ad instinctum naturae und des-
halb in dem thierisclien Schaffen immer in einer und derselben !
Weise; mannigfaltig erst beim Menschen unter Leitung der Ver-
nunft. Dem Intellekt ist sie oft hinderlicli, sofern sie die Seele
zu sehr mit der Kombination sinnlicher Bilder in Anspruch nimmt
und ausserdem durch Einmischung von Fiktionen unter die Bilder
des AVirklichen ihn zu täuschen vermag (ebd. 3, p. r24a). Die
drei genannten Vermögen wirken alle auf Grund körperlicher Or-
gane. Dass z. B. die Imagination die Lage zweier Gegenstände als
rechts und links von einem dritten bestimmt, geschieht nicht unter
Vermittelung des Intellekts, der ja nur die abstrakten Begriffe des
Rechten und Linken erzeugt, sondern muss darauf beruhen, dass
die Lage sich so auch in dem entsprechenden Gehirntheilc zur
Darstellung bringt (4, p. 125 b).
Digressorisch folgen weiter eingehende Erörterungen über die
^'atur des Intellekts. Die Probleme, welche aus der aristotelischen
Bestimmung desselben entspringen, gipfeln in den drei Fragen,
wie der intellectus possibilis als unveränderliches Vermögen den
Einwirkungen von Seiten der aktiven Vernunft zugänglich sein,
ferner, wie angesichts seiner überindividuellen Natur doch der ein-
zelne Mensch seine Vernunft für sich haben könne, und wie er
endlich, wenn er „der Möglichkeit nach alles" (Arist. d. an. III, 8)
ist, von der ersten ^Materie zu unterscheiden sei (III, 2, 3). Unter
'■) (|. h. bei denen, welche ein mehr entwickeltes Gehirn haben un«! in
diesem ein feineres Pneuma besitzen (ebd.).
Zur Psychologie der Scholastik. 191
^len psychulogischen Problemen in Betreff der Bewegung erscheint
IV, 9) die Frage, ob bei den nur mit dem Tastsinn versehenen
rhieren als bewegendes Prinzip (und als Ersatz der Vernunft)
ebenfalls wie bei den höher organisirten die Phantasie zu gelten
habe. Ans den l)ei ihnen hervortretenden Kontraktionen und Aus-
dehnungen sei zu schliessen, dass sie gleichfalls Gefühle der liUst
und Unlust, sowie Verlangen besitzen. Sie haben indess nur eine
„uudeterminirte" Phantasie (179a), d. h. ohne Bewusstsein eines
bestimmten von andern unterschiedenen Verlangens und ohne Vor-
stellung eines Ortes und Richtpunktes, und dem entsprechend nur
ine unbestimmte und ohne Unterscheidung vor sich gehende Be-
wesuns. Einzelsinne, Gemeinsinn nnd Phantasie sind bei ihnen
noch nicht differenzirt, was sich schon aus dem Mangel eines aus-
gebildeten Kopfes und Gehirnes ergiebt, deren Fehlen die ge-
trennte Lokalisation dieser Vermögen unmöglich macht (180a).
IV, 10 behandelt die Synteresis und das Gewissen-'). Die
Freiheit des Willens begründet Albert (181b) mit einer zur Zeit
2«) Jene enthält die als habitus angeboruen und , gleichsam" unfehlbaren
obersten Prinzipien für das Handeln (habitus operabilium universales quae
sunt quasi ipsa principia moruin, circa quae quasi nunquam incidit error et
quae sunt quasi regentia prima in moribus, p. 181 a). Das Gewissen ist die
Anwendung derselben auf besondre Umstände vermittelst der ratio und kann
auf Grund dessen auch irren. —
In Sachen der Schreibung Synteresis sei eine gelegentliche Bemerkung
gestattet. Ich halte auvTTjprjai? für die richtige und ursprüngliche Form und
vermag weder mit Nitsch (Jahrb. f. prot. Theol. V, 492) cjveßrjCJi; noch mit
Rabiis (im vorigen Hefte des Archivs) auvaipeat?, noch mit Th. Ziegler (Gesch.
d. christl. Ethik 312) Tov9dp'jat; dafür anzuerkennen. Die letztere dürfte noch
für die bestbegründete gelten, da in der That als Funktion der S. überall in
der Scholastik das remurmurare (= Tov&op'Zs'-v) contra peccatum angegeben
wird. Ebenso durchgehend, (wenngleich gerade bei Thomas und Duns weniger
hervorstechend), ist aber daneben die Bestimmung der S. als lumeu und ganz
besonders als scintilla (conscientiae) im Sinne eines Restes von dem ur-
sprünglichen moralischen Lichte, welcher dem Menschen nach dem Sünden-
falle noch erhalten ist, wie dies schon deutlich in der grundlegenden Stelle
bei Hieron. ad. Ezech. I, 6. 7 hervortritt. Die S. ist das was von dem ur-
sprünglichen Lichte noch (als Funke) konservirt geblieben ist. Mit dieser Be-
deutung deckt sich der Ausdruck, denn das in der Patristik auch sonst vor-
kommende a'jvTTQpTjats bedeutet conservatio. Die Scholastik hat sie bereits aus
der Patristik überkommen (vgl. Jahnel, Theol. Quartalschr. 52, 240 f.) und uu
192 ^^- Siebeck,
des Thomas fast schon über Thomas hinausgclienden Betonung
seiner Selbständigkeit gegenüber dem Intellekt"). Der Unterschied
zwischen der Concupiscibilis und Irascibilis wird (182 b) auf Pluto's
Unterscheidung von eti'.OujxtjTi/.ov und i}'jij.6; zurückgeführt. Bei den
^Menschen sind sie rationale, bei den Thieren Naturtriebe. Sie be-
ruhen auf körperlichen Passionen, sind aber der Leitung der Ver-
nunft zugänglich.
Die letzte Digression endlich (III, 5, 4) zeigt, wie die strengere
Rücksichtnahme auf den empirischen Thatbestand auch Albert, der
im Grunde nur der Interpret des Aristoteles sein will, in einem
prinzipiellen Punkte über den Standpunkt des Meisters hinausführt.
Gegenüber der Ansidit, dass die drei aristotelischen Seelentheile
nicht eine Substanz ausmachen könnten, weil die unvergängliche
und „trennbare" Denkseele den beiden andern nicht wesensgleich
sei, zeichnet er den genetischen Stufengang von unten nach oben,
in welchem die untere Kraft immer von der oberen vorausgesetzt
und mit aufgenommen wird, und entscheidet auf Grund dessen das
Problem dahin, dass in Beziehung auf Unvergänglichkeit und Trenn-
barkeit vom Körper zwischen den Seelentheilen kein Unterschied
bestehe. Denn dass zwei derselben ihre Funktionen immer nur
unter Vermittelung körperlicher Organe vollziehen, sei zwar ein
thatsächlicher (accidenteller), aber kein wesentlicher Unterschied ").
ihr in erster Linie festgehulteu trotz des Uinstaudes, dass ihr, wie die Schreib-
art sinderesis zeigt, der etymologische Zusammenhang zwischen Begriir und
Ausdruck verloren gegangen war. Vgl. u. a. Alex. Hai. Summ. univ. Ih. (od. 1489)
11,76, 1. Alb. M. Summa de creat. (ed. Lugd. 1651) II, 69; a\is der jüngeren
Scholastik u. a. Petr. Aureol., In libr. sent. (ed. Rom. 1596) II, 39, 2 p. ölÜiiB.
Gabr. Biel, CoUcctor. 11,39, 1 F. Auch Meister Eckarts „Fünklein'' zeigt noch
deiillich den Ursprung aus der S. (Vgl. hasson S. 105.) Ein dunkler Punkt
bleibt freilich in der Sache, so lange wir nicht im Stande sind, innerhalb der
Patrist ik selbst den dargelegten Gedanken/.usammenhang in dem Prozesse
seiner Entstellung zu beobachten. Aus llieronymus sieht man nur so viel,
dass er sich zu seiner Zeit schon vollzog oder vollzogen hatte.
-') Der Wille ist quasi facultas omnium aliarum (facultatum), qnoniam non
rngifamus nisi quando volumus et hoc modo quasi motor est aliarum virium
ad actum (I82a).
■^ 188b: die Seele hat auch nach dem Tode alle drei Kräfte. Licet non
utatur eis, tarnen non sunt otiosae, quoniam usus impedilur per aceidens.
XIV.
Antike und mittelalterliclie Vorläufer des
Occasionalisimis.
Voia
lilldwig Stein in Züridi.
Einleitung.
Einzelne tiefgreifende Grundprobleme der Philosophie sind fast
so alt wie diese selbst und dabei doch so jugendstark, als wären
sie erst soeben aus dem gährenden Gewühl der frischlebigen Gegen-
wart emporgetaucht. Es hat fast den Anschein, als ob das eherne
Gesetz vom Kampf um's Dasein auch auf geistigem Gebiete seine
unentrinnbare Anwendung fände. Denn auch auf dem Tummel-
platz der Geistesgeschichte kann man ein verzweifeltes Ringen ein-
ander widerstrebender Ideen beobachten, bis es der einen ver-
mittelst eines spezifischen Uebergewichts gelingt, einen entschei-
denden Sieg über die andere davonzutragen. Und die Philosophie-
geschichte ist im letzten Grunde nur die Geschichte der einander
durchkreuzenden, bekämpfenden und endlich überwindenden Ideen.
Es ist vielleicht um so eher gestattet, eine Analogie zwischen
dem Verlauf der geistigen Prozesse und dem der organischen Natur
überhaupt zu ziehen, als ja die psychischen Producte im ^Vesont-
lichen doch nur ein Theil der in der Gesammtheit der organischen
Natur wirksamen Kräfte sind. Es ist darum nur schwer abzu-
sehen, warum die geistigen Functionen nach anderen Grundgesetzen
verlaufen sollten, als die physischen. Wie in der organischen
Natur nach der Formulirung, die Herbert Spencer dem tragenden
Gedanken Darwin's gegeben liat, nur das Passende sicli im Kanii»f
]94 Ludwig Stein,
um".s Dasein erliält. so dürften denn auch — mutatis inutandis —
unter den philosophischen Problemen, die doch je eine ganze
CJattung von Begriffen darstellen, nur die passenden und lebens-
fähigen sich im Laufe der Jahrtausende erhalten, während die minder-
■\verthigen im Kampfe erliegen, unaufhörlich tauchen immer wieder
neue Probleme auf; aber nur wenige erweisen sich von wider-
standsfähiger Dauer. Zwar verstehen es die stets neu emporstre-
benden Modeprobleme für eine Weile zu fesseln und namentlich
weitere Kreise zu blenden; aber sie bleiben doch nur philosophische
Eintagsfliegen, jenen Leuchtkäferchen vergleichbar, die sehr kurz-
lebig sind und zumeist nur im nächtlichen Dunkel umherschwärmen,
weil ihr schimmernder Glanz vor dem hellen Sonnenstrahl ver-
bleicht. Diese ephemeren Probleme versinken ebenso urplötzlich,
wie sie unvermittelt emporgetaucht sind, und die Wahlstatt der
Philosophiegeschichte ist übersät von solchen Gedankenleichen.
J)aneben gibt es aber einige wenige Grundprobleme, die
bereits iii der antiken Philosophie in vollster Schärfe hervorgetreten
sind und seither ihre Lebenskraft nicht bloss nicht eingebüsst, son-
dern immer mehr gesteigert haben. In vorderster Reihe jener
ewigwährenden Grundprobleme nun steht der Determinismus. Neben
der Frage nach der Substanz — heisse diese nun h xal irav, Atom
oder Monade — nimmt das Problem des Determinismus und der
diirch diesen bedingte Correlatbegrifl' der Wahlfreihcit vielleicht
die erste Stelle ein. Nur muss man sich durch die verschieden-
gearteten Vermummungen und Verschanzangen, unter denen diese
I^robleme im Laufe der Jahrhunderte erscheinen, nicht täuschen
lassen. Der Determinismus zeigt sich in der Geistesgeschichte
zuweilen bis zur L^nkenntlichkeit verpuppt: Theodicee, (zva-f/r^,
Fatum, Erbsünde, Gnadenwahl, Vorsehung, Allwissenheit, Prä-
destination, slderische Constellation, Kismet u. v. A. sind nur mehr
oder weniger unbeholfene, stammelnde Laute für einen und den-
selben Begriff des Determinismus. Alle diese sinnfälligeren Be-
nennungen für den einen abstracten Begrilf der inneren Nothwen-
digkeit alles Geschehens sind eben nur aus dem gleichen anthro-
pomorphisipenden Bedürfniss entsprungen, aus welchem die Reli-
gionsstifter den abgezogenen Gottesgedanken durch Vermenschlichung
Antike und mittelalterliche Vorlünfer des Oceasionalisinus. 195
vcranschauliclit und der Perzeptionskraft der Menge angeschmiegt
luiben. So wird denn der weitausblickende Philosopbiehistoriker
beispielsweise in dem bis zum Ueberdruss vielverhandelten scholasti-
schen Problem der Gnadenwahl und Erbsünde etwas mehr sehen,
als dürres, unfruchtbares Schulgezänk; er wird vielmehr selbst in
.lieser kirchlich-dogmatischen Einkleidung den philosophischen Na-
turlaut, wie er verzweifelt nach einer Erlösung aus dem marter-
vollen Dilemma: Determination oder Willensfreiheit ringt, trotz
lies betäubenden dogmatischen Stimmgewirrs feinfühlig heraushören.
Unter diesem höheren Gesichtswinkel gesehen hat in der Geistes-
^cschichte der philosophische 'Widerstreit zwischen menschlicher Frei-
lieit und natürlicher oder göttlicher Nothwendigkeit seit zwei Jahr-
tausenden niemals geruht. Selbst während der starren Geistes-
stockungen in der patristischeu und scholastischen Periode bewahrte
dieses Problem seine zähe, ungebrochene Widerstandskraft. War es
auch vom Schauplatze der Philosophie verschwunden, so erschien es
»loch immer wieder in kirchlichem Gewände. Es wurde ein Haupt-
problem der Religionsphilosophie, der christlichen nicht weniger,
als der jüdischen und niuhammedanischen. In der neueren
Philosophie wurde dieses immer noch unbeantwortete Grundproblem
aus seiner scholastischen Formulirung herausgeschält und wieder
in den ihm einzig gebührenden Mutterboden der reinen Philo-
Sophie zurückverpflanzt. Heute lautet die Formel nicht mehr: wie
verträgt sich die göttliche Vorsehung mit der menschlichen Willens-
freiheit? Aber mit nicht geringerer Dringlichkeit und Unabweis-
lichkeit tritt heute an uns die ethische Grundfrage heran: wie ist
mit der jetzt fast allgemein zugestandenen physischen Nothwendig-
keit die sittliche Zurechnungsfähigkeit und Verantwortlichkeit ver-
einbar? Und je mehr das Prinzip der Vererbung gewisser Laster
durch die neuere Wissenschaft, namentlich durch Statistiker, Phy-
siologen und Strafrechtslehrer zum Gesetz erhoben zu werden
droht, desto schärfer spitzt sich gerade heute die Frage zu: steht
der Mensch unter dem unausweichlichen Bann seiner Verhältnisse,
sei es seiner anererbten Laster, sei es seiner sozialen Umgebung;
wie kann man ihn für seine unfreiwilligen Vergehungen zur Ver-
antwortung ziehen? Ja, wie ist bei stillschweigend vorausge-
196 T-ndwig Stein,
setztem Willensdeterminismiis eine Ethik überhaupt möglicli? Das
ist die Grundfrage, die auch die neueren Ethiker: Spencer, Leslie
Stephen, Sidgwick, Gould Scliurman , Steinthal, AVundt, Sigvvart,
Höftding und Paulsen leibhaft beschäftigt.
i\Ian sielit also, dass dieses uralte Problem seit zwei Jahrtau-
senden von seiner Actualität nichts eingebüsst. Ja eher noch in
iiingster Zeit sich bedenklich verschärft hat. Ein solches Problem
aber, das den heftigsten Anstürmen der sonst Alles zersetzenden
Zeit unbeugsam Trotz geboten hat, das in (Um- Fluclit der Jahr-
hunderte immer wieder aufs Neue auftaucht, wenn freilich ;uuli
in vielfach verkappter und entstellter Form, das verdient denn
doch wol ein Grundproblom der Philosophie genannt zu werden.
Die versuchten Lösungen solcher Grundprobleme sind nun
immer interessant, auch wenn sie auf greifbaren Irrungen beruhen;
sie sind ein erfreuliches Zeichen dafür, dass menschlicher Fiirwitz
niemals zuriickgeschreckt ist, sondern sich stets selbst an unergründ-
lich scheinende Fragen herangewagt hat. Doppelt interessant werden
diese Lösungen, wenn es sich einmal zeigt, dass Denker verschie-
dener Nationen und Zeiten völlig unabhängig von einander auf die
gleichen, noch dazu höchst verwickelten Lösungsversuche verfallen
sind. Es ist dies dann ein lautredendes Zeugniss für die über Zeit
und Kiium erhabene Homogeneität des menschlichen Geistes, der
in verschiedenen Zonen und unter durchaus anderartigen Kultur-
voraussetzungen nicht blos die gleichen Fragen ersinnt, sondern auch
die gleichen, zuweilen höchst komplizirten Antworten aufspürt.
Freilich ist es bei den zuweilen undurchsichtigen Kulturzusammen-
hängen mimentlieh tios früheren Mittelalters ungemein schwierig
festzustellen, inwieweit beispielsweise der eine arabische J)enker
vun irgend einem antiken beeinllusst ist. Allein je mehr die ge-
naue Ausmittlungder philosophischen Zusammenhänge hier erschwert
ist, desto erfreulicher ist es, wenn es an einem entscheidenden,
eklatanten Beispiel aufzuzeigen gelingt, dass wirklich solche gleich-
artige ]jösungen in einem Falle konstatirt werden können, wo ue-
genseitige Beeinflussungen zum Theil höchst unwahrscheinlich, zum
anderen Theile al)er geradezu ausgeschlossen sind.
Ein solch augenfälliges Beispiel gleichgearteter Lösungsversuche
Antike und mittelalterliche Vorläufer des Occasionalismus. "197
7,u verschiedenen Zeiten und unter völlio; anderss;estal toten Kultur-
regionen bietet uns nun der Lösungsversuch zwischen Determinis-
mus und Freiheit dar, der gemeiniglich als der occasionalistische
bekannt ist. Die Versöhnung zwischen Nothwendigkeit und Frei-
heit wird hier bekanntlich darin gefunden, dass der Mensch aller-
dings durch die von Gott in ihm vollzogenen Handlungen ge-
zwungen erscheint, dass er jedoch andererseits insofern eine gewisse
Selbständigkeit und somit Verantwortlichkeit besitzt, als er seineu
vermitttelst göttlicher Assistenz vollzogenen Handlungen seine
freudige Zustimmung ertheilen, aber auch versagen kann.
Damit wäre dann ein allerdings äusserst dürftiger Spielraum für
die Ethik geschaffen: das Mass der sittlichen Verantwortlichkeit
würde sich sonach nach dem Grade des guten oder bösen Affects
richten, von welchem die jeweilige Handlung begleitet war.
So sonderbar dieser Ausweg aus dem schwierigen Dilemma unser
modernes Bewusstsein auch anmutheu mag, so ist er doch nicht gar
so widersinnig, wie er auf den ersten Anblick erscheint. Mau
bedenke doch, dass unsere heutige Rechtsprechung diesem occa-
sionalistischen Gedanken gewisse Concessionen macht; denn Dolus
und Affect spielen bei der Strafabmessung bekanntlich keine
geringe Rolle. Wir werden offenbar denjenigen, der aus politi-
schem, religiösem, sozialem oder wie auch geartetem Fanatis-
mus einen Mord begeht ganz anders und viel milder beurtheilen,
als einen gemeinen Raubmörder, der mit cynischer Schadenfreude
und kannibalischer Mordlust sein Opfer zerstückelt. Die That ist
die gleiche; und doch welch himmelweiter Abstand in unserem
sittlichen Werthurtheil! Wenn auch der Mord aus Fanatismus
schwer geahndet wird , fällt doch das sittliche Werthurtheil ganz
anders aus über einen geraeinen Mörder, als über einen solchen
aus fanatischer Ueberzeugung. Und worauf stützt sich die toto
coelo verschiedene sittliche Beurtheilung der gleichen Handlung?
Ooch wol nur darauf, dass wir den ersteren verabscheuen, weil
er seine blutige That mit diabolischem Behagen vollführte, wäh-
rend wir den letzteren tief bemitleiden, dass er unter dem
lürchterlichen, aber unentrinnbaren Banne seines Fanatismus stand.
Also kommt auch bei unserem sittlichen ^^'erthu^theil der Affect,
Ariliiv f. Geschichte d. Philosophie. 11. A4
19,'^ Ludwig Stein,
von wclcliom eine llaiKlluiiü: begleitet ist. sranz beträchtlich in An-
schlag! Nun, etwas Anderes wollten auch die Occasionalisten und
alle Philosophen vor ihnen niclit. die den ^Verthmesser der sitt-
lichen Zureclmungsfähigkeit in den AlTect verlegten, der bei
der Handlung als iinerlässliche Regleiterscheinung auftritt. Eine
andere Frage ist es freilich, ob mau auf eine so haardünne Vor-
ausset/Aing die ganze Ethik aufhauen kann.
Dieser Gedanke nun, an die Stelle der bedingungslosen ^Vahl-
IVeiheit den Afl'ect zu setzen und aus demselben die moralisciie
Verantwortlichkeit abzuleiten, galt bisher allgemein als Specificuni
(k^s Occasionalismus. Folgende Auseinandersetzungen werden nun
den Beweis für eine bereits früher von mir aufgestellte Behauptung
zu erbringen suchen '), dass nämlich der gleiche Gedanke uns schon
in der antiken Philosophie bei den Stoikern, in der scholasti-
schen einmal bei der arabischen Philosophenschule der Ascharija,
andermal beim christlichen Mystiker Richard von St. Victor
mit einer so unverkennbaren Deutliclikeit entgegentritt, dass ilmen
selbst der Ausdruck gemeinsam ist, ohne dass doch ein hisimi-
sches Abhängigkeitsverhältniss angenommen werden müsste.
Da jedoch der historische Hintergrund und die philosophischen
Leitmotive der vier genannten Schulen ganz wesentlich auseinan-
dei'gehen, so empfiehlt es sich, jede dieser Gruppen auf dieses Problem
Inn zu prüfen und sie in chronologischer Keihenfolge gesondeit vor-
zuführen, um sodann das Endergebniss in ein Schlusswort zu-
sammenzufassen.
Kap. I.
Die Stoiker. ,
In voller systematischer Geschlossenheit tritt uns der Deter- '
miiusmus zum ersten i\rale in der Stoa entgegen. Unklare fata-
listische Vorstellungen freilich waren dem griechischen Volksglauben <
niclit weniger beigemischt, als den meisten alten Kulten, zumal
das oß"enl)are Unterworfensein des Menschen unter aussergewöhu-
') Vgl. m. Abhandl. „Zur Genesis des Occasionalismus", im Archiv,
Band i, lieft. 1, S. 61, sowie m. Erkeuntnissflieorie der Stoa (zweiter Hand
der Psy.Iiolugie) S. lf)l. Note .",83 ff.
Antike inul mittelalterliche Vorläufer des Occasionalismus. 199
} liehe Naturereiguisse ihm von jeher den Gedanken an unausweich-
liche Schicksalsfügungen nahelegen musste '). Auch hei den älteren
griechischen Dichtern, vielleicht schon bei Homer ^), jedenfalls aber
i l)ci einem Ilesiod und Pindar, einem Aeschylus, Sophocles und
Euripides spielt die Tu/r, keine geringe Rolle. Die griechischen
Philosophen des 5. Jahrhunderts passen sich, soweit der winzige
Bruchtheil ihrer auf uns gekommenen Fragmente überhaupt ein
Urtlicil über ihre Stellung zum Determinismus gestattet, fast durch-
weg dem herrschenden Volksglauben an, ohne die philosophische
Seite der Tu/vj schärfer hervorzukehren. Nur Heraklit hat mit
dorn ihn auszeichnenden genialen Tiefblick die philosophische Trag-
weite des Determinismus ahnungsvoll angedeutet^). Dass aber auch
ihm der tiefgehende Widerspruch zwischen Determinismus und
AVilleusfreiheit noch entgangen ist, darf uns um so weniger Wunder
nehmen, als selbst Philosophen vom Range eines Sokrates, Plato
und Aristoteles an diesem Prol)lem ahnungslos vorbeigegangen sind.
Bei Sokrates wog eben das religiös-sittliche Interesse zuweilen so
entschieden vor, dass darunter die rein philosophische Seite der be-
handelten Probleme leiden musste. Wenn er sich beispielsweise
zum Erweise für die Gültigkeit des Yorsehungsglaubens auf die
Aussprüche der Orakel berief), die ohne Vorsehung unmöglich
wären, so beweist das hinlänglich, dass ihm weder das philoso-
phische Problem des Determinismus, noch der Widerstreit zwischen
menschlicher Freiheit und natürlicher Nothwendigkeit zu klarem
■) Vgl. darüber Trendeinburg, Notwendigkeit und Freiheit in der grie-
iliischen Philosophie, in: liistorische Beitrüge, II, 115 ff.
") Treudelnl)urg a. a. 0. S. 126 If.
■') Heraklit zum bewussten, energischen Verkünder des Determinismus
zu stempeln sind wir nicht berechtigt, da ein unmittelbar auf ihn selbst
/.urückzufiihrendes Fragment über diese Frage nicht vorliegt. Die diesbezüg-
üclien Aeusserungen bei Plutarch , Stobaeus, Theodoret und Simplicius, auf
'lie Zeller, I 4, GOß-* hinweist, tragen eben in den Terminis wie in ihrem Ge-
dankengepräge eine so unverkennbar stoische Färbung, dass der heraklitische
Kern kaum mit Sicherheit aus der stoischen Hülse herausgeschält werden kann.
Sicher ist jedoch, dass er die Eiaaptjivr, zum eisten Mal zur philosophischen
l'ii'triu erhoben hat.
■') Vgl. z. B. Xenoph. Mem. IV, 'd, 12: ocjtoü; i,ii.iy a'jvEpystv, Stä [Aav-txrj; toi?
Tuvildvouivoic cppc«Cov:c(; Ta ä;:oßT|aoij.£vc( /at oiocia/.ovTa;, 7, av ä'pijza ytyvoivTo;
14*
200 Ludwig Stein,
Bewusstsein gekommen wnr. Im Uebrigen ist aucli Plato kaum
von dem Vorwurf freizusprechen, dass er die irpovoia ganz unver-
mittelt neben der Wahll'reiheit bestehen liess''), ohne auch nur
durcli ein AVort anzudeuten, dass zwischen beiden Begriffen ein
nur schwer auszugleichender Gegensatz besteht.
Entbehrte die Willenstlieorie Plato's noch einer breiteren phi-
losophischen Unterlage, so ergänzte Aristoteles allerdings jene '
augenfälligen Lücken, die sein Meister offen gelassen hatte, mit
dem ihm eigenen Geschick. Zweifelsohne hat Aristoteles die Willens-
freiheit zuerst als philosophisches Problem voll erkannt und sie
einerseits aus dem etwas niedrigen Niveau des landläufigen Gemein-
begriffs, andererseits aus der übersinnlichen AVeit der intelligiblen
Freiheit, wie sie bei Plato vielfach erscheint'), hinausgerückt in
die Sphäre kühlen und nüchternen metaphysischen Denkens. Auch
konnte er für die positive Begründung der Willensfreiheit um so riick-
haltsloser eintreten, als er an eine Rücksichtnahme auf die noch von
Plato so scharf betonte -povoia nicht gebunden war. Allerdings
erwähnt er wol beiläufig den vulgären Vorsehungsglauben ^), aber
die vorsichtig einschränkende hypothetische Form, in welche er
*"') Es hat freilich nicht an Versuchen gefehlt, Plato zum einseitigen De-
terministen zu stempeln und diejenigen Stellen, an denen er sich für die
Willensfreiheit erklärt, durch geschraubte Interpretationen hijtwegzukliigeln.
Aber selbst der glänzenden Dialectik eines Martin, Steger, Wildauer und Teich-
miiller wird es niemals gelingen, ein so rückhaltsloses Eintreten fiir die Wahl-
freiheit, wie CS in der Rep. X, G17E, G19B hervortritt, künstlich hinwegzuinter-
pretircn. Dass daneben der Timacus in seiner durchweg teleologischen Natnr-
aull'assung eine starke Hinneigung zum Determinismus verräth, bleibt freilicii
ein ungelöster Widerspruch. Vgl. übrigens, was Zeller neuerdings II\ 8.'34'
bemerkt und Wildauer, Platon's Lehre vom Willen, S. iMOf.
') Vgl. Trendeluburg a. a. 0. S. 149, 157, 185.
*) Eth. Nie. X, 9, 1179, a, 2'2: zi yiip xi; iTrifAEXtict tiöv dv!)p(U7Tivcov ünö Ö£(üv
yivetat, tiiazep ooxel. Hier könnte noch angefügt werden Magna Moral. II, 8,
1207, a, 15: a/Xä [j.rjv oüo' rj ^ztpiXsia v.al ^; £'jvoio( /^ Tiapä toü Deoü od?£iEv
5v Elvat tlt-'r/ioL. Schon in meiner Schrift: Die Willensfreiheit und ihr Ver-
hültniss zur göttlichen Praescienz und Providenz etc., Berlin 1882, S. 117,
Note 188 habe ich nachzuweisen gesucht, dass die vorsichtige hypothetische
Fassung (a>a-£p Soxel), die Arist. dem Vorsehungsglauben gegeben hat, wol
nur als matte Concession an den übcrkomineneu Volksgjaulien aufgefasst wer-
den dürfe.
Antike und mittelalterliche Vorläufer des Occasioiuili.smus. 201
diesen Glauben eingekleidet hat, lassen kaum darüber Zweifel auf-
kommen, dass es ihm mit der göttlichen Vorsehung unmöglich
Ernst sein konnte, zumal sein extramuudaner, auf das Denken
seiner selbst beschränkte Gott keinerlei unmittelbare Verbindung
mit unserem Weltgebäude unterhalten soll.
In der That erscheint denn auch Aristoteles als der vollen-
detste antike Vertreter der Wahlfreiheit, für die er aus dem reichen
Arsenal seiner Dialectik das schwerste Geschütz in's Treffen führt.
I Beide Gesichtspunkte, unter denen eine Begründung der Willens-
freiheit möglich ist: d. i. der ethische und psychologische,
kommen bei ihm gleichmässig zu energischem Ausdruck. Die
ethische Begründung der Freiheit beruht theils auf der allgemein
zugestandenen Freiwilligkeit der Tugend, theils und besonders auf
der Behauptung, dass ohne Freiheit jegliche sittliche Verantwortung
und damit auch jedwede Ethik überhaupt hinfällig und illusorisch
wäre "). Psychologisch wird sie damit gerechtfertigt, dass der ]Mensch
vermittelst seines Verstandes den natürlichen Verlauf der Ursachen
olfenbar in sich hemmen kann '"). Nothwendig ist nur das Vergan-
j geue, nicht das zukünftig Geschehende. Die Forderung der mensch-
' liehen Freiheit hängt bei Aristoteles übrigens auch mit seiner Meta-
, physik eng zusammen. Denn sobald das Einzelwesen zur Substanz
(oucjia) erhoben wird, ist es nicht mehr angängig, diese Substanz
in eine Abhängigkeit zu einer Causalreihe zu setzen, die ausser-
halb ihrer liegt; sie muss vielmehr nothwendig in sich selbst das
! Prinzip ihrer eigenen Causalität haben, d. h. frei sein.
Allein mag auch der Einzel mensch nach Aristoteles im Hin-
blick auf eine etwaige transcendente Causalität durch Gott
absolut frei sein, so muss sich diese seine Freiheit, soll sie unan-
getastet bleiben, auch vor der immanenten Causalität der Welt
bewähren. Und hier lässt Aristoteles die Konsequenz im Stich.
Gott gegenüber ist der Mensch wol ganz frei, jedoch nicht in
gleichem Masse gegenüber dem Weltzweck. Hier widerstreitet die
») Vgl. das bekannte Kapitel der Nie. Eth. (I, 7).
'") Vgl. de Interpret, cap. 9, p. 18; de gen. et corr. II, 11 p. 337; Treu-
delnburg II, 152.
202 Ludwig Sfein,
Teleologic, die er ja nachdrucksvuUcr und ausschliesslicher betont
hat, als irgend einer seiner Vorgänger"), dem FreiheitsbegrifF.
Denn ist tier Zweck das weltgestaltende und weltbeherrschende
Gesetz, so muss sich doch ollenbar auch der menschliche ^Ville
diesem AVeltgesetz unterwerfen. Dann aber sind der Freiheit die
Lebensadern unterbunden; sie gilt nicht mehr in absolutem Sinne;
sie ist vielmehr schonungslos an die Fessel des Zweckes geschmie-
det. Man sieht eben, dass absolute "VVahlfreiheit mit keinem
System recht stimmen will; sie passt ebensowenig in den Rahmen
der aristotelischen Teleologie, wie in den jeden Zweck streng aus-
schliessenden Determinismus Spinoza's hinein. Ja, Aristoteles selbst
scheint eine leise Ahnung von der Unvereinbarkeit der von ihm
vertretenen absoluten Freiheit mit dem Zweckbegrilf aufgestiegen |
zu sein, wenn ihm einmal das Gleichniss entschlüpft ''0, dass in
einem wohlgeordneten Hause der Sklave weit mehr Freiheit als
der Herr besitzt, weil dieser sich naturgemäss an die zweckmässige
Hausordnung hält, während jener an keinen Zweck gebunden ist.
Hier schimmert unleugbar der Gedanke durch, dass der kiihlbe-
rcchnende Verstand seine Thätigkeit an Zwecken raisst. Dass aber
damit die Bedingungslosigkeit der Freiheit völlig preisgegeijou ist,
hat Aristoteles ebensowenig erkannt oder gar eingeräumt, wie sein
Nachfolger Theophrast, der über die "Willensfreiheit sogar eine
eigene Schrift verfasstc"), ohne jedoch von der Teleologic seines
Lehrers auch nur um Haaresbreite abzuweichen.
So Wcir die Situation unseres Problems geartet, als die Stoa
den Schauplatz der Geistesgeschichte betrat. Aristoteles hatte ihr
wol im Ausbau des Freiheitsproblems bedeutend vorgearbeitet;
Heraklit mag ihr durch einzelne lose hingeworfene Andeutungen
und abgebrochene Gedankenspähne die Grundzüge zu iin-em Deter-
minismus geliehen haben. Damit waren aber nur rohe Umrisse
gegeben. Die straffe Gliederung des deterministischen Problems,
sowie die schroftc Gegenüberstellung von Freiheit und Detcrminis-
") Phys. II, 9; de pait. au. I. 1 uiul dazu RitItM-, Gesch. d. Pliilo.s. III,
212 ff.
'-) Jlelai)li. Xil, 10.
'•') I>iog. Lacrt. V, 4o : ztfi 'K/.oujfou ü.
Antike und mittolalierlirhe Voririufer des Occasionalismus. 203
miis bleiben das unbestreitbare Verdienst der Stoa, so dass meine
an die Spitze dieses Abschnittes gesetzte Behauptung, der Deter-
minismus trete uns zum ersten Male in der Stoa in voller syste-
matischer Geschlossenheit entgegen, wol kaum als zu weit-
gehend befunden werden dürfte.
Fasste man bisher das Fatum in grobsiuulicher Weise als per-
sonifizirtes Schicksal auf, das willkürlich bestimmend in den Welt-
lauf eingreift — eine Vorstellung, die zweifelsohne das Product der
Furcht vor aussergewöhnlichen Naturereignissen ist — , so gewinnt
das Fatum in der Stoa die Gestalt der immanenten Causalität.
An die Stelle der Furcht tritt die Erkenntniss der inneren Ur-
sächlichkeit alles Geschehens. Die £i[j.otpij.£yr^ wird den Stoikern
zum sipijLoc'^), d. h. zur engverschlungenen, gesetzmässig ineinan-
dergreifenden Verkettung der Ursachen im AVeltganzen. Hier erst
erscheint der Determinismus vollkommen losgelöst von der mythi-
schen Umhüllung, in welcher er bis dahin zumeist aufgetreten war.
Das Fatum ist ihnen nichts Aussergewöhnliches oder gar Ueber-
göttliches, wie etwa dem Pittakus in dem ihm zugeschriebenen Aus-
spruch'^), sondern es fällt mit dem Urpneuma d. h. der Gottheit
zusammen. Natur, Schicksal, Nothwendigkeit und Gott sind nur
verschiedene Namen bez. Thätigkeitsarten einer und derselben
Grund k raft '"), die natürlich in der pantheistischen Stoa mit dem
Grundstoff zusammenfällt.
Mit diesem scharf gezeichneten Pantheismus vertrug sich
die Teleologie vielleicht noch besser, als mit dem aristoteli-
schen Dualismus. Bei Aristoteles war nämlich gar nicht abzusehen,
wer denn eigentlich die vernünftigen Zwecke in den Naturlauf
hineinlegen sollte; Gott doch wol nicht, denn dieser führt ja seit
'*) Vgl. m. Psychologie der Stoa Bd. I, 53, Bd. II, 340, Note 770; Menagius
ad Diog. Laert. VII, 149; Trendeinburg a. a. 0. S. 122; Gercke, Chrysippea
(Jahrb. für class. Philol. Suiipl. Band XIV ]). 715ff.). Flach sind die herge-
liörigeu Ausführungen von Göring, der Begrift' der Ursache in der gr. Philo-
sopiiie, Leipzig 1874, S. 41 f.
^■') Diog. Laert. I, 77: dtvc(Y7,a o' oüSe Seoi [j.c(/ovtc(i ; ähnlich der Ausspruch
der Pythia bei Ilerodot 1, !ll: xrjv 7:£7rptu[A£VY)v [j.oip7]v äo'ivaxa jaxi d-ocpuyseiv
xai Seiij; vgl. Treudeinburg a. a. 0. S. 127.
"'■) Vgl. m. Psychol. d. Stoa Bd. I, 45.
•204
T, 11 d w i fr Stein,
tlem ersten Bewegungsanstos.s, deu er der Welt gegeben, ein welt-
abgeschiedenes, streng gesondertes Dasein (/(upiaToc). Und so
licrrscht denn über die zwecksetzende Kraft beim Stagiritcn eine
irewisse l'nklarheit. Anders in der Stoa. Hier ist die st;j7pu=vT()
mit dem Xo-;oc identisch''). Das Schicksal wirkt demnach nicht
blind und mechanisch, sondern vernunftbegabt und bewus^t, so
dass in der gesetzmässigen Causalität aller Erscheinungen die höchste
Vernunftkraft waltet. Da ist es denn kein Wunder, dass in dieser
von der höchsten Vernunft am Gängelbande der Causalität mit
starrer ünbeugsamkeit geleiteten Welt Alles auf's Harmonischste
und Vollendetste eingerichtet ist'^).
Allein je gerechtfertigter ihre Teleologie aus dem inneren Zu-
sammenhang ihres Systems heraus erscheinen muss, desto weniger
Raum war für eine etwaige Bethätigung der menschlichen Willens-
freiheit vorhanden. Erfolgt Alles in der Natur mit unabänderlicher
Gesetzmässigkeit und verfolgt ferner dieses Gesetz einen Veruunft-
zweck, der der Gesammtheit zum Wohl gereichen muss, so ergibt
sich aus diesen beiden Voraussetzungen mit logischer Folgericiitig-
keit zweierlei: eine Willensfreiheit kann es einerseits nicht geben,
denn durch eine solche würde die ewige Causalitätsreihe unter-
brochen und somit das eherne Weltgesetz durchlöchert; anderer-
seits braucht es auch keine zu geben, denn das vernunftbegabte
Geschick ordnet Alles ohnehin zum Heile der Menschen zweck-
mässig an. Der Mensch könnte also, besässe er gar eine Freiheit,
mit seinem blinden Willen nur verderben, nichts bessern. Was
kann also der Mensch Vernünftigeres thun, als sich dem Schicksals-
zuge anzupassen, dem unentrinnbaren Lauf des vernünftig und
zweckmässsig waltenden Verhängnisses unterzuordnen? Jeder AVider-
stand gegen das Verhängniss ist unklug, weil unnütz. Und so
haben denn die Stoiker ihre prinzipielle Leugnung der AN'illcns-
freiheit auf jene kürzeste Formel gebracht, die Seneca in freier
rhythmischer Uebertragung in den bekannten, zum geflügelten AVort
'^ Philodera de piet. p. 82 Goinp; Heinze, Lehre vom Logos S. 100 ff.
'^) Plut. pluc. phil. I, G, 2 (Aetius Diels p. 29;)), xctÄö; ok b /.rjaao?; Diog.
L. VII. 140: l'lut. St. rep. cap. 21: Cic. de lin. III, 5, 18 u. ü.
Autike uiul iiiittelalterliuhe Vorläufer des Occasionalismus. 205
gewordenen Vers gegossen hat: dacunt volentem fata, nulentem
trahunt'-^).
Nun war allerdings der metajDhyslsclien Konsequenz vollauf
Geniige geschehen; der Deternainismus war mit einer so unerbitt-
lichen Folgerichtigkeit durchgeführt, wie nie zuvor. Aber jetzt be-
gann die Ethik, die ja eine Wahlfreiheit zu ihrer schwerlich ent-
behrlichen Voraussetzung hat, entschiedene Einsprache gegen diesen
starren Determinismus zu erheben. Und je strenger die sittlichen
Anforderungen waren, welche gerade die Stoa an den Menschen
stellte, desto dringender trat an sie die Verpflichtung heran, die
Willensfreiheit in irgend einer Form zu retten. Allein trotz des
Vorwiegens des ethischen Interesses in der Gesammttendeuz der
stoischen Philosophie mochte sich doch kein stoisches Schulhaupt
dazu verstehen, die metaphysische Konsequenz der ethischen
unterzuordnen d. h. den von der Metaphysik geforderten Determi-
nismus zu Gunsten der Freiheit zu opfern. Um aber gleichwol
der Freiheit und somit der sittlichen Verantwortung einen Spiel-
raum zu verschaffen, verfielen sie auf jenen Ausweg, der später
bis auf den Occasionalismus hin so mannigfache Nachahmung ge-
funden hat, dass sie nämlich unter ungeschmälerter Aufrechthaltung
des Determinismus doch eine Schatteufreiheit retteten, sofern sie
diese Freiheit in den Affect verlegten, von welchem un-
sere jeweiligen nothwendigen Handlungen begleitet sind.
Urheber dieser Theorie war wol der Stoiker Kleanthes, wäh-
rend dessen Nachfolger Chrysipp den Widerstreit zwischen Nothwen-
digkeit und Freiheit mehr durch seine bekannte, auch im Mittel-
alter nachgeahmte Unterscheidung von Haupt- und Mittelursachen
lösen wollte''"). Da uns jedoch an dieser Stelle nur die von
'•') In in. Erkenntnisstheorie d. Stoa S. 329 ff. habe ich den Nachweis
'internoinmen, dass diese knappe Fassung des Determinisnms den Stoiker
Kleanthes zum Urheber hat.
-") Die Ilauptstelle für die Unterscheidung Chrysipp's der causae princi-
pales et perfectae von den causae adjuvantes ist Cic. de fato, 18,41; vgl. auch
Cic. Top. 15,59; Plut. de St. rep. cap. 47. Auch diese Problemslösung Chry-
sipps ist in das arabisch-jüdische Mittelalter übergegangen. Wir begegnen ihr
bei der arabischen Philosophenschule der Ascharija (Schahrastäni, deutsch von
llaarbrücker, I, 105), beim arabischen Aristoteliker ihn Siua (Franck, diction-
205 Liulwig Stein,
Kleanthes versiu-hte Problemslösiing interessirt, zumal diese in der
späteren Stoa zur herrschenden Doctrin geworden ist, scheiden aus
unserer Behandlung die übrigen J.ösungsversuche Chrysipps, die
ich an anderer Stelle gewürdigt habe^'), aus. Um aber die von
Kleanthes vertretene Version voll erlassen zu können, niuss man
sich den erkenntnisstheoretischen Hintergrund dieser Frage, der in
der spezifisch stoischen Lehre der au-f/czTaOöaic gipfelt, genau ver-
gegenwärtigen.
Die Stoiker nennen nämlich das Urtheil nicht xpiau, wie sonst
wol üblich ist, sondern sie erfanden dafür den eigenthümlichen,
selbstgebildeten Terminus 3'j-,/a-aOs3'.c, weil nach ihnen jedem Ur-
theil ein Affect des Beifalls oder Missfallens beigemischt ist"')-
Und so gingen sie denn gar soweit, Urtheil und AVillensfreiheit
geradezu zu identifiziren -^), weil eben unser Urtheil nur in dem
Masse frei ist wie unser Wille. Unser Urtheil ist stets durch die
Energie (den Tonus) des sinnlichen Eindrucks causal bedingt,
ebenso wie unser Wille durch die Causalität des Näturverlaufs
determinirt Ist. Kur freilich können wir vermittelst unserer Aftecte
unserer auvxa-aÖss-.c ein individuelles Gepräge geben. Wir
können nämlich das Gute oder das Böse, das wir vermöge der
durch unsere Naturanlage bedingten Causalität doch thun müssen,
freudig oder auch widerwillig thun, und auf diesem Affect,
den wir bei unseren nothwendigen Handlungen empfinden, be-
ruht das sittliche Verdienst"^).
uaire de la Philosophie s. v. ibu Siiia), endlich bei ilcii jüdischen Philosophen
Juda Halevi (Kiisaii p. HG ed. Cassel) und Abraham ibn Daud (Emuna Rama
p. 87 ed. Weil). Anch Thomas d'Aquino, Summa Thoologiae I, 105, 5 kommt
darauf zurück. ^
-'; Erkeuntnissth. d. Stoa S. ;340, Note 771; vgl. dazu Zeller IIP, 166 flf.;
Trendeinburg a.a.O. 174 ff.; Heine, Stoicorum de fato doctrina, Naumburg
18.59, p. 43 ff.
'"O Epict. diss. I, 18; Erkeuntnissth. d. Stoa S. 198 ff.
") Stob. Floril. VIII, 66 p. 386 Gaisf.; Epict. diss. III, 22, 42 u. ü.; Erkenut-
nissth. S. 187, Note 378.
2<) Wie dies namentlich der ursprüngliche Verbreiter dieser Doctrin,
Kleanthes, bei Seneca, de benef. VI, 1 in markanter Kürze ausdrückt. Nicht
die That, sondern die Gesinnung entscheidet über sittlichen Werlh oder
l'nworih: voluntas (= 3-JY7.a-äi)£0i;) est, quae apud uos ponit ofiicium.
Antike und mittelalterli.'lie Vorlänfer des Occasionalismus. 207
Die sittliche Zurechnungsfähigkeit ist demnach durch die Ge-
sinnung bedingt. Wir sollen uns dem Schicksalslauf nicht bloss
unterordnen, sondern seine Fügungen sogar mit „freudigem Bei-
fall" begleiten^'), und das ist der unterscheidende sittliche Vorzug
des Weisen gegenüber dem Thoren. Dieser thut zwar zuweilen das
Gute, aber mit Widerstreben und nur weil er es muss, denn, wie
Kleanthcs sagt:
YjV 0£ aTj ÜcAU)
zotxoc "i'svojjLSvoc, oüosv r,"oy s'V^ii.-xi.
Aber der sittlich hochstehende Weise jubelt der Schicksalsfügung
freudig entgegen, und in dieser lauteren Gesinnung liegt
sein moralisches Verdienst. Das stimmte so recht zum ethi-
schen Ideal der Stoa, dass nicht Werkheiligkeit, vielmehr nur vor-
nehmes, geläutertes Denken den Kernpunkt der Sittlichkeit aus-
machen soll. Dieses Denken ist uns aber freigegeben, ja in ihm
allein besteht unsere Willensfreiheit^").
Will man nun diesen stoischen Versuch, dem Dilemma von
Nothwendiokeit und Freiheit zu entrinnen, auf den kürzesten Aus-
druck bringen, so spitzt sich dieser dahin zu: Unser sittliches
Verdienst beruht auf dem „freudigen Beifall" (auYzaxa-
üsaic bei den griechischen, adsensio bei den römischen
Stoikern), mit welchem unsere uothvvendigen Handlungen
verknüpft sind.
Kap. II.
Die Ascharija.
Der Schauplatz, auf welchem sich die jetzt zu besprechenden
Geisteskämpfe abspielten, ist völlig anders geartet, als der vorhin
geschilderte. Handelte es sich dort um Gedankengebilde, die sich
bei dem höchstveranlagten Volk des Alterthums erst nach drei-
hundertjährigem Ringen zu einer Zeit herausgestaltet haben, als
'■^^) Seu. ep. 96, 2: non pareo deo, sed adsentior. ex aniuio illum, uon
«|uia necesse est, sequor. Weitere zahlreiche Belege Erkeuntnissth. 190,
Note 382, 364, Note 868, 377, Note 927.
-"") Rufus Ephes. bei Stob. Ekl. II, 35 II: £cp' r^f^-Iv /fT^at; twv '^avTaauöv,
wogegen Epictet auf die öpi}?) "/pfjat; tüjv cpavTctanLv das Hauptgewicht legt,
diss. 1, 1,7 u. ö.
208 \.n^\ w ig Stein,
dieses \'olk di'ii Höhepunkt seiner Kiilliir l)ereit.s überschritten
hatte und in einem geistigen Zersetzungsprozess begrifl'en war, so
begegnen \vii- hier einer erst beginnenden, mächtig emporstrebenden,
in ungesundem Sturmschritt dahinbrauscnden Kultur. Auf dem
klassisclien Boden von Hellas hatten wir es mit einer gereiften
Gedankeufrucht zu thun, die vom Baume der philosophischen Er-
keuntniss herabfiel; auf dem Boden des kampflustigen, im inneren
dogmatischen Ausbau begriffenen Islam hingegen handelt es sich
um eine kaum aufgeschossene Gedankenblüthe, die vorzeitig abge-
pflückt wurde. Es versteht sich daher von selbst, dass auch das
uns beschäftigende Problem bei diesem farbenreichen Szenenwechsel
und den grundmässig veränderten treibenden Motiven in eine we-
seutlicli andere Beleuchtung gerückt wird. Während der Wider-
streit von Nothwendigkeit und Freiheit in der griechischen Philo-
sophie Jahrhunderte lang kaum beachtet und erst von den Stoikern
in seiner ganzen Schärfe und Unversöhulichkeit erfasst wurde, hat
im Islam gerade dieser ^Viderstreit den Ausgangspunkt des
philosophischen Denkens gebildet. Der erste Anstoss zu philoso-
phischem Denken innerhalb des Islam ist, wie wir bald sehen
werden, unleugbar von der Frage nach der Prädestination ausge-
gangen. Und je mannigfaltiger die Antriebe waren, die bei den
Griechen wie bei den Arabern zur Problemsstellung von IS^oth-
Avendigkeit und Freiheit geführt haben, um so merkwürdiger und
beachtenswerther wird es sein, wenn diese beiden Gedankenrich-
tungen, die von so durchaus verschieden gestalteten philosophischen
Voraussetzungen und kulturlichen Vorbedingungen ausgegangen
sind, sich gleichwol in einem gemeinsamen Treffpunkte begegnen.
Die Araber der Vorzeit, deren Kulturverhältnisse der Muham-
medaner verächtlich als gahilija d. h. „Zustand der Unwissen-
heit" bezeichnet, waren rückhaltlose Fatalisten'"'^). Das werden
'0 Vgl. Sulisliury, Jouriuil uf tlic Americuu (Jrieutul Society, T. VIll,
p. 106: Iiut wliat concerns iis inost is tlie presentation of evidence of the fact,
fhat tlic early arabs were fatalists. Dieser Beweis ist Salisbury gelungen,
wenn auch seine weitere These, auf die wir bald zurückkoiuincn, durch neuere
Forschungen hinfällig wird, l'eber die vormuhainmedanihche Kultur der Araber
vgl. Spreuger, Lehre und Leben Muluimnieds, I, 250 ff.
Antike und mittelalterliche Vorläufer des Occasioiialismus. 209
^vi^, aucli abgesehen von den seitens der Fachwissenschaft für deren
Fatalitätsglauben erbrachten Beweisen, um so leichter begreifen,
als der Glaube an ein Schicksal uns bei den meisten Naturvölkern
begegnet , weil er eben dem unbeholfenen Kindheitszustande der
Menschen am meisten entspricht. Dem lebhaften und stürmischen
Feuergeist Muhammed sagte jedoch dieser starre, jegliche indivi-
duelle Bewegungsfreiheit im Keime erstickende Fatalismus anfäng-
lich wenig zu. Zudem ist er nicht umsonst bei jüdischen und
christlichen Lehrern in die Schule gegangen. Hier musste ihm die
Willensfreiheit als eine der unantastbaren Fundamentalsätze der
monotheistischen Religionen in die Augen springen'^). Und in
der That nahm er in der jugendlichen Empfänglichkeit seiner
ersten Entwickelungsperiode einen mächtigen Anlauf, trotz des tief-
wurzelnden Fatalismus im Volksglauben die Willensfreiheit in den
Koran einzuführen. Man hat früher diese Thatsachen bestreiten zu
müssen geglaubt""'), weil die auf unumschränkte Prädestination
deutenden Stellen im Koran vorwiegen, ja in einzelnen Partien
desselben ausschliesslich dominiren. Allein seitdem die neuere
Koränforschung verschiedene Entwicklungsstadien im Koran fest-
gestellt hat^"), ist jüngeren Forschern der kaum anfechtbare Nach-
weis gelungen, dass die der Jugendperiode Muhammeds entstammen-
den Suren neben der Prädestination auch der Willensfreiheit einen
breiten Spielraum gewähren^').
2'^) üeber die jüdische Philosophie sagt der berufenste Interpret derselben,
S. Muuk, in seinen Melanges de la philosophie arabe et juive p. 462: la doctrine
du libre arbitre e.st une des doctrines fundamentales du Mosaisme. Und wenn
auch von der christlichen Philosophie nicht ganz das gleiche gilt, so hatte
die \Yillensfreiheit doch auch hier eine auuäherud fundamentale Bedeutung,
vgl. P)ergier, Encyclopedie methodologique, Theil Theologie II, p. 429.
^^) So namentlich Salisbury a a. 0. p. l'2d.
^^) Vgl. G. Weil, historisch -kritische Einleitung in den Koran, P>ielffold
1844, und Th. Noldecke, Geschichte des Korans, Göttingen 1860.
^') Gegen Salisbury wendete sich der Franzose Guyard in einer Abhand-
lung: 'Abd er-Razzäque et son traite de la predestination, Journal Asiatique
1873, indem er an zwei Koränstellen den unwiderleglichen Beweis führt, dass
Muhammed zu Anfang auch die Willensfreiheit verkündet hat. Unabhängig
von Salisbury hatte schon vorher Heinrich Steiner in seiner gründlichen,
linchst boacbtenswerthen Monographie: Die llu'la/.iliten oder die Freideid<er
•)]() T, Uli w i^ Stein,
Sehr l)iikl jedoch erkannte ^luliammed seinen MissgrifV. Seiae
lleriil.crnahme der Freiheitslchrc fand bei seinen Anhängern schon
nur massigen Ankhmg, und bei seinen Widersachern, die ihn wegen
dieses ilincn so fremden Begriffs verketzerten, stiess er auf heftigen
Widerstand. Nicht jedes junge Keis lässt sich auf jeden belie-
bigen knorrigen Baumstumpf hinaufpropfen! Religionsstifter müssen
mit zartem Feingefühl an schon vorhandene Vorstellungen an-
knüpfen, nicht völlig ungewohnte, fremdartige gewaltsam einbür-
gern wollen. J)iese augenfällige Wahrheit drängte sich Muhammed
sehr l>;il(l iiuf und er suchte daher seinen früheren Fehl wettzu-
machen, indem er nunmehr sich bestrebte, durch nachdrücklichere
Ilervorkehrung und fanatische Betonung der l^rädestination .^Ai)
_j^) die ursprünglichen Spuren von Willensfreiheit im Koran
möglichst zu verwischen^"'*).
Allein die Zwiespältigkeit, die Muhammed früher selbst in den
Koran hineingelegt hatte, war nun einmal da und Hess sich nicht
mehr hinwegdeuteln. Diese frühere Zwitterstellung des Keligions-
stifters gab nun den ersten Anstoss zu dogmatischen Kämpfen.
Koch bei seinen Lebzeiten bildete sich eine starke Opposition gegen
seine spätere Abschwörung der Willensfreiheit heraus. Und wurden
diese Ketzer auch vorerst durch Gewaltmittel niedergehalten '■), .so
ward damit die Ketzerei selbst noch lange nicht vertilgt. Den
im Isl;\iii, Leipzig 18G.5, S. 33— 37 mit voller Klarheit gezeigt, wie gewaltsame
Anstrengungen Muliammeil anfangs genuiclit bat, den Freiiieifsbegriff v.n retten.
Diese lieweisfülirung Steiner's nennt ein jüngerer iioliiindischer Forscher,
Th. lloutsraa, de stryd over het dograa in den Islam tot op el Ashari. Leiden
1875, ]). 42 mit Recht die gelungenste Partie des Steiuer'schen l^uohes (best
geslaagde lioofdstnk).
3-) Die Ilauptstelle, auf welche .Saiisbury a. a. 0. p. V2\i seine Behauptung
von der absolut deterministischen Grnndansicht Miihammed's stützte, war die
entschieden freiheitnegirende Antwort des Propheten j*-fc>ji.^ Lf*^ l/"^ '^
^_iJL& ^c'^^Z- Allein Saiisbnry liat eben nicht daran gedacht, dass dieser
Ausspruch einer späteren Periode des Propheten entstammt.
3«) Der Ketzer Jläbad z. B. wurde gekreuzigt, vgl. Dngat, philosophes et
thi'ologiens Musulmans, Paris 1879, p. 43. Ueber das Schicksal anderer Hä-
releii vgl. Sah-, tlie Koran, a preliminary discourse, p. 210; Kremer, Geschichte
der herrschendeu Ideen des Isläm"s 8.30 f.: Iloutsma, p. 45.
Antike uiid mittelalterliche Yoi-irmfer des Occasionalisnius. 211
gekreuzigten Märtyrern f]es philosopliisclien Freiheitsgeclanl<en.s ent-
standen allerorten iiberzeugungstreue Rächer, die sich mählig zu
einer philosophisch-theologischen Schule zusammenthaten. Vud so
hat denn das uns beschäftigende Problem des Determinismus im
Ishim die erste grosse philosophische Schule, die Kadarija"^), her-
vorgetrieben.
Es würde uns zu weit abführen, wollten wir die wandlungs-
leichen Schicksale der zahlreichen philosophischen Secten""'), die,
entweder an die Kadarija sich anlehnten, oder in ausgesprochene
i)p[)Osition zu ihr traten, hier weiter verfolgen. Es genüge uns
eine knappe Skizzirung des weiteren Verlaufs in allgemeinen Zügen
unter ständigem Hinweis auf die für uns wesentlichste Thatsache,
(lass das Problem des Determinismus, freilich in der ver-
hüllten Gestalt eines theologischen Dogmas, Ausgangs- und
iJrennpunkt der spezifisch arabischen Philosophie"") ge-
wesen und geblieben ist.
Im Allgemeinen mag noch vorbemerkt werden, dass bei den
arabischen Philosophenschulen der ersten zwei Jahrhunderte nach
der Ilegira die tiefgehenden Treunungslinien von Philosophie und
Theologie noch gar nicht aufgespürt sind, dass ihnen vielmehr
beide unmerklich ineinander übergehen und verfliessen. Hält
man diesen Gesichtspunkt fest, so zeigt es sich sofort, wie die von
der Kadarija ollen angekündigte Wahlfreiheit und die bei ihr
schüchtern hervortretende Anzweiflung der Prädestination'') die im
^^) Ueber den vielumstritteneu Namen und die Tendenz der Kadarija vgl.
«teiner a. a. 0. S. 26 if.; Houtsma a. 0. p. 44.
■■'^) Die 73 philosophischen Secten, in die sich der Islam nach einer be-
kannten traditionellen Prophezeihnng Muhammed's spalten sollte, wurden tiurch
die Wirklichkeit weit überholt, wie das berühmte Buch von Schahrastäni (ed.
Cureton), deutsch von Ilaarbrücker (Religionspartheien und Philosophenschnlen)
deutlich beweist. Nur muss man sich dabei, wie Steiner S. 2 richtig bemerkt,
daran erinnern, dass bei den Orientalen sich die Geschichte mehr an Personen
und Namen, denn an Gedanken und inuern Zusammenhang knüpft.
^^) Im Unterschied einerseits zu den reinen arabischen Aristotelikern, wie
ihn Sina und ihn Rosclid, die nur wenige spezifisch moslemische Züge ver-
rathen, andererseits zu den Ssiifi's, wie al-Faräbi oder al-Ghazzäli, die eine mehr
mystische bezw. skeptische Richtung vertrelcn.
■'•) Diig.'it a. a. (). p. 216.
212 Liiilw ig Stein,
Stillen schon ohnehin glimmenden Funken .schult und zu einer hell-
lodernden philosophischen Flamme entfacht. Mit der Proklamirung
der Willensfreiheit war zwar die Vernunft nicht verletzt, aber die
^lajestiit des Koran angetastet. Jetzt muss die Vernunft dem
Koran zur Hülfe kommen, und wenn sie das nicht vermag, wird
sie geächtet. Oder die Vernunft, die eine Willensfreiheit dringend
heischt, stellt über dem Koran; dann aber müssen die im Koran
sich befindlichen, auf absoluten Determinismus hindeutenden Stellen
liinweggekliiu.elt werden. Den letzteren Weg beschritten die Mu'ta-
CO o o
ziliten, d.h. die Freidenker im Islam ^^), den ersteren die Mu'ta-
kaUimün, d. h. die bedingungslosen, orthodoxen Anhänger des im
Koran niedergelegten Gotteswortes (^^l5)^^).
Diese beiden Grundrichtungen beherrschten mehr denn ein
Jahrhundert die moslemische Philosophie. AVol haben dogma-
tische Zanksucht und selbstgefällige Sectenbildung auch damals
eine Anzahl von kleineren Systemchen gezeitigt, aber diese kenn-
zeichnen sich bei näherem Zusehen nur als leise Schattirungen
und unwesentliche Abzweigungen der beiden grossen Mutterschulen:
Mu'taziliten und Mu'takallimün.
Und gerade als diese beiden Gegenfüssler einander erbittert
und unversöhnlich gegenüberstanden vollzog sich jener geistige
Verschmelzungsprozess, den man in der Geschichte der Philosophie
mit fast regelmässig wiederkehrender Pünktlichkeit beobachten
kann: AVo zwei Systeme einander schrolf und unerbittlich gegen-
überzustehen scheinen, da bereitet sich mählig eine Synthese vor,
^*) Ein solclier Interpret, der die l'i'ir ihn verfänglichen Koränstellen weg-
deutete, war beispielsweise der eifrige Mu'tazilit llischäm ihn 'Ainr al-Fiiti
(al-Ghüti bei Jlawukif), vgl. Schahr. ed. (uretnn ]i. c. : ry-^ ^«^-^ q' — ^*
i3>JiÄxii --i-J Oj . ...(^ ^j.*j ^J;JL.Ji ^j\ Jjisi oLs.aIjI ö^lL!-)! : äiinlich
ilawäkif, ed. Sürensen p. r!*'i .
^'■') Trefleud bezeichnet de Sacy, Chrestomathie arabc, I, 467 die Mu'ta-
kallimiin als Scholastiker. Sie sind es insofern, als sie die Autorität des i
Koräu unangetastet lassen, unterscheiden sich aber doch wieder von den jeg- j
lidie Spekulation streng verpönenden Fokhis, sofern sie überhaupt eine ratio-
nalisirende Exegese des Kurän zulassen. Vgl. über den Kalam, Pococke,
Specialen hisfuriae Araluiin p. l'JOff. ; llaarbriicker a. a. 0. II, ."592: Frankl,
ein niu'taziiitischer Kaläui. Wien 1S72.
Antike und mittelalterliche Yorlüufer des Occasionalistmis. 21B
welche die beiden entgegengesetzten Standpunkte in eine liühere
lunlieit zusammenfasst *"). Gewöhnlich pflegt dann auch diese Ver-
mittlungsmethode vorerst den Sieg davonzutragen und eine AVeile
.las Feld zu behaupten. Die Synthese zwischen der absoluten Wahl-
tVeiheit der Mu'taziliten und dem a1)soluten Determinismus der
Mu'takalimun vollzog sich gleichzeitig — und auch dies ist eine
häufig beol)achtete Erscheinung — in mehreren Köpfen. Schon
der gemässigte Mu'tazilit Husain an-Naddschär versuchte einen
\'ermittlungsstandpunlct anzubahnen, indem er die These aufstellt:
(iott ist der, welcher die Handlungen der Menschen, die guten wie
die bösen, die schönen wie die schimpflichen, schafft, und der
Mensch ist der, welcher sich dieselben aneignet. Naddschär
räumte auch dem in der Zeit entstandenen Vermögen (des Menschen)
einen Einfluss ein und nannte denselben Aneignung (\-^^')
nach der Weise, wie (später) al-Ascha'ri, und er stimmte mit
diesem auch darin iiberein, dass das Vermögen mit dem Thun
z u s a m m e n f a 1 1 e ^ ').
Dem gleichen Vermittlungsgedanken begegnen wir auch bei
einem anderen Zeitgenossen al-Ascha'ri\s, 'Abdallah Muh'aramad
ibn Karräm, einem i\Iann, dem nur Neuerungssucht in der Neu-
schöpfung von philosophischen Terminis, keineswegs jedoch tiefere
iJildung oder gar philosophische Originalität nachgerühmt wird^^).
^") Man biaurht dabei nicht an die gewaltsamen Geschichtsconstructionen
Hegels za denken, der dieses Prinzip der Synthese bis auf die äusserste Spitze
getrieben hat. Wie Vieles, was Hegel durch masslose üebertreibung in Ver-
luf gebracht, doch in beschränkterem Masse heute noch Geltung hat, so auch
die Synthese in der philosophiegeschichtlichen Construction.
■") Haarbrücker, I, 93; Schalir. ed. Cureton p. 11": ^^£.1 v_ÄiL5>_j.P ^^^-ij
c-*^» . . . NJ u.A.w.X>s!/; LX>.*in^ 1.^-5^x53, L.g-».Aw.P»5 \J>J^*, LP.vj^ Ol.^*J!
Wegen der schweren Zugängliclikeit dieser arabischen Werke citire ich
die wichtigsten beweisenden Kraftstelleu im Original. Bei der Wiedergabe der
Haarbrücker'schen Uebersetzung erlaube ich mir da und dort einige kleine Ab-
weichungen, deren Berechtigung und Nothwendigkeit der Kundige herausfühlen
wird. >»addsehär wird auch erwähnt bei Mawükif ed. Sörensen p. ov, Zeile 14.
■*-) Tähir al-Isfaräiui gibt im 11. Bab (Abschnitt) seines Ruches ein nicht
Lierade schmeichelhaftes Bild von der geistigen Persönlichkeit Karräm's.
TS
jVrchiv f. Geschieht« d. Philosophie. II. ■• "^
214 Ludwig Stein,
Im Namen dieses Karram oder vielmehr seines Anhängers ihn
al-Ihiiszilm herichtet nun Schahrastani"): Gott hat alles Bestehende,
das (Jute, wie das Böse, gewollt und alles Existirende, das Schick-
liche wie das Schimpfliche, geschaffen. Für den Menschen aber
nahm man ein Thun durch die in der Zeit entstehende Kraft an,
und dieses Tliun wird Aneignung genannt. Diese hat Einfluss
auf das Hervorbringen eines Nutzens .... und dieser Nutzen ist
der Tummelplatz der gesetzlichen Verpflichtung^^).
Allein mögen auch diese beiden Lösungsversuche, von denen
schwer zu ermitteln sein dürfte, in welchem Verhältnisse deren
Vertreter zum berühmten Schulhaupt al-Asch'ari standen, den
Kern des uns interessirenden Problems ganz richtig treft'en, .so
kennzeichnen sie sich doch nur als schüchterne, unsicher tastende
Versuche. Zu voller Durchbildung und durchgreifender Ausgestal-
tuTig ist diese Vermittlungstheorie zwischen Determinismus und
AVillensfreiheit erst durch ihn Stifter des seinerzeit mächtigsten
und ein fl ussreichsten philosophischen Systems, durch A b u - " 1 - ' H a s a n
"Ali ibn Isma'il al Ascha'ri (880—941) gelangt.
AI Ascha'ri war ein Apostat der mu'tazilitischen Schule.
Eines Mittwochs erklärte er ölTentlich in der grossen IMoschee
zu Iksra, dass er alle mu'tazilitischen Haeresieu feierlich ab-
schwöi-o und die drei dogmatischen Kardinalpunkte des Islam: die
'••'') Haarbiücker I, 126, ed. Cureton p. ^f: ,^-äJI ^:>.xio ^-^^^ J— s.
'iS>^, Lp ^.5» LjJS Owju'Js.j'! j>\,\ io!» / ^iw*j \_JLj
'■ijOJil^ ^*5 wW*^' ^^^"^3 ''■rr^'-^-^'h '^-^^^ -t^ c:j5j»j>.»-»J1 \Jil£>
**) Mau achte darauf, dass hier schon diese Schattenfreiheit der Aneig-
nung (^_^*./*o) "mit der Motivirung auftritt, dass sie die rechtliche, resp. sitt-
liche Zurechnungsfähigkeit reclitfertigt. Im Uebrigen hat auch die philo-
sophische Secte der Dhirärija der gleichen Vermittlungstheorie gehuldigt, vgl.
Schahr. Ilaarl.rücker I, 94: Sie behaupteten, die Handlungen der Meusclieu
seien der Wirklichkeit nach anerschaffen und der Mensch eiffue sie sich der
Wirklirlik.'it nach an. od. Cnreton p. If": xs^Jl^vX J <_*_J! }\ *_}! ^Ji*,
x-r .. . ^ .. ^ (^j .
Antike iiml initfelalterliche Vorläufer des Occasionalismus. 215
Praeexistenz des Koran, die Attribute Gottes, sowie die Prae-
(lestination hiermit anerkenne ^^). Damit begründete er die nach
ihm benannte Schule, die weil sie zwischen den Extremen geschickt
\ ermittelte und Concessionen nach beiden Seiten hin machte, sehr
bald eine so ungeahnte Ausdehnung gew^ann, dass sie eine be-
herrschende Stellung im Islam sich erobert und Jahrhunderte
hindurch behauptet hat"')- Und so characterisirt sich denn die
behre al Ascha'ri's durchgehends als eine Vermittlungsphilosophie 'O'
in welcher uns nach einem glücklichen Wort Houtsma's der Frie-
clenstractat der bis dahin einander bitter befehdenden Parteien
vorliegt *^).
Eine andere Frage ist es. ob und inwieweit al Alschari
jene Theorie der Zurückführung der 'Willensfreiheit auf die blosse
Aneignungsfähigkeit (v*-^'^), auf die es uns doch zuvörderst
ankommt, selbst erfunden oder nur aus schon vorhandenen Denk-
elementen zusammengefügt hat. Letztere Annahme entbehrt nicht
einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Denn mögen auch die schon
berührten Schulen der Naddschari, Karrami und Dhirari, die eine
gleichlautende Theorie aufgestellt haben zum Theil Zeitgenossen,
zum Theil sogar Nachfolger al Ascha'ris gewesen sein, so besitzen
wir doch an einer Äeusserung des ihn Hakam, die in einem dem
zweiten Jahrhundert der Ilegira entstammenden Werke Fikh
;d-akbar niedergelegt ist ^''), ein lautsprechendes Zeugniss dafür,
*'•') Vgl. Muuk, Melanges p. 324 ff. Au.sfijhrlicher rlargeslellt bei Mehren,
expose de la reforme de rislamisine, Florenz 1878; W. Spitta, zur Geschichte
abu'l 'Hasan al Ascha'ri's, Leipzig 1876.
•"') Dies gilt uaoientlich von seiner eigeuthümlichen Versöhnung der Noth-
wendigkeit mit der menschlichen Freiheit, vgl. A. v. Kremer, a. a. 0. II, 282.
••') Spitta a. a. 0. S. 107 ff. kennzeichnet al Ascha'ri als einen Philosophen
des Kompromisses. Das waren im Grunde alle Vertreter des occasionali-
stischen Gedankens.
***) Houtsma p. 10: In de geschritten van el Asha'ri ligt ons het vredes-
tractaat voor, dat daaraan (nl. aan ile heftige stryd) een einde maakte.
^^) Kreraer I, 43: Alle Handlungen der erschaffenen Wesen, seien sie
nun Bewegung oder Ruhe, sind in der Wirklichkeit ihr Verdienst
(■^^^.^i) und Gott der Erhabene ist ihr Schöpfer und alle (Handlungen) ge-
scheiien nach .seinem Willen und seinem Wissen; vgl. auch ibid. S. 38.
15*
•2\i\ Ludwig Stein,
(lass eine gleichklinoende Lösung des uralten Widerstreits schon
lange vor dem Auftreten al-Ascha'ri's versucht worden ist. Diese
Frage aber, inwiefern al Ascha'ri Schöpfer oder nur Verarbeiter
dieser Theorie ist, wird sich nun um so weniger beantworten
lassen, als uns über dessen Lehren verhältnissraässig nur spär-
liches Material zulliesst, so dass seine Philosophie heute noch in
ein nur wenig gelichtetes Dunkel gehüllt ist^"). Sind wir doch in
der wenig erfreulichen Zwangslage, uns über seine schärfere Um-
grenzung des Begrifles der Aneignung an nichtmuhamedanische,
vor/Algsweise jüdische Quellen um Auskunft zu wenden, weil uns
die muhammedanischen vielfach im Stiche lassen. Die orientalische
Philologie, so mächtig sie aucli gegenwärtig emporstrebt, ist heute
noch recht weit davon entfernt, uns alle jene handschriftlichen,
im stillen Gewahrsam der Bibliotheken verborgeneu Schätze an's
Tageslicht des Drucks zu fördern, aus denen wir hierüber eine
erschöpfende, allen Forderungen der modernen TMiilologie ent-
sprechende Kunde entnehmen könnten.
Aber sei's darum ! Können wir auch nicht genau ermitteln,
ol) al-Ascha'ri aus eigener Schöpferkraft oder durch fremde Au-
triebe jene uns hier interessirende Theorie der Aneignung her-
ausgearbeitet hat, so steht doch soviel unstreitig fest, dass er sie zu-
erst in jene schulmässig knappe, systematische Formulirung gebracht
hat, in welcher sie uns heute vorliegt. Vnd im letzten Grunde
ist eben nicht derjenige Schöpfer eines philosophischen Systems,
der einen Gedanken gleichsam nur llüchtig hiuhaucht oder in losen
Strichen ahnungsvoll andeutet, vielmehr zuhöchst derjenige, der die
verschwommenen Gedankengebilde in eine feste, greifbare Form
bannt, der jene Gedanken, die vielleicht unbewusst und unaus-
gesprochen auf aller Lippen schweben, auf den kürzesten philo-
sophischen Ausdruck bringt und dadurch in ein gangbares System
kleidet. In diesem weiteren Sinne aber ist al-Ascha'ri unstreitig
^") Etwas besser sind wir seit di-ii ilankenswerthen Arbeiten von Mehren
lind Spitta über Ascha'ri's Le be ns verliälf n i sse inif errichtet; aber seine
philosophische Stellung ist noch von keiner Seite gebührend gekennzeichnet
worden. Von dieser gilt vielmehr heute noch die Klage lluutsraa's p. 14:
„dat daaraan nog zog goed als niets gedaau is".
Antike und mittelalterliche Vorläufer des Occasionalisraus. 217
der typische Vertreter jener Theorie der Aneignung, die uns schon
in der Stoa. als Gfu",'xa-7!i}e3ic oder adsensio entgegengetreten ist und
Ulis noch heim christlichen Mystiker Richard von St. Victor als
consensus, bei den Occasionalisten als consentiment begegnen wird.
AI Ascha'ri weist überhaupt in seinen erkenntnisstheoretischeu
Annahmen eine frappante Aehnlichkeit mit den Stoikern auf. Selbst
jene kasuistisch feine erkenntnisstheoretische Unterscheidung der
Stoa, nach welcher die Sinne als solche uns niemals täuschen, dass
es vielmehr nur unser Urtheil sei, das die offenbaren Sinnestäuschungen
hervorbringe^') — ein Satz, der auch in der neueren Philosophie
häufig rezipirt wird^') — wurde von den Ascharija wortwörtlich
verkündet'^).
Das uns speziell beschäftigende Problem hat im Munde al
Ascha'ri's freilich einen etwas theologischen Beigeschmack, zumal
ja bei dieser ganzen Schule Theologie und Philosophie fast un-
merklich in einander übergehen. AVas also bei den Stoikern als
natürliche, innere, immanente Causalität erscheint, das nennt al
Ascha'ri den Willen Gottes; aber das ist mehr Wort difterenz, als
S ach Verschiedenheit. Beide stimmen darin überein, dass eine un-
abänderliche, unverbrüchliche Causalität herrscht — heisse diese
nun stjxG(p[xsvr| oder Gott — und dass auch des Menschen Wille
diesem Causalnexus unweigerlich unterworfen ist. Die natürliche
Consequenz dieses entschiedenen Determinismus ist, dass Gott oder
das Verhängniss auch Schöpfer des Bösen sein müsse ^*), was die
Stoiker sowohl als auch al Ascha'ri ungescheut zugeben.
^') Plut. St. repugn. cap. 47; fragm. de an. VII, p. 733 ed. Wyttenbach;
Stob. Ekl. I, 50 (Aet. Diels 398): o't l-wiv.o't xov ao'fov «(aÖTjaet ■/.ataXryTtTtxöv kttö
ToO eioo'jt Te/[j.Tjpiu)0(jJ;. Vgl. übrigens m. Erkenntnissth. d. Stoa S. 186, Note 282.
'^'^) So beispielsweise von Locke, essay concerning human understanding,
I\^ chapt. 11 §3: But besides tbe assurance we have from our senses
themselves, that they do not err in the Information they give us of the
existence of thiugs without us, when they are afifected by them ; ibid. III,
20 § 1 : error is not a fault of our kuowledge, but a mistake of our
Judgera ent, giviug assent to that which is not true. Des gleichen Argu-
ments hatte sich auch Descartes wiederholt bedient.
") Vgl. llammer, Leipziger Litteraturzeitung 1826, S. 1292; H. Ritter,
über unsere Kenntniss der arabischen Philosophie, S. 24.
'"■') Nach Chrysipp ist Gott auch Urheber des Bösen, dessen Vorhanden-
218
Ludwig Stein,
Um aber gleichwol die Berechtigung einer sittlichen Verant-
wortlichkeit zu retten, stellte al Ascha'ri jene Theorie des Kasb
auf, durch welche er sich am entschiedensten den Stoikern, ins-
besondere der durch Seneca und Epictet vertretenen Lehre des
Kleanthes annäherte. Er sagte nämlich wörtlich"): Schahr. p. '^a
Z. 3 V. u.
„. . . Und der Diener (d. i. der Mensch im Gegensatze zu
Gott, dem Herrn) bestimmt seine Handlungen, da der Mensch von
sich aus einen wesentlichen ^*) Unterschied findet zwischen den Be-
wegungen des Zitterns und Bebens ^0 ^'^^^ zwischen den Bewegungen
der freien Wahl und des Willens; der Unterschied geht aber darauf
zurück, dass die freiwilligen Bewegungen unter der Bestimmung'*)
entstehen, auf der freien ^Vahl des Bestimmenden beruhen. Daher
sagt er: das Angeeignete (al muktasabu) ist das durch die zeitlich ein-
tretende") Bestimmung Bestimmte und unter der zeitlich ein-
tretenden Bestimmung Entstehende." Das Resultat dieser Theorie
sein wegen des Gegensatzes von Tugend imd Laster begründet wird , Alex.
Aphrod. de fato c. 37 p. 118; Plut. St. rep. cap. 47 (Gercke, Chrysippea p. 747)
u. ö. Ebenso sagt al AschaVi: Gott will Alles, das Gute wie das Böse, das
Nützliche wie das Schädliche, Schahrest. ed. Cureton (ebenso Maimonides III,
cap. 17, p. 120 f. Muuk) p. Ma: ^.ptsj^ L-?
lS>^*,. Vgl. auch Delitzsch, Anekdota S. 305, Ez Hachajiin p. 95 Ueber die
metaphysische Bedeutung dieser Frage vergl. die tiefgehende Untersuchung
von A. L. Kym, das Problem des Bösen, München 1878.
^^) Obige wörtliche üebersetzung verdanke ich Herrn Prof. Steiner in
Zürich. Die Uaarbrücker'sche Üebersetzung dieser im Uebrigen schwierigen,
für mein theraa probandum beweiskräftigen Stelle ist so vieldeutig und
konfus, dass ich zu deren Erklärung den eben genannten bekannten Orien-
talisten herbeiziehen musste.
^'^) eigentlich: nothwendigen, auf innerer Nothwendigkeit beruhenden.
*0 Zittern und Heben sind hier selbstverständlich koordinirt, wie freie
Wahl und Wille; unfreiwillige und fioiwillige Bewegungen werden einander
gegenübergestellt.
'*) nämlich der vom Menschen ausgehenden Bestimmung.
55) öOtc> heisst: neu eintretend, zeitlich entstehend, im Gegensatz zu:
ewig *.J^A.ä oder ^i;l. Die zeitlich eintretende Bestimmung, oder: zeitlich
d. h. je im gegebenen Zeitpunkt wirkende Macht, ist die vom Menschen aus-
gehende, die ewige diejenige Gottes.
Antike und mittelalterliche Vorläufer des Occasionalismus. 219
fasst er sodann kurz dahin zusammen'")- „Dieses Thun wird An-
eignung genannt, so dass es in Bezug auf das Schaffen von
Seiten Gottes Produciren und Hervorbringen, in Beziehung aber
auf die Aneignung seitens des Menschen Geschehen unter seiner
Macht ist."
Diese asch'aritische Theorie des Kasb, die nach al Ghazzäli
schon im Koran einen gewissen Stützpunkt findet'*'), die aber nichts-
destoweniger frühzeitig bereits auf heftigen Widerstand stiess"),
war von al-Ascha'ri so unklar und so wenig widerspruchsfrei
formulirt, dass sich schon im Mittelalter zwei verschiedene Auf-
fassungen dariil)er herausbildeten, so dass die schärfere Umgren-
zung derselben heute noch strittig ist^^).
Sowohl in Bezug auf die göttliche Causalität, als auch hin-
sichtlich der menschlichen Aneignung sind nämlich je zwei Fälle
60-\
») Schahr. Haarbr. I, 103, Cureton p. 11: ^^^^ J-aäÜ L\.-P (^•^H^
Ax?.Jt ^A> ._;,^i^ Li5uX.>l_. ucLv.j( ^J-äJ >^-l-'^ ^^ -S-^=> Qj— 5^;^-3
*.j,uX.s vo-j^vj 'i».*a:>. \s\. dazu MawAkif ed. Sörensen p. I.o: J.A»it J^s
»Uj! *.>_w.5Cj J)L_^n JCXÄ.Ü Ljj..v/-S^v./03 Lj!J.^I_j Lt^A^i \).J L_ij._]._JS?._^
.üJjLI^, dJSj^Xs.!) i>.:^jJiA
«') Vgl. al Ghazzäli, Ihjä IV, 312: Die Denker stellten hierfür (nl. für
Nothwendigkeit und Selbstbestimmung) eine dritte Kategorie auf und nannten
sie nach Massgabe des Koran , das Verdienst" (w*.-v»H.i ), vgl. A. v. Kremer
a. a. 0. II, 306, Note 26.
«-) Schon ibn Adi wendete sich gegen das asch'aritische Kasb, vgl. Stein-
schneider, al Faräbi, Petersburg 1869, S. 155: Er (ibn Adi) schrieb gegen die
Lehre, dass Gott Urheber der Handlungen sei, während dem Menschen nur
eine Aneignung {^'u<»^'\, gewöhnlich ,_,,<ww.i') zukomme, s. al Kifti op. I,
12, ibn Atti 'Üs op. 1.
*^) Gegen die Definition, die Dozy im Supplement aux dictionnaires
arabes, T. II, Leyde 1881, p. 436 über w^.*«.>Ci! gegeben hat, wendete sich
Fleischer in seinen Dozy-Studien (Berichte d. sächs. Ges. d. Wissensch. 1886,
S. 73), indem er, gestützt auf Bisläni's arabisch-arabisches Wörterbuch (Muhi-
tu'1-Muhit p. IaIO, folgende Definition des landläufigen philosophischen Schul-
ausdrucks 'wz-M^yJ! gibt: die Betheiligung des Könnens und Wollens des
Menschen an seinem (von Gott) vorherbestimmten Thun.
220 Ludwig Stein, ßj
(lenkbar: Entweder hat Gott durch einen Urwillensact die Causa-
lität in die Natur hineingelegt, chuiu würo, er nur mittelbarer
Schöpfer der menschlichen Handlung, oder er erschafft continuir-
lioh jegliche Willenshandiung, dann ist er ilir unmittelbarer
Urheber. Bezüglich der menschlichen Mitthiitigkeit lautet wieder
die Alternative: Entweder ist diese Mitwirkung nur eine genöthigte,
somit unwirksame und mechanische, etwa gleich dem Nicken einer
Pagode, oder diese Mitwirkung besteht in einer wirksamen
Cooperation, die auf das Zustandekommen der Handlung Ein-
fluss hat. 15
Da aber für alle diese vier denkbaren, einander widerstreitenden
Fälle historisch beglaubigte Zeugnisse über al-Ascha'ri vorliegen, so
w^ird man dessen wahre Meinung nur vermittelst kritischer Prüfung
ausmitteln können. Für die erste Annahme, dass nämlich Gott
den Causalzusammenhang in die Natur vermittelst eines einzigen
ürwillensactes hineingelegt hat — wie später die Occasionalisten
Louis de la Forge und Clauberg behaupteten*^*) — besitzen wir
das wichtige Zeugniss Schahrastäni's, der ja selbst Anhänger der
Ascharija war^'). Und doch gibt diese Darstellung des Asch'ariten
Schahrastäni w'ol kaum die wirkliche Meinung des al Ascha'ri wieder,
da Schahrastäni sich selbst in Widersprüche verwickelt. Gleich dar-
auf nämlich lässt er al-Ascha'ri sagen, dass Gott bei den Bewe-
gungen des Menschen eigentlich der Veranlasser sei, weil er ihm
die Fähigkeiten zu denselben erst anerschaften müsse. Man exem-
plifi^irte dann am Schreiben des Menschen, und das scheint ein
beliebtes Schulbeispiel geworden zu sein®^). Denn auch Maimonides
®*) Wie ich in m. Abhandlung, zur Genesis des Occasionalismus, Archiv I,
S. 55 ausgeführt habe. Gegenüber den gewichtigen Einwänden Euckens, Göt-
tinger gel. Anzeiger, 1887, 949 0". vgl. mau jetzt H. Seyfarth, Louis de la
Forge, Gotha 1887, S. 40fF.: vgl. weiter Note 106.
") Schahr. Haarbr. I, 101: Gottes Wille ist ein einziger, der sich auf
Alles erstreckt; ebenso ibid. I, 102, Cureton p. 1a: n^Jj! öA^-^^ «.jOi.l^ ^Ci
üäXxÄ/c. Ueber Schahrastäni's Zugehörigkeit zur Schule der Asch'arija, vgl.
Haarbrücker, II, 402. Nach Dugat a. a. 0. p. 273 soll übrigens auch al-Ghaz-
zäli aus den Asch'arija hervorgegangen sein.
*") Vgl. Schahr. Haarbr. I, 102. Dass die Schreibbewegung marktgän-
giges Schulbeispiel war, um das unmittelbare Eingreifen der Gottheit darzu-
Antike und mittelalterliche Vorläufer des Occasionalisimis. 221
hat es uns in vuller Ausführlichkeit aufbewahrt. Er berichtet
nämlich als die Ansicht al-Aschaifs"): Für die Schreibbewegung
(lieser Feder hat Gott vier Vorgänge hervorrufen müssen, die neben
einander coexistiren, ohne sich gegenseitig causal zu bedingen.
Erstens meinen Willen die Feder in Bewegung zu setzen, zweitens
die Fähigkeit meiner Bewegung überhaupt, drittens diese spezielle
Handbewegung, viertens endlich die Bewegung der Feder. Wenn
.■dsü der Mensch eine Handlung verrichtet (oder doch selbst zu
verrichten vermeint), so hat ihm Gott vorher den Willen zur
That, sowie die Fähigkeit zur Vollführung derselben und schliess-
lich die Handlung selbst zuvor anerschaffen. An anderer Stelle
>agt Maimonides gar ausdrücklich: sie behaupten, dass Gott alle
Geschehnisse unmittelbar, ohne Vermittlung eines Natur-
gesetzes und ohne jede wie auch geartete Dazwischen-
kunft erschafft^^). Nur hat sich Gott eine gewisse Gewohn-
heit in seiner stets sich erneuernden Schöpfungsweise vorbehalten,
wodurch es erklärlich wird, dass auch in der Erscheinuugswelt die
gleichen Ursachen dieselben ^Virkungen hervorrufen*^^). Bedarf es
aber des contiuuirlichenDazwischentretens der Gottheit, um Hand-
lungen zu ermöglichen, so würde die Welt naturgemäss in dem
Augenblick in ein bodenloses Nichts versinken, in welchem Gott
aufhörte, continuirlich immer von Neuem weiterzucreiren '°) —
ein Gedanke, der später bei Malebranche in genau derselben
Fassung wiederkehrt. Dass durch diese strenge Formulirung des
Determinismus seitens der Ascharija die Natur des Möglichen auf-
Ibun, ersieht man u. A. auch daraus, dass auch die Zahiriten, sonst Gegner
der Asch'arija, behaupten, „die Bewegung in der Hand des Schreibenden ist
von Gott anerschatfen", vgl. Goldziher, die Zahiriten, S. 141.
^0 Maimonides, More Nebukhim I, cap. 72, französisch von Munk, guide
lies egares, I, 394. Dieses Schulbeispiel kehrt nochmals wieder, I, cap. 73,
Munk p. 303.
**) Maimonides, ibid. I, cap. 72, Munk 1, p. 390.
^^) Ibid. I, cap. 73, Munk p. 392: Dien a etabli comme une chose habi-
tuelle que cette couleur noire, par exemplc, ne naquit quau moment oü
Tetolfe s'unit ä l'indigo. Auch diesem Gedanken begegnet man wieder bei
den Occasionalisten, namentlich bei Malebranche.
™) Vgl.' Munk, Melange» p. 325fr. ; guide des egares I, 391.
990
Ludwig Stein,
gehoben wurde, hinderte sie nicht, die letzten Cousequenzen des-
selben zu ziehen, so arg sie dieserhalb auch befehdet und be-
spöttelt wurden").
iMan ersieht aus alledem, dass al-Ascha'ri nicht jenem Deter-
minismus huldigte, den später die Occasionalisten de la Forge und
Clauberg verkündeten, nach welchen Gott nur durch einen ein-
zigen schöpferischen Urwillensact die Causalität aller Dinge fest-
gesetzt hätte und somit nur mittelbar Veraniasser aller mensch-
lichen Handlungen wäre, dass er vielmehr jenen Determinismus
vertrat, den ich als den Occasionalismus der zweiten Phase be-
zeichnet habe^^), nach welchem die Gottheit ohne Zuhilfenahme
ewig geltender Naturgesetze jede einzelne menschliche Hand-
lung unmittelbar schöpfen muss, sodass ohne ein unmittelbares
Eingreifen Gottes kein Blatt vom Baum fallen kann'^). .•
Um aber bei diesem starren Fatalismus die sittliche Zurech-
nungsfähigkeit aufrecht halten zu können, musste der menschlichen
Selbstbethätigung irgend ein Spielraum geschaffen werden. In
seiner Theorie des Kasb glaubte al-Ascha'ri nun diesen Spielraum
gefunden zu haben. Allein soll diese Aneignung seitens des Men-
schen eine rein mechanische, gezwungene sein, wie einzelne Aus-
leger dieses Kasb deuten '^), so ist nicht abzusehen, wo hier die
^') Vgl. z. B. Averroes, destructio destructionis III, fol.*27, col. 1 ; Maimon. I,
cap. 73, p. 389 ff.: III, cap. 25, p. 198 Jlunk; Alirou b. Elia, Ez Hacliajim p. 181
ed. Delitzsch: rm':'!^? ICB'I irhD^O "ItiTNH V2'C )bü2'\L'' .myt^'N* n3
cirn ]"iyib nDii'jDJ inbiysti' "idvd mj?:^: \s ni2^in?2- t);vriim fäiit er
denn auch über die asch'aritische Lehre das vernichteade Urtheil p. 115:
\'^rN "^^l 12 b^^l'V N^l ni/'~i2 Jt^'T» ah^' py- Ueber diese straffe For-
mulirung des Determinismus seitens al Asch'uri vgl. Mehren a. a. 0. p. 49;
Sputa a. a. 0. S. 96.
'''■) Als dessen Vertreter Cordemoy, Geulincx und Malebranchc anzusehen
sind, vgl. Archiv, I, 58ff.
") Maimonides I, cap. 70, p. 391 ff.; III, cap. 17, p. 120 ilunk.
") In diesem Lichte einer rein wirkungslosen, mechanischen Aneignung
stellt Ahron ben Elia das Kasb dar, indem er einen Uaterschied zwischen
i^l^p (Aneignung) und ni^l (Erwerli) hypostasirt und den Asch'arija die
Lehre in den Mund legt: r\^:pr, ^h ü'^ bzN bbz byiS DIn'? ]\Sli'. Ez
Antike irad mittelalterliche Vorläufer des Occasioualisinus. 223
Verdienstlichkeit liegen soll. Hätte der Mensch keinen indivi-
duellen Mitantheil am Zustandekommen seiner Handlungen, und
wäre das dem Menschen eignende Kasb nur im Sinne eines me-
chanischen Aneignens d. h. pagodenhafteu Kopfnickens zu verste-
hen, dann wäre diese ganze Theorie des Kasb von einer gar zu
durchsichtigen Sophistik. Eines so läppischen Scheinmannövers
war al Aschari denn doch wol nicht fähig. Wollte er doch auf
das Kasb die Berechtigung der ganzen Ethik aufbauen ' ^). Das konnte
er aber nur dann, wenn in diesem Kasb ein thätiger, persön-
licher Mitantheil, ein mit Affect begleitetes individuelles Wollen
eingeschlossen war. Und in der That geben die meisten der über-
liefeiten Definitionen des asch'aritischen Kasb ") demselben die
Hach. p. 115 Delitzsch. Diese n'^^p repräsentirt das mechanische Aneignen,
während rWI ™el^r fl^n f^rwerb durch selbstthätigen Mitantheil darstellt.
Hiernach hätte al Asch'ari also nur die mechanische Aneignung gelehrt. Dieser
Irrthura Elia's ist wahrscheinlich auf eine Stelle des Maimonides, I, cap. 73,
p. 394 Munk zurückzuführen, wo es wirklich heisst: il (rhomme) nagit point
au moyeu de la faculte creee dans lui, laquelie n'a point d'influence sur
faction; ähnlich III, cap. 17, p. 120. In dieser Auffassung widerspricht sich
aber Maimonides selbst, denn an anderer Stelle I, 51, p. 186 sagt er aus-
fh-ücklich im Namen der Ascharija: l'homine n'a point d'action, mais il a
lacquisition ('^^^). Im Uebrigen gibt auch Ahron b. Elia zu, dass ein
Theil der Ascharija das Kasb als nT*"! verstanden hat, vgl. p. 17 Delitzsch:
vsipjn ni'p nsnzjn nbiD^D nb )r2^bz'r\^' nnyiiw npo nypi
•'Dl irD2n jii^'bD mn
") Wie dies aus Baidäwi's (Anhängers der Ascharija) Bemerkung zu
>üre 14, V. 27 (I, fl, 17 und 18 ed. Fleischer) deutlieh erhellt.
'^) Im Sinne einer selbstthätigen M it wirksamkei t erscheint das
Kasb in des Kara'iten Josef al Basir Muhtawi, ni?D''J/J "ISD (nocli ungedruckt;
das arabische Original, jüngst aufgefunden, ist im Besitz des Prof. Kaufmann in
Budapest). Im Kap. 30, überschrieben CIX ""JD n''"'"122 "iyti'> befindet sich
Pin interessanter Passus über das v_^.«-^, der diese letztere Auffassung des-
'-elben bestätigt. Dieser Bericht über das v^^.v^i' ist um so werthvoller und
glaubwürdiger, als er wol der erste uns erhaltene sein dürfte, da er
aus dem 10. .lahrh. stammt. Die gleiche Auffassung des Kasb vertritt
Baidäwi zu Sure 11, 75; Schahrast, passim.; Mawakif ed. Sörensen p. 115;
Dschordschäni, definitiones ed. Flügel p. 193. Von neueren Forschern vgl.
i'ococke 1. c. p. 239f. und 248f.; Säle, the Koran (nach Pococke) p. 221—23-,
224 Ludwig Stein,
J)eutaixg, dass es eine thätige Cüoperation, eine individuelle i\lit-
Avirksamkeit des menschlichen Willens heim Zustandekommen der
von Gutt in iinn vollzogeneu Handlungen ausdrücken soll. Und
so kommt denn der asch'aritische Begriff des Kasi» der
stoischen a'J7X7.Tai>£3'.c, dem consensus des Richard von St. Victui',
sowie endlich dein consensus (cousentement) der Occasioua-
listen ausserordentlich nahe.
Zum Schlüsse dieser Auseinanderset/Aing über den arabischen
Occasiüualismus möchte ich die Bemerkung nicht unterdrücken,
dass der triftigste Einwand , der gegen jede occasionalistischej
Theorie erhoben werden kann, schon von einem arabischen Denker,
ibn Hizcäm, ausging. Er hält nämlich den Ascharija die Alterna-
tive entgegen: Entweder ist dieses Kasb ganz unabhängig von
Gott, dann ist es zwar Freiheit, aber die göttliche Causalität'
ist durchbrochen, oder auch das Kasb ist eine Schöpfung Gottes,
dann ist eben die ganze Theorie wesenlos und inhaltsleer'')-
Kap. III.
Richard von St. Victor.
Bei der reicheren und mannigfaltigeren Gedankenfülle, die das
Christenthum gegenüber dem Islam auszeichnet, ist es nicht zu
verwundern , dass innerhalb desselben das Problem des Determi-
nismus nicht jene prädominirende Stellung einnahm, wie im Islam.
Bildete die Frage nach der Prädestination in der dogmatischen
Ausgestaltung des Islam den hervorspringenden und das gesammte
philosophische Denken zunächst beherrschenden Ausgangspunkt, so
hatte sie für das im dogmatischen Ausbau begriffene Christenthum
bei Weitem keine solche hervorstechende Bedeutung. So stand
sie beispielsweise dem Logosbegriflf an Wichtigkeit erheblich nach.
Und doch würde man fehlgehen, wollte man die Tragweite dieses
Problems für die Entwicklung der christlichen Philosophie unter-
schätzen. Trotz der fundamentalen Bedeutung nämlich, welche die
Renan, Averroes p 81; Srhmöldeis, essai sur Ja philos. arab. p. 13a, in6ff.;
Munk, ileianges p. 325 ff.; Dugat 1. c. p. 146; Frankl, a. a. 0. S. 21 und 44;
Mehren, 1. c. p. 49; Spitta a. a. 0. S. 1)6 f. und 106.
") Cod. Lugd. 1 f. 194r. bei Houtsma a. a. 0. S. 65.
Antike und mittelalterliche Vorläufer des Occasioualismus. 225
Willensfreiheit für die christliche Theologie hat, fehlte es schon
frühzeitig nicht an Versuchen, dieselbe zu Gunsten eines entschie-
denen Determinismus völlig preiszugeben.
Die Manichäer z. B. tragen kein Bedenken, die freie Selbstbe-
stimmung des Menschen rückhaltlos und unumwunden zu leugnen").
In durchgreifendem Gegensatz zum Manichäismus beschränkt wieder
der Pelagianismus die göttliche Prädestination, um nur die volle und
ungeschmälerte Selbstbestimmung des Menschen zu retten"). Und
wieder können wir die bei den Stoikern und den Ascharija konstatirte
Th^tsache beobachten, dass überall dort, wo zwei unvermittelte und
scheinbar unversöhnliche Extreme einander gegenüberstehen, sich zur
rechten Zeit eine Compromissphilosophie herausarbeitet, welche die
Schroffheit der Gegensätze durch mildernde Abschwächung abfeilt
und eine Verschmelzung der entgegenstehenden Ansichten vornimmt.
]n diesem Falle war nun der Semipelagianismus der Mittler,
der vom absoluten Determinismus der jManichäer eine Brücke
schlug zur bedingungslos proklamirten Wahlfreiheit des Pelagianis-
nuis. Der AViderstreit von göttlicher Nothwendigkeit und mensch-
licher Freiheit wird von Semipelagianern auf jene, stark an den
Stoizismus anklingende Weise gelöst ^"), dass dem Menschen zwar
") Vgl. Stock!, Geschiclite der patristischen Philosophie S. 83.
") Uebei' die sonderbare Art, wie die Pelagianer die Prädestination zu
(iunsten der Freiheit hinwegdeuteten, vgl. August, contra duas epp. Pelag.
I. 2, c. 7.
80) Vgl. loanni Cassiani Collatioues III, cap. 12 p. 575 Migne: adjutoriuin
Domini junctnni eidem semper ostenditur, fpio sane ne penitus libero colla-
bamur arbitrio, cum titubasse nos viderit, porrectione quodammodo manuum
suainim sustenat atque confirmat; vgl. ibid. III, 21, 22 p. 583 Migne . . . non
liberum arbitrium hominis volumus submovere sed huic adjutorium
et gratiam Dei per singulos dies ac momenta necessariam compro-
bare; ibid. VII, 8 p. 678M.: in nobis virtus respuendi sive acquiescendi
Hbertas est attributa Constat ergo neminem posse a diabolo decipi,
uisi illam qui praebere illi maluerit suae voluutatis assensum; ibid. XIII,
8 p. 912: adest igitur inseperabiliter nobis semper diviua protectio;
ibid. XIII, 9, p. 919 Migne: et quia etiara suis interdum motibus homo ad
virtutum appetitus possit extendi, semper vero indigeat adjuvari. Ich
habe das Material über die Freiheitslehre der Semipelagianer, insbesondere
t'assians, hier möglichst vollständig angegeben, einmal weil die bezügliche
Darstellung' StöckFs S. 133 — eine andere neuere philosophiegeschichtliche
226 Lud VT i er Stein.
die Initiative aber nicht die Executive eingeräumt wird. Ohne
wüttliche Assistenz kann keine Handlung vollbracht werden, aber
o l
der menschliche AVille kann zuweilen die veranlassende Ursachej
werden, dass Ciott die gewollten Handlungen der Menschen voll-
zieht. (Jder auch der Mensch zollt den Handlungen, die Gott in!
ihm vollbringt, seinen Beilall (assensus), und darauf beruht!
sein sittliches Verdienst. Man sieht, dass es immer der
gleiche Ausweg ist, auf welchen der Vermittlungsstandpunkt ver-
fällt, ja vielleicht verfallen muss. weil es vernünftigerweise keinen
anderen gibt.
Dem gleichen Vermittlungsversuch begegnen wir in der Pat-
ristik noch einmal, und zwar beim Kirchenvater Hieron ymus.
de.ssen starke Seite die Philosophie bekanntlich nicht war. Auch
behandelt er das Problem nur mehr episodisch, indem er es in,
seine Polemik gegen die excessive Freiheitslehre des Pelagianismiis '
einflicht. Bei ihm kehrt denn auch die stoi.sche Wendung assen-j
sus, die uns bei den Semipelagianern begegnet ist. wieder'*'), wo-'
l)ei freilich unentschieden bleiben mag, ob etwa zwischen Hicrony-
mus und Cassian ein Abhängigkeitsverhältniss besteht.
Durch Augustin, der die Schlusssumme der patristischen l'liilo- 1
Sophie in ebenso encyclopädischer AVeise zusammenfasste. wie!
Thomas d'Aquino die der scholastischen, kam unser Proltlem zum j
vorläuhgen Abschluss. Er hatte sich die verzweifelte, an innerem j
Widerspruch krankende Ausflucht zurechtgelegt, Gott sehe die j
Behandlung der Patristik besitzen wir leider immer noch nicht — mangelliaft,
theihveise gerade/.u verfehlt ist, andermal desshalb, weil man aus unserer
Zusammenstellung ein sell»st bis auf den Ausdruck sich erstreckendes
Anklingen an den Stoizismus entnehmen kann. Wenn Cassian von assensus
Yoluntatis spricht, so hat er diese Wendung vielleicht Seneca oder Cicero entleimt.
«') Vgl. Hieron. Ep. lo2, adv. Pelag. p. 1153 Migne: velle et currere
nieum est: sed ipsum meum, sine r)ei semper auxilio, non erit meum ...
avarus sum ad accipienda beneficia dei, nee ille deficit in dando, nee ego
satior in accipiendo; vgl. Dialog, contra Pelag. III, 10, p. 607 M.: liberum ex
parte cessat arbitrium, quod in eo tantum est, ut velimus at(|ue cupia-
mus, et placitis trii)uamus assensum; ibid. I, 4: non sie donata est
liberi arbitrii gratia, ut Dei per singula tollatur adminiculiim; iihnliclie
Wendungen finden sich noch adv. Jovin. I, 29; Comm. in Ep. ad Gal. III,
6 u. ü.
II
Antike und mittelalterliche Vorläufer des Occasionalisinus. 227
Veieii IlaiKllungen des Menschen als freie voraus, so dass die
Tittliche Providenz die Freiheit nicht aufhebe'^). Damit waren
lie Gemüther vorerst hescliwichtigt. Und sintemal das halbe Jahr-
ausend nach Augustin vermöge einer geistigen Dürre die Sahara
ler abendländischen Kultur bedeutet, so darf es uns nicht Wunder
ehmen, dass vom 5. bis zAim 10. Jahrhundert anf christlicher
Seite kein uennenswerther Versuch gemacht wurde, das uns hier
iiiteressirende Problem irgendwie aufzufrischen.
Das im Dogma etwas verhärtete und eingerostete Problem des
Determinismus wurde aufs Neue in Fluss gebracht durch die kühne
l'ürraulirung, die der durch seine tragischen Schicksale bekannte
l'uldaer Mönch Gotschalk ihm gegeben hat. Durch seine Lehre
einer doppelten Prädestination, d. h. der Begnadeten zur Glück-
seligkeit und der Verworfenen zur Verdammniss ^■^) hatte er dem
Determinismus eine so starre Form gegeben, wie er sie innerhalb
^er christlichen Kirche in gleicher Schärfe und Unerbittlichkeit nur
noch einmal wieder erhalten hat, und zwar durch ^lartin Luther**').
Allein mochte auch der Determinismus gleich an der Schwelle
der scholastischen Philosophie mit noch so lärmsclihigender Prä-
tension auftreten, so wurde er doch w'eit übertönt und in den
Hintergrund gedrängt durch den betäubenden Kampf zwischen
Xominalismus und Realismus — ein Kampf, der in der ge-
rammten Scholastik so sehr prävalirte, dass man für Probleme, die
nicht unmittelbar mit diesem zusammenhingen, fast stumpf und
unempfindlich wurde. Und so flüchtete sich denn die uralte Frage
nach der Vereinbarkeit des Determinismus mit der Willensfreiheit
aus der Scholastik in die Mystik.
Das erklärte Oberhaupt der scholastischen Mystik, der heilige
Bernard von Clairvaux (doctor mellifluus) brachte in seiner
Schrift de gratia et libero arbitrio diese von der Scholastik etwas
^-) Augustin, de Hb. arbitr. III, 4; de civ. dei V, 9 und 10.
^■■) üeber die Tragweite dieses berühmten Prädestinationsstreites, der für
den Urheber desselben, den Mönch Gottschalk, einen so traurigen Ausgang
genommen hat, informirt am eingehendsten Staudenmeyer, J. Scot. Erigeiia,
l'.d. I. S. 170—200.
^^) In Luthers bekannter Schrift de serv. arbitr. passim.
228 Ludwig Stein,
vernachlässigte Frage \Yieder in Irische liewegung. Er unterscheidet
drei Arten von Freiheit, die in höchster Vollendung nur Christus
besessen hat, die sich jedoch in abgeschwächter Gestalt auch beim
^lenschen vorfinden "). Nur der Sünde gegenüber ist der Mensch
unfrei*"'), du er seine höchste Freiheit durch den Siindenfall ver-
wirkt hat. Aber selbst in den Fällen, in denen uns ein Ueberrest
von Freiheit geblieben ist, können wir aus eigener Machtvollkom-
menheit nichts vollführen. Die gfittliche Gnade — im Uebrigen
nur ein anderer, kirchlicher Name für den Determinismus — rauss
beim Zustandekommen unserer Handlungen mitwirken"'). An-
dererseits ist aber auch die göttliche Gnade ohne die j\Iithilfe un- ;
seres Willens unwirksam : beide Factoren müssen also zum Zu- |
standekommeu der menschlichen Handlung zusammenwirken^^).
AV^orauf gründet sich demnach unser sittliches Verdienst? Offenbar
doch nur auf unsere Zustimmung zu den durch Gottes Gnade in
uns vollzogenen Handlungen, d. h. auf den Beifall, mit welchem
wir unsere nothwendigen Handlungen begleiten'^). Die cooperatio
und der consensus des Menschen machen seine sittliche Zurech-
nungsfähigkeit aus — genau dieselbe Lösung, die wir l)ereits bei
den Stoikern und den Ascharija kennen gelernt haben.
Hatte aber der heilige Bernard von Clairvaux diese Theorie
nur mit gewn.ssen Vorbehalten entwickelt, so tritt sie uns bei
Ivichard von St. Victor in voller Schärfe und systematischer
Rundung entgegen. Die Victorianer — so benannt nach ihrem
Aufenthaltsort, dem Kloster St. Victor in Paris — waren ohnehin
die begeisterten Fortbildner der mit Mvstik durchsetzten Philo-
Sophie des S. Bernard. Vnd so ist es denn sehr begreiflich, dass
*^) de gratia et lil). aibitr. cap. ö uiul 4; II. .Schmidt, der Mystizismus des
Mittelalters, S. 22G.
^'O Sermones de divers. 81.
*^) de grat. et üb. arbitr. cap. 13, 42: liurainis conatiis ad bomim et cassi
sunt, si a gratia non adjuvantur, et nulli si non exciteutur; vgl. Stöckl, Philo-
sophie des Mittelalters I, 299.
**) Ib. rap. 1 und 14, 4(j; cap. (i: velle siquidem inest iiul'is ex libero j
arbitrio, non etiaui posse quod volumus.
*') Ibid. cap. 1: cooperari dicitur liberum arbitrium, dum cousentit, j
hoc est, dum salvatur. Consentire enim salvari est. i
Antike und mittelalterliche Vorläufer des Occasionalismus. 229
die vom li. Bernard wieder mit Nachdruck aufgegriffene Frage nach
der Vereinbarkeit der Freiwahl mit dem Determinismus von
den Victorianern mit grosser Lebhaftigkeit weiter verhandelt
worden ist. Zwar der erste Victorianer, Hugo, ohnedem der
minder bedeutende , hat zur Weiterbildung unseres Problems
nichts Beträchtliches beigetragen. Um so entschiedener und durch-
greifender ist nun dessen Freund und Nachfolger Richard von
St. Victor für dasselbe eingetreten. Er schuf sich für seinen
Lösungsversuch eine breitere Grundlage, sofern er das Geistesver-
! mögen des Menschen in Vernunft und Affect eintheilte; die
Vernunft soll die Wahrheit zu ermitteln streben, der Affect auf
die Aneignung der Tugend gerichtet seiu^"). Der menschliche
Wille ist nur ein Ausfluss dieses Affects^'), somit unselbstän-
dig, weil vom Affect bedingt. Unsere Freiwahl kann demnach
nicht in jenem absoluten Sinne gelten, als ob wir die unbedingte
Gewalt in uns hätten, zwischen Gut und Böse zu wählen und nach
unserer Wahl auch zu handeln.. Denn das Handeln liegt über-
haupt nicht in unserer Macht. Gott ist es vielmehr, der innerlich
wie äusserlich auf uns einwirkt'''): innerlich auf unsern Willen,
äusserlich, indem er unsern Willen in die That umsetzt. Ohne
die göttliche Beihülfe kann daher keine Handlung vollzogen wer-
den. Und doch ist der menschliche Wille frei, sofern Gott wohl
die Handlung selbst, nicht aber die menschliche Einwilligung
zur Handlung erzwingen kann^^). Die Gesinnung ist es, um es
: kurz zu sagen, die den menschlichen Handlungen das Gepräge des
'°) Vgl. Richard y. St. Victor, de praep. an. ad contempl. c. 3 p. 3 Migne:
una est ratio, altera affectio, ratio, qua discernaraus, affectio, qua diligamus;
ratio ad veritatem, aifectio ad virtutein. Vgl. noch p. 255 u. 896 Migne.
•") Ib. cap. 5: obsequitur sensualitas aifectioni.
^-) Richardus, de arca mystica, cap. 16: Duobus autem niodis nobis Deus
cooperatur: iuterius videlicet et exterius. luterius per occultam inspira-
tionem, exterius per manifestam operum suorum administratione m; vgl.
auch dessen de statu inter. hominis cap. 7 — 11 ; de contemplatione III, cap. 24;
ebenso de erud. hom. cap. 30: potestas tua, cooperatrix gratia.
"3) Rieh, de statu inter. hom. cap. 13 p. 1125 Migne: Non autem arbi-
trium hominis idcirco liberum dicimus, qnia promptura habet, bonum et
inalum facere, sed quia liberum habet, bono vel malo non conseutire;
ähnlich cap. 3 p. 1105 und 33 p. 1140; de erud. hom. cap. 30 p. 1280 Migne.
Archiv I'. Geschiclite der Philosophie. II. -^^
230 Ludwig Stein,
Sittlichen oder Unsittlichen aufdrückt^*). Diese Gesinnung aber,
d. h. der Affect, mit welchem wir die göttlichen Handlungen be-
gleiten, ist des Menschen ureigenstes, unveräusserliches Besitzthum;
denn auf diesen unsern Beifall hat selbst Gott keinen Einfluss^^).
Darum beruht denn auch auf diesem freudigen Beifall, den wir
den göttlichen Handlungen zollen, unser sittliches Verdienst^"). Frei-
lich wäre es eine traurige Beschränkung des Menschen, wollte er
seine ganze Seligkeit ausschliesslich auf diesen consensus aufbauen;
man soll sich vielmehr bestreben, durch mystische Versenkung dem
Weltgeist näherzukommen. — Doch hier verlässt Richard den
sichern Untergrund des nüchteren philosophischen Denkens und :
wagt vom Schwungbrett seiner reichen Einbildungskraft aus einen I
kühnen Sprung in die verschwommenen Regionen der mystischen \
Extase. Dahin aber können wir ihm natuigemäss nicht mehr i
folgen. I
Nur auf eine bezeichnende Thatsache will ich zum Schlüsse i
dieses Kapitels noch hinweisen: Alle diese Vorläufer der occasio-
nalistischen Lösung des Freiheitsproblems glaubten mit unerschütter-
licher Zuversichtlichkeit, dass sie die Wahlfreiheit und die aus der-
selben entspringende sittliche Zurechnung ihrem vollen Um-
fange nach aufrechtgehalten haben. Ja, Richard von St. Victor
preist mit überschwenglicher Siegesgewissheit die hohe, durch nichts
zu ersetzende AVürde der Freiheit'^), die das edelste ßesitzthuni,
die vornehmste Zier des Menschen sei. Es ist merkwürdig, wie
sehr die Philosophen geneigt sind, ihre Leistungen zu überschätzen
^^) Richardus, de arca mystica L. III, cap. IG: Numquam opus justifica-
tionis perficitur, si creator no n coop eratur . . . Veruuitamen in justificalionis
nostrae opus voluntarium consensum requirit Dens ... Solum euim
justa velle, est jam just um esse.
^^) de statu int. hom. cap. 13 p. 1125: Libertatis vero est, quod consensus
ejus extorqueri vel cohiberi neu potest.
'■'^) de arca mystica ill, cap. 2-1: idcirco iiomini ad retributionum gloriam
cumulatur, quicquid ex libero meutis consensu in ipsa divinitus agitur.
*0 de statu int. hom. cap. 6 p. 1120: Liberum arbitrium oranium quae iu
homine sunt regimen et moderamen conditiouis jure suscepit; älinlich cap. 3:
Inter omnia creationis bona niliil in liomine sublimius, nil dignius libero ar-
bitrio; ebenso de erud. liom. cap. 3U p. 1281.
Antike viiic! mittelalterliche Vorläufer des Occasionalismiis. 231
und wie geringe Selbstkritik sie vielfach bekunden. Alle Occa-
sionalisten glaubten die Freiheit voll zu retten; Richard nennt
sie gar die Krone des Menschen. Er merkte aber nicht, dass
diese Krone nicht aus echtem, probehaltigem Gold bestellt, son-
dern nur aus blinkendem, verrauschendem Schaumgold.
Kap. IV.
Die Occasionalisten.
Descartes hatte von seiner erkenntnisstheoretischen Grund-
voraussetzung aus die aristotelisirende Metaphysik der Scholastiker
durchgreifend beseitigt. Unter den wuchtigen Schlägen seiner über-
zeugenden Beweisgründe hörten auch die" letzten Zuckungen der nur
langsam dahinsiechenden Scholastik auf. Allein er hatte auf den
wenig festen Untergrund des Zweifels die erste unantastbare Ge-
wissheit, sein viel besprochenes: cogito ergo sum gestützt, das den
Angelpunkt seiner ganzen Metaphysik bildet. Seiner Meinung nach
freilich hatte er damit sein metaphysisches System, das mit ma-
thematischer Präzision, wenn auch noch nicht, wie bei Spinoza, in
matliematischer Form ineinandergefügt war, unerschütterlich fest
begründet. Aber gar bald zeigten sich an diesem kühn aufgeführten
Gebäude reclit bedenkliche Lücken und Risse, die selbst seinem
engeren Schülerkreise nicht verborgen blieben.
Schon die Grundpfeiler seines ganzen Systems waren unhaltbar.
Vor Allem war es der doppelte Dualismus von Gott und Welt einer-
seits, sowie Denken und Ausdehnung andererseits, an dem die ganze
Metaphysik Descartes' nothwendig scheitern musste. Geist und Körper,
Denken und Ausdehnung sollen diejenigen Substanzen sein, die wir
klar und deutlich erkennen und darum auch als wahr und weseu-
haft anerkennen müssen. Substanz heisst aber, nach der Definition
Descartes'**), was zu seiner Existenz keines anderen bedarf. Nun
soll jedoch über den beiden Substanzen des Denkens und der Aus-
dehnung eine höhere Ursubstanz, nämlich die Gottheit stehen,
welche jene beiden nicht nur hervorgebracht hat, sondern sie
I '-'0 Vgl. Princlp. Phil. I, §51; vgl. auch Natorp, Descartes' Erkenntniss-
theurie S. 78 f.
16*
232 Ludwig Stein,
sogar als creatio continiia noch fortwährend weiter erschafft.
Der Widerspruch liegt offen und grell z.u Tage. Sollen Denken
und Ausdehnung Substanzen heissen, dann können sie unmöglich
erschaffen sein, da ja Descartes selbst das Wesen der Substanz da-
hin definirt, dass sie keines anderen zu ihrer Existenz bedarf.
Freilich versucht Descartes einen Ausweg aus diesem Dilemma, indem
er die unendliche Substanz von der endlichen unterscheidet;
jene soll die Gottheit sein, diese in Denken und Ausdehnung zer-
fallen. Allein dieser Nothbehelf ist nur unzulängliches Flickwerk.
Sobald das Wesen der Substanz vorzugsweise in ihrer Selbständig-
keit besteht, kann sie unmöglich erst erschaffen sein; eine endliche
Substanz ist daher ein metaphysisches Unding! Hier ist der ge-
rade Weg, der unvermeidlich zur pantheistischen Piiilosophie
Spinoza's führen musste, wo es nur eine einzige, ewige Substanz
gibt, nämlich die Gottheit, während Denken und Ausdehnung die
für uns erkennbaren Attribute jener unendlichen Substanz bilden.
Ein zweiter, nicht minder augenfälliger Widerspruch in der
Metaphysik Descartes betraf das Verhältniss der beiden Substanzen:
Denken und Ausdehnung zu einander. Die Natur dieser Substanzen
bestheht nach ihm wesentlich darin, dass jede von beiden ohne
die andere existiren kann , so dass sie sich geradezu gegenseitig
ausschliessen ^'). Denken und Ausdehnung stehen demnach ein-
ander schroff und unvermittelt gegenüber; sie haben keinerlei Ge-
meinsamkeit, gar keine w'ie auch gearteten Beziehungen und Be-
rührungspunkte; sie sind, wie Descartes sagt, toto genere verschie-
den '""). Allein durch die Thatsache des menschlichen Daseins w'ird
diese metaphysische Wahrheit recht bedenklich in Frage gestellt.
Im Menschen sind Geist und Körper, Denken und Ausdehnung I
unleugbar eng verschlungen. Descartes selbst ist ein eifriger Ver- '
fechter der Willensfreiheit'*"); nach ihm also vollführt der Körper i
3») Resp. ad sec. Object. Def. X. ;
100) Resp. ad Object. III, 2. ■
'"') Princ. philos. I, 29, 35, 41 u. ö. Vgl. Saisset, precurseurs et disci|)les ,
de Descartes p. löOflP. So sagt Descartes in den von Foucher de Careil her-
ausgegebenen Oeuvres inedites de Descartes: Dieu a fait trois niiracles, les I
choses de rien, Thomme Dieu et le libre arhitre de rhomme. '
Antike und mittelalterliche Vorläufer des Occasionalismus. 233
unbedingt Alles das, was der Geist durch den Willen bestimmt.
Woher kommt aber plötzlich diese innige Beziehung zwischen
jenen beiden schroff getrennten Substanzen? Wo sind die Fäden,
welche Denken und Ausdehnung zu einem harmonischen Causal-
nexus verknüpfen? Was sich ausschliesst, kann doch unmöglich
auf einander wirken.
Hier will Descartes wieder mit einem Nothbehelf dem schwie-
rigen Dilemma entschlüpfen: Der Mensch gilt ihm gleichsam für
ein Wesen oder eine Substanz für sich^"'^), da er sich aus den in
Rücksicht auf den Menschen unvollkommenen Substanzen
Denken und Ausdehnung '°^) zusammensetzt. Der Mensch bildet
also nach Descartes eine substantielle Vereinigung (uuio substantialis).
Das Mittelglied zwischen Leib und Seele sollen alsdann die Leiden-
schaften bilden, und geht so weit, die Seele, diese Denksubstanz,
zu localisiren und ihr das Conarion als Aufenthaltsort anzuweisen.
Ja, er versteigt sich gar dazu, von einer ausgedehnten Seele
zu sprechen^"*).
Man sieht hier deutlich, wie bitter sich Inconsequenzen in
der Philosophie rächen, wie selbst so scharfsinnige Philosophen wie
Descartes sich selbst verleugnen, sobald sie nur um Haaresbreite
von der geebneten Bahn der Consequenz abweichen. Man ver-
gegenwärtige sich recht genau und scharf diesen schreienden Wider-
spruch. Derselbe Descartes, der es als eine der ersten und vor-
nehmsten metaphysischen Wahrheiten hingestellt hatte, dass Denken
und Ausdehnung zwei durchaus getrennte, einander völlig aus-
schliessende Substanzen bilden sollen, vergisst sich so weit, von
einem ausgedehnten Denken zu sprechen und somit die Grenze
dieser Substanzen von Grund aus zu verrücken! Hier ist also wieder
ein greifbarer Widerspruch in der Metaphysik Descartes', der ausge-
glichen werden musste — ein Widerspruch, der zunächst notli wen-
dig und folgerichtig zum occasionalistischen System geführt hat.
">'-) Meditat. VI. Vgl. auch AI. Chiapelli, la dottrina della realtä del moudo
esterno nella filosofia moderna, Ferenze 1886, p. 52 f., 60t'.
'03) Resp. ad Object. IV. Weitere Stellen bei Natorp, a. a. 0. S. 87 f.
'"■') Les passious de räine 1, Art. 30, vgl. K. Fischer, Geschichte der
neueren Philosophie I, 1 p. 523; Natorp S. 88, 177.
234
L 11 (1 \v i ji Stein.
Den ersten Anlauf zur Losung des Problems, wie bei der an-
einander ausschlicssenden Beschaffenheit von Körper und Geist doch
das gegenseitige Aufeinanderwirken dieser beiden Substanzen zu er-
klären sei, hat wol der französische Arzt und Physiolog Louis de la
Forge genommen "'^). Er ist freilich noch nicht Occasionalist in
jenem strengeren Sinne, wonach bei jedem Willensact ein un-
mittelbares Eingreifen der Gottheit erforderlich sein soll. Er
versucht vielmehr den Widerspruch dadurch zu lösen, dass er das
eigenthiimliche, aus dem Rahmen der Substanz heraustretende Ver-
hältniss von Leib und Seele auf einen Urwillensact der Gottheit
zurückführt '*"'). Aber er ist schon auf dem besten Wege, Occa-
sionalist zu werden;, seine Lösung mag allenfalls zu weiteren Ver-
suchen nach dieser Richtung hin den Impuls gegeben haben.
Auf den ersten Anblick könnte es freilich scheinen, als ob nur
der Widerstreit der einander ausschliessenden Substanzen: Denken und
Ausdehnung zur occasionalistischen Lösung hingeführt hätte, während
das Problem des Determinismus, das bisher alle occasionalistischen
Lösungen hervorgetrieben hatte, gerade beim Occasionalismus selbst
unbetheiligt wäre. Doch scheint dies nur so. Es wird sich uns
zeigen, dass Geulincx und Malebranche durch den Occasionalismus
auch dem Dilemma zwischen Freiheit und Nothwendigkeit
entrinnen wollten. Denn hier war wieder eine klaffende Lücke im
cartesianischen System auszufüllen. Descartes huldigte einer mecha-
nischen Naturansicht und proklamirte dabei die Willensfreiheit,
ohne herauszufühlen, dass beide consequentermassen einander aus-
^1
los) Vgl. meine Abhandlung, zur Genesis des Occasionalismus, Archiv I,
56 if. Diejenigen, die Clauberg zum ersten Vertreter des occasionalistischen
Gedankens stempeln wollen, haben übersehen, dass Clauberg bei seinem Aufent-
halt in Paris von Louis de la Forge Einflüsse erfahren hat, vgl. Bouillier,
histoire de la philosophie Cartesienne, I, p. 294.
""') Auch Clauberg vertritt in seiner Abhandlung: de corporis et aniraae
in horaine conjuuctione diese ältere Auffassung des Occasionalismus, vgl.
Bouillier ibid. p. 297 ff., was mich auch in der Annahme bestärkt, dass Clau-
berg seine occasionalistische Theorie bereits unter der Einwirkung de la
Forge's aufgestellt hat. Dass übrigens die jüngst erschienene Schrift Seyfarth's,
Louis de la Forge, Gotha 1887, meine Auffassung der Stellung de la Forge's
bestätigt, habe ich bereits oben Note 69 bemerkt.
Antike und mittelalterliche Vorläufer des Occasionalismus. 235
schliessen. Und diese so naheliegende Consequenz hat denn auch
Spinoza rückhaltslos gezogen, indem er die Freiheit dem Determi-
nismus unbedenklich geopfert hat.
Hier also wollten die Occasioualisten, die sich ja ihrer ganzen
Denkrichtung nach als Compromissphilosophen kennzeichnen , die
Vermittlungsbrücke zwischen dem cartesianischen Freiheitsbegriff
und dem Determinismus schlagen. Mit der occasionalistischen
Antwort sollten gleichzeitig zwei Probleme ihre Lö-
sung finden: Einerseits sollte durch die stete cooperatio Gottes
das unerklärliche Ineinandergreifen von Leib und Seele, dieser
einander ausschliessenden Substanzen, begreiflich gemacht werden,
andererseits sollte dieses occasionelle Eingreifen der Gottheit unter
Wahrung der menschlichen Zustimmung eine Versöhnung von
Freiheit und Nothwendigkeit ermöglichen.
Geraud de Cordemoy freilich, der Urheber des Occasionalismus
in engerem Sinne — den ich als Occasionalismus der zweiten Phase
bezeichnet habe'°') — scheint in seinem Lösungsversuch mehr die Ver-
söhnung der beiden Sub.stanzen, als die Vermittlung zwischen Deter-
minismus und Freiheit im Auge zu haben. Er behauptet nur, dass
Gott jedesmal, wenn die menschliche Seele sich auf eine Handlung
wollend concentrirt, unmittelbar eingreifen muss, um die Verbindung
zwischen Seele und Leib jeweilen (occasional) herzustellen^"^) und
somit das Zustandekommen der Handlung erst zu ermöglichen. Hier
ist von einer individuellen Färbung des menschlichen Willens, die
an dem Zustandekommen der Handlung einen Mitantheil hätte,
nicht entfernt die Rede. Erst bei Geulincx und Malebranche tritt das
Bestreben hinzu, auch den Widerspruch von Freiheit und Noth-
wendigkeit zu lösen. Denn nur so ist es zu begreifen, wenn sie
neben die göttliche operatio die menschliche cooperatio hin-
stellten und der letzteren einen gewissen Mitantheil an der Hand-
lung zuschrieben, sofern diese cooperatio von einem freudigen
Aftect begleitet sein soll. Für die Erklärung des Aufeinanderwir-
kens beider Substanzen wäre ja diese Unterscheidung ganz uunö-
^"O Zur Genesis des Occasionalismus, Archiv I, 56.
"'^) Cordemoy, dissertations philosophiques, discours IV und V, p. 71,
73 ff.; trait^ de Metaphysique I, 103, 107; II, 113; Bouillier, I, 515 f.
236
Ludwig Stein,
thig! Sobald wir aber annehmen, dass Geulincx und Malebranche
ihren Occasioualismus nicht auf die Metaphysik beschränkten, ihn
vielmehr durch die versuchte Rettung der Willensfreiheit auch ins
Ethische hiniiberspielen Hessen, werden wir die Nothwendigkeit
dieser Unterscheidung begreifen. i^f
Was bei Cordemoy nur mehr als schüchterner Versuch hervortrat,
das führte Geulincx mit selbstbewusster Entschiedenheit und in syste-
matischer Abrundung durch. Er erklärt rundweg jedes wechselseitige
Causalverhältniss zwischen Leib und Seele für ausgeschlossen ; die Zunge
zittert wol im Munde, wenn ich sprechen, die Füs.se bewegen sich wol,
wenn ich gehen will, aber diese Bewegung bringe nicht ich hervor;
ich weiss nicht, woher sie kommt, sagt er einmal wörtlich^""). Bewirke
ich aber nicht einmal die Bewegungen meines eigenen Inneren, so
ist es vollends unmöglich, dass ich als Subject d. h. als Denksubstauz
Dinge ausser mir erschaffen oder hervorbringen soll. Es ist daher nur
eine irrige Yolksmeinung, wenn man mir zumuthet, dass ich
schreibe, male, dass ich ein Brod, einen Tisch, ein Kleid anfertige.
Diese Thätigkeiten, die ich scheinbar vollbringe, gehöien keines-
wegs meinem Ich als solchem an; sie müssen vielmehr von einer
anderen Macht hervorgebracht sein, da diese Dinge doch nur durch
Bewegung entstehen konnten. Ich kann aber nicht einmal meinen
eigenen Körper, geschweige denn Dinge ausser mir unmittelbar
bewegen""). Eine höhere, ausser mir liegende Kraft ist es sicher-
lich, die meine Finger bewegt, wenn sie Steine zusammenfügen,
aus denen alsdann nach meiner Ansicht ein Haus oder ein Thurm
entsteht'^'). Mein Ich als solches ist überhaupt nur ein unbe-
11
'"^ Ethica Tract. I, Sect. II, § 2, p. 112: Jam corpus meum varie qnidem
pro arbitrio meo movetur (lingua uamque in ore raeo huc illuc titubat, cum loqui;
brachia jactantur, cum stare; pedes projiciuntur, cum ire volo) sed motum
ego illum non facio; nescio enim quomodo peragatur; vgl. auch
Metaph. I, 8, 9; Grimm, Arnold Geulincx' Erkenutnisstheorie, Jena 1875, S. 44.
Wie sodann dieser metaphysische Oceasionalismus bei Geulincx allmiUig
in den ethischen einbiegt, hat E. Göppert, Geulincx' ethisches System, Bres-
lau 1883, S. 11 treffend aufgezeigt.
"°) ibid. p. 121: Denique huc mihi deveniendum esse perspicio, ut in-
genue fatear, nihil me extra me facere.
'") ibid. p. 124. Chiapelli 1. c. p. 72 f.
Antike und mittelalterliche Vorläufer des Occasionalismus. 237
tlieiligter, müssiger Zuschauer. Auf der Schaubühne, die man
Welt nennt, gehöre ich nur zum passiven Publikum, bin aber
selbst kein Acteur""). Bin ich es aber nicht, der die Bewegungen
meines Körpers verursacht, so muss es Gott sein, der jene wun-
derbare Harmonie zwischen Leib und Seele hergestellt hat und
stets dadurch aufrecht erhält, dass er gelegentlich unserer Denk-
oder Willensacte den entsprechenden körperlichen Vorgang erzeugt.
Thatsächlich sind also meine scheinbaren Handlungen nicht die
ineinigen, sondern die der Gottheit "^). Diese Harmonie zwischen
(ieist und Körper ist nicht minder wunderbar, als die Welt-
schöpfung selbst; es ist kein geringeres Wunder, dass meine Zunge
im Munde erzittert, wenn ich das Wort „Erde" ausspreche, als
wenn die Erde selbst davon erzitterte"*). Geulincx gebraucht
für dieses Verhältniss bekanntlich das Gleichniss von zwei gleich
uehenden Uhren, die unabhängig von einander stets dieselbe Zeit
anzeigen ^^^), und es ist bekannt, dass auch Leibniz sich dieses
'■-) ibid. p. 133: spectator sum in hac scena, non actor, ähnlich p. 142.
''•■*) ibid. p. 139: Eatenus vero non esse meam actionem, sed Dei; vgl.
noch p. 154 . . . ego non faciam: Dens forte faciet. Metaph. 36: unio enim
illa, qua cum corpore unitus sum, . . . non potest aliud esse quam voluntas
et beueplacitum ejus (sc. dei). Vgl. noch Metaph. 34 u. Zeller, Sitzungsbe-
richte der Akad. 1884 S. 683, Separatabdr. S. 11.
'1^^ ibid. p. 140.
"^) Dieses ührengleichniss findet sich bei Geulincx in den Anmerkungen zur
Rthik dreimal, Eth. 124, 140, 155. Pfleiderer, Arnold Geulincx, Tübingen
1882, S. 26 ff. wollte bekanntlich folgern, Leibniz habe die Entlehnung des
Uhrenbeispiels von Geulincx absichtlich verschwiegen. Darauf hat Zeller, über
die erste Ausgabe von Geulincx' Ethik (Abhandl. der Akademie, 1884) Leibniz
in Schutz genommen, und ich habe Archiv I, 59, Note 13 den Nachweis zu
■rbringen versucht, dass das Ührengleichniss in der cartesianischen Schule
i;is gebräuchliche, schon von Descartes stammende Schulbeispiel war. Nach-
träglich fand ich noch zwei mittheilenswerthe Thatsachen, die Leibniz von
dem Verdacht des Plagiats völlig entlasten. L. muss nämlich Geulincx' Werke
■rst ziemlich spät kennen gelernt haben, denn an zwei Stellen, an denen er alle
edeutenderen Cartesianer aufzählt (in der Gerhardtschen Ausgabe I, 16 und IV,
136) fehlt Geulincx' Name. Andererseits hat man bisher übersehen, dass sich
das Ührengleichniss bei L. schon sehr früh (1677) findet, und zwar in L.'s
Randglossen zu Eckhard's Brief, bei Gerhard 1, 232 : Hurmonia autem est uni-
tas in multitudine, ut si vibrationes duorum pendulorum inter se
;id quintutü quemlibet ictum consentiant.
238 1, 11(1 w ig stein,
Gleichnisses bedient und es auf die prästabilirte Harmonie ange-
wendet hat.
Allein dieses Uhrengleichniss könnte für den Occasionalisraus
Geulincx' missverständlich werden. Danach könnte es nämlich
scheinen, als habe auch Geulincx ähnlich wie etwa de la Forge
das wechselseitige Verhältniss von Leib und Seele durch einen
göttlichen ürwilleusact entstehen lassen. Dem ist aber in der
That nicht so. Gott ist nach Geulincx der Schöpfer unserer Hand-
lungen nicht mittelbar durch ein Naturgesetz, sondern un-
mittelbar durch seinen jedesmaligen Willen. So oft wir etwas
durch Gottes Vermittlung vollbringen, greift Gott unmittelbar
ein"**). Das Uhrengleichniss müsste daher noch etwa in dem
Sinne fortgesetzt werden, dass wie das Wesen der Uhr es erfordert,
dass sie periodisch aufgezogen wird, so auch das Verhältniss von
Leib und Seele, dass es fortdauernd von Gott erneuert und auf-
rechtgehalten wird. Dieser Fortschritt des Geulincx gegen den
Occasionalismus Cordemoy's, der darin besteht, dass er ein un-
mittelbares Eingreifen der Gottheit zur Aufrechterhaltung dieses
durch ein Gesetz festgestellten Verhältnisses von Leib und Seele
annimmt, ist für unsern Zweck von ausserordentlicher Wichtigkeit.
Denn namentlich in diesem Punkte trift't er mit den Ascharija
und Richard von St. Victor zusammen.
Oflfenbar liegt in der Theorie des Geulincx implicite ein
starrer Determinismus enthalten. Für die Willensfreiheit erübrigt
nach alledem nur ein geringer Spielraum. Bin ich nicht L^rheber
meiner Handlungen, dann ist nicht abzusehen, weshalb ich ihret-
wegen zur Verantwortung gezogen werden könnte. Allein diese
letzte folgerichtige Consequenz, die sich aus dem Occasionalismus
nothweudig ergibt, nämlich die absolute Negirung der ^^'ahlfrei-
heit, scheut sich Geulincx bei seinem vorwiegenden Interesse für
eine ethische Grundlegung der Philosophie ebenso zu ziehen, wie
seiner Zeit die Stoiker, die Ascharija oder Richard von St. Victor
Der Ausweg, den die Stoa in jener knappen Sentenz gewählt hatte;
"*) Jlefaph. p. 124: motus, quem irmiidi coiulitor efficit et conservando
contimio efficit.
Antike und mittelalterliche Yorläufer des Occasioniili.snin>;. 2o9
vulentem diicunt fata, nolentem trahunt, steht ihm noch often, und
er zögert auch nicht, ihn zu wählen. Man glaubt walirlich einen
^toiker vor sich zu haben, wenn Geulincx sagt"'): Cum Dens me
hinc arcesset^'*), nil me retardabit: statim veniam, omni animo
veniam, veniam lubens, volens: advolabo. Nicht ich, sagt
er au anderer Stelle"^), bestimme Gott, so oder so zu handeln,
sondern er vollzieht zuweilen meinen Willen, weil dies in seiner
Urabsicht lag. Unser Verdienst liegt aber in der freudigen
Zustimmung, die wir Gottes Handlungen zollen '■''). Diese
Zustimmung hat mir Gott freigelassen: Dens exitum non injunxit
liie, sed propositum ^'^').
An diese mehr ethische Formulirung des Occasionalismus
knüpft nun Malebranche vorzugsweise an. Denn auch der
(Jccasionalismus Malebranche's, so verschieden er sonst in seiner
Voraussetzung und Begründung von dem Geulincx' sein mag,
kommt in Bezug auf die Willensfreiheit zu demselben Resultat.
Die Wahlfreiheit sagt er, besteht darin, dass der Mensch sein
Urtheil und seinen freudigen Beifall zurückhalten kann'").
Diese Willensfreiheit hat Gott dem Menschen eingepflanzt; es
ist daher unsere höchste Aufgabe, uns dieser Gottesgabe in aus-
gedehntestem Masse zu bedienen'"). Freilich, meint er, drängt
"0 Etbica Tract. I, Sect. II, § 4, num. 2, p. 148.
"") Die editio princeps hat accersiet. Man vergleiche mit diesem Satze
lieulincx' den oben Note 25 angeführten Ausspruch Seneca's und mau wird
•ine überraschende, fast wörtliche üebereinstimmung finden.
"') ibid. p. 154: Deus saepe motum illum impartitur, quem volo; non,
nuia ego volo, sed cjuia ipse vult me volente motum illam fieri.
^'■"') ibid. p. 189. Die weitere Ausführung dieses Gedankens findet man
bei V. van der Haaghen, Geulincx, etude sur sa vie, ses ouvrages etc. p. 121 ff.
'•''1) ibid. p. 195.
'■•^2) Vgl. recherches de la verite I.Buch, I, 2: la liberte cousiste en ce
. . . quil peut suspeudre son jugeraent et son amour; ähnlich ibid. 1. Buch,
111, 2. Ich citire Malebranche nach der Pariser Ausgabe von 1837.
'■^) ibid. I.Buch, III, 3; de la premotion physique II, 390: la liberte
lonsiste dans un vrai pouvoir qu'a Täme de suspendre ou de donner son
'"onsentement; ähnlich Meditations chretiennes II, p. 132; Entretiens sur la
Metaphysique, II, 23, 48 und XIII Entretiens II, 99; Eclaircissement (II) zu
■len recherches de la verite, p. 298; vgl. endlich Cap. X seiner Ethik.
240 Ludwig Stein,
uns Gott unaufhaltsam zum Guten als solchem; aber wir haben
doch die Macht, uns diesem intensiven Drang zai entziehen, weil
wir durch Gottes Güte die Fähigkeit besitzen, den Handlungen
Gottes, die er in uns vollzieht, unsern Beifall und unsere Zu-
stimmung zu ertheilen, aber auch zu versagen. Demnach besitzen
wir an unseren Handlungen ein gewisses Verdienst, einen gewissen
Mitantheil. Gott allein ist es wol, der unsere Handlungen voll-
bringt, aber wir sind dabei mitthätig; dieu opere et c'est nous
qui cooperont '■^). In einer späteren Schrift führt er diesen Ge-
danken noch präziser und in schärferer Betonung durch; er sagt'^'):
Dieu comme cause efficace produit en nous, sans nous, toutes
nos perceptions et toutes nos motions. Mais il ne produit pas
nos consentiments libres ä ces motions. Wie sich denn. Malebr.
überhaupt in seinen späteren Schriften immer mehr jener Fassung
des Occasionalismus annähert, die ihm Geulincx gegeben hat.
Ziehen wir nun das Schlussergebniss der occasionalistischen Lö-
sung, so können war es kurz dahin zusammenfassen: Der Kernpunkt
des Problems wird so beantwortet, dass Gott im Momente des Han-
delns die Fähigkeit zum Handeln in uns erzeugt, und dass an-
dererseits unsere Willensfreiheit wesentlich und vorzüglich darauf
beruht, dass wir den durch Gott in uns vollzogenen Handlungen
unsere freudige Zustimmung ertheilen, aber auch ver-
sagen können. Das Gesammtresultat unserer bisherigen Unter-
suchung ist folgendes: Das Problem des Occasionalismus mit seiner;
fein zugespitzten Pointe des Zusammenfallens göttlicher Wirksam- i
keit mit menschlicher Mit Wirksamkeit findet sich in der gleichen |
Prägung des Gedankens'"^) vor den Occasionalisten schon bei;
'-*) Vgl. Eclaircissements zu den recherches de la verite p. 292 ed. Paris i
1837: Dieu nous pousse sans cesse, et par une impression iuviufilile vers le
bien en general ... inais dieu ne nous porte point necessaierement j
ni invinciljlement a l'amour de ce bien. Nous sentous qu'il uoiis est libre i
de nous y arreter, que nous avons le mouvement pour aller plus loin.
'-■') Vgl. de la premotion physique II, 390.
'26) Nicht blos des Gedankens, sondern auch des Ausdrucks, da die
bisherigen Auseinandersetzungen wol genügend dargethan haben, dass die
Tormini a^yv-cxTdÖest;, assensus, ^_^.*J", consensus, consentiment libre nur
•Synouyraa sind.
Antike und mittelalterliohe Vorläufer des Occasionalismus. 241
den Stoikern, den Ascharija und Richard von St. Victor.
So verschiedengestaltet die philosophischen Ausgangspunkte und
Voraussetzungen aller dieser Schulen auch waren, so begegneten
sie einander doch in dem Treffpunkte einer und derselben, noch dazu
höchst verwickelten Problems] ösung. Es erübrigt uns daher zum
Schlüsse nur noch die kurze Untersuchung, ob und inwieweit diese
vier philosophischen Schulen auf einander gewirkt haben oder
doch wenigstens gewirkt haben könnten.
Kap. V.
Etwaige historische Beziehungen der verschiedenen
Occasionalistenschulen.
Soll das hier aufgezeigte häufige Auftauchen des occasionalisti-
schen Problems an verschiedenen Zonen und zu verschiedenen Zeiten
iuc theoretische Bedeutung — etwa für die Völkerpsychologie —
-ewiunen, dann muss zum wenigsten in einem Falle der Beweis
durchschlagend gelingen, dass zwei Schulen das gleiche Problem
formulirt und mit gleichen Terminis gelöst haben, ohne dass auch
nur die leisesten historischen Beziehungen zwischen ihnen ange-
nommen werden könnten. Und das ist bei den Ascharija und den
Stoikern der Fall. Die Ascharija konnten die Lehren der Stoiker
schon aus dem Grunde unmöglich kennen, weil kein einziges Werk
der Stoa eine arabische Uebersetzung gefunden hat''^^). Nun war
ich allerdings früher auf ein anderes Auskunftsmittel verfallen, um
das etwaige Vorkommen stoischer Lehrsätze bei arabischen Philosophen
zu erklären. Ich erinnerte daran, dass einzelne griechische Schriftsteller,
wie beispielsweise Alexander von Aphrodisias, welche die stoischen
Lehrsätze mit behaglicher Breite, wenn auch in polemischer Tendenz
auseinandersetzten, den Arabern sehr wol bekannt, ja sogar recht
verbreitet unter ihnen waren ''^). Allein dieses Auskunftsmittel
12^ In der Liste der arabischen Uebersetzungen griechischer Schriftsteller,
ilie Wenrich, de auctorum graecoruin versiouibus arabicis etc. aufführt, be-
i findet sich keine einzige, die ein stoisches "Werk zum Inhalte hat.
'■■'*') Dies gilt ganz besonders von Alexander Aphrodis., dessen Werke,
, ij^anz besonders auch seine für uns so wichtige Schrift de fato, den Arabern
bekannt, ja sogar unter ihnen ziemlich verbreitet waren, vgl. Wenrich, 1. c
24:
Ludwig Stein,
tiiÜ't bei al-Ascha'ri keineswegs zu. Denn diese Ueberset/Aiugea
entstanden erst verhältuissmässig recht spät''"'), während al-Ascha'ri
zu den früheren Vertretern der arabischen Philosophie zählt (er
blühte +910). Zudem finden sich, wie ich oben gezeigt habe'^"),
schon im zweiten Jahrhundert der Hegira Ansätze zu einer occa-
sionalistischen Lösung, also zu einer Zeit, wo überhaupt arabische
Uebersetzungen griechischer Philosophen noch gar nicht exi-
stirten^O-
Aber selbst angenommen, al-Ascha'ri habe wirklich griechische
Schriften, etwa Alexander Aphrodisias' de fato gekannt, so konnte
er demselben allenfalls die chrysippische Lösung des Problems
durch die Theorie der Mittelursachen entnehmen'^'), aber doch
nicht die occasionalistische des Kleanthes. Denn diese findet sich
in voller Schärfe weder bei Alexander, noch bei irgend einem den
Arabern bekannt gew-ordenen Schriftsteller, sondern nur bei
Seneca, von dessen schriftstellerischer Existenz zu den Ohren der
Araber natürlich auch nicht die leiseste Kunde gedrungen ist.
Nach alledem kann wol die Annahme als ausgeschlossen gelten,
als ob der Occasionalismus der Araber stoischen Ursprung haben
könnte. Und wenn er gleichwol in derselben Gedankenfassung, ja
sogar in der gleichen Worteinkleidung bei den Stoikern wie
bei den Ascharija erscheint, so dürfte hier wol der Bew-eis gelungen
sein, dass nicht überall da, ^Y0 frappante philosophische Aehnlich-
keiten vorliegen, nothwendig directe historische Zusammenhänge
p. 273— 280. Auf diese Thatsache habe iih bereits Willensfreih. S. HO u.
Erkenntnissth. d. Stoa S. 291 hingewiesen.
^-^) Sie fallen nicht mit der Entstehung der arabischen Aristoteliker
im 10. Jahrhundert zusammen.
"«) Vgl. oben Note 02.
"') Die frühesten Uebersetzungen setzt Wenrich 1. c. p. 13ff., 25 ff. au
das Ende des zweiten Jahrhunderts der Hegira. Die Nachricht des Abu'l
Faradsch, specimen bist. Arab. ed. Pococke p. 19, schon die Mu'taziliten seien
von der griecliisclien Philosophie beeinflusst, steht vereinzelt da.
'''O Die Stellen, an denen Alex. Aphrod. die deterministischen Anschauungen
Chrysipps entwickelt, findet man jetzt zusammengestellt bei Gercke, Chryippea
p. 719—742. Die chrysippische Theorie der Mittelursachen, wie sie nament-
lich Cic. de fato cap. 18 und Plut. de St. rep. cap. 47 entwickeln, findet sich
in voller Ausführlichkeit bei al-Ascha'ri, Schahrast., Haarbr. 1, IOj.
c
Antike und mittelalterliche Vorläufer des Occasionalismus. 243
3onstruirt werden müssen, dass der menschliche Geist vielmehr
seiner speculativen Anlage nach von gleichartiger Beschaffenheit
ist, so dass es gar nicht Wunder nehmen darf, wenn Pliilosophen,
die verschiedenen Zeiten und Nationen angehören, ganz unab-
hängig von einander nicht bloss auf die gleichen Probleme, sondern
auch auf gleichklingende Lösungen verfallen. Welche Consequenzen
sich hieraus für den völkerpsychologischen Gedanken ergeben, haben
wir hier nicht zu untersuclien. Für die Methode der Philo-
sophiegeschichte ist durch diese Aufdeckung einer so augen-
fälligen Gedankenanalogie vielleicht eine Erkenntniss von nicht zu
unterschätzendem Belang gewonnen ^•^^).
Bei den Semipelagianern, Bernard von Clairvaux und Richard
von St. Victor lässt sich nicht mehr der stringente Beweis
führen, dass sie ganz selbstständig zur occasionalistischen Lö-
sung gelangt sind, wenngleich die Wahrscheinlichkeit eine sehr
liohe ist. Sicherheit lässt sich hierüber darum nicht erzielen, weil
Seneca und Cicero von den Patres ecclesiae wie von den Scholasti-
kern gleich eifrig gelesen wurden '^^). Und so wäre es denn nicht
^anz ausgeschlossen, dass Seneca die christlich-scholastischen Occa-
sionalisten beeinflusst haben könnte, wenn es gleich nicht wahr-
scheinlich ist, dass gerade eine versteckte Stelle bei Seneca, die
sich noch dazu nicht in den verbreiteten Naturales quaestiones, son-
dern in den viel weniger bekannten Episteln findet, so viele Köpfe
zum Occasionalismus angeregt hätte.
Die gleiche Reserve muss ich mir in Bezug auf die Occasio-
nalisten xoct' e^o/r^v, Geulincx und Malebranche, auferlegen. Auch
bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit, als könnten sie den occasiona-
listischen Gedanken von Seneca oder dem Mystiker Richard von
St. Victor aufgegriffen haben, eine ausserordentlich geringe. Aber
'^^) N'ur andeutungsweise sei liier erwähnt, dass sich auch die unbestreit-
liaren Analogien zwischen der griechischen und indischen Philosophie
ganz ungezwungen, ohne Annahme irgend eines Abhängigkeitsverhältnisses,
auf dieselbe Weise erklären lassen.
•34) Vgl. Joiirdain, recherches critiqucs sur Tage et Torigine des traductions
latines d'Aristote p. 21f. Leibniz schon hat die interessante Bemerkung ge-
macht, dass die Kirchenväter und Scholastiker ihre ethischen Lehren meist
aus Seneca schöpften: vgl. auch folgende Nute.
244 Ludwig Stein,
ganz undenkbar wäre diese historische Beziehung nicht, /.umal
Leibniz sogar Descartes den Vorwurf macht, er habe seine Etliik
dem Stoizismus, insbesondere Seneca entlehnt '^^). Hält man sich
jedoch den bereits früher von mir geführten Nachweis vor Augen,
dass der Occasionalismus gleichzeitig bei Cordemoy und Geulincx
auftaucht, ohne dass zwischen ihnen auch nur die geringste A^er-
bindungslinie bestünde '^''), so schrumpft die Möglichkeit, als könnte
der cartesianische Occasionalismus aus dem stoischen oder scho-
lastisch-mystischen unmittelbar hervorgeflossen sein, auf ein Mini-
mum zusammen. In Wahrheit dürften wol alle die hier vorge-
führten Occasionalistenschulen ohne jegliche Spur gegenseiti-
ger Beeinflussung je aus sich selbst heraus diese Theorie ent-
wickelt haben. Ist dies an dem einen Beispiel der Ascharija un-
bestreitbar nachgewiesen; warum sollte es nicht auch für die
übrigen Schulen gelten, die doch von ihren philosophischen Vor-
aussetzungen aus diesem Problem ungleich näher standen, als die
Ascharija?
AVelchen bleibenden Werth diese occasionalistische Lösung für
die Ethik als solche hat, das ist eine Streitfrage der systemati-
schen Philosophie, die für den Historiker nur von untergeordneter
Bedeutung ist. Für den Historiker haben eben alle Gedankengänge
der Philosophen gleichsehr Interesse, auch wenn sie oflenbar in die
Irre führen. Denn so gut die philosophischen Wahrheiten eine
nur relative Geltung haben, so auch die Irrthümer. Es ist darum
mit Recht gesagt worden, dass in jedem philosophischen Irrthum
ein Stück Wahrheit steckt.
Es mag darum auch sein, dass eine solche ethische Grundle- ;
gung, wie der Occasionalismus sie fordert, dass nämlich die Ge- I
''^) Bei Foucher de Careil, Nouvelles lettres et opuscules inedits de
Leibniz, p. 3: Preraierement, sa morale est un compose des sentiments des j
Sto'iciens et des epicuriens, ce qui n'est pas fort difficile, car Seneque dejä
les concilioit fort bien; ebenso ibid. p. 14: La morale de Des Cartes est sans
doute Celle des Stoiciens. j
136) Ygi Archiv I, 60 f. Bei Geulincx käme allenfalls noch sein Verhält- j
niss zu Justus Lipsius, dem Erneuerer des Stoizismus, in Betracht, auf wel- j
ches V. van der Ilaeghen a. a. 0. S. 25 mit Recht hingewiesen hat. Aber ;
bei Cordemoy fi'ilit auch dieses Bedenken fort. I
Antike und mittelalterliche VorUiufer des Occasionalisinus. 245
i siniiung allein das Kriterium der Sittliclikeit ausmachen soll,
psychologisch unhaltbar und jedenfalls beim heutigen Kulturzu-
stand practisch undurchführbar ist, weil die gegenwärtige Generation
moralisch noch nicht so hoch steht, ihr ganzes Sittengebäiule auf
einen solchen Untergrund aufzurichten. Aber die Philosophen
haben doch auch das schöne Vorrecht, die Dinge sub specie aeterni
betrachten und die höchsten Ziele ihrer Forderungen andeuten zu
dürfen. Und so mag denn die egoistische oder die aus dieser ab-
geleitete altruistische Moral, wie sie Herbert Spencer beispielsweise
formulirt, für das heutige Menschengeschlecht wol die passendere
sein; alier für die höchste Entwicklungsstufe der Menschheit gibt
es kaum eine geläutertere, idealere Ethik, als die occasionalistische,
die ihrem Strebeusziele nach mit den höchsten Forderungen der
Ethik Lessings zusammenfällt, nach welcher der Mensch selbst
im Vollbewusstsein seines Willensdeterminismus das Gute
in reiner und lauterer Gesinnung mit seelischer Freude vollbringt
hlos weil es gut ist.
Arcliiv f. Cieschiohte d. Philosiipliii-. 11.
XV.
Ein Hymnus auf Immanuel Kant.
Mitgetheilt von
Karl Köstlio in Tübingen.
In dem Nachlass des am 7. April 18^8 verstorbenen Herrn
geheimen preussischen Jiistizrats Moriz Flach befanden sich zahl-
reiche Gedichte des Vaters des Obigen, des dereinstigen Bürger-
meisters Flach in Pillan, in welcher seiner Vaterstadt derselbe 1864
im Alter von 87 Jahren gestorben ist. Unter diesen Gedichten
war Eines an Kant, welches nach dem Ableben des Herrn g. J.
Moriz Flach der Sohn desselben, Herr Dr. Johannes Flach in Rudol-
.stadt, mir zu jeder mir passend scheinenden Verwendung als Ge-
schenk überlassen hat. Der Grossvater Flach studirte in Königs-
berg die Rechtswissenschaft, er hörte aber auch Kant; ein von ihm
dem Philosophon nachgeschriebenes Collegienheft über Logik und
ein ihm von Ebendemselben propria manu in lateinischer Sprache
ausgestelltes Zeugniss über den l^esuch der Vorlesungen sind noch
vorhanden. Es ist nicht unmöglich, dass Flach sen. der Verfasser
des Gedichts an Kant ist, da dasselbe sich mitten unter zahlreichen
poetischen Arbeiten von ihm vorfand.
Das Gedicht, welches die Königsberger Studirenden Kant, nach-
dem er kürzlich sein dreiundsiebzigstes Lebensjahr überschritten,
, wie es scheint als sein (im Herbst 1797 erfolgter) Rücktritt von
der akademischen Lehrthätigkeit in Aussicht stand, dargebracht
haben, ist auf vier Folioseiten mit grossen lateinischen Lettern ge-
druckt und am Anfang und Schluss mit ehrenden Ornamenten im
Geist der damaligen Zeit vorsehen. ^Vir haben an diesem Hvmnus
Kill Hymnus auf Immanuel KMnt. 247
o'm authentisches Dokument der ungemein hohen und warmen Ver-
ehrung, welche der berühmte, damals freilich bereits mit Alters-
schwäche kämpfende Philosoph am Orte seiner Wirksamkeit in den
weitesten Kreisen genoss, und so sei er denn hiermit der Oeffent-
lichkeit übergeben.
Dem
verehvungswürdigsten
Herrn Professor
I. Kant
aus
Hochachtang und Liebe
dargebracht
■von
sämmtlichen Studierenden der hiesigen Universität.
Den 14. .Juni 1797.
Dich — der Erde allergrösten Geist,
j)en die \Velt mit vollem Recht so heist,
Dich — 0 Kant! — Dich sollte ich besingen? —
Kühn ists — den Gedanken nur zu wagen! —
Selbst Augustns Sänger würd' sich fragen:
Dürfte Dir dies Wagestück gelingen?
Plato — Newton — o wie weit zurük,
Liess sie Deines Geistes tiefer Blik!
Unter allen Sterblichen hienieden
Unter allen allen grossen Spähern
War's — dem Geist des Höchsten sich zu nähern
Dir am meisten — Dir zuerst beschieden.
Ehrerbietig Dir zur Seite stelm
Deines Geistes Adlersflug zu sehn.
Dies — ja dies allein ist's was wir können! —
Ist es nun — in jene weite Höhen
Möglich uns, von fern Dir nachzugehen.
Gliiklich, glüklich sind wir dann zu nennen.
24!-! ]\av\ Kö.stliii,
Stolz mit Recht sind wir auf dieses Gliik! -
Auf uns sieht die Welt mit Xeid im ßlik.
Und wünscht sehnlich sich in unsre Kreise! —
In der Zukunft späten, fernen Tagen,
Werden rühmend Enkel von uns sagen:
„Diese lebten bey dem weisen Greise!" —
Mehr denn achtzehntausend Tage sclioii
Sind als Lehrer ruhmvoll Dir entilohn,
l'nd noch bükt Dein Geist mit Jugendfiille
In (hts Heiliüthum der höchsten Wahrheit.
Hellt das Dunkelste mit lichter Klarheit
Troz dem Schwanken seiner schwachen Mülle.
0! — auch dieser Kraft kehr bald zurük!
Dass Du lange noch zum allgemeinen Glfik
Kannst auf dieser Erde Gottes wallen! —
^simm nun hin dies Opfer unsrer Liebe
Ja es kommt aus lautiem reinem Triebe,
Drum 0 Theurer! lass es Dir gefallen.
Die vollkommene Treue dieses Abdrucks des Originals beur-
kundet hiedurch
Tübingen 4. December
1888.
Dr. Phil. Karl Kiistlin
Professor der Aesthetik
an der L'niversität Tübingen.
XVI.
Zwei Briefe Kants
aus dem Nachlas.s Borowskis
mitgeteilt von
B. l^rdnianu iu Breslau
Bekanntlich enthalten die Gesamtausgaben der Werke Kants
verhältnismässig nur wenige Briefe des Philosophen. Manche
IViiher bereits gedruckte allerdings, die in dieselben aufzunehmen
waren, sind der Aufmerksamkeit der Herausgeber entgangen. >Jicht
wenige ferner sind erst nach dem Erscheinen der letzten Harten-
steinschen Ausgabe ans Tageslicht gekommen. Aber auch wenn
wir alles bisher Gedruckte zusammennehmen, zeigt doch ein Ver-
uleich mit den mehrfachen Andeutungen der ersten Biographen
Kants sowie eine genauere Prüfung der persönlichen Beziehungen,
in denen der Philosoph stand, dass was wir besitzen nur ein
kleiner Teil von dem wissenschaftlichen Briefwechsel des Philosophen
i^t. Selbst das reichere Material, das K. Reicke mit stillem Sammler-
fleiss seit Jahren zusammengebracht hat, wird an diesem Tatbe-
stande nicht viel ändern. Die grössere Zahl der Briefe, darunter
besonders die Schreiben aus der ersten Zeit der Docententätigkeit,
die berufen wären, zur Aufhellung der Entwicklung des Philosophen
Wesentliches beizutragen, scheint unwiderbringlich verloren. Nur
die beiden Bände der Sammlung von Briefen an Kant, die ein
Spiel des Zufalls nach Dorpat hat gelangen lassen, sind erhalten.
Leider sind sie trotz ihres Umfangs wenig geeignet, den wissen-
schaftlich bedeutsameren Fragen, die sich auf den Bestand und die
Entwicklung der Lehrmeinungen Kants beziehen, wertvolles Material
zu geben.
«>r)Q P). Erdinann,
I
Gewiss aber sind noch manche einzelne Briefe im Privatbesitz
erhalten, deren Druck wünschenswert ist, so sehr auch für den
Briefwechsel Kants wahr ist, dass nicht alles, was Pietät und Zu-
fall besonders aus den letzten Lebensjahren des Philosophen auf-
bewahrt hat, gedruckt zu werden verdient.
Zu solchen wertvolleren Briefen gehört der nachstehende, den
P. Wendland, ein Enkel l'orowskis, der Redaktion unserer Zeit-
schrift freundlichst zAir Veröffentlichung übergeben hat. Es ist
einer der frühesten, die wir besitzen.
Das Schreiben besteht aus einem halben Bogen mit der
Adresse: A Monsiimr — Momieur Borowski^) — Gouverneur des
jeunes — Messieurs' -cJc AnoUoch — C/icz hii. Danebon am oberen
Rande von anderer, vielleicht Borowskis Hand, links: z (2?) 10.
6 Märtz 761, — rechts: Von Hherrn M. Ka?it.
Der Brief selbst, der eine Quartseite fdllt, lautet:
P. I.
Ich habe gestern die Operation an dem gewesenen Waysen-
vater dem Lieutenant Duncker glücklich vollführen gesehen. Ich
habe mit dem Operateur'''') von meinem Vorhaben wegen eines
blind gebohrnen gesprochen. Er fand sich willig die Operation an
ihjn vorzunehmen wenn er ihn zuvor untersucht und dazu tüchtig
gefunden haben würde. Es hat auch schon eine Gesellschaft guter
Freunde sich engeag'ui die Kosten zu seiner Pflege so lange die
Kur hier dauert herzugeben. Ich habe also keine Zeit zu ver-
lieren. Ich bitte ergebenst berichten Sie mir doch den Nahmen
dieses Jungen aus Lichtetiliagen oder wie der Ort sonst heissen
') P^iniges über denselben in dieser Zeitschrift I 67. Spezielleres, abge-
sehen von der kleinen Skizze in der A. D. Bibl., in den Preuss. Provinzialbl.
VII 79f.
In den Ausgaben von Kants Werken ist nur der Brief Kants an Borowski
vom Jahre 1702 gedruckt, den Borowski in seiner biographischen Darstellung
veröffentlicht hat. Den diesem vorhergehenden ]5rief Borowskis an Kant hat
Hartenstein aus der gleichen Quelle abgedruckt. Vier andere Briefe Borowskis
an Kant aus der Dorpater Sammlung harren der Veröffentlichung.
■'') Ursprünglich, durchstrichen: ihm — dafür, übergeschrieben: dem Ope-
rateur,
I
Zwei Briefe Kants. 251
mag wovon letzlich geredet wurde, den Nahmen des Priesters
unter welchem sein Vater gehöret und wo möglich den Nahmen
und Aufenthalt des Edelmans oder Amtmans wer es auch ist
welcher über dieses Dorf zu gebieten hat. Befehlen Sie mei-
nem Bedienten, weil er wieder koiiien soll die Antwort von
Ihnen abzuholen. Dies ist der Fall wo man nicht anders seine
eigene Absichten erreichen kan als indem man die Glückseeligkeit
eines andern befördert. Meine verbindlichste Empfehlung an
ihren jungen Herren und meinen tiefen respect an die sämtliche
gnädige Dames' ihres Hauses. Ich bin mit aller Hochachtung
Dero
d 6 iVertz: treuer Freund u. Diener
1761 Ka7it.
Die Abfassung dieses Briefes fällt in den Anfang der zweiten
Entwicklungsperiode Kants, die Zeit des kritischen Empirismus.
Kant w'ar bereits unter dem Einfluss der Ergebnisse, zu denen ihn
die Untersuchung der Principien unseres Erkennens und besonders
des Gottesproblems geführt hatte, sowie durch Einwirkungen von
Crusius' Polemik gegen den Wolffianismus und Newtons tiefwir-
kender Grundlegung der mechanischen Naturauffassung, entUich
durch die Anregungen der in breitem Strom nach Deutschland
eindringenden englisch-französischen Aufklärung der Banden ledig
geworden, mit denen ihn der Pietismus der Schule und der
pietistisch gefärbte, durch Leibnizische Elemente gekräftigte Wolffianis-
mus seiner Universitätslehrer gefesselt hatte. Die Gedanken, durch
deren Niederschrift er sich in den nächstfolgenden Jahren als Glied
den Philosophen der deutschen Aufklärung anschloss, um später
ihr Führer zu werden, waren in voller Entwicklung. Er bildete
sich, mit den Worten Herders zu reden, der ein Jahr später zu
seinen Füssen zu sitzen begann, „ganz zu einem Philosophen der
Humanität und in dieser menschlichen Philosophie zu einem
Shaftesbury Deutsciilands. "
Einen ungleich breiteren Raum, als die späteren kritischen
Schriften erraten lassen, als selbst die Abhandlungen der nächsten
Jahre unmittelbar zu erkennen geben, nahmen damals unter seinen
252 ^- KKcliiiann,
(tbt
fiteri
vr
k(
Arbeiten die psychologischen Studien ein. Nur wer die allmäliliche
Auslösung der Anthropologie aus den Vorlesungen über physische
Geographie zu einer selbständigen Vorlesung verfolgt, den Geist
recht schätzt, aus dem die Essais über das Schöne und Erhabene
geschrieben sind, und mit den Resultaten dieser beiden Betrach-
tungen die vielfach variirten Schilderungen Herders zusammenhält,
^Yird die Bedeutung derselben in zutreffender Welse würdigen.
Allerdings war es schon damals nicht die Psychologie als Schul-
wissenschaft, wie Wolff sie in doppelter Darstellung systematisirt
hatte, die er hochschätzte, sondern vielmehr jene freiere Form der ^jni
Behandlung psychologischer Probleme, die vor allen in englischen
Mustern vorlag.
Zu jenen Problemen gehörte als ein damals viel besprochenes
die Frage nach den Gesichtswahrnehmungen der operirten Blind-
geborenen und dem Verhfiltnis derselben zu den W'ahrnehmungs-
vorstellungen des Tastsinns. Locke hatte derselben durch seine
Erörterung der Frage und der apriorischen, im Princip richtigen
Beantwortung Molyneux' im zweiten Buch seines Essay w-eite Ver-
breitung gegeben. Weder Molyneux jedoch noch Locke hatten
die weittragende Bedeutung derselben für die psychophysische
Baumtheorie erkannt. Ebenso wenig auch Berkeley, dessen kurze
Besprechung in der New Theonj of Vision nichts Neues beibringt.
Die verneinenden Antworten Molyneux' und Lock es auf die Frage
des ersteren, ob ein Blindgcborner im Stande sei nach der Opera-
tion einen Würfel von einer Kugel zu unterscheiden, hatten durch
die Elrfahrungen, die Chesselden an einem glücklich operirten
Knaben gemacht hatte, Bestätigung gefunden (1728). Derselbe
hatte berichtet: Ue kneio not the shape of any thing, nor any one
tlting from another, however cUjferent in shape, or magnitude, hut
upon being told what things teere, tchose form he before knew from
feeling, he would carefully ohserve, thctt he might know them again.
Lockes Darstellung Hess jedoch für den aufmerksamen Leser einem
Zweifel Raum, der durch Chesseldens Berichte keine Lösung er-
hielt. Schon Jurin hatte in seinen Beiträgen zu H. Smith' Com-
pleat Sijsfeyn of Opticks (Cambridge 1738) bemerkt, dass Locke in
seiner Behandlung der Frage an den Voraussetzungen Molvneux'
nie
in
1 i'i
^K'l
Zwei Briefe Kanfs. 253
ht streng festgehalten habe. Jeuer lasse dem Operirten die
..'legenheit, seine Gesichtserfahrungen von den beiden Gegenständen
öo-lichst vollständig zu machen, Locke verlange Antwort with
■tainty at ßrst sight. In Folge dieser durchaus zutreffenden
Interscheidung der beiden Lösungen war sogar Molyneux' Vernei-
. uung nicht unwidersprochen geblieben. Jurin versucht im gleichen
I Zusammenhang mit scharfsinniger Dialektik, aber unzureichender
I'insicht in die unbestimmten Localisationeu, die den Operirten in
- ilchem Fall Jioch längere Zeit hindurch allein möglich sind, den
•engen Beweis, dass derselbe unter Molyneux' Bedingungen
rill unerringly distinguüh between the iwo bodies^''. Jurin kann
h dabei sogar auf den damals vielgenannten blinden Mathematiker
Saunderson berufen. Smith hatte ihm mitgeteilt, dass Saunderson
der gleichen Meinung sei.
Es ist kaum zweifelhaft, dass Kant um diese Lage des Problems
wusste. In seinen Schriften findet sich zwar, wenn ich recht ge-
M'hen habe, kein Beleg, auch nicht in der trümmerhaften Anthro-
pologie. AVol aber bietet die von Fr. Chr. Starke nach hand-
.-^(■Iniftlichen Vorlesungen, wahrscheinlich aus dem Winter 1773,
herausgegebene Menschenkunde oder philosophische Anthropologie
1831) auch hier einen Anhalt. Kant erzählt dort: „S . . -') hat
.inen Blindgebornen vom Staare befreiet; dieser konnte Anfangs
nur die Dinge unterscheiden, die er auch betasten konnte; den
Hund und die Katze konnte er nicht eher unterscheiden, als bis
ir sie betastet hatte. Bei Gemälden schien ihn wieder umgekehrt
-ein Gesicht zu betrügen: denn er fühlte, dass das, was er als er-
haben ansah, falsch war." (S. 63.) Dieser Bericht aber entspricht
\ ollständig der Mitteilung Chesseldeus, die Smith a. a. 0. abdruckt:
l'^s heisst dort: I/aving offen forgot ichich was the cat (icMch he
new hl/ feeling) he was obserced to look at her stedfastly , and
then setting her doicn, said, so jmss, I shall knoiv yott another
fime . . . We thought he soon knew what pictures represented, ivhich
'•ere shewed to Um, but ice found afterwards we vwre mistaken:
jor about tico vwnths after he ivas couched he discovered at once,
"■ Wo] nur ein Versehen des Ilijrers. dem der Name Ctiesselden fremd war.
254 B- Erdmann,
they represented solid bodies . . . hut even then he ivas no lern
surprized, e.tpecting the pictures woidd feel like the things they
represented, and was aviazed u-hen he found those parts, which by
their light and shadow appeared noio round and unecen , feit only
ßat like the rest."- Das ganze Material der Streitfrage, auch der
Bericht Juriiis, war ferner schon seit dem Jahre 1755 auch in
deutscher TJebertragung /Aigänglioh. Denn damals bereits war
Kästners Bearbeitung von Smiths optischem Hauptwerk erschienen
(Vollständiger Lohrbegrift" der Optik nach Herrn Robert Smiths .J
Englischen mit Aenderungen und Zusätzen bearbeitet). Und alle
Ausführungen des Originals über diese Frage waren hier unver-
ändert geblieben. 'Es liegt deshalb im Hinblick auf den obigen
Brief kein Grund vor anzunehmen, dass Kant seine Kenntniss vod
der Frage erst nach 1761 genommen hat. Denn aus dem Um-
stand, dass Kant das Molyneux-Lockesche Problem nicht aus-
drücklich erwähnt, lässt sich nichts schliessen. An eine Vorlesung
für viele vom Charakter der Kantischen Anthropologie lässt sich
nicht der Anspruch stellen, dass mehr als das leicht anschaulich
zu machende Material herbeigezogen werde.
AVir dürfen demnach schliessen, dass Kants Wunsch, einen
solchen Patienten zu beobachten, und demzufolge der obige Brief,
dem Interesse an der experimentellen Entscheidung der Fragen
entsprungen ist, welche einerseits die Differenz zwischen Locke
und Molyneux andrerseits Jurins und Sauudersons Entscheidung
gegen den letzteren in ihm wachgerufen hatte. Mehr zu schliessen
ist bedenklich. Denn es wäre unrecht, die Worte einer uukon-
trollirten Nachschrift zu pressen, um die Stellungnahme Kants in
der ganzen Frage aus ihnen herauszulesen. Sie würde hineingelesen
werden müssen. Zu ebenso unzulänglichem Resultat würde es führen,
wollte man aus Kants kritischer Raumlehre heraus eine solche Ent-
scheidung zu gewinnen suchen.
Am 1 . Juli 1791 war Fichte von Warschau aus nach Königs-p
berg gekommen. Auf die Hauslehrerstellung, die er am ersterenl
Ort finden sollte, hatte er nach dem ersten wenig versprechenden '
Zwei Briefe Kants. 255
Ijcsuch verzichtet. Am 23. August besuchte er Kant 7Aim zweiten
Mal , nachdem er ihm wenige Tage vorher das Manuscript seiner
Ki'itik aller Offenbarung übersandt hatte. Kant schien „sehr wol
mit der Abhandlung zufrieden". Am 29. besuchte er auf Kants
Empfehlung Borowski, der ihm durch seine Offenheit das Geständ-
nis seiner bedrängten Lage abnötigte. Am 2. September schrieb
er voll warmen Gefühles und zugleich voll edlen Stolzes an Kant
um ein Daiiehn, das ihm die Rückreise in seine Heimat ermög-
lichen sollte^). Kant schlug ihm dagegen vor, er solle sein Ma-
iiuscript der Kritik aller Offenbarung durch Borowskis Vermittlung *
an Härtung verkaufen. Mit dem 13. September bricht das Tage-
buch Fichtes, dem diese Notizen entnommen sind, ab. Ergänzt
wird dasselbe durch den nachstehenden Brief Kants.
Auf dem einen Blatt des halben Bogens steht die Adresse: des
Herren — Pfarrern Boroicald — Hochwohlehrwürden. Auf dem
zweiten das von fremder, vermutlich Borowskis Hand am oberen
Rande rechts die Notiz trägt: praes. 16. Sept. 1791, stehen die
Zeilen :
Ueberbringer dieses Hr. Fichte hat aus der Unterredung,
deren Ew: Hochwohlehrw: ihn theilhaftig gemacht haben, ein so
jj,rosses Zutrauen zu Ihnen gefasst, dass er wegen seiner Verlegen-
heit, davon er Ihnen selbst Eröfnung thun wird, auf ihre gütige
Vorsprache sich Rechnung macht. Es komt darauf an, dass sein
Mscrpt: Versuch einer Critik der Offenbarung hier einen
Verleger bekome und dieser dafür ein honorarium, und zwar bey
Ueberlieferung desselben, so gleich bezahle. — Ich habe zwar nur
Zeit gehabt, es bis S. 8 zu lesen, weil ich durch so viel andere
Abhaltungen beständig^) unterbrochen werde; aber so weit ich ge-
*) Der Brief ist in den Dörptischeri Beyträgen, die zuerst (II 1815, S. 97 f.)
die Briefe Fichtes an Kant, abgesehen von dem letzten vom 1/1 1798, veröffent-
lichten, ohne Datum. Dasselbe folgt aus dem Tagebuch Fichtes, das J. H. Fichte
in dem „Leben und litter. Briefwechsel" seines Vaters (P 131) veröffentlicht
hat. Weder Schubert noch Hartenstein haben denselben in ihren Ausgaben
der Werke Kants aufgenommen, obgleich sie die übrigen abdrucken.
^) übergeschrieben. ^
256
B. Er d mann,
koriien bin, finde ich es gut gearbeitet und der gegenwärtigen
Stimung zum rntersuchen der Religionssachen wohl angemessen.
Besser werden Ew. Hochwohlehvw: darüber urtheileu könen, wen
Sie sich die Bemühung geben wollen es durchzulesen. Nun ist
sein Wunsch, dass, wenn Sie dieser Schrift eine Gute Abnahme
zu prof^nosticiren sich getraucten, Sie Hrn. Härtung da/Ai zu be-
wegen suchen möchten ihm Sie abzukaufen, um vor der Hand
sich*) dafür das Unentbehrlichste zu verschaffen. Die weitern Aus-
sichten wird er Ihnen selbst bekaiit zu machen die Ehre haben.
Ich bitte mir die Zumuthung nicht ungütig auszulegen, welche
Ihnen eine Beschwerde macht, aber doch Ihrem wohlwollenden
Character nicht zuwieder ist und bin mit der vollkomensten Hoch-
achtung
Ew. Huchwohlervvürden
ganz ergebenster Diener
J. Kant
d. 16. Sept. 1791.
Die Ausfidirung J. H. Fichtes auf S. 137 u. 138 der Biogra-
phie bedarf hiernach einiger Berichtigungen. Dieselben haben je-
doch zu ausschliesslich biographischen Wert, als dass ihre Be-
sprechung hier angezeigt wäre. Sie ergeben sich bei kritischem
Vergleich überdies ohne Schwierigkeit.
*) Es folgt ein durchstricheues: aus.
li
Jahresbericht
übei'
süiiimtliche Erscheinungen auf dem Gebiete der (xesclüehte
der Philosophie
in Gemeinschaft mit
[norain Bywater, Hermann Diels, Wilhelm Dilthey, Benno Erdmann,
J. Gould Schurman, Panl Tannery, Feiice Tocco nnd p:duard Zelier
herausgegeben
Ludwig Stein.
I
1^1
VI.
Bericht
ilber die deutsche Litteratiir der sokratischen,
platonischen und aristotelischen Pliilosophie
1886, 1887. Dritter Artikel: Aristoteles.
Von
E, Zeller in Berlin.
Von den zahlreichen kleineren und grösseren Arbeiten, welche in
unsern Berichtsjahren Aristoteles gewidmet worden sind, will icii
-^o weit sich l)eides überhaupt trennen lässt) zuerst diejenigen be-
sprechen, welche sich mit seinen Schriften, sodann die, welche sich
mit seiner Philosophie beschäftigen. Die Geschichte seines Lebens
ist in diesem Zeitraum nur l)eiläufig, aus Anlass der Untersuchung
iiber seine Schriften, berührt worden.
MicHEus, Fr., Aristotelis -r-siii ipti-r^vs-'ac librum pro restituendo
totius philosophia fimdamento interpretatus est. Ileidelb..
AVeiss, 1886. 84 S.
Nach dem Vorwort hatte der Verf. die Absicht, an deren Aus-
iiihrung ihn der Tod verhindert hat, dieser Schrift noch eine zweite.
in deutscher Sprache, folgen zu lassen; die letztere sollte die Schrift
~. sptjL. nach ihrer allgemeinen Bedeutung für die Philosophie be-
sprechen, die vorliegende will ein philologisch-kritischer Commenlar
-ein. Auch sie geht aber weit weniger darauf aus, den Wortsinn
los aristotelischen Buchs zu erklären, als seine .Stelle in der Ent-
wicklung der platonisch -aristotelischen Philosophie zu bestimmen
OfjQ K. Zell er,
und au seinem Inhalt naclizuweisen. M. glaubt nämlich, -. soa.,
neben den Kategorieen der älteste Bestandtheil des Organon, be-
zeichne den Punkt, an dem die aristotelische Logik aus der plato-
nischen herauswuchs; seine Abzweckung bestehe (S. 74) in redi-
yenda platonica X070U deßnitione (Soph. 262 Bft'.) ad enuntiaUonü
siviplicis sice unmn de altero praedicandi notionem\ und er lässt
sich in dieser Annahme auch durch den Umstand nicht irre
machen, dass -. ipij.. die erste Analytik, die Logik und -. 'W/r^z
anführt, seinerseits dagegen in keinem aristotelischen Werk ange-
führt wird. Ebenso sieht er in denjenigen Zügen, durch welche
sich -. spu. von den Analytiken unterscheidet (vgl. Phil. d. Gr. IIb,
220, 3. 221, 2. 4. 222, 1), nicht spätere schulmässige Erweiterungen
und Modifikationen der aristotelischen Logik, sondern .solche Be-
standtheile derselben, welche ihr nur bei ihrer ersten Entwicklung
aus der platonischen angehörten, aber später bei Seite gelegt wur-
den. Die Erwägungen, durch welche M. diese Annahmen za be-
weisen versucht, in kurzem Auszug wiederzugeben, ist um so
weniger möglich, da diesem Versuch nicht blos die Menge der
Einzelheiten, die zu besprechen wären, sondern auch die Fndurch-
sichtigkeit der Darstellung und der Mangel an scharfen und un-
zweideutig bestimmten Begriffen im AVege steht, an welchem die
Schriften dieses Halbscholastikers zu leiden pflegen. Das Lesen
der vorliegenden wird durch ihre zahllosen Druckfehler und ihr
schlechtes Latein nicht wenig erschwert. Nichtsde.stoweniger wird
keiner, der sich mit der aristotelischen (oder pseudoaristotelischen)
Schrift eingehender beschäftigt, an der Arbeit des gelehrten und
in seiner Art scharfsinnigen Mannes vorbeigehen dürfen.
Viel wichtiger aber, als die ebenbesprochene Schrift, ist ;
TnnisT, W., Aristotelis Metaphysica recogn. Leipzig. Teubner.
1886. XX u. 330 S.
Die.se neue Ausgabe der Metaphysik gehört zu dem erwünsch-
testen, was die letzten Jahre der Aristoteles- Litteratur gebracht
haben. Denn seit denen von Bonitz und Schwegler ist für die
Ueconstruction des aristotelischen Textes durch Arbeiten, unter
denen gerade die von Bonitz an erster Slolle zu nennen sind,
P,ericht üb. cl.deiUscheLitt. d.sokrat. piaton. u.aristot.PhilosophielSSG, 1887. 261
so vieles geschehen, da.ss es schon längst au der Zeit war, unter
Benützung derselben eine neue Textesrecension vorzunehmen; uud
es ist sehr erfreulich, dass diese so bewährten Händen anvertraut
worden ist. Ueber seine kritischen Hülfsmittel und Gesichtspunkte
hat sich Chr. theils im Vorwort theils in den „Kritischen Bei-
trägen zur Metaph. d. Arist." (Sitzungsber. d. philos. Kl. d.
bayr. Akad. 1885, 406—423) au.sgesprochen. Als die massgebenden
Handschriften legt er den Parisinus E und den Laurentianus A'^ zu
tlruude, von denen, wie er wahrscheinlich macht, alle andern bis
jetzt bekannten herstammen; jener gehört dem X., dieser dem
XII. Jahrh. an; der letztere ist aber wegen des Alters und der
(lüte seiner Vorlage noch vorzüglicher als der andere. Eine neue
VergleichuDg dieser beiden Handschriften ergab eine ganze Anzahl
werthvoller Verbesserungen ; andere wurden durch Vermuthung ge-
funden; so z. B. XII, 7. 1072 b 2 das unzweifelhaft richtige: ea-i
■äo -vA -0 OL) 3V2/7. 7.7.1 Tivoc. Elue besondere Aufmerksamkeit
widmet Chr. der Ausscheidung solcher Stellen, in denen er spätere,
meist von Aristoteles selbst herrührende Bemerkungen vermuthet,
die vom Rand in den Text kamen; indem er von der berechtigten
Voraussetzung ausgeht, dass die Metaphysik, und die aristotelischen
Lehrschriften überhaupt, erst nach dem Tod ihres Verfassers her-
ausgegeben worden seien und bis dahin von demselben noch fort-
während Zusätze erfahren haben. Der von ihm in dieser Weise
revidirte Text kann mit vollem Recht als ein vielfach verbe.sserter
Ijezeichnet werden. Im Einzelnen werden die Ansichten natürlich
immer auseinandergehen. Eine Anzahl von Verbesserungsvor-
.schlägen, die sich mir beim L, IX. und XII. Buch ergeben haben,
erlaube ich mir im nachstehenden zur Prüfung vorzulegen. I, 3.
984 a 15 setze man statt aXXoj? das fast gleich aussehende a-uo:,
welches zu dem vorangehenden o'jto} . . . a'r;v.p{^z>. u. s. f. einen
viel passenderen Gegensatz bildet. — Dass I, 4. 985b9 Ari.st. nicht
geschrieben haben kann: oxi oüoe to xsvov tol» acuiaaTo;, ist allge-
mein anerkannt; aus Theophrast b. Simpl. Phys. 28, 11 ff. ergibt
sich das Richtige: oti ouok t. z. iXaTxov -. a. — I, 6. 987 b 22
empfiehlt sich mir noch immer die Vermuthung (Phil. d. Gr. IIa,
750, 1^), dass die Worte: ta ^(oT^, die sich mit xob: apiöfiouc absolut
18
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. II. '■^
262
E. Zeller,
nicht 7.usammenconstruiren lassen, eine erklärende Randglosse zu
T. dp. seien. Die einfache Auskunft, mit Asklepius (und vielleicht
schon Plotin V, 4,2. 518 A) xal xw; dpiajxr/u; zu lesen, verschmäht
Chr. mit Recht: denn theils erhielten wir so einen zu der knappen
Sprache unserer Stelle nicht stimmenden Pleonasmus, theils ist es
kaum glaublich, dass schon zur Zeit Alexanders das für die Con-
struction unentbehrliche zal so allgemein verschwunden war. wenn
es ursprünglich im Text stand. Jackson 's Vorschlag, to-jc dpi»-
[J.OU? (oder, wie er liest, xai -. dp.) nach Z. 21, hinter Sv. hinauf-
zurücken, ist schon desshalb verfehlt, weil die Zahlen nicht zu den
dp/otl der et»/) gezählt werden können. Wollte man andererseits
-rjh: dpiOijLOuc streichen, so erhielte man an den Worten: ta siot)
SIV7.1 (statt: £iv«i t. ci'.), auch abgesehen von dem Hiatus, einen
übellautenden Schluss des Satzes, und man könnte es nicht er-
klären, wie jemand dazu gekommen sein sollte, das sio-/; durch
dptÖfiouc zu erläutern. Wir sehen aber auch aus Simpl. Phys. 454,
19 ff., dass Plato nach der Darstellung des Aristoteles in der Schrift
über das Gute (auf welche I, 6. 9 der Metaphysik zurückzugehen
scheint) gerade die Zahlen aus dem Einen und dem (Jross-und-
Kleinen abgeleitet hatte. — I, 6. 987 b 34 halte ich die Worte:
i'ca> TÄv -pwTtov, für welche sich schlechterdings keine passende
Erklärung linden will, für eine auf Missverständniss beruhende
Glosse, wie .schon Phil. d. Gr. IIa, ' 034, 3 bemerkt ist. Alle
sonstigen Angaben des Aristoteles, auch das ebengenannte ausführ-
liche Bruchstück bei Simplicius, stimmen darin überein, dass Plato
die Zahlen überhaupt, nicht blos einen Theil derselben, in der an-
gegebenen Weise construirte. — Zu I, 8. 990 a 24 ff. bleibe ich bei
meiner Vermuthung (Phil. d. Gr. I. " 362, 1), dass vor v^^/ (^- 2^)
„TouTo" einzuschalten und das oia to Z. 27 in „oto" zu verwandeln
sei, da ich der überlieferten, auch von Chr. beibehaltenen LA
keinen annehmbaren Sinn abzugewinnen vermag. — 1,9. 991b 20
scheinen mir die Worte: wo saxai tu oia TotÜTCt dpiDfxoc eine nicht
in den Text gehörige Paraphrase des vorangehenden: /.al oux
dpii>;j.oc zu sein. — Ebd. Z. 29 hat Aristoteles vielleicht ~srA ~k
T.rtir^-iY.a; i~i7trjU'ac geschrieben, wie IX, 2. 1046 b 3. — IX, 3.
1047 a 9 hat Cod. T mit z-j. loc wahrscheinlich das Richtige. —
i lericht üb. d. deutsche Litt. d. sokrat. piaton. u. aristot. Philosophie 1886, 1887. 263
IX, 4 Anf. glaube ich gegen Christ an meiner von ihm nicht be-
rührten, in den Sitzungsberichten der hiesigen Akademie 1882,
Xr. 9, S. 155 f. näher begründeten Emendation: ei o istl, xo ei'pyj-
'isvov, &UV7.TÖV, oj diouvotTov |j,rj a/oXriu»%r, festhalten zu müssen. —
XII, 1. 1069 aSOf. unterrichten uns die von Freudenthal bei
Averroes nachgewiesenen, Christ, wie es scheint, noch nicht be-
kannten Bruchstücke des ächten Alexander (Abhandl. d. Berl.
Akad. 1884. Freudenthal: die durch Averroes erhaltenen Fragmente
Alexanders S. 72 vgl. 44) über zwei Lesarten, wovon die eine mit
('hrist's Conjectur: r^c ■r^ [xev cpOotpiYj . . . C«oa, y, o cJ.toioc, y;;
7.va-,'x"'i "• •'*• ^- übereinstimmt; ich meinerseits gebe mit Freuden -
thal und Alexander selbst der andern den Vorzug und lese dem-
nach: ooaiai 03 tpsTc. [i-ia [jlsv ala^dr^xr^, YjC t, ab aloio- -Jj 3= cpi}7.f>-:7],
7|V ■kOcvts? ofioXo^ousiv, rjiov T7. 'iüta xctl ta C'o«'. V '^^'^T'^'^j "^ '^~''^^'
■/sTa Xoißsrv. — XII, 4. 1070 b 30 wird meine von Bonitz gebilligte
Conjectur: av&ptoTro) avapto-o^ jetzt durch den ächten Alexander
(a. a. 0. S. 95, Fr. 19) bestätigt. Was Chr. hier vorschlägt, liegt
von allen handschriftlichen Lesarten allzuweit ab. — Der unklaren
Stelle XII, 5. 1071 all f. Hesse sich vielleicht dadurch einiger-
massen abhelfen, dass Z. 12 hinter uX/j ein v^ eingeschaltet würde.
— Ebd. Z. 20 empfiehlt sich m. E. die von A'' gebotene Streichung
des ~rj. vor x7.i}oAou. — XII, 6. 1071 b 34 vermuthet Chr. (mit
Schwegler): ouos xou (oot xr^v «ixtav. Der Ueberlieferung noch
näher läge: o-V;, d ü)ol x. aix. — XII, 10. 1075a 19 ff. hält Chr.
den Satz: d}X warsp — 'fus'.c saxiv für einen späteren Zusatz; mir
scheint diese Annahme entbehrlich zu sein, und das folgende (Xs^oj
o' otov u. s. f.) gerade den in ixiy.pov xo si; xo xo-.vov angedeuteten
bedanken zu erläutern. Dagegen mag Z. 22 f. zu setzen sein: xot-
7.UX-/) -,'0(0 kvAa-o'j auxoiv y, cpuatc '"ip/j^/ saxiv. — Was B. XII als
(ianzes betrifft, so glaubt Christ (S. 246f.), es habe nach der
Absicht des Aristoteles auf A B F E Z H B I M N und dann erst A
Folgen sollen (A sollte seiner Ansicht nach nicht in unser AVerk
aufgenommen werden, von K ist auch die erste Hälfte unächt),
XII, 1—5 seien aber nur im Umriss ausgeführt und der Zusammen-
hang nicht selten durch Randbemerkungen, die in den Text kamen,
gestört: c. 6—10 mögen desshalb ausgearbeiteter sein, weil Arist.
18*
i
2G4
E. Zell er,
ihren Inhalt solion in dem Gespräch t:. cp'.Xoao^iac behandelt hatte.
(Hierüber S. 26G.) Eine danken.swerthe Zugabe zu Christas Aus-
gabe der Metaphysik ist das Wortregister.
Christas Recension tler Bücher A B bespricht, und seine eige-
nen zaldreichen Abweichungen von derselben begründet
Si'SEMiiiL. Philologische Wochenschrift 1887, S. 511". ; Emendationen
zu allen Theilen der Metaphysik theilt derselbe Arist. Oeco-
nornica 87 f. mit.
Einen sehr beachtenswerthen Beitrag zur tieferen Erfurschung^i
unseres Werkes liefert
Natohp, P., Thema und Disposition der aristotelischen ^letaphysik.
Philos. Monatsh. XXIV, 37—65. 540—574.
Diese sorgfältige und scharfsinnige Untersuchung hat das Ver-
dienst, eine Reihe von Fragen zur Sprache zu bringen und sich
mit eindringender Gedankenarbeit an ihrer Lösung zu versuchen,
welche bisher noch nicht scharf genug gestellt worden sind. Sie
alle aber führen auf die Grundfrage zurück, worin wir eigentlich
das Thema der aristotelischen Schrift über die erste Philosophie,
unserer „Metaphysik", zu suchen haben. Es kreuzen sich hier näm-
lich zwei Gesichtspunkte, deren Verhältniss nicht sofort klar ist.
Einerseits bezeichnet Arist. nicht selten als den Gegenstand seiner
Untersuchung das ov fj ov, die oÜ3t'c(, und der grössere Theil unseres
Werkes ist dieser Frage gewidmet; andererseits enthält es aber
doch im XII. B. eine eingehende Erörterung über die ewigen
immateriellen Wesen, also über eine liestimmte Art von Sub-
stanzen, und gerade dieser Theil des Werks ist es, welcher in der
peripatetischen Schule (De motu anim. c. ß. 700 b 7) zuerst unter
dem Titel: ir. TTpfoir^c cpiXoaocfiotc angeführt, und dem zuliebe dieser
ganze Theil des philosophischen Systems in der Metaphysik selbst
(VI, 1. 102Gal9. XI, 7. 1064b 3) als {}coXo-,'ixr, bezeichnet wird. I
Wie verhalten sich nun diese zwei Zweckbestimmungen zu ein-
ander? Will unser Werk nur den allgemein ontologischen, oder i
neben und mit ihm zugleich den theologischen Theil der Unter- '
suchungen behandeln, welche später unter dem Namen der Meta-
flericlit üb. d. deutsche Litt, d.sokrat. piaton. u.aristot. Philosophie 1886,1887. 265
physik zusammengefasst werden? N. erklärt sich für die erste von
diesen Annahmen, indem er es für einen unleidlichen Widerspruch
hält, dass eine Wissenschaft, die vom Seienden überhaupt handelt,
zugleich ein besonderes Gebiet des Seins im Unterschied von allen
andern behandeln sollte (S. 49 f. u. ö.); und er sucht durch eine
eingehende, nicht blos auf die ausdrücklichen Erklärungen des
Aristoteles, sondern auch auf die ganze Composition unseres Werks
sich erstreckende Untersuchung darzuthun, dass sein Verfasser die-
sen Widerspruch nicht begangen haben könne. Dass die Compo-
sition unserer Schrift aus seiner Ansicht über ihr Thema sich am
liesten begreife, ist ihm der Hauptbeweis für die Richtigkeit dieser
Ansicht; ebenso dient ihm aber umgekehrt seine Bestimmung über
den Zweck der Metaphysik als das wichtigste von den Merkmalen,
nach denen über die Aechtheit des Einzelnen und seine Stellung
im Ganzen entschieden wird. Die eigentliche Substanz unseres
Werks besteht ihm zufolge (wie er S. 540fr. im wesentlichen mit
Christ übereinstimmend ausführt), nach den vorbereitenden Bü-
chern I. III. IV aus den beiden correspondirenden Theilen: VII bis
IX, 9 und XIII. XIV. XII, in denen auch (S. 558 ff.) die Aporieen
des III. B. ihre vollständige Erledigung finden. B. X ist eine selb-
ständige Abhandlung über das Eine, ein Anhang zu der über das
Seiende, B. V, wenn auch acht, gehört nicht in unsere Metaphysik,
B. K ist (wie Verf. in dieser Zeitschrift I, 178 ff. des näheren aus-
geführt hat) auch in seiner ersten Hälfte (von der zweiten und
B. II nicht zu reden) das Werk eines späteren Peripatetikers.
Aehnlich ist aber (S. 549if.) auch über B. \'I zu urtheilen: wenn
auch sein 1. Kap. von Arist. herrühren mag, gehört es doch nicht
in unser Werk; c. 2—4 sind jedenfalls unächt. Auch in den
ächten Büchern findet jedoch N. nicht ganz weniges auszuscheiden
oder umzustellen. Seinen Ausführungen hierüber in's einzelne zu
folgen, fehlt mir der Raum; und auch die Bedenken, zu denen mir
>ein Ges immtergebniss Anlass gibt, muss ich mich begnügen kurz
anzudeuten. Zunächst nämlich habe ich, was die Composition
luiseres Werkes betrifft, in N.'s Abhandlung keinen Aufschluss
darüber gefunden, wie er sich das Verhältniss unserer drei letzten
Bücher zu den früheren vorstellt. Soll Arist. nach Abfassung des
266
E. Zeller,
I. Buchs die ganze ausführliche Auseinandersetzung seines 9. Ka-
pitels im XIII. grossentheils wörtlich wiederholt haben, oder wenn
er XIII früher geschrieben hat, als I in seiner jetzigen Redaktion:
soll er die Absicht gehabt haben, das, was er aus XIII nach I
verpllanzt hatte, in jenem zu belassen und somit statt einfacher
Rückweisung noch einmal zu bringen? Ist andererseits jenes so
undenkbar wie dieses: liegt dann nicht am Tage, dass nach der Ab-
fassung unseres jetzigen I. Buchs XIII und XIV aus dem Hauptwerk
ausgeschlossen, und wahrscheinlich in Folge davon bei der Heraus-
gabe des letztern in einen Anhang verwiesen wurden? ^Väre fer-
ner B. XII erst nach I— IX geschrieben, oder wenigstens nach ihrer
Abfassung von Arist. in unser Werk eingereiht worden: würde er
dann wohl das, was in den früheren Büchern viel klarer und er-
schöpfender auseinandergesetzt ist, XII, 1 — 5 wiederholt haben, und
dazu noch ohne jede Hindeutung auf die früheren Erörterungen
(B, XII citirt keines der voranstehenden) und in einer so apho-
ristischen, nicht selten bis zur Unverständlichkeit knappen Form,
wie sie nur für einen später (mündlich oder schriftlich) weiter aus-
zuführenden Grundriss, nicht für ein zur Herausgabe bestimmtes
Werk passte? C. 3 weist ja aber auch 1069 b 35. 1070 a 5 deut-
lich hierauf hin. Was endlich B. VI betrifft, so macht es trotz
Natorps Widerspruch (S. 546 f.), neben der Parallele des XI. BucLs,
die auch im Fall seiner Unächtheit nicht bedeutungslos ist, auch
eine Stelle Theophrast's wahrscheinlich, dass es schon in der ersten
Redaktion unserer Metaphysik einen Theil derselben bildete. Denn
wenn dieser aristotelische Schüler gleich im Eingang seiner meta-
physischen Aporieen (Fr. 12, 1) bemerkt, dass die Ocojpia xtov TTf/w-
Tojv auf die vor^-a als otxiv/jTa bezogen und für csavotipa gehalten
werde als die Physik, so entspricht diesen Aussagen keine andere
aristotelische Stelle so genau, wie VI, 1. 1026 a 13 ft".; wenn daher
Theophrast in seinen Aporieen andere Theile unseres Werks (B. IV.
IX. XII. XIV) nachweislich berücksichtigt, dieses mithin bei der
Abfassung derselben ihm schon als Ganzes vorlag, so kann man
nur schliessen, auch B. VI habe einen Theil dieses Ganzen gebil-
det. Dann wird man sich aber auch die Bezeichnung der „ersten
Philosophie" als ösoXo-.iztj c. 1.1026a 19 gefallen lassen müssen.
IkTiL'ht üb. d. deutsche Litt. d. sokrat. piaton. u. aristot. Philosophie 1886, 1887. 267
Denn das Sätzchen, das sie enthält, und das N. als späteren Zu-
satz aus dem, wie er annimmt, doch wohl von Aristoteles verfass-
ten aber nicht in unsere Schrift gehörigen Kapitel entfernen will
^S. 51. 550 f.), — dieses Sätzchen ist nicht allein durch B. XL 7.
1064 bl f. geschützt, sondern es ist auch für den Zusammenhang
(den es nach N. „in störendster Weise unterbrechen" soll) ganz
unentbehrlich. Streicht man es, so könnte das, was mit dem
nächstfolgenden ('■.u ^otp ao'/iXov u. s. f. Z. 19 ff.) bewiesen werden
soll, nur eines von zweien sein: entweder, dass die yojpiara xctl
a/ivr^Tot noch mehr, als andere Ursachen, für ewig zu halten, oder
I dass sie die aXx\.o. xoTc 'favepoi? twv Osi'tuv seien. Was dagegen hier
wirklich bewiesen wird, ist weder dieses noch jenes: wenn hier
vielmehr gesagt ist, das Göttliche könne nur in den unbewegten
Substanzen gesucht werden^), und die irpwx-/) cpiXocsocpicc könne als
j die Ti[jii«)tax-/j i~lax•f^\i.r^ (und als solche war sie ja schon I, 2. 982 b
28 ff. bezeichnet) nur das Werthvollste (also das Göttliche) zu
ilu-em Gegenstand haben, so folgt aus beidem nur, dass die „erste
Philosophie" Erkenntniss des Göttlichen, Theologie ist. B. VI steht
auch mit dieser Erklärung nicht allein; schon I, 2. 983 a5ff. war
ja bemerkt, die erste Philosophie sei in doppelter Hinsicht die gött-
lichste Erkenntniss: als diejenige, welche Gott besitze, und als die-
jenige, welche sich auf das Göttliche l)eziehe. Der Name der Theo-
K)gie steht hier nicht, aber in der Sache ist zwischen ir.i^z-f^^ir^ xwv
ilsitoy und OsoXo-j'ixy) wirklich kein Unterschied; und dass sich
i Aristoteles der letzteren Bezeichnung deshalb nicht bedient haben
würde, weil er in der Regel unter den „Theologen" die mytholo-
gischen Dichter, Hesiod und die Orphiker versteht (N. S. 55 ff'.),
i will mir nicht einleuchten: wir reden ja doch auch sowohl von
' natürlicher als von positiver Theologie, Aristoteles selbst weist
I durch sein irpwToi ihoXo-(rjSc<vx£c 1,3. 983 b 29 daraufhin, dass es
0 Diese sind nämlich mit der toiccjitj ccöais Z. 20 gemeint: diese Worte
gehen ebenso, wie die beiden tocüt« Z. 17 auf die Z. 15 genannten -/ojptaxä
xal dxivTjTa. Das yiopia-ov bezeichnet übrigens hiebe! nicht das Stofflose
(N. 48, 18), sondern wie so oft, das Fürsichbestehende, Substantielle: y.cup. x.
äxiv. heisst: unbewegte Substanzen. Als äxtvrjta müssen diese immateriell
sein, aber -/wpiaTä sind auch die körperlichen Dinge.
268
E. Zell er,
ikmIi oinc aiulore Theologie gebe als die alten Theogonieen. und
dass die cstXoso'fia Oso^.o-'i/tj mit diesen verwechselt werden
könnte, hatte er nach allem, was er über Gegenstand und Auf-
gabe derselben und über ihre Identität mit der „ersten Philoso-
phie" gesagt hatte, gewiss nicht zu befürchten. Auch Natorp
würde es aber ohne Zweifel nicht befürchten, wenn ihm nicht eben
jene Identität der beiden, seiner Ansicht nach so verschiedenen
Wissenschaften zum Anstoss gereichte. Allein es fragt sich eben,
ob dieselbe Aristoteles ebenso anstössig war, ob er gleichfalls einen
unerträglichen Widerspruch darin sah, dass die Wissenschaft von
dem „Seienden als solchem", von der Substanz im allgemeinen,
sich zugleich mit eiüer bestimmten Art von Substanzen, den unkör-
perlichen, beschäftigen solle. Und diese Frage zu verneinen, be-
rechtigen uns auch solche Stellen, gegen deren Aechtheit N. selbst
nichts einzuwenden hat. So wird jene Wissenschaft I, 2 zueret
(982 a 21) als r, zotOoXo'j i-'.cjTr^ar, bezeichnet; in der Folge aber
(98Ba5fl'.) wird von ihr gesagt, sie allein sei die s-io-rjtxr^ twv
ibttuv, so dass also an eine von der „ersten Philosophie" verschie-
dene Wissenschaft vom Göttlichen gar nicht gedacht wird')- Nicht
anders verhält es sich mit B. XII. In seinen Anfangsworten
nennt es als seinen Gegenstand ganz allgemein die Substanz
(rsr/i TYp rjuair/.: r, ibcupry.); aber schon 1069 a 30 ff. bemerkt es:
von den drei Arten von Substanzen, die es gebe, gehen zwei
(die o.h\}r,-:r, 9^)0(07/, und die 7.iiiK aioioc) die Physik an, die
dritte dagegen, die 7./.tvr,Toc, eine andere Wissenschaft, von der
es sich von selbst versteht, und Phys. VIII, 9. 192 a 34 auch
ausdrücklich gesagt ist, dass sie keine andere sei als die „erste
Philosophie". Demgemäss wird denn auch XII, 2 — 5 von der
otisUr^-Tj oü3''c( nur ihren allgemeinen Restandtheilen nach gesprochen,
auf die ou^iai äxivr^toi dagegen c. 6 — 10 so genau eingegangen, als
dies dem Philosophon überhaupt möglich war. und damit eben das
geleistet, was die Physik a. a. 0. der ersten Philosophie zugewie-
sen hatte: r.sfA tr,? x7.t' sir)oc «p///?. -otso'vv »v'y. r^ -rj'flr/X -/7.t ~(;
■pj -jyt: zh\ 0'.' 7y.p'.ßs!ac o-opisoc. Hiemit stimmt nun durchaus über-
') Wie dies auch X. S. .')2f. ausdrücklich anerkennt.
P.erichtiib.d.deutscheLitt.d.sokrat.platon.u.aristot. Philosophie 1886, 1887. 269
rin. was VT, 1. 1026alOff. (s. o.) steht: wenn es ein 7.foiov -/Äi
iyJ.rr.Tr)^ xal -/ojpiSTov gebe, so sei es nicht Sache der Physik oder
:lor Mathematik, sondern einer (smatr^arj) -poxspct aji-'foTy, dieses
VW erkennen ; und es ist entschieden verfehlt, wenn N. (S. 48) hier
die Worte: si os ti sativ äiotov u. s. f. übersetzen will: „Ob es
ein Ewiges u. s. w. gibt, diess zu erkennen" ist Sache der tt^ot.
ory/ioiv. Diese Deutung des £i scheitert (auch abgesehen von der
! Erklärung 1025 b 16, dass das xi scr-i und das tl saxtv der gleichen
, l'ntersuchung zufalle) schon an dem nächstfolgenden; denn auf
I die Worte Z. 20: zX irou -h Ostov uTrap/si, lässt sie sich keinenfalls
! anwenden, und ebensowenig auf Z. 27 ff., wo das, was N. in Z. 10
wegzudeuteu versucht, aufs unzweideutigste gesagt ist: dass nicht
die Physik die Trpwtrj iT.^n-r^\rq sei, sondern die Tipu)--/) cp-.Xocjocpia
die erste Wissenschaft sei, wenn es eine ouaia d/ivr^xoc gebe. Auch
1026 a 15 sagt aber, wie sich aus dem vorhergehenden deutlich
(•rgii)t, nicht, dass die erste Philosophie neben anderem „auch
vom Stofflosen und Unwandelbaren handle" (N. 49), sondern
schlechthin und ohne diese Beschränkung, dass es die Physik mit
solchem zu thun habe, das substantiell aber veränderlich ist, die
reine Mathematik mit solchem, das unveränderlich, aber nicht
I substantiell ist, die erste Philosophie dagegen mit dem, was so-
wohl {y.r/X . . xcd) substantiell als unveränderlich ist. Und das
deiche steht De an. I, 1. 403 b 9f., wenn hier dem Trpöj-o? cpiXo-
ao'io; im Unterschied vom Physiker und Mathematiker nur das
zugewiesen wird, was weder einem bestimmten Stoff anhaftet noch
l)los durch Abstraktion von dem Körperlichen unterschieden wird,
j an dem es vorkommt, sondern wirklich ein xs/oipiaasvov ist. Zu-
gleich belehren uns aber auch diese und andere Stellen darüber,
worauf es beruht, dass Arist. die allgemeine Untersuchung über die
Substanz und die über die ewigen undimmateriellenSubstanzen einer
und derselben AVissenschaft zuweist. Gegenstand dieser Wissenschaft
sind nämlich im allgemeinen die letzten Gründe der Dinge (I, 2. 982
b Iff. 28. b 8. 24. VI. Anf. u. o.); näher jedoch die der o'vt7. -^ ö'vta, der
; ouiiai (IV, 1. 2. VI Anf. VTIT Anf. IX Anf.). Um nun diese zu
linden, muss natürlich untersucht werden, worin das Wesen der
o53t7. besteht; diese allgemeine Untersuchung über die Sul)stanz
270
E. Zeller,
bildet daher einen wesentlichen Bestandtheil der ersten Philoso-
phie, und dieser ist es, mit dem sich nach der Einleitung im I.,
den Aporieen im III., und der Erörterung über die Formalprin-
cipien im IV. B. alle von Aristoteles selbst in unser Werk einge-
arbeiteten Bücher (VI— X) beschäftigen. Jene Untersuchung selbst
aber führt auf die Frage, welche schon in den Aporieen (III, 1.
995 b 31) als eine von deu wichtigsten bezeichnet wird, ob es nur
körperliche oder auch unkörperliche Ursachen und Principien gibt,
und diese Frage ist so wichtig, dass von ihrer Beantwortung die
Möglichkeit einer „ersten Philosophie" wesentlich abhängt. Nur
wenn es eine outj-'a ^/.xivr^xoc gibt, gibt es eine cpiXoaocpia •üpiu-r^, eine
solche, welche nicht blos das Körperliche, sondern das Seiende als
solches seinem allgemeinen AVesen nach betrachtet (VI, 1. 1027 a
27 ff.). Mit der körperlichen Substanz dagegen und der materiel-
len Ursache hat es die Physik zu thun '). Der „ersten Philoso-
phie" bleiben mithin von den letzten Gründen, deren Erkenntniss
ihre Aufgabe ist, nur die immateriellen übrig; und diese laufen
in der Gottheit als ihrer Spitze zusammen, w^elche zugleich die
Form ohne Stoff, der erste Beweger und der letzte Zweck oder
das 7.7ai)ov ist. In ihrer Betrachtung kommt daher auch die all-
gemeine Untersuchung über das Seiende zum Abschluss, und zu
ihr soll sie hinführen'). In dem aristotelischen Gedankenkreis lin-
det daher zwischen der metaphysischen Ontologie und der Theolo-
gie nicht blos kein Gegensatz, sondern ein so enger Zusammenhang
statt, dass beide einer und derselben Wissenschaft angehören, welche
ihrem Inhalt nacli sowohl die Wissenschaft vom Seienden als die
r
') Metaph. Xll, 1. IU69a30fl". (s.o.) Vll. 11. 10;i7 a 14. Phys. Vlll, 9.
1 92 a 34 ff. (s. o.) Metaph. XIII, 1 Auf.: rrept [)iv oüv xf,? twv aia&r^Twv oüat'as
ErpTjXai -zk ^3Ttv, iv [jiv ^i \j.t^6rjw ttj twv cp'jaiv.üiv Tiepi ttj; uXr^s u. s. w. Dass
mit dieser itiW. t. O'js. nur die Physik, nicht (wie N. S. 555 will) ein Theil
der Metaphysik (VII, 2 f.) gemeint ist, liegt am Tage. Me&ooo; xwv cpusixwv
von einer Untersuchung der „physischen Substanzen" zu erklären, ist schon
sprachlieh unmöglich: da niiisste es Ttepi t. 9'J3. heissen. Es wird aber auch
nie ein Theil der Metaphysik in ähnlicher Weise citirt, und der Inhalt von
VH, 2 f. wäre damit rocht unzutreffend bezeichnet.
^) M. vgl. hierüber ausser dem, was S. 26()f. aus NT, 1. I, 2. XII, 1 ange-
führt ist, auch I, 2. 982b8f. 983a8, YII, 17 Auf.
Hericht ii l».rl.i!eutsclie Litt. d.sokrat.platoii.u.aristot. Philosophie 1886, 1887. 271
Wissenschaft vom Göttlichen genannt werden kann. Für das reine
Sein oder die ouai'a hält Arist. nur das stofflose und desshalb un-
veränderliche Sein, und eben dieses ist ihm auch das Göttliche.
Eine andere, für sich zu behandelnde Frage ist es, ob sich diese
Ansicht widerspruchslos durchführen lässt, und diese Frage wird
man nur verneinend beantworten können. Aber die Schwierig-
keiten, welche hieraus hervergehen, wurzeln viel zu tief in dem
Ganzen des aristotelischen Systems, als dass sie sich mit philologisch-
kritischen Mitteln, durch Athetese einzelner Abschnitte und ver-
änderte Erklärung einzelner Stellen beseitigen Hessen. Denn ihr
letzter Grund liegt in jener Doppelsinnigkeit des Begriffs der ouata,
welche sich durch die ganze Metaphysik hindurchzieht: darin, dass
schliesslich, wie bei Plato, nur die Form ohne Stoff für ein Wirk-
liches im vollen Sinn, eine ouaia oder ein svsp-j'sia ov gilt, während
doch den Einzeldingen und der uatj, ohne die kein endliches Ein-
zelwesen denkbar ist, die Wirklichkeit so wenig abgesprochen wer-
den kann, dass sogar nur die Individuen Trpa)-/^ ousia sein sollen.
Nach dem ersten Gesichtspunkt muss die Untersuchung über die
ouai'a sich auf das stofflose und unveränderliche Sein, die ösla, be-
schränken, nach der andern müsste sie alles Sein, mit Einschluss
des körperlichen, gleichmässig umfassen.
Indem ich mich den naturwissenschaftlichen Werken zu-
wende, nenne ich zunächst:
PoscHENRiEDEK, Fr., Die uaturwissenschaftlicheu Schriften des Aristo-
teles in ihrem Yerhältniss zu den Büchern der hippokrati-
schen Sammlung. Bamberg, Gärtner 1887. 67 S.
Diese sorgfältige, mit Sachkenntuiss angestellte Untersuchung
führt den Beweis, dass Aristoteles in zahlreichen Stellen seiner
Thiergeschichte und anderer W^erke neben dem echten Hippokrates
auch noch andere, zu den älteren Bestandtheilen der hippokrati-
schen Schriftsammlung gehörige Bücher benützt hat, während er
seinerseits (nach S. 23 f.) von dem Verf. der Schrift De carnibus
benützt worden ist; dass ferner auch unächte oder zweifelhafte
Schriften, B. YII und X der Thiergeschichte und die Probleme,
von den hippokratischen Werken nicht selten Gebrauch machen.
272
E. Zeller,
Was man über Aristoteles' Verhältniss zu seinen Vorgängern auch
bisher schon vermuthen konnte, erhiilt durch diese Nachweise e'mo
weitere Bestätigunsj. und noch werth voller sind sie vielleicht l'iir
die Kritik der uns unter dem Namen des Hippokrates überlieferten
AVerke.
DiTTMEYEK, L., Die Unechtheit des IX. Buches der Aristotelischen
Thiergeschichte. (Separatabdruck a. d. Blättern f. d. bayer,
Gymnasialschulw. XXIII. Jahrg.) München. 1887. 47 S.
Was schon Aiibert und Wimmer in ihrer Ausgabe der Thier-
geschichte hinsichtlich ihres IX. Buchs behauptet hatten, das w^ird
hier durch eine allseitige und gründliche Untersuchung in über-
zeugender Weise dargethan. Dieses Buch bildet keinen ursprüng-
lichen Theil des aristotelischen Werks, es ist demselben vielmehr
erst von einem Gelehrten aus der peripatetischen Schule beigefügt
worden, welcher für seine Arbeit ausser den zoologischen Schriften
des Aristoteles aucli noch weitere Quellen benützt, aber sein Ma-
terial ziemlich äusscrlich zusammengetragen hat. Da es aber nicht
blos von Aristophanes in derselben Weise wie die übrigen Bücher
excerpirt wird, sondern auch das Verzeichniss des Hermippus
(Diog. V, 25) der Thiergeschichte neun Bücher beilegt, wird seine
Entstehung kaum über das zweite Drittheil des 3. Jahrhunderts
herabgerückt werden können.
Von einer in Philippopel aufgefundenen Handschrift der Bücher
-K. oüpavotj, TT. -svESsiuc y.7.1 cpDopac und ::. '}uyr^c machen zwei dor-
tige Gelehrte, Konstantinides und Papageorg, viel Aufhebens:
jener in den Jahrbb. für class. Philologie Bd. 135 (1887) S. 217 f.,
dieser in der Berliner philolog. Wochenschrift VII, 482. Indessen
wird erst eine genauere, von Sachkundigen vorgenommene Unter-
suchung feststellen können, ob dieser, von den Genannten selbst
erst dem 13. oder 14, Jahrh. zugewiesene Codex vor anderen der
gleichen Zeit angehörigen solche Vorzüge besitzt, dass sich ihm zur
Berichtigung des aristotelischen Textes etwas erhebliches entnehmen
lässt.
Den Text von De anima I, 3. 407 all bespricht Susemihl
Philologus XLVI (1886) S. 86; einige Stellen der Schrift -. 713^-
Bericht üb. d. deutsche Litt, d.sokrat. piaton. u.aristot. Philosophie 1886, 1887. 273
3SÜ),- Bäumker Jahrb. f. Philol. CXXXIII (1886) S. 319f. Von
c. 1 — 3 dieser Schrift gibt
ZiAJA, J., Aristoteles De sensu cap. 1. 2. 3 bis pag. 439 b 18.
Breslau 1887. 15 S. 4". (Gymn. progr.)
eine Uebersetzuug, der erklärende Anmerkungen beigefügt sind.
Die erstere ist mitunter etwas schwerfällig gerathen ; die Anmer-
kungen, in einzelnem von Bäumker's Auffassung abweichend,
künnen denen, welche sich mit diesem Theil des aristotelischen Sy-
stems eingehender beschäftigen, zur Beachtung empfohlen werden.
Arletfi, E., Ueber Aristoteles' Eth. Nie. I, 5. 1097 b 16ff. (Zeitschr.
f. Philos. u. phil. Krit. Bd. 90. 1886. S. 88— 110)
liandelt über die bekannte und vielbesprochene Stelle, worin die
Eudämonie als -avicuv atps-rtoTocf/) \x-\ aüvv.piöjiouij.sv,'; bezeichnet,
und dann, nach unserem jetzigen Texte, beigefügt wird: auvctpii)-
aouixivr^v ok oTjXov (u: otipEttoTefiav asTa to'j oXa/iatou ~(bv d'^a-
ilwv u. s. w. Die verschiedenen Erklärungen dieser Stelle werden
sorgfältig dargestellt und meistens zutreffend beurtheilt. A. selbst
tritt S. 102 ft". der bei, nach welcher ;j.-}; a-jvapiila. besagen soll:
„wenn sie nicht als etwas Zusammengezähltes (aus Theilen be-
stehendes) betrachtet wird". Ich meinerseits kann noch immer
(wie schon Phil. d. Gr. II b, 61 Of.) nicht einräumen, dass cuv-
aptilijLoujxsvo; diese Bedeutung haben kann, und auch A. hat weder
iln-e sprachliche Möglichkeit nachgewiesen, noch irgend eine Stelle
beigebracht, worin das Wort in diesem oder einem analogen Sinn
gebraucht würde. Ich verstehe ebensowenig, wie Aristoteles in den
Worten: auvapiUp.. — aipsTtu-spov dti hätte sagen können: wenn
die Glückseligkeit aus Theilen bestände, wäre sie, mit jedem be-
liebigen anderen Gut zusammengenommen, wünschenswerther, als
allein: wer sie sich als eine Summe einzelner Güter denkt, der
nimmt ja doch immer an, dass sie alle Güter in sich begreife,
gerade für diesen kann daher der Fall, dass ein weiteres Gut zu
ihr hinzukomme, gar nicht eintreten. Ich weiss aber jenen Wor-
ten überhaupt keinen mit Aristoteles" Ansichten verträglichen Sinn
abzugewinnen, und halte dieselben daher (wie schon a. a. 0. be-
274 E- 'Heller,
merkt ist) für eine Interpolation. Auch im vorhergehenden scheint
mir die Auseinandersetzung Z. 8 — 14 (xo o' aÖTotfixs; — ä-ia/s-tiov),
welche den Zusammenhang stört, und für die vorliegende Erörte-
rung ganz entbehrlich ist, nicht blos eine Parenthese, sondern eine
mit Unrecht in den Text aufgenommene Randglosse zu sein.
Wahrscheinlich hat Aristoteles nur geschrieben: ~h -ip TiXstov
ot-i^boy c('jTO([j/£c Eivai ooxsT. (Z. 6 f.) to o' C('jt7.j:>x3r ttösijLäy o uovo'j-
fliVOV atpcXOV -OtcT TOV ßlOV ZCtl »Jf/jOSVO^ £V030t' TO'.O'JtOV 0£ TYjV SUOOtl-
aovi'otv r;tou.s{}a sTvat, sTi os Travicuv atosttüTotT-ziV u./; a'jvao'.öaouasvriV
t I ^ I f ( I t I t I
(Z. 14 tt'.). TsXöir-V 07) tl 'fCd'vSTOtl XCtl aUTCtpXcC Y; £!JO0r.lU.OVl0(, TÖUV 7:p7X-
Tu)v o'3(30( T3/vOc. Die Worte Z. 16: Ixt os — auvctpiö[xo'j[x£v/)v bringen
in diesem Fall nichts wesentlich neues, sondern das vorhergehende
erhält durch sie nur eine kleine Erweiterung. „Wir halten die
Eudämonie, sagt Aristoteles, nicht blos für etwas, was für sich
allein genügt, um das Leben wünschenswerth zu machen, sondern
wir halten sie sogar für das allerwünschenswertheste, ohne dass
sie hiefür mit anderem zusammeno;enommen zu werden brauchte":
das [xTj auvotpii)|j,ou|j£voc ist dem Sinne nach mit dem vorhergehen-
den liovouiicvoc gleichbedeutend. 11
Mit der Texteskritik der Politik beschäftigt sich •>
'»"
SysEMiHL, Fr., De Politicis Aristoteleis quaestiones criticae. (Jahrb.
f. class. Philol. 1886. Supplementb. 15, S. 331-450.)
Vf. selbst bezeichnet diese Schrift (im Jahresber. f. Alterthums-
wissensch. 1887, 1,12) als eine überarbeitete Sammlung seiner
früher theils lateinisch Ihoils deutsch zerstreut erschienenen kriti-
schen Bemerkungen, in Form eines Supplements zu seiner ersten
Ausgabe der Politik (von 1872). Alle, welche sich mit diesem
Werke zu beschäftigen haben, werden dem unermüdlichen Forscher
für diese Sammlung und Revision seiner werthvollen Arbeiten dank-
bar sein. Was die Grundfrage über den Werth der verschiedenen
Handschriften betritt, so hat sich S. bekanntlich tlurch Busse zu
einer erheblichen Einschränkung seines früheren Urtheils über die
für Mörbeke's Uebersetzung benützte bestimmen lassen. Dagegen
gibt er fortwährend der von ihm mit II' bezeichneten Handschriften-
familie vor der von 1. Bekker seiner Ausy;abe zu Grunde geleg-
lierichtüb.d.deutscheLitt.cl.sokrat.platon.u.aristot. Philosophie 1886, 1887. 275
ten (IV) im Ganzen genommen den Vorzug, und er verth eidigt
diese Ansicht in den Jahrbb. f. class. Philologie 1887 S. 801—805
liegen Heylbut („Zur Ueberlieferung der Politik des Aristoteles".
Rhein. Mus. XLII. 1886. S. 102—110), welcher in einem Vati-
canischen Palimpsest Bruchstücke aus B. III und IV der Politik
aufgefunden und mit der Mittheilung ihrer Varianten eine Erörte-
rung verbunden hatte, in der er gegen S. für die grössere Ursprüng-
lichkeit von n^ eintritt. Diese Frage zum Austrag zu bringen,
muss ich anderen überlassen.
Von der Oekonomik hat
SüSEMiHL, Fr., Aristotelis quae feruntur Oeconomica reo. Leipzig,
Teubner 1887. XXX und 94 S.
inne neue Ausgabe veranstaltet, welche ausser den zwei Büchern
unserer Oekonomik auch die 1295 von Durand von Auvergne ver-
fertigte Uebersetzung des im Original verlorenen sog. dritten Buchs
der Oekonomik in ihren verschiedenen Recensionen enthält. Die
Selbstverleugnung, mit welcher sich S. der undankbaren Aufgabe
unterzogen hat, selbst von so gehaltlosen Stücken, wie das 2. und
'■'>. Buch, durch eine peinlich genaue Handschriftenvergleichung einen
p.iöglichst correkten Text herzustellen, verdient alle Anerkennung.
Die Einleitung zeigt zunächst mit überzeugenden Gründen, dass
schon unser erstes, neben Aristoteles auch von Xeuophon's Oekonomi-
l<us abhängiges Buch nicht von Aristoteles, wahrscheinlich aber auch
nicht von Theophrast, sondern von einem andern Peripatetiker
der ersten oder zweiten Generation herrührt. Das zweite Buch
verlegt S. in die zweite Hälfte des dritten Jahrhunderts; über die
Abfassungszeit des dritten, d. h. seines griechischen Originals, wagt
'T keine Vermuthnng. lieber die für seine Ausgabe benützten
Handschriften wird S. XXI ff. eingehend berichtet; sorQ;fältio;e Re-
^ister erhöhen die Brauchbarkeit der Ausgabe. Ein Anhang; bringt
, \'arianten zur endemischen Ethik und eine reichhaltige Sammlung
''igener und fremder Conjecturen zu allen bis jetzt im Teubner'-
ehen Verlag erschienenen aristotelischen Schriften.
Den Text der Rhetorik untersucht
l
276 I'- 7- eller,
R(»MKK, Ad., Zur Kritik der Rhetorik des Aristoteles (Blätter f.
bayr. Gymuasialw. XXII. 1886. S. 491—510).
Es ist dies eine Beigabe zu R.'s 1885 erschienener Ausgabe
der Rhetorik, welche den Zweck verfolgt, die neuen Lesarten und
Conjecturen derselben zu rechtfertigen, und welche den Freunden
des aristotelischen Werkes um so willkommener sein wird, je an-
erkannter das Verdienst ist, welches sich R. in seiner Ausgabe
namentlich durch die genauere Vergleichung der ältesten und
weitaus wichtigsten Handschrift (A^) um dasselbe erworben hat.
Rhet. 1, 4. 1360 a 12 ff. halte ich den überlieferten Text nicht für
unmöglich, und glaube nicht, dass eine constructio ad sensum, wiei
.sie bei demselben \M)rausgesetzt werden muss (toutouc = diejenigen,
Avelche dieses Bedürfniss befriedigen können) für Aristoteles zui
kühn ist; will man aber ändern, so wäre das einfachste, Z. 13
-7.07. T-'vfov zu setzen und das tl'vwv (mit R.) als Masculinum zu
nehmen. II, 25. 1402 b 27 entspricht dem asv, welches den Verf.
S. 507 zu einer Emendation veranlasst, das unmittelbar folgende:!
S3T'. os; es findet nur bei demselben eine Versetzung statt, wie siej
auch sonst vorkommt, und der Sinn ist der gleiche, wie wenn esj
hiesse : 6 77.-:r^70f((uv oi' sixotojv ;xev cü-oosuvostv. Ebenso lässt .sichl
Z. 30 (6 o£ xpiTY); orö-oti) das oz halten, mögen wir nun ein leichtes j
Anakoluth haben, oder os zur Einführung des Nachsatzes dienen
(vgl. Bonitz Ind. arist. 167 a 19). Vm endlich noch IL 13. 1389 b23
zu berühren, so kann ich mich mit R.'s Conjektur: -7.p7. für xaT'-/
um so weniger befreunden, da das zunächst stehende (cpü.ouaiv w;
jx'.ar,(3ayT3c) gerade /.'x-a Trjv BiavTo; u-rAW^xr^v geschieht. Ich glaube
vielmehr, dass wir hier einen von den Fällen haben, in denen mit
nachlässigem Ausdruck anscheinend für das Ganze einer Aeusseruiig
ein Zeuge angeführt wird, dem nur ein Theil derselben angehört.
Beispiele dieses Verfahrens bei Arist. habe ich eben jetzt in den
Sitzungsberichten der Akademie 1888 Nr. 51 gegeben.
DiF.i,s, IL, IJeber das dritte Buch der aristotelischen Rhetorik (Ab-
handl. d. K. preuss. Akademie d. WLssensch. 1886) 37 S. 4".
unterzieht eine Frage, welche schon seit einer Reihe von Jahren
von verschiedenen Seiten berührt, aber bis jetzt nicht gelöst war,
Bericht üb. d. deutsche Litt. d. sokrat. piaton. u. aristot. Philosophie 188G, 1887. 277
einer gründlich eindringenden Untersuchung und bringt sie, wie
ich glaube, zur abschliessenden Entscheidung. Er führt nämlich
durch eine umfassende, an feinen Bemerkungen reiche Vergleichung
zwischen Theophrast's rhetorischen Fragmenten und den entspre-
chenden Stellen unseres 3. Buchs den Nachweis, dass schon Theo-
phrast dieses Buch gekannt und Sätze, die ihm angehören, theils
wiederholt theils berichtigt und ergänzt hat. Dass es aber keinen
ursprünglichen Bestandtheil der ari.stotelischen Rhetorik gebildet
haben kann, räumt auch D. ein, und erkennt in ihm statt dessen
(S. 16f. 34) eine eigene, allerdings zur Ergänzung der Rhetorik be-
stimmte, Abhandlung über die Xe^ic und Tct^i?, die gleiche, welche
Diog. V, 24 und der Anonymus Men. unter dem von Theophrast
wiederholten Titel -spl Xic^w^ anführen. Mit dieser Untersuchung
verschlingt sich indessen noch eine Anzahl weiterer werthvoller
Erörterungen. Die Besprechung der Punkte, durch die unser Buch
Anstoss gegeben hat, führt den Verf. zunächst auf das Citat aus
„dem Epitaphios" c. 10. 1411a 31, von dem er zeigt, dass es sich
mit beiden Annahmen vertrage: mit der, dass unser Lysianischer
Epitaphios gemeint, aber bei Arist. ~m täv sv üaXafxTvi -z^zoTr^ady-
T<uv Interpolation sei, und mit der von Wilamowitz vorgeschla-
uenen, dass es auf einen älteren Epitaphios, den des Gorgias, gehe.
Er untersucht ferner aus Anlass der Verweisung auf die Osoosxtcia
(c. 9. 1410 b 2) das Yerhältniss dieser Schrift zu unserer Rhetorik,
und findet es wahrscheinlich, dass dieselbe derjenige Abriss der
Rhetorik sei, welchen Aristoteles seinen ersten Vorträgen über
diese Wissenschaft zu Grunde legte, und welche Theodektes nicht
ohne eigene Zuthaten herausgab, nachdem Aristoteles Athen 347
verlassen und Theod. seine Reduerschule übernommen hatte (dass
nämlich Arist. aus Mytilene dorthin zurückkehrte, glaubt D. nicht).
Uie überzeugende Beweisführung für diese Vermuthung mag man
bei D. selbst nachlesen. Weniger überzeugt hat mich der Versuch
(S. 201T.), auch die Anführung des Menexenus (c. 14. 1415 b 30)
als aristotelisch, und dieses Gespräch selbst als platonisch zu retten.
Da ich mich aber hierüber schon I, 614 dieser Zeitschrift, und
etwas ausführlicher jetzt Phil. d. Gr. IIa', 461 f. 480 f. ausge-
sprochen halle, will ich das, was dort gesagt ist, hier nicht wiederholen.
19
Archiv f. Geschichte d. Philosuphie. II. ^"
278
E. Zeller,
Rhet. I, 14. 1375 a 15 verthcidigt Zahlfleisch Wiener Stud.
1886, S. 165 — wie ich glaube missver.ständlich — die LA -.pa^o-
ijLsva für ötYpotcpot.
Auf die Poetik werde ich aus Anlass der Schriften zurück-
kommen, welche die in ihr niedergelegte Theorie besprechen; von
speciellen ihrer Erklärung oder Kritik gewidmeten Arbeiten ist aus
unsern Berichtsjahren (da Gomperz Zu Arist. Poetik erst dem
nächsten angehört) nichts zu nennen, als einige Erörterungen,
welche die Geschichte der Philosophie so wenig angehen, dass es
genügt, hinsichtlich derselben auf Susemihl's Jahresbericht für
1886 S. 16 u. 18 zu verweisen: Gitlbauer Philologische Streif-
züge S. 405— 407 (über den xo-j-uo? c. 12. 1452 b24f.) und die
Verhandlungen zwischen Gomperz (Anzeiger der philol. histor.
Kl. d. Wiener Akad. 1886 Nr. 5. Jahrb. f. Philol. 1886, S. 771
bis 775, 1887, S. 460f.) und Susemihl (ebdas. 1886, 583 f. 1887,
219—223. Jahresber. S. 16 f.) über die Skylla, welche Poet. c. 15.
26. 1454 a30f. 1461 b 30f. erwähnt wird. Ebensowenig Beziehung
zur Geschichte der Philosophie haben die Verse, w^elche die unächte
Schrift TT. Oot'jjxaaicov (zxou3|j.aT«jv c. 133 mittheilt, und an deren
Wiederherstellung sich P. Unger De antiquissima Aenianum in-
scriptione (Altenb. 1887. Gymn.-Progr.) versucht.
Von seiner Sammlung der aristotelischen Fragmente hat
Rose. Vai., Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta. Lpz.
Teubner. 1886. 463 S.
eine neue Ausgabe, die dritte, veranstaltet, für welche alle Freunde
dieser Studien dem um die aristotelischen Schriften so vielfach ver-
dienten Gelehrten aufrichtig dankbar sein werden. Die Zahl der
Fragmente hat sich darin im Vergleich mit der zweiten (akade-
mischen) Ausgabe von 629 auf 680 erhöht. Erwünschte Zugaben
bihlen die alten Schriftenverzeichnisse und philologisch genaue Ab-
drücke der vita Marciana in ihren verschiedenen Bearbeitungen,
den zwei griechischen und der lateinischen. Ausführlicher berichtet
über das Verhältniss dieser dritten Ausgabe der Fragmente zu den
früheren Susemihl (Berliner) AVochenschr. f. klass. Phih)l. 1887.
Sp. 1354—1360, dessen Desiderien ich mich mit wenigen Aus-
s
J]erichtüb.d. deutsche Litt, d.sokrat. piaton. u.aristot. Philosophie 188fi, 1887. 279
nahmen, seiner Anerkennung des Gebotenen ohne Vorbehalt an-
Nchliesse.
Von den Schriften, welche das aristotelische System als sol-
ches angehen, nenne ich zunächst
Haas, L., Zu den logischen Formalprincipien des Aristoteles. Burg-
hausen 1887. 38 S. Gymn. progr.
Diese Abliandlung gibt eine sorgfältige, aus den Quellen ge-
chöpfte Darstellung der aristotelischen Lehre über die allgemeinen
Voraussetzungen des wissenschaftlichen Erkennens, und insbeson-
dere über den Satz des Widerspruchs, den Arist. selbst als das
allgemeinste und unbezweifelbarste Princip alles Denkens bezeich-
net. Was Verf. bis S. 31 hierüber ausführt, entspricht m. E. fast
durchaus den eigenen Aussagen des Philosophen. Doch sagt dieser
Anal. post. I, 32. 88 b 13 nicht (wie Verf. S. 13 angibt), es sei
lächerlich „zu sagen, dass etwas sich selbst gleich oder mit sich
selbst identisch ist", sondern vielmehr: es -wäre albern, wenn man
(leshalb, weil die Principien der verschiedenen AVissenschaften mit
sich selbst identisch sind, schlechtweg sagen wollte, sie seien iden-
tiscli (also auch mit einander identisch); und Metaph. IX, 9. 1051
a29 wird nicht allgemein behauptet: „das Mögliche werde erst er-
kannt, wenn es wirklich geworden ist" (S. 14), sondern nur von
der Beweisführung durch geometrische Construction wird bemerkt,
sie beruhe auf der Verwirklichung eines Potentiellen (vgl. Bonitz
z. d. St.). Bei der Besprechung von De Interpret. 9 hätte an den
zweifelhaften Ursprung dieser Schrift erinnert werden sollen, wenn
auch die dort gegebenen Bestimmungen dem aristotelischen Begriff
des Möglichen durchaus entsprechen. Die Behauptung, dass alles
Denken und Reden unmöglich werde, wenn man den Satz des Wi-
derspruchs leugnet, wird Aristoteles nicht (nach S. 27) „unterscho-
ben"; vgl. Metaph. IV, 3. 1005 b 15. 1006 a 11. c. 4. 1008 b 30.
1009 a 3. Diesen Satz selbst bezeichnet Verf. mit Recht als ein
blos formales Princip; und damit verträgt es sich vollkommen,
dass derselbe, wie er gleichfalls bemerkt, nicht blos logische, son-
doni zugleich ontologische Bedeutung hat, denn auch über die Be-
schaffenheit der Dinge sagt er nichts aus als (bis Allgemeine, dass
19*
930 E* Zell er,
sie keine mit einander unvereinbaren Eigenschaften gleichzeitig
besitzen können. Zweifelhafter ist mir, ob es in Aristoteles' Sinn
ist, wenn man dem Satz des Widerspruchs mit dem Verf. (S. oliV.)
noch ein weiteres Princip in gleicher Stellung beifügt. Denn so
bereitwillig ich einräume, dass jener für sich allein nicht genügt,
und dass Lcibuiz alle Ursache hatte, ilm durch das Gesetz des
Grundes zu ergänzen, so vermisse ich doch den Beweis dafür, dass
auch Aristoteles eine solche Ergänzung nüthig gefunden oder auch
nur den Raum für sie offen gelassen hat. II. iindet dieselbe in
dem „Princip der Convenienz" oder der Uebereinstimmung, wel-
ches (nach Hagemann' s Logik) besage, dass „Vorstellungen, welche
als Theilvorstellungon des Denkobjekts erkannt sind, mit diesem
zu verbinden sind;" also ungefähr das gleiche, wie die alte syllo-
gistische Regel: nota notae est nota rei. Nun ist ja ganz richtig,
dass Arist. in der Beweisführung nach dieser Regel verfährt; aber
zu seinen logischen Principien gehörte sie nur dann, wenn er selbst
sie als solches ausgesprochen hätte, und diess hat er so wenig ge-
than, dass 11. selbst S. 33 einräumt, er habe den Satz des Wider-
spruchs „als einziges Prinzip bezeichnet," derselbe sei nach ihm
„der einzige unbedingt sichere Ausgangspunkt alles Denkens und
Erkennens". Auch der Grundsatz, dass alles ^Vahre mit sich über-
einstimmen müsse (Anal. pr. 1, 32. 47 a 9. Eth. 1, 8. 1098 b 11.
Haas S. 37) ist nur eine Eolgerung 'aus dem Satz des Wider-
spruchs.
Mit dem Grundbegriff der aristotelischen Metaphysik beschäf-
tigt sich •!-,
Wf.bkh, B., De ou3''o(C apud Aristotelem natioiie ejusque cognos-
cendae rationo. Bonn 1887. Inauguraldiss. 32 S.
Es ist diess eine fleissige und wohlgeordnete Sammlung von
Aussprüchen des Aristoteles und seiner Erklärer, die aber nichts
Neues bringt. An den tief eingreifenden Schwierigkeiten, welche
die Vieldeutigkeit der ouatot dem aristotelischen System bereitet,
geht W. mit dem gleichen Stillschweitjen vorbei, wie an der Frage
nach dem Wesen des voüc 7rof/)ti7.o; und der Art seines Erkennens.
Den voO; -otUr^Tixo; hält er mit Brentano für identisch mit der
I
Kericht i'ih. d. doiitsL-he Litt. d. sokrat. pliiton. u.aristot. Philosophie 1886, 1887. 281
i'liantasie, ohne für diese Meinung etwas haltbareres beizubringen als
jener; und die gleiche Ansicht wird mit unzureichender Begrün-
dung, sammt der damit verbundenen Unterscheidung zwischen dem
vo'js oüva[i.£t und dem v. TraO-zj-rixöc, auch Theophrast zugeschrieben.
Kappes, M., die aristotelische Lehre über Begriff und Ursache der
•/.'''A/istr. Bonn 1887. 46 S. Inauguraldiss.
Auch diese Abhandlung ist in ihrem Haupttheil ein fleissiger
und brauchliarer Auszug aus den hergehörigen aristotelischen Schrif-
ten, dem wenig von eigener Untersuchung beigemischt ist; und
(^benso sind in der „Kritik der aristotelischen Bewegungstheorie"
S. 37 ff. die Citate aus fremden Schriften die Hauptsache. S. 15
wäre zu untersuchen gewesen, wie sich die Behauptung, dass die
Bewegung in allen Kategorieen vorkomme, (Phys. 111, 1. 201 a8f.)
mit der sonst allgemein, und so auch im vorhergehenden, voraus-
gesetzten und Phys. V, 2 näher begründeten Beschränkung dersel-
ben auf vier Kategorieen verträgt; aus Simpl. Phys. 412, Slflf.
i^^eht hervor, dass schon Eudemus und Theophrast, namentlich der
letztere, jener Beschränkung widersprachen. Die Antwort liegt
wohl darin, dass die Veränderung der Relation u. s. f. zu den
■/firÄ suij-'j^i^v/o; erfolgenden Bewegungen gehört, die Arist. nach
Phys. V, 1. 224 b 26 ausser Betracht lassen will. Wenn S. 35 von
den Planetensphären gesagt wird, sie bewegen sich nicht wandel-
los im Kreise, sondern in schiefen Bahnen und ungleichmässig, so
hätte diess genauer erläutert werden müssen; denn um ihre eigene
Achse bewegt sich jede Sphäre gleichmässig in einer horizontalen
Ebene. Dass Baco von Verulam „der Begründer der neueren Na-
turwissenschaften" sei, ist eine starke Uebertreibung.
Höher, als die beiden eben Genannten, steckt sich seine
Aufgabe
Adrian, K., Aristotelis systema causarum ad motum circularem
refertur. Münster 1886. 59 S. Inauguraldiss.
Derselbe will nämlich eine in allen bisherigen Darstellungen
des aristotelischen Systems, wie er glaubt (S. 8), offen gelassene
Lücke dadurch ausfüllen, dass er in der Kreisbewegung des Hirn-
9ft'=>
E. Zeller,
niels tlcn (uuiul des Zu-sammenhaiigs nachweist, der alle Ursachen
in der Welt verknüpfe. Es ist nun anzuerkennen , dass er der
Ausführung dieses Gedankens eine ernste wissenschaftliche Arbeit
gewidmet hat, und dass er zu dieser Arbeit eine gute Kenntniss
der aristotelischen Schriften und Lehren mitbringt; und wenn sich
diese auch wohl bisweilen in Erörterungen bethätigt, welche durch
eine einfache Verw^eisung auf ältere Darstellungen ersetzt werden
konnten, so wollen wir darüber bei einer solchen Erstlingsschrift
nicht rechten. KocXw^ os Ttav-a i,'a(o; /otXsTrov. Sehen wir, wie es
sich damit bei dem Verf. verhält. Seine Ergänzung des aristote-
lischen Systems beruht, neben den allgemein anerkannten Grund-
zügen der aristotelischen Theologie und Kosmologie, auf der dop-
pelten Voraussetzung: dass 1) die Formen der Dinge Gedan-
ken der Gottheit , und dass 2) alle Kreisbewegungen in der
Welt eine Folge von der des TfiaiToc oupavoc seien. Ich meinerseits
muss diese Voraussetzungen alle beide in Anspruch nehmen. Für
die erste derselben, in der er sich an Brand is anschliesst, beruft
sich Verf. auf Metaph. Xlf, 7. 1072 b 22: Ivsp-j'si os (sc. 6 voic)
e/u)v (to vo-/j-6v); denn unter dem vor^töv könne man nur die Ge-
danken Gottes verstehen, welche als der Zweck, dem die Materie
zustrebt, die Formen der Dinge seien. (Vgl. S. 16 f. 45 f.) In-
dessen ist leicht zu sehen, dass damit Aristoteles etwas aufgedrun-
gen wird, was seiner Meinung direkt widerstreitet. Er selbst er-
klärt ja aufs bestimmteste, (1072 b 20f. und ausführlicher c. 9. 1074
1) 21 ft'.) dass nur Gott selbst das vor^-ov sei, welches Gegenstand
seines Denkens ist und sein kann, und andererseits können die
Formen, welche die Substanz der Dinge sind, nicht Gedanken eines
denkenden Wesens sein; wie ich diess alles gegen Braudis schon
längst nachgewiesen habe '). Auch mit seiner zweiten Voraus-
setzung geht aber A. über die acht aristotelische Lehre hinaus.
Die Planetensphärcn werden vom Fixsternhimmel zwar mit herum-
geführt, aber ihre Eigenbewegungen rühren nicht von ihm her,
und dass diese Bewegungen Kreisbewegungen sind, ist gleichfalls
') Pbil. (1. (h: 111., 283 f.2 381f.''' A. liisst diesen Nachweis unberiicls sich-
tigt, wie er cleiui iil)erlKm|)t mein Work nur in seiner ersten, 184ß erscliie-
iicneu, Ausgabe benutzt bat.
1 lericht üb. d. deutsche Litt. d. sokrat. piaton. u. aristot. Philosophie 1886, 1887. 283
aicht eine Folge seiner Einwirkung, sondern diese Eigenschaft der-
selben ist, wie beim -f>wToc oup7.voc selbst, in der Natur ihres
Stoffes, des Aethers, begründet (vgl. Phil. d. Gr. 11 b, 434 ff.). Verf.
weiss dies natürlich auch; aber statt die verschiedenen hier zu-
-ammeuwirkenden Ursachen scharf zu unterscheiden, zieht er sich
S. 26 ff. hinter unbestimmte Ausdrücke zurück: a motu circulai'i
primi codi pendenf, ad mohivi cii'c. revocandi sunt u. s. w. Den
Kreislauf der irdischen Dinge bezeichnet Arist. zwar gen. et corr.
II, 10. 337 al als eine Nachahmung der x'j/.X(p 'fopa; aber seine
Ursache sucht er (vgl. Phil. d. Gr. IIb, 487 ff.) in dem Wechsel
der Jahreszeiten {tlrjos, was A. S. 33 unrichtig von allen perio-
dischen Zeitabschnitten erklärt), der seinerseits auf der Annäherung
und Entfernung der Sonne beruht: von der Kreisbewegung des
rpw-o: oöpotvoc rührt nur der Wechsel von Tag und Nacht, und
was von ihm abhängig ist, her. Noch erkünstelter ist der
Zusammenhang, den Verf. S. 37ft\ zwischen dem Kreislauf des
r^ntstehens und Vergehens, dem die organischen Wesen unterlie-
uen, und der Kreisbewegung des Himmels herzustellen versucht.
Mag man ferner, die reu humcmae (S. 47 ff.) betreffend, den voü;
7:otr,Ti/oc des Menschen mit dem Verf. für den göttlichen Geist
selbst, den voG; -ai>/jTtxoc für die Einheit der niederen Seelen-
kräfte halten oder nicht (hierüber Phil. d. Gr. II b, 572 ff".), so wird
doch der motus circuJaris von dem Verf. S. 50 zur Erklärung ihres
Verhältnisses geradezu an den Haaren herbeigezogen; und ebenso-
wenig hat der Kreislauf der Staatsverfassungen oder der der
menschlichen Meinungen in der Geschichte mit der Kreisbewegung
des Himmels zu thun. So sehr es sich daher verlohnte, die Frage
zu untersuchen, worin der von Aristoteles so entschieden behaup-
tete einheitliche Zusammenhang aller Dinge besteht, worauf er be-
ruht und wie weit er sich erstreckt, so wenig ist es doch dem
Verf. gelungen, eine befriedigendere Antwort darauf zu finden, als
sie in den bisherigen Darstellungen der aristotelischen Philosophie
schon vorlag. In Wahrheit war eben die Aufgabe für Aristoteles
selbst unter den Voraussetzungen seiner Metaphysik unlösbar, und
eine unbefangene Geschichtsbetrachtung kann nur zeigen, warum
sie diess war. aber sie darf ihm keine Lösung unterschieben, die
284
E. Zellcr,
.siel) weder diircli sciue ausdrücklichen Erklärungen noch durch
die Conscquenz seines Systems begründen lässt.
SoROK, G., ])c Aristotelis geographia capita duo (Halle 1886. 92 S.
InauguraldLss.)
behandelt zwar nur einen Seitenzweig der aristotelischen Physik,
welcher das philosophische System als solches wenig berührt. Aber
docli will ich es nicht unterlassen, auf die.se gute und gründliche
Arbeit aufmerksam zu machen. Den Inhalt derselben bilden die
ersten Abschnitte einer grö,sseren Schrift, welche die geographischen
Annahmen des Philosophen vollständig darstellen wird. Die vor-
liegende Probe lässt , uns der letzteren mit den besten Erwartungen
entgegensehen; und wird auch die Geschichte der alten Geographie
von ihr den Hauptgewinn haben, so fallen doch immer von solchen
Au.ssenwerken des Systems auch auf die Philosophie seines Urhebers
und die Art seines schriftstellerischen Arbeiteus belehrende Streif-
lichter.
BuLLiNGER, B., Metakritische Gänge, betreffend Aristoteles und
Hegel. Mit kritischen Seitenblicken auf die Wissenschaft
der Gegenwart. München. Ackermann 1887. 37 S.
Die Antikritiken, die B. unter diesem Titel vereinigt hat,
richten sich so ziemlich gegen jedermann, der in den letzten Jahren
mit seinen Arbeiten irgendwie in Berührung gekommen i.st: Suse-
mihl, Yahlen, Wirth, Meiser, Thilo, mich u. s. w.; und sie be-
sprechen demgemä.ss auch verschiedenerlei Gegenstände: die Lehre
des Aristoteles von der sinnlichen Wahrnehmung, vom Nus, von
der tragischen Katharsis, vom Möglichen und ^Virklichen, die Theo-
logie Plato's, die Verdienste G. F. Rettig's um Plato, den philo-
.sophischen Unterricht an den Gymnasien, HegePs Ansicht über den
Satz des Widerspruchs. Vieles Ist nur "Wiederholung von früher
Gesagtem, in der ungehobelten Manier, in welcher der Vf. sich ge-
fällt. Das Beste in der kleinen Schrift ist m. E. die Erörterung
S. 7 ff. über die TtopM, durch welche Arist. die Eindrücke von den
Sinnesorganen zum Herzen gelangen lässt. Doch hat mich Vf.
nicht überzeugt, dass damit „eigene mit specifischen Organkörpern
P.ericht lili.il.dPutscheLitt.d.sokrat. platoii.u.aristot. Philosopliio lRSr.,1887. 285
angefüllte Kanäle", ein von Arist. „apriorisch gefordertes" „Ana-
logon der Empfindungsnerven" gemeint sind. Bei anatomischen
Fragen pflegt Arist. nicht a priori zu construiren, sondern 7a\ be-
obachten. Nun mag ihn immerhin zu der Annahme von Kanälen,
durch welche die von den Sinnesorganen aufgenommenen Bewegun-
sen sich fortpflanzen, neben der Walirnehmung der Höhlungen im
Gehör- und Geruchsorgan (gen. an. 11, 6. 744 a Iff. V,2. 781 a 20fl'.),
auch die der Oeffnungen in den Knochen veranlasst haben, durch
welche der Sehnerv in die Augenhöhle eintritt (a. a. 0. 744 a 8 f.).
Aber von eigenen, den Empfindungsnerven ähnlichen Organen deu-
tet er nichts an; er denkt sich vielmehr jene Tiopoi mit Pneuma
erfüllt (744 a 3 vgl. 781 b 24. 35). Sie selbst aber münden in die
Blutgefässe des Gehirns aus (744 a 3—9). Da nun doch das Herz
das Centralorgan der Empfindung ist, so fragt es sich, ync die
durch die 7:0001 sich fortpflanzenden Empfindungsbewegungen zu
diesem gelangen; und dass diess durch die Adern geschehe, ergibt
sich neben ihrer ausdrücklichen Erwähnung 744 a 3 aus dem Satze '),
dass weder das Blut selbst noch die blutlosen Theile ata»>-/)Tixa
seien, denn dann bleiben nur die blutführenden Theile dafür übrig.
Für das nächste Substrat jener Bewegungen scheint aber Arist.,
nach dem eben angeführten, nicht das Blut zu halten, welches sich
schon desshalb nicht dazu eignete, weil es seiner Meinung nach
in den cpXsßs; im allgemeinen vom Herzen nach der Peripherie,
und nur zeitweise zum Herzen zurückfliesst, (vgl. Phil. d. Gr. Hb,
51 7 f. 541, 7) sondern das Pneuma, welches die Adern zugleich mit
dem Blute durchströmt.
1
Rem ANN, C. F., Des Aristoteles Lehre von der Freiheit des mensch-
lichen Willens. (Zur Geschichte der Lehre v. d. Freih. d.
menschl. Will. 1. H. Aristoteles.) Leipzig, Fues's Verlag 1887.
XVin und 194 S.
Lst auch die Darstellung dieser Schrift stellenweise zu breit
ausgefallen und ihre Sprache nicht durchaus rein"), so wird sie
') Part. an. III, 4. G66al6. Was mir B. S. 8 aus Anlass dieser Stelle
unterlegt, ist nicht meine Meinung; vgl. Phil. d. Gr. IIb, 541, 7.
2) Vgl. Ausdrücke wie: „grundleglich" (S. 11), „konkupiscibel" (S. 15),
286 !-• Zoller,
docli als eine mit Liebe zur Sache, mit Sorgfalt und Scharfsinn
ausgeführte wissenschaftliche Ari3eit auch von solchen anerkannt
werden müssen, die sich von der Richtigkeit ihrer Ergebnisse nicht
unbedingt zu überzeugen vermögen. In den Schriften und der
Lehre des Aristoteles wohl bewandert, unterwirft Yf. die im Titel
bezeichnete Frage einer Untersuchung, welche die hergehörigea
Aeusserungen des Philosophen und den Zusammenhang seines
Systems eingehend berücksichtigt. Sein Endergebuiss aber ist
dieses, dass Arist. zwar allerdings die Freiheit des menschlichen
Willens behaupte, dass er aber unter dieser Freiheit nichts anderes
verstehe, als das von der Vernunft determinirte und dem ver-
nünftigen Denken entsprechende Streben, dass der Wille daher
zwar ihm zufolge (wie S. 89 ff. 114ff. 130. ITlif. gut gezeigt wird)
weder von den sinnlichen Antrieben noch von angeborenen Cha-
raktereigenschaften unbedingt bestimmt werde, dass er aber doch
immer determinirt, und Aristoteles mithin „durchaus Determinist"
(S. 171) sei. Ich kann jedoch nicht finden, dass es dem Yf. ge-
lungen ist, diese Ansicht, mit der er bis jetzt wohl ziemlich allein
steht, ausreichend zu begründen und die Bedenken, welche sich
ihr ontgegenstellen, zu beseitigen. Arist., sagt er S. 108, behaupte
Rhet. I, 10. 1369 a 5, „dass die Menschen alles, was sie thun, aus
s'ieben Gründen nothwendig thun," zu denen auch die vernünftige
Üeberlegung gehört. Allein Arist. sagt nicht: TavTa o^ct -[icttTO'jGiv
dcva-f/.Tfj TrpcxT-o'jj'v u. s. w\, sondern: ctva-f/-/; -pa~£'.v oi' (xhiaq
i-T7.: „was die Menschen thun, können sie nur aus einem von den
nachstehenden sieben Gründen thun." Er bezeichnet es (S. 95.
171. 186) als aristotelische Lehre, „dass der Mensch immer das
Bessere wähle, und dass er da/Ai durch seine Yernunft bestimmt
werde." „da.ss der Wille eines vernünftigen Menschen niemals
„iiitellektiv" (öfters), „die dreiufalleinlen Kiudei" (S. 25), „uin so viel voll-
kommeuer .... als wie das Denken vollkommener ist" (S. 51), Sätze wie
S. 3: „Die Darstellung eröffnet uns sowohl einen Einblick . . ., als auch ge-
winnen wir dadurch einen Einblick"; S. 19: „das Urtheil über Piato präjudi-
cirt das über Arist."; S. 34: „dass, wenn die Seele sich selbst bewegte, wäre
sie bewegt" u. s. f. Weitere Beispiele S. 4, 12 v. u. 89, 4 v. u. 97, 7. 104, 16 ff.
11.5, 2. 116, 8. 126, 12 v. u. i:)6, 5 v. u. 148, 20. 169, 5 v. u.
IJericht üb.d.deiilscheLitt.d.sokrat.platou.u.aristot. Philosophie 1886, 1887. 287
etwas wolle, wozu iliu nicht die Vernunft determinirt hat," dass
er „immer nach Gründen handle, welche die alleinigen Ursachen
seien, die ihn in Bewegung setzen," dass er immer nur wirke,
„weil er nothwendig muss infolge einer geschehenen Determination".
Aber er hat es unterlassen, seinen Lesern zu sagen, wo der Philo-
soph dies alles gelehrt hat. In Wirklichkeit sagt dieser zwar,
(Eth. IIL 6. 1113 a 22 ff.) der Zweck des Handelns sei im all-
gemeinen das Gute; aber er fügt auch sofort bei (a. a. 0. und oft;
vgl. Ind. arist. 3 b 10): für jeden aber sei es das, was ihm gut
scheine, und gerade dadurch unterscheide sich der aTTouGotto? vom
'fauÄoc, dass er allein das wirklich Gute sich zum Zweck setze.
Nicht der Mensch also, sondern nur der tugendhafte und ver-
nünftige Mensch als solcher ist es, der immer das Gute und Richtige
wählt; der Einzelne dagegen, auch wenn er ein aTrouoaioc genannt wer-
den kann, ist darum doch vor Verfehlungen nicht unbedingt geschützt,
denn auf vollkommene Tugend kann er als ein zusammengesetztes
(sinnlich -geistiges) Wesen keinen Anspruch machen (Eth. X, 8.
1178 a 9. IIL 1. 1110 a 24. Polit. III, 15. 1286 b27), und Arist.
hält desshalb die Tugend zwar für dauerhaft und schwer zu er-
schüttern, aber nicht mit Antisthenes für unverlierbar (Eth. 1, 11.
1100bl2ff. VII, 15. 1154b20ff.). Ja er ist so wenig der Mei-
nung, unser Wille folge immer und nothwendig den Aussprüchen
der Vernunft, dass er diesen von Sokrates aufgestellten Satz viel-
mehr aufs entschiedenste bestreitet (Eth. VI, 13. 1144 b 17 ff. Vil, 5.
3 Auf. X, 10. 1179 b 23 vgl. Phil. d. Gr. II b, 628 f.), und seinerseits
umgekehrt erklärt, die (ppov/jaic habe es nur mit den Mitteln zur
Erreichung unserer Zwecke zu thun, die richtige Zweckbestimnumg
selbst dagegen, die Beweggründe (dp/al), nach denen sich der Wevth
oder Unwerth unseres Thuns bestimmt, seien Sache des Willens
Eth. VI, 13. 1144 a 8. 20. 26. 29ff. c. 5. 1140 b 17 vgl. IIL 5. 1112
I) 11. I, 7. 1098 b 3), nur der Tugendhafte setze sich das Gute
zum Zweck, die Schlechtigkeit dagegen bewirke eine Verkehrung
des sittlichen Urtheils (1144 a 34. VII, 9. 1151 a 14), es sei daher
(1151 a 17) nicht der Xoyoc, sondern die apsxvj, wovon das opf^^oocsiv
rspt -7.; 'zp/a; abhänge. Die Tugend aber entsteht nach Arist. ebenso
wie die Schlechtigkeit durch Gewöhnung, dadurch, dass wir wieder-
288 E. Zeller.
hult iu einem bestimmten Sinn handeln; und unser Handeln haben
wir, wie alles, was von unserem Willen abhängt, in unserer eigenen
Gewalt, wir haben es in der Hand, das Gute oder das Schlechte
zu thun: S'j' r^\xh czpa to sTris'.zsai xal (fa'jXo'.^ öTvai (Eth. 111,7.
1113 b 6ff.). Diese Erklärungen im Sinn des stoischen Determinis-
mus zu deuten, so dass mit dem scp ' f,;j.Tv nur der äussere Zwang,
nicht die innere Nötliigung, ausgeschlossen werden sollte, wäre nur
dann möglich, wenn Arist. die allgemeine Voraussetzung dieses
Determinismus, die Lehre von der si]xo!pa=vr| theilte, vermöge der
alles aus der göttlichen Causalität mit unabänderlicher Nothwendig-
keit hervorgeht. Davon ist er aber so weit entfernt, dass er jene
Causalität vielmehr darauf beschränkt, als der letzte Zweck der
Welt theils die tägliche Drehung der himmlischen Sphären, tlieils
die Zusammenstimmuug aller Eigenbewegungen in den verschiede-
nen Theilen der Welt hervorzurufen. A^'ie fremd ihm der Gedanke
einer Nothweudigkeit alles Geschehens ist, zeigen schon seine Be-
stimmungen über das ivoe/op-svov oder ouvatov (Phil. d. Gr. II b, 223
vgl. 333f.), zu dessen Begriff es gehört, nicht nothwendig zu sein;
und selb.st unser Vf. muss einräumen (S. 143), dass die Handlungen,
wie alles AVerdende, nach Arist. „auch nicht oder anders hätten
entstehen können". Der Philosoph widerspricht ja aber auch
aufs entschiedenste und mit eingehender Begründung der Be-
hauptung, niemand sei freiwillig böse (Eth. III, 7. 1113 b 14fl'.),
und er weist (1114 a 3) die Ausflucht, dass man seine Pflicht
nur deshalb versäume, weil man von dieser bestimmten moralischen
Beschaffenheit ist, mit der Entgegnung zurück: äXXa tou toioutou?
7£v=ji)c(i a'jToi 7.1X101. Ueber seine Meinung lä.'^st er uns daher nicht
im Zweifel. Wer diese Meinung für falsch hält, der mag ihn
darum tadeln , aber er darf ihm nicht eine solche aufdrängen, die
ihm fremd ist, und wenn die aristotelische Psychologie (wie Ph. d.
Gr. II b, 598 ff. gezeigt ist) bei der Willensthätigkeit wie bei ande-
ren psychisciien Vorgängen zu Fragen Veranlassung gibt, deren
widerspruchslose Beantwortung über ihre Mittel hinausgeht, so ist
es die Aufgabe einer unbefangenen Forschung, diesen Sachverhalt
zu erklären, aber sie darf sich seiner Anerkennung nicht ent-
ziehen.
Bericht üb. d. deutsche Litt. d. sokrat. piaton. u. aristot. Philosophie 1886, 1887. 289
Wrobel, Val. , Aristotelis de perturbationibus animi cloctrina.
Sanok 1886. 58 S. (I. C. bei 0. Fock in Leipzig.)
Der Inlialt dieser Abhandlung geht weiter, als ihr Titel ver-
spricht. Sie beschäftigt sich nämlich nicht blos mit der Lehre des
Aristoteles über das, woran man bei den perturbationes amm?\ der
ciceronischen üebersetzung des stoischen Tra'öoc, allein denken würde,
die ungeordneten Gemüthsbewegungeu, auch nicht blos mit der
über die Affekte überhaupt; sondern wo immer Arist. von einem -aOo?
und Traör^aa u. s. f. redet, übersetzt dicss Verf. mit perturbatio^ so
dass z. B. S. 31 das Lernen, S. 29 das von Arist. Phys. III, 3 in
der allgemeinen Erörterung über die Bewegung dem -oisTv gegen-
übergestellte -a'j/civ, das Bewegtwerden, eine perturbatio genannt
wird. Ist es nun aber schon schwierig, oder vielmehr unmöglich,
aus den zerstreuten Aeusserungen des Aristoteles über die Traö-/]
im Sinn der Affekte eine in sich einstimmige und einigermassen
vollständige psychologische Theorie herzustellen, so hat sich Verf.
diese Aufgabe durch die ungerechtfertigte Ausdehnung der Vor-
gänge, die er mit perturbatio aniini bezeichnet, noch erheblich er-
schwert, und er ist bei dem Versuche, sie unter dieser Voraus-
setzung zu lösen, auf mehr als eine unhaltbare Annahme gekommen.
Von einem -oir^-ixov und einem -ctfj/jxixov als besonderen Vermögen
(S. 42 u. ö.) weiss Arist. nichts, sondern dieselben Vermögen ver-
halten sich nach ihrer jeweiligen Beziehung zu ihrem Gegenstand
sowohl wirkend als leidend; dass nicht allein der sinnlichen, son-
dern auch der Denkthätigkeit eine y^perturbatio"' entspreche (S. 45),
folgt aus der mit ihr verbundenen Lust nicht im geringsten, denn
die Lust ist gerade nach Arist. kein Leiden und keine Bewegung,
und kommt daher auch dem absolut Leidenslosen und Unbewegten,
dem göttlichen Geist zu; die Gleichstellung des -o(t>r^':ixov Phys. III,
3. 202 a 23 mit dem aiaÖr^Tixov ebd. VII, 3. 248 a 8 (S. 49) ist un-
berechtigt: es gibt ja auch einen vouc Tr7f}r,tixfjc, Phys. III, 3 han-
delt aber überhaupt nicht blos von dem \Virkenden und Leidenden
in der Seele, sondern von dem Wirken und Leiden überhaupt. Ist
indessen dem Verf. das, was er in seiner Abhandlung leisten wollte,
auch nicht durchaus gelungen, so verdient dieselbe doch die Au-
290 E. Zeller,
erkenuung, dass sie ihren Gegenstand sorgfältig und mit aclitungs-
werther Sachkenutniss untersucht hat.
Schmidt, Jon.. Aristotelis et Herbarti praecepta, quae ad psycho-
logiam spectant, inter se comparantur (Wien 1887. Jahres-
ber. d. K. K. Akad. Gvmu. 18 S.) ^
zeigt in eingehender Vergleichung. dass sich zwischen Aristoteles'
und Herbarfs psychologischen Lehren, neben ihrer offen liegenden
Verschiedeuartigkeit, doch mehr Berührungspunkte finden, als mau
vielleicht auf den ersten Blick verrauthen möchte. Da und dort
geht er aber in dieser Parallelisirung doch etwas zu weit. S. 9
dürfte bemerkt .sein., dass die Bewegungen der Sinne.swerkzeuge,
aus denen Arist. die Träume herleitet, etwas materielleres sind
als die „Vorstellungen" Herbart's. S. 12 wird die Vergleichung
des Nus mit einer unbeschriebenen Tafel herkömmlicher Weise ia
sensualistischem Sinn gedeutet, während es nach Aristoteles' Mei-
nung nicht die sinnlichen, sondern die übersinnlichen Objekte sind,
(Kirch deren Aufnahme der Nus einen Inhalt gewinnt; vgl. Phil,
d. Gr. IIb, 192, 3. Dass die Lehre des Aristoteles vom Willen
der deterministischen Herbart's nicht gleichgesetzt werden durfte
(S. 15), ergibt .si(;h aus dem, was oben gegen He man bemerkt ist.
Inwiefern Herbart thatsächlich von Aristoteles beeinflusst wurde,
hat Verf. nicht untersucht, und vielleicht lässt es sich auch nicht
feststellen. Der Standpunkt der wissenschaftlichen Beurtheilung
ist durchweg der des Herbartianers. ^
Hagiosophites, Pan.\giot. A., Aristoteles' Ansicht von den ethi-
.schen und intellectuellen Unterschieden der Menschen. Athen
1886. 95 S.
Diese griechisch geschriebene und mit griechischem Haupttitel
('Apis-oTsXo'jc \h(op(oi u. s. w.) versehene Schrift, nach dem \'orwort
zu schliessen eine Jenenser Inauguraldissertation, bespricht nach
einleitenden Bemerkungen über die aristotelische Tugendlehre in
ihrem ersten Abschnitt die allgemeinen ethischen und intellectuellen
Unterschiede der Menschen unter den Ueberschriften: A) oi ct-jaüot:
a) of zo-;s\/z~;. und zwar 1) oi v.'jrjüo; su^Evst;. 2) oi a'f/iatot: b) ot
Bericht üb.d. deutsche Litt, d.sokrat. piaton. u.aristot. Philosophie 1886, 1887. 291
i-isr/sTc. B) r/i xotxoi': a) ot rcoXXot; b) ol cpauXot. Der zweite
Abschnitt (S. 59 ff.) handelt von den Unterschieden der Lebensalter
und der Geschlechter. Unter diesen Rubriken werden aristotelische
Stellen (darunter freilich auch, ohne jede Hindeutung auf ihre Un-
jichtheit, solche aus ::• xo(J[j.ou und -. apsKÜv) nicht ohne Fleiss
zusammengetragen, und diese sind auch das einzige Brauchbare in
der Schrift; des Yerf. Berichte über ihren Inhalt sind unzuverlässig
und seine eigenen wortreichen Zuthaten ohne Werth.
'o^
Brahlky, A. C, Die Staatslehre des Aristoteles, üebers. v. Imel-
mann. 2. Ausg. Berlin, Heyfelder. 1886. 83 S.
uehört eigentlich nicht mehr in unsei-n Bericht, da das enulische
(Jriginal schon vor acht Jahren, und die erste Ausgabe von Imel-
mauu's Uebersetzung 1884 erschienen ist. Doch nehme ich von
jder neuen Ausgabe der letztern gerne Veranlassung, auf den
Werth einer Abhandlung aufmerksam zu machen, welche auf
massigem Räume nicht allein über die leitenden Ciedanken und
die Grundziige der aristotelischen Staatslehre in zuverlässiger untl
lichtvoller Darstellung berichtet, sondern auch ihre geschichtlichen
\'oraussetzungen, ihr Verhältniss zu den heutigen, und besonders
den englischen Anschauungen und Einrichtungen, and den in ihr
liegenden Wahrheitsgehalt geistvoll und sachkundig erörtert.
Krasiewicz, Die Kritik der platonischen Politie bei Aristoteles.
Neisse 1886. 12 S. 4^ (Gymn. progr.)
j Plato's politische Theorie und die Einwendungen, die ihr
Aristoteles entgegenhält, werden hier im wesentlichen richtig dar-
-le.stellt, und billig beurtheilt. Da und dort finden sich allerdings
auch Bemerkungen, mit denen Ref. nicht einverstanden ist. W^enn
'.. ß. Aristoteles S. 11 darüber getadelt wird, dass er Plato sagen
liisst, seine Bürger werden nicht vieler Gesetze bedürfen, so lag
dazu kein Grund vor, denn Plato sagt diess wirklich Rep. IV, 425 B.
427 A. Dass ferner Plato über die Erziehung und Lebensweise
seines dritten Standes sich desshalb nicht aussprach, weil er ihm
keine Bedeutung beilegte, bestreitet Verf. ebd. mit Unrecht; vgl.
I'liil. d. (ir. lla\ 906 f. Von Erblichkeif der Regierungsgewalt
292
E. Zeller,
(Kr. S. 11) redet Arist. II, 5. 1264 b 6 nicht, sondern davon, dass
dieselbe auf die Angehörigen des ersten Standes beschränkt ist;
auch von jener hätte er übrigens reden können, da dem Eiozelneni
sein Stand in der Regel durch die Geburt angewiesen werden solK^|
Die Kunstlehre des Aristoteles hat auch in unsern Berichts-
jahren, wie schon seit langem, zahlreiche Erörterungen hervorgerufen.
Meiser, C, Ein Beitrag zur Lösung der Katharsisfrage (Bl. f. d.
bayer. Gymnasialschulw. XXIII, 211 — 214)
unterstützt Bernays' Erklärung der xctöapaic täv Trort^rjuaTfov. wo-
nach dieser Ausdruck die Ausscheidung der Affekte bezeichnet,
durch die zutreffende Parallele bei Plut. De inimic. utilit. c. 10.
Ueber die Hauptfrage freilich, warum gerade die Kunst, und durch
welche ihr eisjenthiimliche Mittel sie iene Katharsis bewirkt, er-
halten wir durch die Plutarchstelle keinen Aufschluss.
TuMMRz, K., die tragischen Affekte Mitleid und Furcht nach Aristo-
teles (Wien 1887. Progr. 40 S. Lex. Okt.)
unterzieht die Bedeutung von ilio; und 'foßoc in der Definition
der Tragödie, unter umfassender Berücksichtigung der hergehörigen
Literatur, einer eingehenden Untersuchung. Er weist überzeugend
nach, dass es nicht die Furcht vor Liebeln, die uns selbst drohen,
sein kann, welche das tragische Mitleid erregt, dass die Furcht,
von der jene Definition redet, überhaupt nicht uns selbst gilt, son-
dern dem Helden der Tragödie, welchen wir wegen des Schicksals,
das ihn trifft oder getroffen hat, bemitleiden, wegen dessen, das
wir heranziehen sehen, für ihn fürchten. Für diese Auffassung
hatte auch ich micli Phil. d. Gr. II b, 783 erklärt. Dagegen wun-
dere ich mich, dass T. nicht bemerkt hat, welchen Widerspruch
er Arist. zumuthet, wenn er S. 13f. das 'iiXotvOpto-ov Poet. 1452
bB9. 1458 a2. 1456 a21 nicht mit mir (a. a. 0. 786, 3) von der
Befriedigung verstanden wissen will, welche die Bestrafung der
Verbrechen gewährt, sondern von dem Mitleid mit dem Verbrecher;
so dass der Philosoph 1453 a 2 .sagen würde: das Unglück einas
a'io5pa TTov/jpo? erwecke zwar unsere „Theilnahme an seinem
Leid," aber weder Mitleid noch Furcht. Dass meine Erklärung
auch durch Rhet. II, 9 gestützt wird, zeigt
Bericht üb. d. deutsche Litt, d.sokrat. piaton. u.aristot. Philosophie 1886, 1887. 293
Sl'semihl, Die Bedeutung des cpdavöpa>7rov in der aristotelischen
Poetik. Jahrbb. f. class. Philol. 1886, S. 681 f.
Was dort als eine Eigenschaft des r^\}o^ yjjr^axhv (das doch wohl
auch ein cpi).avOpojTCov ist) dargestellt wird, der "Wunsch, dass es
den Schlechten schlecht gehe, ist mit dem Mitleid gegen sie, wie
1387 a 3 (vgl. Poet. 13. 1453 a 2f.) auch ausdrücklich bemerkt
wird, unvereinbar.
I
I
Weidenbach, P., Aristoteles und die Schicksalstragödie (Dresden
1887. Gymn. progr. 15 S. 4°)
sucht zu beweisen, „dass der antiken Kunst die Schicksalstragödie
nicht nur nicht fremd war, sondern dass Arist. sie sogar als das
Muster des echt Tragischen hingestellt hat". Zur Schicksalstra-
gödie rechnet er aber hiebei jedes Stück, in dem zwischen der Ver-
schuldung des Helden und seinem Leiden ein Missverhältniss statt-
findet, und diess muss allerdings nach Arist. der Fall sein, denn
so lange der Leidende nur nach Verdienst bestraft wird, gewährt
uns sein Schicksal (wie oben gezeigt ist) moralische Befriedigung,
es erregt daher kein Mitleid. Allein diess ist nicht das, was man
gewöhnlich unter Schicksalstragödie versteht; der Verf. hätte sich
daher erst über den Begriff der letzteren mit seinen Lesern ver-
ständigen müssen. Andererseits würde ihm Aristoteles nicht ein-
geräumt haben, dass derjenige, welcher sich durch einen an sich
verzeihlichen Fehltritt schweres Unglück zuzieht, (nach S. 8) „un-
schuldig leide". Das Leiden des Unschuldigen ist (Poet. 13. 1452
b 34) hässlich ((xiotpov), es erweckt Widerwillen, aber nicht tyjv d-b
zlioo y.a\ cpoßou -JiOovTjv (c. 14. 1453 b 12), und ist desshalb kein
Gegenstand der Tragödie; das durchaus verdiente Leiden ist es,
wie bemerkt, noch weniger; es eignet sich daher für sie (1453
a7ff,) nur die Darstellung eines verschuldeten, aber nicht in die-
sem Mass verschuldeten Leidens. Ob diess durchaus richtig ist,
ob z. B. Antigene nach der Absicht des Dichters für irgend eine
eigene Verschuldung und nicht blos für die ihrer Angehörigen lei-
det, ist eine andere Frage; aber auch wenn man sie mit dem Verf.
, (S. 14) von jeder Schuld freispricht, wird man Antigone doch keine
■ Schicksalstragödie nennen dürfen, denn es ist nicht ein unverstan-
Archiv i. Geschichte d. Philosophie. II. "^
294 E. Zell er,
denes Schicksal, das den Untergang der Heldin herbeiführt, son-
dern offen liegende Ursachen: der Konflikt zwischen dem Charak-
ter Antigone's und Kreons, dem göttlichen Recht und dem mensch-
lichen Gebot. Bin ich aber auch hierin mit dem Verf. nicht ein-
verstanden, so verkenne ich doch nicht, dass seine Ausführungen
auf einem genauen Studium der aristotelischen Poetik beruhen,
und manches Beachtenswerthe enthalten. Die Annahme (S. 6),
dass in der aristotelischen Definition der Tragödie „'foßoc ein zur
höchsten Potenz gesteigertes Mitleiden bezeichne," findet in der oben
besprochenen Abhandlung von Tumlirz S. 15ff. eine gründliche
Widerlegung; der gegen Arist. ausgesprochene Tadel (S. 12), dass
die tragische tjoovt) bei ihm „nicht einen sittlichen, sondern einen'
logischen Genuss bedeute, eine Lust nicht des Herzens sondern des
Verstandes sei", ist unbegründet: sie ist weder ein logischer noch |
ein ethischer sondern ein ästhetischer Genuss. ;
Die Bestimmungen des Aristoteles über die Arten der Tragö- |
die bilden das Thema von zwei umfänglichen, gleichzeitig und
ohne Beziehung auf einander erschienenen Gymnasialprogrammen:
1. Heine, Th., Aristoteles über die Arten der Tragödie. Kreuz- j
bürg 0. S. 1887. 28 S. 4°. |
3. Hride.nhain, Fr., die Arten der Tragödie bei Aristoteles. Stras- '
bürg W. Pr. 1887. 40 S. 4". |
Die erste von diesen zwei Abhandlungen gewinnt durch eine •
sorgfältige Untersuchung der hergehörigen Stellen folgendes Ergeb- '
niss. 1) Wenn Arist. in der Tragödie die Sesi; und Xuai;, die '
Schürzung und Lösung der tragischen Verwicklung unterscheidet,
so sagt er doch selbst Poet. c. 18, und die thatsächliche Beschaf-
fenheit der alten Tragödien bestätigt es, dass nur die Xudic, der
Uebergang der Helden vom Glück zum Unglück oder vom Un-
glück zum Glück, den eigentlichen Gegenstand der Tragödie bilde,
die Siaic dagegen, d. h. diejenigen Vorgänge, welche der glück- i
liehen oder unglücklichen Schicksalswendung (der jxs-aßaai;) vor- j
angiengen, von der Tragödie vorausgesetzt, oder nur einleitungs- '
weise in ihr berührt werden '). 2) Wenn die einfache (ä-Xr^) Tra-
') Wenn Verf. jedoch hiebe! (S. 5f.) e. 18. 1456a 7 lesen will: 6(xaiov U
Bericht üb. d. deutscheLitt. d. sokrat. piaton. u. aristot. Philosophie 188ß, 1887. 295
gödie voü der zusammengesetzten (TTöTiXc-j'txsvrj) dadurch unterschie-
den wird, dass diese eine Peripetie oder Anagnorisis hat, jene nicht,
so zeigt Verf. überzeugend (S. 8 ff.), dass dieser Unterschied ledig-
lich die Form betrifft, in welcher der tragische Schicksalswechsel
sich vollzieht, nicht diesen selbst seinem Inhalt nach: wir haben
eine Peripetie, wenn die Handlung selbst, eine Anagnorisis, wenn
die Stellung der handelnden Personen „ überraschend und doch
folgerichtig in ihr Gegentheil umschlägt". Das xot&a-sp sipr^xai 1452
a23 erklärt H. S. 13, indem er xocJ}' airip (oder o-sp liest): „wo-
nach sie auch ihren Namen hat". Mir ist diese Erklärung, auch
abgesehen davon, dass sie ein xotl vor eipr^-rxi voraussetzen würde,
dem aristotelischen Sprachgebrauch gegenüber bedenklich ; und
wenn mau nicht annehmen will, es habe sich im vorhergehenden
schon eine in unserem Text ausgefallene Erwähnung der Peripetie
gefunden, möchte ich eher glauben, das xctiya'-sp slpr^xott sei eine
vom Rand in den Text gekommene Erläuterung des (u3-£p Xs^ofjisv.
Nicht mit derselben Sicherheit will sich Verf. 3) S. 15 ff. über die
Bedeutung der Unterscheidung zwischen der ethischen und der pa-
thetischen Dichtung aussprechen ; entscheidet sich aber doch schliess-
lich bestimmt genug für die Annahme: eine Tragödie sei pathe-
tisch, wenn der Held der angegriffene und getriebene Theil sei,
unfreiwillig und gebunden handle, ethisch, wenn derselbe der an-
greifende und treibende sei und sich in voller Freiwilligkeit be-
finde. Mir scheint diese Bestimmung auf das Beispiel der Ilias
und der Odyssee, von denen jene Poet. 24. 1459 b 14 als pathe-
tisch, diese als ethisch bezeichnet wird, nicht recht zuzutreffen,
und ich möchte den Unterschied der beiden Gattungen eher darin
suchen, dass es in der pathetischen Dichtung die tragischen Schick-
sale der Helden sind, welche den Mittelpunkt der Handlung bil-
xal ~p(x-({j^o[aw oXr^v xal ttjv aütTjv X^yetv o'jo' Iv law -ctp [j.'j9iu u. s. w., und
diess erklärt: von einer einheitlich gefügten, kunstgerechten Tragödie zu
sprechen sei mau nur dann berechtigt, wenn die XÜ3ts aus der Seat; nach
Wahrscheinlichkeit oder Nothwendigkeit hervorgehe, so sehe ich nicht, wie
die Worte, auch nach seiner Emendation, diesen Sinn haben könnten. Ich
halte aber auch keine weitere Textesänderung für nöthig als die ganz
leichte: o'joevl w; statt des überlieferten o-jSev h(ui.
20*
296
E. Zeller,
den und unsere Theilnahme vorzugsweise erwecken , in der ethi-
schen die im Verlauf der Begebenheiten sich äussernden Charak-
terzüge ; von der letzteren Art werden aber im allgemeinen die
Stücke mit glücklichem Ausgang sein. Zu dieser Auffassung schei-
nen mir sowohl die Erklärungen c. 11. 1452 b 11. c. 15. c. 6 1450 b 8
als das Beispiel der Ilias und der Odyssee zu passen, von denen
die eine die ar^vi; ouXoixeyr, , die andere den d'vr^o TcoXuTpoiro; zum
Thema hat.
Zu anderen Ansichten gelangt der Verf. von Nr. 2 fast bei
allen den Fragen, in denen er sich mit Heine begegnet. Er be-
streitet zunächst S. 4ff., dass Poet. 18. 1455 b 32 als eine von den
vier Arten der Tragödie die a-X9; einzuschalten sei, und will statt
dessen die Tspa-tuor^c 1456 a 2 alb die vierte Art einstellen; so
r OS
befremdend es auch wäre, wenn die mit r, ixsv . . . r, o; .
begonnene Aufzählung mit einem tö 6s fortgesetzt würde. Mir
scheint dies nicht blos wegen c. 10. c. 13. 1452 b 32. c. 24 Anf. (wo
Vf. S. 29 die Worte, die ihn widerlegen, einfach streicht), sondern
auchdesshalb unmöglich, weil die tpa-ftoÖLa -süXs7ij.£v/j als ihren Gegen-
satz die a-Kr, voraussetzt; dass aber Arist. jener vor dieser den Vorzug
gibt, berechtigt uns nicht zu der Behauptung, er lasse überhaupt
keine einfache Tragödie gelten'). Ebensowenig hat mich Vf. S. 12ff.
überzeugt, dass unter der KSTrXsYjis'vr^ -pa-j-iooia c. 18 etwas anderes
zu verstehen sei als c. 11; S. 19, dass das ava7V(opi5i; öioXou 1459
b 15 über die Odyssee einen, und zwar wohlbegründeten, Tadel
ausspreche; S. 31f. , dass ebd. Z. 16 mit den Worten: Xsqsi xal
oiavoia Travta uiTcpßißÄr^xs Homer der Vorwurf des Uebermasses
gemacht, nicht, wie wir bisher meinten, seine unerreichte Meister-
') K. 18. 1455 b 33 f. möchte [ich vorschlagen: if) fxev äTTÄfj, rj 8i -neTrXey-
p.^v7). So steht die a-nXi] der r.fnXzyi).. voran, wie diess das natürlichste ist
und sonst immer geschieht, und man begreift am besten, wie das Auge eines
Abschreibers von AFIA auf flEllA abirren konnte. 1456 a2f. scheint hinter
dv aSo'j (oder hinter -repaTwos;) irgend etwas ablehnendes gestanden zu haben,
wie etwa: cixe/vd-epov. Denn dafür hielt Arist. die Verwendung des Wunder-
baren nach 1450 b 16 jedenfalls, wenn auch aus 1453 b 8 ff. (wie Verf. S. 10
richtig bemerkt) nicht folgt, dass er sie unbedingt verwarf. — C. 18. 1456alO
könnte das seltsame äei y.poTElaHat möglicherweise aus e'j xExpasyat verschrie-
ben sein.
Bericht üb. d. deutsche Litt, d.sokrat. piaton. ii.aristot. Philosophie 1886, 1887. 297
schaft gerülimt werden solle. Wenn Vf. endlich S. 19ff. die
Unterscheidung der pathetischen und der ethischen Tragödie dahin
tleutet, dass jene auf Rührung ausgehe und sich dazu besonders
auch der oiavoia und der Sentenz bediene, diese mit Vernachlässi-
gung der leidenschaftlichen Erregungen ethisch wohl gestimmte
Charaktere schildere, so hat er sich hiebei zu wenig an die
Fino-erzeige gehalten, welche uns Arist. selbst über die Be-
(leutung gibt, die er mit jenen Ausdrücken in seiner Kunstlehre
verbindet, und er bemüht sich S. 28 vergeblich, die Ilias als pa-
thetisch in diesem Sinn nachzuweisen. Wird vollends S. 28 das
7:ai}r|Xixov dem Ti^oocxtr/^jv gleichgestellt, so steht das Gegentheil mit
klaren Worten in eben dem Abschnitt der Politik, auf den er sich
beruft, VIII, 5. 1340 b 4 vgl. m. 7. 1341 b 34. 1342 b 3. Weiter
kann ich auf den Inhalt dieser Abhandlung, namentlich ihre Aus-
l'ührungen über Homer, hier nicht eingehen. Dagegen möchte ich
zum Schlüsse noch einen frommen Wunsch äussern, zu dem mir
allerdings nicht blos die ebenbesprochenen Abhandlungen Anlass
geben. Nr. 1, 1 lesen wir: „ein wie grosser Unterschied zwischen
<ler modernen und antiken Tragödie besteht'^ Nr. 2,20: „eine wie
wohlgefügte Reihe diese sechs Arten bilden". Diess ist nicht
ileutsch. Man kann wohl sagen: „was für ein grosser Mann",
„welch ein grosser Mann", „wie gross der Mann ist, welcher" u. s. w.;
aber von einem wie grossen Unterschied oder einer wie wohl-
gefügteu Reihe zu reden, sollte man den Tagesblättern überlassen,
!)ei seinen Schülern dagegen eine so sprachwidrige Ausdrucksweise
nicht dulden und ihnen mit dem Beispiel derselben nicht voran-
I gehen.
' Zerbst, M., Ein Vorläufer Lessing's in der Aristotelesinterpretation.
Jena 1887. 54 S. Inauguraldiss.
weist in einer Auseinandersetzung, die sehr viel kürzer sein könnte,
nach, dass Daniel He insius, der berühmte holländische Philolog
1,1580—1655), die aristotelischen Bestimmungen über die tragischen
'und komischen Charaktere (Poet. c. 9), über Mitleid und Furcht
laid über die Katharsis (c. 6. 1449 b 26) in allem wesentlichen
schon ebenso aufgefasst hat, wie später Lessing.
298 ^- Zeller,
Auf die äussere Ausstattung der peripateti sehen Schule
durch die Vermächtnisse ihrer Häupter bezieht sich in dem
grösseren Theil ihres Inhalts die der XXXIX. Versammlung deut-
scher Philologen gewidmete Festschrift von
HuG, A., Zu den Testamenten der griechischen Philosophen. Zürich
1887. 22 S. 4^
Ausser den Testamenten der Peripatetiker — Aristoteles, Theo-
phrast, Strato, Lyko — bespricht diese anziehende und belehrende
Abhandlung (welche leider wegen schwerer Erkrankung ihres Vf.
von seinem Bruder zum Abschluss gebracht werden musste) auch
die zwei andern uns erhalteneu Philosophentestamente, das Plato's
und das Epikur's. Von den vier Abschnitten derselben handelt
der erste (in Betreff Theophrasfs von AVendland, Berl. Philol.
Wochenschr. 1888, S. 488 f. bestritten) über „die Passiva und die
Universalerben"; der zweite über die Testamentsexecutoren; der
dritte über die Vermächtnisse an die Schulen; während der vierte
auf verschiedene in den Testamenten zu Tage kommende indivi-
duelle Züge aufmerksam macht. Hinsichtlich der Frage, welche
für die Geschichte der Philosophie die wichtigste ist, nach der
rechtlichen Form für den gemeinsamen Besitz der Schulen , ent-
scheidet sich H. mit Recht für die Ansicht von Wilamowitz,
für welche namentlich auch Theophrast's Testament spricht, dass
es bei der akademischen und peripatetischen die einer Kultus-
genossenschaft war, bei der epikureischen dagegen, für welche diese
Art von Verein schlecht gepasst hätte, Garten und Haus in das
Eigenthum der Testamentserben übergieugen, aber von ihnen dem
jeweiligen Schulhaupt zur Benützung überlassen werden mussten.
Unger, G. f., Das Sophistengesetz des Demetrios Phalereus (Jahrb.
f. class. Philol. 1887. S. 755—763)
macht wahrscheinlich, dass das Gesetz des Sophokles, w'elches die
Ertheiluug wissenschaftlichen Unterrichts von einer obrigkeitlichen
Erlaubniss abhängig machte und dadurch eine Auswanderung Theo-
phrast's und der übrigen Philosophen aus Athen veranlasste, nicht
unter Demetrius Poliorcetes, sondern während der Staatsverwaltung
üericht lib. d. deutsche Litt, d.sokrat. platon.u.aiistot. Philosophie 188G, 1887. 299
und auf Betrieb des Phalereers, 315 v. Chr., erlassen, und im fol-
genden Jahre, noch vor Xenokrates' Tod, wieder aufgehoben wurde.
Unsicherer scheint mir die Vermuthung, dass sich die Akademiker
bei dieser Veranlassung nach Megara zurückgezogen haben, und
Menedemus aus Eretria während ihres dortigen Aufenthalts der
platonischen Schule vorübergehend angehört habe.
Derselbe Gelehrte gibt im Philologus Bd. XLV (1886) S. 132.
244. 277. 368. 438. 448. 552f. 613. 641 zahlreiche Emendationen
zu Theophrast's Charakteren.
Um zum Schlüsse noch der griechischen Com mentare zu
Aristoteles zu erwähnen, so erschienen von der akademischen Aus-
gabe derselben, deren Einrichtung ebenso, wie ihre musterhafte
Ausführung bekannt ist, 1887: Vol. IV a: Porphyr's Isagoge und
Commentar zu den Kategorieen, herausgeg. v. A. Busse; XVI a:
Johannes Philoponus zur Physik, v. Hier. Vitelli, 1. Hälfte
(2. H., XVI b, 1888); von dem dazugehörigen Supplementum
Aristotelicum 1886: Vol. Ib: Prisciani Lydi quae extant (die sog.
Metaphrase zu Theophrast und die Solutiones ad Chosroem) v. In-
gram Bywater; 1887: Vol. II a: Alexander Aphrodisiensis De
anima v. Ivo Bruns, welcher auch unserer Zeitschrift einen ein-
gehenderen Bericht über diese Commentare in Aussicht gestellt hat.
Kramer's Ausgabe anonymer Schollen zur nikomachischen Ethik
(Anecd. Paris. I, 81ff.) berichtigt G. Heylbut Rhein. Mus. XLI
(1886) S. 304—307.
vn.
Jaliresbericlit über die neuere PMlosopMe bis
aiif Kant für 1887
Von
Benno !Erdniann in ßreslau ')
Zweiter Teil
Francis Bacon bis Leibniz
U
M
Lord Bacon
Rapp, Prof. William Shakespeare oder Francis Bacon? (Beilage
zum Programm des Kgl. Realgymnasiums u. s. w. zu Ulm)
19 S. 4".
Ein sorgfältiger Bericht über die Scheingrüude, welche kri-
tischer Unverstand seit vierzig Jahren für die Bacon -Hypothese
ins Feld führt. Ein zweiter polemischer Teil soll folgen. Aber
für die Orientirung der Kundigen genügt diese Abhandlung vollauf.
Die ganze Frage gehört zu jenen, die nur durch Schweigen, nicht
durch Reden zu erledigen sind.
Jungius
Wohlwill, Em. Joachim Jungius und die Erneuerung atomistischer
Lehren im 17. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte
der Naturwissenschaft in Hamburg. 66 S., 4°, Hamburg.
S. A. aus Bd. X der Abh. aus dem Gebiet der Naturwiss.
(Festschrift).
^) Den Bericht über die Abhandlungen von Gaul, Schneider, Nenitescu
und Bergmann, S. 311— 315, hat J. Freudenthal freundlichst übernommen.
Jahresbericht über die neuere Philosophie bis auf Kant für 1887. 301
Die Abhandlung legt wiederum Zeugniss ab von dem Geiste
eindringender und besonnener historischer Forschung, der die Ar-
beiten E. Wohlwills auszeichnet.
Die Geschichte der atomistischen Hypothesen im sechzehnten
und siebzehnten Jahrhundert und ihres Kampfes mit der Aristote-
lischen Naturauffassung, für deren Erforschung A. Lange durch
seine Charakteristik Gassends einen nachhaltig wirkenden Anstoss
gegeben hat, ist neuerdings durch die Abhandlungen von Lasswitz
über Giordano Bruno (1884), Dan. Sennert und seine Geistesver-
wandten (1879), über Descartes (1883), und über den Verfall der
kinetischen Atomistik im siebzehnten Jahrhundert (1874) auf
dankenswerte Weise bereichert worden. Umfassenderes hat der-
selbe Forscher in Aussicht gestellt. Die Untersuchung Wohlwills
ergibt, dass wertvolle Glieder dieser Entwicklung nicht bloss in
iler Italienischen Naturphilosophie, die Lasswitz bisher zu aus-
schliesslich vom Standpunkt des Physikers beurteilt hat, noch
unaufgedeckt ruhen.
Auch Jungius gehört nach den eingehenden Nachweisen Wohl-
wills — die Arbeiten von Guhrauer und Ave-Lallemant wussten
darüber nichts zu berichten — zu den Erneuerern atomistischer
Doktrinen. Es geht dies nicht bloss aus den 1662 veröffentlichten
Doxoscopiae physicae minores hervor, sondern vor allem aus den
beiden bisher ununtersucht gebliebenen Disputationen aus dem
Jahre 1642, die Wohlwill bruchstückweise mitteilt. Mancherlei
Ergänzungen, schon seit dem Jahre 1622, bietet der Hamburger
Xachlass von Jungius, z. B. die Hefte der Lectiones pkysicae von
etwa 1630, die den Grundstock der Doxoscopiae bilden. Auch bei
Benutzung dieser Quellen hat Wohlwill überall auf die Entwick-
lungsfolge der Gedanken geachtet.
Es ist eine Werkstätte gründlicher, und von wolerwogeneu
allgemeinen Gedanken geleiteter Arbeit an der Hypothese „syndia-
kritischer" Verwandlung, wie Jungius im Gegensatz zur „actupo-
tentialen" des Aristoteles sagt, in die uns Wohlwill hineinführt.
Eine treffende Aufschrift für dieselbe ist die von Jungius oft er-
wähnte „Hypothese der Hypothesen": „Die Natur hat demnach nicht
>o viel Fähigkeiten, Kräfte, Qualitäten den Dingen eingegeben, als
302 Benno Erdmann,
sie Wirkungen in ihnen hat hervorrufen wollen, sondern bestimmte
Gesetze hat sie den Grundbestandteilen (Principien) eingegeben,
nach denen ein Grundbestandteil mit dem andern zusammengesetzt,
zusammengemischt, von den andern unterstützt, gehindert zur Ab-
weichung gebracht wird." Dieselbe charakterisirt ebenso wol
luntnus' Stellung gegen die scholastische Qualitätentheorie wie zu
den Principien der Naturforschung , für welche die mechanischen
Untersuchungen des siebzehnten Jahrhunderts den festen Grund ge-
legt haben. Eingehend und häufig hat sich Jungius nach den
Nachweisen Wohlwills mit Sennert auseinandergesetzt. Doch ist
es nicht wahrscheinlich, dass er erst durch diesen auf den Weg
seines Atomismus geführt worden ist, zu dem es ja damals Stege
genug gab. Auch eine Jungius' Entwicklung bestimmende Einwir-
kung Bacons wird man trotz Guhrauers gegenteiliger Behauptung
zweifelhaft finden, sobald man gebührend beachtet, wie laugsam
die Anregungen desselben nach Deutschland übertragen worden
sind. Denn schon die von Wohlwill mitgeteilten Proben metho-
dologischer Betrachtungen aus den Jahren 1622—1629 atmen den
Geist induktiver Forschung, und zwar nicht jenen Baconischen
geistreicher Reflexion vom grünen Tisch, sondern den gehaltvolleren,
der aus selbständiger Einsicht in die damals neugewonnenen phy-
sikalischen Methoden und Ergebnisse stammt. Sollten doch die
„Antidoxa'-' , als deren Bausteine sie gedacht wurden, zugleich
eine Isagoge physica werden. Vielfach dagegen finden sich, wie
zu erwarten, nominalistisch-scholastische Erinnerungen.
Andererseits haben Jungius' Gedanken vielleicht mehr und in
grössere Ferne gewirkt, als sich heut feststellen lässt. Wohlwill
ist allerdings mit Recht bedenklich, einen Einfluss derselben auf
die Lehren Boyles sicher anzunehmen, obgleich dem letzteren seit
1638 durch S. Hartlibs Vermittlung „gedruckte wie ungedruckte
Schriften" von Jungius zu Gesicht gekommen waren, obgleich
ferner die oben citirten Disputationen „im wesentlichen schon die
Gedanken enthalten, um derentwillen Robert Boyles 1661 erschie-
nener Sceptical chemist als für die Chemie epochemachend be-
trachtet wird". Gedanken wachsen nicht durch Uebertragung.
Aber das Verdienst, solche Gedanken vor Boyle bereits ausgespro-
Jahresbericht über die neuere Philosophie bis auf Kant für 1887. 303
clien zu haben, bleibt für Juugius gesichert. Wenn ferner, wie
ich nicht bezweifle, Wohlwills Urteil richtig ist, dass es „geradezu
ein Ringen nach dem Kraftbegriff ist, was sich uns in den zer-
I streuten Betrachtungen" des Capitels de actione elaborativa in den
\ Doa;oscopiae „veranschaulicht", so können auch hier Keime für
Leibniz' Entwicklung des Kraftbegriffs liegen; denn solche Keime
sind gewiss nicht bloss an einem Orte zu suchen. Allerdings wird
dies eine Möglichkeit bleiben, die nur dazu dienen kann, gegen-
über den mancherlei bisher versuchten einseitigen Anknüpfungen
dieses Leibnizischen Grundgedankens vorsichtig zu machen. Denn
Leibniz, der schon 1671 Jungius hochschätzen gelernt hatte (Op.
ed. Dutens V 540), erwähnt, so weit ich gesehen habe, eine solche
Beziehung nirgends. Auf andere Aehnlichkeiteu Leibnizischer Ge-
danken mit denen von Jungius, die allerdings sehr der Kontrolle
bedürfen, hat Guhrauer schon in seinem ersten Schriftchen über
Jungius (de J. J. commentatio histor. -litter. 1846) hingewiesen.
Von der Ueberschätzung des vielseitigen Mannes, zu der sich
Guhrauer und neuerdings Ave-Lallemant haben hinreissen lassen,
bleibt Wohlwill durchaus frei.
Von Einzelnem sei hier erwähnt, dass Wohlwill nachweist,
das 1635 veröffentlichte Auctarium Epitomes Pliysici dar. ntque
experient. viri Dr. Sennerti . . . ex aliis ejusdem libris excerptum
-sei von Jungius zusammengestellt oder veranlasst.
Jungius' seltene Logik, die Logica Ilamburgensis, hoc est, In-
stitutio?ies logicae i7i usum scholae Hamburg., conscriptae et sex
libris comprehensae (Hamburg 1638; ed. II recensente Jo. Vagetio
ib. 1681) habe ich so wenig gesehen, wie das Compendium Logicae
Hamb. in usum scholae Johan. editum, das Hamburg 1641 und 1657
erschienen sein, und Jungius zum Verfasser haben soll. Guhrauers
Mitteilungen aus der ersteren ermöglichen trotz ihrer Breite so
wenig eine Schätzung des Wertes derselben, als Leibniz' gelegent-
liche Anerkennung. Ein beträchtlicher Gewinn an sachlichen Ein-
sichten wird sich allerdings auch bei kritischer Untersuchung kaum
zu Tage fördern lassen. Wollte Jungius doch selbst, nach dem
Zeugnis eines Schülers, dieselbe „usibus scholae praecipue Hambur-
ffensis, ex mente non sua solum, sed Scholarcharum efiam, a sua
304 Benno Erdraann.
saepe nuviero multum abeunte, conceptam", nicht „pi'o mere sua
agnoscere^. Ihre historische Wirksamkeit scheint überdies nur
ganz gering gewesen zu sein.
Hobbes
LoEWE, Jon. Hnr. John Bramhall, Bischof von Derry, und sein
Verhältniss zu Thomas Hobbes. (Abhandl. der K. Böhm.
Gesellsch. d. Wissenschaften VII F. 1 Bd.) 16 S. 4".
Die Episode in Hobbes' litterarischer Tätigkeit, die sich am
den Namen des Bischofs von Londonderry knüpft, wird nur wenigen
deutschen Lesern des Archivs unmittelbar gegenwärtig sein. Hobbes
ist derjenige unter -den englichen Philosophen von Lord Bacon bis
Hume, dem bei uns die geringste Arbeit zu Teil wird. Mit gründ-
licher Kenntniss und verständnisvollem Interesse ist in neuerer Zeit
bei uns nur F. Tönnies auf seine Lehre eingegangen.
Speziell Hobbes' Erkenutnislehre bedarf jedoch einer eindrin-
genden Würdigung ihres Lehrbestandes wie ihres geschichtlichen
Einflusses.
Die Abhandlung von Loewe bringt zunächst eine Skizze Bram-
halls nach dem ersten Baude der Ausgabe seiner Werke: The works
of . . . John Bramhall, Oxford 1842, 4 vol., die hier genannt
werde, weil sie in unsern Darstellungen der Geschichte der neueren
Philosophie nicht erwähnt wird. Sie enthält sodann einen ümriss
der Lehren von Hobbes mit besonderer Berücksichtigung der Vor-
aussetzungen und Ausführungen seines Determinismus, der die
Streitschriften Bramhalls und Hobbes' Verteidigungen zur Folge hatte.
Sehr deutlich tritt dabei die Abneigung und Geringschätzung
zu Tage, die Loewe Hobbes gegenüber empfindet. Seine Lehre
gleicht ihm „einem seichten Bach, dessen Wasser nur den Boden
bedeckt". Auf die Arbeiten entgegengesetzter Wertschätzung von
Robertson und Tönnies hat Loewe keine Rücksicht genommen.
O"
Comenius
MüLLEK, AV^Ai.T. Comenius: Ein Systematiker in der Pädagogik.
Eine philosophisch-historische Untersuchung. 8°. 50 S. Dres-
den, Bleyl u. Kämmerer.
Jahresbericht über die neuere Philosophie bis auf Kant für 1887. 305
Eine nach den systematischen Gesichtspunkten der Herbartischen
Schule geordnete Zusammenstellung der Andeutungen und Aus-
führungen Comenius' zur allgemeinen Pädagogik. Neues zur Ge-
schichte der philosophischen Probleme enthält die Arbeit nicht.
Den historischen Beziehungen der Elemente des „Comenianischen
>eii Systems" ist der Verf. nicht nachgegangen. Die kritische Wür-
•h digung einer Reihe von Urteilen über Comenius im Anhang (S. 38
bis 50) bringt manches weniger bekannte Material.
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Lew
11.
De la Forge
Seyffakth, H. Louis de la Forge und seine Stellung im Occasio-
nalismus. I. D. 59 S. Gotha, Emil Behrend.
Die Analyse, welche der Verf. den breiten Ausführungen De
la Forges zu Teil werden lässt, ergibt eine durchsichtigere Gedanken-
folge, als aus den früheren Darstellungen, selbst aus dem umfang-
reicheren Auszug bei Damiron II 24—60 zu gewinnen ist. Unter
dem Einfluss des Lichts, das die jüngste Diskussion der Lehre
Geulincx', vor allem durch die Untersuchungen Zellers, über den
Occasionalismus verbreitet hat, kommt der Verf. zu dem Resultat,
dass De la Forge das occasionalistische Problem in seiner kosmo-
logischen Allgemeinheit zum Ausgangspunkt nimmt, und hierdurch
Geulincx überlegen ist. Trotzdem bleibt es richtig, De la Forge
dem Descartes näherzustellen als dem zum Mysticismus neigenden
Geulincx.
Dass Bouillers (erst neuerdings, Bd. I S. 55 dieser Zeitschrift
bestrittene) Datirung des sehr seltenen französischen Originals für
1766 (nicht 1761) richtig ist, wird von Seyffarth durch eine Be-
merkung aus J. Gassetius', des Schülers von De la Forge, Schrift
Causarum primarum et secundarum realis operatio (1716) bestätigt.
Die faktische Veröffentlichung hat ihr zufolge Ende 1765 stattge-
funden.
Spinoza
1. Freudenteial, J. Spinoza und die Scholastik (Philosophische
Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-
Jubiläum gewidmet, 8 \ S. 85—138, Leipzig, Fues's Verlag.)
306 Benno Erdmaun,
Ihrem umfangreichsten Teile nach (S. 94—119) ist Freuden-
thals Arbeit eine Untersuchung von Spinozas Cogitata metaphysica,
die als Appendix zu den 1663 veröffentlichten Prinzipien der
Cartesianischen Philosophie erschienen sind. Der Charakter dieser
Cogitata war unaufgeklärt. Joel z. B. hatte in ihnen „Lesefrüchte
aus jüdischen Philosophen" gesehen, „dazu verwendet, um inner-
halb des Cartesianischen Systems solche Fragen zu lösen, die bei
Cartesius entweder gar nicht oder doch nur kurz berührt sind".
K. Fischer hatte in ausführlicher Darstellung erklärt, er sehe „kein
anderes Motiv" für die Abfassung und Veröffentlichung derselben:
„sie sollten die Differenzen (derSpinozistischen und der Cartesianischen i
Lehre), auf welche die Vorrede (zu den Principien) hingewiesen
hatte, verdeutlichen und von Seiten des Autors hervortreten lassen".
Freudenthal weist fürs erste überzeugend nach, dass beide
Auffassungen falsch sind.
Er zeigt gegen K. Fischer, dass die Cogitata ebenso wie der
zweite Teil der Prinzipien für jenen Schüler verfasst sind, den er
in seine eigenen Gedanken eiuzuweihen nicht fiir würdig hielt.
Er deckt sodann auf, dass von den Sätzen der Cogitata die K. Fischer
als echt Spinozistisch in Anspruch genommen hat, einzelne auch in
den Principia sich finden, andere philosophisches Gemeingut bilden,
dessen Ursprung bis tief in die griechische Philosophie zurückgeht,
noch andere Cartesianisches Eigentum sind, dass endlich eine Reihe
von Erörterungen in den Cogitata vorliegt, die den Grundlagen des
Spinozismus durchaus widersprechen. Gegen Joel hebt er hervor,
dass zwar einige Lehrmeinungen der Cogitata auf die Anregungen
jüdischer Religionsphilosophen zurückzuführen sein mögen, dass
jedoch „der Gesammtinhalt des ersten und vieles aus dem zweiten
Buche keinerlei Verwandtschaft mit jener Philosophie zeigt".
Zur Aufhellung des dunklen Charakters der kleinen Schrift
betritt Freudenthal sodann einen Weg, den einzuschlagen nieman-
dem vor ihm in die Gedanken gekommen ist, so naheliegend er
jetzt, wo auf ihn hingewiesen ist, jedem Kundigen erscheinen wird.
Und es gelingt Freudenthal, ausgestattet mit einer gründlichen
Kenntniss der einschlägigen Litteratur. die Streitfrage definitiv zu
erledigen.
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«in
Jahresbericht über die neuere Philosophie bis auf Kant für 1887. 307
Alle Rätsel nämlich der Schrift, welche die bisherigen Inter-
preten verwirrten, werden lösbar, sobald man im Speziellen prüft,
wie sich ihr Inhalt und ihre Anordnung, das was sie ausführt, und
das, was sie ausser Acht lassen zu wollen erklärt, zu den meta-
physischen Lehrbüchern der christlichen Scholastiker verhält, die
damals hauptsächlich in Gebrauch waren. Die Uebereinstimmung
liegt nach den fortlaufenden Belegen Freudenthals aus Suarez,
Heerebord, Burgersdijck, Martini, Combachino, Scheibler u. a. auf
der Hand. Es ergibt sich daraus, dass die Cogitata „eine vom
Standpunkt des Cartesianismus entworfene, in den Formen der
jüngeren Scholastik sich haltende gedrängte Darstellung von Haupt-
punkten der Metaphysik" sind.
Zu untersuchen bleibt, da Freudenthal, durch die Gelegenheit
der Veröifentlichung beschränkt, nur die zahlreichen Belegstelleu
anführt, ob etwa dieser Uebereinstimmung eine speziellere Abhän-
gigkeit von einem oder wenigen dieser Lehrbücher zu Grunde liegt,
was vielleicht für wahrscheinlich zu halten ist.
Noch mehr ist auf solche Ergänzung der zweite Teil der Ab-
handlung (S. 119—135) angelegt, in dem Fr. die Abhängigkeit
Spinozas von der Scholastik auch an den grundlegenden Defini-
tionen und Axiomen des ersten und zweiten Buchs sowie einzelnen.
Lehrsätzen derselben zu beweisen unternimmt. Der Beweis selbst
-ist jedoch auch hier vollständig erbracht. Für alles Weitere er-
halten wir die erfreuliche Hoffnung, dass es „vielleicht in nicht zu
ferner Zeit möglich sein wird", diese Beobachtungen „in grösserem
und strengerem Zusammenhange vorzulegen".
Die Bedeutung der Abhandlung reicht jedoch über die Grenzen
ihres speziellen Gegenstandes hinaus. Freudenthal deutet in der
Einleitung (S. 85—89) an , wie durchaus die Bedingungen , unter
denen Spinoza stand, auch für Bacon und Descartes, Geulincx und
Malebranche, Leibniz und Wolff gelten. Sie treffen nicht anders
auch Herbert von Cherbury und Hobbes. Sie bleiben, wie im
ersten Teil dieses Jahresberichts anzudeuten war, selbst für Locke
noch mehrfach bestehen. In der Tat: „die Kette der scholasti-
schen Tradition ist nie gerissen". Und es ist zu erwarten, dass
diese allgemeine Einsicht, bald auch dem historischen Verstäudniss
308 Benno Erdmanu,
jener auderen Lehrmeinungen des siebzehnten und achtzehutem
Jahrhunderts dienstbar gemacht wird.
Schliesslich sei erwähnt, dass dieser allgemeine Gedanke, sO'
wenig feste Wurzeln er bisher geschlagen hat, doch nicht neu ist,
eine Tatsache, die das Verdienst Freudenthals natürlich nicht
schmälert. Baumann hat mit ähnlichem historischen Takt seinei
Darstellung der Lehren von Raum, Zeit und Mathematik durcht
Suarez eingeleitet. Schon er erklärt in gleicliem Sinn: „man würdei
irre gehen, wenn man die Macht der pliilisophischen Tradition,
welche die neueren Philosophen hauptsächlich durch Suarez über-
kamen, für nichts anschlagen oder nur als eine Veranlassung zum
Widerspruch schätzen wollte: die Scholastik bot eine Fülle posi-
tiver Anregungen. . . Die neuen Lehren sind so wenig neu in
dem Sinne, dass sie einen Anfang machten, ohne irgend welche
Ankoüpfung in Früherem zu haben, dass sie vielmehr zuweilen
wie einfache Abzweigungen aus der Scholastik aussehen." Und er
hat diese allgemeinen Bemerkungen durch lehrreiche Beispiele aus
der Leibnizischen und der Cartesianischen Lehre gestützt. Mehr
noch endlich hat Gierke getan. Mit staunenswerter Belesenheit
hat er im Althusius wie im Genossenschaftsrecht die Wurzeln der
rechtsphilosophischen Gedanken, die wir am Beginn der neueren]
Philosophie vorfinden, durch die Entwicklung des Mittelalters hin-
durch verfolgt, überall aufweisend, wie auch hier das Band derj
Tradition die Geister an einander reiht.
2. BrssE L. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte Spinoza's. L Diej
Reihenfolge seiner Schriften. (Zeitschrift für Philos. und]
philos. Kritik, her. von Krohn und Falckenberg N. F. XC.
Halle, Pfeffer, S. 50—88)
Ueber der Abhandlung Busses, dessen Erstlingsarbeiten zuj
Spinoza im vorigen Jahresbericht besprochen worden sind, hat eir
Unstern gewaltet. Wesentlich neu in ilir ist der Versuch, die Ab-i
fassungszeit der Cogitata metaphysica in die Zeit um 1656 — 1660]
hinaufzurücken. Busse hat jedoch die kurz vor der seinen er-j
schienene Arbeit Freudenthals nicht gekannt. Seine Auffassung der
Cogitata (S. 50-72), die wesentlich von K. Fischer beeinlUisst ist,!
Jahresbericht über die neuere Philosophie bis auf Kant für 1887. 309
verrät alle die Unklarheit, die jener Anhang zu den Principia
philosophiae Cartesianae bisher hervorgerufen hat. Sie war deshalb
bei ihrer Veröffentlichung bereits weit überholt.
Aber auch die anderen von Busse für seine frühe Datirung
beigebracliten Argumente sind wenig überzeugend. Der künstliche
Beweis, dass Spinoza „Hauslehrer" bei den Eltern Albert Burghs
gewesen sei (S. 60—64), beruht auf einer ganz unsicheren Ver-
mutung. Die Schlüsse ferner aus Colerus' Angabe, das Spinoza
nach dem Bannfluch „vouloit d'ailleurs poursuivre ses etudes et
ses meditations Physiques" auf die Beschäftigung mit der Car-
tesianischen Physik, und damit auf die Ausarbeitung des zweiten
Abschnitts der Principia, sind in ihrem ersten Teil nur durch einen
Sprung zu gewinnen, in ihrem zweiten gänzlich unsicher. Die Be-
meikung über Spinozas Citat Heerebords beweist ebenfalls nichts.
Hinsichtlich der Abfassung der Ethik kommt Busse so wenig
zu einem klaren Ergebniss, wie seine Vorgänger,
Busses übrigens scharfsinnige, nur durch die Fülle der Polemik
etwas undurchsichtige Abhandlung, die sich auf die Reihenfolge
der Schriften Spinozas beschränkt, will Beiträge liefern zu einem
Werk, „das es unternähme, die Weltanschauung Spinozas genetisch
darzustellen". Ein solcher Versuch fehlt trotz der trefflichen Vor-
arbeiten, die seit der Entdeckung des tractatus brevis erschienen
sind, in der Tat. Die methodologischen Principien für denselben,
die Busse andeutet, bedürfen jedoch der Ergänzung. Will jemand
„die Weltanschauung eines jeden Stadiums in Spinozas Entwick-
lung zusammenfassend darstellen", „die Motive der Weiterentwick-
lung, die Widersprüche und ungelösten Probleme darin aufdecken",
und so die folgenden Stufen entwickeln, so wird er nicht der Mei-
nung sein dürfen, „dass so lange und so weit man in dem System
selbst Gründe für die weitere Entwicklung finden kann, man nicht
gut tut, immer sogleich fremden Einfluss heranzuziehen", dass man
.j-j „erst wo diese fehlen nach fremdem Einfluss wird fragen können
und müssen". Es wird vielmehr notwendig sein, nach der gründ-
lichen Erkenntnis des Lehrbestandes der einzelnen Schriften und
der sicheren äusseren Daten ihrer Zeitfolge, sich, gestützt auf die
allgemeine Lage der Probleme der Zeit und die Andeutungen des
Archiv f. Oescliichte der Pliilosopliie. II. "■'
ä
n
310 Benno Erdmaiin.
Philosophen sowie die sorgfältig geprüften Notizen der Biographen
u. s. w.. eine nicht minder gründliche Kenntniss der einzelwissen-
schaftlichen Forschungen und philosophischen Lehrmeinungen an-
zueignen, die als Fermente der Entwicklung in Frage kommen
können. AVer so ausgerüstet die Konstruktion der Entwicklung;
beginnt, wird daran festhalten müssen, dass fremdes Denken für
das eigene nur befruchtend wirkt, wenn dieses in selbständiger Ent-
wicklung hinreichend gereift ist, die Probleme, die jenes zuführt,
sich zu assimiliren, wenn es also in jenen durch eigenes Bedürfnisi
geweckte Fragen wiedererkennt. Er wird also gewiss nicht immeri
sogleich an fremden Einflass denken. Er wird solchen sogar of
abzulehnen Anlass finden, wenn er beachtet, wie die Notwendig-
keit des Denkens von verwandten Voraussetzungen zu ähnlichen
Ergebnissen führt, wie solche Voraussetzungen ferner aus der in-
tellektuellen, moralischen, religiösen, sozialen und politischen
l)ilduug der Zeit vielen gleichzeitig und unabhängig von einander
zufliessen. Je grössere geistige Kraft ein Denker hat. Um so mehr
wird das Beste, was er besitzt, sein eigen sein. Mit skeptischer
Vorsicht aber gehört es sich den Gründen der Fortbildung gegen-
über zu stehen, die man in der eigenen Entwicklung des Philoso-
phen finden kann. Die Gedanken eines Philosophen werden in
dem Nachdenken seiner Interpreten ja um so biegsamer, je reichere
historische Einsicht und je grössere dialektische Gewandtheit dem
letzteren eigen ist. Die Geschichtskonstruktionen Hegels und seinei
Nachfolger auf historischem Gebiet haben deutlich und unerfreu-
lich genug gezeigt, was alles auf solchem \Vege gefunden werden
kann. Der historische Zufall spielt überdies auch hier eine,
wenngleich bescheidene Rolle. Auch Spinoza sind, ähnlich wie
Malebranche, Descartes' Schriften nach Colerus' Bericht „iri die
Hände gefallen". Nur ist die Bedeutung dieser Zufälle gering,
weil sie keine AMrkung ausüben, wo die erwähnten Vorbedingungen
fehlen. Endlich wird man bei solcher Arbeit der überall sich auf-
drängenden Versuchung widerstehen müssen, diese Entwicklung in
ihren psychologischen Einzelheiten konstruiren zu wollen. Es ist
eine meist unbewusst verlaufende Arbeit, die in solchen Fällen der
Abhängigkeit vor sich gegangen ist. Schon deshalb ist es vergeh-
Jahresbericht über die neuere Philosophie bis auf Kant für 1887. 311
lieh, die Fäden der Anknüpfung vollständig entwirren und einzeln
aufspannen zu wollen, ganz abgesehen davon, wie wenig Hilfe uns
die Bruchteile der systematischen Verknüpfung der Gedanken in
den Schriften eines Philosophen direktes Material für ihren Ur-
sprung an die Hand geben. Zeller hat mit treffenden Worten in
der einleitenden Abhandlung zu dieser Zeitschrift (I 7) auf solche
Gefahren hingewiesen. Auch Busse hat sich jener Versuchung in
seiner Diskussion der Cogitata nicht überall erwehrt.
3. Gaul, K. Die Staatstheorie von Hobbes und Spinoza nach
ihren Schriften Leviathan und tractatus politicus verglichen.
(Beilage zum Jahresbericht der Grossherz. Realschule zu
Alsfeld.)
Über das Verhältnis der Staatslehre Spinoza's zu der Hobbes'
sind mehrere zum Teil gründliche Abhandlungen von Sigwart,
Hartenstein, Dessauer und Gaspary geschrieben worden. Ausser-
dem ist in zahlreichen Darstellungen der Geschichte der Philoso-
phie und des Staatsrechtes auf dasselbe hingewiesen worden. Der
Verf. der vorliegenden Schrift geht in keinem Punkte über seine Vor-
gänger hinaus; ja er bleibt schon darum hinter ihnen zurück, weil
er nicht alle in Betracht kommenden Schriften der beiden Denker
berücksichtigt, sondern sich auf den Leviathan und den Tractatus poli-
ticus beschränkt. Man kann auch nicht sagen, dass diese Abhandlung
tiefer in den Geist der besprochenen Lehren einführe oder das
Einzelne genauer erörtere, als es früher geschehen ist : ein wissen-
schaftliches Bedürfnis für die Abfassung dieser Schrift, die nur
Bekanntes zusammenstellt und Wichtiges übergeht, lag also nicht
vor. Zum Erweise des letzten Punktes sei darauf hingewiesen,
dass das Verhältnis des Staates zu Kirche, Religion und W^issen-
Schaft, wie Spinoza und Hobbes es fassen, kaum gestreift wird,
die wichtigsten Differenzp unkte zwischen den beiden Denkern aber
gänzlich übergangen worden sind. — Erwähnenswert sind viel-
^M leicht die Bemerkungen des Verf. (S. 9 und 14) über die richtige
Übersetzung von cioitas, familia, pax und Deus bei Spinoza. Ci-
vitas ist nach Gaul richtiger mit 'Bürgerschaft' als mit 'Staat' zu
übersetzen * famüia eine viel weitere Bedeutung zu geben als
21*
'.«
312
Benno Krdmann,
'Familie", paw im Sinne \ on foechia zu nehmen und Deus rnitj
'Natur" 7Ai übersetzen. Das aber kann nur für wenige Stellen zu-j
gestanden werden; im allgemeinen werden die Worte in gewöhn-
licher Weise übersetzt werden müssen. So ist 7x7a; der aus einemi
foedus hervorgehende oder ohne ein solches vorhandene Zustand
des Friedens. Und trotz der Gleichung Deus sive natura deckt j
sich der spinozistische Begriff Deus sowenig mit 'Natur', wie rnitj
dem in der religiösen und theologischen Tradition gegebenen
Gottesbegriffe. Denn natürlich entspricht Deus bei Spinoza, wiej
in der Scholastik, der natura naturalis, nicht der n. naturata. dem
Inbegriffe aller aus Gott hervorgehenden Dinge, an die wir doch
denken, wenn wir von 'Natur' sprechen. Der Verf. hat eben nicht
bedacht, dass es keinen originellen Denker giebt, der den vorge-
fundenen \Vorten nicht vielfach neue Begriffsmomente eingefügt
hätte.
4. ScHNKiDER, Fk. Die Psychologie des Spinoza unter besonderer
Bezugnahme auf Cartesius (Progr. des Stadt. Evangel. Gym-
nasiums zu AA'aldenburg). 16. S. 4'\
Dasselbe, was von der Abhandlung Gauls gesagt werden
musste, gilt auch von der Schneiders. Sie zeigt in keinem Punkte 1
einen Fortschritt den zahlreichen früheren Bearbeitungen desselben!
Themas gegenüber, ist daher für die Erkenntnis des Spinozistischen
Systems ohne Bedeutung. Auf etwa vier Seiten wird das Verhiiltnisi
von Körper und Geist und die Erkenntnislehre, auf den folgendem
die Affectenlehre — im Ansch'.uss an Spinozas Darstellung in deri
F^thik und mit Berücksichtigung verwandter Cartesianischer Sätze!
entwickelt: schon hieraus ist ersichtlich, dass wir es hier nichi
mit einer gründlichen Darstellung der spinozistischen Psychologie
zu thun haben. Ausserdem sind mancherlei Verstösse nicht ver-'
mieden worden. Es wird nicht bedacht, dass Descartes und Spinozaj
oft aus einer gemeinsamen Quelle geschöpft haben: blosse Aehn^
lichkeit der Worte gilt dem Verf. bisweilen für Verwandtschaft der
(iedanken: das Eigentümliche der Spinozistischen Lehre im Gegen-
satz zu modernen psychologischen und ethischen Anschauungen
wird selten hervorgehoben. Und wo dies geschieht, zeigen siclij
Jaliresbeiicht über die neuere Philosophie bis auf Kaut für 1887. 313
hedenkliche Voraussetzungen. So Avird S. 7 gegen Spinoza eine
sehr disputable Lehre einiger neueren Psychologen als unzweifel-
hafte Wahrheit geltend gemacht. „Die Begierde, so heisst es da-
selbst, ist die gemeinsame Grundlage, auf welcher die Freude und
die Traurigkeit entstehen kann; das Begehren ist . . . allgemeines
Lebensprincip." S. 8 heisst es: Keine Freude ist bei vernünftigen
Menschen denkbar, ohne von der Vorstellung der äusseren Ursache
begleitet zu sein — als ob es kein Lebensgefühl, keine Selbstliebe
gäbe, kein aus dem Inneren selbst hervorgehendes Gefühl der Lust
und der Freude. S. 8 und 14 wird das i)er accidens in der eth, IJI
pr. 15 mit „durch einen Zufall" übersetzt, während es im Gegen-
satz zu per se gesagt ist, also die „nicht wesentliche, indirekte Ur-
sache" bezeichnet, wie Camerer (die Lehre Spinozas S. 185) über-
setzt hat. Falsch wird S. 10 consensus morsus mit „Gewissens-
bisse" übersetzt. Das Wort ist von Spinoza vielleicht schlecht
gewählt, es bezeichnet aber nur „nagenden Aerger", wie ebenfalls
schon Camerer richtig erkannt hat (S. 193). Wenn ferner der Verf.
S. 8 tadelnd hervorhebt, dass Sp. den Begriff der Vereinigung bei der
[Erklärung der Liebe hätte verwerten müssen, so hätte hinzugefügt
werden sollen, dass Spinoza diese Vereinigung als notwendige Folge-
erscheinung der Liebe sehr wohl kennt (S. eth. III pr. 13 schol.);
die Erklärung zu affect. defin. 6 weicht nur scheinbar ab.
5. Nen-itescu, Jüan. Die Affectenlehre Spinozas. 1. D. Leipzig
130 S. 8 ".
Ausführlicher und eingehender als Schneider erörtert Nenitescu
die Affectenlehre Spinozas — keineswegs aber gründlicher. Im
Gegenteil. Die vorliegende Schrift giebt — soweit Ref. sie kennen
gelernt hat — keine neuen Aufschlüsse über Spinozas Lehre; sie
lässt richtige Erklärungen der Vorgänger unbeachtet; sie führt den
Leser durch zahlreiche Missverständnisse spinozistischer Gedanken
irre. Hierbei sollen die vielen sprachlichen Wunderlichkeiten dem
Verfasser, dessen Muttersprache nicht die deutsche ist, nicht zum
Vorwurf gemacht werden.
Selten hat der Verf. auf die Beziehungen Rücksicht genommen,
die zwischen Spinoza und seinen Vorgängern bestehen. Descartes'
3^4 Benno Erd mann,
Lehre wird allerdings bisweilen zur Vergleichung benutzt; doch ist
das von Anderen und oft in viel gründlicherer Weise geschehen.
Dass auch Hobbes' Affectenlehre nicht ohne tiefgehende Einwirkung
auf Spinoza geblieben ist, scheint dem Verf. — wie anderen Ge-
lehrten — gänzlich entgangen zu sein. Man vergleiche aber mit be-
kannten Sätzen Spinozas Hobbes Lehre von den Grundaffecten (opp.
lat. ed. Molesworth I p. 334), die Erklärungen zahlreicher Affecte,
wie der Liebe und des Hasses, der Freude und des Leides, der
Furcht und Hoffnung (wks. IV p. 31 opp. 1 p. 333. H p. 104. HI
p. 41), die Auffassung der Begriffe gut und schlecht (opp. II p. 95f.
III p. 42 f.), der Freiheit u. A. — Wenig entschädigt uns der Verf.
durch seine Bemerkungen über Spinozas Verhältniss zur Kabbala
(S. 26. 42. 105. 120 u. s.). Es ist begreiflich, dass der gelehrte,
aber einseitig gebildete J. Mises an einen Einfluss der kabbalistischen
Mystik auf Spinoza glauben konnte und dass Verf., der wohl kein
selbständiges Urteil über Kabbala hat, diesen Glauben teilt. Weniger
begreiflich ist freilich, dass auch Schaarschmidt, der kundige und
vielseitige Darsteller der spinozistischen Lehre sich durch scheinbare
Verwandtschaft hat täuschen lassen, trotz Spinozas bekannter, der-
ber Zurückweisung solchen Zusammenhanges (tr. theol. pol. IX, 34)
und trotz der offen liegenden Thatsache, dass lediglich die in die
Kabbala eingedrungenen neuplatonischen Gedanken, welche Spinoza
aus anderen Quellen kannte, jenen Schein erzeugt haben.
Ein weiteres Eingehen auf den Inhalt der Schrift erscheint über-
flüssig; doch sei ein Theil der zahlreichen Irrthümer zur Begründung
des ausgesprochenen Tadels hervorgehoben. S. 3 wird das Princip
der Selbsterhaltung schon darin gefunden, dass Gott allein die causa
essendi der Dinge ist. — Das. heisst es „Gott handelt nur aus der
Notwendigkeit seiner Natur, daher ist er eine freie Ursache. Spinoza
neigt also der mechanischen Weltanschauung zu". S. 8: „Arnold
Geulincx hielt an dem Cartesianischen Gedanken fest, dass
„die Menschen Modi Gottes sind". — S. 19 lesen wir: „Spinoza
erkennt eine zweifache psychische Thätigkeit, von denen die eine
sich in den Ideen kundgiebt, unter denen die adäquaten von den
inadäquaten zu unterscheiden sind, die andre sich durch die Affecte
ausdrückt". Die wahre spinozistische Lehre, die u. A. aus eth. H
«
Jahresbericlit über die neuere Philosophie bis auf Kant für 1887. 315
f'k
ii pr. 7, pr. 49 mit dem coroll., 111 pr. 2. 3 sich ergiebt und der ax. 3
des zweiteil Theiles keineswegs widerspriciit, spricht der Verf.
S. 20. 32 und 36 aus. — S. 22 A. .5 wird die Selbsterhaltung
der endlichen Dinge aus dem Begriff der causa sui abgeleitet.
— S. 26 A. 3 behauptet der Verf. „durch den Eintritt in die Zeit-
lichkeit wird die Essenz negirt". — S. 45 lesen wir: „nur ver-
mittelst der Ideen haben die Steigerung und die Niederdrückung
unserer Actions- und Daseinsmacht, wie auch die direkte Bethäti-
gung unseres Beharrungsstrebens einen Inhalt", als ob es nach
Spinoza nicht auch eine Steigerung und Verringerung der Macht
unseres Körpers gäbe. — S. 51 heisst es: „die Begierde ist das
bewusste Verlangen d. h. das rein seelische Correlat des Verlan-
gens" , als ob Spinoza nicht ausdrücklich lehrte (eth. 111 pr. 9
schol.), hie conatus, quum ad mentem solam refertur. voluntas ap-
pellatur. — S. 55 heissen „die traurigen Gefühle der Reue, der
Schande, des Kleinmuts Arten von Hass". — S. 58 wird causa per
accidms (eth. 111 pr. 15) mit zufälliger (statt „indirekter") Ursache
übersetzt. Diese Proben einer nicht eben gründlichen Kenntniss
des vom Verf. behandelten Themas werden wohl geniigen.
J-
6. Bergmann, .1. Spinoza, Vortrag gehalten im Goethehause in
Frankfurt ..... (Philos. Mtsh. XXIII S. 129-164).
Dieser Vortrag zur Feier des Geburtstages Goethes im Goethe-
hause gehalten, daher auch von der Bedeutung, die Spinoza für
Goethe gehabt hat, ausgehend und für die grosse Gemeinde der
Goethefreunde zunächst bestimmt, will nicht streng gelehrter For-
schung dienen, ist aber aus gründlichster Kenntniss der Lehre
Spinozas hervorgegangen und enthält manchen werthvollen Beitrag
zur Würdigung derselben. Jeden Kenner Spinozas wird interessiren,
was Bergmann über den Pantheismus, über den Begriff der Indivi-
dualität und Persönlichkeit, sowie über den Determinismus Spinozas
ausführt. So sei auf diese, von wahrer Verehrung Goethes und
Spinozas eingegebene, in schöner und durchsichtig klarer Sprache
geschriebene Rede an dieser Stelle besonders aufmerksam ge-
macht.
316 Benno Er d mann,
Locke
1. Rakfel, J. Die Voraussetzungen, welche den Empirismus
Locke's, Berkeley's und Hume's zum Idealismus führten.
44 S. 8". L D. Berlin, Mayer und Müller.
Die Arbeit bekundet selbständige Kenntnisnahme der Haupt-
schriften der drei Philosophen und klares Verständnis der behan-
delten Lehren. Neues bietet sie nicht.
2. Martinak, Ed. Zur Logik Locke's. John Locke's Lehre von
den Vorstellungen. 35 S. 8°. Progr. Leoben, Graz, Leusch-
ner und Rubensky.
Eine Charakteristik der logischen Lehren Lockes ist eine dan-
kenswerte Aufgabe; denn dieselben haben für den Empirismus des
siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts typische Bedeutung.
Leicht zu lösen allerdings ist diese Aufgabe nicht. Denn die Ma-
terialien für dieselbe liegen nur zum kleineren Teil in den verein-
zelten kritischen Erörterungen gegen die Schullogik im Essay und
den Briefen an den Bischof von Worcester zu Tage; die meisten
müssen aus den psychologischen und erkenntnistheoretischen Aus-
führungen des Philosophen, besonders aus dem dritten und dem
wichtigen, oft unbillig vernachlässigten vierten Buch des Haupt-
werks ausgeschieden werden. Der historischen Würdigung fehlt
überdies, soweit der Bestand der scholastischen Logik Englands um
die beiden ersten Drittel des 17. Jahrhunderts in Betracht kommt,
vorerst ein fester Untergrund.
Die letzteren Beziehungen sowie diejenigen zur Cartesianischen
Logik und zu den logischen Lehren von Francis Bacon und von
Hobbes, die das Locke Eigentümliche erst deutlich hervortreten
Hesse, hat Martinak nicht in den Bereich seiner Untersuchungen
gezogen. Er beschränkt sich auf eine, übrigens sorgsame und durch-
sichtige Zusammenstellung der Lehren Lockes über ideas, ohne
jedoch die Grenzen des Logischen streng festzuhalten. Neues
kommt dabei nicht eigentlich zu Tage, wennschon die kritischen
Bemerkungen am Schluss der Abhandlung auf manche unver-
kennbare Mängel der Darstellung des Philosophen aufmerksam
machen.
Jahresl«ericlit über die neuere Philosophie bis auf Kant für 1887. 317
3. GwANKscuL, J. Versuch einer zusammenfassenden Darstellung
der Pädagogischen Ansichten J. Locke's in ihrem Zusammen-
hange mit seinem philosophischen System. 84 S. 8". I. D.
Berlin.
Der Verf. hat die pädagogischen Ansichten des Philosophen im
Zusammenhang mit den psychologischen Lehren sowie den ethi-
schen und religiösen Ueberzeugungen desselben sorgsam zusammen-
gestellt. Nur die allerdings nicht seltenen, und für den Ursprung
der pädagogischen Lehrmeinungen Locke's lehrreichen Daten aus
dem Briefwechsel des Philosophen sind unbenutzt geblieben. Neues
zur Geschichte der Philosophie zu gewinnen lag nicht im Plane der
Arbeit.
La Rochefoucauld
ViNTLEK, H. V. Die „Maximen" des Herzogs von La Rochefoucauld.
Eine literarhistorische Skizze. (S. A. aus dem Programm
der K. K. Oberrealschule Innsbruck.) 32 S. 8".
Nach dem eigenen Urteil des Verf. „erhebt" die Abhandlung
„keinen Anspruch darauf, Neues zu bieten". Aber sie bietet, was
sie verspricht, eine aus selbständiger Kenntnisnahme entworfene
Skizze.
Dabei sei erwähnt, dass Larochefoucauld, dieser feinsinnige,
glänzende und nicht einflusslose Vertreter einer rein egoistischen
Auffassung der menschlichen Handlungen, in Darstellungen der Ge-
schichte der neueren Philosophie, wie sie Ueberweg-Heinze und
Falckenberg geben, vielleicht nicht bloss mit einem Citat der ersten
Ausgabe der Reflexions erwähnt werden sollte. Es möchte wol die
reiche Sammlung der Oeuvres de La Rochefoucauld von Gilbert und
Gourdault, 3 vol. Paris 1868 — 83 zu nennen, und wenigstens mit
einem Worte auf die Verschiedenheiten der fünf bei Lebzeiten des
Verf.'s erschienenen Auflagen hinzuweisen sein.
V
^^ Leibniz
Bereits im vorigen Jahresberichte ist als wünschenswert be-
zeichnet worden, dass den historischen Beziehungen Leibnizens zu
seinen Vorgängern und Zeitgenossen monographische Untersuchungen
318 Benno Erdmann,
zu Teil werden. Die Gefahr, der wenige solcher einseitigen Ar-
beiten entgehen, die Einwirkungen auf die Entwicklung der Pro-
bleme, die ilireu Gegenstand bilden, zu überschätzen, wird später,
wenn aus dem Vollen geschöpfte Zusammenfassungen möglich sind,
unschwer überwunden. Ausserdem pflegt ihr der Leser niclit so
sehr als der Autor zu verfallen, während der Nebel, der über Ge-
genständen liegen bleibt, die im Einzelnen unzureichend erforscht
sind, beide gleich sehr verwirrt.
Es ist deshalb erfreulich, berichten zu können, dass zwei Ar-
beiten erschienen sind, die solchen speziellen Abhängigkeitsbe-
ziehungen nachgehen, eine erst im Jahresbericht 88 vorzulegende,
dann vielleicht schon in vollständiger Ausarbeitung vorhandene
Monographie über Leibniz und Spinoza (von L. Stein), und eine
im Nachstehenden zu besprechende Abhandlung von
1. Tönnies, Ferd. Leibnitz und Hobbes (Philos. Monatshefte her.
v. Natorp und Schaarschmidt. Bd. XXIII S. 557—573).
Der Aufsatz bringt, in sorgfältig nach dem Original (Brit. Mus.)
revidirtem Text, den Brief Leibnizens an Hobbes vom 13/23 Juli
1670 zum Abdruck. Guhrauers Abschrift ist demnach, da alle,
zum Teil sinnentstellende Textfehler in Gerhardts Ausgabe (I 82—85)
sich schon bei ihm finden, erstaunlich ungenau. T. hat es seinen
Lesern überlassen, den überlieferten Wortlaut nach dem seinen zu
verbessern. Ich merke deshalb, und zum Belege für die Bemerkung
S. 324, jene Fehler hier an. Es muss bei Gerhardt heisseu:
S. 82 Z. 3 impestive statt impestivum
Z. 8 addi posse. Definitionibus statt accedere posse, def.
S. 83 Z. 1 abutantur statt abutuntur
Z. 3 sensibilibus statt sensilibus
Z. 12 Aguoscis enim statt Agnoso (Gerh.; Druckfehler für
Agnosco bei Guhr.)
Z. 13 multos statt multosque
Z. 14 neque statt nee
Z. 18 in iis mihi lucem statt in iis lucem
Z. 21 Tuaque statt Tuaeque
S. 84 Z. 11 aut statt autem
s.
84 Z.
11
Z.
12
z.
17
z.
24
z.
27
z.
28
s.
85 Z.
2
z.
0
z.
23
Jahresbericht über die neuere Philosophie bis auf Kant für 1887. 319
et ita statt ita
impeditur statt impeditus
incidentiae statt incidentia
ea etiam statt etiam
novare statt notare
conatu statt conatis
captum statt coeptum
oppletus statt appletus
at statt et.
In den „Erläuterungen" versucht T. zu beweisen, dass Leibniz
„in der ersten und bildsamsten Phase seines Denkens vielleicht die
mächtigste Einwirkung durch die Schriften des Hobbes erfahren
hat". Wie in seinen früheren Arbeiten über Hobbes und Spinoza
zeigt sich Tönnies auch hier gründlich orientirt, scharfsinnig und
voll historischeu Takts, üeberzeugeud jedoch sind seine Beweis-
gründe für die Mächtigkeit des Einflusses, die er wahrscheinlich
machen will, nicht. Er ist geneigt, denselben zu überschätzen.
Wenn Leibniz als Vertreter der neueren Philosophie gegenüber
Descartes in einem Athem den Verulamius, Gassendus, Digbaeus,
Cornelius ab Hoghelande nennen kann, so ist es doch bedenklich,
anzunehmen, dass „es Aveder ihm noch irgend jemandem ernst sein
konnte", diese andern Hobbes (und Descartes) gleich zu setzen,
und unsicher, die Frage für sich sprechen zu lassen: „wer konnte
ihm" von jenen oben aufgezählten, „einen grösseren Eindruck ge-
macht haben als Hobbes"? Das Urteil der Mitlebenden oder wenig
Späteren steht, auch wenn es von berufenster Seite stammt, unter
dem Einfluss der Blendung, den die zu grosse Nähe erzeugt. Die
Auslese der Geschichte hat noch nicht dazu geführt, das persön-
liche Element in demselben bei Seite zu werfen. Leibniz speciell
hat in seiner zur Anerkennung bereiten Weise über viele seiner
Zeitgenossen Urteile gefällt, welche die Nachwelt keinen Grund
mehr findet, für zutreffend zu halten. Ueberdies ist es nicht ganz
richtig anzunehmen, dass derselbe „wenigstens keine oder geringe
Spuren ihres Einflusses zeigt". Auf Baco und Pierre Gassend hat
Leibniz selbst, was Tönnies unberücksichtigt lässt, ausdrücklich als
früh von ihm geschätzte Autoren hingewiesen. Die Arbeit Seivers,
320 Benno Eid mann
die Tönnies" Beachtung entgangen ist, hat sogar einen nicht ge-
ringen Einfluss Gassendis auf Leibniz in der Zeit seiner Hinneigung
zum Atomisraus wahrscheinlich gemacht (s. Archiv I 118), die doch
bei Hobbes keine Nahrung gefunden haben kann. Die Einwir-
kungen der beiden anderen oben Genannten sind allerdings wol
nur geringfügige gewesen. Es ist sodann zwar eine gewiss richtige
Erwägung, „dass eine Autorität, in dem einen Gebiet feststehend,
(wie Hobbes im Naturrecht) auf anderen (nämlich dem mechani-
schen) . . . desto leichtere Annahme findet". Aber Tönnies wird
selbst nicht geneigt sein, solcher Möglichkeit viel Gewicht beizu-
legen. Ebenso wenig ist ausreichend, was Leibniz in seinen Briefen
an Hobbes sagt. L.eibniz war ja bei solchen Gelegenheiten etwas
unbedenklich in seinem Lob.
Dennoch hat Tönnies Recht, für Hobbes mehr Beachtung in
Rücksicht auf Leibniz' Entwicklung zu fordern, als ihm bisher zu
Teil geworden ist.
Gänzlich verloren gegangen ferner war die Erkenntniss, dass
eine oft citirte und verschieden fach aufgefasste Definition der Hypo-
thesis physica von 1771: Omne corjms est mens momentajiea , sed
si?ie recordatione, wie es scheint, einen Hobbesischen Gedanken-
gang in eine mehr kurze als deutliche Formel kleidet. T. bringt
dankenswerter Weise in Erinnerung, dass schon C. G. Ludovici in
seinem nützlichen Sammelwerk über Leibniz (1737) von Streit-
schriften berichte, die jene, vielleicht auf historischem Zusammen-
hang beruhende Aehnlichkeit in den Aeusserungen beider Philo-
sophen am Anfang des vorigen Jahrhunderts hervorgerufen hat.
Tönnies" geringschätzige Auffassung der Leibnizischen Meta-
physik als eines „Hobbismus. welcher den Spinozismus in sich auf-
genommen hat", bedarf speziellerer Begründung, um diskutirbar zu
werden, als er ihr in diesem Aufsatz hat angedeihen lassen.
2. Leibniz, Gottfried Wiliuci.m. Die philosophischen Schriften,
herausgegeben von C.J.Gerhardt. HL Band. 684 S. 4°
Berlin, Weidmann.
Mit dem vorliegenden dritten Bande, dem Schlussbande des j
Briefwechsels, hat die sechsbändige Gerhardtsche Ausgabe, zwölf J
Jahresbericht üher die neuere Philosophie bis auf Kant für 1887. 321
Jahre lutcli dem Erscheinen des ersten Bandes, ihren Abschluss ge-
funden. Geplant ist allerdings, wie es scheint, noch ein Ergän-
zungsband. Znm ersten ^lale liegen die philosophischen Abhand-
lungen und Schriften, sowie die meisten der Briefe, welche über
philosophische Gegenstände handeln, in zusammenfassendem, würdig
ausgestattetem Abdruck vor. Der grossen Dutens'schen Sammlang
fehlten bekanntlich ausser zahlreichen Briefen und nicht wenigen
teils schon früher, teils erst später erschienenen Arbeiten ans dem
Nachlass die kurz vorher veröffentlichten Nouveaux Essais. Die
für ihre Zeit verdienstvolle, handliche Ausgabe von J. E. Erdmann
litt au den Mängeln, die bei jeder Auswahl unvermeidlich auf-
treten. Von den Torsi der beiden grossen Gesamtausgaben, die
Pertz (1843) und 0. Klopp (1864) begonnen haben, hat der erstere
an philosophischen Werken lediglich einen, allerdings wertvollen
Band Briefwechsel, der letztere gar nichts aufzuweisen.
Bei dieser Sachlage muss das erste und stärkste Gefühl der
Leser gegen den Herau.sgeber das des Dankes für eine grosse und
erfolgreiche Arbeit sein. Ist doch, besonders in diesem dritten
Bande, eine reiche Zahl wertvoller Briefe zum ersten Mal veröffent-
licht, und auch an Abhandlungen manches erst jetzt an das Tages-
licht gekommen, das zur Vervollständigung des historischen Bildes von
dem vielseitigen Werden und Lehren des Philosophen wertvolle Bei-
träge liefert. Lässt sich doch ferner jetzt schon wahrnehmen, dass
die Sammlum^ der Erforschung der Leibnizischen Philosophie neue
Antriebe gegeben hat.
Die schwierige, niemals rein lösbare Aufgabe, die dem Her-
ausgeber der gesammelten Werke eines Philosophen vorliegt, durch
die Reihenfolge der Abdrücke die Bruchstücke für die historische
Rekonstruktion der Entwicklung und des Lehrbestandes zu geben,
ist bei Leibniz eine ganz besonders verwickelte. Wer rein sachlich
ordnen wollte, müsste den Briefwechsel fast durchweg grausam zer-
stückeln, und besonders in den schöpferischen achtziger und neun-
ziger Jahren vieles im Zusammenhang Gedachte auseinander reissen.
Ebenso wenig kann der z. B. von J. E. Erdmann unternommene
Versuch bei einer Ausgabe auch nur der philosophischen Schriften
und Briefe gelinsen. rein die Zeitfolge entscheiden zubissen. Dazu
322 Benno Erdmann,
kommt die besonders beim Briefwechsel und bei den mathemati-
schen Abhandlungen hervortretende Schwierigkeit, alles Philoso-
phische zum Abdruck zu bringen, und doch die Ausgabe durch
Fremdartiges nicht zu sehr zu belasten. Ein jeder Herausgeben
von Leibniz' philosophischen Schriften wird daher zuletzt auf den
Takt angewiesen sein, den gründliche Erkenntnis des sachlichen
Zusammenhangs der Lehren und wolgeschulte historische Methode
im Gefolge haben. Eben dadurch aber wird derselbe auch den
Kundigen Anlass bieten zu schelten. Wird er doch häufig, wenn
er nicht unnötig Worte machen will, nicht einmal in der Lagei
sein, sein Verfahren ausdrücklich zu rechtfertigen.
Trotz alledem darf Gerhardt sicher sein, für die Trennung des
Briefwechsels von den selbständigen Werken, den Abhandlungen
und den mannigfachen Entwürfen zu l)eiden letzteren ungeteilten i
Beifall zu finden. Und kleinlich wäre es zu tadeln, dass die drei'
Bände Briefwechsel die erste statt die zweite Abteilung bilden.
Auch für den nicht kargen Abdruck von Gegenbriefen oder Aus-
zügen aus solchen kann man nur dankbar sein. Bedauerlich, aber
durch den Umfang der Hannoverschen Manuscriptsammlung ent-
schuldigt ist es, dass speziell der dritte Band einige Abdrücke ent-
hält, die nicht in den Briefwechsel hineinpassen. So gehört die
Beilage zu den Briefen an Bayle (S. 28—38), die Gerhardt ersti
kürzlich aufgefunden hat, der kurze Traktat de Dco et liomine
(s. Archiv I 264) in Bd. VI; die Beilagen ferner zu den Briefen
an Burnett, die beiden Abhandlungen S. 233 — 242, hätten ebenso
wie die interessanten Remarques über Shaftesburys CJiaracteristics
in Bd. V ihre Stelle finden müssen. Andererseits ist mindestens
zweifelhaft, ob es gerechtfertigt war, aus dem Briefwechsel mit
Basnage de Beauval in Bd HI die beiden Briefe herauszunehmen,
die in Bd. IV unter den Philosophischen Abhandlungen abge-
druckt sind.
Zu ähnlichen Ausstellungen entgegengesetzter Richtung geben
die drei letzten Bände der Ausgabe, welche die Abhandlungen u. s. w.
enthalten, mehrfach Gelegenheit. Ich glaube dieselben, trotz aller
Vorbehalte hinsichtlich der angedeuteten Schwierigkeiten, nicht ver-
schweigen zu dürfen. Gerhardt hat die zweite Abteilung nach den]
Jahresbericht über die neuere Philosophie bis auf Kant für 1887. 323
Rubriken geordnet: Hd. IV: 1) Philosophische Schriften (1663 bis
1671); 2) Leibniz gegen Descartes und den Cartesiauismus (1677
bis 1702); 3) Philosophische Abhandlungen (1684—1703). Bd. V:
Leibniz und Locke; Bd. VI: 1) Theodicee und Verwandtes ; 2) Philo-
sophische Abhandlungen 1702 — 1716. Hier wäre, wie mir scheint,
die rein historische Ordnung angezeigt gewesen. Nur die Schriften
gegen Locke lassen sich leidlich vereinigen. Mit Descartes aber
setzt sich Leibniz so vielfach in späteren wie in früheren Arbeiten
als den von Gerhardt zusammengestellten auseinander, dass hier
keine Teilung ein rechtes Bild geben kann. Ueberdies aber ent-
halten last alle Abschnitte dieser zweiten Abteilung Briefe, die mit
mehr Recht in der ersten ständen. Die Ausgabe wird durch dies
Alles einigermassen unübersichtlich.
Sehr übersichtlich kann allerdings bei der Vielgestaltigkeit des
Stoffes eine Ausgabe der philosophischen Schriften Leibuizens über-
haupt nicht werden. Gerhardt hätte deshalb dem vielen Dankens-
i^ werten, das er geleistet hat, noch Eines hinzugefügt, wenn er ein
chronologisch übersichtlich geordnetes Gesamtverzeichnis der Schriften
und der Briefe beigegeben hätte. Man vermisst ein solches um so
mehr, als man jetzt im allgemeinen darauf angewiesen ist, sich die
Zeitdaten für die Abhandlungen u. s. w. aus den Einleitungen zu-
sammen zu suchen. Vielleicht gibt der geplante Ergänzungsband
solcher Zusammenstellung Raum.
Die Einleitungen enthalten wertvolle, dem Leser unentbehr-
liche historische Notizen. Weniger reich sind sie an Orientierungen
über den sachlichen Inhalt und den historischen Zusammenhang
der von Leibniz behandelten Probleme. Was Gerhardt hier bietet,
ist meist zu unvollständig, um Hilfe zu geben, mehrfach auch über-
flüssig, z. B. da, wo einfach wichtigere Stellen der unmittelbar fol-
genden Briefe auch in ihnen m extenso abgedruckt werden.
Ueber den Umfang, in dem der Herausgeber aus der zerstreuten
Schriftstellerei des Philosophen das für die Philosophie Bedeutsame
t ausgewählt hat, lässt sich fast nur Gutes sagen. Leider fordert es
j die unerfreuliche Aufgabe des Berichterstatters, das Gute mit wenig
Worten abzutun, mehr dagegen dem zu widmen, was er zu kriti-
isiren für nötig findet. Die mathematischen Abhandlungen Leib-
324 Benno Erdniann,
nizens enthalten wie bekannt vielerlei Ausführungen, die ebenso
wol für seine philosophischen Lehrmeinungen bedeutsam sind. Sie
deshalb ganz abzudrucken, wo sie dergleichen aufweisen, ist unzu-
lässig, Auszüge aus ihnen zu geben, nicht immer ausführbar und
in jedem Fall von zweifelhaftem Wert. Es bleibt deshalb nur
übrig, sie, wie Gerhardt getan hat, im wesentlichen unberücksich-
tigt zu lassen, oder aber au geeigneter Stelle auf sie hinzuweisen.
Sehr erfreulich jedoch ist, dass derselbe (Bd. IV) die Hi/pofhesi$
physica, und zwar vollständig, abgedruckt hat. Sie gehört zweifellos
in die Philosophischen Schriften hinein.
Sehr auffallend ist mir geblieben, dass Gerhardt Leibnizens
Briefwechsel mit Clarke nicht aufgenommen hat, der doch zu den
wichtigsten Dokumenten seiner Philosophie gehört. Um so auf-
fallender, als Gerhardt in seinem Yorbericht an die Berliner Aka-
demie vom Januar 1886 (Sitzungsberichte S. 21) denselben als in
Bd. III erscheinend aufzählt. Aeussere Gründe, die wol allein
haben bestimmend sein können, durften gegenüber der zwingenden
Kraft der inneren nicht in Betracht kommen, üie Ausgabe bleibt
ohne denselben empfindlich unvollständig! Derselbe ist weniger
zu entbehren, als irgend etwas, was in Bd. III gedruckt ist. Hier
müssen der Herausgeber wie der Verleger durch einen Ergänzungs-
band Rat schaffen.
Dass ein so umfassender, grossenteils handschriftlicher, teilweis
auch auf nachlässigen früheren Drucken beruhender Text, der kaum
irgendwo philologisch durchgearbeitet ist, Anlass zu vielfachen Aus-
stellungen im Einzelnen gibt, versteht sich von selbst. Wer solche
macht, muss festhalten, wie wenig Dutens und noch J. E. Erdmann
ihren Lesern in dieser Hinsicht geboten haben. Der Fortschritt
ist im ganzen genommen ein nicht unbeträchtlicher. Allerdings
aber ist hier noch genug zu tun übrig geblieben, wennschon nie-
mand erwarten darf, durch diese Arbeit die sachliche Erkenntnis
nennenswert zu fördern. Proben solcher ^iängel hat Natorp schon
vor einigen Jahren in einer Recension des fünften Bandes (1882)
mitgeteilt. Andere finden sich in dem vorstehenden Teil dieses
Jahresberichts, S. 318 f. —
Die äussere Ausstattung der Ausgabe, der die Berliner Aka-
Jahresbericht über die neuere iPhüosoiihie bis auf Kaut für 1887. 325
demie von Anfang an ihre Unterstützung hat angedeihen lassen,
ist musterhaft.
Der vorliegende dritte Band enthält reichlich üngedrucktes,
darunter nicht wenige wertvolle Briefe neben den oben erwähnten
Abhandlungen. Wertvolles allerdings, wie zu erwarten war, nichts
mehr in dem Sinne, in dem noch Grotefends Ausgabe der Briefe
zwischen Leibniz, Arnauld und dem Landgrafen Ernst von Hessen-
Rheinfels 1846 (bei Gerhardt Bd. II) von Bedeutung war, aber
doch an ihrer Stelle lehrreiche Variationen der Grundgedanken der
Monadologie, Ergänzungen zur Ethik u. s. w. Es kommen zum
Abdruck die Briefwechsel mit Huet, Bayle, Basnage de Beauval,
Thomas Burnett, Lady Masham, Coste, Jaquelot, Hartsoeker, Bour-
guet. Remond, Hugony, die l)eiden letzten entgegen der oben er-
wähnten Ankündigung von 1886 statt des Briefwechsels mit Clarke.
Der Briefwechsel mit Huet enthält nominell sechs, tatsächlich
[fifll sieben Schreiben, darunter eines von Huet, derjenige mit Bayle
nach Gerhardts Zählung zehn, faktisch zwölf, unter ihnen zwei von
Bayle, dazu als Beilagen in der Einleitung die oben erwähnte Ab-
handlung von Leibniz, und unter den Briefen eine Abhandlung
vom Abbe Catelan (S. 40—42). Xeu sind unter den letzteren fünf
Briefe. Bisher unveröffentlicht sind die Briefe an und von Basnage
de Beauval, nach Gerhardts Numerirung vier und dreissig, in Wirk-
lichkeit sechs und dreissig, fünfzehn darunter von Basnage. Ich
erwähne diese Einzelheiten, weil Gerhardt es seinen Lesern über--
lassen hat, sie sich zusammenzustellen. Zu fragen bleibt, um nur
noch Weniges herauszuheben, warum auch zwei Briefe von Leibniz
an Basnage (XIV u. XXVIl) nur „im Auszuge" abgedruckt sind.
In der Vorrede zu Bd. I hat Gerhardt ausdrücklich erklärt: Sämt-
liche Briefe sind unverkürzt abgedruckt. Gerhardt merkt weder
zu dem ersten, undatirten, noch zum zweiten, vom 31. 8. 1797
etwas an. Er ist überhaupt etwas karg mit den Notizen dieser
Art, die doch einem kritischen Leser unter Umständen von Wert
sein können.
Der Text des vorliegenden Bandes zeigt mehrfach Varianten
gegenüber dem Dutensschen, die nicht lediglich auf nachlässigem
Archiv f. Geschichte d. Pliilosupliie. U. "'"'
;j26 Benno Erdmann,
Druck hei dem letzteren beruhen können. Indessen trift't, was ich
bei gelegentlichem Vergleich an verschiedenen Orten gefunden habe,
nirgends die Sache.
Doch das sind der leise und laut ausgesprochenen Bedenken
fast schon zu viele, um den Eindruck frisch zu erlialten, der am
meisten Beachtung fordert, dass wir nämlich viel mehr Ursache
haben uns des Gelungenen in der Ausgabe zu freuen, als dem
einen und dem andern an ihr mit kühlender Kritik zu begegnen.
Helmuoi.tz, H. von. Zur Geschichte des Princips der kleinsten
Action (Sitzungsberichte der Kgl. Preuss. Akad. d. Wissensch.
z. Berlin XIV. S. 225—236).
In dem Abschnitt der Abhandlung, der über den Begriff der
Action bei Leibniz handelt (S. 225 — 231), weist Helmholtz nach,
dass dem Philosophen „die Entdeckung des Princips der kleinsten
^^'irkung gleichsam vor den Füssen gelegen hat".
Leibniz wird damit von berufenster Seite eine Auszeichnung
zu Teil, die ihm bisher in seinem Ruhmeskranze gefehlt hat.
Helmholtz verbreitet ausserdem Licht über eine Frage, die
zwar ihr aktuelles Interesse seit fast hundert und vierzig Jahren
verloren hat, deren Aufhellung jedoch zu Gunsten eines irrtüm-
lich Verurteilten noch immer von Wert ist.
Die Aeusserungen Leibnizens, die das Material für Helmholtz'
Nachweis enthalten, finden sich in der unvollendeten Dynamica de
Potentia et Legibus Naturae corporeae, die Gerhardt erst 1860
(L.'s math. Schriften \I) aus den Hannoverschen Manuscripten
herausgegeben hat. Helmholtz macht nun darauf aufmerksam, dass
das Brieffragment, welches König als einem Briefe Leibnizens an
Hermann entstammend, 1751 in den Nova Acta Eruditorum ver-
öffentlicht hat, durchaus den Auslassungen der Dynamica über das
ol)ige Princip entspricht.
Die Geschichte jenes Fragments ist nur wenigen noch bekannt.
Dasselbe steht in den N. A. E. am Schluss der Abhandlung Königs
De universali principio aequilibrii et motus ct., die im wesentlichen
gegen Maupertuis' Loi de la moindre action gerichtet war. Es
bildet denjenigen Bestandteil derselben, der einen erbitterten Streit
■D«(
u
Jahresbericht über die neuere Philosophie bis auf Kant für 1887. 327
Königs mit Manpertuis sowie der Akademie, deren Vorsitzender dieser
war, zur Folge hatte. Das Fragment wurde damals, da König das
Original des Briefes, den er vollständig in Abschrift besass, nicht
aufweisen konnte, unter dem Einfluss Eulers von der Akademie
für unecht erklärt. Nicht ohne ernste sachliche Gründe, wie man
/Algeben muss, aber doch, wie schon damals nach dem ganzen In-
halt und der Darstellungsform von nicht wenigen, auch von Vol-
taire geurteilt wurde, mit Unrecht. Neuerdings haben sich sowol
Guhrauer als Gerhardt, allerdings ohne speziellere Begründung, für
die Echtheit desselben ausgesprochen.
Das sachliche Hauptbedenken Eulers hat jedoch erst Helniholtz
durch seine Wahrnehmung beseitigt. Er urteilt mit vollem Recht,
dass in Folge jener Uebereinstimmung die Echtheit des Briefes
„sehr wahrscheinlich erscheint".
Ein schwerwiegender Einwand gegen dieselbe bleibt allerdings
durch diese Uebereinstimmung unberührt. Leibnizens reicher Brief-
wechsel mit Hermann, den die Berliner Akademie 1757 veröffent-
licht hat (abgedruckt bei Gerhardt — L.'s Math. W. Bd. IV), ist
nicht nur durchgängig lateinisch geführt, während jener Brief fran-
zösisch geschrieben ist, der letztere iindet auch in demselben weder
nach dem Datum, das die Abschrift Königs besass (16. Okt. 1707),
noch auch nach seinem Inhalt einen passenden Ort.
Diesem Einwand begegnet jedoch eine Bemerkung Gerhardts,
die in so fremdem Zusammenhang steht, dass, wie es scheint, auch
Helniholtz sie nicht gesehen hat. Am Schluss nämlich seines Vor-
M berichts über Bd. III der Ausgabe der philos. Schriften Leibnizens
(Akad. Sitzungsber. Berl. 1886 S. 22) erwähnt derselbe, dass von
dem Briefe, den König zuerst veröffentlicht hat, „bisher das Ori-
ginal nicht aufgefunden ist". Und fährt dann fort: „Dieses vierte
Schreiben" — dessen Echtheit Gerhardt bereits 1859 behauptet
hat — „war höchst wahrscheinlich an Varignon gerichtet." Die
Briefe zwischen Leibniz und Varignon sind von Gerhardt in Bd. IV
der Math. Schriften veröffentlicht. In der Tat zeigt ein Blick auf
die Briefe beider aus jenen Jahren, dass diese Vermutung eine
glückliche ist. Doch Gerhardt wird dieselbe am besten selbst veri-
ficireu. Es sei deshalb hier nur erwähnt, dass die Mitteilungen
09 *
lim
rtii
II
328 Benno Eid mann ,
Königs über den Weg, auf dem er jene Abschritt erlangt hat —
sie war ihm von Henzy geschickt worden, der bereits mehrere
Jahre vorher als Staatsverbrecher enthauptet worden war — der-
selben nicht im Wege stehen.
Gerhardt lässt a. a. 0. nur die überraschende Bemerkung fol-
gen: „Die Leibnizische Correspondenz mit Varignon ist vollständig
vorhanden, bis auf eine sehr auffallende Lücke in den Jahren
1707 — 1709. Die Leibnizischen Briefe aus dieser Zeit wurden
wahrscheinlich an Maupertuis ausgeliefert, der sie aber nicht
wieder zurückgab, ebenso wie es gleichzeitig mit den Briefen Leib-
nizens an den Mathematiker Hermann geschehen ist, welche fast
sämtlich in Hannover fehlen."
4. Brambacii, Wilh. Gottfried Wilhelm Leibniz Verfasser der
Histoire de Bileani. Mit vollständigem Abdruck der Hist.
d. B. in der von Leibniz gebilligten Form. 38 S. 8". Leip-
zig, Joh. Ambr. Barth.
Im Jahre 1706 erschien anonvm, ohne Jahreszahl und Druck-
ort, eine kleine Sammlung französisch geschriebener Flugschriften,
rationalisirende J)eutungen einiger bekannter Bibelstellen: HLstoire
de Bileam. Renards de Samson. Machoire d"ane. Corbeaus d'Elie.
L'Antechrist. Noch in demselben Jahre erschien die erste Abhand-
lung selbständig. Die vier anderen wurden im folgenden Jahre
mit einer neuen fünften: Les quatres monarchies in Helmstädt
wieder ausgegeben.
Auch jene erste Abhandlung ist meist dem Verfasser der
übrigen, dem Helmstädter Theologen von der Hardt zugeschrieben
worden, obgleich schon Louis de Jaucourt, der Herausgeber der
Theodicee, Amsterdam 1734, Leibniz als den Urheber derselben
nennt.
Brambach beweist in sorgfältiger Untersuchung, dass diese
Angabe zu Kecht besteht. Die Grundlagen dieses Beweises sind
in den Briefen des Philosophen an von der Hardt enthalten, die
der Verf. aus der Sammlung von Briefen beider Forscher in der
Grossherzoglich Badischen Hof- und Landesbibliothek zum Abtlruck
bringt. Leil>niz schreibt an Hardt unter dem 7.9. 170(): Interea
Jahresbericht über die ueuere Philosophie bis auf Kant für 1887. 329
mitto Tibi covipendium Bistoriae Bileami quod ex Tuis et non-
nullis etiani meis meditatiunculis fahvicavi.
Die Briefe enthalten manches für Leibniz" Auffassung der
Aufgaben, welche die Bibelexegese zu lösen hat, charakteristische
« V Urteil.
Die Abhandlung selbst, welche Brambach in musterhafter Text-
revision S. 30 — 38 abdruckt, ist ohne philosophisches Interesse.
Eine sehr dankenswerte sachkundige Würdigung ihres theologischen
Inhaltes hat E. Ranke in dem Aufsatz „Zur Geschichte der älteren
Exegese" in der Theologischen Literaturzeitung 1888 Nr. 8 S. 192
bis 199 und Nr. 9 S. 227—235 gegeben.
5. Hah.nack, Axki.. Leibniz' Bedeutung in der Geschichte der
Mathematik. Rede. 26 S. 8". Dresden, v. Zahn und
Jaensch.
Auf dem Grunde selbständiger Quellenstudien entwirft der
leider zu früh verstorbene Verfasser ein auch für den Nichtmathe-
matiker anziehendes Bild der mannichfachen Errungenschaften,
welche die Mathematik Leibniz verdankt, mit knappen Strichen
die Stellung desselben zu seinen Vorgängern und Zeitgenossen an-
deutend.
Till.
The Literature of Modern Pliilosopliy in
England and America, 1886—1888.
By
J. G. Schiirinau.
HcME. By William Knight, LL. D. Professor of Moral Philo-
sophy in the University of St. Andrews. („Philosophical
Classics for English Readers".) Edinburgh and London:
William Blackwood and Sons, 1886. Pp. VIII, 239.
Tliis volume on Hume by the general editor of the series falls
into two main divisions: Hume's Career (pp. 1 — 100) and Hume's
Philosophy (pp. 101 — 239). The disproportionate space given to
the life of the philosopher is in keeping with the light and populär
treatment of his philosophy. The author's justification lies in the
circumstance that, as is here appropriately reiterated, this sories
of short studies on great subjects is intended „not so much for the
initiated, as for those who wish to know something about the great
Systems, and their Founders, but who have not leisure to peruse
their treatises in füll, or to go into the more recondite aspects of
the questions they have raised, still less to master the voluminous
critical literature which has subsequently gathered around them".
(Preface V.) This priraary Intention of the series has never
been lost sight of in the volume on Hume, which, more than any
other work in the series, is especially addressed to the general
reader.
The interest of philosophical experts in the present volume
is in inverse proportion to the success with which Professor Knight
; The Literature of Modern Philosopliy in England and Arnerica, 1886—1888. 331
i has fiilfilled his task of reudering Hume to the unpliilosopliical
! public. They will wait for that larger and morc exhaustive work
I on the philoHophy of Hume which Prof. Knight is now engaged in
i preparing. Or they will have recourse to the classic literature on
Hume which our language already coutaius, especially to Mr. Hill
Burton's „Life and Correspondence" and to the late Professor Green's
„Introduction" or ciitical examination (from a Kantio-Hegelian
Standpoint) of the philosophy of Hume, whicli was prefixed to
Green and Grose's monumental edition of his works.
In this little volume the story of Hume's life is pleasantly
told. Here are chapters on his early life, on the publication of the
„Treatise", on his literary ventures and struggles, on his official
career and appointmeuts, on his life at London, Paris, and Edin-
burgh, and on his closing years. The various incidents are woven
together into an interesting narrative, a.nd the phases of his intel-
lectual activity correlated with his philosophy. An attempt, suc-
cessful so for as it goes, is made to explain the character of Hume's
System from the temperament of the man. His dry, unromantic,
prosaie nature is thrown into relief by the poetic sympathies of
the biographer, whose fidelity to Hume cannot repress iiis devotion
to Wordsworth. ^.Hume's temperament, thougli not frigid, was
certainly prosaie. No glow of entliusiasm, no touch of chivalry,
no colouring of romance irradiated it" (p. 8). The philosopher
was deaf to music, blind to art, and insensitive to poetry. „He
passes up the Rhine, and notes neither the ruined Castles nor the
Siebengebirge. Nature, in its grand or sublime aspects, had no
charm to him" (p. 48). „He had a singularly keen intellect; but
his intellectual vision was singularly limited. That „inward eye"
which discerns the unity of things beneath their raanifoldness —
which sees a rational meaning in the universe hid behind its Sym-
bols — was not his" (p. 98).
This last quotation niay be taken to mean that the Welt-
anschauung of the biographer is different from that of Hume.
A one behind the many, a reason beaming through nature, „an
ever-during power, and central peace subsisting at the heart of
endless agitation" is tiie ,,open secrct" Prof. Knight has learnod
332 J- Ct. SchurmaiK
from the „prophets of the beautiful". from Dante to Wordsworth.
But this noble lesson has in a certain measure disqualified him
for a sympathetic Interpretation of the system of Hume. If any-
thing about the sources of Hume"s mental philosophy is certain, it
is that he wrote it, as it were, with Locke (and Berkeley) before
him. But, without any proof. Prof. Kuight asserts that „it was
evolved in him not so mnch from a study of recent speculatiou
in England, as from his early familiarity with the Greek and Ro-
man writers" (p. 7). But when he comes to the „Treatise", in
which Hume's system is most fully embodied, Prof. Knight says
„it was throughout an indigenous Scottish growth" (p. 27). And,
not satisfied with Greece, Rome, and Scotland, he adds in the last
chapter of the book that „Hume's Philosophy is meagre .... Al-
though in his own natura an indigenous growth it was more French
than Scottish in its essential features" (p. 236).
A more sympathetic critic might, I think , have found in
Hume's theory of knowledge some other elements than those which
Prof. Knight so successfully explodes (pp. 134 — 182). Take, for
example, the crucial question of causality. One aspect of Hume's
teaching is given in the histories of philosophy and repeated in
Prof. Knight's book. The other aspect is, that experience of custom-
ary sequence only awakeus a dormant causal instinct, which under
a less flattering name is precisely the same thing as tho a priori
category of the understandiug in Kant or the fundamental belief in
Reid and Stewart on the „Intuition of the reason" (p. 163) in
Prof. Knight. What these call by other names, Hume calls an in-
stinct: and all agree that it does not operate indepeudently of ex-
perience.
But Prof. Knight thinks too little of Hume's philosophy to
seek even his own truth in it. „As a system, it is poverty
stricken .... It is after all a surface philosophy" (p. 236). Hume
„was blind to the significance of one half of the sphere of reality,
— constitutionally colour - blind" (p. 237 ; cf. p. 203). But. al-
though Prof. Knight's hostility to empiricism leads him into soine
immoderate Statements, it does not alfect his account of Hume's
philosophy of morals and of religion (pp. 183—221). He thinks
The Literatui-e of Modern Philosopliy in England and America, 1886—1888. 333
hliat „Hume shows far more catholicity or width of view iu his
moral than in his metaphysical philosopliy", aiid that the admissions
made in the former undermine the latter (p. 197). And he hits
oflf well Hume's chief difficulty in natural theology, — „how to
ascribe a moral character to the great World-Intelligence" (p. 211).
The Short chapter (pp. 222—227) on Hume as political economist
and historian is especially good, as are also the remarks on the
|same subject scattered throughout the volume.
Iegel's Philosophy of the State and of History. By George
>} S. Morris, Professor of Philosophy in the University of
^; Michigan. („Griggs's Philosophical Classics".) Chicago:
S. C. Griggs and Company, 1887. Pp. 306.
This is the latest addition to Griggs's series (for which see
Archiv, Bd. L, Heft 1., p. 152). The work is from the competent
hands of the general editor, who had previously supplied the vo-
lume on Kant's Critique of Pure Reason. It differs from Pro-
fessor Porter's Kant's Ethics in being purely expository. This
departure from the purpose of the series, which professes to be
devoted to a critical exposition of the masterpieces of German
thought is much to be regretted. For in the present condition of
Philosophy amongst us, when some point exultantly, and others
lock wistfully, to Hegel, there codd be no more helpful service
than the critical estimate of Hegel's writings by sympathetic and
intelligent expositors. On the other hand, it may be questioued
if there is any great need of mere summaries of the eighth and
iiinth volumes of HegePs works. The Philosophie der Ge-
schichte has long been acces.sible in an English translation, which,
to say the least, is as clear and intelligible as Prof. Morris's Con-
densed exposition (pp. 111— 306). The Philosophie des Rechts
has never been translated into Euglish. There is, therefore, a
raison d'etre for Prof. Morris's abstract of it, which occupies
oue third of the present volume (pp. 1—110). Had he limited
himself to this work, enlarging somewhat his account of it, and
then suppleraenting exposition with comment and criticism, so as
to set the subject into vital relation with the thought and pro-
334 ^- ö- Schurin an,
blems of our age, his volurae would liave beeii move helpful to
readers, more conformable to the object of the serics in which it
appears, and more worthy of the author's scholarship and abilities.
Hegeliauism and Personality. By Andrew Seth, M. A., Pro-
fessor of Logic, Rhetoric, and Metaphysics in the University
of St. Andrews. Edinburgh and London: William Black-
wood and Sons, 1887. Pp. XI, 230.
Not the least remarkable of the phases of recent philosophy
has been the attempt to naturalize Hegel in the English-speaking
World. The beginning was raade nearly a generation back by
Dr. Stirling's „Secret of Hegel", a work of great insight, though
fragmentary and often rhapsodical. The movement has been con-
tinued, not only by professed Hegelia ns, bat also by the Neo-Kan-
tians, whose common creed is the belief that in Hegel' s Logik
is to be found the „truth" of Kant's Kritik. Thus Hegel is the
bürden of all our preachers of Cerman Philosophy. Professors
Caird, Adamson, and Morris have written Hegelian accounts of the
Critical Philosophy; Green has applied Kantio-Hegelianism to the
routing of Empiricism, and Principal Caird to the establishment ol
religion. Professor Wallace has furnished an admirable translation
of the smaller Logik, to which he has prefixed a valuable intro-
duction on the philosophy of Hegel. Hegelian articles occaslonally
appear in Miud, and in the Journal of Speculative Philo-
sophy Prof. Harris has long maintained an organ especially devo-
ted to Hegelianism. Two volumes on Hegel have already appeared
in Grigg's Philosophical Classics; and others are to follow.
But although our Hegelian literature, already not inconsiderable,
is still on the increase, there aro signs that the Hegelian move-
ment is approaching exhaustion. Of the younger men whose thought
it shaped, .none has been more productive than the autlior of
the present volume. And his successive works — „From Kant to
Hegel", „Scotish Philosophy", and „Hegelianism and Personality" —
Portrait and objectify the phases through which some of our best
minds have been passing in their attitude towards Hegelianism.
First, came the epoch of enthusiastic discovery and proclamation;
The Literature of Modern Philosophy in England and America, 1886—1888. 335
next, that of sober acquiescence ; and, lastly, that of revolt aud re-
jection, none the less thorough becau.se of its regretful patlios.
„Hegelianism and Personality" is made up of lectures (witli
occasional additions) delivered before the University of Edinburgh
on the foundation established by Mr. A. J. Balfour, now Chief
Secretary for Ireland. The work originated in a reaction against
the philosophy of the late Professor Green, whose ,,whole System
centres in the assertion of a seif or spiritual Priuciple as necessary
to the existence alike of knowledge and morality" (pp. 3—4). And
its purpose is to trace to its source in Kant and Hegel this cen-
tral doctriue as well as to locate and exhibit the ambiguity with
which it is infected. The first two lectures (pp. 1—78) are devo-
ted to Kant and Fichte; the rest (pp. 79—230) to Hegel, — to bis
Logic, bis Metaphysic, his doctrine of God and man, and his System
in general.
Itisshown that Green identifies the transcendental ego ofKant's
theory of knowledge with the universal or divine self-consciousness.
In Kant's own words, the logical exposition of thought in general
is mistaken for a metaphysical determination of the object (p. 35).
This fallacy originated witli Fichte in his endeavour to escape the
dualism of Kant's system. And the shifting phases of thought to
which it gave rise in Fichte's attempt to find a place for both
God and man in the universe are here very succinctly delineated.
To all of them Prof. Seth replies: „Thought exists only as the
thought of a thinker; it must be centred somewhere . . . Thought
per se can have no place in metaphysics as a theory of
Being" (p. 73).
Hegel's Logic being „neither more nor less than an expansion,
a completion and rectification of Kant's table of the categories"
(p. 84), we are next presented with an account of its nature, me-
thod, and origin. In spite of Hegel's talk about der Gang der
Sache selbst, his dialectic is shown to rest upon an experiential
basis. „The opposite arises only for a subjective refiection which
has had the advantage of acquaintance with the real world" (p. 91).
And Prof. Seth agrees with Trendelenburg in holding that HegeKs
Order of exposition always reverses the real order of thought by
336 J- G- Seh Ulm an,
whicli the results were arrived at. The Lugic deals ouly with
categories. The Philosophy of Natiire and of Spirit offer a theory
of existence. Hegel .,systematically and in the most subtle fashion
confounds these points of view. and ends by offering us a lugic
as a metaphysic" (p. 104). Thus be evades the problem of
reality. And, in the same way, by making contingency a category,
he professes to rationalise nature in all its details. His system
throughout deals only with generale. Hence it does not speak, in
strictnes.s, either of the divine spirit or of human spirits, but simply
of ., spirit". And although this was grandly intendcd by Hegel to
be the concreto unity of both, in practice it .,does duty at one tiroe
for God, and at another time for man" (j». 156), but never for
both together. This result is forcibly exhibited by a skilful unravel-
ing of the different lines of thought in Hegel, according as be begins
with the absolute or with the real world.
The pretensions of Hegelianism to be an absolute philosophy
are examined in the last lecture. Prof. Setli sees in the Hegelians
of the Left the only logical outcome of HegeFs doctrine of man and
God. But philosophy must begin with self-conscious persons, not
with an impersonal system of thought. And the English Hegelians
have really deserted their raaster's practical philosophy, which is
destructivc alike to moral endeavour and historical progress. ,, Green
is not slow to point out that the habit of conscientiousness is the
very mainspring of morality" (p. 209).
The volume ends with a return tu Green's system and a brief
argument („because we are anthropomorphic, and necessarily so,
fo the inmost fibre of our thinking") for the personality of God
along with a plea for immortality as implied in the moral reason-
ableness of the world.
The whole is an admirable piece of work. It represents lu-
cidly, and in a charming style, the results reached, on fundamental
points, by a clear-headed and sympathetic student of German Philo-
sophy. And it cannot fall to be helpful to all those who have
been touched by the Hegelian influence. although it may not move
the smallcr number who have surrendered themselves absolutely
tu its potent magic.
The Literature of Modern Philosopliy in England and America, 1886 — 1888. 337
Üi'iNozA. By John Caird, LL. J). Principal of tlie University
of Glasgow, („l'hilosophical Classics for English Readers".)
Edinburgh and London: William RIackvvood and Sons, 1888.
Pp. 315.
Of none of the great philosopliers have the English -speaking
peoples so long remained in ignorance as of Spinoza. An essay
by a brilliant historian, Froude, and an essay by a subtle critic,
I Matthew Arnold; a sketch by Lewes in his „History of Philosopliy"
as graphic but as inaccurate as the rest of the work; a volume
jentitied „Benedict de Spinoza: his Life, Correspondence, and Ethics"
by Dr. R. ^Villis, a well-meaning achievement but nuich marred
i)y incorrect translation, — such was our Spinozistic literature
prior to the last decade. In 1878 Professor Edward Caird contri-
buted to the current (ninth) edition of the Encyclopaedia Bri-
Itannica an important article on Cartesianism, nearly half of which
was devoted to Spinoza. And since that date Spinoza has l)een
studied with almost as much zeal as Kant, to whom also Professor
I Edward Caird more than any other single individual has likewise
introduced us. In 1880 appeared Mr. PoUock's „Spinoza, his Life
and Philosophy", a work so scholarly and judicial that it at once
became an authority. Dr. Martineau followed in 1883 with his
beautiful and statuesque „Study of Spinoza", in which the System
is lucidly expounded and criticised without any attempl to relieve
it of contradictions. He has since treated the subject afresh, but
with no change of Interpretation or judgment on important points,
in his great work on „Types of Ethical Theory" (Vol. I, pp. 247—
394). Along with these treatises on Spinoza have appeared good
translations of his works. In 1883 Mr. Haie White brought out
a Version of the Ethica, and Mr. R. H. M. Elwes a version of
all the chief works of Spinoza. As the latter translation is not
likely soon to lie superseded, it is a matter of regret that it could
not have been based upon the text of Van Vloten and Laiul. .
The work by Principal John Caird takes tiie place in Black-
wood's Pliilosophical Classics for which Dr. Martineau's „Study of
Spinoza" proved too bulky. But tiie materials which Dr. Caird
had prepared \\>y liis lionk were also fouud greatly to exceed the
338 -T- G. Schur in an,
limits assigned to it. He has, therefore, besides otlier parts of his
plau been compelled to have out the account of Spinoza's life and
letters. and to confine tlie work to what be calls an examination
of the philosophical System. In fact, his volume is limited to a
critical interpretation of Spinoza's Ethics with some account of its
sources. No room was found for an examination of the treatise
De Deo et Homine, which, however, the author had intended to
use as an introduction to the Ethics.
It was perhaps inevitable that Dr. Caird's volume should suffer
somewhat from the limitations imposed by the condltions of the
series in which it appears. It is not so certain, however, that a
better use might not have beeu made of the space actually at his
disposal. The beauty of the style, the melody and flow of the
sentences may reconcile, but they cannot blind, us to a tendency
to prolixity and repetition too visible in the author. Furthermore,
Dr. Caird has forgotten that some acquaintance with philosophy
might have been presupposed in his readers. He has an iuveterate
habit of expounding and criticising and settiug in an Hegelian light
every System of thonght, almost every philosophical question, he
has occasion to mention; and though his observations are alvvays
perspicuous and often instructive, it was scarcely fair to allow, in
a volume devoted to Spinoza, disquisitious on Neo - Platonism,
Descartes, and other relatively extraneous subjects to take the
place of a history of the development of the philosopher and a
fuller account of his thought not ouly in itself but in its genesis
and in its multifarious ramifications.
Spinoza\s philosophy, Dr. Caird holds, is the composite result
of conflicting tendencies, neither of which is followed out to its
utmost logical results. As Spinoza approaches his problem from
difterent sides, the opposite tendencies by which his mind is
governed seem to receive alternate expression. His inconsistency,
however, is due rather to defective logic than to iucompatible priu-
ciples. The fault is not that he started from different premisses,
but that he did not carry out what was for him the only true
premiss to its legitimate results. This the expositor must do. It
is for him to discover the dominant ideu ur general tendency ol
The Literature of Modern Philosophy in En^^land and America, 1886—1888. 339
Spinoza'« philosophy and explain his inconsistencies as only un-
conscious aberrations from it. And Dr. Caird endeavours to deter-
mine this dominant idea or undercurrent of tendency in the mind
of Spinoza by a scratiny of his original Impulse towards philo-
sophy and a survey of the influences by which his thought was
moulded. An examination (pp. 8 — 35) of the De Int. Eraend.
yields the result that Spinoza's aim was not primarily the search
for intellectual satisfitction bat the discovery of the way to spiritual
perfection and blessedness. But these do not, as Dr. Caird suppo-
ses, exclude, they rather imply one another. Still it is correct to
say that Spinoza\s primary Impulse to philosophy was a religious
one. And its first movement was towards that ,,most perfect being"
which Dr. Caird rightly refiises to follow Mr. Pollock in identifying
with the unily and uniformity of nature. When, however, our
author comes to treat (pp. 36 — 111) of the influence of preceding
writers on Spinoza he is less happy. He must be critic as well as
istorian: and he insists on holding theories up to the light of
egel rather than carefully investigating the facts that bear upon
■he development of the System of Spinoza. In Chap. II. (p. 36 — 59)
there is much about Neo-Platonism, and the Kabbala, but its sole
pertinent result is that in the ,, intellectual love" of Spinoza „we
ay discern points of analogy to the Neo-Platonic „ecstasy" and
to the Kabbalistic absorption in the 'En Soph.' " (p. 59). Chap. III.
[t is surprising to find in a volume from which so much had to
)e omitted, since its only purpose is to show that Spinoza had
lothing in common with Maimonides, whose System, it is charac-
;eristically explained, is in some important points .,irreconcilable,
lot only with the philosophy of Spinoza, but with any philosophy
\-hatever" (p. 68). A real affinity, however, is in Chap. IV (pp.75— 90)
band between Spinoza and Giordano Bruno. Both believed in the
ibsolute unity of all thiugs; both sought to explain the universe
rem itself; both found in the idea of God the immanent cause or
)rinciple of the world (p. 88). The relation of Spinoza to Descar-
es is not made very clear; but Chap. V. (pp. 91 — 111) contains
i!i elaborate account and examination from the Hegelian standpoint
if the System of Descartes. The chapter might have been omitted
;'i40 >'• ^'- Schur man,
without detriment to the author's accouDt of Spinoza and without
loss to British pliilosophy, which already possesses more than one
Hegel iau exposition of Descartes.
The rest of the volume (pp. 113—115) is devoted to the Ethics.
It does not call for detailed notice heve. The exposition is lucid,
and the criticism, if not new. at least just and sympathetic. The
authors oonstant effort at reconstruction will be differently estima-
ted by different readers. Hegel held that Spinozism was the in-
dispensable beginning of every philosophy, bat that in a final phi-
losophy Spirit must take the place of Spinoza's Substance. Now
Dr. Caird is an Hegeliau. though an Hegelian of the epistemolo-
gical type that has arisen amongst us in affiliation with the philo-
sophy of Kant. And his work, or the last two-thirds of it, mayi
be justly described as an examination and rehabilitation of Spinoza's
System in the light of HegeFs Logik. „At the outset we seem to
have a pantheistic unity in which nature and man, all the mani-
fold existences of the finite woild, are swallowed up; at the close,
an infinite self-conscious mind, in which all finite thought and beingi
find their reality and explanation" (p. 304).
The Ethical Import of Darwinism. By J. G. SctirRMAN,'
Professor of Philosophy in Cornell üniversity. New York;
Charles Scribner's Sons. London: >Villiams and Norgate.
1887.
This work is a consideration of the bearing of Darwinism i
upon Ethics, with an examination of evolutionary theories ofi
morals. It may, however, be mentioned in a review devoted to
the history of philosophy on account of the second chapter, which
contains a history of the evolutionary doctrine from the earliest'
times to the appearance of Darwin's Origin of Species. The
first chapter is an attempt to determine the method and scientific
character of Ethics. The last chapter deals with the evolution of
the family. The rest of the book is devoted to the ethical implii
cations of Darwinism and an examination of Darwin's theory ol
the genesis of conscience.
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Tl. l?aiKl 3. Heft.
XVII.
Arcliive der Litteratiir in ihrer Bedeutung für
das Studium der Gesclüclite der Pliilosopliie.
Von
Wilhelm Diltliey in Berlin.
Der folgende Aufsatz möchte die Kreise, die sich mit der Ge-
scliichte der Philosophie und weiterhin mit der Geschichte wissen-
schaftlicher Bewegungen überhaupt l»eschäftigen, für einen Plan
interessiren, den ich länger im »Stillen erwogen und nun neuerdings
einem niichstbeteiligten Kreise vorgelegt habe'). Die Handschriften
der Personen von geistiger Auszeichnung, welche Deutschland seit
den Tagen des Humanismus und der Reformation hervorgebracht
hat, sind durch die Vernachlässigung, die ihnen gegenüber obwaltet,
zum grössten Teil zu Grunde gegangen. Was sich von ihnen er-
hielt, ist über ganz Deutschlund zerstreut, im Besitz von öttent-
lichen Bibliotheken und von Privatpersonen. Die Gefahr besteht,
dass von dem was Privatpersonen besitzen immer mehreres ver-
loren gehe. Dieser Zustand ist unerträglich. Er muss allmälig die
') Der Plan von Archiven der Litteratiir, auf wi-lclieii sieb cias folgemlo
bezielit, ist von mir zunäclist in einem Vortrag vorgelegt worden, welclier am
IG. Januar d. J. die Zusammenkünfte einer Gesellschaft für deutsche Litteratiu-
eröffnete. Her Vortrag ist iui diesjährigen Jlär/heft dn [{uadsihau erscliienvii.
94
Archiv f. Gesdiichte d. Philosophie. II. "
344 Wilhelm Dilthoy,
Zerstörung aller Handschriften, die sich nicht durch einen glück-
lichen Zufall in die Bibliotheken oder in andere öfrentliclie Stätten
retten, zur Folge haben. Er macht zugleich eine wirkliche Ge-
schichtsschreibung auf dem Gebiete der Litteratur und des geistigen
Lebens unmöglicii. ]\Iit Neid muss heute Jeder, der die Geschichte
geistiger Bewegungen studirt, auf den Genossen blicken, der die
moderne politische Geschichte in wolgeordneten Archiven bearbeitet.
Solche Archive bedürfen wir auch für die Litteratur. Und zwar
sind im folgenden überall unter Litteratur alle dauernd wertvollen,
über den Dienst des praktischen Lebens hinausreichenden Lebens-
äusserungen eines Volkes zu verstehen, welche sich in der Sprache
darstellen. Der Ausdruck Litteratur umfasst demnach Dichtung
und Philosophie, Geschichte und Wissenschaft. Wenn ich nun an
anderem Ort unter dem allgemeinsten Gesichtspunkt die Notwen-
digkeit solcher Archive besprochen habe, so soll die hier folgende
Darstellung den Wert erörtern, den dieselben für die Geschichts-
schreibung der Philosophie sowie der geistigen Bewegungen über-
haupt haben würden.
L
Dass der AVert der Handschriften für die Geschichte der
neueren Philosophie und im weiteren Sinne der neueren intellec-
tuellen Bewegung erst allmiilig und sehr langsam zur Anerkennung
gelangt ist, war zunächst durch die solange herrschende Behand-
lung der Geschichte der Philosophie bedingt.
Die Geschichte der einzelnen philosophischen Disciplinen und der
einzelnen Wissenschaften, wie Aristoteles und seine Schule sie be-
gründet haben, sodann die doxographischen Darstellungen sind, als
aus den Arbeiten der humanistischen Epoche im 17. und 18. Jahr-
hundert eine Universalgeschichte der Philosophie erwuchs, liei den
Arbeitern auf diesem Gebiete ganz zurückgetreten gegen die Dar-
stellungen des Lebens und der Lehren einzelner Philosophen, des
Lehrsystems einzelner Schulen und die Verbindung solcher Biogra-
phieen zu einem Ganzen. Diogenes Laertius war für diese beque-
mere und doch zugleich anziehende Form das Vorbild. Auf dieser
Grundlage haben wir Deutsche eine LTniversalgescIiichte der Philo-
Arcliivo lior I.itt. in iliror P.e'leut. für das Stnd. der Gesch. der Philos. 345
Sophie geschaft'en. Denn Stanley schränkt sich aul' die alte, als
die einzige Philosophie ein. Pierre Bayle konnte nach seinem
ganzen Standpunkt wol Leben und Lehren der einzelnen Philosophen
darstellen und der Kritik des souveränen Skeptikers unterwerfen: ein
universalhistorischer Zusammenhang bestand für ihn nicht. Dagegen
Jakob Thomasius, Brucker und Tennemann haben eine allgemeine
Geschichte der Philosophie geschaflen. Schliesst sich Brucker an das
Verfahren des Diogenes Laertius noch an und besteht bei ihm die
Geschichte der neueren Philosophie in Leben und Lehre aneinander-
gereihter grosser Männer, des Giordano Bruno, C'ardanus, Baco,
Campanella, Hobbes, Descartes, Leibniz, Thomasius, welche er als
die „Heroen" der modernen Philosophie bezeichnet (bist. crit. IV.
2. p. Ö21), so hat er doch schon das Bediirfniss empfunden diese
Darstellung zu ergänzen durch eine den letzten Teil seines Werkes
füllende Geschichte der einzelnen pliilosophischen ^V'issenschaften
in den neueren Zeiten. Hier treten uns unter den Philosophen,
welche einen einzelnen Teil der Philosophie gefördert haben, Locke,
Spinoza, Newton neben den von Brucker so bevorzugten deutschen
Eklektikern des 18. Jahrhunderts entgegen. I^ag es doch in der
Kathedergewohnheit der Philosophen dieser eklektischen Schule,
für welche Thomasius vorbildlich war, das Systematische der ein-
zelnen Fächer mit dem Histoiischen zu verbinden.
Eine wissenschaftliche Geschichte der Philosophie entstand in-
dessen erst, als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwei
neue Momente in diesen Teil der Historie eindrangen.
Die deutsche Philologie und die von ihr geschatfene littera-
rische Methode bildete das erste Moment. Man lernte eine Schrift
nach Entstehung, Absicht und Compositiou zergliedern. Man lernte
ein verlorenes Werk aus Fragmenten und Nachrichten reconstruiren.
Den Zusammenhang von Schriften in dem Kopf eines Autors, die
Beziehungen zwischen Schriften oder Autoren in einer litterarischen
Bewegung lernte man in methodischer Genauigkeit erfassen. Und
in unsern Tagen bildet den Triumph dieser literarischen Methode
das auch an alt- und neutestamentlichen Schriften und an mittel-
alterlichen Geschichtschreibern ausgebildete Verfahren, hinter com-
pilirenden AVerken gleiclisam die erlüschte Schrift der Originale zu
24*
340 Willirlin Diltliey.
lesen, an langsam entstandenen Büchern die Nähte, Lücken und
Widersprüche zu beobachten, sowie die Schichten ihres Aufbaus zu
unterscheiden.
üas andere Moment, auf dem die Entstehung einer wissenschaft-
lichen Geschichte der Philosophie beruhte, lag in der seit Winkel-
mann von der deutschen Historie und Philosophie allmälig vervoll-
kommneten Einordnung der litterarischen Erscheinungen in den Zu-
sammenhang einer aufsteigenden Entwicklung. Diese Entwicklungs-
lehre, welche zwischen den Systemen einen inneren Zusammenhang
hergestellt, die relative Leistung eines jeden von ihnen für die Ent-
wicklung der Menschheit bestimmt und mitten im Wechsel der
Philosophieen ein siegreiches Fortschreiten zur Wahrheit nachge-
wiesen hat, ist eine der eigenthümlichsten Leistungen des deutschen
Geistes. Unser Volk allein hat im höchsten Sinne geschichtliches
Bewusstsein. Wenn heute die Philosophie Hegels zur Verwun-
derung Vieler in dem empiristischen England einen erheblichen
Einfluss zu üben beginnt, so ist eben dem heutigen Engländer
Hegel das Gefäss dieses geschichtlichen Bewusstseins, das bei uns
alle Geisteswissenschaften durchdringt. Descartes in Frankreich,
Baco, Hobbes und Locke in England zerrissen die geistige Con-
tinuität der intellectuellen Entwicklung von Altertum und Mittel-
alter her. Dagegen haben bei uns seit Melanchton, welcher ganz
von der Einheit des antiken mit dem christlichen Geiste erfüllt
war, Gymnasieen, Universitäten und Wissenschaft in dem Gefühl
dieser Einheit gelebt. Dann hat der andere grosse praeceptor Ger-
maniae, Leibniz, die moderne AVissenschaft in diesen umfassenden
Rahmen aufgenommen. Altertum und Christentum wurden mit der
mechanischen Weltanschauung der Neueren zu einem Ganzen ver-
schmolzen. So ist Universalität der Grundcharakter der deutschen
AVissenschaft geworden. Und solches Zusammenfassen geistiger
Lebensgestalten in der Tiefe des Bewusstseins musste nun zu dem
Gedanken der Entwicklung führen, als in welchem allein eine Ein-
heit dieser Gestalten für das Bewusstsein hergestellt werden kann.
Man sieht diesen Gedanken bei Leibniz aus der Lage hervorwachsen.
So keimt schon in der Vorrede zur Theodicee Lessings Erziehung
des Menscheno-eschlechts. Die geschichtliche Universalität des deut-
'e^
Archive der Liil. in iincr Bedeiit. für fliis Stud. der Ge,sch. der Philos. 347
sehen Geistes und der iu ihr gegründete Gedanke der Entwicklung
waren dann die Grundlage für die historischen Ideen und Arbeiten
von AVinkelmann. Lessing, Herder, Iselin, Pestalozzi. Wie Hegel
diesen Gedanken durch das ganze Wissen verfolgt hat. so hat er
auch die Geschichte der Philosophie zuerst demselben unterworfen.
Und wenn Hegel leider die exakte Grundlage der philosophi-
schen Methoden verschmähte, so hat die auf ihn folgende Generation
die beiden Momente, auf denen wissenschaftliche Behandlung der
Geschichte der Philosophie beruht, nun miteinander zu verknüpfen
verstanden. Die philologisch - kritisch erforschte Entwicklungsge-
schichte der einzelnen grossen Denker ist überall Unterlage für die
Erkenntniss des Zusammenhanges des philosophischen Denkens selber
geworden. So wird allraälig die ursprüngliche Begrenzung der Ge-
schichte der Philosophie aufgegeben: sie ist nicht mehr nur eine
Geschichte der grossen Philosophen.
Doch entsteht das Bedürfniss, wenn die Geschichte der Philo-
sophie ihren hervorragenden Platz in unserm wissenschaftlichen
Denken und in dem Unterricht auf den Universitäten behaupten soll,
den bedeutenden Stoff in eine noch tiefere Beziehung zu unserm
geschichtlichen Bewusstsein zu setzen.
Die philosophischen Systeme sind aus dem Ganzen der Cultur
entstanden und haben auf dasselbe zurückgewirkt. Das erkannte
auch Hegel. Aber nun gilt es, den Causalzusammenhang nach
seinen Gliedern zu erkennen, in welchen sich dieser Vorgang voll-
zog. Diese Aufgabe hat sich Hegel noch nicht gestellt. Und ihre
Lösung, die Versetzung der philosophischen Denker in den leben-
digen Zusammenhang, dem sie angehörten, macht dann sofort eine
litterarische Behandlung erforderlich, welche aus der ganzen noch
erreichbaren Kenntniss über die Mitarbeiter, die Gegner und die be-
einflussten Personen den Causalzusammenljang des A'organgs er-
forscht. Saint-Beuve in seiner Geschichte von Port Royal, Buckle
in einigen Partieen seiner Geschichte der Civilisation, Taine in
verschiedenen Theilen seiner Geschichte der englischen Litteratur sind
beachtenswerte Beispiele eines solchen Verfahrens. Jedoch sind auch
diese Schriftsteller in der Abschätzung der Stärke und des Umfanges
der geistigen Bewegungen, in der Verfolgung der ursächlichen Be-
348 Williplm Iiillhey,
ziehungon, flie zwischen Theolugio, Litlcralur. positiven Wissen-
schaften und Philosuphic bestehen, noch nicht so inethodisoh ver-
fahren, als dies die Quellen gestatten. Die Bewegung, welche in
Frankreich deji Dcscartes hervorbrachte und durch den Einfluss
seiner Schule dem französischen Geiste teilweise sein Gepräge gab,
die andere Bewegung, in deren Verlauf Bacon, Hobbes und Locke
hervortreten, setzen sich aus dem Zusammenwirken vieler Personen
zusammen. Zwischen dem Kultus der philoso{)hischen Heroen in
einer Geschichtschreibung, welche zwischen diesen Einzelpersonen
abstrakte Fäden spinnt, und der demokratischen Erklärung aus
Massenbewegungen, wie sie Buckle einzuführen versuchte, liegt die
geschichtliche Wahrheit mitten inne: sie lässt sich nicht in einer
Formel ausspi'echen. ^'ielmehr ist die Erkenntniss dieser Wahr-
heit erst das Ergebniss der geschichtlichen Einzelforschung.
Es sei erlaubt, diesen Zusammenhang der Geschichte der
Philosophie mit der Kulturgeschichte von einem psychologischen
Ausgangspunkte aus zu verdeutlichen.
Die Struktur des Seelenlebens enthält in sich das Schema,
gleichsam das Gerüst für alle aus dem Zusammenwirken seelischer
Einheiten entstehenden geschichtlichen Vorgänge. Aus der geistigen
Atmosphäre, in Avelcher der Mensch lebt, entstehen ihm Eindrücke, sie
werden mit den angesammelten Erfahrungen verknüpft, sie werden
im Denken verarbeitet. Wie nun aber die AVurzel unserer Existenz
ein Mannichfaltiges von Gefühlen und Trieben ist, die mit elemen-
tarer Gewalt sich dem Wirklichen entgegen strecken, und von deren
Befriedigung durch das Wirkliche alsdann Erhaltung, Glück und
Entwickelung des Individuums, wie Erhaltung der Art abhängig ist:
wird dem so gearteten und von Trieben, Begehrungen und Gefühlen
erfüllten Menschen Alles, Sachen, Personen, erkannte Natur- und
Lebensverhältnisse zum Material, an welchem sein Lebensgefühl,
sein Gemüth sich bethätigt. Alsdann werden von diesen Gefühlen.
Trieben und Affekten, als von Motoren, die ^Villensvorgänge und Be-
wegungen getrieben, welche dies Eigenleben der Umgebung anpassen
oder unsere Zustände selber den Lebensbedingungen accomodiren.
Die konkrete Einheit dieser Vorgänge in der Person ist immer
geschichtlich. JJic Kultur eines Zeitalters kann als die Art und'
Arcliive rler Litt, in ihrer Bedeuf. für fi;is Sind, der (lesoli. der Pliilos. 349
Weise angesehen werden, wie dieser Struktur/Aisammenhang, der
sich vermittelst der Wechselwirluuig zwischen Individuen durch ein
Ganzes erstreckt, innerhalb dieses Ganzen eine Ausbildung der Glieder
der Struktur und eine Verbindung zwischen diesen Gliedern gewinnt:
gleichsam Organe des Gewahrens, Geniessens und »Schaft'ens, sowie
einheitliche Macht der Bethätigung. Es ist nun immer bemerkt Avordeu,
dass die philosophischen Systeme in einem gewissen Verstände die
Kultur eines Volkes und einer Zeit repräsentiren. Dies ist darin be-
gründet, dass sie allein das Leben selber zum vollständigen be-
wussten Zusammenhang im Denken erheben. Indem ein philosophi-
sches System von den gesammelten Erfahrungen und den positiven
Wissenschaften einer Zeit ausgeht, gestaltet es von da eine Ein-
heit, die hinüber reicht in die Lebensführung des Einzelnen und
in die Leitung der Gesellschaft. Wo dieser Zusammenhang, der
aus der Erkenntniss der Wirklichkeit die in ihr möglichen Ziele
entwickelt, so klar und fest ist als es die Mittel des menschlichen
Denkens in einer gegebenen Zeit gestatten: da ist Philosophie.
Und nur wo Philosophie ist, hat die Ueberzeugung zugleich eine
wissenschaftliche Grundlage und ein praktisches Ziel. Der Religion
wie der Dichtung fehlt das wissenschaftliche Fundament. Dagegen
der positiven Wissenschaft fehlt die führende Kraft, das Leben des
Einzelnen und der Gesellschaft zu bestimmen.
Aus diesen Verhältnissen ergiebt sich dann ein zweiter Satz.
■ Die Erkenntniss der geschichtlichen Natur des Menschen, die Ein-
sicht in die Veränderungen des ganzen Seelenlebens nach seiner
vollen Lebendigkeit und Wirklichkeit, also der Blick in die Ent-
faltung des Einen ganzen Menschen innerhalb der Geschichte sintl
überall auf das Studium der geistigen Bewegungen, zumal aber auf
die Geschichte der Philosophie angewiesen. Die geschichtliche
Natur des Menschen ist seine höhere Natur überhaupt. Noch sind
Psychologie und Psychophysik nicht zu einer sicheren Einsicht
darüber aelangt, wie aus dem Zusammen w'irken von Elementen
und von elementaren Processen die höheren Leistungen von
Selbstbewusstsein, Denken und sittlichem Wollen entspringen.
Niemand vermag zu entscheiden, ob aus der Zusammensetzung von
Elementen und Processen ohne Rest und Minderung diese höheren
350 Wilhelm IiiJthev,
Leistungen abgeleitet werden können. Auch vermögen wir nicht
aus den Funden der paläolithischen und ncolithischen Zeit über
die seelischen Zustände der ersten Menschen uns eine zuverlässige
Vurstellung zu bilden. Doch was wir wissen, berechtigt mindestens
zu dem Schlüsse, dass der liöhere Gehalt, welcher früher als die
ursprüngliche Mitgift der Menschennatur angesehen wurde, viel-
mehr überall in der mühsamen Arbeit der Geschichte erworben
wird. Dem entspricht auch, dass dieser höhere Gehalt nicht all-
gemeingiltig sich in der Menschennatur als stets derselbe ausprägt:
er besteht nur in unterschiedenen geschichtlichen Formen. Und
zwar können wir, da die in der Menschenwelt wirkenden Kräfte
immer dieselben gewesen sind, die Natur dieser geschichtlichen
Arbeit auf der primitiven Stufe aus der Natur derselben in den
späteren geschichtlich helleren Zeiten erschliesscn. Auch in diesen
von der Geschichte beleuchteten Zeiten ist freilich die Durchsich-
tigkeit der Entwicklung auf den verschiedenen Gebieten nicht die-
selbe. Die Zunahme des Wissens und der Einlluss seiner Verän-
derungen auf die Civilisation ist einer genauen historischen Dar-
stellung fähig. Auch die Ausbildung der Erfindungen, Künste und
Lßbeusordnungen, als der Handgriffe des menschlichen Handelns,
kann festgestellt werden. Zwischen l)eiden aber liegt, was den
Kern der ]\Ienschennatur ausmacht. Dieser Kern entsteht, indem
die uns selbst wie den ^Veltlauf regierenden mächtigen Triebe, die
sanftem Regungen, die Gemüthszustände, welche alle zunächst ver-
einzelt wirken, Beziehungen eingehen, indem sie unter den Be-
dingungen der Lebensumstände, der Lage des Wissens, der Hilfs-
mittel des Handelns bestimmte Werte für den Zusammenhang des
Lebens empfangen, indem sie in bestimmte Verhältnisse zur Wirk-
lichkeit treten. So entsteht eine gehaltvolle Einheit, ein Kern der
Person. Auch dies Höchste in all unserm menschlichen Thun, ein
einheitlicher \Ville, welcher durch die Eindrücke von aussen, durch
die Ansammlung von Erfahrungen bedingt ist und seinerseits das
Handeln l)edingt, ist uns nicht mitgegeben, sondern er ist der Er-
werb der Arbeit in Sitte und Sprache, in Poesie und Mythos. Die
Person entwickelt sich gerade in diesem ihrem Kerne vorherrschend
unter dem Einfluss von metaphysischem G'lauben und weiter von
I
An.hive der Litt, in ihnT Bedeut. für da- Sind. i|pr Ciesoh. der Piül ■>. 351
inctaphysischer Wissenschaft. So stellon sich die grossen A'erän-
(lerungen im Lrl)ensgeffilil der Menschen in den Veränderungen der
l'liilosophic dar. Die Geschichte der Pliilosophie macht die Auf-
finanderfulgc der Positionen des menschlichen Seelenlebens sichtbar.
Sie giebt die Möglichkeit, den geschichtlichen Ort für die einzelnen
i'lrscheinuugen der Litteratur, der Theologie nnd der Wissenschaften
zu erkennen. Denn jede im philosophischen Denken erfasste neue
i'usition des Bewusstseins äussert sich gleicherweise im wissen-
schaftlichen Erkennen dieser Wirklichkeit, in den Wertbestimmun-
gen des Gefühls, und in den Willeushandlungen, also der Führung
des Lebens und der Leitung der Gesellschaft.
IL
Diese Sätze umschreiben den Causalzusaramenhang, in welchem
das langsame Fortrücken der Philosophie stattfindet. Die Ge-
schichte kennt keine verwickeitere Erscheinung als die Philosophie
eines Zeitalters ist, sofern man diese Philosophie nicht nur äusser-
lich beschreiben, sondern als Lebensmacht verstehen will. Dem-
gemäss muss die Analysis dieses Phänomens alle Hülfsmittel be-
nutzen und jeden geschichtlichen Rest des Vorgangs zu Rathe
halten. Je grösser das Lebenswerk eines ^Menschen ist, desto tiefer
reichen die Wurzeln seiner geistigen Arbeit in das Erdreich von
Wirthschaft, Sitte und Recht seiner Zeit, und in desto mannigfalti-
gerem lebendigerem Austausch mit Luft und Licht umher athmet
und wächst sie. In solchem feinen, tiefen und verwickelten Zu-
sammenhang kann jedes scheinbar unerhebliche Blatt Papier ein
Element von Causalerkenntniss werden. Das fertige Buch spricht
für sich wenig von dem Geheimniss seiner Entstehung aus. Pläne,
Skizzen. Entwürfe, Briefe: in diesen athmet die Lebendigkeit der
Person, so wie Ilandzeichnungen von derselben mehr verraten als
fertige Bilder. Wol kann eine Geschichte der Systeme, welche
eines nach dem andern, wie mit dem Storchschnabel, in verklei-
nertem Maassstabe reproducirt, ganz aus den bekannten Büchern
geschrieben werden. Eine solche Geschichte beschieibt die Systeme
und macht ihre Form sichtbar. Geht man aber von den 15(iclicrn
zu dem Menschen zurück, will man seine Lebensmacht verstehen
8;V2 Willielm lüll hey,
und seine Entwicklung erkennen, dann liedarf es hierzu des Inbe-
griü's aller aus seiner Zeit nooli aul' uns gekommenen IJücher: man
muss über die l)ekannten .Schriftsteliei- zu den vergessenen zurück-
gehen und alle Glieder des Zusammenhangs, der aus Büchern be-
steht, auispüren: es bedarf endlich auch der Handschriften. Dann
ist von keinem Blatt zu sagen, was es mitzuteilen vermag, wenn
es nur unter das richtige AuQ,e kommt.
JJem Wirklichkeitssinn unserer Tage erscheint der Mensch
als der eigentliche Grundkörper für diesen Zweig von (ileschichte,
wie für jeden anderen. Dies muss alle Grundvorstellungen nl)er
geistige Bewegungen beeinflussen. Zugleich giebt es den unmittel-
baren intimen Lebensäusserungen in Handschriften, Briefen einen
hohen Wert.
Die Einheit, durch welche wir dt^n Verlauf einer geistigen
Bewegung messen, ist in dem Menschen selber zu suchen.
Nur von aussen angesehen, liegt das Gerüst des Verlaufs geistiger
Bewegungen in dem System von Stunden, Monaten, Jahren und
Jahrzehnten, in das wir das Geschichtliche zunächst einordnen.
Dem Verhältniss zwischen den Sekunden der Uhr und dem psycho-
logischen Zeitmaass entspricht für die grossen Zeiträume des ge-
schichtlichen Ablaufs das Verhältniss zwischen den Jahrzehuten
oder Jahrhunderten und dem Menschenleben oder den Lebens-
altern. ]m Verlauf des .Menschenlebens ist die natürliche Ein-
heit für ein anschauliches Abmessen der Geschichte geistiger ]3e-
weguugen gegeben. Eine graphische Darstellung der bald kürzereu,
bald längeren Lebenslinien ist zuerst, soviel ich sehe, von dem
Physiker und Philosophen Priestley in seiner Chart of biography
versucht worden. Poggendorft" hat sich dann derselben in seinen
Lebenslinien zur Geschichte der exakten Wissenschaften (1853)
bedient. Doch l)lieb nach meiner Kenutniss dies Beispiel bisher
ohne erhebliche Nachfolge.
Als Zeiteinheit, vermittelst deren umfassendere geistige Be-
wegungen oder Veränderungen gleichsam biologisch gemessen wer-
den können, bietet die Generation sich dar*). Generation ist die
■-') Die Bedeutung der Gruudvorstellung Generation für die Geschichte
Archive iler Litl. in ihrer l^e'leut. für das Stml. der Ge-'-h. der Phih'S. 353
Bezeichnung Tür einen Zeilrauni, der von der Geburt liis zu der-
! jeüigeu Altersgrenze reicht, an welcher durchschnittlich ein neuer
'Jahresring am Baume einer Descendenzreihe sich ansetzt. Eine
solche Generation ist in ihrer Dauer von den Gewohnheiten der
Eheschliessnng bedingt. Der Altersunterschied zwischen dem A'ater
imd den Kindern, wenn dabei der mittlere Altersunterschied zwi-
schen den ältesten und jüngsten Geschwistern angesetzt wird, be-
trügt für Deutschland 3B'/,. für England Bö'/, und für Frankreich
347, Jahr. Im Ganzen also umfasst ein Jahrhundert drei Gene-
rationen. Die intellectuelle Geschichte Europas seit Thaies, als dem
ersten wissenschaftlichen Forscher, von dem wir wissen, umfasst
nur 84 Generationen. Von der letzten Blüte der Scholastik sind
wir kaum durch 14 Generationen getrennt. Diese Vorstellung ist
sehr nützlich, die lebenswirklichen Abstände geistiger Veränderun-
gen zur Anschauung zu bringen. Jeder von uns kennt den geistigen
Abstand, welcher seine Eltern von seinem eigenen Fühlen und
Denken trennte, und er kann wieder erfahren, in welchen Grenzen
seine Kinder ihn verstehen, seine Gefühle und Gedanken teilen.
Diese lebendige Anschauung kann er anwenden, um den Fortgang
geistiger Veränderungen in der Geschichte fassbar zu machen. Dann
schliesst sieh an diese Anschauung des Abstandes der Generationen
das Verhältniss zwischen dem Mann auf der Höhe seines Lebens,
in den öOer Lebensjahren, und dem lernenden Jüngling: ein Zeit-
abstand von ähnlichem Umfang trennt diese beiden.
Derselbe Begriff, der so eine innere Abmessung des Zeitver-
laufs geistiger Bewegungen ermöglicht, dient ferner der konkreten
und realistischen Auflassung des Gleichzeitigen. Wir bezeichnen
diejenigen Personen, die gleichzeitig neben einander aufgewachsen
sind, die ein gemeinsames Jünglingsalter hatten und dann im Zeit-
alter der Kraft neben einander wirkten, als dieselbe Generation.
Sofern diese Personen in den Jahren der Empfänglichkeit durch
geistiger Bewegungen habe ich iu einer Ai^huiidluiig liher Novalis Preussische
Jahrbücher 1865 S. 596 — 650 gelegentlich hervorgehoben. Vom Standpunkte
des Statistikers ans behandelte sie Riimelin, Reden und Aufsätze 1875
S. 285tr., uiul Ottokar Lorenz über die Geschichtswissenschaft 1886 entwickelt
historische Folgerungen.
354 Wilhelm Dilthey,
dieselben grossen Thatsachen bedinol wurden, machen sie trotz
der Verschiedenheit im Maassverhiiltniss dieser Einwirkunjicn und
in deren Mischung mit anderen Fakturen ein homogenes Ganzes
aus. Eine solche (Jeneration Inlden die 8chlcgel, Schleiermacher,
Hegel, Novalis, Hölderlin, Wackenroder, Ticck und Schelling. Xon
diesen Gruudvorstellungen aus entsteht ein lebendiges, kraftvolles
Bild einer Zeit, indem man das Nebeneinanderleben der Gleich-
altrigen, das Hineinragen der älteren Generation und das Heran-
nahen der jüngeren berücksichtigt.
Die lebenswarmen Verhältnisse, welche aus den Grundvor-
stelluugen der Einzelperson, der Lebensalter und der Generation
für die Geschichte der geistigen Bewegungen entstehen, bedürfen
überall auch der Benutzung intimer Lebensäusserungen. Lidern
man den Lebenslauf der einzelnen Menschen der Betrachtung
geistiger Bewegungen zu Grunde legt, findet man sich überall auf
biographische, entwicklungsgeschichtliche Materialien angewiesen.
Von den Handschriften empfängt eine solche Betrachtungsweise ihr
Leben und ihre Fülle.
Man thut einen weiteren Schritt, indem man eine einzelne
wichtige Person entwicklungsgeschichtlich betrachtet.
Die Lösung dieses biographischen Problems steht an Bedeutung
und Schwierigkeit hinter keiner umfassenderen historischen Auf-
gabe zurück. Denn in der Biographie gelangt der Grundkörper
aller Geschichte zum Verständniss. Und hierbei bleibt Alles, was
Psvcholoo'ie und genialer Blick leisten können, eanz ungenügend,
wo Handschriften fehlen. Die Beziehungen von Werken aufeinander
und zum Geiste des Autors können nur hypothetisch und unlebendig
behandelt werden, wenn nicht Entwürfe und Briefe Bezeugung
und lebensvolle Wirklichkeit gewähren. Wo wir dann aus dem
Nachlass eines grossen Denkers oder Schriftstellers schöpfen können,
entsteht das in sich vollkommenste Bild, das wir von irgend
einem Teil der Geschichte zu erlangen im Stande sind. Denn die
Wahrhaftigkeit von Büchern, die Durchsichtigkeit von Gedanken
und zudem die Erhaltung aller wesentlichen Glieder der Vorgänge
in der Schrift wirken zusammen, diesem Teil der Geschichte eine
ihm allein eigene wissenschaftliche Vollendung zu geben. — Auch
Archive der Litt, iu ilirer Redeiit. für das Stuil. der (iescli. der I'lulos. 35;")
hier gruppiren sich um eine Hauptperson Gleichaltrige, die mit-
streben und mitarbeiten, eine ältere Generation, welche be-
stimmend einwirkte, und eine jüngere, die Einwirkungen empfing
und nun mit neuem Wollen vor der Thiir steht. Alle diese Be-
ziehungen treten nur dem in voller Realität entgegen, welchem
aus Briefen und Papieren der Athem der Personen zuströmt.
Alle Historie geistiger Bewegungen muss in solchen
Monographieen die tragenden Pfeiler besitzen. Soll sie nun ihre
umfassendere Aufgal)e lösen, so müssen die quantitativen Ver-
hältnisse zwischen den Teilen der Bewegung festgestellt werden
können. Auch vermögen wir Stärke und Umfang der wissenschaft-
lichen Richtungen, ihr AVachsthum, ihren Höhepunkt und wieder
ihr Sinken, kurz die Strömungen der wissenschaftlichen Atmosphäre
von der Zeit ab. in welcher der Biicherdruck ein zählendes Ver-
fahren ermöglicht, innerhalb gewisser Grenzen und mit einer gewissen
Unvollkommenheit zu messen. Es bedarf nur der Ausnutzung des
gesammten Bücherbestandes unserer Bibliotheken nach .statistischen
Methoden. Durch eine solche wird man einmal das ganze Causal-
verhältniss einer geistigen Bewegung, von den allgemeinen Bedin-
gungen eines Culturkreises durch die öffentliche Meinung zu
tastenden ^'ersuchen, und von da schliesslich zu einer genialen
Schöpfung, in deji wesentlichen Gliedern vorstellig machen können.
Intellectuelle Phänomene, die man bisher nur auf wenige Personen
und Vorgänge zurückführte, zeigen .sich dann als letztes Resultat
einer sehr zusammengesetzten geistigen Bewegung. Die Ausbrei-
tung von Gefühlen, Stimmungen und Ideen und die Cooperation
vieler Personen lässt sich auch hier wieder nur erfassen, wenn
man den ganzen noch erhaltenen Bücherbestand benutzen und
ihn zugleich aus den Handschriften ergänzen kann.
III.
Vergleicht man mit diesem unschätzbaren Wert der Hand-
.Schriften für die Geschichte der Philosophie und der geistigen Be-
wegungen die Sorglosigkeit, welche denselben gegenüber gewaltet
hat, betrachtet man die aus ihr entstandene Zerstörung des grössten
Teils der wichtigen Handschriften und die Zersplitterung beinaiie
356 Wilhelm D i 1 1 h c y ,
aller: so niiiss bei allen Beteiligten ein lebhafter Wunsch entstehen,
einem solchen unerträglichen Zustand soliald als möglich ein Ende
zu machen.
Ich erläutere dies zunächst an dem uns interessantesten Nach-
lass, dem Kants. Dass Kant selber auf seine Papiere Wert legte,
ja dass er die Veröffentlichung ihres wesentlichen Gehaltes Avüuschte,
geht daraus hervor, dass er im Anfang des Jahres 1800 alle seine
noch vorhandenen Concepte. Entwürfe, Reinschriften, Vorlesungs-
hefte, Compendien und Briefe an Rinlc und Jäsche übergab, damit
diese eine Revision und Anordnung derselben unternähmen und
das Geeignete zur Veröffentlichung vorbereiteten. Durfte doch Riuk
in seiner merkwürdigen Sammelschrift „zur Geschichte der meta-
critischen Invasion 1800" den Freunden und Verehrern der kriti-
schen Philosophie das allmälige Erscheinen der Metaphysik, Logik,
natürlichen Theologie, physischen Geographie und anderer inter-
essanter Schriften Kants durch Rink und ihn selber, Jäsche, ver-
sprechen. Auch sind so mehrere Schriften entstanden. Nach
dem Tode Kants kam die Hauptmasse an den Professor Gensichen.
als den Erben der kleinen Bibliothek, an den Buchhändler Nico-
lovius, als Verleger Kants, und an den Pfarrer Wasianski, als Exe-
kutor des Kant'schen Testaments, \ie\e einzelne Papiere wurden
verschenkt. Da nach dem Tode der l^eiden ersten Personen diese
Papiere unter den Hammer kamen, dagegen der Besitz von
Wasianski der Königsberger Bibliothek geschenkt wurde, die
kleineren verschenkten Massen aber schliesslich auch hier und da
zum Verkauf umgeboten wurden: entstand der Zustand, wie er
heute vorliegt.
Das meiste ist naturgemäss auf der Königsberger Universitäts-
Bibliothek zusammengeflossen. Von dem dortigen handschriftlichen
Nachlass gebe ich die folgende Beschreibung, welche ich der Güte
des Herrn Doktor Reicke verdanke: „der handschriftliche Nachla.ss
Kants auf der hiesigen Königl. und Uni versitäts- Bibliothek, zum
grössten Teil wol durch Schenkungen in den 30er und späteren
Jahren erworben, besteht fast nur aus losen Blättern verschieden-
sten Formates. Schubert hat dieselben behufs Benutzung für die
mit Ro.senkranz gemachte Ausgabe der Werke Kants in 13 Gon-
Archive der Litt, in ihrer Berleiit. für das Sttul. iler Gesch. tler Philos. 357
vtdiite geschieden, uutl innerhalb dieser geordnet. Diese Convoliite
(erst in neuester Zeit mit A — N liezeichnet) tragen von Scliuberts
Hand folgende Inhaltsangaben: A. 18 Blätter und Papierstreifen zur
Physik und zur Mathematik. B. 12 Blätter zur Kritik der reinen Ver-
nunft. C. 15 Blätter zur Logik und gegen Eberhard. I). 33 Blätter
zur Metaphysik. Wider den Idealismus. E. 78 Blätter und Papier-
streifen zur Moral, zur Rechtslehre und zur Kritik der praktischen
Vernunft. F. 23 Blätter. Kants Ansichten über allgemeine Gegen-
stände der Politik und des reinen Staatsrechts aus den Jahren 1785
bis 1799. G. 28 Blätter. Kants Ansichten zur Religionsphilosophie
und natürlichen Religion. Zum Streit der Facultäten. H. 59 Blätter
zur Anthropologie. J. 6 Blätter zur physischen Geographie. K.
15 Stücke. Kleine Concepte von Kants Hand, gekauft auf der
Bücherauktion des Prof. Gensichen. L. 61 Piecen. Kleine Denk-
zettel von Kants Hand aus der letzten Zeit seines Lebens (gekauft
auf der Prof. Gensichenschen Bücherauktion), dazu 3 Memorien-
bücher, von Herrn Bück durch Herrn Ober G. R. R. Reusch.
M. 36 Piecen. Allgemeine biographische Nachrichten. Entwürfe zu
Briefen. N. 63 Briefe an Kant. (Auf der Bücherauktion des
Professor Gensichen gekauft.) Dazu noch 6 andere Briefe^)." Hier-
zu kommt das Manuscript der Doctor-DLssertation „de igne" aus
dem Jahre 1755, dann eine biographisch wertvolle Sammlung
„Kantiana" aus Walds Nachlass (1860 von Reicke veröffentlicht),
ein Handexemplar der Kritik der reinen Vernunft (1. Ausg.) mit
handschriftlichen Bemerkungen, (die Benno Erdmann im Jubeljahr
der Kritik publicirte), mehrere Compendien von Wolffianern, nach
denen Kant las und die er mit Bemerkungen versah. Soweit
Reicke's Beschreibung.
Die anderen Papiere und Briefe Kants sind in Dorpat, Rostock,
Hamburg etc. zerstreut. Aus der Versteigerung der Kant-Papiere,
die in Gensichens Besitz gewesen Avaren, gelangte durch Kauf nach
Dorpat ein Exemplar der Metaphysik Baumgartens, durchscho.ssen
und mit zahlreichen Bemerkungen von Kant auch auf den ge-
druckten Seiten beschrieben, (daraus Benno Erdmann, Reflexionen
^) A— I) veröffentlicht in „Lose Blätter- aus K:\u\s Xaclilass mitgeteilt
von Rudolf Reicke. I.Heft. 1S89.
358 Wilhelm Dillhey.
Kants zur kntischen Philosophie 1882) und eiu ebenso von Kant
mit liaudschriftlichen Bemerkungen versehenes Compendium der
Yernunftlehre von Meier. Dann besitzt die dortige Bibliothek noch
zwei starke Bände mit Briefen an Kant (einzelnes daraus in der
altpreussischen Monatsschrift veröffentlicht von Sintenis und Reicke,
welche eine Ausgabe des Briefwechsels von Kant beabsichtigen).
Endlich hat Herr Prediger Dr. Krause in Hamburg das neuerdings
veröffentlichte, leider unvollendete Manuscript Kants vom Ueber-
gang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissen-
schaft zur Physik erworben.
So haben sich vom Nachlass Kants drei grössere Massen er-
halten. Ausser ihnen finden sich kleine abgesprengte Teile an ver-
schiedenen Stellen.
So sind in Rostock auf der Universitätsbibliothek 7 Briefe
Kants an Beck 1791, 1792. und Jene Einleitung zur Kritik der
Urteilskraft, welche Kant für das Werk abgefasst hatte, die dann
aber nicht vor dem Werke abgedruckt ist, sondern durch eine kürzere
ersetzt wurde. Man wusste bisher von dieser Einleitung aus dem:
Auszug, welchen Jakob Sigismund Beck von ihr anfertigte und im
zweiten Bande seines erläuternden Auszugs aus Kants kritischen
Schriften abdrucken Hess. Dieser Auszug ist zuletzt in Benno
Erdmanns Ausgabe der Kritik der Urtheilskraft (1880) wieder
gedruckt. Erdmann erwähnt die Stelle der \'orrede Becks, nach
welcher Kant das Manuscript der Einleitung an Beck, während
dieser mit obigem Werke beschäftigt war. zugesendet hat. Hier-
aus wie aus unserer Kenntniss Becks und dem Styl und Inhalt
der Einleitung versucht dann Erdmann das A'erhältniss dieses Aus-
zugs zu dem unbekannten Original zu bestimmen. Nun gut, dies
Original ist da. es ist die Rostocker Handschrift. Das« Erdmann
es bei seiner Edition nicht kannte und benützte, das zeigt uns,
wie die Zerstreuung der Handschriften ihre Verwerthung er-
schwert. Die Handschrift besteht in 34 Blättern von anderer
Hand, aber von Kant selber durchcorrigirt und mit zahlreichen
Randbemerkungen und Erweiterungen versehen. Da Beck ein per-
sönlicher Schüler Kants war, begreift man das Vertrauen, das er
ihm durch Ueber.sendung der Handschrift gewährte. Da er iu
Aicliivc lief LiU. in ilner Redeiit. rüi- das Sind, der Ge;>tdi. dor Philos. ,H59
Rostock Professor jicwescn ist, ist nicht 7.11 verwundern, dass die
Handschrift nel)en den Briefen Kants an Beck dort auf die Biblio-
thek kam. Also die Einleitung Kants haben wir augenscheinlich
in iiieser Handschrift anzuerkennen. L'nd nun zeigt eine Verglei-
chung, die Herr Oberbibliothekar Professor Schirrmacher anzustellen
die grosse Güte hatte, dass ganze umfangreiche Capitel gar nicht
in den Auszug aufgenommen worden sind. So wird also diese
kleine Schrift, die in den Kantausgaben von Rosenkranz uuil
Hartenstein unter dem sonderbaren Titel Über Philosophie über-
haupt' steht, in künftigen Kantausgabon nun in ihrer waiu'en (ie-
stall und ihrem ganzen T'mfang auf (irund dieses kleinen Fundes
erscheinen können. Ich lioiVe im nächsten Hefte des Arclnvs
über den Werth der ausgefallenen Theile und ihren Inhalt l)e-
richten zu können. — Anderes ist in die Hantl von Autographen-
sammlern gelangt. Rudolf Reicke besitzt das wichtige Handexemplar
von Kants Beobachtungen über ihis (lefühl des Schönen und Er-
habenen, aus welchem Schubert zuerst so bedeutende ^litteilungen
gemacht hat. ausserdem eine lateinische Rectoratsrede: „de Medi-
cina corporis quae Philosophorum est" (von Johannes Reicke im
XVni. l)de. [1881] der Altpr. Mon. iidtgeteilt) und einiges Gerin-
gere. Manches hat sich ganz in die Ferne verloren: so fmde ich
in einer Beschreibung der Autogra[)hen im Besitz von Fillon: Lettre
scientiri(|ue et philosophique de Kant au Professeur Schulz a Jena.
20 juni 1787 (vielleicht an Schütz, vergl. s. Leben IL 208—201)).
Dies Schicksal der Papiere Kants ist im höchsten (irade be-
lehrend. Die Papiere enthielten aller Wahrscheinlichkeit nacii ur-
sprünglich die Volle und ganze .Möglicld<eit, die Entwicklungsge-
schichte eines der grr>ssten philosophischen Genit's aller Zeiten und
die wahren geschiclitlichen ^lotive seiner (iedankenl>ildung zu er-
kennen. Auch isl heuie iindi jede Aussicht dieser Art au die
Trümmer dieses Nrichlasses gebunden. Die j^ciiialisclie Jugeml-
epoche dieses Geistes, sein freier IieJcht lium \nr der systematischen
Verfestiuung werden .•^itli uns immer zuerst in der .\;iturncschichte
des Himmels, dm Beidjüchluniicn üliei' ila> Sclnine und i']rhabene
luid den Träumen eines (ieisterseiiers. in zweiter Linie aber in den
Pai)ieren dieser früheren Zeit erschliessen. l nd was ist nun ihr
Aicliiv 1'. C.'srliirlit,- ,1. l'l,il,.s<.|.lii.-. U. -'-'
3ßQ Willi rhu l»ill lifv.
Schicksal gewesen! Vieriniil iniiiclcstous. dass wir wisM'ii. ^illtl er-
hebliche niul wichtige Teile dieses Nachlasses unter dem Hammer
des Auktionators, in den Händen der (ieldspekulation gewesen,
^lindestens in Einem Falle higen wichtige Papiere Kants in dem
Laden eines Gewiirzkiämers. um zum Einwickeln von KalVee und
Hei'ingen benutzt zu werden. Weder (be rnterrichtsvei'waltung
noch der Leiter der Künigsberger l)il)liothek empfand damals die
Verpflichtung, selbstthätig das für die Erhaltung dieses Nacldasses
Erfordoiliche ins ^^'erk zu setzen. Niemand hat daran gedacht, sichf
um die Briefe Kants an die Personen, mit denen er in Korrespon-
denz stand, rechtzeitig nach seinem Tode zu bemühen. Es bestand
eben keine Stelle, .welcher in Bezug auf Handschriften Initiative'
zufiel. So ist der Nachlass zerrüttet; ein Teil desselben gerieth auS'
Deutschland heraus und was sich bei uns erhielt, ist zersplittert.
^Ver nicht sehr geübt ist. in Handschriften zu arbeiten, kann sich
unmöglich vorstellen, was das bedeute, ^laudier denkt, es koste
nur Reisen, Zeit und Geld, um von solchen zersplitterten Hand-
schriften allmälig Einsicht zu nehmen und sie so zu benutzen.
Dagegen wer die verlöschten Spuren der Entwicklungsgeschichte
eine.s grossen Menschen aus vergilbten Hand.schriften abzulesen ver-
suchen musste, der weiss nur zu mit. wie dies schwierige Inter-
nehmen ganz daran gelnmden ist. (hiss man tliese Bh'itter immer
wieder an einander hält, dass die \'ei-;in(kM'unu'en der Hand und
Schreibweise ein sicherer Besitz werden und mit den A er;in(KMungea
des Inhalts sowie mit äusseren Kennzeichen von mancherlei Art
immer neu combinirt werden. Lmsonst hat man mit einem un-
geheuren Aufwand \i»n Arbeit l)isher die Entwicklungsgeschichte
Pia tos seinen Diah)gen zu entlocken versucht. Hier aber ist bei
einem amh'ren grossen (leiste das ^latei'ial vorhanden, die. Aufgabe
wirklich zu h'isen. Nun wird aber diese Liisunii, nur dem gelingen,
(h'r eilen so genau als zwischen seinen eigenen Pa|)ieren im
Arlieitshauslialt Kants zu Hause ist und ohne Besinnen aus den
Schriftzügen eines Pa[)ierstreifens das Lebensalter, in dem Kant '
ihn niederschrieb, abzulesen vermag. Und alle Begabung, alle Ar-
beit w ird (bes Ziel nicht eiiei' erreii'hen. als bis an Einer Stelle der
Nacidass Kants vereinigt ist. Dann erst kann eine al)schliessende
Anilivc ili'i- I.ilt. in ihrer P.eileiil. tTir iln- Stml. (1(m- (li'scli. iI.t Philns. ßt^J
Kaiitnusf^abc licru'cstcllt wcrdrii: ciiu' Elireiipllicht der IVn'lincr
Akndeiuio! Vnd auch Kants Entwickluiigsgescliiclito kann dann Je-
niantl schreiben, der unter den Büchern und Handschriften Kants
und seiner Zeitgenossen heimisch geworden ist.
\v\\ wähle ein anderes Heispiel, das viel umfassender, weniger
zugänglich, tloch ebenfalls im höchsten Orade belehrend ist. Der
Verlauf der geistigen Bewegung in Deutschland, der uns von der
katholischen und protestantischen Scholastik zu Leibniz und den
Leistungen seiner (ieneratiun emporf'iihrte. ist l)isher noch wenig
untersucht. Dieselbe Lücke besieht in Bezug auf die englische
Entwicklung zu Bacon und lb)bb(>s. die franziisische zu Gassendi
und Descartes. In so verschiedenen Lallen ist dies gleichmässig
die Folge der Einschränkung unserer (ies(lii(dite der Philosophie auf
eine geringe Zahl hervm-i'agender I'ers(in(Mi.
Und dennoch ist schioi zniiä'chst die A usbi I d u n i;' dei' Theolo-
ivie der vei"schiedenen ( d n lessio ii e n wähi'end des Ki. Jahrhun-
derts eine Verändei'uuii- im ganzen Bewusstseinsstaiide der Menschen
und ihrem metaphysischen (llauiien. welche von der (Teschichte der
Philosophie nicht übergangen wenleu kann. .Auch ilie Logik,
Physik uml l\thik jener Taue kann, weil sie in dem Dienste der
Theolojiie stand, nicht anders als unter dem theolouischen Gesichts-
punkt dargestellt werd<Mi. welcher dannils alles beherrschte. Den
Ausgangspunkt Inldet, dass dei- Glaube im pi-otestantischen Dogma
als einheitlicher .Mitteljjunkt aller Kraftvvirkung dei- l'erson erfasst
wird. Die l'ei-soii und ihr \\'ille ist vor Gott und seinem Ge-
richte wie vor den .Menschen unteilbare Innerlichkeit. J)ies
germanische Christentum, das aus dem Kraltgeliihl der Person her-
vorging und selber eine <i)uelle von Kräften wurde, ist ]iun bei
uns im sechszehnten Jahrhundert mit der humanistischen \ erehrung
und Erfassunu dos klassischen Alteilums. insbesondere des .\i-isto-
teles verknüpft worden, und hier ist die (iruiidlage unserer deut-
schen Bildung. Melanchthon. der diese \'erknü[)lung vollzog, wurde
so der Praeceptor Gernuiniae. Sie ist durch die damals entstandenen
Gymnasien dem deutschen Geiste eingeprägt worden. Sie wurde durch
unsere rniversitäten verbreitet. Aus der Metaphysik und TluMdogie
jener Tao-e' hinüber wirkt sie noch auf die Geu-enwart lebendig.
or-, *
•:>ß-2 ^Yillu•lm rnltliey,
Aber die theologischen Folianten von rJevhard, Calov un
(leren neukatholischen Gegnern sagen uns wenig von dem Inneren
des damaligen Menschen uml von den lebendigen Beweggründen
dieser Metaphysik und Theologie. Sie müssen zu allen noch
erreichbaren seltenen Büchern sowie den Handschriften in r»e-
ziehung gesetzt werden. So iillein können wir den lebendigen-
Athem der Menschen jener Tage fühlen. Und welches Material
bieten hier allein die lieiden ungeheuren 8amndungen. welche uh
Zürich liegen. Der Thesaurus Hottingerianus, welchen der Orien-
talist J. II. llottinger (starb 1667) angelegt hat, enthiilt in öO Bän-
den Korrespondenzen ans dem 16. und 17. Jahrhundert. Tnd die
Simmlersche Sammlung umfasst in 200 Bänden Korrespomlenzen,
Aktenstücke, Flugschriften von 1500— 178B. Beide Sammlungen
"•reifen inhaltlich weit über die Schweiz hinaus und sind gerade
für das 16. Jahrhundert beson.lcrs wichtig. Ueber ganz Deutsch-
land sind dann Kollegienhefte, ungedruckte Arbeiten und Briefsamm-
luno-en der Gelehrten des 16. und 17. Jahrhunderts zerstreut. So
enthalten die Bibliotheken von Dresden, Jena, Güttingeu und Helm-
städt ansehnliche Handschriften massen aus den protestantischen
Kreisen. Aber gerade in den kleineren Stadt-, Schul- und Kirchen-
bibliotheken, in den Archiven aller Klassen wird erst die grosse
Masse dieser Papiere, und teilweise auch der seltenen Bücher auf-
o-esncht werden müssen. A\'enn sie dann zusammengelegt werden,
kann erst ein einheitliches Bild entstehen.
Schon die Erkenntniss der einzelnen Personen wird erst auf
diese "Weise möglich, weil die P)riefe gewöhnlicli unter dem Xamen
der Empfänger, nicht der Schreiber in den Sammlungen sich (inden.
iHirner wird erst dies vereinigte Material die Macht der Theologie
jener Tage, die Intensität und den umfang der einzelnen Bewegungen
in ihr zu bestimmen uestatten. Ich zweifle nicht, da.ss die Registrirnng
der Handschriften und die Aufstellung eines einheitlichen Aer-
zeichnisses aller gedruckten Bücher aus dem 16. und 17. Jahrhun-
dert einen solchen Reichtum der Materialien und zugleich eine so
sinnlose Zerstreuung dersellien zeigen wird, dass innerhalb der
Kreise der protestantischen Kirche und Theologie eine K'bhafte
Agitation für die Erhaltunu und Sammlung iWr un.schätzbaren Do-
Aii-'bive der Litf. in ihrer BedL'Ut. für fla^ SfU'l. der Gesch. der Phihjs. 3G8
Kiunente unserer altprotestaiitischeii Kirche entstehen muss. Und
-'Uten wirklich die cinzehien Bibliotheken ihr Eigentumsrecht an
'\\v:-e für sich fast unbenutzbaren Sammlungen geltend machen? In
ihrer jetzigen Zersplitterung sind diese Handschriften wertlose
liiiige. Erst durch ihre Zusammenlegung empfangen sie Bedeutung.
Und nun arbeiten sich inmitten dieser herrschenden meta-
physisch-theologischen Lehrform die modernen Gedanken empor.
Zunächst sind sie wie eingesprengt in das Gestein der alten Denk-
wcise. Sie treten noch innerhalb der Struktur der Metaphysik
;iuf. nach welcher die ^Velt von einem System psychischer Kräfte
lirherrscht wird, das gleichsam von oben nach unten wirkt. 13ie
Bewegungen machen sich zuerst getrennt geltend: sie wirken hier
und da in einander; bis sie sich dann in der Generation von
Leibniz zu einer dauernden philosophischen Schöpfung verbinden.
Jede von ihnen bedarf zu ihrer Erforschung der Handschriften und
der erleichterten Uebersicht über die noch vorhandenen seltenen
Bücher.
Die Bedeutung seltener Bücher soAvie der Handschriften hat
sich für die erste dieser Bewegungen aus den unermüdlichen
Forschungen von Ludwig Keller ergeben, wenn man auch deren
Ergebnissen vielfach nicht zustimmen kann. Aus den Tiefen des
deutschen Geistes trat in Hans Denck und Balthasar Hubmeier, in
Sebastian Franck und Valentin ^\eigel, als ein Teil der refor-
matorischen Bewegung, die Interpretation alles religiös Geschicht-
lichen aus der inneren Erfahrung hervor: die Historie Figur und
Symbol zeitlosen inneren Geschehens, die Innerlichkeit des Selbst
oder dci- Mikrokosmos Schlü.ssel der ganzen Natur, die ^lenschen-
seele ein Fünkchen der Gottheit und das w'ahre Leben der Tod
des individuellen Willens. In diesen Männern und Ansichten sind
die Wurzeln der modernen Religionsphilosophie und die Motive
unserer eigenthümlichsten metaphysischen Leistung, der Mona-
dologie.
Lassen wir die ramistischen untl calixtinischen Kämpfe auf
sich beruhen, so verknüpft sich nun Jene erste Bewegung mit dem
grossen Fortgang der Naturerkenntniss, (k'r sich in Coperni-
kus, Kepler, in Geringeren wie Jungius vollzog. Üie Bedeutung der
364
AN i 1 h c- ! m D i 1 1 h e y
Handschriften hat sich auch bei iliescii Personen überall erwiesen.
Su beruhen auf i\i'v grussen Masse \un Manuscripten und den
Briefen von Kepler, besuuders in A\'ieii (eiu paai' Briefe auch in
Graz), auf dem grossen Naehlass des Jungius in Hamburg (idiwol
der grössere Teil dei hiulerlasseiini I'apiei'f in riner Feuersbiuiis
/AI Grunde giug) neuere Arbeiten und Editionen, welche diese
Männer betreft'eii. Es bleibt dann noch offen, wiefern die weitereu
Einwirkungen der ausländischen von der iSaturwissenschaft getragenea
Bewegung auf Deutschland aus Manuscri[)ten einmal aufgeklärt werden
können. Von 1032 — 1655 folgen sieh die Geburtsjahre von Pulen
dorf, Spener, Iveibniz, Tschirnhausen und Thomasius. In diesen
Generation werden die Ivesultate gezogen. Man sollte denken,
dass die Handschriften aus dieser grossen uiul glänzenden Zeit
unserer intellektuellen Geschichte der Nachwelt erhalten und voll-
ständig benutzt worden seien. Dies ist nur in Bezug auf Leibiiiz
tler Fall, der auch hierin der Glücklichste unter unseren Philo-
sophen, wie Goethe unter unsern Dichtern, gewesen ist. Dagegen
ist mir für Tschirnhausen bisher keine Fundstelle bekannt geworden.
Von Samuel Pulendorf ist einiges u. A. in Giessen und Dresden.
Von Spener sind Briefe an ganz verschiedene Orte zerstreut, so
lutch Halle, Erlangen, Giessen. Nimmt man wenige Personen aus,
so sind demnach von den bedeutendsten (hmudiiicn Denkern nur
spärliche Handschriften bekannt luul diese in ihrer Zerstreuung
wenig benutzbar.
Soll ich weitere Beispiele häufen':' Sie bestätigen nui-. was die
l»i>her gegebenen lehren. Der Naehlass der meisten Philoso[)hen
des 18. Jahrhunderts hat das Schicksal gehal)t. das aus der Natur
d('r Sache selber folgt. Schlecht geordnet, in engem Kaum in
einander geschoben, von keinem Sachverständiucn durchgearbeitet,
macht ein solcher Naehlass in Privathänden alle Schicksale der
Familien mit. Die (U'ste (ienei'ation Ix'wahrt ihn pietätvoll, (\en.
folgenden wird er zu einn- Last. Der )\ ci'hscl des Aufenthaltes,
tler riitei'iiang d^'V l'iiniiHen. (!eld- uml WohnuiiLi'snot in an-
deren Fällen, Fenersbriinste, Wasser, Moder und Staub: diese und
hundert andere (iefahren bedrohen die hililosen Papiermassen, und
ilieselben müssen ihnen früher «»der sj)äter unterliegen, wenn sie
Arclüvc- der Litt, in ihrer Redt-ut. für das Stud. der Gesch. der Philns. 365
nicht auf BililinlhcktMi nder au andre öfl'oiitlielie Orte gerettet wer-
den. So spielt der Zui'all eigensinnig und willkürlich mit diesem
iiuscliätzbaren wisscnschal'tlichen Material. Zuweilen hat sich minder
bedeutendes erhallen. Kin umfangreicher Nachlass von Nicolai ist
jliier auf der Berliner Hüjüetliek: 13 Bände aus dem Nachlass von
I>nuterwek ehenfalls; 42 Bände von Handschriften aus dem Nach-
llass von Meiners sind auf der Göttinger l'niVersitätsbibliothek; die
Handschriften vun Kraus auf der von Königsbero;. Dagegen ist
bedeutendes in anderen l'^ällen grossentheils uns verloren. So kennt
mau von einem Thomasius und ('hristian AVolff doch nur einen
massigen Teil ihres handschriftlichen Nachlasses. Zwar iindet sich
in einem älteren Dresdner Ilandschriftenkatalog rubricirt: Adver-
^aria et collectanea D. Christiani Thomasii 13 Volumina 4; aber
Ibrr Oberbildiothekar Dr. Schnorr von Carolsfeld teilt mir über
diese Bände mit, dass sie von der Hand eines Schreibers sind
und wohl das I'ortrait von Thomasius in Kupferstich enthalten,
sonst aber keine Jliudeutung auf dessen Urheberschaft. Auch ist
mir bisher nicht gelungen, von Crusins. Lambert, Moritz, Tetens
irgendwo erhebliche Handschriften aufzustöbern. Dieses ganze Ver-
hältniss ändert sich erst, wenn man zu Philosophen kommt,
die der Gegenwart so nahe stehen und deren Ruhm so gleich-
massig das Interesse an ihnen erhalten hat, dass ihr Nachlass
bisher in den Familien wohlbewahrt blieb. Aber schliesslich müssen
alle die Ursachen, welche unter den Handschriften des IS. Jahr-
hunderts solche Verwüstungen angerichtet haljen, auch den Idshcr
erhaltenen des neunzehnten verderblich werden, wenn sie iWw
Wechselfällen der Familien und ihres Privateigenthums ausgesetzt
Ideiben.
IV.
Und wie kann diesem Zustande abgeholfen werden?
13üclier sind unsere Hauptquellen. Ihre Ausnutzung wird iinni.i-
noch durch die Einrichtung der Bibliotheken nicht so erleichtert als
wünschenswert wäre. ^^»r allem fehlt eine Cent ralstelle. an
welcher mau sich idter ilir noch in Deulschland vurhandencn
Bücher zu unterrichten vermöchte. Die sehr gi-nsscu lechniscInMi
3(36 \V i 1 h e 1 i!i L> i 1 1 ]i e v.
Schwierigkeiten, mit denen die Aufstellung eines Gesammtkatalüges
zu kämpfen hat, der Aufwand an rieldmitteln, den er beansprucht,
Süll nicht verkannt werden. Süwol tlie .Schwierigkeiten als die An-
forderungen würden noch sehr wachsen, wenn man anstatt eines
Ifeal- oder Nameukatalogs eine Uebersicht der Bücher nach
Jalii-cn und dann unter den Jahreszahlen nach Sachrubriken in
Aussicht nehmen würde. Dennoch wird etwas der Art einmal
ueschehen müssen.
Der erste Schritt dazu, die luMiutzung der Handschriften mög-
lich zu machen, muss eine Registrirung des Vorhandenen sein.
Dass die Handschriften unserer Litteratur endlich in einer Ordnung
verzeichnet werden müssen, in welcher man unter einer bestimmten
Person und einem Jahre das an den verschiedenen Stellen Vorhandene
aufsuchen kann, wird sicher allseitig anerkannt werden, und auch die
Kegierung kann sich diesem Bedürfniss nicht auf die ] )auer verschliesscn.
Es werden also /Ainächst für einige Jahre regelmässige Mittel be-
willigt werden müssen, um eine solche Aufgabe zu lösen. Privat-
personen, Vereine oder Akademien können hier nicht eintreten,
weil die zu erwartenden Hemmungen und Widerstände nur durch
die Autorität des Staates besiegt werden können. Die Unterschei-
dung der Manuscripte nach Folio. Octav und (^»uart. nach schwer-
lälligen Pealruliriken muss liier einer strengen Anordnung nach
Zeit und Person weichen. Mindestens die erhebliclKren Briefe
müssen aus dini .Nachlässen einzeln herausgehoben und unter die
tarnen der schreibenden Personen gebracht werden, während sie zur
Zeit meist unter den Namen der Empfänger in deren Nachlass
bcfasst sind.
So bald als möglich muss dann an irgend einer Stelle mit
dem Zusammenlegen der Handschriften in einem Staats-
ar eh iv der Litteratur angefangen Averden. Die Geschichte
de]' geistigen Bewegungen, der Philosophie, der "Wissenschaft,
der Litteratur hat sich ihr E.vistenzrecht selber erkämpfen
müssen, und während die politische Geschichte ihre ungeheuren
Stott'sainmluni'en in Ai'chiven wolgeborgen weiss, müssen wir um
Archive der Litteratui' erst begründen. Die jjolitischen Archive ent-
standen aus den Bedürfnissen des liCbens selber. Urkuudenarchive
Aichive der Litt, in ihrtr Bedeut. für das Stud. der ("ie-scli. der Philo.-. 307
t'iithielteti den Iiilieiirift' der Gereclitsame eines Klosters uder eiue.s
Fürsten. Aktenarcliive dienton den Bebördeu zur Einsicht in die
(leschiclitc der einzelnen Geschäfte. Archive von beiden Arten
wurden dann in den modernen Staatsarcliiven gesammelt, und nun
konnten die ^Materialien der Geschichte geoi'dnet und aufgeschlossen
werden. A\'as hier die Bedürfnisse des Lebens selber herbeigeführt
haben, das soll nun für die Litteratur von den Anforderungen der
>Visseuschaft aas erwirkt werden. Es wäre hierzu wenig IlotVnung.
wenn nicht die Anforderungen des nationalen Gefühles hinzuträten,
welche die Erhaltung des grossen, in den Handschriften liegenden
nationalen l^esitztunvs fordern. Früher oder später wird das nationale
Gefühl diese Forderung durchsetzen. Möge es bald geschehen! Noch
sind aus den früheren Jahrlunulerten grosse Massen vorhanden. Noch
ist unter Anderem der Xachlass der grossen I^hilosophen
nach Kant unverletzt und unzerrüttöt. Darauf allein wird es
ankommen, dass aus dem Bedürfniss dieser Handschriften selber
heraus Einrichtung und Rechtsordnung solcher Archive geregelt
werde. Damit sie eine wirkliche Anziehungskraft auf die Familien-
papiere üben, müssen sie dem ernsten Familiensinn alle erdenk-
baren Garantieen bieten. Sie müssen zwischen dem Archiv und
den Familienvertretern feste Rechtsverhältnisse durch gedruckte
Reglements schaffen. Sie können das Eigentumsrecht einer Familie
sowie das einer Stadt oder eines Landes unberührt la.ssen, und doch
einreihen und eröffnen, indem sie den Nachlass in Deposition nehmen.
Sie können den berechtigten Pietätsgefühlen der Familien dadurch
genügen, dass Anstössiges oder auch nur Missverständliches zunächst
zurück gelegt wird. Und sie können in der Auswahl der Personen,
denen ein Nachlass sich eröffnet, Vorsichten aller Art, wie sie den
Familien genehm sind, beobachten. In den Räumen eines solchen
Archivs wird sich ein Hausgeist einstellen, der über diesen Papieren
wacht, sie zugleich öffnet und hütet, hegt und mitteilt. Dann wird
es für die Familien hervorragender Personen eine Ehre und eine
Beruhigung sein, die Papiere des F'amilienangehörigen denen so
vieler anderer bedeutender Personen eingereiht zu wissen.
XVIII.
Protagoras et Deiuocrite.
Par
Viotor Brochard a Paris.
Le sens de la celebre furinule de Prutagoras (Piaton. Theet. 152.
A. -a'vTCüv v.or.uaTov astoov öcvlj'yu)-''/-' civoti, täv akv v/tojv. cor l-jt-.,
T(uv o£ [xy. ö'vTojv, (uc oü/. i'sTtv), apres tant de travaux, parait
aujoiirdhui bien etabli; c'e.st iiiic formule seiisualiste et sceptique:
eile exprime la relativite de tonte connaissance. Eu vaiu d'iii-
genieux critiques ont-ils essaye d"eu etendrc la portee. et imagiiie
'jiie par av(}[)w-oc Protagoras enteiulait, iiou pas riiomme indivi-
dual, 1)011 pr'ts la seiisibilite de chacun. mais rhomiiie en geueial.
cousidere coninie etre intelligent. On peiit dire qiie la belle etude
de • Natorp (Forsch, zur Gesch. des Erkenntnisspro blciii-^
im Altert.) a fait justice de cettc hypothese. ;i Fappui de laqucUe
on ne saurait citer aucuu texte prccis. Xatorp a prouve par im
exanien niinutieux. et avec un graiid luxe dai-guments — ce qui
[»araissait evident ä i)rrmi('re vue pour tont lecteur non [ikcmmhi
— que Piaton a etc dans Ir Theetete un interprctc lidele. lui
adversaire loyal, d'iine bonne l'oi scriipuleuse, et attache toiijours.
>i nun ä la lettre, du nioins ;i Tesprit de la doctrine qu"il expose
avec tant de jjrofondeui' avaiit de la critiquer avec tant de sul)-
tilite. Par suite. l'origine Heracliteenne de la these de Prota-
goras nc saurait etre plus douteuse que la signiiieation d<^ la
Ibrmule.
Toutel'ois. s"il nous semlde ineontestable que hi doctrine d<'
Protagoras est. dans son ensrndtl«'. relativi.ste et .sceptique. il nc
HM
Protagoia> et Iipmocfite. 369
a> parait pas que sa vraie et pmpre sigtiificatluu ait tuujuurs
t'ti* suf'fisamment mise on luini<'rt\ Sm- uji pi)iiif au niuiiis iious
< nivuiis ([HC rinterpretation aclmise par la plupart des ciitiques est
(11 ili'-laui. ''ii cuiisidere geiieralement cetlc ilnctriuc cnimne siuni-
ti;in( qu'au.x _\rii.\ ilo l'iotagoras les clioses sunt de simples appa-
1 i'iices sul»Jectivos. et qu'il ii"y a puiut de vei'ite ul'jeetive. Les
«lualites des curps. les choses meines, uu ee qu'uii a[q)elle aiiisi,
I (»uiiiies uiiiquement jiar les inüdifieatioiis de la sensibilite. et
iiexistaiit que ])ar elles. seraient de simples ('-tats du sujel seiitant.
IJref, Piutagoras devaiiraiit la rrili(pie muderue, se serait lait des
i|ualites dos cui-[)s, une iilee aualüguc a' celle dun Berkeley ou
d'uii Ilumc. Sa pliilusuphie seiait un relativisme subjectif. .Sur-
tiiiit il n">- aurait [)as de diftV'reuee essentielle eiiti-e sa cuneeptiun
'■{ Celle de Demuei'ite. i|ui lui. saus aucun duut(>. eunsiderc au
iiinins eertaines (jualites des curps comme de simt)les etats [lassii's
du sujct sentant.
Tüut autre est. seluii lunis. l;i \crilalde pensee de Prutaguras.
Si nuus ne nous trompons. il a considere les choses comme veri-
lablement existantes hors de Tesprit, aussi longtemps du inuins
qu'elles sunt en rapport avec lui. Le chaud, le froid, la couleur
;iuraient une existcnce distincte de la Sensation: ces qualites ne
-eraient pas en nous, mais hors de nous. (^uoique elles ne puissent
II i etre, ni etre connues en-dehor.s de la representation. elles seraient
cependant distinctes ch cette representation qui nous les lait cun-
naitre, non pas comme ayant une realite dural)le et permanente,
non pas en taut que choses ou etres en soi. mais comme ayant
une realite passagere et fugitive. pour autant quo fesprit les
upereoit. Par suite. la tliese relativistc serait maintenne dans
tonte son integrite: et pourtant ce ne serait pas le pur subjectivisme.
II y aurait deux phenomenes distincts et inseparaldes: la Sensation
et la chose sentie: donc il y aurait encure de ruhjectivite dans
cette philosophi(\ une objectivite reduite au minimum. Protagoras
serait iidele au principe proclame jiar lt;s jiliilosuphes anterieurs.
et respecte encore par Piaton: un ne pense pas ce (jui n est
pas. Seulement. dans stni Systeme sensualiste, la [lensee etant
reduite a la Sensation, hi realite de robjet. mesuree, comme Texige
370 Victor Bvocliard,
le principe, sur celle de la pensee. serait ephemere et passagere |
comme eile. La Sensation changeant sans cesse, la realite change-
rait a\"ec eile: rnais le parallelisme, Tharmonie constante de la
pensee et de Tetre .seraient rigoureusement maintenus.
Cette interpretation is"impüserait d"elle-meme s"il t'allait s"en
rapi)orter au texte de Sextus Empiricus, qui la suggere naturelle-
iiieiit. Hyp. Pyr. t. 217 cpr^atv o-jv o 7.v7)p -y)v G'Xr^v cpsuzTVjv slvai,
piO'jjr^c Ol auTTj? 3'jv£/_a)c KOoaUiasic c/.vtI T(uy ctuociopYjasojv ■;r^y^'z\)'xu
•/.7.1 t7c aisB/jasic |j.cT7.xo(ju.£raf}at t£ X7.1 c/.ÄÄoioOaOai -7.p.7' xs r^h.yj.'-j.;
X7.1 -7[>7. Tic 'X/./,7C X7.T7.T/£U7C TWV aojaaTOJV Xs^ä'- 03 X7' TO'JC Äo-
"jO'jc T:7'v:('jy töjv '-i7'.vojj.£V(yv UTroXiisOai iv tt, 'jÄrj. (Lc o'jva3i)ai tyjv
U/>'/;V- '■''30V 3'^' £7'jr(j, TrOtVXa StVai 037 -7C>'. 'f7''vST7'., tO'JC 0£
7Vi)[va)-'/jr 77,XoT£ aXXoiV otviiXcfixßaViaOa'. 7:7f/7. t7.c o'.aci-opo'j; aoTOiV
OiaiHsS'.C .... 219 777!VT7. ••«[■> T7. CS7'.V0[JL£V7 ToTc ävDpOJTT'J'.C X7l 33T'V.
T7. 0£ ;j//)OcVl TÖiv oIvtlptOTTOJV 'i7'.V0U,cV7 O'jok i'cXlV.
On voit la clairement que la matiere, inconnue en son esseuce,
nun seulement revet a no.s yeux les diverses l'ormes sous iesqiielles
eile nous apparait. mais les prend reellement; ces appareuces sout
cn eile aussi bien que les sensations en iious: le phenomene est quelque
chose qui existe en-dehors de l'esprit (jui l'aper^-oit: il est Tetat. la
maniere d'etre de Tobjet: le paraitre et Tetre. tout en demeurant
distincts, ne vont pas Tun sans Tautre. Nous choisissons, ou plutöt
nous abstrayons, selun nos dispositions, teile ou teile propriete des
curps: mais cette [)ropriete. eu rapercevant. nous ue la creons pas,
nous la trouvons preexistante. ou du moins existante en menie
temps que notre Sensation. La matiere, la chose, est tout ce
quelle parait etre.
11 est vrai que ce texte, si clair en lui-meme, n"a pas paru
d(''cisil" a tont le monde. Natorp le recuse (Forsch, p. 57). II y
Noit une interpretation arbitraire iniaginee par je ne sais quel
peripateticien. et que Sextus aurait admise inconsiderenient parcc
qu'elle lui est commode au moment ou il s'attache a niarquer les
dilTerences entre le Pyrrhonisrae et la these de Protagoras.
11 laut avouer toutefois que ce procedc' de critique parait
lui-meme assez arbitraii'e. En general, les temoignages de Sextus
ne sunt pas de ceux quon duive tenir ponr suspects. Pour la
.1:1
im
Prötr.goras ol Democrife. ,^71
((iiostion (jui iious occupe, nous voyons qiie Sexfus cite. .'iüIl-uis il
i'st vrai (M. VII. 60) les •A^j-o'^Au.'.^izz dotit nniis iie connaissons
le (itre que par lui. II a peut-etve eu ce livre sous les yeux:
tiiut au moins l'ecrivaiii ilout il ,s"inspire l'avait lii. ei il sciul^le
bioii que le developpemeiit qui suit snit emiirunte' a cc meme
ouvrage. En tont cas, nous somiiies ici eu pvosenoe d'uno sourco
(listincte de Platoii et dWristote. puisquc iii ruii ni l'autro iie
uomme les ■/oiTotßotÄ/.ovtic. De qiicl droit supposer que Teerivaiii
c's intelligent et tres judioieux, ([u"on avnnc etrc bien inrornie
IIS un de ses ouvrages, se soit laisse aller. d;itis un autrc livre,
ur les besoins de sa. cause (qui pouvait l'ort bien etre detendue
saus reeourir ä eet expedienl), a aceueillir uiic iuterpretation
suspecte et lausse?' Une teile exelusion ne serail legitime que si
les deux j)assages {\^^ Hypotyposeis et de TAdversus Matlie-
niaticos se cdiitredisaient forniellement: mais si rmtre Inlci-pre-
tation est exacte, ils se confirment Tun l'autre.
Toutefois, quelque incertitude puurrait subsister si le te-
nioignage de Sextus etait isole. Mais il est confirme par un texte
de Platon. Qu'on veuille bien lire attentivement le passage du
Theetete 156. \. et Ton se convaincra aisement qu'il exprime la
meme pensee qu"on lit dans Sextus. 11 s'agit du mouvement actif,
venu de Tobjet. du mouvement passif, qui est celui de Torgane du
seus: de la rencontre ou de la siniultaneite de ees raouvements
nait la Sensation. Platon ajoute: ex tr^ -o'jtcov fjw.'iJ/j.z -t xod
Tp'/!;öoK -ooc dt/././/.7. -iiy^z-r/.: £x*|'ovot ~Kr^\)z<. ;a£v a-t'.oa, o-'o'jaa os.
70 ;xsv 7 1 ji)-/;-:o V. to 03 0('.'c;i)-/;j'.r . 731 a'jVi/.rr'.'-f/jja X7' -swüiaiv/j
UiT7. TO'j '■j.i'j>)r,-<^j'j' oÄ UiV oOv 7i3t)r,5E'.c -aaTT/.r.Diic os 71
I i I ' t '
fOVO'J.7aaSV7.'.. TO 0' 7'Ü 7l3l)"/;TriV "EVOC TO'jTOJV 3X7377'.; O'XO-i'cVOV. rAfj'.
jjsy -/(jw;i7t7 T:7VT007-7rc -TrjM.rÄ^ ri.'/.wjy.t uz (o37'jTtoc cpojvat', X7l
771? 7Ä/.7'.C 7t3i)r,3Ej', 77 7/./.7 7'!ji)/,77. ^'J-,", 3V7, 7'.7V0aiV7. Et l)lus
loin: ETTS'.OaV OOV K'Vl'J. X7l 7/-/,0 7' 7(0V 70070) ;'JU,U.E70(OV ~X/,3'.737V
"j'SVV7^3Yi 7rjV ÄS'JX07'/j77 73 X7l 7l'3l)/j3'.V 7"j7r, ;'j;X'^'J/.OV. 7 O'JX 7'v 7:073
£"'3Vc70 3X773000 ixSlVCUV TTOOC 77./.0 3Äi)0V70C. 7073 Or, U377C'J 'i3pO|J.3-
VtOV 7"?,C "J.3V Ö''I/3('K -OÖC 7(T)V 0'il)7).a(0V . 7Y,C 03 /.3'JX07r,70C TTOOC 70'j
aUV7T:07..'x70V70C 70 f'iWyi. ö ;j.3V 0'^i)7/.[J.öc 707 O'I^cCK 3U7r/.30JC 3",3V370.
X71 007 or; 7073, X7l r;3V370 oi 7'. 0'!>'.C, 7/,/.7 0'ii)7/.U0; 00«OV, 70 03
H72 ^ i rt O 1- ]', ynr ha r il .
;'j-;-;3VV/,57v -Jj yr.d^n'-j, 'LZ'y/Jr.r^-'iZ -tV-Z-L-f-A) r^. y.'-j).i-^i-/z-rt o'j /.E'j/.ot/,:
7.0 7/.Ä'7 ÄS'jy.v/ .... y/yi Td/J.y. or o'jt'o. j/././.oov y/^^l ihou.ov ....
~dT/o'/ '■t.'j/j'j'rzd -.z v.'jX 7'.'j!)"/,a'.v. 7'j.7 'iE00'j.3V7 a"jL'iOTS'>7. y.7l /, uev
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7.'.jUr,3'.c -&0C ToO 7:7'3"/ovt'jc o'J77 7;jl)7V''>'j.3vr,v tr,v ■7,(oa37v 'j.T.zvr '■'i-
•j7T0. r, 03 ■■/.'jx'jTr.r -poc too O'.Vj'j tteoI 7'jtov 'ispou-sv/; *X'j/'jv tv/
' I j t 1 1 1 I 1 I
Ci'.V// T"?, 'J",''.71V0'j37, -,7-"'^~~(( 3~r/l'/)j3 X7l stv7'. X7l 'i 7 l'v 3 j i) 7'..
II rösulte tres clairement de ce texte que les qualite.s seiisihles
Sans (listinction (3y.A-/;pov, fjsouov. ■/wyi.o.) sont pi'oduites reellenieiit
eil nienie temps que la Sensation, et durent aussi longtemps qu'elle.
Elles appartiennent l\ la matiere, definie comnie la cause qui les
pi'OYoque (to ;u7",3vv7j37v) aussi bieii que la Sensation appartient ;\
Fesprit. Elles ont une esseuce, en niouvenient. il est vrai. mais
qui nierite pourtant de s'appeler o'ja''7 (177. ('). 'i3[Joa3v/] o'Jj'.7;
];)9. E. 7r,'vo'j,3vr,v /7I 'i3oou.3vr,v ~v/jj')-f.-rß.. j.e -o'.O'jv est touiours
-otov (182, A). Elles sont dans rinteivalle (|x3-7c'j) qui separe
l'esprit et les clioses. et ne se conlondent nullement avec les sen-
sations elles-menies. II reste vrai d"ailleuis que Toeil est aveugle
tant qu'il n"\ a pas d'ubjet qui le Trappe; et Tobjet est incolore
taut (juil \\\ a poiiit d'neil pour le voir. Rien nest ou ne devient
en sei et par soi. mais seulement par rapport au sujet qui per-
ooit: Ol) {)eut donc dire. 157 A. oOrlsv zv/i\ iv 7'jto /af>' 7'j':o. 7/,/.7!
T'.v'. 73; 7i'"'V3 3l)7'. dU ciicore (Ai'ist. Metaj). IX. 3, 1047 \) 7tai)-/;-:';v
o'josv 3iv7'. \i:c^ 7i'3i)7vvj.3vov. 11 i'eslc pourtant ([ue cette existenee
du sensible, si fugitive qu"<dle snit. est une existenee: eile est autre
cliose et plus quune sini[>le apparence subjectivc ('est la niatiere.
qui reellenient et pour im nionidit. a pris teile loi'ino. est de-
venue et est teile cliose.
Ainsi s"explique la j)iesence. dans la l'ormule de Protagoras.
des niots (nz z".'. et cor »-/j/ i'jTi. II serait ctrange. si eile avait
la si<i-nificatioii purcnient sul)jecti\e qudn liii a si souvent prH('e.
qu'oii y vit linnres l<'s iiiots etre et 110 j);is etre. Si ;iu contraire
le uioi etre a un sens independaniinent de la representalion . si
peu de chose que soit (Tailleurs cette realite, ou eompiend liii-
sistance avec l;i(|Uflle l'rotagoras iiitruilnit ccs luots dans sa l'or-
mule. il veut rester d'accord avec le sens comnuin: il allii-nie une
Protno-oras el lit'inn.i ilr. 37)>
i'di
iri'i
rcnlitc olijoctivc Si riiomine mcsuro t(Hit. il ii rst [ia> tniit. 11
\ ;i (]e rötre hors de lui.
Aiusi s'expliqiie encoic une autre siin;ularit('' assez clioquantc.
Dans le Thet'tete. la Sensation ost a chaiiuo instant donnoe
ume vraio: le titre memo de l"oiivrage de Protagoras ([ue Piaton
■II sous les yeux [)arait etre la verito. Ißl. ^p/oasvo; rr^c ilr^-
z'a:. (T. 162 A, 170 E, 171 C. Comment comprendre Templol si
luent do t-e mot, si, dans la pensoe do Protagoras, il n"y a quo
des apparences subjectives? Democrito, dans une circonstance ana-
logiie, ilisait au moins que la verite est profondement cacliee.
Z'ller suppose que le titre de c/Ir/lcia pourrait bien eti-e de Fin-
tention de Piaton: il croit aussi que Protagoras avait pu deelaier
a plusieurs reprises et avec Force qu'il se proposait de faire con-
naitre la verite sur les choses par Opposition a Toplnion vulgaire.
Ces deu\ sup[M)sitions sont inutiles si notre interpretation est ex-
acte. 11 est rigoureusement juste de dire que la Sensation est
vraie. puisque eile a un ohjet hors de nous, et Protagoras avait
bien le droit d'intituler son livre: la verite, puisque a chaque in-
stant nos sensations correspondent exactement a des changements,
qui d"ailleurs ne se produiraient pas sans eile. Et de nieme. le
niot verite ne s"appliquerait pas a la these de Protagoras prise
dans son ensendjle, et dans son Opposition ä l'opinion vulgaire: il
s'agirait de la nature meme de la verite prise en elle-menie. II
y a de la vei'ite couime il y a de l'etre dans le Systeme de Pro-
tagoras. Rien n'empeche (Failleurs que Protagoras oppose cette
verite a Celle des Eleates, avec laquelle eile forme un parfait con-
traste. 11 se peut aussi, comme on le croit generalement. que le
livre appele ä/.r.Ds'r/ soit le meme que Sextus appelle -mz'-jMLkuv-zz.
Eutin remar([Uons que l'latim. s'il a [)eut-etre modillr ri'\pressiim
de la pensee de Protagoras (152, A too-ov t'.v7. ä'/Aov) on disant
que roi!.'3i)r,Cp'.> est l'i-iaTYjlJ.-/;, n"en a pas du iiudus cliangi' la veri-
table signilicatiun, [»uisque roti'cji}/,':'.; est T^v-vlsia (102, C ctril)-/;!';
äVy. TO'j ovro; ö.v. i"\ /sn ^.'vS'jor^c et 171. A -A ovt7 uuI^.^jiv) ö'.-rjy-
T^c): et d'd^ilE'.o'. l\ i-'.cir/;a-/] . la distauce ä coup snr n est pas
grande. l*ar suite. lUi peut dire avec Schuster et crmtre Zeller
que, selon Protagoras, il y a une science, au nunns wna verite. et
374 Virtor Biooliunl,
quo oot(e xcrilö coincide avec Vah^r^ai;: vi il faut prendre i^onini
traduisant la V(M-ilid)le poiisee de Prola^orns los exprossioiis analoguo
de Piaton.
Arislote dit (Metap. IV. 4, lUOT 1?) (|Uo Protagnras .suppriin
lo principe de coiitradiclion. II sc peut. cuinine le coiijecliin
Zellor. tjuo cotto oxprossiftn al)straito iio soit pas ilu langage di
Prolagoras: iiiais la chose meino qirello exprinie est certainoiuen
dans sa j)onsee. et il s"agit iei dune consequenoe qu"il est im
possible quo Protagoi'as n'ait pas vue. II proclamait la lealite ob
jective dos oontraires a la nianiei-o d'Iferaclite (Soxtus Hyp. Pyr
II. 63 \r^'x''jy.^A-:''i; Z'yr^ [J-'/^ts \),'y/)j o-.'jto ihv. \i.'r^zz -'./.oov, o u\ 'Wf,'i
x/.siTO^ cittj-cporspa). La niatiere est. on memo lemps, cjuoique soii:
i\e.i^ rapporls diirörcnts, tout ce qu"elle parait etre a tous les homnies
Elle oonfond en olle les determinations les plus opposees el lo;
plus oontradictoires. Et c'est pourquoi, ooinnie le disait expresse-
ment Protagoras (Diog. IX, 51), il y a toujours sur touto questioi
deux theses opposees Pune ä Pautro. 11 laut so souvenir enfin qu(
le titre de louvrage x^.t^I'jv/./.ovts; designe le choc dialectique de.-
diverses opinions opposees sur chaque sujet.
J/argumentation de Protagoras nous apparait donc conmu
dominee par le piincipe oommun a tontes les philosopliies anterieure>
a Piaton, et (ju'on retrouve luenie cliez Piaton: on ne pen.se pas
(du 011 ne sent pas, on no se ropi'osente pas) ce qui irest [)as.
('"est (failleurs ce qui nous est l'uriiiellonient atteste dans le Thee-
tete IßO, A 7.t jf)otvo|j.£vov ■,7.0, ;j//)o;voc os 'y.isUavou.sv':/'/, 7.o6v7.tov
■^{'{■vts'i^rjx. Et plus loin, dans le disoours quo Piaton place dans la
bouche de Protagoras, 167 A. oü -A ar, ovt^. o'jvarov oo;aa7i.
Iva doctrine de Protagoras est donc un relativisme objectif ou
realiste. Aussi bien, il est also de voir par le Tliectete quo la
relation ^V^ Tobjet au sujet est un cas particuiior de la relatioa
de tontes clioses entre elles. (Zeller, Pliilos. (L (irlochen. Pd. I,
p. 980, 1.)
Ce n"est donc j)as Protagoras (|ui a lo preniier, conime on le
croit coninuinem(^nt , considore los chosos. les qualites ilos corps
comme de pures apparences subjectivos. Le preniier en dab' dos
pIiiloso[)lios .-ubjc(ti\ istcs Tut Deniocrilo.
Protagoras et Deinocrite. 375
La ci'itiqiie de l'rotagora.s etait, eii uu sens, decisive: il fallait
faire droit a ses pviucipaux arguraeuts. La connaissance sensible
est ossentiellenient relative: vüila ce quil avait etabli, reprenant
et fortiliant une these que tous les philosophes antesocratiques
avaient plus ou mnins entreviie. II resultc de l;i ([ifil ii"y a point
de verite, si noii cette verite passagere et fuyaute que nous venons
de deflnir, et qui ne iiierite pas son nom: Lenteudre ainsi, c'est.
au Ibnd. jouer sur les mots. Democrite ne voulut pas se contenter
dune conception qui. ei; lin de compte, ruiiiait la science. II
cherclia la verite ailleurs, et crut la trouver: il recoimut seulenieut
qu"elle n'est pas aussi tacile a atteindre que Tavait pense Prota-
goras, qu-elle n"apparait pas du premier coup a la surface des
choses, mais qu'elle est profonderaent cachee. C"e.st probablement
oe que signifiait sa furmule si souvent repetee, Diog. IX, 72 sv
ßuÖo) y; ^./-y^tls'.o!. On aura pris pour uii aveu de scepticisme ee
qui etait plutut le progranime d\in dogmatisme qui se cherchait
encore, et voulait Tetablir en lace de la critique negative de Pro-
tagoras.
II n^• avait qu"uu niujen d'atteindre cette verite. puisque les
sensations sont relatives: c'etait de rel'user toute valeur objective
aux sensations sans distinction, de faire rentrer pour ainsi dire
dans le sujet ces qualites que Protagoras avait laissees en face des
sensations. avec lesquelles elles faisaient en quelque maniere double
emploi, et de les remplaces par d'autres toutes differentes, unies
cependant aux sensations par un rapport autre (|ue celui de la
ressemblance, si bien qu'il füt egalement vrai de dire ((ue les sen-
sations nous cachent la verite et qu'elles nous la rovMenl. C est
ce que fit Democrite, au temoignage de Theophraste et de Sextus.
De Sensu. GO (Diels, p. 516) A/jao/pi-or ä-osrsrxov töjv 7.i!jf)/,Twv
T/^v cptSaiv — Hyp. Pyr. Tl. 63. M. VI, 50 — VII, 135 — VIT, 369,
VIIL 6 |j.r//sv Gro/Erai>/'. -viaU^ov; YIIL 56 — VIII. 1S4 - VIII.
355. Desormais, les sensations, uu lieu d'etre l'expression de rea-
lites exterieures serablal)les a olles, ne sont plus que dos etats du
sujet, rAdr^ -7,: ala^-.io; (Tlieoph.), d(>s etats vides, et Sextus e.x-
prime clairement cette doctrine en disani, VIII. 1S4: A-/;aoy.f.'.T^c
yirfih u-o/cTaftai 'irp-.v tcov cf.hdr-.w/. äl'/A xövoraÖs'.ac t-.vötr slvcti
Archiv f. Ge3cbiclite der PliiloSupliie. II.
376 Victor Brochaid,
TTixpöv "/j OSjOfxov 7) '!^'jyrjrjy r] Xeuzov 7j [j,iX7.v, r/ijx afJSj ti töjv -aai
9ottvo[X£vu)v üaOwv -ap -/justsptuv r^v ovo|jio(T7. xoJjxr).. Pour la premiere
fois, le lien qui unissait l'etre a la pensee, la realite a la repre-
sentation, etait rompu: c'est uii moment decisif daus Fhistoire de
la Philosophie.
Briser ce lien etait a la verite une grande hardiesse: c'etait,
iine sorte de scandale logique: cela signifiait qu'on peut penser ce '
cjui n'est pas. Une teile audace est peut-etre moins etonuante'
chez un philosophe qui proclamait ouvertement la realite du nou-
etre ou du vide, du ;x-/;o£v aussi bleu que du Ssv: il y a du vide'
aussi dans la pensee (xsvoTrocOsia). En tout cas, il est peut-etre
curieux de reraarquer que le sujet a ete pour la premiere fois
pose en Opposition avec Tobjet par un philosophe qui voulait
echapper aux consequences mises en lumiere par Protagoras. C'est '
un dogmatiste qui a rompu Punite de l'etre et de la pensee: c'est :
pour se defendre contre les negations du sophiste que le dogmatisme
a forge l'arme que le scepticisme devait tant de fois retourner
contre lui. — H y a une lointaine ressemblauce entre Democrite,
inventant la theorie de la distinction des qualites primaires et se-
condaires, pour vaincre le phenomenisme de Protagoras, et Thomas
Reid, reprenant cette nieme distinction pour echapper au pheno-
menisme de Hurae.
Si la Sensation, conime nous venons de le voir, etait deelaree
insuffisante, il fallait bien y joindre un autre procede de con-
naissance: ce fut le raisonnement, le meme Xoyoc dont les philo-
sophes anterieurs avaient aussi fait usage sans le definir exactement.
Democrite fit comme eux, et ne parvint peut-etre pas ä concilier
cette theorie, necessaire pour son Systeme, avec son explication
physique de la connaissance, (Natorp, Forsch, p. 164 et Archiv
f. G. d. Phil. p. 348). Quoi qu'il en soit, Democrite aflirma
l'existencc reelle ixz% de deux choses: Fatome et le vide. (Sext.
Hyp. Pyr. I. 214 £■:£■() os azo^o. v.oX zövov i'z% [jlsv -j-ap Xrj'ci avit
to'j 7.X-/)i)£ia). Quant au mouvement, Democrite n'avait pas besoin
ici d'en aflirmor Pexistence, puisque eile etait reconnue par Tad-
versairc (jiTil combattait. 11 montra seulement quo le mouvement
Protagoras et Deinncrite. ^77
iie suffisait pas, conniic \e croyaient Heraclite et Protagoras, a tout
cxpliquer: il fallait y joindre im principe de stabilite. Fatome, et
une conditio!! egaleiiient indispensable ponr la conception de Fatome
A Celle du mouvenient, le vide. Des lors, ce qu'on a appele plus
tard les qualites primaires des coi-ps, pi-oprietes essentielles des
atomes, connues non pai- les sens, mais au fond pures conceptions
matlie!natiques, la gi-andeur et la forme, suffisaient a expliquer
toutes les proprietes apparentes des objets reels. (Theopli. 1. c.)
On dira peut-etre que cette intei-pretatiou rencontre une diffi-
culte dans les textes qui nous mont!-cnt Protagoras disciple de De-
mocrite (Gal. Mist. Ph. )\. Diels p. 601. — Stob. Ecl. I. 50, Diels
p. 396. dem. Alex. Strom. I. 14, ^öo. Ilermias, Ir!'. Gent. Phil. 9.
Diels p. 613. — Diog. IX. öO. — Aristocl. ap. Euseb. Prop. Ev.
XIV. 19, 5). ^lais Zeller a deja montre qu"en depit de leur nombre
ces temoignages doivent etre recuses. Tous les historiens s'accor-
dent a faire naitre Democrite environ 20 ans apres Protagoras:
et ainsi la Chronologie confirnie ce que Fanalyse des doctrines avait
montre: la philosophie de Democi-ite marque un progres sur celle
de Protagoras.
D'ailleurs nous savoiis que Demucrite avait ocrit un livre
contre ProtagO!-as (Plut. Adv. Col. 4. Sext. M. VIT, 389). II ne
nous a pas ete conserve une ligne de cet ouvrage: Plutarque dit
seulement: xosoü-ov ^c A-/)[i.oxpiTo; a-oosi toO voai'Ceiv \xr^ ;j.aUov
slvai Totov rj -oiov töjv 7:p7.-j'!J.a-(ov ixcoiov, w3tö rip«>-a-|'6pcf. tct)
rpoc (zutov. Sextus dit de son cote: -a^r/y akv ouv cpavTasiav o-jx
Sl'-Ol X'.C 7.^t)?j 017. TT^V TrSpiTpOTTT^V X7l)ojC 0 TE Ar^tXOXpiTOC X7l 0
FlXotKüv avTi/i-i'ov-ec t(o llptoTaYopa soiootaxov. — Est-il temeraire de
conjecturer que cet ouvrage de Democrite avait pour objet preci-
sement la question qui nous occupe? Democrite y demontralt
probablement, que la i-ealite, veritable et absolue, si eile est dif-
ficile a atteindi-e, n'est cependant pas entierenient hors de nos
prises; Fexistence des atomes et du vide peut etre connue avec
certitude. Ainsi se trouvait maintenue la legitimite de la science,
la realite de Vakr^nziy., non pas au sens de Pi-otagoras , qui ne
Fevoquait que pour hi faire evaiumir aussitot, mais au sons [tlcm
26*
378 Victor Brochard
et entier du mot, tel que Texige Tesprit liumaiu, et que le reclame
la science.
Ainsi envisage, le livre inconnii du vieux philosophe fait
pendant au Theetete: et dans sa theorie de la connaissauce,
Toeuvre de Democrite presente de grandes analogies avec celle de
Piaton. C'est ce que disait deja Theophraste, 1. c. Ar^ao/piTC/; y.ai
nXaKjuv £-1 TrXstarToy storiv Yjaij-svoi: et si differentes que soient leurs
autres conceptioiis, quelque hostilite peut-etre qu'il y ait eu entre
eux. les noms des deux penseurs. en tant qu'ils s"opposent a Pro-
tagoras, sont souvent cites ensemble (Sext. M. VII, 389 — VI. 50 —
VIT. 116 — VIT. 389 — YIIL 6 — YIIL 56). Tous deux en effet !
ont poursuivi le merae but: maintenir contre la critique negative
du sophiste les droits de la science. Dans cette oeuvre commune,
ils ont di^i necessairemeut se rencontrer en bien des points: tous
deux ont en eft'et diminue la valeur du temoignage des sens; tous
deux ont invoque une faculte de connaitre dlstincte de l'experience
sensible. Bleu plus, tous deux, pour expliquer, soit Perreur, soit
le caractere subjectif des apparences sensibles, ont du admettre la
realite du non-etre: ä ce point de vue encore il y a une etroite
parente entre le Sophiste et l'oeuvre de Democrite. Mais lä
s'arretent les ressemblances. Au temoignage de Theophraste (1. c.)
Piaton n'a pas depouille les corps de leurs qualites aussi hardiment
que Democrite a ose le faire. La realite que le philosophe d'Abdere
reconnait au-dela des pheuomenes est toute materielle, et c'est des
Idees que Piaton pretend demontrer Pexistence. La faculte de rai-
sonner qu'invoque Democrite n"est pas Pintuition intellectuelle de
P.laton. Enfin, tandis que le non-etre de Phyton parait n'avoir
qu'une existence toute relative dans le domaine des Idees, Democrite
fait du non-etre ou du vide une realite, une sorte d'absolu. Mai.s
en (-lepit de ces differences et d"autres encore, les deux philosophies
n'apparaissent pas moins comme ayant le meme rapport ä la these
de Protagoras: elles sont hi [)rotestation du dogmatisme, idealiste
ou materialiste. contre le relativisme realiste de Protagoras.
XIX.
Sur im fragiiieiit de Pliilolaos.
Par
Paul Tauiiery ä Bordeaux.
D'apres Proclus sur Euclicle I, p. 36, 46, 48 (edition Friedlein.
p. 130. 167, 173, 174) Pliilolaos avait attribue a quatre dieux,
Kronos, Hades, Ares et Dionysos, l'augle du triangle; a trois deesses,
Rhea, Demeter, Hestia. Tangle du carre; ä Zeus seul enfin, Fangle
du dodecagone. Comme le remarque tres bien E, Zeller (Phil
der Griech. P, p. 363, n. 1), les explications qu'ajoute Proclus
sur CCS singulieres attributions iie semblent devoir etre prises que
pour de simples presomptions, issues du cercle des idees neopla-
toniciennes, et la verite, c'est que nous ignorous Forigine des
rapprochements bizarres qu'aurait faits Pliilolaos.
Cependant, si Ton cousidere Fassertion de Proclus. que les
quatre dieux du triangle representent les quatre elements, on trouve
que le symbolisme ainsi indique a joue un röle beaucoup plus con-
siderable qu'il ne le meritait sans doute, et il devient des lors
interessant d'en rechercher l'histoire.
Daus les notations chimiques usitecs depuis le moyen äge et
qui se sont perpetuees jusqu'au milieu du siecle dernier, les quatre
elements sont figures par des triangles equilateraux, droits pour Ic
l'eu et Paii'. reuverses pour Peau et la terre. Les triangles du feu
et de la terre sont d'ailleurs distingues par Pinscription d'une barre
parallele ä la base.
Ces symboles ne sont pas cependant usites dans les manuscrits
alchimiques grecs; si douc ils sont venus par tradition dan^s POcci-
dent latin, ce ne peut etre que par Pintcrnicdiaire des Arabes,
380 Paul Tannery,
chez lesquels il serait des lors interessant de les recherclier. Mais,
quels qu'en aient ete les inventeurs. le choix de ces signes trouve
son explication dans un ordre d"idees tout a üiit different.
Les astrulogues combinaient entre eux les signes liu zudiaque
qui se tronvaient aux sommet^« d"un meme triaugle equilateral oii
qui se voyaient reciproquement, selon le langage technique. eu
aspect trigone.
11s constituaient ainsi quatrc triangles distiucts, ä cliacun dcs-
quels etait attribue un element:
l"^' triangle: Aries, Leo, Arcitenens. Feu.
2'- triangle: Taurus, Virgo, Caper. Terre.
H'^ triaugle: Gemini, Libra, Amphora. Eau.
4'' triangle: Cancer, Scorpins, Pisces. Air').
Noiis retrouvüus ainsi, dans la tradition scientifique du moyen
äge. symbolisees en chimie, nettemeut exprimees eu astrologie. les
associations dout parle Proelus pour le triangle. II semble d'ailleurs
faire allusion a la correspondauce astrologique de ces associations,
lorsqu immediatement apres avoir indique la cousecration de Taugle
du triaugle ä quatre dieux, il parle de Philolaos comme Tzasav irjv
■/otÖY/ou3av eiTS ol-ko täv -ctTototuv xoD CwSiaxou T;ay;aatt'jv sv to'jtoi^
-spi/va|3tuv. A la verite au lieu de -[i.r^ii,aT«>v , on desirerait Tpiyo)-
vtuv, et dun autre cote, les mots iiie .... -[xrijxat'ov peuvent
sembler, dans ce texte, une glose venue de la marge. Mais le
rapport que je signale n"en est pas moins incoutestable.
La constitutiou des quatre triangles astrologiques parait re-
') Je me cuutente cFincliquer comuie preuve les vers .30 — TG. 333 — 340
'lu poeme astrologique de Camateros :
50 -püJTOv Tpiytuvov TOÜTO Tt'jpüioe; vo'st.
64 fzihrizi wj Tpi'ytuvov i'a&t [jiot töoe.
72 TpiTOv Tpt'ywvov ct£p(Jüo£; aoi toSe.
80 TETapTOv üoatiüScC t/OTj ap~i jj-avöavät;.
(,'uoi<|Uc (r.-iilleurs; ratfril)Ution (i"un triangle astrologique ä cliaijuc elemeut
)ie seinhln avoir jou(' qu'un rüle insignifiant pour les oomhiuaisons scrvaut
aux jtredictions, eile «Jtait assez conranle pour (pie, dans les diagrarames de
la sphere cele.ste des inaauscrits grecs, les noms des elements soieiit geue-
ralement inscrits ä cöte du zodiaque.
Sur lin fragment de Philolaos. 381
monter jusqu"aux Clialdeens; en toiis cas, je les trouve deja tres
nettemeiit decrits daiis Geminu.s, chap. I (üranologion de Petan.
p. 7). Tüutefois. au Heu (rattribiier a chaciin d"eux un des quatre
('lement.s. il leiir rapporte les quatre vents: 1" nord. 2" siid.
3" üuest, 4" est, parce qiie. dit-il, lorsqirun de ces vents souffle
peiidaut que la lune est dans un des signes du triangle coi-respon-
dant, on peut affinncr que ce vent se maintiendra.
D'ailleurs, s'il y a quatre triangles astrologiques, il y a trois
carres, quo counait de meme Geminus:
P'Carre: Aries, Cancer, Libra, Caper.
2" Carre: Taurus, Leo, Scorpius, Amphora.
3" Carre: Gemini. Virgo, Arciteneus, Pisces:
de meme il y aurait deux hexagones (P'' et 3" triangle, 2* et
4* triangle), figure qui toutefois n'a ete consideree que plus tard
en astrologie: mais il n"y a qu'un dodecagone, qui comprend les
douze signes; les autres polygones regulicrs ne peuvent etre uti-
lises de meme.
Cette remarque uous Iburnit une explication du nombre de
quatre dieux pour l'angle du triangle. de trois pour celui du carre.
d'un seul pour celui du dodecagone. Mais aussitot s'eleve une
question prejudicielle: est-il possible d'attribuer cet ordre d'idees
a Philolaos, et ne se trouve-t-on pas en presence d'une combinaison
posterieure? Proclus aurait-il ete trompe par un faussaire?
Cette deruiere hypothese doit etre ecartee en presence du
temoignage de Plutarque (de Is. c. 80), si toutefois le garant qu"il
iuvoque. pour attribuer aux pythagoriens des combinaisons de ce
genre, est bien Eudoxe de Cnide. le celebre disciple d'Archytas.
Mais j'ecarte, pour le moment, meme ce temoignage, parce qu'il
s"y est certainement mele un element emprunte k la mythologic
egjptienue et que, si cet element ne doit pas nous etonuer chez
Eudoxe, il serait absolument suspect pour Philolaos.
Mais on ne peut en tout cas mettre en doute, chez ce dernier.
la connaissance des douze signes du zodiaque, quoique leur distinction
füt peut-etre alors encore tres recente chez les Grecs'). Or il n'est
On l"a atlribuee ä Oenopide qui a du vivre dan« la pieiuiere luoitie
382 i'ii^'l Tau 110 ry,
pas besoin de supposer que cette division ait ete emprunteo anx
barbares, quoique lo fait seit assez probable, ni ipie remprunl ait
[lorte eil meme temps sur les groiipements par triangles et carres.
La division en 12 etant doimee, ces groiipemeuts sout tellement
uaturels des que i"esprit geometriquo s"est tant seit peu developpe,
(|u"i]s ont pu se constituer eii Grece tout a fait independammeut
de leiir inveiitiou eii Chaldee. Je peuse donc qireii ecartant toutes
los idees astrologiqnes. oii peut sans scrupule attribuer a Philolaos
les groiipements en questiou.
Des lors se presente un rapprocliemeut immediat avec le raythe
astrononiique du Phedre de Piaton. Zeus y menc l'armec des douze
signcs, comme il preside, poua* Philolaos. a l'angle de la fjgurc qui
em brasse tout le zödiaque; Hestia y est meutionnee pour son
immobilite. et nous la retrouvons parmi les trois deesses du carre.
^.ous savons d'ailleurs que. pour Philolaos. eile represente le foyer
central plutot que la tcrre, mobile dans son Systeme.
Je crois avoir. dans ce qui precede. donne une raison plau-
sible du nombre de dieux et de deesses attribue par Philolaos a
fhacune des figures dont il a ete parle. Chaquc dieu ou chaque
deesse correspond a un groiipement special de signes du zödiaque.
La seule objection qu"on pourrait faire contre cette explication.
serait. je crois, a tirer de rassertion de Proclus (I, 3B), d'apri's
laquelle non seulement Philolaos aurait consacre chaqre angle o
plusieurs divinites (ce qui est explique), mais attribue a la meme
divinite plusieurs angles, suivaut les difierentes puissances de cette
diviuite. Toutefois cette difficulte est evidemment loin d'etre
grave^ et en tous cas. pour la discuter serieusement . il faudrait
posseder au. moins un exemple determiue, ce qui nous manque.
Je devrais peut-etre m'arreter ici; car si j'ai pu rester jusqu";i
prcsent sur un terrain relativement solide, il n"en serait plus de
meme des que je tenterais de Ibrmuler une opinion sur les motifs
qui ont fait choisir a Philolaos, pour presider aux groupemeuts
qu'il formait, tolles divinites determinees. Cependant quelques
■du Vc siede avajil notre ere; je rappelle (juc la [leriode de 5!) ans ou 720
inois a ete empruiilee par I'bilolaus :\ Oenopidc. 11 a pu hii em})runtcr
autre chose.
Sur Uli t'ragment de Philolaos. 383
romrirqLie> me semblent encorc iiulispcnsables et Ton m'excusera
si je me lakse eutrainer a y meler quelques conjectures sans
iippui.
Faut-il ahsülumcnt rejetev rophiiou de Prüclus. que los (juatrc
(lleux (kl tri;iii,ule represeiitaient puur Philulaos les quatrc Clements,
r[ nommement, cumme il le dit: Kronos Teau. Ares le l'eu, Hades
hl ten-e. Dionysos l'air?
Le fait que cette attribution aux Clements de triaiigles zodia-
caux appartient ä rastrologic ne me parait puini une objection
-■cisive: car, en admetlant que l'hilolaos ait fait le pvemier cette
attribution. il est tres pussible qu"cllo ait passe plus tard cn astro-
Ingie. oii olle a jouc d'aillours, comme je Tai indique. un rolc plus
cunsiderable eu apparence quen realite. Ce serait en effet une
crreur que de regarder Tastrologie comme ayant conservc sans
;iucun changement ses dogmes et ses procedcs chaldeens, quand
( lle se rcpandit, apres les conquetes d'Alcxandre, dans le mondc
hcUenisc. II est au contraire facile de prouver que comme detcr-
luiuations positives, comme materiel d'observations, comme me-
ihodes de calcul. eile a largement profite des progres de la science
erecque; et il serait egalement aise de signaler nombre d'idees
nsirologiques qul sont intimement dependautes de la langue liellene.
Je ne crois pas non plus devoir tenir graud compte du fait
que la fixation a quatre du nombre des Clements appartient a
Empedocle; car rieu ne me parait, au moins dans Fopinion que
je me suis formee de Philolaos, s"opposer a riiypotliese dun
•'mprunt fait au Sicilien. Dans cet ordre d'idees, on reraarquera
que pour ce dernier, cumme pour Proclus, Hades signifie la terre,
ce qui, bieu entendu, ne peut rien prouver pour Philolaos.
Pour Kronos, le rapport avec Teau est conforme au temoignage
d'Aristote dans Porphyre (Vit. Pyth. 41), d'apres lequel Pytha-
gore aurait appele la raer Kf-ovou oaxp'jov^). Mais pour Ares,
l'attribution du feu parait n'avoir d'autre origine que le noni de
la plauete, TTuposi?; enfm, pour Dionysos, tout rapprochemcnt plau-
■0 Je ne puis lueaipecher de rappeler ici qu' Empedocle (v. 1(5]) definit
Nestis comme la source des larmes.
384 Paul Tannery,
sible mVchappe. car le motif indique par Proclus*) a efe evi-
flemment lorge apres Aristote.
En resurae, si je ne vois pas de motifs decisifs poiir proiioucer
dans im sens ou dans Tautre, je continue ä peiiser, suivant ropiiiiou
de Zeller, que Proclus n"a Hon lu dans Philolaos qui piit justitier
le. rapprochement qiril fait entre les quatre elements et les quatre
dieux du triangle.
La remarque que j'ai faite sur le mythe du Phedre oonduirait
d'autre part a Tliypothese que les divinites de Philolaos represen-
tent, avec Hestia, les planetes de son Systeme. J'ai recherclie avec
soin si les combinaisons resultant de cette supposition n'offriraieut
point quelques rapprocbements avec les attributions astrologiques
des signes du zodiaque aux planetes, comme maisons, etc. Mais
je n"ai rencontre rien de tel, ce qui d'ailleurs m'aurait plutot con-
duit a rejeter Phypothese en question, car ce serait, je crois, cette
fois uue pure chimere que de vouloir attribuer aux Grecs du
V" siecle avant notre ere la conuaissance de combinaisons tres
probablement chaldeenues.
Proclus ne nous indique que huit divinites philolaiques, —
raais on en peut sans scrupule ajouter deux pour les deux groupe-
ments hexagonaux, ce qui completerait le nombre de dix forme par
l'Hestia, la Terre, rAutichthone, et les sept planetes^).
. Sur ces dix divinites, nous en avons incontestablement quatre,
Kronos. Zeus. Ares, Hestia. qui sont l>ieu astrales; en prenant, par
exemple, Demeter pour la Terre. ce qui ne peut souffrir de diffi-
culte, nous en trouvons une cinquieme: si enfin nous empruntons a
Plutarque'') les noras d" Aphrodite et d'Hera pour ceux qui nous
■') I, 4(J: ö 0£ AicIvu3o; ttjv 'jyjidv xoti ds.^\J.-qy i-i7rjor,v'jti yr/eatv, ^; xat 6
■'') Le mythe du Phedre indiquerait douzo divinites: il fauih-ait des lors
supposer des doublements, corrirae deux divinites pour uue ineme planete.
*) Contrairement au temoignage expres de Proclus, Plutarque (d e I s. 30)
rapporte ces deesses ä l'angle du carre; mais il est possible qu"i] ait copie
uu document detiguie par une lacuue. Sou texte est dailleurs le suivant (ed.
Dübner, chez Didot): ^a^vovrott oe xal oi Il'j&ayoptxol tov Tu'ftüva Sai|j.oviXT)v
•/,Yo6jjLEvoi 5'jvaatv. Aeyo'jai ydp h cJpTi'io [JL^Tpio extio xott rrevTr^x'^aTti) -(virnttai
Sur uu fragracnt de Philolaos. 385
nianquent (les divinites de riiexagouo), nous en aurions une
sixieme.
Resterait ä identifier. plus uu moius arbitrairemcnt, le Suleil,
lit Luue. Meixuie. rAnliclithonc. avec Dionysus. Rhea. Hades. Hera,
n est clair qua Thypothese iraboutit iii ä une impussibilite ni a
une couclusion qui s'impose.
La plus graiide difticulte coiisiste daiis rabsence d'Hermes;
puur l'expliquer, il faudrait. cc semble. supposer des duublemeuts,
corame si. par exeniple, pour retablir Tegalite entre le numbre des
dieux et celui des deesses, Philolaos avait Juge a propos de compter
pour I'hexagone deux dieux. comme deux deesses, et d'attribuer
la Terre ä Hades et Poseidon, si lou veut, eu merae teraps qua
Demeter. L'analogie entre les combinaisons philolai'ques et le
raythe du Phedre est insutfisante pour appuyer des conjectures de
ce genre.
C'est au reste cette aualogie seule qui m'a conduit ä consi-
derer Thypothese dline signification astrale pour les divinites philo-
lai'ques; je crois d'autant moins devoir la recomraander qu'elle
necessiterait tout d'abord. je crois, la Solution d'une question pre-
judicielle: Quelle est la veritable origine des noms divins attribues
par les Grecs aux planetes, et a quelle date ces noms ont-ils
commence ä supplanter les vocables hellenes: Oatvfov (Saturne).
4)a£i}üiv (Jupiter). IJupcieic (Mars). Otoacpopoc (Venus), ^-i>.ßu)v (Mer-
cure), si toutefois ces deruiers termes sont bien veritablement
anciens?
Je n'ai encore pu reunir que des documents tout a fait in-
T'j'fwva* 7.0(1 TiäXtv T/jV [jiv toö rptyiuvou "Atoo'j xal Atovüsou -/.cäi 'Apeo; elvai,
TTjV 5e TOÜ Teipayojv&'j 'Ps'oi; xotl 'A'fpookrj; v.cd A/jf^/j-po? -/.cti 'Ks-ta; xotl "Hpa;.
Trjv 0^ Toü 5w5c-/aY(öv&'j Aio;, ttjv oe exxc(i-£VT-/)xovTC(YiuviVyj 'rocpiövo;. w; Ejoo;o?
lOToprjaev. Aiiusi Eudoxe (eu admettaiit que .son autorite s'appliiiue :i tout le
passage), n'aurait pas counu Kroiios coiume dieu du triaugle, il aurait ajoute
Aphrodite et Hera pour le earre et parle du polygone de öG cotes pour
Typhon. Je ne erois pas qu'on puisse meconnaitre que la deniiere attri-
tiution represeute uu einpruut fait a l'Egypte pcsterieurement :i Philolaos;
le reste da temoignage semble provenir, plus ou moius tidelemeut, de son
a-uvre.
386 r;«ul launcry,
suffisants pour dii^cuter cette question. laqaelle n'interesse d'ailleurB
f[ue mediocrement riiistoire de la philosophie ').
") .rajuiitc a titre de simple reiiseiguenient, que, .suivaiit la trailitinu
aslrulugique. Je premier hexagone zodiacal u^l rjiuilitie de male et de diuine,
le second. de feinelie et de nocturiie. Quant aux trois carres, ils ii'unt ete
i'ol)jet que de distinctions insignifiaiites; aiusi pour Camateros, le premier est
i'elui des signes -rpoTiixä, le second celui des signes axeppof, Ic troisieme celui
des signes ohwioi.
\
XX.
KPATiiPRs des Orpheus.
Von
Otio Kern in Berlin.
Es ist das unbestreitbare Verdienst von Lobeck, den orphischen
Studien auch dadurch eine neue und fruchtbringende Richtung ge-
geben zu haben, dass er den Versuch machte die ungeheure Masse
der Anführungen aus Orpheus nach den von Clemens Alexandriuus
und Suidas überlieferten Büchertiteln zu ordnen und zu sichten.
Dass bei dieser mühseligen Arbeit eine lange Reihe von Irrtümern
untergelaufen ist, welche zum Theil recht erheblich sind, wird
Niemanden verwundern, der sich der Schwierigkeit der Aufgabe
bewusst ist und Lübecks Eigenart kennt. So viele Vorsicht die
Benützung des Aglaophamus demnach im Einzelnen auch erfordert,
das Verdienst ' den Schutt weggeräumt und die Spinnweben abge-
fegt' zu haben wird ihm für alle Zeiten bleiben"). Der von ilim
gewiesene A\'eg ist der richtige, und der Vorsatz des neuesten
Herau>;gebers der Orphica den Spuren Lobocks zu folgen war ge-
wiss ein weiser. J^eider hat demselben der Erfolg nicht entsprochen:
denn die Sammlung der orphischen Fragmeute, die Eugen Aböl in
iler SchenkTschen Ribliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum
im Jahre 1885 hat erscheinen lassen, bedeutet einen entschiedenen
Rückschritt. Nicht nur um dieses Urteil, das jetzt wohl allgemein
getheilt wird'), nidier zu begründen, .sondern um vor allem den Be-
weis einer im vorigen Jahrgang dieses Archivs S. 50(3 aufgestellten
') II. V. Wilamowitz Aus Kytlatluni S. 131.
"0 Unbegreiflicli ist mir das UileiJ von t'r. im LiU'iLirisclKMi CiMilralMatt
188f; .S. 160.
388 <^tto Kern,
Behauptung anzutreten, möchte ich hier die Ueberlieferung der
Kf/otTTjOs? des Orpheus prüfen, eines jetzt verlorenen Gedichts, dessen
Beurteilung für die Historiker der Philosophie von Bedeutung sein
wird.
Ich gehe von den Fragmenten aus, welche Abel fr. 159 — 169
zusammengestellt hat. Gleich das erste Fragment (159), das er
auf die Autorität von Lobeck I 376 hierher gesetzt hat, gehört
weder in dieses Gedicht noch überhaupt in eine Sammlung der
Orphica. Denn es ist unklar, wie man aus Servius Comm. ad
Virgil. Aen. VI 667 Theologus fuit iste (Miisaeus) post Orpheum et
sunt variae de hoc opiniones: nam eum alii Lini filium, alii Orphei
volunt. cuius eum constat fuisse discipulum: nam ad ipsum primum
Carmen scripsit, quod appellatur Crater etwas anderes folgern kann,
als dass Musaios, der Schüler des Orpheus, an seinen Lehrer ein
Gedicht gerichtet hat, das die T'eberschrift Crater trug. Gewiss ist
sonst das Verhältniss gerade umgekehrt, indem Musaios immer der
von Orpheus Angeredete ist (Lob. 454), aber irgend ein Grund die
Angabe des Servius zu verdächtigen liegt nicht vor. Weshalb soll
der dankbare Schüler nicht auch einmal dem Lehrer ein Werk de-
diciert haben, weshalb können nicht Beide ein Gedicht mit dem
Titel Kp5(T>^p oder Kpaxrjpsc verfasst haben? Gerade von Orpheus
und IMusaios gab es mehrere Bücher gleichen Titels, ich erinnere
an I'fv.tf/C., Tc/^STod, XpTjaixot. Die Möglichkeit, dass da-; von Ser-
vius citierte Gedicht eine spätere Fälschung ist, muss natürlich zu-
gegeben werden. Aber aus den Fragmenten der Orphica wird das
Serviuscitat holfentlich bald auf immer verschwinden").
Auf dieses Pseudocitat aus den KoottT^psc des Orpheus folgen
bei Abel (fr. 160. 161. 162. 164) Verse aus Johannes Diakonus ei;
t/jV TO'j 'Haiooou i)3o-,'oviav «XX/j'^opicd, welche mit Becht ihren Platz
hier gefunden haben, wie ich gleich Ijcmerken will, die einzigen
Citate aus der in Rede stehenden Schrift des Orpheus. Eine ge-
naue Durchsicht dieser Verse wird uns über den Charakter der
•') Der 'vir praeclanis', gegen den Lobeck p. ;>7() seinen ÄngrilT richtet,
ist i'assow, welclier den 'Crater' mit Ileciit für Musaios in Anspruch nimmt,
ihm fülgi Kinkel Frgiu. Epic. Gracc. p. 221. G. Dagegen hat auch Giseke
Hhein. Museum VIII (1853) S. IIS Servius misverstanrlen.
KPATHPE2 des Oiiiheus. 389
'orphischen' Kpatr^ps? nicht in Zweifel lassen. Ich setze den An-
fang her (Flach Glossen und Schollen zur Hesiodischen Theogonie
Leipzig 1876 S. 360f.): oxt 8s xctXÄ? v)ix£r^ sb/^otßojjisiia tov jxkv
"Apr^v Etc Tov TcoXiiJLov, Tov OS AtovuGov cu ~6v oivov, Tov 0£ rioctstofüva
et? XYjV Oa'Xotasav, tov o' 'Hcpaiaiov st; xo -up, xai fzXXa aX/^wr. ijLotp-
TUpsT XCJtt £V TW »JLlxpOTSpU) XpaTTjpl 6 'Op'^EUs, TOCOE Xs^COV
'F.p[xrjC o' £pjj."/;v£u? Tojv TravTtuv a*,*!-^^» £3Tt,
Nu'jLcpcd uötüp, Küp H^pataTo?, al~o; A/|jxr,Tr/p,
y; Ö£ öaXaaacc IJosEioauiV ixs^ctc /jo' 'Evoai'yücov.
X7.1 -ÖX£[XO; }X£V "Apr^C, Elpr^VTj 3' ectt' 'AcppooiT-/).
oivo?, TOV '^iXeoügi i)£ol Ovr^Toi t' aVlIpOJÜO'.,
ov T£ ßpOTOi? EupEV X'JTTtov xyjXr^TOpa -7.sa>v
Taupo^EVT); Aiov'jao; EÜcpposuvr^v -Op£ HvyjTOU
-?)0t'(jT-/jv. 7:aai"(jGrt t' e-' £iXc(-iv((ai TuapESTu
X7.1 0£[i.lC, f^TTEp rJr^aCSi OejxISTEUEI Ta OIXO('.0(,
'HXioc, öv xotXsouaiv 'AroX^mva xX'jxotocov,
OoT|3oV EX/jßEAET/jV, [XaVT'.V TtaVTCüV £Za£p70V,
tViTT^pa vo3tov, 'AaxX'/jiriov. £v Taoe TrctvTo;.
Schon a. a. 0. habe ich für diese Verse Benützung des Empe-
dokles behauptet und gebe nun die Beweise. Formell und inhalt-
lich stimmen die ersten drei Verse ganz deutlich mit Empedokles
V. 33 Stein:
T£ai37.p'X T«OV -aVTüJV ptCtO[A7Ta TTpoiTOV aXOUE'
£U; C-PTV HpT] TE CfEpEaplOi? "/jO Al^tUVEU?
Nr^a-(: xV r^ oaxpuoi; TE-pj'si xpouvwii-a [^poTEiov.
Nufxcpoti ist wohl eine Anspielung auf die hier erwähnte und
so oft besprochene Nestis, zweimal wird das Feuer bei Empedokles
Hephaistos genannt, üaXoiJaa erscheint V. 187 (vgl. Zeller T 686, 1).
Die ungeschickte Nachahmung zeigt aber recht deutlich der dritte
Vers bei Joh. Diakonus, denn das Wasser war schon V. 2 ganz un-
zweideutig erwähnt. Es kam dem Verfertiger dieser auch metrisch
schlechten Verse eben nicht darauf an, die Elementenlehre des Empe-
dokles in reiner Form wiederzugeben, sondern vielmehr eine allego-
rische Deutung verschiedener Götter vorzutragen. Die Anknüpfung
an Empedokles war dabei natürlich besonders bequem. Auf diese
390 Otto Kern,
Verse folgt dann ein Vors. den Empedokles hätte selbst schreiben
1< (innen:
Erst die ' vier' Elemente, dann Liebe und Hass, Krieg und Frieden.
Aber diese ersten Verse geben auch sofort noch zu einer ein-
schneidenderen Bemerkung Anlass, wenn wir den Titel des Werks,
aus dem diese Verse stammen sollen, den |x'.xpoTspoc Kpat/jo ins
Auge fassen. Ich darf hier au Lobeck anknüpfen, der p. 736 sagt:
'Nomen autem carminis Crateres e Piatonis psychogonia sumtum
videtur et ab illa duplici temperatione, quarum in una deus omnem
animum universae naturae perraiscuit, ex altera residua parte
mentes delibavit humanas'. Er hat diese Ansicht noch besonders
wahrscheinlich gemacht durch eine Zusammenstellung der Autoren,
welche die berühmte Timaiosstelle nachgeahmt haben. Eine Be-
stätigung geben die Verse über die Elemente, die in genauer An-
lehnung an Empedokles eine Lehre wiedergeben, welche Plato im
Timaios p. 31 B. 32 C aus diesem herübergenommen hat. Eine
ganz klare Anspielung auf den Timaios giebt schliesslich das zweite
Orplieuscitat bei Joh. Diakonus, in welchem es von Zeus heisst:
ZSUC oi TS -7VTÜJV iatl \)zh: ■JTOtVTtüV TS /E07.(3Tr'c.
I t
Niemand wird hier den mischenden Demiurgos des Timaios ver-
kennen.
Aber es lässt sich wohl noch Bestimmteres sagen. Nichl nur
Empedokles und Plato sind von dem Verfertiger dieser Verse be-
nutzt, auch die sog. orphischen Hymnen, die zu den allerspätesten
Producten 'orpliischer' Dichtung gehören, hat er höchst wahrschein-
lich gekannt. Johannes Diakonus gehört zu den wenigen Schrift-
stellern griechischer Zunge, welche die Hymnen kennen, vgl. Lo-
beck p. 406 mit Anm. tt. So ist fr. 309 Abel, wo der Vers aus
Joh. Diakonus p. 330 Flach
clVriOV/jV 'ExOtT'/jV 7./.T^!^lü, TjO'.OOrT'.V. 3p7.VV7jV
angeführt wird, kein neues Fragment, sondern nur ein Citat aus
Hymnos 1 I. Das hätte Abel aus Lobeck p. 747 lernen können.
Von alter orphi.scher Poesie kennt der Hesioderklärer nichts,
er holt seine ^N'eisheit aus trüben (Quellen. So wird es wahr-
scheinlich, dass der KoaTv-jO des Orpheus, welchen er gelesen luit,
KPATHPES des Orpheu.s. 391
iu dieselbe Klasse orphisclier Schriften wie die Hymnen gehört,
ja den Hymnos XXVIII voraussetzt, in dem V. 6 Hermes an-
geredet wird £par,vc'j ttccvküv, man vgl. den Anfang des Koa-CTjp-
citats 'EpiJ-r;; sptxr^vsu: t*ov Travtojv ä-p;z\6; istiv. Auch der T^zh;
Y.trj'-j.arr,: des Panhymnüs (XI 12) hat vielleicht dem Verfertiger
der Kfi7.r?|p3; vorgeschwebt, als er mit Zsu; zäpasTT;; den Demiurgos
des Timaios wiedergab; aus Plato die Vorstellung, aus dem oj-phi-
schen Hymnos der Klang der Worte. Nach diesen Proben wird
es Wenige verlocken die Orpheuscitate des Diakonus näher zu
betrachten. Von Interesse ist der Nachklang der rhapsodischen
Theogonie (äv -rloz -yyxy.), die ihm wohl in einer schlechten, ver-
wässerten, mit stoischer Theologie durchsetzten Form vorlag; inter-
essant ist fr. 162 das Lob auf die iJ-v/;ii-/j ganz im Sinne des Pytha-
goras, wie Lobeck p. 732 richtig bemerkt, interessant auch fr. 164 die
Etymologieen des Namens Zsoc, die der zusammenflickende Dichter des
Kpaty)p wolil aus Plato Kratylos p. 396 AB selbst entnommen hat.
Das Resultat dieser Beobachtungen ist das LTrteil, dass wir iu
dem von Diakonus citierten KpaT/jp ein wüstes Conglomerat von
allen Seiten hergeholter theologischer "W^eisheit zu erkennen haben,
und man wird sich nun bestimmter ausdrücken können als Giseke,
der a. a. 0. S. 119 weiter nichts zu sagen weiss, als dass die bei
Diakonus erhaltenen Verse zwar Wendungen alter orphischer Ge-
dichte enthalten, aber 'zugleich eine so seltsame Theokrasie, dass
man ihnen vielleicht einen späteren Ursprung zuzuschreiben geneigt
sein könnte'. Ob nun Suidas, welcher die Kpa-r)p£c als Werk des
Orpheus oder Zopyros citiert, dies von Diakonus benutzte (viel-
leicht selber gedichtete?) Poem des Orpheus meint, kann mit
Sicherheit nicht gesagt werden. Aber wahrscheinlicher ist, dass er
ein ganz anderes im Sinne hat, dasselbe, das im Katalog bei Cle-
mens Alexandrinus erscheint, auch da mit der Bemerkung, dass es
von Einigen auch auf Zopyros von Herakleia zurückgeführt wird.
Gewiss kann es ein orphisches Gedicht Kpa-:T,p3c gegeben haben,
aber ebenso gewiss ist, dass Clemens das bei Joh. Diakonus citierte
nicht gemeint haben kann. Hier fehlt uns, wie auf diesem Ge-
biete so oft, ein sicherer Anhalt für die Beurteilung des von
Clemens und Suidas angeführten Buchtitels.
Archiv I. Ueschiclilu d. Plul()Soi)liie. 11. "
392 Otto Keru;
Hiermit kann eine Untersuclmng über die Kp7-Y;p£; abschliessen.
Aber Abel giebt mir Gelegealieit noch Spuren wirklich alter Poesie
der Orphiker aufzudecken. Er hat nämlich diesen wertlosen K,o7.-
-7)03? zwei Neuplatouikerstellen zugeschrieben; gerne möchte ich
diese aus der lästigen Umgebung befreien. Und hier bin ich in
der schönen Lage eine Ansicht Lobecks wieder zu Ehren zu brin-
gen. Es handelt sich zunächst um Proklos in Plat. Tim. V 316 A
ETTöl xai ä'/lni -oipaoiooytai xpatTjpcs utco ts 'Op'fioj; zal WfA-iaw;.
nXciTouv xz -d-rj SV OiXr.ßto Tov |X£V 'H'fa-'STöiov zpaTT^oct Ttotpaotoojai,
7oy o£ Aicivuciaxov, y.cd 'Op'f £u? olos p.sv xal tov -oü Aiovusou xpctTT^pct,
TToXXou; 0£ X7l aXXou; lop^si -spl tyjv -;)Xiax7)v Tp7:7:£:otv. Die Orpheus-
citate der Neuplatoniker beziehen sich sämtlich, soweit ich die
Sache heute überschaue, auf die Theogonie der Rhapsodieen: ich
freue mich hier ganz mit 0. Gruppe Die griechischen Culte und
Mythen 1 S. 635 ff. übereinzustimmen'). Abel findet freilich über-
haupt Gefallen daran die Neuplatonikercitate in alle Winde zu ver-
streuen. Aber gerade dies Orpheuscitat gehört wenn irgend eines
in die rh. Theogonie, welche mit einem Lob des Dionysos und
einer Schilderung seines Reichs und seiner Herrschaft abschloss ").
Es ist nicht schwer die Umgebung festzustellen, in der von dem
Kpa-rr^p des Dionysos die Rede gewiesen ist. Ich greife heraus
fr. 191 (Lob. 553)
X7.t-£fi iovT'. viio y.cd vr^-uo £t).a-ivc(3-:Yj, fr. 202. 203. 204. Für
die xpct-sCot vaaxr; darf man wohl au den Outupoc des Pherekydes
erinnern, vgl. Laertios Diogenes I 119 (0ept■A.•Jor^; IXs-i t£ oti oI
ösol r>,v -pa-cC^v Oucopov xaXoiiatv, Sturz p. 35 s., Lob. 867 s., meine
Dissertation De theogoniis p. 88. 99 s.). Also ein neues Zeugnis für
die Abhängigkeit des Pherekydes von den Orphikern, s. Hermes
XXni 483. Zum Glück kann noch ein äusseres Zeugniss mit einiger
Wahrscheinlichkeit hinzugefügt werden. Im Platonischen Philebos
sagt Sokrates p. 61 BC toT? oyj ÖsoT?, w Flpw^ap/E, £u/o[j.£voi xspav-
v6a>>j.£v, iixz Aiovu3o; sits "HoatSTO? zib' oartc ösuiv -eauT/^v xr^v -i[j.tjv
•*) Vgl. die Bemerkungen von Diels oben S. 88 ff., denen ich mich in allem
wesentlichen anschliessen kann.
'•') Vgl. die von Abel fr. 85 gesammelten Zeugnisse, namentiicli aber
Lobeck 577 fl'.
F^FATHFEi' des Orpheus. 39?,
£Dv-/)-/a T/jC 3'j7/p7'ac(jjc. Erinnert man sich, dass Plato die rhap^sudische
Theogouie benutzt hat, und dass gerade in diesem Dialog eine sichere
Spur derselben von mir (De theogoniis p. 47) aufgedeckt werden
konnte, so ist Lobecks A^ermutung. dass dies Fragment in die Theo-
gonie gehört, jetzt wohl nach allen Seiten hin begründet und ge-
stützt worden. Die Kpairipsc des Johannes Diakonus knüpfen an
Plato an, und Plato hat eine Anspielung auf den KpaTTjp Atovua'.a-
y.h: der alten Theogonie. Ob nun Plato in seinem Timaiosmythos
in der That an irgend eine orphische Stelle anknüpfte, kann nicht
entschieden werden. Sogar die Möglichkeit, dass ihm auch hier
jene Stelle der rh. Theogonie vorschwebte, darf nicht ohne Weiteres
abgelehnt werden. Es wäre Plato dann ein Bindeglied zwischen
echter orphischer Poesie und junger Fälschung. Dass er dann aber
die orphische Anschauung in der allerfreisten Weise benützt hätte,
muss nach der Art aller seiner Mythendichtung mit Sicherheit be-
hauptet werden.
Auch die zweite Neuplutonikerstelle, welche Abel fr. 163 an-
führt, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der alten Theogonie zuzu-
schreiben. Echt neuplatonisch ist die Reflexion über die dreifache
jjLv/jijL-/;, welche direct au die des Hermeias über die dreifache Nacht
des Orpheus erinnert. Aber warum soll jMvr^ixtb, Kurzname von
Mv/i;xo3'jv/), nicht in die Theogonie gehören, in welcher diese Göttin
doch ganz sicher (fr. 95) vorkam? Oder soll auch noch nach der
dankenswerten Sammlung von E. Maass (Hermes XXIII S. 613 ff.),
die man allerdings bald vervollständigt wünschte, Stallbaums Aen-
derung*^) [xvr^[j.-/j ihr Dasein fristen? Gerade derNameMvr^ixoj ist doch ein
Zeugniss für das Alter des orphischen Gedichts, in welchem er vorkam.
Das ist alles, was ich über die Kiiaty^rvs? zu sagen weiss.
Nicht berücksichtigt habe ich Abel fr. 165. 166. 167. 168. 169.
Denn vergeblich habe ich nach den Gründen geforscht, welche
Abel zu dieser Zusammenstellung veranlasst haben. Vielleicht
bringt sie uns die versprochene editio major, die man hottontlich
auch ' emendatior' nennen darf; vielleicht auch nicht.
^) G. Hermann liat ()ri)hka p. .')10 nr. 27 richtig das liandschriftlioli üeber-
lieterte beibehalten.
27
«
XXI.
Ueber Griindabsiclit und Eiitsteliimgszeit von
Piatons Gorgias.
Von
Prof. P. Natorp ia Marburg.
Ueber Gehalt und Anlage des Gorgias in aller Kürze etwas
zu sagen, was der Grösse des Gegenstandes angemessen ist, muss
recht schwer sein; aucli ist der Eindruck der Schrift an sich ein
so klarer und mächtiger, dass für denjenigen, der sich ihm nur
ungetheilt, ohne viel Klügeln hingibt, eigentlich kein Wort mehr
darüber zu sagen nöthig sein sollte. Doch ist es unerlässlich, die
Grundabsicht der Schrift auf einen möglichst präcisen Ausdruck
zu bringen, um auf dieser Basis, wenn möglich, über ihre Stellung
im Ganzen der philosophischen Wirksamkeit Piatons Klarheit zu
gewinnen.
Nach dem ersten Anschein nimmt der Gorgias mit den Rhe-
toren den Kampf auf, wie der Protagoras mit den Sophisten.
Doch erkennt man bald aus der Art, wie der Kampf geführt wird,
dass der Angriff weit ernstlicher den Staatsmännern gilt. Noch
ein wenig schüchtern weist Gorgias, schon offenherziger Polos auf
die durch das Mittel der Redekunst zu erlangende Macht im
Staate; vollends die Auseinandersetzung mit dem Staatsmann
Kallikles fasst das Problem erst bei seiner wahren AVurzel und
bringt den Gegensatz der Anschauungen, der hier geschildert wer-
den sollte, zum allerschärfsteu Ausdruck. Doch auch damit ist
der Gehalt des Dialogs nicht erschöpft. In letzter Linie vielmehr
handelt es sich um die wahre Eudämonie. um die rechte Lebens-
Ueher Grundabsieht nmi F>nt>telningszeit von Platous Gorgias. 395
fiihrung. um die Reinigung der ethischen Grundansicht, die Schei-
dung von Wollen und Belieben, und damit des Guten von der
Lust, durch welche das berückende Idol der Macht zertrümmert
und in seiner Nichtigkeit biossgestellt wird. Dem entspricht, dass
als letztes, positivstes Resultat ethische Philosophie als Grund-
lage wahrer Staatskunst zum Ersatz für das Verworfene an-
geboten wird. Die Bekämpfung des Standes der Rhetoren und
Staatsmänner — was hier fast Eins ist — ist also schliesslich nur
Aussenseite; Piaton sieht darin nur den prägnantesten Ausdruck
des blinden Machtstrebens der Zeit"); und auf dieses, auf die
ganze Lebensrichtung von damals, insbesondere auf den politischen
Zustand Athens zielt im Grunde die ganze Darlegung, die aus
dieser überall durchschimmernden, einigemale auch recht schroft
und nackt ausgesprochenen Oppositionsstimmung ihr tiefes, hin-
reissendes Pathos schöpft. Die Absage an den Zeitgeist wirkt
hier, trotz des weit geringeren äusseren Apparats, weit mächtiger
als etwa im Protagoras; das Streiten wider den Sophistenw-ahn
der Menschenerziehuug will uns fast etwas jugendlich anmuthen
gegen diesen neuen Kampf, der die ganze, gesammelte Kraft des
gereiften Mannes forderte. Nirgends hat Piaton sein in der Apo-
logie gegebenes Versprechen grossartiger erfüllt").
Eine Absage an den Zeitgeist nannte ich die Schrift: das ist
viel zu wenig gesagt. Gerade die Vergleichung mit den sokrati-
sirenden Gesprächen muss es fühlbar machen, wie sehr hier der
Standpunkt einer bloss negativen Kritik verlassen ist; wie Piaton
sozusagen Alles daran setzt, zu einer centralen, für immer festen
Stellung in der entscheidendsten aller Fragen, nämlich der des
Sittlichen, vorzudringen, und damit zugleich die sichere Grundlage
^) Daher wird die Khelorik kaum weiter geprüft als eben, sofern sie als
Waffe im Wettbewerb um die Staatsgewalt gilt und von ihren Vertretern
selbst augejuieseu wird: sodass für eine die Redekunst an und für sich be-
treffende Erörterung (Phädrus) Stoff genug übrig bleibt. (Vgl. unten Anm. 3.)
-) Apol. 39 01). Bis Jemand entscheidende Gegengründe bringt, werde
ich die Worte o'u; vüv ifio xoiTETyov -/.xX. als Zeugniss dafür autfassen, dass
Piaton vor der Apologie wohl überhaupt nicht als Schriftsteller, sicherlich
nicht mit Schriften, welche eine Kritik des Gtfentlichen Zustantls von Athen
enthielten (z. B. Protagoras), aufgetreten ist.
:-396 P- Natuip,
für ein positives AVirkeii im Staate (auf dem inclirecteu Wege
der philosophischen Erziehung) zu gewinnen. Gewiss sind
die ethischen Grund Überzeugungen, die hier entwickelt werden,
keine anderen als die sokratischen. wie man sie schon aus der
Apologie und dem Kriton erkennt. Doch aber, welcher Unter-
schied in der Art und Tiefe der Begründung, in der Sicherheit
des Bewusstseins. in der Energie der Aussprache. Schon die An-
lage des Gesprächs zeigt den gewaltigen Fortschritt; diese klare
Einheit, dieser feste Zusammenschluss bei so reichem und mäch-
tigem Inhalt, diese Deutlichkeit und wie naturgesetzliche Nothwen-
digkeit der Gliederung in der auf fortschreitender Veriunerlichuug
des Problems beruhenden Steigerung von Gorgias zu Polos zu .
Kallikles. mit dem Abschluss in dem ewigwahren Mvthos des «
Todtengerichts. Noch grösser fast wirkt diese ganz dichterische •
Gestaltungskraft; diese einzige Fähigkeit in die Seele des Anderen i
sich hineinzudenken, den äussersten Gegensatz der eignen Lebens-
anschauung in einem Typus — oder um denn ganz platonisch zu
sprechen, einem „Paradeigma" hinzustellen, dessen Lebenswahrheit
jedes Zeitalter der Menschengeschichte bestätigt; und dann wieder
diese Macht des Dialogs, dies zur Rede stellen, diese Gewalt, das
eigne Bewusstsein des Mitunterredners (und damit des Lesers) zum
Zeugen aufzurufen; nicht mehr nur, im sokratischen Sinne, ihn
ziun Geständniss zu bringen, dass er mit sich selber nicht einig,
in sich selber nicht klar ist, sondern in jenem positiveren, plato-
nischen Sinne des oictXsYssöott, wie wir ihn im Meuon zuerst kennen
lernen, die Erkenntniss des Wahren ihn im Grunde der eignen
Seele wiederaufspüren und sich darauf wiederbesinnen zu machen.
Das hatte ich im Gedanken, wenn ich meinte, es sei zu wenig
gesagt, dass der Gorgias eine Absage an den Zeitgeist enthalte.
Es ist nicht mehr eine Absage, es ist ein Ringen mit dem Zeit-
geist, ein Ringen w'ie auf Leben und Tod. Dieser auflodernde
Zorn, er wurzelt in unzerstörlicher Liebe: in jener tapfereu Liebe
des Arztes, der das Schneiden und Brennen nicht scheut, denn er
weiss, es ist zum Heile.
Das muss man herausfühlen, ich sage nicht, um den (iorgias
zu genie-ssen, sondern um seine Bedeutung sich klar zu machen,
üeber Gruiulabsiclit uml Entstehuugszeit von Piatons Gorgias. 397
und danach denn auch seine Stelhmg im Ganzen des platonischen
AVirkens zu begreifen. Das ist es ja wohl, wodurch Piaton, in
praktischer Absicht, über Sokrates hinausgeht: dass er sich positiv
die Aufgabe stellt, seine Zeit umzuwandeln, auf sie zu wirken
in Kraft der Ueberzeugungen, welche Sokrates in ihm zum Leben
erweckt, deren Macht er an sich zuerst erprobt hat, und in denen
er die alleinige Rettung sieht für sein Volk, für seine Zeit. Es
ist in der That meine Ueberzeugung: dass im Gorgias der Plan
des platonischen Wirkens, nach ethisch - politischer Seite,
niedergelegt ist; derselbe Plan, der seine genauere Ausführung ge-
funden hat — im Staat.
Daraus ergäbe sich nun schon ein, wie mir scheint, ziemlich
sicherer Schluss hinsichtlich der Stellung des Gesprächs in der
ganzen Reihe der platonischen Schriften: dasselbe ist an das Ende
der Schriften von sokratischem Charakter, oder richtiger an den
Beginn der specifisch platonischen Wirksamkeit zu setzen; d. h. es
folgt, nicht bloss auf Apologie und Kriton, sondern gleichfalls auf
Protagoras und die drei mit diesem eng verknüpften Gespräche
Laches, Charmides, Menon: es geht vorher allen sonstigen Schriften
von nicht sokratischem Charakter.
Nach Schleiermacher hätten wir im Phädrus das Programm
der philosophischen Wirksamkeit Piatons und ebendeshalb seine
frühste Schrift zu sehen. Ich kann dem nicht beitreten, nicht
bloss aus dem Grunde, der für die Mehrzahl der Forscher be-
stimmend gewesen ist: dass das eigenthümlich platonische Wirken
die sokratisirende Periode nicht nur voraussetzt, sondern — wie
gerade der Gorgias bestätigt — bewusst überwindet; vielmehr
auch, wenn man diesen Fehler berichtigt und also von den sokra-
tisirenden Gesprächen absieht, so ist selbst dann jene Ansicht nur
halb wahr: das Programm des platonischen Wirkens enthält an
erster Stelle der Gorgias, und nur in ergänzender ^Veise der
Phädrus. Dass der letztere bloss die Form der Philosophie be-
handelt, betont Schleiermacher selbst; eben deswegen enthält er
Piatons Programm nur zur Hälfte; eben deswegen fordert er eine
Ergänzung, wie nur der Gorgias sie bietet. Aber der Phädrus
ergänzt vielmehr den Gorgias, nicht der Gorgias den Phädrus; wie
398 ^- N'atorp,
eine durchgängige Vergleichung beider Schriften es, wie ich glaube,
zur Evidenz bringt^).
Richtiger hat Sciileiermacher erkannt, dass zwischen Gorgias
und Theätet sehr bestimmte Beziehungen obwalten, welche viel-
leicht nöthigen, jedenfalls empfehlen, sie auch zeitlich nahe an-
einander zu rücken. Doch bestehen nicht minder genaue Bezie-
hungen zwischen Gorgias und Phädrus, und zwischen Phädrus und
Theätet. Dass die vier Schriften: Menon, Gorgias, Phädrus, Theätet
zusammengehören und annähernd dasselbe Stadium der Entwicklung
der platonischen Philosophie darstellen, hat Zeller richtig erkannt,
der jetzt (Phil. d. Gr. Ha, 4. Aufl., S. 540—544) auch in der An-
ordnung dieser vier Gespräche nahezu die Auffassung vertritt, welche
sich uns als die richtige ergeben wird.
Die vorherrschende Ansicht scheint dagegen zu sein, dass
der Gorgias zu den Schriften von sokratischem Charakter zu zählen
und deshalb, sowie namentlich wegen der vielen und bedeutungs-
vollen Hinweise auf den Tod des Sokrates, diesem, also dem
Jahre 399 möglichst nahe zu rücken sei. Ich kann dem schon
deshalb nicht beistimmen, weil mir scheint, dass der Gorgias weit
weniger eine zweite Apologie des Sokrates, als (um Schleiermachers
nur etwas zu schroffen Ausdruck einstweilen zu gebrauchen) eine
Apologie Piatons enthält. Ich meine, es sei evident, dass der
Autor sich gegen Vorwürfe, die wider ihn selbst — natürlich als
Sokratiker — erhoben worden sind, vertheidigt. A^or allem die
wohlmeinende Ermahnung des Kallikles an Sokrates zur Betheili-
gung am Staatsleben und was darauf entgegnet wird, kann sich
nur auf Piaton beziehen, wie im allgemeinen ja auch anerkannt
wird. Dann aber kann ich mir die Schrift nur in einem gewissen
Abstand vom Tode des Sokrates denken.
Der Einzige unter den Neuern. bei dem ich fassbare Argu-
mente für die frühere Ansetzung finde, ist v. Wilamowitz (Philo!.
Unters. 1 213 ff.). Derselbe beobachtet richtig, dass im Gorgias
gewiss nicht absichtslos Archelaos von Makedonien als Typus des
^) Dass Phiulr. '-'(lO \) sicli auf dfii Gorgias zuriickl.ie/.ielil , liulte
ICll Ulf
sicher: vgl. oben An in. 1.
Ueber Grundahsicht und Luistehimgszeit von Platons Gorgias. 399
f'ngerechteLi, der der Strafe entronnen, dem Sokratcs, der sie
schuldlos leiden musste. gegenübergehalten wird; so noch /-um
Schluss in der Darstellung des Todtengerichts (5251), 52(3 C). Nun
slarb Archelaos in eben dem Jahre, wo Sukrates den Schirling
trank; war dies dem Leser gegenwärtig, so musste jener Contrast
■sto eindringlicher wirken. Also, meint v. W., müsse die Schrift
möglichst bald nach 399 verfasst sein; schon einige Jahre später
wäre diese Gegenüberstellung minder wirksam gewesen. — Ich
kann mich nicht überzeugen, dass ein Unterschied von wenigen
Jahren hier sehr ins Gewicht fiele. Das Beispiel lag an sich nahe
und hatte etwa 5 Jahre später gewiss noch dieselbe Ueberzeugungs-
kraft. Einen sicheren Schluss hinsichtlich der Abfassungszeit würde
ich auf jene an sich richtige, auch für das Ver.ständniss der Schrift
förderliche Bemerkung in keiner Weise zu bauen wagen. — Ent-
scheidender wäre, wenn er sich aufrechthalten Hesse, ein zweiter
Grund, welchen v. W. vorbringt. Nämlich der Gorgias müsse ver-
fasst sein von einem von Athen Abwesenden. Doch mir scheint
das Gegentheil sicher. Die Strafrede des Kallikles setzt zweifellos
voraus, dass der, an den sie gerichtet ist, also Piaton, nicht etwa
von Athen sich fernhält, sondern in der Stadt lebt und nur vom
Staatswesen sich vornehm zurückhält, um in der Verborgenheit
mit einer kleineu Schaar von Genossen der Philosophie zu leben.
Ja, ich meine, es müssten Reibungen zwischen den Philosophen
und Staatsmännern schon vorausgegangen sein, die wir uns am
natürlichsten auf dem Boden Athens denken würden. Wer in
Athen hätte sich wohl sonderlich darüber aufgehalten, wenn Piaton
w^eltvergessen bei den Pythagoreern in Unteritalien oder wer weiss
wo sonst sich Forschens halber aufhielt? Nein, sondern er war
anwesend, und man empfand seine Anwesenheit; man verstand in
seiner Zurückhaltung die Verachtung des öffentlichen Zustands der
Stadt; man ahnte auch wohl, dass der Kreis, der um ihn sicherst
zu sammeln begann und den man für jetzt noch meinte mit Ge-
ringschätzung behandeln zu dürfen, vielleicht einmal zu einer
achtunggebietenden Macht anwachsen könne. Lässt denn der Spott
des Kallikles, dass Sokrates. bei so trefflichen Anlagen, den Markt
und das Centrum der Stadt, wo wahre Mannestüchtigkeit sich er-
400 ^- -Natorp,
probe, meide und es vorziehe in einem Winkel versteckt mit drei
oder vier Jünglingen flüsternd sein Leben zu verbringen — lässt
dieser Spott sich denn anders als auf Piaton, und anders als im
eben erklärten Sinne deuten? Auf Sokrates würde er keineswegs
passen, er mied ja nicht die Mitte der Stadt und schloss sich
nicht in Conventikeln ab. — Aber die „kolossalen Wahrheiten"
des Gorgias. insbesondere die „herben und ungerechten" ürtheile
über die grossen Staatsmänner der Vorzeit Athens, meint v. W.,
hätte Piaton nicht wagen dürfen, wenn er damals in Athen sich
aufhielt. — Nun. ich muss gestehen, dass mir die gegentheilige
Voraussetzung ein gut Theil des Eindrucks der Schrift zerstören
würde. Es war gerade kein Heldenstück, aus sicherer Ferne die
bittere Anklageschrift in die Stadt zu senden, sich als Arzt und
Retter, als den Einzigen, der wahrhaft für das Heil des athenischen
Staates wirke, die wahre Staatskunst betreibe (521 D)^ anzupreisen;
vollends, auf das böse Wort, dass man ihn. wofern er die Rede-
künste verschmähe, wohl straflos werde ohrfeigen dürfen (486 C.
508 DE, 527 A), ja auf die Drohung, dass ihm selbst leicht das
Schicksal des Sokrates bevorstehen könne (521 C, vgl. Men. 94 E),
Antworten zu ertheilen, wie wir sie 511 B, 521 CD, 522 DE lesen,
wie, dass man ihn sehr gelassen werde sterben sehen, wäre es aus
Ermangelung schmeichlerischer Redekünste. Selbst abgesehen von
dem allen braucht man nur einmal auf die zahlreichen Wen-
dungen *) wie £v TYjos xfj 7roÄ£i, £v -/jatv u. dgl. zu achten, um über
diesen Punkt, auch gegen das ürtheil eines Kenners der Zeit-
geschichte w'ie V. Wilamowitz, vollständig beruhigt zu sein. Im
Gegentheil wird nun dies Argument zu einer sehr wesentlichen
Stütze unserer Auffassung. Ist der Gorgias sicher in Athen ver-
fasst, so kann schon die allernächste Zeit nach Sokrates' Tode
nicht mehr in Betracht kommen, da Piaton eben diese unbestritten
auswärts verbrachte. Der Gorgias kann aber auch nicht wohl die-
jenige Schrift gewesen sein, mit welcher sich Piaton in Athen ein-
führte; sie setzt den Ansatz wenigstens zur Schulbildung, sie setzt
■*) Mau prüfe besonders 513 A t^ r.oXnda xotÜTTj ev f, ctv oty-VJ und was
folgt; vollends 521 C «u; of-/ wv £/. -ooojv x-X.
Ueber Grundabtsicht und Eiifstehungszeit von Platuns Gorgias. 401
'111 beträchtliches Ansehen, vorausgegangene sogar heftige Reibun-
gen, wohl sicher auch schon erfolgte Angriffe auf frühere Schriften
(wie Apologie und Protagoras) voraus; sodass wir sie jedenfalls um
einige Jahre weiter werden hiuabrücken müssen.
Uebrigens kommt v. W. in die Verlegenheit, dass er z. B. den
Protagoras w^eit später, in die Zeiten der Akademie zu setzen ge-
nöthigt wird. Ich weiss nicht, ob diese Annahme erst der Wider-
legung bedarf, doch ist es nicht ohne methodisches Interesse, die
Argumentationsweise zu prüfen, die zu solchem Schlüsse führte.
Ich lese (S. 218): „Der ^lai 399 warf Piaton aufs Krankenlager
— und das Lachen hat er erst mehr als 10 Jahre später, als er
in der Akademie lehrte. Protagoras, Euthydem, Symposion schrieb,
wiedergefunden". Und (219): „Das ist doch Avahrlich kein mo-
dernes noch subjcctives Empfinden, wenn man leugnet, dass der
Phädrus in der Stimmung des Gorgias und Menou entstanden sein
könne." Ich weiss nicht, ob man mit solchem Argument bei an-
dern Autoren etwas ausrichtet; auf Piaton scheint es mir unan-
wendbar. Piaton schöpft seine Stimmung aus dem Gegenstande,
nicht lässt er seine Gegenstände sich dictiren von der Stimmung,
die ihn gerade beherrscht. Der Unterschied des Gegenstands er-
klärt den Stimmungsunterschied zwischen Menon und Gorgias; und
so auch wohl zwischen Gorgias und Phädrus. Schon die Apologie
zeigt übrigens keine ausschliesslich trübe, keine resignirte, sondern
eine höchst kampfbereite Stimmung; vollends der Ton des Gorgias
ist nicht bloss muthig entschlossen, sondern siegesgewiss, und in
seinem unerbittlichen Hohne so überlegen, wie ich es nicht be-
griffe, wenn der Autor in freiwilliger Verbannung mit unthätiger
Resignation dem Verderben der Stadt von weitem zusah. Gewiss
ist der Phädrus nicht in derselben Stimmung geschrieben; ihn
trübt (sagt v. AV.) nirgend ein Ton, der auf das Ende des Sokrates
deutete. Er kann aber darum doch nach 399, er kann nach dem
Gorgias, sogar unmittelbar nach ihm verfasst sein. Warum sollen
wir dem Platon, nachdem er in sieben Schriften, deren keine es
an Herbheiten fehlen lässt, die letzte sie bis zum äussersten stei-
gert, seine philosophischen Consequenzen aus dem Ereignisse des
Mai 399 gezogen, nicht endlich gestatten, auf den Flügeln der Idee
402 P- Natorp.
ZU jeuen Inseln der Seligen zu kurzer Rast, zu flüchten, welche
der Schluss des Gorgias dem Philosophen , der dem Welttreibeu
entronnen ist, verheisst? — Erst der Erfolg in der Akademie soll
Piatons Stimmung verbessert haben. Ich würde dergleichen nie
zu behaupten wagen; übrigens setzt der Gorgias etwas wie eine
Schule Piatons voraus; desgleichen sicher der Theütet. an dessen
Entstehung noch in der zweiten Hälfte des ersten Jahrzehnts nach
Zellers Bew-eisführung (Abh. d. Berl. Akad. 1886) nicht mehr zu
rütteln sein dürfte; es stände also nichts im Wege, den Stimmungs-
nmschlag, den mau zur Erklärung des Phädrus für nothwendig
hält, schon bald nach dem Gorgias eintreten zu lassen. Ich möchte,
wie gesagt, auf solche Gründe keinesw-egs etwas bauen; doch wer
sie nöthig hat. dem werden sie nicht fehlen. Allgemein habe ich
Bedenken dagegen, auf Annahmen über den Lebensgaug Platous
andere über die Reihenfolge seiner Schriften zu stützen — zumal
ohne die ernstlichste Berücksichtigung ihres inhaltlichen Ver-
hältnisses.
Und so möchte ich auch für meine Ansetzuug des Gorgias mich
bloss hülfsw^eise auf die Lage des Autors, die er voraussetzt, be-
rufen. In der That gelangt man zu demselben Schluss auf dem
geradesten und sichersten, obzwar altmodischen Wege, indem man
sich klar macht, dass der Gorgias, seinem Inhalt nach, die ganze
sokratisirende Periode (d. h. die Schriften von der Apologie bis
zum Menou) voraussetzt. Das hat man auch früher meist ange-
nommen, aber sich die daraus zu ziehende Consequenz verborgen,
indem man Protagoras, Laches, Charmides und wohl gar Menon
noch zu Sokrates' Lebzeiten abgefasst sein liess; was für den letz-
teren schon wegen der Bezugnahme auf das spätere Schicksal des
Anytos (95 A) unmöglich ist, aber auch für die drei anderen Ge-
spräche Niemand zugeben wird, der .sich deren Verhältniss zur
Apologie ernstlich klar gemacht hat; erinnert sei für jetzt (ausser
dem oben Anm. 2 Bemerkten) iiur noch daran, dass nicht bloss
Men. 91 CE, sondern auch Lach. 186 B auf den gegen Sokrates (in
Verwechslung desselben mit den Sophisten) erhobenen Vorwurf,
dass er „die Jugend verderbe", sich deutlich bezieht. Doch scheint
es heute fast nöthiger erst das Verhältniss des Gorgias zu den ge-
Ueber Grundabsicht und Entstehuugszeit von Piatons Gorgias. 403
naanteu Schriften ausser Zweifel zu stellen; hat doch die spätere
Datirung des Menon gegenüber dem Gorgias noch kürzlich an
Gomperz einen beredten Vertlieidiger gefunden.
Schon das positive Auftreten Piatons im Gorgias zeigt den
entschieden fortgeschrittenen Standpunkt. Noch behauptet zwar
Sokrates, nichts zu wissen von dem was er vorbringt (50G A,
509 A) — aber doch, dass noch Jeder, der es anders zu sagen
versucht, sich lächerlich gemacht hat. wenn er von Sokrates o-e-
prüft wurde (509 A , cf. 527 AB). Das ist nicht nur ein andrer
Ton, als den z. B. der Protagoras anschlug, sondern es setzt frühere
Darlegungen über die ethischen Grundfragen ersichtlich voraus, und
wo sollten wir die suchen, wenn nicht hauptsächlich im Protagoras,
in zweiter Linie etwa im Menon? Und noch entschlossener er-
klärt Sokrates: was im Gespräche sich ergeben, das bleibe fest und
wohl verwahrt mit eisernen und stählernen Gründen^); und noch-
mals: gegenüber so vielen Sätzen, die alle widerlegt wurden, ist
dieser allein festgel)lieben, jxovoc outoc rjpctxsr 6 X070; . . ."); ihn
dürfen wir getrost zur Richtschnur unseres Lebens wählen. Xuu
handelt es sich dabei eben um den Begriff der Tugend — wie in
sämmtlichen sokratischen Dialogen. Jeder wird sich erinnern, wie
gerade dieser Begriff dort beständig als noch nicht gefunden galt;
so ausdrücklich im Protagoras, im Laches, und noch im Menon,
dessen Schluss gerade die Beantwortung der Frage „Was ist Tu-
gend?" als noch ausstehend bezeichnet. Insbesondere wurde die
Tugend zwar stets zurückgeführt auf Erkenntniss, und zwar des
Guten, was aber das Gute sei, wurde ernstlich noch gar nicht ge-
fragt. Hier im Gorgias zum ersten ]\Iale wird der Begriff des
Guten untersucht und durch strengste Scheidung von der Lust
wenigstens negativ, sodann aber auch positiv, allgemein als -i>^oc,
bestimmter als Gesetz und Ordnung (auch als zloo; 503 E) erklärt.
Wie wäre nach dem allen noch eine so ausschliesslich negative
^) 509 A 'Afiziyfzai xat hiozzii ... Gior^poT; xod c<oc<;j.avtivoi; Xoyoi;. Vgl.
Men. 98 A l'(u« ctv Tt; aÜTct; StJst] ikiai XoyiaiAuI und liOLziozi Oc(Jijit;T irA'j-7][).r^
^) 021 H. Vgl. auch lüeiv.u Men. 87 D (zal oi'jtt, i^ 'jTtfjftiit; ,aEV£t ^juiv),
89 C, 98 A (.ULfSviaot).
404 ^- Natorp,
Behandlung derselben Begriffe möglich gewesen, wie iu jenen f
vier Dialogen? AVar etwa, was hier „mit eisernen und stählernen
Gründen" festgemacht und zur Richtschnur des Lebens erhoben
worden, hernach doch wieder zweifelhaft geworden? Ist nicht im Ä*'
Gegeutheil die Grundausicht, die hier zuerst gewonnen wurde, fest
geblieben im Staat, im Philebus? Gewiss künstlich wäre die
Annahme , dass in irgendeiner Zeit zwischen dem Gorgias und i
diesen späteren ethischen Schriften Piaton nochmals von der alten
£illi
;JI
sokratisch-negativen Behandlungsart dieser selben Grundbegriffe
sollte Gebrauch gemacht haben.
Dies Argument, welches vielleicht für sich allein schon durch-
schlagend wäre, lässt sich übrigens noch viel weiter ins Einzelne
verfolgen. So erhalten wir im Gorgias nebenbei auch so bestimmte
Erklärungen der einzelnen Tugendbegriffe wie scucpfiosuv/j, avopsia
u. s. w., wie man sie gleichfalls in jenen vier Gesprächen vergebens
sucht. Man w^eiss, wie Protagoras, Lach es, Charmides einen Son-
derbegriff einzelner Tugenden fast auszuschliessen scheinen; wie in
einer Stelle des Menon (88 A ff.) sogar Besonnenheit, Tapferkeit etc.
nicht an und für sich Tugenden sein, sondern, wie andere „Güter",
erst unter der Leitung der opov/;aic zu Tugenden w-erden sollten,
während sie daneben doch auch wieder als Einzeltugenden oder
„Theile" der Tugend begegnen; sodass ihr wahres und positives
Verhältniss zur Einen Tugend noch gänzlich unentschieden blieb.
Nun haben zwar auch die Bestimmungen, welche der Gorgias gibt,
später im. Staat gewisse Modificationen erfahren; aber die Grund-
auffassung ist doch auffallend dieselbe geblieben, die Abwei-
chungen sind mehr von technischer Bedeutung. Auch hier also
bestätigt sich, dass im Gorgias diejenigen Grundzüge der ethischen
Ansicht erreicht sind, welche dem Piaton dauernd festgeblieben sind.
Erwähnt wurde schon, worauf die scheinbare Ergebnisslosig-
keit der vorgenannten vier Schriften gerade in ethischer Beziehung
— während sie doch von nichts als vom Begriff der Tugend han-
deln — zuletzt beruhte; sie beruhte darauf, dass die Tugend aus-
schliesslich unter dem sokratischen Gesichtspunkt der Erkenntniss
behandelt wurde. Hier sind wirkliche Fortschritte zu verzeichnen,
in der näheren Bestimmung des Begrifis derjenigen Erkenntniss, in
f
üeber Grundabsicht und Entstehungszeif von Piatons Gorgias. 405
der die Tugend bestehen sollte; es wurde erreicht, dass diese Er-
kenntniss, um es kurz zu sagen, die a priori-Erkenntniss des Einen,
an sich und absolut Guten, nicht die empirische der mannigfachen
relativen Güter des Lebens sein müsse. Aber der so dringlich ge-
forderte a priori-Begriff „des" Guten wird, wie gesagt, nirgend er-
reicht oder nur ernstlich in Untersuchung gezogen. Im engsten
Zusammenhang mit der Auflassung der Tugend als Erkenntniss
wurde ferner die Frage nach der Lehr bar k ei t der Tugend wieder
und wieder aufgeworfen. Ihre Verneinung im Protagoras dürfte
ernst zu nehmen sein: Sokrates musste sie, von seinem Stand-
punkte des Nichtwissens, verneinen; Piaton bejaht sie erst im
Menon, auf Grund der sicher ihm specifisch augehörigen, nicht
sokratischen Lehre von der Anamnesis. Im Gorgias nun wird so-
wohl, dass Tugend ein Wissen, wie, dass ein Wissen nothwendig
lehrbar sei, schlechthin vorausgesetzt, ohne dass der leiseste
Zweifel daran auftauchte. So stimmt es auch allein zu der so
ganz positiven Haltung des Dialogs. Dass übrigens diese selbstge-
wisse und entschiedene Haltung auf dem im Menon zuerst er-
reichten Resultate fusst, dafür bürgt die ständig wiederkehrende
Berufung auf die Erkenntniss des Grundes (7iTta, Xo^oc, daneben
cpuatc, besonders 465 A und 501 A), durchweiche im Menon (98 A)
die Anamnesis geradezu definirt wurde. Wenn aber ferner nach
diesem Kriterium die wissenschaftliche Erkenntniss von un-
wissenschaftlicher, grundloser Empirie unterschieden wird, so
geht dies sogar über den Menon entschieden hinaus und sticht
merkwürdig ab gegen die Unbestimmtheit, in welcher dort der Be-
griff der öoca c(X-/)ö-/;s noch verblieb"). Derselbe Gegensatz wird
') Sie soll einenseits nichts Geringeres als die äX/jSsta -löv ö'vxiuv bedeuten,
die von jeher in uns ist und nur noch zum Bewusstsein geweckt zu werden
braucht (8G A dvEaovxai aütw dcXrji}£T; oo'^ai ... und gleich darauf d id
i] d\ri%zia fjfxlv tüiv ö'vTwv laxlv £v tt] ^'r/jrj); und wenn es 85 D dann
wieder heisst, dass wir die Erkenntniss aus uns selber schöpfen (ävaXctßüJv
«ixö; I; auToü ttjv ^7:1577] [i.Tjv), so ist damit die a. 6. der ^TriaT^fJ-r^ fast
gleichgesetzt (daher denn auch Phäd. 73A ^TrtatTj.arj ^voüaa xcd öp&ö?Xoyo;
— nicht mehr 6. oo^a). Dagegen wird hernach sehr stark der Unterschied
zwischen ^Tii!jTT,rj.rj und öp9r] oder ölXr^'l)r^^ 005a betont ; es wird der letztern
alle eständigkeit atigesprochen, sie wird als blosser Schatten dtM- Erkenntniss
406 P- ><atoip,
im Phiulrus (260 E u. f., wo die Zuriickbezielmng auf den Gorgias
von Siebeck erkannt, jetzt auch von Zeller, Ila^ r34r, anerkannt
ist) in Erinnerung gebracht, im Theätet aus den tiefsten Tiefen der
Erkeuntnisstheorie abgeleitet; sodass auch hier der Gorgias über jene
vier Schriften hinausgeht, dagegen mit solchen, die Jeder als specifisch
platonische anerkennt, in eine Reihe tritt. Weiteres der Art würde
eine speciellere Darlegung zu verzeichnen haben; das Gesagte wird
wenügen. um den Fortschiitt des Gorgias im allgemeinen zu kenn-
zeichnen.
Es kommt nun aber eine ganze Reihe von Momenten hinzu,
die im Gorgias entweder vollständig neu auftreten, oder höchstens
mit dem Menon ihm gemeinsam sind, so aber, dass auch im letz-
teren Falle ein Fortschritt über den Menon hinaus unverkenn-
bar ist.
Dahin gehört zuerst der nachdrückliche Hinweis auf Philo-
sophie, unter diesem Namen. Man kennt die sehr allmähliche
Ausprägung dieses Terminus bis zu der prägnanten Bedeutung, die er
zuerst bei Piaton, und auch bei ihm nicht von Anfang an erhält.
So heisst es zwar schon Apol. 28 E: 91X0 3090-3 v-a \j.t osi Cv, so ist
es die er.ste Frage des aus dem Feldzug zu seinem gewohnten
Treiben (z-\ t7.c cuvr^O;'.; oiatpißac) zurückkehrenden Sokrates
(Charm. 153 D): rspl oiXosocpia^ o~<ü; i'/oi xa vuv (vgl. 154 E, wo
Ki'itias den Charmides als „weisheitsliebend" rühmt); aber keine
(lieser Stellen reicht entfernt an die Bestimmtheit heran, mit der
Sokrates im Gorgias nicht nur Philosophie als seinen Beruf und
seine Liebe erklärt (-7. iu-z -'/lor/a, 481 D). sondern auszusprechen
als Jtin W;dirou gegeiuibcigeslellt. Wie mau das aucli reimen möge, auf
jeden Fall ergibt sioli, dass der IJegriff der oo;a hier Tioch sehr im Unge-
wissen schwebt. Es fehlt namentlich die dem späteren platonischen Begriff
der odiot ganz w-esentliche Beziehung auf das Gebiet der sinnlichen Erfahrung;
hier scheint sie vielmehr die a priori -ErliL-nntniss (obwohl bloss als o6va}j.i;)
zu bezeichnen. Die wissenschaftliche Erkenutaiss ist auf dem Grunde des
Selbstbewusstseins festgestellt, der Gegensatz dazu durch die oo;a äXT,8rj; erst
sehr unzureichend, gewissermassen provisorisch bezeichnet. Man mag daraus
zugleich ersehen, wie unmöglich es ist den Menon auf den Theätet er.st
folgen zu lassen, in ihm wohl gar die Auflösung der Schwierigkeiten zu
suchen, widche der Theätet im Begriffe der oo;a äATj9rj; aufileckt.
Ueber Gnindabsii-lil und Eiitstehnns'sz.eit von Plntons Gorgiais. 407
wagt: nicht ich. die Philosopliie sagt so (482 A), und sie sagt
immer dassellie (dt\ Ttoy «utäv /.o-u)v Isf'v). sie widerlege, wenn
,1a kannst; worauf denn Kallikles (484 C, 485 A-D, 486 A cf. 487 C)
mit der schönen Lehre antwortet, dass man es mit der Philosophie
mir ja nicht zu weit treiben müsse. So wird denn durchgängig das
Leben des Staatsmanns dem des Philosophen gegenübergestellt, be-
MMiders 484 DE (tl; -y.: uasTip'zc oratpißa:. Vgl. Theät. 172 CD)
und 500C (k-\ Tovos tov 'i'jjv tov iv zOxoari'si'y.). endlich noch in der
Darstellung des Todtengerichts (526 C gegen 525 D). Ein so posi-
tiver BegrilT von Philosophie als l'estgegründeter Wissenschaft,
deren Entscheidung gleichbedeutend ist mit dem A^'orte der Wahr-
heit, war auf soki'atischem Standpuidvt unmöglich. Ich glaul)e
darum nicht (mit v. AVilamowitz), dass der Phädrus, in welchem
cpi/v'-cfjoiV. als Terminus begründet zu werden scheint (278 D). dem
Gorgias vorausgegangen sein müsse: wold aber, dass die grundsätz-
lich negative Haltung, welche Piaton als Sokratiker in den bis-
herigen Schriften imch einnahm, bewusst überwunden sein musste,
bevor von 'i'.Xo30'f;'7. in solch positivem Sinne die Rede sein konnte.
Sodann finden sich zuerst im ]\lenon ilindeutungen auf ge-
wisse Interna platonischer Philosophie, welche als dem Leser
nicht ohne weiteres bekannt und zugänglich vorausgesetzt, daher,
nach einem naheliegenden Vergleich, geradezu als aojty^p'.'y. lie-
zeichnet werden (Men. 76 E). Darauf weisen auch hier l)estimmte
Anspielungen (493 B, 497 C), so juiuientlich die Andeutung von
der „geometrischen Gleichheit" (508 A). wo es sehr bezeichnend
ist, wie Sokrates sofort abbricht, weil ja ein Kallikles sich um
Geometi'ie nicht kümmere. Die Hervorhebung der Geometrie, schon
im Menon so auffällig (76 AE, 86 E u. bes. 82 C ff., 85 E), ist hier
doppelt motivirt: innerlich durch die Ausdehnung der ethischen
Begriffe von Ordnung und Gesetz auf das Weltall als Kosmos, und
zugleich äusserlich durch die sehr entschiedene Anlehnung an py-
thagoreische Anschauungen, sowohl 493 A (vgl. Iiöckh, Philolaos
S. 181ff. . beachte auch 493 1) ix toO r/.u-r/j - 'j|j.v7.3'>>u) wie 507 E
(wo sich J^laton gerade für die Bezeichnung dc^ \\'eltganzen als
zo3;ioc auf gewisse 3090'' beruft, und dann gleich jeuer Hinweis
auf die Geometrie folgt). \\"\v belinden uns in ganz pythagoreischem
Archiv f. (lesdiiclite d. I'liih.scpliu'. II. -"
408
P. Xatorp:
Zusammenhang. Auch der Mythos am Schluss hat damit Verbin-
dung, wie die Andeutung der Unsterblichkeit (492 E— 493 A, neben
523 A, 524 B) und das Wort vom Hades als dem oisioic (493 B,
vgl. 522 E ft".) lehrt. Ganz besonders ist aber hier, neben der
kosmischen Bedeutung der ethischen Grundbegriffe, die ausdrück-
liche Annahme eines unsichtbaren, übersinnlichen, unkör-
perlichen Kelches zu betonen: die Seele wird mit dem Tode
vom Körper und den Sinnen entkleidet (523 DE); was über das
im Menon Angedeutete bereits weit hinausgeht, dagegen sehr ge-
eignet ist, die ganz überschwängliche Darstellung des übersinn-
lichen Reichs im Phädrus vorzubereiten. Dass Piaton damit den
sokratischen Standpunkt weit hinter sich lässt — man erinnere
sich nur der durchaus zweifelnden Haltung des Sokrates in der
Apologie hinsichtlich der Frage der Unsterblichkeit — bedarf
keines Beweises. Aber es ist wohl mehr als blosse Vermutliung,
dass hier auch die Ideenlehre schon im Hintergrunde steht. Legt
schon im Menon die Gegenüberstellung t7. ivDaoö — -ä iv 'A'.oou
(81 C), eben auf Grund der Vergleichung mit Gorg. 493 B (to dzihk;
Ztj Xi-(Oiv), eine solche Yermuthung sehr nahe (vgl. Ribbing, Die
platonische Ideenlehre, I, 173 ft".). so haben wir im Gorgias ausser
dieser Gleichsetzung (durch welche auch die Schilderung des Todten-
gerichts erst in die richtige Beleuchtung gerückt wird) auch directere
Spuren, welche ebendahin weisen; das siooc nebst 'i.-nplr.ziv
(503 DE; vgl. Men. 72 C) kommt dem entwickelten platonischen
Begriff der Idee schon ziemlich nahe; das 7ro(,o7'o£t-c[i.a (525 C) lässt,
wenn es doch eben um ein Ewiges, Unsichtbares, Unkörperliches
sich handelt, kaum eine andere Deutung zu (vgl. namentlich
Theiit. 17GE); und wenn z^psTvott, -ocpousta (497 E. 498 D, 50ß D)
weniger entschieden im Sinne der fertigen Ideenlehre gebraucht
scheint'), so könnte das auf der absichtlich exoterischen Behand-
^) Es müsste niulit äyctöiöv r:a(iO'jat'7. lieissen, soiuleia toü dyoiöoy. — Ist übri-
gens Eufhyd. 301 A im Sinne Zeller's (Pli. d. Gr. II a^ 290 "-. r)310 zu verstehen,
so sieht man .sich nach einer Stelle um, wo der Terminus früher von Piaton
gebraucht wäre. Ich tinde — wenn vom Hipp. mai. abzusehen sein sollte —
nur eben Gorg. 497 E (tou; äyctOol»; oü/i äyctScüv -otpo'jat'ot äyctDoy; xaXci?, iöo-ip
T 0 'j ; z c( > 0 'j ; o I ; 'x v /. d /. /. o ; r a p ^ ).
M
[*eli(>r rinui(lalisii'lir uihI Kntslehungszpit von Plalons Gorgias. 409
luns dieses Punktes beruhen. Denn wenn daraul' im IMiädrus die
erste deutliche Ausspraclic der Ideenlehre eingeleitet wird mit den
merkwürdigen Worten -oXar^Tsov yj.rj r/jv to 7s ry-Xy^Osc strsTv
(247 C), so lautet das doch, als hätte er mit der schon erkannten
Wahrheit bis daiiin absichtlich zurückgehalten. Eine solche be-
wusste Unterscheidung exoterischer und esoterischer Behandlung
nöthigt ja auch anzunehmen, was wir von den „Mysterien" und
der geometrischen Erkenutniss hörten: die Annahme ist um so
leichter, wenn ein Schiilerkreis bereits vorausgesetzt werden darf.
Dann aber wird durch diese Beziehungen zweierlei zugleich be-
wiesen: erstens, dass Piaton von dem sokratisch-]iegativen Stand-
punkt, wie er im Protagoras, Laches, Charmides. und nicht mehr
ausschliesslich zwar, aber doch noch in weitem Umfang im Menon
herrscht, sich bereits ziemlich weit entfernt hat; und zweitens,
dass er einen gewissen Anhang, einen festen Kreis von Mit-
forsch enden schon gefunden hat; was, selbst unabhängig von je-
der Annahme über die Abfassungszeit der Dialoge Prot, bis Men.,
nöthigen würde, den Gorgias frühstens um die Mitte des ersten
Jahrzehnts zu setzen.
Alle angeführten Gründe sind nun zwar auch für die spätere
Abfassung des Gorgias gegenüber dem Menon beweisend, doch sei,
namentlich mit Rücksicht auf Gomperz, darüber noch Einiges be-
sonders bemerkt. Da scheint mir nun zuerst die eigenthümliche
Rolle beachtenswerth, welche dem Kallikles in unserm Dialog zu-
ertheilt wird. "Wie soll man die Bedeutung dieser merkwürdigen
Figur erklären? Der extremste mögliche Gegensatz der eignen
Gesinnung wird vorausgesetzt, damit, was selbst einem so gesinnten
Gegner im sokratischen Gespräch abgerungen werden kann, end-
gültig fest bleibe. Das ist die, nicht hineingelegte, sondern ausge-
sprochene Absicht der Einführung dieser Figur: man scheint sich
aber bisher nicht Rechenschaft darüber gegeben zu haben, dass
dadurch das Verfahren der vorigen Dialoge mit Bewusstsein
verlassen und berichtigt ist.
Polos wirft (461 B) dem Gorgias vor. er habe aus Scham
dem Sokrates zugestanden, was er gar nicht zuzugestehen brauchte,
und sich dadurch von dem listigen Gegner in Widerspruch ver-
28*
410
W Xafür|.,
wickelu lassen; Kallikles erhebt (482 C ff.) genau denselben Vor-
wurf gegen Polos, wobei er ebenfalls das Unrecht des sokratischen
Verfahrens scharf rügt. Und wie antwortet Sokrates? (48G D bis
488 B:) Er habe in Kallikles den Prüfstein gefunden, an dem seine
eigene Gesinnung ihre Kraft erproben könne, sodass, was selbst er,
Kallikles, einzugestehen genöthigt werden könne, fortan als end-
gültige Wahrheit feststehe'). In solchem Sinne lobt er, ironisch
genug, den edlen Freimuth, die „Parrhesie" dieses merkwürdigen
Helden — während freilich am Schluss der Verhandlung (508 BC)
sich herausstellt, dass, was Gorgias- Polos angeblich aus blosser
Scham zugestanden hatten, vielmehr eben die Wahrheit ist, zu
deren Anerkenntniss auch Kallikles genöthigt ist.
Also deutlich wird uns gesagt: das Problem muss radicaler
angefasst werden: der Beweis des Sittlichen darf nicht länger auf
Zugeständnisse rechnen, die der Scham, nicht der inneren Ueber-
zeugung des Gegners abgezwungen werden.
Das war nun aber doch ganz ersichtlich das Verfahren, zuerst
im Protagoras, dann im Meuon"^'). Hier im Gorgias wird es
an den beiden Figuren des (lorgias und Polos wiederholt und aus-
drücklich bemerklich gemacht — um aber dann, eben durch die
Aufstellung eines radicaleren Gegners in der Person des Kallikles,
endgültig verbessert zu werden. Es ist gewiss ein sicherer Schluss:
dass keine platonische Schrift, welche das hier so ausduicklich be-
richtigte \' erfahren noch unbefangen (zumal auf dieselben Probleme)
anwendet, später als der Gorgias geschrieben sein kann. Da nun
gerade das Verhalten des Menon dem des Gorgias und Polos (als
deren Gesinnungsgenossen er sich eben auch darin zu erkennen
gibt) ganz analog ist und das Gespräch eine tiefere Ergrüudung
') Man beachte auch hier die starke Betonung des definitiven Charakters
der hier zu erreichenden Feststelhmgen: 486E aÜTa TiÄTjSrj, 487 1" tio ö'/ti
oov ff itj.r^ Y.oa gt; öiAo/.oy'a t^Xo; r]orj £;u tt); iKr^üzioLC.
'"} Es ist sehr lueikwürdig und für das JJcwusstseiu. mit welchom Pkiton-
vorgeht, bezeichnend, dass der Gegner allemal gefasst wird auf Grund der
Gleichsetzung des äyotSov mit dem xctXov, dessen schwankender Begriff die
scharfe Grenze zw ischen .Schcineu und Sein verdeckt hält. (Man prüfe Prot. ^
349 E, aucii3;j2CD, 359 E; Men. 77B; Gorg. 474 C.) Kalliklc> imiss den
Sokrates auf eben diesem Kunstgriff ertappen, Garg. 482 0 E.
Sh.1
1,'eher Grundabsicht und Entstehuugszeit von Platons Gorgias. 411
der sittlicheil Hegriffe eben deshalb nicht erreicht, weil ei-. immer
auf (las Schickliche bedacht, die Skepsis nicht weit genug treibt
nnd sich zu bald ganz in die Bahn des Sokrates mitfortnehmen
lässt: so ist es unmöglich, dass der Menon auf den Gorgias erst
gefolgt sei; er miisste, nach ihm, als ein schwächliches Nachspiel
erscheinen, während wir nun in ihm ein durchaus passendes Vor-
spiel zum Gorgias sehen und die nicht tiefer führende Behandlung
des Ethischen uns daraus erklären dürfen, dass in dieser Richtung
ein wesentlicher Fortschritt über Protagoras, Laches, Charmides
hinaus noch nicht beabsichtigt ist, sondern für den Gorgias aufge-
spart bleibt, dagegen vorerst nur die erkenntnisstheoretische Frage,
die durch jene Gespräche so nahegelegt war, einen bedeutenden
Schritt weiter gefördert werden sollte.
Nun sieht freilich Gomperz (Plat. Aufs. T, 1887) einen Be-
weis für die spätere Abfassung des Menon gegenüber dem Gorgias
in der Behandlung der Staatsmänner in beiden Dialogen. Viel-
leicht hätte das Problem von vornherein nicht so isolirt werden
sollen: das Urtheil über die Staatsmänner ist in beiden Schriften
nur der Ausfluss der ethischen Anschauungen, die sie entwickeln.
Diese mussten zu allererst verglichen werden, wo sich denn wohl
sofort klar herausgestellt hätte, dass der Standpunkt des Gorgias
ein entwickelterer ist. Aber selbst unmittelbar musste einleuchten,
dass der Gesichtspunkt bei der Beurtheilung der Staatsmänner
hier und dort ein ganz verschiedener, und der verschiedene Aus-
fall des Urtheils nur die Folge dieser Verschiedenheit des Gesichts-
punkts ist. Nämlich der Menon behandelt die Frage ganz im Zu-
sammenhange des alten Problems der Lehrbarkeit der Tugend,
allgemein ihres Verhältnisses zur Erkenutniss, daher wesentlich im
Sinne des Protagoras und in möglichst ausdrücklicher Erinnerung
an diesen'')- ^^ie Frage des sittlichen Verdienstes wird ernsthaft
gar nicht erhoben; der Vorwurf, dass man die Staatsmänner
schmähe, wird zurückgewiesen durch die Erinnerung, dass es sich
jetzt darum gar nicht handle, ob ihr Wirken Lob oder Tadel ver-
") Aehulich Virtlieilt ZcUer. im Archiv f. Gesch. d. l'hilos. 1 418 und
jetzt Ph. d. Gr. Ila^ 542''.
41-J
P. Natorp,
4
diene, sondern ol» es auf Erkenntuiss beruhe oder nicht (93 AB).
Daher ist auch das diesen Hochweisen gespendete Lob genau so
ironisch zu nehmen '■) wie schon im Protagoras. oder wie im Mcnon
selbst die Inschutznahme der Sophisten (wo man z. B. die Betonung
des Gelderwerbs, den sie ihier ^'ortreli'lichkeit danken, nicht über-
sehen wird). Dass sie tüchtig gewesen, lässt sich Sokrates von
Anytos bejahen; er selbst will es damit gewiss nicht in jedem
Sinne behauptet haben. Ernsthalt möchte ich wenigstens nur die
allgemeine Anerkennujig nehmen: dass es wahrhaft tüchtige Staats-
männer gibt und gab (Men. 93 A): doch das erkennt fast''') mit
denselben Worten auch der Ciorgias au (526 A). Aber freilich ■
fasst er die Frage weit schärfer im ethischen Sinne, und erklärt
nach diesem Maassstab die Miltiades, Themistokles, Kimon, Perikles
grade/Ai für schlechte Staatsmänner; den einzigen Aristeides nimmt
er aus, der im Menon, da es sich bloss um die Lehrbarkeit han-
delte, natürlich ganz auf gleicher Linie mit den Uebrigen behan-
delt ^Y erden durfte; denn aus Erkenntniss handelte er so wenig
wie die Andern'^). Läge ein Widerspruch vor — direct kann er
nicht vorliegen, weil der Fragepunkt ein anderer ist — so wäre
er zu erklären, niclit aus einer vom Gorgias zum Menon milder
gewordenen Stimmung, sondern daraus, dass Piaton im Gorgias die
Sache ernstlicher nimmt und, weil in andrer Absicht, auch mit
andern Augen ansieht. Dass von einer Milderung des Urtheils
keine Rede sein kann, bestätigt ja doch die Yergleichung späterer
Schriften, namentlich des Staates. Mau muss wohl folgern: da die.
'^) Vgl. Z.B. tt4 B lUrjf/.ÄEa, oörcu [j.cYC(Äorp£7:iö{ a&'iöv ävopa gegen H9 B
oüx a'pa aocp^a ~vn oüoe so'-poi ovte; ot -otoJTOt ä'vope; r^yo'jvro Tai; -'jAeoiv und
was folgt. Vgl. Prot. 319 E (tJo'ftÖTaToi xai ötpiatot).
'■') Ich übersehe ni'unlich nicht, dass Piaton auch in diesem Emlurtheil
keinen lebenden Staatsmann als tüchtig anzuerkennen scheint, wie 503 B,
■)'2l D.
'^) An) wenigsten kann ich in der Auswahl der Namen im Menon eine
Zurückbeziehung auf den Gorgias erkennen. Perikles war schon im Prota-
goras. Thukydides und .Aristeides im Laches unter demselben Gesiclitspunkt
behandelt worden; hinzugekommen ist Themistokles. Der Gesichtspunkt des
Kallikles (Gorg. 503 C) ist ein ganz anderer; Aristeides wird von ihm nicht
(sondern erst 526 B von Sokrates) genannt, Thukydides fehlt ganz.
Ueber Gruudabsicht und Eutstehungszeit von Piatons Gorgias. 413
Behandlung im Meuon übereinstimmt mit der Apologie und dem
Protagoras, das schärfere Urtheil des Gorgias dagegen mit un-
zweifelhaft späteren Schriften, so wird Menon nicht zwischen den
Gorgias und diese späteren Schriften, sondern zwischen Protagoras
und Gorgias zu setzen sein.
Ich schliesse: sind Protagoras, Laches, Charmides, Menon
später geschrieben als die Apologie nebst Kriton; ist insbesondere
der Menon, wegen der Anspielung auf das spätere Schicksal des
Anytos und der Erwähnung der unrechtlichen Bereicherung des
Ismenias, frühstens 395, aber schwerlich auch viel später geschrie-
i ben, so erhalten wir für den Gorgias, der alle diese Schriften vor-
aussetzt, zunächst einen terminus post quem. Den terminus ante
quem liefert der Theätet, wenn derselbe, wie ich mit Zeller an-
nehme, gegen Ende der 90er Jahre verfasst ist. Noch zwischen
Gorgias und Theätet würde ich den Phädrus setzen aus Gründen,
die nur zum kleinsten Theile im Obigen angedeutet werden konnten,
übrigens an anderem Orte zu entwickeln sind. Um für Phädrus und
Theätet, insbesondere für das von beiden vorausgesetzte wach-
sende Ansehen des platonischen Kreises Zeit zu lassen,
wird man gut thun. den Gorgias möglichst nahe an den Menon
heranzurücken.
Nur wenige Forscher haben dem Gorgias einen wesentlich
späteren Termin anweisen wollen. Dass Beziehungen auf die
syrakusischen Erlebnisse vorlägen, wie Schleiermacher annahm, wird
heute Wühl von Niemand mehr festgehalten, und gar in Isokrates'
Rede an Nikokles die „nächste Replik" auf den Gorgias zu er-
kennen (Teichmüller, Lit. Fehden II, 18 f.), wird wohl manchem
Andern ebensowenig wie mir geliiigen.
XXII.
Zur Psychologie der Scliolastik.
Von
H. Siebeck.
7.
Alhaceii.
Aviceniia"s Yurherrschaft in der Psychologie reicht bis in die
Mitte des dreizehnten Jahrliunderts. Sie war ivcine ganz unbe-
schränkte, da gleichzeitig mit seinen Schriften noch andre Quellen
der Erkenutniss sich aufthaten. Sie kamen zum Theil fdeichfalls
aus dem Arabischen'): vor allem aber kommt in Betracht, dass
die Thätigkeit der Uebersetzer schon seit dem Ende des z\Yölften
Jalirhunderts sich auch auf die griechischen Originalschriften des
Aristoteles zu richten begann und hauptsächlich die der ]S'atur-
wissenschaft und Psychologie gewidmeten Werke betraf. Aristoteles,
der noch bei Wilhelm von Couches kaum genannt wird, ist seit
etwa 1240 in seiner Bedeutung als Hauptquelle i'iir Thatsachen-
material der innern und äussern Erfahrung unbestritten anerkannt'"').
Etwa 1269 ferner übersetzte Witelo aus dem Arabischen die Optik
des Alhaceir') und brachte damit ein ^Verk heriilier, welches
ganz besonders dazu beigetragen hat. (his Interesse Air die mathe-
matisch-mechanischen Probleme in Verbindung mit psychologischen
') sei die reborset/.iingeii der Schriften de pliintis nnd nninentürli de motu
cordis. Jourdain JOS.
■) s. ebd. 26 tV. \Vii>.tent'eld. Abli. der k. lies, der Wisseusch. zu Göttingeu
1877, 91. 96.
■') Wiistenfeld 111.
Zur Psychologie der Scholastik. 415
Fragen rege zu erhalten. Denn neben den matliematischen und
physikalischen hat es namentlich auch die psychologischen
Probleme des Sehens mit Sorgfalt behandelt. Liegt Alhacen's Ver-
ilienst auf diesem Gebiete nun auch mehr in der präciseren For-
iiuilirung als in der wirklichen Aufhellung der Fragen, so fehlt es
hei ihm doch auch hier nicht ganz an sachgemässen Einblicken
und Aufschlüssen.
Der Akt des Sehens setzt sich, nach Alhacen'), zusammen
US der "SVechselwirkung von Licht und Gesichtssinn, von denen
jenes den aktiven, dieser den passiven Beitrag liefert. Das Licht
ist, wie er an andrer Stelle') sagt, eine wesentliche Eigenschaft
au jedem selbstleuchtenden Körper; mit ihm aber verbindet sich
beim Ausstrahlen auf das Objekt die „Form" der Farbe, sodass
Licht und Farbe immer zusammen sich vom Gegenstand auf das
Organ des Gesichtssinnes übertragen. Das letztere nimmt sie nun
aber nicht in der Weise auf, wie dies bei der Luft und andern
empfindungslosen durchsichtigen Körpern der Fall ist, sondern die
Aufnahme wird hier vermöge der besondern Einrichtung zur Em-
pfind ung'^). Darin ferner liegt es begründet, dass die hierbei im
Organ stattfindende Veränderung keine bleibende ist und nach dem
Aufhören der objektiven Einwirkung erlischt, wie ja auch die mit-
unter auftretenden farbigen Nachbilder bald abklingen. Die phy-
siologischen Bedingungen des Sehens sind bei Alhacen die altüber-
lieferten. Die Form (Species) des Geseheneu geht (mit Hilfe des
Seh-Pneuma) von der Oberfläche der Krystallinse jedes Auges in
den zugehörigen Ast des Sehnerven über, um an dem Vereinigungs-
puukte derselben im gemeinsamen Nerven zu einem Eindrucke
zu verschmelzen, und als solcher dann weiter zum eigentlichen
Prinzipe der Empfindung (im Gehirn) sich fortleiten zu lassen
(Opt. II, IG) 0- Origineller ist die Ansicht, die hierauf folgt, dass
*) Opticae thesaurus (ed. Bas. 1572) I, 5.
^) Abhandlung über das Licht von Ibnal-llaitau (Alhacen) übs. v. J. Baar-
mann (Zeitschr. d. deutschen morgenländischen Gesellsch. Bd. SC) S. 193.
'') quatenns est seutiens. Opt. I. 30.
') Hierin soll es (nach 11, IG) auch begründet sein, dass dem Empfindungs-
princip zugleich mit der ihm zugeleiteten Form des Objekts auih der Ort des
41ß H. Sieherk,
die Qualität des passiven Empfindens von Seiten des Organs zur
Gattung der Unlust (ex genere doloris) gehöre; nur werde sie,
weil sie nicht mit einer Alteration des Organs verbunden sei, ge-
wöhnlicii nicht als solche aufgefasst. Nur bei stärkeren Reizen
durch blendendes Licht mache dieser Charakter des Vorganges sich
als solcher kenntlich (ebd. 26 f.). ip
Für den Inhalt des Gesehenen kommt, wie Alhacen weiter
lehrt, der Unterschied in Iktracht, ob man es mit einem ober-
flächlichen oder einem bestimmten Erfassen-) zu thun hat. Beim
wirklichen Anschauen rückt das Auge durch seine Bewegung sich
das Bild des Objektes in die Mitte; grössere Objekte kommen
daher nur durch beständiges Fortrücken der Sehaxe zur vollstän-
digen Wahrnehmung; zu kleine dagegen bereiten dem Sehen Schwie-
rigkeit, da ihr Bild nur einen Punkt im Organ ausmacht, während
zum Erfassen von Seiten des letzteren wegen seiner begrenzten
Empfindungsfähigkeit immer ein bestimmtes Verhältniss der Grösse
des Bildes zu der des Organs^) erforderlich ist (I, 40). Bei hin-
reichender Grösse aber tritt zu der Wirkung des Emphndungsver-
mögens die der unterscheidenden Kraft (distinctiva) hinzu: das
Prinzip der Empfindung (ultimum sentieus)'") kann nicht umhin,
an der ihm zugeleiteten Form des Objekts zunächst die Farbe des
Gegenstandes von der Beleuchtung zu unterscheiden, weil das Licht
dem Grade nach wechselt, während die Farbe dieselbe bleibt. Es
unterscheidet ausserdem Lage und Ordnung der Farbe, sowie über-
haupt den Inhalt und die Art des am Objekt befindlichen Neben-
einander der Theile, sowie deren Aehnlichkeit und Verschiedenheit.
Man muss jedoch in Hinsicht alles dessen den Akt des erstmaligen
Erwerbens beim jeweiligen ersten Erblicken des Gegenstandes wohl
unterscheiden von dem nachherigen stetigen Haben und Besitzen
Sehorgans kund wird, weil es die Form nicht ohne das Innewerden des Ortes,
von dem aus es diesellie erhält, auffassen kann.
'-) couiprehensio superficialis oder certificata, adspectus oder intuitio (ob-
tutus). Die optische Bestimmung dieses Unterschiedes fällt im Wesentlichen
mit der jetzt gebräuchlichen Unterscheidung des indirekten unti direkten
Sehens zusammen (II, 64 f.).
^) quantitas sensibilis rcspeclu tutius apud totum membrum.
'"^) Das aristotelische Trpüjxov «{aÖTjTTjpiov. s. Gesch. d. Psychol. Ib, S. 45.
Zur Psychologie der Scholastik. 417
flieser Inhalte von Seiten der Seele (quicscit in anima). Denn
wenn letzteres eingetreten ist, bedarf es jener ersten die einzelnen
Momente als solche erst unterscheidenden und aneignenden Thätig-
keit nicht mehr. Das Bewusstsein ihres Vorhandenseins vollzieht
sich dann (modern ausgedrückt) in jedem einzelnen Wiederholungs-
l'alle vermittelst der zu der Empfindung selbst von innen herzu-
treteuden psychischen Ergänzung durch das nun bereits vorhandene
l'rinnerungs- und Anschauungsbild (II, 16). Die „Intentionen",
welche auf die oben angeführte Weise vom Gesichtsinn selbst am
Objekt erkannt werden, sind ausser Licht, Farbe und Lage noch:
Entfernung, Körperlichkeit, Gestalt, Grösse, Kontinuität, Diskretion,
Zahl, Bewegung. Raum, Rauheit, Glätte, Durchsichtigkeit, Dicht-
heit, Schatten, Dunkelheit, Schönheit, Hässlichkeit, Aehnlichkeit
und Verschiedenheit. Alle andern Qualitäten sind entweder einer
von diesen untergeordnet (wie Ordnung unter Lage), oder aus
mehreren (z. B. aus Farbe und Bewegung) zusammengesetzt
(ebd. 15).
Bei dieser zusammengewürfelten Aufzählung des Verschiedeneu
hat es jedoch Alhacen keineswegs bewenden lassen. In dem Zu-
standekommen jeder einzelnen dieser Litentionen erblickt er aus-
drücklich ein specielles psychologisches Problem, wenn er auch
noch nicht dazu kommt, sie alle demgemäss zu behandeln. Ueber-
gang aber zu dieser Seite der Forschung bietet ihm die klare Ein-
sicht in die Thatsache, dass im Vorgange des Sehens selbst ausser
dem rein Empfindungsmässigen immer schon eine geistige Thätig-
keit mitwirkt, deren Unterschied von jenem zugleich mit dem An-
theile, den sie an dem Resultate des ganzen Vorganges hat, sich
genauer ermitteln lässt. Den Beweis hierfür giebt er im Anschluss
an die Annahme von den „Formen", d. h. von den intentionalen
Species") der Empfindung. Dass z. B. die Wahrnehmung der
Aehnlichkeit zweier Dinge nicht auf Rechnung der Empfindung als
solcher kommt, erhellt, wie er ausführt, aus dem Umstände, dass
zwar von jedem der Objekte eine solche „Form" in das Organ
kommt, von einer „Form" der Aehnlichkeit aber dabei nicht ge-
") s. ebd. Ib, S. 432f.
41« H. Sieheok,
redet werden kann. Die Vorstellung der Aehnlichkeit entspringt
vielmehr erst ans der Vergleichung jener beiden Formen, nicht
also aus der Empfindung der Formen selbst (II. 10). Von der
Empfindung ist ferner die An- und Wiedererkennung (cognitio) zu
unterscheiden, die ja mit dem AViedererblicken nicht immer
.schon von selbst sich einstellt. Wo sie aber stattfindet, wirkt
gleichfalls ausser der Empfindung schon das Denken (ratiocinatio),
sofern dabei eine „Assimilation" (Apperception) der Form des Ge-
sehenen mit der des Erinnerungsbildes eintritt (ebd. 11). Die
Cognition der Art oder Gattung kommt von der Assimilation des
Objekts mit andern gleichartigen Dingen (17), und zwar unter
Mitwirkung der Unterscheidungskraft, die. sobald der Gesiclitsinn
etwas erfa.sst hat, sogleich nach demjenigen sucht, was in dem
angesammelten Vorrathe von An.schauungsbildern (in imaginatione)
diesem iihnlich ist, ein Vorgang bei welchem in Folge seiner
Schnelligkeit auch ein Vorgreifen, mithiu ein Irrthum sich ein-
stellen kann (ebd. 68). Die wesentliche Verschiedenheit der Cogni-
tion von der Empfindung zeigt sich namentlich darin, dass sie bei
bereits früher gesehenen Objekten schon „durch Zeichen" (per
Signum), d. h. schon auf das Hervortreten einiger hervorstechender
INIerkmale erfolgt. Die Empfindung wird demnach durch die Cogni-
tion ergänzt (completur), und bei wiederholter Wahrnehmung des
Objektes geschieht überhaupt der Wahrnehmungsakt wesentlich in
der Form der Cognition , wenngleich das -Spezifische dieses Unter-
schiedes von dem ursprünglichen Empfindungsvorgang nicht mit
zum Bewusstsein kommt (II. 24). Nach alledem setzt sich der
vullständige Akt der A\ alirnehmung in der Regel zusammen aus
Empfindung. Cognition und Unterscheidung (ebd. 12).
Bemerkenswerth ist in diesen Erörterungen weiter namentlich
die eingehende Art. in welcher Alhacen. \\ie schon aus dem Vor-
stehenden ersichtlich ist. auf die Wichtigkeit unbewusster oder
halbbewusster geistiger Akte aufmerksam macht, die im Erkenut-
ni.ssprozesse als unmerkliche, aber nichtsdestoweniger unvermeid-
liche und nothwendige Momente mit unterlaufen. Dass sie ge-
wöhnlich unbemerkt bleiben, sagt er. liege an der Schnelligkeit,
mit welcher der Verstand (ratio) und die Urtheilskraft dabei ar-
Zur Psychologie der Scholastik. 419
beiteii, und sei daher nicht nur beim sinnlichen Wahrnehmen,
sondern auch beim reinen Denken der Fall, wobei der Schluss aus
Gegebenem oft ohne weiteres, d. h. ohne dass die Prämissen ge-
sondert in das Rewusstsein treten, sich vollziehe. So in der Regel
beim wortlosen Denken, während beim lauten Ueberlegen und
Nachdenken mit der Reihe der Worte auch die einzelnen Gedanken
in der entsprechenden Ordnung zum Bewusstsein kommen. Des-
wegen halte man sogar manche Vorstellungen, deren Wahrheit der
Verstand in der That nur durch Begründung (per rationem) ein-
sieht, für oberste (axiomatische) Inhalte, wie u. a. den Satz, dass
das Ganze orrösser ist als der Theil. der in Wahrheit nur durch
begründende gegenseitige Beziehung der Begriffe des Ganzen und
des Theiles, sowie des Grösseren und des Kleineren zu Stande
komme (II, 12). Ueberall, heisst es weiter, wo der Mensch ohne
Schwiei'igkeit einen Zusammenhang erfasst, bemerkt er nicht, dass
er schliesst. Schon das Kind vollzieht einen unbewussten Schluss,
wenn es von zwei vorgehaltenen Aepfeln den schöneren wählt (13).
Von den Einzelproblemen, welche für den Vorgang des Sehens
in Betracht kommen, werden von Alhacen im Besondern das Sehen
der Entfernung, der Grösse, des Ganzen, der räumlichen Erstreckung,
der Bewegung und Ruhe, sowie der Qualität als solcher behandelt.
1) Zu der Frage, wie Entfernung gesehen wird, ist zuerst zu
bedenken, dass das Ausbleiben der Berührung noch nicht identisch
Ist mit der Erfassung der Distanz, sowie dass Wahrnehmung des
Gegen überliegens noch keine Schätzung der Grösse des Zwischen-
raumes enthält (II, 22). Allerdings aber ruht das Sehen der Ent-
fernung auf dem Bewusstsein. dass das Objekt ausser uns ist, und
gründet sich auf ein hiervon bedingtes Urtheil. Aus dem Um-
stände, dass das Objekt mit geöifneteu Augen erblickt wird, bei
geschlossenen aber verschwindet, entnimmt der Intellekt, dass es
nicht innerhalb sondern ausserhalb des Gesichtsinnes sich beiinde,
und die Verallgemeineruno dieser Einsicht wird ihm von selbst zu
einer ruhenden und meist unbewussten, aber überall wirksamen
Vorstellung (24). Die Schätzung der Entfernung ist nun weiter
im Wesentlichen ein Vergleichen: die Unterscheidungskraft setzt
die gesehene Strecke in Beziehung- zu einer andern, deren (irösse
420
IJ. Sieheek,
bereits beliannt ist. oder /.u ilein gieichzeititi' mit walirgenomineneii
Mas.sstal)c. Ein unmittelbares Schätzen diircii den Gesichtssinn selbst
findet nur da statt, wo eine Reihe stetig aneinander grenzender
Körper zu dem in massigem Abstände von dem Gesicht befind-
lichen Gegenstande hinführt''). Nach Alhacen's Ansicht wird also
die Grösse der Entfernung von dem Gesichtssinn nur dann direkt
wahrgenommen, wenn es sich nicht um leere sondern um erfüllte
Strecken handelt, weil in diesem Falle das Auge die Grösse der
einzelnen Körper für sich schätzt, also gleichsam addirt'^). Wo
diese Hilfe fehlt, findet seiner Ansicht nach nur eine unbestimmte
Schätzung (aestimatio) durch Vergleichung mit ähnlichen bereits
gesehenen Strecken statt, auf Grund einer Verstandesoperation, bei
der auch Irrthum sich einstellen kann (a. a. 0.).
2) Das Erfassen der Entfernung verhilft w^eiter zur Bestimmung
der Grösse des Gegenstandes. Sie wird ermittelt durch die Grösse
des Gesichtswinkels in Verbindung mit der Länge der Visirlinie.
Das gegenseitige Verhalten dieser beiden Faktoren bewirkt nämlich
die Einsicht, dass mit der Zu- und Abnahme der Entfernung die
Ab- und Zunahme der (scheinbaren) Grösse des Gesehenen Hand
in Hand geht, daher zur Bestimmung der wahren Grösse nicht nur
die Grösse der (am Objekt befindlichen) Basis des Strahleukegels,
sondern auch die Lange der Entfernung in Betracht genommen
wird (II, 37).
3) Die Wahrnehmung des Ortes beruht auf der ^'erbindung
des Gegenstandes mit dem Auge vermittelst der Strahlen. Da das
Licht mit der Farbe in geradlinigen Strahlen zum Auge gelangt
und hier die Form (Species) des Dinges hervorbringt"), so nimmt
die unterscheidende Kraft nicht nur diese letztere sondern auch
'-) II, "2."), S. 41: NuUu tiuuutitas rcinotiuiii» vi.siliiliiim coinprolieiulilur per
sensuin visus vera comprehciisione, ni.si veinotione.s visibiliuin quonim remotio
respicit corpora oidinata et contiiuiutu, (juoniin romotio sirnul est iiiecliocris.
'^) Visus . . . certificat mensiiras illonim corporuin ut se consequuntur.
ebil. Alh. übersieht, dass die Gn'isse iler Erstreckung eines Körpers zu ihrer
Wahrnehmung sellist schon die Fertigkeit iui Schätzen von Kntfernungen
voraussetzt.
'*) .\ldi. lil.. d. Licht a. a. 0. S. 213. Opt. II, 27. S. 13.
Zur Psychologie der Sdiolastik. 421
den Theil des Organs wahr, in welchem die Form .sich befindet'''),
und auf Grund dessen weiter unter Vermittelung des Strahlenkegels
ilen wirklichen Ort des Gegenstandes selbst, wozu nur als Vor-
bedingung noch erfordert wird, dass die Schätzung der Entfernung
bereits geläufig ist. Von diesen Annahmen aus wird dann von
Alhacen das eigentliche Problem der Lokalisation und der Lokal-
j zeichen wenigstens gestreift. Lage und Ordnung der an der Ober-
fläche zur Unterscheidung kommenden Theile sollen sich dadurch
ergeben, dass die unterscheidende Kraft die entsprechenden Theile
des Sehorgans auffasst, auf welche die „Form" des Dinges mit den
zu ihr gehörigen, dem Objekt selbst gegenbildlichen Theilen fällt;
das unterscheidende Prinzip vermag die Ordnung der Theile am
Objekt aus der qualitativen Verschiedenheit an den Theilen der Form
abzulesen und z. B. die Lage nach rechts oder links aus der Verglei-
chung dieser verschiedenen Theile abzunehmen (Opt. II, 30. S. 47).
4) Etwas näher kommt Alhacen dem Stande des wirklichen
Problems bei der Frage, wie die Körperlichkeit (Tiefendimension)
gesellen wird. „Jeder Körper, an welchem der Gesichtsinn zwei
sich schneidende Oberflächen erfasst, wird in seiner Körperlichkeit
wahrgenommen" (II, 31. S. 48). Convexität als Vorstellung besteht
in der A^'ahrnehmung, dass die mittleren Theile der Kugelober-
fläche dem Auge näher, die an den Grenzen ihm ferner liegen,
oder auch „aus der ungleichen Erhabenheit der Theile" (33. S. 49).
5) Besser als mit diesen Fragen, die ja z. Th, noch heute zu
den umstrittenen gehören, gelingt es Alhacen mit der Erklärung
des Sehens von Bewegung und Ruhe. Grundbedingung dafür
ist die Möglichkeit der Vergleichuug des Bewegten mit einem Un-
bewegten, in Bezug auf welches das erstere seine Lage stetig ver-
ändert. iJas Gesicht erfasst dann die Bewegung in und mit der
Wahrnehmung der (stetig andauernden) Verschiedenheit der Lage,
in welcher sich das eine in Rücksicht des andern befindet"'). Der
''•) Cum forma rei visae pervenerit in visum, statiin senfiens sentiet forraain
et sentiet partem visus, in quam pervenit forma et ^5entit verticatiouem per
quam extemlitur forma in corpore membri sentieutis. Opt. a. a. 0.
""') Jlotus comprehenditur a visu ex compreliensione diversitatis situs rei
visae motae respectu alterius. Opt. II, 41».
m
422 H. Siebeck,
riiistaml, tlass auch das Bild des Bewegten im AuL^e sich bewegt,
ist. wie ausdriicklicli l)OiTioi-l<t wird, zur Erklärung der Bewegungs-
wahrnehmung unzureichend. Denn in Folge der Bewegung des
Organs bewege sich mitunter auch die „Form" oder das Bild des
Olijekts. auch dann, wenn letzteres selbst sowohl thatsächlich wie
auch fi'ir die Wahrnehmung in Ruhe bleibe. Zur Wahrnehmung
der Bewegung als solcher gehört daher (nach II. 49), da^s sowohl A;
in der Wirklichkeit, wie in deren subjektivem Gegenl>ilde (im
Organ), das sich Abheben eines Bewegten gegenüber einem Kuhenden, japck
d. h. eine stetige Lagenveränderung von jenem in Bezug auf dieses
stattfinde. Wahrnehmung der Ruhe gründet sich darauf, dass der
Gegenstand Ort und Lage innerJialb einer merklichen Zeit unver-
lindert behält (ebd. 52).
6) Die Wahrnehmung sinnlicher Qualitäten im Allgemeinen
beruht nach Alhacen auf dem Unterschiede des direkten und in-
direkten Sehens, und in Verbindung damit auf einer successiven
Thätigkeit in der Funktion des Auges und der damit parallel
gehenden L^nterscheidung oder Vergleichung. Die erste Wahrneh-
mung des Objekts lässt einen bestimmten Punkt desselben direkt
(mauifestior), die übrigen indirekt erblickt werden. Indem nun
beim Fortrücken der Visirlinie der Reihe nach jeder einzelne dieser
Punkte direkt und alle isbrigen zusammen wieder indirekt zur
Wahrnehmung kommen, treten die Verschiedenheiten innerhalb
des Gegenstandes in Bezug auf Beleuchtung, Farl)e, Grö.sse u. s. w.
succe.ssiv für die AVahrnehmung heraus (II. (vi). Aelinlichkeit
ergiebt sich auf Grund der mit der AVahrnehmung sich einstellenden
Unterscheidung und Vergleichung (61). Die Wahrnehmung der
Schönheit beruht auf der durch den Gesichtssinn erfolgenden Zu-
sammenfassung der verschiedenen Theilformen des Ganzen (59), j '
daher Schönheit nur für die Anschauung besteht. Die Arten der | ■
Schönheit liegen theils schon in den einzelnen Foi'iuen als sulchen, \m
theils in der Art und Weise ihrer Verbindung. AVas in einer Be-
ziehung an und für sich Bedingung der Schönheit ist, kann oft
anderwärts erst in der A'erbindung mit anderem diesen Elfekt er-
zielen, wie i)eini Gesicht z. H. zu der Rundung noch Zartheit und
Sanftheit hinzutreten muss. Zur Schönheit gehört Propui-tiun und
»
Zur Psychologie der Scholastik. 423
Symmetrie, um! diese erhält das Einzelne nicht mit jedem belie-
bigen sondern immer nur mit bestimmten andern Momenten.
7) Resondere Aufmerksamkeit endlich hat Alhacen den Unter-
schieden der Zeitdauer in den Vorgängen des Sehens und Auffassens
gewidmet. Man erkennt die geschärfte Beobachtung des Mathe-
matikers auch diesen Verhältnissen gegenüber, wenngleich natür-
lich hier noch alle Hilfsmittel für genauere Messungen fehlen. Die
Auffassung von Eindrücken, die uns von früher her geläufig sind,
Lteschieht. wie er lehrt, in unmerklich kleiner Zeit. Sind sie da-
ii'gen ungewohnt oder in undeutlicher Beleuchtung u. s. w., so ver-
tliesst eine merkliche Zeit bis zu ihrer Erkennung (JI, 19). üeber-
haupt ist da wo eine Auffassung des Neuen vermittelst eines schon
lickannten stattfindet, weniger Zeit erforderlich als da wo diese
Unterstützung fehlt (71). Dass es überhaupt der Zeit zur Auf-
fassung namentlich von Farbequalitäten bedaif, beweist der roti-
rende Farbenkreisel, dessen Oberfläche dem Auge nur eine Misch-
farbe liietet, da sie demself)en wegen der schnellen Bewegung zur
Erfassung der einzelnen Farbenpunkte keine Zeit lässt (20). Alha-
cen weiss auch bereits, dass der Augenblick der Reizung des Or-
gans von Seiten des äus.sei'n Eindrucks verschieden ist von dem
der Erfassung und Apperceptiou des letzteren als eines so und so
liestimmten ''). Neben den naturphilosophischeu Gründen für diese
Thatsache") weist er auch hin auf die Zeitstrecke, welche die Fort-
leitung des Eindruckes im Nerven in Anspruch nimmt'''). Im AU-
iiemeinen, lehrt er. wird die Gattung des Eindruckes schneller
appercipirt als die speziellen oder individuellen Unterschiede (72).
Teberhaupt aber finden in der Schnelligkeit der Auffassung auch
bei gleichartigen Vorgängen je nach individuellen Verschiedenheiten
'') 11,21: Instaiis upiul quod couiprehensio coloris in eo quod est color
-t comprehousio Incis in eo quod est lux, est diversuin ;il) instanti quod est
primum instans, in quo conlingit superficiem visus aer del'erens Formuui.
'^) Das Leiden des Orgaus von Seiten des Eindruckes sei eine qualitative
N'eränderiing und als solche ein zeitlicher Vorgang, a. a. 0.
'9) Wie das Licht beim Durchgange durch eine Rühre, so braucht die
,Form" des Dinges Zeit bis zur Ankunft bei der Höhlung des Nerven für
den Gemeiusinn. ebd.
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. II. ""
424 ^- Siebeck,
der Umstände Unterschiede statt. Unter verschieden und undeut-
lich gesehenen Objekten wird dasjenige schneller erkannt, dessen
Form eigenartiger ist und die geringste Aehnlichkeit mit andern
Figuren aufweist; so erkennt man in einem im Garten eiblickten
Ruthen schneller die Rose als in einem Eindrucke des Grünen die
Myrthe'"). ||
Die Sinnestäuschungen beim Sehen theilt Älhacen in drei
Klassen, je nachdem sie Sache der blossen Empfindung oder des
Wissens (in scientia) oder eines unvermeidlichen Schlusses sind
(III, 19). Der erste dieser Fälle soll beispielsweise dann vor-
liegen, wenn ein Buntes bei schlechter Beleuchtuns; dunkel er-
scheint; der zweite da wo man eine Person nach längerer Abwe-
senheit für eine andere hält. Auf Schlüsse zurückgeführt werden
namentlich die Scheinbewegungen: Wenn in Wirklichkeit die Wolke,
dem Anschein nach aber der Mond sich bewegt, so beruht dies
zunächst darauf, dass (s. o.) Bewegung überhaupt nur auf Grund
von Lageveränderung des einen Objekts in Bezug auf ein anderes
wahrgenommen wird. Während nun bei kleinen und vereinzelten
Wolken diese Lageänderung etwa einem Sterne gegenüber richtig
bemerkt wird, muss, wenn der Himmel in grösserer Ausdehnung
mit zusammenhängenden Wolken bedeckt ist, diese ihre Eigenbe-
wegung (zumal bei der grossen Entfernung) unbemerkt bleiben;
da aber trotzdem die fortgehende Distanzänderung im Verhältuiss
zum Monde sich zur Wahrnehmung bringt, mithin die psycholo-
gische Bedingung für das Sehen von Bewegung vorhanden ist, so
wird die erscheinende Bewegung durch einen (unbewussteu) Schluss
dem Monde zugeschrieben (III, 19).
In Bezug auf das Gedächtniss findet sich bei Alhacen noch
die Bemerkung, dass der Zusammenhang des Einzelnen mit den
dazu gehörigen andern Vorstellungen dem Behalten günstiger ist,
-<*) Daraus die Regeln: 1) Coraprehensio speciei (oder iudividui) paucae
assimilationis ad alia erit velocior comprehensione speciei muitae assimilalionis.
2) Tempus intuitionis inteutionuin (sc. der Species intentiouaies) visibilium
divcrsatur seciinditm diversitafem iuteutionam infuitarum. Der umschriebene
Kreis z. B. wird sclnieller aufgefasst als die eingeschriebene vielseitige
Figur.
Zur Psychologie der Scholastik. 425
als isolirte Auffassung. Dass wieclevholte Anschauungen das Ein-
prägen befördern, beruhe darauf, dass mit jeder Wiederholung mehr
Theilvorstellungeu von der Sache zur Auffassung kommen; das Be-
halten des Theiles werde durch die Vollkommenheit der An-
schauung des Ganzen selbst gefestigt'').
-') Forma verificata et certificata est inagis fixa in aniuia et in imaginatione
quam non certificata. II. G().
29*
XXIII.
Der Humanist Theodor Gaza als Pliilosopli.
Nach handscliriftlichen Quellen dargestellt
von
lilldwig Stein in Zürich.
I.
Leben und philosophische Schriften.
yicht blos Bücher, auch Autoren haben ihre Schicksale. Nicht
selten begegnet ganz gediegenen Schriftstellern das unverdiente
Schicks;! I der Vergessenheit anheim/Aifallen, während irgend ein
anderer ihrer Zeitgenossen von fragwürdiger Befähigung einen un-
gebührlich breiten Platz im Gedenken der Nachwelt einnimmt.
Dieses bedenkliche Missverhältniss ist aber noch um so schlimmer,
als gerade jene Anspruchslosen, die l)ei ihren litterarischen Leistun-
gen ihre Persönlichkeit ganz zurücktreten lassen und darum um
so grössere Anerkennung verdienten, gewöhnlich in Vergessenheit
zu geratheu pflegen, während die zudringliche Mittelmässigkeit, die
in wenig angebrachter Dünkelhaftigkeit ihre persJinlichen Lebens-
verhältnisse in die litterarischen Producte hineinverflicht, sich in
der Litteraturgeschichte behauptet.
Ein schlagendes Beispiel eines solchen augenfälligen Missver-
hältnisses bieten die beiden zeitgenössischen Humanisten und Re-
naissance-Philosophen Georg von Trapezunt und Theodor Gaza dar,
Ersterer ein bramarbasircnder Pamphletär, der durch eine giftge-
tränkte Feder peinliches Aufsehen macht, hat in den HcUKlInichern
der Philosophiegeschichte seine feste Stelle, letzterer ein bescheiden-
Der Humanist Theodor Gaza als Philosoph. 427
stiller, vornehmdenkender Schriftsteller tritt als Philosuph völlig in
den Hintergrund. Man schätzt Theodor Gaza als Grammatiker
und Uebersetzer aristotelischer Schriften; aber keiner von den
neueren Historikern der Philosophie vv'eiss etwas über den Philo-
sophen Gaza zu berichten'). Und doch ragte dieser auch als
Philosoph nicht blos über seinen Widerpart Georg von Trapezunt,
vielmehr auch über alle übrigen zeitgenössischen Byzantiner — Ge-
mistos Plethon natürlich ausgenommen — weit hinaus. Ja, er war
im 15. Jahihundert der einzige, der trotz seines geistlichen Stan-
des einen reinen, von jeglichem theologischen Beigemisch
völlig freien Aristotelismus vertrat. Allen übrigen Gegnern Ple-
thons, und an ihrer Spitze dem persönlich verbitterten und fana-
tisch verbohrten Gennadius, war es nicht der blosse Philosoph
Aristoteles, um dessen Fahne man sich schaarte, sondern vor Allem
der kirchliche Aristoteles d.h. der von der mittelalterlichen Re-
ligionsphilosophie zurechtgestutzte und dogmatisch umgemodelte
Aristoteles, dessen Partei man mit blinder Glaubenswuth ergriff.
Man hat nämlich bisher nur wenig darauf geachtet, dass jener be-
rühmte Streit zwischen den Piatonikern und Aristotelikern des
15. Jahrhunderts'') 5 <^ei" 'li« Renaissance der Philosophie tönend
') Erdmanu, Orundriss L 504 übergeht ihn ganz; Heinze-Ueberweg, Ge-
schichte d. Philos. III ^ 13 und Windelband, Gesch. d. neueren Philosophie I,
14 rühmen nur seine Uebersetzungen aristotelischer Schriften.
-) Den ersten A^ersuch einer quellenmässigen Darstellung dieses Streites
machte Boivin le Cadet. Querelle de Philosophes du quinzieme siede, Memoire
de Tacademie des inscriptions etc., Band II, Paris 1736, p. 715 — 29. Diese
recht mittelmässige Leistung, die den Kern der Frage gar nicht trifft, hat
.solche Anerkennung gefunden, dass sie zweimal ins Deutsche übertragen
wurde: Acta philosophorum X, 537—79 mit gcringwerthigen Noten versehen,
sodann Hissraans Magazin für Philos. L 4, S. 217—42. Viel werthvoller sind
die Ausführungen Tiraboschis, Storia della letteratura italiana. Vol. N'lll (zweite
Auflage) p. 1187ir. u. ö. Unter Anlehnung an Tiraboschi haben seither meh-
rere, namentlich deutsche Gelehrte diesen Streit zwischen Piatonismus und
Aristotelismus im 15. .Jahrh. ilarzustcüen gesucht. Zuvünlorst Karl Sicveking,
Geschichte der platonischen Akademie zu Florenz, Göttingen 1812 — eine vor-
zügliche, scharfumrissene, aber leider allzuknappe Arbeit, die noch dazu ihre
Quellen verschweigt. Die philosophischen Differenzpuukte hat besonders
W. Gass, Gennadius und Pletho, Breslau 1849, S.(;711-. treffend hervorgehoben,
jedoch mit einseitiger Beschräukung auf den llaupigegner Plcthons, Gennadius.
428 Ludwig Stein,
einläutete uud zuvörderst in der Begründung der platonischen
Akademie zu Florenz zu Gunsten Platon's zum Austrag kam, an-
iiinglicli von einem gewissen bitterbösen Beigeschmack theologischen
.Schulgezänkes nicht frei war. Als Plethon nämlich durch sein mu-
thiges und rückhaltloses Eintreten für Piaton auf Kosten des von
der Kirche usurpirten und verballhornisirten Aristoteles das Zeichen
zu jener mächtigen philosophischen Bewegung gab, die in ihrem
Verfolge dazu geführt hat, den Iknn der Scholastik zu brechen,
da hatte der Kampf anfänglich einen mehr theologischen als phüo-
sophischen Charakter. Man stritt weniger darum, ob Aristoteles
Plato gegenüber philosophisch im Rechte sei, als vielmehr dar-
über, wer mit den Glaubenssätzen der Kirche mehr überein-
stimmt. Selbst der vermittelnde, streitschlichtende Kardinal Bes-
sarion, der in seiner, wie ich später nachweisen werde, 1468 ver-
fassten, gegen Georg von Trapezunt gerichteten Gegenschrift: ad-
versus calumniatorem Piatonis, zunächst das letzte Wort in diesem
heisswogeuden Kampfe sprach, reicht bei aller Anerkennung der
philosophischen Grösse des Stagiriten doch Plato vor Allem darum
die Palme, weil dessen Philosophie dem Christenthum innerlich
verwandter ist und sich dem Kircheuglauben geschmeidiger an-
schmiegt ■^).
Weniger glücklicli ist die Darstellung bei C. Alexandre, Plethon, traite des
lois. I'aris 1858, Einleitung. Zu kurz fertigt ihn Fritz Schnitze, Georgios Ge-
mi.stos Plethon, Jena 1874, S. 18 f.. 76 f.. 08 fT. ab. Ganz neuerdings haben
Gaspary, Gesch. d. italienischen Litteratur, Berlin 1888, 11, l.")7 ff. eine ganz
treffliche und Antonio Casertano, Saggio sul rinasciuientu del classicismo,
Torino 1887, p. 100 ff.. 131 ff. eine grundverfehlte Darstellung dieses heftigen
philosophischen Streites gegeben. Sämmtliche Darstellungen leiden an einem
grossen gemeinsamen Mangel: sie verwirren vielfach den Knoten dieses Streites
statt ihn zu lösen, weil sie Strömungen unterschiedslos zusammenwürfeln, die
innerlich nur sehr lose zusammenhängen. Ich kann dies hier unmöglich des
Breiteren entwickeln, beschränke mich vielmehr auf die Andeutung, dass dieser
Kampf für und wider Piaton drei verschiedene Phasen durchgemacht hat,
und zwar 1) Gennadius gegen Ple.thon auf byzantinischem Boden. 2) Theo-
dor Gaza, Georg von Trapezunt, Andronicus Callistus für Aristoteles, Jlichael
Aiiostolius und Kardinal Be.ssarion für Plato. Schauplatz dieser zweiten Phase
war Rom. ;{) Die platonische Akademie mit ihrem Präsidenten Marsilius Fi-
cinus in Florenz.
^) Vgl. Bes.sariouJs Cardinalis in Calumniatorem Piatonis libri IV, Vene«
I
Der Humanist Theodor Gaza als Philosoph. 429
Nur Theodor Gaza, der verständnissvolle Interpret aristote-
lischer Schriften, tritt dem einseitigen Herausstreichen der platoni-
schen Philosophie seitens Plethons mit einer wohlthuenden Sach-
lichkeit entgegen, indem er, ganz unbekümmert um kircliliche
Interessen, den Streit auf das rein philosophische Gebiet hinüber-
spielt. Gaza's philosophische Abhandlungen, die sämmtlich noch
ungedruckt und den Geschichtsschreibern der Philosophie nicht
einmal ihren Titeln nach bekannt sind, muthen uns wegen
ihres streng sachlichen und rein philosophischen Tones um so an-
•^cnehmer au, je mehr uns die gereizte, mit Invectiven gespickte
j Sprache und die ketzerriechende, salbadernde Manier seiner Mit-
humanisten, insbesondere seiner philosophischen Widersacher Georg
von Trapezunt und Michael Apostolius, tiefinnerlich anwidern.
Wenn demnach von wirklichen Philosophen des 15. Jahrhunderts
die Rede ist, dann hat zwischen Gemistos Plethon und Marsilius
Ficinus auf diesen Titel keiner berechtigteren Anspruch, als Theo-
dorus Gaza.
Ehe ich jedoch an eine Veröftentlichung und Analyse der
philosophischen Schriften Gaza's herangehe, wird es Noth thun,
zunächst seine Biographie vorauszuschicken, da die bisherigen Le-
bensschilderungen Gaza's gerade in den wichtigsten Daten und her-
vorstechendsten Zügen sämmtlich verfehlt sind. An Biographen
freilich hat es ihm nicht gefehlt*); aber sie überbieten einander
tiis, Aldus 1503 p. la, wo er als Veranlassungsgrund seines Werkes die Be-
hauptung seines Gegners (Trapezunts) angibt: opiniones Aristotelis nostrae
religionis verissimis optimisque sententiis consentaneas esse conatur ostendere,
ac proinde veriores; Piatonis autera dissentire nostris ideoque falsa
esse et a veritate prorsus alienas; vgl. ibid. p. 12: doctrinam Piatonis
magis quam Aristotelis nostrae religioni consentaneam esse dcmon-
strabimus.
*) Die ersten biographischen Notizen verdanken wir Barth. Facius, de
viris illustribus, ed. Jlehus, Florenz 1745. Gelegentliche Aeusserungen anderer
Zeitgenossen kann ich hier natürlich nicht einzeln aufführen. Die erste zu-
sammenhängende Biographie bietet Palus Jovius, Elogia doctoruin virorum,
Basel 1571 p. 61—64. Es folgen sodann Leo Allatius, de Theodoris, abgedr.
bei Fabricius, bibl. gr. IX, p. 192 ff. und danach Jlignc, patr. gr. Bd. 1()1,
p. 970 ff. Adolf Clarmund (Pseudonym für Küdiger), vitae clarissimorum vi-
rorum, Wittenberg 1705, IV, 55— (i4 (enthält einige drollige Schnitzer); Hodius,
430 Ludwig Stein,
förmlicli in Falschmeldungen und unhaltbaren Combiuationen. Es
ist dies aber auch gar kein Wunder. Denn ohne Zuhilfenahme
des auf den verschiedenen italienischen Bibliotheken zerstreuten,
reichlich aufgespeicherten handschriftlichen Materials können die
Biographien der griechischen Humanisten überhaupt nicht in be-
friedigender Weise abgeschlossen werden, am allerwenigsten die
Theodor Gaza's, der in einer ihn ehrenden Zurückhaltung in seine
gedruckt vorliegenden Werke nichts von seinen Lebensverhältnissen
miteinfliessen Hess, so dass man zur Ergänzung und Berichtigung
des Materials seine ungedruckten Briefe herbeiziehen muss. Eine
erschöpfende, allen Details sorgsam nachspürende Biographie werde
ich freilich nicht liefern, da ich seinen Lebensgang naturgemäss
vorzugsweise nur auf seine philosophische Seite hin in's Auge fassen
kann. Aber doch hoffe ich, die greifbarsten biographischen Irr-
thümer, wie sie über Theodor Gaza in den Handbüchern durchweg
im Schwange sind, durch nachfolgende Darstellung zum grossen
Theil w^enigstens beseitigen zu können.
Theodor Gaza (FotCv;?, Gazes, Gaces) wurde am Ausgang des
vierzehnten Jahrhunderts zu Saloniki geboren. Ueber das Geburts-
jahr wie über die früheren Lebensschicksale Gaza's fehlt es uns
so sehr au festen Anhaltspunkten, dass dessen Biographen nicht
einmal den Versuch gewagt haben, das Geburtsjahr auch nur an-
nähernd zu bestimmen. Doch ergibt sich aus folgender Combi-
nation, dass er um die W^ende des Jahrhunderts geboren sein muss.
^Vir haben nämlich für Gaza's Uebersiedelung nach Constantinopcl
ein gegebenes Datum in seiner Freundschaft mit Francesco Fi-
lelfo. Dieser aber hielt sich von 1422 — 1427 in Constantinopel
de graecis illustribus. London 1742, p. 55 - 102 (lireitspnrige Materiäliensamm-
lung): Boerncr, de docti.s hoin. graecis, Leipzig 1750 (Auflug von gesunder
Kritik); Tiraboschi, storia della Jetteratura ifaliana VIII, p. 1187ff. (die erste
kritische Biographie Gaza's); Heeren, Gesch. d. klass. Lit. im Mittelalter,
Göttingen 1822, II, 204 — 208 (werthlose Reproduction); Bahr, ailgem. Encyclo-
paedie s. v. Gaza (beste Uebersicht). Vortrefflich ist die, leider nur allzuknappe
Skizze bei Voigt, die Wiederbelebung des classischen Alterthuras, zweite Aufl.
Berl. 1881, II, 14.'j — 47.
Der Humanist Theodor Gaza als Philosoph. 431
als Sekretär des Kaisers Joannes auf '). Gaza müsste demnach,
um eine enge Freundschaft mit FJlelfo schliessen zu können, spä-
testens 1425 schon in Constantinopel gewesen sein. Damit stimmt
denn auch eine unbeachtete Episode aus Gaza's früheren Lebens-
schicksalen zusammen, die er in einem Briefe an seinen Schüler
Demetrius Sgoropul OS mittheilt '^). Diese Episode kann sich nur um
das Jahr 1422 bei der Belagerung Constantinopels seitens Murads IL
abgespielt haben')- Und da Murad II. die Belagerung zunächst
erfolglos aufgeben musste, so hinderte Gaza nichts mehr, nach Con-
stantinopel zu kommen, wo er 1423 oder 1424 eingetroffen sein
5) Ygl. die skizzenhafte Autobiographie Filelfos in seinem Briefe an
Lodrisio Crivelli vom August 1465, p. 178—183 der Venezianer Ausgabe (1502)
der Episteln Filelfos, nach welcher ich citiren werde. Das Datum für den
Aufenthalt Filelfos in Constantinopel lässt sich folgendermassen fixiren. No-
vember 1423 unterzeichnet er sich schon: Venetorum iu curia Coustantinopo-
litana Canceilarius, vgl. Agostini, Scritti Viniz. I. 141; im October 1427 aber
landet er schon, aus Griechenland heimkehrend, in Venedig, vgl. Voigt a. a. 0.
I, 351.
*) Eine interessante Episode aus seinem früheren Leben, wie er, durch
den Krieg an der Weiterreise verhindert, unterwegs lieber Dienste im Acker-
bau verrichtete, um nur nicht auf Gnadenbrot angewiesen zu sein, erzählt Gaza
in einem Briefe an seinen Schüler üemetrius Sgoropulos, den die Laurentiana
in Florenz LV, 0, fr. 49 f. (Baudiiii, II, 271) aufbewahrt. Dieser Brief ist jetzt
abgedruckt bei Migne, Patr. gr. T. 161, p. lOÜjf. Doch wird hier fälschlich ver-
muthet, der Adressat sei Demetrius Chalcondyles (gleichfalls Schüler Gaza's);
die Florentiner llandschr. weist jedoch deutlich auf Deraetr. Sgoropulos hin.
Diese characteristische Episode erzählt Gaza (f. G2, Jligiie p. 1007) in folgenden
Worten: lloLpdOci'jtxa §' i'siü? av eiT] O'j cpaüXov .... v.cd -ro r;ij.£-=pov T,[j.ct; yäo
dTtopo'JVTs; -OTS Tf>ö-0'j iravTOS £t; töv ßi'ov s-^pou, Xaßovxe; yjopt'ov lystupvoüaev.
xcd-a'j-Y; toi iT.i-:rfina -opi^oasvot ouSevt YiYOvaaiv '.pop7[7.oi osoasvot xocl TrpoiaiTioüv-
Te?. Eine ebenso vornehme Gesinnung, Meuschengunst zu verschmähen und nur
der eigenen Kraft zu vertrauen, bekundet er auch in einem (noch ungedruck-
ten) Briefe au Bessarion, Laurent. Plut. LV, Cod. IX, 5 f. 66: äv&ptuTTtov yap
- jOEva ifu} övojiccCeiv "/.Ott aiTtäa&ai i%ilw. In dieser noblen Selbstgenügsam-
Keil bildet Gaza einen wolthucnden Gegensatz zu den übrigen schweifwedeln-
den und schmarotzenden Humanisten, insbesondere zu seinem Freunde Filelfo.
') Denn in jenem Briefe an Demetrius fährt Gaza fort: qj-ol [xh y«P ^' "'
noXeiAos irAv-ltit Tr)v ei; toi; tioXei; öoov. Da wir Gaza schon gegen 1425 in
Constantinopel mit Filelfo unter geregelten Verhältnissen finden, kann unter
diesem Krieg wol nur die Belagerung Constantinopels durch Murad II. im
Jahre 1422 gemeint sein.
432 f'"'^' ^^' '? Steiu,
mag. Gar so jung und unbedeutend kann er bei seinem Eintreffen
in Constantinopel auch nicht mehr gewesen sein, sonst würde es
der damals schon 27jährige eitle und aufgeblasene Geck Filelfo i ird
(geb. 1398). der sich auf seine Hofstellung nicht wenig einbildete*),
unter seiner Würde gehalten haben, mit ihm eine intime Freund-
schaft zu pflegen, die mehr als ein halbes Jahrhundert unge-
schwächt angedauert hat. Wer den egoistischen Streber Filelfo
mit seinem hochfahrenden, aufgeblähten Wesen kennt, weiss, dass
er engere Beziehungen nur mit geistig oder sozial Hochstehenden
unterhielt. Und wenn er gleich wol mit Gaza, als dieser noch in
Constantinopel lebte, eifrige briefliche Verbindung pflog'"*), so be-
**) Ueber die gespreizte Ruhmredigkeit, mit welcher er von seinen hohen
Missionen am byzantinischen Hofe prahlte, vgl. A'oigt I, 35'2.
') Leider haben sich von der zwischen Fitelfo und Gaza gepflogenen
griechischen Correspondenz nur wenige Briefe erhalten, und auch diese
tragen bedauerlicherweise kein Datum. Wenig bekannt ist es nämlich, dass
sich noch einige ungedruckte griechische Briefe Filelfo's an (Jaza im Codex
10,8 Augusteorum manuscriptorum der Bibliothek zu Wolfenbüttel befinden.
Die einzige gedruckte >;acliricht, die ich über diesen höchst werthvollen
Codex bei Ebert, Bibl. Guelfobytanae Codices graeci et latiui classici p. 128,
No. 657 fand: .,Philelphi, Franc, epistolae XCIII graecae. Datae ad varios
viros doctos illius saeculi. Insunt etiam VII epistolae Theodori Gazae ad
Philelphum", enthält fast so viele Irrthümer wie ilittheilungen. Der Codex
enthält nicht 93, sondern 103 Briefe, darunter 11 Doubletten. Es sind nicht
VII epistolae Th. G. ad Philelphum, sondern 12 Briefe Filelfo's an Gaza
erhalten. Bei der Bedeutsamkeit F.'s für die Entwicklungsgeschichte der Re-
naissance hielt ich es für angemessen, von diesen ungedruckten Briefen F.'s,
soweit sie mit den Philosophen der Renaissance irgeinlwie zusammenhängen,
eine Copie anfertigen zu lassen, die ich den nachfolgenden Untersuchungen
zu Grunde lege. Von dem Umfange dieser Correspondenz zwischen F. und
G. gibt uns ein Brief FileIfo"s au Cato Sacci, Rechtsgelehrteu in Pavia, eine
ungefähre Vorstellung. Filelfo schreibt an Sacci am 9. Nov. 1440 (Buch IV,
p. 28 a ed. Ven.): Scribis me a Theodoro tres ad meam unara epistolam litteras
accepisse. Xon tres dumtaxat. sed mille et araplius litteras accepi.
Mag dies nun auch Ucbertreibung sein, so muss die Correspondenz zwischen
Filelfo und Gaza doch eine ungemein rege gewesen sein. Im Uebrigen er-
wähnt auch F. in seiner griechischen Correspondenz mit G. wiederholt den
Namen Sacci's, so Cod. Wolfenb. fol. 12: t6 ol bnip toütujv xarä fji^po; e^ei;
aaSüiv Ttapä xoO xotvoO r/fxöiv cpiXoü xctTiuvo; oaxxou xat yap ir.iorziX'x hk
'^uTiij Ttapi TöJv ÄEyövTwv Xt'av äxptßw;: ebenso ibid. fol. 12a: Ttcpi oe xwv aoi
ivTEÜl^EV 7:oi)0'J[JlEVU)V X « T U) V t ifpaiioi.
Der Humanist Theodor Gaza als Philosoph. 433
weist dies zur Geniige, dass er ihn als einen Ebenbürtigen ge-
schätzt hat. Das that aber der 27jährige Hofsekretär sicherlich
nur dann, wenn Gaza gleichaltrig oder nur um weniges jünger war.
Viel älter als Filelfo ka,nn er nicht gewesen sein, da der Kardinal
Bessarion in einem Briefe an Michael Apostolius aus dem Jahre
1462 Gaza wol als ehrwürdigen Alten'"), jedoch noch nicht als
Greis (-(sptov) bezeichnet. Nach alledem dürften wir kaum fehl-
greifen, wenn wir Gaza's Geburt in das Jahr 1498 — das (ieburts-
jahr Filelfo's — verlegen.
In Constantinopel muss Gaza eine reiche Lehrthätigkeit ent-
faltet haben, da zwei seiner damaligen Schüler, Demetrius Chal-
condyles und Demetrius Sgoropulos, später recht angesehene Hu-
manisten wurden"). Dass er dabei auch die Priesterwürde be-
kleidet hat, möchte ich aus dem Umstände folgern, dass der
Kardinal Bessarion ihm später, wie wir sehen werden, eine ein-
trägliche Pfarre in Calabrien übertragen hat. Das konnte er
offenbar nur dann, wenn Gaza schon in seiner Heimath Geistlicher
war. Damit stimmt- denn auch die gutverbürgte Nachricht zu-
sammen, dass er sein Lebenlang unverehelicht geblieben ist'').
Ueber die Motive wie über den Zeitpunkt seiner Ueber-
siedlung nach Italien sind zahlreiche, einander durchkreuzende oder
aufhebende Nachrichten verbreitet, die sämmtlich in das grosse
Reich der historiographischen Mythologie gehören. Das Kapitel
<lcr historischen Legendenbilduug ist ein ungemein reichhaltiges,
und Gaza liefert dazu einen interessanten Beitrag. In fast allen
Lehrbüchern der Geschichte mit Einschluss der Philosophie- und
Kulturgeschichte findet man die marktgängige Auffassung, dass die
'") Vgl. Ep. Bessarionis ad Mich. Apostoi. bei Migue P. Gr. T. 161, p. 688:
H:ÖÖü)pÖe T£ TÖJV VÜV 'EXX-»iv(l)V £V TOt? TüpCUTOlS WV — -J^OTj -peaßÜT'/)?.
") Dass Demetrius Chalcondyles, ein geachteter Humanist, tler in Florenz
und Ferrara wirkte, Gaza's Schüler war, ist mehrfach bezeugt, vgl. Hodius
l c. p. 211, 218, 220tf. Das Schülerverhältniss des Demetrius Sgoropulos, der
. h freilich meist tlurch Abschriften ernährte (Voigt II, li32), ersieht man aus
u beiden au ihn gerichteten Briefen Gaza's, abgedruckt bei Migue, Patr.
Gr. 161, p. 1005—1014.
'^) Volaterranus, Anthropol. 1. 21 : Theodorus ... senex excessit sine
liberis, cum esset sacerdos.
434 Ludwig Stein,
grosse Humauistenbeweguug, der Italien zum nicht geringen Theil
die Renaissance seiner Philosophie verdankt, auf byzantinische ^
Flüchtlinge zurückzuführen sei, die, durch den Fall Constantino-
pels aus der Heimath vertrieben, nach Italien verschlagen ^*'
wurden. Diese vielverbreitete Annahme ist nun einfach fable
convenue, da sie dem nackten historischen Thatbestand schnur-
stracks zuwiderläuft. Die byzantinischen Humanisten sind nicht ioJ
aus ihrer Heimath geflohen, sondern sie wurden zum überwie-
genden Theil von italienischen Humanisten und Mäcenen nach
Italien gezogen oder geradezu gelockt. Denn als Constantinopel
1453 fiel w-aren alle bedeutenden Humanisten — Joannes Argyro-
pulos etwa ausgenommen — : Eraanuel Chrysoloras, Gcmistos Ple-
thon, Bessarion, Georg von Trapezunt, Theodor Gaza u. A. schon
längst, zum Theil sogar schon seit Jahrzehnten, in Italien.
Freilich liebten es die damals so zahlreichen Epigrammdichter, den
von ihnen besungenen griechischen Humanisten die Dornenkrone
des Märtyrerthums auf's Haupt zu setzen, weil sich diese dich-
terisch höchst wirkungsvoll ausnahm, und so spielt denn auch
der Massenschreiber Jovius Pontanus in seinem Epigramm auf
Gaza"s Flucht an '^), trotzdem sich uns zeigen wird, dass Gaza's
L'ebersiedlung nach Italien einen viel harmloseren Beweggrund
hatte.
'^) Jov. Pontanus, das llaiiiit der Dichter- und l'hilosopben.schule in
Neajjel, .singt allerdings Ga/a mit den Worten an:
Te quoque Turcaicae fugientem vincla catenae
Ejecit patrio Thessalonica solo.
Das ist die einzige zeitgenössische Quelle, in welcher (Jaza als politischer
Flüchtling erscheint. Doch blicken diese Verse einerseits nur aus weiter Ent-
fernung auf das verlorene Vaterland zurück, wie Voigt II, 145' schon bemerkt,
andererseits sind Epigramme überhaupt eine bedenkliche historische Unterlage,
da sich in denselben zuweilen die dichterische Licenz auf Kosten der liistu-
rischen Treue breitmacht. Wäre (Jaza ein Refugie gewesen, so hätte sein
Freund Filelfo gewiss nicht verabsäumt, diesen mitieiderregenden Umstand in
seinen Gaza empfehlenden Briefen an Cato Sacci und Jacob Cassiani (Buch III,
epp. 24, 25, 28) mit nachdrücklicher Betonung hervorzukehren. Ueberdics
herrschte ja 1440, als Gaza nachweislicli nach Italien übersiedelte, in seiner
Ucimath politische Windstille, so dass er gar keine Ursache zur Flucht haben
konnte.
t
Der Iluinauist Theodor Gaza als Philosopli. 435
Der reiche Zustrom gelehrter Griechen war offenbar nicht so
sehr unmittelbares Product politischer Wirren, als vielmehr die
Folge des aufblühenden italienischen Mäcenatenthums, das die
wissenschaftlich bedeutenden Männer des innerlich morschen, zer-
fallenen byzantinischen Reiches durch rosige Versprechungen wett-
eifernd heranlockte. Zu diesen Männern gehörte auch Theodor
[Gaza, der allem Anscheine nach von seinem Freunde Filelfo an-
geregt oder ermuthigt wurde '^), die traurigzerrisseue Heimath zu
j verlassen.
Die Ankunft Gaza's in Italien erfolgte weder 1430, wie
IJähr mit der grossen Schaar der hinter ihm stehenden Quellen
I annimmt '•'), noch 1444, wie Voigt neuerdings unter Zustimmung
'^) Das geht aus dem überaus warmen Ton hervor, in welchem Filelfo
'len mittellosen Gaza seinen Freunden in Pavia (Sacci und Cassiani lebten in
l'avia. nicht in Siena, wie Hodius p. 5G und nach ihm Bürner p. 121 irriger-
weise annehmen) dringend an's Herz legt.
'-) Rai'hr in der Allg. Encyclop. ed. Ersch u. (iruber s. v. Gaza p. IM
nimmt mit Tirabosclii i.e. p. 118<S an, Gaza sei schon 1430 nach Italien go-
tlohcn, weil er eben die oben citiiTen Verse des Ponlanns. nafli welehen Gaza
Kefugie war, seiner Fixirung zu (hiinde legt und daraus folgert, Gaza müsse
1430 gelegentlirli der Kiiinahme seiner N'aterstadi aus .Saloniki geflohen sein.
Nun wissen wir aber schon, dass Gaza 14i)() längst nicht mehr in Saloniki
war (Note 0). Die wunderlidie Hypothese IJiihrs, Gaza sei 14;)0 in Sicilien
gelandet, habe daselbst etwa 10 .lahre verlebt und sei dann 1440 mit Pietro
Ronzano nach Pavia gegangen, ist ganz unhaltbar. Denn erstens war Ronzano
1440 erst ein zwölfjähriger Bursche (geb. 14-28), also kein geeigneter Gesell-
M'hafter für Gaza. Ferner hätte Gaza bei einem zehnjährigen Aufenthalt in
Sicilien wol eine Spur seines Wirkens zurückgelassen, was aber entschieden
nicht der Fall ist, vgl. Giovanni, storia della filosutia in Sicilia 1, 170, wo
<.iaza's Name fehlt. Endlich tritt noch hinzu, dass ein Brief Filelfo's, der
liüchstwahrscheiulich Anfangs 1440 an Gaza gerichtet wurde (Cod. Wolfenb.
lol. la), den Aufenthalt desselben in Byzanz voraussetzt. Wir wissen näm-
lich, dass Filelfo Anfangs 1440 seinen Sohn nach Byzanz geschickt hat (Voigt
I. r)o4). Der oben erwähnte Brief an Gaza beginnt nun aber mit den Worten:
HiV&miöv i l|j.rj; Tai; ivooirjo'j aot ttjv ^-igtoXt^v. Da die Reihenfolge der
Briefe im Wolfenb. Codex eine chronologisch geordnete zu sein scheint [fol. 5a
an Guarino 1428, fol. 6 au Ambrosius Monachus 1428, fol. 6a an Franciscus
Barbaras 1428, fol. 7 an Gennadius 1430, fol. 8 an Demetr. N'alhi 1430, fol. 12
an Gaza (wie aus der Erwähnung des Cato Sacci hervorgeht) 1440, fol. 1 1 au
Gaza (aus dem gleichen Grunde) 1441], so erhellt daraus die frülie Daliriing
des oben erwähnten Briefes. Am 9. Nov. 1440 aber war Gaza nachweislich
ler
436 Ludwig Stein,
Burkhartl-Geigers'^) vermuthet, sondern im Herbst 1440, wie
aus folgender, sonderbarerweise von allen Biographen Gaza's über- •
seheuen Auslassung Filelfo's unwidersprechlich erhellt. Filelfo
schreibt nämlich am 17. December 144Ü an den Presbyter Jacob pc''''
Cassiani, einen Schüler und Bewunderer Vittonino da Feltre's")» ^i^
Venit istuc uuper, ut scis, Theodorus Gazes, vir certe et di-
sertus. et eruditus, quem etsi certo scio, uon amabis solum. sed
cumulatissime amabis, tarnen mea etiam causa velim ita ames, ut I ftfii
nulla prorsus fieri queat ad amorem accessio. Hoc erit mihi
tarn gratum, quam quod omnium maxime.
Die ökonomische Lage Gaza"s muss in Pavia keine neidens-
werthe gewesen sein, da Fileltb den „desertissimum" Gaza seinen
Freunden in Pavia angelegentlichst empfahl, anscheinend jedoch
ohne sonderlichen Erfolg. Der eine dieser Freunde, Cato Sacco,
muss sich in dieser Angelegenheit nicht tadelfrei benommen haben,
da er Filelfo weismachen wollte, der Senat in Pavia habe sich
mit Gaza"s Verhältnissen beschäftigt, während Filelfo diese Meldung
mit herber Rüge als ersonnene Fabel zurückweist. Es handelte
sich dabei keineswegs um eine Anstellung Gaza's als Professor, wie
Bahr irrigerweise annimmt"), sondern um eine öffentliche Unter-
n)i
h
lel
iliali
• 311t
fei Fi
schon in Pavia (Philelphi Epist. üb. IV, cp. 20), folglicli kann Gaza nur
up die Mitte des .Jahres 1440 von Byzanz nach Italien ausgewan-
dert sein.
'«) Voigt a. a. U. 11, 14;V. Danach Burkhard, Cultur der Renaissance,
4. Aufl., heransg. von Ludwig Geiger, I, 22L
1') Philelphi Epist. Lib. IV, cp. 25. Dass Cassiani ein Schüler Vittorino
da Feltres war, ersieht man aus mehreren Briefen Filelfo's, so IV, cp. 7 an j
Sacci: Nam Victorinus Feltre, ejus (sc. Cassiani) doctor ... et mihi veteri
familiaritate conjunctus: ebenso cp. 8 an Cassiani selbst: Victorinus Feltrensis
doctor tuus ac idem eruditissimus vir mihique amicissimus; vgl. noch ibid.
cp. 2.0.
'») Allgem. Encycl. s. v. Gaza p. 134. Baehr zieht eben zwei falsche
Schlüsse: einmal folgert er aus einem Briefe Filelfo's, man liaue Gaza in Pavia
1440 eine Professur verschallen wollen, andermal schliesst er, gestützt auf
diese Voraussetzung, Gaza müsse 1440 schon den Unterricht des Vittorino da
Feltre genossen haben, da man sonst nicht daran denken konnte, ihm in
Italien eine Professur zu übertragen. Allein erstens handelte es sich da nicht
um eine Professur, sondern um eine Unterstützung (vgl. lib. IV, cp. 24: nulla
mihi prorsus spes est, ut vir iste publica pecunia ob id muneris donetur).
l3l
Der Humanist Theodor Gaza als Philosoph. 437
Stützung. Zum öffentlichen Lehrer konnte man den eben aus
Griechenland eingewanderten Gelehrten doch wol kaum ernennen,
da er die lateinische Sprache gewiss noch nicht genügend be-
herrschte. Und so verfielen denn Gaza's Freunde auf ein Aus-
kunftsmittel, dessen sich schon der 10 Jahre früher eingewanderte
Humanist Georg von Trapezunt bedient hatte: Gaza sollte zunächst
halb als Lehrer, halb als Zögling die berühmte Schule des Vitto-
rino du Feltre zu Mantua besuchen, um sich im Lateinischen zu
vervollkommnen und sodann in Italien eine Professur zu bekleiden.
Dass nämlich Gaza mehrere Jahre hindurch dieser Muster-
schule Feltres angehört hat, steht ausser allem Zweifel'^). Nur
über den Zeitpunkt dieses Aufenthaltes konnte man sich nicht
einigen. Jetzt aber, da wir einerseits wi.ssea, dass er erst 1440
in Italien landete, während es andererseits feststeht, dass er 1447
bereits Rector der höheren Schule in Ferrara war, so kann sein Auf-
enthalt in Mantua naturgemäss nur zwischen diese Jahre fallen.
Und in der That ist Gaza 1440—1446, dem Todesjahre Feltres'"),
80 gut wie verschollen. Er mag eben auf Empfehlung Cassiani's
und Filelfo's, den vertrauten Freunden Feltre's''), nach Mantua
gegangen sein und sich da einige Jahre in stiller Vorbereitung auf-
Ferner konnte Gaza vor 1440 unmöglich da Feltres Schule besucht haben —
auch abgesehen (hivon, dass er erst 1440 überhaupt nach Italien kam — , da
Filelfo Decemb. 1440 Gaza dem intimen Freunde und Schüler da Feltres, Jacob
Cassiani, empfahl (lib. IV, cp. 25), was doch gewiss überflüssig gewesen wäre,
hätte Gaza schon mit Cassiani gemeinsam das Institut da Feltres frequentirt.
'^) Jovius, Elogia doct. vir. p. 61 bezeugt dies ausdrücklich; nach ihm
Böhmer, 1. c. p. 122. Franc. Prendilacqua, Vita Vict. Feltr. p. 70 berichtet:
Romanae enim dictionis penitus iguarus vir consumpto apud Victorinum
triennio tantus evasit, ut pauci postea doctiores oratores inveuti sint.
-°) Ueber Vittorino da Feltres Leben und Wirken bietet Manches Tullio
Dandolo, storia del pensiero nel medio aevo II, 344 ff. (mich der Monographie
\on Mad. Benoit, Victorino de Feltre et l'eduction au seizieme siecle en Italie).
Eine scharfumrissene Skizze seiner Pädagogik gibt Schmidt, Gesch. d. Pädag.
II, 358 f. Ein knappes, aber treftlich gezeichnetes Lebensl)ild dieses Refor-
mators der Renaissance-Pädagogik bietet Voigt, a. a. 0. I, 537—548.
^') Auf die Freundschaft Filelfo's und Cassiani's mit da Feltre habe ich
bereits Note 17 hingewiesen. Der Gedanke ist kaum abzuweisen, dass diese
beiden Männer den völlig mittellosen Gaza an iliren gemeinsamen Freund da
Feltre empfohlen habeu.
438 Ludwig Stein,
gehalten haben. Seine Lebensbedürfnisse niuss er in diesen Jahren
durch Abschreiben von Büchern bestritten haben. Wenigstens sind
uns einige von Gaza's Hand herrührende Abschriften von Werken
bekannt, die doch wol nur aus der Zeit seiner ökonomischen Be-
drängniss stammen können, da er sich in späteren Jahren nach-
weislich selbst Abschreiber gehalten hat*^).
In der Schule da Feltre's hat sich Gaza's lateinischer Stil io
einer Weise vervollkommnet, dass mau ihn übertreibend für den
vornehmsten, aber auch allgemein für einen der elegantesten la-
teinischen Stilististen seiner Zeit erklärt hat"). Und so konnte
denn Filelfo schon im März 1446, also zu einer Zeit, da Gaza das In-
stitut da Feltre's wol eben erst verlassen hatte, Francesco Barbaro auf
dessen Anfrage, w'er wol der bedeutendste unter den eingewanderten
griechischen Humanisten sei, ohne Bedenken Gaza als diesen Mann
bezeichnen, dem wiegen der Lauterkeit seines Characters, der Tiefe
seiner Kenntnisse und der Eleganz seines Stiles unstreitig der Vor-
rang unter allen Griechen gebühre'^).
Jedenfalls war es keine geringe Ehre, dass der in der Kenntniss
des Lateinischen kaum der Schulbank entwachsene Gaza schon
1447 an das neugegründete Studio zu Ferrara als Professor berufen
und bald darauf auch zum Rector desselben ernannt wurde ^').
--) Dass Gaza Abschreibevdienste geleistet hat, ersehen wir daraus, dasf
er für Filelfo die llias abgesdiriehen hat. Dieses Exemplar sehätzte Filelfo"
so hoch, dass er es, wie er in seiner ges])reizten Uebertreibungssucht Ressarion
schreibt, nicht für das Vermögen eines Krösus verilusscni inöclife (iili. A t,
I». 41a). Teber weitere Abschriften von ilauuskripten, die sicli von Gazasl!
Hand noch finden, vgl. ITodius p. HO.
-^ Jovius 1. c. p. 02: Hei Vittorino da Feltre erlernte er das Lateinische
si» vortrefi'lich, ut lonse omnium l^atinissime scriberet; ähnlich Franc.
Prendilaciiua, Vita Vict. p. 70; Leo, Allatius, abgedr. bei Migne Patr. Gr. 161,
p. y74. Weitere Zeugnisse über Gaza's lateinischen Stil bei Eodius p. 86ff.
-*) Philelphi Epist. lib. VI, p. 38a.
") Die Austeilung in Ferrara muss spätestens 1447 erfolgt sein, da er
bereits am '). Juli des gleichen Jahres auf die Berufung nach Florenz aus
Ferrara in ablehnendem Sinne geantwortet hat, Fabroni, Vita Cosni. Medi.
Tom II. p. 6R nnd 'lid. Ein Jalir darauf (1448) gehörte er schon nach dem
Berichte des Pater Aliotti, Epist. lib. IH, cp. 19 und 20 zu den vornehmsten
Zierden des Studio in Ferrara. Sein liegeistertes Loi) kündet endlich auch
sein Schüler, Ludwig Carbo, bei Giraldi, de poetis suor. temp. dial. 2, der
Der Humanist Theodor Gaza als Pliiloso])!).
439
Der Aufenthalt in Ferrara, der übrigens zu einer Verwechslung be-
züglich Gaza's Theilnahme am bekannten Concil zu Ferrara Anlass
gegeben haben mag'"), gehörte zu den glücklichsten Jahren seines
hebens. Zu seinen Füssen sass eine begeisterte Zuhörerschaar, die
dem in der Vollfrische der Manneskraft stehenden Lehrer, dessen
Vorträge sich durch dichterischen Schwung und gehobene, gewählte
Diction auszeichneten, freudig entgegenjubelte"). Grammatik und
Rhetorik bildeten hier vorzugsweise den Gegenstand seiner Vorlesun-
gen, was mich auf die A'ermuthung führt, dass seine systematische
griechische Grammatik, die erste ihrer Art, der er auch seine Stel-
lung in der AVeltlitteratur in erster Reihe verdankt, wol in Ferrara
entstanden isf^*).
übrigens auch berichtet, fiaza sei Reetor des Stndio gewesen. Das be-
stätigt auch Borsetti, historia Gymnas. Ferr. II, 25: Theodorus Gaza, Thes-
salonicensis, Medicus, Philosophus etc in qua (sc. Academia) diu grae-
cas Litteras docuit Gymnasiarca appeUatus, et vere quidem, nam ejusdem
Lionello Estense restitutae primus reetor Theodorus fuit; vgl. noch ebenda
I, 40. .lacob. Guarini, ad Ferrarii (iyran. historiam, Rononiae 1740, II, Vd
theilt mit, dass man 1707 in der Universität zu Ferrara Theodor Gaza ein
Epitaph gesetzt hat. Dieses Epitaph meldet nur den ersten Aufenthalt Gaza's
in Ferrara, der in die Regierungszeit Lionello's von Este fällt, lässt jedoch
den zweiten auiVälligerweise unerwähnt.
'^) So weit ich sehe stützt sich die vielfach verbreitete Annahme, Gaza
habe gleichzeitig mit Plethon und Bessarion am berühmten Concil von Ferrara
(1439) als Theilnehmer mitgewirkt, nur auf die Anecdote bei Petrus Crinitu.s,
de honest, discipl. I, cap. 10: Erunt forte cum Bessarione Nicaeno, vir« in
philosophia excellenti, Theodorus Gaza et Pletho etc. Nach Crinitus wieder-
r holen diese Fabel von der Theilnahme Gaza's am Concil noch Leo Allatius,
de Georgiis, Migne Patr. Gr. IfiO. p. 779: llodius p. .')7; Fnlleborn, abgedr.
bei Migne 160, p. 935. Diese Anecdote ist schon deshalb falsch, weil sie ein
iVeundschaftliches Verhältniss zwischen Plethon und Gaza voraussetzt, während
zwischen beiden, wie wir sehen werden, von jeher ein entschiedener Antago-
nismus geherrscht hat. Uebrigens ist ja Gaza aucii erst 1440 nacii Italien
gekommen und konnte daher am Concil (1439) unniögiicli flieiinclinuMi.
-') Ygl. namentlich die überschwengliciien Lobeserhebungen vnn Seiten
seines Schülers, Ludwig Carbo, in seiner oratio de artibus liberalibus, der
Gaza als Dichter Properz und Tibull gleichstellt; Leo Allatius bei Migne ICi,
p. 974; ITodius p. 81. Uebrigens hebt auch Filelfo Gaza's Fertigkeit im Verse-
machen hervor, vgl. Ep. IIb. XV, p. 109a. Die Valiraiia ('. 1334. p. 104 nu.l
C. 1347, p. 21G bewahrt Epigramme Gaza's.
■^*) Dass seine ungemein häulig gediuckte Grammallk. die den Grundstein
Archiv f. (iesihiclitc d. Vliildsciplni'. 11. '-'^
440 ^^ '^ il w i g Stein,
Es mag sein, dass gerade diese Grammatik seinem Namen
einen so guten Klang vcrschalVte, dass er einen liüclist ehrenvollen
Ruf nach der Musenstadt par excellence, nach Florenz, erhielt").
AVenn er diese so auszeichnende Berufung nach jenem Centrum der
Renaissance, nach welchem sich die sehnsüchtigen Blicke aller
Humanisten richteten, gleichwol mit der Motivirung ablehnte, er
trage sich mit dem Gedanken, in seine lleimath zurückzukehren,
so gibt mir dieser Umstand einen Fingerzeig, die ungefähre Ent-
stehungszeit seiner Skizze Encomium Canis zu iixiren. In der-
selben macht er nämlich dem musenfreundlichen Sultan Muhani-
med IT (1451—1481) grosse Complimente""), so dass die Ver-
muthung naheliegt, er habe sich mit der IlotTnung getragen, von
demselben in die lleimath zurückberufen zu werden. Trotz des
I
zu seinem Ruhm gelegt hat, so da.ss man ihn heute fast nur noch von dieser
Seite kennt, spätestens in Ferrara entstanden sein muss, schliesse ich aus
folgendem Umstand: Constaulinus Laskaris, der Verfasser der zweitbesten
griechischen Grammatik, hat nach eigenem Zuges tändniss Gaza's Gram-
matik schon benützt, vgl. das Prooemium zu seiner Grammatik bei Migne l(jl,
p. 933. Nun entstand aber die Grammatik des Laskaris nach dessen eigener
Angabe schon 1463, vgl. Hodius p. 2-41. In Rom beim Papst Nicolaus und
in Neapel beim König Alphons hat sich aber Gaza nachweislich nur mit l'eber-
setzungen beschäftigt, folglich bleibt für die Abfassung der Grammatik nur
der Aufenthalt in Ferrara übrig. Dazu passt es denn auch, dass Gaza in
Ferrara, wie Giraldus 1. c. (Opusc. Tom II, 550) berichtet, in seinen Vortrügen
vorzugsweise Grammatik und Rhetorik gepflegt hat. Ueber die Bedeutung
der Grammatik Gaza's vgl. Fabricius, Hibl. gr. VII, p. 39; Hodius p. 72 — 77;
Bernhardy, Gesch. d. Gr. Lit. I, 502 und 512; Voigt II, 384. Nach Hodius
p. 72 soll sich das Autograph der Grammatik auf der Bibliothek in Nürnberg
befinden.
") Vgl. Fabroni, Vita Cosm. Med. II, p. (J8 und 229 (in Vitae doctt. Ital.).
^'') Gaza's niedliche Plauderei Encomium Canis, die sich auf der Vaticaua
(Reg. Svec. 983) befindet, ist jetzt abgedruckt bei Migne Patr. Gr. 1(51, p. 986.
Hier behandelt er den Bezwinger Constantinopeis, Muhamined II., mit einer
auffiilligen Auszeichnung; so nennt er ihn ]). 988: töv ta xe TTpöüia tüjv xcti}'
iauTÖv 7:£7:atO£'j[j.£V(ov, «p/v); xe xtj; raatüv [j.£yi3T7]; xai x'jptioxocxfj; ev ävSpiuroi;
ä|tiu\)^vxo!. So hätte er über den Verwüster seines Vaterlandes nicht ge-
.schrieben, wenn er sich nicht mit der Hoffnung getragen haben würde, an
dessen musenfreundlicheu Hof zu gelangen. Für die frühe Abfassungszeit
spricht auch der Umstand, dass er Plato, den er später so heftig befehdete,
hier noch oaipiovio; flXaxiuv nennt, p. 901 c.
t»s
I>er Humanist Theodor (iaza als Pliüosopli. 441
Felilschlagens dieser Hoffnungen behielt er eine so unbezAvingliche
Sehnsucht nach der lieimischen Erde, dass er stets den stillen
AVunsch in sich trug, auf griechischem Boden begraben /ai werden.
Das Jubeljahr der Stadt Rom (1450) zeitigte in dem kraftgenia-
lisch angelegten, mit nervöser Hast um seinen Nachruhm besorgten
Nicolaus V. den Gedanken, Rom nicht bloss durch äusserlichen I^omp
und verschwenderische Prachtentfaltung wiederum zum religiösen
und weltlichen) Mittelpunkt der christlichen Welt zu gestalten,
sondern es auch durch Heranziehung aller verfügbaren geistigen
Kräfte unter den lockendsten Versprechungen zum litterarischen
Centrum des Humanismus zu erheben. Das Rom des Nicolaus V
sollte dem medizeischen Florenz die geistige Suprematie ent-
winden.
Den glänzenden Anerbietungen des päpstlichen Maecen's konnte
auf die Dauer auch Theodor Gaza nicht widerstehen. Er verliess
1450 den iMusenhof der Este zu Ferrara und folgte dem lockenden
Rufe des Papstes nach Rom^'). Doch muss er hier sehr bald
herbe Enttäuschungen erfahren haben, da der Papst sein reges In-
teresse weniger dem Professor, als dem Ueb ersetz er Gaza zu-
wendete^^). Nicolaus V wurde eben in seinen litterarischen Be-
strebungen nur von dem einen, an sicli anerkennenswerthen Be-
streben beherrscht und geleitet, eine möglichst grosse Anzahl
griechischer Autoren in musterhafter lateinischer Uebertragung
zu besitzen, Avährend die selbständigen Leistungen der Huma-
nisten in ihm eine nur massige Theilnahme weckten'^). Und
so beschräiikte sich denn auch die Thätigkeit Gaza's, wol der
vornehmsten litterarischen Erscheinung am Hofe Nicolaus V, zu-
nächst ausschliesslich auf Uebertragungen griechischer Werke, die
auf der einen Seite freilich seinen Ruhm als Uebersetzer be-
=•) Hodius p. GO.
^2) Wenigstens ist uns kein selbständiges Werk bekannt, das Gaza unter
dem Pontificat Nieolaus V. verfasst hätte. Von einer erspriessliciion Lehr-
ihätigkeit Gaza's in Rom hören wir nichts, desto mehr aber von seinen
öeberset Zungen.
") Voigt a^a. 0.11,73. Zanelli's Buch, Niccolo V., üntiiiilt über die Be-
ziehungen Gaza's zum Papst Nicolaus, p. 73 f., nichts Belangreiches.
30*
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442 L lul w i g Stein,
trriiiulet, auf der anderen aber auch eine bittere Fehde mit seinem
^[ithumanisten Georg von Trapezunt heraufbeschworen haben, welche Jailerti
für den friedfertigen, niildgesinnten Gaza eine Quelle von Trübungen
und Bitternissen aller Art geworden ist.
'\Vollte man dem Trapezuutier Glauben schenken, so hätte
Gaza diesen Streit vom Zaun gebrochen. In einer dem König Al-
phons von Arragonien gewidmeten Schrift nämlich (contra Theo-
dorum Gazam) gibt er als Entstehungsursache des Streites an, Gaza
habe ihn in öffentlicher Versammlung zweimal angegriften ^^). Wahr
mag daran nur sein, dass der bei Weitem überlegene Gaza den Tra-
pezuntier in einer öffentlichen Disputation dialeetisch geschlagen hat,
was ihm dieser verbissene, ränkesüchtige Krakehler nicht verzeihen
konnte. Gesucht hat Gaza die Händel keinesfalls. Denn alle
Zeitgenossen bis auf den Trapezuntier bezeichnen ihn mit einer
an ihnen seltenen Einstimmigkeit als einen sanftmüthigen, fried-
liebenden Menschen und einen vornehmen, goldreinen Character").
ffltr
^*) So stellte der Trapezuutier die l j-saclie seiner Fehde mit Gaza in i
seinem Widmungssclireiben au König Alpiious dar, vgl. Sassi, historia typogr.
Mediol. p. 15G; Apostol. Zeno, dissertazioni Vossiaue II, '20. Schon der Titel *"
dieser Widmung ist für den Trapezuntier bezeichnend; er lautet: Georg. Tra-
l»ezuntii in perversiouem Problematum Aristotelis a quodam Theodoro
Cage (eine witzig sein wollende Urakehrung für Gaces) editam, et Problema-
tum Aristotelis philosophiain protectio. Zur Orientirung sei lieim^rkt, dass die
Ambrosiana in Mailand dieses Pamphlet des Trapezuntiers in drei Exemplaren
besitzt: G. 66, G. 78, G. 290, fol. 1 — 66.
'•'-) So reizvoll auch die Aufgabe wäre, auf Grund des nach dieser Richtung
reichlich zufliessenden Materials eine Characterschildening Gaza's, des einzigen
intacten Humanisten , zu entworfen, so muss ich es mir doch au dioM'r Stelle
versagen, weil eine solche über den Rahmen dieser Untersuchung hinaus-
greifen würde. Einzelne Aussprüche von Zeitgenossen über die Lauterkeit
seine.s Characters hat schon Ilodius p. 72—77 und 87—04 verbotcnus repro-^
duzirt. Bessarion hatte zu seiner Redlichkeit ein so blindes Zutrauen, dass ei^
iliiii grosse Summen zur Aufbewahrung übertrug, Cortcsius, de Cardinalibus
]). ÖG. Seine vornehme Denkart erkennt man am reinsten aus den sittlichen
Lebensregeln, die er seinem Schüler üemetrius Sgoropulos in einem jetzt bei
Migue Patr. Gr. 161, p. 1012 BC abgedruckten Brief ertheilt. Einzelne kleinere
Züge s. noch l)ei Piatina, Panegyricus Bessarionis, Migue 161, p. 115; Sepulveda,
de correctione auni Opp. p.301 ; Bandini, de vita et rebus gestis Bes.sarionisLVIIL
Selbst der Erzschelm Filelfo athmet eine reinere sittliche Höhenluft, wenn er
an seinen Freund Gaza sdireild, vgl. z. B. dessen Brief an Gaza vom August
Der Humanist Theodor Gaza als Philosoph. 443
Und wer die unstet iimherstreifenden Humanisten des 15. Jahr-
liunderts mit ihren kleinlichen Schwächen und moralischen Ge-
brechen, mit ilirer kriecherischen, schweifwedelnden Unterwürhgkeit
o-egen die Grossen der Erde, sowie ihrem liochfahrenden, aufge-
blasenen Bettelstolz gegenüber Geringeren kennt, der wird es Gaza
nicht hoch genug anrechnen können, dass sein Character inmitten
der erschreckenden sittlichen Fäulniss lauter und intact geblieben
ist. Während uns von den übrigen Humanisten Schandgeschichten
gepfeffertster Art in anwidernder Fülle aufgetischt werden, vernehmen
wir — abgesehen natürlich von dem mit Invectiven durchsetzton
Pamphlet des scheelsüchtigen Neidharts Georg v. Trapezunt — über
Gaza nicht den leisesten Misston, nicht den Schatten einer An-
klaoe. Die zeitgenössischen Berichte überbieten vielmehr einander
förmlich in überschwenglichen Glorihcirungen seines selbstlosen,
niakelfreien Characters. Es hat fast den Anschein, als ob Gaza
nicht blos der einzige wirkliche Philosoph unter den Humanisten
seiner Zeit gewesen wäre, sondern auch der einzige wirkliche
Character!
Sicherlich hat also der edeldenkende Gaza den Streit nicht
muthwillig mit einem Gegner gesucht, der als Virtuose der Ver-
leumdung verrufen Avar. Die wahren Ursachen desselben liegen
vielmehr in der Rivalität Beider um die Gunst des Papstes j^ico-
hius V. Georg v. Trapezunt hatte nämlich Aristoteles' Problemata
und de animalibus übersetzt und dem Papste gewidmet'^''). Doch
1465, p. 174. Zum Schlüsse theile ich noch eine Characterisfik Gaza"s mit,
die, soweit ich sehe, von Niemandem benutzt ist, Paul Cortese, de hominibus
doctis p. 41 f.; ähnlieh p. 55 (bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, duss ich auf
der Bibl. ilagliabecchiana in Florenz, Ol. III, Cod. III, No. 14 einen, inhaltlich
freilich unbedeutenden Brief Gaza's an Paul Cortese gesehen habe). Die Kraft-
stelle bei Cortese lautet: Ego vero sie existimo Theodorum unum e multis
laudandum esse, et in eo primum cum summa philosophia sumraam eloquen-
tiam conjuuctam: nee erat is in eorum numero, qui usurpatione disciplinae,
verbis magis quam vita Philosophiae studia persequunttir. At enim ei in-
genii et eloquentiae sie humanitatis, innocentiae ac omnium virtutum primae
deferebantur .... Jure igitur totius Italiae consensu a doctis est
princeps judicatus.
36) Vgl, Apostol. Zeno, dissertazioni Vossianc II, 10, No. 11 und 15,
sowie die Bemerkung des Autors: I problemi furono traslati anche da Teodoro
444 Ludwig Stein,
Hei diese Uebertragung so mangelhaft aus, dass der- Papst iinbe- ■M-^m
friedigt blieb und (Jaza den Auftrag gab, die gleichen Werke ''"
nochmals zu übertragen. Gaza war vornehm genug, in einer Prae-
fatio seiner üebersetzung so nebenhin wol zu bemerken, dass eine
unzulängliche Uebertragung des gleichen Werkes schon vorhan-
den sei, ohne den Namen Gcorg's zu nennen^"). Darob er-
grimmte nun der missgünstigc Trapezuntier und goss die volle
Schale seines Zorns in jenem an König Alphons gerichteten Pam-
phlet aus. Zwar entfuhren daraufhin auch Gaza einige unsanfte
Zornesausdriicke gegen jenen ^^), aber er watete niemals gleich
seinem Gegner bis au die Knöchel im trüben Schlamm der
Invective. Als er vielmehr einige Jahre später sich gleichfalls an
König Alphons mit einer Widmung wendete"), schlug er jenen
l'ormvollen, vornehm reservirten Ton an, der seinem Naturell ge-
mäss war.
Am Hofe Nicolaus' blieb nun wol Gaza Sieger, sofern Georg
weichen musste, aber wir merken nichts von seiner Siegesfreude,
wenn er auch durch die generöse Freigebigkeit seines päpstlichen
Gönners der kümmerlichen Sorgen des Alltags enthoben war und
in behaglichen Verhältnissen lebte'"'). Seine geistigen Productionen
aus dieser Zeit bekunden wenigstens keine .sonderliche Frische.
Gaza a concorrenza dell' alfro; ed ecco i prirni semi della discordia fra loro
insorta.
") Zeno 1. c. II, 11 und 20; Fabricius, Bibl. Gr. IX, l'J5. So stellt auch
Neoraagus in der Einleitung seiner Ausgabe der Dialectica des Georg von
Trapezunt den Beginn des Streites dar. Aergerlich mag es dem neiderfüllten
Traiiozuntier schon gewesen sein, dass man den weniger bekannten Gaza als
seinen Nachfolger nach Florenz berief, A'oigt 1, 370 und II, ItiO.
■'*'') So titulirte er den Trapezuntier z. B. llopvoßo'ax');, vgl. J. Mähly,
Angelus Politanus S. 139; Papencordt, Gesch. cl. Stadt Rom S. 509.
•*") l)iesc Widmung bewahrt die Ambrosiana in Mailand, D. 118, p. 161
bis 163: Theodori Gazae Thessalonicensis ad Alphonsum regem praefatio
in orationes de incomprehensibili dei natura, divi Joannis Chrysostomi,
fjuas e Gracco in Latinam vertit.
*") Die ziemlich verbreitete Ansicht, als habe Gaza wegen seiner Unbe-
holfenheit in finanzieller Beziehung sein Lebenlang am Hungevtuche genagt
— vgl. z. B. Brucker, historia critica philosophiae IV, 65 — ist stark über-
trieben, wie wir später sehen werden.
Der Humanist Theodor Gaza als Philosoph. 445
Ausser den obengenannten Uebersetzungen vun aristotelischen
Schriften hat er damals noch eine griechische Uebertragiing des
bekannten Sendschreibens von Nicolaus V au den byzantinischen
Kaiser Constautinus Palaeologus angefertigt^'), wie er sich denn
überhaupt auch mit der Uebersetzung lateinischer Werke ins
Griechische befasst hat.
Bald rausste Gaza wieder zum Wanderstab greifen. Nach dem
Tode seines Beschützers Nicolaus V (1455) war seines Bleibens in
Rom nicht mehr. Er hatte jetzt keinen Mentor, und die Hu-
manisten führten eben ein Dasein wie die Zugvögel, die beim
Eintritt der rauhen Jahreszeit in südlichere Klimate wandern. Da
mit dem Tode Nicolaus" am päpstlichen Hofe ein rauheres geistiges
Klima entstand, richtete Gaza seine Blicke nach dem neapolitani-
schen Musenhofe, wo König Alphons mit feinsinniger Auslese eine
Gelehrtenschaar um sich sammelte, so dass hier ein frischer litte-
rarischer Frühlingshauch wehte.
Die Fühlfäden, die Gaza in seiner schon genannten Wid-
mungsschrift an König Alphons nach Neapel richtete, trafen auf
empfänglichen Boden. War er doch von allen Seiten, so von
seinem früheren Collegen in Ferrara, Joh. Aurispa, sowie von
seinem treuen Freund Filelfo nach Neapel glänzend empfohlen!
Der König empfing ihn mit einem Wolwollen, wie es sich bei
einem so grossdenkenden Manne gegenüber einem so gefeierten
Gelehrten von selbst verstand. Filelfo beglückwünschte den König
■") Die Uebersetzung dieses bekannten Briefes, jetzt abgedruckt bei
Migne 160, p. 1201 — 1212, erwähnt Gaza bereits in einem an seine in Con-
stantinopel wohnenden Brüder Demetrius und Andronikus gerichteten
Briefe vom November 1451 (datirt h poj[J.T) voEtxßpi'o,) [xr^vi xoü ctuva"*^ etou?).
Dieser Brief, ein Autograph Gaza s, in welchem er seine Brüder zur Eintracht
mahnt und die Hochherzigkeit des Papstes Nicolaus V. preist, befindet sich
in der Vaticana Gr. 1393 (darüber Nolhac, la biblioth. de Fulvio Orsino, Paris
1887, p. 146')- Eine Abschrift desselben sah ich auf der Marcelliana in Ve-
nedig, Cl. II, Cod. 03, p. 'J5— 97, Ueber Gaza's Kückühersctzmigen in's Grie-
chische, vgl. Fabricius, Bibl. Gr. IX, 195ff.; Hodius p. 70. Erwähnt sei bei
dieser Gelegenheit, dass sich Gaza's griechische Uebertragung von Cicero 's de
senectute auch in Lyon Cod. 52 findet, vgl. Omont, Catal. des manuscr. gr.
des departements, Paris 188(i, p. 42.
446
Ludwig Stein,
zu (lieser glänzenden Acquisition'''). Gaza stand jetzt auf der
Zinne seines Ruhmes. Der Sekretär des Königs, Antonius Panor4
mita, entwirft eine begeisterte Schilderung von der fruchtbaren
Thätigkeit Gaza's in Neapel ■*■'). Der llofdichter Pontanus versteigt
sich gar /u einem Epigramm, in welchem er in der verhimmelnden
Manier der Zeit die Verdienste seines Collegen feiert*'). Freilich
haben sich feste Spuren seiner Thätigkeit in Neapel nicht erhalten.
Es muss doch w^ol vorwiegend seine Uebersetzerthätigkeit gewesen
sein, die er ja in reichstem Masse entfaltete ^ ^), die Alphons fesselte,
J'O Vgl. Filelfo'.s Brief an Alphons vom Oct. 1456 lib. XIV, p. 95a:
accessisse audio Theodorum Gazen: non possum uon laetari tibique plurimum
gratulari. Ilabes eniin viruin , quo nemo est, in iiniverso graecorum genere
nequc docfior nee eloquentior nee niodestior. Auch nach Neapel hatte Filelfo
griechische Briefe an Gaza gerichtet, in welchen er das Lob des Königs
Alphons mit bombastischer Ueberschwenglichkeit kündet, vgl. Cod. Wolfenb.
fol. 20 und 21b. üeber Gaza's Anfnahme in Neapel berichtet Barth. Facius,
de viris illustribus, Florenz 1745 ed. Mehus p. 27: vgl. auch Tiraboschi 1. c.
VllI, 1191.
^^) Im Auszuge ist dieser Brief raitgetheilt bei Hodius p. 62.
**) Dieses Epigramm theilt Hodius p. lUO mit.
^^) Auf die reiche Uebersetzerthätigkeit Gaza's, die sich vorzugsweise auf
naturwissenschaftliche Werke der Griechen, insbesondere des Aristoteles,
erstreckte, kann ich hier natürlich nicht eingehen. Seine Uebersetzungskunst
galt lange Zeit unangefochten als Muster, vgl. z. B. Ermolao Barbaro (über
den Gaza einen bei Zeno, Diss. Voss. II, 367 citirten bemerkenswerthen Aus-
spruch gethan hat) in den Epp. Angeli Politiani p. 548 ed. Basel; Iluetius,
de claris interpretibus p. 219; Erasmus im Ciceroniano p. 160; Poggio, ep.XlI
(bei Voigt II, 188). Unter den Neueren urtheilt Bernhardy, Gesch. d. gr.
Lit. I, 503, 512, dass Gaza sich zuerst dem Genius des lateinischen Ausdrucks
anzuschmiegen verstanden habe. Gaza hatte eben eine philologisch -kritische
Methode, über die uns sein Ammanuensis, Gupalatinus. interessante Aufschlüsse
gibt, citirt bei Hodius p. 68. Frcilicli iiat es auch ihm nicht an Verklcinerern
gefehlt, wie z. B. Scaliger und Angelas Politianus, Miscelianea, cap. 90; Vossius,
Inst. rhet. lib. IV, cap. '.'>. Diese Krittler hat über Leo Allatius, de monsura
feinporum cap. XIX, j). 233 gebührend abgefertigt. Erwähnt mag übrigens
werden, dass Gaza für König Alphons auch militärwissenschaftliche
"Werke in's Lateinische übertragen hat, vgl. Barth. Facius, de viris illustribus,
ed. Mehus, Florenz 1745, p. 28. Med i ein is che Kenntnisse muss Gaza gleich-
falls besessen haben. Das geht nicht blos mittelbar aus seiner Neigung zu
den naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles hervor, sondern erhellt
auch unmittelbar aus seinem Epitaph (oben Note 25), wo er als Medicus
Der Humanist Theodor Gaza als Philosoph. 447
da die selbständigen Werke Gaza's, besonders die philosuphischen.
wie wir bald sehen werden, nachweislich einer späteren Zeit ent-
stammen.
Der Tod seines königlichen Beschützers Alphons (1458) bringt
ihn wieder in die Zwangslage, sich nach einem neuen Heim umzu-
sehen. Zum Glücke wendet ersieh an den Kardinal Bessarion,
mit dem er bis dahin wol nur ganz lose Beziehungen hatte, ja viel-
leicht nur litterarisch bekannt war. Denn der Einladungsbrief,
in welchem der treftliche Gelehrte und noch trefflichere Mensch
Bessarion, der ein im Verhältniss zu seinen bescheideneren Ein-
künften grandios zu nennendes Maecenatenthum ausübte^"), Theo-
dor Gaza bittet seine Gastfreundschaft anzunehmen ^')^ verräth
einerseits durch seinen fremden, formvollen Ton, dass damals noch
kein Freundschaftsverhältniss zwischen beiden Männern bestand,
während er uns andererseits durch die Erwähnung einiger Ueber-
setzungen Gaza's einen Fingerzeig gibt, dass er 1458, kurz nach
dem Tode des Königs Alphons, geschrieben sein muss. Gegen
Ende des Jahres 1458 muss Gaza wieder in Rom eingetroffen und
dem Kardinal Bessarion sehr bald freundschaftlich nähergetreten
sein. Denn als dieser kurz darauf (1459) als päpstlicher Gesandter
nach Deutschland reiste, richtete Gaza an ihn bereits eine Epistel,
die auf der einen Seite ein vertrauteres Verhältniss voraussetzt,
während sie auf der anderen beweist, dass Gaza's Lebensunterhalt
erscheint. Uebrigens sagt auch Gaza's Zeitgenosse und Freund Facius, 1. c.
p. 28 von Gaza: Praeter haec phiiosophiae doctus Medicinae quoque operam
dedit, ex quo et inter physicos non immerito referendus videtur.
«) Voigt, II, 129 f.
*') Dieser Brief ist jetzt abgedruckt bei Migne 161, p. 685. Die Schluss-
worte lauten: ab os [ji>] -/.aTaxEivo'j CTjTöiv, ö%z^ äv xpotp?]? £'J7:opotr)?, [J-Tjoev epp-rj-
veüwM- xd yctp T;[Ji£X£pa xat sol -/.oivce xczl et (AetaßTivai xoi'vuv oo^eie,
[iri -p6? ctUov, dXkä Trpö; -'fip-öi', ixtTd^rfii. Dieser Brief kann nur 1458 ge-
schrieben sein; denn er setzt die Anknüpfung eines Verhältnisses voraus.
Allein bei Gazas erstem Aufenthalt in Rom (1450—55) befand sich Bessarion
gar nicht da, sondern in Bologna (vgl. Voigt II, 129); die Anknüpfung muss
daher später erfolgt sein, zumal Bessarion im gleichen Brief Gaza schon als
üebersetzer der Problemata lobt, welche üebersetzuug er ja am Hofe Nico-
laus V. angefertigt hat. Dass Bessarion aber 1458 in Rom war, ersieht mau
aus einem Briefe Filelfo's an ihn, p. 102 a.
448 Ludwig Stein,
damals ausschliesslich von Bessarion bestritten wurde**). Jeden- B*'*"^'
falls steht es fest, dass er 1459 sich bereits in Rom aufhielt undB^'^''
seiner gewohnten Thäligkeit oblau; da ein Brief Fi lelfo's von Ja^
nuar 1460. in welchem er ihn auffordert, genauen Bericht üiierj""'*'
sein Ergehen zu erstatten, sowie die Uebersenduug seiner Ueber-
setzung der Prüblemata zu beschleunigen'"'), Gaza's Aufenthalt in
Rom voraussetzt. Und als Bessarion von seiner Gesandtschafts- M^
reise im Laufe des Jahres 1460 heimkehrte'"), da begann, wahr-
scheinlich auf Anregung Bessarion's, jene philosophische Fehde, der
wir eine stattliche Reihe von (noch ungedruckten) philosophischen
Abhandlungen Gazas verdanken. M^^
Der Verlauf dieser philosophischen Fehde ist bisher weder
ihrem inneren Gehalte nach, noch in der Zeitfixirung richtig dar- M*^^
gestellt worden. Die meist ungedruckten Schriften lagen wie eiaiB*^
Knäuel da, dessen Entwirrung nur schwer von Statten ging. Denn
selbst die beiden gedruckt vorliegenden Werke: Georgs v. Tr.
Comparationes Philosophorum Aristotelis et Piatonis, sowie Bessa-
rions adversus calumniatorem Piatonis, in welchen dieser herb-
geführte Streit zum Austrag kam, waren in Bezug auf ihre Ab-
fassungszeit bisher strittig. Die Behauptung Alexandre's nämlich,
Trapezunt's Werk müsse 1458 verfasst sein, weil er in demselben
von dem seit drei Jahren todten Plethon spricht''), hat neuerdings
am
mv.
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tef
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**) Dieser Brief Gaza"s ist noch ungeflruckt, aber in mehreren Bibliotheken
\orhanden: so Vatican. Gr. 1393 f. 4ö; Ambrosiana in Mailand D. 118f. 42;
Marcelliana in Venedig Cl. IV, Cod. 52; Lauentiana in Florenz, Plut. LV, 9.
fol. G5. Der Brief beginnt: "Hotj (ausgef. tyjv?) Ispot'v a>jv xetpaAyjv iv KEXroTfilÄil!
thai, xat üytctt'vo'jaav TrpdtTEtv zu di xoivtjv auvTefvovxa ojcp^Xeiav 7)yo'J|x£vo; 7]6ojj.at.
Die Andeutung, dass Bessarion b^ KeXtoTc sei, lässt veriuuthen. der Brief sei 1459
geschrieben, da sich der Kardinal damals auf einer Gesandtschaftsreise befand,
vgl. Bandini, vita Card. Bess. bei Migne 161, p. 28. Das vertrautere Ver-
hältniss zeigt u. A. folgende Stelle dieses Briefes: ifia 5e otatpißw [jev eti h
'P(ü|j.ifj, axo~ä) oTj [1. oe] ijiETOiijrjvat jtou, £vöa|i.oiöß(oi; EOTat örn' £XaT-dv(uv"
*^ Philelph. P:pisf. lib. XXV, p. 109a.
'''') Anfangs 1461 war der Kardinal nachweislich wieder in Rom, Bandini
bei Migne, 161, p. 32.
^') Alexandre, praefatio ad Plethonem de legibus, jetzt bei Migne 160,
p. 806. Der sonst gut orientirte Fritz Schulze, Georgius Gemistos Plethon
Der Humanist Theodor Gaza als Philosoph.
449
unverdienten Anklang gefunden. Dieses Datum führt nämlich voll-
ständig in die Irre und stellt die Chronologie der philosophischen
Werke auf den Kopf. Glücklicherweise lässt sich jetzt diese Streit-
frage entscheidend beantworten. Aus einem unbeachteten Brief-
wechsel Filelfo's ist nämlich der unanfechtbare Beweis 7ai er-
bringen, dass die Abfassung der Schrift Trape/Aint's in das Jahr
1464 und die der Gegenschrift Bessarions in 1469 zu setzen ist^*).
Der oßenen Feldschlacht zwischen dem Trapezuntier und Bes-
sarion war zuvor ein stilles Geplänkel zwischen Bessarion und Gaza
vorangegangen. Gaza war unbedingter Verfechter des Aristoteles
und damit, im Sinne der Zeit, von selbst ein Gegner Platon's;
Bessarion hingegen vertrat einen mehr eklektischen Standpunkt,
sofern er die Gegensätze zv^^ischen Plato und Aristoteles möglichst
zu verwischen suchte. Aus diesem eklektischen Bestreben ent-
sprang in Bessarions philosophischem Gehaben eine gewisse Zwei-
deutigkeit, die nicht unbemerkt blieb ^■*). Eine würdige, sachkun-
S. 106 nennt diese Combiuation Alexandre's eine scharfsinnige. Dass aber
aller Scharfsinn Alexandre \s an der Macht der Thatsachen abprallt, wird die
folgende Note zeigen.
''^) Das ganze Kartenhaus der Combination Alexandre's baut sich auf den
Umstand auf, dass Georg's Schrift 1458 vertagst sein müsse, weil er in
derselben von dem seit drei Jahren todten Plethon spricht; dieser aber
könne spätestens 1455 gestorben sein. Abgesehen nun davon, dass inzwischen
gefundene Documente Plethon's Tod um geraum zwei Jahre zuriickrücken (vgl.
Schulze a. a. 0. S. 106), ist die luftige Hypothese Alexandre's, Georg's Schrift
sei 1454 verfasst, an sich ganz unhaltbar. Denn gleich beim Erscheinen
dieser Schrift schreibt Filelfo im August 1465 (lib. XXVI, p. 175) an Georg
von Trapezunt: Praeterea audio te quaedam scripsisse pro Aristotele
eontra Plethonem. Non parvam rem esse puto. Bessarions Gegenschrift
hinwieder muss 1469 verfasst sein, denn Filelfo schreibt im October
1469 (lib. XXXI, p. 214) einen überschwenglichen Dithyrambus au Bessarion,
in welchem er ihn zu seinem soeben erschienenen Werk gegen den „male-
dictum" Georgium Cretensem beglückwünscht! Diese Streitfrage wäre somit
geschlichtet.
^^) Eine gewisse Zweideutigkeit im Verhalten Bessarions gelegentlich des
Plethonstreites hat schon der anonyme Uebersetzer der schon besprochenen
Boivin'schen Abhandlung in den Actis philosophorum X, 559 bemerkt. Dieser
Ansicht tritt auch v. Stein, 7 Bücher zur Gesch. des Piatonismus, III, 128 bei,
wogegen Prantl, Gesch. d. Logik IV, 156 die Stellung Bessarions ganz schief
auffasst. Thatsächlich liegen die Verhältnisse so, dass Bessarion kein fanati-
450 Ludwig Stein,
füge Vertretung des Aristotelismus im Gegensalz zur einseitigen
Hervorkehruug des Platouismus, wie diese von Seiten Plethons,
des Lehrers Bessarious, erfolgt war, mag Bessarion nicht unwill-
kommen gewesen sein. Und so dürfte er denn seinen Freund Gaza,
den begeisterten Aristoteliker, ermuntert haben, in einer Abhaiul-
liing seine Ansichten darüber niederzulegen, ob die Natur nach
Aristoteles mit Zweckbewusstsein und Ueberlegung handle.
Diesem Wunsche willfahrte nun Gaza in seiner ersten, Plethons
Ausführungen bekämpfenden philosophischen Abhandlung: 'Oxi t;
cpuaic ßouXcUE-at, die Anfangs 1461 entstand '■"). Ä^^iti
Auf Gaza's Abhandlung antwortete nun Bessarion noch im 'ii"
gleichen Jahre in einer kleinen Schrift: De natura et arte, in i »"ti
welcher er sich unter voller Schonung des Stagiriten doch in dieser
Frage Plato annäherte"). Wesentliche, tiefer greifende Unter-
schiede zwischen Plato und Aristoteles, fiilirt hier Bessarion aus,
Hessen sich ja doch nur in der Ideenlehre coustatiren; aber diese
sei in ein Dunkel gehüllt. Es sei nicht klar, ob den Ideen auch
ein gesondertes Dasein (/(uoiatov) zukomme, und wenn dies der
Fall, ob sie an sich seien oder nur im menschlichen Verstände
cxistirten ^^).
I
*
scher Parteiraann des Plethuu war, vielmehr auch Aristoteles volle Gerechtig-
keit widerfahren liess. Um nun die schwebenden Streitfragen seinerseits klären
zu helfen, mag er Gaza angeregt haben, für die philos. Vertheidiguug des
Stagiriten einzutreten.
•*) Diese anuoch ungedruckte Alihandhing befindet sich in zwei Biblio-
theken: Vatican. Gr. G. 1098 f. •_'1.5; Ambrosiana D. 118, fol. 155— l.ö'J; nach
letzterer citire ich. Auf den Inhalt dieser philosophischen Abhandlung gehe ppiis
ich hier nicht ein, da ich sie in der zweiten Hälfte dieser Untersuchungen
zum Abdruck bringen und philosophisch würdigen werde. Dass dies die
erste philosophische Abhandlung Gaza\s war, ergibt sich sowohl aus ihrem
Inhalt, wie aus dem Verlauf meiner Darstellung von selbst.
") Diese Schrift Ressarion's, die wol ursprünglich die Form eines Briefes '
an Gaza haben mochte (auf der Bibl. Barberiniana in Koin I, 84, alte No. 399 ,
sah ich nämlich diese Abhandl. Bessarion's unter der Form: Epistola ad j
Theodorum Gazam, cujus argumentum, quod natura considto agat) ist in er- j»
weiterter, den Trapezuntier bekämpfender Fassung abgedruckt als liber sex- )
tus (p. 105—111 der Aldine von 1503) der Gegenschrift Bessarion's: In Ca-
lumniatorem Piatonis.
^*) Bessarion, in calumn. Plat. VI, p. 105a: Quo tjuidem in loco maxima
Der Huiuanist Theodor Gaza als Pliilosoiili.
451
Diese Andeutung Bessarions griff nun Gaza auf, indem er in seiner
umfangreichsten, 'AvTifjp-/)T'.y.oy betitelten Abhandlung '^), a usgehend
von dem eben entwickelten Gedankgang Bessarions, der
Ideeulehre nähertritt und die Einseitigkeiten Gemistos Plethons, der
ad majorem Piatonis gloriam eine Verkleinerung und Herabwür-
digung des Stagiriten vorgenommen hatte, in eine etwas scharfe,
vielleicht allzAischarfe Beleuchtung rückt.
Jetzt hatten natürlich die Piatonfreunde wieder das Wort.
Und wie es im aufgeregten Kampfesgewühl zu ergehen pflegt, dass
nicht die Berufensten, sondern die lautesten Schreier die übrigen
mit ihrer Stentorstimme übertönen, so erging es auch hier. Platou's
Partei wurde von einem unreifen Jüngling, Michael Apostolius, er-
griffen'^), der in einem bramarbasirenden Keiftone gegen Gaza
losfuhr und Plethon masslos verherrlichte. Der vorwitzige Streber
meo jiidicio infer Platonem et Aristotelem diFferentia est. Tlinc perdiffi-
cilis illa et perobseura de ideis quaestio oritur, etc. Aehnlich forraulirt
Bessarion diesen Gedanken in einem (noch nngedrnckten) Briefe an .Joli.
Argyropolus, den die Lanrenliana (bei Bandini, Cod. Gr. II. 275,1) bewahrt:
e{ Evia Twv £toiüv thi /(upiaxa, r^ z-ivrfj äytöpiaxa ; v.a\ et -/tupiaTc«, -oTspov xcd)'
o'j-r'). 'j'xieaTTjxoTci, r^ h iTitvotcti; v.züj.v/a;
^0 Gaza's 'Av-ciöprjtr/ov, die philoso])hisclie Hanptschrift, die diesen Sturm
eigentlich entfesselte, ist noch ungedruckt; sie befindet sich auf der Yatican.
Gr. C. 1393 fol. 10; Ambrosiana R. 111 und D. 118 fol. 1—28; Laurentiana in
Florenz, Plut. LV, Cod. 13, 2 (ich citire nach dieser ndschr.). Die Anfangs-
worte von Gaza's 'AvxtpprjTixöv schliessen sich unverkennbar an die in voriger
Note mitgetheilten Worte Bessarion's an: ErpT|TC(t Brjaac«ptiuvi . . . tö? iXmsziz
(jiEv i'X/.a TE xüJv STTO'JoatOTipiov (}£a)pT|,aaT(uv svTE'Jieaö^t .... ~ip\ sioAv, st
Ivia -/(upiara v; -ctvTT; d/cüpiaTOt; v.oX zl -/wpiaxc«, rroTspov y.oti}' a'ka b'£Z-
OTw-rct, ri xEtVeva h srtvoi'at;- <xrfih ok E'jpot toioöto, akU Xotoopi'a; <j.ovov vM
a/.wp.ij.aTa 7,tX.
^8) Das Pamphlet des Mich. Apostolius gegen Gaza, gleichfalls ungedruckt,
findet man ziemlich häufig; so Bibl. Palatina im Vatican No. 275; Bibl. Bar-
beriniana I, 84 neu, 399 alt (dasell)st No. 20G, I, 90 auch 11 Briefe des
Apostolius); Ambrosiana M. 41 fol. 90-97 und 95 fol. 1—7; Laurentiana Plut.
LVIII, Cod. 33, fol. 91—96 (nach welcher ich citire). Dass diese Gegenschrift
sich gegen das 'Av-ippTjTixöv Gaza's wendet, ersieht man u. A. auch daraus,
dass Apostolius an die Worte Gaza's über die Schmiihsucht (Xotoopfa) anknüpft,
indem er wie fulgt beginnt: "Eo£t fl^itcova, E'fcsp ccj-oj 'ApiOTOXE^-rj? o'jx ipSw;
iU-Azi Tiepl o'jata; [hier fehlt wol zlr-zh]. i/iY/eiv -A Xrcoaevc« -^ccjho; .TEtp'iiHcd,
iDA |j.Tj ?. 0 10 opElifta t xävopi.
452 r, ml wig Stoin.
glaubto tlurch dieses Pamphlet Wunder ^vie hoch iu Bessarions >
Gunst zu steigen, aber er erfuhr von diesem eine völlig verdiente,
ganz ungewöhnlich herbe Zurückweisung. Auf Apostolius Schmäh-
schrift, die Gaza selbst vornehm ignorirte, antwortete nämlich
dessen vertrauter Freund*'), Audrouicus Callistos, der die De-
batte aus dem Schlamm der persönlichen Invective hinaushob in
die Bahn reinsachlicher, strengphilosophischer Polemik. Und als
Bessarion herausgefordert wurde, sein Gutachten über Andronicus'
Schrift abzugeben, da antwortete er in einem längeren, höchst
lesenswerthen Schreiben, dessen Datum uns einen festen Anhalts-
punkt für die Fixirung des Zeitpunktes dieser philosophischen Streit-
frage bietet''"). Dieses Schreiben lautet für Apostolius geradezu
vernichtend.
Der Zwischenfall mit Apostolius war damit erledigt, nicht so
das Geplänkel zwischen Bessarion und Gaza. Bessarion schrieb
nämlich noch eine kleine, w^ie es scheint, verloren gegangene oder
iu seinem Buche Adversus calumniatorem Piatonis mitverarbeitete
Abhandlung: 'IVsp riÄarwvoc Trspl cifj-apjjLSvrp. in welcher das Problem
des Determinismus zur Verhandlung kam. Darauf antwortete Gaza
wieder in einer tiefgehenden, scharfsinnigen Schrift: rispl izouai'ou
X7.1 'z/'/ucj'Vju. in welcher er den aristotelischen Standpunkt schärfer
. ^ä) Die vertraute Freundschaft mit Aiulronicus erhellt aus den Briefen
Gaza's an denselben , welche die Laurentiana Plut. LV, Cod. 9, f. 63 — 65 auf-
bewahrt. So redet er ihn beispielsweise im zweiten Brief, fol. 64 an: cpiXtctTS
äo£?/f£ yjript. Diese Briefe hat auch die Vaticana Gr. 13'J3, f. 4.5 und die Am-
brosiana D. 118, fol. 36—38. Die Yertheidigungsschrift des Andronicus (wegen
seines eifrigen Aristotelisiniis auch Andronicus Peripateticus genannt) ist sehr
selten.
^") Diesen Brief Bessarion's. datirt aus den Bädern von Viterba 19. Mai
1462, hat zuerst Boivin 1. c. iu französischer Uebersetzung publicirt, p. 720
liis 724. Sodann hat die franz. Akademie in einem kleinen Auszug, histoire
de l'academie royale etc., Amsterdam 1731, Tom. II, 45.')— 464, den griechischen
Text mit lateinischer Uebersetzung herausgegeben. In diesem Brief behandelt
er nun den sich an ihn hcranschmeichelnden Apostolius wie einen ungezo-
genen Schulbuben. In der gleichen Angelegenheit schrieb Nicolaus Secundi-
nus einen gleichfalls aus Viterba Juni 1472 datirten Brief an Andronicus
Callistus (jetzt abgedruckt l)ei Boissonade, Anecdota Graeca V, 377 — 387),
der einen begeisterten Dithyrambus auf Gaza's Charaktereigenschaften an-
stimmt.
Der Humanist Theodor Gaza als Plülosoph.
458
Ihervorkehrte und namentlich die Scheidegrenzen gegen Plato
I schroffer zog. ^
Zu einer vierten philosophischen Abhandlung wurde Gaza
lendlich veranlasst durch eine kleine (noch ungedruckte) Schrift
Bessarious: Ilpoc -ä HXr^öuivoc -poc 'xYpiaxotsX-/; Tspt ouatac, in
welcher der Substanzbegriff Plethon's erörtert und der Nachweis
unternommen wird, dass zwischen Plethon und Aristoteles im letz-
ten Grunde nur eine Wort Verschiedenheit, keine Sachdifferenz in
Ider Fassung des Substanzbegriffs bestehe"'). Darauf replizirt nun
Gaza in einer scharfen Auseinandersetzung in Dialogform: Bcoowpou
upoc nXrjilwvot uTtsp \\^A(j-rj-iloo;^'). Hier weist nun Gaza die
^') Die Abhandlung Gaza's über die Willensfreiheit (FIcpl ixo-j^io-j xat
Idxo'jato'j) , gleichfalls ungedruckt, findet sich mehrfach: Vatican. Gr. 1393
Ifol. 34— 39; Bibl. Reg. Svec. im Vatican Cod. C. 164 f. 25; Marciana in Ve-
Inedig, Cl. XI, Cod. 18; AmLrosiana in Mailand D. 118, f. 149-154; Lauren-
Itiana in Florenz, Plut. LY, Cod. 9, fol. 49— 57 (nach dieser citire ich). Die
lAnalyse dieser interessanten, wol originellsten philosophischen Schrift werde
lieh in der zweiten Ahtheilung dieser Abhandlung bieten. Hier will ich nur
Inoch den Nachweis liefern, dass auch diese Schrift Gaza"s auf eine vorauge-
Igangene Bessarion's Bezug nimmt. Fol. 55a sagt Gaza nämlich folgendes:
IxaXÄs 8e xat BrjGaafuuvt nü [epap/T] h toi? ÜTisp FIXaTuivo; ^oyoi; zEpl £[[j.ap-
|(jL^vrj; H'fo^Ti. 5[j.a ~6 -zz r/.o'iaiov y.ai tö c'iaappivov '^'jXa-T£Tc<[. Eine Schrift
Ißessarion's über Piatons Begriff der Et|j.ap|j.^vr| hat sich jedoch nicht erhalten;
Isie ist vielleicht in sein Werk „in Calumniatorem Platonis" hineinverarbeitet
porden, da ja Bessarion hierin alle seine i)hilosophischen Leistungen zu-
[sammengefasst hat.
•^0 Diese vierte philos. Abhandlung Gaza's findet sich meines Wissens
Inur in der Ambrosiana in Mailand, D. 118, f. 125—129. Dass sie die letzte
Isein muss, erhellt daraus, dass Gaza hierin auf seine früheren Arbeiten, beson-
ders auf das 'AvTtpp7jTi7.6v und Flspt twj'slo'j schon Bezug nimmt. Die Schrift
hat die Form eines Dialogs zwischen Plethon und Gaza, und kommt zum Schluss
Izu folgendem Ergebniss (fol. 129): xal £Xa[j.7ipävctat (lxXot[j.-p'jveTaty) t6 toü OXct-
Ixüjvo;, ö'xt [i^po? oXou ivezct, ouy oXov [/.epous evexa aTcepydCs"«' ö ^eo; • TOiaüia
'. xat 'Apia-roxar,? TioXXctxts Xifzi xai ßeXxtov. Diese den Begriff der Substanz
Ibehandelnde Schrift nimmt offenbar Bezug auf eine (noch ungedruckte) Ab-
handlung Bessarious, die ich in der Laurentiana Plut. X, Cod. 14, fol. (59 ge-
funden habe, betitelt: Brjasapt'cuvo; Tipö; xot llX-fjüiovo? Tipo; 'AptaxoxEXv] Trspl ob-
jaici;. Auch hier bildet der Substanzbegriff den Ausgangspunkt, und Bessariuu
kommt daselbst (fol. 70) zu dem echt eklektischen Schluss: AptüxoxeXrj /.ai
IlXcttiuva, xaüxöv o' d-ti^ y.a\ nX/il)iovc(, -zoli vo7jp.cc5t OEiiat a'j[i.'Jcüvouc, xav ^Tj-
JjAaai otEVfjvd/axov. Uebrigens mag diese Abhandl. Bessarion's schon älteren
454 Ludwig Stein,
Trenimnusliinen zwisclieu Platouismus und rcinenl Aristotelismus
mit feinem Verstiimliiiös aiil'. i)ieses KreuzfeutM- von philosophi-
schen Repliken und Dupliken muss sich 146B — 1464 in Rom ab-
gespielt haben, da Nvir Gaza 1405 bereits als Pfarrverweser in
(alabrien antreflen.
Man hat- freilich viel gefabelt von einem längeren Aufenthalte
Gaza's auf einer kleineu, ihm von Bessarion übertragenen Pfarre
in Calabrien *'^), ohne sich über das Wo, Wann und die Zeitdauer
dieses Aufenthaltes klar zu werden. Ueber das Wo hat man sich
nach einer Veröffentlichung des Pietro Marcellino '^^) jetzt geeinigt;
es war dies die Pfarre S. Giovanni a Piro in Lucanien. nur un-
eigentlich Calabrien genannt. Aber auch das Wann lässt sich
leicht ermitteln. Man hat nämlich übersehen, dass in drei Briefen
Filelfo's dieses Aufenthaltes Erwähnung geschieht. Hält man nun
die Daten dieser Briefe zusammen, so springt sofort in die Augen,
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Datums sein, da Gaza auf dieselbe, wie es scheint, sclion im 'Avttppr^Ttxöv <|j,i,^
Rücksiclit nimmt; er spriclit da uäralieh von einer Schrift Bessavion"s: ^v toTc
'jTCEp nX'/Tcovo; Aoyot;. Ueber etwaige weitere philoso))hisehe Schriften (iaza's
gilt Folgendes. Die Vaticana ('. 13o4. tVd. 98 besitzt noch von Gaza: 'Atostj-
(nirgenils erwähnt); die Ambrosiana I). 118, fol 14o— 147 und J.88, fol. 07— 71
besitzt von Gaza: Xüai; drö cpiuvT]; (ein Excerpt, gleichfalls nirgends erwähnt).
Isaac Vossius berichtet noch von einer Schrift Gaza's: de fato (vgl. Hodius
p. 80); diese ist jedoch wol identisch mit Gaza's Trepi exo'jaicj. .Jene Abhand-
lung Gaza's de anima, die der ziemlich unzuverlässige Allatius l)ei Jligue
161, p. 1)72 erwähnt, ist sicherlich nur eine Verwechslung mit der gleichna-
migen Abhaudl. des Aeueas Gaza.
ß3) Die unsicher tastenden ?>ericlite über Gazas Aufenthalt in Galabrien
vgl. bei Hodius p. 62. .Jovius p. (i2 berichtet: sacerdotium in Magna Graecia
commeudante Bessarioue ju-omeruit, quod certe satis esset moderato frugique
homini.
''^) Es war die Abtei S. Giovanni a Piro in Lucanien, an der Grenze
von Calabrien, daher kann mau nur uneigentlich von einem Aufenthalt in
Magna Graecia sprechen. Pietro llarcellino berichtet in seiner Geschichte
dieser Abtei: Capitoli fatti et ordinati per lo Magnitico Messer Teodoro Greco
Procuratore et Fattore generale in lo Monastero di S. Giovanni de Piro
nomine e pro parte dello Rev. Monsignore lo Cardinal Greco . . . sub anno
Domini 146(;. Auf diese interessante Thatsache liat zuerst Tiraboschi 1. c.
YIII, 1194 s(|. aufmerksam gemacht. Das hier geiumnte Datum (1466) stimmt
genau mit dem von mir gefundenen und gleich mitzutheilenden.
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I
i
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Der Humanist Theodor Gaza als Pliilosopli. 455
dass Gaza nur in den Jalwen 1465 — 1467 auf seiner Pfarre ge-
weilt haben kann*').
In den nächstfolgenden Jahren widmet Gaza seine Thätigkeit
weniger dem Dienste Bessarions, mit dem sich das freundschaftliche
Verhältniss durch die philosophische Polemik vielleicht etwas ge-
lockert hatte ®'^), als vielmehr dem Bischof Joh. Andreas von Alaria.
Man hat nämlich noch nicht bemerkt, dass Gaza 1468/69 mit
diesem Bischof gemeinsam eine textkritische Durchsicht sämmt-
licher Werke des Plinius vorgenommen hat "). Aber auch in
den nächstfolgenden Jahren bis zum Tode Bessarions (1472)
finden wir Gaza stets in gemeinsamer Thätigkeit mit dem Bischof
von Alaria, wie man aus einigen Briefen Filelfo's entnehmen
") Im August 1405 schrieb ihm Filelfo (üb. XXV, p. 174): Nunquam tu
sane in Lucauiara concessisses rusticatum, si sapientissimus ille pater ac
idem (j.£yaXo7:p£7:£axaTOs, Nicolaus V, pontifex maximus, esset in vivis. Im
October 1467 aber gratulirt Filelfo seinem Freund Gaza zu seiner Rück-
kehr nach Rom (IIb. XXVIII, p. 109b) und bemerkt scherzweise, er habe
befürchtet, Gaza sei in Calabrien so verbauert, dass er auch die Musen in
Getreide umgewandelt hätte. Aehnlich schreibt Filelfo im Januar 1468 an
Bessarion (lib. XXVIII, p. 195). Gaza kann demnach nur die Jahre 1465 bis
1467 in Lucanien zugebracht haben. Uebrigens hat Filelfo an Gaza auch wäh-
rend dessen Anwesenheit in Calabrien geschrieben, vgl. den griechischen Brief
im Codex Wolfenb. fol. 29a, wo er ihm scherzweise vorwirft: o'j (jivTot y«P h
Asuxavia ;j.axprJT£pov dnix^i MeoioXctvryj -q t6 MeotoXotvov A£'J7,avic(?. Mit schwül-
stigem Pathos beglückwünscht F. den Boden, der seinen Freund Gaza trägt:
eö8at[JL0v AE'jxavt'a y^ai^^ ^'1 l'^~^9^ '^'^^"^ ''^^'f^''' ö^öowpov tov FaCviv £v tote fjvciYpot;
TiapaXaßoüaa
66) Es wäre nämlich nicht undenkbar, dass die oben geschilderten littera-
rischen Plänkeleien zwischen Bessarion und Gaza zu einer vorübergehenden
Verstimmung Anlass gegeben hätten, da die jedenfalls unfreiwillige Entfernung
Gaza's von Rom einer kleinen Verbannung nicht unähnlich sieht. Als jedoch
des Trapezuntiers Schmähschrift gegen Bessarion erschienen war und dieser
sich zur Antwort anschickte, da mag er Gaza als willkommenen Mitarbeiter
zurückberufen haben. Dafür spricht ein Brief Bessarion's an Gaza, den Petr.
Lambeccius, Comm. de Bibl. Caes. Vindob. VII, 164 auszugsweise mittheilt.
") Dies^ Thatsache geht aus einer Schlussbemerkung hervor, die ich um
Ende der schönen Pliniushandschrift der Bibl. Angelica in Rom (S. II, 4) ge-
funden habe; hier heisst es: Auxilio gratiae omnipotentis dei et adjutore
Theodoro Gaza Joh. Andreas Episcopus Alariensis Plinium maxima la-
bore recoffnovit XII die mensis decembris MDLXIX Rumae. Von der
Thätigkeit Gaza's für Plinius war bisher nichts bekannt.
Archiv f. Geschichte d. Philosuphie. 11.
45G T. 11 (1 w ig- Stein,
kann ''^). Der Tod Bessarion's ging Gaza begreillicherweise sehr
nahe; er hatte in ihm nicht blos den Freund, sondern auch den
ökonomischen Rückhalt verloren. Zwar sind die ausgestreuten
Märchen über seine drückende Dürftigkeit eben nur ^lärchen^').
Ebenso ist sein Verhältniss zum Papst Sixtus IV., der ihn au-
geblich so schnöde behandelt hat, dass er ihm gelegentlich der
Ueberreichung eines in einen kostbaren Einband gehüllten Werkes
nur den Preis des prächtigen Einbandes erstattet haben solF"),
stark aufgebauscht und im Geiste der Zeit übertreibend ausge-
schmückt. Sixtus IV. war freilich gerade für wissenschaftliche
Zwecke nicht eben von medizeischer Generosität, aber doch
1
''*) Dass Gaza mehrere Jahre mit dem Bischof von Maria zusammen ge-
arbeitet hat, ersieht man aus einer ganzen Reihe von Briefen Pilelfo's theils
au Gaza vom Febr. 14G9 und December 1471 (üb. XXXIV, p. 243a), theils
an den Bischof selbst, Juni 1470 (üb. XXXI, p. 221", lib. XXXII, p. 225;
IIb. XXXIII, p. 229 und 229a). In diesen Briefen kommt Filelfo häufig auf
die Zusammenarbeit beider Freunde zurück. Joh. Andr., episcopus Alariensis
gab nämlich 14G9— 71 in Rom eine ganze Reihe römischer Schriftsteller in
Gemeinschaft mit Gaza heraus. Dem Text sind meist Praefationes vorgedruckt,
in welchen sich der Bischof über die Mitarbeit Gaza's auslässt, vgl. Botfield,
prefaces to the first editions of the greek and roman classics, London 1861,
p. 78-99, p. 107, 115 f. In der Praefatio zu Aulus Gellius sagt der Bischof
in der Widmung an Paul II. (bei Botfield p.80): confisns praecipue de summa
eruditione et benevolentia mei Theodori Gazae, cjui non in una aliqua seorsum
facultate, sed in omnibus animi generatim ingenui disciplinis, est doctissimus.
Um diese Zeit (nach Hodius p. 72 im Jahre 1470) verfasste Gaza auch seine
berühmt gewordene, zum Theil gegen Plethon gerichtete astronomische
Schrift Ikpl |r/)v<ji)v (vgl. tlarüber Leo Allatius, de mensura temporum p. 137 ff.
und p. 102 f.). Neuerdings entstand über diese Schrift in philologischen
Kreisen eine lebhafte Debatte.
"") ^'gh ohen Note 40 und Note G. Wäre er nach dem Tode Bessarion's
ökonomisch gar so verlassen gewesen, dann konnte er nicht an seinen Schüler
Demetrius Sgoropulos schreiben, er möchte ihm gegen entsprechende Ent-
lohnung den Pausanias abschreiben, Laurentiana, Plut. LV, Cod. 9, fol. G3:
la hi riccjaavfo'j idtv 5'jvrj8fj? [xot [lE-ctYpciiLctt, dTtoowaiu oot lü? lAtaftov ye tö iv-otvdv •
rXio'i fji Tt 'JTToay^arlat oöv. e/co üttö zevtc«;, r]v vv'jo? i[).<n fj5TjU.^pat ya/vS-wtepav
xoti^iaTTjOtv. Ippiuao; vgl. auch Migne IGl, p. 1008.
^*') Die weit ausgesponnenen, zweifelsohne mit grellen Farben aufgetra-
genen Berichte über dieses angebliche Rencontre Gaza's mit Papst Sixtus IV.
s. bei Hodius p. G3ff. , der selbst schon das Uebertreibende dieser Berichte
herausgefühlt hat, vgl. p. G5f.
Der niimani.st Theodor Gaza als Pliilosoiili.
457
wieder nicht gar so knickerig, dass nicht Gaza an seinein Hofe
ein auskömmliches Dasein gehabt hätte. Gaza selbst schildert seine
Verhältnisse um diese Zeit wol als trüb, jedoch nicht als ver-
' zweifelt. Er klagt eigentlich mehr über Siechthum. als über ökono-
mischen ^langel"). Jedenfalls blieb er bis gegen 1475 nachw^eis-
lich in Rom '"").
Um diese Zeit nämlich fand seine Uebersiedlung nach Ferrara,
dem Ort seines einstmaligen glanzvollen Wirkens, statt. Denn dass
Gaza 1476 in Ferrara gelehrt haben muss, steht fest, da Rudolph
Agricola um diese Zeit dessen Vorträgen über die Philosophie des
Aristoteles andächtig gelauscht hat'"). Damit stimmt denn auch
''') Allerdings halte der Papst ein lebhafteres Interesse für Kunst, als für
Wissenschaft, wenn er auch die Yatic. Bil>iiothek zuerst fest fuudirt hat,
vgl. Papeucordt, Gesch. d. Stadt Rom S. 521. Es mag ja sein, dass der
Papst, der eben mehr Kunstfreund war, bei Ueberreichung eines Werkes sei-
tens (laza's diesem nur deu Preis des kostbaren Einliandes zurückerstattet-hat,
weil ihm dieser künstlerisch melir auffiel, als das Werk selbst. Uebrigens han-
delte es sich gar nicht um ein für den Papst selbst übersetztes Werk, sondern
nur um eine Umarbeitung einer früheren Schrift (Volterrauus bei Hodius
p. 63). Dass aber Gaza mit Papst Si.\tus nicht gar so unzufrieden war, wie
Fama berichtet, dafür besitzen Avir ein sicheres Zeugniss in seinem (noch un-
gedmckten) Briefe an seinen Freund Andronicus Callistus, in welchem er
klagt, sein Einkommen unter Sixtus sei zum Sterben zu viel, zum Leben zu
wenig, Laurentiana. Plut. LV, Cod. 9, f. 63a: -iiä,u.oi yv/^'-xhii voao-ivTi. xai-roi
ipl^OUSf VOCi&'J 0£ 'Al\ a'JtJ.-TOjaaTlU'/ TOtOJTlOV T.^(j]XT^\)l\.0.\ ■',|-'-lV 0 'J 0 £ U ( C( V
notoüvTOd. In fast denselben Worten klagt er auch in seinem Brief an De-
metrius mehr über Siechthum. als Noth, vgl. bei Migne 161, p. 1007.
'-) Das zeigen seine beiden soel)eu besprochenen, aus Rom datirteu Briefe,
die schon vom todten Bessarion (f 1472) sprechen, vgl. Gaza's Brief an De-
metrius bei Uigne 161. ji. IOO.'k o tyo'jaEvo'j Brjiaarjüuvo; i'^' v> tAsi y/v rjulv
^; r/.-i;. In dem zweitbesprochenen Brief (Jaza's (an Andronicus) spricht er aus-
drücklich von den 7:ap<i rJ-jxo'j (Sixtus' Poutificat 1171 — 148.'j). Den späten
Aufenthalt in Rom setzt endlich noch voraus, Const. Las.-aris, prooemium ad
libros de graramatica, bei Migne 161. p. 933 C.
") Rud. Agricola ist nachweislich erst 1476 nach Ferrara gekommen, vgl.
Meiners, Lebensbeschreibungen berühmter Männer etc., III, 334; T. P. Tresling,
Vita Rud. Agricolae, Groningen 1830, p. 14 f. Dass Agricola Gaza in Ferrara
gehört hat steht ausser allem Zweifel, vgl. Agricola Opj,. Tmn. II, p. 158;
Melanchthon, Declamationes p.435, praef. in Rud. Agric. dial., Opp. Tom.l, p.248:
audierat enim Ferrariae Theodorum Gazam, qui in Aristotelis doctrina excelluit.
31*
458 Liulwig Stein, Der Humanist Theodor Gaza als Philosoph.
I
die Notiz zusammen, dass Gaza untergegangen wäre, hätte ihn nicht
der Herzog von Ferrara gerettet'^).
Doch scheint er hier bereits den nahenden Tod geahnt zu
haben. Und da er stets eine unüberwindliche Sehnsucht in sjch
trug, in griechischer Erde begraben zu sein, so dass sich selbst das
Märchen verbreitete, er habe testamentarisch angeordnet, seine
Leiche möchte nach seiner in Magna Graecia gelegenen Pfarre über-
iiihrt werden ^^), so liegt der Gedanke nahe genug, dass er sich
etwa 1477 auf seine Pfarre zurückgezogen haben mag, wo er 1478
verschieden ist. Dass sein Tod nicht in Rom erfolgt ist, wie viel-
fach angenommen wird"''), beweist unwiderleglich das bisher un-
beachtet gebliebene Pentastichon des Coust. Lascaris "):
'Evöa'os xciTai oc TjV avöoc ''/z,!:r^^ Bsoowpo^
V'■x^^z' ov -i/.z xal xoa|j.-/;5s actil/jactaiv 'VjXrjx'
"Ea/£ 0£ 'hct/a'a 'fcua'iooov ojc ipar/zsa lootv.
YA 0 3 (xixpa 7:6X'. c oivopa tosov xotts/ci hn Tuaßio.
^*) nodius p. 60. Wahrscheinlich hat sein Freund Andronicus Callistus,
der damals in Ferrara lehrte (Hodius p. 259), diese zweite Berufung Gaza's
nach Ferrara vermittelt.
'^) Boissardus bei Hodius p. G7.
''^) Die Berichte, die auf seinen Tod in Rom schliessen lassen, findet man
hei Tirahoschi, 1. c. YIII, 1195: Baehr, ullg. Phicyclop. s. v. Gaza, 8.136. Diese
Annahme muss aber nach dem Material, das ich in folgender Note bringe,
endgültig aufgegeben werden.
' ') Dieses Pentastichon, dessen 3. Vers unmetrisch ist, ist jetzt abgedruckt
bei Migne 161. p. 967. Dass also sein Leichnam in Lucauien liegt, steht danach
ausser Zweifel. Dass man aber seinen Leichnam aus Rom dorthin überführt
hätte ist kaum anzunehmen. Denn da der Papst schon auf den lebenden
Gaza nur geringe Rücksicht nahm, so wird er dem todten wol kaum eine
so weit getriebene Pietät bewahrt haben. Im Uebrigen berichtet Raphael
Volaterranus ausdrücklich, Authropol. IIb. 21: Igitur Theodorus ,
in Apuliam se contulit, ubi paucis post annis sene.x excessit sine liberis,
cum esset sacerdos.
XXIV.
lieber Gassendi's Atomistik.
Von
Kiird liasswltz in Gotha.
Wenn auch kein Zweifel besteht, dass die Erneuerung der
antiken Atomistik durch Gassendi ein unentbehrlicher Factor für
die Entwickeliing der mechanischen Theorie der .Alaterie und der
modernen Naturwissenschaft überhaupt war, so fehlt es doch an
einer genügenden Klarstellung darüber, durch welche besonderen
Elemente seiner Lehre Gassendi zur Schöpfung derjenigen Begrifte
beigetragen hat, auf denen die neuere Auffassung vom Wesen der
Körper beruht, und worin die Schranken bestehen, welche seine
Atomistik von der gegenwärtigen Physik trennen. Es sei gestattet,
eine kurze Prüfung der kinetischen Atomistik Gassendi's in dieser
Hinsicht mitzuteilen. Dabei wird sich zeigen, dass sich das Ver-
dienst Gassendi's beschränkt auf die Individualisierung der Materie
durch den Begriff der absoluten Solidität im Gegensatz zum
leeren Räume, dass jedoch dieser Begriff, so unentbehrlich er ist,
zur Fundierung der Atomistik nicht ausreicht.
Gassendi ersetzt die substanziellen Formen des Aristoteles
durch die materiellen Substanzindividuen. Das ganze Denken seiner
Zeit steht unter dem Einfluss des Begriffs der „Formen" als der
individualisierenden und die Wirklichkeit erzeugenden Kräfte. Mit
einer eleganten Wendung führt Gassendi unter Beibehaltung des
Wortes die „Formen" in eine ganz andere Position. Auch er sagt,
die Form ist es, welche Körper von Körper unterscheidet und zum
Einzelkörper macht, aber die Form ist bei ihm nicht mehr das
zweckbestimmendc AVesen, sondern die geometrische Figur.. Die
Abgegrenztheit, d. h. die Bestimmtheit der Oberfläche, welche zu-
gleich die Grösse fixiert, ist das Kennzeichen der Substanz. Die
allseitige Begrenzung, die Discontinuität im Gegensalz zum Räume.
4(3() K i' '■ l1 L a s s w i 1 7,
bezeichnet das substanziellc Sein als eine Einheit, als das Atom.
Die mathematische Theilung des Raumes kann ins Unendliche fort-
gesetzt werden, die physische Unteilbarkeit der Materie ist dagegen
die Bedingung ihrer Substanzialität. Diese in der Begrenztheit be-
dingte substantielle Einheit heisst im Gegensatz zum Eaume Solidi-
tät. Dadurch ist der Begriff des Atoms als des substanziellen Raum-
individuuras vollzogen. Die Frage ist nun: Inwieweit hat hierbei
Gassendi die Vorstellung der Corpuskel, welche aus dem Bedürfnis
der sinnlichen Anschaulichkeit hervorging, durch rationale Elemente
ersetzt und begrifflich bestimmt?
Alle besonderen Sinnesqualitäten, wie farbig u. dgl., sind von
vornherein ausgeschlossen; auch die Ausdrücke rauh, glatt u. s. w,
sind in übertragenem Sinne zu verstehen und bezeichnen nur geo-
metrische Eigenschaften. Aber ist nicht der Begriff" der absoluten
Härte noch aus der Sinnlichkeit der Widerstandsemphndung her-
übergenommen? Allerdings sind das Harte, das Tangible, das Un-
durchdringliche aus der Sinnlichkeit entlehnte Ausdrücke, um das
Raumbehauptende zu bezeichnen. Der Unterschied der Physik von
der Geometrie, der Dynamik von der Phoronomie, ist psychologisch
io der empirischen AViderstandsemplindung gegeben. Aber wie
Galilei die psychologische Andrangsempfiudung durch den Begriff
des Moments objektivierte, so sucht Gassendi im Begriff der ab-
soluten Solidität nach einer rationalen Fixierung des aus der Sinn-
lichkeit entnommenen Elementes, welches uns als das Tangible, als
AViderstandsempfindung gegeben ist. Es fragt sich nur, ob der
Gassendi'sche Begriff ausreicht, jene Objektivierung zu vollziehen,
deren die Physik für das Körperproblem bedurfte.
Mau würde den Begriff der Solidität unzureichend erfassen,
wenn man darunter die Idealisierung einer sinnlichen Eigenschaft,
der Härte, verstehen wollte. Wenn den Atomen die Eigenschaft
der absoluten Härte beigelegt wird, so ist dies nur eine sinnbild-
liche Redeweise, und ihre Berechtigung beruht nicht daraul', dass
eine höchste Steigerung der sinnlichen Eigenschaft der Härte denk-
bar ist, kraft deren die Atome unzerbrechlich sind'); sondern die
') In dieser Hinsicht ging Beniier wieder hinler (iiissendi zuriuk. indem
§r die Unteilbarkeit auf den 'Widerstand gegen die Trennung gründen wollte
Ueber Gassendi's Atomistik.
461
Solidität der Atome wurzelt bei Gassendi wie in der antiken Ato-
mistik auf rationalem, nicht auf sinnlichem Grunde. vSolidität ist
der Ausdruck für die Eigenschaft der Raumteile, durch welche sie
raumbehauptende Individuen sind. Nicht weil die Atome hart sind,
können sie nicht zertrennt werden, sondern das Untrennbare, ab-
solut Solide ist die Bedingunfj' dafür, dass es Körper giebt und eine
sinnliche Eigenschaft, die wir hart nennen. Die Solidität soll eine
Bedingung des realen Seins überhaupt aussprechen, welche an die
Substanz geknüpft ist. Es entsteht aber die Schwierigkeit, von
hier zur Veränderung der Körper, d. h. zur Wechselwirkung der
Atome zu gelangen. Erst in der Wechselwirkung hat sich der
Begriff der Solidität zu bewähren, ob er zur Objectivierung der
Materie ausreicht. Das einzelne Atom ist eine wertlose Abstraction;
eine Bedeutung für das Erkennen haben die Atome immer nur in
ihrer Gesamtheit. Diese Vielheit muss zugleich mit dem Begriff des
Atoms gesetzt werden, weil Disconituität, die Trennung und Indivi-
dualisierung durch die Raumgrenze, nur in der Vielheit einen Sinn hat.
Die Raumbehauptung des Atoms kann nur bedeuten, dass etwas vor-
handen ist, woran sie ihre Realität erweist, d.h. dass raumbehauptende
Individuen mit einander in Concurrenz um denselben Raumteil treten.
Gassendi setzt dabei einen absoluten Kaum voraus, das Vacuura,
in welchem die Verschiebung der raumbehauptenden Teile, der
Atome, vor sich geht. Die Atome bewegen sich, und diese Be-
wegung ist eine unzerstörbare. Damit sind die von Gassendi aul-
gestellten Bedingungen für das Vorhandensein einer physischen
Körperwelt vollständig. Die Bewegung ist nur Ortsveränderung
und eine den Atomen immanente Eigenschaft. Sie ist mit ihnen
zugleich vom Schöpfer erschaffen; jedes Atom besitzt eine unver-
lierbare Neigung, einen inneren, d. h. ihm eigentümlichen Antrieb
zur Bewegung. Gassendi nennt diese Eigenschaft die „Schwere"
der Atome, aber er versteht darunter nicht eine Tendenz, in einer
bestimmten Richtung sich zu bewegen, sondern eine den Atomen
zugehörige Geschwindigkeit, und zwar ist die ursprüngliche Ge-
schwindigkeit der Atome eine ausserordentlich grosse; alle anderen
(Doutes de Mr. Beruier sur (juel(|uesuns des principaux chapitres de son ab-
rege de la Philosophie de Gassendi, Paris 1682. S. Acta Eruditorum 1682 p. 476).
462 Kurd Lasswitz,
Geschwindigkeiten entstehen erst aus derselben durch Unter
brechungen, durch dazwischentretende Ruhepausen^). Die unzu-
reichende Vorstellung, welche sich Gassendi vom Zeitmoment macht,
verleitet ihn dazu, verschieden grosse Geschwindigkeiten dadurch
zu crkliiren, dass eine ursprüngliche Geschwindigkeit durch inter-
mittierende jMomente der Ruhe für die sinnliche Vorstellung ver-
langsamt wird. Was sinnlich contiuuirlich scheint, ist begrifflich if
discoutiuuirlich; dies könne bei der Bewegung ebensogut stattfinden,
wie bei den Abstufungen von Licht oder Wärme. Aus dieser Auf-
fassung erklärt sich, warum Gassendi nicht von einer den Atomen
immanenten Geschwindigkeit spricht, sondern den Ausdruck
„Antrieb" vorzieht. . Denn da die empirische Geschwindigkeit für
ihn ein sinnliches Continuum ist, im Begriffe aber in einen Wechsel
von Momenten der Bewegung und Ruhe aufgelöst wird, so muss er die
Bewegung der Atome so fassen, dass sie durch die Ruhe nicht aufge-
hoben wird. Daher sagt er, dass während der Ruhe die treibende Kraft
der Atome nur gehemmt ist, aber nicht verschwindet, dass vielmehr
der anfängliche Bewegungsantrieb sich constant erhalte.
Die Ruhe gilt ihm als eine Art Spannungszustand. Dass die einzelnen
Atome ihrer Bewegung Ruhepausen in verschiedenem Verhältnis bei-
gemischt haben, kann demzufolge bei Gassendi keinen andern Sinn
haben, als dass der Zusammenstoss mit andern Atomen dieselben
verursacht; denn es ist dies der einzige Grund, welcher für eine Ver-
änderung der endlichen Geschwindigkeit angegeben werden kann.
Dass jener Bewegungsantrieb den Atomen von Gott bei der
Schöpfung mitgegeben ist, das ist ein lediglich im metaphysischen
Interesse gemachter Zusatz, welcher für den erkenutniskritischen
und physikalischen Wert der Gassendi'schen Annahme ganz irrelevant
ist. Es kommt nur darauf an, dass die Grösse dieses Bewegungs-
antriebs, die Kraft oder Bewegungsfähigkeit des Atoms, eine indivi-
duelle und unveränderliche Eigenschaft für jedes Atom ist, geradeso
wie seine Grösse und seine Gestalt; denn die „Schwere" steht bei
Gassendi ganz in einer Linie mit den eben genannten und cha-
rakterisiert somit das einzelne Atom.
') Opera omnia, Florent. 1727. I, p. 300a. (Phys. sect. I, 1. 5, c. 1.)
Ueber Gassendi's Atomistik. 463
Das Einzige, was an einem Atome verändert wird, ist seine
Richtung. Die Veränderung der Richtung beruht ebensowohl wie
: die Verzögerung auf endlicher Wegstrecke auf der raumbehaupten-
den Eigenschaft der Atome. Wenn zwei Atome zusammentreffen,
so ändern sie im allgemeinen ihre Richtung, da ihre Bewegung
bestehen bleiben muss und die Durchdringung nicht möglich ist.
Das Uebergehen einer Richtung in die entgegengesetzte wird da-
'iurch verständlich gemacht, dass dasselbe als ein Gleiten an sehr
stark gekrümmter concaver Fläche vorgestellt wird; wir würden
sagen, als das Durchlaufen einer Bahn mit unendlich kleinem Krüm-
mungsradius. Somit ist der Stoss auf die Solidität zurückgeführt;
von Elasticität oder sonstigen sinnlichen Eigenschaften ist nicht die
Rede; die Individualität der Atome, welche unverletzlich ist sowohl
an Raumerfüllung wie an Bewegung, erhält die gesamte Welt in
Aktion, bewirkt die Veränderung der Richtung und die Verzögerung
oder Beschleunigung der Bewegung durch grösseren oder geringeren
Aufenthalt; mit einem Worte, sie bedingt zugleich die Wechsel-
wirkung der Atome.
Das ist in der That eine höchst consequente kinetische Ato-
mistik. Es scheint, als ob ihr, um zu einer wissenschaftlichen
Physik zu führen, nur Eins — freilich ein Unerlässliches — fehlte,
nämlich die mathematische Bestimmung der Bewegung der Atome.
Da beim Zusammentreffen zweier Atome ihre Grösse, Gestalt und
absolute Geschwindigkeit unverändert bleiben, so wäre eine Fest-
setzung darüber nötig, wie sich die Richtung durch den Stoss ver-
ändert. Denn nur von dieser hängt die Aenderung der Verteilung
der Atome im Räume ab. Es müsste also ermöglicht werden,
wenn die Verteilung der nach Grösse, Gestalt und Bewegungsrich-
tung bestimmten Atome in einem gegebenen Zeitmoment bekannt
ist, daraus die Verteilung im folgenden Zeitmoment zu berechnen.
Eine solche Festsetzung wäre etwa denkbar für den einfachsten
Fall gleich grosser kugelförmiger Atome; es leuchtet aber ein, dass
bei den complicierten Voraussetzungen Gassendi's höchst mannig-
faltiger und unregelmässiger Atomgestalten an eine mathematische
Theorie überhaupt nicht gedacht werden kann.
Man hat violfacii auf die Verwandtschaft der Gassendi'schen
4(34 Kurd Lass witz,
Atomistik mit der modernen kinetischen Theorie der Gase auf-
merksam gemacht, und bei oberflächlicher Betrachtung könnte es
scheinen, als fehle jener in der That nur die Festsetzung der Stoss-
gesetze der Atome, um in die moderne mathematische Theorie
überzugehen. Dabei übersieht man jedoch den fundamentalen
Unterschied zwischen beiden, den Unterschied, welcher überhaupt
die moderne von der antiken Atomistik trennt und darin besteht,
dass erstere auf dem Begrifi'e der Energieverteiluag, letztere
nur auf dem der Substanzverteilung im Räume beruht, oder,
erkenntniskritisch ausgedrückt, das erstere das Denkmittel der'
Variabilität, letztere nur das der Substanzialität zur Verfügung hat.
Um diesen Unterschied und damit den Standpunkt der üassendi'-|
sehen Atomistik klar zu legen, empfiehlt es sich, auf den Vergleich ^
derselben mit der kinetischen Atomistik der modernen Physik ein- j
zugehen. Die kinetische Theorie der Gase lässt die Natur des]
einzelnen Atoms (Moleküls) unbestimmt und setzt nur fest, dassj
bei der Annäherung zweier Molekeln bis auf eine gewisse Distanz'
(Radius der Wirkungssphäre) eine Richtungs- und Geschwindigkeits-
änderung der Molekeln stattfindet, während die Bahnen der letzteren
im übrigen gradlinig verlaufen. Der Unterschied von der Atomistik
Gassendi's liegt nicht in der Festsetzung über die Natur der Atome
oder Molekeln: wie die sich bewegenden Corpuskeln beschaft'en
sind, darauf kommt es hier gar nicht an; der Begriff der Solidität
würde genügen, die Bewegungsänderung zu erklären, falls man sich
die „Wirkungssphäre" durch ein kugelförmiges Atom von absoluter
Solidität ersetzt denkt. Alles hängt davon ab, wie die Veränderung
• der Bahn durch den Stoss erfolgt. Wenn wir hier den Ausdruck
„Stoss" gebrauchen, so geschieht dies nur der Kürze wegen; manft
hat aber dabei nicht an einen mechanischen Stoss (wie bei elasti-
schen Körpern) zu denken, sondern nur an die Thatsache, dass eine
Annäherung der Atome bis auf eine bestimmte Grenze eine gesetz-
liche Bewegungsänderung zur Folge hat (vgl. m. Abhandlung „Zur
Rechtfertigung der kinet. Atom." Vierteljahrsschr. f. wiss. Phil.
Bd. IX. S. 154). Die Festsetzung hierüber braucht nicht etwa aus
den Stossgesetzen für die sinnlichen Körper entlehnt zu werden,
sondern es ist nur erforderlich, solche Gesetze anzunehmen, dass
üeber Gassendi's Atomistik.
465
zwischen den Geschwindigkeiten und Richtungen der Atome vur
und nach dem Stosse soviel Gleichungen bestehen, als derartige
Grössen zu bestimmen sind. Hier/Ai dienen die Priiicipien der
Mechanik, welche die beim Zusammentreffen stattfindenden Ver-
änderungen eindeutig zu definieren haben. Die moderne Kinetik
betrachtet die Bewegung eines Atoms, das als kugelförmig ange-
sehen wird, und dessen Lage durch die Coordinaten seines Mittel-
punkts für einen gegebenen Zeitmoment bekannt ist, als definiert
durch seine Masse und seine Geschwindigkeitscomponenten, und
nimmt an, dass die Massen der Atome vor und nach dem Stosse
unverändert seien und dass die Geschwindigkeiten und ihre Rich-
tungen bestimmt werden durch den Satz von der Erhaltung der
Summe der nach den Coordinatenaxen projicierten Bewegungsgrössen
und durch den Satz von der Erhaltung der Energie. Die zu er-
klärenden sinnlich wahrnehmbaren Thatsachen werden nun zurück-
geführt auf die in jedem gegebenen Falle im betreffenden Raum-
element zur Wirkung kommende Energie. Diese Energie aber ist
abhängig sowohl von der Masse als von der Geschwindigkeit und
Richtung der anlangenden Atome, also sowohl von der Verteilung
der Atome im Räume (der Menge) als von der Verteilung der
Geschwindigkeiten. Es findet zwischen den Atomen ein Austausch
von Geschwindigkeiten und dadurch von Energie statt. Hierbei
haben wir, um Complicationen zu vermeiden, immer nur den ein-
fachsten Fall vor Augen und sehen also z. B. von rotatorischen
oder intramolecularen Bewegungen ab. Demnach verfügt die Theorie
zur Erklärung der empirischen Erscheinungen sowohl über Ver-
änderungen in der Menge als in der Geschwindigkeit der Atome,
oder, wie man auch sagen kann, die Wirkung hängt ab sowohl von
der Anzahl als von der Intensität der in der Zeiteinheit erfol-
genden Stosse der ankommenden Atome.
Legt man jedoch der Atomistik die Annahmen Gassendi's zu
Grunde, so ergiebt sich ein völlig anderes Bild. Gassendi nimmt einen
jedwedem Atom immanenten und ihm unveränderlich zugehörigen
„Impetus^" an. Wodurch derselbe mathematisch dclinirt ist. wu-d
nicht angegeben. Man könnte aber leicdt auf den Gedanken
kommen, diesen Impetus durch den Begriff der Energie zu ersetzen,
466 Kurtl Lasswitz,
4
also jedem Atom einen constanten Vorrat von Energie zuzuschreiben, li ^'
um dadurch die Theorie Gassendi's im modernen Sinne haltbar zu
machen. Dies ist wohl die stillschweigende Annahme, auf welche'Ü*'
sich die Ansicht gründet, dass die Gassendi'sche Atomistik sich un^Biif
mittelbar mit der modernen berühre. Nimmt man an, dass jedes;i«»
Atom für sich einen unverlierbaren Energievorrat besitze, so würde
sich dies allerdings mit der Voraussetzung Gassendi's decken. Denn j*
da die Masse — beim Atom sind Masse und erfülltes Volumen Begriffe,,'!«
deren Trennung nicht erforderlich ist — bei jedem Atom coustantii^*"
bleibt, so müsste bei constanter Energie auch die Geschwindigkeit
des Atoms stets dieselbe bleiben. Bei Gassendi wird dies in der
That angenommen ;, alle Atome haben eine ursprüngliche, sich gleich
bleibende Geschwindigkeit. Offenbar könnte, so gut wie Volumen |
und Figur, auch die Geschwindigkeit eine für die verschiedenen]
Arten der Atome verschiedene sein; diese Festsetzung wäre an sich
völlig berechtigt. Gassendi hält jedoch dafür, dass alle Atome die-
selbe absolute Geschwindigkeit besitzen, weil alle Körper im Leeren
gleich schnell fallen. So wenig dieser Schluss begründet ist, so
kommt es doch hier nicht darauf an, sondern nur auf die That-
sache, dass die empirisch wahrgenommene A erschiedenheit der Ge-
schwindigkeiten der Körper nur beruht auf unaufhörlichen Unter-
brechungen der absoluten Bewegung der Atome. Jedes Atom hat
nach dem Abprall von einem andern wieder seine ursprüngliche [
Geschwindigkeit; demnach muss seine AVirkung, insofern sie von
seiner Geschwindigkeit abhängt, offenbar unter allen Umständen
dieselbe sein. Wieviel Zusaramenstösse und Verzögerungen ein
Atom auch erlitten habe, wieviel Zeit auch es gebraucht habe,
einen endlichen Weg zurückzulegen, — an dem Ziele, an welchem
sein Dasein wirksam wird, muss immer dieselbe Intensität des
Stosses auftreten, w^eil es ja auf jedem kleinsten Teil seines VV^eges,
auf jeder freien Strecke, seine absolute Geschwindigkeit hat. also die
Kraft seines Anpralls nicht von den vorangegangenen Verzögerungen
abhängig ist. Mit anderen Worten: Energie ist nicht übertrag-
bar von einem Atom auf das andere. Das ist offenbar das
genaue Gegenteil der modernen kinetischen Theorie, nach welcher
alle Veränderung auf der veränderten Verteilung der Energie beruht.
r
Ueher Gassencli's Atomistik.
467
Währeiul in der moderneu Theorie die empirische Wirkung
ibhängig ist von der Grösse und Anzahl der Atome in der Raum-
jinheit und von ihrer mittleren Geschwindigkeit, fällt bei Gassendi
lieser letztere Factor ganz aus; bei ihm kann die mittlere Ge-
schwindigkeit gar keinen Einfluss auf die Grösse der Stoss-
firkung besitzen, weil, wie gesagt, der Stoss immer mit der
ibsoluten Geschwindigkeit ausgeübt wird. In einem gege-
)enen Zeitmoment hat ein Atom immer seine volle Anfangs-
geschwindigkeit, oder gar keine Geschwindigkeit. Eine Veränderung
ller Geschwindigkeit giebt es nur ad sensum, auf endlichen Strecken,
Insofern gleiche Strecken von verschiedenen Atomen in verschie-
lenen Zeiten durchlaufen werden, je nach dem Verhältnis, in
Ivelchem die Momente der Ruhe zu der Zeit der freien Bewegung
Itehen. Für diese Unterbrechungen der Bewegung giebt es keine
mdere Ursache als die Hemmung durch entgegenstehende Atome,
muss daher offenbar angenommen werden, dass jeder Zusammen-
ktoss die sich trelVendeu Atome einen Moment aufhält (zur Ruhe
)ringt), und sodann die Bewegung wieder „frei" wird. Die Durch-
lichnittsgeschwindigkeit muss also kleiner als die absolute sein um
eine Grösse, welche proportional ist der Anzahl der in der Zeit-
tinheit stattfindenden Zusammenstösse. Die Energie aber ist nur
on der absoluten Geschwindigkeit abhängig. Die Durchschnitts-
eschwindigkeit hat demnach einen Einfluss nur auf die räumliche
Verteilung der Atome, insofern ihre Herabminderuug den Durch-
ang durch die Raumeinheit verzögert und dadurch eine Anhäufung
er Atome bewirkt; die empirische Wirkung ist also lediglich ab-
hängig von der Zahl der auf die Einheit der Fläche in der Zeit-
linheit stossenden Atome. Somit ergiebt sich das Verhältnis der
substantiell erfüllten Raumteile zu dem Volumen des leeren Raumes
ils die einzige Grösse, welche veränderlich ist und zur Erklärung
ler wahrgenommenen Wirkungen dienen kann. Hierin liegt der
jrund, warum die kinetische Corpusculartheorie zur Erklärung der
Erscheinungen mit der Annahme einfacher Atomgestalten nicht
lusreichen konnte, sondern ihre Zuflucht zu den Complicationen
lehmen musste, welche durch Ecken, Hervorragungen und Häkchen
ien Atomen die nötige Mannigfaltigkeit geben sollte, die zu jener
468 Kind Lasswitz ,
Erklärung erforderlicli ist. Je mehr aber die Hypothesen über die »Jfci™
Atomge.stalten sicli häufen, umsomehr entfernt sich die Corpuscular-
theorie von der Möglichkeit einer mathematischen Begründung und Bl^
nähert sich dem Versuche einer bloss sinnlichen Veranschaulichung Äni'
der Vorgänge.
In der begrifflichen Begründung der Physik ist somit Gassendi i|t^^
ül)er die antike Atomistik nicht hinausgekommen. Es ist ihm nicht
gelungen, die Wechselwirkung der Atome gesetzlich zu fundieren
und damit die Veränderung in der Körperwelt zu realisieren: viel-
mehr bleibt er l)ei dem Unterschied des Vollen und Leeren insofern
stehen, als der Wechsel der Substanzverteilung im Baume
das einzige Princip der Naturerklärung wird. Die substantielle
Selbständigkeit der Atome h.at er dabei widerspruchsfrei festgestellt;
aber er scheitert schon am Begriff der Geschwindigkeit. Die Be-
wegung als ein Continuum zu fassen ist ihm unmöglich; und .so
ist denn auch bei ihm das Fehlen des Denkmittels der Variablität i
der Grund, weshalli alle seine Auslassungen über die Bewegung
unzureichend bleiben. Es zeigt sich dies sogleich bei dem ersten
Versuche, den B>egrift' einer continuierlichen Geschwindigkeit zu er-
fassen. Obgleich ihm Raum und Zeit als Continua gelten und er
in dieser Hinsicht die Einwürfe der Eleaten und Skeptiker gegen
die Bewegung zurückweist, bleibt er doch seltsamer Weise beim
BiegrifY des „insectile physicum'' in der alten Schwierigkeit hangen.
Die Atome besitzen Ausdehnung; trotzdem nimmt er an, (hiss das
in.sectile physicum in einem einzigen ]\Iomente (unico in.stanti)
durchlaufen werde, d. h. also doch, dass dieser Zeitmoment nicht
teilbar ist. und es erscheint ihm undenkbar, dass bei grösserer Ge-
schw'indigkeit in diesem einen Zeitmoment eine Reihe von physi-
kalischen Unteilbaren durchlaufen werde. Es ist ihm also der
Zeitmoment doch nichts anderes als der starre Zeitpunkt und er
vermag niclit in demselben den Begriff der Veränderung festzu-
halten als eines Gesetzes, welches auch unter Abstraction von der
Extension die weitere Entwickelung garantiert. Obwohl er fühlt,
dass auch im Moment der Ruhe das Gesetz der Bewegung nicht
aufgegeben werden darf und ihm diese daher als Spannungszustand
erscheint, gelingt es iliui nicht, den adäquaten Ausdruck für die
Ueber Gassendrs Atomistik.
469
Eigentümlichkeit der continuierlichen Grösse zu iiiiden, welche
kria beruht, dass in ihrem Begriffe in jedem unendlich kleinen
'eil das Gesetz ihrer Erzeugung mitgedacht werden muss. Das
her ist der einzige Weg, durch welchen Veränderung denkbar
tnd mathematisch darstellbar wird. Daher bleibt mit dem Gesetz
er Veränderung auch der causale Zusammenhang der Atome und
hre Wechselwirkung von der mathematischen Begründung und
lemnach von der Objectivierung durch l^egriffe ausgeschlossen.
ie rationale Begründung schreitet vom Begriffe der raumerfüllen-
len Substanz vor bis zu dem Begriffe, dass die individuellen Sul)-
itanzen eine Veränderung in ihrer räumlichen Verteilung erleiden.
on der andern Seite schreitet die empirische Physik durch Zer-
egung und Abstraction in der sinnlichen Körpervvelt vor bis zu
'orpuskeln, welche, verschieden nach Grösse und Gestalt, analog
lern Stosse harter Körper sich verdrängen und ihre Bewegungen
leeinflussen. Aber diese Vorstellung bleibt innerhalb der Grenzen
sinnlicher Erfahrung und gründet sich auf Thatsachen der Empfin-
uno-. insbesondere der Widerstandsempfmdung. Zwischen dieser
linnlichen Thatsache und der rationalen der Raumerfiillung fehlt
|bei Gassendi die Brücke, es fehlt eine Festsetzung darüber, wie das
innliche Zeichen der wechselnden Widerstandsempflndungeu durch
linen mathematischen Begriff zu einer objectiven Realität von
issenschaftlicher Geltung gemacht werden kann.
Derartige Festsetzungen sind die Principien der Mechanik, und
|sie fehlen bei Gassendi in noch höherem Grade als bei Descartes.
Ir teilt mit letzteren den Grundfehler, dass er die Richtung als
eine von der Natur der Bewegung unabhängige Eigenschaft löst,
so dass eine direkte Umkehr der Richtung ohne Schädigung der
Geschwindigkeit erfolgen kann, ganz unabhängig von der Grösse
des geleisteten AViderstandes. Aber er hat Descartes gegenüber
einen Vorteil voraus, welcher seine Bedeutung für die Entwickelung
der kinetischen Atomistik ausmacht. Derselbe besteht in der klaren
und widerspruchslosen Fassung seines Begriffs des individuellen,
substanziellen Atoms. Die Individualisierung der Materie konnte
Descartes nicht leisten, Gassendi beginnt damit: er übergiebt der
Phvsik in seinen Atomen substanzielle Individuen, welche durch
470 Kind Lasswitz, üeber Gassemli's Atomistik.
ihre Solidität das raumerfiillende Substrat der Bewegung bilden, j
und er liefert durch den leeren Raum der mathematischen Mechanik i
ein freies Feld, in welchem keine künstlichen Annahmen über die'ii
Materie nötig sind, um ungehinderte Bewegung zai ermöglichen.
Er sondert den physischen Körper durch die Solidität vom geo-
metrischen und von der blossen Ausdehnung des Raumes. Das ist
eine Vorstell ungs weise, welche dem Bedürfnis der empirischen
Physik entgegenkam und deren praktische Vorteile auch Descartes]
auf Umwegen sich zu sichern suchte, während Galilei anerkannte,
dass er sie seiner Theorie der intensiven Punkte vorziehen würde, |
wenn nicht äusserliche Rücksichten ihn hinderten^'). Insofern ist j|
Gassendi's Atomistik als eine wichtige Stufe in (k'r geschichtlichen ■
Entwickelung der Lehre vom Körper auszuzeichnen. Nicht die '
Originalität des Gedankens — die freilich Gassendi nicht zukam —
ist hier entscheidend, sondern der historische Ort desselben.
Was der Genius Demokrits geschaffen, lag seit zwei Jahrtausenden
dem wissenschaftlichen Denken bereit, ohne dass der darin ver-
borgene Schatz hätte gehoben werden können. Erst am Genius
Galilei's konnte sich die erloschene Fackel wieder entzünden, welche
dem Fortschritt der Naturwissenschaft die Wege zu erleuchten be-
stimmt war. Aber die Atomistik war dazu nötig. Die Continuität
des physikalischen Denkens liegt zu klar zu Tage, als dass man
die Erweckung der antiken Atomistik durch Gassendi als einen
Zufall bezeichnen könnte in einem Augenblick, in welchem der
europäische Geist sich anschickte, einen neuen Naturbegriff zu pro-
ducieren. Neben Galilei und Descartes tritt daher Gassendi, nicht
vergleichbar an Originalität, aber an historischer Bedeutung als
bewusster Förderer eines unentbehrlichen Gedankens, der die
Geisteswelt der beiden andern zu ergänzen berufen war. Zunächst
geht seine Atomistik wie die Cartesische Corpuscularphysik nur
äusserlich neben der Mechanik Galilei's her. Die gegenseitige Be-
fruchtung konnte sich erst in der Zukunft vollziehen; Huygens
ermöglichte sie durch die Aufstellung der Principien der Mechanik,
und unsere Gegenwart sieht die ersten Früchte reifen.
3) Discoisi, Op. III. ).. 87. Padua 1744.
)erj
Üa^'i •> XXV.
m
Leibiiiz und Montaigne.
Von
Gregor Itelsou in BeWin.
wnn!
mi
tliflii Es ist genugsam bekannt, wie verschiedenartig und zahlreich
die Beeinflussungen sind, welche Leibniz von seinen Vorgängern
;aiii- und Zeitgenossen erfahren hat: die Monade, welche Leibnizens
>t;ll«i|| Seele darstellte, hatte recht viele Fenster. Zu den originellsten
Theilen seines Systems rechnet man nun die Lehre von der
Apperception und den „petites perceptions". Zwar ist der Unter-
(m schied von Bewusstem und Unbewusstera auch der antiken Philo-
wld Sophie und der Scholastik nicht ganz fremd; jedoch gilt die prä-
cisere Fassung und der besonders energische Gebrauch des Begriffs
der „petites perceptions" als eine eigene That Leibnizens. Mit
} QiA Bezug auf diesen Punkt scheint mir aber ein Vorgänger Leibnizens
übersehen worden zu sein, der auch auf Leibniz einen entschie-
denen Einfluss ausgeübt haben dürfte. Dieser Vorgänger ist Mon-
nipn taigne, und in Betracht kommt hier das ganz kurze Capitel 14
des IL Buches seiner „Essais", betitelt: „Comme nostre esprit
s'empesche soy mesme". Da heisst es:
eti „C'est une plaisante Imagination, de concevoir un esprit ba-
lance justement entre deux pareilles envies: car il est indubitable
\\i quil ne prendra jamais party, d'autant que Tapplication et le
■lil chois porte inegualitc de prix; et qui nous logeroit entre la bou-
teille et le jambon, aveques egual appetit de boire et de manger,
il n'y auroit sans doubte remede que de mourir de soif et de faini.
Pour pourveoir a cet inconvenient, les stoiciens, quand on h'ur
demande d'ou vient eii nostre ame l'eslection de deux choses in-
dift'ereutes, et qui faict que d'un grand nombi'o d'escus nous en
Archiv 1. Gescliiclite der l'liilusdpliie. 11. "^
v»a
472
Tire gor Itel.sou, Leibniz und Montaigne.
preiiions plutost ruii que l'aiiltre, estauts touts pareils. et u'y
ayant aulcune raison qui iious incline a la preference, respondent
que ce luoiivemeut de Tarne est exti-aordinaire et desregle, veDant
eu nous d'une iiDpulsion estrangiere, accidentale, et Ibrtuite. II
se pourroit dire, ce me semble, plutost, que aulcune cliose ue se
presente a nous. oü il n"y ayt quelque difterence, pour legiere
qu'elle soit; et que, ou a la veue ou a rattouchement, il y a
tousjours quelque chois qui nous teute et attire. quoyque ce soit
imperceptiblement: pareillement qui presupposera une fiscelle egua-
lement forte partout, il est impossible de toute impossibilite ([u'elle
rompe; car par oii voulez vous que la faulsee commence? et de
rompre partout ensemble, il n'est pas eu nature."
Gleichsam im Embryo lieseu hier auf engem Raum dicht
neben einander in organischem Zusammenhang die wichtigsten
Glieder des leibnizscheu Systems: das principium identitatis in-
discernibilium. das principium rationis sufticieutis. die petites per-
ceptions und der aus denselben resultirende Determinismus. Und
in den Stellen in der Theodicee, wo Leibniz von der Cnmöglich-
keit der Existenz eines Buridan"schen Esels spricht, finden sich
sogar stylistische Anklänge an die Auslassung Montaigue's (Erd-
mann, p. 517 a, 594a). Besonders beachtenswerth ist der Umstand,
dass an diesen Stellen Leibniz die uubewussten Vorstellungen „im-
perceptibles" (und nicht etwa „iuapperceptibles") nennt, nachdem
er doch die Unterscheidung von Perception und Apperception ein-
geführt hatte. Dies erinnert an das „quoyque ce soit imperceptible-
ment" Montaigne's. In den Nouveaux Essais gebraucht Leibniz
dafür den Ausdruck „perceptious insensibles" (ähnlich in der Epi-
stola ad Wagnerum Erdm. p. 466). Möglicherweise stammen die
bezüglichen Stellen der Theodicee aus einer früheren Zeit. Alel-
leicht ist auch der Vergleich in Nouv. Ess. Erdm. p. 197 b „comme
ou ne romperoit jamais une corde" von Montaigne suggerirt. —
Die Entlehnung ohne Quellenangabe kann bona lide geschehen sein,
gemäss Leibnizens eigener Theorie des unbewussten Plagiats, ib.
p. 221: „II est arrive. qu'un homme a cru faire un vers nouveau,
qu"il s"est trouve avoir lü mot pour mot etc."
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Jaliresbericlit
über
sämmtliche Erscheinungen auf dem Gebiete der Geschichte
der Philosophie
i u G e m e i n s c h .1 f t mit
Ingram Bywater, Alessandro Chiapelli, Hermann Diels, ^yilhelm Dilthey,
Benno Erdmann, J. Gould Schurman, Paul Tannery, Feiice Tocco
und Eduard Zeller
herausgegeben
Ludwig Steiu.
oo*
32
\
IX.
Jahresbericlit über die deiitsclie Litteratiir zur
Philosophie der Renaissance 1886-1888.
Von
LiKlwig Steiu in Zürich.
Poster Theil.
Carkieue, Mokitz. Die philosüphische Weltanschauung der Refur-
mationszeit in ihren Beziehungen zur Gegenwart. Zweite
vermehrte Auflage. 2 Bde. 419 und 319 S. Leipzigl887,
F. A. Brockhaus.
Ein Buch von scharf ausgepriigtem Character ist häufig ein
Individuum für sich, zu welchem man ganz unbekümmert um die
Person des Verfassers Stellung zu nehmen pflegt. Und wie es
nicht selten beobachtet werden kann, dass man für ein bestimmtes
Individuum trotz aller offenkundigen Schwächen desselben aus un-
erklärlichen Beweggründen entschiedene Sympathien besitzt, ja dass
gerade die Schwächen jenes Individuums durch liebgewordene Ver-
trautheit uns auf die Dauer derart anheimeln, dass wir sie gar
nicht missen möchten, so pflegt es zuweilen auch mit Büchern zu
ergehen. Es gibt Bücher, die wir unbeschadet ihrer greifbaren
Mängel so liebgewonnen haben, dass wir es nur ungern sähen,
wollte man jene Mängel auszumerzen suchen.
Ein solches Buch von starkmarkirter Individualität ist unstreitig
Carriere's „philosophische Weltanschauung der Reformationszeit".
Entstanden in einer gälirenden, wildbewegten Zeit (1847), getragen
von einer jugendfrischen, flammenden Begeisterung hat sich dieses
Buch einen bestimmten Platz in der deutschen Litteratur erobert.
Und wenn jetzt, nach vierzig Jahren , eine neue Auflage nothig
47('> Ludwig Stein,
wurde, so musste die jugendliche Urspriinglichkeit und fri.sche
Unmittelbarkeit des Buches gewahrt bleiben, wollte man keinem
bedenklichen Anachronismus verfallen. Denn andere Zeiten, an-
dere Menschen; andere Menschen, andere Bücher. Hätte Carriere
diese zweite Auflage seines Buches dem heutigen Stande und der
jetzt geltenden Methode der Wissenschaft entsprechend ummodeln
und zurechtstutzen wollen, dann musste er ein neues, grundanderes,
Buch schreiben, das mit der ersten Auflage nicht viel mehr als
den Namen gemein hätte. Dann aber wäre dem eingeführten,
gerade in .«einer Eigenart beliebt gewordenen Werke jener Reiz
genommen, den es durch seine eigenthümliche Verquickung von
strenger Wissenschaft, und rhetorischem Pathos ausübt. Mit fein-
sinnigem Verständuiss für die gesteigerten Forderungen einer neuen
Zeit hat daher Carriere bescheidentlich darauf verzichtet, sein
schönes Buch zu einem umfassenden, erschöpfenden, die neuesten
Forschungsergebnisse sorgsam verarbeitenden Handbuch der Renais-
sance-Philosophie umzugestalten. Deim ein so dringendes, allgemein
empfundenes Bedürfniss ein solches Handbuch auch ist, zumal auch
die ausserdeutsche Litteratur diese empfindliche Lücke in der Ge-
schichtsdarstellung der Philosophie immer noch nicht ausgefüllt hat,
so wenig eignete sich ('arriere"s Werk seiner ganzen Anlage und
Richtung nach zu einem .solchen.
Nur wenig Neues fügt die zweite Auflage der ersten hinzu.
Es steht uns darum auch nicht recht zu, eine einlässliche, tiefer-
gehende Kritik an dem Werke selbst zu üben, da die A'orzüge und
Mängel desselben männiglich bekannt sind. Nur im Allgemeinen
sei bemerkt, dass ein gewisser wähl verwandter Zug, den Carriere
mit den treibenden Strebungen der Renaissance-Periode, ganz be-
sonders mit den Gedankenrichtungen eines Giordano Bruno, Tommaso
Campanella und Jacob Böhme gemeinsam hat, der Darstellung jl
stellenweise ungemein zu Gute kommt. Dort, wo der congeniale
Carriere sich auf heimischem Boden bewegt, wird seine durch-
dringende Wiedergabe der philosophischen Systeme kaum über-
troffen werden können. Hingegen gelangen jene Richtungen der
Renaissance-Philosophie, die ihrer Natur nach eine trockenere Be-
handlung heischen, nicht ganz zu ihrem Rechte. Männer wie
Jahresbericht üb. d. deutsche Litt. z. Philos. d. Reuitissauce 1886 — 1888. 477
JSicolau.s CusaniLs, Gemistos Plcthon, Marsigliü Ficino, die l»eiden
Pico von Mirandula u. A. verdienen denn doch wol eine schärfere
Beleuclitung und tiefergehende Beachtung.
Dieser letztberiihrte Mangel hängt übrigens mittelbar mit
einem anderen zusammen, der dieser neuen Auflage anhaftet.
Carriere hat die seit 40 Jahren erschienene Litteratur über die von
ihm beliandelte Materie nicht beachtet. AVährend der damalige
.Stand der monographischen Litteratur in den Noten der ersten
Auflage fast erschöpfernd angegeben war. hat es Carriere bedauer-
licherweise verabsäumt, in den Noten der zweiten Auflage die
inzwischen erschienene Litteratur nachzutragen, geschweige denn
inhaltlich zu berücksichtigen. Das hätte aber geschehen können,
ohne den ursprünglichen Character des Buches irgendwie zu beein-
trächtigen. Eine solche Angabe der seit 40 Jahren erschienenen
monographischen Litteratur zur Philosophie der Renaissance war
nun aber um so mehr geboten, als es uns an einer solchen leider
immer noch gebricht. Und doch haben uns die letzten Jahrzehnte
so manche fruchtbare Arbeit gebracht. Abgesehen von den grund-
legenden Werken Burkhardt's und Voigt"s, die in ihren zusammen-
fassenden Darstellungen der Renaissance auch für die Philosophie-
geschichte jener Zeit so manche beachtenswerthe Winke gegeben
haben, liegen uns auch einige Monographien, namentlich von
italienischen Gelehrten, direct zur Renaissance-Philosophie vor,
durch deren Zusammenstellung sich Carriere den Dank der Fach-
geuossen in hohem Grade verdient hätte. Allerdings erhebt Carriere
nicht den Anspruch auf Vollständigkeit; aber da sein Buch nun
einmal das einzige in Deutschland ist, das speziell der Renaissance-
Philosophie gewidmet ist, würde es an Brauchbarkeit erheblich
gewonnen haben, hätte es den derzeitigen Stand der bezüglichen
Litteratur, wenn auch nur im knappen Rahmen von Titelangaben,
verzeichnet.
Es soll allerdings nicht geläugnet werden, dass eine solche
Zusammenstellung der hergehörigen Litteratur auf erhebliche
Schwierigkeiten stÖsst, zumal wenn auch die ausserdeutschen
Publikationen volle Berücksichtigung finden sollen. Der wissen-
schaftliche Wechselverkehr unter den Kulturnationen ist eben, so-
47,S Ludwig Stein,
weit die riiilo.sopliiegeschichte in Betraclit kommt, noch gar zu
jungen Datums. Daher mag es auch kommen, dass die mit Recht
so gerühmten und sonst so /Aiverlässigen Litteraturangaben des
Ueberweg-Heinze'schen Grundrisses gerade bei der Renaissance-
Periode einige Lücken aufweisen. Und so dürfte es denn als Er-
gänzung des Carriere'schen Buches nicht unwillkommen sein, wenn
ich bei dieser Gelegenheit auf einige neuere ausserdeutsche Publi-
kationen zur Renaissance-Philosophie hinweise, wobei ich mich in-
dess nur auf solche beschränke, die auch im L'eberweg-IIeinze'schen
Grundriss nicht verzeichnet sind. Von allgemeineren Werken,
welche die ganze Periode umspannen oder doch einzelne Abschnitte
des Weiteren behandeln, führe ich au: E. Gebhard, Les ori-
gines de la renaissance en Italic, Paris 1879, und dessen La
renaissance italieune, Paris 1887, Cerf. Albert Castelnau, Les
Medicis, Paris, 1879, Calman Levy. Mamiani della Rovere,
Del rinnovamento della hlosotia antica italiana. Paris, Delaforest.
Francesco Fiorentino. II Risorgimento Filosofico nel Quattro-
cento. Napoli 1885. Carducci, Studi Letterari, Livorno 1874.
Antonio Casertano. Saifgio dcl rinascimento dcl classicismo durante
il secolo XV, Torino, 1887.
Einzelne Philosophen der Renaissance behandeln: Galeotti,
Saggio intorno alla vita ed agli scritti di Marsiglio Ficino, im Archivio
sto'rico, It. Bd. IX und X. Henri Vast, le Cardinal Bessarion.
Paris 1878. Labanca, Giacomo Zabarella, Xapoli 1878. Pietro
Ragnisco, Giacomo Zabarella, Atti del instituto Veneto 1885,
IV, 6. Derselbe, Un autografo del Cardinale Bessarione, atti del
instituto Veneto, 1884, III, 1. Villari, Macchiavelli, sowie dessen
Storia di Gir. Savonarola, Firenze 1887. ' F. Buttrini, Girolamo
Cardano, Savona 1884. Domenico Berti, Vita di Giordano Bruno,
ed. Paravia. Zu beachten ist auch, die mit Unterstützung der
italienischen Regierung von Fiorentino begonnene und nach dessen
Tode von den Professoren G. A^itelli und Feiice Toccoiu
Florenz fortgesetzte Ausgabe: Bruui Nolani opera latine conscripta,
Xapoli 1886—88. B. Spaventa, Saggi di critica (Bruno-Cam-
panella), Napoli 1867. Luigi Amabile, Tommaso Campanella;
Xapoli, Morano. Natürlich sind meine ergänzenden Litteraturan-
Jahresbericht üb. d. deutsche Litt. z. Philos. d. Renaissance 1886 — 1888. 479
oal)en weit davon entfernt, den Gegenstand zu erschöpfen. Nur
eine genaue Umfrage bei italienischen Gelehrten kann uns dazu
verhelfen, die etwa noch vorhandenen bibliographischen Liiclcen
gUicklich auszufüllen. Werke von hervorragender Wichtigkeit frei-
j lieh dürften in diesem Nachtrag kaum übergangen sein.
In neuester Zeit entwickeln die italienischen Gelehrten eine
besondere Rührigkeit in (Kn- historischen Erforschung der Glanz-
periode ihrer Philosophie. In dieser Richtung haben namentlich
die o-rundleuenden Arbeiten des leider frühverstorbenen Fiorentino
höchst anregend und förderlich gewirkt. Aber zu einer durch-
greifenden Erfassung und allseitigen Beleuchtung der gesammten
Renaissauce-Philosophie, die ja das zweihundertjälmge verzweifelte
Ringen des mündiggewordenen Menschengeistes wider die beengen-
den Schranken einer verknöcherten Scholastik auf allen Gebieten
darstellt, hat sich noch kein Italiener aufraffen können. Es ist eben
immer noch nicht ausreichende monographische Vorarbeit vorhanden, ■
um eine solche Riesenaufgabe mit einiger Aussicht auf vollen Er-
folg in Angrift" nehmen zu können. Und so lange wir ein solches,
von den Fachkreisen sehnlichst herbeigewünschtes Werk über die
Renaissance-Philosophie, das auf der Vollhöhe der wissenschaftlichen
Forderungen der Zeit steht, noch nicht besitzen, wird Carriere's
„philosophische Weltanschauung der Reformationszeit" seinen her-
vorragenden Platz in der Litteratur behaupten. Trotz mancher
Mängel in Anlage und Auflassung, die Carrierc selbst nicht ver-
kennt, ist es doch bislang das einzige deutsche Buch, das uns ein
farbenreiches, von idealer Gesinnung durchhauchtes und mit echt
Jm dichterischem Schwung gezeichnetes -Bild der einander durch-
kreuzenden |)hilosophischen Strömungen der Renaissancezeit ent-
wirft.
Gaspary, Adolf. Die italienische Litteratur der Renaissaucezcit
(Geschichte der italienischen Litteratur Band II), Berlin
1888, Robert Oppenheim. 704 S. M. 12.
Nur ein bescheidenes Plätzchen hat Gaspary der philosophischen
Litteratur in seiner umfassend angelegten italienischen Litteratur-
geschichte angewiesen. Weder hat er ihr einen besonderen Ab-
4S0 Ludwig Stein, Ämijli«'
I
schnitt gewuliiiet. iiucli brachte er durt, wu er philosophische Stre-
bungen in enger Yerllechtung mit anderen litterarischen Erschei-
nungen darstellt, den vorwaltenden oder doch weitgreifenden Ein-
fluss der Philosophie auf die litterarischen Grenzgebiete scharf genug
zum Ausdruck. Und doch boten sich gerade hier iler litterar-
historischen Forschung, soweit sie mehr sein will, als dürre Wieder-
gabe des spröden poetischen Stottes und trockene Aufzählung von
Daten, sofern sie vielmehr die tieferen und feineren Zusammen-
hänge unter den einzelnen Litteraturgattungen aufzuspüren bestrebt
ist, höchst fruchtbare Beziehungspunkte dar. Eine solche enge
AVechselbeziehung von Philosophie und Dichtkunst, wie sie uns in ^<n
der Renaissance entgegentritt — man denke nur u. A. an Petrarca,
Boccaccio, Pico von Mirandula, Bruno, Campanella — begegnet uns
nur noch einmal in der Litteraturgeschichte: bei Lessing, Herder,
.Schiller und Goethe. War aber das philosophische Interesse in der '
Renaissance so rege und lebendig, dass es bei einzelnen hervor-
ragenden A'ertretern der Dichtkunst auch in die Poesie merklich
hinübergegriffen hat, so erheischt die Darstellung der poetischen
Litteratur der Renaissance gebieterisch eine entsprechende Mitberück-
sichtigung der herrschenden philosophischen Strömungen und deren
Einwirkungen auf die Gesammtlitteratur.
Mag nun aber auch die im Verhältniss zu ihrer Bedeutsamkeit
geringe Beachtung, die Gaspary der Philosojjhie der Renaissance
widmet, ein bedenklicher Mangel seines mit Recht allgemein ge-
rühmten Werkes sein, so trifft ihn selbst doch nur der geringste
Theil der Schuld. Der Litterarhistoriker ist nicht dafür verant-
wortlich zu machen, dass einzelne durch den Character der von
ihm dargestellten Epoche uothwendig gewordene philosophische Ab-
schnitte seines Werkes unbedingt lückenhaft ausfallen müssen, weil
die Philosophen von Fach es verabsäumt haben, die betreffende
Periode mit gebührendem Ernst und gebotener Gründlichkeit zu
behandeln. Man kann keinem noch so gediegenen Litterarhistoriker
zumuthen, sämmtliche Werke der Renaissance-Philosophen mit der
erforderlichen eindringlichen Schärfe zu studiren, um sich durch
die zuweilen unwegsamen Irrpfade und krausen Gedankengänge
jener Halbscholastiker selbst die Bahn zu eignen. Hier zuvörderst
3 fast
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Jahresbericht üb. cl. deutsche Litt. z. Philos. d. Renaissauce 188fi— 1888. 481
den Boden von dem überwuchernden Gestrüpp phantastischer
Schwärmereien zu säubern, die philosophischen Endi)estrebungen
der Renaissaucedenker klar und unverhüllt herauszuschälen aus
dem fast erdrückenden Wust von mystischen Umhüllungen, in welche
jene eingekleidet sind, das ist zunächst und zuhöchst Ehren-
pflicht der Fachphilosophen! So lange also von philosophischer
Seite dieser Ehrenpflicht nicht genügt ist, haben wir kein begrün-
detes Recht, es den Litterarhistorikern zu verübeln, weini sie bei
einer zusammenfassenden Darstellung der litterarischen Gesammt-
leistungen der Renaissance die philosophische Schöpferkraft der-
sellten nur gering anschlagen. Wir wollen darum mit Gaspary um
Iso weniger darüber rechten, dass die philosophischen Abschnitte
[seines sonst vortrett"lichen ^Verkes etwas mager und farblos aus-
Igefallen sind, als man ihm das Zeugniss kaum versagen kann, dass
ler sämmtliche Ansätze zur Geschichte der Renaissance-Philosophie,
Isofern sie ihm zugänglich waren, sorgfältig gesammelt und ver-
Iständnissimiig benutzt hat. So ist z. B. die Kennzeichnung der
philosophischen Persönlichkeit Lorenzo Vallas, (S. 136 ft'.), da sie
sich auf die glänzenden Vorarbeiten Vahlen"s stützen konnte, ganz
vortrefflich ausgefallen. Minder gelungen hingegen scheint mir die
Schilderung (S. 156ft'.) des gewaltigen Streites für und wider Plato
lund der mit dieser Fehde ursächlich zusammenhängenden Entstehung
l-der neu-platonischen Akademie zu Florenz. Bei der einschneiden-
Iden Wichtigkeit dieser Akademie für das gesammte Geistesleben
der Renaissance und nicht zuletzt der Poesie, die damals mit der
Philosophie stark verquickt war, wäre doch wol eine schärfere
Beleuchtung der weitgreifenden Einwirkungen dieser Akademie am
Platze gewesen. Allerdings muss auch hier wieder entschuldigend
für Gaspary hervorgehoben werden, dass noch ein ungeahnt reiches
Material an unedirten Documenten aus jener für den Umschwung
der Philosophie so wichtigen Epoche in den italienischen Biblio-
theken, namentlich in der Laurentiana zu Florenz, aufgespeichert
liegt, so dass eine erschöpfende Bearbeitung dieser Periode zur Zeit
kaum möglich ist.
Die Nichtberücksichtigung handschriftlicher Materialien hat
|inancherlei UnvoUkommenheiten zur nothwendigen Folge. So ist
i
f
?
482 '''"' ^^'i? Stein,
durch clicseu Mangel beispielsweise die höchst beraerkenswerthe
Persönlichkeit des Lionardo Aretino (eigentlich Lionardo Bruni
genannt) von Gaspary stark iü den Hintergrund gedrängt worden.
Durch den Umstand, dass zahlreiche Werke Bruni's in der Lauren-
tiana noch der Veröß'eutlichung harren, ist Gaspary diesem gelehrten
A'ielschreiber, dessen vielseitige Gelehrsamkeit jedoch von keinem
Zeitgenossen erreicht, geschweige denn überboten wurde, nicht ge-
nügend gerecht geworden. Wo! war Bruni weniger origineller
Denker, denn eine encyclopädisch angelegte Natur; allein er hat
den Ruhm der florentinischen Gelehrsamkeit wesentlich mitbegriindet
und — was ihn in erster Reihe auszeichnet — Schule gemacht.
Nahezu alle florentinischen Geisteshelden aus der zweiten Hälfte
des 15. Jahrhunderts verehrten ihn als Lehrer oder doch als
litterarisches Vorbild. Boninsegnius z. B., der Verfasser der ersten
„Geschichte der antiken Philosophie in der Neuzeit" (vgl. Archiv 1,
S. 538 ft'.), der Freund und philosophische Berather des Marsilius
ricinus, knüpfte unmittelbar an das Isagagicon, seu introductio ad
moralem philosophiam des Lionardo Bruni an. (Nebenbei bemerkt
ist dieses Isagagicon, das Janitschek, Voigt und Fiorentino für uii-
gedruckt halten, imd das Gaspary (S. 659) in einer Ausgabe von
Joh. Weidner, Jena 1607 auf der Stadtbibliothek zu Breslau ge-
funden hat, schon 1475 in Löwen gedruckt, vgl. Bandini's Index
latinus der Laurentiana, I, 260).
Glücklicher ist (Jaspary in der Kennzeichnung solcher Philo-
sophen, deren Werke gedruckt vorliegen. So ist seine Skizzirung
der Philosophie des Marsilius Ficinus (S. 161 — 68) trefi'ljch gelungen.
Hier zeigt (iaspary eine Vertrautheit mit den eigenthümlichen (Je-
dankengängen der Renaissancephilosophie, die einem Fachmann
Ehre machen würde, und darum ist es denn auch doppelt be-
dauerlich, dass der Verfasser,' der sich bei der Behandlung des
Ficinus als ein eingeweihter Philosophiekundiger ausgewiesen, sich
gelegentlich der Besprechung anderer Philosophen eine gar so kühle
Reserve auferlegt hat. Abgesehen davon, dass er Männer wie
l^mpouatius, Zabarella, CVcmonini, Patritius, Cardanus, Telesius,
ja sogar einen Tomaso Campanella ganz unerwähnt Hess, hat sich
Gaspary die lockende Gelegenheit, die sich ihm bei der Ikhandlung
Jahresbericht iili. d. deutsche Litt. z. Philos. d. Renaissance 188G— 1888. 483
der Comödie Candelaio des Giordano Bruno (S. 598 f.) bot, das
Wechsel verhältniss von Poesie und Philosophie an dem klassischen
Beispiel Bruno's 7a\ besprechen, entschlüpfen lassen. Unterliess der
Verf. aber diesen naheliegenden Streifzug auf das philosophische
Gebiet deshalb, weil die Philosophie in den Rahmen jenes die
Comödie behandelnden Capitels sich nicht recht hineiuflechten Hess,
so ist die Frage denn doch berechtigt, warum er der philosophischen
Litteratur in seinem breit angelegten Werke keinen besonderen
Abschnitt gewidmet hat?
Meine Bedenken gegen das von den litterarhistorischen Fach-
kreisen mit allseitigem Beifall aufgenommene Werk Gaspary's treffen
natürlich nur die philosophischen Theile desselben, und auch diese
nur in dem, was sie unterlassen, aber nicht in dem, was sie geboten
haben. Das Wenige, das der Verf. positiv 7Air Philosopliiegeschichte
beiträgt, ist wie das ganze Buch solid und gründlich.
MoNNiER Marc. Litteraturgeschichte der Renaissance von Dante
bis Luther. Deutsche autorisirte Ausgabe. Nördlingen
1888. C. H. Beck'sche Buchhandlung. 422 S.
Nicht als Anhängsel, sondern als auffälliges Gegenstück mag
das Monnier'sche Buch neben das Gaspary's gestellt werden. Beide
AVerke behandeln zum grossen Theil die gleiche Materie, aber mit
■wie grundverschiedenen Mitteln und entgegengesetzten Methoden!
Beide W^erke sind ihrer Anlage und Schreibart nach typisch:
Gaspary repräsentirt in vollendeter Weise den deutschen Gelehrten,
Monnier den. französischen Schöngeist. Germanische (iediegenheit
und romanische Geistreichelei können kaum an einem glücklicheren
Beispiel aufgezeigt werden, als an diesen l)eiden, den gleichen
Gegenstand behandelnden Werken. (Jaspary ist von peinlichster
Vorsicht im Urtheil, wenngleich er dasselbe auf eine umfassentle
Durcharbeitung und tiefere Durchdringung des Stoffes gründet.
Monnier hingegen urtheilt nach persönlichen Stimmungen und
augenblicklichen Eingebungen etwas vorschnell, zumal ihm eine
erschöpfende und vertiefte Kenntniss seines Gegenstandes offenbiir
abgeht. Das deutsche Buch ist dementsprecliend von einer erstaun-
lichen Objectivität dev Darstellung, das rranzr.sisclH" stark subji'ctiv
434 T' '1 '1 ^^' ' D '*^ t p i " j
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gefärbt . Stylistisch IVeilicli ist der Franzose im Vortheil; denn eine i *
subjective Parteinahme macht den Styl wärmer, lebendiger und ^ '' '
anschaulicher, während eine objeetive Berichterstattung naturgemäss
etwas trocken und farblos ausfallen muss. Da es nun dem ernsten
Forscher lediglich um genaue Ermittlung des Thatbestandes zu thua
ist, wobei zierliche Redeblumen und bestechende Vergleiche eher
hinderlich als förderlich sind, so wird in Fachkreisen nur Gaspary's
Buch Geltung gewinnen. Weiteren Laieukreisen jedoch, denen es
mehr auf eine allgemeine Orientirung über die Geistesbewegung der i
Renaissance ankommt, mag das Monniersche Buch eine gewisse
Anziehung bieten. Der lockere, geistreichelnde Ton macht das Buch
zu einer angenehmen Erhol ungslectüre.
Die philosophischen Theile des Buches, sofern man von solchen
reden kann, sind last gänzlich missgliickt. Die hastige, sprunghafte
Arbeitsweise des Verfassers eignet sich eben nicht für die Behand-
lung philosophischer Fragen, die eine umsichtige Nachprüfung und
ein tieferes Eindringen gebieterisch heischen. Das Verhältniss d
,,Göttlichen Komödie" zur scholastischen Philosophie ist S. 35 kaum
ilüchtig gestreift. Petrarca's Anschluss an's griechische Alterthum
und der aus demselben hervorgegangene begeisterte Aufruf nach
Erneuerung der Antike hat Monnier garnicht der Erwähnung vverth
befunden. Und doch liegt in Petrarca's Feuereifer für das classische
Alterthum eine der mächtigsten AN'urzelfasern der philosophischen
Renaissance.
Eine gar zu grosse Willkür herrscht auch in der Anordnung
des Stofles. Männer von einschneidender Bedeutung • werden kurz
abgethan, andere uuverhältnissmässig breit l)ehaudelt. Laurentius
Valla Avird (S. l()2f.) mit einigen Zeilen abgefertigt, die platonische
Akademie auf zwei Seiten (S. 181 f.) skizzirt (Plethons Vorname wird
dabei konsequent Gemistios geschrieben). Hingegen werden von
Savonarola z. 1^. ganze Predigten abgedruckt (S. 187 — 192) ').
') Bei dieser Gelegenheit möchte ich auf die wenig bekannte Thatsache
hinweisen, dass Savonarola auch ein ziemlich fruchtbarer philosophischer
Öchiiftsleller war, der iil)er die meisten Gebiete der damaligen Philosophie;
Compendien verfasste. Die Laurentiana in Florenz bewahrt folgende, gedruckt
vorliegende philosophische Schriften Savonarolas: Compendium Logicale. librigi
Jahresbeiiclit \\\>. d. deutsche Litt. z. Philos. d. Renaissance 1886—1888. 485
Am breitesteu, freilich auch am eiiiiseitigsten wird Erasmus
von Monnier behandelt (8. 205—224 und 243—247). Bei ihm
werden alle Schwächen und Halbheiten mit dem Mantel der Liebe
behutsam verhüllt, während die kleinen Blossen Ulrich von Hutten's
(S. 231 — 243) unnachsichtig aufgedeckt werden. Der zaghafte, un-
schlüssige, zweidentige Erasmus erscheint da als ein Characterheld,
während die urwüchsige Kraftnatur eines Hütten zur jammervollen
Zwergfigur eines „Bettelstudenten" zusammenschrumpft. Das ist
denn doch eine so augenfällig tendenziöse Umkehrung der That-
sachen, dass man beinahe versucht wäre, hinter Marc Monnier, der
sonst einen unbefangenen, freien Geist zeigt, einen katholischen
Tendenzschriftsteller zu vermuthen.
Vom philosophischen Gesichtswinkel gesehen leidet Monniers
[Buch endlich noch an dem bedenklichen Mangel, dass es bei der
i Werthabschätzung litterarischer Strömungen kleineren politischen
Vorgängen und kleinlichen persönlichen Motiven eine zu grosse,
hingegen treibenden Kultnrgedanken und tragenden philosophischen
Ideen eine zu geringe Beachtung widmet. Man versteht die Geistes-
geschichte doch nur halb, wenn man sie willkürlich aus einzelnen
zusammenhanglosen, zersprengten Trümmern zusammenfügen will,
ohne ein höheres leitendes Prinzip anzuerkennen, das in allen
mannigfaltigen, wie auch gearteten Ottenbarungen des Geistes mehr
|.oder minder deutlich zum Durchbruch gelangt.
Dante.
IHettingek, Franz, Dr. Dante's Geistesgang, Köln 1888, J. P.
Bachern. 132.
Den etwas fremdklingenden Titel erklärt der gelehrte, fein-
I sinnige Verfasser S. 54 dahin: „In Dantes Geistesgang stellt sich
XL Corapendiuin philosophiae naturalis ad Aristotelis et Tlioinae menteiii.
Compendiuin Dialecticae, Physicae et Ethices. Tractatus de actibus hunianis.
ICompendium Metaphysices. Die opera oimiia Savonarola's sind 1548 in
Venedig erschienen. Allein die philosophische Thiltigkeit Savonarola's wurde
Ivou seiner sozial-reformatorischen derinassen überstrahlt, dass sie fast ganz, in
Vergessenheit gerieth, bis der gediegene Pasquale Viliari in seiner .,stori;i dl
Girolumo Savonarola e di simi tempi" sie wieder in l'',iiinu'riing gebrai'iit bat.
480 Ludwig Stein,
i
I
uns stets ein Fortschritt dar vom Leiblichen zum Geistigen, von
der Geschichte zur Idee" und erläutert ihn ferner S. 103 mit den
Worten „So haben wir denn in Dante's Geistesgang eine allmälig
sich entwickelnde, stetig fortschreitende, organisch sich aufbauende
Aus- und Durchbildung zu erkennen, die durch keinen Gegensatz
zum Glauben durchbrochen, ja nicht einmal durch einen
Zweifel gehemmt oder getrübt worden ist".
In diesen letzten Worten spiegelt sich die wissenschaftliche
Eigenart und hervorstechende Tendenz dieser dankensvverthen Studie Jalirf
des hervorragenden Dantekenuers mit unverkennbarer Deutlichkeit
wieder. Neben dem warmen und erfolgreichen Eintreten für diej -.
Ansicht, Dante's angebetete Beatrice sei keine allegorische Figur"
keine abstrahirte Idee gewesen, sondern habe in leibhaftiger Wirk-
lichkeit bis zu ihrem 1290 erfolgten Tode in Florenz existirt (S. 32
und 115), springt uns in dieser gehaltvollen und lehrreichen Studie
namentlich nur noch der eine Gedanke als thoma probandum in
die Augen. Dante könne niemals auch nur einen Anflug von
Skeptizismus gehabt haben. Die gediegensten Dantekeniier,
wie Karl Witte. Hugo Dellf, J. A. Scartazzini und Fr. AVegele
nehmen nämlich mit einer Einmiithigkeit. die bei gleichstrebenden
Forschern selten genug ist, an, Dante zeige in seinem der „göttlichen
Komödie" vorausgehenden Werke „II amoroso Convivio" (oder con-
vito, wie die neue Schreibung lautet) eine solche kirchliche Lauheit
und dogmatische L'nfestigkeit, dass man versucht ist, dieses Buch
als das Erzeugniss einer skeptischen Anwandlung, eines verzweifeln-
den Ringens der philosophischen Anschauung gegen die kirchliche
anzusehen. Diese Annahme stützt sich auf die unbestreitbare That-
sache, dass man an zahlreichen, von AVitte sorgfältig zusammen-
gestellten Stellen des „Gastmahls" die Zuckungen der Skepsis deut-
lich herausfühlen kann. Dazu tritt noch das Selbstbekenntniss
Dante's in den Schlussgesängen des Pui'gatorio, in welchen Dante
die früheren Irrthümer bitter bereut. Die „Divina Commedia"
bezeichne demnach den Höhepunkt der religiösen und philosophischen
Katharsis im „Geistesgang" Dante's, sofern hier bereits die skep-
tischen Misstöne des „Gastmahls" überwunden wären und in einen
berauschenden Accord harmonischer Kirchlichkeit ausklängen.
ii
Jahresbericht iü-. d. deutsche Lilt. z. Philo.s. d. Renaissance 1886—1888. 487
Dieser psychologisch so naheliegende und historisch so leicht
erweisliche philosophische Entwicklungsgang Dante's misshagt Het-
tinger gründlich, weil er den poetischen Hort der scholastischen
Philosophie zu einem, wenn auch nur vorübergehenden, Skeptiker
macht, und der Verfasser wagt daher den kühnen Versuch, diese
skeptisclie Periode durch scharfsinnige philosophische Exegese
(S. 77—95) wegzucleuten. Die spitzfindige Beweisführung stützt
sich vornehmlich darauf, dass die scheinbar skeptisch gefärbten
Lehrsätze des „Gastmahls" sich auch bei gut scholastischen Philo-
sophen, wie Albertus Magnus und Thomas von Aquin, oder bei
Mystikern wie dem heil. Bernard und Hugo von St. Victor wieder-
finden (dabei fällt Hettinger S. 76 ein treffliches Urtheil über das
Verhältniss von Scholastik und Mystik). Damit hat H. aber den Ske})-
tizismus Dante's nur zurückgerückt; seine Beweisführungen zeigen
eben nur, dass auch scholastische bezw. mystische Schulhäupter
wie Albertus und Hugo v. St. Victor zuweilen skeptische Anwand-
lungen hatten. Warum auch eicht? AVer nicht wie H. (S. 36\ 39)
strict auf dem Boden der Encycl. vom 4. August 1879 steht,
sondern sich mehr an Augustin's „Confessionen" hält, für den hat
die Annahme, Dante könnte in seiner Jugend Skeptiker gewesen
sein, nichts Verwunderliches und Befremdendes.
I
J *
Archiv f. Geschichte il. Vlülosopliie. II.
B3
X.
L'Histoire de la PliilosopMe en France peiidaiit
l'auuee 1887.
Par
Paul Tannery u Bordeaux.
L'aniiee 1887 a vu, lait bleu exceptloiiiiel, paraitre eu France ^
au moins trois volumes importants consacres a Thistoire de la
Philosophie ') :
A.-Ed. CiiAKiNET. Histoire de la psychoIogie des Grecs, — Tome I.
Histoire de la psychologie des Grecs avant et apres Aristote.
— Paris, Hachette, 1887. — XXII— 426 pages.
M. Chaignet, recteur de l'Academie de Poitiers, correspoiidaiit
de rinstitut, aiiteur de nombreux volumes couronnes par FAca-
demie des Sciences morales et politiques, est bien connu, en France
et a Tetranger, de ceux cjui s'interessent a Thistoire de la philo-
sophie, Qui a lu ruii de ses ouvrages historiques: Pyt hagere
et la [)liilosQphie pythagoricieune, 1873; Yie de Socrate,
1866; La Yie et les ecrits de Piaton, 1871; ])e la psycho-
logie de Piaton, 1863; Essai siir la psychologie d'Aristote,
1884; sait d'avance ce qu'il trouvera dans un voliime comme celui
qui vient de paraitre, une abondance documcntaire qui temoigne
(Fun travail aussi acliarue que consciencieux, une interpretation
prudente a tendances spiritualistes, bref, les renseignemeuts les
plus complets sur le siijct traite; il sait aussi ce qu'il n'y trouvera
') Kn raison de la longueur que je suis eu consequence amene ä douuor
a ce compte-remlu, je diflVTe jus(|u";t l'auuee prochaiue ii parier des untres
travaiix inoius consiiltMaliles et des rc-iMÜtions d^ouvrag-es dejä ancieus.
L'nistoire de la Pliilosopliie en France pendant raniii'e 1887.
489
pas, la decisioii critique hardie et revelatrice, le developpemeut
regulier d'idees directrices que le lecteur puisse aisement retrouver
au niilieu des digressions et des preuves et auxquclles il puisse
rattaclier ce qui passe devant ses yeux. M. C'haignet veut sans
doute que nous nous construisions nous-memes l'histoire et se con-
teute de nous fburuir tous les materiaux prepares et ordonnes;
peut-etre a-t-il eu raison dans le clioix de cette metliode, en ce
sens du moins que ses ouvrages ont peut-etre ainsi plus de chauce
d'etre etudies et consultes pendant longtemps. Mais je crois que
pour susciter le travail dans Tesprit du lecteur, il est encore plus
utile de lui proposer quelque chose de fortement construit, fut-il
au reste a demolir.
Dans son dernier volume, M. Chaignet, apres quelques pages
siir les plillosophes anterieurs, reprend son ancieu expose de la
Psychologie de Piaton, esquisse la doctrine de Speusippe et de
Xenocrate, saute Aristote, deja traite en 18<S4, et oontinue par
Theophraste jusqu'ä Straten. Un appendice renferme une histoire
exterieure de l'ecole d'Aristote et une liste alpliabetique raisonnee
des peripateticiens du Lycee, liste comportant 286 noms et sur le
type de celle de la Bibliotheca Graeca de Fabricius.
II est au moins singulier que, dans sa preface, M. Chaignet
declare qu'il ne connait personne ayant traite le nieme sujet que
lui depuis Carus en 1808. II ne faudrait pas en conclure que,
par exemple, auciin exemplaire des ecrits de Siebeck n'a penetre
en France, et n'y a ete analyse par los recueils competents. Je
n"ai pas besoin d'ajouter que Fexpose de la doctrine du pneuma
par M. Chaignet dillere sensiblement de celui donne par le philo-
sophe allemand.
Victor Brociiard. Les sceptiques Grecs, Paris, Alcan. — 4?>0 pages.
Ce volume reprosente, avec les remaniements d'usage lors de
la publication, un memoire qui a obtenu en 1884 le prix Victor
Cousin a FAcademie des Sciences morales et politiques. C"est peut-
etre le cas de dire quelques mots sur le Ibnctionnement en France
de cette institution de prix decernos aux ouvrages sur Ihistoire de
la Philosophie.
33*
490
Paul T a n n e r y ,
C'est iine coiiditiou impo.see aux concurreiits L[ue de presenter,
eil meine temp.s que l'expose des doctriue.s etudiees, une appreciatioii
de ces doctrine.s et des conclusions faisaut nettemeüt ressortir
l'opiuion propre de Fauteur sur les questions agitees. Cette con-
dition est une consequence d'abord de l'usage traditionnel, toujours
respecte dans uue compagnie savaute, en second Heu, de la com-
position raeme de rAcadeniie qui decerue les prix et qui est formee
de pliilosophes plutöt que d'erudits.
Comme d'ailleurs les ouvrages couronnes out en general une
valeur incontestable et que quelques-uns ont ete particulierement
remarquables, ils donneut, en France, le ton aux travaux sur
riiistoire de la pliilosopliie; il s'y est cree ainsi uu genre special,
dans lequel le merite doctrinal Temporte, le plus souvent, sur le
nierite historique. Pour preciser ma pensee, il nie suflira de
rappeler les ouvrages de Fouillee sur Socrate et Piaton ou de
Yacherot sur TEcole d'Alexandrie.
Le public fran^ais est habitue ä ce genre et se trouve deroute
en presence de recherches poursuivies dans un autre esprit. Ce-
pendaut je crois que le genre est faux et je considere comme
eminemment regrettable le melange qu'il coniporte,
8i j"ai comme philosophe a combattre le scepticisme. j'ai a
m'occuper de la forme que mes contemporains donnent a leurs
arguments. non pas de celle que Carneade, par exemple, donnait
aux siens. Si, au contraire, je pretends interesser a Carneade, il
s'agit pour moi de determiner son etat d'esprit, de montrer en quoi
et pourquoi il diflerait de celui des liommes de notre temps; je
n'ai pas ;i m'inquieter davantage. Autrement dit, Thistoire de la |
Philosophie na nullement a pröparer des arguments pour les dis-
])utes des ecoles; eile doit proceder ä l'analyse des conditions
iiitellectuelles oii se sont produites et developpees telles uu telles
opinions. C'est par lä qu'elle i)eut enseigner quelque chose d utile
au [)hilosophe et non pas en entreprenant des discussions qui
risquent d'aboutir a une vaine logomachie.
Je ne fais pas ces observations pour IM. l)rochard qui a,
autant que ])Ossible. evite les delauts du genre. II a reduit au
iniuiiiuiiii (ililige soii iutcrveiitinn (hins le rule de philosophe, et a
L'IIistoire de lu Tliilüsophie eu France peurlaut I'amiee 1887. 491
singuliercment developpe, dans la partie historiqiie , le memoire
couronue. 11 uous a donc donne da scepticisme grec un tableaii
complet. clair et anime et dont devront tenir compte tous ceux
qui aborderont desormais le meme sujet.
Uue introdiiction traite des antecedeuts du scepticisme, avaut
Socrate et chez les socratiques. L'auteur conclut en sommo a
Turiginalite absolue de la positioii pnse par Pyrrhon.
Le premier livre, avant de parier de Pyrrhou et de Timon,
c'est-a-dire des anciens sceptiques, traite de la division de l'histoire
de la secte. Dans la premiere periode, Tecole se contente d'echap[)er
aux sul)tilites des sophistes en n"y repondant pas; Tessentiel est la
vie pratique.
Dans la seconde periode, (Aenesideme et ses successeurs im-
mediats), le scepticisme devient au contraire dialectique; les
tropes sont classes et on s'efforce de mettre partout la raison en
coutradiction avec elle-meme.
Enfm, dans la derniere periode, Tecole est dirigee par des
medecins empiriques (Menodote: Sextus Empiricus): au fond ils
meprisent la dialectique; ils entrevoient d'ailleurs la methode
d'observation et voudraient la substituer au dogmatisme et ä la
dialectique. On peut les rapprocher des positivistes.
A cliacune de ces deux dernieres periodes, est consacre un
des deux derniers des quatre livres de Touvrage: apres lancien
scepticisme, se trouve iutercalee, dans un livre speciaL Fliistoire
de la nouvelle Academie, d'Arcesilas a Antiochus d'Ascalon. Dans
un chapitre final, avant les conclusious, Fauteur indique les
ressemblances et les difterences entre les sceptiques et les acade-
miciens; il se prononce pour une distinction tranchee, reconuaissant
ä Carneade et a ses disciples par rapport aux pyrrhoniens la position
du probabilisme, il va jusqu'a dire du criticisme kantien, eu face
du positivisme phenomeniste.
L'epoque d'Aenesideme est fixco vcrs 80—70 av. J-C; il
aurait douc ete contemporain de Philon de Larisse, d" Antiochus
et de Cicpron. Rien ne prouverait quaucun pyrrhonien, cntrc
Ptolemee de Cyrene et Menodote, ait ete mcdecin.
402 Paul Tannery,
Favoriniis serait plulöt ä rapprocher de la Xouvelle Academie
quc du pyrrhonismc.
Je terminerai ces breves iiidications en .signalaiit ime ciirieuse
inscription grecque, publice dans un recent numero du Bulletin
de Cori-espondance hellenique (XII, p. 308) et dont M. Bro-
cliard n'a pu avoir coünaissauce:
6 Toc? 7.0' oac a",'ö|jLd)V 7.v' 'EXÄaooi,
y.al Tav ä":a[>a)^ov £v ßpoxoic ösusa^ ooov
IluppwviaciTac McVczXf/jc oo' sitj-l s^tu.
M. Picavet a lu, eu 1888, a rAcademie des sciences morales et
politiques, iine note sur cette inscription.
V. Tannehy. Pour Fhistoire de la science hellcne. — De Thaies
ä Empedocle. — Yll -f 396 pages. — Paris, Alcan.
Oblige, par suite d"une circoiistance imprevue, de rediger moi-
meme Ic compte-rendu d"uu volume dout je suis Tauteur. j'eii
profiterai pour repondre a quelques-unes des bienveillantes critiques
qui m'out ete adressees.
Le titre a ete trouve singulier, surtout en Frauce; cependant
11 correspond assez exactement au but que je me suis propose.
Sans doutc ce livic interessera surtout ceux qui s'occupent de
riiistoire de la philosophie; mais, de fait, j'ai ete amene primiti-
vement a le commencer a la suite de recherches sur les origines
de Pastronomie, et je Pai destine plutot aux savants qui peuvent
prendre goüt a la philosophie qu'aux philosophes que la science
attire. Cela explique d'ime part les traductions de docuraents
originaux dont je Tai charge, au Heu de citer, le plus souvent,
les textes grecs eux-memes ; cela explique aussi diverses digressions
eil j'ai pris ä partie les theories scientitiques contemporaincs; cela
explique surtout le point de vue special oii je me suis place, pour
etudier, d'aprcs les sources, les doctriues des premiers philosophes.
Apres avoir propose, dans Pintroduction, pour Phistoire de la
science aucienne, une division en quatre periodes d'environ trois
Cents ans chacune: — periode hellene, jusqu'aux conquctes
d'Alexandrc; — alexandrine, jusqua la fondation de Pempire
L'Histoire de la Philosophie eu France peudant l'annee 1887,
493
romain; — grcco-romaine, jii.sqirau triomphe du christianlsme ;
— de decadence, jusqii'ä Finvasion arabe; — division qui me
paiait presenter de serieux avantages, j'ai essayc de preciser la
methode que je comptais employer et de Fopposer a la methode
ordiuairement suivie daiis Fhistoire de la pliilosophie, methode quo
je ii^ai d'ailleurs pas Fiiitention (Fattaquer, mais qui ne me parait
pas avüir coüduit, pour les origines de la science, a des resultats
satisfaisants. Le but qu'on se propose de part et d"autre etant
dift'erent, les procedes employes pour Fatteindre doivent varier.
Eu substituant ainsi le poiut de vue positiviste au point de
vue metaphysique (je me sers d'expressions qui me ferout com-
prendre, je crois, quoiqu'elles ne soient pas rigoureusement exactes),
on arrive a des consequeuces qui peuveut parfois choquer le lecteur
imbu dos opinions geueralement et mcme justement admises. Far-
menide, par exemple, sera rapproche d'Heraclite! Mais si Fou se
placait ä un troisieme poiut de vue, comme celui de la religiou,
pour etudier les auciens philosophes, on pourrait bleu arriver a
une troisieme Classification, peut-etre encore plus choquaute. Tout
|: rapprochement entre des penseurs origiuaux u'a qu'uue valeur
relative et doit etre essentiellement limite au rapport cousidere.
II Je crois donc que mon volume a une tendance reellement
nouvelle..et sans m'exagerer Fimportance de cette tendance, sans
• demander aucunement aux philosophes de profession de renonccr
a leur point de vue, que je serais le premier a partager dans
d'autres circonstances, il m'est permis de penser qu'ils pourront
trouver quelque interet a se placer momentanement au mien, et
je m'estiraerai suffisamment heureux si la lecturc de mon volume
"leur suggere quelque reflexion nouvelle.
Le premier chapitre, destine ä faire connaitre comment nous
est parvenue Fhistoire des opinions des premiers penseurs grecs,
est emprunte, de fait, aux prolegomencs des Doxographi Graeci
de üiels, et destine a faire connaitre en France les resultats de cc
travail sur lequel je puis avouer avoir longuement, mais vaincmcnt.
cherche Foccasion d'unc critique de detail.
Le second chapitre, sur la Chronologie des physiologues. a do
meme pour fonds principal le travail de Diels sur Apollodore
494 Paul T u u n e r y ,
I
(Rheini-sches Museum, XXXI), dout j"adopte pleinement les
priucipes et les priucipales conclusious. Cependant j'ai cru mieux
suivre la methode tracee par mon giiide, eii m'ecartant de lui sur
certains poiiits, notammeüt on cherchaut ä preciser le role joue
par Sosicrate.
La divergence la plus importaute est relative a la lixation des
dates de Feclipse de Thaies (j'admets 585 suivant Sosicrate, 597
suivant Apollodore, 610 suivant Herodote) et de la prise de Sardes
par Cyrus (548 suivant Sosicrate, 558 suivant Apollodore, ce qui
serait la date veritable). Pour Teclipse de Thaies, j'ai admis comme
bonne la date deduite des recits d"Herodote, malgre les contra-
dictions dont ces recits ont ete Tobjet. J"ajouterai aujourd'hui que
la question ne me parait pouvoir etre tranchee que par les decou-
vertes des assyriologues, et que ce que j'eu connais jusqua ce jour
ne me parait poiut decisif.
Suiveut onze chapitres consacres a: Thaies — Anaximandre —
Xenophane — Anaximene — Heraclite — Hippasos et Alcmeon — j
Parmeuide — Zenon — Melissos — Anaxagore — Empedocle, dans
Tordre chronologique suppose. Chaque chapitre est suivi d une
doxographie, et le volume est termine par deux appendices; une
traduction de Theophraste sur les sensations et une etude sur
Tarithmetique pythagorieime.
Dans la liste des uoms ci-dessus, on remarquera Tabsence de
Pythagore d'uue part, de Leucippe et de Democrite de Pautre. Le
raotif qui m'a determine a ces exclusious est, pour Pythagore, quo
les documents qui lui sont relatils ont leur histoire propre et surtout
leur incertitude tout-a-fait speciale, ("e sont donc des materiaux
qui, d"apres mon plan general, devraient etre utilises a part, d'autaut
qu'on ne peut supposer, du Maitre, aucuü ecrit authentique.
D'ailleurs, j'ai etc assez souvent amene a parier des doctrines de
l'ecole de Pythagore pour que la lacune ne soit pas sensible, aux
yeux au moins de qui ne cherchera pas dans mou volume une
histoire complete, que je n'ai jamais eu la pretention de faire.
Quant aux atomistes, j'avouerai simplement que je u'ai encore
rien trouve a dirc sur leur Systeme qui me pariit digne d'et^-o
public. Pour tous les autres penseurs dont j'ai aborde Petude, je
L'Histoire de la Philosophie en France pendaiif raiinee 1887.
495
crois au contrairo avüir dit quelque chose de ucul', au niuins en
France.
Le cliapitre siir Thale;^. public, il y a deja dlx ans, dans la
Revue philosopliiquo, renferme notamment unc divination qui
a generalement ete acceptee comme plausible. Je ne puis me
rappeler sans quelqu'emotiou cette publication, parce que c'est eile
qui a occasionne mes relations avec Teichmiiller, et quoique ce
puissant genie, trop ardent ä la bataille comme a la poursuite de
tollte piste ueuve, n'ait pas su se menager, dans sa patrie, l'accueil
qu'il pouvait esperer, je suis sür que ses adversaires eux-memes
ont deplore la mort qui Ta frappe en pleine vigueur, et quant a
moi, je n'oublierai jamais qu'il m'a montre uu „coeur d"or".
J'ai adopte, dans mon volume, sous certaines reserves inutiles
ä signaler ici, ses vues sur Anaximandre et sur Hcraclite. C'est
la surtout ce qui a provoque les critiques les plus graves dont j"ai
ete informe.
La tliese que les premiers Joniens ont attribue au mouvemcnt
de revolution diurne de la spliere Celeste une predominance marquee
sur tous les autres mouvements, a de trop graves consequences pour
etre acceptee sans conteste. Tout en la croyant vraie et en la
defendant, je recouuais quelle n'est pas fondee sur des textes
decisifs qu'on chercherait en vain dans Aristote ou dans Platou;
• mais je pense que Tabsence de ces textes tient plutöt a ce que
cette idee etait trop courante, trop vulgaire, pour avoir besoin
d'etre scientifiquement aftirmee, et il me suflit de voir que, dans
Aristote, l'action du premier moteur se reduit en l'ait a produire
le mouvement de la sphere, de voir que dans Piaton, le meme du
Timee est purement et simplement identilie k ce mouvement. Je
crois donc reconnaitre la un etat d'esprit qui n'est plus le nötrc,
a nous qui avons, des l'enfance, ete inities au Systeme de ('opcrnic.
C'est cet etat d'esprit dont j'ai essaye de donner une idee').
2) M. Chiappelli a parle ici meme (Archiv, I, 4, p. 582 sniv.) de mon
chapitre sur Anaximene. Je crois devoir faire remarquer, car autremeut on
pourrait s'y tromper, que ropiuion qu'il adopte sur Texplication des eclipses
suivaut le Milesien est precisemeut ia mienue et que j'ai meine etö, je crois,
le premier ä la proposer.
496 Paul Tannery,
Pour Heraclite-thcologuo. je .suis dispose ä faire plus de
concessious, peut-otre meine a adopter la formule suggeree par
M. Natorp „Heraclite n"a pais mis la theologie dans Tetude de la
liature, il a mis Tetude de la iiature dans la theologie". Toutefois,
(juand se produit une these aussi neuve et aussi importante que
l'etait en realite celle de Teiclimiiller, je crois bon qu'elle soit
reprise et propagee, ne füt-ce que pour provoquer des etudes plus
approfondies'*); il .suflit de se garder des exagerations, ce que j'ai
essaye de faire pour ma part. L'historieu de la pliilosophie ue
doit jamais s'endormir sur la breche, et quelque mouument quil
alt eleve, il doit bien se convaincre que son (Puvre ne .sera pas
eternelle, comme ceux des grands penseurs qu'il etudie. C"est le •
sort reserve ä tout travail d'eruditiou que de ne valoir que pour
quelques generations; amassons au moius le plus de materiaux et,
pour cela, remuons le plus d'idees qu"il uous sera po.ssible. Nos
petits-neveux en profiteront.
La favon dont j"ai convu les Eleates, et qui cette fois m'est
plus purement personnellc, a souleve egalement d'assez nombreuses
contradictious. J"ai traite Xenophane comme un poete fantaisiste,
reellement etrauger a Fecoie, Parraenide comme un realiste, parlant
du plein et du vide sous les termes d'etre et de non-etre, Zenou
comme s'attaquant non pas au sens commun, mais a des formules
erronees de l'ecole pythagoricienne; je n'ai pas salue. avant Melissos,
le veritable pere de lidealisrae moderne.
Je crois quo, pour juger ces theses avec equite, et pour pouvoir
apprecier a leur ju.ste valeur les arguments que j"ai developpes, il I
est cssentiel de se depouiller des prejuges d'ecole et surtout de
celui que Pidealisme est une conception facile pour celui qui n'a
pas recu Feducation philosophique. Qu'on prennc cent paysans et
qu'on es.saie de leur faire comprendre seulement de quoi il s'agit,
ou y pcrdra sa peine; mais qu'on prenne meme cent hommes lettres,
dont IVklucation aura toutefois ete termiuee a ce qu on appellc en
France la rhetorique, et dont l'esprit ne soit plus malleable, comme
') Je Signale, pages 197 — 20(1, iiiie note speciale <]ue j'ai consacree ä l'ex- '
plication du fragmeut Dl (Mullach) et qui en tout oas est iudependante de la
question agitee ci-dessus.
L'Hisioire de la Philosophie eu France pendant Tannee 1887. 497
Test encore celui des eleves de philosophie, et qu'on fasse la meme
experience; on se fera, le plus souvent, traiter par eux d'esprit de
travers. Or, au Yl" et au V" siecle, les Grecs eii ctaient lä; je
me suis donc demaude comment ridealisrae s"etait constitue et je
n"ai pas ete le premier k constater que bien certaiuement il n a
pas 8urgi d"un seul coup, arme de toutes pieces. Uu germe, plus
ou moins facile a discerner, est d'abord apparu; il s'est developpe
par une evolutiou plus ou moins lente. Mainteuaiit ou peut cer-
taiuement discuter sur le momeut oii il convient de lui attribuer
le caractere decisif pour la Classification; car les teudances a ce
caracterc auraient pu avorter et la doctrine ne pas survivre.
En tout cas. je puls dire que j'ai procede ä mes recherches
saus aucun parti pris, et meme avec un prejuge en sens contraire a
celui des conclusions que j'ai flnalement adoptees. ( 'e n'est qu'apres
avoir reconnu le veritable caractere des apories de Zenon sur le
mouvemeut, et en avoir donne une explication qui me parait lever
les difficultes anterieures, que je suis revenu sur Parmenide et que
je me suis forme la conviction que son role idealiste avait ete
beaucoup trop exagere. J'ai travaille trop longtemps moi-meme
cette question et j'ai du la retourner sur trop de faces pour que je
puisse esperer quime simple lecture de mon volume suffise a faire
par tager mon opinion.
J"ai parle Tannee derniere (Archiv, I, 2, p. 304) du chapitre
sur Anaxagore; quant a celui qui est consacre a Empedocle, ce
qu il coutient de neuf est surtout relatif au Systeme cosmologique,
dont je crois avoir sensiblemeut avance la restitutiou. C'est en effet,
d'apres le plan que j'ai indique, surtout aux conceptions de ce
genre que je me suis particulierement attache dans tout mon
volume, et des resultats que j'ai obtenus, on peut conclure, je crois,
que si les teudances metaphysiques des premiers pcnseurs grecs
offrent des divergences et des retours singuliers, sur lesquels je
n'avais pas a iusister, leurs tentatives d'explication du monde
presentent, au point de vue scientifique, une unite profonde et
temoignent d"uu progres regulier et d'un developpemcnt suivi dans
les conuaissances. C'est l'etablissement de ces conclusions t[ui peut
former le principal interet de mon livre et en justilior le titrc.
498 Paul Tannery, L'IIistuiro de la Philosophie etc.
L'appenclice sur l'arithmetiquc pythagorienue a puur übjet
priiicipal cl'en distiugiior le cotc mystique et le cote scieutifique.
J'ai cherche a preciser le developpement atteint par rancieuiie
ecole daiis ce deruier sens; pour Fautre, j"ai montre qu"il a apparu
des Torigiue, mais sous une forme peii importante et qui semble
avoir eu un caractere mnemoteuhnique; la singulieie lloraison a
laquelle il a doiine uai.ssauce- me parait .simplement uue fantaisie '
de faussaires Alexandrins, labricateurs de poesies pretendues
orphiques.
Sur les travaux de matlieraatiques propremeut dits attribucs
aux pliilosophes grecs depuis Thaies jusqira Tepoque de Platon, on
trouvera, si on le desire, des renseignements daiis im autre volume
que j'ai public la meme anuee:
P. Tannery. La Geometrie grecque, comment sou histoire iious
est parvenue et ce que iious en savons. — 1" Partie: Geo-
metrie elementaire. — Paris, Gauthier- Villars.
J"y ai iiotamment essaye de monti-er que rattributiou d"uii
role important attribue a Platon pour le developpement de la geo-
metrie ne repose quo sur une legende iuconsistante et Ibrgee apres
coup sur la lecture de ses ccrits.
!
KI
Uli
XI.
The Literatiire of Ancient Philosopliy in
England in 1887.
By
' Ingram By water.
D. Marcoi.ioi rri. Analecta Orientalia ad Poeticam Aristoteleam. —
I Londini, I). Nutt. 1887.
^ We have now at last in print the Arabic ver-sion and suudry
other Oriental texts relating to Aristotle's Poetics, edited moreover
by a Scholar who possesses qualifications for the work such as are,
in this awe of specialization, very rarely found comhined in any
one man. Tlie gift would have been niore acceptable if the texts
hat! been accompauied by a translation for the benetit of those
who are not orientalists; bat Mr. Margoliouth makes up for this
Omission to a certain extent by a section (Symholae Orientales ad
emendationem Poetices, pp. 46—72) in which he breaks ground
in the new iield, and shows how the Version may be turned to
account for the purposes of criticism in refereuce to the Greek
original. It is obviously a somewhat hazardous undertaking to set
to work to recover a Greek text from the evidence presented by
a translation of a translation; and in the case of the Poetics the
difliculty in intensified i'rom the fact that the book treats of matters
which were remote stränge and incomprehensible to an Oriental
mind. The Arabian translator accordingly miist have offen misun-
derstood the Syriac text; and the Syriac translator himself, as we
may see from the surviving fragment of liis version, was by no
means incapable of making very gravo mistakes in his rendorings
500 Ingram By water.
of the Greek. As is the way witli trauslators too even in our
own day, important words in tlie original seeni tu have been
sometimes overlooked or ignored; and on the otlier liand there are
here and there instance.s of a tendency to amplify the text by
glosses and other additious intended to make things easier and
niore intelligible to an Oriental reader. And over and above this,
I believe I am right in saying that, owing to the way in which the
text is written in the Paris MS., the Interpretation of the Arabic
text itself is in sundry places by no means clear and unquestionable,
and tliat the seuse that one Arabic scholar finds in it woukl not
always be accepted by another. This is a poiut however which I
niust leave to the cousideration of others. I can only say for
myself that in the Version, as translated by the Editor, there are
passages which seem to me so hopelessly wide of the mark tliat
it is a mere waste of time to attempt to trace a connexion between
them and any statement, possible or actual. in the Greek original
As has been ah-eady intimated, the part of this book to which
an ordinary Greek scholar will turn is the section entitled 'Sym-
bolae Orientales' — in which the Editor deals with certain select
passages in the Poetics and teils us what light the Version throws •
on them. The selection itself is not qaite what one could have
wished, as there are assuredly many interesting and important
pas.sages about which we are left without Information, e. g. in
1451*17 where there is some rea.sou to think that the Version
Supports the reading -(\) k-A (Journal of Phil. 10 p. 6<S), but if it
does, the Editor has omitted to state that that is really the case.
My own irapression. derived, I need not say, simply from what
the Editor teils us of the Version, is shortly this, that the Greek
text underlying it was in general agreement with A''. even in
readiugs which are manifestly impossible (e. g. avaXo-ov in 1460"! 3),
and that it was not free from errors of its own (e. g. ot'-Xas-ot in
1455=* 30); it had, however, occasionally better readings thau A^ and
above all preserved here and there a word or words which have
dropped out in our one Greek MS. Thus in 1455»^ 17 the Version
implies. as the Editor points out, (ou> u.7.xooc. and in 1458^27. töjv
(aX/.iov) ovotiGt-tüV. It justiiics in 1447 ''O the Insertion of avojvuuo;
I
Tlie Literafure of Ancient Pliilosophy in England in 1887.
501
(witli Beiuays); in 1456''28 tliat of ouosv (with Yalileu); and in
|l46P17 tiiat of iTTTToxo/iusToti (witli Christ). It seems to justify also
Isundry omissions that have been suggested; e. g. in 1447=' 26 the
lomission of fjbijjLouvT7.'. (witli Spengel): in 1447^29 that of SKOTCOti-x
(witli Ueberwog); in 1450H6 that of ttevts (Journal of Phil. 5
Ip. 119). It Supports also a number of the more simple emen-
Idations that have been from time to time proposed; e. g. Forch-
Ihaiumer's tio iv stspoic in 1447^17, Heinsius' cpuar/ov in 1447''16,
Ißonitz's rjX)Ä xi\ in 1448'^35. Tyrwhitt's af/pt ixsv toG in 1449^9,
igg's h Tiu ßaoi'Csi K/ia)v to KXeiüv in 1457 ="27, Vahlen's h t(u
lövotj.o'.tt in 1457^33, Madius' xsxpaalk'. in 1458'''31, Castelvetro's
wsix/jC in 1458''25, Bonitz's atf/sTaOai in 1460^4, Twining's uTisvav-
Ituu; in 1461*^16. There are besides some few indications of a
Ifuller text than what we now have: e. g, after y)[j.iv 3= '{Kmz-i in
|l457''6 the Version (according to the Editors translation) adds
'oopu vero nobis proprium, populo autem glossa'. A very per-
Iplexing addition is that in 1457^35, where after 'Ep;jioxo(txrKavi}oc
Ithe Version inserts the equivaleut of 'qui supplicabatur dominum
Icaelorum' — beneath which there lurks, I suspect, another ab-
Inormally long proper name iutroduced as a second instance of a
liroXXa-XoOv övoao:. This is only one of the many interesting points
Iwhich will have to be discussed when the Version comes to be
Itaken in hand l)y Aristotelian students. Kothing serious can be
jdoue hoAvever until \ve have a careful translation of the entire
IVersion witli a critical comparison of its readings witli those of
Ithe existing Greek text. Though this is too much to expect from
one man, it would not be impossible, if two would put their heads
Itogether, an Orientalist well-versed in the ways of Syriac and
Arabian translators working in collaboration with a Greek scholar
familiär with the Poetics and with the language and ideas of
lAristotle.
jThe I^olitics of Aristotle, with an Tntroduction , two prefatory
Essays and Notes critical and explanatory by W. L. New-
man, M. A. Fellow of Balliol College, and formerly Reader
in Ancieiit llisloiv in the Universitv nf Oxfoni. ^ ol. I.
502 Ingram Bywater,
Ifitroduction to tlie Politics. — Vol. ]l. Prefatory Essays.
Books I and IL Text aüd Notes. — Oxford, Clarendon 1
Press 1887.
This is in every way a noteworthy book, and one whicli must
be recognized forthwith as a distinct addition to the literature of
Aristotle. It is the mature fruit of many years of study on the
part of a scholar who through bis niany - sided interests and
attainments is fitted as few men are for the work of editing the
Politics: every page shows how completely he is at home in
everything that relates to Greek history and ancient political aud
social ideas.
The bouk, if the rest of it is to be on the some scale, will
be in four volumes. Of the two uow before us the first is entirely
devoted to an lutroduction of 577 pages, which is practically a
survey of the contents of the Politics, with incidental criticisms
and digressions on a number of points of general interest, e. g. as
to the Life of Aristotle, the connexion between bis political teaching
and bis })hilosophic System, his relations to liis predecessors, more
especially to Plato — in other words, as to the antecedents,
historical and personal, of all the niain points in Aristotle's dis-
cussiou. As a specimen showing the character and quality of this
part of Mr. Newman's work. I caunot do better than quote what
he has to say on a question which every reader of the Politics
must feel to be a difficulty, How comes it that Aristotle is sileut '
US to the relations l)etweeu Greece and the new political factor in
the Greek world, Macedon? —
'Not a particle of Aristotle's attention is diverted IVoni the -oÄt; to the:
£8vo; .... It is the -oXts, not the l9vo;, wliich Aristotle raakes it his object
to reform. It is the -oXic that hrings inoii couipleteness in respect of good
life, as (listiuguishefl from completeness in^ respect of necessaries. It is in
Greece, not Macedon, that the future of human society in to be niade. or
niarred. Aristotle writes as a Hellene and a disciple of Plato, not as one
whom circumstances had more or less attached to the fortiines of Macedon.
The great spirits of antiquity, and Aristotle among them, seem to draw their
creed from sources too deep to be greatly affected by accidents such as that
which liad connected liiiii with Macedon. Ile still follows in the track of his
philosophical predecessors, and especially of Plato, with wliora he Stands in
complete tiliation. The object of the Politics is to carry on and complete the
Tlie Litcralure of Ancient Pliilnsophy in England in 1887.
503
work tliat Pinto had hegun — tlie work of re-adapting tlie t.öIk; to tlie pro-
[mofion of virtue and noble living. Aristotle's relation to Plato was the cri-
Itical fact of liis life, not liis relation to Philip or Alexander' (!. p. 478).
The second Volume, coutaining the first two Book.s and the
critical and explanatory commentaries on them. i,s prefaced by
Essays on the history of the Politics, their nnity and origin, and
[on the data we have at our disposal for the estalilishment of tlie
text. As regards the MSS. the Editor depends for them chiefly on
Susemihl; he attaches however a higher valiie than Susemihl does
to the MSS. of the second family, and is able to point to the
recently recovered Vatican fragments as confirming the view at
which he had arrived independently Ijefore the appearance of
Heylbiit's article. To his account of the Yetus Versio Mr. New-
man adds in an Appendix a minute collation of the Cheltenham
MS. in P)Ooks I — II: certain other English MSS. have also been
examined, the Corpus MS. of the Greek text, for instance, and the
New College MS. of Aretinus.
The commentary on Bks I — II occupies nearly 300 pages.
As may be supposed, it is very füll on every point that seems
capable of Illustration , and it will be invaluable to the student
from the care with which in cases of doubt or difliculty all possible
views are stated and considered. If any fault is to be found with
-this part of the Editor's work, it can hardly be on tlie score of
Omission: tliere are very few instances indeed in whicli I have
been able to note auything as wauting in his pages. Perhaps on
1256*36, when Aristotle is speaking of Etruscan piracy, a reference
to fr. 60 in Rose's last edition might have been giveii with nd-
vantage; and in the comment on 1262''19 (nvsc tojv -9;?
-,-/):
TTspiooouc 7:pc(Y;j.ot-£uo[xiyü>v) the reader miglit have been remended
that a -(Ti^ TTspioöoc liad been written by Ilecataeus and others,
and that the allusion may be to one of these rathcr than, as the
Editor thinks. to Herodotus. In matters of textual criticism Mr.
Newmaii is a 'Conservative', and therc are not many cmcndations
which meet with his approval. In 1260'\31 he appears to think
that -u-j'/avojatv may possihly l)c right after all, though he is quite
aware of the strong arguments in iavour of the indicative, which
34
|;^
Archiv f. Gcscliichte d. l'liilosoplii«. II.
!f
5Q4. Ingram ?>ywater,
he quutes him.sell' In.iu Buiiitz aiul Vahleii. in 12(34^' 2 he decides
a'rainst Bernavs" ' brilliaiit und ingeinoiis' emendation, sOvscjiv (for
ETsaiv), and refers iu defence of the vulgate to Vahlen oii the
Poetics p. 87 — where, however, if I mistake not, Vahlen is dealing
with a very different kind of tautology to that which is iuvolved
in Itsaiv. In 1265^40 the reading 7.v oa7A'.3()-/;3oaEvov is retained,
but the reference in siipport of it to Goodwin\s Moods and
Tenses is liardly oonclusive, as Goodwin distinctly says that the
possibility of such a construction is open to a certain Moubt and
suspicion'. An invaluable element in the conimeutary are the
(.ccasional uotes on points of granimar, and especially Aristotelian
grammar, which the Editor has evidently studied with all due
cai-e and attention. Very few points connected with it seem to
have escaped him. I observe that on toTv /s.ooiv in 1274*^14 he
acqiiiesces in the statement (of Liddell and Scott) that in Attic
the dual of the article 'has couimonly but one gender' — instead
of which it would have been more appropriate to say that in in-
scriptions of the Attic period there is uo trace of an exception to
the rule which Aristotle is here following. In a note too on
1253*' 35 there is a question raised as to why we have the article
before the proper name in -ol)c to-j ' H'f oc'^itoü -pt-oocxc; but the
answer which is tentatively suggested is, I take it, soinewhat wide
of the mark: the Hephaestus meant is the Homeric Hephaestus
(II. 18,376), and as pointed out long ago by Fitzgerald and after
him by Graut, it is a rule, at any rate with Aristotle, to prefix
the article to the names of the personages in a poem or dialogue.
In taking leave of a book of such importauce to all serious
students uf the l^litics, I venture to express a hope that the
Kditor will not forget to give us a very füll and complete Index,
and also that the appcarance of the runcluding volumes niay not
long f)e delayed.
Journal of l'liilulugy. Xo. 'M. .1. P. Postgate: Lucretiana. DTs-
cu.sses the reading and Interpretation of Lucr. 1. 356,
469—70, 884—7; II. 20—4, 98, 180—1, 1033—7: III.
647, 940; IV. 642, 1152; V. 1U7 — 9; VI. 1022 — 7, ^
I
Till' l.itiTiilure of Aiicieut Philosdiiliy in Euglaml in 18S7.
505
1194—5. — No. 32. R. Ellis: On Cic. Acacl. Priur. XXV.
79 — 80. Suggests in torquata for inportata.
Dictiüuaiy ol' Christian Biography, edited by W. Smith and
H. Wace. Vol. IV. London, John Murray, 1887.
Amonti" the articlcs in this volumc which treat of matters uf
Ancient philosophy, 1 may Single out two as deserving especial
attention, that on Philo by Dr. Edersheim, and that on Synesius
by the late T. R. Halcomb. Dr. Edersheim gives us a very com-
plete and seholarly survey of Philo's life and writings, and from
the care with which the literature on dispiited points is noted bis
article is simply invaluablo for purposes of reference. The account
of Synesius is an attractive and brilliant etude, but too long and
too literary in its treatment of the subject for the ordinary pur-
poses of a dictionary.
I
n
üeiie
i-l«!
\m,
Neueste Erscheimnisi,eii auf cleui (Tebiete der
(jeschiclite der Philosophie.
"A-('itK'Ji KavEÄXo?, AiaTpißY) ntr/i Br,S50(pi(ovos w? cpiXoaocpou, Diss., Leipzig, Athen,
"Petri.
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II. Band 4. Heft.
XXVI.
L liypotliese geometriqiie du Menon de PlatoiL
Par
Paul Tannery ä Bordeaux.
M. Alfred Gercke a recerament propose ici meme (Archiv,
Bd. II, Heft 2, p. 171) une nouvclle tentative d'explication du
locus mathematicus de Piaton = Menon 86. Je voudrais exposer
les raisons pour lesquelles cette tentative ne nie parait point
acceptable.
J'ai moi-meme traite autrefois cette question (Revue philo-
.sopliique, acut 1876, p. 285 suiv.); apres avoir indique comme
pos.sible la Solution de Benecke'), j'en ai, moi aussi, propose une
autre et je m'appuyais sur des motifs semblables a ceux qu'invoque
M. Gercke. Mais, depuis longtemps dejä, une etude plus appro-
fondie ui'a montre que ces motifs sont insuffisants et je me suis
rallie a Fopinion de Benecke, egalement admise d'ailleurs par
riiistorien le plus competent de la mathematique, je veux dire
Moritz Cantor ').
II est certain cependant que, dans cette explication de Benecke,
l'enonce de l'hypothese geometrique , donne comme exemple par
') üeber die geometiische Hypothesis in Platons Menon, Elbing, 1867.
*) Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, Leipzig, 1880, p. 187.
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. IJ. "-"^
510
Paul Tannery,
Platon, offre quelque chose de defectueux et d'obscur. Pour preciser,
Piaton ferait a peu pres comme un mathematicien de nos jours,
qui ayaiit a exprimer uiie coudition teile que
n = a,
la deguifserait sous une transformation. comme
n^ = 2an — a^
Est-il admissible quil fasse parier Socrate de la sorte, dans •
la Situation que suppose le dialogue?
Tous ceux qui ont commente ce passage (sauf, je crois, Carl
Demme, Progr. no. 122, Dresde, 1888) sont d'accord pour recounaitre
que riiypothese geometrique de Platon est la condition necessaire j
et süffisante pour que le probleme auquel il la rapporte soit possible;
autrement dit, c'est ce que les matliematiciens grecs, dans leur
langage teclmique, ont appele plus tard le otoptsiio? du probleme,
expression qui, d'apres le temoignage d"Eudeme dans Proclus,
remonterait au reste a un Leon, contemporain et ami de Platon^).
Ceci nous indique que dans la passage du Meuon, comme
daus celui bien connu du Theetete, 167—168, il y a une allusion
a une question a Tordre du jour chez les geometres de Facademie,
et meme a un travail recent qui avait attire Tattention. Apres
avoir, dans le Menon, traite assez louguement de problemes geometriques
tout a fait elementaires , Platon pouvait sans doute se permettre
une allusion de ce genre, pour une question de methode qui devait
d'aillenrs l'interesser vivement. et comme cette allusion peut se
rapporter a un texte que nous ne connaissons poiut, nous ne
sommes pas bien places pour reconnaitre si eile est reellement
äussi malheureuse dans la forme qu'elle peut nous le sembler.
En tout cas, l'interpretation de M. Gercke donnerait a l'enonce
dont il s'agit un sens encore moins admissible, ce me semble,
dans la bouche de Platon. Car. si ce sens est relativement clair
pour les profanes, il lui manque absolument le caractere de pre-
cision qui etait certainement exige des ce temps-la, comme il l'est
de nos jours. pour quiconque veut s'exprimer en geometre, Äa-sp
ot YswuETpa-.. Platon commettrait une veritable tautologie sans
^) Cantor, Vorlesungen, p. 20.').
L'hypothese geometrique du Meuon de Piaton. 511
faire avancer la question crun seul pas, puisque l'existeiice de la
condition imposee est precisement aussi difficile a reconnaitre que
la possibilite de la Solution. Si le Menon avait ete ecrit par
Socrate, on pourrait peut-etre admettre rinterpretation de M. Gercke;
mais il ne faut pas oublier qu'il s'agit d'une opuvre de Platoii,
qu'elle etait destiiiee a un cercle passablement savant, devant
lequel le maitre pouvait se montrer singulier, mais iion ridicule
en parlant incongrüment.
Un autre poiut sur lequel je partageais aussi autrefois ropinion
de M. Gercke, c'est qu'au teinps de Platon, la langue mathematique
etait encore flottante, que les termes tecliniques pretaient encore
a coufusion. Je citais rneme, couime exemple topique, le passage
precite du Tlieetete, oü o6votjj.i? est employe dans le sens de raciue
carree, tandis que dans la Republique !X, 187 d, le meme mot
signifie au coutraire carre. Mais depuis, la poursuite de mes
etudes sur les variations qu'a pu subir la langue mathematique
des Grecs m'a conduit a des couclusions tout ä fait opposees et je
n'hesite plus desormais a regarder le terme de öuvaaic dans le
Theetete comme devant etre remplace par celui de ouvotalvr/).
Or, dans cet ordre d'idees, il est impossible de ne pas
identifier l'expression dont se sert Platon dans le Menon: -oDto xo
ywrjirjv . . . ~a[A -TjV ooi)3raav ^) . . T:7[>aT£''vav-:a sXXnrsiv -oiouxm y/upi'">
*) Annales de la Faculte desLettres de Bordeaux, 1884, 3 fasc.
p. 95 suiv. — Que la laugue rualhematique grecque ait ete fixee de tres bonue
heure et qu'elle n'ait subi par la suite des temps que des variations sans
importance, cela resulte notamment de l'important fragment geometrique
d'Hippocrate de Chics, conserve par Simplicius (Simplieii in Äristotclis
Physicorum libros quattuor priores, ed. Diels, p. 61 — 68).
jnllJ Ou doit egaiement remarquer, au sujet d'un autre passage mathematique
de Platon celebre par sa difficulte, celui du nombre nuptial (Republique Vll,
546b), que rinterpretation de la secoude partie: wv ir.kpizoi 7:'j6fj.7]v ....
fP"^ fcxoTÖv 5e x'jßwv Tptccoo;, donnee en admettant la fixite absolue du langage
technique (celle d"Otto Weber), doit etre certainemcnt consideree comme acquise
desormais, ainsi que l'a coustate E. Zeller ici ineme (Archiv, l, 4, p. 98).
Le fait rae parait absolument indeniable, depuis hi publication par Scholl des
parties inedites du comraentaire de Proclus sur la Republique (.Vnecdota
greeca et latina de Scholl et Studemund).
'•-) Le texte de Platon ajoute ccjto'j yp'-'l-'-.'-'V' • ii>"'"ne explication n"est
35*
er.
s
512 Paul Tannery,
olov äv ctu-h To irapaTe-caii-svov fj , avec Texpression technique '.xarA \& ''
TYjv SoOeraoiv euösTotv toj ooHiv-i süöoYpajxtjLU) (= yiupt'oi) ibov TrapaXX'/iXo- j»)Sf
7po!}i[xov (= -/(uptov) TrrjtpotßotAsTv sXXsiTrov (ou ÄofTS IXXetuSiv) -apaXXr^Xo- '%"''*
7paa}xii) 6[xotu) xtu ooUiv-i (Eucliile, VI, 28), dont Tusage est de la
plus grande frequence dans la theorie des sections coniques.
Des que Ton admetcette Identification, on tombe necessairement,
sauf quelques divergences plus ou moins significatives, sur l'inter- 2
pretation de Benecke. Yoici an reste comment je voudi-ais la voir 1^ ''
exposer avec Tempi oi du langage et des notations modernes.
Le Probleme pose, qui peut etre possible ou impossible, s;
TovSs Tov xüxXov TÖos TO /(upi'ov xpqcuvov svtaÖTjvai, serait: Inscrire m
dans ce cercle donne cette figure (c'est a dire un des carres
primitivement traces par Socrate)^), mais non pas sous la forme j
de carre, au contraire sous celle de triangle, en conservant la
meme aire, et d'ailleurs en donuant a ce triangle la base la
plus grande possible (=vx£iv£iv), c'est a dire en lui donnant pour |
base le diametre meme du cercle.
L'interpretation donnee au mot Ivteivciv n'est certainement |
appuyee sur aucun texte comparable, ce terme n"etant pas reste '>
dang la langue mathematique grecque. Mais il doit necessairement
avoir pour Piaton une signification technique differente do celle
d'i-j'ypacpsiv, mot dejä bien connu d'Hippocrate de Chios. et si on
le compare ä TTotpotistvetv , qui vient ensuite et dont le sens est
bien determine, on est conduit a catte double signification de de-
formation de la figure et de plus grande extension possible de la
base a l'interieur du cercle.
possible si Ton n'admet pas que ccitoü se rapporte an cercle dont Piaton a
parle un peu plus haut, et il faut alor.s supposer tjue Socrate, tout en euoncant
la condition geometrique, montre ä Menon les figures tracees sur le sable.
ilais il est tres conforme aux habitudes geometriques de dire siraplement uapä
-rTjv ooOeiaav et le sens n'eu reste pas moins clair. II est donc possible que
les mots a'jToü Ypa;j.[j.Y]v soient une glose tres ancienne et d'ailleurs nialadroite,
qui sera passee dans le texte.
'^) Dans le langage mathematique grec, /tupi'ov, pris isolement, designe
proprement un parallelogramme rectangle: c'est par extension que le sens devient
celiii d'aire d'une tigure quelconque, en tant que celle -ci peut etre mesuree
sous forme de rectanale.
L'hypothese geometrique du Menon de Platon.
513
Sans doute aussi, le texte d'Euclide cite plus haut montre
bien que, pour exprimer la meme idee, meme en conservant le
terme Ivteivsiv, il aurait prefere dire ic tov öoöevtc« xux^ov tio
Soöevtt /«)puo i'sov xpqtuvov svxsivstv; mais cette forme plus longue
et plus reguliere qu'il a adoptee daus son enonce avec TiapoißaXsiv
est loiu d'avoir ete suivie dans le langage classique et a cet egard
il ue düit pas y avoir de difficulte.
Püur le Probleme ainsi pose, designons par b^ le carre doiinej
par 2a le diametre du cercle ou la base du triangle. par y sa
hauteur (a construire), ori düit avoir evidemment
»: b^ = ay.
Mais il laut, pour que le probleme soit possible, que y soit iuferieure
ä TordouDee maxima de la circonfererice par rapport au diametre,
c'est a dire iul'erieure a a. D'oü la conditiou que b soit plus petit
que a.
Au coutraire. Platon cxprime une condition qui se traduit
exactemeut par la possibilite de requation
b' = 2au— n'.
b" etaut le /topi'ov TrapaxExotfxivov, 2a la droite 6o\}eX(SOL, n^ riXXsifxjj.«
sembiable au yw^jw^ 7rapa-£ia|jiivov (carre). La condition n'en est
pas moins identiquement la meme, et cette identite se trouve
enoncee dans le oiopiGaoc du probleme precite d'Euclide: Ssr -o
I.SlOOiXSVOV SuDu'j'pajXfXOV [XY] ti-SlCoV STV7.1 TO'J OtTTO TVj^ yjixt!3c''a; 7.va-
Ypacpoasvou 6[xoiou xoji £XXsi'[X[xaxi.
II y a certaiuement, comme je Tai dit, dans cette complicatiuu
de Tenonce, un raffinemeut qui n'est point absolument de mise
dans la bouche de Socrate. Mais ce raffinement n'est en tout cas
pas de nature a choquer un geometre, car Platon, au Heu de se
borner au cas particulier du probleme pose par lui, indique de
fait une methode generale en faisant intervenir ce qu'on peut
appeler Pequation du cercle rapportee a son sommet:
V^ = 2an
n
Des l'invention des sections coniques, attribuee ä Menechme, mais
qui remonte peut-etre a Eudoxe, elles ont ete definies par des
relations fundamentales qui se traduisent par des equations ana-
logues. Quoiqu'il ne puisse certaiuement etre etabli que la
514 Paul Tannery, L'hypothese geometrique du Menon de Platon.
decouverte de ces relations soit anterieure a la redactioa du
Menon, il n'est pas impossible que l'enonce de Platon fasse allusion
a leur forme generale. En tous cas, je regarde comme facile a
demontrer que la theorie geometrique que suppose cet enouce,
ä savoir celle de la r:7p*7ßoXY] avec e>,Xei'!>i; ou u-öoßoXv;, theorie
qui comporte la Solution geometrique des problemes du second
degre et qui a ete appliquee ensuite a la defiuitiou des sections
coniques, remoute aux Pythagoriciens, ainsi que Taffirme Proclus
en invoquant le temoignage d'Eudeme').
•T.
0 Proclus sur Euclide, ed. Friedlein, p. 419. — J'ai truite cette question
ä fond dans les Meinoires de la societe des Sciences physiques et
naturelles de Bordeaux, IV,, p. 396 suiv: De la Solution geometrique
des problemes du second degre avant Euclide.
i
f
i
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XXVII.
Zu Thaies' Abkunft.
Von
O. Iiuiuisch iu Leipzig.
Diels hat oben (S. 165ff.) den Nachweis geführt, dass Hexa-
myes, der Name von Thaies' Vater, auf karische, nicht auf phoinikische
Abkunft deute. Die Sicherheit dieses Nachweises lässt sich, wie
ich glaube, noch durch folgende Erwägung erhöhen.
Athenaios, welcher S. 174 f. von einer in Karieu üblichen
phoinikischen Flöte spricht, fügt hinzu, st ixyj apa xal y] K^pta Ooivi/y)
I-kc/XzXto, o)s Trapa Kopt'vv(j xai Bccx/uXioiq sstiv supsiv. Die
Griechen, so meint H. D. Müller (Mythol. I 308, wo auch noch
andere Belege) vermochten, als sie zuerst mit Kariern und Phoi-
nikiern in Berührung kamen, beide Nationen nicht scharf zu unter-
scheiden. Gewiss ist das richtig. Als nun die ionische Kolonisation
begann und es nach hitzigen Kämpfen mit den alten Insassen an
vielen Punkten zu einem Synoikismos der Griechen und Karicr.
sowie anderer') asiatischer Nationen kam, so mussten fast not-
gedrungener Weise die zahlreichen Ansiedler, die aus Boiotien
kamen, ihre heimischen kadmeischen Erinnerungen an den neu-
gewonnenen karisch - phoinikischen Boden anknüpfen, was auch
thatsächlich nachweisbar ist^). Unter dieser Voraussetzung wiid
die Herleitung eines karischen Geschlechtes, wie das der Thelidon,
aus Phoinikien völlig begreiflich, besonders wenn es das Geschlecht
') Vgl. z. B. über Erythrai Paus. VII 3, 7.
2) Vgl. meine Schrift „Klaros" S. 129 ff.
516
0. Immisch, Zu Thaies' Abkunft.
eines Weisen war, dessen Ideen in so innigem Bezüge zu orien-
talischen Lehren zu stehen schienen ^).
Interessant ist übrigens, dass auch zu Kolophon, wo das Hinter-
land gleichfalls karisch war, der Name Hexamyes nachweisbar ist.
Ein Genosse des Mimuermos hiess so, wie wir durch Hermesianax
wissen (Leontion fr. 2, 38 Bergk).
^) Der unverständliche Zusatz bei Diogenes (I 23) iTro/aToypacpTjÖTj 6e h
MiX/jTw, o-E riXbz. ouv NeiXeio IxTicaovTi (Potvi'xTj; bezieht sich wohl auf den
Ahnherrn der Thelideu und mag seinen Ursprung haben in einer der
mannigfaltigen Variationen der xxi'ai; MiXtqtou.
XXVIII.
Zur Psycliologie der Scholastik.
Von
H. Siebeck.
Averroes.
Avicenna, Aristoteles und Alhacen kann man als die Lehr-
meister der objektiven empirischen Psychologie im MA betrachten.
In der zweiten Hälfte des 13. Jahrh. aber tritt ihnen zur Seite
und theihveise voran der Einliuss des grössten der arabischen
Philosophen, des Averroes, mit dessen Herübernahme in der
Christenheit die Zeit der unbefangenen Hingabe an den zugefiihrten
Bildungsstuff ihr Ende erreichte. Der Aristotelismus des Averroes
steht erkenntnisstheoretiscli wie metaphysisch von vorn herein im
Dienste einer bestimmten Tendenz; dem platonisch-christlichen
Dualismus der Weltanschauung tritt mit ihm der Monismus im
Sinne des pantheistischeu Naturalismus gegenüber, dessen Einfluss
sich bis in die kirchlichen Kreise des Abendlandes fühlbar machte
und auf dem wissenschaftlichen (jebiete den Empirismus aus einem
Mittel der blossen Belehrung zu einer aggressiven und oppositio-
nellen Richtung umzugestalten suchte.
Von Averroes Werken kamen in das Abendland zuerst, wie
es scheint, um 1217, die von Michael Sootus übersetzten Comraeu-
tare zu de coelo und de anima herüber. Gegen die Mitte des
13. Jahrh. lag abgesehen von dem Kommentare zum Organen und
der polemischen Destructio destructionum der ganze Inhalt derselben
in lateinischer Sprache vor. Eine Vorstellung von dem Einflüsse,
518 H. Siebeck,
welchen Averroes um dieselbe Zeit bereits besass, gewinnt man
besonders aus dem Werke des Wilhelm von Auvergne (f 1249), worin
die Art, wieseine Ansichten in dem Munde „unverständiger Schüler"
sich zur Geltung bringen, aller Orten bekämpft wird. Allerdings
scheinen die ersten Anfänge des oppositionellen Pantheismus und
Naturalismus im MA schon vor die Zeiten der eingehenden Be-
kanntschaft mit Averroes hinaufzureichen'); sicher aber ist, dass
die ganze Strömung an seiner Philosophie das breite und tiefe
Bett fand, welches ihr noch innerhalb der Scholastik für längere
Zeit den Bestand sicherte.
Die charakteristische Stellungnahme des Averroes gegenüber
der ganzen bisherigen Weltanschauung liegt in dem Umstände,
dass er für den Prozess des Werdens, der ihm das Wesen der Welt
bedeutet, die Materie im Grunde zum Hauptfaktor macht und die
bei Plato, wie auch noch bei Aristoteles vorherrschende Bedeutung
der Form in eine schon der Materie als solcher wesentliche Eigen-
thümlichkeit aufzuheben sucht. Als reine Rezeptivität noch frei
von jeder positiven Qualität ist die Materie, nach averroistischer
Lehre, an sich gleichmässig geeignet, entgegengesetzte Modifikationen
anzunehmen. Sie ist daher die Möglichkeit zu allem, und als
solche nicht erschaffen oder in ihrem Dasein sonstwie bedingt, son-
dern ewig und selbständig. Daher sind auch die Substanzen ewig
atif Grund der Materie, in der sie wurzeln. Die Reihe der Gene-
rationen ist nach beiden Seiten unendlich; es giebt kein Werden
aus nichts und kein Vergehen des materiellen Substrates der Dinge.
Die Form ist zwar nothwendig. um aus der Materie Bestimmtes zu
gestalten, sie ist alter in ihrer Wirksamkeit, ja selbst in ihrem
Dasein, gebunden an das Bestehen der Materie. Die Formen bil-
den somit einen integrirenden Bestandtheil derselben und treten in 1
der Bewegung lediglich aus derselben heraus, um ihre Wirksam-
keit zu entfalten. Diese Verwirklichung bringt aber folgerichtig
nichts anderes zuwege als was im Grunde (der Möglichkeit nach)
in der Materie schon lag, sodass im strengen Sinne überhaupt
keine absolute Veränderung und kein Zuwachs an Sein stattfindet.
I
') Vgl. Renan, Averroes (Par. 1853) S. 175 ff.
\
Zur Psychologie der Scholastik. 519
Das Heraustreten der Form ist auch kein willkürlicher oder durch
Willkür vermittelter Akt, sondern ein uothwendiger (im Wesen
der Materie liegender) Prozess, gegeben durch die Bewegung, welche
mit der Materie von Ewigkeit her besteht. So ist alles in der
i Natur Dothwendige Entfaltung der Materie und Rückkehr in
1 dieselbe. Es giebt kein Chaos, das der geordneten Welt voraus-
läge, so wenig wie man von Fortschritt oder Rückschritt in der
Welt reden kann. Die Welt hat nach alledem auch keine Ent-
; Wickelung nach einem obersten Ziel hin. Auch das geistige Prin-
j zip (die Formen) ist der Materie und ihrer Ausgestaltung, der
I Natur, nicht entgegengesetzt, sondern wesentlich und ursprünglich
I in ihr beschlossen und enthalten^).
i Das Wesen des Seelischen musste bei dieser Auffassung des
Verhältnisses von Materie und Form folgerichtig seine substanzielle
Unterschiedenheit und Selbständigkeit gegenüber dem Materiellen ver-
lieren und Hand in Hand hiermit die Tendenz sich herausbilden,
die Bewusstseinszustände und Veränderungen lediglich als uoth-
wendige Ausgestaltungen des mit der Materie gegebenen Entwick-
lungsgesetzes zu betrachten. Die Ausbildung, welche der Averrois-
mus im christlichen Abendlande gefunden hat, trägt in der That
die charakteristischen Züge einer nach dieser Richtung gehenden
Weltauffassung. Die psychologischen Erörterungen bei Averroes
! selbst waren auch bereits danach angethan, nicht allein den Bestand
j an empirischen Beobachtungen zu vermehren, sondern namentlich
I auch die vorwiegend spiritualistische Seite der Innern Erfahrung in
! das Licht der naturalistischen Grundanschauung zu stellen.
In seinen Kommentaren zu den aristotelischen Schriften lässt
Averroes sich die Gelegenheiten zur Hervorhebung selbständiger
Beobachtungen und eigenthümlicher Ansichten keineswegs entgehen.
Zu der Lehre, dass Anschauung (imaginatio) immer mit Empfindung
zusammengeht, bemerkt er'), dass bei niederen Thieren die An-
schauung nur in Gegenwart der Empfindung selbst vorhanden ist,
der Besitz von Anschauungen als bleibende Bilder der Wahrueh-
2) Vgl. ebd. S. 85 f.
3) d. an. II, 20 (Ed. Ven. 1550. totn. VI, f. 130 C 40).
520 H. Siebeck.
i
mungen dagegen nur dem Menschen und den höheren Thiergattungen
zukomme. Zu der Einsicht, dass die Zeitvorstellung auf dem Ge- •
wahrwerdeu der Succession der Bevvusstseinszustände beruht, hebt ' '
er hervor, dass im traumloseu Schlafe auch das Zeitbewusstseiu
schwindet, im Traume selbst aber dasselbe mit der Bewegung der :j
Imagination wieder vorhanden ist^). Zu der Lehre von den Be- '•)
gehrimgen führt er aus '"). dass die des Gesichts und Gehörs in a
einer näheren Beziehung zur Vernunft stehen als die der andern \m
-Sinne, und unter diesen beiden wieder der Gehörsinn heftiger nach J
Vernunft, d. h. Deutung, dränge als die Gesiclitswahrnehmung:
man verlange sehr, das zu sehen, was man hört: nicht gleicher-
maassen das zu hören, was man sieht. Zu der J^ustlehre wird ge-
legentlich bemerkt, dass Gegenstände der Erinnerung um so ange-
nehmer sind, je weiter ihre Objekte zeitlich zurückliegen, ausser-
dem aber hingewiesen auf die Bedeutung, welche das dem Men-
schen natürliche Verlangen nach Einheit für die Entstehung von
Lustgefühlen besitze: Komposition und Theorie (conhctio und doc-
triua) sind angenehm. Aveil sie die Einheit unter den Dingen zur
Geltung bringen ; aus dem gleichen Grunde gefallen Assimilationen
und Beispiele, ferner innerhalb der Gattung der Mensch dem Men-
schen, das Pferd dem Pferde u. s. w. (a. a. 0. f. 39 bf.).
Bedeutsamer aber für die Zeit der Scholastik als derartige
vereinzelte Bemerkungen ist die naturalistisch-pautheistische Aus-
deutung, die Averroes den aristotelischen Lehren mit Vorliebe an-
gedeihen lässt. Man erkennt sofort die Bedeutung wieder, welche
bei ihm die Materie für das Hervortreten der Form hat. wenn zu
der Lehre von der Theilbarkeit der Seele sich die Ansicht ausge-
sprochen findet, einige Kräfte derselben seien nichts anderes als
Vollkommenheiten körperlicher Organe, da die Prinzipien des Xatur-
wirkens (formae naturales) durch die Materie erst zur Vollendung
kommen ") und mithin nichts von dem Materiellen (Leiblichen) wesent-
*) s. Reuau 86, der auf die Verwandtschaft seiner auf Zeit und Traum
bezüglichen Ansichten mit denen von Dugald Stewart aufmerksam macht.
^) in Rhet. I, 14; f. 39 b.
^) perficiunlur per materiam, d. an. II,. 11. f. 12üA 12t'.
^
Zur Psychologie der Scholastik.
521
lieh Getrenntes sein können. Die Seele selbst wird einerseits vom
Leibe, andrerseits vom unpersönlichen Intellekt') unterschieden und
hiernach mehr im Sinne eines zu der Wärme noch hinzutretenden
Lebensprinzips aufgefasst, welches ohne Materie nicht bestehen
kann und nach dem Verfalle des Leibes zu der spiritualen und
unsichtbaren Materie zurückkehrt, in der sie ursprünglich beschlossen
war^).
Auch die bekannte pantheistische Fortbildung der aristotelischen
Lehre vom voü; otTrai)-);; zu der von der Einheit des aktiven In-
tellekt ruht hei Averroes auf naturalistischer Grundanschauung. In
den weitläuftigen Ausführungen derselben tritt bei ihm aller Orten
das Eine deutlich heraus, dass die schon von Aristoteles '^) ange-
deutete Analogie des begrifflichen Erkennens mit dem Vorgange
des Sehens und insbesondere der Vergleich der Wirksamkeit des
vouc cÜTiotHrj? mit der des Lichtes, durchgreifend und maassgebend
gewesen ist'"). Wie man beim Sehen zu unterscheiden hat das
0 s. Gesch. d. Psych. I, 2, S. 439 f.
f) Destr. destract. t. IX f. 62 d f.: Nos nou concedimus quod sit separata
a corpore (sc. anima), 63a: Wir, die wir wissen, dass die Seele sit additmu
quiddam calori elemeutall, (weil die Wärme als solche nicht die Ordnung
der Denkvorstelluugen bewirken kann), wissen auch, dass die im Saamen be-
findliche Wärme zur Erzeugung- und Gestaltung des Leibes nicht ausreicht.
Hae autem animae aiit erunt tamquam mediae inter aniraas corporum coelestium
et animas quae sunt hie in corporibus sensibilibus, et habebunt absque dubio
in animabus quae sunt hie et corporibus dominium . . ., aut ipsae in se ipsis
.sunt alligatae corporibus quae ab eis sunt creata propter similitudinera quae
est inter ea. Et cum corrumpantur corpora, revertuntur ad materias suas
spirituales et corpora sua subtilia quae non sentiuntur.
9) Ar. d. an. III, 5; 430a 15 f. s. Gesch. d. Psych. I, 2 S. 64. 67.
'0) Aver. d. an. III (t. VI, f. 169 Df): Intentio cogens ad poneudum in-
tellectum agentem alium a materiali et formis rerum quas intelleptus materialis
comprehendit, est similis intentioni propter quam visus indiget luce, cum
hoc quod agens et recipiens alia sunt a luce, . . . modus qui coegit nos ad
pouendum intellectum agentem, idem est cum modo prupter quem indiget visus
luce. Denn wie das Sehorgan von den Farben nicht erregt wird, ausser wenn
es in actu ist, und dies wieder nicht der Fall sein kann ohne die Gegenwart
des Lichtes, da dieses selbst sit extrahens eos (die Farben) a pötentia in lu-tuiii,
so erregen auch die intentiones iraaginatae den int. materialis nicht, ausser
wenn sie intellectae in actu sind (f. 170 A); quod non perrtcitur eis nisi aliquu
praesente (nämlich eben die Gegenwart des intell. in actu).- f. 179 B: der In-
522 H. Siebeck,
Organ, die vou ihm aufgenommene Qualität, und den äussern Er-
reger, das Licht, so aucli heim Erkennen ein Empfangendes (den:
materialen Intellekt), den iiitelligiblen Inhalt als das vou ihm Auf-
genommenes, und ein Wirkendes, welches das Aufgenommene im
Aufnehmenden gleichsam transparent macht"), ein Vorgang, mit
dem nicht wie beim Sinnesorgan eine qualitative Veränderung ver-
bunden ist, sondern nur die „Apprehension" des Inhalts, die ihrer-
seits nichts anderes ist als die aktive Bethätigung des eigenen
Wesens von Seiten des Intellekt (t. IX, f. 65 A), Wie das Licht
wirkende Ursache und zugleich Form und Zweck der Farben ist,
mithin Anfang und Ende des Sehvorgangs in seinem Wesen be-
schlossen hält, so verhält sich auch der wirkende Intellekt zAim
materialen nicht nur als anregendes Moment, sondern auch als
dessen Vollendung und Ziel'^). Die pantheistische Wendung dieser
Lehre vollzog sich nun bei Averroes dadurch dass er die Analogie
des Intellekts mit dem Lichte auch aufrecht erhielt hinsichtlich
des ümstandes, dass das Licht gegenüber der Vielheit der indivi-
duellen Augen ein allgemeiner und für sich bestehender Faktor ist,
der in allen einzelnen wirkt, ohne darum selbst zur Individualität
jedes einzelnen zu gehören. Wie das Licht eins ist, sagt er (de
an. beat. 3, f. 65 C), welches alles der Möglichkeit nach Sichtbare
wirklich sichtbar macht, so muss auch der Intellekt Eins sein, der
alles Intelligible zum Akt bringt.
Offenbar ist diese Ausdeutung der aristotelischen Ansicht zu-
gleich eine Fortbildung derselben in derjenigen Richtung, welche
nachmals in der Lehre Spiuoza's ihren konsequentesten Ausdruck
fand. Schon Averroes selbst ist dieser letzteren aber noch näher
gekommen durch seine Ansicht, dass die Vereinigung des materialen
tellekt, qui in nobis existit, hat zwei Funktionen: cognoscere intelligibilia
(analog dem Auge, wenn das Licht darin ist) et efficere intelligibilia (analog
dein Liohto selbst).
") Opp. f. IX, f. 65 a (d. anim. beat. 3). t. VI, f. 179 D: in hoc (dem
int. materialis) se habet res sicut in ipso transparente, quod qiiidem recipit
colores et lumen simiil: lunien autcra colores efficit.
'^) d. an. beat. 3. t. IX, f. 65 A. 66 A: Sol dat visui hicem et postea per
lianc lucera quam recipit videns a sole, efticitur videns ipsum solem in actu
qui fuit causa faciens ipsum videre rem in actu.
tofi
ulü
er
in,
ina
i Zur Psychologie der Scholastik. 523
mit dem wirkenden Intellekt für den Menschen das Resultat einer
allmäligen Entwickelung ausmacht, die im Verlaufe des Lebens mit
seiner geistigen Aus- und Durchbildung Hand in Hand geht und,
wenn sie erreicht ist, das wahre Wesen zugleich der Vollkommen-
I heit und Glückseligkeit darstellt, ein Ziel welches von den Einzel-
j nen je nach der individuellen Beanlagung in verschieden hohem
1 Orade erlangt werde '■^). Auch darin endlich kommt seine Lehre
mit der des Spinoza überein, dass dieses oberste Ziel der intellek-
I tiven Erkenntniss für ihn im letzten Grunde nichts anderes bedeu-
j tet als die Thätigkeit, in welcher der allgemeine Intellekt sich
I selbst in seinem Thun und Wesen innerhalb des Individuums er-
greift und erkennt, und dass in dieser einen und einheitlichen Er-
i keuutniss seiner Ansicht nach alle anderen begrifflichen Erkennt-
i nisse enthalten und beschlossen sind^*).
, Es war ein belangreicher Umstand, dass das Hervortreten der
1 averroistischen Lehre im christlichen Abendlande schon eine kräftig
entwickelte empirisch-psychologische Richtung innerhalb der Scho-
lastik vorfand. Denn je verbreiteter und gleichsam selbstverständ-
'•■') Die Abhaudlung de aniiuae beatitudine ist dem Erweise dieses Satzes
gewidmet, f. 65B42f. heisst es: eventus hiijus perfectionis ut plurimum con-
tinget tempore senectutis, aber erst nach anhaltendem spekulativem Studium
und Entfernung überflüssiger Dinge, die nur scheinbar nothwendig sind ....
Cuilibet enti inest divina intentio, ut perveniat ad recipiendum tantum illius
nobilis finis quantum competit suae naturae nee denegatur ab ejus essentia
pars sibi concessa. ib. 5, f. 66 B: Substantia intellectus ageutis est una, quam-
vis gradus suus contineat id quod dependet ab omnibus animalibus rationahbus
receptivis beatitudinis. Vgl. Spinoza, Eth. V, die Scholien zu Propos. 10, 20,
36, 42.
i-») de an. beat. f. 65D: Intellectus agens redueit eam (sc. virtutera ratio-
nalem) in intellectum in actu et concedit quod alia sint sibi intelligibilia iu
actu. Ist dies eingetreten, so ascendit ille intellectus in actu ad assimilationem
remm abstractarum et iutelliget suum esse quod est actu intellectus (66 A):
Intellekl, Intelligibles und Intelligirendes sind dann Eins, sind ganz intellectus
agens geworden. Nam intentio divina in hoc fuit quod formae quac sunt
aeternae in genere, iit universalia, debeant ascendere ad funiKun uiiam uuuiero.
Ebd. 5, f. 66 C: Pluralitas intelligendi non est deputata pro ultima nobilitate.
Das primuni erkennt ja sich allein und damit alles andre , da alles sein Sein
von ihm hat. Itaque pluralitas intelligendi perfeetio non est. Vgl. bei Spi-
noza die Erkenntniss sub specie aeternitatis und Eth. 'S 36.
524 ^- Sieb eck,
lieber die letztere sich bereits zeigte , um so eher konnte der
naturalistische Gesichtspunkt als die naturgeraässe Konsequenz und
Ergänzung derselben erscheinen, da er mit seiner neuen Bestim-
mung des A^erhältnisses von Materie und Form der Erfahruugs- und
Naturwissenschaft einen berechtigten Anspruch auf Alleinherrschaft
zu verleihen schien. Die objektive empirische Psychologie wurde
auf diese Weise zum tendenziös -naturalistischen Empirismus. In
wie ausgesprochener Weise dies wenigstens in bestimmten und allem
Anschein nach ziemlich ausgedehnten Kreisen der Fall war, ha.t-.'ii
die kirchliche Zensur jeuer Richtung selbst deutlich ins Licht stellen
helfen. In der langen Reihe ketzerischer Lehren, welche der Erz-
bischof von Paris im Jahre 1279 den dortigen Averroisten aufzu- ;
rücken sich veranlasst fand"), finden sich Sätze wie die folgenden: i .
Alles geschieht durch Xothwendigkeit; jedes Agens wirkt nur in
einer ganz bestimmten Weise: der Mensch ist Mensch auch ab- j|
gesehen von seiner (nicht organischen) Denkseele; die Substanz der
Seele ist ewig (d. h. nicht geschaften); die Seele ist unzertrennlich vom
Leibe und vergeht, wenn dessen Harmonie sich auflöst: der Intellekt |
(der unvergänglich ist) macht die \Vesensvollkommeuheit (perfectio
essentialis hominis) aus; er ist von Ewigkeit her, und seiner Natur
nach nicht früher in der Potenz als im Aktus; es giebt zwischen den
(individuellen) Intellekten keinen Unterschied der Vollkommenheit;
die Aenderungen im Inhalte des Willens sind immer durch vor- '
hergehende Ursachen bedingt: der Wille unterliegt den seine An-
regung bewirkenden Einflüs.sen mit Unausweichlichkeit: dasselbe
gilt vom sinnlichen Triebe; bei jeder Handlung giebt unter ver-
.schiedenen Antrieben immer der stärkere den Ausschlag; gegen
die thatsächlichen Wirkungen von Passionen und Erkenntniss kann
der Wille von sich aus nichts ausrichten: leidenschaftliche Hand-
lungen sind unausweichliche Wirkungen (coacte) bestimmter Ur-
sachen; was aus einem Menschen wird, kann man aus bestimmten
Zeichen an seinem Wesen vorauswissen""') u. u. Besonders deutlich
t
'^) s. Du Plessis d'Argciitre, Collectio judicioium etc. L .S. 177 ff.
'6) a. a. 0. no. 21. IT.O. 11. 1G9. 116. 7. 124. 39. 131. 131. ir4. 208. 129.]
131. 167.
Zur Psychologie der Scholastik.
525
tritt hier ausserdem die Tendenz heraus, die bis dahin unbefangen
an die Objekte der äussern und innern Erfahrung herangebrachte
empirische Methode des Erkennens als die allein giltige im Gegen-
satze zu den Inhalten und Methoden der kirchlichen Glaubenslehre
hinzustellen '').
') Vgl. ebd. 110.33. 37. 120. 152f. 177 u. a.
Archiv f. Oescliiclite d. Pliilusupliie. II.
36
I
m
XXIX.
„Jordaui Brimi Nolani Opera iueclita, manu
propria scripta".
Ton
W. liUtoslawski,
Privatdocent an der Universität zu Kazan.
„Jordani Bruui Nolaui Opera iiiedita, manu propria
scripta" — diesen überraschenden und vielverheissenden Titel
trägt ein dickes Heft in 4° der Moskauer Bibliothek des Rumian-
zow-^Iuseums. Schon vor mehr als zwanzig Jahren kündigte die
Buchhandlung Tross in Paris an, dass sie noch ungedruckte
Autographa von Giordano Bruno besitze. Da seit mehr als
250 Jahren keine neuen Werke von diesem Philosophen bekannt
geworden sind, ausser den bei seinen Lebzeiten und zweien kurz
nach seinem Tode ') erschienenen, so erregte diese Nachricht unter
denen, die sich mit Bruno beschäftigt hatten, ein grosses Aufsehen.
Domeuico Berti, der damalige italienische Uuterrichtsminister und
spätere Biograph von Bruno, beabsichtigte die neu entdeckten
Werke anzuschaffen. Es kam ihm aber darin Abraham Noroff
zuvor, der in seiner reichen Bibliothek schon seit Jahren mit
grosser Mühe die seltensten Ausgaben verschiedener Werke von [i
Bruno vereinigt hatte. j
Die Bibliothek von Noroff kam nach seinem Tode seinen ,»
Wünschen gemäss an das Museum von Rumianzow in ]\loskau, < ■
das gegenwärtig eine der reichsten Bibliotheken Russlands besitzt, 's
^) Summa t e r ra i n o r u m M e t a p h y s i c o r u m Jordani B r u n i Mar-
purgi 1609 und Artifieium perorandi Francoforti 1G12.
Jordani Bruni Nolani Opera inedita, manu propria scripta. 527
Darin befindet sich jetzt, nebst einer beinahe vollständigen Collec-
tion der ersten Ausgaben gedruckter A\'erke von Giordano Bruno,
auch das von der Buchhandlung Tross zuerst angekündigte
Manuscript.
Die erste Beschreibung dieses Manuscripts erschien im J. 1868
in französischer Sprache in dem von Nor off selbst herausgegebenen
Kataloge seiner Bibliothek') und wurde von Berti ^), Frith*) und
Previti^) abgedruckt.
Diese Beschreibung ist jedoch in vielen Hinsichten unzuver-
lässig. Noroff glaubte, dass das ganze Manuscript von Brunos Hand
geschrieben sei, und hielt auch solche Theile desselben, die wohl
kaum Bruno zuzuschreiben sind, für dessen Werke. Er hat das
Verhältniss der einzelnen Theile gar nicht untersucht, und hielt
! einzelne Capitel für besondere Abhandlungen, so dass er dies
Manuscript, welches nur zwei vollständig vorliegende Werke von
Bruno enthält, für eine Sammlung von nicht weniger als 9Trac-
taten erklärte.
So wie das Manuscript gegenwärtig vorliegt, enthält es nicht,
wie Noroff angiebt, 184, sondern nur 182 Blätter, die mit Bleistift
numerirt sind. Daraus folgt nicht, dass zwei Blätter verloren ge-
gangen seien, da zwischen Bl. 69 und Bl. 70 zwei vollständig un-
beschriebene Blätter liegen, die von Norofl^ mitgezählt worden sind,
dagegen bei der endgültigen Numerirung von der Moskauer Biblio-
thek-Verwaltung unberücksichtigt gelassen wurden. Von den 182
Blättern hängt der grösste Theil noch gut zusammen, und zwar
waren Bl. 7 — 182 in einer gleichmä.ssigen Weise geheftet; Bl. 1— 6
haben dagegen nicht zu demselben Hefte gehört, und wurden nur
lose hineingelegt. Von den Bl. 7—182 sind auch einige ganz los-
gelöst, aber mit sichtlichen Spuren der Zugehörigkeit zu den übrigen.
So sind die Blätter 7, 10, 11, 161 ganz frei. Bl. 8—9, 36—47,
48_55^ 70—75, 99—106 hängen mit den übrigen nur an einer
Stelle zusammen. Aber alle diese Blätter, von 7—182, hal)en
2) Bibliotheque de Mr. Al)raham de Noroff S. Petersbourg 18G8.
=') Berti Domenieo Doeumenli intorno a Giordano Bruno Roma 1880.
*) J. Frith Life of Giordano Bruno tiie Nolan London 1887.
') P. Luiffi Previti S. J. Giordano Bruno e i suoi tenipi. Prato 1887.
^ 36*
59^ \V. Liif oslawski,
Spui-eii von Nadelstichen in der Entfernung von 18, 45, 165, 195 mm
vom oberen Rande, und haben also ein ganz zusammenhängendes
lieft gebildet, von dem sich nur mit der Zeit beim Blättern ein-
zelne Blätter zum Theil oder gänzlich losgelöst haben.
Dass aber diese Blätter 7—182 nicht immer ein Ganzes ge-
bildet haben, das ersieht man daraus, dass in den Bl. 7—63 alte
Nadelstiche, durch die jetzt der Faden nicht geht, deutlich zi^
sehen sind.
Mit Rücksicht auf diese Nadelstiche, so wie auch auf die Bei
schaflenheit des Papiers, kann man das ganze Mauuscript in foli
gende Theile eintheilen:
I. Theil: Bl. 1-5.
T. Bl. 1—5 haben nie zu dem Rest des Ms. gehört, wohl aber j
zu einem anderen Heft, da in ihnen alte Nadelstiche sichtbar sind,
in der Entfernung 14, 62, 122, 188 mm vom oberen Rand. Die ;
Lage dieser Nadelstiche stimmt weder mit denen, die durch das
ganze Heft von Bl. 7—162 gehen, noch mit den andern, die in
den Blättern 7—63 sichtbar sind, und durch die jetzt kein Faden
geht, iiberein. Die gleichen Nadelstiche sind nicht nur in Blatt |
1—4, von denen 1 mit 4 und 2 mit 3 noch zusammenliängen,
sondern auch in dem Bl. 5 sichtbar. Von dem Bl. 5 ist das dazu-
gehörige Blatt wcggeri.ssen, und nicht vorhanden.
Die Blätter 1—4 haben, wie durch Nebeneinanderlegen ganz
sicher zu ersehen ist, einen Bogen gebildet, von einem Papier, in
dem ein AVasserzeichen sichtbar ist, das einen Krug mit über-
schäumendem Trank darstellt. Legt man die Blätter so neben ein-
ander, dass Bl. 3 r" links oben, Bl. 2 v° links unten, Bl. 4 v° rechts
oben und Bl. 1 r" rechts unten zu liegen kommen, so ist der Krug
in der Mitte der linken Hälfte des Bogens zu sehen, mit einem Griff an
seiner rechten Seite. Auf dem Kruge bemerkt man zwei Buchstaben,
von denen der erste unleserlich, der zweite aber ein N oder ein H be-
deutet. Da das Papier nicht beschnitten ist, und der Rand in Folge
dessen eine etwas unregelmässige wellenförmige Linie bildet, so sind
die Dimensionen der Blätter nicht ganz übereinstimmend, und der [I
Bogen, den Bl. 1—4 gebildet haben, hatte in der angeführten Lage
1
Jordani Bruni Noiani Opeia inedita, manu propria scripta. 529
der Blätter unten eine Breite vun 411mm, oben von 414 mm,
sein linker Rand betrug 300 mm, der rechte 304 mm. Die durch-
schnittlichen Dimensionen jedes Blattes sind also 152.206 mm,
wobei die einzelnen Blätter etwas kleiner oder grösser sind. Im
Papier sind Linien sichtbar: die Querlinien dicht beisammen, die
Längslinien in einiger Entfernung von einander. Die Querlinien
gehen in den einzelnen Blättern von oben nach unten, und sind
auch sichtbar ohne das Papier gegen das Licht zu halten, sie sind
ly^mm von einander entfernt, da ihrer 8 auf 10 mm kommen.
Die Läugslinien treten erst hervor, wenn man das Papier gegen
das Licht hält. Es sind ihrer im ganzen Bogen 20 vorhanden,
und also auf jedem Blatte 10 zu sehen. Die Entfernungen dieser
Linien sind nicht ganz gleichmässig, und weichen an verschiedenen
i Stellen um 1 — 2 mm vom Mittel ab. Da diese Längslinien in den
I einzelnen Blättern von links nach rechts gehen, so Hess sich iiire
! Lage durch die Entfernung vom oberen Rand bezeichnen; sie be-
j trägt, im Durchschnitt aus 10 Messungen, von denen an jedem
: Blatte zw^ei ausgeführt wurden:
9, 20, 43, 63, 86, 107, 128, 151, 173, 195 mm.
Solche Messungeu reichen hin, um die Identität des Papiers
I von Bl. 5 mit Bl. 1 — 4 festzustellen, und zugleich auch, um mit
I Bestimmtheit behaupten zu dürfen, dass sich im ganzen übrigen
Manuscript kein einziges Blatt von dem gleichen Papier findet.
Bl. 1 recto ist sehr vergilbt und schmutzig, und hat offenbar lange
an der Luft gelegen — aber schon das verso ist weisser, und
j ebenso auch die Bl. 2 — 5. Was den Inhalt anbelangt, so ist darin
' zuerst ein lateinischer Text bemerkbar, von dem ein grosser Thcil
durchstrichen ist. Auf Blatt 1 recto sind zwischen den Zeilen
i mit anderer Tinte aber von derselben Hand einige italienische
j Verse zu lesen. Auch auf Blatt 5 recto kommen italienische Verse
! und Prosa vor. Auf Bl. 5 v" sieht man 6 Zeilen eines lateinischen
j Textes, der sehr verblasst und unleserlich ist, und der dem Aus-
I sehen nach denselben Einflüssen ausgesetzt gewesen sein muss,
wie'Bl. 1 r".
} Diese Blätter scheinen Conceptblätter gewesen zu sein, und
sind von Brunos eigner Hand geschrieben, wie dies von Prof. Sig-
530
W. Liitoslawski,
wart*), der mehrere unzweifelhaft echte Autographe Brunos gesehen
und diese mit dem von Noroft' publicirten Facsimile verglichen hat,
iür unzweifelhaft gehalten wird. Auf Grund einiger Abbildungen
von unzweifelhaft echten Autographen von Giordauo Bruno, die ich
der Güte von Prof. Sigwart verdanke, glaube ich auch entscheiden
zu können, dass diese ersten 5 Blätter, vielleicht mit Ausnahme
von Bl. 5 verso, von Giordano Bruno selbst geschrieben sind.
Bl. 1 r° beginnt mit dem Titel „De vinculo spiritus"^).
Von derselben Hand aber mit anderer, weniger verblasster Tinte
ist neben dem Titel später hiuzugeschriebeu
naturali *)
animali
divino.
Dicht unter dem Titel, aber wahrscheinlich auch später geschrie-
ben und in Folge dessen weniger verblasst steht der Satz „His
absque medicus non est, divinator non') est, Operator'") uon^)
est, amator non est, philosophus ") non est etc." und „per'^) haec
sunt omnes '^) omnia".
Dann beginnt der eigentliche Text, der aus einzelnen nicht
immer zusammenhängenden Sätzen besteht, und dessen erste vier ,
Zeilen gestrichen sind. Sie lauten „Nihil absolute pulchrum'*) |
quod'^) vinciat: sed adaliquid pulchrum'^), alioquin asini amarent
pulchras mulieres, simiae a^o^erent '*^) filios. Similiter nihil absolute
bonum '■) quod"^) alliciat, sed cum '^) deus^°) seu Universum^') et
ens est ex contrariis^"''). ita etiam bonum est ex contrariis. sunt
enim"") alia quae consistunt igne alia quae aqua etc."
") Dem Herrn Prof. Sigwart verdanke ich eine Abschrift von Kl. 1 recto,
Bl. 4 recto und Bl. 5 recto, die er nach einem Facsimile und einer Photo-
graphie angefertigt hat, und die mir das Lesen der sehr undeutlichen Hand-
schrift ausserordentlich erleichterte, so dass ich einen grossen Theil der
andern Seiten habe entziffern können.
') Ms.: vinc" spüs. ^) 3Is. : näli. ^) Ms.: n. "^) ojiator.
") phüs. '-) j}. '■■') oes. ") g.. '=) pulchrü.
'^) Dies Wort konnte ich nicht sicher lesen, zwischen dem a und e sind
2 — 3 Buchstaben, von denen zwei zu den oben hervorragenden gehören (b, d,
h, k, 1, t). '') bona. 'S) a- '■■>) cfi. ■-") deö.
*') universü. ^^ cöriis. -') .n.
Jordani Bruni Nolani Opera iuedita, manu propria scripta. 531
Nach diesen vier Zeilen kommen zunächst, aber später ge-
schrieben und weniger vcrblasst zwei Verse „se si potesse a to
chiuder l'entrata, tant il regno d'amor saria piu vagü", die den
Lesern Brunos aus seinem Werk „GH eroici furori" bekannt sind,
(wo sie im ersten Dialog im 6.. Sonuett vorkommen). Der dritte
dazu gehörige Vers „quanf il moudo senz' odio et senza morte"
kommt erst nach weiteren 7 Zeilen Text, von dem die 5 letzten
durchstrichen sind. Die nicht durchstrichenen Zeilen lauten
„Honestum et justum civile lege videtur esse, et nou natura^*):
sed opinio multum valet ad habitum: ut quasi naturale ^^) sitquod^'^)
appetitur et vinciat appetitum"). et e contra". In derselben Weise
geht der Text in den ersten 4 Blättern fort, wobei am Rande viel-
mals die Worte „vinciens", „vincibile", „vinculum" vorkommen.
Als weitere Probe mögen einige Sätze aus dem Blatt 4 r" dienen:
(dies Blatt wurde von Prof. Sigwart nach einer Photographie bei-
nahe vollkommen entziffert)
„Is vere uni vincitur, qui in rebus negotiisque aliis torpescit
et in ipso sollicitatur, jocundior enim operatio alteram excludit,
animus auribus intentus remittit oculos, hinc vehementius gau-
dentes, tristitia aestuantes, uon vivide aliud agimus, imo statim
cessamus ab opere; hoc est tencri, vinciri, abstrahi, trahi."
„Vinculorum diversitas".
„Voluptas hominum minus est determinata ad unum, undc
rationalis dicitur, quam voluptas brutorum quae naturalis appellatur,
hinc equa pariter omnes equos vincire potest, mulier uua viros
omnes non item: ita amatur^-)."
„Relaxatiü viuciili."
„Pudor et fides propugnator vinculorum optimus. est autem
pudor ignominiae metus. quae bene vinculis obstat et vero afficitur
pudore rubet. Quae vero timure vecordiaquc se proripit a vinculis
pallet. Haue qui vincire cupit, additis animis superabit. non illam.
Primum proprio dicimus verecundiam, secundiim vero proprio
pudorem dixerim, verecundia enim recti honestique rationern habet,
-*) nä. 25) nr^ig_ 26-) ^,
^") appetitü. ^*) ita amf.
532 W. Lutoslawski,
I
pudor autem infamiae timorem prae se fert; pallent enim et qui
tiraent verbera et mortem."
„Amor."
„Amor ut in araante est passive dicitur et est vinciilnm, alio :.
modo dicitur active id quod amare facit: et est quaedam divina ^^ß
vis in rebus, et liic est ille qui vincit. Et Orplieo atque Mercurio li
est ])aemon magnus. Antiquus ante mundum, quo chaos orna- »
mentum appetebat, eratque in sinu illius quia amor in generatione j j
operatur et uova facit et principiis dominatur. Senectutem fugere ;
et odisse dicitur, juvenibus se miscere, duros liabitus aufugit, mites (,
mollesque inhabitat, juvenis et tenellus et coelestis habetur" ... '
„Hunc vincientem vel" viuculum lioc nee pulclirum neque bo- ,
num appellat Socrates quod pulchrum appetit atque bonum, eo i
igitur caret ideoque noluit esse Deorum aliquem. Item inquit ille
amorem medium inter bonum et malum, turpe et pulchrum, mor-
tale et immortale. Secl hie rhetorice et aequivocc sentit de appe-
titu et medio. Sumimus amorem vinculiim secundura rationem
communem active passive, quo omnia voluut perfici uuiri copulari i
ordiuari et natura agit perfectionem unionem copulam et ordinem."
„Et sie nihil est sine amore perfectum."
In der gleichen Weise handelt auch Blatt 4 verso von Liebe
und von der Lust. Es schliesst mit dem Satze „plus vincit cautus
adulator quam verus amicus".
131. 5 recto beginnt mit dem Vers „Chi mette il pie su Tamo-
rosa pania etc.". der gleichfalls den „gli eroici furori" entnommen
ist, und sich dort im Dialogo secondo am Schluss findet '"). Hier
fehlt aber der zweite ihn ergänzende Vers „cerchi ritrarlo e non
v'inveschi l'ali". L'nter dem ersteren Verse liest man einen latei-
nischen Satz „Grates Thebanus dixit remedium amoris fames, si
hoc non sufficit tempus, si hoc non sufficit laqueus". Auf diesen
Satz folgen wieder ein italienischer Satz, und einige italienische
A^'erse ohne Abschluss.
Bl. 5 verso sieht man einige Zeilen, die ich nicht entziffern
-'■') Opere di Giordano Bruno Nolano ora per la prima volta racoolte e
pubblicate da Adolfo Wagner Dottore, Lipsia 1830 vol. II p. 329.
Jordani Bnmi Nolani Opera inedita, manu propria scripta. 533
konnte, und die vielleicht auch nicht von Bruno geschrieben wur-
den: die Tinte ist sehr verblasst, und die Schrift sehr hastig und
undeutlich'").
II. Theil: Bl. 6.
II. Bl. 6 ist ein einzelnes loses Blatt, sehr vergilbt und mit
zerfetztem Rande, von einem Papier, das nach den Quer- und
Längslinien und nach einem noch sichtbaren Theil des Fabrik-
zeichens zu urtheilen, identisch ist mit dem Papier der Blätter 11
bis 86. (Dies Papier ist auch identisch mit dem Papier, auf dem
Brunos Brief an den Rector der Helmstädter Universität geschrieben
sit, wie ich auf Grund einer genauen Beschreibung dieses Papiers,
i die ich der Güte von Prof. Sigwart verdanke, entschieden behaupten
i darf. Dieser Brief belindct sich jetzt in der Bibliothek zu Wolfen-
', biittel, und gehört zu den unzweifelhaften Autographen Brunos.)
I Eine Seite des Blattes 6 ist ganz unbeschrieben, auf der anderen
j Seite sieht man eine Zeichnung mit 11 Zeilen eines erläutern-
den lateinischen Textes, beides von Brunos Hand: die Zeichnung
, stellt drei in einander liegende Quadrate dar, wobei an den Seiten
i des mittleren die Namen der vier Elemente „ignis", „aer", „aqua",
„terra" geschrieben sind, in den Ecken des grössten aber die vier
AVeltrichtungen und die vier Haupteigenschaften der Elemente
stehen. Diese Zeichnung gehört zu dem Werk von Bruno „De
rerum principiis et elementis et causis", das in unserem
Ms. Bl. 39—54 vorliegt.
III. Theil: Bl. 7-10.
III. Bl. 7—10 von einem Papier, das in dem ganzen Manu-
script nicht wieder vorliommt, und das an seinem Fabrikzeichen
leicht erkenntlich ist. Dies Fabrikzeichen stellt ein Wappen dar,
in der Mitte mit einem Herz, in dem zwei Pfeile und eine Kugel
mit oben hervorragendem Kreuz zu sehen sind. Das Papier ist
dicker als das des vorhergehenden Blattes, aber kleiner, da der
^uI<|
3») Proben aus den Bl. 2—3 werde ich anführen bei der Beschreil)ung der
Blätter 87—98.
534 W. Lutoslawski,
Bogen 410 mm Breite und 321 mm Länge gemessen hat. Durcl
Nebeneinanderlegen der Blätter kann man sich überzeugen, dass^
diese 4 Blätter einen Bogen gebildet haben. Die Querlinien sind
etwas näher bei einander als in den ersten 5 Blättern: es gehen
ihrer 19 auf 20 mm. Die Längslinien, die in den einzelnen Blättern ■ju
von links nach rechts gehen, sind 14, 43, 73, 101, 129, 158, Äi
187 mm vom oberen Rand entfernt, den oberen Rand der Blätter ,|
bildet aber die Linie, auf der der Bogen durchgeschnitten wurde, ij||p
wie überhaupt in allen Blättern von 7 — 160. Die andern Ränder
sind uubesclinitten, aber weniger unregelmässig als au den ersten
5 Blättern.
Bl. 7 r° beginnt ohne Titel „Antequam de Magia, sicut ante-
quam de quocumque subjecto disseratur, uomen in sua significata
est dividendum." Die Handschrift ist von der Brunos verschieden.
Am Rande sind Bemerkungen, Ergänzungen und Inhaltsangaben
von derselben Hand. Der ganze Inhalt dieser Blätter, so wie der j
folgenden, bezieht sich auf Magie, '
IV. Theil: BL 11-27.
IT. BL 11—27 von demselben Papier, wie Bl. 6 und BI. 28
bis 86; und nur dadurch von den folgenden Blättern zu unter-
scheiden, dass diese einem anderen Heft angehört haben, wie aus
den Nadelstichen zu ersehen ist. Bl. 11 — 27 bilden den am meisten
zerfetzten und vergilbten Theil des ganzen Ms. und jedes Blatt
trägt die Spuren von Nadelstichen an zwölf Stellen, nämlich
erstens 18. 45, 165, 195mm vom oberen Rand, wo der Faden
auch gegenwärtig durchgeht, und die den durch das ganze Ms.
durchgehenden entsprechen. Ausserdem sind noch alte Nadelstiche
sichtbar 10, 58, 88, 03, 119, 138, 143, 178 mm vom oberen Rande
der Blätter entfernt. Die meisten von diesen lassen sich auch in
Bl. 7 — 10 nachweisen, und es ist ersichtlich, dass Bl. 7 — 27 ein
Heft ursprünglich gebildet haben. Das Papier hat ein Fabrikzeichen, |'
das in jedem Bogen an derselben Stelle angebracht ist, wie in dem ■
Papier der Blätter 1 — 4, und das ein kleines Schild darstellt. Die;
Querlinien sind noch näher bei einander als bei den Bl. 7 — 10, es :
gehen ihrer 21 auf 20 mm. Die Längsliuien sind 11, 39, 70, 98, ^
1«!
ii
Jordani Bruni Nolani Opera ineditaj manu propria scripta. 535
'. 126, 154, 182, 198 mm vom oberen Rand in jedem Blatte entfernt,
I und das Papier ist nnbeschnitten, von dem Format 828 mm Lunge
und 418 Breite, also noch grösser als das der vorhergehenden
! Blätter, aber etwas düuuer. Jedes Blatt hat durchschnittlich
164 mm Breite und 209 Länge. Es ist hier überall, wie auch auf
Bl. 7 — 10, ein 4—5 cm breiter Rand gelassen, der auf dem recto
rechts, auf dem verso links gelegen ist. Was den Inhalt anbelangt,
so bildet er eine Fortsetzung der auf Bl. 7 begonnenen Abhandlung
über Magie, wobei keine Unterbrechung zu bemerken ist, da Bl. 10
mit den Worten schliesst
„Porro animus ipse cum sua virtute",
und Bl. 11 fortsetzt
„praesens est quodammodo universo. utpote talis substantia, quae
non est inclusa corpori per ipsam ^dventi, quamvis eidem obligata,
adstricta" .
Die Handschrift ist dieselbe wie Bl. 7 — 10, und ist von der
von Bruno leicht zu unterscheiden, da bei Bruno die Tendenz der
j Bewegung von links nach rechts vorherrscht, während hier der
i Schreiber eine grosse Vorliebe zu allen Strichen von rechts nach
' links zeigt, und dadurch besonders das d, v, s, g anders aussieht,
j als dieselben Buchstaben in Brunos Handschrift.
! Bl. 14 r° kommt eine Ueberschrift
'' „De Motu rerum duplici et attractlone",
■ worunter der Text beginnt
„Duplex est rerum motus, naturalis et praeternaturalis: naturalis
; qui est a principio intrinseco, praeternaturalis qui a principio ex-
i trinseco: item naturalis qui est conveniens naturae, consistentiae
' vel generationi, praeternaturalis qui non, et hie est duplex: vio-
i lentus, qui est contra naturam. et ordinatus, seu coordinabilis, qui
non repugnat naturae."
Der Inhalt bezieht sich offenbar auch auf magische Kräfte.
Dasselbe gilt von dem folgenden Capitel
„Quo modo Magnes trahat ferrum, corallium, sanguinem
etc.",
das auf Bl. 15 recto mit den Worten beginnt
„ex istis sequitur ratio, quam (q^m, sie) magnes secundum genus
^
536 W. Lutoslawski,
attrahit: porro attractio est duplex: quaedam ex consensu, ut quando
partes moventur ad suum totum, locata ad siuim locum, similia ra-
piuntur a similibus et convenientia a convenicntibus: alia est sine
consensu, ut quando contrarium trahitur a contrario, propter victo-
riam illius, quod non potest effugere."
Die Abhandlung über die magnetische Anziehung schliesst j -
Bl. 17 recto und wird durch eine kurze Zusammenfassung der ver-
schiedenen Ursachen der Bewegung im Räume ergänzt. Bl. 17
verso schliesst sich daran ein weiteres Capitel an betitelt
„de vinculis Spirituum"
das mit den Worten lieginnt
„Supra dictum est spiritus alios crassiorem, alles subtiliorem in-
colere materiam: alios in compositis, alios in simplicioribus cor-
poribus consistere, alios sensibilia, alios insensibilia, unde opera-
tiones animae aliis sunt promptiores, aliis difficiliores, aliis hebe-
tatae aliis aptatae, aliis ablatae; alii item secundum geuus unum,
alii secundum aliud genus potentius operantur; unde hominibus
datae sunt quaedam operationes, et actus, et voluptates quibus
privantur daemones".
Diese Worte könnten sich auf Bl. 13—14 beziehen, wo von
den Beziehungen zwischen Geist und Körper die Rede war. An-
dererseits aber scheinen die Bl. 17v— 21r den Text zu unter-
brechen, und enger zu der Abhandlung zu gehören, die Bl. 70 ohne
Titel beginnt. Jedenfalls ist der allgemeine Zusammenhang mit
dem Vorangehenden unverkennbar. Es wird hier der Gedanke ent-
wickelt, dass nicht alle Dämonen den Menschen, und nicht alle
Menschen einzelnen klugen Thieren überlegen sind. Es wird auch
der von Bruno in vielen seiner AVerke wiederholte Satz verthei-
digt, dass alle Körper beseelt sind, was vielleicht Noroff dazu ver-
anlasste, dies Werk Bruno zuzuschreiben. Bl. 18 verso folgt iu
engem Zusammenhange mit dem A'orangehcnden ein Capitel
„De Analogia spirituum",
worin von „unterirdischen Dämonen" unter Anderem Bl. 19 recto
gesagt wird:
„Esse daemones subterraneos non solum sensus, experientia,
et ratio, sed etiam et divina quaedam authoritas confirmat apud
l
Jordani Bruni Noiani Opera inedita, manu propria scripta. 537
sapientissimum et multae philosophiae ac profuiidissimae libruni
Jobi." Es werden den Dämonen verschiedene Mächte zugeschrieben,
und andererseits wieder zugegeben, dass viele Dämonen von gewissen
Menschen beherrscht werden können. Bl. 20 verso wird diese
Auseinandersetzung mit den Worten geschlossen:
„Jani ad multiplex spirituum vinculum referendum convertamur,
ubi omnis Magiae doctrinu continebitur."
Es folgt die Aufzählung von 20 viucula, mit Hinweisungen
auf § 3, 5, 11 — 29 eines Werkes, das nicht näher angegeben ist,
das sich aber in unserem Ms. Bl. 70 — 86 findet. Als erstes vin-
culum wird die „triplex facultas quae requiritur in vinciente seu
mago, physica, mathematica et metaphysica" augegeben. Das
j zweite vinculum ,.triplex est, quod requiritur tum in operante, tum
; in operato, tum in eo circa quem est operatio et est fide seu
' credulitate constans, item invocatione, item amore, et ardenti
i aftectu". So werden die weiteren „vincula", d. h. magische Älittel
i angeführt, und Bl. 21 recto schliesst die Aufzählung mit dem
' XIX. vinculum „annuli" und dem XX. „artificia fascinatorum",
wonach der Satz kommt: „praeter haec generalia vincula sunt quae
I in 17 articulis ex Alberti doctrina colligiintur, (|Uorum quaedam
j sunt relata, quaedam referenda supersunt".
Bl. 21 verso ist weiss, auf Bl. 22 recto beginnt ein neues
i Capitel mit der Aufschrift
„De vinculis spirituum, et primum de eo quod est ex
triplici ratione agentis, materiae, et applicationis."
Dies Capitel enthält die Fortsetzung dessen, was Bl. 7—17
verso abgehandelt wurde, und kann als eine andere Fassung der
Capitel „De vinculis Spirituum" und „De Analogia Spiri-
tuum" die von Bl, 17 — 21 gehen, angesehen werden.
Von Noroff wurde dieser Abschnitt fälschlich für eine beson-
dere Abhandlung gehalten. Er ist von derselben Hand auf dem-
selben Papier wie das A^orhergehende geschrieben, und es fehlt in
ihm, wie in dem Vorhergehenden, jede Spur irgend einer Bemer-
kung oder Ergänzung von Brunos Hand.
Der Text beginnt Bl. 22 recto mit den Worten:
„Ad hoc ut actiones in rebus perliciantur tria requiruntur:
538 ^^- I-utoslawski,
potentia activa in agente, potentia passiva in subjccto seu patiente,
seil dispositio qiiae est aptituclo quaedam vel rioii repugnaiitia, seu
impotentia resistendi, qiiae omnia ad unum tenninum reducuntur,
nempe, potentiam materiae, et debita applioatio quae est per cir-
cumstantias temporis, loci et reliquorum concurreutium".
Blatt 23 verso kommt ein neues Capitel
„Secundum vinculum ex voce et cantu",
das aufs Neue den Zusammenhang mit dem Vorangehenden be-
stätigt; jedoch stimmen die Titel des IIL, IV. und V. vinculum
nicht mit denen, die Bl. 20—21 angeführt wurden.
Bl. 24 verso „Tertium vinculorum geuus ex visu"
Bl. 25 recto „Quartum vinculum est ex Phantasia"
Bl. 26 verso „De vinculo quinto quod est ex Cogitativa."
Bl. 27 verso schliesst die ganze Abhandlung mit den Worten
„et haec de vinculis in genere dicta sint" worunter ein FINIS von
derselben Hand geschrieben ist.
Aus dem Inhalt ist ersichtlich, dass Bl. 7 — 27 ein Ganzes
bilden, obgleich die ersten vier Blätter aus anderem Papier sind,
als die folgenden. Dies Ganze ist ein Theil einer Abhandlung (p|i(
über die Magischen AVirkungen. Der Name von Giordano Bruno |
kommt hier nirgend vor, und da die Nadelstiche beweisen, dass
die Bl. 7 — 27 einem ganz anderen Hefte angehört haben als die
Bl. 1 — 6, so ist kein äusserer Grund vorhanden anzunehmen, dass
wir es hier mit einem Werke von Bruno zu thun haben, um so
weniger, als er in Venedig vor dem Inquisitionsgerichte ausdrück-
lich sagt^'), dass er nichts über Magie geschrieben habe, und nur
einige darauf bezügliche Werke hat abschreiben lassen, um sie zu
benutzen. Vielleicht ist das, was hier vorliegt, ein Auszug oder
eine Abschrift aus einem dieser Werke ^^). Die Gegenstände, die
hier behandelt werden, hängen in so fern zusammen, als sie sich
alle auf magische Wirkungen beziehen. Dass das Heft Bl. 7—27
Bruno angehört haben kann , dafür haben wir mehrere Hinweise.
3') Berti, Documenti p. 42.
32) Das Capitel De vinculis spirituum Bl. 17 verso — Bi. 21 recto
scheint den Text zu unterbrechen, und gehört vielleicht einem anderen Werke
an als Bl. 7—17 und 22—27.
Jordani Bnini Nolaui Opera iuedita, manu propria scripta. 539
I Erstens ist das Papier der Bl. 11 — 27 identisch mit dem von Bl. 6,
i worauf sich Worte von Brunos Hand geschrieben finden; ferner
' ist der Commentar zu diesem Tractat über magische Wirkungen,
der mit Bl. 28 beginnt, wahrscheinlich von Bruno verfasst, da eine
Stelle aus diesem Commentar in unzweideutiger AVeise in dem
Werk „de vinculis in genere" citirt wird, wie dies bei der
Betrachtung dieses Werkes gezeigt wird. Schliesslich ist eine in-
teressante Uebereinstimmung zu erwähnen: Bl. 20 recto werden
die Verse von Vergil
„Principio coelum et terras, camposque liquentes
Lucentemque globum lunae, Titaniaque astra
Spiritus intus alit, totamque infusa per arctus
I Mens agitat molem"
! mit dem Spruch der Bibel „Spiritus Domini replevit orbem terra-
I rum et hoc quod continet omuia" durchaus in derselben Weise
I zusammengestellt, wie dies Bruno bei dem Verhör in Venedig")
i gethan hat. Eine solche Uebereinstimmung ist jedoch nicht hin-
' reichend, um ohne weitere Gründe die Abhandlung über magische
1 Wirkungen dem Nolaner zuzuschreiben.
's^
T. Theil: Bl. 28 — 63.
V. Bl. 28 — 63, von demselben Papier und derselben Hand
wie Bl. 11 — 27, aber zu einem anderen Hefte ursprünglich gehörig,
da hier alte Nadelstiche zu sehen sind, die nicht mit denen von
Bl. 11 — 27 übereinstimmen, und
für Bl. 28— 47: 11, 96, 152, 185 mm
für Bl. 48 — 55: 11, 96, 148, 190 mm
für Bl. 56 — 63: 11, 96, 146, 190 mm
vom oberen Rande jedes Blattes entfernt sind.
Was den Inhalt anbelangt, beginnt Bl. 28 recto ohne Veber-
schrift und Titel:
„Magia sumitur multipliciter: communissime, commuuiter,
proprie et propriissime :
^') Berti, Documenti p. 27, vergl. De la causa principio et uno Wagner
I, 242.
540 W. Lutoslawski, ;
I modo pro omni geiiere scientiae et sapientiae.
II pro scientia naturali seu rerum naturalium in genere,
III pro sapientia qua complectitur triplex genus scientiarum
realium, cum triplici moralium et triplici rationalium. \
IV pro aggregato habitu ex omnibus Ins '
vel pluribus, cum facultate mirabiliter coguoscendi vel operandi, j-^t
et hoc dupliciter, vel per se, vel per aliud, et hoc tripliciter, vel j
per superiora vel per aequalia, vel per inferiora, et hoc juxta
diversas circumstantias, notatas et inclusas in significatiouibus 10
quibus dicitur magus." ■
Diese zehn Bedeutungen des Wortes „magus" wurden auf i j
Bl. 7 aufgezählt. Wir haben jedoch hier nicht eine Fortsetzung j
der vorhergehenden Abhandlung, sondern eine andere Behandlung
desselben Gegenstandes. Der Text ist in Paragraphen eiugetheilt, i
und stimmt an vielen Stellen liberein mit dem Text der Bl. 7 — 27.
So kommt eine Auseinandersetzung über die Elemente, die Seele, j
die Bewegung, die magnetische Anziehung, das viuculum ex voce
et cantu, ex visu, ex phantasia, ex cogitativa, wobei auf den Text
Bl. 7 — 28 zurückgewiesen wird, in einer AVeise, die darauf schliessen
lässt, dass wir hier einen Commentar der Abhandlung über ma-
gische Wirkungen haben, die Bl. 7 — 27 gegeben war. Man lese
z. B. folgende zu einander gehörige Stellen beider Texte:
Bl. 8 recto, Zeile 12 Bl. 28 recto, Zeile 12
„Magiam esse de genere „Magiam esse de genere
bonorum." bonorum."
„Magiam triplicem accipimus, „Magia est triplex, divina,
divinam, physicam et mathema- physica et Mathamatica, et
ticam, primi et secundi generis ita dupliciter consideratur vel
magia est necessario de genere ex parte subjecti, scientiae seu
bonorum et optimorum, III vero coguitionis et ita absolute et
generis et bona est et mala prout simpliciter est bona, vel quatenus
magi eadem bene etmale utuntur. venit in usum scientis, et ita in-
terdum bona est interdum est •
mala, malam autem esse uon
ii;
I
Jordaiii Bnmi Nolani Opera ineiiita. uianu propria scripta.
541
Bl. 8 recto, Zeile 28
„Ut autem ad particularia modo
deveniamus. haben t Magi pro
intelligimus sub ratione scientiae
proprie dictae, scientia enim
quateuus scientia semper est
bona . . . sed sub ratione istius
vel illius in hoc vel illo."
Bl. 28 verso, Zeile 1
„Principiuni Magiae est
considerare ordinem in-
axiomate, in omni opere ante fluxus seu schalam entium
oculos habendum, influere Deum qua Deum in deos, deos in
in Deos, Deos in (corpora coe- astra, astra in daemones,
lestia seu) astra, quae sunt cor- daemones in elementa, ele-
porea Numina, astra in daemones, menta in mista, etc. Distingue
qui sunt cultores et incolae de influxu: influxus est duplex,
astrorum, quorum unumesttellus, essentialis et accidentalis, et hie
daemones in elementa, elementa intrinsecus et extrinsecus" ....
in mista, mista in sensus, sensus
in animum, animum in totum
animal, et hie est descensus
schalae, mox ascendit animal per
animum ad sensus, per sensus in
mista, per mista in elementa, per
haec in daemones, per hos in
elementa, per haec in astra, per
ipsa in Deos incorporeos seu
astereae substantiae . . .
Die zu commentirenden Worte sind auf Bl. 28 mit grösserer
Schrift aber von derselben Hand geschrieben. Ebenso ferner:
Bl. 8 verso, Zeile 19 Bl. 28 verso, Zeile 17
„luxta tres praedictos magiae „Iiixta tres praedictos
gradus, tres mundi intelliguntur, magiae gradus tres mundi
archetypus, physicus et rational is. " intelliguntur etc.
Distinguendum est de mundo
secundum signiticationem com-
munem, propriam et propriissi-
raam . . . ."
37
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. II.
542
W. Liitoslawslii,
Bl. 11 recto, Zeile 16 Bl. 30 verso, Zeile 1
„Ita cum Animiis cujusque „Immateriales substantiae ut
uniiis continuationem habeat cum ubi sunt totae sunt, ita etiam
anima universi, non sequitur ea in unn et eodem spacio, eo modo
impossibilitas quae fertur in cor- quo esse possunt, totae in toto,
poribus, quae non se mutuo et totae in qualibet parte illius, ..."
penetrent. ..."
So beziehen sich Bl. 28 recto — Bl. 32 recto auf die Bl. 7—17.
Das Capitel „De vinculis spirituum" das von Bl. 17 verso —
Bl. 21 recto geht, ist in diesem Commentar unberücksichtigt, da-
gegen wird das ebenso betitelte Capitel „De vinculis spirituum"
das von Bl. 22 recto — Bl. 27 verso geht, ausführlich commentirt
Bl. 32 recto — 38 verso, wie dies aus folgenden Beispielen zu er-
sehen ist:
Bl. 22 recto, Zeile 1 Bl. 32 recto, Zeile 19
„Ad hoc ut actione.s in rebus „In omni actione seu ma-
perficiantur tria requiruntur: Po- gica seu physica seu cujus-
tentia activa in agente, potentia cunque generis ilhi sit tria
pas.siva in .subjeeto seu patiente requiruntur: potentia activa,
.... et debita applicatio ... ex passiva. et debita applicatio
defectu horum trium perpetuo alterius ad alterum, et ex
impeditur omnis actio" . . . defectu omnium istorum ac-
cidit impedimentum secun-
dum totum vel secundum
partem simpliciter, vel se-
cundum quod in omnibus
productionibus^^).
Distinguendum est hoc de po-
tentia et de actione, quia alia
est immanens, alia transiens, et
item est distinguendum de defectu
omnium, consideratio vel sim-
pliciter, vel secundum quid, . . ."
3-«) Das gespeirte ist iui Original mit grösserer Schrift geschrieben, aber
von derselben Hand.
I
Jordani Bruni Nnlaiii Opera inedita, mann propria scripta.
54B
Bl. 23 verso, Zeile 1
„33. Secundum vincukim ex
voce et cantii.
II vinculi ratio est a confor-
mitate numeronim ad numeros,
mensurae ad mensuram, momenti
ad momeiitum. unde illi rythmi
atque cantus qui maximam habere
efficatiam perhibentur".
Bl. 34 recto, Zeile 1
„33. Multiplex est vinculorum
genus. quo spiritus atque Cor-
pora physice alligantur, quorum
primum genus non ex natura rei
sed ex positione constituimus ex
voce et cantu: cantum vero non
soluni harmonicum anteferimus,
seu mathematicum, sed etiam
occultum quendam qui nihil ad
tibiam vel ad lyram, qui non ex
consensu quodam animae opera-
tur sed interdum ex occulta qua-
dam violentia."
„Patet ex his quae habeutur in
33 articulo.''
Man sieht aus diesem Beispiel, dass die einander entsprechen-
den Stellen des Textes und des Comnientars dieselbe Paragraphen-
zahl am Rande haben. Dies ist aber nicht bei allen der Fall, da
diese Randzahlen nur im Commentar Bl. 28 — 38 ununterbrochen
fortlaufen von 1—57. Im Text Bl. 7 — 27 kommen die Zahlen
nicht überall vor, und folgen nicht auf einander, da z. B. auf 14
(Bl. 11) 18 (Bl. 13) 22 (Bl. 15) folgen.
Bl. 24 verso, Zeile 1 Bl. 34 verso, Zeile 22
„41 Tertium vinculorum ge- „41 Visum etiam vincire seu per
nus ex visu. visum spiritum obligari, inculcari
Per visum etiam vincitur spi- altercari et consequenter corporis
ritus ut passim quoque superius et compositi totius immutationes
est attactum, dum formae aliter notabiles ingenerari non dubi-
atque aliter ante oculos obver- tamus, neque sapiens quispiam
santur, hinc fascinationes activae dubitare debet. Probatur per
et passivae ab oculis proficis- exempla articulo 41 allata."
cuntur et per oculos ingre-
diuntur.^'
37*
^°) Dass dieser Commeutar nicht von demselben Verfasser ist, wie das
Werk, auf das er sich bezieht, sieht man aus manchen Wendungen, die den
Unterschied der Meinungen hervorheben. Bl. 33 recto sagt der Commentator
in Bezug auf eine Behauptung des Textes: .iilud si praestabit argumentator,
uos libenter docebimur ab ipso".
■">) D.h. in dem schon 1584 herausgegebenen Werke von Bruno „De
rinfinito, universo e mondi*.
544 ^^'- T, u 1 0 s I a w .s k i . ^ A
In derselben Weise wird auch das quartum viiiculuni ex plian- .
tasia und das quintum ex cogitativa Bl. 35 — 38 erläutert: dabei
finden sich jedoch im Commentar RrlJiuterunö-en. die sich auf solche
Stellen des Textes beziehen, die Bl. 7 — 27 nicht vorhanden sind,
Avoraus zu schliessen ist, dass uns in Bl. 7 — 27 eine unvollständige
und gekürzte Abschrift oder ein Auszug aus einem grös.sereii
Werke iilier die magischen Wirkungen vorliegt, zu dem der Com-
mentar auf Bl. 28 — 38 verfasst wurde ^^). Ob dieser Commentar
ganz oder theilweise Bruno zuzuschreiben ist. darüber ist .schwer
zu entscheiden, da Brunos Name nirgends vorkommt, untl auch
keine Bemerkungen oder Ergänzungen von Brunos Hand zu sehen
sind. Aber wahrscheinlich ist wenigstens der Schluss auf Bruno
zurückzuführen, da darin alle vincula auf ein einziges „amor"
zurückgeführt werden, und diese Stelle in dei' Abhandlung „de
vinculis in genere" aufgeführt wird. Ferner haben Bl. 28 — 38
allem Anschein nach ein Heft mit den folgenden gebildet, die eine
wahrscheinlich von Bruno verfas.ste Abhandlung enthalten.
„De reruiii principiis et elemeiitis et causis."
Die.se Abhandlung beginnt Bl. 39 recto. Rechts vom Titel am
Rande liest man das Datum: A" 1590 16 Martii i) , das. wie
es scheint, von derselben Hand des Schreibers, den wir mit A.
bezeichnen wollen, geschrieben ist. wie der Text, u:iil wie die
Bl. 7 — 38. Der Text beginnt mit den Worten: „Rerum causae
efficientes et moventes sunt intellectus et anima, supra quibus est
principium unum absolutum, mens, seu veritas . . ."
Weiter im Text, Bl. 39 recto, liest man „Sub istis est unum
spatium iniiuitum, intinitae substantiae capax et hoc
pluribus rationibus ostendimus in dialogis de infinito et uni-
verso et mundis." ^'^).
Jordani Bruni Nolaiii Opera iuedita. manu propria scripta.
545
Rl. 39 verso schliesst die Eiiileitimg mit deu Worten: „Hac
staute renim primoidialium distinctione ad complementum pro-
fundioris iiiijus philosophiae, quatenus ad naturalem contempla-
tionem et uperationem spectat praetermittimus Metaphysicam con-
siderationem de mente et intellectu, ad peculiarem aliam tiacta-
tionem difterimus contemplatiouem de spiritu et auima, nunc
tantum universalia aggregemus I circa lucem communiter et ignem,
generalem loquendi niüdum usurpantes, II circa spiritum seu ven-
tum seu aerem .... III circa aquam seu vaporem, seu teuebras,
ultimo circa terram seu aridum."
Dann kommt Bl. 40 recto ein Capitel „De Liice et igne'',
Bl. 42 verso ..De aere seu spiritu", Bl. 44 recto „De aqua",
BI. 45 recto „de Terra". In diesen vier Capiteln werden die
Eigenschaften der vier Elemente behandelt, und man bemerkt
ebensowenig wie in den vorangegangenen Blättern irgend welche
Bemerkungen oder Ergän/Aiugen von Brunos Hand. Bl. 46 kommt
ein weiteres Capitel „De Tempore" und neben dem Titel be-
gegnen wir zuerst einigen Worten von einer andern Hand, die
wohl die von Bruno sein könnte: „P" de dominio elementorum."
Eine sichere Entscheidung ist schwer. Der Text beginnt mit den
Worten „Ad complementum istius pertractationis maximum et
praecipuum negotium et ut videtur totius rei forma est, temporis
habere rationem, . . ." und bildet offenbar eine Fortsetzung des
Tractats „De rerum principiis et elementis et causis".
Dasselbe gilt vom folgenden Capitel, das Bl. 47 recto beginnt unter
dem Titel „De Tempore et dominio Planetarum 7 seu 7
principinn". Unten unter dem Text liest man eine Bemerkung
von einer fremden Hand „post impetum cogita an uncus hie sit
Nolani", welche uns bezeugt, dass schon ein früherer Leser an der
Echtheit dieser Handschrift zweifelte. Bl. 48 recto wird die Schrift
von Bruno „de iimbris idearum" ") angeführt, was wieder dafür
spricht, dass wir hier es mit einem Werke von Bruno zu thun
■") De uinbris i(le;irum iiiiplicantibus altera qiiaerendi, inveniendi, judi-
candi, ordinaudi et applicandi ad inteinam scripturara et iion viilgai-es per
memoriam nperatioaes explicatis. Paris. 1582.
546 ^^ • Lutoslawäki,
?
I
haben. Bl. 48 verso beginnt ein weiteres Capitel „ De inveniendo
arcu diei et noctis".
Bl. 49 verso schliesst mit den Worten: „ . . . universalem
rationem rerum debemus indicare, ex qua quilibet vel mediocris in-
genii per seipsum fragmenta veritatis, quae sunt sparsa, in medio
tot vanitatum^^), quibus referti sunt libri astrologici et judiciarii,
perfacile possit colligere, experiri, eorrigere et complementum in- v
venire, cujus rei viam demonstramus eam quam novimus per in-
telligeutiae superioris solis favorem, de particularibus periculum et
experientiam facere hactenus non est concessuni nobis, propter a
magis urgentes occupationes et plurima impedimenta quibus obli- ^
gamur. Haec sunt quae plus quam ad medietatem facere quilibet -^
per se potest videre, crebra et jugi experientia hoc huc ambu-
lantibus facile sine aliorum librorum studio et rerum particularium
ratio se illis insinuabit."
Dies stimmt iiberein damit, was Bruno vor der Inquisition in
Venedig sagte „Quanto alli libri di conjurationi, et altri simili io
sempre li hu disprezzati, e mai li ho havuti appresso di me, ne li
ho attribuito efticacia alcuna, quanto poi alla divinatione parti- fls
cularmente quella che e dalla astrologia giuditiaria ho detto, et fti
havuto ancora proposito di studiarla per vedere se haveva veritä,
0 conformita alcuna, et questo mio proponimento l'ho communicato
a diversi dicendo liaver atteso a tutte quante le parti della lilo-
sofia, et d'esser stato curioso in tutte le scientie eccetto che nella
giuditiaria, et che havendo commodita et otio, volevo attendere a
quella trovando loco sulitario, et quieto, il che non ho l'attu ancora
et giamai proposto di l'are se nuu a questi tempi incirca" '^).
Wenn man dies Zeugniss mit dem oben citirten Text und
noch mit folgendem Bekenntuiss von Bruno zusammenstellt: „io
ho fatto trascrivere a Padoa un libro de sigillis Hermetis, et Pto-
lemei, et altri, nel quäle non so se oltra la divinatione naturale l«
vi sia alcun cosa dannata, et io l'ho fatto trascrivere per servir- ^s
mene nella giuditiaria, ma ancor non Tho letto, et ho procurato
^^) Im Original uiclit unterstrichen. ■!
•'^) Berti, Documenti p. 43. fli
Jürdani Bruni Xolaui Opera inedita, mami propria scripta. 547
d'haverlo ... et l'ho fatto trascriver a Padoa come ho detto di
sopra, et hora si trova in mano del Claris. Mocenigo*")", so wird
man wohl nicht annehmen können, dass die Abhaudluns über
Magie Bl. 7 — 27 dem Bruno zuzusehreiben sei, sondern sie wird
wahrscheinlich eine von denen sein, die Besler für Bruno abge-
schrieben hat, und die dieser noch nicht Zeit gehabt hat durchzu-
lesen, woraus sich auch erklärt, dass darin gar keine Bemer-
kungen oder Verbesserungen von Brunos Hand zu finden sind.
Einer Mittheilung von Prof. Sigvvart verdanke ich die Bestätigung
dieser Voraussetzung, da Hieronymus Besler Noribergensis
am 19. November 1589 im Album der Universität Helmstadt im-
matricnlirt worden ist, und also im J. 1590 in Helmstadt dem
Bruno als Schreiber dienen konnte, ebenso wie er nach dem Zeug-
niss von Bruno im J. 1591 ihm in Padua als Schreiber gedient hat.
Obgleich Bl. 49 einen gewissen Abschluss zu enthalten scheint,
folgen noch einige Capitel, die mit dem Vorangehenden zusammen-
hängen:
Bl. 50 recto „De virtute et vitiis signorum etplanetarum
singulorum, nempe luce et tenebris quibus singuli do-
min an tu r.
Bl. 51 De virtute loci.
Bl. 52 verso „De virtute nominum".
Bl. 53 verso „De virtute gestus".
Bl. 54 recto „De numero et meusura"'.
In diesen Abschnitten, die jedenfalls ein Ganzes mit dem Vor-
angehenden immer gebildet haben, werden also einige Einzelheiten
in der auf Bl. 49 projectirten Weise behandelt. Es ist kein Grund
anzunehmen, wie dies Noroff thut, das mit Bl. 50 ein neuer Trac-
tat beginnt.
Das ganze Werk De rerum principiis et elementis et causis
schliesst auf Bl. 54 verso mit den Worten „Et haec sunt praecipu:i
capita circa quae oportet meditari, aggregare universalia, exercere
■'") Berti, Documenti p. 47. Vergl. p. 24 „io Tho fatto trascrivere da uu'
altro libro scritto a mano, che era appresso de un inio scolaro Alcmano de
Noriraberga, che si chiama Hieroiümo Bi.slero et che stava poco fa in Padoa,
ni'ha servito per scrittor for.si dui inesi". (Sein eigentlicher Name ist Besler.)
548 ^^ ■ I-' u t ci s 1 a w s k i ,
actum contemplationis et applicare praxes eum qui plene rnagiam
vult in pristinum et nobilissimum statum iüstaurare, et de his
satis." Daraus sieht man, dass die aufgezählten Capitel von Bl. 39
bis Bl. 54 zu einem Ganzen gehören, vielleicht auch mit dem In-
halt der Bl. 7 — 38 einem Werk über Magie zum Theil ent-
nommen sind.
Von anderem Inhalt ist der folgende Abschnitt, der Bl. 55
recto mit der Teberschrift beginnt:
„Medicina Lulliana partim ex mathematicis, partim ex
physicis priucipiis educta. fideliter collecta per nos,
nihilo praeter et extra iutentionem adducto, addito,
neque diminuto".
Wir haben hier einen Auszug aus einem Werk^') von Lullus,
das nicht näher angegeben ist. Zuerst kommen IX Capitel, die zum
Theil in Paragraphen eingetheilt sind, und bis Bl. 62 recto reichen.
Das IX. Capitel schliesst Bl. 62 recto mit den Worten „Quod vero
ad complementum artis attiuet, sufficiet potentis nostrae Lullianae
institutos colligere, proprietates et virtutes domorum aspectuum,
planetarum, signorum, imaginum mansionum luuae et diversorum
synodorum quibus solent concurrere simul variae virtutes, quae
omnia nos aptissime et luculenter si tempus dabitur adducemus
sub specie imaginum minori quam centenario numero contentarum,
iuxta canones in 30 sigillis explicatos."
Aus dieser Beziehung auf das W^erk Brunos „Recens et com-
pleta ars reminiscendi", worin die „triginta sigillorum explicatio"
gegeben wurde, folgt, dass der vorliegende Auszug entweder von
Bruno selbst oder von einem seiner Schüler ausgeführt worden ist.
Bl. 62 verso beginnt wieder ein Capitel „De febribus", das bis
Bl. 66 recto geht.
Tl. Theil: Bl. 64—86.
YI. Theil Bl. 64—86, von demselben Papier und von der-
selben Hand wie Bl. 11—63, aber von dem IV. und V. Theil da-
■*') I)er grösste Theil des Auszugs ist l)eiuahe wörtlich genommen aus
dem ,Liber priucipiorum meclicinae Divi Raymoncii Lulli Hoctoris illuminati"',
p. 31 — 39. Dies Werk tindet man im „Beati Raymundi Lulli Doctoiis illurai-
nati et martyris operum tomus primus Moguutiae MDCCXXI'.
Jordani Bmni Nolani Opera inedita. mami propria •^oripta.
549
durch zu unterscheiden, das hier nicht mehr frühere Nadelstiche
zu sehen sind. Daraus darf mau nicht schliessen, dass nicht
wenigstens die ersten Blätter zu dem Heft, das mit Bl. 28 beginnt,
gehört haben, da wir hier bis zum Bl. 69 eine Fortsetzung des
vorhergehenden Textes haben, ohne dass irgend eine Lücke be-
merkbar wäre. Bl. 63 verso schliesst mit den Worten „nam si
gradus IV»" qui agit per appetitum" und Bl. 64 recto setzt fort
„agit per appetitum corrumpitur et tollitur a febre , alii gradus
subordinati ipsi IV" et ad unum finem teudentes non consistent".
Bl. 66 recto schliesst das Capitel „de febribus"" und beginnt ein
anderes „de urinis" Bl. 69 recto: „de pulsibus". Der Text
bricht Bl. 69 verso plötzlich ab. wodurch die Ansicht, dass Bl. 64
bis 69 zu demselben Hefte wie die Bl. 28 — 63 gehört haben, aber
nicht dazu geheftet waren, sondern frei darin lagen, eine Bestätigung
findet; nach dem Bl. 69 kommen noch zwei unbeschriebene und
von der Moskauer Bibliothekverwaltung nicht numerirte Blätter,
die den Schluss des Heftes bilden, das mit Bl. 28 beginnt. Dies
Heft hat also enthalten: 1. einen Commentar zu dem Werk über
magische Wirkungen, von dem wir einen Theil in Bl. 7 — 27
haben. — 2. ein Werk von Bruno „de rerum principiis et elemen-
tis es causis", 3. einen Auszug aus den auf Medicin bezüglichen
Theilen von nicht näher angegebenen Werken von Raymundus Lullus,
oder seinen Schülern.
Nach den zwei unbeschriebenen Blättern kommt das Bl. 70,
womit wahrscheinlich ein neues Heft begonnen haben wird.
Bl. 70 recto beginnt ohne Titel mit den Worten:
„Infliiit Deus in angelos, angeli in corpora coelestia, coelestia
in elementa, elementa inmixta; mixta in sensus, sensus in animum,
animus in animal. Ascendit animal: ascendit auiraal per animum
ad sensus per sensus in mixta, per mixta in elementa, per elementa
in coelos, per hos in daemones seu augelos, per istos in Deum seu
in divinas operationes."
Dieser erste Paragraph stimmt dem Sinne nach mit der ent-
sprechenden oben citirten Stelle des Blattes 8 durchaus überein.
So findet man auch im weiteren Text Anklänge an Bl. 7 — 27 —
dabei aber macht das Ganze den Eindruck , als ob es nicht von
550 ^^ • Lutoslawski,
I
demselben Verfasser wäre, wie der Text der Blätter 7 — 27. Xur
das Capitel „De vinculis spirituum" Bl. 17 — 21 scheint in engem
Zusammenhange mit dem vorliegenden Text zu stehen, und ge-
wissermaassen die Einleitung dazu zu bilden. Bl. 7 — 17 und
Bl. 22 — 27 sind in einem viel weitläufigeren Stil geschrieben, als
die von Bl. 70 an beginnende kurze Zusammenfassung der Magie.
Diese Zusammenfassung ist eingetheilt in XXIX Paragraphen, die
durchaus genau den Paragraphenzahleu entsprechen, die Bl. 20 — 21
bei der Aufzählung der XX vincula citirt waren. Es werden hier
also die dort aufgezählten vincula genauer erörtert. Dabei trägt
der XXV. Paragraph noch den besonderen Titel Secuudus Trac-
tatus (Bl. 80 recto) und die Paragraphen XXVI — XXIX werden
unter dem Titel Tertius tractatus zusammengefasst. Dieser
Tertius tractatus behandelt unter Anderem auch einige Gegenstände,
die gleichfalls in dem Werk „De rerum principiis et elementis et
causis" behandelt waren, aber beim Vergleich ergiebt sich, dass
man beide Texte wohl kaum demselben Verfasser zuschreiben
könnte. Dagegen kann die Identität der Handschrift keinem Zwei-
fel unterliegen. Meistentheils gleicht der Text einer sorgfältigem
Abschrift; an mehreren Stellen findet man einige Worte oder
Citate von einer anderen Hand, die aber nicht Bruno zugeschrieben ij
werden können, sondern eher diesem späteren Leser, der auf
Bl. 47 einen Schriftzug von Bruno erkennen zu können meinte,
und eine hierauf bezügliche Frage aufschrieb.
Bl. 84 verso folgt mit der Ueberschrift „Alberti generalis
doctrina" ein Capitel, auf welches schon M. 21 hingewiesen wurde,
und das, in Uebereinstimmung mit diesem Hinweis, in 17 articuU
eingetheilt ist. Der magische Tractat schliesst Bl. 86 verso mit
den AVorten:
„Haec sunt quae universam magiae rationem cuntinent, quae
homini prudenti atque sensato sola sufficiunt, nee placuit attulisse
exempla et caetera particularia, in quibus alii occiipantur, quan-
doquidem illa non habenti harum rerum rationem nihil deservire
possunt, et frustra tentantur. Porro haec ipsa intelligenti et in |i
eorum consideratione profundanti, non solum talia et eadem, sed
et similia et maiora et maxima sunt pervia; si quis quidem existi-
Jordani Bruni Noiani Opera inedita, manu propria scripta. 551
met, nos completam artem non attulisse, et omnia quae ex aliorum
studiis ad complementum scientiae solum super vacaiieis praeter-
missis non aggregasse, sciat illud esse defectum siii judicii, et men-
tis imbecillitatera, quae ad haec et alia percipienda minus a coelo
facta est idonea. Quod si qui libros maiores inscripsisse videntur,
ipsuni est quia extranea et ad rem minus facientia plurimum mi-
scuere fortasse ut artem minus perviam facerent, quod nos fecisse
potuimus."
»
FINIS.«
TU. Theil: Bl. 87—98.
VII. Theil Bl. 87 — 98 hat allem Anschein nach ein beson-
deres Heft gebildet, und trägt die Spuren früherer Nadelstiche, die
nicht mit denen der anderen Theile des Ms. übereinstimmen. Die
Entfernung dieser Nadelstiche vom oberen Rand beträgt
9, 18, 46, 99, 147, 162, 183, 200 "mm
wobei durch die unterstrichenen Stellen noch der Faden in einer
Weise geht, welche die ursprüngliche Unabhängigkeit dieses Heftes
von dem Rest beweist.
Das Papier ist anders als in den Bl. 1 — 86. Es hat das For-
mat von 308 . 420 mm, und die Querlinien sind sehr dicht bei ein-
ander, es gehen ihrer 13 auf 10 mm. Die Längslinien der Bögen
kommen in jedem Blatt als Querlinien zum Vorschein, in der Ent-
fernung von 18, 47, 73, 100, 127, 154, 181, 207 mm vom oberen
Rande. Man bemerkt zwei Fabiikzeicheu auf jedem Bogen: ein
Hammer an derselben Stelle, wo sich auf dem früher beschriebeneu
Papier das Fabrikzeichen l)efand, und ausserdem ein E in einer
Ecke des Bogens.
Das Papier ist viel weisser als das der Bl. 7— 86, und viel
besser erhalten.
Bl. 87 recto beginnt mit dem Titel
„Jordani Bruni Noiani De vinculis in geuere".
Hier kommt zum ersten Male im Manuscript der Name Brunos
vor. Die Handschrift ist viel sorgfältiger als auf den Bl. 7—86,
aber ist von derselben Hand, was besonders leicht zu ersehen ist,
wenn man gewisse characteristische Buchstaben vergleicht: d, v, t,
552 W. Lutoslawski,
X, q, f, g. Der Unterschied dieser Handschrift von der Brunos ist
gerade hier leicht ersichtlich, da sich die Blatter 1 — 5 auf den-
selben Gegenstand beziehen, und ganze Sätze aus diesen Blättern
hier wiederholt werden. i
Erwägt man, .dass hier das Wort vinculum in einem ganz :
anderen Sinne gebraucht wird, als in den Werken iiber magische \
Wirkungen, die wir Bl. 7 — 28 und 70—86 haben, su wird man
wohl darin eine neue Bestätigung der Ansicht haben, dass jene i
Werke nicht Brunos eigene Lehre enthalten. Nach einer kurzen
Einleitung, worin von der Mannigfaltigkeit der Wirkungen auf
Menschen gesprochen wird, beginnt Art. I betitelt „V^incientium
species", mit den. Worten „Viucientia per Universum sunt Dcus,
Daemou, Animus, Animal, Natura, Fors et Fortuna, tandem Fatum".
Das ganze Capitel ist in 30 articuli eingetheilt, und schliesst Bl. 90
verso. Bl. 91 recto beginnt ein anderes „De Vincibilibus in
genere", das ebenfalls in 30 articuli eingetheilt ist. In dem ersten
articulus „Species vincibilis" sind 4 solche angeführt „Mens, anima,
Natura, Materia, Mens per se stabilis, anima per se mobilis, Natura
partim stabilis partim mobilis, Materia ex toto mobilis et ex toto
stabilis", in völliger und wörtlicher Uebereinstimmung mit einem
auf Bl. 1 verso von Brunos Hand geschriebenen aber gestrichenen
Satze „mens, anima, natura, materia, mens per se stabilis, anima
per se mobilis, natura mobilis in alio non ab alio, materia mobilis
in et ab alio".
Aus dieser Uebereinstimmung und einigen anderen sieht mau,
dass die losen Blätter 1 — 5 sich auf dies W^erk Brunos „De vin-
culis in genere" beziehen, und nicht, wie Noroff glaubte, auf
das Capitel „De vinculis spirituum", das zu der ersten Ab-
handlung iiber Magie gehört. In beiden Werken ist der Sinn des
Wortes vinculum durchaus nicht übereinstimmend. Bei Bruno
handelt es sich hauptsächlich um die Bande, die zwischen Menschen
bestehen, und er führt sie gern auf Liebe zurück. In den Frag-
menten der magischen Werke, die uns Bl. 7 — 27 und 70 — 86 vor-
liegen, bedeutet meistentheils „vinculum" ein magisches Mittel, um
übernatürliche Wirkungen auszuführen, die sich nicht nur auf
Menschen, sondern auch auf Dämonen erstrecken. Auch sieht man
Jordani Rnini Nolani Opera inedifa, inaim ]iropi'ia scripta.
553
ibei lii'uno oine viel grössere Vorsicht bei solchen Beliauptuugeii,
,(lie schwer /u beweisen sind. Während der Verfasser der magischen
I Auszüge die Existenz der verschiedenen Engel und Dämonen für
i unzweifelhaft hält, sagt Bruno im XXX. articul. des Capitels „De
j vincihilibus in genere" (Bl. 93 verso)
„etsi enini nullus sit infernus, opinio et imaginatio inferni
sine veritatis fundamento vere et verum facit infernum".
Bl. 94 lecto l)eginnt ein neues Capitel
„De vinculo cupidinis et qu od am modo in genere."
„Diximus in liis quae de naturali magia, quemadmodum vin-
cula omnia tum ad Anioiis vinculum referantur, tum ab araoris
vinculo pendeant. tum in Amoris vinculo consistant."
Dies l)ezieht sich nicht etwa auf Bl. 7 — 27. wo von einer
.solchen Einheit alier vincula nirgends die Rede ist, sondern auf
den Schluss des C'ommentars zu diesem Theil des Ms., Bl. 38, wo
invidia, aemulatio, indignatio, verecundia, timor, odium, ira auf
amor zurückgeführt werden, und geschlossen wird „satis ergo fecerit
qui eam nactus fuerit philosophiam seu magiam quae vinculum
summum praecipuum et generalissimum amoris sciat contractare.
nde fortasse amor a Platonicis daemon magnus est appellatus".
Im Text findet man wieder viele Sätze, die auf den losen Con-
ceptblättern von Bruno selbst geschrieben waren, z. B.:
Bl. 2 recto, Zeile 16
„solae res compositae vin-
cirent .... Nunc autem puri
colores, vox una, fulgor auri.
rgenti candor . . . nil citius
abitur et senescit quam
mlchritudo: nil tardius
:(uam figura . . . utaccedit qui-
3usdam post fruit ionem rei
imatae .... sed et in quadam
•apientis et rapti condispo-
»itione ut ita dicam . . ."
Bl. 94 recto, Zeile 27
„Ad plura vero respicientibus,
saltem ad hoc quod non solum
res compositae, et membro-
rum varietate consistentes vin-
ciunt, sed interdum purus color
pura vox: Nihil enim citius
labitur et seuescit quam
pulchritudo: nihil vero tar-
dius alteratur quam figura et
forma quae ex membrorum com-
positione enitescit .... interdum
post rei amatae fruitiouem
w
554 W. T.ut osla wsk i,
praeterit amor, quocirca praeser-
tira in quadam rapientis et
rapti condispositione vin- :
culi ratio consistit." ,
Diese Beispiele zeigen uns, dass die Bl, 1—5 nur einen ersten!;
Entwurf der Gedanken Brunos enthalten, der hier vollständig aus-ifi
geführt ist. Die übereinstimmenden Worte sind in beiden Texten 'H
gesperrt gedruckt. Auch ist die Reihenfolge der übereinstimmen-
den Fragmente nicht identisch. So findet man weiter Bl. 95 verso
Sätze, die im Concept Bl. 1 verso stehen:
Bl. 1 verso, Zeile 28 Bl. 95 verso, Zeile 10
„Haec Piatoni pulchrum, „Vinculi descriptio: art IX.|
Socrati excellens animi ve- Vinculum Piatoni est secundum
nustas, Timaeo animi tyran- genus pulchritudo, seu confor-
nis, Plotino naturae privi- mitas, Socrati excellens aui-
legium, Theophrasto tacita mi venustas Timaeo animae
deceptio, Salomoni ignis Tyrannis, Plotino naturae |
absconditus, aquae furtivae, privilegiuni, Theophrasto ta- ^
Theocrito eburneum detri- cita deceptio, Salomoni ignis i
mentum, Carneadi regnum absconditus et aquae für-}
sollicitum, et aliis alia." tivae, Theocrito eburneum
detrimentum, Carneadi re-
gnum sollicitum."
I
i
So könnte man viele andere Beispiele anführen, aber die schon
angeführten reichen wohl vollkommen dazu aus, um die vorhandene j
Uebereinstimmung nachzuweisen. Wir sehen also, dass in den
Bl. 87—98 ein Werk von Giordano Bruno vorliegt, das aber nur
ein Fragment geblieben ist, da es mitttMi im XXII. articul. des
III. Capitels Bl. 98 recto mit den Worten abbricht:
„judicat amans debitum amatae, ut animani illi ablatam
restituat, ubi in proprio corpore mortuus in alieno vivit. Si amans
amatae minus blanditur, queritur haec quasi eam ille curet minus.
Queritur amans versus amatam si"
Man sieht, dass der letzte Satz unbeendet geblieben ist, sei es,
dass er im Original von Bruno nicht beendet war, sei es, dass nur
1
f
.lordani Rnuii Nolani Opera ineclita, manu prnpria scripta.
55r]
I der Abschreiber durch irgend etwas verhindert wurde, seine Ab-
j Schrift 7A\ Ende zu führen. Der unterbrochene Satz ist in den
Conceptblättern 1 — 5 nicht vorhanden,
schrieben.
Bl. 98 verso ist unbe-
160.
Vin. Theil: Bl. 99
Vlll. Theil Bl. 99—160 von demselben Papier und der-
selben Handschrift wie Bl. 87 — 98, aber dadurch zu unterscheiden,
dass hier keine alten Nadelstiche zu sehen sind, und somit dieser
Theil ein besonderes Heft gebildet hat. Die Handschrift ist ebenso
sorgfältig wie Bl. 87—98, und bedeutend sorgfältiger als Bl. 7—86.
Die Uebersch ritten sind hier mit grossem Zeitaufwand ausgeführt,
und überall sieht man das Streben nach Deutlichkeit und Genauig-
keit, obgleich der Text keineswegs frei von Schreibfehlern ist, die
den Abschreiber verrathen. Dieser Abschreiber A, der auch den
ganzen Text von Bl. 7 an geschrieben hat, hat besonders in seiner
Schrift ein characteristisches d, das dem t zum Verwechseln ähn-
lich ist, und ein v, das man häufig für ein p halten könnte.
Hier ebensowenig als in den früheren Theilen der Handschrift,
begegnen uns Ergänzungen oder Bemerkungen von Brunos Hand.
Nur das Datum am Anfang und am Ende:
„1591 VTl 1 G — "
„F Anno 1591 I Mens: Octob: N Die 22 cf I Paduae S"
konnte vielleicht von Bruno geschrieben sein, aber dies ist schwer
zu entscheiden. Was den Inhalt anbelangt, enthält dieser Theil
des Ms. das von Bruno nicht herausgegebene, aber als von ihm
geschrieben bezeugte Werk, das bisher unter dem Titel „Liber
XXX statuarum" bekannt war, hier aber mehrere Mal als die „Ars
inventiva per XXX statuas" bezeichnet wird. Es beginnt ohne
Titel mit den Worten:
„Animae cibum esse veritatem utpote quae in ejus substan-
tiam, veluti proprium nutrimentum transmutabilis e.st, esse constat."
Es wird alsdann in einer Einleitung der Zweck des Werkes
erklärt: es soll darin das ganze Gebiet des Denkbaren in 30 Felder
eingetheilt. und mnemotechnisch jede Idee mit einer concreteu
Figur oder „Statua" verbunden werden, damit mit Hülfe dieser
f
5F)ß W. Liitoslawski,
Kunst jede Eintheilung und Definition eines beliebigen Gegenstandes
erleichtert werde. Wir haben hier also ein eigenthümliches Lehr-
buch der Logik und Metaphysik, das viele richtige und tiefe Ge-
danken, die Giordano Brunos würdig sind, enthält, aber nur durch
die phantastische Form, in die es eingekleidet ist, zuerst unver-
ständlich und sogar sinnlos erscheint. Der Substanzbegrift' ist hier
nicht weniger eingehend behandelt als in irgend einem anderen
Werke von Bruno, aber die Gedanken des Philosophen sind häufig Ä
verdunkelt durch chis Streben, sie in eine willkürliche und phan-
tastische Form einzukleiden. So wird jedes ("apitel beinahe ohne
Ausnahme in 30 articuli eingetheilt, wie in dem vorangehenden
Fragment „De vinculis in genere". Die Zahl der Gapitel sollte \
auch nach dem Plan 30 sein, und man sieht, dass Bruno dieser
Zahl eine besondere Bedeutung zuschrieb. Thatsächlich enthält
das Werk mehr als 30 Capitel, und es ist schwer zu entscheiden,
welche von diesen in eins zusammengefasst werden mvissten, damit ;
die vom Autor beabsichtigte Zahl 30 nicht überschritten werde. |
Die Beschreibung der einzelnen statuae beginnt Bl. 101 recto
mit der Ueberschrift
„De tribus inforinibus et inflgurabilibus."
Dieser erste Abschnitt enthält vier Capitel. je in 30 articuli
eingetheilt:
(1) Bl. 101 recto „De Chaos I infigurabili'\
(2) Bl. 103 recto „De II informi, orco sive abysso".
(3) Bl. 105 recto „De III infigurabili puta de nocte seu
tenebris".
(4) Bl. 107 recto „De noctis statua".
Dann folgt Blatt 108 recto ein zw^eiter Abschnitt betitelt:
De opposita superna Triade.
Hier haben wir drei Capitel zu 30 articuli:
(1) Bl. 108 recto „ De Patre seu mente seu plenitudine".
(2) Bl. 109 verso „De Primo intellectu".
(3) Bl. 112 recto „De Lumine seu spiritu universi".
Bl. 114 recto beginnt ein neuer Abschnitt unter dem Titel
„Ordo secundus", und zerfällt in die 8 folgenden Capitel:
(1) Bl. 114 recto „De Apolline et monade seu unitate*.
h
I
Jordani Bruni Molani Opera inedita, maau propria scripta. 557
(2) Bl. 115 recto „De Saturni statua et principio".
Qi) Bl. 116 verso „De statua Promethei et causa effi-
ciente".
(4) Bl. 117 verso „De officina Vulcani, seu de 30 for-
mae conditionibus vel rationibus".
(5) Bl. 118 verso „De Statua Vulcani vel formae pro-
priis distinctionibus et defini-
tionibus".
(6) Bl. 120 recto „De Thetidis Statua seu de subjecto".
(7) Bl. 122 recto „Statua Sagittarii pro explicatione
causae finalis".
(8) Bl. 123 recto „De Monte Olympo, ad describendas
omnes seu universas flnis signi-
ficationes".
Bl. 124 recto folgt der Ordo tertius mit folgenden 17 Capiteln:
(1) Bl. 124 recto „De campo coeli etBonitate naturali".
(2) Bl. 125 recto „De campo Vestae seu Bono morali".
(3) Bl. 125 verso „De campo Oceani seu magnitudine".
(4) Bl. 126 verso „De statua Martis seu virtutis".
(5) Bl. 127 recto „De campo telluris seu de potentia".
(6) Bl. 128 recto „De campo Junonis seu medio".
(7) Bl. 129 recto „De Momorgene, (sie) hoc est Habitu-
dine seu Relatione".
(8) Bl. 130 recto „Explicatio Cornu Acheloi seu de
Habere".
(9) Bl. 131 recto „De Campo Minervae seu de Noticia".
(10) Bl. 132 recto „De Schala Minervae seu de Habiti-
bus Cognitionis".
(11) Bl. 133 recto „De Campo Veneris hoc est de cou-
cordia".
(12) Bl. 134 recto „De Veneris statua, concordia iu
voluntate".
(13) Bl. 135 recto „Tela seu nodi Cupidinis, Concordia
in actione".
(14) Bl. 135 recto „De Statua et Membris Cupidinis seu
differentiis voluntatis".
Archiv f. Geschiebte d. Philosophie. II. ^^
558 W. Lutoslawski,
(15) Rl. 136 vevso „De pelle Amaltheae capvae et Diver-
sitatis significationibus".
(16) Bl. 137 recto „De Campo Litis et contrarietatis
conditionibus".
(17) Bl. 137 verso „De Campo Aeonos seu aeternitatis." i
Wenn wir die dem Inhalt nach verwandten Capitel „De offi-
cina Vulcani" und „De Statua Vulcani" zusammenfassen, und
ebenso auch die Capitel „De concordia in voluntate" und „de con- ;
cordia in actione" die einander ergänzen, so erhalten -wir im Ganzen
30 statuae, wie am Anfang angekündigt wurde. Ob aber gerade
diese Paare für eins zu halten sind, oder andere, damit die im
Titel und häufig im Text erwähnte Anzahl „30 statuarum" nicht
überschritten Averde, darüber finden wir keine Andeutungen. i
Bl. 138 verso beginnt ein neuer Theil des Werkes mit dem
Titel „De Applicatioiie Triginta Statnariim". Hier werden
noch verschiedene Fragen erörtert, und besonders der Begriff der
Substanz untersucht.
Die Capitelüberschriften sind folgende:
Rl. 138 ver.so „Primo de applicatione sex infigura-
bilium".
Rl. 139 verso „De ratioiie praedicatorum comnmiiicabilium
diversis Schalae gradibus".
„De quatuor infimis simplicibus".
Bl. 140 recto „De quatuor prope simplicibus".
Bl. 140 recto „De tribus generibus imperfecte incom-
positorum".
„De tribus perfecte compositis".
„De quinque animalium generibus".
Bl. 140 verso „De imperfectis compositis prope lucem
seu plenitudinem".
„De perfecte compositis prope lucem".
Bl. 141 recto „De iis quae sunt prope simplicia".
Bl. 141 verso „De substantia pura et simplici".
„Arbor substantiae".
Bl. 142 verso „De explicata sehala praedicatorum seu
attributorum substantiae et naturae".
I
Jordani Bruni Nolani Opera inedita, inanvi piopria scripta. 559
Bl. 145 verso „De Statuis dictionum".
Es folgen einige Capitel mit mythologischen Namen, und
Bl. 149 vevso „De Applicatione Artis inventivae et iu-
dicativae".
Bl. 150 recto „Utilitas Lampadis huius ad alias".
Bl. 151 recto „De praxi inventionis per praedicta".
Bl. 154 verso „De ratione verificandi seu enuntiandi".
Bl. 156 verso „De tertia et ultima praxi".
In diesem letzten Capitel ist die Anwendbarkeit der XXX sta-
tuae au einem ausführlichen Beispiel illustrirt, indem der Beweis
für den Satz geführt wird „Anima nou est accidens". Einen
grossen Theil dieses Capitels hat Noroff in seinem Katalog abge-
druckt. Das ganze Werk schliesst auf Bl. 160 recto mit folgenden
Worten:
„Itaque gratias Deo agentes Artem inventivam per 30 sta-
jtuas perfecimus. Reliquum est, ut quo quisque prout credit posse
ex istius lumine bonum, meliorem, vel Optimum fructum comparare,
jbene. melius, vel optime in istis assuescat: Multum enim confert
bonam non solum incurrisse disciplinam, et a bono lumine, sed
illud praecipuum esse videtur, ut aliquis quod habet fidat se habere,
|et iuxta fidem excolat agrum et iugi meditatione rerum rigaus
■ agrum, ingenii, propria iniecta semina adolescere faciat, incremen-
tum sumat, et fructus suo tempore praestoletur. Infidi vero et
desperantes quos neque numina posse curare testantur, otio et tor-
pore et innata desidia talentum sufl'odiunt et segetem muribus
corrodendam praetermittunt.
F Anno 1591. I Mens. Octob: X Die 22 cT I Paduae S«'^.
IX. Theih Bl. 161.
IX. Theil Bl. 161 ist ein loses Pergamentblatt, mit einem
Netz von 13 . 22 nebeneinander gezeichneten Quadraten, von denen
158 ausgeschnitten sind. Noroff glaubte bei seiner Beschreibung,
dass sich die Erklärung im Text finden würde. Ich habe diese Er-
*'0 Nach dem Bl. 160 folgen noch zwei unbeschriebene und nicht nume-
rirte Blätter von demselben Papier, die das Heft, das Bl. 99 begonnen hatte
jschliesseu.
I 38*
^
5ßO W. Lutoslawski,
klärung Dicht finden können, und kann datier nicht entscheiden,
ob dies lose Blatt zu irgend einem der Hefte, aus denen die Samm-
lung besteht, gehört hat.
X. Theil : Bl. 162-182.
Sehr \vichtig ist der letzte Theil des Ms., Bl. 162—184, we:
er zum Theil von Brunos Hand geschrieben ist.
Das Papier ist dicker und viel gelber als das der Blätter 8'
bis 160. Es unterscheidet sich auch von allen früheren Theile
des Manuscripts dadurch, dass der Rand hier beschnitten ist, und
infolge dessen man die Zusammengehörigkeit der einzelnen Blätter-
paare zu Bögen nicht bestimmen kann. Wenn man davon absieht,
was am Rande weggefallen ist, ergiebt sich für jeden Bogen von
4 Blättern das Format von 428 . 315 mm. Es müssen also die
Bögen ursprünglich viel grösser gewesen sein als die der Blätter 87
bis 160. In jedem Blatt .sind wie in den anderen Blättern des
Ms. Querlinien und Längslinien sichtbar. Erstere sind nicht sehr |
nahe bei einander, da 9 auf 10 mm gehen. Die Längslinieu sind
nicht so deutlich sichtbar wie in den anderen Papiersorten, aus
denen das Ms. besteht, aber in jedem Blatte kann man ihrer 7
zählen, die von links nach rechts gehen.
Bl. 162 recto ist sehr vergilbt, schmutzig, und die Tinte ver-
blasst. Sowohl das Aussehen des Papiers, als auch die Farbe der
Tinte erinnert sehr an das recto des Blattes 1.
Beide waren offenbar mehr den äusseren Einflüssen ausgesetzt
als die inneren Blätter. Die Handschrift ist, wie mir scheint, bis
Bl. 167 ohne Zweifel von Bruno, wenn man zugiebt. da.ss die
Blätter 1—6 von ihm geschrieben sind. Leider hat Noroff, der in i
seinem Katalog 8 Proben der Schrift des Abschreibers A. gegeben hat, '
in der Meinung, es seien Proben der Schrift von Giordano Bruno, es
nicht für nöthig gehalten, ein einziges Facsimile aus dem letzten Theile \
zu liefern, so dass diese Schrift nicht leicht mit einer grösseren m
Anzahl von unzweifelhaften Autographen Brunos wird verglichen
werden können. Die Echtheit, so weit dieselbe aus dem Vergleich
mit den ersten losen Blättern des Manuscripts ersehen werden
könnte, ist für mich unzweifelhaft. Auch innere Gründe sprechen
»
Jnidniii Bruni Nolani Opera iiiPiiita, manu propria scripta.
561
dafür, class der hier vorliegende Text vuii Bruno selbst geschrieben
sei. Wir liaben hier nämlich einen ersten Entwurf des Auszugs
aus den Werken von Lullus, den wir in einer geordneten Gestalt
auf den Bl. 55 — 69 sehen. Der Text ist in Capitel und Paragraphen
eintretheilt, aber häutig werden die Sätze nicht abgeschlossen, und
ganze Paragraphen bleiben nicht ausgeführt. Das Verhältniss beider
Texte möge aus folgenden Zusammenstellungen ersehen werden:
Bl. 162 recto: Bl. 55 recto:
Artiflciosa Methodu8 iiiedi- Medicina Lulliana partim
cinae ex LiiUianis Fragiiien- ex matheniaticis partim ex
tis'"). pliysicis principiis educta,
iSubjectum medicinae est tideliter collecta per nos, nihilo
corpus humanum quatenus propter et extra intentionem ad-
sanabile et aegrotabile . . . ducto, addito neque diminuto.
§1- §1-
Intentio nostra non est de Intentio nostra est non
medicina tractare sed solum tarn vulgari more principia me-
modum praebemus ipsam appli- dicinae quae praxi proxima
candi ad artem quandam gene- sunt adducere, quam artem
ralem LuUii, ad quam omnes Lullii illam generalem ad
sciunt difficultates generaliter omnes scientias et facultates ita
applicare .... per quem modum limitare et moditicare iuxta ejus
unusquisque in verae medi- intentiones ut quislibet facile in
verae medicinae totius cogni-
tionem venire possit . . .
§2.
Subjectum adaequatum me-
dicinae est corpus humanum,
quatenus sanabile et aegro-
tabile . . .
Bl. 163 recto: Bl. 57 verso:
Tractatus secimdus. Caput II.
§1. §1-
Medicus causam huius in- Medicus etsi in astrologia
cinae
*-0 Im Text unterstreiche ich die in beiden Texten vorkommenden Worte.
562
W. Lutoslawski.
vestigare deberet si in astro- non sit peritus habebit ex hac
logia . . . figura rationem investigans . . .
Bl. 163 verso;
§7.
Bl. 58 recto:
Tertia regio est autumnus III regio vocatur Autumnus
et durat de domo CC usque et durat ex CC usque ad DH,
ad domum DH. Haec regio haec regio constat pariter suis
constat ex siguis . . . signis . . .
Bl. 164 recto: Bl. 58 verso:
Tractatus tertius. Capitulum III.
§1. §1.
Constructa figura ex prae- UM figura constructa fuerit
dicto, investigandae sunt in in distinctis eins regionibus:
earegiones... ex infirmitatis et sanitatis eo qui
sequitur modo sunt investi-
gandae . . .
I
I
Bl. 59 recto:
Caput IV.
§1-
domus est de AB secuuda de Secundae circulationis do-
EF etc. . . . mus sunt AB, EF . . . .
Bl. 164 verso:
Secunda circulatio cap. II
Secundae circulationis prima
Bl. 165 recto:
Tertia circulatio cap III.
la domus tertiae circula-
tionis est de AF, CE etc.
Bl. 59 verso:
Caput V.
§1.
Illae circulationis domus
sunt AF, EC, BG . . .
IL
§ VIII. § VIII.
. In domo BH est aequaliter In domo BH est aequaliter
contrarietas per frigid"" cali- contrarietas per frigidum
Jordaiii Bruiii Xolani Opera inedita, manu propria scripta.
563
dif" hiimiditatem et sicci- calidum humidum et siccum,
tatem, sed quia H est iu sua sed quia H est iu sua regioue
regione, B voro nou, H est B vero non, H dominat, B
dominus, B vero serviis, et servit, nee adraodum humi-
luimiditas non est multum ditas dominat neque admodum
domina nee siccitas ancilla. .. siccitas ancillat . . .
Bl. 165 recto: Bl. 60 recto:
Quarta circulatio Cap. IV. Cap. VI.
Prima domus 4ae <3ircula- IVae circulationis domus
tionis est de AC, 2a de EG juxta suas regiones distinctae
etc sunt AC, EG, BD . . .
Bl. 165 verso:
Quinta circulatio Cap. V.
Prima domus quintae cir-
culationis est de AC 2a de
DE etc.
Bl. 166 recto:
Septima circulatio Cap. VII.
Prima domus Septimae cir-
circulationis est AH in qua
A vincitH, ut in prima cir-
culatione dictum est.
Bl. 60 verso :
Cap. VII. Va Circulatio.
Domus Vae circulationis
sunt AC, ED, BH . . .
Bl. 61 recto:
Cap. IV. Vlla circulatio.
Vllae circulationis domus
sunt AH, EH . . .
In prima domo AHA vincit
Hut in la circulatione dic-
tum est.
Bl. 166 verso ist eine Zeichnung, die sich auf den vorangehen-
den Text bezieht, und der entsprechenden Zeichnung Bl. 57 recto
ähnlich ist.
Auf der Peripherie eines grossen Kreises sind die Namen der
zwölf Monate und der vier Jahreszeiten verzeichnet, und unter
den Monaten, auf einem kleinereu Kreise die Buchstaben HAEBF
CGD in derselben Reihenfolge auf beiden Figuren, nur dass die
Figur auf Bl. 57 sorgfältiger gezeichnet ist, und ausserdem noch
iu der Mitte eine Zeichnung enthält, die in der Figur des Bl. 166
nicht ausgeführt worden ist. Die Berufung auf das Werk „de
564 ^^- I^utoslawski,
30 sigillis" die Bl. 62 sich findet, fehlt im ursprünglichen Entwurf,
wo sie Bl. 166 hätte kommen müssen.
Bl. 167 recto: Bl. 62 verso:
De Febribus Tractatus quar- De Febribus.
t u s. Postquara perfecimus tracta-
Actum est de regionibus tum de regionibus sanitatis
sanitatis et infirmitatis praeter et aegritudinis in quarum lati-
quas nullasanitas et infirmitas tudine omnis sauitas et infir-
esse potest .... mitas constituitur . . .
Cap. II de Tertriana. De Tertiana.
Tertiana regio tendit de Tertiana regio tendit de
BF usque ad AE et CG et ha- BF usque ad AG et CG et
bet unum triangulum . . . habet unum triangulum . . .
Bl. 167 verso: Bl. 63 recto:
Cap. III de febre continua De Febre continua lenta
lenta et acutissima. et acutissima.
Cap. IV. De febre quotidiana. De Quotidiana febre.
Bl. 168 recto beginnt eine Handschrift, die nicht von Bruno,
und auch nicht von dem Schreiber A ist. Die wichtigsten Unter-
schiede sind: das 1 hat häufig eine Schleife oben während es bei
Bruno immer ohne Schleife ist; das b und das d haben meisteu-
theils grössere Schleifen als in den ersten Blättern. Dagegen ist
s, V, p, a, e, m, u, t, r, c, o, u sehr ähnlich den entsprechenden
Buchstaben in den Bl. 1—6, und 162—167. Der Inhalt der Blätter
168 — 181 bildet die Fortsetzung der vorangehenden, und die Ueber-
einstimmung mit den Bl. 63 — 69 ist noch vollkommener als am
Anfang, wie aus dem Folgenden zu sehen ist:
Bl. 168 recto: Bl. 63 verso:
„Cap.V de febre quartana". „De febre quartana."
i
Jovclani Humi Nolaui Opera iiiedita, mann proprin '■-rripta. 565
BI. 169 verso: Bl. 65 verso:
„Cap. VI De f'ebre quartana „De febre fjiiartana du-
duplici. plici.
§1-
Quartana duplex incipit Quartana duplex incipit
in camera CD et mutatur in in camera CD et rautatur in
cameram BD et ex BD le- camerara BD et ex BD le-
vertitiir CD et ideo est peiur vertitu r CD et ideoestpeior
in CD quam in BD" ... in CD quam in BD" . . .
Bl. nOrecto: Bl. 66 recto:
{ „ De urinis tractatus quin- De urinis.
i tus.
Ad maiüiem evidentiam „Ad maiorem febrium et
febrium" . . . morborum evidentiam" . . .
Bl. 173 recto: Bl. 69 recto:
De Pulsibus tractatus sex- De Pulsibus.
tus.
Bl. 173 verso: Bl. 69 verso:
„De Pulsu significante do- „De Pulsu significante do-
; minium sanguinis. Pulsus ho- minium sanguinis. Pulsus
minis sanguinei est magnus homini sanguinei est raag-
est plenus et suavis et facit nus, plenus, suavis et facit
duas percussiones, una enim duas percussiones, una enim
est propter A alia vero prop- est propter A, alia prop-
ter B . . . ter B . . .
Percussio autem facta ab percussio autem facta ab
ipso A est maior quam per- ipso A est maior quam ipsius
cussio ipsius B, verumtamen B, verumtamen percussio
percussio B est acutior quam ipsius B est acutior quam
percussio ipsius A." percussio ipsius A" . . .
Hier bricht der Text Bl. 69
verso ab.
k
m
56ß W. Lutoslawski,
Der Text Bl. 174 geht noch weiter fort und enthält folgende
Capitel:
Bl. 174 recto: De Pulsu significante dominium Phlegm.
Bl. 174 recto: De Pul.su .significante dominium Melanc.
De Pulsu tertianae. I
Bl. 174verso: De Pulsu febris continuae. i-
De Pulsu phlegmaticü. i
De Pulsu quartanae. mJbv^'
Bl. 175 recto: De regionibns digestionum. ' «ter
Tractatus 7us. .^
De causis doloris tractatus 8.
B1.175verso: De Appetitu tractatus nonus.
Bl. 176 recto: De Humoribus tractatus X.
Bl. 176 verso: De gradibus infirmitatum Tractatus XI. ui
Bl. 178 verso: De curis infirmorum Tractatus XII. | Jei
Bl. 178 verso: De XVI ellectuariis generalibus Trac-
tatus XIII.
Bl. 181 recto schliesst mit den Worten:
„talis doctrina est utilis, et facilis scientibus istum librum.
Et quia sine isto libro vel arte non potest haberi scientia de
Omnibus supradictis, quae (?) ars sive scientia thesaurus pauperum
vere erit".
Bl. 181 verso ist unbeschrieben, und auf Bl. 182 ist die Zeich- ^
nuiig begonnen, aber nicht vollendet, die sich auf Bl. 57 und zum t
Theil auch auf Bl. 166 verso findet. Man sieht, dass wir Bl. 55
bis 69 nicht eine einfache Abschrift, sondern eine Bearbeitung des i
ersten Entwurfs haben, der von Bruno selbst Bl. 162—167 und
von einem Schreiber Bl. 168—173 aufgeschrieben worden ist. !
Wenn man Einzelnes vergleicht, scheint der Text Bl. 55 — 69 ein i
Dictat zu sein, das Bruno nach dem Entwurf auf Bl. 162 — 173 j
seinem Schreiber dictirte. Der Schreiber, der da. wo er abschreibt, |
wie z. B. Bl. 87—160 eine grosse Sorgfalt auf die Ausführung der i
Titel und Initialen, und auch auf den Text verwendet, hat die ;
Bl. 55—69 viel nachlässiger und wie es beim Ansehen derselben i
offenbar ist, flüchtiger geschrieben. Im Entwurf dagegen sind die
letzten Capitel viel mehr ausgearbeitet als die ersten, und es
I
Jordani Briini Xolaui Opera inedita. mann propria scripta. 567
kommen darin nicht mehr unterbrochene wnd unbeendete Satze
vor. Es ist möglich, dass desswegen auch das Dictieren unter-
brochen wurde, weil der Rest des Entwurfs dem Verfasser hin-
reichend ausgearbeitet erschien und keiner Verbesserungen bedurfte.
Schluss.
Aus der Betrachtung des Ms. hat sich also gezeigt, dass wir
hier A^erschiedene von einander unabhängige Hefte haben, die erst
später zusammengenäht wurden, die aber wahrscheinlich alle einst
im Besitz von Giordauo Bruno gewesen sind. Da die Buchhandlung
Tross leider über die Herkunft des Ms. nichts mittheilte, bleibt
ungewiss, auf welchem Wege diese Hefte, die Brunn auf seiner
letzten Reise vor seiner Gefangenschaft begleiteten, nach Deutsch-
land, und später nach Paris kamen. Aus folgenden zwei Tafeln
ist der Zusammenhang der einzelnen Theile zu ersehen:
568
W. I,uf fisla wski,
berslclit der einzelnen Theile des nnedirfen Ms. von einiisren Werken von Giordai
Kruno, das jetzt sich im Moskauer Rumianzow-Museuin befindet.
■•'(Jiiü-
i Hand-
schrift
lEiitfermiiig iler Na-
[delstiche vom oberen
Rand in mm
Inhalt
Bemerkungen.
1 — .')
7—10
11-27
r 28—38
39—54
55-63
64-69
70 - 86
87—98
II 99—160
X
161
t 162-167
167—182
1 i G.Bruno
II
III
II
II
II
G. Bruno
14, 62. ]•.'■-', 188.
keine Nadelstiche
vorhanden.
Besler 18, 45, 165, 195,
Besler i wo der Faden auch
i jetzt durchgeht und
! noch: 10, 58.88, 93,
i 119, 138, M3, 178.
II
II
II
IV
IV
V
V
Besler
Besler
Besler
Besler
Besler
Besler
Besler
G.Bruno 18, 45, 165. 195.
X
18, 45, 165, 195
wo der Faden auch
jetzt durchgeht und
ausserdem : 11, 96,
146—152, 185 bis
190.
nurl8,45,165,195. l
18, 45, 165, 195 wo
auch jetzt der Faden |
durchgeht.
9,][8, 46, 99, 147,1
162, 183,200 durch '
die unterstrichenen j
geht der Faden.
18, 45, 165, 195.
Cunceptblktter zu j
dem Werk Brunos |
„De V i u c u li s inj
genere " von dem '
ein Fragment auf \
den Bl. 87—98 er-
halten ist. Einzelne,
nicht immer zusam- \
menhängende und '
abgeschlossene
Sätze, von denen
viele Bl. 87—98 sich
wiederfinden.
Zeichnung und Er-
klärung zu Bl. 39
bis 54 gehörig.
Auszug oder Ab-
schrift ohne Titel
aus einem Werk über
magische Wir-
kungen, nicht
von Bruno
Commentar zu Bl. 7
bis 27 wahrschein-
lich von Bruno.
Werk von Bruno :
„De rerum prin-
cipiis et elemen-
tis etcausis" un-
vollständig ausge-
arbeitet.
Auszug aus
R. Lullus.
Wahrsch. v. B r u n o.
Kurzer Abriss der
ilagie, wohl nicht
von Bruno.
Fragment von dem
Werk von Bruno
,De vinculis in
g e n e r e " .
Bl. 1 ix'ctu stark ve
gillit und sclirautzi
Bl. 1 und 4, 2 und
hängen zusamme
und liegen im Hef
frei. Alle 5 Blättl
haben einem besoj
deren grösseren He
angehört. '
liegt frei im Heft, ab
nicht au der Ste
wo es hingehört
B1.7rectoschmutzi
und Bl. 7— 27babi
offenbar ein beso
deres Heft gebiid«
I Bl. 28 recto ui]
i Bl. 69 verso etw
i beschmutzt. De
I Aussehen nach ii
; beu Bl. 28-63 e
Heft gebildet, in d
zui Ergänzung noi
die Bl. 64-69 hi
eingelegt aber nie
angeheftet wurde
1-0
3l,i-l()
»iiili
Ars i u V e n t i V a
per 30 statuas.
ein loses Pergaraent-
blatt mit einer Zeich-
nung.
1. Entw. zudem Aus-
zug aus R. Lullus,
der Bl. 55—69 aus-
gearbeitet vorliegt.
Hat allem Ansehet
nach ein besonder!
Heft gebildet.
Hat ein besonder«
Heft gebildet. B1.8
recto etwas schmu|
zig.
ein besonderes He
Rand beschnitte;
Bl. 162 recto sei
schmutzig und ve
gilbt.
"M6ü
■Ö-1S3
mi
Joi'dani Bruni Noiani Opera inedita, manu piopria scripta.
569
Uebersicht der verschiedenen Papierarten, die in dem Ms. vorkommen.
1
: j
Entfer-
t
Entfernung ; j
Länge des
Breite des
nung der
Quer-
der Längs-
ausge-
linien vom
breiteten
Bogens
linien, die
oberen Rand
Papier
Bogens
von oben
von links
nat li
im Bogen
von links
jedes Blattes,
d. h. von der
Fabrik-
zeichen
Bemer-
kunffeii
nach 1 V . •
nach
Linie auf der
O "
rectits in
unten m !
rechts
der Bogen zu-
mm ">"!
gehen, in
sammenge-
mm
legt wurde
I
300-304 411-414
L25
9, 20, 43, 63,
Ein Krug Der Rand
Bl. 1-5
80, 107, 128,
zwischen [ unhe-
gelblich
15irT73,
195 mm
der 4. und
5. Längs-
linie vom
linken
1 schnitten.
— zwischen
diesen beiden
Linien das
Fal)rik-
Rand ge-
rechnet.
-
zeichen
11
328
418
0,95
11, 39, 70,
Ein klei-
Der Rand
Bl. 6 Bl.
11—80
98, 126, 154.
nes Schild
un be-
182, 198
auf der
5. Längs-
linie von
1 ■ 1
schnitten.
ganz gelb-
braun
— auf dieser
Linie das
Fabrik-
zeichen.
Imks ge-
rechnet.
111
3-21
410
1,05
14, 43,
Ein
Der Rand
Bl.7-10
73, 101, 129,
grosses
Schild mit
unbe-
beinah
158, 187
schnitten.
weiss
— über diese
dreiLinien er-
zwei Pfei-
len, eineoi
Herz,
streckt sich
das Fabrik-
einem
zeichen.
Kreuz und
einem
Apfel.
l\
308
420
0,77 :
18, 47, 73,
Ein
Der Rand
Blatt
!
100, 127, 154,
Hammer
unbe-
87—160
181, 207.
und ein E.
schnitten.
weiss
V
315
428
LH 1
7Längslinien,
Kein
Der Rand
Rlatt
• schlecht
Fabrik- l
be-
XJltXvl.
162—182
sichtbar.
zeichen.
schnitten.
ganz
gelbbraun
Alle Maasangaben sind Mittelzahlen, von denen die einzelnen Messungen
häufig um 1 — 2 mm. abweichen. Die Entfernung der Querlinien wurde be-
rechnet, indem deren Anzahl in 20 mm. gezählt wurde.
570 ^^- I^ntosla wski ,
Wie man sieht, haben w'w hier nicht, wie Noroff in seinem
Catahjge beliauptet 9 Tractate von Bruno, sondern nur
1. Ein einziges vollständiges und abgeschlossenes Werk:
„Ars iuveniendi per XXXstatuas".
2. Ein xwar vollständiges, aber nicht vollkommen durch-
gearbeitetes und abgeschlossenes Werk:
De rerum principiis et elementis et causis.
3. Ein l'ragment von 12 Blättern des Werkes
„De viüculis ingenere".
4. Den Rest bilden verschiedene Auszüge, von denen einer
aus R. Lullus sowohl in seinem ersten Entwurf als auch zum Theil
bearbeitet vorhanden ist; die beiden anderen Auszüge aus Werken
über Magische Wirkungen sind nur in einer Abschrift da. und
rühren vielleicht gar nicht von Bruno her.
Der Schreiber A. der mit Ausnahme der Bl. 168—182 Alles
was nicht von Bruno selbst geschrieben ist, geschrieben hat, hat zum
Theil abgeschrieben, zum Theil nach dem Dictat geschrieben, wobei
ihm Schreibfehler mitunterliefen, aber nicht in sehr erheblicher An-
zahl. Dieser Schreiber könnte Hieronimus B es 1er sein, von dem
Bruno in seinem Verhör zu Venedig vor dem Inquisitionsgericht
sagte, dass er ihm in Padova zwei Monate als Schreiber gedient hat.
Da am Schluss der „Ars inventiva" sich das Datum 22. October
1591 und als Ort Padova augeführt findet, so könnten diese zwei
Monate oder etwas mehr, sich vom 1. September bis zum 22. October
1591 erstreckt haben, übereinstimmend mit dem Datum am Anfang
und Schluss der „Ars inventiva". Die sorgfältige Ausführung dieser
Ab.schrift im Vergleich mit den übrigen Theilen des Ms. scheint
darauf hinzudeuten, dass Bruno sie für eine angesehene Persön-
lichkeit bestimmte, vielleicht für den Mocenigo, der ihn aus Deutsch-
land nach Italien lockte, und später so verrätherisch der Inquisition
überlieferte.
Da Besler ein Schüler Brunos gewesen ist, und zwar ein aus
Nürnberg stammender Deutscher, so ist nicht auffallend, dass er
ihm auch schon früher, im J. 1590, als Bruno sich in Deutsch-
land aufhielt, Schreiberdienste geleistet hat, und so erklärt sich
das Datum 16. März 1590. das neben dem Titel der Schrift „De
Jordnni Hrimi Xolaiii Opera inedita, mann [iropria scripta. 571
verum pvincipis et elementis et causis" 7ai lesen ist. Man kann
aber auch annehmen, und vielleicht mit grösserer Wahrscheinlich-
keit, dass zum Theil diese Zeitbestimmungen sich nicht auf die Ab-
schrift, sondern auf das uns nicht erhaltene Original beziehen. Jeden-
falls ist nicht glaublich, dass alle Hefte, aus denen jetzt unser Ms.
besteht, in kurzer Zeit oder gleichzeitig geschrieben wurden: dazu
sind die Unterschiede des Inhalts sowohl als auch der Ausführung
zu gross. Es ist möglieli, das Besler Giordano Bruno auf der ganzen
Reise von Deutschland nach Italien begleitet hat, und dass sich
mit der Zeit noch andere von ihm abgeschriebene Werke von
Bruno finden, oder wenigstens das Original der hier unvollendeten
und sehr sorgfältigen Abschrift „De vinculis in genere^'. Da alle
Papiere und Manuscripte von Bruno durch Mocenigo, in dessen
Hause er zu N'enedig im J. 1592 lebte, der Inquisition überliefert
wurden, und später mit Bruno nach Rom kamen, so wäre am
ehesten zu hoffen, dass das hier noch Fehlende im Vatican ver-
borgen liegt. Vielleicht ist sogar das jetzt in Moskau vorhan-
dene Ms. aus dem Vatican auf nicht gesetzliche Weise entlehnt
worden, wodurch sich allein erklären Hesse, dass es über zwei ein
halb Jahrhunderte unbekannt geblieben ist, während alle Werke
von Giordano Bruno stets mit hohen Preisen bezahlt und gesucht
wurden. Klarheit in dieser dunkeln Angelegenheit würde nur dann
zu erreichen sein, wenn die Buchhandlung Tross etwas Bestimmtes
über die Herkunft des Ms. mitgetheilt hätte. Noroff weiss nicht
mehr zu sagen, als dass er es durch die Vermittelung der Buch-
handlung Tross gekauft hat. Ob erst der Buchhändler Tross die
verschiedenen Hefte in eins zusammengeheftet, oder sie schon in
dieser Gestalt „in Deutschland", wie es bei Noroff heisst, vorge-
funden hat, bleibt auch ungewiss.
Moskau, d. 20. Mai 1889. W. Lutoslawski.
XXX.
Einige Beinerkimgen über die sogenannte
empiristisclie Periode Kants.
Von
G. Heyniaus in Leiden.
Es hat sich während der letzteren Decennieu die Kantliteratur
in so schreckenerregender Weise angehäuft, dass man fürchten
könnte, durch Veröffentlichung neuer Ansichten eher die Verwirrung
noch gründlicher zu machen, als zur Klärung derselben etwas bei-
zutragen. Auch erscheint es fast übermiithig zu glauben, dass
man über einen Gegenstand, auf welchen schon so viel Scharfsinn
verwendet worden ist, noch etwas Neues und zugleich Richtiges
vortragen könnte. Wenn ich es dennoch wage, eine Ansicht,
welche sich mir beim Lesen der vorkritischen Schriften Kant's
unabweislich aufgedrängt hat, hier zu veröffentlichen, so kann
ich mich nur damit entschuldigen , dass diese Ansicht selbst,
sowie die Gründe, welche ich für dieselbe anführen werde, sehr
einfach ist; demzufolge dieselbe, wenn unrichtig, in kürzester Zeit
wird abgeurtheilt, begraben und vergessen sein können. Wenn
aber richtig, so wird sie, wie ich glaube, die Entwicklung Kant's
bis 1770 etwas natürlicher und einheitlicher erscheinen lassen als
bis jetzt möglich war.
Soviel ich weiss, haben alle Schriftsteller ohne Ausnahme,
welche sich mit der Vorgeschichte des Kriticismus beschäftigten,
angenommen, dass es zwischen den Jahren 1755 und 1770
eine Zeit gebe, in welcher Kant meinte, „dass alle Wissen-
i
Einige Bemerliungen iiher die sog. empiristische Periode Kaut's. 57B
Schaft des Uebersiunlichen .... unmöglich .... sei" '); in welcher
er „erweiternde (synthetische) Erkenntnisse apriori", „Erkennt-
niss der Dinge an sich durch die ratio pura" verneinte ");
nicht glaubte, „dass man aus reiner Vernunft zu der Erkenntnis»
von Thatsachen gelangen könne" ^). Nun ist es unbezweifelte
Thatsache, dass Kant sowohl in der „Nova Dilucidatio" von 1755,
als in der Inauguraldissertation von 1770 den entgegengesetzten
Standpunkt einnimmt, und daraus entsprang dann das doppelte
Problem, erstens jenen Uebergang zum Empirismus, zweitens diesen
Rückfall in den Rationalismus auf befriedigende Weise zu erklären.
Wie dies möglich sei, darüber herrscht bekanntlich ein tiefgehen-
der Streit. Jenen ersten Frontwechsel wollen Einige auf den Ein-
fiuss Hume's zurückführen, während andere für diese Zeit densel-
ben ganz bestimmt verwerfen; der zweite wird von Einigen der
Einwirkung der „Nouveaux Essais" von Leibniz zugeschrieben,
während Andere diese Annahme für vollständig „ausgeschlossen"
erklären. Diesem Streit gegenüber wage ich nun die etwas ver-
messene Behauptung, dass derselbe im Grunde gegenstandslos ist.
Zwischen den Jahren 1755 und 1770 hat im Kantischen
Denken keine principielle Revolution, sondern nur eine
regelmässig fortschreitende Entwicklung stattgefunden.
Fangen wir damit an, uns über den Wortgebrauch zu ver-
ständigen. Rationalismus nennt man im Allgemeinen die Ueber-
zeugung, dass aus dem blossen Denken, ohne Mitwirkung der Em-
pfindung, Erkenntnisse entspringen können. Dieser Rationalismus
kann aber sehr verschiedener Art sein. Es kann gemeint sein,
dass sich aus den logischen Denkgesetzen allein diese Erkenntnisse
entwickeln lassen, oder auch dass dazu neben den logischen Gesetzen
noch andere im reinen Denken gegebene Grundbegriffe oder Grund-
überzeugungen erforderlich seien (logischer-, erkenntniss theo-
retischer Rationalismus). Es kann zweitens behauptet werden,
dass das blosse Denken eine vollständige, das Wesen derselben
') Fischer, Gesch. d. n. Phil. III (3. Aufl.) 268.
^) Vaihinger, Viertelj. f. wiss. Phil. XI. 219.
^) Paulsen, Entwickluugsgesch. d. Kant. Erkeuntnissth. 97.
Archiv f. (.iescliichte d. Philosophie. II. "''
fy'j^ G. Heymans,
erschöpfende Erkenntniss von seinen Objecten erwerben könne, —
oder auch, dass es nur im Stande sei, gewisse allgemeine Bestim-
mungen derselben zu erfassen (materialer — , formaler Ratio-
nalismus). Endlich kann man glauben, dass die Objecte, über
welche das Denken Aufklärung giebt, für sich existirende Dinge, —
oder auch, dass es blosse Erscheinungen sind (realistischer — ,
idealistischer Rationalismus). Diese dreifache Unterscheidung
setze ich bei den hier folgenden Untersuchungen voraus.
Sehen wir uns zunächst die Schriften aus den Jahren 1762/63
uiul 1766 etwas näher an. Dieselben boten l)is jetzt der Inter-
pretation unüberwindliche Schwierigkeiten dar. Allgemein hält man
sie für „Ausführungen einer und derselben Ansicht, nämlich des
antirationalistischen Princips: es giebt aus reiner Vernunft keine
Wahrheit über Thatsachen" (Paulsen a. a. 0. 45); und beruft sich
darauf, dass in denselben ganz entschieden die Sterilität der logi-
schen Gesetze betont und die Erfahrung als einzige Grundlage für
die Erkenntniss specieller Causalverhältnisse anerkannt wird. Ist
dann der Standpunkt dieser Schriften derjenige des Empirismus?
Jedenfalls kaum eines bewussten Empirismus: denn wie hätte Kant
sonst, von zahlreichen anderen Incongruenzen zu sclnveigen, eben
in dieser Zeit den „Einzig möglichen Beweisgrund" schreiben
können? Auch findet sich in den sämmtlichen vorkritischen
Schriften eine unzweideutige Erklärung zu Gunsten des Empiris-
mus nicht vor. So hat man denn gemeint annehmen zu müssen,
Kant schwebe noch in einer unhaltbaren Mitte; er habe zwar
die Principien des Rationalismus, nicht aber alle Anschauungen
desselben verworfen; er sei sicher in der Kritik des alten, nicht
aber in der Ersetzung desselben durch einen neuen Standpunkt.
Mit anderen Worten: man glaubt die Sache nur erklären zu
können, indem man bei dem vierzigjährigen Kant einen Grad der
Unklarheit und der Inconsequenz voraussetzt, der genügen würde
einen angehenden Denker für sein ganzes Leben hoffnungslos zu
discreditiren. Einem Kant gegenüber verdient eine solche Erklä-
rung kaum noch den Namen.
Demgegenüber glaube ich nun nachweisen zu können, dass
Kant während der sechziger Jahre einen scharf bestimmten erkennt-
Einige Bemerkungen über die sog. empiristische Periode Kant's. 575
uisstheoretischen Standpunkt eingenommen, denselben in der Preis-
sclirift unzweideutig dargestellt und in den übrigen Schriften mit
vollster Consequeuz daran festgehalten habe. Dieser Standpunkt
ist derjenige des formalen, erkenntnisstheoretischen, reali-
stischen Rationalismus. Das heisst also: Kant hat damals ge-
glaubt, dass das logische Denken nicht an und für sich, sondern i n
Verbindung mit gegebenen Vernunftbegriffen, aber jeden-
falls ohne Hinzuziehung von Erfahrungsbegriflfen , zur Erkenntniss
gewisser allgemeiner Bestimmungen der existirenden Dinge
gelangen könne; — dass aber Erfahrung erforderlich sei, um diesen
allgemeinen Bestimmungen Inhalt zu geben und die concrete Be-
schaffenheit und Wirkungsweise der Dinge kennen zu lernen. Ich
werde jetzt versuchen, diesen Standpunkt aus der Preisschrift zu
erläutern.
Die Preisschrift fängt damit an, die Anwendung der mathe-
matischen Methode in der Philosophie (= Metaphysik und Natur-
wissenschaft) mit den bekannten Gründen zu bestreiten. Die Phi-
losophie solle nicht aus allgemeinsten Begriffen deductiv-synthetisch
ein System aufbauen, sondern durch Analyse der gegebenen „ver-
worrenen Begriffe" (Begriff = Vorstellung, „idea") den wesentlichen
Inhalt derselben kennen lernen. Soviel von der Methode. Das
Object der Untersuchung, die aufzuklärenden verworrenen Begrifi'e,
findet die Naturwissenschaft in den Wahrnehmuugsdaten; wo findet
es aber die Metaphysik? „Die Metaphysik ist nur eine auf allge-
meinere Vernuufteinsichteu angewandte Philosophie" (I. 100)'*).
Dass es solche Vernunfteinsichten giebt, ist für Kant nicht zweifel-
haft: „es ist aus Erfahrung bekannt: dass wir durch Vernunft-
griinde, auch ausser der Mathematik, in vielen Fällen bis zur
Ueberzeuguug völlig gewiss werden können" (I. 100). Keineswegs
sind aber diese reinen Veruunfteinsichten auch schon in klaren
Begriffen gegeben: „in der Metaphysik habe ich einen Begriff, der
mir schon gegeben worden, obzwar verworren; ich soll den deut-
lichen, ausführlichen und bestimmten davon aufsuchen" (I. 89).
*) Die Citate aus Kant beziehen sich auf die Roseukranz-Schubert'sche
Ausgabe.
39*
f
57G *''■ H'^ymans,
Diesen Zweck zu erreichen, giebt es nur Einen Weg: man soll
durch Selbstbesinnung sich des eigentlichen Inhaltes jener Ver-
nunl'teinsichten vergewissern, und dann dieselben einerseits auf
einfachere und allgemeinere zurückzuführen versuchen, andererseits
als Grundlage zu weiteren Folgerungen benutzen. „Die ächte Me-
thode der Metaphysik ist mit derjenigen im Grunde einerlei, die
Newton in die Naturwissenschaft einführte, und die daselbst von
so nutzbaren Folgen war. Man soll, heisst es daselbst, durch
sichere Erfahrungen, allenfalls mit Hülfe der Geometrie, die Regeln
aufsuchen, nach welchen gewisse Erscheinungen der Natur vor-
gehen. Wenn man gleich den ersten Grund davon in den Körpern
nicht einsieht, so ist gleichwohl gewiss, dass sie nach diesem Ge-
setze wirken, und man erklärt die verwickelten Naturbegebenhei-
ten, wenn man deutlich zeigt, wie sie unter diesen wohlerwiesenen
Hegeln enthalten seyen. Ebenso in der Metaphysik: suchet durch
sichere innere Erfahrung, d. i. ein unmittelbares augenscheinliches
Bewusstseyn, diejenigen Merkmale auf, die gewiss im Begrift'e von
irgend einer allgemeinen Beschaffenheit liegen, und ol) Ihr gleich
das ganze Wesen der Sache nicht kennt, so könnt Ihr Euch doch
derselben sicher bedienen, um Vieles in dem Dinge daraus herzu-
leiten" (1. 92).
Man wird mir einräumen, dass dieser Standpunkt an princi-
pieller Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt. Man mag den-
selben richtig oder unrichtig finden; man muss aber gestehen, dass
es ein Standpunkt ist, auf dem sich stehen und nicht blos schweben
lässt. Auch dass derselbe sich einerseits von dem logischen Ra-
tionalismus, andererseits von dem Empirismus scharf genug ab-
grenzt. Es i.st nur die Frage, ob Kant denselben auch in den
übrigen Schriften dieser Periode consequeut festgehalten, ausgeführt
und angewendet hat.
Offenbar muss nun diese Frage wenigstens für die Schrift über
den Einzig möglichen Beweisgrund unbedingt zustimmend beant-
wortet werden. Hier wird dem Leser gleichsam ad oculos vor-
deraonstrirt, wie man einer Sache „durch Vernunftgründe bis zur
Ueberzeugung völlig gewiss werden kann": aus dem blossen Ver-
nunft l)egrift' des Möglichen wird zu beweisen gesucht, dass ein
1
I
Einige Bemerkungen über die sog. empiristische Periode Kant's. 577
absolut nothwendiges Wesen existiren und dass demselben die
Göttlichen Eigenschaften zukommen müsse. Auch ist Kant über
die Natur dieses Beweises sich vollständig klar: „Der Beweisgrund
von dem Daseyn Gottes, den war geben, ist lediglich darauf erbaut,
weil etwas möglich ist. Demnach ist es ein Beweis, der vollkom-
men a priori geführt werden kann. Es w^ird weder meine Exi-
stenz, noch die von andern Geistern, noch die von der körperlichen
Welt vorausgesetzt" (I. 195). Hätte aber wirklich Kant, wie die
Interpreten behaupten, schon damals eingesehen, „dass durch
blosses Denken niemals Dasein zu erkennen ist" (Fischer IIL 211),
so liesse sich doch vermuthen, dass er etwas von dem Widerspruch
bemerkt haben würde. Thatsächlich aber liegt kein Widerspruch
vor: Kant hat nur eingesehen, dass durch logisches Denken allein
kein Dasein zu erkennen ist, und darum verwirft er den „Carte-
sianischen" Beweis. Mit Unrecht haben dann auch Fischer (III. 211)
und Paulsen (61) gemeint, dass in der Kantischen Kritik dieses
Beweises schon diejenige seines eigenen enthalten sei. Es ist ganz
etwas Anderes, aus dem willkürlich construirten Begriff
eines Dinges die Existenz desselben beweisen zu wollen, — • oder
zu glauben, dass durch Zergliederung gegebener Vernunft-
begriffe gewisse allgemeinste Bedingungen alles Daseins erschlossen
werden können. Allerdings könnte man, wie Fischer (III. 211)
ausführt, aus dem Begriff Gottes auf seine Möglichkeit, daraus auf
Möglichkeit überhaupt schliessen, und so den alten Beweis in den
neuen überführen, — aber nur vermittelst des Vernunftbe-
griffes der Möglichkeit. — Der Kantische Beweis mag werth-
los sein: das gebe ich gern zu, aber er pas.st vollkommen auf
seinen damaligen, in der Preisschrift entwickelten Standpunkt.
Auch findet er sich in der Preisschrift schon in allgemeinen Um-
rissen angedeutet (I. 106 — 107), und wird dort hinzugefügt: „in
allen Stücken demnach, w^o nicht ein Analogon der Zufälligkeit
anzutreffen ist, kann die metaphysische Erkenntniss von Gott sehr
gewiss seyn." Auch Kant selbst betrachtete demzufolge seinen
Gottesbeweis als ein erstes Ergebniss jener neuen Methode, welche
er in seiner wichtigsten vorkritischen Schrift der Metaphysik zu
Grunde legen wollte.
578 G. Heymaas,
Es ist nicht schwer, aus diesen und den anderen Kantischen *
Schriften dieser Periode weitere Belege für das Fortwirken derselben '*'
Denkrichtung anzuführen. Als Objecte reiner Vernunfterkenntniss
■werden genannt, und theilweise nach der in der Preisschrift empfoh-
lenen Methode untersucht, die Begriffe des Raumes und der Zeit
(1.84,89; 116; VII. 61), des Daseins (I. 169— 17B), des Körpers und
der Materie (I. 92—94, 205—207), der einfachen Elemente der- ^
selben (I. 83), der Vorstellung und der verschiedenen Gefühle
(I. 84), und Andere; offenbar hat Kant damals noch unter Ver-
nunfterkenntniss alle von der äusseren Erfahrung unabhängige Er-
kenntniss zusammengefasst. Als reine Vernunfteinsichten werden,
ausser der Gewissheit von dem Dasein Gottes, augeführt oder an- -
gewendet die Sätze: dass „um etwas Positives, was da ist, aufzu- -
heben, eben sowohl ein wahrer Realgrund erfordert (wird), als um
es hervorzubringen, wenn es nicht ist" (I. 142); — dass „in allen
natürlichen Veränderungen der Welt .... die Summe des Posi- "
tiven .... weder vermehrt noch vermindert (wird)" (I. 148); —
dass „die Folge den (Real-) Grund nicht übertreffen kann" (I. 192);
— dass „wenn etwas da ist, .... auch etwas (existirt), was von ^ 1
keinem andern Dinge abhängt" (I. 280); — dass „die Substanzen fl»
.... welche Elemente der Materie sind, .... einen Raum luu- h\
durch die äussere Wirkung in andre einnehmen, für sich beson- | ab
ders aber .... keinen Raum (enthalten)" (VII. 41); — dass „eine HJisii
jede Substanz, selbst ein einfaches Element der Materie, doch m-i
irgend eine innere Thätigkeit als den Grund der äusserlichen Wirk-
samkeit haben (muss), wenn ich gleich nicht anzugeben w'eiss,
worin solche bestehe" (VII. 46). Von der Metaphysik, dieser „auf
allgemeinere Vernunfteinsichten angewandten Philosophie", schreibt |
er S.April 1766 an Mendelssohn: „Ich bin so weit entfernt, die
Metaphysik selbst, objectiv erwogen, für gering oder entbehrlich
zu halten, dass ich vornehmlich seit einiger Zeit, nachdem ich
glaube, ihre Natur und die iin- unter den menschlichen Erkennt-
nissen cigenthümliche Stelle einzusehen, überzeugt bin. dass sogar
das wahre und dauerhafte Wohl des menschlichen Geschlechts auf
sie ankomme" (XL 8). Und in der „Nachricht von der Einrich-
tung seiner Vorlesungen in dem A\'interhalbjahr von 1765 — 6^^
Eiuige Beiuerkungeu über die sog. empiristische Periode Kant's. 579
beruft sich Kant ausdrücklich auf die Preisschrift von 1762, und
erklärt „(er) habe seit geraumer Zeit nach diesem Entwürfe gear-
beitet", und hoffe „auf diesem Wege" bald so weit zu kommen,
„dasjenige vollständig darlegen zu können, was (ihm) zur Grund-
legung (seines) A^ortrages in der genannten AVissenschaft (die Meta-
physik) dienen (könne)" (I. 293).
Es dürfte demnach nicht mehr zweifelhaft sein, dass der
formal- erkenntnisstheoretische Rationalismus in dem Kantischen
Denken der 60er Jahre eine ganz hervorragende Stelle einnimmt. Es
bleibt aber die Frage, ob sich daneben vielleicht Aeusserungeu
Kant's nachweisen lassen, welche mit diesem Rationalismus im
Widerspruch stehen und sich nur empiristisch erklären lassen. Ich
habe nach solchen Aeusserungeu eifrig gesucht, und ich werde
Nichts von demjenigen was ich gefunden habe, dem Leser vorent-
halten. Insbesondere werde ich diejenigen Thatsachen, welche von
den Interpreten als Beweise für den zeitweiligen Empirismus
Kant's angeführt worden sind, in möglichster Vollständigkeit vor-
führen und die Beweiskraft derselben untersuchen.
Es finden sich nämlich erstens zahlreiche Stelleu, welche auf
eine klare üeberzeugung von der Werthlosigkeit der herrschenden
Metaphysik und auf einen steigenden Unwillen gegen die Ver-
treter derselben hinweisen. Da aber diese herrschende Metaphysik
fast ohne Ausnahme dem Wolff 'sehen, material-logischen Rationa-
lismus huldigte, kann aus jenen Aeusserungeu nur geschlossen
werden , dass Kant diesem material - logischen , keineswegs aber
dass er dem Rationalismus überhaupt entsagt habe, oder gar zum
Empirismus übergetreten sei.
Es finden sich zweitens deutliche Spuren einer scharf aus-
geprägten Vorliebe für empirische Untersuchungsmethoden. Aber
empirische Methode ist mit Empirismus keineswegs identisch. Auch
der formale Rationalismus ist für den concreten Inhalt der Er-
scheinungen auf die Erfahrung angewiesen; und selbst die allge-
meinen Vernunfteinsichten, welche derselbe voraussetzt, kann er
auf empirischem Wege, durch Erforschung der gegebenen Denk-
erscheinungen, aufsuchen. Eben dieses war, wie wir gesehen haben,
die Meinung der Preisschrift.
580 G. Heymans,
Drittens sind es aber ganz besonders die auf das Causalver-
hiiltniss sich beziehenden ürtheile gewesen, welche Kant den Namen
eines Empiristen oder gar Skeptikers eingebracht haben. Betrachten
wir demnach dieselben etwas genauer. In der Schrift über die
negativen Grössen wird zuerst die Frage aufgeworfen: „wie soll
ich es verstehen, dass, weil Etwas ist, etwas anderes sey"? (I. 158).
Und nachdem Kant dieselbe ausführlich erläutert, bittet er den
Leser zu versuchen, „ob man etwas mehr sagen könne, als was ich
davon sagte, nämlich, lediglich, dass es nicht durch den Satz des
AViderspruchs geschehe" (I. 159). Aehnlich in den anderen
Schriften: „wie etwas könne eine Ursache seyn oder eine Kraft
haben ist unmöglich, jemals durch Vernunft einzusehen, sondern
diese Verhältnisse müssen lediglich aus der Erfahrung genommen
werden. Denn unsere Vernuuftregel geht nur auf die Vergleichung
nach der Identität und dem Widerspruche. So ferne aber Etwas
eine Ursache ist, so wird durch Etwas etwas Anderes gesetzt, und
es ist also kein Zusammenhang vermöge der Einstimmung anzu-
treffen; wie denn auch, wenn ich eben dasselbe nicht als eine
Ursache ansehen will, niemals ein Widerspruch entspringt, weil es
sich nicht contradicirt: wenn Etwas gesetzt ist, etwas Anderes auf-
zuheben. Daher die Grundbegriffe der Dinge als Ursachen, die
der Kräfte und Handlungen, wenn sie nicht aus der Erfahrung
hergenommen sind, gänzlich willkürlich sind, und wedc;- bewiesen,
noch widerlegt werden können. Ich weiss wohl, dass das Denken
und Wollen meinen Körper bewege, aber ich kann diese Erscheinung,
als eine einfache Erfahrung, niemals durch Zergliederung auf eine
andere bringen, und sie daher wohl erkennen, aber nicht einsehen"
(VIT. 102 — 103, Träume eines Geistersehers). Und in dem bereits
angeführten Brief an Mendelssohn: „. . . . so fragt man, ob es an
sich möglich .sey, durch Vernunfturtheile a priori diese Kräfte
geistiger Substanzen auszumachen. Diese Untersuchung löst sich
in eine andere auf, ob man nämlich eine primitive Kraft d. i. ob
man das erste Grundverhältniss der Ursache zur Wirkung durch
Vernunftschlüsse erfinden könne, und da ich gewiss bin, dass dieses
unmöglich sey, so folgt, wenn mir diese Kräfte nicht in der Er-
fahrung gegeben sind, dass sie nur gedichtet werden können"
Einige Bemerkungen über die sog. empiristische Periode Kant's. 581
(XI. 10). — Was wird nun eigentlich in diesen Sätzen behauptet?
Offenbar nichts anderes, als dass man aus dem blossen Begriffe
eines als Ursache auftretenden Dinges oder Ereignisses durch logische
Schlussfolgerung nicht die zugehörige AYirkung auffinden könne,
sondern dafür ausnahmslos auf die Erfahrung angewiesen sei. Mit
anderen Worten: Kant verneint erstens den logischen Rationalis-
mus, der iiehauptet, dass sich die Wirkung aus der Ursache, wie
die Folge aus dem Grunde, logisch deduciren lasse; er verneint
zweitens den materialen Rationalismus, demzufolge es möglich wäre,
aus reiner Vernunft (sei es auch unter Hinzuziehung anderer als
der rein logischen Vernunftbegriffe) den ganzen Weltlauf zu recon-
struiren. Aber keineswegs verneint er das Gegebensein
abstracter causaler Begriffe und causaler Grundsätze aus
reiner Vernunft, keineswegs auch die Geltung derselben
für die reale Welt. Dass alles Entstehen und Vergehen causal
bedingt sei, dass dabei zwischen Ursache und Wirkung vollstän-
dige Aequivalenz stattfinde, das wird, wie wir gesehen haben, in
eben derselben Schrift, welche am klarsten und ausführlichsten
die Unbegreiilichkeit specieller Causalverhältnisse darthut, ausdrück-
lich gelehrt und nach Kant's eigenen Worten „aus metaphysischem
Grunde hergeleitet" (I. 149). Dass „die Folge den (Real-)Grund
nicht übertreffen kann" (I. 192), wird in dem „Einzig möglichen
BeAveisgrund" als selbstverständlich vorausgesetzt; und in derselben
Schrift findet sich eine ausführliche Erörterung über nothwendige,
in der Möglichkeit der Dinge begründete und selbst von dem gött-
lichen Willen unabhängige Wirkungen derselben (I. 207 — ^209);
sowie die Vermuthung, dass „die Verhältnisse des Raums ....
Mittel an die Hand geben können, die Regeln der Vollkommenheit
in natürlich nothwendigen Wirkungsgesetzen, in so ferne sie auf
Verhältnisse ankommen, aus den einfachsten und allgemeinsten
Gründen zu erkennen" (I. 250). Und in den Träumen eines
Geistersehers gilt es als apodiktisch gewiss, dass „eine jede Sub-
stanz, selbst ein einfaches Element der Materie, doch irgend eine
innere Thätigkeit als den Grund der äusserlichen Wirksamkeit
haben (muss), ob ich gleich nicht anzugeben weiss, worin solche
bestehe" (VIT. 46). Offenbar können alle diese Einsichten nicht
582 Gr. Heymans,
der Erfahrung zu verdanken sein. Denkt man sich Kant als Em-
piristen, so können dieselben nur wieder der Nachwirkung früherer
Anschauungen zugeschrieben werden; liest man aber in seinen
Worten nicht mehr als darin enthalten ist, so schliessen sich diese
mit den vorher citirten Aussprüchen ganz leichf unter dem gemein-
samen Gesichtspunkte des formal-erkenntnisstheoretischen Rationa-
lismus zusammen^). Kant hat gemeint, die Begriffe der Ursache
und der "Wirkung, mitsammt den causalen Grundsätzen, seien als
reine Yernunftbegriffe, wenn auch in „verworrenem" Zustande ge-
geben; auf die logischen Grundbegriffe seien dieselben aber nicht
zurückzuführen; und über specielle Causalverhältnisse könne nur
die Erfahrung uns belehren.
Der geneigte Leser hat ein Recht, ungeduldig zu werden.
Giebt es denn gar keine Aeusserungen Kant's, so wird er fragen,
welche die herrschende Ansicht von dem Kantischen Empirismus
oder Skepticismus bestätigen? — Ich habe, wie gesagt, eifrig und
wiederholt nach solchen gesucht; und ich gestehe offen, dass ich
über das Ergebniss dieser Untersuchung selbst im höchsten Grade
^) Wie weit eine vorgefasste Meinung selbst den redlichsten Forscher
führen kann, erhellt aus Kuno Fischer's Referat über die Kantische Wider-
legung des kosmologischea Beweises. »Auf (der) zweifachen Täuschung über
die logische Erkennbarkeit des Realgrundes und des Daseins ruht der kos-
mol'ogische Beweis: er setzt voraus, dass etwas existire, was von anderem ab-
hänge, es müsse daher ein Wesen geben, das von keinem anderen abhänge,
also schlechterdings nothwendig sei und darum alle Vollkommenheiten in sich
vereinige; er schliesst von dem Dasein der Welt als Wirkung auf die Exi-
stenz Gottes als Ursache. Dieser Schluss ist unmöglich, weil die Verknüpfung
zwischen Ursache und Wirkung (Realgrund) durch keinerlei logische Folge-
rung begreiflieh gemacht werden kann. Auch ist der Begriff eines schlechter-
dings nothwendigen Wesens kein empirischer, sondern ein blosser Begriff: daher
endet der kosmologische Beweis, wie der ontologische anfängt" (Fischer III. '201).
Es ist aber einfache Thatsache, dass Kant an der bezeichneten Stelle (Einz.
mögl. Beweisgr. Abth. III. 1—4) den Schluss von dem Dasein der Welt als
Wirkung auf die Existenz Gottes als Ursache nicht nur nicht al>lehnt,
sondern ausdrücklich als eine „regelmässige Folgerung" (I. 280)
anerkennt. Offenbar hat Fischer unbewusst seine eigene Auffassung der
Kaiitischen Lehre in ilie Darstellung der Kantischeu (iedanken liiueinge-
mischt; wovon mau sich duicii Vergleichung der betreffenden Stellen über-
zeugen wolle.
Einige Bemerkungen über die sog. empiristische Periode Kant's. 583
erstaunt gewesen bin. Ich habe nämlich in den sämmtlichen
zwischen 1760 und 1770 erschienenen Schriften Kant's nur drei
oder vier vereinzelte Aussprüche auftreiben können, welche mit
meiner Autfassung im Widerspruch zu stehen schienen. In der
Falschen Spitzfindigkeit heilst es zweimal: „dass die obere Erkennt-
nisskraft .schlechterdings nur auf dem Vermögen zu urtheilen be-
ruhe" (I. 72, 73); und in den Träumen eines Geistersehers: „unsere
Vernunftregel geht nur auf die Vergleichung nach der Identität
und dem Widerspruche" (VII. 103); es wäre zu erwarten gewesen,
dass Kant hier auch die „reinen Vernunftbegrifi'e" erwähnt hätte.
Sodann findet sich in der zuletztgeuannten Schrift noch der Aus-
spruch, neben der w^enig lohnenden Aufgabe, verborgenem Eigen-
schaften der Dinge durch Vernunft nachzuspähen, gäbe es für die
Metaphysik noch die andere: „einzusehen, ob die Aufgabe aus
demjenigen, was man wissen kann, auch bestimmt sey, und welches
Verhältniss die Frage zu den Erfahrungsbegriffen habe, darauf
sich alle unsre Urtheile jederzeit stützen müssen" (VII.
99). Auch diese Stelle lautet entschieden empiristisch. — Ich
will nun nicht einmal fragen (obgleich es vielleicht nicht schwer
wäre die Frage zu beantworten), ob sich nicht diese Aeusserungen
aus dem Orte wo sie stehen oder dem Zweck der sie enthaltenden
Schriften erklären Hessen; ich bitte nur den Leser zu überlegen,
was wahrscheinlicher ist: dass Kant einige Male, in der Hast des
Schreibens oder in der Erregung des Gemüths, einen unpassenden
Ausdruck für seine Gedanken gewählt habe, — oder dass die ganze
Preisschrift ein unverständlicher Mischmasch, der Einzig mögliche Be-
weisgrund eine einzige riesige Inconsequenz, und die sämmtlichen
Schriften dieser Periode ein Tummelplatz kleinerer Inconsequenzen
sein sollten.
Es bleibt nur noch die Frage: wenn sich wirklich so wenig
zu Gunsten des behaupteten Kantischen Empirismus anführen lässt,
wie ist es dann zu erklären, dass derselbe nachgerade zu einem
Dogma in der Geschichte der Philosophie geworden ist? Ich finde
hierfür nur zwei Gründe. Der erste liegt in der Vernachlässigung
des Unterschiedes zwischen logischem und erkenntnisstheoretischem
Rationalismus, demzufolge man überall, wo ersterem widersprochen
584 G. Hey maus,
wurde, diesen Widerspruch auf den Rationalismus überhaupt aus-
gedehnt und auf Empirismus geschlossen hat. Dass die behauptete
Vernachlässigung hier wirklich vorliegt, bezeugen mehrere Stellen
aus Fischer's Geschichte: „so ist der Satz vom Grunde .... nicht
mehr dem blossen Denken einleuchtend oder logisch er-
kennbar" (III. 183); „der Satz vom Realgrund ist demnach
kein Denkgesetz, keine logische Regel" (III. 191); „die
Existenz kein logischer Begriff, sondern ein Erfahrungs-
begriff" (III. 211). In gleicher Weise Paulsen: „Der Satz des
Grundes oder das Gesetz der Causalität ist nicht identisch mit
dem Gesetz des Widerspruchs oder der Identität. Eben deshalb
ist es nicht ein Princip reiner Yernunfturtheile" (73). Ueberall
wird vorausgesetzt, dass es in der Erkenntniss kein Drittes gebe
neben logischem Gesetz und Erfahrung: nach Kant giebt es aber
ein Drittes: die reinen Vernunfturtheile. — Der zweite Grund
liegt in dem Mythus von der frühzeitigen Einwirkung Hume's.
Die selbst im Wortlaut beinahe identische Problemstellung in den
„Negativen Grössen" und in Hume's Essay, in Verbindung mit
der bekannten Erzählung Borowski's, mussten offenbar den Gedan-
ken nahe legen, Kant habe sich vollständig den Hume'schen An-
schauungen angeschlossen. Nachdem aber die Untersuchungen der
letzteren Jahre es stets wahrscheinlicher gemacht haben, dass die
theoretische Philosophie Hume's erst viel später in Kaufs Entwick-
lung eingegriffen habe, ist auch dieser letzte Grund für die An-
nahme einer empiristischen Periode im Kantischen Denken hinfällig
geworden.
Man hat in der Preisschrift nicht nur Empirismus, sondern
auch Spuren von altwolffischem (logischem) Rationalismus nach-
weisen zu können geglaubt. Als solche werden von Paulsen
(79 — 82) folgende Kantische Sätze angeführt: „Alle wahren Ur-
theile müssen entweder bejahend oder verneinend seyn. Weil
die Form einer jeden Bejahung darin besteht, dass etwas als ein
Merkmal von einem Dinge, d. i. als einerlei mit dem Merkmale
eines Dinges vorgestellt werde, so ist ein jedes bejahende Urtheil
wahr, wenn das Prädicat mit dem Subjecte identisch ist. Und
Einige Bemerkungen über die sog. empiristische Periode Kant's. 585
ila die Form einer jeden Verneinung darin besteht, dass etwas
einem Dinge als widerstreitend vorgestellt werde, so ist ein ver-
neinendes Urtheil wahr, wenn das Prädicat dem Subjecte wider-
spricht .... Es ist aber ein jeder Satz unerweislich, der un-
mittelbar unter einem dieser obersten Grundsätze gedacht wird,
aber nicht anders gedacht werden kann; nämlich, wenn entweder
die Identität oder der Widerspruch unmittelbar in den Begriffen
liegt und nicht durch Zergliederung vermittelst eines Zwischen-
merkmals eingesehen werden kann oder darf. Alle andere sind er-
weislich" (I. 102 — 103). Bei etwas schärferem Zusehen stellt sich
aber der ganz unschuldige Charakter dieser Sätze leicht heraus.
Denn die „Begriffe", von denen hier die Rede ist, sind gegebene
Begriffe, Locke'sche „ideas": all dasjenige, welches wahrgenommen
und vorgestellt wird. „Die Identität oder der Widerspruch liegt
in den Begriffen", bedeutet nichts weiter als: die Eigenschaft,
welche ich dem Dinge beilege, ist in der durch Wahrnehmung
und Experiment gegebenen Vorstellung des Dinges enthalten. Die
Erfahrung liefert mir z. B. ein Ding, welches ich Eisen nenne, und
in welchem ich experimentell etwa die Eigenschaft der Schmelz-
barkeit antreffe. Sage ich nun auf Grund dieses Experiments:
Eisen ist schmelzbar, so bilde ich einen der „unerweislichen Sätze"
Kant's. — Dass wirklich a. a. 0. nur solche Erfahrungsbegriffe,
und keineswegs aus willkürlicher Synthese entstandene Begriffe ge-
meint sind , dürfte durch folgende Parallelstelle aus der „Fal-
schen Spitzfindigkeit" über allen Zweifel erhoben werden: „Alle
Urtheile, die unmittelbar unter den Sätzen der Einstimmung oder
des Widerspruchs stehen, das ist, bei denen weder die Identität
noch der Widerstreit durch ein Zwischenmerkmal (mithin nicht
vermittelst der Zergliederung der Begriffe), sondern unmittelbar
eingesehen wird, sind unerweisliche Urtheile, diejenigen, wo sie
mittelbar erkannt werden kann, sind erweislich. Die menschliche
Erkenntniss ist voll solcher unerweislieher Urtheile, vor jeglicher De-
finition kommen deren etliche vor, sobald man, um zu ihr zu ge-
langen, dasjenige, was man zunächst und unmittelbar an
einem Dinge erkennt, sich als ein Merkmal desselben
vorstellt" (I. 74). Offenbar ist hier nur vor Definitionen auf
586 ^- Heyraans,
Grund der Erfahrung die Rede, und der Schluss auf die Bedeutung
der entsprechenden Stelle in der Preisschrift liegt auf der Hand.
— Auch der Umstand, dass Kaut in der Preisschrift selbst, wenige
Zeilen nach den incriminirten Sätzen, ganz ausdrücklich die Noth-
wendigkeit „materialer Grundsätze" hervorhebt und die Unfrucht-
barkeit der blos formalen („aus diesen allein kann wirklich gar nichts
bewiesen w^erden") betont, könnte schon beweisen, dass Kant gewiss
nicht daran gedacht hat, dem logischen Rationalismus das Wort
zu reden. — Als ein weiterer Beleg für den zeitweiligen Rückfall
Kant's wird von Paulsen angeführt, dass die Preisschrift schliess-
lich doch wieder, wenn auch nur für die entfernte Zukunft, ein
demonstratives System der Metaphysik in Aussicht stellt: „AVeun
die Analysis uns zu deutlich und ausführlich verstandenen Begriffen
wird verholfen haben, wird die Synthesis den einfachsten Erkennt-
nissen die zusammengesetzten, wie in der Mathematik, unterordnen
können" (I. 97). Freilich; aber was ist denn damit gesagt, das
nicht auch der consequenteste Empirist unterschreiben köunte?
Denn hier ist es doch vollkommen klar, dass die „deutlich und
ausführlich verstandenen Begriffe", welche Kant der Synthesis zu
Grunde legen will, keineswegs Ergebnisse willkürlicher Nominal-
detinitlonen, sondern eben allgemeinste Erfahrungsbegriffe, compri-
mirte Naturgesetze sind. Das Ideal, welches Kant für die Meta-
• physik und für die ganze Philosophie aufstellt, ist eben dasjenige,
welches in der Jetztzeit die mathematische Physik für ihr Gebiet
zu realisiren bestrebt ist.
Auf Grund der vorhergehenden Erörterungen wird man sich
jetzt leicht davon überzeugen können, dass die Inaugural-
dissertation von 1770 keineswegs als ein „Rückfall in den
Rationalismus" qualificirt zu werden verdient. Rationalistisch ist
dieselbe allerdings: aber es ist noch immer der nämliche formal-
erkenntnisstheoretische Rationalismus von 1762, nur etwas weiter
ausgeführt. Metaphysik ist, wie damals, die Wissenschaft der
reinen Vernunftbegriffe: „philosophia autem prima continens priu-
cipia usus intellectus puri est Metaphysica" (I. 313); und auch
über die Methode derselben denkt Kant noch ganz so wie in der
Einige Bemerkungen über die sog. empiristische Periode Kant's. 587
Preisschi'ift: „Conceptus in ipsa obvii noii quaerencli .suut in sensi-
bus, sed in ipsa natura intellectus puri, uon tanquam conceptus
connati, sed e legibus menti insitis (attendendo ad ejus actiones
occasione experientiae) abstracti, adeoque acquisiti" (I. 313). Das
heisst also: nicht die wissenschaftliche Erkenntniss der Vernunlt-
begriffe, sondern gewisse das Denken beherrschende Gesetze sind
angeboren: aus der Wirkungsweise dieser Gesetze soll man die
reinen Vernunftbegrifte analytisch kennen lernen. Was nun weiter
diese Vernunftbegriffe selbst betriift, so sind Raum und Zeit als die
reinen Formen derSinnliclikeit von denselben abgesondert worden; da-
gegen werden noch immer als solche angeführt: „possibilitas, existentia,
necessitas, substantia, causa etc. cum suis oppositis aut correlatis"
(1. 313). Dass dieselben reale Geltung haben, daran zweifelt Kant
eben so wenig als zur Zeit des Einzig möglichen Beweisgrundes:
„Quum itaque, quodcunque in cognitione est sensitivi, pendeat a
special! indole subjecti ....; quaecunque autem cognitio a tali
conditione subjectiva exemta est, nou nisi objectum respiciat,
patet: sensitive cogitata esse rerum repraesentationes, uti appa-
rent, intellectualia autem sicuti sunt" (I. 309 — 310)''). Aber
noch immer ist Kant davon überzeugt, dass aus reiner Ver-
nunft nicht der concrete Inhalt, sondern nur allgemeine, formale
Bestimmungen des Daseins erkannt werden können: „Intellectua-
llum non datur (liomini) Intuitus sed non nisi cognitio sym-
bolica, et intellectio nobis tantum licet per conceptus universales
in abstracto, uon per singularem in concreto" (I. 314); „praedica-
tum in qualibet judicio intellectualiter enunciato, est conditio,
absque qua subjectum cogitabile non esse asseritur" (I. 332). Wie
dem materialen, so widerspricht er auch aufs Bestimmteste dem
logischen Rationalismus: „ante omnia probe notandum est: usum
«) Wenn Fischer (111.326-327) und Paulsen (120—125) den unzweideu-
tigen Worten Kant's gegenüber behaupten, nach der Inauguraldissertation
beziehe sich auch die reine Vernunfterkenntniss am Ende nur auf die Er-
scheinungen, so lässt sich zur Bestätigung dieser Behauptung aus der Schrift
selbst kein einziges Wort anführen. Dieselbe steht ausserdem mit den be-
kannten Mittheiluugen Kant's in dem Brief an Marcus Hertz vom 21. Februar
1772, in offenbarem Widerspruch.
588 • G. Tleynians,
Intellectus, s. superioris animae facultatis esse dupHcem: quoruni
priori dantur conceptus ipsi, vel rerum vel respectuum, qui est
Usus Realis; posteriori auteni, undecuuque dati, sibi tantum
subordiuantur, inferiores nempe superioribus (notis communibus)
et conferuntur ioter se secundum principium contradictionis, qui
Usus dicitur Logicus" (I. 310). Und was speciell die Causali-
tiitsfrage betrifft, so wird die Unmögliclikeit den Realgrund auf
den logischen Grund zurückzuführen, die Unerkennbarkeit specieller
Causalverhältnisse aus reiner Vernunft, und die ausschliessliche
Erkennbarkeit derselben durch Erfahrung, fast in den nämlichen
Worten wie in den Schriften aus den sechziger Jahren, aufs
Nachdrücklichste gelehrt. „Cum vis non aliud sit, quam respec-
tus substantiae A ad aliud quiddara B (accidens) tanquam ra-
tionis ad rationatum: vis cujusque possibilitas non nititur iden-
titate causae et causati, s. substantiae et accidentis, ideoque etiam
irapossibilitas viriuni falso confictarum non pendet a sola con-
tradictione. Nullam igitur vim originariam ut possibilem su-
mere licet, nisi datara ab experientia, neque ulla intellectus
perspicacia ejus possibilitas a priori concipi potest" (I. 338). Selbst
das specielle Ergebniss der „Träume eines Geistersehers" findet
.sicli hier noch einmal ausdrücklich wiederholt: „quidnam vero
immaterialibus substantiis relationes externas virium tam inter se
quam erga corpora constituat, intellectum humanum plane fugit"
(I. 335).
Wie mau sieht, ist der erkenntnisstheoretische Standpunkt der
Inauguraldissertation mit demjenigen der vorhergehenden Schriften
vollkommen identisch. Hier wie dort der nämliche formale,
erkenntnisstheoretische, realistische Rationalismus: ein scharf aus-
geprägter, zwischen Wolff und Hunie in der Mitte liegender Stand-
punkt, — welchen man aber eben deshalb, je nach dem was mau
davon erwartete, in dem einen Falle für Empirismus, in dem anderen
für Wolff'schen Rationalismus ansehen konnte. Von principiellen
Revolutionen in dem Entwicklungsgange Kant's ist demnach wenig-
stens für die Zeit zwischen 1760 und 1770 keine Rede. Und
selbst der Uebergang von der Nova Dilucidatio zu den ersten
Einige Bemerkungen über die sog. einpiristische Periode Kant's. 589
Schriften aus den seclizigern Jahren kann kaum als eine solche be-
trachtet werden. Denn auch in der Nova Dilucidatio findet sich
schon die Einsicht in die Unmöglichkeit, aus dem blossen Begriffe
eines Dinges das Dasein desselben abzuleiten, mit der Anwendung
auf den ontologischen Beweis (I. 13 — 14); — ^ sowie auch die andere,
dass aus dem blossen Dasein der gegebenen Dinge sich die cau-
salen Beziehungen zwischen denselben nicht erschliessen lassen
(I. 40 — 41). Man glaubt fast die Abhandlung über die Negativen
Grössen vor sicli zu haben, wenn man in der Nova Dilucidatio
liest: „Si substantia A existit, et existit praeterea B, haec ideo
in A nihil ponere censeri potest. Fac enim in A aliquod deter-
miuare, hoc est rationem continere determinationis C; quia haec
est praedicatum quoddam relativum, non intelligibile nisi praeter
B adsit A, substantia B, per ea quae sunt ratio xou C, supponet
existentiam substantiae A. Quoniam vero si substantia B sola exi-
stat, per ipsius existentiam plane sit indeterminatum, utrum quod-
dam A existere debeat nee ne, ex existentia ipsius sola non in-
telligi potest quod ponat quicquam in aliis a se diversis, hinc
nulla relatio nullumque plane commercium" (I. 41). Andererseits
schliesst sich aber die ganze zugehörige Ausführung in bemerkens-
werther Weise an die Leibniz'sche Bekämpfung des influxus pliy-
sicus an. Es scheint mir keineswegs unwahrscheinlich, dass in
dieser das erste Ferment für die späteren Ausführungen der Sech-
zigern Jahre zu suchen wäre; doch will ich diesen Gedanken liier
nur angedeutet haben.
Es sei mir gestattet, zum Schluss noch zwei allgemeinere Gründe
für die von mir vertretene Auffassung beizubringen.
Erstens: die vollständige Uebereinstimmung zwischen der
Art und Weise, Avie in der Nova Dilucidatio, und wie in der In-
auguraldissertation das metaphysische Causalproblem gestellt und
zu lösen versucht wird (I. 40—44 und 327—329). Diese Ueber-
einstimmung fordert keine Erklärung, wenn, wie ich annehme, die
betreffenden Ansichten Kant's während der Zeit von 1755 bis 1770
im Grossen und Ganzen dieselben geblieben sind; wohl aber w-cnn
er in jenen Jahren durch einen denselben völlig entgegengesetzten
Archiv f. Geschichte d. I'hilosophie. II. "i'J
^
590 ß- Heymans,
Standpunkt wie denjenigen des Empirismus hindurchgegangen wäre.
Es gäbe wohl in der ganzen Geschichte der Wissenschaft kein
zw^eites Beispiel eines rastlos arbeitenden Denkers, der, nachdem
er einmal den Grundfehler einer Jugendanschauung klar eingesehen,
genau dieselbe Anschauung fünfzehn Jahre später, ohne neue
Gründe anzuführen und als ob Nichts geschehen wäre, wieder vor-
getragen hätte. Man bedenke doch, dass wie die Geschichte über-
haupt, so auch die Geschichte der Wissenschaft vor Allem die
psychologische Wahrscheinlichkeit zu wahren hat!
Zweitens glaube ich mich noch auf eigene Worte Kant's
berufen zu können. In den „Prolegomena" hat Kant an bekannter
Stelle über sein Yerhältniss zu Hume Rechenschaft gegeben; es sei
mir erlaubt die vielfach citirten Sätze hier noch einmal vorzu-
führen. „Ich gestehe frei: die Erinnerung des David llume war
eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen
Schlummer unterbrach, und meinen Untersuchungen im Felde der
speculativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab. Ich war
weit entfernt, ihm in Ansehung seiner Folgerungen Gehöi zu geben,
die blos daher rührten, weil er sich seine Aufgabe nicht im Ganzen
vorstellte, sondern nur auf einen Theil derselben liel, der, olnie
das Ganze in Betracht zu ziehen, keine Auskunft geben kann ....
Ich versuchte also zuerst, ob sich nicht Hume's Einwurf allgemein
vorstellen Hesse, und fand bald, dass der Begriff der Verknüpfung
von Ursache und Wirkung bei AVeitem nicht der einzige sej', durch
den der Verstand a priori sich Verknüpfungen der Dinge denkt,
vielmehr, dass Metaphysik ganz und gar daraus bestehe. Ich suchte
mich ihrer Zahl zu versichern" u. s. w. (III. 9). Daraus geht aber
hervor: erstens, dass Kant selbst den Zeitpunkt der Einwirkung
llume's unmittelbar vor der Entwerfung der transcendentalen Ana-
lytik, also jedenfalls nach dem Jahre 1770, gestellt hat; sodann,
dass er bis dahin den „dogmatischen Schlummer", in dem er be-
fangen war, fortdauern lässt. Wie wäre aber Letzteres mögli<'h,
wenn Kant wirklich schon in den Sechzigern Jahren alle Erkeiint-
niss aus reiner Vernunft verw'orfen, und nur die Erfahrung hätte
gelten lassen? — Dagegen würde sich nach meiner Auflassung die
Sache folgendermaassen verhalten. Kant ist vor 1762, unaldiängig
Einige Bemerkungen iitier die sog. empiristische Periode Kant's. ö91
von Hume. zur Einsicht gelangt, dass der Realgrund kein logischer
Grund ist, und dass die causalen Axiome sich niclit auf die logi-
schen Gesetze zurückführen lassen. Da dieselben aber dennoch
dem natürlichen Denken einleuchtend erscheinen, hat er sie für
selb.ständige reine Vernunfteinsichten gehalten, und übrigens eben
so wenig wie seine Vorgänger daran o;edacht, die reale Geltung
derselben zu bezweifeln. Zwischen 1770 und 1772 (man vergleiche
den bereits angeführten Brief an ^Marcus Hertz und die Einleitung
der Prolegomena) hat er dann Hume näher kennen gelernt; und
diese Bekanntschaft hat ihn zu der Frage geführt, mit welchem
Rechte wir denn eigentlich Uebereinstimmung der Dinge mit
unseren rein subjectiven „Vernunfteinsichten" annehmen. Aus
dieser Frage, in Verbindung mit den bereits vor 1770 erworbenen
Einsichten zur transcendentalen Aesthetik. ist dann zuletzt die
transcendentale Analytik liervorgegangen.
40*
XXXI.
Die Eostocker Kantliandschriften.
Von
Willielni Dilthey in Berlin.
HeiTii Professor Schirrmaclier zugeeignet.
I.
Acht Briefe Kants an Jakob Sigismund Beck.
Seitdem ich 7Aierst im Yerhiuf meiner Nachforsclmngen nach
den Handschriften deutscher Philosophen auf die Handschriften
Kants aufmerksam wurde, welche auf der Rostocker Bibliothek
liegen und sich durch einen sonderbaren Zufall so lange Zeit hin-
durch den Augen der eifrigsten Kantsammler und der gründlichsten
Kantkenner gänzlich entzogen hatten, haben Sie meiner Arbeit
Ihren einsichtigsten Beistand geschenkt. Sie haben aber inzwischen
einen noch näheren Anteil an den nachfolgenden Mitteilungen
gew^onnen. Denn Sie haben nun selber w eitere Handschriften Kants
in Rostock aufgefunden und gestatten mir freundlich, auch aus
diesen mitzuteilen und über sie zu berichten.
Ich beginne doch mit den beiden Handschriften, die zuerst
meine Aufmerksamkeit auf sich zogen, und von deren Existenz in
Rostock ich schon im letzten Hefte dieses Archivs Nachricht gab.
Sie stehen in einem inneren Zusammenhang mit einander. Die erste
besteht in acht Briefen Kants an seinen Schüler Jakob Sigismund
Beck. Vor nun 4 Jahren hatte der um Kant hochverdiente
Rudolf Reicke in Königsberg, welcher zusammen mit Sinteuis in
Dorpat eine Sammlung der Correspondenz Kants vorbereitet, 17
Briefe von Beck an Kant als Anhang seines Vortrags: Aus Kants
Die Rostocker Kanthanrischriften. 593
Briefwechsel (1885) mitgeteilt und eine, wenn auch kurze Ant-
wort Kants an Beck aus dem Besitz von Eduard Erdmann in Halle
einfügen können. Nun bieten die Rostocker Handschriften uner-
wartete Ergänzung, indem sie in nachstehender Reihenfolge ein-
treten. Der zweite der vorhandenen Briefe Becks an Kant ist vom
19. April 1791. Nun reiht sich ein: Kant an Beck 9. Mai 1791.
Beck an Kant: 1. Juny 1791. Kant an Beck 27. September 1791.
Beck an Kant 6. October 1791. Kant an Beck 2. November 1791.
Beck an Kant 11. November 1791. Kant an Beck 20. Januar 1792.
Beck an Kant 31. May 1792. Kant an Beck 3. Juli 1792. Beck
an Kant 8. September 1792. Kant an Beck 16. October 1792.
Beck an Kant 10. November 1792. Kant an Beck 4. Dezember
1792. Beck an Kant 30. April 1793. Kant an Beck 18. August
1793. Und zwar liegen die 7 ersten Briefe Kants im Original,
der 8te in einer eigenhändigen Abschrift Becks vor. Beck selbst
berichtet in einer letztwilligen Bestimmung den Grund hiervon.
Er hatte den 8ten Brief verschenkt. Da derselbe aber gerade jenes
]\lanuscript der ersten Einleitung zur Kritik der Urteilskraft betraf,
welches Kant an Beck und dieser an seinen Freund Professor
Francke geschenkt hatte, so schrieb Beck diesen Brief für Francke
ab „damit meinem Freunde an jener Gabe nichts fehle". So hebt
Beck selbst den Zusammenhang zwischen den Briefen und der Ab-
handlung; hervor. Die Abschriften hat Herr Dr. L. Schicker in
Rostock freundlich für mich angefertigt und Herrn Professor Schirr-
macher habe ich die Revision derselben zu verdanken.
Die Abhandlung war, nm hier den früheren Bericht zu ver-
vollständigen, ursprünglich als Einleitung zur Kritik der Urteilskraft
abgefasst. Da sie für dieses Werk zu weitläufig geworden war, sandte
Kant sie an Beck zur Benutzung für seinen erläuternden Auszug aus
(hn kritischen Schriften des Herrn Professor Kant (1793 ff.) , und
Beck veröffentlichte einen Auszug aus der Abhandlung in dem an-
gegebenen Werke. (Band 2. 1794 S. 543 — 590.) Dieser Auszug
Becks ist dann unter dem Titel „über Philosophie überhaupt" in
den ersten Band der Ausgabe Kants von Rosenkranz und Schubert
aufgenommen worden. Das Original dieses Auszugs ist nicht von
Kants Hand, jedoch von diesem vielfach verbessert und mit zahl-
594 Wilhelm Dil t he y,
reichen Randbemeikuiigen versehen. Beck selber berichtet in der
Vorrede zu seinem erläuternden Auszug aus Kants Schriften (II.
179-1): „während der Ausarbeitung desselben hatte Herr Professur
Kant die Güte, mir ein Manuscript zuzuschicken, welches eine Ein-
leitung in die Kritik der Urteilskraft enthielt, die er ehedem zu
seinem Werke bestimmt und nur ihrer Stärke wegen verworfen |^
hatte. Er iiberliess es mir in meinen Schriften davon Gebrauch
zu machen." Und die nun mitzutheilenden Briefe Kants an Beck
decken das ganze Verhältniss beider in den neunziger Jahren auf,
welches den Lehrer bestimmt hat, seinem Schüler die Handschrift
zu überlassen. Sie zeigen wie der Auszug Becks zu Stande kam.
Und die letztwillige Bestimmung Becks erweist dann, wie sie nebst
den Briefen in den Besitz Franckes übergegangen ist, aus welchem
sie die Rostocker Bibliothek empfin
lg-
Jakob Sigismund Beck und seine Stellung in der trans-
scendental p h ilosuphischen Bewegung.
In dem grossen Vorgang der Ausgestaltung unserer deutschen
Transscendentalphilosophie auf der Grundlage Kants spielt Beck
eine respectable Rolle. Als Fichte Becks „einzig möglichen Stand-
punkt, aus welchem die kritische Philosophie beurtheilt werden
muss" (1796), in seiner Einleitung in die Wissenschaftslehrc mit
der' vornehmen Miene des Gönners lobte, bezeichnete er sie als die
„beste Vorbereitung für die, welche aus meinen Schriften die
AV'issenschaftslehre studiren wollen". „Sie führt nicht auf den Weg
dieses Systems, aber sie zerstört das mächtigste Hindcrniss, das
denselben so vielen verschliosst" '). Die Marke, welche Fichte in
diesen W^orten dem Buche aufdrückte, ist ihm geblieben. Eduard
Erdmann hat zuerst darauf hingewiesen (deutsche Speculation 1, 538),
dass einer der ehrenvollsten Plätze in der Kantischen Schule Beck
gebührt. Aber sowol seine Darstellung als die Kuno Fischers
reihten Beck als ein Glied in den dialektischen Prozess ein, der
nach ihrer Ansicht von Kant zu Fichte hinführt. Die transscenden-
talphilosophische Bewegung, welche damals stattfand, hat vielmehr
') Fichte Werko 1. 444. Vergl. auch 420.
P\
Die Rostocter Kauthandschriften. 595
nach unserem heutigen Urteil in sich einen selbständigen Wert;
die Hauptpersonen in dieser Bewegung interessiren uns jede für
sich, sofern die ganze Verknotung des Problems, um welches es
sich in dem langen Streite jener Jahre handelte, sich nach ihren
verschiedenen Seiten eben in diesen verschiedenen Personen zeigt.
Fichte macht uns eben auch nur Eine Seite sichtbar.
Denn die Geschichte der deutschen Philosophie in dieser klassi-
schen Zeit unserer Literatur während des letzten Drittheils des
vorigen Jahrhunderts ist ein spannendes Drama voll von Verwicke-
lungen, welche alle auf den Voraussetzungen beruhen, unter denen
Kant und die anderen auftretenden Personen gedacht und ge-
schrieben haben. So lange diese Voraussetzungen bestanden, waren
die Verwicklungen unauflösbar. Ilamann, Herder, Jakobi zogen
in einem gewissen Umfang diese Voraussetzungen in Zweifel. Aber
sie waren Dilettanten in der Philosophie. Sie haben nicht vermocht,
diese Voraussetzungen durch wissenschaftlich haltbarere Sätze zu
ersetzen. Und das deutsche Denken, schliesslich müde einer trans-
scendentalphilüsophischen Grübelei, welche alle Wege zum Wissen
und Handeln sperrte, vollzog dann seit dem Beginn unseres Jahr-
hunderts die gewaltsame Wendung aus dem kritischen Standpunkt
in die Identitätsphilosophie, welche nur aus der Unlösbarkeit dieser
Verwickelungen unter den bestehenden Voraussetzungen verständ-
lich — und verzeihlich ist. Die Dämme, durch welche die Trans-
scendentalphilosophie das metaphysische Sinnen eingeschränkt hatte,
wurden durchbrochen.
Kant kam ans der Schule von Leibniz, Newton und W^olff",
aus der Schule der mathematischen Naturwissenschaft. Er setzte
voraus, im Erkenntnisszusammenhang sei ein System von Be-
stimmungen enthalten, welche überall gelten und allgemein aus-
gedrückt werden können. Solche Bestimmungen enthalten die
Axiome der Mathematik, die Denkgesetze und Denkformen der
reinen Logik, die Principien der Physik und Metaphysik, wie sie
Leibniz und seine Geistesverwandten ausgebildet hatten. Diese
überall im Wahrnehmuugs- und Denkzusammenhang auftretenden
allgemeinen und notwendigen Bestimmungen, unter denen alle
Einzelerfahrungen stehen, sind das logische Prius in der Ver-
596 Wilhelm Dilthey,
kettuug der menschlichen Erkcuutniss. Die Allgemeingiltigkcit des
Erfalirungswissens ist durch sie bedingt. Dass aus unseren Wahr-
nehmungen eine allgemeingiltige Erfahrungserkenntniss sich bildet,
ist durch sie ermöglicht. So haben wir in ihnen den Inbegriff
der Bedingungen . unter welche die AVahrnehmungen treten und
durch die sie in einen allgemeinen und notwendigen Zusammen-
hang gesetzt werden. Eine solche Bedingung ist die Anschauung
des Raumes: damit ich Empfindungen auf Etwas ausser mir
beziehe oder sie an verschiedeneu Orten mir vorstellen könne,
muss diese Anschauung schon zu Grunde liegen. Dann bilden eine
solche Bedingung die Verstandeshandlungen, durch welche der
Gegenstand entsteht und in den Urtheilen und Begriffen erkannt
wird: denn diese A'erbindung (conjunctio) eines Mannigfaltigen kann
niemals durch Sinne in uns von aussen liereintreten, muss also in
der verbindenden Einheit des Bewusstseins begründet sein. Ja die
grosse Frage, kraft welchen Rechtes wir diese allgemein und not-
wendig im Verstände bestehenden Beziehungen als Begriffe und
Grundsätze auf die Objekte anwenden, löst sich eben durch die
Einsicht, dass dieselbe synthetische Einheit der Apperception das
Objekt hervorgebracht hat, welche es dann in abstracto durch die
Verstandeshandlungen erkennt. In dem Zusammenhang dieser Ge-
danken hat sich die Voraussetzung, unter welcher Kants Trans-
scendentalphilosophie steht, entwickelt und befestigt.
Gleichviel wie Jemand die schwebenden Fragen über die Me-
thode Kants und den Sinn seines apriori bei sich entscheiden mag;
jedenfalls sind diese im abstrakten wissenschaftlichen Bewusstsein
enthaltenen Bestimmungen, unter denen unsere Erfahrungen stehen,
für Kant der Ausdruck der in der Eiidieit unseres Bewusstseins
wirkenden Handlungen unserer Intelligenz. So hat er im Ge-
biet des Wahrnehmens und Erkennens einen abstrakten Intellek-
tualismus durchgeführt, der weder die Existenz einer Aussenwelt,
noch die Thatsache, dass wir dieselbe unseren Begriffen zu
unterwerfen vermögen, erklären oder l)egrüuden konnte. Er hat
die menschliche Intelligenz zu einem System innerer Beziehungen
von Formen oder Handlungen gemacht, deren jede gleichsam die
aligezogenc Regel eines in der Intelligenz überall auftretenden
Die Rostocker Kanthandschriften. 597
Verhaltens verwirklicht, die sieh sonach psychologisch als Vermögen
darstellen. Jedes Rad in diesem Werk arbeitete nach Regeln;
jedes war eine vorstellende Kraft. Die primitiven Impulse des
menschlichen Daseins, der ^Ville, die Triebe waren aus diesem Er-
kenntnissvermögen Kants ausgeschlossen.
An zwei Punkten musste das System den Schülern, den
Freunden und den Gegnern als der Aufklärung und Fortbildung
bedürftig erscheinen. Der eine war das produktive Ich als hervor-
bringender Grund dieser Formen und Handlungen. Der andere das
Afficirende, welches den Stoff der Empfindungen liefert, das
Ding an sich.
Die Schüler Kants suchten ein oberstes Princip der Trans-
scendentalphilosophie. Und es ist für die Voraussetzungen des
Systems bezeichnend, dass dieses Princip zugleich oberster Grund-
satz im Zusammenhang der Erkenntniss und oberste Regel in
dem Schaffen der Intelligenz sein sollte. Reinbold fand ein
solches Princip in seinem Satz des Bewusstseins: Die Vorstellung
wird im Bewusstsein vom Vorgestellten und Vorstellendem unter-
schieden und auf beide bezogen. Fichte ging von dem Zusammen-
hang der Thathandluugen aus, in welchem ursprünglich das Ich
sein eigenes Sein setzt, diesem Ich ein Nichtich entgegengesetzt
wird und dann schliesslich innerhalb dieses Ich durch einen Akt
der Synthesis dem theilbaren Ich ein theilbares Nichtich gegenüber
tritt ^). So setzten diese und andere weniger bedeutende Philo-
sophen ihre Kraft an eine unlösbare Aufgabe. Und auch der Gegner
derTranssceudentalphilosophie, der Verfasser des Aenesidemus, ist
hierin mit ihnen einstimmig: „Dass es der Philosophie bisher noch
an einem obersten allgemein geltenden Grundsatze, welcher die
Gevvissheit aller ihrer übrigen Sätze entweder unmittelbar oder
mittelbar begründete, gemangelt habe, und dass dieselbe erst nach
der Entdeckung und Aufstellung eines solchen Grundsatzes auf die
Würde einer Wissenschaft Ansprüche machen könne: darüber bin
ich mit dem Verfasser der Elementarphilosophie vollständig ein-
'^) Grundlage der Wisseaschaftslehre I. Gruudsätze. § 1 — 3. G. W.
S. 91-123.
598 Wilhelm Dilthey, ;
verstanden." Ta Wirklichkeit giebt es aber einen solchen obersten D
Grundsatz nicht, aus welchem die Beziehungen aller allgemeinen '»
und notwendigen Wahrheiten abgeleitet werden können. Und gäbe ^jiii
es einen solchen Grundsatz, so miisste der Zusammenhang der dl
Wahrheiten durch denselben innerhalb der hochentwickelten Er- -k
kenntniss ganz unterschieden werden von dem Zusammenhang )jk^
der primitiven Vorgänge, welche der Intelligenz zu Grunde liegen. .^
Hier war nun Beck siegreich. Die Stellung, welche er in isi
dieser schwebenden Frage einnahm, war ganz im Geiste der
Transscendentalphilosophie, selbstständig, unanfechtbar. Der Anfang ;
der Philosophie kann nicht in einem obersten Grundsatz liegen.
„Die berühmten Philo.sophen in unsern Tagen, die Elementarphilo-
sophien zu gründen für nöthig erachten, geben in ihren obersten
Principien Gesetze das ist: Begriffe vom Bewusstseiu, der Vorstellung, j
der Beseelung u. s. av. Diesen Sätzen Beglaubigungen zu geben,
berufen sie sich auf Thatsachen. Wie kann man nun anders
urteilen, als dass die Thatsache selbst ein noch höheres Princip
abgeben müsse?"
Daher muss der Trans.scendentalphilusoph so beginnen wie der
Geometer. Dieser leitet seine Wissenschaft von keinem Schulbegriff
des Raumes ab, sondern er postulirt das ursprüngliche Vorstellen:
Raum, und auf dieses Raumvorstelleu gründet er seine Wissen-
schaft. Auch der Transscendentalphilosoph beginnt nicht mit einem
Satz, sondern mit einem Postulat. Er fordert seinen Leser oder
Hörer auf, sich ein Objekt ursprünglich vorzustellen; indem er
hinter die Begriffe, hinter die Subsumtion von Dingen unter Merk-
male, hinter das abstrakte Denken überhaupt zurückgeht, ergreift
er die ursprüngliche Einheit des Bewusstseins, in welcher ein Gegen-
stand auftritt und erfasst in ihr die Handlungen des ursprünglichen
Vorstellens, durch welche dieser entsteht. So besteht das Postulat,
das den Anfang der Transscendentalphilosophie ausmacht, in der
Anmuthung, sich ein Objekt ursprünglich vorzustellen und hiervon
ausgehend sich in die ursprüngliche Vorstellungsweise ül)erhaupt
zu versetzen ').
•■') Beck: Erläuternder Auszug aus den Schriften des Herrn Prof. Kant.
Ili
Die Rostocker Kanthandschriften. 599
Die Methode Becks will in den Grenzen der Voraussetzungen
seines Lehrers dessen Methode verbessern. „Diese Methode fügt
sich in die dogmatische Denkart ihres Lesers, und geht von dem
Standpunkt blosser Begrift'e aus. Nur nach und nach leitet sie die
Aufmerksamkeit auf den transscendentalen Standpunkt, und der
Leser wird allererst in der Deduction der Kategorien auf den ur-
sprünglichen Verstandesgebrauch in denselben und auf die ursprüng-
lich synthetisch-objective Einheit des Bewusstseins geleitet. Diesen
transscendentalen Standpunkt miiss man schon erreicht haben, um
die Kritik auf ihrem Wege zu demselben zu verstehen" ^). Beck
zeigt musterhaft klar, welche Nachtheile aus dem äusseren An-
schluss der Vernunftkritik an die dogmatische Begriftsphilosophie
entsprungen sind ').
Da alles Verfahren mit Begriffen auf dem ursprünglichen
Verstandesgebrauch beruht, in welchem die synthetische Einheit des
Objektes entsteht, so muss die Darstellung mit dem ursprünglichen
Vorstellen, mit den ursprünglichen geistigen Handlungen beginnen.
„Bios demjenigen Leser, der den Sta.ndpunkt der ursprüug-
lich-synthetisch-objektiven Einheit erreicht hat und der sich
darauf zu erhalten weiss, wird die Kritik aufgeschlossen seyn; und
wenn Philosophie überhaupt mehr als ein kümmerliches Gedanken-
spiel seyn soll, so muss sie diesen verständlichen Boden haben" *').
So will er den Leser gleichsam mit einem Ruck auf die Höhe des
Standpunkts erheben, auf welchem derselbe am Schlüsse der trans-
scendentalen Deduction in der Vernunftkritik sich findet. AVobei
er denn freilich erfahren musste, wie wenig zumal seine schwer-
fällige mühsame Darstellungsweise die Dunkelheit, die dieser Methode
naturgemäss anhaftet, überwinden konnte. Wusste er sich nun
in diesem seinem Verfahren mit dem Sinne der Kantschen Philo-
sophie völlig eins, so empfand er andrerseits aufs stärkste seinen
Auf Anrathen desselben. Band 3: einzig möglicher Standpunkt, aus welchem
die kritische Philosophie beurteilt werden muss. S. 120- 12(!. IG!) f. Beck
Grundriss der critischen Philosophie 1796 S. 6. 7,
*) Beck (jrundriss S. 56.
^) Beck Grundriss S. 57—70.
•^ Beck Standpunkt. S. 483,
()(X) Willielm Dilthey,
Gegensatz gegen Fichte. Er hat ihn immer als einen seichten und
unwissenden Mann angesehen. „Wahre kritische Philosophie be-
steht in der kritischen Vorsicht, aul" die ursprüngliche Synthesis in
(Umi Kategorien, wodurch ursprünglich Hegriffe allererst erzeugt
werden, aufmerksam zu seyn. Gorade eine dieser kritischen ent-
gegengesetzte Denkart athmet die Wissenschaftslehre" ^). Hier wie
überall bemerkt man, wie Beck sich, in aller Bescheidenheit, doch
vermöge seiner Kenntniss der Mathematik und der mathematischen
Naturwissenschaft besser für das Verständniss Kants ausgerüstet
wusste, als Reinhold und Fichte es waren.
Damit stimmt überein, dass sein Verständniss Kants in ent-
scheidenden Punkten dem der heutigen Kantschen Schule entspricht,
^lit sicherem Griff erfasst er den Hauptpunkt. Wir können die
Dinge nicht mit unseren Vorstellungen vergleichen, ihre Ueberein-
stimmuDg also nicht feststellen, und wenn die Dogmatiker die Be-
ziehung zwischen Vorstellungen und Dingen, das Band zwischen ihnen
festzustellen suchen, die Skeptiker, insbesondere Berkeley, diese Be-
ziehung oder dies Band verwerfen, so discutiren beide über eine Frage,
die gar keinen Sinn hat. „Wenn gefragt wird, ob der Mond Bewohner
habe, so liegt Bejahung oder Verneinung dieser Frage in der Sphäre
des Verständlichen. In der Frage nach der Verbindung zwischen
der Vorstellung und dem Gegenstande verstehe ich mich selbst
nicht" **). Der Wahrheit näher wenigstens sind Hume und Ber-
keley, weil sie das Unverständliche, das in der objektiven Realität
des Kausalbegritfs und in der Uebertragung der Eigenschaften von
Dingen in ein l^ewusstsein liegt, erkannten. Eine Wissenschaft
der Erscheinungen besteht, das heisst: das Verfahren der Wissen-
schaft, welche die Dinge durch die Kategorien bestimmt, sie in den
Urtheilen diesen subsumirt und sie so zur Erkenntniss in einem
Zusammenhang von BegrilVcn bringt, ist darum berechtigt, weil der
Verstand durch seine Handlungen (die Kategorien) ursprünglich die
objective Einlieit des Gegenstandes hervorgebracht hat: sonach durcli
0 Beck in Jacob's Annalen der Philosophie 1795 S. 122. Anonym.
A'ergloichc 2. .Jahrg. 1796 8. 402if. (ebenfalls anonym). Gegen diese beide
Besprechungen Becks dann Fichte Wr. 1. 444. 445.
^) Grundriss 17.
Die Rostocker Kanthandschriften. 601
dieselben Verstaudeshandlungeu, durch welche er sie nuuuiehr in
Begriffen (in abstracto) erkennt. Sonach ist die kritische Philo-
sophie diejenige, welche hinter den Standpunkt blosser Begriffe, durch
■welche ein Ding an sich erkannt werden soll (den Dogmatismus,
die Speculation) zurückgeht auf den Standpunkt des ursprünglichen
Yorstellens, der Handlungen, in welchen die Einheit des Objektes
entsteht, und von hier aus die Wissenschaft durch Begriffe zum
Yerständniss ihrer Selbst, zur klaren Durchbildung und zur Be-
gründung bringt. Sie erkennt, dass der analytische Zusammenhang
des Denkens einem Dinge Grösse, Realität, Substantialität, Causa-
lität nur beilegen kann, weil diese Bestimmungen in den ursprüng-
lichen Verstandeshandlungeu die synthetische Einheit des Gegen-
standes hervorgebracht haben. Die Intellektualität der Sinneswahr-
nehmungen, darauf gegründet: Wissenschaft als ein immanenter Zu-
sammenhang der Bewusstseinserscheinungen, diese Errungenschaften
der Kantschen Philosophie will Beck verwerthen und in die Natur-
erkenntuiss einführen").
Es gab einen anderen Punkt, an dem man in jenen Tagen die
Verständigung Kants mit sich selbst und die Vollendung seines
Systems herzustellen suchen musste. Seitdem Descartes die Be-
ziehung der Probleme zu einander festgestellt hatte, die von der
fiewissheit des Selbstbewusstseins hinüberleitet zur Realität und
den Bestimmungen äusserer Objekte, hatte der Nachweis der
Existenz einer Ausseuwelt die Philosophen beschäftigt. Er bil-
dete ein wichtiges Glied in der methodischen Verkettung der Fragen,
welche das Kennzeichen der modernen Philosophie ist. Turgot
disüit souvent, qu'un homme, qui n'avoit jamais regarde la question
de Texistence des objects exterieurs comme un objet difficile et
digne d'occuper notre curiosite, ne ferait jamais de progres en
Metaphysique. So erzählt Condorcet in der Lebensbeschreibung
des grossen Vorgängers von d'Alembert und Comte (1786 p. 213).
In dem System Kants war diese Frage durch folgende ein-
fache Formel beantwortet. Die Analysis der Form unsrer Intelli-
'■>) Vergl. bes. Grimdriss § 8 ff . S. 6ff. §71 ff. S. äGff Stau(l|.uiilit S. 141 ff.
l.rJ. 170. 171.
C,Q9 W i I li e 1 in D i 1 1 h e y ,
genz setzt überall die IMaterie der Empfindungen voraus, und diese
Materie der Empfindungen ist in der Heceptivität unsrer Sinnlich-
keit bedingt, durch die Art wie wir von Gegenständen afficirt
werden. So behandelte Kant dieses Afficirende einerseits als die
N'oraussetzung aller transscendentalen Analysis, andrerseits raussle
er dessen gänzliche Unerkennbarkeit behaupten. Die Schwierig-
keiten die hier entstanden, waren unter der Voraussetzung der
intellektualistischen Anschauung der menschlichen Erkenntniss
schlechterdings unauflöslich. Vergebens hat Kant selber auch
nach dem Erscheinen seiner Erkenntnisskritilv unablässig an der
Auflösung dieser Verwicklung gearbeitet"'). Es war wie Jakobi
sagte: man konnte ohne dies Ding an sich nicht in Kants System
hineinkommen, mit demselben aber nicht darin bleiben.
Die gänzliche Unmöglichkeit, auf dem Boden der Voraus-
setzungen Kants die Frage zu lösen, ist nun damals eben durch
die verschiedenen Stellungen deutlich geworden, von denen
aus sie behandelt wurde.
Reinhold, welchem bei grossem Scharfsinn immer seine scho-
lastische Erziehung anhaftete, wollte aus den Beziehungen der
Vorstellungsthätigkeit zum vorstellenden Subjekt und dem vorge-
stellten Gegenstande, sonach aus den blossen Verhältnissen der
Vorstellungen von Subjekt und Objekt im Bewustsein die Existenz
des Objektes l)ew^eisen. Sein Kunststück war der Mönche würdig,
welche den ontologischen Beweis ersonnen haben. Er analysirte
das räthselhafte Verhältniss, dass ich das Was, den Inhalt meines
Vorstellens diesem als Objekt gegenüberstelle (welches Verhältniss
in dem Satz des Bewusstseins ausgedrückt ist) durch die Begriffe
Stoff, Form, Receptivität. Spontaneität etc. und deren im Be-
wusstsein enthaltene Beziehungen. So zeigte er selbstverständlich
nur im Einzelnen, dass im Bewusstsein ein Zwang Gegenstände zu
setzen besteht. Aber dafür konnte er nur einen Scheinbeweis
liefern, dass aus diesem Zwang, Objekte im Bewusstsein zu setzen,
deren Realität in der äusseren Wirklichkeit folge. Der Hauptsatz,
•0) Vergl. jetzt auch Reicke, lose Jilätter aus Kants Naclilass S. 1)8—104,
189. 190. 200-205. 209-21 G. 2G0-2G3.
i
Die Rostocker Kanthanflseliriften. 603
um den dieser Scheinbeweis sich dreht: zu jeder Vorstellung ge-
hört deren Inhalt, ihr 'Was oder in der Sprache Reinhold's") ihr
Stoff, im Unterschied von ihrer durch das Bewusstsein bedingten
Form; durch diesen Stoft' der Vorstellung wird nun im Bewusst-
sein das repräsentirt, was der Vorstellung ausserhalb des Bewusst-
seins zu Grunde liegen muss — das Ding an sich. Der Beweis
selbst: in dem blossen Vermögen der Vorstellungen ist der be-
stimmte Inhalt derselben nicht enthalten; die blosse Beschaflenheit
des Vorstellungsvermögens ist nicht im Stande eine inhaltlich be-
stimmte Objektsvorstellung zu erzeugen; solches Hervorbringen
wäre eine Schöpfung aus Nichts; also: „Das Dasein der Gegen-
stände ausser mir ist eben so gewiss als das Dasein einer A^or-
stellung überhaupt'^)."
Welch eine andere Stellung zu dem Problem zeigte Jakobi
(1787 üb. d. transscendeutalen Idealismus)! Er erweist mit souve-
ränem Scharfsinn, dass die Schwierigkeiten in dem Begriff von
Dingen an sich unter den Voraussetzungen Kants überhaupt nicht
gehoben werden können. Dinge sind für uns vermöge der unserer
eigentümlichen Sinnlichkeit zugehörenden Form unseres Bewusst-
seins vorhanden. Aber die Annahme der Existenz von Gegen-
ständen, welche Eindrücke auf unsere Sinne machen und auf diese
Weise Vorstellungen hervorbringen, kann unmöglich objektive
Gültigkeit haben, wenn weder Raum noch Zeit, ja nicht einmal
Veränderungen des eigenen inneren Zustandes diese objektive Rea-
lität besitzen. Wenn ich die Annahme festhalte, dass Gegenstände
Eindrücke auf unsere Sinne machen, so muss ich auch den Be-
griffen von Kausalität und Dependenz den Werth realer und ob-
jektiver Bestimmungen zuerkennen. Daher kann unsere ganze
Erkenntniss für den folgerichtigen Idealismus nichts anderes sein,
als das Bewusstsein eines Zusammenhangs von Bestimmungen un-
seres eigenen Selbst. Von da trägt kein Schluss hinül)er zu irgend
etwas ausserhalb dieses Selbst'^). Aber derselbe Jakobi, welcher
so scharfsinnig einsah, wie unfähig Kant nach seinen Voraus-
") Reinholcl Theorie 299 f. 258.
'■') Reiuhold Theorie 299 ff.
•3) Jakobi W. 11, 303. 304. 306. 308. 310.
ß04 Wilhelm Dilthey,
Setzungen war, über die Erscheinungen im Bewusstsein hinauszu-
gehen, erwies sich zugleich selber ganz unfähig, diese Voraussetzung
Kants durch andere von wirklich wissenschaftlichen Charakter zu
überwinden. Das war der Unsegen des Dilettantismus in dieser
grossen Natur. Sein Glaube war ein Sprung in das unljestimmte
lyeere.
Grundverschieden davon ist die Stellung des Verfassers des
Aenesidemus, obwohl derselbe die Beweisführungen der älteren
Schulen und Jakobis l)enutzt. Dem dogmatischen Beweis des
Dinges an sich bei Reinhold tritt in Aenesidemus-Schulze die ein-
fache empirisch - skeptische Zurückziehung auf die Thatsachen des
Bewusstseins gegenüber. Kann die Kategorie von Ursache und
Wirkung jedenfalls nicht über den Kreis der Erfahrungen ange-
wandt werden, ja ist Humes Zweifel gegen die objektive Bedeu-
tung der Kausalität unwiderlegt geblieben, so dürfen wir nicht
als Ursachen für den Inhalt unserer Vorstellungen Dinge annehmen,
die ausserhalb des Vorstellens existiren. Ist der Grund für die
Form unserer Vorstellungen im Subjekt gelegen, so kann die
Annahme nicht ausgeschlossen werden, dass auch ihr Stoff durch
dies Subjekt hervorgebracht sei. Umgekehrt: wenn Dinge möglich
sind und wir von deren Eigenschaften gar nichts wissen, so
können wir auch nicht behaupten, dass die Form der Nothwendig-
keit in unseren Erfahrungen nur aus den Eigenschaften unseres
Bewusstseins erklärbar sei, zumal Zwang (Nothwendigkeit) jede
sinnliche Wahrnehmung begleitet. So bleibt nur das empirische
Studium der Thatsachen des Bewusstseins. Von diesem zu dem
äusseren Sein giebt es keinen Uebergang, und aus der Einrichtung
unseres Bewusstseins, das die Unterscheidung des Objektes als einer
Realität vom Subjekt enthält, lässt sich nicht deduciren, (hiss ihr
ein objektiv gültiger Thatbestand unabhängiger Gegenstände ent-
spricht.
Eine verblüffend neue Stellung nimmt nun in dieser Verwick-
lung Fichte ein. Er geht von dem schöpferischen Vermögen des
Ich aus. Das war der menschlich mächtigste Punkt der Trans-
scendentalphilosophie, Einheitspunkt des Denkens und Handchis:
das was Schiller bewegt hat, was Goethe in seinen späteren Jahren
Die Rostacker Kanthaudschriften. G05
immer inniger überzeugte und was Carlyle zum Transscendental-
philosophen machte. Aber er will von diesem Prinzip aus auch die
Materie der Empfindungen erklären und so den kritischen Idealismus
vollenden. Das konnte nur geschehen, indem er den die ganze Kanti-
sche Philosophie ermöglichenden und begründenden Unterschied
aufhob: den Unterschied zwischen dem Was der Empfindungen,
ihrer Einzelgegebenheit, und den in der Einheit des Selbstbewusst-
seins gegründeten, mit dem Charakter der Allgemeinheit und
Nothwendigkeit ausgestatteten Bedingungen des Bewusstseins, unter
welche diese Empfindungen einheitlich geordnet und so zu allgemein
gültigen Erfahrungen erhoben werden. Das bewusstlose Schaffen
der Einbildungskraft, in Avelchem durch eine Begrenzung der an
sicli unbeschränkten Thätigkeit die Empfindung, dies zufällige Einzel-
dasein, entsteht und nun, als unbewusst producirt, dem Ich als
ein von aussen ihm Gegebenes gegenübertritt: das war die Ver-
nichtung der ganzen Grundlage der Kant'schen Transscendental-
philosophie, wenn anders Tiefsinn durch solche heroische Ueber-
spanuung vernichtet, und nicht blos zeitweilig in Schatten gestellt
werden konnte. Nach der Aufhebung dieser Unterschiede war für
Kants Methoden, auf deren Ergebnisse Fichte sich berufen musste,
kein Platz mehr. Das Ich Eichte's musste Kant und seinen ächten
Schülern scheinen in einem Zustande von Yerrückung seine eigenen
Schöpfungen als Träume sich gegenüberzustellen, sich vor ihnen
zu entsetzen oder an ihnen zu erfreuen. Das war die Herrschaft
entweder der dichterischen Einbildungskraft oder des Wahnsinns
über das kritische Denken.
Wie anders muthet uns Heutige die Stellung an, welche sich
Maimon und Beck in dieser Verwicklung des Dinges an sich gaben.
Gelten die Voraussetzungen Kants, so ist diese Stellung allein
folgerichtig und wirklich wissenschaftlich. Dazu ist Fichte in dem,
was er mit Maimon theilt, abhängig, Beck aber hat sich seinen
Standpunkt, auch in dem, worin er sich mit Fichte berührt, selb-
ständig, ich will mich vorsichtig ausdrücken: in den wirklich worth-
vollen Punkten selbständig errungen.
Dem Salomon Maimon gebührt das grosse Verdienst, /.um
Zweck einer rechtfertigenden Kantinterpretation folgenden bedeu-
Aicliiv f. Gesdiichfe d. Pliilosopliie. U. i i
606 Wilhelm Dilthey,
tendoii Satz eingeführt zu haben, dessen sich dann Fichte bediente.
Der Grund, aus welchem die Empfindung als ein Gegebenes in uns
auftritt, liegt darin, dass sie nicht in vollständig bewussten Vor-
giingeu von uns hervorgebracht wird. So ist das Gegebene eben
nur dasjenige, dessen Ursache und Entstehungsart uns unbekannt
ist. Dasselbe ist für die bewussten Handlungen des Erkenntniss-
Vermögens gleichsam von aussen gegeben: sie finden es vor, als
ausserhalb ihrer entstanden, und es ist nicht in sie auflösbar. So
ist uns nicht nur in der Empfindung die gelbe Farbe gegeben, son-
dern Zeit und Kaum in der Anschauung ebenfalls. Nur ist die
Gegebenheit des Raumes a priori, weil er die Bedingung eines
jeden Körpers ist, die der gelben Farbe dagegen a posteriori. Dieser
und viele andere weniger einflussreiche Sätze sind aber augen-
scheinlich von Maimon der Philosophie des Leibniz entnommen.
So kann aktenmässig die Einführung der Lehre von unbewussten
Leistungen der Intelligenz in die neuere Philosophie, zunächst in
die von Fichte und Schelling. weiterhin in die Philosophie des
Unbewussten durch das Mittelglied von Salomon Maimon auf Leib-
niz zurückgeführt werden, abgesehen von anderen Verbindungs-
gliedern, welche bestehen. Aus diesem fruchtbaren und wichtigen
Satz, zusammen mit negativ wirksamen Sätzen, welche die Beden-
ken von Vertretern der älteren Schule, zumal von Jakobi und Aene-
sidemus-Schulze weiter fortführen, entsteht für Maimcn folgendes
Schlussergebniss: „alle Funktionen des Bewusstsein beziehen sich
auf einander und bestimmen einander wechselweise, aber keine be- i
zieht sich auf ein fingirtes Etwas." Das Gegebene ist Grundlage der j
vollständig bewussten Verstandeshandlungen, es befindet sich also
wol gleichsam ausserhalb des Erkenntnissvermögens, aber nicht i
ausserhalb der Intelligenz. Ein Ding an sich ausserhall) des Be- ;
wusstseiiis wäre ein Ding, das ohne Merkmal gesetzt würde: ein
Nonsens, ein Nichts.
Beck ist auch an diesem kritischen Punkte der sicherste ;
wissenschaftliche Kopf, zugleich bedächtig und doch höchst folge- ,
richtig. Es giebt — so haben wir schon oben aus seinem Stand-
punkt und seinem Grundriss ersehen — eine Wissenschaft der Er-
scheinunsen. Dieser Zusammenhang des Bewusstseins Ijegreift das :
Die Rostocker Kantliandschriften. 607
ganze Yerliiiltiiiss zwischen dem Ich nnd seinen Verstandesliand-
liiugen, den so hervorgebrachten Objekten und den Regriffen, durch
die wir sie iu abstracto denken, in sich. Ein Verhältniss des
Denkens zu Gegenständen in einem anderen Sinne, im Sinne eines
Verhältnisses des Bewusstseius zu etwas ausser ihm ist
innerhalb der theoretischen Philosophie ein Wort ohne Sinn. Beck
stand hier dicht vor dem Satz, der sich uaturgemäss eingefügt hätte:
das Verhältniss des Abbihlens oder der Aehnlichkeit, das zwischen
den Objekten und den Begriffen, durch welche sie gedacht werden,
schon vermöge der in ihnen beiden wirksamen Handlungen der In-
telligenz besteht, muss, als die natürliche Auflassung, innerhalb
der dogmatischen Philosophie die Lehre vom Abbilden der Dinge
in der Intelligenz, ihrem Entsprechen, dem Band zwischen ihnen
zur Folge haben.
Die Sinnlosigkeit dieser dogmatischen Annahme für den Trans-
scendentalphilosophen kann näher so im Einzelneu gezeigt werden.
Die Anssagen von Evidenz, Dasein oder Wirklichkeit, von einem
Etwas das afficirt, sind nur der Ausdruck von Verstandeshand-
lungen , welche die synthetische Einheit des Dinges hervorbringen
und ebenso dann in den Begriffen, durch welche dies Ding bestimmt
wird, sich manifestiren. In den Kategorien der Relation und ihrem
Schematismus entsteht Dasein, Afficiren, und ohne diese Denkbe-
standtheile hat Ding an sich keinen Sinn mehr. „Da das Prädikat:
Existenz, das wir den Gegenständen beylegen, auf dem ursprüng-
lichen Yerstandesgebrauch: Existenz in der Kategorie der Relation,
beruht, und also (welches dasselbe sagt) bloss ein Prädicat der
Gegenstände der Erfahrung ist, so hat die Frage: ob Noumena
existiren, keinen Sinn. Diese Frage verlässt die Quelle, aus welcher
alle Bedeutung und Sinn aller Fragen und Begriffe entspringen
kann, und giebt sich doch das Ansehen, als unterscheide sie sich
nicht von Fragen, welche Objekte der Erfahrung betreffen. Sie
verwechselt das Noumenou im negativen Sinn mit dem im positiven
Verstände. Denn in dem letzten ineynt man Gegenstände, die der
Verstand, nachdem man von aller Sinnlichkeit (welches so viel ist
als: vom ursprünglichen Yerstandesgebrauch) abstrahirt, erkennen,
41*
ß08 Wilhelm Dilthey,
wie sie an sich sind, (existiren)" '^). „In dem ursprünglichen
Vorstellen setze ich ein Beharrliches, woran ich mir die Zeit selbst
vorstelle, setze ich ein Etwas (Ursache), wodurch der Wechsel
meines eigenen subjektiven Zustandes, da ich nämlich ohne diese
Vorstellung war, und da ich diese Vorstellung hatte, seine Zeit-
bestimmung erhält" ' ^).
liier legt Beck gleichsam die Wurzel des Kantschen Idealis-
mus blos. Hätte Kant Recht, wären Existenz, Dingheit, Causalität
Ausdruck von blossen Verstandeshandlungen, alsdann gäbe es kein
Entrinnen: diese Merkmale von Existenz, Afficiren, Substantiaiität,
durch welche wir etwas von uns Unabhängiges constituiren, sie
würden nur die Natur der menschlichen Verstandeshandlungen aus-
drücken. Kant und Beck trennen streng die theoretische und die
praktische Philosophie. Das Ding an sich, das bei Kant in der
theoretischen Philosophie keine Stelle mehr haben sollte und bei
Beck keine mehr hat, wird dann in der praktischen Philosophie
wieder zu Ehren gebracht. Aber die primitiven Vorgänge, auf denen
die Leistungen der Intelligenz beruhen, sind eben nicht nur Vor-
stellen, blosse Intellectualität. Indem an diesem Punkte die Vor-
aussetzungen Kants überschritten werden, kommt doch erst zu sei-
nem Rechte, dass sein harter Verstand an dem Afficirenden, an
der Empfindung, als dem in der Receptivität gegebenen Stoff, an
den Dingen an sich unentwegt auch in der theoretischen Philo-
sophie festhielt. War es genug damit, diesen Bestandtheil der-
selben auszustossen? Indem man sich über die Voraussetzungen
Kants erhebt, vermag man dann erst diesen Bestandtheil zu be-
gründen.
Aber derselbe Beck musste auf Grund seiner soliden Auffassung
der Grundlagen einer Transcendentalphilosophie die Lehre, dass
der Stoff der Objekte in dem Ich seinen Grund habe, ebenfalls als ^
eine Ueberschreitiing der kritischen Grenzen ansehen. Er nahm
es sehr ironisch auf, als Fichte, dem er in Jena Ostern 1797 einen ,
Besuch abstattete, ein Gespräch damit begann: „Ich weiss es, Sie;
") Beck Gruudriss S. 44.
'^) Beck Krläiitenider Auszug III. S. \i)C>. 2. Alischn.
Die Rostocker Kanthandschriften. 609
sind meiner Meynung, dass der Verstand das Ding macht". War er
doch schon Februar 1795 in den Annalen der Philosophie Fichte
entschieden entgegengetreten. Damals freilich musste er noch das
an Jakobi erinnernde Spiel mit einer Offenbarung von Dingen an
sich im Gefühl bekämpfen. Er tadelte damals Fichte hart wegen
folgender Aeusserungen: „Die künftige Wissenschaftslehre wird wohl
dahin entscheiden, dass unsere Erkenntniss zwar nicht unmittelbar
durch die Vorstellung, aber wohl mittelbar durch das Gefühl mit
dem Dinge an sich zusammenhänge; dass die Dinge allerdings bloss
als Erscheinungen vorgestellt, dass sie aber als Dinge an sich
gefühlt werden"").
Seine Jugendjahre und der Anfang des Briefwechsels.
Jakob Sigismund Beck war den 6. August 1761 zu Marienburg
in Westpreussen geboren'^). Er studirte in Königsberg Mathematik
und Philosophie und gehörte dort zu Kants talentvollsten und
(leissigsten Zuhörern. Den Einblick in seine Jugendgeschichte er-
öffnen uns nun Briefe, welche er von dem Sommer 1789 ab an
seinen Lehrer in kindlichem Vertrauen richtete. Siebzehn solcher
Briefe haben sich erhalten und sind von Rudolf Reicke in Königs-
berg, welcher zusammen mit Friedrich Sintenis in Dorpat eine
Ausgabe des Kantischen Briefwechsels vorbereitet, herausgegeben;
auch eine Antwort Kants aus dem Besitz von Professor Erdmann
in Halle konnte hinzugefügt werden. Diese Briefe umfassen die
Jahre von 1789 — 1797. und nun treten aus den Rostocker Hand-
schriften acht Briefe Kants hinzu, welche vom Frühling 1791 bis
zum Sommer 1793 reichen.
Da sieht man nun zuerst den jungen mittellosen Mathematiker
und Philosophen sich nach einer Stellung umsehen, in welcher er
seine wissenschaftliche Laufbahn verfolgen kann. Er war aus der
Heimath nach Halle gegangen, von da nach Leipzig. Auch dort
glückte es ihm nicht. Kant hat ihm einen Empfehlungsbrief an
'«) Annalen der Philosophie 1795. S. 123.
'') Erdmann III, 1, 537 und Kiino Fischer V, 1, 162 geben Lissau bei
Öanzig an, wie Mensel, jedoch das Kirchenbuch der Rostocker Jakobi-Gemeinde
und Brüssow (Schwerin) in N. Nekrolog 18, 928 Marienburg.
010 Wilhelm Dilthey,
seinen Scliiiler Friedrich Guttlob Born mitgegeben; dieser war dort
Professor der Philosophie und liat sich später durch eine lateinische
T'ebersetzung der Kantischen Hauptwerke verdient gemacht, die
diesen in Klöstern und katholischen Schulen den Eingang erleich-
terte. Doch weiss Beck nur vom schlechten Vortrag des Mannes,
seinem Mangel an Zuhörern, und seiner Gereiztheit darüber zu be-
richten. Auch der Professor der Philosophie Carl August Cäsar
bemühte sich Kant zu studiren, obwohl er durch wunderliche
Zweifel Beck in Staunen setzte. Besonders aber konnte Beck von
dem berühmten Mathematiker Ilindenburg, den später Schelling
durch das schöne Wort schilderte: einfach wie ein Erfinder, mit-
teilen, „dass derselbe, mit der Philosophie wieder versöhnt sei, seit-
dem er Kants Schriften studire". Dagegen war der Modephilosoph
des damaligen Leipzig, Ernst Platner, ein scharfer Gegner Kants.
Ordentlicher Professor der Medicin, wusste dieser zugleich durch
seine philosophischen Vorlesungen zuerst für Leibniz, dann für einen
skeptischen Eklecticismus einen grossen Zuhörerkreis zu erwerben.
Seine Polemik gegen Kant war nicht frei von der Bitterkeit eines
Mannes, der sich mit diesem auf demselben Wege glaubte, nun
aber hinter ihm zurückgeblieben war. „Platner ist ein jämmer-
licher Mann. Sein Ich welches, wenn von Philosophie die Rede
ist. wol wenig Bedeutung hat, vernimmt der Zuhörer öfter als In-
halt und wirklich öfter als das was dieses Ich eigentlich geleistet
hat. Ohngeachtet er mich kannte und im Auditorium zu bemer-
ken schien, unterliess er doch nicht seine Zuhörer mi.sstrauisch
gegen Kantische Philosophie, deren (Jeist er vollkommen gefasst zu
haben vorgab, zu machen'^)". Durch diese Verhältnisse zwis(;hen
Kant und Platner war denn wol auch das Gesammturteil des
Kantianers ein wenig bedingt. „Reissender kann wohl nicht der
Strom der Zuhörer zu den philosophischen Hörsälen seyn , als er
hier ist, aber elender als hier kann die Art Philosophie zu lehren,
geschweige sie zu entwickeln und zum phllosophiren anzuführen,
nirgends existiren." Seine persönlichen ^^'ünsche erreichte Beck
'*) Reicke, Aus Kunt.s Briefweclisel S. 22, vergl. das übereiustiintnende ' (^t
Urteil Schelliiigs in: Aus Schellings Leben I. 3. .xl
Die Rostocker KanthandschrifteD. 611
nicht, es wollte sich ihm weder eine Ilofmeisterstelle noch Arbeit
bei einem Buchhändler aul'thun, so verliess er Leipzig.
Anfang August finden wir ihn in Berlin. Von hier erbittet
er in dem ersten Brief an Kant (1. August), welcher auch die
obigen Mittheilungen über Leipzig enthält, eine Empfehlung an den
mächtigen Gedike oder einen anderen einflussreichen Mann. Doch
ist schon der nächste Brief vom 19. April 1791 aus Halle geschrieben.
Er hat sich nun dort mit einer Dissertation über das Taylor'sche
Theorem habilitirt. Er hat an dem dortigen Professor der Mathe-
matik Kliigel einen Halt gefunden. Auch dieser zeigte, wie Ilin-
denburg, für die Philosophie Kants ein lebhafteres Interesse; „er
§agt, die Ursache, warum Sie von Freunden und Gegnern nicht
verstanden werden, ist weil diese nicht Mathematiker sind". Dann
nahm sich seiner Ludwig Heinrich Jakob an, welcher eben damals
mit 32 Jahren ordentlicher Professor der Philosophie in Halle wurde
und mit jugendlichem Eifer und vielschreiberischer Hast die Philo-
sophie Kants verkündete und vertheidigte. Derselbe verschaff"te
ihm eine Stelle am alten lutherischen Gymnasium der Stadt Halle,
an dem er selbst, bis er nun Professor wurde, unterrichtet hatte.
Diesen zweiten Brief aus Berlin (19. April 91) beantwortet nun
Kant am 9. Mai 1791, im ersten Brief den er an Beck schrieb oder
wenigstens der sich erhalten hat.
Kant an Beck (1).
Hochedelgebohrner Herr ^lagister
Sehr werthgeschätzter Freund
Die Nachricht, die Sie mir von dem Antritt Ihrer neuen Laufbahn,
nämlich der eines academischen Lehrers, geben, ist mir, zusammt
dem Geschenk Ihrer, die dazu erforderliche grosse Geschicklichkeit
hinreichend beweisenden Dissertation, sehr angenehm gewesen. Zu-
gleich aber hat sie mich auch an eine Unterlassungssünde erinnert,
die, wie ich hoffe doch wieder gut gemacht werden kan.
Ich hatte Sie nämlich, als Sie das erstemal in Halle waren,
an den Canzler Hrn. v. Hoffmann, mit welchem ich zufälliger Weise
in Correspondenz kam, nach Möglichkeit empfohlen; erfuhr aber
nachher, dass Sie Ihr damaliges Vorhaben der Promotion noch auf-
C,]2 Wilhelm Dilthey,
geschoben hätten und nach Preiissen auf ein Jahr 7An-iick gegangen
wären. Als ich nachdem hörete, dass Sie sich zum zweyten Maale
in Halle befänden, so schrieb ich abermal an den Herren v. Hoff-
mann, um, was in seinem A'ermögen wäre, zur Beförderung ihres
academischen Fortkommens beyzutragen. Dieser hochschätzungs=
würdige Manu schrieb mir darauf: „Hrn. Mag. Beck habe ich
kennen lernen, als ich von meiner Schweitzerreise zu-
rückkam; Ihm nützlich zu seyn, soll mir Wonne werden."
Er setzte hinzu: dass, ob er zwar seine Aviederholentlich gebotene
Dimission vonder Canzlerstolle erhalten und sein AVort also weder
bey der Universität Halle (von der Er sagt, dass das Interesse der-
selben Ihm jederzeit ins Herz geprägt bleibe und Er stets bemüht
seyn werde, ihr nützlich zu seyn) noch beym Oberschulcollegio viel
Nachdruck haben könne, er sich doch für einen verdienten Mann
verwenden wolle.
Nun wäre es nothwendig gewesen Ihnen hievon Nachricht zu
geben, damit Sie gelegentlich selbst an Hrn. v. Hoffmann (geheimen
Rath) schreiben und etwas, was Ihnen nützlich seyn könnte, vor-
schlagen möchten. Allein, gleich als ob ich voraussetzte, dass sie
das von selbst thun würden, oder ob ich mir es vorsetzte Ihnen
jenes zu melden und es hernach vergessen habe, so habe ich es
Ihnen zu melden unterlassen.
Meine Meynung war nehmlich: dass, da die Subsistenz. die
auf blosser Lesung von Collegien beruht, immer sehr mislich ist.
Sie gleich anderen Lehrern Ihres Orts eine Stelle beym Pädagogio
und was dem Aehnlich ist zu^^) suchen möchten die Ihnen Ihre
Bedürfnis sicher verschaffte, wozu die Verwendung des Hrn. Ge-
heimen Rath V. Hoffmann wohl beytragen könnte. — Ist es nun
dieses, oder etwas Anderes dem Aehnliches, dazu dieser würdige
Mann Ihnen behülflich werden kan, so wenden Sie sich getrost an
Ihn, indem Sie sich auf mich berufen.
Aus den Ihrer Dissertation angehängten thesilius sehe ich, dass
Sie meine Begriffe weit richtiger aufgefasst haben, als viele andere,
die mir sonst Beyfall geben. Vermuthlich würde bey der Be-
'^) Die cursiv gesetzten Worte sind in den Briefen durchstrichen.
Die Rostocker Kanthandschriften. 613
stimmtheit und Klarheit, die Sie als Mathematiker auch im Meta-
physischen Felde Ihrem Vortrage geben können, die Critik Ihnen
Stoff zu einem Collegio geben, welches zahlreicher besucht würde,
als es gemeiniglich mit den mathematischen, leider! zu geschehen
pflegt. — Hrn. Prof. Jacob bitte meine Empfehlung zu machen,
mit Abstattung meines Danks für Seine mir im vorigen Jahr mir
zugeschickte Preisschrift. Den damit verbundenen Brief habe, lei-
der! noch nicht beantwortet. Ich hoffe es nächstens zu thun und
bitte, der wackere junge Mann wolle hierinn dem 68sten Lebens-
jahre, als in welches ich im vorigen Monat getreten bin, etwas
nachsehen. Kürzlich vernahm ich von Hrn. D. und Staabsmedicus
Conradi (einem herzlichen Freunde des Hrn. Prof. Jacob) dass Er
eine A^ocation auf die Uniuersitaet Giessen bekommen habe;
worann ich jetzt zu zweifeln anfange. — Wenn Sie einige Zeit
übrig haben, so geben Sie mir, so wohl was die obige Angelegen-
heit betrift, als auch sonst von literarischen Neuigkeiten gütige
Nachricht; aber wohl zu verstehen, dass Sie Ihren Brief nicht fran-
kiren, welches ich für Beleidigung aufnehmen würde!
Gelegentlich bitte meine Hochachtung an Hrn. Prof. Kliigel zu
versichern und übrigens versichert zu seyn, dass ich mit Hochach-
tung und Freundschaft jederzeit sey
Koenigsberg d. 9. May. 1791.
Ew: Hochedelgeb. ergebenster Diener
J. Kant.
Beck antwortet den 1. Juni 1791. Er habe inzwischen seine
mathematischen Vorlesungen vor ein paar nichtzahlenden Zuhörern
begonnen: für seine philosophischen Vorlesungen hatte er keinen
Zuhörer gefunden. „Ich bin dieses schlechten Anfangs wegen aber gar
nicht muthlos. Denn ich meyne es ehrlich und glaube dass man die
Absicht zu nutzen mir anmerken werde." Der Brief des Meisters
hat „sein Gemüth gestärkt, das leider manchmal wegen Zweifel
an eigenen Kräften und Tauglichkeit niedergeschlagen ist". Auch
von der literarischen Lage über welche Kant gern von seinen
Schülern und Freunden Mittheilung empfängt, findet sich der be-
dächtige, gründliche und mit der Scrupulosität seines Lehrers
614 Willielm Dilthey,
lesende und arbeitende Beck nicht, erbaut. Er schätzt Jakob wegen
dessen guter Denkungsart, wünscht aber doch, dass ihm die Philo-
sophie mehr Sache des Herzens, als des Vorteils wäre. Die Viel-
schreiberei des Mannes macht die gute Sache vor dem denkenden
Teil des T'ublikums verdächtig, und die AfVectation seiner kritischen
W-rsiiche, als Mathematiker erscheinen zu wollen, lässt ihn ausser-
ordentliche Absurditäten begehen. Ueber Reinhold kann Beck nicht
günstiger denken. ,,Herr Professor Reiuhold will durchaus alle
Aufmerksamkeit an sich ziehen. Aber so viel ich aufgemerkt
habe, so verstehe ich doch kein Wort und sehe nichts ein von
seiner Theorie des Vorstellungsvermögens." Ja der ehrliche Beck
muss überhaupt bemerken, wie in der an Zahl und Macht wachsen-
den Genossenschaft der Kantianer Ehrgeiz und Interesse — sehr
unkantisch! — regieren. „Verehrungswürdiger Mann! Sie lieben
die Sprache der Aufrichtigkeit, und verstatten es mir Ihnen herzlich
zu l)eichten, was mir auf dem Herzen liegt. Die Kritik habe ich
gefasst. Es war mir Herzenssache sie zu studiren, und nicht Sache
des Eigennutzes. Ich habe Ihre Philosophie lieb gewonnen, weil
sie mich überzeugt. Aber luiter den lauten Freunden derselben
kenne ich keinen einzigen, der mir gefällt. So viel ich spüren
kann, ist es eitel Gewinnsucht, welche die Leute belebt, und das
ist unmoralisch und schmeckt wahrlich nicht nach Ihrer praktischen
Philosophie."
Nun ist es Kant selber gewesen, der den Bedächtigen in eben
diese schriftstellerische Betriebsamkeit der Schule hineinzog und
ihn zu der wissenschaftlichen Arbeit bestimmte, welche seine näch-
sten Lebensjahre erfüllen und ihm seine Stellung in der Geschichte
der Transscendentalphilosophie geben sollte. Der Buchhändler
Hartknoch wünschte einen Auszug aus den kritischen Schriften,
der mit selbstständigem Geiste abgefasst wäre. Kants Kennt-
niss von Beck, die von demselben erhaltenen Aeusserungen,
wie er Kants Philosophie liebgewonnen und von ihr überzeugt
worden sei, Hessen Kant in Beck den richtigen Mann erkennen.
Zwar wünschte Hartknoch einen lateinischen Auszug, und einen
solchen zu schreiben musste Beck ablehnen. Er bot bei dieser
Gelegenheit Hartknoch eine Prüfung von Keinholds Theorie des
Die Rostocker Kanthandschriften. 615
Yorstellungsverraögeiis, oder eiue Vcrgleicluing clor Philosophie
Humes mit der Kants an. Aber Kant schlägt ihm nunmehr vor,
den Auszug zunächst in deutscher Sprache erscheinen zu lassen.
Der Plan eines lateinischen Kant ist dann in anderer Art durch
Born's Uebersetzung der Kritiken verwirklicht worden. Beck nahm
dies an und so begann die Arbeit an den 3 Bänden dieses Aus-
zuges. Daneben arbeitete Beck an der Schrift gegen Reinhold,
welche zugleich die AVahrheit der Kanfschen Vernunftkritik und
die Nichtigkeit der Reinhold'schen Vorstellungstheorie erweisen
sollte.
Kant an Beck (2).
Aus beyliegendem Briefe Hartknochs an mich werden Sie,
Werthester Freund, ersehen, dass, da jener einen tüchtigen Mann
wünschte, der aus meinen critischen Schriften einen nach seiner
eigenen Munier abgefassteu und mit der Originalität seiner eigenen
Denkungsart zusammenschmeltzenden Auszug machen könnte und
wollte, ich nach der Eröfnung, die Sie mir in Ihrem letzteren
Briefe von Ihrer Neigung gaben""), sich mit diesem Studio zu be-
schäftigen, keinen dazu geschickteren und zuverlässigeren als Sie
vorschlagen konnte und Sie daher ihm vorgeschlagen habe. Ich
bin bey diesem Vorschlage freylich selber interessirt, allein ich
bin zugleich versichert, dass, wenn Sie sich von der Realität jeuer
Bearbeitungen überzeugen können, Sie wenn Sie sich einmal dar-
auf eingelassen haben, einen unerschöpllichen Quell von Unter-
haltung zum Nachdenken, in den Zwischenzeiten da Sie von Mathe-
matik (der Sie keineswegs dadurch Abbruch thun müssen) aus-
ruhen, für sich ünden werden und umgekehrt, wenn sie von der
ersteren ermüdet sind, an der Mathematik eine erwünschte Erholung
finden können. Denn ich bin theils durch eigene Erfahrung, theils,
und weit mehr, durch das Beyspiel der grössten Mathematiker
überzeugt, dass blosse Mathematik die Seele eines denkenden Mannes
nicht ausfülle, dass noch etwas anderes und wenn es auch, wie bey
Kästner, nur Dichtkunst wäre, etwas sein muss, was das Gemüth
durch Beschäftigung der übrigen Anlagen desselben theils nur er-
-*') oder; geben.
616 Wilhelm Dilthey,
quiekt, theils ihm auch abwechselnde Nahruug gielit und was kan
dazu, un(l zwar auf die ganze Zeit des Lebens, tauglicher seyn,
als die Unterhaltung mit dem, was die ganze Bestimmung des
Menschen betrift: wenn man vornehmlich Hofnung hat, dass sie
systematisch durchgedacht und von Zeit zu Zeit immer einiger baare
Gewinn darinn gemacht werden kan. Ueberdem vereinigen sich
damit zuletzt Gelehrte — so wohl als Weltgeschichte, auch verliehre
ich nicht die Hofnung gänzlich, dass. wenn üe dieses Studium gleicli
nicht der Mathematik neues Licht geben kan, diese doch umgekehrt,
hey dem Teberdenken ihrer ]\Iethodcn und hevristischen Principien.
und sammt den^'w ihnen noch anhängenden Bedürfnissen und Desi-
deraten, auf neue Eröfnuugen für die Critik und Ausmessung der
reinen Vernunft kommen und dieser selbst neue Üarstellugsmittel
für ihre abstracte Begriffe, selbst etwas der ars uniuersalis charac-
teristica combinatoria Leibnitzens Aehnliches, verschaffen könne.
Denn die Tafel der Categorien so wohl als der Ideen, unter welchen
die cosmolugische Etwas den unmöglichen Wurzeln'') ähnliches
an .sich zeigen, sind doch abgezählt und in Ansehung alles möglichen
■\'ernunitgebrauchs durch Begriffe so be.stimmt, dass, als die Mathe-
matik es nur verlangen kan, um es wenigstens mit ihnen zu ver-
suchen, wie wie viel sie, wo nicht Erweiterung, doch wenigstens
Klarheit hinein bringen könne.
W^as nun den A'orschlag des Hrn. Hartknoch betrift, so ersehe
ich, aus Ihrem mir von ihm communicirten Briefe, dass Sie ihn
nicht schlechterdings abweisen. Ich denke es wäre gut, wenn Sie
ungesäumt daran gingen, um allererst ein Schema im Grossen
vom System zu entwerfen, oder, wenn Sie sich dieses schon ge-
dacht haben, die Theile desselben: daran Sie sich noch etwa stosscn
möchten, aussuchen und mir ihre Zweifel oder Schwierigkeiten von
Zeit zu Zeit communiciren möchten, (wobey mir lieb wäre, wenn
Ihnen jemand, vielleiclit Hr. Prof. Jacob, den ich herzlich zu
grüssen bitte, behülflich wäre, aus allen Gegenschriften, [als den
i -
2') Kant fügt unter dem Text Folgendes hinzu. Wenn nach dem Grund-
satze: in der Reihe der Erscheinungen ist alles bedingt ich zum des unbe-
dingten aU jene und dem obersten Grunde des Gauzeu der Reihe strebe so
ist es als ob ich y—- suchte.
Die Rostocker Kanthandschrifteu. ßl7
Abhandlungen, vornehmlich Recensionen im Eberhardscheu Magazin,
aus den iilteren Stücken der Tübinger gel. Zeitung und wo sonst
noch dergleichen anzutreffen seyn mag] vornehmlich die mir vor-
gerückte Wiedersprüche in terminis aufzusuchen; denn ich habe
deu Misverstand in diesen Einwürfen zu entwickeln so leicht ge-
funden, dass ich sie längstens alle insgesammt in einer Collection
aufgestellt und wiederlegt haben würde, wenn ich nicht vergessen
hätte mir die jedesmal bekannt gemachte gewordene aufzuzeichnen
und zu sammeln). An die lateinische Uebersetzung kan, wenn Ihr Werk
im Deutschen herausgekommen wäre, immer noch gedacht werden.
Was die dem Hartknoch vorgeschlagene zwey Abhandlungen,
nämlich die über Reinholds Theorie des Vorstellungsvermögens und
die Gegeneinanderstellung der Humschen uud Kitschen Philosophie
betritt, (in Ansehung der letzteren Abhandl. bitte ich den Band
von seinen Phüosopli Versuchen nachzusehen, darinn sein —
Hume's — moralisches Princip anzutreffen ist, um es auch mit
dem meinigen zu vergleichen, mit w^elchem auch sein ästhetisches
daselbst angetroffen wird) so würde, wenn letztere Ihnen nicht zu
viel Zeit wegnähmen, es allerdings der Bearbeitung des ersteren
Thema vor der Hand vorzuziehen sey. Denn Reiuhold, ein sonst
lieber Mann , hat sich in seine mir noch nicht wohl fasliche
Theorie so leidenschaftlich hinein gedacht, dass, wenn es sich zu-
trüge, dass Sie in einem oder anderen Stücke, oder wohl gar in
Ansehung seiner ganzen Idee mit ihm zusamm uneins wären, er
darüber in Unzufriedenheit mit seinen Freunden versetzt werden
könnte. Gleichwohl wünsche ich wirklich, dass Sie nichts hinderte
jene Prüfung zu bearbeiten und heraus zu geben und thue dazu
den Vorschlag: dass, wenn Sie mich mit Ihrer Antwort auf diesen
meinen Brief beehren, ?/wV Sie mir auch Ihre Meynung sag darüber
sagen möchten: ob Sie wohl dazu einstimmeten, dass ich an Rein-
hold schriebe, ihn mit Ihrem Character und jetziger Beschäftigung
bekannt machte und zwischen ihnen Beyden, da sie einander so
nahe sind, eine litterärische Correspondenz, die ihm gewis sehr
lieb seyn, veranstaltete, wodurch vielleicht eine freundschaftliche
Uebereinkuntt in Ansehung dessen, was Sie über jene Materie
schreiben wollen, zu Stande gebracht werden könnte.
ßj g W i 1 li e 1 m D i 1 1 h e y , #
Das llonorarium für Ihre Arbeiten (philosophische so wohl
als iniithematische) würde ich zwischen Ihnen und Hartknoch
schon vermitteln, wenn Sie mir darüber nur einigen ^Viuk geben;
unter 5 oder 6 rthlr. den Bogen brauchen Sic ihre Arbeit ihm
nicht zu lassen.
Icli beharre mit der grössten Hochachtung und freundschaft-
lichster Zuneigung
Koenigsberg Der Ihrige
d. 27. Sept. 1791. J. Kant.
N. S. Wegen des Postporto bitte ich nochmals
mich keinesw'Cges zu schonen.
I
■^o^
Biesen Brief Kants beantwortete Beck am G. Oktober. Er
konnte Kant damals schon eine Probe seiner Schrift gegen Reinhold
senden. Das kleine Werk war in Briefen verfasst, wie das in der
damaligen philosophischen Literatur beliebt war, und sollte anonym
erscheinen. Beck versprach, Alles was Reinhold verletzen könnte
aus demselben fern zu halten. Zugleich aber war er nun auch zu
dem Auszug aus Kants Vernunftkritiken entschlossen. „Die Kritik
der r. Vernunft habe ich mit dem herzlichsten Interesse studirt,
und ich bin von ihr wie von mathematischen Sätzen überzeugt.
Die Kritik der praktischen Vernunft ist seit ihrer Erscheinung
meine Bibel." Er war auch trotz seines Widerwillens gegen
die Büchermacherei für seine Existenz auf dieselbe angewiesen.
Er wünscht nur, dass Kant wegen derselben bei den Königsberger
Collegen Kraus sein Fürsprecher sei „Seinen Unwillen fürchte
ich mehr, als den Tadel der Recensenten." Hierauf beziehen sich
denn auch Kants Scherzo im nächsten Brief.
Kant an Beck (B).
Werthester Herr Magister!
Meine Antwort auf Ihr mir angenehmes Schreiben vom 8. Oct.
kommt etwas spät, aber, wie ich holl'en will, doch nicht zu spät,
um Sie in Ihren Arbeiten aufgehalten zu haben. Meine Decanats^
und andere Geschäfte haben mich zeither aufgehalten und selbst
das Vorhaben zu antworten, mir aus den Gedanken gebracht.
f-
Die Rostocker Kautbandscliriften. ßl9
Ihre Bedenklichkeit sich um blossen Gewinnswillen dem
leidigen Tross der Biicherraacher beyzngesellen, ist ganz gerecht.
Eben so vernünftig ist aber auch Ihr Entschlus, wenn Sie glauben
dem Publicum „etwas Gedachtes und nicht Unnützes" vorlegen zu
können, Sie auch ohne den Bewegungsgrund des Erwerbs zu dem
üfl'entlichen Capital der Wissenschaft gleich Ihren V\)rfahren (deren
hinterlassenen Fonds sie benutzt haben) auch ihren Beytrag
zu thun.
Zwar hätte ich gewünscht dass Sie von den zwey Abhand-
lungen, die Sie Hrn. Ilartknoch in Vorschlag brachten, die erstere
gewählt hätten, um damit zuerst aufzutreten; weil die Theorie des
Vorstellungsvermögens des Hrn. Reinhold so sehr in dunkele Ab-
stractionen zurückgeht, wo es unmöglich wird das Gesagte in Bey-
spielen darzustellen, so, dass wenn sie auch in allen Stücken
richtig wäre (welches ich wirklich nicht beurtheilen kan, da ich
mich noch bis jetzt nicht habe hineindenken können) sie doch
eben dieser Schwierigkeit wegen unmöglich von ausgebreiteter oder
daurender Wirkung sein kan, vornehmlich aber auch Ihre Beur-
theilung, so sehr mich auch die mir gütigst zugeschickte Probe
derselben von Ihrer Gabe der Deutlichkeit auf angenehme Art
überzeugt hat, die der Sache selbst anhängende Dunkelheit nicht
wohl wird vermeiden können. — Vor allem wünsche ich dass Hr.
Reinhold aus Ihrer Schrift nicht den Verdacht ziehe, als hätte ich
Sie dazu aufgemuntert oder angestiftet; da es vielmehr Ihre eigene
Wahl ist; auch kan ich, wenigstens jetzt noch nicht Sie mit dem-
selben, wie ich Sinnes war, l)ekaunt machen, weil es ihm alsdann
leichtlich falsche Freundschaft zu seyn scheinen möchte. Uebrigens
zweifle ich gar nicht, dass der Ton Ihrer Schrift nichts für diesen
guten und sonst aufgeweckten, jetzt aber, wie mir es scheint, etwas
hypochondrischen Mann, Hartes oder Kränkendes enthalten werde.
Ihr Vorhaben Werthester Freund aus meinen critischen Schriften
einen Auszug zu machen, da Sie von deren Warheit und Nützlich-
keit überzeugt zu seyn bezeugen, ist ein für mich sehr inter-
essantes Versprechen; da ich meines Alters wegen dazu selbst nicht
mehr wohl auferlegt bin und unter allen, die diesem Geschäfte
sich unterziehen möchten, der Mathematiker niii- (Km- lieitste spvu
(520 Wilhelm Dilthey,
muss. Die Ihnen, die eigene Moral betreffende, vorgekommene
Schwierigkeiten bitte mir zu erüfnen. Mit Vergnügen werde ich
sie 7.U heben .suchen und ich hofte es leisten zu können, da ich
(las Feld derselben oft und lange nach allen Richtungen durch-
kreutzt habe.
Die mir zugesandte Probe Ihrer Abhandlung behalte ich zu-
rück, weil in Ihrem Briefe nicht angemerkt ist, dass ich sie zu-
rückschicken solle.
Aber dariun kan ich mich nicht finden; was Sie zum Schlüsse
Ihres Briefes anmerken, dass Sie ihn auf mein Verlangen für das-
mal nicht frankirten und dennoch habe ich ihn frankirt bekommen.
Thun Sie doch dieses künftig bey Leibe nicht. Der Aufwand bey
unserer Correspondenz ist für mich unerheblich für Sie aber jetzt
so wohl als noch eine ziemliche Zeit hin erheblich gnug. um die
letztere deswegen bisweilen auszusetzen welches für mich Verlust wäre.
Dass Hr. Prof. Kraus alle Gelehrte gern zu Ilagestoltzen machen
möchte, die, weil so viel Kinder bald nach der Geburt sterben,
sich unter einander bereden, lieber keine mehr zu zeugen, gehört
zu seinen fest beschlossenen Grundsätzen, von denen ihn unter
allen Menschen wold keiner weniger als ich im Stande seyn würde
ihn abzubringen. In Ansehung der Parthey, die Sic in diesem
Puncte zu nehmen haben, bleiben Sie, was mich betriff, noch
immer völlig frey. und Ich verlange mich nicht einer Autorsünde
thcilhaftig zu machen und wegen der Gewissensscrupel, die Ihnen
darül)er etwa darauss entspringen oder von andern erregt werden
möchten, die Schuld zu tragen: und bleibe übrigens mit aller
Ilochschätzung und Freundschaft
Koenigsberg Ihr
d. 2. Nov. 1791. ergebenster Diener
J. Kant.
In der Antwort auf diesen Brief vom 11. November zeigte sich
nun Beck entschlossen, die Schrift gegen Reinholds Theorie des
\'orstellungsvermögens fallen zu lassen. War ihm doch immer
deutlicher geworden, dass sie im Grunde kein Publikum habe.
Und als dann Kants Brief angekommen war, musste Beck zugleich
empfinden, wie sein Lehrer durch diese Schrift eines seiner be-
•k'
Die Rostocker Kanthandschriften. 621
freundeten Anhänger gegen den andern in eine wunderliche Lage
gebracht wurde. Dagegen lebte er von nun ab ganz in dem Werke
Kants. Und zwar legte er sogleich Kaut seine Bedenken über
eiuen Punkt vor, von welchem aus seine ganze Aulfassung der
Vernunftkritik entscheidend bestimmt werden sollte. Denn aus dem
reinen Streben einer ganz angemessenen Darstellung des Kantscheii
Systems entsprang ihm sein eigener Standpunkt. „Ich habe mich
— so beschreibt er in der Vorrede des ersten Bandes sein Ver-
halten — in dem Geist der kritischen Philosophie zu denken be-
müht. Dieses ist eine Sache mehrerer Jahre, indem ich sie in
^'erbinduug mit Mathematik als die beste Gefährtin meines Lebens
befunden habe. Auf diese Weise habe ich den Gang der Kritik
gleichsam zu meiner eigenen Gedankeustimmung gemacht, und die
Gedanken eines Andern, gleichsam als wären sie meine eigenen,
ausdrücken gelernt." So strebte er von Anfang an Kants Trans-
sceudentalphilosophie in Begriffe zu übersetzen, welche unter ein-
ander ganz einstimmig und nirgend misverständlich wären. Er
versuchte, die Begriffe, deren die Vernunftkritik in ihrem An-
fang bedarf, so zu bestimmen, dass dieselben nichts einschliessen,
was erst später begründet werden könnte. So entsteht ihm nun
schon die Definition der Anschauung als einer in Ansehung eines
Gegebenen durchgängig bestimmten objektiven Vorstellung; er findet
die Definition des Begriffs, nach welcher dieser eine in Rücksicht
auf ihren hdudt nicht durchgängig bestimmte Vorstellung ist^'Q.
Zu diesen und ähnlichen Erörterungen des Briefs vom 11. November
traten dann die eines weiteren leider verloren gegangenen Briefes
vom 9. Dezember, welche den angegebenen Gesichtspunkt noch
tiefer und genauer durchgeführt haben müssen. Das zeigt dei-
wichtige Brief vom 20. Januar 1792.
Kant an Beck (4).
Werthester Freund
Ich habe Sie auf Ihren Brief vom 9ten Dec: vorigton Jahres
lange warten lassen, doch ohne meine Schuld, weil mir dringende
22) Briefwechsel S. 30. Erläuternder Auszug 1. (1793): Vorrede 7 f., Aus-
zug S. 8.
— „..„^..,.. ... -^
ß22 Willielin Dilthey,
V
Arbeiten auf dem Halse lagen, das Alter mir aber eine sonst nicht
gefühlte Nothwendigkeit auferlegt, über einen Gegenstand, den icii
bearbeite, das Nachdenken durch keine allotria 7ai unterbrechen
bis ich mit diesem zu Ende bin; weil ich sonst den Faden nicht
mehr wohl auffinden kau, den ich einmal aus tlen Händen ge-
lassen habe. Künftig soll es, wie ich hoffe, keinen so langen Aul-
schub mehr geben. b
Sie haben mir Ihre gründliche Untersuchung von demjenigen
vorgelegt, was gerade das schweerste von der ganzen Critik ist,
nämlich nämlich die Analysis einer Erfahrung überhaupt und die
Principien der Möglichkeit der letzteren. — Ich habe mir sonst schon
einen Entwurf gemacht in einem System der Metaphysik diese
Schwierigkeit umzugehen und von den f'ategorien nach ihrer Ord-
nung anzufangen (iiachdem ich vorher blos die reine Anschauungen
von Raum und Zeit, in welchen ihnen Objecto allein gegeben
werden, vorher exponirt habe, ohne noch die Möglichkeit derselben
zu untersuchen) und zum Schlüsse der Exposition jeder Categorie,
z. B. der Quantität und aller darunter enthaltenen Prädicabilien,
sammt den Beyspielen ihres Gebrauchs nun beweise: dass sie ins-
gcsammt als Grössen vovgeste gedacht werden müssen und so mit
allen übrigen; wobey dann immer bemerkt wird, dass sie uns nur
als in Raum und Zeit gegeben vorgestellt werden. AYoraus dann
eine ganze Wissenschaft der Ontologie als immanenten Erkennt-
nisses Denkens d. i. desjenigen, dessen Begriffen man ihre objective
Realität sichern kan, entspringt. Nur nachdem in der zweyten
Abtheilung gezeigt worden, dass in derselben alle Bedingungen
der Alöglichkeit der Objecto immer wiederum bedingt seyn und
gleichwohl die Vernunft unvermeidlich aufs Unbedingte hinaus
zu gehen antreibt, wo unser Denken transcendent wird, d. i. den
Begriffen derselben als Ideen die objective Realität gar nicht ver-
schafft werden und also kein Erkenntnis der Objecto durch die-
selbe stattfinden kan; in der Dialectik der reinen Vernunft (der
Aufstellung ihrer Antinomien) wollte ich zeigen, dass jene Gegen-
stände möglicher Erfahrung als Gegenstände der Sinne die Objecto ■
nicht als Dinge an sich selbst, sondern nur als Erscheinungen zu
erkennen lassen geben und nun allererst die Deduction der Gate- p'
Die Rostocker Kanthandschriften. ß23
gorien in Beziehuug auf die siuuliche Formen von Raum und Zeit
als Bedingungen der Verknüpfung derselben zu einer möglichen
Erfahrung vorstellig machen, den Categorien selbst aber diene als
Begriffen Objecte überhaupt zu denken (die Anschauung mag von
einer Form sevn welche sie wolle) dann den auch über die Sinnen-
grentzen erweiterten Umfang, der aber kein Erkenntnis verschafft,
ausmachen. Allein hievon gnug.
Sie haben es ganz wohl getroffen, wenn Sie sagen: „Der In n-
begrif der Vorstellungen ist selbst das Object und die Handlung
des Gemüths, wodurch der Innbegrif der Vorstellungen vorgestellt
wird, heisst sie auf das Object beziehen." Nur kan man noch
hinzufügen: wie kan ein Innbegrif ! Complexus der Vorstellungen
vorgestellt werden? Nicht durch das Bewusstseyn, da.ss er uns
gegeben sey; denn ein Innbegrif u erfordert Zusammensetzen
(synthesis) des Mannigfaltigen. Er muss also (als Inbegrif) ge-
macht werden und zwar durch eine /' innere Handlung, die für
da?, ein gegebenes Mannigfaltige überhaupt gilt und a priori vor
der Art, wie dieses gegeben wird, vorhergeht d. i. er kan nur durch
die synthetische Einheit des Bewusstseyns desselben in einem Be-
griffe (vom Objecte überhaupt) gedacht werden und dieser Begrif,
unbestimmt in Ansehung der Art, wie etwas in der Anschauung
gegeben seyn mag, auf Object überhaupt bezogen, ist die Categorie.
Die blos subjective Beschaffenheit des vorstellenden Subjects, so
fern das Mannigfaltige in ilim (für die Zusammensetzung und die
synthetische Einheit desselben) auf besondere Art aber Art gegeben
ist, heisst Sinnlichkeit und diese Art (der Anschauung a priori
gegeben die sinnliche Form der Anschauung, und Beziehungsweise
auf sie werden vermittelst der Categorien die Gegenstände blos als
Dinge in der Erscheinung und nicht nach dem was sie an sich
selbst sind erkannt; ohne alle Anschauung werden sie gar nicht
erkannt, aber doch gedacht und wenn man nicht blos von aller
Anschauung abstrahirt, sondern sie sogar ausschliesst, so kan den
Categorien die objective Realität (dass sie überhaupt Etwas vor-
stellen und nicht leere Begriffe sind) nicht gesichert werden.
Vielleicht können Sie es vermeiden gleich anfänglich Sinnlich-
keit durch Receptivität. d. i. die Art der A^orstellungen wie sie im
G24 Willielm Dilthey,
Subjecte sind, so fem es an Gegenständen afficirt wird, 7A\ defiuireti
und es blas in dem setzen, was in einem Erkentnisse blos die lie-
zieliung der Vorstellung aufs Subject ausmacht, so, dass die Form
derselben in dieser Beziehung nick aufs Objeet der Anschauung
bezogen nichts mehr als die Erscheinung desselben erkennen lässt.
Dass aber dieses Subjective von nur die Art wie das Subject durch
Vorstellungen afficirt wird, mithin blos Receptivität desselben aus-
machen, liegt schon darinu dass de es blos die Bestimmung des
Subjects ist.
Mit einem Worte: da diese ganze Analysis nur zur Absicht
hat darzuthun, dass Erfahrung selbst nur vermittelst gewisser syn-
thetischer Grundsätze a priori möglich sey, dieses aber alsdann,
wenn dise Grundsätze wirklich vorgetragen werden, allererst reclit
fasslich gemacht werden kan, so halte ich für rathsam, ehe diese
aufgestellt werden, so kurz wie möglich zu Werke zu gelien. Viel-
leicht kan Ihnen die Art, wie ich hiebey in meinen Vorlesungen
verfahre, wo ich kurz seyn muss, hiezu einiger maassen behiilf-
lich seyn.
Ich fange damit an, dass ich Erfahrung durch empirisches
Erkentnis defhiire. Erkentnis al)er ist die Vorstellung eines ge-
gebenen Objects als eines solchen durch Begriffe; sie ist em-
pirisch, wenn das Objeet in der Vorstelhmg der Sinne (welche also
zugleich Empiindung und diese mit Bewusstseyn verbunden d. i.
Wahrnehmung enthält) Erkentnis aber apriori, wenn das Objeet
zwar, aber nicht in der Sinnenvorstellung (die also doch nichts
desto weniger immer sinnlich seyn kan) gegeben ist. Zum Er-
kentnis werden zweyerley Vorsteilungsarten erfordert 1) Anschauung
wodurch ein Objeet gegeben und 2) Begrif wodurch es gedacht
wird. Aus diesen zwey Erkentnisstücken nun ein Erkentnis
zu machen wird noch eine Handlung erfordert: Das Mannigfal-
tige in der Anschauug gegebene der synthetischen Einheit des
Bewusstseyns, die der Begrif ausdrückt, gemäs, zusammenzAisetzen.
Da nun Zusammensetzung 7ik-ht durch das Oliject oder die Vor-
stellung desselben in der Anschauung nicht gegeben sondern nur
gemacht seyn kan so beruht sie auf der reinen Spontaneität des
Verstandes in Begriffen von Objecteu überhaupt (der Zusammen-
Die Rostocker Kanthandschriften. 625
Setzung des Mannigfaltigeu gegebenen). Weil aber auch Begriffe,
denen gar kein Object correspondirend gegeben werden könnte,
mithin ohne alles Object nicht einmal Begriffe seyn würden u-eil
sie (Gedanken durch die ich gar nichts denke) so muss eben so
wohl a priori ein Mannigfaltiges welches für jene Begriffe a priori
gleichfalls gegeben sein desseii und zwar, weil es a priori gegeben
ist. in einer Anschauung ("ohne Ding als Gegenstand) d. i. in der
blossen Form der Anschauung, die blos subjectiv ist (Raum und
Zeit) mithin der blos sinnlichen Anschauung, deren Synthesis durch
die Einbildungskraft unter der Regel ivelch der synthetischen Ein-
heit des Bewusstseyns, welche der Begrif enthält, gemäs; da dann
die Regel auf Wahrnehmungen (in denen Dinge den Sinnen durch
Empfindung gegeben werden) angewandt, die des Schematismus der
Verstandesbegriffe ist.
Ich beschliesse hiemit meinen in Eile abgefassten Entwurf und
bitte Sich durch meine Zögerung, die durch zufällige Hindernisse
verursacht woiden, nicht abhalten zu lassen Ihre Gedanken mir,
bey jeder Veranlassung durch Schwierigkeiten, zu eröfuen und bin
mit der vurziiglichsten Hochachtung")
Der Ihrige
Königsberg '0 ^- ^^^^
d 20. Jan: 1792.
N. S. Innliegenden Brief bitte doch so fort auf die Post zu
geben.
Der folgende Brief Becks v. 31. Mai 1792 gestattet, weiter zu
verfolgen, wie Becks Standpunkt aus dem gewissenhaften Streben
allmälig erwuchs, die Vernunftkritik zu interpretiren. Er suchte
zunächst Begriffsbestimmungen, welche von den Voraussetzungen
frei sind, wie sie die Sprache der Vernunftkritik in ihrem Anfang
dogmatisch machen.
Die Kritik nennt die Anschauung eine Vorstellung, die sich
unmittelbar auf ein Objekt bezieht. Da nun aber erst durch die
23) Die letzten durch das Siegel zerstörten Buchstaben sind ergänzt.
21) Die ersten durch das Siegel zerstörten Buchstaben sind ergänzt.
ß26 Wilhelm Dilthev,
i
Anwendung rler Kategorien auf die Anschauung der objektive
Charakter derselben entsteht, sonach erst in der transscendentalen
Logik die objektive Vorstellung auftreten kann, so muss eine De-
finition der Anschauung, welche dies Merkmal der Beziehung
derselben auf das Objekt entbehrlich macht, aufgesucht werden.
80 hatte Beck schon im Brief v. 20. Jan. 1792 geschlossen. Er |^
bestimmt nun also die dort entworfene Definition genauer und hier
redet der Mathematiker, welcher an der Raumanschauung natur-
gemäss die im Denken bestimmbaren Elemente bevorzugt. „Die
Anschauung ist eine durchgängig bestimmte Vorstellung in An-
sehung des Mannichfaltigeu." Mathematik ist ihm eine „Wissen-
schaft durch Construktion der Begriffe". Und zwar wenlen die
Theile des Mannigfaltigen durch die Identität des Bewusstseins
verbunden.
"Wie nun hier Beck Sinnlichkeit und Verstand in ihrem leben-
digen Zusammenhang zu erfassen strebt, so beginnt er auch schon
von dieser Leistung die der Urtheilskraft zu trennen, welche die
Unterordnung der Anschauung vermittelst des Schema unter die
Kategorie und so die Entstehung der objektiven Einheit des Gegen-
standes bewirkt. So sagt er bereits in dem früheren Brief: „diese
Einheit" (des Mannichfaltigeu im Bewusstsein) „erhält nun in
meinen Augen den Charakter der objektiven Einheit, wenn die
Vorstellung selbst unter die Kategorie subsumirt wird". Und
nun erklärt er genauer: „die empirische Anschauung erhält nur
dadurch Objektivität, dass sie unter die Schemata der Kate-
gorien subsumirt wird." Diese Einsicht löse „die Frage, wie
es zugehe, dass die Gegenstände sich nach jenen synthetischen
Sätzen a priori richten müssen". So ist der Grundsatz, dass allen
Erscheinungen etwas Beharrliches zu Grunde liegt, darum gültig,
weil der Gegenstand erst durch diese Anwendung des Schema
der Substanzialität auf die empirische Anschauung entsteht, also
auch in abstracto dieser synthetischen Verknüpfung mich Sub-
stanz und Accidenz im nachträglichen L'rtheil unterworfen wer-
den kann. Sonach ist die „Handlung der objektiven Beziehung",
durch welche empirische Anschauung zur objektiven Einheit eines
Gegenstandes erhoben und so der Gegenstand erzeugt wird, ein l r-
I
Die Rostocker Kanthaüdschriften. 627
theileii, eine Leistung der Urtheilskraft, sofern hier die empirische An-
schauung vermittelst des Schema durch die Kategorien bestimmt wird,
aber natürlich ist dies Urtheilen unterschieden von dem, durch
welches nachher analytisch (im discursiven Denken) das Objekt
der Kategorie subsumirt wird.
Hier, in diesem Unterschiede zwischen Synthesis in der An-
schauung und ol)jektiver Beziehung oder Bestimmung der empiri-
schen Anschauung vermittelst der Kategorien liegt bei Beck der
Ausgangspunkt des von ihm angestrebten tieferen Verständnisses
vom ursprünglichen Vorstellen, in welchem der Gegenstand ent-
steht.
Man wird zunächst bemerken, wie Kants Antworten, mühsam
demselben abgerungen, Beck nichts nutzen können, weil sie sich gar
nicht in seinen Gedankengang versetzen, dann aber, wie Beck in
der eingeschlagenen Richtung weitergeht.
Kant an Beck (5).
Es ist, hochgeschätzter Freund! ganz gewis nicht Gringschätzung
Ihrer mir vorgelegten Fragen gewesen, was mich gehindert hat
Ihren letzten Brief zu beantworten, sondern es waren andere Ar-
beiten, auf die ich mich damals eingelassen hatte und mein Alter,
welches mir es jetzt nothwendig macht mein Nachdenken über eine
Materie, mit der ich mich beschäftige, durch nichts Fremdartiges zu
unterbrechen, indem ich sonst den Faden, den ich verlassen hatte,
nicht wohl wieder aufiinden kan. — Der Unterschied zwischen
der Verbindung der Verbindung der Vorstellungen in einem Begrif
und der in einem Urtheil z. B. der schwarze Mensch und der
Mensch ist schwarz, (mit andern Worten: der Mensch der schwarz
ist und und der Mensch ist schwarz) liegt meiner Meynung nach
dariun, dass im ersteren ein Begrif als bestimmt im zweyten die
Handlung meines Bestimmens dieses Begrifs gedacht wird. Da-
her haben Sie ganz recht zu sagen, dass in dem zusammen-
gesetzten Begrif die Einheit des Bewustseyns, als subjcctiv
gegeben, in der Zusammensetzung der Begriffe aber die Einheit
des Bew'ustseyns, als objectiv gemacht, d. i. im ersteren der Mensch
blos als schwarz gedacht (problematisch vorgestellt) im zweyten
628 Wilhelm Dilthey,
als ein solcher erkannt werden solle. Daher die Frage, ob ich
sagen kau: der schwarze Mensch (der schwarz ist zu einer Zeit)
ist weis (d. i. er ist weiss, ausgebleicht, zu einer anderen Zeit)
ohne mir zu wiedersprechen? Ich antworte Nein; wöil ich iceil
in diesem Urtheile den Begrif des Schwarzen in den Begrif des
Nichtschwarzen mit herüber bringe, indem das Subject durch den
ersteren als bestimmt gedacht wird, mithin, da es beydes zugleich
seyn würde, sich unvermeidlich wiederspräche. Dagegen werde ich
von eben demselben ^lenschen sagen können er ist schwarz und
auch eben dieser Mensch ist nicht schwarz (nämlich zu einer
anderen Zeit, wenn er ausgebleicht ist) weil in beyden Urtheilen
nur die Handlung des Bestimmens, welches hier von Erfah-
rungsbedingungen und der Zeit abhängt, angezeigt wird. In meiner
Crit: d. r. V. werden Sie da, wo vom Satz des Wiederspruchs ge-
redet wird, hievon auch etwas antreffen.
Was Sie von Ihrer Definition der Anschauung: sie sey eine
durchgängig bestimmte Vorstellung in Ansehung eines gegebenen
Mannigfaltigen, sagen, dagegen hätte ich nichts weiter zu erinnern,
als: dass die durchgängige Bestimmung hier objectiv und nicht als
im Subject befindlich verstanden werden müsse (weil wir alle Be-
stimmungen des Gegenstandes einer empirischen Anschauug un-
möglich kennen können), da dann die Definition doch nicht mehr
seyn würde als: sie ist die Vorstellung des Einzelneu gegebenen.
Da uns nun kein Zusammengesetztes als ein solches gegeben
werden kau, sondern wir die Zusammensetzung des mannig-
faltigen Gegebenen immer selbst machen müssen, gleichwohl aber
die Zusammensetzung als dem Objecte gemäs nicht willkührlich
seyn kan mithin wenn gleich nicht das Zusammengesetzte doch die
Form desselben^ nach der das mannigfaltige Gegebene allein zu-
sammengesetzt werden kan, a priori gegeben seyn muss: so ist
diese das blos Subjective (Sinnliche) der Anschauung, welches
zwar a priori, aber nicht gedacht (den nur die Zusammen-
setzung als Handlung ist ein l'roduct des Denkens) sondern in
uns gegeben seyn muss (Raum und Zeit) mithin eine einzelne
Vorstellung und nicht Begrif (repraesentatio communis) seyn muss.
— Mir scheint es rathsam sich nicht lauge bey der allersubtilsten
Die Rostocker Kanthandschriften. 629
Zergliederung der Elementarvorstellungen aufzuhalten; weil der
Fortgang der Abhandlung durch ihren Gebrauch sie hinreichend
aufklärt.
Was die Frage betrift: Kan es nicht Handlungeu geben, bey
denen eine Naturordnung nicht bestehen kan und die doch das
Natur Sittengesetz vorschreibt, so antworte ich, allerdings! nämlich
eine bestimmte Naturordnung z. B. die der gegenwärtigen
Welt z. B. irmn emem Hofmann muss es als Pflicht erkennen
jederzeit warhaft zu seyn, ob er gleich alsdann nicht lange Hof-
mann bleiben wird. Aber es ist in jenem Typus nur die Form
einer Naturordnung überhaupt d. i. der Zusammenhang der
Handlungen als Begebenheiten nach sittlichen Gesetzen gleich
als Naturgesetzen blos ihrer Allgemeinheit nach; denn dieses
geht die besondere Gesetze irgend einer Natur garnicht an.
Doch ich muss schliessen. — Die Übersendung Ihres Manu-
scripts wird mir augenehm seyn. Ich werde es für mich und auch
in Gemeinschaft mit H. Hofpr. Schultz durch gehen. — Hrn. Prof.
Jacob bitte ich für die Uebersendung , imgleichen die mir erzeigte
Ehre seiner Zuschrift gar sehr zu dancken; imgleichen dem
Hrn. Mag. Hoffbauer, der mir seine Analytik zugeschickt hat, da-
für zu danken und beyden zu sagen, ich würde nächstens ihre
Briefe zu beantworten die Ehre haben — Leben sie übrigens recht
glücklich — und ich verbleibe
Der Ihrige
Königsberg J Kant
d 3 July 1792
Diesen Brief Kants vom 3. Juli 1792 beantwortet Beck am
8. September. Er sendet nun an Kant das Manuscript seines Aus-
zugs aus der Kritik der reinen Vernunft, das bis zur transscenden-
talen Dialektik reicht. Er wünscht dringend, dass Kant die Dar-
stellung der transscendentaleu Deduktion der Kategorien und die
der Grundsätze durchlese. Lag hier doch für Beck übereinstimmend
mit unserer heutigen Ansicht der Schwerpunkt des Kantschcn
Werkes. Durch ein Versehen sendet Kant das Manuscript früher
als nothwendig, 15. November, zurück, dann aber folgenden Tages
630 Wilhelm Dilthey,
liest er Becks Brief nach imd ist nun bereit, den Abschnitt nach-
triiglich, wenn ihm eine Abschrift gesandt wird, durchzusehen.
Kant an Beck (6).
Königsberg d 16 Octobr. 1792
Hochgeschätzter Freund
Ich habe vorgestern d 15 Oct Ihr Mscrpt in grau Papier
eingepackt, besiegelt und A. M. B. signirt auf die fahrende Post
zur retour gegeben, aber, wie ich jetzt sehe, zu eilig; indem ich
durch einen Erinnerungsfehler statt des Novembers, vor dessen
Ablauf 8ie Ihre Handschrift zurück erwarteten, mir das Ende
Octobris, als den gesetzten termin, vorstellte und, bey der schnell
gefassten Entschliessüng den eben nahe bevorstehenden Abgang
der Post nicht zu verfehlen, es unterliess, Ihren Brief nochmals
darüber nachzusehen, und, da ich im Durchsehen der ersten Bogen
nichts Erhebliches anzumerken fand, Ihre Deduction der Cate-
gorien und Grunsätze ihrem Schicksal in gutem Vertrauen überliess.
Dieser Fehler kan indessen, wenn Sie es nöthig finden, doch
dadurch eingebracht werden: dass Sie diejenige Blätter, worauf
jene befindlich in der Eile abschreiben lassen, sie mir durch die
reitende Post eilig (versteht sich unfrankirt) iiberschicken und so
noch vor Ablauf der Zeit die Antwort von mir zurück erhalten.
— .Meinem Urtheile nach kommt alles darauf an: dass da im
empirischen Begriffe des Zusammengesetzten die Zusammen-
setzung nicht vermittelst der blossen Anschauung und deren Appre-
hension sondern nur durch die selbstthätige Verbindung des
Mannigfaltigen in der Anschauung gegeben und zwar in ein Be-
wustseyn überhaupt (das nicht wiederum empirisch ist) vorgestellt
werden kan, diese Verbindung und die Function derselben unter
Regeln a priori im Gemüthe stehen müssen, welche das reine
Denken eines Objects überhaupt (den reinen Verstandesbegrif) aus-
machen unter welchem die Apprehension des Mannigfaltigen stehen
muss, so fern es eine Anschauung ausmacht, und auch die Bedin-
gung aller möglichen Erfahrungserkentnis vom Zusammengesetzten
(oder zu ihm gehörigen) ausmacht"), die durch jene Grundsätze
■") Am Räude: d. i. darin eiue Syuthesis ist)
Die Rostocker Kanthaudschiiften. 631
ausgesagt wird. Nach dem gemeiueii Begriffe kommt die Vor-
stellung des Zusammengesetzten als solchen mit unter den Vor-
stellungen des Manngfaltigen welches apprehendirt wird, als ge-
geben vor und sie gehört so nach nichts wie es doch seyn muss
ganzlich zur Spontaneität u. s. w.
Was Ihre Einsicht in die Wichtigkeit der physischen Frage:
von dem Unterschiede der Dichtigkeit der Materien betritt, den
man sich muss denken können, wenn man gleich alle leere Zwi-
schenräume, als Erklärungsgriinde derselben, verbannt, so freut sie
mich recht sehr; denn die wenigsten scheinen auch nur die Frage
einmal recht zu verstehen. Ich würde die Art der Auflösung
dieser Aufgabe wohl darinn setzen: dass die Anziehung (die all-
gemeine, Nevvtonische,) ursprünglich in aller Materie gleich sey
und nur die Abstossuug verschiedenen verschieden sey und so
den specifischen Unterschied der Dichtigkeit derselben ausmache.
Aber das führt doch gewissermaassen auf einen Cirkel aus dem
ich nicht herauskommen kan und darüber ich mich noch selbst
besser zu verstehen suchen muss. Ihre Auflösungsart wird Ihnen
auch nicht gnug thnu; wenn sie Folgendes in Betrachtung zu
ziehen belieben wollen. — Sie sagen nämlich: Die Würkung eines
kleinen Korpers auf der Erde auf die ganze Erde ist unendlich
klein, gegen die, welche die Erde durch ihre Anziehung auf ihn
ausübt. Es sollte heissen gegen, die welche dieser kleine Körper
gegen einen anderen ihm gleichen (oder kleineren) ausübt;
denn, so fern er die ganze Erde zieht, wird er durch dieser ihren
W^iederstand eine Bewegung (Geschwindigkeit) erhalten, die gerade
derjenigen gleich ist, welche die Anziehung der Erde ihm allein
er ertheilen kan: so, dass die Geschwindigkeit desselben doppelt
so gros ist, als diejenige, welche eben der Korper erhalten würde,
wenn er selbst gar keine Anziehungskraft hätte, die Erde aber
durch den Wiederstand dieses Körpers, den sie zieht, eben so eine
doppelt so grosse Geschwindigkeit, als sie, wenn sie selbst keine
Anziehungskraft hätte, von dem jenem Körper allein würde be-
kommen haben. — Vielleicht verstehe ich aber auch Ihre Erklä-
rungsart nicht völlig und würde mir darüber nähere Erläuterung
recht lieb seyn.
632 Wilhelm Dilthey,
KöiiDteu Sie übrigens Ihren Auszug so abkürzen, ohne doch
der Vollstäudigkeit Abbruch zu thun, dass ihr Buch zur Grundlage
für Vorlesungen dienen könnte, so würden Sie dem Verleger
und hiedurch auch Sich seihst viel Vortheil verschallen; vornehm-
lich, da die Grit. d. pract. Vernuft mit dabey ist. Aber ich be-
sorge die transc. Dialectik wird ziemlich Kaum einnehmen. Doch
überlasse ich dieses insgesamnit Ihrem Gutdünken und bin mit
wahrer Freundschaft und Hochachtung
Ihr
Koenigsberg ergebenster Diener
d 16 Octobr J Kant
1792
Beck, nachdem er Kants Brief vom 16. Oktober und das
]\lanuscript zurückerhalten, lässt die Blätter abschreiben und sendet
sie mit dem Brief vom 10. November 1792 an Kant. Der nach-
folgende Brief Kants enthält dann kleine Berichtigungen zu diesen
Blättern. — Beck fügt eine Nachricht für Kant bei. Garve war
vor Kurzem in Halle; Eberhard hatte mit ihm über die kritische
Philosophie Gespräche und Garve ge.staud in diesen Eberhard zu,
dass der Idealismus Kants und der Berkeley's „ganz einerlei seien".
Sowohl Beck als Kant finden das unfasslich. — Nun zuerst schreibt
auch in dem jetzt folgenden Briefe Kant von der Einleitung in
die Kritik der Urtheilskraft, die er an Beck senden will.
Kant an Beck (7).
Da Sie mir, würdiger Mann, in ihrem Briefe vom lOten No-
vember einen Aufschub von 4 Wochen bis zu meiner Antwort ge-
lassen haben, welchen dieser Brief nur um wenig Tage übersteigen
wird, .so glaube ich beygehende kleine Anmerkungen werden nicht
zu Späth anlangen. — Iliebey muss ich vorläufig erinnern: dass,
da ich nicht annehmen kann, dass in der mir zugeschickten Ab-
schrift die Seiten und Zeilen mit Ihrer in Händen habenden eben
correspondiren werden, Sie, wenn Sie die Seite der Abschrift, die
ich citire, nach den Anfangsworten eines Perioden, die ich hier durch
Häckchen „" bemerke, nur einmal aufgefunden haben, Sie, wogender
Gleichförmigkeit der Abschrift, die correspondirende Seiten in Ihrem
Die Rostoclier Kanthandschriften. 633
Manuscript wohl auffinden werden. — Denn das mir zugeschickte
mit der fahrenden Post an Sie zAiriick zu senden würde die
Antwort an Sie gar zu sehr verweilen, sie aber mit der reiten-
den Post abzusenden ein wenig zu kostbar seyn: indem ihr letzter
Brief mit dem Mscrpt mir gerade 2 Rthlr postporto gekostet hat,
welche Kosten der Abschreiber leicht um ^j^ hätte vermindern
können, wenn er nicht so dick Papier genommen und mehr com-
press geschrieben hätte.
Seite 5 heisst es von der Eintheilung: „Ist sie aber synthetisch,
so muss sie nothwendig Trichotomie seyn". Dieses ist aber nicht
unbedingt nothwendig, sondern nur, wenn die Eintheilung 1) nach
blossen a priori, 2) nach Begriffen (nicht, wie in der i\Iathematik,
durch Construction der Begriffe) geschehen soll. So kan man z. B.
die reguläre Polyedra in fünferley Körper a priori eintheilen, in-
dem man den Begrif des Polyedri in der Anschauiig dargelegt. Aus
dem lilossen Begriffe desselben aber würde man nicht einmal die
Möglichkeit eines solchen Körpers, viel weniger die mögliche
Mannigfaltigkeit derselben ersehen,
S. — 7. Anstatt der Worte (wo von der Wechselwirkung der
Substanzen und deren Aiialogie der wechselseitigen Bestimmung
der Begriffe in disjuuctiven Urtheilen mit jener geredet wird) „Jene
hängen zusammen indem sie": Jene machen ein Ganzes aus mit
Ausschliessung mehrerer Theile indesseyi ausser demselben; im dis-
junctiven Urtheil u. s. w.
S. — 8. Statt der Worte am Ende des Absatzes „das Ich
denke muss alle Vorstellungen in derSynthesis derselben begleiten"
begleiten können.
S. — 17. Statt der Worte „Ein Verstand, dessen reines Ich
denke Ein Verstand dessen reines Ich bin u. s. w. (denn sonst
würde es ein Wiederspruch seyn zu sagen dass sein reines Denken
ein Anschauen seyn würde).
Sie sehen, 1. Fr. dass meine Erinnerungen nur vun geringer
Erheblichkeit seyn; übrigens ist Ihre Vorstellung der Deduction
richtig. Erläuterungen durch Beyspiele würden manchem Leser
zwar das Verständnis erleichtert haben; allein auf die Erspahrung
des Rauins musste auch gesehen werden.
ß;^4 Willielra Dilthey,
Hrn. Eberhards und Garven Meynung von der Identität des |«
l^erkleyschen Ideal isms mit dem criti.scheR, den ich besser das
Princip der Idealität des Raumes und der Zeit nennen könnte,
verdient nicht die mindeste Aufmerksamkeit: denn ich rede von
der Idealität in Ansehung der Form der Vorstellung: jene aber
machen daraus Idealität derselben in Ansehung der Materie d. i.
des Objects und seiner Existenz selber. — Unter dem angenom-
menen Nahmen Anesidemus aber hat jemand einen noch weiter
gehenden Scepticism vorgetragen : nämlich dass wir gar nicht wissen
können ob überhaupt unserer Vorstellung irgend etwas Anderes
(als Object) correspundire, welches etwa so viel sagen möchte,
als: Ob eine Vorstellung wohl Vorstellung sey (Etwas vorstelle).
Denn Vorstellung bedeutet eine Bestimmung in uns, die wir
auf etwas Anderes beziehen (dessen Stelle sie gleichsam in uns
vertritt).
Was Ihren Versuch betrifft den Unterschied der Dichtigkeiten
(wenn man sich dieses Ausdrucks bedienen kan) an zweyen Kör-
pern, die doch beyde ihren Raum ganz erfüllen, sich verständlich
zu machen, so muss das moment der acceleration aller Körper auf
der Erde hiebey, meiner Meynung nach, unter sich doch als gleich
angenommen werden, so: dass kein Unterschied derselben, wie
zwischen dx und dy, angetroffen wird, wie ich in meinen vorigen
Briefe angemerkt habe und die Quantität der Bewegung des einen,
gegen mit der des andern verglichen, (d. i. die Masse derselben)
doch als ungleich können vorgestellt werden, wenn diese Aufgabe
gelöset werden soll; so dass man sich so zu sagen die Masse unter
demselben volumen nicht durch die Menge der Theile sondern
durch den Grad (Jer specifisch verschiedenen Theile, womit
sie, bey eben derselben Geschwindigkeit ihrer Bewegung, doch eine
verschiedene Grösse derselben haben könne, denken könne. Denn,
wenn es auf die Menge ankäme, so müssten alle ursprünglich als
gleichartig, folglich in ihrer Zusammensetzung unter einerley Vo-
lumen nur durch die leere Zwischenräume unterschieden gedacht
werden (quod est contra hypothesin). — Ich werde Ihnen gegen
Ende dieses Winters meine Versuche, die ich hierüber be^ wärcnd
der Abfassung meiner Metaph: Anf: Grude der N. W, anstellete,
5 !t "■'
Die Rostocker Kantband^chriften. 635
die ich aber verwarf, mittheilen, ehe Sie an die Epitomirung der-
selben gehen. — Zum Hehuf Ihres kümftigen Auszugs aus der
Critik der U. Kr. werde Ihnen nächstens ein Pack des Maniiscripts
von meiner ehedem abgefassten Einleitung in dieselbe, die ich
aber blos wegen ihrer für den Text unproportionirten Weitläuftig-
keit verwarf, die mir aber noch Manches zur vollständigeren Ein-
sicht des Begrifs einer Zweckmässigkeit der Natur beytragendes zu
enthalten scheint, mit der fahrenden Post zu beliebigem Gebrauche
zuschicken. — Zum Behuf dieser Ihrer Arbeit wollte ich auch
rathen Snells, noch mehr aber Spaziers Abhandlungen, über oder
Commentarien über dieses Buch in Ueberlegung zu ziehen.
Den Titel, den Sie Ihrem Buche zu geben denken: Erläu-
ternder Auszug aus den crit: Schrifte des K. Erster Band,
der die Crit. der specul: und pract: Vernuft enthält,
billige ich vollkommen.
Uebrigens wünsche Ihnen zu dieser, so wie zu allen ihren
Unternehmungen, den besten Erfolg und l)in mit Hochachtung und
Ergebenheit
Der Ihrige
Koenigsberg J Kant
d 4ten Dec: 1792
Auf Kants Brief vom 4. Dez. 1792 antwortet Beck 30. April
1793. Der erste Band des Auszugs, welcher die zwei Vernunft-
kritiken umfasste, war nun abgeschlossen. Beck empfand dankbar,
dass diese Arbeit seine äusseren Umstände verbessert und ihm Ein-
sicht und gegründete Ueberzeuguug in Bezug auf die kritische
Philosophie verschafft habe. „Diese Philosophie ist mein grösstes
Gut und in der gegenwärtigen Beschäftigung mit ihr erkenne ich
mehr als jemals die wichtige Wohlthat, die Ihre Bearbeitungen
der Menschheit erweisen, und preise mich glücklich, weil ich in
dieser Epoche und in Umständen lebe, da ich daran Antheil neh-
men kann." Wenn er damals schon die stylistischen Fehler seiner
Arbeit lebhaft empfand und mit den Eigenthümlichkeiten des
Mathematikers entschuldigte, so hat er den tiefer liegenden Mangel
ein Jahr später, in der Vorrede zu seinem Auszug aus der Kritik
ß3f) Wilhelm Dilthey,
der Urtheilskraft. folgeudermassen ausgesprochen. Da die Kritik
erst allinälig in dem Kapitel über die transscendeutale Deduction
den Standpunkt der Transscendentalphilosophie erreichte, er aber
als Epitomator ihrem Gange folgte, so habe er dieser Philosophie
nicht die volle Deutlichkeit der Darstellung gegeben, deren sie
nach seiner Ansicht fähig war.
Schon im Frühling 1796 ist Beck dann mitten in der Dar-
stellung der Kritik der Urtheilskraft. Er hatte, belehrt durch die
Fehler des ersten Bandes, diese mehrmals durchgelesen und durch-
gedacht ehe er die Feder ansetzte und konnte nun Kant schon den
Anfang zur Prüfung senden. „Sie erlauben mir aber wohl, Sie an
das Versprechen zu erinnern, das Sie mir in Ihrem letzten Briefe
thaten, mir zur Benutzung ein paar ]Mamiscripte zuzuschicken, eins
welches die Kritik der Urtheilskraft und ein Anderes, welches die
Metaphysik der Natur angeht." Hierauf erfolgt die Uebersendung
der Einleitung in die Kritik der Urtheilskraft in einem Briefe, bei
dessen Abschrift folgende eigenhändige letztwillige Notiz Becks lag.
Erklärung Becks.
P. M.
Ich habe diese in diesem Convolut eingeschlossene Briefe von
Kant meinem Freunde dem Prof. F ran cke zugesagt, dass sie nach
meinem Tode ihm von den Meinigen gegeben werden sollen. Nun
ist aber jetzt hier ein Engländer, Herr Semple, der mich bittet,
ilmi einen dieser Briefe zu schenken. Ich werde seinen Wunsch
erfüllen. Da aber der Brief, den ich ihm schenken wmII, gerade
das mir von Kant geschenkte Manuscript einer Einleitung zu seiner
Critik der Urtheilskralt betritt, die er ihrer AVeitläuftigkeit wegen,
seinem Werke nicht vorsetzte, und icii dieses Manuscript schon
dem Professor Francke geschenkt habe, so sehe ich mich genöthigt,
diesen Brief ehe ich ihn weggebe, abzuschreiben, damit meinem
Freunde, an jener Gabe nichts fehle. Er lautet:
Kaut an Beck (8).
Königsberg den 18. Aug.
1793.
„Ich übersende Ihnen, werthester Mann! hiemit, meinem Ver-
Die Rostocker Kanthandschriften. 637
sprechen gemäss, die vordem zur Vorrede für die Critik der U. Kr.
bestimmte, uachlier aber, ihrer Weitläuftigkeit wegen, verworfene
Abhandlung, um nach Ihrem Gutbefinden, Eines oder das Andere
daraus, für Ihren concentrirten AuszAig aus jenem Buche zai be-
nutzen — zusammt dem mir durch Herrn Hofprediger Schultz zu-
gestelltem Probestück desselben.
Das Wesentliche jener Vorrede (welches etwa bis zur Hälfte
des Mspts. reichen möchte) geht auf die besondere und seltsame
Voraussetzung unserer Vernunft; dass die Natur in der Mannig-
faltigkeit ihrer Producte eine Accomodation zu den Schranken
unserer Urtheilskraft, durch Einfalt und spätere Einheit ihrer Ge-
setze und Darstellung der unendlichen Verschiedenheit ihrer Arten
(species), nach einem gewissen Gesetz der Stetigkeit, welches uns
die Verknüpfung derselben, unter wenig Gattungsbegriffe, möglich
macht, gleichsam willkührlich und als Zweck für unsere Fassungs-
kraft beliebt habe, nicht weil wir diese Zweckmässigkeit, als an
sich nothwendig erkennen, sondern ihrer bedürftig, und so auch
a priori anzunehmen und zu gebrauchen berechtigt sind, so weit
wir damit auslaugen können. — Mich werden Sie freundschaftlich
entschuldigen, wenn ich bey meinem Alter und manchen sich
durchkreuzenden vielen Beschäftigungen, auf das mir mitgetheilte
Probestück, die Aufmerksamkeit nicht habe wenden können, die
nöthig gewesen wäre, um ein gegründetes Urtheil darüber zu
fällen. Ich kann aber hierüber Ihrem eigenen Prüfungsgeiste schon
vertrauen. — Uebrigens verbleibe ich in allen Fällen, wo ich Ihren
guten Wünschen mein ganzes Vermögen leihen kann,
Ihr dienstwilligster
J. Kant"
Mit diesem Briefe endigt die Sammlung der Briefe Kants an
Beck, die wir mitteilen. Acht weitere Briefe Becks an Kant und
ein kleiner Brief Kants vom 19. November 1796 sind dann noch
in Reickes Druck enthalten. Wir verfolgen an diesem Leitfaden die
weitere Geschichte des Verhältnisses, die interessante Beziehung
Becks mit Fichte tritt dann hinzu.
4;>
Arcliiv f. Geschichte tl. Pliilosophie. U.
638 Wilhel-n Dilthey,
Der weitere Verlauf des Verhältnisses von Beck zu Kant
und sein Verhältniss zu Fichte.
Am 24. August 1793 schreibt Beck an Kant voll Begeisterung
über das Licht, welches ihm nun das Studium der Kritik der Urteils-
kraft auf die Transscendentalphilosophie geworfen hat. „Ich habe
seit der Zeit, da ich Ihren mündlichen Vortrag anhörte, sehr viel
Vertrauen zu Ihnen gehabt, aber ich gestehe auch, dass bei den
Schwierigkeiten die mich lange gedrückt haben, dieses Vertrauen
öfters zwischen dem zu Ihnen, und dem zu mir selbst gewankt
hat." Kant hat ihn mit sich selbst bekannt gemacht. So hat ihm
diese Philosophie gewährt, was einem vernünftigen Wesen das
höchste Gut sein muss. Beinahe ein Jahr nach diesem Brief,
am 17. Juni 1794"), wie sich nun seine Darstellung der Kritik
der Urteilskraft und der Anfangsgründe der Naturwissenschaft im
zweiten Bande dem Schlüsse nähert, legt er seinem Lehrer den
Plan der neuen Schrift vor, in welcher er seineu an der Inter-
pretation der drei Kritiken erworbenen Standpunkt selbstständig
entwickeln will; die Trennung bereitet sich vor.
Wir haben zwei Zeugnisse, wie sich ihm damals im Frühjahr
und Sommer 1794 sein Standpunkt darstellte: die Vorrede zum
zweiten Bande des Auszugs vom 3. April 1794 und die Briefe an
Kant vom 17. Juni und 16. September desselben Jahres. Wir
fassen das zusammen. ^'
Erster Satz. Ziel und Leistung der Transscendentalphilo-
sophie besteht im Selbstverständniss.
Zweiter Satz. Dieses ist bei Kant vielfach noch in der
Form der Begrilfsphilosophie, es sind aber die hinter den Begriffen
liegenden Handlungen überall aufzusuchen. So ist die Verstandes-
handlung, welche sich in der Kategorie der Grösse darstellt, eins
mit dem reinen Anschauen von Raum und Zeit. Und die Geo-
metrie hat es, wie Klügel u. A. von Leibniz bedingte Mathematiker
richtig annehmen, mit Formen der Grössen zu thun^^). Auch die
Denkgesetze dürfen nicht als ein Ursprüngliches betrachtet werden.
s8
■'**) Die Briefe 11 und 12 sind bei Reicke verstellt.
") Reicke Briefwechsel S. Hl.
Die Rostocker Kanthandschriften. 639
Dritter Satz. Die Methode der Darstellung, die in der Yer-
minftkritik vorliegt, niuss umgekehrt werden. Wenn die.se allmälig
aufsteigt zur transscendentalen Einheit der Apperception, in welcher
das Mannigfaltige der An.schauung zum Begriff des Objekts vereinigt
wird, so hat die neue Darstellung vielmehr von diesem Vorgang aus-
zugehen und ihn zu analysiren. „Sie führen Ihren Leser in Ihrer
Kritik der reinen Vernunft, allmählig, zu dem höchsten Punkt der
Transcendentalphilosopie , nämlich zu der synthetischen Einheit.
Sie leiten nämlich seine Aufmerksamkeit zuerst auf das Bewusst-
seyu eines Gegebenen, machen ihn nun auf Begriffe, wodurch etwas
gedacht wird, aufmerksam, stellen die Categorien anfänglich auch
als Begriffe in der gewöhnlichen Bedeutung vor, und bringen zu-
letzt Ihren Leser zu der Einsicht, dass diese Categorie eigentlich
die Handlung des Verstandes ist, dadurch er sich ursprünglich den
Begriff von einem Objekt macht, und das: ich denke ein Objekt
erzeugt^**)". Aber erst auf dem so erreichten Standpunkt der syn-
thetischen Einheit der Apperception kann die Natur des synthe-
tischen und analytischen, des a priorischen und a posteriorischen
Urteils aufgeklärt, die Möglichkeit der Erfahrung eingesehen und
die Streitfrage entschieden werden, ob das was uns zur Ding-
vorstellung afficirt als Ding an sich, oder als Erscheinung zu
denken sei. Also: der Gang der Vernunftkritik muss umgewandt
werden.
Vierter Satz. Auf diesem Standpunkt löst sich die Selbst-
täusclmng der Vernunft auf, welche im Erkennen eine A^erbiudung
der Vorstellung mit ihrem Gegenstande aufsucht, und diese Ver-
bindung entweder dogmatisch behauptet, oder skeptisch aufhebt.
Die Frage des Skeptikers: was verbindet meine Vorstellung des
Gegenstandes mit diesem? ist für den dogmatischen Philosophen
unüberwindlich. Der kritische dagegen durchschaut, dass alle Er-
kenntniss das Objekt nachträglich in abstracto denselben Verstau-
deshandlungen unterordnet, welche dasselbe im ursprünglichen Vor-
stellen erzeugt haben, und dass hierin der Rechtsgrund für alle
Construktionen der Erfalirung durch Begriffe gelegen ist.
^^) Reicke Briefweclisel S. b'dü'.
43*
(340 Wilhelm Dilthey,
^
Fünfter Satz. So beginnt der Transscendeutalphilosoph mit
einem Postulat wie der Geometer. Dieser hebt mit der Forderung
an sich den Raum vorzAistellen. Der Transscendentalphilosoph ver-
langt von seinem Leser, dass er das ursprüngliche Vorstellen in
sich erzeuge, in welchem durch die Einheit des Bewusstseius ver-
mittelst der Beilegung der Categorien das Objekt hervorgebracht
wird. Der Satz des AViderspruchs: kein Gegenstand kann durch
widersprechende Bedingungen vorgestellt werden, setzt den anderen
Satz voraus: jeder Gegenstand muss durch Beilegung gewisser Be-
stimmungen vorgestellt werden. Durch solche Beilegung wird so-
nach das Postulat des ursprünglichen Yorstellens erfüllt.
Sechster Satz.. So geht die ursprüngliche Beilegung, in
welcher der Gegenstand entsteht, der abgeleiteten regelmässig
voraus, in der durch Merkmale dieser Gegenstand, vermittelst des
Urtheils, gedacht wird, ja jene ermöglicht erst diese. Sonach
muss jede abgeleitete Beilegung auf eine ursprüngliche, auf That-
sachen (des Bewusstseius) zurückgeführt werden. In Kants AVorten:
jeder Analysis geht eine Synthesis voraus. Und wie nun Kant
weiter die Leistungen des Verstandes und die der Urthoilskraft,
die Synthesis in den Categorien und den Schematismus derselben
unterscheidet, so hat Beck diese ursprüngliche Beilegung als die
Synthesis nach den Categorien unterschieden von einer ursprüng-
lichen Anerkennung, nämlich dem Schematismus derselben. Doch
findet sich diese Laiterscheidung in der Darstellung der Vorrede
vom 3. April 1794 und des Briefes vom 17. Juni noch nicht, son-
dern tritt uns zuerst in dem Brief vom IG. September entgegen.
Ein Fall von sehr grossem Interesse. Der Entwurf Becks, den
diese vom 3. April 179-4 datierte Vorrede mitteilt, entstand aus
dem Streben, die Transscendentalphilosophie Kants aufzuklären und
von Widersprüchen zu befreien. In demselben April 1794 bc-
schloss Fichte den Vortrag der Wissenschaftslehre vor den Züricher
Freunden; er siedelte nach Jena über und veröffentlichte sein Pro-
gramm: „Begriff der Wissenschaftslehre". Sein Entwurf war aus
demselben Streben entstanden, die Transscendentalphilosophie Kants
klar, folgerichtig und widerspruchsfrei zu machen, und er war mit
dem Becks in auffallender L^bereiustimmung. Die gänzliche Unab-
Die Rostocker Kanthandschriften. 641
hängigkeit beider Männer von einander innerhalb der dargelegten
Grundzüge leuchtet ein.
Ist aber Beck von Fichte ebenso unabhängig in allen weiteren
Ausführungen seiner Standpunktslehre von 1796? Bevor wir diese
Frage zu beantworten suchen, werfen wir einen Blick auf das Ver-
halten Kants zu Beck.
Kant alterte ungewöhnlich früh. Nach der systematischen Ver-
fassung seines Geistes grenzte er voneinander Vermögen ab, inner-
halb deren er Regeln des inneren Wirkens und Formen des Ver-
haltens annahm; er Hess diese Vermögen maschinenartig, gleich-
sam in festen räumlichen Abständen und von da ineinander greifend
zusammenwirken. Der Fluss seiner Gedanken erstarrte ungewöhnlich
früh in solcher abgezirkelten Anordnung von Begriffen. Den Scrupeln
Becks hatte er nur die eigenen geschlossenen Sätze gegenübergestellt.
Nie hatte er den Werdenden zu verstehen gesucht, wie hätte
er vermocht ihn zu leiten! Seitdem nun aber in Beck ein selbst-
ständiger Standpunkt sich geltend machte, schwieg Kant sich völlig
aus. Der letzte Brief, den wir mitteilen konnten, war vom 18. August
1793. Dann ist erst vom 19. Nov. 1796 eine flüchtige Zeile Kants
da. Beck empfand das. Als er Kant Juni 1794 den Plan des „ein-
zig möglichen Standpunktes" vorgelegt hatte, knüpfte er die Frage
daran: „Was urtheileu Sie wohl davon? Ihr Alter drückt Sie und
ich will Sie gar nicht bitten, mir hierauf zu antworten, obwohl ich
gestehen muss, dass Ihre Briefe mir die kostbarsten Geschenke sind."
Im nächsten Brief (Sept. 94) hatte er geschrieben : „meine Briefe
mögen Ihnen vielleicht lästig sein." Noch förmlicher 17. Juni 95:
„ich ergreife die Gelegenheit, einen Brief an Sie zu bestellen, weil
ich mich versichert halte, dass Sie freundschaftlich gegen mich ge-
sinnt sind." Dass Kant sich in dieser Zeit völlig ausschwieg"),
bestätigen die Zeilen, in denen er 19. Nov. 1796 wieder anknüpft.
„Sie haben mich mit verschiedenen Ihnen Ehre bringenden Schriften,
zuletzt noch mit dem Grundrisse der crit. Phil, beschenkt und ich
mache mir darüber Vorwürfe, die in ihren Briefen an mich ge-
richtete Anfragen, Entwürfe und Nachrichten, so angenehm sie mir
29"
') Dagegen beweist der Brief Kants 17. Nov. 1796. Verloren gegangen.
ß42 Wilhelm Dilthey,
auch allemal waren, durch keine Autwort erwiedert zu haben. —
Werfen Sie immer die Schuld auf die Unbehaglichkeit meines
Alters, dessen übrigens sonst ziemliche Gesundheit doch nicht, wie
bei einem Kaestner, durch körperliche Stärke unterstützt wird und
mich, da ich immer beschäftigt seyu muss, durch seine Launen
unaufhörlich abzubrechen und mit Beschäftigungen zu wechseln
uöthigt."
Gerade in dieser Zeit festigte sich andererseits innerlich und
äusserlich die Position Becks. Die ersten Jahre seines Aiifent-
lialts in Halle waren: „von mancherlei Kümmernissen begleitet."
„Jetzt wird derselbe von Tag zu Tag heiterer". „Fünf Jahre war
er den Studirenden ein wahrer Obskurus." Jetzt erfreut er sich
ihres Beifalls. Er hat sich von der Schule freimachen und seine
Schulden abtragen können. Er hat viele und herzliche Freunde'").
Das war schon ehe seine Ilauptschrift von 1796 erschien. Die
Vorrede derselben ist vom Aug. 1795 und sie trägt dann die
Jahreszahl 1796. Mit ihr war nun seine Stellung in der philo-
sophischen Welt entschieden.
Hierzu trug Fichte nicht wenig bei, zu welchem nunmehr Beck
in ein ebenfalls recht zusammengesetztes Vcrhältniss trat. Nach
dem Programm der Wissenschaftslehre war die breite, wenig geniess-
bare Grundlage der Wissenschaftslehre erschienen, deren Vorrede von
der Ostermesse 1795 datirt ist, und dem Werke Becks folgte dann 1797
die schöne erste Einleitung in die Wisseuschaftslehre. Wie stellen
sich nun beide Männer zu einander? Beck besprach sofort in Jakobs
Annalen, dem Organ der Kantianer (Febr. 1795) Fichtes Begriff
sowie dessen Grundlage der Wissenschaftslehre''). Hier fertigte
er Fichtes Aeusserungen über mathematische Gegenstände mit
gebührendem Spotte ab. Doch zeigte er nicht das Talent, sich in
den Mittelpunkt der Lehre desselben zu versetzen und ihn so wirk-
lich zu kritisiren. „Wir glauben, so lautet sein derbes Schluss-
^^) Reicke Briefwechsel S. 56.
'') Dass diese anonyme Recension Annalen Stück 16. 17. 18, sowie die
Recension der Grundlage des Naturrechts Annalen 1796 S. 400—421 von Beck
sei, erschliessc ich aus dem Styl und dem Inhalt derselben, zusammen-
genommen mit der nachher berührten Aeusseriing Fichtes W. 1. 444 f.
I
Die Rostocker Kanthandschriften. 643
urteil, jeden Leser der wie ein Mann denkt durch die bisherige
Beurteilung und Darstellung der Fichteschen Einfälle von ihrem
gänzlichen Unwerth überzeugt zu haben. Ein ungereimtes Märchen
ist in Wahrheit etwas ganz leidlicheres, als eine überfeine Philo-
sophie von dieser Art, weil in jenem die Ungereimheit selbst doch
noch unterhalten kann, diese aber gar nichts zu denken verstattet" ^^).
Die im zweiten Heft des Jahrgangs 1796 enthaltene Anzeige der
Rechtslehre war massvoller. Becks Schrift war nun abgeschlossen
und er empfand die Verwandschaft mit der eigenen Ansicht, wenn
nach Fichte das Ich kein Vermögen ist, sondern Handlung, wenn
es die Sinnenwelt ausser sich setzt und bestimmt ^^). Im Uebrigen
stiess ihn auch dies Buch durchweg ab. Fichte seinerseits kannte
Beck als den Verfasser der Recension, hob ihn aber dennoch in
der ersten Einleitung 1797 aus allen Kantianern hervor. Kant
war nach ihm bisher ein verschlossenes Buch, „abgerechnet
einen neuerlich gegebenen Wink" ^*). Dass hier Becks Schrift ge-
meint sei, zeigt die nachfolgende ausführlichere Stelle, in welcher er
„dem Manne, der sich aus der Verworrenheit des Zeitalters sclbst-
^tändig zur Einsicht erhoben, dass die Kanntische Philosophie keinen
Dogmatismus, sondern einen transscendentalen Idealismus lehre und
dass nach ihr das Objekt weder ganz noch halb gegeben, sondern
gemacht werde, öffentlich seine Hochachtung bezeugt und es von
der Zeit erwartet, dass er sich noch höher erhebe" ^^). Doch tadelte
er, dass Beck diesen theoretischen Idealismus, der das Ding an sich
verwirft und nur einen Zusammenhang von im Bewusstsein auf-
tretenden Erscheinungen kennt, gänzlich von der Moralphilosophie
trennte, welche dann doch die intelligible Welt wiederherstellte.
Und er „bedauert Beck wegen der Eilfertigkeit, mit der er in einer
Gesellschaft, für die er zu gut ist, über Bücher herfährt, die er
nicht versteht".
In den Osterferien 1797, nachdem Becks Buch erschienen und
Fichtes Einleitung in die Wissenschaftslehre, mit der Stelle über
32) Jakobs Annalen 1795. S. 142.
33) Jakob Annalen 1796 S. 407f.
3*) Fichte W. 1. 419.
3S) Fichte W. 1. 444 f.
644 Wilhelm Dilthey,
diesen darin, geschrieben war, besuchte Beck in dem Halle benach-
barten Jena Fichte. Er hat Kant über den Besuch berichtet. Der
nüchterne, in seinen tief erwogenen Gedankenkreis eingeschränkte,
unbehülfliche Mann hatte das Gefühl, Fichte wolle ihn als „auf dem-
selben Wege befindlich" für seine Schule „in Anspruch nehmen"
und „berücken". Fichte begann das Gespräch: „ich weiss es Sie
sind meiner Meinung, dass der Verstand die Dinge macht". „Er
sagte mir manche närrische Sachen und vielleicht ist er, da ich
meinen Mann bald durchsah, noch von Niemanden durch freund-
liche Antworten so verlegen gemacht worden als durch mich".
Auch der Hauptunterschied zwischen ihnen, wie ihn Fichte im
Journal hervorgehoben hatte, kam zur Sprache.
Nach Fichte wird alle Realität durch die Einbildungskraft her-
vorgebracht. In dieser findet vermöge einer gleichsam rückläufigen
Thätigkeit BegrenzAing, Bestimmung statt. Dem entspricht, dass
Fichte die Unterscheidung der Intelligenz, die nach Kant in Ver-
bindung und Verallgemeinerung wirkt, von dem Willen, der das
Bestimmte, Partikulare setzt, in seinem neuen System aufhebt.
AV^ille, Einbildung und Verstand rinnen so in trübem Gemenge
durcheinander. In dieser Hervorhebung der Einbildungskraft (vor-
gebildet bei Leibniz) lag doch ein originales Element des Fichte-
schen Denkens, das dem ästhetischen Zeitalter entsprach. Aber
zugleich wurde durch diese Wendung die Grundlage der ganzen
Transcendentalphilosophie aufgehoben; Fichte sägte den Ast selber
ab, auf dem er sass.
Beck hatte in seiner Hauptschrift von 1796 und dem im selben
Jahre erschienenen GriuKhüss der kritischen Philosophie zu den bis-
her dargestellten , dauernd interessanten Gedanken andere hinzu-
gefügt, die sich der Lehre Fichtes näherten, mit der Grundlage
Kants unverträglich waren und so von ihm auch nicht festgehalten
worden sind.
Die Intention im Grossen, in der er ganz selbstständig mit
Fichte zusammentrifft, ist gesund. Wie Fichte will er in die Tiefen
des bewusstlosen Schaffens dringen, hebt heraus, dass die hier
stattfindenden Vorgänge Handlungen sind, will diese erfassen,
nicht aber Begriffe der Vermögen voneinander abgrenzen. So will
Die Rostocker Kanthandschriften. 645
er die Philosophie auf Thatsachen (des Bewusstseins) gründen, nicht
auf Begrifte^"). Er möchte erfassen, wie das synthetische Vermögen
Raum, Zeit und Kategorien erwirkt. Sinnlichkeit und Verstand
gehören ihm demselben Zusammenhang dieses Vermögens an. Immer
wieder hebt er das Merkmal des Selbstververständnisses an der
Transscendentalphilosophie hervor.
Wie aber hat nun Beck das ursprüngliche Vorstellen erfasst,
in welchem das Objekt entsteht? Dieses wird in der Einheit des
Bewusstseins durch die Vcrstandeshandlungen, deren Ausdruck
die Kategorien sind, vermittelst der so entstehenden ursprünglichen
Synthesis und ursprünglichen Anerkennung hervorgebracht.
Synthesis und Anerkennung sind innerhalb jeder Verstandeshand-
lung (Kategorie) zusammengehörige Vorgänge, deren Ineinander-
greifen die Entstehung des Objektes bewirkt.
So ist die Kategorie der Grösse „die ursprüngliche Zusam-
mensetzung (Synthesis) des Gleichartigen, welche von den Theilen
zum Ganzen geht: der Raum selbst""). Diese Synthesis ist An-
schauen'-), Anschauen und sinnliches Anschauen sind dasselbe.
Erst indem ich nun dieses reine Anschauen mir vorstelle, entsteht
die abgeleitete Vorstellung oder der Begriff des Raumes. Man
sieht, dass hier Beck im Einverständniss insbesondere mit dem
Ilalleschen Mathematiker Klügel die durch die Trennung von Sinn-
lichkeit und Verstand charakterisirte Seite der Kantschen Raumlehre
aufhebt. Ich betrachte ein Haus. Das Erste ist die Synthesis,
in welcher der Raum erzeugt wird, vielmehr welche der Raum
selber ist"). Nun macht Beck den folgenden Uebergang vom
Raum zur Zeit, zu dem Schematismus der Kategorie und — der
Fixirung des Concreten im Denken. Dieser Uebergang war schon
den ihm Nahestehenden damals dunkel und verdächtigt"). In ihm
nähert er sich Fichte. In der Synthesis des Räumlichen nämlich
entsteht auch Succession: Zeit. „Das ursprüngliche Festmachen
3«) Standpunkt S. 1G9.
3') Standpunkt S. 140.
3^ Ebds. 141.
3») Ebds. 143.
•">) Recension in Jakob Annalen 1796. S. 32 ff.
646 Wilhelm Dilthey,
(Bestimmen) dieser Zeit ist die ursprüngliche Anerkennung.
Uurcli dieses Fixiren der Zeit, fixire ich jene ursprüngliche Syn-
thesis und erhalte dadurch den Begrifl' von einer bestimmten Ge-
stalt des Hauses*^)."
Eine zweite ursprüngliche Verstandeshandhing stellt sich in
der Kategorie der Realität dar. Diese ist das empirische An-
schauen selber. In ihr „synthesire ich durch einen Vorgang,
der vom Ganzen zu den Theilen geht, meine Empfindung".
Auch in dieser wie in jeder anderen Synthesis erzeuge ich
die Zeit (Schematismus der Kategorien). Und nun wird auch
hier in der mitwirkenden ursprünglichen Anerkennung die
Synthesis durch das Bestimmen dieser Zeit fixirt: so erzeuge
ich das Reale des Dinges. Innerhalb der Kategorien der Re-
lation entsteht erst Dasein der Dinge, ja in der Synthesis
und Anerkennung innerhalb dieser Kategorien besteht das ganze
Dasein der Dinge. Ich setzte nämlich ein Beharrliches, woran ich
mir die Zeit vorstelle; ich setze ein Etwas (Ursache), wodurch der
Wechsel meines eigenen Zustandes, da ich zunächst ohne diese
Vorstellung war, sie aber nachher hatte, seine Bestimmung in der
Zeit erhält^'^. Der Sinn der empirischen Aussage: der Gegenstand
afficirt mich, liegt sonach in der trauscendentaleu Aussage: der
Verstand setzt ursprünglich ein Etwas. Selbst der Begriff
von meinem Ich empfängt erst in diesem ursprünglichen Setzen
Sinn und Bedeutung").
Es i.st nicht erforderlich, auch durch die anderen Kategorien
und durch die Grundsätze hindurch dieser unfruchtbaren und von
der Zeit mit Recht weggespülten Arbeit zu folgen, welche in das un-
bewusste Walten der Intelligenz dringen will. Unfruchtbar und
dunkel: denn Beck hält an den intellektualistischen Voraussetzungen
Kants fest, der in der Synthesis und deren abstrakten Handlungs-
weisen die ganze Natur unseres Erkennens erblickte — und doch
möchte er das für Kant Unerklärbare klar machen. Insbesondere
hebt er an der Zeit, die Kant wie einen abstrakten Bestaudtheil
*') Standpunkt 143.
^-0 Ebds. 15G.
*3) Ebds. 157,
Die Rostocker Kanthandschriften. 647
des Begriffs der Bewegung behandelt hatte, den Grundzug hervor,
durch welchen Gegenwart sich von Vergangenheit und Zukunft ab-
hebt. So dient die Zeit der Bestimmung und Fixirung des Dinges.
Dieses und verwandte Probleme können ihn zu seiner dargelegten
Lehre vom ursprünglichen Anerkennen geführt haben. Ich vermag es
nicht zu beweisen, betrachte es aber nicht als unwahrscheinlich,
dass Fichte's Einflnss mitwirkte. So verwandt sind die Begriffe des
ursprünglichen Anerkennens und des ursprünglichen Setzens. Jeden-
falls war diese Epoche in seiner Entwicklung die der grössten An-
näherung an Fichte. Er musste den Widerspruch mit den Voraus-
setzungen Kants bemerken. Und Kant selber rief ihn gleichsam
zurück. Hier greift der Fortgang seiner Beziehungen zu Kant ein.
Kant hatte, wie es scheint, Becks Schrift nicht selber gelesen.
Aber ihm hatte der treucste der Seinen, Schultz über dieselbe mit
Unwillen berichtet. Insbesondere, dass Beck den Nebentitel „er-
läuternder Auszug aus den Werken des Herrn Professor Kant, auf
Anrathen desselben" belassen hatte, musste Kant missbilligen. In
die Materie der Sache scheint sein leider verlorener Brief nicht
eingegangen zu sein. Beck seinerseits spricht offen aus, dass die
beiden 1796 erschienenen Schriften dem Missverständniss ausge-
setzt seien; er ist zu Retraktationcn bereit, welche er schon vor
dem Eintreffen des Kantschen Briefes ins Auge gefasst hatte und
in denen er die Dunkelheiten und Unbestimmtheiten dieser Arbeiten
heben will. So nachdrücklich als möglich aber erklärt er sich da-
gegen, dass er in einem der beiden Bücher gelehrt habe, was
Schultz ihm zuschreibt: der Verstand mache das Ding. Er
erklärt das für baaren Unsinn und beruft sich auf die Stellung, die er
zu Fichte in seinen Anzeigen genommen hat. Vielmehr ist seine Ab-
sicht eine methodische Sonderung der theoretischen und der prak-
tischen Philosophie. Er will den Zugang in jene dem Ding an sich
verschliessen. Er will in dieser die ganz eigene Art von Realität
dieses Dinges an sich auf das moralische Bewusstsein begründen.
Da Erscheinung das Objekt meiner Vorstellung ist, in welcher
Bestimmungen desselben gedacht werden, die ich durch das ur-
sprüngliche Verstandesverfahren erhalte, und da hierunter auch das
ursprüngliche Fixiren meiner Synthesis von Wahrnehmungen als
648 Wilhelm Dilthey,
einer successiveu, wodurch Erfahrung einer Begebenheit möglich
wird, gehört: so ist der Gegenstand, der mich aflicirt, Er-
scheinung und nicht Ding an sich. Dem Menschen ist nur das
Bewusstsein von der Beziehung der Natur überhaupt auf ein Sub-
strat derselben vergönnt: eine Beziehung, deren er sich in seiner
Anlage zur Moralität bewusst ist. Dass der Naturmechanismus einer
Zweckeinheit entspricht, erhöht in der Seele des guten Menschen das
Bewusstsein der Beziehung zu diesem Substrat, obwol er sich das-
selbe immer nur auf symbolische AVeise vorzustellen vermag ^^). In
diesen Sätzen hat Beck seine Position, in welcher er sich eben-
sowohl von Fichte als von Kant trennt, vollkommen klar ausge-
drückt. In der persönlichen Beziehung erscheint der ehrenfeste
Mann derber, als Kant gegenüber angemessen war. Er spricht zu
viel von Kants Alter, und er findet „seine Seele täglich durch
den Gedanken erheitert, einst auch nach dem Abgang des grossen
Stifters der kritischen Philosophie diese dem Menschengeschlecht
wichtige Angelegenheit kräftiglich besorgen zu können." Solche
briefliche Aeusserungen waren kaum in Kants Geschmack, Auch
die Vermittlung von Tieftrunk hatte kein Ergebniss.
In der Erklärung Kants gegen Fichte 1799 findet sich dann
seine öffentliche Absage an Beck. „Der Recensent behauptet, dass
die Kritik in Ansehung dessen, was sie von der Sinnlichkeit wört-
lich lehrt, nicht buchstäblich zu nehmen sei, sondern ein jeder,
der die Kritik verstehen wolle, sich erst des gehörigen (B eck-
schen oder Fichteschen) Standpunktes bemächtigen müsse, so
erkläre ich, dass die Kritik allerdings nach dem Buchstaben zu
verstehen ist"^'). Unter den Handschriften der Rostocker Biblio-
thek ist ein Zettel, der nach der Handschrift von dem juristischen
Professor Roppe geschrieben ist, mit folgender Aufzeichnung. „Ein
Kantisches Wort über Herrn Beck in Halle, Verfasser der Stand-
punktslehrc, ist folgendes: der gute Mann ist mit seinem neuen
Standpunkt über seine eigenen Füsse gefallen. Aber das kömmt
daher, wenn die Herren Schüler sich selbst setzen und stellen."
*') Briefw. (Jlf.
*'■■) Intelligenzblatt der Jen. Litt. Z. 1799 Nr. 109, Hartenstein 8, 600.
Die Rostocker Kanthandscliriften. 649
Spätere Lebensschicksale Becks.
Beck selber aber ging aus der Gährung dieser Jahre klar, aus-
gereift, obzwar ohne entschiedene Originalität hervor, als ein selb-
ständiger Kantianer. So zeigt ihn die vortreft'liche Propädeutik zu
jedem wissenschaftlichen Studio 1799. Sein Accept der Stellung,
die Kant ihm zu sich gab, liegt in den an Reinhold anklingenden
Worten der Vorrede: „auf die Vorbereitung dieser wahren Philo-
sophie, die keines J\launes Namen tragen darf, hinzuwirken, ist der
Zweck dieser Schrift." Die eindringliche Darstellung der grossen
l^ehre Kants von der Intellektualität der Siuneswahrnehmungen,
die Vereinfachung Kants, die männliche Polemik gegen die dogma-
tische Fassung des Vernunftsglaubeus bei Kant (besonders in Be-
zug auf die Unsterblichkeitslehre) zeigen jene freie Handhabung
der Transscendentalphilosophie, welche für Fries, Schopenhauer u. a.
eine Vorstufe gewesen ist.
In diesem Jahre 1799 wurde er auch, iiachdem er inzwischen
in Halle 17. Juni 1796 ausserordentlicher Professor geworden war, zu
der ordentlichen Professur der Metaphysik in Rostock berufen, die er
von da ab in der zweiten längeren Lebenshälfte bis zum Todestag
bekleidet hat. Die Faknltät schlug in einem Schreiben vom 29. März
1798, als der bisherige Professor der Metaphysik Schadeloock in
eine mathematische Professur eingetreten war, den Bestimmungen
entsprechend 6 Gelehrten vor, darunter Bouterwek, Beck, Krug,
Meilin, hob aber aus ihnen Bouterwek und Beck besonders hervor.
Man bemerkt wie nun die Stellen mit Kantianern besetzt wurden.
Beck wurde als „ungemein berühmt durch seinen erläuternden
Auszug aus Kants Schriften" bezeichnet. AV'ar doch die kritische
Philosophie durch englische Bearbeitung seines Auszugs 1797 iu
England verbreitet worden. Und es wurde besonders darauf hin-
gewiesen, dass „sogar Fichte, der selten Anderen Gerechtigkeit
widerfahren lässt, sagt, dass er das Hauptmoment der Kritik der
reinen Vernunft am besten aufgefasst habe"^"). Das Concil wählte
Beck, Krug und Visbeck, den Kantianer von Reiuholdscher Ob-
^'^) Schreiben der Fakultät v. ■I'd. Miirz 1798 au Kektur und C'oucil, iu dem
Rostocker Uuiversitätsarchiv.
650 ^Yilllelra Dilthey, Die Rostocker Kanthandseliriften.
servaiiz: so gelangte 16. April 1798 der Vorschlag an Bürger-
meister und Ratli in Rostock ^^). Beck nahm 12. Februar 1799
den Ruf an, wurde im April dem Concil vorgestellt sowie in
die Fakultät aufgenommen^'*), und begann mit dem Anfang des
Sommerhalbjahrs 1799 seine Rostocker Lehrthätigkeit. Diese er-
streckte sich, in dem Umfang vergleichbar der seines grossen
Lehrers, auf verschiedene Theile der Mathematik, Mechanik, mathe-
matische und metaphysische Grundsätze der Physik, Astronomie,
mathematische Geographie, Anthropologie, Encyclopädie der Philo-
sophie, kritische Philosophie, natürliche Theologie, Pädagogik, Ethik
und Moraltheologie, Naturrecht, Staatswirthschaft^^). Auch seine
Arbeiten breiteten sich nun auf mehrere Gebiete, z. B. auf das .staats-
wissenschaftliche, aus. Er genoss gro.ssen Ansehens, wie er denn drei-
mal Dekan und viermal Rektor der Universität war. Einen Ruf nach
Berlin, als Professor der Philosophie bei dem adligen Cadettenhofe,
lehnte er ab, „da er an jedem fremden Orte langer Zeit bedürfen
würde, sich die gute Meinung derer zu erwerben, an deren Meinung
einem rechtdenkenden Berufsmann gelegen sein müsse" ^"). Er
starb hochbetagt, beinahe achtzigjährig, in voller Wirksamkeit bis
zum letzten Tage, am 29. August 1840^'). Ihn überlebte .seine
seit 1803 mit ihm verheirathete Frau und eine einzige Tochter.
•*') SchreiKen v. Rektor und Concil an den Magistrat IG. Äpiil 1798 im
Rostocker Stadtarchiv.
^») Missiven v. 19. u. 27. April 1799.
■•^) Nach den Indices lectionuiu.
^'^) In dem Rostocker Stadtarchiv.
. ^^) So nach Grabschrift und Kirchenbuch, während ein Regierungserlass
über Wiederbesetzung irrthümlich 9. August angiebt.
Jahresbericht
über
sämmtliche Erscheinungen auf dem Gebiete der Geschichte
der Philosophie
in Gemeinschaft mit
Ingram Bywater, Alessandro Cliiapelli, Hermann Diels, Wilhelm Dilthey,
Benno Erdmann, J. Gould Schurman, Paul Tannery, Feiice Tocco
und Eduard Zeller
herausgegeben
von
Ludwig Stein.
XII.
Bericht über die deutsche Litteratiir der
Vorsokratiker. 1888.
Von
H. Diels in Berlin.
Wie sehr unser Archiv gleich im ersten Jahrgange dem Be-
dürfnisse entsprochen hat, einen Sammelpunkt philosophiegeschicht-
licher Arbeiten darzustellen, ergiebt die Thatsache, dass von den
nicht sehr zahlreichen im J. 1888 veröftentlichtcn Arbeiten über
die vorsokratische Philosophie neun in unserer Zeitschrift erschienen
sind. Ich verzeichne hier ihre Titel:
1) Zu Pherekydes von Syros (Diels) S. 11.
2) Ein Wort von An ax im an der (Ziegler) S. 16.
3) Un fragment d'Anaximene dans Olympiodore le chimiste
(Tannery) S. 314 (vgl. S. 594**).
4) Sur le secret dans l'Ecole dePythagore (Tannery) S. 28.
5) Zu Pythagoras und Anaximenes (Chiappelli) S. 582.
6) Zur Lehre des Xenophanes (Freudenthal) S. 322.
7) Empedokles und die Orphiker (0. Kern) S. 498.
8) Ueber Demokrits 7vrjai7] -(Vttijjiy] (Natorp) S. 348.
9) Zu Diogenes von Apollonia (Weygoldt) S. 161.
Den übrigen anderwärts veröffentlichten Arbeiten schicke ich
eine kurze Anzeige voraus über ein umfassenderes Werk:
AViNDELBAND, W. Geschichte der alten Philosophie. Nördlingen
1888. (Sep.-Abdr. aus I. Müllers Handbuch d. kh Alter-
tümsw. V. 1, 117 ff.) 220 S. 8°.
44
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. II.
654
H. Diels,
Es ist jetzt kein ^langel mehr an guten, für die studierende
Jugend bestimmten Compendien der Geschichte der antiken Philo-
sophie. Trotzdem darf Windel bands bescheiden auftretender Ver-
such willkommen geheissen werden, weil er es verstanden hat,
nicht nur in wissenschaftlicher, sondern auch, was viel seltener ist,
in pädagogischer Beziehung ein brauchbares Buch zu schreiben.
Der Verf. ist kein C'ompilator. Er hat trotz der Kürze, und trotz-
dem seine Specialstudien auf anderem Gebiete liegen, eine selbst-
ständige und geistvolle Arbeit geliefert; namentlich in der Ge-
sammtauffassung und Gruppierung der Systeme geht er vielfach
seine eignen Wege. So erscheint Pythagoras, was Manchem wun-
derlich vorkommen wird, gar nicht unter den Philosophen, sondern
unter den religiös-politischen Reformern neben den Orphikern,
Pherekydes u. A., während der wissenschaftliche Pythagoreismus
bei Philolaos abgehandelt wird. Die milesische Naturphilosophie
des Thaies, Anaximander und Anaximenes spaltet sich dann in
den metaphysischen Grundgegensatz Heraklit und die Eleaten.
Der Gegensatz ruft Vermittlungsversuche hervor: Empedukles, Ana-
xagoras, Leukipp und Pythagoreertum. Dann konnnt die griechische
Aufklärung: die Sophistik und ihr Ueberwinder Sokrates, dessen
Grösse der Verf. bereits in seinen 'Präludien in lebhafter Darstellung
gewürdigt hatte. Die kleinen Sokratiker dagegen werden als Fort-
setzungen der Sophistik in Kürze abgethan. Die Blüte hellenischen
Denkens erscheint in den beiden grossen Schöpfungen Demokrits und
Piatons, die das abschliessende System des Aristoteles vorbereiten. Die
nacharistotelischePhilosophie fasst W. unter dem Namen „hellenistisch-
römische Philosophie" kurz zusammen (1. Schulkämpfe. Peripatetiker,
Stoiker (9 Seiten!). Epikureer (5 Seiten). 2. Skepticismus und
Synkretismus. 3. Patristik. 4. Neuplatonismus. Schluss: Augustin).
Mit sichtlicher Vorliebe verweilt der Verf. bei der knospenden
Philosophie des 6. und 5. Jahrhunderts. Er bringt dazu nicht nur
(bis philosophische Interesse für die allgemeinen Probleme der
Wissenschaft mit, sondern auch die historisch-kritische Schulung,
die jetzt, namentlich durch Zellers Werk, Gemeingut gew^orden ist,
daneben aber auch naturwissenschaftliches Verständnis, das beson-
ders zu einer ausführlicheren und tieferen Erfassung der abderitischen
Bericht über die ileufsche Litteratur der Vorsokratiker. 1888. 655
Philosophie geführt hat, ohne dass diese Vorliebe den Verf. etwa
zu positivistischer Einseitigkeit und Plattheit verleitet hätte. In
Bezug auf Leukipps und Demokrits historische Stellung schliesst
sich der Verfasser den Ansichten des Ref. au. Leukipp ist ihm
der Gründer des atomistischen Systems, Demokrit der Vollender,
der sogar durch den Sensualismus des Protagoras starke Einwirkung
erfahren hat. Ich glaube, dass der Verf. hier etwas hegelisch kon-
struiert hat. Es ist unbezweifelbar, dass Demokrit, wie Piaton, von
der Sophistik beeinflusst ist und sie bekämpft, aber die Erkenntnis
der Subjektivität der Sinnesqualitäten z. B., wie überhaupt die
atomistische Psychologie, stammt nicht von Protagoras, sondern von
Leukipp, so gut wie der Begriff der dva-f///]. Was Leukipp gelehrt
hat, kann man, abgesehen von der noch nicht gehörig gewürdigten
doxographischen Ueberliefernng, indirect durch Rückschluss aus den
Systemen des Empedokles (vielleicht auch des Anaxagoras) ge-
winnen. Der Verf. wird mir dies um so eher zugestehen, als ihm
die Porentheorie des Empedokles selbst als innerer Widerspruch
erscheint (S. 45 ^). Er findet aber seine einfachste Lösung in der
Abhängigkeit von Leukippos, wie ich früher einmal ausgeführt
habe. Sehr energisch wird Demokrits Ethik hervorgehoben und in
geistreicher Weise mit der Physik verknüpft. Doch scheinen mir
die Grundlagen dieser Auffassung (Hirzel und Natorp) sehr unsicher.
Was ich sonst noch auf dem Gebiete der Vorsokratiker, auf
das sich mein Referat zu beschränken hat, über die Auffassung des
Verfassers bemerken möchte, ist in Kürze folgendes:
Beim Hylozoismus scheint mir der Zoismus, wenn ich so sagen
darf, zu wenig betont. Umgekehrt wird der „Denkstofl" des Anaxa-
goras doch etwas zu materialistisch behandelt. Auch hier helfen
uns Nachtreter, wie Diogenes, die Lücken der Ueberlieferung er-
gänzen. Auf Einzelheiten einzugehen, gestattet der Raum nicht.
Unwesentliche Versehen, wie die Erklärung von czioiov als „unsicht-
bar" (S. 24. 30. 33 '■') oder die Bezeichnung des Aristeas von Pro-
konnesos als „Logographen" (neben Kadmos, Dionysios, Hekataios)
werden um so weniger Schaden stiften, als das Buch sich ja au
Philologen wendet. Die Litteraturangaben sind mit sorgfältiger
Auswahl gegeben. Doch vermisse ich z. B. beim xuptsuwv des Dio-
44
656 H- Diels, ij
doros Zellers, bei Piatons Gesetzen Bruns' Abhandlung und wünsche
die Erwähnung der Krohnschen Bücher weg, die jungen Lesern
nicht empfohlen werden dürfen').
Theologen.
Kern, 0. De Orphei Epimenidis Pherecydis theogoniis quaestiones
criticae. Berolini 1888. 1 10 S.
Diese aus einer Berliner Dissertation erweiterte Schrift enthält
drei Teile. Im ersten versucht der Verfasser die Ansicht Lobecks,
dass die sog. rhapsodische Theogonie der Orphiker mindestens dem
6. J. V. Chr. angehöre, gegenüber neueren Zweifeln, namentlich
Schusters, genauer zu begründen. Er schickt einen Abriss des In-
haltes voraus und sucht nun die Beziehungen des Xenophanes,
Pindar, Aischylos, Parmenides, Empedokles (s. Archiv I 498) Anaxa-
goras, Aristophanes und Piaton zu dieser alten Rhapsodie sicher zu
stellen. Vor allem sieht er in der Stelle Piatons Legg. IV. 715 E
eine Beziehung auf die pantheistische Auffassung des Zeus in der
Rhapsodie, die z.B. Zeller T 87 f. als deutliches Kennzeichen spä-
teren (nachstoischen) Ursprungs betrachtet. Die sog. hleronymia-
nische Theogonie erklärt er für eine späte Nachahmung der alten
orphischen. Die Theogonie des Apollonios Rhodios verliert ihren
orphischen Charakter vollständig dadurch, dass Kern hier eine ge-
lehrte Compilation grösstenteils aus Empedokles nachweist. Auch
die Eudem'sche Theogonie scheint ihm identisch mit der Rhapsodie;
den Irrtum Eudems über die principielle Bedeutung der Nacht in
derselben führt er auf Aristoteles unbestimmte Aeusserung Met.
A 6. 1071b 27 Ol sx vuxto? -(cvvwvtsc zurück, die zu falscher Auf-
fassung der Rhapsodie geführt habe. So scharfsinnig diese A^er-
mutung ist, so halte ich doch Eudem eines solchen Irrtums für
unfähig. Die IMöglichkeit. dass verstümmelte und interpolierte
Exemplare der Rhapsodie früli umliefen, liegt nahe und ist that-
sächlich in anderen Fällen zu erweisen, so dass mir diese Erklärung
') Nach Abschluss dieser Zeilen geht mir die eingehende Rezension des
Windelband'schen Buches von F. Lortzing zu (Beil. philol. Wochenschrift
1889, 507), die in der Beurteilung bis in Einzelheiten so merkwürdig mit
meiner Anzeige übereinstimmt, dass ich ausdrücklich die gegenseitige Unab-
hängigkeit betonen muss.
Bericht über die deutsche Litteratur der Vorsokratiker. 1888. 657
den Vorzug zu verdieueu scheint. Abgesehen von solchen Einzel-
heiten hat das Ganze der gelehrten, scharfsinnigen und originellen
Beweisführung einen überzeugenden Eindruck auf mich und Andere")
gemacht. Vielleicht würde dieser Eindruck noch stärker sein, wenn
die Polemik ruhiger gehalten und Wichtiges und weniger Wichtiges
besser geschieden wäre. Aber bei der ausserordentlichen Schwierig-
keit der Frage wird man sich schon darüber freuen dürfen, dass
die verschütteten Gruben wieder fahrbar gemacht sind. Es wird
noch bedeutender Einzelarbeit bedürfen, um nun das Katzengold
vom echten zu scheiden. Zunächst wird da zweierlei von nöten
sein: 1) sorgfältige Erklärung der einzelnen Fragmente (wozu
Kern einige hübsche Beiträge gegeben hat) nebst genauer Unter-
suchung der Sprache und Metrik. 2) Geschichte des orphischen
Geheimcults (möglichst nach Zeit und Ort geschieden)^).
Der zweite Teil des Kern'schen Büchleins beschäftigt sich mit
Epimenides von Kreta. Er schickt die kärglichen Fragmente seiner
0£o-|'ovta voraus und sucht sodann die Entstehungszeit dieses Wer-
kes auf das Ende des 6. Jahrh. zu bestimmen. Er sieht nämlich
in der Vorausteilung der Luft in jeuer Theogonie eine Einwirkung
der Lehre des Anaximenes, wäiirend sein zweites Princip die Nacht
und vor allem das Weltei der orphischen Rhapsodie, anderes Hesiod
entlehnt ist. (Umgekehrt sei Epimenides bereits von Anaxagoras
ausgebeutet worden Schol. Apoll. Rhod. I 498). Die hierdurch ge-
gebene chronologische Bestimmung der Theogonie berührt sich mit
dem von G. Löschcke zu Ehren gebrachten Zeugnisse der Platoni-
schen Gesetze (I 642 D).
Der letzte Teil ist der Pentemychos des Syriers Phcrekydes
gewidmet, deren Fragmente S. 84 ff. in neuer Bearbeitung vorliegen.
Die Abfassungszeit der mystischen Schrift setzt Kern, meiner An-
sicht folgend*), nach Anaximander, aber auch nach der orphischen
-) S. Ref. V. Th. Gomperz, D. Litteraturzeit. 1888, 974; A. Ludwich, Beri.
Wochenschr. 1889, 557; 0. Crusius, Lit. Centralbl. 1889, 615.
3) Einen feinsinnigen Beitrag dazu hat E. Lübbert gegeben in dem Vor-
lesungsverzeichnis der Bonner Universität W. S. 1888/9 Commentatio de Pin-
daro theologiae Orpbicae censore.
■*) Diese Ansicht beruht wesentlich auf der von Zeller gegebenen Erklärung
658 H. Diels,
Tlieogonie, deren Spuren er z. B. iu dem Xoovo; und der XOovir^^)
der Pentemychos erblickt. Die fünf Schilifte selbst deutet er auf
Feuer, Luft, Wasser (Ogenos), Erde und Tartaros, womit sich wie-
derum ein orphisches Fragment 123 Abel, berührt.
Gruppe, 0. Berichtigung. Beilage zu B. 137. H. 11 d. N. Jahr-
bücher f. Philol. u. Fädag. 1888. S. 1. 2.
Der Verf. wendet sich gegen die Anzeige des über die Orphiker
handelnden Abschnittes seines Buches „Griechische Kulte und
Mythen", die im Jahresberichte des Archivs II 91 ff. erschienen ist.
Da die Redaction dieser Zeitschrift grundsätzlich Antikritiken aus-
schliesst, so erfordert es die Unparteilichkeit unsere Leser umsomehr
auf jene „Berichtigung" hinzuweisen. Als wesentlich hebe ich fol-
gendes heraus:
Es ist zunächst erfreulich, dass der Verf. jetzt das gefälschte
Orphikerfr. bei Clera. Strom. 624 nicht mehr als Original Heraklits
angesehen wissen will. Freilich wird auch jetzt noch jeder Philo-
loge die Darlegung S. 650 so auffassen müssen, wie es Ref. gethan
hat, aber der Autor ist ja gewiss der beste Interpret seiner Werke.
Ref. bittet daher um die Erlaubnis, auch seinerseits eine authen-
tische Interpretation abgeben zu dürfen. Unter den „Fratzen
paradiesischer Urweisheit" habe ich nicht die augeblichen orienta-
lischen Urgedichte Gruppes verstanden, sondern die Constructionen
Creuzers und seiner Nachfolger, auf die ich durch die orientali-
sierende Tendenz des Verf. und vor allem durch seine eigen-
tümliche quellenkritische Methode geführt worden war, welche
sich als eine durch und durch Creuzer'sche bezeichnen lässt.
Man vgl. z. B. mit dem in meiner Anzeige (S. 92 unten) Ange-
führten Creuzers Symbolik P 190. Dass die ürrcligion Gruppes
sich sehr wesentlich von dem Systeme Creuzers unterscheidet, ist
der ÜTioTCTepo; 8püc, gegen die soeben A. Cliia]i|ielli in einem interessanten Auf-
sätze Sulla teogouia di Fereeide di Syros (Reudic. d. aec. d. Lincei 1889,
230) Widerspruch erhoben hat. Ich komme vielleicht später darauf zurück.
^) Er deutet diese Göttin auf Demeter, Avofiir er auch Tansanias III 14,5
anführen konnte Ar^ij-Tj-rpa oe ySovt'av Aax£O0(t[j.dvtot [jiv asßEiv 'jsaat rapotoovxos acpiüiv
OpcfEco;.
Bericht über die deutsche Litteratur der Vorsokratiker. 1888. 659
mir nicht unbekannt. Aber ich hatte glücklicherweise keine Ver-
anlassung im Archiv für Geschichte der Philo.sophie auf diese
Hypothese einzugehen. Ob meine Ansicht über das Verhältnis der
griechischen Philosophie zu den Orphikern richtig wiedergegeben
ist, was der Verf. bestreitet, kann ich um so mehr den Lesern
überlassen, als ich ja S. 91 durch Abdruck von 14 Zeilen des
Baches, in denen jene Ansicht zusammengefasst schien, eine objec-
tive Beurteilung ermöglicht habe.
Heraklit.
Ckon, CuKi^^TiAN. Zu Heraklit. Philologus XLVIl«) 209 — 234.
400—425. 599—616.
Der Verf. plaudert in behaglichster Breite über einige Hera-
klitfragmente. Fr. 65 soll heissen: „Eins will das weise Wesen
allein nicht genannt werden, es will auch den Kamen Lebensquell".
Gänzlich verfehlt wie die darin gesuchte Beziehung auf Xenophanes!
Pfleiderers Konjectur zu Fr. 38 (s. Archiv I. 107 unten) wird zurück-
gewiesen, ebenso wie dessen Bezeichnung der Heraklitischen Philo-
sophie als Panzoismus, statt dessen er selbst „Kosmologie" vor-
schlägt.
Die physikalische Bedeutung des Systems sucht er dann aus-
führlich gegen die religiöse Auflassung Pfleiderers zu rechtfertigen,
wobei u. A. neueren Philosophen bes. Hamann mit Heraklit zu-
sammengestellt wird. Zum Schlüsse wird Fr. 1 und der Begrift'
Xo-pc weitläufig, aber ohne greifbares Resultat behandelt.
Gorgias.
Apelt, 0. Gorgias bei Pseudo-Aristoteles und bei Sextus Emperi-
cus. Rhein. Museum XLIIl (1888) 203—219.
Der verdiente Herausgeber der Pseudaristotelischeu Schrift de
Melisso etc. (bei Teubner 1888) giebt hier eine eingehendere Be-
*) Die mit diesem Bande neben der bisherigen eingeführte Zähhing als
Neue Folge 1. Bd., zu der kein Grund vorliegt, ist geeignet, Verwirrung zu
stiften, zumal die Jahreszahl 1889 (statt 1888) ebenfalls irreführend ist (Bd. 45
trägt die Jahreszahl 1886, 46 dagegen 1888). Vielleicht kann wieder zur alten
Band- und Jahr-Zählung zurückgekehrt werden. Das bereits erschienene erste
Heft des Bd. 48 trägt wenigstens die richtige Jahreszahl 1889.
660 H- Uiels, Bericht über die deutsche Litteratur etc.
sprecluiug der Gorgias betreffenden Abteilung jener Schrift c. 5. 6.
Er zieht die sehr corrupte, aber treuere Darstellung des Peripa-
tetikers mit Recht der des Sextus Emp. Math. VII 65—87 vor und
rechtfertigt im Einzelnen seine Verbesserungsvorschläge, die in
seiner Ausgabe Aufnahme gefunden haben. Vgl. Bericht im
Archiv I 246.
DiELs, H. Atacta II. Hermes XXIII (1888) 284.
Sucht ein Fragment des Gorgianischen Olympikos zu bessern.
Im Anschluss an Gorgias sei wenigstens der Titel einer uns
überwiesenen Abhandlung erwähnt
LiERs. Rhetoren und Philosophen im Kampfe um die Staatsweis-
weisheit. Waidenburg i. Schi. 1888 12 S.
Zu näherem Eingehen hat eine wissenschaftliche Zeitschrift
keinen Anlass.
xni.
Die deiitsclie Litteratiir über die sokratische
und platoiiisclie PMlosopliie 1888.
Von
E. Zeller in Berlin.
Das einzige diese ganze Periode umfassende Werk aus dem
vorigen Jahr ist
Zeller, E. Die Philosophie der Griechen. Zweiter Theil 1. Abth.
4. Aufl. Leipzig Fues's Verlag 1889. X u. 1050 S.
Da es sich bei der Anzeige eines so bekannten, nun schon in
vierter Auflage vorliegenden Buches nur darum handeln kann,
über die Aeuderungen und Zusätze der neuen Bearbeitung zu be-
richten, diese aber mir am genausten bekannt sind, trage ich
kein Bedenken, dieses Geschäft selbst zu übernehmen. Dass es nun
solcher Zuthaten nicht wenige sind, zeigt schon der Umfang der
neuen Auflage , welcher gegen den der dritten um 149 Seiten an-
gewachsen ist. Es war mir dies nicht eben erwünscht; aber es
Hess sich schwer vermeiden, wenn der massenhaften Litteratur der
letzten 14 Jahre und den von ihr angeregten Fragen ihr Recht
widerfahren sollte. Von den Hunderten von Zusätzen, welche
diese Erweiterung bewirkt haben, will ich die erheblicheren im
folgenden berühren. Die Einleitung (S. 1—43) ist nur unbe-
deutend vermehrt worden. Dagegen schien mir in dem Abschnitt
über Sokrates schon S. 54 ff. das Märchen von seiner Bigamie
eine etwas eingehendere Beleuchtung und S. 62 die Vermuthung,
dass der sokratische Kreis bereits eine ähnliche Organisation ge-
662 E. Zeller,
habt habe, wie in der Folge der platonische, eine Prüfung zu ver-
langen. S. 73f. sind der Untersuchung über das Dämonium, ohne
Aenderung des Ergebnisses, einige weitere Erläuterungen beigefügt.
S. 96 ff. 121 f. veranlassten mich Krohn's und Teichmüller's Auf-
stellungen über Xenophon's Denkwürdigkeiten zu Erörterungen,
deren Ergebniss in einer Bestätigung ihrer Aechtheit und Glaub-
würdigkeit, der letzteren allerdings mit gewissen Einschränkungen,
besteht. S. 101 ff. 1091. wird der Antheil des wissenschaftlichen
und des praktischen Interesses an Sokrates' Philosophie, S. 107 f.
die ihm von Neueren zugeschriebene Unterscheidung von sTrij-v^fi-/)
und ö6;a weiter untersucht. Der sokratische Eros wird S. 130 f.
nicht blos an einer späteren Stelle als in den früheren Ausgaben
besprochen, sondern auch mit der erziehenden Einwirkung des
Philosophen auf andere in eine engere Verbindung gebracht.
S. 136 f. bestreite ich den Versuch (Krolm, Fouillce, Chiappelli),
für Sokrates wenigstens in seinen jüngeren Jahren eine Beschäfti-
gung mit anaxagorischer Physik wahrscheinlich zu machen; auch
Mem. IV, 7, 2 ff", möchte ich eher auf eine solche Kenntniss mathe-
matischer und astronomischer Lohren beziehen, die er sich in
seiner späteren Zeit erw^orben hatte, um zu sehen, Avas diese Studien
an praktisch verwerthbarem Wissen zu bieten haben. S. 168 f.
wird (gegen Bernays) Sokrates' angeblicher Kosmopolitismus
uoch eingehender als früher abgelehnt; S. 175 f. werden Xenophon's
Angaben über die sokratische Theologie gegen neuere Einwen-
dungen vertheidigt. Für die Geschichte der gerichtlichen V^er-
haudlungen gegen Sokrates ist S. 193 Hirzel's Abhandlung über
Polykrates dankbar benützt; S. 212 wird der Nachweis geführt,
dass seine Verbindung mit Alcibiades (trotz Isokr. Bus. 5)
Sokrates schon vor Gericht vorgeworfen worden war. Die Ge-
schichte der sokratischen Schule gab, neben einzelnem Xenophon
betreffenden, S. 243 zu einer weiteren Erörterung über den Schuster
Simon und seine angeblichen Schriften Anlass. S. 251 ff. empliehlt
sich mir uach wiederholter Prüfung die Annahme, dass Plato
Soph. 242 Bff. die Megariker im Auge habe; S. 258f. wird
Stallbaum's und Apelt's Vermuthung, die Einwürfe gegen die
Ideenlehre im ersten Theil des Parmenides stammen von Euklides,
Die deutsche Litt, über die sokrat. u. piaton. Philos. 1888. 663
durch das von Bäumker nachgewiesene Vorkommen des xpixo?
av{>ptuTro; bei einem vSchiiler Bryso's bestätigt und für die Geschichte
der megarischen Schule benützt. Auf Euklides beziehe ich S. 260,1
auch Plato Rep. VI, 505B. Für den Abschnitt über die Cynik er
sind neben anderen neueren Untersuchungen namentlich Dümmler's
Antisthenica benützt, an die ich mich S. 296 ff. mit der Annahme
anschliesse, dass schon Antisthenes den Stoikern in ihrem Materialis-
mus vorangegangen sei, und Plato's Schilderung einer materialisti-
schen Theorie im Theätet und im Sophisten ihm gelten. Wenn
jedoch die Stoiker das Merkmal der Realität in der Fähigkeit
fanden zu wirken oder zu leiden, so haben sie diese Bestimmung
m. E. nicht Antisthenes sondern Plato entnommen; und eben-
sowenig folgt aus Theät. 191 Cff. , dass schon Antisthenes die
Wahrnehmung als einen Abdruck der Dinge in der Seele be-
zeichnete. Dagegen stimme ich Dümmler's Vermuthung bei, dass
die Theät. 161 Bft'. erhobenen und später ungenügend befundenen
Einwendungen gegen Protagoras Antisthenes angehören. Auf ihn
beziehe ich ferner fortwährend Plato Phil. 44 Bf. 51 A, und habe
diese Ansicht S. 308f. gegen Uirzel und Natorp vertheidigt.
Aristippus betreffend zeige ich S. 3441'., dass Diog. II, 64. 84
kein Recht zu dev- Behauptung gibt, Panätius habe seine Schriften
für unächt erklärt, und S. 352f., (vgl. Archiv I, 172ff.), dass Plato
Phil. 31 Bff. 42 D. 53Cft'. Arist. Eth. VII, 12. 1152 b 12 f. auf
ihn gehen; wogegen ich (S. 350) nicht glaube, dass die im plato-
nischen Theätet Protagoras beigelegte sensualistische Theorie eigent-
lich Aristippus angehört. Ueber Plato's Leben und Lehre,
namentlich aber über seine Schriften, ist in den letzten 15 Jahren
so viel geschrieben worden, und meine eigenen Studien gaben mir
so manches neue an die Hand, dass es schwer war, und vielleicht
auch nicht gelungen ist, allem, was Berücksichtigung verdiente,
innerhalb der Grenzen, die meiner Darstellung gezogen waren,
gleichmässig Rechnung zu tragen. Aus „Plato's Leben'' er-
wähne ich S. 399, 2, wonach mir eine besondere Abneigung Plato's
gegen Demokrit unerweislich, seine Bekanntschaft mit demselben
wenigstens für seine spätere Zeit unzweifelhaft zu sein scheint;
S. 400, 3 den Nachweis, dass Plato's Abwesenheit an Sokrates'
664 E. Zeller,
letztem Lebenstag, nebst der Krankheit, die sie veranlasst haben
soll, wahrscheinlich eine Fiction ist; S. 40411". einiges was meiner
Ansicht über Plato's Aufenthclt in Megara und seine Eeisen zur
Bestätigung dient; S. 41 5 f. 425 f. weitere Bemerkungen über die
platonische Schule und die ihr und ihrem Haupte von Neueren
zugeschriebene politische Parteistellung. In dem Abschnitt über
Plato's Schriften, welcher die relativ grösste Erweiterung erfahren
hat, war es haujitsächlich die vielumstrittene Frage nach ihrer
Reihenfolge und ihrer Abfassungszeit, die eingehendere Ausein-
andersetzungen hervorrief; auf die Aechtheitsfragc bezieht sich
S. 441 f. eine weitere Erörterung über die Werthlosigkeit der An-
gabe, das Panätius die Aechtheit des Phädo bezweifelt habe;
S. 461, 5. 480, 2 die ausführliche Besprechung der Gründe, welche
das aristotelische Citat des Menexeuus unsicher, seine Aechtheit
unwahrscheinlich machen; um vieler kürzerer Zusätze nicht zu
erwähnen '). AVas nun die Abfassungszeit der Schriften betrifft,
so wird zunächst S. 488, 1 die Werthlosigkeit der meisten aus dem
Alterthum stammenden Angaben darüber an der immer wieder
benützten Aussage des Gellius (XIV, B) über die Republik näher
nachgewiesen. Es erfährt ferner S. 490f. 505 ff. ölOff. die Unter-
suchung über die Brauchbarkeit der Merkmale, nach denen die
neueren Kritiker die Reihenfolge der Gespräche bestimmen zu
können geglaubt haben, eine bedeutende Erweiterung, indem sie
auf die verschiedenen seit dem Erscheinen der 3. Auflage in dieser
Richtung gemachten Versuche ausgedehnt wird. Mein Ergebniss
ist aber freilich, dass bis jetzt keiner von diesen Versuchen eine
zuverlässige Grundlage darbiete: dass die zeitgeschichtlichen Be-
ziehungen platonischer Aeusserungen auch da, wo wir solche ver-
muthen müssen, sich verhältnissmässig selten mit einiger Wahr-
scheinlichkeit ausmitteln lassen; dass aus dem Theätet (142 C)
nicht geschlossen werden könne, Plato habe nach demselben keine
wiedererzählten Gespräche mehr verfasst, dass aber auch die
statistische Sprachvergleichung, so werthvoll sie auch ist, doch bis
') Einer von diesen jedoch, 437, 1 Schi, beruht auf einem Irrthum, auf
den mich Herr Lucien Herr in Paris aufmerksam gemacht hat: die von
Menander r.. i-ioeixT. c. 6 Schi, angeführte Stelle steht Gess. 11, 672 B.
J
Die deutsche Litt, über die sokrat. u. piaton. Philos. 1888. ß65
jetzt auf zu unsicheren Vorau.ssetzungen beruhe, au zu vereinzelten
Beispielen durchgeführt sei. und zu wenig übereinstimmende Er-
gebnisse liefere, um über die Reihenfolge der platonischen Schriften
das entscheidende Wort beanspruchen zu können. (Ich werde
hierauf tiefer unten noch einmal zurückkommen.) Meine Ansicht
über die Abfolge der einzelnen Gespräche hat sich mir bei erneuter
Untersuchung bestätigt, und ich habe sie da und dort durch
weitere Gründe gestützt; so S. 536 ff. 843, 3 hinsichtlich des Phädrus,
S. 406, 1 hinsichtlich des Theätet, S. 544f. vgl. 697 f. hinsichtlich
des Sophisten, S. 547, 1. 548, 2 hinsichtlich der Priorität des
Parmenides vor dem Philebus und des letzteren vor der Republik.
Doch hat es mir (S. 541 f.) Siebeck wahrscheinlich gemacht, dass
Meno und Gorgias dem Phädrus, nicht in demselben Masse Gom-
perz, dass der Gorgias dem Meno vorangeht. Der längst ge-
äusserten, neuerdings wieder von Krohn, Teichmüller und besonders
eifrig von Chiappelli verfochtenen Behauptung, dass Aristophanes
in den Eklesiazusen die platonische Republik berücksichtige, bin ich
S. 551 ff., Krohn's und seiner Nachfolger Zerstücklungshypothese
S. 558ff. entgegengetreten. Aus der Darstellung der platonischen
Philosophie mögen als die erheblichsten neuen Zuthaten die
folgenden angeführt werden. S. 572 ff. wird die Bedeutung der
dialogischen Gedankenentwicklung für Plato, unter Bestreitung
JoeFs (vgl. Archiv I, 413 ff.) noch genauer als früher nachgewiesen.
S. 590f. vertheidige ich meine Auffassung der Abzweckung von
Theät. 187 B — 200 D gegen Bonitz; S. 605, 4 deu platonischen
Protagoras noch eingehender als früher gegen den Vorwurf eines
Widerspruchs mit Plato's sonstigen Grundsätzen. S. 622 suche ich
zu zeigen, wie die Mängel des induktiven Verfahrens bei Plato
nicht blos mit denen der sokratischen Induktion, sondern auch mit
der Hypostasirung der Begriffe zu transcendenten Ideen zusammen-
hängen. S. 647—652 werden die Erörterungen des Sophisten und
des Parmenides über das Seiende nicht blos ausfülu-licher, sondern,
wie ich hoffe, auch genauer wiedergegeben als in den früheren
Auflagen; der Zweck des Parmenides wird hier, im Anschluss an
Apelt und an meine eigenen früheren Erörterungen, in einer Aus-
einandersetzung mit Euklides, und der seines zweiten Theils im
G66
E. Zeller,
besondeni in dem Nachweis gefuiuleu, dass das Seiende nicht als
eine alle Vielheit von sich aussch liessende Einheit gedacht werden
könne. S. 661, 1 bestreite ich die von Steinhart und Jackson ver-
suchte Beschränkung der Ideen auf einen Theil der allgemeinen
Begrifte; S. 665, 4. 668, 3 Aufl'arth's, Jackson s und Krohn s Um-
deutung der Ideen theils in subjektive Gedanken, theils in „natür-
liche Typen": S. 671 f. Lotze's Versuch, ihr Fürsichsein auf ihre
unbedingte „Geltung" zurückzuführen. S. 678f. wird die Bestimmung,
dass in jedem Begriff Sein und Nichtsein verknüpft sei, etwas weiter
in ihre logischen Motive verfolgt, dagegen (675, 1) ein Zusammen-
hang derselben mit Demokrit abgelehnt. Die Untersuchung über
die Causalität der Ideen und die sie betreffenden Erörterungen
des Sophisten und des Philebus liegt S. 686 — 698 in neuer Be-
arbeitung, auch inhaltlich da und dort modificirt vor. Plato's
Lehre von der Materie (S. 719 — 744) bot vielfache Veranlassung,
meine Auffassung derselben zu vertheidigen und zu erläutern; die
Frage, woher die Weltseele ihre Bewegung hat, wird 774, 2 unter-
sucht. Der Sinn und die Bedeutung des platonischen Unsterblich-
keitsglaubens wird S. 825 ff. durch einige weitere Bemerkungen
erläutert, welche sich theils gegen neuere Umd^utungen rich-
ten , theils den Zusammenhang dieses Dogmas mit den übrigen
Theilen des Systems, die Anamnesis und die jenseitige Ver-
geltung betreffen. Die Darstellung der Psychologie (S. 843 ff.)
hat bald im Anschluss an neuere Bearbeitungen derselben bald
im Widerspruch gegen sie Erweiterungen erfahren, welche sich
hauptsächlich auf die Fragen über die Theile der Seele und
über die Willensfreiheit beziehen. Die Untersuchung über die
platonische Zahl (S. 857 ff.) konnte mit Rücksicht auf Susemihl's
Behandlung dieses Gegenstandes (Arist. Politik. 1879. II, 369 ff.)
etwas verkürzt werden; um so mehr bemühte ich mich, was
sich darüber sagen lässt, möglichst sicherzustellen. Plato's Ethik
(S. 867 ff.) gab nur zu wenigen Zusätzen Anlass; etwas mehr
bringt deren der Abschnitt ül)er die Staatslehre des Philosophen
(S. 892 ff.); da sich aber auch diese auf die Vertheidigung und
Erläuterung einzelner Punkte beschränken, kann ich hier ebenso
von ihnen absehen, wie aus demselben Grunde von denen, Avelche
I
Die deutsche Litt, über die sokrat. u. piaton. Philos. 1888. G67
sich Kap. 10 (Plato's Verhältiiiss zAir Religion und zur Kunst)
finden. Aueli die Untersucliung über die spätere Form der pla-
tonischen Lehre (S. 94611'.) ist unverändert geblieben, und der
Bericht über den Inhalt der Gesetze (95111".) nur um die Erörte-
rung über die „nächtliche Versammlung" und die sie betreffenden
Stellen, S. 967, 2, vermehrt worden. Dagegen wurde S. 978 ft'. die
Frage über die Integrität der Gesetze aufs neue besprochen und
es wurde im Anschluss an I. Bruns und in w^eiterer Verfolgung
früherer Bemei'kungen wahrscheinlich gefunden, dass der Heraus-
geber nicht blos platonische Bruchstücke ungeschickt combinirt,
sondern sich auch eigene, inhaltlich nicht gleichgültige, Zusätze
erlaubt hat. Die Geschichte der platonischen Schule (S. 982 — 1049)
gab nur zu kleineren Ergänzungen Anlass; in der Erörterung über
die rechtliche Stellung des akademischen Vereins hätte 986, 1 auch
Heitz (0. Müller's Geschichte der gr. Litt. IIb, 161ff.) genannt
werden sollen.
Siebeck, H. Untersuchungen zur Philosophie der Griechen. Frei-
burg i. B. Mohr. 1888. 279 S.
Auch hier handelt es sich um die zweite Auflage eines Werkes,
welches den Fachgenossen schon längst (seit 1873) bekannt ist;
dasselbe hat jedoch eine solche Bereicherung erfahren, dass mein-
als ein Drittheil seines jetzigen Inhalts zu dem früheren neu hinzu-
gekommen ist. Von den vier Abhandlungen, welche die 1. Aus-
gabe enthielt (über Sokrates' Verhältniss zur Sophistik; Plato's
Lehre von der Materie; Aristoteles von der Ewigkeit der Welt;
den Zusammenhang der aristotelischen und stoischen Naturphilo-
sophie) ist in der 2. die vorletzte beseitigt worden. Dagegen
sind drei seitdem in Zeitschriften erschienene Arbeiten neu hinzu-
gekommen: Nr. III: „Zur Chronologie der platonischen Dialogen"
(S.107— 151. 253— 274); IV: „Zu Aristoteles" (152— 180); V: „Zur
Katharsisfrage" (163—180). Unter den älteren Stücken sind mir
nun in Nr. I (Sokr. u. Soph.) nur unerhebliche Zusätze oder Weg-
lassungen begegnet. Auch Nr. II, Plato's Lehre von der Materie, hat
nur wenige Erweiterungen erfahren, und das Ergcbniss dieser Unter-
suchung ist, wne früher, in allem wesentlichen mit dem meinigen in
G68 E. Zell er,
]
Uebereinstimmung geblieben. Wenn jedocli Verfasser S. 12, 1 die
Ansicht äussert, die Idee des Guten sei als höchste aixiot der gött-
lichen Vernunft übergeordnet, so scheint mir ausser allem andern
auch aus Phileb. 22 C hervorzugehen, dass Plato vielmehr mit'
beiden Begriffen ein und dasselbe absolute Wesen bezeichnen
will und je nach dem Gesichtspunkt, unter dem es sich uns dar-
stellt, den einen oder den anderen Ausdruck wählt. Vgl. Ph. d.
Gr. IIa*, 709 ff. Dass die Worte des Aristoxenus: xal -o -epot?
oTi a-^aöov £<5tiv Iv nicht so erklärt werden können, wie diess
S. 69,1 geschieht, habe ich schon a. a. 0. S. 578^ (692^) gegen
Rettig bemerkt, und dieser selbst hat es inzwischen eingeräumt.
Die letzte von den sechs Abhandlungen: „die Umbildung der
peripatetischen Naturphilosophie in die der Stoiker" ist gleichfalls
fast unverändert geblieben. Zu dem, was m. E. einer Revision
bedurft hätte, gehört die Angabe (S. 241), dass Gott bei Aristoteles
die einzige immaterielle und ewige Substanz sei, und die Bemer-
kung S. 222, 2 über die Stelle des Clemens Protrept. 44 A, welche
Aristoteles die Annahme einer AVeltseele zuschreibt; denn es han-
delt sich hier, wie Di eis Doxogr. 130 f. gezeigt hat, um ein Miss-
verständniss, dessen Anlass wir nicht in dem Inhalt der aristote-
lischen Gedanken, sondern in einem Uebersetzungsfehler (']^u/>j
statt vou; für Cicero's mens) zu suchen haben. Ebensowenig kann
in der epikureischen Aussage bei Cic. N. D. I, 13 (mit S. 225) ein
wirkliches Zeugniss über Theophrast's Lehre gesehen werden.
Weiter will ich aber auf diese ältere Arbeit, deren Werth ich nicht
verkenne, hier nicht eintreten, und nicht untersuchen, ob Zeno dem
Aristoteles in derselben nicht doch etwas zu nahe gerückt wird.
Jüngeren Datums sind die drei übrigen Stücke, unter welchen die
1885 zuerst erschienene Abhandlung „Zur Chronologie der plato-
nischen Dialogen" (Nr. III, S. 107—151) nebst zwei neueren Nach-
trägen zu derselben (S. 253 — 274) nach Umfang und Bedeutung
die erste Stelle einnimmt. Vf. verfolgt in dieser Abhandlung den
Zweck, „aus Plato's Werken bestimmtere Citate seiner eigenen
Schriften herauszuerkennen" und für die Chronologie derselben zu
verwerthen (S. 108 f.); und er fasst hiefür theils die Fälle in's Auge,
in denen ein Gespräch auf ein früheres, theils die, in denen es auf
Die deutsclr Litt, ülier die sokrat. u. piaton. Pliiios. 1888. G69
ein sp'iteres Bezug nimmt. Hinsiclitlich der ersteren ist er uuii
mit mir und andern darüber einig, dass Rep. X, 611 Af. der Phädo,
Phädo72Ef. der Meno, Gess. V, 739 Bf. IV, 709 E ff. die Repu-
blik citirt werde, während er die, wie mir scheint unverkennbare
(Ph. d. (Jr. IIa*, 5481". nachgewiesene) Berücksichtigung des Phi-
lebus in der Republik nicht anerkennt; andererseits habe ich ihm
a. a. 0. 541, 1 eingeräumt, dass Phädr. 260 E f. auf Gorg. 462 Bff.
zurückweise. Noch mehr Gewicht legt aber S. auf die Fälle, in
denen ein Gespräch in einem andern zum voraus augekündigt
werde; und in diesem Theil seiner Untersuchung hat er mich, so
weit dieselbe über die bisherigen Annahmen hinausführt, nur zum
kleinsten Theil überzeugt. Zunächst nämlich kann ich ihm die
Voraussetzung (8. 122f.) nicht einräumen, dass Plato, wenn er eine
Erörterung mit einem ötsocjOi? G/.s'VjfxsOa oder einer ähnlichen
Wendung abbricht, dabei immer auf „einen erst für die Zukunft,
aber mit Bestimmtheit in Aussicht gestellten Dialog" hindeute. \n
Stellen, wie Prot. 361 E. Meno 99 E. Gorg. 447 C. 449 B. Phileb.
33 B, ist das „ein andermal" lediglich eine höflichere Form der
Ablehnung; ob es in anderen Stellen neben der Anerkennung, dass
eine weitere Erörterung wünschengwerth sei, auch die Absicht aus-
drückt, auf den Gegenstand wieder zurückzukommen, ob sich ferner
diese Absicht, wenn sie vorhanden war, auf eine schriftliche Dar-
stellung bezog, oder nur überhaupt eine weitere Besprechung in
Aussicht gestellt werden soll, die aber auch eine mündliche sein
konnte, und nach Phädr. 276 Äff. jedenfalls auch eine solche sein
musste, ob endlich die Absicht einer weiteren schriftlichen Erörte-
rung, falls sie bestand, auch in einer unserer platonischen Schriften
ausgeführt worden ist, auf alle diese Fragen lässt sich nicht
allgemeingültig, sondern immer nur nach den Anhaltspunkten ant-
worten, die uns der einzelne Fall an die Hand gibt. Diese scheinen
mir aber nur zum kleinsten Theil von der Art zu sein, dass sie
uns zu der Behauptung berechtigten, Plato wolle in einem seiner
früheren Gespräche ein späteres ankündigen. Für die Trilogie des
Sophisten, Staatsmanns und Philosophen, die Tetralogie des Staats,
Timäus u. s. f. steht die Sache freilich ausser Zweilei, und ebenso-
wenig wird man sie für den Theätet im Verhältniss zum Sophisten
ir,
Areliiv f. GHscIiirlite d. l'liih.sn|,liie. 11.
070 K- Zeller,
bestreiten dürfen. Aber dass I^ep. VII, 532 1) auf Unter.. ucbungen
bingedeutet werden soll, „wie sie im Sopbi.sten und im Pbilebu.s
vorliegen" (S. 118). ist scbon de.sbalb nicbt wabrscbeinlich. weil
gerade das, was a. a. 0. zunäcbst in Frage stellt, die Art der dia-
lektischen Erbebung zur Idee, dort lange nicbt so deutlich und
ausdrücklieb erörtert wird, wie hier. Wenn daher Glaukon dem
Sokrates sagt, er nehme seine Aeusserungen zwar an, hoffe aber
später noch mehr darüber zu hören, so soll dies m. E. zwar darauf
hinweisen, dass das, was hier in kurzen Zügen skizzirt ist. seine
vollständige Erläuterung nur in dem ganzen Zusammenhang der
platonischen Lehre linden könne; dass dagegen Plato in weiteren
Schriften darauf zurückzukommen beabsichtigte und diese Ab-
sicht ausgeführt hat, folgt nicht daraus. Von Polit. 285 A und
Theätet. 206 A f. räumt Vf. (S. 119f.) selbst ein, dass eine „Yor-
ausdeutung" dieser Stellen auf den Philebus sich nicht erweisen
lässt. Bestimmter sieht er (S. 120) im LacbeslOOC den Prota-
goras angekündigt; ich kann dies nicht finden. Ebensowenig hatte,
wie ich glaube, einer von den ersten Lesern des Protagoras Anlass,
bei 355 f. und 361 E an beabsichtigte schriftliche Fortsetzungen der
dortigen Untersuchungen zu denken ; so glaublich es auch ist, dass
sich Plato (wie S. 124 bemerkt wird) an beiden Stellen anders
ausgedrückt hätte, wenn der ersten Polit. 283 D ff., der zweiten
Meno und Gorgias vorangegangen waren. Aus Tim. 38 E schliesst
Vf. mit Susemihl, Phito habe in einem späteren Gespräch, wahr-
scheinlich dem Ilermokrates, seine astronomische Theorie ausführ-
licher darlegen wollen. Aber das Astronomische kann nach 27 A
nur dem Tiraäus, nicht dem Hermokrates und dem von ihm zu
behandelnden Thema zufallen, jener könnte auch 38 E schicklicher
Weise kein Versprechen geben, das dieser einzulösen hätte. Es
liegt daher am Tage, dass die Bemerkung, „hierüber werde viel-
leicht (latoq -dy o?v) später einmal eingehender gesprochen wer-
den", nicht das Versprechen, dies zu thun, in sich schliesst, son-
dern nur das Büttel ist. eine solche weitere Erörterung an diesem
Ort abzulehnen. Ebenso klar ist dies Charm. 169 D, wenn So-
krates hier. Tva o Xöyj: -ooiot. zu Kritias sagt, sie können ja die
Möglichkeit einer i~i3Tr,|ji/j i-'.STr^a-/); vorläufig zugeben; 7.uf)t? os
Die deutsche Litt, iilier die sokrat. u. piaton. Pliilos. 1888. 671
i7nax£'Vj[i.£i)a sits oG'-co? l/si si'ts \i-q. Wird diese Frage auch Theät.
200 B wieder berührt, so geschieht dies doch viel zu fiiiclitig, als
dass man Plato die Absicht zuschreiben (h'irfte, die im Charmides
zurückgestellte allgemeine Erörterung derselben an diesem Orte zu
geben: es ist ein Zusammentreffen, wie es sich gerade bei Plato
oft ganz ungesucht ergeben musste, aber dass er während der Ab-
fassung des Charmides sich schon mit dem Plan zum Theätet trug,
kann man daraus nicht schliessen. Soll ferner Polit. 263 A mit
dem X7.ÜT7. OS siaauöic . . . [i.£xt[x3v auf Phil. 16 If. vorausgedeutet
werden (S. 125), so steht dem entgegen, dass die Frage, aufweiche
diese Worte sich beziehen, die Verschiedenheit von -(svo: und [xspoc,
im Philebus gar nicht untersucht wird. Noch weniger vermag ich
(mit dem Vf. S. 126) Rep. IV, 430 C eine „Vorausdeutuug" auf
den Laches zu entdecken, der mit seinem negativen Resultat keinen-
falls für die Ergänzung dessen gelten könnte, was a. a. 0. ungleich
inhaltsvoller über das Wesen der Tapferkeit gesagt ist. Das ocuöi?
0= iTspl ctutoü . . . £-1 '/.atliov ouasv geht vielmehr auf S. 441 Cff.,
wo der dvopsta itoXi-txYj (430 C), d. h. der Tapferkeit des Gemein-
wesens, die des Einzelnen zur Seite gestellt wird, und diese zweite
Besprechung heisst deshalb eine noch schönere, weil sie die
Tapferkeit ihrem inneren Wesen und ihrer psychologischen Begrün-
dung nach schildert. Wenn daher Siebeck (127. 13911.) der ]\Iei-
nung ist, Rep. 1— IV, 444 E müssen vor dem Laches und mit
diesem vor dem Protagoras verfasst sein, so verliert diese in seine
Ansicht über die Reihenfolge der platonischen Schriften tief ein-
greifende Annahme durch eine richtigere Beziehung von Rep. 430C
sofort ihren Boden. Auch das kann ich nicht linden, dass Rep. X,
607 A im Widerspruch mit dem früheren alle Poesie aus dem
Staate verbannt werde (S. 143), es wird hier vielmehr nur die-
jenige verworfen, welche dem blossen Genuss dient (die t,ou3-x£V7]
Mousot), Hymnen und Enkomien dagegen werden ausdrücklich zu-
gelassen; ebensowenig steht X, 600E mit III, 392 D ff. im AVider-
spruch: alle Poesie ist Nachahmung der Erscheinung, aber sie be-
dient sich dafür (nach B. III) verschiedener Darstellungsformen;
beanstandet endlich Vf. S. 144 die Angabc X, 012 C: uiiz^c 7«?
r-i'sTcÖs u. s. w., .so scheint sie mir, da es sich hier nur um eine
45*
G7'2 E. Zell er,
kurze Erinnerung an das frühere handelt, durch 11.365 0. 366 E.
367 C. E vollkommen gerechtfertigt zu sein. — Vom Phädrus
sucht Vf. S. 130ff. nachzuweisen, dass er die Sophistenrede des
Isokrates berücksichtige, und somit um 390 geschrieben sei. Ich
meinerseits glaube mit Useuer vielmehr den Phädrus in der So-
phistenrede berücksichtigt, und halte es für ganz undenkbar, dass
Plato dem Rhetor nach dem Erscheinen dieser mit gegen ihn
selbst gerichteten Kriegserklärung das Lob noch ertheilt hätte,
das ihm am Schluss des Phädrus gespendet wird. Zwischen
§ 12 f. der Sophistenrede und Phädr. 275 C f. scheint mir über-
haupt keine Beziehung stattzufinden, da sich jene Para-
graphen weder auf die schriftstellerische Thätigkeit noch auf die
Philosophen beziehen; wenn Isokr. § 2 die letzteren tadelt, dass sie
Zukünftiges zu kenneu glauben, so geht dies nach § 3. 7 nicht
auf „logische Tendenzen" zur Gewinnung einer Theorie der In-
duktion (Sieb. 137f.), sondern auf das Versprechen, ihre Schüler
glücklich zu machen. Auf Grund der bisher besprochenen Unter-
suchungen setzt nun S. den Meno um 395, Rep. I 394 an und
lässt hierauf Rep. 11 — IV, Lach. Prot. Gorg. Phädr. Rep. V — IX.
Menex. Symp. (385) Theät. (nach 374) Soph. Polit. Plileb. Parm.
Gess. in dieser Ordnung folgen. Zur Unterstützung dieser An-
nahmen dienen ihm (neben einer Auseinandersetzung mit Pfleiderer,
S. 266 fl'.. die ich hier übergehen darf) einige sprachstatistische
Beobachtungen (S. 253 If.). welche sich auf die Frage- und Ant-
wortsformeln beziehen. Indessen hat das, was er in dieser Bezie-
ziehung beibringt, keine grosse Beweiskraft. Von 100 direkten
Fragen werden in den Gesetzen 28 mit apa eingeführt, Soph. 27,
Pol. und Phil. 29, Rep. nur 19. Aber in der Rep. selbst hat das
X B. einen kleineren Procentsatz der apa (19) als B. V — IX (20),
und diese einen kleineren als B. II — IV (23), und unter den übri-
gen Schriften steht eine so frühe wie der Lysis (23) dem Parme-
nides (24), der nach S. dem Philebus gleichaltrig wäre, nahezu
gleich, und der Theätet (17), den er so weit herabrückt, wird nicht
blos von ihm und von der Rep., sondern auch vom Phüdo (19),
Krat. (19), und Pi'ot. (19) übertrolfen. Da fehlt es doch gerade
an dem einzigen, worauf ein Schluss auf die Abfassungszeit der
Die deutsche Litt, über die sokrat. u. piaton. Philos. 1888. 673
Schriften gegründet werden könnte: an der .stetigen Zu- oder Ab-
nahme im Gebrauch eines Ausdrucks. Nicht anders verhält es sich
in einem zweiten Fall, den S. anführt. Auf 1(X) S. Herrn, finden
sich in den Gess. 6, 23 (nach Ritter 6, 95) jxöiv, Soph. 13,41
(R. 14, 63), Pol. 9, 64, Phil. 10, 94 (R. 11, 49), Rep. nur 1, 26.
Aber was kann man daraus schliessen, wenn man sieht, dass der
Meno und Euthydera (mit je 6, 66) in der Häufigkeit der ikuv den
Gess. gleichstehen, der Theätet (3, 96) weit hinter ihnen zurück-
bleibt, dem Parmenides dieses Fragewort ganz fehlt, während an-
dererseits Soph. Pol. Phil., die dem Parm. und den Ge.ss. unmittel-
bar vorangehen sollen, alle andern Gespräche in seinem Gebrauch
so weit übertreft'en? Weiter bemerkt S. (2591?.), wenn Plato die
Antworten bald problematisch (sor/av und ähnliches) bald asser-
torisch ('fiixt u. s. w.) bald apodiktisch (äva-f//; u. dgl.) ausdrücke,
so zeige sich, „dass der Gebrauch der problematischen Ausdrücke
mit der Zeit entschieden zu Gunsten der apodiktischen zurückge-
treten sei". Allein seine eigene Zusammenstellung beweist, wie
unmöglich es ist. die Aufeinanderfolge der Gespräche nach diesem
Merkmal zu bestimmen. Berechnet man nämlich auf Grund derselben
das Verhältniss der apodiktischen Bejahungen zu den problema-
tischen in den Gesprächen, welche nach diesem Masstab die spä-
testen sein müssten, so erhält man auf je 100 problematische Be-
jahungen an apodiktischen: im Theät. 246; Parm. 306; Gorg. 328;
Polit. 371; Euthyd. 375; Phädo 415; Phädr. 420; Soph. 451; Gess.
452; Rep. 474; Phil. 619. Diese Reihenfolge stimmt weder mit
der von S. angenommenen noch mit irgend einer anderen denk-
baren auch nur annähernd übereiu. In der Republik allerdings
ist der unterschied der späteren Bücher gegen die früheren ein
auffallender (B. I hat auf 100 problematische Bejahungen 188 apo-
diktische, B. II— IV 341, B. A^— IX 673, B. X 980); aber wer des-
halb diese Theile des Werkes in verschiedene Sprachperioden ver-
legen wollte, der müsste hieraus auch die weiteren Consequenzen
ziehen, die Gesetze für älter erklären als Rep. V— X und Philebu»
u. s. w. Macht S. endlich auch noch die verschiedene Häufigkeit
der Antwortsformeln n' [xr^v; und i-(<])^;z geltend, so werde ich über
jenes sofort (S. 680) sprechen; r.'cu-'s (bezw. ly^qs), dessen selteneres
■5
li
674 E. Zeller,
Vorkommen ein Anzeichen späterer Abfassung sein soll, findet sich
nach Siebeck\s eigener Angabe (S. 262) im X B. der Republik
verhältnissmässig ebenso oft als im I, und häuliger als B. II — IV.
V — IX und Prot.; im Theät., den er so spät setzt, doppelt so oft,
als Prot, und Rep., und im Phädrus, den er doch auch nicht über
390 herabrückt, fehlt es gänzlich. Auch dieses Merkmal ist somit
unbrauchbar. — Von den noch übrigen Theilen unserer Schrift
bespricht Nr. IV „Zu Aristoteles" (S. 152— 1G2 aus Bd. XL des
Philologus) die Stellen De an. 11,7. 418 b4. III, 2. 425 blT. III,
4. 429b 16. De memor. 2. 452a 17fr. (vgl. Freudenthal Arch.
II, 5f.) Anal. post. II, 19. 99 b 20, und macht dabei namentlich
auf den Zusammenhang zwischen Aristotelischem und Platonischem
aufmerksam. In Nr. V „Zur Katharsisfrage" (S.163 — 180, v. J. 1882)
will Vf. die zaöctpjt^ töjv 7:7.t}yi[xaTov nicht als Befreiung von Affek-
ten, sondern als Reinigung der Aflekte aufgefasst wissen (was mir
aber doch für den aristotelischen Sprachgebrauch zweifelhaft ist);
die sachlich wichtigere Frage, wie sich Arist. diese Reinigung be-
wirkt denkt, beantwortet er dahin, dass „der Affect, indem er
aufgeregt wird und sich ausleben darf, doch auch zugleich einer
ästhetisch-künstlerischen Beeinflussung durch die Eigenschaften des
Geschauten unterliege"; was in ansprechender und durchdachter
Erörterung weiter ausseführt w^ird.
■ Unter den Arbeiten über einzelne Philosophen bespricht
Sokrates:
GüoKEK, J. Sokrates im Verhältniss zu seiner Zeit. Lemberg
1888 (Selbstverlag) 188 S.
Was uns hier geboten wird, sind Vorträge vor einem grösse-
ren Kreise; und von solchen lassen sich im allgemeinen keine
neuen Forschungen erwarten, namentlich wenn der Vortragende
bei seinen Zuhörern so geringe Vorkenntnisse voraussetzen zu
dürfen glaubt, wie dies hier der Fall zu sein scheint. Zeigt sich
daher der Verfasser auch mit den Quellen, denen wir unsere
Kenntniss des Sokrates verdanken, wohl vertraut und in der
neueren Litteratur über ihn und seine Zeit belesen, so wird doch
der Fachmann seinem Buche kaum etwas Xeues entnehmen können.
«
Die deutsche Litt, über die sokrat. u. piaton. Philos. 1888. 675
Es soll dies an sich kein Tadel sein; es ist vielmehr viel besser,
sich in populärwissenschaftlichen Schriften an das Gesicherte zu
halten, statt ohne ausreichenden Beweis (wie man in diesem Fall
muss) Neues zu bringen. Allerdings hätte aber der Verfasser auch
innerhalb der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, vollkommeneres
leisten können, wenn er in seinen Schilderungen das bedeutende
und geschichtlich wichtige voller ins Licht zu stellen, das ausser-
wesentliche auf einen engeren Raum zu beschränken gewusst hätte;
wenn er ferner unzuverlässigen Berichten der Alten und unsicheren
Vermuthungen der Neueren grösseres Misstrauen entgegengebracht;
wenn er sich endlich einer geschmackvolleren Darstellung und
eines reineren Deutsch befleissigt hätte.
Eine neue Erklärung des sokratischen Dämonium verheisst
DU Pkel, C. Die Mystik der alten Griechen. Leipzig, Günther,
1888. S. 121—170.
•Das Mittel dazu ist die .,transcendentale Psychologie''. Ihr
verdankt der Verfasser die Erkenntniss, dass „unser irdisches Wesen
nur die Hälfte unseres eigentlichen Wesens ist, dessen andere
Hälfte für uns transcendental bleibt" (S. 136), dass aber dieses
„transcendeutale Subjekt" (was muss sich der gute Kant nicht
alles gefallen lassen!) doch auch in manchen Fällen, wie im Traum,
Somnambulismus, Spiritismus u. s. w., in das irdische Bewusstsein
herübergreift, und dass in solchen Uebergrift'en auch das dämonische
Zeichen des attischen Philosophen bestand, üb sich diese Er-
klärung auf das sokratische Dämonium anwenden Hesse, wenn
sich dieses in der Weise bethätigt hätte, wie Verfasser es sich
vorstellt, kann hier deshalb ununtersucht bleiben, weil er sich
schon von dem Thatbestand, den er erklären will, ein ganz falsches
Bild macht. Mit den authentischen Mittheilungen Xenophon's und
Plato"s stehen für ihn so apokryphe Berichte, wie die des I. Alci-
biades und des Theages, auf Einer Linie; denn wenn der letztere
— bemerkt er S. 149 scharfsinnig — auch nicht acht sei, so
müsse man einem Autor doch glauben, dessen Schrift einem Plato
so lange zugeschrieben wurde. Den Scherz im Euthydem 272 E
nimmt er für baare Münze und aus Symp. 175 C schliesst er
676 K- Zeller,
(S. 147) alles Ernstes auf eine physische ,, Gedankenübertragung".
Plutarch De genio Socratis ist ihm eine Geschichtsqiielle ersten
Ranges, und zu den Eideshellern, die er für seine Theorie herbei-
holt, gehört neben dem Buch Tobia und Virgil, ( urdanus und der
Seherin von Prevorst und vielen anderen, auch Defoe's Robinson.
Wer in seiner historischen Kritik über diesen Stand der Unschuld
hinaus ist, kann zum Verständniss des Sokrates mit der gemeinen
Psychologie auskommen und die transcendentale entbehren. n
lieber die kleineren sokratischen Schulen liegt mir nichts
vor. Plato betreffend nenne ich zunächst:
RiTTEK, Cdnst. Untersuchungen über Plato. Stuttg., Kohlhammer.
1888. Vlll u. 187 S.
Von den zwei Abhandlungen, welche diese Schrift enthält,
bespricht die zweite (S. 143ff.): ,, Gedankengang und Grund-
anschauungen von Plato's Theätet", indem sie eine klare Ueber-
sicht über den Inhalt und Gang dieses Gesprächs gibt, und S. 168ff.
einige weitere Erläuterungen beifügt. Doch ist dieses, vom Ver-
fasser selbst in einen Anhang verwiesene Stück von geringerer
Bedeutung; dem gegenüber, was es S. 177 ff. von dem Zweck der
Aporieen hinsichtlich der o'jca <\»toryqc (Th. 187 Bff.) sagt, glaube
ich an meiner Auffassung dieses Abschnitts (Ph. d. Gr. 11 a*. o90f.)
festhalten zu dürfen. Viel ausführlicher und wichtiger ist die
erste Abhandlung, welche die Aeclitheit und die Chronologie der
platonischen Schriften auf dem von Ditten berger zuerst be-
schrittenen Wege der sprachstatistischen Vergleichung auszumitteln
unternimmt. Sein Ergebniss fasst R. selbst S. 127 f dahin zu-
sammen: Wir haben drei zeitlich getrennte Gruppen platonischer
Schriften zu unterscheiden. Die erste umfasst diejenigen, welche
theils vor, theils in den 15 Jahren nach Sokrates' Tod verfasst
sind; zu Jenen rechnet R. Lach. Hipp. I und II, Charm., Prot.,
Euthyd., Krat.; zu diesen: Apol., Krito, Euthyphro, Gorg., Meno,
]*hädo, Menex., Gastmahl. Eine eigene Schreibweise haben die
Gespräche der zweiten Gruppe: Theätet, Phädrus und Republik.
Verfasser lässt diese (S. 54. 128) nach einer längeren Pause in
Plato's schriftstellerischer Thätigkeit in dem Zeitraum entstehen,
Die deutsche Litt, über die sokrat. ii. piaton. Philos. 1888.
677
den seine zweite sicilische Reise begrenzt; der Theätet, glaubt er,
sei um 370, der Phädrus etwas später, keinenfalls aber vor 375,
und beide seien in denselben Jahren geschrieben worden, in denen
Plato an der Republik arbeitete. Eine dritte Klasse platonischer
Schriften, aus der letzten Lebensperiode des Philosophen, bilden,
wie schon Dittenberger annahm, der Sophist, welcher höchstens
zwischen der zweiten und dritten sicilischen Reise verfasst sein
soll, und die nach der letzteren niedergeschriebenen Werke: Polit.
Phileb. Tim. Kritias, Gesetze. Auch hier findet aber R. (S. 48 ff.)
die Annahme nöthig, dass der Philebus den ersten Büchern der
Gesetze gleichzeitig sei oder unmittelbar vorangehe, der Timäus
gleichzeitig mit der zweiten Hälfte der Gesetze geschrieben, die
Vollendung des Kritias ebenso, wie die der Gesetze, durch Plato's
Tod verhindert worden sei. Den i.ysis und den Parmenides er-
klärt er für unächt.
Die Begründung dieser Annahmen beruht bei R., wie bemerkt,
fast ausschliesslich auf statistischen Erhebungen über den Sprach-
gebrauch der einzelnen Schriften; nur eine nachträgliche Ver-
theidigung ihrer Ergebnisse enthalten die weiteren Bemerkungen
S. 11 2 ff. Folgen wir ihm nun zunächst auf das von ihm gewählte
Untersuchuugsfeld, so verdient der Fleiss, die Geschicklichkeit und
die Genauigkeit, womit er bei der Sammlung und Zusammen-
stellung des sprachstatistischeu Materials verfahren ist, eine rückhalt-
lose Anerkennung. Die Arbeit des Verfassers übertrifft alle ihre
Vorgängerinnen in dieser Hinsicht an Reichhaltigkeit; und auch
für die Verwerthung dieses Materials finden wir bei ihm neue be-
achtenswerthe Gesichtspunkte. Er sieht nämlich das bezeichnendste
Merkmal für die chronologische Abfolge der platonischen Schriften
in dem Gebrauch der verschiedenen Frage- und Antwortsformeln;
und um die Durchschnittszahl für das Vorkommen jeder Formel
in einer gegebenen Schrift zu bestimmen, thcilt er die Zahl ihres
A'orkommens nicht mit der Seitenzahl dieser Schrift, sondern mit
der Gesammtzahl der ,, formelhaften Antworten", die sich in ihr linden;
so dass z. B. die Republik, in der auf 318 S. 35 ti [iv vorkommen,
zu den Gesetzen, welche deren auf 417 S. 48 haben, im Gebrauch
dieser Formel sich nicht verhalten soll, wie 10, 69: 11, 51, sondern
678 E. Zeller,
wie 2, 78:8, 45, weil die Gesammtsuinme der Antwortsformeln
in jener 1260 beträgt, in diesen nur 5G8. Indem nun Verfasser
die relative Häufigkeit der verschiedenen Antwortsformeln nach
diesem Masstab, die vieler anderen Ausdrücke nach den Seiten-
zahlen bestimmt, findet er (S. 321'.), dass unter etwa 40 von ihm
zusammengestellten sprachlichen Erscheinungen, die „zum über-
wiegenden Theile" dem Soph. Pol. Philcb. und „so weit dort Raum
dazu ist", auch dem Timäus und Kritias mit den Gesetzen gemein
sind, 24 auch in der Rep. vorkommen, 20 im Theätet, 18 im
Phädrus, während uns in den übrigen Gesprächen nur die wenigsten
derselben, oft nur eine oder zwei begegnen ; und er glaubt dadurch
zunächst • seine Unterscheidung der drei Gruppen hinreichend ge-
rechtfertigt zu haben. Mir, ich gestehe es, hat er weder durch
diese, noch durch seine weiteren Erörterungen die Bedenken be-
nommen, welche ich den bisherigen Versuchen, die Reihenfolge
der platonischen Schriften ausschliesslich oder doch überwiegend
nach sprachstatistischeu Merkmalen zu bestimmen, (zuletzt Ph. d.
Gr. IIa, 51 2 ff.) entgegengestellt habe; und er hat mich weder von
der Unfehlbarkeit seiner Methode noch von der Sicherheit seiner
Ergebnisse so ausreichend überzeugt, dass ich den apodiktischen
Ton gerechtfertigt fände, in den er dann und wann verfällt. Diese
Anwendung der Sprachstatistik auf die platonischen Schriften be-
ruht auf der Voraussetzung: wenn sich Schriften desselben Ver-
fassers in ihrer Ausdrucksweise so erheblich unterscheiden, dass
diese Unterschiede nicht für zufällig gehalten werden können, so
müssen dieselben auf eine Aeuderung im Sprachgebrauch des
Schriftstellers zurückgeführt, und somit die Schriften, zwischen
denen sie sich linden, verschiedenen Perioden seines Stils zu-
gewiesen werden. Aber woran lässt sich erkennen, welche Sprach-
unterschiede nur von dieser, welche von anderen Ursachen her-
rühren können? denn ,, zufällig" im strengen Sinn ist überhaupt
keine solche Erscheinung, so möglich es auch ist, dass ihre
Gründe zu verwickelt, ihre äusseren und inneren Veranlassungen
zu individueller Art sind , um auf dem einzigen hier zulässigen
^V^ege, dem der Hypothese, von uns aufgefuiulen werden zu
können. Und wie verhalten sich die platonischen Schriften zu
I
I
1
Die deutsche Litt, über die sokrat. u. piaton. Philos. 1888.
679
einander nicht blos hinsichtlich einzelner, wenn anch verhältniss-
mässig zahlreicher, AVörter und Wendungen, sondern hinsicht-
lich ihres ganzen Sprachgebrauchs? Die erste von diesen Fragen
Hesse sich nur durch eine umfassende Induktion einigermassen
befriedigend beantworten : es müssten von einer Reihe von Schrift-
stellern Werke, deren Abfassungszeit genau bekannt ist, sprach-
statistiscii untersucht, und es miisste dadurch so weit als mög-
lich ermittelt werden, ob und an welchen Merkmalen das Spätere
sich von dem Früheren auf diesem Weg unterscheiden lässt. So
lang es an sicheren Kriterien hiefür fehlt, schweben alle Ver-
muthungen über die Reihenfolge der platonischen Schriften, deren
alleinige oder hauptsächlichste Grundlage die Sprachstatistik ist,
mehr oder weniger in der Luft. Auch die zweite Frage bedarf
aber zu ihrer endgültigen Beantwortung eines umfassenderen Appa-
rats, als er auch nach des Verfassers mühsamen und daukens-
werthen Ermittlungen bis jetzt vorliegt. Nur eine vollständige,
auch das Grammatische, Syntaktische und Stilistische umfassende
Bearbeitung der platonischen Sprach- und Darstellungsweise in den
verschiedenen Schriften könnte der Aufgabe genügen, wie schon
Ph. d. Gr. a. a. 0. bemerkt ist. Eines der werthvollsten Hülfsmittel,
sowohl für diese als für andere Untersuchungen, wäre ein neues,
dem Stand und den Bedürfnissen der heutigen Platophilologie ent-
sprechendes Lexicon Platonicnm, und es wäre höchst anerkenneus-
werth, wenn der Verfasser, dem bereits so schöne Vorarbeiten hie-
für zu Gebote stehen, einige Jahre einer solchen Arbeit widmen
wollte. Denn wenn sich überhaupt auf dem Wege der Sprach-
statistik etwas erreichen lässt, so kann dies nur durch eine all-
seitig erschöpfende Untersuchung des platonischen Sprachgebrauchs
geschehen; dagegen lassen sich jeder auf partielle Beobachtungen
ruhenden Theorie über die Reihenfolge der platonischen Schriften
nicht blos aus anderen , sondern auch aus dem sprachstatistischen
Gesichtspunkt selbst Bedenken entgegenstellen, die sie wirklich zu
widerlegen nicht im Stand ist. Ich habe dies anderswo an den
Vorgängern des Verfassers nachgewiesen; ich will es auch an
seinen Ergebnissen, so weit mir hier möglich ist, nachzuweisen
versuchen.
680 E. Zeller, f\
Unter 100 von den Antwortsformeln, auf welche R. für seine
Anordnung das Hauptgewicht legt, kommen auf Nat im Gorg.
19, 64; Soph. 14, 92; Theät. 12, 56; Polit. 11, 15; Phädr. 10, 14;
Phädo 8, 52; Phileb. 7, 32; Rep. 7. 14; Gess. 5, 83. 'AX-/if>f,
ohne Beisatz Theät. 3, 16; Rep. 2, 30; Soph. 2. 22; Pol. 2; Gess.
0, 71; Phileb. 0, 64; Phädo 0, 57; Gorg. 0; Phädr. 0. Ilavu -asv
ouv Phädo 9, 66; Pol. 7, 17; Phil. 6, 69; Theät. 5, 64; Gess. 5,
8; Rep. 5, 08; Soph. 4, 44: Phädr. 2. 90; Gorg. 2, 08; Ua^^xd-ara
}x£v o'jv (welches nur in dvn nachbenannten 9 Gesprächen vor-
kommt) Phädr. 4, 35; Rep. 3, 31; Soph. 3, 17; Theät. 3, 16;
Gess. 2, 27; Pol. 1, 6; Lach. 1, 3; Phil. 1, 27; Tim. (der nur
13 Antworten hat) 7,-69. Antworten mittelst Wiederholung
der Frage: Rep. 17, 3; Phädo 17, 04; Phil. 10, 83; Polit. 10, 79;
Theät. 9, 82; Phädr. 8, 7; Gorg. 8, 33; Soph. 6, 38; Gess. 6.
Tt jxr^v; Phädr. 17, 82; Gess. 8, 45; Phü. 8, 28; Polit. 7, 97;
Theät. 4, 56; Soph. 3, 81; Rep. 2, 78; Phädo 0; Gorg. 0. 'H yap;
Phädr. 5, 8; Gorg. 3, 96; Gess. 2, 81; Theät. 2, 45; Rep. 2, 22;
Soph. 2, 22; Phil. 1, 59; Pol. 1, 19; Phädr. 0, 57. IlÄc; Polit.
6, 77; Soph. 6, 35; Phil. 5, 73; Rep. 2, 54; Gess. 2, 46; Phädr.
2, 9: Theät. 1, 4: Phädo 0, 57; Gorg. 0. Keine von diesen
Reihen entspricht der von R nach andern Beobachtungen her-
gestellten, keine zeigt uns eine stetige Zu- oder Abnahme der an-
geführten Antwortsformeln in der Richtung von Gorgias und Phädo
durch Theät. Phädr. Rep. zu Soph. Pol. Phil. Gess. Und das
gleiche Hesse sich noch an weiteren Beispielen nachweisen. So
kommt z. B., wenn ich richtig gezählt habe, die von R. nicht ver-
zeichnete Antwortsformel : -ä)? "i'otp ou; in den (iesetzen (568 l'ormel-
hafte Antworten) 43mal vor; Soph. (315) 25 m.; Polit. (251) 10m.
Phil. (314) 16m.; ttöjc o o'j; (bezw. xcl -Co; o'j':) Gess. 22 m.:
Soph. 12 m.; Pol. 14 m.; Phil. 8 m. — so dass wenigstens der
Philebus (und bei -Co; -otp oo; auch der Polit.) im Gebrauch
dieser Formeln hinter den Gesetzen, denen er nach R. zunächst
stände, bedeutend zurückbleibt und dem Gorgias (16 -. -;. ou;
auf 336 Antworten) fast ganz gleich steht. Noch wichtiger ist
aber, dass die Zahl der Antwortsformeln, wie sich gerade aus
Ritter's Uebersicht ergibt, und somit auch die der ihnen ent-
Die deutsche Litt, über die sokrat. n. piaton. Philos. 1888. 681
sprechenden Fragen und Antworten, auf die einzelnen Gespräche
so ungleich vertheilt ist. Es kommen nämlich unter den oben-
genannten Dialogen von jenen Formeln auf je 100 Seiten Hermann's
in Rep. 39(3; Soph. 384; Phileb. 361; Polit. 302; Gorg. 289;
Theät. 282; Phädo 223; Phädr. (nach Abzug der Reden) 162;
Gess. 136. Der Wechsel von Frage und Antwort tritt also, so
weit er in diesen Formeln zum Ausdruck kommt, in den Schriften,
welche R. in die nächste Nähe der Gesetze herabriickt, 2 — 3 mal
so oft ein, als in diesen, und nicht viel weniger häufig als in der
Republik, welche unter allen platonischen Gesprächen, mit Aus-
nahme des Parmenides (in dem auf 100 S. 972 kommen), die
höchste Procentzahl von Antwortsformeln hat. Mir scheint diese
Eine Thatsache für die vorliegende Frage entscheidender zu sein
als alles Zusammentreffen in einzelnen Frag- und Antwortsformeln.
Denn sie beweist, was freilich auch sonst am Tage liegt, dass
Plato, als er die Gesetze verfasste, von der dialektischen Schärfe
und Beweglichkeit weit abgekommen war, die sich im Sophisten,
Politikus und Philebus, trotz ihres theilweise trockenen Tons, nicht
weniger bethätigt, als in der Republik und den ihr vorangehenden
Schriften ; dass daher jene drei Gespräche den Gesetzen unmöglich
gleichzeitig sein oder zeitlich so nahestehen können, wie R. an-
nimmt. Und damit stimmt vollkommen überein, dass auch die
Unterbrechung des Gesprächs durch längere fortlaufende Vorträge,
welche in den Gesetzen einen so breiten Raum einnehmen, (B. V.
VI, 754 A — 768 E. 770 B — 776 E. VII, 806 D— 810 C. SUD
— 817E. VIII, 842 B — 852 D. IX, 864 C — 876 A. 876 A —
883 C. X, 907D — XI, 922C. XI, 926 A— 931 A. 931 E— XII,
960 C) in Soph. Pol. Phil, keine Parallele hat, und dass den
29 Fällen von fingirtem Dialog, die meine Plat. Stud. 79 f. aus
den Gesetzen anführen, in den genannten drei Schriften zusammen
(252 S. gegen 417 der Gess.) nur zwei (Soph. 243 Dff. Phil. 63 Äff.
— Soph. 248 A ist anderer Art) gegenüberstehen. Auch diese
Züge scheinen mir viel charakteristischer zu sein und viel weniger
aus ,, zufälligen" Ursachen abgeleitet werden zu können, als das
Zusammentreffen in einzelnen Ausdrücken.
Neben den Frag- und Antwortsformeln sucht R. (S. 2911'.) auch
682
E. Zeller,
von anderen Ausdrücken zu zeigen, dass ihr Gebrauch seine An-
ordnung der Gespräche unterstütze. Auch hier kann ich aber nicht
umhin, ihm auf Grund seiner eigenen Ermittelungen einige nega-
tive Instanzen entgegenzuhalten. Auf 100 Hermann'schen Seiten
finden sich Beispiele von AtjXov oti Rep. 14, 78; Gorg. 12, 93;
Soph. 12, 19: Polit. 12,05; Phädr. 11, 76: Phil. 9,2; Phiido 7, 59;
Gess. 3, 84; Theät. 1. Jonische Dativformen ( — oTai — atat)
Gess. 20, 38; Pol. 4, 82; Phädr. 4, 41; Rep. 1, 89; Gorg. Phädo
Theät. Soph. Phil. 0. 'Evcxot Gorg. 20,72; Gess. 26, 62; Polit.
26,5; Phil. 21, 84; Rep. 21,7; Phädo 16, 46; Phädr. 13, 23;
Theät. 11, 88; Soph. 7, 32. Xocf.iv (wegen) Phädr. 11, 76; Gess.
7, 91 ; Theät. 3, 96; Rep. 3, 77; Pol. 3, 61; Phil. 3, 46; Gorg. 2, 58;
Soph. 1, 22; Phädo 0. '\aw; (ohne -dyo.) Gorg. 33, 62; Phädo 24,
0,5; Phil. 21, 95; Theät. 21, 78; Soph. 19, 51; Phädr. 19, 12; Rep.
17, 92: Pol. 12, 05; Gess. 0,96. 'Idya. (in der Bedeutung vielleicht,
ohne i'awc) Soph. 8, 54; Phil. 8, 04; Phädr. 7, 35; Pol. 6, 02; Theät.
3, 96; Phädo 2, 53; Rep. 1, 57; Gorg. 0, 86; Gess. 0, 24 [II, 658 A].
(Dagegen allerdings 'dyx iatuc, das sonst nur noch einmal im
Timäus vorkommt, Pol. 3, 61 ; Phil. 3, 46; Gess. 2, 64; Soph. 2, 44.)
Auch in diesen Fällen stehen Soph. Pol. und Phil, der Republik
und einigen anderen Schriften weit näher als den Gesetzen. Ebenso
fehlt ihnen ein häufigeres Vorkommen jener Eigenthümlichkeiten,
deren auffallendes Hervortreten in den Gess. schon meine plat.
Stud. S. 85 ff. nachgewiesen haben: die Vorliebe für ungewöhnliche
Wörter und AVortformen, für die Substantive auf — aa, die zu-
.sammengesetzten Zeitwörter, für eine feierliche, sogar schw'ülstige
Ausdrucksweise, für Limitationen, welche die Bestimmtheit der Rede
verwischen, für eine Verflechtung von Substantiven, unter welcher
die Durchsichtigkeit leidet u. s. w. — Dinge, welche doch auch zu
dem gehören, was den Sprachcharakter der Schriften bezeichnet.
Höchst auffallende Erscheinungen zeigt ferner (vgl. Ph. d. Gr.
II a,\ 514, 2) Höfer's Nachweisungen zufolge der Gebrauch
von Ts. Diese Partikel, in der Mehrzahl der platonischen Ge-
spräche, namentlich in den anerkannt frühesten, sehr vereinzelt,
kommt in den oben verglichenen nebst Timäus und Kritias in fol-
gender Progression vor. Es .stehen auf je 100 Seiten: 1) einfache
Die deutsche Litt, über die solirat. u. piaton. Pliilos. 1888. 683
-f. Gorg. 0,86: Phil. 1,15; Pluidol,27; Soph.3,G6; Theät. 5,95;
Pol. 7,23; Rep. 7, 85; Ges.s. 10,31; Phäclr. 32, 35; Krit. 147,35;
Tim. 255, 68; 2) "... -s: Phil. 0; Gorg. 0,86; Phädo 2,53; Pol.
3,61; 8oph.3, 66; Theät. 4, 95: Krit. 5, 26; Rep. 11; Gess. 11,99;
Tim. 12, 5; Phädr. 17, 65. Es wäre sehr kühn, wenn jemand
schliessen wollte: da eine so ausserordentliche Ungleichheit im Ge-
brauch einer so charakteristischen Partikel „unmöglich zufällig sein
könne", so müssen die Gespräche, zwischen denen sie sich findet,
verschiedenen Stilperioden angehören: der Philebus u. s. w. der
ersten, Soph. u. a. einer zweiten, Polit. Rep. und Gess. einer dritten,
Tim. Krit. Phädr. der letzten. Aber an sich wäre dieser Schluss
ebenso berechtigt, wie diejenigen, welche nach der gleichen Methode
aus anderen Erscheinungen andere Resultate ableiten. Mir beweist
dieser Sachverhalt nur, wie gross auch bei scheinbar durchschlagen-
den Parallelen die Gefahr ist, dass man sich zu übereilten Eolge-
rungen verleiten lasse. Und das gleiche bestätigt die schon öfter
besprochene Erscheinung, dass sich nicht selten auch zwischen den
Theilen einer und derselben Schrift sprachliche Unterschiede von
der gleichen Art und dem gleichen Umfang finden, wie die, deren
Vorkommen in verschiedenen Schriften ein unfehlbarer Beweis ihrer
weit auseinanderliegenden Abfassungszeit sein soll. R. selbst weist
(S. 48f.) darauf hin. dass in den vier ersten Büchern der Gesetze
die Form Trorspov nur dann gebraucht wird, wenn das folgende
Wort mit einem Vokal anfängt, während vor Konsonanten immer
die Pluralform -Ko-epa. dafür eintritt; dass ferner B. A und VI keines
von beiden haben, und in den folgenden Tzo-eocf. nur noch einmal,
sonst immer Trotepov, darunter viermal vor Konsonanten steht. Er
schliesst nun daraus, Plato habe seine frühere Uebung, TroTspov auch
vor Konsonanten zu setzen, nur vorübergehend verlassen, und sei
in der zweiten Hälfte der Gesetze wieder zu ihr zurückgekehrt.
Sehr wahrscheinlich ist diess eben nicht; und in anderen Fällen
urtheilt Vf. auch anders: dass o'vtwc in der Rep. B. I — IV und VIII
gar nicht, B. IX nur an Einer Stelle vorkommt, wo es gar nicht
aimgaugen werden konnte, dass ebd. von 44 Troispov B. VII — IX
jetzt drei stehen, und keines davon vor einem Konsonanten . dass
Iieit; stdtuc dem V und IX. -ri o(X-/)i)cia dem I. II. V. \ 11, /ct'piv
Arthiv f. t.
G84 E. Zell er,
dem I. IV. VIII— X Buch fehlt, ist für ihn mit Recht kein Grund,
der Vertheilung dieser Schrift an verschiedene „Stilperioden" zu-
/Aistiramen. Ebensowenig hindert ihn die obenberiihrte so äusserst
ungleiche Vertheilung der — und " . . . tz. den Philebus der ersten,
den Timäus und Kritias der zweiten Hälfte der Gesetze gleichzeitig,
den Phädrus weit früher zu setzen. Auch dem Fehlen von Tioicpov
und Ttotspa Gess. V. VI legt er keine Bedeutung bei. Ist es dann
aber consequent, ein andermal nach analogen Erscheinungeu das
Zeitverhältniss der Gespräche mit grösster Sicherheit bestimmen zu
wollen? Die Abfassungszeit ist doch immer nur eines von den
Momenten, welche den Sprachcharakter einer Schrift bedingen;
neben ihr können aber noch viele andere einen, vielleicht weit
bemerkbareren Einfluss darauf gehabt haben. So mag z. B. das
Eigenthümliche, was die Sprache und Darstellung des Parmenides '
bietet, theilweise damit zusammenhängen, dass derselbe in seinem
ersten Theil Einwendungen Euklid's gegen die Ideenlehre berück-
sichtigt (Ph. d. Gr. IIa*, 259, 1), im zweiten ein Gegenstück zu
Zeno's Schrift geben will; so lässt sich die sprachliche Verwandt-
schaft des Philebus mit Sophist und Politikus, auch wenn er von
diesen um einige Jahre weiter abliegen sollte, als sie von einander,
ohne Mühe daraus erklären, dass diese drei Werke (abgesehen von
Pol. 269Cff.) in dem gleichen Ton einer schmucklosen streng
wissenschaftlichen Darstellung gehalten sind. Ob die sprachlichen
Berührungspunkte zwischen Soph. Pol. Phileb. auf der einen, den
Gesetzen auf der anderen Seite eingreifend genug sind, um eine
besondere Erklärung zu fordern, steht mir bei den vielen Dilfe-
renzen, welche sich in der Sprache und Darstellung der beiden
Schriftengruppen, und namentlich in ihrer Behandlung des Dialogs
finden, keineswegs sicher. Hält man aber eine solche Erklärung
für nöthig, so könnte sie auch auf einer anderen Seite gesucht
werden, als dies von R. geschieht. Die Gesetze sind, wie auch er
annimmt, nicht von Plato selbst herausgegeben; es ist uns auch
nicht der von Plato hinterlassene Entwurf dieses Werks unver-
ändert überliefert; wer bürgt uns nun dafür, dass die Eingriffe de.-r
Herausgebers, welche sich an so manchen Stellen desselben erke*
lassen, sich nicht auch auf seine Sprache erstreckten? Das;'
Die deutsche Litt, über die sokrat. u. piaton. Philos. 1888. 685
vielleicht einzelne Partieen, welche in dem hinterlassenen Entwurf
ebenso, wie B. V und andere Stüclie, die Form einer fortlaufenden
Darstellung hatten, erst von ihm in die dialogische gebracht wur-
den? Und wenn dies der Fall gewesen sein sollte: könnte nicht
die eine und andere Aehnlichkeit zwischen der Ausdrucksweise der
Gesetze und derjenigen gewisser anderer Schriften auch davon her-
rühren, dass der Herausgeber der Gesetze aus dem reichen Schatz
der platonischen Sprache gerade diese Ausdrücke und Wendungen
sich angeeignet hatte? und wenn R. S. 93 sagt, der Verfasser der
Epinomis habe sich die Ausdrucksweise der Gesetze fast vollständig
zu eigen gemacht, ist nicht auch das andere denkbar, dass er in
manchen Fällen die ihrige nach der seinigen zurechtgemacht hat?
Wenn diese Frage auch nur aufgeworfen werden kann, so beweist
dies, wie unsicher die Operatiousbasis ist, welche die Gesetze für
sprachstatistische Untersuchungen darbieten.
Weit unerheblicher als seine sprachstatistische Schriftenver-
gleichung ist R.'s Erörterung der „inhaltlichen Gesichtspunkte"
(S. 112 — 141). Auf die Entwicklung der philosophischen Lehren
legt er keinen Werth, da von den hier in Betracht kommenden
Punkten „die Dreitheilung der Seele zu keiner Zeit Plato's wahre
Meinung gewesen sei", und die Ideen von uns allen, seit Aristoteles,
mit Unrecht hypostasirt werden; wofür natürlich die Beweise, und
/war bessere, als sie bis jetzt vorliegen, erst geführt werden müssten.
Die Rückweisungen der Schriften auf einander werden, wo sie dem
Vf. nicht passen, bestritten; hier mag es genügen, dagegen auf
die Belege zu verweisen, die Phil. d. Gr., II a^ 491,3. 547 f. zu
linden sind, und denen noch die Bemerkung beigefügt sei, dass
auch Symp. 187'A wie eine kritische Bemerkung zu der Angabe
über Heraklit Soph. 242 E aussieht. Bei der Frage über die zeit-
geschichtlichen Beziehungen einiger Gespräche hält sich R. S. 121,
den Theätet betreffend, einfach an Rohde; indessen habe ich schon
wiederholt nachgewiesen, wie es sich mit dessen Vermuthung ver-
hält, und wie unstatthaft es ist, den Theätet über 390 v. Chr. herab-
zurücken (vgl. Ph. d. Gr. IIa*, 406, 1), und dieser Nachweis ist bis
jetzt nicht widerlegt. Der Phädrus bringt R. sichtbar in Verlegen-
heit; seine Auskunft (S. 129ff.), dass die Mahnungen, welche Plato
4ft
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. U. ^^
686 E. Zeller,
im Phädrus dem Lysias und Isokrates ertheilt, „nicht eigentlich an
die genannten beiden ^länner gerichtet" seien, und dass Isokrates
S. 278 E f. nur gesagt werden solle: von ihm hätte man Besseres
erwartet, werden wohl nicht allzAiviele sich anzueignen den Muth
haben. Der Schluss des Euthydem. den Vf. trotz der deutlichen
Beziehungen auf Antisthenes (301 A. 303 I)f.) noch vor Sokrates'
Tod setzt, soll gar nicht auf Isokrates gehen, auf den alles darin
Zug für Zug pas.st, sondern auf irgend einen uns unbekannten
Manu. Wenn die sprachstatistische Chronologie der platonischen
Schriften zu solchen Unwahrscheinlichkeiten und Gewaltsamkeiten
zu greifen genöthigt ist, wäre es doch wohl Zeit, sich zu erinnern,
dass sie selbst eben auch nichts anderes ist, als eine Hypothese
zur Erklärung gewisser Erscheinungen: eine Hypothese, die nur
dann erwiesen ist, wenn sich darthun lässt, dass diese Erschei-
nungen keine andere Erklärung gestatten, und nur dann zulässig,
wenn sie mit andern Thatsachen nicht in Streit kommt.
Wai.be, E. Syntaxis Platonicae specimen. Bonn 1888. 38 S. In-
auguraldiss.
ist gleichfalls der platonischen Sprachstatistik gewidmet. Yf.
untersucht nämlich mit dankenswerther Sorgfalt das Vorkommen der
Allheitsbezeichnungen -ac, aTiac, ^ui^-otc, cuva-a? und der von ihnen
abgeleiteten Formen und Wortverbindungen in den platonischen
Schriften. Seine Zusammenstellungen scheinen im wesentlichen
vollständig zu sein; doch war S. 36 Nr. IIa das S. 23 allerdings
erwähnte ^ujxira? outoc c?.pii}[xo; Rep. 546 C ebenfalls zu berücksich-
tigen. Indessen liefert diese Vergleichung für die Frage über die
Reihenfolge der plat. Schriften (ohne die Schuld des Vf.) keinen
grossen Ertrag. Auch das einzige Ergebniss, welches er selbst in
dieser Beziehung gewinnt, dass nämlich Sopli. Pol. Phil. Tim. Gess.
die letzten Gespräche sein müssen, wird durch seine Nachweise
lange nicht so sicher gestellt, ,^ut paene nefas esse videatur dubitare^.
Aus der Tabelle S. 4 ergibt sich allerdings, dass ~y.z und seine
Composita in Soph. Pol. Phil. Tim. Krit. Gess. besonders häufig
vorkommen ^). Da aber zwei so frühe Schriften wie das Gastmahl
') Es finden sich nämlich von solchen Allheitsbezeichniingen auf je 100
/
I
Die deutsche Litt, über die sokrat. u. piaton. Philos. 1888. 687
(229, 32) und der Eutliydem (222) den Sophisten hierin noch über-
treffen und hinter dem Philebus nur wenig zurückbleiben, kann
man aus diesem Umstand über die Abfassungszeit der letzteren
nichts schliessen; man müsste denn auch den Timäus für später
halten als die Gesetze, denen er in der Häufigkeit jener Wörter
um mehr als '/, voraus ist. Auffallender ist, was auch W. allein
hervorhebt, dass die genannten Schriften unter den Verstärkungen
von TCa? die Form QU[x~rj.: gegen das sonst gebräuchlichere Stzol:; ver-
hältnissmässig bevorzugen. Allein sie thun dies weder gleich-
massig noch in stetiger Progression. Soph. Pol. und Phil, stehen
in der Procentzahl der ar^.c hinter der Republik, Soph. um mehr
als 100/00, zurück, die Gesetze übertreffen dieselbe fast um die
Hälfte. Dagegen haben jene Gespräche weit mehr, Polit. mehr als
dreimal so viele ^u[j.7:ot? als die Gesetze, welche darin noch hinter
dem viel älteren Laches zurückbleiben. Soph. und Polit. haben
27^, mal so viele ^uji-a; als airac, Gess. halb so viele. Im Soph.
Pol. Phil, zusammengenommen kommen 6 zovdr.a; auf 492 -ac, im
Tim. 3 auf 313, in den Gess. ein einziges auf 1035^). Und ebenso
ungleich ist (s. o.) der Gebrauch von r.avmTzaai, den W. be-
sonders zu verfolgen versäumt hat. Was lässt sich mit solchen
Zahlen anfangen?
LiEBHOLD, K., Zur Textkritik Platous. Jahrbb. f. class. Philol.
Bd. 137. 1888. S. 756—760.
Verbesserungsvorschläge zu Apol. 21 C. 23 A. E. 26 D. 41 B.
Krito 4? E. 52 E. 53 E. Prot. 316 C. 323 D. 325 B. 327 C. 347 D.
349 D. Ich kann mir von allen diesen Vorschlägen nur einige
wenige aPeignen, die längst von andern gemacht sind.
nerraann'scheA Seiten: Soph. 220, 1?^: Phil. 240, 23; Polit. 287, ;)5; Gess. 309,
35; Krit. 352, 63; Tim. 42G, 14.
•-) Auf 100 7t5s kommen
Lach. ßep. Soph. Polit. Phileh. Tim. Gess.
&T.a', 24,13 11,03 5,33 10,28 11,4 14,3 10,42
e.Wac 10,34 2 13,33 25,71 12,6 4,47 8,11
luv.'... 0 0 2 0,57 1,2 0,9G 0,1.
46*
688 E. Zeller,
Ai-Ki.T, 0.. Zu Platons Apologie (Ebd. S. 160)
beantragt Apol. 19 0 statt des seltsamen: [j-Tj ■üo>; z';uj u-o Ms-
Xt^tou ToaauTOtc oixctc ciu-jOtjxi zu setzen: jxr^ -oU' ojc iyw . . . 'f'JY'Jt,
und es gibt dies jedenfalls einen viel besseren Sinn als die über-
lieferte LA. Nur dürfte in diesem Fall aucli im vorhergehenden eine
kleine Aenderung angezeigt sein, indem gesehrieben wird: xotl (oder
xav) Bi Ti; . . . £3ti i).r, iroi}' u. s. w. ohne Kolon hinter h-i.
Aars, J., Das Gedicht des Simonides in Platons Protagoras.
(Christiania Videnskabs-Selskabs Forhandlinger. 1888 Nr. 5.)
Christiania, Dybwad. 1.^88. 16 S.
Eine Reconstruction des bekannten Gedichtes, die mit Bergk
und Blass von der Annahme ausgeht, es sei kein Epinikion sondern
ein monostrophisches Enkomium gewesen, die aber im einzelnen
von jedem von beiden abweicht. Da sie Plato selbst kaum berührt,
überlasse ich ihre Prüfung den Philologen.
Demme, C, Die Hypothesis in Platons Menon. Dresden 1888.
22 S. 4". Gymn. progr.
Den Gegenstand dieser Abhandlung bildet Meno 86 Ef., wo
an dem Beispiel eines in einen gegebeneu Kreis einzutragenden
Dreiecks erläutert wird, was mit dem Ausdruck : axo-sTv iE uro-
i}l3£(juc: gemeint ist. So viel aber Vf. zu diesem Behuf aus seme/t
Kenntniss der griechischen Mathematik beibringt (und es ist de.i^sen
mehr, als für den nächsten Zweck erforderlich war), so glaube ich
doch nicht, dass er in der Lösung des Rätlisels glücklicher gewesen
ist als die Gelehrten, deren Versuche er darstellt und prüft. Das
Beste ist, dass wir des mathematischen Beispiels nicht bedürfen
um die Bedeutung des öxottsiv iq, u-oU. zu verstehen.
SciiiKMTz, C, Beiträge zur Erklärung der Piaton -Dialoge Gorgias
und Theätet. Neustettin 1888. 31 S. 4". Gy/nn. p,-ogr.
In dem grösseren Theil dieser Abhandlung, S. 1 — 22, ver-
theidigt Vf. mit überzeugenden Gründen die vo."! Bonitz ange-
nommene dreigliedrige Eintheilung des Gorgias; der ?iest derselben be-
handelt mehrere Stellen dieses Gesprächs (460D. 464 C. 468 E. 485 D.
Die deutsche Litt, über die sokrat. u. platoii. PFiilos. 1888. 689
492 B. 503 D. 514 D) und des Tlieätet (155 D. 157 B. 167 B. 169 A.
171 A. 182 D. 186 A. 188 A. 199 A. 210 D), theils nach der Seite
der Textkritik theils nach der der Worterklärung. In einigen
Fällen scheinen mir seine Conjecturen nicht nnerlässlich zu sein,
da auch der überlieferte Text einen annehmbaren Sinn gibt; Gorg.
485 E würde ich als Ersatz für ixavov, wenn ein solcher nöthig be-
funden wird, Heinclorf's vectvixov seinem oixctvixov vorziehen. Gorg.
514 C hat die Vermuthung, statt „-oXXa" sei oXi-j-ct zu setzen, viel
für sich. Ebenso Theät. 167 B: aXX' oux aXTiOsis für ~z xctl 7.X.
(doch wäre oux dX. ohne dXka ausreichend vgl. Prot. 337 C); 169 B
hinter ^Lxst'pwva jjiaXXov der Zusatz: os -po: -ov 'Avtalov. Theät.
199 B würde mir die Aenderung des überlieferten oia-STTTajxsvfov in
oiaTTSTiTajjivr^v oder oi(XTrTQtji.sv/)v (bezw. otctTTTOixsvr^v): „einer ihm ent-
flogenen Vorstellung nachjagend" genügen.
Würz, C, Die sensualistische Erkenntnisslehre der Sophisten und
Piatons Widerlegung derselben. Nach dem Theätet dar-
gestellt und beurtheilt. 1888. 22 S. 4°. Gymn. progr.
Ein Auszug aus Theät. 142 — 187 A, gegen dessen Richtigkeit
sich kaum etwas einwenden lässt, der aber keinem Kenner der
platonischen Schrift, vollends nach Bonitz' Analyse derselben
(Plat. Stud. 47 ff.) etwas neues bringt. Auch die Untersuchung über
die Treue der platonischen Darstellung lag so wenig als die über
die Abfassungszeit des Gesprächs in der Absicht des Vf.; und auf
die Oompositiou desselben bezieht sich nur S. 19 die Bemerkung,
in dei' berühmten Episode 172 B — 177 C werde die 157 D nicht
erledigte Frage entschieden, ob auch das Gute und Schöne ein
Werdendes sei. Ich kann dies nicht finden: diese Frage wird
hier weder untersucht noch auch nur in dieser Form aufgeworfen,
und die wenigen Andeutungen, die man hicher ziehen könnte
(176 E, we'iiger 176 B) werden mit der Untersuchung über den
Begriff des Wissens in keine Verbindung gesetzt. Unser Abschnitt
gibt sich nicht nur als Episode, sondern er ist es auch; an der
Hauptuntersucluug würde man nichts vermissen, wenn man ihn
herausnähme, tnd andererseits weisen in ihm zahlreiche Spuren
darauf hin, dass tesoudere Veranlassungen, die wir thcihveise noch
690 E. Zeller,
muthmassen können, Plato bestimmten, iliu dem Gespräch einzu-
fügen. Möglich, class der Theätet auch seine bei Plato einzig da-
stehende Form eines vorgelesenen Dialogs einer ähnlichen speciellen
Veranlassung zu danken hat: wenn er nämlich bereits als direktes
Gespräch ausgearbeitet war, als Theätet's A'^erwundung und Er-
krankung Plato bestimmte, ihm in c. 1 seine jetzige Einleitung
voranzustellen.
1. Sybel, L. V., Platon's Symposion ein Programm der Akademie.
Marburg, Elwert 1888. VI und 122 S.
2. Derselbe, Platon's Technik an Symposion und Euthydem nach-
gewiesen. Ebd. 1889. VI und 46 S.
Diese zwei zusammengehörigen Schriften gehen beide darauf
aus, den Zusammenhang zwischen Plato's Unterricht in der Aka-
demie und seinen schriftstellerischen Arbeiten an den obengenannten
Gesprächen in der doppelten Richtung zu verfolgen, dass theils der
Zweck und Aufbau dieser Gespräche durch jenen Zusammenhang
beleuchtet, theils auch ihnen neue Aufschlüsse über den Gang und
Charakter des Unterrichts entnommen werden sollen, welchen Plato
seinen Schülern ertheilte. Diese Aufgabe hat unstreitig etwas ver-
lockendes : ihre Lösung würde unsere Kenntniss der platonischen Phi-
losophie und ihrer Urkunden weseatlieh fördern, sie würde uns von
beiden ein vollständigeres und anschaulicheres Bild geben. Je alL'
gemeiner daher jener Zusammenhang heutzutage anerkannt ist; je
ansprechender uns andererseits aus der Darstellung des Vf. nicht
blos eine warme, ja begeisterte Liebe zu Plato, sondern aijch ein
lebendiges Verständniss seines Geistes und eine kunstsiniijo-e Be-
trachtung seiner philosophischen Dichtungen entgegentritt, um so
dankbarer wird man dem Vf. dafür sein, dass er die Aufgabe ge-
stellt hat, um so lieber ihn auf den Gängen begleiten, auf denen
er den Beziehungen nachspürt, deren Aufsuchung ihn bcschäftift.
Aber das darf mau sich freilich nicht verbergen, dass wir uns hier
ganz und gar in Vermuthungen bewegen, welche von sehr ungleicher
Sicherheit sind, und welche sich zu einem höheren (irade der Wahr-
scheinlichkeit nur dann erheben lassen, wenn es gelingt, sie von
dem schwankenden Grunde subjektiver Eindrücle auf den festen
Die deutsche Litt, über die sokrat. u. piaton. Philos. 1888. 691
Boden exegetisch gesicherter Thatsachen zu verpflanzen und als die
unentbehrlichen Voraussetzungen oder Consequenzen dieser That-
sachen zu erweisen. Sowohl das Gastmahl als der Euthydem sind
nach der Ansicht des Vf. Programme der Akademie, in denen das
Ziel und der Gang des Unterrichts, wie er in Plato's Schule er-
theilt wurde, für eine tiefer eindringende Betrachtung noch erkenn-
bar niedergelegt ist. Diesem Lehrgang liegt aber (Nr. 2, 12 u. ö.)
das nachstehende Schema zu Grunde: A. Die dialektische Hodegese.
1. Propädeutik (1. der Schüler; 2. die Aufgabe) II. Epistematik
(1. die Wissenschaften; 2. die eine Wissenschaft). B. Das dialek-
tische Wissenschaftssystem. I. Unterclasse (1. Natiirstudium;
2. Culturstudium) II. Oberclasse (1. Mathematik; 2. Dialektik).
Dieses Schema beherrscht, wie Vf. nachzuweisen sucht, nicht allein
den ganzen Aufbau der beiden Gespräche, sondern es wird auch
in zwei von den Reden im Gastmahl, der des Eryximachus und
der der Diotima, mit unverkennbarer Deutlichkeit ausgesprochen.
Mir, ich gestehe es, würde es schwer werden, zu glauben, dass
Plato — wenn ihm auch nach dem Zeugniss der Republik ein
bestimmter Stufengang des wissenschaftlichen Unterrichts als der
sachgemässe feststand — in seinen Schriften sich an ein so ein-
förmig. wiederkehrendes Schema gebunden haben sollte; dasselbe
müsste sich denn in denselben so sicher erkennen lassen, dass wir
gewiss wären, es wirklich in ihnen zu lesen und nicht in sie hin-
einZ'Ulesen. Eben dies aber ist es, wovon ich mich bis jetzt so
wenig wie Natorp (Philos. Monatsh. XXV, 23511.) zu überzeugen
vermocht habe. Ich glaube nicht, dass Symp. 210 Af. mit den
xotXa ai(i)!xaTa etwas anderes gemeint ist, als schöne Menschenge-
stalten, und mit dem Ipav etwas anderes als die Liebe im patho-
logischen Sinn, die ästhetische Freude am Schönen; eine Ilindeu-
tung auf Naturstudien weiss ich in dieser Stelle nicht zu finden.
Auch statt des wissenschaftlichen Kulturstudiums möchte ich ebd.
209 Alf. 210 Bf. lieber von .sittlicher Arbeit reden; denn die prak-
tische Thätigkeit des Erziehers und Gesetzgebers ist es, welche
diese Stufe des Eros kennzeichnet. Und ähnlich geht es mir mit
der Rede des Eryximachus S. 186 A ff. Dieser Redner weist seinen
Satz von der universellen Bedeutung des doppelten Eros an der
692 E. Zell er,
Heilkunde und der Musik, au den Jahreszeiten und ihrer Einwir-
kung auf Pflanzen und Thiere, an dem Verhältniss der Menschen
zu einander und zu den Göttern nach. Aber um einen Stufen-
gang des wissenschaftlichen Unterrichts handelt es sich hiebei nicht,
und um das obige Schema in dieser Auseinandersetzung zu finden,
muss man m. E. von der Kunst, zwischen den Zeilen zu lesen und
auch solches als „Metapher" zu deuten, was buclistäblich genommen
einen befriedigenden Sinn gibt, öfter Gebrauch machen, als dem
einfachen Ausleger erlaubt ist. Der Raum fehlt mir, um diese
Bedenken näher auszuführen, oder die Gründe eingehender darzu-
stellen, welche Vf. für sich geltend macht; und aus demselben
Grunde muss ich darauf verzichten, auseinanderzusetzen, weshalb
mir meine längst ausgesprocheneu Bestimmungen über den Plan
des Gastmahls und Bonitz' Ansicht über den des Euthydem noch
immer genügen. Statt diese Differenzen weiter zu verfolgen, schliesse
ich lieber mit der wiederholten Anerkennung des Schönen und
Sinnigen, was unsere Schriften (z. B. in dem Abschnitt 1, lÜOfl".
über die Personen des Gastmahls) auch dem bieten, welcher nicht
alle Bedenken gegen ihre weitergehenden Combinationen über-
winden kann.
Zannetos, J., ZuixßoXat cpiXocJocpixott ai; xo tiXoctiovi/ov a'jijLKoa'.ov.
Erlangen 1888. 99 S. Inauguraldiss. y^
Materialien aus alten und noch mehr aus neueren Schrift-
stellern, nicht ohne Fleiss, aber mit wenig Auswahl und in über-
mässiger Breite zusammengetragen. Unter den Reflexionen . die
Vf. selbst hiuzugethan hat, ist mir nichts begegnet, dessen Anfüh-
rung sich verlohnte.
HoFFMAN.v, H., Piatons Philebus erläutert und beurtheilt. Ofien-
burg 1888. 23 S. 4". Gymn. progr.
Von den zwei Aufgaben, welche diese Abhandlung sich stellt:
den Philebus zu erläutern und ihn auf die Richtigkeit seiner Er-
gebnisse zu prüfen, geht die zweite die Geschichte der Philosophie
nicht direkt an; es mag daher hinsichtlich ihrer die Bemerkung
genügen, dass II. dem Philebus zwar manche Unklarheiten und
Die deutsche Litt, über die sokrat. u. piaton. Philos. 1888. 693
sonstige wissenschaftliche Mängel nicht ohne Grund schuldgibt, aber
ihm doch nicht immer gerecht geworden ist. Was er über den
Gang und Inhalt des Gesprächs sagt, ist zwar seinem überwiegen-
den Theile nach richtig; aber doch muss ich seiner Darstellung an
mehr als Einem Punkt widersprechen. Die Behauptung, dass Plato
„die Lust als solche insgesammt für unvereinbar mit dem Guten
erkläre" (S. 12 unt.), ist grundlos, und H. gibt auch die Stelle
nicht an, in der er dies thun soll: PI. sagt, die rfio^r^ sei nicht
lauTov X7.1 ra^ot^ov (22 C. 54 C f. u. ö.); aber den Widersinn hat er
sich nicht zu Schulden kommen lassen, dass er in Einem Athem
die Lust schlechthin für unvereinbar mit dem Guten erklärte, und
gewisse Arten der Lust ausdrücklich in seinen Begriff des höchsten
Guts aufnahm. Ebensowenig hat er S, 63 E „die unlauteren Freuden
zum Guten zugelassen" (H. S, 21), wie dies keines Beweises be-
darf. Auch das ist ein Missverständniss, wenn S. 16 das a^a&ov
£v Tip iravTi auf dasjenige gedeutet wird, was für das Weltall, und
somit für einen „Weltgeist" das höchste Gut sei, während PI. viel-
mehr fragt, was das Werthvolle im Menschen nnd im Weltganzen
sei. Indessen hat alles dieses nicht so viel auf sich, wie die Ent-
deckung des Vf. (S. 6f. 22), dass PI. im Philebus „mit der Ideen-
lehre im alten Sinn breche" und „die Welt der sinnlichen Dinge
in den Mittelpunkt seiner Weltanschauung rücke, den früher die
'-Ideen eingenommen haben". Dass das Gegentheil Phil. 14Dft', so
dcut-Iich wie möglich ausgesprochen ist, kann er selbst sich nicht
ganz verbergen, und was er dieser Thatsache entgegenhält, wird
niemand überzeugen, der sich deutlich gemacht hat, dass die Frage
nicht die ist, ob Plato alle Bedenken, zu denen die Ideenlehre
Anlass gibt, befriedigend beantwortet hat, sondern ob diese Lehre
die seinige war. Ich will daher nur noch darauf hinweisen, wie
undenkbar es ist, dass der Philosoph das Fürsichsein und die
Transcendenz der Ideen in derselben Zeit aufgegeben haben sollte,
in der er sie nach Aristoteles' unantastbarem Zeugniss auf's ent-
schiedenste gelehrt hat. In diese Zeit nämlich müsste H. die Ab-
fassung des Philebus verlegen, da nicht blos die Republik (die er
jenem vorangehen lässt), sondern auch der Timäus die Ideenlehre
nur „im alten Sinn" kennt.
694 E. Zeller, i
(
Liebhold, C. Zu Platon's Politeia. Jahrb. f. class. Philol. Bd. 137. i,
1888. S. 105—112 >!
bespricht die Stellen I, 328 E. 331 B— D. 332 C. 11, 359 J).
364 C. 378 C. III, 388 A. IV, 430 B. E. 439 E. 440 C. 444 B.
V, 449 D. 459 C. 466 E. 467 C. 473 D. 478 B. In allen diesen
Stellen schlägt er Textesänderungen vor; nur III, 416 A wird der
überlieferte Text gegen Madwig durch Verweisung auf Gorg. 513 E
u. a. mit Glück vertheidigt. Von seinen Emendationen empfiehlt
sich mir am ehesten der Vorschlag, 440 C, in theilweisem Anschluss
au IISS, zu setzen: ysA oia xou 7r£tv{]v xcd oia tou pi-j-ouv X7i rravtct
ra toioiu-a tmt/wj uttojxsvsiv vtxi^. Die übrigen halte ich theils für
überflüssig, theils für. unannehmbar. 364 C, wo L. für oioovtc?
„oisXöovTS?" vorschlägt, ist vielleicht euTcixsiav oioovrctc, 439 E,
wenn hier überhaupt eine Aenderung nöthig ist, statt axotjaac --.
„o!x. Tivö?" zu setzen.
Rawack, P. De Piatonis Timaeo quaestiones criticae. Berlin, Mayer
u. Müller. 1888. 81 S.
Diese werthvolle Schrift, das Werk einer mühsamen gelehrten
Arbeit, benützt für die Texteskritik des Timäus ein Hülfsmittel,
welches für diesen Zweck bisher lauge nicht so umfassend herbei-
gezogen worden war: die Untersuchung der Lesarten, welche siclv^
den alten üebersetzungen, Erklärungen und Anführungen der pla-
tonischen Schrift entnehmen lassen. Eine aus diesen Quellen ge-
schöpfte reichhaltige Vervollständigung des kritischen Apparates
zum Timäus nimmt die zweite Hälfte von R.'s Schrift, S. 40 — 81
ein; die erste enthält eine kritische Besprechung von Tim. 17 C.
19 A. 21 E. 22 C. 30 B. 41 A. 80 E. 27 B. 40 C. 33 A. D.
41 E. 66 A. 70 D. 86 C. Seine Erörteruugen erscheinen mir
fast durchaus überzeugend; als eine Probe derselben wähle ich
S. 15ff. , w^o für die berühmte Stelle 41 A, unter Entfernung der
Worte: ä oi' stjiou ^evojisva, (dies im Anschluss an Beruays, auf
Grund der ältesten Citate) der Text hergestellt wird: 9öot J)5(üv,
(ov sya) o"/ju.voup7Öc TTCXTr^p le £pYo>v [a oi' i\i. 7£V.] akii-n. Sjxotj •(-
UiXovco?. Doch möchte ich bei den Schlussworten mit Bernays
/
Die deutsche Litt, über die sokrat. u. piaton. Philos. 1888. 695
der LA stxou [x-q Oc'äovt'j; (-,3 jxr] \}ik.) den Vorzug geben; denn
sie hat nicht allein die ältesten Zeugen, sondern auch die Ver-
muthung für sich, dass ein Abschreiber eher das [jlt) in -js ver-
wandelt haben werde, als umgekehrt, da man bei ihr zu dem
OoVjvtoc aus dem äXutot ein Xueiv ergänzen muss, was weit eher
Bedenken erregen konnte, als die bei der LA •(■=. nöthige Ergänzung :
äXoTOL ilvat.
TiKMANxN, J. Kritische Analyse von Buch I und II der platoni-
schen Gesetze. Osnabrück 1888. 33 S. 4". Gymn. progr.
sucht in ausführlicher Untersuchung die Ansicht von Bruns
zu widerlegen, nach der in B. I und II der Gesetze zwei unabhängig
von einander entstandene Entwürfe nebeneinander gestellt, aber
nicht in innere L^ebereinstimmung gebracht sind. Ist es ihm aber
auch gelungen, den einen und anderen von den Gründen zu ent-
kräften, auf die Bruns seine An.sicht stützt, so hat er doch m. E.
das Hauptbedenken gegen die ursprüngliche Zusammengehörigkeit
jener zwei Bücher nicht zu beseitigen vermocht, welches darauf
beruht, dass B. II sich zwar in seinem Anfang als eine Fortsetzung
der I, 632 D ff. begonnenen Auseinandersetzung über die Benützung
der (xi'ör, für die Erziehung zur amziooa'jvri gibt, in Wirklichkeit
aber von etwas anderem handelt, was damit gar nicht zusammen-
-Jiängt: von der erzieherischen Verwendung der Musik und der
hiefiii' dienlichen Einrichtung eines „dionysischen", aus Männern,
denen der Weingenuss erlaubt i.st, bestehenden Chors. Der Be-
weis. d«n Verfasser S. 18 f. versucht, dass gerade dieser dionysische
Chor es sei, dessen Mitglieder durch die ti-sövj zur ato'fpotj'jvr; er-
zogen werden sollen, konnte ihm unmöglich gelingen. Denn nach
I, 635 C. 643 B handelt es sich bei der pädagogischen Anwendung
der Trunkenheit um ein Erziehungsmittel, das, wie jedes, von
Jugend auf angewendet werden muss; II, 666 A f. dagegen wird
den jungen Leuten bis zum 18. Jahr der Weingenuss, bis zum 30.
die ixsi)-/] und -oX'joivi'ot unbedingt untersagt. Andererseits wird
von der Trunlf^enheit und der durch .sie beförderten Ucbung in
(\ey Selbstbehervschung bei dem „dionysischen Chor" überhaupt
nicht gesprochen, wie es denn auch seltsam wäre, mit diesem Theil
696 E. Zeller,
der Erziehung erst bei den Dreissig- und Vierzigjälirigen anzufangen;
sondern es handelt sich bei ihm nur um den massigen Weingenuss,
der nöthig ist, um reifere Männer die Scheu vor der Theilnahme
am öffentlichen Gesang überwinden zu lassen. Ebensowenig wird
später für die Gesetzgebung von dem Funde, auf den B. I solchen
Werth legt, irgend ein Gebrauch gemacht; während dieses Buch
den Hauptmangel der dorischen Verfassungen darin sieht, dass sie
für eine üebung in der Bekämpfung der Lust, wie die Trinkgelage
sie darbieten, keine Sorge tragen, ist in den Einrichtungen der
kretischen Kolonie dieses Bedenken vollständig in Vergessenheit
gerathen: B. I ist für dieselbe nicht vorhanden. AVird ferner
11, 664 E auf 653 D mit den Worten: si'TiofxEv xot-' ap/dt; twv Xo^iov
zurückgewiesen, so wäre dies sehr seltsam, wenn dieser Stelle
schon das ganze I. Buch vorangegangen war; denn die «p/ocl töiv
X6y(ov können nur den Anfang der ganzen Unterredung, nicht den
des Abschnitts bezeichnen, der mit B. II beginnt'). Dass endlich
B. III mit den vorangehenden nicht verknüpft ist, räumt auch
Verfasser ein; aber er glaubt (S. 26. 31) ihre Zusammengehörig-
keit dennoch durch die Voraussetzung retten zu können, es sei
in dem fehlenden Schluss von B. II der üebergang zu B. III mit
der Bemerkung gemacht worden, dass bei dem Ungenügenden der
dorischen Verfassungen eine befriedigendere mit Hülfe der nun
folgenden historischen Uebersicht gesucht werden solle. Alleijar
sowohl in B. I als in B. 11 ist die Auseinandersetzung der ^si-
tiven Vorschläge, dort über die Trinkgelage, hier über die drei
Chöre, gegen die Kritik der kretischen und spartanischen Ver-
fassung so entschieden im Uebergewicht, dass wir den Zweck dieser
zwei Bücher unmöglich darin suchen können, eine kritisjche Ein-
leitung zu B. III zu geben. Es scheint mir daher durch die Aus-
führungen des Verfassers, so beachtenswerth sie immerhin sind, doch
die Annahme von Bruns in der Hauptsache nicht widerlegt zu sein.
;1
') Anders verhält es sich mit II, 671 A: ozep ö Xoyo; h dpycäs ißouXVjÖT).
Hier ist mit dem Xofoz die vorliegende Erörterung, uml mit dem Anfang des-
selben die Stelle 665 Äff., insbesondere 666 Bf. gemeint. Wird dann aber
zugleich auch auf die weit davon abliegenden Stellen I, 640 C. 646 Eff. ver-
wiesen, so wird mau dies dem Herausgeber auf Rechnung zu setzen haben.
Die deutsche Litt, über die sokrat. u. piaton. Philos. 1888. 697
Berndt, Th. Bemerkungen zu Platon's Meuexeuos. Herford 1888.
11 S. 4°. Gymn. progr.
vertlieidigt seine (schon 1881 vorgetragene) Ansicht von der
ironischen Abzweckung des Menexenus gegen Roch (Tendenz d.
Menex. 1882) und Perthes (über den Arch. I, 613f.). Was er
diesen entgegenhält, ist begründet; warum ich meinerseits mich
weder von der ironischen Tendenz noch von der Aechtheit des
Menexenus überzeugen kann, habe ich schon Plat. Stud., 144ff.
und neuerdings Phil. d. Gr. II a*, 480ff. auseinandergesetzt.
Lukas, Fr. Die Methode der Eintheilung bei Platou. Halle,
Pfeffer. 1888. XVI u. 308 S.
Den kleineren Abhandlungen, die Bd. I, 421. 600 angezeigt
sind, lässt Verfasser hier eine ausführliche Monographie über das
im Titel bezeichnete Thema folgen. Derartige Untersuchungen
haben ja nun immer nicht blos für den Verfasser, sondern auch
für den Leser etwas Ermüdendes; nichtsdestoweniger verdient der-
jenige unsern Dank, welcher sich durch die Trockenheit seines
Gegenstandes nicht alihalten lässt, demselben eine so gründliche
und sorgfältige Arbeit zu widmen, wie dies in der vorliegenden
Schrift geschehen ist. Wäre nun über die Reihenfolge und die Aecht-
heit der platonischen Schriften schon ein allgemeines Einverständ-
'■Jäiss erreicht, so wäre es, wie Verfasser nicht verkennt, das zweck-
mäsäi^gste gewesen, sie in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge zu be-
sprech'en, und uns so zu zeigen, welche Fortschritte der Philosoph
theils in der thatsächlichen Handhabung des Verfahrens, um das
es sich bandelt, theils in der Feststellung und Begründung seiner
Regeln gemacht hat. Da dies nicht der Fall ist, hat er es vor-
gezogen, sie nach dem Grade der Sicherheit zu ordnen, mit der
ihre AechÜieit sich darthun lässt. Er bespricht demnach die
Methode dev Eintheilung 1) „in den von Aristoteles vollgültig als
acht bezeugten Dialogen" Rep. Tim. Gcss.; 2) „in den von Arist.
zwar nicht vollgültig als acht bezeugten, aber doch allgemein als
acht anerkanmen«, Phädr., Gorg. Theät.; 3) „in den von Arist.
nicht vollgültig bezeugten und auch nicht allgemein als acht aner-
kannten", Soph. lolit. Philebus. Bei jedem von diesen Gesprächen
698 E- Zellor,
werden zuerst im Anschluss an den Gang desselben sowohl die
Beispiele von Eintheilungen, Aufzählungen u. s. f., die darin vor-
kommen, als die Regeln über das Eintheilungsverfahren. wo sich
solche finden, erörtert und bei dieser Gelegenheit wird auch man-
ches andere auf ihre Erklärung bezügliche berührt; es wird sodann
am Schluss das Ergebniss dieser Einzelbetrachtung übersichtlich
zusammengefasst und das gleiche geschieht am Schluss eines jeden
von den drei Hauptabschnitten und am Schluss des Ganzen. Mir
scheint zur Trennung des zweiten Abschnitts von dem ersten kein
genügender Grund vorzuliegen, ohne dass ich doch darauf viel Ge-
wicht lege. Ich hätte ferner gewünscht, dass Verfasser aus allen
für acht zu haltenden. Gesprächen — wenn es auch nicht ange-
bracht gewesen wäre, sie ausführlich zu besprechen — doch wenigstens
übersichtlich die darin vorkommenden Eintheilungen verzeichnet
hätte. Es hätte sich endlich, wie mir scheint, immerhin verlohnt,
ausdrücklich zu untersuchen, ob und wie weit sich in den pla-
tonischen Schriften ein Fortschritt in der theoretischen und prak-
tischen Behandlung des Eintheilungsverfahrens wahrnehmen lässt.
Indessen sollen mich diese Desiderien von der Anerkennung dessen,
was uns Verfasser bietet, und der Mühe, die er darauf verwendet
hat, nicht abhalten. Von Einzelheiten, die mir aufgestossen sind,
berühre ich die folgenden. Gess. X, 894 A kann ich der sinnreichen
A^errhuthung (S. 77 f.) nicht beitreten, dass hier auf die Lehre dipsfT
Timäus von der Entstehung der Körper aus den Elementen /und
der Elemente aus den Elementardreiecken hingedeutet werde;/ denn
es liegt nichts in den Worten, was einen Leser, dem der Timäus
nicht gegenwärtig ist, hieran erinnern könnte, und ».p/vj aucr//
>,7.ßoij3a kann auch nicht ein Zusammentreten von Begrenzungs-
flächen zu einem Körper bezeichnen. Es scheint mir vielmehr hier
nur das ganz einfache und gewöhnliche gesagt zu sein: „wenn
der Kern oder Keim eines Körpers sich vergrössert und schliesslich
seine volle Gestalt und Grösse erreicht". — Dass die Vertheidiger
der Aechtheit des Sophisten Arist. part. an. I, 2. 642 b 10 auf
Soph. 220 A f. beziehen (S. 150), ist in dieser Allgemeinheit nicht
richtig; ich bin z. B. Ph. d. Gr. IIa, 438 (381) dieser Beziehung
ausdrücklich entgegengetreten. — S. 229 widirspricht Verfasser
Die deutsche Litt, über die solirat. u. piaton. Philos. 1888. 699
der Deutung des ixzan-o\it~.v Polit. 265 A auf zwei Theile von
gleichem Umfang, und will es nur von zwei (begrift'lich) gleich-
werthigen Theilen verstehen. Indessen verlangt Plato ja nur
ein ixssoToijtsrv (uc jxaXtaxa (so viel wie möglich), und dagegen ver-
stösst im folgenden die Eintheilung der zahmen Heerdenthiere in
gehörnte und ungehörnte nicht: zu jenen gehören die Ziegen und
Rinder, zu diesen die Schafe (wenigstens a potiori), die Pferde
und die Menschen. — S. 251 wird gegen Steinhartes Meinung, dass
Plato mit den Eintheilungen des Politikus naturwissenschaftliche
Klassifikationen persifflire, mit Recht daran erinnert, dass es deren
um jene Zeit wohl noch nicht viele gal). In Plato's späterer Zeit
wird gerade er und seine Schule ihretwegen von Komikern ange-
zapft. — Diejenigen, welche den Sophisten und Politikus ihrer
Abfassungszeit nach zwischen Republik und Gesetze stellen wollen,
möchte ich auf S. 280f. aufmerksam machen, wo treffend gezeigt
wird, um wie viel freier sich Plato bei der Eintheilung in Phileb.
Rep. Tim. Gess. bewegt als im Sophisten und Politikus; wofür der
Grund doch wohl der sein wird, dass er die elementarischen Regeln
des Eintheilungsverfahrens streng anzuwenden und an einer Masse
von Beispielen zu erläutern dort nicht mehr so nöthig hatte,
wie hier.
^AJK, J., Piatons Metaphysik im Grundriss. Wien 1888. 26 S.
,Die 7'atm essendi dieses Schriftchens besteht darin, dass es ein
( i ,• ,^ ;sialprogramm ist. Tiefer dringende Untersuchungen Hessen
i. \ einer Darstellung, welche Plato's ganze Metaphysik auf
, ., :i, änktem Raum erledigt, schon an sich höchstens bei ein-
z'.iai' Pimkten erwarten. Die vorliegende hat sich derselben so
v,,iuiM.,!i ■ enthalten, dass sie uns eben nur sagt, wie ihr Urheber
Pin;» V r-^i^'i^ö^ o^^^' ^^^^^^ missverstanden hat. Wir erfahren also
dur( • ■' \ ^.v.'ar, dass der Vf., beispielsweise, der Meinung ist, ge-
wisse ,\e ./u'*ft(^inge" bewirken nach Plato „der Vernunft ent-
äusser^.tiv n.fi Zufällige und Ungeordnete" (S. 8); die „Grenze"
des Phi.bn- i'.en die Ideen (S. 9); die Republik rede (wo, wird
uns nic'it M;j;i;, von einem Demiurg, der als „Gottes pcrsoni-
ficirte Cref'iop.--?Vr;ft'' „im Auftrag und nach dem Plane des Ilöch-
ö
700 E. Zeller,
sten die Welt geformt habe" (S. 10. 18); die x^f''^- ^^^^ Timäus sei
„die Substanz" als „ein Seiendes oder Absolutes" (S. 14f.); die
Seele sei nicht blos eine Idee, sondern sie stehe sogar „unter den
Ideen am höchsten" (S. 13f.) u. s. w. I)a aber alles dieses ohne
jeden ernsthaften Versuch einer Beweisführung hingestellt ist, bleibt 1
nur übrig, es da, wo es steht, stehen zu lassen.
Ku.B, J. A.. Piatons Lehre von der Materie. Marburg 1887.
46 S.
Diese Dissertation, welche mir jetzt erst zugekommen ist, will
zeigen, dass Plato's Lehre von der Materie „eine ganz neue Be-
handlung verlange"; und der jugendliche Verfasser bezw^eifelt nicht,
dass sie diese durch ihn selbst erhalten habe, und sieht mit ge-
hobenem Selbstgefühl auf die herab, die sich noch immer von dem
aristotelischen Missverständniss der platonischen Grundlehren nicht
loszusagen vermögen. Indessen ist das Vollbringen bei ihm hinter
dem Wollen sehr weit zurückgeblieben. Nachdem er sich zunächst
zu Cohen's (eigentlich von Lotze herrührender) Deutung der Ideen-
lehre bekannt, aber für den urkundlichen Naclnveis ihrer Zulässig-
keit, dessen sie so sehr bedürfte, nicht das geringste gethan hat,
ergeht er sich S. 8 — 36 in Betrachtungen über Plato's An-
sichten vom Charakter und Werth der Mathematik. Neu ist
darin nur der Versuch, eine Fortbildung dieser Ansichten nacjj;^
zuweisen. Plato lasse nämlich in der Republik und den ihr^^or-
angehenden Schriften die Mathematik zwar „neben den-'Ueen
wissenschaftliche Bestimmungen an den Sinnendingen treffet), daher
zu ihrer Objektivirung beitragen", (S. 18), wenn er sie auch („man
weiss nicht recht warum" S. 27) der Dialektik nachsetze; aber erst
im Politikus und noch bestimmter im Philebus spreclie er den
Gedanken aus, „alles Sinnensein habe dadurch Be ,tand, d§,ss es durch
feste, im Hinblick auf die Idee gesetzte Massbestimm uPo-en geordnet
und bestimmt ist" (S. 23). Allein war denn Plato durch die
Fragen, mit welchen die Pepublik oder der Phädo H\h\i beschäftigen,
genöthigt, sich über die Bedeutung der mathemati^iichen Masse für
den Bestand der Sinnenwelt auszusprechen, falls &{ sich diese schon
zum Bewusstsein gebracht hatte? und yenn er (|ies offenbar nicht
Die deutsche Litt, über die sokrat. u. piaton. Philos. 1888. 701
war: mit welchem Recht kann man schliessen, weil er in der Rep.
nicht von ihr spricht, habe er auch noch nichts von ihr gewusst,
als er die Republik schrieb? Oder erwähnt er ihrer etwa in den
Gesetzen, die doch auch K. nicht für älter halten wird als den
Philebus und Timäus? Aber dass alles in der Natur (den oai;xov'a
xal ^zla TTpa^ii.«-«) wie in den Werken der Menschen durch die
Zahl bestimmt sei, hatte schon Philolaos (Fr. 13 b. Stob. Ekl. I, 8)
gesagt; da wird es Plato bei der Abfassung der Republik wohl auch
nicht mehr unbekannt gewesen sein. • Dass die letztere ohnedies
(wie Ph. d. Gr. II a^ 548 nachgewiesen ist) den Philebus an mehr
als einer Stelle augenscheinlich berücksichtigt, wird von K. ganz
unbeachtet gelassen. In seinen Erörterungen über den Philebus
bespricht Vf. S. 28 ff. auch das otTtEtpov, unter dem er, in der Sache
zutreffend, das extensiv oder intensiv Continuirliche versteht. Wenn
er nun aber dieses von der sog. Materie des Timäus ganz und gar
unterschieden wissen will (S. 38f.), so ist dies nur theilweise richtig:
die letztere fällt mit dem a'irsipov zwar nicht zusammen, da sie ein
engerer Begriff ist, aber sie ist eine bestimmte Art des «Tisipov, das
räumlich Unbegrenzte, der Raum als eine seiner Natur nach einer
unendlichen Theilung wie einer unendlichen Vermehrung fähige
Grösse. Auf die Materie des Timäus kommt K. erst S. 41 zu
sprechen und schon S. 43 hat er die Ueberzeugung gewonnen, dass
"^■^ie Materie „gar kein fundamentaler Begriff des platonischen
8yst<f^ms" sei, sondern „ganz ausserhalb desselben stehe", und von
^-ri^M' „nur \ermuthungsweise angenommen werde", um ein hypo-
"^^tticlR^es Substrat für die mathematische Construction der Elemente
^''VAT^'^ft^n. Mit den Beweisen für diese Behauptung nimmt er es
'ii^MM \mgemeut leicht. Es genügt ihm dafür an der Bemerkung,
'fei^TMlSo selbst seine Physik als ein geistreiches Spiel bezeichne
x^tfd T^'e^-inen stfeng wissenschaftlichen Charakter beilege. Aber
ei?ff ^Ä'M nennt er bekanntlich seine Reden oft genug, mag es
ihm ^airil^uch nocli so ernst sein (vgl. Ph. d. Gr. II a\ 574);
undVeViti (^^anerkennt, dass die Naturerklärung nicht der gleichen
Sichei^cift'^i'.^^V. sei, wie die reine Begriffswissenschaft (Tim. 29 B.
BOB.fe'^^^'St)-^.), so heisst dies doch nicht, dass alle „seine Aus-
einandei^feiftfe^-. im Tiir.äus keinen Anspruch auf irgend welchen
47
Archiv f Geschichte;. Philosophie. 11.
702 E- Zeller,
wissenschaftlichen Werth machen können" (S. 41). Oder sollen
wir etwa die Beseeltheit der Welt deshalb bezAveifeln, weil diese
30 B xaxa Xo^ov xov sixoia für ein Cöjr>v s[X'];u/ov evvouv is erklärt
wird? Werden wir die Lehre von der Kreisbewegung der Gestirn-
sphären und der Kugelgestalt der Welt Plato deshalb absprechen,
weil sie im Timäus vorgetragen wird? Oder etwa auch die Unter-
scheidung des Ewigen und des Veränderlichen, von der ebd. 51 Bff.
gehandelt wird? Nach der Methode des Vf. müsste man auch
dies thun; denn das Erg^niss dieser ganzen Auseinandersetzung
wird in der bekannten Erklärung zusammengefasst : toutwv os ouTto;
l'/rj^Tiuv 6[j,oXo"'(r^Teov, Sv ijlsv civoti to xaxa xauxo sioo? i'/ov . . . xo o'
6fia)VU[X0V OtXOlOV X£ £XS(V(0 OSUXÖpOV, «XiaOr^XOV . . . Xpl'xOV OZ 7.'j •,£V0?
ov -rj xTp /«Jpotc dzi u. s. w. Ist uuu vou diescu drei Stücken das
dritte eine blosse Vermuthung „ohne irgend welchen wissenschaft-
lichen Werth", so müsste dies von den beiden andern, deren un-
entbehrliches Ergänzungsstück es bildet, offenbar ebenso gelten.
Plato selbst freilich erklärt von seiner Lehre über das -avos/s; 49 D:
aaciaXeaxaxciv aaxrxo uiSs Xr/siv, 50 A: a«xo(o ttooc 7.X/,i)£i7v äacsa-
Xlaxaxov £i7t£rv. Allein wir wissen das heutzutage besser: wir
sprächen nicht so, wenn wir Plato wären, also kann er auch nicht
so gesprochen, oder es wenigstens nicht so gemeint haben. Mit
dieser Erhabenheit des Vf. über den Text des Timäus stimmt es
nun ganz überein, dass er auch nicht den Versuch macht, seiW
Vorstellung von der platonischen Materie als einem raumerfülle-'öden
Substrat gegen die gewichtigen Einwendungen, die ihr im ^Vege
stehen, durch Zergliederung der platonischen Aussagen zu ver-
theidigen oder die Frage, wie sie sich mit Plato"s Lehre von den
Elementen verträgt, zu beantworten. Auch sein Ausdruck ist mit-
unter ungenau und inkorrekt. Von „apriorischen Formen des
Denkens" (S. 10) hat zwar Kant, aber nicht Plato gesprochen; das
„wissenschaftliche Sein" (S. 11. 13) ist eine sprachwidnge Bezeich-
nung desjenigen Seins, welches Gegenstand der Wi'^^enschaft ist;
£X[i7.Y£tov mit „Bildungsmittel" zu übersetzen (S. W), oder von
Plato zu sagen, er „werthschätzt die Mathematik", ist nicht
deutsch.
^
Die deutsche Litt, über die sokrat. ii. piaton. Philos. 1888. 703
Sartorius, Ruht oder bewegt sich die Erde im Timäus? Ztschr,
f. Philosophie Bd. 93 (1888) S. 1—25.
Der Vf. dieser Abhandlung, die ihren Gegenstand mit gelehrter
Gründlichkeit bespricht, sucht S. 18ff. aus Plut. plac. III, 15, 10
und Arist. De coelo II, 13. 293 b 15ff. zu beweisen, dass Plato
der Erde zwar keine Ortsveränderung und keine Achsendrehung
zugeschrieben, aber ihr Inneres für flüssig gehalten und eine Ver-
schiebung seiner Theile angenommen habe. Indessen ist leicht zu
sehen, dass Arist. a. a. 0. nicht von einer Flüssigkeit des Erdinnern
(von der auch im Timäus nichts steht) sondern von einer Achsen-
drehung der Erde redet; diese schreibt er aber (wie Sitzungsber.
d. Berl. Akad. 1888, Nr. 51 gezeigt ist) nicht Plato, sondern
Heraklides zu. Die Placita sagen: ~o-ou? gcüttjC y.iz 7.poti6T-/jta
aaXcusaöai, w^ir haben jedoch keinen Grund, dabei an etwas anderes
als an die partiellen Erderschütterungen zu denken, welche auch
sonst mit diesem Ausdruck bezeichnet und von Höhlungen im Erd-
innern hergeleitet werden. Die Vorstellung einer Bewegung „des
ganzen Innern" der Erde wird durch das xotcou? ctuir^? ausgeschlossen.
Dass der Kritias (121 C) die Lehre vom Centralfeuer voraussetze
(S. 5. 24) ist unrichtig: der Mythus folgt der populären Vorstellung,
und die Burs des Zeus steht auf dem Scheitel des Himmels-
gewölbes.
Kalv^s, Platon's Vorstellungen über den Zustand der Seele nach
dem Tode. Pyritz 1888. 16 S. 4".
Dieses Gymnasialprogramm enthält in seinem Haupttheil kaum
etwas, woran jemand, der seinen Plato kennt, Anstoss nehmen
müsste, und nichts, woraus er etwas lernen könnte, da es sich
ganz auf Auszüge, meist aus den eschatologischen Mythen, be-
schränkt. In der Einleitung über die vorplatonischen Vorstellungen
vom Zustand nach dem Tode kommt ziemlich viel vor, was zu
Ijeanstanden wäre.
1
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B
3
A69
Bd. 2
Archiv für Geschichte der
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