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Full text of "Archiv für Geschichte der Philosophie"

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Archiv 

für 


Geschichte  der  Philosophie. 


Archiv 

für 


Gescliiclite  der  Philosophie 


in  Gemeinschaft  mit 

Hermann  Diels,  Wilhelm  Dilthey,  Benno  Erdmann 

und  Eduard  Zeller 


herausgegeben 


von 


Ludwig   Stein. 


Band  IL 


Berlin. 

Druck  und  Verlag  von  Georg  Reimer. 

1889. 


3 


Inhalt. 


Seite 

I.     'Hy£jjiov(a  und  otarzorzia  bei  Xenophanes.     Von   E.  Zell  er.  .  1 
IL     Zu  Aristoteles  De  memoria  2.  ■452al7f.    Von  J.  Freuden- 
thal   5 

III.  BI02  TEAEIOi:    in    der   aristotelischen  Ethik.     Von  Emil 
Arleth 13 

IV.  Zur  Psychologie  der  Scholastik.     Von  H.  Siebeck.  .    .    .    .  22 
V.     Zur  Synderesis  der  Scholastiker.     Von  Dr.  L.  Rabus.     .    .  29 

VI.     Paläographische  Bemerkungen  zu  Kants  nachgelassener  Hand- 
schrift.    Von  Julius  von  Pflugk-Harttung 31 

VII.     Zu  Goethes  Philosophie  der  Natur.    Von  W  i  1  h  e  1  m  D  i  1 1  h  e  y.  45 

VIII.     Die  Philosophie  in  Dänemark  im   19.  Jahrhundert.    Von  Pro- 
fessor Harald  Höffding 49 

IX.     Se  un  processo  evolutivo  si  osservi  nella   storia  dei  sistemi 

filosofici  italiani.    Von  Prof.  F.  Puglia 75 

X.     Thaies  ein  Semite?     Von  H.  Diels 165 

XI.     Die  Hypothesis  in  Piatons  Menon.    Von  Alfred  Gercke.  .  171 

XII.     Zu  der  platonischen  Atlantissage.     Von  Otto  Kern.    .    ,    .  175 

XIII.  Zur  Psychologie  der  Scholastik.     Von  H.  Siebeck 180 

XIV.  Antike  und   mittelalterliche  Vorläufer   des   Occasionalismus. 

Von  Ludwig  Stein 193 

XV.     Ein    Hymnus    auf   Immanuel    Kant.     Mitgetheilt    von    Karl 

Köstlin 246 


VI  I  II  h  a  1  t. 

Seite 

XVI.     Zwei  Briefe  Kants.     Mitgetheilt  von  B.  Erdinann 249 

X\il.     Archive  der  Litteratur  in   ihrer  liedeiitung  für  das  Studium 

der  Geschichte   der  Philosophie.     Von  "Wilhelm   Dilthey.  343 

XVIII.     Protagoras  et  Democrite.     Par  Victor  Brochard 368 

XIX.     Sur  un  fragment  de  Philolaos.     Par  Paul  Tannery.   .    .    .  379 

XX.     KPATHPEi:  des  Orpheus.     Von  Otto  Kern 387 

XXI.     Ueber  Grundabsicht  und  Entstehungszeit   von  Piatons  Gor- 

gias.     Von  Prof.  P.  Xatorp 304 

XXII.     Zur  Psychologie  der  Scholastik.     Von  H.  Siebeck 414 

XXIII.  Der  Humanist  Theodor  Gaza  als  Philosoph.     Von  Ludwig 
Stein.  ..." 4-26 

XXIV.  Ueber  Gassendi's  Atomistik.     Von  Kurd  Lasswitz.    .    .    .  451» 
XXV.     Leibniz  und  Montaigne.     Von  Gregor  Itelson 471 

XXVI.     I/hypothese  geometrique   du  Menon   de  Piaton.     Par  Paul 

Tannery .  509 

XXVII.     Zu  Thaies"  Abkunft.    Von  ü.  Immisoh 515 

XXVIII.     Zur  Psychologie  der  Scholastik.     Von  H.  Siebeck 517 

XXIX.     Jordani  Bruni  Nolani  Opera  inedita,   manu   propria  scripta. 

Von  W.  Lutoslawski 526 

XXX.     Einige  Bemerkungen  über  die  sogenannte    empiristische  Pe- 
riode Kant's.     Von  G.  Hey  maus 572 

XXXI.     Die  Rostocker  Kanthandschriften.    Von  W  11  hei  m  Dil  they.  592 


Jahresbericht 

über 
sämmtliche  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte 

der  Philosophie. 

I.     Bericht  über  die  deutsche  Litteratur  der  Vorsokratiker.  1887. 

Von  IL  Diels 87 

IL  Bericht  über  die  deutsche  Litteratur  der  sokratischen,  plato- 
nischen und  aristotelischen  Philosophie  1886,  1887.  Zweiter 
Artikel:  Plato.     Von  E.  Zeller 95 


In  half.  VII 

Seite 

III.  Jaliresbeiicht  über  die  neuere  Philosophie  bis   auf  Kant  für 
1887.     Von  Benno   Knlmann 99 

IV.  Die   Geschichte   der   Philosophie   in  Holland    in   den   letzten 

zehn  Jahren.     Von  Prof.  C.  B.  Spruyt r22 

V.     Delle   opere    pubblicate    in   Italia   nel    I88G   e    1887    intorno 

alla  storia  della  Filosofia.     Von  Feiice  Tocco 141 

VI.     Bericht  über  die  deutsche  Litteratur  der  sokratischen,  plato- 
nischen und  aristotelischen  Philosophie  1886,  1887.     Dritter 

Artikel:  Aristoteles.     Von  E.  Zell  er 259 

VII.     Jahresbericht  über  die  neuere  Philosophie  bis  auf  Kant  für 

1887.     Von  Benno  Erdiuann 300 

VIII.     The  Literature  of  Modern  Philosophy  in  England  and  Ame- 
rica, 1886—1888.     By  J.  G.  Schurman 330 

IX.     Jahresbericht   über  die   deutsche   Litteratur  zur  Philosophie 

der  Renaissance  1886—1888.     Von  Lud  wig  St  ein.     .    .    .      475 
X.     L"Histoire  de  la  Philosophie  en  France  pendant  Pannee  1887. 

Par  Paul  Tannery 488 

XL     The  Literature  of  Ancient  Philosophy  in  England   in  1887. 

By  Ingram   By  wate  r 499 

Xll.     Bericht  über  die  deutsche  Litteratur  der  Vorsokratiker.  1888. 

Von  H.  Diels 653 

XIII.     Die  deutsche  Litteratur  über  die  sokratische  und  platonische 

Philosophie  1888.     Von  E.  Zeller 661 

Neueste  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie  ICI.  341.  SOG.  704 


Archiv 

für 


Geschichte  der  Philosophie. 


IL  Band     1.  Heft. 


L 

'H^sfi-ovia  und  oeanozda    bei   XcllOplianeS. 

Von 
E.  Zeller  in  Berlin. 

Die   pseudoplutarchisclien   STpiotxaTci?  (b.  Eus.  pr.  ev.  I,  8,  4) 
berichten  über  Xenophanes,    unzweifelhaft  nach  Theophrast:    dno- 
cpaiv£-at  ok  xott   utrA  \}e&\>    oj;   ouosjx'.S?  ■fj'i'sijLovi'as   £v   auToT?  ous"/]?'  ou 
",'ap   oaiov    OEa~6Ci3i}at   xiva   tojv    i}s(ov    ETtioöraDat   ts   ixt^osvo?  auiÄv 
u.r,o£va  |jLr|0'  oXu)c.     Diese  Stelle  schien  mir  und  andern  die  Meinung, 
dass  die  Götter  ein  Oberhaupt  über  sich  haben,  unbedingt  zu  be- 
streiten,   ebendamit    aber   die  Vielheit    der    Götter,    die  ohne  ein 
solches    nicht    gedacht  werden  kann    und  von   den  Griechen  nicht 
gedacht  wurde,    aufzuheben.     FreudentliaP)  glaubt  jedoch,   die- 
selbe   gestatte    auch   eine  andere  Deutung.     Von  einer  Hegemonie 
iter  den  Göttern  werde  X.  selbst  in  diesem.  Zusammenhang  nicht 
'  'rochen,  sondern  nur  „die  despotische  Beherrschung"  der  unteren 
^^Sr  durch  Zeus  bestritten  haben;    und   dies    habe  er  ebensogut 
^'"'"'können,    als  es  Euripides    (Herc.  für.  1343)  in  Nachbildung 
"'^i"s  Fragments    thut,    ohne    darum  die  Vielheit   der  Götter  in 
-■  ^^ömL.,^  stellen.     Allein  bedeutet  oesiröCsiv  (um  damit  zu  beginnen) 

^        o'  was  wir    unter    einer    despotischen  Herrschaft  verstehen, 
etwas  ät- 

er    beströ^S^®  ^-  Xenoph.  10 f.  Archiv  I,  33'Jir.  ^ 

schichte  d.  IMiilosopliie.     II.  •*• 


2  E.  Zeller, 

eine  harte,  rücksichtslose,  die  Rechte  der  Unterthanen  nicht  achtende 
Herrschaft?  Was  den  osatiror/j^,  das  ossttoCs'-v,  die  osa-OTö-'a  von 
andern  die  Herrschaft  bezeichnenden  Ausdrücken  unterscheidet,  ist 
lediglich  die  Unbeschränktheit  der  Herrschergewalt,  nicht  die  Härte 
und  Gewaltthätigkeit,  mit  der  sie  ausgeübt  wird.  Asaro-r^c  ist  der 
Herr  im  Yerhältniss  zum  Sklaven,  die  Seele  (s.  u.)  im  Verhältniss 
zu  ihrem  Leüje,  der  Eigenthümer  im  Verhältniss  zu  seinem  Eigen- 
thura:  der  osa-oxsta  entspricht  als  ilu'  Correlatbegrilf  (z.  B.  bei 
Plato  Phädo  80  A.  Parm.  133  D f.)  die  oouXsia.  Die  Götter  sind 
osaTTo-ai  der  Menschen,  wie  sie  ja  stehend  genannt  werden,  weil 
diese  ihr  Eigenthum  (x-r^ixa  Plato  Phädo  62  B)  sind;  ihre  Herr- 
schaft kann  überhaupt  nur  eine  „Despotie"  sein,  weil  sie  kein 
Gesetz  über  sich  haben,  durch  welches  dieselbe  beschränkt  würde: 
die  OcSTiOTSia  auiTj  ist  (Parm.  134  D)  bei  den  Göttern.  Schon  hier- 
aus folgt,  dass  bei  derselben  nicht  an  eine  harte  und  gewalt- 
thätige  Herrschaft,  sondern  lediglich  an  die  absolute  Herrscher- 
macht zu  denken  ist,  deren  Besitz  ein  Attribut  der  Gottheit  ist: 
in  jenem  Sinn  hätte  ihr  nicht  blos  das  oss-oCscii^at  sondern  auch 
das  osaTTÖ^siv  abgesprochen  werden  müssen.  Das  gleiche  ergibt 
sich  für  den  allgemeinen  Sprachgebrauch  aus  dem  platonischen 
Phädo  63 C.  69 D,  wo  Sokrates  die  Hoffnung  ausspricht,  in  den 
Göttern  der  Unterwelt  wie  in  denen  der  Oberwelt  oEtj-otac  ct^aHouc, 
gütige  Herreu,  zu  flndeu:  von  Despoten  in  unserem  Sinn  kann  ja 
in  diesem  Fall  nicht  gesprochen  werden.  Wenn  endlich  bei 
Theophrast  (Ps.  Plutarch)  an  den  Satz,  dass  kein  Gott  einen  Herrn 
haben  könne,  sich  das  Wort  von  der  Bedürfnisslosigkeit  der  Götter 
anschliesst,  so  sehen  wir  aus  der  Stelle  des  Euripides,  in  welcher 
Freudenthal  so  überzeivgend  eine  Benützung  derselben  Xeuo- 
phanes-Verse  aufgezeigt  hat,  deren  Inhalt  der  angebliche  Plutar 
wiedergibt,  dass  die  Bedürfnisslosigkeit  der  Götter  von  dem  pb  ' 
sophischeu  Dichter  zur  Begründung  der  Behauptung  verwe 
worden  war,  keiner  von  ihnen  sei  der  Herr  des  andern. 
Herakles  sagt  hier,  indem  er  die  herrschenden  Vorstellungf^r 
die  Götter  bestreitet:  out'  r|;ia>3a  Ticuiro-'  ou-s  -ctaoixai  —  oi' 

osvoc.    Was  Hess  sich  aber  durch  die  Bedürfnisslosigkeit  ( 


'Hysp-ovia  uiiil  OEairoTEta  bei  Xenophanes.  3 

begründen?  Dass  ihre  Herrschaft  keine  gewaltthätige  sei,  offenbar 
nicht.  Auch  das  aber  nur  sehr  gezwungen,  dass  kein  Gott  einen  Herrn 
über  sich  habe;  sondern  nur  das,  wovon  auch  Euripides  allein  redet, 
dass  keiner  Herr  sei,  weil  keiner  eines  Dieners  bedürfe.  Xenophanes 
muss  daher  an  der  Stelle,  von  der  uns  bei  Euseb.  nur  ein  knapper 
Auszug  erhalten  ist,  nicht  blos  ausgefüln-t  haben,  dass  das  osaTto- 
Csaöai,  sondern  auch,  dass  das  oscj-oCsiv  sich  mit  dem  Wesen  der  Gott- 
heit nicht  vertrage;  und  von  dem  osa-oCsiv  kann  er  nicht  im  Sinn 
einer  despotischen,  d.  h.  gewaltthätigen  Herrschaft  gesprochen  haben, 
die  das  \Vort  als  solches  gar  nicht  bezeichnet,  sondern  nur  in 
demselben  Sinn,  in  dem  die  Götter  allgemein  osaTroiott  genannt 
werden,  in  dem  einer  unbedingten  Herrschaft.  Es  entspricht  daher 
seiner  Meinung  vollkommen,  wenn  ihm  der  angebliche  Aristoteles 
De  Xenoph.  3.977  a  23ff.  die  Behauptung  zuschreibt,  als  der 
xpa-icJTo;  7.~avTU)v  könne  Gott  nur  Einer  sein,  touto  7«p  Osov  xal 
ösoo  O'jvoiaiv  Eivcti,  xoa-cTv,  c/DA  ar,  xocttsia&ai  .  .  .  Tts^-cuxivai  77.0 
f)£ov  IJL7J  xpoTsTaöoti,  wenn  also  das  osa-oCsaöai  hier  durch  xpaTstcr- 
1)7.1  erklärt  wird,  und  wenn  ebenso  Theophrast  a.  a.  0.  Yi-j'cixov'a 
dafür  setzt  —  das  gleiche  Wort,  welches  auch  bei  Plato,  vielleicht 
in  Erinnerung  an  die  Verse  des  Xenophanes,  einem  oss-oCstv 
entspricht.  Plato  sagt  nämlich  Phädo  BOA  über  Leib  und 
Seele:  xcö  [xsv  oouXsusiv  x7.i  ap"/£a&7i  vj  cpuai;:  •i:poaT7'TX3i,  iq  oi 
ap/£ty  xal  Ö£5i:o^£iv,  und  er  iindet,  dass  die  Seele  eben  darin 
ihre  Gottverwandtschaft  an  den  Tag  lege;  7^  ou  ooxeI  aoi  xo  ;j.£v 
x^eTov  orov  ot'pyöiv  xs  xal  TiYsixo veusiv  iTEcpuxivai,  xo  0£  övr^xciv  ap"/£3- 
1)71'  x£  xal  öouX£u£'.v ;  Um  so  weniger  haben  wir  Anlass  zu  der  A^er- 
muthung,  die  r]7£[xovi7  in  der  Plutarchstelle  sei  Xenophanes  erst 
von  Theophrast  oder  seinem  Bearbeiter  geliehen.  Denn  kann  auch 
dieses  Substantiv  freilich  in  seinen  Hexametern  nicht  gestanden 
haben,  so  hindert  doch  nichts,  dass  das  entsprechende  Verbum, 
7j7£[xov£U£iv,  darin  stand;  und  dieses  ist  auch  nicht  allein  für  Xe- 
nophanes, der  es  damit  nicht  sehr  genau  nimmt,  sondern  auch  für 
Homer  und  Pindar  nicht  zu  „prosaisch".  Gesetzt,  Xenophanes 
habe  geschrieben:  ou  77p  xoi  Deixic  iaxt  Oöo'j  Oeov  T;Y£tj,ov£u£iv ,  oder 
etwas  ähnliches,  so  liätte  Theophrast  allen  Anlass  gehabt,  zu  sagen: 
er  bestreite,    dass  unter  den   Göttern  eine   Hegemonie  sei.     Ja  es 

1* 


E.  Zeller 


scheint  mir,  dass  er  ohne  eine  solche  Veranlassung  sich  dieses  von 
der  Herrschaft  des  Zeus  über  die  Olympier  sonst  nie  oder  nur  sehr 
selten  vorkommenden  Ausdrucks  kaum  bedient  haben  würde. 

Dass  nun  aber  Xenophanes  die  Beherrschung  der  Götter  durch 
einen  aus  ihrer  Mitte  hätte  bestreiten  können,  ohne  darum  die 
Vielheit  der  Götter  aufzugeben,  dies  wird  m.  E.  durch  das  Bei- 
spiel des  Euripides  nicht  dargethan.  Ob  dieser  Schüler  des  Ana- 
xagoras  und  der  Sophisten  den  Polytheismus  seines  Volks  für  seine 
Person  wirklich  getheilt  hat,  mag  dahiu  gestellt  bleiben  —  mir  ist 
es  sehr  zweifelhaft.  Aber  wie  Dem  sei,  so  lässt  sich  doch  seine 
Stellung  zu  unserer  Frage  mit  der  des  Xenophanes  nicht  ver- 
gleichen. Er  ist  ein  Dramatiker  und  braucht  das,  was  er  seinen 
Helden  in  den  Mund  legt,  so  wenig  zu  vertreten  als  etwa  Schiller 
den  Atheismus  Talbots  und  den  Katholicismus  Mortimers;  und  er 
lässt  bekanntlich  die  widersprechendsten  Dinge,  gerade  über  die 
Götter,  oft  in  Einem  Athem  vortragen.  Bei  Xenophanes  dagegen 
handelt  es  sich  um  die  ernsten  Ueberzeuguugen  eines  bedeutenden 
Denkers;  und  einem  solchen  darf  man  augenscheinliche  Wider- 
sprüche nicht  ohne  zwingende  Gründe  schuldgeben.  Freuden- 
thal sucht  dies  durch  seine  Erklärung  des  oss-oCsa&ai  zu  ver- 
meiden; wer  sich  von  der  Zulässigkeit  dieser  Erklärung  nicht  über- 
zeugen kann,  wird  sich  auch  den  weiteren  Folgerungen  aus 
Theophrast's  Aussage  nicht  entziehen  können. 


IL 

Zu  Aristoteles  De  memoria  2.  452  a  17  f. 

Von 
J.  Freudenthal  in  Breslau. 

In  seinen  lehrreichen  Untersuchungen  zur  Philosophie 
der  Griechen  giebt  Siebeck  eine  interessante  Deutung  der  schwie- 
rigen Worte  des  Aristoteles  De  memor.  2.  452  a  17  f.  Dieselbe  ist 
durchaus  originell,  beseitigt  aber  die  vorliegenden  Schwierigkeiten 
nicht,  sondern  vermehrt  sie  durch  die,  wie  es  scheint,  ungerecht- 
fertigte Einführung  logischer  Beziehungen  in  eine  psychologische 
Erkenntniss.  Da  es  sich  hier  um  die  von  Aristoteles  zuerst  ent- 
wickelte'), für  die  moderne  Psychologie  grundlegend  gewordene 
Lehre  von  der  Association  der  Vorstellungen  handelt,  seien  die  Be- 
denken gegen  Siebecks  Erklärung  offen  ausgesprochen. 

Aristoteles'  Worte  lauten  bei  Bekker  (Z.  17): 

loixs  OYj  zctöoXou  dpyjf]  xal  xo  [xsaov  iravtcuv  st  yap  [jlyj 
rpoTspov,  oTotv  37:1  Touxo  sXö^j  [xvr^aövjOicTai,  ri  ouxet'  ouos 
äXXoöev.  otov  et.'  xi?  voVjastev  £<p'  («y  ABrAEZH6-  ei 
20  yap  [X7]  £7rl  xou  E  fisjxvrjxai,  IttI  xou  E6  s[j.vr^(ji)7j  •  svxöuf^öv 
"l-ap  stt'    otficpu)  xtvr^{>T^vat  IvMysTOii,   xat    stti   xo  A   xott    sttI 

XO   t,.     £1    0£    [XYj    XOUXtUV    XI  £TriCl']t£l,    £irt  XO   l     £AÜU)V   [XVr^aOTj- 

a£X(Zi,  £t  XO  H  7]  XO  /,  £TriCr|X£f    £t  ö£  ji.Y] ,  £7ti  XO  A"    xat 
ouxco?  dst'. 

Zu  diesem  Texte,  der  vollständig  sinnlos  ist,  bieten  die  Hand- 
schriften,   alten    Commentatoren    und    Uebersetzungen    zahlreiche 


^)  Den  Grund  aber  zur  Lehre  von  der  Association   der  Vorstellungen  hat 
schon  Pluton  gelegt,  wie  das  aus  Phaedon  73 Bf.  hervorgeht. 


ß  J.  Freudenthal, 

Varianten  dar^),  von  denen  bald  diese  bald  jene  von  den  neueren 
Erklärern  und  Herausgebern  benutzt  worden  sind.  Auch  Siebeck 
giebt,  wie  billig,  die  Yulgata  auf  und  schlägt  (S.  155  f.)  folgende 
Acnderungen  vor:  Z.  17  wird  mit  B^)  to  vor  xoiOoXou  eingefügt, 
Z.  20  H6  statt  E0  mit  T  gelesen,  das.  i-\  ohne  handschriftliche 
Gewähr  gestrichen  und  endlich  Z.  23  A  statt  A  (mit  T)  geschrieben. 
Hierdurch  soll  das  Recht  zu  folgender  Erklärung  gewonnen  sein. 
'Das  Allgemeine  (xö  xotOoXou)  und  der  Mittelbegrift"  (to  [jisaov)  sind 
das  Princip  fiir_  das  richtige  Treffen  bei  der  absichtlichen  Wieder- 
erinneruug'  .  .  .  'H9  steht  als  Schema  des  xa&oXou  gegenüber  den 
einzelnen  E  und  A.  Wenn  man  sich  auf  E  (das  Einzelne)  nicht 
besinnt,  so  kommt  man  vielleicht  bei  (durch)  H6  (dem  Allgemeinen) 
darauf,  denn  von  dort  aus  ist  es  leicht,  sich  auf  Beides,  sowohl 
auf  E  als  auf  A  zu  besinnen'.  Als  Zeichen  für  das  Allgemeine 
sind  die  am  Ende  der  Eeihe  stehenden  H0  gewählt,  weil  das  xaBoXou 
vom  Inhalte  der  gegebenen  AVahrnehmungen  am  weitesten  abliegt. 
Von  H0  aus  soll  aber  gerade  E  und  A  leicht  reproducirbar  sein, 
weil  unter  dem  H  das  E,  unter  9  das  A  mitenthalten  gedacht  wird, 
wie  das  Einzelne  unter  der  Gattung. 

Mit  dem  Satze  (Z.  22 — 23)  d  os  [Ar; — sttI  to  A  soll  dagegen  die 
Association  durch  den  Mittelbegriff  veranschaulicht  werden,  der  ja 
nach  Aristoteles  '  Wesen  und  Grund  einer  Sache  enthält' .  '  F  und 
A  gehören  zur  Mitte  EAE;  insofern  bedingen  sie  die  Reproduction 
durch  den  engen  begrifflichen  Zusammenhang,  in  welchem  sie  zu 
den  gesuchten  Z  und  H  stehen  und  zwar  um  so  besser,  je  näher 
sie  diesen  sind'.  Als  Beispiel  wird  die  von  Aristoteles  so  oft  ge- 
gebene Definition  der  l'xXsi'ln?  angeführt,  für  die  Siebeck  folgendes 
Schema  aufstellt  (S.  157): 

£xX£nj>i?  =    uTTo  7"?,;    avTtcppa^iUjc    7.7to  azXfi'jr^:  ctspr^st;  (ptuioc. 
A(B)  ^~^  A  E  Z  H 

Das  Allgemeine  und  der  Mittel  begriff'  sollen  also  Ausgangs- 
punkte (ap/aQ,  oder  nach  Siebeck  'Principien'  für  die  Erinnerung 


-)  Die  wichtigsten  derselben  sind  Rh.  Mus.  1869  S..410  mitgetheilt. 
^)  Ueber  diese  und  andere  hier  angewendete  Abiiürzungen  vgl.  Rh.  Mus. 
1869  S.  87. 


Zu  Aristoteles  De  memoria  2.  452  a  17  f.  7 

durch  Ideenassociation  sein.  Nicht  aber  von  der  logischen  Verbin- 
dung der  Begriffe,  sondern  von  der  Verknüpfung  der  Einzelvorstelluu- 
gen  auf  Grund  ihres  zeitlichen  oder  räumlichen  Zusammenhanges,  ihrer 
Aehnlichkeit  oder  ihres  Gegensatzes  (451  b  19)  spricht  Aristoteles 
in  den  zwei  Capiteln  seiner  Abhandlung  über  das  Gedächtniss  — 
seiner  ausführlich  entwickelten  Lehre  gemäss,  dass  Gedächtniss  und 
Erinnerung  Thätigkeiten  des  Sinnesorganes  sind,  dem  Denken  aber 
imr  accidenteller  Weise  zukommen,  d.  h.  nur  insofern  Begriffe  von 
Einzelvorstellungen  begleitet  werden;  denn  'der  Vorgang  der  Er- 
innerung ist  somatischer  Art'*).  Dass  Aristoteles  hier  die  Ideen- 
association auf  die  logischen  Beziehungen  des  Allgemeinen  zum 
Einzelnen,  des  Mittelbegriffes  zu  den  äusseren  Begriffen  zurückge- 
führt haben  sollte,  ist  nicht  glaublich.  Wendet  man  ein,  dass  die 
ausgeführte  Verbindung  der  Begriffe  auch  eine  Association  der  ent- 
sprechenden Vorstellungen  schaffe,  so  ist  das  richtig,  aber  nirgends 
von  Aristoteles  hervorgehoben  worden.  Er  erkennt  nur  die  bekannten 
oben  erwähnten  vier  Principien  der  Association  an  (451  b  19f.). 
Warum,  wenn  Siebecks  Deutung  richtig  wäre,  fügte  er  daselbst  diesen 
vier  nicht  das  Allgemeine  und  den  Mittelbegriff  als  weitere  Principien 
hinzu?  —  Aber  es  ist  gar  nicht  zuzugeben,  dass  das  xaöoXou  als 
solches  zur  Auffindung  der  vergessenen  Einzelvorstellung  uns  führen 
könne.  Denn  alle  Einzelvorstellungen  haben  zu  dem  ihnen  über- 
geordneten Allgemeinen  die  gleiche  Verwandschaft.  Soll  uns  also 
ein  allgemeines  H  durch  Association  zu  einem  bestimmten  Einzelnen 
E  führen,  so  muss  das  aus  anderen  Gründen  geschehen,  als  weil 
jenes  xaUo/.ou,  dieses  ein  xci)'  ixaaiov  ist,  so  muss  eine  der  ge- 
nannten vier  Principien  der  Association  den  Uebergang  vermitteln: 
das  xrAUjkoo  an  sich  ist  also  nicht  d^'/j]  ttocvkuv. 

Mit  dem  x7.i>oXoü  fällt  auch  das  «xssov  in  Siebecks  Erklärung; 
denn  das  von  Aristoteles  gewählte  Schema  verliert,  bloss  auf  den 
Mittelbegrift'  bezogen,  jeden  Sinn.  Doch  lässt  sich  die  Unhaltbar- 
keit  der  Siebeekschen  Deutung  auch  in  Bezug  auf  das  [xsaov  be- 
sonders darthun. 


*)  De  mem.  1.  451a  14  p-v/jur] -/7.1  tö  jj.vrjij.ov£'j£iv  ...  cf  ctvTaa[j.aTOS  ^^i?  xal . . 
Toü  rpwTO'j  «(aDrjTixoü.  450a  12  ij  oe  [J-vr^arj  xai  tj  tiöv  votjtiöv  oyx  li'veu  cpavxa- 
afJ!.aTO?  äaxiv.     2.  453a  14  aci)[j.c(Ttxov  xi  t6  tisOo;. 


3  J.  Freudenthal, 

Vom  Mittelbegriffe  sollen  wir  auf  dem  Wege  der  Association 
leicht  zu  den  äusseren  Begriffen  gelangen,  weil  er  ^das  Wesen  und 
den  Grund  einer  Sache  enthält'  (nach  Anal.  post.  II  2.  90a9f.). 
Ist  aber  die  eigentliche  Ursache  der  Association  die  causale  Ver- 
knüpfung des  [xsaov  mit  den  axfja,  warum  bezeichnet  Aristoteles 
nicht,  wie  z.  B.  Hume  und  Beueke  es  thuu,  die  Causalität  als  ap/T) 
ravTtov,  sondern  vielmehr  die  durch  ein  Schlussverfahren  hergestellte 
logische  Verbindung  durch  den  Mittelbegriff?  —  Nicht  jedes  jxsaov 
ferner  enthält  das  otttiov ').  Ist  auch  in  diesem  Falle  das  {xicjov  die 
ap/y]  Tav-tüv?  Bejahen  wir  das,  weil  Aristoteles  keine  Ausnahme 
angiebt,  warum  sollte  da  nicht  jede  durch  irgend  ein  Urtheil  ge- 
schaffene Verknüpfung' von  Begriffen  zur  Erzeugung  einer  Association 
genügen  ? 

Und  nun  prüfe  man  auch  den  aristotelischen  Text  im  einzelnen. 
Es  ist  zunächst  auffällig,  dass  Aristoteles  zwei  so  verschiedene  Be- 
Ziehungen,  wie  die  des  Allgemeinen  zum  Einzelnen  und  des  Mittel- 
begriffs zu  den  äusseren  Begriffen  an  Einem  und  demselben  Bei- 
spiele, ohne  den  Uebergang  vom  xaOoÄou  zum  txssov  irgendwie  anzu- 
deuten, veranschaulicht  haben  sollte.  Wer  sagt  uns,  dass  H  Z.  19 
das  Allgemeine,  Z.  23  aber  das  axpov,  dass  A  Z.  22  das  Einzelne, 
Z.  23  aber  das  [xssov  bezeichnet? 

.Dass  in  dem  Satze  loixs  ovj  xta.  (Z.  17)  thatsächlich  nicht  von 
zwei  doyai  die  Rede  sein  kann,  beweist  der  Singular  touto  (Z.  18), 
der  auf  die  ap/vj  zurückweist.  Und  dass  nicht  das  Verhältniss  des 
Allgemeinen  zu  den  einzelnen  Gliedern  Z.  19  —  22  erörtert  wird, 
geht  aus  dem  a;x'i(ü  (Z.  21)  hervor,  das  nach  Siebeck  zwei  beliebige 
vorher  nicht  genannte  Einzelne  bezeichnen  müsste. 

Wie  unpassend  sind  ferner  nach  Siebecks  Erklärung  die  Zeichen 
für  die  associirten  Begriffe  gewählt!  Die  am  Ende  der  Reihe  stehen- 
den 116  hat  Aristoteles  nach  Siebeck  zum  Zeichen  für  das  Allge- 
meine gebraucht,  '  weil  das  Begriffliche,  Gattungsmässige  vom  sinn- 
lich Einzelnen..  .  am  weitesten  abliegt'.     Liegt   aber  E,   das  Ein- 


*)  Anal.  post.  I  c.  13:  tö  oe  oxi  otacpeptt  xal  t6  oidxt  iTn'cTaaöcd  eva  [xev 
Tp(5-ov  ....  aXXov  OE  d  Ol'  djjiEawv  jjiev,  dXXct  fxrj  5tä  toO  aktou,  dXXd  xüiv  dv-t- 
aTpecpo'vTüjv  otd  xoü  yvcupiiAiuxepou  (yi^vExai  6  ouXXoytafxö;). 


Zu  Aristoteles  De  memoria  2.  452  a  17  f.  9 

zelne,  wirklich  von  H0  am  weitesten  ab?  Und  ist  nicht  auch  Z, 
das  H  Zunächstliegende,  ein  Einzelnes  in  diesem  Schema?  — 

Wann  ferner  hat  Aristoteles  zur  Bezeichnung  von  Gegensätzen, 
wie  einzelne  Glieder  und  Allgemeines,  die  gleichartige  Folge  einer 
Buchstabenreihe,  wie  hier  ABTAEZRÖ,  gewählt?  AVarum  be- 
zeichnet er  das  Allgemeine  durch  zwei  Buchstaben  H6?  Warum 
bedient  er  sich  zur  Bezeichnung  des  Verhältnisses  vom  [j.£aov  zu 
den  zwei  axpa  hier  der  Reihe  ABFAEZH,  während  er  es  doch  sonst 
nur  durch  drei  Buchstaben  selbst  da  veranschaulicht,  wo  ein  Glied 
aus  mehreren  Begriffen  besteht.  So  z,  B.  bei  dem  von  Siebeck 
selbst  gewählten  Beispiele  von  der  Mondfinsterniss  (Anal.  post.  II 
8.  93  a  30 f.  37 f.):  as^r^v-/]  F,  sxXstt]/i?  A,  -o  TraaasXrjVou  axiäv  [j-tj 
ouvaaOai  ttoiciv  [xr^osvo;  vjtjLÜJy  [xsTotEu  ovro?  ©avspou,  e<p  ou  B. 

Doch  diese  wunderliche  Wahl  der  Buchstaben  mag  dahinge- 
stellt bleiben;  jedenfalls  aber  dürfte  man  wohl  erwarten,  dass  das 
von  Siebeck  gewählte  Schema  die  aristotelische  Lehre  von  der 
Association  durch  den  Mittelbegriff  einigermaassen  veranschauliche. 
Das  ist  aber  keineswegs  der  Fall.  Das  Schema  ist  nach  Siebeck: 
sxXsi'jii?  =  uTto  '^Tj?  avTicppaqc«)?  dno  asÄr^v/j^  3-£p-/jai;  cpcDXoc 

A(ß)  r  A  E  Z       '  H 

Und  zur  Erläuterung  fügt  Siebeck  hinzu  (S.  157):  '  Worauf  man 
sich  zu  besinnen  sucht,  ist  der  Vorgang  und  das  Wesen  der  sxX£t'}ic. 
Die  Erinnerung  blos  an  A  und  B  (lxXct'];t?)  bringt  die  gewünschte 
Einsicht  noch  nicht  zurück,  wohl  aber,  wenn  man  auf  V  (dass  die 
Erde  Ursache  ist)  und  noch  mehr,  wenn  man  auf  A  (durch  ihr 
Dazwischentreten)  kommt'.  Um  dies  Schema  mit  Aristoteles' 
Worten  vereinigen  zu  können,  ist  Siebeck  also  gezwungen,  IxXöi'^ic 
für  einen  Doppelbegriflf  (=  A  und  ß)  zu  erklären,  das  |j,£Sov  gar 
durch  drei  Buchstaben  FAE  auszudrücken,  das  zum  axpov  gehörige 
airo  asXr^v/js  noch  zum  Mittelbegriffe  zu  schlagen  und  das  untrenn- 
bare '(r^<;  avxicppa^i;  als  eine  Zweiheit  von  Begriffen  anzusehen,  an 
deren  einen  man  sich  erinnern  kann,  ohne  des  andern  zu  gedenken. 
Wie  anders  urtheilt  Aristoteles  über  die  Einheitlichkeit  der  eine 
Definition  bildenden  Glieder!  Wie  ist  es  überhaupt  möglich  zu 
wissen,  dass  die  Erde  Ursache  der  Mondfinsterniss  ist,  ohne  zugleich 
zu  wissen,    dass  sie   es    durch   ihr  Dazwischentreten  ist?  —  Und 


10  J.  Freiidenthal, 

wesscü  sucht  man  sich  eigentlich  zu  entöinuen?  Des  'Vorganges 
und  des  Wesens  der  e/Xst <!;!?',  sagt  Siebeck.  Aber  der  Vorgang  ist 
ja  die  l'xXsi'k?  (Aß),  und  von  ihr  geht  man  aus:  sie  ist  also  be- 
kannt. Das  'Wesen  der  sxXsi'in^'  ferner  ist  vom  ascjov  nicht  zu  ' 
trennen  —  nach  bekannter  aristotelischer  Lehre,  auf  die  Siebeck 
selbst  sich  beruft:  auch  das  Wesen  der  iy.lz>.'\n;  kann  also  nicht 
das  sein,  'worauf  man  sich  zu  besinnen  sucht'.  So  schwebt  Alles 
in  der  Luft. 

Hat  sich  somit  Siebecks  Erklärung  als  unhaltbar  erwiesen,  so 
wird  man  zu  der  früheren  einfachen  Auffassung  der  aristotelischen 
Worte  zurückkehren  müssen,  welche  die  alten  Commentatoren  vor- 
tragen und  die  ich  (Rhein.  Mus.  1869  S.  410f.)  zu  begründen 
versucht  habe.  Demnach  ist  zu  lesen:  Z.  17—19  wie  Bekker. 
Z.  19:  El  -jOtp  U.7J  ETti  xo5  6  lu-vr^aör^,  i-l  loü  E  [i-itxvrj-ai,  si  zo  H 
Tj  To  Z  i-iCr^izi'  svTcüOiV  y^-p  £-'  a[j.cp(ü  xtv/jUr^va'.  ivoiys-a'.,  X7.i  s-i 
tO  a  /.ai  wTTi  to  L.  £1  0£  [xr^  toutcuv  ti  £-i,/;tci,  ötii  to  1  öAüouv 
\lvr^'j{)r^(3^T'y.l'  zi  o£  [jltj,  £-1  to  A. 

Nur  zwei  grössere  Aenderungen  sind  nothweudig:  die  Um- 
kehrung der  beiden  Sätzchen  (Z.  20)  und  die  Versetzung  der  Worte 
£1 — ETriCr^-ct  von  Z.  23  nach  Z.  20.  Die  erste  dieser  Aenderungen 
findet  an  der  Lesart  der  ersten  Handschriftenclasse  Unterstützung, 
in  w^elcher  die  ^\'orte  £-1  tol»  E  \}.iiivr,-rj.i  fehlen.  Dies  Sätzchen 
war  also  schon  im  Archetypos  nach  den  Worten  £-1  toü  0  savr^cji)r^ 
—  des  gleichen  Anfangs  wegen  —  ausgefallen  und  ist  in  B  an  die 
falsche  Stelle  geschrieben.  —  Die  Umsetzung  der  Worte  Z.  23  et — 
£7riC"/iT£t  empfiehlt  sich  aus  den  Rh.  Mus.  1869  S.  411  angegebenen 
Gründen.  Z.  20  ist  6  für  E6  mit  der  guten  Handschrift  .\,  Th. 
Mich,  und  der  alten  lat.  Uebers.  zu  schreiben;  Z.  22  bietet  auch 
die  letztere  Z  für  E  dar. 

Der  Sinn  des  Ganzen  ist  klar.  452a 7 f.  war  ausgeführt  wor- 
den, dass  man  durch  ein  beliebiges  Glied  einer  Reihe  von  ^'or- 
stellungen  auf  die  vergessene  Vorstellung  geführt  werden  könne. 
Hierauf  fährt  Aristoteles  fort  (Z.  17 f.):  'Im  allgemeinen  scheint 
auch*")  das  Mittelglied  einer  Reihe  Ausgangspunkt  (dp'/r,)  für  alle 


^) 'Auch'  das  Jlittelglied  ist  Ausgangspunkt  und  nicht  bloss  das  eigent- 


Zu  Aristoteles  De  memoria  2,  452  a  17  f.  11 

Glieder  zu  sein',  da  man  von  ihm  aus  vorwärts  und  rückwärts  zu 
den  gesuchten  Vorstellungen  geführt  werden  kann.  Geht  man  also 
z.  B.  in  der  Reihe  ABFAEZHÖ  von  dem  zuletzt  wahrgenommeneu 
6  zu  den  früheren  Vorstellungen  zurück,  so  kann  man  von 
ihm  aus  zu  H  und  Z  geführt  werden,  aber  auch  in  umgekehrter 
Folge,  wenn  man  von  E  ausgeht.  Erinnert  man  sich  aber  auch 
bei  E  nicht  an  Z  und  H,  dann  wird  man  auch  von  keinem  an- 
deren Gliede  aus  sich  erinnern  können.  Von  E  aus  führt  nun  die 
Association  nach  beiden  Seiten,  nach  Z  und  nach  A.  Sucht  man 
aber  keine  dieser  Vorstellungen,  sondern  eine  noch  weiter  zurück- 
liegende ß,  so  kann  man  sich  dieser,  geht  man  auf  gleicher  Linie 
weiter,  von  F  aus  entsinnen,  oder  wenn  nicht  von  dieser,  so  in 
umgekehrter  Folge  von  A  aus. 


liehe  Anfangsglied,  von  dem  451a31f.  die  Rede  war.  'Im  allgemeinen' 
(xaSdXo'j)  sagt  Aristoteles;  denn  bisweilen  versagt  die  Thütigkeit  der  associativeu 
Erinnerung,  wie  452  a  30  f.  ausgeführt  wird.  Auf  diese  Bedeutung  des  -/aöo^.o'j, 
der  zufolge  es  das  'unbestimmt  Allgemeine',  daher  der  Ergänzung  und  Berich- 
tigung durch  Erkenntniss  des  Einzelnen  Bedürftige  bezeichnet,  haben  die  Er- 
klärer des  Aristoteles,  soviel  ich  weiss,  bisher  nicht  hingewiesen,  und  auch  in 
Bonitz'  Index  Aristotelicus  tritt  sie  nicht  klar  hervor.  Und  doch  ist  sie 
durch  zahlreiche  Beispiele  zu  belegen.  So  heisst  xa&dXo'j  Äeysiv  bisweilen 
'unbestimmt'  'nur  im  allgemeinen'  reden.  Vgl.  Metaph.  A4.  1070  a  31  av 
■/.aöoXo'j  ÄEyr)  ti?  xa\  -/.ax'  ävaXoyt'av:  Polit.  F  15.  1286a  10  ooxoüat  z6  -^löoXou 
tj.ovov  o't  voij-ot  Äeyeiv,  dcXX'  oi)  Tcpö;  lä  rrporj-rtTTTOvro'.  sTciTaTtitv;  Eth.  Nik.  E  14. 
1137  b  14  -cpi  bnui-^  5'  oby  oKv  ts  öpöws  £t7:£lv  7,a&oXo'j;  Eth.  Nik.  B  7.  1107a29 
^v  yäp  TOt;  Trspl  T(i?  TTpct^ei?  Xoyot;  ol  f/ev  xaöoXo'j  -/£VüJT£p&i  £(giv;  De  an.  gen. 
B  8.  748  a  7  ou-o;  6  Xoyo;  xa8o/.o'j  ?.!otv  xat  Xcvd;  (denn  wie  es  das.  747  b  29 
heisst  <jSm  xot.'dö/.OM  f^vXXov,  -oppiuTEpu)  twv  ofxii'tuv  Eaxiv  dp^^uJv) ;  Polit.  A  13. 
1260a24  otjXov  oe  toüxo  -/.cn-AaTa  [AEpo?  [ActXXov  £-iaxo:TO\3aiv  xctildXo'j  yäp  oi  AEyov- 
xe;  l^araxüüaiv  sauxoü;;  Anal.  post.  A  13.  79a5  oi  xä  xaödXou  t}£iopoüvx£;  ~o)JA-/.ii 
Evia  xü)v  ~Aa%'  Exaaxov  oüx  l'aaac  oi'  dvETrtoxEitav.  Zu  beachten  ist  auch  Eth. 
Nik.  E  14.  1137  b  14  iv  ois  ouv  ävayv-rj  [).bj  ti-.zlv  -/.a^dXou,  [xt]  otov  xe  Se  öpöw;, 
x6  w;  £7:1  x6  ttXeov  Xa[Aßavct  6  vd[j.o?.  —  Wie  xaJldXo'j  bezeichnet  auch  das  ver- 
wandte oXü)?  die  unbestimmte  Allgemeinheit  (nach  Bonitz'  Ausdruck  ind.  Arist. 
506a32).  Es  wird  daher  dem  (b?  inl  xö  tioXu  gleichgesetzt  De  long.  vit.  5.  466a26 
oiö  xal  xct  [AEycEXa  w?  oXio;  e^tteiv  (xotxpoßicuxEoot,  ib.  a  13  aber  xal  or]  y.ai  xä 
[j.Et'Cw  (i)c  IttI  x6  tioX'j  Et-Eiv  xüjv  EXctxxdvcüv  [j.axpoßiu)X£pc(.  —  Ebenso  wird 
«TiXö);  bisweilen  in  der  Bedeutung  'nur  im  allgemeinen'  gebraucht  und  einem 
cacfsaxEpov  gegenübergestellt,  wie  Bernays  (Dialoge  S.  42.  150)  hervorgehoben 
hat.  —  üeber  einen  ähnlichen  Gebrauch  von  xö  aüvoXov  ferner  ist  Vahlen  (Beitr, 
zu  Aristotel.  Poetik  I  S.  35)  zu  vergleichen. 


12  J-  Freudenthal, 

Hierbei  könnte  auffällig  erscheinen,  dass  Aristoteles  anzunehmen 
scheint,  die  Reproduction  einer  Vorstellungsreihe  gehe  nach  beiden 
Richtungen  —  vom  Anfange  zum  Endgliede  hin  und  umgekehrt  — 
gleich  gut  von  statten,  und  das  widerspräche  einer  bekannten 
psychologischen  Lehre.  Aber  Aristoteles  hebt  nur  die  Möglich- 
keit des  Wiederauftretens  der  vergessenen  Vorstellungen  hervor, 
ohne  über  die  grössere  oder  geringere  Leichtigkeit  der  Reproduction 
in  der  einen  oder  der  anderen  Richtung  etwas  zu  bestimmen.  Von 
dem  Endgliede  0  aber  geht  er  wahrscheinlich  aus,  weil  hiermit  das 
zeitliche  Ende  der  Wahrnehmungen  bezeichnet  sein  soll;  6  ist  also 
das  uns  zunächst  liegende,  bekanntere,  daher  im  Bewusstsein  am 
klarsten  hervortretende  Glied  der  Vorstellungsreihe.  In  ähnlicher 
Weise  hat  Aristoteles  (451b  19)  das  vosTv  drCo  xou  vüv  zuerst  her- 
vorgehoben. 

Man  darf  hierbei  an  den  von  Lipps  (Gruudthatsachen  des  Seelen- 
lebens S.  400)  ausgesprochenen  Gedanken  erinnern,  den  Aristoteles 
freilich  nur  flüchtig  streift:  'Der  associative  Zusammenhang  mit 
meinem  der  unmittelbaren  Gegenwart  und  dem  räumlichen  Punkte, 
auf  dem  ich  stehe,  angehörigen  Empfinden  macht  allein,  dass  es 
für  mich  noch  ausser  dem,  was  ich  jetzt  grade  erlebe,  festgegrün- 
dete Wirklichkeit  giebt.  Mein  Jetzt  und  Hier  ist  der  letzte  Angel- 
punkt für  alle  Wirklichkeit.' 


m. 

Bioi  TEAE102  in  (lei  aristoteliscilen  Ethik. 

Von 
!Emil  Arleth  in  Prag. 

Eth.  N.  I,  6  bestimmt  Aristoteles  den  Begriff  der  Glückselig- 
keit mit  folgenden  Worten:  „  . .  .  xo  dvöpwTitvov  dyaöov  'l^u/jp  ivlp- 
-,'cia  '((vzmi  xax'  dpsxr^v,  si  os  ttXsiou?  ai  dpsxai,  xaxa  xtjv  dpiaxr^v 
xat  xsXsioxdxrjv.  Ixt  o'  £v  ßtVo  xöXsiü).  ;j.ia  ^dp  ysXiSwv  eap  ou  -KOiel, 
ouSs  [xia  T|[jL£pa*  ouxw  6s  ouos  [laxdpiov  X7t  suooci'jj.ova  [xia  7i;x£p7.  ou5' 
oXqo?  /povoc." 

Gewöhnlich  wird  diese  Stelle  dahin  verstanden,  Aristoteles 
habe  für  den  Begriff  der  Glückseligkeit  die  Erstreckung  des  glück- 
seligen Zustandes,  genauer,  das  Vorhandensein  aller  sonstigen  Be- 
stimmungsstücke dieses  Begriffes  durch  das  ganze  Leben  eines 
Menschen  bis  zu  seinem  Tode  in  Anspruch  genommen').  Aber 
nicht  alle  Forscher  sind  dieser  fast  traditionell  gewordenen  Ansicht 
beigetreten.  So  muss  sich  nach  Ritter  (Gesch.  d.  Phil.  III.  S.  328) 
die  Glückseligkeit  auf  den  grösseren  Theil  des  Lebens  erstrecken, 
Schw^egler  (Gesch.  d.  griech.  Philos.)  hält  ein  langes  Leben  für  er- 
forderlich, ja  L.  V.  Hennig  (Principien  d.  Ethik  in  histor.  Entwick- 
lung §  24)  glaubt,  mit  ß.  x.  sei  der  Staat  gemeint. 

Besonders    eingehend  hat   sich  Rassow  (Forschungen    über  d. 


1)  Eth.  Eud.  II.  1.  1219b6,  Mag.  mor.  I.  4.  1185a4,  Thomas  v.  Aquino 
(Commentar  lib.  I.  lect.  X.),  Laas  (£Üoai[j.ov(a  Aristotelis,  Diss.  inaiig.  §  5,  S.  10), 
Teichmüller  (Die  Einheit  der  arist.  Eudümonie,  Bull,  de  la  cl.  bist,  de  l'Acad. 
imp.  de  St.  Petersbourg  XVI,  321),  Ziegler  (Ethik  d.  Griech.  u.  Römer  S.  110), 
Ueberweg  (Grundr.  I.  §  50  mit  Berufung  auf  Eth.  N.  X.  7.  1077  b 24),  Ramsauer 
(Arist.  Eth.  N.  ed.  et  commem.  instr.  G.  R.). 


14  Emil  Arleth, 

nik.  Ethik  des  Aristoteles)  mit  dieser  Frage  beschäftigt;  nach  ihm 
bedeutet  ßi'oc  xsXsio;  „ein  Leben,  das  seinen  Zweck  oder  sein  Ziel 
erreicht"  (a.a.O.  S.  llßft'.)').  Allein  trotz  der  Genauigkeit  und 
Ausführlichkeit  seiner  Untersuchung  >Yill  er  dieses  Ergebnis  nicht 
für  völlig  gesichert  gelten  lassen:  „...  fraglich  ist,  ob  Aristoteles 
sich  mit  dieser,  wie  es  scheint,  vollkommen  hinreichenden  allge- 
meinen Bedeutung  begnügt,  oder  ob  er,  wie  seine  Schule,  die  zweck- 
entsprechende Lebensdauer  mit  dem  vollen  Leben  bis  zAim  Tode 
zusammenfallen  lässt".  Für  die  letztere  Auslegung  spricht  nach 
Rassow : 

1)  Der  Schluss  des  Cap.  10  (1100a4flf.):  Es  gibt  Wechselfälle 
des  Glückes;  denjenigen,  der  im  hohen  Alter  das  Schicksal  eines 
Priamus  erfährt,  preist  niemand  glückselig. 

2)  Das  Zeugnis  anderer  Peripatetiker;  Rassow  nennt  Eth.  End., 
Magn.  Mur.  (siehe  Anmkg.  1)  und  Stobaeus  ecl.  eth.  ed.  Gaisford 
S.  624:  „tsXsiov  8'  sivai  toutov  (sc.  tov  )^p6vov),  oaov  oipiasv  ■fjjj.iv  TiXsiatov 
6  ösoc." 

Diesen  Gründen  setzt  er  die  Eth.  N.  L  11.  1101  a9 — 13  gelehrte 
Möglichkeit  der  Wiedererlangung  der  verlorenen  Glückseligkeit  ent- 
gegen^), ein  Argument,  welches  nach  seiner  Meinung  von  ent- 
scheidendem Gewichte  wäre,  wenn  nicht  ein  Zusatz  erfolgte,  der 
Alles  wieder  in  Frage  stellt:  T;  TrpoailsTsov  xai  ßt(u50(x£vov  oG'ttu; 
xal.  T£?^£utT^aovT7.  xotxa  Xo^ov,  STüSioTj  ~o  ijLsXXov  acpavs;  riaTv,  z-qv  suoai- 
{JL0V17.V  ok  TsXo;  xal  tsXöiov  xiüsjj-sv  Ttavcifj  Trav-ojc;" 

Um  den  Ueberblick  zu  erleichtern  und  Missverständnissen  vor- 
zubeugen will  ich  den  Gang  meiner  Darlegung  kurz  angeben: 

A)  Nachweis,  dass  die  Behauptung,  zur  Glückseligkeit  sei  nach 
Aristoteles  das  ganze  Leben  notwendig,  unrichtig  ist. 

L     Widerlegung    der    liir     diese    Behauptung    angeführten 
Gründe. 


-)  Dieser  Auslegung  schliosst  sich  auch  Susemihl  au  (Aristoteles'  Politik. 
Griech.  u.  Deutsch,  II.  S.  195,  Verhandlungen  d.  35.  Philol.  Versamml.  S.  24). 

^)  1101  a9 — 10:  GUTE  ydp  iv.  ttj?  £uoat[j.ovta;  xtvrJ^>■/JaeTal  pao((u;,  O'jS'  bno  TÜJv 
TuyovTwv  (ituyr([AaTcuv  dAX'  Ü7:ö  [j.£ydAu)v  zcci  TioXXüJv,  ex  te  xiüv  toic/Ötiüv  o'JX  dv 
YEvciiTO  iidXtv  e6oatjj.u)v  iv  öXfyui  ypovw,  äXX  eiTiep,  ev  t^qXXw  Ttvt  xal  TeXeiw, 
[j.EydAiov  xai  xaXöiv  iv  aünü  y£vd[jiEvo;  ETi/jßoXo?. 


BIOS  TEAEIOS  in  der  aristotelischen  Ethik.  15 

IL    Gründe,  welche  gegen  dieselbe  sprechen. 

B)  Widerlegung  der  Ansicht  Rassows,  ßioc  xsXsioc:  bedeute  ein 
Leben,  das  seinen  Zweck  erreicht. 

C)  Versuch  einer  neuen  Erklärung  des  Ausdruckes  ßio?  xeXsioc. 

A. 

1.  Wenn  man  das  Verhältnis  des  oben  genannten  Zusatzes  zu 
den  ihm  unmittelbar  vorausgehenden  aristotelischen  Ausführungen 
ins  Auge  fasst,  so  zeigt  sich  seine  vollständige  Unvereinbarkeit  mit 
denselben,  mag  man  nun  ßio?  -sX.  =  ganzes  Leben  nehmen  oder 
nicht. 

Unter  der  Voraussetzung,  ßi'o?  xsXsio?  bedeute  das  ganze  Leben 
würde  die  Stelle  1101  a9 — 19  folgenden  Sinn  haben:  „üen  Glück- 
seligen kann  man  definiren  als  einen  gemäss  der  vollendeten  Tugend 
Thätigen  und  mit  äusseren  Gütern  hinreichend  Ausgestatteten  und 
zwar  Beides  nicht  für  eine  beliebige  Zeit  genommen,  sondern  für 
das  ganze  Leben;  vielleicht  aber  ist  doch  noch  hinzuzusetzen,  der 
Betreffende  müsse  auch  in  Zukunft  bis  zu  seinem  Tode  so  leben." 
Bass  dies  nichts  anderes  ist,  als  eine  ganz  sinnlose  Tautologie, 
leuchtet  ein. 

Aber  auch  dann,  wenn  unter  ß.  x.  nicht  das  ganze  Leben  ver- 
standen wird,  ist  keine  befriedigende  Erklärung  möglich.  Bie  in 
ß.  T.  enthaltene  Zeitbestimmung*)  erfährt  durch  den  Zusatz  keine 
Aenderung,  sondern  es  tritt  eine  ganz  neue  Forderung  hinzu,  nach 
welcher  es  unter  Umständen  nicht  genügt,  dass  Einer  für  die  Bauer 
des  ßio;  xikzi'-j-  gemäss  der  besten  Tugend  etc.  thätig  ist,  um  den 
Namen  des  Glückseligen  zu  verdienen,  er  muss  vielmehr  in  dieser 
Thätigkeit  und  in  guten  äusseren  Verhältnissen  bis  an  sein  Lebens- 
ende verharren,  ßto?  tsXöio?  würde  hier  jenes  kleinste  Zeitausmass 
bedeuten,  unter  welches  die  Lebensdauer  nicht  sinken  darf,  wenn 
in  ihr  die  Glückseligkeit  zur  Verwirklichung  gelangen  soll,  bei  einer 
darüber  hinausgehenden  Lebenszeit  aber  müsste  der  Betreffende 
auch  nocli  die  weitere  Frist  bis  zum  Tode  in  der  besprochenen 
Weise  verbringen. 


*)  .  i  .  fJ.Yj  TGv  •z'jyrynoL  /[jvivi  iXk'  x^Xeiov  ßt'ov  .  .  .  Etil.  N.  1  IUI  :i  11. 


16  Emil  Arleth, 

Diese  Ansicht  ist  darum  unhaltbar,  weil  nach  ihr  im  Falle 
eines  über  die  Dauer  des  ßio;  tsXsio;  hinausreichenden  Lebens  der 
süoat'ijitüv  selbst  während  des  ßto;  teXsio?  nur  insofern  glückselig  ge- 
priesen werden  dürfte,  als  ihm  die  Anwartschaft  auf  zukünftige 
Glückseligkeit  (vom  Ende  des  ß.  t.  bis  zum  Tode)  zukäme;  es 
würde  also  die  Glückseligkeit  im  eigentlichen  Sinne  von  der  Glück- 
seligkeit im  nneigentlichen  Sinne  (der  Anwartschaft)  abhängig  ge- 
macht, während  Aristoteles  ausdrücklich  das  umgekehrte  Verhält- 
niss  lehrt  ^). 

Da  sonach  unter  Beibehaltung  des  Zusatzes  eine  widerspruchs- 
freie Erklärung  unmöglich  erscheint,  ist  der  Zweifel  gegen  seine 
Echtheit  berechtigt;  als  ein  fremdes  Einschiebsel  aber  ist  er  un- 
geeignet, unserer  Frage  zum  entscheidenden  Beweisgrunde  zu  dienen. 

Neben  dem  genannten  Zusatz  führt  Rassow  noch  den  Schluss 
des  Cap.  10  (1100a 4 ff.)  als  Grund  für  die  Ansicht  an,  dass  Aristo- 
teles das  ganze  Leben  für  die  Glückseligkeit  in  Anspruch  genommen 
habe,  allein,  wie  eine  genauere  Betrachtung  des  Zusammenhanges 
darthun  soll,  mit  Unrecht. 

Eth.  N.  L  10.  wirft  Aristoteles  die  Frage  nach  der  L^rsache 
der  Eudämonie  auf  und  findet,  sie  werde  dem  Menschen  zu  Theil 
Ol'  acicxrjv  xoti  xiva  |iai>T^aiv  r^  dcV/r^civ,  ganz  besonders  sucht  er  daselbst 
die  Meinung  auszuschliesen,  der  Zufall  (yoyji)  sei  Ursache  der 
Eudämonie,  und  beruft  sich  dabei  auf  seine  früheren  Erö'-terungen. 
Während  nämlich  alle  anderen  Güter  entweder  zu  den  von  der 
Natur  gegebenen  notwendigen  Voraussetzungen  gehören  oder  den 
Rang  von  Mitteln  einnehmen  (L  10.  1099b 27.  28),  besteht  die 
Eudämonie  in  einer  gewissen  tugendmässigen  Seelenthätigkeit  (ib. 
25 — 28)  und  zwar  bedarf  es  zu  derselben  nicht  nur  der  vollende- 
ten Tugend,  sondern  auch  eines  ßio?  xsXsio?,  denn  es  ereignen  sich 
mannigfache  Wandlungen  des  Schicksals,  wie  dies  z.  B.  von  Priamus 
berichtet  wird,  der  erst  im  hohen  Alter  vom  Unglück  heimgesucht 
wurde. 


^)  Eth.  N.  I.  10.  1100a2:  .  .  .  ouoe  Trat?  £uoat'(x(uv  iari'v  .  .  .  oi  oe  X£yo'[xevoi 
oiä  Ty)V  IX-i'oa  [/.axapiCovTOtt;  vgl.  11.  1101a  19:  zi  o  oüttus,  [Aotxapt'ou;  ipoüij.£v 
Ttüv  ^ujvTcuv  ol;  ij-c(p/£t  7.0(1  ÜTiap^et  Ta  >,£-/&£VTa  .  .  . 


BIOIS  TEAEIOS  in  der  aristotelischen  Ethik.  17 

Um  diese  Fälle  richtig  zu  verstehen,  muss  man  sich  vergegen- 
wärtigen, was  Aristoteles  Eth.  N.  I.  11.  über  das  Verhältnis  der 
äus.seren  Schicksale  zur  Glückseligkeit  lehrt. 

Von  dem  bekannten  Ausspruche  Solons  ausgehend,  dass  Nie- 
mand vor  seinem  Tode  glückselig  zu  preisen  sei,  sucht  er  die  in 
demselben  ausgedrückte  Ueberschätzung  der  Bedeutung  der  äusseren 
Schicksale  auf  das  richtige  Mass  zurückzuführen,  indem  er  gelteud 
macht,  dass  nicht  in  ihnen,  sondern  in  der  tugendmässigen  Thätig- 
keit  das  Wesen  der  Glückseligkeit  bestehe;  verhielte  es  sich  um- 
gekehrt, so  dürfte  man  keinen  Menschen  glückselig  nennen,  während 
er  es  wirklich  ist,  sondern  erst  nachdem  er  es  gewesen  ist.  Die 
äusseren  Schicksale  üben  nach  Aristoteles  ihren  Einfluss,  indem  sie 
als  günstige  das  Leben  schmücken  und  als  ungünstige  es  trüben, 
ja  in  besonders  schweren  Fällen  sogar  den  Verlust  der  Glückselig- 
keit zur  Folge  haben.  Aber  auch  dann  ist  die  Wiedererlangung 
derselben  nicht  ausgeschlossen;  nur  wird  sie  nicht  innerhalb  kurzer 
Zeit  erfolgen,  sondern  wenn  überhaupt  sv   -rAhu   tivt  (sc.   "/povto) 

Da  man  nun,  wie  bemerkt  wurde,  bei  der  Interpretation  der 
Schlussworte  des  zehnten  Capitels  von  der  in  Cap.  11  enthaltenen 
Lehre  des  Aristoteles  über  die  Bedeutung  der  äusseren  Schicksale 
ausgehen  muss,  so  ergiebt  sich  mit  voller  Deutlichkeit,  dass  die 
erstgenannte  Stelle  geradezu  gegen  die  These  beweist,  für  welche 
sie  von  Rassow  (a.  a.  0.  S.  116)  als  Argument  angeführt  wurde, 
denn  wenn  ßioc  (ypovoc)  xsXsio?  resp.  Glückseligkeit  in  einem  Leben 
öfter  als  einmal  zur  Verwirklichung  gelangen  können,  dann  kann 
weder  ß.  t.  ganzes  Leben  heissen,  noch  auch  das  ganze  Leben  zur 
Glückseligkeit  notwendig  sein*^). 

IL  Die  Ansicht,  Aristoteles  habe  gelehrt,  der  Mensch  müsse, 
um  glückselig  genannt  werden  zu  dürfen,    alle  sonst   geforderten 


^)  Die  oben  wiedergeg-ebenen  Ausführungen  des  Cap.  1 1  legen  ein  weiteres 
Zeugnis  für  die  Unechtheit  des  Zusatzes  (llOlalß— 19)  ab,  indem  aus  ihnen 
hervorgeht,  dass  derselbe  gar  keinen  neuen  Einwand  enthält,  sondern  eine 
gänzlich  unbegründete  Wiederholung  der  zu  Anfang  des  Capitels  erhobeneu 
Frage  ist,  ob  ein  Mensch,  um  glückselig  genannt  werden  zu  dürfen,  sein  ganzes 
Leben  bis  zum  Tode  von  grossem   Unglück  frei   lileiben   müsse. 

9 

Archiv  1.  Geschichte  der  FhilüMophie.     II.  -" 


18 


Emil  Arletli, 


Bediuguiigeii  sein  ganzes  Leben  hindurch  venvirklichen ,  steht  mit 
anderen  gesicherten  Lehren  in  Widerspruch. 

1.  Den  Kindern  kommt  nach  Aristoteles  (1 100a  1  ff.)  keine 
Glückseligkeit  zu,  was  nach  der  obigen  Annahme  der  Fall  sein 
miisste;  eine  gewisse  Lebensreife  ^)  ist  die  Vorbedingung  für  die 
Glückseligkeit  und  dann  wohl  auch  für  die  Unseligkeit,  denn  Kinder 
und  Thiere  sind  der  Sittlichkeit  oder  Unsittlichkeit  im  eigentlichen 
Sinne  nicht  l'ähig. 

2.  Die  Glückseligkeit  soll  ein  erreichbares  und  allgemein  zu- 
gängliches Gut")  sein,  geht  aber  durch  grosses  Unglück  verloren: 
nun  bringt  es-  schon  der  Naturlauf  mit  sich,  dass  jeder  Mensch  in 
seinem  Leben  von  irgend  einem  wahrhaft  schweren  Unglück  be- 
troffen wird,  z.  B.  durch  den  Tod  von  Eltern,  Gatten,  Freunden 
u.  s.  w.,  es  scheint  also,  dass  eine  solche  Glückseligkeit  weit  entfernt, 
allgemein  zugänglich  zu  sein,  überhaupt  unerreichbar  ist^). 


B. 

Während  Rassow  in  der  unter  A.  behandelten  Frage  auf  eine 
Entscheidung  verzichten  zu  müssen  glaubte,  versuchte  er  eiue 
Interpretation  des  Ausdruckes  ß-'oc  xsActoc  und  zwar  bedeutet  der- 
selbe nach  ihm  ein  Leben,  das  seinen  Zweck  oder  sein  Ziel  erreicht 
(a.  a.  0.  S.  117). 

•  Wenn  man  sich  vergegenwärtigt,  dass  die  aristotelische  Unter- 
suchung darauf  ausgeht,  den  Begriff  der  Eudämonie  genauer  zu  be- 
stimmen, wird  man  dieser  Ansicht  nicht  beiptlichten  können. 

Der  Zweck  des  Menschen  ist  tlie  Glückseligkeit  und  diese  wird 
nun  definirt  als  'i^u/j/*  svep^sia  xaxä  tyjv  dpiax'/jv  zott  TsXsio-dTr^v 
apsxr.v,  £-'.  o'  £v  3t(i)  xsXsuo  ■ —  nach  Rassow  würde  das  heissen: 
Die  Glückseligkeit  (d,  i.  der  Zweck  des  Menschen)  besteht  in 
der  Seelenthätigkeit  gemäss  der  besten  Tugend  und  zwar  innerhalb 


')  Vgl.  Zeller,  Philos.  cl.  Griech.  II.  2.  S.  616. 

»)  Eth.  N.  I.  2.  1095al6,  vgl.  VI.  8.  lUlbU,  12;  I.  10.  lODBblS. 

")  Anmerkungsweise  sei  noch  erwähnt,  liass  Aristoteles  an  einer  Stelle, 
wo  er  von  dem  ganzen  Leben  spricht,  sich  des  Ausdruckes  ar.az  ßi'o;  be- 
dient (Etil.  N.  X.  G.  1176b28:  xat  yäp  äxo-o^i  t6  teXo;  slvat  Ttcttotctv,  xai  -pc<Y[i.ot- 


BIOS  TEAEIOS  in  der  aristotelischeu  Ethik.  19 

eines  Lebens,  welches  seinen  Zweck,  der  kein  anderer  ist  als  der 
Zweck  des  Menschen,  erreicht.  Soll  Aristoteles  vor  dem  Tadel 
bewahrt  bleiben,  idem  per  idem  definirt  zu  haben,  so  muss  eine 
andere  Erklärung  versucht  werden. 

C. 

Im  dritten  Capitel  des  ersten  Buches  der  Ethik  lobt  Aristoteles 
diejenigen,  welche  ihre  Ansicht  über  das  höchste  Gut  und  die 
Eudämonie  aus  der  Betrachtung  der  verschiedenen  Lebensweisen 
oder  Lebensformen  entnehmen;  als  die  hauptsächlichsten  zählt  er 
daselbst  auf  das  der  Lust  gewidmete,  das  politische  und  das  theore- 
tische Leben  ^°).  In  gleichem  Sinne  verwendet  er  das  Wort  ßto^ 
in  der  Politik").  Indem  die  Menschen,  heisst  es  dort,  auf  ver- 
schiedene Art  und  mit  verschiedenen  Mitteln  dem  höchsten  Zwecke, 
der  Glückseligkeit,  nachstreben,  bringen  sie  die  verschiedenen 
Lebensweisen  und  Staatsverfassungen  hervor.  Wenden  wir  diese 
Bedeutung  auf  unsere  Stelle  an,  so  entsteht  die  Frage:  Was  für 
eine  Lebensform  ist  ßt'oc  -s^sioc?  Eine  sehr  naheliegende  Antwort 
wäre:  die  vollendete  Lebensform,  aber  was  heisst  das  wieder?  Ist 
damit  die  beste  unter  den  verschiedenen  Lebensformen  gemeint 
oder  überhaupt  eine  Lebensform,  welche  als  solche  zu  ihrer  Vollen- 
dung gelangt,  d.  h.  mit  allen  charakteristischen  Eigenthümlichkeiten. 
Dispositionen  u.  s.  w.  in  einem  Menschen  verwirklicht  ist  im  Unter- 
schiede von  der  erst  im  Werden  begriffenen?  Wenn  wir  unter 
Vollendung  den  inneren  Wert  verstehen,  so  ist  dieser  durch  die 
Angabe,  dass  die  Eudämonie  in  der  Thätigkeit  gemäss  der  besten 
Tugend  bestehe,  hinreichend  bestimmt  und  der  Beisatz  Iv  [i(m  tsXst'to 
würde  gar  nichts  Neues  besagen. 

Anders  verhält  es  sich,  wenn  wir  annehmen,   [iloc  xlXstoc   be- 


^^)  Eth.  N.  I.  3.  1095  b  14:  tö  y^p  äy^Söv  v.ai  xtjv  E'joataovt'ocv  oux  (i>.oyoj? 
JotV.'xstv  i'A.  TüJv  ßt'cov  Ü7roXa[j.ßavEiv.  ol  ij.Z'j  7roÄ?,ol  v.cd  cpopTiv.wTctxot  tt)v  r^oov/jV 
oiö  xal  Tov  ßi'ov  dya-üJai  tov  dtTrrjXauSTiKOv.  TpsT;  yap  £(ai  [xaXiaxa  o't  7ipo^/ovT£;, 
0  Xc  vüv  £{pTj[j.£Vo;  xcn  6  TioXixixö;  y.cd  xpi'xo?  6  dEwpTjXtv.oj. 

")  Pol.  VII.  8.  1.328a42:  cc'Uov  ydp  xpoTiov  -Acd  oi'  aXXiov  Exaaxot  xoüxo  (sc. 
xö  ä'piaxov  =  £'jo7.t[j.ovi'7)  tlrjpi'jovxc;  xo'j;  x£  ßio'j;  £XEpO'j;  -oioOvxai  xoti  xc<; 
"oXixeia;. 

2* 


20  Kmil  Arleth, 

deute  eine  zur  vollständigen  Entwicklung  gelangte  Lebensform  im 
Unterschiede  von  der  erst  im  Werden  begriftenen,  denn  oflenbar 
kann  eine  Lebensform  nicht  etwas  im  Augenblicke  Vollendetes  sein, 
wie  es  nach  Aristoteles  das  Sehen  oder  die  Lust  ist  '^),  vielmehr  wird 
sie  sich  erst  nach  und  nach  ausbilden.  Von  dieser  Anschauung 
ausgehend  hätten  wir  Folgendes  als  aristotelische  Lehre  zu  betrachten: 
Die  Eudämonie  besteht  in  tugendmässiger  vSeelenthätigkeit,  doch 
ist  die  Dauer  dieser  Thätigkeit  nicht  gleichgültig.  Wer  nur  eine 
ganz  kurze  Weile  in  derselben  verharrt,  wird  nicht  glückselig, 
ebensowenig  als  eine  Schwalbe  den  Frühling  macht;  es  ist  vielmehr 
eine  längere  Zeit  erforderlich  und  zwar  eine  solche,  dass  durch  die 
während  derselben  geübte  Thätigkeit  das  Leben  eine  bestimmte 
Richtung  gewinnt;  d.  h.  dass  eine  Lebensform  zur  vollständigen 
Ausbildung  gelangt.  In  diesem  Sinne  verlangt  Aristoteles  für  die 
Eudämonie  das  volle  zeitliche  Ausmass  einer  Lebensform'"')  oder 
einen  vollendeten  Zeitabschnitt'^). 

Vielleicht  erhebt  jemand  gegen  die  eben  vorgetragene  Ansicht  den 
Einwand,  es  dürfe  auch  nach  ihr  nicht  der  im  ßwc  tsXsioc  Begriffene 
glückselig  genannt  werden,  es  bestehe  also  die  gleiche  Schwierigkeit, 
wie  bei  Annahme  der  Echtheit  des  Zusatzes. 

Dem  ist  aber  keineswegs  so.  Allerdings  wird  der  im  ßioc 
TsXsioc  Begriffene  so  lange  nicht  den  Namen  eines  Glückseligen  ver- 
dienen, als  die  zur  Ausbildung  der  tugendhaften  Lebensweise  er- 
forderliche Zeit  noch  nicht  abgelaufen  ist,  denn  alles  Vorhergehende 
gehört  nicht  zu  dem  vollendeten  Sein,  sondern  zum  Werden  der 
Lebensform;  ist  aber  dieser  Punkt  erreicht,  so  braucht  man  nicht 
weiter  zu  zögern,  geschweige  denn  auf  das  Lebensende  zu  warten, 
sondern  kann  mit  vollem  Recht  den  Betreffenden  glückselig  nennen, 
während  er  es  wirklich  ist. 


'-')   Etil.    N.   X.   ?).    1174ai;'i:    oo/cT   -lao    i^    \J.bi    opccJt;   -/.c.D'    ^jvxtvojv    ypovov 

■Ztkti.1    Elvat    .   .   .    TOtO'JT(tJ    O'     EOIXEV    7.at    rjOOVTj. 

'■')   Ktli.   N.  X.  7.   11771)2.'):  arjxo?  ßi'o'j  teXeiov. 

'•')    Ktll.     N.     1.     11.      1101  all:       £7.      T£      TIÖV     TOtOUTtUV      O'JVC      av     Y£VOtTO      TÄ'I.Vt 

E'jSai'lJitov  i-i  (iÄiyti)  /povoj,  a)}'  eiTTcp,  £v  zoXXuj  Ttvt  -/Ott  teXeiiu  •  •  •.  Vgl.  Metapli. 
V.  1(1.  iiiit.:  TeXeiov  X^YETCd  hi  [j.ev  oj  (j.tj  estiv  e'^uj  ti  Xctßstv  \xtrA  ev  aopiov, 
Otov  6  ypovos  TEXsto;  Ixct'JTO'J  o'jto?  O'j  uTj   saTtv  £;iu   Xctjictv  yprjvov  tivi   &;  to'JTO'j 

U^pOt    in-X    TOJ    /pOVO'J. 


BIOS  TEAEIOS  in  der  aristotelischen  Ethik.  21 

Es  erübrigt  noch  zu  erweisen,  dass  der  Schluss  des  zeimtcn 
Capitels  mit  den  Ergebnissen  unserer  Untersuchung  übereinstimmt. 
Dies  geschieht,  wenn  mau  die  in  ßtoc  TeXitoc  enthaltene  Zeitbe- 
stimmung mit  der  Lehre  des  Aristoteles  von  der  Bedeutung  der 
äusseren  Schicksale  für  die  Glückseligkeit  in  Zusammenhang  bringt. 

Zur  (ilückseligkeit,  heisst  es  am  Schluss  von  Cap.  10,  gehört 
die  vollendete  Tugend  und  die  vollendete  d.  h.  zur  Vollendung 
gelangte  Lebensform.  Nun  gibt  es  aber  äussere  Schicksale,  welche 
das  Zustandekommen  (resp.  Wiedergewinnen)  der  Glückseligkeit 
hindern;  darum  ist  es  notwendig,  dass  solche  wenigstens  für  jene 
Zeit  fern  bleiben,  welche  zur  Bildung  einer  Lebensform,  in  unserem 
Falle  der  tugendmässigen  Lebensform,  erforderlich  ist.  Wären 
schwere  Unglücksfälle  über  ein  wenn  auch  noch  so  langes  Leben 
derart  vertheilt,  dass  die  Zeit  zwischen  je  zweien  immer  weniger 
betrüge,  als  eine  Lebensform  zu  ihrer  Ausbildung  braucht,  so  käme 
keine  Glückseligkeit  zu  Stande. 


IV. 

Zur  Psychologie  der  Scholastik. 

Von 
H.  Siebeck. 

4. 

Avicenna. 

Inhalt  und  Gliederung  der  Psychologie  Avicenna"«  sind  bereits 
in  der  Geschichte  der  Psychologie  (I,  2  S.431f.  436 f.)  zur  Darstellung 
gekommen.  Der  Zweck  und  Zusammenhang  der  gegenwärtigen 
Untersuchungen  macht  es  aber  erforderlich,  dem  dort  Ausgeführten, 
(auf  welches  übrigens  verschiedentlich  zurückzuweisen  sein  wird), 
eine  Erörterung  des  Einflusses  hinzuzufügen,  welchen  die  Werke 
des  arabischen  Arztes  und  Aristotelikers  auf  die  allgemeine  Aus- 
bildung des  Interesses  für  die  empirische  Psychologie,  sowie  auf 
die.  Met  ho  de  derselben  ausgeübt  haben. 

Der  grösste  Theil  von  Avicenna's  Werken  lag  dem  12.  Jahrh. 
in  Uebersetzungen  vor;  schon  im  elften  aber  benutzte  man  seine 
Lehren  an  Stelle  der  noch  nicht  hinlänglich  bekannten  oder  ver- 
breiteten aristotelischen  Ansichten').  Sein  Einfluss  war  so  mass- 
gebend, dass  selbst  das  Hervortreten  der  aristotelischen  Original- 
vverke  zunächst  nur  dazu  beigetragen  hat,  die  von  ihm  begründete 
Richtung  zu  verstärken,  sodass  abgesehen  von  der  Bedeutung  des 
Augustinismus  erst  das  Aufkommen  der  averroistischen  Strömung 
einen  wesentlich  neuen  Faktor  in  das  wissenschaftliche  Leben  des 
MA  hineinbrachte.     Avicenna  begründet  für   alle  Parteien    der 


')  Jourd.  202.  Wie  dnrchgreifencl  auch  für  die  Folgezeit  seine  Erörte- 
rung der  logischen  Frage  hinsichtlich  der  Existenz  der  Universalien  war,  s. 
bei  Prantl,   Gesch.  d.  Log.  II,  318;   Münchener  Sitz -Ber.  18G4,  II  S.  58 ft'. 


Zur  Psychologie  der  Scholastik.  23 

Scholastik  ohne  Ausnahme  einen  gemeinsamen  Bestand  au  em- 
pirisch-psychologischen Ansichten  und  Unterscheidungen  ■^);  der  ob- 
jektiv-empiristische Zug  der  Psychologie,  der,  wie  früher  (§  1)  ge- 
zeigt wurde,  bereits  im  Nominalismus  selbständige  Keime  getrieben 
hatte,  kommt  ^)  durch  seine  AVerke  z.ur  vollen  Geltung  namentlich 
auch  auf  der  Seite  der  Realisten.  Was  nun  aber  an  ihm  in  dieser 
Beziehung  ausschlaggebend  war,  liegt  nicht  so  vorwiegend  in  dem 
Inhalt  und  der  Substanz  seiner  Erörterungen  (deren  Material  ohne- 
hin bald  genug  durch  die  Aufgrabung  der  antiken  Originalien 
überdeckt  wurde),  als  vielmehr  in  der  Eigenthiiralichkeit  seiner 
methodisch-lehrhaften  Behandlung  derselben.  Diese  nämlich 
hat  auch  seinem  Meister  Aristoteles  gegenüber  etwas  Selbständiges. 
Obgleich  er  zu  ihm  sich  weniger  kritisch  verhält,  wie  vor  Zeiten 
Galen,  so  haben  doch,  wie  bei  diesem,  so  auch  bei  Avicenna,  dem 
Arzte,  in  der  Psychologie  die  Interessen  des  auf  Thatsachen  ge- 
richteten Physiologen  das  Uebergewicht  über  die  spekulativen. 
Bezeichnend  für  diesen  Unterschied  ist  schon  seine  strenge  Unter- 
scheidung der  medizinischen  Psychologie  von  der  philosophischen, 
deren  Verschiedenheit  sich  auch  für  die  gemeinsamen  Objekte  zur 
Geltung  bringe*).  Gleich  die  Behandlung  .des  obersten  Problems 
vom  Wesen  der  Seele  und  ihrem  Verhältnisse  zum  Leibe  zeigt  diesen 
Unterschied  der  Methode.  Als  Definition  der  Seele  erscheint  hier 
die  bekannte  Formel  des  Aristoteles '),  jedoch  nicht  bevor  das  Da- 
sein der  Seele  und  ihre  wesentliche  Verschiedenheit  vom   Körper 


'^)  Von  eigentlichen  Untersuchiiugen  auf  diesem  Felde  kann  iiaau  vor 
Thomas  und  Duns  wohl  nicht  reden. 

•')  Ungeachtet  der  unleugbaren  neuplatonischen  Färbung,  welche  seine 
Lehre  von  der  Vernunft  an  den  Tag  legt  (s.  Gesch.  d.  Psych.  I,  2   S.  436  f.). 

*)  Für  den  Mediziner  machen  z.  B.  Gemeinsinn  und  Anschauung  (phanta- 
sia)  e  ine  Kraft  aus;  der  Philosoph  dagegen  unterscheide  jenen  als  das  aufneh- 
mende, diese  als  das  bewahrende  Vermögen  für  äussere  Eindrücke.  Ebenso 
sei  für  den  Mediziner  die  Unterscheidung  zwischen  der  imaginativa,  die  unter  dem 
Einflüsse  der  aestimativa,  und  der  cogitativa,  die  unter  dem  der  rationalis 
stehe,  unwesentlich;  dsgl.  die  von  Gedächtuiss  und  Erinnerung,  da  was  beiden 
schade,  sich  auf  einen  und  denselben  Gehirntheil  beziehe.  Canon  I,  1,  ()  Kap.  b 
(ed.  Yen.  1523). 

^)  prima  perfectio  corporis  naturalis  organici  (d.  an.,  übers,  von  Andr. 
Alpagus,  Ven.  1.34G,  Kap.  2). 


24  H.  Siebeck, 

bestimmt  worden  ist  aus  der  thatsächlichen  Verschiedenheit  zweier  '^| 
Arten  von  Bewegung  (der  natürlich -organischen  und  der  rein 
mechauischen),  sowie  zweier  Arten  von  Körpern  (mit  und  ohne  die 
Fähigkeit  der  „Apprehcnsion"),  sodass  die  Seele  schon  von  hier  aus 
als  das  Prinzip  der  lebendigen  Bewegung  und  des  Bewustseins  her- 
vortritt. Als  solches  (d.  an.  Kap.  3)  entstehe  sie  nicht  aus  der 
Mischung  der  Elemente,  sondern  komme  von  aussen  dazu.  Als 
Beweis  dafür  wird  an  andrer  Stelle  die  Thatsache  der  Ermüdung 
angezogen").  Hinsichtlich  der  Substanzialität  und  „Trennbarkeit" 
der  Seele  wird  nach  Abhörung  der  dialektischen  Gründe  gleichfalls 
auf  Thatsachen  der  Erfahrung  verwiesen  ^).  In  der  gleichen  Richtung 
bewegen  sich  die  Angaben  über  die  Theile  der  Seele. 

Von  den  drei  Arten  der  Vegetativa  (Erzeugung,  Ernährung, 
Wachsthum)  wird  die  zweite  in  vier  Unterabtheilungen  (attractiva, 
retentiva,  digestiva,  expulsiva)  gespalten  *)  und  überhaupt  die  ver- 
schiedenen Vermögen  noch  weiter  zu  theilen  gesucht  auf  Grund 
der  verschiedenen  Leistungen  der  Organe.  Die  Nothwendigkeit 
ihres  Bestehens  ferner  wird  (teleologisch)  mit  den  thatsächlichen 
Bedürfnissen  des  Organismus  begründet.  Ausserdem  finden  sich 
manche  Beobachtungen  über  den  Zusammenhang  der  einzelnen 
Vermögen  verwerthet:  Empfindung,  heisst  es  (d.  an.  Kap.  5)  ist 
immer  zusammen  mit  Bewegung  und  umgekehrt,  selbst  Thiere,  die 


^)  Aphorism.  40  (in  der  angeführten  Ausgabe  von  de  anima):  Wäre  die 
„Complexion"  des  Leibes  das  alleinige  Bewegungsprinzip  desselben,  so  könnte 
es  zu  dem  bei  Anstrengung  eintretendem  Gefühle  oder  Bewusstsein  einer  der 
Natur  des  Organismus  auf  die  Dauer  widerstrebenden  Thätigkeit  gar  nicht 
kommen. 

0  d.  an.  Kap.  6:  f.  30a.  Der  Leib  nimmt  nach  dem  40.  Lebensjahre 
ab,  während  die  Seele  von  diesem  Zeitpunkte  ab  in  der  Regel  erst  ihre  volle 
Kraft  erreicht.  Die  Formen  und  Gegenstände  des  Denkens  und  Wissens  sind 
unendlich,  mithin  nur  durch  eine  immaterielle  Kraft  zu  bewältigen  (vgl.  ebd. 
de  Almahad  Kp.  5;  f.  68  b).  Die  intentionalen  Species  der  Wahrnehmung  haben 
einen  körperlichen  Ort  (im  Auge)  und  zeigen  sich  hier  je  nach  der  Grösse  des 
(gegenständes  grösser  oder  kleiner :  die  intelligiblen  Species  aber  sind  an 
keinem  Orte  (f.  69  b  f.).  Uebermässige  Sinneseindrücke  schädigen  das  Organ, 
die  seelische  Kraft  aber  wird  durch  starke  Eindrücke  vermehrt  u.  s.  w. 

*)  Die  Eintheilung  des  äussern  und  Innern  Wahrnehmungsvermögens  s. 
Gesch.  d.  Psych.  I,  2,  S.  431. 


Zur  Psychologie  der  Scholastik.  25 

keine  Fortbewegung  kennen,  haben  doch  Ausdehnung  und  Zusam- 
menziehung und  machen  bei  verkehrter  Lage  Anstrengungen,  die 
normale  zu  gewinnen.  Die  verschiedenen  Sinne  ferner  fördern  einer 
den  andern,  der  Geschmack  z.  B.  den  Geruch,  der  seinerseits  weiter 
zu  einem  Urtheile  über  Zuträglichkeit  oder  Schädlichkeit  der  Nah- 
rung verhilft  und  darin  vom  Gesichtsinn  unterstützt  wird,  sowie 
auch  von  den  verschiedenen  Vermögen  des  inneru  Sinnes  und  dem 
der  Bewegung.  Die  sinnlichen  Gefühle  der  Lust  und  t'nlust  be- 
ruhen auf  Affektionen  des  im  Herzen  befindlichen  Pneuma,  welche 
eintreten,  je  nachdem  eine  gegebene  Wahrnehmung  der  Natur  des 
betreffenden  Sinnes  naturgemäss  ist  oder  ihr  widerstreitet.  Daher 
entsteht  Lust  namentlich  auch  bei  dem  Uebei'gange  von  einem 
der  Natur  des  Organs  unzuträglichen  Affekte  zu  einem  „natür- 
lichen" ^).  Als  allgemeinste  Eintheilung  der  bewegenden  Kraft 
findet  sich  die  in  der  Scholastik  so  folgenreiche  Unterscheidung 
der  vis  concupiscibilis  und  irascibilis  bereits  bei  Avicenna  (d.  an. 
Kap.  5;  f.  13a).  Nach  der  praktischen  Seite  hin  betont  er 
vom  Standpunkte  des  Empirikers  aus  den  EinHuss  der  Uebung 
(de  cord.  S.  21). 

AVie  ich  anderwärts  (Gesch.  d.  Psych,  a.  a.  0.  407)  gezeigt 
habe,  bringt  sich  das  empirische  Interesse  in  der  Psychologie  der 
älteren  Scholastik  nicht  sowohl  durch  neue  Ergebnisse  selbständiger 
Beobachtung  zur  Wirkung,  als  vielmehr  in  dem  Bestreben,  in  den 
gegebenen  Stoff'  möglichst  ausgiebige  und  feste  (ziffermässige)  Ein- 
t  hei  hin  gen  hineinzutragen.  Auch  diese  methodische  Eigenthüm- 
lichkeit  hat  in  Avicenna  ihren  Begründer.  Die  sinnlichen  Quali- 
täten z.  B.  bilden  bei  ihm  (d.  an.  6)  acht  Paare  von  Gegensätzen, 
von  denen  auf  den  Tastsinn  vier,  auf  die  andern  je  eins  kommen; 
als  dem  Inhalte  der  verschiedenartigen  Sinnesempfindungen  gemein- 
sam werden  (ebd.)  fünf  Qualitäten  (Gestalt,  Zahl,  Grösse,  Bewegung, 
Ruhe)  aufgeführt  u.  dgl.  Hand  in  Hand  hiermit  geht  das  Streben 
nach  möglichst  präciser  Herausstellung  der  wesentlichsten  That- 
sachen  und  Verhältnisse,  sowie  nach  einer  gewissen  Ausgiebigkeit 


^)  De  corde  ejiisque  facultatibiis,   übs.  v.  Joann.  Bruyerinus  (Lugd.  1559) 
S.  14  f. 


26 


H.  S  i  e  b  e  c  k , 


derartiger  Paragraphirimgen '").  Die  präcise  Fassung  verleiht  dabei 
manchem  den  Schein  der  Neuheit^'). 

Durchgehend  ist  ferner  schon  bei  Avicenna  der  teleologische 
Gesichtspunkt  der  Erklärung  psychologischer  Thatsachen.  Jede  Ein- 
zelseele, lehrt  er,  gehört  zu  einem  bestimmten  einzelnen  Leibe,  zu 
demjenigen  niimlich,  dessen  Beschaffenheit  ihrer  individuellen 
Eigenthümlichkeit  angemessen  ist  (Aphor.  22).  Die  Individuen 
unterscheiden  sich  daher  nach  den  Graden  der  Vortrefflichkeit  ihrer 
Komplexion  und  ihres  Temperamentes  und  demgemäss  auch  in  den 
Dispositionen  zum  Guten  und  Bösen  (ebd.  38).  Die  Seele  bedarf 
des  ihr  angemessenen  Körpers  als  eines  Mittels  zu  ihrer  eigenen 
Vervollkommnung  (45).  Der  Hauptunterschied  von  Mensch  und 
Thier  liegt  in  dem  umgekehrten  Verhältniss,  in  welchem  bei  beiden 
Bewegung  und  Erkenntniss  zu  einander  stehen:  bei  den  vernunft- 
losen Wesen  sind  die  apprehensiven Funktionen  nurMittel  zumZwecke 
der  Bewegung;  bei  den  vernünftigen  dagegen  dient  das  Bewegungs- 
vermögen zur  Vervollkommnung  der  Vernunft-Einsichten  (d.  an.  5). 
Dass  die  Empfindung  des  Hellen  angenehm  ist,  Dunkelheit  aber 
Unlust  erweckt,  kommt  daher,  dass  das  Seh-Pneuma  sich  durch 
Licht  und  Glanz  als  etwas  seiner  Natur  Verwandtes  kräftigt,  in  der 
Finsterniss  dagegen  etwas  seiner  Natur  Entgegengesetztes  erfährt 
(d.  cord.  S.  13)  u.  a. 

Auch   ein    genetischer   Charakter    endlich,    oder  wenigstens 


'°)  So  bei  der  Erörterung  der  Verhältnisse,  vermittelst  welcher  jede  der 
erwähnten  gemeinsamen  Qualitäten  für  jeden  spezirischeu  Sinn  zur  Apprehension 
gelangt:  das  Gehör  vernimmt  in  der  Verschiedenheit  der  Stimmen  zugleich 
die  Zahl  der  tongebenden  Dinge,  sowie  mit  der  Stärke  des  Tons  ihre  Grösse  (!); 
aus  der  Art  jener  Verschiedenheit  erkennt  es  Ruhe  und  Bewegung  u.  dgl. 
(d.  an.  6  f.  19  b).  Kp.  7  stellt  kurz  die  seelischen  Thätigkciten,  auf  welchen 
die  Unterscheidung  der  verschiedenen  Formen  des  inneren  Sinnes  beruht, 
neben  einander;  ebenso  Kap.  8  die  unterschiedenen  Operationen  der  Denk- 
Seele. 

")  Zu  dem  Satze,  dass  das  Wesentliche  der  Erkenntniss  in  der  der  Form 
eigenthümlichen  Abstreifung  der  Materie  (denudatio  formae  a  materia)  bestehe, 
wird  (a.  a.  0.  f.  24a  f.)  hinzugefügt,  diese  denudatio  erfolge  für  die  Sinne 
nicht  spontan  sondern  mit  Hilfe  des  Mediums  und  entweder  per  accidens  oder 
mit  Hilfe  der  bewegenden  Kraft:  die  aktive  Seele  dagegen  vollziehe  sie  selb- 
ständig und  mit  Willkür. 


Zur  Psychologie  der  Scholastik.  27 

ein  Streben  darnach,  lässt  sich  in  Avicenna's  Psychologie  nicht  ver- 
kennen. Allerdings  kommt,  nach  seinen  Ausführungen  (Aphor.  1.  5) 
dem  Sinne  nur  Empfindung,  wirkliche  Erkenntniss  dagegen  nur  der 
Seele  zu:  bei  angestrengtem  Denken  achten  wir  nicht  auf  äussere 
Eindrücke.  Aber  die  menschliche  Seele  erkennt  nur  vermittelst 
der  sinnlichen  Inhalte,  welche  die  Grundlage  für  die  begrifflichen 
sind.  Die  Prinzipien  des  Wissens  sind  der  Seele  angeboren  und 
somit  der  Anlage  nach  schon  im  Kinde  vorhanden.  Unter  ihrer 
Mitwirkung  entwickelt  sich  die  Erkenntniss  auf  Grundlage  der 
Wahrnehmungen.  Zu  einer  wirklichen  Einsicht  in  ihr  eigenes  We- 
sen kann  die  Seele  freilich  während  der  Verbindung  mit  dem  Kör- 
per nicht  gelangen;  sie  neigt  vielmehr  zum  Sinnlichen  und  geräth 
leicht  in  den  Irrthum,  dass  es  überhaupt  nichts  Intelligibles  gebe 
(Aphor.  4.  8) ;  zur  vollen  Erkenntniss  ihrer  selbst  und  des  Ueber- 
sinnlichen  kommt  sie  erst  nach  der  Befreiung  von  der  Materie 
(ebd.  27;  f.  116  b).  Aus  demselben  Grunde  kommt  sie  aber  auch 
dem  Wesen  der  Dinge  nicht  eigentlich  auf  die  Spur:  sie  erkennt 
nur  deren  Qualitäten  und  Accidenzen  "),  so  statt  der  Substanz  am 
Körper  die  drei  Dimensionen,  am  lebenden  Wesen  die  Eigenschaften 
des  Wahrnehmens,  Denkens  und  Handelns,  an  der  Seele  die  Fähig- 
keit der  organischen  Bewegung,  an  Gott  die  Begriffe  des  obersten 
Wesens  und  des  nothwendigen  Seins  '^).  Die  Erkenntniss  durch  De- 
finition (Genus  und  Artunterschied)  ist  nicht  die  des  einheitlichen 
Wesens  (ebd.  f.  108a)'0- 


12)  Neu  seit  differentias  esseiitiales  vel  substantiales  unicuique  earum  sig- 
iiificantes  essentias  rei  ipsius.  Aphor.  11;  f.  108a. 

'■')  Esse  est  pars  detinitionis  dei  et  uon  pars  essentiae  ejus,  denn  dies 
ist  supra  esse  und  das  „Sein"  nur  ein  praesuppositum  et  attributum  ei 
a  nostro  intellectu,  ebd. 

")  Auf  die  Relativität  in  der  Auffassung  des  Inhalts  anschaulicher 
Eindrücke  macht  A.  aufmerksam,  wenn  er  ausführt  (d.  cord.  S.  26),  die  Ima- 
gination wirke  nicht  nach  Massgabe  des  wirklichen  Wesens  der  Dinge  sondern 
nach  der  Art,  wie  sie  uns  je  nach  Umständen  (secundum  oblata  et  occurrentia) 
erscheinen:  selbst  der  Anblick  von  Honig  werde  unangenehm,  wenn  er  zufällig 
an  Ekelhaftes  von  ähnlichem  Aussehen  erinnere.  Zur  Klarlegung  des  Unter- 
schiedes in  den  Leistungen  des  äussern  und  des  innern  Sinnes  wird  darauf 
hingewiesen,  dass  die  Wahrnehmung  z.B.  des  Falles  der  Regentropfen,  der 
in   gerader  Linie  erfolgt,    die  Vorstellung   des  Geraden   als   solche   nicht  ein- 


28  H.  Siebeck, 

Man  erkennt  unschwer,  wie  diese  Richtung  der  Avicenna"schen 
Psychologie  mit  den  kritizistischen  Anfängen  im  Nominalismus  sich 
begegnet  und  den  letzteren  neue  Triebkräfte  zuzuführen  geeig- 
net war.  Hieran  hinderte  auch  nicht  der  Umstand,  dass  ihr  Ur- 
heber die  Möglichkeit  wirklicher  und  wesenhafter  Erkenntniss  ver- 
mittelst der  inspirirten  Vernunft  ausdrücklich  offen  Hess'").  Denn 
dies  war  eine  auch  der  christlichen  Philosophie  geläufige  Vor- 
stellung, neben  der  hier  wie  dort  der  empiristische  Zug  der  Unter- 
suchung ungestört  seinen  Fortgang  nehmen  konnte. 

Von  Avicenna  im  Wesentlichen  kam  dem  MA  die  Richtung 
auf  bestimmtere  Kodifizirung  des  empirisch -psychologischen 
Materials"). 


schliesst  tmd  bei  erstmaliger  Wahrnehmung  auch  nicht  enthalten  kann,  dass 
diese  vielmehr  erst  ein  Resultat  der  Art  und  Weise  ist,  wie  der  Inhalt  des 
äusseren  Vorgangs  vom  Innern  Sinne  aufgefasst  wird.  S.  bei  Haureau,  Phil, 
scolast.  II,  1  S.  206  f. 

^^)  S.  Gesch.  d.  Psych.  I,  2  S.  437 f. 

''^)  Die  psychologischen  Anschauungen  des  arabischen  Geheim bundes  der 
lauteren  Brüder,  die  im  11.  Jahrh.  von  Spanien  her  auch  im  christlichen 
A benlande  Eingang  gefunden  haben  sollen,  haben  hier  Avicenna  und  Averroes 
gegenüber  allem  Anschein  nach  keinen  hervorragenden  Einfluss  gewonnen.  Die  1. 
Br.  waren  auch  nicht  wie  jene  vorwiegend  Theoretiker  und  Systematiker  sondern 
Vertreter  eines  praktischen  common  sense,  (was  sie  nicht  verhindert,  allerlei 
astrologischen  Aberglauben  mit  den  Zeitgenossen  zu  theilen).  Hiermit  hängt  auch 
der  durchweg  eklektische  Charakter  ihrer  theoretischen  Sätze  zusammen,  die 
im  lockeren  Nebeneinander  Spekulatives  und  Empirisches,  Medizinisches,  Pla- 
tonisches und  Aristotelisches  aufweisen.  Ihr  Hauptaugenmerk  geht  mehr  auf 
die  Anwendung  jener  Sätze  zur  Erklärung  mancher  Erscheinungen  des  charaktero- 
logischen  und  sozialen  Lebens  sowie  ausserdem  zur  Begründung  einer  ratio- 
nalistisch gerichteten  Theologie.  Ihr  Denken  steht  in  oberster  Linie  überall  unter 
derLeitung  nicht  von  theoretisch-wissenschaftlichen  und  spekulativ-theologischen, 
sondern  von  praktisch-anthropologischen  und  den  höhern  Bedürfnissen  des  kon- 
kreten weltlichen  Lebens  entnommenen  Gesichtspunkten,  —  Grund  genug  zur 
Erklärung  des  Umstandes,  dass  ihre  Lehren  für  die  Zwecke  der  christlichen 
Scholastik  wenig  in  Betracht  kommen.  Vgl.  Dieterici,  die  Philosophie  der 
Araber  im  10.  Jahrh.  etc.  Vll.  d.  Anthropologie  (Lpz.  1871)  S.  SiT.  28 f.  32  tf. 
147.  IV.  Logik  und  Psychologie  (ebd.  1868)  104ff.  Aug.  Müller  in  den  Gott. 
Gel.  Anz.  1887.  no.  24.  S.  902  f. 


V. 

Zur  Syuderesis  der  Scholastiker. 

Von 
Dr.  li.  RabllS  ia  Erlangen. 

In    der  p.sychologisch-ethischeii  Terminologie   der  Scholastiker 
und    auch    bei   protestantischen  Theologen  des   16.  und   17.  Jahr- 
hunderts kehrt  das  Wort  Synderesis  immer  wieder.     Man  pflegte 
damit  das  natürliche  Wesen  des  Menschen  zu  bezeichnen,  welches 
durch  die  Sünde  nicht  zerstört  werde,  sondern,  den  Regungen  des 
Gewisssens    vorstehend,  zum  Guten  antreibe   und  vom  Bösen   ab- 
mahne');  angelegentlich   erörterte   man   das  Verhältnis  der  Synde- 
resis zum  Gewissen  und  zum  übrigen  Seelenleben.    Zurückverfolgen 
aber  lässt  sich  der  Gebrauch  des  Wortes  bis  auf  des  Hieronymus 
C'ommentar  zum  Propheten  Ezechiel,  wo  der  gelehrte  Kirchenvater 
zu  A'^ers  6  und  7  des  ersten  Kapitels  bemerkt,  dass  sehr  Viele  zur 
Erklärung  der  Vision  des  Propheten  die  psychologische  Dreiteilung 
Piatons  herbeiziehen   und   ausserdem  noch  eine  vierte  und  oberste 
psychische  Potenz  annehmen,   eine  Synderesis   „wie  die  Griechen 
sagen".     Da   es  nun  dieses  Wort  im  Griechischen   nicht  gibt    und 
auch   bei  den  Scholastikern  verschiedentlich  geschrieben  erscheint, 
hat  man  zufolge  der  bisherigen  Unmöglichkeit,   aus  Handschriften 
eine  sichere  Lesart  zu  entnehmen,  sich  auf  Konjekturen  geworfen. 
Seit  dem  16.  Jahrhundert  findet  sich  in  den  gedruckten  Ausgaben 
scholastischer  Werke  und  in  den  Wörterbüchern  Synteresis;  ebenso 
haben  neuerdings  sich  für  cjuvir^f>-/jat€  Jahnel,  R.  Hofmann  und  Gass 
ausgesprochen,  Nitzsch  dagegen  hat  die  Lesung  amzßr^aig  empfohlen 
und  Ziegler  in  seiner  Geschichte   der  Ethik  (2.  Abt.  S.  312(1'.)  tov- 
i>opi(3i;    vermutet.     Ueberhaupt  ist,    wenn   man   einmal  Synderesis 

')  Vergl.    auch    U.  Siebeck,    Gesch.    d.    Psychologie    I,    2.  Al.t.   S.  424 
und  445  t'. 


30  I-  Rabus,  \ 

streicht,  dem  Vermuten  ein  weiter  Spielraum  gegeben.  Daher 
dürfte  der  Versuch  gerechtfertigt  sein,  mit  Beachtung  der  ganzen 
Stelle  bei  Hieronymus  und  namentlich  des  griechischen  Sprach- 
gebrauchs, auf  welchen  doch  der  Autor  ausdrücklich  hinweist,  aus 
dem  Worte  Synderesis  selbst  die  Meinung  des  Urhebers  zu  eruieren. 
Solcher  Versuch  aber  führt  schlechterdings  auf  das  Wort  Synaeresis, 
so  dass  hiernach  der  Kirchenvater,  der  ohne  Zweifel  das  stoische 
7)"i'£[i.ovix6v  im  Sinne  hatte,  das  oberste  psychische  Princip  zunächst 
nur  nach  dessen  formaler  (synthetischer)  Bedeutung  und  Funktion 
liezeichnet  und  erst  weiterhin  inhaltlich  als  scintilla  conscientiae 
und  als  spiritus  erklärt:  zu  jenem  Behufe  bedient  sich  der  grosse 
Schüler  des  berühmten  Grammatikers  eines  griechischen  Terminus, 
welcher,  sowohl  in  der  gewöhnlichen  Sprache  der  Griechen  (auvs- 
Xoüv)  als  auch  seit  Plato  und  Aristoteles  in  der  Ausdrucksweise 
der  Dialektiker  begründet  (auvcnipziai^ai  opp.  oim[jzXa[\rj.C).  synonym 
mit  a'jvbzai:  oder  i'vwcric  bei  einem  Plutarch  und  Longin  hervor- 
tritt, sich  aber  vornehmlich  bei  den  Grammatikern  festgesetzt  hat, 
von  den  lateinischen  Grammatikern  gewöhnlich  mit  dem  Beisatz 
„wie  die  Griechen  sagen"  angeführt  wird  und  schon  aus  der  Gram- 
matik den  damaligen  Gebildeten  geläufig  war.  Von  der  Grammatik 
her  musste  der  Terminus  auch  den  Scholastikern  bekannt  sein. 
Indem  sie  aber  bezüglich  der  Stelle  bei  Hieronymus  und  bei  denen, 
dies  ihm  nachschrieben,  die  griechische  Benennung  eines  besonderen 
Seelenvermögens  erwarteten,  waren  sie  von  vorneherein  geneigt,  für 
Synaeresis  ein  anderes  AVort  zu  lesen.  Wie  nun  thatsächlich 
Synderesis  daraus  wurde,  darüber  lassen  sich  mancherlei  Vermutun- 
gen aufstellen:  am  wahrscheinlichsten  dürfte  sein,  dass  bei  der 
aspirierten  Aussprache  von  Synaeresis  (wie  man  ja  auch  proheresis 
sprach,  vgl.  Alexander  Haies.  Summa  H,  qu.  76 ff.)  gemäss  dem 
Lautgesetz  ein  d  (t,  th)  eingeschoben  wurde,  dies  durch  den  münd- 
lichen Unterricht  sich  verbreitete  und,  nachdem  man  auf  die  ur- 
sprüngliche Schreibung  nicht  weiter  geachtet  hatte,  die  fernere 
Schreibung  selbst  sich  demgemäss  gestaltete.  Hieraus  wird  zugleich 
die  vielgeschraähte  Angabe  Alberts  des  Grossen  verständlich:  Syn- 
deresis componitnr  ex  Graeca  praepositione  syn  et  haeresis. 


i 


VI. 

Paläograpliisclie  Bemerkungen  zn  Kants  nach- 
gelassener Handsclirift. 

Von 
Julius  von  Pflugk-Harttnng  in  Basel. 

Das  Manuscript  jenes  Nachlasses  Immanuel  Kants  „vom  Ueber- 
gange  von  den  metaphysischen  Anfangsgründen  der  Naturwissen- 
schaft 7AIY  Physik"  und  „System  der  reinen  Philosophie  in  iltrem 
ganzen  Inbegriff",  befindet  sich  jetzt  bekanntlich  im  Besitze  des 
Herrn  Pastors  A.  Krause  in  Hamburg,  bei  dem  es  der  Verfasser 
dieser  Abhandlung  einsah  und  untersuchte  '). 

Es  besteht  wesentlich  aus  Foliobogen  mit  schmalem  (etwa  zwei 
Finger  breitem)  Rande,  welche  in  13  Konvolute,  je  in  einem  Um- 
schlage, vertheilt  wurden,  nur  dass  das  12 te  und  lote  durch  den 
gleichen  zusammengehalten  werden.  Die  Konvolute  erweisen  sich 
von  sehr  verschiedener  Dicke:  das  erste  enthält  10  Foliobogen, 
11  =  12,  111  =  8,  IV  =  2  und  dazu  36  Blätter  verschiedener 
Grösse,  V  =  13V,,  VI  =  4,  VII  =  10V4.  VIH  =  7V,,  IX  =  7, 
X=12  nebst  mehreren  Blättern,  XI  =  8,  XII  =97,,  Xin=l. 
In  Summa  allein  105  Bogen  zu  je  4  Seiten  =  420  Folioseiten, 
und,  das  Uebrige  hinzugerechnet,  mehr  als  deren  500. 

Wie  man  sieht,  fällt  nur  das  vierte  Konvolut  stärker  aus  dem 
Ptahmen:    die   Foliobogen    treten    zurück    vor    kleineren    Blättern. 


')  Bemerkt  mag-  werden,  dass  dieser  Artikel  vor  nahezu  1'/...  Jahren  ge- 
schrieben ist  und  dass  seitdem  die  Publikation  Krauses  erschien:  „Das  nacli- 
gelassene  Werk  Immanuel  Kants."  Frankfurt  u.  Lahr  1888,  die  eine  wesent- 
liche Verkürzung  ermöfflichte.  Immerhin  bleibt  das  Werk  noch  Manuskri|)t, 
weil  Krause  blus  eine  „Populäre  Darstellung^'  mit  Belegen  giebt. 


52  von  Pflugk-Harttung, 

Doch  ist  dies  mehr  äusserlich  als  dem  Inhalte  geltend.  Die  Haupt-  |4 
masse  besteht  nämlich  nicht  aus  einzelnen  Papierstücken,  oder, 
wenn  man  will,  Zetteln,  sondern  aus  in  einandergelegten  Oktav- 
bogen, worauf  ein  langer  Entwurf  des  Elemeutarsystems  niederge- 
schrieben und  streng  ordentlich  in  24  Paragraphen  getheilt  ist. 
Offenbar  haben  irgend  zufällige  Umstände  obgewaltet,  welche  die 
Benutzung  des  abweichenden  Papierformates  bewirkten,  wie  solche 
ja  jedem  aufstossen,  der  sich  mit  umfangreichen  Arbeiten  be- 
schäftigt. Was  noch  vom  vierten  Konvolute  übrig  bleibt,  sind 
ebenfalls  philosophische  Abhandlungen  auf  kleineren  Blättern,  ein- 
zelne aus  Sparsamkeit  auf  bereits  gebrauchtem  Papiere  geschrieben. 
Und  dazu  gesellen  sich  schliesslich  mehrere  Privatuotizen,  welche 
im  Anhange  mitgetheilt  werden,  weil  sie  Einblick  in  Kants  All- 
tagsleben gewähren. 

Schon  hier  konnten  wir  Sparsamkeit,  fast  möchte  man  sagen 
Kuauserei,  mit  dem  Beschreibstoffe  beobachten;  das  gleiche  bleibt 
überall  und  hat  den  Hauptgrund  für  die  Schwerbenutzl)arkeit  des 
Manuscriptes  abgegeben:  der  Rand  erwies  sich  für  häufigen  Ge- 
brauch viel  zu  schmal.  Vorder-  und  Rückseite  des  Papiers  wurden 
gleicher  Weise  in  Anspruch  genommen. 

Der  Eintragung  nach  lässt  sich  das  Manuscript  in  zwei  Grup- 
pen zerlegen:  in  den  eigentlichen  Text  und  in  Nachträge,  Zusätze 
und  Umarbeitungen.  Ersterer  nimmt  die  Hauptmasse  des  Papieres 
ein,  letztere  wurden  meistens  dem  Rande  zugewiesen,  greifen  aber 
doch  nicht  selten  in  den  Textraum  über  und  wuchsen  wohl  gar 
zu  eigenem  Texte  an,  der  wegen  der  losen  Blätter  leicht  zwischen- 
gelegt werden  konnte. 

Der  Text  pflegt  in  mittelgrosser,  gleichmässig  klarer  Schrift 
eingetragen  zu  sein,  die  Reihen  sind  gerade,  die  Abstände  gut. 
Deutlich  erkennt  man,  dass  keine  fortlaufende  Abschrift  sondern 
die  erste  Niederschrift  vorliegt.  Bisweilen  wurden  längere  Stücke 
auf  einmal  ausgeführt,  bisweilen  lassen  sich  zahlreiche  Neuansätze 

beobachten. 

Nehmen  wir  z.B.  II  Konvoi.  1,3,  so  ergiebt  sich:  S.  3aundb 
sind  offenbar  in  einem  Zuge  geschrieben,  bis  zum  letzten  Viertel 
von  b.  hier  setzt  ein  etwas  anderer  Duktus  ein,  der  sich  über  4a 


Paliiogi-apliisphe  Bemerkungen  zu  Kants  nachgelassener  Handschrift.      3B 

bis  4b  ei'streckt,  uu  or  iiofli  zweimal  wechselt.  Eine  weniiiev  ab- 
geschriebene Feder  iiiul  dunldere  Dinte  zeist  5a.  welches  in  drei 
malen  einji'etragen  zn  sein  scheint''').  Auf  S.  5b  haben  wir  wieder 
eine  stark  benutzte  Feder,  doch  anderen  Duktus  als  auf  S.  3 
und  4. 

In  dieser  Weise  verhält  es  sich  bald  mehr,  bald  weniger  mit 
dem  ganzen  Maiiuscripte.  ^lituntcr  ist  mitten  im  Satze  abgebrochen, 
z.  B.  Y  Konv.  4.  7.  wo  die  Ueberschrift  und  ersten  drei  Worte  von 
einer  spitzen  und  harten  Feder  herrühren,  dann  folgen  Vj.,  Sätze 
(„werden  können'')  mit  al)geschriebener,  worauf  abermals  eine  spitze 
Feder  einsetzt,  welche  jedoch  nicht  die  der  Ueberschrift  sein  dürfte. 
Alles  dies  ergiebt  mit  voller  Deutlichkeit  ein  immer  erneutes  Ab- 
brechen und  Fortsetzen,  ein  durchaus  ruckweises  Arbeiten. 

Vergleichen  wir  ferner  die  Schriften  der  verschiedenen  Koji- 
volute,  .so  lässt  sich  bei  der  eigenartig  gleichmässigen  Hand  des 
Verfassers,  welche  ihm  bis  zum  höchsten  Alter  verblieb,  nichts 
völlig  Sicheres  sagen.  Dennoch  deuten  zumal  die  Anfänge  der 
Hauptstücke  dahin,  dass  ein  Theil  derselben  ziendich  gleichzeitig 
geschrieben  wurde,  jedenfalls  früher  als  Abtheilungon  der  furt- 
schreitenden Arbeit.  Dies  entspräche  einer  au  sich  schon  wahr- 
scheinlichen Thatsache,  dass  Kant  nicht  hinter  einander  wegschrieb, 
sondern  das  Werk,  nach  dem  Entwürfe,  einzeln  auszuführen  be- 
oann.  bald  hier,  bald  dort,  wie  ihn  gerade  Stoff  und  Gei.st  gelenkt 
haben. 

Für  alles  dies  zeugt  auch  der  Umstand,  dass  er  mitunter 
ganze  und  halbe  Seiten  freiliess:  sie  sollten  jedenfal's  meistens  ge- 
füllt werden,  was  unterblieb,  l^esonders  belehrend  für  das  stück- 
weise Vorgehen  ist  HI  Konv.  B,  G.  Hier  bietet  Ga  auf  zwei  Dritt- 
theilen  der  Seite  Text,  der  sich  dem  frühereu  von  S.  5  a  b  an- 
schliesst;  darunter  steht:  „zur  Vorrede  gehörig",  von  deutlich 
nicht  gleichzeitiger  Hand.  Wenden  wir  um,  so  zeigt  ()b  oben  eine 
Ueberschrift:  „Erstes  Hauptstück  von  <ler  Quantität  der  Materie", 
sie  ist  durchstrichen  und  darunter  gesetzt:  „Einleitung".    ^lit  '\(^\Vi 


-)  „Wenn  ...  berühren.      Die   Begriffe  ...   vorgestellt   werden.      Die   be- 

3 


wegende  . . .  Seneca." 


Arcliiv  f.  Geschichte  d.  Pliilosophie.     H. 


34 


von  Pflugk-Ha  ittung, 


tlazugehöriiien  Texte  fiillt  sie  nicht  ganz  die  Hälfte  der  Seite,  um 
oben  S.  7a  weiter  zu  gehen,  auch  7a  nur  zur  Hälfte  fidleiid, 
ahermals  alibrecliend  und  oben  S.  7li  fortfahrend.  Auf  S.  (il)  In 
der  Mitte  reiht  sich  der  Text  der  Vorrede  an.  welche  (ia  unten 
aufhörte;  er  bedeckt  aber  die  Seite  nicht  ganz,  sondern  deutet 
mit  einem  Doppelkugelzeichen  auf  die  Mitte  von  7n.  unterhalb 
(k's  Einleitungstextes.  Da  geht  die  Vorrede  weiter,  springt  im 
letzten  Drittel  der  Seite  auf  den  Rand  über,  während  unten  in 
der  Mitte  von  6b  und  7a  etwas  anderes,  nicht  zugehöriges,  steht. 
Hieraus  ergiebt  sich  nun  folgender  Sachverhalt:  Kant  schrieb  erst 
den  fortlaufenden  Text  auf  S.  Ga  und  setzte  die  Ueberschrift  auf 
Ob,  verfasste  dann  die  Vorrede  von  6a,  fuhr  6b  in  der  Mitte  fort, 
weil  er  den  oberen  Raum  für  das  „erste  Hauptstiick"  behalten 
wollte  und  machte  es  auf  7a  ebenso.  Nachträglich  strich  er  die 
Ueberschrift,  begann  die  Einleitung  und  benutzte  für  sie  den  oben 
freien  Platz.  Die  Vorrede  sollte  auf  7a  zuerst  kürzer  werden, 
weshalb  er  raumverschvvenderisch  eintrug  mitten  hin  setzend:  „Die 
bewegenden  Kräfte  der  ^laterie  werden  am  besten  nach  der  Ord- 
nung der  Categorien  eingetheilt:  nach  ihrer  Quantität.  Qualität, 
Relation  und  Modalität".  Dies  scheint  ihm  nachträglich  nicht  ganz 
zugesagt  zu  haben,  er  strich  den  letzten  vorausgehenden  Satz,  um 
Neues  an  dessen  Statt  zu  bringen.  Dafür  gebrach  e^  aber  au 
Platz;  deshall)  begann  er  hinter  dem  lelztgestrichenen  Worte  ein- 
zusetzen, um  alsbald  rechts  auf  den  Rand  ül)erzugehen.  Hier  kam 
er  ebensowenig  aus  und  grill'  nunmehr  auf  den  noch  übrigen 
eigentlichen  Textraum  zurück,  erst  auf  S.  7a  unten,  dann  gar 
noch  nach  S.  6b  unten  hinüber.  Wiederholt  erwuchsen  ihm  neue 
Gedanken,  die  zwischen-  und  untergeschoben  wurden,  wo  gerade 
ein  Oertchen  vorhanden. 

Hiermit  sind  wir  aui'  die  Umarbeitung  gekommen.  Das  text- 
lii  h  Eingetragene  wurde  nachkorrigirt  und  zwar  so  stark.  (la.ss 
keine  Seite  verbesserungslos  geblieben  ist,  manche  auf  das  un- 
barmherzig.ste  vorgenommen  wurde.  Da  zeigt  sich:  Durchstreichung 
einzelner  Worte,  Zeilen  und  Sätze,  halber,  ja  uanzer  Seiten,  die 
Verbesserungen  l)isweilen  über  dem  Durchstrichenen  geschrieben, 
bisweilen  zwischen  die  ursprünglichen  Zeilen  geklemmt;  vor  allem 


Paläographische  Bemerkungen  zu  Kants  nachgelassener  FTanflschrift.      P,5 

fesselt  die  starke  lienutzung  des  Randes  den  Blick,  Wegen  des 
knappen  Raumes  sind  die  Handkovrekturen  meistens  in  verkleiner- 
ter Schrift  gehalten,  mitunter  umfassen  sie  mehr  als  der  Text, 
bezw.  als  das,  was  von  diesem  nach  allem  Ueberarbeiten  geblie- 
ben. Wenn  der  Raum  nicht  reichte,  linden  sie  sich  auch  oben, 
unten  oder  zu  Mitten  in  den  Text  hineingeschoben. 

In  den  Korrekturen  tritt  deutlich  das  immer  und  immer  er- 
neute Durcharbeiten  des  Manuscriptes  zu  Tage,  man  sieht  ver- 
schiedenen Duktus,  andere  Feder  und  Dinte,  bisweilen  sechsfach 
wechselnd  und  mehr.  Nehmen  wir  z.  B.  die  untere  Hälfte  der 
Randbemerkungen  II.  Konv.  13.  24,  so  bieten  sich  mit  ziemlicher 
Sicherheit  fünf  Einzeleinträge.  Der  erste  derselben  umfasst  nur 
fünf  Worte  und  eine  kleine  Zeichnung,  der  zweite  zwei  Sätze  in 
neun  Zeilen,  der  dritte  neun  Zeilen,  der  vierte  elf  Zeilen  und 
der  fünfte  deren  dreizehn.  Jedes  dieser  Stücke  hebt  sich  von  dem 
anderen  ab,  und  damit  nicht  genug,  vom  dritten  Machtrag  steht 
das  letzte  Wort  „berührt"  rechts  unter  dem  vorletzten,  neben  der 
ersten  Zeile  vom  vierten  Nachtrage  und  ausserdem  wurden  die 
drei  Schlusszeilen  des  dritten  zusammengedrängt;  d.  h.  also:  der 
Nachtrag  Nr.  4  wurde  früher  hergestellt  als  Nr.  3,  der  Autor  kam 
bei  Ausführung  des  letzteren  zu  kurz  und  half  sich  so  gut  es  eben 
ging.  Aehnliche  Fälle  späterer  Niederschrift  einer  oberen  Note 
als  der  unteren  giebt  es  viele.  Kant  trug  ein,  wie  ihm  gerade 
der  Gedanke  kam,  bald  hoch,  bald  tief.  Es  finden  sich  sogar 
blosse  Randbemerkungen  ohne  allen  Text,  sei  es,  dass  dessen  Raum 
unbeschrieben  blieb,  sei  es,  dass  er  zwar  gefüllt,  aber  nachträglich 
durchstrichen  wurde. 

Ergaben  sich  der  Korrekturen  und  Nachträge  viele,  so  nahm 
Kaut  zu  allerlei  Zeichen  seine  Zuflucht,  um  jene  auf  den  gehöri- 
gen Ort  hinzuweisen:  er  verwendete  einfache  Striche,  Kreuze, 
Sterne,  Kreise,  Kreise  und  Striche  verbunden,  mehrere  Kreise  und 
dergl.  Schien  das  alles  noch  nicht  zu  genügen,  so  ündet  sich  auch 
wohl  ein  weiterer  Vermerk,  etwa  ein  „verte"  bei  dem  Zeichen 
und  auf  dei-  anderen  Seite  wurde  alsdann  fortgefahren  (z.  B. 
II.  Kon.  1.  1  und  2).  Oft  steht  das  dem  Zeichen  entsprechende 
Gegenstück  nicht  daneben,    .sondern   an  ziemlich  entlegener  Stelle, 

3* 


36 


von  P fing k- IIa rttuiig, 


;iii  iialio/.u  fronidem  Orto.  wenn  am  richtigen  kein  T?aiim  vorlinn- 
(Icii.  ()der  OS  ist  ein  kleineres  Rlalt  einoelegt,  wie  \'.  Koiiv.  "2.  IJ. 
in  weleheni  wieder  erharnningslos  heriimkorrioirt  wurde.  Sehr 
liilufig  zeigt  sich  dieselbe  Sache  in  verschiedenen  Bearbeitungen  ''). 
selbst  ein  Dutzendmal  und  mehr  l)ehandelt.  um  eiidlicl)  die  rich- 
tige Fassung  zu  erringen,  stets  den  neuen  Ergebnissen  gerecht 
zu  werden.  Solciie  Entwürle  bieten  grossentheils  gleiche  Worte 
und  AVendungeii  und  sind  nur  einfach  beigelegt,  was  diMi  P»e- 
sihuuer  völlig  irre  machen,  den  Glauben  erwecken  kann,  als  habe 
sie!)  der  grosse  Denker  immerfort  wiederholt.  Dies  scheint  um  so 
näher  zu  liegen,  als  Kant  auch  hier  eine  unveikennl)are  Peinlich- 
keit, ja,  wir  dürfen  wohl  sagen,  eine  gewisse  Pedanterie  walten 
Hess.  Unzählige  Male  steht  bei  dem  AVorte  „AVahrnehmung"  in 
Klammer  „empirische  Vorstellung  mit  Bewusstsein''.  Wenn  er 
auf  das  Wort  ,,fest''  stfisst,  macht  er  gern  eine  P)emerkung,  dass 
es  richtiger  mit  v  statt  f  geschrieben  werde.  Gebraucht  er  das 
Wort  „Physikus"  mit  lateinischer  Endung,  so  pflegt  er  in  Klammer 
zu  setzen  „Stadt  und  J.and'\  was  er  nicht  bei  dei-  jMirni  „Phy- 
siker" thut  und  dergl. 

Hin  und  wieder  können  Text-  und  Pandl)emerkungen  gleich- 
zeitig sein,  gewöhnlich  gehören  diese  einer  späteren  Zeit  an.  Wir 
finden,  wie  die  Notizen  offenbare  Verwandtschaft  mit  :inei'  Text- 
sclirift  zeigen,  die  früher  oder  später  vorkommt.  So  hat  i'in  Theil 
dei-  liandnachträge  von  \.  Konv.  S,  1Gb  gar  keine  Aehnlichkeit  mit 
den  daneben  stehenden  Textbuchstaben,  desto  grössere  aber  mit 
denen  von  A'.  8,  6b  unten,  welche  auch  S.  7  beginnen,  oder  denen 
von  \'.  10,  li)  zweite  Hälfte.  Anderseits  scheint  Jene  Notiz  zeit- 
lich wieder  der  nahe  zu  stehen,  die  sich  A',  10,  19b  in  der  Alitte 
befindet,  während  dariil)er  uml  darunter  eine  wesentlich  schwerere 
Hand  gewaltet  hat. 

Dei-artiiie  Dinge  lassen  sich  zu  hunderten  mehren,  immer  aber 
bleibt  im  Auge  zu  behalten,  dass  Kaut's  Schrift  nirgends  sichei'en 
Anhalt  gewährt,  das.s  man  im  l.)e.sten  Falle  mit  Wahischeinliclikei- 


")  Im  111.  Konv.    1    lliuU't    sicii    die   riiferscliril'l :    zweiter  Veisiicli    (Keicke, 
.Vltpr.  .Monscbr.  VlII,  S.  ;VJ1;. 


n 


Paläogiaphische  Bemeikungeri  zu  Kants  nachgelassener  Handschrift.      37 

ten  rechnen  miiss.  Kants  versale  und  klare  Schrift  gestaltete  sich 
je  nach  Raum  und  Zeit  sauberer  oder  flüchtiger,  grösser  uder  klei- 
ner; eigentlich  hastig  hingeworfene  l'artien  sind  selten.  Nach  dem 
vielfach  etwas  zitterigen  und  unsicheren  Duktus,  der  bisweilen 
hervortretenden  Neigung  zu  Kleiuschrift  möchte  man  das  zehnte 
und  namentlich  das  elfte  Konvolut  für  die  späteren  halten,  doch 
könnten  Krankheit,  Nervosität  und  dergleichen  eingewirkt  haben. 
Auch  Nr.  1   und  7  sind  gewiss  recht  jung,  zumal  jenes. 

Das  tiesagte  bietet  einen  lehrreichen  Einblick  in  die  Arbeits- 
art des  Gelehrten.  Er  entwarf  das  Werk  erst  in  seiner  Gesammt- 
heit,  gliederte  es  in  Theile  und  begann  diese  einzeln  zu  l)ehaii- 
deln.  jeden  selbständig  l'iir  sich.  .Seine  Gedanken  trug  er  nicht 
ununterbroclien  im  Kopfe  herum,  bis  sie  völlig  ausgereift  und  in 
die  endgültige  l-'orm  gediehen  waren,  sondern  schrieb  sie  nieder, 
wenn  sie  ihn  vorläufig  fertig  dünkten.  Diese  Niederschrift,  der 
erste  Text,  gestaltete  sich  dann  aber  allmählich  zu  einem  Oebäude 
auf  Abbruch,  von  dem  er  nahm  und  stehen  Hess,  je  nach  späterer 
Erwägung.  Uncrmtidlich  wurde  gefeilt,  umgearbeitet,  bereichert, 
neu  entworfen;  neben  dem  Ringen  nach  dem  stofflich  Richtigen 
steht  das,  nach  dem  entsprechendsten  Au.sdrucke. 

Eine  derartige  Thätigkeit  verlangt  Zeit,  viel  Zeit,  das  gleiche 
die  schwör  auszudenkende  Materie,  ihre  vorläufige  Eormulierung 
und  dies  alles  erstreckt  sich  über  500  Folioseiteu  in  sparsamster 
Schrift,  mit  starker  Benutzung  sonst  freibleibenden  Papieres.  Schon 
hiemit  ist  äusserlich  erhärtet,  dass  die  Arbeit  sich  über  Jahre 
ausgedehnt  haben  muss.     Die  Schrift  deutet  in  gleiche  Richtung. 

Wie  lange  Kant  an  dem  Werke  thätig  gewesen,  lässt'sich 
aus  diesem  selber  natürlich  nicht  darthun ,  wir  müssen  dafür 
äussere  Anhaltspunkte  suchen.  Nach  einem  Briefe  an  Garve  (S. 
Stern,  Die  Beziehung  Kant's  zu  Garve  S.  34,  vom  7.  Aug.  1783) 
soll  er  über  12  Jahre  an  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  gearbeitet 
und  sie  in  etwa  4 — 5  Monaten  niedergeschrieben  haben.  Dies  ist 
nicht  dahin  zu  verstehen,  als  ob  der  Philosoph  das  Werk  12  Jahre 
blos  in  seinem  Kopfe  durchgegohren  und  es  dann  in  einem  Zuge 
hingeschrieben  habe,  sondern  bei  der  Arbeitsart  Kaufs,  wie  unser 
Manuscript  sie  zeigt,  dahin:    dass  er  12  Jahre  geschrieben  und  ge- 


38  von  ri'iiigk-llarttung, 

ieilt  hat,  his  er  das  Ganze  zu  dem  Punkte  der  Vollendung  brachte, 
wu  es  in  3 — 4  Monaten  drucklertig  ledigiert  werden  konnte.  \\  ir 
sehen,  der  J)enker  arbeitete  sehr  langsam,  that  sich  selber  schwer 
Geniige.  war  er  aber  fertig,  dann  schloss  er  schnell  ab.  Dieses 
Ergebuiss  darf  auch  ITir  unsei-  Wrrk  in  Anspruch  genommen  wer- 
den, wobei  noch  zu  erwägen  bleibt,  dass  es  fast  von  doppeltem 
Umfange  ist  und  einer  höheren  Altersstufe  angehört,  als  die  Ar- 
beitskraft geringer  w'ar,  wie  in  jüngeren  Jahren. 

Hiezu  gesellen  sich  einige  bestim)nte  Daten  der  Ihuulschrift. 
Auf  einem  der  benutzten  l^apierstiicke  steht  unter  anderem  „Zwey 
Briefe  des  Fräulein  (?)  Cruse  an  Hartknoch  und  Baron  Ungern  von 
Sternberij.  imuieichen  an  Director  Euler  in  Petersburg".  Mag  man 
diese  Xotiz  fassen,  wie  man  will,  soviel  scheint  gewiss,  dass  es 
sich  um  lebemle  Personen  handelt  und  Euler  starb  am  7.  .Septem- 
ber 1783.     Wir  besässen  damit  ein  sehr  frühes  Datum. 

Ein  zweiter  Zettel  beginnt:  „Gratuiti  Anthropol.  nDö"'.  Auch 
er  bietet  viele  Aufzeichnungen  zur  Ariieit. 

Ein  dritter,  von  dem  das  gleiche  gilt,  trägt:  „Robert  Motheriiy, 
11.  Aug.  179...,  die  letzte  Zahl  leider  undeutlich,  sie  kann  0,  5  und 
8  sein;  mir  scheint  5  das  AVahrscheinlichste. 

Ein  vierter  Arbeitszettel  wurde  von  Kant  sell»er  unterzeichnet 
mit  dem  Beisatze:  8.  Aug.  99. 

Im  Jalire  1798  erwähnt  er  das  Werk  briellich  an  Garve  und 
Kiesewetter. 

Auf  dem  Umschlage  des  siebenten  Konvolutes  steht:  „Im 
8Usichseschsten  Jahr  meines  Alters."  Kant  ist  1724  geboren,  die 
Bemerkung  ergäbe  mithin  das  Jahr  180().  Schliesslich  besitzen  wir 
Nachricht,  dass  er  bis  zu  seinem  Tode  an  dem  Manuscripte  gear- 
beitet hat,  also  bis  1804  (vergl.  Krause,  das  nachgelassene  AVerk 
S.  XIV,  XVI). 

Es  ist  wahrscheinlich,  dass  jemand,  dem  die  Königs- 
berger Archive  und  Privatnachrichten  zu  Gebote  stehen,  aus  Ein- 
zelheiten, zumal  Xamen,  noch  weitere  Daten  zu  Tage  fördern 
kann,  l'iir  uns  genügt  es,  die  Endpunkte  1783  und  1804  gefun- 
den zu  iiation,  die  sich  ohne  Gewaltsamkeit  kaum  wegdeuten  lassen. 
\  \u\  «labei  bleibt  noch   zu   erwägen,    dass    1783,    als   die   für    den 


, 


Paläographische  Bemerkungen  zu  Kants  nachgelassener  Handschrift.      39 

ersten  Zettel  späteste  Zahl  erscheint,  dass  er  wahrscheinlich 
etwas  früherer  Zeit  angehört.  In  runder  Zahl  können  wir  nach 
den  Daten  ungefähr  25  Jahre  Thätigkeit  für  das  ^lanuscript  in  An- 
spruch nehmen.  Das  erscheint  auf  den  ersten  Blick  sehr  hoch, 
doch  stimmt  es  /um  Aeusseren  des  Manuscriptes  und  zu  dem,  was 
bei  der  Bearbeitung  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  gesagt  wor- 
den. Hinzu  gesellt  sich,  dass  der  Stott"  unseres  Werkes  oder  sagen 
wir  unserer  zwei  AVerke  ein  noch  schwierigerer  als  der  des 
früheren  ist,  dass  es  dem  Verfasser  offenbar  aus  den  Fugen 
ging,  er  seiner  nicht  Herr  werden,  er  es  nicht  zur  Drucklegung 
fertig  bringen  konnte;  alles  Umstände,  die  dem.  der  selber  geistig 
thätig  ist,  starke  Gründe  für  Verzögerung  abgeben.  Selbstver- 
ständlich hat  Kant  nicht  25  Jahre  ununterbrochen  bei  dem  Ma- 
nuscripte  gesessen,  eine  hochgradigere  Thätigkeit  dürfte  sogar  erst 
in  den  letzten  10  Jahren  eingesetzt  haben,  aus  denen  die  Mehrzahl 
der  Daten  stammt  und  wo  der  Wunsch  herantrat,  das  Werk  noch 
vor  dem  Tode  fertig  zu  bringen.  Aus  den  Briefen  an  Garve  und 
Kiesewetter  geht  hervor,  dass  er  sich  1798  in  voller  Thätigkeit 
befand;  das  Werk  war  noch  nicht  vollendet,  scheint  sich  aber 
nach  seiner  Auffassung  dem  Abschlüsse  zuzuneigen. 

Mit  diesen  Ergebnissen  dürfen  wir  an  die  weitere  Thatsache 
treten,  dass  Kant  einigemale  ein  bereits  anderweitig  gebrauchtes 
Papier  verwendete  und  hie  und  da  persönliche  Notizen  aufzeichnete. 
Ersteres  kann  schwerlich  jemand  auffallen,  am  allerwenigsten,  wenn 
er  sich  jene  Sparsamkeit  vorstellt,  wie  sie  das  ganze  Manuscript 
beweist.  Wohl  jeder  Autor  benutzt  gelegentlich  die  Kiickseite  eines 
Briefes,  oder  einer  Rechnung,  wenn  sie  ihm  gerade  bei  Fixirung 
eines  Gedankens  in  die  Hände  fällt,  und  so  that  es  auch  Kant, 
wenngleich  nur  vereinzelt,  wie  aus  der  Beilage  dieses  Artikels  zu 
ersehen.  Hiehin  gehört  es  auch,  wenn  sich  im  X.  Konvolute  zwei 
Entwürfe  ül)er  die  Pockennoth  finden,  deren  Rückseite  philoso- 
phische Untersuchungen  bedecken.  Und  nicht  viel  anders  steht  es 
mit  den  gelegentlichen  Privatnotizen.  Es  sind  Dinge,  die  Kant  sich 
aus  irgend  einem  Grunde  aufschrieb,  meistens  ganz  unten  rechts 
am  Rande  oder  ganz  unten  quer  unterhalb  des  Textes,  einmal  auch 
an  der  Seite,  quer  gegen  den  Text.  —  Doch  solche  Bemerkungen 


4U  von   Pt'l  iijik-IIart  tung. 

sind  obeuf";dls  >cl1oii.  wie  die  zweite  Beilage  {larthut.  IJfi  weitem 
Läufiger  sind  Nutizen  aiii  den  gedruckten  l  mscldägen  der  Kunvu- 
]ut<.'.  Aber  .stets  muss  man  wi  Augen  behalten,  dass  es  sich  um 
ein  nucli  unlertigcs  Manuscrij)!  handelt.  iil)er  welches  der  Autor 
Jahre,  Jahrzehnte  gebrütet  hat.  und  das  er  l'iir  sich  und  seine  Be- 
dürfnisse einrichtete,  uhue  daran  zu  denken,  dass  von  späteren  Ge- 
schlechtern einmal  jeder  Punkt  unter  die  Lupe  genommen  und 
kommenlirt  werde.  —  Oder  ahnte  er  es  l)ereits.  und  verlangte  in 
pessimistischen  Anwandlungen,  dass  die  llandschril't  nach  seinem 
Tode  verbrannt  werde  (AVasianski,  bei  Krause  S.  XIV).  Ein  un- 
fertiges Manuscript  ist  anders  zu  l)ehandeln  als  ein  abgeschlossen 
redigirtes  Buch. 

Noch  Kant  selber  schlug  die  13  Konvolute  je  In  einen  Druck- 
bogen ein  (Druckpapier  ulleiibar   wieder  aus  Sparsamkeit),    welche 
er   theilweise  mit    der   Konv(dutenzahl    und    sonstiger  Angabe   be- 
zeichnete.    Die  Umschläge   bestehen    aus  Zeitungen    und   anderen 
Sachen,  welche  leider  keine  Zeitbestimmung  ermöglichen,  weil  die 
Bogen  und  Umschläge  sowohl  von  anhing  an  zusammengehört  halien, 
als  diese  auch  erneuert   sein    können.     Jjetzteres    erscheint    als   das 
bei  weitem  A\'ahrscheinlichere.   da   die  Umschläge    am    meisten   zu 
leiden    hatten    und    Druckpapier    wenig    AViderstandskrai't    besitzt. 
Die  Reihenrolge  der  Bogen  innerhalb  der  Konvolute  zeigt  sich  jetzt 
durch  Bleistiltbezeichnungen  lixiert,  die  wahrscheinlich  vom  Propste 
Schön  herstammen.     Aber  theilweis  hat  Kant   persönlich  noch  die 
Bogen  vermerkt,  so   im  X.  und  XI.  Konvolute,   wo   sie  mit  A.  P). 
C  bis  Z.  und  dann  mit  AA,  BB,  u.  s.  w.  versehen  wurden.    Xicht 
unbedeutende  Abschnitte    des    eigentlichen   Elementarsystems  sind 
sogar  wiederholt  in  ParagTaj)hen.  zum  Theile  mit  Zahlbezeichnun- 
gen,  gebracht.     In  den    einzelnen   Konvoluten    tritt    ein   gew'isser 
gemeinsamer  Gedankengang  hervor;  wenn  er  nicht  immer  inne  ge- 
halten,   so  bleiJjt  zu  l)edenken,   dass   tlas  Werk   noch    unvollendet, 
überhaupt   wohl,    wie  schon   angedeutet,    etwas  aus  dem   Rahmen 
gegangen    war.      Dazu    gesellt   sich,    dass    einige   Bogen    nicht    in 
ursprünglicher  Ordnung  zu  liegen  scheinen,   was  schon  Ueicke  bei 
deren  zwei  bemerkte.     Vom  l'ünCten  Bogen  des  VII.  Konvolutes  ist 
durch  Kants  Bezeichnung  sicher,  dass  er  nicht  dahin  gehört  (Altpr. 


Paläographisi'he  Bemerkungen  zu  Kants  nachgelassener  Ilanil-clirilt.      41 

Monatsschr.  XIll.  8.  i)4o,  652).  Im  Xll.  Kunv.  1,4  liat  Kant  am 
Rande  bemerkt:  „viel.  Bog.  A.  Uebergang  .S.  4  mit  ruther  Tinte" 
(vgl.  Reicke  I,  S.  17),  ein  su  be/eichiieter  Bugen  lindet  sich  nicht 
im  Konvülnte,  wohl  aber  als  (h'itter  dc^  neunten  und  zwar  in  der 
Weise,  dass  die  beiden  Innenseiten  zwar  rein  sind,  die  beiden 
äusseren  dagegen  schmutzig,  als  üb  sie  auf  nnsaul)erem  Tische  oder 
Buden  gelegen  hätten.  Es  wäre  mithin  möglich,  dass  das  Papier 
auf  die  Erde  liel  und  (htbei  aufklappte  uder  sonst  durcheinander 
geworfen  wurde  (vergl.  Krause  S.  XV).  Zufolge  der  Paginierung 
miisste  es  vor  der  Thätigkeit  Schöns  geschehen  sein.  Wie  leiclit 
kommen  nicht  lose  Blätter  in  Unordnung  und  wie  vielen  Zufällig- 
keiten, ja  Gefahren  war  unsere  Handschrift  nicht  ausgesetzt! 

Nach  alledem  ist  eine  gute  Textedition  äusserst  erschwert, 
wenn  nicht  gar  bisweilen  unmöglich.  Es  handelt  sich  um  ein  un- 
fertiges, geradezu  erdrückend  durch-  und  umgearbeitetes  Manuscript. 

Beihii^e  I. 
Notizen  aus  Kants  Privatleben. 

Herr  cand.  rer.  nat.  J.  Noelting  hat  die  folgenden  Notizen  aus 
dein  Manuscripte  zusammengestellt: 

Konvolut  1  uiul  YJl  sind  in  Händen  des  Herrn  Dr.  Reicke  in 
Königsberg. 

Im  Konvolut  11  lindet  sich  nichts  auf  liiiusliche  Angelegenheiten 
liezüglich. 

Konv.  111,  Bog.  5  S.  o  (11),  rechts  unten  an  der  Ecke  neben 
dem  Texte  die  Multiplication  von  15x15.  —  .S.  o  (Hb)  eine  Be- 
rechnung und  ein  Zeichen. 

Konv.  IV.  Zettel  36  ein  gebrauchtes  Blatt  mit:  Gratuiti  An- 
tropol.  1795.  I  Joh.  Freytag.  |  Zymanowsky.  |  From.  |  AVenslawsk.  | 
Gregorovius.  1  —  Auf  der  sonst  leeren  Rückseite  von  Zettel  37 
steht:  Gottfried  Christoph  Wilhelm  Grünmüller.  —  Auf  Zettel  44 
rechts  oben  fern  vom  Text:  Fuchs  Lichtzieher  (durchstrichen).  — 
Auf  Zettel  46,  quer  gegen  den  Rand:  Zwey  Briefe  des  (oder  durch) 
Fl.  Cruse  an  Hartknoch  und  Baron  Ungern  von  Sternberg  imgleichen 
an  Director  Euler  in  Petersburg. 

Kon.  V,  keine  Notiz;  ebenso  VI,  Mü,  IX. 


42 


vnii   l'l'l  II  uk-  II  ;i  it  tiiiiK- 


Kullv.  \,  Bog.  l  S.  '.>.  Zettel  2.  Üben  vur  dem  Texte,  von 
diesem  tlieilvveisc  bedeckt,  mit  Bleistilt:  .Sittenleiire  Jesu  von  Stäiid- 
liu  dem  II.  Inspector  Ehrenbütts  abgeben,  zwey  Briefe  von  Tiel- 
drunk.  —  Bog.  12  Zettel  4:  war  vor  der  Benutzung  für  das  Manu- 
script  als  Brief  gebraucht.     Darauf  steht: 

Da  Ew.  Hochedelgeboren 

das  Inserat  in  das  Intelligenzblatt  der  Jenaischen  A.  L.  Z. 
abzusenden  gesonnen  sind,  so  will  ich  nur  erinnern,  dass  der 
Brief  morgen  (Freytags)  vor  8  Ulir  —  etwa  um  hall»  8  — 
auf  die  Post  gegeben  werden  müsse.  •• 

J.  Kant, 
d.  8  ten  Aug.  '.)9. 

—  Auf  demselben  Zettel  quer  gegen  den  Text:  an  Prof.  Rincx. 
Poselger.  Stadtraths.  —  Halbbogen  II  und  Bogen  111  p.  1  handelt 
von  der  Pockennoth  und  ist  bereits  von  Reicke  verötfentlicht  (Aus 
Kants  Briefwechsel,  Königsberg  188;")).  —  Auf  IMhb.  IV  p.  2  unten 
am  Rande:  NB.  Die  Marke  vom  weissen  Wein  ist  noch  nicht  ab- 
gegeben worden,  wohl  aber  eine  vom  rothen  Wein  schon  vorher.  — 
Heute  Crimiiuil  R.  Jensch  und  Ehrenbnth  und  trockenes  Obst  zur 
Gesundheit  zu  geben  oder  Pfarrer  Sommer.  —  Zeitung  von  Nico- 
lovius  von  der  Revolution  in  Paris.  —  Von  Seh  .  .  . .  se  am  Sonn- 
abend zu  erfahren,  wer  das  Stück  Miinchener  Abhandlung  des 
[Ungl  .  .  durchstrichen]  Verunglückten  hat.  —  Haibb.  VI  p.  2,  unten 
links  am  Rande:  [Durchstrichen:  Neue  Groschen  anzuschaffen]. 
Heute   Pro!'.   Porschke.     Criminal   R.  Jensch.  —   An  G.  Rath  Pott 

Danksagung  wegen  Beitritt  Azorenweiu die  noch  fehlenden 

schwarzen  Bouteillen.  —  Unten  ganz  am  Rande:  [Durchstrichen: 
Sonntags  Abstäubung  der  Studirstube  doch  sehr  vorsehen  durch 
die  Köchin.  Verstopfen  von  Decken  der  Fenster  in  der  Studir- 
und Schlafstube,  vielleicht  auch  in  der  Essstul)e].  —  Halbb.  XVI 
unten  rechts  am  Rande:  Lampe  hat  auf  seiner  oberen  Stube  einen 
Bund  Schlüssel  und  die  Tochter  hat's  auch  dem  L.  zu  melden,  dass 
das  ihm  bedingtervveise  versprochene  Quartal  bis  zum  zweyten  auf- 
behalten werde  ....  das die  Tochter  ....  —  Zu  bemerken 

ist,  dass  alle  diese  Notizen  auf  dem   Iwinde  tler  Ilalbliögen  stehen. 


Paläügriiphische  Bemerkungen  /,u  K;uits  nachgelassener  Ilanil.schrift.      43 

Kuiiv.  XL  Bog.  1  8.  4,  links  oben  am  Rande:  Teltovver.  |  Prüf. 
Kincx.  Doct.  Mütherhy.  —  Bog.  6  S.  2,  links  unten  in  der  Ecke: 
H.  Schirrmacher  und  Mag.  [durchstr. :  Schultz,  eingeschaltet:  Gänsch. 
IJurchsti-.:  Der  H.  Magister  Schult/,  und  M.  (Üinsch  oder  H.  Schirr- 
macher und  ]M.  Gänsch  ....].—  S.  4  links  unten  in  der  Ecke: 
Religion  die  höchste  Angelegenheit  des  Menschen  in  einer  Anrede 
der  Vernunit  an  sich  selbst  vorgestellt  von  J.  K.  und  gewidmet 
dem  11.  G.  R.  Pott. 

Konv.  XII  Bog.  A.  S.  4,  links  unten  eine  Berechnung. 

Konv.  Xlll  bietet  keine  Notiz. 

J)ie  auf  den  Umschlägen  angebrachten  Aurzeichnungen  sind 
hier  nicht  gegeben. 

ßeilaiie  II. 
Benutztes  Papier. 
Wiederholt    hat   Kaut    l)e.reits    benutztes   Papier    noch   einmal 
verwendet,  und  zwar  in   lolgenden  Fällen,  aus  dem  IV.  Konvolute. 

1.  lileistii'tbezeichnung  o  und  4.  Quartblatt,  lang  0,2o,  l)reit 
0,l8ö.  ursprünglich  zusammengefalteter  Brief  an  Kant,  jetzt  nur 
noch  in  der  Mitte  gebrochen,  so  (hiss  vier  Seiten  entstehen.  Auf 
der  ersten  Seite,  die  Adresse:  Des  |  Herrn  Prof.  Kant  ]  Wohlge- 
bohren. Ujiten  in  der  Mitte  der  runde  Siegellackfleck.  Auf  der 
dritten  Seite  der  Brief:  Hierbey  erhalten  Ew.  Wohlgebohrnen  einen 
Schein  über  die  letzt  empfangenen  232  und  204  Rtl..r.,  zusammen 
also  für  436  Rthlr.  Den  Uten  Schein  über  232  Rthlr.  werde  mich 
also  zurückerbitten.  —  Robert  Motherby.  --  Uten  Aug.  17'J  .  .  . 
[die  letzte  Zahl  kann  0,  5  oder  8  sein].  Vor  dem  Briefe  oben  in 
der  rechten  Ecke,  abgetrennt  durch  einen  schrägen  Strich:   S.  J. 

2.  Blstbz.  5.  Quartblatt  0,23  zu  0,185,  den  Adressentheil  einer 
Zuschrift  an  Kant  bietend,  diese  selber  wurde  abgerissen.  Auf  der 
Vorderseite:  Sr.  AVohlgebohrnen  |  dem  Herrn  Professor  Kant  |  zu  | 
Königsberg  1  in  Pr.  |  Hiebei  eine  Rolle  |  in  gr.  Wachs  Leinw.  |  sign. 
K.  worin  55  Rthlr.  |  W.  \  König.  Ober  Schul-  |  Kassen  Gelder.  —  Links 
oben  von  der  Adresse  tindet  sich  ein  undeutlicher  Zahlenvermerk, 
vielleicht  21  et  22  Rthlr.  Rechts  am  Rande  das  unversehrte  Siegel 
der  Königlich  Preussischen  Oberschulkasse. 


44 


von  Pflugk-Harttung, 


o.  HIstl.z.  G.  Quartl'lMÜ  O/i  /u  0.1'.).  Wioder  der  Afire.«sen- 
tlu'il  einer  Zuscluill.  Aul'  der  \  (»rder.seite:  Dem  Herrn  PruJ'essor 
Kiiiil.     Xncli   deutüelie  Spuren    der    urspriingliclien  Oblate  zeigend. 

4.  .Schmaler  Papienstrcif  0,21  /u  (),0o5.  Trägt  auf  der  einen 
Seite  in  giinzer  Länge  den  Namen:  (Juttfried  Christoph  Wilhelm 
rirünmiiller. 

Blei.stililjezeichnung  4:  ß riefe nl warf  an  Oarve. 

Bei  allen  diesen  P)lättern  wurde  der  IVeigeliJiehene  Kaum  von 
Kant  je  nach  Hedürfniss  liir  seine  Arheit  benutzt.  Nr.  4  auf  der 
Rückseite  halb  eng  lieschrieben.  hall)  mit  [)hysikalischen  und 
mathematischen  Figuren  bedeckt,  wie  sukhe  auch  sonst  im  Manu- 
scripte  vorkommen. 

Wegen  Wasianski"s  Brie!'  an  Kant  aus  dem  MI.  Kunv.  vergl. 
Aitpr.  Monatsschr.  XII  S.  5(31». 


VIT. 

Zu  Goetlies  Pliilosopliie  der  Natur. 

Vuu 
Wilhelm  Dillliey  in  Berlin. 

Als  ich  in  dem  „Leben  Schleiennachers"  die  Naturphilosophie 
Schellings  und  Hegels  zuriickvcrfolgte  in  ilie  Goethes  und  hierbei 
die  älteste  Urkunde  dieser  Naturphilosophie,  Goethes  Aufsatz  „Natur" 
erörterte,  konnte  über  das  Verhältnis  der  Naturansicht  Goethes  zu 
der  Herders  in  dieser  Zeit  (1782),  kein  litterarisches  Zeugnis  Licht 
verbreiten.  Wenn  auch  der  intime  Austausch  zwischen  Herder 
und  Goethe  in  dieser  Zeit  eine  völlige  Auflösung  der  Frage,  wel- 
chen Anteil  diese  beiden  Personen  an  der  Ausbildung  des  deut- 
schen Pantheismus  haben,  unmöglich  macht,  so  werden  uns  doch 
Aeusserungen  willkommen  sein,  welche  wenigstens  die  Frage  be- 
stimmter begrenzen.  Das  Verhältnis  ist  dasselbe  als  es  in  Bezug 
aul'  die  Ausbildung  der  mechanischen  Weltansicht  gegen  die  Mitte 
des  17.  Jahrh.  besteht.  Die  Abgrenzung  des  Anteils  von  Galilei, 
Descartes  und  Hobbes  lässt  sich  auch  hier  wegen  des  lebendigen, 
mündlichen  und  brieflichen  Verkehrs  der  entscheidenden  Personen 
und  ihrer  Freunde  nicht  endgültig  feststellen. 

Die  ausgezeichnete  Ausgabe  Herders,  welche  wir  Suphan 
verdanken,  bringt  in  ihrem  neuerschienenen  13.  Bande ')  ältere 
Niederschriften  und  ausgesonderte  Kapitel  aus  einem  Entwurf  zu 
den  ersten  drei  Büchern  der  Ideen.  Schon  die  erste  Ueberschrift, 
die  uns  hier  aufstösst:  Vorzüge  des  Menschen  vor  seinen  Brüdern, 


1)  Herders  süuimll.  ^Y.  lierausg.   von  Suphan  Bd.  13.     Berlin,  Weidmann 
1887. 


46 


Williolin  Diltliey, 


tleu  Enltiereii,  erinnert  ;in  den  .Monolog  „Wald  und  ilölile":  ..Du 
führst  die  Reihe  der  J^ebendigen  vor  mir  vorbei  und  lehrst  mich 
meine  Brüder  im  stillen  Busch,  in  Jjul't  und  Wasser  kennen," 
Dann  aber  zeigt  sich  dieser  Entwurf  im  Ton.  in  den  Hauptsätzen, 
ja  in  einzelnen  Stellen  dem  Aufsatz  Goethes  über  die  Natur  ver- 
wandt. 

Goethe.  Herder. 

Natur!  ^Vir  sind  von  ihr  um-  AVelche  Unendlichkeit  umfasst 

geben  und  umschlungen  —  un-  mich,  wenn  ich.  überzeugt  und 
vermögend,  aus  ihi-  herauszutre-  betroffen  von  tausend  Proben  die- 
ten,  und  unvermögend,  tiefer  in  ser  Art,  Natur!  in  deinen  heili- 
sie  hineinzukommen.  "Ungebeten  gen  Tempel  trete.  Kein  Geschöpf 
und  ungewarnt  nimmt  sie  uns  bist  du  vorbeigegangen:  du  teil- 
in   den    Kreislauf   ihres    Tanzes      fest  tiich  allem  in  deiner  Uuer- 


auf. 


Sie  liebt  sich  selber  und  haf- 


messlichkeit  mit  und  jeder  Punkt 
der  Erde  ist  Mittelpunkt  deines 
Kreises. 

Die    Schöpfung    ist    dazu   ge- 


tet  ewig  mit  Augen  und  Herzen     schaffen,     dass     sie    auf   jedem 

Punkte  genossen,  gefühlt,  ge- 
kostet werde;  es  mussten  also 
mancherlei  Organisation  sein, 
sie  überall  zu  fühlen  und  zu 
kosten  .  ,  . 

.  .  .  wenn  sie  von  Millionen 
Geschöpfen  auf  allen  ihren  Sei- 
ten durchgenossen,  durchempfun- 
den wird. 

Jedes  deiner  Werke  machtest 
du  yanz  und  Eins  und  sich  nur 


ohne  Zahl  an  sich  selbst, 
hat  sich  auseinandergesetzt,  um 
sich,  selbst  zu  geniessen.  Immer 
lässt  sie  neue  Geniesser  erwach- 
sen, unersättlich,  sich  mitzuteilen. 
Sie  freut  sich  .  .  . 


Jedes    ihrer    Werke    hat    ein 
eigenes   ^Vesen,   jede    ihrer   Er- 


aus. 


scheinungen  den   isolirtesten  Be-     selbst  gleich;  du  schufst  es  gleich- 
griff, und  (\nv\t  macht  Alles  Eins     sam  von  innen  heraus  .  . . 

Grosse  Mutter!  deine  Kraft  ist 

überall     ganz     und     unendlich; 

allenthalben    hast    du    compen- 

siret. 


Zu  Goetlies  Philosoiihie  der  Natur.  47 

Der  Aufsatz  Goethes  ist  im  „Tiefui-ter  Journal"  1782  er- 
schienen. Schon  (1.  7.  Dez.  1781  schreibt  Goethe  an  Frau  von  Stein. 
dass  er  einen  Roman  über  das  Weltall  durchgedacht  habe  und 
seiner  Freundin  diktieren  zu  können  wünsche.  Das  Fragment  ist 
augenscheinlich  im  Zusammenhang  dieser  Gedanken  entstanden. 
Herder  hat  nach  Haym  II.  S.  196  seit  dem  Frühjahr  1783  über 
den  Plan  seiner  Ideen  gegrübelt,  am  28.  August  83  war  es  zur  Er- 
neuerunu-  der  Freundschaft  zwischen  Goethe  und  Herder  am  Ge- 
burtstag  Goethes  und  Gottfried  Herders  gekommen.  In  den  ersten 
Tagen  des  Dezember  las  dann  Herder  die  ersten  Kapitel  des  be- 
gonnenen Werkes  vor.  So  rücken  die  verwandten  Stellen  Goethes 
und  Herders  auch  zeitlich  nahe  aneinander.  Man  könnte  denken, 
dass  Herder  das  ihm  natürlich  aus  dem  Tiefurter  Journal  bekannte 
Goethe'sche  Fragment  in  Erinnerung  gehabt,  als  er  schrieb.  So 
stimmt  der  hier  bemerkbare  Einfluss  Goethes  auf  Herders  Ideen 
wohl  überein  mit  einem  ausdrücklichen  Zeugnis  über  dies  sein 
Verhältnis  zu  Herders  Werk,  das  uns  bei  dem  allerdings  nicht 
immer  zuverlässigen  Falk  erhalten  ist.  „In  dem  ersten  Band  des 
Herderschen  A\'erks  sind  viele  Ideen,  die  mir  gehören;  diese 
Gegenstände  wurden  damals  von  uns  gemeinsam  durchgesprochen." 

Die  Anschauung,  welche  bei  Goethe  entschiedener,  bei  Herder 
hier  unbestimmter  auftritt,  ist  im  Gegensatz  zu  Spinozas  Trennung 
der  Eigenschaften  der  Natur,  sofern  sie  räumlich  ist  und  sofern  sie 
denkt,  eine  genetische  Auflassung  des  Naturzusammenhangs,  nach 
welcher  die  in  der  anorganischen  Xatur  unbewusst  wirkende  Bil- 
dungskraft sich  in  den  bewussten,  empfindenden  Organismen  „aus- 
einandergesetzt" hat,  „um  sich  selbst  zu  geniessen".  Die 
Natur  blickt  aus  den  Augen  der  Tiere  und  Menschen,  und  sie 
geniesst  sich  selbst  in  dem  Wechsel  der  Gefühle  derselben.  Eine 
solche  Betrachtungsweise  ist  in  Einklang  mit  Spinozas  Satz,  dass 
die  Natur  oder  Gott  oder  die  Substanz  in  den  mensclilichen  Geistern 
als  ihren  Teilen  sich  selber  erkennt  und  liebt.  Aber  der  Satz 
Spinozas  empfängt  bei  Goethe  einen  ästhetischen  Charakter.  Die 
Natur  wird  hier  in  ein  sich  selbst  geniessendes  einheitliches  Wesen 
verwandelt.  Die  ästhetische  Auffassung  betrachtet  die  Natur  als 
ein   sich   Genügsames,   in   sich   Ruhendes,   nus   seinen    unbewussten 


48  AVilliolm  Diltliey. 

Krärton  AVirkondos  und  fieuicsseiules.  Und  diese  jistlietiselie  .Xatiir- 
uuffassuiig  ist  hier  iu  diesem  Fragment  „Xatur"  /um  ersten  Mal 
diirehgeliilirt.  An  dem  empirischen  Material  geologischer  Beschäf- 
tigungen hat  dann  Goethe  bald  danach  deutlicher  aus  diesen  A'^or- 
aussetzungen  den  Gedanken  einer  Entwickelung  in  der  Natur  ab- 
geleitet, welche  von  dem  materiellen,  dunklen,  unbewussten  auf- 
wärtsfiihrt  zu  den  im  Licht  des  Bewusstseins  geniessendeu  Ge- 
schüpt'en. 


VIII. 

Die  Philosophie  in  Dänemark  im 
19.  Jahrhundert. 

Von 
Professor  Harald  Höft'diiig  iu  Kopenhagen. 

Das  geistige  Leben  hier  im  Norden  hat  sich  —  seit  der  Re- 
t'ormationszeit  —  in  genauem  Zusammenhange  mit  und  unter  star- 
kem Eintlusse  von  dem  deutschen  Geistesleben  entwickelt.  Dies 
gilt  besonders  in  philosophischer  Rücksicht.  Aus  Dänemark  ist 
kein  Denker  hervorgegangen,  welcher  einen  Wendepunkt  in  der 
Geschichte  des  philosophischen  Forschens  herbeigeführt  hätte.  Aber 
wie  auf  anderen  Gebieten  hat  man  auch  hierin  die  vom  Auslande 
kommenden  Strömungen  auf  eigentümliche  Weise  zu  assimiliren  und 
7Ai  verarbeiten  versucht.  Im  Anfange  dieses  Jahrhunderts  trat  bei  uns 
die  Philosophie  der  Romantik  auf  und  übte  einen  grossen,  Anfangs 
sogar  einen  ülterwältigenden  Eiulluss  auf  unser  ganzes  Geistesleben, 
besonders  auf  die  Poesie  und  die  Entwickelung  der  religiösen  Ideen 
aus.  Unsere  neuere  nationale  Literatur  wurde  durch  diese  Ein- 
wirkung und  die  dadurch  erweckte  frische  und  tiefe  Lebensautt'assuug 
hervorgerufen.  Die  Philosophie  Schellings  und  Hegels  übte  lange 
Zeit  eine  grosse  Herrschaft.  Aber  man  darf  behaupten,  dass  der 
der  dänischen  Geistesrichtung  eigentümliche  Sinn  für  die  reale 
Natur  und  die  psychologische  wie  geschichtliche  Wirklichkeit 
es  uns  möglich  machte,  dass  die  bedeutungsvollen  Ideen  jener 
Philosophie  unsere  Entwicklung  befruchten  konnten,  ohne  dass  wir 
uns  doch  in  abstrakte  und  hyperidealistische  Speculationen  ver- 
loren. —  In  den  letzten  Decennien  hat  sich  bei  uns  wie  in  Deutsch- 
land    die    kritische    Pliilosophie    wieder    hervorgonrbcitet.      Neben 

Arcliiv   f.   Cicscliiclitf   d.   l'lnli.s.,|)hM'.      II.  4 


50  Harald  Höffcling, 

deutscher  Einwirkuno;  cjelit  jetzt  ein  sehr  starker  Einfluss  von  Eng- 
liind  aus,  indem  die  jüngere  Generation  von  Stuart  ^liil.  Darwin 
und   IlerlMMt   Spencer  entscheidende  Impulse  empfangen  hat. 

T. 

Henrik  Steffens,  in  Norwegen  (1773)  geboren,  auf  väter- 
liclier  Seite  aus  Holstein,  auf  mütterlicher  aus  einem  altdäni- 
schen, bis  ins  Mittelalter  zurückgehenden  Geschlechte  stammend, 
ein  feuriger  Redner,  welcher  besonders  die  Gabe  besass  die  Eigen- 
tümlichkeit anderer  zu  erblicken  und  zu  erwecken,  führte  die 
Schellingsche  Philosophie  in  Dänemark  durch  die  in  der  dänischen 
Litteraturgeschichte  berühmten  Vorlesungen  ein.  welche  er  im 
November  1802  in  Kopenhagen  begann,  und  welche  im  folgenden 
Jahre  teilweise  gedruckt  wurden.  (Indledning  til  lilosotiske  Fore- 
loesninger  180.3).  Er  stellte  hier  die  naturphilosophischen  Gedanken 
(hir,  welche  er  früher  in  einer  deutschen  Schrift  (Beiträge  zur  Innern 
Naturgeschichte  der  Erde,  1801)  ausführlich  entwickelt  hatte;  aber 
er  behandelte  auch  Probleme,  welche  der  Aesthetik,  der  Religions- 
philosophie und  der  l'hilosophie  der  Geschichte  angehörten.  Es  war 
ja  eben  M>'  Aufgabe  der  Scliellingschen  Philosophie,  den  inneren  Zu- 
saniinenhang  oder  gar  die  Identität  aller  dieser  Probleme  zu  zeigen. 
Sie. machte  keinen  scharfen  Unterschied  zwischen  Geist  lukI  Natur, 
zwischen  dem  Revvussten  und  dem  Unbewussten,  zwischen  dem 
Gedanken  und  der  Phantasie,  zwischen  Gott  und  dem  Universum. 
Die  Natur  ist  eine  Stufenreihe,  innerhalb  welcher  das  geistige  Leben 
.sich  nach  und  nach  entwickelt.  In  allem  ist  eine  uml  dieselbe 
Eiidieit;  in  der  Welt  der  Natur  und  der  des  Geistes  regen  sich 
dieselben  Kräfte  und  dasselbe  Leben,  wenn  das  Auge  nur  aufgetan 
ist  sie  zu  erblicken.  Steffens  begann  darum  seine  Vorlesung  mit 
der  Erklärung,  dass  er  bei  seinen  Zuhörern  „den  inneren  Drang, 
(bis  eigentliche  ^Vesen  der  Dinge  zu  erkennen,  das  Rätsel  des 
Daseins  zu  lösen,  und  (he  innere  Anschauung,  welche  jeden  Teil 
zu  einem  Ganzen  zusammenfasst  und  das  absolute  Ganze  und  Eine 
als  das  Reale  setzt",  voraussetzte.  Er  appellirte  also  an  ein  höheres 
Organ,  eine  „intellektuelle  An.schauung".  Er  suchte  dann  die  Ein- 
heit in   der  Natui-  und   in  dei-  (ieschichte  aufzuzeigen.     Es  gilt  für 


Die  Philosophie  in  Däueraaik  im  19.  Jahrhundert.  51 

ilin  „die  Freiheit  der  Veruunft  in  der  Notwendigkeit  der  Natur,  die 
Notwendigkeit  der  Natur  in  der  Geschichte  7a\  erkennen".  iJie 
unorganische  ^^'^elt  erreicht  erst  in  der  organischen  ihr  eigenes 
Ziel,  und  innerhalb  dieser  entsteht  der  freie  Geist,  dessen  not- 
wendige Entwickelung  die  Geschichte  darbietet.  Durch  die  ganze 
Natur  ist  eine  individualisirende  Kraft  zu  spüren,  die  im  Menschen 
ihre  Vollendung  erreicht.  In  der  poetischen  Genialität  und  der 
religiösen  Begeisterung  haben  wir  die  höchsten  Offenbarungsformen 
der  grossen,  in  Allem  sich  regenden  Kraft  vor  uns.  Aber  dies  alles 
ist  nur  einer  höheren  Anschauung  zugänglich,  während  es  dem 
experimentellen  Forschen  und  dem  kritischen  Verstände  verborgen 
ist.  „Unsere  Wissenschaften  haben  uns  die  Natur  verschlossen!" 
Von  den  physischen  und  chemischen  Theorien  appellirt  Steffens 
kühn  an  „die  ewige  Natur  selbst".  Er  wollte  einen  Standpunkt 
einnehmen,  auf  welchem  sich  die  höcliste  Wissenschaft,  die  höchste 
Religiosität  und  die  höchste  Poesie  begegneten,  und  legte  einen 
gewaltigen  Protest  gegen  die  kritische,  analy.sirende  Tendenz  des 
IS.  Jahrhunderts  ein.  Als  lichter  Romantiker  pries  er  die  Urzeit, 
als  das  Geistesleben  noch  ungeteilt  war,  und  die  Menschen  der 
Natur  und  der  Gottheit  näher  standen.  „Ist  nicht  das  Schönste, 
Herrlichste,  was  unsere  Zeit  durchdringt,  der  Sinn  für  jene  alte, 
verschwundene?"  —  Diesen  Vorlesungen  verdanken  nach  ihren 
eigenen  Erklärungen  die  hervorragendsten  Führer  der  poetischen 
und  religiösen  Entwicklung  in  Dänemark,  Männer  wie  Oehlen- 
schhiger,  Grundtvig  und  Mynster,  ihre  erste  Anregung.  A^ielerlei 
Ideen  wurden  angeregt;  ein  reicher  Gährungsstoff  war  jetzt  vor- 
handen. Steffens  selbst  M'ar  es  nicht  vergönnt,  diese  Keime  zu 
pflegen;  die  Autoritäten  betrachteten  ihn  mit  Misstrauen ;  man  be- 
schuldigte ihn,  bald  dem  Atheismus,  bald  dem  Katholicismus  zu 
huldigen.  Er  war  auch  mehr  dazu  geeignet  die  Bewegung  hervor- 
zurufen als  sie  zu  leiten.  1804  ging  er  nach  Halle,  und  seine 
weitere  Entwicklung  gehört  der  deutschen  Literatur  an. 

Einem  klareren  und  besonneneren  Denker  war  es  vorbehalten,  das 
philosophische  Forschen  hier  in  Dänemark  weiter  zu  führen.  Im  Jahre 
1803  wurde  Niels  Treschow  (geb.  bei  Drammen  in  Norwegen  17')!. 

gest.  in    Kristiania  1833),    welcher    als    Rektor   in    Kristiania   eine 

4* 


52  Harald  HO  ff  ding,  | 

4 

Heihe    vortrelVlicher  Vorträge  über  die  Kantische  Philosophie  ge^ 
halten   hatte,   als   Professor   der  Philosophie   an    die  Universität   in 
Kopenhagen  berufen,   und  er  libte  hier  in  den  zehn  Jahren  seiner 
AMrksanikeit  (bis  er  nach  der  neuen  Universität  in  Kristiania  ging) 
einen  sehr  grossen  Eintluss  nicht  nur  auf  die  Studirenden,  sondern 
auch    durch    seine    AOrlesungen  auf  weitere   Kreiso   aus.      Erst   als 
reifer  und   in   der  lMiiloso[)hie  d(}s  l>^.  Jahrhunderts  wohl  bewander- 
ter .Mann  wurde  Treschow  mit   der   neuen    spekulativen  Lehre  be- 
kainit.     Va-  stellte  sich   ihr  kritisch  prüfend  gegenüber,  indem  sein 
lebhafter   und    kühner  (ieist    ihr   nur   dasjenige  entnahm,    was  ihm 
brauchbar  und  lierechtigt  erschien,    in  seiner  Selbstbiographie  gibt 
er  seine   Stcdbnm   sd-an:    „Ohne   Anhänger   entweder   der   älteren, 
vorkjuitischeu   «»der  ih'r    neuesten   Philosophie   zu   sein,    behielt  ich 
aus    jener   die  Lust   zur  Klarheit  der  Pegritte  und  zur  Genauigkeit 
in   der   Gethmkenentwickelung;    von   dieser   wurde   ich  auf  das  In- 
konsequente Acs  gewöhnlichen  Dualismus   und   auf  die  Notwendig- 
keit,   alles  )\'irkliche   und   Mögliche   aus    einem    Principe   zu  ent- 
wickeln, aufmerksam  gemacht."    Der  Unterschied  zwischen  Treschow 
und   den   sjiekulativen  Philosophen    ist  clor,  dass  während  diese  im 
Gedanken  in  der  Einheit  des  Daseins  schwelgen    und  sich  dadurch 
der  Mystik  nähern,  liii-  ihn  dieser  (iedanke  eine  Voraussetzung  ist. 
auf  welcher  unsere  Eorschung  beruht,  wenn  sie  den  Zusammenhang 
der  Dinge  sucht,     ^\'eil  die  Erfahrung  selbst  dieses  Suchen  immer 
wieder  erweckt,  muss  jener  (Jedanke  mehr  als  eine  Idos  subjective 
und    menschliche    Voraussetzung    sein.      Durch    diese    Begründung 
des  Einheitsgedankens  steht   Treschow    der    Erfahrungswissenschaft 
näher  als  Schelling  und  Steffens.  —  Seine  bedeutendsten  Schriften 
sind:    „Elementer    til    Ilistoriens    Filosoli"    (1811)    und    „<)m    den 
menneskelige  Natur''  (1812),  welche  den   psychologischen  und  histo- 
rischen Sinn    (h's  Verfassers   zeigen    und  die    noch  jetzt  nicht  ohne 
Interesse  sind. 

Tresclittw  huldigt  der  Identitätshypothese,  nach  welcher  Geist 
und  Kiirper  mir  verschiedene  Seiten  eines  Dinges  sind,  indem 
dieses  sich  dem  inneren  Sinne  anders  als  den  äusseren  Sinnen  dar- 
stellt. Peidcn  liegt  nur  ein  l'i-in<'i|)  /.u  (irnnde.  „welches  zu  er- 
kennen   wol   schwierig,    ;dier   vielleicht   nicht    unmöglich    ist".      Es 


Die  Philosophie  in  Dänemark  im  ID.  Jahrhundert.  53 

gibt  kein  Kaiisalverhjilliiis.s  zwischen  Empfinfhino-  und  Bewegung; 
Bewegung  kann  nur  Bewegung,  Emplindung  nur  Empfindung  hervor- 
bringen. Aber  jede  Bewegung  ist  mit  einer  entsprechenden  Empfin- 
dung, jede  Empfindung  mit  einer  Bewegung  verbunden.  Die  all- 
gemeine Materie  ist  der  sichtbare  Gott,  eine  Offenbarung  des  höch- 
sten Wesens;  die  Kriilte  der  Natur  sind  von  der  Kraft  der  Gottheit 
nicht  verschieden.  —  J)ie  Klarheit,  mit  welcher  Treschow  die 
Identitätshypothese  aufstellt,  die  seine  Lehre  vor  der  Schelling- 
Heoelschen  auszeichnet,  wird  doch  durch  seinen  A'italismus  einiger- 
massen  gestört.  Die  Seele  ist  nach  ihm  mit  der  „Lebenskraft" 
eins,  und  wirkt  als  solche  auch  in  den  körperlichen  Funktionen. 
Dieser  mythologische  BegrilV,  welchen  er  mit  der  Physiologie  seiner 
Zeit  teilt,  macht  es  ihm  nur  anscheinend  leichter  das  Problem 
zu  lösen. 

Durch  die  ganze  Natur  und  Geschichte  nimmt  Treschow 
eine  kontinuirliche  Entwickelung  an.  „Von  Stoffen,  welche  roh 
zu  .sein  .scheinen,  weil  man  noch  keine  Form  in  ihnen  entdeckt, 
vollzieht  sich  ein  allmählicher  Uebergang  zu  bestimmteren  Gestalten, 
deren  Reihenfolge  nur  in  allgemeinen  Zügen  angegeben  werden 
kann.  Durch  scharf  bezeichnete  Grenzen  sind  sie  nicht  zu  unter- 
scheiden, weil  der  Gang  der  Natur  in  den  Abweichungen  oder 
Ausartungen,  durch  welche  die  früheren  Geschlechter  und  Arten 
in  ganz  neue  verwandelt  werden,  nicht  blus  kriechend  ist,  sondern 
so  langsam,  dass  weder  Erfahrung  noch  Geschichte  uns  befähigen, 
seinen  beinahe  unmerklichen  Spuren  zu  folgen."  Alles  Lebendige 
hat  dieselbe  AVurzel.  ^^'enn  wir  hinlänglich  zurückgehen,  kommen 
wir  zu  einer  Stufe,  „wo  das  moralische  Wesen  kaum  vom  physi- 
schen zu  unterscheiden  war,  —  wo  der  Mensch  noch  nicht  Mensch 
war".  Nun  zeigt  uns  die  Geologie,  dass  es  Wasserthiere  gab,  noch 
ehe  das  feste  Land  seine  Einwohner  bekam.  Auch  der  Mensch 
muss  also  Wasserthiere  unter  seinen  Ahnen  haben.  Wir  haben 
uns  dieses  Ursprungs  nicht  zu  schämen.  Ist  ja  doch  jedes  Indivi- 
duum noch  immer  in  seinem  Anfang  ein  Wesen,  das  tief  unter 
vielen  Thieren,  ja  PHanzen  steht.  Die  Geschichte  des  Individuums 
und  des  Geschlechts  bietet  dieselben  Grundziige.  —  Treschow  be- 
wundert   also   nicht,    wie  die  Romantiker,    die    Urzeit.     Für    ihn 


54  Harald  Höffding, 

streitet  es  gegen  die  allgemeinen  Gesetze  der  Entwickelung,  dass 
die  ersten  Menschen  Genien  oder  Götter  gewesen  sein  sollten, 
und  nicht  Jnstinktwescn,  welche  erst  durch  einen  langen  und  müh- 
samen Entwickelungsgang  Vernunftwesen  werden  konnten.  Er 
nimmt  bei  allen  lebendigen  Wesen  einen  Entwickelungstrieb  an, 
welcher  besonders  als  ein  Trieb  nach  Selbstwirksarakeit  hervor- 
tritt. Im  Menschen  geht  dieser  Trieb  endlich  darauf  aus.  nach 
Vernunftideen  selbstwirksam  zu  sein.  —  Diese  Lehre  stärkt  nach 
Treschow  unsere  Hoffnung  und  unsere  Geduld.  Sie  macht  die 
Menschheit  gross  und  heilig  in  unseren  Augen,  indem  wir  sehen, 
dass  an  ihrer  Vollkommenheit  seit  Jahrtausenden  gearbeitet  wurde 
und  noch  immer  gearbeitet  wird. 

Jn  seiner  Schrift  „Ueber  die  menschliche  Natur,  besonders  von 
der  geistigen  Seite"  gibt  Treschow  eine  klare  und  gesunde  Dar- 
stellung der  psychologischen  Hauptphänomene  und  Gesetze.  Sie  zer- 
fällt in  drei  Abschnitte:  1.  Ueber  das  Vorstellungsvermögen  (hier- 
unter: über  die  Empfindungen,  üi)cr  die  Reproduktion  und  die 
Association,  über  die  Denkkraft).  2.  Ueber  das  Gefühlsvermögen. 
3.  Ueber  den  Willen.  (Hierunter  auch  über  Triebe  und  Neigun- 
gen, über  Gewohnheiten  und  Fertigkeiten,  über  Leidenschaften  und 
Affekte.)  —  Obgleich  Treschow  nicht  wenig  \un  der  vorkantischen 
Autfassung  lieeinilusst  ist,  weist  er  doch  entschieden  die  lichre 
I^eibniz's  von  den  Gefühlen  als  verworrenen  Vorstellungen  ab.  Diese 
Lehre  gründet  sich,  wie  er  zu  zeigen  sucht,  auf  eine  unvullstän- 
disfe  Induktion.  —  Im  Einzelnen  finden  sich  bei  Treschow  sehr  viele 
feine  und  trelfendc  Bemerkungen  und  Analysen.  \'on  älteren 
Autoren  scheint  ihn  l)esonders  Tetens  (welcher  ja  ein  geborener 
Däne  war)  beeinüusst  zu  haben. 

Die  spätere  Wirksamkeit  Treschow's,  nach  seiner  Rückkehr 
nach  Kristiania,  war  besonders  der  Religionsphilosophie  gewidmet. 
Er  gab  eine  platonisirende  „Ghristenthumsphilosophie"  heraus. 
Al>er  seine  AVirksamkeit  in  Kopenhagen  hatte  doch  die  Bedeutung, 
dass  die  Philosophie  bei  uns  \on  dem  Evangelium  der  Romantik 
sich  entfernte,  und  dass  naturwissenschaftliche,  psychologische  und 
historische  Studien  als  Grundlagen  der  Philosophie  behauptet 
wurden. 


Die  Philosophie  in  Dänemark  im  19.  Jahrhundert.  55 

Auch  von  der  religiösen  Seite  lier  erhob  man  der  romantischen 
Schule  gegenüber  ernste  Bedenken,  unter  den  von  Steffens  be- 
eintlussten  Männern  habe  ich  oben  auch  N.  F.  S.  Grundtrig  ge- 
nannt, den  grossen  Dichter  und  eifrigen  Vorkämpfer  für  Orthodoxie, 
Nationalität  und  volkstümliche  Erziehung,  dem  unser  ganzes  Volks- 
leben ausserordentlich  viel  verdankt.  Philosophisches  Studium  und 
Denken  hat  in  die  Entwickelung  dieses  mächtigen  Geistes  stark 
hineingegriffen.  Es  gab  eine  Zeit,  wo  er,  seiner  eigenen  Aussage 
nach,  „mit  Fichte,  Schiller  und  Schelling  über  die  Rätsel  des  Le- 
bens sann".  Besonders  hat  Fichte  einen  grossen  Eintluss  auf  ihn 
gehabt,  einen  grösseren  vielleicht,  als  er  sich  klar  bewusst  war, 
obgleich  er  ihn  immer  hoch  verehrte  und  ihm,  selbst  nachdem  er 
seinerseits  der  weltlichen  Wissenschaft  den  Rücken  gekehrt  hatte, 
durch  ein  Gedicht  ein  schönes  Denkmal  nach  seinem  Tode  setzte. 
Nicht  nur  wirkten  die  ideale  Begeisterung  und  der  ethische  Ernst 
Fichte's  tief  auf  Grundtrig  ein,  sondern  viele  der  historischen  und 
pädagogischen  Ideen  des  deutscheu  Philosophen  (besonders  die- 
jenigen, welche  er  in  den  „Grundzügen  des  gegenwärtigen  Zeit- 
alters" und  den  „Reden  an  die  deutsche  Nation"  entwickelte)  findet 
man  in  den  Anschauungen  des  dänischen  Dichtertheologen  wieder. 
Der  Kampf  gegen  die  geistlose  Gelehrsamkeit  und  das  blosse  Auf- 
sammeln von  Stoff",  die  Polemik  gegen  den  allzu  grossen  Raum, 
den  in  neuerer  Zeit  das  geschriebene  („todte")  Wort  auf  Kosten 
des  mündlichen  („lebendigen")  einnimmt,  die  Arbeit  für  eine 
nationale  und  volkstümliche  Erziehung,  welche  die  ursprüng- 
lichen Vermögen  des  Individuums  und  des  Volks  sich  frei  ent- 
falten lässt  und  das  Volk  nicht  in  verschiedene  Klassen  zerspaltet, 
—  alles  dies  kann  Punkt  für  Punkt  in  Fichtes  Schriften  nach- 
gewiesen werden  und  gibt  ein  lehrreiches  Beispiel  davon  ab,  wie 
Gedanken  in  einem  ganz  andern  Boden  als  demjenigen,  in  welchem 
sie  zuerst  hervorgesprossen  sind,  wurzeln  und  Früchte  tragen  können. 
Unsere  vorwiegend  „nationale"  Richtung  in  Schule  und  Leben  ver- 
dankt der  deutschen  Philosophie  einige  ihrer  bedeutendsten  Ideen. 
Auch  vonSchelling  wurde  Grundtrig  stark  beeinflusst.  DieSchellingsche 
Philosophie  zeigte  ihm  die  ganze  Natur  und  die  Geschichte  als  ein 
grosses  Weltdrama,  \velches  die  Poesie,  die  Religion  und  die  "Wissen- 


56  Ilarald  Hoff  ding, 

schart,  jede  auf  ihre  Weise,  darzustellen  suchen.  Als  aber  che  Zeit 
für  Grundtrig  kam,  da  sein  gährcnder  Geist  in  dem  „alten,  ein- 
fältigen Glauben"  Ruhe  fand,  musste  er  an  einer  Lehre  Anstuss 
nehmen,  nach  welcher  Gott  nicht  ist,  sondern  sich  ewig  durch  das 
AVeltleben  entwickelt,  und  für  welche  das  christliche  Dogma  von 
der  leidenden  Gottheit,  welche  die  Sünde  durch  ihren  Tod  sühnt, 
nur  ein  grosses  Symbol  der  durch  Leiden  und  Kämpfe  fortschrei- 
tenden Weltentwicklung  ist.  Er  schrieb  dann  (1815),  als  Antwort 
auf  einen  Angriff  des  Physikers  IL  B.  Oersted,  eine  Streitschrift,  in 
der  er  beweisen  Avollte,  „dass  Schelling's  Philosophie  unchristlich, 
gottlos  und  lügenhaft  ist".  —  An  die  Philosophie  der  Romantik 
erinnert  doch  auch  später  die  Stellung  Grundtrig's  und  vieler  seiner 
Anhänger  der  experimentellen  und  kritischen  Wissenschaft  gegen- 
über. Er  gab  eigentlich  niemals  die  Ansicht  auf,  welche  ihn  in  der 
genannten  Schrift  aussprechen  Hess,  dass  „das  leidenschaftliche 
Studium  und  die  hohe  Werthschät/AUig  der  Physik,  besonders 
der  experimentellen,  auf  Mechanik  gegründeten,  ein  Zeichen  des 
nahen  Todes  der  Wissenschaftlichkeit  ist".  Sein  Begriff  von 
Wissenschaft  trug,  wie  seine  ganze  Lebeusauschauung.  fortwährend 
das  Gepräge  der  Romantik.  Die  geistigen  Visionen  mit  ihrer  Ge- 
nialität und  ilirem  Irrtum  waren  bei  ihm  immer  stärker  als  die 
[irüfende  Kritik.  Der  Sinn  für  die  ideale  Bedeutung  der  Erschei- 
nungen wurde  nicht  mit  Interesse  für  ihren  realen  Zusammenhang 
vereint.  Hierin  liegt  die  Begrenzung  des  an  und  für  sich  frucht- 
baren Einflusses  des  grossen  Mannes  auf  das  Geistesleben  unseres 
Volkes,  eine  Begrenzung,  welche  zum  Teil  der  Zeit  zu  verdanken 
ist,  innerhalb  welcher  seine  Lehrjahre  Helen.  — 

Der  Gegner  Grundtrig's,  Hans  Christian  Oersted,  der  be- 
ridimte  Physiker,  Entdecker  des  Elektromagnetismus,  war  zuerst  in 
seiner  allgemeinen  jSaturauffassung  ein  Schüler  Schelling's.  Selbst 
später,  als  er  mit  nüchternen  Augen  auf  die  spekulative  ^Natur- 
philosophie zurücksah,  behauptete  er,  dass  „die  grosse  Bewegung, 
welche  geistreiche  ^länner  am  Anfang  des  Jahrhunderts  in  Rück- 
sicht auf  die  wissenschaftliche  Auffa.ssung  hervorgerufen  hatten. 
einen  wichtigen  Einfluss  auf  die  iS'aturforscher  Deutschlands  und  dos 
Nordens  gehabt  hat  und  auch  nicht  ohne  Einfluss  auf  den  wissen- 


Die   Philosophie  in  Dänemark  im  19.  Jahrhundert.  57 

schaftlichen  Geist  in  der  übrigen  Welt  geblieben  ist".  Die  Idee 
der  Einheit  der  Naturkräfte,  welche  die  Schellingsche  Philo- 
sophie behauptete,  hat  gewiss  auch  bei  den  Untersuchungen  mit- 
gewirkt, welche  zu  seiner  lierühmten  Entdeckung  Anlass  gaben.  — 
Er  sonderte  später  bestimmt  zwischen  Spekulation  und  Erfahrung 
und  erklärte,  dass  es  eben  für  den,  welcher  die  Ueberzeugung  hat, 
dass  eine  Grundeinheit  die  ganze  Natur  durchdringt,  doppelt  not- 
wendio-  wird,  seinen  Blick  auf  die  AVolt  des  Mannigfaltigen  zu 
richten,  innerhalb  welcher  diese  Wahrheit  erst  seine  Bestätigung 
finden  kann.  Tnd  er  meinte,  dass  sich  eben  aus  einer  gründlichen 
Naturforschung  eine  tiefere  Philosophie  entwickeln  würde,  als  die- 
jenige ist.  welche  sicii  in  den  meisten  philosophischen  Systemen  findet, 
und  eine  echtere  Poesie  als  diejenige,  welche  sich  in  den  meisten 
Dichtungen  lindet,  ja  dass  auch  die  religiösen  Anschauungen  da- 
durch berichtigt  werden  könnten. 

In  „Aanden  i  Naturen"  (1849—50),  eins  der  bedeutendsten 
Werke  unserer  Literatur  (welches  auch  in  deutscher  Üebersetzung: 
„Der  Geist  in  der  Natur"  vorliegt),  sammelte  Oer.sted  eine  Reihe 
von  Abhandlungen,  welche  zu  sehr  verschiedenen  Zeiten  verfasst 
sind,  aber  vereint  ein  klares  und  schönes  Bild  seiner  Welt- 
anschauung geben.  Sein  Hauptgedanke  ist,  dass  dasjenige  in  der 
Natur,  welches  sich  bei  der  ununterbrochenen  Veränderung  erhält, 
die  Kräfte  sind,  welche  zuletzt  zu  einer  Grundkraft  zurückführen, 
und  die  Gesetze,  welche  sich  zuletzt  als  eine  die  ganze  Natur 
durchdringende  Allvernunft  zeigen.  Die  körperliche  Wirklichkeit 
ist  nicht  die  wahre;  die  Körper  sind  nur  Aeusserungen  leben- 
diger Wirksamkeiten.  Körper  und  Geist  sind  unzertrennlich  in 
einem  Princip  verbunden.  Im  Denken  erwacht  die  schaftende 
Natur  zum  Bewusstsein  in  uns;  daher  sind  wir  fähig,  die  Natur 
zu  verstehen.  ZAvischen  Gottes  Willen,  der  nicht  als  dem  mensch- 
lichen ähnlich  gedacht  werden  muss,  und  dem  Wesen  der  Natur, 
kann  kein  Streit  sein,  weil  beide  eins  sind.  — 

Auch  auf  specielleren  Gebieten  hat  Oersted  interessante  Ge- 
sichtspunkte entwickelt.  So  z.  B.  in  seinen  „To  Kapiter  af  dch 
Skönnes  Naturlaere"  (1845).  (Auch  in  deutscher  Üebersetzung: 
Naturlehre  des  Schönen.)  — 


I 


58  Harald  Höffding-, 


Treschow's  Nachlolger  als  Piolessor  der  Philosophie  in  Kopen- 
hagen ^val•  Freclerik  Christian  Sibbern  (1785—1872).  Er  ^ 
wurde  in  seiner  Jugend  von  der  Romantik  und  ihrer  Philosophie  !,! 
stark  ergritten.  In  ihnen  fand  er  Nahrung  für  Herz  und  Geist. 
Er  war  eine  dichterische  Natur,  und  hat  für  die  Gährung  seiner 
Jugend  in  den  „Briefen  Gabrielis'"  einen  poetischen  Ausdruck  ge- 
sucht. Seine  Lehre  ist  eine  der  gesündesten  Formen,  in  welchen  1: 
die  deutsche  Philosophie  auf  das  dänische  Geistesleben  Einduss  ge- 
wonnen hat.  Sein  Sinn  für  das  Konkrete,  sein  Beobachtungsinter- 
esse und  seine  warme  Sympathie  für  das  individuelle  Leben  be- 
wirkten, dass  er  kein  Anhänger  des  abstrakten  und  apriorischen 
Deducirens  und  Konstruirens  werden  konnte.  Nach  seiner  Ueber- 
zeugung  musste  die  Philosophie  immer  von  einem  gegebenen  In- 
halt ausgehen,  und  erst  durch  die  Bearbeitung  dieses  Inhalts 
konnten  die  höchsten  Ideen  gewonnen  werden.  Die  Philosophie 
muss  explikativ  sein,  ehe  sie  spekulativ  werden  kann:  und 
die  spekulative  Erkenntniss  muss  selbst  wieder  durch  beständige 
„Konferenz"  mit  dem  wirklich  Gegebenen  bestätigt  werden. 
Wenn  die  Ideen,  die  uns  die  Welt  verständlich  machen,  sich  uns 
bei  unserer  Bearbeitung  der  gegebenen  Erfahrungen  kundgeben,  so  ist 
dies  nach  Sibbern  (welcher  hier  seiner  Erkenntnisslehrc  einen  meta- 
physischen Hintergrund  gibt)  dadurch  möglich,  (hiss  wir  selbst 
Glieder  des  AVeltzusammenhangs  sind,  und  dass  das  innerste  ^^'esen 
der  Welt  sich  auch  in  uns  regt.  Dass  aber  eine  absolute  Erkennt- 
niss nicht  erreicht  werden  kann,  ist  in  der  sporadischen  Entwicke- 
lungswcisc  der  Welt  begründet,  in  grosser  Mannigfaltigkeit,  in 
vielen  einzelnen  Erscheinungen  auf  einmal  erscheint  uns  die  Welt, 
und  es  ist  eine  unendliche  Aufgabe,  das  gemeinsame  Centrum  der 
verschiedenen  Entwickelungsreihen  zu  bestimmen.  (Vergl.  die 
Schrift  von  Sibbern  „über  den  BegriiV,  die  Natur  und  das  Wesen  , 
der  Philosophie"  1843.) 

Seine  allgemeine  AVeltanschauung  hat  Sibbern  besonders  in 
seiner  „Spekulativen  Kosmologie"  (1846)  dargelegt.  Alles  Entstehen 
und  .dies  Werden  wird  durch  zwei  Faktoren  möglich:  der  eine  ist  die 
in  Allem  wirkende  Ordnung,  der  andere  ist  etwas  bestimmt  Ge- 
gebenes, welches  mit  sich  Jiihrt,  dass  in  jedem  einzelnen  Falle  jener 


Die  Philosophie  in  Dänemark  im   10.  Jahrhundert.  59 

Ordnung  gemäss  eben  diese  bestimmte  Erscheinung  und  keine  an- 
dere entsteht.  Es  gibt  immer  verschiedene  Ausgangspunkte,  aus 
welchen  die  Processe  der  Natur  ihren  Lauf  nehmen.  Diese  Aus- 
gangspunkte stehen  in  gegenseitiger  Wechselwirkung,  so  dass  sie 
nicht  nur  Aktiouspunkte,  sondern  auch  Heaktionspunkte  sind.  Da- 
her erscheint  uns  die  Natur  als  ein  grosser  Wechselwirkungspro- 
cess,  eine  grosse  „Debatte,  ein  Kampf  von  allem  gegen  alles",  und 
erst  durch  diese  grosse  Weltdebatte  entfaltet  das  Dasein  seine 
ganze  Fülle.  —  Sibbern  tritt  durch  diese  Auflassung  in  bestimmtem 
Gegensatz  zu  Hegel  und  der  deutschen  Schule,  denen  er  vorwirft, 
dass  sie  keine  wirklich  historische  Auflassung  des  Daseins  be- 
gründen können.  Historische  Entwickelung  setzt  gesonderte  Aus- 
gangspunkte in  gegenseitiger  Wechselwirkung  voraus.  Die  Ent- 
wickelung geht  darauf  aus,  Harmonie  zwischen  den  sporadisch  ein- 
geleiteten Processen,  Ordnung  in  das  Chaos  zu  bringen.  Beim 
Krystallisationsprocesse  z.  B.  (wie  wenn  das  Wasser  friert)  entstehen 
die  Nadeln  an  vielen  verschiedenen  Punkten,  aber  schliessen  sich 
nach  und  nach  zusammen  und  bilden  einen  k(»mpakten  Zusammen- 
hang. Einen  ähnlichen  Verlauf  finden  wir  bei  der  Entwickelung 
des  Foetus,  bei  der  Bildung  eines  Staates.  Und  wenn  wir  zum 
Ursprünge  der  Erde  und  des  ganzen  Planetensystemes  zurückgehen. 
muss  jede  Partikel  des  Urnebels  Ausgangspunkt  für  Anziehung  und 
Abstossung  gewesen  sein;  durch  die  so  hervorgebrachten  unendlich 
mannigfaltigen  AVechselwirkungen  entstand  die  jetzige  Form  der 
Himmelskörper.  Innerhalb  dieses  grossen  Entwickelungsprocesses  ist 
das  Entstehen  des  Menschen  aus  den  langen  Reihen  früherer  orga- 
nischer Vorfahren  eine  einzelne  Episode. 

Trotz  der  sporadischen  Ausgangspunkte  vollzieht  sich  nach 
Sibbern  ein  kontinuirlicher  Fortgang  zu  grösserer  Harmonie  und 
höheren  Lebensformen.  Aber  wie  der  Foetus  auf  gewissen  Stadien 
seiner  Entwickelung  dem  unkundigen  Beobachter  eine  Missgestalt  zu 
sein  scheint,  kann  auch  bisweilen  die  Entwickelung  der  Welt  in 
eine  ganz  andere  Richtung  als  die  nach  grösserer  Vollkommenheit 
zu  gehen  scheinen.  Dies  sind  doch  nur  Krümmungen  des  Weges, 
welche  die  immer  wachsende  Harmonie  zwischen  dem  Einheitsgrunde 
des  Daseins   und  den  mannigfaltigen  Ausgangspunkten  nicht  aus- 


60 


Hai-iild   Ilöffdins:, 


schliessen.  —  Die  Weltentwickclung  ist  ewig,  weil  eine  unendliche 
Inhaltsfiillo  (liuch  sie  realisirt  werden  soll.  —  Die  "Welt  ist  als  eine 
wi'üsse  Individualität  zu  hctrachten.  deren  Cenlrum  die  fJottlieit 
ist.  Die  Mannigfaltigkeit  der  Elemente  (der  sporadi.schen  Ausgangs- 
ininkte)  ist  die  „Weltseite"  des  Daseins;  das  Einlieitsprincip,  welches 
sich  in  der  Weltordnung  kundgiebt,  i.st  die  „Gotte.sseite"  des  Daseins. 
Obgleich  Sibbern  sich  so  dem  Pantheismus  nähert,  betrachtet  er 
doch  den  innersten  Grund  des  Daseins  als  ein  persönliches  Wesen. 

Während  Sibbern  in  seiner  Jugend  der  Kirchenlchrc  sehr  nahe 
stand  und  gegen  den  Kationalismus  kämpfte,  konnte  er  der  immer 
mehr  zugespitzten  Orthodoxie  nicht  folgen.  Es  bildete  sich  bei  ihm 
ein  freier  religiöser  Standpunkt  aus,  den  er  in  seinen  späteren 
Schriften  (besonders  in  rniversitätsprogrammen  aus  den  Jahren 
1846—1849)  ausgesprochen  hat.  Er  betonte  jetzt  die  rein  humane 
Seite  des  Christenthums  und  wandte  seine  Theorie  der  sporadischen 
Entwickelung  auch  auf  das  religiöse  Eel)en  an:  dieses  entwickelt 
sich  durch  Wechselwirkung  verschiedener  Richtungen  und  Persön- 
lichkeiten und  ist  nur  wahr  und  gesund,  wenn  jedes  Individuum 
nur  dasjeniue  sucht,  was  ihm  zur  Förderung  seines  geistigen  Wuhles 
dienen  kann.  Gegen  den  Versuch  der  Kirche  alle  religiöse  \  or- 
stellungen  nach  einem  Muster  zu  formen  tritt  Siidiern  sehr  be- 
stimmt auf.  Sein  Standpunkt  ist  hier  Subjektivismus,  aber  durch 
den  festen  Glauben  an  das  in  allen  Subjekten  sich  regende  uni- 
verselle Iiel)en  Itegriindet.  — 

Von  einzelnen  Disciplinen  hat  Sibbern  sich  besonders  mit  der 
Psychologie  beschäftigt.  Er  brachte  liierzu  in  mehrfacher  Richtung 
glückliche  Voraussetzungen  mit:  einen  frischen  und  lel)endigen 
Natursinn,  gutes  Jicobachtungsvermögen,  besonders  für  die  Er- 
scheinungen dvs  Gefühls-  und  Triel)lebens,  und  nicht  geringe  Ein- 
sichten  in  Naturwissenschaft  und  Physiologie.  Seine  psychologischen 
Arbeiten  (deren  älteste  1819  erschien)  leiden  teils  unter  dem 
herrschenden  teleologischen  ^'italismus,  teils  —  l)esonders  in  den 
späteren  Ausgaben  —  unter  einem  Hange  zum  Rubriciren  und 
Katalogisiren,  welcher  zu  seiner  grossen  und  warmen  Sympathie  für 
die  seelischen  Lebensäusserujigen  in  einem  eigentümlichen  Gegen- 
satz steht.     Die    besten  Abschnitte  seiner  psychologischen   Werke 


Die  Philosophie  in  Dänemark  im  19.  Jahrhundert.  61 

.sind  diejenigen,  welche  das  Gefühlsleben  behandeln.  Besonders  die 
Bedeutung  der  Kontrast-  und  Mischungsverhältnisse  auf  diesem 
Gebiete  hat  er  in  grossen  Zügen  klar  hervorgehoben.  —  In 
seinem  Buche  „Om  Forholdet  mellun  Sjael  og  Legeme"  (1849) 
[üeber  das  Verhiiltniss  zwischen  Seele  und  Körper]  erklärt  er  sich 
gegen  jede  dualistische  Auflassung  und  legt  die  Theorie  zu  Grunde, 
dass  das  Leben  als  Bewusstseinslebcn  und  als  materielles  Leben 
luir  ein  Leben  ist.  „Die  körperliche  Wirksamkeit  und  die  Geistes- 
wirksamkeit sind  wesentlich  zusammenhängende  koordinirte  Wir- 
kungen einer  gemeinsamen,  gleichzeitig  in  beiden  wirkenden 
Irsache."  Er  weist  die  spiritualistische  Lehre  von  der  Seele  als 
einer  Substanz  oder  eines  für  sich  bestehenden  AVesens  entschieden 
ab:  „Seele  ist  nur  seelisches  Leben."  —  Wie  bei  Treschow  hat 
auc'li  bei  Sibbern  die  Identitätshypothese  noch  nicht  jene  Klarheit 
und  Nothwendigkeit,  welche  zuerst  Fechner  ihr  gegeben  hat,  indem 
er  sie  nur  als  nothwendige  Konsequenz  des  Gesetzes  der  physischen 
Enei'gie  darstellte.  — 

Sibbern  hatte  ein  grosses  Interesse  für  alle  Seiten  des  Lebens. 
!Xicht  nur  an  der  religiösen,  auch  an  der  politischen  Debatte  nahm 
er  eifrigen  Anteil.  In  allen  Stadien  unserer  inneren  politischen  Ent- 
wickelung  von  1830 — 1870  hat  er  durch  Brochuren  und  Abhand- 
handluugen  seine  oft  sehr  gründlichen  und  originellen  Beiträge  zu  den 
brennenden  Fragen  gegeben.  Er  ging  aber  immer  seinen  eigenen 
Weg,  und  seine  unbeholfene  Darstellungsart  nebst  seinen  vielen 
Idiosynkrasien  hinderten  ihn  hier  —  wie  auch  auf  anderen  Ge- 
bieten —  daran,  einen  solchen  Eiutluss  zu  ülten,  wie  seine  Ideen 
und  sein  warmes  Herz  es  an  und  für  sich  verdienten.  —  In  seinen 
letzten  Jahren  beschäftigte  er  sich  viel  mit  der  socialen  Frage,  welche 
er  schon  1849  als  weit  wichtiger  als  die  konstitutionelle  bezeich- 
nete und  schrieb  u.  a.  eine  Utopie  von  einem  kommunistischen 
Zukunftsstaate,  die  er  in  tler  Form  von  „Mitteilungen  aus  einer 
Schrift  aus  dem  Jahre  2135"  herausgab.  — 

Alles  in  Allem  eine  der  originellsten  Persönlichkeiten,  welche 
das  dänische  Geistesleben  in  diesem  Jahrhundert  aufzuzeigen  hat.  — 

l  nter  den  öft'entlichen  Diskussionen,  an  welchen  Sibbern  Teil 
nahm,    war   auch   der    interes.saute   Streit,    welcher  in    den  Jaliren 


62  Harald   Uö  f  f.lin  g. 

3824 — 1825  in  unserer  Literatur  ül)er  die  Freiheit  des  menschlichen 
Willens  geführt  wurde.  Er  begann  mit  einer  Meinungsverschieden- 
heit zwischen  Aerzten  und  Juristen  darüber,  ob  es  —  wie  diese 
l)ehaupteten  —  eine  scharfe  Grenze  zwischen  Wahnsinn  und  nor- 
maler menschlicher  Vernunft  gäbe,  oder  ob  —  wie  jene  behaupteten 
—  Uebergänge  und  Zvvischensjrade  vorhanden  seien.  In  einer  scharf- 
sinnigen  und  interessanten  Schrift  „Om  Afsindighed  und  Tilregnelse, 
et  Bidrag  til  Psykologien  og  Retslaeren"  (1824)  [Ueber  Wahnsinn  und 
Zurechnung,  ein  Beitrag  zur  Psychologie  und  Rechtslehre]  unternahm 
F.  G.  Howitz,  Professor  der  Medicin  an  der  Universität,  eine  tiefer- 
gehende Untersuchung  der  Begriffe  von  Freiheit  und  Zurechnung. 
In  philosophischer  Hinsicht  ist  er  am  meisten  von  Spinoza 
und  Ilume  beeinfiusst.  Er  fordert  eine  rein  psychologische  und 
physiologische  Betrachtung  des  menschlichen  Willenslebens  und 
sucht  darzutun ,  dass  eine  solche  sehr  wol  mit  einer  ethischen 
Betrachtung  vereinbar  ist.  Howitz  ist  ein  klarer  und  geschmack- 
vdller  Autor,  dessen  Standpunkt  dem  in  der  neueren  Psycho- 
logie und  Ethik  herrschenden  entschieden  verwandt  ist.  In  seiner 
eigenen  Zeit  stand  er  einsam.  Eine  Reihe  der  ersten  Namen  der 
(huiischen  Literatur  traten  gegen  ihn  auf.  A.  S.  Oersted  (Däne- 
marks grösster  Jurist)  und  J.  P.  Mynster  (später  Bischof  in  Kopen- 
hagen) bekämpften  ilin  wesentlich  vom  Standpunkte  der  gangbaren 
moralischen  Vorstellungen  aus,  während  Sibbern  und  .1.  L.  Hei- 
berg eine  höhere  Einheil  von  l^-eiheit  und  Notwendigkeit  aufzu- 
zeigen suchten. 

IL 

Der  oben  genannte  Johann  Ludwig  Heiberg  (1791  — 1860) 
war  der  erste  Vertreter  der  HegeFschen  Philosophie  in  der  dänischen 
liiteratur.  Sein  Name  ist  bei  uns  besonders  als  Dichter  und  ästhe- 
tischer Kritiker  sehr  geschätzt;  aber  seine  philosophischen  Studien 
hatten  einen  grossen  Einlluss  auf  seine  Entwickelung  nach  beiden 
Richtungen.  Als  Professor  der  dänisclien  Literatur  in  Kiel  (1822 — 
1825)  wurde  er  mit  der  Hegerschen  Philosophie  l)ekannt  und  suchte 
mit  Ernst  in  sie  einzudiingen.  Es  iiel  ihm  aber  sehr  schwer,  und  selbst 
ein   Aufenllialt   in   IkmHii.    wo  ei'  Hegel's   persünlichen   Umgang  ge- 


■ 


Die  Philosophie  in  Dänemark  im   19.  Jahrhundert.  6B 

noss,  half  ihm  noch  niclit,  den  Grundgedanken  des  Systems  zu 
erfassen.  Auf  der  Rückreise  aber  hatte  er  dann  seine  philoso- 
phische Erleuchtung.  Er  hielt  sich  einige  Zeit  in  Hamburg  auf. 
immer  mit  den  neuen  Gedanken  beschäftigt.  Eines  Tages  —  er- 
zählt er  selbst  —  „wurde  ich  plötzlich  in  einer  AVeise,  welche  ich 
niemals  vorher  noch  später  erlebt  habe,  von  einer  momentanen 
inneren  Anschauung  ergriffen,  welche  wie  ein  Blitzstrahl  mir  auf 
einmal  die  ganze  Region  erleuchtete  und  den  mir  bis  jetzt  verbor- 
genen Centralgedanken  in  mir  weckte.  Von  diesem  Augenblicke 
an  war  mir  das  System  in  seinen  grossen  Umrissen  klar,  und  ich 
war  vollkommen  davon  überzeugt,  dass  ich  es  in  seinem  innersten 
Kern  erfasst  hatte  .  .  .  Ich  kann  wahrheitsgcmäss  sagen,  dass  jener 
wunderbare  Augenblick  wol  die  wichtigste  Epoche  in  meinem 
Leben  war."  Diese  Erleuchtung  (über  welche  die  Gegner  des  Hegelia- 
nismus und  Heibergs  sich  oft  lustig  gemacht  haben)  war  für  ihn 
auch  als  Dichter  fruchtbar,  und  seine  eigene  Erklärung  hierüber 
ist  wohl  geeignet  zu  zeigen,  in  welcher  Weise  er  die  Hegel'sche 
Philosophie  aufi'asste.  „Ich  hätte  niemals  meine  Yaudevillen  ge- 
schrieben und  wäre  gar  nicht  Theaterdichter  geworden,  wenn  ich 
nicht  durch  die  Hegel'sche  Phih>sophie  das  Verhältniss  des  Endlichen 
zum  Unendlichen  zu  verstehen  gelernt  und  dadurch  einen  Respekt 
vor  den  endlichen  Dingen  i)ekommen  hätte,  welchen  ich  vorher  nicht 
fühlte,  dessen  aber  der  dramatische  J)ichter  unmöglich  entbehren 
kann,  und  wenn  ich  nicht  durch  dieselbe  IMiilosophie  die  Bedeutung 
der  Begrenzung  zu  erfassen  gelernt  hätte.  Denn  ohne  eine  solche 
hätte  ich  mich  weder  beschränkt,  noch  kleine  und  begrenztere,  vor- 
her von  mir  verachtete  Rahmen  zu  meiner  Darstellung  gewählt." 
Heiberg  machte  also  die  neue  Einsicht  besonders  in  seiner  poetischen 
Produktion  fruchtbar;  aber  er  hat  sie  auch  in  interessanten  und  geist- 
vollen Abhandlungen  auf  die  theoretische  Aesthetik  (besonders  bei  Be- 
stimmung der  gegenseitigen  Verhältnisse  der  Kunstarten)  angewandt. 
Ausserdem  hat  er  einen  „Leitfaden  zu  Vorlesungen  über  spekula- 
tive Logik"  geschrieben,  und  in  seiner  Abhandlung  „idjer  die  Be- 
deutung der  Philosophie  für  die  jetzige  Zeit"  suchte  er  zu  zeigen, 
wie  durch  die  Hegersche  Philosophie  eine  freiere  um!  tiefere  Welt- 
anschauung erreicht  wird:    „Das  Ideal  wird  mit  der  Wirklichkeit, 


(54  Harald  Ilöfftling, 

unsere  Forderungen  werden  mit  demjenigen,  was  wir  besitzeu,  unsere 
Wünsche  mit  demjenigen,  was  erreicht  worden  ist,  versöhnt."  In 
(irr  von  ileiberg  herausgegebenen  Zeitschrift  „Perseus,  Journal  für 
die  spekulative  Idee"  hatte  diese  Philosophie  sogar  eine  kurze  Zeit 
ihr  eigenes  Organ. 

Neben  der  Aesthetik  wurde  der  Hegelianismus  besonders  auf 
die  Theologie  angewandt.  Eine  neue  Aera  schien  Vielen  durch  die 
Art.  in  welcher  Hegel  Glauben  und  Wissen  versöhnt  hatte,  einge- 
leitet zu  sein.  Was  auf  dem  Gebiete  des  Glaubens  in  der  anschau- 
lichen, konkreten  Form  der  Vorstellung  oder  der  Phantasie  hervor- 
tritt, sollte  dasselbe  sein,  was  für  den  philosophischen  Denker  als 
abstrakter  Begriff  hervortritt;  der  Unterschied  sollte  nur  formal 
sein.  „Der  Gedanke  stieg"  —  wie  Heiberg  in  einer  Universitäts- 
kantate sagt  —  „in  die  Höhe  hinauf,  als  er  in  sich  selbst  nieder- 
stieg." Unter  diesen  grossen  Verheissungen  ergriff  die  studirende 
Jugend  eine  spekulative  Raserei.  ^lau  führte  ininuM-  Hegersche  For- 
meln im  Munde  und  verachtete  diejenigen,  welche  auf  dem  Stand- 
punkte der  „Unmittelbarkeit"  standen,  ohne  sich  zum  „BegrilVe" 
erhoben  zu  haben.  Alles  konnte  man  auflösen  und  zu  einer 
„höheren  Einheit"  verbinden.  —  Vorliiuüg  war  es  die  sogenannte 
„rechte"  (orthodoxe,  konservative)  Seite  der  Hegerschen  Scliule. 
welche  Anhänger  gewann.  Als  Gegner  des  Hegelianismus  tra- 
ten Mynster  und  Sibbern  auf.  Paul  ^^löller  (f  1838),  Sib- 
berns  Kollege  an  der  Universität,  auch  als  Dichter  bekannt,  hatte 
sich  eine  Zeitlang  dem  Hegelianismus  genähert,  aber  entfernte  sich 
später  von  ihm  und  nahm  einen,  dem  jüngeren  Fichte  am  nächsten 
verwandten  Standpunkt  ein.  Er  hat  sich  zumeist  mit  der  Ge- 
schichte der  Philosophie  beschäftigt.  H,  Martensen,  der  Theologe, 
Mynster's  Nachfolger  als  Bischof  in  Kopenhagen,  stand  Heiberg 
nahe  und  war  ^litarbeiter  am  „Perseus";  aber  erfühlte  sich  durch 
IlegcKs  Versuch  einer  autoritätslosen  und  voraussetzungslosen  Philo- 
soi>hie  abgestossen,  und  wollte,  dass  die  Philosophie  statt  eines 
„autonomen"  einen  „theonomeu"  Ausgangspunkt  nehmen  solle.  A'on 
der  entgegengesetzten  Seite  wurde  der  Versöhnungsversuch  durch 
Anhänger  der  linken  Seite  des  Hegelianismus,  besonders  A.  F. 
Beck    und    II.   P)röcliner.    bedroht.      Doch    der   bedeutungsvollste 


Die  Philosophie  in  Dänemark  im   19.  Jahrhundert.  65 

Widerstand  gegen  diese  ganze  Philosophie  kam  von  dem  Manne, 
welcher  Dänemarks  grösstes  Denkergeuie  in  diesem  Jahrhundert  ist, 
Sören  Kierkegaard  (1813— 1855) ')• 

Es  ist  für  Kierkegaard  charakteristisch,  dass  er  sich  in  seiner 
Jugend  viel  mit  Sokrates  beschäftigt  hat.  Seine  Doktordisputation : 
„Om  Begrebch  Ironi  med  saerligt  Hensyn  til  Sokrates"  (1841) 
[üeber  den  Begriff  der  Ironie  mit  besonderer  Rücksicht  auf  Sokrates] 
gibt  eine  sehr  geistvolle,  obgleich  einseitige  Charakteristik  des  So- 
krates. Bei  der  ganzen  folgenden  literarischen  Wirksamkeit  Kierke- 
gaards blieb  Sokrates  sein  Vorbild.  Er  liebte  die  indirekte  nnd 
experimentirende  Darstellungsart  im  Gegensatz  zu  der  direkten  und 
dogmatischen,  welche  von  den  spekulativen  Philosophen  und  Theo- 
logen angewandt  wurde.  Die  Gymnastik  der  Gedanken  war  seine 
Lust,  und  sein  grosses  Talent  mit  Begriffen  zu  operiren  war 
mit  einer  ausserordentlichen  Sprachkunst,  freilich  auch  mit  einer 
Neigung  sowohl  mit  Begriften  als  mit  Worten  zu  spielen,  verbun- 
den. Alle  diese  Talente  wandte  er  im  Dienste  des  religiösen 
Glaubens  an.  Er  betrachtete  es  als  seine  Aufgabe,  das  religiöse 
Problem  wieder  in  seiner  strengen  christlichen  Form  zu  stellen, 
nachdem  die  Versöhnung  des  Christenthums  mit  der  Welt  im 
Staatskirchentume  („dem  officiellen  Christentume")  und  die  Ver- 
söhnung von  Glauben  und  Wissen  in  der  spekulativen  Philosophie 
die  Einsicht  verdrängt  hatte,  dass  es  sich  hier  nur  um  das  per- 
sönliche Verhältniss  des  Einzelnen  der  absoluten  Forderung  gegen- 
über handelt.  Für  diese  Aufgabe  wirkte  er  durch  seine  ganze 
Produktion,  durch  seine  ästhetischen  und  philosophischen  sowol  wie 
durch  seine  religiösen  Schriften,  auch  dann,  als  er  als  einsamer 
Denker  und  Schriftsteller  seine  nur  von  Wenigen  recht  verstandenen 
W^erke  schrieb,  da  er  —  in  seiner  letzten  Lebenszeit  —  als  leiden- 
schaftlicher Polemiker  imd  Agitator  einen  gewaltigen  Kampf  gegen 
die  Staatskirche  begann. 


')  Ueber  die  Persönlichkeit,  das  Leben  und  Wirken  dieses  merkwürdigen 
Mannes  vgl.  die  von  sehr  verschiedenen  Standpunkten  geschriebenen  Karak- 
teristiken  von  Georg  Brandes  („Sören  Kierkegaard,  eine  kritische  Darstellung") 
und  A.  Bärthold  („S.  K.,  eine  Autor -Existenz  eigener  Art" ;  „Noten  zu 
S.  K.'s  Lebensgeschichte";   „Die  Bedeutung  der  ästhetischen  Schriften  S.  K.'s"). 

Archiv  f.  Gescliiclite  d.  Pliilusupliii'.     II.  '-' 


66  Harald  Höffding, 

In  philosophischer  Hinsicht  ist  die  bedeutendste  Schrift 
Kierkegaard's  „üvidenskabelig  Efterskrift"  (1846)  [Unwissenschaft- 
liche Nachschrift].  Er  bekämpft  hier  den  spekulativen  Idealismus. 
Seine  Hauptsätze  sind:  Ein  logisches  System  kann  es  geben,  aber 
ein  System  der  Wirklichkeit  kann  es  —  für  uns  Menschen  — 
nicht  geben.  Und  selbst  was  das  logische  System,  welches  die  all- 
gemeinen Kategorien  des  Daseins  darstellt,  betrifft,  muss  zwi- 
schen den  rein  apriorischen  und  den  von  der  Wirklichkeit  ab- 
strahirten  Begriffen  unterschieden  werden.  Das  logische  System 
soll  keine  Mystifikation  sein,  in  welcher  der  Inhalt  der  Wirklichkeit 
durch  Subreption  entwickelt  wird.  Man  muss  sich  ferner  darüber 
klar  sein,  dass  der  Anfang  des  Systems  nur  durch  Reflexion  und 
Abstraktion  gemacht  wird,  so  dass  von  einem  absoluten  Anfang 
keine  Rede  sein  kann.  Endlich  muss  scharf  zwischen  dem  empiri- 
schen Leben  und  der  dem  logischen  Systeme  zu  Grunde  liegenden 
reinen  oder  abstrakten  Subjektivität  unterschieden  werden.  —  Ein 
System  der  Wirklichkeit  kann  es  für  uns  nicht  geben,  weil  unsere 
Existenz  in  die  Zeit  fällt.  Existiren  ist  Werden.  System  bedeutet 
Abgeschlossenheit,  Totalität,  aber  so  lange  wir  existiren,  streben 
wir  und  können  nicht  unser  und  das  ganze  Dasein  zusammenfassen. 
Nur  für  Gott  bildet  die  Wirklichkeit  ein  System,  weil  er  über  das 
Werden  erhaben  ist.  Ein  jedes  System  muss  pantheistisch  sein  und 
nicht  nur  den  Unterschied  zwischen  Gut  und  Böse  aufheben,  son- 
dern auch  den  Begriff  der  Existenz  in  phantastischer  Art  verflüch- 
tigen. Eben  die  Abgeschlossenheit  macht  das  System  pantheistisch. 
[Kierkegaard  sieht  nicht  die  naheliegende  eigentümliche  Konsequenz, 
dass  Gott  also  Pantheist  sein  muss!]  Es  hilft  nichts,  dass  man 
einen  Paragraphen  einschiebt,  in  welchem  man  sagt,  dass  man  die 
Existenz  urgire.  Wenn  man  wirklich  die  Existenz  urgirt,  muss 
dies  sich  darin  zeigen,  dass  man  kein  System  (der  Wirklichkeit) 
aufstellt.  —  Ein  solches  System  würde  keine  Ethik  aufstellen  können. 
Das  ethische  Willensleben  setzt  die  Realität  der  Aufgabe  und  der 
Wahl  voraus,  und  verschwindet  in  seiner  Bedeutung,  wenn  man 
die  Welt  sub  specie  aeterni  sieht. 

Für  die  in  der  Zeit  existirende  Subjektivität  kann  die  Wahr- 
heit nur  im  Glauben  erfasst  werden;   eine   objektive  Gewissheit  ist 


Die  Philosophie  in  Dänemark  im  19.  Jahrhundert. 


67 


unmöglich.  Nur  durch  leidenschaftliche  Anschliessung  kann  die 
Wahrheit  unter  dem  Wechsel  der  Wirklichkeit  festgehalten  werden. 
Die  Wahrheit  ist  das  Ewige,  aber  wir  sind  in  der  Zeit.  Aber  der 
Glaube  erreicht  seine  höchste  Potenz,  wenn  sein  Gegenstand  nicht 
nur  die  ewige  Einheit  ist,  die  wir  nur  wegen  des  Wechsels  der 
Wirklichkeit  nicht  objektiv  begründen  können,  sondern  wenn  die 
ewige  Wahrheit  selbst  in  der  Zeit  entsteht,  wie  Gott  im  Christen- 
tume  in  einem  bestimmten  Zeitpunkte  Mensch  wird.  Der  christ- 
siclie  Glaube  ist  der  Glaube  an  das  Paradoxe,  und  nur  die  Ver- 
zweiflung des  Siindenbewusstseins  macht  es  möglich,  den  Sprung 
von  jenem  sokratischen  Glauben  zu  dieser  höchsten  Potenz  des 
Glaubens  zu  macheu. 

Kierkegaard  accentuirt  mit  solcher  Energie  die  Bedeutung  der 
einzelnen  Subjektivität,  dass  er  alle  Kontinuität  zwischen  den  In- 
dividuen und  der  übrigen  Welt  aufhebt.  Er  polemisirt  gegen  die 
Lehre  von  den  „zurückgelegten  Stadien".  Geistesentwickelung  — 
sagt  er  —  ist  Selbstentwickelung;  jedes  folgende  Individuum  muss 
von  vorn  anfangen.  Das  menschliche  Individuum  verhält  sich 
nicht  zur  Entwickelung  des  Menschengeistes,  wie  das  Thierexemplar 
sich  zur  Thierart  verhält.  —  Man  kann  hieraus  urteilen,  wie 
Kierkegaard  sich  zur  modernen  Entwickelungslehre  gestellt  haben 
würde.  Er  würde  deren  Bedeutung  nicht  anerkannt  haben,  wie 
er  im  Ganzen  eigentlich  gegen  eine  jede  zusammenhängende  und 
rationelle  (physiologische,  psychologische  und  historische)  Auffassung 
des  Menschenlebens  protestirt.  Anderseits  hat  er  Recht  darin,  dass 
man  den  Unterschied  zwischen  autogenetischer  und  phylogenetischer 
Entwickelung  nicht  verwischen  darf;  es  ist  dies  —  wie  früher  in 
der  spekulativen  Philosophie,  so  jetzt  in  der  spekulativen  Biologie 
—  oft  geschehen.  — 

Kierkegaard's  Kritik  der  spekulativen  Philosophie  bezeichnet 
bei  uns  einen  Wendepunkt  und  bahnt  der  Erneuerung  der  kri- 
tischen Philosophie  den  Weg.  —  Seine  strenge  Betonung  des 
Vernunftwidrigen  des  christlichen  Glaubensinhalts  zog  eine  scharfe 
Grenzlinie  zwischen  positiv-religiösem  Glauben  und  humaner  Lebens- 
anschauung, eine  Grenzenlinie,  welche  die  Philosophie  der  Romantik 
verwischt  hatte.     Er  wirkte  als  Stromteiler,    führte  die    einen  zu 


68  Harald  Hüffding, 

innigerer  Vertiefung  in  das  Glauben.sleben,  aber  machte  es  für  die 
anderen  klar,  dass  ihre  Lebensanschauung  eigentlich  gar  nicht  auf 
dem  Boden  des  Christentums  beruhe.  Er  steht  in  unserer  Literatur 
als  eine  sokratische  Gestalt  da,  welche  auf  viele  Menschen,  mögen  sie 
auch  sehr  verschiedene  Standpunkte  einnehmen,  einen  anregenden 
und  erlösenden  Eiufiuss  geübt  hat.  — 

Ein  Anhänger  der  HegePschen  Religionsphilosophie  war  in 
seinen  ersten  Arbeiten  Rasraus  Nielsen  (f.  1809,  von  1841  au 
Professor  der  Philosophie  an  der  Universität,  gest.  1884).  Eine 
Aeuderung  seiner  Ansichten  wurde  durch  S.  Kierkegaard's  Schriften 
hervorgerufen  und  er  brachte  sie  zuerst  in  „Evangelietroen  og  den  mo- 
derne Bevidsthed"  (1849)  [Der  Evangelienglaube  und  das  moderne 
Bewusstsein]  und  dann  in  einem  scharfen  Angriffe  auf  die  Dogmatik 
Martenseu's  zum  Ausdruck.  Nielsen  unterschied  von  dieser  Zeit  an 
zwischen  Glauben  und  ^Vissen  als  zwei  absolut  verschiedenen  Prin- 
cipien.  Der  (lilaul)e  ist  die  Sache  des  Lebens,  der  Existenz  und 
hat  im  Wollen  seine  Wurzel;  das  Wissen  ist  die  Sache  der  objek- 
tiven Theorie.  Der  Wille  selbst  i.st  antirational,  unbegreifbar;  denn 
die  Theorie  begreift  nur  eine  Freiheit,  die  mit  innerer  Notwendig- 
keit eins  ist.  Je  energischer  der  Wille  entwickelt  ist,  desto  schärfer 
ist  der  Gegensatz  des  Willenslebens  gegen  die  Theorie,  und  der 
Mensch  kann  nicht  unbedingt  wollen,  ohne  die  Gottheit  als  unbe- 
dingt allmächtigen  \Villen  zu  postuliren.  Der  Glaube  ist  ein  Glaube 
an  das  Wunder.  Aber  eben  darum  hat  das  Wunder  auch  nur 
Realität  für  den  Glauben,  hat  nur  eine  geistige  Wirklichkeit. 
Darum  ist  keine  Theologie  als  Wissenschaft  möglich.  Nielsen  pole- 
misirt  gegen  die  Theologie,  aber  behauptet  den  (Jlauben.  Die 
Kritik  der  Theologie  geht  seiner  Auffassung  nach  zu  weit,  wenn 
sie  den  religiösen  Glauben  selbst  angreift.  Eben  weil  Glaube  und 
Wissen  absolut  verschiedene  Principien  sind,  können  sie  beide 
festgehalten  werden.  Der  Glaube  ist  die  Sache  der  persönlichen 
Lebensanschauung  und  muss  daher  die  höchste  Stelle  einnehmen; 
die  Wissenschaft  ist  nur  eine  relative  Aufgabe  und  kann  dem 
Existirenden  in  seinem  persönlichen  Leben  nicht  helfen.  —  In 
seiner  „Religionsphilosophie"  (18G9)  hat  Nielsen  diese  Gedanken 
ausführlich  entwickelt. 


Die  Philosophie  in  Dänemark  im  19.  Jahrhundert.  69 

Der  Bruch  mit  der  spekulativen  Religionsphilosopliie  führte 
Nielsen  zu  einer  neuen  Prüfung  des  Verhältnisses  zwischen  Speku- 
lation und  Erfahrung  und  dadurcli  zu  einem  eifrigen  Studium  von 
Mathematik  und  Naturwissenschaft.  Doch  gab  er  niemals  die 
HegeFsche  Methode  auf.  Er  hoffte  nur,  sie  auf  einer  solideren  Grund- 
lage durchführen  zu  können.  In  „Grundideernes  Logik"  (1864—1860) 
und  „Natur  og  Aand"  (1873)  [Natur  und  Geist]  findet  man  seine 
allgemeinen  philosophischen  Anschauungen.  Es  ist  die  Aufgabe  der 
Philosophie  den  Inhalt  der  Fachwissenschaften  zu  assimiliren  und 
die  Begriffe  von  ihrer  ursprünglichen  empirischen  Begrenzung  zu 
befreien,  damit  das  Bewusstsein  den  so  erworbenen  Inhalt  zu  einer 
Totalität  mit  innerem  Zusammenhang  formen  kann.  Hegel  hatte 
in  unklarer  Weise  das  Subjektive  und  das  Objektive,  den  Begriff 
und  die  Existenz  identificirt.  Im  Gegensatz  zu  ihm  behauptet 
Nielsen  den  Unterschied  zwischen  der  wissenden  Subjektivität  und 
der  objektiven  Realität  und  stellt  darum  —  statt  einer  „Logik  der 
Idee"  —  eine  „Logik  der  Grundideen"  auf,  indem  die  Idee  des 
Wissens  und  die  Idee  der  Macht  ihren  Dualismus  in  der  Idee  der 
Wahrheit,  welche  mit  der  absoluten  (ontologischeu)  Subjektivität 
eins  ist,  überwinden.  Hegers  Grundfehler  war  —  nach  Nielsen  — 
dass  das  absolute  Wissen  bei  ihm  wol  einen  Inhalt,  aber  keinen 
Gegensatz  hat.  Die  absolute  Subjektivität  muss  nicht  nur  das  ab- 
solute Wissen,  sondern  auch  die  absolute  Macht  sein;  nur  dann 
können  die  logischen  Kategorien  Wirklichkeits-Kategorien  werden. 
Die  Philosophie  führt  also  zu  einem  Theismus;  aber  dieser  ist 
zu  abstrakt,  um  Grundlage  der  praktischen  Lebensanschauung  zu 
sein;  darum  muss  man  —  wenn  das  persönliche  Leben  nicht  er- 
schlaffen soll  —  vom  Wissen  zum  Glauben  übergehen.  —  Es  ist  für  Nielsen 
eigentümlich,  dass  er  die  Gegensätze  so  stark  hervorhebt.  Dies 
hängt  gewiss  damit  zusammen,  dass  bei  ihm  die  Phantasie  bei- 
nahe  der  Reflexion  ebenbürtig  war,  wie  er  denn  überhaupt  ein  leb- 
hafter und  energischer  Redner  war,  der  es  besonders  liebte,  sich  in 
Antithesen  zu  bewegen.  Grossen  Einfluss  hat  er  durch  seine  zün- 
denden Vorträge  auf  die  akademische  Jugend  und  auf  weitere  Kreise 
ausgeübt.  Die  Gegensätze  stellen  ja  eben  die  Probleme  und  fordern 
die  Denkkraft  heraus.  — 


70  Harald  Höffding, 

Die  liehre  iSielseu".s  vom  Glauben  und  Wi.ssen  gab  in  den 
Jahren  1865—1868  zu  einer  Polemik  Anlass,  in  welcher  eine 
Reihe  iiltcrer  und  jüngerer  Autoren  auftraten.  Die  grösste  Aufmerk- 
samkeit erregte  von  der  einen  Seite  eine  Schrift  von  Martensen, 
von  der  anderen  Georg  Brandes  durch  seine  Schrift  „gegen 
den  Dualismus  unserer  neuesten  Philosophie"  (1866).  Aber  die 
gründlichste  Untersucimng  der  ganzen  Frage  gab  H.  Bröchner's 
Schrift  „Problemet  om  Tro  og  Viden"  (1868)  [„Das  Problem  vom 
Glauben  und  Wissen"]. 

Hans  Bröchner  (geb.  1820,   von   1857  Professor   der  Philo- 
sophie an  der  Universität,  gest.  1875)  war  von   der  Theologie  zur 
Philosophie  übergega.ngen,   hatte  Strauss's  „Glaubenslehre"  übersetzt 
und  später  (1857)  eine  gründliches  Studium  und  tiefe  Sympathie 
bekundende  Abhandlung  über  Spinoza  geschrieben.     Auch  Bröch- 
ner gehörte  der  HegePschen  Schule  an  und  arbeitete  sich,  eben  so 
wenig  wie  Nielsen,   niemals   aus  ihrem   Gedankengang    und  ihrer 
Methode  heraus.     Er  suchte  doch  zu  zeigen,  dass  dieser  Gedanken- 
gang so  entwickelt  werden  könnte,  dass  die  Erfahrung  und  die  re- 
ale Wirklichkeit  ihr  Recht  bekämen.     Am  meisten  beschäftigte  er 
sich  mit  der  Geschichte  der  Philosophie.     Die  Frucht   dieser  Stu- 
dien hat  er  teils  in  der  geistreichen  Schrift:    „Bidrag  til  Opfattel- 
sen    af  Philosophiens  historiske    Udvikling"   (1869)    [Beiträge    zur 
Auffassung  der  historischen  Entwickelung  der  Philosophie],  teils  in 
seinem    Handbuch  der  Geschichte  der   Philosophie   (1873  — 1874) 
niedergelegt.     Der  oben  genannten  Streitschrift,  in  welcher  er  sich 
sowol  gegen  Martensen  („die  philosophirende  Theologie"),  als  gegen 
Kierkegaard  und  Nielsen  („den  antitheologischen  religiösen  Stand- 
punkt") wendet,  gab  er  ein   positives  Supplement  in  der  Schrift: 
„Det  Religiöse  i  dets  Enhed  med  det  Humaue"  (1869)  [Das  Reli- 
giöse in  seiner  Einheit  mit  dem  Humanen].     Nach  Bröchner  ist  die 
wahre  Religiosität  nicht  etwas  von  dem  wahren  Erkennen  und  dem 
wahren  (etiiischen)  Handeln  Verschiedenes.     Sie  ist  die  Versöhnung 
und  die  Ruhe,  welche  der  Menschengeist  findet,  wenn  er  sich  aus 
dem  unmittelbaren  sinnlichen  Leben,  wo  er  von  streitenden  Kräften 
geteilt  wird,  und  wo  der  Zweifel  au  der  Wahrheit  der  Erkeuntniss 
und  der  Gültigkeit  der  Handlung  entstehen  kann,  zu  seinem  Innern, 


Die  Philosophie  in  Dänemark  im  19.  Jahrhundert.  71 

dem  Grunde  seines  Wesens  zurückzieht.  Hier  findet  er  die  innere 
Quelle  seiner  Kräfte,  und  hier  sieht  er  seinen  Geist  in  seinem  Ur- 
sprünge aus  dem  allgemeinen  Princip  des  Daseins.  Diese  Einsicht 
kann  wegen  der  Begrenzung  des  menschlichen  Wesens  nicht  voll- 
ständig bewiesen  werden;  sie  ist  ein  rationeller  Glaube,  welcher  aus 
dem  Wesen  des  Menschen  entspringt.  Die  Erkenntniss  hat  hier 
eine  regulirende  Macht;  sie  kann  w^ol  einem  Glaubenspostulate 
gegenüber  ihr  non  liquet  aussprechen,  behält  aber  immer  ihr 
Veto.  Sonst  würde  jedes  Kriterium  zwischen  wahrem  und  falschem 
Glauben  mangeln.  —  Das  Princip  des  Daseins  muss  als  ideal-reales 
gedacht  werden,  so  dass  es  die  reale  Möglichkeit  der  Materie 
in  sich  fasst.  Es  ist  eine  absolute  Subjectivität,  die  Quelle 
des  persönlichen  Lebens,  aber  selbst  über  alles  persönliche  Dasein 
erhaben. 

Diese  seine  Auffassung,  welche  er  durch  viele  tiefgehende  psy- 
chologische Entwickelungen  (so  namentlich  über  das  Problem  des 
Bösen)  begründet,  stellt  Bröchner  in  Gegensatz  teils  zu  solchen 
Ansichten,  welche  das  Religiöse  entweder  in  metaphysische  Abstrak- 
tionen oder  psychologische  Illusionen  auflösen,  teils  zu  den  positiven 
Religionen,  welche  das  w^ahrhaft  Religiöse  verendlichen,  indem  sie 
es  in  äusserliche  und  endliche  Formen  kleiden.  —  Bröchner  hat 
—  obgleich  er  sowol  durch  seine  abstrakte  und  schwer  zugäng- 
liche Darstellungsart  als  durch  die  Richtung  seiner  Ideen  in  seiner 
Zeit  sehr  einsam  stand  —  durch  die  Idealität  und  Energie  seiner 
Persönlichkeit  auf  nicht  wenige  jüngere  Männer  gewirkt,  die  er 
in  eine  freie  und  humane  Lebensanschauung  eingeführt  hat.  — 

III. 
Nur  eine  kurze  Uebersicht  über  die  Literatur  der  letzten  De- 
cennien  soll  noch  hinzugefügt  werden.  Bis  1870  war  die  spekula- 
tive Philosophie  die  allein  herrschende  in  dem  öff"entlichen  philoso- 
phischen Unterricht.  Die  Reaktion  gegen  sie  ist  dem  Einflüsse 
teils  der  englisch-französischen  Philosophie,  teils  den  Fachwissen- 
schaften zuzuschreiben.  Die  erste  Arbeit,  in  welcher  eine  solche 
Reaktion  hervortritt,  ist  die  Doktorabhandlung  des  bekannten 
Aesthetikers  Georg  Brandes  (geb.  1842)  über  Taine's  Aesthetik 


72  Harald  Höffding, 

(187(j).  —  1,1  clen  iolgeiulcu  Jahren   gab  der  Verfasser  dieser 
Uebersicht  (geb.  1843),  seit  1883  Professor  an  der  Universität,  Ar- 
beiten über   die  nachhegelsche.  Philosophie   in  Deutschland  (1872) 
und    über  die   englische  Philosophie   unserer   Zeit  (1874)   heraus, 
lunerhalb  der  deutschen  Philosophie  wurde  hier  namentlich  Lotze's 
Bedeutung    hervorgehoben,    innerhalb    der    englischen    auf   Stuart 
U\\\  und  namentlich  auf  Herbert  Spencer  hingewiesen.     In   einer 
Abhandlung  über   „die  Grundlage  der  humanen  Ethik"  (1876)  (in 
deutscher  Ueberset7,ung  1880)  versuchte  ich  eine  rein  psychologisch- 
historische Grundlegung  der  Ethik.     In  den  folgenden  Jahren  be- 
schäftigten mich  namentlich  psychologische  Studien,  deren  Frucht 
die    im    Jahre    1882    erschienene    „Psychologie    im   Umriss"    war. 
(Zweite   Auflage   1885.     Deutsche  Uebersetzung  1887).     Ich  habe 
hier  eine  rein   empirische   Darstellung  der  psychologischen  Haupt- 
fragen   versucht,    mit    grösstmöglicher  Benutzung    der  Physiologie 
und    der    Experimentalpsychologie.      Obgleich    ich    der    englischen 
Schule  sehr  viel  verdanke,  habe  ich  doch  verschiedene  ihrer  Resul- 
tate zu  berichtigen  versucht,  und  in  philosophischer  Rücksicht  führen 
meine  Untersuchungen  mich  dazu,  die  Grundgedanken  des  Kriticis- 
mus  als  Ergebnisse  der  psychologischen  Analysen  und  Hypothesen 
zu  behaupten.     In  meiner  „Ethik"  (1887)  (Deutsche  Uebersetzung 
1888)  habe  ich  versucht,  teils  eine  Darstellung  der  ethischen  Prin- 
cipien  zu  geben,   teils   diese  Principien  durch    eine  Untersuchung 
der  wichtigsten  Lebensverhältnisse  zu  prüfen  und  anzuwenden.  — 
Sophus  Heegaard  (geb.  1835,  seit  1875  Professor  der  Philosophie, 
gest.    1884)   bildete    seine    philosophischen    Ansichten    namentlich 
unter  dem  Einfluss  eines  eifrigen  Studiums  von  Kant  und  Lotze, 
später  auch  von  Mill  und  Spencer  aus.    Als  Schriftsteller  ist  er  am 
meisten  durch  seine  populäre  Schrift  über  „Intoleranz"  (1878)  be- 
kannt, in  welcher  er  das  Recht  der  einzelnen  Individuen,  ihre  reli- 
giösen Anschauungen  auf  eine  mit  ihrer  Persönlichkeit  stimmende 
Weise  zu  formen,  behauptet.    Er  steht  jedem  Versuche  einer  wissen- 
schaftlichen   Entscheidung    religiöser    Fragen    skeptisch    gegenüber, 
aber  betont  sehr  stark,  dass  die  Möglichkeit,  der  Glaube  (besonders 
der  Unsterblichkeitsglaube)  könnte  Recht   haben,  von  grosser  Be- 
deutung für  die  Lebensführung  ist.  („Wir  leben  von  Möglichkeiten/') 


Die  Philosophie  in  Dänemark  im  19.  Jahrhundert. 


73 


Später  hat  er  ein  Handbuch  der  Erziehungslehre  geschrieben.  — 
Kristiau  Kroman  (geb.  1846,  seit  1884  Professor  der  Universi- 
tät) gab  schon  in  seiner  Doktorabhandlung  „über  die  Lehre  der 
exakten  Wissenschaft  von  der  Existenz  der  Seele"  (1877)  Andeu- 
tungen über  den  Standpunkt,  welcher  in  seinem  Hauptwerke:  „Vor 
Naturerkendelse"  (1883)  (Deutsche  Uebersetzung  1883)  hervortritt. 
Er  nimmt  allen  spekulativen  Anschauungen  und  dogmatischen  Be- 
hauptungen gegenüber  einen  skeptischen  Standpunkt  ein.  Die 
Principien  unserer  Erkenntniss  sind  ihm  nur  Postulate,  welche 
weder  deduktiv,  noch  induktiv  begründet  werden  können.  Die  er- 
kenntnisstheoretischen Fragen  werden  mit  gründlicher  mathematischer 
und  naturwissenschaftlicher  Einsicht  auf  das  Gebiet  der  Fach- 
wissenschaften hinüber  verfolgt.  In  seinen  allgemeinen  philoso- 
phischen Ansichten  scheint  Kroman  Lotze  am  nächsten  zu  stehen. 
Ausser  einem  Kompendium  über  Logik  und  Psychologie  (1882) 
(Zweite  Auflage  1888)  hat  er  noch  „über  Ziele  und  Wege  des 
höheren  Schulunterrichts"  (1886)  geschrieben.  Diese  letzte  Schrift, 
welche  in  lebhafter  Form  die  pädagogische  Bedeutung  der  verschie- 
denen Lehrfächer  diskutirt  und  sich  namentlich  gegen  das  Vor- 
herrschen des  Sprachunterrichts  wendet,  hat  grosse  Aufmerksamkeit 
erregt  und  den  Streit  um  die  Ordnung  der  Schule  belebt.  — 
Claudius  W^ilckens,  seit  1884  Docent  der  Philosophie  und  der 
Sociologie  an  der  Universität,  hat  in  seiner  Doktorabhandlung  „über 
das  Erkeuntnissproblem"  (1875)  einen  durch  den  Einfluss  der  Be- 
neke'schen  Philosophie  modificirten  Kriticismus  aufgestellt.  In  seiner 
„Sociologie"  (1881)  gibt  er  eine  auf  fleissiges  Studium  gebaute  Dar- 
stellung dieser  Disciplin,  und  so  eben  ist  (1888)  von  seiner  Hand  eine 
„Aesthetik"  erschienen.  —  Auf  sociologischem  Gebiete  arbeitet  auch 
Dr.  C.  N.  Starcke,  dessen  Buch  „Die  primitive  Familie"  (1888  in 
Leipzig  erschienen)  eine  eingehende  Untersuchung  über  die  primi- 
tiven Familienverhältnisse,  welche  ja  in  den  letzten  Jahren  mehrere 
gewagte  Theorien  veranlasst  haben,  liefert.  Früher  hat  Starcke 
über  Ludwig  Feuerbach  (1883)  (Deutsche  Uebersetzung  1885)  ge- 
schrieben. —  In  Dr.  Alfred  Lehmann  haben  wir  einen  selbstän- 
digen Arbeiter  auf  dem  Gebiete  der  experimentellen  Psychologie. 
Ausser  seiner  Doktorabiiandluug   „über    die    elementare  Aesthetik 


74  Harald  Höffding, 

der  Farl)cn"    (1884)    hat    er    in  Wimdfs  „Studien"    verschiedene 
Abhandlungen  veröffentlicht.  — 

Als  gemeinsam  für  die  jüngere  philosophirende  Generation  in 
J)änemark  darf  ich  gewiss  die  Ueberzeugung  angeben,  dass  es  in 
der  Philosophie  jetzt  vor  allem  darum  zu  thun  ist,  durch  Unter- 
suchungen auf  dem  Gebiete  der  Erkenntnisslehre,  der  Psychologie,  der 
Ethik  und  der  Socialwissenschaft  eine  solche  Grundlage  herbeizu- 
schaffen, durch  welche  die  grossen  philosophischen  Probleme  beleuchtet 
werden  können.  Aber  trotz  aller  unserer  Kritik  und  alles  unseren 
Realismus  müssen  wir  einräumen,  dass  der  Grundgedanke  des 
Idealismus  die  letzte  Voraussetzung  ist,  zu  welcher  die  Reflexion 
uns  zurückführt,  selbst  wenn  wir  diesen  Gedanken  nicht  in  so  dog- 
matischer Weise  aussprechen  oder  so  grosse  Hoftnungen  auf  seine 
wissenschaftliche  Durchführung  setzen  können ,  wie  es  bei  unseren 
Vorgängern  der  Fall  war.  — 


IX. 

Se  un  processo  evolutivo  si  osservi  nella  storia 
dei  sistemi  filosoftci  italiani. 

Von 
Prof.  F.  Pllglia  in  Messina. 

In  im  precedente  i'ascicolo  di  questa  Rivista  abbiamo  affer- 
mato,  che  nella  storia  dei  sistemi  filosofici  italiani  si  osserva  un 
processo  evolutivo,  e  che  si  sono  ingannati  coloro  che  hanno 
sostenuto  il  contrario.     Eccone  ora  la  dimostrazioue. 

Osserviamo  dapprima,  che  non  accogliamo  la  opinione  di  co- 
loro, i  quali  ritengono,  che  la  filosofia  italiana  incominci  col  pe- 
riodo  dei  Risorgimento  ed  escludono  dalla  storia  dei  nostro  pen- 
siero  filosofico  il  pitagorismo,  che  annoverano  tra  i  momenti 
essenziali  dei  pensiero  greco,  e  la  scolastica,  che,'  credono,  non 
abbia  colore  di  sorta  ed  appartenga  piii  al  cristianesimo  in  generale, 
che  a  questa  o  a  quella  nazione  in  particolare  ^).  E  le  ragioni, 
che  ci  determinano  a  respingere  questa  opinione  sono  le  seguenti: 
1"  che  la  coltura  greca  non  disfece  la  primitiva  coltura  dei  Siculi, 
e  il  pitagorismo  non  puo  quindi  considerarsi  come  uno  dei  mo- 
menti essenziali  dei  pensiero  greco,  ma  deve  ritenersi,  come  di- 
mostreremo,  prodotto  in  gran  parte  dei  genio  italico:  e  lo  stesso 
e  a  dirsi  della  filosofia  eleatica:    2"  che    la    maggior    parte  dei 


')  Fiorentino,  La  filosofia  contemporanea  in  Italia,  Napoli.    1876, 


76  V-  Piiglia, 

liliixifi  italiiini.  anco  fiel  periodu  del  visurgiineiit  o.  rileiiiitu  da 
alcuiii  il  primo  periodo  della  vera  filosofia  italiana,  dicliiaranu  di 
vülere  rannodare  le  loro  dottrine  a  quelle  dei  pitagorici  c  degli 
eleatici;  3"  che  anco  in  quei  pochi  periodi  storici,  lungo  i  quali 
il  pensiero  italiano  subi  Tinflnenza  di  sistemi  filosofici  stranieri,  le 
dottrine  filosofiche  insegnatc  in  Jtalia  lianno  assunto  un  carattere 
tutto  loro  proprio. 

In  ordine  alla  scolastica  anco  noi  conveniamo  che  essa  non 
cl  appartiene  esclusivamente,  affermiamo  anzi  qualcosa  di  piü,  e  ne 
daremo  la  dimostrazione,  che  la  filosofia  scolastica  e  importazione 
straniera,  e  che  durante  il  medio  evo  il  pensiero  ülosottco  italiano 
e  rappresentato  dalla  scienza  del  diritto. 

Premesse  queste  idee,  veniamo  alla  dimostrazione  della  tesi 
propostaci : 

In  Sicilia  e  nell'  Italia  meridionale  al  tempo  del  maggiore 
sviluppo  di  vita  delle  colonie  greche  sorgono  due  scuole  iilosofiche, 
la  Pitagorica  e  la  Eleatica,  e  sebbene  i  fondatori  siano  greci 
di  origine,  pure  le  dottrine  da  questi  propugnate  presentano  ca- 
ratteri  molto  diversi  da  quelli  che  si  osservano  nei  sistemi  filo- 
sofici della  scuola  ionica.  E  molti  storici  della  filosofia  dichiarauo 
di  non  sapere  trovare  le  vere  cause  della  diflercnza:  ma  queste 
debbono  ricercarsi  nell"  ambiente  fisico,  nel  carattere  etnico 
degli  antichi  abitatori  di  qaella  regioue,  nella  precedente  cultura, 
ecc.  ecc.  E  percio  noi  riteniamo,  che  la  filosofica  pitagorica  ed 
eleatica  facciano  parte  della  storia  del  nost.ro  pensiero  filo- 
sofico. 

Or  hone,  i  pitagorici  si  diedero,  come  i  filosofi  ionici, 
allo  studio  della  natura,  e  tentarono,  a  differenza  di  questi  ultimi, 
elevarsi  al  di  sopra  dei  fenomeni  per  trovare  il  principio  delle 
cose  tiitte.  Per  essi  i  numeri  sono  i  principi  delle  cose. 
principi  materiali,  non  giä  essenzc  spirituali,  perche  i 
numeri  nel  sistema  di  quei  filosofi  divengono  qualcosa  di  esteso. 
Onde  ben  disse  Aristotele  che  i  pitagorici  non  distiusero  lo  spirito 
dalla  materia,  e  non  conobbero  che  la  sola  realta  sensibile. 
Anche  lo  Zeller  sostiene,  che  uno  dei  caratteri  essenziali  del 
pitagorismo  e  quello    di  non  stabilire   diflercnza  tra  forma  o  ma- 


Se  un  processo  evolutivo  si  osservi  nella  storia  dei  sisteini  fllosofici  italiani.      77 


teria  e  cercare  immecliatamente  l'essenza  e  sostanza  delle  cose  nei 
numeri  ^). 

Per  i  pitagorici  le  cose  tutte,  i  numeri,  clerivano  dal  Numero 
per  eccellenza,  dall'  üno  (moiiismo  filosofico),  che  iiou  chia- 
marono  Dio,  come  han  creduto  alcuni.  Ammisero  l'eternita  dei 
mondi,  non  ostante  i  cangiamenti:  la  iiecessita  dei  diveiiire 
delle  cose,  ecc.  ecc. 

II  sistema  dei  pitagorici,  come  si  scorge,  e  uaturalistico, 
monistico  e  matematico.  Tutte  le  cose  essi  ridussero  a  nu- 
mero  e  misura,  nou  esclusi  i  principi  di  esse,  e  queste  e  quelle 
fecero  derivare  da  unico  principio. 

Quanta  differenza  fra  questo  sistema  e  quell i  dei  filosofi 
i  0  n  i  c  i ! 

Un'  evoluzione  <lelle  dottrine  pitagoriche  puo  considerarsi  il 
iii«lj  sistema  degli  eleati(;i.  Parmenide  insegnö,  che  il  tntto  non  puo 
Öc'iB  essere  coucepito,  che  come  unita,  e  che  TEssere  solo  e.  Cosi  al 
:rei|  Numero  ed  ai  numeri  si  sostituiva  un  principio  piu  reale  di  essi, 
l'Essere,  che  e  il  reale  sensibile  (naturalismo  monistico). 
La  filosofia  di  Parmenide  non  lascia  posto  alle  dottrine  teologiche, 
e  relativamente  alla  cosmologia  si  avvicina  molto  alle  dottrine 
pitagoriche. 

Sembraci  che  l'evoluzione  dal  pitagorismo  all"  eleatismo 
siasi  avverata  in  questi  due  soinmi  concetti  fondamentali:  sostitu- 
zione  delF  Essere  all'  Uno,  affermazioiie  che  il  solo  reale  e 
l'Essere,  ed  il  molteplice  un'  apparenza. 

Anche  i  sistemi  di  altri  autichi  filosoli  soiio  evoluzione  dei 
due  precedenti. 

Empedocle  sostenne,  che  elementi  diversi  concorrono  alla  lur- 
mazione  delle  cose;  che  in  uno  stato  originario  quelli  erano  rac- 
colti  nello  Sfero  (unitä  dell'  Essere)  ne  distinse  l'anima  dal 
corpo. 

II  sistema  dei  fdosofo  di  Agrigento  e  monistico  e  uaturalis- 
tico, e  puo  considerarsi  una  evoluzione  dei  sistemi  dei  pitagorici 
e  degli  eleatici.    E  per  questo  gli  storici  sono  discordi  nel  giiidi- 


-)  Zeller,  Histoire  de  la  pliilosopliie  des  Grecs,  Paris,  188U. 


78  T"-  Puglia, 

Carlo,  cd  alcuni  voiTobl)ero  considcrarlo  come  pitagorico,  altri 
cüme  eleatico. 

In  Roma,  socondo  il  giudizio  di  illustri  sorittori,  uon  vi  fu 
filosofia  originale,  e  prevalsero  due  sistemi  importati  dalla  Grecia, 
lo  stoicismo  e  repicureismo:  sistemi  ainbedue  naturalis- 
tici  e  monistici.  E  clii  bene  esamiua  Fintima  natura  di  questi 
due  sistemi  scorge  in  modo  evidente  il  nesso  orgauico  tra  essi 
e  le  dottrine  fondamentali  dei  pitagorici,  degli  eleatici  e  di 
Empedocle.  E  non  troviamo  difficolta  ad  affermare,  che  lo 
stoicismo  e  Fepicureismo  siano  una  evoluzione  degli  antichi 
sistemi  lilosofici  dell'  Italia,  compiutasi  sul  suolo  greco.  E  questa 
e  ragioue  principale  per  dare  spiegazioue  della  prevaleuza  di  quei 
due  sistemi  presso  il  popolo  romano. 

In  Lucrezio  inoltre  rinascono  Parmenide  ed  Empedocle:  col 
poema  della  Natura  si  rinnovella  il  pensiero  lilosofico  dei  nostri 
avi,  onde  si  puo  dire,  che  sino  a  Lucrezio  il  processo  evolutivo 
nei  sistemi  lilosofici  non  soffri  interruzione  in  Italia. 

Ma  cio  non  e  tutto.  La  piii  splendida  manifestazione  dei  pen- 
siero e  dei  sentimento  dei  romaui  e  il  diritto,  meravigliosa 
evoluzione  di  un  nucleo  di  idee,  che  erano  sparsc  nei  sistemi  dei 
pitagorici,  degli  eleatici,  e  degli  stoici.  Si  ricordi  che  i  filosofi 
della  scuola  pitagorica  ed  eleatica  furono  riformatori  politici.  e 
che  i  Romani  molto  stimarono  la  sapienza  politica  dei  filosofi 
delhi  [)rima  scuola.  Ed  ecco  un  addentellato  tra  il  pensiero  dei 
romani  e  quelle  dei  filosofi  delle  scuole  cennate  relativamente 
alla  vita  sociale  e  politica,  della  quäle  il  diritto  e  elemento 
essenziale.  Vero  e  che  lo  stoicismo  scmbra  avere  avuto  graude 
influenza  nello  sviluppo  della  giurisprudenza,  ma  se  ben  si  con- 
sideru  si  osserva,  che  esso  nei  diritto  romano  apparisce  come  una 
reminescenza  storica,  perche  il  sentimento  giuridico  avea  raggiuuto 
il  i)iii  elevato  gi-ado  di  sviluppo  e  si  era  sostituito  ad  ogni  altro 
sentimento  etico. 

Or  bene  per  i  romani  la  scienza  dei  diritto  o  la  giurispru- 
denza e  la  filosofia  direttricc  della  vita,  la  vera  e  sana  filosofia. 
Lo  ha  delto  Ülpiano,  sintetizrando  il  concetto  dei  pensatori  ro- 
mani,  quando  con  orgoglio  cosi  si  espresse:    „ veram  nisi  f aller 


Se  un  processo  evolutivo  si  osservi  nella  storia  dei  sistemi  filosofici  italiani.      79 

philosophiam,  non  simulatam,  affectantes"  (L.  1.  D.  1.  De 
Just  it.   et  jure). 

Dimqiie,  a  comiiiciare  dai  pitagorici  a  venire  giii  siiio  ai  ro- 
niani  vi  e  im  processo  evolutivo  nel  pensiero  filosofico  nostro. 

Caduto  rimpero  romano  di  occidente,  le  tradizioni  romane  in 
Italia  non  vennero  meno  ed  il  diritto  fu  sempre  in  vigore.  Senza 
questa  contiuuita  storica  non  si  potrebbe  spiegare  il  passaggio 
dal  mondo  antico  al  moderno  nel  nostro  paese.  Ed  osserva  lo 
Stintzing,  che  nel  medio  evo  il  sentimento  di  cotesta  continuita  fu 
molto  piü  vivo  di  quanto  noi  non  immaginiamo  ^).  In  Italia 
nel  medio  evo  si  tento  anco,  come  in  Oriente  erasi  fatto,  la  con- 
ciliazione  tra  la  filosofia  e  le  idee  cristiane,  e  quando  la  filosofia 
scolastica  sorse  in  Francia,  anco  qui  vi  furono  propugnatori  di  essa, 
0  superiore  a  tutti  Tommaso  d'Aquino.  E  poiche  dualistica,  tras- 
•  ■endentale,  religiosa,  formalistica  fu  anco  in  Italia  la  sco- 
lastica, si  potrebbe  credere,  che  luugo  il  medio  evo  la  evoluzione 
del  pensiero  filosofico  italiano  abbia  subito  una  interruzione.  Sa- 
rebbe questa  una  credenza  erronea,    come  or  dimostriamo. 

Certaraente  la  scolastica  in  Italia  non  puö  considerarsi  come 

una  fase  evolutiva  del  nostro  pensiero  filosofico,    perche  presenta 

I  caratteri    opposti   a   quelli  dei  sistemi  filosofici  italiani   precedenti 

*'  posteriori.     Essa,    come   bene    osserva  il  Chiappelli,  fu  importa- 

izione  straniera,    scesa    ad    aff'uscare    la    splendidezza  del  pensiero 

i italiano^).     E   si  noti,    che  la  reazione  centro   di    essa  fu  segnata 

idal  ritorno  all'   antica  filosofia  nostra,  come  fra  breve  si  vedra,  e 

'  che  la  scolastica  non  ebbe  valorosi  rappresentanti  in  Italia,  tranne 

Tommaso  d'Aquino,  che,  se  ben   si  considera,    si  stacca  in  certo 

modo  dair  indirizo  comune  dei  filosofi  scolastici,  e  si  da  in  braccio 

;id   Aristotele,    la  filosofia   del    quäle  e   piü   conforme    che  non  la 

platonica  al  genio  filosofico   nostro.     L'Aquinate  e  senza  dubbio 

uu  grande  ingegno  italiano,  che  subisce  la  influenza  della  scolastica, 

''   che  pure  si  ribella  a  talune  dottrine  di  questa,   e  tuttavia  egli 

fuori  deir  evoluzione  del  pensiero  filosofico  nostro. 


1 


•')  Stintzing,  Ulric  Zasius,  Basel,   1857. 

■*)  Cliiappelli,  Vita  e  opere  giuv.  tl  i  C'iiio  du  Pistoia,  Pistoia,  1881. 


gQ  F.  Puglia, 

A  nostro  giiulizio,  la  tradi/jone  clella  coltura  filosolica  italiana 
nel  medio  ovo  o  vappreseotata  dal  diritto  o  meglio  dalla  filo- 
sofia  giiiridica.  11  diritto  l"u  la  vera  forza  integratrice  della 
vita  sociale  del  popolo  oppresso  luDgo  la  barbarie  medioevale,  ed  l 
i  giuristi  possono  considerarsi  come  i  coutiuuatori  del  sapere  antico 
e  gli  avvevsari  della  scolastica.  Si  ricordi,  che  mentre  Abelardo 
imprimeva  carattere  dialettico  alla  teologia  medioevale,  Iruerio 
illustrava  il  diritto  romano  e  divulgava  la  sapienza  giuridica  degli 
avi  nostri. 

E  dopo  il  risorgimento  degli  studi  di  diritto  romano  troviamo 
in  Italia  due  correnti  di  idee,  due  ordini  di  pensatori,  che,  per  i 
dire  cosi,  si  divideno  Feredita  del  passato,  i  teologi  ed  i  giu- 
risti. E  quesiti  ultimi,  che  sono  i  continuatori  delle  patrie  tradi- 
zioiii,  della  coltura  scientifica,  lottaiio  coiitro  i  primi,  e  combattono 
le  pretese  della  Chiesa  ed  i  canouisti.  Ed  e  opportuno  ricordare 
col  Carle,  che  le  vicende  della  teologia  scolastica  e  lo  studio  della 
giurisprudenza  romana  procedettero  di  pari  passo^).  Era  ciö  con- 
seguenza  della  lotta,  che  si  agitava  fra  le  due  correnti  di  idee,  e 
che  ebbe  termiue  col  trionfo  della  scieuza  laica,  ciöe  degli  studi 
giuridici,  prodotto  naturale  del  nostro  geuio  speculativo  e  pratico. 

I/erudizione  classica  del  secolo  XV  riuvigori  l'ingegno  italiano, 
e  ad  essa  tenne  immediatamente  dietro  il  risorgimento  filosolico, 
che    fu    reazione    energica    contro    la    scolastica,     importazione  i 

straniera. 

Pomponazzi  combatte  i  miracoli,  il  soprannaturale,  la  ira- 
raortalita  delT  anima,  ecc.  ecc.  Monistico  e  naturalis!  ico  e 
il  sistema  di  lui  e  per  metodo  e  per  contenuto,  e  si  connette  ai 
sistemi  iilosofici  italiani  antichi. 

Telesio,  che  precedette  Bacone  nel  propugnare  il  metodo  speri- 
mentale  e  di  osservazione  per  lo  studio  di  qualunque  ordine  di  l'eno- 
meni  naturali,  tenne  in  seria  considerazione  le  dottrine  di  Par- 
menide  nel  fondare  il  suo  sistema  cosmologico.  Sostenne  essere 
eterno   il  mundo,  materiale  Tanima,  ecc.     Patrizzi  insegnava,  che 


^)  Carle,    La    vila   del    diritln    iiei    suoi    rapporti    (^olhi    vita   so- 
ciale, Tuiiuo,   1884. 


Se  uTi  processo  evolutivo  si  osservi  nella  stoiia  dei  sistemi  filosofiri  italiani.      ftl 

la  natura  emana  da  Dir»,  die  tntro  in  se  comprende  ed  unilica, 
ed  a  tutto  da  vita;  donde  la  sua  eternita  ed  iutinita.  Car(iano 
ritiene,  che  le  cose  tutte  (feuomeui  ed  esseri),  nou  esclusi  i  fatti 
(lello  spirito,  sono  sottoposte  a  leggi  naturali.  Rruiio,  la  figura 
piii  splendida  del  periodo  del  nostro  risorgimento  tilosofico,  sceglie 
per  modello  Lucrezio  Caro ,  tiene  in  cousiderazione  la  filosofia  dei 
Pitagorici  e  di  Parmenide.  Egli  e  vero  coiitinuatore  della  filosofia 
tradizionale  italiana.  e  getta  la  fondanienta  di  un  importante  sistema 
filosofico,  che.  piiü  dirsi.  ha  dato  origine  alla  filosofia  raoderna. 
La  spiegazione,  che  egli  ci  da  della  formazione  de!  nioiido  e  una 
evoluzione  scientifica  delle  idee  filosofiche  prevalse  sempre  in  Italia. 
I/infinita  varieta  delle  forme,  dice  egli,  sotto  le  qiiali  la  materia 
oi  apparisce.  essa  iion  le  riceve  da  un  altro  essere.  dal  di  fuori, 
raa  le  trae  da  se  st  essa,  le  fa  uscire  fuori  dal  proprio  seno. 
Chi  ha  couosceuza  chiara  del  sistema  filosofico  del  Bruno  e  co- 
stretto  a  riconoscere,  che  k-  idee  fondamentali,  che  lo  costituiscono, 
soiio  una  vasta  e  complessa  evoluzione  delle  piii  importanti  dot- 
trine,  che  si  iusegnarono  uei  periodi  piü  splendidi  della  coltura 
filosofica  italiana.  II  sistema  di  Bruno  sembrerebbe  una  creazione 
ex  nihil 0,  se  non  fosse  messo  in  rapporto  col  Poema  della 
Natura  di  Lucrezio,  col  sistema  pitagorico  ed  eleatico.  Fi- 
nauco  prevale  ed  e  comune  a  questi  la  forma  geometrica  di 
esposizione. 

E  bene  osserva,  a  proposito  dei  filosofi  del  rinascimento,  il  Fio- 
rentino,  che  stabilendo  un  confronto  fra  Telesio,  Patrizi  e  Bruno 
vi  trova  non  solo  somiglianza  nella  critica  verso  la  filosofia  aristo- 
telica,  uua  anco  analogia  nel  modo  del  rinnovarla,  perche  in  tutti 
e  additata  come  sorgente  di  errori  la  separazione  assoluta  della 
materia  e  della  forma;  in  tutti  additata  come  necessitä  la  spie- 
gazione della  natura  secondo  principi  schiettamente  naturali''). 
E  vedremo  fra  breve,  come  fra  i  filosofi  cennati  e  gli  altri.  di  cui 
t'aremo  menzione,  sianvi  legami  ideativi  molto  iutimi. 

Jl  Campanella,  a  nostro  giudizio,  e  solo  nella  dottrina  della 
conoscenza  un  continuatore  della  filosofia  antica  italiana,  poiche  per 


^  Fiorentino,  Stovia  della  filosofia,  Napoli,  188G. 

r* 

Archiv  f.  Geschichte  der  Philosophie.     II.  -^ 


82  ^-  Pnglia, 

lui  sapere  e  seutire,  la  scienza  e  una  collfezione  di  esperienze  sen- 
sibili  cd  il  metodo  adatto  alla  scoperta  del  vero  e  l'induttivo. 
Nelle  altre  parti  della  filosofia  il  Campauella  segna  uü  regresso 
rispetto  al  Bruno. 

Galileo  va  anco  annoverato  fra  quei  filosoli  che  si  ribellarono 
alla  scolastica  per  riunovare  il  pensiero  filosofico  nostro.  Fii  egli 
strenuo  propugnatore  di  quel  metodo  sperinientale  e  di  osserva- 
zione,  che  piii  tardi  applicato  allo  studio  delle  scienze  morali  e 
sociali  doveva  potentemente  contribuire  al  rinnovamento  di  esse. 

Vico  dava  ampio  svolgimento  ad  uu  ordine  di  idee,  che  forma 
parte  integrante  della  filosofia  generale,  alla  filosofia  della 
storia.  Seguendo  il  metodo  a  posteriori,  sempre  prediletto  dai 
filosofi  italiaui,  penetra  nella  natura  intima  delle  civili  istituzioni, 
e  per  contraddire  ai  dogmi  cristiani  (tristi  erano  invero  i  tempi!) 
ammette,  che  lo  svolgimento  della  civilta  si  compie  sotto  Fazione 
della  ProYvidenza.  Ma  la  Provvidenza  del  Vico,  a  nostro  parere, 
e  la  natura  naturans  di  Bruno,  Tüno  della  scuola  eleatica, 
il  Numero  per  eccellenza  o  la  Monade  suprema  dei  Pitagorici. 
Ecco  il  fdo  della  tradizione  filosofica  italiana.  E  se  si  considerano 
le  dottrine  psicologiche  del  Vico  si  vedra  come  fra  esse  e  le 
dottrine  dei  filosoti  del  rinascimento  vi  e  intimo  uesso.  Vico  e  il 
fondatore  di  quella  scienza  positiva  delle  societa,  che  oggi  ha  avuto 
il  nome  di  Sociologia. 

Dopo  il  Vico  i  piii  illustri  pensatori  italiani  coltivarono  a 
preferenza  la  fdosofia  civile,  perche  incominciara  Tagitazione  per 
liberare  la  patria  dal  giogo  straniero.  Ed  ecco  il  Genovesi,  il 
Romagnosi,  il  Gioia,  il  Filangieri,  ecc,  i  quali  per  metodo  di  ricerca 
scientifica  non  si  allontanano  del  Vico  e  lo  seguono  nelle  piü  im- 
portanti  dottrine  tilosotiche. 

In  tempi  a  noi  piii  vicini  il  Galluppi  richiamo  le  menti  allo 
studio  della  realta,  ma  non  segui  le  tradizioni  filosoliche  italiane. 
iSe  ne  allontanarono  del  tutto  Gioberti,  Rosmini  e  Mamiani,  il 
quäle  ultimo  dapprima  con  molto  entusiasmo  aveva  sostenuto  do- 
versi  rinnovare  l'antica  filosofia  italiana  fondata  sulla  esperienza. 

L'idealismo  ontologico  di  questi  tre  filosofi  prevalse  per 
un  tempo   troppo  breve,   perche  non  adatto  al  genio  filosofico  ita- 


Se  nn  processo  evolutivo  si  osservi  nella  storia  dei  sistemi  filosofici  italiani.     83 

liauo,  e  tosto  si  scaiiliarono  contro  elevati  ingegni.  i]  Ferrari,  il 
Cattaueo,  TAusonio  Frauchi,  ecc.  Si  richiamaroiio  in  vita  le  dut- 
triue  del  Vico,  e  dei  filosofi  del  rinascimeuto. 

Oggi  pol  si  iuseguano  dottriue  iilosofiehe  diverse,  delle  quali 
alcune  si  possono  considerare  come  t'usione  di  idee  tradizionali  e 
(li  idee  di  sistemi  stranieri.  Tende  pero  a  prevalere  il  iiatura- 
lismo  filosofico,  che  e  sistema  monistico,  carattere  proprio 
delle  filosofia  italiana. 

Esso  non  e,  come  vanno  ripeteudo  alcuiii,  importazione  stra- 
niera,  una  evoluzione  delle  piii  importanti  dottrine  lilosoliche,  che 
da  tempi  antichi  si  sono  sostenute  in  Italia.  In  esso  perö  sono 
messi  a  profitto  i  risiiltati  degli  studi  moderui  di  biologia,  socio- 
logia.  ecc.  ecc. 

E  gia  in  nn  rarao  delle  scienze  antropo-sociologiche, 
nel  diritto  penale.  nna  rivoluzione  in  senso  naturalistico  ha 
avuto  luogo,  ed  e  sorta  una  nnova  scuola  penale,  la  quäle  ha 
gia  sostenitori  all'  estero. 

E  dopo  queste  fugaci  considerazioni  domandiarao;  e  possibile 
negare  che  nella  storia  dalla  filosofia  italiana  non  vi  sia  un  pro- 
cesso evolutivo?     Crediamo  che  no. 

Ed  invero  tutti  i  problemi  fisici,  morali  e  sociali,  ecc,  sono 
stati  dalla  maggior  parte  dei  nostri  filosofi  risoluti  coli'  aiuto 
del  metodo  di  osservazione  ed  oggi  col  metodo  sperimentale; 
ed  ecco  l'unita  del  metodo  scientifico  o  filosofico.  Essi  si  sono 
tenuti  lontani  dall'  idealismo  ontologico,  dal  misticismo  e  dal 
dualismo.  e  se  qualche  momento  per  Influenza  di  particolari 
circostanze  sorse  qualche  pensatore  tendente  al  trascendentalismo, 
immediatamente  ne  e  venuta  fuori  la  reazione,  e  sono  riprese  le. 
fila  della  tradizione  filosofica  italiana.  Inoltre  chi  osserva  a  fondo 
i  sistemi,  dei  (|uali  abbiamo  fatto  fugacissimo  cenno,  scorge  uu 
nucleo  di  idee  l'ondamentali,  che  nel  corso  di  tanti  secoli  sono 
State  ampiameute  discusse,  sviluppate  e  sostenute  dai  nostri  filo- 
sofi con  un  metodo,  che  potremmo  dire  uniforme,  E  poiche  i 
problemi  della  filosofia  sono  di  natura  diversa,  troviamo  che  in  un 
periodo  storico  oggetto  di  studio  furono  i  problemi  del  moudo 
fisico,   in  uu  altro  quelli  del  mondo  sociale,   ecc.  ecc,  che  piü 

6* 


84  ^-  ^'"?iiii, 


tardi  gli  stossi  problemi  fiirono  riprodotti,  e  che  le  dimostrazioni 
date  e  le  lisoluzioni  sostenute  presentano  uu  nesso  intimo  ideativo. 
II  che  mostra,  che  un  processo  evolutivo  nei  nostvi  sistemi  filo- 
sofici  vi  e'). 


■)  Veili  il  bellissimo  discorso  del  Prof.  Morselli  su  Giordano  Bruno, 
e  l'altro  La  filosofia  mouistica  in  Italia  (nella  Rivista  di  filosofia 
scientifica,  an.  VI,  1887). 


Jahresbericht 

über 

-ämmtliche  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte 

der  Philosophie 

in    Gemeinschaft    mit 

Ingram  Bywater,   Hermann  Diels,   Wilhelm  Dilthey,   Benno  Erdmann, 
J.  Gould  Schurman,  Paul  Tannery,  Feiice  Tocco  und  Eduard  Zeller 

herausgegeben 

von 

Ludwig  Stein. 


I. 

Bericht  über  die  deutsche  Litteratur  der 
Vorsokratiker.    1887. 

Vou 
H.  DielS  in  l?erlin. 

Ueberweg,  Fb.  Grundriss  der  Geschichte  der  Philosophie.  I.  Theil. 
Das  Alterthum.  Siebente  Aufl.  bearb.  von  Dr.  i\l.  Heinze. 
Berlin  1886.     360  Seiten.     8°. 

Der  Ueberweo'sche  Grundriss  scheint  durch  ähnliche  Bücher 
in  neuerer  Zeit  etwas  in  den  Hintergrund  gedrängt  zu  werden,  ist 
aber  immer  noch  unentbehrlich  für  den,  der  sich  rasch  namentlich 
über  die  Litteratur  dieses  Gebietes  orientieren  will.  Diese  biblio- 
graphische Seite  ist  auch  in  der  neuen  Auflage  wieder  sorgfältig 
berücksichtigt  worden.  Es  fehlt  aber  auch  nicht  an  andern  gut 
begrüudeten  Zusätzen  und  noch  besser  begründeten  Streichungen. 
Die  ersten  Abschnitte  enthalten  freilich  auch  noch  in  der  neuesten 
Auflage  manches  Verwunderliche.  Wie  lange  soll  S.  2  das  Pseu- 
docitat:  „Herodot  I  50  wird  'ftXoao'fta  auf  die  Kenntnis  der  Gestirne 
bezogen"  noch  fortgeschleppt  werden?  Statt  dessen  könnte  auf 
Gorgias  Hei.  §  13  und  Wilamowitz  Ph.  Unters.  I  214  verwiesen 
werden,  mit  dessen  Ansicht  Ref.  freilich  nicht  übereinzustimmen 
bekennt.  Auch  in  der  Uebersicht  über  die  Quellen  ist  manches 
bedenklich.  Wir  treften  S.  25  Diogenes  aus  Laerte(?)  in  Cilicieu  (?) 
um  220  (?)  n.  Chr.  an.  Was  S.  27  über  Origenes  gesagt  ist,  kann 
kein  Neuling  verstehen;  und  das  danach  über  Eusebios  gesagte  ist 
unrichtig. 

Mit  den  neueingefügten  Stellen,  die  neueren  Forschungen  ihre 
Anregung  verdanken,  wird  man  sich  meist,  wenn  auch  nicht  immer, 


88  ^-  '"'iels, 

einverstanden  erkljiren  können.  iSiitzlich  wäre  es,  das  Buch  dem- 
nächst einer  gründlicheren  Umarbeitung  zu  unterziehen,  wobei 
meines  Erachtens  die  tautologische  und  unübersichtliche  Doppelgestalt 
des  Buches  (Gross-  und  Kleingedrucktes)  geändert  werden  miisste. 

Jacobi,  K.  G.    Gesammt-Repetitorium  über  alle  Prüfungsfächor  der 
allgemeinen  Bildung.   Für  Candidaten  des  höheren  Schulamts. 
IV.  V.  Bändchen:  Geschichte  der  Philosophie.    Leipzig  1887. 
89  und  88  Seiten.     Kl.  8". 
Zur  Characteristik  diene  das  Motto: 

0  socii  .  .  .  revocate  animos  maestumqne  timorem 
Mittue:  forsan  et  haec  olim  metninisse  iuvabit. 

Ku)aTOjxotprj,  A.  rstop-j'ioc.  Hspl  o'fUaX'xoXoYiotc  xotl  (otoXoYtas  twv 
d[jya((j)V  'E)ArjV<i)V  ä-o  tcov  dp)^atOTa-tov  /povojv  iJeyp'-?  'Itttto- 
xpatooc.  'Rv  Any-votu:  1887.  248  Seiten.  8". 
Das  Thema,  das  hier  von  einem  griechischen  Augen-  und  Ohren- 
arzte sehr  lleissig  und  eingehend  behandelt  wird,  könnte  auch  der 
Erkenntnis  der  griechischen  Physik  zu  Gute  kommen,  wenn  der 
Verf.  historisch-philosophische  Betrachtung  mit  seiner  medizinischen 
Fachkenntnis  vereinigte.  Aber  er  hat  lediglich  eine  äusserliche  Zu- 
sammenstellung und  Paraphrasierung  der  Quellennotizen  gegeben  mit 
besonderer  Betonung  des  Lexicalischen.  Die  Bestrebung  den  wissen- 
schaftlichen Zusammenhang  in  den  Lehren  der  griechischen  Physiker 
nachzuweisen  hat  ihm  fern  gelegen;  das  Ganze  liest  sich  vielmehr  wie 
die  Arbeiten  eines  Psellos  oder  Tzetzes.  Da  der  Verf.  die  neuere, 
namentlich  deutsche  Litteratur  nach  S.  u'  kennt  (Philippson''s  uXr^ 
7.vi>pa)7:ivr^  u.  A.  ist  ihm  freilich  entgangen),  so  begreift  man  diesen 
byzantinischen  Standpunkt  nicht  recht. 

Orphiker. 
Gruppk,  0.     Die  griechischen  (iiltc  und  Mythen  in  iiiren  Beziehun- 
gen zu  den  orientalischen  -Keligionen.     I.  Band.    Einleitung. 
I>eipzig  1887.    XVIII  und  706  Seiten.    Gr.  S'\ 
Ein  kleiner  Abschnitt  dieses  weitblickenden  und  wcitangelegten 
Werkes  bezieht  sich   auf  die  griechische  Philosophie  und  ihre  In- 


Bericht  über  die  deutsche  Litteratiir  der  Vorsokratiker.     1887.         89 

cunaheln.  J)ei-  Verf.  geleitet  von  dem  im  Titel  ausgesprochenen 
(Jrundgedanken  kommt  /u  dem  Resultate,  dass  die  Anlange  der 
griechischen  Philosophie  in  sehr  bemerkenswerter  Weise  durch  die 
Speculation  der  orphischen  Gedichte  und  diese  wiederum  durch 
orientalische  Originalgedichte  angeregt  worden  seien.  Die  Art,  wie 
>ich  der  Verf.  diese  Uebertragung  oder  vielmehr  Uebersetzung 
durch  die  verschiedenen  Nationen  denkt  ist  so  paradox,  dass  man 
zunächst  dauben  könnte,  der  Verf.  erlaube  sich  mit  dem  Leser  einen 
Scherz.  Aber  diese  Vermutung  zerfällt  sofort  gegenüber  dem  Ernste 
des  Studiums,  der  ausgebreiteten  Gelehrsamkeit  und  der  Gründlich- 
keit der  Quellenforschung,  die  hier,  wenigstens  auf  dem  erwähnten 
Teilgebiete,  uns  entgegentritt.  Und  das  Problem  selbst  verdient 
wirklich  das  eindringlichste  Nachdenken,  da  wol  nur  noch  wenige 
an  die  völlige  Autochthonie  der  griechischen  Speculation  glauben 
werden.  Aber  freilich  die  Resultate  und  noch  mehr  die  Methode 
flieses  Buches  werden  eher  abschreckend  als  anlockend  wirken,  da 
selbst  die  richtigen  Ergebnisse  dieser  Untersuchungen,  an  denen  es 
keineswegs  ganz  fehlt,  auf  falscher  oder  wenigstens  vorschneller 
Schlussfülgorung  beruhen. 

Der  Verf.  unterscheidet  hauptsächlich  drei  orphische  Theogo- 
nien.  Die  älteste,  die  Plato,  Aristoteles  und  Eudemos  kennen,  ist 
das  älteste  in  griechischer  Zunge  verfasste  Gedicht.  Das  Buch  Z  der 
Ilias  kennt  in  der  Aih;  arArq  eine  „Travestie"  (S.  614)  oder 
„Parodie"  (8.  623)  jener  ältesten  Theogonie,  deren  Verse  sich  zum 
Teil  noch  aus  der  Bearbeitung  Homers  in  ursprünglicher  Form  her- 
stellen lassen.  Dieses  elirwürdige  Gedicht  ist  nun  seinerseits  weiter 
nichts  als  eine  fast  wörtliche  .Uebersetzung  aus  der  uralten  phöni- 
kischen  Theogonie,  die  sich  ebenfalls  noch  in  beachtenswerten  Frag- 
menten aus  dem  Sanchuniathon  des  Philon  von  Bybl'os  herstellen 
lässt.  Zwar  ist  dieser  Sanchuniathon,  wie  der  Verf.  zugibt,  nichts 
als  eine  leichtfertige  Fälschung  des  Philon;  aber  dabei  ist  doch 
jenes  alte  phöuikische  Gedicht  zugezogen  worden,  wie  sich  eben  aus 
der  merkwürdigen  Uebereinstimmuug  mit  dem  griechischen  Urgedicht 
ergibt.  Denn  es  kann,  meint  der  Verf.,  doch  nicht  zweifelhaft  sein, 
dass  der  Kpövoc  der  Orphiker,  der  mit  xpcdvw  zusammenhänge  und 
„Fürst"  bedeute  (?),  eine  Uebersetzung  (?)  des  phönikischen  (?)  7N  (?) 


90  H.  Diels, 

bei  Philon  darstelle.  Ref.  gibt  gerne  zu,  dass  die  Atoc  ctTtaTr^  be- 
merkenswerte Reminiscenzen  eines  theogouischen  Gedichtes  zeigt, 
aber  alle  andern  Ergebnisse:  die  Restitution  des  orphischen  Urge- 
dichtes,  die  Verbindung  desselben  mit  den  platonischen  und  peri- 
patetischen  Anführungen  der  Orphiker,  endlich  gar  die  Berührungen 
mit  der  phönikischen  Urtheogonie  scheinen  mir  Träume  zu  sein, 
die  durch  die  elfenbeinerne  Pforte  gekommen  sind. 

Die  zweite  durch  Athenagoras  und  Damaskios  bezeugte  Theo- 
gonie  (des  Hieronymos)  hält  Gruppe  ebenfalls  für  alt.  Genauer 
beschäftigt  er  sich  mit  der  sog.  rhapsodischen  orphischen  Theogonie, 
auf  die,  wie  er  in  Uebereinstimmung  mit  0.  Kern ')  behauptet, 
sich  alle  Citate  der  .^'euplatoniker  beziehen.  Hier  sucht  erspeciell 
den  kosmischen  Grundgedanken  des  orphischen  Systems  nachzu- 
weisen. Er  bezeichnet  als  solchen  „das  Zusammenfliessen  und  Aus- 
einanderflicssen  als  die  Geschichte  des  Weltenlebens"  (S.  643). 
Dieser  Gedanke  (der  in  der  Formulierung  jedoch  nicht  orphisch, 
sondern  Gruppisch  ist)  verrate  seine  innere  Verwandtschaft  mit  dem 
griechischen  Denken  des  ausgehenden  6.  Jahrhunderts.  Daher  könne 
die  orphische  Theogonie  nicht  spät  entstanden,  sondern  müsse  mit 
den  Anfängen  der  ionischen  Physik  gleichzeitig  sein.  ^Vie  schon 
die  Fassung  des  Grundgedankens  als  Fliessen  andeuten  soll,  wozu 
in  den  orphischen  Stellen  gar  keine  Veranlassung  vorliegt,  findet 
Gruppe  eine  engere  Berührung  mit  Heraklit,  wobei  er  in  unklarer 
Interpretation  namentlich  auch  auf  das  Fr.  127  Byw.  zi  \xr,  -(äp 
A'ovuaoi  7ro'i7ry,v  i-oio'jvt';  eingeht.  Der  Anstoss.  dass  Heraklit  nur 
3  Elemente  kenne,  während  die  Orphiker  bereits  mit  der  Vier- 
zähl arbeiten,  beunruhigt  ihn  nicht.  Heraklit  habe  das  eine  eben 
wieder  aufgegeben.  Auch  zu  Empedokles  und  Pherekydes  weist 
der  Verf.,  freilich  in  oberHächlicher  Weise,  Beziehungen  in  den 
orphischen  Gedichten  nach.  In  Bezug  auf  Heraklit,  der  natürlich 
den  ausgiebigsten  Stoff  darbietet,  fasst  er  sein  Ergebnis  S.  653  so 
zusammen: 


')  De  Orphei  Kpiraenidis  Pherecydis  theogoniis  quaestiones  criticae.  Ber- 
lin (Nicolai)  188S.  Diese  Schrift  wird  im  Jatiresber.  des  Jahres  1888  be- 
sprochen werden. 


Bericlit  über  die  deutsche  Litteratur  der  Vorsokratiker.     1887.  91 

„In  dem  ungeheuren  Prozess,  den  auf  griechischem  Boden  das 
menschliche  Denken  durchmachte,  indem  es  von  der  religiösen  Er- 
kenntnis /um  voraussetzungslosen  Forscheu,  vom  Mythos  zum  Logos 
lortschritt,  in  diesem  Prozess  bezeichnen  unsere  Gedichte  die  früliere, 
Herakleitos  die  spätere  Phase.  Die  Dichter  erfinden  den  Mythos  von 
der  Verschlingung  der  Welt  durch  das  Urfeuer;  Herakleitos  denkt 
den  Gedanken  aus,  indem  er  daraus  eine  in  alle  Ewigkeit  fest- 
stehende periodische  Welterneuerung  macht.  Die  Dichter  führen 
Ideen  aus,  die  consequent  zu  der  grossen  Erkenntnis  von  der  An- 
fangslosigkeit  der  Welt  führen  müssen,  aber  hart  vor  dieser  Er- 
kenntnis machen  sie  Halt:  sie  wagen  noch  nicht  von  der  über- 
lieferten Vorstellung  der  gewordenen  Welt  zu  lassen;  erst  Hera- 
kleitos spricht  es  aus  [Fr.  8]:  /oajj-ov  tovos  tov  auiov  ä-av-ojv 
o'jtc  TIC  üsä)v  ryjxz  7.vi>pu)i:tuv  i-oir^asv,  dW    y^v  7.£t  ztX." 

Es  sei, mir  gestattet,  ehe  diese  Dogmen vergleichung  weiter  um 
sich  greift,  welche  die  Originalität  jener  griechischen  Denker  nicht 
nur  beeinträchtigen,  sondern  vernichten  würde,  einen  Vorbehalt 
anzuknüpfen. 

Auch  ich  halte  es  für  wahrscheinlich,  dass  die  Urform  der 
orphischen  rhapsodischen  Theogonie  dem  6.  Jahrh.  angehört  (die 
orphische  eschatologische  Mystik  scheint  mir  noch  beträchtlich  älter), 
auch  ich  halte  es  für  möglich,  dass  Heraklit,  wie  andere  gleichzeitige 
Denker,  durch  einzelne  wenige  Wendungen  und  Gedanken  der  orphi- 
schen Gedichte  angeregt  worden  sei,  wenn  ich  auch  nicht  den  Quell- 
punkt heraklitischer  Spekulation  darin  zu  linden  glaube'^).  Aber  was 
Gruppe  als  hcraklitisch  anspricht  in  der  Spekulation  der  Orphiker 
(wie  jenem  Grundgedanken  des  wechselnden  Entstehens  und  Ver- 
gehens in  dem  einheitlichen  Princip),  das  liegt  der  ganzen  hylo- 
zoistischen  Anschauung  jener  Zeit  zu  Grunde  und  nähert  sich  in 
der  eigentümlichen  Form  iles  Gedankens  teilweise  mehr  dem  Pan- 
theismus  des  Xenophanes. 

Anders  aber  steht  es  z.  B.  mit  jenem  bei  Gruppe  sinnlos  und 


■)  Wie  E.  Pfleiderer  uaciiweisen  wollte.  S.  Archiv  I  lO.j.  (Mit  Rücksicht 
auf  eine  Aeusserung  Zellers  ebenda  S.  1^1 2  bemerke  ich,  dass  die  Niedrigkeit 
des  in  Pfleiderers  Entgegnung  gegen  iiiii'h  augeschlageueii  Tones  mir  eine 
Antwort  verbietet.) 


92  H-  Diels, 

metrisch  fehlerhaft  abgedruckten  Fragmente  bei  Clemens,  das,  wenn 
man  iliin  mit  Bywater  (zu  lleraclit  Fr.  78)  einen  sprachlich  mög- 
lichen Gedanken  unterlegt: 

£x  o'    uootTo;  |i.ev  7^(17.,  to  0'    sx  'i'y.iq;  -dhy  Gocup* 

nur  aus  Heraklit  geschöpft  sein  kann.  Denn  dieser  Gedanke  ist 
ebenso  unorphisch  als  ganz  eigentümlich  heraklitisch.  Gäbe  man 
hier  die  Originalität  des  Ephesiers  auf.  so  wäre  er  selbst  in  dem 
Allerindividuellsten,  seinem  Stile,  ein  elender  Nachahmer.  Hier 
scheint  denn  auch  (iruppen  das  Gewissen  zu  schlagen.  J)enn  drei 
Seiten  nachdem  er  jene  urphischen  Verse  als  Original  des  Heraklit 
verwertet  hat,  giebt  er  mit  r)ezug  auf  sie  Zellern  zu,  dass  „die 
naheliegende  Ideenverwandtschaft  hin  und  wicihM-  zur  Einschwärzung 
heraklitischer  Züge  geführt  haben  mag".  Ist  diese  Möglichkeit  spä- 
terer Interpolationen  einmal  zugegeben,  so  sieht  mau  leicht,  dass  die 
Benutzung  der  Orphica  einen  ganz  anderen  Grad  von  Vorsicht  und 
Fernsicht  erheischt,  als  ihn  der  \'crf.  angewandt  hat.  Dass  derartige 
Religionsbücher  späteren  Interpolationen  ausgesetzt  sind,  liegt  ja  so 
sehr  in  der  Natur  der  Sache  und  zeigt  sich  in  den  Hesiod'schea 
Gedichten  so  handgreiflich,  dass  man  auf  alle  Fälle  sehr  stark  damit 
rechnen  muss'^). 

Der  durchschlagende  Beweis  für  das  Alter  der  orphischeu 
Litteratur  liegt  für  den  Verf.  der  griechischen  Cultc  in  ihrer  an- 
geblichen F'ebereinstimmung  mit  der  altorientalischen  Weisheit. 
Auf  dieses  Gebiet  ihm  weiter  zu  folgen,  fehlt  es  mir  an  Kenntnissen 
nicht  minder  als  an  Mut.  Denn  der  kaleidoscopische  Wirbel  aller 
möglichen  ägyptischen,  phöjiikischen,  assyrischen,  indischen  Philoso- 
pheme  verwirrt  den  klaren  Blick  nicht  minder  als  die  verblülfende 
Methode,  diese  orientalische  ITrphilosophie  nicht  aus  den  alten  ächten 
Quellen,  sondern  oft  aus  den  trübsten  Lachen  spätesten  Griechen- 
tums zu   schöpfen    oder    ächte  alte  L'rkunden,    wie    die    bekannte 


■')  Aehriliohe  Inferpolatiorien  lassen  si'h  auch  in  df m  ^^.  (i47  aus  Macmb. 
Hnfjeführten  orph.  Frajrm.  für  Knipeilulxles  luuMi  weisen.  Man  vgl.  ferner 
was  aus  der  Theogonie  des  .,1^1008"  Heraklitisciies  angeführt  wiid  (Gruppe 
S.  628). 


Berielit  iibev  die  deutsche  Litteratnr  der  Vorsokratiker.     1887.  93 

Höllenfahrt  der  Lstar  durch   chaldäisch-neuplatonisehen  Allegorien- 
dunst  zu  verdunkeln. 

Solchem  AVuste  gegenüber  sinkt  die  kritische  Feder  aus  der 
Hand.  Orientalische  Phantasmagorien  umgaukeln  das  Auge  und  aus 
den  wunderlichen  Fratzen  paradiesischer  Urweisheit  sieht  man  die 
Schatten  von  Creuzer.  Roth  und  Gladisch  auftauchen,  die  ihrem 
jungen  Adepten  freundlich  grüssend  zuwinken. 

Xenophanes. 
DüMMLER,  F.     Rheinisches  Mus.  XLII  (1887)  139f.O. 

Bei  Athenäus  IV  174 f.  liest  man  -('q^pdivoiai  -(«,0  o{  <I)orvix£?, 
Ä?  cor^aiv  0  Hsvocpuiv,  sypwvxo  aiiXotc;  siriv^afi-iottoi;  xo  [irjcöo;  o?u  xal 
70£pov  '^Ö£-f(0[x=vois.  Da  die  Stelle  bei  Xenophon  nicht  steht  und 
der  Dialect  auf  die  las  weist,  so  vermutet  der  Verf.  nicht  ohne  Wahr- 
scheinlichkeit, das  Fragment  stamme  aus  Xenophanes,  dessen  Po- 
lemik gegen  die  9p7;vo'.  der  Aegypter  (und  Eleaten)  erwähnt  wird; 
er  stellt,  da  die  Threnoi  der  Phönicier  auf  Adonis  in  der  Athenäos- 
stelle  mit  7q7p7.ivoiai  in  Verbindung  gesetzt  werden,  beispielsweise 
folgende  Verse  her: 

tpotvixc,  o'   auXotöiv  "Aotuviv  -(i-f^pciivoicii 
o^u  T3  /od  yjt^w  cp&rfi'OVTOii  .  .  . 
[Warum  nicht  cpÖsY-jOuivoic  beibehalten?] 

Pindar. 
LüBBERT,  E.  Commentatio  de  Pindaro  dogmatis  de  migratione  ani- 
marum  cultore.  Index  Schol.  hib.  Bonnae  1887. 
Der  Verf.  beabsichtigt  vor  allem  eine  religionsgeschichtliche 
Aufklärung  der  mystischen  Worte  der  zweiten  Ol.  Ode  zu  geben 
(63  Chr.  5G  M.)  z(r{z  .  . .  xic  olosv  xo  fxlXXov  oxi  Oavovxmv  jib  Ivilaö' 
a6xiV.'  dTraXajxyjt  cppsvsc  Toivac  i'xtaav,  xa  8'  sv  xaos  Aik  ap/a  dXixpot 
xaxa  7«?  otzotCst  ti?  lyOpa  Xo-'ov  cipatjaic  avcz'-ix?-    Er  billigt  mit  Recht 


•*)  Den  ebenda  S.  140  stehenden  Aufsatz  von  Suseuiilil  über  die  Chrono- 
logie des  Pittakos,  wie  andere  neuere  Arbeiten  von  WöltHiu,  Studemund, 
Brunco  über  die  Sprüche  der  7  Weisen  kann  ich  in  diesem  Jahresberichte 
nicht  berücksichtigen,  da  sonst  dem  Begriffe  der  Philosophie  eine  unziemliche 
Ausdehnung  gegeben  werden  müsste. 


94  TT.  l^iels, 

die  Erklärung  Aristarchs,  dass  hier  eine  doppelte  Strafe  vorliege:  die 
Sünden  des  Lebens  werden  im  Tode  gebüsst,  die  Sünden  des  Todes 
im  Leben. 

Das  letztere  erläutert  er  nun  dahin,  dass  Pindar  in  Ueberein- 
stiramung  mit  pythagoreischer  (uicht-orphischer)  Anschauung  unter 
den  Sünden  der  Unterwelt  nicht  bestimmte  Vergehungen,  sondern 
eine  Art  Erbsünde  verstanden  habe,  welche  namentlich  bei  der 
Wahl  des  Lebensberufes  vor  der  Palingenesie  die  sündigen  Menschen 
verstricke.  So  wird  Pindar  in  diesem  Punkte,  wie  der  Verf.  auch 
in  Einzelheiten  ausführt,  zum  Vorläufer  Piatons. 

Die  sehr  ausführliche  Darlegung  des  Verf..  welche  die  Escha- 
tologie  der  Pythagoreer  und  Orphiker  anziehend  darstellt,  würde 
noch  überzeugender  wirken,  wenn  der  historische  Anlass  zu  diesem 
seltsamen  Excurse  Pindars  aufgeklärt  wäre.  Denn  die  ganze  Ode 
von  der  2.  Strophe  an  scheint  mir  auf  gewisse  Mysterien  hinzuweisen, 
bei  denen  der  Agrigentiner  Theron.  der  Landsmann  und  Zeitgenosse 
des  mystischen  Empedokles,  beteiligt  war.  Es  würde  gewiss  belehrend 
sein,  wenn  ein  solcher  Kenner  Pindars  und  der  Religionsgeschichte 
sich  hierüber  verbreiten  wollte. 

Heussler,  IL  in  Fichte's  Zeitschr.  f.  Philosophie.  N.  F.  XXIL 
(1887)  137. 
•  Der  Verf.  sucht  in  einer  Anzeige  der  Schwegler'schen  Geschichte 
der  Philosophie  im  ümriss.  14.  Auß.  durcligesehen  und  ergänzt 
von  B.  Koeber  unter  A,  nachzuweisen,  dass  das  bekannte  Prota- 
goreische  Dictum  übersetzt  werden  müsse:  „Aller  Dinge  Massstab 
ist  der  Mensch,  der  Seienden,  wie  er  ist  (sich  gerade  befindet), 
der  Nichtseienden.  wie  er  nicht  ist." 


II. 

Bericht  über  die  deutsclie  Litteratiir  der 
sokratisclieii,  platoiiisclien  und  aristotelisclien 
Philosopliie  1886,  1887.    Zweiter  Artikel:  Plato. 

Von 

E.  Zeller  in  Berlin. 
(Schluss.) 

Als  Nachtrag  zu  meiner  Uebersicht  über  die  platonische  Lite- 
ratur dieser  Jahre  nenne  ich  noch: 

1.  ZiNGERLE,  Zu  Piatons  Laches  (Philol.  Abhandl.  4.  H.  S.  40—43). 

2.  Schönborn,  Zur  Erklärung  des  Phädrus.     Pless  1887  (Progr.). 

3.  R.  HocHEGGER,  Ueber  die  platonische  Liebe.    Berlin.    R.  Eck- 

stein Nachf.  s.  a.  22  S. 

4.  B.  RoTHLAUF,  Die  Physik  Plato's.  1.  2.    München  1887.  1888. 

(Progr.)  51  u.  90  S. 

5.  C.  Demme,  Die  platonische  Zahl.    Zeitschr.  für  Mathematik  und 

Physik.     Lpz.   1887,   H.  3.  Histor.  Abth.  S.  81—99.  H.  4, 

121—132. 
Von  Nr.  1  und  2  kann  ich  indessen  nur  die  Titel  anführen, 
da  es  der  Verlagshandlung  nicht  gelang,  sie  mir  zu  verschaffen. - 
Nr.  3  ist  ein  Vortrag,  der  unverkennbar  nicht  den  Anspruch  macht, 
einem  Kenner  Plato's  irgend  etwas  Neues  zu  sagen.  Sehr  viel 
Neues  enthält  auch  Nr.  4  nicht;  aber  doch  ist  es  recht  dankens- 
werth,  dass  Vf.  es  unternommen  hat,  in  diesen  fleissigen  und  an- 
spruchslosen Abhandlungen  alles  zusammenzustellen,  was  sich  bei 
Plato,  vorzugsweise  natürlich  im  Timäus,  auf  die  Physik  im  enge- 
ren Sinn    (mit  Ausschluss    der  Mathematik    und    der  organischen 


9ß  K.   Z.'ller, 

l'hysik)  beziigliclios  liiuli-1.  Don  Stellen  aus  Plato,  die  in  Ueber- 
set/Aing  raitgetheilt  werden,  sind  Bemevkimgen  beigefügt,  welche 
tlieils  VAX  ihrer  sachlichen  Erläuterung  dienen,  theils  ihr  \'erhält- 
niss  7A1  der  heutigen  Naturwissenschaft  betreffen;  unter  denselben 
ziemlich  viele  Auszüge  aus  neueren  Werken  zur  Geschichte  der 
Physik  und  ihrer  einzelnen  Theile,  welche  dem  philologischen  Er- 
klärer Plato's  weniger  zur  Hand  zu  sein  ptlegeu;  wogegen  Vf. 
seinerseits  selbst  sagt,  dass  er  auf  erschöpfende  Benutzung  der  ein- 
schlägigen Literatur  verzichte.  Einzelheiten  betreffend  will  ich 
folgendes  bemerken.  Dass  Plato  jedem  Element  seineu  natürlichen 
Ort  anweist,  ist  zwar  unbestreitbar;  aber  auf  Phädo  110.  Krat. 
410  durfte  sich  \{.  (I,  13)  dafür  nicht  berufen.  —  Zu  weit  her- 
geholt scheinen  mir  seine  Yermuthungen  (I.  31)  über  die  Gründe, 
weshalb  Plato  Tim.  55 D  f.  die  Elemente  hinsichtlich  ihrer  Beweg- 
lichkeit so  ordnet:  Feuer.  Luft.  AVasser,  Erde.  Ich  denke,  er  hält 
sich  hiebei  einfach  an  den  Augenschein;  und  er  sagt  ja  auch  a.  a.  0. 
nicht:  weil  die  Erde  die  AVürfelform  hat,  sei  sie  das  unbeweg- 
lichste Element,  sondern:  weil  sie  das  unbeweglichste  ist,  wolle  er 
diese  Form  ihr  zuweisen.  —  Dass  es  sich  bei  der  pythagoreisch- 
platonischen  Messung  der  Tonhöhe  uach  Zahleu  nicht  um  die 
Schwiugungszahlen  (I,  41.  IL  17  u.  ö.)  der  Töne  handelt,  von 
denen  jene  Zeit  noch  nichts  wusste,  sondern  um  die  Längen- 
verhältnisse der  tönenden  Saiten,  und  dass  die  7:Xr^7ai,  aus  denen 
die  Töne  zusammengesetzt  sind,  nicht  „Schwingungen"  (IL  1) 
sind,  sondern  Stösse,  hätte  Verf.  aus  meiner,  ihm,  wie  es  scheint, 
unbekannt  gebliebenen,  Phil.  d.  Gr.  I '.  372.  IIa',  654L  abneh- 
men können.  —  11.27  glaubt  VL  mit  andern,  der  Kreis  des 
Selbigen  und  des  Andern  Tim.  36  0  werden  beide  von  dem 
Himmelsgewölbe  umfasst.  Allein  der  Kreis  des  Selbigen,  der 
Fixsternhimmel,  ist  vielmehr  selbst  das  Himmelsgewölbe:  umhüllt 
wird  er  nebst  den  sieben  Planetensphären  von  der  xtv/jötc  xatot 
TauT«  xotl  £v  xotuTiui  -sjiia-j'ojJLSvr^;  zivr^aic  ist  aber  nicht  ^r=.  y.6/.Xos, 
ofcpaTpa  oder  oupavoc,  diese  die  Welt  umgebende  xivr^si;  ist  vielmehr 
das  gleiche,  wie  die  sie  (nach  Tim.  36 E)  umgebende  Seele,  die  ja 
auch  (Gess.  X,  896  A)  als  eine  sich  selbst  bewegende  Bewegung  be- 
zeichnet wird.     Dass  die  Planeten  kein  eigenes  Licht  haben,   son- 


Herioht  üb. d.deutscheLitt. d.sokiat. piaton. u.aristot. Philosophie  1886, 1887.      97 

(U'rn  ihre  ganze  Beleuchtung  von  ilor  Sonne  erhalten  (IL  40),  geht 
au.s  Tim.  B9B  nicht  hervor:  Rep.  \.  ßlßJ)  1'.  Tim.  40A  f.  sprirlit 
vielmehr  dafür,  dass  dies  nur  vom  Monde  gilt,  mag  auch  I'hito 
vielleicht  den  andern  Planeten  neben  dem  eigenen  noch  ein  von 
der  Sonne  entlehntes  Licht  zugeschrieben  haben,  wie  Anaxagoras. 
Nr.  5  versucht  eine  neue  Erklärung  des  Zahlenräthsels.  welches 
Plato  Rep.  VII,  546 B  f.  seinen  Lesern  aufgibt.  Indessen  werden 
durch  diese  Abhandlung  die  von  den  bisherigen  Erklärungsversuchen 
übriggelassenen  Dunkelheiten  so  wenig  aufgehellt,  dass  sie  viel- 
mehr aucli  da.  wo  die.selben  festen  Grund  unter  sich  haben,  diesen 
wieder  verlä.sst.  um  statt  dessen  mit  einer  neuen  Deutung  in  die 
Irre  zu  gehen.  Der  Hauptgrund  dieses  unbefriedigenden  Ergebni.sses 
liegt  aber  darin,  dass  es  der  Arbeit  des  \f.  an  einer  haltbaren 
exegetischen  Grundlage  allzusehr  gebricht,  wie  dies  denn  freilich 
nicht  liberraschen  kann,  wenn  er  beispielsweise  S.  132  in  den 
"^Aorten:  c'ju7:7.c  os  ootoc  7.pit>ij.o?  -'c(U}x£Tf/i/oc  toioutou  xupioc,  aast- 
vovojv  '/.r/A  yiijO'iVwv  -^svicfscuv  das  xoi'jtjiou  mit  -'stuasTjOi/o;  verbindet 
und  von  /.-jfy.oc  abtrennt  (wie  sie  dann  aber  zu  erklären  sein  sollen, 
wird  uns  nicht  gesagt).  AVährend  bisher,  so  viel  ich  mich  erinnere, 
niemand  bezweifelte,  dass  a.  a.  0.  unter  dem  OsTov  -|'£vv-/;trjv  die  Welt 
verstanden  werde,  unter  dem  ocviipui-stov  die  Menschengeschlechter, 
will  D.  jenes  (angeblich  mit  dem  Bekker'schen  Scholiasten,  der 
aber  vielmehr  die  Gesammtheit  des  Körperlichen  darunter  ver- 
steht) auf  die  Seele  beziehen,  dieses  auf  den  Leil),  und  die  ganze 
Beschreibung  auf  die  Rep.  X,  6140'.  erwähnten  1000jährigen  Pe- 
rioden für  die  Wanderung  der  Seelen,  l^m  nun  in  unserer  Stelle 
diesen  Sinn  hnden  zu  können,  deutet  er  den  otoiibao;  -ilzin:  auf 
die  Zehnzahl  und  die  Zahl  des  ctvtJptuTTE'.ov  -/svvr^Tov  auf  die  Hun- 
dert: dass  aber  von  einer  Verbindung  dieser  beiden  Zahlen  zu  einer 
dritten  bei  Plato  kein  ^Vort  stellt,  eine  solche  vielmehr  ganz  un- 
möglich, und  die  Zahl  des  ctvDf/w-siov  ^ew/^tov  die  einzige  ist,  um 
die  es  sich  liei  der  richtigen  Anordnung  der  Zeugungen  handelt, 
macht  ihm  keine  Sorge.  J)ass  ferner  a.  a.  0.  mit  den  Worten  iv 
(u  TT&ioxm  auHa-i::  —  -y.-ecir.vav  auf  die  Zahl  hundert  hingewiesen 
werde,  wird  mittelst  einer  durchaus  unannehmbaren  Erklärung  dar- 
gethan.    Für  otTioaTofasi;  liest  D.  mit  einem  Theil  der  Handschriften 

Archiv  f.  Geschiditc  cl.  Pliik  i^upliic.     II.  • 


«»« 


i:.   ZelU'V, 


a-rj-Ao.-.OL'yzd^tK .  giebt  diesem  die  Bedeutung:  „Zurückkehren  z.um 
Ausgangspunkt",  die  freilich  für  dieses  Wort  aus  den  apiUaol  7.-0- 
•/.'xx'n-o.-vK'A  (in  ihren  höheren  Potenzen  wieder  auftretende  Zahlen, 
wie  5  und  0)  noch  lange  nicht  folgt,  hält  -[jzXz  ct-oxaxacyraasi;  //y- 
ßoOacd  für  gleichbedeutend  mit:  dreimal  zu  sich  selbst  addirt.  -h- 
-OLrji:  ooo'jc  X7ßou3C(t  mit:  vervierfacht,  und  bringt  so  heraus,  dass 
die  fraglichen  Worte  die  Generationszahl  als  das  Vierfache  von  5^ 
(als  ob  die  ouvctusvir;  5  mit  oüvotasvott'  ts  •/.'■ja  oüvaiTS-jousvat  — 
5.  4,  3  —  bezeichnet  werden  könnte)  beschreiben  wollen.  Was 
endlich  die,  gegenwärtig,  wie  ich  glaube,  (u.  a.  von  Susemihl 
Arist.  Polit.  II.  :5711f.)  vollkommen  befriedigend  erklärten  Worte: 
(üv  s-iTf/iTo;  -ül)uY,v  -7-  y.'jßtov  TO['70o:  betrifi't.  so  meint  Vf.  zuiiiichst 
Tpu:  aü^jOslc  sei  gleichfalls  so  viel  als:  dreimal  zu  sich  selbst  addirt; 
er  macht  sodann  aus  dem  iTiiTpiToc  kuUjxyjv  TsjjL-aoi  au^u-j'sic  still- 
schweigend die  Fünf  allein,  und  übersetzt  schlies.slich  t->,v  usv  (sc. 
apiioviav)  i3-/;v  ticrxic,  ixot-ov  -:o3«'jtoizic :  „die  eine,  eine  gleiche, 
gleichvielmal  genommen  gibt,  ebensovielmal  wie  oben  (dreimal  um 
sich  selbst)  vermehrt,  hundert."  In  den  nächstfolgenden  Worten: 
Tr,v  fjt  tdouLTj/y,  uEv  t^,  -poixY''.yj  os,  giebt  er  der  Variante  7:poav;xEt 
den  Vorzug,  lässt  diesen  Dativ  von  dem  zu  ergänzenden  ctp'xovtoiv 
regiert  sein,  und  erklärt,  wie  laut  auch  das  asv  und  os  protestiren 
mögen:  „die  andere  ist  die  Beziehung  gleicher  Seiten  zu  ungleichen 
Seiten".  Unter  den  ix7tov  apii}u.r.t  7-0  ot7u.stpu)V  p/jTtuv  Tsa-aotuv 
(wie  I).  statt  -z\xrAZrjz  liest)  n.  s.  w.  soll  die  Zahl  Hundert  (wie 
wenn  diese  mit  k-m-bj  otpii^jxot  bezeichnet  werden  könnte!)  als  Pro- 
dukt aus  den  Quadraten  der  Diagonalen  von  zwei  Quadraten  von 
5  zu  verstehen  sein;  wobei  aber  die  zwei  Quadrate  ganz  willkür- 
lich eingeschwärzt  werden.  Bei  den  ix^-ov  x6ßot  tpiaooc  versagt 
die  Exegese  des  Vf.:  er  ändert  daher  den  Text,  setzt:  Ixottov  02 
xüßcov  xGtt  TO'j  'j.-',  ~rj\rpjrtt  und  übersctzt  dieses  klassische  Griechisch 
eben.so  klassisch:  „andererseits  aber  hindert  als  Summe  von  Kuben 
[nämlich  f)4  und  27]  und  des  Dreiquadrats".  —  Dies  der  neueste 
Beitrag  zur  KrkhnunL;   Piatos  von  mathematischer  Seite. 


III. 

Jaliresbericlit  über  die  neuere  Philosophie 
bis  auf  Kant  für  1887 

Vou 
Benno  Srdniann  in  Breslau 

Erster  Teil 
Descartes  und  Locke 

Es  sei  gestattet,  den  Jahresbericht  diesmal  mit  einer  Erörte- 
rung zu  beginnen,  welche  die  Grenzen  zwischen  einen)  solchen  Be- 
richt und  einer  selbständigen  Abhandlung  im  wesentlichen  ver- 
wischt. Die  Gründe  dafür  liegen  fürs  erste  darin,  dass  die  Er- 
gebnisse der  beiden  gleich  zu  nennenden  Arbeiten  mehrfach  eine 
Zustimmung  gefunden  haben,  welche  schwerlich  gerechtfertigt  wer- 
den kann,  und  fürs  zweite  darin,  dass  der  gemeinsame  Gegen- 
stand derselben  nicht  bloss  für  die  Systeme  der  beiden  Philosophen, 
auf  die  er  sich  unmittelbar  bezieht,  sondern  für  die  Entwicklungs- 
geschichte der  philosophischen  Probleme  im  siebzehnten  Jahrhundert 
überhaupt  bedeutsam  ist. 

Die  Arbeiten  sind  eine  Strassburger  und  eine  Berliner  Disser- 
tation : 

1.  Geh.,  G.    Ueber  die  Abhängigkeit  Lockes  von  Descartes,  98  S., 

Strassburg.  J.  H.  Ed.  Heitz. 

2.  SoMMEH,  R.     Lockes  Yerhältniss   zu  Descartes.   63  S.,   Berlin, 

Mayer  und  Müller. 
Das  glücklich  gew^ählte  Thema  ist  dort  von  Windelband   an- 
angeregt,  hier  als   Gegenstand  einer  akademischen  Preisfrage  auf- 
gegeben. 


7* 


\{){)  Wcnno  Kid  mann, 

Nach  Anlage  uiul  Methode  siiul  beide  Abhandlunyeii  <:>•;> 'i^'lit^'Ji 
verschieden.  Die  erstere  ist  im  ganzen  sorgsam  fundirt,  wenn 
schon  die  Interpretation  im  Einzelnen  von  INIissverständnissen  nicht 
frei  ist :  iine  Methode  ist  wesentlich  induktiv:  die  Ergebnisse  ver- 
bleiben, abgesehen  von  den  einleitenden  Bemerkungen  gegen  die 
in  der  Tat  ans  systematischen  Gründen  mehrlach  überschätzte  und 
zu  ausschliesslich  l>etonte  Trennung  der  philosophischen  Strömun- 
gen des  siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhunderts  in  eine  ratio- 
nalistische  und  eine  empiristische,  mehr  im  Einzelnen:  die  Dis- 
position ist  etwas  undurchsichtig;  die  Darstellung  öfters  schwerfällig 
und  nicht  l'rei  von  Wiederholungen.  Die  andere  geht  auf  Einzelnes 
kaum  ein;  das  A'^erfahren  ist  hauptsächlich  deduktiv;  die  Ausfüh- 
rung reich  an  Einfällen  u\n\  Aussichten,  die  öfter  ohne  kritische 
Zurückhaltung  systematisirt  werden;  die  Darstellung  ist  gewandt 
und  lebendig.  ^ 

Sclmn  in  Folge  unvollständiger  Heranziehung  des  Materials 
iiat  keiner  von  beiden  Autoren  den  Gegenstand  erschöpft;  keines 
der  hauptsächlicheren  Ergebnisse  beider  winl.  wenn  die  nach- 
stehende Erörterung  beweiskräftig  ist,  uulrecht  erhalten  werden 
können:  Beide  jedoch  sind  als  Erstlingsarbeiten  Leistungen,  die  den 
Durchschnitt  der  Dissertationen  überragen.  Sie  liefern  Vorarbeiten, 
die  Jedem  zu  statten  kommen  werden,  der  den  historischen  Be- 
ziehungen zwischen  Descartes  und  liocke  vollständiger  nachgeht, 
und  die  damalige  Eage  der  philosophischen  Probleme  umfassender 
und   unbefangener  wür(bgt.  .  \ 

Von  eilirr  kritischen  Besprechung  der  Aulfassungen  des  Car- 
lesianischen  Systems  hei  beiden  Autoren  wer(h>  liier  abgesehen, 
(leij  lindet  den  (irundzug  desselben  ganz  wie  bei  Locke  in  der 
Zuspitzung  t\ov  |)hil(tsopliischen  J'rdMenie  ;iur  die  Erkenntnistheorie. 
Sommer  dagegen  sieht  als  den  „Centralpunkt"  derselben  eine  „dog- 
matisch starre"  Metaphysik,  welche  in  Locke  „die  Forderung  einer 
Kritik  der  Erkenntnisniittel  erweckt'\  Jener  behauptet  in  aus- 
liilirlicher,  übrigens  dui-ch  unl)eachtet  gebliebene  Nachweise  Bau- 
manns leicht  zu  ergänzeniler  Darstellung,  dass  das  himen  naturale 
im  engeren  Sinne,  als  das  Vermögen  (Um-  Erkenntnis  des  unmittel- 
bar   Evidenten,   „in   dem   Svsteme  Descartes   die   wichtigste  Stelle 


Jahresbericht  über  die  neuere  Philosopliie   bis  auf  Kaut  fiir  18.S7.     JOl 

einnimmt".  Dieser  konstfuirt  sich,  die  systematisirte  Dichtnng 
in  dei'  dissertatio  de  methodo  fiir  historische  Wahrheit  nehmend, 
die  Metaphysik  des  Philosophen  aus  den  nachträglich  „rational  for- 
inulirten"  „inneren  Erfahrungen"  Gottes,  der  AVillensfreiheit  und 
der  eeistioen  Natur  des  Menschen. 

In  der  Abhängigkeitsbestimmung  beider  Philosophen  legt  Geil 
besonderen  Nachdruck  auf  dii;  Uebereinstimmung  derselben  in 
der  Lehre  von  den  angebornen  Ideen,  die  S.  als  einen  offen- 
baren Bestandteil  der  Opposition  Lockes  gegen  Descartes  kanm 
erwähnt.  Geil  sucht  zu  erweisen:  Lockes  Definition  der  innated 
idi'ds  frifft  nicht  die  Fassung  der  idme  innatae  bei  Descartes;  die 
von  Lücke  kritisirteu  Beweisgründe  l'iii'  solche  Ideen  ferner  fehlen 
bei  Descartes;  die  Gesichtspunkte  dieser  Lockeschen  Kritik  ent- 
sprechen vielmehr  im  ganzen  den  Annahmen  des  frauzösischen  Pliilu- 
sophen;  Locke  erkennt  sogar  in  den  Vorstellungen  des  Ich  und 
der  Gottheit  angeborene  Ideen  im  Sinne  Descartes  an  {Essay  IV 
7,7;  IV  10,1,  4,6);  die  von  Locke  bekämpfte  Hypothese  endlich 
findet  sich  nicht  bei  Descartes,  sondern  bei  Denkern  wie  Ralph 
Cudworth.  Henry  More,  Samuel  Parker  und  Theophilus  Gale, 
also  bei  den  platonisirenden  Theologen  jener  Zeit,  sowie  bei  Her- 
bert von  Cherbury.  Nach  dem  Allen  war  „Locke  sich  bewusst, 
dass  Descartes  nicht  in  dem  Sinne  angeborne  Ideen  behauptet  hat, 
in  dem  er  sie  leugnet". 

Beiden  Philosophen  ist  nach  Geil  ferner  die  Lehre  von  der 
intuitiven  Erkenntnis  gemeinsam,  sofern  beide  anerkennen,  dass 
das  lumen  naturale  uns  unmittelbar  gewisse  Grundsätze  in  uns 
auffinden  lässt.  Auch  die  Lehre  von  der  demonstrativen  Erkenntnis 
zeigt  „Locke  durchaus  abhängig  von  Descartes":  des  letzteren  Idee 
einer  mathesis  universalis  klingt  in  Lockes  Sätzen  von  der  demonstra- 
tiven Gewissheit  der  Mathematik,  der  Moral  und  des  Gottesbeweises 
wieder.  Sommer  dagegen  lässt  Locke  sich  Descartes  LTnterscheidung 
der  Vorstellungswelt  und  der  Welt  der  bewegten  Materie  „ganz  zu 
eigen  machen":  sie  gibt  ihm  den  scharf  begrenzten  Begriff  der 
Sensation  als  der  Sinneswahrnehmung,  die  als  subjectiv  erregte 
Empfindung  streng  von  dem  erregenden  materiellen  Vorgang  ge- 
schieden  wird.     Er  findet  ferner  im  Gegensatz  zu  Geil  in  Lockes 


jQO  Benno   Knlmann, 

Tliooiio  (lor  (Ifinunstiativcii  I',ikcimtiiis  als  der  mittelbaren  implicit, 
eine  Kritik  der  Methoilc  J)os(artfs. 

(ü'il  wie  Sommer  hoben  sudann  die  Anerkennung  hervur,  die 
Locke  dem  Carte^^ianisclieii  coijiio  ergo  sum  zu  Teil  werden  lässt 
(IV  10.2  11.  \\  o,  (>):  -ff  <-^  p<"^f  controversij ,  that  we  hace  in  us 
sonidhiiKj  that  thinks;  our  cen/  doubts  about  irhnt  it  is  conp'rni  the 
ccrtaintii  of  its  beinfj.''  Sommer  lässt  aus  der  „Aufnalime  uml 
\  trtieruiig"  dieser  „eiulachsten  inneren  Erfahrung"  den  Ikgrift' der 
rpßevtion  entstehen. 

Scllisl  I.ockes  rrteilslelire  „trägt"  nach  einem  kühnen  Piiide 
(leiis  ^deutlich  Descartes'  Cieist  auf  der  Stirn",  sofern  er  lehrt: 
error  As  not  a  fault  of  our  hioirlnbjc,  but  mistake  of  our  judq- 
ment,  i/'cinf/  assent  to  that  which  is  7iot  true.'' 

Hinsichtlich  des  Gottesbeweises  finden  beide  Interpreten  wieder 
Entgegengesetztes.  Nach  Geil  leitet  Locke  „ganz  in  Cartesianischer 
Weise  aus  dem  Begriff  Gottes  die  Vollkommenheit  Gottes  ab  mit 
Hilfe  des  himen  naturale,  ein  Beweis  der  erkenntnistheoretisch 
ganz  auf  einer  Linie  mit  den  Cartesianischeu  Auslassungen  über 
den  Gottesbegriff  steht,  und  nur  allzusehr  Descartes'  Einiluss  ver- 
rät.'' Sommer  dagegen  urteilt:  „Locke  macht  (durch  seine  Analyse 
der  Gottesvorstellung)  für  den  aufmerksamen  Leser  den  Cartesiani- 
scheu Gottesbeweis  zu  nichte,  selbst  wenn  er  sich  nicht  in  directer 
AViderlegung  gegen  denselben  wendet." 

Sogar  für  Lockes  Stellung  zur  Offenbarung  lässt  Geil  „die 
Mojilichkeit  einer  Beeinlhissung"  bestehen,  während  Sommer  aus 
der  .Aulfassuns  der  tlffenbaruiiu  Ihm  bi'idcn  Philosophen  zwei  Ent- 
Wicklungsperioden  systematisirt:  doit  Anwendung  der  Vernunl't  nur 
auf  Diuge  >le  (fuibus  fixles  divina  nihil  docef:  hier  flic  \  ernuiilt  ein 
dem  Glaulten  ebenbürtiges  Princip. 

Geil  .>ucht  endlich  auch  auf  dem  Gebiet  der  Natnrerkenntni>s 
tiefgehende  Abhängigkeit  aufzudecken:  „das  Wirken  der  Objecten- 
welt  geschieht  nach  Descartes  wie  nach  Locke  durch  Stoss":  Lockes 
Erörterung  der  secondarif  (/ualifies  zeigt  „bis  auf  einzelne  Wendungen 
in  der  Darstellung  frappante  Aehidiclikcit  mit  Locke;"  gleiche  l'clier- 
einstimmung  bieten,  abgesehen  von  der  :oliditij,  die  Ausführungen 
beider  l'hilosophen  über  die  von  Locke  sogenannten ^'/7'/«(/yv/  qmditie^. 


I 

I 


Jahre-,lieriflit  über  die  neuere  Philosophie  bis  auf  Kant  für   1887.     103 

Sommer  andrerseits  hebt  hervor,  dass  die  Lehre  von  den 
Spiritus  animales,  „welche  sich  Descartes  bei  der  konsequenten 
\'erfolgung  seines  Gedankens  von  der  materia  extenso,  ergeben  hatte", 
von  liücke  acceptirt,  aber  nur  als  mögliche  Hypothese  eingeführt 
sei.  Er  sieht  endlich  in  Lockes  Aeusserungen  über  unsere  Un- 
wissenheit hinsichtlich  der  Substanzsn  (II  23,  16,  26)  „den  absoluten 
Idealismus  schon  vullkommen  vorgebildet",  und  glaubt  in  dem  Um- 
stand, dass  Locke  diesen  Idealismus  in  seiner  Lehre  von  den  j>ri- 
mary  qualities  so  gar  nicht  erkennliar  macht,  „den  Eintluss  der 
physikalischen  Denkart"  Descartes'  7ai  erkennen. 

Es  bedarf  nach  dieser  vergleichenden  Aufzählung  kaum  der 
Bemerkung,  dass  auch  diejenigen  Argumente  beider  Interpreten, 
die  sich  nicht  direkt  entgegengesetzt  sind,  zum  Teil  nur  geringe 
Beweiskraft  haben.  Dahin  gehören  vor  allem  die  Aehnlichkeiten, 
welche  Locke  zwar  mit  Descartes,  aber  doch  auch  mit  andern 
seiner  Zeitgenossen  und  Vorgänger  verbinden,  so  dass  aus  ihnen 
auf  eine  specielle  Abhängigkeit  von  Descartes  nur  geschlossen  wer- 
den könnte,  wenn  die  Abhängigkeit  von  jenen  andern  ausgeschlossen 
würde.  Zu  solchem  Ausschluss  findet  sich  aber  abgesehen  von  der 
Theorie  der  sekundären  und  primären  Qualitäten  weder  bei  Geil 
noch  bei  Sommer  ein   Versuch. 

So  fällt  das  liinum  naturale^  ein  Begriff,  der  schon  durch  die 
Art  wie  beide  Philosophen  ihn  einführen  und  venverten,  seine 
scholastische  Abstammung  verrät.  Geil  versperrt  sich  allerdings 
nicht  von  vornherein  den  Weg  zu  einer  historischen  Ableitung, 
wie  gelegentlich  E.  Grimm  (1873)  getan  hat,  welcher  erklärte,  dass 
das  himen  naturale  „zwar  ein  herkömmlicher  Begriff  der  Scholastik 
war",  dass  man  jedoch  „bei  der  Unabhängigkeit  von  aller  scho- 
lastischen Philosophie,  welche  das  System  Descartes'  auszeichnet", 
die  Bestimmung  desselben  „nicht  aus  der  Scholastik,  sondern  nur 
aus  Descartes  selbst  zu  gewinnen  suchen"  müsse.  Aber  er  glaubt 
doch  aus  dem  Mangel  einer  ausdrücklichen  Definition  desselben 
bei  Descartes  (und  bei  Locke!)  „ruhig  den  Schluss  ziehen  zu  dür- 
fen, dass  es  seiner  (Descartes')  Ansicht  nach  nur  aus  den  Wirkun- 
gen zu  beschreiben  sei".     Er   betritt  also   den    freigelassenen   Weg 


1(4 


Beiin  0  F.  nl  man  u  , 


iiiclit.  Liicke  gebraucht  iiluTilics  den  Terminus  li<j]it  0/  7w.fure 
iiirlit  in  ilt'iii  engeren  SiiiiH>.  in  dem  das  Itiincn  rnifura/t'  hei  Des- 
carles  (wir  später  bei  Lcümi/.)  |iriiici|»ielltM-e  Hedfulung  hat,  son- 
dern üan/,  wie  llul»lies  >trls  in  (h-m  weilen  tiaditiunenm  Sinne,  der 
durch  t\rn  (Ii-gensat/  zu  der  jid^ifirc'  irrrUdion  gegelM'ii  isl.  Su  im 
Ksstn/  I  ,'),  ji)  und  in  den  vun  (i.  unhenulzl  gehisscnen  IJriel'en,  bei 
Lurd  King  (Life  of  John  Locke'^  ISoOJ)  z.  B.  1  807. 

Ebenso  fällt  als  Argument,  um  nur  dies  eine  nueh  zu  erwähnen, 
die  ll\  imtliese  der  siiirifiis  animales^  die  Ja  nicht  nur  eine  bis  in 
(li(>  IMiitezeit  der  griechischen  l'hihtsuphie  verlblgiiarc  (ieschichte 
liesit/.t.  siiiiderii  auch  gerade  um  den  Aniang  ^\i^s  sechzehnten  Jahr- 
hunderts weiteste  Verbreitung  gefunden  hatte.  War  sie  doch  ein 
Gemeingut  der  wissenschaftlichen  ^ledicin  jener  Zeit,  l  nd  Locke 
hat  sie  gewiss  hauptsächlicl)  wie  vur  ihm  Descartes  aus  dieser 
(^Uiellc  geschöpft,  wenngleich  es  möglich,  aber  irrelevant  ist,  dass 
er  sie  zuerst  bei  Descartes  kennen  gelernt  hat.  i*^r  fand  sie  bei 
Servet.  1mm  Cesalpin,  liei  llarvey,  kurz  l>ei  seinen  mediclnischen 
Studien  idierall  ebenso,  wie  wir  heutzutage  etwa  die  Lehre  von 
den  M'iisurischen   und  motorischen  Nerven. 

\'on  solchen  Gesichtspunkten  aus  fallen  die  meisten  der  von 
(ieil  wie  von  Sommer  i)eigebrachten  Argumente  in  sich  zusammen. 
\'i)u  (h'ii  idirig  bhMbeuden  beruht  die  lu'ziehung  der  Urteilslehre 
Lockes  auf  ilie  i\v:^  J)escartes  aui'  einer  irrtümlichen  Deutung  der 
Worte  des  englischen  Philosuphen.  Es  geht  dies  aus  der  Willens- 
und Kreiheitslehre  J.ückes,  die  G.  nicht  erörtert,  unzweifelhaft  her- 
vor. Keine  der  iieiden  Abhängigkeiten  ferner,  die  G.  und  S.  in 
dem  liockeschcn  Gottesbeweis  linden,  ist  zud-effend.  Sie  hätten 
auch  hier  Entscheidendes  in  dem  mannigfachen  biographischen 
Material  bei  Jjord  King  und  l'ox  Bourne  {The  l/j'c  of  John 
/voc/v,  2  Vol.  1S7())  sehen  k(")nii('ii.  (his  sie  vollständig  unbeachtet 
gelassen  haben.  Jiocke  hat  sich  in  der  Tat  mit  dem  Gottesbeweise 
Descartes'  beschäftigt ,  jedoch  nicht  ihn  anerkennend,  wie  G.  be- 
hauptet, sundern  ihn  verwerfend,  alter  nicht  aus  den  (irünih-n  ihn 
verwerfend,  die  S.  vermul(^t.  Der  Beweis  endlich  lindet  sich  nicht 
in  dem  Ktisdij,  wo  lieide  ihn  gesucht  haben,  sondern  in  eiiitMU 
Hlatt  seiner  Miso'/lfOifous  Phihis^  unrj  zwar  vum  Jahre  Kjl't),   und 


Jahresbericht  über  die  neuere  Philosophie  bis  auf  Kant  für  1887.     105 

hebt  mit  folgenden,  Lockes  Vertrautheit  mit  der  Cartesianischen 
Lehre  charakteristisch  illustrierenden  Worten  an:  „Thoioj/i  I  had 
heard  Descartess  opinion  conceniing  fhe  being  of  a  God  offen 
questiojied  Inj  sober  inen,  and  no  enemiea  to  his  nnme,  yet  I  sus- 
pended  inij  judgment  of  hlm  tili  /atelt/  sctthir/  mijself  to 
examine  his  proof  of  a  God ,  I  foiind  llmf  l>ij  it  senseless  matter 
might  be  fhe  frst  etenwl  being  and  cause  of  all  fhings  as  well  as 
an  immatcrial  intelligent  spirit;  this,  Joined  to  his  shut/ing  out  fhe 
consideration  of  final  canses  oiit  of  his  jiliilosophg,  and  his  bdiounng 
to  invalidate  all  ofher  proof s  of  a  God  but  his  own,  does  un- 
avoidablij  drair  upon  liiin  soine  suspicio7r'  (bei  Lord  King  II  133 
—139).  In  gleichem  (leiste  stimmt  er  wenige  Jahre  später,  als 
er  seinem  Freunde,  dem  Theologen  van  Limborch,  einen  Beweis 
der  Einzigkeit  Gottes  mitteilte,  dem  Urteil  7ai,  dass  die  herkömm- 
liche Anordnung  der  Argumente  in  den  Guttesbeweisen  dartue, 
^que  les  Theologiens,  les  Philosophes,  et  JJescartes  lui-meme,  siop- 
posent  l'u7Üte  (die  Einzigkeit)  de  Dieu,  sa7is  la  prouver'  (W.  in  ten 
volumes''  1812,  X  TT,  T5). 

Es  bleuten  nach  dem  Allen  drei  Argumente  zur  Prüfung  übrig. 
Fürs  erste  Lockes  Anerkennung  des  in  der  Cartesianischen  Formel 
cogito  ergo  sitm  enthaltenen  Gedankens.  Denn  eine  solche  darf  in 
den  oben  angeführten  Worten  gesehen  werden,  auch  wenn  man 
sich  bei  der  verneinenden  Frage  Geils:  'Wo  ist  jene  als  ein  Satz, 
wie  das  Cartesianische  cogito  ergo  sutu  vor  Dcscartes  aufgestellt 
worden?'  an  Augustinus,  Campanella,  Montaigne,  Charron  und 
Sanchez  erinnert.  Diese  Anerkennung  will  jedoch  wenig  besagen: 
Bei  Locke  fehlen  alle  jene  Voraussetzungen  und  all"  jene  Con- 
sequenzen,  die  den  Gedanken  bei  Descartes  grundlegende  Bedeu- 
tung gewiuucn  lassen.  Ausserdem  kann  diese  gelegentliche  Ueber- 
einstimmung  dem  aufmerksunien  Beolmchter  den  Unterschied  nicht 
verdecken,  der  in  Lockes  Polemik  gegen  die  cogitatio  als  Attribut 
der  Seele  vorliegt.  Hier  hat  A.  de  Fries  (18T9),  dessen  scharf- 
sinnige Abhandlung  beide  Interpreten  unverwertet  gelassen  haben, 
um  vieles  genauer  gesehen. 

leberzeugond  ferner  ist  Geils  Beweis  aus  der  Aehnlichkeit  in 
der  Theorie   der  primären  und  secundären  Qualitäten  nicht,  selbst 


\{)[\  P.iMiiio   Kr'liiiaiin, 

wenn  in;iii  von  ilcii  s|i;it{M-  auszuführenden  allgemeinen  Bomerkun- 
gfii  alisiolit.  Eine  direkte  Aldiiingigkeit  der  Darlegung  Lockes 
von  den  Erörterungen  Descartes'  aus  den  mehrfachen,  von  Geil 
allerdings  iiherschiifzteii  Analugicn  einzelner  Beweisgründe,  sowie 
aus  den  geringeren  Analogien  zu  (Umi  Auslassungen  von  Hohbes 
wird  man  Bedenken  tragen  anzunehmen,  sobald  mun  sieh  der 
weiten  Verbreitung  und  Anerkennung  der  Grundlagen  dieser  Theorie 
seit  dem  vierten  Jalnzelint  des  siebzehnten  Jahrhunderts  bewusst 
bleibt,  so  lange  ferner  die  Beziehung  der  Lehre  Lockes  auf  die 
pn'man'dc  und  secni7ulafiae  qualitates  bei  R.  Boyle,  auf  die  Eu(;ken 
hingewiesen  hat.  nicht  ebenfalls  in  den  Kreis  der  Untersuchung  ge- 
zogen ist.  Die  Historiker  der  Philusophie  haben  zu  dlt  gegen  den  Geist 
der  Sache  gesündigt,  als  dass  wir  uns  nicht  lebendig  halten  müssten, 
wie  solche  Aehnliclikeiten  ohne  jeden  direkten  historischen  Ein- 
lluss,  rein  aus  der  Gleichheit  des  Gegenstandes,  entstehen  können. 

Am  bestechendsten  möchte  der  ausführliche  Beweisversuch  Geils 
wirken  können,  da  eine  bewusste  Abhängigkeit  zu  konstatieren,  wo 
die  Tradition  eiilen   principiellen,  absichtlich   hervorgehobenen  Ge- 
gensatz annimmt,  in  der  Lehre  von  den  angebornen   Ideen.     Denn 
es  i>~l   uiizweifellmft.  übrigens  aber  schon  überzeugend  von  de  Fries 
nachgewiesen,  dass  die  Annahmen  von  Locke  der  Lehre  Descartes, 
wird  die  letztere  im  Sinne  der  Deutungen  verstanden,  die  Descartes 
selb>t  ihr  besonders  in  den  Briefen  und  an  einer  Stelle  der  Oeuvres  i 
irKklites,  aber  auch   in  Avw  Respo7iiiio}ies  der  Meditationes  de  prima  . 
ji/u'losop/i/'a  gegeben  hat.  nicht  principiell  entgegenstehn.    Geil  aller- 
dings überschätzt  auch  hier  die  Aehnüclikeit.     De  Fries  hat  treffend   ' 
bemerkt,  dass  es  nach  Locke  „keine  ideae  innatae  geben  kann  als 
i/nacthtm  diiipositio)ies.  die   ohne  entsprechender  Reize   zu  bedürfen  ' 
und   (dme    von    Bestimmungen   des  ^Villeus   abhängig   zu   sein,    im 
entwickelteren  Geistesleben  sich  bekunden,  sei  es  als  Vorstellungen, 
sei  es  als  notiones  communea  oder  ceritates  aeternae"''. 

Aber  es  ist  trotz  der  Anerkennung  solcher  Aehulichkeit  fest-  i 
zuhalten,  dass  Descartes  nicht  bloss  das  Vorhandensein  von  ideae  \ 
innaidc  behauptet,  das  Locke  leugnet,  sondern  auch  nach  dem  ' 
"Wortlaut  der  augenfälligsten  Ausführungen  in  einem  Sinne  be-  i 
haiijilel,  dem   Locke  ausdrücklich   widerspricht. 


Jahresheiicht  über  die  neuere  Philosophie  bis  auf  Kant  für   1887.     107 

Locke  definirt  die  aiigel)unien  Ideen,  die  er  bekämpft,  als  pn- 
mary  nofiona,  xoival  Ivvota'. ,  c/iaraeters,  as  it  irerc,  staviped  upon 
(u-occn  into,  iniprinted  o)t)  tlw  mind  of  mun  irldch  the  sauf  receioes 
in  its  cery  jii'st  being,  and  örüu/s  into  the  iroiid  icith  it.  Er  schliesst 
sodann:  1)  dass  sie  als ////'/»/■m/c/ auch  pcrtriced,  d.i.  bewiisst,  also 
auch  Jmoirn  and  ussented  to  sein  müssen:  2)  dass  »w  jai/'ct^t  and, 
c/carest  and  ntost  perspieuous  nearest  the  fountain  in  the  ehildren 
erscheinen  müssen;  3)  (Uiss  sie  —  im  (iegensatz  zu  den  adcentiti- 
ous  notion^  —  ilie  foundation  and  (/aide  of  all  acquired  knowledge 
and  future  reasonings  sein  müssen;  4)  dass  sie  can  neither  icant 
nor  receice  any  proof;  5)  dass  tliere  irould  he  nothing  n/ore  easg, 
than  to  k)ioii',   what  and  hoir   inani/  fheg  are. 

Dass  diese  Bestimmungen  nicht  uhne  polemische  Rücksicht  auf 
Descartes  getroffen  sind,  wird  scliuii  (Unrli  die  Aufnahme  des  Carte- 
-ianischen  Terminus  adcentitious  (ideae  adcentitiae')  bei  Locke  nahe- 
gelegt. Sodann  aber  erkhirt  Descartes  in  den  Meditationes:  Deum 
me  creando  (=  the  sonl  reeeices  in  its  very  ßrst  being)  ideani  illam 
(sc.  Dei)  indidisse  (==  to  stamp  npon),  tit  esset  tamquam  nota 
(=  characters  as  it  ivere)  articißcis  operi  suo  impressa  (=  to 
imprint  on).  Er  wiederholt  in  den  Responsiones.,  dass  die  idea  Dei 
omniinn  mentibns  eodem  modo  est  iyidita.  Gleiches  steht  in  den 
Pnncipia  philosophiae.  Ebenda  handelt  er  von  den  veritates,  ([uae 
in  mente  nostra  sedem  habent.  Aus  Descartes'  Erklärungen  folgt 
sodann:  1)  dass  diese  Ideen  bewusst  sein  müssen;  denn,  wie  bekannt, 
definirt  er:  ideae  nomine  intelligo  cuinslibet  cogitationis  forma m  illam.. 
per  ciiius  immediatam  perceptionem  ipsius  eiusdem  cogitationis  con- 
scius  SU/n.  Dass  dieselben  2)  von  Anfang  a.n  fairest  and  clearest 
sein  müssen,  erkennt  er  allerdings  nicht  an.  Aber  er  hat  seinen 
Ciegnern  diese  Konsequenz  doch  nahe  gelegt,  wenn  er  z.  B.  hervor- 
hebt: non  dubium  est,  quin  clare  ac  distincte  percipi  possint; 
alioqui  enini  communes  notiones  ?ion  esse?it  dieendae,  wenn  er  sich 
ferner  überraschend  oft  auf  ihnen  zugehörige  Prinzipien  als  lumine 
naturali  notissima  lieruft.  Dass  die  angebornen  Ideen  3)  die 
Grundlage  unseres  Eikeniieiis  bilden,  hat  Descartes  zwar  wol  nirgends 
so  gerade  heraus  gesagt,  aijer  an  den  entscheidendsten  Punkten  sei- 
ner Lehre  hat  er  ihnen  entstammende  Axiome  in  solcher  Funktion 


jjjg  Benno  KihImkuui. 

einffpführt.  Es  goniige  dafür  auf  jenes  der  axiomata  sice  notiones 
ro/minnu's  zu  Ncrweisen,  das  so  notwendig  anzunehmen  ist,  „uf  ab 
iiiso  uno  omnlniii  rerum  tarn  semihiliam  quam  insenaiOilium  cognitio 
ilcjH'iuh'aV'- ,  auf  das  sechste  Axiom  niiralich  der  ndiones  more  gea- 
nK'fn'co  (h'sj)osif(n^:  militatem  ohjecümm  idearum  nostranim  requi- 
rere  cansam,  in  (jua  eadem  ipsa.  rcalltas  non  tantuin  objcctive,  aed 
ronna/ifcr  cd  eminenter  contineainr.  Die  angebornen  Ideen  hediirfen 
und  vertragen  4)  keinen  Beweis:  nam  quaecunqne  lumine  natu- 
i-idi  mihi  ostenduntur  .  .  .  millo  modo  dvhia  esse  possunf,  quia  mala 
alia  facullas  esse  potest ,  ad  aeqiie  jidain  ac  hiiiiini  isfi,  qnaeqiie 
illa  non  rera  esse  possit  docere.  Nur  für  die  letzte  Lockesclie 
IJestinniuing  lindet  si^^'li  hei  DtscarU-s  kein  Aequivaleut,  sundern  ein 
Oegenstüfk.  Denn  Dcscartes  lehrt  an  bekannter  Stelle  der  Princi- 
pini.  dass  es  sehr  viele  angeborne  Ideen  giebt,  ^qiiae  quidem  oninia 
facile  recenseri  non  possunt"-.  Aber  diese  Differenz  verschwindet 
nicht  bluss  unter  drr  ImiIIc  des  rebereiustimmenden,  sondern  sie 
Itetrilft  auch  eine  Annahme,  bei  der  das  sachliche  Recht  so  offen- 
bar auf  Leckes  Seite  ist,  dass  dieselbe  als  eine  direkte,  allerdings 
erst  von  Kant  bestimmt  gezogene  Konsequenz  der  rationalistischen 
Ideenlehre  angesehen  werden  muss. 

Mir  scheint  demnach,  hätten  de  Fries  und  Geil  den  Versuch 
"eraacht,  Luckes  weitzerstreute  Voraussetzungen  über  den  von  ihm 
bekämpften  Begriff  sich  wie  oben  geschehen  zusammenzusuchen, 
und  sie  mit  denjenigen  Descartes"  zusammenzusehen,  sie  würden  sich 
der  Einsicht  nicht  haben  verschliessen  können,  dass  Lockes  Pole- 
mik in  (Irr  That  Descartes  mehr  noch  gilt  als  etwa  Herbert  von 
Clierlniry.  ' 

Es   klimmt    noch    hinzu,   dass   Descartes'   angeborne    Ideen   als  i 
veritates  aeti  rnae,  uder  notiones  communes  rationalistische  Etiquetten 
zeigen,  flie  Locke  zw.ir  in  seinem  Essaij  nicht  ausdrücklich  als  unge-  i 
hörig   zurückweiht,    dir    al)er   auf    die    f><-Iii(Mi    desselben    über    die 
fiiltigkeit   unserer  Erkenntnisse  ganz  und  gar  nicht  passen. 

N'ielleicht    ilaii  es   jiach    dem    Allen   als   iil)erHüssig   angesehen  ! 
werden,   auch    noch  nachzuweisen,   dass   selbst  die  Argumente,  die 
Locke  für  die  gegnerische  Ansicht  anfuhrt,  der  Lehre  Descartes  nicht 
so  fern  stehen,  wie  es  (ieil  erscheint,  tiass  spezioll  das  gre<d  avgu-  \ 


Jahresbericht   iilier  die  neuere  PhÜMsnphie   his  aiit  Kaut   t'i'ir   LSSi.     1{J[) 

menf  des  yeneraJ  assent  in  JJescartes''  Einführung  des  lunieii.  naturale 
deutlich  vorgebildet  ist. 

Nicht  überflüssig  jedoch  ist  es.  darauf  hinzuweisen,  dass  zwar 
im  Grunde  Lockes  Lehre  vom  Ursprung  der  Ideen  sich  nicht  allzu- 
weit von  den  Interpretationen  entfernt,  die  Descartes  selbst  seinen 
Behauptungen  über  die  ideae  innataey  wennschon  im  Widerspruch 
mit  dem  Wortlaut  ihrer  Beschreibung  und  der  ihnen  zugewiesenen 
Erkenntnisl'unktion  hat  angedeihen  lassen,  dass  jedoch  Locke 
diese  Verwandschaft  wol  gesehen  und  in  seiner  Polemik 
kritisch  v  e  r  w  e  r  t  e  t  h  a  t.  Denn  wenn  Descartes  2L\x'i  eine  facultas  ideas 
i'iftas  formandi  verweist,  wenn  er  behauptet,  tantum  nos  habere  in 
nobis  ipsis  facultatem  illas  eh'ciendi,  wenn  er  erklärt,  elles  sont 
dans  notre  entendement  seulement  en  pmssance  comme  diverses  ßgu- 
res  dans  un  morceau  de  cire,  wenn  er  ausführt,  illas  innafas  esse 
eodem  sensu,  quo  dicimus  f/enerosifatem  esse  quibusdam  familiis  inna- 
tam,  aliis  vero  quosdam  morbos  u.  s.  w.,  so  ist  in  der  That  ,^t/ie 
capacity  of  inoicing  the  natural  impression  contended  for''^ .  Dann 
aber,  will  all  the  truths  a  man  ever  comes  to  know ,  by  this  ac- 
count,  be  everi/  one  of  tJwin  innate;  (tnd  this  i/reat  point  tcill  amount 
to  no  more,  but  onhj  to  a  very  improper  way  of  spieaking ;  ivhich 
whilst  it  pretends  to  assert  the  contrary,  says  nothing  diferent  from 
those,  who  deny  innate  principles. 

Locke  leugnet  ja  in  der  Tat  gar  nicht  das  Vorhandensein  von 
natural  imjyressions  on  the  mind.  Er  erkennt  ausdrücklich  vielmehr 
solche  innate  principles,  solche  characters,  trhich  God  has  stamped 
upon  onen's  minds  an.  Er  zählt  dazu  aber  nur  Bedingungen  wie 
the  desire  of  happiness  and  the  crversion  to  misery  (Ess.  I  3,  3)  oder 
original  tempers  wie  the  gay,  the  pensioe  and  grave  und  andere. 
(On  Educ.  §  6S.)  Und  er  behauptet,  dass  diese  natural  tenden- 
cies  imprinted  on  the  mind  nichts  für  das  Vorhandensein  von  Prin- 
cipien  beweisen,  wie  Descartes  sie  im  Auge  hatte,  von  Prinzipien 
nämlich,  n-hich  are  to  be  the  principles  of  knou-ledge  regulating 
our  practice.  Sie  widerlegen  dasselbe  sogar  aus  dem  oben  unter 
B)  angegebenen  Grunde.  Denn  ^re  could  not  but  perceive  them 
constantly  operate  in  us  and  infuence  our  knowledge,  as  we  do  those 
others  on  tiie  will  and  appetite.     So  sehr  ist  er  vielmehr  im  Gegen- 


]  \{)  ]{enno  Krdmann, 

s:itz  geffon  Dest-arto.s  uiul  die  iiiulci-oii  Hatioiialislon  l)efangen.  dass 
tT  es  unterlässt.  aucli  die  Grundlagen  unseres  A^erstandes  von  diesem 
Gesichtspunkt  aus  zu  betrachten,  jene  infellectuaJ  fticultios,  von 
deren  operatiom^  wir  durch  rcjlection  Ideen  erhalten,  dass  er  sogar 
das  Platonisch-Aristotelische  Gleichniss  von  der  Wachstafel  im  tra- 
ditionellen scholastischen  Sinne  festhält,  ohne  es  durch  seine  Vor- 
aussetzungen über  solche  fanilties  einzuschränken. 

Ik'zeichnend  endlich    für   diese  Stellung   des   englischen  Philo- 
sophen  ist   auch    die   Art    wie    er   die  Angriffe   seiner  Gegner  auf 
diesen  ]*unkt   charakterisirt.     Solche   waren    z.  B.   in   dem  Werke 
von  Henry  Lee,  Änfl-Scepticism;  or  notes  upon  euch  chapter  of 
Mr.  Lockes  Essai/,  hi-four  hooks,  1702,  in  LouHle's  Discourse  concer- 
ni)Hi  the  Naiure  of  Mmi  und  in  desselben   Moral  Essays,   in  John 
Nori'is  Essai/  foicarcls  the  tlieovi/  of  ihe  ideal  or  intelligibh'  icorld 
!'.   II.   1704  und  inSherlocks  Discourse  conceiming  the  happiness   \ 
of   c/ood  me^i,    1704  (in    der  Digression  concerning  Connate  Ideas, 
or    i'onhied  Knou'ledge)   enthalten.     Im   Hinblick   auf  diese,  abge- 
sehen von  Norris"  Buch  jetzt  verschollenen  Arbeiten,  schrieb  Locke 
1704    an    Anthony   Collins:    ^,What   i/ou    sag  ahout   mg   Essay  of 
Human  Understanding,  that  nothing  ran  he  advanced  against 
lt.    hut    upon    the    principle    of    innate    ideas,    is    certainly   \ 
fo;    and    therefore    all    irho   do    not  argue   against    it   frovi   innate   i 
ideas,   in    the  sense  I  speak  of  innate  ideas  .  .  .  at  lasr  .  .  .  state  ', 
the  question  so,    as  to  leace  no   contradiction  in    it   to  my   Essay"'   '■ 
(^^  .  X.  '2-S5,  293).      Ein  solches  Urteil  aber  wäre   schlechterdings  '' 
unmöglich  gewesen,  wenn  Locke  jemals  sich  jener  Uebereiustimmung  i 
mit  Descartes,  als  einem  Vertreter  dieser  Lehre,   bewusst  gewesen  ! 
wäre,  die  Geil  behauptet.  ' 

Locke   also   hat   im   ersten   Buch   seines   Essay   auf  Descartes' 
(und  seiner  Schüler)  Theorie  der   angebornen  Ideen  durchgängige,  ' 
bestimmte,  polemische  Rücksicht  genommen,  polemische  Rücksicht 
selbst  gegen  diejenige  Fassung  der  Cartesianischen  Lehre,  die  seiner  j 
eigenen  Ueberzeugung  am  nächsten   liegt.     Alle  Ausführungen  des  ! 
ersten  Buchs  stehen  unter  dem  Einfluss  dieser  bewussten  Kritik. 

Gewiss  aber  ist.  dass  Descartes,  wenn  auch  wie  es  scheint  der 
hauptsächlichste,  so  doch  nicht  der  einzitfe  Gegner  war.  den  Locke 


Jahresberirlit   iilier  die  neuere  Philosopliie  bis  iiut  Kaut  l'iir  ISST.     Hl 

dabei  vor  Augen  hatte.  Unzweifelhaft  gehört,  wie  die  Anführungen 
Lockes  zeigen,  auch  Herbert  von  Cherbury  dazu.  Tatsächlich  ge- 
trotten werden  auch  alle  Cartesianer,  sowie  die  Cartesianisirenden 
Skeptiker  und  Mystiker,  die  an  diesem  Punkte  mit  Descartes  auf 
gleichem  Boden  .stehen.  Auf  Differenzen  in  der  Schule  hinsichtlich 
dieser  Lehrmeinung  hat  Bouillier  (Hisfoirp  de  la  Plii/osophi'e  Carte- 
sienne)  mehrfach  aufmerksam  gemacht.  ^^  en  Locke  von  diesen 
Schülern  ebenfalls  im  Sinne  gehabt  hat.  ist  nicht  auszumachen, 
und  wenig  bedeutsam. 

Bemerkt  zu  werden  aber  verdient,  dass  wir  ii1)er  die  Entwick- 
lung der  Lehre  von  den  angebornen  Ideen  seit  dem  Anfang  des 
siebzehnten  Jahrhunderts  bis  auf  Locke,  und  über  die  Lehren  in 
der  Philosophie  der  Renaissance  sowie  der  Scholastik,  welche  den 
begrifflichen  Zusammenhang  derselben  mit  der  Platonischen  Meta- 
physik,  der  letzten  Quelle  der  ganzen  Lehre,  vermitteln,  nur  ganz 
unzulänglich  unterrichtet  sind. 

Lebrigens  sei  hier  ausdrücklich  einmal  hervorgehoben,  dass 
jene  ganze  Kritik  Lockes  die  Bedeutung,  welche  ihr  in  fast  allen 
'  Darstellungen  seiner  Lehre  zugeschrieben  wird,  weder  für  den  L^r- 
-^prung  noch  für  den  Bestand  derselben  besitzt. 

Nicht  aus  dem  Gegensatz  gegen  die  rationalistischen  LTeber- 
zeugungeu  seiner  Zeit,  sondern  aus  dem  breiten  Boden  der  empi- 
ristischen Lehren,  die  er  bei  Vorgängern  wie  Lord  Bacon  uud 
besonders  Hobbes  fand,  die  ihm  in  den  L^ntersuchungsmethoden 
.der  Mediziner  und  Naturforscher  seiner  Epoche,  speziell  seines  Volkes 
entgegentraten,  die  ihm  endlich  aus  der  eigenen  Beschäftigung  mit 
mit  den  politischen,  socialen  und  religiösen  Fragen  seiner  Cultur- 
periode  erwuchsen,  hat  sich  die  Lehre  Lockes  entwickelt.  Das  Ma- 
terial zur  Entscheidung  über  die  Entwicklung  Lockes  bei  Lord  King 
und  Fox  Bourne  sowie  in  den  Briefen  des  Philosophen  gegen  den 
Bischof  von  Worcester  hätten  Geil  und  Sommer  benutzen  müssen. 

Zum  Beweise  des  eben  behaupteten  Ursprungs  der  Lockeschen 
Lehre  sei  zunächst  auf  die  Geringschätzung  historischer  Vorprüfung 
vor  der  sachlichen  Entscheidung  über  die  Probleme  hingewiesen,  die 
Locke,  wie  viele  seiner  Zeitgenossen,  charakterisirt.  Es  ist  dies 
vielleicht  um  so  notwendiger,  als  wir  gegenwärtig  geneigt  sind,  den 


]  j  •>  l>(»ii  110    II  nl  man  ii, 

Wert  solclier  liislorisch-kritisclion  Studien  zu  iibersoliiitzeii.  Locke 
schreibt  in  einem  von  Lord  King  (!'■  171)  mitgeteilten  Auf-iatz  aus 
dem  Jalire  ItiTT  /u  dem  die  §§  20,  24  des  späteren  Conduct  of  the 
Uiuhrstanihnf/  zu  vergleichen  sind:  „Converse  in'fh  books  isnof,  inmy 
opitu'on,  f/if  principal  pari  of  sfudi/ ;  there  arc  tiro  ofJiPi's  that  ought 
to  be  joined  in'fli  i'f,  eacli  vhereof  contribufes  their  sliare  to  our  im- 
procement  in  hioirled(/e;  and  ffiose  are  viedifatioii  and  discourse. 
Readitiy,  wetlimh,  i's  but  collect  ine/  f/ie  rou(/Ii  maten'als,  amongst 
ivlilch  a  ffjraf  deal  miist  be  laid  aside  as  useless.  Meditation  is, 
as  it  were,  choosing  and  jitting  the  matenah,  framing  the  timbers, 
sqiiaring  and  hiijing  the  stones,  and  raising  the  buihling;  and  discourse 
irith  a  friend  .  .  .  is,  as  it  irere,  surveipng  the  structure,  walhing 
in  tlie  rooms,  and  observing  the  symmetrij  and  agreemenf  of  the  parfs, 
ta/iing  notice  of  the  soliditg  or  defects  of  the  worh,  and  the  best  way 
to  find  out  and  correct  irhat  is  amiss."  In  diesem  Sinne  erklärt 
er  gegen  den  Bischof  von  Worcester  (Works  JV  "  der  grossen  Aus- 
gabe, lo6):  „  The  great  end  to  we,  in  co7iversing  with  mg  oirn  or 
other  men's  thoughts  in  matters  of  speciüation,  is  to  find  truthj 
u'ithout  being  much  concerned,  tcether  my  own  spinning  of  it  out  of 
mine,  or  their  spinning  of  it  out  of  their  oim  thoughts  help  me  to  it.^'. 
Denn  ,Jhe  distinction  of  invention,  or  not  invention,  lies  not  in  thinking 
ßrst  ornotfirst,  but  in  borrowing  or  not  borrowing  your  thoughts  from 
dnother."  Von  solchem  Gesichtspunkt  aus  will  daher  aufgefasst  sein, 
was  Locke  demselben  Gegner  vorhält,  als  dieser  durchblicken  Hess, 
der  Philosoph  habe  seinen  Begrift'  der  Gewissheit  Descartes  ent- 
nommen: „Though  J  must  ahrays  achioicledge  to  that  justly  admired 
gcntlenian  (nämlich  Descartes)  the  great  Obligation  of  my  jirst  de^ 
lirerance  from  the  unintelligible  vay  of  talking  of  the  j^hilosophy 
in  use  in  the  schools  in  time,  yet  I  am  so  far  from  entitUng  his 
imtings  to  any  of  the  errors  or  imperfections  wJiirlt  are  to  be  found  i 
in  niy  Jissay,  as  dericing  their  original  from  him,  that  T  must  oum\ 
to  your  lordship  tliey  vrre  spun  barely  out  of  my  oion  thoughts,  I 
rtjlecting  as  weil  as  I  could  on  my  oirn  mind,  and  the  ideas  I  had  \ 
there;  and  teere  not,  that  I  hioir,  dericed  from  auy  other  ori-' 
ginal." 

Diese  Erklärungen   des  Philosophen  erhallen   ihren  "Wert  aller- 


I 


1 


Jahiesliericlit  über  die  neuere  Plii!u»u|iliie   liis  auf  Kaut  t'i'ir  1S87.     HB 

(lings  erst  diircli  die  Bestiitigunfr.  die  ilineii  aus  den  Dokumenten 
seiner  Entwicklung  erwächst,  welciie  besonders  Lord  King  und  Fox 
liourne  allgemein  zugänglich  gemacht  haben. 

Es  war  wie  allbekannt  ein  Gespräch  über  einen  Gegenstand, 
der  von  dem  Thema  des  Easay  weit  ablag '),  das  die  ersten  h(tsf;i 
and  indigested  thouglifs  zu  dem  späteren  Hauptwerk  zur  Folge  hatte. 
Jene  Gedanken  hat  kein  gefälliger  Zufall  aufbewahrt.  Jedoch  eine 
Notiz  in  des  Philosophen  rommon-plncp  booh  aus  jener  Zeit,  1671. 
ist  erhalten,  welche  die  erste  F'assung  des  Grundgedankens  der 
späteren  Arbeit  wiedergibt  (bei  Lord  King  T  10).  Die  Wdrte  lassen 
keine  Spur  einer  kritischen  Reaktion  gegen  rationalistische  Lehr- 
meinungen erkennen.  Sie  dienen  vielmehr  einem  dogmatischen  Em- 
pirismus zum  Ausdruck,  der  dem  Sensualisnms  ungleich  näher  steht 
als  der  spätere  Essai/.  ,J  imaghie'' ,  heist  es  dort,  „iltaf  all 
h7iorvledg e  is  founded  on,  and  nltimateiy  derices  itself  froni  sense, 
or  somefliing  anaJogons  fo  if ,  and  nnay  be  valJed  Sensation  .  .  . 
and  therefore  I  think  tliat  t/tose  things  tvhich  we  call  sensible  quali- 
ties,  are  the  simplesf  ideas  we  have,  and  the  prst  object  of  our  un- 
derstanding.^'  Man  erkennt  tue  Nachwirkung  der  Oxforder  Studien, 
insbesondere  den  Einfluss  von  Hobbes,  den  schon  die  zehn  Jahre 
früheren  politischen  und  moralischen  Erörterungen,  welche  Fox 
Bourne  I  147 — 165  teils  zuerst  veröffentlicht,  teils  aus  Lord  Kings 
Werk  neu  abgedruckt  hat,  dem  aufmerksamen  Leser  verraten. 
Aus  dem  gleichen  Geist  sind  die  Betrachtungen  über  den  Raum 
in  den  Jahren  1675,  1677.  1678  geschrieben,  in  deren  letzter  er 
sich  mit  dem  Cartesiauischen  Begrift"  der  ausgedehnten  Substanz 
kritisch  auseinandersetzt  (bei  Lord  King  I  123,  175,  179),  sowie 
die  Erörterungen  über  hioirledge,  ifs  e.vtent  and  measure  und  über 
study  aus  der  gleichen  Zeit  (a.  a.  0.  II  161f.  171  f.).  Selbst  da, 
wo  wir  in  ihnen  wieder  das  Programm  seines  späteren  Werks  ent- 
wickelt finden  (H'  197),  leitet  keine  Spur  auf  Descartes  hin.  Da- 
gegen   könnten   Reflexionen    aus  dem   Jahr  1781   (IP  225 f.)  den 


')  „Offenbar  metaphysischer  Art"  fügt  Sommer  seinem  Bericht  bei. 
Aber  dies  „Offenbar"  verdeckt  einen  Fehlschluss.  Tyrrel,  einer  der  Teilneh- 
mer an  jenem  Gespräch,  berichtet,  dasselbe  bezug  sich  auf  ,,^//e  principles  uf 
morality  and  revealed  veligion''''   (Fox  ßoiirne  II  88). 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.    IT.  8 


114 


Benno  Kid  mann, 


Schein  erwecken,  als  üb  sie  rationalistischen  Einwirkungen  zu/ai- 
schreiben  seien.  Locke  nahm  schon  damals  an:  „Tlie ßrst  great 
str/>y  f/u'irf'oir,  fo  hiowh'df/e,  ?s  to  gcf  tlie  mind  furnhhed  icith  fnie 
idcas,  u'hiclt  ihc  mind  being  capabJe  of  hiowing  of  moral  tkingn  as 
well  (IS  ß'gurea,  I  cannot  hut  think  moralitg,  as  tvell  as  mathematics, 
vapable  of  demonstration  .  .  .  knou-ledge  then  depende  upon  right 
and  trut'  idcas;  opinion  upon  histori/  and  matter  of  facti  and 
heiice  it  commes  to  pass,  that  our  hnoa-ledge  of  general  things 
arr  aetemae  veritates,  and  depend  not  upon  fhe  existence  or  acci- 
dents  of  things,  for  the  triiths  of  mathematics  and  momlity  are 
rertain,  vhetJier  men  make  true  mathematical  ßgures,  or  suit  their 
artions  to  tlie  ruJes  ^of  morcdity  or  no."'  Er  behauptet  dem  ent- 
sprechend, es  sei  unzweifelhaft  wahr,  dass  die  Summe  der  Dreiecks- 
winkel gleich  zwei  Rechten  sei,  gleichviel  ob  eine  solche  Fi- 
gur wie  ein  Dreieck  existire  oder  nicht.  Diese  Annahmen 
decken  sich  in  der  Tat  nicht  ganz  mit  den  entsprechenden  Er- 
örterungen im  vierten  Buch  des  Essag.  Und  man  kann  behaupten, 
sie  haben  eine  mehr  rationalistische  Färbung  als  jene.  Aber  man  \\ 
mus.s  sich  in  erster  Reihe  erinnern,  dass  dieselben  sich  bei  Locke 
doch  noch  eher  mit  den  empiristischen  Grundlagen  seiner  Lehre 
vertragen,  als  die  ganz  gleichen  Annahmen  über  die  Giltigkeit  der 
relations  of  ideas  bei  seinem  ungleich  konsequenteren  Nachfolger 
Hüme.  Denn  dieser  behauptet  wie  hier  Locke:  ^/Fhat  the  square^ 
of  the  hgpothenuse  is  equal  to  the  Squares  of  the  two  sides,  is  a  pro-  ■  | 
jiosition,  irh/cli  e.ipresses  a  relation  between  these  figures  .  .  .  -P'"0-|l 
prositions  of  this  kind  are  discoverabJe  by  the  mere  Operation  of 
thought,  irithout  dependence  on  ichat  is  anyiHiere  ea-istent  in  flu 
inrirerse.  Thoiigh  there  never  rcere  a  circle  or  triangle  in  naturc, 
the  fruths,  demojuitrated  by  Eiiclid,  would  for  ever  retain  their  cer- 
tainty  and  evidenre"  (bei  Green  und  Grose'  vol.  TV  21).  Ausser- 
den; aber  dürften  wir  nach  dem  Bisherigen  au  eine  Einwirkung 
Cartesianischer  Lehren  erst  denken,  wenn  zwei  Wege  histori.scheu 
Begreifens  verschlossen  wären,  von  denen  keiner  verschlossen  werden 
kann,  die  sogar  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  beide  als  Erkenntnis- 
pfade von  Locke  gewandelt  worden  sind.  Erstens  nämlich  haben 
wir  .'in  Hubbes  zu  denken,  der  doch  ebenfalls  lehrt:   „^i  cogitatione 


.Jaliresl)ericl]t  über  die  neuere  Philo.sopliie  l)is  auf  Kant  für   1887.     ]lf) 

tiosfi'u  seine]  ronc/'pen'mus  avfpihi^^  iriaiuiuli  omnes  stnnil  aequari 
(luobus  reetis,  et  nomen  hoc  alterwm  dederimus  triangulo,  /labens  fres 
anqulos  aequides  duohus  rectis:  efsi  ntilJus  angtilus  ea'isferef 
in  mundo,  tarnen  nomen  maueret,  et  sempiterna  erit  veritas 
propositionis  htius,  trianguJum  est  IiafM'ns  tres  angulos  duohus  rec- 
tis aequalesJ"^  llobbes  geht  so  weit,  anzuerkennen,  dass  die  demon- 
strative Gewissheit  der  Geometrie  daher  stamme,  weil  wir  die  Fi- 
guren selbst  erzeugen.  Es  hat  sogar  den  Anschein,  dass  jene  ganze 
Ausführung  Loekes  sich  direkt  auf  Hobbes  bezieht.  Denn  Locke  sagt 
an  der  oben  ausgelassenen  Stelle:  Pliijsique,  politii  and  /irudence  are 
not  capahle  of  demonstratio7i,  hut  a  man  is  prmcijjady  Iie/ped  in  them 
hg  the  Iiistorij  of  matter  of  fact,  and  a  sagacity  of  enquiring  into 
prohahle  causes,  and  jinding  out  an  analogy  in  tlieir  Operations  a)id 
eff'ects.  Hobbes  dagegen  hatte  behauptet:  Certitiido  scientlarum  oni- 
nium  aequalis  est,  alioqui  enim  scientiae  non  essent,  cum  Scire  no7i 
suscipiat  otiagis  et  minus.  Pliysica,  Etliioa,  Politica.  si  bene  demon- 
stratae  essent  non  minus  certae  essent  quam  pronuntiata  mathema- 
tica  (Contra  Geometras,  Anfang^.  Denn  dass  Locke  die  Ethica  bei 
llobbes  durch  prudence  ersetzt,  ist  notwendig,  weil  er  der  Ethik 
ebenfalls  den  rationalen  Charakter  zuerkennt.  Doch  solche  speziellen 
Beziehungen  bleiben  unsicher.  Es  sei  deshalb  nur  noch  erwähnt, 
dass  Locke  hier,  trotzdem  er  von  aeternae  veritates  spricht,  doch 
nicht  den  Cartesianischen  Sinn  des  Wortes  damit  verbindet.  Denn 
abgesehen  von  seiner  entgegengesetzten  Auffassung  ihres  Ursprungs 
würde  er  nach  dem.  was  er  in  den  angeführten  Stellen  schon  da- 
mals hinsichtlich  des  Raumes  lehrte,  niemals  mit  Descartes  be- 
hauptet haljen:  est  profecto  determinata  quaedam  trianguH  natura, 
sice  essentia,  sice  forma  immutabilis  et  aeterna,  qae  a  me  non 
efficta  est,  nee  a  mea  mente  dependet ,  ut  patet  e.v  eo  quod 
possint  demonstrari  variae  proprietates  de  isto  triangulo,  nempe 
quod  ejus  anguli  sint  aequales  duohus  rectis"  (Med.  V). 

Gewiss  jedoch  ist  Loekes  Lehre  von  dem  rationalen  Wesen 
der  Mathematik  nicht  nur  auf  Hobbes  verwandte  Lehre  zurückzu- 
führen. Fliesst  doch  für  ihn  derselbe  Quell,  aus  dem  Descartes  wie 
auch  der  Gegner  desselben,  Hobbes,  trotz  der  Yerschiedenheit  ihrer 
Ausgangspunkte   ihre   ähnliche  Auffassung   und  Wertschätzung   der 

8* 


11(5 


Benno  Knlmaiin, 


uiathcmatischen  Methode  geschöpft  haben,  die  geometrisch-mechani- 
sche Wissenscliaft,  die  seit  dem  Ende  des  sechzehnten  Jahrhunderts 
Hie  Dürre  der  aristotelisch -scholastischen  Naturkunde  erstaunlich 
fruchtbar  zu  nuichen  begonnen  hatte.  Und  es  bedarf  keines  Be- 
weises, dass  er  wie  jene  aus  diesem  Quell,  und  zwar  früh  und  an- 
dauernd sich  gestärkt  hat. 

Eine  Abhiinsigkeit  von  Descartes  würde  also  auch  an  dieser 
Stelle  unangebracht  sein. 

AVas  sich  sonst  an  Beziehungen  auf  Descartes  und  seine  Schüler 
bei  Locke  findet,  lässt  kein  Beweismaterial  für  die  vorliegende 
Frage  gewinnen.  So  die  Beziehung  auf  Descartes  als  Mathematiker 
bei  Lord  King  1223,  ferner  die  L'^ebersetzung  von  Nicoles  Essais 
de  morale  1672.  die  1828  als  ,.Discourses,  iranshited  from  Nicoles 
Essays  bij  John  Locke"  von  Th.  Hancock  verölfentlicht  worden 
sind.  So  auch  die  wiederholte  Ablehnung  sich  mit  dem  System  des 
französischen  Philosophen  auseinanderzusetzen,  das  der  Bischof  von 
Worcester  überflüssiger  Weise  in  seinen  Streit  mit  Locke  hinein- 
gezogen hatte:  W.  IV  237,  348,  362,  418.  Ferner  die  kritischen 
Bemerkungen  über  einzelne  Lehren  Descartes,  wie  gegen  seine 
mechanistische  Auflassung  der  Tierseelen  (Lord  King  1  238)  oder 
seine  Lichthyporhese  (W.  IV  416).  Endlich  die  Aufsätze  über  Male- 
branches  Hypothese  des  Schauens  der  Dinge  in  Gott,  sowol  die  um 
1694  ausgearbeitete,  ursprünglich  für  die  zweite  Auflage  des  Essay  be- 
stimmte Examination  als  auch  die  Remarks  upon  sovie  of  Mr.  Norris' . 
books,  die  Mr.  Maizeaux  und  Collins  1719  veröffentlicht  haben. 

Ebenso  wenig  spricht  es  für  eine  Anerkennung  des  Geistes 
der  fartesianischen  Metaphysik,  wenn  Locke  gelegentlich  dem  oben 
erwähnten  Remonstranten  van  Limborch  schreibt:  Cartesianonim 
quam  in  ejmfohi  lua  reperio  loquendi  formuJam,  nullatenus  capio. 
Quid  enim  sibi  velit  cogitatio  inßnifa,  plane  mefugit^  (W.  X  81). 
Schwerlich  vielmehr  wiirde  irre  gehen,  wer  behaupten  wollte,  dass 
das  Urteil  des  Philosophen  über  John  Norris"  Methode  als  ein  re- 
präsentativer Ausdruck  seiner  Meinung  über  den  Cartesianismus 
überhaupt  aufgefasst  werden  könne.  Ich  meine  das  Urteil,  das  er 
1704  an  Collins  schreibt:  Men  of  Mr.  Norris's  way  seem  to  me 
to  decree,  rathrr  fliun  fo  argue.    They,  against  all  evidence  of  sense 


Jahresbeiiiiit  über  die  neiiore  Philosophie  bis  auf  Kant  für  1887.     117 

itncl  reason,  decvee  brutes  to  he  machines,  onlif  hecause  theiv  Ji'jpo- 
thesis  requires  it;  and  then  irifh  a  Uhe  mithority  suppose,  as  you 
rirfliUy  observe,  whaf  thei/  should  prove:  viz.  that  whatsoever  thinks, 
/.s  iminaterial"  (W.  X  283). 

Als  ein  ähnliches  Symptom  <l;ii'f  es  endlich  vielleicht  an- 
gesehen werden,  dass  Descartes'  Name  bei  einer  Gelegenheit  fehlt, 
wo  wir  erwarten  dürften  ihn  zu  lin(k'n,  falls  jene  erste  Befreiung 
seines  Geistes  von  den  Fesseln  der  scholastischen  Methode,  die 
Locke  Dcscartes  verdankt,  ah  einer  dauernden  Anerkennung  der 
Methuehi  und  der  Ergebnisse  desselben  geführt  hätte.  Locke  er- 
widert dem  Bischof  von  Worcester,  der  sich  auf  den  Gegensatz  der 
Methode  Lockes  zu  dem  Verfahren  der  griechischen  Philosophen 
berufen  hatte:  „ßut  supposinc/  they  (w.  the  old  pJiüo&eplwrs)  necer 
thotuihf  of  it  (sc.  Locke's  demonsfration),  must  we  put  out  our  eyes, 
and  not  see  wliatever  they  ocerlooked?  Are  all  the  discoveries  made 
by  Galileo,  my  Lord  Bacon,  Mr.  Boyle  and  Mr.  Newton  etc.  to  be 
rejected  as  false,  because  thetj  teached  us  irhat  the  old  philosophers 
never  thoiight  of .  .  ?''  Man  sieht  auch  hier,  welcher  Boden  es  war, 
aus  dem  die  Wurzeln  seines  Geistes  Nahrung  gezogen  haben. 

Aber  nicht  bloss  die  Entwicklung  der  Philosophie  Lockes, 
sondern  auch  die  Stellung,  welche  die  Kritik  der  angeborenen 
Ideen  in  dem  Bestände  seiner  späteren  Theorien  einnimmt,  legt 
für  die  untergeordnete  Bedeutung  dieser  Kritik  Zeugniss  ab.  Es 
ist  vielleicht  unziemlich,  aber  schwerlich  ganz  unrichtig  zu  be- 
haupten, sie  habe  ihre  traditionelle  Bedeutung  in  den  Augen 
mancher  späteren  Philosophen  und  vieler  Historiker  zum  Teil  dem 
Umstände  zu  danken,  dass  sie  die  ersten  Bogen  des  Essay  ein- 
nimmt, wie  auch  die  unbillige  Vernachlässigung  des  principiell  so 
bedeutsamen  vierten  Buches  in  gleichem  Masse  auf  seine  äussere 
Stellung  zurückzuführen  sein  möchte.  Denn  über  die  geringe  sach- 
liche Bedeutung  der  Lehre  belehrt  fürs  erste  der  Abstract  of  the 
Essay,  den  Leclerc  1686  in  französischer  Uebersetzung  veröffent- 
licht hat.  Locke  beginnt  denselben  (Lord  King  II  237)  mit  den 
Worten:  In  the  thouc/hts  I  have  had  coricerning  the  understajidim:/, 
I  have  endeavoured  to  prove  that  the  mind  is  at  first  rasa  tabida. 
But  that  heing  only  to  remove  the  prejudice  that  lies  in  some 


\\< 


Benno   E  r  li  m  a  n  n  , 


mnt's   nn'inls,   I  fhink  if  brsf,  in  ih/'s  sliorf   cieir  I  desiyn  here  of  my 
iirim-i/i/is,    fo  jkiss   In/  all  llutf  pri' li )ii  i n<i  nj  debate  ichich  makes 
f/ir  fiist  booh,  since  1  prdciul  fo  s/ioir  iit   irhat  folloirs  fhe  original 
j'rotn    irJwnce,   and   the  n-ui/s   ir/irrc/)'/,    ice   receioe   all  fhe  ideas  our 
UndrrstondiiK/s  air  /•ii/j'/oi/cd  (dxmf   in  thinking.     Sudan ii    hat  Fox 
Huiiriio  in  seinem  Life  of  J.   Locke  wulir-scheinlicli  /u  machen  ge- 
sucht, «hiss  «las  ganze  erste  Ikich  zuletxt  geschrieben  sei,  eine  An- 
nahme, die  durch  seine  Anfilhrungen  in  (Um-  Tat   nahe  gelegt  wird. 
Hestiitigt  sie   sich,    so   dient   sie   der   cl)en  angeluhrten  Aeusserung 
(h's    l'hihisophen    zu    Icslcr   Stütze.     Sie    erfordert    allerdings   eine 
genauere   Prüfung,  die,  wenn  sie  auch  den  anderen  von  Locke  ge- 
legentlich hiniieworfenen  Winken  über  die  Geschichte  seines  Essay 
nachgeht,  noch  J)ankenswerteres  über  den  Ursprung  der  Lockeschen  | 
Lehren  gewinnen  kann.     Nutwendig  würde  für  eine  solche  Unter- 
suclning  allerdings  die  entsagungsvolle  philulogische  Vorarbeit  sein, 
das  Textverhiiltnis  der  verschiedenen  von  Locke  selbst  veranstalte- 
ten Ausgaben   und   der  von  ihm  veranlassten  Uebersetzüngen  fest-, 
zustellen.      Keine    der    späteren  Ausgaben,    die    ich   kenne,    giebt 
darüber    Auskunft.      Und    doch    beweist   Lockes    Briefwechsel    mit 
Molyneux  (W.  IX  2S1I— 472),  wie  zahlreich  die  Veriinderungen  sind, 
wie  ganze  principiell  bedeutsame  Abschnitte,  so.  um   nur  einen  zu 
nennen,    das   Kapitel    über  Jdenfifij  and   Diven^iig   nicht   tiem    ur- 
sprünglichen Kontext  angehörten. 

Die  vorstehenden  Erörterungen  genügen  vielleicht  die  Ueber- 
zeugung  zu  erwecken,  dass  die  Abhängigkeit  Lockes  von  Descartes 
durch  beide  Interpreten  weil  überschätzt  worden  ist,  dass  speziell 
die  bestechende  ^leinung.  Locke  stehe  hinsichtlich  des  Ursprungs 
rlcr  Ideen  in  l)ewusstcr  Abhängigkeit  zu  dem  französischen  Philo- 
sophen, zu  dunsten  der  traditionellen  Auffassnng  wieder  aufzu- 
geben sein  wird. 

Sie  geniigen  jedoch  bei  weitem  nicht,  die  Gesamtheit  der 
Hr/,i(«hungen   liOckes  zu  Descartes  khir  zu  legen. 

Denn  fürs  erste  ist  von  den  Lehren,  durch  dir  sich  bocke  in 
licwiisstcn  Gegensatz  zu  Descartes  setzt,  hier  nur  die  eine  genauer 
lu'handelt  worden.  Es  fehlt  Lockes  Kritik  des  Substanzbegritfs,  der 
liegrilVc  der   denkenden    und   der  körperlichen  Substanz  sowie  der 


Jahresbericht  über  die  neuere  Philosophie  bis  auf  Kant  für  1887.     119 

(Jottesidee,  der  metaphysischen  Grundbegriffe  also  des  Cartesiani- 
111  US.  Ebenso  ist,  um  auch  ein  Glied  des  positiven  Lehrbestandes 
anzuführen,  die  Hypothese  Lockes  ausser  Acht  gelassen  worden, 
ilass  es  nicht  widersprechend  sei,  der  materiellen  Substanz  die 
l'ahif'keit  zu  denken  beizulegen.  J)as  aber  ist  eine  die  Grund- 
lai^en  des  Cartesianismus  aufhebende  Annahme,  welche  von  den 
neueren  Darstellern  der  Lehre  Lockes  zu  sehr  in  den  Hintergrund 
gedrängt  wird,  obschon  sie  für  Locke  selbst  wie  seine  Briefe  und 
Streitschriften  beweisen,  bedeutsamer  ist,  als  die  vursichtigen  An- 
deutungen im  Essay  erkennen  lassen,  obgleich  sie  ferner  für  die 
Entwicklung  des  Materialismus  im  vorigen  Jahrhundert  einen  da- 
mals oft  anerkannten  Stützpunkt  abgegeben  hat. 

Auch  in  Bezug  auf  diese  JJehren  ist  es  jedoch  irrig,  so  aus- 
schliesslich an  Descartes  zu  denken,  wie  der  Regel  nach  geschehen 
ist.  Es  zeigt  sich  vielmehr  auch  hier,  dass  Lockes  Essay  im  gan- 
zen nicht  nur  einer  Reaktion  gegen  Descartes  und  seine  engere  und 
weitere  Schule,  sondern  auch  insbesondere  gegen  die  Nachscholastik 
zugeschrieben  werden  müsse.  Lockes  Hauptwerk  gibt  nicht  eine 
Kritik,  welche  sowol  die  speciellen  Lehren  der  einen  und  der 
andern  dieser  Schulen  bekämpft,  sondern  einen  Li  begriff  psycho- 
logisch fundirter  empiristischen  Lehrmeinungen,  welche  ihre  kriti- 
schen Spitzen  gegen  die  erkenntnistheoretisch  ungeläuterten,  beiden 
gemeinsamen  metaphysischen  Voraussetzungen  kehren.  Die  Beweis- 
gründe gegen  die  ausschliessliche  Beziehung  jener  Kritik,  speciell 
des  Substanzbegriffs  auf  Descartes,  stecken  in  den  Streitschriften 
des  Philosophen  gegen  den  Bischof  von  Worcester.  Mr.  Stilling- 
fleet hatte  Lockes  Definition  des  Substanzbegrifts  bemängelt.  Locke 
aber  beruft  sich  dagegen  nicht  etwa  auf  Descartes,  obgleich  ihm 
dieser  schon  durch  häufige  Berufungen  seines  Gegners  auf  die 
Lehren  desselben  nahe  gelegt  war,  sondern  er  führt  aus:  „He  that 
shoidd  shoiv  me  a  more  cleai  and  distinct  idea  of  substance  (als 
die  im  Essay  angegebenen),  would  do  nie  a  kindness  I  should  thank 
him  for.  But  this  is  the  best  I  can  liitherto  find,  either  in  my 
own  thouglits,  or  —  in  the  books  of  Logicians:  for  tlieir  account 
or  idea  of  it  is,  that  it  is  „Ens^  or  ,.res  per  se  subsistens  et  snb- 
stans  accidentibus-' ,    which   in   efect    is  no  more,  but  that  substance 


l-2<) 


Ren  HCl   Kr  il  mann 


is  (I  fx'iiitf  nr  ihinij.  Als  ..Loiiicians  of  note  in  the  schooh^^  werden 
sodann  ans  dorn  „irltole  trihe  nf  I.ot/icians"  jetzt  unbillig  ver- 
schollene, alter  Inr  ihre  Zeit  wie  das  Beispiel  Spinozas  zeigt,  ein- 
lliissreiolie  Männer  wie  Hiii-ger.sdicius  und  Sanderson  aufgeführt. 
Lockes  Kritik  des  .Substanzbeifritfs  also  trill't  zwar  Descartes,  sofern 
er  den  seit  Aristoteles  überlieferten  Öubstanzbegrilf  ohne  Bedenken 
in  seine  voraussetzungslose  Forschung  hineingenomnien  hat,  sie  ist 
aber  nieht  etwa  ausschliesslich,  nicht  einmal  vorzugsweise  gegen 
ihn   mM-ichtet,    sondern  vielmehr  gegen  die  scholastische  Tradition. 

(ianz  unberücksichtigt  geblieben  endlich  sind  in  der  vorliegen- 
den l]r<irterung  die  Einwirkungen  Descartes"  auf  Locke,  dnrch  die 
sich  der  letztere  als  ein  Fortbildncr  der  Probleme  zeigt,  die  bei 
jenem  vorliegen.     Sie  mögen  zum  Schluss  nur  angedeutet  werden. 

\'(»r  aijcni  kommt  hier  jener  frühe,  v<»n  Locke  selbst  aner- 
kannte Eiidluss  in  Betracht,  durch  den  der  Philosoph  ^froin  fhe 
tniintelligiblc  iraij  of  tulking  of  the  philosophi/  in  use  m  the  schools 
in  tinie''  befreit  worden  war.  Allerdings  war  der  letztere,  dem  er 
während  seiner  Studienzeit  in  Oxfurd  ausgesetzt  war,  niemals  tief 
eingedi'ungeu.  Er  hatte  ihm  vielmehr  nur  den  Cdauben  gegeben, 
„that  his  no  fjreater  j>rof/ress  in  knoH-[e<l<je  proceeded  fvom  his  not 
beimj  ßtted  or  atiHicitated  to  he  a  sclioha"'  (Lady  ]\LTsham  bei  Fo.^ 
Bourne  I  47.  danach  Ledere  in  seinem  Ehyjc).  Was  er  daher 
durch  Descartes  damals  gewonnen,  war  ,,the  relish  nf  philosophical 
thinr/H,  öecuuse  .  .  .  that  ichat  he  s(u'(l  /cr^s  cerij  inteili(/H>le  froni 
irht'nce  he  was  encouraged  to' think  thaf  his  not  hacin<j  understood 
others  h<id  poaaiblij  not  proceeded  front  a  defect  in  his  lüiderstanding" 
(A.  a.  ().  (U.  aus  gleicher  Quelle,  danach  bei  Leclerc  in  der  Biblioth. 
chnis.  Xl  o4'l).  Was  er  demnach  Descartes  damals  zu  danken 
hatte,  bestellt  erstens  in  dem  Interesse  für  Philosophie  und  zwei- 
tens in  der  Anerkennung  der  Forschungsmethode  desselben,  sofern 
diese  von  dem  scholastischen  Verfahren  abwich,  des  Geistes  also 
selbständiger,  auf  den  Stand  des  damaligen  Einzelwissens  gestützter 
rntersuchungsweise  des  Wirklichen.  Ausdrücklich  wird  uns  aus 
seinem  .Munde  bezeugt,  da.ss  er  .schon  damals  ..«v/vy  (i/'fen  difeird 
in  opininn  front  Descartes".  Durch  die  Schule  des  Iranzösischeu 
I'hilosophen   also   ist  Locke  niemals  hindurch  gegangen.     Was  ihn 


Jahie^berichi  über  die  neuere  Philosophie  bis  auf  Kaut  für  1887.     121 

damals  vuii  Descartes  trennte,  wissen  wir  nicht.  Vermuten  aber 
(lürlon  wir  nach  dem  Stand  seiner  Üeberzeugungen  um  1660 — 1670, 
(hiss  schon  in  jenen  Jahren  der  Geist  des  Empirismus  seine  Ge- 
danken beherrschte. 

Die  speziellen  Abhängigkeitsbeziehungen  seiner  späteren  Lehre 
vun  dem  Systeme  Descartes'  sind  demnach  vor  allem  in  den  Sätzen 
zu  suchen,  in  denen  er  auf  Grund  der  Voraussetzungen  und  der 
Methode  des  Empirismus  über  Descartes"  traditionelle  Bestimmung 
der  Substanz  und  der  Gottheit,  und  filier  die  jenem  eigenen  Fas- 
sungen d<'s  Ich  und  des  Körpers  hinausgeführt  wird.  In  jedem 
solchen  bestimmt  zugespitzten  und  eingehend  ausgeführten  Wider- 
spruch liegt  ja  ebenfalls  eine  nicht  geringe  Annerkennung.  Mög- 
lich ist  es  lerner,  dass  der  Begriff  der  rcf/ection,  soweit  Locke  sich 
durch  ihn  von  Baco  und  llobbes  trennt,  auf  den  Eintluss  der  Car- 
tesianischen  Lehre  zurückgeführt  werden  darf.  Angelegt  ist  der- 
selbe in  den  oben  citirten  ^Vorten  „o/-  wmething  analogoiis  to  .sen- 
satio/i''  schon  1671.  Aber  der  Wege,  auf  denen  dieser  Keim  in 
seine  Seele  gelegt  werden  konnte,  sind  viele,  und  neben  alT  den 
verschiedenen  historischen  Vermittlungsweisen  von  Piatuns  Ideen- 
lehre an  Ideibt  die  sachliche,  das  qtinning  of  it  out  of  hin  oini 
thouf/hts,  so  dass  es  willkürliche  Konstruction  ist,  sie  gar  zu  einem 
bestimmten  Lehrbestandteile  des  Cartesianismus  in  Beziehung  zu 
setzen.  Und  es  bleibt  zu  bedenken,  dass  Locke  zu  einer  rechten 
AVürdigung  der  Konsequenzen  seiner  Theorie  der  reßection  nirgends 
gelangt. 

Der   Zweck    dieser  Zeilen    ist    erfüllt,    wenn    sie   zu    erneuter 
Untersuchung  ihres  Gegenstandes  anregen. 


IV. 

Die  Gescliiclite  der  Philosophie  iu  Holland 
in  den  letzten  zelin  Jahren. 

Von 
Prof.  C  B.  Spi'liyt  in  Amsterdam. 

Die  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philosophie 
waren  in  den  letzten  Jahrzehnten  in  Holland  nicht  so  zahlreich, 
wie  man  mit  Riick?>icht  auf  die  Traditionen  unseres  Volkes  erwar- 
ten und  für  seine  Zukunft  linffen  möchte.  In  den  zwanziger  und 
dreissigor  Jahren  dieses  Jahriuuidcrts,  als  van  Heusde,  der  Plato- 
niker.  und  Schroeder,  der  zur  Philosophie  des  common-sense  be- 
kehrte Kantianer,  in  Utrecht  docirten,  war  diese  Universität  eine 
wahre  Pllegestätte  ornstlichor  Studien  in  der  Griechischen  Philo- 
sophie und  breitete  sie  iiiren  Kiidluss  weit  iiber  die  Grenzen  des 
engeren  Kreises  ihrer  Studenten  aus.  Karsten "s  Ausgabe  von 
Xenuphanes.  Parmenidcs  und  Empedodes,  die  Arbeiten  von  Bak- 
huyzen  van  den  P>rink  Vuriae  Lectiones  ex  liistoria  philompldae 
<inti(jK(U',  Groen  van  Piinstcrer's  Prosopof/raphia  Piatonis  und 
viele  andere   tüchtige  Schriften  datireu  aus  dieser  Periode.      Noch 

erfreulicher    war    das    allgemeine    Interesse,    mit    welchem    solche, 

* 
^^  erke    emjifangen    wurden.      „Unsere  Studenten"    —   sagt   vaai 

lleusde    mit  Hecht  —   „ohne    im   strengen  Sinne    des  Wurtes  So- 

cratici  oder   Platouici  zu  werden,   unterlassen  doch  uiclit  die  Prin- 

cipien    dieser  Philosophie    in    iiirem  Leben   und  in  der  Praxis,    zu 

welcher  ihre  speciellen  Studien  sie  vorbereitet  haben,  anzuwenden. 

Wie  manchen  giltt  es  unter  den  Tiieologcn  und  Juristen,  ja  selbst 

unter    den  Medicineru.    die    i(  h    hier    und  anderswo  seit  zwanzig. 


DJ 


Die  Gesch.  der  Philosophie  in  Holland  in  den  letzten  zehn  Jahren.      123 

(Ircissig  Jahren  gekannt  habe,  der  sich  nuch  öfters  mit  der  Lectiire 
der  Platonischen  Werke  und  der  Arbeiten,  welche  hier  und  im 
Auslande  über  Plato  herauskommen,  auch  mit  meinen  eigenen 
Schriften  über  diesen  Gegenstand  beschäftigt!"') 

Jetzt  haben  sich  die  Zustände  gänzlich  geändert,  und  es  haben 
thoils  die  Naturwissenschaften,  theils  die  philologisch  -  kritischen 
Untersuchungen  die  Mehrzahl  der  besseren  Köpfe  unserer  Lands- 
leute  in  Anspruch  genommen.  Die  Philusophie  überhaupt,  und 
besonders  die  Geschichte  der  Philosophie  wurde  vernachlässigt. 
Zum  Theil  ist  diese  Aenderung  der  wissenschaftlichen  Hichtnng 
unseres  \'olkes  damit  zu  erklären,  dass  ausgezeichnete  Forscher, 
wie  Mulder,  der  Chemiker  und  Physiologe,  Kaiser,  der  Astronom, 
Co  bot,  der  Philologe  das  Streben  der  Jugend  in  andere  Bahnen 
lenkten.  Waren  doch  diese  Männer  nicht  gerade  begeisterte  Ver- 
ehrer der  Philosophie.  Sie  entsprachen  mehr  oder  weniger  dem 
Bilde,  das  Land  von  dem  eigenthümlichen  Verhalten  des  Nieder- 
länders zur  Philusophie  oder  vielmehr  gegen  die  Philosophie  ent- 
worfen hat. 

„Die  Philosophie  hat  in  den  Niederlanden  wenig  Beifall  ge- 
funden. Man  fand  sie  unfruchtbar,  kalt  wie  Eis  und  vor  allem 
neologisoh;  drei  ernste  Beschwerden  für  ein  Volk,  das  einen  ehr- 
lichen Gewinn,  einen  häuslichen  Heerd  und  feste  Grmidsätze  als  die 
wichtigsten  Lebensinteressen  hochhält. "■ ') 

Andere  Gründe  für  die  relative  Verwahrlosung  der  Philusuphie 
wird  der  denkende  Leser  nicht  so  sehr  in  als  zwischen  den  Zei- 
len des  klar  und  geistreich  geschriebenen  Büchleins  liutlen,  in 
welchem  G.  von  Antal  eine  Skizze  der  Holländischen  Philo.>ophie 
im  letzten  Jahrhundert  giebt.  ■^)  Der  Verfasser,  ein  früherer  Student 
der  Lotrechter  Universität,  aus  Ungarn  gebürtig,  und  jetzt  wieder 
in  seinem  Vaterlande  leliend,  besitzt  eine  für  einen  Ausländer 
wahrhaft  staunenswerthe  Beleseuheit  in  der  Holländischen  Litteratur. 


')   Biitven  over   lief  beoefenen  der   wysbegterie,   Utrecht  1837,   Seite  26. 

-)  In  der  Zeitschrift  de  Oids  von  1864  in  einem  Artikel  ^Dienende  Philo- 
sophie", eine  Kritik  der  Opzoomersrhen  Philosophie. 

'')  G.  von  Antal.  IJie  HoUändishe  Philosophie  im  .  neunzehnten  Jahr- 
hundert.    Eine  Studie.     Utrecht  1888  (112  Seiten). 


124  C.  B.  Spruyt, 

Mit  einem  sf^i'f'iften  Urtheil  lilier  phiKtsophische  Fragen,  verbindet 
er  so  viel  Anerkennung,  dass  er  mit  Iieil)nitz  sagen  könnte:  ,,Ich 
billige  last  alles,  was  ich  lese  .  .  .  kleine  Gemiithsstimmung  ist 
von  Natur  so,  dass  ich  in  den  Schriften  Anderer  lieber  den 
eigenen  Nutzen,  als  die  fremden  Mängel  aufsuche." 

^'u^  Antal  längt  seine  Arbeit  an  mit  der  Erzählung  des 
vieljährigen  und  heftigen  Streites  zwischen  klassischer  Philologie 
und  Kantianismus,  der  im  ersten  Dezennium  dieses  Jahrhunderts  in 
Holland  geführt  wurde,  und  liei  welchem  der  redliche  Paulus  van 
Hemert  sich  den  schweren  und  derben  \Vaffen  Wyttenbach's 
iiiclil  vollkommen  gewachsen  zeigte.  Die  ernsteren  Elemente  dieses 
Kampfes  kann  der  .deutsche  Leser  in  PrantFs  einschlägiger  Ab- 
handlung linden:^)  das  komische  Beiwerk,  zur  Characteristik  der 
Zeit  nicht  ohne  ^^'ertll.  wird  er  w(thl  zum  ersten  Male  bei  von 
Antal  lesen  können.  Fügen  wir  zur  Characteristik  des  gehässigen 
Wvttenbach  noch  hinzu,  dass  er,  der  Fremde,  der  in  diesem 
Lande  Gastfreiheit  genoss,  sich  nicht  schämte,  während  der  fran- 
zösischen Gewaltherrschaft  (1810 — 1813)  seinen  wissenschaftlichen 
Gegner -heimlich  bei  den   Behörden  zu  denunciren. ')  j 

Die  wenigen  Seiten,  die  virn  Antal  unseren  , .verstorbenen  und 
verschollenen'"  common- sense  Philosophen  und  Eklektikern  widmet, 
haben  einen  spöttischen  Anstrich.  Wohl  nicht  ganz  mit  Recht, 
denn  die  Mäuiirr.  die  der  Autor  erwähnt,  standen  nicht  so  weit 
hinter  ihren  Schottischen  Geistesverwandten,  einem  Beattie  und  k 
anderen  zurück.  Freilich,  sie  hatten  Hume  nicht  begriften;  aber 
war  das  nicht  damals  das  allgemeine  Loos  der  Sterblichen?  \li 
Schrocder  und  van  Heusde,  deren  Werth  von  Antal  so  ge- 
recht zu  schätzen  weiss,  befanden  sich  den  Problemen  Hume's 
und  Kant's  gegenüber  in  demselben  Stande  der  Unschuld  wie 
Ilennert  und  Genossen.  Dass  Jemand  im  Ernste  fragen  könnte: 
..Auf  welch(Mn  Grunde  beruht  die  Beziehung  desjenigen,  was  man  in 


*)  I»aiiiel  Wyttenltach  als  Gegner  Kaut^.  Sitzuugslier.  der  ]).  p.  uud  h. 
Classe  der  Münchener  Akad.  1877. 

•■)  I».  W  y  I  f  en  Itachi  i  E/ns/o/arum  seleclnrum  fasc.  jirimus,  herausgegeben 
\'iii  Mahne,  W  y  t  ten  bach's  Biograph  Gent,  1829,  pag.  101. 


Die  Gesch.  der  Philosophie  in  Holland  in  den  letzten  zehn  Jahren.       125 

uns  Vorstellung  nennt,  auf  den  Gegenstand'"^)  —  das  war  ihnen 
eine  unverständliche  Subtilität.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  ist 
ihre  tiefe  Antipathie  gegen  die  deutsche  Philosophie  zu  verstehen; 
damit  begreift  man  auch,  wie  ihre  überaus  segensreiche  Wirksam- 
keit mehr  der  allgemeinen  Cultur  der  Nation,  als  dem  Studium  der 
Philosophie  zu  Gute  kam.  I)ai)ei  bedenke  man.  dass  die  Systeme 
von  Kant,  Fichte,  Schelling  und  Hegel  ihnen  an  den  Grundsätzen 
der  Christlichen  Religion  zu  rütteln  schienen.  ..AVir  wollen  —  sagt 
van  Heusde  —  beim  Philosophiren  Einfachheit,  guten,  gesunden 
Verstand  und  dabei  vor  Allem  gute  Principien,  die  jedenfalls  nicht 
gegen  unsere  Theologie  streiten."  ') 

In  der  Befreiung  der  Philosophie  aus  der  Knechtschaft,  in 
welcher  sie  Theologie  und  Philologie  gefangen  hielten,  sieht  von 
Antal  das  grosse  Verdienst  von  C.  W.  Opzoomer,  dessen  System 
er  im  Umriss  darstellt.  Der  Einfluss  dieses  universellen  und  frucht- 
baren Gelehrten  auf  die  Generation,  die  in  1845  und  1846  seine 
ersten  Werke  wie  ein  Phänomen  anstaunte ,  ist  jedenfalls  ausser- 
ordentlich tief  gewesen.  Doch  ist  es  fraglich,  ob  seine  Wirkung, 
Alles  zusammen  genommen,  dem  ernsten  Studium  der  Philosophie 
förderlich  war.  Aufgetreten  als  begeisteter  Jünger  der  Krause'schen 
Lehre,  sodann  bald  bekehrt  zu  einer  Philosophie,  die  dem  Comte' 
sehen  Positivismus  und  dem  Stuart  MilPschen  Empirismus  ihre 
wesentlichen  Züge  abborgte,  stand  Opzoomer  nicht  hinter  Schroe- 
der  und  van  Heusde  zurück  in  der  dringenden  Warnung  vor 
„den  Dornen  der  Speculation",  in  denen  die  anerkannt  grossen 
Meister  der  Philosophie,  ein  Descartes,  Spinoza,  Hegel,  stecken  ge- 
blieben wären.  In  seiner  Logik,  die  erst  unter  dem  Titel  „die  Me- 
thode der  Wissenschaft",  später  in  geänderter  Form  mit  wesentlich 
ungeändertem  Inhalt  unter  dem  Namen  „das  Wesen  der  Erkeunt- 
uiss"  —  ein  Titel  der  für  eine  empiristisehe  Logik  oder  Methodo- 
logie nicht  recht  passend  ist  —  erschien,  giebt  er  eine  Beschreibung 
der  Methode  der  Naturwissenschaft  und  versucht  zu  beweisen, 
dass  diese  Methode  auch  in  den  „Geisteswissenschaften"  die  einzig 


«)  Kaut  an  Marcus  Heze.     4.  Brief.     Hartenstein  YIIL  689. 
')  van  Heusde  pag.  41. 


12() 


C.  B.  Spniyt. 


brauchbare  sei.  Natürlich  kann  eine  ilorartige  Tendenz  den  Leser 
nicht  anlocken,  sich  in  dem  schwer  ZAigänglichen  Gedankenbau 
der  t'rossen  Denker  heimisch  zai  machen.  Denn  diese  haben  nach 
Opzoomer  fast  immer  eine  fehlerhafte  Methode  gebraucht,  und  fan- 
den nur  (Umn  und  wann  zufälliger  Weise  eine  Wahrheit,  wenn 
sie,  ohne  es  zu  bemerken,  „bei  der  Erfahrung  um  die  Ecke  geguckt 
hatten".  Die  Befreiung  der  Philosophie,  welche  von  Antal  Opzoomer 
zuschreibt,  ist  dann  auch  eine  sehr  relative.  Freilich  ist  die  Phi- 
losophie bei  ihm  nicht  eine  Dienerin  der  Philologie,  noch  eine 
unciUa  iheoJogiae;  sondern  sie  steht  im  Dienste  der  Praxis  und 
soll  sich,  dem  AVorte  Bacon's  gemäss:  Nisi  utile  est  quod  facias, 
rana  est  (floria  vestra  aller  Metaphysik  und  Speculation  enthalten. 
Der  Streit  zwischen  Idealisten  und  Realisten  wird  z.  B.  mit  der 
Bemerkung  abgefertigt,  dass  die  Kämpfer  eine  Antwort  auf  eine 
Frage  suchen,  „die  keine  Antwort  zulässt". 

Bei  solcher  Sachlage  kann  es  uns  nicht  wundern,  dass  unter  den 
hunderten  von  Schülern,  die  Opzoomer's  treffliche  Vorlesungen  mit 
jugendlicher  Begeisterung  folgten,  sehr  wenige  für  die  Philosophie 
ein  bleibendes  Interesse  gewonnen  haben  und  dass  O.'s  grosse  Ta-?J 
lente  nicht  im  Stande  waren,  der  Philosophie  in  Holland  die  Ehre 
zu  erhalten,  die  ihr  gebührt.  Das  Bild  der  Holländischen  Philo- 
sophie seit  den  fünfziger  Jahren  ist  wahrlich  nicht  so  erfreulich, 
wie  der  wohlwollende  von  Antal  am  Schlüsse  seiner  Abhandlung 
sagt.  Ein  trauriges  Zeugniss  ihres  heruntergekommeneu  Zu.staudes 
ist  das  Unterrichtsgesetz  von  1876,  welches  das  obligatorische, 
Studium  der  Philosophie  für  fast  alle  Studenten  aufhob,  und  statt 
dessen  ein  Doctorat  in  der  ..speculativen  Philosophie"  einführte, 
um  welches  sich  natürlich  kein  Mensch  bewirbt.  Solcher  Gesetz- 
gebung gebührt  die  scharfe  Beurtheilung  Land"s  in  Mind,  1878: 

..The  (special  Doctor  of  Philosophy)  will  be  diflerent  froifl 
anything  yet  known  in  history.  A  young  man  of  eighteen ,  fresh 
from  Ins  gymnasium,  is  to  be  instructed  in  Logic,  Psychology  and 
the  history  of  Greek  and  Roman  Philosophy,  and  then  to  take  the 
degree  of  candidate.  By  another  examination.  concerning  Mediaeval 
and  Modern  Systems,  and  Metaphysics,  „in  its  füll  extent  and  all 
its  applicatlons",  togetber  with  a  dissertation  to  be  argued  on  for 


Die  Gesell,  der  Philcsophie  in  Holland  in  den  letzten  zehn  Jahren.       127 

an  hour,  lie  may  coiiquer  the  title  of  a  Doctor  and  afterwards  — 
lepent  of  his  neglected  education."  **) 

In  der  That  kommt  diese  formelle  Anerkennung  der  pliilo- 
-npliischeu  Studien  so  ziemlich  mit  ihrer  Aufhebung  überein  und 
man  kann  davon  sagen: 

..Philosophy  at  large  can  dispense  with  Universities,  but  lUii- 
versities.  tliat  try  to  dispense  with  Philosophy  will  be  found  in 
the  long  run  to  tamper  with  the  mainspring  of  their  own  Con- 
stitution." 

Trotz  dieser  ungünstigen  Verhältnisse  ist  die  Geschichte  der 
Philosophie  im  letzten  Jahrzehnt  natürlich  nicht  ganz  unbearbeitet 
geblieben.  Zur  Griechischen  Religionsphilosophie  gab  Hoekstra 
einen  Beitragt),  in  welchem  er  zu  zeigen  sucht,  dass  die  bekannte 
Lehre  des  «f>6voc:  twv  f^söiv  i-i  r?]  TÖiv  -/prjSTtov  sutuyt'o:,  die  Herodot 
zum  schärfsten  Ausdruck  bringt,  eine  jüngere  Erfindung  sei,  ,,ein 
Symptom  des  irreligiösen  Aberglaubens,  das  sich  immer  zu  offen- 
baren scheint,  so  bald  der  Hauch  eines  gottlosen  Skepticismus  über 
die  alten  Olijckte  der  Verehrung  geht".  „AVäre"  —  sagt  Hoekstra 
weiter  —  „Herodot's  Theorie  vom  Neide  der  Götter  schon  in  der 
Periode  der  mehr  naiven  Frömmigkeit  bei  den  Griechen  herrschend 
gewesen"  —  wie  z.  B.  Nägelsbach  in  der  Nachhomerischen  Theo- 
logie zu  meinen  scheint  —  .,so  hätten  wir  hier  auf  dem  Gebiete 
der  Phänomenologie  des  religiösen  Bewusstseins  eine  Erscheinung 
vor  uns,  die  nicht  allein  einzig,  sondern  auch  in  psychologisch- 
religiöser Hinsicht  räthselhaft,  ja  vielleicht  ganz  unbegreiflich  wäre." 
Hoekstra  glaubt,  dass  die  Stellen  bei  Homer,  Hesiod,  den  Gno- 
mikern,  Aeschylus,  Sophokles,  aus  welchen  mau  bei  oberflächlicher 
Durchsicht  die  Vorstellung  vom  csöovoc  täv  f>£(ov  herauslesen  kann, 
eine  andere  Deutung  erfordern.  Seine  Behandlung  der  vielen  Dich- 
terstellen  eingehend  zu  besprechen  ist  hier  nicht  möglich.  Nur 
möchte  ich  bemerken,  dass  Hoekstra  sich  vielleicht  die  Religion 
der  alten  Griechen  zu  erhaben  gedacht  hat,   wenn   er  meint,   dass 

'*)  Land  Philosophy  in  the  Dutch  universities.     Mind  Vol.  III,  pag'.  104. 

^)  Hoekstra  l)e  wangunst  der  Goden  op  het  geluk,  ook  der  reclitvaardigen. 
Verslagen  en  Mededeelingen  der  K.  Akademie  vau  Wetenschappen.  1883 
(89  Seiten). 


^og  C.  B.  Spriiyt, 

fliese  sich  über  <leii  j^Unbegriff  des  Gütteriieides"'")  ebensosehr  er- 
eifert liätteo,  wie  der  Christ  des  neunzehnten  Jahrhunderts.  Im 
•/X£-T£iv.  }iot/£Uciv  y.7t  dUr^lw:  a-aTS-kiv  fanden  die  Homerischen 
(iötter  nichts  Unanständiges,  und  doch  sind  diese  Handlungen 
d})öu.i3-:iot  io-rx.  wie  Xenophanes  sagt.  Wohl  meint  Hoekstra,  dass 
„die  Götter,  zu  welchen  die  Frommen  in  der  Ilias  ihre  Gebete  richten, 
in  ihrer  Vorstellung  immer  reine  und  heilige  Wesen  sind".  ..Denn 
das  Göttliche  ist  bei  Homer  das  ideelle,  das  höchste,  das  schönste, 
u.  s.  w.'*  Aber  man  könnte  fragen,  ob  diese  Anhäufung  von  ehren- 
den epitheta  im  Gebete  nicht  etwa  ihren  Grund  hat  in  dem  selbst- 
süchtigen Streben  des  Betenden,  der  seinen  Gott  gnädig  stimmen 
will  und  dabei  in  der  Schmeichelei  ein  Mittel  findet,  das  so  be- 
quem als  billig  i.st.  Thun  wir  nicht  besser,  die  alt-griechischen 
Vorstellungen  über  die  Götter  aus  den  Mythen  abzuleiten,  an  deren 
Ungeheuerlichkeiten  der  alte  Grieche  keinen  Anstoss  nahm,  als  mit 
Hoekstra  die  beim  Anreden  der  Götter  reichlich  gespendeten  Lobes- 
erhebungen ganz  ernst  zu  nehmen?  ., fli 

Auch  K.  Kuiper,  welcher  die  Philosophie  und  Religion  im 
Drama  von  Euripides  in  einem  ausführlichen  Werke")  bespricht, 
und  in  der  Person  des  Tragikers  ein  Gemälde  des  Kampfes  ent- 
wirft, ..der  am  Ende  des  fünften  Jahrhunderts  vor  Christus  die 
Harmonie  des  geistigen  Lebens  der  Athener  zu  zerstören  anfing, 
des  Kampfes  zwischen  neuer  AVahrheit  und  altem  Glauben",  schlägt 
diesen  alten  Glauben  ziemlich  hoch  an.  In  den  Vorstellungen  über 
die  Gottheit  bei  Homer  liegen  nach  Kuiper  die  Begritt'e  der  All- 
macht, der  Allwissenheit,  der  Allgegenwart,  freilich  nur  m  nuce. 
Denn  vielerlei  Umstände,  z.  B.  anthropomorphische  Anschauungen, 
verhindern  die  volle  Anerkennung  dieser  göttlichen  Attribute.  Noch 
mehr  ist  der  Begriff  der  sittlichen  ^'ollkommenheit  als  Attribut  der 
(lottheit  rudimentär  geblieben:  aber  doch  findet  der  Autor  eine  I 
Ahnung  davon  in  der  Bezeichnung  der  Götter  als  otu-r^osc  sacov  —  : 
eine  Ansicht,  die  wohl  nicht  viel  Beifall  finden  wird.    Dieser  Glaube  | 

'";  ,liet  waiiliegrip  van  de  wangunst  der  GdQen",  e.  d.  S.  20. 
")  I>r.   K.   Kuiper.      Wi/sbegeerte  en  yodsdienst  in  het   drnma   van   Euripides, 
Uaarleui  1888  (436  Seiten). 


Die  Gesch.  der  Philosophie  in  Holland  in  den  letzten  zehn  Jahren.      129 

tihält  sich  nach  K.  nahezu  unverändevt  bis  Pindar.  T5ei  diesem 
Dichter  vernehmen  wir  „neue  Töne",  die  Lehre  der  Belohnungen 
und  Strafen  nach  dem  Tode  und  des  göttlichen  Ursprungs  der 
Seele. 

Die  Herkunft  dieser  neuen  Elemente  der  Religion  wird  aus  der 
Philosophie  abgeleitet.  Der  Autor  giebt  eine  weitläufige  Kritik  der 
Ansicht  Zellers.  nach  welcher  der  Unsterblichkeitsglaube  —  oder 
vielmehr  die  neue  Form,  die  der  uralte  Unsterblichkeitsghiube  im 
fünften  Jahrhundert  annahm  —  aus  der  Theologie  in  die  Philoso- 
phie aufgenommen  sei.  Bei  Cicero  TuscuLl,  16,  ?>8  soll  die  Phrase 
,^quod  lifteris  exstef  beweisen,  dass  Cicero  seinen  Bericht  „Phere- 
ci/des  Syrius  primus  di.vit  animos  esse  Jtomhium  sempifenios"  Pliere- 
cydes  selbst  oder  w^enigstens  „dem  Zeugniss  eines  alten  Autors" 
entnommen  hat.  Ist  Zeller  im  Rechte,  dass  im  Zeitalter  Pindars  die 
pythagoreische  Lehre  noch  nicht  in  Thebe  bekannt  war,  warum 
sollte  Pindar  die  Lehre  der  Unsterblichkeit  nicht  aus  Plierecy- 
des  geschöpft  haben  können?  Wenn  llerodot  sagt,  dass  die  Lehre 
der  Metempsychose  aegyptisch  ist  und  dass  Griechen  sie  von  den 
Aegyptern  entlehnt  haben,  kann  er  unter  den  Leuten,  imv  i'((o 
£iO(b;  xa  ouvotj,7-a  ou  ypa'fuj,  auch  wohl  Pherecydes  und  Pythagoras 
meinen. 

Ich  verweilte  etwas  länger  bei  dieser  Auseinandersetzung,  weil 
sie  die  schwachen  Seiten  der  mit  Liebe  geschriebenen  und  an- 
sprechenden Abhandlung  Kuiper's  in  ein  helles  Licht  stellt.  Er 
geht  von  der  Voraussetzung  aus,  dass  die  Fragen  von  Gott  und  Un- 
sterblichkeit, wie  bei  Kant  so  auch  im  Denken  der  vorsokratischeu 
Philosophen  den  ersten  Rang  behaupteten.  Aber  diese  Männer 
waren,  wie  Aristoteles  sagt,  cpuaixoi,  Naturforscher.  Zwar  bringen 
die  Consequenzen  ihrer  physischen  Theorieen  sie  bei  Gelegenheit 
mit  den  landläufigen  Vorstellungen  über  die  Götter  und  die  Men- 
Scheuseelen  in  Streit.  Aber  diese  Themata  werden  nur  sehr  ober- 
flächlich behandelt,  und  consequeutes  Denken  darüber  ist  vor 
Plato  gar  nicht  zu  finden.  Darum  kann  man  nicht  mit  Kuiper 
die  Unsterblichkeitslehre,  die  in  gewissem  Sinne  schon  bei 
Homer  vorkommt,  in  der  vorsokratischeu  Philosophie  ihren  Ur- 
sprung nehmen  lassen,  wie  dies  schon  Bakhuyzen  van  den  Brink  in 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophip.     11. 


9 


130  f-  P-  •'^P'-'iyt, 

seinen  Variup  Lediones  in  musterhafter  Weise  gezeigt  hat.  Wenn 
Kuiper  aus  llerodot's  Bericht  über  das  döavaTi'Cätv  der  Geten  ablei- 
ten will,  dass  die  Unsterblichkeitslehre  Herodot  sehr  originell  vor- 
kam, so  übersieht  er,  dass  otöavot-i'Csiv  hier  „unsterblich  machen" 
bedeutet.  Die  Eigenthiimlichkeit  der  Geten  bestand  gewiss  nicht 
in  ihrem  Glauben  an  Unsterblichkeit,  aber  in  ihrer  Gewohnheit, 
jedes  fünfte  Jahr  einen  Mann  zum  Unsterblichen  zu  machen,  d. 
h.  ihn  zu  tüdton  und  dabei  mit  einer  Mission  an  Zamolxis  zu  be- 
ehren. Dass  Herodot  mit  den  Griechen.  t<ov  syoj  3ioa);  -zd  ouvo[ji.7.Ta 
oü  7pa'f(ü,  den  längst  verstorbenen  Pherecydes  oder  Pythagoras  ge- 
raeint haben  sollte,  ist  nicht  anzunehmen,  da  Herodot  keinen  Grund 
hatte,  diese  Namen  zu  verschweigen.  Aus  dem  Umstände,  dass 
Herodot  noch  zweimal  dieselbe  Phrase  anw'endet,  und  in  beiden 
Fällen  gelegentlich  der  ^littheilung  nicht  sehr  ehrenvoller  Thaten 
noch  Lebender,  wird  es  sehr  wahrscheinlich,  dass  der  Grieche,  dessen 
Namen  er  H,  123  nicht  nennen  wnll,  der  berühmte  Empedokles  ist. 

Was  Kuiper  über  den  Einfluss  der  Philosophie  auf  die  An- 
schauungen der  Dichter  sagt,  steht  natürlich  mit  seiner  Vorstellung 
über  ihren  Inhalt  im  engsten  Zusammenhang.  So  findet  er  eine 
grosse  Aehnlichkeit  zwischen  „diesen  zwei  Ueberzeugungen.  dem 
Glauben  an  die  innere  Stimme  des  göttlichen  Verstandes  (des  Logos) 
bei  den  Philosophen  und  dem  Vertrauen  auf  die  Mantik,  als  Offen- 
barung Gottes  bei  den  Gläubigen",  und  lässt  er  Heraklit  „gewisser- 
maassen"  den  Schlaf  des  Körpers  als  einen  Zustand  betrachten, 
der  für  mehr  exacte  innere  oder  geistige  AVahrnehmung  vorzüglich 
geeignet  ist.  Aber  die  ^lantik  der  Gläubigen  beruht  auf  sinnlicher 
Wahrnehmung  von  Zeichen;  der  Glaube  der  Philosophen  an  die 
Stimme  des  Logos  auf  völliger  Negation  der  Wahrheit  des  sinnlichen 
Eindrucks.  Und  Heraklit  sagt  in  einem  bekannten  Fragment,  das 
wir  im  Schlafe  unseren  Verstand  verlieren,  wie  Kuiper  selbst  an 
einer  anderen  Stelle  seines  Werkes  citirt. 

Die  Beschreibung  der  Theologie  und  Philosophie  des  Euripides  i 
ist  natürlich  durch  die  Auffassung  der   vorsokratischeu  Philosophie 
-stark  beeinflusst.     Wie  Kuiper   den   homerischen    Helden   und   den 
alten  Philosophen  eine  mehr  ethisch-religiöse  Gesinnung  zusehreibt, 
als  aus   den  Quellen   belegt  werden  kann .  so   bekommt  auch  der 


Die  Gesell,  der  Philosopliie  in  Holland  in  den  letzten  zelin  Jahren.       131 

.Skeptiker  Euripide.s  bei  ilim  einen  religiösen  Charakter,  der  sich 
u.  A.  in  seiner  Sympathie  für  den  C'retensischen  Zeus-C Kultus  und 
für  die  Verehrung  von  Dionysos  und  Demeter  zeigen  soll.  Auch 
Stellen  aus  den  Pirithous,  dessen  Uuächtheit  Kuiper  leugnef,  spielen 
hei  der  Argumentation  für  diese  Behauptung  eine  erste  Rolle. 

Zu  ganz  anderen  Ergebnissen  kommt  die  Inaugural-Dissertation, 
in  welcher  Berlage  denselben  Gegenstand  behandelt'").  Berlage 
sieht  in  Euripides  nicht  einen  Anhänger  einer  bestimmten  philo- 
sophischen Schule,  sondern  einen  Mann  von  grosser  rnconstonfia 
und  rerum  nocarum  Studium,  dessen  Glaube  den  zerstörenden  Zeit- 
einflüssen nicht  widerstanden  hatte;  der  im  mittleren  Lebensalter 
in  seinen  Tragödien  die  Erzählungen  über  die  Götter  zum  Gegen- 
stand einer  scharfen  und  Intteren  Satire  machte,  aber  älter  gewor- 
den, mit  Socrates  und  Plato  der  Ansicht  war,  dass  die  Bekämpfung 
dieser  Mythen  ohne  Nutzen  und  vielleicht  verderblich  sei.  Die 
Schrift  verdient  die  Beachtung  derjenigen,  die  sich  mit  Euripides 
beschäftigen.  )Vas  Berlage's  Ansichten  über  die  Geschichte  der 
Griechischen  Philosophie  betrifft,  so  würde  er  besser  gethan  haben, 
einige  zweifelhafte  Theorieen,  z.  B.  seine  vollkommene  Ehrenrettung 
der  Sophisten,  nicht  so  unbedingt  zu  vertreten.  Dass  er  Grote 
„primum  eorum  paftwium  ff  vindicem"  nennt,  beweist  zur  Geniige, 
dass  er  die  Litteratur  über  die  Sophisten  nicht  mit  der  Genauig- 
keit kennt,  die  ein  so  entschiedenes  Auftreten  motiviren  würde. 

Plato  und  seiner  Zeit  widmet  H.  Was  seit  Jahren  ein  gründ- 
liches Studium,  dessen  Früchte  uns  in  vier  Abhandlungen  vorliegen ' '')• 
Leider  sind  sie  nicht  so  bekannt,   wie  sie   es  verdienten,   weil  die 

'■'')  J.  Berlage.  Commeniatio  de  Euripide  phitosopho.  Lugduni-Batavorum 
1888  (216  Seiten). 

'^)   H.  Was.       De    dichter    en     zyne    vaderstad.      Eene    iuleidiug    tot    den 
Staat  van  Plato.     Leiden  1881  (42  Seiten). 
„  Plato's  Politeia.     Een   kritisch-aesthetisch  onderzoeli.    Arn- 

hem  1885  (72  Seiten). 
„  Athene  s  Democratie.     Im    Tydspiegel  1886   (30  Seiten). 

„  Plato  s  Symposion.     Eene    erotische  Studie.     Arnhein  1887 

(103  Seiten). 

9* 


132  ^-  B-  ■'^P'uyt, 

liolläiulische  Sprache  nur  weuigen  Plato-Forschern  zugänglich  ist. 
Wie  schon  der  Titel  seiner  ersten  Schrift  über  Plato  zeigt,  will 
Was  besonders  den  dichterischen  Charakter  der  platonischen 
Lebens-  und  Weltanschauung  beleuchten.  In  diesem  Charakter 
liegt  nach  ihm  der  Grund  der  Unmöglichkeit  einer  Exposition 
der  Lehre  Plato's,  die  in  gewissem  Grade  befriedigend  wäre.  „Eine 
derartige  Philosophie  rauss  die  Systemsucht  mit  Rathlosigkeit 
und  Verzweiflung  schlagen.  Daraus  entspringt  die  Sprachver- 
wirrung unter  denjenigen,  die  sich  mit  der  Exposition  des  wahren 
Inhalts  der  Lehre  beschäftigen,  die  Plato  verkündet  hat."  Die 
Widersprüche  zwischen  den  Behauptungen  des  platonischen  Socrates 
in  verschiedenen  Dialogen  (und  öfters  in  demselben  Dialog)  werden 
ihren  zureichenden  Grund  darin  finden,  dass  Plato's  Seele  „mit  sich 
selber  spricht"  und  entgegengesetzte  Anschauungen  vorträgt,  in 
welcher  die  Kunst  des  Dichters  eine  „gewissermassen  zufällige" 
Einheit  bringt,  und  die  Poesie  dort  die  Hand  bot,  wo  die  Logik 
ihn  im  Stiche  Hess.  „Bei  der  Deutung  der  Platonischen  Ansichten 
verbleibe  daher  das  Endurtheil  nicht  bloss  der  Kritik,  sondern  man 
gebe  dabei  auch  der  Aesthetik  eine  Stimme."  So  wird  man  sich 
/.  B.  vor  der  unbilligen  Kritik  bew^ahren.  die  Krohn  an  der  Politeia 
geübt  hat,  und  man  wird  überhaupt  den  „daimonischen  Mann"  in 
der  passenden  Beleuchtung  sehen. 

Erinnert  diese  Betrachtungsweise  des  Autors  an  die  Johes  ceri- 
6/*a?M- des  skeptischen  Renan,  die  in  dessen  Dio/ogues  jj/dhsophiques 
im  heftigsten  Kampfe  begriffen  sind  und  diametral  entgegengesetzte 
Meinungen  verfechten,  sowüe  an  die  Anschauung  Grote's,  der  in 
Plato  vor  allem  den  dialectischen  Forscher  findet,  welcher  auch 
mit  negativen  Resultaten  vollkommen  zufrieden  ist,  so  verdient  sie 
doch  Beachtung.  Es  wäre  zu  wünschen,  dass  Was  seinen  Gesichts- 
punkt in  der  platonischen  Frage  bald  in  einem  grösseren  Werke 
beleuchtete  und  näher  begründete.  Allerdings  kann  man  schwer- 
lich glauben,  dass  die  Äleinuug  von  Was  —  Plato  sei  ein  philo- 
sophirender  ^lythendichter  —  den  Sieg  behalten  wird  über  die  ge- 
wöhnliche Ansicht,  dass  Plato  ein  Denker  ist,  der  seine  ausser- 
ordentliche dichterische  Anlage  nur  da  zum  Worte  kommen  lässt, 
wo  das  Denken  ihm    die  Hülfe   versagt,   und,   seiner   wissenschaft- 


V 


k 


iÜ 


Die  Gesch.  der  Philosophie  in  Holland  in  den  letzten  zehn  Jahren.       133 

liehen  Theorie  gemäss,  versagen  muss;  aber  die  tüchtigen  vStudien 
und  das  eindringende  Verständniss  dieses  Plato-Verelirers  können 
zu  einer  Berichtigung  der  Theorieen,  die  in  Plato  bloss  oder  beson- 
ders den  Systematiker  schätzen,  einen  dankenswcrthen  Beitrag 
liefern. 

Der  Aufsatz  über  Athens  Democratie  ist  eine  tiefangelegte 
Beurtheilung  des  bekannten  AVerkes  von  Julius  Schvarcz.  Für  die 
Geschichte  der  Philosophie  ist  daraus  nichts  zu  entnehmen  als 
des  Autors  Urtheil  über  die  verschiedenen  Methoden  der  Geschichts- 
betrachtung. Er  verwirft  mit  AV.  von  Humboldt  die  teleologische 
Geschichtsschreibung,  in  welcher  der  Historiker  seine  eigenen  Ideen 
den  Thatsachen  aufdrängt,  und  zeigt  im  Einzelneu,  wie  diese 
Methode  Schvarcz  bei  der  Kritik  der  Democratie  Athen's  und  Taine 
in  seinem  Urtheil  über  die  französische  Revolution  in  die  Irre  ge- 
führt hat.  Höher  schätzt  er  die  „stasiotische"  Methode,  welche  in 
der  Darstellung  der  Geschichte  die  Ideen  einer  der  streitenden 
Parteien  zu  den  ihrigen  macht  —  wie  dies  Macaulay  in  der  engli- 
schen, Grote  in  der  griechischen  Geschichte  thun  —  und  so  wenig- 
stens theilweise  ihre  Ideen  aus  den  Thatsachen  herleitet.  Die 
„kallopistische"  Geschichtsschreibung,  Avelche,  von  wahrer  Begeiste- 
rung beseelt,  den  behandelten  Stoff  in  feurigen  Herzensergiessungen 
feiert,  rühmt  er  nicht  nur  als  zulässig,  sondern  sogar,  treffend  ange- 
bracht, als  sehr  verdienstlich.  Aber  die  Krone  gebührt  dem  „dyna- 
mischen" Geschichtswerke,  das  unparteiisch  „den  Kräften  nachspürt, 
von  denen  die  Ereignisse  und  die  handelnden  Personen  der  Aus- 
druck und  die  Verkörperung  sind".  Solche  Geschichtsschreibung 
ist  freilich  ein  Ideal,  welchem  etwa  ein  Ranke  sich  nähert. 

Diese  Betrachtungen  über  die  Aufgabe  der  Geschichtsschreibung 
machen  es  mir  möglich,  ohne  weither  geholte  Erörterungen  anzu- 
deuten, warum  das  Urtheil  über  das  letzte  Werk  des  trefflichen 
Autors  nicht  unbedingt  günstig  sein  kann.  In  seiner  Schrift  über 
Plato's  Symposion  tadelt  Was  das  Lob  und  die  Verklärung,  die 
der  platonische  Eros  bei  vielen  älteren  Schriftstellen,  und  noch  in 
den  letzten  Jahren  u.  A.  bei  Weygoldt  und  Schmelzer  gefunden 
hat.  Er  ereifert  sich  über  das  „Apostolat"  der  wahren  Liebe, 
als  dessen   Träger  Plato  von  Vielen  betrachtet  ist.     Er  stellt   die 


134 


C.  B.  Spruyt, 


Entwickehing  der  Vorstellungen  über  den  Eros  von  Homer  bis 
Platü  dar.  und  findet  am  Ende  dieser  Auseinandersetzung  den 
Tirund  der  bedenklichen  Verschmelzung  von  Paederastie  und  Philo- 
sophie bei  Plato  in  der  Absicht  des  Philosophen,  das  Xenophon- 
tische  Symposion  zu  verspotten.  Dass  das  Bild,  welches  Xenoplion 
von  Socrates  entworfen  hat,  naturgetreu  ist,  kann  Plato  freilich 
nicht  leugnen.  Aber  er  hat  den  guten  Xenophon  zum  Besten  und 
belacht  z.  B.  dessen  Streben  nach  historischer  Genauigkeit  im  An- 
fang seines  Dialogs,  wo  der  eine  unbedeutende  Jünger  des  Socrates, 
Apollodoros.  sagt,  dass  er  seine  Nachrichten  von  einem  anderen 
unbedeutenden  Jünger,  Aristodemus  hat,  dessen  Mittheilungen  auch 
nicht  sehr  vertrauenswürdig  sind.  Und  gegen  den  Schluss  des 
Xenophontischen  Symposion,  in  welchem  durch  die  Heirath  des 
Jünglings  mit  dem  Mädchen  die  Liebe  zwischen  Mann  und  Weib 
gefeiert  wird,  stellt  Plato  als  Contrast  die  dialectische  Untersuchung 
des  Begriffes  vom  Eros  und  die  Rede  der  Diotima  hin.  Offenbar 
will  er  mit  dem  paradoxen  Ergebniss,  dass  Eros  ein  Philosophos 
ist  und  mit  der  Herabwürdigung  der  lÄebe  zum  weiblichen  Ge- 
schlechte die  hausbackene  Weisheit  von  Xenophon's  Gastmahl 
lächerlich  machen.  Und  das  gelingt  ihm,  allerdings  nicht  ohne 
einen  grossen  Aufwand  der  allergröbsten  Sophistik  und  nicht  ohne 
den  verderblichsten  Einfluss  auf  die  griechischen  Sitten,  wäe  Was 
zu  zeigen  unternimmt.  Denn  „zwischen  Plato's  Eros  und  dem 
Geschlechtstrieb  besteht  kein  Causalverband".  „Das  Band  zwischen 
platonischer  Ideenlehrc  und  Plato's  erotischer  Weltanschauung  ist 
rein  zufällig",  und  dabei  entsteht  der  Schein,  als  ob  die  Tugend 
ein  Bündniss  geschlossen  hätte  mit  „unfläthigen"  Begierden. 

Was  der  reformatorische  Plato  gethan  halben  müsstc,  um  die 
griechischen  Sitten  zu  verbessern,  ist  etwas  ganz  anderes,  als  seia 
verunglückter  Versuch,  die  Paederastie  zu  verfeinern.  Wer  „den 
Augiasstall  reinigen"  wollte,  der  hätte  die  Gymnasien  und  Palaestren 
vernichten  und  den  Männern  bei  Todesstrafe  verbieten  müssen,  sich 
im  Beisein  Anderer  zu  entkleiden;  er  hätte  die  Hetairien  auflösen 
und  den  Mädchen  eine  Erziehung  zuwenden  müssen,  die  der  ge^ 
fährliclien  foncurrenz  der  Iletaeren  für  immer  ein  Ende  machl 
Doch  Platu  dachte  nicht    au  derartige  Hcfürmeu,    und  seine  unzi 


Die  Gesch.  der  Philosophie  ia  Holland  in  den  letzten  zehn  Jahren.      135 

liiDglicheii  und  zweideutigen  Betrachtungen  über  den  Eros  raussten 
(las  Uebel  vergrössern. 

Dieses  Hauptergebniss  der  Schrift  von   Was  scheint  mir  ein 
wahres  Modell  „teleologischer"  Geschichtsbetrachtung  zu  sein.     Ich 
will  darauf  kein  Gewicht  legen,   dass  er  selbst  die  Unmöglichkeit 
solcher  Reformen  im  alten  Hellas  anerkennt.      Aber   er  hätte   be- 
denken sollen,  dass  Plato's  ethisches  Ideal  unzweifelhaft  die  Xusic  z7.t 
/ojpia|xoc  'J/u/rjC  drJj  a<h\m-oc  ist  und  dass  die  geschlechtliche  Liebe 
zwischen  Mann  und  Weib  nach  seiner  Anschauung  für  den  besseren 
Menschen  eine  nicht  minder  grobe  Veiirrung  ist,  als  die  Paederastie. 
Der  Mensch  soll   durch   die  Liebe   zum   Schönen  zur  Gemeinschaft 
mit  der  Ideenwelt  gelangen.     Aber    um  dieses  Ziel  zu   erreichen, 
muss  er  die  Sinnenlust  unbedingt  verwerfen.     Nur  die  Seele,   die 
standhaft  und  felsenfest  dem  Treiben  des  schlechten  Pferdes  wider- 
standen  hat,    geht  GTroTtTspo;  aus  dem   irdischen  Leben  —  wie  es 
im    Phaedrus    heisst,     dessen    Inhalt    Was    in    dieser    Schrift    gar 
nicht  in  Betracht  zieht.     Dieses  asketische  Ideal  des  Plato  spricht 
Was  nicht  an;    die  Xenophontische  Denkart  berührt    ihn    sympa- 
tischer.     Niemand  wird  ihm  das  verargen.     Aber  wie  kann  er  die 
teleologische  Geschichtsbetrachtung  rügen,  die  „dynamische"  loben 
und  doch    übersehen,   dass   in  Plato   sich   die   gewaltige  Kraft  der 
ascetischen  Weltanschauung  erhebt,   die  viele  Jahrhunderte  später 
in  Mönchswesen  und  Coelibat  ihre  tief  eingreifende  Wirkung  zeigt, 
die  noch   Schiller  reden   lässt   von    der    „bangen    Wahl    zwischen 
Sinnenglück  und  Seelenfrieden*',  und  die  auch  noch  heute  einer  der 
grössten  Factoren  ist,   mit  denen   der  Historiker  zu  rechnen   hat. 
Die  vielen   interessanten  Einzelnheiten  können    diesen  Grundfehler 
von  Was'   „erotische   Studie'-  —  sollte   wohl  heissen  „Studie  über 
Erotik''  —  nicht  gut  machen. 

Die  gelegentlichen  Bemerkungen  über  Sokrates  in  der  erstge- 
nannten Schrift  von  Was  gaben  mir  Anlass ,  die  Bedeutung  des 
Sokrates  als  Denkers  etwas  näher  zu  beleuchten").    Gegen  die  Au- 


'■*)  C.  H.  Spruyt.     Socrates  als  toysgeer,    in    der   Zeitschrift   de   Gids,   188'2 
(36  Seiten). 


inPi  C.  R.  Sprint, 

nähme  von  Was,  dass  Sucrates  niit  den  Israelitischen  Nabi,  den 
durch  die  CJdtthoit  Inspirirten  zu  vergleichen  sei,  erinnerte  ich  an 
die  prosaische  Nüchternheit  des  Xenophonlischen  Sukrates,  und  im 
Anschluss  an  die  bekannte  Aristotelische  .Stelle,  Metaph.  ]\I.  4 
8.  1078.  b  27  —  32,  versuchte  icli  zu  /.eigen,  dass  8okrates  jnit 
Recht  als  der  Mann  geehrt  wird,  mit  dem  eine  ganz  neue  wissen- 
schaftliche Richtung  l)Cginnt.  Das  würde  man  kaum  verkennen, 
wenn  nicht  die  Bedeutung,  die  das  Wort  huhicUo  in  den  späteren 
Zeiten  angenommen  hat,  Viele  und  u.  a.  auch  Was  veranlasst  hätte, 
die  sokratische  i-i^iui-^y^  und  die  i-ax-ixoi  Xo-j'oi  falsch  zu  deuten. 
Diese  s-a-j-w/v)  ist  zwar  in  gewissem  Sinne  ein  specieller  Fall  der 
Methode,  die  man  jetzt  Induction  nennt,  das  Schliesseu  vom  Be- 
sonderen auf  das  Allgemeine.  Doch  ihre  wahre  Natur  besteht 
darin,  dass  aus  dem  gegebenen  Umfang  eines  Begriffs,  z.  B.  der 
avof.£t7.  im  Laches,  der  ot/ctioauv-/)  im  ersten  Buche  der  Republik, 
sein  Inhalt  gesucht  wird  durch  ein  Substitutionsverfahren,  bei  wel- 
chem man  das  Prädikat  der  versuchsweise  aufgestellten  Dehnition, 
das  (Ifi/ifiiens,  für  den  Namen  des  Begriffs,  das  de/initum,  oder  um- 
gekehrt, in  Sätze  substituirt,  die  im  Kreise  der  untersuchenden 
Dialektiker  als  wahr  anerkannt  sind.  Die  bei  diesem  Verfahren 
an"s  Licht  kommenden  Widersprüche  fordern  eventuell  eine  Aeu- 
derung  oder  Verbesserung  der  Deünition,  und  die  neue  Definition 
wird  auf  die  nämliche  Weise  geprüft.  Das  ist  die  Methode  der 
Dialectik,  die  Sokrates  und  Plato  mit  grossartiger  Virtuosität  hand- 
habten, und  deren  Werth  aus  ihrem  Wesen  mit  derselben  Be- 
stimmtheit hervorgeht,  wie  die  Grenzen  ihrer  Anwendung.  Unent- 
behrlich zur  Herstellung  eines  consequenten  Denkens  beruht  sie  auf 
der  N'oraussetzung,  dass  die  allgemeinen  Sätze,  auf  welche  sie  ihr 
Sub>titutionsverfahren  anwendet,  unzweifelhaft  wahr  sind. 

Im  Anschluss  an  diese  Characteristik  der  Sokratisch-Plato- 
nischen  Dialectik  versuchte  C.  j\I.  van  D eventer  den  Angriff  von 
Was  auf  das  8ymposion  durch  die  Behauptung  zu  parircn ''),  dass   : 


'■*)  C.   .M.   Vau  Deverilcr.      lets  over  den  Eros  van  Plato.     Jii  der  Zeif.schrift 
Ue  Nituwe  Uids  1887  (0  Seiten). 


Die  Gesch.  der  Philosophie  in  Holland  in  den  letzten  zehn  Jahren.       137 

Eros  an  der  Stelle  Sympos.  199  D  —  201  C  nicht  Liebe,  sondern 
Begierde  bedeute  —  ein  Versuch,  der  nur  beweisen  kann,  dass 
auch  eine  genaue  Prüfung  einer  einzelneu  platonischen  Betrachtung 
nicht  zum  Ziele  führt,  wenn  man  es  unterlässt,  andere  mit  der- 
selben zu  vergleichen. 

Derselbe  Autor  bot  in  seiner  Inaugural-Dissertation  eine  Mono- 
graphie über  die  Geschichte  des  Begriffes  des  chemischen  Elements 
im  Alterthum  und  im  Mittelalter"^).  Die  Schrift  zeugt  von  Scharf- 
sinn und  grossem  Fleiss.  ^Vesentlich  Neues  bringt  sie  jedoch  nur 
in  einer  ausführlichen  Kritik  der  Behauptung  Berthelots ''),  dass 
die  Alchemisten  ihre  Theorie  von  der  gemeinsamen  materia  prima 
aller  MetaUe  dem  platonischen  Timaeus  entlehnt  haben.  Van  De- 
venter  meint,  dass  der  Timaeus  den  Alchemisten  doch  wohl  etwas 
zu  schwer  gewesen  sei,  was  Berthelot  vielleicht  selbst  eingesehen 
hätte,  wenn  er  nicht  die  freie  Martin'sche  Uebersetzung  citirt  hätte; 
dass  bei  Berthelofs  Hypothese  unbegreiflich  bleibe,  warum  die 
Alchemisten  nur  an  eine  prima  materia  der  Metalle,  nicht  aber 
aller  Körper  glaubten;  und  endlich,  dass  der  im  Timaeus  ange- 
deutete und  bei  Aristoteles  deutlicher  entwickelte  Begriff  der  materia 
prima  so  unbestimmt  ist,  dass  die  Alchemisten  ihn  ebenso  gut  aus 
eigenen  Mitteln  hätten  erfinden  können,  wie  die  alten  Junier  die 
Vorstellung  des  lebendigen  Grundstofles. 

H.  G.  L.  A.  Bakhoven  gab  eine  instructive  Studie  über  die  pla- 
tonische Frage '^)  heraus,  in  welcher  er  die  Auffassungen  von  Plato"s 
Ideenlehre  bei  Auttarth,  Teichmüller  nnd  anderen  neueren  Autoren 
ablehnend,  eigene  Anschauungen  vorträgt,  die  meines  Erachtens 
nicht  haltbar  sind.  Er  nimmt  an,  dass  das  Wort  losa  hei  Plato 
öfters  in  der  Bedeutung  von  Vorstellung  gebraucht  wird.  Dadurch 
kommt  er  zur  Hypothese,  in  Plato's  System  sei  eine  logische,  eine 
psychologische  und  eine  metaphysische  Seite  zu  unterscheiden.    Dass 


"')  C.  M.  viin  Deveuter.  Schetsen  uit  de  geschiedenis  van  de  Scheikunde. 
Dordrecht,  1884  (U8  Seiten). 

'')  In  les  oriyines  de  V  Alchimie,    1884. 

'-)  H.  (I.  L.  A.  Bakhoven.  Flatonislen  van  den  lautsten  li/d.  Im  Tydspieyel 
1885  (32  Seiten). 


138  C.  B.  Spruyt, 

die  Termiui  si5o;,  ioia  und  ov  oder  ovtoj;  ov,  durch  welche  diese 
drei  Seiten  des  Objekts  der  platonischen  STTKj-rr^ixTrj  angedeutet  wer- 
den sollen,  ,so  ziemlich  promiscue  gebraucht  werden,  gesteht  er  ein. 
Auch  fühlt  er  wohl,  dass  die  platonischen  Ideen' doch  eigentlich 
nicht  Vorstellungen,  sondern  die  Objekte  von  gewissen  Vorstellungen 
sind.  Denn  er  missbilligt  Auffarth's  Erklärung  der  platonischen 
Lehre,  weil  dieser  vergessen  habe,  dass  die  Ideen  auch  ein  Objekt 
der  höchsten  Erkenntniss  sind.  Dass  die  platonische  Lehre  bei 
dieser  Auflassung  der  Ideen  als  Objekte  von  Vorstellungen,  über 
deren  Richtigkeit  in  den  letzten  Jahrzehnten  doch  wohl  annähernd 
eine  commrmis  opinio  besteht,  sich  in  „eine  mystische  Contempla- 
tion,  in  ein  geistiges  Schauen  verirren"  würde,  hat  Bakhoven  Avohl 
gesagt,  aber  nicht  begründet. 

.1 
In  meiner  Abhandlung  über  die  Bedeutung  der  Termini 
a-s'.pov  und  -ipa?  im  Philebus'^)  bemerkte  ich  in  Anschluss  an 
M.  Cantor,  dass  die  Entdeckung  der  Irrationalität  des  Verhältnisses 
zwischen  Diagonal  und  Seite  des  Quadrats  und  der  damit  zusam- 
menhängende Gegensatz  zwischen  den  discontiuuirlichen  Grössen  — 
wie  die  Reihe  der  Zahlen,  wenn  man  die  Zahl  als  eine  Summe 
von  Einheiten  delinirt  —  und  die  continuirlichen,  wie  die  Länge, 
den  l'vthagoreern  sehr  wichtig  vorkam.  Dann  zeige  ich,  dass 
Plato's  Beschreil)uug  des  ocTrsipov  im  Philebus  nicht  auf  das  Un- 
endliche, odev  das  Unbegrenzte  oder  das  Unbestimmte,  sondern 
allein  auf  die  continuirlichc  Grösse,  seine  Definition  des  -ipa?  nur 
auf  die  discontinuirliche  Grösse  passt.  Unter  der  Voraussetzung, 
dass  diese  Ausdrücke  auch  bei  den  Pythagoreern  denselben  Sinn 
hatten,  und  noch  nicht  die  mehr  allgemeine  Bedeutung,  die  Ari- 
stoteles ihnen  gewöhnlich  giebt,  gebe  ich  eine  Erklärung  der  be- 
kannten Stelle  der  Metaphysik  A  5  S.  986  a,  15 — 22,  wo  Aristote- 
les die  Pythagoreische  Lehre  mehr  andeutet,  als  beschreibt,  und 
widerlege  die  Kritik,  welche  Schaarschmidt  in  seiner  „angeblichen 


'^  C.  H.  Spruyt.  Ovei  de  beteekenis  der  woorden  dcTTEtpov  en  Tzepa;  in  Piatos 
l'hUehus.  In  ilcii  Verslagon  en  Mededceliugcn  der  Kouinki.  Akademie,  1885, 
(31  Seiten). 


Die  Gesch.  der  Philosophie  in  Holland  in  den  letzten  zehn  Jahren.       139 

Schriftstelleiei  des  Philolaus"   an  dem  Philolaos-Fragment  bei  Sto- 
haeus  Ecl.  I.  pag.  468  geübt  hat. 

B.  H.  C.  K.  van  der  Wyck  versucht  in  seiner  Abhandhing 
über  den  Begriff  der  saoottaovta  bei  Aristoteles -°)  eine  principielle 
Vertheidiguug  der  Aristotelischen  Etliik,  nicht  nur  wider  die  An- 
griffe Kant's,  Lewes'  und  Thilo"s,  deren  Auffassungen  über  die 
Meinungen  des  Aristoteles  sich  bei  Kennern  wohl  keiner  grossen 
Autorität  erfreuen,  sondern  auch  gegen  den  Hinweis  auf  die  logi- 
schen Fehler  in  ihren  eigenen  Grundsätzen  in  Zeller's  Geschichte. 
Der  Zirkel,  den  Zeller  II,  2,  657  darin  (indet,  dass  unsere  Zwecke 
von  unserem  AVillen,  unser  Willen  von  unserer  Tugend  abhängen, 
und  insofern  unsere  Einsicht  durch  unsere  Tugend  bedingt  ist, 
während  umgekehrt  unsere  Tugend  von  unserer  Einsicht  (^povr^aic) 
abhängt,  —  soll  nicht  bestehen,  weil  Aristoteles  wegen  seiner  Lehre 
von  der  Ewigkeit  der  Welt  das  Problem,  wie  die  Tugend  im  Laufe 
der  Zeiten  entstanden  sei,  nicht  zu  lösen  hatte.  Aber  die  Anmerkung 
von  Zeller  bezieht  sich  wahrlich  nicht  auf  die  Zeitfolge  von  Tugend 
und  Einsicht,  sondern,  wie  er  selbst,  S.  658  sagt,  liegt  „die  Haupt- 
schwierigkeit darin,  dass  beide  (cfpstV)  und  'fpov/jctic)  auch  ihrem 
Wesen  nach  durch  einander  bedingt  sind".  Der  9povt[xoc  im  zweiten 
Buche  der  Ethik  ist  vor  Allem  der  Mann,  der  die  verschiedenen 
menschlichen  Zwecke  richtig  abschätzt  und  nur  in  zweiter  Reihe 
der  scharfsinnige  Beurtheiler  der  Mittel,  durch  welche  diese  Zwecke 
realisirt  werden  können.  Aber  im  sechsten  Buche,  wo  das  Wesen 
des  cppovijioc  absichtlich  behandelt  und  endgültig  tixirt  wird,  hat  er 
nur  die  zweite  Aufgabe  vor  Augen.  Daher  hängt  die  richtige 
Mitte,  in  deren  Einhaltung  die  Tugend  bestehen  und  zu  deren  Be- 
stimmung der  cfpoviij.0^  nicht  nur  über  die  Mittel,  sondern  auch 
über  die  Ziele  urtheilen  soll,  bei  Aristoteles  wirklich  in  der  Luft. 

Soll  die  Lösung  dieser  Schwierigkeit  vielleicht  darin  zu  suchen 
sein,  dass  die  wahre  oder  „höhere"  menschliche  Natur  in  jedem  die 
nämliche  ist,  wie  van  der  Wyck  au  einer  anderen  Stelle  anzuneh- 

^*')  B.  H.  C.  K.  van  der  Wyck.  Ooer  fiel  be/rip  der  eiulaimonia  by  Aristo- 
teles. In  den  Verslagen  en  ilededeeliugen  der  Koninkl.  Akademie,  1882, 
(33  Seiten). 


140 


C.  B.  Spruyl, 


men  scheint,  so  fragt  es  sich  doch,  wie  diese  höhere  Natur  eine 
Norm  für  die  menschlichen  Handlungen  abgeben  könne,  wenn  man 
sie  nur  in  einem  theoretischen  Vermögen,  dem  vo-jc,  sucht. 

Ebenso  scheint  mir  die  zweideutige  Stellung,  welche  die  äusseren 
Güter  bei  Aristoteles  zum  Begriffe  der  Glückseligkeit  einnehmen, 
wahrlich  nicht  erklärt  durch  v.  d.  W/s  Bemerkung,  dass  die  äusseren 
Güter  wühl  Bedingunfien,  aber  nicht  BestandtheUe  des  Glückes  seien. 
Die  schwachen  Seiten  der  Aristotelischen  Ethik  halien  ihren  Grund 
im  Intellectualismus  der  griechischen  Philosophie;  auch  die  subtilsten 
Ausführungen  werden  sie  dem  Einsichtigen  nicht  verdecken  können. 
Glücklicherweise  hindern  sie  uns  nicht,  in  die  tiefgefühlte  Bewun- 
derung für  den  Genius  des  Aristoteles,  die  van  der  Wyck's  Abhand- 
lung auszeichnet,  einzustimmen. 


Hiermit  möchte  ich  die  Uebersicht  der  wichtigeren  holländi- 
schen Arbeiten  zur  Geschichte  der  griechischen  Philosophie  be- 
endigen. Ich  hoffe  in  einem  späteren  Hefte,  einen  Bericht  über 
die  Litteratur  zur  neueren  Philosophie  geben  zu  können. 


V. 

Delle  opere  piibblicate  in  Italia  nel  1886  e  1887 
intorno  alla  storia  della  Filosolia. 

Von 
Felioe  ToCOO  in  Florenz. 

Alkssandro  Chiapi'eli.i.  II  iiaturalisnio  di  Socrate  e  le  prime  Nubi 
dl  Aristofane  (Reudicouti  della  R.  Accademia  dei  Lincei 
Roma  1886). 
II  Prof.  Chiappelli,  del  quäle  uella  passata  ras.segna  esposi  uu 
lavoro  SU  Erac-lito,  avea  precedeiitemente  scritta  questa  iiota  sul 
naturalismo  di  Socrate.  Ed  a  torto  io  la  trascurai  credendola  di 
data  piü  antica.  Riparo  ora  e  ben  voleiitieri  all'  error  mio,  e  .sono 
io  il  primo  a  riconoscere  che  se  le  ipotesi  del  professore  napoletano 
11011  sono  lacilmente  accettabili,  certo  non  potevaiio  essere  difese 
coii  maggiore  ingegno  e  copia  di  dottrina.  L'ipotesi  del  Chiappelli 
e  questa,  che  nella  prima  redazioiie  della  Nubi  Aristofane,  legger- 
mente  punzecchiando  Socrate,  io  avrebbe  rappresentato  come  uu 
filosofo  uaturalista  e  acchiappa-nuvole,  che  perde  il  suo  tempo  a 
cercar  quante  volte  la  pulce  salti  la  hmghezza  dei  suoi  piedi,  o 
come  faccia  il  cielo  a  mandar  guizzi  di  lampi  e  fragori  di  tuoni. 
Invece  nella  seconda  redazione  Io  avrebbe  rappresentato  con  piii 
fosca  tiuta  e  come  uu  corruttore  di  costumi,  che  a  forza  di  sotti- 
gliezze  toglie  ogni  difierenza  tra  giusto  e  ingiusto,  e  sa  beue  al 
secondo  dare  tutte  le  apparenze  del  primo.  Questa  diversitä  nelle 
due  redazioui  sarebbe  nata  dal  mutamento  stesso  del  tilosofare 
socratico,  che  nei  primi  anni  non  era  diverso  da  quello  dei  uatu- 
ralisti  presocratici,  e  uon  prese  un  indirizzo  etico  se  non  molto  tardi, 


1  J-J  Fclice  Topco, 

(.'  (lopo  la  rappresentazione  delle  prirae  Xul)i.  Siffatta  mutazione, 
che  rencleva  ancor  piü  pericoloso  riuseguamento  di  Socrate.  avra 
coiitribuito  ad  inipermalize  un  conservatore  come  Aristofaue,  il  (juale 
all"  inuocua  e  in  parte  vcridica  satira  della  prima  redazione  avrebbe 
sostituita  una  piü  violeuta  ed  ingiusta.  facendosi  eco  di  quelle 
accuse,  che  piii  tardi  condussero  alla  condauna  del  piü  virtuoso 
degli  ateuiesi.  Ammessa  questa  ipotesi,  bene  si  spiega  come  Seuo- 
fonte  e  Piatone,  iion  conoscendo  se  uon  la  prima  redazione,  che  la 
seconda  non  pare  sia  stata  mai  recitata,  non  serbino  nessiin  ran- 
corc  contro  Aristofane,  a  segno  che  questi  nel  Convito  platouico  e 
rapi)resentato  come  un  geniale  amico  di  Socrate.  -^j 

A  me  in  verita  Fipotesi  che  Socrate  abbia  mutato  d'iudirizzo 
a  quarantacinque  anni,  quanti  ne  contava  quando  furono   rappre- 
sentate  le  Nubi,  parmi  molto  ardita.     Ne  saprei   spiegare  come  di 
questo  mutamento  ne  Piatone  ne  Aristotele  abbian    saputo    nulla. 
Del  resto  anche  in  quella  parte  della  commedia  aristofauesca,  che 
il  Chiappolli  riconosce  per  antica,  Socrate  e  rappresentato  non  solo 
come    un    meteorologo,    ma   bensi    come    un   sofista   che    sa   colle 
arti  sue  dare  tal  rilievo  al  discorso  piü  debole  da  f'arlo  apparire  piü 
forte.    Che  sotto  questo  discorso  debole  si  debba  intendere  il  torto, 
che   a   forza    di   sofismi    appaja    poi   diriito.    lo    dice    chiaramente 
Strepsiade  (v.  115).  il  quäle  appunto  per  questo  si  rivolge  a  Socrate, 
nella    speranza  che    apprendendo    quell'   arte  possa  frodare  i  suoi 
creditori  (v.  24;")).  E  dato  anche  che  il  dialogo  dei  due  parlari  sia  stato 
aggiunto  di  pianta  nella  seconda  redazione,  come  par  che  opini  il  | 
Chiappelli,  senza  dubbio  deve  tenersi  come  una  legittima  conseguenza  ! 
delle  premesse  poste  fin  dalla  prima  redazione.     La  dimostrazione 
adiiuque  del  ('hiappelli,  a  parte  anche  qualche  inesattczza,  come  l'in-  i 
terpetrazione  data  a  pag.  291    dol   verso  4.S5,    parmi   dia  luogo  a 
molte  dubbiezze.    Ed  ha  contro  tli  se  Tautorita  delF  Apologia  pla- 
tonica,  dove  e  detto  esplicitamente  che  il  primo  e  piü  grave  capo 
di   accusa  contro  Socrate  era  contenuto   intero   nella  prima   reda-  : 
zione  delle  Nubi.     E   in    questo  stesso    luogo    dalF   Apologia   So-  , 
crate  si   meraviglia  d'essere   messo  a   paro  di  Gorgia  e  di  Prodico 
alludendo  evidentemente  al  verso  361  della   prima  redazione  delle 
Nubi. 


Delle  opere  pubblicute  in  Italia  nel  188G  e  1887  etc.  143 

Alessandro  Chiappelli.  Ancora  sui  rapporti  fra  le  EcclesuizLise 
cli  Aristofane  e  la  Repubblica  tli  Piatone  (Rivista  di  Filologia 
e  cl'Istruzione  classica  anuo  XY.  fasc.  7 — 8  Geunajo — Febbrajo 
1887  p.  343—352). 
In  uua  precedente  memoria  inserita  nella  stessa  Rivista  (anno 
XII  e  XIII),  il  Chiappelli  avea  tentato  di  sostenere  che  le  Eccle- 
siazuse  di  Aristofane  mettano  in  burla  le  opinioni  del  4".  libro 
della  Repubblica  platonica,  e  che  alle  accuse  aristofanesche  Piatone 
risponda  nel  quinto  libro.  Sa  qnesta  te.si  il  uostro  autore  ritorna 
per  ribadirla  ancor  meglio,  e  salvarla  da  alcune  critiche,  come 
quelle,  che  io  stesso  gli  avevo  fatte  nella  Coltura  (anno  III.  vol.  5). 
Non  e  il  caso  di  ritornare  sulla  discussione,  ma  diro  solo  che  i 
nuovi  argoraenti  addotti  dal  Chiappelli  nü  convincono  poco.  Pla- 
ioue  nel  Timeo  18  C  poteva  senza  dubbio  accennare  alla  stranezza 
e  novita  delle  proposte  da  lui  fatte  nella  Repubblica;  Aristotele 
avra  potuto  dire  che  la  teoria  della  comunanza  dei  beni,  dei  figli 
e  delle  donne  appartiene  in  proprio  a  Platonc;  ma  queste  testi- 
inonianze  non  vogliono  dire  altro  se  non  che  il  primo  a  discutere 
scientificamente  le  suddette  riforme  politiche,  fu  appunto  il  filosofo 
ateniese,  che  le  ricavo  come  conseguenze  necessarie  del  fine,  che 
a.ssegnava  allo  Stato.  II  che  non  esclude  che  simiglianti  idee 
abbiano  potuto  eziandio  pullulare  per  intemperanza  di  propositi  e 
vaghezza  di  novitji  nelle  agitazioni  demagogiche.  La  comunanza  delle 
donne  non  e  accennata  nel  frammento  del  Protesilao  di  Euripide 
(fr.  655  Nauck)? 

Prof.  Giovanni  Cesca,  La  teorica  della  conoscenza  nella  filosofia 
greca.  A^erona  Drucker  e  Tedeschi  1887.  pp.  66. 
E  un  lavoro  d'insieme,  che  sopra  un  punto  speciale  percorre 
tutta  la  filosofia  greca  dalle  origini  sino  ai  neoplatonici.  L'autore 
s'  e  giovato  largamente  della  storia  ormai  classica  dello  Zeller,  e 
delle  acute  ricerche  del  Natorp,  ne  certo  in  un  lavoro  cosi  com- 
plessivo  si  puo  aspettare  grande  novita;  ma  in  molti  punti  dissente 
dalle  sue  guide,  e  interpetra  le  fouti  con  piena  liberta  di  giudizio. 
Citero  ad  esempio  la  pagina  47,  dalla  quäle  si  puo  anche  ricavare 
la  convinzione    propria  dell'   autore,    che  gli  serve  di    norma   nel 


144  Feiice  Tnccti, 


I 


"iiidicnro  di  tnuto  o  svariate  dottrine.  Trattasi  di  Enesidemo.  che 
in  (jualche  puiilo  parrebbe  si  iosse  discostato  dal  suu  lelativisuio, 
come  a  diro  in  quelle  proposizioni  dogmatiche  sul  tempo,  sulla 
meute  e  suH'  esseuza,  che  seguendo  Eraclito,  sostenue.  „Queste. 
dice  il  nostro  aiitore,  prese  nel  loro  siguificato  verbale,  coiitrastano 
realmeute  col  fenomenismo,  il  quäle  iion  ammette  che  si  possa  dare 
alcuna  dottriua  sulF  essenza  delle  cose,  e  questa  contraddizioue  lu 
fatta  anche  notare  dagli  scettici  posteriori,  che  tolsero  quelle  pro- 
posizioni  dalla  dottrina  scettica.  Malgrado  pero  che  i  successori  di 
Enesidemo  facciano  menzioue  di  questa  contraddizioue,  parve  im- 
possibile  ai  recenti  storici  della  filosotia,  che  uno  spirito  critico  cosi 
acuto  e  sottilc  possa  esser  caduto  in  siniile  errore,  e  cercarono 
percio  di  giustificarlo  in  due  modi,  o  attribuendo  la  contraddizione 
;ii  suoi  espositori,  o  togliendola  del  tutto.  AI  primo  mezzo  si 
attenne  lo  Zeller,  il  quäle  riconosce  la  completa  opposizioue.  ma  j 
la  attribuisce  a  Sesto  Empirico  ed  ai  giovani  scettici  e  non  ad  |^j, 
Enesidemo,  il  quäle,  ricercando  storicamente  gli  antecedenti  della''" 
sua  dottrina,  cito  quelle  proposizioni  di  Eraclito,  ma  non  le  fece 
sue,  mentre  invece  i  suoi  successori  le  diedero  come  sue.  Questa 
spiegazione  e  combattuta  ben  a  ragione  dal  Natorp,  il  quäle  dice 
essere  impossibile  che  Sesto  abbia  commesso  un  tale  errore  in  tanti 
luoghi;  percio  egli  ritiene  che  quelle  proposizioni  sieno  realmeute 
di  Enesidemo,  e  cerca  di  togliere  la  contraddizione,  mostrandol 
come  esse  nou  devono  veuir  intese  in  un  senso  dogmatico,  ma  inj 
uno  l'enomenico,  il  quäle  fu  disconosciuto  dai  suoi  successori  in| 
segulto  al  siguificato  dogmatico  delle  parole.  In  cio  egli  ha  pieua- 
mente  ragione,  giacche  anche  il  fenomenalista  ammettendo  la  veritä 
nel  l'enomeno,  nou  respinge  ogni  conoscenza  ed  ogni  ricerca  eni- . 
pirica,  ne  ogni  spiegazione  dei  fatti  dell'  esperienza;  auch'  egli' 
ricerca.  osserva,  cspcrimenta  e  cerca  le  leggi  ed  i  fattori  dei  i'atti, 
soltanto  in  questo  modo  crede  di  aver  descritte  ed  esplicate  le : 
cose  cnnie  appaiono  a  noi,  e  non  come  sono  in  se.  Egli  da  cosi  alle! 
sue  proposizioni  un  siguificato  fenomenico  del  tutto  opposto  al. 
uuumenico,  ma  dovendo  esprimersi  coUe  parole  usate  da  tutti  glii 
uomini.  ed  essendo  queste  state  formate  in  conformitä  al  dogmati- 
smo  e  realismo  volgare  dell'  uomo  primitivo,  le  di  lui  proposizioni  I 


Delle  opere  pubblicate  in  Italia  nel   1886  e  1887  etc.  145 

vengono  spesso  prese  alla  lettera  in  uii  seuso  dogmatico,  tlal  quäle 
tanto  difficilmeiite  si  puo  liberare  la  mente  iimaua.  Per  cio  le 
proposizioni  ienomeniche  di  Ene.sidemo,  in  seguito  alle  parole,  colle 
quali  erano  formulate,  vennero  prese  in  uu  senso  dogmatico,  e  cio 
pote  succedere  allora  con  tanta  maggior  facilita,  che  la  dottrina 
ieuomenalista  era  appena  abbozzata,  e  delineata  soltanto  nel  suo 
priucipiü  fondameutale,  e  quindi  nou  potera  venir  ben  compresa 
dai  suoi  contemporanei  e  siiccessori,  dominati  interamente  dal  dog- 
matismo  assoluto.  ...  II  Natorp  nel  togliere  quella  contraddi- 
zione  in  Enesidemo  e  nelT  inlerpretare  la  sua  dottrina,  lo  fa  cadere 
in  un'  altra  contraddizione  ancor  niaggiore,  giacclie  egli  ammette 
nella  di  lui  teoria  un  elemento  razionalistico  nel  logos  posto  come 
base  e  garanzia  dei  fenomeni  .  .  .  Questa  dottrina  che  il  Natorp  vuole 
attribuire  al  filosofo  scettico,  non  risulta  direttamente  e  chiaramente 
dalle  notizie  che  Sesto  ci  da  di  lui,  e  non  e  neppure  necessaria- 
mente  iniplicata  nel  fenomenalismo.  E  vero  che  questo  al  di  la 
del  fenomeno  deve  amuiettere  una  cosa  in  se,  ma  perciö  non  a 
alcun  bisogno  di  una  intuizione  raziouale  del  noumeno,  non  essende 
questo  mai  conosciuto  da  noi,  ma  soltanto  posto  necessariamente 
come  base  e  fondamento  del  fenomeno". 

Dr.  GiiDO  BiGONi.  Ipazia  Allessandrina  Studio  Storico  (Estratto 
dal  Tomo  V  Serie  VI  degli  atti  del  R.  Istituto  Veneto 
Venezia,  Antonelli  1887)  p.  105. 
Debbo  ripetere  a  proposito  di  questo  lavoro  le  stesse  cose  che 
scrisse  il  direttore  del  nostro  Archivio  sulla  consimile  memoria  del 
Meyer.  D'Ipazia  si  sa  tanto  poco,  e  quel  poco  che  si  sa  fu  gia  cosi 
abilmente  sfruttato  dalF  Hoche,  che  nulla  di  nuovo  si  puo  aggiungere. 
Lo  stesso  Dr.  Bigoni  lo  confessa:  „lo,  egli  scrive  a  p.  46,  avea 
gia  raccolto  quanto  mi  facea  per  il  preseute  studio,  quando,  per 
cortesia  di  due  professori  della  nostra  Universita,  ebbi  notizia  di 
un  saggio  deir  Hoche  pubblicatosi  piii  recentemente  in  Germania  e 
d'uno  studio  scritto  quest'  anno  dal  Meyer  sullo  stesso  argomento. 
Lettili  riscontrai  che  le  loro  conclusioni  si  accordavano  nei  punti 
essenziali  con  quelle  a  cui  io  pure  era  giunto."  Cio  non  pertanto 
TAutore  credette  opportuno  di  pubblicare  i  suoi  studi,  supplendo  alla 

Aichiv  f.  Geschichte  d.  Philosuphie.     H.  ^  -^ 


146  Feiice  Tocco, 

niaiu-aiizn  dolla  materia  con  una  larga  iiitroduzione  sulla  coltura 
alossaiulrina  (j).  1 — 4H),  e  con  una  hiogralia  del  discepolo  d'Ipazia, 
il  vescovo  Sinesio,  che  occupa  altre  diciotto  pagine,  dalla  58  alla 
76.  Inline  del  volume  sono  tradotte  quattro  lettere  di  Sinesio,  e 
la  cliiusa  della  costui  orazione  contro  i  barbari. 

liii  parte  serbata  ad  Ipazia  e  ben  poca,  ne  si  poteva  altrimenti, 
II  Bigoni  (lice  come  il  Meyer  che  Ipazia  „probabilmente,  nutrita 
com'  ella  era  di  severi  studi,  avrä  anticipato  il  tentativo  di  Proclo 
[)er  ricondurre  ai  suni  principii  una  scuola  cosi  degenerata  con 
Gianiblico  e  Crisanto,  con  Massimo  e  Oinliano  (p.  56)".  Sulla 
misera  line  d'Ipazia  il  nostro  cosi  scrive  a  pag.  93:  „Esaminando 
le  testimonianze,  e  daudo  a  ciascuna  il  suo  giusto  valore,  racco- 
yliendo  hilto  qucllo  che  gli  scrittori  piii  ortodossi  ci  tramandarono  . 
sul  carattere  di  Cirillo,  tenendo  conto  del  naturale,  prontissimo 
alle  violenze  che  in  iiiolti  latti  avea  diniostrata  la  plebe  di 
Alessandria,  bisogna  concludere  che  i  Parabolani  del  partito  di 
( 'irillo  l'urono  gli  autori  della  strage,  senza  forse  che  il  vescovo 
1  avesse  espressamente  ordinata,  nia  perche  la  precedente  condotta 
di  Uli  rispetto  ad  Oreste  lasciava  loro  sperare  che  Topera  sarebbe 
stata  da  lui  ratilicata,  e  che  avrebbero  in  lui  trovato  senipre 
appuggio  e  dif'esa". 

AciosriNo  Mrifn.iA,  L'aristotelismo  e  FEnciclica  di  Leone  XIII 
Piacenza  1887. 
Non  e  un  lavoro  storicio  questo  del  Moglia,  nia  interpetrativo 
deir  Enciciica  di  Leone  XIII.  II  Inion  sacerdote  non  vuol  negare 
rintallibilifä  dol  Papa,  nia  (Taltra  parte  non  intende  ili  rinunziare 
al  sistema  rosniiniano,  cui  da  niolti  anni  e  addetto.  lnter})etra  quindi 
rEncicIica  Artcnii  Pairis  nel  senso  che  si  debba  tornare  non  alla 
.sctdastica,  bensi  alla  tradi/.ione  dei  padri  e  dei  dottori,  la  quäle 
della  scolaslica  antica  l'acea  la  Inrza  e  la  lortuna,  e  nella  scolastica 
piii  recente  venne  quasi  del  tutio  oscurata.  „l'oiche,  egli  dice 
(p.  3U),  sarebbe  un  errore  assai  grossolano  Tojjinare  che  S.  Toinniaso 
abbia  preferito  la  lilosofia  di  Aristotele.  cuniune  a  tutte  le  scuole 
dt'l  snn  secolo.  all"  antica  dei  Padri  che  era  stata  universalmeitte 
abbandonata.    anclie   [xisto   che    Tavesse   purgata    dalle  eresie,    che 


I 


1 


Delle  opere  pubblicate  in  Italia  uel  188G  e  1887  etc.  147 

portava  nella  scuola  degli  Arabi;  pevoccbe  sarebbe  sempre  ribelle 
alla  tratlizione  filosofica  di  S.  Agostino".  Eppero  i  moderoi  tomisti, 
dandosi  per  aristotelici,  souo  degeneri  discepoli  del  loro  maestro, 
e  rEiiciclica  implicitamente  li  condanua  e  li  esorta  a  rimettersi 
sulla  diritta  via.  „Dopo  il  coucilio  vaticauo,  aggiunge  il  nialcauto 
interprete,  rinfallibilita  del  Papa  non  ba  data  prova  si  cbiara  di 
se  in  ali'un  altro  atto,  quanto  in  questo.  poiche  i  razionalisti 
dovraiiüo  coiilessare  cbe  Leone  da  Papa  coiidauno  quella  filosofia 
cui  da  Yescovo  al  par  degli  altri  avea  iutrodotto  nella  sua  diocesi 
credendobi  sana  e  legittinia."  Sfortunatamente  per  il  Moglia  la 
Congregazione  delF  Indice,  condanuando  il  Rosmini,  ha  ben  provato, 
contro  la  interpetrazione  del  pio  sacerdote,  che  il  linguaggio  del 
Papa  üou  era  diverse  da  quello  del  vescovo.  E  che  nelle  scuole 
ecclesiasticbe  di  qui  innanzi  o  il  piii  leggero  .soffio  di  libertä  in- 
tellettuale  si  disperdera,  e  perlino  nelle  quistioni  deü'  intelletto 
agente  e  del  possibile  bisognera  che  tiitti  pensino  come  il  Papa 
ha  decretato. 

Monsignor  Ai.fonso  ^Iakia  ('an.  Vkspiunani.  II  Rosniinianisrao  ed 
il  lume  deir  intelletto  umano.  Studio  critico  -  iilosofico. 
Bologna  1887. 
Questo  grave  volume  di  pag.  932,  dedicato  al  Cardinale  Giu- 
seppe dei  conti  Pecci,  fratello  del  Papa,  non  e  uno  studio  storico 
sul  sistenia  rosminiano,  ma  uu  libro  polemico  da  servire  di  ri- 
sposta  ad  un  altro  di  egual  mole,  anonimo,  pubblicato  nel  1881 
sotto  il  titolo:  Del  lume  delb  intelletto  secondo  la  dottrina  dei 
St.  Dottori  Agostino,  Bonaventura  e  Tommaso  d'Aquino.  Yeramente 
non  tocca  a  noi  di  parlare  di  questa  pubblicazione,  dove,  non  meno 
che  nella  precedente  del  Moglia,  della  storia  si  fa  strazio;  ne  si 
ammette  alcuna  diflferenza  tra  il  periodo  patristico  e  lo  scolastico 
propriamente  detto.  Che  silbitti  libri  sieno  scritti  contro  il  Ros- 
niini,  o  in  di  lui  favore,  non  monta;  Tindirizzo  e  sempre  lo  stesso. 
Mostrare  come  nessun  divario  corra  tra  S.  Agostino,  S.  Tommaso 
e  S.  Bonaventura,  e  che  tutti  insegnino  le  stesse  dottrine,  favore- 
vuli  secondo  gli  uui,  ed  ostili  secondo  gli  altri  al  Rosniinianisrao, 
questo   e   lo   scopo   dei  polemisti,   e  non   si  stancano  dal  torcere  e 

lü* 


148  Feiice  Tocco, 

ritorcere  i  testi  linclu'  iion  dicaiio  cio  che  loro  accomoda.  Se 
S.  Agostino  per  esempio  dice  nel  De  libero  avbitrio  lib.  1  cap.  12: 
„(^»uapropter  iiullo  modü  nogaveris  esse  incommutabilem  veritatem 
.  .  .  tamquam  niiris  modi.s  secretum  et  publicum  lumeu,  praesto 
esse  ac  se  praebere  communiter" ,  cio  non  ha  iiulla  che  fare  colla 
dottrina  phitonica,  ma  vuol  dire  soltanto  che  „la  verita  non  e  uiia 
creazioue  o  una  i'attura  dalla  meute  uniana,  ma  invece  un  che  in- 
dipeudente  attatto  nelhi  siia  entita  l'oudanientale  (hdhi  meute  me- 
desima".  tale  quäle  come  piii  tardi  Tha  ripetiito  il  Balmes,  che 
certo  uou  si  puo  accusare  di  platonismo.  Tutti  i  padri  e  i  dottori 
sono  in  loudo  d"accordo,  che  tutti  uello  stesso  modo  seppero 
iimestare  al  tionco  ligoglioso  della  dottrina  rivelata  i  nimi  piii 
verdi  della  sapieuza  antica.  Beati  tempi,  in  cui  tutti  credevano 
e  pensavano  ad  un  modo,  ne  la  ragione  umana  si  smarriva  fra 
tanti  sistemi  e  indirizzi  opposti,  come  accadde  quando  i  filosofi 
inoderni,  ribelhitisi  alla  tradizione,  accesero  nella  scienza  e  nella 
vita  la  face  della  discordia. 

A  quei  tempi,  seguita  il  Vespignani,  e  a  quella  filosotia  bisogoa 
l'ar  ritorno.  Lo  disse  solenuemente  il  S.  Padre;  per  combattere  gli 
errori  dri  presente,  principalmente  il  razionalismo  e  il  liberalismo, 
il  sole  mezzo  efficace  e:  restaurare  la  iilosofla  tomistica,  che  tutte 
le  altre  dei  padri  e  dei  dottori  riassume  e  compie.  Anche  il 
liiiguaggio  iilosolico  bisogna  modificare,  tornando  alla  dicitura  degli 
scolastici.  E  Tanima  la  diremo  forma  sostanziale  nel  senso  attri- 
buitole  da  8.  Tommaso,  vale  a  dire  principium  intrinsecum 
per  quod  substantia  a  substantia  substantialiter  differt 
(p.  02).  Faremo  nostra  la  dottrina  e  la  dicitura  scolastica  che 
„tanto  nella  visione  sensitiva,  quanto  nella  conoscenza  intellettiva 
concorrono  o  almeno  ponno  concorrere  tre  diversi  mezzi,  siib  quo, 
quo,  in  quo.  Il  primo  di  essi  .  .  .  e  nella  ragione  di  [)rincipio 
formale  dispositivo  .  .  .  ,  il  secondo,  vale  a  dire  medium  quo 
videtur.  non  e  altro  che  la  specie  intenzionale  di  uu  visibile 
secundum  quamcumque  cognitionem,  informante  la  potenza 
visiva  cousentanea  .  .  .  il  terzo,  o  medium  in  quo  aliquid  vi- 
detur, non  e  altro  che  una  qualsivoglia  cosa  od  obbietto  (p.  12(i— 
134).    Qualuuque  sia  il  signiticato  attribuito  dai  moderni  alla  parola 


Delle  opere  pubblicate  in  Italia  nel  188G  e  1887  etc.  149 

soggettivo  ed  oggettivo,  iioi  torneremo  all"  uso  meclievale  „subjectns. 
subjectum,  participium  a  subjicio,  posto  sotto,  'j-o-tbEtc,  subtus  posi- 
tus.  cosa  in  cui  o  sopra  cui  sia  posta  alcun"  altra.  Oggetto  vale 
cio  che  e  messo  dinanzi  o  contro.  ...  La  figura  di  Mercurio  e 
soggettiva  in  qiianto  al  sas«o,  in  cui  e  ricevuto,  ed  e  oggettiva  in 
quanto  a  Mercurio  oggetto  rappresentato  per  essa." 

Ma  non  val  la  pena  di  continuare.  I  moderni  tomisti  ritornano 
all"  antico  non  per  isvecchiarlo  ed  accomodarlo  ai  bisogni  uuovi. 
bensi  per  riprudurlo  nell"  integrita  sua.  E  credono  clie  una  tilosolia, 
nata  in  determinate  condizioni  di  coltura,  possa  attecchire  e  riger- 
mogliare,  quando  tutto  e  profondamente  ed  irremediabilmente  mu- 
tato.  Strana  illusione  codesta  di  fare  il  vuoto  intorno  a  se  nella 
speranza  di  attingervi  nuove  sorgenti  di  vita! 

Prof.  PiKTKO  Ragn'isco.      \\  PoMPONA/.zi  0  G.  Zabakella  (Estratto 

daali  atti  del  R.  Istituto  veneto  di  scienze,  lettere,  ed  arti 

Tom.  V.  Serie  VI.  Venezia  1887). 

II    Prof.  Ragnisco   dopo  avere  studiate    le    polemiche    insorte 

neir  universiti  di  Padova  tra  lu  Zabarclla  il  Petrella  e  il  Piccolo- 

mini,  in  questa  memoria  espone  le  dottrine  dello  Zabarella  intorno 

air  anima   in   confronto  principalmente   del  Pompunazzi.     Le  con- 

clusioni.   a  cui  arriva  Pautore  sono  queste,  che  io  riproduco  colle 

stesse   sue  parole   „Zabarella  sorpassa  per  due   ragioni   il  Pompo- 

nazzi.     La  prima  e:    teuer  per  fermo,  come  massima  indiscutibile, 

che  ogni  forma  della  materia  prende  l'essere  dalla  materia  stessa: 

negazione  percib  della  forma  astratta  dalla  materia.     Anche  il  pen- 

siero  non   cessa  di   essere   inerente  alla  materia,   perche  tutte    le 

potenze  e  tutte  le  anime  sono   edotte  dalla  materia.  .  .  .  Tanto  la 

sensazione   che  rintellezionc  in  origine  sono   materiali,   nelP   atto 

•sono   in  certo   modo  senza  materia.  .  .  .  Inoltre,   egli  ha  un  buon 

concetto    intorno  alle    facolta  delP   anima;    poiche  dice    che   sono 

attitudini    che  vanno   a  determinarsi  in   certe   parti  del  corpo ;  ne 

nega  per  fino  la  preformazione,   e  non  perde  di  vista  Punita  delP 

anima  nelle  funzioni  di  queste  potenze.     L'anima  produce  il  pen- 

siero    come  la   sensazione,   questa  e  locale  ed   e  generale,   cosi  il 

pensiero  e  nella  fantasia  ed  e  in  tutta  l'anima.     A  questa  dottrina 


150  Feiice  Tocco, 

faoeva  eco  la  differenza  soltanto  di  grado  tra  senso  ed  intellctto, 
ammettendo  che  una  lacolta  piii  nobile  devc  anche  potere  abbrac- 
ciare  cio  che  e  della  facolta  inferiore.  L'intelletto  in  quanto 
appunto  percepisce  i  particolari.  puo  csso  stes.so  soUevarsi  agli 
universali". 

Se  una  cosa  c  da  de.siderarsl  in  questi  l'aticosi  studi  del  pro- 
fessore  padovano  e  la  chiarezza.  Talvolta  Tesposizione  italiana  e 
piii  oscura  del  testo  latiuo  riprodotto  a  pie  di  pagina.  Cosi  a 
pag.  29  il  testo  dice  cosi:  Nam  poteutia  scnsitiva  est  orga- 
nica,  ideo  in  sua  operatione  est  materialis,  quodammodo, 
quia  in  recipiendo  utitur  corpore;  est  tarnen  aliquo  modo 
immaterialis  rati-one  judicii,  quia  sola  ipsa  animajudicat. 
Lo  Zabarella  da  buon  aristotelico  attribuisce  al  senso  non  solo  la 
percezione,  ma  benanche  rapprezzamento  del  percepito.  II  senso 
non  coglie  solo  il  colore,  Todore,  il  sapore;  ma  li  giudica  o  piace- 
voli  0  dolorosi.  Or  se  la  percezione  e  in  qualche  modo  corporea, 
perche  legata  coli'  organo  che  le  serve  d'istrumento,  non  cosi  il 
giudizio  0  la  valutazione,  che  sta  nel  rapporto  di  quella  data  sen- 
sazione  con  tutta  Tanima,  o  per  meglio  dire  col  soggetto  senziente. 
11  Hagnisco  invece  espone  cosi:  „il  viso  in  atto  e  in  certo  m.odo 
senza  materia,  perche  se  Timmagine  e  nel  corpo,  Tanima  nel  gui- 
dicare  non  si  serve  delT  organo."  11  lettore  non  puo  intendere  se 
si  tratti  del  giudizio  in  generale,  ovvero  di  quel  particolare  giudi- 
zio 0  estimazione,  che  e  proprio  del  senso. 

Prof.  PiKTRo  RA<iMsc<).     Carattere  dolla  lilosofia  patavina  (Estratto 
dal   Tomo  V  Serie  VI    degli    atti    del    K.   Istituto  vcneto. 
Venezia  1887). 
Lo  scopo  di  questa  memoria  c  di  mettere  in  confronto  la  scuula  ; 
patavina  colla  platonica  del  Ficino   del  Cusano  e  del  Bruno,   c  di 
tanto  esaltaro.  quella,    quanto  abbassar  questa  „Chi  si  e  piii  avvi- 
cinato  non  solo,  ma  ha  potentemente  cooperato  nelF  ordine  seien-  1 
tilico    della    storia    alF    avvenimento    della   fisica    sperimentalc    di  ' 
Halileo,    la    filosolia    platonica  e    ncoplatonica    italiana    iufetta   di 
misticismo  e  di  tcosolia,  che  era  fuori  le  universita  italiane,  ovvero 
1  Universita  patavina  coi  continui  commenti,  i  quali  o   correggevano 


Delle  opere  pubblicatc  in  Italia  nel  1886  e  1887  etc.  151 

Aristotele,  ovvero  esteuclevano  la  scienza  a  nuovi  problemi?"  (p.  28). 
La  rlsposta  secondo  il  Prof.  Ragnisco  non  e  diibbia  „Aristotele  uon 
cumauderä  piii  nella  scienza:  ma  chi  ne  affretto  la  catastrofe  non 
In  la  fisica  a  priori  ne  di  Telesio  ne  di  Bruno,  ma  Fopera  lenta  e 
tenace  della  interpetrazione  scientifica  delF  Aristotele  ellenico,  che 
pose  al  chiaro  la  necessita  dell'  osservazione,  perche  il  metodo  fasse 
proücuo  alla  ricerca  della  natura,  e  questa  fu  l'opera  di  Padova" 
(p.  29).  A  me  ripugna  di  entrare  in  questa  via  di  apprezzamenti 
e  valutazioni  subbiettive.  Diro  solo  che  per  provare  la  sua  tesi  il 
Ragnisco  dovea  mostrarci  come  i  commcntatori  di  Padova,  lungi 
dair  esser  ligii  ad  Aristotele,  mettessero  a  nudo  i  vizii  aprioristici 
della  sua  Fisica,  meglio  di  quel  che  avesse  fatto  il  Brnno,  nello 
Acrotismus  camoeracensis,  poniamo.  Ma  il  nostro  autore  e  beu 
lontano  dalF  avere  financo  tentata  questa  prova.  E  se  non  vuole 
torcere  i  fatti  a  modo  suo,  deve  pur  confessare  che  il  Cremonini 
e  il  frutto  piü  maturo  della  scuola  padovana,  e  ne  segue  fedelmente 
le  tradizioni  e  il  metodo.  Sieche  vero  precursore  di  Galileo 
dovremmo  chiamare  costui,  che  chiudeva  gli  occhi  per  non  vedere 
i  fatti  alle  teorie  d'Aristotele  ripugnanti,  e  non  diremo  precursore 
il  Bruuo,  che  prima  del  Galileo  avea  accettata  e  sostenuta  la  teorica 
copernicana,  impernandovi  il  suo  sistema  filosofico. 

A  questo  proposito  io  scrissi  nella  mia  conferenza  su  G.  Bruno : 
„La  grandezza,  la  novita  del  Bruno  sta  nella  costruzione  di  una 
filosofia  rispondente  alla  nova  scienza  e  ai  novi  bisogni  dello  spirito"" 
Questo  giudizio  non  e  mio,  ma  del  Keplero,  la  cui  lettera  al  Galilei 
e  uotissima.  AI  Ragnisco  non  place,  e  crede  di  combattermi  e  di 
mettermi  in  contraddizione  con  me  stesso,  perche  in  altro  luogo 
dissi:  ,,üna  gran  parte  di  quella  materia  propria  dei  teologi  ei  crede 
si  debba  trasformare  col  comodo  metodo  delle  allegorie".  Ma  quäle 
ripugnanza  scoprite  tra  queste  due  propo.sizioni?  Un  filosofo  puö 
bensi  costruire  un  sistema  filosofico  movendo  dai  dati  della  scienza 
contemporanea,  e  poscia  mostrare  che  questo  sistema  non  discorda 
dalla  Religione,  purche  liberamente  interpetrata.  Ho  detto  io  forse 
che  il  motive  principale  del  iilosofare  bruniauo  fosse  il  religioso, 
come  par  che  opiui  il  Ragnisco,  o  non  l'ho  anzi  esplicitamente 
negato?     Sarö  dunque  in   contraddizione  col  professore  padovano, 


152 


Feiice  Tocco, 


\^ 


e  nie  ue  duule;  ma  cgli  uon  devc  al'fibbiarmi  le  opiiiiniuui  sue  per 
mcttermi  alle  presc  con  me  medesimo. 

Un  altro  pimto  merita  d'essere  toccato,  e  quello  della  doppia 
vcrita.  Secondo  il  Ragnisco  „il  parlito  migliore  lo  scclse  s^nza 
dubbio  la  filo.sofia  patavina,  che  distinse  il  campo  della  l'ede  da' 
quello  della  scienza:  e  ssiccome  questa  slutendeva  espressa  in  Ari- 
stotele,  che  era  il  lilosulb  della  natura,  cosi,  secondo  Aristotele, 
voleva  dire  secondo  la  ragione  naturale".  Questa  interpetrazione 
troppo  benevola  del  famoso  espediente  della  doppia  verita  nun  regge 
a  parer  mio.  Se  i  (ilosoii  padovani'  avessere  proclamatu  alcuni 
problemi  filosolici,  poniamo  quello  dell"  immortalita  dell"  anima  o 
della  provvidenza,  come  insolul)ili  dalla  ragione  umana,  allora  ci 
sarebbe  stato  posto  per  la  fede;  ma  quando  li  risolvevano  in  un 
modo  reciso  e  delinitivo,  non  si  puö  ammetterc  sul  serio  che  alle 
opposte  soluzioni  dell'  insegnamento  religioso  prestassero  verace 
assenso.  La  doppia  verita  i'u  sempre,  da  Averroe  in  poi,  una 
scappatoja,  cd  un  filosofo  che  quel  commodo  sutterfugio  disdegna, 
ed  oflre  la  sua  vita  in  olocausto  alle  sue  convinzioni,  non  solo 
dalla  politica  „incerta  ed  agitata"  e  proclamato  eroe,  come  pretende 
il  Ragnisco,  ma  da  cliiunque  abbia  sgombra  la  mente  da  ire  di 
parte,  o  da  falsi  preconcetti. 


David  Levi.  Ciiordano  Bruno  o  la  Religione  del  pensieru.  Torino 
1887. 
TI  titolo  stesso  spiega  gl'intendimenti  del  Libro.  Giordano 
Hruno  non  h  fondatore  di  una  nuova  filosofia,  ma  di  una  nuova 
religione.  „Tutto  cio  era  piii  che  un'  eresia  e  uno  scisma,  era  una 
nuova  religione,  che  potrebbe  agevolmente  informarsi  in  culto 
proprio,  avere  i  suoi  riti  e  costituire  un  quinto  Evangelo,  il  nuovo 
T'redo.  non  piii  fondato  sopra  leggende  ipotetiche,  ma  sopra  leggi  in- 
fallibili  e  incontrovertibili  della  natura,  elevare  il  tempio  luturo 
suir  adamanto  e  costituire  un  sistema,  il  quäle,  al  pari  del  catto- 
lico,  abbracci  l'ordine  spirituale,  il  fisico  e  sociale,  tal  che  governi 
e  domini  del  pari  individui  lamiglie,  nazioni,  e  potrebbe  com- 
prendere  e  abbracciare  nella  sua  vastita  ogui  manifestazione  del 
divino,   e  tutte  le  varieta   del  genere   umano.     Era  la  rivoluzione 


Delle  opeie  pubblicate  in  Italia  nel  1886  e  1887  etc.  153 

piii   radicale,    che  abbia    osato    promuovere  qiiel   seculo   audace  e 
irrequieto"  (p.  421).    Indarno  cerchi  le  prove  di  qiieste  e  consimili 
asserzioni,   che  dei  concetti  del  Bruno   intorno  alle  religione,    dei 
^iiulizii  che  egli  porta  suUe   vaiie  forme   del  seutimento   religioso, 
(Ici  rapporti  che  secondo   lui   debbono   intercedere  fra  la  Religione 
e  la  Scienza,  non  v'ha  se   non  un  cenno  fugace  ed  imperfctto   in 
due  pagine  sole,  p.  407—408.    Fisso  nel  concettu  di  lare  del  Bruno 
Tapostolo  della  Religione  del  pensiero,  che  deve  .succedere  alle  due 
precedenti,   quclla  dei  sensi,   e  quella  del  sentimento  o   della 
passione  (p.  441),  lo  confronta  con  Gesii,  e  scopre  tra  i  due  no- 
\  atori  fautastiche  analogie.    Cosi  „Gesii  dichiara  d'es.sere  venuto  non 
a  mutare    la   legge,    ma  a   compierla,   dichiara  se  Dio    e   figlio   di 
Dio,  predica  moralitä  giustizia  ed  araore;  Bruno  proclama  di  voler 
continuare  e  completare  Fantica  dottrina  filosolica  italiana  negletta 
(m1  obbliata,  dimostra  alla  sua  volta  Finfinita  di  Dio,  la  sua  imma- 
iienza  e  presenza  nell'  universo  .  .  .  risveglia  non  solo  la  coscienza 
In  noi.  ma  il  sentimento  morale  per  renderci  perl'etti  come  J)io  .  .  . 
yVmbedue  nel  termine  del  loro  apostolato  sono  tratti  da  una  l'orza 
misteriosa  e  provvidenziale  nella  capitale  religiosa  del  mondo;  Tuno 
iiella  Gerusalemme  antica,  Taltro   nella  Gerusalerame  moderna,  in 
K*oma"  (p.  423— 25).     Bruno    dunque    oltre  e   piii    che  filosofo   e 
profeta,    e  al   pari  di  tutti  i   grandi  rivelatori    delF  Umanita,  ha, 
come  a  dire,  una  seconda  vista,   e  con  meravigliosa  esattezza  fino 
dal  1585,  quando  scrive  gli  Eroici  furori,  divina  la  tremenda  cata, 
strofe  del  1600.     „Mira  il  tradimento  del  giuda  veneto  che  lo  vende 
e  lo  accusa  alF  inquisizione;   la  barca  che  lo  transita  alle  carceri, 
e   poi   di  prigione  in   prigione   a  Venezia,   a  Roma');    le  torture, 
dalle  quali  avra  le  carni  lacerate,  le  vampe  del  rogo  che  dovranno 
divorarlo')"  (p.  237).     Questa  riforma  religiosa,    che  al  pari  della 


')  Eroici  furori  sonetto  52  op.  it.  II.  399  (ed.  Wagner).     Levi  p.  347. 

Gentil  garzon,  che  dal  lido  scioglieste 

La  pargoletta  barca  .  .  . 

Vedi  del  traditor  Tonde  funeste. 
E  nel  sonetto  53  p.  400,  Levi  p.  313. 

Che  invan  ritento  a  lidi  piü  siciiri. 
'0  Eroici  furori  p.  373  (Levi  p.  38-2)  Cicada  vede  una  ,face    ardente  circa 


154  Felice  Tocco, 

pitagorica  i'  insieme  lilu.suiica.  il  Bruno  raviclibc  cli  gia  abl)07./.ata 
ncl  piimu  libro,  che  di  lui  abbiamo,  il  cui  titolo  secondo  il  Levi 
nun  .s"ha  da  intendere  nel  senso,  che  s"e  inteso  finora,  di  concetti 
umani  in  contrapposso  degli  archetipi  divini,  bensi  in  quest'  altro 
piii  profundo  „i  misteri  religioisi  non  ritraggouo  che  ombre  della  | 
verita  e  devono  diliguarsl  quando  il  concetto  del  divino  brilli  alle 
menti  in  tuttu  il  suo  splendore  e  nella  sua  infinitudine;  l'uomo 
allora  passera  dalle  tenebre  alla  vera  luce"  (p.  135).  Allo  stesso 
scopo  ma  per  altra  via  intenderebbe  la  commedia  11  candclajo  „II 
candelajo  e  la  lanterna  di  Diogene  in  mano  al  ülosofo.  II  cinico 
greco  portava  la  lanterna  intorno  per  trovare  l'uomo,  il  fdosofo 
nolano  per  ritrovare  la  verita,  la  sinceritä,  e  chiarire,  mettere  a 
nude  le  ipocrisie,  le  buaggiui,  le  laidezze  sociali  e  per  servirmi 
delle  stesse  parole  del  Bruno:  la  candela  del  suo  candelajo 
potra  chiarire  certe  ombre  d'idee  le  quali  invano  spaven- 
tano  le  bestie"  (p.  80).  ^Secondo  ogni  probabilita  Bruno,  nel 
dedicare  la  commedia  a  qualciie  amica  od  amante.  che  abitava  nel 
Reame  di  Napoli,  allude  pure  ad  alcuna  societä  misteriosa,  lilosofica 
e  religiosa  ad  un  tempo,  quali  abbondarono  sempre  nella  terra  dei 
Pitagorici  ....  La  fata  morgana,  com'  e  noto,  e  il  miraggio,  e  vero 
miraggio  sono  spesso  gliscritti  antipapali  dei  nostri  poeti  e  lilosoli ... 
sono  fantasic  che  adombrano  il  vero"  (p.  83).  j 

Queste  torte  e  fallaci  interpetrazioui  bastano  a  chiarire  il  con-  , 
cetto  fondamentale  del  libro,  e  il  metodo  che  vi  si  adopera.    Sl'or- 
tunatamcnte  non  scarseggiano  gli  errori.    Non  terro  conto  di  alcuni  i 
lapsus  come  a  pag.  7:  Des  Dorides  in  luogo   di  Desdouits,   a 
p.  103:  De  clavis  magi.s  in  luogo  di  Clavis  magna,    a  p.  253 
e  passim  AVurtemborg  in  luogo  di  Vittemberga,   ed  altri  con-  • 
simili.     Ma  non  posse  mandargli  buono,  che  seguiti  a  negare  (p.  97 
6  98)  la  conversione  al  protestantesimo  in  Ginevra,  mentre  conosce 
i  documenti  pubblicati  dul  Dufour,  secondo  i  quali  il  Nolano  mede- 
simo  chiede  di  cssere  riammesso    alla  comunione  calvinistica.     Ne  , 
tampoco  posso    dargli   ragione,   quando    egli    (p.  233)  rivendica  al  i 

la  quäle  e  scritto.    Ad  vitam,  non  ad  horam"  e  a  p.  375  uno  ,strale  infocato, 
che  ha  le  fiainine  in  luogo  di  ferrigna  punta,  circa  il  quäle  e  avvolto  un  laccio  j 
et  ha  il  motte;  Amor  iustat  ut  iustans".  i 


Delle  opere  pubblicate  in  Ilulia  iiel  1886  e  1887  etc.  155 

Bruno  il  sonetto:  Poiche  spiegate  ho  l'ali  al  bei  desio,  come 
se  il  Fiorentino  solo  per  congettura  Fabbia  restituito  al  Tansillo, 
(',  iion  perche  di  fatto  si  trovi  nella  raccolta  autentica  delle  poesie 
tansilliam.  Se  il  Levi  avesse  consultata  questa  raccolta,  ripubblicata 
dallo  stesso  Fiorentino,  avrebbe  visto  che  non  solo  il  sonetto  16 
decli  Eroici  furori.  ma  benanche  il  13  D'un  si  bei  fuoco  e  d'un  si 
nobil  laccio,  sono  tansilliani.  Non  so  poi  che  cosa  sia  l'Oratio 
valetudinaria  di  cui  egli  parla  a  p.  256  e  258,  il  cui  soggetto 
sarebbe  stato  l'elogio  della  sapienza;  il  brano  che  ne  adduce 
il  Levi  appartiene  alla  oratio  valedictoria  da  lui  stesso  citata 
iiella  nota  2  di  p.  258  in  seguito  alla  pretesa  valetudinaria.  E 
potrei  seguitare  ancora  per  un  pezzo,  ma  quel  che  ho  detto  lui 
autorizza  a  conchiudere  che  11  libro  del  Levi,  sebbene  abbia  pregi 
letterarii  indiscutibili,  e  ben  lonlano  dall'  essere  una  vora  ricostru- 
zione  storica. 

Mr.  PiKTKo  Bai.an.  Di  Giordano  Brimo  e  dei  meriti  di  lui  ad 
un  monumento.  Saggio  storico  popolare.  Bologna  1886. 
E  un  libercolo  d'occasione,  d'indole  polemica  e  senza  valore 
alcuno.  Per  dare  qualche  esempio  del  metodo  tenuto  da  Monsi- 
<;nore  accenuero  al  cap.  VIJ,  dove  espone  i  giudizii  portati  sul  Bruno 
da  diverse  parti,  e  sapete  su  quäle  autorita  si  fonda?  Sul  Tira- 
boschi,  suir  Andres,  sul  Rivato,  e  sul  Cant^,  tutti  filosofi  di  prima 
riga  secondo  Fautore.  Cita  anche  ad  avvalorare  la  sua  tesi  il 
Fiorentino  e  lo  Spaventa,  ma  sentite  in  quäl  modo.  Fiorentino 
dice  che  invano  si  cerca  in  Bruno  la  rigida  e  metodica  dimo- 
strazione;  Spaventa  aggiunge  che  Fetica  del  Bruno  e  avvi- 
luppata  in  cento  allegorie  e  figure  strane  e  bizzarre,  e 
che  il  Nolauo  non  pote  rinvenire  il  centro,  smarrito  come  fu 
nel  girare  attorno  alla  circonferenza,  ed  il  nostro  Monsignore 
dando  a  questi  giudizii  maggior  portata  di  quel  che  intendessero  i 
due  scrittori,  ne  inferisce  che  „negli  scritti  filosofici  del  Bruno  non 
v'e  ordine,  non  precisione,  non  chiarezza;  egli  e  verboso,  confuso 
oscuro,  sieche  alcuna  volta  si  puo  dubitare  se  intendesse  quel  che 
diceva"  (pag.  63).  Diamo  ora  un  esempio  della  critica  filosofica, 
Bruno  chiaraa  „Dio  prima  causa,  in  quanto  che  le  cose  tutte  son  da  lui 


156  ^  <^l  '*'<^  Tocco, 

(listintc.  cumc  Teffetto  da  rerficieiite,  la  cosa  produtta  dal  produccnte". 
E  Monsignore  ribattc  „ma  diinque  Dio  e  distinto  dal  creato,  comei 
qui  si  dice,  od  e  aiiima  del  moiido  e  quindi  conluso,  come  potenzal 
di  tiitto  e  piii  ancora  tutto  in  tutto?"  (p.  68).    Come  se  produzionei 
fosse  lo  stesso  di  creazione,  e  dicendo,  poniamo,  che  il  germe  dell' 
urgani-smo  sia  distinto  dall'  organismo  stesso,  si  voglia  porre  tra  i 
due  una  diversita  di  natura.    Delhi  critica  storica  poi  noii  parliamo. 
Monsignore  par  che  dubiti  del  rogo  del  Bruno  „Unico  ricordo,  in-i 
certo  e  vago  si  ha  in  certi  Avvisi  di  Roma  del  12  e  19  Febbrajo 
1600,  i  quali   parlano    di   un   l'rate  Domenichino   da  Nola  che  eral 
stato  a  Ginevra  due  anni.  che  avea  insegnato  a  Tolosa  ed  a  Lione, 
che  in  Germania  avea  piii  volte  disputato  col  cardinale  Bellarmiuo  . . . 
Ora  e  certo   che   G.  Bruno   fu  a  Ginevra  appena  due   mesi  e  non 
due  anni,  che  a  Lione  non  insegno;  ne  pare  che  abbia  pur  visto  ili 
cardinale  Bellarmiuo    in   Germania  o  altrove"  (p.  108).     Come  sei 
Testensore  degli  Avvisi    solo   perche  fosse   inesattamente   inforraato 
dei  casi  passati  della  vita  del  Bruno,   dovesse  prendere   piii  grossil 
abbagli  su  fatti,   che  si  svolgevano  sotto  ai  snoi   occhi.     Lasciamol 
Stare  che  il  Balan  ignora  i  decreti  pubblicati  dal  Berti,  e  la  notizia] 
estratta  dal  Fiorentino  dal  libru  della  Depositeria  generale  di  Papa 
Clemente  VI II.     E  cosi  si  scrive  la  storia! 

Sante  Ferkaki.    G.  Bkuno,   f.  Fiokentino,   T.  Mamiam.     Comme- 

morazioni  lette  nella.     R.  Accademia  di  iMantova.    Mantuva 

1887. 

La  piü  importante  di  queste  tre  commemorazioni  e  la  prima, 

dove  il  giovane   professore  porta  un  giudizio  sereno  c  coscienzioso 

suir  opera  del  Bruno  „Una  volta,  ei  scrive,  succeduta  ai  deliri  delT 

ascesi   la  festa   delT  umanisrao,  il   pensiero   procedette  anche   oltre 

Bruno :  nc  il  pensatorc  del  secolo  decimonono  accetterebbe  piii  per 

iutero   le   teoriche    di   lui.     Ma  ciö  non    scema   il    merito  di  quel 

valoroso.     Che  a  renderlo   degno  delF  ammirazione  e  della  ricono- 

sccnza  dei  popoli  basterebbe  l'aver  egli  strenuamente  propugnati  i 

dritti   della  natura  e   Temancipazione   della  coscienza,    anche  se  a 

questa    libcrta    non   fosse    giunto  a  dare    un    contenuto    durevolc. 

Sta  il    Catto  invece  che   il    mondo  moderno  c"e  tutto,   benche  alle 


Delle  opere  pubblicate  in  Ttalia  nel  188G  e  1887  etc.  157 

\  stato  di  fermeiitazione,  nel  cervello  di  Bruno;  e  che  molte  delle 
tesi  da  lui  sostenute  forniarono,  e  sono  ancora  oggi,  la  base  grani- 
tica  della  Scienza.  La  lüce  emanata  da  lui,  se  ebbe  dei  bagliori 
incerti  per  il  velo  di  nebbia  che  la  ciiigeva,  ando  nel  tempo  affoi- 
zandosi  lino  a  brillare  in  tutta  la  sua  purezza  nel  sereno  meriggio" 
(p.  11). 

A.  CiiiAPPELLi,  La  dottrine  della  Realtä  del  mondo   esterno    nella 
lilorfofia  modevna  prima  di  Kant.     Firenze  1886.  pp.  141. 

E  un  volume  nou  grande  di  mole,  ma  ricco  di  soda  dottrina 
e  di  non  comune  erudizioue;  ne  io  ho  d'uopo  di  presentarlo  ai 
lettori  tedeschi  dopo  la  larga  receusioue  del  Natorp.  L'autore  in- 
tende  di  studiare  il  modo  come  il  problema  sulla  vealta  del  mondo 
esteriore  sia  stato  risoluto  nella  filosolia  moderna  da  Cartesio  a 
Kant.  Giustamente  egli  osserva,  che  questo  problema  e  pressocche 
straniero  alla  lilosofia  antica;  perche  „se  le  sottili  analisi  di  Pirrone 
e  di  Carneade  rieseono  a  dimostrare  che  nulla  possiamo  conoscere 
con  certezza,  e  che  quindi  di  due  proposizioni  contradittorie  Tiina 
non  e  meno  vera  delF  altra,  con  questo  non  intendono  punto 
affermare  che  nulla  esista  oltre  le  nostre  rappresentazioni,  ma  solo 
che  la  conoscenza  nostra  non  puo  oltrepassare  la  verosimiglianza, 
e  che  quindi  bisogna  sospeudere  ogni  giudizio  intoino  alla  realta" 
(p.  8).  Tutto  al  contrario  dobbiamo  dire  della  filosolia  moderna 
che  „fin  dai  suoi  principii  annunziandosi  come  una  critica  della 
conoscenza"  dovrä  discutere  il  problema  della  realtä  esteriore  come 
uno  „dei  piü  caratteristici  e  capitali". 

Alla  soluzione,  che  il  Cartesio  dette  di  questo  problema,  il 
Chiappelli  consacra  un  intero  capitolo,  esponendo  largamente  la 
teorica  gnoseologica,  che  ne  e  il  pressupposto.  E  col  Natorp,  che 
SU  questa  via  lo  precedette,  non  sempre  si  trova  d'accordo.  Cosi 
a  p.  21  nega  che  a  mente  del  Cartesio  „le  idee  matematiche 
debbano  svolgersi  in  noi  all'  occasione  delT  esperienza",  anzi  secondo 
il  coucetto  platonico  dal  Cartesio  riprodotto  „dovrebbe  dirsi  che 
l'esperienza  si  svolge  secondo  quella  idee  ed  e  illuminata  da  essa". 
A  pau-.  27  non  consente  al  Natorp,  che  Cartesio  e  Kant  si  accor- 
dino  nel  motivo  fondamentale  che  la  validitä  e  certezza  dei  nostri 
concetti  sia  garantita  dai  principii  immanenti  del  nostru  conoscere, 


158  Feiice  Toceo, 


perche  secondo  C'artesio  „l'idea  di  Dio  non  ha  piii  ragione  in  altre 
idee.  ma  in  una  realtii"  e  quindi  „l'idea  supronia  ha  valore  di  un 
giudizio  assertorio  o  esistenziale;  non  e  dunque  immanente  alla 
conoscenza  il  principio,  ma  transcendente"  (p.  28).  Ed  a  me  pare 
che  il  Chiappelli  abbia  ragione,  ma  neanche  il  Xatorp  ha  torto.  E 
la  contraddizione  piii  che  tra  i  diie  espositori  e  uel  Cartesio  stesso, 
nelle  cui  filosofia  cozzano  due  principii  e  direi  qnasi  due  indirizzi  ^ 
all'atto  opposti,  quelle  ehe  non  ammette  altra  verita  certa  all'  ia- 
fnori  deir  lo  penso,  e  quello  che  mette  la  fönte  di  ogni  verita 
al  di  \i\  deir  lo,  nell'  essere  perfettissimo.  Un  aspetto  particolare] 
di  q liest'  opposizionc  e  rilevato  acutamente  dal  Chiappelli  nei  motivi 
che  inducono  il  Cartesio  a  superare  il  dubbio  intoino  alla  realta 
del  mondo  esteriore.  „Se  difatti,  ei  scrive  a  p.  52,  con  uno  sguardo 
abbracciamo  tutto  il  [)rocesso  di  questa  dimostrazione  cartesiaua 
d"nna  res  extensa,  e  facile  vedere  come  resulti  da  due  serie  d'ar*. 
gomenti,  che  Descartes  ha  invano  tentato  di  comporre  in  unitä. 
Questi  due  presupposti  sono  la  veracita,  e  il  ragionamento  dall' 
effetto  alla  causa,  cioe  dalla  sensazione  involontaria  all'  oggetto  che 
l.t  produce".  Ai  quali  motivi  se  ne  aggiungo  un  terzo  „poco  rile- 
vato dagli  storici.  Dalle  ricerche  suir  errore  lisultava  come  questo 
sia  in  fondo  un  prodotto  della  volonta.  Ora  si  dimostra  che  la 
i'ede  nella  realtä  corporea  non  i)u6  essere  erronea,  perche  indipen- 
deute  dalla  volonta"  ([).  oT). 

AI  caintolo  sul  Cartcsianismo  il  Chiappelli  f;i  seguire  un  nitro 
sul    periodo    cartesiano;    che    comprende   Geulinx,    Malebranche  e 
Spinoza.     J/autore  stesso   riconosce   che   il    probiema    sulla    realta 
del  mondo  esterno  „nel  periodo  cartesiano  si  perde,  a  cosi  dire,  di  ; 
vista"  (p.  07);  perche  „non  si  ricerca    piii  in  quäl  modo  abbiamo 
conoscenza  dei  corpi  esterni,  ma  come  e  possibile  spiegare  la  rela- 
zione   IVa  questi   e  l'anima".     Tuttavia  egli  park  dili'usamente  di  . 
questo  periodo  in  quanto  che  „nelle  forme  varie  dell'  occasionalismo 
si    puo    ricercare   il   progressive   complicarsi    dei   termini    nei   quali  i 
sar;i   posto  il  probiema   idealistico".      Per  queste    ragioni   il    uostro  | 
Aulore  tratta  cun  arapiezza  del  CJeulinx,  e  tocca  anche  della  quistioue  ; 
insorta  a  nidtivu  di  (|uesto  lilosolb  tra  il  l^lleiderer,   TEucken  e  lo  , 
Zeller.     In   funiiu  il  Chiappelli,  sebbene  faccia  qualche  concessione 


t 


Delle  opere  puliblieate  in  Italia  uel  1886  e  1887  etc.  159 

,ii  due  primi,  e  sostanzialmeiite  d'accordo  con  quest'  ultimo. 
Saltando  su  questa  quistione,  che  non  e  strettameiite  legata  col 
iio.stro  argomento,  io  mi  restriugo  a  riferire  un  passo,  dove  il  Chiap- 
iielli  sa  connettere  il  Geulinx  col  Malebrancho  e  collo  Spinoza 
raegllo,  a  parer  mio,  di  qiiel  die  faccia  FErdmanu.  „Geulinx,  ei 
Miive  a  p.  81,  rimane  ancora  cartesiano,  perclie  serba  la  dualita 
del  pensiero  e  del  corpo  esteso.  Accanto  a  Dio,  unita  sostanziale 
delli  spiriti,  rimane  la  sostanza  corporea,  unita  dei  corpi.  Da 
questo  dualismo,  Spinoza  potra  facilmente  svolgere  il  concetto  mo- 
nistico.  .  .  .  Ma  per  giungere  a  codesto  puiito  deve  farsi  un  altro 
passe,  e  appianare  la  difiicolta  di  conciliare  Festensione  colla  natura 
divina,  e  fare  precisamente  Finverso  di  quello  che  avea  fatto 
Cieulinx.  .  .  .  (^)uesto  momento  dovra  .svolger.si  in  Malebranche"'. 

11  terzo  e  ultimo  capitolo,  intitolato:  Passaggio  alF  idealismo 
dogmatico,  prende  le  messe  dalF  empirismo  del  Locke,  nel  quäle 
il  problema  del  mondo  esteriore  torna  di  nuovo  ad  avere  capitale 
importanza.  Imperocche  il  Locke  delle  tre  realta,  vale  a  dire 
Fanima,  Dio,  e  il  mondo  esteriore,  crede  che  la  prima  s'abbia, 
come  dicevano  anche  i  Cartesiani  „per  intiiizione,  la  seconda  per 
dimostrazione,  la  terza  solo  per  sensazione".  E  poiche  „la  semplice 
esistenza  di  una  rappresentazione  nel  nostro  spirito  non  prova  la 
realta  del  suo  oggetto,  come  la  ligura  dipinta  di  uu  uomo  non 
prova  la  sua  esistenza  reale"  (pag.  115),  cosi  il  Locke  e  costretto 
a  darne  una  dimostrazione,  come  avea  fatto  Cartesio.  E  se  trala- 
scia  „quasi  affatto  il  criterio  della  veracitas  Dei,  dc\  piü  largo 
svolgimento  ol  principio  delF  argomentazione  dalF  effetto  alla  causa, 
die  Foccasionalismo  aveva  abbandonato"  (p.  118).  Per  tal  guisa 
il  Locke  riesce  ad  un  realismo  empirico;  ma  d'altra  parte  egli 
avea  messa  in  evidenza  la  distinzione,  che  rimonta  a  Cartesio,  e 
se  vogliamo  anche  a  Democrito,  tra  qualita  primarie  e  secondarie, 
e  le  prime  sole  avea  tenute  per  reali,  le  seconde  no.  Poste  queste 
premesse  „la  conseguenza  d'un  assoluto  f'enomenismo  era  inevitabile. 
Ammessa  la  natura  fenomenica  delle  proprieta  seconde,  non  vi 
era  piii  ragione  nessuna  di  negarla  alle  primarie"  p.  127.  E  cosi 
era  apertu  la  via  all"  idealismo  del  Berkeley,  e  del  Collier. 

Questo  e  in  succo  il  libro  del  Chiappelli,  che  desidero  vedere 


l(')(j  Feiice  Tocco, 

condotto  a  terniine  al  piii  presto.  lo  non  sono  d'accordo  coli'  Autore 
in  parecchi  punti.  e  credo  che  egli  stesso,  ritornando  sul  suo  lavoro, 
lo  ritocclierebbe  iiou  poco.  Cosi  non  saprei  animettere  che  „per 
Kaut  la  stessa  esperienza  interna  .  .  .  e  possibile  solo  presupponendo 
Tesperienza  esterna",  e  che  „questa  e  appuuto  la  novita  dell'  idea- 
lismo  trascendentale  e  la  dill'erenza  capitale  nelle  confutazione  delT 
ideali.smo  fra  la  prima  e'  la  seconda  edizione"  (p.  42).  Ne  direi 
che  „nel  sistema  cartesiano  v'era  pure  il  germe  del  sensismo" 
(p.  66),  e  molto  meno  che  per  il  Locke  „la  riflessione  ricava  tutta 
la  .sua  materia  dalle  seusazioni  esterne"  (p.  128).  Ma  queste  sono 
piccole  meude,  che  non  tolgono  nulla  <il  pregio  del  libro,  il  quäle 
e  un  notevole  „contributo  alla  storia  del!"  idealismo  prekantiano". 
GiLSRPPK  Tarantino.  Saggio  sul  Criticismo  e  suir  associazionismo 
di  Davide  llume.  Napoli  1887. 
In  un  saggio  storico  sul  Locke  pubblicato  nella  Rivista  di  Fi- 
losofia  scientifica  Serie  2'  anno  V  vol.  V  Settembre  1886,  ripreu- 
dendo  una  tesi  dello  Zimmermann,  il  Tarantino  avea  diniostrato 
che  il  criticismo  Kautiano  prende  Ic  messe  dal  Locke.  E  sebbeue 
qualche  esagerazione  si  notasse  in  quelle  scritto,  che  a  me  riucresce 
di  non  avere  qui  a  mia  disposizione  per  renderne  conto  piii  esatta- 
mente,  pure  e  innegabile  che  nel  saggio  del  lilosofo  inglese  oltre 
la  parte  genetica  e  anche  la  critica,  e  la  seconda  nou  ha  minoi 
valore  della  prima.  Seguitando  i  suol  studi  sulla  iilosofia  inglese 
l'Autore  vuole  dimostrare  che  „Davide  llume,  oltre  al  merito 
d'essere  stato  il  creatore  della  Psicologia  delT  associazione,  ha  pure 
quello  d'aver  portato  il  Criticismo  al  massimo  punto  del  suo  svi- 
luppo,  e  che  la  sua  posizione  non  Tu  da.  Kant  siiperata".  L  la 
stessa  tesi,  che  nel  1792  sosteneva  lo  Schulze,  e  che  parecchi  anni 
or  sono  io  combattei  col  testo  stesso  dell"  llume  (Tocco,  Fenomen 
e  Noumeno.  Nella  filosofia  delle  scuole  italiane  anno  1881).  A  m 
pare  che  il  Tarantino  non  usi  rispetto  a  Kant  la  stessa  diligenzf 
che  mo.stra  nel  riassumere  ITlume.  E  trascuri  un  elcmento  impoi 
tantissiino  di  coufronto,  vale  a  dire  il  valore  che  II  Kant,  a  dill'e 
renza  dell"  llume,  attribuisce  alla  mateniatica,  la  quäle  penetrandc 
Tesperienza,  la  tramuta  in  una  costruzione  uecessaria^  su  cui 
dublti  deir  llunie  non  hanuo  piii  presa. 


Neueste  Erscheiniiiigen  auf  dem  Gebiete  der 
Grescliichte  der  Philosophie. 

Aars,   Das  Gedicht  des  Simonides  in  Plato's  Protagoras,   Christiania,   Dybwad. 

de  Arnim,  Joli.,  Philodemea,  Rhein.  Museum  Bd.  43,  H.  o,  S.  o6Üff. 

V.  Arnim,   Hans,    Quellenstudien   zu  Philo   von   Alexandrien,    Berlin,    Weid- 

mann'sche  Buchhandlung. 
Arnoldt,    Emil,   Zur  Beurtheilung  von  Kant's  Kritik  der  reinen  Vernunft  und 
Kant's  Prolegomenon,  Altpreussische  Monatsschrift,  Neue  Folge,  Bd.  25, 
Heft  3,  4. 
Asnius,  Rudolphus,  Quaesfiones  Epieteteae,  Freiburg,  Mohr. 
Berndt,  Th.,  Bemerkungen  zu  Piatons  Menexera,  Gymn.-Progr.,  Herford. 
Busse,  Ad.,  Der  Historiker  und  Philosoph  Dexippus,  Hermes,  Bd.  23,  H.  3. 
Brinker,  K.,  Das  Geburtsjahr  des  Stoikers  Zeno  und  dessen  Briefwechsel  mit 

Antigonos  Gonatas,  Progr.,  Schwerin  i.  M. 
Demme,  C,  Die  Hypothesis  in  Plato's  Menon,  Programm,  Dresden. 
Dieckert,  Gust.,   Das  Verhältniss   des   Berkeley'schen  Sensualismus   zu  Kant's 

Veruunftkritik,  Programm,  Konitz. 
Dieckhoif,    W.,    Leibniz'   Stellung    zur   Offenbarung,    Rectoratsrede ,    Rostock, 
I  Hiller. 

1  Effer,  H.,  Schleierraacher's  Ansicht  von  der  Natur  des  Gedächtnisses  etc.,  Pro- 
.  gramm,  Eupen. 

I  Endes,  Alexander  von  Haies"  Leben  und  psychologische  Lehre,  Philosophisches 
I  .Jahrbuch  Bd.  I,  H.  L 

i  Engels,  Friedr.,  Ludwig  Feuerbach  und  der  Ausgang  der  classischeu  deutschen 
1  Philosophie,  Stuttgart,  Dietz. 

Farny,  Emile,  Etüde  sur  la  morale  de  Malebranche,  Leipziger  Dissertation. 
'Gehrke,  Albert,    Vorstufen  christlicher  Weltanschauung  im  Alterthum,   Progr., 
\  Rudolstadt. 

-Geiger,  Godhard,   C.  Marius  Viceborinus  Afer,   ein  neuplatonischer  Philosoph, 

Programm,  Metten. 
V.  Gizycky,  Kant  und  Schopenhauer,  Leipzig,  Friedrich. 
:Glöckuer,  G.,   Der  Gottesbegriff  bei  Leibniz,  Zeitschrift  für  exacte  Philosoi)hie 

Bd.  16,  H.  1. 
Harnack,  A.,  Augustiu's  Confessionen,  Giessen,  J.  Ricker. 

Artliiv  f.  Geschiclite  d.  Philosophie.    II. 


162    Neueste  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philosophie. 

Hartenstein,   K.,    Die  Lehren  der  antiken  Skepsis  über  Kausalität,  Zeitschr.  f. 

Philos.  u.  philos.  Kritik  Bd.  93,  H.  2. 
llcttiiiger.  Fr..  Dante's  Geistesgang,  Cöln,  Görres-Gesellschaft. 
Kaimus.   Platon's  Vorstellungen  über  den  Zustand  der  Seele  nach  dem  Tode, 

Programm,  Pyritz. 
V.  Kleist,  H.,   Zu  Plotin's  Enneade  IV,  3  u.  4,  Progr.,  Leer. 
Krause,   Die  Lehre  des  h.  Bonaventura  über   die  Natur  der  körperlichen  und 

geistigen  Wesen,  Paderborn,  Schöningh. 
Kunz,  Fr.,  Bekämpfung  und  Fortbildung  Lessing'scher  Ideen  bei  Herder,  Pro- 
gramm, Teschen. 
Langeui,  P.,    Ad  nonnullos  locos  Ciceronis  de  finibus  librorum    adnot.  part  l 

et  II,  Programm,  Münster. 
Liers,  Rhetoren  und  Philosophen  im  Kampf  uin  die  Staatsverfassung,  Programm, 

Waidenburg  i.  Schi. 
Lukas,  Fr.,  Methode  der'Eiutheilung  bei  Piaton.  Halle,  Pfeffer. 
Merguet,    Le.xicon  zu  Cicero's  philos.  Schriften,  Heft  3,  Jena,  Fischer. 
Meyer,  A.,  De  compositione  Theogoniae  Hesiodeae,  Berliner  Dissertation. 
Michaelis,  Zur  aristotelischen  Lehre  vom  voö?,  Programm,  Neustrelitz. 
Michaelis,  C.  Th.,   Stuart  Mill's  Zahlenbegriff,  Programm  der  Charlottenschule 

in  Berlin. 
Michelet  und  Haring,   Kritische  Darstellung  der  dialectischen  Methode  Hegels, 

Leipzig,  Dunker  u.  Hurablot. 
Monnier,  Marc,    Litteraturgeschichte  der  Renaissance    von  Dante    bis  Luther. 

Autorisirte  deutsche  Uebersetzung,  Nördliugen.  Beck. 
Pech,  Der  Gottesbegriff  in  den  heidnischen  Religionen  der  Neuzeit,  Freiburg, 

Mohr. 
Plessner,  P.,  Die  Lehre  von  den  Leidenschaften  bei  Descartes,  Leipzig,  Fock. 
Reich,  E.,  Schopenhauer  als  Philosoph  der  Tragödie,  Wien,  Königen. 
Reim,  B.,  Der  transcendentale  Idealismus  bei  Schopenhauer  und  Kant,  Rudol- 

stadt,  Keil. 
Reinhardt,   L.,    Die  Quellen  von  Cicero's  Schrift  de  deorum  natura,    Breslau, 

Köbner. 

Riedel,  0.,  Die  Bedeutung  des  Dinges  an  sich  in  der  Kant'schen  Ethik,  Stolp. 

Schenkl,  IT.,  Die  epiktetischen  Fragmeute,  Sitzungsberichte  der  Wiener  Akad. 

der   Wissenschaften    Bd.  115,    S.  443—596   (Separat- Abdruck,    Wien, 

Tempsky). 

Schirlitz,  C,  Beiträge  zur  Erklärung  der  plat.  Dialoge  (lorgias  und  Theaitctos, 

Programm,  Neustettin. 
Schmitt,  Das  Geheimniss  der  Uegel'schen  Dialectik,  Halle,  Pfeffer. 
Schütte,  H.,  Theorie  der  Sinneswahrnehmungeu  bei  Lucrez,  Leipzig,  Fock. 
Schultess,  Fridericus,  Annaeana  .sfudia,  Programm,  Hamburg. 
Siebeck,  H.,  Untersuchungen  zur  Philosophie  der  Griechen,  zweite  Auflage, 

Freiburg,  Mohr. 
Stählin,  S.,  Kant,  Lotze,  Ritschi,  Leipzig,  Dörffling  u.  Franke. 
V.  Stein,  K.  H.,    Rousseaii  und  Kant,  Deutsche  Rundschau  Bd.  14,  H.  11. 


Neueste  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philosophie.     163 

Stein,  Ludwig-,  Leibniz  in  seinem  Verhältniss  zu  Spinoza  auf  Grundlage  un- 
edirten  Materials  entwicklungsgeschichtlich  dargestellt,  Sitzungsberichte 
der  Kön.  preuss.  Akademie  der  Wissenschaften  1888,  XXV. 

Thedinga,  Fr.,   Der  Begriff  der  Idee  bei  Kant,  Programm,  Hagen. 

Thieme,  K.,   Glaube  und  Wissen  bei  Lotze,  Leipzig,  Üörffling  u.  Franke. 

Tiemann,  J.,  Kritische  Analyse  von  Buch  I  und  II  der  platonischen  Gesetze, 
Programm,  Osnabrück. 

Veeck,  0.,  Die  religionsphilosophischen  Anschauungen  Trendelnburgs,  Gotha, 

Behrend. 
Vogel,    Goethe's    Selbstzeugnisse   über  seine  Stellung  zur  Religion,  Leipzig, 

Teubner. 
Wähle,   R.,    Die  geometrische  Methode  Spinoza's,   Abhandlungen  der  Wiener 

Akademie  1888. 
Walbe,  E.,   Synlaxis  Platonicae  specimen,  Bonn,  Behrend. 
Windelband,   W. ,    Geschichte  der  antiken  Naturwissenschaft  und  Philosophie, 

Nördlingen,  Beck. 
Würz,   C,    Die   sensualistische    Erkenntnisslehre    der   Sophisten    und    Plato's 

Widerlegung  derselben,  Programm,  Trier. 


Archiv 

für 


Geschichte  der  Philosophie. 


II.  Band     2.  Heft. 

X. 

Tliales  ein  Semite? 

Von 
H.  Diels  iu  Berlin. 

Bei  dem  eifrigen  Bestreben,  das  im  Altertum  nicht  minder 
wie  in  der  Neuzeit  hervorgetreten  ist,  die  Anfänge  der  griechischen 
Speculation  irgendwie  an  den  Orient  anzuknüpfen,  ist  es  nicht  zu 
verwundern,  dass  Thaies  der  ehrwürdige  ap/r^7ST-/)c  der  ionischen 
Naturphilosophie  mit  orientalischen  Einflüssen  in  Verbindung  ge- 
setzt wird,  insofern  er  seine  nautischen,  astronomischen  und  mathe- 
matischen Kenntnisse  sich  bei  den  Aegyptern,  Phönikiern,  Chaldäern, 
dl-^  er  besucht  habe,  erworben  haben  soll.  Bereits  im  fünften  Jahr- 
ndert  scheint  dergleichen  geglaubt  worden  zu  sein.  Und  Ilerodot 
leitet  an  einer  der  drei  Stellen,  wo  er  des  weisen  Milesiers  Erwäh- 
nung thut,  sogar  sein  Geschlecht  von  den  Phönikiern  al).  Es  ge- 
schieht dies  da,  wo  er  den  Vorschlag  des  Thaies  erwähnt,  den 
ionischen  Städtebund  mehr  zu  centralisieren  (I  170).  Bernays 
(Phokion  S.  25)  sieht  in  dieser  genealogischen  Bemerkung  eine 
„iMalice",  die  gegen  den  Mangel  an  Lokalpatriotismus  gerichtet  sei, 
wie  er  in  jenem  Vorschlag  hervorträte.  Dieser  Ansicht  möchte  ich 
nicht  beitreten,  weil  die  politische  Anschauung  des  Ilalikarnassiers 
von  Hause    aus  gar  nicht  mit  dem  Particularismus  der  ionischen 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.    II. 


IGG 


11.  Di  eis, 


Zwölfstädte  .sympathisiert  (vgl.  z.  1).  I  146),  sondern  wol  mehr  mit  dem 
A^orschlag  des  Thaies,  den  er  ja  als  eine  "/pr^ctr)  ^ycOar^  bezeichnet. 
Und  bei  diesem  Vorschlage  wird  Herodot  gewiss  nicht  an  phöiiikische 
Staatsverfassung,  sondern  eher  an  sein  politisches  Ideal.  Athen, 
gedacht  haben,  wie  er  selbst  andeutet '). 

Vielmehr  liegt  der  genealogisclien  Bemerkung  des  Herodot  tö 
ävi/.ctOäv  "i'svoc  sovTo;  4)oivixo;  eine  völlig  ehrliche  Anerkennung  zii 
Grunde.     Den  Zeitgenossen  erschien   der  gewaltige  Manu,   der  die- 
Flii-ssc  ableitete  und   die  Sonnenfinsternisse  voraussagte,  (Herod.  I 
74  75)    wie    ein   Verkiinder    übernatürlicher    Weisheit,    die    nicht 
aus  Griechenland,   sondern  nur  aus  dem  Ursitze   der  Cultur,   dem 
Oriente,  stammen  konnte.     Er  war  z,  B.   der  erste,   der  den   Pul 
schärfer  bestimmte  und  den  kleinen  Bären  der  Schiffahrt  als  Leitsteral 
empfahl.    Man  wusste,  dass  dies  phönikische  Tradition  war^).    He-jj 
rodot  konnte  daher  um  so  leichter  an  einen  genealogischen  Zusam- 
menhang  mit  Phönikien   glauben,    als    er    auch   au   einer  andern 
Stelle  die  Gephyräer,  die  selbst  aus  Eretria  stammen  wollen,   mit 
den  unter  Kadmos  Führung  ausgewanderten  Phönikiern  in  \'erlnii- 
dung  setzt').     Diese  Colonisten  werden  hier  als  die  Pioniere  einer! 
höheren  Cultur  geschildert  und  namentlich  die  Einführung  des  Al-^ 
phabets  auf  sie  zurückgeführt.    Da  es  nun  eine  alte,  zuerst  wie  es 
scheint  bei  ])emokrit  nachweisbare  Ueberliefcrung  gab,  welche  da-s 
Geschlecht  des  Thaies,  die  Theliden.  mit  jenen  Kadmeern   in   \'er- 
bindung  setzte*),  und  Herodot  selbst  die  Einwanderung  der  Kad- 


')  a.  0.  I  170  ^"/.äXc'JEV   h/    ß(>'j/,£'j-:/,rjic/v  "Ituvc«;   EXTr^ailai  .  .  .  .,   Tot;   oe   aXXa; 
-oXci;,  oix£0[A£vc(;  lufib^  rj530v,  voat^£j!)c(i  xa-cz-tf«  zi  orj|j.ot  eTev.     Das  oixeo-  | 
|j.Evc(;    u.T|0£v   f^aiov    bezieht   sich   auf   den   uoeh    weitergeheuden  Vorschlag  deS' 
Bias,   einen  Synoikismos  aller  luuier  in  Sardes  /.u  veranstalten,    was  Herodot 
als  yprjat[j.u)'rc(TYj  yvoitArj  bezeichnet. 

■■*)  Kaliiinachos  Fr.  94  H  259  Sehn.  G'x/.TjTo;  o;  t'  yjv  TaXÄct  0£;to;  yvw[i.Tg 
7.0(1  Tr^;  iac(;rj;  DdyiTo  aTai)jj.Tjaaa8ai  to-j;  cüaTspfaxo-j;,  ^  -Xso'jat  iDoi'vixe;. 

■')  I  ')!  (Ij;  jj.Ev  OL'j-ol  AEyO'jat,  lycyrivEjav  I;  'Ep£~[JiVj;  Tr,v  ctoyTjV,  w;  oe  lycb 
dvcc,T'jvi)oivo;j.£vo;  E'jpt'sxto,  y^lctv  (l'ot'vtxE;  TÖJv   O'jv   Kctoaii)   ötr.VAOixvKow  tpoivt'xwv. 

*)  Lacrf.  I  '22  yjv  toi'v'jv  6  0a/.fjS  w?  (jev  HpoSox^;  -aoli  AoOpt;  xott  Ar,aoxpiTOS 
'.50(5'.,  -ctTpö;  (J.EV  'E;oc[j.'jO'j ,  (j.TjTpo?  0£  K/.£0|3o'j"/.tvrj;,  h.  T(Lv  t)rj}ao(7)v,  oi  £^31 
tPoivixE;  £ÜY£v£3-o(-cii  Tiüv  cJ-ö  Kototj.O'j  xo(l  'AyTjVopo;.  Das  folgende  (§  23)  ^ttoXito- 
Yp<z'fv/)'j  5^  ^/  .NhX/,T(i)  ci't£  r,?.i)£  oov  Nei'Xew  £x-E3ovtt  <I>oiviV.Tj;  ist  so  th()riclit 
kompiliert,    dass    man  den  nrspnnigliclien  Zusammenhang  nicht  einmal  ahnen 


Thaies  ein  Semite?  167 

mecr  in  Tonien  nnnimmt  (I  146),  so  ist  es  leicht  begreiflicli,  wie 
wahrscheinlich  diese  C4enealogie  dem  Herodot  erscheinen  musste. 
Weniger  gesichert  möchte  uns,  die  Richtigkeit  aller  dieser  Zusam- 
menhänge vorausgesetzt,  der  behauptete  phönikische  Ursprung  er- 
scheinen. Und  selbst  wenn  Thaies'  Ahnen  von  den  Kadmeern  und 
diese  aus  Paliistina  stammten,  so  wäre  es  doch  etwas  verwegen, 
die  eigentümliche  Begabung  des  späten  Epigonen  mit  jeuer  semiti- 
schen Urabstammung  in  Verbindung  bringen  zu  wollen. 

Wie  aber,  wenn  diese  Theliden  doch  mit  angeborner  Zähigkeit 
;in  dem  alten  Ursprünge  und  den  Traditionen  des  Geschlechtes  fest- 
uvohalten  und  selbst  in  dem  Namen  noch  der  Urheimat  eingedenk 
noblieben  wären?  Der  Vater  des  Thaies  führt  den  ungriechischen 
Xamen  Examyes  und  da  sich  unter  den  zahlreichen  Varianten  auch 
die  Form  'Ec7.[xuo6Xoü  behndet,  so  ist  P.  Schuster  (Acta  Soc.  phil. 
Lips.  IV,  1875,  328  ff.)  auf  den  Gedanken  verfallen  in  diesem 
Examyul  einen  phönikischen  Namensvetter  des  Samuel  zu  erkennen. 

Da  diese  Darlegung  vielfach  Eindruck  gemacht  hat,  so  möchte 
ich  hier  darzulegen  versuchen,  dass  es  sich  mit  jenem  Namen  ganz 
anders  verhält.  Qrxlr^t;  'Ecot^uou  ^)  ist  die  gewöhnlich  überlieferte 
Form,  wie  sie  Diog.  I  22  und  29  in  der  guten  Ueberlieferung  er- 
scheint, wie  sie  bei  Suidas  und  dem  aus  derselben  Quelle  geschöpften 
IMatoscholion  (Rep.  600  A),  bei  Stobaios,  bei  Eusebios  (Synkellos, 
Chronicon  paschale ,  Hieronymus)  überliefert  ist,  wie  sie  endlich 
auf  der  Herme  des  Thaies  in  der  Sala  delle  Muse  im  A^atikan  in 
;intiker  Schrift  eingemeisselt  ist.  Aber  der  Name  klingt  griechi- 
-chem  Ohre  nicht  verständlich.  Daher  haben  die  Schreiber  zum 
feil  auf  ihre  Weise  eine  Verbesserung  versucht,  indem  sie  im 
ersten   Bestandteile    die   Präposition    I?    zu    erkennen   vermeinten. 

kann.  0rjXto(I)v  lieisst  das  Geschlecht  in  der  besten  Ueberlieferung  BP,  0r,X'j- 
ocüv  in  F.  Meineke  wollte  Br^Xiotöv  lesen,  NrjXaocüv  Bywater.  Es  scheint  vor- 
läuiijT  geraten,  nichts  zu  ändern,  obgleich  ein  sprachlicher  Zusammenhang  mit 
HoiÄr,;,  den  Schuster  annimmt,  abzuweisen  ist. 

^)  Eine  nur  orthographische  Var.  ist  lcc(|j.c/to'j  bei  Steph.  v.  Byzanz  s.  v. 
Mi/.TjTo;  S.  452,  15  Mein,  und  beim  sog.  Aristoteles  de  Nilo  (Fr.  ed.  Rose 
Leip/..  1S8G)  S.  192  Thaies  qui  de  nmeo.  Auch  das  in  Vulgattexten  hier  und 
da  Yorkommendu  'E?a-j.iou  ist  durch  byzantinische  Aussprache  des  'j  leicht 
entstellt. 

12=^= 


So  losen  Simpl.  Phys.  S.  23.  22   die   guten  Hdss.   ix   act'aou.     Auf  j 
dasselbe  sx  sap-ou  ist  unabhiingig  davon  ein  Schreiber  des  Stobaios 
(Flor.  3,  79)  verfallen.     Aelinliclier  Verderbnis  mag  auch  das  aus 

Porphyrios'   Philosophengeschichte    (Fr.  5  Nauck)    gellossene    C'itat  ji 

im  Fihrist  des  Muhammed  ibu  Ishak  den  Vatersnamen  Mallos  statt  ji 

Examyes  verdanken'^).    Noch  weiter  hat  sich  die  gesammte  Ueber-  [ 

lielerung   des  Laertios   von   dem  Ursprünglichen  II  4  entfernt,  wo  i 

das  handschriftliche  »'Ar,?  ix  xaXou  längst  von  M.  Gudius  in  HctXr,;  ji 
'Ecaauou  überzeugend  gebessert  worden  ist.  So  begreifen  wir  nun  auch 


eine  Lesart  des  Vaticanus  140  im  Laertios  I  22  scottj-üo'-),  wo  der 
Schreiber  das  unverständliche  Wort  sich  offenbar  durch  die  Besse- 
rung i?  ocjiuXoL)  zu  verdeutlichen  suchte.  Wenn  die  Worte  nur 
griechisch  aussehen,  um  den  Sinn  kümmern  sich  diese  braven 
Schreiber  wenig.  Es  bedarf  nun  für  ein  philologisch  geschultes 
Auge  keines  besonderen  Scharfblickes,  um  das  verfängliche  i^ijjiuouXa 
des  florentiuer  Codex  (F),  von  dem  Schuster  ausging,  als  eine  weitere 
Entstellung  jener  Lesart  zu  erkennen.  Auch  hier  wird  in  der  Vor- 
k- 
lage i^otauou  gestanden  haben  ,  wovon  der  in  F  ausradierte  Accent 

über  tjL'j  noch  eine  Spur  zurückgelassen  hat^).  So  wenig  also  die  A  ari- 
ante  der  armenischen  Uebersetzung  Examilas  neben  der  Ueberein- 
stimmung  der  griechischen  Excerptoren  und  d^r  lat.  Uebers.  des 
irieronymus  in 'E;ot[i.6ou  irgendwie  selbständigen  AVert  beanspruchen 
darf,  ebensowenig  kann  eine  noch  dazu  missverstaudene  Conjektur 
in   F.  einer  unzuverlässig  und  lüderlich  geschriebenen  Handschrift, 


^)  A.  Müller,  Die  gr.  Philos.  in  d.  arahi selten  Udierl.  Halle  1873  S.  5 
I»ic  Verderbnis  will  Müller  S.  30^  anders  erklären.  Mains  statt  Thaies  er- 
scheint l)ci  Kntychius  ann.  1  p.  267.    S.  Rüper  lect.  Ahulfarar/h.  18-'.  j 

'')  Ich  entnehme  diese  Thatsache  der  scharfen  Collation  des  Hrn.  I.  Hvwater,  i 
welche  dieser  mit  gewohnter  Liebenswürdigkeit  mir  znr  Verfügung  gestellt 
hat.  (Ur.  G.  Vitelli,  der  sich  gütigst  einer  Nachprüfung  der  Stelle  unterzogen 
hat,  schreibt  mir:  sollo  alt'  indice  del  nome  proprio  (~)  pare  vi  sia  una  nisura, 
ma  non  la  garentisco.)  Ich  nehme  an,  dass  die  durch  Ueberschreiben  des  ).  au- 
gedeutete Conjectur  aus  einem  älteren  Exemplare  in  F  und  Vatic.  140,  die 
sonst  unabhängig  von  einander  zu  sein  scheinen,  übertragen  worden  ist,  wie 
ja  das  gegenseitige  Durchcurrigieron  in  den  älteren  Lacrtioshilss.  in  ungewöhn- 
lichem Masse  sUiitgufunden  hat. 


Thaies  ein  Semite?  Iß9 

neben  der  giiteu  Ueberlieferung  des  Laertios  in  Betracht  kommen. 
'Eca[A6"/jc  steht  also  nicht  nur  in  der  sonstigen  Ueberlieferung,  son- 
dern auch  bei  Laertios  vollkommen  sicher  und  wird  zum  Ueberfluss 
durch  die  Analogie  einiger  auf  ionischen  Inschriften  erhaltenen  ta- 
rnen bestätigt.  Ein  mit  Thaies  gleichzeitiges  Anathem,  das  im  He- 
raion zu  Samos  stand,  trägt  als  Namen  des  Weihenden  Xr^rjOi^{ir,q 
(Bechtel  Jon.  Inschr.  211),  eine  halikarnassische  Inschrift  (Bechtel 
240,  11)  hat  den  Namen  [iavau-ürp  (gen.  nctvaa'joj).  Es  ist  jetzt 
kein  Zweifel  mehr,  dass  diese  mit  dem  Suftixe  urjc  (üoc,  üä,  üy;) 
gebildeten  Eigennamen  der  karischen  Sprache  angehören  -).  Also 
trägt  Thaies  Vater  wie  der  des  Herodot  einen  karischen  Namen. 
Das  ist  nicht  zu  leugnen.  Wer  aber  daraus  nun  weitergehende  genea- 
logische Schlüsse  ziehen  und  auf  diesem  Wege  wieder  zur  semitischen 
Herkunft  gelangen  möchte,  würde  vermutlich  wiederum  in  die  Irre 
gehen.  Denn  die  semitische  Abkunft  der  Karier,  die  früher  ziemlich 
allgemein  geglaubt  wurde,  ist  durch  die  Sprachforschung  widerlegt 
worden.  Es  herrscht  jetzt  vielmehr  entschieden  die  Anschauung  vor, 
dass  die  Karier,  wie  die  nahverwandten  vorderasiatischen  Völkerstämme 
der  Phrygier,  Pamphylier,  Lydier  u.  s.  w.  Arier  sind  ^).  Und  die  Namen 
ihrer  Städte  und  Personen  zeigen  allerdings  arische  Suffixe  und  arische 
Compositionsweise.  Wie  dem  auch  sein  mag,  ein  besonderer,  höherer 
Cultureinfluss  des  karischen  Elementes  kann  zu  Thaies'  Zeit  un- 
möglich bestanden  haben.  Denn  einerseits  hören  wir  nicht,  dass 
diese  Leute  sich  damals  ausser  durch  Seeraub  und  Söldnerdienst 
bekannt  gemacht  hätten.  Andrerseits  ist  die  karische  Cultur  die 
entschieden  niedere,    die  früh  und   vollständig  in   der  griechischen 


")  S.  Georg  ileyer  in  Bezzenberger's  Beitr.  s.  iiulog.  Sprach/.  X  (ISSf!)  l-tT. 
Die  karischen  Eigennamen  hat  HaussouUier  Bulletin  de  con:  hell.  IV  ol5  ge- 
sammelt.    Doch  fehlt  Manches. 

^  S.  Eduard  Meyer  in  Ersch  u.  Gruber's  Encycl.  Art.  Karier,  desselben 
Geschichte  d.  Alt.  I  299  u.  a.  0.  Milchhöfer  Anf.  d.  Kunst  in  Griech.  S.  109. 
Georg  Meyer  a.  0.  Den  schwachen  Argumenten  für  semitischen  Ursprung  hat 
Kaibel  ein  nicht  eben  stärkeres  hinzugefügt,  bei  Ribbeck  Archestra/i  rel.  fr.  55, 
wo  es  von  Teichioessa  heisst  WO.r^zoj  y.wij.ri  Kapwv  -sXa;  dy/.'J^.oy. wXoj v. 
Kaibel  bemerkt  dazu:  an  /uit  ex  eomm  numero  Archestratus,  (/ui  Semiticae  stirpi.^ 
esse  pularent  Cures?  quos  guidni  etium  veteres  pulahiinus  obsercasse  incnrvati.'i 
crurilus  prae  ceteris  inortalibus  a  natura  donatos  fuisse? 


j-jQ  II.  Diels, 

uiiftrCiTangoii  ist.      Ilire   nuiulcsvcrtassuiif^^  das  Xo'j3ao[>r/.ov  (j'j-j-r^yj., 
zeigt  mit  der  Einrichtung  der  ioni.schen  Zwölf'städte  grosse  Achnlich- 
keit,  im  iunisclion  Aufstande  treiben  sie  dieselbe  antipersisclie  Politik-, 
und  in  den  jonischen  und  dorischen  Colonien  der  Küste  zeigen  sich 
im   (5.   und  5.   Jahrhundert  die  Karier    den  Griechen  vullkommen 
gleichberechtigt.     Die   erhaltenen  umfangreichen  Namenslisten,  na- 
mentlich der  Inschriften  von  Halikarnass,  wo  das  karische  Element 
allerdings  sich  immer  besonders  deutlich  ausgeprägt  hat,  weisen  ein 
Durcheinander  von  griechischen  und  karischen  Namen  auf,  wie  sich 
etwa   in  unseren  Gegenden  deutsche    und  slavische  Namengebung 
mischt.    Reingriechische  Familiennamen,  wie  noojxa-i'Of;-/);  'HpaxXstOcto 
und  reinkarische  wie^Flapa-jastoXo;  riavuascnoc  stehen  neben  griechiscli- 
karischen  Mischnamen   wie  Mos/oc  Tsvossaio,-   und  umgekehrt  lla- 
vuasdu:  A/,a-/;Tpioy.     AVenn  nun  auch  für  Milet  und  Umgegend  eine 
so  stark  ausgesprochene  Mischung  wie  in  Halikarnass  nicht    anzu- 
nehmen ist'"),  so  bin  ich  doch  versichert,  dass  Thaies,  des  Examyes 
Sohn,  trotz  des  barbarischen  Namens  seines  Vaters  für  nicht  weni- 
ger hellenisch  und  für  nicht  weniger  erlaucht  gegolten  hat  als  jener 
Zeitgenosse  Thaies,   des   Orion  Sohn,    der  seinen  Namen  auf  dem 
marmornen  Löwen  an  der  heiligen  Strasse  bei  Milet  verewigt  hat"). 
Die  höhere  Culf  ur  Yorderasiens  ist  damals  längst  eine  einheitlich  grie- 
chische gewesen,  und  aus  ihr  ist  als  ihre  schönste  Blüte  die  Spe- 
cülation  des  Thaies  und  seiner  Schule  hervorgewachsen.      Wie  viel 
oder  wie  wenig  fremder  Anregung  dabei  zu  verdanken  ist,  dies  zu 
ermitteln,  bleibt  weiterer  nüchterner  Forschung  vorbehalten.    Sicher- 
lich  aber    wird   der  Stannnbaum    des   Thaies    hierlici    keine   Rolle 
spielen. 


'")  Vgl.  die  Li.ste  iles  bcu;ichbartoii  lasos  (Bechtel   104). 
")  Bechtel  93.    Kirchhoff  Sind.  z.  Gesch.  d.  <jr.  Alph.  ^  2Gcl. 


XI. 

f 

Die  Hypotliesis  in  Platoiis  Meiiou. 

Von 
Alfred  Gereke  in  Berlin. 

Vermöge  seiner  Dunkelheit  liat  der  locus  mathcmaticus  in  dem 
platonischen  Dialoge  Menon  (S.  86  f.)  auf  denkende  Leser  seit  jeher 
eine  starke  Anziehungskraft  ausgeübt.   Doch  scheint  er  eine  endgiltige 
Lösung  nicht  linden  zu  sollen.    Nur  der  neueste  Beurtheiler  dieser 
Materie,  Günther,  schreibt  in  seiner  Geschichte  der  Mathematik  etc. 
[Iwan  Müllers  Handbuch  V  1]  1888  S.  30,7  einer  früheren  Arbeit  die 
richtige  Deutung  der  vielbehandelten  Stelle  zu,  jedoch  ohne  überhaupt 
zu  wissen,  von  welcher  Stelle  des  Menon  die  zahllosen  Dissertationen 
und  Programme   handeln  (nicht  Menon  S.  82 f.!).     Mit  vereintem 
Bemühen  haben  Mathematiker,  Philosophen  und  Philologen  die  Ele- 
mente sehr  verschiedenartiger  Konstruktionsaufgaben  in  den  Worten 
des  Sokrates  gefunden  und  Vierecke,  Rechtecke,  Quadrate,  gleich- 
schenklige, rechtwinklige,   gleichschenklig-rechtwinklige  und  gleich- 
seitige Dreiecke,  den  Andeutungen  jener  Stelle  folgend,  in  Kreise  ein- 
gezeichnet und  die  Bedingungen  dieses  Verfahrens  bestimmt.    Aber 
schon  das  Auseinandergehen  der  Meinungen  muss  dem  Unbefangenen 
sagen,   dass  keiner  der  einzelnen  Versuche  das  Problem  löst,   dass 
vielmehr,  wenn  jede  einzelne  Konstruktion  aus  den  Worten  herauszu- 
lesen ist,  alle  in  den  griechischen  Worten  liegen,  oder  auch  keine: 
dass  man  eine  spezielle  geometrische  Aufgabe  gesucht  hat,  wo  der 
Philosoph  nur  eine  methodologische  Anlehnung  an  ein  allgemeines 
Verfahren  exakter  Wissenschaft  beabsichtigt  hat.    So  fordert  Cicero 
von  seinem  Sohne  de  olf.  III  7,33  'ut  geometrae  solent  non  omnia 
docere  sed  postulare  ut   quaedam    sibi   concedantur,    quo    facilius 


|-2  Alfred  Ocrckc, 

quac  voluiit   oxplicciit.    sie   ogo   a  tc  posluld,    nii  Cit'cro.    ut  mihi 
cüncedas,   si  [»utcs,    nihil    praeter  n\  ({uod  honestum  sit  projjlor  se 
esse  expetciulum'.    Cicero  spricht  von  unbewiesenen  aber  vurhiulig 
als    richtig    angenommenen  Sätzen,    aus   welchen   die    Folgerungen 
streng  wissenschaftlich  gezogen  werden  sollen,  und  ebenso  sagt  (hn- 
platonische  Sokrates,  die  von  Menon  gestellte  Frage,  ob  die  Tugend 
Ichrbar  sei,   könne  er  erst  beantworten,  wenn  Menon  ihm  gewisse 
Voraussetzungen    zugestanden    habe,    z.  B.    dass    die    Tugend    ein 
Wissen    sei.     Wie   Cicero    belegt    er    die   Korrektheit   seiner    dorn 
Laien  springend  erscheinenden  Gedankenführung   durch    ein  in  der 
Geometrie    wie    in    tlen    Naturwissenschaften    oft    eingeschlagenes 
\crfahren,    eine  Voraussetzung,    welche  sich   vielleicht  durch   den 
Augenschein    oder    die  Erfahrung   empfiehlt,    vorläuiig    als    richtig 
anzunehmen    und    darauf  folgerichtig   weitere  Schlüsse    zu    bauen. 
Eine    spezielle,    nicht    ohne    weiteres    lösbare    Aufgabe    und    eine 
spezielle  Voraussetzung    hierbei    anzuführen,    hatte    für  Piaton    so 
wenig  Zweck    wie   für  Cicero.     Wollte    er  aber  sich   trotzdem  auf 
ein  einzelnes   Beispiel  mit  exakten  Angaben  statt   auf   die   ganze 
Methode    berufen,    so   durfte  er   die  genauen  Angaben   nicht  weg- 
lassen: denn  nur  dem  Menon  zeigte  Sokrates  im  Sande  die  Figuren, 
für  den  Leser  musste  er  sie  mit  der  Ausführlichkeit  und  Gründlich- 
keit beschreiben,  welche  wir  von  ihm  auch  sonst  überall  gewohnt 
sind.     Was  er  nicht  sagt,  hat  er  nicht  in  den  Sand  gezeichnet:  er 
denkt  auch  nicht  an  eine  Verwandlungsaufgabe,    da  er  von  einem 
Verwandeln  so  wenig  als  von  einer  vier-  oder  mehr-eckigen  Figur 
redet.    Was  Sokrates  klar  machen  will,  pllegt  eher  einfiiltig  breit  als 
kurz  angedeutet  und  gelehrt  zu  sein,  um  wie  viel  mehr  aber  das,  was 
Licht  auf  die  folgenden  Erwägungen  werfen  soll;  trotzdem 'ereignet 
sich  hierbei  das  Merkwürdige:    während  die  Erwägungen  nicht  die 
geringsten    Schwierigkeiten    boten,    erschien    das    angeführte    geo- 
metrische  Beispiel    um    so    dunkler'.     So    äussert    sich    derjenige, 
welcher    zuletzt    mit    achtbarer  Gelehrsamkeit  die  Spuren   der  ge- 
suchten Figuren    im  Sande    aufgespürt    hat  (Carl  Demme,  Progr, 
No.  522  Dresden  1888  S.  7  f.). 

Mir  scheinen  die  AVorte   Philuns  nicht  nudir  bes  gen  zu  sollen 
als  die  Ciceros:  sie  lauten  mit  meiner  Uebersetzung  folgendcrmassen: 


Die  Hypothesis  in  Platnns  Jlenon. 


173 


86  E    7.XX7.    a;j-tzpoy    73    ij/ji  gicb    mir    ein    wenig    im    An- 

TTjC  7.0/7);  yäXaarjy  xotl  aoy/io-      fange    nach    und    gestatte,    dass 


ry-/;30V    s? 


uTCo&sustü?   c.uTo  axo- 

TTSrailat,    8110    SlOaXTOV  SÖtlV  Sl'tö 

5    OTKO'JOUV.      Xs^fO    0£    TO     »SC    UTTO- 

Oc'ciHCÜC«     (003,    (ScjTicp    Ol    YcCO|X£- 

Tooti  TroXX^xi;  öxoTTOuvTcti  [eher 
cxoTiO'jvxöc]  sTrs'Oav  Tic  3pr|T7.i 
aurouc,  oTov  Ticpl  '/(urAu'j  zl  oiov 

10   Ti    i;    TOVOÖ    TOV    XUxXoV    TOOi    TO 

yojplc  Tprj'wvov  ivTaOrjV^i  — 
si'kOI  av  TU  OTi   „o'jiToj   oioa  si 

e'aTiv  TO'JTO  ToiouTov,    aXX'    fis- 

-£p  }X£V    TlVa  UTiOÖcOlV   TTpO'Jp^OU 

15  oi'xoti     £/civ     upoc    ~o    -p^yua 

TOtaVO£'      £1     jJ.£V    £aTlV    TOUTO     TO 

yiM[}Wj  ToioÜTOV  oTov  ~r).[Ä  t)jv 
ooilöiaav   OLUTO'j   Ypc(ix[jL7jv   rapa- 

TStvaVTa  £XXt-£rv  (so  b,   £XX£t'TC£lV 

•20   T,     sXXlTTElV     ß)     TOIOUTU)    7tüpt<l> 

OFOV    av    a'JTO     TO    7rG(p0tT£T0tU.£VOV 

■(,,  ä'XXo  Tt  au;xßaiv£tv  jxoi  ooxst 

X0(1  ä'XXo  7.Ü  31  7.o6y7.TOV  cdTtV 
Ta[>T7    TraOElV.       UüOt)£[Jl£VO?    ouv 

2J  3i)3X(ü    siäciv    aoi   TO  cuaßaivov 

7r£pl  TTjC  £VTaC5£(U;  OtUTO'J  31>J  TOV 
X'JXXOV    SITE    70UVaT0V    31T3    [X"//." 


jenes  unter  einer  Voraussetzung 
untersucht  wird,  ob  sie  Ichrbar 
sei  oder  was  sonst.  Ich  ver- 
stehe dieses  „unter  einer  Vor- 
aussetzung" so,  wie  etwa  die 
Mathematiker  oft  bei  ihren  Un- 
tersuchungen, wenn  einer  sie 
fragt  z.  B.  über  eine  Figur,  ob 
es  möglich  ist,  in  diesen  Kreis 
hier  dieses  ausserhalb  befind- 
liche Dreieck  einzutragen  — 
wie  dann  einer  sagen  würde 
„ich  weiss  es  noch  nicht,  ob 
dies  so  beschaffen  ist,  aber  ich 
denke  für  diese  Sache  eine  Art 
Voraussetzung  bereit  zu  haben 
in  Iblgender  Weise:  falls  diese 
Figur  (A)  derartig  ist,  dass 
man,  wenn  man  sie  an  die 
gegebene  Linie  (0)  angetragen 
hat,  Platz  hat  für  eine  der- 
artige Figur,  wie  die  angetra- 
gene eben  ist,  dann  scheint 
mir  das  ein  Fall  zu  sein,  und 
wieder    ein    anderer,     wenn    es 


unmöglich  ist,  dass  dies  geschieht.  Wenn  ich  also  eine  Vor- 
aussetzung gemacht  habe,  will  ich  ilir  das  sagen,  was  das  Ein- 
schreiben derselben  in  den  Kreis  betrifft,  ob  es  unmöglich  ist  oder 
nicht." 

Geändert  habe  ich  nur  Zeile  11  to  "/topk  xpqtuvov  für  das 
überlieferte  to  /«opiov  Tpr,'(uvov,  denn  die  Bestimmung,  dass  Kreis 
und  Dreieck  bezw.  Vieleck  gesondert  gegeben  sind,  ist  unerlässlich 
für  die  mathematische  Genauigkeit  in  einer  Zeit,  wo  die  termini 
noch  nicht  entwickelt  waren;  andererseits  kann  Sokrates  niclit  uu- 


174  Alfred  Gcrcke, 

Ijcstininit  andeuten,  das  Gebilde  (/(upiov)  solle  „als  (iuhaltsgluiches? 
äliiiliclics?)  Dreieck"  in  den  Kreis  eingeschrieben  werden;  und  das 
Gebilde  selbst  muss  als  Dreieck,  Viereck  oder  Vieleck  bezeichnet 
sein,  wenn  eine  bestimmte  Aufgabe  hierin  liegen  soll. 

Nach  meiner  Auffassung  ist  also  Sokrates  einfältig  genug,  vuin 
Mcnon  nur  das  Zugeständnis  zu  verlangen:  ein  Dreieck  müsse  klein 
genug  sein,  in  einen  Kreis  hineinzupassen,  wenn  die  Aufgabe,  es 
liineinzutragen,  möglich  sein  solle,  wie  aucli  die  Tugend  in  den 
Begriff  des  Wissens  sich  einfügen  muss,  wenn  sie  gleich  allem 
Wissen  lehrbar  sein  soll. 


xn. 


Zu  der  platonisclieii  Atlantissage. 


Von 
Otto  Kern  in  ]]erlin. 


Six  hat  in  der  fünfzehnten  der  seiner  Dissertation  De  Gorgone 
Amstelodami  1885  angehängten  Thesen  die  Behauptung  aufgestellt, 
dass  der  platonische  Atlantismythos  ,mutatis  mutandis'  auf  die 
Niederlage  der  Perser  yai  beziehen  sei.  Ev  hat  sich  also  der  von 
Susemihl  vor  mehr  als  dreissig  Jahren  vorgetragenen  Vermutung 
angeschlossen.  Es  mag  sein,  dass  er  neue  Argumente  beizubringen 
weiss,  dass  er  sichere  Beziehungen  auf  die  Perserkriege  gefunden 
hat,  das  aber  steht  fest,  dass  Susemihls  und  seines  Schülers  Brieger 
Gründe  nicht  genügen').  Und  mag  uns  auch  dieses  und  jenes  an 
die  gewaltige  That  des  themistokleischen  Athens  erinnern,  mag  Plato 
unter  dem  Eindruck  geschrieben  haben,  den  auf  ihn  die  Heldenthat 
seiner  Väter  gemacht  hat,  die  Anregung  zu  seiner  Atlantisepisode 
haljen  ihm  die  Perserkriege  ganz  gewiss  nicht  gegeben.  Denn  Plato 
erzählt  von  einem  Kriege,  der  vor  9000  Jahren  (Timaios  p.  23  E)^) 
zwischen  den  Athenern  und  Atlantinern  geführt  sei.  Schon  Solon 
hat  von  dem  Kriege  keine  directe  Ueberlieferung  mehr  erhalten, 
durch  ägyptische  Priester  hat  er  erst  von  ihm  erfahren.  Durch 
diese  Zeitangabe  wird  die  von  Susemihl  aufgestellte  Hypothese 
widerlegt,    nicht  minder  aber  auch  dadurch,    dass  das  Reich  der 


0  Znerst  in  der  Uebersetzung  des  Kritias  Stuttgart  1857,  dann  Genetische 
Entwickelung  der  platonischen  Philosophie  11  2  (1860)  486  f. 

-)  Vgl.  Susemihl  Genetische  Entwickelung  der  platonischen  IMiilosophic 
II  477  f. 


]  7  ( )  0 1 1 0  K  0 1-  n  , 

Alhiiitis  im  AVesten  liegt.  Nach  einem  Kriege  müssen  wir  sucheu, 
welchen  die  Athener  mit  westlichen  ^sachharn  in  hohem  Altertum 
gelührt  haben. 

Betrachten  wir  den  Feind,  mit  welchem  Altathen  kämpft. 
Im  Anfang  des  Timaios  wird  uns  der  Krieg  und  seine  Folgen  ge- 
schildert, im  Kritias  giebt  uns  Plato  eine  genaue  Schilderung  des 
Atlantisreiches,  welches  Poseidon  bei  der  Theiluug  der  Erde  als 
seinen  Antheil  erhalten  hat.  lieber  die  im  fernen  Westen  woh- 
nenden Atlantiner  herrschen  zehn  Könige,  welche  Poseidon  mit 
Kleito,  der  Tochter  des  Euenor  und  der  Leukippe,  gezeugt  hat. 
Die  Etvmoloo;ie  des  letztgenannten  F'rauennamens  hat  besondere 
Bedeutung:  wir  befinden  uns  im  Poseidonreiche.  Zu  beachten  ist 
auch,  dass  der  eine  Poseidonsohn  Elasippos  (Kritias  p.  114  C)  heisst. 
Auf  der  Insel  stand  ein  grosser,  prächtiger  Tempel  des  Poseidon, 
in  welchem  sich  ein  plastisches  Bild  des  Meergottes  befand,  um  den 
hundert  Nereiden  auf  {]cn  Rücken  von  Delphinen  schw'ammen. 
Bei  dieser  Beschreibung  kommen  uns  sofort  die  schönen  Verse  in 
den  Sinn ,  in  denen  Ilias  N  27  f.  der  Ritt  des  Poseidon  durch  das 
Meer  geschildert  wird,  wir  erinnern  uns  der  zahlreichen  Kunstwerke, 
auf  denen  wir  die  Bewohner  des  Meers  in  den  anmutigsten  Grup- 
pierungen dargestellt  sehen.  Die  genaue  Beschreibung  Piatos 
macht  es  sehr  wahrscheinlich,  dass  er  ein  bestimmtes  Kunstwerk 
vor  Augen  hat. 

Die  Herrschaft  der  zehn  Könige  richtet  sich  (Kritias  p.  119  C) 
•/.7.t7.  i-i3-o)A:  za;  to'j  noasioüjvjc,  wc  6  voixo,  auxoic  Traosotoxs,  xal 
■(paauaT7.  u-o  täv  -(icoTcov  iv  ^^'r^^-'r^  ^EYpoitxjxsva  opsi/aXxivrj ,  r,  v.n-A 
]x£ay,v  TYjv  vr^sov  i'/cito  iv  tsf/oj  HodötoÄvo?  ....  So  sehen  w'ir,  dass 
die  Atlantis  dem  Poseidon  gehört,  auf  ihn  als  seinen  Stammherrn 
geht  das  Herrschergeschlecht  zurück.  Dass  aber  Athena  auch  im 
Kritias  Athens  Schutzgöttin  ist,  versteht  sich  von  selbst, 
i'lT'.v  "j'7.f>  otV/.  7'ar|U0?  'EX^.r^vojv  TioXt? 
"V  /p'JCio/vO-j'/ou   [UAhdoo;  xixX-/);xsvyj. 

Auf  der  einen  Seite  stehen  also  die  Poseidonsöhue,  auf  der 
anderen  die  Schützlinge  der  Athena;  zwischen  Beiden  kommt  es 
zu  einem  heftigen  Kampf,  in  welche  Zeit  derselbe  fällt,  hat  Plato 
selber  klar  angegeben,  sagt  er  doch ,  dass  der  Kampf  vor  Theseus' 


Zu  der  platonisrlien  Atlautissag-e.  177 

Zeit  ausgefochten  sei,   p.  110  A.  B  Xr,««   os   auta  Tcy.tj.7.ipotji3voc,   oti 

1    Kr/.fX^KOC  TS  y.ai  'Ef>3/i>i«)c   xal  'Epi/öovioü   xo-.».  'Epuar/ f)ovoc   töjv    ts 

ocXÄ(üV    TV.  -/.siGTOt,    oaa-cp   x'/i    B-zjasto;   töjv    avco    7:spl    tojv    ovoaatojv 

exaSTojv  a7:oii.vr^ij.ovsu£t<z',,  -out(uv  sxeivciUC  toc  -oXXa  STiOvoji.ccC'JVtctc  tob; 

ISpSOtC    ^LoXojV    SCp-/]    TOV    TOTE    O'./fj'sTstiai     TroXiiJLOV.     X7.1     TV.     T(T)V     "i'UVy'.XOiV 

X7.T7.  Ta  au-7'.  Also  Kekrops,  Erechtheus,  Erichthonios,  Erysiclitlion. 
Mit  Kekrops  beginnen  die  Könige  der  Athener,  der  letzte  König 
aus  dem  Geschlecht  des  Erichthonios  ist  Erechtheus.  Seine  Gestalt 
macht  in  der  sagenhaften,  ältesten  Geschichte  Athens  Epoche,  er 
i.st  der  letzte  von  Piato  Erwähnte,  welcher  zu  den  av(o  Qr^'sLo:  ge- 
hört. Ist  es  verwegen,  wenn  wir  hiernach  den  Krieg  in  die  Re- 
gierungszeit des  Erechtheus  fallen  lassen?  Diese  Spur  zu  verfolgen 
wird  nicht  fruchtlos  sein. 

Vor  den  Perserkriegen  ist  kein  Krieg,  welchen  Athen  geführt 
hat,  zu  solcher  Berühmtheit  gelangt  wie  der  eleusinische.  Plato 
(Menexenos  p.  2o9B)'')  stellt  selbst  beide  Kriege  einander  gegen- 
über, vgl.  B.Giseke  Thrak.  pelasgische  Stämme  und  ihre  Abänderungen 
S.  4B.  Und  wenn  also  der  Gedanke,  dass  der  Perserkrieg  in  der 
Atlantiserzähluug  gemeint  sei,  nicht  aufrecht  gehalten  werden  kann, 
liegt  es  von  Anfang  an  am  nächsten  an  den  eleusinischen  Krieg  zu 
denken.  Der  platonischen  Dichtung  liegt  die  loi?  der  Athena  und 
des  Poseidon  zu  Grunde,  nach  meiner  Ansicht  auch  der  Sage  vom 
eleusinischen  Krieg.  So  hat  Isokrates  Panathen.  193  auch  die  Sache 
aufgefasst:  Gpaxs;  [asv  "j-ap  ;xet'  Euji-oX-ou  tou  riocic'.oöuvoc  stssßv.Xov  st? 
TYjv  ya)p7.v  "/jutöv,  o;  Tju-iiiaß/jr/j^sv  'Eps/üsi  ~r^;  ttoXsüuc,  odav.vyy  [lo- 
GilOtt)    ■üpOTEpOV  'Ai}-/]V7.c   xvTaXv^ctv    auTv^v. 

Im  Atlantisreiche  gebieten  zehn  Könige,  welche  die  Vertreter 
der  Perserhypothese  zu  Satrapen  zu  machen  kein  Bedenken  getragen 
haben.  In  Eleusis  herrschen  vor  der  Vereinigung  mit  Athen  ver- 
schiedene Fürsten,  von  welchen  uns  der  homerische  Demeterhymnos 
Triptolemos,  Diokles,  Eumolpos,  Keleos,  Polyxenos,  Dolichos  nennt  ■*). 


^)  Nach  den  Ausfühmngeu  von  Diels  Abhandlungen  der  Preuss.  Alsademie 
der  Wissenschaften  1886  S.  2Hf.  halte  ich  die  Echtheit  des  Menexenos  für 
erwiesen,  anders  auch  jetzt  Zeller  Archiv  I  614. 

"*)  Vgl.  Friedrieh  Hiller  von  Gaertringen  De  Graccorum  faliulis  ad  Tluaces 
pertinentiltus  lU'roliiii   ISSG  p.   ]',)  s. 


ITS 


Oltö   Korn. 


Poseidon  wurde  in  Eleusis  hocliverehrt,  nach  Pausanias  I  B8,  6 
gab  CS  dort  einen  Tempel  des  Poseidon  llottr^p.  Zum  Kampfe 
mit  den  Athenern  hinaus  ziehen  die  Poseidonsöhne  Eumolpos 
und  Phorbas  (Ilarpokration  u.  d.  \V.  Oopßotv-Eiov).  Den  (iegen- 
satz  zwischen  den  unter  dem  Scliutz  des  Poseidon  kämpfenden 
Eleusiniern  und  den  Athenern  drücken  am  schärfsten  aus  die  AVorte 
der  Praxithea  im  Euripideischen  Erechtheus  (fr.  362,  45  Nauck): 

"zpiaiyj.y  of>i>rjv  ataaocv  iv  -6Xs<u;  ßai),ooic  fli 

KotJ-OX-OC    0003    6p?-^    C/.VCtatS'Söl    XcOjC  ' 

CTc'iOt'vj'.a'.,     ric(XX<ZC    ö'    O007.a00    T'.urCiETCC.. 

Nach  diesen  Erwägungen  scheint  es  mir  nicht  zu  kühn  zu 
sein,  wenn  icli  die  platonische  Atlantis  als  ein  Zeugniss  für  den 
eleusinischen  Krieg  in  Anspruch  nehme.  Plato  hat  frei  mit  seinem 
Stoff  geschaltet  hier,  wie  anderwärts;  aber  woher  ihm  die  Anre- 
gung kam.  wollen  wir  doch  nicht  verkennen. 

Auch  im  Einzelnen  linden  wir  im  Kritias  Eleusis  Avieder.  Von 
Demeter  freilich  kein  Wort,  ihrer  scheint  auch  nicht  im  Euripidei- 
schen Stück  gedacht  worden  zu  sein,  das  nur  den  Conllict  zwischen 
den  Poseidonsöhnen  und  den  Athenern  behandelte.  Aber  die 
Fruchtbarkeit  des  Atlantislandes  wird  ganz  besonders  gerühmt 
p.  113  (',  UTA— C.  Sehr  entschieden  betont  Plato  den  Kult  der 
Atlantincr,  und  zwei  gottesdienstliche  Einrichtungen  erinnern  direct 
an  Eleusis,  die  'z-otp/ott,  von  denen  die  grosse  eleusinische  Inschrift 
(vgl.  Tl.  Sauppe  Attica  et  Eleusinia  Ind.  scliol.  hiem.  Gottingae 
1881)  genaue  Kunde  gegeben  hat,  und  die  Jagd  auf  den  Opferstier, 
welche  Artemidor  I  8  (vgl.  A.  Nebe  De  mysteriorum  Eleusiniorum 
tempore  et  administratione  publica.  Diss.  Halenses  Mll  (188()) 
p.   110)  berichtet. 

Der  eleusinische  Krieg  ist,  wie  U.  von  AVihimowitz  Aus  Kyd- 
athen  S.  125  sagt,  'der  Kampf  zweier  stammfremder  Völker  und 
zwoiei-  Keligionen,  des  thrakischen  Speers  wider  die  attische  Gorgo'. 
So  haben  ihn  die  attischen  Redner  immer  aufgefasst.  Dasselbe 
gilt  von  dem  Krieg  der  Atlantiner  mit  den  Athenern,  auch  diese 
beiden  \'ölker  sind  einander  stammfremd,  hat  (k)ch  tue  Poseidon- 
stalue  des  Athintinertempels  ein  siooc  ßc(pßc(pixov,  s.  Kritias  p.  IIG  D, 


Zu  der  |)I;itonisclien  Atlaiitissage.  179 

Sasemihl  genetische  Entwickelung  II  485.  Die  Invasion  der  Po- 
seidonsöhne ist  im  Kritias  sowohl  wie  in  der  attischen  Sage  ein 
Einfall  des  vereinigten  westlichen  Continents,  wie  Grote  (Geschichte 
iliiechenlands  I  103,  32  Dentsche  üebersetzung)  den  eleusinischen 
Krieg  mit  Recht  bezeichnet  hat,  man  vergleiche  nur  Kritias 
p.  108E  TravTcuv  otj  -pcoTOV  |xv/;cfi)ti)[i.3V,  OTi  xo  Xc'iv'Xaiov  r^v  sva- 
■/i?  /tÄia  E~"/].  <zcp'  oü  -|'3-'OV(oc  iixrjV'ji)"/]  t:oX3|xoc  toi«?  !)'  utceo  'Hpa- 
xXsi'otc  a-r^).o.c  ilüi  xcToixo'jai  xal  toi^  svto;  -as'.v  z.  B.  mit 
Xenophon  Memorab.  III  5,  9  oTaai  ijiv,  zl  to'j;  7s  -aXaioTatouc  (ov 
ci(xotjO[xsv  Kpo^ovouc  rzuTÖJv  avctixtavT^axr/tiJ-EV  ctutouc  '7.xr|X''jOTac  ctfitaTOuc: 
-,'£Y0V3vai.  W[>7  XrjS'.c  tr,v  Ttöv  Dsuiv  xr>t'3iv.  y)v  01  -spl  Ksxpo-a  01 
7(viTr,v  i'xp'.votv;  Xs-;oj  77.0  X7.1  tr,v  'Ep3/_i}i<juc  -■£  tpocpr^v  X7.l  -'ivsS'.v, 
v/jx  Tov  roXsaov  1 0  v  c  - '  i  x  s  i  v  0  u  7  e  v  0  ;j.  s  v  '^z  v  t:  0  0  c  1 0  ü  c  s  x  t  9]  c 
3 V 0  a i V r^  c  i^~z i rj 0 u   ~ 7 G r^ c. 

Das  hoho  Lol),  welches  v.  Wilamowitz  Homerische  Untersnclnm- 
gen  S.  398  dem  platonischen  Kritias  ertheilt  hat,  verdient  er  voll 
und  ganz.  Die  Zeit,  in  der  man  dieses  ^leisterwerk,  das  ein  Toiso 
bleiben  sollte,  Plato  absprach,  ist  längst  voriiljer.  Mit  staunender 
Bewunderung  sehen  wir,  wie  sein  Genius  aus  der  Anregung,  welche 
ihm  eine  attische  Sage  gegeben,  ein  "W'erk  schuf,  dessen  Nicht- 
vollendung  für  jedes  poetisch  empfindende  Gemüt  ein  unersetzlicher 
\'erlust  ist. 


XIII. 


Zur  Psycliologie  der  Scliolastik. 


Von 
H.  Siebeck. 


Alexander  von  Haies  und  Johann  von  Rochelle. 

])as  Inleres.se,  den  Thatsachen  der  äussern  und  Innern  Erfah- 
rung, wenn  auch  nicht  vermittelst  eigner  Beobachtung  sondern  an 
der  Hand  der  zugänglich  gewordenen  antiken  Autoritäten,  nachzu- 
zugehen, war  mit  dem  Anfange  des  13.  Jahrh.  durch  die  Einflüsse 
vom  Orient  her  kräftig  angeregt  worden.  Auch  die  spezifisch  theo- 
logische und  realistisch-dialektische  Richtung  der  Scholastik  mochte 
sich  dieser  Strömung  nicht  länger  verschliessen  ').  Ein  entschie- 
dener Realist  wie  xMexander  Neckam  war  zugleich  der  hellissene 
Eürilerer  physikalischen  Wissens,  und  Alfred  der  Engländer,  in 
dessen  Ansichten  man  den  Uebergang  von  der  platonischen  Theo- 
logie zu  der  empirisch-psychologischen  Richtung  des  Aristotelismus ) 
verfolgen  kann^),  war  allem  Anscheine  nach  dessen  Schüler.  Seit 
dem  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts  wird  die  empirische  Psycho-) 
logie  mehr  und  mehr  in  den  Dienst  der  dogmatischen  Theologie 
gezogen  und  gewinnt  dadurch  ihrerseits  wieder  in  Bezug  auf  Ge- 
halt wie  auf  l'mfang.  Erörterungen  wie  die  über  die  Erkennbar- 
keit Gottes,  p.sychologische  Konstiuktionen  über  das  Geistesleben 
der  Engel  trugen  nicht  minder  wie  Untersuchungen  über  das  Ver-j 

')  Ohschon   es   anfangs   an   Sp\iron   einer   vun    (loitliei-   kuinmeu'len   Alige- 
ncigllieit  nicht  mangelt.     S.  LIaureuu  11,  1   S.  Giill'.  I 

*)  Vgl.  cIkI.  S.  G4  f.    Gesell,  tl.  Psych.  1,  2,  S.  4-20.  428.  i'M.  ' 


Zur  Psychologie  der  Scliolastik.  ^81 

liältiiiss  von  Sünde,  Freiheit  und  Gnade  u.  a.  da/Ai  bei,  tlieils  ober- 
lläcliliohe  Beobachtungen  zu  vertiefen,  tlieils  innere  Zusammen- 
hänge in  den  wissenschaftlichen  Gesichtskreis  zu  rücken,  für  welche 
der  arabische  Lehrmeister  noch  keinen  Sinn  hatte;  und  dies  alles 
umsomehr  als  man  bereits  namentlich  in  Augustins  Schriften  für 
derartige  Tendenzen  unerreichte  Vorbilder  besass^).  Immerhin  wird 
der  Einfluss  des  letzteren  in  der  ersten  Hälfte  des  13.  Jahrh.  noch 
von  Aristoteles  oder  vielmehr  von  Avicenna  überwogen.  Man  er- 
kennt das  besonders  deutlich  in  der  an  theologischen  wie  psycho- 
logischen Einzelproblemen  schon  sehr  reichen  Summa  des  Alexan- 
der von  Haies  (f  1245). 

Von  Haus  aus  mehr  der  victorinischen  Richtung  zuneigend, 
aber  alten  und  neuen  Bildnngseinflüssen  gleichermassen  zugäng- 
lich, bezeichnet  Alexander  in  der  mittelalterlichen  Psychologie  den 
)Vendepunkt,  an  welchem  der  mehr  platonische  Charakter  der 
früheren  Epoche  auf  lange  hin  zu  Gunsten  des  aristotelischen  auf 
die  Seite  gedrängt  wird*).  Er  ist  der  erste  Scholastiker,  der  den 
Ansichten  der  Araber,  insbesondere  des  Avicenna,  in  das  theolo- 
i^ische  System  Zutritt  gewährt.  Wo  diese  nicht  zureichen ,  sucht 
er  bei  Augustin,  gelegentlich  auch  bei  Johannes  Damascenus, 
Roetius,  Avicebron,  Bernhard  von  Clairveaux  u.  a.  sich  Rath  zu 
holen,  ohne  dabei  für  seine  dogmatischen  Interessen  auf  eingehende 
Untersuchungen  Verzicht  zu  leisten.  Die  Methode  des  Avicenna 
erkennt  man  u.  a.  in  seinen  Erörterungen ')  über  dtis  gegenseitige 
Verhältniss  der  Seelenkräfte:  die  seelische  Kraft  als  solche  steht, 
wie  er  lehrt,  hoher  als  die  blosse  Lebenskraft,  kommt  aber  im  Or- 
ganismus später  als  diese  zur  Wirkung.  Die  Gründe  und  Gegen- 
gründe hierfür  beziehen  sich  unter  schliesslicher  Berufung  auf  den 
;irabischen  Lehrmeister  wesentlich  auf  physiologische  Thatsachen 
wie    Herzbewegung,    Emphndung,    Embryonalleben.     Für    Einthei- 


^)  Ueber  den  Einfluss  des  Augustinismus  in  der  PsyclioTogie  des  MA  s. 
/.ciisHir.  f.  Philos.  u.  philos.  Krit.  Band  93,  S.  162  ff. 

')  Vgl.  Gesch.  d.  Psych,  a.  a.  0.  S.  422f.  428  f.  448  f.  Ueber  A.'s  Meta- 
physik der  Seele  und  sein  Verhiiitniss  zu  aristotelischen  Ansichten  vgl.  Ruders 
Uli  Piiiiüs.  .Jahrbuch  (Fulda  1888)  1,  S.  43ff. 

'")  Alex.' Hai.  Summ.  uuiv.  theol.  (ed.  1489)  II,  Gö,  2,  3. 

Ari-liiv  f.  Geschichte  d.  Thilosophie.     II.  1^ 


\p,2  H-  Siebeck, 

liingcn  ist  Aviconiia  oft  ohne  weiteres  massgebend'').  Bei  tiefer 
gehenden  Erörterungen  wendet  er  sich  allerdings  an  Augustin.  Im 
Hinblick  auf  diesen  unterscheidet  er  als  Stufen  der  Erkenntuiss: 
ingenium,  ratio,  memoria  und  intellectus^),  nicht  ohne  zu  bemer- 
ken, dass  in  den  drei  ersteren  nur  drei  verschiedene  Grade  einer 
und  derselben  Kraft  wirken,  yax  denen  die  Intelligenz  als  Erkenut- 
niss  des  üebersinnlichen  hinzutrete  (II,  69,  5,  1).  Den  ebenfalls 
von  Augustin  entlehnten  Begriff  der  sensualitas  bestimmt  er  da- 
hin, dass  sie  als  erkennender  Faktor  die  äussern  Objekte  wahr- 
nehme, als  bewegender  aber  die  Vernunft  auf  sinnliche  Anlässe 
zum  Handeln  anrege  ("ebd.  68,  2).  Das  concupiscible  und  das 
irascible  Vermögen  unterscheiden  sich  nach  A.  nicht  nur,  (wie  Joh. 
Damasc.  sagte),  dadurch  dass  jenes  das  Gute  begehrt  und  dieses  das 
Uebel  flieht,  sondern  namentlich  durch  die  verschiedene  Art  des  posi- 
tiven Begehrens:  das  erstere  strebt  nach  dem  Gefallenden  (delecta- 
bile^,  das  andere  nach  dem  Schwierigen  (arduum  und  honoralnle); 
ausserdem  aber  kommt  in  Betracht,  ol)  chts  Gute  (bzw.  sein  Gegen- 
theil)  als  gegenwärtiges  oder  als  zukünftiges  vorgestellt  wird.  \n  ähn- 
licli  vertiefender  Weise  behandelt  er  die  Ansichten  des  Johannes  über 
das  Verhältniss  des  Willens  zum  liberum  arbitrium  (IV,  55,  3,  2). 
"Wie  der  Einlluss  der  Araber  der  abendländischen  Wissenschaft 
gelegentlich  auch  neue  Probleme  zuführte,  zeigt  die  eingehende 
Untersuchung,  welche  A.  an  der  Hand  von  Avicenna.  der  Schrift 
de  motu  cordis  u.  a.  über  die  Ursache  und  Eigenthiimlichkeit  des 
Lebens  anstellt^).  Das  Leben,  wie  er  ausführt,  ist  als  Potenz 
zu  betrachten  in  dem  Sinne,  dass  es  den  übrigen  (seelischen)  Po- 
tenzen als  organischer  Grund  vorausliegt.    Seine  "Wurzel  hat  es  im 


''')  So  in  der  Lelire  vüiu  iiineru  Sinu  und  der  cerehralen  Lolialisatloii  von 
dessen  Kräften;  II,  67,  1.  2.  3. 

0  Ingenium  investigat,  ratio  judieat,  memoria  servat,  intellectus  compre- 
hendit,  II,  G9,  5,  1. 

^)  Dass  sie  auch  den  Eindruck  der  Neuheit  maclite,  erkennt  man  aus  dem 
Umstände,  dass  Vincenz  von  IJeauvais,  der  (Spec.  (juadr.  XXIV,  1(5  ff.)  diese  Aus- 
führungen A.'s  exccri)irt,  ausdriK-klich  daliei  die  Frage  erhebt  (18),  waniin 
diesen  Gegenstand  nicht  schon  Aristoteles  behandelt  habe.  Der  Grund  liege 
darin,  dass  letzterer  die  Psychologie  nicht  sowold  als  Mediziner  (d.  ii.  Kmpiri- 
kci).  denn  als  l'hilosoph  ausführe. 


Zur  Psychologie  der  Scliolastik.  18o 

ITcrzeD,  diircli  dessen  Bewegung  es  den  andern  Thätigkeiteii  die 
Kräfte  zuführt.  Die  Erlialtung  der  Lebenstliätigkeit  auf  Grund  des 
Lebens  geschieht  wesentlich  durcii  die  Konserviruug  des  Pneuma 
als  des  A^'ehikcls  für  Empfindung  und  Bewegung.  Man  muss  daher 
an  einem  und  demselben  Organe  seine  Lebenskraft  noch  von  der 
seelischen  Kraft  unterscheiden;  letztere  kann  vernichtet  sein,  wäh- 
rend die  erstere  fortbesteht").  Das  Leben  ist  die  ursprünglichste 
(grundwesentliche)  stetige  Thätigkeit  der  Seele  als  erkennender 
und  handelnder  Substanz.  In  diesem  Sinne  ist  es  genauer  als 
habituale  Potenz  zu  bezeichnen;  es  ist  nicht  habitus  im  eigent- 
lichen Sinne,  nicht  eine  bestimmte  Disposition  zu  irgend  einer 
Thätigkeit,  welche  der  Potenz  äusserlich  zuwächst  oder  anhängt 
und  ihr  den  Üebergang  in  Handlung  erleichtert;  sondern  es  ist 
Disposition  im  Sinne  der  Wurzel  für  die  Kräfte  der  Substanz  selbst: 
die  Organe  der  verschiedenen  Potenzen  werden  durch  die  Aus- 
strahlung (irradiatio)  der  Lebenskraft  vermittelst  des  Pneuma  in 
Thätigkeit  versetzt'").  Die  Lebensthätigkeit  ist  kontinuirlich  und 
unermüdlich,  weil  die  Herzthätigkeit  dies  ist.  Das  Herz  selbst  be- 
sitzt diese  Eigenschaften  wegen  seiner  engeren  Beziehung  zur  Seele 
und  seiner  grösseren  Vollkommenheit  als  Organ").  Au  diese  Er- 
örterungen schliesst  sich  eine  naturphilosophische  Hypothese  über 
den  Ursprung  des  Lebens.  Das  kosmische  Prinzip  desselben  wird 
i^anz  im  Sinne  der  aristotelischen  Physis  (s.  Gesch.  d.  Psych.  I,  2, 
S.  137)  bestimmt:  die  Elemente  der  Welt  enthalten  eine  einfache 
und  unkörperliche  „Natur",  die  als  solche  von  der  der  Elemente 
noch  verschieden  ist.  Hn-e  Mitwirkung  bei  der  bewegenden  Kraft 
in  Pflanzen  und  Thieren  bedingt  unter  dem  Hinzutreten  astralischer 
Einflüsse  in  den  organischen  Wesen  die  Beseelung.  Auf  Grund- 
lage dieser  Annahme  findet  dann  auch  die  aristotelische  Lehre, 
dass  der  tiefste  Grund  aller  Bewegung  in  dem  Verlangen  (nach 
(iott  als  dem  Schönsten  und  Besten)  liege,  eine  Ausführung,  die, 
wenn  sie  nicht  ausdrücklich  auf  das  erwähnte  Prinzip  der  Physis 
sich  stützte,    einen   entschieden  pantheistischen   Charakter  heraus- 


9)  Alex.  Hai.  II,  90,  2,  3:  vgl.  Viuc.  Bell.  XXIV,  16.  17. 
'")  Ebd.  2,  4.  5.   Vinc.  19.  22. 
")  Alex.  91,  1,  1.   Viuc.  24. 

13* 


l,c;4  IT.  Siebeck, 

kehren  würde.  Auf  dem  Verlangen  (appetitus),  heisst  es,  beruht 
die  Kraft  (vigor)  der  Bewegung  und  weiterhin  auch  die  des  Lebens. 
Verlangen  ist  in  allen  materialen  Dingen,  nur  verschieden  nach 
Art  und  Grad,  gemäss  der  Verschiedenheit  der  Dinge.  In  den- 
jenigen, welche  mehr  Materie  als  Form  haben,  ist  das  Verlangen 
stumpf  und  gleichsam  schlafend;  im  umgekehrten  Falle  aber  (wie 
bei  dem  Feuer)  heftig  und  lebhaft,  und  aus  diesem  Grunde  in  der 
Seele  besonders  kräftig  und  scharf.  Das  Verlangen  ist  auch  schon 
der  Grund  dafür,  dass  die  Materie  mit  der  Form,  die  Potenz  mit 
dem  Aktus  sich  vereinigt'^).  Bei  einem  kräftigen  und  scliarfen 
Verlangen  in  einem  einfachen  "Wesen  wie  die  Seele  werden  deni- 
gemäss  Potenz  und  -Aktus  immer  zusammengehn,  daher  in  diesem 
Falle  nicht  nur  Substanz,  sondern  lebendige  Substanz  vorliegt. 
Das  Leben  als  aktuelle  Thätigkeit  ist  nun  das  stetig  von  der 
Potenz  zum  Aktus  übergeführte  ^^'irken  der  Seele  selbst  und  da- 
mit zugleich  die  Erfüllung  des  ihr  immanenten  Verlangens,  (hiher 
Leben  für  die  Seele  zugleich  Lust  ist'"*).  j\lit  dieser  Lust  hat  (h'e 
Seele  zugleich  die  Vollkommenheit  ihrer  Thätigkeit;  mit  iler  Ver- 
minderung des  Verlangens  wird  mithin  das  Leben  von  selbst 
schwächer  und  neigt  sich  dem  Ende  zu.  Hätte  chis  A'erlangen  der 
Seele  die  Befriedigung  schon  in  sich  selbst,  so  würde  sie  sich  nie- 
mals mit  dem  Leibe  wesentlich  verbinden.  Diese  Vereinigung  ge- 
schieht aber,  damit  das  Verlangen  sein  Objekt  erreiche  und  hier- 
durch zum  aktuellen  Wirken  komme.  Durcli  das  Verlangen  bewegt 
auch  die  Seele  den  Leib  in  den  verschiedenartigen  Bewegungen, 
um  ihn  und  sich  selbst  zu  vervollkommnen.  Dass  die  Verbindung 
beider  sich  schliesslich  wieder  löst,  liegt  nicht  an  der  Seele,  son- 
dern an  der  eintretenden  Schwäche  des  Körpers.  Der  GratI  der 
Verschmelzung  (colligatio)  von  Seele  und  Leib  ist  übrigens  bei  den 
verschiedenen  Arten  des  Belebten  verschieden.  Das  Lebensprinzip 
(d.  h.  die  Seele)  des  Vegetabilen  und  Sensil)ebi  geht  voll  und  ganz 

'^)  analog  der  aristotclisicheii  Ansicht,  es  sei  iler  Muteric  weseullii'ii,  narii 
Form  zu  streben. 

■3)  Alex.  ;il.  1.  •_>.  -2,  1.  Vinc.  .".1.  3.Sf.  Alex.  "2,  2.  Tino.  30:  ('um  autem 
acdii  siio  conjiingitur  et  suo  liesidcrahili  uuitur  et  in  ejus  uiiione  delectatur, 
|H'rtVctiis  est  et  vifam  operatur.     Tuuc  eiiim  viget  aninia  et  delectatur. 


Zur  Psychologie  der  Scholastik.  185 

in  der  Belebung  des  Körpers  auf,  ohne  für  sich  etwas  zu  sein  oder 
zu  bedeuten.  Bei  den  Vernunftwesen  dagegen  hat  die  Seele  dem 
Körper  gegenüber  ein  Eigenleben  und  ist  daher  (im  Unterschiede 
von  jenem)  vom  Leibe  trennbar,  ohne  dies  einzubüssen  (a.  a.  0.). 
Der  Schüler  Alexanders,  Johann  von  Rochelle  (de  Rupella), 
von  dessen  Werken  uns  nur  einige  Mittheilungen  aus  Handschriften 
und  eine  Anzahl  von  Exzerpten  bei  Viucenz  von  Beauvais  zu 
Gebote  stehen,  hat  sich  neben  Alexander  im  wesentlichen  an 
dieselben  Autoritäten  gehalten,  scheint  aber,  und  vielleicht  in 
noch  weitergreifendem  Anschluss  an  Avicenna,  vorzugsweise  die 
Psychologie  ausgeführt  zu  haben'*).  Sein  Hauptaugenmerk  hat 
i'V,  so  viel  man  hiernach  beurtheilen  kann,  auf  Eintheilungen  ge- 
richtet. Die  Unterschiede  der  Seelenvermögen  sind  nach  seiner 
wie  seines  Lehrers  Ansicht  nicht  lediglich  Modifikationen  der  ein- 
heitlichen Seeleuthätigkeit  durch  Organe  oder  Objekte,  sondern  reale 
Unterschiede  im  Wesen  der  Seele  selbst,  deren  Dasein  durch  Or- 
gane, Objekte  und  Handlungen  nur  kenntlich  wird  ^^).  Die  äussern 
'  Sinne  unterscheiden  sich  nach  Massgabe  dessen,  dass  sie  entweder 
;  wie  Gesicht  und  Gehör,  mehr  im  Dienste  der  Seele,  oder,  wie  die 
drei  andern,  mehr  in  dem  des  Leibes  stehen.  Die  Empfindung 
selbst  geschieht  entweder  aus  der  Entfernung  oder  durch  unmittel- 
bare Berührung  (Vinc.  Bell.  XXV,  20).  Dass  der  Sinn  in  der 
Emplindang  nur  die  Species  (Form)  des  Dinges  und  nicht  dessen 
Substanz  selbst  wahrnehme,  wird  begründet  durch  den  Satz,  dass 
er  im  letzteren  Falle  unfähig  sein  würde,  Entgegengesetztes  (z.  B. 
Schwarz  neben  Weiss)  auf-  d.h.  wahrzunehmen'*^).  Von  den  Ver- 
mögen der  Innern  AVahrnehmung,  für  deren  Stufenleiter  und  Ob- 
jekte hier  Avicenna  massgebend  ist,  gehen  nach  Johannes'  Ansicht 
der  Gemeinsinn  und  die  Imagination  auf  die  formalen  Eigenthüm- 
lichkeiten  des  Empfundenen,  instinktive  Beurtheilung  (aestimatio) 
aber  und  Gedächtniss  auf  die  Qualität  (intentiones)  selbst '').  Ge- 
dächtniss  und  Imagination  sind  lediglich  apprehendirend,  die  übrigen 
ausserdem  zugleich  wirkend  (operautur;  Vinc.  Bell.  ebd.  So).     Die 


'^)  s.  Haureau  II,  1,  195  ff.     Erdmanii,  §  195,  6.     Renan,  Averroes  (Par. 
1852)  S.  -208.  '■■)  Haureau  196.    Vgl.  Alex.  Hai.  65,  2,  3. 

'«)  Haureau  204.  '0  Ebd.  210. 


13ß  H.  Siebeck, 

IMiantasic  tritt  als  apprehcnsivcs  Vermögen  besonders  während  des 
8c-lilafcs  (in  den  Traumbildern)  hervor;  im  Wachen  dagegen  kommt 
ihre  Thätigkcit  vor  den  äussern  Sinneseindrücken  seitens  der  Seele 
nicht  zur  13cachtung'*).  In  dieser  ihrer  „natürlichen"  Thätigkeit 
ist  sie  der  Vernunft  gegenüber  selbständig;  als  inneres  sinnliches 
Erkeuntnissvcrmögcn  dagegen  steht  sie  mit  ihren  Anschauungsin- 
halten unter  deren  Leitung.  Gedächtniss  im  Allgemeinen  haben 
auch  die  Thiere;  willkürliche  Erinnerung  auf  Grund  der  A'ernunft 
(und  zwar  vermittelst  der  Ideenassoziation)  besitzt  nur  der  Mensch. 
Vom  Intellekt  als  dem  Vermögen  der  Vernunfterkenntniss  für  ir- 
dische  Dinge  wird  die  Intelligenz  als  die  Fähigkeit  der  (auf  Er- 
leuchtung beruhenden)  Erkcnntniss  des  Uebersiunlichen  unter- 
schieden (Vinc.  Bell.  XXVII,  14.  29.  41).  Die  intellektuelle  Kraft 
ist  zwar  auch  ihrerseits  nicht  vom  Organismus  unabhängig,  haftet 
aber  nicht  an  einem  bestimmten  Theile  desselben,  sondern  an  dem 
Ganzen  als  solchen  (ebd.  33).  Die  höhere  Funktion  derselben  (die 
Intelligenz)  ist  (nach  Augustin)  als  Abbild  der  Triuität  die  höhere 
Einheit  von  Gedächtniss,  Vernunft  und  Wille.  Ausserdem  besitzt 
die  Vernunft,  sofern  sie  sich  auf  Sinnliches  bezieht,  vier  dienende 
Kräfte:  die  vis  inventiva,  judicativa,  memorativa,  interpretativa, 
die  dann  ihrerseits  weiteren  Untertheiluugen  unterliegen  (ebd.  53). 

Johannes'  Lehre  vom  Begehren  zeigt  die  nachstehende  Einthei- 
lung  (Vinc.  Bell.  XXVII,  62.  64): 

Vires  appctitivae 

Rationales  Irrationales  (nach  Joh.  Dam.) 

luobedientes  Obedieutes 

rationi 


die  verschiedenen  or- 
ganischen Lebenskräfte  befehlend         ausführend 


Concupisc.  Irascib. 


'^)  Ofienit  eniin  semper,  secl  inteuta  ;iiiima  circa  .sensibilia  in  vigilia  non 
attenilit  contiiuiara  opcrationein  fantasiae.     Ebd.  "202. 


Zur  Psychologie  der  Scholastik.  187 

Definition,  Ein-  und  Untertheilung  des  Willens  (Vinc.  Bell.  XXVII, 
S3)  ist  die  des  Damasceners.  Die  bewegende  Kraft  zerfällt  nach 
!  Johannes  in  die  organische  und  die  vernünftige;  jene  wirkt  ent- 
weder im  Allgemeinen  (generaliter)  oder  im  Besondern  (ebd.  76); 
diese  entweder  als  vernünftiger  AVille  oder  als  (indeterminirte) 
Freiheit  (91).  Die  organische  Bewegung  regiert  die  Glieder  vom 
Herzen  aus  vermittelst  der  Athmung  unter  Mitwirkung  von  Wärme 
und  Kälte;  die  von  der  Vernunft  abhängige  bewegt  auf  Grund  der 
Vorstellung  (Apprehension)  (ebd.  XXV,  102). 

Aus  alledem  scheint  hervorzugehn ,  dass  die  Psychologie  des 
Johann  von  Rochelle  trotz  ihrer  geflissentlicheren  Aus-  und  Durch- 
führung im  Wesentlichen  ein  jNIosaik  überlieferter  Ansichten  dar- 
stellte, dass  ihre  Tendenz  besonders  auf  genauere  Katalogisirung 
der  psychischen  Vermögen  hinauskam,  und  dass  ihr  Autor  hinter 
seinem  Lehrer  Alexander  an  Originalität  des  Denkens  erheblich 
zurückstand. 

An  dieser  Stelle  unserer  Berichterstattung  gebührt  nun  auch 
der  Enzyklopädie  des  Vincenz  von  Beauvais  (f  1264)  eine  aus- 
drückliche Erwähnung.  Das  25. — 27.  Buch  derselben  giebt  eine 
Zusammenstellung  der  überlieferten  psychologischen  Lehren  und 
„Thatsachen",  exzerpirt  aus  den  verschiedensten  Quellen,  aber  in 
lesbarer  Weise  auf  einen  Faden  gereiht,  wenn  auch  mit  sehr  un- 
gleicher Berücksichtigung  der  einzelnen  Fragen").  Man  erkennt 
namentlich  auch  bei  ihm,  wie  sehr  Avicenna  daran  gewöhnt  hatte, 
die  Thatsachen  der  sinnlichen  Wahrnehmung,  sowie  diejenigen 
Gebiete  des  organisch -psychischen  Lebens  eingehender  in's  Auge 
zu  fassen,  in  denen  sich  die  physiologischen  Prozesse  mit  den 
seelischen  Vorgängen  am  unmittelbarsten  verschmolzen  zeigen.  So 
handelt  (d.  h.  kompilirt)  Vincenz  sehr  eingehend  über  Schlaf  und 
Traum,  über  Wesen  und  Verhältniss  der  Vis  concupiscibilis  und 
irascibilis  u.  dgl.  Die  Fragen  der  spekulativen  Psychologie,  vom 
Wesen  des  Intellekts,  der  Synteresis  u.  a.  treten  dagegen  bei  ihm 
mehr  in  den  Schatten. 


•3)  üeber  das  ganze  Werk  vgl.  v.  Liliencron,  üeber  den  Inhalt  der  allge- 
meinen Bildung  zur  Zeit  der  Scholastik  (München  1876). 


jgg  H.  Siebeck, 

6. 
Albert  il.  (Ir. 
Diese  l  ngleichmässigkeit  der  Beliandkiug  beseitigt  zu  haben, 
ist  (las  [)sychologische  Verdienst  Albert  des  Gr.  Die  Tendenz, 
das  alte  Material  in  grösstev  Fülle  und  Verständlichkeit  und  in 
möglichst  didaktischer  Anordnung  der  abendländischen  AVeit  zu- 
gänglich zu  machen,  ist  in  seinen  Schriften  mit  grosser  Konsequenz 
und  entschiedenem  Erfolge  zur  Durchführung  gelangt.  Neben 
Aristoteles  herrscht  auch  bei  ihm  vorzugsweise  noch  Aviceuua, 
wenngleich  ihm  auch  Averroes  bereits  genügend  bekannt  ist*"). 
Selbständigkeit  in  der  Darstellung  des  Materiales  besitzt  Albert  im 
Grunde  nicht  im  höheren  Masse  wie  Vincenz;  das  Vorwiegen  je- 
doch des  pädagogischen  Gesichtspunktes  vor  dem  enzyklopädischen 
bringt  es  mit  sich,  dass  er  zu  denjenigen  Punkten,  hinsichtlich 
deren  er  Meinungs- Verschiedenheiten  vorfand,  sich  ein  eigenes  Ur- 
theil  zu  bilden  suchte. 

In  den  Schriften  de  anima,  de  sensu  et  sensibili,  de  memoria 
u.  s.  w.  kommeutirt  Albert  die  aristotelischen  Untersuchungen  in 
der  gegebenen  Reihenfolge,  jedoch  in  der  Weise,  dass  die  aus  der 
Methode  und  den  Resultaten  der  empirischen  Psychologie  seither 
aufgetretenen  Erörterungen  in  der  Form  von  Digressiouen  einge- 
schaltet oder  wenigstens  kritisch  beleuchtet  werden.  Gleich  zu  An- 
fang (d.  an.  I,  1,  1)  wird  der  Psychologie  ausdrücklich  der  Cha- 
rakter einer  scientia  naturalis  zugesprochen,  da  die  Seele  ja  nur 
die  Vollendung  und  Vollkommenheit  des  Menschen  ausmache.  Von 
der  Formwirkung  bei  Naturdingen  wird  jedoch  die  der  Seele  ge- 
nauer unterschieden:  sie  steht  im  Unterschied  von  jener  über  dem 
Körper,  ist  der  obersten  Ursache  unmittelbar  verwandt,  ist  daher 
ein  unkörperlich  Bewegendes  und  wirkt  ihrer  Natur  nach  nicht 
eins  sondern  vieles  (II,  1,  8).  Unter  den  Kräften  der  Seele  wird 
zunächst  die  bei  Aristoteles  in  der  Psychologie  nur  nebenbei  be- 
handelte virtus  generativa  in  breiter  Eintheilung  nach  Faktoren, 
Materien  und  "Wirkungen  dargestellt  (ebd.  2,  7)  und  sodann  (8)  die 
den  drei  Kräften  der  vegetativen  Seele  untergebenen  vier  virtutes 


'.'0' 


•'")  vgl.  Jourdaiu  285.     Ivcuuii,  Averroes  183. 


Zur  Psychologie  der  Scholastik.  189 

materiales  (appetitiva,   attractiva,   digcstiva,   expulsiva)   behandelt. 
Der  Verfasser  bemüht  sich  zu  diesem  Punkte,  die  genannten  Kräfte 
nicht  bloss  aufzuweisen,  sondern  auch  die  organischen  Bedingungen 
zu  zeichnen,   in  deren  Zusammenwirken  jede  derselben  sich   dar- 
stellt.   II,  3,  4  beschreibt  die  vier  Stufen  der  mit  der  Apprehension 
sich  vollziehenden  Abstraktionsthätigkeit:  Wahrnehmung,  Imagina- 
tion, Urtheil  (aestimatio)  und  Erfassen  des  Begriffes.    Es  folgt  (3,  6) 
die  Vertheidigung  der  aristotelisch-scholastischen  Emphndungstheorie 
(Aufnahme  der  Species  intentionalis  in    den  Sinn  und  die  Seele) 
>o\vohl    gegen   die   entgegengesetzte  platonisch- augustinische  (bzw. 
neuplatonische)  Lehre  (vgl.  Gesch.  d.  Psych.  I,  2,  S.  433)  wie  gegen 
die  Ansicht    derjenigen,    welche    auf  die  Vermittelung  durch    ein 
physikalisches  Medium,  wie  das  Licht,  besonderes  Gewicht  legen"). 
Beim    Gemeinsinn    werden    die    Avicenna'schen   Unterscheidungen 
der  imaginatio,  aestimativa  und  phantasia  behandelt^').     II,  4,  12 
bestimmt  das  grundbedingende  Verhältniss  des  Gemeiusinns  zu  den 
iiusseren  Sinnen  -^).    Ueber  die  drei  in  ihm  beschlosseneu  Vermögen 
bringt  die  dritte  Abtheilung  des  Werkes  eingehendere  Bestimmun- 
gen: die  Imagination  behält  von  dem  Inhalte  der  Wahrnehmungen 
besonders  die  Vorstellungen  von  Grössen  und  Gestalten'-'),  vermag 
aber  auch  (bei  Einsiedlern  und  Propheten)  überirdische  Eindrücke 
in  sinnliche  Gebilde  (Zukunfts-Träume  u.  dgl.)    umzusetzen    (III, 
1,  1).    Die  aestimativa  ergänzt  den  Wahrnehmungsinhalt  durch  Er- 
zeugung darauf  bezüglicher  Gefühle  der  Zu-  oder  Abneigung;    sie 
verhält  sich    zur  Lnagination,    wie    der    praktische  Intellekt    zum 

-')  Forma  seusati  per  se  ipsain  generat  se  in  medio  sensus  secimduin  esse 
sensibile.  Es  ist  daher  zwecklos  zu  fragen,  quid  conferat  ei  illud,  sicut  si 
quaeritur  quid  conferat  luci  lucere  secundum  actum.  II,  3,  6.  (ed.  Lugd.  1651). 
Vf.  Haureau  II,  1,  287  f. 

-2)  ebd.  4.  7.  die  phantasia  ist  es,  welclie  die  wahrgenommenen  Formen 
(auch  die  in  der  imaginatio  aufbewahrten)  trennt  und  verbindet,  und  zwar 
sowohl  im  Wachen  wie  im  Schlafe.  Sie  dient  auch  (p.  lUia)  zur  Wieder- 
criimerung  des  Vergessenen,  weil  sie  die  Intentionen  zu  den  Formen  und 
umgekehrt  bewegt;  per  hoc  enim  venitur  in  simile  aliqnid  ejus  (|uod  prius 
scitum  fuit,  und  dadurch  in  oblituin. 

")  Der  sens.  comm.  est  origo  sensuum  propriorum;  diese  sind  von  ihm  be- 
dingt, nicht  umgekehrt,  nee  aliquid  sui  esse  habet  ab  eis  (p.  121a). 

^*)  Daher  (ebd.)  haben  die  bene  imaginantes  Talent  zur  Mathematik. 


J90  ^-  Siebeck, 

spekulativen,  denn  sie  ist  nicht  nur  appreliendirend,  sondern  auch 
bewegend;    sie   bedingt  (auch  bei  Thieren)  das  instinktive  Fliehen 
oder  Ilinstreben  auf  Veranlassung  der  ^Vahrnehmuug,  ist  aber  eben  ^ 
desv.cgcn  nicht  mit  der  schon   zur  Dcnkscele   gehörigen  Meinung 
(opinio)  identisch  (ebd.  2,  p.  123a f.).     Die  Phantasie  (die  Aristo- 
teles noch  nicht  hinlänglich  von  den  beiden  eben  genannten  A^er- 
mögen  unterschieden  hat),    verbindet    und    trennt    die   sinnlichen 
r^ilder  und  bedingt  bei  den  höheren  Thieren '')  die  Auswahl  unter 
den   Dingen   zum  Behuf  des  Gebrauchs.     Sie  ist  innerhalb   dieser  | 
Stufe  des  Seelenlebens  das  Analogon  der  auf  Vernunft  begründeten  i 
electio,  wirkt  aber  selbst  lediglich  ad  instinctum  naturae  und  des- 
halb  in  dem  thierisclien  Schaffen   immer   in  einer  und   derselben  ! 
Weise;   mannigfaltig  erst  beim  Menschen   unter  Leitung  der  Ver- 
nunft.    Dem  Intellekt   ist  sie  oft  hinderlicli,   sofern  sie   die  Seele 
zu  sehr  mit  der  Kombination  sinnlicher  Bilder  in  Anspruch  nimmt 
und  ausserdem  durch  Einmischung  von  Fiktionen  unter  die  Bilder 
des  AVirklichen  ihn    zu  täuschen  vermag   (ebd.  3,   p.  r24a).     Die 
drei  genannten  Vermögen   wirken  alle  auf  Grund  körperlicher  Or- 
gane.   Dass  z.  B.  die  Imagination  die  Lage  zweier  Gegenstände  als 
rechts  und  links  von  einem  dritten  bestimmt,  geschieht  nicht  unter 
Vermittelung  des  Intellekts,  der  ja  nur  die  abstrakten  Begriffe  des 
Rechten  und  Linken  erzeugt,    sondern  muss  darauf  beruhen,   dass 
die  Lage  sich   so   auch    in    dem    entsprechenden  Gehirntheilc    zur 
Darstellung  bringt  (4,  p.  125  b). 

Digressorisch  folgen  weiter  eingehende  Erörterungen  über  die 
^'atur  des  Intellekts.  Die  Probleme,  welche  aus  der  aristotelischen 
Bestimmung  desselben  entspringen,  gipfeln  in  den  drei  Fragen, 
wie  der  intellectus  possibilis  als  unveränderliches  Vermögen  den 
Einwirkungen  von  Seiten  der  aktiven  Vernunft  zugänglich  sein, 
ferner,  wie  angesichts  seiner  überindividuellen  Natur  doch  der  ein- 
zelne Mensch  seine  Vernunft  für  sich  haben  könne,  und  wie  er 
endlich,  wenn  er  „der  Möglichkeit  nach  alles"  (Arist.  d.  an.  III,  8) 
ist,  von  der  ersten  ^Materie  zu  unterscheiden  sei  (III,  2,  3).    Unter 

'■)  (|.  h.  bei  denen,  welche  ein  mehr  entwickeltes  Gehirn  haben  un«!  in 
diesem  ein  feineres  Pneuma  besitzen  (ebd.). 


Zur  Psychologie  der  Scholastik.  191 

^len  psychulogischen  Problemen  in  Betreff  der  Bewegung  erscheint 
IV,  9)  die  Frage,  ob  bei  den  nur  mit  dem  Tastsinn  versehenen 
rhieren  als  bewegendes  Prinzip  (und  als  Ersatz  der  Vernunft) 
ebenfalls  wie  bei  den  höher  organisirten  die  Phantasie  zu  gelten 
habe.  Ans  den  l)ei  ihnen  hervortretenden  Kontraktionen  und  Aus- 
dehnungen sei  zu  schliessen,  dass  sie  gleichfalls  Gefühle  der  liUst 
und  Unlust,  sowie  Verlangen  besitzen.  Sie  haben  indess  nur  eine 
„uudeterminirte"  Phantasie  (179a),  d.  h.  ohne  Bewusstsein  eines 
bestimmten  von  andern  unterschiedenen  Verlangens  und  ohne  Vor- 
stellung eines  Ortes  und  Richtpunktes,  und  dem  entsprechend  nur 
ine  unbestimmte  und  ohne  Unterscheidung  vor  sich  gehende  Be- 
wesuns.  Einzelsinne,  Gemeinsinn  nnd  Phantasie  sind  bei  ihnen 
noch  nicht  differenzirt,  was  sich  schon  aus  dem  Mangel  eines  aus- 
gebildeten Kopfes  und  Gehirnes  ergiebt,  deren  Fehlen  die  ge- 
trennte Lokalisation  dieser  Vermögen  unmöglich  macht  (180a). 

IV,  10  behandelt    die  Synteresis    und    das  Gewissen-').     Die 
Freiheit  des  Willens  begründet  Albert  (181b)  mit  einer  zur  Zeit 


2«)  Jene  enthält  die  als  habitus  angeboruen  und  , gleichsam"  unfehlbaren 
obersten  Prinzipien  für  das  Handeln  (habitus  operabilium  universales  quae 
sunt  quasi  ipsa  principia  moruin,  circa  quae  quasi  nunquam  incidit  error  et 
quae  sunt  quasi  regentia  prima  in  moribus,  p.  181  a).  Das  Gewissen  ist  die 
Anwendung  derselben  auf  besondre  Umstände  vermittelst  der  ratio  und  kann 
auf  Grund  dessen  auch  irren.  — 

In  Sachen  der  Schreibung  Synteresis  sei  eine  gelegentliche  Bemerkung 
gestattet.  Ich  halte  auvTTjprjai?  für  die  richtige  und  ursprüngliche  Form  und 
vermag  weder  mit  Nitsch  (Jahrb.  f.  prot.  Theol.  V,  492)  cjveßrjCJi;  noch  mit 
Rabiis  (im  vorigen  Hefte  des  Archivs)  auvaipeat?,  noch  mit  Th.  Ziegler  (Gesch. 
d.  christl.  Ethik  312)  Tov9dp'jat;  dafür  anzuerkennen.  Die  letztere  dürfte  noch 
für  die  bestbegründete  gelten,  da  in  der  That  als  Funktion  der  S.  überall  in 
der  Scholastik  das  remurmurare  (=  Tov&op'Zs'-v)  contra  peccatum  angegeben 
wird.  Ebenso  durchgehend,  (wenngleich  gerade  bei  Thomas  und  Duns  weniger 
hervorstechend),  ist  aber  daneben  die  Bestimmung  der  S.  als  lumeu  und  ganz 
besonders  als  scintilla  (conscientiae)  im  Sinne  eines  Restes  von  dem  ur- 
sprünglichen moralischen  Lichte,  welcher  dem  Menschen  nach  dem  Sünden- 
falle noch  erhalten  ist,  wie  dies  schon  deutlich  in  der  grundlegenden  Stelle 
bei  Hieron.  ad.  Ezech.  I,  6.  7  hervortritt.  Die  S.  ist  das  was  von  dem  ur- 
sprünglichen Lichte  noch  (als  Funke)  konservirt  geblieben  ist.  Mit  dieser  Be- 
deutung deckt  sich  der  Ausdruck,  denn  das  in  der  Patristik  auch  sonst  vor- 
kommende a'jvTTQpTjats  bedeutet  conservatio.  Die  Scholastik  hat  sie  bereits  aus 
der  Patristik   überkommen  (vgl.  Jahnel,  Theol.  Quartalschr.  52,  240 f.)  und  uu 


192  ^^-  Siebeck, 

des  Thomas  fast  schon  über  Thomas  hinausgclienden  Betonung 
seiner  Selbständigkeit  gegenüber  dem  Intellekt").  Der  Unterschied 
zwischen  der  Concupiscibilis  und  Irascibilis  wird  (182  b)  auf  Pluto's 
Unterscheidung  von  eti'.OujxtjTi/.ov  und  i}'jij.6;  zurückgeführt.  Bei  den 
^Menschen  sind  sie  rationale,  bei  den  Thieren  Naturtriebe.  Sie  be- 
ruhen auf  körperlichen  Passionen,  sind  aber  der  Leitung  der  Ver- 
nunft zugänglich. 

Die  letzte  Digression  endlich  (III,  5,  4)  zeigt,  wie  die  strengere 
Rücksichtnahme  auf  den  empirischen  Thatbestand  auch  Albert,  der 
im  Grunde  nur  der  Interpret  des  Aristoteles  sein  will,  in  einem 
prinzipiellen  Punkte  über  den  Standpunkt  des  Meisters  hinausführt. 
Gegenüber  der  Ansidit,  dass  die  drei  aristotelischen  Seelentheile 
nicht  eine  Substanz  ausmachen  könnten,  weil  die  unvergängliche 
und  „trennbare"  Denkseele  den  beiden  andern  nicht  wesensgleich 
sei,  zeichnet  er  den  genetischen  Stufengang  von  unten  nach  oben, 
in  welchem  die  untere  Kraft  immer  von  der  oberen  vorausgesetzt 
und  mit  aufgenommen  wird,  und  entscheidet  auf  Grund  dessen  das 
Problem  dahin,  dass  in  Beziehung  auf  Unvergänglichkeit  und  Trenn- 
barkeit vom  Körper  zwischen  den  Seelentheilen  kein  Unterschied 
bestehe.  Denn  dass  zwei  derselben  ihre  Funktionen  immer  nur 
unter  Vermittelung  körperlicher  Organe  vollziehen,  sei  zwar  ein 
thatsächlicher  (accidenteller),  aber  kein  wesentlicher  Unterschied  "). 


ihr  in  erster  Linie  festgehulteu  trotz  des  Uinstaudes,  dass  ihr,  wie  die  Schreib- 
art sinderesis  zeigt,  der  etymologische  Zusammenhang  zwischen  Begriir  und 
Ausdruck  verloren  gegangen  war.  Vgl.  u.  a.  Alex.  Hai.  Summ.  univ.  Ih.  (od.  1489) 
11,76,  1.  Alb.  M.  Summa  de  creat.  (ed.  Lugd.  1651)  II,  69;  a\is  der  jüngeren 
Scholastik  u.  a.  Petr.  Aureol.,  In  libr.  sent.  (ed.  Rom.  1596)  II,  39,  2  p.  ölÜiiB. 
Gabr.  Biel,  CoUcctor.  11,39,  1  F.  Auch  Meister  Eckarts  „Fünklein''  zeigt  noch 
deiillich  den  Ursprung  aus  der  S.  (Vgl.  hasson  S.  105.)  Ein  dunkler  Punkt 
bleibt  freilich  in  der  Sache,  so  lange  wir  nicht  im  Stande  sind,  innerhalb  der 
Patrist ik  selbst  den  dargelegten  Gedanken/.usammenhang  in  dem  Prozesse 
seiner  Entstellung  zu  beobachten.  Aus  llieronymus  sieht  man  nur  so  viel, 
dass  er  sich  zu  seiner  Zeit  schon  vollzog  oder  vollzogen  hatte. 

-')  Der  Wille  ist  quasi  facultas  omnium  aliarum  (facultatum),  qnoniam  non 
rngifamus  nisi  quando  volumus  et  hoc  modo  quasi  motor  est  aliarum  virium 
ad  actum  (I82a). 

■^  188b:  die  Seele  hat  auch  nach  dem  Tode  alle  drei  Kräfte.  Licet  non 
utatur  eis,  tarnen  non  sunt  otiosae,  quoniam  usus  impedilur  per  aceidens. 


XIV. 

Antike  und  mittelalterliclie  Vorläufer  des 

Occasionalisimis. 

Voia 
lilldwig   Stein    in    Züridi. 

Einleitung. 

Einzelne  tiefgreifende  Grundprobleme  der  Philosophie  sind  fast 
so  alt  wie  diese  selbst  und  dabei  doch  so  jugendstark,  als  wären 
sie  erst  soeben  aus  dem  gährenden  Gewühl  der  frischlebigen  Gegen- 
wart emporgetaucht.  Es  hat  fast  den  Anschein,  als  ob  das  eherne 
Gesetz  vom  Kampf  um's  Dasein  auch  auf  geistigem  Gebiete  seine 
unentrinnbare  Anwendung  fände.  Denn  auch  auf  dem  Tummel- 
platz der  Geistesgeschichte  kann  man  ein  verzweifeltes  Ringen  ein- 
ander widerstrebender  Ideen  beobachten,  bis  es  der  einen  ver- 
mittelst eines  spezifischen  Uebergewichts  gelingt,  einen  entschei- 
denden Sieg  über  die  andere  davonzutragen.  Und  die  Philosophie- 
geschichte ist  im  letzten  Grunde  nur  die  Geschichte  der  einander 
durchkreuzenden,  bekämpfenden  und  endlich  überwindenden  Ideen. 

Es  ist  vielleicht  um  so  eher  gestattet,  eine  Analogie  zwischen 
dem  Verlauf  der  geistigen  Prozesse  und  dem  der  organischen  Natur 
überhaupt  zu  ziehen,  als  ja  die  psychischen  Producte  im  ^Vesont- 
lichen  doch  nur  ein  Theil  der  in  der  Gesammtheit  der  organischen 
Natur  wirksamen  Kräfte  sind.  Es  ist  darum  nur  schwer  abzu- 
sehen, warum  die  geistigen  Functionen  nach  anderen  Grundgesetzen 
verlaufen  sollten,  als  die  physischen.  Wie  in  der  organischen 
Natur  nach  der  Formulirung,  die  Herbert  Spencer  dem  tragenden 
Gedanken   Darwin's  gegeben  liat,  nur  das  Passende  sicli   im  Kanii»f 


]94  Ludwig  Stein, 

um".s  Dasein  erliält.  so  dürften  denn  auch  —  mutatis  inutandis  — 
unter  den  philosophischen  Problemen,  die  doch  je  eine  ganze 
CJattung  von  Begriffen  darstellen,  nur  die  passenden  und  lebens- 
fähigen sich  im  Laufe  der  Jahrtausende  erhalten,  während  die  minder- 
■\verthigen  im  Kampfe  erliegen,  unaufhörlich  tauchen  immer  wieder 
neue  Probleme  auf;  aber  nur  wenige  erweisen  sich  von  wider- 
standsfähiger Dauer.  Zwar  verstehen  es  die  stets  neu  emporstre- 
benden Modeprobleme  für  eine  Weile  zu  fesseln  und  namentlich 
weitere  Kreise  zu  blenden;  aber  sie  bleiben  doch  nur  philosophische 
Eintagsfliegen,  jenen  Leuchtkäferchen  vergleichbar,  die  sehr  kurz- 
lebig sind  und  zumeist  nur  im  nächtlichen  Dunkel  umherschwärmen, 
weil  ihr  schimmernder  Glanz  vor  dem  hellen  Sonnenstrahl  ver- 
bleicht. Diese  ephemeren  Probleme  versinken  ebenso  urplötzlich, 
wie  sie  unvermittelt  emporgetaucht  sind,  und  die  Wahlstatt  der 
Philosophiegeschichte  ist  übersät  von  solchen  Gedankenleichen. 

J)aneben  gibt  es  aber  einige  wenige  Grundprobleme,  die 
bereits  iii  der  antiken  Philosophie  in  vollster  Schärfe  hervorgetreten 
sind  und  seither  ihre  Lebenskraft  nicht  bloss  nicht  eingebüsst,  son- 
dern immer  mehr  gesteigert  haben.  In  vorderster  Reihe  jener 
ewigwährenden  Grundprobleme  nun  steht  der  Determinismus.  Neben 
der  Frage  nach  der  Substanz  —  heisse  diese  nun  h  xal  irav,  Atom 
oder  Monade  —  nimmt  das  Problem  des  Determinismus  und  der 
diirch  diesen  bedingte  Correlatbegrifl'  der  Wahlfreihcit  vielleicht 
die  erste  Stelle  ein.  Nur  muss  man  sich  durch  die  verschieden- 
gearteten  Vermummungen  und  Verschanzangen,  unter  denen  diese 
I^robleme  im  Laufe  der  Jahrhunderte  erscheinen,  nicht  täuschen 
lassen.  Der  Determinismus  zeigt  sich  in  der  Geistesgeschichte 
zuweilen  bis  zur  L^nkenntlichkeit  verpuppt:  Theodicee,  (zva-f/r^, 
Fatum,  Erbsünde,  Gnadenwahl,  Vorsehung,  Allwissenheit,  Prä- 
destination, slderische  Constellation,  Kismet  u.  v.  A.  sind  nur  mehr 
oder  weniger  unbeholfene,  stammelnde  Laute  für  einen  und  den- 
selben Begriff  des  Determinismus.  Alle  diese  sinnfälligeren  Be- 
nennungen für  den  einen  abstracten  Begrilf  der  inneren  Nothwen- 
digkeit  alles  Geschehens  sind  eben  nur  aus  dem  gleichen  anthro- 
pomorphisipenden  Bedürfniss  entsprungen,  aus  welchem  die  Reli- 
gionsstifter den  abgezogenen  Gottesgedanken  durch  Vermenschlichung 


Antike  und  mittelalterliche  Vorlünfer  des  Oceasionalisinus.  195 

vcranschauliclit  und  der  Perzeptionskraft  der  Menge  angeschmiegt 
luiben.  So  wird  denn  der  weitausblickende  Philosopbiehistoriker 
beispielsweise  in  dem  bis  zum  Ueberdruss  vielverhandelten  scholasti- 
schen Problem  der  Gnadenwahl  und  Erbsünde  etwas  mehr  sehen, 
als  dürres,  unfruchtbares  Schulgezänk;  er  wird  vielmehr  selbst  in 
.lieser  kirchlich-dogmatischen  Einkleidung  den  philosophischen  Na- 
turlaut, wie  er  verzweifelt  nach  einer  Erlösung  aus  dem  marter- 
vollen Dilemma:  Determination  oder  Willensfreiheit  ringt,  trotz 
lies  betäubenden  dogmatischen  Stimmgewirrs  feinfühlig  heraushören. 
Unter  diesem  höheren  Gesichtswinkel  gesehen  hat  in  der  Geistes- 
^cschichte  der  philosophische  'Widerstreit  zwischen  menschlicher  Frei- 
lieit  und  natürlicher  oder  göttlicher  Nothwendigkeit  seit  zwei  Jahr- 
tausenden niemals  geruht.  Selbst  während  der  starren  Geistes- 
stockungen in  der  patristischeu  und  scholastischen  Periode  bewahrte 
dieses  Problem  seine  zähe,  ungebrochene  Widerstandskraft.  War  es 
auch  vom  Schauplatze  der  Philosophie  verschwunden,  so  erschien  es 
»loch  immer  wieder  in  kirchlichem  Gewände.  Es  wurde  ein  Haupt- 
problem der  Religionsphilosophie,  der  christlichen  nicht  weniger, 
als  der  jüdischen  und  niuhammedanischen.  In  der  neueren 
Philosophie  wurde  dieses  immer  noch  unbeantwortete  Grundproblem 
aus  seiner  scholastischen  Formulirung  herausgeschält  und  wieder 
in  den  ihm  einzig  gebührenden  Mutterboden  der  reinen  Philo- 
Sophie  zurückverpflanzt.  Heute  lautet  die  Formel  nicht  mehr:  wie 
verträgt  sich  die  göttliche  Vorsehung  mit  der  menschlichen  Willens- 
freiheit? Aber  mit  nicht  geringerer  Dringlichkeit  und  Unabweis- 
lichkeit  tritt  heute  an  uns  die  ethische  Grundfrage  heran:  wie  ist 
mit  der  jetzt  fast  allgemein  zugestandenen  physischen  Nothwendig- 
keit die  sittliche  Zurechnungsfähigkeit  und  Verantwortlichkeit  ver- 
einbar? Und  je  mehr  das  Prinzip  der  Vererbung  gewisser  Laster 
durch  die  neuere  Wissenschaft,  namentlich  durch  Statistiker,  Phy- 
siologen und  Strafrechtslehrer  zum  Gesetz  erhoben  zu  werden 
droht,  desto  schärfer  spitzt  sich  gerade  heute  die  Frage  zu:  steht 
der  Mensch  unter  dem  unausweichlichen  Bann  seiner  Verhältnisse, 
sei  es  seiner  anererbten  Laster,  sei  es  seiner  sozialen  Umgebung; 
wie  kann  man  ihn  für  seine  unfreiwilligen  Vergehungen  zur  Ver- 
antwortung   ziehen?      Ja,     wie    ist    bei    stillschweigend    vorausge- 


196  T-ndwig  Stein, 

setztem  Willensdeterminismiis  eine  Ethik  überhaupt  möglicli?  Das 
ist  die  Grundfrage,  die  auch  die  neueren  Ethiker:  Spencer,  Leslie 
Stephen,  Sidgwick,  Gould  Scliurman ,  Steinthal,  AVundt,  Sigvvart, 
Höftding  und  Paulsen  leibhaft  beschäftigt. 

i\Ian  sielit  also,  dass  dieses  uralte  Problem  seit  zwei  Jahrtau- 
senden von  seiner  Actualität  nichts  eingebüsst.  Ja  eher  noch  in 
iiingster  Zeit  sich  bedenklich  verschärft  hat.  Ein  solches  Problem 
aber,  das  den  heftigsten  Anstürmen  der  sonst  Alles  zersetzenden 
Zeit  unbeugsam  Trotz  geboten  hat,  das  in  (Um-  Fluclit  der  Jahr- 
hunderte immer  wieder  aufs  Neue  auftaucht,  wenn  freilich  ;uuli 
in  vielfach  verkappter  und  entstellter  Form,  das  verdient  denn 
doch  wol  ein  Grundproblom  der  Philosophie  genannt  zu  werden. 

Die  versuchten  Lösungen  solcher  Grundprobleme  sind  nun 
immer  interessant,  auch  wenn  sie  auf  greifbaren  Irrungen  beruhen; 
sie  sind  ein  erfreuliches  Zeichen  dafür,  dass  menschlicher  Fiirwitz 
niemals  zuriickgeschreckt  ist,  sondern  sich  stets  selbst  an  unergründ- 
lich scheinende  Fragen  herangewagt  hat.  Doppelt  interessant  werden 
diese  Lösungen,  wenn  es  sich  einmal  zeigt,  dass  Denker  verschie- 
dener Nationen  und  Zeiten  völlig  unabhängig  von  einander  auf  die 
gleichen,  noch  dazu  höchst  verwickelten  Lösungsversuche  verfallen 
sind.  Es  ist  dies  dann  ein  lautredendes  Zeugniss  für  die  über  Zeit 
und  Kiium  erhabene  Homogeneität  des  menschlichen  Geistes,  der 
in  verschiedenen  Zonen  und  unter  durchaus  anderartigen  Kultur- 
voraussetzungen nicht  blos  die  gleichen  Fragen  ersinnt,  sondern  auch 
die  gleichen,  zuweilen  höchst  komplizirten  Antworten  aufspürt. 
Freilich  ist  es  bei  den  zuweilen  undurchsichtigen  Kulturzusammen- 
hängen mimentlieh  tios  früheren  Mittelalters  ungemein  schwierig 
festzustellen,  inwieweit  beispielsweise  der  eine  arabische  J)enker 
vun  irgend  einem  antiken  beeinllusst  ist.  Allein  je  mehr  die  ge- 
naue Ausmittlungder  philosophischen  Zusammenhänge  hier  erschwert 
ist,  desto  erfreulicher  ist  es,  wenn  es  an  einem  entscheidenden, 
eklatanten  Beispiel  aufzuzeigen  gelingt,  dass  wirklich  solche  gleich- 
artige ]jösungen  in  einem  Falle  konstatirt  werden  können,  wo  ue- 
genseitige  Beeinflussungen  zum  Theil  höchst  unwahrscheinlich,  zum 
anderen  Theile  al)er  geradezu  ausgeschlossen  sind. 

Ein  solch  augenfälliges  Beispiel  gleichgearteter  Lösungsversuche 


Antike  und  mittelalterliche  Vorläufer  des  Occasionalismus.  "197 

7,u  verschiedenen  Zeiten  und  unter  völlio;  anderss;estal toten  Kultur- 
regionen  bietet  uns  nun  der  Lösungsversuch  zwischen  Determinis- 
mus und  Freiheit  dar,  der  gemeiniglich  als  der  occasionalistische 
bekannt  ist.  Die  Versöhnung  zwischen  Nothwendigkeit  und  Frei- 
heit wird  hier  bekanntlich  darin  gefunden,  dass  der  Mensch  aller- 
dings durch  die  von  Gott  in  ihm  vollzogenen  Handlungen  ge- 
zwungen erscheint,  dass  er  jedoch  andererseits  insofern  eine  gewisse 
Selbständigkeit  und  somit  Verantwortlichkeit  besitzt,  als  er  seineu 
vermitttelst  göttlicher  Assistenz  vollzogenen  Handlungen  seine 
freudige  Zustimmung  ertheilen,  aber  auch  versagen  kann. 
Damit  wäre  dann  ein  allerdings  äusserst  dürftiger  Spielraum  für 
die  Ethik  geschaffen:  das  Mass  der  sittlichen  Verantwortlichkeit 
würde  sich  sonach  nach  dem  Grade  des  guten  oder  bösen  Affects 
richten,  von  welchem  die  jeweilige  Handlung  begleitet  war. 

So  sonderbar  dieser  Ausweg  aus  dem  schwierigen  Dilemma  unser 
modernes  Bewusstsein  auch  anmutheu  mag,  so  ist  er  doch  nicht  gar 
so  widersinnig,  wie  er  auf  den  ersten  Anblick  erscheint.  Mau 
bedenke  doch,  dass  unsere  heutige  Rechtsprechung  diesem  occa- 
sionalistischen  Gedanken  gewisse  Concessionen  macht;  denn  Dolus 
und  Affect  spielen  bei  der  Strafabmessung  bekanntlich  keine 
geringe  Rolle.  Wir  werden  offenbar  denjenigen,  der  aus  politi- 
schem, religiösem,  sozialem  oder  wie  auch  geartetem  Fanatis- 
mus einen  Mord  begeht  ganz  anders  und  viel  milder  beurtheilen, 
als  einen  gemeinen  Raubmörder,  der  mit  cynischer  Schadenfreude 
und  kannibalischer  Mordlust  sein  Opfer  zerstückelt.  Die  That  ist 
die  gleiche;  und  doch  welch  himmelweiter  Abstand  in  unserem 
sittlichen  Werthurtheil!  Wenn  auch  der  Mord  aus  Fanatismus 
schwer  geahndet  wird ,  fällt  doch  das  sittliche  Werthurtheil  ganz 
anders  aus  über  einen  geraeinen  Mörder,  als  über  einen  solchen 
aus  fanatischer  Ueberzeugung.  Und  worauf  stützt  sich  die  toto 
coelo  verschiedene  sittliche  Beurtheilung  der  gleichen  Handlung? 
Ooch  wol  nur  darauf,  dass  wir  den  ersteren  verabscheuen,  weil 
er  seine  blutige  That  mit  diabolischem  Behagen  vollführte,  wäh- 
rend wir  den  letzteren  tief  bemitleiden,  dass  er  unter  dem 
lürchterlichen,  aber  unentrinnbaren  Banne  seines  Fanatismus  stand. 
Also  kommt  auch  bei  unserem  sittlichen  ^^'erthu^theil  der  Affect, 

Ariliiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     11.  A4 


19,'^  Ludwig  Stein, 

von  wclcliom  eine  llaiKlluiiü:  begleitet  ist.  sranz  beträchtlich  in  An- 
schlag!  Nun,  etwas  Anderes  wollten  auch  die  Occasionalisten  und 
alle  Philosophen  vor  ihnen  niclit.  die  den  ^Verthmesser  der  sitt- 
lichen Zureclmungsfähigkeit  in  den  AlTect  verlegten,  der  bei 
der  Handlung  als  iinerlässliche  Regleiterscheinung  auftritt.  Eine 
andere  Frage  ist  es  freilich,  ob  mau  auf  eine  so  haardünne  Vor- 
ausset/Aing  die  ganze  Ethik  aufhauen  kann. 

Dieser  Gedanke  nun,  an  die  Stelle  der  bedingungslosen  ^Vahl- 
IVeiheit  den  Afl'ect  zu  setzen  und  aus  demselben  die  moralisciie 
Verantwortlichkeit  abzuleiten,  galt  bisher  allgemein  als  Specificuni 
(k^s  Occasionalismus.  Folgende  Auseinandersetzungen  werden  nun 
den  Beweis  für  eine  bereits  früher  von  mir  aufgestellte  Behauptung 
zu  erbringen  suchen  '),  dass  nämlich  der  gleiche  Gedanke  uns  schon 
in  der  antiken  Philosophie  bei  den  Stoikern,  in  der  scholasti- 
schen einmal  bei  der  arabischen  Philosophenschule  der  Ascharija, 
andermal  beim  christlichen  Mystiker  Richard  von  St.  Victor 
mit  einer  so  unverkennbaren  Deutliclikeit  entgegentritt,  dass  ilmen 
selbst  der  Ausdruck  gemeinsam  ist,  ohne  dass  doch  ein  hisimi- 
sches  Abhängigkeitsverhältniss  angenommen  werden  müsste. 

Da  jedoch  der  historische  Hintergrund  und  die  philosophischen 
Leitmotive  der  vier  genannten  Schulen  ganz  wesentlich  auseinan- 
dei'gehen,  so  empfiehlt  es  sich,  jede  dieser  Gruppen  auf  dieses  Problem 
Inn  zu  prüfen  und  sie  in  chronologischer  Keihenfolge  gesondeit  vor- 
zuführen, um  sodann  das  Endergebniss  in  ein  Schlusswort  zu- 
sammenzufassen. 

Kap.  I. 
Die  Stoiker.  , 

In   voller  systematischer  Geschlossenheit  tritt   uns   der  Deter-  ' 
miiusmus  zum   ersten  i\rale  in   der  Stoa  entgegen.     Unklare  fata- 
listische Vorstellungen  freilich  waren  dem  griechischen  Volksglauben  < 
niclit   weniger   beigemischt,  als  den   meisten  alten  Kulten,  zumal 
das  oß"enl)are  Unterworfensein   des   Menschen  unter  aussergewöhu- 


')  Vgl.  m.  Abhandl.  „Zur  Genesis  des  Occasionalismus",  im  Archiv, 
Band  i,  lieft.  1,  S.  61,  sowie  m.  Erkeuntnissflieorie  der  Stoa  (zweiter  Hand 
der   Psy.Iiolugie)  S.  lf)l.   Note   .",83  ff. 


Antike  inul   mittelalterliche  Vorläufer  des  Occasionalismus.  199 

}  liehe  Naturereiguisse  ihm  von  jeher  den  Gedanken  an  unausweich- 
liche Schicksalsfügungen  nahelegen  musste ').  Auch  hei  den  älteren 
griechischen  Dichtern,  vielleicht  schon  bei  Homer ^),  jedenfalls  aber 

i  l)ci  einem  Ilesiod  und  Pindar,  einem  Aeschylus,  Sophocles  und 
Euripides  spielt  die  Tu/r,  keine  geringe  Rolle.  Die  griechischen 
Philosophen  des  5.  Jahrhunderts  passen  sich,  soweit  der  winzige 
Bruchtheil  ihrer  auf  uns  gekommenen  Fragmente  überhaupt  ein 
Urtlicil  über  ihre  Stellung  zum  Determinismus  gestattet,  fast  durch- 
weg dem  herrschenden  Volksglauben  an,  ohne  die  philosophische 
Seite  der  Tu/vj  schärfer  hervorzukehren.  Nur  Heraklit  hat  mit 
dorn  ihn  auszeichnenden  genialen  Tiefblick  die  philosophische  Trag- 
weite des  Determinismus  ahnungsvoll  angedeutet^).  Dass  aber  auch 
ihm  der  tiefgehende  Widerspruch  zwischen  Determinismus  und 
AVilleusfreiheit  noch  entgangen  ist,  darf  uns  um  so  weniger  Wunder 
nehmen,  als  selbst  Philosophen  vom  Range  eines  Sokrates,  Plato 
und  Aristoteles  an  diesem  Prol)lem  ahnungslos  vorbeigegangen  sind. 
Bei  Sokrates  wog  eben  das  religiös-sittliche  Interesse  zuweilen  so 
entschieden  vor,  dass  darunter  die  rein  philosophische  Seite  der  be- 
handelten Probleme  leiden  musste.  Wenn  er  sich  beispielsweise 
zum  Erweise  für  die  Gültigkeit  des  Yorsehungsglaubens  auf  die 
Aussprüche  der  Orakel  berief),  die  ohne  Vorsehung  unmöglich 
wären,  so  beweist  das  hinlänglich,  dass  ihm  weder  das  philoso- 
phische Problem  des  Determinismus,  noch  der  Widerstreit  zwischen 
menschlicher  Freiheit    und  natürlicher  Nothwendigkeit   zu   klarem 


■)  Vgl.  darüber  Trendeinburg,  Notwendigkeit  und  Freiheit  in  der  grie- 
iliischen  Philosophie,  in:  liistorische  Beitrüge,  II,   115  ff. 

")  Treudelnl)urg  a.  a.  0.  S.  126  If. 

■')  Heraklit  zum  bewussten,  energischen  Verkünder  des  Determinismus 
zu  stempeln  sind  wir  nicht  berechtigt,  da  ein  unmittelbar  auf  ihn  selbst 
/.urückzufiihrendes  Fragment  über  diese  Frage  nicht  vorliegt.  Die  diesbezüg- 
üclien  Aeusserungen  bei  Plutarch ,  Stobaeus,  Theodoret  und  Simplicius,  auf 
'lie  Zeller,  I  4,  GOß-*  hinweist,  tragen  eben  in  den  Terminis  wie  in  ihrem  Ge- 
dankengepräge eine  so  unverkennbar  stoische  Färbung,  dass  der  heraklitische 
Kern  kaum  mit  Sicherheit  aus  der  stoischen  Hülse  herausgeschält  werden  kann. 
Sicher  ist  jedoch,  dass  er  die  Eiaaptjivr,  zum  eisten  Mal  zur  philosophischen 
l'ii'triu  erhoben  hat. 

■')  Vgl.  z.  B.  Xenoph.  Mem.  IV,  'd,  12:  ocjtoü;  i,ii.iy  a'jvEpystv,  Stä  [Aav-txrj;  toi? 
Tuvildvouivoic  cppc«Cov:c(;  Ta  ä;:oßT|aoij.£vc(    /at    oiocia/.ovTa;,    7,   av  ä'pijza  ytyvoivTo; 

14* 


200  Ludwig  Stein, 

Bewusstsein  gekommen  wnr.  Im  Uebrigen  ist  aucli  Plato  kaum 
von  dem  Vorwurf  freizusprechen,  dass  er  die  irpovoia  ganz  unver- 
mittelt neben  der  Wahll'reiheit  bestehen  liess''),  ohne  auch  nur 
durcli  ein  AVort  anzudeuten,  dass  zwischen  beiden  Begriffen  ein 
nur  schwer  auszugleichender  Gegensatz  besteht. 

Entbehrte  die  Willenstlieorie  Plato's  noch  einer  breiteren  phi- 
losophischen Unterlage,  so  ergänzte  Aristoteles  allerdings  jene  ' 
augenfälligen  Lücken,  die  sein  Meister  offen  gelassen  hatte,  mit 
dem  ihm  eigenen  Geschick.  Zweifelsohne  hat  Aristoteles  die  Willens- 
freiheit zuerst  als  philosophisches  Problem  voll  erkannt  und  sie 
einerseits  aus  dem  etwas  niedrigen  Niveau  des  landläufigen  Gemein- 
begriffs, andererseits  aus  der  übersinnlichen  AVeit  der  intelligiblen 
Freiheit,  wie  sie  bei  Plato  vielfach  erscheint'),  hinausgerückt  in 
die  Sphäre  kühlen  und  nüchternen  metaphysischen  Denkens.  Auch 
konnte  er  für  die  positive  Begründung  der  Willensfreiheit  um  so  riick- 
haltsloser  eintreten,  als  er  an  eine  Rücksichtnahme  auf  die  noch  von 
Plato  so  scharf  betonte  -povoia  nicht  gebunden  war.  Allerdings 
erwähnt  er  wol  beiläufig  den  vulgären  Vorsehungsglauben  ^),  aber 
die  vorsichtig    einschränkende    hypothetische  Form,    in   welche  er 


*"')  Es  hat  freilich  nicht  an  Versuchen  gefehlt,  Plato  zum  einseitigen  De- 
terministen zu  stempeln  und  diejenigen  Stellen,  an  denen  er  sich  für  die 
Willensfreiheit  erklärt,  durch  geschraubte  Interpretationen  hijtwegzukliigeln. 
Aber  selbst  der  glänzenden  Dialectik  eines  Martin,  Steger,  Wildauer  und  Teich- 
miiller  wird  es  niemals  gelingen,  ein  so  rückhaltsloses  Eintreten  fiir  die  Wahl- 
freiheit, wie  CS  in  der  Rep.  X,  G17E,  G19B  hervortritt,  künstlich  hinwegzuinter- 
pretircn.  Dass  daneben  der  Timacus  in  seiner  durchweg  teleologischen  Natnr- 
aull'assung  eine  starke  Hinneigung  zum  Determinismus  verräth,  bleibt  freilicii 
ein  ungelöster  Widerspruch.  Vgl.  übrigens,  was  Zeller  neuerdings  II\  8.'34' 
bemerkt  und  Wildauer,  Platon's  Lehre  vom  Willen,  S.  iMOf. 

')  Vgl.  Trendeluburg  a.  a.  0.  S.  149,  157,  185. 

*)  Eth.  Nie.  X,  9,  1179,  a,  2'2:  zi  yiip  xi;  iTrifAEXtict  tiöv  dv!)p(U7Tivcov  ünö  Ö£(üv 
yivetat,  tiiazep  ooxel.  Hier  könnte  noch  angefügt  werden  Magna  Moral.  II,  8, 
1207,  a,  15:  a/Xä  [j.rjv  oüo'  rj  ^ztpiXsia  v.al  ^;  £'jvoio(  /^  Tiapä  toü  Deoü  od?£iEv 
5v  Elvat  tlt-'r/ioL.  Schon  in  meiner  Schrift:  Die  Willensfreiheit  und  ihr  Ver- 
hültniss  zur  göttlichen  Praescienz  und  Providenz  etc.,  Berlin  1882,  S.  117, 
Note  188  habe  ich  nachzuweisen  gesucht,  dass  die  vorsichtige  hypothetische 
Fassung  (a>a-£p  Soxel),  die  Arist.  dem  Vorsehungsglauben  gegeben  hat,  wol 
nur  als  matte  Concession  an  den  übcrkomineneu  Volksgjaulien  aufgefasst  wer- 
den  dürfe. 


Antike  und   mittelalterliche  Vorläufer  des  Occasioiuili.smus.  201 

diesen  Glauben  eingekleidet  hat,  lassen  kaum  darüber  Zweifel  auf- 
kommen, dass  es  ihm  mit  der  göttlichen  Vorsehung  unmöglich 
Ernst  sein  konnte,  zumal  sein  extramuudaner,  auf  das  Denken 
seiner  selbst  beschränkte  Gott  keinerlei  unmittelbare  Verbindung 
mit  unserem  Weltgebäude  unterhalten  soll. 

In  der  That  erscheint  denn  auch  Aristoteles   als  der  vollen- 
detste antike  Vertreter  der  Wahlfreiheit,  für  die  er  aus  dem  reichen 
Arsenal  seiner  Dialectik  das  schwerste  Geschütz  in's  Treffen  führt. 
I  Beide  Gesichtspunkte,    unter  denen  eine  Begründung  der  Willens- 
freiheit möglich   ist:    d.  i.   der    ethische    und    psychologische, 
kommen    bei    ihm    gleichmässig    zu    energischem    Ausdruck.      Die 
ethische  Begründung  der  Freiheit  beruht  theils  auf  der  allgemein 
zugestandenen  Freiwilligkeit  der  Tugend,  theils  und  besonders  auf 
der  Behauptung,  dass  ohne  Freiheit  jegliche  sittliche  Verantwortung 
und  damit  auch  jedwede  Ethik  überhaupt  hinfällig  und  illusorisch 
wäre ").   Psychologisch  wird  sie  damit  gerechtfertigt,  dass  der  ]Mensch 
vermittelst  seines  Verstandes  den  natürlichen  Verlauf  der  Ursachen 
olfenbar  in  sich  hemmen  kann '").    Nothwendig  ist  nur  das  Vergan- 
j  geue,  nicht  das  zukünftig  Geschehende.    Die  Forderung  der  mensch- 
'  liehen  Freiheit  hängt  bei  Aristoteles  übrigens  auch  mit  seiner  Meta- 
,  physik  eng  zusammen.    Denn  sobald  das  Einzelwesen  zur  Substanz 
(oucjia)  erhoben  wird,  ist  es  nicht  mehr  angängig,  diese  Substanz 
in  eine  Abhängigkeit  zu   einer  Causalreihe  zu  setzen,  die  ausser- 
halb ihrer  liegt;  sie  muss   vielmehr  nothwendig  in  sich  selbst  das 
!   Prinzip  ihrer  eigenen  Causalität  haben,  d.  h.  frei  sein. 

Allein  mag  auch  der  Einzel  mensch  nach  Aristoteles  im  Hin- 
blick auf  eine  etwaige  transcendente  Causalität  durch  Gott 
absolut  frei  sein,  so  muss  sich  diese  seine  Freiheit,  soll  sie  unan- 
getastet bleiben,  auch  vor  der  immanenten  Causalität  der  Welt 
bewähren.  Und  hier  lässt  Aristoteles  die  Konsequenz  im  Stich. 
Gott  gegenüber  ist  der  Mensch  wol  ganz  frei,  jedoch  nicht  in 
gleichem  Masse  gegenüber  dem  Weltzweck.     Hier  widerstreitet  die 


»)  Vgl.  das  bekannte  Kapitel  der  Nie.  Eth.  (I,  7). 

'")  Vgl.  de   Interpret,  cap.  9,  p.  18;   de  gen.  et  corr.  II,  11  p.  337;  Treu- 
delnburg  II,  152. 


202  Ludwig  Sfein, 

Teleologic,  die  er  ja  nachdrucksvuUcr  und  ausschliesslicher  betont 
hat,  als  irgend  einer  seiner  Vorgänger"),  dem  FreiheitsbegrifF. 
Denn  ist  tier  Zweck  das  weltgestaltende  und  weltbeherrschende 
Gesetz,  so  muss  sich  doch  ollenbar  auch  der  menschliche  ^Ville 
diesem  AVeltgesetz  unterwerfen.  Dann  aber  sind  der  Freiheit  die 
Lebensadern  unterbunden;  sie  gilt  nicht  mehr  in  absolutem  Sinne; 
sie  ist  vielmehr  schonungslos  an  die  Fessel  des  Zweckes  geschmie- 
det. Man  sieht  eben,  dass  absolute  "VVahlfreiheit  mit  keinem 
System  recht  stimmen  will;  sie  passt  ebensowenig  in  den  Rahmen 
der  aristotelischen  Teleologie,  wie  in  den  jeden  Zweck  streng  aus- 
schliessenden  Determinismus  Spinoza's  hinein.  Ja,  Aristoteles  selbst 
scheint  eine  leise  Ahnung  von  der  Unvereinbarkeit  der  von  ihm 
vertretenen  absoluten  Freiheit  mit  dem  Zweckbegrilf  aufgestiegen  | 
zu  sein,  wenn  ihm  einmal  das  Gleichniss  entschlüpft ''0,  dass  in 
einem  wohlgeordneten  Hause  der  Sklave  weit  mehr  Freiheit  als 
der  Herr  besitzt,  weil  dieser  sich  naturgemäss  an  die  zweckmässige 
Hausordnung  hält,  während  jener  an  keinen  Zweck  gebunden  ist. 
Hier  schimmert  unleugbar  der  Gedanke  durch,  dass  der  kiihlbe- 
rcchnende  Verstand  seine  Thätigkeit  an  Zwecken  raisst.  Dass  aber 
damit  die  Bedingungslosigkeit  der  Freiheit  völlig  preisgegeijou  ist, 
hat  Aristoteles  ebensowenig  erkannt  oder  gar  eingeräumt,  wie  sein 
Nachfolger  Theophrast,  der  über  die  "Willensfreiheit  sogar  eine 
eigene  Schrift  verfasstc"),  ohne  jedoch  von  der  Teleologic  seines 
Lehrers  auch  nur  um  Haaresbreite  abzuweichen. 

So  Wcir  die  Situation  unseres  Problems  geartet,  als  die  Stoa 
den  Schauplatz  der  Geistesgeschichte  betrat.  Aristoteles  hatte  ihr 
wol  im  Ausbau  des  Freiheitsproblems  bedeutend  vorgearbeitet; 
Heraklit  mag  ihr  durch  einzelne  lose  hingeworfene  Andeutungen 
und  abgebrochene  Gedankenspähne  die  Grundzüge  zu  iin-em  Deter- 
minismus geliehen  haben.  Damit  waren  aber  nur  rohe  Umrisse 
gegeben.  Die  straffe  Gliederung  des  deterministischen  Problems, 
sowie  die  schroftc  Gegenüberstellung  von  Freiheit  und  Detcrminis- 

")  Phys.  II,  9;   de  pait.  au.  I.   1    uiul  dazu  RitItM-,   Gesch.  d.  Pliilo.s.  III, 
212  ff. 

'-)  Jlelai)li.  Xil,  10. 

'•')  I>iog.  Lacrt.  V,  4o :  ztfi  'K/.oujfou  ü. 


Antike  und  mittolalierlirhe  Voririufer  des  Occasionalismus.  203 

miis  bleiben  das  unbestreitbare  Verdienst  der  Stoa,  so  dass  meine 
an  die  Spitze  dieses  Abschnittes  gesetzte  Behauptung,  der  Deter- 
minismus trete  uns  zum  ersten  Male  in  der  Stoa  in  voller  syste- 
matischer Geschlossenheit  entgegen,  wol  kaum  als  zu  weit- 
gehend befunden  werden  dürfte. 

Fasste  man  bisher  das  Fatum  in  grobsiuulicher  Weise  als  per- 
sonifizirtes  Schicksal  auf,  das  willkürlich  bestimmend  in  den  Welt- 
lauf eingreift  —  eine  Vorstellung,  die  zweifelsohne  das  Product  der 
Furcht  vor  aussergewöhnlichen  Naturereignissen  ist  — ,  so  gewinnt 
das  Fatum  in  der  Stoa  die  Gestalt  der  immanenten  Causalität. 
An  die  Stelle  der  Furcht  tritt  die  Erkenntniss  der  inneren  Ur- 
sächlichkeit alles  Geschehens.  Die  £i[j.otpij.£yr^  wird  den  Stoikern 
zum  sipijLoc'^),  d.  h.  zur  engverschlungenen,  gesetzmässig  ineinan- 
dergreifenden Verkettung  der  Ursachen  im  AVeltganzen.  Hier  erst 
erscheint  der  Determinismus  vollkommen  losgelöst  von  der  mythi- 
schen Umhüllung,  in  welcher  er  bis  dahin  zumeist  aufgetreten  war. 
Das  Fatum  ist  ihnen  nichts  Aussergewöhnliches  oder  gar  Ueber- 
göttliches,  wie  etwa  dem  Pittakus  in  dem  ihm  zugeschriebenen  Aus- 
spruch'^), sondern  es  fällt  mit  dem  Urpneuma  d.  h.  der  Gottheit 
zusammen.  Natur,  Schicksal,  Nothwendigkeit  und  Gott  sind  nur 
verschiedene  Namen  bez.  Thätigkeitsarten  einer  und  derselben 
Grund k raft '"),  die  natürlich  in  der  pantheistischen  Stoa  mit  dem 
Grundstoff  zusammenfällt. 

Mit  diesem  scharf  gezeichneten  Pantheismus  vertrug  sich 
die  Teleologie  vielleicht  noch  besser,  als  mit  dem  aristoteli- 
schen Dualismus.  Bei  Aristoteles  war  nämlich  gar  nicht  abzusehen, 
wer  denn  eigentlich  die  vernünftigen  Zwecke  in  den  Naturlauf 
hineinlegen  sollte;   Gott  doch    wol  nicht,   denn  dieser  führt  ja  seit 

'*)  Vgl.  m.  Psychologie  der  Stoa  Bd.  I,  53,  Bd.  II,  340,  Note  770;  Menagius 
ad  Diog.  Laert.  VII,  149;  Trendeinburg  a.  a.  0.  S.  122;  Gercke,  Chrysippea 
(Jahrb.  für  class.  Philol.  Suiipl.  Band  XIV  ]).  715ff.).  Flach  sind  die  herge- 
liörigeu  Ausführungen  von  Göring,  der  Begrift'  der  Ursache  in  der  gr.  Philo- 
sopiiie,  Leipzig  1874,  S.  41  f. 

^■')  Diog.  Laert.  I,  77:  dtvc(Y7,a  o'  oüSe  Seoi  [j.c(/ovtc(i ;  ähnlich  der  Ausspruch 
der  Pythia  bei  Ilerodot  1,  !ll:  xrjv  7:£7rptu[A£VY)v  [j.oip7]v  äo'ivaxa  jaxi  d-ocpuyseiv 
xai  Seiij;  vgl.  Treudeinburg  a.  a.  0.  S.  127. 

"'■)  Vgl.  m.  Psychol.  d.  Stoa  Bd.  I,  45. 


•204 


T,  11  d  w  i  fr  Stein, 


tlem  ersten  Bewegungsanstos.s,  deu  er  der  Welt  gegeben,  ein  welt- 
abgeschiedenes, streng  gesondertes  Dasein  (/(upiaToc).  Und  so 
licrrscht  denn  über  die  zwecksetzende  Kraft  beim  Stagiritcn  eine 
irewisse  l'nklarheit.  Anders  in  der  Stoa.  Hier  ist  die  st;j7pu=vT() 
mit  dem  Xo-;oc  identisch'').  Das  Schicksal  wirkt  demnach  nicht 
blind  und  mechanisch,  sondern  vernunftbegabt  und  bewus^t,  so 
dass  in  der  gesetzmässigen  Causalität  aller  Erscheinungen  die  höchste 
Vernunftkraft  waltet.  Da  ist  es  denn  kein  Wunder,  dass  in  dieser 
von  der  höchsten  Vernunft  am  Gängelbande  der  Causalität  mit 
starrer  ünbeugsamkeit  geleiteten  Welt  Alles  auf's  Harmonischste 
und  Vollendetste  eingerichtet  ist'^). 

Allein  je  gerechtfertigter  ihre  Teleologie  aus  dem  inneren  Zu- 
sammenhang ihres  Systems  heraus  erscheinen  muss,  desto  weniger 
Raum  war  für  eine  etwaige  Bethätigung  der  menschlichen  Willens- 
freiheit vorhanden.    Erfolgt  Alles  in  der  Natur  mit  unabänderlicher 
Gesetzmässigkeit  und  verfolgt  ferner  dieses  Gesetz  einen  Veruunft- 
zweck,  der  der  Gesammtheit  zum  Wohl  gereichen  muss,  so  ergibt 
sich  aus  diesen  beiden  Voraussetzungen  mit  logischer  Folgericiitig- 
keit  zweierlei:  eine  Willensfreiheit  kann  es  einerseits  nicht  geben, 
denn  durch  eine  solche    würde    die    ewige  Causalitätsreihe    unter- 
brochen  und   somit   das  eherne  Weltgesetz    durchlöchert;    anderer- 
seits braucht  es  auch  keine  zu  geben,  denn  das  vernunftbegabte 
Geschick  ordnet  Alles  ohnehin  zum  Heile   der  Menschen  zweck- 
mässig an.    Der  Mensch  könnte  also,  besässe  er  gar  eine  Freiheit, 
mit  seinem   blinden  Willen  nur  verderben,    nichts  bessern.     Was 
kann  also  der  Mensch  Vernünftigeres  thun,  als  sich  dem  Schicksals- 
zuge   anzupassen,    dem    unentrinnbaren  Lauf  des    vernünftig    und 
zweckmässsig  waltenden  Verhängnisses  unterzuordnen?  Jeder  AVider- 
stand   gegen  das   Verhängniss    ist  unklug,    weil  unnütz.     Und  so 
haben   denn  die   Stoiker  ihre   prinzipielle  Leugnung    der   AN'illcns- 
freiheit  auf  jene  kürzeste  Formel  gebracht,    die  Seneca  in    freier 
rhythmischer  Uebertragung  in  den  bekannten,  zum  geflügelten  AVort 


'^  Philodera  de  piet.  p.  82  Goinp;  Heinze,  Lehre  vom  Logos  S.  100  ff. 
'^)  Plut.  pluc.  phil.  I,  G,  2  (Aetius  Diels  p.  29;)),   xctÄö;   ok  b  /.rjaao?;    Diog. 
L.  VII.  140:  l'lut.  St.  rep.  cap.  21:  Cic.  de  lin.  III,  5,  18  u.  ü. 


Autike  uiul  iiiittelalterliuhe  Vorläufer  des  Occasionalismus.  205 

gewordenen  Vers  gegossen  hat:  dacunt  volentem  fata,  nulentem 
trahunt'-^). 

Nun  war  allerdings  der  metajDhyslsclien  Konsequenz  vollauf 
Geniige  geschehen;  der  Deternainismus  war  mit  einer  so  unerbitt- 
lichen Folgerichtigkeit  durchgeführt,  wie  nie  zuvor.  Aber  jetzt  be- 
gann die  Ethik,  die  ja  eine  Wahlfreiheit  zu  ihrer  schwerlich  ent- 
behrlichen Voraussetzung  hat,  entschiedene  Einsprache  gegen  diesen 
starren  Determinismus  zu  erheben.  Und  je  strenger  die  sittlichen 
Anforderungen  waren,  welche  gerade  die  Stoa  an  den  Menschen 
stellte,  desto  dringender  trat  an  sie  die  Verpflichtung  heran,  die 
Willensfreiheit  in  irgend  einer  Form  zu  retten.  Allein  trotz  des 
Vorwiegens  des  ethischen  Interesses  in  der  Gesammttendeuz  der 
stoischen  Philosophie  mochte  sich  doch  kein  stoisches  Schulhaupt 
dazu  verstehen,  die  metaphysische  Konsequenz  der  ethischen 
unterzuordnen  d.  h.  den  von  der  Metaphysik  geforderten  Determi- 
nismus zu  Gunsten  der  Freiheit  zu  opfern.  Um  aber  gleichwol 
der  Freiheit  und  somit  der  sittlichen  Verantwortung  einen  Spiel- 
raum zu  verschaffen,  verfielen  sie  auf  jenen  Ausweg,  der  später 
bis  auf  den  Occasionalismus  hin  so  mannigfache  Nachahmung  ge- 
funden hat,  dass  sie  nämlich  unter  ungeschmälerter  Aufrechthaltung 
des  Determinismus  doch  eine  Schatteufreiheit  retteten,  sofern  sie 
diese  Freiheit  in  den  Affect  verlegten,  von  welchem  un- 
sere jeweiligen  nothwendigen  Handlungen  begleitet  sind. 

Urheber  dieser  Theorie  war  wol  der  Stoiker  Kleanthes,  wäh- 
rend dessen  Nachfolger  Chrysipp  den  Widerstreit  zwischen  Nothwen- 
digkeit  und  Freiheit  mehr  durch  seine  bekannte,  auch  im  Mittel- 
alter nachgeahmte  Unterscheidung  von  Haupt-  und  Mittelursachen 
lösen    wollte''").     Da    uns   jedoch    an    dieser   Stelle    nur    die    von 


'•')  In  in.  Erkenntnisstheorie  d.  Stoa  S.  329  ff.  habe  ich  den  Nachweis 
'internoinmen,  dass  diese  knappe  Fassung  des  Determinisnms  den  Stoiker 
Kleanthes  zum   Urheber  hat. 

-")  Die  Ilauptstelle  für  die  Unterscheidung  Chrysipp's  der  causae  princi- 
pales  et  perfectae  von  den  causae  adjuvantes  ist  Cic.  de  fato,  18,41;  vgl.  auch 
Cic.  Top.  15,59;  Plut.  de  St.  rep.  cap.  47.  Auch  diese  Problemslösung  Chry- 
sipps  ist  in  das  arabisch-jüdische  Mittelalter  übergegangen.  Wir  begegnen  ihr 
bei  der  arabischen  Philosophenschule  der  Ascharija  (Schahrastäni,  deutsch  von 
llaarbrücker,  I,  105),  beim  arabischen  Aristoteliker  ihn  Siua  (Franck,  diction- 


205  Liulwig  Stein, 

Kleanthes  versiu-hte  Problemslösiing  interessirt,  zumal  diese  in  der 
späteren  Stoa  zur  herrschenden  Doctrin  geworden  ist,  scheiden  aus 
unserer  Behandlung  die  übrigen  J.ösungsversuche  Chrysipps,  die 
ich  an  anderer  Stelle  gewürdigt  habe^'),  aus.  Um  aber  die  von 
Kleanthes  vertretene  Version  voll  erlassen  zu  können,  niuss  man 
sich  den  erkenntnisstheoretischen  Hintergrund  dieser  Frage,  der  in 
der  spezifisch  stoischen  Lehre  der  au-f/czTaOöaic  gipfelt,  genau  ver- 
gegenwärtigen. 

Die  Stoiker  nennen  nämlich  das  Urtheil  nicht  xpiau,  wie  sonst 
wol  üblich  ist,  sondern  sie  erfanden  dafür  den  eigenthümlichen, 
selbstgebildeten  Terminus  3'j-,/a-aOs3'.c,  weil  nach  ihnen  jedem  Ur- 
theil ein  Affect  des  Beifalls  oder  Missfallens  beigemischt  ist"')- 
Und  so  gingen  sie  denn  gar  soweit,  Urtheil  und  AVillensfreiheit 
geradezu  zu  identifiziren -^),  weil  eben  unser  Urtheil  nur  in  dem 
Masse  frei  ist  wie  unser  Wille.  Unser  Urtheil  ist  stets  durch  die 
Energie  (den  Tonus)  des  sinnlichen  Eindrucks  causal  bedingt, 
ebenso  wie  unser  Wille  durch  die  Causalität  des  Näturverlaufs 
determinirt  Ist.  Kur  freilich  können  wir  vermittelst  unserer  Aftecte 
unserer  auvxa-aÖss-.c  ein  individuelles  Gepräge  geben.  Wir 
können  nämlich  das  Gute  oder  das  Böse,  das  wir  vermöge  der 
durch  unsere  Naturanlage  bedingten  Causalität  doch  thun  müssen, 
freudig  oder  auch  widerwillig  thun,  und  auf  diesem  Affect, 
den  wir  bei  unseren  nothwendigen  Handlungen  empfinden,  be- 
ruht das  sittliche  Verdienst"^). 

uaire  de  la  Philosophie  s.  v.  ibu  Siiia),  endlich  bei  ilcii  jüdischen  Philosophen 
Juda  Halevi  (Kiisaii  p.  HG  ed.  Cassel)  und  Abraham  ibn  Daud  (Emuna  Rama 
p.  87  ed.  Weil).  Anch  Thomas  d'Aquino,  Summa  Thoologiae  I,  105,  5  kommt 
darauf  zurück.  ^ 

-';  Erkeuntnissth.  d.  Stoa  S.  ;340,  Note  771;  vgl.  dazu  Zeller  IIP,  166  flf.; 
Trendeinburg  a.a.O.  174  ff.;  Heine,  Stoicorum  de  fato  doctrina,  Naumburg 
18.59,  p.  43  ff. 

'"O  Epict.  diss.  I,  18;  Erkeuntnissth.  d.  Stoa  S.  198  ff. 

")  Stob.  Floril.  VIII,  66  p.  386  Gaisf.;  Epict.  diss.  III,  22,  42  u.  ü.;  Erkenut- 
nissth.  S.  187,  Note  378. 

2<)  Wie  dies  namentlich  der  ursprüngliche  Verbreiter  dieser  Doctrin, 
Kleanthes,  bei  Seneca,  de  benef.  VI,  1  in  markanter  Kürze  ausdrückt.  Nicht 
die  That,  sondern  die  Gesinnung  entscheidet  über  sittlichen  Werlh  oder 
l'nworih:  voluntas  (=  3-JY7.a-äi)£0i;)  est,  quae  apud  uos  ponit  ofiicium. 


Antike  und  mittelalterli.'lie  Vorlänfer  des  Occasionalismus.  207 

Die  sittliche  Zurechnungsfähigkeit  ist  demnach  durch  die  Ge- 
sinnung bedingt.  Wir  sollen  uns  dem  Schicksalslauf  nicht  bloss 
unterordnen,  sondern  seine  Fügungen  sogar  mit  „freudigem  Bei- 
fall" begleiten^'),  und  das  ist  der  unterscheidende  sittliche  Vorzug 
des  Weisen  gegenüber  dem  Thoren.  Dieser  thut  zwar  zuweilen  das 
Gute,  aber  mit  Widerstreben  und  nur  weil  er  es  muss,  denn,  wie 
Kleanthcs  sagt: 

YjV    0£    aTj     ÜcAU) 

zotxoc  "i'svojjLSvoc,  oüosv  r,"oy  s'V^ii.-xi. 
Aber  der  sittlich  hochstehende  Weise  jubelt  der  Schicksalsfügung 
freudig  entgegen,  und  in  dieser  lauteren  Gesinnung  liegt 
sein  moralisches  Verdienst.  Das  stimmte  so  recht  zum  ethi- 
schen Ideal  der  Stoa,  dass  nicht  Werkheiligkeit,  vielmehr  nur  vor- 
nehmes, geläutertes  Denken  den  Kernpunkt  der  Sittlichkeit  aus- 
machen soll.  Dieses  Denken  ist  uns  aber  freigegeben,  ja  in  ihm 
allein  besteht  unsere  Willensfreiheit^"). 

Will  man  nun  diesen  stoischen  Versuch,  dem  Dilemma  von 
Nothwendiokeit  und  Freiheit  zu  entrinnen,  auf  den  kürzesten  Aus- 
druck  bringen,  so  spitzt  sich  dieser  dahin  zu:  Unser  sittliches 
Verdienst  beruht  auf  dem  „freudigen  Beifall"  (auYzaxa- 
üsaic  bei  den  griechischen,  adsensio  bei  den  römischen 
Stoikern),  mit  welchem  unsere  uothvvendigen  Handlungen 
verknüpft  sind. 

Kap.  II. 
Die  Ascharija. 
Der  Schauplatz,  auf  welchem  sich  die  jetzt  zu  besprechenden 
Geisteskämpfe  abspielten,  ist  völlig  anders  geartet,  als  der  vorhin 
geschilderte.  Handelte  es  sich  dort  um  Gedankengebilde,  die  sich 
bei  dem  höchstveranlagten  Volk  des  Alterthums  erst  nach  drei- 
hundertjährigem Ringen  zu   einer  Zeit    herausgestaltet    haben,    als 

'■^^)  Seu.  ep.  96,  2:  non  pareo  deo,  sed  adsentior.  ex  aniuio  illum,  uon 
«|uia  necesse  est,  sequor.  Weitere  zahlreiche  Belege  Erkeuntnissth.  190, 
Note  382,  364,  Note  868,  377,  Note  927. 

-"")  Rufus  Ephes.  bei  Stob.  Ekl.  II,  35  II:  £cp'  r^f^-Iv  /fT^at;  twv  '^avTaauöv, 
wogegen  Epictet  auf  die  öpi}?)  "/pfjat;  tüjv  cpavTctanLv  das  Hauptgewicht  legt, 
diss.  1,  1,7  u.  ö. 


208  \.n^\  w  ig  Stein, 

dieses  \'olk  di'ii  Höhepunkt  seiner  Kiilliir  l)ereit.s  überschritten 
hatte  und  in  einem  geistigen  Zersetzungsprozess  begrifl'en  war,  so 
begegnen  \vii-  hier  einer  erst  beginnenden,  mächtig  emporstrebenden, 
in  ungesundem  Sturmschritt  dahinbrauscnden  Kultur.  Auf  dem 
klassisclien  Boden  von  Hellas  hatten  wir  es  mit  einer  gereiften 
Gedankeufrucht  zu  thun,  die  vom  Baume  der  philosophischen  Er- 
keuntniss  herabfiel;  auf  dem  Boden  des  kampflustigen,  im  inneren 
dogmatischen  Ausbau  begriffenen  Islam  hingegen  handelt  es  sich 
um  eine  kaum  aufgeschossene  Gedankenblüthe,  die  vorzeitig  abge- 
pflückt wurde.  Es  versteht  sich  daher  von  selbst,  dass  auch  das 
uns  beschäftigende  Problem  bei  diesem  farbenreichen  Szenenwechsel 
und  den  grundmässig  veränderten  treibenden  Motiven  in  eine  we- 
seutlicli  andere  Beleuchtung  gerückt  wird.  Während  der  Wider- 
streit von  Nothwendigkeit  und  Freiheit  in  der  griechischen  Philo- 
sophie Jahrhunderte  lang  kaum  beachtet  und  erst  von  den  Stoikern 
in  seiner  ganzen  Schärfe  und  Unversöhulichkeit  erfasst  wurde,  hat 
im  Islam  gerade  dieser  ^Viderstreit  den  Ausgangspunkt  des 
philosophischen  Denkens  gebildet.  Der  erste  Anstoss  zu  philoso- 
phischem Denken  innerhalb  des  Islam  ist,  wie  wir  bald  sehen 
werden,  unleugbar  von  der  Frage  nach  der  Prädestination  ausge- 
gangen. Und  je  mannigfaltiger  die  Antriebe  waren,  die  bei  den 
Griechen  wie  bei  den  Arabern  zur  Problemsstellung  von  IS^oth- 
Avendigkeit  und  Freiheit  geführt  haben,  um  so  merkwürdiger  und 
beachtenswerther  wird  es  sein,  wenn  diese  beiden  Gedankenrich- 
tungen, die  von  so  durchaus  verschieden  gestalteten  philosophischen 
Voraussetzungen  und  kulturlichen  Vorbedingungen  ausgegangen 
sind,  sich  gleichwol  in  einem  gemeinsamen  Treffpunkte  begegnen. 
Die  Araber  der  Vorzeit,  deren  Kulturverhältnisse  der  Muham- 
medaner  verächtlich  als  gahilija  d.  h.  „Zustand  der  Unwissen- 
heit"   bezeichnet,    waren    rückhaltlose   Fatalisten'"'^).     Das    werden 

'0  Vgl.  Sulisliury,  Jouriuil  uf  tlic  Americuu  (Jrieutul  Society,  T.  VIll, 
p.  106:  Iiut  wliat  concerns  iis  inost  is  tlie  presentation  of  evidence  of  the  fact, 
fhat  tlic  early  arabs  were  fatalists.  Dieser  Beweis  ist  Salisbury  gelungen, 
wenn  auch  seine  weitere  These,  auf  die  wir  bald  zurückkoiuincn,  durch  neuere 
Forschungen  hinfällig  wird,  l'eber  die  vormuhainmedanihche  Kultur  der  Araber 
vgl.  Spreuger,  Lehre  und  Leben  Muluimnieds,  I,  250  ff. 


Antike  und  mittelalterliche  Vorläufer  des  Occasioiialismus.  209 

^vi^,  aucli  abgesehen  von  den  seitens  der  Fachwissenschaft  für  deren 
Fatalitätsglauben  erbrachten  Beweisen,  um  so  leichter  begreifen, 
als  der  Glaube  an  ein  Schicksal  uns  bei  den  meisten  Naturvölkern 
begegnet ,  weil  er  eben  dem  unbeholfenen  Kindheitszustande  der 
Menschen  am  meisten  entspricht.  Dem  lebhaften  und  stürmischen 
Feuergeist  Muhammed  sagte  jedoch  dieser  starre,  jegliche  indivi- 
duelle Bewegungsfreiheit  im  Keime  erstickende  Fatalismus  anfäng- 
lich wenig  zu.  Zudem  ist  er  nicht  umsonst  bei  jüdischen  und 
christlichen  Lehrern  in  die  Schule  gegangen.  Hier  musste  ihm  die 
Willensfreiheit  als  eine  der  unantastbaren  Fundamentalsätze  der 
monotheistischen  Religionen  in  die  Augen  springen'^).  Und  in 
der  That  nahm  er  in  der  jugendlichen  Empfänglichkeit  seiner 
ersten  Entwickelungsperiode  einen  mächtigen  Anlauf,  trotz  des  tief- 
wurzelnden Fatalismus  im  Volksglauben  die  Willensfreiheit  in  den 
Koran  einzuführen.  Man  hat  früher  diese  Thatsachen  bestreiten  zu 
müssen  geglaubt""'),  weil  die  auf  unumschränkte  Prädestination 
deutenden  Stellen  im  Koran  vorwiegen,  ja  in  einzelnen  Partien 
desselben  ausschliesslich  dominiren.  Allein  seitdem  die  neuere 
Koränforschung  verschiedene  Entwicklungsstadien  im  Koran  fest- 
gestellt hat^"),  ist  jüngeren  Forschern  der  kaum  anfechtbare  Nach- 
weis gelungen,  dass  die  der  Jugendperiode  Muhammeds  entstammen- 
den Suren  neben  der  Prädestination  auch  der  Willensfreiheit  einen 
breiten  Spielraum  gewähren^'). 


2'^)  üeber  die  jüdische  Philosophie  sagt  der  berufenste  Interpret  derselben, 
S.  Muuk,  in  seinen  Melanges  de  la  philosophie  arabe  et  juive  p.  462:  la  doctrine 
du  libre  arbitre  e.st  une  des  doctrines  fundamentales  du  Mosaisme.  Und  wenn 
auch  von  der  christlichen  Philosophie  nicht  ganz  das  gleiche  gilt,  so  hatte 
die  \Yillensfreiheit  doch  auch  hier  eine  auuäherud  fundamentale  Bedeutung, 
vgl.  P)ergier,  Encyclopedie  methodologique,  Theil  Theologie  II,  p.  429. 

^^)  So  namentlich  Salisbury  a  a.  0.  p.  l'2d. 

^^)  Vgl.  G.  Weil,  historisch -kritische  Einleitung  in  den  Koran,  P>ielffold 
1844,  und  Th.  Noldecke,  Geschichte  des  Korans,  Göttingen  1860. 

^')  Gegen  Salisbury  wendete  sich  der  Franzose  Guyard  in  einer  Abhand- 
lung: 'Abd  er-Razzäque  et  son  traite  de  la  predestination,  Journal  Asiatique 
1873,  indem  er  an  zwei  Koränstellen  den  unwiderleglichen  Beweis  führt,  dass 
Muhammed  zu  Anfang  auch  die  Willensfreiheit  verkündet  hat.  Unabhängig 
von  Salisbury  hatte  schon  vorher  Heinrich  Steiner  in  seiner  gründlichen, 
linchst    boacbtenswerthen  Monographie:    Die   llu'la/.iliten    oder   die    Freideid<er 


•)]()  T, Uli  w  i^  Stein, 

Sehr  l)iikl  jedoch  erkannte  ^luliammed  seinen  MissgrifV.  Seiae 
lleriil.crnahme  der  Freiheitslchrc  fand  bei  seinen  Anhängern  schon 
nur  massigen  Ankhmg,  und  bei  seinen  Widersachern,  die  ihn  wegen 
dieses  ilincn  so  fremden  Begriffs  verketzerten,  stiess  er  auf  heftigen 
Widerstand.  Nicht  jedes  junge  Keis  lässt  sich  auf  jeden  belie- 
bigen knorrigen  Baumstumpf  hinaufpropfen!  Religionsstifter  müssen 
mit  zartem  Feingefühl  an  schon  vorhandene  Vorstellungen  an- 
knüpfen, nicht  völlig  ungewohnte,  fremdartige  gewaltsam  einbür- 
gern wollen.  J)iese  augenfällige  Wahrheit  drängte  sich  Muhammed 
sehr  l>;il(l  iiuf  und  er  suchte  daher  seinen  früheren  Fehl  wettzu- 
machen, indem  er  nunmehr  sich  bestrebte,  durch  nachdrücklichere 
Ilervorkehrung  und  fanatische  Betonung  der  l^rädestination  .^Ai) 
_j^)    die    ursprünglichen    Spuren    von    Willensfreiheit    im    Koran 

möglichst  zu  verwischen^"'*). 

Allein  die  Zwiespältigkeit,  die  Muhammed  früher  selbst  in  den 
Koran  hineingelegt  hatte,  war  nun  einmal  da  und  Hess  sich  nicht 
mehr  hinwegdeuteln.  Diese  frühere  Zwitterstellung  des  Keligions- 
stifters  gab  nun  den  ersten  Anstoss  zu  dogmatischen  Kämpfen. 
Koch  bei  seinen  Lebzeiten  bildete  sich  eine  starke  Opposition  gegen 
seine  spätere  Abschwörung  der  Willensfreiheit  heraus.  Und  wurden 
diese  Ketzer  auch  vorerst  durch  Gewaltmittel  niedergehalten '■),  .so 
ward    damit    die  Ketzerei    selbst    noch  lange   nicht   vertilgt.     Den 


im  Isl;\iii,  Leipzig  18G.5,  S.  33— 37  mit  voller  Klarheit  gezeigt,  wie  gewaltsame 
Anstrengungen  Muliammeil  anfangs  genuiclit  bat,  den  Freiiieifsbegriff  v.n  retten. 
Diese  lieweisfülirung  Steiner's  nennt  ein  jüngerer  iioliiindischer  Forscher, 
Th.  lloutsraa,  de  stryd  over  het  dograa  in  den  Islam  tot  op  el  Ashari.  Leiden 
1875,  ]).  42  mit  Recht  die  gelungenste  Partie  des  Steiuer'schen  l^uohes  (best 
geslaagde  lioofdstnk). 

3-)  Die  Ilauptstelle,  auf  welche  .Saiisbury  a.  a.  0.  p.  V2\i  seine  Behauptung 
von  der  absolut  deterministischen  Grnndansicht  Miihammed's  stützte,  war  die 
entschieden  freiheitnegirende  Antwort  des  Propheten  j*-fc>ji.^  Lf*^  l/"^  '^ 
^_iJL&  ^c'^^Z-  Allein  Saiisbnry  liat  eben  nicht  daran  gedacht,  dass  dieser 
Ausspruch  einer  späteren  Periode  des  Propheten  entstammt. 

3«)  Der  Ketzer  Jläbad  z.  B.  wurde  gekreuzigt,  vgl.  Dngat,  philosophes  et 
thi'ologiens  Musulmans,  Paris  1879,  p.  43.  Ueber  das  Schicksal  anderer  Hä- 
releii  vgl.  Sah-,  tlie  Koran,  a  preliminary  discourse,  p.  210;  Kremer,  Geschichte 
der  herrschendeu  Ideen  des  Isläm"s  8.30  f.:  Iloutsma,  p.  45. 


Antike  uiid  mittelalterliche  Yoi-irmfer  des  Occasionalisnius.  211 

gekreuzigten  Märtyrern  f]es  philosopliisclien  Freiheitsgeclanl<en.s  ent- 
standen allerorten  iiberzeugungstreue  Rächer,  die  sich  mählig  zu 
einer  philosophisch-theologischen  Schule  zusammenthaten.  Vud  so 
hat  denn  das  uns  beschäftigende  Problem  des  Determinismus  im 
Ishim  die  erste  grosse  philosophische  Schule,  die  Kadarija"^),  her- 
vorgetrieben. 

Es  würde  uns  zu  weit  abführen,  wollten  wir  die  wandlungs- 
leichen  Schicksale  der  zahlreichen  philosophischen  Secten""'),  die, 
entweder  an  die  Kadarija  sich  anlehnten,  oder  in  ausgesprochene 
i)p[)Osition  zu  ihr  traten,  hier  weiter  verfolgen.  Es  genüge  uns 
eine  knappe  Skizzirung  des  weiteren  Verlaufs  in  allgemeinen  Zügen 
unter  ständigem  Hinweis  auf  die  für  uns  wesentlichste  Thatsache, 
(lass  das  Problem  des  Determinismus,  freilich  in  der  ver- 
hüllten Gestalt  eines  theologischen  Dogmas,  Ausgangs-  und 
iJrennpunkt  der  spezifisch  arabischen  Philosophie"")  ge- 
wesen und  geblieben  ist. 

Im  Allgemeinen  mag  noch  vorbemerkt  werden,  dass  bei  den 
arabischen  Philosophenschulen  der  ersten  zwei  Jahrhunderte  nach 
der  Ilegira  die  tiefgehenden  Treunungslinien  von  Philosophie  und 
Theologie  noch  gar  nicht  aufgespürt  sind,  dass  ihnen  vielmehr 
beide  unmerklich  ineinander  übergehen  und  verfliessen.  Hält 
man  diesen  Gesichtspunkt  fest,  so  zeigt  es  sich  sofort,  wie  die  von 
der  Kadarija  ollen  angekündigte  Wahlfreiheit  und  die  bei  ihr 
schüchtern  hervortretende  Anzweiflung  der  Prädestination'')  die  im 


^^)  Ueber  den  vielumstritteneu  Namen  und  die  Tendenz  der  Kadarija  vgl. 
«teiner  a.  a.  0.  S.  26  if.;  Houtsma  a.  0.  p.  44. 

■■'^)  Die  73  philosophischen  Secten,  in  die  sich  der  Islam  nach  einer  be- 
kannten traditionellen  Prophezeihnng  Muhammed's  spalten  sollte,  wurden  tiurch 
die  Wirklichkeit  weit  überholt,  wie  das  berühmte  Buch  von  Schahrastäni  (ed. 
Cureton),  deutsch  von  Ilaarbrücker  (Religionspartheien  und  Philosophenschnlen) 
deutlich  beweist.  Nur  muss  man  sich  dabei,  wie  Steiner  S.  2  richtig  bemerkt, 
daran  erinnern,  dass  bei  den  Orientalen  sich  die  Geschichte  mehr  an  Personen 
und  Namen,  denn  an  Gedanken  und  inuern  Zusammenhang  knüpft. 

^^)  Im  Unterschied  einerseits  zu  den  reinen  arabischen  Aristotelikern,  wie 
ihn  Sina  und  ihn  Rosclid,  die  nur  wenige  spezifisch  moslemische  Züge  ver- 
rathen,  andererseits  zu  den  Ssiifi's,  wie  al-Faräbi  oder  al-Ghazzäli,  die  eine  mehr 
mystische  bezw.  skeptische  Richtung  vertrelcn. 

■'•)  Diig.'it  a.  a.  ().  p.  216. 


212  Liiilw  ig  Stein, 

Stillen  schon  ohnehin  glimmenden  Funken  .schult  und  zu  einer  hell- 
lodernden philosophischen  Flamme  entfacht.  Mit  der  Proklamirung 
der  Willensfreiheit  war  zwar  die  Vernunft  nicht  verletzt,  aber  die 
^lajestiit  des  Koran  angetastet.  Jetzt  muss  die  Vernunft  dem 
Koran  zur  Hülfe  kommen,  und  wenn  sie  das  nicht  vermag,  wird 
sie  geächtet.  Oder  die  Vernunft,  die  eine  Willensfreiheit  dringend 
heischt,  stellt  über  dem  Koran;  dann  aber  müssen  die  im  Koran 
sich  befindlichen,  auf  absoluten  Determinismus  hindeutenden  Stellen 
liinweggekliiu.elt  werden.    Den  letzteren  Weg  beschritten  die  Mu'ta- 

CO  o  o 

ziliten,  d.h.  die  Freidenker  im  Islam  ^^),  den  ersteren  die  Mu'ta- 
kaUimün,  d.  h.  die  bedingungslosen,  orthodoxen  Anhänger  des  im 
Koran  niedergelegten  Gotteswortes  (^^l5)^^). 

Diese  beiden  Grundrichtungen  beherrschten  mehr  denn  ein 
Jahrhundert  die  moslemische  Philosophie.  AVol  haben  dogma- 
tische Zanksucht  und  selbstgefällige  Sectenbildung  auch  damals 
eine  Anzahl  von  kleineren  Systemchen  gezeitigt,  aber  diese  kenn- 
zeichnen sich  bei  näherem  Zusehen  nur  als  leise  Schattirungen 
und  unwesentliche  Abzweigungen  der  beiden  grossen  Mutterschulen: 
Mu'taziliten  und  Mu'takallimün. 

Und  gerade  als  diese  beiden  Gegenfüssler  einander  erbittert 
und  unversöhnlich  gegenüberstanden  vollzog  sich  jener  geistige 
Verschmelzungsprozess,  den  man  in  der  Geschichte  der  Philosophie 
mit  fast  regelmässig  wiederkehrender  Pünktlichkeit  beobachten 
kann:  AVo  zwei  Systeme  einander  schrolf  und  unerbittlich  gegen- 
überzustehen scheinen,  da  bereitet  sich  mählig  eine  Synthese  vor, 


^*)  Ein  solclier  Interpret,  der  die  l'i'ir  ihn  verfänglichen  Koränstellen  weg- 
deutete, war  beispielsweise  der  eifrige  Mu'tazilit  llischäm  ihn  'Ainr  al-Fiiti 
(al-Ghüti  bei  Jlawukif),  vgl.  Schahr.  ed.  (uretnn  ]i.  c. :  ry-^  ^«^-^  q' — ^* 
i3>JiÄxii   --i-J  Oj .    ...(^      ^j.*j    ^J;JL.Ji    ^j\    Jjisi    oLs.aIjI    ö^lL!-)! :    äiinlich 

ilawäkif,  ed.  Sürensen  p.  r!*'i . 

^'■')  Trefleud  bezeichnet  de  Sacy,  Chrestomathie  arabc,  I,  467  die  Mu'ta- 
kallimiin  als  Scholastiker.  Sie  sind  es  insofern,  als  sie  die  Autorität  des  i 
Koräu  unangetastet  lassen,  unterscheiden  sich  aber  doch  wieder  von  den  jeg-  j 
lidie  Spekulation  streng  verpönenden  Fokhis,  sofern  sie  überhaupt  eine  ratio- 
nalisirende  Exegese  des  Kurän  zulassen.  Vgl.  über  den  Kalam,  Pococke, 
Specialen  hisfuriae  Araluiin  p.  l'JOff. ;  llaarbriicker  a.  a.  0.  II,  ."592:  Frankl, 
ein   niu'taziiitischer  Kaläui.   Wien   1S72. 


Antike  und  mittelalterliche  Yorlüufer  des  Occasionalistmis.  21B 

welche  die  beiden  entgegengesetzten  Standpunkte  in  eine  liühere 
lunlieit  zusammenfasst  *").  Gewöhnlich  pflegt  dann  auch  diese  Ver- 
mittlungsmethode  vorerst  den  Sieg  davonzutragen  und  eine  AVeile 
.las  Feld  zu  behaupten.  Die  Synthese  zwischen  der  absoluten  Wahl- 
tVeiheit  der  Mu'taziliten  und  dem  a1)soluten  Determinismus  der 
Mu'takalimun  vollzog  sich  gleichzeitig  —  und  auch  dies  ist  eine 
häufig  beol)achtete  Erscheinung  —  in  mehreren  Köpfen.  Schon 
der  gemässigte  Mu'tazilit  Husain  an-Naddschär  versuchte  einen 
\'ermittlungsstandpunlct  anzubahnen,  indem  er  die  These  aufstellt: 
(iott  ist  der,  welcher  die  Handlungen  der  Menschen,  die  guten  wie 
die  bösen,  die  schönen  wie  die  schimpflichen,  schafft,  und  der 
Mensch  ist  der,  welcher  sich  dieselben  aneignet.  Naddschär 
räumte  auch  dem  in  der  Zeit  entstandenen  Vermögen  (des  Menschen) 
einen  Einfluss  ein  und  nannte  denselben  Aneignung  (\-^^') 
nach  der  Weise,  wie  (später)  al-Ascha'ri,  und  er  stimmte  mit 
diesem  auch  darin  iiberein,  dass  das  Vermögen  mit  dem  Thun 
z  u  s  a  m  m  e  n  f  a  1 1  e  ^ '). 

Dem  gleichen  Vermittlungsgedanken  begegnen  wir  auch  bei 
einem  anderen  Zeitgenossen  al-Ascha'ri\s,  'Abdallah  Muh'aramad 
ibn  Karräm,  einem  i\Iann,  dem  nur  Neuerungssucht  in  der  Neu- 
schöpfung von  philosophischen  Terminis,  keineswegs  jedoch  tiefere 
iJildung   oder  gar  philosophische  Originalität  nachgerühmt  wird^^). 


^")  Man  biaurht  dabei  nicht  an  die  gewaltsamen  Geschichtsconstructionen 
Hegels  za  denken,  der  dieses  Prinzip  der  Synthese  bis  auf  die  äusserste  Spitze 
getrieben  hat.  Wie  Vieles,  was  Hegel  durch  masslose  üebertreibung  in  Ver- 
luf  gebracht,  doch  in  beschränkterem  Masse  heute  noch  Geltung  hat,  so  auch 
die  Synthese  in  der  philosophiegeschichtlichen  Construction. 

■")  Haarbrücker,  I,  93;  Schalir.  ed.  Cureton  p.  11":    ^^£.1  v_ÄiL5>_j.P  ^^^-ij 

c-*^»     .   .    .    NJ     u.A.w.X>s!/;   LX>.*in^    1.^-5^x53,    L.g-».Aw.P»5   \J>J^*,     LP.vj^    Ol.^*J! 

Wegen  der  schweren  Zugängliclikeit  dieser  arabischen  Werke  citire  ich 
die  wichtigsten  beweisenden  Kraftstelleu  im  Original.  Bei  der  Wiedergabe  der 
Haarbrücker'schen  Uebersetzung  erlaube  ich  mir  da  und  dort  einige  kleine  Ab- 
weichungen, deren  Berechtigung  und  Nothwendigkeit  der  Kundige  herausfühlen 
wird.    >»addsehär  wird  auch  erwähnt  bei  Mawükif  ed.  Sörensen  p.  ov,  Zeile  14. 

■*-)  Tähir  al-Isfaräiui  gibt  im  11.  Bab  (Abschnitt)  seines  Ruches  ein  nicht 
Lierade  schmeichelhaftes  Bild  von  der  geistigen  Persönlichkeit   Karräm's. 

TS 

jVrchiv  f.  Geschieht«  d.  Philosophie.     II.  ■•  "^ 


214  Ludwig  Stein, 

Im  Namen  dieses  Karram  oder  vielmehr  seines  Anhängers  ihn 
al-Ihiiszilm  herichtet  nun  Schahrastani"):  Gott  hat  alles  Bestehende, 
das  (Jute,  wie  das  Böse,  gewollt  und  alles  Existirende,  das  Schick- 
liche wie  das  Schimpfliche,  geschaffen.  Für  den  Menschen  aber 
nahm  man  ein  Thun  durch  die  in  der  Zeit  entstehende  Kraft  an, 
und  dieses  Tliun  wird  Aneignung  genannt.  Diese  hat  Einfluss 
auf  das  Hervorbringen  eines  Nutzens  ....  und  dieser  Nutzen  ist 
der  Tummelplatz  der  gesetzlichen  Verpflichtung^^). 

Allein  mögen  auch  diese  beiden  Lösungsversuche,  von  denen 
schwer  zu  ermitteln  sein  dürfte,  in  welchem  Verhältnisse  deren 
Vertreter  zum  berühmten  Schulhaupt  al-Asch'ari  standen,  den 
Kern  des  uns  interessirenden  Problems  ganz  richtig  treft'en,  .so 
kennzeichnen  sie  sich  doch  nur  als  schüchterne,  unsicher  tastende 
Versuche.  Zu  voller  Durchbildung  und  durchgreifender  Ausgestal- 
tuTig  ist  diese  Vermittlungstheorie  zwischen  Determinismus  und 
AVillensfreiheit  erst  durch  ihn  Stifter  des  seinerzeit  mächtigsten 
und  ein fl ussreichsten  philosophischen  Systems,  durch  A  b u - "  1  - ' H  a  s a  n 
"Ali  ibn  Isma'il  al  Ascha'ri  (880—941)  gelangt. 

AI  Ascha'ri  war  ein  Apostat  der  mu'tazilitischen  Schule. 
Eines  Mittwochs  erklärte  er  ölTentlich  in  der  grossen  IMoschee 
zu  Iksra,  dass  er  alle  mu'tazilitischen  Haeresieu  feierlich  ab- 
schwöi-o  und  die  drei  dogmatischen  Kardinalpunkte  des  Islam:  die 


'••'')  Haarbiücker  I,  126,  ed.  Cureton  p.  ^f:    ,^-äJI    ^:>.xio   ^-^^^   J— s. 


'iS>^,   Lp ^.5»  LjJS  Owju'Js.j'!  j>\,\   io!»   /  ^iw*j  \_JLj 


'■ijOJil^    ^*5    wW*^'   ^^^"^3    ''■rr^'-^-^'h    '^-^^^    -t^  c:j5j»j>.»-»J1    \Jil£> 


**)  Mau  achte  darauf,  dass  hier  schon  diese  Schattenfreiheit  der  Aneig- 
nung (^_^*./*o)  "mit  der  Motivirung  auftritt,  dass  sie  die  rechtliche,  resp.  sitt- 
liche Zurechnungsfähigkeit  reclitfertigt.  Im  Uebrigen  hat  auch  die  philo- 
sophische Secte  der  Dhirärija  der  gleichen  Vermittlungstheorie  gehuldigt,  vgl. 
Schahr.  Ilaarl.rücker  I,  94:  Sie  behaupteten,  die  Handlungen  der  Meusclieu 
seien  der  Wirklichkeit  nach  anerschaffen   und    der  Mensch   eiffue   sie  sich   der 

Wirklirlik.'it   nach   an.   od.  Cnreton   p.  If":    xs^Jl^vX    J <_*_J!    }\ *_}!    ^Ji*, 

x-r  ..        .      ^        ..  ^  (^j  . 


Antike  iiml  initfelalterliche  Vorläufer  des  Occasionalismus.  215 

Praeexistenz  des  Koran,  die  Attribute  Gottes,  sowie  die  Prae- 
(lestination  hiermit  anerkenne ^^).  Damit  begründete  er  die  nach 
ihm  benannte  Schule,  die  weil  sie  zwischen  den  Extremen  geschickt 
\  ermittelte  und  Concessionen  nach  beiden  Seiten  hin  machte,  sehr 
bald  eine  so  ungeahnte  Ausdehnung  gew^ann,  dass  sie  eine  be- 
herrschende Stellung  im  Islam  sich  erobert  und  Jahrhunderte 
hindurch  behauptet  hat"')-  Und  so  characterisirt  sich  denn  die 
behre  al  Ascha'ri's  durchgehends  als  eine  Vermittlungsphilosophie 'O' 
in  welcher  uns  nach  einem  glücklichen  Wort  Houtsma's  der  Frie- 
clenstractat  der  bis  dahin  einander  bitter  befehdenden  Parteien 
vorliegt  *^). 

Eine  andere  Frage  ist  es.  ob  und  inwieweit  al  Alschari 
jene  Theorie  der  Zurückführung  der  'Willensfreiheit  auf  die  blosse 
Aneignungsfähigkeit  (v*-^'^),  auf  die  es  uns  doch  zuvörderst 
ankommt,  selbst  erfunden  oder  nur  aus  schon  vorhandenen  Denk- 
elementen zusammengefügt  hat.  Letztere  Annahme  entbehrt  nicht 
einer  gewissen  Wahrscheinlichkeit.  Denn  mögen  auch  die  schon 
berührten  Schulen  der  Naddschari,  Karrami  und  Dhirari,  die  eine 
gleichlautende  Theorie  aufgestellt  haben  zum  Theil  Zeitgenossen, 
zum  Theil  sogar  Nachfolger  al  Ascha'ris  gewesen  sein,  so  besitzen 
wir  doch  an  einer  Äeusserung  des  ihn  Hakam,  die  in  einem  dem 
zweiten  Jahrhundert  der  Ilegira  entstammenden  Werke  Fikh 
;d-akbar   niedergelegt   ist  ^''),    ein   lautsprechendes  Zeugniss   dafür, 


*'•')  Vgl.  Muuk,  Melanges  p.  324 ff.  Au.sfijhrlicher  rlargeslellt  bei  Mehren, 
expose  de  la  reforme  de  rislamisine,  Florenz  1878;  W.  Spitta,  zur  Geschichte 
abu'l  'Hasan  al  Ascha'ri's,  Leipzig  1876. 

•"')  Dies  gilt  uaoientlich  von  seiner  eigeuthümlichen  Versöhnung  der  Noth- 
wendigkeit  mit  der  menschlichen  Freiheit,  vgl.  A.  v.  Kremer,  a.  a.  0.  II,  282. 

••')  Spitta  a.  a.  0.  S.  107  ff.  kennzeichnet  al  Ascha'ri  als  einen  Philosophen 
des  Kompromisses.  Das  waren  im  Grunde  alle  Vertreter  des  occasionali- 
stischen  Gedankens. 

***)  Houtsma  p.  10:  In  de  geschritten  van  el  Asha'ri  ligt  ons  het  vredes- 
tractaat  voor,  dat  daaraan  (nl.  aan  ile  heftige  stryd)  een  einde  maakte. 

^^)  Kreraer  I,  43:  Alle  Handlungen  der  erschaffenen  Wesen,  seien  sie 
nun  Bewegung  oder  Ruhe,  sind  in  der  Wirklichkeit  ihr  Verdienst 
(■^^^.^i)  und  Gott  der  Erhabene  ist  ihr  Schöpfer  und  alle  (Handlungen)  ge- 
scheiien  nach  .seinem  Willen  und  seinem  Wissen;  vgl.  auch  ibid.  S.  38. 

15* 


•2\i\  Ludwig  Stein, 

(lass  eine  gleichklinoende  Lösung  des  uralten  Widerstreits  schon 
lange  vor  dem  Auftreten  al-Ascha'ri's  versucht  worden  ist.  Diese 
Frage  aber,  inwiefern  al  Ascha'ri  Schöpfer  oder  nur  Verarbeiter 
dieser  Theorie  ist,  wird  sich  nun  um  so  weniger  beantworten 
lassen,  als  uns  über  dessen  Lehren  verhältnissraässig  nur  spär- 
liches Material  zulliesst,  so  dass  seine  Philosophie  heute  noch  in 
ein  nur  wenig  gelichtetes  Dunkel  gehüllt  ist^").  Sind  wir  doch  in 
der  wenig  erfreulichen  Zwangslage,  uns  über  seine  schärfere  Um- 
grenzung des  Begrifles  der  Aneignung  an  nichtmuhamedanische, 
vor/Algsweise  jüdische  Quellen  um  Auskunft  zu  wenden,  weil  uns 
die  muhammedanischen  vielfach  im  Stiche  lassen.  Die  orientalische 
Philologie,  so  mächtig  sie  aucli  gegenwärtig  emporstrebt,  ist  heute 
noch  recht  weit  davon  entfernt,  uns  alle  jene  handschriftlichen, 
im  stillen  Gewahrsam  der  Bibliotheken  verborgeneu  Schätze  an's 
Tageslicht  des  Drucks  zu  fördern,  aus  denen  wir  hierüber  eine 
erschöpfende,  allen  Forderungen  der  modernen  TMiilologie  ent- 
sprechende Kunde  entnehmen  könnten. 

Aber  sei's  darum !  Können  wir  auch  nicht  genau  ermitteln, 
ol)  al-Ascha'ri  aus  eigener  Schöpferkraft  oder  durch  fremde  Au- 
triebe jene  uns  hier  interessirende  Theorie  der  Aneignung  her- 
ausgearbeitet hat,  so  steht  doch  soviel  unstreitig  fest,  dass  er  sie  zu- 
erst in  jene  schulmässig  knappe,  systematische  Formulirung  gebracht 
hat,  in  welcher  sie  uns  heute  vorliegt.  Vnd  im  letzten  Grunde 
ist  eben  nicht  derjenige  Schöpfer  eines  philosophischen  Systems, 
der  einen  Gedanken  gleichsam  nur  llüchtig  hiuhaucht  oder  in  losen 
Strichen  ahnungsvoll  andeutet,  vielmehr  zuhöchst  derjenige,  der  die 
verschwommenen  Gedankengebilde  in  eine  feste,  greifbare  Form 
bannt,  der  jene  Gedanken,  die  vielleicht  unbewusst  und  unaus- 
gesprochen auf  aller  Lippen  schweben,  auf  den  kürzesten  philo- 
sophischen Ausdruck  bringt  und  dadurch  in  ein  gangbares  System 
kleidet.     In   diesem   weiteren  Sinne  aber  ist  al-Ascha'ri  unstreitig 


^")  Etwas  besser  sind  wir  seit  di-ii  ilankenswerthen  Arbeiten  von  Mehren 
lind  Spitta  über  Ascha'ri's  Le  be  ns  verliälf  n  i  sse  inif errichtet;  aber  seine 
philosophische  Stellung  ist  noch  von  keiner  Seite  gebührend  gekennzeichnet 
worden.  Von  dieser  gilt  vielmehr  heute  noch  die  Klage  lluutsraa's  p.  14: 
„dat  daaraan  nog  zog  goed  als  niets  gedaau  is". 


Antike  und  mittelalterliche  Vorläufer  des  Occasionalisraus.  217 

der  typische  Vertreter  jener  Theorie  der  Aneignung,  die  uns  schon 
in  der  Stoa.  als  Gfu",'xa-7!i}e3ic  oder  adsensio  entgegengetreten  ist  und 
Ulis  noch  heim  christlichen  Mystiker  Richard  von  St.  Victor  als 
consensus,  bei  den  Occasionalisten  als  consentiment  begegnen  wird. 

AI  Ascha'ri  weist  überhaupt  in  seinen  erkenntnisstheoretischeu 
Annahmen  eine  frappante  Aehnlichkeit  mit  den  Stoikern  auf.  Selbst 
jene  kasuistisch  feine  erkenntnisstheoretische  Unterscheidung  der 
Stoa,  nach  welcher  die  Sinne  als  solche  uns  niemals  täuschen,  dass 
es  vielmehr  nur  unser  Urtheil  sei,  das  die  offenbaren  Sinnestäuschungen 
hervorbringe^')  —  ein  Satz,  der  auch  in  der  neueren  Philosophie 
häufig  rezipirt  wird^')  —  wurde  von  den  Ascharija  wortwörtlich 
verkündet'^). 

Das  uns  speziell  beschäftigende  Problem  hat  im  Munde  al 
Ascha'ri's  freilich  einen  etwas  theologischen  Beigeschmack,  zumal 
ja  bei  dieser  ganzen  Schule  Theologie  und  Philosophie  fast  un- 
merklich in  einander  übergehen.  AVas  also  bei  den  Stoikern  als 
natürliche,  innere,  immanente  Causalität  erscheint,  das  nennt  al 
Ascha'ri  den  Willen  Gottes;  aber  das  ist  mehr  Wort difterenz,  als 
S  ach  Verschiedenheit.  Beide  stimmen  darin  überein,  dass  eine  un- 
abänderliche, unverbrüchliche  Causalität  herrscht  —  heisse  diese 
nun  stjxG(p[xsvr|  oder  Gott  —  und  dass  auch  des  Menschen  Wille 
diesem  Causalnexus  unweigerlich  unterworfen  ist.  Die  natürliche 
Consequenz  dieses  entschiedenen  Determinismus  ist,  dass  Gott  oder 
das  Verhängniss  auch  Schöpfer  des  Bösen  sein  müsse ^*),  was  die 
Stoiker  sowohl  als  auch  al  Ascha'ri  ungescheut  zugeben. 


^')  Plut.  St.  repugn.  cap.  47;  fragm.  de  an.  VII,  p.  733  ed.  Wyttenbach; 
Stob.  Ekl.  I,  50  (Aet.  Diels  398):  o't  l-wiv.o't  xov  ao'fov  «(aÖTjaet  ■/.ataXryTtTtxöv  kttö 
ToO  eioo'jt  Te/[j.Tjpiu)0(jJ;.    Vgl.  übrigens  m.  Erkenntnissth.  d.  Stoa  S.  186,  Note  282. 

'^'^)  So  beispielsweise  von  Locke,  essay  concerning  human  understanding, 
I\^  chapt.  11  §3:  But  besides  tbe  assurance  we  have  from  our  senses 
themselves,  that  they  do  not  err  in  the  Information  they  give  us  of  the 
existence  of  thiugs  without  us,  when  they  are  afifected  by  them ;  ibid.  III, 
20  §  1  :  error  is  not  a  fault  of  our  kuowledge,  but  a  mistake  of  our 
Judgera ent,  giviug  assent  to  that  which  is  not  true.  Des  gleichen  Argu- 
ments hatte  sich  auch  Descartes  wiederholt  bedient. 

")  Vgl.  llammer,  Leipziger  Litteraturzeitung  1826,  S.  1292;  H.  Ritter, 
über  unsere  Kenntniss  der  arabischen  Philosophie,  S.  24. 

'"■')  Nach  Chrysipp  ist  Gott  auch  Urheber  des  Bösen,   dessen  Vorhanden- 


218 


Ludwig  Stein, 


Um  aber  gleichwol  die  Berechtigung  einer  sittlichen  Verant- 
wortlichkeit zu  retten,  stellte  al  Ascha'ri  jene  Theorie  des  Kasb 
auf,  durch  welche  er  sich  am  entschiedensten  den  Stoikern,  ins- 
besondere der  durch  Seneca  und  Epictet  vertretenen  Lehre  des 
Kleanthes  annäherte.  Er  sagte  nämlich  wörtlich"):  Schahr.  p.  '^a 
Z.  3  V.  u. 

„.  .  .  Und  der  Diener  (d.  i.  der  Mensch  im  Gegensatze  zu 
Gott,  dem  Herrn)  bestimmt  seine  Handlungen,  da  der  Mensch  von 
sich  aus  einen  wesentlichen  ^*)  Unterschied  findet  zwischen  den  Be- 
wegungen des  Zitterns  und  Bebens  ^0  ^'^^^  zwischen  den  Bewegungen 
der  freien  Wahl  und  des  Willens;  der  Unterschied  geht  aber  darauf 
zurück,  dass  die  freiwilligen  Bewegungen  unter  der  Bestimmung'*) 
entstehen,  auf  der  freien  ^Vahl  des  Bestimmenden  beruhen.  Daher 
sagt  er:  das  Angeeignete  (al  muktasabu)  ist  das  durch  die  zeitlich  ein- 
tretende") Bestimmung  Bestimmte  und  unter  der  zeitlich  ein- 
tretenden Bestimmung  Entstehende."     Das  Resultat  dieser  Theorie 


sein  wegen  des  Gegensatzes  von  Tugend  imd  Laster  begründet  wird ,  Alex. 
Aphrod.  de  fato  c.  37  p.  118;  Plut.  St.  rep.  cap.  47  (Gercke,  Chrysippea  p.  747) 
u.  ö.  Ebenso  sagt  al  AschaVi:  Gott  will  Alles,  das  Gute  wie  das  Böse,  das 
Nützliche  wie  das  Schädliche,  Schahrest.  ed.  Cureton  (ebenso  Maimonides  III, 


cap.  17,   p.  120  f.  Muuk)  p.  Ma:    ^.ptsj^    L-? 


lS>^*,.  Vgl.  auch  Delitzsch,  Anekdota  S.  305,  Ez  Hachajiin  p.  95  Ueber  die 
metaphysische  Bedeutung  dieser  Frage  vergl.  die  tiefgehende  Untersuchung 
von  A.  L.  Kym,  das  Problem  des  Bösen,  München  1878. 

^^)  Obige  wörtliche  üebersetzung  verdanke  ich  Herrn  Prof.  Steiner  in 
Zürich.  Die  Uaarbrücker'sche  Üebersetzung  dieser  im  Uebrigen  schwierigen, 
für  mein  theraa  probandum  beweiskräftigen  Stelle  ist  so  vieldeutig  und 
konfus,  dass  ich  zu  deren  Erklärung  den  eben  genannten  bekannten  Orien- 
talisten  herbeiziehen  musste. 

^'^)  eigentlich:  nothwendigen,  auf  innerer  Nothwendigkeit  beruhenden. 

*0  Zittern  und  Heben  sind  hier  selbstverständlich  koordinirt,  wie  freie 
Wahl  und  Wille;  unfreiwillige  und  fioiwillige  Bewegungen  werden  einander 
gegenübergestellt. 

'*)  nämlich  der  vom  Menschen  ausgehenden  Bestimmung. 

55)  öOtc>  heisst:  neu  eintretend,  zeitlich  entstehend,  im  Gegensatz  zu: 
ewig  *.J^A.ä  oder  ^i;l.  Die  zeitlich  eintretende  Bestimmung,  oder:  zeitlich 
d.  h.  je  im  gegebenen  Zeitpunkt  wirkende  Macht,  ist  die  vom  Menschen  aus- 
gehende, die  ewige  diejenige  Gottes. 


Antike  und   mittelalterliche  Vorläufer  des  Occasionalismus.  219 

fasst  er  sodann  kurz  dahin  zusammen'")-  „Dieses  Thun  wird  An- 
eignung genannt,  so  dass  es  in  Bezug  auf  das  Schaffen  von 
Seiten  Gottes  Produciren  und  Hervorbringen,  in  Beziehung  aber 
auf  die  Aneignung  seitens  des  Menschen  Geschehen  unter  seiner 
Macht  ist." 

Diese  asch'aritische  Theorie  des  Kasb,  die  nach  al  Ghazzäli 
schon  im  Koran  einen  gewissen  Stützpunkt  findet'*'),  die  aber  nichts- 
destoweniger frühzeitig  bereits  auf  heftigen  Widerstand  stiess"), 
war  von  al-Ascha'ri  so  unklar  und  so  wenig  widerspruchsfrei 
formulirt,  dass  sich  schon  im  Mittelalter  zwei  verschiedene  Auf- 
fassungen dariil)er  herausbildeten,  so  dass  die  schärfere  Umgren- 
zung derselben  heute  noch  strittig  ist^^). 

Sowohl  in  Bezug  auf  die  göttliche  Causalität,  als  auch  hin- 
sichtlich  der  menschlichen  Aneignung  sind   nämlich  je  zwei  Fälle 


60-\ 


»)  Schahr.  Haarbr.  I,  103,  Cureton  p.  11:  ^^^^  J-aäÜ  L\.-P  (^•^H^ 
Ax?.Jt  ^A>  ._;,^i^  Li5uX.>l_.  ucLv.j(  ^J-äJ  >^-l-'^  ^^  -S-^=>  Qj— 5^;^-3 
*.j,uX.s  vo-j^vj    'i».*a:>.     \s\.  dazu  MawAkif  ed.  Sörensen  p.  I.o:    J.A»it  J^s 

»Uj!     *.>_w.5Cj     J)L_^n    JCXÄ.Ü      Ljj..v/-S^v./03      Lj!J.^I_j      Lt^A^i     \).J      L_ij._]._JS?._^ 

.üJjLI^,  dJSj^Xs.!)  i>.:^jJiA 

«')  Vgl.  al  Ghazzäli,  Ihjä  IV,  312:  Die  Denker  stellten  hierfür  (nl.  für 
Nothwendigkeit  und  Selbstbestimmung)  eine  dritte  Kategorie  auf  und  nannten 
sie  nach  Massgabe  des  Koran  , das  Verdienst"  (w*.-v»H.i  ),  vgl.  A.  v.  Kremer 
a.  a.  0.  II,  306,  Note  26. 

«-)  Schon  ibn  Adi  wendete  sich  gegen  das  asch'aritische  Kasb,  vgl.  Stein- 
schneider, al  Faräbi,  Petersburg  1869,  S.  155:  Er  (ibn  Adi)  schrieb  gegen  die 
Lehre,  dass  Gott  Urheber  der  Handlungen  sei,  während  dem  Menschen  nur 
eine  Aneignung  {^'u<»^'\,  gewöhnlich  ,_,,<ww.i')  zukomme,  s.  al  Kifti  op.  I, 
12,  ibn  Atti  'Üs  op.  1. 

*^)  Gegen  die  Definition,  die  Dozy  im  Supplement  aux  dictionnaires 
arabes,  T.  II,  Leyde  1881,  p.  436  über  w^.*«.>Ci!  gegeben  hat,  wendete  sich 
Fleischer  in  seinen  Dozy-Studien  (Berichte  d.  sächs.  Ges.  d.  Wissensch.  1886, 
S.  73),  indem  er,  gestützt  auf  Bisläni's  arabisch-arabisches  Wörterbuch  (Muhi- 
tu'1-Muhit  p.  IaIO,  folgende  Definition  des  landläufigen  philosophischen  Schul- 
ausdrucks 'wz-M^yJ!  gibt:  die  Betheiligung  des  Könnens  und  Wollens  des 
Menschen  an  seinem  (von  Gott)  vorherbestimmten  Thun. 


220  Ludwig  Stein,  ßj 

(lenkbar:  Entweder  hat  Gott  durch  einen  Urwillensact  die  Causa- 
lität  in  die  Natur  hineingelegt,  chuiu  würo,  er  nur  mittelbarer 
Schöpfer  der  menschlichen  Handlung,  oder  er  erschafft  continuir- 
lioh  jegliche  Willenshandiung,  dann  ist  er  ilir  unmittelbarer 
Urheber.  Bezüglich  der  menschlichen  Mitthiitigkeit  lautet  wieder 
die  Alternative:  Entweder  ist  diese  Mitwirkung  nur  eine  genöthigte, 
somit  unwirksame  und  mechanische,  etwa  gleich  dem  Nicken  einer 
Pagode,  oder  diese  Mitwirkung  besteht  in  einer  wirksamen 
Cooperation,  die  auf  das  Zustandekommen  der  Handlung  Ein- 
fluss  hat.  15 

Da  aber  für  alle  diese  vier  denkbaren,  einander  widerstreitenden 
Fälle  historisch  beglaubigte  Zeugnisse  über  al-Ascha'ri  vorliegen,  so 
w^ird  man  dessen  wahre  Meinung  nur  vermittelst  kritischer  Prüfung 
ausmitteln  können.  Für  die  erste  Annahme,  dass  nämlich  Gott 
den  Causalzusammenhang  in  die  Natur  vermittelst  eines  einzigen 
ürwillensactes  hineingelegt  hat  —  wie  später  die  Occasionalisten 
Louis  de  la  Forge  und  Clauberg  behaupteten*^*)  —  besitzen  wir 
das  wichtige  Zeugniss  Schahrastäni's,  der  ja  selbst  Anhänger  der 
Ascharija  war^').  Und  doch  gibt  diese  Darstellung  des  Asch'ariten 
Schahrastäni  w'ol  kaum  die  wirkliche  Meinung  des  al  Ascha'ri  wieder, 
da  Schahrastäni  sich  selbst  in  Widersprüche  verwickelt.  Gleich  dar- 
auf nämlich  lässt  er  al-Ascha'ri  sagen,  dass  Gott  bei  den  Bewe- 
gungen des  Menschen  eigentlich  der  Veranlasser  sei,  weil  er  ihm 
die  Fähigkeiten  zu  denselben  erst  anerschaften  müsse.  Man  exem- 
plifi^irte  dann  am  Schreiben  des  Menschen,  und  das  scheint  ein 
beliebtes  Schulbeispiel  geworden  zu  sein®^).    Denn  auch  Maimonides 


®*)  Wie  ich  in  m.  Abhandlung,  zur  Genesis  des  Occasionalismus,  Archiv  I, 
S.  55  ausgeführt  habe.  Gegenüber  den  gewichtigen  Einwänden  Euckens,  Göt- 
tinger gel.  Anzeiger,  1887,  949  0".  vgl.  mau  jetzt  H.  Seyfarth,  Louis  de  la 
Forge,  Gotha  1887,  S.  40fF.:  vgl.  weiter  Note  106. 

")  Schahr.  Haarbr.  I,  101:  Gottes  Wille  ist  ein  einziger,  der  sich  auf 
Alles  erstreckt;  ebenso  ibid.  I,  102,  Cureton  p.  1a:  n^Jj!  öA^-^^  «.jOi.l^  ^Ci 
üäXxÄ/c.  Ueber  Schahrastäni's  Zugehörigkeit  zur  Schule  der  Asch'arija,  vgl. 
Haarbrücker,  II,  402.  Nach  Dugat  a.  a.  0.  p.  273  soll  übrigens  auch  al-Ghaz- 
zäli  aus  den  Asch'arija  hervorgegangen  sein. 

*")  Vgl.  Schahr.  Haarbr.  I,  102.  Dass  die  Schreibbewegung  marktgän- 
giges Schulbeispiel  war,   um  das  unmittelbare  Eingreifen   der  Gottheit  darzu- 


Antike  und  mittelalterliche  Vorläufer  des  Occasionalisimis.  221 

hat  es  uns  in  vuller  Ausführlichkeit  aufbewahrt.  Er  berichtet 
nämlich  als  die  Ansicht  al-Aschaifs"):  Für  die  Schreibbewegung 
(lieser  Feder  hat  Gott  vier  Vorgänge  hervorrufen  müssen,  die  neben 
einander  coexistiren,  ohne  sich  gegenseitig  causal  zu  bedingen. 
Erstens  meinen  Willen  die  Feder  in  Bewegung  zu  setzen,  zweitens 
die  Fähigkeit  meiner  Bewegung  überhaupt,  drittens  diese  spezielle 
Handbewegung,  viertens  endlich  die  Bewegung  der  Feder.  Wenn 
.■dsü  der  Mensch  eine  Handlung  verrichtet  (oder  doch  selbst  zu 
verrichten  vermeint),  so  hat  ihm  Gott  vorher  den  Willen  zur 
That,  sowie  die  Fähigkeit  zur  Vollführung  derselben  und  schliess- 
lich die  Handlung  selbst  zuvor  anerschaffen.  An  anderer  Stelle 
>agt  Maimonides  gar  ausdrücklich:  sie  behaupten,  dass  Gott  alle 
Geschehnisse  unmittelbar,  ohne  Vermittlung  eines  Natur- 
gesetzes und  ohne  jede  wie  auch  geartete  Dazwischen- 
kunft  erschafft^^).  Nur  hat  sich  Gott  eine  gewisse  Gewohn- 
heit in  seiner  stets  sich  erneuernden  Schöpfungsweise  vorbehalten, 
wodurch  es  erklärlich  wird,  dass  auch  in  der  Erscheinuugswelt  die 
gleichen  Ursachen  dieselben  ^Virkungen  hervorrufen*^^).  Bedarf  es 
aber  des  contiuuirlichenDazwischentretens  der  Gottheit,  um  Hand- 
lungen zu  ermöglichen,  so  würde  die  Welt  naturgemäss  in  dem 
Augenblick  in  ein  bodenloses  Nichts  versinken,  in  welchem  Gott 
aufhörte,  continuirlich  immer  von  Neuem  weiterzucreiren '°)  — 
ein  Gedanke,  der  später  bei  Malebranche  in  genau  derselben 
Fassung  wiederkehrt.  Dass  durch  diese  strenge  Formulirung  des 
Determinismus  seitens  der  Ascharija  die  Natur  des  Möglichen  auf- 


Ibun,  ersieht  man  u.  A.  auch  daraus,  dass  auch  die  Zahiriten,  sonst  Gegner 
der  Asch'arija,  behaupten,  „die  Bewegung  in  der  Hand  des  Schreibenden  ist 
von  Gott  anerschatfen",  vgl.  Goldziher,  die  Zahiriten,  S.  141. 

^0  Maimonides,  More  Nebukhim  I,  cap.  72,  französisch  von  Munk,  guide 
lies  egares,  I,  394.  Dieses  Schulbeispiel  kehrt  nochmals  wieder,  I,  cap.  73, 
Munk  p.  303. 

**)  Maimonides,  ibid.  I,  cap.  72,  Munk  1,  p.  390. 

^^)  Ibid.  I,  cap.  73,  Munk  p.  392:  Dien  a  etabli  comme  une  chose  habi- 
tuelle que  cette  couleur  noire,  par  exemplc,  ne  naquit  quau  moment  oü 
Tetolfe  s'unit  ä  l'indigo.  Auch  diesem  Gedanken  begegnet  man  wieder  bei 
den  Occasionalisten,  namentlich  bei  Malebranche. 

™)  Vgl.' Munk,  Melange»  p.  325fr. ;  guide  des  egares  I,  391. 


990 


Ludwig  Stein, 


gehoben  wurde,  hinderte  sie  nicht,  die  letzten  Cousequenzen  des- 
selben zu  ziehen,  so  arg  sie  dieserhalb  auch  befehdet  und  be- 
spöttelt wurden"). 

iMan  ersieht  aus  alledem,  dass  al-Ascha'ri  nicht  jenem  Deter- 
minismus huldigte,  den  später  die  Occasionalisten  de  la  Forge  und 
Clauberg  verkündeten,  nach  welchen  Gott  nur  durch  einen  ein- 
zigen schöpferischen  Urwillensact  die  Causalität  aller  Dinge  fest- 
gesetzt hätte  und  somit  nur  mittelbar  Veraniasser  aller  mensch- 
lichen Handlungen  wäre,  dass  er  vielmehr  jenen  Determinismus 
vertrat,  den  ich  als  den  Occasionalismus  der  zweiten  Phase  be- 
zeichnet habe^^),  nach  welchem  die  Gottheit  ohne  Zuhilfenahme 
ewig  geltender  Naturgesetze  jede  einzelne  menschliche  Hand- 
lung unmittelbar  schöpfen  muss,  sodass  ohne  ein  unmittelbares 
Eingreifen  Gottes  kein  Blatt  vom  Baum  fallen  kann'^).  .• 

Um  aber  bei  diesem  starren  Fatalismus  die  sittliche  Zurech- 
nungsfähigkeit aufrecht  halten  zu  können,  musste  der  menschlichen 
Selbstbethätigung  irgend  ein  Spielraum  geschaffen  werden.  In 
seiner  Theorie  des  Kasb  glaubte  al-Ascha'ri  nun  diesen  Spielraum 
gefunden  zu  haben.  Allein  soll  diese  Aneignung  seitens  des  Men- 
schen eine  rein  mechanische,  gezwungene  sein,  wie  einzelne  Aus- 
leger dieses  Kasb   deuten  '^),  so  ist  nicht  abzusehen,   wo  hier  die 


^')  Vgl.  z.  B.  Averroes,  destructio  destructionis  III,  fol.*27,  col.  1 ;  Maimon.  I, 
cap.  73,  p.  389 ff.:  III,  cap.  25,  p.  198  Jlunk;  Alirou  b.  Elia,  Ez  Hacliajim  p.  181 

ed.  Delitzsch:   rm':'!^?   ICB'I  irhD^O  "ItiTNH  V2'C  )bü2'\L''  .myt^'N*  n3 

cirn  ]"iyib  nDii'jDJ  inbiysti'  "idvd  mj?:^:  \s  ni2^in?2-   t);vriim  fäiit  er 

denn  auch  über  die  asch'aritische  Lehre  das  vernichteade  Urtheil  p.  115: 
\'^rN  "^^l  12  b^^l'V  N^l  ni/'~i2  Jt^'T»  ah^'  py-  Ueber  diese  straffe  For- 
mulirung  des  Determinismus  seitens  al  Asch'uri  vgl.  Mehren  a.  a.  0.  p.  49; 
Sputa  a.  a.  0.  S.  96. 

'''■)  Als  dessen  Vertreter  Cordemoy,  Geulincx  und  Malebranchc  anzusehen 
sind,  vgl.  Archiv,  I,  58ff. 

")  Maimonides  I,  cap.  70,  p.  391  ff.;  III,  cap.  17,  p.  120  ilunk. 

")  In  diesem  Lichte  einer  rein  wirkungslosen,  mechanischen  Aneignung 
stellt  Ahron  ben  Elia  das  Kasb  dar,  indem  er  einen  Uaterschied  zwischen 
i^l^p   (Aneignung)    und    ni^l   (Erwerli)    hypostasirt    und    den  Asch'arija  die 

Lehre   in    den  Mund    legt:    r\^:pr,   ^h   ü'^   bzN   bbz   byiS    DIn'?  ]\Sli'.   Ez 


Antike  irad  mittelalterliche  Vorläufer  des  Occasioualisinus.  223 

Verdienstlichkeit  liegen  soll.  Hätte  der  Mensch  keinen  indivi- 
duellen Mitantheil  am  Zustandekommen  seiner  Handlungen,  und 
wäre  das  dem  Menschen  eignende  Kasb  nur  im  Sinne  eines  me- 
chanischen Aneignens  d.  h.  pagodenhafteu  Kopfnickens  zu  verste- 
hen, dann  wäre  diese  ganze  Theorie  des  Kasb  von  einer  gar  zu 
durchsichtigen  Sophistik.  Eines  so  läppischen  Scheinmannövers 
war  al  Aschari  denn  doch  wol  nicht  fähig.  Wollte  er  doch  auf 
das  Kasb  die  Berechtigung  der  ganzen  Ethik  aufbauen  '  ^).  Das  konnte 
er  aber  nur  dann,  wenn  in  diesem  Kasb  ein  thätiger,  persön- 
licher Mitantheil,  ein  mit  Affect  begleitetes  individuelles  Wollen 
eingeschlossen  war.  Und  in  der  That  geben  die  meisten  der  über- 
liefeiten   Definitionen    des    asch'aritischen  Kasb  ")    demselben  die 


Hach.  p.  115  Delitzsch.  Diese  n'^^p  repräsentirt  das  mechanische  Aneignen, 
während  rWI  ™el^r  fl^n  f^rwerb  durch  selbstthätigen  Mitantheil  darstellt. 
Hiernach  hätte  al  Asch'ari  also  nur  die  mechanische  Aneignung  gelehrt.  Dieser 
Irrthura  Elia's  ist  wahrscheinlich  auf  eine  Stelle  des  Maimonides,  I,  cap.  73, 
p.  394  Munk  zurückzuführen,  wo  es  wirklich  heisst:  il  (rhomme)  nagit  point 
au  moyeu  de  la  faculte  creee  dans  lui,  laquelie  n'a  point  d'influence  sur 
faction;  ähnlich  III,  cap.  17,  p.  120.  In  dieser  Auffassung  widerspricht  sich 
aber  Maimonides  selbst,  denn  an  anderer  Stelle  I,  51,  p.  186  sagt  er  aus- 
fh-ücklich  im  Namen  der  Ascharija:  l'homine  n'a  point  d'action,  mais  il  a 
lacquisition  ('^^^).  Im  Uebrigen  gibt  auch  Ahron  b.  Elia  zu,  dass  ein 
Theil  der  Ascharija  das  Kasb  als  nT*"!  verstanden  hat,  vgl.  p.  17  Delitzsch: 

vsipjn ni'p  nsnzjn  nbiD^D  nb  )r2^bz'r\^'  nnyiiw  npo  nypi 

•'Dl  irD2n  jii^'bD  mn 

")  Wie  dies  aus  Baidäwi's  (Anhängers  der  Ascharija)  Bemerkung  zu 
>üre  14,   V.  27   (I,  fl,  17  und  18  ed.  Fleischer)  deutlieh  erhellt. 

'^)  Im  Sinne  einer  selbstthätigen  M  it  wirksamkei  t  erscheint  das 
Kasb  in  des  Kara'iten  Josef  al  Basir  Muhtawi,  ni?D''J/J  "ISD  (nocli  ungedruckt; 
das  arabische  Original,  jüngst  aufgefunden,  ist  im  Besitz  des  Prof.  Kaufmann  in 
Budapest).  Im  Kap.  30,  überschrieben  CIX  ""JD  n''"'"122  "iyti'>  befindet  sich 
Pin  interessanter  Passus  über  das  v_^.«-^,   der  diese    letztere  Auffassung  des- 

'-elben  bestätigt.  Dieser  Bericht  über  das  v^^.v^i'  ist  um  so  werthvoller  und 
glaubwürdiger,  als  er  wol  der  erste  uns  erhaltene  sein  dürfte,  da  er 
aus  dem  10.  .lahrh.  stammt.  Die  gleiche  Auffassung  des  Kasb  vertritt 
Baidäwi  zu  Sure  11,  75;  Schahrast,  passim.;  Mawakif  ed.  Sörensen  p.  115; 
Dschordschäni,  definitiones  ed.  Flügel  p.  193.  Von  neueren  Forschern  vgl. 
i'ococke  1.  c.  p.  239f.  und  248f.;  Säle,  the  Koran  (nach  Pococke)  p.  221—23-, 


224  Ludwig  Stein, 

J)eutaixg,  dass  es  eine  thätige  Cüoperation,  eine  individuelle  i\lit- 
Avirksamkeit  des  menschlichen  Willens  heim  Zustandekommen  der 
von  Gutt  in  iinn  vollzogeneu  Handlungen  ausdrücken  soll.  Und 
so  kommt  denn  der  asch'aritische  Begriff  des  Kasi»  der 
stoischen  a'J7X7.Tai>£3'.c,  dem  consensus  des  Richard  von  St.  Victui', 
sowie  endlich  dein  consensus  (cousentement)  der  Occasioua- 
listen  ausserordentlich  nahe. 

Zum  Schlüsse  dieser  Auseinanderset/Aing  über  den  arabischen 
Occasiüualismus  möchte  ich  die  Bemerkung  nicht  unterdrücken, 
dass  der  triftigste  Einwand ,  der  gegen  jede  occasionalistischej 
Theorie  erhoben  werden  kann,  schon  von  einem  arabischen  Denker, 
ibn  Hizcäm,  ausging.  Er  hält  nämlich  den  Ascharija  die  Alterna- 
tive entgegen:  Entweder  ist  dieses  Kasb  ganz  unabhängig  von 
Gott,  dann  ist  es  zwar  Freiheit,  aber  die  göttliche  Causalität' 
ist  durchbrochen,  oder  auch  das  Kasb  ist  eine  Schöpfung  Gottes, 
dann  ist  eben  die  ganze  Theorie  wesenlos  und  inhaltsleer'')- 


Kap.  III. 
Richard  von  St.  Victor. 
Bei  der  reicheren  und  mannigfaltigeren  Gedankenfülle,  die  das 
Christenthum  gegenüber  dem  Islam  auszeichnet,  ist  es  nicht  zu 
verwundern ,  dass  innerhalb  desselben  das  Problem  des  Determi- 
nismus nicht  jene  prädominirende  Stellung  einnahm,  wie  im  Islam. 
Bildete  die  Frage  nach  der  Prädestination  in  der  dogmatischen 
Ausgestaltung  des  Islam  den  hervorspringenden  und  das  gesammte 
philosophische  Denken  zunächst  beherrschenden  Ausgangspunkt,  so 
hatte  sie  für  das  im  dogmatischen  Ausbau  begriffene  Christenthum 
bei  Weitem  keine  solche  hervorstechende  Bedeutung.  So  stand 
sie  beispielsweise  dem  Logosbegriflf  an  Wichtigkeit  erheblich  nach. 
Und  doch  würde  man  fehlgehen,  wollte  man  die  Tragweite  dieses 
Problems  für  die  Entwicklung  der  christlichen  Philosophie  unter- 
schätzen.    Trotz  der  fundamentalen  Bedeutung  nämlich,  welche  die 

Renan,  Averroes  p  81;  Srhmöldeis,  essai  sur  Ja  philos.  arab.  p.  13a,  in6ff.; 
Munk,  ileianges  p.  325 ff.;  Dugat  1.  c.  p.  146;  Frankl,  a.  a.  0.  S.  21  und  44; 
Mehren,  1.  c.  p.  49;  Spitta  a.  a.  0.  S.  1)6  f.  und  106. 

")  Cod.  Lugd.  1  f.  194r.  bei  Houtsma  a.  a.  0.  S.  65. 


Antike  und  mittelalterliche  Vorläufer  des  Occasioualismus.  225 

Willensfreiheit  für  die  christliche  Theologie  hat,  fehlte  es  schon 
frühzeitig  nicht  an  Versuchen,  dieselbe  zu  Gunsten  eines  entschie- 
denen Determinismus  völlig  preiszugeben. 

Die  Manichäer  z.  B.  tragen  kein  Bedenken,  die  freie  Selbstbe- 
stimmung des  Menschen  rückhaltlos  und  unumwunden  zu  leugnen"). 
In  durchgreifendem  Gegensatz  zum  Manichäismus  beschränkt  wieder 
der  Pelagianismus  die  göttliche  Prädestination,  um  nur  die  volle  und 
ungeschmälerte  Selbstbestimmung  des  Menschen  zu  retten").  Und 
wieder  können  wir  die  bei  den  Stoikern  und  den  Ascharija  konstatirte 
Th^tsache  beobachten,  dass  überall  dort,  wo  zwei  unvermittelte  und 
scheinbar  unversöhnliche  Extreme  einander  gegenüberstehen,  sich  zur 
rechten  Zeit  eine  Compromissphilosophie  herausarbeitet,  welche  die 
Schroffheit  der  Gegensätze  durch  mildernde  Abschwächung  abfeilt 
und  eine  Verschmelzung  der  entgegenstehenden  Ansichten  vornimmt. 
]n  diesem  Falle  war  nun  der  Semipelagianismus  der  Mittler, 
der  vom  absoluten  Determinismus  der  jManichäer  eine  Brücke 
schlug  zur  bedingungslos  proklamirten  Wahlfreiheit  des  Pelagianis- 
nuis.  Der  AViderstreit  von  göttlicher  Nothwendigkeit  und  mensch- 
licher Freiheit  wird  von  Semipelagianern  auf  jene,  stark  an  den 
Stoizismus  anklingende  Weise  gelöst  ^"),   dass  dem  Menschen  zwar 


")  Vgl.  Stock!,  Geschiclite  der  patristischen  Philosophie  S.  83. 

")  Uebei'  die  sonderbare  Art,  wie  die  Pelagianer  die  Prädestination  zu 
(iunsten  der  Freiheit  hinwegdeuteten,  vgl.  August,  contra  duas  epp.  Pelag. 
I.  2,  c.  7. 

80)  Vgl.  loanni  Cassiani  Collatioues  III,  cap.  12  p.  575  Migne:  adjutoriuin 
Domini  junctnni  eidem  semper  ostenditur,  fpio  sane  ne  penitus  libero  colla- 
bamur  arbitrio,  cum  titubasse  nos  viderit,  porrectione  quodammodo  manuum 
suainim  sustenat  atque  confirmat;  vgl.  ibid.  III,  21,  22  p.  583  Migne  .  .  .  non 
liberum  arbitrium  hominis  volumus  submovere  sed  huic  adjutorium 
et  gratiam  Dei  per  singulos  dies  ac  momenta  necessariam  compro- 
bare;  ibid.  VII,  8  p.  678M.:  in  nobis  virtus  respuendi  sive  acquiescendi 

Hbertas  est  attributa Constat  ergo  neminem  posse   a   diabolo    decipi, 

uisi  illam  qui  praebere  illi  maluerit  suae  voluutatis  assensum;  ibid.  XIII, 
8  p.  912:  adest  igitur  inseperabiliter  nobis  semper  diviua  protectio; 
ibid.  XIII,  9,  p.  919  Migne:  et  quia  etiara  suis  interdum  motibus  homo  ad 
virtutum  appetitus  possit  extendi,  semper  vero  indigeat  adjuvari.  Ich 
habe  das  Material  über  die  Freiheitslehre  der  Semipelagianer,  insbesondere 
t'assians,  hier  möglichst  vollständig  angegeben,  einmal  weil  die  bezügliche 
Darstellung' StöckFs   S.  133   —   eine   andere    neuere   philosophiegeschichtliche 


226  Lud  VT  i  er  Stein. 

die  Initiative  aber  nicht  die  Executive  eingeräumt  wird.    Ohne 
wüttliche  Assistenz    kann   keine  Handlung  vollbracht  werden,    aber 

o  l 

der  menschliche  AVille  kann  zuweilen  die  veranlassende  Ursachej 
werden,   dass    Ciott   die   gewollten  Handlungen  der  Menschen    voll- 
zieht.    (Jder   auch   der  Mensch   zollt  den  Handlungen,  die  Gott  in! 
ihm  vollbringt,  seinen  Beilall  (assensus),    und   darauf  beruht! 
sein    sittliches    Verdienst.      Man    sieht,    dass    es    immer    der 
gleiche  Ausweg  ist,   auf  welchen    der  Vermittlungsstandpunkt   ver- 
fällt, ja  vielleicht  verfallen  muss.  weil  es  vernünftigerweise  keinen 
anderen  gibt. 

Dem    gleichen  Vermittlungsversuch  begegnen  wir  in  der  Pat- 
ristik  noch    einmal,    und   zwar    beim  Kirchenvater  Hieron ymus. 
de.ssen  starke  Seite   die  Philosophie  bekanntlich   nicht  war.     Auch 
behandelt    er    das  Problem    nur  mehr  episodisch,    indem   er   es   in, 
seine  Polemik  gegen  die  excessive  Freiheitslehre  des  Pelagianismiis  ' 
einflicht.     Bei  ihm  kehrt  denn  auch  die  stoi.sche  Wendung  assen-j 
sus,  die  uns  bei  den  Semipelagianern  begegnet  ist.  wieder'*'),  wo-' 
l)ei  freilich  unentschieden  bleiben  mag,  ob  etwa  zwischen  Hicrony- 
mus  und  Cassian  ein  Abhängigkeitsverhältniss  besteht. 

Durch  Augustin,  der  die  Schlusssumme  der  patristischen  l'liilo-  1 
Sophie  in  ebenso  encyclopädischer  AVeise  zusammenfasste.  wie! 
Thomas  d'Aquino  die  der  scholastischen,  kam  unser  Proltlem  zum  j 
vorläuhgen  Abschluss.  Er  hatte  sich  die  verzweifelte,  an  innerem  j 
Widerspruch    krankende    Ausflucht    zurechtgelegt,    Gott    sehe    die  j 


Behandlung  der  Patristik  besitzen  wir  leider  immer  noch  nicht  —  mangelliaft, 
theihveise  gerade/.u  verfehlt  ist,  andermal  desshalb,  weil  man  aus  unserer 
Zusammenstellung  ein  sell»st  bis  auf  den  Ausdruck  sich  erstreckendes 
Anklingen  an  den  Stoizismus  entnehmen  kann.  Wenn  Cassian  von  assensus 
Yoluntatis  spricht,  so  hat  er  diese  Wendung  vielleicht  Seneca  oder  Cicero  entleimt. 
«')  Vgl.  Hieron.  Ep.  lo2,  adv.  Pelag.  p.  1153  Migne:  velle  et  currere 
nieum  est:  sed  ipsum  meum,  sine  r)ei  semper  auxilio,  non  erit  meum  ... 
avarus  sum  ad  accipienda  beneficia  dei,  nee  ille  deficit  in  dando,  nee  ego 
satior  in  accipiendo;  vgl.  Dialog,  contra  Pelag.  III,  10,  p.  607  M.:  liberum  ex 
parte  cessat  arbitrium,  quod  in  eo  tantum  est,  ut  velimus  at(|ue  cupia- 
mus,  et  placitis  trii)uamus  assensum;  ibid.  I,  4:  non  sie  donata  est 
liberi  arbitrii  gratia,  ut  Dei  per  singula  tollatur  adminiculiim;  iihnliclie 
Wendungen  finden  sich  noch  adv.  Jovin.  I,  29;  Comm.  in  Ep.  ad  Gal.  III, 
6  u.  ü. 


II 


Antike  und  mittelalterliche   Vorläufer  des  Occasionalisinus.  227 

Veieii  IlaiKllungen  des  Menschen    als   freie    voraus,    so    dass    die 

Tittliche   Providenz    die   Freiheit    nicht  aufhebe'^).      Damit   waren 

lie  Gemüther  vorerst  hescliwichtigt.     Und  sintemal  das  halbe  Jahr- 

ausend    nach  Augustin   vermöge  einer  geistigen  Dürre  die  Sahara 

ler  abendländischen  Kultur  bedeutet,  so  darf  es  uns  nicht  Wunder 

ehmen,    dass    vom    5.   bis    zAim    10.  Jahrhundert   anf    christlicher 

Seite  kein   uennenswerther  Versuch  gemacht  wurde,    das   uns  hier 

iiiteressirende  Problem  irgendwie  aufzufrischen. 

Das  im  Dogma  etwas  verhärtete  und  eingerostete  Problem  des 
Determinismus  wurde  aufs  Neue  in  Fluss  gebracht  durch  die  kühne 
l'ürraulirung,  die  der  durch  seine  tragischen  Schicksale  bekannte 
l'uldaer  Mönch  Gotschalk  ihm  gegeben  hat.  Durch  seine  Lehre 
einer  doppelten  Prädestination,  d.  h.  der  Begnadeten  zur  Glück- 
seligkeit und  der  Verworfenen  zur  Verdammniss  ^■^)  hatte  er  dem 
Determinismus  eine  so  starre  Form  gegeben,  wie  er  sie  innerhalb 
^er  christlichen  Kirche  in  gleicher  Schärfe  und  Unerbittlichkeit  nur 
noch  einmal  wieder  erhalten  hat,  und  zwar  durch  ^lartin  Luther**'). 

Allein  mochte  auch  der  Determinismus  gleich  an  der  Schwelle 
der  scholastischen  Philosophie  mit  noch  so  lärmsclihigender  Prä- 
tension auftreten,  so  wurde  er  doch  w'eit  übertönt  und  in  den 
Hintergrund  gedrängt  durch  den  betäubenden  Kampf  zwischen 
Xominalismus  und  Realismus  —  ein  Kampf,  der  in  der  ge- 
rammten Scholastik  so  sehr  prävalirte,  dass  man  für  Probleme,  die 
nicht  unmittelbar  mit  diesem  zusammenhingen,  fast  stumpf  und 
unempfindlich  wurde.  Und  so  flüchtete  sich  denn  die  uralte  Frage 
nach  der  Vereinbarkeit  des  Determinismus  mit  der  Willensfreiheit 
aus  der  Scholastik  in  die  Mystik. 

Das  erklärte  Oberhaupt  der  scholastischen  Mystik,  der  heilige 
Bernard  von  Clairvaux  (doctor  mellifluus)  brachte  in  seiner 
Schrift  de  gratia   et  libero  arbitrio  diese  von   der  Scholastik  etwas 


^-)  Augustin,  de  Hb.  arbitr.  III,  4;    de  civ.  dei  V,  9  und   10. 

^■■)  üeber  die  Tragweite  dieses  berühmten  Prädestinationsstreites,  der  für 
den  Urheber  desselben,  den  Mönch  Gottschalk,  einen  so  traurigen  Ausgang 
genommen  hat,  informirt  am  eingehendsten  Staudenmeyer,  J.  Scot.  Erigeiia, 
l'.d.  I.  S.  170—200. 

^^)  In  Luthers  bekannter  Schrift  de  serv.  arbitr.  passim. 


228  Ludwig  Stein, 

vernachlässigte  Frage  \Yieder  in  Irische  liewegung.  Er  unterscheidet 
drei  Arten  von  Freiheit,  die  in  höchster  Vollendung  nur  Christus 
besessen  hat,  die  sich  jedoch  in  abgeschwächter  Gestalt  auch  beim 
^lenschen  vorfinden  ").  Nur  der  Sünde  gegenüber  ist  der  Mensch 
unfrei*"'),  du  er  seine  höchste  Freiheit  durch  den  Siindenfall  ver- 
wirkt hat.  Aber  selbst  in  den  Fällen,  in  denen  uns  ein  Ueberrest 
von  Freiheit  geblieben  ist,  können  wir  aus  eigener  Machtvollkom- 
menheit nichts  vollführen.  Die  gfittliche  Gnade  —  im  Uebrigen 
nur  ein  anderer,  kirchlicher  Name  für  den  Determinismus  —  rauss 
beim  Zustandekommen  unserer  Handlungen  mitwirken"').  An- 
dererseits ist  aber  auch  die  göttliche  Gnade  ohne  die  j\Iithilfe  un-  ; 
seres  Willens  unwirksam :  beide  Factoren  müssen  also  zum  Zu-  | 
standekommeu  der  menschlichen  Handlung  zusammenwirken^^). 
AV^orauf  gründet  sich  demnach  unser  sittliches  Verdienst?  Offenbar 
doch  nur  auf  unsere  Zustimmung  zu  den  durch  Gottes  Gnade  in 
uns  vollzogenen  Handlungen,  d.  h.  auf  den  Beifall,  mit  welchem 
wir  unsere  nothwendigen  Handlungen  begleiten'^).  Die  cooperatio 
und  der  consensus  des  Menschen  machen  seine  sittliche  Zurech- 
nungsfähigkeit aus  —  genau  dieselbe  Lösung,  die  wir  l)ereits  bei 
den  Stoikern   und  den  Ascharija  kennen  gelernt  haben. 

Hatte  aber  der  heilige  Bernard  von  Clairvaux  diese  Theorie 
nur  mit  gewn.ssen  Vorbehalten  entwickelt,  so  tritt  sie  uns  bei 
Ivichard  von  St.  Victor  in  voller  Schärfe  und  systematischer 
Rundung  entgegen.  Die  Victorianer  —  so  benannt  nach  ihrem 
Aufenthaltsort,  dem  Kloster  St.  Victor  in  Paris  —  waren  ohnehin 
die  begeisterten  Fortbildner  der  mit  Mvstik  durchsetzten  Philo- 
Sophie  des  S.  Bernard.     Vnd  so  ist   es  denn  sehr  begreiflich,    dass 


*^)  de  gratia  et  lil).  aibitr.  cap.  ö  uiul  4;  II.  .Schmidt,  der  Mystizismus  des 
Mittelalters,  S.  22G. 

^'O  Sermones  de  divers.  81. 

*^)  de  grat.  et  üb.  arbitr.  cap.  13,  42:  liurainis  conatiis  ad  bomim  et  cassi 
sunt,  si  a  gratia  non  adjuvantur,  et  nulli  si  non  exciteutur;  vgl.  Stöckl,  Philo- 
sophie des  Mittelalters  I,  299. 

**)  Ib.  rap.  1   und   14,  4(j;    cap.  (i:    velle   siquidem   inest    iiul'is  ex  libero  j 
arbitrio,  non  etiaui  posse  quod  volumus. 

*')  Ibid.  cap.  1:   cooperari  dicitur  liberum  arbitrium,    dum  cousentit,  j 
hoc  est,  dum  salvatur.     Consentire  enim  salvari  est.  i 


Antike  und  mittelalterliche  Vorläufer  des  Occasionalismus.  229 

die  vom  li.  Bernard  wieder  mit  Nachdruck  aufgegriffene  Frage  nach 
der  Vereinbarkeit  der  Freiwahl  mit  dem  Determinismus  von 
den  Victorianern  mit  grosser  Lebhaftigkeit  weiter  verhandelt 
worden  ist.  Zwar  der  erste  Victorianer,  Hugo,  ohnedem  der 
minder  bedeutende ,  hat  zur  Weiterbildung  unseres  Problems 
nichts  Beträchtliches  beigetragen.  Um  so  entschiedener  und  durch- 
greifender ist  nun  dessen  Freund  und  Nachfolger  Richard  von 
St.  Victor  für  dasselbe  eingetreten.  Er  schuf  sich  für  seinen 
Lösungsversuch  eine  breitere  Grundlage,    sofern  er  das  Geistesver- 

!  mögen  des  Menschen  in  Vernunft  und  Affect  eintheilte;  die 
Vernunft  soll  die  Wahrheit  zu  ermitteln  streben,  der  Affect  auf 
die  Aneignung  der  Tugend  gerichtet  seiu^").  Der  menschliche 
Wille  ist  nur  ein  Ausfluss  dieses  Affects^'),  somit  unselbstän- 
dig, weil  vom  Affect  bedingt.  Unsere  Freiwahl  kann  demnach 
nicht  in  jenem  absoluten  Sinne  gelten,  als  ob  wir  die  unbedingte 
Gewalt  in  uns  hätten,  zwischen  Gut  und  Böse  zu  wählen  und  nach 
unserer  Wahl  auch  zu  handeln..  Denn  das  Handeln  liegt  über- 
haupt nicht  in  unserer  Macht.  Gott  ist  es  vielmehr,  der  innerlich 
wie  äusserlich  auf  uns  einwirkt'''):  innerlich  auf  unsern  Willen, 
äusserlich,  indem  er  unsern  Willen  in  die  That  umsetzt.  Ohne 
die  göttliche  Beihülfe  kann  daher  keine  Handlung  vollzogen  wer- 
den. Und  doch  ist  der  menschliche  Wille  frei,  sofern  Gott  wohl 
die  Handlung  selbst,  nicht  aber  die  menschliche  Einwilligung 
zur  Handlung  erzwingen  kann^^).     Die  Gesinnung  ist  es,  um  es 

:    kurz  zu  sagen,  die  den  menschlichen  Handlungen  das  Gepräge  des 


'°)  Vgl.  Richard  y.  St.  Victor,  de  praep.  an.  ad  contempl.  c.  3  p.  3  Migne: 
una  est  ratio,  altera  affectio,  ratio,  qua  discernaraus,  affectio,  qua  diligamus; 
ratio  ad  veritatem,  aifectio  ad  virtutein.     Vgl.  noch  p.  255  u.  896  Migne. 

•")  Ib.  cap.  5:  obsequitur  sensualitas  aifectioni. 

^-)  Richardus,  de  arca  mystica,  cap.  16:  Duobus  autem  niodis  nobis  Deus 
cooperatur:  iuterius  videlicet  et  exterius.  luterius  per  occultam  inspira- 
tionem,  exterius  per  manifestam  operum  suorum  administratione  m;  vgl. 
auch  dessen  de  statu  inter.  hominis  cap.  7 — 11  ;  de  contemplatione  III,  cap.  24; 
ebenso  de  erud.  hom.  cap.  30:   potestas  tua,  cooperatrix  gratia. 

"3)  Rieh,  de  statu  inter.  hom.  cap.  13  p.  1125  Migne:  Non  autem  arbi- 
trium  hominis  idcirco  liberum  dicimus,  qnia  promptura  habet,  bonum  et 
inalum  facere,  sed  quia  liberum  habet,  bono  vel  malo  non  conseutire; 
ähnlich  cap.  3  p.  1105  und  33  p.  1140;   de  erud.  hom.  cap.  30  p.  1280  Migne. 

Archiv  I'.  Geschiclite  der  Philosophie.     II.  -^^ 


230  Ludwig  Stein, 

Sittlichen    oder  Unsittlichen    aufdrückt^*).     Diese  Gesinnung   aber, 
d.  h.  der  Affect,    mit  welchem  wir   die  göttlichen  Handlungen  be- 
gleiten, ist  des  Menschen  ureigenstes,  unveräusserliches  Besitzthum; 
denn   auf  diesen  unsern  Beifall  hat  selbst  Gott  keinen  Einfluss^^). 
Darum  beruht  denn  auch  auf  diesem  freudigen  Beifall,  den  wir 
den  göttlichen  Handlungen  zollen,  unser  sittliches  Verdienst^").   Frei- 
lich wäre  es    eine   traurige  Beschränkung  des  Menschen,  wollte  er 
seine  ganze  Seligkeit  ausschliesslich  auf  diesen  consensus  aufbauen; 
man  soll  sich  vielmehr  bestreben,  durch  mystische  Versenkung  dem 
Weltgeist    näherzukommen.    —    Doch    hier    verlässt    Richard    den 
sichern   Untergrund    des    nüchteren    philosophischen   Denkens    und   : 
wagt  vom  Schwungbrett  seiner  reichen  Einbildungskraft  aus  einen    I 
kühnen  Sprung  in    die   verschwommenen  Regionen  der  mystischen    \ 
Extase.      Dahin    aber    können    wir    ihm   natuigemäss   nicht   mehr   i 
folgen.  I 

Nur  auf  eine  bezeichnende  Thatsache  will  ich  zum  Schlüsse  i 
dieses  Kapitels  noch  hinweisen:  Alle  diese  Vorläufer  der  occasio- 
nalistischen  Lösung  des  Freiheitsproblems  glaubten  mit  unerschütter- 
licher Zuversichtlichkeit,  dass  sie  die  Wahlfreiheit  und  die  aus  der- 
selben entspringende  sittliche  Zurechnung  ihrem  vollen  Um- 
fange nach  aufrechtgehalten  haben.  Ja,  Richard  von  St.  Victor 
preist  mit  überschwenglicher  Siegesgewissheit  die  hohe,  durch  nichts 
zu  ersetzende  AVürde  der  Freiheit'^),  die  das  edelste  ßesitzthuni, 
die  vornehmste  Zier  des  Menschen  sei.  Es  ist  merkwürdig,  wie 
sehr  die  Philosophen  geneigt  sind,  ihre  Leistungen  zu  überschätzen 


^^)  Richardus,  de  arca  mystica  L.  III,  cap.  IG:  Numquam  opus  justifica- 
tionis  perficitur,  si  creator  no  n  coop  eratur  . . .  Veruuitamen  in  justificalionis 
nostrae  opus  voluntarium  consensum  requirit  Dens  ...  Solum  euim 
justa  velle,  est  jam  just  um  esse. 

^^)  de  statu  int.  hom.  cap.  13  p.  1125:  Libertatis  vero  est,  quod  consensus 
ejus  extorqueri  vel  cohiberi  neu  potest. 

'■'^)  de  arca  mystica  ill,  cap.  2-1:  idcirco  iiomini  ad  retributionum  gloriam 
cumulatur,  quicquid  ex  libero  meutis  consensu  in  ipsa  divinitus  agitur. 

*0  de  statu  int.  hom.  cap.  6  p.  1120:  Liberum  arbitrium  oranium  quae  iu 
homine  sunt  regimen  et  moderamen  conditiouis  jure  suscepit;  älinlich  cap.  3: 
Inter  omnia  creationis  bona  niliil  in  liomine  sublimius,  nil  dignius  libero  ar- 
bitrio;   ebenso  de  erud.  liom.  cap.  3U  p.  1281. 


Antike  viiic!  mittelalterliche  Vorläufer  des  Occasionalismiis.  231 

und  wie  geringe  Selbstkritik  sie  vielfach  bekunden.  Alle  Occa- 
sionalisten  glaubten  die  Freiheit  voll  zu  retten;  Richard  nennt 
sie  gar  die  Krone  des  Menschen.  Er  merkte  aber  nicht,  dass 
diese  Krone  nicht  aus  echtem,  probehaltigem  Gold  bestellt,  son- 
dern nur  aus  blinkendem,  verrauschendem  Schaumgold. 

Kap.  IV. 
Die  Occasionalisten. 

Descartes  hatte  von  seiner  erkenntnisstheoretischen  Grund- 
voraussetzung aus  die  aristotelisirende  Metaphysik  der  Scholastiker 
durchgreifend  beseitigt.  Unter  den  wuchtigen  Schlägen  seiner  über- 
zeugenden Beweisgründe  hörten  auch  die"  letzten  Zuckungen  der  nur 
langsam  dahinsiechenden  Scholastik  auf.  Allein  er  hatte  auf  den 
wenig  festen  Untergrund  des  Zweifels  die  erste  unantastbare  Ge- 
wissheit, sein  viel  besprochenes:  cogito  ergo  sum  gestützt,  das  den 
Angelpunkt  seiner  ganzen  Metaphysik  bildet.  Seiner  Meinung  nach 
freilich  hatte  er  damit  sein  metaphysisches  System,  das  mit  ma- 
thematischer Präzision,  wenn  auch  noch  nicht,  wie  bei  Spinoza,  in 
matliematischer  Form  ineinandergefügt  war,  unerschütterlich  fest 
begründet.  Aber  gar  bald  zeigten  sich  an  diesem  kühn  aufgeführten 
Gebäude  reclit  bedenkliche  Lücken  und  Risse,  die  selbst  seinem 
engeren  Schülerkreise  nicht  verborgen  blieben. 

Schon  die  Grundpfeiler  seines  ganzen  Systems  waren  unhaltbar. 
Vor  Allem  war  es  der  doppelte  Dualismus  von  Gott  und  Welt  einer- 
seits, sowie  Denken  und  Ausdehnung  andererseits,  an  dem  die  ganze 
Metaphysik  Descartes'  nothwendig  scheitern  musste.  Geist  und  Körper, 
Denken  und  Ausdehnung  sollen  diejenigen  Substanzen  sein,  die  wir 
klar  und  deutlich  erkennen  und  darum  auch  als  wahr  und  weseu- 
haft  anerkennen  müssen.  Substanz  heisst  aber,  nach  der  Definition 
Descartes'**),  was  zu  seiner  Existenz  keines  anderen  bedarf.  Nun 
soll  jedoch  über  den  beiden  Substanzen  des  Denkens  und  der  Aus- 
dehnung eine  höhere  Ursubstanz,  nämlich  die  Gottheit  stehen, 
welche   jene    beiden    nicht    nur    hervorgebracht    hat,    sondern    sie 


I  '-'0  Vgl.  Princlp.  Phil.  I,  §51;    vgl.  auch  Natorp,   Descartes'  Erkenntniss- 


theurie  S.  78  f. 

16* 


232  Ludwig  Stein, 


sogar  als  creatio  continiia  noch  fortwährend  weiter  erschafft. 
Der  Widerspruch  liegt  offen  und  grell  z.u  Tage.  Sollen  Denken 
und  Ausdehnung  Substanzen  heissen,  dann  können  sie  unmöglich 
erschaffen  sein,  da  ja  Descartes  selbst  das  Wesen  der  Substanz  da- 
hin definirt,  dass  sie  keines  anderen  zu  ihrer  Existenz  bedarf. 
Freilich  versucht  Descartes  einen  Ausweg  aus  diesem  Dilemma,  indem 
er  die  unendliche  Substanz  von  der  endlichen  unterscheidet; 
jene  soll  die  Gottheit  sein,  diese  in  Denken  und  Ausdehnung  zer- 
fallen. Allein  dieser  Nothbehelf  ist  nur  unzulängliches  Flickwerk. 
Sobald  das  Wesen  der  Substanz  vorzugsweise  in  ihrer  Selbständig- 
keit besteht,  kann  sie  unmöglich  erst  erschaffen  sein;  eine  endliche 
Substanz  ist  daher  ein  metaphysisches  Unding!  Hier  ist  der  ge- 
rade Weg,  der  unvermeidlich  zur  pantheistischen  Piiilosophie 
Spinoza's  führen  musste,  wo  es  nur  eine  einzige,  ewige  Substanz 
gibt,  nämlich  die  Gottheit,  während  Denken  und  Ausdehnung  die 
für  uns  erkennbaren  Attribute  jener  unendlichen  Substanz  bilden. 
Ein  zweiter,  nicht  minder  augenfälliger  Widerspruch  in  der 
Metaphysik  Descartes  betraf  das  Verhältniss  der  beiden  Substanzen: 
Denken  und  Ausdehnung  zu  einander.  Die  Natur  dieser  Substanzen 
bestheht  nach  ihm  wesentlich  darin,  dass  jede  von  beiden  ohne 
die  andere  existiren  kann ,  so  dass  sie  sich  geradezu  gegenseitig 
ausschliessen  ^').  Denken  und  Ausdehnung  stehen  demnach  ein- 
ander schroff  und  unvermittelt  gegenüber;  sie  haben  keinerlei  Ge- 
meinsamkeit, gar  keine  w'ie  auch  gearteten  Beziehungen  und  Be- 
rührungspunkte; sie  sind,  wie  Descartes  sagt,  toto  genere  verschie- 
den '"").  Allein  durch  die  Thatsache  des  menschlichen  Daseins  w'ird 
diese  metaphysische  Wahrheit  recht  bedenklich  in  Frage  gestellt. 
Im  Menschen  sind  Geist  und  Körper,  Denken  und  Ausdehnung  I 
unleugbar  eng  verschlungen.  Descartes  selbst  ist  ein  eifriger  Ver- ' 
fechter  der  Willensfreiheit'*");  nach  ihm  also  vollführt  der  Körper  i 


3»)  Resp.  ad  sec.  Object.  Def.  X.  ; 

100)  Resp.  ad  Object.  III,  2.  ■ 

'"')  Princ.  philos.  I,  29,  35,  41  u.  ö.     Vgl.  Saisset,  precurseurs  et  disci|)les  , 
de  Descartes  p.  löOflP.     So  sagt  Descartes  in    den  von  Foucher  de  Careil  her- 
ausgegebenen Oeuvres  inedites   de  Descartes:   Dieu  a  fait  trois   niiracles,   les  I 
choses  de  rien,  Thomme  Dieu  et  le  libre  arhitre  de  rhomme.  ' 


Antike  und  mittelalterliche  Vorläufer  des  Occasionalismus.  233 

unbedingt  Alles  das,  was  der  Geist  durch  den  Willen  bestimmt. 
Woher  kommt  aber  plötzlich  diese  innige  Beziehung  zwischen 
jenen  beiden  schroff  getrennten  Substanzen?  Wo  sind  die  Fäden, 
welche  Denken  und  Ausdehnung  zu  einem  harmonischen  Causal- 
nexus  verknüpfen?  Was  sich  ausschliesst,  kann  doch  unmöglich 
auf  einander  wirken. 

Hier  will  Descartes  wieder  mit  einem  Nothbehelf  dem  schwie- 
rigen Dilemma  entschlüpfen:  Der  Mensch  gilt  ihm  gleichsam  für 
ein  Wesen  oder  eine  Substanz  für  sich^"'^),  da  er  sich  aus  den  in 
Rücksicht  auf  den  Menschen  unvollkommenen  Substanzen 
Denken  und  Ausdehnung '°^)  zusammensetzt.  Der  Mensch  bildet 
also  nach  Descartes  eine  substantielle  Vereinigung  (uuio  substantialis). 
Das  Mittelglied  zwischen  Leib  und  Seele  sollen  alsdann  die  Leiden- 
schaften bilden,  und  geht  so  weit,  die  Seele,  diese  Denksubstanz, 
zu  localisiren  und  ihr  das  Conarion  als  Aufenthaltsort  anzuweisen. 
Ja,  er  versteigt  sich  gar  dazu,  von  einer  ausgedehnten  Seele 
zu  sprechen^"*). 

Man  sieht  hier  deutlich,  wie  bitter  sich  Inconsequenzen  in 
der  Philosophie  rächen,  wie  selbst  so  scharfsinnige  Philosophen  wie 
Descartes  sich  selbst  verleugnen,  sobald  sie  nur  um  Haaresbreite 
von  der  geebneten  Bahn  der  Consequenz  abweichen.  Man  ver- 
gegenwärtige sich  recht  genau  und  scharf  diesen  schreienden  Wider- 
spruch. Derselbe  Descartes,  der  es  als  eine  der  ersten  und  vor- 
nehmsten metaphysischen  Wahrheiten  hingestellt  hatte,  dass  Denken 
und  Ausdehnung  zwei  durchaus  getrennte,  einander  völlig  aus- 
schliessende  Substanzen  bilden  sollen,  vergisst  sich  so  weit,  von 
einem  ausgedehnten  Denken  zu  sprechen  und  somit  die  Grenze 
dieser  Substanzen  von  Grund  aus  zu  verrücken!  Hier  ist  also  wieder 
ein  greifbarer  Widerspruch  in  der  Metaphysik  Descartes',  der  ausge- 
glichen werden  musste  —  ein  Widerspruch,  der  zunächst  notli wen- 
dig und  folgerichtig  zum  occasionalistischen  System  geführt  hat. 


">'-)  Meditat.  VI.  Vgl.  auch  AI.  Chiapelli,  la  dottrina  della  realtä  del  moudo 
esterno  nella  filosofia  moderna,  Ferenze  1886,  p.  52 f.,  60t'. 

'03)  Resp.  ad  Object.  IV.     Weitere  Stellen  bei  Natorp,  a.  a.  0.  S.  87  f. 

'"■')  Les  passious  de  räine  1,  Art.  30,  vgl.  K.  Fischer,  Geschichte  der 
neueren  Philosophie  I,  1  p.  523;  Natorp  S.  88,  177. 


234 


L 11  (1  \v  i  ji  Stein. 


Den  ersten  Anlauf  zur  Losung  des  Problems,  wie  bei  der  an- 
einander ausschlicssenden  Beschaffenheit  von  Körper  und  Geist  doch 
das  gegenseitige  Aufeinanderwirken  dieser  beiden  Substanzen  zu  er- 
klären sei,  hat  wol  der  französische  Arzt  und  Physiolog  Louis  de  la 
Forge  genommen  "'^).  Er  ist  freilich  noch  nicht  Occasionalist  in 
jenem  strengeren  Sinne,  wonach  bei  jedem  Willensact  ein  un- 
mittelbares Eingreifen  der  Gottheit  erforderlich  sein  soll.  Er 
versucht  vielmehr  den  Widerspruch  dadurch  zu  lösen,  dass  er  das 
eigenthiimliche,  aus  dem  Rahmen  der  Substanz  heraustretende  Ver- 
hältniss  von  Leib  und  Seele  auf  einen  Urwillensact  der  Gottheit 
zurückführt '*"').  Aber  er  ist  schon  auf  dem  besten  Wege,  Occa- 
sionalist zu  werden;,  seine  Lösung  mag  allenfalls  zu  weiteren  Ver- 
suchen nach  dieser  Richtung  hin  den  Impuls  gegeben  haben. 

Auf  den  ersten  Anblick  könnte  es  freilich  scheinen,  als  ob  nur 
der  Widerstreit  der  einander  ausschliessenden  Substanzen:  Denken  und 
Ausdehnung  zur  occasionalistischen  Lösung  hingeführt  hätte,  während 
das  Problem  des  Determinismus,  das  bisher  alle  occasionalistischen 
Lösungen  hervorgetrieben  hatte,  gerade  beim  Occasionalismus  selbst 
unbetheiligt  wäre.  Doch  scheint  dies  nur  so.  Es  wird  sich  uns 
zeigen,  dass  Geulincx  und  Malebranche  durch  den  Occasionalismus 
auch  dem  Dilemma  zwischen  Freiheit  und  Nothwendigkeit 
entrinnen  wollten.  Denn  hier  war  wieder  eine  klaffende  Lücke  im 
cartesianischen  System  auszufüllen.  Descartes  huldigte  einer  mecha- 
nischen Naturansicht  und  proklamirte  dabei  die  Willensfreiheit, 
ohne  herauszufühlen,  dass  beide  consequentermassen  einander  aus- 


^1 


los)  Vgl.  meine  Abhandlung,  zur  Genesis  des  Occasionalismus,  Archiv  I, 
56 if.  Diejenigen,  die  Clauberg  zum  ersten  Vertreter  des  occasionalistischen 
Gedankens  stempeln  wollen,  haben  übersehen,  dass  Clauberg  bei  seinem  Aufent- 
halt in  Paris  von  Louis  de  la  Forge  Einflüsse  erfahren  hat,  vgl.  Bouillier, 
histoire  de  la  philosophie  Cartesienne,  I,  p.  294. 

""')  Auch  Clauberg  vertritt  in  seiner  Abhandlung:  de  corporis  et  aniraae 
in  horaine  conjuuctione  diese  ältere  Auffassung  des  Occasionalismus,  vgl. 
Bouillier  ibid.  p.  297  ff.,  was  mich  auch  in  der  Annahme  bestärkt,  dass  Clau- 
berg seine  occasionalistische  Theorie  bereits  unter  der  Einwirkung  de  la 
Forge's  aufgestellt  hat.  Dass  übrigens  die  jüngst  erschienene  Schrift  Seyfarth's, 
Louis  de  la  Forge,  Gotha  1887,  meine  Auffassung  der  Stellung  de  la  Forge's 
bestätigt,  habe  ich  bereits  oben  Note  69  bemerkt. 


Antike  und  mittelalterliche  Vorläufer  des  Occasionalismus.  235 

schliessen.  Und  diese  so  naheliegende  Consequenz  hat  denn  auch 
Spinoza  rückhaltslos  gezogen,  indem  er  die  Freiheit  dem  Determi- 
nismus unbedenklich  geopfert  hat. 

Hier  also  wollten  die  Occasioualisten,  die  sich  ja  ihrer  ganzen 
Denkrichtung  nach  als  Compromissphilosophen  kennzeichnen ,  die 
Vermittlungsbrücke  zwischen  dem  cartesianischen  Freiheitsbegriff 
und  dem  Determinismus  schlagen.  Mit  der  occasionalistischen 
Antwort  sollten  gleichzeitig  zwei  Probleme  ihre  Lö- 
sung finden:  Einerseits  sollte  durch  die  stete  cooperatio  Gottes 
das  unerklärliche  Ineinandergreifen  von  Leib  und  Seele,  dieser 
einander  ausschliessenden  Substanzen,  begreiflich  gemacht  werden, 
andererseits  sollte  dieses  occasionelle  Eingreifen  der  Gottheit  unter 
Wahrung  der  menschlichen  Zustimmung  eine  Versöhnung  von 
Freiheit  und  Nothwendigkeit  ermöglichen. 

Geraud  de  Cordemoy  freilich,  der  Urheber  des  Occasionalismus 
in  engerem  Sinne  —  den  ich  als  Occasionalismus  der  zweiten  Phase 
bezeichnet  habe'°')  —  scheint  in  seinem  Lösungsversuch  mehr  die  Ver- 
söhnung der  beiden  Sub.stanzen,  als  die  Vermittlung  zwischen  Deter- 
minismus und  Freiheit  im  Auge  zu  haben.  Er  behauptet  nur,  dass 
Gott  jedesmal,  wenn  die  menschliche  Seele  sich  auf  eine  Handlung 
wollend  concentrirt,  unmittelbar  eingreifen  muss,  um  die  Verbindung 
zwischen  Seele  und  Leib  jeweilen  (occasional)  herzustellen^"^)  und 
somit  das  Zustandekommen  der  Handlung  erst  zu  ermöglichen.  Hier 
ist  von  einer  individuellen  Färbung  des  menschlichen  Willens,  die 
an  dem  Zustandekommen  der  Handlung  einen  Mitantheil  hätte, 
nicht  entfernt  die  Rede.  Erst  bei  Geulincx  und  Malebranche  tritt  das 
Bestreben  hinzu,  auch  den  Widerspruch  von  Freiheit  und  Noth- 
wendigkeit zu  lösen.  Denn  nur  so  ist  es  zu  begreifen,  wenn  sie 
neben  die  göttliche  operatio  die  menschliche  cooperatio  hin- 
stellten und  der  letzteren  einen  gewissen  Mitantheil  an  der  Hand- 
lung zuschrieben,  sofern  diese  cooperatio  von  einem  freudigen 
Aftect  begleitet  sein  soll.  Für  die  Erklärung  des  Aufeinanderwir- 
kens beider  Substanzen  wäre  ja  diese  Unterscheidung  ganz  uunö- 

^"O  Zur  Genesis  des  Occasionalismus,  Archiv  I,  56. 

"'^)  Cordemoy,    dissertations   philosophiques,    discours  IV    und    V,  p.  71, 
73 ff.;  trait^  de  Metaphysique  I,  103,  107;  II,  113;    Bouillier,  I,  515 f. 


236 


Ludwig  Stein, 


thig!  Sobald  wir  aber  annehmen,  dass  Geulincx  und  Malebranche 
ihren  Occasioualismus  nicht  auf  die  Metaphysik  beschränkten,  ihn 
vielmehr  durch  die  versuchte  Rettung  der  Willensfreiheit  auch  ins 
Ethische  hiniiberspielen  Hessen,  werden  wir  die  Nothwendigkeit 
dieser  Unterscheidung  begreifen.  i^f 

Was  bei  Cordemoy  nur  mehr  als  schüchterner  Versuch  hervortrat, 
das  führte  Geulincx  mit  selbstbewusster  Entschiedenheit  und  in  syste- 
matischer Abrundung  durch.  Er  erklärt  rundweg  jedes  wechselseitige 
Causalverhältniss  zwischen  Leib  und  Seele  für  ausgeschlossen ;  die  Zunge 
zittert  wol  im  Munde,  wenn  ich  sprechen,  die  Füs.se  bewegen  sich  wol, 
wenn  ich  gehen  will,  aber  diese  Bewegung  bringe  nicht  ich  hervor; 
ich  weiss  nicht,  woher  sie  kommt,  sagt  er  einmal  wörtlich^"").  Bewirke 
ich  aber  nicht  einmal  die  Bewegungen  meines  eigenen  Inneren,  so 
ist  es  vollends  unmöglich,  dass  ich  als  Subject  d.  h.  als  Denksubstauz 
Dinge  ausser  mir  erschaffen  oder  hervorbringen  soll.  Es  ist  daher  nur 
eine  irrige  Yolksmeinung,  wenn  man  mir  zumuthet,  dass  ich 
schreibe,  male,  dass  ich  ein  Brod,  einen  Tisch,  ein  Kleid  anfertige. 
Diese  Thätigkeiten,  die  ich  scheinbar  vollbringe,  gehöien  keines- 
wegs meinem  Ich  als  solchem  an;  sie  müssen  vielmehr  von  einer 
anderen  Macht  hervorgebracht  sein,  da  diese  Dinge  doch  nur  durch 
Bewegung  entstehen  konnten.  Ich  kann  aber  nicht  einmal  meinen 
eigenen  Körper,  geschweige  denn  Dinge  ausser  mir  unmittelbar 
bewegen"").  Eine  höhere,  ausser  mir  liegende  Kraft  ist  es  sicher- 
lich, die  meine  Finger  bewegt,  wenn  sie  Steine  zusammenfügen, 
aus  denen  alsdann  nach  meiner  Ansicht  ein  Haus  oder  ein  Thurm 
entsteht'^').  Mein  Ich  als  solches  ist  überhaupt  nur  ein  unbe- 
11 


'"^  Ethica  Tract.  I,  Sect.  II,  §  2,  p.  112:  Jam  corpus  meum  varie  qnidem 
pro  arbitrio  meo  movetur  (lingua  uamque  in  ore  raeo  huc  illuc  titubat,  cum  loqui; 
brachia  jactantur,  cum  stare;  pedes  projiciuntur,  cum  ire  volo)  sed  motum 
ego  illum  non  facio;  nescio  enim  quomodo  peragatur;  vgl.  auch 
Metaph.  I,  8,  9;  Grimm,  Arnold  Geulincx'  Erkenutnisstheorie,  Jena  1875,  S.  44. 
Wie  sodann  dieser  metaphysische  Oceasionalismus  bei  Geulincx  allmiUig 
in  den  ethischen  einbiegt,  hat  E.  Göppert,  Geulincx'  ethisches  System,  Bres- 
lau 1883,  S.  11  treffend  aufgezeigt. 

"°)  ibid.  p.  121:  Denique  huc  mihi  deveniendum  esse  perspicio,  ut  in- 
genue  fatear,  nihil  me  extra  me  facere. 

'")  ibid.  p.  124.     Chiapelli  1.  c.  p.  72  f. 


Antike  und  mittelalterliche  Vorläufer  des  Occasionalismus.  237 


tlieiligter,  müssiger  Zuschauer.  Auf  der  Schaubühne,  die  man 
Welt  nennt,  gehöre  ich  nur  zum  passiven  Publikum,  bin  aber 
selbst  kein  Acteur"").  Bin  ich  es  aber  nicht,  der  die  Bewegungen 
meines  Körpers  verursacht,  so  muss  es  Gott  sein,  der  jene  wun- 
derbare Harmonie  zwischen  Leib  und  Seele  hergestellt  hat  und 
stets  dadurch  aufrecht  erhält,  dass  er  gelegentlich  unserer  Denk- 
oder Willensacte  den  entsprechenden  körperlichen  Vorgang  erzeugt. 
Thatsächlich  sind  also  meine  scheinbaren  Handlungen  nicht  die 
ineinigen,  sondern  die  der  Gottheit  "^).  Diese  Harmonie  zwischen 
(ieist  und  Körper  ist  nicht  minder  wunderbar,  als  die  Welt- 
schöpfung selbst;  es  ist  kein  geringeres  Wunder,  dass  meine  Zunge 
im  Munde  erzittert,  wenn  ich  das  Wort  „Erde"  ausspreche,  als 
wenn  die  Erde  selbst  davon  erzitterte"*).  Geulincx  gebraucht 
für  dieses  Verhältniss  bekanntlich  das  Gleichniss  von  zwei  gleich 
uehenden  Uhren,  die  unabhängig  von  einander  stets  dieselbe  Zeit 
anzeigen ^^^),    und  es  ist  bekannt,   dass    auch   Leibniz  sich   dieses 


'■-)  ibid.  p.  133:  spectator  sum  in  hac  scena,  non  actor,  ähnlich  p.  142. 

''•■*)  ibid.  p.  139:  Eatenus  vero  non  esse  meam  actionem,  sed  Dei;  vgl. 
noch  p.  154  .  .  .  ego  non  faciam:  Dens  forte  faciet.  Metaph.  36:  unio  enim 
illa,  qua  cum  corpore  unitus  sum,  .  .  .  non  potest  aliud  esse  quam  voluntas 
et  beueplacitum  ejus  (sc.  dei).  Vgl.  noch  Metaph.  34  u.  Zeller,  Sitzungsbe- 
richte der  Akad.  1884  S.  683,  Separatabdr.  S.  11. 

'1^^  ibid.  p.  140. 

"^)  Dieses  ührengleichniss  findet  sich  bei  Geulincx  in  den  Anmerkungen  zur 
Rthik  dreimal,  Eth.  124,  140,  155.  Pfleiderer,  Arnold  Geulincx,  Tübingen 
1882,  S.  26 ff.  wollte  bekanntlich  folgern,  Leibniz  habe  die  Entlehnung  des 
Uhrenbeispiels  von  Geulincx  absichtlich  verschwiegen.  Darauf  hat  Zeller,  über 
die  erste  Ausgabe  von  Geulincx'  Ethik  (Abhandl.  der  Akademie,  1884)  Leibniz 
in  Schutz  genommen,  und  ich  habe  Archiv  I,  59,  Note  13  den  Nachweis  zu 
■rbringen  versucht,  dass  das  Ührengleichniss  in  der  cartesianischen  Schule 
i;is  gebräuchliche,  schon  von  Descartes  stammende  Schulbeispiel  war.  Nach- 
träglich fand  ich  noch  zwei  mittheilenswerthe  Thatsachen,  die  Leibniz  von 
dem  Verdacht  des  Plagiats  völlig  entlasten.  L.  muss  nämlich  Geulincx'  Werke 
■rst  ziemlich  spät  kennen  gelernt  haben,  denn  an  zwei  Stellen,  an  denen  er  alle 
edeutenderen  Cartesianer  aufzählt  (in  der  Gerhardtschen  Ausgabe  I,  16  und  IV, 
136)  fehlt  Geulincx'  Name.  Andererseits  hat  man  bisher  übersehen,  dass  sich 
das  Ührengleichniss  bei  L.  schon  sehr  früh  (1677)  findet,  und  zwar  in  L.'s 
Randglossen  zu  Eckhard's  Brief,  bei  Gerhard  1,  232 :  Hurmonia  autem  est  uni- 
tas  in  multitudine,  ut  si  vibrationes  duorum  pendulorum  inter  se 
;id  quintutü  quemlibet  ictum  consentiant. 


238  1, 11(1  w ig  stein, 

Gleichnisses  bedient  und  es  auf  die   prästabilirte  Harmonie  ange- 
wendet hat. 

Allein  dieses  Uhrengleichniss  könnte  für  den  Occasionalisraus 
Geulincx'  missverständlich  werden.  Danach  könnte  es  nämlich 
scheinen,  als  habe  auch  Geulincx  ähnlich  wie  etwa  de  la  Forge 
das  wechselseitige  Verhältniss  von  Leib  und  Seele  durch  einen 
göttlichen  ürwilleusact  entstehen  lassen.  Dem  ist  aber  in  der 
That  nicht  so.  Gott  ist  nach  Geulincx  der  Schöpfer  unserer  Hand- 
lungen nicht  mittelbar  durch  ein  Naturgesetz,  sondern  un- 
mittelbar durch  seinen  jedesmaligen  Willen.  So  oft  wir  etwas 
durch  Gottes  Vermittlung  vollbringen,  greift  Gott  unmittelbar 
ein"**).  Das  Uhrengleichniss  müsste  daher  noch  etwa  in  dem 
Sinne  fortgesetzt  werden,  dass  wie  das  Wesen  der  Uhr  es  erfordert, 
dass  sie  periodisch  aufgezogen  wird,  so  auch  das  Verhältniss  von 
Leib  und  Seele,  dass  es  fortdauernd  von  Gott  erneuert  und  auf- 
rechtgehalten wird.  Dieser  Fortschritt  des  Geulincx  gegen  den 
Occasionalismus  Cordemoy's,  der  darin  besteht,  dass  er  ein  un- 
mittelbares Eingreifen  der  Gottheit  zur  Aufrechterhaltung  dieses 
durch  ein  Gesetz  festgestellten  Verhältnisses  von  Leib  und  Seele 
annimmt,  ist  für  unsern  Zweck  von  ausserordentlicher  Wichtigkeit. 
Denn  namentlich  in  diesem  Punkte  trift't  er  mit  den  Ascharija 
und  Richard  von  St.  Victor  zusammen. 

Oflfenbar  liegt  in  der  Theorie  des  Geulincx  implicite  ein 
starrer  Determinismus  enthalten.  Für  die  Willensfreiheit  erübrigt 
nach  alledem  nur  ein  geringer  Spielraum.  Bin  ich  nicht  L^rheber 
meiner  Handlungen,  dann  ist  nicht  abzusehen,  weshalb  ich  ihret- 
wegen zur  Verantwortung  gezogen  werden  könnte.  Allein  diese 
letzte  folgerichtige  Consequenz,  die  sich  aus  dem  Occasionalismus 
nothweudig  ergibt,  nämlich  die  absolute  Negirung  der  ^^'ahlfrei- 
heit,  scheut  sich  Geulincx  bei  seinem  vorwiegenden  Interesse  für 
eine  ethische  Grundlegung  der  Philosophie  ebenso  zu  ziehen,  wie 
seiner  Zeit  die  Stoiker,  die  Ascharija  oder  Richard  von  St.  Victor 
Der  Ausweg,  den  die  Stoa  in  jener  knappen  Sentenz  gewählt  hatte; 


"*)  Jlefaph.  p.  124:  motus,  quem  irmiidi  coiulitor  efficit  et  conservando 
contimio  efficit. 


Antike  und  mittelalterliche  Yorläufer  des  Occasioniili.snin>;.  2o9 

vulentem  diicunt  fata,  nolentem  trahunt,  steht  ihm  noch  often,  und 
er  zögert  auch  nicht,  ihn  zu  wählen.  Man  glaubt  walirlich  einen 
^toiker  vor  sich  zu  haben,  wenn  Geulincx  sagt"'):  Cum  Dens  me 
hinc  arcesset^'*),  nil  me  retardabit:  statim  veniam,  omni  animo 
veniam,  veniam  lubens,  volens:  advolabo.  Nicht  ich,  sagt 
er  au  anderer  Stelle"^),  bestimme  Gott,  so  oder  so  zu  handeln, 
sondern  er  vollzieht  zuweilen  meinen  Willen,  weil  dies  in  seiner 
Urabsicht  lag.  Unser  Verdienst  liegt  aber  in  der  freudigen 
Zustimmung,  die  wir  Gottes  Handlungen  zollen '■'').  Diese 
Zustimmung  hat  mir  Gott  freigelassen:  Dens  exitum  non  injunxit 
liie,  sed  propositum  ^'^'). 

An  diese  mehr  ethische  Formulirung  des  Occasionalismus 
knüpft  nun  Malebranche  vorzugsweise  an.  Denn  auch  der 
(Jccasionalismus  Malebranche's,  so  verschieden  er  sonst  in  seiner 
Voraussetzung  und  Begründung  von  dem  Geulincx'  sein  mag, 
kommt  in  Bezug  auf  die  Willensfreiheit  zu  demselben  Resultat. 
Die  Wahlfreiheit  sagt  er,  besteht  darin,  dass  der  Mensch  sein 
Urtheil  und  seinen  freudigen  Beifall  zurückhalten  kann'"). 
Diese  Willensfreiheit  hat  Gott  dem  Menschen  eingepflanzt;  es 
ist  daher  unsere  höchste  Aufgabe,  uns  dieser  Gottesgabe  in  aus- 
gedehntestem  Masse   zu   bedienen'").     Freilich,   meint  er,   drängt 


"0  Etbica  Tract.  I,  Sect.  II,  §  4,  num.  2,  p.  148. 

"")  Die  editio  princeps  hat  accersiet.  Man  vergleiche  mit  diesem  Satze 
lieulincx'  den  oben  Note  25  angeführten  Ausspruch  Seneca's  und  mau  wird 
•ine  überraschende,  fast  wörtliche  üebereinstimmung  finden. 

"')  ibid.  p.  154:  Deus  saepe  motum  illum  impartitur,  quem  volo;  non, 
nuia  ego  volo,  sed  cjuia  ipse  vult  me  volente  motum  illam  fieri. 

^'■"')  ibid.  p.  189.  Die  weitere  Ausführung  dieses  Gedankens  findet  man 
bei  V.  van  der  Haaghen,  Geulincx,  etude  sur  sa  vie,  ses  ouvrages  etc.  p.  121  ff. 

'•''1)  ibid.  p.  195. 

'■•^2)  Vgl.  recherches  de  la  verite  I.Buch,  I,  2:  la  liberte  cousiste  en  ce 
.  . .  quil  peut  suspeudre  son  jugeraent  et  son  amour;  ähnlich  ibid.  1.  Buch, 
111,  2.     Ich  citire  Malebranche  nach  der  Pariser  Ausgabe  von  1837. 

'■^)  ibid.  I.Buch,  III,  3;  de  la  premotion  physique  II,  390:  la  liberte 
lonsiste  dans  un  vrai  pouvoir  qu'a  Täme  de  suspendre  ou  de  donner  son 
'"onsentement;  ähnlich  Meditations  chretiennes  II,  p.  132;  Entretiens  sur  la 
Metaphysique,  II,  23,  48  und  XIII  Entretiens  II,  99;  Eclaircissement  (II)  zu 
■len  recherches  de  la  verite,  p.  298;   vgl.  endlich  Cap.  X  seiner  Ethik. 


240  Ludwig  Stein, 

uns  Gott  unaufhaltsam  zum  Guten  als  solchem;  aber  wir  haben 
doch  die  Macht,  uns  diesem  intensiven  Drang  zai  entziehen,  weil 
wir  durch  Gottes  Güte  die  Fähigkeit  besitzen,  den  Handlungen 
Gottes,  die  er  in  uns  vollzieht,  unsern  Beifall  und  unsere  Zu- 
stimmung zu  ertheilen,  aber  auch  zu  versagen.  Demnach  besitzen 
wir  an  unseren  Handlungen  ein  gewisses  Verdienst,  einen  gewissen 
Mitantheil.  Gott  allein  ist  es  wol,  der  unsere  Handlungen  voll- 
bringt, aber  wir  sind  dabei  mitthätig;  dieu  opere  et  c'est  nous 
qui  cooperont '■^).  In  einer  späteren  Schrift  führt  er  diesen  Ge- 
danken noch  präziser  und  in  schärferer  Betonung  durch;  er  sagt'^'): 
Dieu  comme  cause  efficace  produit  en  nous,  sans  nous,  toutes 
nos  perceptions  et  toutes  nos  motions.  Mais  il  ne  produit  pas 
nos  consentiments  libres  ä  ces  motions.  Wie  sich  denn. Malebr. 
überhaupt  in  seinen  späteren  Schriften  immer  mehr  jener  Fassung 
des  Occasionalismus  annähert,  die  ihm  Geulincx  gegeben  hat. 

Ziehen  wir  nun  das  Schlussergebniss  der  occasionalistischen  Lö- 
sung, so  können  war  es  kurz  dahin  zusammenfassen:  Der  Kernpunkt 
des  Problems  wird  so  beantwortet,  dass  Gott  im  Momente  des  Han- 
delns die  Fähigkeit  zum  Handeln  in  uns  erzeugt,   und  dass  an- 
dererseits unsere  Willensfreiheit  wesentlich  und  vorzüglich  darauf 
beruht,   dass  wir  den  durch  Gott  in   uns  vollzogenen  Handlungen 
unsere  freudige  Zustimmung    ertheilen,    aber    auch  ver- 
sagen können.    Das  Gesammtresultat  unserer  bisherigen  Unter- 
suchung ist  folgendes:  Das  Problem  des  Occasionalismus  mit  seiner; 
fein  zugespitzten  Pointe   des  Zusammenfallens  göttlicher  Wirksam-  i 
keit  mit  menschlicher  Mit  Wirksamkeit  findet  sich  in  der  gleichen  | 
Prägung  des  Gedankens'"^)  vor  den  Occasionalisten  schon  bei; 


'-*)  Vgl.  Eclaircissements  zu  den  recherches  de  la   verite  p.  292  ed.  Paris  i 
1837:    Dieu  nous  pousse  sans  cesse,  et  par  une  impression  iuviufilile  vers  le 
bien  en  general  ...   inais  dieu   ne   nous  porte    point   necessaierement  j 
ni  invinciljlement  a  l'amour  de  ce  bien.     Nous  sentous  qu'il  uoiis  est  libre  i 
de  nous  y  arreter,  que  nous  avons  le  mouvement  pour  aller  plus  loin. 

'-■')  Vgl.  de  la  premotion  physique  II,  390. 

'26)  Nicht  blos  des  Gedankens,  sondern  auch  des  Ausdrucks,  da  die 
bisherigen  Auseinandersetzungen  wol  genügend  dargethan  haben,  dass  die 
Tormini  a^yv-cxTdÖest;,  assensus,  ^_^.*J",  consensus,  consentiment  libre  nur 
•Synouyraa  sind. 


Antike  und  mittelalterliohe  Vorläufer  des  Occasionalismus.  241 

den  Stoikern,  den  Ascharija  und  Richard  von  St.  Victor. 
So  verschiedengestaltet  die  philosophischen  Ausgangspunkte  und 
Voraussetzungen  aller  dieser  Schulen  auch  waren,  so  begegneten 
sie  einander  doch  in  dem  Treffpunkte  einer  und  derselben,  noch  dazu 
höchst  verwickelten  Problems] ösung.  Es  erübrigt  uns  daher  zum 
Schlüsse  nur  noch  die  kurze  Untersuchung,  ob  und  inwieweit  diese 
vier  philosophischen  Schulen  auf  einander  gewirkt  haben  oder 
doch  wenigstens  gewirkt  haben  könnten. 

Kap.  V. 

Etwaige  historische  Beziehungen   der  verschiedenen 

Occasionalistenschulen. 

Soll  das  hier  aufgezeigte  häufige  Auftauchen  des  occasionalisti- 
schen  Problems  an  verschiedenen  Zonen  und  zu  verschiedenen  Zeiten 
iuc  theoretische  Bedeutung  —  etwa  für  die  Völkerpsychologie  — 
-ewiunen,  dann  muss  zum  wenigsten  in  einem  Falle  der  Beweis 
durchschlagend  gelingen,  dass  zwei  Schulen  das  gleiche  Problem 
formulirt  und  mit  gleichen  Terminis  gelöst  haben,  ohne  dass  auch 
nur  die  leisesten  historischen  Beziehungen  zwischen  ihnen  ange- 
nommen werden  könnten.  Und  das  ist  bei  den  Ascharija  und  den 
Stoikern  der  Fall.  Die  Ascharija  konnten  die  Lehren  der  Stoiker 
schon  aus  dem  Grunde  unmöglich  kennen,  weil  kein  einziges  Werk 
der  Stoa  eine  arabische  Uebersetzung  gefunden  hat''^^).  Nun  war 
ich  allerdings  früher  auf  ein  anderes  Auskunftsmittel  verfallen,  um 
das  etwaige  Vorkommen  stoischer  Lehrsätze  bei  arabischen  Philosophen 
zu  erklären.  Ich  erinnerte  daran,  dass  einzelne  griechische  Schriftsteller, 
wie  beispielsweise  Alexander  von  Aphrodisias,  welche  die  stoischen 
Lehrsätze  mit  behaglicher  Breite,  wenn  auch  in  polemischer  Tendenz 
auseinandersetzten,  den  Arabern  sehr  wol  bekannt,  ja  sogar  recht 
verbreitet    unter    ihnen    waren  ''^).     Allein  dieses  Auskunftsmittel 


12^  In  der  Liste  der  arabischen  Uebersetzungen  griechischer  Schriftsteller, 
ilie  Wenrich,   de  auctorum   graecoruin  versiouibus   arabicis   etc.  aufführt,    be- 
i  findet  sich  keine  einzige,  die  ein  stoisches  "Werk  zum  Inhalte  hat. 

'■■'*')  Dies   gilt  ganz   besonders   von  Alexander   Aphrodis.,    dessen   Werke, 

,  ij^anz  besonders  auch  seine  für  uns  so   wichtige  Schrift  de  fato,   den  Arabern 

bekannt,   ja  sogar  unter  ihnen  ziemlich  verbreitet  waren,   vgl.  Wenrich,    1.  c 


24: 


Ludwig  Stein, 


tiiÜ't  bei  al-Ascha'ri  keineswegs  zu.  Denn  diese  Ueberset/Aiugea 
entstanden  erst  verhältuissmässig  recht  spät''"'),  während  al-Ascha'ri 
zu  den  früheren  Vertretern  der  arabischen  Philosophie  zählt  (er 
blühte  +910).  Zudem  finden  sich,  wie  ich  oben  gezeigt  habe'^"), 
schon  im  zweiten  Jahrhundert  der  Hegira  Ansätze  zu  einer  occa- 
sionalistischen  Lösung,  also  zu  einer  Zeit,  wo  überhaupt  arabische 
Uebersetzungen    griechischer    Philosophen    noch    gar    nicht    exi- 

stirten^O- 

Aber  selbst  angenommen,  al-Ascha'ri  habe  wirklich  griechische 

Schriften,  etwa  Alexander  Aphrodisias'  de  fato  gekannt,  so  konnte 

er    demselben    allenfalls    die    chrysippische    Lösung    des    Problems 

durch    die  Theorie    der  Mittelursachen   entnehmen'^'),    aber    doch 

nicht  die  occasionalistische  des  Kleanthes.    Denn  diese  findet  sich 

in  voller  Schärfe  weder  bei  Alexander,  noch  bei  irgend  einem  den 

Arabern    bekannt    gew-ordenen    Schriftsteller,    sondern    nur    bei 

Seneca,  von  dessen  schriftstellerischer  Existenz  zu  den  Ohren  der 

Araber    natürlich    auch    nicht    die    leiseste   Kunde    gedrungen    ist. 

Nach    alledem    kann    wol  die  Annahme  als  ausgeschlossen  gelten, 

als  ob  der  Occasionalismus  der  Araber  stoischen  Ursprung  haben 

könnte.     Und  wenn  er  gleichwol  in  derselben  Gedankenfassung,  ja 

sogar  in  der  gleichen  Worteinkleidung  bei  den  Stoikern  wie 

bei  den  Ascharija  erscheint,  so  dürfte  hier  wol  der  Bew-eis  gelungen 

sein,  dass  nicht  überall  da,  ^Y0  frappante  philosophische  Aehnlich- 

keiten  vorliegen,    nothwendig  directe  historische  Zusammenhänge 


p.  273— 280.  Auf  diese  Thatsache  habe  iih  bereits  Willensfreih.  S.  HO  u. 
Erkenntnissth.  d.  Stoa  S.  291  hingewiesen. 

^-^)  Sie  fallen  nicht  mit  der  Entstehung  der  arabischen  Aristoteliker 
im  10.  Jahrhundert  zusammen. 

"«)  Vgl.  oben  Note  02. 

"')  Die  frühesten  Uebersetzungen  setzt  Wenrich  1.  c.  p.  13ff.,  25  ff.  au 
das  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts  der  Hegira.  Die  Nachricht  des  Abu'l 
Faradsch,  specimen  bist.  Arab.  ed.  Pococke  p.  19,  schon  die  Mu'taziliten  seien 
von  der  griecliisclien  Philosophie  beeinflusst,  steht  vereinzelt  da. 

'''O  Die  Stellen,  an  denen  Alex.  Aphrod.  die  deterministischen  Anschauungen 
Chrysipps  entwickelt,  findet  man  jetzt  zusammengestellt  bei  Gercke,  Chryippea 
p.  719—742.  Die  chrysippische  Theorie  der  Mittelursachen,  wie  sie  nament- 
lich Cic.  de  fato  cap.  18  und  Plut.  de  St.  rep.  cap.  47  entwickeln,  findet  sich 
in  voller  Ausführlichkeit  bei  al-Ascha'ri,  Schahrast.,  Haarbr.  1,   IOj. 


c 


Antike  und  mittelalterliche  Vorläufer  des  Occasionalismus.  243 

3onstruirt  werden  müssen,  dass  der  menschliche  Geist  vielmehr 
seiner  speculativen  Anlage  nach  von  gleichartiger  Beschaffenheit 
ist,  so  dass  es  gar  nicht  Wunder  nehmen  darf,  wenn  Pliilosophen, 
die  verschiedenen  Zeiten  und  Nationen  angehören,  ganz  unab- 
hängig von  einander  nicht  bloss  auf  die  gleichen  Probleme,  sondern 
auch  auf  gleichklingende  Lösungen  verfallen.  Welche  Consequenzen 
sich  hieraus  für  den  völkerpsychologischen  Gedanken  ergeben,  haben 
wir  hier  nicht  zu  untersuclien.  Für  die  Methode  der  Philo- 
sophiegeschichte  ist  durch  diese  Aufdeckung  einer  so  augen- 
fälligen Gedankenanalogie  vielleicht  eine  Erkenntniss  von  nicht  zu 
unterschätzendem  Belang  gewonnen  ^•^^). 

Bei  den  Semipelagianern,  Bernard  von  Clairvaux  und  Richard 
von  St.  Victor  lässt  sich  nicht  mehr  der  stringente  Beweis 
führen,  dass  sie  ganz  selbstständig  zur  occasionalistischen  Lö- 
sung gelangt  sind,  wenngleich  die  Wahrscheinlichkeit  eine  sehr 
liohe  ist.  Sicherheit  lässt  sich  hierüber  darum  nicht  erzielen,  weil 
Seneca  und  Cicero  von  den  Patres  ecclesiae  wie  von  den  Scholasti- 
kern gleich  eifrig  gelesen  wurden  '^^).  Und  so  wäre  es  denn  nicht 
^anz  ausgeschlossen,  dass  Seneca  die  christlich-scholastischen  Occa- 
sionalisten  beeinflusst  haben  könnte,  wenn  es  gleich  nicht  wahr- 
scheinlich ist,  dass  gerade  eine  versteckte  Stelle  bei  Seneca,  die 
sich  noch  dazu  nicht  in  den  verbreiteten  Naturales  quaestiones,  son- 
dern in  den  viel  weniger  bekannten  Episteln  findet,  so  viele  Köpfe 
zum  Occasionalismus  angeregt  hätte. 

Die  gleiche  Reserve  muss  ich  mir  in  Bezug  auf  die  Occasio- 
nalisten  xoct'  e^o/r^v,  Geulincx  und  Malebranche,  auferlegen.  Auch 
bei  ihnen  ist  die  Wahrscheinlichkeit,  als  könnten  sie  den  occasiona- 
listischen Gedanken  von  Seneca  oder  dem  Mystiker  Richard  von 
St.  Victor  aufgegriffen  haben,   eine  ausserordentlich  geringe.    Aber 


'^^)  N'ur  andeutungsweise  sei  liier  erwähnt,  dass  sich  auch  die  unbestreit- 
liaren  Analogien  zwischen  der  griechischen  und  indischen  Philosophie 
ganz  ungezwungen,  ohne  Annahme  irgend  eines  Abhängigkeitsverhältnisses, 
auf  dieselbe  Weise  erklären  lassen. 

•34)  Vgl.  Joiirdain,  recherches  critiqucs  sur  Tage  et  Torigine  des  traductions 
latines  d'Aristote  p.  21f.  Leibniz  schon  hat  die  interessante  Bemerkung  ge- 
macht, dass  die  Kirchenväter  und  Scholastiker  ihre  ethischen  Lehren  meist 
aus  Seneca  schöpften:  vgl.  auch  folgende  Nute. 


244  Ludwig  Stein, 

ganz  undenkbar  wäre  diese  historische  Beziehung  nicht,  /.umal 
Leibniz  sogar  Descartes  den  Vorwurf  macht,  er  habe  seine  Etliik 
dem  Stoizismus,  insbesondere  Seneca  entlehnt '^^).  Hält  man  sich 
jedoch  den  bereits  früher  von  mir  geführten  Nachweis  vor  Augen, 
dass  der  Occasionalismus  gleichzeitig  bei  Cordemoy  und  Geulincx 
auftaucht,  ohne  dass  zwischen  ihnen  auch  nur  die  geringste  A^er- 
bindungslinie  bestünde '^''),  so  schrumpft  die  Möglichkeit,  als  könnte 
der  cartesianische  Occasionalismus  aus  dem  stoischen  oder  scho- 
lastisch-mystischen unmittelbar  hervorgeflossen  sein,  auf  ein  Mini- 
mum zusammen.  In  Wahrheit  dürften  wol  alle  die  hier  vorge- 
führten Occasionalistenschulen  ohne  jegliche  Spur  gegenseiti- 
ger Beeinflussung  je  aus  sich  selbst  heraus  diese  Theorie  ent- 
wickelt haben.  Ist  dies  an  dem  einen  Beispiel  der  Ascharija  un- 
bestreitbar nachgewiesen;  warum  sollte  es  nicht  auch  für  die 
übrigen  Schulen  gelten,  die  doch  von  ihren  philosophischen  Vor- 
aussetzungen aus  diesem  Problem  ungleich  näher  standen,  als  die 
Ascharija? 

AVelchen  bleibenden  Werth  diese  occasionalistische  Lösung  für 
die  Ethik  als  solche  hat,  das  ist  eine  Streitfrage  der  systemati- 
schen Philosophie,  die  für  den  Historiker  nur  von  untergeordneter 
Bedeutung  ist.  Für  den  Historiker  haben  eben  alle  Gedankengänge 
der  Philosophen  gleichsehr  Interesse,  auch  wenn  sie  oflenbar  in  die 
Irre  führen.  Denn  so  gut  die  philosophischen  Wahrheiten  eine 
nur  relative  Geltung  haben,  so  auch  die  Irrthümer.  Es  ist  darum 
mit  Recht  gesagt  worden,  dass  in  jedem  philosophischen  Irrthum 
ein  Stück  Wahrheit  steckt. 

Es  mag  darum  auch  sein,    dass  eine  solche  ethische  Grundle-  ; 
gung,    wie  der  Occasionalismus  sie  fordert,   dass  nämlich  die  Ge-  I 

''^)   Bei  Foucher    de   Careil,    Nouvelles    lettres   et    opuscules    inedits    de 
Leibniz,  p.  3:    Preraierement,    sa  morale  est  un  compose   des   sentiments  des  j 
Sto'iciens  et  des  epicuriens,   ce  qui  n'est  pas    fort  difficile,   car  Seneque  dejä 
les  concilioit  fort  bien;  ebenso  ibid.  p.  14:  La  morale  de  Des  Cartes  est  sans 
doute  Celle  des  Stoiciens.  j 

136)  Ygi  Archiv  I,  60 f.  Bei  Geulincx  käme  allenfalls  noch  sein  Verhält-  j 
niss  zu  Justus  Lipsius,  dem  Erneuerer  des  Stoizismus,  in  Betracht,  auf  wel-  j 
ches  V.  van  der  Ilaeghen  a.  a.  0.  S.  25  mit  Recht  hingewiesen  hat.  Aber  ; 
bei  Cordemoy  fi'ilit  auch  dieses  Bedenken  fort.  I 


Antike  und  mittelalterliche   VorUiufer  des  Occasionalisinus.  245 

i  siniiung  allein  das  Kriterium  der  Sittliclikeit  ausmachen  soll, 
psychologisch  unhaltbar  und  jedenfalls  beim  heutigen  Kulturzu- 
stand practisch  undurchführbar  ist,  weil  die  gegenwärtige  Generation 
moralisch  noch  nicht  so  hoch  steht,  ihr  ganzes  Sittengebäiule  auf 
einen  solchen  Untergrund  aufzurichten.  Aber  die  Philosophen 
haben  doch  auch  das  schöne  Vorrecht,  die  Dinge  sub  specie  aeterni 
betrachten  und  die  höchsten  Ziele  ihrer  Forderungen  andeuten  zu 
dürfen.  Und  so  mag  denn  die  egoistische  oder  die  aus  dieser  ab- 
geleitete altruistische  Moral,  wie  sie  Herbert  Spencer  beispielsweise 
formulirt,  für  das  heutige  Menschengeschlecht  wol  die  passendere 
sein;  alier  für  die  höchste  Entwicklungsstufe  der  Menschheit  gibt 
es  kaum  eine  geläutertere,  idealere  Ethik,  als  die  occasionalistische, 
die  ihrem  Strebeusziele  nach  mit  den  höchsten  Forderungen  der 
Ethik  Lessings  zusammenfällt,  nach  welcher  der  Mensch  selbst 
im  Vollbewusstsein  seines  Willensdeterminismus  das  Gute 
in  reiner  und  lauterer  Gesinnung  mit  seelischer  Freude  vollbringt 
hlos  weil  es  gut  ist. 


Arcliiv   f.  Cieschiohte  d.  Philosiipliii-.     11. 


XV. 

Ein  Hymnus  auf  Immanuel  Kant. 

Mitgetheilt  von 
Karl  Köstlio  in  Tübingen. 

In  dem  Nachlass  des  am  7.  April  18^8  verstorbenen  Herrn 
geheimen  preussischen  Jiistizrats  Moriz  Flach  befanden  sich  zahl- 
reiche Gedichte  des  Vaters  des  Obigen,  des  dereinstigen  Bürger- 
meisters Flach  in  Pillan,  in  welcher  seiner  Vaterstadt  derselbe  1864 
im  Alter  von  87  Jahren  gestorben  ist.  Unter  diesen  Gedichten 
war  Eines  an  Kant,  welches  nach  dem  Ableben  des  Herrn  g.  J. 
Moriz  Flach  der  Sohn  desselben,  Herr  Dr.  Johannes  Flach  in  Rudol- 
.stadt,  mir  zu  jeder  mir  passend  scheinenden  Verwendung  als  Ge- 
schenk überlassen  hat.  Der  Grossvater  Flach  studirte  in  Königs- 
berg die  Rechtswissenschaft,  er  hörte  aber  auch  Kant;  ein  von  ihm 
dem  Philosophon  nachgeschriebenes  Collegienheft  über  Logik  und 
ein  ihm  von  Ebendemselben  propria  manu  in  lateinischer  Sprache 
ausgestelltes  Zeugniss  über  den  l^esuch  der  Vorlesungen  sind  noch 
vorhanden.  Es  ist  nicht  unmöglich,  dass  Flach  sen.  der  Verfasser 
des  Gedichts  an  Kant  ist,  da  dasselbe  sich  mitten  unter  zahlreichen 
poetischen  Arbeiten  von  ihm  vorfand. 

Das  Gedicht,  welches  die  Königsberger  Studirenden  Kant,  nach- 
dem er  kürzlich  sein  dreiundsiebzigstes  Lebensjahr  überschritten, 
,  wie  es  scheint  als  sein  (im  Herbst  1797  erfolgter)  Rücktritt  von 
der  akademischen  Lehrthätigkeit  in  Aussicht  stand,  dargebracht 
haben,  ist  auf  vier  Folioseiten  mit  grossen  lateinischen  Lettern  ge- 
druckt und  am  Anfang  und  Schluss  mit  ehrenden  Ornamenten  im 
Geist  der  damaligen  Zeit  vorsehen.     ^Vir  haben  an  diesem  Hvmnus 


Kill  Hymnus  auf  Immanuel  KMnt.  247 

o'm  authentisches  Dokument  der  ungemein  hohen  und  warmen  Ver- 
ehrung, welche  der  berühmte,  damals  freilich  bereits  mit  Alters- 
schwäche kämpfende  Philosoph  am  Orte  seiner  Wirksamkeit  in  den 
weitesten  Kreisen  genoss,  und  so  sei  er  denn  hiermit  der  Oeffent- 
lichkeit  übergeben. 

Dem 

verehvungswürdigsten 
Herrn  Professor 

I.  Kant 

aus 

Hochachtang  und  Liebe 
dargebracht 

■von 

sämmtlichen  Studierenden  der  hiesigen  Universität. 
Den  14.  .Juni   1797. 

Dich  —  der  Erde  allergrösten  Geist, 
j)en  die  \Velt  mit  vollem  Recht  so  heist, 
Dich  —  0  Kant!  —  Dich  sollte  ich  besingen?  — 
Kühn  ists  —  den  Gedanken  nur  zu  wagen!   — 
Selbst  Augustns  Sänger  würd'  sich  fragen: 
Dürfte  Dir  dies  Wagestück  gelingen? 

Plato  —  Newton  —  o  wie  weit  zurük, 
Liess  sie  Deines  Geistes  tiefer  Blik! 
Unter  allen  Sterblichen  hienieden 
Unter  allen  allen  grossen  Spähern 
War's  —  dem  Geist  des  Höchsten  sich  zu  nähern 
Dir  am  meisten  —  Dir  zuerst  beschieden. 

Ehrerbietig  Dir  zur  Seite  stelm 
Deines  Geistes  Adlersflug  zu  sehn. 
Dies  —  ja  dies  allein  ist's  was  wir  können!  — 
Ist  es  nun  —  in  jene  weite  Höhen 
Möglich  uns,  von  fern  Dir  nachzugehen. 
Gliiklich,  glüklich  sind  wir  dann  zu  nennen. 


24!-!  ]\av\  Kö.stliii, 

Stolz  mit  Recht  sind  wir  auf  dieses  Gliik!  - 
Auf  uns  sieht  die  Welt  mit  Xeid  im  ßlik. 
Und  wünscht  sehnlich  sich  in  unsre  Kreise!  — 
In  der  Zukunft  späten,  fernen  Tagen, 
Werden  rühmend  Enkel  von  uns  sagen: 
„Diese  lebten  bey  dem  weisen  Greise!"  — 

Mehr  denn  achtzehntausend  Tage  sclioii 
Sind  als  Lehrer  ruhmvoll  Dir  entilohn, 
l'nd  noch  bükt  Dein  Geist  mit  Jugendfiille 
In  (hts  Heiliüthum  der  höchsten  Wahrheit. 
Hellt  das  Dunkelste  mit  lichter  Klarheit 
Troz  dem  Schwanken  seiner  schwachen   Mülle. 

0!  —  auch  dieser  Kraft  kehr  bald  zurük! 
Dass  Du  lange  noch  zum  allgemeinen  Glfik 
Kannst  auf  dieser  Erde  Gottes  wallen!  — 
^simm  nun  hin  dies  Opfer  unsrer  Liebe 
Ja  es  kommt  aus  lautiem  reinem  Triebe, 
Drum  0  Theurer!   lass  es  Dir  gefallen. 


Die   vollkommene  Treue  dieses   Abdrucks  des  Originals  beur- 


kundet hiedurch 

Tübingen  4.  December 

1888. 


Dr.  Phil.  Karl   Kiistlin 

Professor  der  Aesthetik 

an  der  L'niversität  Tübingen. 


XVI. 

Zwei  Briefe  Kants 

aus  dem  Nachlas.s  Borowskis 
mitgeteilt  von 
B.  l^rdnianu  iu  Breslau 

Bekanntlich  enthalten  die  Gesamtausgaben  der  Werke  Kants 
verhältnismässig  nur  wenige  Briefe  des  Philosophen.  Manche 
IViiher  bereits  gedruckte  allerdings,  die  in  dieselben  aufzunehmen 
waren,  sind  der  Aufmerksamkeit  der  Herausgeber  entgangen.  >Jicht 
wenige  ferner  sind  erst  nach  dem  Erscheinen  der  letzten  Harten- 
steinschen  Ausgabe  ans  Tageslicht  gekommen.  Aber  auch  wenn 
wir  alles  bisher  Gedruckte  zusammennehmen,  zeigt  doch  ein  Ver- 
uleich  mit  den  mehrfachen  Andeutungen  der  ersten  Biographen 
Kants  sowie  eine  genauere  Prüfung  der  persönlichen  Beziehungen, 
in  denen  der  Philosoph  stand,  dass  was  wir  besitzen  nur  ein 
kleiner  Teil  von  dem  wissenschaftlichen  Briefwechsel  des  Philosophen 
i^t.  Selbst  das  reichere  Material,  das  K.  Reicke  mit  stillem  Sammler- 
fleiss  seit  Jahren  zusammengebracht  hat,  wird  an  diesem  Tatbe- 
stande nicht  viel  ändern.  Die  grössere  Zahl  der  Briefe,  darunter 
besonders  die  Schreiben  aus  der  ersten  Zeit  der  Docententätigkeit, 
die  berufen  wären,  zur  Aufhellung  der  Entwicklung  des  Philosophen 
Wesentliches  beizutragen,  scheint  unwiderbringlich  verloren.  Nur 
die  beiden  Bände  der  Sammlung  von  Briefen  an  Kant,  die  ein 
Spiel  des  Zufalls  nach  Dorpat  hat  gelangen  lassen,  sind  erhalten. 
Leider  sind  sie  trotz  ihres  Umfangs  wenig  geeignet,  den  wissen- 
schaftlich bedeutsameren  Fragen,  die  sich  auf  den  Bestand  und  die 
Entwicklung  der  Lehrmeinungen  Kants  beziehen,  wertvolles  Material 
zu  geben. 


«>r)Q  P).  Erdinann, 


I 


Gewiss  aber  sind  noch  manche  einzelne  Briefe  im  Privatbesitz 
erhalten,  deren  Druck  wünschenswert  ist,  so  sehr  auch  für  den 
Briefwechsel  Kants  wahr  ist,  dass  nicht  alles,  was  Pietät  und  Zu- 
fall besonders  aus  den  letzten  Lebensjahren  des  Philosophen  auf- 
bewahrt hat,  gedruckt  zu  werden  verdient. 

Zu  solchen  wertvolleren  Briefen  gehört  der  nachstehende,  den 
P.  Wendland,  ein  Enkel  l'orowskis,  der  Redaktion  unserer  Zeit- 
schrift freundlichst  zAir  Veröffentlichung  übergeben  hat.  Es  ist 
einer  der  frühesten,  die  wir  besitzen. 

Das  Schreiben  besteht  aus  einem  halben  Bogen  mit  der 
Adresse:  A  Monsiimr  —  Momieur  Borowski^)  —  Gouverneur  des 
jeunes  —  Messieurs' -cJc  AnoUoch  —  C/icz  hii.  Danebon  am  oberen 
Rande  von  anderer,  vielleicht  Borowskis  Hand,  links:  z  (2?)  10. 
6  Märtz  761,  —  rechts:   Von  Hherrn  M.  Ka?it. 

Der  Brief  selbst,  der  eine  Quartseite  fdllt,  lautet: 

P.  I. 

Ich  habe  gestern  die  Operation  an  dem  gewesenen  Waysen- 
vater  dem  Lieutenant  Duncker  glücklich  vollführen  gesehen.  Ich 
habe  mit  dem  Operateur'''')  von  meinem  Vorhaben  wegen  eines 
blind  gebohrnen  gesprochen.  Er  fand  sich  willig  die  Operation  an 
ihjn  vorzunehmen  wenn  er  ihn  zuvor  untersucht  und  dazu  tüchtig 
gefunden  haben  würde.  Es  hat  auch  schon  eine  Gesellschaft  guter 
Freunde  sich  engeag'ui  die  Kosten  zu  seiner  Pflege  so  lange  die 
Kur  hier  dauert  herzugeben.  Ich  habe  also  keine  Zeit  zu  ver- 
lieren. Ich  bitte  ergebenst  berichten  Sie  mir  doch  den  Nahmen 
dieses  Jungen    aus  Lichtetiliagen  oder    wie   der  Ort  sonst  heissen 


')  P^iniges  über  denselben  in  dieser  Zeitschrift  I  67.  Spezielleres,  abge- 
sehen von  der  kleinen  Skizze  in  der  A.  D.  Bibl.,  in  den  Preuss.  Provinzialbl. 
VII  79f. 

In  den  Ausgaben  von  Kants  Werken  ist  nur  der  Brief  Kants  an  Borowski 
vom  Jahre  1702  gedruckt,  den  Borowski  in  seiner  biographischen  Darstellung 
veröffentlicht  hat.  Den  diesem  vorhergehenden  ]5rief  Borowskis  an  Kant  hat 
Hartenstein  aus  der  gleichen  Quelle  abgedruckt.  Vier  andere  Briefe  Borowskis 
an  Kant  aus  der  Dorpater  Sammlung  harren  der  Veröffentlichung. 

■'')  Ursprünglich,  durchstrichen:  ihm  —  dafür,  übergeschrieben:  dem  Ope- 
rateur, 


I 


Zwei  Briefe  Kants.  251 

mag  wovon  letzlich  geredet  wurde,  den  Nahmen  des  Priesters 
unter  welchem  sein  Vater  gehöret  und  wo  möglich  den  Nahmen 
und  Aufenthalt  des  Edelmans  oder  Amtmans  wer  es  auch  ist 
welcher  über  dieses  Dorf  zu  gebieten  hat.  Befehlen  Sie  mei- 
nem Bedienten,  weil  er  wieder  koiiien  soll  die  Antwort  von 
Ihnen  abzuholen.  Dies  ist  der  Fall  wo  man  nicht  anders  seine 
eigene  Absichten  erreichen  kan  als  indem  man  die  Glückseeligkeit 
eines  andern  befördert.  Meine  verbindlichste  Empfehlung  an 
ihren  jungen  Herren  und  meinen  tiefen  respect  an  die  sämtliche 
gnädige  Dames'  ihres  Hauses.     Ich  bin  mit  aller  Hochachtung 

Dero 
d  6  iVertz:  treuer  Freund  u.  Diener 

1761  Ka7it. 

Die  Abfassung  dieses  Briefes  fällt  in  den  Anfang  der  zweiten 
Entwicklungsperiode  Kants,  die  Zeit  des  kritischen  Empirismus. 
Kant  w'ar  bereits  unter  dem  Einfluss  der  Ergebnisse,  zu  denen  ihn 
die  Untersuchung  der  Principien  unseres  Erkennens  und  besonders 
des  Gottesproblems  geführt  hatte,  sowie  durch  Einwirkungen  von 
Crusius'  Polemik  gegen  den  Wolffianismus  und  Newtons  tiefwir- 
kender Grundlegung  der  mechanischen  Naturauffassung,  entUich 
durch  die  Anregungen  der  in  breitem  Strom  nach  Deutschland 
eindringenden  englisch-französischen  Aufklärung  der  Banden  ledig 
geworden,  mit  denen  ihn  der  Pietismus  der  Schule  und  der 
pietistisch  gefärbte,  durch  Leibnizische  Elemente  gekräftigte  Wolffianis- 
mus  seiner  Universitätslehrer  gefesselt  hatte.  Die  Gedanken,  durch 
deren  Niederschrift  er  sich  in  den  nächstfolgenden  Jahren  als  Glied 
den  Philosophen  der  deutschen  Aufklärung  anschloss,  um  später 
ihr  Führer  zu  werden,  waren  in  voller  Entwicklung.  Er  bildete 
sich,  mit  den  Worten  Herders  zu  reden,  der  ein  Jahr  später  zu 
seinen  Füssen  zu  sitzen  begann,  „ganz  zu  einem  Philosophen  der 
Humanität  und  in  dieser  menschlichen  Philosophie  zu  einem 
Shaftesbury  Deutsciilands. " 

Einen  ungleich  breiteren  Raum,  als  die  späteren  kritischen 
Schriften  erraten  lassen,  als  selbst  die  Abhandlungen  der  nächsten 
Jahre  unmittelbar  zu  erkennen  geben,  nahmen  damals  unter  seinen 


252  ^-   KKcliiiann, 


(tbt 


fiteri 

vr 


k( 


Arbeiten  die  psychologischen  Studien  ein.  Nur  wer  die  allmäliliche 
Auslösung  der  Anthropologie  aus  den  Vorlesungen  über  physische 
Geographie  zu  einer  selbständigen  Vorlesung  verfolgt,  den  Geist 
recht  schätzt,  aus  dem  die  Essais  über  das  Schöne  und  Erhabene 
geschrieben  sind,  und  mit  den  Resultaten  dieser  beiden  Betrach- 
tungen die  vielfach  variirten  Schilderungen  Herders  zusammenhält, 
^Yird  die  Bedeutung  derselben  in  zutreffender  Welse  würdigen. 
Allerdings  war  es  schon  damals  nicht  die  Psychologie  als  Schul- 
wissenschaft, wie  Wolff  sie  in  doppelter  Darstellung  systematisirt 
hatte,  die  er  hochschätzte,  sondern  vielmehr  jene  freiere  Form  der  ^jni 
Behandlung  psychologischer  Probleme,  die  vor  allen  in  englischen 
Mustern  vorlag. 

Zu  jenen  Problemen  gehörte  als  ein  damals  viel  besprochenes 
die  Frage  nach  den  Gesichtswahrnehmungen  der  operirten  Blind- 
geborenen und  dem  Verhfiltnis  derselben  zu  den  W'ahrnehmungs- 
vorstellungen  des  Tastsinns.  Locke  hatte  derselben  durch  seine 
Erörterung  der  Frage  und  der  apriorischen,  im  Princip  richtigen 
Beantwortung  Molyneux'  im  zweiten  Buch  seines  Essay  w-eite  Ver- 
breitung gegeben.  Weder  Molyneux  jedoch  noch  Locke  hatten 
die  weittragende  Bedeutung  derselben  für  die  psychophysische 
Baumtheorie  erkannt.  Ebenso  wenig  auch  Berkeley,  dessen  kurze 
Besprechung  in  der  New  Theonj  of  Vision  nichts  Neues  beibringt. 
Die  verneinenden  Antworten  Molyneux'  und  Lock  es  auf  die  Frage 
des  ersteren,  ob  ein  Blindgcborner  im  Stande  sei  nach  der  Opera- 
tion einen  Würfel  von  einer  Kugel  zu  unterscheiden,  hatten  durch 
die  Elrfahrungen,  die  Chesselden  an  einem  glücklich  operirten 
Knaben  gemacht  hatte,  Bestätigung  gefunden  (1728).  Derselbe 
hatte  berichtet:  Ue  kneio  not  the  shape  of  any  thing,  nor  any  one 
tlting  from  another,  however  cUjferent  in  shape,  or  magnitude,  hut 
upon  being  told  what  things  teere,  tchose  form  he  before  knew  from 
feeling,  he  would  carefully  ohserve,  thctt  he  might  know  them  again. 
Lockes  Darstellung  Hess  jedoch  für  den  aufmerksamen  Leser  einem 
Zweifel  Raum,  der  durch  Chesseldens  Berichte  keine  Lösung  er- 
hielt. Schon  Jurin  hatte  in  seinen  Beiträgen  zu  H.  Smith'  Com- 
pleat  Sijsfeyn  of  Opticks  (Cambridge  1738)  bemerkt,  dass  Locke  in 
seiner  Behandlung  der  Frage   an  den  Voraussetzungen    Molvneux' 


nie 


in 


1  i'i 


^K'l 


Zwei  Briefe  Kanfs.  253 

ht  streng  festgehalten  habe.  Jeuer  lasse  dem  Operirten  die 
..'legenheit,  seine  Gesichtserfahrungen  von  den  beiden  Gegenständen 
öo-lichst  vollständig  zu  machen,  Locke  verlange  Antwort  with 
■tainty  at  ßrst  sight.  In  Folge  dieser  durchaus  zutreffenden 
Interscheidung  der  beiden  Lösungen  war  sogar  Molyneux'  Vernei- 
.  uung  nicht  unwidersprochen  geblieben.  Jurin  versucht  im  gleichen 
I  Zusammenhang  mit  scharfsinniger  Dialektik,  aber  unzureichender 
I'insicht  in  die  unbestimmten  Localisationeu,  die  den  Operirten  in 
-  ilchem  Fall  Jioch  längere  Zeit  hindurch  allein  möglich  sind,  den 
•engen  Beweis,  dass  derselbe  unter  Molyneux'  Bedingungen 
rill  unerringly  distinguüh  between  the  iwo  bodies^''.  Jurin  kann 
h  dabei  sogar  auf  den  damals  vielgenannten  blinden  Mathematiker 
Saunderson  berufen.  Smith  hatte  ihm  mitgeteilt,  dass  Saunderson 
der  gleichen  Meinung  sei. 

Es  ist  kaum  zweifelhaft,  dass  Kant  um  diese  Lage  des  Problems 
wusste.  In  seinen  Schriften  findet  sich  zwar,  wenn  ich  recht  ge- 
M'hen  habe,  kein  Beleg,  auch  nicht  in  der  trümmerhaften  Anthro- 
pologie. AVol  aber  bietet  die  von  Fr.  Chr.  Starke  nach  hand- 
.-^(■Iniftlichen  Vorlesungen,  wahrscheinlich  aus  dem  Winter  1773, 
herausgegebene  Menschenkunde  oder  philosophische  Anthropologie 
1831)  auch  hier  einen  Anhalt.  Kant  erzählt  dort:  „S  .  .  -')  hat 
.inen  Blindgebornen  vom  Staare  befreiet;  dieser  konnte  Anfangs 
nur  die  Dinge  unterscheiden,  die  er  auch  betasten  konnte;  den 
Hund  und  die  Katze  konnte  er  nicht  eher  unterscheiden,  als  bis 
ir  sie  betastet  hatte.  Bei  Gemälden  schien  ihn  wieder  umgekehrt 
-ein  Gesicht  zu  betrügen:  denn  er  fühlte,  dass  das,  was  er  als  er- 
haben ansah,  falsch  war."  (S.  63.)  Dieser  Bericht  aber  entspricht 
\ ollständig  der  Mitteilung  Chesseldeus,  die  Smith  a.  a.  0.  abdruckt: 
l'^s  heisst  dort:  I/aving  offen  forgot  ichich  was  the  cat  (icMch  he 
new  hl/  feeling)  he  was  obserced  to  look  at  her  stedfastly ,  and 
then  setting  her  doicn,  said,  so  jmss,  I  shall  knoiv  yott  another 
fime  .  .  .  We  thought  he  soon  knew  what  pictures  represented,  ivhich 
'•ere  shewed  to  Um,  but  ice  found  afterwards  we  vwre  mistaken: 
jor  about  tico  vwnths  after  he   ivas  couched  he  discovered  at  once, 


"■  Wo]  nur  ein  Versehen  des  Ilijrers.  dem  der  Name  Ctiesselden  fremd  war. 


254  B-  Erdmann, 

they  represented  solid  bodies  .  .  .  hut  even  then  he  ivas  no  lern 
surprized,  e.tpecting  the  pictures  woidd  feel  like  the  things  they 
represented,  and  was  aviazed  u-hen  he  found  those  parts,  which  by 
their  light  and  shadow  appeared  noio  round  and  unecen ,  feit  only 
ßat  like  the  rest."-  Das  ganze  Material  der  Streitfrage,  auch  der 
Bericht  Juriiis,  war  ferner  schon  seit  dem  Jahre  1755  auch  in 
deutscher  TJebertragung  /Aigänglioh.  Denn  damals  bereits  war 
Kästners  Bearbeitung  von  Smiths  optischem  Hauptwerk  erschienen 
(Vollständiger  Lohrbegrift"  der  Optik  nach  Herrn  Robert  Smiths  .J 
Englischen  mit  Aenderungen  und  Zusätzen  bearbeitet).  Und  alle 
Ausführungen  des  Originals  über  diese  Frage  waren  hier  unver- 
ändert geblieben.  'Es  liegt  deshalb  im  Hinblick  auf  den  obigen 
Brief  kein  Grund  vor  anzunehmen,  dass  Kant  seine  Kenntniss  vod 
der  Frage  erst  nach  1761  genommen  hat.  Denn  aus  dem  Um- 
stand, dass  Kant  das  Molyneux-Lockesche  Problem  nicht  aus- 
drücklich erwähnt,  lässt  sich  nichts  schliessen.  An  eine  Vorlesung 
für  viele  vom  Charakter  der  Kantischen  Anthropologie  lässt  sich 
nicht  der  Anspruch  stellen,  dass  mehr  als  das  leicht  anschaulich 
zu  machende  Material  herbeigezogen  werde. 

AVir  dürfen  demnach  schliessen,  dass  Kants  Wunsch,  einen 
solchen  Patienten  zu  beobachten,  und  demzufolge  der  obige  Brief, 
dem  Interesse  an  der  experimentellen  Entscheidung  der  Fragen 
entsprungen  ist,  welche  einerseits  die  Differenz  zwischen  Locke 
und  Molyneux  andrerseits  Jurins  und  Sauudersons  Entscheidung 
gegen  den  letzteren  in  ihm  wachgerufen  hatte.  Mehr  zu  schliessen 
ist  bedenklich.  Denn  es  wäre  unrecht,  die  Worte  einer  uukon- 
trollirten  Nachschrift  zu  pressen,  um  die  Stellungnahme  Kants  in 
der  ganzen  Frage  aus  ihnen  herauszulesen.  Sie  würde  hineingelesen 
werden  müssen.  Zu  ebenso  unzulänglichem  Resultat  würde  es  führen, 
wollte  man  aus  Kants  kritischer  Raumlehre  heraus  eine  solche  Ent- 
scheidung zu  gewinnen  suchen. 


Am  1 .  Juli  1791  war  Fichte  von  Warschau  aus  nach  Königs-p 
berg  gekommen.     Auf  die  Hauslehrerstellung,   die   er  am  ersterenl 
Ort  finden  sollte,  hatte  er  nach  dem  ersten  wenig  versprechenden  ' 


Zwei  Briefe  Kants.  255 

Ijcsuch  verzichtet.  Am  23.  August  besuchte  er  Kant  7Aim  zweiten 
Mal ,  nachdem  er  ihm  wenige  Tage  vorher  das  Manuscript  seiner 
Ki'itik  aller  Offenbarung  übersandt  hatte.  Kant  schien  „sehr  wol 
mit  der  Abhandlung  zufrieden".  Am  29.  besuchte  er  auf  Kants 
Empfehlung  Borowski,  der  ihm  durch  seine  Offenheit  das  Geständ- 
nis seiner  bedrängten  Lage  abnötigte.  Am  2.  September  schrieb 
er  voll  warmen  Gefühles  und  zugleich  voll  edlen  Stolzes  an  Kant 
um  ein  Daiiehn,  das  ihm  die  Rückreise  in  seine  Heimat  ermög- 
lichen sollte^).  Kant  schlug  ihm  dagegen  vor,  er  solle  sein  Ma- 
iiuscript  der  Kritik  aller  Offenbarung  durch  Borowskis  Vermittlung  * 
an  Härtung  verkaufen.  Mit  dem  13.  September  bricht  das  Tage- 
buch Fichtes,  dem  diese  Notizen  entnommen  sind,  ab.  Ergänzt 
wird  dasselbe  durch  den  nachstehenden  Brief  Kants. 

Auf  dem  einen  Blatt  des  halben  Bogens  steht  die  Adresse:  des 
Herren  —  Pfarrern  Boroicald  —  Hochwohlehrwürden.  Auf  dem 
zweiten  das  von  fremder,  vermutlich  Borowskis  Hand  am  oberen 
Rande  rechts  die  Notiz  trägt:  praes.  16.  Sept.  1791,  stehen  die 
Zeilen : 

Ueberbringer  dieses  Hr.  Fichte  hat  aus  der  Unterredung, 
deren  Ew:  Hochwohlehrw:  ihn  theilhaftig  gemacht  haben,  ein  so 
jj,rosses  Zutrauen  zu  Ihnen  gefasst,  dass  er  wegen  seiner  Verlegen- 
heit, davon  er  Ihnen  selbst  Eröfnung  thun  wird,  auf  ihre  gütige 
Vorsprache  sich  Rechnung  macht.  Es  komt  darauf  an,  dass  sein 
Mscrpt:  Versuch  einer  Critik  der  Offenbarung  hier  einen 
Verleger  bekome  und  dieser  dafür  ein  honorarium,  und  zwar  bey 
Ueberlieferung  desselben,  so  gleich  bezahle.  —  Ich  habe  zwar  nur 
Zeit  gehabt,  es  bis  S.  8  zu  lesen,  weil  ich  durch  so  viel  andere 
Abhaltungen  beständig^)  unterbrochen  werde;  aber  so  weit  ich  ge- 


*)  Der  Brief  ist  in  den  Dörptischeri  Beyträgen,  die  zuerst  (II  1815,  S.  97 f.) 
die  Briefe  Fichtes  an  Kant,  abgesehen  von  dem  letzten  vom  1/1  1798,  veröffent- 
lichten, ohne  Datum.  Dasselbe  folgt  aus  dem  Tagebuch  Fichtes,  das  J.  H.  Fichte 
in  dem  „Leben  und  litter.  Briefwechsel"  seines  Vaters  (P  131)  veröffentlicht 
hat.  Weder  Schubert  noch  Hartenstein  haben  denselben  in  ihren  Ausgaben 
der  Werke  Kants  aufgenommen,  obgleich  sie  die  übrigen  abdrucken. 

^)  übergeschrieben.  ^ 


256 


B.  Er d mann, 


koriien  bin,  finde  ich  es  gut  gearbeitet  und  der  gegenwärtigen 
Stimung  zum  rntersuchen  der  Religionssachen  wohl  angemessen. 
Besser  werden  Ew.  Hochwohlehvw:  darüber  urtheileu  könen,  wen 
Sie  sich  die  Bemühung  geben  wollen  es  durchzulesen.  Nun  ist 
sein  Wunsch,  dass,  wenn  Sie  dieser  Schrift  eine  Gute  Abnahme 
zu  prof^nosticiren  sich  getraucten,  Sie  Hrn.  Härtung  da/Ai  zu  be- 
wegen suchen  möchten  ihm  Sie  abzukaufen,  um  vor  der  Hand 
sich*)  dafür  das  Unentbehrlichste  zu  verschaffen.  Die  weitern  Aus- 
sichten wird  er  Ihnen  selbst  bekaiit  zu  machen  die  Ehre  haben. 

Ich  bitte  mir  die  Zumuthung  nicht  ungütig  auszulegen,  welche 
Ihnen  eine  Beschwerde  macht,  aber  doch  Ihrem  wohlwollenden 
Character  nicht  zuwieder  ist  und  bin  mit  der  vollkomensten  Hoch- 
achtung 

Ew.  Huchwohlervvürden 

ganz  ergebenster  Diener 
J.  Kant 
d.  16.  Sept.  1791. 

Die  Ausfidirung  J.  H.  Fichtes  auf  S.  137  u.  138  der  Biogra- 
phie bedarf  hiernach  einiger  Berichtigungen.  Dieselben  haben  je- 
doch zu  ausschliesslich  biographischen  Wert,  als  dass  ihre  Be- 
sprechung hier  angezeigt  wäre.  Sie  ergeben  sich  bei  kritischem 
Vergleich  überdies  ohne  Schwierigkeit. 


*)  Es  folgt  ein  durchstricheues:  aus. 


li 


Jahresbericht 

übei' 

süiiimtliche  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  (xesclüehte 

der  Philosophie 

in    Gemeinschaft    mit 

[norain  Bywater,   Hermann  Diels,   Wilhelm  Dilthey,   Benno  Erdmann, 
J.  Gould   Schurman,  Panl  Tannery,   Feiice  Tocco  nnd  p:duard  Zelier 

herausgegeben 


Ludwig  Stein. 


I 


1^1 


VI. 

Bericht 

ilber  die  deutsche  Litteratiir  der  sokratischen, 

platonischen   und  aristotelischen   Pliilosophie 

1886,  1887.    Dritter  Artikel:  Aristoteles. 

Von 
E,  Zeller  in  Berlin. 

Von  den  zahlreichen  kleineren  und  grösseren  Arbeiten,  welche  in 
unsern  Berichtsjahren  Aristoteles  gewidmet  worden  sind,  will  icii 
-^o  weit  sich  l)eides  überhaupt  trennen  lässt)  zuerst  diejenigen  be- 
sprechen, welche  sich  mit  seinen  Schriften,  sodann  die,  welche  sich 
mit  seiner  Philosophie  beschäftigen.  Die  Geschichte  seines  Lebens 
ist  in  diesem  Zeitraum  nur  l)eiläufig,  aus  Anlass  der  Untersuchung 
iiber  seine  Schriften,  berührt  worden. 


MicHEus,    Fr.,    Aristotelis  -r-siii   ipti-r^vs-'ac   librum    pro    restituendo 
totius   philosophia   fimdamento   interpretatus   est.      Ileidelb.. 
AVeiss,  1886.     84  S. 
Nach  dem  Vorwort  hatte  der  Verf.  die  Absicht,  an  deren  Aus- 
iiihrung  ihn  der  Tod  verhindert  hat,  dieser  Schrift  noch  eine  zweite. 
in  deutscher  Sprache,  folgen  zu  lassen;  die  letztere  sollte  die  Schrift 
~.  sptjL.  nach  ihrer  allgemeinen  Bedeutung  für  die  Philosophie   be- 
sprechen, die  vorliegende  will  ein  philologisch-kritischer  Commenlar 
-ein.     Auch  sie  geht  aber  weit  weniger  darauf  aus,  den  Wortsinn 
los  aristotelischen  Buchs  zu  erklären,  als  seine  .Stelle  in  der  Ent- 
wicklung der  platonisch -aristotelischen   Philosophie  zu    bestimmen 


OfjQ  K.  Zell  er, 

und  au  seinem  Inhalt  naclizuweisen.  M.  glaubt  nämlich,  -.  soa., 
neben  den  Kategorieen  der  älteste  Bestandtheil  des  Organon,  be- 
zeichne den  Punkt,  an  dem  die  aristotelische  Logik  aus  der  plato- 
nischen herauswuchs;  seine  Abzweckung  bestehe  (S.  74)  in  redi- 
yenda  platonica  X070U  deßnitione  (Soph.  262  Bft'.)  ad  enuntiaUonü 
siviplicis  sice  unmn  de  altero  praedicandi  notionem\  und  er  lässt 
sich  in  dieser  Annahme  auch  durch  den  Umstand  nicht  irre 
machen,  dass  -.  ipij..  die  erste  Analytik,  die  Logik  und  -.  'W/r^z 
anführt,  seinerseits  dagegen  in  keinem  aristotelischen  Werk  ange- 
führt wird.  Ebenso  sieht  er  in  denjenigen  Zügen,  durch  welche 
sich  -.  spu.  von  den  Analytiken  unterscheidet  (vgl.  Phil.  d.  Gr.  IIb, 
220,  3.  221,  2.  4.  222,  1),  nicht  spätere  schulmässige  Erweiterungen 
und  Modifikationen  der  aristotelischen  Logik,  sondern  .solche  Be- 
standtheile  derselben,  welche  ihr  nur  bei  ihrer  ersten  Entwicklung 
aus  der  platonischen  angehörten,  aber  später  bei  Seite  gelegt  wur- 
den. Die  Erwägungen,  durch  welche  M.  diese  Annahmen  za  be- 
weisen versucht,  in  kurzem  Auszug  wiederzugeben,  ist  um  so 
weniger  möglich,  da  diesem  Versuch  nicht  blos  die  Menge  der 
Einzelheiten,  die  zu  besprechen  wären,  sondern  auch  die  Fndurch- 
sichtigkeit  der  Darstellung  und  der  Mangel  an  scharfen  und  un- 
zweideutig bestimmten  Begriffen  im  AVege  steht,  an  welchem  die 
Schriften  dieses  Halbscholastikers  zu  leiden  pflegen.  Das  Lesen 
der  vorliegenden  wird  durch  ihre  zahllosen  Druckfehler  und  ihr 
schlechtes  Latein  nicht  wenig  erschwert.  Nichtsde.stoweniger  wird 
keiner,  der  sich  mit  der  aristotelischen  (oder  pseudoaristotelischen) 
Schrift  eingehender  beschäftigt,  an  der  Arbeit  des  gelehrten  und 
in  seiner  Art  scharfsinnigen  Mannes  vorbeigehen  dürfen. 

Viel  wichtiger  aber,  als  die  ebenbesprochene  Schrift,  ist  ; 

TnnisT,  W.,  Aristotelis  Metaphysica  recogn.  Leipzig.  Teubner. 
1886.  XX  u.  330  S. 
Die.se  neue  Ausgabe  der  Metaphysik  gehört  zu  dem  erwünsch- 
testen, was  die  letzten  Jahre  der  Aristoteles- Litteratur  gebracht 
haben.  Denn  seit  denen  von  Bonitz  und  Schwegler  ist  für  die 
Ueconstruction  des  aristotelischen  Textes  durch  Arbeiten,  unter 
denen  gerade   die    von    Bonitz   an   erster   Slolle   zu    nennen  sind, 


P,ericht  üb.  cl.deiUscheLitt. d.sokrat. piaton. u.aristot.PhilosophielSSG,  1887.   261 

so  vieles  geschehen,   da.ss  es  schon  längst  au  der  Zeit  war,  unter 
Benützung  derselben  eine  neue  Textesrecension  vorzunehmen;  uud 
es  ist  sehr  erfreulich,    dass  diese  so  bewährten  Händen  anvertraut 
worden  ist.    Ueber  seine  kritischen  Hülfsmittel  und  Gesichtspunkte 
hat  sich  Chr.  theils  im  Vorwort  theils  in  den  „Kritischen  Bei- 
trägen   zur   Metaph.   d.  Arist."   (Sitzungsber.   d.   philos.  Kl.  d. 
bayr.  Akad.  1885,  406—423)  au.sgesprochen.    Als  die  massgebenden 
Handschriften  legt  er  den  Parisinus  E  und  den  Laurentianus  A'^  zu 
tlruude,  von  denen,  wie  er  wahrscheinlich  macht,   alle  andern  bis 
jetzt  bekannten  herstammen;    jener    gehört   dem  X.,    dieser    dem 
XII.  Jahrh.  an;    der  letztere  ist   aber  wegen   des  Alters    und  der 
(lüte  seiner  Vorlage  noch  vorzüglicher  als  der  andere.     Eine  neue 
VergleichuDg  dieser  beiden  Handschriften  ergab  eine  ganze  Anzahl 
werthvoller  Verbesserungen ;  andere  wurden  durch  Vermuthung  ge- 
funden;  so   z.  B.  XII,  7.  1072  b  2  das  unzweifelhaft  richtige:   ea-i 
■äo   -vA   -0   OL)   3V2/7.   7.7.1   Tivoc.     Elue   besondere  Aufmerksamkeit 
widmet  Chr.  der  Ausscheidung  solcher  Stellen,  in  denen  er  spätere, 
meist    von  Aristoteles  selbst  herrührende  Bemerkungen  vermuthet, 
die  vom  Rand  in  den  Text  kamen;  indem  er  von  der  berechtigten 
Voraussetzung  ausgeht,  dass  die  Metaphysik,  und  die  aristotelischen 
Lehrschriften  überhaupt,  erst  nach   dem  Tod  ihres  Verfassers  her- 
ausgegeben worden  seien  und  bis  dahin  von  demselben   noch  fort- 
während Zusätze  erfahren  haben.     Der  von  ihm  in   dieser  Weise 
revidirte  Text  kann  mit  vollem  Recht  als  ein  vielfach  verbe.sserter 
Ijezeichnet  werden.     Im  Einzelnen  werden  die  Ansichten  natürlich 
immer    auseinandergehen.      Eine    Anzahl     von    Verbesserungsvor- 
.schlägen,  die  sich  mir  beim  L,  IX.  und  XII.  Buch  ergeben  haben, 
erlaube  ich  mir  im   nachstehenden   zur  Prüfung   vorzulegen.     I,  3. 
984  a  15  setze  man  statt  aXXoj?   das  fast   gleich  aussehende  a-uo:, 
welches   zu   dem   vorangehenden   o'jto}   .  .  .   a'r;v.p{^z>.   u.  s.  f.   einen 
viel  passenderen  Gegensatz  bildet.  —  Dass  I,  4.  985b9  Ari.st.  nicht 
geschrieben   haben  kann:   oxi  oüoe  to  xsvov  tol»  acuiaaTo;,   ist  allge- 
mein anerkannt;   aus  Theophrast  b.  Simpl.  Phys.  28,  11  ff.  ergibt 
sich  das  Richtige:    oti  ouok   t.  z.  iXaTxov  -.  a.    —    I,  6.  987  b  22 
empfiehlt  sich  mir  noch  immer  die  Vermuthung  (Phil.  d.  Gr.  IIa, 
750,  1^),  dass  die  Worte:  ta  ^(oT^,  die  sich  mit  xob:  apiöfiouc  absolut 

18 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     II.  '■^ 


262 


E.  Zeller, 


nicht  7.usammenconstruiren  lassen,  eine  erklärende  Randglosse  zu 
T.  dp.  seien.  Die  einfache  Auskunft,  mit  Asklepius  (und  vielleicht 
schon  Plotin  V,  4,2.  518  A)  xal  xw;  dpiajxr/u;  zu  lesen,  verschmäht 
Chr.  mit  Recht:  denn  theils  erhielten  wir  so  einen  zu  der  knappen 
Sprache  unserer  Stelle  nicht  stimmenden  Pleonasmus,  theils  ist  es 
kaum  glaublich,  dass  schon  zur  Zeit  Alexanders  das  für  die  Con- 
struction  unentbehrliche  zal  so  allgemein  verschwunden  war.  wenn 
es  ursprünglich  im  Text  stand.  Jackson 's  Vorschlag,  to-jc  dpi»- 
[J.OU?  (oder,  wie  er  liest,  xai  -.  dp.)  nach  Z.  21,  hinter  Sv.  hinauf- 
zurücken, ist  schon  desshalb  verfehlt,  weil  die  Zahlen  nicht  zu  den 
dp/otl  der  et»/)  gezählt  werden  können.  Wollte  man  andererseits 
-rjh:  dpiOijLOuc  streichen,  so  erhielte  man  an  den  Worten:  ta  siot) 
SIV7.1  (statt:  £iv«i  t.  ci'.),  auch  abgesehen  von  dem  Hiatus,  einen 
übellautenden  Schluss  des  Satzes,  und  man  könnte  es  nicht  er- 
klären, wie  jemand  dazu  gekommen  sein  sollte,  das  sio-/;  durch 
dptÖfiouc  zu  erläutern.  Wir  sehen  aber  auch  aus  Simpl.  Phys.  454, 
19  ff.,  dass  Plato  nach  der  Darstellung  des  Aristoteles  in  der  Schrift 
über  das  Gute  (auf  welche  I,  6.  9  der  Metaphysik  zurückzugehen 
scheint)  gerade  die  Zahlen  aus  dem  Einen  und  dem  (Jross-und- 
Kleinen  abgeleitet  hatte.  —  I,  6.  987  b  34  halte  ich  die  Worte: 
i'ca>  TÄv  -pwTtov,  für  welche  sich  schlechterdings  keine  passende 
Erklärung  linden  will,  für  eine  auf  Missverständniss  beruhende 
Glosse,  wie  .schon  Phil.  d.  Gr.  IIa,  '  034,  3  bemerkt  ist.  Alle 
sonstigen  Angaben  des  Aristoteles,  auch  das  ebengenannte  ausführ- 
liche Bruchstück  bei  Simplicius,  stimmen  darin  überein,  dass  Plato 
die  Zahlen  überhaupt,  nicht  blos  einen  Theil  derselben,  in  der  an- 
gegebenen Weise  construirte.  —  Zu  I,  8.  990  a  24  ff.  bleibe  ich  bei 
meiner  Vermuthung  (Phil.  d.  Gr.  I.  "  362,  1),  dass  vor  v^^/  (^-  2^) 
„TouTo"  einzuschalten  und  das  oia  to  Z.  27  in  „oto"  zu  verwandeln 
sei,  da  ich  der  überlieferten,  auch  von  Chr.  beibehaltenen  LA 
keinen  annehmbaren  Sinn  abzugewinnen  vermag.  —  1,9.  991b  20 
scheinen  mir  die  Worte:  wo  saxai  tu  oia  TotÜTCt  dpiDfxoc  eine  nicht 
in  den  Text  gehörige  Paraphrase  des  vorangehenden:  /.al  oux 
dpii>;j.oc  zu  sein.  —  Ebd.  Z.  29  hat  Aristoteles  vielleicht  ~srA  ~k 
T.rtir^-iY.a;  i~i7trjU'ac  geschrieben,  wie  IX,  2.  1046  b  3.  —  IX,  3. 
1047  a  9    hat  Cod.  T   mit   z-j.  loc  wahrscheinlich   das  Richtige.  — 


i  lericht  üb.  d.  deutsche  Litt.  d.  sokrat.  piaton.  u.  aristot.  Philosophie  1886, 1887.  263 

IX,  4  Anf.  glaube  ich  gegen  Christ  an  meiner  von  ihm  nicht  be- 
rührten,   in    den  Sitzungsberichten    der    hiesigen   Akademie   1882, 
Xr.  9,  S.  155  f.  näher  begründeten  Emendation:   ei  o  istl,  xo  ei'pyj- 
'isvov,  &UV7.TÖV,  oj  diouvotTov  |j,rj  a/oXriu»%r,  festhalten  zu  müssen.  — 
XII,  1.  1069  aSOf.   unterrichten   uns    die  von   Freudenthal    bei 
Averroes  nachgewiesenen,  Christ,  wie  es  scheint,  noch  nicht  be- 
kannten   Bruchstücke    des    ächten    Alexander    (Abhandl.    d.    Berl. 
Akad.  1884.  Freudenthal:  die  durch  Averroes  erhaltenen  Fragmente 
Alexanders  S.  72  vgl.  44)  über  zwei  Lesarten,  wovon  die  eine  mit 
('hrist's   Conjectur:    r^c   ■r^    [xev   cpOotpiYj    .  .  .    C«oa,    y,    o    cJ.toioc,    y;; 
7.va-,'x"'i    "•  •'*•  ^-  übereinstimmt;    ich   meinerseits  gebe   mit  Freuden - 
thal  und  Alexander  selbst  der  andern  den  Vorzug   und  lese  dem- 
nach: ooaiai  03  tpsTc.  [i-ia  [jlsv  ala^dr^xr^,  YjC  t,   ab  aloio-  -Jj  3=  cpi}7.f>-:7], 
7|V  ■kOcvts?  ofioXo^ousiv,   rjiov  T7.  'iüta  xctl  ta  C'o«'.  V  '^^'^T'^'^j  "^  '^~''^^' 
■/sTa  Xoißsrv.  —  XII,  4.  1070  b  30  wird  meine  von  Bonitz  gebilligte 
Conjectur:    av&ptoTro)   avapto-o^  jetzt   durch   den   ächten   Alexander 
(a.  a.  0.  S.  95,  Fr.  19)  bestätigt.     Was  Chr.  hier  vorschlägt,    liegt 
von  allen  handschriftlichen  Lesarten  allzuweit  ab.  —  Der  unklaren 
Stelle  XII,  5.  1071  all  f.    Hesse    sich    vielleicht    dadurch    einiger- 
massen  abhelfen,   dass  Z.  12  hinter  uX/j  ein  v^  eingeschaltet  würde. 
—  Ebd.  Z.  20  empfiehlt  sich  m.  E.  die  von  A''  gebotene  Streichung 
des  ~rj.  vor  x7.i}oAou.    —    XII,  6.  1071  b  34    vermuthet    Chr.    (mit 
Schwegler):    ouos  xou   (oot    xr^v   «ixtav.     Der  Ueberlieferung   noch 
näher  läge:   o-V;,  d  ü)ol  x.  aix.  —  XII,  10.  1075a  19 ff.  hält  Chr. 
den  Satz:  d}X    warsp  —  'fus'.c  saxiv  für  einen  späteren  Zusatz;   mir 
scheint  diese  Annahme  entbehrlich  zu  sein,  und  das  folgende  (Xs^oj 
o'  otov  u.  s.  f.)   gerade  den  in  ixiy.pov   xo  si;  xo  xo-.vov   angedeuteten 
bedanken  zu  erläutern.    Dagegen  mag  Z.  22  f.  zu  setzen  sein:  xot- 
7.UX-/)   -,'0(0   kvAa-o'j   auxoiv   y,   cpuatc   '"ip/j^/   saxiv.    —    Was   B.  XII   als 
(ianzes  betrifft,    so    glaubt  Christ   (S.  246f.),    es  habe  nach  der 
Absicht  des  Aristoteles  auf  A  B  F  E  Z  H  B  I   M  N  und  dann  erst  A 
Folgen  sollen  (A  sollte  seiner  Ansicht  nach   nicht  in  unser  AVerk 
aufgenommen  werden,    von  K  ist  auch   die  erste  Hälfte  unächt), 
XII,  1—5  seien  aber  nur  im  Umriss  ausgeführt  und  der  Zusammen- 
hang nicht  selten  durch  Randbemerkungen,  die  in  den  Text  kamen, 
gestört:  c.  6—10  mögen  desshalb  ausgearbeiteter  sein,  weil  Arist. 

18* 


i 


2G4 


E.  Zell  er, 


ihren  Inhalt  solion  in  dem  Gespräch  t:.  cp'.Xoao^iac  behandelt  hatte. 
(Hierüber  S.  26G.)  Eine  danken.swerthe  Zugabe  zu  Christas  Aus- 
gabe der  Metaphysik  ist  das  Wortregister. 

Christas  Recension  tler  Bücher  A  B  bespricht,  und  seine  eige- 
nen zaldreichen  Abweichungen  von  derselben  begründet 

Si'SEMiiiL.  Philologische  Wochenschrift  1887,  S.  511". ;  Emendationen 
zu  allen  Theilen  der  Metaphysik  theilt  derselbe  Arist.  Oeco- 
nornica  87  f.  mit. 
Einen  sehr  beachtenswerthen  Beitrag  zur  tieferen  Erfurschung^i 

unseres  Werkes  liefert 


Natohp,  P.,  Thema  und  Disposition  der  aristotelischen  ^letaphysik. 
Philos.  Monatsh.  XXIV,  37—65.  540—574. 
Diese  sorgfältige  und  scharfsinnige  Untersuchung  hat  das  Ver- 
dienst, eine  Reihe  von  Fragen  zur  Sprache  zu  bringen  und  sich 
mit  eindringender  Gedankenarbeit  an  ihrer  Lösung  zu  versuchen, 
welche  bisher  noch  nicht  scharf  genug  gestellt  worden  sind.  Sie 
alle  aber  führen  auf  die  Grundfrage  zurück,  worin  wir  eigentlich 
das  Thema  der  aristotelischen  Schrift  über  die  erste  Philosophie, 
unserer  „Metaphysik",  zu  suchen  haben.  Es  kreuzen  sich  hier  näm- 
lich zwei  Gesichtspunkte,  deren  Verhältniss  nicht  sofort  klar  ist. 
Einerseits  bezeichnet  Arist.  nicht  selten  als  den  Gegenstand  seiner 
Untersuchung  das  ov  fj  ov,  die  oÜ3t'c(,  und  der  grössere  Theil  unseres 
Werkes  ist  dieser  Frage  gewidmet;  andererseits  enthält  es  aber 
doch  im  XII.  B.  eine  eingehende  Erörterung  über  die  ewigen 
immateriellen  Wesen,  also  über  eine  liestimmte  Art  von  Sub- 
stanzen,  und  gerade  dieser  Theil  des  Werks  ist  es,  welcher  in  der 
peripatetischen  Schule  (De  motu  anim.  c.  ß.  700  b  7)  zuerst  unter 
dem  Titel:  ir.  TTpfoir^c  cpiXoaocfiotc  angeführt,  und  dem  zuliebe  dieser 
ganze  Theil  des  philosophischen  Systems  in  der  Metaphysik  selbst 
(VI,  1.  102Gal9.  XI,  7.  1064b  3)  als  {}coXo-,'ixr,  bezeichnet  wird.  I 
Wie  verhalten  sich  nun  diese  zwei  Zweckbestimmungen  zu  ein- 
ander? Will  unser  Werk  nur  den  allgemein  ontologischen,  oder  i 
neben  und  mit  ihm  zugleich  den  theologischen  Theil  der  Unter-  ' 
suchungen  behandeln,  welche  später   unter  dem  Namen  der  Meta- 


flericlit  üb.  d.  deutsche  Litt,  d.sokrat.  piaton.  u.aristot.  Philosophie  1886,1887.   265 

physik  zusammengefasst  werden?  N.  erklärt  sich  für  die  erste  von 
diesen  Annahmen,  indem  er  es  für  einen  unleidlichen  Widerspruch 
hält,  dass  eine  Wissenschaft,  die  vom  Seienden  überhaupt  handelt, 
zugleich  ein  besonderes  Gebiet  des  Seins  im  Unterschied  von  allen 
andern  behandeln  sollte  (S.  49  f.  u.  ö.);  und  er  sucht  durch  eine 
eingehende,  nicht  blos  auf  die  ausdrücklichen  Erklärungen  des 
Aristoteles,  sondern  auch  auf  die  ganze  Composition  unseres  Werks 
sich  erstreckende  Untersuchung  darzuthun,  dass  sein  Verfasser  die- 
sen Widerspruch  nicht  begangen  haben  könne.  Dass  die  Compo- 
sition unserer  Schrift  aus  seiner  Ansicht  über  ihr  Thema  sich  am 
liesten  begreife,  ist  ihm  der  Hauptbeweis  für  die  Richtigkeit  dieser 
Ansicht;  ebenso  dient  ihm  aber  umgekehrt  seine  Bestimmung  über 
den  Zweck  der  Metaphysik  als  das  wichtigste  von  den  Merkmalen, 
nach  denen  über  die  Aechtheit  des  Einzelnen  und  seine  Stellung 
im  Ganzen  entschieden  wird.  Die  eigentliche  Substanz  unseres 
Werks  besteht  ihm  zufolge  (wie  er  S.  540fr.  im  wesentlichen  mit 
Christ  übereinstimmend  ausführt),  nach  den  vorbereitenden  Bü- 
chern I.  III.  IV  aus  den  beiden  correspondirenden  Theilen:  VII  bis 
IX,  9  und  XIII.  XIV.  XII,  in  denen  auch  (S.  558  ff.)  die  Aporieen 
des  III.  B.  ihre  vollständige  Erledigung  finden.  B.  X  ist  eine  selb- 
ständige Abhandlung  über  das  Eine,  ein  Anhang  zu  der  über  das 
Seiende,  B.  V,  wenn  auch  acht,  gehört  nicht  in  unsere  Metaphysik, 
B.  K  ist  (wie  Verf.  in  dieser  Zeitschrift  I,  178 ff.  des  näheren  aus- 
geführt hat)  auch  in  seiner  ersten  Hälfte  (von  der  zweiten  und 
B.  II  nicht  zu  reden)  das  Werk  eines  späteren  Peripatetikers. 
Aehnlich  ist  aber  (S.  549if.)  auch  über  B.  \'I  zu  urtheilen:  wenn 
auch  sein  1.  Kap.  von  Arist.  herrühren  mag,  gehört  es  doch  nicht 
in  unser  Werk;  c.  2—4  sind  jedenfalls  unächt.  Auch  in  den 
ächten  Büchern  findet  jedoch  N.  nicht  ganz  weniges  auszuscheiden 
oder  umzustellen.  Seinen  Ausführungen  hierüber  in's  einzelne  zu 
folgen,  fehlt  mir  der  Raum;  und  auch  die  Bedenken,  zu  denen  mir 
>ein  Ges  immtergebniss  Anlass  gibt,  muss  ich  mich  begnügen  kurz 
anzudeuten.  Zunächst  nämlich  habe  ich,  was  die  Composition 
luiseres  Werkes  betrifft,  in  N.'s  Abhandlung  keinen  Aufschluss 
darüber  gefunden,  wie  er  sich  das  Verhältniss  unserer  drei  letzten 
Bücher  zu  den  früheren  vorstellt.     Soll  Arist.  nach  Abfassung  des 


266 


E.  Zeller, 


I.  Buchs   die  ganze  ausführliche  Auseinandersetzung    seines  9.  Ka- 
pitels im  XIII.  grossentheils  wörtlich  wiederholt  haben,  oder  wenn 
er  XIII  früher  geschrieben  hat,  als  I  in  seiner  jetzigen  Redaktion: 
soll  er  die  Absicht  gehabt    haben,    das,    was    er    aus  XIII  nach  I 
verpllanzt  hatte,    in   jenem   zu  belassen  und  somit  statt  einfacher 
Rückweisung  noch  einmal  zu  bringen?     Ist   andererseits   jenes    so 
undenkbar  wie  dieses:  liegt  dann  nicht  am  Tage,  dass  nach  der  Ab- 
fassung unseres  jetzigen  I.  Buchs  XIII  und  XIV  aus  dem  Hauptwerk 
ausgeschlossen,  und  wahrscheinlich  in  Folge  davon  bei  der  Heraus- 
gabe des  letztern  in  einen  Anhang  verwiesen  wurden?    ^Väre  fer- 
ner B.  XII  erst  nach  I— IX  geschrieben,  oder  wenigstens  nach  ihrer 
Abfassung  von  Arist.  in  unser  Werk  eingereiht  worden:  würde  er 
dann  wohl  das,    was  in  den  früheren  Büchern  viel  klarer  und  er- 
schöpfender auseinandergesetzt  ist,  XII,  1 — 5  wiederholt  haben,  und 
dazu  noch  ohne  jede  Hindeutung    auf    die    früheren  Erörterungen 
(B,  XII  citirt   keines  der  voranstehenden)   und   in  einer   so  apho- 
ristischen,   nicht  selten  bis  zur  Unverständlichkeit  knappen  Form, 
wie  sie  nur  für  einen  später  (mündlich  oder  schriftlich)  weiter  aus- 
zuführenden Grundriss,    nicht    für  ein   zur  Herausgabe  bestimmtes 
Werk  passte?     C.  3  weist  ja  aber  auch  1069  b  35.  1070  a  5  deut- 
lich hierauf  hin.     Was  endlich  B.  VI  betrifft,    so    macht   es    trotz 
Natorps  Widerspruch  (S.  546 f.),  neben  der  Parallele  des  XI.  BucLs, 
die  auch  im  Fall  seiner  Unächtheit  nicht  bedeutungslos   ist,  auch 
eine  Stelle  Theophrast's  wahrscheinlich,  dass  es  schon  in  der  ersten 
Redaktion  unserer  Metaphysik  einen  Theil  derselben  bildete.   Denn 
wenn  dieser  aristotelische  Schüler  gleich  im  Eingang  seiner  meta- 
physischen Aporieen  (Fr.  12,  1)  bemerkt,  dass  die  Ocojpia  xtov  TTf/w- 
Tojv  auf  die  vor^-a  als    otxiv/jTa  bezogen   und  für  csavotipa  gehalten 
werde  als  die  Physik,   so  entspricht  diesen  Aussagen  keine  andere 
aristotelische  Stelle  so  genau,  wie  VI,  1.  1026  a  13  ft".;  wenn  daher 
Theophrast  in  seinen  Aporieen  andere  Theile  unseres  Werks  (B.  IV. 
IX.  XII.  XIV)  nachweislich  berücksichtigt,    dieses    mithin    bei  der 
Abfassung  derselben  ihm  schon  als  Ganzes  vorlag,    so    kann    man 
nur  schliessen,  auch  B.  VI  habe  einen  Theil   dieses   Ganzen  gebil- 
det.    Dann  wird  man  sich  aber  auch  die  Bezeichnung  der  „ersten 
Philosophie"   als  ösoXo-.iztj   c.  1.1026a  19  gefallen  lassen  müssen. 


IkTiL'ht  üb.  d.  deutsche  Litt.  d.  sokrat.  piaton.  u.  aristot.  Philosophie  1886, 1887.   267 

Denn  das  Sätzchen,  das  sie  enthält,  und  das  N.  als  späteren  Zu- 
satz aus  dem,  wie  er  annimmt,  doch  wohl  von  Aristoteles  verfass- 
ten  aber  nicht  in  unsere  Schrift  gehörigen  Kapitel  entfernen  will 
^S.  51.  550 f.),  —  dieses  Sätzchen  ist  nicht  allein  durch  B.  XL  7. 
1064  bl  f.  geschützt,  sondern  es  ist  auch  für  den  Zusammenhang 
(den  es  nach  N.  „in  störendster  Weise  unterbrechen"  soll)  ganz 
unentbehrlich.  Streicht  man  es,  so  könnte  das,  was  mit  dem 
nächstfolgenden  ('■.u  ^otp  ao'/iXov  u.  s.  f.  Z.  19 ff.)  bewiesen  werden 
soll,  nur  eines  von  zweien  sein:  entweder,  dass  die  yojpiara  xctl 
a/ivr^Tot  noch  mehr,  als  andere  Ursachen,  für  ewig  zu  halten,  oder 
I  dass  sie  die  aXx\.o.  xoTc  'favepoi?  twv  Osi'tuv  seien.  Was  dagegen  hier 
wirklich  bewiesen  wird,  ist  weder  dieses  noch  jenes:  wenn  hier 
vielmehr  gesagt  ist,  das  Göttliche  könne  nur  in  den  unbewegten 
Substanzen  gesucht  werden^),  und  die  irpwx-/)  cpiXocsocpicc  könne  als 
j  die  Ti[jii«)tax-/j  i~lax•f^\i.r^  (und  als  solche  war  sie  ja  schon  I,  2.  982  b 
28 ff.  bezeichnet)  nur  das  Werthvollste  (also  das  Göttliche)  zu 
ilu-em  Gegenstand  haben,  so  folgt  aus  beidem  nur,  dass  die  „erste 
Philosophie"  Erkenntniss  des  Göttlichen,  Theologie  ist.  B.  VI  steht 
auch  mit  dieser  Erklärung  nicht  allein;  schon  I,  2.  983  a5ff.  war 
ja  bemerkt,  die  erste  Philosophie  sei  in  doppelter  Hinsicht  die  gött- 
lichste Erkenntniss:  als  diejenige,  welche  Gott  besitze,  und  als  die- 
jenige, welche  sich  auf  das  Göttliche  l)eziehe.  Der  Name  der  Theo- 
K)gie  steht  hier  nicht,  aber  in  der  Sache  ist  zwischen  ir.i^z-f^^ir^  xwv 
ilsitoy  und  OsoXo-j'ixy)  wirklich  kein  Unterschied;  und  dass  sich 
i  Aristoteles  der  letzteren  Bezeichnung  deshalb  nicht  bedient  haben 
würde,  weil  er  in  der  Regel  unter  den  „Theologen"  die  mytholo- 
gischen Dichter,  Hesiod  und  die  Orphiker  versteht  (N.  S.  55 ff'.), 
i  will  mir  nicht  einleuchten:  wir  reden  ja  doch  auch  sowohl  von 
'  natürlicher  als  von  positiver  Theologie,  Aristoteles  selbst  weist 
I  durch  sein  irpwToi  ihoXo-(rjSc<vx£c  1,3.  983  b  29  daraufhin,  dass  es 


0  Diese  sind  nämlich  mit  der  toiccjitj  ccöais  Z.  20  gemeint:  diese  Worte 
gehen  ebenso,  wie  die  beiden  tocüt«  Z.  17  auf  die  Z.  15  genannten  -/ojptaxä 
xal  dxivTjTa.  Das  yiopia-ov  bezeichnet  übrigens  hiebe!  nicht  das  Stofflose 
(N.  48,  18),  sondern  wie  so  oft,  das  Fürsichbestehende,  Substantielle:  y.cup.  x. 
äxiv.  heisst:  unbewegte  Substanzen.  Als  äxtvrjta  müssen  diese  immateriell 
sein,  aber  -/wpiaTä  sind  auch  die  körperlichen  Dinge. 


268 


E.  Zell  er, 


ikmIi  oinc  aiulore  Theologie  gebe  als  die  alten  Theogonieen.  und 
dass  die  cstXoso'fia  Oso^.o-'i/tj  mit  diesen  verwechselt  werden 
könnte,  hatte  er  nach  allem,  was  er  über  Gegenstand  und  Auf- 
gabe derselben  und  über  ihre  Identität  mit  der  „ersten  Philoso- 
phie" gesagt  hatte,  gewiss  nicht  zu  befürchten.  Auch  Natorp 
würde  es  aber  ohne  Zweifel  nicht  befürchten,  wenn  ihm  nicht  eben 
jene  Identität  der  beiden,  seiner  Ansicht  nach  so  verschiedenen 
Wissenschaften  zum  Anstoss  gereichte.  Allein  es  fragt  sich  eben, 
ob  dieselbe  Aristoteles  ebenso  anstössig  war,  ob  er  gleichfalls  einen 
unerträglichen  Widerspruch  darin  sah,  dass  die  Wissenschaft  von 
dem  „Seienden  als  solchem",  von  der  Substanz  im  allgemeinen, 
sich  zugleich  mit  eiüer  bestimmten  Art  von  Substanzen,  den  unkör- 
perlichen,  beschäftigen  solle.  Und  diese  Frage  zu  verneinen,  be- 
rechtigen uns  auch  solche  Stellen,  gegen  deren  Aechtheit  N.  selbst 
nichts  einzuwenden  hat.  So  wird  jene  Wissenschaft  I,  2  zueret 
(982  a  21)  als  r,  zotOoXo'j  i-'.cjTr^ar,  bezeichnet;  in  der  Folge  aber 
(98Ba5fl'.)  wird  von  ihr  gesagt,  sie  allein  sei  die  s-io-rjtxr^  twv 
ibttuv,  so  dass  also  an  eine  von  der  „ersten  Philosophie"  verschie- 
dene Wissenschaft  vom  Göttlichen  gar  nicht  gedacht  wird')-  Nicht 
anders  verhält  es  sich  mit  B.  XII.  In  seinen  Anfangsworten 
nennt  es  als  seinen  Gegenstand  ganz  allgemein  die  Substanz 
(rsr/i  TYp  rjuair/.:  r,  ibcupry.);  aber  schon  1069  a  30 ff.  bemerkt  es: 
von  den  drei  Arten  von  Substanzen,  die  es  gebe,  gehen  zwei 
(die  o.h\}r,-:r,  9^)0(07/,  und  die  7.iiiK  aioioc)  die  Physik  an,  die 
dritte  dagegen,  die  7./.tvr,Toc,  eine  andere  Wissenschaft,  von  der 
es  sich  von  selbst  versteht,  und  Phys.  VIII,  9.  192  a  34  auch 
ausdrücklich  gesagt  ist,  dass  sie  keine  andere  sei  als  die  „erste 
Philosophie".  Demgemäss  wird  denn  auch  XII,  2  —  5  von  der 
otisUr^-Tj  oü3''c(  nur  ihren  allgemeinen  Restandtheilen  nach  gesprochen, 
auf  die  ou^iai  äxivr^toi  dagegen  c.  6 — 10  so  genau  eingegangen,  als 
dies  dem  Philosophon  überhaupt  möglich  war.  und  damit  eben  das 
geleistet,  was  die  Physik  a.  a.  0.  der  ersten  Philosophie  zugewie- 
sen hatte:  r.sfA  tr,?  x7.t'  sir)oc  «p///?.  -otso'vv  »v'y.  r^  -rj'flr/X  -/7.t  ~(; 
■pj  -jyt:  zh\  0'.'  7y.p'.ßs!ac  o-opisoc.    Hiemit  stimmt  nun  durchaus  über- 


')  Wie  dies  auch  X.  S.  .')2f.  ausdrücklich  anerkennt. 


P.erichtiib.d.deutscheLitt.d.sokrat.platon.u.aristot. Philosophie  1886, 1887.  269 

rin.   was  VT,  1.  1026alOff.  (s.  o.)  steht:    wenn   es   ein   7.foiov    -/Äi 
iyJ.rr.Tr)^  xal  -/ojpiSTov  gebe,   so   sei  es  nicht  Sache  der  Physik  oder 
:lor  Mathematik,   sondern   einer  (smatr^arj)   -poxspct  aji-'foTy,    dieses 
VW  erkennen ;  und  es  ist  entschieden  verfehlt,  wenn  N.  (S.  48)  hier 
die  Worte:    si   os   ti  sativ  äiotov  u.  s.  f.  übersetzen  will:    „Ob   es 
ein  Ewiges  u.  s.  w.  gibt,   diess  zu  erkennen"  ist  Sache  der  tt^ot. 
ory/ioiv.     Diese  Deutung  des  £i  scheitert   (auch  abgesehen    von  der 
!  Erklärung  1025  b  16,  dass  das  xi  scr-i  und  das  tl  saxtv  der  gleichen 
,  l'ntersuchung  zufalle)    schon   an   dem  nächstfolgenden;    denn    auf 
I  die  Worte  Z.  20:  zX  irou  -h  Ostov  uTrap/si,  lässt  sie  sich  keinenfalls 
!  anwenden,  und  ebensowenig  auf  Z.  27 ff.,  wo  das,  was  N.  in  Z.  10 
wegzudeuteu  versucht,  aufs  unzweideutigste  gesagt  ist:   dass  nicht 
die  Physik   die    Trpwtrj   iT.^n-r^\rq  sei,   sondern   die   Tipu)--/)  cp-.Xocjocpia 
die  erste  Wissenschaft  sei,  wenn  es  eine  ouaia  d/ivr^xoc  gebe.    Auch 
1026  a  15  sagt    aber,    wie    sich    aus  dem  vorhergehenden  deutlich 
(•rgii)t,    nicht,    dass  die  erste  Philosophie    neben    anderem    „auch 
vom    Stofflosen    und    Unwandelbaren    handle"    (N.  49),    sondern 
schlechthin  und  ohne  diese  Beschränkung,  dass  es  die  Physik  mit 
solchem  zu  thun  habe,  das  substantiell  aber  veränderlich  ist,   die 
reine  Mathematik    mit    solchem,    das    unveränderlich,    aber    nicht 
I  substantiell  ist,    die  erste  Philosophie   dagegen  mit  dem,    was  so- 
wohl {y.r/X  .  .  xcd)    substantiell    als    unveränderlich    ist.      Und    das 
deiche  steht  De  an.  I,  1.  403  b  9f.,   wenn   hier  dem  Trpöj-o?  cpiXo- 
ao'io;  im    Unterschied  vom  Physiker    und   Mathematiker    nur    das 
zugewiesen  wird,  was  weder  einem  bestimmten  Stoff  anhaftet  noch 
l)los  durch  Abstraktion  von  dem  Körperlichen  unterschieden  wird, 
j  an  dem  es  vorkommt,  sondern  wirklich  ein  xs/oipiaasvov  ist.     Zu- 
gleich belehren  uns  aber    auch  diese    und  andere  Stellen  darüber, 
worauf  es  beruht,  dass  Arist.  die  allgemeine  Untersuchung  über  die 
Substanz  und  die  über  die  ewigen  undimmateriellenSubstanzen  einer 
und  derselben  AVissenschaft  zuweist.    Gegenstand  dieser  Wissenschaft 
sind  nämlich  im  allgemeinen  die  letzten  Gründe  der  Dinge  (I,  2.  982 
b  Iff.  28.  b  8.  24.  VI.  Anf.  u.  o.);  näher  jedoch  die  der  o'vt7.  -^  ö'vta,  der 
;  ouiiai  (IV,  1.  2.   VI  Anf.  VTIT  Anf.  IX  Anf.).     Um   nun   diese  zu 
linden,    muss  natürlich  untersucht  werden,    worin  das  Wesen  der 
o53t7.  besteht;    diese    allgemeine  Untersuchung    über   die  Sul)stanz 


270 


E.  Zeller, 


bildet  daher  einen  wesentlichen  Bestandtheil  der  ersten  Philoso- 
phie, und  dieser  ist  es,  mit  dem  sich  nach  der  Einleitung  im  I., 
den  Aporieen  im  III.,  und  der  Erörterung  über  die  Formalprin- 
cipien  im  IV.  B.  alle  von  Aristoteles  selbst  in  unser  Werk  einge- 
arbeiteten Bücher  (VI— X)  beschäftigen.  Jene  Untersuchung  selbst 
aber  führt  auf  die  Frage,  welche  schon  in  den  Aporieen  (III,  1. 
995  b  31)  als  eine  von  deu  wichtigsten  bezeichnet  wird,  ob  es  nur 
körperliche  oder  auch  unkörperliche  Ursachen  und  Principien  gibt, 
und  diese  Frage  ist  so  wichtig,  dass  von  ihrer  Beantwortung  die 
Möglichkeit  einer  „ersten  Philosophie"  wesentlich  abhängt.  Nur 
wenn  es  eine  outj-'a  ^/.xivr^xoc  gibt,  gibt  es  eine  cpiXoaocpia  •üpiu-r^,  eine 
solche,  welche  nicht  blos  das  Körperliche,  sondern  das  Seiende  als 
solches  seinem  allgemeinen  AVesen  nach  betrachtet  (VI,  1.  1027  a 
27  ff.).  Mit  der  körperlichen  Substanz  dagegen  und  der  materiel- 
len Ursache  hat  es  die  Physik  zu  thun ').  Der  „ersten  Philoso- 
phie" bleiben  mithin  von  den  letzten  Gründen,  deren  Erkenntniss 
ihre  Aufgabe  ist,  nur  die  immateriellen  übrig;  und  diese  laufen 
in  der  Gottheit  als  ihrer  Spitze  zusammen,  w^elche  zugleich  die 
Form  ohne  Stoff,  der  erste  Beweger  und  der  letzte  Zweck  oder 
das  7.7ai)ov  ist.  In  ihrer  Betrachtung  kommt  daher  auch  die  all- 
gemeine Untersuchung  über  das  Seiende  zum  Abschluss,  und  zu 
ihr  soll  sie  hinführen').  In  dem  aristotelischen  Gedankenkreis  lin- 
det  daher  zwischen  der  metaphysischen  Ontologie  und  der  Theolo- 
gie nicht  blos  kein  Gegensatz,  sondern  ein  so  enger  Zusammenhang 
statt,  dass  beide  einer  und  derselben  Wissenschaft  angehören,  welche 
ihrem  Inhalt  nacli  sowohl  die  Wissenschaft  vom  Seienden  als  die 


r 


')  Metaph.  Xll,  1.  IU69a30fl".  (s.o.)  Vll.  11.  10;i7  a  14.  Phys.  Vlll,  9. 
1 92  a 34 ff.  (s.  o.)  Metaph.  XIII,  1  Auf.:  rrept  [)iv  oüv  xf,?  twv  aia&r^Twv  oüat'as 
ErpTjXai  -zk  ^3Ttv,  iv  [jiv  ^i  \j.t^6rjw  ttj  twv  cp'jaiv.üiv  Tiepi  ttj;  uXr^s  u.  s.  w.  Dass 
mit  dieser  itiW.  t.  O'js.  nur  die  Physik,  nicht  (wie  N.  S.  555  will)  ein  Theil 
der  Metaphysik  (VII,  2 f.)  gemeint  ist,  liegt  am  Tage.  Me&ooo;  xwv  cpusixwv 
von  einer  Untersuchung  der  „physischen  Substanzen"  zu  erklären,  ist  schon 
sprachlieh  unmöglich:  da  niiisste  es  Ttepi  t.  9'J3.  heissen.  Es  wird  aber  auch 
nie  ein  Theil  der  Metaphysik  in  ähnlicher  Weise  citirt,  und  der  Inhalt  von 
VH,  2  f.  wäre  damit  rocht  unzutreffend  bezeichnet. 

^)  M.  vgl.  hierüber  ausser  dem,  was  S.  26()f.  aus  NT,  1.  I,  2.  XII,  1  ange- 
führt ist,  auch  I,  2.  982b8f.  983a8,  YII,  17  Auf. 


Hericht  ii l».rl.i!eutsclie Litt. d.sokrat.platoii.u.aristot. Philosophie  1886, 1887.  271 

Wissenschaft  vom  Göttlichen  genannt  werden  kann.  Für  das  reine 
Sein  oder  die  ouai'a  hält  Arist.  nur  das  stofflose  und  desshalb  un- 
veränderliche Sein,  und  eben  dieses  ist  ihm  auch  das  Göttliche. 
Eine  andere,  für  sich  zu  behandelnde  Frage  ist  es,  ob  sich  diese 
Ansicht  widerspruchslos  durchführen  lässt,  und  diese  Frage  wird 
man  nur  verneinend  beantworten  können.  Aber  die  Schwierig- 
keiten, welche  hieraus  hervergehen,  wurzeln  viel  zu  tief  in  dem 
Ganzen  des  aristotelischen  Systems,  als  dass  sie  sich  mit  philologisch- 
kritischen Mitteln,  durch  Athetese  einzelner  Abschnitte  und  ver- 
änderte Erklärung  einzelner  Stellen  beseitigen  Hessen.  Denn  ihr 
letzter  Grund  liegt  in  jener  Doppelsinnigkeit  des  Begriffs  der  ouata, 
welche  sich  durch  die  ganze  Metaphysik  hindurchzieht:  darin,  dass 
schliesslich,  wie  bei  Plato,  nur  die  Form  ohne  Stoff  für  ein  Wirk- 
liches im  vollen  Sinn,  eine  ouaia  oder  ein  svsp-j'sia  ov  gilt,  während 
doch  den  Einzeldingen  und  der  uatj,  ohne  die  kein  endliches  Ein- 
zelwesen denkbar  ist,  die  Wirklichkeit  so  wenig  abgesprochen  wer- 
den kann,  dass  sogar  nur  die  Individuen  Trpa)-/^  ousia  sein  sollen. 
Nach  dem  ersten  Gesichtspunkt  muss  die  Untersuchung  über  die 
ouai'a  sich  auf  das  stofflose  und  unveränderliche  Sein,  die  ösla,  be- 
schränken, nach  der  andern  müsste  sie  alles  Sein,  mit  Einschluss 
des  körperlichen,  gleichmässig  umfassen. 

Indem  ich  mich  den  naturwissenschaftlichen  Werken  zu- 
wende, nenne  ich  zunächst: 

PoscHENRiEDEK,  Fr.,  Die  uaturwissenschaftlicheu  Schriften  des  Aristo- 
teles in    ihrem  Yerhältniss  zu  den  Büchern  der  hippokrati- 
schen  Sammlung.     Bamberg,  Gärtner  1887.     67  S. 
Diese  sorgfältige,  mit  Sachkenntuiss  angestellte  Untersuchung 
führt   den    Beweis,    dass  Aristoteles  in   zahlreichen  Stellen  seiner 
Thiergeschichte  und  anderer  W^erke  neben  dem  echten  Hippokrates 
auch   noch  andere,    zu  den  älteren  Bestandtheilen  der  hippokrati- 
schen  Schriftsammlung  gehörige  Bücher  benützt  hat,   während   er 
seinerseits  (nach  S.  23  f.)   von  dem   Verf.   der  Schrift  De  carnibus 
benützt    worden   ist;    dass  ferner    auch  unächte  oder  zweifelhafte 
Schriften,  B.  YII   und  X  der  Thiergeschichte    und    die  Probleme, 
von   den   hippokratischen  Werken   nicht  selten   Gebrauch  machen. 


272 


E.  Zeller, 


Was  man  über  Aristoteles'  Verhältniss  zu  seinen  Vorgängern  auch 
bisher  schon  vermuthen  konnte,  erhiilt  durch  diese  Nachweise  e'mo 
weitere  Bestätigunsj.  und  noch  werth voller  sind  sie  vielleicht  l'iir 
die  Kritik  der  uns  unter  dem  Namen  des  Hippokrates  überlieferten 
AVerke. 

DiTTMEYEK,  L.,  Die  Unechtheit  des  IX.  Buches  der  Aristotelischen 
Thiergeschichte.  (Separatabdruck  a.  d.  Blättern  f.  d.  bayer, 
Gymnasialschulw.   XXIII.  Jahrg.)  München.     1887.     47  S. 

Was  schon  Aiibert  und  Wimmer  in  ihrer  Ausgabe  der  Thier- 
geschichte hinsichtlich  ihres  IX.  Buchs  behauptet  hatten,  das  w^ird 
hier  durch  eine  allseitige  und  gründliche  Untersuchung  in  über- 
zeugender Weise  dargethan.  Dieses  Buch  bildet  keinen  ursprüng- 
lichen Theil  des  aristotelischen  Werks,  es  ist  demselben  vielmehr 
erst  von  einem  Gelehrten  aus  der  peripatetischen  Schule  beigefügt 
worden,  welcher  für  seine  Arbeit  ausser  den  zoologischen  Schriften 
des  Aristoteles  aucli  noch  weitere  Quellen  benützt,  aber  sein  Ma- 
terial ziemlich  äusscrlich  zusammengetragen  hat.  Da  es  aber  nicht 
blos  von  Aristophanes  in  derselben  Weise  wie  die  übrigen  Bücher 
excerpirt  wird,  sondern  auch  das  Verzeichniss  des  Hermippus 
(Diog.  V,  25)  der  Thiergeschichte  neun  Bücher  beilegt,  wird  seine 
Entstehung  kaum  über  das  zweite  Drittheil  des  3.  Jahrhunderts 
herabgerückt  werden  können. 

Von  einer  in  Philippopel  aufgefundenen  Handschrift  der  Bücher 
-K.  oüpavotj,  TT.  -svESsiuc  y.7.1  cpDopac  und  ::.  '}uyr^c  machen  zwei  dor- 
tige Gelehrte,  Konstantinides  und  Papageorg,  viel  Aufhebens: 
jener  in  den  Jahrbb.  für  class.  Philologie  Bd.  135  (1887)  S.  217  f., 
dieser  in  der  Berliner  philolog.  Wochenschrift  VII,  482.  Indessen 
wird  erst  eine  genauere,  von  Sachkundigen  vorgenommene  Unter- 
suchung feststellen  können,  ob  dieser,  von  den  Genannten  selbst 
erst  dem  13.  oder  14,  Jahrh.  zugewiesene  Codex  vor  anderen  der 
gleichen  Zeit  angehörigen  solche  Vorzüge  besitzt,  dass  sich  ihm  zur 
Berichtigung  des  aristotelischen  Textes  etwas  erhebliches  entnehmen 
lässt. 

Den  Text  von  De  anima  I,  3.  407  all  bespricht  Susemihl 
Philologus  XLVI  (1886)  S.  86;  einige  Stellen  der  Schrift  -.  713^- 


Bericht  üb.  d.  deutsche  Litt,  d.sokrat.  piaton.  u.aristot.  Philosophie  1886, 1887.  273 

3SÜ),-  Bäumker  Jahrb.   f.  Philol.  CXXXIII  (1886)  S.  319f.     Von 
c.  1 — 3  dieser  Schrift  gibt 

ZiAJA,  J.,    Aristoteles  De    sensu    cap.  1.  2.  3  bis  pag.  439  b  18. 

Breslau  1887.  15  S.  4".  (Gymn.  progr.) 
eine  Uebersetzuug,  der  erklärende  Anmerkungen  beigefügt  sind. 
Die  erstere  ist  mitunter  etwas  schwerfällig  gerathen ;  die  Anmer- 
kungen, in  einzelnem  von  Bäumker's  Auffassung  abweichend, 
künnen  denen,  welche  sich  mit  diesem  Theil  des  aristotelischen  Sy- 
stems eingehender  beschäftigen,   zur  Beachtung  empfohlen  werden. 

Arletfi,  E.,  Ueber  Aristoteles'  Eth.  Nie.  I,  5.  1097  b  16ff.  (Zeitschr. 

f.  Philos.  u.  phil.  Krit.  Bd.  90.  1886.  S.  88— 110) 
liandelt  über  die  bekannte  und  vielbesprochene  Stelle,  worin  die 
Eudämonie  als  -avicuv  atps-rtoTocf/)  \x-\  aüvv.piöjiouij.sv,';  bezeichnet, 
und  dann,  nach  unserem  jetzigen  Texte,  beigefügt  wird:  auvctpii)- 
aouixivr^v  ok  oTjXov  (u:  otipEttoTefiav  asTa  to'j  oXa/iatou  ~(bv  d'^a- 
ilwv  u.  s.  w.  Die  verschiedenen  Erklärungen  dieser  Stelle  werden 
sorgfältig  dargestellt  und  meistens  zutreffend  beurtheilt.  A.  selbst 
tritt  S.  102 ft".  der  bei,  nach  welcher  ;j.-};  a-jvapiila.  besagen  soll: 
„wenn  sie  nicht  als  etwas  Zusammengezähltes  (aus  Theilen  be- 
stehendes) betrachtet  wird".  Ich  meinerseits  kann  noch  immer 
(wie  schon  Phil.  d.  Gr.  II  b,  61  Of.)  nicht  einräumen,  dass  cuv- 
aptilijLoujxsvo;  diese  Bedeutung  haben  kann,  und  auch  A.  hat  weder 
iln-e  sprachliche  Möglichkeit  nachgewiesen,  noch  irgend  eine  Stelle 
beigebracht,  worin  das  Wort  in  diesem  oder  einem  analogen  Sinn 
gebraucht  würde.  Ich  verstehe  ebensowenig,  wie  Aristoteles  in  den 
Worten:  auvapiUp..  —  aipsTtu-spov  dti  hätte  sagen  können:  wenn 
die  Glückseligkeit  aus  Theilen  bestände,  wäre  sie,  mit  jedem  be- 
liebigen anderen  Gut  zusammengenommen,  wünschenswerther,  als 
allein:  wer  sie  sich  als  eine  Summe  einzelner  Güter  denkt,  der 
nimmt  ja  doch  immer  an,  dass  sie  alle  Güter  in  sich  begreife, 
gerade  für  diesen  kann  daher  der  Fall,  dass  ein  weiteres  Gut  zu 
ihr  hinzukomme,  gar  nicht  eintreten.  Ich  weiss  aber  jenen  Wor- 
ten überhaupt  keinen  mit  Aristoteles"  Ansichten  verträglichen  Sinn 
abzugewinnen,   und  halte  dieselben  daher  (wie  schon   a.  a.  0.  be- 


274  E-  'Heller, 

merkt  ist)  für  eine  Interpolation.  Auch  im  vorhergehenden  scheint 
mir  die  Auseinandersetzung  Z.  8 — 14  (xo  o'  aÖTotfixs;  —  ä-ia/s-tiov), 
welche  den  Zusammenhang  stört,  und  für  die  vorliegende  Erörte- 
rung ganz  entbehrlich  ist,  nicht  blos  eine  Parenthese,  sondern  eine 
mit  Unrecht  in  den  Text  aufgenommene  Randglosse  zu  sein. 
Wahrscheinlich  hat  Aristoteles  nur  geschrieben:  ~h  -ip  TiXstov 
ot-i^boy  c('jTO([j/£c  Eivai  ooxsT.    (Z.  6 f.)  to  o'  C('jt7.j:>x3r  ttösijLäy  o   uovo'j- 

fliVOV    atpcXOV    -OtcT    TOV    ßlOV    ZCtl    »Jf/jOSVO^    £V030t'     TO'.O'JtOV    0£    TYjV    SUOOtl- 

aovi'otv    r;tou.s{}a    sTvat,    sTi    os  Travicuv  atosttüTotT-ziV   u./;   a'jvao'.öaouasvriV 

t  I  ^  I  f  (       I  t  I  t  I 

(Z.    14  tt'.).      TsXöir-V  07)   tl    'fCd'vSTOtl    XCtl    aUTCtpXcC    Y;    £!JO0r.lU.OVl0(,    TÖUV  7:p7X- 

Tu)v  o'3(30(  T3/vOc.  Die  Worte  Z.  16:  Ixt  os  —  auvctpiö[xo'j[x£v/)v  bringen 
in  diesem  Fall  nichts  wesentlich  neues,  sondern  das  vorhergehende 
erhält  durch  sie  nur  eine  kleine  Erweiterung.  „Wir  halten  die 
Eudämonie,  sagt  Aristoteles,  nicht  blos  für  etwas,  was  für  sich 
allein  genügt,  um  das  Leben  wünschenswerth  zu  machen,  sondern 
wir  halten  sie  sogar  für  das  allerwünschenswertheste,  ohne  dass 
sie  hiefür  mit  anderem  zusammeno;enommen  zu  werden  brauchte": 
das  [xTj  auvotpii)|j,ou|j£voc  ist  dem  Sinne  nach  mit  dem  vorhergehen- 
den liovouiicvoc  gleichbedeutend.  11 
Mit  der  Texteskritik  der  Politik  beschäftigt  sich  •> 


'»" 


SysEMiHL,  Fr.,  De  Politicis  Aristoteleis  quaestiones  criticae.  (Jahrb. 
f.  class.  Philol.  1886.  Supplementb.  15,  S.  331-450.) 
Vf.  selbst  bezeichnet  diese  Schrift  (im  Jahresber.  f.  Alterthums- 
wissensch.  1887,  1,12)  als  eine  überarbeitete  Sammlung  seiner 
früher  theils  lateinisch  Ihoils  deutsch  zerstreut  erschienenen  kriti- 
schen Bemerkungen,  in  Form  eines  Supplements  zu  seiner  ersten 
Ausgabe  der  Politik  (von  1872).  Alle,  welche  sich  mit  diesem 
Werke  zu  beschäftigen  haben,  werden  dem  unermüdlichen  Forscher 
für  diese  Sammlung  und  Revision  seiner  werthvollen  Arbeiten  dank- 
bar sein.  Was  die  Grundfrage  über  den  Werth  der  verschiedenen 
Handschriften  betritt,  so  hat  sich  S.  bekanntlich  tlurch  Busse  zu 
einer  erheblichen  Einschränkung  seines  früheren  Urtheils  über  die 
für  Mörbeke's  Uebersetzung  benützte  bestimmen  lassen.  Dagegen 
gibt  er  fortwährend  der  von  ihm  mit  II'  bezeichneten  Handschriften- 
familie   vor   der   von   1.  Bekker  seiner  Ausy;abe  zu  Grunde  geleg- 


lierichtüb.d.deutscheLitt.cl.sokrat.platon.u.aristot.  Philosophie  1886, 1887.  275 


ten  (IV)  im  Ganzen  genommen  den  Vorzug,  und  er  verth eidigt 
diese  Ansicht  in  den  Jahrbb.  f.  class.  Philologie  1887  S.  801—805 
liegen  Heylbut  („Zur  Ueberlieferung  der  Politik  des  Aristoteles". 
Rhein.  Mus.  XLII.  1886.  S.  102—110),  welcher  in  einem  Vati- 
canischen  Palimpsest  Bruchstücke  aus  B.  III  und  IV  der  Politik 
aufgefunden  und  mit  der  Mittheilung  ihrer  Varianten  eine  Erörte- 
rung verbunden  hatte,  in  der  er  gegen  S.  für  die  grössere  Ursprüng- 
lichkeit von  n^  eintritt.  Diese  Frage  zum  Austrag  zu  bringen, 
muss  ich  anderen  überlassen. 

Von  der  Oekonomik  hat 
SüSEMiHL,  Fr.,   Aristotelis  quae  feruntur  Oeconomica  reo.  Leipzig, 

Teubner  1887.  XXX  und  94  S. 
inne  neue  Ausgabe  veranstaltet,  welche  ausser  den  zwei  Büchern 
unserer  Oekonomik  auch  die  1295  von  Durand  von  Auvergne  ver- 
fertigte  Uebersetzung  des  im  Original  verlorenen  sog.  dritten  Buchs 
der  Oekonomik  in  ihren  verschiedenen  Recensionen  enthält.  Die 
Selbstverleugnung,  mit  welcher  sich  S.  der  undankbaren  Aufgabe 
unterzogen  hat,  selbst  von  so  gehaltlosen  Stücken,  wie  das  2.  und 
'■'>.  Buch,  durch  eine  peinlich  genaue  Handschriftenvergleichung  einen 
p.iöglichst  correkten  Text  herzustellen,  verdient  alle  Anerkennung. 
Die  Einleitung  zeigt  zunächst  mit  überzeugenden  Gründen,  dass 
schon  unser  erstes,  neben  Aristoteles  auch  von  Xeuophon's  Oekonomi- 
l<us  abhängiges  Buch  nicht  von  Aristoteles,  wahrscheinlich  aber  auch 
nicht  von  Theophrast,  sondern  von  einem  andern  Peripatetiker 
der  ersten  oder  zweiten  Generation  herrührt.  Das  zweite  Buch 
verlegt  S.  in  die  zweite  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts;  über  die 
Abfassungszeit  des  dritten,  d.  h.  seines  griechischen  Originals,  wagt 
'T  keine  Vermuthnng.  lieber  die  für  seine  Ausgabe  benützten 
Handschriften  wird  S.  XXI ff.  eingehend  berichtet;  sorQ;fältio;e  Re- 
^ister  erhöhen  die  Brauchbarkeit  der  Ausgabe.  Ein  Anhang;  bringt 
,  \'arianten  zur  endemischen  Ethik  und  eine  reichhaltige  Sammlung 
''igener  und  fremder  Conjecturen  zu  allen  bis  jetzt  im  Teubner'- 
ehen  Verlag  erschienenen  aristotelischen  Schriften. 


Den  Text  der  Rhetorik  untersucht 


l 


276  I'-  7- eller, 

R(»MKK,   Ad.,    Zur  Kritik   der  Rhetorik  des  Aristoteles  (Blätter  f. 
bayr.  Gymuasialw.  XXII.  1886.  S.  491—510). 
Es   ist   dies  eine  Beigabe  zu  R.'s  1885  erschienener  Ausgabe 
der  Rhetorik,  welche  den  Zweck  verfolgt,  die  neuen  Lesarten  und 
Conjecturen  derselben  zu  rechtfertigen,   und  welche  den  Freunden 
des  aristotelischen  Werkes  um  so  willkommener  sein  wird,  je  an- 
erkannter das   Verdienst  ist,    welches  sich  R.    in   seiner  Ausgabe 
namentlich    durch    die    genauere    Vergleichung    der    ältesten    und 
weitaus  wichtigsten   Handschrift   (A^)   um  dasselbe   erworben    hat. 
Rhet.  1,  4.  1360  a  12  ff.  halte  ich  den  überlieferten  Text  nicht  für 
unmöglich,  und  glaube  nicht,  dass  eine  constructio  ad  sensum,  wiei 
.sie  bei  demselben  \M)rausgesetzt  werden  muss  (toutouc  =  diejenigen, 
Avelche    dieses  Bedürfniss    befriedigen    können)    für  Aristoteles    zui 
kühn   ist;    will   man   aber  ändern,    so  wäre  das  einfachste,    Z.  13 
-7.07.  T-'vfov  zu  setzen  und   das  tl'vwv   (mit  R.)  als  Masculinum   zu 
nehmen.     II,  25.  1402  b  27  entspricht  dem  asv,  welches  den  Verf. 
S.  507  zu  einer  Emendation  veranlasst,  das  unmittelbar  folgende:! 
S3T'.  os;  es  findet  nur  bei  demselben  eine  Versetzung  statt,  wie  siej 
auch  sonst  vorkommt,  und  der  Sinn  ist  der  gleiche,  wie  wenn  esj 
hiesse :  6  77.-:r^70f((uv  oi'   sixotojv  ;xev  cü-oosuvostv.     Ebenso  lässt  .sichl 
Z.  30  (6  o£  xpiTY);  orö-oti)  das  oz  halten,  mögen  wir  nun  ein  leichtes j 
Anakoluth  haben,    oder  os  zur  Einführung  des  Nachsatzes   dienen 
(vgl.  Bonitz  Ind.  arist.  167  a  19).    Vm  endlich  noch  IL  13.  1389  b23 
zu  berühren,  so  kann  ich  mich  mit  R.'s  Conjektur:  -7.p7.  für  xaT'-/ 
um  so  weniger  befreunden,   da  das  zunächst  stehende  (cpü.ouaiv  w; 
jx'.ar,(3ayT3c)  gerade  /.'x-a  Trjv  BiavTo;  u-rAW^xr^v  geschieht.    Ich  glaube 
vielmehr,  dass  wir  hier  einen  von  den  Fällen  haben,  in  denen  mit 
nachlässigem  Ausdruck  anscheinend  für  das  Ganze  einer  Aeusseruiig 
ein  Zeuge  angeführt  wird,   dem  nur  ein  Theil  derselben  angehört. 
Beispiele  dieses  Verfahrens  bei  Arist.  habe  ich  eben  jetzt  in   den 
Sitzungsberichten  der  Akademie  1888  Nr.  51  gegeben. 

DiF.i,s,  IL,  IJeber  das  dritte  Buch  der  aristotelischen  Rhetorik  (Ab- 

handl.  d.  K.  preuss.  Akademie  d.  WLssensch.  1886)  37  S.  4". 

unterzieht  eine  Frage,  welche  schon  seit  einer  Reihe   von  Jahren 

von  verschiedenen  Seiten  berührt,    aber  bis  jetzt  nicht  gelöst  war, 


Bericht  üb.  d.  deutsche  Litt.  d.  sokrat.  piaton.  u.  aristot.  Philosophie  188G,  1887.   277 

einer  gründlich  eindringenden  Untersuchung  und  bringt  sie,  wie 
ich  glaube,  zur  abschliessenden  Entscheidung.  Er  führt  nämlich 
durch  eine  umfassende,  an  feinen  Bemerkungen  reiche  Vergleichung 
zwischen  Theophrast's  rhetorischen  Fragmenten  und  den  entspre- 
chenden Stellen  unseres  3.  Buchs  den  Nachweis,  dass  schon  Theo- 
phrast  dieses  Buch  gekannt  und  Sätze,  die  ihm  angehören,  theils 
wiederholt  theils  berichtigt  und  ergänzt  hat.  Dass  es  aber  keinen 
ursprünglichen  Bestandtheil  der  ari.stotelischen  Rhetorik  gebildet 
haben  kann,  räumt  auch  D.  ein,  und  erkennt  in  ihm  statt  dessen 
(S.  16f.  34)  eine  eigene,  allerdings  zur  Ergänzung  der  Rhetorik  be- 
stimmte, Abhandlung  über  die  Xe^ic  und  Tct^i?,  die  gleiche,  welche 
Diog.  V,  24  und  der  Anonymus  Men.  unter  dem  von  Theophrast 
wiederholten  Titel  -spl  Xic^w^  anführen.  Mit  dieser  Untersuchung 
verschlingt  sich  indessen  noch  eine  Anzahl  weiterer  werthvoller 
Erörterungen.  Die  Besprechung  der  Punkte,  durch  die  unser  Buch 
Anstoss  gegeben  hat,  führt  den  Verf.  zunächst  auf  das  Citat  aus 
„dem  Epitaphios"  c.  10.  1411a  31,  von  dem  er  zeigt,  dass  es  sich 
mit  beiden  Annahmen  vertrage:  mit  der,  dass  unser  Lysianischer 
Epitaphios  gemeint,  aber  bei  Arist.  ~m  täv  sv  üaXafxTvi  -z^zoTr^ady- 
T<uv  Interpolation  sei,  und  mit  der  von  Wilamowitz  vorgeschla- 
uenen,  dass  es  auf  einen  älteren  Epitaphios,  den  des  Gorgias,  gehe. 
Er  untersucht  ferner  aus  Anlass  der  Verweisung  auf  die  Osoosxtcia 
(c.  9.  1410  b  2)  das  Yerhältniss  dieser  Schrift  zu  unserer  Rhetorik, 
und  findet  es  wahrscheinlich,  dass  dieselbe  derjenige  Abriss  der 
Rhetorik  sei,  welchen  Aristoteles  seinen  ersten  Vorträgen  über 
diese  Wissenschaft  zu  Grunde  legte,  und  welche  Theodektes  nicht 
ohne  eigene  Zuthaten  herausgab,  nachdem  Aristoteles  Athen  347 
verlassen  und  Theod.  seine  Reduerschule  übernommen  hatte  (dass 
nämlich  Arist.  aus  Mytilene  dorthin  zurückkehrte,  glaubt  D.  nicht). 
Uie  überzeugende  Beweisführung  für  diese  Vermuthung  mag  man 
bei  D.  selbst  nachlesen.  Weniger  überzeugt  hat  mich  der  Versuch 
(S.  201T.),  auch  die  Anführung  des  Menexenus  (c.  14.  1415  b  30) 
als  aristotelisch,  und  dieses  Gespräch  selbst  als  platonisch  zu  retten. 
Da  ich  mich  aber  hierüber  schon  I,  614  dieser  Zeitschrift,  und 
etwas  ausführlicher  jetzt  Phil.  d.  Gr.  IIa',  461  f.  480 f.  ausge- 
sprochen halle,  will  ich  das,  was  dort  gesagt  ist,  hier  nicht  wiederholen. 

19 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosuphie.     II.  ^" 


278 


E.  Zeller, 


Rhet.  I,  14.  1375  a  15  verthcidigt  Zahlfleisch  Wiener  Stud. 
1886,  S.  165  —  wie  ich  glaube  missver.ständlich  —  die  LA  -.pa^o- 
ijLsva  für  ötYpotcpot. 

Auf  die  Poetik  werde  ich  aus  Anlass  der  Schriften  zurück- 
kommen, welche  die  in  ihr  niedergelegte  Theorie  besprechen;  von 
speciellen  ihrer  Erklärung  oder  Kritik  gewidmeten  Arbeiten  ist  aus 
unsern  Berichtsjahren  (da  Gomperz  Zu  Arist.  Poetik  erst  dem 
nächsten  angehört)  nichts  zu  nennen,  als  einige  Erörterungen, 
welche  die  Geschichte  der  Philosophie  so  wenig  angehen,  dass  es 
genügt,  hinsichtlich  derselben  auf  Susemihl's  Jahresbericht  für 
1886  S.  16  u.  18  zu  verweisen:  Gitlbauer  Philologische  Streif- 
züge S.  405— 407  (über  den  xo-j-uo?  c.  12.  1452  b24f.)  und  die 
Verhandlungen  zwischen  Gomperz  (Anzeiger  der  philol.  histor. 
Kl.  d.  Wiener  Akad.  1886  Nr.  5.  Jahrb.  f.  Philol.  1886,  S.  771 
bis  775,  1887,  S.  460f.)  und  Susemihl  (ebdas.  1886,  583 f.  1887, 
219—223.  Jahresber.  S.  16  f.)  über  die  Skylla,  welche  Poet.  c.  15. 
26.  1454  a30f.  1461  b  30f.  erwähnt  wird.  Ebensowenig  Beziehung 
zur  Geschichte  der  Philosophie  haben  die  Verse,  w^elche  die  unächte 
Schrift  TT.  Oot'jjxaaicov  (zxou3|j.aT«jv  c.  133  mittheilt,  und  an  deren 
Wiederherstellung  sich  P.  Unger  De  antiquissima  Aenianum  in- 
scriptione  (Altenb.  1887.  Gymn.-Progr.)  versucht. 

Von  seiner  Sammlung  der  aristotelischen  Fragmente  hat 


Rose.   Vai.,    Aristotelis  qui  ferebantur  librorum   fragmenta.     Lpz. 

Teubner.  1886.  463  S. 
eine  neue  Ausgabe,  die  dritte,  veranstaltet,  für  welche  alle  Freunde 
dieser  Studien  dem  um  die  aristotelischen  Schriften  so  vielfach  ver- 
dienten Gelehrten  aufrichtig  dankbar  sein  werden.  Die  Zahl  der 
Fragmente  hat  sich  darin  im  Vergleich  mit  der  zweiten  (akade- 
mischen) Ausgabe  von  629  auf  680  erhöht.  Erwünschte  Zugaben 
bihlen  die  alten  Schriftenverzeichnisse  und  philologisch  genaue  Ab- 
drücke der  vita  Marciana  in  ihren  verschiedenen  Bearbeitungen, 
den  zwei  griechischen  und  der  lateinischen.  Ausführlicher  berichtet 
über  das  Verhältniss  dieser  dritten  Ausgabe  der  Fragmente  zu  den 
früheren  Susemihl  (Berliner)  AVochenschr.  f.  klass.  Phih)l.  1887. 
Sp.   1354—1360,    dessen    Desiderien    ich   mich    mit   wenigen   Aus- 


s 


J]erichtüb.d.  deutsche  Litt,  d.sokrat.  piaton. u.aristot.  Philosophie  188fi,  1887.   279 

nahmen,  seiner  Anerkennung  des  Gebotenen  ohne  Vorbehalt  an- 
Nchliesse. 

Von  den  Schriften,  welche  das  aristotelische  System  als  sol- 
ches angehen,  nenne  ich  zunächst 

Haas,  L.,  Zu  den  logischen  Formalprincipien  des  Aristoteles.  Burg- 
hausen 1887.  38  S.  Gymn.  progr. 
Diese  Abliandlung  gibt  eine  sorgfältige,  aus  den  Quellen  ge- 
chöpfte  Darstellung  der  aristotelischen  Lehre  über  die  allgemeinen 
Voraussetzungen  des  wissenschaftlichen  Erkennens,  und  insbeson- 
dere über  den  Satz  des  Widerspruchs,  den  Arist.  selbst  als  das 
allgemeinste  und  unbezweifelbarste  Princip  alles  Denkens  bezeich- 
net. Was  Verf.  bis  S.  31  hierüber  ausführt,  entspricht  m.  E.  fast 
durchaus  den  eigenen  Aussagen  des  Philosophen.  Doch  sagt  dieser 
Anal.  post.  I,  32.  88  b  13  nicht  (wie  Verf.  S.  13  angibt),  es  sei 
lächerlich  „zu  sagen,  dass  etwas  sich  selbst  gleich  oder  mit  sich 
selbst  identisch  ist",  sondern  vielmehr:  es  -wäre  albern,  wenn  man 
(leshalb,  weil  die  Principien  der  verschiedenen  AVissenschaften  mit 
sich  selbst  identisch  sind,  schlechtweg  sagen  wollte,  sie  seien  iden- 
tiscli  (also  auch  mit  einander  identisch);  und  Metaph.  IX,  9.  1051 
a29  wird  nicht  allgemein  behauptet:  „das  Mögliche  werde  erst  er- 
kannt, wenn  es  wirklich  geworden  ist"  (S.  14),  sondern  nur  von 
der  Beweisführung  durch  geometrische  Construction  wird  bemerkt, 
sie  beruhe  auf  der  Verwirklichung  eines  Potentiellen  (vgl.  Bonitz 
z.  d.  St.).  Bei  der  Besprechung  von  De  Interpret.  9  hätte  an  den 
zweifelhaften  Ursprung  dieser  Schrift  erinnert  werden  sollen,  wenn 
auch  die  dort  gegebenen  Bestimmungen  dem  aristotelischen  Begriff 
des  Möglichen  durchaus  entsprechen.  Die  Behauptung,  dass  alles 
Denken  und  Reden  unmöglich  werde,  wenn  man  den  Satz  des  Wi- 
derspruchs leugnet,  wird  Aristoteles  nicht  (nach  S.  27)  „unterscho- 
ben"; vgl.  Metaph.  IV,  3.  1005  b  15.  1006  a  11.  c.  4.  1008  b  30. 
1009  a  3.  Diesen  Satz  selbst  bezeichnet  Verf.  mit  Recht  als  ein 
blos  formales  Princip;  und  damit  verträgt  es  sich  vollkommen, 
dass  derselbe,  wie  er  gleichfalls  bemerkt,  nicht  blos  logische,  son- 
doni  zugleich  ontologische  Bedeutung  hat,  denn  auch  über  die  Be- 
schaffenheit der  Dinge  sagt  er  nichts  aus  als  (bis  Allgemeine,  dass 

19* 


930  E*  Zell  er, 

sie  keine  mit  einander  unvereinbaren  Eigenschaften  gleichzeitig 
besitzen  können.  Zweifelhafter  ist  mir,  ob  es  in  Aristoteles'  Sinn 
ist,  wenn  man  dem  Satz  des  Widerspruchs  mit  dem  Verf.  (S.  oliV.) 
noch  ein  weiteres  Princip  in  gleicher  Stellung  beifügt.  Denn  so 
bereitwillig  ich  einräume,  dass  jener  für  sich  allein  nicht  genügt, 
und  dass  Lcibuiz  alle  Ursache  hatte,  ilm  durch  das  Gesetz  des 
Grundes  zu  ergänzen,  so  vermisse  ich  doch  den  Beweis  dafür,  dass 
auch  Aristoteles  eine  solche  Ergänzung  nüthig  gefunden  oder  auch 
nur  den  Raum  für  sie  offen  gelassen  hat.  II.  iindet  dieselbe  in 
dem  „Princip  der  Convenienz"  oder  der  Uebereinstimmung,  wel- 
ches (nach  Hagemann' s  Logik)  besage,  dass  „Vorstellungen,  welche 
als  Theilvorstellungon  des  Denkobjekts  erkannt  sind,  mit  diesem 
zu  verbinden  sind;"  also  ungefähr  das  gleiche,  wie  die  alte  syllo- 
gistische  Regel:  nota  notae  est  nota  rei.  Nun  ist  ja  ganz  richtig, 
dass  Arist.  in  der  Beweisführung  nach  dieser  Regel  verfährt;  aber 
zu  seinen  logischen  Principien  gehörte  sie  nur  dann,  wenn  er  selbst 
sie  als  solches  ausgesprochen  hätte,  und  diess  hat  er  so  wenig  ge- 
than,  dass  11.  selbst  S.  33  einräumt,  er  habe  den  Satz  des  Wider- 
spruchs „als  einziges  Prinzip  bezeichnet,"  derselbe  sei  nach  ihm 
„der  einzige  unbedingt  sichere  Ausgangspunkt  alles  Denkens  und 
Erkennens".  Auch  der  Grundsatz,  dass  alles  ^Vahre  mit  sich  über- 
einstimmen müsse  (Anal.  pr.  1,  32.  47  a  9.  Eth.  1,  8.  1098  b  11. 
Haas  S.  37)  ist  nur  eine  Eolgerung  'aus  dem  Satz  des  Wider- 
spruchs. 

Mit  dem  Grundbegriff  der  aristotelischen  Metaphysik   beschäf- 
tigt sich  •!-, 

Wf.bkh,  B.,  De  ou3''o(C  apud  Aristotelem  natioiie  ejusque  cognos- 
cendae  rationo.  Bonn  1887.  Inauguraldiss.  32  S. 
Es  ist  diess  eine  fleissige  und  wohlgeordnete  Sammlung  von 
Aussprüchen  des  Aristoteles  und  seiner  Erklärer,  die  aber  nichts 
Neues  bringt.  An  den  tief  eingreifenden  Schwierigkeiten,  welche 
die  Vieldeutigkeit  der  ouatot  dem  aristotelischen  System  bereitet, 
geht  W.  mit  dem  gleichen  Stillschweitjen  vorbei,  wie  an  der  Frage 
nach  dem  Wesen  des  voüc  7rof/)ti7.o;  und  der  Art  seines  Erkennens. 
Den  voO;  -otUr^Tixo;  hält   er  mit   Brentano   für  identisch    mit   der 


I 


Kericht  i'ih.  d.  doiitsL-he  Litt.  d. sokrat.  pliiton.  u.aristot.  Philosophie  1886, 1887.   281 

i'liantasie,  ohne  für  diese  Meinung  etwas  haltbareres  beizubringen  als 
jener;  und  die  gleiche  Ansicht  wird  mit  unzureichender  Begrün- 
dung, sammt  der  damit  verbundenen  Unterscheidung  zwischen  dem 
vo'js  oüva[i.£t  und  dem  v.  TraO-zj-rixöc,  auch  Theophrast  zugeschrieben. 

Kappes,  M.,  die  aristotelische  Lehre  über  Begriff  und  Ursache  der 
•/.'''A/istr.     Bonn  1887.   46  S.    Inauguraldiss. 

Auch  diese  Abhandlung  ist  in  ihrem  Haupttheil  ein  fleissiger 
und  brauchliarer  Auszug  aus  den  hergehörigen  aristotelischen  Schrif- 
ten, dem  wenig  von  eigener  Untersuchung  beigemischt  ist;  und 
(^benso  sind  in  der  „Kritik  der  aristotelischen  Bewegungstheorie" 
S.  37  ff.  die  Citate  aus  fremden  Schriften  die  Hauptsache.  S.  15 
wäre  zu  untersuchen  gewesen,  wie  sich  die  Behauptung,  dass  die 
Bewegung  in  allen  Kategorieen  vorkomme,  (Phys.  111,  1.  201  a8f.) 
mit  der  sonst  allgemein,  und  so  auch  im  vorhergehenden,  voraus- 
gesetzten und  Phys.  V,  2  näher  begründeten  Beschränkung  dersel- 
ben auf  vier  Kategorieen  verträgt;  aus  Simpl.  Phys.  412,  Slflf. 
i^^eht  hervor,  dass  schon  Eudemus  und  Theophrast,  namentlich  der 
letztere,  jener  Beschränkung  widersprachen.  Die  Antwort  liegt 
wohl  darin,  dass  die  Veränderung  der  Relation  u.  s.  f.  zu  den 
■/firÄ  suij-'j^i^v/o;  erfolgenden  Bewegungen  gehört,  die  Arist.  nach 
Phys.  V,  1.  224  b  26  ausser  Betracht  lassen  will.  Wenn  S.  35  von 
den  Planetensphären  gesagt  wird,  sie  bewegen  sich  nicht  wandel- 
los im  Kreise,  sondern  in  schiefen  Bahnen  und  ungleichmässig,  so 
hätte  diess  genauer  erläutert  werden  müssen;  denn  um  ihre  eigene 
Achse  bewegt  sich  jede  Sphäre  gleichmässig  in  einer  horizontalen 
Ebene.  Dass  Baco  von  Verulam  „der  Begründer  der  neueren  Na- 
turwissenschaften" sei,  ist  eine  starke  Uebertreibung. 

Höher,  als  die  beiden  eben  Genannten,  steckt  sich  seine 
Aufgabe 

Adrian,  K.,   Aristotelis  systema  causarum  ad   motum    circularem 

refertur.     Münster  1886.    59  S.  Inauguraldiss. 

Derselbe  will  nämlich   eine  in  allen   bisherigen  Darstellungen 

des  aristotelischen  Systems,    wie    er    glaubt  (S.  8),  offen  gelassene 

Lücke  dadurch  ausfüllen,  dass   er  in  der  Kreisbewegung  des  Hirn- 


9ft'=> 


E.  Zeller, 


niels  tlcn  (uuiul  des  Zu-sammenhaiigs  nachweist,  der  alle  Ursachen 
in  der  Welt  verknüpfe.  Es  ist  nun  anzuerkennen ,  dass  er  der 
Ausführung  dieses  Gedankens  eine  ernste  wissenschaftliche  Arbeit 
gewidmet  hat,  und  dass  er  zu  dieser  Arbeit  eine  gute  Kenntniss 
der  aristotelischen  Schriften  und  Lehren  mitbringt;  und  wenn  sich 
diese  auch  wohl  bisweilen  in  Erörterungen  bethätigt,  welche  durch 
eine  einfache  Verw^eisung  auf  ältere  Darstellungen  ersetzt  werden 
konnten,  so  wollen  wir  darüber  bei  einer  solchen  Erstlingsschrift 
nicht  rechten.  KocXw^  os  Ttav-a  i,'a(o;  /otXsTrov.  Sehen  wir,  wie  es 
sich  damit  bei  dem  Verf.  verhält.  Seine  Ergänzung  des  aristote- 
lischen Systems  beruht,  neben  den  allgemein  anerkannten  Grund- 
zügen der  aristotelischen  Theologie  und  Kosmologie,  auf  der  dop- 
pelten Voraussetzung:  dass  1)  die  Formen  der  Dinge  Gedan- 
ken der  Gottheit ,  und  dass  2)  alle  Kreisbewegungen  in  der 
Welt  eine  Folge  von  der  des  TfiaiToc  oupavoc  seien.  Ich  meinerseits 
muss  diese  Voraussetzungen  alle  beide  in  Anspruch  nehmen.  Für 
die  erste  derselben,  in  der  er  sich  an  Brand is  anschliesst,  beruft 
sich  Verf.  auf  Metaph.  Xlf,  7.  1072  b  22:  Ivsp-j'si  os  (sc.  6  voic) 
e/u)v  (to  vo-/j-6v);  denn  unter  dem  vor^töv  könne  man  nur  die  Ge- 
danken Gottes  verstehen,  welche  als  der  Zweck,  dem  die  Materie 
zustrebt,  die  Formen  der  Dinge  seien.  (Vgl.  S.  16 f.  45 f.)  In- 
dessen ist  leicht  zu  sehen,  dass  damit  Aristoteles  etwas  aufgedrun- 
gen wird,  was  seiner  Meinung  direkt  widerstreitet.  Er  selbst  er- 
klärt ja  aufs  bestimmteste,  (1072  b  20f.  und  ausführlicher  c.  9.  1074 
1)  21  ft'.)  dass  nur  Gott  selbst  das  vor^-ov  sei,  welches  Gegenstand 
seines  Denkens  ist  und  sein  kann,  und  andererseits  können  die 
Formen,  welche  die  Substanz  der  Dinge  sind,  nicht  Gedanken  eines 
denkenden  Wesens  sein;  wie  ich  diess  alles  gegen  Braudis  schon 
längst  nachgewiesen  habe ').  Auch  mit  seiner  zweiten  Voraus- 
setzung geht  aber  A.  über  die  acht  aristotelische  Lehre  hinaus. 
Die  Planetensphärcn  werden  vom  Fixsternhimmel  zwar  mit  herum- 
geführt, aber  ihre  Eigenbewegungen  rühren  nicht  von  ihm  her, 
und  dass  diese  Bewegungen  Kreisbewegungen    sind,    ist    gleichfalls 


')  Pbil.  (1.  (h:  111.,  283 f.2  381f.'''  A.  liisst  diesen  Nachweis  unberiicls sich- 
tigt, wie  er  cleiui  iil)erlKm|)t  mein  Work  nur  in  seiner  ersten,  184ß  erscliie- 
iicneu,  Ausgabe  benutzt  bat. 


1  lericht  üb.  d.  deutsche  Litt.  d.  sokrat.  piaton.  u.  aristot.  Philosophie  1886, 1887.   283 

aicht  eine  Folge  seiner  Einwirkung,  sondern  diese  Eigenschaft  der- 
selben ist,  wie  beim  -f>wToc  oup7.voc  selbst,  in  der  Natur  ihres 
Stoffes,  des  Aethers,  begründet  (vgl.  Phil.  d.  Gr.  11  b,  434 ff.).  Verf. 
weiss  dies  natürlich  auch;  aber  statt  die  verschiedenen  hier  zu- 
-ammeuwirkenden  Ursachen  scharf  zu  unterscheiden,  zieht  er  sich 
S.  26 ff.  hinter  unbestimmte  Ausdrücke  zurück:  a  motu  circulai'i 
primi  codi  pendenf,  ad  mohivi  cii'c.  revocandi  sunt  u.  s.  w.  Den 
Kreislauf  der  irdischen  Dinge  bezeichnet  Arist.  zwar  gen.  et  corr. 
II,  10.  337  al  als  eine  Nachahmung  der  x'j/.X(p  'fopa;  aber  seine 
Ursache  sucht  er  (vgl.  Phil.  d.  Gr.  IIb,  487 ff.)  in  dem  Wechsel 
der  Jahreszeiten  {tlrjos,  was  A.  S.  33  unrichtig  von  allen  perio- 
dischen Zeitabschnitten  erklärt),  der  seinerseits  auf  der  Annäherung 
und  Entfernung  der  Sonne  beruht:  von  der  Kreisbewegung  des 
rpw-o:  oöpotvoc  rührt  nur  der  Wechsel  von  Tag  und  Nacht,  und 
was  von  ihm  abhängig  ist,  her.  Noch  erkünstelter  ist  der 
Zusammenhang,  den  Verf.  S.  37ft\  zwischen  dem  Kreislauf  des 
r^ntstehens  und  Vergehens,  dem  die  organischen  Wesen  unterlie- 
uen,  und  der  Kreisbewegung  des  Himmels  herzustellen  versucht. 
Mag  man  ferner,  die  reu  humcmae  (S.  47 ff.)  betreffend,  den  voü; 
7:otr,Ti/oc  des  Menschen  mit  dem  Verf.  für  den  göttlichen  Geist 
selbst,  den  voG;  -ai>/jTtxoc  für  die  Einheit  der  niederen  Seelen- 
kräfte halten  oder  nicht  (hierüber  Phil.  d.  Gr.  II  b,  572 ff".),  so  wird 
doch  der  motus  circuJaris  von  dem  Verf.  S.  50  zur  Erklärung  ihres 
Verhältnisses  geradezu  an  den  Haaren  herbeigezogen;  und  ebenso- 
wenig hat  der  Kreislauf  der  Staatsverfassungen  oder  der  der 
menschlichen  Meinungen  in  der  Geschichte  mit  der  Kreisbewegung 
des  Himmels  zu  thun.  So  sehr  es  sich  daher  verlohnte,  die  Frage 
zu  untersuchen,  worin  der  von  Aristoteles  so  entschieden  behaup- 
tete einheitliche  Zusammenhang  aller  Dinge  besteht,  worauf  er  be- 
ruht und  wie  weit  er  sich  erstreckt,  so  wenig  ist  es  doch  dem 
Verf.  gelungen,  eine  befriedigendere  Antwort  darauf  zu  finden,  als 
sie  in  den  bisherigen  Darstellungen  der  aristotelischen  Philosophie 
schon  vorlag.  In  Wahrheit  war  eben  die  Aufgabe  für  Aristoteles 
selbst  unter  den  Voraussetzungen  seiner  Metaphysik  unlösbar,  und 
eine  unbefangene  Geschichtsbetrachtung  kann  nur  zeigen,  warum 
sie  diess  war.   aber  sie  darf  ihm  keine  Lösung  unterschieben,  die 


284 


E.  Zellcr, 


.siel)   weder    diircli    sciue    ausdrücklichen   Erklärungen    noch    durch 
die  Conscquenz  seines  Systems  begründen  lässt. 

SoROK,  G.,  ])c  Aristotelis  geographia  capita  duo  (Halle  1886.  92  S. 

InauguraldLss.) 
behandelt  zwar  nur  einen  Seitenzweig  der  aristotelischen  Physik, 
welcher  das  philosophische  System  als  solches  wenig  berührt.  Aber 
docli  will  ich  es  nicht  unterlassen,  auf  die.se  gute  und  gründliche 
Arbeit  aufmerksam  zu  machen.  Den  Inhalt  derselben  bilden  die 
ersten  Abschnitte  einer  grö,sseren  Schrift,  welche  die  geographischen 
Annahmen  des  Philosophen  vollständig  darstellen  wird.  Die  vor- 
liegende Probe  lässt ,  uns  der  letzteren  mit  den  besten  Erwartungen 
entgegensehen;  und  wird  auch  die  Geschichte  der  alten  Geographie 
von  ihr  den  Hauptgewinn  haben,  so  fallen  doch  immer  von  solchen 
Au.ssenwerken  des  Systems  auch  auf  die  Philosophie  seines  Urhebers 
und  die  Art  seines  schriftstellerischen  Arbeiteus  belehrende  Streif- 
lichter. 


BuLLiNGER,  B.,  Metakritische  Gänge,  betreffend  Aristoteles  und 
Hegel.  Mit  kritischen  Seitenblicken  auf  die  Wissenschaft 
der  Gegenwart.  München.  Ackermann  1887.  37  S. 
Die  Antikritiken,  die  B.  unter  diesem  Titel  vereinigt  hat, 
richten  sich  so  ziemlich  gegen  jedermann,  der  in  den  letzten  Jahren 
mit  seinen  Arbeiten  irgendwie  in  Berührung  gekommen  i.st:  Suse- 
mihl,  Yahlen,  Wirth,  Meiser,  Thilo,  mich  u.  s.  w.;  und  sie  be- 
sprechen demgemä.ss  auch  verschiedenerlei  Gegenstände:  die  Lehre 
des  Aristoteles  von  der  sinnlichen  Wahrnehmung,  vom  Nus,  von 
der  tragischen  Katharsis,  vom  Möglichen  und  ^Virklichen,  die  Theo- 
logie Plato's,  die  Verdienste  G.  F.  Rettig's  um  Plato,  den  philo- 
.sophischen  Unterricht  an  den  Gymnasien,  HegePs  Ansicht  über  den 
Satz  des  Widerspruchs.  Vieles  Ist  nur  "Wiederholung  von  früher 
Gesagtem,  in  der  ungehobelten  Manier,  in  welcher  der  Vf.  sich  ge- 
fällt. Das  Beste  in  der  kleinen  Schrift  ist  m.  E.  die  Erörterung 
S.  7  ff.  über  die  TtopM,  durch  welche  Arist.  die  Eindrücke  von  den 
Sinnesorganen  zum  Herzen  gelangen  lässt.  Doch  hat  mich  Vf. 
nicht  überzeugt,  dass  damit  „eigene  mit  specifischen  Organkörpern 


P.ericht  lili.il.dPutscheLitt.d.sokrat.  platoii.u.aristot.  Philosopliio  lRSr.,1887.   285 

angefüllte  Kanäle",  ein  von  Arist.  „apriorisch  gefordertes"  „Ana- 
logon  der  Empfindungsnerven"  gemeint  sind.  Bei  anatomischen 
Fragen  pflegt  Arist.  nicht  a  priori  zu  construiren,  sondern  7a\  be- 
obachten. Nun  mag  ihn  immerhin  zu  der  Annahme  von  Kanälen, 
durch  welche  die  von  den  Sinnesorganen  aufgenommenen  Bewegun- 
sen  sich  fortpflanzen,  neben  der  Walirnehmung  der  Höhlungen  im 
Gehör-  und  Geruchsorgan  (gen.  an.  11,  6.  744  a  Iff.  V,2.  781  a  20fl'.), 
auch  die  der  Oeffnungen  in  den  Knochen  veranlasst  haben,  durch 
welche  der  Sehnerv  in  die  Augenhöhle  eintritt  (a.  a.  0.  744  a  8 f.). 
Aber  von  eigenen,  den  Empfindungsnerven  ähnlichen  Organen  deu- 
tet er  nichts  an;  er  denkt  sich  vielmehr  jene  Tiopoi  mit  Pneuma 
erfüllt  (744  a  3  vgl.  781  b  24.  35).  Sie  selbst  aber  münden  in  die 
Blutgefässe  des  Gehirns  aus  (744  a  3—9).  Da  nun  doch  das  Herz 
das  Centralorgan  der  Empfindung  ist,  so  fragt  es  sich,  ync  die 
durch  die  7:0001  sich  fortpflanzenden  Empfindungsbewegungen  zu 
diesem  gelangen;  und  dass  diess  durch  die  Adern  geschehe,  ergibt 
sich  neben  ihrer  ausdrücklichen  Erwähnung  744  a  3  aus  dem  Satze '), 
dass  weder  das  Blut  selbst  noch  die  blutlosen  Theile  ata»>-/)Tixa 
seien,  denn  dann  bleiben  nur  die  blutführenden  Theile  dafür  übrig. 
Für  das  nächste  Substrat  jener  Bewegungen  scheint  aber  Arist., 
nach  dem  eben  angeführten,  nicht  das  Blut  zu  halten,  welches  sich 
schon  desshalb  nicht  dazu  eignete,  weil  es  seiner  Meinung  nach 
in  den  cpXsßs;  im  allgemeinen  vom  Herzen  nach  der  Peripherie, 
und  nur  zeitweise  zum  Herzen  zurückfliesst,  (vgl.  Phil.  d.  Gr.  Hb, 
51 7 f.  541,  7)  sondern  das  Pneuma,  welches  die  Adern  zugleich  mit 
dem  Blute  durchströmt. 
1 

Rem  ANN,  C.  F.,  Des  Aristoteles  Lehre  von  der  Freiheit  des  mensch- 
lichen  Willens.     (Zur  Geschichte  der  Lehre  v.  d.  Freih.  d. 
menschl.  Will.  1.  H.  Aristoteles.)  Leipzig,  Fues's  Verlag  1887. 
XVin  und  194  S. 
Lst   auch    die   Darstellung   dieser  Schrift   stellenweise   zu   breit 
ausgefallen  und  ihre  Sprache  nicht  durchaus  rein"),  so  wird   sie 

')  Part.  an.  III,  4.  G66al6.     Was    mir  B.  S.  8   aus   Anlass   dieser  Stelle 
unterlegt,  ist  nicht  meine  Meinung;    vgl.  Phil.  d.  Gr.  IIb,  541,  7. 

2)   Vgl.  Ausdrücke   wie:    „grundleglich"  (S.  11),   „konkupiscibel"    (S.  15), 


286  !-•  Zoller, 

docli  als  eine  mit  Liebe  zur  Sache,  mit  Sorgfalt  und  Scharfsinn 
ausgeführte  wissenschaftliche  Ari3eit  auch  von  solchen  anerkannt 
werden  müssen,  die  sich  von  der  Richtigkeit  ihrer  Ergebnisse  nicht 
unbedingt  zu  überzeugen  vermögen.  In  den  Schriften  und  der 
Lehre  des  Aristoteles  wohl  bewandert,  unterwirft  Yf.  die  im  Titel 
bezeichnete  Frage  einer  Untersuchung,  welche  die  hergehörigea 
Aeusserungen  des  Philosophen  und  den  Zusammenhang  seines 
Systems  eingehend  berücksichtigt.  Sein  Endergebuiss  aber  ist 
dieses,  dass  Arist.  zwar  allerdings  die  Freiheit  des  menschlichen 
Willens  behaupte,  dass  er  aber  unter  dieser  Freiheit  nichts  anderes 
verstehe,  als  das  von  der  Vernunft  determinirte  und  dem  ver- 
nünftigen Denken  entsprechende  Streben,  dass  der  Wille  daher 
zwar  ihm  zufolge  (wie  S.  89 ff.  114ff.  130.  ITlif.  gut  gezeigt  wird) 
weder  von  den  sinnlichen  Antrieben  noch  von  angeborenen  Cha- 
raktereigenschaften unbedingt  bestimmt  werde,  dass  er  aber  doch 
immer  determinirt,  und  Aristoteles  mithin  „durchaus  Determinist" 
(S.  171)  sei.  Ich  kann  jedoch  nicht  finden,  dass  es  dem  Yf.  ge- 
lungen ist,  diese  Ansicht,  mit  der  er  bis  jetzt  wohl  ziemlich  allein 
steht,  ausreichend  zu  begründen  und  die  Bedenken,  welche  sich 
ihr  ontgegenstellen,  zu  beseitigen.  Arist.,  sagt  er  S.  108,  behaupte 
Rhet.  I,  10.  1369  a  5,  „dass  die  Menschen  alles,  was  sie  thun,  aus 
s'ieben  Gründen  nothwendig  thun,"  zu  denen  auch  die  vernünftige 
Üeberlegung  gehört.  Allein  Arist.  sagt  nicht:  TavTa  o^ct  -[icttTO'jGiv 
dcva-f/.Tfj  TrpcxT-o'jj'v  u.  s.  w\,  sondern:  ctva-f/-/;  -pa~£'.v  oi'  (xhiaq 
i-T7.:  „was  die  Menschen  thun,  können  sie  nur  aus  einem  von  den 
nachstehenden  sieben  Gründen  thun."  Er  bezeichnet  es  (S.  95. 
171.  186)  als  aristotelische  Lehre,  „dass  der  Mensch  immer  das 
Bessere  wähle,  und  dass  er  da/Ai  durch  seine  Yernunft  bestimmt 
werde."    „da.ss    der   Wille    eines    vernünftigen    Menschen    niemals 


„iiitellektiv"  (öfters),  „die  dreiufalleinlen  Kiudei"  (S.  25),  „uin  so  viel  voll- 
kommeuer  ....  als  wie  das  Denken  vollkommener  ist"  (S.  51),  Sätze  wie 
S.  3:  „Die  Darstellung  eröffnet  uns  sowohl  einen  Einblick  .  .  .,  als  auch  ge- 
winnen wir  dadurch  einen  Einblick";  S.  19:  „das  Urtheil  über  Piato  präjudi- 
cirt  das  über  Arist.";  S.  34:  „dass,  wenn  die  Seele  sich  selbst  bewegte,  wäre 
sie  bewegt"  u.  s.  f.  Weitere  Beispiele  S.  4,  12  v.  u.  89,  4  v.  u.  97,  7.  104,  16  ff. 
11.5,  2.  116,  8.  126,  12  v.  u.  i:)6,  5  v.  u.   148,  20.  169,  5  v.  u. 


IJericht  üb.d.deiilscheLitt.d.sokrat.platou.u.aristot. Philosophie  1886, 1887.   287 

etwas  wolle,  wozu  iliu  nicht  die  Vernunft  determinirt  hat,"  dass 
er  „immer  nach  Gründen  handle,  welche  die  alleinigen  Ursachen 
seien,  die  ihn  in  Bewegung  setzen,"  dass  er  immer  nur  wirke, 
„weil  er  nothwendig  muss  infolge  einer  geschehenen  Determination". 
Aber  er  hat  es  unterlassen,  seinen  Lesern  zu  sagen,  wo  der  Philo- 
soph dies  alles  gelehrt  hat.  In  Wirklichkeit  sagt  dieser  zwar, 
(Eth.  IIL  6.  1113  a  22 ff.)  der  Zweck  des  Handelns  sei  im  all- 
gemeinen das  Gute;  aber  er  fügt  auch  sofort  bei  (a.  a.  0.  und  oft; 
vgl.  Ind.  arist.  3  b  10):  für  jeden  aber  sei  es  das,  was  ihm  gut 
scheine,  und  gerade  dadurch  unterscheide  sich  der  aTTouGotto?  vom 
'fauÄoc,  dass  er  allein  das  wirklich  Gute  sich  zum  Zweck  setze. 
Nicht  der  Mensch  also,  sondern  nur  der  tugendhafte  und  ver- 
nünftige Mensch  als  solcher  ist  es,  der  immer  das  Gute  und  Richtige 
wählt;  der  Einzelne  dagegen,  auch  wenn  er  ein  aTrouoaioc  genannt  wer- 
den kann,  ist  darum  doch  vor  Verfehlungen  nicht  unbedingt  geschützt, 
denn  auf  vollkommene  Tugend  kann  er  als  ein  zusammengesetztes 
(sinnlich -geistiges)  Wesen  keinen  Anspruch  machen  (Eth.  X,  8. 
1178  a  9.  IIL  1.  1110  a  24.  Polit.  III,  15.  1286  b27),  und  Arist. 
hält  desshalb  die  Tugend  zwar  für  dauerhaft  und  schwer  zu  er- 
schüttern, aber  nicht  mit  Antisthenes  für  unverlierbar  (Eth.  1, 11. 
1100bl2ff.  VII,  15.  1154b20ff.).  Ja  er  ist  so  wenig  der  Mei- 
nung, unser  Wille  folge  immer  und  nothwendig  den  Aussprüchen 
der  Vernunft,  dass  er  diesen  von  Sokrates  aufgestellten  Satz  viel- 
mehr aufs  entschiedenste  bestreitet  (Eth.  VI,  13.  1144  b  17  ff.  Vil,  5. 
3  Auf.  X,  10.  1179  b  23  vgl.  Phil.  d.  Gr.  II  b,  628 f.),  und  seinerseits 
umgekehrt  erklärt,  die  (ppov/jaic  habe  es  nur  mit  den  Mitteln  zur 
Erreichung  unserer  Zwecke  zu  thun,  die  richtige  Zweckbestimnumg 
selbst  dagegen,  die  Beweggründe  (dp/al),  nach  denen  sich  der  Wevth 
oder  Unwerth  unseres  Thuns  bestimmt,  seien  Sache  des  Willens 
Eth.  VI,  13.  1144  a  8.  20.  26.  29ff.  c.  5.  1140  b  17  vgl.  IIL  5.  1112 
I)  11.  I,  7.  1098  b  3),  nur  der  Tugendhafte  setze  sich  das  Gute 
zum  Zweck,  die  Schlechtigkeit  dagegen  bewirke  eine  Verkehrung 
des  sittlichen  Urtheils  (1144  a  34.  VII,  9.  1151  a  14),  es  sei  daher 
(1151  a  17)  nicht  der  Xoyoc,  sondern  die  apsxvj,  wovon  das  opf^^oocsiv 
rspt  -7.;  'zp/a;  abhänge.  Die  Tugend  aber  entsteht  nach  Arist.  ebenso 
wie  die  Schlechtigkeit  durch  Gewöhnung,  dadurch,  dass  wir  wieder- 


288  E.  Zeller. 

hult  iu  einem  bestimmten  Sinn  handeln;  und  unser  Handeln  haben 
wir,  wie  alles,  was  von  unserem  Willen  abhängt,  in  unserer  eigenen 
Gewalt,  wir  haben  es  in  der  Hand,  das  Gute  oder  das  Schlechte 
zu  thun:  S'j'  r^\xh  czpa  to  sTris'.zsai  xal  (fa'jXo'.^  öTvai  (Eth.  111,7. 
1113  b  6ff.).  Diese  Erklärungen  im  Sinn  des  stoischen  Determinis- 
mus zu  deuten,  so  dass  mit  dem  scp '  f,;j.Tv  nur  der  äussere  Zwang, 
nicht  die  innere  Nötliigung,  ausgeschlossen  werden  sollte,  wäre  nur 
dann  möglich,  wenn  Arist.  die  allgemeine  Voraussetzung  dieses 
Determinismus,  die  Lehre  von  der  si]xo!pa=vr|  theilte,  vermöge  der 
alles  aus  der  göttlichen  Causalität  mit  unabänderlicher  Nothwendig- 
keit  hervorgeht.  Davon  ist  er  aber  so  weit  entfernt,  dass  er  jene 
Causalität  vielmehr  darauf  beschränkt,  als  der  letzte  Zweck  der 
Welt  theils  die  tägliche  Drehung  der  himmlischen  Sphären,  tlieils 
die  Zusammenstimmuug  aller  Eigenbewegungen  in  den  verschiede- 
nen Theilen  der  Welt  hervorzurufen.  A^'ie  fremd  ihm  der  Gedanke 
einer  Nothweudigkeit  alles  Geschehens  ist,  zeigen  schon  seine  Be- 
stimmungen über  das  ivoe/op-svov  oder  ouvatov  (Phil.  d.  Gr.  II  b,  223 
vgl.  333f.),  zu  dessen  Begriff  es  gehört,  nicht  nothwendig  zu  sein; 
und  selb.st  unser  Vf.  muss  einräumen  (S.  143),  dass  die  Handlungen, 
wie  alles  AVerdende,  nach  Arist.  „auch  nicht  oder  anders  hätten 
entstehen  können".  Der  Philosoph  widerspricht  ja  aber  auch 
aufs  entschiedenste  und  mit  eingehender  Begründung  der  Be- 
hauptung, niemand  sei  freiwillig  böse  (Eth.  III,  7.  1113  b  14fl'.), 
und  er  weist  (1114  a  3)  die  Ausflucht,  dass  man  seine  Pflicht 
nur  deshalb  versäume,  weil  man  von  dieser  bestimmten  moralischen 
Beschaffenheit  ist,  mit  der  Entgegnung  zurück:  äXXa  tou  toioutou? 
7£v=ji)c(i  a'jToi  7.1X101.  Ueber  seine  Meinung  lä.'^st  er  uns  daher  nicht 
im  Zweifel.  Wer  diese  Meinung  für  falsch  hält,  der  mag  ihn 
darum  tadeln ,  aber  er  darf  ihm  nicht  eine  solche  aufdrängen,  die 
ihm  fremd  ist,  und  wenn  die  aristotelische  Psychologie  (wie  Ph.  d. 
Gr.  II  b,  598 ff.  gezeigt  ist)  bei  der  Willensthätigkeit  wie  bei  ande- 
ren psychisciien  Vorgängen  zu  Fragen  Veranlassung  gibt,  deren 
widerspruchslose  Beantwortung  über  ihre  Mittel  hinausgeht,  so  ist 
es  die  Aufgabe  einer  unbefangenen  Forschung,  diesen  Sachverhalt 
zu  erklären,  aber  sie  darf  sich  seiner  Anerkennung  nicht  ent- 
ziehen. 


Bericht  üb.  d.  deutsche  Litt.  d.  sokrat.  piaton.  u.  aristot.  Philosophie  1886, 1887.  289 

Wrobel,    Val.  ,    Aristotelis    de    perturbationibus    animi    cloctrina. 
Sanok  1886.     58  S.     (I.  C.  bei  0.  Fock  in  Leipzig.) 

Der  Inlialt  dieser  Abhandlung  geht  weiter,  als  ihr  Titel  ver- 
spricht. Sie  beschäftigt  sich  nämlich  nicht  blos  mit  der  Lehre  des 
Aristoteles  über  das,  woran  man  bei  den  perturbationes  amm?\  der 
ciceronischen  üebersetzung  des  stoischen  Tra'öoc,  allein  denken  würde, 
die  ungeordneten  Gemüthsbewegungeu,  auch  nicht  blos  mit  der 
über  die  Affekte  überhaupt;  sondern  wo  immer  Arist.  von  einem  -aOo? 
und  Traör^aa  u.  s.  f.  redet,  übersetzt  dicss  Verf.  mit  perturbatio^  so 
dass  z.  B.  S.  31  das  Lernen,  S.  29  das  von  Arist.  Phys.  III,  3  in 
der  allgemeinen  Erörterung  über  die  Bewegung  dem  -oisTv  gegen- 
übergestellte -a'j/civ,  das  Bewegtwerden,  eine  perturbatio  genannt 
wird.  Ist  es  nun  aber  schon  schwierig,  oder  vielmehr  unmöglich, 
aus  den  zerstreuten  Aeusserungen  des  Aristoteles  über  die  Traö-/] 
im  Sinn  der  Affekte  eine  in  sich  einstimmige  und  einigermassen 
vollständige  psychologische  Theorie  herzustellen,  so  hat  sich  Verf. 
diese  Aufgabe  durch  die  ungerechtfertigte  Ausdehnung  der  Vor- 
gänge, die  er  mit  perturbatio  aniini  bezeichnet,  noch  erheblich  er- 
schwert, und  er  ist  bei  dem  Versuche,  sie  unter  dieser  Voraus- 
setzung zu  lösen,  auf  mehr  als  eine  unhaltbare  Annahme  gekommen. 
Von  einem  -oir^-ixov  und  einem  -ctfj/jxixov  als  besonderen  Vermögen 
(S.  42  u.  ö.)  weiss  Arist.  nichts,  sondern  dieselben  Vermögen  ver- 
halten sich  nach  ihrer  jeweiligen  Beziehung  zu  ihrem  Gegenstand 
sowohl  wirkend  als  leidend;  dass  nicht  allein  der  sinnlichen,  son- 
dern auch  der  Denkthätigkeit  eine  y^perturbatio"'  entspreche  (S.  45), 
folgt  aus  der  mit  ihr  verbundenen  Lust  nicht  im  geringsten,  denn 
die  Lust  ist  gerade  nach  Arist.  kein  Leiden  und  keine  Bewegung, 
und  kommt  daher  auch  dem  absolut  Leidenslosen  und  Unbewegten, 
dem  göttlichen  Geist  zu;  die  Gleichstellung  des  -o(t>r^':ixov  Phys.  III, 
3.  202  a  23  mit  dem  aiaÖr^Tixov  ebd.  VII,  3.  248  a  8  (S.  49)  ist  un- 
berechtigt: es  gibt  ja  auch  einen  vouc  Tr7f}r,tixfjc,  Phys.  III,  3  han- 
delt aber  überhaupt  nicht  blos  von  dem  \Virkenden  und  Leidenden 
in  der  Seele,  sondern  von  dem  Wirken  und  Leiden  überhaupt.  Ist 
indessen  dem  Verf.  das,  was  er  in  seiner  Abhandlung  leisten  wollte, 
auch  nicht  durchaus  gelungen,   so  verdient   dieselbe   doch    die  Au- 


290  E.  Zeller, 

erkenuung,  dass  sie  ihren  Gegenstand  sorgfältig  und  mit  aclitungs- 
werther  Sachkenutniss  untersucht  hat. 

Schmidt,  Jon..  Aristotelis  et  Herbarti  praecepta,  quae  ad  psycho- 
logiam  spectant,  inter  se  comparantur  (Wien  1887.  Jahres- 
ber.  d.  K.  K.  Akad.  Gvmu.  18  S.)  ^ 

zeigt  in  eingehender  Vergleichung.  dass  sich  zwischen  Aristoteles' 
und  Herbarfs  psychologischen  Lehren,  neben  ihrer  offen  liegenden 
Verschiedeuartigkeit,  doch  mehr  Berührungspunkte  finden,  als  mau 
vielleicht  auf  den  ersten  Blick  verrauthen  möchte.  Da  und  dort 
geht  er  aber  in  dieser  Parallelisirung  doch  etwas  zu  weit.  S.  9 
dürfte  bemerkt  .sein.,  dass  die  Bewegungen  der  Sinne.swerkzeuge, 
aus  denen  Arist.  die  Träume  herleitet,  etwas  materielleres  sind 
als  die  „Vorstellungen"  Herbart's.  S.  12  wird  die  Vergleichung 
des  Nus  mit  einer  unbeschriebenen  Tafel  herkömmlicher  Weise  ia 
sensualistischem  Sinn  gedeutet,  während  es  nach  Aristoteles'  Mei- 
nung nicht  die  sinnlichen,  sondern  die  übersinnlichen  Objekte  sind, 
(Kirch  deren  Aufnahme  der  Nus  einen  Inhalt  gewinnt;  vgl.  Phil, 
d.  Gr.  IIb,  192,  3.  Dass  die  Lehre  des  Aristoteles  vom  Willen 
der  deterministischen  Herbart's  nicht  gleichgesetzt  werden  durfte 
(S.  15),  ergibt  .si(;h  aus  dem,  was  oben  gegen  He  man  bemerkt  ist. 
Inwiefern  Herbart  thatsächlich  von  Aristoteles  beeinflusst  wurde, 
hat  Verf.  nicht  untersucht,  und  vielleicht  lässt  es  sich  auch  nicht 
feststellen.  Der  Standpunkt  der  wissenschaftlichen  Beurtheilung 
ist  durchweg  der  des  Herbartianers.  ^ 

Hagiosophites,   Pan.\giot.  A.,    Aristoteles'  Ansicht   von  den   ethi- 

.schen  und  intellectuellen  Unterschieden  der  Menschen.  Athen 

1886.     95  S. 

Diese  griechisch  geschriebene  und  mit  griechischem  Haupttitel 

('Apis-oTsXo'jc  \h(op(oi  u.  s.  w.)  versehene  Schrift,  nach  dem  \'orwort 

zu   schliessen   eine  Jenenser  Inauguraldissertation,    bespricht   nach 

einleitenden   Bemerkungen   über  die   aristotelische  Tugendlehre  in 

ihrem  ersten  Abschnitt  die  allgemeinen  ethischen  und  intellectuellen 

Unterschiede  der  Menschen  unter  den  Ueberschriften:  A)  oi  ct-jaüot: 

a)  of  zo-;s\/z~;.   und  zwar  1)  oi  v.'jrjüo;  su^Evst;.   2)  oi  a'f/iatot:    b)  ot 


Bericht  üb.d.  deutsche  Litt,  d.sokrat.  piaton. u.aristot.  Philosophie  1886, 1887.  291 

i-isr/sTc.  B)  r/i  xotxoi':  a)  ot  rcoXXot;  b)  ol  cpauXot.  Der  zweite 
Abschnitt  (S.  59 ff.)  handelt  von  den  Unterschieden  der  Lebensalter 
und  der  Geschlechter.  Unter  diesen  Rubriken  werden  aristotelische 
Stellen  (darunter  freilich  auch,  ohne  jede  Hindeutung  auf  ihre  Un- 
jichtheit,  solche  aus  ::•  xo(J[j.ou  und  -.  apsKÜv)  nicht  ohne  Fleiss 
zusammengetragen,  und  diese  sind  auch  das  einzige  Brauchbare  in 
der  Schrift;  des  Yerf.  Berichte  über  ihren  Inhalt  sind  unzuverlässig 
und  seine  eigenen  wortreichen  Zuthaten  ohne  Werth. 


'o^ 


Brahlky,  A.  C,  Die  Staatslehre  des  Aristoteles,    üebers.  v.  Imel- 

mann.  2.  Ausg.  Berlin,  Heyfelder.  1886.  83  S. 
uehört  eigentlich  nicht  mehr  in  unsei-n  Bericht,  da  das  enulische 
(Jriginal  schon  vor  acht  Jahren,  und  die  erste  Ausgabe  von  Imel- 
mauu's  Uebersetzung  1884  erschienen  ist.  Doch  nehme  ich  von 
jder  neuen  Ausgabe  der  letztern  gerne  Veranlassung,  auf  den 
Werth  einer  Abhandlung  aufmerksam  zu  machen,  welche  auf 
massigem  Räume  nicht  allein  über  die  leitenden  Ciedanken  und 
die  Grundziige  der  aristotelischen  Staatslehre  in  zuverlässiger  untl 
lichtvoller  Darstellung  berichtet,  sondern  auch  ihre  geschichtlichen 
\'oraussetzungen,  ihr  Verhältniss  zu  den  heutigen,  und  besonders 
den  englischen  Anschauungen  und  Einrichtungen,  and  den  in  ihr 
liegenden  Wahrheitsgehalt  geistvoll  und  sachkundig  erörtert. 

Krasiewicz,    Die  Kritik    der  platonischen   Politie    bei   Aristoteles. 

Neisse  1886.  12  S.  4^  (Gymn.  progr.) 
j  Plato's  politische  Theorie  und  die  Einwendungen,  die  ihr 
Aristoteles  entgegenhält,  werden  hier  im  wesentlichen  richtig  dar- 
-le.stellt,  und  billig  beurtheilt.  Da  und  dort  finden  sich  allerdings 
auch  Bemerkungen,  mit  denen  Ref.  nicht  einverstanden  ist.  W^enn 
'..  ß.  Aristoteles  S.  11  darüber  getadelt  wird,  dass  er  Plato  sagen 
liisst,  seine  Bürger  werden  nicht  vieler  Gesetze  bedürfen,  so  lag 
dazu  kein  Grund  vor,  denn  Plato  sagt  diess  wirklich  Rep.  IV,  425  B. 
427  A.  Dass  ferner  Plato  über  die  Erziehung  und  Lebensweise 
seines  dritten  Standes  sich  desshalb  nicht  aussprach,  weil  er  ihm 
keine  Bedeutung  beilegte,  bestreitet  Verf.  ebd.  mit  Unrecht;  vgl. 
I'liil.   d.    (ir.   lla\   906  f.      Von    Erblichkeif    der    Regierungsgewalt 


292 


E.  Zeller, 


(Kr.  S.  11)  redet  Arist.  II,  5.  1264  b  6  nicht,  sondern  davon,  dass 
dieselbe  auf   die   Angehörigen   des  ersten  Standes   beschränkt  ist; 
auch  von  jener  hätte  er  übrigens  reden  können,  da  dem  Eiozelneni 
sein  Stand  in  der  Regel  durch  die  Geburt  angewiesen  werden  solK^| 

Die  Kunstlehre  des  Aristoteles  hat  auch  in  unsern  Berichts- 
jahren, wie  schon  seit  langem,  zahlreiche  Erörterungen  hervorgerufen. 

Meiser,   C,  Ein  Beitrag  zur  Lösung  der  Katharsisfrage  (Bl.  f.  d. 

bayer.  Gymnasialschulw.  XXIII,  211 — 214) 
unterstützt  Bernays'  Erklärung  der  xctöapaic  täv  Trort^rjuaTfov.  wo- 
nach dieser  Ausdruck  die  Ausscheidung  der  Affekte  bezeichnet, 
durch  die  zutreffende  Parallele  bei  Plut.  De  inimic.  utilit.  c.  10. 
Ueber  die  Hauptfrage  freilich,  warum  gerade  die  Kunst,  und  durch 
welche  ihr  eisjenthiimliche  Mittel  sie  iene  Katharsis  bewirkt,  er- 
halten  wir  durch  die  Plutarchstelle  keinen  Aufschluss. 

TuMMRz,  K.,  die  tragischen  Affekte  Mitleid  und  Furcht  nach  Aristo- 
teles (Wien  1887.  Progr.  40  S.  Lex.  Okt.) 
unterzieht  die  Bedeutung  von  ilio;  und  'foßoc  in  der  Definition 
der  Tragödie,  unter  umfassender  Berücksichtigung  der  hergehörigen 
Literatur,  einer  eingehenden  Untersuchung.  Er  weist  überzeugend 
nach,  dass  es  nicht  die  Furcht  vor  Liebeln,  die  uns  selbst  drohen, 
sein  kann,  welche  das  tragische  Mitleid  erregt,  dass  die  Furcht, 
von  der  jene  Definition  redet,  überhaupt  nicht  uns  selbst  gilt,  son- 
dern dem  Helden  der  Tragödie,  welchen  wir  wegen  des  Schicksals, 
das  ihn  trifft  oder  getroffen  hat,  bemitleiden,  wegen  dessen,  das 
wir  heranziehen  sehen,  für  ihn  fürchten.  Für  diese  Auffassung 
hatte  auch  ich  micli  Phil.  d.  Gr.  II  b,  783  erklärt.  Dagegen  wun- 
dere ich  mich,  dass  T.  nicht  bemerkt  hat,  welchen  Widerspruch 
er  Arist.  zumuthet,  wenn  er  S.  13f.  das  'iiXotvOpto-ov  Poet.  1452 
bB9.  1458  a2.  1456  a21  nicht  mit  mir  (a.  a.  0.  786,  3)  von  der 
Befriedigung  verstanden  wissen  will,  welche  die  Bestrafung  der 
Verbrechen  gewährt,  sondern  von  dem  Mitleid  mit  dem  Verbrecher; 
so  dass  der  Philosoph  1453  a  2  .sagen  würde:  das  Unglück  einas 
a'io5pa  TTov/jpo?  erwecke  zwar  unsere  „Theilnahme  an  seinem 
Leid,"  aber  weder  Mitleid  noch  Furcht.  Dass  meine  Erklärung 
auch  durch  Rhet.  II,  9  gestützt  wird,  zeigt 


Bericht  üb.  d.  deutsche  Litt,  d.sokrat.  piaton. u.aristot.  Philosophie  1886, 1887.  293 

Sl'semihl,  Die  Bedeutung  des  cpdavöpa>7rov  in  der  aristotelischen 
Poetik.  Jahrbb.  f.  class.  Philol.  1886,  S.  681  f. 
Was  dort  als  eine  Eigenschaft  des  r^\}o^  yjjr^axhv  (das  doch  wohl 
auch  ein  cpi).avOpojTCov  ist)  dargestellt  wird,  der  "Wunsch,  dass  es 
den  Schlechten  schlecht  gehe,  ist  mit  dem  Mitleid  gegen  sie,  wie 
1387  a  3  (vgl.  Poet.  13.  1453  a  2f.)    auch    ausdrücklich    bemerkt 

wird,  unvereinbar. 

I 
I 

Weidenbach,   P.,   Aristoteles   und  die  Schicksalstragödie  (Dresden 

1887.  Gymn.  progr.  15  S.  4°) 
sucht  zu  beweisen,  „dass  der  antiken  Kunst  die  Schicksalstragödie 
nicht  nur  nicht  fremd  war,  sondern  dass  Arist.  sie  sogar  als  das 
Muster  des  echt  Tragischen  hingestellt  hat".  Zur  Schicksalstra- 
gödie rechnet  er  aber  hiebei  jedes  Stück,  in  dem  zwischen  der  Ver- 
schuldung des  Helden  und  seinem  Leiden  ein  Missverhältniss  statt- 
findet, und  diess  muss  allerdings  nach  Arist.  der  Fall  sein,  denn 
so  lange  der  Leidende  nur  nach  Verdienst  bestraft  wird,  gewährt 
uns  sein  Schicksal  (wie  oben  gezeigt  ist)  moralische  Befriedigung, 
es  erregt  daher  kein  Mitleid.  Allein  diess  ist  nicht  das,  was  man 
gewöhnlich  unter  Schicksalstragödie  versteht;  der  Verf.  hätte  sich 
daher  erst  über  den  Begriff  der  letzteren  mit  seinen  Lesern  ver- 
ständigen müssen.  Andererseits  würde  ihm  Aristoteles  nicht  ein- 
geräumt haben,  dass  derjenige,  welcher  sich  durch  einen  an  sich 
verzeihlichen  Fehltritt  schweres  Unglück  zuzieht,  (nach  S.  8)  „un- 
schuldig leide".  Das  Leiden  des  Unschuldigen  ist  (Poet.  13.  1452 
b  34)  hässlich  ((xiotpov),  es  erweckt  Widerwillen,  aber  nicht  tyjv  d-b 
zlioo  y.a\  cpoßou  -JiOovTjv  (c.  14.  1453  b  12),  und  ist  desshalb  kein 
Gegenstand  der  Tragödie;  das  durchaus  verdiente  Leiden  ist  es, 
wie  bemerkt,  noch  weniger;  es  eignet  sich  daher  für  sie  (1453 
a7ff,)  nur  die  Darstellung  eines  verschuldeten,  aber  nicht  in  die- 
sem Mass  verschuldeten  Leidens.  Ob  diess  durchaus  richtig  ist, 
ob  z.  B.  Antigene  nach  der  Absicht  des  Dichters  für  irgend  eine 
eigene  Verschuldung  und  nicht  blos  für  die  ihrer  Angehörigen  lei- 
det, ist  eine  andere  Frage;  aber  auch  wenn  man  sie  mit  dem  Verf. 
,  (S.  14)  von  jeder  Schuld  freispricht,  wird  man  Antigone  doch  keine 
■  Schicksalstragödie  nennen  dürfen,  denn  es  ist  nicht  ein  unverstan- 

Archiv  i.  Geschichte  d.  Philosophie.     II.  "^ 


294  E.  Zell  er, 

denes  Schicksal,  das  den  Untergang  der  Heldin  herbeiführt,  son- 
dern offen  liegende  Ursachen:  der  Konflikt  zwischen  dem  Charak- 
ter Antigone's  und  Kreons,  dem  göttlichen  Recht  und  dem  mensch- 
lichen Gebot.  Bin  ich  aber  auch  hierin  mit  dem  Verf.  nicht  ein- 
verstanden, so  verkenne  ich  doch  nicht,  dass  seine  Ausführungen 
auf  einem  genauen  Studium  der  aristotelischen  Poetik  beruhen, 
und  manches  Beachtenswerthe  enthalten.  Die  Annahme  (S.  6), 
dass  in  der  aristotelischen  Definition  der  Tragödie  „'foßoc  ein  zur 
höchsten  Potenz  gesteigertes  Mitleiden  bezeichne,"  findet  in  der  oben 
besprochenen  Abhandlung  von  Tumlirz  S.  15ff.  eine  gründliche 
Widerlegung;  der  gegen  Arist.  ausgesprochene  Tadel  (S.  12),  dass 
die  tragische  tjoovt)  bei  ihm  „nicht  einen  sittlichen,  sondern  einen' 
logischen  Genuss  bedeute,  eine  Lust  nicht  des  Herzens  sondern  des 
Verstandes  sei",  ist  unbegründet:  sie  ist  weder  ein  logischer  noch  | 
ein  ethischer  sondern  ein  ästhetischer  Genuss.  ; 

Die  Bestimmungen  des  Aristoteles  über  die  Arten  der  Tragö-  | 
die  bilden   das  Thema    von    zwei    umfänglichen,    gleichzeitig    und 
ohne  Beziehung  auf  einander   erschienenen  Gymnasialprogrammen: 

1.   Heine,   Th.,  Aristoteles   über  die  Arten  der  Tragödie.     Kreuz-  j 
bürg  0.  S.  1887.  28  S.  4°.  | 

3.   Hride.nhain,  Fr.,  die  Arten  der  Tragödie  bei  Aristoteles.    Stras- ' 
bürg  W.  Pr.  1887.   40  S.  4".  | 

Die  erste  von  diesen  zwei  Abhandlungen  gewinnt  durch  eine  • 
sorgfältige  Untersuchung  der  hergehörigen  Stellen  folgendes  Ergeb-  ' 
niss.     1)  Wenn  Arist.    in    der  Tragödie    die    Sesi;  und  Xuai;,    die  ' 
Schürzung  und  Lösung  der  tragischen  Verwicklung    unterscheidet, 
so  sagt  er  doch  selbst  Poet.  c.  18,  und  die  thatsächliche  Beschaf- 
fenheit der  alten  Tragödien  bestätigt  es,    dass    nur  die  Xudic,    der 
Uebergang  der  Helden    vom   Glück    zum  Unglück    oder    vom  Un- 
glück zum  Glück,  den  eigentlichen  Gegenstand  der  Tragödie  bilde, 
die    Siaic  dagegen,  d.  h.  diejenigen  Vorgänge,    welche    der    glück-  i 
liehen  oder  unglücklichen  Schicksalswendung  (der  jxs-aßaai;)  vor-  j 
angiengen,   von  der  Tragödie  vorausgesetzt,    oder  nur  einleitungs-  ' 
weise  in  ihr  berührt  werden ').    2)  Wenn  die  einfache  (ä-Xr^)  Tra- 

')  Wenn  Verf.  jedoch  hiebe!  (S.  5f.)  e.  18.  1456a 7  lesen  will:  6(xaiov  U 


Bericht  üb.  d.  deutscheLitt.  d. sokrat. piaton. u.  aristot. Philosophie  188ß,  1887.  295 

gödie  voü  der  zusammengesetzten  (TTöTiXc-j'txsvrj)  dadurch  unterschie- 
den wird,  dass  diese  eine  Peripetie  oder  Anagnorisis  hat,  jene  nicht, 
so  zeigt  Verf.  überzeugend  (S.  8  ff.),  dass  dieser  Unterschied  ledig- 
lich die  Form  betrifft,  in  welcher  der  tragische  Schicksalswechsel 
sich  vollzieht,  nicht  diesen  selbst  seinem  Inhalt  nach:  wir  haben 
eine  Peripetie,  wenn  die  Handlung  selbst,  eine  Anagnorisis,  wenn 
die  Stellung  der  handelnden  Personen  „  überraschend  und  doch 
folgerichtig  in  ihr  Gegentheil  umschlägt".  Das  xot&a-sp  sipr^xai  1452 
a23  erklärt  H.  S.  13,  indem  er  xocJ}'  airip  (oder  o-sp  liest):  „wo- 
nach sie  auch  ihren  Namen  hat".  Mir  ist  diese  Erklärung,  auch 
abgesehen  davon,  dass  sie  ein  xotl  vor  eipr^-rxi  voraussetzen  würde, 
dem  aristotelischen  Sprachgebrauch  gegenüber  bedenklich ;  und 
wenn  mau  nicht  annehmen  will,  es  habe  sich  im  vorhergehenden 
schon  eine  in  unserem  Text  ausgefallene  Erwähnung  der  Peripetie 
gefunden,  möchte  ich  eher  glauben,  das  xctiya'-sp  slpr^xott  sei  eine 
vom  Rand  in  den  Text  gekommene  Erläuterung  des  (u3-£p  Xs^ofjisv. 
Nicht  mit  derselben  Sicherheit  will  sich  Verf.  3)  S.  15 ff.  über  die 
Bedeutung  der  Unterscheidung  zwischen  der  ethischen  und  der  pa- 
thetischen Dichtung  aussprechen ;  entscheidet  sich  aber  doch  schliess- 
lich bestimmt  genug  für  die  Annahme:  eine  Tragödie  sei  pathe- 
tisch, wenn  der  Held  der  angegriffene  und  getriebene  Theil  sei, 
unfreiwillig  und  gebunden  handle,  ethisch,  wenn  derselbe  der  an- 
greifende und  treibende  sei  und  sich  in  voller  Freiwilligkeit  be- 
finde. Mir  scheint  diese  Bestimmung  auf  das  Beispiel  der  Ilias 
und  der  Odyssee,  von  denen  jene  Poet.  24.  1459  b  14  als  pathe- 
tisch, diese  als  ethisch  bezeichnet  wird,  nicht  recht  zuzutreffen, 
und  ich  möchte  den  Unterschied  der  beiden  Gattungen  eher  darin 
suchen,  dass  es  in  der  pathetischen  Dichtung  die  tragischen  Schick- 
sale der  Helden   sind,    welche   den  Mittelpunkt  der  Handlung  bil- 


xal  ~p(x-({j^o[aw  oXr^v  xal  ttjv  aütTjv  X^yetv  o'jo'  Iv  law  -ctp  [j.'j9iu  u.  s.  w.,  und 
diess  erklärt:  von  einer  einheitlich  gefügten,  kunstgerechten  Tragödie  zu 
sprechen  sei  mau  nur  dann  berechtigt,  wenn  die  XÜ3ts  aus  der  Seat;  nach 
Wahrscheinlichkeit  oder  Nothwendigkeit  hervorgehe,  so  sehe  ich  nicht,  wie 
die  Worte,  auch  nach  seiner  Emendation,  diesen  Sinn  haben  könnten.  Ich 
halte  aber  auch  keine  weitere  Textesänderung  für  nöthig  als  die  ganz 
leichte:  o'joevl  w;  statt  des  überlieferten  o-jSev  h(ui. 

20* 


296 


E.  Zeller, 


den  und  unsere  Theilnahme  vorzugsweise  erwecken ,  in  der  ethi- 
schen die  im  Verlauf  der  Begebenheiten  sich  äussernden  Charak- 
terzüge ;  von  der  letzteren  Art  werden  aber  im  allgemeinen  die 
Stücke  mit  glücklichem  Ausgang  sein.  Zu  dieser  Auffassung  schei- 
nen mir  sowohl  die  Erklärungen  c.  11.  1452  b  11.  c.  15.  c.  6  1450  b  8 
als  das  Beispiel  der  Ilias  und  der  Odyssee  zu  passen,  von  denen 
die  eine  die  ar^vi;  ouXoixeyr, ,  die  andere  den  d'vr^o  TcoXuTpoiro;  zum 
Thema  hat. 

Zu  anderen  Ansichten  gelangt  der  Verf.  von  Nr.  2  fast  bei 
allen  den  Fragen,  in  denen  er  sich  mit  Heine  begegnet.  Er  be- 
streitet zunächst  S.  4ff.,  dass  Poet.  18.  1455  b  32  als  eine  von  den 
vier  Arten  der  Tragödie  die  a-X9;  einzuschalten  sei,  und  will  statt 
dessen    die    Tspa-tuor^c   1456  a  2  alb  die   vierte  Art  einstellen;    so 


r  OS 


befremdend  es  auch  wäre,  wenn  die  mit  r,  ixsv  .  .  .  r,  o;  . 
begonnene  Aufzählung  mit  einem  tö  6s  fortgesetzt  würde.  Mir 
scheint  dies  nicht  blos  wegen  c.  10.  c.  13.  1452  b  32.  c.  24  Anf.  (wo 
Vf.  S.  29  die  Worte,  die  ihn  widerlegen,  einfach  streicht),  sondern 
auchdesshalb  unmöglich,  weil  die  tpa-ftoÖLa  -süXs7ij.£v/j  als  ihren  Gegen- 
satz die  a-Kr,  voraussetzt;  dass  aber  Arist.  jener  vor  dieser  den  Vorzug 
gibt,  berechtigt  uns  nicht  zu  der  Behauptung,  er  lasse  überhaupt 
keine  einfache  Tragödie  gelten').  Ebensowenig  hat  mich  Vf.  S.  12ff. 
überzeugt,  dass  unter  der  KSTrXsYjis'vr^  -pa-j-iooia  c.  18  etwas  anderes 
zu  verstehen  sei  als  c.  11;  S.  19,  dass  das  ava7V(opi5i;  öioXou  1459 
b  15  über  die  Odyssee  einen,  und  zwar  wohlbegründeten,  Tadel 
ausspreche;  S.  31f. ,  dass  ebd.  Z.  16  mit  den  Worten:  Xsqsi  xal 
oiavoia  Travta  uiTcpßißÄr^xs  Homer  der  Vorwurf  des  Uebermasses 
gemacht,  nicht,  wie  wir  bisher  meinten,  seine  unerreichte  Meister- 


')  K.  18.  1455  b  33 f.  möchte  [ich  vorschlagen:  if)  fxev  äTTÄfj,  rj  8i  -neTrXey- 
p.^v7).  So  steht  die  a-nXi]  der  r.fnXzyi)..  voran,  wie  diess  das  natürlichste  ist 
und  sonst  immer  geschieht,  und  man  begreift  am  besten,  wie  das  Auge  eines 
Abschreibers  von  AFIA  auf  flEllA  abirren  konnte.  1456  a2f.  scheint  hinter 
dv  aSo'j  (oder  hinter  -repaTwos;)  irgend  etwas  ablehnendes  gestanden  zu  haben, 
wie  etwa:  cixe/vd-epov.  Denn  dafür  hielt  Arist.  die  Verwendung  des  Wunder- 
baren nach  1450  b  16  jedenfalls,  wenn  auch  aus  1453  b  8 ff.  (wie  Verf.  S.  10 
richtig  bemerkt)  nicht  folgt,  dass  er  sie  unbedingt  verwarf.  —  C.  18.  1456alO 
könnte  das  seltsame  äei  y.poTElaHat  möglicherweise  aus  e'j  xExpasyat  verschrie- 
ben sein. 


Bericht  üb.  d.  deutsche  Litt,  d.sokrat.  piaton.  ii.aristot.  Philosophie  1886, 1887.  297 

schaft  gerülimt  werden  solle.  Wenn  Vf.  endlich  S.  19ff.  die 
Unterscheidung  der  pathetischen  und  der  ethischen  Tragödie  dahin 
tleutet,  dass  jene  auf  Rührung  ausgehe  und  sich  dazu  besonders 
auch  der  oiavoia  und  der  Sentenz  bediene,  diese  mit  Vernachlässi- 
gung der  leidenschaftlichen  Erregungen  ethisch  wohl  gestimmte 
Charaktere  schildere,  so  hat  er  sich  hiebei  zu  wenig  an  die 
Fino-erzeige  gehalten,  welche  uns  Arist.  selbst  über  die  Be- 
(leutung  gibt,  die  er  mit  jenen  Ausdrücken  in  seiner  Kunstlehre 
verbindet,  und  er  bemüht  sich  S.  28  vergeblich,  die  Ilias  als  pa- 
thetisch in  diesem  Sinn  nachzuweisen.  Wird  vollends  S.  28  das 
7:ai}r|Xixov  dem  Ti^oocxtr/^jv  gleichgestellt,  so  steht  das  Gegentheil  mit 
klaren  Worten  in  eben  dem  Abschnitt  der  Politik,  auf  den  er  sich 
beruft,  VIII,  5.  1340  b  4  vgl.  m.  7.  1341  b  34.  1342  b  3.  Weiter 
kann  ich  auf  den  Inhalt  dieser  Abhandlung,  namentlich  ihre  Aus- 
l'ührungen  über  Homer,  hier  nicht  eingehen.  Dagegen  möchte  ich 
zum  Schlüsse  noch  einen  frommen  Wunsch  äussern,  zu  dem  mir 
allerdings  nicht  blos  die  ebenbesprochenen  Abhandlungen  Anlass 
geben.  Nr.  1,  1  lesen  wir:  „ein  wie  grosser  Unterschied  zwischen 
<ler  modernen  und  antiken  Tragödie  besteht'^  Nr.  2,20:  „eine  wie 
wohlgefügte  Reihe  diese  sechs  Arten  bilden".  Diess  ist  nicht 
ileutsch.  Man  kann  wohl  sagen:  „was  für  ein  grosser  Mann", 
„welch  ein  grosser  Mann",  „wie  gross  der  Mann  ist,  welcher"  u.  s.  w.; 
aber  von  einem  wie  grossen  Unterschied  oder  einer  wie  wohl- 
gefügteu  Reihe  zu  reden,  sollte  man  den  Tagesblättern  überlassen, 
!)ei  seinen  Schülern  dagegen  eine  so  sprachwidrige  Ausdrucksweise 
nicht  dulden  und  ihnen  mit  dem  Beispiel  derselben  nicht  voran- 
I  gehen. 

'  Zerbst,  M.,  Ein  Vorläufer  Lessing's  in  der  Aristotelesinterpretation. 

Jena  1887.     54  S.  Inauguraldiss. 
weist  in  einer  Auseinandersetzung,  die  sehr  viel  kürzer  sein  könnte, 
nach,  dass  Daniel  He insius,   der  berühmte  holländische  Philolog 
1,1580—1655),  die  aristotelischen  Bestimmungen  über  die  tragischen 

'und  komischen  Charaktere  (Poet.  c.  9),  über  Mitleid  und  Furcht 
laid  über  die  Katharsis  (c.  6.  1449  b  26)  in  allem  wesentlichen 
schon  ebenso  aufgefasst  hat,  wie  später  Lessing. 


298  ^-  Zeller, 

Auf  die  äussere  Ausstattung  der  peripateti sehen  Schule 
durch  die  Vermächtnisse  ihrer  Häupter  bezieht  sich  in  dem 
grösseren  Theil  ihres  Inhalts  die  der  XXXIX.  Versammlung  deut- 
scher Philologen  gewidmete  Festschrift  von 

HuG,  A.,  Zu  den  Testamenten  der  griechischen  Philosophen.  Zürich 
1887.  22  S.  4^ 
Ausser  den  Testamenten  der  Peripatetiker  —  Aristoteles,  Theo- 
phrast,  Strato,  Lyko  —  bespricht  diese  anziehende  und  belehrende 
Abhandlung  (welche  leider  wegen  schwerer  Erkrankung  ihres  Vf. 
von  seinem  Bruder  zum  Abschluss  gebracht  werden  musste)  auch 
die  zwei  andern  uns  erhalteneu  Philosophentestamente,  das  Plato's 
und  das  Epikur's.  Von  den  vier  Abschnitten  derselben  handelt 
der  erste  (in  Betreff  Theophrasfs  von  AVendland,  Berl.  Philol. 
Wochenschr.  1888,  S.  488 f.  bestritten)  über  „die  Passiva  und  die 
Universalerben";  der  zweite  über  die  Testamentsexecutoren;  der 
dritte  über  die  Vermächtnisse  an  die  Schulen;  während  der  vierte 
auf  verschiedene  in  den  Testamenten  zu  Tage  kommende  indivi- 
duelle Züge  aufmerksam  macht.  Hinsichtlich  der  Frage,  welche 
für  die  Geschichte  der  Philosophie  die  wichtigste  ist,  nach  der 
rechtlichen  Form  für  den  gemeinsamen  Besitz  der  Schulen ,  ent- 
scheidet sich  H.  mit  Recht  für  die  Ansicht  von  Wilamowitz, 
für  welche  namentlich  auch  Theophrast's  Testament  spricht,  dass 
es  bei  der  akademischen  und  peripatetischen  die  einer  Kultus- 
genossenschaft war,  bei  der  epikureischen  dagegen,  für  welche  diese 
Art  von  Verein  schlecht  gepasst  hätte,  Garten  und  Haus  in  das 
Eigenthum  der  Testamentserben  übergieugen,  aber  von  ihnen  dem 
jeweiligen  Schulhaupt  zur  Benützung  überlassen  werden  mussten. 

Unger,  G.  f.,  Das  Sophistengesetz  des  Demetrios  Phalereus  (Jahrb. 

f.  class.  Philol.  1887.  S.  755—763) 
macht  wahrscheinlich,  dass  das  Gesetz  des  Sophokles,  w'elches  die 
Ertheiluug  wissenschaftlichen  Unterrichts  von  einer  obrigkeitlichen 
Erlaubniss  abhängig  machte  und  dadurch  eine  Auswanderung  Theo- 
phrast's  und  der  übrigen  Philosophen  aus  Athen  veranlasste,  nicht 
unter  Demetrius  Poliorcetes,  sondern  während  der  Staatsverwaltung 


üericht  lib.  d.  deutsche  Litt,  d.sokrat. platon.u.aiistot.  Philosophie  188G,  1887.  299 

und  auf  Betrieb  des  Phalereers,  315  v.  Chr.,  erlassen,  und  im  fol- 
genden Jahre,  noch  vor  Xenokrates'  Tod,  wieder  aufgehoben  wurde. 
Unsicherer  scheint  mir  die  Vermuthung,  dass  sich  die  Akademiker 
bei  dieser  Veranlassung  nach  Megara  zurückgezogen  haben,  und 
Menedemus  aus  Eretria  während  ihres  dortigen  Aufenthalts  der 
platonischen  Schule  vorübergehend  angehört  habe. 

Derselbe  Gelehrte  gibt  im  Philologus  Bd.  XLV  (1886)  S.  132. 
244.  277.  368.  438.  448.  552f.  613.  641  zahlreiche  Emendationen 
zu  Theophrast's  Charakteren. 

Um  zum  Schlüsse  noch  der  griechischen  Com mentare  zu 
Aristoteles  zu  erwähnen,  so  erschienen  von  der  akademischen  Aus- 
gabe derselben,  deren  Einrichtung  ebenso,  wie  ihre  musterhafte 
Ausführung  bekannt  ist,  1887:  Vol.  IV  a:  Porphyr's  Isagoge  und 
Commentar  zu  den  Kategorieen,  herausgeg.  v.  A.  Busse;  XVI  a: 
Johannes  Philoponus  zur  Physik,  v.  Hier.  Vitelli,  1.  Hälfte 
(2.  H.,  XVI  b,  1888);  von  dem  dazugehörigen  Supplementum 
Aristotelicum  1886:  Vol.  Ib:  Prisciani  Lydi  quae  extant  (die  sog. 
Metaphrase  zu  Theophrast  und  die  Solutiones  ad  Chosroem)  v.  In- 
gram Bywater;  1887:  Vol.  II  a:  Alexander  Aphrodisiensis  De 
anima  v.  Ivo  Bruns,  welcher  auch  unserer  Zeitschrift  einen  ein- 
gehenderen Bericht  über  diese  Commentare  in  Aussicht  gestellt  hat. 
Kramer's  Ausgabe  anonymer  Schollen  zur  nikomachischen  Ethik 
(Anecd.  Paris.  I,  81ff.)  berichtigt  G.  Heylbut  Rhein.  Mus.  XLI 
(1886)  S.  304—307. 


vn. 

Jaliresbericlit  über  die  neuere  PMlosopMe  bis 

aiif  Kant  für  1887 

Von 
Benno  !Erdniann  in  ßreslau  ') 

Zweiter  Teil 
Francis    Bacon    bis    Leibniz 


U 

M 


Lord  Bacon 
Rapp,   Prof.     William  Shakespeare   oder  Francis  Bacon?  (Beilage 
zum  Programm  des  Kgl.  Realgymnasiums  u.  s.  w.  zu  Ulm) 
19  S.     4". 
Ein  sorgfältiger  Bericht  über  die   Scheingrüude,   welche   kri- 
tischer  Unverstand    seit   vierzig  Jahren  für  die  Bacon -Hypothese 
ins  Feld   führt.     Ein   zweiter  polemischer  Teil  soll  folgen.     Aber 
für  die  Orientirung  der  Kundigen  genügt  diese  Abhandlung  vollauf. 
Die  ganze  Frage  gehört  zu  jenen,  die  nur  durch  Schweigen,  nicht 
durch  Reden  zu  erledigen  sind. 

Jungius 
Wohlwill,  Em.  Joachim  Jungius  und  die  Erneuerung  atomistischer 
Lehren  im  17.  Jahrhundert.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte 
der  Naturwissenschaft  in  Hamburg.  66  S.,  4°,  Hamburg. 
S.  A.  aus  Bd.  X  der  Abh.  aus  dem  Gebiet  der  Naturwiss. 
(Festschrift). 


^)  Den  Bericht  über  die  Abhandlungen  von  Gaul,   Schneider,   Nenitescu 
und  Bergmann,  S.  311— 315,  hat  J.  Freudenthal  freundlichst  übernommen. 


Jahresbericht  über  die  neuere  Philosophie  bis  auf  Kant  für  1887.     301 

Die  Abhandlung  legt  wiederum  Zeugniss  ab  von  dem  Geiste 
eindringender  und  besonnener  historischer  Forschung,  der  die  Ar- 
beiten E.  Wohlwills  auszeichnet. 

Die  Geschichte  der  atomistischen  Hypothesen  im  sechzehnten 
und  siebzehnten  Jahrhundert  und  ihres  Kampfes  mit  der  Aristote- 
lischen Naturauffassung,  für  deren  Erforschung  A.  Lange  durch 
seine  Charakteristik  Gassends  einen  nachhaltig  wirkenden  Anstoss 
gegeben  hat,  ist  neuerdings  durch  die  Abhandlungen  von  Lasswitz 
über  Giordano  Bruno  (1884),  Dan.  Sennert  und  seine  Geistesver- 
wandten (1879),  über  Descartes  (1883),  und  über  den  Verfall  der 
kinetischen  Atomistik  im  siebzehnten  Jahrhundert  (1874)  auf 
dankenswerte  Weise  bereichert  worden.  Umfassenderes  hat  der- 
selbe Forscher  in  Aussicht  gestellt.  Die  Untersuchung  Wohlwills 
ergibt,  dass  wertvolle  Glieder  dieser  Entwicklung  nicht  bloss  in 
iler  Italienischen  Naturphilosophie,  die  Lasswitz  bisher  zu  aus- 
schliesslich vom  Standpunkt  des  Physikers  beurteilt  hat,  noch 
unaufgedeckt  ruhen. 

Auch  Jungius  gehört  nach  den  eingehenden  Nachweisen  Wohl- 
wills —  die  Arbeiten  von  Guhrauer  und  Ave-Lallemant  wussten 
darüber  nichts  zu  berichten  —  zu  den  Erneuerern  atomistischer 
Doktrinen.  Es  geht  dies  nicht  bloss  aus  den  1662  veröffentlichten 
Doxoscopiae  physicae  minores  hervor,  sondern  vor  allem  aus  den 
beiden  bisher  ununtersucht  gebliebenen  Disputationen  aus  dem 
Jahre  1642,  die  Wohlwill  bruchstückweise  mitteilt.  Mancherlei 
Ergänzungen,  schon  seit  dem  Jahre  1622,  bietet  der  Hamburger 
Xachlass  von  Jungius,  z.  B.  die  Hefte  der  Lectiones  pkysicae  von 
etwa  1630,  die  den  Grundstock  der  Doxoscopiae  bilden.  Auch  bei 
Benutzung  dieser  Quellen  hat  Wohlwill  überall  auf  die  Entwick- 
lungsfolge der  Gedanken  geachtet. 

Es  ist  eine  Werkstätte  gründlicher,  und  von  wolerwogeneu 
allgemeinen  Gedanken  geleiteter  Arbeit  an  der  Hypothese  „syndia- 
kritischer"  Verwandlung,  wie  Jungius  im  Gegensatz  zur  „actupo- 
tentialen"  des  Aristoteles  sagt,  in  die  uns  Wohlwill  hineinführt. 
Eine  treffende  Aufschrift  für  dieselbe  ist  die  von  Jungius  oft  er- 
wähnte „Hypothese  der  Hypothesen":  „Die  Natur  hat  demnach  nicht 
>o  viel  Fähigkeiten,  Kräfte,  Qualitäten  den  Dingen  eingegeben,  als 


302  Benno  Erdmann, 

sie  Wirkungen  in  ihnen  hat  hervorrufen  wollen,  sondern  bestimmte 
Gesetze    hat    sie    den  Grundbestandteilen  (Principien)    eingegeben, 
nach  denen  ein  Grundbestandteil  mit  dem  andern  zusammengesetzt, 
zusammengemischt,  von  den  andern  unterstützt,  gehindert  zur  Ab- 
weichung   gebracht    wird."      Dieselbe    charakterisirt    ebenso    wol 
luntnus'  Stellung  gegen  die  scholastische  Qualitätentheorie   wie  zu 
den  Principien  der  Naturforschung ,    für   welche  die  mechanischen 
Untersuchungen  des  siebzehnten  Jahrhunderts  den  festen  Grund  ge- 
legt   haben.     Eingehend    und    häufig    hat    sich   Jungius  nach   den 
Nachweisen  Wohlwills  mit  Sennert  auseinandergesetzt.     Doch    ist 
es  nicht  wahrscheinlich,    dass    er  erst  durch  diesen  auf  den  Weg 
seines  Atomismus  geführt  worden  ist,   zu  dem  es  ja  damals  Stege 
genug  gab.     Auch  eine  Jungius'  Entwicklung  bestimmende  Einwir- 
kung Bacons  wird  man   trotz  Guhrauers  gegenteiliger  Behauptung 
zweifelhaft  finden,    sobald  man  gebührend  beachtet,    wie   laugsam 
die  Anregungen    desselben    nach  Deutschland    übertragen    worden 
sind.     Denn  schon    die  von  Wohlwill  mitgeteilten  Proben  metho- 
dologischer Betrachtungen  aus  den  Jahren  1622—1629  atmen  den 
Geist    induktiver  Forschung,    und    zwar    nicht   jenen  Baconischen 
geistreicher  Reflexion  vom  grünen  Tisch,  sondern  den  gehaltvolleren, 
der   aus  selbständiger  Einsicht  in  die  damals  neugewonnenen  phy- 
sikalischen Methoden    und  Ergebnisse    stammt.     Sollten    doch    die 
„Antidoxa'-' ,    als    deren  Bausteine    sie    gedacht    wurden,    zugleich 
eine  Isagoge  physica   werden.     Vielfach  dagegen   finden  sich,    wie 
zu  erwarten,  nominalistisch-scholastische  Erinnerungen. 

Andererseits  haben  Jungius'  Gedanken  vielleicht  mehr  und  in 
grössere  Ferne  gewirkt,  als  sich  heut  feststellen  lässt.  Wohlwill 
ist  allerdings  mit  Recht  bedenklich,  einen  Einfluss  derselben  auf 
die  Lehren  Boyles  sicher  anzunehmen,  obgleich  dem  letzteren  seit 
1638  durch  S.  Hartlibs  Vermittlung  „gedruckte  wie  ungedruckte 
Schriften"  von  Jungius  zu  Gesicht  gekommen  waren,  obgleich 
ferner  die  oben  citirten  Disputationen  „im  wesentlichen  schon  die 
Gedanken  enthalten,  um  derentwillen  Robert  Boyles  1661  erschie- 
nener Sceptical  chemist  als  für  die  Chemie  epochemachend  be- 
trachtet wird".  Gedanken  wachsen  nicht  durch  Uebertragung. 
Aber  das  Verdienst,  solche  Gedanken  vor  Boyle  bereits  ausgespro- 


Jahresbericht  über  die  neuere  Philosophie  bis  auf  Kant  für  1887.     303 


clien  zu  haben,  bleibt  für  Juugius  gesichert.  Wenn  ferner,  wie 
ich  nicht  bezweifle,  Wohlwills  Urteil  richtig  ist,  dass  es  „geradezu 
ein  Ringen  nach  dem  Kraftbegriff  ist,  was  sich  uns  in  den  zer- 
I  streuten  Betrachtungen"  des  Capitels  de  actione  elaborativa  in  den 
\  Doa;oscopiae  „veranschaulicht",  so  können  auch  hier  Keime  für 
Leibniz'  Entwicklung  des  Kraftbegriffs  liegen;  denn  solche  Keime 
sind  gewiss  nicht  bloss  an  einem  Orte  zu  suchen.  Allerdings  wird 
dies  eine  Möglichkeit  bleiben,  die  nur  dazu  dienen  kann,  gegen- 
über den  mancherlei  bisher  versuchten  einseitigen  Anknüpfungen 
dieses  Leibnizischen  Grundgedankens  vorsichtig  zu  machen.  Denn 
Leibniz,  der  schon  1671  Jungius  hochschätzen  gelernt  hatte  (Op. 
ed.  Dutens  V  540),  erwähnt,  so  weit  ich  gesehen  habe,  eine  solche 
Beziehung  nirgends.  Auf  andere  Aehnlichkeiteu  Leibnizischer  Ge- 
danken mit  denen  von  Jungius,  die  allerdings  sehr  der  Kontrolle 
bedürfen,  hat  Guhrauer  schon  in  seinem  ersten  Schriftchen  über 
Jungius  (de  J.  J.  commentatio  histor. -litter.  1846)  hingewiesen. 

Von  der  Ueberschätzung  des  vielseitigen  Mannes,  zu  der  sich 
Guhrauer  und  neuerdings  Ave-Lallemant  haben  hinreissen  lassen, 
bleibt  Wohlwill  durchaus  frei. 

Von  Einzelnem  sei  hier  erwähnt,  dass  Wohlwill  nachweist, 
das  1635  veröffentlichte  Auctarium  Epitomes  Pliysici  dar.  ntque 
experient.  viri  Dr.  Sennerti  .  .  .  ex  aliis  ejusdem  libris  excerptum 
-sei  von  Jungius  zusammengestellt  oder  veranlasst. 

Jungius'  seltene  Logik,  die  Logica  Ilamburgensis,  hoc  est,  In- 
stitutio?ies  logicae  i7i  usum  scholae  Hamburg.,  conscriptae  et  sex 
libris  comprehensae  (Hamburg  1638;  ed.  II  recensente  Jo.  Vagetio 
ib.  1681)  habe  ich  so  wenig  gesehen,  wie  das  Compendium  Logicae 
Hamb.  in  usum  scholae  Johan.  editum,  das  Hamburg  1641  und  1657 
erschienen  sein,  und  Jungius  zum  Verfasser  haben  soll.  Guhrauers 
Mitteilungen  aus  der  ersteren  ermöglichen  trotz  ihrer  Breite  so 
wenig  eine  Schätzung  des  Wertes  derselben,  als  Leibniz'  gelegent- 
liche Anerkennung.  Ein  beträchtlicher  Gewinn  an  sachlichen  Ein- 
sichten wird  sich  allerdings  auch  bei  kritischer  Untersuchung  kaum 
zu  Tage  fördern  lassen.  Wollte  Jungius  doch  selbst,  nach  dem 
Zeugnis  eines  Schülers,  dieselbe  „usibus  scholae  praecipue  Hambur- 
ffensis,    ex  mente  non  sua  solum,    sed  Scholarcharum  efiam,  a  sua 


304  Benno  Erdraann. 

saepe  nuviero  multum  abeunte,  conceptam",  nicht  „pi'o  mere  sua 
agnoscere^.  Ihre  historische  Wirksamkeit  scheint  überdies  nur 
ganz  gering  gewesen  zu  sein. 

Hobbes 
LoEWE,  Jon.  Hnr.     John  Bramhall,  Bischof  von  Derry,   und  sein 
Verhältniss  zu  Thomas   Hobbes.     (Abhandl.   der  K.  Böhm. 
Gesellsch.  d.  Wissenschaften  VII  F.  1  Bd.)  16  S.    4". 

Die  Episode  in  Hobbes'  litterarischer  Tätigkeit,  die  sich  am 
den  Namen  des  Bischofs  von  Londonderry  knüpft,  wird  nur  wenigen 
deutschen  Lesern  des  Archivs  unmittelbar  gegenwärtig  sein.  Hobbes 
ist  derjenige  unter -den  englichen  Philosophen  von  Lord  Bacon  bis 
Hume,  dem  bei  uns  die  geringste  Arbeit  zu  Teil  wird.  Mit  gründ- 
licher Kenntniss  und  verständnisvollem  Interesse  ist  in  neuerer  Zeit 
bei  uns  nur  F.  Tönnies  auf  seine  Lehre  eingegangen. 

Speziell  Hobbes'  Erkenutnislehre  bedarf  jedoch  einer  eindrin- 
genden Würdigung  ihres  Lehrbestandes  wie  ihres  geschichtlichen 
Einflusses. 

Die  Abhandlung  von  Loewe  bringt  zunächst  eine  Skizze  Bram- 
halls  nach  dem  ersten  Baude  der  Ausgabe  seiner  Werke:  The  works 
of  .  .  .  John  Bramhall,  Oxford  1842,  4  vol.,  die  hier  genannt 
werde,  weil  sie  in  unsern  Darstellungen  der  Geschichte  der  neueren 
Philosophie  nicht  erwähnt  wird.  Sie  enthält  sodann  einen  ümriss 
der  Lehren  von  Hobbes  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Vor- 
aussetzungen und  Ausführungen  seines  Determinismus,  der  die 
Streitschriften  Bramhalls  und  Hobbes'  Verteidigungen  zur  Folge  hatte. 

Sehr  deutlich  tritt  dabei  die  Abneigung  und  Geringschätzung 
zu  Tage,  die  Loewe  Hobbes  gegenüber  empfindet.  Seine  Lehre 
gleicht  ihm  „einem  seichten  Bach,  dessen  Wasser  nur  den  Boden 
bedeckt".  Auf  die  Arbeiten  entgegengesetzter  Wertschätzung  von 
Robertson  und  Tönnies  hat  Loewe  keine  Rücksicht  genommen. 


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Comenius 
MüLLEK,  AV^Ai.T.     Comenius:    Ein  Systematiker    in    der  Pädagogik. 
Eine  philosophisch-historische  Untersuchung.  8°.  50  S.    Dres- 
den, Bleyl  u.  Kämmerer. 


Jahresbericht  über  die  neuere  Philosophie  bis  auf  Kant  für  1887.     305 

Eine  nach  den  systematischen  Gesichtspunkten  der  Herbartischen 
Schule  geordnete  Zusammenstellung  der  Andeutungen  und  Aus- 
führungen Comenius'  zur  allgemeinen  Pädagogik.  Neues  zur  Ge- 
schichte der  philosophischen  Probleme  enthält  die  Arbeit  nicht. 
Den  historischen  Beziehungen  der  Elemente  des  „Comenianischen 
>eii  Systems"  ist  der  Verf.  nicht  nachgegangen.  Die  kritische  Wür- 
•h  digung  einer  Reihe  von  Urteilen  über  Comenius  im  Anhang  (S.  38 
bis  50)  bringt  manches  weniger  bekannte  Material. 


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11. 


De  la  Forge 

Seyffakth,  H.  Louis  de  la  Forge  und  seine  Stellung  im  Occasio- 
nalismus.    I.  D.  59  S.     Gotha,  Emil  Behrend. 

Die  Analyse,  welche  der  Verf.  den  breiten  Ausführungen  De 
la  Forges  zu  Teil  werden  lässt,  ergibt  eine  durchsichtigere  Gedanken- 
folge, als  aus  den  früheren  Darstellungen,  selbst  aus  dem  umfang- 
reicheren Auszug  bei  Damiron  II  24—60  zu  gewinnen  ist.  Unter 
dem  Einfluss  des  Lichts,  das  die  jüngste  Diskussion  der  Lehre 
Geulincx',  vor  allem  durch  die  Untersuchungen  Zellers,  über  den 
Occasionalismus  verbreitet  hat,  kommt  der  Verf.  zu  dem  Resultat, 
dass  De  la  Forge  das  occasionalistische  Problem  in  seiner  kosmo- 
logischen  Allgemeinheit  zum  Ausgangspunkt  nimmt,  und  hierdurch 
Geulincx  überlegen  ist.  Trotzdem  bleibt  es  richtig,  De  la  Forge 
dem  Descartes  näherzustellen  als  dem  zum  Mysticismus  neigenden 
Geulincx. 

Dass  Bouillers  (erst  neuerdings,  Bd.  I  S.  55  dieser  Zeitschrift 
bestrittene)  Datirung  des  sehr  seltenen  französischen  Originals  für 
1766  (nicht  1761)  richtig  ist,  wird  von  Seyffarth  durch  eine  Be- 
merkung aus  J.  Gassetius',  des  Schülers  von  De  la  Forge,  Schrift 
Causarum  primarum  et  secundarum  realis  operatio  (1716)  bestätigt. 
Die  faktische  Veröffentlichung  hat  ihr  zufolge  Ende  1765  stattge- 
funden. 

Spinoza 
1.  Freudenteial,  J.     Spinoza   und  die  Scholastik    (Philosophische 
Aufsätze.     Eduard  Zeller  zu  seinem  fünfzigjährigen  Doctor- 
Jubiläum  gewidmet,  8  \  S.  85—138,  Leipzig,  Fues's  Verlag.) 


306  Benno  Erdmaun, 

Ihrem  umfangreichsten  Teile  nach  (S.  94—119)  ist  Freuden- 
thals Arbeit  eine  Untersuchung  von  Spinozas  Cogitata  metaphysica, 
die  als  Appendix  zu  den  1663  veröffentlichten  Prinzipien  der 
Cartesianischen  Philosophie  erschienen  sind.  Der  Charakter  dieser 
Cogitata  war  unaufgeklärt.  Joel  z.  B.  hatte  in  ihnen  „Lesefrüchte 
aus  jüdischen  Philosophen"  gesehen,  „dazu  verwendet,  um  inner- 
halb des  Cartesianischen  Systems  solche  Fragen  zu  lösen,  die  bei 
Cartesius  entweder  gar  nicht  oder  doch  nur  kurz  berührt  sind". 
K.  Fischer  hatte  in  ausführlicher  Darstellung  erklärt,  er  sehe  „kein 
anderes  Motiv"  für  die  Abfassung  und  Veröffentlichung  derselben: 
„sie  sollten  die  Differenzen  (derSpinozistischen  und  der  Cartesianischen  i 
Lehre),  auf  welche  die  Vorrede  (zu  den  Principien)  hingewiesen 
hatte,  verdeutlichen  und  von  Seiten  des  Autors  hervortreten  lassen". 

Freudenthal  weist  fürs  erste  überzeugend  nach,  dass  beide 
Auffassungen  falsch  sind. 

Er  zeigt  gegen  K.  Fischer,  dass  die  Cogitata  ebenso  wie  der 
zweite  Teil  der  Prinzipien  für  jenen  Schüler  verfasst  sind,  den  er 
in  seine  eigenen  Gedanken  eiuzuweihen  nicht  fiir  würdig  hielt. 
Er  deckt  sodann  auf,  dass  von  den  Sätzen  der  Cogitata  die  K.  Fischer 
als  echt  Spinozistisch  in  Anspruch  genommen  hat,  einzelne  auch  in 
den  Principia  sich  finden,  andere  philosophisches  Gemeingut  bilden, 
dessen  Ursprung  bis  tief  in  die  griechische  Philosophie  zurückgeht, 
noch  andere  Cartesianisches  Eigentum  sind,  dass  endlich  eine  Reihe 
von  Erörterungen  in  den  Cogitata  vorliegt,  die  den  Grundlagen  des 
Spinozismus  durchaus  widersprechen.  Gegen  Joel  hebt  er  hervor, 
dass  zwar  einige  Lehrmeinungen  der  Cogitata  auf  die  Anregungen 
jüdischer  Religionsphilosophen  zurückzuführen  sein  mögen,  dass 
jedoch  „der  Gesammtinhalt  des  ersten  und  vieles  aus  dem  zweiten 
Buche  keinerlei  Verwandtschaft  mit  jener  Philosophie  zeigt". 

Zur  Aufhellung  des  dunklen  Charakters  der  kleinen  Schrift 
betritt  Freudenthal  sodann  einen  Weg,  den  einzuschlagen  nieman- 
dem vor  ihm  in  die  Gedanken  gekommen  ist,  so  naheliegend  er 
jetzt,  wo  auf  ihn  hingewiesen  ist,  jedem  Kundigen  erscheinen  wird. 
Und  es  gelingt  Freudenthal,  ausgestattet  mit  einer  gründlichen 
Kenntniss  der  einschlägigen  Litteratur.  die  Streitfrage  definitiv  zu 
erledigen. 


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Jahresbericht  über  die  neuere  Philosophie  bis  auf  Kant  für  1887.     307 

Alle  Rätsel  nämlich  der  Schrift,  welche  die  bisherigen  Inter- 
preten verwirrten,  werden  lösbar,  sobald  man  im  Speziellen  prüft, 
wie  sich  ihr  Inhalt  und  ihre  Anordnung,  das  was  sie  ausführt,  und 
das,  was  sie  ausser  Acht  lassen  zu  wollen  erklärt,  zu  den  meta- 
physischen Lehrbüchern  der  christlichen  Scholastiker  verhält,  die 
damals  hauptsächlich  in  Gebrauch  waren.  Die  Uebereinstimmung 
liegt  nach  den  fortlaufenden  Belegen  Freudenthals  aus  Suarez, 
Heerebord,  Burgersdijck,  Martini,  Combachino,  Scheibler  u.  a.  auf 
der  Hand.  Es  ergibt  sich  daraus,  dass  die  Cogitata  „eine  vom 
Standpunkt  des  Cartesianismus  entworfene,  in  den  Formen  der 
jüngeren  Scholastik  sich  haltende  gedrängte  Darstellung  von  Haupt- 
punkten der  Metaphysik"  sind. 

Zu  untersuchen  bleibt,  da  Freudenthal,  durch  die  Gelegenheit 
der  Veröifentlichung  beschränkt,  nur  die  zahlreichen  Belegstelleu 
anführt,  ob  etwa  dieser  Uebereinstimmung  eine  speziellere  Abhän- 
gigkeit von  einem  oder  wenigen  dieser  Lehrbücher  zu  Grunde  liegt, 
was  vielleicht  für  wahrscheinlich  zu  halten  ist. 

Noch  mehr  ist  auf  solche  Ergänzung  der  zweite  Teil  der  Ab- 
handlung (S.  119—135)  angelegt,  in  dem  Fr.  die  Abhängigkeit 
Spinozas  von  der  Scholastik  auch  an  den  grundlegenden  Defini- 
tionen und  Axiomen  des  ersten  und  zweiten  Buchs  sowie  einzelnen. 
Lehrsätzen  derselben  zu  beweisen  unternimmt.  Der  Beweis  selbst 
-ist  jedoch  auch  hier  vollständig  erbracht.  Für  alles  Weitere  er- 
halten wir  die  erfreuliche  Hoffnung,  dass  es  „vielleicht  in  nicht  zu 
ferner  Zeit  möglich  sein  wird",  diese  Beobachtungen  „in  grösserem 
und  strengerem  Zusammenhange  vorzulegen". 

Die  Bedeutung  der  Abhandlung  reicht  jedoch  über  die  Grenzen 
ihres  speziellen  Gegenstandes  hinaus.  Freudenthal  deutet  in  der 
Einleitung  (S.  85—89)  an ,  wie  durchaus  die  Bedingungen ,  unter 
denen  Spinoza  stand,  auch  für  Bacon  und  Descartes,  Geulincx  und 
Malebranche,  Leibniz  und  Wolff  gelten.  Sie  treffen  nicht  anders 
auch  Herbert  von  Cherbury  und  Hobbes.  Sie  bleiben,  wie  im 
ersten  Teil  dieses  Jahresberichts  anzudeuten  war,  selbst  für  Locke 
noch  mehrfach  bestehen.  In  der  Tat:  „die  Kette  der  scholasti- 
schen Tradition  ist  nie  gerissen".  Und  es  ist  zu  erwarten,  dass 
diese  allgemeine  Einsicht,  bald  auch  dem  historischen  Verstäudniss 


308  Benno  Erdmanu, 

jener    auderen    Lehrmeinungen    des    siebzehnten    und    achtzehutem 
Jahrhunderts  dienstbar  gemacht  wird. 

Schliesslich  sei  erwähnt,    dass  dieser  allgemeine  Gedanke,    sO' 
wenig  feste  Wurzeln  er  bisher  geschlagen  hat,   doch  nicht  neu  ist, 
eine    Tatsache,    die    das    Verdienst    Freudenthals    natürlich    nicht 
schmälert.     Baumann  hat    mit   ähnlichem   historischen  Takt  seinei 
Darstellung    der  Lehren   von  Raum,    Zeit    und  Mathematik    durcht 
Suarez  eingeleitet.     Schon  er  erklärt  in  gleicliem  Sinn:  „man  würdei 
irre  gehen,    wenn    man    die  Macht    der  pliilisophischen  Tradition, 
welche  die  neueren  Philosophen  hauptsächlich  durch  Suarez  über- 
kamen, für  nichts  anschlagen  oder  nur  als  eine  Veranlassung  zum 
Widerspruch  schätzen   wollte:    die  Scholastik   bot  eine  Fülle  posi- 
tiver Anregungen.  .  .     Die    neuen  Lehren    sind    so  wenig  neu  in 
dem  Sinne,    dass  sie    einen  Anfang  machten,    ohne  irgend  welche 
Ankoüpfung   in  Früherem  zu  haben,    dass    sie    vielmehr  zuweilen 
wie  einfache  Abzweigungen  aus  der  Scholastik  aussehen."     Und  er 
hat  diese  allgemeinen  Bemerkungen  durch  lehrreiche  Beispiele  aus 
der  Leibnizischen    und    der  Cartesianischen  Lehre  gestützt.     Mehr 
noch    endlich    hat  Gierke   getan.     Mit  staunenswerter  Belesenheit 
hat  er  im  Althusius  wie  im  Genossenschaftsrecht  die  Wurzeln  der 
rechtsphilosophischen  Gedanken,    die   wir  am  Beginn   der  neueren] 
Philosophie  vorfinden,  durch  die  Entwicklung  des  Mittelalters  hin- 
durch verfolgt,    überall  aufweisend,    wie    auch  hier  das  Band  derj 
Tradition  die  Geister  an  einander  reiht. 

2.    BrssE  L.    Beiträge  zur  Entwicklungsgeschichte  Spinoza's.  L  Diej 
Reihenfolge    seiner    Schriften.      (Zeitschrift  für  Philos.  und] 
philos.  Kritik,  her.   von  Krohn  und  Falckenberg  N.  F.   XC. 
Halle,  Pfeffer,  S.  50—88) 
Ueber    der  Abhandlung    Busses,    dessen    Erstlingsarbeiten    zuj 
Spinoza  im  vorigen  Jahresbericht  besprochen  worden  sind,  hat  eir 
Unstern  gewaltet.     Wesentlich  neu  in  ilir  ist  der  Versuch,  die  Ab-i 
fassungszeit  der  Cogitata  metaphysica  in  die  Zeit  um  1656 — 1660] 
hinaufzurücken.      Busse    hat    jedoch    die  kurz   vor  der  seinen  er-j 
schienene  Arbeit  Freudenthals  nicht  gekannt.     Seine  Auffassung  der 
Cogitata  (S.  50-72),   die  wesentlich   von   K.  Fischer  beeinlUisst  ist,! 


Jahresbericht  über  die  neuere  Philosophie  bis  auf  Kant  für  1887.     309 

verrät  alle  die  Unklarheit,  die  jener  Anhang  zu  den  Principia 
philosophiae  Cartesianae  bisher  hervorgerufen  hat.  Sie  war  deshalb 
bei  ihrer  Veröffentlichung  bereits  weit  überholt. 

Aber  auch  die  anderen  von  Busse  für  seine  frühe  Datirung 
beigebracliten  Argumente  sind  wenig  überzeugend.  Der  künstliche 
Beweis,  dass  Spinoza  „Hauslehrer"  bei  den  Eltern  Albert  Burghs 
gewesen  sei  (S.  60—64),  beruht  auf  einer  ganz  unsicheren  Ver- 
mutung. Die  Schlüsse  ferner  aus  Colerus'  Angabe,  das  Spinoza 
nach  dem  Bannfluch  „vouloit  d'ailleurs  poursuivre  ses  etudes  et 
ses  meditations  Physiques"  auf  die  Beschäftigung  mit  der  Car- 
tesianischen  Physik,  und  damit  auf  die  Ausarbeitung  des  zweiten 
Abschnitts  der  Principia,  sind  in  ihrem  ersten  Teil  nur  durch  einen 
Sprung  zu  gewinnen,  in  ihrem  zweiten  gänzlich  unsicher.  Die  Be- 
meikung  über  Spinozas  Citat  Heerebords  beweist  ebenfalls  nichts. 

Hinsichtlich  der  Abfassung  der  Ethik  kommt  Busse  so  wenig 
zu  einem  klaren  Ergebniss,  wie  seine  Vorgänger, 

Busses  übrigens  scharfsinnige,  nur  durch  die  Fülle  der  Polemik 
etwas  undurchsichtige  Abhandlung,  die  sich  auf  die  Reihenfolge 
der  Schriften  Spinozas  beschränkt,  will  Beiträge  liefern  zu  einem 
Werk,  „das  es  unternähme,  die  Weltanschauung  Spinozas  genetisch 
darzustellen".  Ein  solcher  Versuch  fehlt  trotz  der  trefflichen  Vor- 
arbeiten, die  seit  der  Entdeckung  des  tractatus  brevis  erschienen 
sind,  in  der  Tat.  Die  methodologischen  Principien  für  denselben, 
die  Busse  andeutet,  bedürfen  jedoch  der  Ergänzung.  Will  jemand 
„die  Weltanschauung  eines  jeden  Stadiums  in  Spinozas  Entwick- 
lung zusammenfassend  darstellen",  „die  Motive  der  Weiterentwick- 
lung, die  Widersprüche  und  ungelösten  Probleme  darin  aufdecken", 
und  so  die  folgenden  Stufen  entwickeln,  so  wird  er  nicht  der  Mei- 
nung sein  dürfen,  „dass  so  lange  und  so  weit  man  in  dem  System 
selbst  Gründe  für  die  weitere  Entwicklung  finden  kann,  man  nicht 
gut  tut,  immer  sogleich  fremden  Einfluss  heranzuziehen",  dass  man 
.j-j  „erst  wo  diese  fehlen  nach  fremdem  Einfluss  wird  fragen  können 
und  müssen".  Es  wird  vielmehr  notwendig  sein,  nach  der  gründ- 
lichen Erkenntnis  des  Lehrbestandes  der  einzelnen  Schriften  und 
der  sicheren  äusseren  Daten  ihrer  Zeitfolge,  sich,  gestützt  auf  die 
allgemeine  Lage  der  Probleme  der  Zeit  und   die  Andeutungen  des 

Archiv  f.  Oescliichte  der  Pliilosopliie.     II.  "■' 


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n 


310  Benno  Erdmaiin. 

Philosophen  sowie  die  sorgfältig  geprüften  Notizen  der  Biographen 
u.  s.  w..  eine  nicht  minder  gründliche  Kenntniss  der  einzelwissen- 
schaftlichen Forschungen  und  philosophischen  Lehrmeinungen  an- 
zueignen, die  als  Fermente  der  Entwicklung  in  Frage  kommen 
können.  AVer  so  ausgerüstet  die  Konstruktion  der  Entwicklung; 
beginnt,  wird  daran  festhalten  müssen,  dass  fremdes  Denken  für 
das  eigene  nur  befruchtend  wirkt,  wenn  dieses  in  selbständiger  Ent- 
wicklung hinreichend  gereift  ist,  die  Probleme,  die  jenes  zuführt, 
sich  zu  assimiliren,  wenn  es  also  in  jenen  durch  eigenes  Bedürfnisi 
geweckte  Fragen  wiedererkennt.  Er  wird  also  gewiss  nicht  immeri 
sogleich  an  fremden  Einflass  denken.  Er  wird  solchen  sogar  of 
abzulehnen  Anlass  finden,  wenn  er  beachtet,  wie  die  Notwendig- 
keit des  Denkens  von  verwandten  Voraussetzungen  zu  ähnlichen 
Ergebnissen  führt,  wie  solche  Voraussetzungen  ferner  aus  der  in- 
tellektuellen, moralischen,  religiösen,  sozialen  und  politischen 
l)ilduug  der  Zeit  vielen  gleichzeitig  und  unabhängig  von  einander 
zufliessen.  Je  grössere  geistige  Kraft  ein  Denker  hat.  Um  so  mehr 
wird  das  Beste,  was  er  besitzt,  sein  eigen  sein.  Mit  skeptischer 
Vorsicht  aber  gehört  es  sich  den  Gründen  der  Fortbildung  gegen- 
über zu  stehen,  die  man  in  der  eigenen  Entwicklung  des  Philoso- 
phen finden  kann.  Die  Gedanken  eines  Philosophen  werden  in 
dem  Nachdenken  seiner  Interpreten  ja  um  so  biegsamer,  je  reichere 
historische  Einsicht  und  je  grössere  dialektische  Gewandtheit  dem 
letzteren  eigen  ist.  Die  Geschichtskonstruktionen  Hegels  und  seinei 
Nachfolger  auf  historischem  Gebiet  haben  deutlich  und  unerfreu- 
lich genug  gezeigt,  was  alles  auf  solchem  \Vege  gefunden  werden 
kann.  Der  historische  Zufall  spielt  überdies  auch  hier  eine, 
wenngleich  bescheidene  Rolle.  Auch  Spinoza  sind,  ähnlich  wie 
Malebranche,  Descartes'  Schriften  nach  Colerus'  Bericht  „iri  die 
Hände  gefallen".  Nur  ist  die  Bedeutung  dieser  Zufälle  gering, 
weil  sie  keine  AMrkung  ausüben,  wo  die  erwähnten  Vorbedingungen 
fehlen.  Endlich  wird  man  bei  solcher  Arbeit  der  überall  sich  auf- 
drängenden Versuchung  widerstehen  müssen,  diese  Entwicklung  in 
ihren  psychologischen  Einzelheiten  konstruiren  zu  wollen.  Es  ist 
eine  meist  unbewusst  verlaufende  Arbeit,  die  in  solchen  Fällen  der 
Abhängigkeit  vor  sich  gegangen  ist.     Schon  deshalb  ist  es  vergeh- 


Jahresbericht  über  die  neuere  Philosophie  bis  auf  Kant  für  1887.     311 

lieh,  die  Fäden  der  Anknüpfung  vollständig  entwirren  und  einzeln 
aufspannen  zu  wollen,  ganz  abgesehen  davon,  wie  wenig  Hilfe  uns 
die  Bruchteile  der  systematischen  Verknüpfung  der  Gedanken  in 
den  Schriften  eines  Philosophen  direktes  Material  für  ihren  Ur- 
sprung an  die  Hand  geben.  Zeller  hat  mit  treffenden  Worten  in 
der  einleitenden  Abhandlung  zu  dieser  Zeitschrift  (I  7)  auf  solche 
Gefahren  hingewiesen.  Auch  Busse  hat  sich  jener  Versuchung  in 
seiner  Diskussion  der  Cogitata  nicht  überall  erwehrt. 


3.  Gaul,  K.  Die  Staatstheorie  von  Hobbes  und  Spinoza  nach 
ihren  Schriften  Leviathan  und  tractatus  politicus  verglichen. 
(Beilage  zum  Jahresbericht  der  Grossherz.  Realschule  zu 
Alsfeld.) 
Über  das  Verhältnis  der  Staatslehre  Spinoza's  zu  der  Hobbes' 
sind  mehrere  zum  Teil  gründliche  Abhandlungen  von  Sigwart, 
Hartenstein,  Dessauer  und  Gaspary  geschrieben  worden.  Ausser- 
dem ist  in  zahlreichen  Darstellungen  der  Geschichte  der  Philoso- 
phie und  des  Staatsrechtes  auf  dasselbe  hingewiesen  worden.  Der 
Verf.  der  vorliegenden  Schrift  geht  in  keinem  Punkte  über  seine  Vor- 
gänger hinaus;  ja  er  bleibt  schon  darum  hinter  ihnen  zurück,  weil 
er  nicht  alle  in  Betracht  kommenden  Schriften  der  beiden  Denker 
berücksichtigt,  sondern  sich  auf  den  Leviathan  und  den  Tractatus  poli- 
ticus beschränkt.  Man  kann  auch  nicht  sagen,  dass  diese  Abhandlung 
tiefer  in  den  Geist  der  besprochenen  Lehren  einführe  oder  das 
Einzelne  genauer  erörtere,  als  es  früher  geschehen  ist :  ein  wissen- 
schaftliches Bedürfnis  für  die  Abfassung  dieser  Schrift,  die  nur 
Bekanntes  zusammenstellt  und  Wichtiges  übergeht,  lag  also  nicht 
vor.  Zum  Erweise  des  letzten  Punktes  sei  darauf  hingewiesen, 
dass  das  Verhältnis  des  Staates  zu  Kirche,  Religion  und  W^issen- 
Schaft,  wie  Spinoza  und  Hobbes  es  fassen,  kaum  gestreift  wird, 
die  wichtigsten  Differenzp unkte  zwischen  den  beiden  Denkern  aber 
gänzlich  übergangen  worden  sind.  —  Erwähnenswert  sind  viel- 
^M  leicht  die  Bemerkungen  des  Verf.  (S.  9  und  14)  über  die  richtige 
Übersetzung  von  cioitas,  familia,  pax  und  Deus  bei  Spinoza.  Ci- 
vitas  ist  nach  Gaul  richtiger  mit  'Bürgerschaft'  als  mit  'Staat'  zu 
übersetzen  *  famüia   eine    viel   weitere   Bedeutung    zu    geben    als 

21* 


'.« 


312 


Benno  Krdmann, 


'Familie",    paw    im  Sinne   \ on  foechia   zu   nehmen  und   Deus    rnitj 
'Natur"  7Ai  übersetzen.    Das  aber  kann  nur  für  wenige  Stellen  zu-j 
gestanden  werden;   im  allgemeinen   werden  die  Worte  in  gewöhn- 
licher Weise  übersetzt  werden  müssen.     So  ist  7x7a;  der  aus  einemi 
foedus  hervorgehende  oder    ohne  ein   solches    vorhandene  Zustand 
des  Friedens.     Und   trotz    der   Gleichung    Deus   sive  natura   deckt  j 
sich  der  spinozistische  Begriff  Deus  sowenig  mit  'Natur',    wie  rnitj 
dem    in    der    religiösen    und    theologischen    Tradition    gegebenen 
Gottesbegriffe.     Denn  natürlich    entspricht  Deus   bei  Spinoza,    wiej 
in  der  Scholastik,  der  natura  naturalis,  nicht  der  n.  naturata.  dem 
Inbegriffe   aller  aus  Gott  hervorgehenden  Dinge,   an   die   wir  doch 
denken,  wenn  wir  von 'Natur' sprechen.    Der  Verf.  hat  eben  nicht 
bedacht,   dass  es   keinen  originellen  Denker  giebt,  der  den  vorge- 
fundenen \Vorten    nicht    vielfach    neue   Begriffsmomente   eingefügt 
hätte. 


4.  ScHNKiDER,  Fk.     Die  Psychologie   des  Spinoza  unter  besonderer 
Bezugnahme  auf  Cartesius  (Progr.  des  Stadt.  Evangel.  Gym- 
nasiums zu  AA'aldenburg).     16.  S.    4'\ 
Dasselbe,     was    von    der    Abhandlung    Gauls    gesagt    werden 
musste,  gilt  auch  von  der  Schneiders.    Sie  zeigt  in  keinem  Punkte  1 
einen  Fortschritt  den  zahlreichen  früheren  Bearbeitungen  desselben! 
Themas  gegenüber,  ist  daher  für  die  Erkenntnis  des  Spinozistischen 
Systems  ohne  Bedeutung.    Auf  etwa  vier  Seiten  wird  das  Verhiiltnisi 
von  Körper  und  Geist  und  die  Erkenntnislehre,  auf  den  folgendem 
die  Affectenlehre  —  im  Ansch'.uss  an  Spinozas  Darstellung  in  deri 
F^thik  und   mit  Berücksichtigung  verwandter  Cartesianischer  Sätze! 
entwickelt:    schon  hieraus  ist  ersichtlich,    dass  wir  es  hier  nichi 
mit  einer  gründlichen  Darstellung  der  spinozistischen   Psychologie 
zu   thun   haben.     Ausserdem  sind   mancherlei  Verstösse   nicht  ver-' 
mieden  worden.     Es  wird  nicht  bedacht,  dass  Descartes  und  Spinozaj 
oft  aus  einer  gemeinsamen  Quelle  geschöpft  haben:    blosse  Aehn^ 
lichkeit  der  Worte  gilt  dem  Verf.  bisweilen  für  Verwandtschaft  der 
(iedanken:  das  Eigentümliche  der  Spinozistischen  Lehre  im  Gegen- 
satz   zu    modernen    psychologischen    und    ethischen  Anschauungen 
wird  selten  hervorgehoben.     Und    wo    dies  geschieht,    zeigen    siclij 


Jaliresbeiicht  über  die  neuere  Philosophie  bis  auf  Kaut  für  1887.     313 

hedenkliche  Voraussetzungen.  So  Avird  S.  7  gegen  Spinoza  eine 
sehr  disputable  Lehre  einiger  neueren  Psychologen  als  unzweifel- 
hafte Wahrheit  geltend  gemacht.  „Die  Begierde,  so  heisst  es  da- 
selbst, ist  die  gemeinsame  Grundlage,  auf  welcher  die  Freude  und 
die  Traurigkeit  entstehen  kann;  das  Begehren  ist  .  .  .  allgemeines 
Lebensprincip."  S.  8  heisst  es:  Keine  Freude  ist  bei  vernünftigen 
Menschen  denkbar,  ohne  von  der  Vorstellung  der  äusseren  Ursache 
begleitet  zu  sein  —  als  ob  es  kein  Lebensgefühl,  keine  Selbstliebe 
gäbe,  kein  aus  dem  Inneren  selbst  hervorgehendes  Gefühl  der  Lust 
und  der  Freude.  S.  8  und  14  wird  das  i)er  accidens  in  der  eth,  IJI 
pr.  15  mit  „durch  einen  Zufall"  übersetzt,  während  es  im  Gegen- 
satz zu  per  se  gesagt  ist,  also  die  „nicht  wesentliche,  indirekte  Ur- 
sache" bezeichnet,  wie  Camerer  (die  Lehre  Spinozas  S.  185)  über- 
setzt hat.  Falsch  wird  S.  10  consensus  morsus  mit  „Gewissens- 
bisse" übersetzt.  Das  Wort  ist  von  Spinoza  vielleicht  schlecht 
gewählt,  es  bezeichnet  aber  nur  „nagenden  Aerger",  wie  ebenfalls 
schon  Camerer  richtig  erkannt  hat  (S.  193).  Wenn  ferner  der  Verf. 
S.  8  tadelnd  hervorhebt,  dass  Sp.  den  Begriff  der  Vereinigung  bei  der 
[Erklärung  der  Liebe  hätte  verwerten  müssen,  so  hätte  hinzugefügt 
werden  sollen,  dass  Spinoza  diese  Vereinigung  als  notwendige  Folge- 
erscheinung der  Liebe  sehr  wohl  kennt  (S.  eth.  III  pr.  13  schol.); 
die  Erklärung  zu  affect.  defin.  6  weicht  nur  scheinbar  ab. 


5.  Nen-itescu,  Jüan.  Die  Affectenlehre  Spinozas.  1.  D.  Leipzig 
130  S.  8 ". 

Ausführlicher  und  eingehender  als  Schneider  erörtert  Nenitescu 
die  Affectenlehre  Spinozas  —  keineswegs  aber  gründlicher.  Im 
Gegenteil.  Die  vorliegende  Schrift  giebt  —  soweit  Ref.  sie  kennen 
gelernt  hat  —  keine  neuen  Aufschlüsse  über  Spinozas  Lehre;  sie 
lässt  richtige  Erklärungen  der  Vorgänger  unbeachtet;  sie  führt  den 
Leser  durch  zahlreiche  Missverständnisse  spinozistischer  Gedanken 
irre.  Hierbei  sollen  die  vielen  sprachlichen  Wunderlichkeiten  dem 
Verfasser,  dessen  Muttersprache  nicht  die  deutsche  ist,  nicht  zum 
Vorwurf  gemacht  werden. 

Selten  hat  der  Verf.  auf  die  Beziehungen  Rücksicht  genommen, 
die  zwischen  Spinoza  und  seinen  Vorgängern  bestehen.    Descartes' 


3^4  Benno  Erd mann, 

Lehre  wird  allerdings  bisweilen  zur  Vergleichung  benutzt;  doch  ist 
das  von  Anderen  und  oft  in  viel  gründlicherer  Weise  geschehen. 
Dass  auch  Hobbes'  Affectenlehre  nicht  ohne  tiefgehende  Einwirkung 
auf  Spinoza  geblieben  ist,  scheint  dem  Verf.  —  wie  anderen  Ge- 
lehrten —  gänzlich  entgangen  zu  sein.  Man  vergleiche  aber  mit  be- 
kannten Sätzen  Spinozas  Hobbes  Lehre  von  den  Grundaffecten  (opp. 
lat.  ed.  Molesworth  I  p.  334),  die  Erklärungen  zahlreicher  Affecte, 
wie  der  Liebe  und  des  Hasses,  der  Freude  und  des  Leides,  der 
Furcht  und  Hoffnung  (wks.  IV  p.  31  opp.  1  p.  333.  H  p.  104.  HI 
p.  41),  die  Auffassung  der  Begriffe  gut  und  schlecht  (opp.  II  p.  95f. 
III  p.  42 f.),  der  Freiheit  u.  A.  —  Wenig  entschädigt  uns  der  Verf. 
durch  seine  Bemerkungen  über  Spinozas  Verhältniss  zur  Kabbala 
(S.  26.  42.  105.  120  u.  s.).  Es  ist  begreiflich,  dass  der  gelehrte, 
aber  einseitig  gebildete  J.  Mises  an  einen  Einfluss  der  kabbalistischen 
Mystik  auf  Spinoza  glauben  konnte  und  dass  Verf.,  der  wohl  kein 
selbständiges  Urteil  über  Kabbala  hat,  diesen  Glauben  teilt.  Weniger 
begreiflich  ist  freilich,  dass  auch  Schaarschmidt,  der  kundige  und 
vielseitige  Darsteller  der  spinozistischen  Lehre  sich  durch  scheinbare 
Verwandtschaft  hat  täuschen  lassen,  trotz  Spinozas  bekannter,  der- 
ber Zurückweisung  solchen  Zusammenhanges  (tr.  theol.  pol.  IX,  34) 
und  trotz  der  offen  liegenden  Thatsache,  dass  lediglich  die  in  die 
Kabbala  eingedrungenen  neuplatonischen  Gedanken,  welche  Spinoza 
aus  anderen  Quellen  kannte,  jenen  Schein  erzeugt  haben. 

Ein  weiteres  Eingehen  auf  den  Inhalt  der  Schrift  erscheint  über- 
flüssig; doch  sei  ein  Theil  der  zahlreichen  Irrthümer  zur  Begründung 
des  ausgesprochenen  Tadels  hervorgehoben.  S.  3  wird  das  Princip 
der  Selbsterhaltung  schon  darin  gefunden,  dass  Gott  allein  die  causa 
essendi  der  Dinge  ist.  —  Das.  heisst  es  „Gott  handelt  nur  aus  der 
Notwendigkeit  seiner  Natur,  daher  ist  er  eine  freie  Ursache.  Spinoza 
neigt  also  der  mechanischen  Weltanschauung  zu".  S.  8:  „Arnold 
Geulincx  hielt  an  dem  Cartesianischen  Gedanken  fest,  dass 
„die  Menschen  Modi  Gottes  sind".  —  S.  19  lesen  wir:  „Spinoza 
erkennt  eine  zweifache  psychische  Thätigkeit,  von  denen  die  eine 
sich  in  den  Ideen  kundgiebt,  unter  denen  die  adäquaten  von  den 
inadäquaten  zu  unterscheiden  sind,  die  andre  sich  durch  die  Affecte 
ausdrückt".     Die  wahre  spinozistische  Lehre,  die  u.  A.  aus  eth.  H 


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Jahresbericlit  über  die  neuere  Philosophie  bis  auf  Kant  für  1887.     315 


f'k 


ii  pr.  7,  pr.  49  mit  dem  coroll.,  111  pr.  2.  3  sich  ergiebt  und  der  ax.  3 
des  zweiteil  Theiles  keineswegs  widerspriciit,  spricht  der  Verf. 
S.  20.  32  und  36  aus.  —  S.  22  A.  .5  wird  die  Selbsterhaltung 
der  endlichen  Dinge  aus  dem  Begriff  der  causa  sui  abgeleitet. 
—  S.  26  A.  3  behauptet  der  Verf.  „durch  den  Eintritt  in  die  Zeit- 
lichkeit wird  die  Essenz  negirt".  —  S.  45  lesen  wir:  „nur  ver- 
mittelst der  Ideen  haben  die  Steigerung  und  die  Niederdrückung 
unserer  Actions-  und  Daseinsmacht,  wie  auch  die  direkte  Bethäti- 
gung  unseres  Beharrungsstrebens  einen  Inhalt",  als  ob  es  nach 
Spinoza  nicht  auch  eine  Steigerung  und  Verringerung  der  Macht 
unseres  Körpers  gäbe.  —  S.  51  heisst  es:  „die  Begierde  ist  das 
bewusste  Verlangen  d.  h.  das  rein  seelische  Correlat  des  Verlan- 
gens" ,  als  ob  Spinoza  nicht  ausdrücklich  lehrte  (eth.  111  pr.  9 
schol.),  hie  conatus,  quum  ad  mentem  solam  refertur.  voluntas  ap- 
pellatur.  —  S.  55  heissen  „die  traurigen  Gefühle  der  Reue,  der 
Schande,  des  Kleinmuts  Arten  von  Hass".  —  S.  58  wird  causa  per 
accidms  (eth.  111  pr.  15)  mit  zufälliger  (statt  „indirekter")  Ursache 
übersetzt.  Diese  Proben  einer  nicht  eben  gründlichen  Kenntniss 
des  vom  Verf.  behandelten  Themas  werden  wohl  geniigen. 


J- 


6.  Bergmann,  .1.  Spinoza,  Vortrag  gehalten  im  Goethehause  in 
Frankfurt  .....  (Philos.  Mtsh.  XXIII  S.  129-164). 
Dieser  Vortrag  zur  Feier  des  Geburtstages  Goethes  im  Goethe- 
hause gehalten,  daher  auch  von  der  Bedeutung,  die  Spinoza  für 
Goethe  gehabt  hat,  ausgehend  und  für  die  grosse  Gemeinde  der 
Goethefreunde  zunächst  bestimmt,  will  nicht  streng  gelehrter  For- 
schung dienen,  ist  aber  aus  gründlichster  Kenntniss  der  Lehre 
Spinozas  hervorgegangen  und  enthält  manchen  werthvollen  Beitrag 
zur  Würdigung  derselben.  Jeden  Kenner  Spinozas  wird  interessiren, 
was  Bergmann  über  den  Pantheismus,  über  den  Begriff  der  Indivi- 
dualität und  Persönlichkeit,  sowie  über  den  Determinismus  Spinozas 
ausführt.  So  sei  auf  diese,  von  wahrer  Verehrung  Goethes  und 
Spinozas  eingegebene,  in  schöner  und  durchsichtig  klarer  Sprache 
geschriebene  Rede  an  dieser  Stelle  besonders  aufmerksam  ge- 
macht. 


316  Benno  Er d mann, 

Locke 

1.  Rakfel,    J.      Die    Voraussetzungen,    welche    den    Empirismus 

Locke's,    Berkeley's    und  Hume's    zum  Idealismus    führten. 

44  S.    8".    L  D.    Berlin,  Mayer  und  Müller. 
Die  Arbeit   bekundet  selbständige  Kenntnisnahme   der  Haupt- 
schriften  der  drei  Philosophen   und  klares  Verständnis   der  behan- 
delten Lehren.     Neues  bietet  sie  nicht. 

2.  Martinak,   Ed.     Zur  Logik  Locke's.     John  Locke's  Lehre  von 

den  Vorstellungen.    35  S.    8°.   Progr.  Leoben,  Graz,  Leusch- 

ner  und  Rubensky. 
Eine  Charakteristik  der  logischen  Lehren  Lockes  ist  eine  dan- 
kenswerte Aufgabe;  denn  dieselben  haben  für  den  Empirismus  des 
siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhunderts  typische  Bedeutung. 
Leicht  zu  lösen  allerdings  ist  diese  Aufgabe  nicht.  Denn  die  Ma- 
terialien für  dieselbe  liegen  nur  zum  kleineren  Teil  in  den  verein- 
zelten kritischen  Erörterungen  gegen  die  Schullogik  im  Essay  und 
den  Briefen  an  den  Bischof  von  Worcester  zu  Tage;  die  meisten 
müssen  aus  den  psychologischen  und  erkenntnistheoretischen  Aus- 
führungen des  Philosophen,  besonders  aus  dem  dritten  und  dem 
wichtigen,  oft  unbillig  vernachlässigten  vierten  Buch  des  Haupt- 
werks ausgeschieden  werden.  Der  historischen  Würdigung  fehlt 
überdies,  soweit  der  Bestand  der  scholastischen  Logik  Englands  um 
die  beiden  ersten  Drittel  des  17.  Jahrhunderts  in  Betracht  kommt, 
vorerst  ein  fester  Untergrund. 

Die  letzteren  Beziehungen  sowie  diejenigen  zur  Cartesianischen 
Logik  und  zu  den  logischen  Lehren  von  Francis  Bacon  und  von 
Hobbes,  die  das  Locke  Eigentümliche  erst  deutlich  hervortreten 
Hesse,  hat  Martinak  nicht  in  den  Bereich  seiner  Untersuchungen 
gezogen.  Er  beschränkt  sich  auf  eine,  übrigens  sorgsame  und  durch- 
sichtige Zusammenstellung  der  Lehren  Lockes  über  ideas,  ohne 
jedoch  die  Grenzen  des  Logischen  streng  festzuhalten.  Neues 
kommt  dabei  nicht  eigentlich  zu  Tage,  wennschon  die  kritischen 
Bemerkungen  am  Schluss  der  Abhandlung  auf  manche  unver- 
kennbare Mängel  der  Darstellung  des  Philosophen  aufmerksam 
machen. 


Jahresl«ericlit  über  die  neuere  Philosophie  bis  auf  Kant  für  1887.      317 

3.     GwANKscuL,  J.     Versuch  einer  zusammenfassenden  Darstellung 
der  Pädagogischen  Ansichten  J.  Locke's  in  ihrem  Zusammen- 
hange mit  seinem  philosophischen  System.    84  S.    8".    I.  D. 
Berlin. 
Der  Verf.  hat  die  pädagogischen  Ansichten  des  Philosophen  im 
Zusammenhang    mit    den    psychologischen  Lehren  sowie  den   ethi- 
schen und  religiösen  Ueberzeugungen  desselben  sorgsam  zusammen- 
gestellt.    Nur  die  allerdings  nicht  seltenen,  und  für  den  Ursprung 
der    pädagogischen  Lehrmeinungen  Locke's    lehrreichen  Daten    aus 
dem  Briefwechsel  des  Philosophen  sind  unbenutzt  geblieben.    Neues 
zur  Geschichte  der  Philosophie  zu  gewinnen  lag  nicht  im  Plane  der 
Arbeit. 


La  Rochefoucauld 
ViNTLEK,  H.  V.    Die  „Maximen"  des  Herzogs  von  La  Rochefoucauld. 
Eine  literarhistorische  Skizze.     (S.  A.   aus  dem  Programm 
der  K.  K.  Oberrealschule  Innsbruck.)    32  S.    8". 

Nach  dem  eigenen  Urteil  des  Verf.  „erhebt"  die  Abhandlung 
„keinen  Anspruch  darauf,  Neues  zu  bieten".  Aber  sie  bietet,  was 
sie  verspricht,  eine  aus  selbständiger  Kenntnisnahme  entworfene 
Skizze. 

Dabei  sei  erwähnt,  dass  Larochefoucauld,  dieser  feinsinnige, 
glänzende  und  nicht  einflusslose  Vertreter  einer  rein  egoistischen 
Auffassung  der  menschlichen  Handlungen,  in  Darstellungen  der  Ge- 
schichte der  neueren  Philosophie,  wie  sie  Ueberweg-Heinze  und 
Falckenberg  geben,  vielleicht  nicht  bloss  mit  einem  Citat  der  ersten 
Ausgabe  der  Reflexions  erwähnt  werden  sollte.  Es  möchte  wol  die 
reiche  Sammlung  der  Oeuvres  de  La  Rochefoucauld  von  Gilbert  und 
Gourdault,  3  vol.  Paris  1868  —  83  zu  nennen,  und  wenigstens  mit 
einem  Worte  auf  die  Verschiedenheiten  der  fünf  bei  Lebzeiten  des 
Verf.'s  erschienenen  Auflagen  hinzuweisen  sein. 

V 

^^  Leibniz 

Bereits  im  vorigen  Jahresberichte  ist  als  wünschenswert  be- 
zeichnet worden,  dass  den  historischen  Beziehungen  Leibnizens  zu 
seinen  Vorgängern  und  Zeitgenossen  monographische  Untersuchungen 


318  Benno  Erdmann, 

zu  Teil  werden.  Die  Gefahr,  der  wenige  solcher  einseitigen  Ar- 
beiten entgehen,  die  Einwirkungen  auf  die  Entwicklung  der  Pro- 
bleme, die  ilireu  Gegenstand  bilden,  zu  überschätzen,  wird  später, 
wenn  aus  dem  Vollen  geschöpfte  Zusammenfassungen  möglich  sind, 
unschwer  überwunden.  Ausserdem  pflegt  ihr  der  Leser  niclit  so 
sehr  als  der  Autor  zu  verfallen,  während  der  Nebel,  der  über  Ge- 
genständen liegen  bleibt,  die  im  Einzelnen  unzureichend  erforscht 
sind,  beide  gleich  sehr  verwirrt. 

Es  ist  deshalb  erfreulich,  berichten  zu  können,  dass  zwei  Ar- 
beiten erschienen  sind,  die  solchen  speziellen  Abhängigkeitsbe- 
ziehungen nachgehen,  eine  erst  im  Jahresbericht  88  vorzulegende, 
dann  vielleicht  schon  in  vollständiger  Ausarbeitung  vorhandene 
Monographie  über  Leibniz  und  Spinoza  (von  L.  Stein),  und  eine 
im  Nachstehenden  zu  besprechende  Abhandlung  von 

1.    Tönnies,  Ferd.     Leibnitz  und  Hobbes  (Philos.  Monatshefte  her. 
v.  Natorp  und  Schaarschmidt.     Bd.  XXIII  S.  557—573). 
Der  Aufsatz  bringt,  in  sorgfältig  nach  dem  Original  (Brit.  Mus.) 
revidirtem  Text,   den  Brief  Leibnizens  an  Hobbes  vom  13/23  Juli 
1670    zum  Abdruck.     Guhrauers  Abschrift    ist  demnach,    da    alle, 
zum  Teil  sinnentstellende  Textfehler  in  Gerhardts  Ausgabe  (I  82—85) 
sich  schon  bei  ihm  finden,  erstaunlich  ungenau.     T.  hat  es  seinen 
Lesern  überlassen,  den  überlieferten  Wortlaut  nach  dem  seinen  zu 
verbessern.    Ich  merke  deshalb,  und  zum  Belege  für  die  Bemerkung 
S.  324,  jene  Fehler  hier  an.     Es  muss  bei  Gerhardt  heisseu: 
S.  82  Z.    3    impestive  statt  impestivum 

Z.    8    addi  posse.   Definitionibus  statt  accedere  posse,  def. 

S.  83  Z.    1    abutantur  statt  abutuntur 

Z.    3    sensibilibus  statt  sensilibus 

Z.  12    Aguoscis  enim  statt  Agnoso  (Gerh.;  Druckfehler  für 

Agnosco  bei  Guhr.) 
Z.  13    multos  statt  multosque 
Z.  14    neque  statt  nee 
Z.  18    in  iis  mihi  lucem  statt  in  iis  lucem 
Z.  21    Tuaque  statt  Tuaeque 
S.  84  Z.  11    aut  statt  autem 


s. 

84  Z. 

11 

Z. 

12 

z. 

17 

z. 

24 

z. 

27 

z. 

28 

s. 

85  Z. 

2 

z. 

0 

z. 

23 

Jahresbericht  über  die  neuere  Philosophie  bis  auf  Kant  für  1887.     319 

et  ita  statt  ita 

impeditur  statt  impeditus 

incidentiae  statt  incidentia 

ea  etiam  statt  etiam 

novare  statt  notare 

conatu  statt  conatis 

captum  statt  coeptum 

oppletus  statt  appletus 

at  statt  et. 

In  den  „Erläuterungen"  versucht  T.  zu  beweisen,  dass  Leibniz 
„in  der  ersten  und  bildsamsten  Phase  seines  Denkens  vielleicht  die 
mächtigste  Einwirkung  durch  die  Schriften  des  Hobbes  erfahren 
hat".  Wie  in  seinen  früheren  Arbeiten  über  Hobbes  und  Spinoza 
zeigt  sich  Tönnies  auch  hier  gründlich  orientirt,  scharfsinnig  und 
voll  historischeu  Takts,  üeberzeugeud  jedoch  sind  seine  Beweis- 
gründe für  die  Mächtigkeit  des  Einflusses,  die  er  wahrscheinlich 
machen  will,  nicht.  Er  ist  geneigt,  denselben  zu  überschätzen. 
Wenn  Leibniz  als  Vertreter  der  neueren  Philosophie  gegenüber 
Descartes  in  einem  Athem  den  Verulamius,  Gassendus,  Digbaeus, 
Cornelius  ab  Hoghelande  nennen  kann,  so  ist  es  doch  bedenklich, 
anzunehmen,  dass  „es  Aveder  ihm  noch  irgend  jemandem  ernst  sein 
konnte",  diese  andern  Hobbes  (und  Descartes)  gleich  zu  setzen, 
und  unsicher,  die  Frage  für  sich  sprechen  zu  lassen:  „wer  konnte 
ihm"  von  jenen  oben  aufgezählten,  „einen  grösseren  Eindruck  ge- 
macht haben  als  Hobbes"?  Das  Urteil  der  Mitlebenden  oder  wenig 
Späteren  steht,  auch  wenn  es  von  berufenster  Seite  stammt,  unter 
dem  Einfluss  der  Blendung,  den  die  zu  grosse  Nähe  erzeugt.  Die 
Auslese  der  Geschichte  hat  noch  nicht  dazu  geführt,  das  persön- 
liche Element  in  demselben  bei  Seite  zu  werfen.  Leibniz  speciell 
hat  in  seiner  zur  Anerkennung  bereiten  Weise  über  viele  seiner 
Zeitgenossen  Urteile  gefällt,  welche  die  Nachwelt  keinen  Grund 
mehr  findet,  für  zutreffend  zu  halten.  Ueberdies  ist  es  nicht  ganz 
richtig  anzunehmen,  dass  derselbe  „wenigstens  keine  oder  geringe 
Spuren  ihres  Einflusses  zeigt".  Auf  Baco  und  Pierre  Gassend  hat 
Leibniz  selbst,  was  Tönnies  unberücksichtigt  lässt,  ausdrücklich  als 
früh  von  ihm  geschätzte  Autoren  hingewiesen.    Die  Arbeit  Seivers, 


320  Benno  Eid mann 


die  Tönnies"  Beachtung  entgangen  ist,  hat  sogar  einen  nicht  ge- 
ringen Einfluss  Gassendis  auf  Leibniz  in  der  Zeit  seiner  Hinneigung 
zum  Atomisraus  wahrscheinlich  gemacht  (s.  Archiv  I  118),  die  doch 
bei  Hobbes  keine  Nahrung  gefunden  haben  kann.  Die  Einwir- 
kungen der  beiden  anderen  oben  Genannten  sind  allerdings  wol 
nur  geringfügige  gewesen.  Es  ist  sodann  zwar  eine  gewiss  richtige 
Erwägung,  „dass  eine  Autorität,  in  dem  einen  Gebiet  feststehend, 
(wie  Hobbes  im  Naturrecht)  auf  anderen  (nämlich  dem  mechani- 
schen) .  .  .  desto  leichtere  Annahme  findet".  Aber  Tönnies  wird 
selbst  nicht  geneigt  sein,  solcher  Möglichkeit  viel  Gewicht  beizu- 
legen. Ebenso  wenig  ist  ausreichend,  was  Leibniz  in  seinen  Briefen 
an  Hobbes  sagt.  L.eibniz  war  ja  bei  solchen  Gelegenheiten  etwas 
unbedenklich  in  seinem  Lob. 

Dennoch  hat  Tönnies  Recht,  für  Hobbes  mehr  Beachtung  in 
Rücksicht  auf  Leibniz'  Entwicklung  zu  fordern,  als  ihm  bisher  zu 
Teil  geworden  ist. 

Gänzlich  verloren  gegangen  ferner  war  die  Erkenntniss,  dass 
eine  oft  citirte  und  verschieden  fach  aufgefasste  Definition  der  Hypo- 
thesis  physica  von  1771:  Omne  corjms  est  mens  momentajiea ,  sed 
si?ie  recordatione,  wie  es  scheint,  einen  Hobbesischen  Gedanken- 
gang in  eine  mehr  kurze  als  deutliche  Formel  kleidet.  T.  bringt 
dankenswerter  Weise  in  Erinnerung,  dass  schon  C.  G.  Ludovici  in 
seinem  nützlichen  Sammelwerk  über  Leibniz  (1737)  von  Streit- 
schriften berichte,  die  jene,  vielleicht  auf  historischem  Zusammen- 
hang beruhende  Aehnlichkeit  in  den  Aeusserungen  beider  Philo- 
sophen am  Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts  hervorgerufen  hat. 

Tönnies"  geringschätzige  Auffassung  der  Leibnizischen  Meta- 
physik als  eines  „Hobbismus.  welcher  den  Spinozismus  in  sich  auf- 
genommen hat",  bedarf  speziellerer  Begründung,  um  diskutirbar  zu 
werden,  als  er  ihr  in  diesem  Aufsatz  hat  angedeihen  lassen. 

2.     Leibniz,    Gottfried  Wiliuci.m.      Die   philosophischen   Schriften, 
herausgegeben  von  C.J.Gerhardt.     HL  Band.    684  S.  4° 
Berlin,  Weidmann. 
Mit   dem  vorliegenden  dritten  Bande,    dem  Schlussbande  des  j 

Briefwechsels,    hat  die  sechsbändige  Gerhardtsche  Ausgabe,    zwölf J 


Jahresbericht  üher  die  neuere  Philosophie  bis  auf  Kant  für  1887.     321 


Jahre  lutcli  dem  Erscheinen  des  ersten  Bandes,  ihren  Abschluss  ge- 
funden. Geplant  ist  allerdings,  wie  es  scheint,  noch  ein  Ergän- 
zungsband. Znm  ersten  ^lale  liegen  die  philosophischen  Abhand- 
lungen und  Schriften,  sowie  die  meisten  der  Briefe,  welche  über 
philosophische  Gegenstände  handeln,  in  zusammenfassendem,  würdig 
ausgestattetem  Abdruck  vor.  Der  grossen  Dutens'schen  Sammlang 
fehlten  bekanntlich  ausser  zahlreichen  Briefen  und  nicht  wenigen 
teils  schon  früher,  teils  erst  später  erschienenen  Arbeiten  ans  dem 
Nachlass  die  kurz  vorher  veröffentlichten  Nouveaux  Essais.  Die 
für  ihre  Zeit  verdienstvolle,  handliche  Ausgabe  von  J.  E.  Erdmann 
litt  au  den  Mängeln,  die  bei  jeder  Auswahl  unvermeidlich  auf- 
treten. Von  den  Torsi  der  beiden  grossen  Gesamtausgaben,  die 
Pertz  (1843)  und  0.  Klopp  (1864)  begonnen  haben,  hat  der  erstere 
an  philosophischen  Werken  lediglich  einen,  allerdings  wertvollen 
Band  Briefwechsel,  der  letztere  gar  nichts  aufzuweisen. 

Bei  dieser  Sachlage  muss  das  erste  und  stärkste  Gefühl  der 
Leser  gegen  den  Herau.sgeber  das  des  Dankes  für  eine  grosse  und 
erfolgreiche  Arbeit  sein.  Ist  doch,  besonders  in  diesem  dritten 
Bande,  eine  reiche  Zahl  wertvoller  Briefe  zum  ersten  Mal  veröffent- 
licht, und  auch  an  Abhandlungen  manches  erst  jetzt  an  das  Tages- 
licht gekommen,  das  zur  Vervollständigung  des  historischen  Bildes  von 
dem  vielseitigen  Werden  und  Lehren  des  Philosophen  wertvolle  Bei- 
träge liefert.  Lässt  sich  doch  ferner  jetzt  schon  wahrnehmen,  dass 
die  Sammlum^  der  Erforschung  der  Leibnizischen  Philosophie  neue 
Antriebe  gegeben  hat. 

Die  schwierige,  niemals  rein  lösbare  Aufgabe,  die  dem  Her- 
ausgeber der  gesammelten  Werke  eines  Philosophen  vorliegt,  durch 
die  Reihenfolge  der  Abdrücke  die  Bruchstücke  für  die  historische 
Rekonstruktion  der  Entwicklung  und  des  Lehrbestandes  zu  geben, 
ist  bei  Leibniz  eine  ganz  besonders  verwickelte.  Wer  rein  sachlich 
ordnen  wollte,  müsste  den  Briefwechsel  fast  durchweg  grausam  zer- 
stückeln, und  besonders  in  den  schöpferischen  achtziger  und  neun- 
ziger Jahren  vieles  im  Zusammenhang  Gedachte  auseinander  reissen. 
Ebenso  wenig  kann  der  z.  B.  von  J.  E.  Erdmann  unternommene 
Versuch  bei  einer  Ausgabe  auch  nur  der  philosophischen  Schriften 
und  Briefe  gelinsen.  rein  die  Zeitfolge  entscheiden  zubissen.    Dazu 


322  Benno  Erdmann, 

kommt  die  besonders  beim  Briefwechsel  und  bei  den  mathemati- 
schen Abhandlungen  hervortretende  Schwierigkeit,  alles  Philoso- 
phische zum  Abdruck  zu  bringen,  und  doch  die  Ausgabe  durch 
Fremdartiges  nicht  zu  sehr  zu  belasten.  Ein  jeder  Herausgeben 
von  Leibniz'  philosophischen  Schriften  wird  daher  zuletzt  auf  den 
Takt  angewiesen  sein,  den  gründliche  Erkenntnis  des  sachlichen 
Zusammenhangs  der  Lehren  und  wolgeschulte  historische  Methode 
im  Gefolge  haben.  Eben  dadurch  aber  wird  derselbe  auch  den 
Kundigen  Anlass  bieten  zu  schelten.  Wird  er  doch  häufig,  wenn 
er  nicht  unnötig  Worte  machen  will,  nicht  einmal  in  der  Lagei 
sein,  sein  Verfahren  ausdrücklich  zu  rechtfertigen. 

Trotz  alledem  darf  Gerhardt  sicher  sein,  für  die  Trennung  des 
Briefwechsels  von  den  selbständigen  Werken,  den  Abhandlungen 
und  den  mannigfachen  Entwürfen  zu  l)eiden  letzteren  ungeteilten i 
Beifall  zu  finden.  Und  kleinlich  wäre  es  zu  tadeln,  dass  die  drei' 
Bände  Briefwechsel  die  erste  statt  die  zweite  Abteilung  bilden. 
Auch  für  den  nicht  kargen  Abdruck  von  Gegenbriefen  oder  Aus- 
zügen aus  solchen  kann  man  nur  dankbar  sein.  Bedauerlich,  aber 
durch  den  Umfang  der  Hannoverschen  Manuscriptsammlung  ent- 
schuldigt ist  es,  dass  speziell  der  dritte  Band  einige  Abdrücke  ent- 
hält, die  nicht  in  den  Briefwechsel  hineinpassen.  So  gehört  die 
Beilage  zu  den  Briefen  an  Bayle  (S.  28—38),  die  Gerhardt  ersti 
kürzlich  aufgefunden  hat,  der  kurze  Traktat  de  Dco  et  liomine 
(s.  Archiv  I  264)  in  Bd.  VI;  die  Beilagen  ferner  zu  den  Briefen 
an  Burnett,  die  beiden  Abhandlungen  S.  233 — 242,  hätten  ebenso 
wie  die  interessanten  Remarques  über  Shaftesburys  CJiaracteristics 
in  Bd.  V  ihre  Stelle  finden  müssen.  Andererseits  ist  mindestens 
zweifelhaft,  ob  es  gerechtfertigt  war,  aus  dem  Briefwechsel  mit 
Basnage  de  Beauval  in  Bd  HI  die  beiden  Briefe  herauszunehmen, 
die  in  Bd.  IV  unter  den  Philosophischen  Abhandlungen  abge- 
druckt sind. 

Zu  ähnlichen  Ausstellungen  entgegengesetzter  Richtung  geben 
die  drei  letzten  Bände  der  Ausgabe,  welche  die  Abhandlungen  u.  s.  w. 
enthalten,  mehrfach  Gelegenheit.  Ich  glaube  dieselben,  trotz  aller 
Vorbehalte  hinsichtlich  der  angedeuteten  Schwierigkeiten,  nicht  ver- 
schweigen zu  dürfen.     Gerhardt  hat  die  zweite  Abteilung  nach  den] 


Jahresbericht  über  die  neuere  Philosophie  bis  auf  Kant  für  1887.     323 

Rubriken  geordnet:  Hd.  IV:  1)  Philosophische  Schriften  (1663  bis 
1671);  2)  Leibniz  gegen  Descartes  und  den  Cartesiauismus  (1677 
bis  1702);  3)  Philosophische  Abhandlungen  (1684—1703).  Bd.  V: 
Leibniz  und  Locke;  Bd.  VI:  1)  Theodicee  und  Verwandtes ;  2)  Philo- 
sophische Abhandlungen  1702 — 1716.  Hier  wäre,  wie  mir  scheint, 
die  rein  historische  Ordnung  angezeigt  gewesen.  Nur  die  Schriften 
gegen  Locke  lassen  sich  leidlich  vereinigen.  Mit  Descartes  aber 
setzt  sich  Leibniz  so  vielfach  in  späteren  wie  in  früheren  Arbeiten 
als  den  von  Gerhardt  zusammengestellten  auseinander,  dass  hier 
keine  Teilung  ein  rechtes  Bild  geben  kann.  Ueberdies  aber  ent- 
halten last  alle  Abschnitte  dieser  zweiten  Abteilung  Briefe,  die  mit 
mehr  Recht  in  der  ersten  ständen.  Die  Ausgabe  wird  durch  dies 
Alles  einigermassen  unübersichtlich. 

Sehr  übersichtlich  kann  allerdings  bei  der  Vielgestaltigkeit  des 
Stoffes  eine  Ausgabe  der  philosophischen  Schriften  Leibuizens  über- 
haupt nicht  werden.  Gerhardt  hätte  deshalb  dem  vielen  Dankens- 
i^ werten,  das  er  geleistet  hat,  noch  Eines  hinzugefügt,  wenn  er  ein 
chronologisch  übersichtlich  geordnetes  Gesamtverzeichnis  der  Schriften 
und  der  Briefe  beigegeben  hätte.  Man  vermisst  ein  solches  um  so 
mehr,  als  man  jetzt  im  allgemeinen  darauf  angewiesen  ist,  sich  die 
Zeitdaten  für  die  Abhandlungen  u.  s.  w.  aus  den  Einleitungen  zu- 
sammen zu  suchen.  Vielleicht  gibt  der  geplante  Ergänzungsband 
solcher  Zusammenstellung  Raum. 

Die  Einleitungen  enthalten  wertvolle,  dem  Leser  unentbehr- 
liche historische  Notizen.  Weniger  reich  sind  sie  an  Orientierungen 
über  den  sachlichen  Inhalt  und  den  historischen  Zusammenhang 
der  von  Leibniz  behandelten  Probleme.  Was  Gerhardt  hier  bietet, 
ist  meist  zu  unvollständig,  um  Hilfe  zu  geben,  mehrfach  auch  über- 
flüssig, z.  B.  da,  wo  einfach  wichtigere  Stellen  der  unmittelbar  fol- 
genden Briefe  auch  in  ihnen  m  extenso  abgedruckt  werden. 

Ueber  den  Umfang,  in  dem  der  Herausgeber  aus  der  zerstreuten 
Schriftstellerei  des  Philosophen  das  für  die  Philosophie  Bedeutsame 
t  ausgewählt  hat,  lässt  sich  fast  nur  Gutes  sagen.  Leider  fordert  es 
j  die  unerfreuliche  Aufgabe  des  Berichterstatters,  das  Gute  mit  wenig 
Worten  abzutun,  mehr  dagegen  dem  zu  widmen,  was  er  zu  kriti- 
isiren   für  nötig  findet.     Die   mathematischen  Abhandlungen   Leib- 


324  Benno  Erdniann, 

nizens  enthalten  wie  bekannt  vielerlei  Ausführungen,  die  ebenso 
wol  für  seine  philosophischen  Lehrmeinungen  bedeutsam  sind.  Sie 
deshalb  ganz  abzudrucken,  wo  sie  dergleichen  aufweisen,  ist  unzu- 
lässig, Auszüge  aus  ihnen  zu  geben,  nicht  immer  ausführbar  und 
in  jedem  Fall  von  zweifelhaftem  Wert.  Es  bleibt  deshalb  nur 
übrig,  sie,  wie  Gerhardt  getan  hat,  im  wesentlichen  unberücksich- 
tigt zu  lassen,  oder  aber  au  geeigneter  Stelle  auf  sie  hinzuweisen. 
Sehr  erfreulich  jedoch  ist,  dass  derselbe  (Bd.  IV)  die  Hi/pofhesi$ 
physica,  und  zwar  vollständig,  abgedruckt  hat.  Sie  gehört  zweifellos 
in  die  Philosophischen  Schriften  hinein. 

Sehr  auffallend  ist  mir  geblieben,  dass  Gerhardt  Leibnizens 
Briefwechsel  mit  Clarke  nicht  aufgenommen  hat,  der  doch  zu  den 
wichtigsten  Dokumenten  seiner  Philosophie  gehört.  Um  so  auf- 
fallender, als  Gerhardt  in  seinem  Yorbericht  an  die  Berliner  Aka- 
demie vom  Januar  1886  (Sitzungsberichte  S.  21)  denselben  als  in 
Bd.  III  erscheinend  aufzählt.  Aeussere  Gründe,  die  wol  allein 
haben  bestimmend  sein  können,  durften  gegenüber  der  zwingenden 
Kraft  der  inneren  nicht  in  Betracht  kommen,  üie  Ausgabe  bleibt 
ohne  denselben  empfindlich  unvollständig!  Derselbe  ist  weniger 
zu  entbehren,  als  irgend  etwas,  was  in  Bd.  III  gedruckt  ist.  Hier 
müssen  der  Herausgeber  wie  der  Verleger  durch  einen  Ergänzungs- 
band Rat  schaffen. 

Dass  ein  so  umfassender,  grossenteils  handschriftlicher,  teilweis 
auch  auf  nachlässigen  früheren  Drucken  beruhender  Text,  der  kaum 
irgendwo  philologisch  durchgearbeitet  ist,  Anlass  zu  vielfachen  Aus- 
stellungen im  Einzelnen  gibt,  versteht  sich  von  selbst.  Wer  solche 
macht,  muss  festhalten,  wie  wenig  Dutens  und  noch  J.  E.  Erdmann 
ihren  Lesern  in  dieser  Hinsicht  geboten  haben.  Der  Fortschritt 
ist  im  ganzen  genommen  ein  nicht  unbeträchtlicher.  Allerdings 
aber  ist  hier  noch  genug  zu  tun  übrig  geblieben,  wennschon  nie- 
mand erwarten  darf,  durch  diese  Arbeit  die  sachliche  Erkenntnis 
nennenswert  zu  fördern.  Proben  solcher  ^iängel  hat  Natorp  schon 
vor  einigen  Jahren  in  einer  Recension  des  fünften  Bandes  (1882) 
mitgeteilt.  Andere  finden  sich  in  dem  vorstehenden  Teil  dieses 
Jahresberichts,  S.  318  f.  — 

Die  äussere  Ausstattung  der  Ausgabe,   der  die   Berliner  Aka- 


Jahresbericht  über  die  neuere  iPhüosoiihie  bis  auf  Kaut  für  1887.     325 

demie  von   Anfang  an   ihre  Unterstützung  hat  angedeihen  lassen, 
ist  musterhaft. 


Der   vorliegende    dritte   Band    enthält    reichlich   üngedrucktes, 
darunter  nicht  wenige  wertvolle  Briefe  neben  den  oben  erwähnten 
Abhandlungen.    Wertvolles  allerdings,  wie  zu  erwarten  war,  nichts 
mehr   in  dem  Sinne,   in  dem  noch  Grotefends  Ausgabe   der  Briefe 
zwischen  Leibniz,  Arnauld  und  dem  Landgrafen  Ernst  von  Hessen- 
Rheinfels   1846   (bei  Gerhardt  Bd.  II)    von   Bedeutung   war,    aber 
doch  an  ihrer  Stelle  lehrreiche  Variationen  der  Grundgedanken  der 
Monadologie,   Ergänzungen    zur  Ethik    u.  s.  w.      Es   kommen   zum 
Abdruck  die  Briefwechsel  mit  Huet,    Bayle,  Basnage   de  Beauval, 
Thomas  Burnett,  Lady  Masham,  Coste,  Jaquelot,  Hartsoeker,  Bour- 
guet.   Remond,   Hugony,  die  l)eiden  letzten  entgegen  der  oben  er- 
wähnten Ankündigung  von  1886  statt  des  Briefwechsels  mit  Clarke. 
Der  Briefwechsel  mit  Huet  enthält  nominell  sechs,  tatsächlich 
[fifll  sieben   Schreiben,   darunter  eines   von  Huet,    derjenige  mit  Bayle 
nach  Gerhardts  Zählung  zehn,  faktisch  zwölf,  unter  ihnen  zwei  von 
Bayle,  dazu  als  Beilagen  in  der  Einleitung  die  oben  erwähnte  Ab- 
handlung von   Leibniz,    und    unter  den   Briefen  eine  Abhandlung 
vom  Abbe  Catelan  (S.  40—42).    Xeu  sind  unter  den  letzteren  fünf 
Briefe.    Bisher  unveröffentlicht  sind  die  Briefe  an  und  von  Basnage 
de  Beauval,  nach  Gerhardts  Numerirung  vier  und  dreissig,  in  Wirk- 
lichkeit  sechs   und   dreissig,    fünfzehn  darunter  von  Basnage.     Ich 
erwähne  diese  Einzelheiten,   weil  Gerhardt  es  seinen  Lesern  über-- 
lassen  hat,  sie  sich  zusammenzustellen.    Zu  fragen  bleibt,  um  nur 
noch  Weniges  herauszuheben,  warum  auch  zwei  Briefe  von  Leibniz 
an  Basnage  (XIV  u.  XXVIl)  nur   „im  Auszuge"  abgedruckt  sind. 
In  der  Vorrede  zu  Bd.  I  hat  Gerhardt  ausdrücklich  erklärt:  Sämt- 
liche Briefe  sind  unverkürzt   abgedruckt.     Gerhardt  merkt  weder 
zu  dem   ersten,  undatirten,   noch  zum  zweiten,   vom  31.  8.  1797 
etwas  an.     Er  ist  überhaupt  etwas  karg  mit   den  Notizen   dieser 
Art,   die  doch  einem  kritischen  Leser  unter  Umständen  von  Wert 
sein  können. 

Der  Text  des   vorliegenden  Bandes   zeigt  mehrfach  Varianten 
gegenüber  dem  Dutensschen,   die  nicht   lediglich   auf  nachlässigem 

Archiv   f.  Geschichte  d.  Pliilosupliie.     U.  "'"' 


;j26  Benno  Erdmann, 

Druck  hei  dem  letzteren  beruhen  können.  Indessen  trift't,  was  ich 
bei  gelegentlichem  Vergleich  an  verschiedenen  Orten  gefunden  habe, 
nirgends  die  Sache. 

Doch  das  sind  der  leise  und  laut  ausgesprochenen  Bedenken 
fast  schon  zu  viele,  um  den  Eindruck  frisch  zu  erlialten,  der  am 
meisten  Beachtung  fordert,  dass  wir  nämlich  viel  mehr  Ursache 
haben  uns  des  Gelungenen  in  der  Ausgabe  zu  freuen,  als  dem 
einen  und  dem  andern  an  ihr  mit  kühlender  Kritik  zu  begegnen. 

Helmuoi.tz,  H.  von.  Zur  Geschichte  des  Princips  der  kleinsten 
Action  (Sitzungsberichte  der  Kgl.  Preuss.  Akad.  d.  Wissensch. 
z.  Berlin  XIV.  S.  225—236). 

In  dem  Abschnitt  der  Abhandlung,  der  über  den  Begriff  der 
Action  bei  Leibniz  handelt  (S.  225 — 231),  weist  Helmholtz  nach, 
dass  dem  Philosophen  „die  Entdeckung  des  Princips  der  kleinsten 
^^'irkung  gleichsam  vor  den  Füssen  gelegen  hat". 

Leibniz  wird  damit  von  berufenster  Seite  eine  Auszeichnung 
zu  Teil,  die  ihm  bisher  in  seinem  Ruhmeskranze  gefehlt  hat. 

Helmholtz  verbreitet  ausserdem  Licht  über  eine  Frage,  die 
zwar  ihr  aktuelles  Interesse  seit  fast  hundert  und  vierzig  Jahren 
verloren  hat,  deren  Aufhellung  jedoch  zu  Gunsten  eines  irrtüm- 
lich Verurteilten  noch  immer  von  Wert  ist. 

Die  Aeusserungen  Leibnizens,  die  das  Material  für  Helmholtz' 
Nachweis  enthalten,  finden  sich  in  der  unvollendeten  Dynamica  de 
Potentia  et  Legibus  Naturae  corporeae,  die  Gerhardt  erst  1860 
(L.'s  math.  Schriften  \I)  aus  den  Hannoverschen  Manuscripten 
herausgegeben  hat.  Helmholtz  macht  nun  darauf  aufmerksam,  dass 
das  Brieffragment,  welches  König  als  einem  Briefe  Leibnizens  an 
Hermann  entstammend,  1751  in  den  Nova  Acta  Eruditorum  ver- 
öffentlicht hat,  durchaus  den  Auslassungen  der  Dynamica  über  das 
ol)ige  Princip  entspricht. 

Die  Geschichte  jenes  Fragments  ist  nur  wenigen  noch  bekannt. 
Dasselbe  steht  in  den  N.  A.  E.  am  Schluss  der  Abhandlung  Königs 
De  universali  principio  aequilibrii  et  motus  ct.,  die  im  wesentlichen 
gegen  Maupertuis'  Loi  de  la  moindre  action  gerichtet  war.  Es 
bildet  denjenigen  Bestandteil  derselben,  der  einen  erbitterten  Streit 


■D«( 


u 


Jahresbericht  über  die  neuere  Philosophie  bis  auf  Kant  für  1887.     327 

Königs  mit  Manpertuis  sowie  der  Akademie,  deren  Vorsitzender  dieser 
war,  zur  Folge  hatte.  Das  Fragment  wurde  damals,  da  König  das 
Original  des  Briefes,  den  er  vollständig  in  Abschrift  besass,  nicht 
aufweisen  konnte,  unter  dem  Einfluss  Eulers  von  der  Akademie 
für  unecht  erklärt.  Nicht  ohne  ernste  sachliche  Gründe,  wie  man 
/Algeben  muss,  aber  doch,  wie  schon  damals  nach  dem  ganzen  In- 
halt und  der  Darstellungsform  von  nicht  wenigen,  auch  von  Vol- 
taire geurteilt  wurde,  mit  Unrecht.  Neuerdings  haben  sich  sowol 
Guhrauer  als  Gerhardt,  allerdings  ohne  speziellere  Begründung,  für 
die  Echtheit  desselben  ausgesprochen. 

Das  sachliche  Hauptbedenken  Eulers  hat  jedoch  erst  Helniholtz 
durch  seine  Wahrnehmung  beseitigt.  Er  urteilt  mit  vollem  Recht, 
dass  in  Folge  jener  Uebereinstimmung  die  Echtheit  des  Briefes 
„sehr  wahrscheinlich  erscheint". 

Ein  schwerwiegender  Einwand  gegen  dieselbe  bleibt  allerdings 
durch  diese  Uebereinstimmung  unberührt.  Leibnizens  reicher  Brief- 
wechsel mit  Hermann,  den  die  Berliner  Akademie  1757  veröffent- 
licht hat  (abgedruckt  bei  Gerhardt  —  L.'s  Math.  W.  Bd.  IV),  ist 
nicht  nur  durchgängig  lateinisch  geführt,  während  jener  Brief  fran- 
zösisch geschrieben  ist,  der  letztere  iindet  auch  in  demselben  weder 
nach  dem  Datum,  das  die  Abschrift  Königs  besass  (16.  Okt.  1707), 
noch  auch  nach  seinem  Inhalt  einen  passenden  Ort. 

Diesem  Einwand  begegnet  jedoch  eine  Bemerkung  Gerhardts, 
die  in  so  fremdem  Zusammenhang  steht,  dass,  wie  es  scheint,  auch 
Helniholtz  sie  nicht  gesehen  hat.  Am  Schluss  nämlich  seines  Vor- 
M  berichts  über  Bd.  III  der  Ausgabe  der  philos.  Schriften  Leibnizens 
(Akad.  Sitzungsber.  Berl.  1886  S.  22)  erwähnt  derselbe,  dass  von 
dem  Briefe,  den  König  zuerst  veröffentlicht  hat,  „bisher  das  Ori- 
ginal nicht  aufgefunden  ist".  Und  fährt  dann  fort:  „Dieses  vierte 
Schreiben"  —  dessen  Echtheit  Gerhardt  bereits  1859  behauptet 
hat  —  „war  höchst  wahrscheinlich  an  Varignon  gerichtet."  Die 
Briefe  zwischen  Leibniz  und  Varignon  sind  von  Gerhardt  in  Bd.  IV 
der  Math.  Schriften  veröffentlicht.  In  der  Tat  zeigt  ein  Blick  auf 
die  Briefe  beider  aus  jenen  Jahren,  dass  diese  Vermutung  eine 
glückliche  ist.    Doch  Gerhardt  wird  dieselbe  am  besten  selbst  veri- 

ficireu.     Es  sei  deshalb   hier  nur  erwähnt,    dass  die  Mitteilungen 

09  * 


lim 
rtii 


II 


328  Benno  Eid  mann , 

Königs  über  den  Weg,  auf  dem  er  jene  Abschritt  erlangt  hat  — 
sie  war  ihm  von  Henzy  geschickt  worden,  der  bereits  mehrere 
Jahre  vorher  als  Staatsverbrecher  enthauptet  worden  war  —  der- 
selben nicht  im  Wege  stehen. 

Gerhardt  lässt  a.  a.  0.  nur  die  überraschende  Bemerkung  fol- 
gen: „Die  Leibnizische  Correspondenz  mit  Varignon  ist  vollständig 
vorhanden,  bis  auf  eine  sehr  auffallende  Lücke  in  den  Jahren 
1707 — 1709.  Die  Leibnizischen  Briefe  aus  dieser  Zeit  wurden 
wahrscheinlich  an  Maupertuis  ausgeliefert,  der  sie  aber  nicht 
wieder  zurückgab,  ebenso  wie  es  gleichzeitig  mit  den  Briefen  Leib- 
nizens  an  den  Mathematiker  Hermann  geschehen  ist,  welche  fast 
sämtlich  in  Hannover  fehlen." 

4.  Brambacii,  Wilh.  Gottfried  Wilhelm  Leibniz  Verfasser  der 
Histoire  de  Bileani.  Mit  vollständigem  Abdruck  der  Hist. 
d.  B.  in  der  von  Leibniz  gebilligten  Form.  38  S.  8".  Leip- 
zig,  Joh.  Ambr.   Barth. 

Im  Jahre  1706  erschien  anonvm,  ohne  Jahreszahl  und  Druck- 
ort,  eine  kleine  Sammlung  französisch  geschriebener  Flugschriften, 
rationalisirende  J)eutungen  einiger  bekannter  Bibelstellen:  HLstoire 
de  Bileam.  Renards  de  Samson.  Machoire  d"ane.  Corbeaus  d'Elie. 
L'Antechrist.  Noch  in  demselben  Jahre  erschien  die  erste  Abhand- 
lung selbständig.  Die  vier  anderen  wurden  im  folgenden  Jahre 
mit  einer  neuen  fünften:  Les  quatres  monarchies  in  Helmstädt 
wieder  ausgegeben. 

Auch  jene  erste  Abhandlung  ist  meist  dem  Verfasser  der 
übrigen,  dem  Helmstädter  Theologen  von  der  Hardt  zugeschrieben 
worden,  obgleich  schon  Louis  de  Jaucourt,  der  Herausgeber  der 
Theodicee,  Amsterdam  1734,  Leibniz  als  den  Urheber  derselben 
nennt. 

Brambach  beweist  in  sorgfältiger  Untersuchung,  dass  diese 
Angabe  zu  Kecht  besteht.  Die  Grundlagen  dieses  Beweises  sind 
in  den  Briefen  des  Philosophen  an  von  der  Hardt  enthalten,  die 
der  Verf.  aus  der  Sammlung  von  Briefen  beider  Forscher  in  der 
Grossherzoglich  Badischen  Hof-  und  Landesbibliothek  zum  Abtlruck 
bringt.     Leil>niz  schreibt  an  Hardt  unter  dem   7.9.   170():    Interea 


Jahresbericht  über  die  ueuere  Philosophie  bis  auf  Kant  für  1887.     329 


mitto    Tibi  covipendium  Bistoriae  Bileami  quod  ex   Tuis  et   non- 
nullis  etiani  meis  meditatiunculis  fahvicavi. 

Die  Briefe  enthalten  manches  für  Leibniz"  Auffassung  der 
Aufgaben,   welche  die  Bibelexegese  zu  lösen  hat,  charakteristische 

« V  Urteil. 

Die  Abhandlung  selbst,  welche  Brambach  in  musterhafter  Text- 
revision S.  30 — 38  abdruckt,  ist  ohne  philosophisches  Interesse. 
Eine  sehr  dankenswerte  sachkundige  Würdigung  ihres  theologischen 
Inhaltes  hat  E.  Ranke  in  dem  Aufsatz  „Zur  Geschichte  der  älteren 
Exegese"  in  der  Theologischen  Literaturzeitung  1888  Nr.  8  S.  192 
bis  199  und  Nr.  9  S.  227—235  gegeben. 

5.    Hah.nack,    Axki..     Leibniz'   Bedeutung  in    der  Geschichte    der 
Mathematik.     Rede.      26  S.     8".      Dresden,    v.  Zahn    und 
Jaensch. 
Auf   dem    Grunde    selbständiger    Quellenstudien    entwirft    der 
leider  zu  früh  verstorbene  Verfasser  ein  auch  für  den  Nichtmathe- 
matiker    anziehendes    Bild    der    mannichfachen    Errungenschaften, 
welche   die   Mathematik   Leibniz    verdankt,    mit   knappen   Strichen 
die  Stellung  desselben  zu  seinen  Vorgängern  und  Zeitgenossen  an- 
deutend. 


Till. 

The  Literature  of  Modern  Pliilosopliy  in 
England  and  America,  1886—1888. 

By 
J.  G.  Schiirinau. 

HcME.  By  William  Knight,  LL.  D.  Professor  of  Moral  Philo- 
sophy  in  the  University  of  St.  Andrews.  („Philosophical 
Classics  for  English  Readers".)  Edinburgh  and  London: 
William  Blackwood  and  Sons,  1886.  Pp.  VIII,  239. 
Tliis  volume  on  Hume  by  the  general  editor  of  the  series  falls 
into  two  main  divisions:  Hume's  Career  (pp.  1 — 100)  and  Hume's 
Philosophy  (pp.  101 — 239).  The  disproportionate  space  given  to 
the  life  of  the  philosopher  is  in  keeping  with  the  light  and  populär 
treatment  of  his  philosophy.  The  author's  justification  lies  in  the 
circumstance  that,  as  is  here  appropriately  reiterated,  this  sories 
of  short  studies  on  great  subjects  is  intended  „not  so  much  for  the 
initiated,  as  for  those  who  wish  to  know  something  about  the  great 
Systems,  and  their  Founders,  but  who  have  not  leisure  to  peruse 
their  treatises  in  füll,  or  to  go  into  the  more  recondite  aspects  of 
the  questions  they  have  raised,  still  less  to  master  the  voluminous 
critical  literature  which  has  subsequently  gathered  around  them". 
(Preface  V.)  This  priraary  Intention  of  the  series  has  never 
been  lost  sight  of  in  the  volume  on  Hume,  which,  more  than  any 
other  work  in  the  series,  is  especially  addressed  to  the  general 
reader. 

The  interest   of  philosophical  experts   in  the   present  volume 
is  in  inverse  proportion  to  the  success  with  which  Professor  Knight 


;   The  Literature  of  Modern  Philosopliy  in  England  and  Arnerica,  1886—1888.   331 

i  has  fiilfilled   his  task    of  reudering  Hume    to  the    unpliilosopliical 

!   public.    They  will  wait  for  that  larger  and  morc  exhaustive  work 

I  on  the  philoHophy  of  Hume  which  Prof.  Knight  is  now  engaged  in 

i  preparing.    Or  they  will  have  recourse  to  the  classic  literature  on 

Hume  which  our  language  already  coutaius,  especially  to  Mr.  Hill 

Burton's  „Life  and  Correspondence"  and  to  the  late  Professor  Green's 

„Introduction"    or    ciitical  examination    (from   a  Kantio-Hegelian 

Standpoint)    of   the  philosophy  of  Hume,    whicli  was  prefixed    to 

Green  and  Grose's  monumental  edition  of  his  works. 

In  this  little  volume  the  story  of  Hume's  life  is  pleasantly 
told.  Here  are  chapters  on  his  early  life,  on  the  publication  of  the 
„Treatise",  on  his  literary  ventures  and  struggles,  on  his  official 
career  and  appointmeuts,  on  his  life  at  London,  Paris,  and  Edin- 
burgh, and  on  his  closing  years.  The  various  incidents  are  woven 
together  into  an  interesting  narrative,  a.nd  the  phases  of  his  intel- 
lectual  activity  correlated  with  his  philosophy.  An  attempt,  suc- 
cessful  so  for  as  it  goes,  is  made  to  explain  the  character  of  Hume's 
System  from  the  temperament  of  the  man.  His  dry,  unromantic, 
prosaie  nature  is  thrown  into  relief  by  the  poetic  sympathies  of 
the  biographer,  whose  fidelity  to  Hume  cannot  repress  iiis  devotion 
to  Wordsworth.  ^.Hume's  temperament,  thougli  not  frigid,  was 
certainly  prosaie.  No  glow  of  entliusiasm,  no  touch  of  chivalry, 
no  colouring  of  romance  irradiated  it"  (p.  8).  The  philosopher 
was  deaf  to  music,  blind  to  art,  and  insensitive  to  poetry.  „He 
passes  up  the  Rhine,  and  notes  neither  the  ruined  Castles  nor  the 
Siebengebirge.  Nature,  in  its  grand  or  sublime  aspects,  had  no 
charm  to  him"  (p.  48).  „He  had  a  singularly  keen  intellect;  but 
his  intellectual  vision  was  singularly  limited.  That  „inward  eye" 
which  discerns  the  unity  of  things  beneath  their  raanifoldness  — 
which  sees  a  rational  meaning  in  the  universe  hid  behind  its  Sym- 
bols —  was  not  his"  (p.  98). 

This  last  quotation  niay  be  taken  to  mean  that  the  Welt- 
anschauung of  the  biographer  is  different  from  that  of  Hume. 
A  one  behind  the  many,  a  reason  beaming  through  nature,  „an 
ever-during  power,  and  central  peace  subsisting  at  the  heart  of 
endless  agitation"    is  tiie   ,,open  secrct"    Prof.  Knight   has  learnod 


332  J-  Ct.  SchurmaiK 

from  the  „prophets  of  the  beautiful".  from  Dante  to  Wordsworth. 
But  this  noble  lesson  has  in  a  certain  measure  disqualified  him 
for  a  sympathetic  Interpretation  of  the  system  of  Hume.  If  any- 
thing  about  the  sources  of  Hume"s  mental  philosophy  is  certain,  it 
is  that  he  wrote  it,  as  it  were,  with  Locke  (and  Berkeley)  before 
him.  But,  without  any  proof.  Prof.  Kuight  asserts  that  „it  was 
evolved  in  him  not  so  mnch  from  a  study  of  recent  speculatiou 
in  England,  as  from  his  early  familiarity  with  the  Greek  and  Ro- 
man writers"  (p.  7).  But  when  he  comes  to  the  „Treatise",  in 
which  Hume's  system  is  most  fully  embodied,  Prof.  Knight  says 
„it  was  throughout  an  indigenous  Scottish  growth"  (p.  27).  And, 
not  satisfied  with  Greece,  Rome,  and  Scotland,  he  adds  in  the  last 
chapter  of  the  book  that  „Hume's  Philosophy  is  meagre  ....  Al- 
though  in  his  own  natura  an  indigenous  growth  it  was  more  French 
than  Scottish  in  its  essential  features"  (p.  236). 

A  more  sympathetic  critic  might,  I  think ,  have  found  in 
Hume's  theory  of  knowledge  some  other  elements  than  those  which 
Prof.  Knight  so  successfully  explodes  (pp.  134 — 182).  Take,  for 
example,  the  crucial  question  of  causality.  One  aspect  of  Hume's 
teaching  is  given  in  the  histories  of  philosophy  and  repeated  in 
Prof.  Knight's  book.  The  other  aspect  is,  that  experience  of  custom- 
ary  sequence  only  awakeus  a  dormant  causal  instinct,  which  under 
a  less  flattering  name  is  precisely  the  same  thing  as  tho  a  priori 
category  of  the  understandiug  in  Kant  or  the  fundamental  belief  in 
Reid  and  Stewart  on  the  „Intuition  of  the  reason"  (p.  163)  in 
Prof.  Knight.  What  these  call  by  other  names,  Hume  calls  an  in- 
stinct: and  all  agree  that  it  does  not  operate  indepeudently  of  ex- 
perience. 

But  Prof.  Knight  thinks  too  little  of  Hume's  philosophy  to 
seek  even  his  own  truth  in  it.  „As  a  system,  it  is  poverty 
stricken  ....  It  is  after  all  a  surface  philosophy"  (p.  236).  Hume 
„was  blind  to  the  significance  of  one  half  of  the  sphere  of  reality, 
—  constitutionally  colour  -  blind"  (p.  237 ;  cf.  p.  203).  But.  al- 
though  Prof.  Knight's  hostility  to  empiricism  leads  him  into  soine 
immoderate  Statements,  it  does  not  alfect  his  account  of  Hume's 
philosophy   of  morals  and   of  religion  (pp.  183—221).     He  thinks 


The  Literatui-e  of  Modern  Philosopliy  in  England  and  America,  1886—1888.   333 


hliat  „Hume  shows  far  more  catholicity  or  width  of  view  iu  his 
moral  than  in  his  metaphysical  philosopliy",  aiid  that  the  admissions 
made  in  the  former  undermine  the  latter  (p.  197).  And  he  hits 
oflf  well  Hume's  chief  difficulty  in  natural  theology,  —  „how  to 
ascribe  a  moral  character  to  the  great  World-Intelligence"  (p.  211). 
The  Short  chapter  (pp.  222—227)  on  Hume  as  political  economist 
and  historian  is  especially  good,  as  are  also  the  remarks  on  the 
|same  subject  scattered  throughout  the  volume. 

Iegel's  Philosophy  of  the  State  and  of  History.    By  George 
>}  S.  Morris,    Professor    of   Philosophy    in    the    University    of 

^;  Michigan.      („Griggs's    Philosophical    Classics".)      Chicago: 

S.  C.  Griggs  and  Company,  1887.  Pp.  306. 
This  is  the  latest  addition  to  Griggs's  series  (for  which  see 
Archiv,  Bd.  L,  Heft  1.,  p.  152).  The  work  is  from  the  competent 
hands  of  the  general  editor,  who  had  previously  supplied  the  vo- 
lume on  Kant's  Critique  of  Pure  Reason.  It  differs  from  Pro- 
fessor Porter's  Kant's  Ethics  in  being  purely  expository.  This 
departure  from  the  purpose  of  the  series,  which  professes  to  be 
devoted  to  a  critical  exposition  of  the  masterpieces  of  German 
thought  is  much  to  be  regretted.  For  in  the  present  condition  of 
Philosophy  amongst  us,  when  some  point  exultantly,  and  others 
lock  wistfully,  to  Hegel,  there  codd  be  no  more  helpful  service 
than  the  critical  estimate  of  Hegel's  writings  by  sympathetic  and 
intelligent  expositors.  On  the  other  hand,  it  may  be  questioued 
if  there  is  any  great  need  of  mere  summaries  of  the  eighth  and 
iiinth  volumes  of  HegePs  works.  The  Philosophie  der  Ge- 
schichte has  long  been  acces.sible  in  an  English  translation,  which, 
to  say  the  least,  is  as  clear  and  intelligible  as  Prof.  Morris's  Con- 
densed exposition  (pp.  111— 306).  The  Philosophie  des  Rechts 
has  never  been  translated  into  Euglish.  There  is,  therefore,  a 
raison  d'etre  for  Prof.  Morris's  abstract  of  it,  which  occupies 
oue  third  of  the  present  volume  (pp.  1—110).  Had  he  limited 
himself  to  this  work,  enlarging  somewhat  his  account  of  it,  and 
then  suppleraenting  exposition  with  comment  and  criticism,  so  as 
to  set  the  subject  into  vital   relation   with  the   thought  and  pro- 


334  ^-  ö-  Schurin  an, 

blems  of  our  age,  his  volurae  would  liave  beeii  move  helpful  to 
readers,  more  conformable  to  the  object  of  the  serics  in  which  it 
appears,  and  more  worthy  of  the  author's  scholarship  and  abilities. 

Hegeliauism  and  Personality.  By  Andrew  Seth,  M.  A.,  Pro- 
fessor of  Logic,  Rhetoric,  and  Metaphysics  in  the  University 
of  St.  Andrews.  Edinburgh  and  London:  William  Black- 
wood and  Sons,  1887.  Pp.  XI,  230. 
Not  the  least  remarkable  of  the  phases  of  recent  philosophy 
has  been  the  attempt  to  naturalize  Hegel  in  the  English-speaking 
World.  The  beginning  was  raade  nearly  a  generation  back  by 
Dr.  Stirling's  „Secret  of  Hegel",  a  work  of  great  insight,  though 
fragmentary  and  often  rhapsodical.  The  movement  has  been  con- 
tinued,  not  only  by  professed  Hegelia ns,  bat  also  by  the  Neo-Kan- 
tians,  whose  common  creed  is  the  belief  that  in  Hegel' s  Logik 
is  to  be  found  the  „truth"  of  Kant's  Kritik.  Thus  Hegel  is  the 
bürden  of  all  our  preachers  of  Cerman  Philosophy.  Professors 
Caird,  Adamson,  and  Morris  have  written  Hegelian  accounts  of  the 
Critical  Philosophy;  Green  has  applied  Kantio-Hegelianism  to  the 
routing  of  Empiricism,  and  Principal  Caird  to  the  establishment  ol 
religion.  Professor  Wallace  has  furnished  an  admirable  translation 
of  the  smaller  Logik,  to  which  he  has  prefixed  a  valuable  intro- 
duction  on  the  philosophy  of  Hegel.  Hegelian  articles  occaslonally 
appear  in  Miud,  and  in  the  Journal  of  Speculative  Philo- 
sophy Prof.  Harris  has  long  maintained  an  organ  especially  devo- 
ted  to  Hegelianism.  Two  volumes  on  Hegel  have  already  appeared 
in  Grigg's  Philosophical  Classics;  and  others  are  to  follow. 

But  although  our  Hegelian  literature,  already  not  inconsiderable, 
is  still  on  the  increase,  there  aro  signs  that  the  Hegelian  move- 
ment is  approaching  exhaustion.  Of  the  younger  men  whose  thought 
it  shaped,  .none  has  been  more  productive  than  the  autlior  of 
the  present  volume.  And  his  successive  works  —  „From  Kant  to 
Hegel",  „Scotish  Philosophy",  and  „Hegelianism  and  Personality"  — 
Portrait  and  objectify  the  phases  through  which  some  of  our  best 
minds  have  been  passing  in  their  attitude  towards  Hegelianism. 
First,  came  the  epoch  of  enthusiastic  discovery  and  proclamation; 


The  Literature  of  Modern  Philosophy  in  England  and  America,  1886—1888.   335 


next,  that  of  sober  acquiescence ;  and,  lastly,  that  of  revolt  aud  re- 
jection,  none  the  less  thorough  becau.se  of  its  regretful  patlios. 

„Hegelianism  and  Personality"  is  made  up  of  lectures  (witli 
occasional  additions)  delivered  before  the  University  of  Edinburgh 
on  the  foundation  established  by  Mr.  A.  J.  Balfour,  now  Chief 
Secretary  for  Ireland.  The  work  originated  in  a  reaction  against 
the  philosophy  of  the  late  Professor  Green,  whose  ,,whole  System 
centres  in  the  assertion  of  a  seif  or  spiritual  Priuciple  as  necessary 
to  the  existence  alike  of  knowledge  and  morality"  (pp.  3—4).  And 
its  purpose  is  to  trace  to  its  source  in  Kant  and  Hegel  this  cen- 
tral doctriue  as  well  as  to  locate  and  exhibit  the  ambiguity  with 
which  it  is  infected.  The  first  two  lectures  (pp.  1—78)  are  devo- 
ted  to  Kant  and  Fichte;  the  rest  (pp.  79—230)  to  Hegel,  —  to  bis 
Logic,  bis  Metaphysic,  his  doctrine  of  God  and  man,  and  his  System 
in  general. 

Itisshown  that  Green  identifies  the  transcendental  ego  ofKant's 
theory  of  knowledge  with  the  universal  or  divine  self-consciousness. 
In  Kant's  own  words,  the  logical  exposition  of  thought  in  general 
is  mistaken  for  a  metaphysical  determination  of  the  object  (p.  35). 
This  fallacy  originated  witli  Fichte  in  his  endeavour  to  escape  the 
dualism  of  Kant's  system.  And  the  shifting  phases  of  thought  to 
which  it  gave  rise  in  Fichte's  attempt  to  find  a  place  for  both 
God  and  man  in  the  universe  are  here  very  succinctly  delineated. 
To  all  of  them  Prof.  Seth  replies:  „Thought  exists  only  as  the 
thought  of  a  thinker;  it  must  be  centred  somewhere  .  .  .  Thought 

per  se can  have  no  place  in   metaphysics  as    a  theory  of 

Being"  (p.  73). 

Hegel's  Logic  being  „neither  more  nor  less  than  an  expansion, 
a  completion  and  rectification  of  Kant's  table  of  the  categories" 
(p.  84),  we  are  next  presented  with  an  account  of  its  nature,  me- 
thod,  and  origin.  In  spite  of  Hegel's  talk  about  der  Gang  der 
Sache  selbst,  his  dialectic  is  shown  to  rest  upon  an  experiential 
basis.  „The  opposite  arises  only  for  a  subjective  refiection  which 
has  had  the  advantage  of  acquaintance  with  the  real  world"  (p.  91). 
And  Prof.  Seth  agrees  with  Trendelenburg  in  holding  that  HegeKs 
Order  of  exposition  always  reverses  the  real   order  of  thought  by 


336  J-  G-  Seh  Ulm  an, 

whicli  the  results  were  arrived  at.  The  Lugic  deals  ouly  with 
categories.  The  Philosophy  of  Natiire  and  of  Spirit  offer  a  theory 
of  existence.  Hegel  .,systematically  and  in  the  most  subtle  fashion 
confounds  these  points  of  view.  and  ends  by  offering  us  a  lugic 
as  a  metaphysic"  (p.  104).  Thus  be  evades  the  problem  of 
reality.  And,  in  the  same  way,  by  making  contingency  a  category, 
he  professes  to  rationalise  nature  in  all  its  details.  His  system 
throughout  deals  only  with  generale.  Hence  it  does  not  speak,  in 
strictnes.s,  either  of  the  divine  spirit  or  of  human  spirits,  but  simply 
of  ., spirit".  And  although  this  was  grandly  intendcd  by  Hegel  to 
be  the  concreto  unity  of  both,  in  practice  it  .,does  duty  at  one  tiroe 
for  God,  and  at  another  time  for  man"  (j».  156),  but  never  for 
both  together.  This  result  is  forcibly  exhibited  by  a  skilful  unravel- 
ing  of  the  different  lines  of  thought  in  Hegel,  according  as  be  begins 
with  the  absolute  or  with  the  real  world. 

The  pretensions  of  Hegelianism  to  be  an  absolute  philosophy 
are  examined  in  the  last  lecture.  Prof.  Setli  sees  in  the  Hegelians 
of  the  Left  the  only  logical  outcome  of  HegeFs  doctrine  of  man  and 
God.  But  philosophy  must  begin  with  self-conscious  persons,  not 
with  an  impersonal  system  of  thought.  And  the  English  Hegelians 
have  really  deserted  their  raaster's  practical  philosophy,  which  is 
destructivc  alike  to  moral  endeavour  and  historical  progress.  ,, Green 
is  not  slow  to  point  out  that  the  habit  of  conscientiousness  is  the 
very  mainspring  of  morality"  (p.  209). 

The  volume  ends  with  a  return  tu  Green's  system  and  a  brief 
argument  („because  we  are  anthropomorphic,  and  necessarily  so, 
fo  the  inmost  fibre  of  our  thinking")  for  the  personality  of  God 
along  with  a  plea  for  immortality  as  implied  in  the  moral  reason- 
ableness  of  the  world. 

The  whole  is  an  admirable  piece  of  work.  It  represents  lu- 
cidly,  and  in  a  charming  style,  the  results  reached,  on  fundamental 
points,  by  a  clear-headed  and  sympathetic  student  of  German  Philo- 
sophy. And  it  cannot  fall  to  be  helpful  to  all  those  who  have 
been  touched  by  the  Hegelian  influence.  although  it  may  not  move 
the  smallcr  number  who  have  surrendered  themselves  absolutely 
tu  its  potent  magic. 


The  Literature  of  Modern  Philosopliy  in  England  and  America,  1886 — 1888.   337 


Üi'iNozA.  By  John  Caird,  LL.  J).  Principal  of  tlie  University 
of  Glasgow,  („l'hilosophical  Classics  for  English  Readers".) 
Edinburgh  and  London:  William  RIackvvood  and  Sons,  1888. 
Pp.  315. 
Of  none  of  the  great  philosopliers  have  the  English -speaking 
peoples  so  long  remained  in  ignorance  as  of  Spinoza.  An  essay 
by  a  brilliant  historian,   Froude,   and  an  essay   by  a  subtle  critic, 

I  Matthew  Arnold;  a  sketch  by  Lewes  in  his  „History  of  Philosopliy" 
as   graphic   but   as   inaccurate   as  the   rest  of  the  work;    a  volume 

jentitied  „Benedict  de  Spinoza:  his  Life,  Correspondence,  and  Ethics" 
by  Dr.  R.  ^Villis,  a  well-meaning  achievement  but  nuich  marred 
i)y  incorrect  translation,  —  such  was  our  Spinozistic  literature 
prior  to  the  last  decade.  In  1878  Professor  Edward  Caird  contri- 
buted  to  the  current  (ninth)  edition  of  the  Encyclopaedia  Bri- 

Itannica  an  important  article  on  Cartesianism,  nearly  half  of  which 
was  devoted  to  Spinoza.  And  since  that  date  Spinoza  has  l)een 
studied  with  almost  as  much  zeal  as  Kant,  to  whom  also  Professor 

I  Edward  Caird  more  than  any  other  single  individual  has  likewise 
introduced  us.  In  1880  appeared  Mr.  PoUock's  „Spinoza,  his  Life 
and  Philosophy",  a  work  so  scholarly  and  judicial  that  it  at  once 
became  an  authority.  Dr.  Martineau  followed  in  1883  with  his 
beautiful  and  statuesque  „Study  of  Spinoza",  in  which  the  System 
is  lucidly  expounded  and  criticised  without  any  attempl  to  relieve 
it  of  contradictions.  He  has  since  treated  the  subject  afresh,  but 
with  no  change  of  Interpretation  or  judgment  on  important  points, 
in  his  great  work  on  „Types  of  Ethical  Theory"  (Vol.  I,  pp.  247— 
394).  Along  with  these  treatises  on  Spinoza  have  appeared  good 
translations  of  his  works.  In  1883  Mr.  Haie  White  brought  out 
a  Version  of  the  Ethica,  and  Mr.  R.  H.  M.  Elwes  a  version  of 
all  the  chief  works  of  Spinoza.  As  the  latter  translation  is  not 
likely  soon  to  lie  superseded,  it  is  a  matter  of  regret  that  it  could 
not  have  been  based  upon  the  text  of  Van  Vloten  and  Laiul. . 

The  work  by  Principal  John  Caird  takes  tiie  place  in  Black- 
wood's  Pliilosophical  Classics  for  which  Dr.  Martineau's  „Study  of 
Spinoza"  proved  too  bulky.  But  tiie  materials  which  Dr.  Caird 
had  prepared  \\>y  liis  lionk  were  also  fouud  greatly   to  exceed   the 


338  -T-  G.  Schur  in  an, 

limits  assigned  to  it.  He  has,  therefore,  besides  otlier  parts  of  his 
plau  been  compelled  to  have  out  the  account  of  Spinoza's  life  and 
letters.  and  to  confine  tlie  work  to  what  be  calls  an  examination 
of  the  philosophical  System.  In  fact,  his  volume  is  limited  to  a 
critical  interpretation  of  Spinoza's  Ethics  with  some  account  of  its 
sources.  No  room  was  found  for  an  examination  of  the  treatise 
De  Deo  et  Homine,  which,  however,  the  author  had  intended  to 
use  as  an  introduction  to  the  Ethics. 

It  was  perhaps  inevitable  that  Dr.  Caird's  volume  should  suffer 
somewhat  from  the  limitations  imposed  by  the  condltions  of  the 
series  in  which  it  appears.  It  is  not  so  certain,  however,  that  a 
better  use  might  not  have  beeu  made  of  the  space  actually  at  his 
disposal.  The  beauty  of  the  style,  the  melody  and  flow  of  the 
sentences  may  reconcile,  but  they  cannot  blind,  us  to  a  tendency 
to  prolixity  and  repetition  too  visible  in  the  author.  Furthermore, 
Dr.  Caird  has  forgotten  that  some  acquaintance  with  philosophy 
might  have  been  presupposed  in  his  readers.  He  has  an  iuveterate 
habit  of  expounding  and  criticising  and  settiug  in  an  Hegelian  light 
every  System  of  thonght,  almost  every  philosophical  question,  he 
has  occasion  to  mention;  and  though  his  observations  are  alvvays 
perspicuous  and  often  instructive,  it  was  scarcely  fair  to  allow,  in 
a  volume  devoted  to  Spinoza,  disquisitious  on  Neo  -  Platonism, 
Descartes,  and  other  relatively  extraneous  subjects  to  take  the 
place  of  a  history  of  the  development  of  the  philosopher  and  a 
fuller  account  of  his  thought  not  ouly  in  itself  but  in  its  genesis 
and  in  its  multifarious  ramifications. 

Spinoza\s  philosophy,  Dr.  Caird  holds,  is  the  composite  result 
of  conflicting  tendencies,  neither  of  which  is  followed  out  to  its 
utmost  logical  results.  As  Spinoza  approaches  his  problem  from 
difterent  sides,  the  opposite  tendencies  by  which  his  mind  is 
governed  seem  to  receive  alternate  expression.  His  inconsistency, 
however,  is  due  rather  to  defective  logic  than  to  iucompatible  priu- 
ciples.  The  fault  is  not  that  he  started  from  different  premisses, 
but  that  he  did  not  carry  out  what  was  for  him  the  only  true 
premiss  to  its  legitimate  results.  This  the  expositor  must  do.  It 
is  for  him  to  discover  the   dominant    ideu    ur   general   tendency    ol 


The  Literature  of  Modern  Philosophy  in  En^^land  and  America,  1886—1888.   339 


Spinoza'«  philosophy  and  explain  his  inconsistencies  as  only  un- 
conscious  aberrations  from  it.  And  Dr.  Caird  endeavours  to  deter- 
mine  this  dominant  idea  or  undercurrent  of  tendency  in  the  mind 
of  Spinoza  by  a  scratiny  of  his  original  Impulse  towards  philo- 
sophy and  a  survey  of  the  influences  by  which  his  thought  was 
moulded.  An  examination  (pp.  8  —  35)  of  the  De  Int.  Eraend. 
yields  the  result  that  Spinoza's  aim  was  not  primarily  the  search 
for  intellectual  satisfitction  bat  the  discovery  of  the  way  to  spiritual 
perfection  and  blessedness.  But  these  do  not,  as  Dr.  Caird  suppo- 
ses,  exclude,  they  rather  imply  one  another.  Still  it  is  correct  to 
say  that  Spinoza\s  primary  Impulse  to  philosophy  was  a  religious 
one.  And  its  first  movement  was  towards  that  ,,most  perfect  being" 
which  Dr.  Caird  rightly  refiises  to  follow  Mr.  Pollock  in  identifying 
with  the  unily  and  uniformity  of  nature.  When,  however,  our 
author  comes  to  treat  (pp.  36 — 111)  of  the  influence  of  preceding 
writers  on  Spinoza  he  is  less  happy.  He  must  be  critic  as  well  as 
istorian:  and  he  insists  on  holding  theories  up  to  the  light  of 
egel  rather  than  carefully  investigating  the  facts  that  bear  upon 
■he  development  of  the  System  of  Spinoza.  In  Chap.  II.  (p.  36 — 59) 
there  is  much  about  Neo-Platonism,  and  the  Kabbala,  but  its  sole 
pertinent  result  is  that  in  the  ,, intellectual  love"  of  Spinoza  „we 
ay  discern  points  of  analogy  to  the  Neo-Platonic  „ecstasy"  and 
to  the  Kabbalistic  absorption  in  the  'En  Soph.'  "  (p.  59).  Chap.  III. 
[t  is  surprising  to  find  in  a  volume  from  which  so  much  had  to 
)e  omitted,  since  its  only  purpose  is  to  show  that  Spinoza  had 
lothing  in  common  with  Maimonides,  whose  System,  it  is  charac- 
;eristically  explained,  is  in  some  important  points  .,irreconcilable, 
lot  only  with  the  philosophy  of  Spinoza,  but  with  any  philosophy 
\-hatever"  (p.  68).  A  real  affinity,  however,  is  in  Chap. IV  (pp.75— 90) 
band  between  Spinoza  and  Giordano  Bruno.  Both  believed  in  the 
ibsolute  unity  of  all  thiugs;  both  sought  to  explain  the  universe 
rem  itself;  both  found  in  the  idea  of  God  the  immanent  cause  or 
)rinciple  of  the  world  (p.  88).  The  relation  of  Spinoza  to  Descar- 
es  is  not  made  very  clear;  but  Chap.  V.  (pp.  91  — 111)  contains 
i!i  elaborate  account  and  examination  from  the  Hegelian  standpoint 
if  the  System  of  Descartes.     The  chapter  might  have  been  omitted 


;'i40  >'•  ^'-  Schur  man, 

without  detriment  to  the  author's  accouDt  of  Spinoza  and  without 
loss  to  British  pliilosophy,  which  already  possesses  more  than  one 
Hegel iau  exposition  of  Descartes. 

The  rest  of  the  volume  (pp.  113—115)  is  devoted  to  the  Ethics. 
It  does  not  call  for  detailed  notice  heve.  The  exposition  is  lucid, 
and  the  criticism,  if  not  new.  at  least  just  and  sympathetic.  The 
authors  oonstant  effort  at  reconstruction  will  be  differently  estima- 
ted  by  different  readers.  Hegel  held  that  Spinozism  was  the  in- 
dispensable beginning  of  every  philosophy,  bat  that  in  a  final  phi- 
losophy  Spirit  must  take  the  place  of  Spinoza's  Substance.  Now 
Dr.  Caird  is  an  Hegeliau.  though  an  Hegelian  of  the  epistemolo- 
gical  type  that  has  arisen  amongst  us  in  affiliation  with  the  philo- 
sophy of  Kant.  And  his  work,  or  the  last  two-thirds  of  it,  mayi 
be  justly  described  as  an  examination  and  rehabilitation  of  Spinoza's 
System  in  the  light  of  HegeFs  Logik.  „At  the  outset  we  seem  to 
have  a  pantheistic  unity  in  which  nature  and  man,  all  the  mani- 
fold  existences  of  the  finite  woild,  are  swallowed  up;  at  the  close, 
an  infinite  self-conscious  mind,  in  which  all  finite  thought  and  beingi 
find  their  reality  and  explanation"  (p.  304). 

The    Ethical    Import    of    Darwinism.       By   J.   G.  SctirRMAN,' 
Professor  of  Philosophy  in  Cornell  üniversity.     New  York; 
Charles  Scribner's  Sons.     London:     >Villiams  and   Norgate. 
1887. 

This  work    is   a  consideration    of   the   bearing    of  Darwinism  i 
upon    Ethics,    with    an    examination    of   evolutionary    theories    ofi 
morals.     It  may,   however,   be  mentioned    in  a   review  devoted  to 
the  history  of  philosophy  on  account  of  the  second  chapter,  which 
contains  a  history   of  the   evolutionary  doctrine  from   the   earliest' 
times   to   the  appearance    of  Darwin's  Origin   of  Species.     The 
first  chapter  is  an  attempt  to  determine  the  method  and  scientific 
character  of  Ethics.     The  last  chapter  deals  with  the  evolution  of 
the  family.     The  rest  of  the  book  is  devoted  to  the  ethical  implii 
cations  of  Darwinism  and   an   examination   of  Darwin's  theory  ol 
the  genesis  of  conscience. 


Neueste  ErscheiiiuTi;2^en  auf  dem  Gebiete  der 
^  Geschickte  der  Pliilosophie. 

rpr^yopiov  Toü  Nüsav];,  Dissertation,  Jeua. 

Baltzer,  Spinoza's  Entwicklungsgang  dargestellt  in  seinen  Briefen,  Kiel,  Lipsius. 

Brasch,  M.,  Die  Weltanschauung  Friedrich  Ueberwegs,  Leipzig,  Gustav  Engel. 

Brieger,   A.,    De  atomoruui  Epicurearum   motu  principali,  in  Philol.  Abhandl. 
M.  Hertz  gewidmet,  Berlin,  Herz. 

V.  Döllinger  und  Reusch ,    Geschichte  der  Moralstreitigkeiten    der  röm.-kathol. 
Kirche  im   16.  Jahrb.,  Nördlingen,  Beck. 

Druskowitz,  Eugen  Diihring,  Heidelberg,  \Yeiss. 

Fischer,   Kuno,    Geschichte  der  neuern  Philosophie,   Bd.  II,   Leibniz,    dritte 
Aufl.,  München,  Bassermann. 

Foerster,   Rieh.,    De    Aristotelis   quae    feruntur   physiognomicorum  indole    ac 

conditione,  Philol.  Abhandl.  M.  Hertz  gewidüi.,  Berlin,  Plerz. 
Foucher  de  Careil,  Hegel  und  Schopenhauer,  deutsch  von  Singer,  Wien,  Konegen. 

Freudenthal,  .1.,  Ueber  die  Lebenszeit  des  Neuplatonikers  Proklos,  Rhein.  Mus. 
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Göring,  H.,  Sophie  Germain  und  Clotilde  de  Vaux,  Zürich,  Schröter  u.  Meyer. 

Gompertz,  Th  ,  Zu  Aristoteles'  Poetik,  Sitzungsberichte  der  W^iener  Akademie 
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Günthert,  E.  v.,  Fr.  Th.  Vischer,  ein  Characterbild,  Stuttgart,  Bonz  &  Co. 

Gwinner,  M.,  Denkrede  auf  Schopenhauer,  Leipzig,  Brockhaus. 

Haacke,  Fr.,  Ueber  den  inneren  Zusammenhang  des  philos.  Systems  Schopen- 
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Hartraann,  E.  v.,  Lotze's  Philosophie,  Leipzig,  Friedrich. 

Hoffmaun,  H.,  Platon's  Philebus  erläutert  und  beurtheilt,  Programm,  Offenburg. 

Israel,  A.,   Val.  WeigeFs  Leben  und  Schriften,  Zsehopau,  Raschke. 

Kern,  0.,  Theogoniae  Orphicae  Fragmenta  nova,  Hermes  Bd.  XXIII,  Heft  4. 

Klette,  Beiträge  zur  Geschichte  der  italienischen  Gelehrtenrenaissance,  Greifs- 
wald, Abel. 

König,  E.,  Die  Entwicklung  des  Causalprobl.  von  Cartesius  bis  Kant,  Leipzig, 
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Koppelmann,   J.,   Kant's  Lehren  vom  kategorischen  Imperativ,  Leipzig,    Fock. 

Kühlenbeck,  Giordano  Bruno,  München,  Theod.  Ackermann. 

Külpe,   Osw.,    Die  Lehren   vom  Willen  in   der  neuern  Psychologie,    Wundt's 

philos.  Studien  Bd.  V,  Heft  2,  p.  179—245. 
Langfelder,  D.,  Die  Metaphysik  und  Ethik  des  Judenthums,  Wien,  Ch.  1).  Lippe. 

Lasswitz,  K.,  Galilei's  Theurie  der  Materie,  Vierteljahrsschr.  f.  wissenscii.  Philos. 
1888,  Heft  4. 

Linke,  H.,  Ueber  Macrobius  Comm.  in  Somnium  Scipionis,  Piiiloi.  Al)h.  Hertz 
gew.,  Berlin,  Hertz. 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     II.  ^O 


342     Neueste  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philosophie. 

Luthardt,    Geschichte    der    christlichen    Ethik    in    der    Reformation,    Leipzig, 

Dörffling  und  Franke. 
Manno,  R.,  Wesen  und  Bedeutung  der  SjTithesis  in  Kant's  Philosophie,  Zeit- 

schr.  f.  Philos.  Bd.  94,  H.  1  u.  2. 

Marcus,  A.,  v.  Hartmann's  inductive  Philosophie  und  der  Chassidisnnis,  Wien, 

Ch.  D.  Lippe. 
Menzel,  P.,  De  Graecis  in  libros  nbnp  vestigiis,  Dissertation,  Halle. 
Noeldechen,    Die  Abfassungszeit  der  Schriften  Tertullian's,   Leipzig,  Hinrichs. 
Ohle,   R.,    Die  pseudophilonischen  Essäer  und  Therapeuten,   Berlin,  Mayer  & 

Müller. 
Pesch,  institutiones  logicales  secundum  S.  Thom.  Aquinatera,  Freiburg,  Herder. 
Prel,  C.  du,  Kant's  Vorlesungen  über  Psychologie,  Leipzig,  C.  Günther. 
riySapivoc,    A. ,    -otpaßoÄY]  At'iovo;  toü  Xp'jaoatofio'j   -po;  nXccTwva  xrX. ,    Disser- 
tation, Erlangen. 
Rassow,  Zu  Aristoteles,  Rhein.  Mus.  N.  F.  XLIII,  4. 

Rawack,  P.,  De  Platoni§  Timaeo  quaestiones  criticae,  Berlin,  Mayer  &  Müller. 
Ritschi,  Schleiermacher's  Stellung  zum  Christenthum,  Gotha,  Perthes. 
Ritter,  Untersuchungen  über  Plato,  Stuttgart,  Kohlhammer. 
Ritter  u.  Preller,    historia  philos.  graecae  ed.  VII,   cur.  Fr.  Schultess  et  Ed. 

Welmannus,  Gotha,  F.  A.  Perthes. 
Schmidt,  C,  Der  Humanist  Mich.  Schütz,  Strassburg,  Schmidt. 
Schmidt,   F.  .L,    Herder's    pantheistische   Weltanschauung,    Berlin,    Mayer   & 

Müller. 
Schneider,  Rousseau  und  Pestalozzi,  Berlin,  Gaertner. 
Seydel,    Rud.,    Kant's  System.  Urtheile  a  priori,    Zeitschr.  für  Pihlos.  Bd.  94, 

Heft  1. 
Seydel,  Rud.,  Alb.  Lange's  geometr.  Logik,  ebenda  H.  ,^{ 
Siebeck,   H. ,    Anfänge  der  neuern  Psychologie  in  der  Scholastik,   Zeitschr.  f. 

Philos.  Bd.  94,  H.  2. 
Stapfer,   Aur.  Aug.,    Studia  in  Aristotelis  libr.  de  anima  collata,  Dissertation, 

Erlangen. 
Stuckenberg,  Grundprobleme  in  Hume,  Philos.  Vorträge,  Heft  13,  Halle,  Pfeffer. 
Tiemann,  Joh  ,    Kritische  Analyse  von  Buch  I  u.  11  der  plat.  Gesetze,  Progr., 

Osnabrück. 
Wahn,  Joh.,  Kritik  der  Lehre  Lotze's  von  der  menschlichen  Freiheit,  Zeitschr. 

für  Philos.  Bd.  94,  H.  1. 
Wille,  B.,   Der  Phaenomenalismus  des  Hobbes,  Dissert.,  Kiel. 
Witte,  J.,    Die  simultane  Apprehension  bei  Kant,  Zeitschr.  f.  Philos.  Bd.  94, 

Heft  2. 
Wohlrabe,  W.,    Kant's  Lehre  vom  Gewissen,  Halle,  Tausch  &  Grosse. 
Zanettas,  Joh  ,  Symbolae  philosophiae  ad  Piatonis  Symposium,  Dissert.,  Erlangen. 
Zeller,  Eduard,    Philosophie  der  Griechen  II,  1:    Plato,   vierte  Auflage,  Leip- 
zig, Fues. 
Ziegler,  0.,    Joh.  Nie.  Tetens'  Erkeuntnisstheorie  in  Bezug  auf  Kant. 
Zoller,  Egon,  Der  Gottesbegriff  in  der  neueren  schwedischen  Philos.,  Zeitschr. 

f.  Phil.  Bd.  94,  Heft  2. 


Archiv 

für 


Geschichte  der  Philosophie. 


Tl.  l?aiKl     3.  Heft. 


XVII. 

Arcliive  der  Litteratiir  in  ihrer  Bedeutung  für 
das  Studium  der  Gesclüclite  der  Pliilosopliie. 

Von 
Wilhelm  Diltliey  in  Berlin. 

Der  folgende  Aufsatz  möchte  die  Kreise,  die  sich  mit  der  Ge- 
scliichte  der  Philosophie  und  weiterhin  mit  der  Geschichte  wissen- 
schaftlicher Bewegungen  überhaupt  l»eschäftigen,  für  einen  Plan 
interessiren,  den  ich  länger  im  »Stillen  erwogen  und  nun  neuerdings 
einem  niichstbeteiligten  Kreise  vorgelegt  habe').  Die  Handschriften 
der  Personen  von  geistiger  Auszeichnung,  welche  Deutschland  seit 
den  Tagen  des  Humanismus  und  der  Reformation  hervorgebracht 
hat,  sind  durch  die  Vernachlässigung,  die  ihnen  gegenüber  obwaltet, 
zum  grössten  Teil  zu  Grunde  gegangen.  Was  sich  von  ihnen  er- 
hielt, ist  über  ganz  Deutschlund  zerstreut,  im  Besitz  von  öttent- 
lichen  Bibliotheken  und  von  Privatpersonen.  Die  Gefahr  besteht, 
dass  von  dem  was  Privatpersonen  besitzen  immer  mehreres  ver- 
loren gehe.    Dieser  Zustand  ist  unerträglich.    Er  muss  allmälig  die 

')  Der  Plan  von  Archiven  der  Litteratiir,  auf  wi-lclieii  sieb  cias  folgemlo 
bezielit,  ist  von  mir  zunäclist  in  einem  Vortrag  vorgelegt  worden,  welclier  am 
IG.  Januar  d.  J.  die  Zusammenkünfte  einer  Gesellschaft  für  deutsche  Litteratiu- 
eröffnete.     Her  Vortrag  ist  iui  diesjährigen  Jlär/heft   dn   [{uadsihau  erscliienvii. 

94 

Archiv  f.  Gesdiichte  d.  Philosophie.     II.  " 


344  Wilhelm  Dilthoy, 

Zerstörung  aller  Handschriften,  die  sich  nicht  durch  einen  glück- 
lichen Zufall  in  die  Bibliotheken  oder  in  andere  öfrentliclie  Stätten 
retten,  zur  Folge  haben.  Er  macht  zugleich  eine  wirkliche  Ge- 
schichtsschreibung auf  dem  Gebiete  der  Litteratur  und  des  geistigen 
Lebens  unmöglicii.  ]\Iit  Neid  muss  heute  Jeder,  der  die  Geschichte 
geistiger  Bewegungen  studirt,  auf  den  Genossen  blicken,  der  die 
moderne  politische  Geschichte  in  wolgeordneten  Archiven  bearbeitet. 
Solche  Archive  bedürfen  wir  auch  für  die  Litteratur.  Und  zwar 
sind  im  folgenden  überall  unter  Litteratur  alle  dauernd  wertvollen, 
über  den  Dienst  des  praktischen  Lebens  hinausreichenden  Lebens- 
äusserungen  eines  Volkes  zu  verstehen,  welche  sich  in  der  Sprache 
darstellen.  Der  Ausdruck  Litteratur  umfasst  demnach  Dichtung 
und  Philosophie,  Geschichte  und  Wissenschaft.  Wenn  ich  nun  an 
anderem  Ort  unter  dem  allgemeinsten  Gesichtspunkt  die  Notwen- 
digkeit solcher  Archive  besprochen  habe,  so  soll  die  hier  folgende 
Darstellung  den  Wert  erörtern,  den  dieselben  für  die  Geschichts- 
schreibung der  Philosophie  sowie  der  geistigen  Bewegungen  über- 
haupt haben  würden. 

L 

Dass  der  AVert  der  Handschriften  für  die  Geschichte  der 
neueren  Philosophie  und  im  weiteren  Sinne  der  neueren  intellec- 
tuellen  Bewegung  erst  allmiilig  und  sehr  langsam  zur  Anerkennung 
gelangt  ist,  war  zunächst  durch  die  solange  herrschende  Behand- 
lung der  Geschichte  der  Philosophie  bedingt. 

Die  Geschichte  der  einzelnen  philosophischen  Disciplinen  und  der 
einzelnen  Wissenschaften,  wie  Aristoteles  und  seine  Schule  sie  be- 
gründet haben,  sodann  die  doxographischen  Darstellungen  sind,  als 
aus  den  Arbeiten  der  humanistischen  Epoche  im  17.  und  18.  Jahr- 
hundert eine  Universalgeschichte  der  Philosophie  erwuchs,  liei  den 
Arbeitern  auf  diesem  Gebiete  ganz  zurückgetreten  gegen  die  Dar- 
stellungen des  Lebens  und  der  Lehren  einzelner  Philosophen,  des 
Lehrsystems  einzelner  Schulen  und  die  Verbindung  solcher  Biogra- 
phieen  zu  einem  Ganzen.  Diogenes  Laertius  war  für  diese  beque- 
mere und  doch  zugleich  anziehende  Form  das  Vorbild.  Auf  dieser 
Grundlage  haben  wir   Deutsche  eine  LTniversalgescIiichte  der  Philo- 


Arcliivo  lior  I.itt.  in  iliror  P.e'leut.  für  das  Stnd.  der  Gesch.  der  Philos.     345 

Sophie  geschaft'en.  Denn  Stanley  schränkt  sich  aul'  die  alte,  als 
die  einzige  Philosophie  ein.  Pierre  Bayle  konnte  nach  seinem 
ganzen  Standpunkt  wol  Leben  und  Lehren  der  einzelnen  Philosophen 
darstellen  und  der  Kritik  des  souveränen  Skeptikers  unterwerfen:  ein 
universalhistorischer  Zusammenhang  bestand  für  ihn  nicht.  Dagegen 
Jakob  Thomasius,  Brucker  und  Tennemann  haben  eine  allgemeine 
Geschichte  der  Philosophie  geschaflen.  Schliesst  sich  Brucker  an  das 
Verfahren  des  Diogenes  Laertius  noch  an  und  besteht  bei  ihm  die 
Geschichte  der  neueren  Philosophie  in  Leben  und  Lehre  aneinander- 
gereihter grosser  Männer,  des  Giordano  Bruno,  C'ardanus,  Baco, 
Campanella,  Hobbes,  Descartes,  Leibniz,  Thomasius,  welche  er  als 
die  „Heroen"  der  modernen  Philosophie  bezeichnet  (bist.  crit.  IV. 
2.  p.  Ö21),  so  hat  er  doch  schon  das  Bediirfniss  empfunden  diese 
Darstellung  zu  ergänzen  durch  eine  den  letzten  Teil  seines  Werkes 
füllende  Geschichte  der  einzelnen  pliilosophischen  ^V'issenschaften 
in  den  neueren  Zeiten.  Hier  treten  uns  unter  den  Philosophen, 
welche  einen  einzelnen  Teil  der  Philosophie  gefördert  haben,  Locke, 
Spinoza,  Newton  neben  den  von  Brucker  so  bevorzugten  deutschen 
Eklektikern  des  18.  Jahrhunderts  entgegen.  I^ag  es  doch  in  der 
Kathedergewohnheit  der  Philosophen  dieser  eklektischen  Schule, 
für  welche  Thomasius  vorbildlich  war,  das  Systematische  der  ein- 
zelnen Fächer  mit  dem  Histoiischen  zu  verbinden. 

Eine  wissenschaftliche  Geschichte  der  Philosophie  entstand  in- 
dessen erst,  als  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  zwei 
neue  Momente  in  diesen  Teil  der  Historie  eindrangen. 

Die  deutsche  Philologie  und  die  von  ihr  geschatfene  littera- 
rische Methode  bildete  das  erste  Moment.  Man  lernte  eine  Schrift 
nach  Entstehung,  Absicht  und  Compositiou  zergliedern.  Man  lernte 
ein  verlorenes  Werk  aus  Fragmenten  und  Nachrichten  reconstruiren. 
Den  Zusammenhang  von  Schriften  in  dem  Kopf  eines  Autors,  die 
Beziehungen  zwischen  Schriften  oder  Autoren  in  einer  litterarischen 
Bewegung  lernte  man  in  methodischer  Genauigkeit  erfassen.  Und 
in  unsern  Tagen  bildet  den  Triumph  dieser  literarischen  Methode 
das  auch  an  alt-  und  neutestamentlichen  Schriften  und  an  mittel- 
alterlichen Geschichtschreibern  ausgebildete  Verfahren,  hinter  com- 
pilirenden  AVerken  gleiclisam  die  erlüschte  Schrift  der  Originale  zu 

24* 


340  Willirlin   Diltliey. 

lesen,  an  langsam  entstandenen  Büchern  die  Nähte,  Lücken  und 
Widersprüche  zu  beobachten,  sowie  die  Schichten  ihres  Aufbaus  zu 
unterscheiden. 

üas  andere  Moment,  auf  dem  die  Entstehung  einer  wissenschaft- 
lichen Geschichte  der  Philosophie  beruhte,  lag  in  der  seit  Winkel- 
mann von  der  deutschen  Historie  und  Philosophie  allmälig  vervoll- 
kommneten Einordnung  der  litterarischen  Erscheinungen  in  den  Zu- 
sammenhang einer  aufsteigenden  Entwicklung.  Diese  Entwicklungs- 
lehre, welche  zwischen  den  Systemen  einen  inneren  Zusammenhang 
hergestellt,  die  relative  Leistung  eines  jeden  von  ihnen  für  die  Ent- 
wicklung der  Menschheit  bestimmt  und  mitten  im  Wechsel  der 
Philosophieen  ein  siegreiches  Fortschreiten  zur  Wahrheit  nachge- 
wiesen hat,  ist  eine  der  eigenthümlichsten  Leistungen  des  deutschen 
Geistes.  Unser  Volk  allein  hat  im  höchsten  Sinne  geschichtliches 
Bewusstsein.  Wenn  heute  die  Philosophie  Hegels  zur  Verwun- 
derung Vieler  in  dem  empiristischen  England  einen  erheblichen 
Einfluss  zu  üben  beginnt,  so  ist  eben  dem  heutigen  Engländer 
Hegel  das  Gefäss  dieses  geschichtlichen  Bewusstseins,  das  bei  uns 
alle  Geisteswissenschaften  durchdringt.  Descartes  in  Frankreich, 
Baco,  Hobbes  und  Locke  in  England  zerrissen  die  geistige  Con- 
tinuität  der  intellectuellen  Entwicklung  von  Altertum  und  Mittel- 
alter her.  Dagegen  haben  bei  uns  seit  Melanchton,  welcher  ganz 
von  der  Einheit  des  antiken  mit  dem  christlichen  Geiste  erfüllt 
war,  Gymnasieen,  Universitäten  und  Wissenschaft  in  dem  Gefühl 
dieser  Einheit  gelebt.  Dann  hat  der  andere  grosse  praeceptor  Ger- 
maniae,  Leibniz,  die  moderne  AVissenschaft  in  diesen  umfassenden 
Rahmen  aufgenommen.  Altertum  und  Christentum  wurden  mit  der 
mechanischen  Weltanschauung  der  Neueren  zu  einem  Ganzen  ver- 
schmolzen. So  ist  Universalität  der  Grundcharakter  der  deutschen 
AVissenschaft  geworden.  Und  solches  Zusammenfassen  geistiger 
Lebensgestalten  in  der  Tiefe  des  Bewusstseins  musste  nun  zu  dem 
Gedanken  der  Entwicklung  führen,  als  in  welchem  allein  eine  Ein- 
heit dieser  Gestalten  für  das  Bewusstsein  hergestellt  werden  kann. 
Man  sieht  diesen  Gedanken  bei  Leibniz  aus  der  Lage  hervorwachsen. 
So  keimt  schon  in  der  Vorrede  zur  Theodicee  Lessings  Erziehung 
des  Menscheno-eschlechts.    Die  geschichtliche  Universalität  des  deut- 


'e^ 


Archive  der  Liil.  in  iincr  Bedeiit.  für  fliis  Stud.  der  Ge,sch.  der  Philos.     347 

sehen  Geistes  und  der  iu  ihr  gegründete  Gedanke  der  Entwicklung 
waren  dann  die  Grundlage  für  die  historischen  Ideen  und  Arbeiten 
von  AVinkelmann.  Lessing,  Herder,  Iselin,  Pestalozzi.  Wie  Hegel 
diesen  Gedanken  durch  das  ganze  Wissen  verfolgt  hat.  so  hat  er 
auch  die  Geschichte  der  Philosophie  zuerst  demselben  unterworfen. 

Und  wenn  Hegel  leider  die  exakte  Grundlage  der  philosophi- 
schen Methoden  verschmähte,  so  hat  die  auf  ihn  folgende  Generation 
die  beiden  Momente,  auf  denen  wissenschaftliche  Behandlung  der 
Geschichte  der  Philosophie  beruht,  nun  miteinander  zu  verknüpfen 
verstanden.  Die  philologisch  -  kritisch  erforschte  Entwicklungsge- 
schichte der  einzelnen  grossen  Denker  ist  überall  Unterlage  für  die 
Erkenntniss  des  Zusammenhanges  des  philosophischen  Denkens  selber 
geworden.  So  wird  allraälig  die  ursprüngliche  Begrenzung  der  Ge- 
schichte der  Philosophie  aufgegeben:  sie  ist  nicht  mehr  nur  eine 
Geschichte  der  grossen  Philosophen. 

Doch  entsteht  das  Bedürfniss,  wenn  die  Geschichte  der  Philo- 
sophie ihren  hervorragenden  Platz  in  unserm  wissenschaftlichen 
Denken  und  in  dem  Unterricht  auf  den  Universitäten  behaupten  soll, 
den  bedeutenden  Stoff  in  eine  noch  tiefere  Beziehung  zu  unserm 
geschichtlichen  Bewusstsein  zu  setzen. 

Die  philosophischen  Systeme  sind  aus  dem  Ganzen  der  Cultur 
entstanden  und  haben  auf  dasselbe  zurückgewirkt.  Das  erkannte 
auch  Hegel.  Aber  nun  gilt  es,  den  Causalzusammenhang  nach 
seinen  Gliedern  zu  erkennen,  in  welchen  sich  dieser  Vorgang  voll- 
zog. Diese  Aufgabe  hat  sich  Hegel  noch  nicht  gestellt.  Und  ihre 
Lösung,  die  Versetzung  der  philosophischen  Denker  in  den  leben- 
digen Zusammenhang,  dem  sie  angehörten,  macht  dann  sofort  eine 
litterarische  Behandlung  erforderlich,  welche  aus  der  ganzen  noch 
erreichbaren  Kenntniss  über  die  Mitarbeiter,  die  Gegner  und  die  be- 
einflussten  Personen  den  Causalzusammenljang  des  A'organgs  er- 
forscht. Saint-Beuve  in  seiner  Geschichte  von  Port  Royal,  Buckle 
in  einigen  Partieen  seiner  Geschichte  der  Civilisation,  Taine  in 
verschiedenen  Theilen  seiner  Geschichte  der  englischen  Litteratur  sind 
beachtenswerte  Beispiele  eines  solchen  Verfahrens.  Jedoch  sind  auch 
diese  Schriftsteller  in  der  Abschätzung  der  Stärke  und  des  Umfanges 
der  geistigen  Bewegungen,  in  der  Verfolgung  der  ursächlichen  Be- 


348  Williplm   Iiillhey, 

ziehungon,  flie  zwischen  Theolugio,  Litlcralur.  positiven  Wissen- 
schaften und  Philosuphic  bestehen,  noch  nicht  so  inethodisoh  ver- 
fahren, als  dies  die  Quellen  gestatten.  Die  Bewegung,  welche  in 
Frankreich  deji  Dcscartes  hervorbrachte  und  durch  den  Einfluss 
seiner  Schule  dem  französischen  Geiste  teilweise  sein  Gepräge  gab, 
die  andere  Bewegung,  in  deren  Verlauf  Bacon,  Hobbes  und  Locke 
hervortreten,  setzen  sich  aus  dem  Zusammenwirken  vieler  Personen 
zusammen.  Zwischen  dem  Kultus  der  philoso{)hischen  Heroen  in 
einer  Geschichtschreibung,  welche  zwischen  diesen  Einzelpersonen 
abstrakte  Fäden  spinnt,  und  der  demokratischen  Erklärung  aus 
Massenbewegungen,  wie  sie  Buckle  einzuführen  versuchte,  liegt  die 
geschichtliche  Wahrheit  mitten  inne:  sie  lässt  sich  nicht  in  einer 
Formel  ausspi'echen.  ^'ielmehr  ist  die  Erkenntniss  dieser  Wahr- 
heit erst  das  Ergebniss  der  geschichtlichen  Einzelforschung. 

Es  sei  erlaubt,  diesen  Zusammenhang  der  Geschichte  der 
Philosophie  mit  der  Kulturgeschichte  von  einem  psychologischen 
Ausgangspunkte  aus  zu  verdeutlichen. 

Die  Struktur  des  Seelenlebens  enthält  in  sich  das  Schema, 
gleichsam  das  Gerüst  für  alle  aus  dem  Zusammenwirken  seelischer 
Einheiten  entstehenden  geschichtlichen  Vorgänge.  Aus  der  geistigen 
Atmosphäre,  in  Avelcher  der  Mensch  lebt,  entstehen  ihm  Eindrücke,  sie 
werden  mit  den  angesammelten  Erfahrungen  verknüpft,  sie  werden 
im  Denken  verarbeitet.  Wie  nun  aber  die  AVurzel  unserer  Existenz 
ein  Mannichfaltiges  von  Gefühlen  und  Trieben  ist,  die  mit  elemen- 
tarer Gewalt  sich  dem  Wirklichen  entgegen  strecken,  und  von  deren 
Befriedigung  durch  das  Wirkliche  alsdann  Erhaltung,  Glück  und 
Entwickelung  des  Individuums,  wie  Erhaltung  der  Art  abhängig  ist: 
wird  dem  so  gearteten  und  von  Trieben,  Begehrungen  und  Gefühlen 
erfüllten  Menschen  Alles,  Sachen,  Personen,  erkannte  Natur-  und 
Lebensverhältnisse  zum  Material,  an  welchem  sein  Lebensgefühl, 
sein  Gemüth  sich  bethätigt.  Alsdann  werden  von  diesen  Gefühlen. 
Trieben  und  Affekten,  als  von  Motoren,  die  ^Villensvorgänge  und  Be- 
wegungen getrieben,  welche  dies  Eigenleben  der  Umgebung  anpassen 
oder  unsere  Zustände  selber  den  Lebensbedingungen  accomodiren. 

Die  konkrete  Einheit  dieser  Vorgänge  in  der  Person  ist  immer 
geschichtlich.     JJic  Kultur  eines  Zeitalters   kann   als  die  Art   und' 


Arcliive  rler  Litt,  in  ihrer  Bedeuf.  für  fi;is  Sind,  der  (lesoli.  der  Pliilos.     349 

Weise  angesehen  werden,  wie  dieser  Struktur/Aisammenhang,  der 
sich  vermittelst  der  Wechselwirluuig  zwischen  Individuen  durch  ein 
Ganzes  erstreckt,  innerhalb  dieses  Ganzen  eine  Ausbildung  der  Glieder 
der  Struktur  und  eine  Verbindung  zwischen  diesen  Gliedern  gewinnt: 
gleichsam  Organe  des  Gewahrens,  Geniessens  und  »Schaft'ens,  sowie 
einheitliche  Macht  der  Bethätigung.  Es  ist  nun  immer  bemerkt  Avordeu, 
dass  die  philosophischen  Systeme  in  einem  gewissen  Verstände  die 
Kultur  eines  Volkes  und  einer  Zeit  repräsentiren.  Dies  ist  darin  be- 
gründet, dass  sie  allein  das  Leben  selber  zum  vollständigen  be- 
wussten  Zusammenhang  im  Denken  erheben.  Indem  ein  philosophi- 
sches System  von  den  gesammelten  Erfahrungen  und  den  positiven 
Wissenschaften  einer  Zeit  ausgeht,  gestaltet  es  von  da  eine  Ein- 
heit, die  hinüber  reicht  in  die  Lebensführung  des  Einzelnen  und 
in  die  Leitung  der  Gesellschaft.  Wo  dieser  Zusammenhang,  der 
aus  der  Erkenntniss  der  Wirklichkeit  die  in  ihr  möglichen  Ziele 
entwickelt,  so  klar  und  fest  ist  als  es  die  Mittel  des  menschlichen 
Denkens  in  einer  gegebenen  Zeit  gestatten:  da  ist  Philosophie. 
Und  nur  wo  Philosophie  ist,  hat  die  Ueberzeugung  zugleich  eine 
wissenschaftliche  Grundlage  und  ein  praktisches  Ziel.  Der  Religion 
wie  der  Dichtung  fehlt  das  wissenschaftliche  Fundament.  Dagegen 
der  positiven  Wissenschaft  fehlt  die  führende  Kraft,  das  Leben  des 
Einzelnen  und  der  Gesellschaft  zu  bestimmen. 

Aus  diesen  Verhältnissen  ergiebt  sich  dann  ein  zweiter  Satz. 
■  Die  Erkenntniss  der  geschichtlichen  Natur  des  Menschen,  die  Ein- 
sicht in  die  Veränderungen  des  ganzen  Seelenlebens  nach  seiner 
vollen  Lebendigkeit  und  Wirklichkeit,  also  der  Blick  in  die  Ent- 
faltung des  Einen  ganzen  Menschen  innerhalb  der  Geschichte  sintl 
überall  auf  das  Studium  der  geistigen  Bewegungen,  zumal  aber  auf 
die  Geschichte  der  Philosophie  angewiesen.  Die  geschichtliche 
Natur  des  Menschen  ist  seine  höhere  Natur  überhaupt.  Noch  sind 
Psychologie  und  Psychophysik  nicht  zu  einer  sicheren  Einsicht 
darüber  aelangt,  wie  aus  dem  Zusammen w'irken  von  Elementen 
und  von  elementaren  Processen  die  höheren  Leistungen  von 
Selbstbewusstsein,  Denken  und  sittlichem  Wollen  entspringen. 
Niemand  vermag  zu  entscheiden,  ob  aus  der  Zusammensetzung  von 
Elementen  und  Processen  ohne  Rest  und  Minderung  diese  höheren 


350  Wilhelm   IiiJthev, 

Leistungen  abgeleitet  werden  können.  Auch  vermögen  wir  nicht 
aus  den  Funden  der  paläolithischen  und  ncolithischen  Zeit  über 
die  seelischen  Zustände  der  ersten  Menschen  uns  eine  zuverlässige 
Vurstellung  zu  bilden.  Doch  was  wir  wissen,  berechtigt  mindestens 
zu  dem  Schlüsse,  dass  der  liöhere  Gehalt,  welcher  früher  als  die 
ursprüngliche  Mitgift  der  Menschennatur  angesehen  wurde,  viel- 
mehr überall  in  der  mühsamen  Arbeit  der  Geschichte  erworben 
wird.  Dem  entspricht  auch,  dass  dieser  höhere  Gehalt  nicht  all- 
gemeingiltig  sich  in  der  Menschennatur  als  stets  derselbe  ausprägt: 
er  besteht  nur  in  unterschiedenen  geschichtlichen  Formen.  Und 
zwar  können  wir,  da  die  in  der  Menschenwelt  wirkenden  Kräfte 
immer  dieselben  gewesen  sind,  die  Natur  dieser  geschichtlichen 
Arbeit  auf  der  primitiven  Stufe  aus  der  Natur  derselben  in  den 
späteren  geschichtlich  helleren  Zeiten  erschliesscn.  Auch  in  diesen 
von  der  Geschichte  beleuchteten  Zeiten  ist  freilich  die  Durchsich- 
tigkeit der  Entwicklung  auf  den  verschiedenen  Gebieten  nicht  die- 
selbe. Die  Zunahme  des  Wissens  und  der  Einlluss  seiner  Verän- 
derungen auf  die  Civilisation  ist  einer  genauen  historischen  Dar- 
stellung fähig.  Auch  die  Ausbildung  der  Erfindungen,  Künste  und 
Lßbeusordnungen,  als  der  Handgriffe  des  menschlichen  Handelns, 
kann  festgestellt  werden.  Zwischen  l)eiden  aber  liegt,  was  den 
Kern  der  ]\Ienschennatur  ausmacht.  Dieser  Kern  entsteht,  indem 
die  uns  selbst  wie  den  ^Veltlauf  regierenden  mächtigen  Triebe,  die 
sanftem  Regungen,  die  Gemüthszustände,  welche  alle  zunächst  ver- 
einzelt wirken,  Beziehungen  eingehen,  indem  sie  unter  den  Be- 
dingungen der  Lebensumstände,  der  Lage  des  Wissens,  der  Hilfs- 
mittel des  Handelns  bestimmte  Werte  für  den  Zusammenhang  des 
Lebens  empfangen,  indem  sie  in  bestimmte  Verhältnisse  zur  Wirk- 
lichkeit treten.  So  entsteht  eine  gehaltvolle  Einheit,  ein  Kern  der 
Person.  Auch  dies  Höchste  in  all  unserm  menschlichen  Thun,  ein 
einheitlicher  \Ville,  welcher  durch  die  Eindrücke  von  aussen,  durch 
die  Ansammlung  von  Erfahrungen  bedingt  ist  und  seinerseits  das 
Handeln  l)edingt,  ist  uns  nicht  mitgegeben,  sondern  er  ist  der  Er- 
werb der  Arbeit  in  Sitte  und  Sprache,  in  Poesie  und  Mythos.  Die 
Person  entwickelt  sich  gerade  in  diesem  ihrem  Kerne  vorherrschend 
unter  dem  Einfluss  von  metaphysischem   G'lauben   und  weiter  von 


I 


An.hive  der  Litt,  in  ihnT  Bedeut.  für  da-  Sind.  i|pr  Ciesoh.  der  Piül  ■>.     351 

inctaphysischer  Wissenschaft.  So  stellon  sich  die  grossen  A'erän- 
(lerungen  im  Lrl)ensgeffilil  der  Menschen  in  den  Veränderungen  der 
l'liilosophic  dar.  Die  Geschichte  der  Pliilosophie  macht  die  Auf- 
finanderfulgc  der  Positionen  des  menschlichen  Seelenlebens  sichtbar. 
Sie  giebt  die  Möglichkeit,  den  geschichtlichen  Ort  für  die  einzelnen 
i'lrscheinuugen  der  Litteratur,  der  Theologie  nnd  der  Wissenschaften 
zu  erkennen.  Denn  jede  im  philosophischen  Denken  erfasste  neue 
i'usition  des  Bewusstseins  äussert  sich  gleicherweise  im  wissen- 
schaftlichen Erkennen  dieser  Wirklichkeit,  in  den  Wertbestimmun- 
gen des  Gefühls,  und  in  den  Willeushandlungen,  also  der  Führung 
des  Lebens  und  der  Leitung  der  Gesellschaft. 

IL 

Diese  Sätze  umschreiben  den  Causalzusaramenhang,  in  welchem 
das  langsame  Fortrücken  der  Philosophie  stattfindet.  Die  Ge- 
schichte kennt  keine  verwickeitere  Erscheinung  als  die  Philosophie 
eines  Zeitalters  ist,  sofern  man  diese  Philosophie  nicht  nur  äusser- 
lich  beschreiben,  sondern  als  Lebensmacht  verstehen  will.  Dem- 
gemäss  muss  die  Analysis  dieses  Phänomens  alle  Hülfsmittel  be- 
nutzen und  jeden  geschichtlichen  Rest  des  Vorgangs  zu  Rathe 
halten.  Je  grösser  das  Lebenswerk  eines  ^Menschen  ist,  desto  tiefer 
reichen  die  Wurzeln  seiner  geistigen  Arbeit  in  das  Erdreich  von 
Wirthschaft,  Sitte  und  Recht  seiner  Zeit,  und  in  desto  mannigfalti- 
gerem lebendigerem  Austausch  mit  Luft  und  Licht  umher  athmet 
und  wächst  sie.  In  solchem  feinen,  tiefen  und  verwickelten  Zu- 
sammenhang kann  jedes  scheinbar  unerhebliche  Blatt  Papier  ein 
Element  von  Causalerkenntniss  werden.  Das  fertige  Buch  spricht 
für  sich  wenig  von  dem  Geheimniss  seiner  Entstehung  aus.  Pläne, 
Skizzen.  Entwürfe,  Briefe:  in  diesen  athmet  die  Lebendigkeit  der 
Person,  so  wie  Ilandzeichnungen  von  derselben  mehr  verraten  als 
fertige  Bilder.  Wol  kann  eine  Geschichte  der  Systeme,  welche 
eines  nach  dem  andern,  wie  mit  dem  Storchschnabel,  in  verklei- 
nertem Maassstabe  reproducirt,  ganz  aus  den  bekannten  Büchern 
geschrieben  werden.  Eine  solche  Geschichte  beschieibt  die  Systeme 
und  macht  ihre  Form  sichtbar.  Geht  man  aber  von  den  15(iclicrn 
zu  dem  Menschen  zurück,  will  man  seine  Lebensmacht  verstehen 


8;V2  Willielm   lüll  hey, 

und  seine  Entwicklung  erkennen,  dann  liedarf  es  hierzu  des  Inbe- 
griü's  aller  aus  seiner  Zeit  nooli  aul'  uns  gekommenen  IJücher:  man 
muss  über  die  l)ekannten  .Schriftsteliei-  zu  den  vergessenen  zurück- 
gehen und  alle  Glieder  des  Zusammenhangs,  der  aus  Büchern  be- 
steht, auispüren:  es  bedarf  endlich  auch  der  Handschriften.  Dann 
ist  von  keinem  Blatt  zu  sagen,  was  es  mitzuteilen  vermag,  wenn 
es  nur  unter  das  richtige  AuQ,e  kommt. 

JJem  Wirklichkeitssinn  unserer  Tage  erscheint  der  Mensch 
als  der  eigentliche  Grundkörper  für  diesen  Zweig  von  (ileschichte, 
wie  für  jeden  anderen.  Dies  muss  alle  Grundvorstellungen  nl)er 
geistige  Bewegungen  beeinflussen.  Zugleich  giebt  es  den  unmittel- 
baren intimen  Lebensäusserungen  in  Handschriften,  Briefen  einen 
hohen  Wert. 

Die  Einheit,  durch  welche  wir  dt^n  Verlauf  einer  geistigen 
Bewegung  messen,  ist  in  dem  Menschen  selber  zu  suchen. 
Nur  von  aussen  angesehen,  liegt  das  Gerüst  des  Verlaufs  geistiger 
Bewegungen  in  dem  System  von  Stunden,  Monaten,  Jahren  und 
Jahrzehnten,  in  das  wir  das  Geschichtliche  zunächst  einordnen. 
Dem  Verhältniss  zwischen  den  Sekunden  der  Uhr  und  dem  psycho- 
logischen Zeitmaass  entspricht  für  die  grossen  Zeiträume  des  ge- 
schichtlichen Ablaufs  das  Verhältniss  zwischen  den  Jahrzehuten 
oder  Jahrhunderten  und  dem  Menschenleben  oder  den  Lebens- 
altern. ]m  Verlauf  des  .Menschenlebens  ist  die  natürliche  Ein- 
heit für  ein  anschauliches  Abmessen  der  Geschichte  geistiger  ]3e- 
weguugen  gegeben.  Eine  graphische  Darstellung  der  bald  kürzereu, 
bald  längeren  Lebenslinien  ist  zuerst,  soviel  ich  sehe,  von  dem 
Physiker  und  Philosophen  Priestley  in  seiner  Chart  of  biography 
versucht  worden.  Poggendorft"  hat  sich  dann  derselben  in  seinen 
Lebenslinien  zur  Geschichte  der  exakten  Wissenschaften  (1853) 
bedient.  Doch  l)lieb  nach  meiner  Kenutniss  dies  Beispiel  bisher 
ohne  erhebliche  Nachfolge. 

Als  Zeiteinheit,  vermittelst  deren  umfassendere  geistige  Be- 
wegungen oder  Veränderungen  gleichsam  biologisch  gemessen  wer- 
den können,  bietet  die  Generation  sich  dar*).    Generation  ist  die 


■-')  Die    Bedeutung   der    Gruudvorstellung   Generation    für    die   Geschichte 


Archive  iler  Litl.  in  ihrer  l^e'leut.  für  das  Stml.  der  Ge-'-h.  der  Phih'S.      353 

Bezeichnung  Tür  einen  Zeilrauni,  der  von  der  Geburt  liis  zu  der- 
!  jeüigeu  Altersgrenze  reicht,  an  welcher  durchschnittlich  ein  neuer 
'Jahresring  am  Baume  einer  Descendenzreihe  sich  ansetzt.  Eine 
solche  Generation  ist  in  ihrer  Dauer  von  den  Gewohnheiten  der 
Eheschliessnng  bedingt.  Der  Altersunterschied  zwischen  dem  A'ater 
imd  den  Kindern,  wenn  dabei  der  mittlere  Altersunterschied  zwi- 
schen den  ältesten  und  jüngsten  Geschwistern  angesetzt  wird,  be- 
trügt für  Deutschland  3B'/,.  für  England  Bö'/,  und  für  Frankreich 
347,  Jahr.  Im  Ganzen  also  umfasst  ein  Jahrhundert  drei  Gene- 
rationen. Die  intellectuelle  Geschichte  Europas  seit  Thaies,  als  dem 
ersten  wissenschaftlichen  Forscher,  von  dem  wir  wissen,  umfasst 
nur  84  Generationen.  Von  der  letzten  Blüte  der  Scholastik  sind 
wir  kaum  durch  14  Generationen  getrennt.  Diese  Vorstellung  ist 
sehr  nützlich,  die  lebenswirklichen  Abstände  geistiger  Veränderun- 
gen zur  Anschauung  zu  bringen.  Jeder  von  uns  kennt  den  geistigen 
Abstand,  welcher  seine  Eltern  von  seinem  eigenen  Fühlen  und 
Denken  trennte,  und  er  kann  wieder  erfahren,  in  welchen  Grenzen 
seine  Kinder  ihn  verstehen,  seine  Gefühle  und  Gedanken  teilen. 
Diese  lebendige  Anschauung  kann  er  anwenden,  um  den  Fortgang 
geistiger  Veränderungen  in  der  Geschichte  fassbar  zu  machen.  Dann 
schliesst  sieh  an  diese  Anschauung  des  Abstandes  der  Generationen 
das  Verhältniss  zwischen  dem  Mann  auf  der  Höhe  seines  Lebens, 
in  den  öOer  Lebensjahren,  und  dem  lernenden  Jüngling:  ein  Zeit- 
abstand von  ähnlichem  Umfang  trennt  diese  beiden. 

Derselbe  Begriff,  der  so  eine  innere  Abmessung  des  Zeitver- 
laufs geistiger  Bewegungen  ermöglicht,  dient  ferner  der  konkreten 
und  realistischen  Auflassung  des  Gleichzeitigen.  Wir  bezeichnen 
diejenigen  Personen,  die  gleichzeitig  neben  einander  aufgewachsen 
sind,  die  ein  gemeinsames  Jünglingsalter  hatten  und  dann  im  Zeit- 
alter der  Kraft  neben  einander  wirkten,  als  dieselbe  Generation. 
Sofern   diese  Personen  in  den  Jahren   der  Empfänglichkeit    durch 


geistiger  Bewegungen  habe  ich  iu  einer  Ai^huiidluiig  liher  Novalis  Preussische 
Jahrbücher  1865  S.  596  — 650  gelegentlich  hervorgehoben.  Vom  Standpunkte 
des  Statistikers  ans  behandelte  sie  Riimelin,  Reden  und  Aufsätze  1875 
S.  285tr.,  uiul  Ottokar  Lorenz  über  die  Geschichtswissenschaft  1886  entwickelt 
historische  Folgerungen. 


354  Wilhelm   Dilthey, 

dieselben  grossen  Thatsachen  bedinol  wurden,  machen  sie  trotz 
der  Verschiedenheit  im  Maassverhiiltniss  dieser  Einwirkunjicn  und 
in  deren  Mischung  mit  anderen  Fakturen  ein  homogenes  Ganzes 
aus.  Eine  solche  (Jeneration  Inlden  die  8chlcgel,  Schleiermacher, 
Hegel,  Novalis,  Hölderlin,  Wackenroder,  Ticck  und  Schelling.  Xon 
diesen  Gruudvorstellungen  aus  entsteht  ein  lebendiges,  kraftvolles 
Bild  einer  Zeit,  indem  man  das  Nebeneinanderleben  der  Gleich- 
altrigen, das  Hineinragen  der  älteren  Generation  und  das  Heran- 
nahen der  jüngeren  berücksichtigt. 

Die  lebenswarmen  Verhältnisse,  welche  aus  den  Grundvor- 
stelluugen  der  Einzelperson,  der  Lebensalter  und  der  Generation 
für  die  Geschichte  der  geistigen  Bewegungen  entstehen,  bedürfen 
überall  auch  der  Benutzung  intimer  Lebensäusserungen.  Lidern 
man  den  Lebenslauf  der  einzelnen  Menschen  der  Betrachtung 
geistiger  Bewegungen  zu  Grunde  legt,  findet  man  sich  überall  auf 
biographische,  entwicklungsgeschichtliche  Materialien  angewiesen. 
Von  den  Handschriften  empfängt  eine  solche  Betrachtungsweise  ihr 
Leben  und  ihre  Fülle. 

Man  thut  einen  weiteren  Schritt,  indem  man  eine  einzelne 
wichtige  Person  entwicklungsgeschichtlich  betrachtet. 
Die  Lösung  dieses  biographischen  Problems  steht  an  Bedeutung 
und  Schwierigkeit  hinter  keiner  umfassenderen  historischen  Auf- 
gabe zurück.  Denn  in  der  Biographie  gelangt  der  Grundkörper 
aller  Geschichte  zum  Verständniss.  Und  hierbei  bleibt  Alles,  was 
Psvcholoo'ie  und  genialer  Blick  leisten  können,  eanz  ungenügend, 
wo  Handschriften  fehlen.  Die  Beziehungen  von  Werken  aufeinander 
und  zum  Geiste  des  Autors  können  nur  hypothetisch  und  unlebendig 
behandelt  werden,  wenn  nicht  Entwürfe  und  Briefe  Bezeugung 
und  lebensvolle  Wirklichkeit  gewähren.  Wo  wir  dann  aus  dem 
Nachlass  eines  grossen  Denkers  oder  Schriftstellers  schöpfen  können, 
entsteht  das  in  sich  vollkommenste  Bild,  das  wir  von  irgend 
einem  Teil  der  Geschichte  zu  erlangen  im  Stande  sind.  Denn  die 
Wahrhaftigkeit  von  Büchern,  die  Durchsichtigkeit  von  Gedanken 
und  zudem  die  Erhaltung  aller  wesentlichen  Glieder  der  Vorgänge 
in  der  Schrift  wirken  zusammen,  diesem  Teil  der  Geschichte  eine 
ihm  allein  eigene  wissenschaftliche  Vollendung  zu  geben.  —  Auch 


Archive  der  Litt,  iu  ilirer  Redeiit.  für  das  Stuil.  der  (iescli.  der  I'lulos.     35;") 

hier  gruppiren  sich  um  eine  Hauptperson  Gleichaltrige,  die  mit- 
streben  und  mitarbeiten,  eine  ältere  Generation,  welche  be- 
stimmend einwirkte,  und  eine  jüngere,  die  Einwirkungen  empfing 
und  nun  mit  neuem  Wollen  vor  der  Thiir  steht.  Alle  diese  Be- 
ziehungen treten  nur  dem  in  voller  Realität  entgegen,  welchem 
aus  Briefen  und  Papieren  der  Athem  der  Personen  zuströmt. 

Alle  Historie  geistiger  Bewegungen  muss  in  solchen 
Monographieen  die  tragenden  Pfeiler  besitzen.  Soll  sie  nun  ihre 
umfassendere  Aufgal)e  lösen,  so  müssen  die  quantitativen  Ver- 
hältnisse zwischen  den  Teilen  der  Bewegung  festgestellt  werden 
können.  Auch  vermögen  wir  Stärke  und  Umfang  der  wissenschaft- 
lichen Richtungen,  ihr  AVachsthum,  ihren  Höhepunkt  und  wieder 
ihr  Sinken,  kurz  die  Strömungen  der  wissenschaftlichen  Atmosphäre 
von  der  Zeit  ab.  in  welcher  der  Biicherdruck  ein  zählendes  Ver- 
fahren ermöglicht,  innerhalb  gewisser  Grenzen  und  mit  einer  gewissen 
Unvollkommenheit  zu  messen.  Es  bedarf  nur  der  Ausnutzung  des 
gesammten  Bücherbestandes  unserer  Bibliotheken  nach  .statistischen 
Methoden.  Durch  eine  solche  wird  man  einmal  das  ganze  Causal- 
verhältniss  einer  geistigen  Bewegung,  von  den  allgemeinen  Bedin- 
gungen eines  Culturkreises  durch  die  öffentliche  Meinung  zu 
tastenden  ^'ersuchen,  und  von  da  schliesslich  zu  einer  genialen 
Schöpfung,  in  deji  wesentlichen  Gliedern  vorstellig  machen  können. 
Intellectuelle  Phänomene,  die  man  bisher  nur  auf  wenige  Personen 
und  Vorgänge  zurückführte,  zeigen  .sich  dann  als  letztes  Resultat 
einer  sehr  zusammengesetzten  geistigen  Bewegung.  Die  Ausbrei- 
tung von  Gefühlen,  Stimmungen  und  Ideen  und  die  Cooperation 
vieler  Personen  lässt  sich  auch  hier  wieder  nur  erfassen,  wenn 
man  den  ganzen  noch  erhaltenen  Bücherbestand  benutzen  und 
ihn  zugleich  aus  den  Handschriften  ergänzen  kann. 

III. 
Vergleicht  man  mit  diesem  unschätzbaren  Wert  der  Hand- 
.Schriften  für  die  Geschichte  der  Philosophie  und  der  geistigen  Be- 
wegungen die  Sorglosigkeit,  welche  denselben  gegenüber  gewaltet 
hat,  betrachtet  man  die  aus  ihr  entstandene  Zerstörung  des  grössten 
Teils   der  wichtigen   Handschriften    und  die  Zersplitterung   beinaiie 


356  Wilhelm  D  i  1 1  h  c  y , 

aller:  so  niiiss  bei  allen  Beteiligten  ein  lebhafter  Wunsch  entstehen, 
einem  solchen  unerträglichen  Zustand  soliald  als  möglich  ein  Ende 
zu  machen. 

Ich  erläutere  dies  zunächst  an  dem  uns  interessantesten  Nach- 
lass,  dem  Kants.  Dass  Kant  selber  auf  seine  Papiere  Wert  legte, 
ja  dass  er  die  Veröffentlichung  ihres  wesentlichen  Gehaltes  Avüuschte, 
geht  daraus  hervor,  dass  er  im  Anfang  des  Jahres  1800  alle  seine 
noch  vorhandenen  Concepte.  Entwürfe,  Reinschriften,  Vorlesungs- 
hefte, Compendien  und  Briefe  an  Rinlc  und  Jäsche  übergab,  damit 
diese  eine  Revision  und  Anordnung  derselben  unternähmen  und 
das  Geeignete  zur  Veröffentlichung  vorbereiteten.  Durfte  doch  Riuk 
in  seiner  merkwürdigen  Sammelschrift  „zur  Geschichte  der  meta- 
critischen  Invasion  1800"  den  Freunden  und  Verehrern  der  kriti- 
schen Philosophie  das  allmälige  Erscheinen  der  Metaphysik,  Logik, 
natürlichen  Theologie,  physischen  Geographie  und  anderer  inter- 
essanter Schriften  Kants  durch  Rink  und  ihn  selber,  Jäsche,  ver- 
sprechen. Auch  sind  so  mehrere  Schriften  entstanden.  Nach 
dem  Tode  Kants  kam  die  Hauptmasse  an  den  Professor  Gensichen. 
als  den  Erben  der  kleinen  Bibliothek,  an  den  Buchhändler  Nico- 
lovius,  als  Verleger  Kants,  und  an  den  Pfarrer  Wasianski,  als  Exe- 
kutor des  Kant'schen  Testaments,  \ie\e  einzelne  Papiere  wurden 
verschenkt.  Da  nach  dem  Tode  der  l^eiden  ersten  Personen  diese 
Papiere  unter  den  Hammer  kamen,  dagegen  der  Besitz  von 
Wasianski  der  Königsberger  Bibliothek  geschenkt  wurde,  die 
kleineren  verschenkten  Massen  aber  schliesslich  auch  hier  und  da 
zum  Verkauf  umgeboten  wurden:  entstand  der  Zustand,  wie  er 
heute  vorliegt. 

Das  meiste  ist  naturgemäss  auf  der  Königsberger  Universitäts- 
Bibliothek  zusammengeflossen.  Von  dem  dortigen  handschriftlichen 
Nachlass  gebe  ich  die  folgende  Beschreibung,  welche  ich  der  Güte 
des  Herrn  Doktor  Reicke  verdanke:  „der  handschriftliche  Nachla.ss 
Kants  auf  der  hiesigen  Königl.  und  Uni versitäts- Bibliothek,  zum 
grössten  Teil  wol  durch  Schenkungen  in  den  30er  und  späteren 
Jahren  erworben,  besteht  fast  nur  aus  losen  Blättern  verschieden- 
sten Formates.  Schubert  hat  dieselben  behufs  Benutzung  für  die 
mit  Ro.senkranz   gemachte   Ausgabe   der  Werke   Kants   in    13  Gon- 


Archive  der  Litt,  in  ihrer  Berleiit.  für  das  Sttul.  iler  Gesch.  tler  Philos.      357 

vtdiite  geschieden,  uutl  innerhalb  dieser  geordnet.  Diese  Convoliite 
(erst  in  neuester  Zeit  mit  A — N  liezeichnet)  tragen  von  Scliuberts 
Hand  folgende  Inhaltsangaben:  A.  18  Blätter  und  Papierstreifen  zur 
Physik  und  zur  Mathematik.  B.  12  Blätter  zur  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft. C.  15  Blätter  zur  Logik  und  gegen  Eberhard.  I).  33  Blätter 
zur  Metaphysik.  Wider  den  Idealismus.  E.  78  Blätter  und  Papier- 
streifen zur  Moral,  zur  Rechtslehre  und  zur  Kritik  der  praktischen 
Vernunft.  F.  23  Blätter.  Kants  Ansichten  über  allgemeine  Gegen- 
stände der  Politik  und  des  reinen  Staatsrechts  aus  den  Jahren  1785 
bis  1799.  G.  28  Blätter.  Kants  Ansichten  zur  Religionsphilosophie 
und  natürlichen  Religion.  Zum  Streit  der  Facultäten.  H.  59  Blätter 
zur  Anthropologie.  J.  6  Blätter  zur  physischen  Geographie.  K. 
15  Stücke.  Kleine  Concepte  von  Kants  Hand,  gekauft  auf  der 
Bücherauktion  des  Prof.  Gensichen.  L.  61  Piecen.  Kleine  Denk- 
zettel von  Kants  Hand  aus  der  letzten  Zeit  seines  Lebens  (gekauft 
auf  der  Prof.  Gensichenschen  Bücherauktion),  dazu  3  Memorien- 
bücher,  von  Herrn  Bück  durch  Herrn  Ober  G.  R.  R.  Reusch. 
M.  36  Piecen.  Allgemeine  biographische  Nachrichten.  Entwürfe  zu 
Briefen.  N.  63  Briefe  an  Kant.  (Auf  der  Bücherauktion  des 
Professor  Gensichen  gekauft.)  Dazu  noch  6  andere  Briefe^)."  Hier- 
zu kommt  das  Manuscript  der  Doctor-DLssertation  „de  igne"  aus 
dem  Jahre  1755,  dann  eine  biographisch  wertvolle  Sammlung 
„Kantiana"  aus  Walds  Nachlass  (1860  von  Reicke  veröffentlicht), 
ein  Handexemplar  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  (1.  Ausg.)  mit 
handschriftlichen  Bemerkungen,  (die  Benno  Erdmann  im  Jubeljahr 
der  Kritik  publicirte),  mehrere  Compendien  von  Wolffianern,  nach 
denen  Kant  las  und  die  er  mit  Bemerkungen  versah.  Soweit 
Reicke's  Beschreibung. 

Die  anderen  Papiere  und  Briefe  Kants  sind  in  Dorpat,  Rostock, 
Hamburg  etc.  zerstreut.  Aus  der  Versteigerung  der  Kant-Papiere, 
die  in  Gensichens  Besitz  gewesen  Avaren,  gelangte  durch  Kauf  nach 
Dorpat  ein  Exemplar  der  Metaphysik  Baumgartens,  durchscho.ssen 
und  mit  zahlreichen  Bemerkungen  von  Kant  auch  auf  den  ge- 
druckten Seiten  beschrieben,  (daraus  Benno  Erdmann,  Reflexionen 


^)  A— I)    veröffentlicht    in    „Lose   Blätter-    aus    K:\u\s    Xaclilass    mitgeteilt 
von  Rudolf  Reicke.    I.Heft.    1S89. 


358  Wilhelm  Dillhey. 

Kants  zur  kntischen  Philosophie  1882)  und  eiu  ebenso  von  Kant 
mit  liaudschriftlichen  Bemerkungen  versehenes  Compendium  der 
Yernunftlehre  von  Meier.  Dann  besitzt  die  dortige  Bibliothek  noch 
zwei  starke  Bände  mit  Briefen  an  Kant  (einzelnes  daraus  in  der 
altpreussischen  Monatsschrift  veröffentlicht  von  Sintenis  und  Reicke, 
welche  eine  Ausgabe  des  Briefwechsels  von  Kant  beabsichtigen). 
Endlich  hat  Herr  Prediger  Dr.  Krause  in  Hamburg  das  neuerdings 
veröffentlichte,  leider  unvollendete  Manuscript  Kants  vom  Ueber- 
gang  von  den  metaphysischen  Anfangsgründen  der  Naturwissen- 
schaft zur  Physik  erworben. 

So  haben  sich  vom  Nachlass  Kants  drei  grössere  Massen  er- 
halten. Ausser  ihnen  finden  sich  kleine  abgesprengte  Teile  an  ver- 
schiedenen Stellen. 

So  sind  in  Rostock  auf  der  Universitätsbibliothek  7  Briefe 
Kants  an  Beck  1791,  1792.  und  Jene  Einleitung  zur  Kritik  der 
Urteilskraft,  welche  Kant  für  das  Werk  abgefasst  hatte,  die  dann 
aber  nicht  vor  dem  Werke  abgedruckt  ist,  sondern  durch  eine  kürzere 
ersetzt  wurde.  Man  wusste  bisher  von  dieser  Einleitung  aus  dem: 
Auszug,  welchen  Jakob  Sigismund  Beck  von  ihr  anfertigte  und  im 
zweiten  Bande  seines  erläuternden  Auszugs  aus  Kants  kritischen 
Schriften  abdrucken  Hess.  Dieser  Auszug  ist  zuletzt  in  Benno 
Erdmanns  Ausgabe  der  Kritik  der  Urtheilskraft  (1880)  wieder 
gedruckt.  Erdmann  erwähnt  die  Stelle  der  \'orrede  Becks,  nach 
welcher  Kant  das  Manuscript  der  Einleitung  an  Beck,  während 
dieser  mit  obigem  Werke  beschäftigt  war.  zugesendet  hat.  Hier- 
aus wie  aus  unserer  Kenntniss  Becks  und  dem  Styl  und  Inhalt 
der  Einleitung  versucht  dann  Erdmann  das  A'erhältniss  dieses  Aus- 
zugs zu  dem  unbekannten  Original  zu  bestimmen.  Nun  gut,  dies 
Original  ist  da.  es  ist  die  Rostocker  Handschrift.  Das«  Erdmann 
es  bei  seiner  Edition  nicht  kannte  und  benützte,  das  zeigt  uns, 
wie  die  Zerstreuung  der  Handschriften  ihre  Verwerthung  er- 
schwert. Die  Handschrift  besteht  in  34  Blättern  von  anderer 
Hand,  aber  von  Kant  selber  durchcorrigirt  und  mit  zahlreichen 
Randbemerkungen  und  Erweiterungen  versehen.  Da  Beck  ein  per- 
sönlicher Schüler  Kants  war,  begreift  man  das  Vertrauen,  das  er 
ihm    durch    Ueber.sendung    der   Handschrift    gewährte.     Da    er    iu 


Aicliivc  lief  LiU.  in  ilner  Redeiit.  rüi-  das  Sind,  der  Ge;>tdi.  dor  Philos.      ,H59 

Rostock  Professor  jicwescn  ist,  ist  nicht  7.11  verwundern,  dass  die 
Handschrift  nel)en  den  Briefen  Kants  an  Beck  dort  auf  die  Biblio- 
thek kam.  Also  die  Einleitung  Kants  haben  wir  augenscheinlich 
in  iiieser  Handschrift  anzuerkennen.  L'nd  nun  zeigt  eine  Verglei- 
chung,  die  Herr  Oberbibliothekar  Professor  Schirrmacher  anzustellen 
die  grosse  Güte  hatte,  dass  ganze  umfangreiche  Capitel  gar  nicht 
in  den  Auszug  aufgenommen  worden  sind.  So  wird  also  diese 
kleine  Schrift,  die  in  den  Kantausgaben  von  Rosenkranz  uuil 
Hartenstein  unter  dem  sonderbaren  Titel  Über  Philosophie  über- 
haupt' steht,  in  künftigen  Kantausgabon  nun  in  ihrer  waiu'en  (ie- 
stall  und  ihrem  ganzen  T'mfang  auf  (irund  dieses  kleinen  Fundes 
erscheinen  können.  Ich  lioiVe  im  nächsten  Hefte  des  Arclnvs 
über  den  Werth  der  ausgefallenen  Theile  und  ihren  Inhalt  l)e- 
richten  zu  können.  —  Anderes  ist  in  die  Hantl  von  Autographen- 
sammlern  gelangt.  Rudolf  Reicke  besitzt  das  wichtige  Handexemplar 
von  Kants  Beobachtungen  über  ihis  (lefühl  des  Schönen  und  Er- 
habenen, aus  welchem  Schubert  zuerst  so  bedeutende  ^litteilungen 
gemacht  hat.  ausserdem  eine  lateinische  Rectoratsrede:  „de  Medi- 
cina  corporis  quae  Philosophorum  est"  (von  Johannes  Reicke  im 
XVni.  l)de.  [1881]  der  Altpr.  Mon.  iidtgeteilt)  und  einiges  Gerin- 
gere. Manches  hat  sich  ganz  in  die  Ferne  verloren:  so  fmde  ich 
in  einer  Beschreibung  der  Autogra[)hen  im  Besitz  von  Fillon:  Lettre 
scientiri(|ue  et  philosophique  de  Kant  au  Professeur  Schulz  a  Jena. 
20  juni  1787  (vielleicht  an  Schütz,  vergl.  s.  Leben  IL  208—201)). 
Dies  Schicksal  der  Papiere  Kants  ist  im  höchsten  (irade  be- 
lehrend. Die  Papiere  enthielten  aller  Wahrscheinlichkeit  nacii  ur- 
sprünglich die  Volle  und  ganze  .Möglicld<eit,  die  Entwicklungsge- 
schichte eines  der  grr>ssten  philosophischen  Genit's  aller  Zeiten  und 
die  wahren  geschiclitlichen  ^lotive  seiner  (iedankenl>ildung  zu  er- 
kennen. Auch  isl  heuie  iindi  jede  Aussicht  dieser  Art  au  die 
Trümmer  dieses  Nrichlasses  gebunden.  Die  j^ciiialisclie  Jugeml- 
epoche  dieses  Geistes,  sein  freier  IieJcht lium  \nr  der  systematischen 
Verfestiuung  werden  .•^itli  uns  immer  zuerst  in  der  .\;iturncschichte 
des  Himmels,  dm  Beidjüchluniicn  üliei'  ila>  Sclnine  und  i']rhabene 
luid  den  Träumen  eines  (ieisterseiiers.  in  zweiter  Linie  aber  in  den 
Pai)ieren   dieser   früheren  Zeit   erschliessen.      l  nd    was   ist    nun    ihr 

Aicliiv    1'.   C.'srliirlit,-   ,1.    l'l,il,.s<.|.lii.-.      U.  -'-' 


3ßQ  Willi  rhu   l»ill  lifv. 

Schicksal  gewesen!  Vieriniil  iniiiclcstous.  dass  wir  wisM'ii.  ^illtl  er- 
hebliche niul  wichtige  Teile  dieses  Nachlasses  unter  dem  Hammer 
des  Auktionators,  in  den  Händen  der  (ieldspekulation  gewesen, 
^lindestens  in  Einem  Falle  higen  wichtige  Papiere  Kants  in  dem 
Laden  eines  Gewiirzkiämers.  um  zum  Einwickeln  von  KalVee  und 
Hei'ingen  benutzt  zu  werden.  Weder  (be  rnterrichtsvei'waltung 
noch  der  Leiter  der  Künigsberger  l)il)liothek  empfand  damals  die 
Verpflichtung,  selbstthätig  das  für  die  Erhaltung  dieses  Nacldasses 
Erfordoiliche  ins  ^^'erk  zu  setzen.  Niemand  hat  daran  gedacht,  sichf 
um  die  Briefe  Kants  an  die  Personen,  mit  denen  er  in  Korrespon- 
denz stand,  rechtzeitig  nach  seinem  Tode  zu  bemühen.  Es  bestand 
eben  keine  Stelle,  .welcher  in  Bezug  auf  Handschriften  Initiative' 
zufiel.  So  ist  der  Nachlass  zerrüttet;  ein  Teil  desselben  gerieth  auS' 
Deutschland  heraus  und  was  sich  bei  uns  erhielt,  ist  zersplittert. 
^Ver  nicht  sehr  geübt  ist.  in  Handschriften  zu  arbeiten,  kann  sich 
unmöglich  vorstellen,  was  das  bedeute,  ^laudier  denkt,  es  koste 
nur  Reisen,  Zeit  und  Geld,  um  von  solchen  zersplitterten  Hand- 
schriften allmälig  Einsicht  zu  nehmen  und  sie  so  zu  benutzen. 
Dagegen  wer  die  verlöschten  Spuren  der  Entwicklungsgeschichte 
eine.s  grossen  Menschen  aus  vergilbten  Hand.schriften  abzulesen  ver- 
suchen musste,  der  weiss  nur  zu  mit.  wie  dies  schwierige  Inter- 
nehmen  ganz  daran  gelnmden  ist.  (hiss  man  tliese  Bh'itter  immer 
wieder  an  einander  hält,  dass  die  \'ei-;in(kM'unu'en  der  Hand  und 
Schreibweise  ein  sicherer  Besitz  werden  und  mit  den  A  er;in(KMungea 
des  Inhalts  sowie  mit  äusseren  Kennzeichen  von  mancherlei  Art 
immer  neu  combinirt  werden.  Lmsonst  hat  man  mit  einem  un- 
geheuren Aufwand  \i»n  Arbeit  l)isher  die  Entwicklungsgeschichte 
Pia  tos  seinen  Diah)gen  zu  entlocken  versucht.  Hier  aber  ist  bei 
einem  amh'ren  grossen  (leiste  das  ^latei'ial  vorhanden,  die.  Aufgabe 
wirklich  zu  h'isen.  Nun  wird  aber  diese  Liisunii,  nur  dem  gelingen, 
(h'r  eilen  so  genau  als  zwischen  seinen  eigenen  Pa|)ieren  im 
Arlieitshauslialt  Kants  zu  Hause  ist  und  ohne  Besinnen  aus  den 
Schriftzügen  eines  Pa[)ierstreifens  das  Lebensalter,  in  dem  Kant  ' 
ihn  niederschrieb,  abzulesen  vermag.  Und  alle  Begabung,  alle  Ar- 
beit w  ird  (bes  Ziel  nicht  eiiei'  erreii'hen.  als  bis  an  Einer  Stelle  der 
Nacidass  Kants  vereinigt  ist.     Dann   erst    kann  eine  al)schliessende 


Anilivc  ili'i-  I.ilt.  in  ihrer  P.eileiil.  tTir  iln-  Stml.  (1(m-  (li'scli.  iI.t  Philns.      ßt^J 

Kaiitnusf^abc  licru'cstcllt  wcrdrii:  ciiu'  Elireiipllicht  der  IVn'lincr 
Akndeiuio!  Vnd  auch  Kants  Entwickluiigsgescliiclito  kann  dann  Je- 
niantl  schreiben,  der  unter  den  Büchern  und  Handschriften  Kants 
und  seiner  Zeitgenossen   heimisch  geworden  ist. 

\v\\  wähle  ein  anderes  Heispiel,  das  viel  umfassender,  weniger 
zugänglich,  tloch  ebenfalls  im  höchsten  Orade  belehrend  ist.  Der 
Verlauf  der  geistigen  Bewegung  in  Deutschland,  der  uns  von  der 
katholischen  und  protestantischen  Scholastik  zu  Leibniz  und  den 
Leistungen  seiner  (ieneratiun  emporf'iihrte.  ist  l)isher  noch  wenig 
untersucht.  Dieselbe  Lücke  besieht  in  Bezug  auf  die  englische 
Entwicklung  zu  Bacon  und  lb)bb(>s.  die  franziisische  zu  Gassendi 
und  Descartes.  In  so  verschiedenen  Lallen  ist  dies  gleichmässig 
die  Folge  der  Einschränkung  unserer  (ies(lii(dite  der  Philosophie  auf 
eine  geringe   Zahl    hervm-i'agender   I'ers(in(Mi. 

Und  dennoch  ist  schioi  zniiä'chst  die  A  usbi  I  d  u  n  i;'  dei'  Theolo- 
ivie  der  vei"schiedenen  (  d  n  lessio  ii  e  n  wähi'end  des  Ki.  Jahrhun- 
derts  eine  Verändei'uuii-  im  ganzen  Bewusstseinsstaiide  der  Menschen 
und  ihrem  metaphysischen  (llauiien.  welche  von  der  (Teschichte  der 
Philosophie  nicht  übergangen  wenleu  kann.  .Auch  ilie  Logik, 
Physik  uml  l\thik  jener  Taue  kann,  weil  sie  in  dem  Dienste  der 
Theolojiie  stand,  nicht  anders  als  unter  dem  theolouischen  Gesichts- 
punkt  dargestellt  werd<Mi.  welcher  dannils  alles  beherrschte.  Den 
Ausgangspunkt  Inldet,  dass  dei-  Glaube  im  pi-otestantischen  Dogma 
als  einheitlicher  .Mitteljjunkt  aller  Kraftvvirkung  dei-  l'erson  erfasst 
wird.  Die  l'ei-soii  und  ihr  \\'ille  ist  vor  Gott  und  seinem  Ge- 
richte wie  vor  den  .Menschen  unteilbare  Innerlichkeit.  J)ies 
germanische  Christentum,  das  aus  dem  Kraltgeliihl  der  Person  her- 
vorging und  selber  eine  <i)uelle  von  Kräften  wurde,  ist  ]iun  bei 
uns  im  sechszehnten  Jahrhundert  mit  der  humanistischen  \  erehrung 
und  Erfassunu  dos  klassischen  Alteilums.  insbesondere  des  .\i-isto- 
teles  verknüpft  worden,  und  hier  ist  die  (iruiidlage  unserer  deut- 
schen Bildung.  Melanchthon.  der  diese  \'erknü[)lung  vollzog,  wurde 
so  der  Praeceptor  Gernuiniae.  Sie  ist  durch  die  damals  entstandenen 
Gymnasien  dem  deutschen  Geiste  eingeprägt  worden.  Sie  wurde  durch 
unsere  rniversitäten  verbreitet.     Aus  der  Metaphysik   und  TluMdogie 

jener  Tao-e'  hinüber  wirkt   sie  noch  auf  die  Geu-enwart    lebendig. 

or-,  * 


•:>ß-2  ^Yillu•lm   rnltliey, 

Aber  die  theologischen  Folianten  von  rJevhard,  Calov  un 
(leren  neukatholischen  Gegnern  sagen  uns  wenig  von  dem  Inneren 
des  damaligen  Menschen  uml  von  den  lebendigen  Beweggründen 
dieser  Metaphysik  und  Theologie.  Sie  müssen  zu  allen  noch 
erreichbaren  seltenen  Büchern  sowie  den  Handschriften  in  r»e- 
ziehung  gesetzt  werden.  So  iillein  können  wir  den  lebendigen- 
Athem  der  Menschen  jener  Tage  fühlen.  Und  welches  Material 
bieten  hier  allein  die  lieiden  ungeheuren  8amndungen.  welche  uh 
Zürich  liegen.  Der  Thesaurus  Hottingerianus,  welchen  der  Orien- 
talist J.  II.  llottinger  (starb  1667)  angelegt  hat,  enthiilt  in  öO  Bän- 
den Korrespondenzen  ans  dem  16.  und  17.  Jahrhundert.  Tnd  die 
Simmlersche  Sammlung  umfasst  in  200  Bänden  Korrespomlenzen, 
Aktenstücke,  Flugschriften  von  1500— 178B.  Beide  Sammlungen 
"•reifen  inhaltlich  weit  über  die  Schweiz  hinaus  und  sind  gerade 
für  das  16.  Jahrhundert  beson.lcrs  wichtig.  Ueber  ganz  Deutsch- 
land sind  dann  Kollegienhefte,  ungedruckte  Arbeiten  und  Briefsamm- 
luno-en  der  Gelehrten  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  zerstreut.  So 
enthalten  die  Bibliotheken  von  Dresden,  Jena,  Güttingeu  und  Helm- 
städt  ansehnliche  Handschriften massen  aus  den  protestantischen 
Kreisen.  Aber  gerade  in  den  kleineren  Stadt-,  Schul-  und  Kirchen- 
bibliotheken,  in  den  Archiven  aller  Klassen  wird  erst  die  grosse 
Masse  dieser  Papiere,  und  teilweise  auch  der  seltenen  Bücher  auf- 
o-esncht  werden  müssen.  A\'enn  sie  dann  zusammengelegt  werden, 
kann  erst  ein  einheitliches  Bild  entstehen. 

Schon  die  Erkenntniss  der  einzelnen  Personen  wird  erst  auf 
diese  "Weise  möglich,  weil  die  P)riefe  gewöhnlicli  unter  dem  Xamen 
der  Empfänger,  nicht  der  Schreiber  in  den  Sammlungen  sich  (inden. 
iHirner  wird  erst  dies  vereinigte  Material  die  Macht  der  Theologie 
jener  Tage,  die  Intensität  und  den  umfang  der  einzelnen  Bewegungen 
in  ihr  zu  bestimmen  uestatten.  Ich  zweifle  nicht,  da.ss  die  Registrirnng 
der  Handschriften  und  die  Aufstellung  eines  einheitlichen  Aer- 
zeichnisses  aller  gedruckten  Bücher  aus  dem  16.  und  17.  Jahrhun- 
dert einen  solchen  Reichtum  der  Materialien  und  zugleich  eine  so 
sinnlose  Zerstreuung  dersellien  zeigen  wird,  dass  innerhalb  der 
Kreise  der  protestantischen  Kirche  und  Theologie  eine  K'bhafte 
Agitation   für  die  Erhaltunu  und  Sammlung  iWr  un.schätzbaren  Do- 


Aii-'bive  der  Litf.  in  ihrer  BedL'Ut.  für  fla^  SfU'l.  der  Gesch.  der  Phihjs.     3G8 

Kiunente  unserer  altprotestaiitischeii  Kirche  entstehen  muss.  Und 
-'Uten  wirklich  die  cinzehien  Bibliotheken  ihr  Eigentumsrecht  an 
'\\v:-e  für  sich  fast  unbenutzbaren  Sammlungen  geltend  machen?  In 
ihrer  jetzigen  Zersplitterung  sind  diese  Handschriften  wertlose 
liiiige.     Erst  durch  ihre  Zusammenlegung  empfangen  sie  Bedeutung. 

Und  nun  arbeiten  sich  inmitten  dieser  herrschenden  meta- 
physisch-theologischen Lehrform  die  modernen  Gedanken  empor. 
Zunächst  sind  sie  wie  eingesprengt  in  das  Gestein  der  alten  Denk- 
wcise.  Sie  treten  noch  innerhalb  der  Struktur  der  Metaphysik 
;iuf.  nach  welcher  die  ^Velt  von  einem  System  psychischer  Kräfte 
lirherrscht  wird,  das  gleichsam  von  oben  nach  unten  wirkt.  13ie 
Bewegungen  machen  sich  zuerst  getrennt  geltend:  sie  wirken  hier 
und  da  in  einander;  bis  sie  sich  dann  in  der  Generation  von 
Leibniz  zu  einer  dauernden  philosophischen  Schöpfung  verbinden. 
Jede  von  ihnen  bedarf  zu  ihrer  Erforschung  der  Handschriften  und 
der  erleichterten  Uebersicht  über  die  noch  vorhandenen  seltenen 
Bücher. 

Die  Bedeutung  seltener  Bücher  soAvie  der  Handschriften  hat 
sich  für  die  erste  dieser  Bewegungen  aus  den  unermüdlichen 
Forschungen  von  Ludwig  Keller  ergeben,  wenn  man  auch  deren 
Ergebnissen  vielfach  nicht  zustimmen  kann.  Aus  den  Tiefen  des 
deutschen  Geistes  trat  in  Hans  Denck  und  Balthasar  Hubmeier,  in 
Sebastian  Franck  und  Valentin  ^\eigel,  als  ein  Teil  der  refor- 
matorischen Bewegung,  die  Interpretation  alles  religiös  Geschicht- 
lichen aus  der  inneren  Erfahrung  hervor:  die  Historie  Figur  und 
Symbol  zeitlosen  inneren  Geschehens,  die  Innerlichkeit  des  Selbst 
oder  dci-  Mikrokosmos  Schlü.ssel  der  ganzen  Natur,  die  ^lenschen- 
seele  ein  Fünkchen  der  Gottheit  und  das  w'ahre  Leben  der  Tod 
des  individuellen  Willens.  In  diesen  Männern  und  Ansichten  sind 
die  Wurzeln  der  modernen  Religionsphilosophie  und  die  Motive 
unserer  eigenthümlichsten  metaphysischen  Leistung,  der  Mona- 
dologie. 

Lassen  wir  die  ramistischen  untl  calixtinischen  Kämpfe  auf 
sich  beruhen,  so  verknüpft  sich  nun  Jene  erste  Bewegung  mit  dem 
grossen  Fortgang  der  Naturerkenntniss,  (k'r  sich  in  Coperni- 
kus,  Kepler,  in  Geringeren  wie  Jungius  vollzog.    Üie  Bedeutung  der 


364 


AN  i  1  h  c- !  m  D  i  1 1  h  e  y 


Handschriften  hat  sich  auch  bei  iliescii  Personen  überall  erwiesen. 
Su  beruhen  auf  i\i'v  grussen  Masse  \un  Manuscripten  und  den 
Briefen  von  Kepler,  besuuders  in  A\'ieii  (eiu  paai'  Briefe  auch  in 
Graz),  auf  dem  grossen  Naehlass  des  Jungius  in  Hamburg  (idiwol 
der  grössere  Teil  dei  hiulerlasseiini  I'apiei'f  in  riner  Feuersbiuiis 
/AI  Grunde  giug)  neuere  Arbeiten  und  Editionen,  welche  diese 
Männer  betreft'eii.  Es  bleibt  dann  noch  offen,  wiefern  die  weitereu 
Einwirkungen  der  ausländischen  von  der  iSaturwissenschaft  getragenea 
Bewegung  auf  Deutschland  aus  Manuscri[)ten  einmal  aufgeklärt  werden 
können.  Von  1032 — 1655  folgen  sieh  die  Geburtsjahre  von  Pulen 
dorf,  Spener,  Iveibniz,  Tschirnhausen  und  Thomasius.  In  diesen 
Generation  werden  die  Ivesultate  gezogen.  Man  sollte  denken, 
dass  die  Handschriften  aus  dieser  grossen  uiul  glänzenden  Zeit 
unserer  intellektuellen  Geschichte  der  Nachwelt  erhalten  und  voll- 
ständig benutzt  worden  seien.  Dies  ist  nur  in  Bezug  auf  Leibiiiz 
tler  Fall,  der  auch  hierin  der  Glücklichste  unter  unseren  Philo- 
sophen, wie  Goethe  unter  unsern  Dichtern,  gewesen  ist.  Dagegen 
ist  mir  für  Tschirnhausen  bisher  keine  Fundstelle  bekannt  geworden. 
Von  Samuel  Pulendorf  ist  einiges  u.  A.  in  Giessen  und  Dresden. 
Von  Spener  sind  Briefe  an  ganz  verschiedene  Orte  zerstreut,  so 
lutch  Halle,  Erlangen,  Giessen.  Nimmt  man  wenige  Personen  aus, 
so  sind  demnach  von  den  bedeutendsten  (hmudiiicn  Denkern  nur 
spärliche  Handschriften  bekannt  luul  diese  in  ihrer  Zerstreuung 
wenig  benutzbar. 

Soll  ich  weitere  Beispiele  häufen':'  Sie  bestätigen  nui-.  was  die 
l»i>her  gegebenen  lehren.  Der  Naehlass  der  meisten  Philoso[)hen 
des  18.  Jahrhunderts  hat  das  Schicksal  gehal)t.  das  aus  der  Natur 
d('r  Sache  selber  folgt.  Schlecht  geordnet,  in  engem  Kaum  in 
einander  geschoben,  von  keinem  Sachverständiucn  durchgearbeitet, 
macht  ein  solcher  Naehlass  in  Privathänden  alle  Schicksale  der 
Familien  mit.  Die  (U'ste  (ienei'ation  Ix'wahrt  ihn  pietätvoll,  (\en. 
folgenden  wird  er  zu  einn-  Last.  Der  )\  ci'hscl  des  Aufenthaltes, 
tler  riitei'iiang  d^'V  l'iiniiHen.  (!eld-  uml  WohnuiiLi'snot  in  an- 
deren Fällen,  Fenersbriinste,  Wasser,  Moder  und  Staub:  diese  und 
hundert  andere  (iefahren  bedrohen  die  hililosen  Papiermassen,  und 
ilieselben  müssen  ihnen  früher   «»der    sj)äter    unterliegen,   wenn  sie 


Arclüvc-  der  Litt,  in  ihrer Redt-ut.  für  das  Stud.  der  Gesch.  der  Philns.      365 

nicht  auf  BililinlhcktMi  nder  au  andre  öfl'oiitlielie  Orte  gerettet  wer- 
den. So  spielt  der  Zui'all  eigensinnig  und  willkürlich  mit  diesem 
iiuscliätzbaren  wisscnschal'tlichen  Material.  Zuweilen  hat  sich  minder 
bedeutendes  erhallen.  Kin  umfangreicher  Nachlass  von  Nicolai  ist 
jliier  auf  der  Berliner  Hüjüetliek:  13  Bände  aus  dem  Nachlass  von 
I>nuterwek  ehenfalls;  42  Bände  von  Handschriften  aus  dem  Nach- 
llass  von  Meiners  sind  auf  der  Göttinger  l'niVersitätsbibliothek;  die 
Handschriften  vun  Kraus  auf  der  von  Königsbero;.  Dagegen  ist 
bedeutendes  in  anderen  l'^ällen  grossentheils  uns  verloren.  So  kennt 
mau  von  einem  Thomasius  und  ('hristian  AVolff  doch  nur  einen 
massigen  Teil  ihres  handschriftlichen  Nachlasses.  Zwar  iindet  sich 
in  einem  älteren  Dresdner  Ilandschriftenkatalog  rubricirt:  Adver- 
^aria  et  collectanea  D.  Christiani  Thomasii  13  Volumina  4;  aber 
Ibrr  Oberbildiothekar  Dr.  Schnorr  von  Carolsfeld  teilt  mir  über 
diese  Bände  mit,  dass  sie  von  der  Hand  eines  Schreibers  sind 
und  wohl  das  I'ortrait  von  Thomasius  in  Kupferstich  enthalten, 
sonst  aber  keine  Jliudeutung  auf  dessen  Urheberschaft.  Auch  ist 
mir  bisher  nicht  gelungen,  von  Crusins.  Lambert,  Moritz,  Tetens 
irgendwo  erhebliche  Handschriften  aufzustöbern.  Dieses  ganze  Ver- 
hältniss  ändert  sich  erst,  wenn  man  zu  Philosophen  kommt, 
die  der  Gegenwart  so  nahe  stehen  und  deren  Ruhm  so  gleich- 
massig  das  Interesse  an  ihnen  erhalten  hat,  dass  ihr  Nachlass 
bisher  in  den  Familien  wohlbewahrt  blieb.  Aber  schliesslich  müssen 
alle  die  Ursachen,  welche  unter  den  Handschriften  des  IS.  Jahr- 
hunderts solche  Verwüstungen  angerichtet  haljen,  auch  den  Idshcr 
erhaltenen  des  neunzehnten  verderblich  werden,  wenn  sie  iWw 
Wechselfällen  der  Familien  und  ihres  Privateigenthums  ausgesetzt 
Ideiben. 

IV. 

Und  wie  kann  diesem  Zustande  abgeholfen  werden? 

13üclier  sind  unsere  Hauptquellen.  Ihre  Ausnutzung  wird  iinni.i- 
noch  durch  die  Einrichtung  der  Bibliotheken  nicht  so  erleichtert  als 
wünschenswert  wäre.  ^^»r  allem  fehlt  eine  Cent  ralstelle.  an 
welcher  mau  sich  idter  ilir  noch  in  Deulschland  vurhandencn 
Bücher  zu  unterrichten  vermöchte.      Die    sehr   gi-nsscu    lechniscInMi 


3(36  \V  i  1  h  e  1  i!i   L>  i  1 1  ]i  e  v. 

Schwierigkeiten,  mit  denen  die  Aufstellung  eines  Gesammtkatalüges 
zu  kämpfen  hat,  der  Aufwand  an  rieldmitteln,  den  er  beansprucht, 
Süll  nicht  verkannt  werden.  Süwol  tlie  .Schwierigkeiten  als  die  An- 
forderungen würden  noch  sehr  wachsen,  wenn  man  anstatt  eines 
Ifeal-  oder  Nameukatalogs  eine  Uebersicht  der  Bücher  nach 
Jalii-cn  und  dann  unter  den  Jahreszahlen  nach  Sachrubriken  in 
Aussicht  nehmen  würde.  Dennoch  wird  etwas  der  Art  einmal 
ueschehen  müssen. 

Der  erste  Schritt  dazu,  die  luMiutzung  der  Handschriften  mög- 
lich zu  machen,  muss  eine  Registrirung  des  Vorhandenen  sein. 
Dass  die  Handschriften  unserer  Litteratur  endlich  in  einer  Ordnung 
verzeichnet  werden  müssen,  in  welcher  man  unter  einer  bestimmten 
Person  und  einem  Jahre  das  an  den  verschiedenen  Stellen  Vorhandene 
aufsuchen  kann,  wird  sicher  allseitig  anerkannt  werden,  und  auch  die 
Kegierung  kann  sich  diesem  Bedürfniss  nicht  auf  die  ]  )auer  verschliesscn. 
Es  werden  also  /Ainächst  für  einige  Jahre  regelmässige  Mittel  be- 
willigt werden  müssen,  um  eine  solche  Aufgabe  zu  lösen.  Privat- 
personen, Vereine  oder  Akademien  können  hier  nicht  eintreten, 
weil  die  zu  erwartenden  Hemmungen  und  Widerstände  nur  durch 
die  Autorität  des  Staates  besiegt  werden  können.  Die  Unterschei- 
dung der  Manuscripte  nach  Folio.  Octav  und  (^»uart.  nach  schwer- 
lälligen  Pealruliriken  muss  liier  einer  strengen  Anordnung  nach 
Zeit  und  Person  weichen.  Mindestens  die  erhebliclKren  Briefe 
müssen  aus  dini  .Nachlässen  einzeln  herausgehoben  und  unter  die 
tarnen  der  schreibenden  Personen  gebracht  werden,  während  sie  zur 
Zeit  meist  unter  den  Namen  der  Empfänger  in  deren  Nachlass 
bcfasst  sind. 

So  bald  als  möglich  muss  dann  an  irgend  einer  Stelle  mit 
dem  Zusammenlegen  der  Handschriften  in  einem  Staats- 
ar eh  iv  der  Litteratur  angefangen  Averden.  Die  Geschichte 
de]'  geistigen  Bewegungen,  der  Philosophie,  der  "Wissenschaft, 
der  Litteratur  hat  sich  ihr  E.vistenzrecht  selber  erkämpfen 
müssen,  und  während  die  politische  Geschichte  ihre  ungeheuren 
Stott'sainmluni'en  in  Ai'chiven  wolgeborgen  weiss,  müssen  wir  um 
Archive  der  Litteratui'  erst  begründen.  Die  jjolitischen  Archive  ent- 
standen aus  den  Bedürfnissen  des  liCbens  selber.     Urkuudenarchive 


Aichive  der  Litt,  in  ihrtr  Bedeut.  für  das  Stud.  der  ("ie-scli.  der  Philo.-.      307 

t'iithielteti  den  Iiilieiirift'  der  Gereclitsame  eines  Klosters  uder  eiue.s 
Fürsten.  Aktenarcliive  dienton  den  Bebördeu  zur  Einsicht  in  die 
(leschiclitc  der  einzelnen  Geschäfte.  Archive  von  beiden  Arten 
wurden  dann  in  den  modernen  Staatsarcliiven  gesammelt,  und  nun 
konnten  die  ^Materialien  der  Geschichte  geoi'dnet  und  aufgeschlossen 
werden.  A\'as  hier  die  Bedürfnisse  des  Lebens  selber  herbeigeführt 
haben,  das  soll  nun  für  die  Litteratur  von  den  Anforderungen  der 
>Visseuschaft  aas  erwirkt  werden.  Es  wäre  hierzu  wenig  IlotVnung. 
wenn  nicht  die  Anforderungen  des  nationalen  Gefühles  hinzuträten, 
welche  die  Erhaltung  des  grossen,  in  den  Handschriften  liegenden 
nationalen  l^esitztunvs  fordern.  Früher  oder  später  wird  das  nationale 
Gefühl  diese  Forderung  durchsetzen.  Möge  es  bald  geschehen!  Noch 
sind  aus  den  früheren  Jahrlunulerten  grosse  Massen  vorhanden.  Noch 
ist  unter  Anderem  der  Xachlass  der  grossen  I^hilosophen 
nach  Kant  unverletzt  und  unzerrüttöt.  Darauf  allein  wird  es 
ankommen,  dass  aus  dem  Bedürfniss  dieser  Handschriften  selber 
heraus  Einrichtung  und  Rechtsordnung  solcher  Archive  geregelt 
werde.  Damit  sie  eine  wirkliche  Anziehungskraft  auf  die  Familien- 
papiere üben,  müssen  sie  dem  ernsten  Familiensinn  alle  erdenk- 
baren Garantieen  bieten.  Sie  müssen  zwischen  dem  Archiv  und 
den  Familienvertretern  feste  Rechtsverhältnisse  durch  gedruckte 
Reglements  schaffen.  Sie  können  das  Eigentumsrecht  einer  Familie 
sowie  das  einer  Stadt  oder  eines  Landes  unberührt  la.ssen,  und  doch 
einreihen  und  eröffnen,  indem  sie  den  Nachlass  in  Deposition  nehmen. 
Sie  können  den  berechtigten  Pietätsgefühlen  der  Familien  dadurch 
genügen,  dass  Anstössiges  oder  auch  nur  Missverständliches  zunächst 
zurück  gelegt  wird.  Und  sie  können  in  der  Auswahl  der  Personen, 
denen  ein  Nachlass  sich  eröffnet,  Vorsichten  aller  Art,  wie  sie  den 
Familien  genehm  sind,  beobachten.  In  den  Räumen  eines  solchen 
Archivs  wird  sich  ein  Hausgeist  einstellen,  der  über  diesen  Papieren 
wacht,  sie  zugleich  öffnet  und  hütet,  hegt  und  mitteilt.  Dann  wird 
es  für  die  Familien  hervorragender  Personen  eine  Ehre  und  eine 
Beruhigung  sein,  die  Papiere  des  F'amilienangehörigen  denen  so 
vieler  anderer  bedeutender  Personen  eingereiht  zu  wissen. 


XVIII. 

Protagoras  et  Deiuocrite. 

Par 
Viotor  Brochard  a  Paris. 

Le  sens  de  la  celebre  furinule  de  Prutagoras  (Piaton.  Theet.  152. 
A.  -a'vTCüv  v.or.uaTov  astoov  öcvlj'yu)-''/-'  civoti,  täv  akv  v/tojv.  cor  l-jt-., 
T(uv  o£  [xy.  ö'vTojv,  (uc  oü/.  i'sTtv),  apres  tant  de  travaux,  parait 
aujoiirdhui  bien  etabli;  c'e.st  iiiic  formule  seiisualiste  et  sceptique: 
eile  exprime  la  relativite  de  tonte  connaissance.  Eu  vaiu  d'iii- 
genieux  critiques  ont-ils  essaye  d"eu  etendrc  la  portee.  et  imagiiie 
'jiie  par  av(}[)w-oc  Protagoras  enteiulait,  iiou  pas  riiomme  indivi- 
dual,  1)011  pr'ts  la  seiisibilite  de  chacun.  mais  rhomiiie  en  geueial. 
cousidere  coninie  etre  intelligent.  On  peiit  dire  qiie  la  belle  etude 
de  •  Natorp  (Forsch,  zur  Gesch.  des  Erkenntnisspro blciii-^ 
im  Altert.)  a  fait  justice  de  cettc  hypothese.  ;i  Fappui  de  laqucUe 
on  ne  saurait  citer  aucuu  texte  prccis.  Xatorp  a  prouve  par  im 
exanien  niinutieux.  et  avec  un  graiid  luxe  dai-guments  —  ce  qui 
[»araissait  evident  ä  i)rrmi('re  vue  pour  tont  lecteur  non  [ikcmmhi 
—  que  Piaton  a  etc  dans  Ir  Theetete  un  interprctc  lidele.  lui 
adversaire  loyal,  d'iine  bonne  l'oi  scriipuleuse,  et  attache  toiijours. 
>i  nun  ä  la  lettre,  du  nioins  ;i  Tesprit  de  la  doctrine  qu"il  expose 
avec  tant  de  jjrofondeui'  avaiit  de  la  critiquer  avec  tant  de  sul)- 
tilite.  Par  suite.  l'origine  Heracliteenne  de  la  these  de  Prota- 
goras nc  saurait  etre  plus  douteuse  que  la  signiiieation  d<^  la 
Ibrmule. 

Toutel'ois.  s"il  nous  semlde  ineontestable  que  hi  doctrine  d<' 
Protagoras  est.   dans  son  ensrndtl«'.    relativi.ste  et  .sceptique.    il   nc 


HM 


Protagoia>  et  Iipmocfite.  369 

a>  parait  pas  que  sa  vraie  et  pmpre  sigtiificatluu  ait  tuujuurs 
t'ti*  suf'fisamment  mise  on  luini<'rt\  Sm-  uji  pi)iiif  au  niuiiis  iious 
< nivuiis  ([HC  rinterpretation  aclmise  par  la  plupart  des  ciitiques  est 
(11  ili'-laui.  ''ii  cuiisidere  geiieralement  cetlc  ilnctriuc  cnimne  siuni- 
ti;in(  qu'au.x  _\rii.\  ilo  l'iotagoras  les  clioses  sunt  de  simples  appa- 
1  i'iices  sul»Jectivos.  et  qu'il  ii"y  a  puiut  de  vei'ite  ul'jeetive.  Les 
«lualites  des   curps.    les    choses  meines,    uu  ee   qu'uii    a[q)elle    aiiisi, 

I  (»uiiiies  uiiiquement  jiar  les  inüdifieatioiis  de  la  sensibilite.  et 
iiexistaiit  que  ])ar  elles.  seraient  de  simples  ('-tats  du  sujel  seiitant. 
IJref,  Piutagoras  devaiiraiit  la  rrili(pie  muderue,  se  serait  lait  des 
i|ualites  dos  cui-[)s,  une  iilee  aualüguc  a' celle  dun  Berkeley  ou 
d'uii  Ilumc.  Sa  pliilusuphie  seiait  un  relativisme  subjectif.  .Sur- 
tiiiit  il  n">-  aurait  [)as  de  diftV'reuee  essentielle  eiiti-e  sa  cuneeptiun 
'■{  Celle  de  Demuei'ite.  i|ui  lui.  saus  aucun  duut(>.  eunsiderc  au 
iiinins  eertaines  (jualites  des  curps  comme  de  simt)les  etats  [lassii's 
du  sujct  sentant. 

Tüut  autre  est.  seluii  lunis.  l;i  \crilalde  pensee  de  Prutaguras. 
Si  nuus  ne  nous  trompons.  il  a  considere  les  choses  comme  veri- 
lablement  existantes  hors  de  Tesprit,  aussi  longtemps  du  inuins 
qu'elles  sunt  en  rapport  avec  lui.  Le  chaud,  le  froid,  la  couleur 
;iuraient  une  existcnce  distincte  de  la  Sensation:  ces  qualites  ne 
-eraient  pas  en  nous,  mais  hors  de  nous.  (^uoique  elles  ne  puissent 
II i  etre,  ni  etre  connues  en-dehor.s  de  la  representation.  elles  seraient 
cependant  distinctes  ch  cette  representation  qui  nous  les  lait  cun- 
naitre,  non  pas  comme  ayant  une  realite  dural)le  et  permanente, 
non  pas  en  taut  que  choses  ou  etres  en  soi.  mais  comme  ayant 
une  realite  passagere  et  fugitive.  pour  autant  quo  fesprit  les 
upereoit.  Par  suite.  la  tliese  relativistc  serait  maintenne  dans 
tonte  son  integrite:  et  pourtant  ce  ne  serait  pas  le  pur  subjectivisme. 

II  y  aurait  deux  phenomenes  distincts  et  inseparaldes:  la  Sensation 
et  la  chose  sentie:  donc  il  y  aurait  encure  de  ruhjectivite  dans 
cette  philosophi(\  une  objectivite  reduite  au  minimum.  Protagoras 
serait  iidele  au  principe  proclame  jiar  lt;s  jiliilosuphes  anterieurs. 
et  respecte  encore  par  Piaton:  un  ne  pense  pas  ce  (jui  n  est 
pas.  Seulement.  dans  stni  Systeme  sensualiste,  la  [lensee  etant 
reduite  a  la  Sensation,  hi   realite  de   robjet.  mesuree,  comme  Texige 


370  Victor  Bvocliard, 

le  principe,   sur   celle   de   la  pensee.   serait   ephemere  et  passagere  | 
comme  eile.     La  Sensation  changeant  sans  cesse,  la  realite  change- 
rait    a\"ec   eile:    rnais   le    parallelisme,    Tharmonie   constante    de    la 
pensee  et  de  Tetre  .seraient  rigoureusement  maintenus. 

Cette  interpretation  is"impüserait  d"elle-meme  s"il  t'allait  s"en 
rapi)orter  au  texte  de  Sextus  Empiricus,  qui  la  suggere  naturelle- 
iiieiit.  Hyp.  Pyr.  t.  217  cpr^atv  o-jv  o  7.v7)p  -y)v  G'Xr^v  cpsuzTVjv  slvai, 
piO'jjr^c  Ol  auTTj?  3'jv£/_a)c  KOoaUiasic  c/.vtI  T(uy  ctuociopYjasojv  ■;r^y^'z\)'xu 
•/.7.1   t7c  aisB/jasic  |j.cT7.xo(ju.£raf}at  t£   X7.1    c/.ÄÄoioOaOai    -7.p.7'  xs   r^h.yj.'-j.; 

X7.1    -7[>7.    Tic    'X/./,7C    X7.T7.T/£U7C    TWV    aojaaTOJV      Xs^ä'-    03     X7'     TO'JC      Äo- 

"jO'jc  T:7'v:('jy   töjv  '-i7'.vojj.£V(yv   UTroXiisOai  iv   tt,   'jÄrj.    (Lc    o'jva3i)ai  tyjv 

U/>'/;V-    '■''30V    3'^'     £7'jr(j,     TrOtVXa     StVai     037     -7C>'.     'f7''vST7'.,      tO'JC     0£ 

7Vi)[va)-'/jr    77,XoT£  aXXoiV    otviiXcfixßaViaOa'.    7:7f/7.    t7.c    o'.aci-opo'j;    aoTOiV 

OiaiHsS'.C   ....     219    777!VT7.    ••«[■>    T7.    CS7'.V0[JL£V7    ToTc    ävDpOJTT'J'.C    X7l    33T'V. 
T7.    0£    ;j//)OcVl    TÖiv    oIvtlptOTTOJV    'i7'.V0U,cV7    O'jok    i'cXlV. 

On  voit  la  clairement  que  la  matiere,  inconnue  en  son  esseuce, 
nun  seulement  revet  a  no.s  yeux  les  diverses  l'ormes  sous  iesqiielles 
eile  nous  apparait.  mais  les  prend  reellement;  ces  appareuces  sout 
cn  eile  aussi  bien  que  les  sensations  en  iious:  le  phenomene  est  quelque 
chose  qui  existe  en-dehors  de  l'esprit  (jui  l'aper^-oit:  il  est  Tetat.  la 
maniere  d'etre  de  Tobjet:  le  paraitre  et  Tetre.  tout  en  demeurant 
distincts,  ne  vont  pas  Tun  sans  Tautre.  Nous  choisissons,  ou  plutöt 
nous  abstrayons,  selun  nos  dispositions,  teile  ou  teile  propriete  des 
curps:  mais  cette  [)ropriete.  eu  rapercevant.  nous  ue  la  creons  pas, 
nous  la  trouvons  preexistante.  ou  du  moins  existante  en  menie 
temps  que  notre  Sensation.  La  matiere,  la  chose,  est  tout  ce 
quelle  parait  etre. 

11  est  vrai  que  ce  texte,  si  clair  en  lui-meme,  n"a  pas  paru 
d(''cisil"  a  tont  le  monde.  Natorp  le  recuse  (Forsch,  p.  57).  II  y 
Noit  une  interpretation  arbitraire  iniaginee  par  je  ne  sais  quel 
peripateticien.  et  que  Sextus  aurait  admise  inconsiderenient  parcc 
qu'elle  lui  est  commode  au  moment  ou  il  s'attache  a  niarquer  les 
dilTerences  entre  le  Pyrrhonisrae  et  la  these  de  Protagoras. 

11  laut  avouer  toutefois  que  ce  procedc'  de  critique  parait 
lui-meme  assez  arbitraii'e.  En  general,  les  temoignages  de  Sextus 
ne    sunt  pas   de   ceux    quon   duive  tenir  ponr  suspects.     Pour  la 


.1:1 
im 


Prötr.goras  ol   Democrife.  ,^71 

((iiostion  (jui  iious  occupe,  nous  voyons   qiie  Sexfus  cite.  .'iüIl-uis  il 

i'st  vrai  (M.  VII.  60)   les   •A^j-o'^Au.'.^izz  dotit   nniis   iie    connaissons 

le  (itre  que  par  lui.     II  a   peut-etve   eu   ce    livre    sous    les    yeux: 

tiiut    au    moins  l'ecrivaiii  ilout    il  ,s"inspire  l'avait   lii.    ei   il  sciul^le 

bioii    que    le    developpemeiit    qui    suit    snit    emiirunte'  a  cc  meme 

ouvrage.     En  tont  cas,   nous  somiiies  ici  eu  pvosenoe  d'uno  sourco 

(listincte    de    Platoii    et    dWristote.    puisquc    iii    ruii    ni   l'autro    iie 

uomme   les    ■/oiTotßotÄ/.ovtic.     De   qiicl   droit   supposer   que   Teerivaiii 

c's   intelligent   et    tres  judioieux,    ([u"on   avnnc   etrc    bien    inrornie 

IIS  un  de  ses  ouvrages,  se  soit  laisse  aller.   d;itis  un  autrc  livre, 

ur  les  besoins  de  sa.  cause   (qui    pouvait  l'ort   bien  etre  detendue 

saus    reeourir    ä    eet    expedienl),    a    aceueillir    uiic    iuterpretation 

suspecte  et  lausse?'     Une   teile  exelusion    ne   serail   legitime  que  si 

les  deux   j)assages  {\^^  Hypotyposeis  et  de  TAdversus   Matlie- 

niaticos    se    cdiitredisaient   forniellement:    mais   si    rmtre   Inlci-pre- 

tation  est  exacte,  ils  se  confirment  Tun  l'autre. 

Toutefois,     quelque    incertitude    puurrait    subsister    si    le    te- 

nioignage  de  Sextus  etait  isole.    Mais  il  est  confirme  par  un  texte 

de   Platon.      Qu'on    veuille    bien    lire   attentivement   le   passage   du 

Theetete  156.  \.  et  Ton  se  convaincra  aisement  qu'il  exprime  la 

meme  pensee  qu"on  lit  dans  Sextus.    11  s'agit  du  mouvement  actif, 

venu  de  Tobjet.  du  mouvement  passif,  qui  est  celui  de  Torgane  du 

seus:    de  la   rencontre   ou   de   la   siniultaneite    de    ees   raouvements 

nait    la    Sensation.      Platon    ajoute:    ex   tr^    -o'jtcov    fjw.'iJ/j.z    -t  xod 

Tp'/!;öoK   -ooc    dt/././/.7.    -iiy^z-r/.:   £x*|'ovot   ~Kr^\)z<.  ;a£v  a-t'.oa,  o-'o'jaa  os. 

70   ;xsv  7 1  ji)-/;-:o  V.    to    03  0('.'c;i)-/;j'.r .    731   a'jVi/.rr'.'-f/jja  X7'   -swüiaiv/j 

UiT7.  TO'j  '■j.i'j>)r,-<^j'j'    oÄ   UiV  oOv  7i3t)r,5E'.c -aaTT/.r.Diic  os  71 

I  i  I  '  t        ' 

fOVO'J.7aaSV7.'..     TO    0'    7'Ü     7l3l)"/;TriV    "EVOC  TO'jTOJV     3X7377'.;  O'XO-i'cVOV.    rAfj'. 

jjsy  -/(jw;i7t7    T:7VT007-7rc    -TrjM.rÄ^    ri.'/.wjy.t  uz  (o37'jTtoc  cpojvat',    X7l 

771?    7Ä/.7'.C    7t3i)r,3Ej',    77    7/./.7    7'!ji)/,77.    ^'J-,",  3V7,    7'.7V0aiV7.    Et    l)lus 

loin:  ETTS'.OaV  OOV  K'Vl'J.  X7l  7/-/,0  7'  7(0V  70070)  ;'JU,U.E70(OV  ~X/,3'.737V 
"j'SVV7^3Yi  7rjV  ÄS'JX07'/j77  73  X7l  7l'3l)/j3'.V  7"j7r,  ;'j;X'^'J/.OV.  7  O'JX  7'v  7:073 
£"'3Vc70  3X773000  ixSlVCUV  TTOOC  77./.0  3Äi)0V70C.  7073  Or,  U377C'J  'i3pO|J.3- 
VtOV  7"?,C  "J.3V  Ö''I/3('K  -OÖC  7(T)V  0'il)7).a(0V .  7Y,C  03  /.3'JX07r,70C  TTOOC  70'j 
aUV7T:07..'x70V70C  70  f'iWyi.  ö  ;j.3V  0'^i)7/.[J.öc  707  O'I^cCK  3U7r/.30JC  3",3V370. 
X71    007    or;     7073,    X7l    r;3V370    oi    7'.    0'!>'.C,    7/,/.7    0'ii)7/.U0;     00«OV,     70    03 


H72  ^   i  rt  O  1-    ]',  ynr  ha  r  il  . 

;'j-;-;3VV/,57v  -Jj  yr.d^n'-j,   'LZ'y/Jr.r^-'iZ   -tV-Z-L-f-A) r^.   y.'-j).i-^i-/z-rt  o'j  /.E'j/.ot/,: 
7.0   7/.Ä'7  ÄS'jy.v/   ....   y/yi   Td/J.y.   or   o'jt'o.    j/././.oov   y/^^l    ihou.ov   .... 

~dT/o'/  '■t.'j/j'j'rzd  -.z  v.'jX  7'.'j!)"/,a'.v.   7'j.7  'iE00'j.3V7  a"jL'iOTS'>7.  y.7l  /,  uev 
/.       t  '  j  litt  I  I       t  j  k 

7.'.jUr,3'.c   -&0C  ToO   7:7'3"/ovt'jc   o'J77   7;jl)7V''>'j.3vr,v   tr,v   ■7,(oa37v   'j.T.zvr '■'i- 

•j7T0.    r,    03    ■■/.'jx'jTr.r    -poc    too    O'.Vj'j    tteoI   7'jtov   'ispou-sv/;   *X'j/'jv   tv/ 
'  I  j        t  1  1    1    I        1    I 

Ci'.V//    T"?,     'J",''.71V0'j37,     -,7-"'^~~((     3~r/l'/)j3    X7l    stv7'.     X7l     'i  7  l'v  3  j  i)  7'.. 

II  rösulte  tres  clairement  de  ce  texte  que  les  qualite.s  seiisihles 
Sans  (listinction  (3y.A-/;pov,  fjsouov.  ■/wyi.o.)  sont  pi'oduites  reellenieiit 
eil  nienie  temps  que  la  Sensation,  et  durent  aussi  longtemps  qu'elle. 
Elles  appartiennent  l\  la  matiere,  definie  comnie  la  cause  qui  les 
pi'OYoque  (to  ;u7",3vv7j37v)  aussi  bieii  que  la  Sensation  appartient  ;\ 
Fesprit.  Elles  ont  une  esseuce,  en  niouvenient.  il  est  vrai.  mais 
qui  nierite  pourtant  de  s'appeler  o'ja''7  (177.  (').  'i3[Joa3v/]  o'Jj'.7; 
];)9.  E.  7r,'vo'j,3vr,v  /7I  'i3oou.3vr,v  ~v/jj')-f.-rß..  j.e  -o'.O'jv  est  touiours 
-otov  (182,  A).  Elles  sont  dans  rinteivalle  (|x3-7c'j)  qui  separe 
l'esprit  et  les  clioses.  et  ne  se  conlondent  nullement  avec  les  sen- 
sations  elles-menies.  II  reste  vrai  d"ailleuis  que  Toeil  est  aveugle 
tant  qu'il  n"\  a  pas  d'ubjet  qui  le  Trappe;  et  Tobjet  est  incolore 
taut  (juil  \\\  a  poiiit  d'neil  pour  le  voir.  Rien  nest  ou  ne  devient 
en  sei  et  par  soi.  mais  seulement  par  rapport  au  sujet  qui  per- 
ooit:  Ol)  {)eut  donc  dire.  157  A.  oOrlsv  zv/i\  iv  7'jto  /af>'  7'j':o.  7/,/.7! 
T'.v'.  73;  7i'"'V3  3l)7'.  dU  ciicore  (Ai'ist.  Metaj).  IX.  3,  1047  \)  7tai)-/;-:';v 
o'josv  3iv7'.  \i:c^  7i'3i)7vvj.3vov.  11  i'eslc  pourtant  ([ue  cette  existenee 
du  sensible,  si  fugitive  qu"<dle  snit.  est  une  existenee:  eile  est  autre 
cliose  et  plus  quune  sini[>le  apparence  subjectivc  ('est  la  niatiere. 
qui  reellenient  et  pour  im  nionidit.  a  pris  teile  loi'ino.  est  de- 
venue  et  est  teile  cliose. 

Ainsi  s"explique  la  j)iesence.  dans  la  l'ormule  de  Protagoras. 
des  niots  (nz  z".'.  et  cor  »-/j/  i'jTi.  II  serait  ctrange.  si  eile  avait 
la  si<i-nificatioii  purcnient  sul)jecti\e  qudn  liii  a  si  souvent  prH('e. 
qu'oii  y  vit  linnres  l<'s  iiiots  etre  et  110  j);is  etre.  Si  ;iu  contraire 
le  uioi  etre  a  un  sens  independaniinent  de  la  representalion .  si 
peu  de  chose  que  soit  (Tailleurs  cette  realite,  ou  eompiend  liii- 
sistance  avec  l;i(|Uflle  l'rotagoras  iiitruilnit  ccs  luots  dans  sa  l'or- 
mule.   il  veut  rester  d'accord  avec  le  sens  comnuin:   il  allii-nie  une 


Protno-oras  el   lit'inn.i  ilr.  37)> 


i'di 


iri'i 


rcnlitc  olijoctivc     Si    riiomine   mcsuro    t(Hit.    il    ii  rst    [ia>  tniit.      11 
\    ;i  (]e  rötre  hors  de  lui. 

Aiusi  s'expliqiie  encoic  une  autre  siin;ularit(''  assez  clioquantc. 
Dans    le  Thet'tete.    la    Sensation    ost    a    chaiiuo    instant    donnoe 
ume  vraio:  le  titre  memo  de  l"oiivrage  de  Protagoras  ([ue  Piaton 
■II  sous  les  yeux   [)arait  etre  la  verito.    Ißl.  ^p/oasvo;  rr^c  ilr^- 
z'a:.    (T.  162  A,  170  E,  171  C.     Comment  comprendre  Templol  si 
luent  do  t-e  mot,  si,  dans  la  pensoe  do   Protagoras,  il  n"y  a  quo 
des  apparences  subjectives?    Democrito,  dans  une  circonstance  ana- 
logiie,    ilisait    au    moins    que    la    verite   est   profondement   cacliee. 
Z'ller   suppose   que   le   titre   de  c/Ir/lcia  pourrait  bien  eti-e  de  Fin- 
tention  de  Piaton:    il  croit  aussi  que  Protagoras  avait  pu  deelaier 
a  plusieurs   reprises   et   avec   Force   qu'il  se  proposait  de  faire  con- 
naitre  la   verite  sur  les  choses   par  Opposition  a  Toplnion   vulgaire. 
Ces   deu\   sup[M)sitions   sont  inutiles  si  notre  interpretation   est  ex- 
acte.     11    est    rigoureusement    juste    de    dire    que   la   Sensation    est 
vraie.   puisque  eile  a  un   ohjet  hors  de  nous,    et  Protagoras  avait 
bien  le  droit  d'intituler  son  livre:  la  verite,  puisque  a  chaque  in- 
stant nos  sensations  correspondent  exactement  a  des   changements, 
qui    d"ailleurs   ne   se    produiraient    pas  sans  eile.     Et  de  nieme.    le 
niot   verite    ne   s"appliquerait   pas   a    la    these   de  Protagoras   prise 
dans  son  ensendjle,  et  dans  son  Opposition  ä  l'opinion  vulgaire:  il 
s'agirait  de  la  nature  meme  de  la    verite   prise   en   elle-menie.     II 
y  a  de  la   vei'ite  couime  il  y  a  de  l'etre   dans  le  Systeme  de   Pro- 
tagoras.     Rien    n'empeche    (Failleurs    que    Protagoras    oppose    cette 
verite  a  Celle  des  Eleates,  avec  laquelle  eile  forme  un  parfait  con- 
traste.     11  se  peut  aussi,  comme  on  le  croit  generalement.   que  le 
livre  appele  ä/.r.Ds'r/  soit  le  meme  que  Sextus  appelle  -mz'-jMLkuv-zz. 
Eutin  remar([Uons  que   l'latim.    s'il  a   [)eut-etre   modillr  ri'\pressiim 
de   la   pensee   de   Protagoras  (152,  A   too-ov   t'.v7.   ä'/Aov)   on   disant 
que  roi!.'3i)r,Cp'.>  est  l'i-iaTYjlJ.-/;,   n"en  a  pas  du   iiudus  cliangi'  la   veri- 
table  signilicatiun,   [»uisque  roti'cji}/,':'.;  est  T^v-vlsia  (102,  C   ctril)-/;!'; 
äVy.  TO'j   ovro;  ö.v.  i"\  /sn  ^.'vS'jor^c  et   171.  A   -A  ovt7   uuI^.^jiv)  ö'.-rjy- 
T^c):    et    d'd^ilE'.o'.    l\    i-'.cir/;a-/] .    la    distauce    ä    coup    snr    n  est    pas 
grande.      l*ar   suite.    lUi    peut    dire    avec   Schuster    et    crmtre   Zeller 
que,  selon  Protagoras,   il  y  a  une  science,  au   nunns  wna  verite.  et 


374  Virtor  Biooliunl, 

quo  oot(e  xcrilö  coincide  avec  Vah^r^ai;:  vi  il  faut  prendre  i^onini 
traduisant  la  V(M-ilid)le  poiisee  de  Prola^orns  los  exprossioiis  analoguo 
de  Piaton. 

Arislote  dit  (Metap.  IV.  4,  lUOT  1?)  (|Uo  Protagnras  .suppriin 
lo  principe  de  coiitradiclion.  II  sc  peut.  cuinine  le  coiijecliin 
Zellor.  tjuo  cotto  oxprossiftn  al)straito  iio  soit  pas  ilu  langage  di 
Prolagoras:  iiiais  la  chose  meino  qirello  exprinie  est  certainoiuen 
dans  sa  j)onsee.  et  il  s"agit  iei  dune  consequenoe  qu"il  est  im 
possible  quo  Protagoi'as  n'ait  pas  vue.  II  proclamait  la  lealite  ob 
jective  dos  oontraires  a  la  nianiei-o  d'Iferaclite  (Soxtus  Hyp.  Pyr 
II.  63  \r^'x''jy.^A-:''i;  Z'yr^  [J-'/^ts  \),'y/)j  o-.'jto  ihv.  \i.'r^zz  -'./.oov,  o  u\  'Wf,'i 
x/.siTO^  cittj-cporspa).  La  niatiere  est.  on  memo  lemps,  cjuoique  soii: 
i\e.i^  rapporls  diirörcnts,  tout  ce  qu"elle  parait  etre  a  tous  les  homnies 
Elle  oonfond  en  olle  les  determinations  les  plus  opposees  el  lo; 
plus  oontradictoires.  Et  c'est  pourquoi,  ooinnie  le  disait  expresse- 
ment  Protagoras  (Diog.  IX,  51),  il  y  a  toujours  sur  touto  questioi 
deux  theses  opposees  Pune  ä  Pautro.  11  laut  so  souvenir  enfin  qu( 
le  titre  de  louvrage  x^.t^I'jv/./.ovts;  designe  le  choc  dialectique  de.- 
diverses  opinions  opposees  sur  chaque  sujet. 

J/argumentation  de  Protagoras  nous  apparait  donc  conmu 
dominee  par  le  piincipe  oommun  a  tontes  les  philosopliies  anterieure> 
a  Piaton,  et  (ju'on  retrouve  luenie  cliez  Piaton:  on  ne  pen.se  pas 
(du  011  ne  sent  pas,  on  no  se  ropi'osente  pas)  ce  qui  irest  [)as. 
('"est  (failleurs  ce  qui  nous  est  l'uriiiellonient  atteste  dans  le  Thee- 
tete  IßO,  A  7.t jf)otvo|j.£vov  ■,7.0,  ;j//)o;voc  os  'y.isUavou.sv':/'/,  7.o6v7.tov 
■^{'{■vts'i^rjx.  Et  plus  loin,  dans  le  disoours  quo  Piaton  place  dans  la 
bouche  de  Protagoras,   167  A.  oü  -A  ar,  ovt^.  o'jvarov  oo;aa7i. 

Iva  doctrine  de  Protagoras  est  donc  un  relativisme  objectif  ou 
realiste.  Aussi  bien,  il  est  also  de  voir  par  le  Tliectete  quo  la 
relation  ^V^  Tobjet  au  sujet  est  un  cas  particuiior  de  la  relatioa 
de  tontes  clioses  entre  elles.  (Zeller,  Pliilos.  (L  (irlochen.  Pd.  I, 
p.  980,  1.) 

Ce  n"est  donc  j)as  Protagoras  (|ui  a  lo  preniier,  conime  on  le 
croit  coninuinem(^nt ,  considore  los  chosos.  les  qualites  ilos  corps 
comme  de  pures  apparences  subjectivos.  Le  preniier  en  dab'  dos 
pIiiloso[)lios  .-ubjc(ti\  istcs  Tut  Deniocrilo. 


Protagoras  et  Deinocrite.  375 

La  ci'itiqiie  de  l'rotagora.s  etait,  eii  uu  sens,  decisive:  il  fallait 
faire  droit  a  ses  pviucipaux  arguraeuts.  La  connaissance  sensible 
est  ossentiellenient  relative:  vüila  ce  quil  avait  etabli,  reprenant 
et  fortiliant  une  these  que  tous  les  philosophes  antesocratiques 
avaient  plus  ou  mnins  entreviie.  II  resultc  de  l;i  ([ifil  ii"y  a  point 
de  verite,  si  noii  cette  verite  passagere  et  fuyaute  que  nous  venons 
de  deflnir,  et  qui  ne  iiierite  pas  son  nom:  Lenteudre  ainsi,  c'est. 
au  Ibnd.  jouer  sur  les  mots.  Democrite  ne  voulut  pas  se  contenter 
dune  conception  qui.  ei;  lin  de  compte,  ruiiiait  la  science.  II 
cherclia  la  verite  ailleurs,  et  crut  la  trouver:  il  recoimut  seulenieut 
qu"elle  n'est  pas  aussi  tacile  a  atteindre  que  Tavait  pense  Prota- 
goras, qu-elle  n"apparait  pas  du  premier  coup  a  la  surface  des 
choses,  mais  qu'elle  est  profonderaent  cachee.  C"e.st  probablement 
oe  que  signifiait  sa  furmule  si  souvent  repetee,  Diog.  IX,  72  sv 
ßuÖo)  y;  ^./-y^tls'.o!.  On  aura  pris  pour  uii  aveu  de  scepticisme  ee 
qui  etait  plutut  le  progranime  d\in  dogmatisme  qui  se  cherchait 
encore,  et  voulait  Tetablir  en  lace  de  la  critique  negative  de  Pro- 
tagoras. 

II  n^•  avait  qu"uu  niujen  d'atteindre  cette  verite.  puisque  les 
sensations  sont  relatives:  c'etait  de  rel'user  toute  valeur  objective 
aux  sensations  sans  distinction,  de  faire  rentrer  pour  ainsi  dire 
dans  le  sujet  ces  qualites  que  Protagoras  avait  laissees  en  face  des 
sensations.  avec  lesquelles  elles  faisaient  en  quelque  maniere  double 
emploi,  et  de  les  remplaces  par  d'autres  toutes  differentes,  unies 
cependant  aux  sensations  par  un  rapport  autre  (|ue  celui  de  la 
ressemblance,  si  bien  qu'il  füt  egalement  vrai  de  dire  ((ue  les  sen- 
sations nous  cachent  la  verite  et  qu'elles  nous  la  rovMenl.  C  est 
ce  que  fit  Democrite,  au  temoignage  de  Theophraste  et  de  Sextus. 
De  Sensu.  GO  (Diels,  p.  516)  A/jao/pi-or  ä-osrsrxov  töjv  7.i!jf)/,Twv 
T/^v  cptSaiv  —  Hyp.  Pyr.  Tl.  63.  M.  VI,  50  —  VII,  135  —  VIT,  369, 
VIIL  6  |j.r//sv  Gro/Erai>/'.  -viaU^ov;  YIIL  56  —  VIII.  1S4  -  VIII. 
355.  Desormais,  les  sensations,  uu  lieu  d'etre  l'expression  de  rea- 
lites  exterieures  serablal)les  a  olles,  ne  sont  plus  que  dos  etats  du 
sujet,  rAdr^  -7,:  ala^-.io;  (Tlieoph.),  d(>s  etats  vides,  et  Sextus  e.x- 
prime  clairement  cette  doctrine  en  disani,  VIII.  1S4:  A-/;aoy.f.'.T^c 
yirfih    u-o/cTaftai   'irp-.v    tcov    cf.hdr-.w/.    äl'/A    xövoraÖs'.ac    t-.vötr    slvcti 

Archiv  f.  Ge3cbiclite  der  PliiloSupliie.     II. 


376  Victor  Brochaid, 

TTixpöv  "/j  OSjOfxov  7)  '!^'jyrjrjy  r]  Xeuzov  7j  [j,iX7.v,  r/ijx  afJSj  ti  töjv  -aai 
9ottvo[X£vu)v  üaOwv  -ap  -/justsptuv  r^v  ovo|jio(T7.  xoJjxr)..  Pour  la  premiere 
fois,  le  lien  qui  unissait  l'etre  a  la  pensee,  la  realite  a  la  repre- 
sentation,  etait  rompu:  c'est  uii  moment  decisif  daus  Fhistoire  de 
la  Philosophie. 

Briser  ce  lien   etait  a  la   verite   une  grande  hardiesse:   c'etait, 
iine  sorte  de  scandale  logique:  cela  signifiait  qu'on  peut  penser  ce ' 
cjui  n'est   pas.     Une    teile   audace    est    peut-etre   moins   etonuante' 
chez  un  philosophe  qui  proclamait  ouvertement  la  realite  du  nou- 
etre  ou  du  vide,   du   ;x-/;o£v  aussi  bleu  que  du  Ssv:   il  y  a  du  vide' 
aussi  dans   la   pensee  (xsvoTrocOsia).     En  tout  cas,  il   est  peut-etre 
curieux    de   reraarquer   que   le   sujet   a  ete  pour   la  premiere  fois 
pose  en   Opposition    avec    Tobjet    par    un    philosophe    qui    voulait 
echapper  aux  consequences  mises  en  lumiere  par  Protagoras.    C'est ' 
un  dogmatiste  qui  a  rompu  Punite  de  l'etre  et  de  la  pensee:  c'est : 
pour  se  defendre  contre  les  negations  du  sophiste  que  le  dogmatisme 
a  forge  l'arme    que    le   scepticisme    devait   tant  de  fois  retourner 
contre  lui.  —  H  y  a  une  lointaine  ressemblauce  entre  Democrite, 
inventant  la  theorie  de  la  distinction  des  qualites  primaires  et  se- 
condaires,  pour  vaincre  le  phenomenisme  de  Protagoras,  et  Thomas 
Reid,   reprenant   cette  nieme  distinction  pour  echapper  au  pheno- 
menisme de  Hurae. 

Si  la  Sensation,  conime  nous  venons  de  le  voir,  etait  deelaree 
insuffisante,  il  fallait  bien  y  joindre  un  autre  procede  de  con- 
naissance:  ce  fut  le  raisonnement,  le  meme  Xoyoc  dont  les  philo- 
sophes  anterieurs  avaient  aussi  fait  usage  sans  le  definir  exactement. 
Democrite  fit  comme  eux,  et  ne  parvint  peut-etre  pas  ä  concilier 
cette  theorie,  necessaire  pour  son  Systeme,  avec  son  explication 
physique  de  la  connaissance,  (Natorp,  Forsch,  p.  164  et  Archiv 
f.  G.  d.  Phil.  p.  348).  Quoi  qu'il  en  soit,  Democrite  aflirma 
l'existencc  reelle  ixz%  de  deux  choses:  Fatome  et  le  vide.  (Sext. 
Hyp.  Pyr.  I.  214  £■:£■()  os  azo^o.  v.oX  zövov  i'z%  [jlsv  -j-ap  Xrj'ci  avit 
to'j  7.X-/)i)£ia).  Quant  au  mouvement,  Democrite  n'avait  pas  besoin 
ici  d'en  aflirmor  Pexistence,  puisque  eile  etait  reconnue  par  Tad- 
versairc  (jiTil  combattait.    11  montra   seulement  quo  le  mouvement 


Protagoras  et  Deinncrite.  ^77 

iie  suffisait  pas,  conniic  \e  croyaient  Heraclite  et  Protagoras,  a  tout 
cxpliquer:  il  fallait  y  joindre  im  principe  de  stabilite.  Fatome,  et 
une  conditio!!  egaleiiient  indispensable  ponr  la  conception  de  Fatome 
A  Celle  du  mouvenient,  le  vide.  Des  lors,  ce  qu'on  a  appele  plus 
tard  les  qualites  primaires  des  coi-ps,  pi-oprietes  essentielles  des 
atomes,  connues  non  pai-  les  sens,  mais  au  fond  pures  conceptions 
matlie!natiques,  la  gi-andeur  et  la  forme,  suffisaient  a  expliquer 
toutes  les  proprietes  apparentes  des  objets  reels.    (Theopli.  1.  c.) 

On  dira  peut-etre  que  cette  intei-pretatiou  rencontre  une  diffi- 
culte  dans  les  textes  qui  nous  mont!-cnt  Protagoras  disciple  de  De- 
mocrite  (Gal.  Mist.  Ph.  )\.  Diels  p.  601.  —  Stob.  Ecl.  I.  50,  Diels 
p.  396.  dem.  Alex.  Strom.  I.  14,  ^öo.  Ilermias,  Ir!'.  Gent.  Phil.  9. 
Diels  p.  613.  —  Diog.  IX.  öO.  —  Aristocl.  ap.  Euseb.  Prop.  Ev. 
XIV.  19,  5).  ^lais  Zeller  a  deja  montre  qu"en  depit  de  leur  nombre 
ces  temoignages  doivent  etre  recuses.  Tous  les  historiens  s'accor- 
dent  a  faire  naitre  Democrite  environ  20  ans  apres  Protagoras: 
et  ainsi  la  Chronologie  confirnie  ce  que  Fanalyse  des  doctrines  avait 
montre:  la  philosophie  de  Democi-ite  marque  un  progres  sur  celle 
de  Protagoras. 

D'ailleurs  nous  savoiis  que  Demucrite  avait  ocrit  un  livre 
contre  ProtagO!-as  (Plut.  Adv.  Col.  4.  Sext.  M.  VIT,  389).  II  ne 
nous  a  pas  ete  conserve  une  ligne  de  cet  ouvrage:  Plutarque  dit 
seulement:  xosoü-ov  ^c  A-/)[i.oxpiTo;  a-oosi  toO  voai'Ceiv  \xr^  ;j.aUov 
slvai    Totov    rj    -oiov    töjv    7:p7.-j'!J.a-(ov    ixcoiov,    w3tö    rip«>-a-|'6pcf.    tct) 

rpoc  (zutov.     Sextus  dit  de  son  cote:    -a^r/y   akv   ouv   cpavTasiav   o-jx 

Sl'-Ol      X'.C      7.^t)?j      017.      TT^V     TrSpiTpOTTT^V     X7l)ojC     0     TE     Ar^tXOXpiTOC     X7l     0 

FlXotKüv  avTi/i-i'ov-ec  t(o  llptoTaYopa  soiootaxov.  —  Est-il  temeraire  de 
conjecturer  que  cet  ouvrage  de  Democrite  avait  pour  objet  preci- 
sement  la  question  qui  nous  occupe?  Democrite  y  demontralt 
probablement,  que  la  i-ealite,  veritable  et  absolue,  si  eile  est  dif- 
ficile  a  atteindi-e,  n'est  cependant  pas  entierenient  hors  de  nos 
prises;  Fexistence  des  atomes  et  du  vide  peut  etre  connue  avec 
certitude.  Ainsi  se  trouvait  maintenue  la  legitimite  de  la  science, 
la  realite  de  Vakr^nziy.,  non  pas  au  sens  de  Pi-otagoras ,  qui  ne 
Fevoquait  que  pour  hi  faire  evaiumir  aussitot,   mais  au  sons  [tlcm 

26* 


378  Victor  Brochard 


et  entier  du  mot,  tel  que  Texige  Tesprit  liumaiu,  et  que  le  reclame 
la  science. 

Ainsi  envisage,  le  livre  inconnii  du  vieux  philosophe  fait 
pendant  au  Theetete:  et  dans  sa  theorie  de  la  connaissauce, 
Toeuvre  de  Democrite  presente  de  grandes  analogies  avec  celle  de 
Piaton.  C'est  ce  que  disait  deja  Theophraste,  1.  c.  Ar^ao/piTC/;  y.ai 
nXaKjuv  £-1  TrXstarToy  storiv  Yjaij-svoi:  et  si  differentes  que  soient  leurs 
autres  conceptioiis,  quelque  hostilite  peut-etre  qu'il  y  ait  eu  entre 
eux.  les  noms  des  deux  penseurs.  en  tant  qu'ils  s"opposent  a  Pro- 
tagoras,  sont  souvent  cites  ensemble  (Sext.  M.  VII,  389  —  VI.  50  — 
VIT.  116  —  VIT.  389  —  YIIL  6  —  YIIL  56).  Tous  deux  en  effet ! 
ont  poursuivi  le  merae  but:  maintenir  contre  la  critique  negative 
du  sophiste  les  droits  de  la  science.  Dans  cette  oeuvre  commune, 
ils  ont  di^i  necessairemeut  se  rencontrer  en  bien  des  points:  tous 
deux  ont  en  eft'et  diminue  la  valeur  du  temoignage  des  sens;  tous 
deux  ont  invoque  une  faculte  de  connaitre  dlstincte  de  l'experience 
sensible.  Bleu  plus,  tous  deux,  pour  expliquer,  soit  Perreur,  soit 
le  caractere  subjectif  des  apparences  sensibles,  ont  du  admettre  la 
realite  du  non-etre:  ä  ce  point  de  vue  encore  il  y  a  une  etroite 
parente  entre  le  Sophiste  et  l'oeuvre  de  Democrite.  Mais  lä 
s'arretent  les  ressemblances.  Au  temoignage  de  Theophraste  (1.  c.) 
Piaton  n'a  pas  depouille  les  corps  de  leurs  qualites  aussi  hardiment 
que  Democrite  a  ose  le  faire.  La  realite  que  le  philosophe  d'Abdere 
reconnait  au-dela  des  pheuomenes  est  toute  materielle,  et  c'est  des 
Idees  que  Piaton  pretend  demontrer  Pexistence.  La  faculte  de  rai- 
sonner  qu'invoque  Democrite  n"est  pas  Pintuition  intellectuelle  de 
P.laton.  Enfin,  tandis  que  le  non-etre  de  Phyton  parait  n'avoir 
qu'une  existence  toute  relative  dans  le  domaine  des  Idees,  Democrite 
fait  du  non-etre  ou  du  vide  une  realite,  une  sorte  d'absolu.  Mai.s 
en  (-lepit  de  ces  differences  et  d"autres  encore,  les  deux  philosophies 
n'apparaissent  pas  moins  comme  ayant  le  meme  rapport  ä  la  these 
de  Protagoras:  elles  sont  hi  [)rotestation  du  dogmatisme,  idealiste 
ou  materialiste.  contre  le  relativisme  realiste  de  Protagoras. 


XIX. 

Sur  im  fragiiieiit  de  Pliilolaos. 

Par 
Paul  Tauiiery  ä  Bordeaux. 

D'apres  Proclus  sur  Euclicle  I,  p.  36,  46,  48  (edition  Friedlein. 
p.  130.  167,  173,  174)  Pliilolaos  avait  attribue  a  quatre  dieux, 
Kronos,  Hades,  Ares  et  Dionysos,  l'augle  du  triangle;  a  trois  deesses, 
Rhea,  Demeter,  Hestia.  Tangle  du  carre;  ä  Zeus  seul  enfin,  Fangle 
du  dodecagone.  Comme  le  remarque  tres  bien  E,  Zeller  (Phil 
der  Griech.  P,  p.  363,  n.  1),  les  explications  qu'ajoute  Proclus 
sur  CCS  singulieres  attributions  iie  semblent  devoir  etre  prises  que 
pour  de  simples  presomptions,  issues  du  cercle  des  idees  neopla- 
toniciennes,  et  la  verite,  c'est  que  nous  ignorous  Forigine  des 
rapprochements  bizarres  qu'aurait  faits  Pliilolaos. 

Cependant,  si  Ton  cousidere  Fassertion  de  Proclus.  que  les 
quatre  dieux  du  triangle  representent  les  quatre  elements,  on  trouve 
que  le  symbolisme  ainsi  indique  a  joue  un  röle  beaucoup  plus  con- 
siderable  qu'il  ne  le  meritait  sans  doute,  et  il  devient  des  lors 
interessant  d'en  rechercher  l'histoire. 

Daus  les  notations  chimiques  usitecs  depuis  le  moyen  äge  et 
qui  se  sont  perpetuees  jusqu'au  milieu  du  siecle  dernier,  les  quatre 
elements  sont  figures  par  des  triangles  equilateraux,  droits  pour  Ic 
l'eu  et  Paii'.  reuverses  pour  Peau  et  la  terre.  Les  triangles  du  feu 
et  de  la  terre  sont  d'ailleurs  distingues  par  Pinscription  d'une  barre 
parallele  ä  la  base. 

Ces  symboles  ne  sont  pas  cependant  usites  dans  les  manuscrits 
alchimiques  grecs;  si  douc  ils  sont  venus  par  tradition  dan^s  POcci- 
dent  latin,    ce  ne  peut   etre    que  par  Pintcrnicdiaire  des  Arabes, 


380  Paul  Tannery, 

chez  lesquels  il  serait  des  lors  interessant  de  les  recherclier.  Mais, 
quels  qu'en  aient  ete  les  inventeurs.  le  choix  de  ces  signes  trouve 
son  explication  dans  un  ordre  d"idees  tout  a  üiit  different. 

Les  astrulogues  combinaient  entre  eux  les  signes  liu  zudiaque 
qui  se  tronvaient  aux  sommet^«  d"un  meme  triaugle  equilateral  oii 
qui  se  voyaient  reciproquement,  selon  le  langage  technique.  eu 
aspect  trigone. 

11s  constituaient  ainsi  quatrc  triangles  distiucts,  ä  cliacun  dcs- 
quels  etait  attribue  un  element: 

l"^' triangle:     Aries,  Leo,  Arcitenens.  Feu. 

2'-  triangle:     Taurus,  Virgo,  Caper.  Terre. 

H'^  triaugle:  Gemini,  Libra,  Amphora.  Eau. 
4''  triangle:  Cancer,  Scorpins,  Pisces.  Air'). 
Noiis  retrouvüus  ainsi,  dans  la  tradition  scientifique  du  moyen 
äge.  symbolisees  en  chimie,  nettemeut  exprimees  eu  astrologie.  les 
associations  dout  parle  Proelus  pour  le  triangle.  II  semble  d'ailleurs 
faire  allusion  a  la  correspondauce  astrologique  de  ces  associations, 
lorsqu  immediatement  apres  avoir  indique  la  cousecration  de  Taugle 
du  triaugle  ä  quatre  dieux,  il  parle  de  Philolaos  comme  Tzasav  irjv 

■/otÖY/ou3av  eiTS  ol-ko  täv  -ctTototuv  xoD  CwSiaxou  T;ay;aatt'jv  sv  to'jtoi^ 
-spi/va|3tuv.  A  la  verite  au  lieu  de  -[i.r^ii,aT«>v ,  on  desirerait  Tpiyo)- 
vtuv,  et  dun  autre  cote,  les  mots  iiie  ....  -[xrijxat'ov  peuvent 
sembler,  dans  ce  texte,  une  glose  venue  de  la  marge.  Mais  le 
rapport  que  je  signale  n"en  est  pas  moins  incoutestable. 

La   constitutiou   des   quatre  triangles   astrologiques  parait    re- 


')  Je   me  cuutente  cFincliquer  comuie   preuve   les   vers  .30 — TG.   333 — 340 
'lu  poeme  astrologique  de  Camateros : 

50     -püJTOv  Tpiytuvov  TOÜTO  Tt'jpüioe;  vo'st. 

64     fzihrizi  wj  Tpi'ytuvov  i'a&t  [jiot  töoe. 

72     TpiTOv  Tpt'ywvov  ct£p(Jüo£;  aoi  toSe. 

80  TETapTOv  üoatiüScC  t/OTj  ap~i  jj-avöavät;. 
(,'uoi<|Uc  (r.-iilleurs;  ratfril)Ution  (i"un  triangle  astrologique  ä  cliaijuc  elemeut 
)ie  seinhln  avoir  jou('  qu'un  rüle  insignifiant  pour  les  oomhiuaisons  scrvaut 
aux  jtredictions,  eile  «Jtait  assez  conranle  pour  (pie,  dans  les  diagrarames  de 
la  sphere  cele.ste  des  inaauscrits  grecs,  les  noms  des  elements  soieiit  geue- 
ralement  inscrits  ä  cöte  du  zodiaque. 


Sur  lin  fragment  de  Philolaos.  381 

monter  jusqu"aux  Clialdeens;  en  toiis  cas,  je  les  trouve  deja  tres 
nettemeiit  decrits  daiis  Geminu.s,  chap.  I  (üranologion  de  Petan. 
p.  7).  Tüutefois.  au  Heu  (rattribiier  a  chaciin  d"eux  un  des  quatre 
('lement.s.  il  leiir  rapporte  les  quatre  vents:  1"  nord.  2"  siid. 
3"  üuest,  4"  est,  parce  qiie.  dit-il,  lorsqirun  de  ces  vents  souffle 
peiidaut  que  la  lune  est  dans  un  des  signes  du  triangle  coi-respon- 
dant,  on  peut  affinncr  que  ce  vent  se  maintiendra. 

D'ailleurs,  s'il  y  a  quatre  triangles  astrologiques,  il  y  a  trois 
carres,  quo  counait  de  meme  Geminus: 

P'Carre:         Aries,  Cancer,  Libra,  Caper. 

2"  Carre:         Taurus,  Leo,  Scorpius,  Amphora. 

3"  Carre:  Gemini.  Virgo,  Arciteneus,  Pisces: 
de  meme  il  y  aurait  deux  hexagones  (P''  et  3"  triangle,  2*  et 
4*  triangle),  figure  qui  toutefois  n'a  ete  consideree  que  plus  tard 
en  astrologie:  mais  il  n"y  a  qu'un  dodecagone,  qui  comprend  les 
douze  signes;  les  autres  polygones  regulicrs  ne  peuvent  etre  uti- 
lises  de  meme. 

Cette  remarque  uous  Iburnit  une  explication  du  nombre  de 
quatre  dieux  pour  l'angle  du  triangle.  de  trois  pour  celui  du  carre. 
d'un  seul  pour  celui  du  dodecagone.  Mais  aussitot  s'eleve  une 
question  prejudicielle:  est-il  possible  d'attribuer  cet  ordre  d'idees 
a  Philolaos,  et  ne  se  trouve-t-on  pas  en  presence  d'une  combinaison 
posterieure?    Proclus  aurait-il  ete  trompe  par  un  faussaire? 

Cette  deruiere  hypothese  doit  etre  ecartee  en  presence  du 
temoignage  de  Plutarque  (de  Is.  c.  80),  si  toutefois  le  garant  qu"il 
iuvoque.  pour  attribuer  aux  pythagoriens  des  combinaisons  de  ce 
genre,  est  bien  Eudoxe  de  Cnide.  le  celebre  disciple  d'Archytas. 
Mais  j'ecarte,  pour  le  moment,  meme  ce  temoignage,  parce  qu'il 
s"y  est  certainement  mele  un  element  emprunte  k  la  mythologic 
egjptienue  et  que,  si  cet  element  ne  doit  pas  nous  etonuer  chez 
Eudoxe,  il  serait  absolument  suspect  pour  Philolaos. 

Mais  on  ne  peut  en  tout  cas  mettre  en  doute,  chez  ce  dernier. 
la  connaissance  des  douze  signes  du  zodiaque,  quoique  leur  distinction 
füt  peut-etre  alors  encore  tres  recente  chez  les  Grecs').    Or  il  n'est 


On  l"a  atlribuee  ä  Oenopide   qui  a  du    vivre   dan«  la   pieiuiere   luoitie 


382  i'ii^'l  Tau  110 ry, 

pas  besoin  de  supposer  que  cette  division  ait  ete  emprunteo  anx 
barbares,  quoique  lo  fait  seit  assez  probable,  ni  ipie  remprunl  ait 
[lorte  eil  meme  temps  sur  les  groiipements  par  triangles  et  carres. 
La  division  en  12  etant  doimee,  ces  groiipemeuts  sout  tellement 
uaturels  des  que  i"esprit  geometriquo  s"est  tant  seit  peu  developpe, 
(|u"i]s  ont  pu  se  constituer  eii  Grece  tout  a  fait  independammeut 
de  leiir  inveiitiou  eii  Chaldee.  Je  peuse  donc  qireii  ecartant  toutes 
los  idees  astrologiqnes.  oii  peut  sans  scrupule  attribuer  a  Philolaos 
les  groiipements  en  questiou. 

Des  lors  se  presente  un  rapprocliemeut  immediat  avec  le  raythe 
astrononiique  du  Phedre  de  Piaton.  Zeus  y  menc  l'armec  des  douze 
signcs,  comme  il  preside,  poua*  Philolaos.  a  l'angle  de  la  fjgurc  qui 
em brasse  tout  le  zödiaque;  Hestia  y  est  meutionnee  pour  son 
immobilite.  et  nous  la  retrouvons  parmi  les  trois  deesses  du  carre. 
^.ous  savons  d'ailleurs  que.  pour  Philolaos.  eile  represente  le  foyer 
central  plutot  que  la  tcrre,  mobile  dans  son  Systeme. 

Je  crois  avoir.  dans  ce  qui  precede.  donne  une  raison  plau- 
sible du  nombre  de  dieux  et  de  deesses  attribue  par  Philolaos  a 
fhacune  des  figures  dont  il  a  ete  parle.  Chaquc  dieu  ou  chaque 
deesse  correspond  a  un  groiipement  special  de  signes  du  zödiaque. 
La  seule  objection  qu"on  pourrait  faire  contre  cette  explication. 
serait.  je  crois,  a  tirer  de  rassertion  de  Proclus  (I,  3B),  d'apri's 
laquelle  non  seulement  Philolaos  aurait  consacre  chaqre  angle  o 
plusieurs  divinites  (ce  qui  est  explique),  mais  attribue  a  la  meme 
divinite  plusieurs  angles,  suivaut  les  difierentes  puissances  de  cette 
diviuite.  Toutefois  cette  difficulte  est  evidemment  loin  d'etre 
grave^  et  en  tous  cas.  pour  la  discuter  serieusement .  il  faudrait 
posseder  au.  moins  un  exemple  determiue,  ce  qui  nous  manque. 

Je  devrais  peut-etre  m'arreter  ici;  car  si  j'ai  pu  rester  jusqu";i 
prcsent  sur  un  terrain  relativement  solide,  il  n"en  serait  plus  de 
meme  des  que  je  tenterais  de  Ibrmuler  une  opinion  sur  les  motifs 
qui  ont  fait  choisir  a  Philolaos,  pour  presider  aux  groupemeuts 
qu'il    formait,    tolles    divinites    determinees.     Cependant    quelques 

■du  Vc  siede  avajil  notre  ere;  je  rappelle  (juc  la  [leriode  de  5!)  ans  ou  720 
inois  a  ete  empruiilee  par  I'bilolaus  :\  Oenopidc.  11  a  pu  hii  em})runtcr 
autre  chose. 


Sur  Uli  t'ragment  de  Philolaos.  383 

romrirqLie>   me   semblent   encorc    iiulispcnsables    et   Ton    m'excusera 
si   je    me   lakse    eutrainer    a    y   meler   quelques   conjectures   sans 

iippui. 

Faut-il  ahsülumcnt  rejetev  rophiiou  de  Prüclus.  que  los  (juatrc 
(lleux  (kl  tri;iii,ule  represeiitaient  puur  Philulaos  les  quatrc  Clements, 
r[  nommement,  cumme  il  le  dit:  Kronos  Teau.  Ares  le  l'eu,  Hades 
hl  ten-e.  Dionysos  l'air? 

Le  fait  que  cette  attribution  aux  Clements  de  triaiigles  zodia- 
caux  appartient  ä  rastrologic  ne  me  parait  puini  une  objection 
-■cisive:  car,  en  admetlant  que  l'hilolaos  ait  fait  le  pvemier  cette 
attribution.  il  est  tres  pussible  qu"cllo  ait  passe  plus  tard  cn  astro- 
Ingie.  oii  olle  a  jouc  d'aillours,  comme  je  Tai  indique.  un  rolc  plus 
cunsiderable  eu  apparence  quen  realite.  Ce  serait  en  effet  une 
crreur  que  de  regarder  Tastrologie  comme  ayant  conservc  sans 
;iucun  changement  ses  dogmes  et  ses  procedcs  chaldeens,  quand 
(  lle  se  rcpandit,  apres  les  conquetes  d'Alcxandre,  dans  le  mondc 
hcUenisc.  II  est  au  contraire  facile  de  prouver  que  comme  detcr- 
luiuations  positives,  comme  materiel  d'observations,  comme  me- 
ihodes  de  calcul.  eile  a  largement  profite  des  progres  de  la  science 
erecque;  et  il  serait  egalement  aise  de  signaler  nombre  d'idees 
nsirologiques  qul  sont  intimement  dependautes  de  la  langue  liellene. 

Je  ne  crois  pas  non  plus  devoir  tenir  graud  compte  du  fait 
que  la  fixation  a  quatre  du  nombre  des  Clements  appartient  a 
Empedocle;  car  rieu  ne  me  parait,  au  moins  dans  Fopinion  que 
je  me  suis  formee  de  Philolaos,  s"opposer  a  riiypotliese  dun 
•'mprunt  fait  au  Sicilien.  Dans  cet  ordre  d'idees,  on  reraarquera 
que  pour  ce  dernier,  cumme  pour  Proclus,  Hades  signifie  la  terre, 
ce  qui,  bieu  entendu,  ne  peut  rien  prouver  pour  Philolaos. 

Pour  Kronos,  le  rapport  avec  Teau  est  conforme  au  temoignage 
d'Aristote  dans  Porphyre  (Vit.  Pyth.  41),  d'apres  lequel  Pytha- 
gore  aurait  appele  la  raer  Kf-ovou  oaxp'jov^).  Mais  pour  Ares, 
l'attribution  du  feu  parait  n'avoir  d'autre  origine  que  le  noni  de 
la  plauete,  TTuposi?;  enfm,  pour  Dionysos,  tout  rapprochemcnt  plau- 


■0  Je  ne  puis  lueaipecher  de  rappeler   ici   qu' Empedocle   (v.  1(5])    definit 
Nestis  comme  la  source  des  larmes. 


384  Paul  Tannery, 

sible   mVchappe.    car  le   motif  indique    par  Proclus*)    a   efe    evi- 
flemment  lorge  apres  Aristote. 

En  resurae,  si  je  ne  vois  pas  de  motifs  decisifs  poiir  proiioucer 
dans  im  sens  ou  dans  Tautre,  je  continue  ä  peiiser,  suivant  ropiiiiou 
de  Zeller,  que  Proclus  n"a  Hon  lu  dans  Philolaos  qui  piit  justitier 
le.  rapprochement  qiril  fait  entre  les  quatre  elements  et  les  quatre 
dieux  du  triangle. 

La  remarque  que  j'ai  faite  sur  le  mythe  du  Phedre  oonduirait 
d'autre  part  a  Tliypothese  que  les  divinites  de  Philolaos  represen- 
tent,  avec  Hestia,  les  planetes  de  son  Systeme.  J'ai  recherclie  avec 
soin  si  les  combinaisons  resultant  de  cette  supposition  n'offriraieut 
point  quelques  rapprocbements  avec  les  attributions  astrologiques 
des  signes  du  zodiaque  aux  planetes,  comme  maisons,  etc.  Mais 
je  n"ai  rencontre  rien  de  tel,  ce  qui  d'ailleurs  m'aurait  plutot  con- 
duit  a  rejeter  Phypothese  en  question,  car  ce  serait,  je  crois,  cette 
fois  uue  pure  chimere  que  de  vouloir  attribuer  aux  Grecs  du 
V"  siecle  avant  notre  ere  la  conuaissance  de  combinaisons  tres 
probablement  chaldeenues. 

Proclus  ne  nous  indique  que  huit  divinites  philolaiques,  — 
raais  on  en  peut  sans  scrupule  ajouter  deux  pour  les  deux  groupe- 
ments  hexagonaux,  ce  qui  completerait  le  nombre  de  dix  forme  par 
l'Hestia,  la  Terre,  rAutichthone,  et  les  sept  planetes^). 

.  Sur  ces  dix  divinites,  nous  en  avons  incontestablement  quatre, 
Kronos.  Zeus.  Ares,  Hestia.  qui  sont  l>ieu  astrales;  en  prenant,  par 
exemple,  Demeter  pour  la  Terre.  ce  qui  ne  peut  souffrir  de  diffi- 
culte,  nous  en  trouvons  une  cinquieme:  si  enfin  nous  empruntons  a 
Plutarque'')  les  noras  d" Aphrodite  et  d'Hera   pour  ceux  qui  nous 


■')  I,  4(J:    ö  0£  AicIvu3o;  ttjv  'jyjidv  xoti  ds.^\J.-qy  i-i7rjor,v'jti   yr/eatv,    ^;  xat  6 

■'')  Le  mythe  du  Phedre  indiquerait  douzo  divinites:  il  fauih-ait  des  lors 
supposer  des  doublements,  corrirae  deux  divinites  pour  uue  ineme  planete. 

*)  Contrairement  au  temoignage  expres  de  Proclus,  Plutarque  (d  e  I  s.  30) 
rapporte  ces  deesses  ä  l'angle  du  carre;  mais  il  est  possible  qu"i]  ait  copie 
uu  document  detiguie  par  une  lacuue.  Sou  texte  est  dailleurs  le  suivant  (ed. 
Dübner,  chez  Didot):  ^a^vovrott  oe  xal  oi  Il'j&ayoptxol  tov  Tu'ftüva  Sai|j.oviXT)v 
•/,Yo6jjLEvoi  5'jvaatv.     Aeyo'jai  ydp  h    cJpTi'io  [JL^Tpio  extio   xott  rrevTr^x'^aTti)   -(virnttai 


Sur  uu  fragracnt  de  Philolaos.  385 

nianquent    (les    divinites    de    riiexagouo),    nous    en    aurions    une 
sixieme. 

Resterait  ä  identifier.  plus  uu  moius  arbitrairemcnt,  le  Suleil, 
lit  Luue.  Meixuie.  rAnliclithonc.  avec  Dionysus.  Rhea.  Hades.  Hera, 
n  est  clair  qua  Thypothese  iraboutit  iii  ä  une  impussibilite  ni  a 
une  couclusion  qui  s'impose. 

La  plus  graiide  difticulte  coiisiste  daiis  rabsence  d'Hermes; 
puur  l'expliquer,  il  faudrait.  cc  semble.  supposer  des  duublemeuts, 
corame  si.  par  exeniple,  pour  retablir  Tegalite  entre  le  numbre  des 
dieux  et  celui  des  deesses,  Philolaos  avait  Juge  a  propos  de  compter 
pour  I'hexagone  deux  dieux.  comme  deux  deesses,  et  d'attribuer 
la  Terre  ä  Hades  et  Poseidon,  si  lou  veut,  eu  merae  teraps  qua 
Demeter.  L'analogie  entre  les  combinaisons  philolai'ques  et  le 
raythe  du  Phedre  est  insutfisante  pour  appuyer  des  conjectures  de 
ce  genre. 

C'est  au  reste  cette  aualogie  seule  qui  m'a  conduit  ä  consi- 
derer  Thypothese  dline  signification  astrale  pour  les  divinites  philo- 
lai'ques; je  crois  d'autant  moins  devoir  la  recomraander  qu'elle 
necessiterait  tout  d'abord.  je  crois,  la  Solution  d'une  question  pre- 
judicielle:  Quelle  est  la  veritable  origine  des  noms  divins  attribues 
par  les  Grecs  aux  planetes,  et  a  quelle  date  ces  noms  ont-ils 
commence  ä  supplanter  les  vocables  hellenes:  Oatvfov  (Saturne). 
4)a£i}üiv  (Jupiter).  IJupcieic  (Mars).  Otoacpopoc  (Venus),  ^-i>.ßu)v  (Mer- 
cure),  si  toutefois  ces  deruiers  termes  sont  bien  veritablement 
anciens? 

Je  n'ai   encore  pu   reunir  que  des  documents  tout  a  fait   in- 


T'j'fwva*  7.0(1  TiäXtv  T/jV  [jiv  toö  rptyiuvou  "Atoo'j  xal  Atovüsou  -/.cäi  'Apeo;  elvai, 
TTjV  5e  TOÜ  Teipayojv&'j  'Ps'oi;  xotl  'A'fpookrj;  v.cd  A/jf^/j-po?  -/.cti  'Ks-ta;  xotl  "Hpa;. 
Trjv  0^  Toü  5w5c-/aY(öv&'j  Aio;,  ttjv  oe  exxc(i-£VT-/)xovTC(YiuviVyj  'rocpiövo;.  w;  Ejoo;o? 
lOToprjaev.  Aiiusi  Eudoxe  (eu  admettaiit  que  .son  autorite  s'appliiiue  :i  tout  le 
passage),  n'aurait  pas  counu  Kroiios  coiume  dieu  du  triaugle,  il  aurait  ajoute 
Aphrodite  et  Hera  pour  le  earre  et  parle  du  polygone  de  öG  cotes  pour 
Typhon.  Je  ne  erois  pas  qu'on  puisse  meconnaitre  que  la  deniiere  attri- 
tiution  represeute  uu  einpruut  fait  a  l'Egypte  pcsterieurement  :i  Philolaos; 
le  reste  da  temoignage  semble  provenir,  plus  ou  moius  tidelemeut,  de  son 
a-uvre. 


386  r;«ul  launcry, 

suffisants  pour  dii^cuter  cette  question.  laqaelle  n'interesse  d'ailleurB 
f[ue  mediocrement  riiistoire  de  la  philosophie '). 


")  .rajuiitc  a  titre  de  simple  reiiseiguenient,  que,  .suivaiit  la  trailitinu 
aslrulugique.  Je  premier  hexagone  zodiacal  u^l  rjiuilitie  de  male  et  de  diuine, 
le  second.  de  feinelie  et  de  nocturiie.  Quant  aux  trois  carres,  ils  ii'unt  ete 
i'ol)jet  que  de  distinctions  insignifiaiites;  aiusi  pour  Camateros,  le  premier  est 
i'elui  des  signes  -rpoTiixä,  le  second  celui  des  signes  axeppof,  Ic  troisieme  celui 
des   signes  ohwioi. 


\ 


XX. 

KPATiiPRs  des  Orpheus. 

Von 
Otio  Kern    in   Berlin. 

Es  ist  das  unbestreitbare  Verdienst  von  Lobeck,  den  orphischen 
Studien  auch  dadurch  eine  neue  und  fruchtbringende  Richtung  ge- 
geben zu  haben,  dass  er  den  Versuch  machte  die  ungeheure  Masse 
der  Anführungen  aus  Orpheus  nach  den  von  Clemens  Alexandriuus 
und  Suidas  überlieferten  Büchertiteln  zu  ordnen  und  zu  sichten. 
Dass  bei  dieser  mühseligen  Arbeit  eine  lange  Reihe  von  Irrtümern 
untergelaufen  ist,  welche  zum  Theil  recht  erheblich  sind,  wird 
Niemanden  verwundern,  der  sich  der  Schwierigkeit  der  Aufgabe 
bewusst  ist  und  Lübecks  Eigenart  kennt.  So  viele  Vorsicht  die 
Benützung  des  Aglaophamus  demnach  im  Einzelnen  auch  erfordert, 
das  Verdienst  '  den  Schutt  weggeräumt  und  die  Spinnweben  abge- 
fegt' zu  haben  wird  ihm  für  alle  Zeiten  bleiben").  Der  von  ilim 
gewiesene  A\'eg  ist  der  richtige,  und  der  Vorsatz  des  neuesten 
Herau>;gebers  der  Orphica  den  Spuren  Lobocks  zu  folgen  war  ge- 
wiss ein  weiser.  J^eider  hat  demselben  der  Erfolg  nicht  entsprochen: 
denn  die  Sammlung  der  orphischen  Fragmeute,  die  Eugen  Aböl  in 
iler  SchenkTschen  Ribliotheca  scriptorum  Graecorum  et  Romanorum 
im  Jahre  1885  hat  erscheinen  lassen,  bedeutet  einen  entschiedenen 
Rückschritt.  Nicht  nur  um  dieses  Urteil,  das  jetzt  wohl  allgemein 
getheilt  wird'),  nidier  zu  begründen,  .sondern  um  vor  allem  den  Be- 
weis einer  im  vorigen  Jahrgang  dieses  Archivs  S.  50(3  aufgestellten 


')  II.  V.  Wilamowitz  Aus  Kytlatluni  S.  131. 

"0  Unbegreiflicli    ist   mir    das  UileiJ   von    t'r.   im    LiU'iLirisclKMi  CiMilralMatt 
188f;  .S.  160. 


388  <^tto  Kern, 

Behauptung  anzutreten,  möchte  ich  hier  die  Ueberlieferung  der 
Kf/otTTjOs?  des  Orpheus  prüfen,  eines  jetzt  verlorenen  Gedichts,  dessen 
Beurteilung  für  die  Historiker  der  Philosophie  von  Bedeutung  sein 
wird. 

Ich  gehe  von  den  Fragmenten  aus,  welche  Abel  fr.  159 — 169 
zusammengestellt  hat.  Gleich  das  erste  Fragment  (159),  das  er 
auf  die  Autorität  von  Lobeck  I  376  hierher  gesetzt  hat,  gehört 
weder  in  dieses  Gedicht  noch  überhaupt  in  eine  Sammlung  der 
Orphica.  Denn  es  ist  unklar,  wie  man  aus  Servius  Comm.  ad 
Virgil.  Aen.  VI  667  Theologus  fuit  iste  (Miisaeus)  post  Orpheum  et 
sunt  variae  de  hoc  opiniones:  nam  eum  alii  Lini  filium,  alii  Orphei 
volunt.  cuius  eum  constat  fuisse  discipulum:  nam  ad  ipsum  primum 
Carmen  scripsit,  quod  appellatur  Crater  etwas  anderes  folgern  kann, 
als  dass  Musaios,  der  Schüler  des  Orpheus,  an  seinen  Lehrer  ein 
Gedicht  gerichtet  hat,  das  die  T'eberschrift  Crater  trug.  Gewiss  ist 
sonst  das  Verhältniss  gerade  umgekehrt,  indem  Musaios  immer  der 
von  Orpheus  Angeredete  ist  (Lob.  454),  aber  irgend  ein  Grund  die 
Angabe  des  Servius  zu  verdächtigen  liegt  nicht  vor.  Weshalb  soll 
der  dankbare  Schüler  nicht  auch  einmal  dem  Lehrer  ein  Werk  de- 
diciert  haben,  weshalb  können  nicht  Beide  ein  Gedicht  mit  dem 
Titel  Kp5(T>^p  oder  Kpaxrjpsc  verfasst  haben?  Gerade  von  Orpheus 
und  IMusaios  gab  es  mehrere  Bücher  gleichen  Titels,  ich  erinnere 
an  I'fv.tf/C.,  Tc/^STod,  XpTjaixot.  Die  Möglichkeit,  dass  da-;  von  Ser- 
vius citierte  Gedicht  eine  spätere  Fälschung  ist,  muss  natürlich  zu- 
gegeben werden.  Aber  aus  den  Fragmenten  der  Orphica  wird  das 
Serviuscitat  holfentlich  bald  auf  immer  verschwinden"). 

Auf  dieses  Pseudocitat  aus  den  KoottT^psc  des  Orpheus  folgen 
bei  Abel  (fr.  160.  161.  162.  164)  Verse  aus  Johannes  Diakonus  ei; 
t/jV  TO'j  'Haiooou  i)3o-,'oviav  «XX/j'^opicd,  welche  mit  Becht  ihren  Platz 
hier  gefunden  haben,  wie  ich  gleich  Ijcmerken  will,  die  einzigen 
Citate  aus  der  in  Rede  stehenden  Schrift  des  Orpheus.  Eine  ge- 
naue Durchsicht    dieser  Verse    wird    uns    über   den  Charakter  der 


•')  Der  'vir  praeclanis',  gegen  den  Lobeck  p.  ;>7()  seinen  ÄngrilT  richtet, 
ist  i'assow,  welclier  den  'Crater'  mit  Ileciit  für  Musaios  in  Anspruch  nimmt, 
ihm  fülgi  Kinkel  Frgiu.  Epic.  Gracc.  p.  221.  G.  Dagegen  hat  auch  Giseke 
Hhein.  Museum   VIII  (1853)  S.  IIS  Servius  misverstanrlen. 


KPATHPE2  des  Oiiiheus.  389 

'orphischen'  Kpatr^ps?  nicht  in  Zweifel  lassen.  Ich  setze  den  An- 
fang her  (Flach  Glossen  und  Schollen  zur  Hesiodischen  Theogonie 
Leipzig  1876  S.  360f.):  oxt  8s  xctXÄ?  v)ix£r^  sb/^otßojjisiia  tov  jxkv 
"Apr^v  Etc  Tov  TcoXiiJLov,  Tov  OS  AtovuGov  cu  ~6v  oivov,  Tov  0£  rioctstofüva 
et?  XYjV  Oa'Xotasav,  tov  o'   'Hcpaiaiov  st;  xo  -up,  xai  fzXXa  aX/^wr.  ijLotp- 

TUpsT    XCJtt    £V    TW    »JLlxpOTSpU)    XpaTTjpl    6    'Op'^EUs,    TOCOE    Xs^COV 

'F.p[xrjC  o'    £pjj."/;v£u?  Tojv  TravTtuv  a*,*!-^^»  £3Tt, 
Nu'jLcpcd  uötüp,   Küp    H^pataTo?,  al~o;  A/|jxr,Tr/p, 
y;  Ö£  öaXaaacc  IJosEioauiV  ixs^ctc   /jo'  'Evoai'yücov. 
X7.1   -ÖX£[XO;   }X£V  "Apr^C,   Elpr^VTj    3'    ectt'    'AcppooiT-/). 
oivo?,   TOV   '^iXeoügi   i)£ol   Ovr^Toi   t'    aVlIpOJÜO'., 
ov  T£  ßpOTOi?  EupEV  X'JTTtov  xyjXr^TOpa  -7.sa>v 
Taupo^EVT);   Aiov'jao;   EÜcpposuvr^v   -Op£   HvyjTOU 
-?)0t'(jT-/jv.  7:aai"(jGrt  t'   e-'   £iXc(-iv((ai  TuapESTu 

X7.1    0£[i.lC,    f^TTEp    rJr^aCSi    OejxISTEUEI    Ta    OIXO('.0(, 

'HXioc,  öv  xotXsouaiv  'AroX^mva  xX'jxotocov, 

OoT|3oV    EX/jßEAET/jV,    [XaVT'.V    TtaVTCüV    £Za£p70V, 

tViTT^pa  vo3tov,  'AaxX'/jiriov.     £v  Taoe  TrctvTo;. 

Schon  a.  a.  0.  habe  ich  für  diese  Verse  Benützung  des  Empe- 
dokles  behauptet  und  gebe  nun  die  Beweise.  Formell  und  inhalt- 
lich stimmen  die  ersten  drei  Verse  ganz  deutlich  mit  Empedokles 
V.  33  Stein: 

T£ai37.p'X    T«OV    -aVTüJV    ptCtO[A7Ta    TTpoiTOV    aXOUE' 
£U;    C-PTV     HpT]    TE    CfEpEaplOi?    "/jO       Al^tUVEU? 

Nr^a-(:  xV   r^  oaxpuoi;  TE-pj'si  xpouvwii-a  [^poTEiov. 

Nufxcpoti  ist  wohl  eine  Anspielung  auf  die  hier  erwähnte  und 
so  oft  besprochene  Nestis,  zweimal  wird  das  Feuer  bei  Empedokles 
Hephaistos  genannt,  üaXoiJaa  erscheint  V.  187  (vgl.  Zeller  T  686,  1). 
Die  ungeschickte  Nachahmung  zeigt  aber  recht  deutlich  der  dritte 
Vers  bei  Joh.  Diakonus,  denn  das  Wasser  war  schon  V.  2  ganz  un- 
zweideutig erwähnt.  Es  kam  dem  Verfertiger  dieser  auch  metrisch 
schlechten  Verse  eben  nicht  darauf  an,  die  Elementenlehre  des  Empe- 
dokles in  reiner  Form  wiederzugeben,  sondern  vielmehr  eine  allego- 
rische Deutung  verschiedener  Götter  vorzutragen.  Die  Anknüpfung 
an  Empedokles  war  dabei  natürlich   besonders  bequem.     Auf  diese 


390  Otto  Kern, 

Verse  folgt  dann  ein  Vors.  den  Empedokles  hätte  selbst  schreiben 
1<  (innen: 

Erst  die  '  vier'  Elemente,  dann  Liebe  und  Hass,  Krieg  und  Frieden. 
Aber  diese  ersten  Verse  geben  auch  sofort  noch  zu  einer  ein- 
schneidenderen Bemerkung  Anlass,  wenn  wir  den  Titel  des  Werks, 
aus  dem  diese  Verse  stammen  sollen,  den  |x'.xpoTspoc  Kpat/jo  ins 
Auge  fassen.  Ich  darf  hier  au  Lobeck  anknüpfen,  der  p.  736  sagt: 
'Nomen  autem  carminis  Crateres  e  Piatonis  psychogonia  sumtum 
videtur  et  ab  illa  duplici  temperatione,  quarum  in  una  deus  omnem 
animum  universae  naturae  perraiscuit,  ex  altera  residua  parte 
mentes  delibavit  humanas'.  Er  hat  diese  Ansicht  noch  besonders 
wahrscheinlich  gemacht  durch  eine  Zusammenstellung  der  Autoren, 
welche  die  berühmte  Timaiosstelle  nachgeahmt  haben.  Eine  Be- 
stätigung geben  die  Verse  über  die  Elemente,  die  in  genauer  An- 
lehnung an  Empedokles  eine  Lehre  wiedergeben,  welche  Plato  im 
Timaios  p.  31  B.  32  C  aus  diesem  herübergenommen  hat.  Eine 
ganz  klare  Anspielung  auf  den  Timaios  giebt  schliesslich  das  zweite 
Orplieuscitat  bei  Joh.  Diakonus,  in  welchem  es  von  Zeus  heisst: 

ZSUC    oi    TS    -7VTÜJV    iatl    \)zh:    ■JTOtVTtüV    TS    /E07.(3Tr'c. 

I  t 

Niemand  wird  hier  den  mischenden  Demiurgos  des  Timaios  ver- 
kennen. 

Aber  es  lässt  sich  wohl  noch  Bestimmteres  sagen.  Nichl  nur 
Empedokles  und  Plato  sind  von  dem  Verfertiger  dieser  Verse  be- 
nutzt, auch  die  sog.  orphischen  Hymnen,  die  zu  den  allerspätesten 
Producten  'orpliischer'  Dichtung  gehören,  hat  er  höchst  wahrschein- 
lich gekannt.  Johannes  Diakonus  gehört  zu  den  wenigen  Schrift- 
stellern griechischer  Zunge,  welche  die  Hymnen  kennen,  vgl.  Lo- 
beck p.  406  mit  Anm.  tt.  So  ist  fr.  309  Abel,  wo  der  Vers  aus 
Joh.  Diakonus  p.  330  Flach 

clVriOV/jV    'ExOtT'/jV    7./.T^!^lü,    TjO'.OOrT'.V.     3p7.VV7jV 

angeführt  wird,  kein  neues  Fragment,  sondern  nur  ein  Citat  aus 
Hymnos  1  I.  Das  hätte  Abel  aus  Lobeck  p.  747  lernen  können. 
Von  alter  orphi.scher  Poesie  kennt  der  Hesioderklärer  nichts, 
er  holt  seine  ^N'eisheit  aus  trüben  (Quellen.  So  wird  es  wahr- 
scheinlich,   dass  der  KoaTv-jO   des  Orpheus,    welchen  er  gelesen  luit, 


KPATHPES  des  Orpheu.s.  391 

iu    dieselbe   Klasse   orphisclier  Schriften   wie  die  Hymnen    gehört, 
ja    den  Hymnos  XXVIII    voraussetzt,    in    dem   V.  6  Hermes    an- 
geredet   wird   £par,vc'j   ttccvküv,    man  vgl.  den  Anfang   des  Koa-CTjp- 
citats   'EpiJ-r;;   sptxr^vsu:    t*ov   Travtojv   ä-p;z\6;  istiv.     Auch   der  T^zh; 
Y.trj'-j.arr,:  des  Panhymnüs    (XI  12)    hat   vielleicht   dem   Verfertiger 
der  Kfi7.r?|p3;  vorgeschwebt,  als  er  mit  Zsu;  zäpasTT;;  den  Demiurgos 
des  Timaios  wiedergab;  aus  Plato  die  Vorstellung,  aus  dem  oj-phi- 
schen  Hymnos  der  Klang  der  Worte.     Nach  diesen  Proben  wird 
es  Wenige    verlocken    die  Orpheuscitate    des  Diakonus    näher    zu 
betrachten.     Von   Interesse    ist    der  Nachklang  der    rhapsodischen 
Theogonie  (äv  -rloz  -yyxy.),  die  ihm  wohl  in  einer  schlechten,  ver- 
wässerten, mit  stoischer  Theologie  durchsetzten  Form  vorlag;  inter- 
essant ist  fr.  162  das  Lob  auf  die  iJ-v/;ii-/j  ganz  im  Sinne  des  Pytha- 
goras,  wie  Lobeck  p.  732  richtig  bemerkt,  interessant  auch  fr.  164  die 
Etymologieen  des  Namens  Zsoc,  die  der  zusammenflickende  Dichter  des 
Kpaty)p  wolil  aus  Plato  Kratylos  p.  396  AB  selbst  entnommen  hat. 
Das  Resultat  dieser  Beobachtungen  ist  das  LTrteil,  dass  wir  iu 
dem   von  Diakonus   citierten   KpaT/jp  ein   wüstes  Conglomerat  von 
allen  Seiten  hergeholter  theologischer  "W^eisheit  zu  erkennen  haben, 
und  man  wird  sich  nun  bestimmter  ausdrücken  können  als  Giseke, 
der  a.  a.  0.  S.  119  weiter  nichts  zu  sagen  weiss,   als  dass  die  bei 
Diakonus  erhaltenen  Verse  zwar  Wendungen   alter  orphischer  Ge- 
dichte enthalten,  aber  'zugleich   eine  so  seltsame  Theokrasie,  dass 
man  ihnen  vielleicht  einen  späteren  Ursprung  zuzuschreiben  geneigt 
sein  könnte'.    Ob  nun  Suidas,  welcher  die  Kpa-r)p£c  als  Werk  des 
Orpheus  oder  Zopyros  citiert,   dies    von  Diakonus  benutzte  (viel- 
leicht   selber    gedichtete?)    Poem    des    Orpheus    meint,    kann    mit 
Sicherheit  nicht  gesagt  werden.    Aber  wahrscheinlicher  ist,  dass  er 
ein  ganz  anderes  im  Sinne  hat,  dasselbe,  das  im  Katalog  bei  Cle- 
mens Alexandrinus  erscheint,  auch  da  mit  der  Bemerkung,  dass  es 
von  Einigen   auch  auf  Zopyros  von  Herakleia  zurückgeführt  wird. 
Gewiss  kann  es   ein  orphisches   Gedicht  Kpa-:T,p3c   gegeben   haben, 
aber  ebenso  gewiss  ist,  dass  Clemens  das  bei  Joh.  Diakonus  citierte 
nicht  gemeint  haben  kann.     Hier  fehlt  uns,   wie  auf  diesem  Ge- 
biete   so    oft,    ein    sicherer  Anhalt    für   die  Beurteilung    des    von 
Clemens  und  Suidas  angeführten  Buchtitels. 

Archiv   I.  Ueschiclilu  d.  Plul()Soi)liie.     11.  " 


392  Otto  Keru; 

Hiermit  kann  eine  Untersuclmng  über  die  Kp7-Y;p£;  abschliessen. 
Aber  Abel  giebt  mir  Gelegealieit  noch  Spuren  wirklich  alter  Poesie 
der  Orphiker  aufzudecken.  Er  hat  nämlich  diesen  wertlosen  K,o7.- 
-7)03?  zwei  Neuplatouikerstellen  zugeschrieben;  gerne  möchte  ich 
diese  aus  der  lästigen  Umgebung  befreien.  Und  hier  bin  ich  in 
der  schönen  Lage  eine  Ansicht  Lobecks  wieder  zu  Ehren  zu  brin- 
gen. Es  handelt  sich  zunächst  um  Proklos  in  Plat.  Tim.  V  316  A 
ETTöl  xai  ä'/lni  -oipaoiooytai  xpatTjpcs  utco  ts  'Op'fioj;  zal  WfA-iaw;. 
nXciTouv  xz  -d-rj  SV  OiXr.ßto  Tov  |X£V  'H'fa-'STöiov  zpaTT^oct  Ttotpaotoojai, 
7oy  o£  Aicivuciaxov,  y.cd  'Op'f  £u?  olos  p.sv  xal  tov  -oü  Aiovusou  xpctTT^pct, 
TToXXou;  0£  X7l  aXXou;  lop^si  -spl  tyjv  -;)Xiax7)v  Tp7:7:£:otv.  Die  Orpheus- 
citate  der  Neuplatoniker  beziehen  sich  sämtlich,  soweit  ich  die 
Sache  heute  überschaue,  auf  die  Theogonie  der  Rhapsodieen:  ich 
freue  mich  hier  ganz  mit  0.  Gruppe  Die  griechischen  Culte  und 
Mythen  1  S.  635  ff.  übereinzustimmen').  Abel  findet  freilich  über- 
haupt Gefallen  daran  die  Neuplatonikercitate  in  alle  Winde  zu  ver- 
streuen. Aber  gerade  dies  Orpheuscitat  gehört  wenn  irgend  eines 
in  die  rh.  Theogonie,  welche  mit  einem  Lob  des  Dionysos  und 
einer  Schilderung  seines  Reichs  und  seiner  Herrschaft  abschloss "). 
Es  ist  nicht  schwer  die  Umgebung  festzustellen,  in  der  von  dem 
Kpa-rr^p  des  Dionysos  die  Rede  gewiesen  ist.  Ich  greife  heraus 
fr.  191  (Lob.  553) 

X7.t-£fi  iovT'.  viio  y.cd  vr^-uo  £t).a-ivc(3-:Yj,  fr.  202.  203.  204.  Für 
die  xpct-sCot  vaaxr;  darf  man  wohl  au  den  Outupoc  des  Pherekydes 
erinnern,  vgl.  Laertios  Diogenes  I  119  (0ept■A.•Jor^;  IXs-i  t£  oti  oI 
ösol  r>,v  -pa-cC^v  Oucopov  xaXoiiatv,  Sturz  p.  35  s.,  Lob.  867  s.,  meine 
Dissertation  De  theogoniis  p.  88.  99  s.).  Also  ein  neues  Zeugnis  für 
die  Abhängigkeit  des  Pherekydes  von  den  Orphikern,  s.  Hermes 
XXni  483.  Zum  Glück  kann  noch  ein  äusseres  Zeugniss  mit  einiger 
Wahrscheinlichkeit  hinzugefügt  werden.  Im  Platonischen  Philebos 
sagt  Sokrates  p.  61  BC  toT?  oyj  ÖsoT?,  w  Flpw^ap/E,  £u/o[j.£voi  xspav- 
v6a>>j.£v,  iixz  Aiovu3o;  sits  "HoatSTO?  zib'  oartc  ösuiv  -eauT/^v  xr^v  -i[j.tjv 

•*)  Vgl.  die  Bemerkungen  von  Diels  oben  S.  88  ff.,  denen  ich  mich  in  allem 
wesentlichen  anschliessen  kann. 

'•')  Vgl.  die  von  Abel  fr.  85  gesammelten  Zeugnisse,  namentiicli  aber 
Lobeck  577  fl'. 


F^FATHFEi'   des  Orpheus.  39?, 

£Dv-/)-/a  T/jC  3'j7/p7'ac(jjc.  Erinnert  man  sich,  dass  Plato  die  rhap^sudische 
Theogouie  benutzt  hat,  und  dass  gerade  in  diesem  Dialog  eine  sichere 
Spur  derselben  von  mir  (De  theogoniis  p.  47)  aufgedeckt  werden 
konnte,  so  ist  Lobecks  A^ermutung.  dass  dies  Fragment  in  die  Theo- 
gonie  gehört,  jetzt  wohl  nach  allen  Seiten  hin  begründet  und  ge- 
stützt worden.  Die  Kpairipsc  des  Johannes  Diakonus  knüpfen  an 
Plato  an,  und  Plato  hat  eine  Anspielung  auf  den  KpaTTjp  Atovua'.a- 
y.h:  der  alten  Theogonie.  Ob  nun  Plato  in  seinem  Timaiosmythos 
in  der  That  an  irgend  eine  orphische  Stelle  anknüpfte,  kann  nicht 
entschieden  werden.  Sogar  die  Möglichkeit,  dass  ihm  auch  hier 
jene  Stelle  der  rh.  Theogonie  vorschwebte,  darf  nicht  ohne  Weiteres 
abgelehnt  werden.  Es  wäre  Plato  dann  ein  Bindeglied  zwischen 
echter  orphischer  Poesie  und  junger  Fälschung.  Dass  er  dann  aber 
die  orphische  Anschauung  in  der  allerfreisten  Weise  benützt  hätte, 
muss  nach  der  Art  aller  seiner  Mythendichtung  mit  Sicherheit  be- 
hauptet werden. 

Auch  die  zweite  Neuplutonikerstelle,  welche  Abel  fr.  163  an- 
führt, ist  mit  hoher  Wahrscheinlichkeit  der  alten  Theogonie  zuzu- 
schreiben. Echt  neuplatonisch  ist  die  Reflexion  über  die  dreifache 
jjLv/jijL-/;,  welche  direct  au  die  des  Hermeias  über  die  dreifache  Nacht 
des  Orpheus  erinnert.  Aber  warum  soll  jMvr^ixtb,  Kurzname  von 
Mv/i;xo3'jv/),  nicht  in  die  Theogonie  gehören,  in  welcher  diese  Göttin 
doch  ganz  sicher  (fr.  95)  vorkam?  Oder  soll  auch  noch  nach  der 
dankenswerten  Sammlung  von  E.  Maass  (Hermes  XXIII  S.  613  ff.), 
die  man  allerdings  bald  vervollständigt  wünschte,  Stallbaums  Aen- 
derung*^)  [xvr^[j.-/j  ihr  Dasein  fristen?  Gerade  derNameMvr^ixoj  ist  doch  ein 
Zeugniss  für  das  Alter  des  orphischen  Gedichts,  in  welchem  er  vorkam. 

Das  ist  alles,  was  ich  über  die  Kiiaty^rvs?  zu  sagen  weiss. 
Nicht  berücksichtigt  habe  ich  Abel  fr.  165.  166.  167.  168.  169. 
Denn  vergeblich  habe  ich  nach  den  Gründen  geforscht,  welche 
Abel  zu  dieser  Zusammenstellung  veranlasst  haben.  Vielleicht 
bringt  sie  uns  die  versprochene  editio  major,  die  man  hottontlich 
auch  '  emendatior'   nennen  darf;  vielleicht  auch  nicht. 


^)  G.  Hermann  liat  ()ri)hka  p.  .')10  nr.  27   richtig  das  liandschriftlioli  üeber- 
lieterte  beibehalten. 


27 


« 


XXI. 

Ueber  Griindabsiclit  und  Eiitsteliimgszeit  von 

Piatons  Gorgias. 

Von 
Prof.  P.  Natorp  ia  Marburg. 

Ueber  Gehalt  und  Anlage  des  Gorgias  in  aller  Kürze  etwas 
zu  sagen,  was  der  Grösse  des  Gegenstandes  angemessen  ist,  muss 
recht  schwer  sein;  aucli  ist  der  Eindruck  der  Schrift  an  sich  ein 
so  klarer  und  mächtiger,  dass  für  denjenigen,  der  sich  ihm  nur 
ungetheilt,  ohne  viel  Klügeln  hingibt,  eigentlich  kein  Wort  mehr 
darüber  zu  sagen  nöthig  sein  sollte.  Doch  ist  es  unerlässlich,  die 
Grundabsicht  der  Schrift  auf  einen  möglichst  präcisen  Ausdruck 
zu  bringen,  um  auf  dieser  Basis,  wenn  möglich,  über  ihre  Stellung 
im  Ganzen  der  philosophischen   Wirksamkeit  Piatons  Klarheit  zu 


gewinnen. 


Nach  dem  ersten  Anschein  nimmt  der  Gorgias  mit  den  Rhe- 
toren  den  Kampf  auf,  wie  der  Protagoras  mit  den  Sophisten. 
Doch  erkennt  man  bald  aus  der  Art,  wie  der  Kampf  geführt  wird, 
dass  der  Angriff  weit  ernstlicher  den  Staatsmännern  gilt.  Noch 
ein  wenig  schüchtern  weist  Gorgias,  schon  offenherziger  Polos  auf 
die  durch  das  Mittel  der  Redekunst  zu  erlangende  Macht  im 
Staate;  vollends  die  Auseinandersetzung  mit  dem  Staatsmann 
Kallikles  fasst  das  Problem  erst  bei  seiner  wahren  AVurzel  und 
bringt  den  Gegensatz  der  Anschauungen,  der  hier  geschildert  wer- 
den sollte,  zum  allerschärfsteu  Ausdruck.  Doch  auch  damit  ist 
der  Gehalt  des  Dialogs  nicht  erschöpft.  In  letzter  Linie  vielmehr 
handelt  es  sich  um  die  wahre  Eudämonie.   um  die  rechte  Lebens- 


Ueher  Grundabsieht   nmi   F>nt>telningszeit   von  Platous  Gorgias.       395 

fiihrung.  um  die  Reinigung  der  ethischen  Grundansicht,  die  Schei- 
dung von  Wollen  und  Belieben,  und  damit  des  Guten  von  der 
Lust,  durch  welche  das  berückende  Idol  der  Macht  zertrümmert 
und  in  seiner  Nichtigkeit  biossgestellt  wird.  Dem  entspricht,  dass 
als  letztes,  positivstes  Resultat  ethische  Philosophie  als  Grund- 
lage wahrer  Staatskunst  zum  Ersatz  für  das  Verworfene  an- 
geboten wird.  Die  Bekämpfung  des  Standes  der  Rhetoren  und 
Staatsmänner  —  was  hier  fast  Eins  ist  —  ist  also  schliesslich  nur 
Aussenseite;  Piaton  sieht  darin  nur  den  prägnantesten  Ausdruck 
des  blinden  Machtstrebens  der  Zeit");  und  auf  dieses,  auf  die 
ganze  Lebensrichtung  von  damals,  insbesondere  auf  den  politischen 
Zustand  Athens  zielt  im  Grunde  die  ganze  Darlegung,  die  aus 
dieser  überall  durchschimmernden,  einigemale  auch  recht  schroft 
und  nackt  ausgesprochenen  Oppositionsstimmung  ihr  tiefes,  hin- 
reissendes  Pathos  schöpft.  Die  Absage  an  den  Zeitgeist  wirkt 
hier,  trotz  des  weit  geringeren  äusseren  Apparats,  weit  mächtiger 
als  etwa  im  Protagoras;  das  Streiten  wider  den  Sophistenw-ahn 
der  Menschenerziehuug  will  uns  fast  etwas  jugendlich  anmuthen 
gegen  diesen  neuen  Kampf,  der  die  ganze,  gesammelte  Kraft  des 
gereiften  Mannes  forderte.  Nirgends  hat  Piaton  sein  in  der  Apo- 
logie gegebenes  Versprechen  grossartiger  erfüllt"). 

Eine  Absage  an  den  Zeitgeist  nannte  ich  die  Schrift:  das  ist 
viel  zu  wenig  gesagt.  Gerade  die  Vergleichung  mit  den  sokrati- 
sirenden  Gesprächen  muss  es  fühlbar  machen,  wie  sehr  hier  der 
Standpunkt  einer  bloss  negativen  Kritik  verlassen  ist;  wie  Piaton 
sozusagen  Alles  daran  setzt,  zu  einer  centralen,  für  immer  festen 
Stellung  in  der  entscheidendsten  aller  Fragen,  nämlich  der  des 
Sittlichen,  vorzudringen,  und  damit  zugleich  die  sichere  Grundlage 


^)  Daher  wird  die  Khelorik  kaum  weiter  geprüft  als  eben,  sofern  sie  als 
Waffe  im  Wettbewerb  um  die  Staatsgewalt  gilt  und  von  ihren  Vertretern 
selbst  augejuieseu  wird:  sodass  für  eine  die  Redekunst  an  und  für  sich  be- 
treffende Erörterung  (Phädrus)  Stoff  genug  übrig  bleibt.    (Vgl.  unten  Anm.  3.) 

-)  Apol.  39  01).  Bis  Jemand  entscheidende  Gegengründe  bringt,  werde 
ich  die  Worte  o'u;  vüv  ifio  xoiTETyov  -/.xX.  als  Zeugniss  dafür  autfassen,  dass 
Piaton  vor  der  Apologie  wohl  überhaupt  nicht  als  Schriftsteller,  sicherlich 
nicht  mit  Schriften,  welche  eine  Kritik  des  Gtfentlichen  Zustantls  von  Athen 
enthielten  (z.  B.  Protagoras),  aufgetreten  ist. 


:-396  P-  Natuip, 

für  ein  positives  AVirkeii  im  Staate  (auf  dem  inclirecteu  Wege 
der  philosophischen  Erziehung)  zu  gewinnen.  Gewiss  sind 
die  ethischen  Grund  Überzeugungen,  die  hier  entwickelt  werden, 
keine  anderen  als  die  sokratischen.  wie  man  sie  schon  aus  der 
Apologie  und  dem  Kriton  erkennt.  Doch  aber,  welcher  Unter- 
schied in  der  Art  und  Tiefe  der  Begründung,  in  der  Sicherheit 
des  Bewusstseins.  in  der  Energie  der  Aussprache.  Schon  die  An- 
lage des  Gesprächs  zeigt  den  gewaltigen  Fortschritt;  diese  klare 
Einheit,  dieser  feste  Zusammenschluss  bei  so  reichem  und  mäch- 
tigem Inhalt,  diese  Deutlichkeit  und  wie  naturgesetzliche  Nothwen- 
digkeit  der  Gliederung  in  der  auf  fortschreitender  Veriunerlichuug 
des  Problems  beruhenden  Steigerung  von  Gorgias  zu  Polos  zu . 
Kallikles.  mit  dem  Abschluss  in  dem  ewigwahren  Mvthos  des « 
Todtengerichts.  Noch  grösser  fast  wirkt  diese  ganz  dichterische  • 
Gestaltungskraft;  diese  einzige  Fähigkeit  in  die  Seele  des  Anderen  i 
sich  hineinzudenken,  den  äussersten  Gegensatz  der  eignen  Lebens- 
anschauung in  einem  Typus  —  oder  um  denn  ganz  platonisch  zu 
sprechen,  einem  „Paradeigma"  hinzustellen,  dessen  Lebenswahrheit 
jedes  Zeitalter  der  Menschengeschichte  bestätigt;  und  dann  wieder 
diese  Macht  des  Dialogs,  dies  zur  Rede  stellen,  diese  Gewalt,  das 
eigne  Bewusstsein  des  Mitunterredners  (und  damit  des  Lesers)  zum 
Zeugen  aufzurufen;  nicht  mehr  nur,  im  sokratischen  Sinne,  ihn 
ziun  Geständniss  zu  bringen,  dass  er  mit  sich  selber  nicht  einig, 
in  sich  selber  nicht  klar  ist,  sondern  in  jenem  positiveren,  plato- 
nischen Sinne  des  oictXsYssöott,  wie  wir  ihn  im  Meuon  zuerst  kennen 
lernen,  die  Erkenntniss  des  Wahren  ihn  im  Grunde  der  eignen 
Seele  wiederaufspüren  und  sich  darauf  wiederbesinnen  zu  machen. 

Das  hatte  ich  im  Gedanken,  wenn  ich  meinte,  es  sei  zu  wenig 
gesagt,  dass  der  Gorgias  eine  Absage  an  den  Zeitgeist  enthalte. 
Es  ist  nicht  mehr  eine  Absage,  es  ist  ein  Ringen  mit  dem  Zeit- 
geist, ein  Ringen  w'ie  auf  Leben  und  Tod.  Dieser  auflodernde 
Zorn,  er  wurzelt  in  unzerstörlicher  Liebe:  in  jener  tapfereu  Liebe 
des  Arztes,  der  das  Schneiden  und  Brennen  nicht  scheut,  denn  er 
weiss,  es  ist  zum  Heile. 

Das  muss  man  herausfühlen,  ich  sage  nicht,  um  den  (iorgias 
zu  genie-ssen,   sondern   um  seine  Bedeutung  sich   klar  zu  machen, 


üeber  Gruiulabsiclit  uml  Entstehuugszeit  von  Piatons  Gorgias.       397 

und  danach  denn  auch  seine  Stelhmg  im  Ganzen  des  platonischen 
AVirkens  zu  begreifen.  Das  ist  es  ja  wohl,  wodurch  Piaton,  in 
praktischer  Absicht,  über  Sokrates  hinausgeht:  dass  er  sich  positiv 
die  Aufgabe  stellt,  seine  Zeit  umzuwandeln,  auf  sie  zu  wirken 
in  Kraft  der  Ueberzeugungen,  welche  Sokrates  in  ihm  zum  Leben 
erweckt,  deren  Macht  er  an  sich  zuerst  erprobt  hat,  und  in  denen 
er  die  alleinige  Rettung  sieht  für  sein  Volk,  für  seine  Zeit.  Es 
ist  in  der  That  meine  Ueberzeugung:  dass  im  Gorgias  der  Plan 
des  platonischen  Wirkens,  nach  ethisch  -  politischer  Seite, 
niedergelegt  ist;  derselbe  Plan,  der  seine  genauere  Ausführung  ge- 
funden hat  —  im  Staat. 

Daraus  ergäbe  sich  nun  schon  ein,  wie  mir  scheint,  ziemlich 
sicherer  Schluss  hinsichtlich  der  Stellung  des  Gesprächs  in  der 
ganzen  Reihe  der  platonischen  Schriften:  dasselbe  ist  an  das  Ende 
der  Schriften  von  sokratischem  Charakter,  oder  richtiger  an  den 
Beginn  der  specifisch  platonischen  Wirksamkeit  zu  setzen;  d.  h.  es 
folgt,  nicht  bloss  auf  Apologie  und  Kriton,  sondern  gleichfalls  auf 
Protagoras  und  die  drei  mit  diesem  eng  verknüpften  Gespräche 
Laches,  Charmides,  Menon:  es  geht  vorher  allen  sonstigen  Schriften 
von  nicht  sokratischem  Charakter. 

Nach  Schleiermacher  hätten  wir  im  Phädrus  das  Programm 
der  philosophischen  Wirksamkeit  Piatons  und  ebendeshalb  seine 
frühste  Schrift  zu  sehen.  Ich  kann  dem  nicht  beitreten,  nicht 
bloss  aus  dem  Grunde,  der  für  die  Mehrzahl  der  Forscher  be- 
stimmend gewesen  ist:  dass  das  eigenthümlich  platonische  Wirken 
die  sokratisirende  Periode  nicht  nur  voraussetzt,  sondern  —  wie 
gerade  der  Gorgias  bestätigt  —  bewusst  überwindet;  vielmehr 
auch,  wenn  man  diesen  Fehler  berichtigt  und  also  von  den  sokra- 
tisirenden  Gesprächen  absieht,  so  ist  selbst  dann  jene  Ansicht  nur 
halb  wahr:  das  Programm  des  platonischen  Wirkens  enthält  an 
erster  Stelle  der  Gorgias,  und  nur  in  ergänzender  ^Veise  der 
Phädrus.  Dass  der  letztere  bloss  die  Form  der  Philosophie  be- 
handelt, betont  Schleiermacher  selbst;  eben  deswegen  enthält  er 
Piatons  Programm  nur  zur  Hälfte;  eben  deswegen  fordert  er  eine 
Ergänzung,  wie  nur  der  Gorgias  sie  bietet.  Aber  der  Phädrus 
ergänzt  vielmehr  den  Gorgias,  nicht  der  Gorgias  den  Phädrus;  wie 


398  ^-  N'atorp, 

eine  durchgängige  Vergleichung  beider  Schriften  es,  wie  ich  glaube, 
zur  Evidenz  bringt^). 

Richtiger  hat  Sciileiermacher  erkannt,  dass  zwischen  Gorgias 
und  Theätet  sehr  bestimmte  Beziehungen  obwalten,  welche  viel- 
leicht nöthigen,  jedenfalls  empfehlen,  sie  auch  zeitlich  nahe  an- 
einander zu  rücken.  Doch  bestehen  nicht  minder  genaue  Bezie- 
hungen zwischen  Gorgias  und  Phädrus,  und  zwischen  Phädrus  und 
Theätet.  Dass  die  vier  Schriften:  Menon,  Gorgias,  Phädrus,  Theätet 
zusammengehören  und  annähernd  dasselbe  Stadium  der  Entwicklung 
der  platonischen  Philosophie  darstellen,  hat  Zeller  richtig  erkannt, 
der  jetzt  (Phil.  d.  Gr.  Ha,  4.  Aufl.,  S.  540—544)  auch  in  der  An- 
ordnung dieser  vier  Gespräche  nahezu  die  Auffassung  vertritt,  welche 
sich  uns  als  die  richtige  ergeben  wird. 

Die  vorherrschende  Ansicht  scheint  dagegen  zu  sein,  dass 
der  Gorgias  zu  den  Schriften  von  sokratischem  Charakter  zu  zählen 
und  deshalb,  sowie  namentlich  wegen  der  vielen  und  bedeutungs- 
vollen Hinweise  auf  den  Tod  des  Sokrates,  diesem,  also  dem 
Jahre  399  möglichst  nahe  zu  rücken  sei.  Ich  kann  dem  schon 
deshalb  nicht  beistimmen,  weil  mir  scheint,  dass  der  Gorgias  weit 
weniger  eine  zweite  Apologie  des  Sokrates,  als  (um  Schleiermachers 
nur  etwas  zu  schroffen  Ausdruck  einstweilen  zu  gebrauchen)  eine 
Apologie  Piatons  enthält.  Ich  meine,  es  sei  evident,  dass  der 
Autor  sich  gegen  Vorwürfe,  die  wider  ihn  selbst  —  natürlich  als 
Sokratiker  —  erhoben  worden  sind,  vertheidigt.  A^or  allem  die 
wohlmeinende  Ermahnung  des  Kallikles  an  Sokrates  zur  Betheili- 
gung am  Staatsleben  und  was  darauf  entgegnet  wird,  kann  sich 
nur  auf  Piaton  beziehen,  wie  im  allgemeinen  ja  auch  anerkannt 
wird.  Dann  aber  kann  ich  mir  die  Schrift  nur  in  einem  gewissen 
Abstand  vom  Tode  des  Sokrates  denken. 

Der  Einzige  unter  den  Neuern.  bei  dem  ich  fassbare  Argu- 
mente für  die  frühere  Ansetzung  finde,  ist  v.  Wilamowitz  (Philo!. 
Unters.  1  213  ff.).  Derselbe  beobachtet  richtig,  dass  im  Gorgias 
gewiss  nicht  absichtslos  Archelaos  von  Makedonien   als  Typus  des 


^)    Dass   Phiulr.  '-'(lO  \)  sicli  auf  dfii  Gorgias  zuriickl.ie/.ielil ,   liulte 


ICll     Ulf 


sicher:  vgl.  oben  An  in.  1. 


Ueber  Grundahsicht  und  Luistehimgszeit  von  Platons  Gorgias.       399 

f'ngerechteLi,  der  der  Strafe  entronnen,  dem  Sokratcs,  der  sie 
schuldlos  leiden  musste.  gegenübergehalten  wird;  so  noch  /-um 
Schluss  in  der  Darstellung  des  Todtengerichts  (5251),  52(3  C).  Nun 
slarb  Archelaos  in  eben  dem  Jahre,  wo  Sukrates  den  Schirling 
trank;  war  dies  dem  Leser  gegenwärtig,  so  musste  jener  Contrast 
■sto  eindringlicher  wirken.  Also,  meint  v.  W.,  müsse  die  Schrift 
möglichst  bald  nach  399  verfasst  sein;  schon  einige  Jahre  später 
wäre  diese  Gegenüberstellung  minder  wirksam  gewesen.  —  Ich 
kann  mich  nicht  überzeugen,  dass  ein  Unterschied  von  wenigen 
Jahren  hier  sehr  ins  Gewicht  fiele.  Das  Beispiel  lag  an  sich  nahe 
und  hatte  etwa  5  Jahre  später  gewiss  noch  dieselbe  Ueberzeugungs- 
kraft.  Einen  sicheren  Schluss  hinsichtlich  der  Abfassungszeit  würde 
ich  auf  jene  an  sich  richtige,  auch  für  das  Ver.ständniss  der  Schrift 
förderliche  Bemerkung  in  keiner  Weise  zu  bauen  wagen.  —  Ent- 
scheidender wäre,  wenn  er  sich  aufrechthalten  Hesse,  ein  zweiter 
Grund,  welchen  v.  W.  vorbringt.  Nämlich  der  Gorgias  müsse  ver- 
fasst sein  von  einem  von  Athen  Abwesenden.  Doch  mir  scheint 
das  Gegentheil  sicher.  Die  Strafrede  des  Kallikles  setzt  zweifellos 
voraus,  dass  der,  an  den  sie  gerichtet  ist,  also  Piaton,  nicht  etwa 
von  Athen  sich  fernhält,  sondern  in  der  Stadt  lebt  und  nur  vom 
Staatswesen  sich  vornehm  zurückhält,  um  in  der  Verborgenheit 
mit  einer  kleineu  Schaar  von  Genossen  der  Philosophie  zu  leben. 
Ja,  ich  meine,  es  müssten  Reibungen  zwischen  den  Philosophen 
und  Staatsmännern  schon  vorausgegangen  sein,  die  wir  uns  am 
natürlichsten  auf  dem  Boden  Athens  denken  würden.  Wer  in 
Athen  hätte  sich  wohl  sonderlich  darüber  aufgehalten,  wenn  Piaton 
w^eltvergessen  bei  den  Pythagoreern  in  Unteritalien  oder  wer  weiss 
wo  sonst  sich  Forschens  halber  aufhielt?  Nein,  sondern  er  war 
anwesend,  und  man  empfand  seine  Anwesenheit;  man  verstand  in 
seiner  Zurückhaltung  die  Verachtung  des  öffentlichen  Zustands  der 
Stadt;  man  ahnte  auch  wohl,  dass  der  Kreis,  der  um  ihn  sicherst 
zu  sammeln  begann  und  den  man  für  jetzt  noch  meinte  mit  Ge- 
ringschätzung behandeln  zu  dürfen,  vielleicht  einmal  zu  einer 
achtunggebietenden  Macht  anwachsen  könne.  Lässt  denn  der  Spott 
des  Kallikles,  dass  Sokrates.  bei  so  trefflichen  Anlagen,  den  Markt 
und  das  Centrum  der  Stadt,   wo  wahre  Mannestüchtigkeit  sich  er- 


400  ^-  -Natorp, 

probe,  meide  und  es  vorziehe  in  einem  Winkel  versteckt  mit  drei 
oder  vier  Jünglingen  flüsternd  sein  Leben  zu  verbringen  —  lässt 
dieser  Spott  sich  denn  anders  als  auf  Piaton,  und  anders  als  im 
eben  erklärten  Sinne  deuten?  Auf  Sokrates  würde  er  keineswegs 
passen,  er  mied  ja  nicht  die  Mitte  der  Stadt  und  schloss  sich 
nicht  in  Conventikeln  ab.  —  Aber  die  „kolossalen  Wahrheiten" 
des  Gorgias.  insbesondere  die  „herben  und  ungerechten"  ürtheile 
über  die  grossen  Staatsmänner  der  Vorzeit  Athens,  meint  v.  W., 
hätte  Piaton  nicht  wagen  dürfen,  wenn  er  damals  in  Athen  sich 
aufhielt.  —  Nun.  ich  muss  gestehen,  dass  mir  die  gegentheilige 
Voraussetzung  ein  gut  Theil  des  Eindrucks  der  Schrift  zerstören 
würde.  Es  war  gerade  kein  Heldenstück,  aus  sicherer  Ferne  die 
bittere  Anklageschrift  in  die  Stadt  zu  senden,  sich  als  Arzt  und 
Retter,  als  den  Einzigen,  der  wahrhaft  für  das  Heil  des  athenischen 
Staates  wirke,  die  wahre  Staatskunst  betreibe  (521  D)^  anzupreisen; 
vollends,  auf  das  böse  Wort,  dass  man  ihn.  wofern  er  die  Rede- 
künste verschmähe,  wohl  straflos  werde  ohrfeigen  dürfen  (486  C. 
508  DE,  527  A),  ja  auf  die  Drohung,  dass  ihm  selbst  leicht  das 
Schicksal  des  Sokrates  bevorstehen  könne  (521  C,  vgl.  Men.  94  E), 
Antworten  zu  ertheilen,  wie  wir  sie  511  B,  521  CD,  522  DE  lesen, 
wie,  dass  man  ihn  sehr  gelassen  werde  sterben  sehen,  wäre  es  aus 
Ermangelung  schmeichlerischer  Redekünste.  Selbst  abgesehen  von 
dem  allen  braucht  man  nur  einmal  auf  die  zahlreichen  Wen- 
dungen *)  wie  £v  TYjos  xfj  7roÄ£i,  £v  -/jatv  u.  dgl.  zu  achten,  um  über 
diesen  Punkt,  auch  gegen  das  ürtheil  eines  Kenners  der  Zeit- 
geschichte w'ie  V.  Wilamowitz,  vollständig  beruhigt  zu  sein.  Im 
Gegentheil  wird  nun  dies  Argument  zu  einer  sehr  wesentlichen 
Stütze  unserer  Auffassung.  Ist  der  Gorgias  sicher  in  Athen  ver- 
fasst,  so  kann  schon  die  allernächste  Zeit  nach  Sokrates'  Tode 
nicht  mehr  in  Betracht  kommen,  da  Piaton  eben  diese  unbestritten 
auswärts  verbrachte.  Der  Gorgias  kann  aber  auch  nicht  wohl  die- 
jenige Schrift  gewesen  sein,  mit  welcher  sich  Piaton  in  Athen  ein- 
führte; sie  setzt  den  Ansatz  wenigstens  zur  Schulbildung,  sie  setzt 


■*)  Mau  prüfe  besonders  513  A  t^  r.oXnda  xotÜTTj   ev  f,  ctv  oty-VJ  und    was 
folgt;  vollends  521  C  «u;  of-/ wv  £/. -ooojv  x-X. 


Ueber  Grundabtsicht  und  Eiifstehungszeit  von  Platuns  Gorgias.       401 

'111  beträchtliches  Ansehen,  vorausgegangene  sogar  heftige  Reibun- 
gen, wohl  sicher  auch  schon  erfolgte  Angriffe  auf  frühere  Schriften 
(wie  Apologie  und  Protagoras)  voraus;  sodass  wir  sie  jedenfalls  um 
einige  Jahre  weiter  werden  hiuabrücken  müssen. 

Uebrigens  kommt  v.  W.  in  die  Verlegenheit,  dass  er  z.  B.  den 
Protagoras  w^eit  später,  in  die  Zeiten  der  Akademie  zu  setzen  ge- 
nöthigt  wird.  Ich  weiss  nicht,  ob  diese  Annahme  erst  der  Wider- 
legung bedarf,  doch  ist  es  nicht  ohne  methodisches  Interesse,  die 
Argumentationsweise  zu  prüfen,  die  zu  solchem  Schlüsse  führte. 
Ich  lese  (S.  218):  „Der  ^lai  399  warf  Piaton  aufs  Krankenlager 
—  und  das  Lachen  hat  er  erst  mehr  als  10  Jahre  später,  als  er 
in  der  Akademie  lehrte.  Protagoras,  Euthydem,  Symposion  schrieb, 
wiedergefunden".  Und  (219):  „Das  ist  doch  Avahrlich  kein  mo- 
dernes noch  subjcctives  Empfinden,  wenn  man  leugnet,  dass  der 
Phädrus  in  der  Stimmung  des  Gorgias  und  Menou  entstanden  sein 
könne."  Ich  weiss  nicht,  ob  man  mit  solchem  Argument  bei  an- 
dern Autoren  etwas  ausrichtet;  auf  Piaton  scheint  es  mir  unan- 
wendbar. Piaton  schöpft  seine  Stimmung  aus  dem  Gegenstande, 
nicht  lässt  er  seine  Gegenstände  sich  dictiren  von  der  Stimmung, 
die  ihn  gerade  beherrscht.  Der  Unterschied  des  Gegenstands  er- 
klärt den  Stimmungsunterschied  zwischen  Menon  und  Gorgias;  und 
so  auch  wohl  zwischen  Gorgias  und  Phädrus.  Schon  die  Apologie 
zeigt  übrigens  keine  ausschliesslich  trübe,  keine  resignirte,  sondern 
eine  höchst  kampfbereite  Stimmung;  vollends  der  Ton  des  Gorgias 
ist  nicht  bloss  muthig  entschlossen,  sondern  siegesgewiss,  und  in 
seinem  unerbittlichen  Hohne  so  überlegen,  wie  ich  es  nicht  be- 
griffe, wenn  der  Autor  in  freiwilliger  Verbannung  mit  unthätiger 
Resignation  dem  Verderben  der  Stadt  von  weitem  zusah.  Gewiss 
ist  der  Phädrus  nicht  in  derselben  Stimmung  geschrieben;  ihn 
trübt  (sagt  v.  AV.)  nirgend  ein  Ton,  der  auf  das  Ende  des  Sokrates 
deutete.  Er  kann  aber  darum  doch  nach  399,  er  kann  nach  dem 
Gorgias,  sogar  unmittelbar  nach  ihm  verfasst  sein.  Warum  sollen 
wir  dem  Platon,  nachdem  er  in  sieben  Schriften,  deren  keine  es 
an  Herbheiten  fehlen  lässt,  die  letzte  sie  bis  zum  äussersten  stei- 
gert, seine  philosophischen  Consequenzen  aus  dem  Ereignisse  des 
Mai  399  gezogen,  nicht  endlich  gestatten,  auf  den  Flügeln  der  Idee 


402  P-   Natorp. 

ZU  jeuen  Inseln  der  Seligen  zu  kurzer  Rast,  zu  flüchten,  welche 
der  Schluss  des  Gorgias  dem  Philosophen ,  der  dem  Welttreibeu 
entronnen  ist,  verheisst?  —  Erst  der  Erfolg  in  der  Akademie  soll 
Piatons  Stimmung  verbessert  haben.  Ich  würde  dergleichen  nie 
zu  behaupten  wagen;  übrigens  setzt  der  Gorgias  etwas  wie  eine 
Schule  Piatons  voraus;  desgleichen  sicher  der  Theütet.  an  dessen 
Entstehung  noch  in  der  zweiten  Hälfte  des  ersten  Jahrzehnts  nach 
Zellers  Bew-eisführung  (Abh.  d.  Berl.  Akad.  1886)  nicht  mehr  zu 
rütteln  sein  dürfte;  es  stände  also  nichts  im  Wege,  den  Stimmungs- 
nmschlag,  den  mau  zur  Erklärung  des  Phädrus  für  nothwendig 
hält,  schon  bald  nach  dem  Gorgias  eintreten  zu  lassen.  Ich  möchte, 
wie  gesagt,  auf  solche  Gründe  keinesw-egs  etwas  bauen;  doch  wer 
sie  nöthig  hat.  dem  werden  sie  nicht  fehlen.  Allgemein  habe  ich 
Bedenken  dagegen,  auf  Annahmen  über  den  Lebensgaug  Platous 
andere  über  die  Reihenfolge  seiner  Schriften  zu  stützen  —  zumal 
ohne  die  ernstlichste  Berücksichtigung  ihres  inhaltlichen  Ver- 
hältnisses. 

Und  so  möchte  ich  auch  für  meine  Ansetzuug  des  Gorgias  mich 
bloss  hülfsw^eise  auf  die  Lage  des  Autors,  die  er  voraussetzt,  be- 
rufen. In  der  That  gelangt  man  zu  demselben  Schluss  auf  dem 
geradesten  und  sichersten,  obzwar  altmodischen  Wege,  indem  man 
sich  klar  macht,  dass  der  Gorgias,  seinem  Inhalt  nach,  die  ganze 
sokratisirende  Periode  (d.  h.  die  Schriften  von  der  Apologie  bis 
zum  Menou)  voraussetzt.  Das  hat  man  auch  früher  meist  ange- 
nommen, aber  sich  die  daraus  zu  ziehende  Consequenz  verborgen, 
indem  man  Protagoras,  Laches,  Charmides  und  wohl  gar  Menon 
noch  zu  Sokrates'  Lebzeiten  abgefasst  sein  liess;  was  für  den  letz- 
teren schon  wegen  der  Bezugnahme  auf  das  spätere  Schicksal  des 
Anytos  (95  A)  unmöglich  ist,  aber  auch  für  die  drei  anderen  Ge- 
spräche Niemand  zugeben  wird,  der  .sich  deren  Verhältniss  zur 
Apologie  ernstlich  klar  gemacht  hat;  erinnert  sei  für  jetzt  (ausser 
dem  oben  Anm.  2  Bemerkten)  iiur  noch  daran,  dass  nicht  bloss 
Men.  91  CE,  sondern  auch  Lach.  186  B  auf  den  gegen  Sokrates  (in 
Verwechslung  desselben  mit  den  Sophisten)  erhobenen  Vorwurf, 
dass  er  „die  Jugend  verderbe",  sich  deutlich  bezieht.  Doch  scheint 
es  heute  fast  nöthiger  erst  das  Verhältniss  des  Gorgias  zu  den  ge- 


Ueber  Grundabsicht  und  Entstehuugszeit  von  Piatons  Gorgias.       403 

naanteu  Schriften  ausser  Zweifel  zu  stellen;  hat  doch  die  spätere 
Datirung  des  Menon  gegenüber  dem  Gorgias  noch  kürzlich  an 
Gomperz  einen  beredten  Vertlieidiger  gefunden. 

Schon  das  positive  Auftreten  Piatons  im  Gorgias  zeigt  den 
entschieden  fortgeschrittenen  Standpunkt.  Noch  behauptet  zwar 
Sokrates,  nichts  zu  wissen  von  dem  was  er  vorbringt  (50G  A, 
509  A)  —  aber  doch,  dass  noch  Jeder,  der  es  anders  zu  sagen 
versucht,  sich  lächerlich  gemacht  hat.  wenn  er  von  Sokrates  o-e- 
prüft  wurde  (509  A ,  cf.  527  AB).  Das  ist  nicht  nur  ein  andrer 
Ton,  als  den  z.  B.  der  Protagoras  anschlug,  sondern  es  setzt  frühere 
Darlegungen  über  die  ethischen  Grundfragen  ersichtlich  voraus,  und 
wo  sollten  wir  die  suchen,  wenn  nicht  hauptsächlich  im  Protagoras, 
in  zweiter  Linie  etwa  im  Menon?  Und  noch  entschlossener  er- 
klärt Sokrates:  was  im  Gespräche  sich  ergeben,  das  bleibe  fest  und 
wohl  verwahrt  mit  eisernen  und  stählernen  Gründen^);  und  noch- 
mals: gegenüber  so  vielen  Sätzen,  die  alle  widerlegt  wurden,  ist 
dieser  allein  festgel)lieben,  jxovoc  outoc  rjpctxsr  6  X070;  .  .  .");  ihn 
dürfen  wir  getrost  zur  Richtschnur  unseres  Lebens  wählen.  Xuu 
handelt  es  sich  dabei  eben  um  den  Begriff  der  Tugend  —  wie  in 
sämmtlichen  sokratischen  Dialogen.  Jeder  wird  sich  erinnern,  wie 
gerade  dieser  Begriff  dort  beständig  als  noch  nicht  gefunden  galt; 
so  ausdrücklich  im  Protagoras,  im  Laches,  und  noch  im  Menon, 
dessen  Schluss  gerade  die  Beantwortung  der  Frage  „Was  ist  Tu- 
gend?" als  noch  ausstehend  bezeichnet.  Insbesondere  wurde  die 
Tugend  zwar  stets  zurückgeführt  auf  Erkenntniss,  und  zwar  des 
Guten,  was  aber  das  Gute  sei,  wurde  ernstlich  noch  gar  nicht  ge- 
fragt. Hier  im  Gorgias  zum  ersten  ]\Iale  wird  der  Begriff  des 
Guten  untersucht  und  durch  strengste  Scheidung  von  der  Lust 
wenigstens  negativ,  sodann  aber  auch  positiv,  allgemein  als  -i>^oc, 
bestimmter  als  Gesetz  und  Ordnung  (auch  als  zloo;  503  E)  erklärt. 
Wie  wäre  nach   dem   allen   noch   eine   so   ausschliesslich  negative 

^)  509  A   'Afiziyfzai  xat  hiozzii  ...  Gior^poT;  xod  c<oc<;j.avtivoi;   Xoyoi;.     Vgl. 
Men.  98  A  l'(u«  ctv  Tt;  aÜTct;  StJst]  ikiai  XoyiaiAuI  und  liOLziozi  Oc(Jijit;T  irA'j-7][).r^ 

^)  021  H.     Vgl.  auch  lüeiv.u  Men.  87  D    (zal  oi'jtt,    i^  'jTtfjftiit;  ,aEV£t  ^juiv), 
89  C,  98  A   (.ULfSviaot). 


404  ^-  Natorp, 


Behandlung  derselben  Begriffe  möglich  gewesen,   wie  iu  jenen  f 
vier  Dialogen?    AVar  etwa,  was  hier  „mit  eisernen  und  stählernen 
Gründen"    festgemacht    und    zur  Richtschnur   des  Lebens   erhoben 
worden,  hernach  doch  wieder  zweifelhaft  geworden?     Ist  nicht  im  Ä*' 
Gegeutheil  die  Grundausicht,  die  hier  zuerst  gewonnen  wurde,  fest 
geblieben   im   Staat,    im  Philebus?     Gewiss   künstlich   wäre  die 
Annahme ,    dass    in    irgendeiner  Zeit    zwischen    dem  Gorgias    und  i 
diesen  späteren  ethischen  Schriften  Piaton  nochmals  von  der  alten 


£illi 


;JI 


sokratisch-negativen  Behandlungsart  dieser  selben  Grundbegriffe 
sollte  Gebrauch  gemacht  haben. 

Dies  Argument,  welches  vielleicht  für  sich  allein  schon  durch- 
schlagend wäre,  lässt  sich  übrigens  noch  viel  weiter  ins  Einzelne 
verfolgen.  So  erhalten  wir  im  Gorgias  nebenbei  auch  so  bestimmte 
Erklärungen  der  einzelnen  Tugendbegriffe  wie  scucpfiosuv/j,  avopsia 
u.  s.  w.,  wie  man  sie  gleichfalls  in  jenen  vier  Gesprächen  vergebens 
sucht.  Man  w^eiss,  wie  Protagoras,  Lach  es,  Charmides  einen  Son- 
derbegriff einzelner  Tugenden  fast  auszuschliessen  scheinen;  wie  in 
einer  Stelle  des  Menon  (88  A  ff.)  sogar  Besonnenheit,  Tapferkeit  etc. 
nicht  an  und  für  sich  Tugenden  sein,  sondern,  wie  andere  „Güter", 
erst  unter  der  Leitung  der  opov/;aic  zu  Tugenden  w-erden  sollten, 
während  sie  daneben  doch  auch  wieder  als  Einzeltugenden  oder 
„Theile"  der  Tugend  begegnen;  sodass  ihr  wahres  und  positives 
Verhältniss  zur  Einen  Tugend  noch  gänzlich  unentschieden  blieb. 
Nun  haben  zwar  auch  die  Bestimmungen,  welche  der  Gorgias  gibt, 
später  im. Staat  gewisse  Modificationen  erfahren;  aber  die  Grund- 
auffassung ist  doch  auffallend  dieselbe  geblieben,  die  Abwei- 
chungen sind  mehr  von  technischer  Bedeutung.  Auch  hier  also 
bestätigt  sich,  dass  im  Gorgias  diejenigen  Grundzüge  der  ethischen 
Ansicht  erreicht  sind,  welche  dem  Piaton  dauernd  festgeblieben  sind. 

Erwähnt  wurde  schon,  worauf  die  scheinbare  Ergebnisslosig- 
keit  der  vorgenannten  vier  Schriften  gerade  in  ethischer  Beziehung 
—  während  sie  doch  von  nichts  als  vom  Begriff  der  Tugend  han- 
deln —  zuletzt  beruhte;  sie  beruhte  darauf,  dass  die  Tugend  aus- 
schliesslich unter  dem  sokratischen  Gesichtspunkt  der  Erkenntniss 
behandelt  wurde.  Hier  sind  wirkliche  Fortschritte  zu  verzeichnen, 
in  der  näheren  Bestimmung  des  Begrifis  derjenigen  Erkenntniss,  in 


f 


üeber  Grundabsicht  und  Entstehungszeif  von  Piatons  Gorgias.       405 

der  die  Tugend  bestehen  sollte;  es  wurde  erreicht,  dass  diese  Er- 
kenntniss,  um  es  kurz  zu  sagen,  die  a  priori-Erkenntniss  des  Einen, 
an  sich  und  absolut  Guten,  nicht  die  empirische  der  mannigfachen 
relativen  Güter  des  Lebens  sein  müsse.  Aber  der  so  dringlich  ge- 
forderte a  priori-Begriff  „des"  Guten  wird,  wie  gesagt,  nirgend  er- 
reicht oder  nur  ernstlich  in  Untersuchung  gezogen.  Im  engsten 
Zusammenhang  mit  der  Auflassung  der  Tugend  als  Erkenntniss 
wurde  ferner  die  Frage  nach  der  Lehr  bar  k  ei  t  der  Tugend  wieder 
und  wieder  aufgeworfen.  Ihre  Verneinung  im  Protagoras  dürfte 
ernst  zu  nehmen  sein:  Sokrates  musste  sie,  von  seinem  Stand- 
punkte des  Nichtwissens,  verneinen;  Piaton  bejaht  sie  erst  im 
Menon,  auf  Grund  der  sicher  ihm  specifisch  augehörigen,  nicht 
sokratischen  Lehre  von  der  Anamnesis.  Im  Gorgias  nun  wird  so- 
wohl, dass  Tugend  ein  Wissen,  wie,  dass  ein  Wissen  nothwendig 
lehrbar  sei,  schlechthin  vorausgesetzt,  ohne  dass  der  leiseste 
Zweifel  daran  auftauchte.  So  stimmt  es  auch  allein  zu  der  so 
ganz  positiven  Haltung  des  Dialogs.  Dass  übrigens  diese  selbstge- 
wisse und  entschiedene  Haltung  auf  dem  im  Menon  zuerst  er- 
reichten  Resultate  fusst,  dafür  bürgt  die  ständig  wiederkehrende 
Berufung  auf  die  Erkenntniss  des  Grundes  (7iTta,  Xo^oc,  daneben 
cpuatc,  besonders  465  A  und  501 A),  durchweiche  im  Menon  (98  A) 
die  Anamnesis  geradezu  definirt  wurde.  Wenn  aber  ferner  nach 
diesem  Kriterium  die  wissenschaftliche  Erkenntniss  von  un- 
wissenschaftlicher, grundloser  Empirie  unterschieden  wird,  so 
geht  dies  sogar  über  den  Menon  entschieden  hinaus  und  sticht 
merkwürdig  ab  gegen  die  Unbestimmtheit,  in  welcher  dort  der  Be- 
griff der  öoca  c(X-/)ö-/;s   noch   verblieb").     Derselbe  Gegensatz  wird 


')  Sie  soll  einenseits  nichts  Geringeres  als  die  äX/jSsta  -löv  ö'vxiuv  bedeuten, 
die  von  jeher  in  uns  ist  und  nur  noch  zum  Bewusstsein  geweckt  zu  werden 
braucht  (8G  A  dvEaovxai  aütw  dcXrji}£T;  oo'^ai  ...  und  gleich  darauf  d  id 
i]  d\ri%zia  fjfxlv  tüiv  ö'vTwv  laxlv  £v  tt]  ^'r/jrj);  und  wenn  es  85  D  dann 
wieder  heisst,  dass  wir  die  Erkenntniss  aus  uns  selber  schöpfen  (ävaXctßüJv 
«ixö;  I;  auToü  ttjv  ^7:1577]  [i.Tjv),  so  ist  damit  die  a.  6.  der  ^TriaT^fJ-r^  fast 
gleichgesetzt  (daher  denn  auch  Phäd.  73A  ^TrtatTj.arj  ^voüaa  xcd  öp&ö?Xoyo; 
—  nicht  mehr  6.  oo^a).  Dagegen  wird  hernach  sehr  stark  der  Unterschied 
zwischen  ^Tii!jTT,rj.rj  und  öp9r]  oder  ölXr^'l)r^^  005a  betont ;  es  wird  der  letztern 
alle     eständigkeit  atigesprochen,  sie  wird  als  blosser  Schatten  dtM-  Erkenntniss 


406  P-  ><atoip, 

im  Phiulrus  (260  E  u.  f.,  wo  die  Zuriickbezielmng  auf  den  Gorgias 
von  Siebeck  erkannt,  jetzt  auch  von  Zeller,  Ila^  r34r,  anerkannt 
ist)  in  Erinnerung  gebracht,  im  Theätet  aus  den  tiefsten  Tiefen  der 
Erkeuntnisstheorie  abgeleitet;  sodass  auch  hier  der  Gorgias  über  jene 
vier  Schriften  hinausgeht,  dagegen  mit  solchen,  die  Jeder  als  specifisch 
platonische  anerkennt,  in  eine  Reihe  tritt.  Weiteres  der  Art  würde 
eine  speciellere  Darlegung  zu  verzeichnen  haben;  das  Gesagte  wird 
wenügen.  um  den  Fortschiitt  des  Gorgias  im  allgemeinen  zu  kenn- 
zeichnen. 

Es  kommt  nun  aber  eine  ganze  Reihe  von  Momenten  hinzu, 
die  im  Gorgias  entweder  vollständig  neu  auftreten,  oder  höchstens 
mit  dem  Menon  ihm  gemeinsam  sind,  so  aber,  dass  auch  im  letz- 
teren Falle  ein  Fortschritt  über  den  Menon  hinaus  unverkenn- 
bar ist. 

Dahin  gehört  zuerst  der  nachdrückliche  Hinweis  auf  Philo- 
sophie, unter  diesem  Namen.  Man  kennt  die  sehr  allmähliche 
Ausprägung  dieses  Terminus  bis  zu  der  prägnanten  Bedeutung,  die  er 
zuerst  bei  Piaton,  und  auch  bei  ihm  nicht  von  Anfang  an  erhält. 
So  heisst  es  zwar  schon  Apol.  28  E:  91X0 3090-3 v-a  \j.t  osi  Cv,  so  ist 
es  die  er.ste  Frage  des  aus  dem  Feldzug  zu  seinem  gewohnten 
Treiben  (z-\  t7.c  cuvr^O;'.;  oiatpißac)  zurückkehrenden  Sokrates 
(Charm.  153  D):  rspl  oiXosocpia^  o~<ü;  i'/oi  xa  vuv  (vgl.  154  E,  wo 
Ki'itias  den  Charmides  als  „weisheitsliebend"  rühmt);  aber  keine 
(lieser  Stellen  reicht  entfernt  an  die  Bestimmtheit  heran,  mit  der 
Sokrates  im  Gorgias  nicht  nur  Philosophie  als  seinen  Beruf  und 
seine  Liebe  erklärt  (-7.  iu-z  -'/lor/a,  481  D).  sondern  auszusprechen 

als  Jtin  W;dirou  gegeiuibcigeslellt.  Wie  mau  das  aucli  reimen  möge,  auf 
jeden  Fall  ergibt  sioli,  dass  der  IJegriff  der  oo;a  hier  Tioch  sehr  im  Unge- 
wissen schwebt.  Es  fehlt  namentlich  die  dem  späteren  platonischen  Begriff 
der  odiot  ganz  w-esentliche  Beziehung  auf  das  Gebiet  der  sinnlichen  Erfahrung; 
hier  scheint  sie  vielmehr  die  a  priori -ErliL-nntniss  (obwohl  bloss  als  o6va}j.i;) 
zu  bezeichnen.  Die  wissenschaftliche  Erkenutaiss  ist  auf  dem  Grunde  des 
Selbstbewusstseins  festgestellt,  der  Gegensatz  dazu  durch  die  oo;a  äXT,8rj;  erst 
sehr  unzureichend,  gewissermassen  provisorisch  bezeichnet.  Man  mag  daraus 
zugleich  ersehen,  wie  unmöglich  es  ist  den  Menon  auf  den  Theätet  er.st 
folgen  zu  lassen,  in  ihm  wohl  gar  die  Auflösung  der  Schwierigkeiten  zu 
suchen,   widche  der  Theätet  im  Begriffe  der  oo;a  äATj9rj;  aufileckt. 


Ueber  Gnindabsii-lil  und  Eiitstehnns'sz.eit  von  Plntons  Gorgiais.        407 

wagt:  nicht  ich.  die  Philosopliie  sagt  so  (482  A),  und  sie  sagt 
immer  dassellie  (dt\  Ttoy  «utäv  /.o-u)v  Isf'v).  sie  widerlege,  wenn 
,1a  kannst;  worauf  denn  Kallikles  (484 C,  485  A-D,  486  A  cf.  487 C) 
mit  der  schönen  Lehre  antwortet,  dass  man  es  mit  der  Philosophie 
mir  ja  nicht  zu  weit  treiben  müsse.  So  wird  denn  durchgängig  das 
Leben  des  Staatsmanns  dem  des  Philosophen  gegenübergestellt,  be- 
MMiders  484  DE  (tl;  -y.:  uasTip'zc  oratpißa:.  Vgl.  Theät.  172  CD) 
und  500C  (k-\  Tovos  tov  'i'jjv  tov  iv  zOxoari'si'y.).  endlich  noch  in  der 
Darstellung  des  Todtengerichts  (526  C  gegen  525  D).  Ein  so  posi- 
tiver BegrilT  von  Philosophie  als  l'estgegründeter  Wissenschaft, 
deren  Entscheidung  gleichbedeutend  ist  mit  dem  A^'orte  der  Wahr- 
heit, war  auf  soki'atischem  Standpuidvt  unmöglich.  Ich  glaul)e 
darum  nicht  (mit  v.  AVilamowitz),  dass  der  Phädrus,  in  welchem 
cpi/v'-cfjoiV.  als  Terminus  begründet  zu  werden  scheint  (278  D).  dem 
Gorgias  vorausgegangen  sein  müsse:  wold  aber,  dass  die  grundsätz- 
lich negative  Haltung,  welche  Piaton  als  Sokratiker  in  den  bis- 
herigen Schriften  imch  einnahm,  bewusst  überwunden  sein  musste, 
bevor  von  'i'.Xo30'f;'7.  in  solch  positivem  Sinne  die  Rede  sein  konnte. 
Sodann  finden  sich  zuerst  im  ]\lenon  ilindeutungen  auf  ge- 
wisse Interna  platonischer  Philosophie,  welche  als  dem  Leser 
nicht  ohne  weiteres  bekannt  und  zugänglich  vorausgesetzt,  daher, 
nach  einem  naheliegenden  Vergleich,  geradezu  als  aojty^p'.'y.  lie- 
zeichnet  werden  (Men.  76  E).  Darauf  weisen  auch  hier  l)estimmte 
Anspielungen  (493  B,  497  C),  so  juiuientlich  die  Andeutung  von 
der  „geometrischen  Gleichheit"  (508  A).  wo  es  sehr  bezeichnend 
ist,  wie  Sokrates  sofort  abbricht,  weil  ja  ein  Kallikles  sich  um 
Geometi'ie  nicht  kümmere.  Die  Hervorhebung  der  Geometrie,  schon 
im  Menon  so  auffällig  (76  AE,  86  E  u.  bes.  82  C  ff.,  85  E),  ist  hier 
doppelt  motivirt:  innerlich  durch  die  Ausdehnung  der  ethischen 
Begriffe  von  Ordnung  und  Gesetz  auf  das  Weltall  als  Kosmos,  und 
zugleich  äusserlich  durch  die  sehr  entschiedene  Anlehnung  an  py- 
thagoreische Anschauungen,  sowohl  493  A  (vgl.  Iiöckh,  Philolaos 
S.  181ff. .  beachte  auch  493  1)  ix  toO  r/.u-r/j  - 'j|j.v7.3'>>u)  wie  507 E 
(wo  sich  J^laton  gerade  für  die  Bezeichnung  dc^  \\'eltganzen  als 
zo3;ioc  auf  gewisse  3090''  beruft,  und  dann  gleich  jeuer  Hinweis 
auf  die  Geometrie  folgt).    \\"\v  belinden  uns  in  ganz  pythagoreischem 

Archiv    f.   (lesdiiclite  d.   I'liih.scpliu'.     II.  -" 


408 


P.  Xatorp: 


Zusammenhang.  Auch  der  Mythos  am  Schluss  hat  damit  Verbin- 
dung, wie  die  Andeutung  der  Unsterblichkeit  (492 E— 493 A,  neben 
523  A,  524  B)  und  das  Wort  vom  Hades  als  dem  oisioic  (493  B, 
vgl.  522  E  ft".)  lehrt.  Ganz  besonders  ist  aber  hier,  neben  der 
kosmischen  Bedeutung  der  ethischen  Grundbegriffe,  die  ausdrück- 
liche Annahme  eines  unsichtbaren,  übersinnlichen,  unkör- 
perlichen Kelches  zu  betonen:  die  Seele  wird  mit  dem  Tode 
vom  Körper  und  den  Sinnen  entkleidet  (523  DE);  was  über  das 
im  Menon  Angedeutete  bereits  weit  hinausgeht,  dagegen  sehr  ge- 
eignet ist,  die  ganz  überschwängliche  Darstellung  des  übersinn- 
lichen Reichs  im  Phädrus  vorzubereiten.  Dass  Piaton  damit  den 
sokratischen  Standpunkt  weit  hinter  sich  lässt  —  man  erinnere 
sich  nur  der  durchaus  zweifelnden  Haltung  des  Sokrates  in  der 
Apologie  hinsichtlich  der  Frage  der  Unsterblichkeit  —  bedarf 
keines  Beweises.  Aber  es  ist  wohl  mehr  als  blosse  Vermutliung, 
dass  hier  auch  die  Ideenlehre  schon  im  Hintergrunde  steht.  Legt 
schon  im  Menon  die  Gegenüberstellung  t7.  ivDaoö  —  -ä  iv  'A'.oou 
(81 C),  eben  auf  Grund  der  Vergleichung  mit  Gorg.  493  B  (to  dzihk; 
Ztj  Xi-(Oiv),  eine  solche  Yermuthung  sehr  nahe  (vgl.  Ribbing,  Die 
platonische  Ideenlehre,  I,  173  ft".).  so  haben  wir  im  Gorgias  ausser 
dieser  Gleichsetzung  (durch  welche  auch  die  Schilderung  des  Todten- 
gerichts  erst  in  die  richtige  Beleuchtung  gerückt  wird)  auch  directere 
Spuren,  welche  ebendahin  weisen;  das  siooc  nebst  'i.-nplr.ziv 
(503  DE;  vgl.  Men.  72  C)  kommt  dem  entwickelten  platonischen 
Begriff  der  Idee  schon  ziemlich  nahe;  das  7ro(,o7'o£t-c[i.a  (525  C)  lässt, 
wenn  es  doch  eben  um  ein  Ewiges,  Unsichtbares,  Unkörperliches 
sich  handelt,  kaum  eine  andere  Deutung  zu  (vgl.  namentlich 
Theiit.  17GE);  und  wenn  z^psTvott,  -ocpousta  (497  E.  498 D,  50ß  D) 
weniger  entschieden  im  Sinne  der  fertigen  Ideenlehre  gebraucht 
scheint'),   so    könnte  das  auf  der  absichtlich  exoterischen  Behand- 


^)  Es  müsste  niulit  äyctöiöv  r:a(iO'jat'7.  lieissen,  soiuleia  toü  dyoiöoy.  —  Ist  übri- 
gens Eufhyd.  301  A  im  Sinne  Zeller's  (Pli.  d.  Gr.  II a^  290 "-.  r)310  zu  verstehen, 
so  sieht  man  .sich  nach  einer  Stelle  um,  wo  der  Terminus  früher  von  Piaton 
gebraucht  wäre.  Ich  tinde  —  wenn  vom  Hipp.  mai.  abzusehen  sein  sollte  — 
nur  eben  Gorg.  497  E  (tou;  äyctOol»;  oü/i  äyctScüv  -otpo'jat'ot  äyctDoy;  xaXci?,  iöo-ip 
T  0  'j ;  z  c(  >  0  'j ;  o  I ;  'x  v   /.  d  /.  /.  o ;  r  a  p  ^ ). 


M 


[*eli(>r  rinui(lalisii'lir   uihI   Kntslehungszpit  von  Plalons  Gorgias.        409 

luns  dieses  Punktes  beruhen.  Denn  wenn  daraul'  im  IMiädrus  die 
erste  deutliche  Ausspraclic  der  Ideenlehre  eingeleitet  wird  mit  den 
merkwürdigen  Worten  -oXar^Tsov  yj.rj  r/jv  to  7s  ry-Xy^Osc  strsTv 
(247  C),  so  lautet  das  doch,  als  hätte  er  mit  der  schon  erkannten 
Wahrheit  bis  daiiin  absichtlich  zurückgehalten.  Eine  solche  be- 
wusste  Unterscheidung  exoterischer  und  esoterischer  Behandlung 
nöthigt  ja  auch  anzunehmen,  was  wir  von  den  „Mysterien"  und 
der  geometrischen  Erkenutniss  hörten:  die  Annahme  ist  um  so 
leichter,  wenn  ein  Schiilerkreis  bereits  vorausgesetzt  werden  darf. 
Dann  aber  wird  durch  diese  Beziehungen  zweierlei  zugleich  be- 
wiesen: erstens,  dass  Piaton  von  dem  sokratisch-]iegativen  Stand- 
punkt, wie  er  im  Protagoras,  Laches,  Charmides.  und  nicht  mehr 
ausschliesslich  zwar,  aber  doch  noch  in  weitem  Umfang  im  Menon 
herrscht,  sich  bereits  ziemlich  weit  entfernt  hat;  und  zweitens, 
dass  er  einen  gewissen  Anhang,  einen  festen  Kreis  von  Mit- 
forsch enden  schon  gefunden  hat;  was,  selbst  unabhängig  von  je- 
der Annahme  über  die  Abfassungszeit  der  Dialoge  Prot,  bis  Men., 
nöthigen  würde,  den  Gorgias  frühstens  um  die  Mitte  des  ersten 
Jahrzehnts  zu  setzen. 

Alle  angeführten  Gründe  sind  nun  zwar  auch  für  die  spätere 
Abfassung  des  Gorgias  gegenüber  dem  Menon  beweisend,  doch  sei, 
namentlich  mit  Rücksicht  auf  Gomperz,  darüber  noch  Einiges  be- 
sonders bemerkt.  Da  scheint  mir  nun  zuerst  die  eigenthümliche 
Rolle  beachtenswerth,  welche  dem  Kallikles  in  unserm  Dialog  zu- 
ertheilt  wird.  "Wie  soll  man  die  Bedeutung  dieser  merkwürdigen 
Figur  erklären?  Der  extremste  mögliche  Gegensatz  der  eignen 
Gesinnung  wird  vorausgesetzt,  damit,  was  selbst  einem  so  gesinnten 
Gegner  im  sokratischen  Gespräch  abgerungen  werden  kann,  end- 
gültig fest  bleibe.  Das  ist  die,  nicht  hineingelegte,  sondern  ausge- 
sprochene Absicht  der  Einführung  dieser  Figur:  man  scheint  sich 
aber  bisher  nicht  Rechenschaft  darüber  gegeben  zu  haben,  dass 
dadurch  das  Verfahren  der  vorigen  Dialoge  mit  Bewusstsein 
verlassen  und  berichtigt  ist. 

Polos  wirft  (461  B)  dem  Gorgias  vor.  er  habe  aus  Scham 
dem  Sokrates  zugestanden,  was  er  gar  nicht  zuzugestehen  brauchte, 
und   sich   dadurch    von   dem   listigen    Gegner   in    Widerspruch    ver- 

28* 


410 


W   Xafür|., 


wickelu  lassen;  Kallikles  erhebt  (482  C  ff.)  genau  denselben  Vor- 
wurf gegen  Polos,  wobei  er  ebenfalls  das  Unrecht  des  sokratischen 
Verfahrens  scharf  rügt.  Und  wie  antwortet  Sokrates?  (48G  D  bis 
488  B:)  Er  habe  in  Kallikles  den  Prüfstein  gefunden,  an  dem  seine 
eigene  Gesinnung  ihre  Kraft  erproben  könne,  sodass,  was  selbst  er, 
Kallikles,  einzugestehen  genöthigt  werden  könne,  fortan  als  end- 
gültige Wahrheit  feststehe').  In  solchem  Sinne  lobt  er,  ironisch 
genug,  den  edlen  Freimuth,  die  „Parrhesie"  dieses  merkwürdigen 
Helden  —  während  freilich  am  Schluss  der  Verhandlung  (508  BC) 
sich  herausstellt,  dass,  was  Gorgias- Polos  angeblich  aus  blosser 
Scham  zugestanden  hatten,  vielmehr  eben  die  Wahrheit  ist,  zu 
deren  Anerkenntniss  auch  Kallikles  genöthigt  ist. 

Also  deutlich  wird  uns  gesagt:  das  Problem  muss  radicaler 
angefasst  werden:  der  Beweis  des  Sittlichen  darf  nicht  länger  auf 
Zugeständnisse  rechnen,  die  der  Scham,  nicht  der  inneren  Ueber- 
zeugung  des  Gegners  abgezwungen  werden. 

Das  war  nun  aber  doch  ganz  ersichtlich  das  Verfahren,  zuerst 
im  Protagoras,  dann  im  Meuon"^').  Hier  im  Gorgias  wird  es 
an  den  beiden  Figuren  des  (lorgias  und  Polos  wiederholt  und  aus- 
drücklich bemerklich  gemacht  —  um  aber  dann,  eben  durch  die 
Aufstellung  eines  radicaleren  Gegners  in  der  Person  des  Kallikles, 
endgültig  verbessert  zu  werden.  Es  ist  gewiss  ein  sicherer  Schluss: 
dass  keine  platonische  Schrift,  welche  das  hier  so  ausduicklich  be- 
richtigte \' erfahren  noch  unbefangen  (zumal  auf  dieselben  Probleme) 
anwendet,  später  als  der  Gorgias  geschrieben  sein  kann.  Da  nun 
gerade  das  Verhalten  des  Menon  dem  des  Gorgias  und  Polos  (als 
deren  Gesinnungsgenossen  er  sich  eben  auch  darin  zu  erkennen 
gibt)  ganz    analog    ist    und    das  Gespräch  eine  tiefere  Ergrüudung 


')  Man  beachte  auch  hier  die  starke  Betonung  des  definitiven  Charakters 
der  hier  zu  erreichenden  Feststelhmgen:  486E  aÜTa  TiÄTjSrj,  487  1"  tio  ö'/ti 
oov   ff  itj.r^  Y.oa  gt;  öiAo/.oy'a  t^Xo;  r]orj  £;u  tt);  iKr^üzioLC. 

'"}  Es  ist  sehr  lueikwürdig  und  für  das  JJcwusstseiu.  mit   welchom  Pkiton- 
vorgeht,    bezeichnend,    dass  der  Gegner   allemal   gefasst    wird   auf  Grund    der 
Gleichsetzung  des  äyotSov    mit   dem  xctXov,   dessen   schwankender  Begriff  die 
scharfe  Grenze  zw  ischen  .Schcineu   und  Sein  verdeckt  hält.     (Man   prüfe  Prot.  ^ 
349  E,   aucii3;j2CD,   359  E;    Men.  77B;    Gorg.  474  C.)     Kalliklc>    imiss    den 
Sokrates  auf  eben  diesem  Kunstgriff  ertappen,  Garg.  482  0  E. 


Sh.1 


1,'eher  Grundabsicht  und  Entstehuugszeit  von  Platons  Gorgias.       411 

der  sittlicheil  Hegriffe  eben  deshalb  nicht  erreicht,  weil  ei-.  immer 
auf  (las  Schickliche  bedacht,  die  Skepsis  nicht  weit  genug  treibt 
nnd  sich  zu  bald  ganz  in  die  Bahn  des  Sokrates  mitfortnehmen 
lässt:  so  ist  es  unmöglich,  dass  der  Menon  auf  den  Gorgias  erst 
gefolgt  sei;  er  miisste,  nach  ihm,  als  ein  schwächliches  Nachspiel 
erscheinen,  während  wir  nun  in  ihm  ein  durchaus  passendes  Vor- 
spiel zum  Gorgias  sehen  und  die  nicht  tiefer  führende  Behandlung 
des  Ethischen  uns  daraus  erklären  dürfen,  dass  in  dieser  Richtung 
ein  wesentlicher  Fortschritt  über  Protagoras,  Laches,  Charmides 
hinaus  noch  nicht  beabsichtigt  ist,  sondern  für  den  Gorgias  aufge- 
spart bleibt,  dagegen  vorerst  nur  die  erkenntnisstheoretische  Frage, 
die  durch  jene  Gespräche  so  nahegelegt  war,  einen  bedeutenden 
Schritt  weiter  gefördert  werden  sollte. 

Nun  sieht  freilich  Gomperz  (Plat.  Aufs.  T,  1887)  einen  Be- 
weis für  die  spätere  Abfassung  des  Menon  gegenüber  dem  Gorgias 
in  der  Behandlung  der  Staatsmänner  in  beiden  Dialogen.  Viel- 
leicht hätte  das  Problem  von  vornherein  nicht  so  isolirt  werden 
sollen:  das  Urtheil  über  die  Staatsmänner  ist  in  beiden  Schriften 
nur  der  Ausfluss  der  ethischen  Anschauungen,  die  sie  entwickeln. 
Diese  mussten  zu  allererst  verglichen  werden,  wo  sich  denn  wohl 
sofort  klar  herausgestellt  hätte,  dass  der  Standpunkt  des  Gorgias 
ein  entwickelterer  ist.  Aber  selbst  unmittelbar  musste  einleuchten, 
dass  der  Gesichtspunkt  bei  der  Beurtheilung  der  Staatsmänner 
hier  und  dort  ein  ganz  verschiedener,  und  der  verschiedene  Aus- 
fall des  Urtheils  nur  die  Folge  dieser  Verschiedenheit  des  Gesichts- 
punkts ist.  Nämlich  der  Menon  behandelt  die  Frage  ganz  im  Zu- 
sammenhange des  alten  Problems  der  Lehrbarkeit  der  Tugend, 
allgemein  ihres  Verhältnisses  zur  Erkenutniss,  daher  wesentlich  im 
Sinne  des  Protagoras  und  in  möglichst  ausdrücklicher  Erinnerung 
an  diesen'')-  ^^ie  Frage  des  sittlichen  Verdienstes  wird  ernsthaft 
gar  nicht  erhoben;  der  Vorwurf,  dass  man  die  Staatsmänner 
schmähe,  wird  zurückgewiesen  durch  die  Erinnerung,  dass  es  sich 
jetzt  darum  gar  nicht  handle,  ob  ihr  Wirken  Lob  oder  Tadel  ver- 

")  Aehulich  Virtlieilt  ZcUer.  im  Archiv  f.  Gesch.  d.  l'hilos.  1  418  und 
jetzt  Ph.  d.  Gr.  Ila^  542''. 


41-J 


P.  Natorp, 


4 


diene,  sondern  ol»  es  auf  Erkenntuiss  beruhe  oder  nicht  (93  AB). 
Daher  ist  auch  das  diesen  Hochweisen  gespendete  Lob  genau  so 
ironisch  zu  nehmen '■)  wie  schon  im  Protagoras.  oder  wie  im  Mcnon 
selbst  die  Inschutznahme  der  Sophisten  (wo  man  z.  B.  die  Betonung 
des  Gelderwerbs,  den  sie  ihier  ^'ortreli'lichkeit  danken,  nicht  über- 
sehen wird).  Dass  sie  tüchtig  gewesen,  lässt  sich  Sokrates  von 
Anytos  bejahen;  er  selbst  will  es  damit  gewiss  nicht  in  jedem 
Sinne  behauptet  haben.  Ernsthalt  möchte  ich  wenigstens  nur  die 
allgemeine  Anerkennujig  nehmen:  dass  es  wahrhaft  tüchtige  Staats- 
männer gibt  und  gab  (Men.  93  A):  doch  das  erkennt  fast''')  mit 
denselben  Worten  auch  der  Ciorgias  au  (526  A).  Aber  freilich  ■ 
fasst  er  die  Frage  weit  schärfer  im  ethischen  Sinne,  und  erklärt 
nach  diesem  Maassstab  die  Miltiades,  Themistokles,  Kimon,  Perikles 
grade/Ai  für  schlechte  Staatsmänner;  den  einzigen  Aristeides  nimmt 
er  aus,  der  im  Menon,  da  es  sich  bloss  um  die  Lehrbarkeit  han- 
delte, natürlich  ganz  auf  gleicher  Linie  mit  den  Uebrigen  behan- 
delt ^Y erden  durfte;  denn  aus  Erkenntniss  handelte  er  so  wenig 
wie  die  Andern'^).  Läge  ein  Widerspruch  vor  —  direct  kann  er 
nicht  vorliegen,  weil  der  Fragepunkt  ein  anderer  ist  —  so  wäre 
er  zu  erklären,  niclit  aus  einer  vom  Gorgias  zum  Menon  milder 
gewordenen  Stimmung,  sondern  daraus,  dass  Piaton  im  Gorgias  die 
Sache  ernstlicher  nimmt  und,  weil  in  andrer  Absicht,  auch  mit 
andern  Augen  ansieht.  Dass  von  einer  Milderung  des  Urtheils 
keine  Rede  sein  kann,  bestätigt  ja  doch  die  Yergleichung  späterer 
Schriften,  namentlich  des  Staates.    Mau  muss  wohl  folgern:  da  die. 


'^)  Vgl.  Z.B.  tt4  B  lUrjf/.ÄEa,  oörcu  [j.cYC(Äorp£7:iö{  a&'iöv  ävopa  gegen  H9  B 
oüx  a'pa  aocp^a  ~vn  oüoe  so'-poi  ovte;  ot  -otoJTOt  ä'vope;  r^yo'jvro  Tai;  -'jAeoiv  und 
was  folgt.     Vgl.   Prot.  319  E  (tJo'ftÖTaToi  xai  ötpiatot). 

'■')  Ich  übersehe  ni'unlich  nicht,  dass  Piaton  auch  in  diesem  Emlurtheil 
keinen  lebenden  Staatsmann  als  tüchtig  anzuerkennen  scheint,  wie  503  B, 
■)'2l  D. 

'^)  An)  wenigsten  kann  ich  in  der  Auswahl  der  Namen  im  Menon  eine 
Zurückbeziehung  auf  den  Gorgias  erkennen.  Perikles  war  schon  im  Prota- 
goras.  Thukydides  und  .Aristeides  im  Laches  unter  demselben  Gesiclitspunkt 
behandelt  worden;  hinzugekommen  ist  Themistokles.  Der  Gesichtspunkt  des 
Kallikles  (Gorg.  503  C)  ist  ein  ganz  anderer;  Aristeides  wird  von  ihm  nicht 
(sondern  erst  526  B  von  Sokrates)  genannt,  Thukydides  fehlt  ganz. 


Ueber  Gruudabsicht  und  Eutstehungszeit  von  Piatons  Gorgias.       413 

Behandlung  im  Meuon  übereinstimmt  mit  der  Apologie  und  dem 
Protagoras,  das  schärfere  Urtheil  des  Gorgias  dagegen  mit  un- 
zweifelhaft späteren  Schriften,  so  wird  Menon  nicht  zwischen  den 
Gorgias  und  diese  späteren  Schriften,  sondern  zwischen  Protagoras 
und  Gorgias  zu  setzen  sein. 

Ich  schliesse:  sind  Protagoras,  Laches,  Charmides,  Menon 
später  geschrieben  als  die  Apologie  nebst  Kriton;  ist  insbesondere 
der  Menon,  wegen  der  Anspielung  auf  das  spätere  Schicksal  des 
Anytos  und  der  Erwähnung  der  unrechtlichen  Bereicherung  des 
Ismenias,  frühstens  395,  aber  schwerlich  auch  viel  später  geschrie- 
i  ben,  so  erhalten  wir  für  den  Gorgias,  der  alle  diese  Schriften  vor- 
aussetzt, zunächst  einen  terminus  post  quem.  Den  terminus  ante 
quem  liefert  der  Theätet,  wenn  derselbe,  wie  ich  mit  Zeller  an- 
nehme, gegen  Ende  der  90er  Jahre  verfasst  ist.  Noch  zwischen 
Gorgias  und  Theätet  würde  ich  den  Phädrus  setzen  aus  Gründen, 
die  nur  zum  kleinsten  Theile  im  Obigen  angedeutet  werden  konnten, 
übrigens  an  anderem  Orte  zu  entwickeln  sind.  Um  für  Phädrus  und 
Theätet,  insbesondere  für  das  von  beiden  vorausgesetzte  wach- 
sende Ansehen  des  platonischen  Kreises  Zeit  zu  lassen, 
wird  man  gut  thun.  den  Gorgias  möglichst  nahe  an  den  Menon 
heranzurücken. 

Nur  wenige  Forscher  haben  dem  Gorgias  einen  wesentlich 
späteren  Termin  anweisen  wollen.  Dass  Beziehungen  auf  die 
syrakusischen  Erlebnisse  vorlägen,  wie  Schleiermacher  annahm,  wird 
heute  Wühl  von  Niemand  mehr  festgehalten,  und  gar  in  Isokrates' 
Rede  an  Nikokles  die  „nächste  Replik"  auf  den  Gorgias  zu  er- 
kennen (Teichmüller,  Lit.  Fehden  II,  18 f.),  wird  wohl  manchem 
Andern  ebensowenig  wie  mir  geliiigen. 


XXII. 

Zur  Psychologie  der  Scliolastik. 


Von 

H.  Siebeck. 

7. 

Alhaceii. 

Aviceniia"s  Yurherrschaft  in  der  Psychologie  reicht  bis  in  die 
Mitte  des  dreizehnten  Jahrliunderts.  Sie  war  ivcine  ganz  unbe- 
schränkte, da  gleichzeitig  mit  seinen  Schriften  noch  andre  Quellen 
der  Erkenutniss  sich  aufthaten.  Sie  kamen  zum  Theil  fdeichfalls 
aus  dem  Arabischen'):  vor  allem  aber  kommt  in  Betracht,  dass 
die  Thätigkeit  der  Uebersetzer  schon  seit  dem  Ende  des  z\Yölften 
Jalirhunderts  sich  auch  auf  die  griechischen  Originalschriften  des 
Aristoteles  zu  richten  begann  und  hauptsächlich  die  der  ]S'atur- 
wissenschaft  und  Psychologie  gewidmeten  Werke  betraf.  Aristoteles, 
der  noch  bei  Wilhelm  von  Couches  kaum  genannt  wird,  ist  seit 
etwa  1240  in  seiner  Bedeutung  als  Hauptquelle  i'iir  Thatsachen- 
material  der  innern  und  äussern  Erfahrung  unbestritten  anerkannt'"'). 
Etwa  1269  ferner  übersetzte  Witelo  aus  dem  Arabischen  die  Optik 
des  Alhaceir')  und  brachte  damit  ein  ^Verk  heriilier,  welches 
ganz  besonders  dazu  beigetragen  hat.  (his  Interesse  Air  die  mathe- 
matisch-mechanischen Probleme  in  Verbindung  mit  psychologischen 

')  sei  die  reborset/.iingeii  der  Schriften  de  pliintis  nnd  nninentürli  de  motu 
cordis.     Jourdain   JOS. 

■)  s.  ebd.  26 tV.  \Vii>.tent'eld.  Abli.  der  k.  lies,  der  Wisseusch.  zu  Göttingeu 
1877,  91.  96. 

■')  Wiistenfeld   111. 


Zur  Psychologie  der  Scholastik.  415 

Fragen  rege  zu  erhalten.  Denn  neben  den  matliematischen  und 
physikalischen  hat  es  namentlich  auch  die  psychologischen 
Probleme  des  Sehens  mit  Sorgfalt  behandelt.  Liegt  Alhacen's  Ver- 
ilienst  auf  diesem  Gebiete  nun  auch  mehr  in  der  präciseren  For- 
iiuilirung  als  in  der  wirklichen  Aufhellung  der  Fragen,  so  fehlt  es 
hei  ihm  doch  auch  hier  nicht  ganz  an  sachgemässen  Einblicken 
und  Aufschlüssen. 

Der  Akt  des    Sehens   setzt   sich,    nach  Alhacen'),    zusammen 
US   der  "SVechselwirkung  von  Licht   und   Gesichtssinn,    von   denen 
jenes  den  aktiven,   dieser  den  passiven  Beitrag  liefert.     Das  Licht 
ist,   wie  er  an   andrer  Stelle')  sagt,   eine  wesentliche  Eigenschaft 
au  jedem  selbstleuchtenden  Körper;    mit  ihm  aber  verbindet  sich 
beim  Ausstrahlen   auf  das  Objekt  die  „Form"   der  Farbe,    sodass 
Licht  und  Farbe  immer  zusammen  sich  vom  Gegenstand  auf  das 
Organ  des  Gesichtssinnes  übertragen.     Das  letztere  nimmt  sie  nun 
aber  nicht  in  der  Weise  auf,  wie   dies   bei  der  Luft  und  andern 
empfindungslosen  durchsichtigen  Körpern  der  Fall  ist,  sondern  die 
Aufnahme  wird  hier  vermöge  der  besondern  Einrichtung  zur  Em- 
pfind ung'^).     Darin  ferner  liegt  es  begründet,  dass  die  hierbei  im 
Organ  stattfindende  Veränderung  keine  bleibende  ist  und  nach  dem 
Aufhören  der  objektiven  Einwirkung  erlischt,  wie  ja  auch  die  mit- 
unter auftretenden  farbigen  Nachbilder  bald   abklingen.     Die  phy- 
siologischen Bedingungen  des  Sehens  sind  bei  Alhacen  die  altüber- 
lieferten.     Die  Form  (Species)  des  Geseheneu   geht  (mit  Hilfe  des 
Seh-Pneuma)   von  der  Oberfläche  der  Krystallinse  jedes  Auges  in 
den  zugehörigen  Ast  des  Sehnerven  über,  um  an  dem  Vereinigungs- 
puukte  derselben   im  gemeinsamen  Nerven    zu  einem  Eindrucke 
zu   verschmelzen,    und   als  solcher   dann   weiter  zum    eigentlichen 
Prinzipe    der    Empfindung    (im   Gehirn)    sich    fortleiten    zu    lassen 
(Opt.  II,  IG)  0-     Origineller  ist  die  Ansicht,  die  hierauf  folgt,  dass 

*)  Opticae  thesaurus  (ed.  Bas.  1572)  I,  5. 

^)  Abhandlung  über  das  Licht  von  Ibnal-llaitau  (Alhacen)  übs.  v.  J.  Baar- 
mann  (Zeitschr.  d.  deutschen  morgenländischen  Gesellsch.  Bd.  SC)  S.  193. 

'')  quatenns  est  seutiens.     Opt.  I.  30. 

')  Hierin  soll  es  (nach  11,  IG)  auch  begründet  sein,  dass  dem  Empfindungs- 
princip  zugleich  mit  der  ihm  zugeleiteten  Form  des  Objekts  auih  der  Ort  des 


41ß  H.  Sieherk, 

die  Qualität  des  passiven  Empfindens  von  Seiten  des  Organs  zur 
Gattung  der  Unlust  (ex  genere  doloris)  gehöre;  nur  werde  sie, 
weil  sie  nicht  mit  einer  Alteration  des  Organs  verbunden  sei,  ge- 
wöhnlicii  nicht  als  solche  aufgefasst.  Nur  bei  stärkeren  Reizen 
durch  blendendes  Licht  mache  dieser  Charakter  des  Vorganges  sich 
als  solcher  kenntlich  (ebd.  26  f.).  ip 

Für  den  Inhalt  des  Gesehenen  kommt,  wie  Alhacen  weiter 
lehrt,  der  Unterschied  in  Iktracht,  ob  man  es  mit  einem  ober- 
flächlichen oder  einem  bestimmten  Erfassen-)  zu  thun  hat.  Beim 
wirklichen  Anschauen  rückt  das  Auge  durch  seine  Bewegung  sich 
das  Bild  des  Objektes  in  die  Mitte;  grössere  Objekte  kommen 
daher  nur  durch  beständiges  Fortrücken  der  Sehaxe  zur  vollstän- 
digen Wahrnehmung;  zu  kleine  dagegen  bereiten  dem  Sehen  Schwie- 
rigkeit, da  ihr  Bild  nur  einen  Punkt  im  Organ  ausmacht,  während 
zum  Erfassen  von  Seiten  des  letzteren  wegen  seiner  begrenzten 
Empfindungsfähigkeit  immer  ein  bestimmtes  Verhältniss  der  Grösse 
des  Bildes  zu  der  des  Organs^)  erforderlich  ist  (I,  40).  Bei  hin- 
reichender Grösse  aber  tritt  zu  der  Wirkung  des  Emphndungsver- 
mögens  die  der  unterscheidenden  Kraft  (distinctiva)  hinzu:  das 
Prinzip  der  Empfindung  (ultimum  sentieus)'")  kann  nicht  umhin, 
an  der  ihm  zugeleiteten  Form  des  Objekts  zunächst  die  Farbe  des 
Gegenstandes  von  der  Beleuchtung  zu  unterscheiden,  weil  das  Licht 
dem  Grade  nach  wechselt,  während  die  Farbe  dieselbe  bleibt.  Es 
unterscheidet  ausserdem  Lage  und  Ordnung  der  Farbe,  sowie  über- 
haupt den  Inhalt  und  die  Art  des  am  Objekt  befindlichen  Neben- 
einander der  Theile,  sowie  deren  Aehnlichkeit  und  Verschiedenheit. 
Man  muss  jedoch  in  Hinsicht  alles  dessen  den  Akt  des  erstmaligen 
Erwerbens  beim  jeweiligen  ersten  Erblicken  des  Gegenstandes  wohl 
unterscheiden  von  dem  nachherigen  stetigen   Haben   und  Besitzen 


Sehorgans  kund  wird,  weil  es  die  Form  nicht  ohne  das  Innewerden  des  Ortes, 
von  dem  aus  es  diesellie  erhält,  auffassen  kann. 

'-)  couiprehensio  superficialis  oder  certificata,  adspectus  oder  intuitio  (ob- 
tutus).  Die  optische  Bestimmung  dieses  Unterschiedes  fällt  im  Wesentlichen 
mit  der  jetzt  gebräuchlichen  Unterscheidung  des  indirekten  unti  direkten 
Sehens  zusammen  (II,  64 f.). 

^)  quantitas  sensibilis  rcspeclu  tutius  apud  totum  membrum. 

'"^)  Das  aristotelische  Trpüjxov  «{aÖTjTTjpiov.    s.  Gesch.  d.  Psychol.  Ib,  S.  45. 


Zur  Psychologie  der  Scholastik.  417 

flieser  Inhalte  von  Seiten  der  Seele  (quicscit  in  anima).  Denn 
wenn  letzteres  eingetreten  ist,  bedarf  es  jener  ersten  die  einzelnen 
Momente  als  solche  erst  unterscheidenden  und  aneignenden  Thätig- 
keit  nicht  mehr.  Das  Bewusstsein  ihres  Vorhandenseins  vollzieht 
sich  dann  (modern  ausgedrückt)  in  jedem  einzelnen  Wiederholungs- 
l'alle  vermittelst  der  zu  der  Empfindung  selbst  von  innen  herzu- 
treteuden  psychischen  Ergänzung  durch  das  nun  bereits  vorhandene 
l'rinnerungs-  und  Anschauungsbild  (II,  16).  Die  „Intentionen", 
welche  auf  die  oben  angeführte  Weise  vom  Gesichtsinn  selbst  am 
Objekt  erkannt  werden,  sind  ausser  Licht,  Farbe  und  Lage  noch: 
Entfernung,  Körperlichkeit,  Gestalt,  Grösse,  Kontinuität,  Diskretion, 
Zahl,  Bewegung.  Raum,  Rauheit,  Glätte,  Durchsichtigkeit,  Dicht- 
heit, Schatten,  Dunkelheit,  Schönheit,  Hässlichkeit,  Aehnlichkeit 
und  Verschiedenheit.  Alle  andern  Qualitäten  sind  entweder  einer 
von  diesen  untergeordnet  (wie  Ordnung  unter  Lage),  oder  aus 
mehreren  (z.  B.  aus  Farbe  und  Bewegung)  zusammengesetzt 
(ebd.  15). 

Bei  dieser  zusammengewürfelten  Aufzählung  des  Verschiedeneu 
hat  es  jedoch  Alhacen  keineswegs  bewenden  lassen.  In  dem  Zu- 
standekommen jeder  einzelnen  dieser  Litentionen  erblickt  er  aus- 
drücklich ein  specielles  psychologisches  Problem,  wenn  er  auch 
noch  nicht  dazu  kommt,  sie  alle  demgemäss  zu  behandeln.  Ueber- 
gang  aber  zu  dieser  Seite  der  Forschung  bietet  ihm  die  klare  Ein- 
sicht in  die  Thatsache,  dass  im  Vorgange  des  Sehens  selbst  ausser 
dem  rein  Empfindungsmässigen  immer  schon  eine  geistige  Thätig- 
keit  mitwirkt,  deren  Unterschied  von  jenem  zugleich  mit  dem  An- 
theile,  den  sie  an  dem  Resultate  des  ganzen  Vorganges  hat,  sich 
genauer  ermitteln  lässt.  Den  Beweis  hierfür  giebt  er  im  Anschluss 
an  die  Annahme  von  den  „Formen",  d.  h.  von  den  intentionalen 
Species")  der  Empfindung.  Dass  z.  B.  die  Wahrnehmung  der 
Aehnlichkeit  zweier  Dinge  nicht  auf  Rechnung  der  Empfindung  als 
solcher  kommt,  erhellt,  wie  er  ausführt,  aus  dem  Umstände,  dass 
zwar  von  jedem  der  Objekte  eine  solche  „Form"  in  das  Organ 
kommt,  von  einer  „Form"  der  Aehnlichkeit  aber  dabei  nicht  ge- 


")  s.  ebd.  Ib,  S.  432f. 


41«  H.  Sieheok, 

redet  werden  kann.  Die  Vorstellung  der  Aehnlichkeit  entspringt 
vielmehr  erst  ans  der  Vergleichung  jener  beiden  Formen,  nicht 
also  aus  der  Empfindung  der  Formen  selbst  (II.  10).  Von  der 
Empfindung  ist  ferner  die  An-  und  Wiedererkennung  (cognitio)  zu 
unterscheiden,  die  ja  mit  dem  AViedererblicken  nicht  immer 
.schon  von  selbst  sich  einstellt.  Wo  sie  aber  stattfindet,  wirkt 
gleichfalls  ausser  der  Empfindung  schon  das  Denken  (ratiocinatio), 
sofern  dabei  eine  „Assimilation"  (Apperception)  der  Form  des  Ge- 
sehenen mit  der  des  Erinnerungsbildes  eintritt  (ebd.  11).  Die 
Cognition  der  Art  oder  Gattung  kommt  von  der  Assimilation  des 
Objekts  mit  andern  gleichartigen  Dingen  (17),  und  zwar  unter 
Mitwirkung  der  Unterscheidungskraft,  die.  sobald  der  Gesiclitsinn 
etwas  erfa.sst  hat,  sogleich  nach  demjenigen  sucht,  was  in  dem 
angesammelten  Vorrathe  von  An.schauungsbildern  (in  imaginatione) 
diesem  iihnlich  ist,  ein  Vorgang  bei  welchem  in  Folge  seiner 
Schnelligkeit  auch  ein  Vorgreifen,  mithiu  ein  Irrthum  sich  ein- 
stellen kann  (ebd.  68).  Die  wesentliche  Verschiedenheit  der  Cogni- 
tion von  der  Empfindung  zeigt  sich  namentlich  darin,  dass  sie  bei 
bereits  früher  gesehenen  Objekten  schon  „durch  Zeichen"  (per 
Signum),  d.  h.  schon  auf  das  Hervortreten  einiger  hervorstechender 
INIerkmale  erfolgt.  Die  Empfindung  wird  demnach  durch  die  Cogni- 
tion ergänzt  (completur),  und  bei  wiederholter  Wahrnehmung  des 
Objektes  geschieht  überhaupt  der  Wahrnehmungsakt  wesentlich  in 
der  Form  der  Cognition ,  wenngleich  das  -Spezifische  dieses  Unter- 
schiedes von  dem  ursprünglichen  Empfindungsvorgang  nicht  mit 
zum  Bewusstsein  kommt  (II.  24).  Nach  alledem  setzt  sich  der 
vullständige  Akt  der  A\  alirnehmung  in  der  Regel  zusammen  aus 
Empfindung.  Cognition  und  Unterscheidung  (ebd.  12). 

Bemerkenswerth  ist  in  diesen  Erörterungen  weiter  namentlich 
die  eingehende  Art.  in  welcher  Alhacen.  \\ie  schon  aus  dem  Vor- 
stehenden ersichtlich  ist.  auf  die  Wichtigkeit  unbewusster  oder 
halbbewusster  geistiger  Akte  aufmerksam  macht,  die  im  Erkenut- 
ni.ssprozesse  als  unmerkliche,  aber  nichtsdestoweniger  unvermeid- 
liche und  nothwendige  Momente  mit  unterlaufen.  Dass  sie  ge- 
wöhnlich unbemerkt  bleiben,  sagt  er.  liege  an  der  Schnelligkeit, 
mit  welcher  der  Verstand  (ratio)  und  die  Urtheilskraft   dabei   ar- 


Zur  Psychologie  der  Scholastik.  419 

beiteii,  und  sei  daher  nicht  nur  beim  sinnlichen  Wahrnehmen, 
sondern  auch  beim  reinen  Denken  der  Fall,  wobei  der  Schluss  aus 
Gegebenem  oft  ohne  weiteres,  d.  h.  ohne  dass  die  Prämissen  ge- 
sondert in  das  Rewusstsein  treten,  sich  vollziehe.  So  in  der  Regel 
beim  wortlosen  Denken,  während  beim  lauten  Ueberlegen  und 
Nachdenken  mit  der  Reihe  der  Worte  auch  die  einzelnen  Gedanken 
in  der  entsprechenden  Ordnung  zum  Bewusstsein  kommen.  Des- 
wegen halte  man  sogar  manche  Vorstellungen,  deren  Wahrheit  der 
Verstand  in  der  That  nur  durch  Begründung  (per  rationem)  ein- 
sieht, für  oberste  (axiomatische)  Inhalte,  wie  u.  a.  den  Satz,  dass 
das  Ganze  orrösser  ist  als  der  Theil.  der  in  Wahrheit  nur  durch 
begründende  gegenseitige  Beziehung  der  Begriffe  des  Ganzen  und 
des  Theiles,  sowie  des  Grösseren  und  des  Kleineren  zu  Stande 
komme  (II,  12).  Ueberall,  heisst  es  weiter,  wo  der  Mensch  ohne 
Schwiei'igkeit  einen  Zusammenhang  erfasst,  bemerkt  er  nicht,  dass 
er  schliesst.  Schon  das  Kind  vollzieht  einen  unbewussten  Schluss, 
wenn  es  von  zwei  vorgehaltenen  Aepfeln  den  schöneren  wählt  (13). 

Von  den  Einzelproblemen,  welche  für  den  Vorgang  des  Sehens 
in  Betracht  kommen,  werden  von  Alhacen  im  Besondern  das  Sehen 
der  Entfernung,  der  Grösse,  des  Ganzen,  der  räumlichen  Erstreckung, 
der  Bewegung  und  Ruhe,  sowie  der  Qualität  als  solcher  behandelt. 

1)  Zu  der  Frage,  wie  Entfernung  gesehen  wird,  ist  zuerst  zu 
bedenken,  dass  das  Ausbleiben  der  Berührung  noch  nicht  identisch 
Ist  mit  der  Erfassung  der  Distanz,  sowie  dass  Wahrnehmung  des 
Gegen überliegens  noch  keine  Schätzung  der  Grösse  des  Zwischen- 
raumes  enthält  (II,  22).  Allerdings  aber  ruht  das  Sehen  der  Ent- 
fernung auf  dem  Bewusstsein.  dass  das  Objekt  ausser  uns  ist,  und 
gründet  sich  auf  ein  hiervon  bedingtes  Urtheil.  Aus  dem  Um- 
stände, dass  das  Objekt  mit  geöifneteu  Augen  erblickt  wird,  bei 
geschlossenen  aber  verschwindet,  entnimmt  der  Intellekt,  dass  es 
nicht  innerhalb  sondern  ausserhalb  des  Gesichtsinnes  sich  beiinde, 
und  die  Verallgemeineruno  dieser  Einsicht  wird  ihm  von  selbst  zu 
einer  ruhenden  und  meist  unbewussten,  aber  überall  wirksamen 
Vorstellung  (24).  Die  Schätzung  der  Entfernung  ist  nun  weiter 
im  Wesentlichen  ein  Vergleichen:  die  Unterscheidungskraft  setzt 
die  gesehene  Strecke  in   Beziehung-  zu   einer  andern,    deren  (irösse 


420 


IJ.  Sieheek, 


bereits  beliannt  ist.  oder  /.u  ilein  gieichzeititi'  mit  walirgenomineneii 
Mas.sstal)c.  Ein  unmittelbares  Schätzen  diircii  den  Gesichtssinn  selbst 
findet  nur  da  statt,  wo  eine  Reihe  stetig  aneinander  grenzender 
Körper  zu  dem  in  massigem  Abstände  von  dem  Gesicht  befind- 
lichen Gegenstande  hinführt'').  Nach  Alhacen's  Ansicht  wird  also 
die  Grösse  der  Entfernung  von  dem  Gesichtssinn  nur  dann  direkt 
wahrgenommen,  wenn  es  sich  nicht  um  leere  sondern  um  erfüllte 
Strecken  handelt,  weil  in  diesem  Falle  das  Auge  die  Grösse  der 
einzelnen  Körper  für  sich  schätzt,  also  gleichsam  addirt'^).  Wo 
diese  Hilfe  fehlt,  findet  seiner  Ansicht  nach  nur  eine  unbestimmte 
Schätzung  (aestimatio)  durch  Vergleichung  mit  ähnlichen  bereits 
gesehenen  Strecken  statt,  auf  Grund  einer  Verstandesoperation,  bei 
der  auch  Irrthum  sich  einstellen  kann  (a.  a.  0.). 

2)  Das  Erfassen  der  Entfernung  verhilft  w^eiter  zur  Bestimmung 
der  Grösse  des  Gegenstandes.  Sie  wird  ermittelt  durch  die  Grösse 
des  Gesichtswinkels  in  Verbindung  mit  der  Länge  der  Visirlinie. 
Das  gegenseitige  Verhalten  dieser  beiden  Faktoren  bewirkt  nämlich 
die  Einsicht,  dass  mit  der  Zu-  und  Abnahme  der  Entfernung  die 
Ab-  und  Zunahme  der  (scheinbaren)  Grösse  des  Gesehenen  Hand 
in  Hand  geht,  daher  zur  Bestimmung  der  wahren  Grösse  nicht  nur 
die  Grösse  der  (am  Objekt  befindlichen)  Basis  des  Strahleukegels, 
sondern  auch  die  Lange  der  Entfernung  in  Betracht  genommen 
wird  (II,  37). 

3)  Die  Wahrnehmung  des  Ortes  beruht  auf  der  ^'erbindung 
des  Gegenstandes  mit  dem  Auge  vermittelst  der  Strahlen.  Da  das 
Licht  mit  der  Farbe  in  geradlinigen  Strahlen  zum  Auge  gelangt 
und  hier  die  Form  (Species)  des  Dinges  hervorbringt"),  so  nimmt 
die  unterscheidende   Kraft    nicht    nur  diese  letztere  sondern   auch 


'-)  II,  "2."),  S.  41:  NuUu  tiuuutitas  rcinotiuiii»  vi.siliiliiim  coinprolieiulilur  per 
sensuin  visus  vera  comprehciisione,  ni.si  veinotione.s  visibiliuin  quonim  remotio 
respicit  corpora  oidinata  et  contiiuiutu,   (juoniin  romotio   sirnul  est    iiiecliocris. 

'^)  Visus  .  .  .  certificat  mensiiras  illonim  corporuin  ut  se  consequuntur. 
ebil.  Alh.  übersieht,  dass  die  Gn'isse  iler  Erstreckung  eines  Körpers  zu  ihrer 
Wahrnehmung  sellist  schon  die  Fertigkeit  iui  Schätzen  von  Kntfernungen 
voraussetzt. 

'*)  .\ldi.  lil..  d.  Licht  a.  a.  0.  S.  213.     Opt.  II,  27.  S.  13. 


Zur  Psychologie  der  Sdiolastik.  421 

den  Theil  des  Organs  wahr,  in  welchem  die  Form  .sich  befindet'''), 
und  auf  Grund  dessen  weiter  unter  Vermittelung  des  Strahlenkegels 
ilen  wirklichen  Ort  des  Gegenstandes  selbst,  wozu  nur  als  Vor- 
bedingung noch  erfordert  wird,  dass  die  Schätzung  der  Entfernung 
bereits  geläufig  ist.  Von  diesen  Annahmen  aus  wird  dann  von 
Alhacen  das  eigentliche  Problem  der  Lokalisation  und  der  Lokal- 
j  zeichen  wenigstens  gestreift.  Lage  und  Ordnung  der  an  der  Ober- 
fläche zur  Unterscheidung  kommenden  Theile  sollen  sich  dadurch 
ergeben,  dass  die  unterscheidende  Kraft  die  entsprechenden  Theile 
des  Sehorgans  auffasst,  auf  welche  die  „Form"  des  Dinges  mit  den 
zu  ihr  gehörigen,  dem  Objekt  selbst  gegenbildlichen  Theilen  fällt; 
das  unterscheidende  Prinzip  vermag  die  Ordnung  der  Theile  am 
Objekt  aus  der  qualitativen  Verschiedenheit  an  den  Theilen  der  Form 
abzulesen  und  z.  B.  die  Lage  nach  rechts  oder  links  aus  der  Verglei- 
chung  dieser  verschiedenen  Theile  abzunehmen  (Opt.  II,  30.  S.  47). 

4)  Etwas  näher  kommt  Alhacen  dem  Stande  des  wirklichen 
Problems  bei  der  Frage,  wie  die  Körperlichkeit  (Tiefendimension) 
gesellen  wird.  „Jeder  Körper,  an  welchem  der  Gesichtsinn  zwei 
sich  schneidende  Oberflächen  erfasst,  wird  in  seiner  Körperlichkeit 
wahrgenommen"  (II,  31.  S.  48).  Convexität  als  Vorstellung  besteht 
in  der  A^'ahrnehmung,  dass  die  mittleren  Theile  der  Kugelober- 
fläche dem  Auge  näher,  die  an  den  Grenzen  ihm  ferner  liegen, 
oder  auch  „aus  der  ungleichen  Erhabenheit  der  Theile"  (33.  S.  49). 

5)  Besser  als  mit  diesen  Fragen,  die  ja  z.  Th,  noch  heute  zu 
den  umstrittenen  gehören,  gelingt  es  Alhacen  mit  der  Erklärung 
des  Sehens  von  Bewegung  und  Ruhe.  Grundbedingung  dafür 
ist  die  Möglichkeit  der  Vergleichuug  des  Bewegten  mit  einem  Un- 
bewegten, in  Bezug  auf  welches  das  erstere  seine  Lage  stetig  ver- 
ändert. iJas  Gesicht  erfasst  dann  die  Bewegung  in  und  mit  der 
Wahrnehmung  der  (stetig  andauernden)  Verschiedenheit  der  Lage, 
in  welcher  sich  das  eine  in  Rücksicht  des  andern  befindet"').    Der 


''•)  Cum  forma  rei  visae  pervenerit  in  visum,  statiin  senfiens  sentiet  forraain 
et  sentiet  partem  visus,  in  quam  pervenit  forma  et  ^5entit  verticatiouem  per 
quam  extemlitur  forma  in  corpore  membri  sentieutis.     Opt.  a.  a.  0. 

""')  Jlotus  comprehenditur  a  visu  ex  compreliensione  diversitatis  situs  rei 
visae  motae  respectu  alterius.     Opt.  II,  41». 


m 


422  H.  Siebeck, 

riiistaml,  tlass  auch  das  Bild  des  Bewegten  im  AuL^e  sich  bewegt, 
ist.  wie  ausdriicklicli  l)OiTioi-l<t  wird,  zur  Erklärung  der  Bewegungs- 
wahrnehmung unzureichend.  Denn  in  Folge  der  Bewegung  des 
Organs  bewege  sich  mitunter  auch  die  „Form"  oder  das  Bild  des 
Olijekts.  auch  dann,  wenn  letzteres  selbst  sowohl  thatsächlich  wie 
auch  fi'ir  die  Wahrnehmung  in  Ruhe  bleibe.  Zur  Wahrnehmung 
der  Bewegung  als  solcher  gehört  daher  (nach  II.  49),  da^s  sowohl  A; 
in  der  Wirklichkeit,  wie  in  deren  subjektivem  Gegenl>ilde  (im 
Organ),  das  sich  Abheben  eines  Bewegten  gegenüber  einem  Kuhenden,  japck 
d.  h.  eine  stetige  Lagenveränderung  von  jenem  in  Bezug  auf  dieses 
stattfinde.  Wahrnehmung  der  Ruhe  gründet  sich  darauf,  dass  der 
Gegenstand  Ort  und  Lage  innerJialb  einer  merklichen  Zeit  unver- 
lindert  behält  (ebd.  52). 

6)  Die  Wahrnehmung  sinnlicher  Qualitäten  im  Allgemeinen 
beruht  nach  Alhacen  auf  dem  Unterschiede  des  direkten  und  in- 
direkten Sehens,  und  in  Verbindung  damit  auf  einer  successiven 
Thätigkeit  in  der  Funktion  des  Auges  und  der  damit  parallel 
gehenden  L^nterscheidung  oder  Vergleichung.  Die  erste  Wahrneh- 
mung des  Objekts  lässt  einen  bestimmten  Punkt  desselben  direkt 
(mauifestior),  die  übrigen  indirekt  erblickt  werden.  Indem  nun 
beim  Fortrücken  der  Visirlinie  der  Reihe  nach  jeder  einzelne  dieser 
Punkte  direkt  und  alle  isbrigen  zusammen  wieder  indirekt  zur 
Wahrnehmung  kommen,  treten  die  Verschiedenheiten  innerhalb 
des  Gegenstandes  in  Bezug  auf  Beleuchtung,  Farl)e,  Grö.sse  u.  s.  w. 
succe.ssiv  für  die  AVahrnehmung  heraus  (II.  (vi).  Aelinlichkeit 
ergiebt  sich  auf  Grund  der  mit  der  AVahrnehmung  sich  einstellenden 
Unterscheidung  und  Vergleichung  (61).  Die  Wahrnehmung  der 
Schönheit  beruht  auf  der  durch  den  Gesichtssinn  erfolgenden  Zu- 
sammenfassung der  verschiedenen  Theilformen  des  Ganzen  (59),  j ' 
daher  Schönheit  nur  für  die  Anschauung  besteht.  Die  Arten  der  |  ■ 
Schönheit  liegen  theils  schon  in  den  einzelnen  Foi'iuen  als  sulchen,  \m 
theils  in  der  Art  und  Weise  ihrer  Verbindung.  AVas  in  einer  Be- 
ziehung an  und  für  sich  Bedingung  der  Schönheit  ist,  kann  oft 
anderwärts  erst  in  der  A'erbindung  mit  anderem  diesen  Elfekt  er- 
zielen, wie  i)eini  Gesicht  z.  H.  zu  der  Rundung  noch  Zartheit  und 
Sanftheit  hinzutreten  muss.     Zur  Schönheit  gehört  Propui-tiun   und 


» 


Zur  Psychologie  der  Scholastik.  423 

Symmetrie,   um!  diese  erhält  das  Einzelne  nicht    mit  jedem  belie- 
bigen sondern  immer  nur  mit  bestimmten  andern  Momenten. 

7)  Resondere  Aufmerksamkeit  endlich  hat  Alhacen  den  Unter- 
schieden der  Zeitdauer  in  den  Vorgängen  des  Sehens  und  Auffassens 
gewidmet.  Man  erkennt  die  geschärfte  Beobachtung  des  Mathe- 
matikers auch  diesen  Verhältnissen  gegenüber,  wenngleich  natür- 
lich hier  noch  alle  Hilfsmittel  für  genauere  Messungen  fehlen.  Die 
Auffassung  von  Eindrücken,  die  uns  von  früher  her  geläufig  sind, 
Lteschieht.  wie  er  lehrt,  in  unmerklich  kleiner  Zeit.  Sind  sie  da- 
ii'gen  ungewohnt  oder  in  undeutlicher  Beleuchtung  u.  s.  w.,  so  ver- 
tliesst  eine  merkliche  Zeit  bis  zu  ihrer  Erkennung  (JI,  19).  üeber- 
haupt  ist  da  wo  eine  Auffassung  des  Neuen  vermittelst  eines  schon 
lickannten  stattfindet,  weniger  Zeit  erforderlich  als  da  wo  diese 
Unterstützung  fehlt  (71).  Dass  es  überhaupt  der  Zeit  zur  Auf- 
fassung namentlich  von  Farbequalitäten  bedaif,  beweist  der  roti- 
rende  Farbenkreisel,  dessen  Oberfläche  dem  Auge  nur  eine  Misch- 
farbe liietet,  da  sie  demself)en  wegen  der  schnellen  Bewegung  zur 
Erfassung  der  einzelnen  Farbenpunkte  keine  Zeit  lässt  (20).  Alha- 
cen weiss  auch  bereits,  dass  der  Augenblick  der  Reizung  des  Or- 
gans von  Seiten  des  äus.sei'n  Eindrucks  verschieden  ist  von  dem 
der  Erfassung  und  Apperceptiou  des  letzteren  als  eines  so  und  so 
liestimmten '').  Neben  den  naturphilosophischeu  Gründen  für  diese 
Thatsache")  weist  er  auch  hin  auf  die  Zeitstrecke,  welche  die  Fort- 
leitung des  Eindruckes  im  Nerven  in  Anspruch  nimmt''').  Im  AU- 
iiemeinen,  lehrt  er.  wird  die  Gattung  des  Eindruckes  schneller 
appercipirt  als  die  speziellen  oder  individuellen  Unterschiede  (72). 
Teberhaupt  aber  finden  in  der  Schnelligkeit  der  Auffassung  auch 
bei  gleichartigen  Vorgängen  je  nach  individuellen  Verschiedenheiten 


'')  11,21:  Instaiis  upiul  quod  couiprehensio  coloris  in  eo  quod  est  color 
-t  comprehousio  Incis  in  eo  quod  est  lux,  est  diversuin  ;il)  instanti  quod  est 
primum  instans,  in  quo  conlingit  superficiem  visus  aer  del'erens  Formuui. 

'^)  Das  Leiden  des  Orgaus  von  Seiten  des  Eindruckes  sei  eine  qualitative 
N'eränderiing  und  als  solche  ein  zeitlicher  Vorgang,     a.  a.  0. 

'9)  Wie  das  Licht  beim  Durchgange  durch  eine  Rühre,  so  braucht  die 
,Form"  des  Dinges  Zeit  bis  zur  Ankunft  bei  der  Höhlung  des  Nerven  für 
den  Gemeiusinn.     ebd. 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.    II.  "" 


424  ^-  Siebeck, 

der  Umstände  Unterschiede  statt.  Unter  verschieden  und  undeut- 
lich gesehenen  Objekten  wird  dasjenige  schneller  erkannt,  dessen 
Form  eigenartiger  ist  und  die  geringste  Aehnlichkeit  mit  andern 
Figuren  aufweist;  so  erkennt  man  in  einem  im  Garten  eiblickten 
Ruthen  schneller  die  Rose  als  in  einem  Eindrucke  des  Grünen  die 
Myrthe'").  || 

Die  Sinnestäuschungen  beim  Sehen  theilt  Älhacen  in  drei 
Klassen,  je  nachdem  sie  Sache  der  blossen  Empfindung  oder  des 
Wissens  (in  scientia)  oder  eines  unvermeidlichen  Schlusses  sind 
(III,  19).  Der  erste  dieser  Fälle  soll  beispielsweise  dann  vor- 
liegen, wenn  ein  Buntes  bei  schlechter  Beleuchtuns;  dunkel  er- 
scheint;  der  zweite  da  wo  man  eine  Person  nach  längerer  Abwe- 
senheit für  eine  andere  hält.  Auf  Schlüsse  zurückgeführt  werden 
namentlich  die  Scheinbewegungen:  Wenn  in  Wirklichkeit  die  Wolke, 
dem  Anschein  nach  aber  der  Mond  sich  bewegt,  so  beruht  dies 
zunächst  darauf,  dass  (s.  o.)  Bewegung  überhaupt  nur  auf  Grund 
von  Lageveränderung  des  einen  Objekts  in  Bezug  auf  ein  anderes 
wahrgenommen  wird.  Während  nun  bei  kleinen  und  vereinzelten 
Wolken  diese  Lageänderung  etwa  einem  Sterne  gegenüber  richtig 
bemerkt  wird,  muss,  wenn  der  Himmel  in  grösserer  Ausdehnung 
mit  zusammenhängenden  Wolken  bedeckt  ist,  diese  ihre  Eigenbe- 
wegung (zumal  bei  der  grossen  Entfernung)  unbemerkt  bleiben; 
da  aber  trotzdem  die  fortgehende  Distanzänderung  im  Verhältuiss 
zum  Monde  sich  zur  Wahrnehmung  bringt,  mithin  die  psycholo- 
gische Bedingung  für  das  Sehen  von  Bewegung  vorhanden  ist,  so 
wird  die  erscheinende  Bewegung  durch  einen  (unbewussteu)  Schluss 
dem  Monde  zugeschrieben  (III,  19). 

In  Bezug  auf  das  Gedächtniss  findet  sich  bei  Alhacen  noch 
die  Bemerkung,  dass  der  Zusammenhang  des  Einzelnen  mit  den 
dazu  gehörigen   andern   Vorstellungen   dem  Behalten   günstiger  ist, 


-<*)  Daraus  die  Regeln:  1)  Coraprehensio  speciei  (oder  iudividui)  paucae 
assimilationis  ad  alia  erit  velocior  comprehensione  speciei  muitae  assimilalionis. 
2)  Tempus  intuitionis  inteutionuin  (sc.  der  Species  intentiouaies)  visibilium 
divcrsatur  seciinditm  diversitafem  iuteutionam  infuitarum.  Der  umschriebene 
Kreis  z.  B.  wird  sclnieller  aufgefasst  als  die  eingeschriebene  vielseitige 
Figur. 


Zur  Psychologie  der  Scholastik.  425 

als  isolirte  Auffassung.  Dass  wieclevholte  Anschauungen  das  Ein- 
prägen befördern,  beruhe  darauf,  dass  mit  jeder  Wiederholung  mehr 
Theilvorstellungeu  von  der  Sache  zur  Auffassung  kommen;  das  Be- 
halten des  Theiles  werde  durch  die  Vollkommenheit  der  An- 
schauung des  Ganzen  selbst  gefestigt''). 


-')  Forma  verificata  et  certificata  est  inagis  fixa  in  aniuia  et  in  imaginatione 
quam  non  certificata.     II.  G(). 


29* 


XXIII. 

Der  Humanist  Theodor  Gaza  als  Pliilosopli. 

Nach  handscliriftlichen  Quellen  dargestellt 


von 


lilldwig  Stein  in  Zürich. 


I. 


Leben  und  philosophische  Schriften. 

yicht  blos  Bücher,  auch  Autoren  haben  ihre  Schicksale.  Nicht 
selten  begegnet  ganz  gediegenen  Schriftstellern  das  unverdiente 
Schicks;! I  der  Vergessenheit  anheim/Aifallen,  während  irgend  ein 
anderer  ihrer  Zeitgenossen  von  fragwürdiger  Befähigung  einen  un- 
gebührlich breiten  Platz  im  Gedenken  der  Nachwelt  einnimmt. 
Dieses  bedenkliche  Missverhältniss  ist  aber  noch  um  so  schlimmer, 
als  gerade  jene  Anspruchslosen,  die  l)ei  ihren  litterarischen  Leistun- 
gen ihre  Persönlichkeit  ganz  zurücktreten  lassen  und  darum  um 
so  grössere  Anerkennung  verdienten,  gewöhnlich  in  Vergessenheit 
zu  geratheu  pflegen,  während  die  zudringliche  Mittelmässigkeit,  die 
in  wenig  angebrachter  Dünkelhaftigkeit  ihre  persJinlichen  Lebens- 
verhältnisse in  die  litterarischen  Producte  hineinverflicht,  sich  in 
der  Litteraturgeschichte  behauptet. 

Ein  schlagendes  Beispiel  eines  solchen  augenfälligen  Missver- 
hältnisses bieten  die  beiden  zeitgenössischen  Humanisten  und  Re- 
naissance-Philosophen Georg  von  Trapezunt  und  Theodor  Gaza  dar, 
Ersterer  ein  bramarbasircnder  Pamphletär,  der  durch  eine  giftge- 
tränkte Feder  peinliches  Aufsehen  macht,  hat  in  den  HcUKlInichern 
der  Philosophiegeschichte  seine  feste  Stelle,  letzterer  ein  bescheiden- 


Der  Humanist  Theodor  Gaza  als  Philosoph.  427 

stiller,  vornehmdenkender  Schriftsteller  tritt  als  Philosuph  völlig  in 
den  Hintergrund.  Man  schätzt  Theodor  Gaza  als  Grammatiker 
und  Uebersetzer  aristotelischer  Schriften;  aber  keiner  von  den 
neueren  Historikern  der  Philosophie  vv'eiss  etwas  über  den  Philo- 
sophen Gaza  zu  berichten').  Und  doch  ragte  dieser  auch  als 
Philosoph  nicht  blos  über  seinen  Widerpart  Georg  von  Trapezunt, 
vielmehr  auch  über  alle  übrigen  zeitgenössischen  Byzantiner  —  Ge- 
mistos  Plethon  natürlich  ausgenommen  —  weit  hinaus.  Ja,  er  war 
im  15.  Jahihundert  der  einzige,  der  trotz  seines  geistlichen  Stan- 
des einen  reinen,  von  jeglichem  theologischen  Beigemisch 
völlig  freien  Aristotelismus  vertrat.  Allen  übrigen  Gegnern  Ple- 
thons,  und  an  ihrer  Spitze  dem  persönlich  verbitterten  und  fana- 
tisch verbohrten  Gennadius,  war  es  nicht  der  blosse  Philosoph 
Aristoteles,  um  dessen  Fahne  man  sich  schaarte,  sondern  vor  Allem 
der  kirchliche  Aristoteles  d.h.  der  von  der  mittelalterlichen  Re- 
ligionsphilosophie zurechtgestutzte  und  dogmatisch  umgemodelte 
Aristoteles,  dessen  Partei  man  mit  blinder  Glaubenswuth  ergriff. 
Man  hat  nämlich  bisher  nur  wenig  darauf  geachtet,  dass  jener  be- 
rühmte Streit  zwischen  den  Piatonikern  und  Aristotelikern  des 
15.  Jahrhunderts'') 5    <^ei"    'li«   Renaissance    der   Philosophie   tönend 


')  Erdmanu,  Orundriss  L  504  übergeht  ihn  ganz;  Heinze-Ueberweg,  Ge- 
schichte d.  Philos.  III  ^  13  und  Windelband,  Gesch.  d.  neueren  Philosophie  I, 
14  rühmen  nur  seine  Uebersetzungen  aristotelischer  Schriften. 

-)  Den  ersten  A^ersuch  einer  quellenmässigen  Darstellung  dieses  Streites 
machte  Boivin  le  Cadet.  Querelle  de  Philosophes  du  quinzieme  siede,  Memoire 
de  Tacademie  des  inscriptions  etc.,  Band  II,  Paris  1736,  p.  715  — 29.  Diese 
recht  mittelmässige  Leistung,  die  den  Kern  der  Frage  gar  nicht  trifft,  hat 
.solche  Anerkennung  gefunden,  dass  sie  zweimal  ins  Deutsche  übertragen 
wurde:  Acta  philosophorum  X,  537—79  mit  gcringwerthigen  Noten  versehen, 
sodann  Hissraans  Magazin  für  Philos.  L  4,  S.  217—42.  Viel  werthvoller  sind 
die  Ausführungen  Tiraboschis,  Storia  della  letteratura  italiana.  Vol.  N'lll  (zweite 
Auflage)  p.  1187ir.  u.  ö.  Unter  Anlehnung  an  Tiraboschi  haben  seither  meh- 
rere, namentlich  deutsche  Gelehrte  diesen  Streit  zwischen  Piatonismus  und 
Aristotelismus  im  15.  .Jahrh.  ilarzustcüen  gesucht.  Zuvünlorst  Karl  Sicveking, 
Geschichte  der  platonischen  Akademie  zu  Florenz,  Göttingen  1812  —  eine  vor- 
zügliche, scharfumrissene,  aber  leider  allzuknappe  Arbeit,  die  noch  dazu  ihre 
Quellen  verschweigt.  Die  philosophischen  Differenzpuukte  hat  besonders 
W.  Gass,  Gennadius  und  Pletho,  Breslau  1849,  S.(;711-.  treffend  hervorgehoben, 
jedoch  mit  einseitiger  Beschräukung  auf  den  llaupigegner  Plcthons,  Gennadius. 


428  Ludwig  Stein, 

einläutete  uud  zuvörderst  in  der  Begründung  der  platonischen 
Akademie  zu  Florenz  zu  Gunsten  Platon's  zum  Austrag  kam,  an- 
iiinglicli  von  einem  gewissen  bitterbösen  Beigeschmack  theologischen 
.Schulgezänkes  nicht  frei  war.  Als  Plethon  nämlich  durch  sein  mu- 
thiges  und  rückhaltloses  Eintreten  für  Piaton  auf  Kosten  des  von 
der  Kirche  usurpirten  und  verballhornisirten  Aristoteles  das  Zeichen 
zu  jener  mächtigen  philosophischen  Bewegung  gab,  die  in  ihrem 
Verfolge  dazu  geführt  hat,  den  Iknn  der  Scholastik  zu  brechen, 
da  hatte  der  Kampf  anfänglich  einen  mehr  theologischen  als  phüo- 
sophischen  Charakter.  Man  stritt  weniger  darum,  ob  Aristoteles 
Plato  gegenüber  philosophisch  im  Rechte  sei,  als  vielmehr  dar- 
über, wer  mit  den  Glaubenssätzen  der  Kirche  mehr  überein- 
stimmt. Selbst  der  vermittelnde,  streitschlichtende  Kardinal  Bes- 
sarion,  der  in  seiner,  wie  ich  später  nachweisen  werde,  1468  ver- 
fassten,  gegen  Georg  von  Trapezunt  gerichteten  Gegenschrift:  ad- 
versus  calumniatorem  Piatonis,  zunächst  das  letzte  Wort  in  diesem 
heisswogeuden  Kampfe  sprach,  reicht  bei  aller  Anerkennung  der 
philosophischen  Grösse  des  Stagiriten  doch  Plato  vor  Allem  darum 
die  Palme,  weil  dessen  Philosophie  dem  Christenthum  innerlich 
verwandter  ist  und  sich  dem  Kircheuglauben  geschmeidiger  an- 
schmiegt ■^). 


Weniger  glücklicli  ist  die  Darstellung  bei  C.  Alexandre,  Plethon,  traite  des 
lois.  I'aris  1858,  Einleitung.  Zu  kurz  fertigt  ihn  Fritz  Schnitze,  Georgios  Ge- 
mi.stos  Plethon,  Jena  1874,  S.  18  f..  76  f..  08  fT.  ab.  Ganz  neuerdings  haben 
Gaspary,  Gesch.  d.  italienischen  Litteratur,  Berlin  1888,  11,  l.")7  ff.  eine  ganz 
treffliche  und  Antonio  Casertano,  Saggio  sul  rinasciuientu  del  classicismo, 
Torino  1887,  p.  100 ff..  131  ff.  eine  grundverfehlte  Darstellung  dieses  heftigen 
philosophischen  Streites  gegeben.  Sämmtliche  Darstellungen  leiden  an  einem 
grossen  gemeinsamen  Mangel:  sie  verwirren  vielfach  den  Knoten  dieses  Streites 
statt  ihn  zu  lösen,  weil  sie  Strömungen  unterschiedslos  zusammenwürfeln,  die 
innerlich  nur  sehr  lose  zusammenhängen.  Ich  kann  dies  hier  unmöglich  des 
Breiteren  entwickeln,  beschränke  mich  vielmehr  auf  die  Andeutung,  dass  dieser 
Kampf  für  und  wider  Piaton  drei  verschiedene  Phasen  durchgemacht  hat, 
und  zwar  1)  Gennadius  gegen  Ple.thon  auf  byzantinischem  Boden.  2)  Theo- 
dor Gaza,  Georg  von  Trapezunt,  Andronicus  Callistus  für  Aristoteles,  Jlichael 
Aiiostolius  und  Kardinal  Be.ssarion  für  Plato.  Schauplatz  dieser  zweiten  Phase 
war  Rom.  ;{)  Die  platonische  Akademie  mit  ihrem  Präsidenten  Marsilius  Fi- 
cinus  in  Florenz. 

^)  Vgl.  Bes.sariouJs  Cardinalis  in  Calumniatorem  Piatonis  libri  IV,  Vene« 


I 


Der  Humanist  Theodor  Gaza  als  Philosoph.  429 

Nur  Theodor  Gaza,  der  verständnissvolle  Interpret  aristote- 
lischer Schriften,  tritt  dem  einseitigen  Herausstreichen  der  platoni- 
schen Philosophie  seitens  Plethons  mit  einer  wohlthuenden  Sach- 
lichkeit entgegen,  indem  er,  ganz  unbekümmert  um  kircliliche 
Interessen,  den  Streit  auf  das  rein  philosophische  Gebiet  hinüber- 
spielt.  Gaza's  philosophische  Abhandlungen,  die  sämmtlich  noch 
ungedruckt  und  den  Geschichtsschreibern  der  Philosophie  nicht 
einmal  ihren  Titeln  nach  bekannt  sind,  muthen  uns  wegen 
ihres  streng  sachlichen  und  rein  philosophischen  Tones  um  so  an- 
•^cnehmer  au,  je  mehr  uns  die  gereizte,  mit  Invectiven  gespickte 
j  Sprache  und  die  ketzerriechende,  salbadernde  Manier  seiner  Mit- 
humanisten, insbesondere  seiner  philosophischen  Widersacher  Georg 
von  Trapezunt  und  Michael  Apostolius,  tiefinnerlich  anwidern. 
Wenn  demnach  von  wirklichen  Philosophen  des  15.  Jahrhunderts 
die  Rede  ist,  dann  hat  zwischen  Gemistos  Plethon  und  Marsilius 
Ficinus  auf  diesen  Titel  keiner  berechtigteren  Anspruch,  als  Theo- 
dorus  Gaza. 

Ehe  ich  jedoch  an  eine  Veröftentlichung  und  Analyse  der 
philosophischen  Schriften  Gaza's  herangehe,  wird  es  Noth  thun, 
zunächst  seine  Biographie  vorauszuschicken,  da  die  bisherigen  Le- 
bensschilderungen Gaza's  gerade  in  den  wichtigsten  Daten  und  her- 
vorstechendsten Zügen  sämmtlich  verfehlt  sind.  An  Biographen 
freilich   hat  es  ihm  nicht  gefehlt*);    aber  sie   überbieten  einander 


tiis,  Aldus  1503  p.  la,  wo  er  als  Veranlassungsgrund  seines  Werkes  die  Be- 
hauptung seines  Gegners  (Trapezunts)  angibt:  opiniones  Aristotelis  nostrae 
religionis  verissimis  optimisque  sententiis  consentaneas  esse  conatur  ostendere, 
ac  proinde  veriores;  Piatonis  autera  dissentire  nostris  ideoque  falsa 
esse  et  a  veritate  prorsus  alienas;  vgl.  ibid.  p.  12:  doctrinam  Piatonis 
magis  quam  Aristotelis  nostrae  religioni  consentaneam  esse  dcmon- 
strabimus. 

*)  Die  ersten  biographischen  Notizen  verdanken  wir  Barth.  Facius,  de 
viris  illustribus,  ed.  Jlehus,  Florenz  1745.  Gelegentliche  Aeusserungen  anderer 
Zeitgenossen  kann  ich  hier  natürlich  nicht  einzeln  aufführen.  Die  erste  zu- 
sammenhängende Biographie  bietet  Palus  Jovius,  Elogia  doctoruin  virorum, 
Basel  1571  p.  61—64.  Es  folgen  sodann  Leo  Allatius,  de  Theodoris,  abgedr. 
bei  Fabricius,  bibl.  gr.  IX,  p.  192  ff.  und  danach  Jlignc,  patr.  gr.  Bd.  1()1, 
p.  970  ff.  Adolf  Clarmund  (Pseudonym  für  Küdiger),  vitae  clarissimorum  vi- 
rorum, Wittenberg  1705,  IV,  55— (i4  (enthält  einige  drollige  Schnitzer);  Hodius, 


430  Ludwig  Stein, 

förmlicli  in  Falschmeldungen  und  unhaltbaren  Combiuationen.  Es 
ist  dies  aber  auch  gar  kein  Wunder.  Denn  ohne  Zuhilfenahme 
des  auf  den  verschiedenen  italienischen  Bibliotheken  zerstreuten, 
reichlich  aufgespeicherten  handschriftlichen  Materials  können  die 
Biographien  der  griechischen  Humanisten  überhaupt  nicht  in  be- 
friedigender Weise  abgeschlossen  werden,  am  allerwenigsten  die 
Theodor  Gaza's,  der  in  einer  ihn  ehrenden  Zurückhaltung  in  seine 
gedruckt  vorliegenden  Werke  nichts  von  seinen  Lebensverhältnissen 
miteinfliessen  Hess,  so  dass  man  zur  Ergänzung  und  Berichtigung 
des  Materials  seine  ungedruckten  Briefe  herbeiziehen  muss.  Eine 
erschöpfende,  allen  Details  sorgsam  nachspürende  Biographie  werde 
ich  freilich  nicht  liefern,  da  ich  seinen  Lebensgang  naturgemäss 
vorzugsweise  nur  auf  seine  philosophische  Seite  hin  in's  Auge  fassen 
kann.  Aber  doch  hoffe  ich,  die  greifbarsten  biographischen  Irr- 
thümer,  wie  sie  über  Theodor  Gaza  in  den  Handbüchern  durchweg 
im  Schwange  sind,  durch  nachfolgende  Darstellung  zum  grossen 
Theil  w^enigstens  beseitigen  zu  können. 


Theodor  Gaza  (FotCv;?,  Gazes,  Gaces)  wurde  am  Ausgang  des 
vierzehnten  Jahrhunderts  zu  Saloniki  geboren.  Ueber  das  Geburts- 
jahr wie  über  die  früheren  Lebensschicksale  Gaza's  fehlt  es  uns 
so  sehr  au  festen  Anhaltspunkten,  dass  dessen  Biographen  nicht 
einmal  den  Versuch  gewagt  haben,  das  Geburtsjahr  auch  nur  an- 
nähernd zu  bestimmen.  Doch  ergibt  sich  aus  folgender  Combi- 
nation,  dass  er  um  die  W^ende  des  Jahrhunderts  geboren  sein  muss. 
^Vir  haben  nämlich  für  Gaza's  Uebersiedelung  nach  Constantinopcl 
ein  gegebenes  Datum  in  seiner  Freundschaft  mit  Francesco  Fi- 
lelfo.     Dieser  aber  hielt  sich   von   1422 — 1427   in  Constantinopel 


de  graecis  illustribus.  London  1742,  p.  55  -  102  (lireitspnrige  Materiäliensamm- 
lung):  Boerncr,  de  docti.s  hoin.  graecis,  Leipzig  1750  (Auflug  von  gesunder 
Kritik);  Tiraboschi,  storia  della  Jetteratura  ifaliana  VIII,  p.  1187ff.  (die  erste 
kritische  Biographie  Gaza's);  Heeren,  Gesch.  d.  klass.  Lit.  im  Mittelalter, 
Göttingen  1822,  II,  204  —  208  (werthlose  Reproduction);  Bahr,  ailgem.  Encyclo- 
paedie  s.  v.  Gaza  (beste  Uebersicht).  Vortrefflich  ist  die,  leider  nur  allzuknappe 
Skizze  bei  Voigt,  die  Wiederbelebung  des  classischen  Alterthuras,  zweite  Aufl. 
Berl.  1881,  II,  14.'j  — 47. 


Der  Humanist  Theodor  Gaza  als  Philosoph.  431 

als  Sekretär  des  Kaisers  Joannes  auf ').  Gaza  müsste  demnach, 
um  eine  enge  Freundschaft  mit  FJlelfo  schliessen  zu  können,  spä- 
testens 1425  schon  in  Constantinopel  gewesen  sein.  Damit  stimmt 
denn  auch  eine  unbeachtete  Episode  aus  Gaza's  früheren  Lebens- 
schicksalen zusammen,  die  er  in  einem  Briefe  an  seinen  Schüler 
Demetrius  Sgoropul OS  mittheilt '^).  Diese  Episode  kann  sich  nur  um 
das  Jahr  1422  bei  der  Belagerung  Constantinopels  seitens  Murads  IL 
abgespielt  haben')-  Und  da  Murad  II.  die  Belagerung  zunächst 
erfolglos  aufgeben  musste,  so  hinderte  Gaza  nichts  mehr,  nach  Con- 
stantinopel zu   kommen,   wo   er  1423  oder  1424  eingetroffen  sein 


5)  Ygl.  die  skizzenhafte  Autobiographie  Filelfos  in  seinem  Briefe  an 
Lodrisio  Crivelli  vom  August  1465,  p.  178—183  der  Venezianer  Ausgabe  (1502) 
der  Episteln  Filelfos,  nach  welcher  ich  citiren  werde.  Das  Datum  für  den 
Aufenthalt  Filelfos  in  Constantinopel  lässt  sich  folgendermassen  fixiren.  No- 
vember 1423  unterzeichnet  er  sich  schon:  Venetorum  iu  curia  Coustantinopo- 
litana  Canceilarius,  vgl.  Agostini,  Scritti  Viniz.  I.  141;  im  October  1427  aber 
landet  er  schon,  aus  Griechenland  heimkehrend,  in  Venedig,  vgl.  Voigt  a.  a.  0. 
I,  351. 

*)  Eine  interessante  Episode  aus    seinem   früheren  Leben,   wie  er,  durch 
den  Krieg  an  der  Weiterreise  verhindert,  unterwegs  lieber  Dienste  im  Acker- 
bau verrichtete,  um  nur  nicht  auf  Gnadenbrot  angewiesen  zu  sein,  erzählt  Gaza 
in  einem  Briefe  an  seinen  Schüler  üemetrius  Sgoropulos,  den  die  Laurentiana 
in  Florenz  LV,  0,  fr.  49  f.  (Baudiiii,  II,  271)  aufbewahrt.     Dieser  Brief  ist  jetzt 
abgedruckt  bei  Migne,  Patr.  gr.  T.  161,  p.  lOÜjf.    Doch  wird  hier  fälschlich  ver- 
muthet,   der  Adressat  sei  Demetrius  Chalcondyles  (gleichfalls  Schüler  Gaza's); 
die  Florentiner  llandschr.  weist  jedoch  deutlich  auf  Deraetr.  Sgoropulos  hin. 
Diese  characteristische  Episode  erzählt  Gaza  (f.  G2,  Jligiie  p.  1007)  in  folgenden 
Worten:    lloLpdOci'jtxa  §'  i'siü?  av  eiT]   O'j  cpaüXov  ....  v.cd  -ro  r;ij.£-=pov    T,[j.ct;  yäo 
dTtopo'JVTs; -OTS  Tf>ö-0'j  iravTOS  £t;  töv  ßi'ov  s-^pou,  Xaßovxe;  yjopt'ov  lystupvoüaev. 
xcd-a'j-Y;  toi  iT.i-:rfina  -opi^oasvot  ouSevt  YiYOvaaiv  '.pop7[7.oi  osoasvot  xocl  TrpoiaiTioüv- 
Te?.    Eine  ebenso  vornehme  Gesinnung,  Meuschengunst  zu  verschmähen  und  nur 
der  eigenen  Kraft  zu  vertrauen,  bekundet  er  auch  in  einem  (noch  ungedruck- 
ten) Briefe  au   Bessarion,   Laurent.  Plut.  LV,   Cod.  IX,  5  f.  66:   äv&ptuTTtov  yap 
-  jOEva  ifu}  övojiccCeiv  "/.Ott  aiTtäa&ai  i%ilw.    In  dieser  noblen  Selbstgenügsam- 
Keil  bildet  Gaza  einen  wolthucnden  Gegensatz  zu  den  übrigen  schweifwedeln- 
den und  schmarotzenden  Humanisten,  insbesondere  zu  seinem  Freunde  Filelfo. 
')  Denn  in  jenem  Briefe  an  Demetrius  fährt  Gaza  fort:  qj-ol  [xh  y«P  ^'  "' 
noXeiAos  irAv-ltit  Tr)v  ei;  toi;  tioXei;  öoov.    Da  wir  Gaza  schon  gegen   1425  in 
Constantinopel  mit  Filelfo  unter  geregelten  Verhältnissen   finden,  kann  unter 
diesem   Krieg  wol   nur   die   Belagerung   Constantinopels   durch    Murad  II.   im 
Jahre  1422  gemeint  sein. 


432  f'"'^'  ^^' '?  Steiu, 

mag.  Gar  so  jung  und  unbedeutend  kann  er  bei  seinem  Eintreffen 
in  Constantinopel  auch  nicht  mehr  gewesen  sein,  sonst  würde  es 
der  damals  schon  27jährige  eitle  und  aufgeblasene  Geck  Filelfo  i  ird 
(geb.  1398).  der  sich  auf  seine  Hofstellung  nicht  wenig  einbildete*), 
unter  seiner  Würde  gehalten  haben,  mit  ihm  eine  intime  Freund- 
schaft zu  pflegen,  die  mehr  als  ein  halbes  Jahrhundert  unge- 
schwächt angedauert  hat.  Wer  den  egoistischen  Streber  Filelfo 
mit  seinem  hochfahrenden,  aufgeblähten  Wesen  kennt,  weiss,  dass 
er  engere  Beziehungen  nur  mit  geistig  oder  sozial  Hochstehenden 
unterhielt.  Und  wenn  er  gleich wol  mit  Gaza,  als  dieser  noch  in 
Constantinopel  lebte,  eifrige  briefliche  Verbindung  pflog'"*),  so  be- 


**)  Ueber  die  gespreizte  Ruhmredigkeit,  mit  welcher  er  von  seinen  hohen 
Missionen  am  byzantinischen  Hofe  prahlte,  vgl.  A'oigt  I,  35'2. 

')  Leider  haben  sich  von  der  zwischen  Fitelfo  und  Gaza  gepflogenen 
griechischen  Correspondenz  nur  wenige  Briefe  erhalten,  und  auch  diese 
tragen  bedauerlicherweise  kein  Datum.  Wenig  bekannt  ist  es  nämlich,  dass 
sich  noch  einige  ungedruckte  griechische  Briefe  Filelfo's  an  (Jaza  im  Codex 
10,8  Augusteorum  manuscriptorum  der  Bibliothek  zu  Wolfenbüttel  befinden. 
Die  einzige  gedruckte  >;acliricht,  die  ich  über  diesen  höchst  werthvollen 
Codex  bei  Ebert,  Bibl.  Guelfobytanae  Codices  graeci  et  latiui  classici  p.  128, 
No.  657  fand:  .,Philelphi,  Franc,  epistolae  XCIII  graecae.  Datae  ad  varios 
viros  doctos  illius  saeculi.  Insunt  etiam  VII  epistolae  Theodori  Gazae  ad 
Philelphum",  enthält  fast  so  viele  Irrthümer  wie  ilittheilungen.  Der  Codex 
enthält  nicht  93,  sondern  103  Briefe,  darunter  11  Doubletten.  Es  sind  nicht 
VII  epistolae  Th.  G.  ad  Philelphum,  sondern  12  Briefe  Filelfo's  an  Gaza 
erhalten.  Bei  der  Bedeutsamkeit  F.'s  für  die  Entwicklungsgeschichte  der  Re- 
naissance hielt  ich  es  für  angemessen,  von  diesen  ungedruckten  Briefen  F.'s, 
soweit  sie  mit  den  Philosophen  der  Renaissance  irgeinlwie  zusammenhängen, 
eine  Copie  anfertigen  zu  lassen,  die  ich  den  nachfolgenden  Untersuchungen 
zu  Grunde  lege.  Von  dem  Umfange  dieser  Correspondenz  zwischen  F.  und 
G.  gibt  uns  ein  Brief  FileIfo"s  au  Cato  Sacci,  Rechtsgelehrteu  in  Pavia,  eine 
ungefähre  Vorstellung.  Filelfo  schreibt  an  Sacci  am  9.  Nov.  1440  (Buch  IV, 
p.  28  a  ed.  Ven.):  Scribis  me  a  Theodoro  tres  ad  meam  unara  epistolam  litteras 
accepisse.  Xon  tres  dumtaxat.  sed  mille  et  araplius  litteras  accepi. 
Mag  dies  nun  auch  Ucbertreibung  sein,  so  muss  die  Correspondenz  zwischen 
Filelfo  und  Gaza  doch  eine  ungemein  rege  gewesen  sein.  Im  Uebrigen  er- 
wähnt auch  F.  in  seiner  griechischen  Correspondenz  mit  G.  wiederholt  den 
Namen  Sacci's,  so  Cod.  Wolfenb.  fol.  12:  t6  ol  bnip  toütujv  xarä  fji^po;  e^ei; 
aaSüiv  Ttapä  xoO  xotvoO  r/fxöiv  cpiXoü  xctTiuvo;  oaxxou  xat  yap  ir.iorziX'x  hk 
'^uTiij  Ttapi   TöJv  ÄEyövTwv  Xt'av   äxptßw;:    ebenso  ibid.  fol.  12a:   Ttcpi  oe   xwv  aoi 

ivTEÜl^EV    7:oi)0'J[JlEVU)V   X  «  T  U)  V  t   ifpaiioi. 


Der  Humanist  Theodor  Gaza  als  Philosoph.  433 

weist  dies  zur  Geniige,  dass  er  ihn  als  einen  Ebenbürtigen  ge- 
schätzt hat.  Das  that  aber  der  27jährige  Hofsekretär  sicherlich 
nur  dann,  wenn  Gaza  gleichaltrig  oder  nur  um  weniges  jünger  war. 
Viel  älter  als  Filelfo  ka,nn  er  nicht  gewesen  sein,  da  der  Kardinal 
Bessarion  in  einem  Briefe  an  Michael  Apostolius  aus  dem  Jahre 
1462  Gaza  wol  als  ehrwürdigen  Alten'"),  jedoch  noch  nicht  als 
Greis  (-(sptov)  bezeichnet.  Nach  alledem  dürften  wir  kaum  fehl- 
greifen, wenn  wir  Gaza's  Geburt  in  das  Jahr  1498  —  das  (ieburts- 
jahr  Filelfo's  —  verlegen. 

In  Constantinopel  muss  Gaza  eine  reiche  Lehrthätigkeit  ent- 
faltet haben,  da  zwei  seiner  damaligen  Schüler,  Demetrius  Chal- 
condyles  und  Demetrius  Sgoropulos,  später  recht  angesehene  Hu- 
manisten wurden").  Dass  er  dabei  auch  die  Priesterwürde  be- 
kleidet hat,  möchte  ich  aus  dem  Umstände  folgern,  dass  der 
Kardinal  Bessarion  ihm  später,  wie  wir  sehen  werden,  eine  ein- 
trägliche Pfarre  in  Calabrien  übertragen  hat.  Das  konnte  er 
offenbar  nur  dann,  wenn  Gaza  schon  in  seiner  Heimath  Geistlicher 
war.  Damit  stimmt-  denn  auch  die  gutverbürgte  Nachricht  zu- 
sammen, dass  er  sein  Lebenlang  unverehelicht  geblieben  ist''). 

Ueber  die  Motive  wie  über  den  Zeitpunkt  seiner  Ueber- 
siedlung  nach  Italien  sind  zahlreiche,  einander  durchkreuzende  oder 
aufhebende  Nachrichten  verbreitet,  die  sämmtlich  in  das  grosse 
Reich  der  historiographischen  Mythologie  gehören.  Das  Kapitel 
<lcr  historischen  Legendenbilduug  ist  ein  ungemein  reichhaltiges, 
und  Gaza  liefert  dazu  einen  interessanten  Beitrag.  In  fast  allen 
Lehrbüchern  der  Geschichte  mit  Einschluss  der  Philosophie-  und 
Kulturgeschichte  findet  man  die  marktgängige  Auffassung,  dass  die 


'")  Vgl.  Ep.  Bessarionis  ad  Mich.  Apostoi.  bei  Migue  P.  Gr.  T.  161,  p.  688: 

H:ÖÖü)pÖe    T£    TÖJV    VÜV    'EXX-»iv(l)V    £V    TOt?    TüpCUTOlS    WV  —  -J^OTj    -peaßÜT'/)?. 

")  Dass  Demetrius  Chalcondyles,  ein  geachteter  Humanist,  tler  in  Florenz 

und  Ferrara  wirkte,    Gaza's  Schüler  war,    ist  mehrfach   bezeugt,   vgl.  Hodius 

l  c.  p.  211,  218,  220tf.     Das  Schülerverhältniss  des  Demetrius  Sgoropulos,  der 

.  h  freilich  meist  tlurch  Abschriften  ernährte  (Voigt  II,  li32),  ersieht  man  aus 

u   beiden  au  ihn    gerichteten  Briefen  Gaza's,    abgedruckt  bei  Migue,   Patr. 

Gr.  161,  p.  1005—1014. 

'^)  Volaterranus,    Anthropol.  1.  21 :    Theodorus   ...   senex    excessit    sine 
liberis,  cum  esset  sacerdos. 


434  Ludwig  Stein, 


grosse  Humauistenbeweguug,  der  Italien  zum  nicht  geringen  Theil 
die  Renaissance  seiner  Philosophie  verdankt,  auf  byzantinische  ^ 
Flüchtlinge  zurückzuführen  sei,  die,  durch  den  Fall  Constantino- 
pels  aus  der  Heimath  vertrieben,  nach  Italien  verschlagen  ^*' 
wurden.  Diese  vielverbreitete  Annahme  ist  nun  einfach  fable 
convenue,  da  sie  dem  nackten  historischen  Thatbestand  schnur- 
stracks zuwiderläuft.  Die  byzantinischen  Humanisten  sind  nicht  ioJ 
aus  ihrer  Heimath  geflohen,  sondern  sie  wurden  zum  überwie- 
genden Theil  von  italienischen  Humanisten  und  Mäcenen  nach 
Italien  gezogen  oder  geradezu  gelockt.  Denn  als  Constantinopel 
1453  fiel  w-aren  alle  bedeutenden  Humanisten  —  Joannes  Argyro- 
pulos  etwa  ausgenommen  — :  Eraanuel  Chrysoloras,  Gcmistos  Ple- 
thon,  Bessarion,  Georg  von  Trapezunt,  Theodor  Gaza  u.  A.  schon 
längst,  zum  Theil  sogar  schon  seit  Jahrzehnten,  in  Italien. 
Freilich  liebten  es  die  damals  so  zahlreichen  Epigrammdichter,  den 
von  ihnen  besungenen  griechischen  Humanisten  die  Dornenkrone 
des  Märtyrerthums  auf's  Haupt  zu  setzen,  weil  sich  diese  dich- 
terisch höchst  wirkungsvoll  ausnahm,  und  so  spielt  denn  auch 
der  Massenschreiber  Jovius  Pontanus  in  seinem  Epigramm  auf 
Gaza"s  Flucht  an  '^),  trotzdem  sich  uns  zeigen  wird,  dass  Gaza's 
L'ebersiedlung  nach  Italien  einen  viel  harmloseren  Beweggrund 
hatte. 


'^)   Jov.  Pontanus,    das    llaiiiit    der    Dichter-    und    l'hilosopben.schule    in 
Neajjel,  .singt  allerdings  Ga/a  mit  den  Worten  an: 

Te  quoque  Turcaicae  fugientem  vincla  catenae 
Ejecit  patrio  Thessalonica  solo. 
Das  ist  die  einzige  zeitgenössische  Quelle,  in  welcher  (Jaza  als  politischer 
Flüchtling  erscheint.  Doch  blicken  diese  Verse  einerseits  nur  aus  weiter  Ent- 
fernung auf  das  verlorene  Vaterland  zurück,  wie  Voigt  II,  145'  schon  bemerkt, 
andererseits  sind  Epigramme  überhaupt  eine  bedenkliche  historische  Unterlage, 
da  sich  in  denselben  zuweilen  die  dichterische  Licenz  auf  Kosten  der  liistu- 
rischen  Treue  breitmacht.  Wäre  (Jaza  ein  Refugie  gewesen,  so  hätte  sein 
Freund  Filelfo  gewiss  nicht  verabsäumt,  diesen  mitieiderregenden  Umstand  in 
seinen  Gaza  empfehlenden  Briefen  an  Cato  Sacci  und  Jacob  Cassiani  (Buch  III, 
epp.  24,  25,  28)  mit  nachdrücklicher  Betonung  hervorzukehren.  Ueberdics 
herrschte  ja  1440,  als  Gaza  nachweislicli  nach  Italien  übersiedelte,  in  seiner 
Ucimath  politische  Windstille,  so  dass  er  gar  keine  Ursache  zur  Flucht  haben 
konnte. 


t 


Der  Iluinauist  Theodor  Gaza  als  Philosopli.  435 

Der  reiche  Zustrom  gelehrter  Griechen  war  offenbar  nicht  so 
sehr  unmittelbares  Product  politischer  Wirren,  als  vielmehr  die 
Folge  des  aufblühenden  italienischen  Mäcenatenthums,  das  die 
wissenschaftlich  bedeutenden  Männer  des  innerlich  morschen,  zer- 
fallenen byzantinischen  Reiches  durch  rosige  Versprechungen  wett- 
eifernd   heranlockte.     Zu    diesen    Männern    gehörte    auch   Theodor 

[Gaza,   der  allem  Anscheine  nach  von  seinem  Freunde  Filelfo   an- 
geregt oder  ermuthigt  wurde '^),  die  traurigzerrisseue  Heimath  zu 

j  verlassen. 

Die  Ankunft  Gaza's  in  Italien  erfolgte  weder  1430,  wie 
IJähr    mit    der    grossen  Schaar   der   hinter   ihm  stehenden  Quellen 

I  annimmt '•'),  noch  1444,   wie  Voigt  neuerdings  unter  Zustimmung 


'^)  Das  geht  aus  dem  überaus  warmen  Ton  hervor,  in  welchem  Filelfo 
'len  mittellosen  Gaza  seinen  Freunden  in  Pavia  (Sacci  und  Cassiani  lebten  in 
l'avia.  nicht  in  Siena,  wie  Hodius  p.  5G  und  nach  ihm  Bürner  p.  121  irriger- 
weise annehmen)  dringend  an's  Herz  legt. 

'-)  Rai'hr  in  der  Allg.  Encyclop.  ed.  Ersch  u.  (iruber  s.  v.  Gaza  p.  IM 
nimmt  mit  Tirabosclii  i.e.  p.  118<S  an,  Gaza  sei  schon  1430  nach  Italien  go- 
tlohcn,  weil  er  eben  die  oben  citiiTen  Verse  des  Ponlanns.  nafli  welehen  Gaza 
Kefugie  war,  seiner  Fixirung  zu  (hiinde  legt  und  daraus  folgert,  Gaza  müsse 
1430  gelegentlirli  der  Kiiinahme  seiner  N'aterstadi  aus  .Saloniki  geflohen  sein. 
Nun  wissen  wir  aber  schon,  dass  Gaza  14i)()  längst  nicht  mehr  in  Saloniki 
war  (Note  0).  Die  wunderlidie  Hypothese  IJiihrs,  Gaza  sei  14;)0  in  Sicilien 
gelandet,  habe  daselbst  etwa  10  .lahre  verlebt  und  sei  dann  1440  mit  Pietro 
Ronzano  nach  Pavia  gegangen,  ist  ganz  unhaltbar.  Denn  erstens  war  Ronzano 
1440  erst  ein  zwölfjähriger  Bursche  (geb.  14-28),  also  kein  geeigneter  Gesell- 
M'hafter  für  Gaza.  Ferner  hätte  Gaza  bei  einem  zehnjährigen  Aufenthalt  in 
Sicilien  wol  eine  Spur  seines  Wirkens  zurückgelassen,  was  aber  entschieden 
nicht  der  Fall  ist,  vgl.  Giovanni,  storia  della  filosutia  in  Sicilia  1,  170,  wo 
<.iaza's  Name  fehlt.  Endlich  tritt  noch  hinzu,  dass  ein  Brief  Filelfo's,  der 
liüchstwahrscheiulich  Anfangs  1440  an  Gaza  gerichtet  wurde  (Cod.  Wolfenb. 
lol.  la),  den  Aufenthalt  desselben  in  Byzanz  voraussetzt.  Wir  wissen  näm- 
lich, dass  Filelfo  Anfangs  1440  seinen  Sohn  nach  Byzanz  geschickt  hat  (Voigt 
I.  r)o4).  Der  oben  erwähnte  Brief  an  Gaza  beginnt  nun  aber  mit  den  Worten: 
HiV&miöv  i  l|j.rj;  Tai;  ivooirjo'j  aot  ttjv  ^-igtoXt^v.  Da  die  Reihenfolge  der 
Briefe  im  Wolfenb.  Codex  eine  chronologisch  geordnete  zu  sein  scheint  [fol.  5a 
an  Guarino  1428,  fol.  6  au  Ambrosius  Monachus  1428,  fol.  6a  an  Franciscus 
Barbaras  1428,  fol.  7  an  Gennadius  1430,  fol.  8  an  Demetr.  N'alhi  1430,  fol.  12 
an  Gaza  (wie  aus  der  Erwähnung  des  Cato  Sacci  hervorgeht)  1440,  fol.  1 1  au 
Gaza  (aus  dem  gleichen  Grunde)  1441],  so  erhellt  daraus  die  frülie  Daliriing 
des   oben  erwähnten   Briefes.     Am  9.  Nov.  1440  aber    war  Gaza  nachweislich 


ler 


436  Ludwig  Stein, 

Burkhartl-Geigers'^)  vermuthet,  sondern  im  Herbst  1440,  wie 
aus  folgender,  sonderbarerweise  von  allen  Biographen  Gaza's  über-  • 
seheuen  Auslassung  Filelfo's  unwidersprechlich  erhellt.  Filelfo 
schreibt  nämlich  am  17.  December  144Ü  an  den  Presbyter  Jacob  pc'''' 
Cassiani,  einen  Schüler  und  Bewunderer  Vittonino  da  Feltre's")»  ^i^ 
Venit  istuc  uuper,  ut  scis,  Theodorus  Gazes,  vir  certe  et  di- 
sertus.  et  eruditus,  quem  etsi  certo  scio,  uon  amabis  solum.  sed 
cumulatissime  amabis,  tarnen  mea  etiam  causa  velim  ita  ames,  ut  I  ftfii 
nulla  prorsus  fieri  queat  ad  amorem  accessio.  Hoc  erit  mihi 
tarn  gratum,  quam  quod  omnium  maxime. 

Die  ökonomische  Lage  Gaza"s  muss  in  Pavia  keine  neidens- 
werthe  gewesen  sein,  da  Fileltb  den  „desertissimum"  Gaza  seinen 
Freunden  in  Pavia  angelegentlichst  empfahl,  anscheinend  jedoch 
ohne  sonderlichen  Erfolg.  Der  eine  dieser  Freunde,  Cato  Sacco, 
muss  sich  in  dieser  Angelegenheit  nicht  tadelfrei  benommen  haben, 
da  er  Filelfo  weismachen  wollte,  der  Senat  in  Pavia  habe  sich 
mit  Gaza"s  Verhältnissen  beschäftigt,  während  Filelfo  diese  Meldung 
mit  herber  Rüge  als  ersonnene  Fabel  zurückweist.  Es  handelte 
sich  dabei  keineswegs  um  eine  Anstellung  Gaza's  als  Professor,  wie 
Bahr  irrigerweise  annimmt"),   sondern   um   eine  öffentliche  Unter- 


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•  311t 

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schon  in  Pavia  (Philelphi  Epist.  üb.  IV,  cp.  20),  folglicli  kann  Gaza  nur 
up  die  Mitte  des  .Jahres  1440  von  Byzanz  nach  Italien  ausgewan- 
dert sein. 

'«)  Voigt  a.  a.  U.  11,  14;V.  Danach  Burkhard,  Cultur  der  Renaissance, 
4.  Aufl.,  heransg.  von  Ludwig  Geiger,  I,  22L 

1')  Philelphi  Epist.  Lib.  IV,  cp.  25.  Dass  Cassiani  ein  Schüler  Vittorino 
da  Feltres  war,  ersieht  man  aus  mehreren  Briefen  Filelfo's,  so  IV,  cp.  7  an  j 
Sacci:  Nam  Victorinus  Feltre,  ejus  (sc.  Cassiani)  doctor  ...  et  mihi  veteri 
familiaritate  conjunctus:  ebenso  cp.  8  an  Cassiani  selbst:  Victorinus  Feltrensis 
doctor  tuus  ac  idem  eruditissimus  vir  mihique  amicissimus;  vgl.  noch  ibid. 
cp.  2.0. 

'»)  Allgem.  Encycl.  s.  v.  Gaza  p.  134.  Baehr  zieht  eben  zwei  falsche 
Schlüsse:  einmal  folgert  er  aus  einem  Briefe  Filelfo's,  man  liaue  Gaza  in  Pavia 
1440  eine  Professur  verschallen  wollen,  andermal  schliesst  er,  gestützt  auf 
diese  Voraussetzung,  Gaza  müsse  1440  schon  den  Unterricht  des  Vittorino  da 
Feltre  genossen  haben,  da  man  sonst  nicht  daran  denken  konnte,  ihm  in 
Italien  eine  Professur  zu  übertragen.  Allein  erstens  handelte  es  sich  da  nicht 
um  eine  Professur,  sondern  um  eine  Unterstützung  (vgl.  lib.  IV,  cp.  24:  nulla 
mihi  prorsus  spes  est,  ut  vir  iste  publica  pecunia  ob  id  muneris  donetur). 


l3l 


Der  Humanist  Theodor  Gaza  als  Philosoph.  437 

Stützung.  Zum  öffentlichen  Lehrer  konnte  man  den  eben  aus 
Griechenland  eingewanderten  Gelehrten  doch  wol  kaum  ernennen, 
da  er  die  lateinische  Sprache  gewiss  noch  nicht  genügend  be- 
herrschte. Und  so  verfielen  denn  Gaza's  Freunde  auf  ein  Aus- 
kunftsmittel, dessen  sich  schon  der  10  Jahre  früher  eingewanderte 
Humanist  Georg  von  Trapezunt  bedient  hatte:  Gaza  sollte  zunächst 
halb  als  Lehrer,  halb  als  Zögling  die  berühmte  Schule  des  Vitto- 
rino  du  Feltre  zu  Mantua  besuchen,  um  sich  im  Lateinischen  zu 
vervollkommnen  und  sodann  in  Italien  eine  Professur  zu  bekleiden. 
Dass  nämlich  Gaza  mehrere  Jahre  hindurch  dieser  Muster- 
schule Feltres  angehört  hat,  steht  ausser  allem  Zweifel'^).  Nur 
über  den  Zeitpunkt  dieses  Aufenthaltes  konnte  man  sich  nicht 
einigen.  Jetzt  aber,  da  wir  einerseits  wi.ssea,  dass  er  erst  1440 
in  Italien  landete,  während  es  andererseits  feststeht,  dass  er  1447 
bereits  Rector  der  höheren  Schule  in  Ferrara  war,  so  kann  sein  Auf- 
enthalt in  Mantua  naturgemäss  nur  zwischen  diese  Jahre  fallen. 
Und  in  der  That  ist  Gaza  1440—1446,  dem  Todesjahre  Feltres'"), 
80  gut  wie  verschollen.  Er  mag  eben  auf  Empfehlung  Cassiani's 
und  Filelfo's,  den  vertrauten  Freunden  Feltre's''),  nach  Mantua 
gegangen  sein  und  sich  da  einige  Jahre  in  stiller  Vorbereitung  auf- 


Ferner  konnte  Gaza  vor  1440  unmöglich  da  Feltres  Schule  besucht  haben  — 
auch  abgesehen  (hivon,  dass  er  erst  1440  überhaupt  nach  Italien  kam  — ,  da 
Filelfo  Decemb.  1440  Gaza  dem  intimen  Freunde  und  Schüler  da  Feltres,  Jacob 
Cassiani,  empfahl  (lib.  IV,  cp.  25),  was  doch  gewiss  überflüssig  gewesen  wäre, 
hätte  Gaza  schon  mit  Cassiani  gemeinsam  das  Institut   da  Feltres  frequentirt. 

'^)  Jovius,  Elogia  doct.  vir.  p.  61  bezeugt  dies  ausdrücklich;  nach  ihm 
Böhmer,  1.  c.  p.  122.  Franc.  Prendilacqua,  Vita  Vict.  Feltr.  p.  70  berichtet: 
Romanae  enim  dictionis  penitus  iguarus  vir  consumpto  apud  Victorinum 
triennio  tantus  evasit,  ut  pauci  postea  doctiores  oratores  inveuti  sint. 

-°)  Ueber  Vittorino  da  Feltres  Leben  und  Wirken  bietet  Manches  Tullio 
Dandolo,  storia  del  pensiero  nel  medio  aevo  II,  344  ff.  (mich  der  Monographie 
\on  Mad.  Benoit,  Victorino  de  Feltre  et  l'eduction  au  seizieme  siecle  en  Italie). 
Eine  scharfumrissene  Skizze  seiner  Pädagogik  gibt  Schmidt,  Gesch.  d.  Pädag. 
II,  358 f.  Ein  knappes,  aber  treftlich  gezeichnetes  Lebensl)ild  dieses  Refor- 
mators der  Renaissance-Pädagogik  bietet  Voigt,  a.  a.  0.  I,  537—548. 

^')  Auf  die  Freundschaft  Filelfo's  und  Cassiani's  mit  da  Feltre  habe  ich 
bereits  Note  17  hingewiesen.  Der  Gedanke  ist  kaum  abzuweisen,  dass  diese 
beiden  Männer  den  völlig  mittellosen  Gaza  an  iliren  gemeinsamen  Freund  da 
Feltre  empfohlen  habeu. 


438  Ludwig  Stein, 

gehalten  haben.  Seine  Lebensbedürfnisse  niuss  er  in  diesen  Jahren 
durch  Abschreiben  von  Büchern  bestritten  haben.  Wenigstens  sind 
uns  einige  von  Gaza's  Hand  herrührende  Abschriften  von  Werken 
bekannt,  die  doch  wol  nur  aus  der  Zeit  seiner  ökonomischen  Be- 
drängniss  stammen  können,  da  er  sich  in  späteren  Jahren  nach- 
weislich selbst  Abschreiber  gehalten  hat*^). 

In  der  Schule  da  Feltre's  hat  sich  Gaza's  lateinischer  Stil  io 
einer  Weise  vervollkommnet,  dass  mau  ihn  übertreibend  für  den 
vornehmsten,  aber  auch  allgemein  für  einen  der  elegantesten  la- 
teinischen Stilististen  seiner  Zeit  erklärt  hat").  Und  so  konnte 
denn  Filelfo  schon  im  März  1446,  also  zu  einer  Zeit,  da  Gaza  das  In- 
stitut da  Feltre's  wol  eben  erst  verlassen  hatte,  Francesco  Barbaro  auf 
dessen  Anfrage,  w'er  wol  der  bedeutendste  unter  den  eingewanderten 
griechischen  Humanisten  sei,  ohne  Bedenken  Gaza  als  diesen  Mann 
bezeichnen,  dem  wiegen  der  Lauterkeit  seines  Characters,  der  Tiefe 
seiner  Kenntnisse  und  der  Eleganz  seines  Stiles  unstreitig  der  Vor- 
rang unter  allen  Griechen  gebühre'^). 

Jedenfalls  war  es  keine  geringe  Ehre,  dass  der  in  der  Kenntniss 
des  Lateinischen  kaum  der  Schulbank  entwachsene  Gaza  schon 
1447  an  das  neugegründete  Studio  zu  Ferrara  als  Professor  berufen 
und    bald    darauf   auch  zum  Rector  desselben    ernannt  wurde  ^'). 

--)  Dass  Gaza  Abschreibevdienste  geleistet  hat,    ersehen  wir  daraus,    dasf 
er  für  Filelfo   die  llias   abgesdiriehen   hat.     Dieses   Exemplar  sehätzte  Filelfo" 
so  hoch,  dass  er  es,  wie  er  in  seiner  ges])reizten  Uebertreibungssucht  Ressarion 
schreibt,    nicht   für   das   Vermögen   eines   Krösus   verilusscni   inöclife   (iili.  A  t, 
I».  41a).     Teber  weitere   Abschriften   von   ilauuskripten,    die   sicli    von   Gazasl! 
Hand  noch  finden,   vgl.  ITodius  p.  HO. 

-^  Jovius  1.  c.  p.  02:  Hei  Vittorino  da  Feltre  erlernte  er  das  Lateinische 
si»  vortrefi'lich,  ut  lonse  omnium  l^atinissime  scriberet;  ähnlich  Franc. 
Prendilaciiua,  Vita  Vict.  p.  70;  Leo,  Allatius,  abgedr.  bei  Migne  Patr.  Gr.  161, 
p.  y74.     Weitere  Zeugnisse  über  Gaza's   lateinischen   Stil  bei  Eodius  p.  86ff. 

-*)  Philelphi  Epist.  lib.  VI,  p.  38a. 

")  Die  Austeilung  in  Ferrara  muss  spätestens  1447  erfolgt  sein,  da  er 
bereits  am  ').  Juli  des  gleichen  Jahres  auf  die  Berufung  nach  Florenz  aus 
Ferrara  in  ablehnendem  Sinne  geantwortet  hat,  Fabroni,  Vita  Cosni.  Medi. 
Tom  II.  p.  6R  nnd  'lid.  Ein  Jalir  darauf  (1448)  gehörte  er  schon  nach  dem 
Berichte  des  Pater  Aliotti,  Epist.  lib.  IH,  cp.  19  und  20  zu  den  vornehmsten 
Zierden  des  Studio  in  Ferrara.  Sein  liegeistertes  Loi)  kündet  endlich  auch 
sein  Schüler,  Ludwig  Carbo,  bei  Giraldi,   de  poetis  suor.  temp.  dial.  2,  der 


Der  Humanist  Theodor  Gaza  als  Pliiloso])!). 


439 


Der  Aufenthalt  in  Ferrara,  der  übrigens  zu  einer  Verwechslung  be- 
züglich Gaza's  Theilnahme  am  bekannten  Concil  zu  Ferrara  Anlass 
gegeben  haben  mag'"),  gehörte  zu  den  glücklichsten  Jahren  seines 
hebens.  Zu  seinen  Füssen  sass  eine  begeisterte  Zuhörerschaar,  die 
dem  in  der  Vollfrische  der  Manneskraft  stehenden  Lehrer,  dessen 
Vorträge  sich  durch  dichterischen  Schwung  und  gehobene,  gewählte 
Diction  auszeichneten,  freudig  entgegenjubelte").  Grammatik  und 
Rhetorik  bildeten  hier  vorzugsweise  den  Gegenstand  seiner  Vorlesun- 
gen, was  mich  auf  die  A'ermuthung  führt,  dass  seine  systematische 
griechische  Grammatik,  die  erste  ihrer  Art,  der  er  auch  seine  Stel- 
lung in  der  AVeltlitteratur  in  erster  Reihe  verdankt,  wol  in  Ferrara 
entstanden   isf^*). 


übrigens  auch  berichtet,  fiaza  sei  Reetor  des  Stndio  gewesen.  Das  be- 
stätigt auch  Borsetti,    historia  Gymnas.  Ferr.  II,  25:    Theodorus  Gaza,  Thes- 

salonicensis,  Medicus,  Philosophus  etc in  qua  (sc.  Academia)  diu  grae- 

cas  Litteras  docuit  Gymnasiarca  appeUatus,  et  vere  quidem,  nam  ejusdem 
Lionello  Estense  restitutae  primus  reetor  Theodorus  fuit;  vgl.  noch  ebenda 
I,  40.  .lacob.  Guarini,  ad  Ferrarii  (iyran.  historiam,  Rononiae  1740,  II,  Vd 
theilt  mit,  dass  man  1707  in  der  Universität  zu  Ferrara  Theodor  Gaza  ein 
Epitaph  gesetzt  hat.  Dieses  Epitaph  meldet  nur  den  ersten  Aufenthalt  Gaza's 
in  Ferrara,  der  in  die  Regierungszeit  Lionello's  von  Este  fällt,  lässt  jedoch 
den  zweiten  auiVälligerweise  unerwähnt. 

'^)  So  weit  ich  sehe  stützt  sich  die  vielfach  verbreitete  Annahme,  Gaza 
habe  gleichzeitig  mit  Plethon  und  Bessarion  am  berühmten  Concil  von  Ferrara 
(1439)  als  Theilnehmer  mitgewirkt,  nur  auf  die  Anecdote  bei  Petrus  Crinitu.s, 
de  honest,  discipl.  I,  cap.  10:  Erunt  forte  cum  Bessarione  Nicaeno,  vir«  in 
philosophia  excellenti,  Theodorus  Gaza  et  Pletho  etc.  Nach  Crinitus  wieder- 
r  holen  diese  Fabel  von  der  Theilnahme  Gaza's  am  Concil  noch  Leo  Allatius, 
de  Georgiis,  Migne  Patr.  Gr.  IfiO.  p.  779:  llodius  p.  .')7;  Fnlleborn,  abgedr. 
bei  Migne  160,  p.  935.  Diese  Anecdote  ist  schon  deshalb  falsch,  weil  sie  ein 
iVeundschaftliches  Verhältniss  zwischen  Plethon  und  Gaza  voraussetzt,  während 
zwischen  beiden,  wie  wir  sehen  werden,  von  jeher  ein  entschiedener  Antago- 
nismus geherrscht  hat.  Uebrigens  ist  ja  Gaza  aucii  erst  1440  nacii  Italien 
gekommen  und  konnte  daher  am  Concil  (1439)  unniögiicli  flieiinclinuMi. 

-')  Ygl.  namentlich  die  überschwengliciien  Lobeserhebungen  vnn  Seiten 
seines  Schülers,  Ludwig  Carbo,  in  seiner  oratio  de  artibus  liberalibus,  der 
Gaza  als  Dichter  Properz  und  Tibull  gleichstellt;  Leo  Allatius  bei  Migne  ICi, 
p.  974;  ITodius  p.  81.  Uebrigens  hebt  auch  Filelfo  Gaza's  Fertigkeit  im  Verse- 
machen hervor,  vgl.  Ep.  IIb.  XV,  p.  109a.  Die  Valiraiia  ('.  1334.  p.  104  nu.l 
C.  1347,  p.  21G  bewahrt  Epigramme  Gaza's. 

■^*)  Dass  seine  ungemein  häulig  gediuckte  Grammallk.  die  den  Grundstein 

Archiv  f.  (iesihiclitc  d.  Vliildsciplni'.     11.  '-'^ 


440  ^^  '^  il  w  i  g  Stein, 

Es  mag  sein,  dass  gerade  diese  Grammatik  seinem  Namen 
einen  so  guten  Klang  vcrschalVte,  dass  er  einen  liüclist  ehrenvollen 
Ruf  nach  der  Musenstadt  par  excellence,  nach  Florenz,  erhielt"). 
AVenn  er  diese  so  auszeichnende  Berufung  nach  jenem  Centrum  der 
Renaissance,  nach  welchem  sich  die  sehnsüchtigen  Blicke  aller 
Humanisten  richteten,  gleichwol  mit  der  Motivirung  ablehnte,  er 
trage  sich  mit  dem  Gedanken,  in  seine  lleimath  zurückzukehren, 
so  gibt  mir  dieser  Umstand  einen  Fingerzeig,  die  ungefähre  Ent- 
stehungszeit seiner  Skizze  Encomium  Canis  zu  iixiren.  In  der- 
selben macht  er  nämlich  dem  musenfreundlichen  Sultan  Muhani- 
med  IT  (1451—1481)  grosse  Complimente""),  so  dass  die  Ver- 
muthung  naheliegt,  er  habe  sich  mit  der  IlotTnung  getragen,  von 
demselben    in    die   lleimath  zurückberufen   zu  werden.     Trotz  des 


I 


zu  seinem  Ruhm  gelegt  hat,  so  da.ss  man  ihn  heute  fast  nur  noch  von  dieser 
Seite  kennt,  spätestens  in  Ferrara  entstanden  sein  muss,  schliesse  ich  aus 
folgendem  Umstand:  Constaulinus  Laskaris,  der  Verfasser  der  zweitbesten 
griechischen  Grammatik,  hat  nach  eigenem  Zuges tändniss  Gaza's  Gram- 
matik schon  benützt,  vgl.  das  Prooemium  zu  seiner  Grammatik  bei  Migne  l(jl, 
p.  933.  Nun  entstand  aber  die  Grammatik  des  Laskaris  nach  dessen  eigener 
Angabe  schon  1463,  vgl.  Hodius  p.  2-41.  In  Rom  beim  Papst  Nicolaus  und 
in  Neapel  beim  König  Alphons  hat  sich  aber  Gaza  nachweislich  nur  mit  l'eber- 
setzungen  beschäftigt,  folglich  bleibt  für  die  Abfassung  der  Grammatik  nur 
der  Aufenthalt  in  Ferrara  übrig.  Dazu  passt  es  denn  auch,  dass  Gaza  in 
Ferrara,  wie  Giraldus  1.  c.  (Opusc.  Tom  II,  550)  berichtet,  in  seinen  Vortrügen 
vorzugsweise  Grammatik  und  Rhetorik  gepflegt  hat.  Ueber  die  Bedeutung 
der  Grammatik  Gaza's  vgl.  Fabricius,  Hibl.  gr.  VII,  p.  39;  Hodius  p.  72 — 77; 
Bernhardy,  Gesch.  d.  Gr.  Lit.  I,  502  und  512;  Voigt  II,  384.  Nach  Hodius 
p.  72  soll  sich  das  Autograph  der  Grammatik  auf  der  Bibliothek  in  Nürnberg 
befinden. 

")  Vgl.  Fabroni,  Vita  Cosm.  Med.  II,  p.  (J8  und  229  (in  Vitae  doctt.  Ital.). 

^'')  Gaza's  niedliche  Plauderei  Encomium  Canis,  die  sich  auf  der  Vaticaua 
(Reg.  Svec.  983)  befindet,  ist  jetzt  abgedruckt  bei  Migne  Patr.  Gr.  1(51,  p.  986. 
Hier  behandelt  er  den  Bezwinger  Constantinopeis,  Muhamined  II.,  mit  einer 
auffiilligen  Auszeichnung;  so  nennt  er  ihn  ]).  988:  töv  ta  xe  TTpöüia  tüjv  xcti}' 
iauTÖv  7:£7:atO£'j[j.£V(ov,  «p/v);  xe  xtj;  raatüv  [j.£yi3T7];  xai  x'jptioxocxfj;  ev  ävSpiuroi; 
ä|tiu\)^vxo!.  So  hätte  er  über  den  Verwüster  seines  Vaterlandes  nicht  ge- 
.schrieben,  wenn  er  sich  nicht  mit  der  Hoffnung  getragen  haben  würde,  an 
dessen  musenfreundlicheu  Hof  zu  gelangen.  Für  die  frühe  Abfassungszeit 
spricht  auch  der  Umstand,  dass  er  Plato,  den  er  später  so  heftig  befehdete, 
hier  noch  oaipiovio;  flXaxiuv  nennt,  p.  901  c. 


t»s 


I>er  Humanist  Theodor  (iaza  als  Pliüosopli.  441 

Felilschlagens  dieser  Hoffnungen  behielt  er  eine  so  unbezAvingliche 
Sehnsucht  nach  der  lieimischen  Erde,  dass  er  stets  den  stillen 
AVunsch  in  sich  trug,  auf  griechischem  Boden  begraben  /ai  werden. 

Das  Jubeljahr  der  Stadt  Rom  (1450)  zeitigte  in  dem  kraftgenia- 
lisch angelegten,  mit  nervöser  Hast  um  seinen  Nachruhm  besorgten 
Nicolaus  V.  den  Gedanken,  Rom  nicht  bloss  durch  äusserlichen  I^omp 
und  verschwenderische  Prachtentfaltung  wiederum  zum  religiösen 
und  weltlichen)  Mittelpunkt  der  christlichen  Welt  zu  gestalten, 
sondern  es  auch  durch  Heranziehung  aller  verfügbaren  geistigen 
Kräfte  unter  den  lockendsten  Versprechungen  zum  litterarischen 
Centrum  des  Humanismus  zu  erheben.  Das  Rom  des  Nicolaus  V 
sollte  dem  medizeischen  Florenz  die  geistige  Suprematie  ent- 
winden. 

Den  glänzenden  Anerbietungen  des  päpstlichen  Maecen's  konnte 
auf  die  Dauer  auch  Theodor  Gaza  nicht  widerstehen.  Er  verliess 
1450  den  iMusenhof  der  Este  zu  Ferrara  und  folgte  dem  lockenden 
Rufe  des  Papstes  nach  Rom^').  Doch  muss  er  hier  sehr  bald 
herbe  Enttäuschungen  erfahren  haben,  da  der  Papst  sein  reges  In- 
teresse weniger  dem  Professor,  als  dem  Ueb  ersetz  er  Gaza  zu- 
wendete^^). Nicolaus  V  wurde  eben  in  seinen  litterarischen  Be- 
strebungen nur  von  dem  einen,  an  sicli  anerkennenswerthen  Be- 
streben beherrscht  und  geleitet,  eine  möglichst  grosse  Anzahl 
griechischer  Autoren  in  musterhafter  lateinischer  Uebertragung 
zu  besitzen,  Avährend  die  selbständigen  Leistungen  der  Huma- 
nisten in  ihm  eine  nur  massige  Theilnahme  weckten'^).  Und 
so  beschräiikte  sich  denn  auch  die  Thätigkeit  Gaza's,  wol  der 
vornehmsten  litterarischen  Erscheinung  am  Hofe  Nicolaus  V,  zu- 
nächst ausschliesslich  auf  Uebertragungen  griechischer  Werke,  die 
auf   der    einen    Seite    freilich    seinen    Ruhm    als    Uebersetzer    be- 


=•)  Hodius  p.  GO. 

^2)  Wenigstens  ist  uns  kein  selbständiges  Werk  bekannt,  das  Gaza  unter 
dem  Pontificat  Nieolaus  V.  verfasst  hätte.  Von  einer  erspriessliciion  Lehr- 
ihätigkeit  Gaza's  in  Rom  hören  wir  nichts,  desto  mehr  aber  von  seinen 
öeberset  Zungen. 

")  Voigt  a^a.  0.11,73.  Zanelli's  Buch,  Niccolo  V.,  üntiiiilt  über  die  Be- 
ziehungen Gaza's  zum  Papst  Nicolaus,  p.  73  f.,  nichts  Belangreiches. 

30* 


im 
«ers 

n- 
%>  ! 

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442  L  lul  w  i  g  Stein, 

trriiiulet,  auf  der  anderen  aber  auch  eine  bittere  Fehde  mit  seinem 
^[ithumanisten  Georg  von  Trapezunt  heraufbeschworen  haben,  welche  Jailerti 
für  den  friedfertigen,  niildgesinnten  Gaza  eine  Quelle  von  Trübungen 
und  Bitternissen  aller  Art  geworden  ist. 

'\Vollte  man  dem  Trapezuutier  Glauben  schenken,  so  hätte 
Gaza  diesen  Streit  vom  Zaun  gebrochen.  In  einer  dem  König  Al- 
phons  von  Arragonien  gewidmeten  Schrift  nämlich  (contra  Theo- 
dorum  Gazam)  gibt  er  als  Entstehungsursache  des  Streites  an,  Gaza 
habe  ihn  in  öffentlicher  Versammlung  zweimal  angegriften  ^^).  Wahr 
mag  daran  nur  sein,  dass  der  bei  Weitem  überlegene  Gaza  den  Tra- 
pezuntier in  einer  öffentlichen  Disputation  dialeetisch  geschlagen  hat, 
was  ihm  dieser  verbissene,  ränkesüchtige  Krakehler  nicht  verzeihen 
konnte.  Gesucht  hat  Gaza  die  Händel  keinesfalls.  Denn  alle 
Zeitgenossen  bis  auf  den  Trapezuntier  bezeichnen  ihn  mit  einer 
an  ihnen  seltenen  Einstimmigkeit  als  einen  sanftmüthigen,  fried- 
liebenden Menschen  und  einen  vornehmen,  goldreinen  Character"). 

ffltr 
^*)  So    stellte    der  Trapezuutier    die  l  j-saclie    seiner  Fehde   mit   Gaza  in  i 
seinem  Widmungssclireiben  au  König  Alpiious  dar,  vgl.  Sassi,  historia  typogr. 
Mediol.  p.  15G;  Apostol.  Zeno,  dissertazioni  Vossiaue  II,  '20.     Schon  der  Titel  *" 

dieser  Widmung  ist  für  den  Trapezuntier  bezeichnend;  er  lautet:  Georg.  Tra- 
l»ezuntii  in  perversiouem  Problematum  Aristotelis  a  quodam  Theodoro 
Cage  (eine  witzig  sein  wollende  Urakehrung  für  Gaces)  editam,  et  Problema- 
tum Aristotelis  philosophiain  protectio.  Zur  Orientirung  sei  lieim^rkt,  dass  die 
Ambrosiana  in  Mailand  dieses  Pamphlet  des  Trapezuntiers  in  drei  Exemplaren 
besitzt:  G.  66,  G.  78,  G.  290,  fol.  1  —  66. 

'•'-)  So  reizvoll  auch  die  Aufgabe  wäre,  auf  Grund  des  nach  dieser  Richtung 
reichlich  zufliessenden  Materials  eine  Characterschildening  Gaza's,  des  einzigen 
intacten  Humanisten ,  zu  entworfen,  so  muss  ich  es  mir  doch  au  dioM'r  Stelle 
versagen,  weil  eine  solche  über  den  Rahmen  dieser  Untersuchung  hinaus- 
greifen würde.  Einzelne  Aussprüche  von  Zeitgenossen  über  die  Lauterkeit 
seine.s  Characters  hat  schon  Ilodius  p.  72—77  und  87—04  verbotcnus  repro-^ 
duzirt.  Bessarion  hatte  zu  seiner  Redlichkeit  ein  so  blindes  Zutrauen,  dass  ei^ 
iliiii  grosse  Summen  zur  Aufbewahrung  übertrug,  Cortcsius,  de  Cardinalibus 
]).  ÖG.  Seine  vornehme  Denkart  erkennt  man  am  reinsten  aus  den  sittlichen 
Lebensregeln,  die  er  seinem  Schüler  üemetrius  Sgoropulos  in  einem  jetzt  bei 
Migue  Patr.  Gr.  161,  p.  1012  BC  abgedruckten  Brief  ertheilt.  Einzelne  kleinere 
Züge  s.  noch  l)ei  Piatina,  Panegyricus  Bessarionis,  Migue  161,  p.  115;  Sepulveda, 
de  correctione  auni  Opp.  p.301 ;  Bandini,  de  vita  et  rebus  gestis  Bes.sarionisLVIIL 
Selbst  der  Erzschelm  Filelfo  athmet  eine  reinere  sittliche  Höhenluft,  wenn  er 
an  seinen  Freund  Gaza  sdireild,  vgl.  z.  B.  dessen  Brief  an  Gaza  vom  August 


Der  Humanist  Theodor  Gaza  als  Philosoph.  443 

Und  wer  die  unstet  iimherstreifenden  Humanisten  des  15.  Jahr- 
liunderts  mit  ihren  kleinlichen  Schwächen  und  moralischen  Ge- 
brechen, mit  ilirer  kriecherischen,  schweifwedelnden  Unterwürhgkeit 
o-egen  die  Grossen  der  Erde,  sowie  ihrem  liochfahrenden,  aufge- 
blasenen Bettelstolz  gegenüber  Geringeren  kennt,  der  wird  es  Gaza 
nicht  hoch  genug  anrechnen  können,  dass  sein  Character  inmitten 
der  erschreckenden  sittlichen  Fäulniss  lauter  und  intact  geblieben 
ist.  Während  uns  von  den  übrigen  Humanisten  Schandgeschichten 
gepfeffertster  Art  in  anwidernder  Fülle  aufgetischt  werden,  vernehmen 
wir  —  abgesehen  natürlich  von  dem  mit  Invectiven  durchsetzton 
Pamphlet  des  scheelsüchtigen  Neidharts  Georg  v.  Trapezunt  —  über 
Gaza  nicht  den  leisesten  Misston,  nicht  den  Schatten  einer  An- 
klaoe.  Die  zeitgenössischen  Berichte  überbieten  vielmehr  einander 
förmlich  in  überschwenglichen  Glorihcirungen  seines  selbstlosen, 
niakelfreien  Characters.  Es  hat  fast  den  Anschein,  als  ob  Gaza 
nicht  blos  der  einzige  wirkliche  Philosoph  unter  den  Humanisten 
seiner  Zeit  gewesen  wäre,  sondern  auch  der  einzige  wirkliche 
Character! 

Sicherlich  hat  also  der  edeldenkende  Gaza  den  Streit  nicht 
muthwillig  mit  einem  Gegner  gesucht,  der  als  Virtuose  der  Ver- 
leumdung verrufen  Avar.  Die  wahren  Ursachen  desselben  liegen 
vielmehr  in  der  Rivalität  Beider  um  die  Gunst  des  Papstes  j^ico- 
hius  V.  Georg  v.  Trapezunt  hatte  nämlich  Aristoteles'  Problemata 
und  de  animalibus  übersetzt  und  dem  Papste  gewidmet'^'').     Doch 


1465,  p.  174.  Zum  Schlüsse  theile  ich  noch  eine  Characterisfik  Gaza"s  mit, 
die,  soweit  ich  sehe,  von  Niemandem  benutzt  ist,  Paul  Cortese,  de  hominibus 
doctis  p.  41  f.;  ähnlieh  p.  55  (bei  dieser  Gelegenheit  sei  erwähnt,  duss  ich  auf 
der  Bibl.  ilagliabecchiana  in  Florenz,  Ol.  III,  Cod.  III,  No.  14  einen,  inhaltlich 
freilich  unbedeutenden  Brief  Gaza's  an  Paul  Cortese  gesehen  habe).  Die  Kraft- 
stelle bei  Cortese  lautet:  Ego  vero  sie  existimo  Theodorum  unum  e  multis 
laudandum  esse,  et  in  eo  primum  cum  summa  philosophia  sumraam  eloquen- 
tiam  conjuuctam:  nee  erat  is  in  eorum  numero,  qui  usurpatione  disciplinae, 
verbis  magis  quam  vita  Philosophiae  studia  persequunttir.  At  enim  ei  in- 
genii  et  eloquentiae  sie  humanitatis,  innocentiae  ac  omnium  virtutum  primae 
deferebantur  ....  Jure  igitur  totius  Italiae  consensu  a  doctis  est 
princeps  judicatus. 

36)    Vgl,  Apostol.   Zeno,    dissertazioni    Vossianc  II,  10,   No.  11    und    15, 
sowie  die  Bemerkung  des  Autors:  I  problemi  furono  traslati  anche  da  Teodoro 


444  Ludwig  Stein, 

Hei  diese  Uebertragung  so  mangelhaft  aus,  dass  der- Papst  iinbe-  ■M-^m 
friedigt  blieb  und  (Jaza  den  Auftrag  gab,  die  gleichen  Werke  ''" 
nochmals  zu  übertragen.  Gaza  war  vornehm  genug,  in  einer  Prae- 
fatio  seiner  üebersetzung  so  nebenhin  wol  zu  bemerken,  dass  eine 
unzulängliche  Uebertragung  des  gleichen  Werkes  schon  vorhan- 
den sei,  ohne  den  Namen  Gcorg's  zu  nennen^").  Darob  er- 
grimmte nun  der  missgünstigc  Trapezuntier  und  goss  die  volle 
Schale  seines  Zorns  in  jenem  an  König  Alphons  gerichteten  Pam- 
phlet aus.  Zwar  entfuhren  daraufhin  auch  Gaza  einige  unsanfte 
Zornesausdriicke  gegen  jenen  ^^),  aber  er  watete  niemals  gleich 
seinem  Gegner  bis  au  die  Knöchel  im  trüben  Schlamm  der 
Invective.  Als  er  vielmehr  einige  Jahre  später  sich  gleichfalls  an 
König  Alphons  mit  einer  Widmung  wendete"),  schlug  er  jenen 
l'ormvollen,  vornehm  reservirten  Ton  an,  der  seinem  Naturell  ge- 
mäss war. 

Am  Hofe  Nicolaus'  blieb  nun  wol  Gaza  Sieger,  sofern  Georg 
weichen  musste,  aber  wir  merken  nichts  von  seiner  Siegesfreude, 
wenn  er  auch  durch  die  generöse  Freigebigkeit  seines  päpstlichen 
Gönners  der  kümmerlichen  Sorgen  des  Alltags  enthoben  war  und 
in  behaglichen  Verhältnissen  lebte'"').  Seine  geistigen  Productionen 
aus    dieser    Zeit    bekunden    wenigstens    keine  .sonderliche  Frische. 


Gaza  a  concorrenza  dell'  alfro;  ed  ecco  i  prirni  semi  della  discordia  fra  loro 
insorta. 

")  Zeno  1.  c.  II,  11  und  20;  Fabricius,  Bibl.  Gr.  IX,  l'J5.  So  stellt  auch 
Neoraagus  in  der  Einleitung  seiner  Ausgabe  der  Dialectica  des  Georg  von 
Trapezunt  den  Beginn  des  Streites  dar.  Aergerlich  mag  es  dem  neiderfüllten 
Traiiozuntier  schon  gewesen  sein,  dass  man  den  weniger  bekannten  Gaza  als 
seinen  Nachfolger  nach  Florenz  berief,  A'oigt  1,  370  und  II,  ItiO. 

■'*'')  So  titulirte  er  den  Trapezuntier  z.  B.  llopvoßo'ax');,  vgl.  J.  Mähly, 
Angelus  Politanus  S.  139;  Papencordt,  Gesch.  cl.  Stadt  Rom  S.  509. 

•*")  l)iesc  Widmung  bewahrt  die  Ambrosiana  in  Mailand,  D.  118,  p.  161 
bis  163:  Theodori  Gazae  Thessalonicensis  ad  Alphonsum  regem  praefatio 
in  orationes  de  incomprehensibili  dei  natura,  divi  Joannis  Chrysostomi, 
fjuas  e  Gracco  in  Latinam  vertit. 

*")  Die  ziemlich  verbreitete  Ansicht,  als  habe  Gaza  wegen  seiner  Unbe- 
holfenheit in  finanzieller  Beziehung  sein  Lebenlang  am  Hungevtuche  genagt 
—  vgl.  z.  B.  Brucker,  historia  critica  philosophiae  IV,  65  —  ist  stark  über- 
trieben, wie  wir  später  sehen  werden. 


Der  Humanist  Theodor  Gaza  als  Philosoph.  445 

Ausser  den  obengenannten  Uebersetzungen  vun  aristotelischen 
Schriften  hat  er  damals  noch  eine  griechische  Uebertragiing  des 
bekannten  Sendschreibens  von  Nicolaus  V  au  den  byzantinischen 
Kaiser  Constautinus  Palaeologus  angefertigt^'),  wie  er  sich  denn 
überhaupt  auch  mit  der  Uebersetzung  lateinischer  Werke  ins 
Griechische  befasst  hat. 

Bald  rausste  Gaza  wieder  zum  Wanderstab  greifen.  Nach  dem 
Tode  seines  Beschützers  Nicolaus  V  (1455)  war  seines  Bleibens  in 
Rom  nicht  mehr.  Er  hatte  jetzt  keinen  Mentor,  und  die  Hu- 
manisten führten  eben  ein  Dasein  wie  die  Zugvögel,  die  beim 
Eintritt  der  rauhen  Jahreszeit  in  südlichere  Klimate  wandern.  Da 
mit  dem  Tode  Nicolaus"  am  päpstlichen  Hofe  ein  rauheres  geistiges 
Klima  entstand,  richtete  Gaza  seine  Blicke  nach  dem  neapolitani- 
schen Musenhofe,  wo  König  Alphons  mit  feinsinniger  Auslese  eine 
Gelehrtenschaar  um  sich  sammelte,  so  dass  hier  ein  frischer  litte- 
rarischer Frühlingshauch  wehte. 

Die  Fühlfäden,  die  Gaza  in  seiner  schon  genannten  Wid- 
mungsschrift an  König  Alphons  nach  Neapel  richtete,  trafen  auf 
empfänglichen  Boden.  War  er  doch  von  allen  Seiten,  so  von 
seinem  früheren  Collegen  in  Ferrara,  Joh.  Aurispa,  sowie  von 
seinem  treuen  Freund  Filelfo  nach  Neapel  glänzend  empfohlen! 
Der  König  empfing  ihn  mit  einem  Wolwollen,  wie  es  sich  bei 
einem  so  grossdenkenden  Manne  gegenüber  einem  so  gefeierten 
Gelehrten  von  selbst  verstand.     Filelfo  beglückwünschte  den  König 


■")  Die  Uebersetzung  dieses  bekannten  Briefes,  jetzt  abgedruckt  bei 
Migne  160,  p.  1201  —  1212,  erwähnt  Gaza  bereits  in  einem  an  seine  in  Con- 
stantinopel  wohnenden  Brüder  Demetrius  und  Andronikus  gerichteten 
Briefe  vom  November  1451  (datirt  h  poj[J.T)  voEtxßpi'o,)  [xr^vi  xoü  ctuva"*^  etou?). 
Dieser  Brief,  ein  Autograph  Gaza  s,  in  welchem  er  seine  Brüder  zur  Eintracht 
mahnt  und  die  Hochherzigkeit  des  Papstes  Nicolaus  V.  preist,  befindet  sich 
in  der  Vaticana  Gr.  1393  (darüber  Nolhac,  la  biblioth.  de  Fulvio  Orsino,  Paris 
1887,  p.  146')-  Eine  Abschrift  desselben  sah  ich  auf  der  Marcelliana  in  Ve- 
nedig, Cl.  II,  Cod.  03,  p.  'J5— 97,  Ueber  Gaza's  Kückühersctzmigen  in's  Grie- 
chische, vgl.  Fabricius,  Bibl.  Gr.  IX,  195ff.;  Hodius  p.  70.  Erwähnt  sei  bei 
dieser  Gelegenheit,  dass  sich  Gaza's  griechische  Uebertragung  von  Cicero 's  de 
senectute  auch  in  Lyon  Cod.  52  findet,  vgl.  Omont,  Catal.  des  manuscr.  gr. 
des  departements,  Paris  188(i,  p.  42. 


446 


Ludwig  Stein, 


zu  (lieser  glänzenden  Acquisition''').  Gaza  stand  jetzt  auf  der 
Zinne  seines  Ruhmes.  Der  Sekretär  des  Königs,  Antonius  Panor4 
mita,  entwirft  eine  begeisterte  Schilderung  von  der  fruchtbaren 
Thätigkeit  Gaza's  in  Neapel  ■*■').  Der  llofdichter  Pontanus  versteigt 
sich  gar  /u  einem  Epigramm,  in  welchem  er  in  der  verhimmelnden 
Manier  der  Zeit  die  Verdienste  seines  Collegen  feiert*').  Freilich 
haben  sich  feste  Spuren  seiner  Thätigkeit  in  Neapel  nicht  erhalten. 
Es  muss  doch  w^ol  vorwiegend  seine  Uebersetzerthätigkeit  gewesen 
sein,  die  er  ja  in  reichstem  Masse  entfaltete  ^ ^),  die  Alphons  fesselte, 


J'O  Vgl.  Filelfo'.s  Brief  an  Alphons  vom  Oct.  1456  lib.  XIV,  p.  95a: 
accessisse  audio  Theodorum  Gazen:  non  possum  uon  laetari  tibique  plurimum 
gratulari.  Ilabes  eniin  viruin ,  quo  nemo  est,  in  iiniverso  graecorum  genere 
nequc  docfior  nee  eloquentior  nee  niodestior.  Auch  nach  Neapel  hatte  Filelfo 
griechische  Briefe  an  Gaza  gerichtet,  in  welchen  er  das  Lob  des  Königs 
Alphons  mit  bombastischer  Ueberschwenglichkeit  kündet,  vgl.  Cod.  Wolfenb. 
fol.  20  und  21b.  üeber  Gaza's  Anfnahme  in  Neapel  berichtet  Barth.  Facius, 
de  viris  illustribus,  Florenz  1745  ed.  Mehus  p.  27:  vgl.  auch  Tiraboschi  1.  c. 
VllI,  1191. 

^^)  Im  Auszuge  ist  dieser  Brief  raitgetheilt  bei  Hodius  p.  62. 

**)  Dieses  Epigramm  theilt  Hodius  p.  lUO  mit. 

^^)  Auf  die  reiche  Uebersetzerthätigkeit  Gaza's,  die  sich  vorzugsweise  auf 
naturwissenschaftliche  Werke  der  Griechen,  insbesondere  des  Aristoteles, 
erstreckte,  kann  ich  hier  natürlich  nicht  eingehen.  Seine  Uebersetzungskunst 
galt  lange  Zeit  unangefochten  als  Muster,  vgl.  z.  B.  Ermolao  Barbaro  (über 
den  Gaza  einen  bei  Zeno,  Diss.  Voss.  II,  367  citirten  bemerkenswerthen  Aus- 
spruch gethan  hat)  in  den  Epp.  Angeli  Politiani  p.  548  ed.  Basel;  Iluetius, 
de  claris  interpretibus  p.  219;  Erasmus  im  Ciceroniano  p.  160;  Poggio,  ep.XlI 
(bei  Voigt  II,  188).  Unter  den  Neueren  urtheilt  Bernhardy,  Gesch.  d.  gr. 
Lit.  I,  503,  512,  dass  Gaza  sich  zuerst  dem  Genius  des  lateinischen  Ausdrucks 
anzuschmiegen  verstanden  habe.  Gaza  hatte  eben  eine  philologisch -kritische 
Methode,  über  die  uns  sein  Ammanuensis,  Gupalatinus.  interessante  Aufschlüsse 
gibt,  citirt  bei  Hodius  p.  68.  Frcilicli  iiat  es  auch  ihm  nicht  an  Verklcinerern 
gefehlt,  wie  z.  B.  Scaliger  und  Angelas  Politianus,  Miscelianea,  cap.  90;  Vossius, 
Inst.  rhet.  lib.  IV,  cap.  '.'>.  Diese  Krittler  hat  über  Leo  Allatius,  de  monsura 
feinporum  cap.  XIX,  j).  233  gebührend  abgefertigt.  Erwähnt  mag  übrigens 
werden,  dass  Gaza  für  König  Alphons  auch  militärwissenschaftliche 
"Werke  in's  Lateinische  übertragen  hat,  vgl.  Barth.  Facius,  de  viris  illustribus, 
ed.  Mehus,  Florenz  1745,  p.  28.  Med i ein is che  Kenntnisse  muss  Gaza  gleich- 
falls besessen  haben.  Das  geht  nicht  blos  mittelbar  aus  seiner  Neigung  zu 
den  naturwissenschaftlichen  Schriften  des  Aristoteles  hervor,  sondern  erhellt 
auch   unmittelbar  aus   seinem  Epitaph   (oben   Note  25),    wo  er   als  Medicus 


Der  Humanist  Theodor  Gaza  als  Philosoph.  447 

da  die  selbständigen  Werke  Gaza's,  besonders  die  philosuphischen. 
wie  wir  bald  sehen  werden,  nachweislich  einer  späteren  Zeit  ent- 
stammen. 

Der  Tod  seines  königlichen  Beschützers  Alphons  (1458)  bringt 
ihn  wieder  in  die  Zwangslage,  sich  nach  einem  neuen  Heim  umzu- 
sehen. Zum  Glücke  wendet  ersieh  an  den  Kardinal  Bessarion, 
mit  dem  er  bis  dahin  wol  nur  ganz  lose  Beziehungen  hatte,  ja  viel- 
leicht nur  litterarisch  bekannt  war.  Denn  der  Einladungsbrief, 
in  welchem  der  treftliche  Gelehrte  und  noch  trefflichere  Mensch 
Bessarion,  der  ein  im  Verhältniss  zu  seinen  bescheideneren  Ein- 
künften grandios  zu  nennendes  Maecenatenthum  ausübte^"),  Theo- 
dor Gaza  bittet  seine  Gastfreundschaft  anzunehmen  ^')^  verräth 
einerseits  durch  seinen  fremden,  formvollen  Ton,  dass  damals  noch 
kein  Freundschaftsverhältniss  zwischen  beiden  Männern  bestand, 
während  er  uns  andererseits  durch  die  Erwähnung  einiger  Ueber- 
setzungen  Gaza's  einen  Fingerzeig  gibt,  dass  er  1458,  kurz  nach 
dem  Tode  des  Königs  Alphons,  geschrieben  sein  muss.  Gegen 
Ende  des  Jahres  1458  muss  Gaza  wieder  in  Rom  eingetroffen  und 
dem  Kardinal  Bessarion  sehr  bald  freundschaftlich  nähergetreten 
sein.  Denn  als  dieser  kurz  darauf  (1459)  als  päpstlicher  Gesandter 
nach  Deutschland  reiste,  richtete  Gaza  an  ihn  bereits  eine  Epistel, 
die  auf  der  einen  Seite  ein  vertrauteres  Verhältniss  voraussetzt, 
während  sie  auf  der  anderen  beweist,   dass  Gaza's  Lebensunterhalt 


erscheint.  Uebrigens  sagt  auch  Gaza's  Zeitgenosse  und  Freund  Facius,  1.  c. 
p.  28  von  Gaza:  Praeter  haec  phiiosophiae  doctus  Medicinae  quoque  operam 
dedit,  ex  quo  et  inter  physicos  non  immerito  referendus  videtur. 

«)  Voigt,  II,  129  f. 

*')  Dieser  Brief  ist  jetzt  abgedruckt  bei  Migne  161,  p.  685.  Die  Schluss- 
worte lauten:  ab  os  [ji>]  -/.aTaxEivo'j  CTjTöiv,  ö%z^  äv  xpotp?]?  £'J7:opotr)?,  [J-Tjoev  epp-rj- 

veüwM-   xd  yctp  T;[Ji£X£pa  xat  sol  -/.oivce xczl   et  (AetaßTivai   xoi'vuv    oo^eie, 

[iri  -p6?  ctUov,  dXkä  Trpö;  -'fip-öi',  ixtTd^rfii.  Dieser  Brief  kann  nur  1458  ge- 
schrieben sein;  denn  er  setzt  die  Anknüpfung  eines  Verhältnisses  voraus. 
Allein  bei  Gazas  erstem  Aufenthalt  in  Rom  (1450—55)  befand  sich  Bessarion 
gar  nicht  da,  sondern  in  Bologna  (vgl.  Voigt  II,  129);  die  Anknüpfung  muss 
daher  später  erfolgt  sein,  zumal  Bessarion  im  gleichen  Brief  Gaza  schon  als 
üebersetzer  der  Problemata  lobt,  welche  üebersetzuug  er  ja  am  Hofe  Nico- 
laus V.  angefertigt  hat.  Dass  Bessarion  aber  1458  in  Rom  war,  ersieht  mau 
aus  einem  Briefe  Filelfo's  an  ihn,  p.  102  a. 


448  Ludwig  Stein, 

damals    ausschliesslich  von   Bessarion   bestritten   wurde**).     Jeden- B*'*"^' 
falls  steht  es  fest,  dass  er  1459  sich  bereits  in  Rom   aufhielt  undB^'^'' 
seiner  gewohnten  Thäligkeit  oblau;    da  ein   Brief  Fi lelfo's  von  Ja^ 
nuar  1460.    in  welchem    er    ihn   auffordert,  genauen  Bericht   üiierj""'*' 
sein  Ergehen    zu   erstatten,   sowie  die  Uebersenduug  seiner  Ueber- 
setzung  der  Prüblemata  zu  beschleunigen'"'),   Gaza's  Aufenthalt  in 
Rom  voraussetzt.     Und    als    Bessarion  von    seiner  Gesandtschafts-  M^ 
reise    im  Laufe  des  Jahres  1460  heimkehrte'"),  da  begann,  wahr- 
scheinlich auf  Anregung  Bessarion's,  jene  philosophische  Fehde,  der 
wir  eine  stattliche  Reihe  von  (noch  ungedruckten)  philosophischen 
Abhandlungen  Gazas  verdanken.  M^^ 

Der  Verlauf  dieser  philosophischen  Fehde  ist  bisher  weder 
ihrem  inneren  Gehalte  nach,  noch  in  der  Zeitfixirung  richtig  dar-  M*^^ 
gestellt  worden.  Die  meist  ungedruckten  Schriften  lagen  wie  eiaiB*^ 
Knäuel  da,  dessen  Entwirrung  nur  schwer  von  Statten  ging.  Denn 
selbst  die  beiden  gedruckt  vorliegenden  Werke:  Georgs  v.  Tr. 
Comparationes  Philosophorum  Aristotelis  et  Piatonis,  sowie  Bessa- 
rions  adversus  calumniatorem  Piatonis,  in  welchen  dieser  herb- 
geführte  Streit  zum  Austrag  kam,  waren  in  Bezug  auf  ihre  Ab- 
fassungszeit bisher  strittig.  Die  Behauptung  Alexandre's  nämlich, 
Trapezunt's  Werk  müsse  1458  verfasst  sein,  weil  er  in  demselben 
von  dem  seit  drei  Jahren  todten  Plethon  spricht''),  hat  neuerdings 


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mv. 


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**)  Dieser  Brief  Gaza"s  ist  noch  ungeflruckt,  aber  in  mehreren  Bibliotheken 
\orhanden:  so  Vatican.  Gr.  1393  f.  4ö;  Ambrosiana  in  Mailand  D.  118f.  42; 
Marcelliana  in  Venedig  Cl.  IV,  Cod.  52;  Lauentiana  in  Florenz,  Plut.  LV,  9. 
fol.  G5.  Der  Brief  beginnt:  "Hotj  (ausgef.  tyjv?)  Ispot'v  a>jv  xetpaAyjv  iv  KEXroTfilÄil! 
thai,  xat  üytctt'vo'jaav  TrpdtTEtv  zu  di  xoivtjv  auvTefvovxa  ojcp^Xeiav  7)yo'J|x£vo;  7]6ojj.at. 
Die  Andeutung,  dass  Bessarion  b^  KeXtoTc  sei,  lässt  veriuuthen.  der  Brief  sei  1459 
geschrieben,  da  sich  der  Kardinal  damals  auf  einer  Gesandtschaftsreise  befand, 
vgl.  Bandini,  vita  Card.  Bess.  bei  Migne  161,  p.  28.  Das  vertrautere  Ver- 
hältniss  zeigt  u.  A.  folgende  Stelle  dieses  Briefes:  ifia  5e  otatpißw  [jev  eti  h 
'P(ü|j.ifj,  axo~ä)  oTj  [1.  oe]  ijiETOiijrjvat  jtou,  £vöa|i.oiöß(oi;  EOTat  örn'  £XaT-dv(uv" 

*^  Philelph.  P:pisf.  lib.  XXV,  p.  109a. 

'''')  Anfangs  1461  war  der  Kardinal  nachweislich  wieder  in  Rom,  Bandini 
bei  Migne,  161,  p.  32. 

^')  Alexandre,  praefatio  ad  Plethonem  de  legibus,  jetzt  bei  Migne  160, 
p.  806.     Der    sonst    gut    orientirte  Fritz  Schulze,   Georgius  Gemistos    Plethon 


Der  Humanist  Theodor  Gaza  als  Philosoph. 


449 


unverdienten  Anklang  gefunden.  Dieses  Datum  führt  nämlich  voll- 
ständig in  die  Irre  und  stellt  die  Chronologie  der  philosophischen 
Werke  auf  den  Kopf.  Glücklicherweise  lässt  sich  jetzt  diese  Streit- 
frage entscheidend  beantworten.  Aus  einem  unbeachteten  Brief- 
wechsel Filelfo's  ist  nämlich  der  unanfechtbare  Beweis  7ai  er- 
bringen, dass  die  Abfassung  der  Schrift  Trape/Aint's  in  das  Jahr 
1464  und  die  der  Gegenschrift  Bessarions  in  1469  zu  setzen  ist^*). 
Der  oßenen  Feldschlacht  zwischen  dem  Trapezuntier  und  Bes- 
sarion  war  zuvor  ein  stilles  Geplänkel  zwischen  Bessarion  und  Gaza 
vorangegangen.  Gaza  war  unbedingter  Verfechter  des  Aristoteles 
und  damit,  im  Sinne  der  Zeit,  von  selbst  ein  Gegner  Platon's; 
Bessarion  hingegen  vertrat  einen  mehr  eklektischen  Standpunkt, 
sofern  er  die  Gegensätze  zv^^ischen  Plato  und  Aristoteles  möglichst 
zu  verwischen  suchte.  Aus  diesem  eklektischen  Bestreben  ent- 
sprang in  Bessarions  philosophischem  Gehaben  eine  gewisse  Zwei- 
deutigkeit,  die  nicht  unbemerkt  blieb  ^■*).     Eine  würdige,  sachkun- 


S.  106  nennt  diese  Combiuation  Alexandre's  eine  scharfsinnige.  Dass  aber 
aller  Scharfsinn  Alexandre \s  an  der  Macht  der  Thatsachen  abprallt,  wird  die 
folgende  Note  zeigen. 

''^)  Das  ganze  Kartenhaus  der  Combination  Alexandre's  baut  sich  auf  den 
Umstand  auf,  dass  Georg's  Schrift  1458  vertagst  sein  müsse,  weil  er  in 
derselben  von  dem  seit  drei  Jahren  todten  Plethon  spricht;  dieser  aber 
könne  spätestens  1455  gestorben  sein.  Abgesehen  nun  davon,  dass  inzwischen 
gefundene  Documente  Plethon's  Tod  um  geraum  zwei  Jahre  zuriickrücken  (vgl. 
Schulze  a.  a.  0.  S.  106),  ist  die  luftige  Hypothese  Alexandre's,  Georg's  Schrift 
sei  1454  verfasst,  an  sich  ganz  unhaltbar.  Denn  gleich  beim  Erscheinen 
dieser  Schrift  schreibt  Filelfo  im  August  1465  (lib.  XXVI,  p.  175)  an  Georg 
von  Trapezunt:  Praeterea  audio  te  quaedam  scripsisse  pro  Aristotele 
eontra  Plethonem.  Non  parvam  rem  esse  puto.  Bessarions  Gegenschrift 
hinwieder  muss  1469  verfasst  sein,  denn  Filelfo  schreibt  im  October 
1469  (lib.  XXXI,  p.  214)  einen  überschwenglichen  Dithyrambus  au  Bessarion, 
in  welchem  er  ihn  zu  seinem  soeben  erschienenen  Werk  gegen  den  „male- 
dictum"  Georgium  Cretensem  beglückwünscht!  Diese  Streitfrage  wäre  somit 
geschlichtet. 

^^)  Eine  gewisse  Zweideutigkeit  im  Verhalten  Bessarions  gelegentlich  des 
Plethonstreites  hat  schon  der  anonyme  Uebersetzer  der  schon  besprochenen 
Boivin'schen  Abhandlung  in  den  Actis  philosophorum  X,  559  bemerkt.  Dieser 
Ansicht  tritt  auch  v.  Stein,  7  Bücher  zur  Gesch.  des  Piatonismus,  III,  128  bei, 
wogegen  Prantl,  Gesch.  d.  Logik  IV,  156  die  Stellung  Bessarions  ganz  schief 
auffasst.     Thatsächlich  liegen  die  Verhältnisse  so,  dass  Bessarion  kein  fanati- 


450  Ludwig  Stein, 

füge  Vertretung  des  Aristotelismus  im  Gegensalz  zur  einseitigen 
Hervorkehruug  des  Platouismus,  wie  diese  von  Seiten  Plethons, 
des  Lehrers  Bessarious,  erfolgt  war,  mag  Bessarion  nicht  unwill- 
kommen gewesen  sein.  Und  so  dürfte  er  denn  seinen  Freund  Gaza, 
den  begeisterten  Aristoteliker,  ermuntert  haben,  in  einer  Abhaiul- 
liing  seine  Ansichten  darüber  niederzulegen,  ob  die  Natur  nach 
Aristoteles  mit  Zweckbewusstsein  und  Ueberlegung  handle. 
Diesem  Wunsche  willfahrte  nun  Gaza  in  seiner  ersten,  Plethons 
Ausführungen  bekämpfenden  philosophischen  Abhandlung:  'Oxi  t; 
cpuaic  ßouXcUE-at,  die  Anfangs  1461  entstand '■").  Ä^^iti 

Auf  Gaza's  Abhandlung  antwortete  nun  Bessarion  noch  im  'ii" 
gleichen  Jahre  in  einer  kleinen  Schrift:  De  natura  et  arte,  in  i  »"ti 
welcher  er  sich  unter  voller  Schonung  des  Stagiriten  doch  in  dieser 
Frage  Plato  annäherte").  Wesentliche,  tiefer  greifende  Unter- 
schiede zwischen  Plato  und  Aristoteles,  fiilirt  hier  Bessarion  aus, 
Hessen  sich  ja  doch  nur  in  der  Ideenlehre  coustatiren;  aber  diese 
sei  in  ein  Dunkel  gehüllt.  Es  sei  nicht  klar,  ob  den  Ideen  auch 
ein  gesondertes  Dasein  (/(uoiatov)  zukomme,  und  wenn  dies  der 
Fall,  ob  sie  an  sich  seien  oder  nur  im  menschlichen  Verstände 
cxistirten  ^^). 


I 


* 


scher  Parteiraann  des  Plethuu  war,  vielmehr  auch  Aristoteles  volle  Gerechtig- 
keit widerfahren  liess.  Um  nun  die  schwebenden  Streitfragen  seinerseits  klären 
zu  helfen,  mag  er  Gaza  angeregt  haben,  für  die  philos.  Vertheidiguug  des 
Stagiriten  einzutreten. 

•*)  Diese  anuoch  ungedruckte  Alihandhing  befindet  sich  in  zwei  Biblio- 
theken: Vatican.  Gr.  G.  1098  f.  •_'1.5;  Ambrosiana  D.  118,  fol.  155— l.ö'J;  nach 
letzterer  citire  ich.  Auf  den  Inhalt  dieser  philosophischen  Abhandlung  gehe  ppiis 
ich  hier  nicht  ein,  da  ich  sie  in  der  zweiten  Hälfte  dieser  Untersuchungen 
zum  Abdruck  bringen  und  philosophisch  würdigen  werde.  Dass  dies  die 
erste  philosophische  Abhandlung  Gaza\s  war,  ergibt  sich  sowohl  aus  ihrem 
Inhalt,  wie  aus  dem  Verlauf  meiner  Darstellung  von  selbst. 

")  Diese  Schrift  Ressarion's,  die  wol  ursprünglich  die  Form  eines  Briefes     ' 
an  Gaza  haben  mochte  (auf  der  Bibl.  Barberiniana  in  Koin  I,  84,  alte  No.  399     , 
sah   ich   nämlich   diese  Abhandl.  Bessarion's  unter  der  Form:    Epistola  ad     j 
Theodorum  Gazam,  cujus  argumentum,   quod  natura  considto  agat)  ist  in  er-     j» 
weiterter,  den  Trapezuntier  bekämpfender  Fassung  abgedruckt  als  liber  sex-       ) 
tus  (p.  105—111  der  Aldine  von  1503)    der  Gegenschrift  Bessarion's:    In  Ca- 
lumniatorem  Piatonis. 

^*)  Bessarion,  in  calumn.  Plat.  VI,  p.  105a:    Quo  tjuidem  in  loco  maxima 


Der  Huiuanist  Theodor  Gaza  als  Pliilosoiili. 


451 


Diese  Andeutung  Bessarions  griff  nun  Gaza  auf,  indem  er  in  seiner 
umfangreichsten,  'AvTifjp-/)T'.y.oy  betitelten  Abhandlung  '^),  a  usgehend 
von  dem  eben  entwickelten  Gedankgang  Bessarions,  der 
Ideeulehre  nähertritt  und  die  Einseitigkeiten  Gemistos  Plethons,  der 
ad  majorem  Piatonis  gloriam  eine  Verkleinerung  und  Herabwür- 
digung des  Stagiriten  vorgenommen  hatte,  in  eine  etwas  scharfe, 
vielleicht  allzAischarfe  Beleuchtung  rückt. 

Jetzt  hatten  natürlich  die  Piatonfreunde  wieder  das  Wort. 
Und  wie  es  im  aufgeregten  Kampfesgewühl  zu  ergehen  pflegt,  dass 
nicht  die  Berufensten,  sondern  die  lautesten  Schreier  die  übrigen 
mit  ihrer  Stentorstimme  übertönen,  so  erging  es  auch  hier.  Platou's 
Partei  wurde  von  einem  unreifen  Jüngling,  Michael  Apostolius,  er- 
griffen'^), der  in  einem  bramarbasirenden  Keiftone  gegen  Gaza 
losfuhr  und  Plethon  masslos  verherrlichte.    Der  vorwitzige  Streber 


meo  jiidicio  infer  Platonem  et  Aristotelem  diFferentia  est.  Tlinc  perdiffi- 
cilis  illa  et  perobseura  de  ideis  quaestio  oritur,  etc.  Aehnlich  forraulirt 
Bessarion  diesen  Gedanken  in  einem  (noch  nngedrnckten)  Briefe  an  .Joli. 
Argyropolus,  den  die  Lanrenliana  (bei  Bandini,  Cod.  Gr.  II.  275,1)  bewahrt: 
e{  Evia  Twv  £toiüv  thi  /(upiaxa,  r^  z-ivrfj  äytöpiaxa ;  v.a\  et  -/tupiaTc«,  -oTspov  xcd)' 
o'j-r').   'j'xieaTTjxoTci,  r^  h  iTitvotcti;  v.züj.v/a; 

^0  Gaza's  'Av-ciöprjtr/ov,  die  philoso])hisclie  Hanptschrift,  die  diesen  Sturm 
eigentlich  entfesselte,  ist  noch  ungedruckt;  sie  befindet  sich  auf  der  Yatican. 
Gr.  C.  1393  fol.  10;  Ambrosiana  R.  111  und  D.  118  fol.  1—28;  Laurentiana  in 
Florenz,  Plut.  LV,  Cod.  13,  2  (ich  citire  nach  dieser  ndschr.).  Die  Anfangs- 
worte von  Gaza's  'AvxtpprjTixöv  schliessen  sich  unverkennbar  an  die  in  voriger 
Note  mitgetheilten  Worte  Bessarion's  an:  ErpT|TC(t  Brjaac«ptiuvi  .  .  .  tö?  iXmsziz 
(jiEv  i'X/.a  TE  xüJv  STTO'JoatOTipiov  (}£a)pT|,aaT(uv  svTE'Jieaö^t  ....  ~ip\  sioAv,  st 
Ivia  -/(upiara  v;  -ctvTT;  d/cüpiaTOt;  v.oX  zl  -/wpiaxc«,  rroTspov  y.oti}'  a'ka  b'£Z- 
OTw-rct,  ri  xEtVeva  h  srtvoi'at;-  <xrfih  ok  E'jpot  toioöto,  akU  Xotoopi'a;  <j.ovov  vM 
a/.wp.ij.aTa  7,tX. 

^8)  Das  Pamphlet  des  Mich.  Apostolius  gegen  Gaza,  gleichfalls  ungedruckt, 
findet  man  ziemlich  häufig;  so  Bibl.  Palatina  im  Vatican  No.  275;  Bibl.  Bar- 
beriniana  I,  84  neu,  399  alt  (dasell)st  No.  20G,  I,  90  auch  11  Briefe  des 
Apostolius);  Ambrosiana  M.  41  fol.  90-97  und  95  fol.  1—7;  Laurentiana  Plut. 
LVIII,  Cod.  33,  fol.  91—96  (nach  welcher  ich  citire).  Dass  diese  Gegenschrift 
sich  gegen  das  'Av-ippTjTixöv  Gaza's  wendet,  ersieht  man  u.  A.  auch  daraus, 
dass  Apostolius  an  die  Worte  Gaza's  über  die  Schmiihsucht  (Xotoopfa)  anknüpft, 
indem  er  wie  fulgt  beginnt:  "Eo£t  fl^itcova,  E'fcsp  ccj-oj  'ApiOTOXE^-rj?  o'jx  ipSw; 
iU-Azi  Tiepl  o'jata;  [hier  fehlt  wol  zlr-zh].  i/iY/eiv  -A  Xrcoaevc«  -^ccjho;  .TEtp'iiHcd, 
iDA  |j.Tj  ?. 0  10  opElifta  t  xävopi. 


452  r, ml wig  Stoin. 

glaubto  tlurch  dieses  Pamphlet  Wunder  ^vie  hoch  iu  Bessarions  > 
Gunst  zu  steigen,  aber  er  erfuhr  von  diesem  eine  völlig  verdiente, 
ganz  ungewöhnlich  herbe  Zurückweisung.  Auf  Apostolius  Schmäh- 
schrift, die  Gaza  selbst  vornehm  ignorirte,  antwortete  nämlich 
dessen  vertrauter  Freund*'),  Audrouicus  Callistos,  der  die  De- 
batte aus  dem  Schlamm  der  persönlichen  Invective  hinaushob  in 
die  Bahn  reinsachlicher,  strengphilosophischer  Polemik.  Und  als 
Bessarion  herausgefordert  wurde,  sein  Gutachten  über  Andronicus' 
Schrift  abzugeben,  da  antwortete  er  in  einem  längeren,  höchst 
lesenswerthen  Schreiben,  dessen  Datum  uns  einen  festen  Anhalts- 
punkt für  die  Fixirung  des  Zeitpunktes  dieser  philosophischen  Streit- 
frage bietet''").  Dieses  Schreiben  lautet  für  Apostolius  geradezu 
vernichtend. 

Der  Zwischenfall  mit  Apostolius  war  damit  erledigt,  nicht  so 
das  Geplänkel  zwischen  Bessarion  und  Gaza.  Bessarion  schrieb 
nämlich  noch  eine  kleine,  w^ie  es  scheint,  verloren  gegangene  oder 
iu  seinem  Buche  Adversus  calumniatorem  Piatonis  mitverarbeitete 
Abhandlung:  'IVsp  riÄarwvoc  Trspl  cifj-apjjLSvrp.  in  welcher  das  Problem 
des  Determinismus  zur  Verhandlung  kam.  Darauf  antwortete  Gaza 
wieder  in  einer  tiefgehenden,  scharfsinnigen  Schrift:  rispl  izouai'ou 
X7.1  'z/'/ucj'Vju.  in  welcher  er  den  aristotelischen  Standpunkt  schärfer 

.  ^ä)  Die  vertraute  Freundschaft  mit  Aiulronicus  erhellt  aus  den  Briefen 
Gaza's  an  denselben ,  welche  die  Laurentiana  Plut.  LV,  Cod.  9,  f.  63 — 65  auf- 
bewahrt.  So  redet  er  ihn  beispielsweise  im  zweiten  Brief,  fol.  64  an:  cpiXtctTS 
äo£?/f£  yjript.  Diese  Briefe  hat  auch  die  Vaticana  Gr.  13'J3,  f.  4.5  und  die  Am- 
brosiana D.  118,  fol.  36—38.  Die  Yertheidigungsschrift  des  Andronicus  (wegen 
seines  eifrigen  Aristotelisiniis  auch  Andronicus  Peripateticus  genannt)  ist  sehr 
selten. 

^")  Diesen  Brief  Bessarion's.  datirt  aus  den  Bädern  von  Viterba  19.  Mai 
1462,  hat  zuerst  Boivin  1.  c.  iu  französischer  Uebersetzung  publicirt,  p.  720 
liis  724.  Sodann  hat  die  franz.  Akademie  in  einem  kleinen  Auszug,  histoire 
de  l'academie  royale  etc.,  Amsterdam  1731,  Tom.  II,  45.')— 464,  den  griechischen 
Text  mit  lateinischer  Uebersetzung  herausgegeben.  In  diesem  Brief  behandelt 
er  nun  den  sich  an  ihn  hcranschmeichelnden  Apostolius  wie  einen  ungezo- 
genen Schulbuben.  In  der  gleichen  Angelegenheit  schrieb  Nicolaus  Secundi- 
nus  einen  gleichfalls  aus  Viterba  Juni  1472  datirten  Brief  an  Andronicus 
Callistus  (jetzt  abgedruckt  l)ei  Boissonade,  Anecdota  Graeca  V,  377  —  387), 
der  einen  begeisterten  Dithyrambus  auf  Gaza's  Charaktereigenschaften  an- 
stimmt. 


Der  Humanist  Theodor  Gaza  als  Plülosoph. 


458 


Ihervorkehrte    und    namentlich    die    Scheidegrenzen    gegen    Plato 

I  schroffer  zog.  ^ 

Zu   einer   vierten    philosophischen  Abhandlung    wurde  Gaza 

lendlich  veranlasst  durch  eine  kleine  (noch  ungedruckte)  Schrift 
Bessarious:  Ilpoc  -ä  HXr^öuivoc  -poc  'xYpiaxotsX-/;  Tspt  ouatac,  in 
welcher  der  Substanzbegriff  Plethon's  erörtert  und  der  Nachweis 
unternommen  wird,  dass  zwischen  Plethon  und  Aristoteles  im  letz- 
ten Grunde  nur  eine  Wort  Verschiedenheit,  keine  Sachdifferenz  in 

Ider  Fassung  des  Substanzbegriffs  bestehe"').  Darauf  replizirt  nun 
Gaza  in  einer  scharfen  Auseinandersetzung  in  Dialogform:  Bcoowpou 
upoc    nXrjilwvot    uTtsp    \\^A(j-rj-iloo;^').     Hier    weist    nun    Gaza    die 


^')  Die  Abhandlung  Gaza's  über  die  Willensfreiheit  (FIcpl  ixo-j^io-j  xat 
Idxo'jato'j) ,  gleichfalls  ungedruckt,  findet  sich  mehrfach:  Vatican.  Gr.  1393 
Ifol.  34— 39;  Bibl.  Reg.  Svec.  im  Vatican  Cod.  C.  164  f.  25;  Marciana  in  Ve- 
Inedig,  Cl.  XI,  Cod.  18;  AmLrosiana  in  Mailand  D.  118,  f.  149-154;  Lauren- 
Itiana  in  Florenz,  Plut.  LY,  Cod.  9,  fol.  49— 57  (nach  dieser  citire  ich).  Die 
lAnalyse  dieser  interessanten,  wol  originellsten  philosophischen  Schrift  werde 
lieh  in  der  zweiten  Ahtheilung  dieser  Abhandlung  bieten.  Hier  will  ich  nur 
Inoch  den  Nachweis  liefern,  dass  auch  diese  Schrift  Gaza"s  auf  eine  vorauge- 
Igangene  Bessarion's  Bezug  nimmt.  Fol.  55a  sagt  Gaza  nämlich  folgendes: 
IxaXÄs  8e  xat  BrjGaafuuvt  nü  [epap/T]  h  toi?  ÜTisp  FIXaTuivo;  ^oyoi;  zEpl  £[[j.ap- 
|(jL^vrj;  H'fo^Ti.  5[j.a  ~6  -zz  r/.o'iaiov  y.ai  tö  c'iaappivov  '^'jXa-T£Tc<[.  Eine  Schrift 
Ißessarion's  über  Piatons  Begriff  der  Et|j.ap|j.^vr|  hat  sich  jedoch  nicht  erhalten; 
Isie  ist  vielleicht  in  sein  Werk  „in  Calumniatorem  Platonis"  hineinverarbeitet 
porden,  da  ja  Bessarion  hierin  alle  seine  i)hilosophischen  Leistungen  zu- 
[sammengefasst  hat. 

•^0  Diese   vierte  philos.  Abhandlung   Gaza's    findet   sich   meines  Wissens 
Inur  in  der  Ambrosiana  in  Mailand,   D.  118,  f.  125—129.     Dass  sie  die  letzte 
Isein  muss,  erhellt  daraus,  dass  Gaza  hierin  auf  seine  früheren  Arbeiten,  beson- 
ders auf  das  'AvTtpp7jTi7.6v  und  Flspt  twj'slo'j  schon  Bezug  nimmt.    Die  Schrift 
hat  die  Form  eines  Dialogs  zwischen  Plethon  und  Gaza,  und  kommt  zum  Schluss 
Izu  folgendem  Ergebniss  (fol.  129):  xal  £Xa[j.7ipävctat  (lxXot[j.-p'jveTaty)  t6  toü  OXct- 
Ixüjvo;,  ö'xt  [i^po?  oXou  ivezct,  ouy  oXov  [/.epous  evexa  aTcepydCs"«' ö  ^eo; •  TOiaüia 
'.  xat  'Apia-roxar,?  TioXXctxts  Xifzi  xai  ßeXxtov.     Diese   den  Begriff  der  Substanz 
Ibehandelnde   Schrift   nimmt   offenbar  Bezug  auf  eine  (noch   ungedruckte)  Ab- 
handlung Bessarious,   die  ich  in  der  Laurentiana  Plut.  X,  Cod.  14,  fol.  (59  ge- 
funden habe,  betitelt:    Brjasapt'cuvo;  Tipö;  xot  llX-fjüiovo?  Tipo;  'AptaxoxEXv]  Trspl  ob- 
jaici;.    Auch  hier  bildet  der  Substanzbegriff  den  Ausgangspunkt,  und  Bessariuu 
kommt   daselbst   (fol.  70)   zu   dem    echt   eklektischen   Schluss:    AptüxoxeXrj   /.ai 
IlXcttiuva,  xaüxöv  o'  d-ti^  y.a\  nX/il)iovc(,  -zoli  vo7jp.cc5t  OEiiat  a'j[i.'Jcüvouc,  xav  ^Tj- 
JjAaai  otEVfjvd/axov.     Uebrigens    mag   diese  Abhandl.  Bessarion's   schon  älteren 


454  Ludwig  Stein, 

Trenimnusliinen  zwisclieu  Platouismus  und  rcinenl  Aristotelismus 
mit  feinem  Verstiimliiiös  aiil'.  i)ieses  KreuzfeutM-  von  philosophi- 
schen Repliken  und  Dupliken  muss  sich  146B — 1464  in  Rom  ab- 
gespielt haben,  da  Nvir  Gaza  1405  bereits  als  Pfarrverweser  in 
(alabrien  antreflen. 

Man  hat-  freilich  viel  gefabelt  von  einem  längeren  Aufenthalte 
Gaza's  auf  einer  kleineu,  ihm  von  Bessarion  übertragenen  Pfarre 
in  Calabrien *'^),  ohne  sich  über  das  Wo,  Wann  und  die  Zeitdauer 
dieses  Aufenthaltes  klar  zu  werden.  Ueber  das  Wo  hat  man  sich 
nach  einer  Veröffentlichung  des  Pietro  Marcellino '^^)  jetzt  geeinigt; 
es  war  dies  die  Pfarre  S.  Giovanni  a  Piro  in  Lucanien.  nur  un- 
eigentlich Calabrien  genannt.  Aber  auch  das  Wann  lässt  sich 
leicht  ermitteln.  Man  hat  nämlich  übersehen,  dass  in  drei  Briefen 
Filelfo's  dieses  Aufenthaltes  Erwähnung  geschieht.  Hält  man  nun 
die  Daten  dieser  Briefe  zusammen,  so  springt  sofort  in  die  Augen, 


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Datums  sein,   da  Gaza    auf  dieselbe,    wie  es   scheint,   sclion   im  'Avttppr^Ttxöv  <|j,i,^ 
Rücksiclit  nimmt;   er  spriclit  da  uäralieh  von  einer  Schrift  Bessavion"s:  ^v  toTc 
'jTCEp  nX'/Tcovo;  Aoyot;.    Ueber  etwaige  weitere  philoso))hisehe  Schriften  (iaza's 
gilt  Folgendes.     Die  Vaticana  ('.  13o4.  tVd.  98  besitzt  noch  von  Gaza:  'Atostj- 

(nirgenils  erwähnt);  die  Ambrosiana  I).  118,  fol  14o— 147  und  J.88,  fol.  07— 71 
besitzt  von  Gaza:  Xüai;  drö  cpiuvT];  (ein  Excerpt,  gleichfalls  nirgends  erwähnt). 
Isaac  Vossius  berichtet  noch  von  einer  Schrift  Gaza's:  de  fato  (vgl.  Hodius 
p.  80);  diese  ist  jedoch  wol  identisch  mit  Gaza's  Trepi  exo'jaicj.  .Jene  Abhand- 
lung Gaza's  de  anima,  die  der  ziemlich  unzuverlässige  Allatius  l)ei  Jligue 
161,  p.  1)72  erwähnt,  ist  sicherlich  nur  eine  Verwechslung  mit  der  gleichna- 
migen Abhaudl.  des  Aeueas  Gaza. 

ß3)  Die  unsicher  tastenden  ?>ericlite  über  Gazas  Aufenthalt  in  Galabrien 
vgl.  bei  Hodius  p.  62.  .Jovius  p.  (i2  berichtet:  sacerdotium  in  Magna  Graecia 
commeudante  Bessarioue  ju-omeruit,  quod  certe  satis  esset  moderato  frugique 
homini. 

''^)  Es  war  die  Abtei  S.  Giovanni  a  Piro  in  Lucanien,  an  der  Grenze 
von  Calabrien,  daher  kann  mau  nur  uneigentlich  von  einem  Aufenthalt  in 
Magna  Graecia  sprechen.  Pietro  llarcellino  berichtet  in  seiner  Geschichte 
dieser  Abtei:  Capitoli  fatti  et  ordinati  per  lo  Magnitico  Messer  Teodoro  Greco 
Procuratore  et  Fattore  generale  in  lo  Monastero  di  S.  Giovanni  de  Piro 
nomine  e  pro  parte  dello  Rev.  Monsignore  lo  Cardinal  Greco  .  .  .  sub  anno 
Domini  146(;.  Auf  diese  interessante  Thatsache  liat  zuerst  Tiraboschi  1.  c. 
YIII,  1194  s(|.  aufmerksam  gemacht.  Das  hier  geiumnte  Datum  (1466)  stimmt 
genau  mit  dem  von  mir  gefundenen  und  gleich  mitzutheilenden. 


I 


I 

i 


i 


Der  Humanist  Theodor  Gaza  als  Pliilosopli.  455 

dass  Gaza  nur  in  den  Jalwen  1465 — 1467   auf  seiner   Pfarre  ge- 
weilt haben  kann*'). 

In  den  nächstfolgenden  Jahren  widmet  Gaza  seine  Thätigkeit 
weniger  dem  Dienste  Bessarions,  mit  dem  sich  das  freundschaftliche 
Verhältniss  durch  die  philosophische  Polemik  vielleicht  etwas  ge- 
lockert hatte  ®'^),  als  vielmehr  dem  Bischof  Joh.  Andreas  von  Alaria. 
Man  hat  nämlich  noch  nicht  bemerkt,  dass  Gaza  1468/69  mit 
diesem  Bischof  gemeinsam  eine  textkritische  Durchsicht  sämmt- 
licher  Werke  des  Plinius  vorgenommen  hat ").  Aber  auch  in 
den  nächstfolgenden  Jahren  bis  zum  Tode  Bessarions  (1472) 
finden  wir  Gaza  stets  in  gemeinsamer  Thätigkeit  mit  dem  Bischof 
von    Alaria,    wie    man    aus    einigen    Briefen    Filelfo's    entnehmen 


")  Im  August  1405  schrieb  ihm  Filelfo  (üb.  XXV,  p.  174):  Nunquam  tu 
sane  in  Lucauiara  concessisses  rusticatum,  si  sapientissimus  ille  pater  ac 
idem  (j.£yaXo7:p£7:£axaTOs,  Nicolaus  V,  pontifex  maximus,  esset  in  vivis.  Im 
October  1467  aber  gratulirt  Filelfo  seinem  Freund  Gaza  zu  seiner  Rück- 
kehr nach  Rom  (IIb.  XXVIII,  p.  109b)  und  bemerkt  scherzweise,  er  habe 
befürchtet,  Gaza  sei  in  Calabrien  so  verbauert,  dass  er  auch  die  Musen  in 
Getreide  umgewandelt  hätte.  Aehnlich  schreibt  Filelfo  im  Januar  1468  an 
Bessarion  (lib.  XXVIII,  p.  195).  Gaza  kann  demnach  nur  die  Jahre  1465  bis 
1467  in  Lucanien  zugebracht  haben.  Uebrigens  hat  Filelfo  an  Gaza  auch  wäh- 
rend dessen  Anwesenheit  in  Calabrien  geschrieben,  vgl.  den  griechischen  Brief 
im  Codex  Wolfenb.  fol.  29a,  wo  er  ihm  scherzweise  vorwirft:  o'j  (jivTot  y«P  h 
Asuxavia  ;j.axprJT£pov  dnix^i  MeoioXctvryj  -q  t6  MeotoXotvov  A£'J7,avic(?.  Mit  schwül- 
stigem Pathos  beglückwünscht  F.  den  Boden,  der  seinen  Freund  Gaza  trägt: 
eö8at[JL0v  AE'jxavt'a  y^ai^^  ^'1  l'^~^9^  '^'^^"^  ''^^'f^'''  ö^öowpov  tov  FaCviv  £v  tote  fjvciYpot; 
TiapaXaßoüaa 

66)  Es  wäre  nämlich  nicht  undenkbar,  dass  die  oben  geschilderten  littera- 
rischen Plänkeleien  zwischen  Bessarion  und  Gaza  zu  einer  vorübergehenden 
Verstimmung  Anlass  gegeben  hätten,  da  die  jedenfalls  unfreiwillige  Entfernung 
Gaza's  von  Rom  einer  kleinen  Verbannung  nicht  unähnlich  sieht.  Als  jedoch 
des  Trapezuntiers  Schmähschrift  gegen  Bessarion  erschienen  war  und  dieser 
sich  zur  Antwort  anschickte,  da  mag  er  Gaza  als  willkommenen  Mitarbeiter 
zurückberufen  haben.  Dafür  spricht  ein  Brief  Bessarion's  an  Gaza,  den  Petr. 
Lambeccius,  Comm.  de  Bibl.  Caes.  Vindob.  VII,  164  auszugsweise  mittheilt. 

")  Dies^  Thatsache  geht  aus  einer  Schlussbemerkung  hervor,  die  ich  um 
Ende  der  schönen  Pliniushandschrift  der  Bibl.  Angelica  in  Rom  (S.  II,  4)  ge- 
funden habe;  hier  heisst  es:  Auxilio  gratiae  omnipotentis  dei  et  adjutore 
Theodoro  Gaza  Joh.  Andreas  Episcopus  Alariensis  Plinium  maxima  la- 
bore  recoffnovit  XII  die  mensis  decembris  MDLXIX  Rumae.  Von  der 
Thätigkeit  Gaza's  für  Plinius  war  bisher  nichts  bekannt. 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosuphie.     11. 


45G  T.  11  (1  w ig-  Stein, 

kann  ''^).  Der  Tod  Bessarion's  ging  Gaza  begreillicherweise  sehr 
nahe;  er  hatte  in  ihm  nicht  blos  den  Freund,  sondern  auch  den 
ökonomischen  Rückhalt  verloren.  Zwar  sind  die  ausgestreuten 
Märchen  über  seine  drückende  Dürftigkeit  eben  nur  ^lärchen^'). 
Ebenso  ist  sein  Verhältniss  zum  Papst  Sixtus  IV.,  der  ihn  au- 
geblich so  schnöde  behandelt  hat,  dass  er  ihm  gelegentlich  der 
Ueberreichung  eines  in  einen  kostbaren  Einband  gehüllten  Werkes 
nur  den  Preis  des  prächtigen  Einbandes  erstattet  haben  solF"), 
stark  aufgebauscht  und  im  Geiste  der  Zeit  übertreibend  ausge- 
schmückt. Sixtus  IV.  war  freilich  gerade  für  wissenschaftliche 
Zwecke    nicht     eben    von    medizeischer    Generosität,     aber    doch 


1 


''*)  Dass  Gaza  mehrere  Jahre  mit  dem  Bischof  von  Maria  zusammen  ge- 
arbeitet hat,  ersieht  man  aus  einer  ganzen  Reihe  von  Briefen  Pilelfo's  theils 
au  Gaza  vom  Febr.  14G9  und  December  1471  (üb.  XXXIV,  p.  243a),  theils 
an  den  Bischof  selbst,  Juni  1470  (üb.  XXXI,  p.  221",  lib.  XXXII,  p.  225; 
IIb.  XXXIII,  p.  229  und  229a).  In  diesen  Briefen  kommt  Filelfo  häufig  auf 
die  Zusammenarbeit  beider  Freunde  zurück.  Joh.  Andr.,  episcopus  Alariensis 
gab  nämlich  14G9— 71  in  Rom  eine  ganze  Reihe  römischer  Schriftsteller  in 
Gemeinschaft  mit  Gaza  heraus.  Dem  Text  sind  meist  Praefationes  vorgedruckt, 
in  welchen  sich  der  Bischof  über  die  Mitarbeit  Gaza's  auslässt,  vgl.  Botfield, 
prefaces  to  the  first  editions  of  the  greek  and  roman  classics,  London  1861, 
p.  78-99,  p.  107,  115  f.  In  der  Praefatio  zu  Aulus  Gellius  sagt  der  Bischof 
in  der  Widmung  an  Paul  II.  (bei  Botfield  p.80):  confisns  praecipue  de  summa 
eruditione  et  benevolentia  mei  Theodori  Gazae,  cjui  non  in  una  aliqua  seorsum 
facultate,  sed  in  omnibus  animi  generatim  ingenui  disciplinis,  est  doctissimus. 
Um  diese  Zeit  (nach  Hodius  p.  72  im  Jahre  1470)  verfasste  Gaza  auch  seine 
berühmt  gewordene,  zum  Theil  gegen  Plethon  gerichtete  astronomische 
Schrift  Ikpl  |r/)v<ji)v  (vgl.  tlarüber  Leo  Allatius,  de  mensura  temporum  p.  137  ff. 
und  p.  102  f.).  Neuerdings  entstand  über  diese  Schrift  in  philologischen 
Kreisen  eine  lebhafte  Debatte. 

"")  ^'gh  ohen  Note  40  und  Note  G.  Wäre  er  nach  dem  Tode  Bessarion's 
ökonomisch  gar  so  verlassen  gewesen,  dann  konnte  er  nicht  an  seinen  Schüler 
Demetrius  Sgoropulos  schreiben,  er  möchte  ihm  gegen  entsprechende  Ent- 
lohnung den  Pausanias  abschreiben,  Laurentiana,  Plut.  LV,  Cod.  9,  fol.  G3: 
la  hi  riccjaavfo'j  idtv  5'jvrj8fj?  [xot  [lE-ctYpciiLctt,  dTtoowaiu  oot  lü?  lAtaftov  ye  tö  iv-otvdv  • 
rXio'i  fji  Tt  'JTToay^arlat  oöv.  e/co  üttö  zevtc«;,  r]v  vv'jo?  i[).<n  fj5TjU.^pat  ya/vS-wtepav 
xoti^iaTTjOtv.   Ippiuao;   vgl.  auch  Migne  IGl,  p.  1008. 

^*')  Die  weit  ausgesponnenen,  zweifelsohne  mit  grellen  Farben  aufgetra- 
genen Berichte  über  dieses  angebliche  Rencontre  Gaza's  mit  Papst  Sixtus  IV. 
s.  bei  Hodius  p.  G3ff. ,  der  selbst  schon  das  Uebertreibende  dieser  Berichte 
herausgefühlt  hat,  vgl.  p.  G5f. 


Der  niimani.st  Theodor  Gaza  als  Pliilosoiili. 


457 


wieder  nicht  gar  so  knickerig,  dass  nicht  Gaza  an  seinein  Hofe 
ein  auskömmliches  Dasein  gehabt  hätte.  Gaza  selbst  schildert  seine 
Verhältnisse  um  diese  Zeit  wol  als  trüb,  jedoch  nicht  als  ver- 
'  zweifelt.  Er  klagt  eigentlich  mehr  über  Siechthum.  als  über  ökono- 
mischen  ^langel").  Jedenfalls  blieb  er  bis  gegen  1475  nachw^eis- 
lich  in  Rom '""). 

Um  diese  Zeit  nämlich  fand  seine  Uebersiedlung  nach  Ferrara, 
dem  Ort  seines  einstmaligen  glanzvollen  Wirkens,  statt.  Denn  dass 
Gaza  1476  in  Ferrara  gelehrt  haben  muss,  steht  fest,  da  Rudolph 
Agricola  um  diese  Zeit  dessen  Vorträgen  über  die  Philosophie  des 
Aristoteles   andächtig  gelauscht  hat'").     Damit  stimmt  denn  auch 


''')  Allerdings  halte  der  Papst  ein  lebhafteres  Interesse  für  Kunst,  als  für 
Wissenschaft,  wenn  er  auch  die  Yatic.  Bil>iiothek  zuerst  fest  fuudirt  hat, 
vgl.  Papeucordt,  Gesch.  d.  Stadt  Rom  S.  521.  Es  mag  ja  sein,  dass  der 
Papst,  der  eben  mehr  Kunstfreund  war,  bei  Ueberreichung  eines  Werkes  sei- 
tens (laza's  diesem  nur  deu  Preis  des  kostbaren  Einliandes  zurückerstattet-hat, 
weil  ihm  dieser  künstlerisch  melir  auffiel,  als  das  Werk  selbst.  Uebrigens  han- 
delte es  sich  gar  nicht  um  ein  für  den  Papst  selbst  übersetztes  Werk,  sondern 
nur  um  eine  Umarbeitung  einer  früheren  Schrift  (Volterrauus  bei  Hodius 
p.  63).  Dass  aber  Gaza  mit  Papst  Si.\tus  nicht  gar  so  unzufrieden  war,  wie 
Fama  berichtet,  dafür  besitzen  Avir  ein  sicheres  Zeugniss  in  seinem  (noch  un- 
gedmckten)  Briefe  an  seinen  Freund  Andronicus  Callistus,  in  welchem  er 
klagt,  sein  Einkommen  unter  Sixtus  sei  zum  Sterben  zu  viel,  zum  Leben  zu 
wenig,  Laurentiana.  Plut.  LV,  Cod.  9,  f.  63a:   -iiä,u.oi  yv/^'-xhii  voao-ivTi.    xai-roi 

ipl^OUSf      VOCi&'J     0£    'Al\     a'JtJ.-TOjaaTlU'/    TOtOJTlOV      T.^(j]XT^\)l\.0.\     ■',|-'-lV      0 'J  0  £  U  ( C(  V 

notoüvTOd.  In  fast  denselben  Worten  klagt  er  auch  in  seinem  Brief  an  De- 
metrius  mehr  über  Siechthum.  als  Noth,  vgl.  bei  Migne  161,  p.  1007. 

'-)  Das  zeigen  seine  beiden  soel)eu  besprochenen,  aus  Rom  datirteu  Briefe, 
die  schon  vom  todten  Bessarion  (f  1472)  sprechen,  vgl.  Gaza's  Brief  an  De- 
metrius  bei  Uigne  161.  ji.  IOO.'k  o tyo'jaEvo'j  Brjiaarjüuvo;  i'^'  v>  tAsi  y/v  rjulv 
^;  r/.-i;.  In  dem  zweitbesprochenen  Brief  (Jaza's  (an  Andronicus)  spricht  er  aus- 
drücklich von  den  7:ap<i  rJ-jxo'j  (Sixtus'  Poutificat  1171  — 148.'j).  Den  späten 
Aufenthalt  in  Rom  setzt  endlich  noch  voraus,  Const.  Las.-aris,  prooemium  ad 
libros  de  graramatica,  bei  Migne  161.  p.  933  C. 

")  Rud.  Agricola  ist  nachweislich  erst  1476  nach  Ferrara  gekommen,  vgl. 
Meiners,  Lebensbeschreibungen  berühmter  Männer  etc.,  III,  334;  T.  P.  Tresling, 
Vita  Rud.  Agricolae,  Groningen  1830,  p.  14  f.  Dass  Agricola  Gaza  in  Ferrara 
gehört  hat  steht  ausser  allem  Zweifel,  vgl.  Agricola  Opj,.  Tmn.  II,  p.  158; 
Melanchthon,  Declamationes  p.435,  praef.  in  Rud.  Agric.  dial.,  Opp.  Tom.l,  p.248: 
audierat  enim  Ferrariae  Theodorum  Gazam,  qui  in  Aristotelis  doctrina  excelluit. 

31* 


458  Liulwig  Stein,  Der  Humanist  Theodor  Gaza  als  Philosoph. 


I 


die  Notiz  zusammen,  dass  Gaza  untergegangen  wäre,  hätte  ihn  nicht 
der  Herzog  von  Ferrara  gerettet'^). 

Doch    scheint    er    hier    bereits  den  nahenden   Tod  geahnt  zu 
haben.     Und   da   er  stets   eine   unüberwindliche  Sehnsucht   in  sjch 
trug,  in  griechischer  Erde  begraben  zu  sein,  so  dass  sich  selbst  das 
Märchen   verbreitete,    er   habe    testamentarisch    angeordnet,    seine 
Leiche  möchte  nach  seiner  in  Magna  Graecia  gelegenen  Pfarre  über- 
iiihrt   werden ^^),   so  liegt  der  Gedanke  nahe  genug,   dass  er  sich 
etwa  1477  auf  seine  Pfarre  zurückgezogen  haben  mag,  wo  er  1478 
verschieden  ist.    Dass  sein  Tod  nicht  in  Rom  erfolgt  ist,  wie  viel- 
fach  angenommen   wird"''),   beweist  unwiderleglich  das  bisher  un- 
beachtet gebliebene  Pentastichon  des  Coust.  Lascaris  "): 
'Evöa'os  xciTai  oc  TjV  avöoc  ''/z,!:r^^  Bsoowpo^ 
V'■x^^z'    ov  -i/.z  xal  xoa|j.-/;5s  actil/jactaiv  'VjXrjx' 
"Ea/£  0£  'hct/a'a  'fcua'iooov   ojc  ipar/zsa  lootv. 
YA  0  3  (xixpa  7:6X'. c  oivopa  tosov  xotts/ci  hn  Tuaßio. 


^*)  nodius  p.  60.  Wahrscheinlich  hat  sein  Freund  Andronicus  Callistus, 
der  damals  in  Ferrara  lehrte  (Hodius  p.  259),  diese  zweite  Berufung  Gaza's 
nach  Ferrara  vermittelt. 

'^)  Boissardus  bei  Hodius  p.  G7. 

''^)  Die  Berichte,  die  auf  seinen  Tod  in  Rom  schliessen  lassen,  findet  man 
hei  Tirahoschi,  1.  c.  YIII,  1195:  Baehr,  ullg.  Phicyclop.  s.  v.  Gaza,  8.136.  Diese 
Annahme  muss  aber  nach  dem  Material,  das  ich  in  folgender  Note  bringe, 
endgültig  aufgegeben  werden. 

' ')  Dieses  Pentastichon,  dessen  3.  Vers  unmetrisch  ist,  ist  jetzt  abgedruckt 
bei  Migne  161.  p.  967.  Dass  also  sein  Leichnam  in  Lucauien  liegt,  steht  danach 
ausser  Zweifel.  Dass  man  aber  seinen  Leichnam  aus  Rom  dorthin  überführt 
hätte  ist  kaum  anzunehmen.  Denn  da  der  Papst  schon  auf  den  lebenden 
Gaza  nur  geringe  Rücksicht  nahm,  so  wird  er  dem  todten  wol  kaum  eine 
so   weit  getriebene  Pietät   bewahrt    haben.      Im    Uebrigen    berichtet    Raphael 

Volaterranus    ausdrücklich,    Authropol.    IIb.  21:    Igitur  Theodorus , 

in  Apuliam  se  contulit,  ubi  paucis  post  annis  sene.x  excessit  sine  liberis, 
cum  esset  sacerdos. 


XXIV. 

lieber  Gassendi's  Atomistik. 

Von 
Kiird  liasswltz  in  Gotha. 

Wenn  auch  kein  Zweifel  besteht,  dass  die  Erneuerung  der 
antiken  Atomistik  durch  Gassendi  ein  unentbehrlicher  Factor  für 
die  Entwickeliing  der  mechanischen  Theorie  der  .Alaterie  und  der 
modernen  Naturwissenschaft  überhaupt  war,  so  fehlt  es  doch  an 
einer  genügenden  Klarstellung  darüber,  durch  welche  besonderen 
Elemente  seiner  Lehre  Gassendi  zur  Schöpfung  derjenigen  Begrifte 
beigetragen  hat,  auf  denen  die  neuere  Auffassung  vom  Wesen  der 
Körper  beruht,  und  worin  die  Schranken  bestehen,  welche  seine 
Atomistik  von  der  gegenwärtigen  Physik  trennen.  Es  sei  gestattet, 
eine  kurze  Prüfung  der  kinetischen  Atomistik  Gassendi's  in  dieser 
Hinsicht  mitzuteilen.  Dabei  wird  sich  zeigen,  dass  sich  das  Ver- 
dienst Gassendi's  beschränkt  auf  die  Individualisierung  der  Materie 
durch  den  Begriff  der  absoluten  Solidität  im  Gegensatz  zum 
leeren  Räume,  dass  jedoch  dieser  Begriff,  so  unentbehrlich  er  ist, 
zur  Fundierung  der  Atomistik  nicht  ausreicht. 

Gassendi  ersetzt  die  substanziellen  Formen  des  Aristoteles 
durch  die  materiellen  Substanzindividuen.  Das  ganze  Denken  seiner 
Zeit  steht  unter  dem  Einfluss  des  Begriffs  der  „Formen"  als  der 
individualisierenden  und  die  Wirklichkeit  erzeugenden  Kräfte.  Mit 
einer  eleganten  Wendung  führt  Gassendi  unter  Beibehaltung  des 
Wortes  die  „Formen"  in  eine  ganz  andere  Position.  Auch  er  sagt, 
die  Form  ist  es,  welche  Körper  von  Körper  unterscheidet  und  zum 
Einzelkörper  macht,  aber  die  Form  ist  bei  ihm  nicht  mehr  das 
zweckbestimmendc  AVesen,  sondern  die  geometrische  Figur..  Die 
Abgegrenztheit,  d.  h.  die  Bestimmtheit  der  Oberfläche,  welche  zu- 
gleich die  Grösse  fixiert,  ist  das  Kennzeichen  der  Substanz.  Die 
allseitige  Begrenzung,  die  Discontinuität  im  Gegensalz  zum  Räume. 


4(3()  K  i'  '■  l1  L  a  s  s  w  i  1 7, 


bezeichnet  das  substanziellc  Sein  als  eine  Einheit,  als  das  Atom. 
Die  mathematische  Theilung  des  Raumes  kann  ins  Unendliche  fort- 
gesetzt werden,  die  physische  Unteilbarkeit  der  Materie  ist  dagegen 
die  Bedingung  ihrer  Substanzialität.  Diese  in  der  Begrenztheit  be- 
dingte substantielle  Einheit  heisst  im  Gegensatz  zum  Eaume  Solidi- 
tät. Dadurch  ist  der  Begriff  des  Atoms  als  des  substanziellen  Raum- 
individuuras  vollzogen.  Die  Frage  ist  nun:  Inwieweit  hat  hierbei 
Gassendi  die  Vorstellung  der  Corpuskel,  welche  aus  dem  Bedürfnis 
der  sinnlichen  Anschaulichkeit  hervorging,  durch  rationale  Elemente 
ersetzt  und  begrifflich  bestimmt? 

Alle  besonderen  Sinnesqualitäten,  wie  farbig  u.  dgl.,  sind  von 
vornherein  ausgeschlossen;  auch  die  Ausdrücke  rauh,  glatt  u.  s.  w, 
sind  in  übertragenem  Sinne  zu  verstehen  und  bezeichnen  nur  geo- 
metrische Eigenschaften.  Aber  ist  nicht  der  Begriff"  der  absoluten 
Härte  noch  aus  der  Sinnlichkeit  der  Widerstandsemphndung  her- 
übergenommen? Allerdings  sind  das  Harte,  das  Tangible,  das  Un- 
durchdringliche aus  der  Sinnlichkeit  entlehnte  Ausdrücke,  um  das 
Raumbehauptende  zu  bezeichnen.  Der  Unterschied  der  Physik  von 
der  Geometrie,  der  Dynamik  von  der  Phoronomie,  ist  psychologisch 
io  der  empirischen  AViderstandsemplindung  gegeben.  Aber  wie 
Galilei  die  psychologische  Andrangsempfiudung  durch  den  Begriff 
des  Moments  objektivierte,  so  sucht  Gassendi  im  Begriff  der  ab- 
soluten Solidität  nach  einer  rationalen  Fixierung  des  aus  der  Sinn- 
lichkeit entnommenen  Elementes,  welches  uns  als  das  Tangible,  als 
AViderstandsempfindung  gegeben  ist.  Es  fragt  sich  nur,  ob  der 
Gassendi'sche  Begriff  ausreicht,  jene  Objektivierung  zu  vollziehen, 
deren  die  Physik  für  das  Körperproblem  bedurfte. 

Mau  würde  den  Begriff  der  Solidität  unzureichend  erfassen, 
wenn  man  darunter  die  Idealisierung  einer  sinnlichen  Eigenschaft, 
der  Härte,  verstehen  wollte.  Wenn  den  Atomen  die  Eigenschaft 
der  absoluten  Härte  beigelegt  wird,  so  ist  dies  nur  eine  sinnbild- 
liche Redeweise,  und  ihre  Berechtigung  beruht  nicht  daraul',  dass 
eine  höchste  Steigerung  der  sinnlichen  Eigenschaft  der  Härte  denk- 
bar ist,   kraft  deren  die  Atome  unzerbrechlich  sind');  sondern  die 

')  In  dieser  Hinsicht  ging  Beniier  wieder  hinler  (iiissendi  zuriuk.  indem 
§r  die  Unteilbarkeit  auf  den  'Widerstand  gegen  die  Trennung  gründen  wollte 


Ueber  Gassendi's  Atomistik. 


461 


Solidität  der  Atome  wurzelt  bei  Gassendi  wie  in  der  antiken  Ato- 
mistik auf  rationalem,  nicht  auf  sinnlichem  Grunde.  vSolidität  ist 
der  Ausdruck  für  die  Eigenschaft  der  Raumteile,  durch  welche  sie 
raumbehauptende  Individuen  sind.  Nicht  weil  die  Atome  hart  sind, 
können  sie  nicht  zertrennt  werden,  sondern  das  Untrennbare,  ab- 
solut Solide  ist  die  Bedingunfj'  dafür,  dass  es  Körper  giebt  und  eine 
sinnliche  Eigenschaft,  die  wir  hart  nennen.  Die  Solidität  soll  eine 
Bedingung  des  realen  Seins  überhaupt  aussprechen,  welche  an  die 
Substanz  geknüpft  ist.  Es  entsteht  aber  die  Schwierigkeit,  von 
hier  zur  Veränderung  der  Körper,  d.  h.  zur  Wechselwirkung  der 
Atome  zu  gelangen.  Erst  in  der  Wechselwirkung  hat  sich  der 
Begriff  der  Solidität  zu  bewähren,  ob  er  zur  Objectivierung  der 
Materie  ausreicht.  Das  einzelne  Atom  ist  eine  wertlose  Abstraction; 
eine  Bedeutung  für  das  Erkennen  haben  die  Atome  immer  nur  in 
ihrer  Gesamtheit.  Diese  Vielheit  muss  zugleich  mit  dem  Begriff  des 
Atoms  gesetzt  werden,  weil  Disconituität,  die  Trennung  und  Indivi- 
dualisierung durch  die  Raumgrenze,  nur  in  der  Vielheit  einen  Sinn  hat. 
Die  Raumbehauptung  des  Atoms  kann  nur  bedeuten,  dass  etwas  vor- 
handen ist,  woran  sie  ihre  Realität  erweist,  d.h.  dass  raumbehauptende 
Individuen  mit  einander  in  Concurrenz  um  denselben  Raumteil  treten. 
Gassendi  setzt  dabei  einen  absoluten  Kaum  voraus,  das  Vacuura, 
in  welchem  die  Verschiebung  der  raumbehauptenden  Teile,  der 
Atome,  vor  sich  geht.  Die  Atome  bewegen  sich,  und  diese  Be- 
wegung ist  eine  unzerstörbare.  Damit  sind  die  von  Gassendi  aul- 
gestellten Bedingungen  für  das  Vorhandensein  einer  physischen 
Körperwelt  vollständig.  Die  Bewegung  ist  nur  Ortsveränderung 
und  eine  den  Atomen  immanente  Eigenschaft.  Sie  ist  mit  ihnen 
zugleich  vom  Schöpfer  erschaffen;  jedes  Atom  besitzt  eine  unver- 
lierbare Neigung,  einen  inneren,  d.  h.  ihm  eigentümlichen  Antrieb 
zur  Bewegung.  Gassendi  nennt  diese  Eigenschaft  die  „Schwere" 
der  Atome,  aber  er  versteht  darunter  nicht  eine  Tendenz,  in  einer 
bestimmten  Richtung  sich  zu  bewegen,  sondern  eine  den  Atomen 
zugehörige  Geschwindigkeit,  und  zwar  ist  die  ursprüngliche  Ge- 
schwindigkeit der  Atome  eine  ausserordentlich  grosse;  alle  anderen 

(Doutes  de  Mr.  Beruier  sur  (juel(|uesuns   des   principaux  chapitres  de  son  ab- 
rege de  la  Philosophie  de  Gassendi,  Paris  1682.   S.  Acta  Eruditorum  1682  p.  476). 


462  Kurd  Lasswitz, 

Geschwindigkeiten  entstehen  erst  aus  derselben  durch  Unter 
brechungen,  durch  dazwischentretende  Ruhepausen^).  Die  unzu- 
reichende Vorstellung,  welche  sich  Gassendi  vom  Zeitmoment  macht, 
verleitet  ihn  dazu,  verschieden  grosse  Geschwindigkeiten  dadurch 
zu  crkliiren,  dass  eine  ursprüngliche  Geschwindigkeit  durch  inter- 
mittierende jMomente  der  Ruhe  für  die  sinnliche  Vorstellung  ver- 
langsamt wird.  Was  sinnlich  contiuuirlich  scheint,  ist  begrifflich  if 
discoutiuuirlich;  dies  könne  bei  der  Bewegung  ebensogut  stattfinden, 
wie  bei  den  Abstufungen  von  Licht  oder  Wärme.  Aus  dieser  Auf- 
fassung erklärt  sich,  warum  Gassendi  nicht  von  einer  den  Atomen 
immanenten  Geschwindigkeit  spricht,  sondern  den  Ausdruck 
„Antrieb"  vorzieht.  .  Denn  da  die  empirische  Geschwindigkeit  für 
ihn  ein  sinnliches  Continuum  ist,  im  Begriffe  aber  in  einen  Wechsel 
von  Momenten  der  Bewegung  und  Ruhe  aufgelöst  wird,  so  muss  er  die 
Bewegung  der  Atome  so  fassen,  dass  sie  durch  die  Ruhe  nicht  aufge- 
hoben wird.  Daher  sagt  er,  dass  während  der  Ruhe  die  treibende  Kraft 
der  Atome  nur  gehemmt  ist,  aber  nicht  verschwindet,  dass  vielmehr 
der  anfängliche  Bewegungsantrieb  sich  constant  erhalte. 
Die  Ruhe  gilt  ihm  als  eine  Art  Spannungszustand.  Dass  die  einzelnen 
Atome  ihrer  Bewegung  Ruhepausen  in  verschiedenem  Verhältnis  bei- 
gemischt haben,  kann  demzufolge  bei  Gassendi  keinen  andern  Sinn 
haben,  als  dass  der  Zusammenstoss  mit  andern  Atomen  dieselben 
verursacht;  denn  es  ist  dies  der  einzige  Grund,  welcher  für  eine  Ver- 
änderung der  endlichen  Geschwindigkeit  angegeben  werden  kann. 

Dass  jener  Bewegungsantrieb  den  Atomen  von  Gott  bei  der 
Schöpfung  mitgegeben  ist,  das  ist  ein  lediglich  im  metaphysischen 
Interesse  gemachter  Zusatz,  welcher  für  den  erkenutniskritischen 
und  physikalischen  Wert  der  Gassendi'schen  Annahme  ganz  irrelevant 
ist.  Es  kommt  nur  darauf  an,  dass  die  Grösse  dieses  Bewegungs- 
antriebs, die  Kraft  oder  Bewegungsfähigkeit  des  Atoms,  eine  indivi- 
duelle und  unveränderliche  Eigenschaft  für  jedes  Atom  ist,  geradeso 
wie  seine  Grösse  und  seine  Gestalt;  denn  die  „Schwere"  steht  bei 
Gassendi  ganz  in  einer  Linie  mit  den  eben  genannten  und  cha- 
rakterisiert somit  das  einzelne  Atom. 


')  Opera  omnia,  Florent.  1727.  I,  p.  300a.     (Phys.  sect.  I,  1.  5,  c.  1.) 


Ueber  Gassendi's  Atomistik.  463 

Das  Einzige,  was  an  einem  Atome  verändert  wird,  ist  seine 
Richtung.  Die  Veränderung  der  Richtung  beruht  ebensowohl  wie 
:  die  Verzögerung  auf  endlicher  Wegstrecke  auf  der  raumbehaupten- 
den Eigenschaft  der  Atome.  Wenn  zwei  Atome  zusammentreffen, 
so  ändern  sie  im  allgemeinen  ihre  Richtung,  da  ihre  Bewegung 
bestehen  bleiben  muss  und  die  Durchdringung  nicht  möglich  ist. 
Das  Uebergehen  einer  Richtung  in  die  entgegengesetzte  wird  da- 
'iurch  verständlich  gemacht,  dass  dasselbe  als  ein  Gleiten  an  sehr 
stark  gekrümmter  concaver  Fläche  vorgestellt  wird;  wir  würden 
sagen,  als  das  Durchlaufen  einer  Bahn  mit  unendlich  kleinem  Krüm- 
mungsradius. Somit  ist  der  Stoss  auf  die  Solidität  zurückgeführt; 
von  Elasticität  oder  sonstigen  sinnlichen  Eigenschaften  ist  nicht  die 
Rede;  die  Individualität  der  Atome,  welche  unverletzlich  ist  sowohl 
an  Raumerfüllung  wie  an  Bewegung,  erhält  die  gesamte  Welt  in 
Aktion,  bewirkt  die  Veränderung  der  Richtung  und  die  Verzögerung 
oder  Beschleunigung  der  Bewegung  durch  grösseren  oder  geringeren 
Aufenthalt;  mit  einem  Worte,  sie  bedingt  zugleich  die  Wechsel- 
wirkung der  Atome. 

Das  ist  in  der  That  eine  höchst  consequente  kinetische  Ato- 
mistik. Es  scheint,  als  ob  ihr,  um  zu  einer  wissenschaftlichen 
Physik  zu  führen,  nur  Eins  —  freilich  ein  Unerlässliches  —  fehlte, 
nämlich  die  mathematische  Bestimmung  der  Bewegung  der  Atome. 
Da  beim  Zusammentreffen  zweier  Atome  ihre  Grösse,  Gestalt  und 
absolute  Geschwindigkeit  unverändert  bleiben,  so  wäre  eine  Fest- 
setzung darüber  nötig,  wie  sich  die  Richtung  durch  den  Stoss  ver- 
ändert. Denn  nur  von  dieser  hängt  die  Aenderung  der  Verteilung 
der  Atome  im  Räume  ab.  Es  müsste  also  ermöglicht  werden, 
wenn  die  Verteilung  der  nach  Grösse,  Gestalt  und  Bewegungsrich- 
tung bestimmten  Atome  in  einem  gegebenen  Zeitmoment  bekannt 
ist,  daraus  die  Verteilung  im  folgenden  Zeitmoment  zu  berechnen. 
Eine  solche  Festsetzung  wäre  etwa  denkbar  für  den  einfachsten 
Fall  gleich  grosser  kugelförmiger  Atome;  es  leuchtet  aber  ein,  dass 
bei  den  complicierten  Voraussetzungen  Gassendi's  höchst  mannig- 
faltiger und  unregelmässiger  Atomgestalten  an  eine  mathematische 
Theorie  überhaupt  nicht  gedacht  werden  kann. 

Man  hat  violfacii   auf  die   Verwandtschaft  der  Gassendi'schen 


4(34  Kurd  Lass witz, 

Atomistik    mit    der  modernen    kinetischen   Theorie    der  Gase  auf- 
merksam gemacht,   und   bei  oberflächlicher  Betrachtung  könnte  es 
scheinen,  als  fehle  jener  in  der  That  nur  die  Festsetzung  der  Stoss- 
gesetze    der  Atome,    um    in   die    moderne    mathematische  Theorie 
überzugehen.      Dabei    übersieht    man    jedoch    den    fundamentalen 
Unterschied  zwischen  beiden,  den  Unterschied,  welcher   überhaupt 
die  moderne  von  der  antiken  Atomistik  trennt   und  darin  besteht, 
dass  erstere   auf  dem   Begrifi'e    der    Energieverteiluag,   letztere 
nur  auf  dem   der  Substanzverteilung  im  Räume   beruht,  oder, 
erkenntniskritisch    ausgedrückt,    das    erstere    das   Denkmittel    der' 
Variabilität,  letztere  nur  das  der  Substanzialität  zur  Verfügung  hat. 
Um  diesen  Unterschied  und  damit   den  Standpunkt  der  üassendi'-| 
sehen  Atomistik  klar  zu  legen,  empfiehlt  es  sich,  auf  den  Vergleich  ^ 
derselben  mit  der  kinetischen  Atomistik  der  modernen  Physik  ein-  j 
zugehen.     Die   kinetische  Theorie    der  Gase   lässt    die    Natur    des] 
einzelnen  Atoms  (Moleküls)  unbestimmt  und  setzt  nur   fest,  dassj 
bei  der  Annäherung  zweier  Molekeln  bis  auf  eine  gewisse  Distanz' 
(Radius  der  Wirkungssphäre)  eine  Richtungs-  und  Geschwindigkeits- 
änderung der  Molekeln  stattfindet,  während  die  Bahnen  der  letzteren 
im  übrigen  gradlinig  verlaufen.    Der  Unterschied  von  der  Atomistik 
Gassendi's  liegt  nicht  in  der  Festsetzung  über  die  Natur  der  Atome 
oder  Molekeln:    wie    die    sich    bewegenden    Corpuskeln    beschaft'en 
sind,  darauf  kommt  es  hier  gar  nicht  an;  der  Begriff  der  Solidität 
würde  genügen,  die  Bewegungsänderung  zu  erklären,  falls  man  sich 
die  „Wirkungssphäre"  durch  ein  kugelförmiges  Atom  von  absoluter 
Solidität  ersetzt  denkt.    Alles  hängt  davon  ab,  wie  die  Veränderung 
•  der  Bahn  durch  den  Stoss  erfolgt.     Wenn   wir  hier  den  Ausdruck 
„Stoss"  gebrauchen,  so  geschieht  dies  nur   der  Kürze  wegen;  manft 
hat  aber  dabei  nicht  an  einen  mechanischen  Stoss  (wie  bei  elasti- 
schen Körpern)  zu  denken,  sondern  nur  an  die  Thatsache,  dass  eine 
Annäherung  der  Atome  bis  auf  eine  bestimmte  Grenze  eine  gesetz- 
liche Bewegungsänderung  zur  Folge  hat  (vgl.  m.  Abhandlung  „Zur 
Rechtfertigung    der   kinet.   Atom."     Vierteljahrsschr.  f.  wiss.  Phil. 
Bd.  IX.  S.  154).     Die  Festsetzung  hierüber  braucht  nicht  etwa  aus 
den  Stossgesetzen    für  die  sinnlichen  Körper  entlehnt  zu   werden, 
sondern  es  ist  nur  erforderlich,  solche  Gesetze  anzunehmen,  dass 


üeber  Gassendi's  Atomistik. 


465 


zwischen    den  Geschwindigkeiten  und  Richtungen    der  Atome   vur 
und  nach   dem  Stosse    soviel  Gleichungen   bestehen,  als  derartige 
Grössen    zu    bestimmen    sind.     Hier/Ai    dienen    die  Priiicipien    der 
Mechanik,  welche  die    beim  Zusammentreffen    stattfindenden  Ver- 
änderungen eindeutig  zu   definieren   haben.     Die  moderne  Kinetik 
betrachtet   die  Bewegung  eines  Atoms,  das  als  kugelförmig  ange- 
sehen wird,  und  dessen  Lage  durch  die  Coordinaten  seines  Mittel- 
punkts für  einen  gegebenen  Zeitmoment  bekannt  ist,   als  definiert 
durch    seine  Masse    und   seine  Geschwindigkeitscomponenten,    und 
nimmt  an,  dass  die  Massen  der  Atome  vor  und  nach  dem  Stosse 
unverändert  seien  und  dass   die  Geschwindigkeiten  und  ihre  Rich- 
tungen bestimmt  werden  durch   den  Satz    von  der  Erhaltung  der 
Summe  der  nach  den  Coordinatenaxen  projicierten  Bewegungsgrössen 
und  durch  den  Satz   von   der  Erhaltung  der  Energie.     Die  zu   er- 
klärenden sinnlich  wahrnehmbaren  Thatsachen  werden  nun  zurück- 
geführt auf  die  in  jedem  gegebenen  Falle  im   betreffenden  Raum- 
element zur  Wirkung  kommende  Energie.     Diese  Energie  aber  ist 
abhängig  sowohl  von  der  Masse  als  von   der  Geschwindigkeit  und 
Richtung  der  anlangenden  Atome,  also  sowohl  von  der  Verteilung 
der  Atome    im  Räume    (der  Menge)    als    von    der  Verteilung  der 
Geschwindigkeiten.     Es  findet  zwischen  den  Atomen  ein  Austausch 
von    Geschwindigkeiten    und    dadurch    von  Energie  statt.     Hierbei 
haben  wir,  um  Complicationen  zu  vermeiden,  immer  nur  den  ein- 
fachsten Fall   vor  Augen  und  sehen    also  z.  B.    von   rotatorischen 
oder  intramolecularen  Bewegungen  ab.    Demnach  verfügt  die  Theorie 
zur  Erklärung    der    empirischen  Erscheinungen    sowohl    über   Ver- 
änderungen in  der  Menge   als  in   der  Geschwindigkeit  der  Atome, 
oder,  wie  man  auch  sagen  kann,  die  Wirkung  hängt  ab  sowohl  von 
der  Anzahl  als  von  der  Intensität  der  in  der  Zeiteinheit  erfol- 
genden Stosse  der  ankommenden  Atome. 

Legt  man  jedoch  der  Atomistik  die  Annahmen  Gassendi's  zu 
Grunde,  so  ergiebt  sich  ein  völlig  anderes  Bild.  Gassendi  nimmt  einen 
jedwedem  Atom  immanenten  und  ihm  unveränderlich  zugehörigen 
„Impetus^"  an.  Wodurch  derselbe  mathematisch  dclinirt  ist.  wu-d 
nicht  angegeben.  Man  könnte  aber  leicdt  auf  den  Gedanken 
kommen,  diesen  Impetus  durch  den  Begriff  der  Energie  zu  ersetzen, 


466  Kurtl  Lasswitz, 


4 


also  jedem  Atom  einen  constanten  Vorrat  von  Energie  zuzuschreiben,  li  ^' 
um  dadurch  die  Theorie  Gassendi's  im  modernen  Sinne  haltbar  zu 
machen.     Dies  ist  wohl  die  stillschweigende  Annahme,  auf  welche'Ü*' 
sich  die  Ansicht  gründet,  dass  die  Gassendi'sche  Atomistik  sich  un^Biif 
mittelbar  mit  der  modernen  berühre.     Nimmt  man  an,   dass  jedes;i«» 
Atom  für  sich  einen  unverlierbaren  Energievorrat  besitze,  so  würde 
sich  dies  allerdings  mit  der  Voraussetzung  Gassendi's  decken.    Denn  j* 
da  die  Masse  —  beim  Atom  sind  Masse  und  erfülltes  Volumen  Begriffe,,'!« 
deren  Trennung  nicht  erforderlich  ist  —  bei  jedem  Atom  coustantii^*" 
bleibt,  so  müsste  bei  constanter  Energie   auch   die  Geschwindigkeit 
des  Atoms  stets  dieselbe   bleiben.     Bei   Gassendi  wird  dies  in  der 
That  angenommen ;,  alle  Atome  haben  eine  ursprüngliche,  sich  gleich 
bleibende  Geschwindigkeit.     Offenbar  könnte,  so  gut  wie  Volumen | 
und  Figur,   auch   die  Geschwindigkeit  eine   für  die   verschiedenen] 
Arten  der  Atome  verschiedene  sein;  diese  Festsetzung  wäre  an  sich 
völlig  berechtigt.    Gassendi  hält  jedoch  dafür,  dass  alle  Atome  die- 
selbe absolute  Geschwindigkeit  besitzen,  weil  alle  Körper  im  Leeren 
gleich  schnell  fallen.     So  wenig  dieser  Schluss  begründet   ist,   so 
kommt  es  doch  hier  nicht  darauf  an,  sondern   nur  auf  die  That- 
sache,  dass  die  empirisch  wahrgenommene  A  erschiedenheit  der  Ge- 
schwindigkeiten der  Körper  nur  beruht   auf  unaufhörlichen  Unter- 
brechungen der  absoluten  Bewegung  der  Atome.     Jedes  Atom  hat 
nach  dem  Abprall  von   einem  andern  wieder   seine  ursprüngliche  [ 
Geschwindigkeit;   demnach  muss  seine   AVirkung,  insofern  sie  von 
seiner  Geschwindigkeit    abhängt,    offenbar  unter  allen   Umständen 
dieselbe    sein.     Wieviel    Zusaramenstösse    und    Verzögerungen    ein 
Atom    auch  erlitten  habe,    wieviel  Zeit  auch  es  gebraucht  habe, 
einen  endlichen  Weg  zurückzulegen,  —  an  dem  Ziele,  an  welchem 
sein  Dasein    wirksam   wird,    muss    immer    dieselbe  Intensität    des 
Stosses  auftreten,  w^eil  es  ja  auf  jedem  kleinsten  Teil  seines  VV^eges, 
auf  jeder  freien  Strecke,  seine  absolute  Geschwindigkeit  hat.  also  die 
Kraft  seines  Anpralls  nicht  von  den  vorangegangenen  Verzögerungen 
abhängig  ist.    Mit  anderen  Worten:  Energie  ist  nicht  übertrag- 
bar von   einem  Atom   auf  das  andere.     Das  ist  offenbar  das 
genaue  Gegenteil  der  modernen  kinetischen  Theorie,   nach  welcher 
alle  Veränderung  auf  der  veränderten  Verteilung  der  Energie  beruht. 


r 


Ueher  Gassencli's  Atomistik. 


467 


Währeiul    in   der  moderneu  Theorie  die  empirische  Wirkung 
ibhängig  ist  von  der  Grösse  und  Anzahl  der  Atome  in  der  Raum- 
jinheit  und  von  ihrer  mittleren  Geschwindigkeit,  fällt  bei  Gassendi 
lieser   letztere   Factor   ganz    aus;    bei    ihm   kann   die   mittlere   Ge- 
schwindigkeit    gar     keinen     Einfluss     auf    die    Grösse    der   Stoss- 
firkung    besitzen,    weil,    wie    gesagt,    der    Stoss    immer   mit    der 
ibsoluten     Geschwindigkeit     ausgeübt     wird.       In      einem     gege- 
)enen    Zeitmoment    hat    ein    Atom    immer    seine    volle    Anfangs- 
geschwindigkeit, oder  gar  keine  Geschwindigkeit.    Eine  Veränderung 
ller  Geschwindigkeit  giebt  es  nur  ad  sensum,  auf  endlichen  Strecken, 
Insofern  gleiche  Strecken   von  verschiedenen  Atomen   in  verschie- 
lenen    Zeiten    durchlaufen    werden,   je   nach    dem    Verhältnis,    in 
Ivelchem  die  Momente  der  Ruhe  zu   der  Zeit  der  freien  Bewegung 
Itehen.     Für  diese  Unterbrechungen  der  Bewegung  giebt  es  keine 
mdere  Ursache  als  die  Hemmung  durch  entgegenstehende  Atome, 
muss  daher  offenbar  angenommen  werden,  dass  jeder  Zusammen- 
ktoss  die   sich  trelVendeu  Atome   einen  Moment  aufhält  (zur  Ruhe 
)ringt),  und  sodann  die  Bewegung  wieder  „frei"  wird.    Die  Durch- 
lichnittsgeschwindigkeit  muss  also  kleiner  als  die  absolute  sein  um 
eine  Grösse,    welche  proportional   ist  der  Anzahl   der  in  der  Zeit- 
tinheit  stattfindenden  Zusammenstösse.     Die  Energie  aber   ist  nur 
on   der  absoluten  Geschwindigkeit   abhängig.     Die  Durchschnitts- 
eschwindigkeit  hat  demnach  einen  Einfluss  nur  auf  die  räumliche 
Verteilung  der  Atome,  insofern   ihre  Herabminderuug   den  Durch- 
ang  durch  die  Raumeinheit  verzögert  und  dadurch  eine  Anhäufung 
er  Atome  bewirkt;   die  empirische  Wirkung  ist  also  lediglich  ab- 
hängig von  der  Zahl  der  auf  die  Einheit  der  Fläche  in  der  Zeit- 
linheit  stossenden  Atome.     Somit  ergiebt  sich   das  Verhältnis  der 
substantiell  erfüllten  Raumteile  zu  dem  Volumen  des  leeren  Raumes 
ils  die  einzige  Grösse,  welche  veränderlich  ist  und  zur  Erklärung 
ler   wahrgenommenen  Wirkungen  dienen  kann.     Hierin   liegt  der 
jrund,  warum  die  kinetische  Corpusculartheorie  zur  Erklärung  der 
Erscheinungen    mit    der    Annahme    einfacher    Atomgestalten    nicht 
lusreichen  konnte,    sondern  ihre  Zuflucht  zu  den  Complicationen 
lehmen  musste,  welche  durch  Ecken,  Hervorragungen  und  Häkchen 
ien  Atomen  die  nötige  Mannigfaltigkeit  geben  sollte,  die  zu  jener 


468  Kind  Lasswitz , 

Erklärung  erforderlicli  ist.  Je  mehr  aber  die  Hypothesen  über  die  »Jfci™ 
Atomge.stalten  sicli  häufen,  umsomehr  entfernt  sich  die  Corpuscular- 
theorie  von  der  Möglichkeit  einer  mathematischen  Begründung  und  Bl^ 
nähert  sich  dem  Versuche  einer  bloss  sinnlichen  Veranschaulichung  Äni' 
der  Vorgänge. 

In  der  begrifflichen  Begründung  der  Physik  ist  somit  Gassendi  i|t^^ 
ül)er  die  antike  Atomistik  nicht  hinausgekommen.  Es  ist  ihm  nicht 
gelungen,  die  Wechselwirkung  der  Atome  gesetzlich  zu  fundieren 
und  damit  die  Veränderung  in  der  Körperwelt  zu  realisieren:  viel- 
mehr bleibt  er  l)ei  dem  Unterschied  des  Vollen  und  Leeren  insofern 
stehen,  als  der  Wechsel  der  Substanzverteilung  im  Baume 
das  einzige  Princip  der  Naturerklärung  wird.  Die  substantielle 
Selbständigkeit  der  Atome  h.at  er  dabei  widerspruchsfrei  festgestellt; 
aber  er  scheitert  schon  am  Begriff  der  Geschwindigkeit.  Die  Be- 
wegung als  ein  Continuum  zu  fassen  ist  ihm  unmöglich;  und  .so 
ist  denn  auch  bei  ihm  das  Fehlen  des  Denkmittels  der  Variablität  i 
der  Grund,  weshalli  alle  seine  Auslassungen  über  die  Bewegung 
unzureichend  bleiben.  Es  zeigt  sich  dies  sogleich  bei  dem  ersten 
Versuche,  den  B>egrift'  einer  continuierlichen  Geschwindigkeit  zu  er- 
fassen. Obgleich  ihm  Raum  und  Zeit  als  Continua  gelten  und  er 
in  dieser  Hinsicht  die  Einwürfe  der  Eleaten  und  Skeptiker  gegen 
die  Bewegung  zurückweist,  bleibt  er  doch  seltsamer  Weise  beim 
BiegrifY  des  „insectile  physicum''  in  der  alten  Schwierigkeit  hangen. 
Die  Atome  besitzen  Ausdehnung;  trotzdem  nimmt  er  an,  (hiss  das 
in.sectile  physicum  in  einem  einzigen  ]\Iomente  (unico  in.stanti) 
durchlaufen  werde,  d.  h.  also  doch,  dass  dieser  Zeitmoment  nicht 
teilbar  ist.  und  es  erscheint  ihm  undenkbar,  dass  bei  grösserer  Ge- 
schw'indigkeit  in  diesem  einen  Zeitmoment  eine  Reihe  von  physi- 
kalischen Unteilbaren  durchlaufen  werde.  Es  ist  ihm  also  der 
Zeitmoment  doch  nichts  anderes  als  der  starre  Zeitpunkt  und  er 
vermag  niclit  in  demselben  den  Begriff  der  Veränderung  festzu- 
halten als  eines  Gesetzes,  welches  auch  unter  Abstraction  von  der 
Extension  die  weitere  Entwickelung  garantiert.  Obwohl  er  fühlt, 
dass  auch  im  Moment  der  Ruhe  das  Gesetz  der  Bewegung  nicht 
aufgegeben  werden  darf  und  ihm  diese  daher  als  Spannungszustand 
erscheint,   gelingt  es  iliui  nicht,   den  adäquaten  Ausdruck    für  die 


Ueber  Gassendrs  Atomistik. 


469 


Eigentümlichkeit    der    continuierlichen    Grösse    zu    iiiiden,    welche 

kria  beruht,   dass  in   ihrem  Begriffe  in  jedem    unendlich  kleinen 

'eil  das  Gesetz    ihrer  Erzeugung  mitgedacht    werden  muss.     Das 

her  ist    der  einzige   Weg,    durch   welchen    Veränderung  denkbar 

tnd  mathematisch  darstellbar  wird.     Daher  bleibt  mit  dem  Gesetz 

er  Veränderung  auch  der  causale  Zusammenhang  der  Atome  und 

hre   Wechselwirkung    von    der    mathematischen    Begründung   und 

lemnach    von    der    Objectivierung    durch    l^egriffe    ausgeschlossen. 

ie  rationale  Begründung  schreitet  vom  Begriffe  der  raumerfüllen- 

len  Substanz  vor  bis  zu  dem  Begriffe,  dass  die  individuellen  Sul)- 

itanzen  eine  Veränderung  in  ihrer  räumlichen  Verteilung  erleiden. 

on  der   andern  Seite  schreitet  die  empirische  Physik   durch  Zer- 

egung  und  Abstraction  in   der  sinnlichen  Körpervvelt  vor  bis  zu 

'orpuskeln,   welche,   verschieden  nach  Grösse  und  Gestalt,  analog 

lern  Stosse  harter  Körper  sich  verdrängen   und  ihre  Bewegungen 

leeinflussen.     Aber  diese  Vorstellung  bleibt  innerhalb  der  Grenzen 

sinnlicher  Erfahrung  und  gründet  sich  auf  Thatsachen  der  Empfin- 

uno-.  insbesondere  der  Widerstandsempfmdung.     Zwischen  dieser 

linnlichen  Thatsache  und   der  rationalen  der  Raumerfiillung  fehlt 

|bei  Gassendi  die  Brücke,  es  fehlt  eine  Festsetzung  darüber,  wie  das 

innliche  Zeichen  der  wechselnden  Widerstandsempflndungeu  durch 

linen    mathematischen    Begriff   zu    einer   objectiven    Realität    von 

issenschaftlicher  Geltung  gemacht  werden  kann. 

Derartige  Festsetzungen  sind  die  Principien  der  Mechanik,  und 
|sie  fehlen  bei  Gassendi  in  noch  höherem  Grade  als  bei  Descartes. 
Ir  teilt  mit  letzteren  den  Grundfehler,  dass  er  die  Richtung  als 
eine  von  der  Natur  der  Bewegung  unabhängige  Eigenschaft  löst, 
so  dass  eine  direkte  Umkehr  der  Richtung  ohne  Schädigung  der 
Geschwindigkeit  erfolgen  kann,  ganz  unabhängig  von  der  Grösse 
des  geleisteten  AViderstandes.  Aber  er  hat  Descartes  gegenüber 
einen  Vorteil  voraus,  welcher  seine  Bedeutung  für  die  Entwickelung 
der  kinetischen  Atomistik  ausmacht.  Derselbe  besteht  in  der  klaren 
und  widerspruchslosen  Fassung  seines  Begriffs  des  individuellen, 
substanziellen  Atoms.  Die  Individualisierung  der  Materie  konnte 
Descartes  nicht  leisten,  Gassendi  beginnt  damit:  er  übergiebt  der 
Phvsik   in   seinen  Atomen  substanzielle  Individuen,    welche  durch 


470  Kind  Lasswitz,   üeber  Gassemli's  Atomistik. 

ihre  Solidität  das   raumerfiillende   Substrat  der   Bewegung   bilden,  j 
und  er  liefert  durch  den  leeren  Raum  der  mathematischen  Mechanik  i 
ein  freies  Feld,  in  welchem  keine  künstlichen  Annahmen  über  die'ii 
Materie  nötig  sind,    um    ungehinderte  Bewegung  zai    ermöglichen. 
Er  sondert   den    physischen  Körper  durch  die  Solidität  vom   geo- 
metrischen und  von  der  blossen  Ausdehnung  des  Raumes.    Das  ist 
eine    Vorstell ungs weise,    welche    dem   Bedürfnis    der    empirischen 
Physik  entgegenkam  und  deren  praktische  Vorteile  auch  Descartes] 
auf  Umwegen  sich  zu  sichern  suchte,  während  Galilei  anerkannte, 
dass  er  sie  seiner  Theorie  der  intensiven  Punkte  vorziehen  würde,  | 
wenn  nicht   äusserliche  Rücksichten   ihn   hinderten^').     Insofern   ist  j| 
Gassendi's  Atomistik  als  eine  wichtige  Stufe  in  (k'r  geschichtlichen  ■ 
Entwickelung    der  Lehre    vom   Körper   auszuzeichnen.     Nicht    die    ' 
Originalität  des  Gedankens  —  die  freilich  Gassendi  nicht  zukam  — 
ist   hier    entscheidend,    sondern   der    historische   Ort    desselben. 
Was  der  Genius  Demokrits  geschaffen,  lag  seit  zwei  Jahrtausenden 
dem   wissenschaftlichen   Denken   bereit,   ohne  dass   der  darin  ver- 
borgene Schatz   hätte  gehoben    werden   können.     Erst    am  Genius 
Galilei's  konnte  sich  die  erloschene  Fackel  wieder  entzünden,  welche 
dem  Fortschritt  der  Naturwissenschaft  die  Wege  zu  erleuchten  be- 
stimmt war.     Aber  die  Atomistik  war  dazu  nötig.    Die  Continuität 
des  physikalischen  Denkens  liegt  zu  klar  zu  Tage,  als  dass   man 
die    Erweckung   der   antiken  Atomistik   durch   Gassendi   als   einen 
Zufall  bezeichnen   könnte  in  einem  Augenblick,   in  welchem  der 
europäische  Geist  sich  anschickte,  einen  neuen  Naturbegriff  zu  pro- 
ducieren.     Neben  Galilei  und  Descartes  tritt  daher  Gassendi,  nicht 
vergleichbar    an   Originalität,    aber  an    historischer  Bedeutung   als 
bewusster    Förderer    eines    unentbehrlichen    Gedankens,    der    die 
Geisteswelt  der  beiden  andern  zu  ergänzen  berufen  war.    Zunächst 
geht    seine  Atomistik    wie    die  Cartesische   Corpuscularphysik    nur 
äusserlich  neben  der  Mechanik  Galilei's  her.     Die  gegenseitige  Be- 
fruchtung   konnte  sich  erst  in  der  Zukunft  vollziehen;    Huygens 
ermöglichte  sie  durch  die  Aufstellung  der  Principien  der  Mechanik, 
und  unsere  Gegenwart  sieht  die  ersten  Früchte  reifen. 


3)  Discoisi,  Op.  III.  )..  87.     Padua  1744. 


)erj 

Üa^'i     •>  XXV. 


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Leibiiiz  und  Montaigne. 

Von 
Gregor  Itelsou  in  BeWin. 


wnn! 

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tliflii  Es  ist  genugsam  bekannt,   wie  verschiedenartig  und  zahlreich 

die  Beeinflussungen  sind,    welche  Leibniz  von  seinen  Vorgängern 

;aiii-      und    Zeitgenossen    erfahren    hat:    die    Monade,    welche   Leibnizens 

>t;ll«i||  Seele  darstellte,  hatte  recht  viele  Fenster.  Zu  den  originellsten 
Theilen  seines  Systems  rechnet  man  nun  die  Lehre  von  der 
Apperception  und  den  „petites  perceptions".     Zwar  ist  der  Unter- 

(m      schied  von  Bewusstem  und  Unbewusstera  auch  der  antiken  Philo- 

wld  Sophie  und  der  Scholastik  nicht  ganz  fremd;  jedoch  gilt  die  prä- 
cisere  Fassung  und  der  besonders  energische  Gebrauch  des  Begriffs 
der  „petites    perceptions"    als    eine    eigene  That  Leibnizens.     Mit 

}  QiA  Bezug  auf  diesen  Punkt  scheint  mir  aber  ein  Vorgänger  Leibnizens 
übersehen  worden  zu  sein,  der  auch  auf  Leibniz  einen  entschie- 
denen Einfluss  ausgeübt  haben  dürfte.     Dieser  Vorgänger  ist  Mon- 

nipn  taigne,  und  in  Betracht  kommt  hier  das  ganz  kurze  Capitel  14 
des  IL  Buches  seiner  „Essais",  betitelt:  „Comme  nostre  esprit 
s'empesche  soy  mesme".     Da  heisst  es: 

eti  „C'est  une  plaisante  Imagination,   de  concevoir  un   esprit  ba- 

lance  justement  entre  deux  pareilles  envies:  car  il  est  indubitable 

\\i      quil   ne  prendra  jamais  party,    d'autant   que   Tapplication    et   le 

■lil  chois  porte  inegualitc  de  prix;  et  qui  nous  logeroit  entre  la  bou- 
teille  et  le  jambon,  aveques  egual  appetit  de  boire  et  de  manger, 
il  n'y  auroit  sans  doubte  remede  que  de  mourir  de  soif  et  de  faini. 
Pour  pourveoir  a  cet  inconvenient,  les  stoiciens,  quand  on  h'ur 
demande  d'ou  vient  eii  nostre  ame  l'eslection  de  deux  choses  in- 
dift'ereutes,    et    qui  faict   que  d'un   grand   nombi'o  d'escus  nous  en 

Archiv  1.  Gescliiclite  der  l'liilusdpliie.     11.  "^ 


v»a 


472 


Tire  gor  Itel.sou,  Leibniz  und  Montaigne. 


preiiions  plutost  ruii  que  l'aiiltre,  estauts  touts  pareils.  et  u'y 
ayant  aulcune  raison  qui  iious  incline  a  la  preference,  respondent 
que  ce  luoiivemeut  de  Tarne  est  exti-aordinaire  et  desregle,  veDant 
eu  nous  d'une  iiDpulsion  estrangiere,  accidentale,  et  Ibrtuite.  II 
se  pourroit  dire,  ce  me  semble,  plutost,  que  aulcune  cliose  ue  se 
presente  a  nous.  oü  il  n"y  ayt  quelque  difterence,  pour  legiere 
qu'elle  soit;  et  que,  ou  a  la  veue  ou  a  rattouchement,  il  y  a 
tousjours  quelque  chois  qui  nous  teute  et  attire.  quoyque  ce  soit 
imperceptiblement:  pareillement  qui  presupposera  une  fiscelle  egua- 
lement  forte  partout,  il  est  impossible  de  toute  impossibilite  ([u'elle 
rompe;  car  par  oii  voulez  vous  que  la  faulsee  commence?  et  de 
rompre  partout  ensemble,  il  n'est  pas  eu  nature." 

Gleichsam  im  Embryo  lieseu  hier  auf  engem  Raum  dicht 
neben  einander  in  organischem  Zusammenhang  die  wichtigsten 
Glieder  des  leibnizscheu  Systems:  das  principium  identitatis  in- 
discernibilium.  das  principium  rationis  sufticieutis.  die  petites  per- 
ceptions  und  der  aus  denselben  resultirende  Determinismus.  Und 
in  den  Stellen  in  der  Theodicee,  wo  Leibniz  von  der  Cnmöglich- 
keit  der  Existenz  eines  Buridan"schen  Esels  spricht,  finden  sich 
sogar  stylistische  Anklänge  an  die  Auslassung  Montaigue's  (Erd- 
mann, p.  517  a,  594a).  Besonders  beachtenswerth  ist  der  Umstand, 
dass  an  diesen  Stellen  Leibniz  die  uubewussten  Vorstellungen  „im- 
perceptibles"  (und  nicht  etwa  „iuapperceptibles")  nennt,  nachdem 
er  doch  die  Unterscheidung  von  Perception  und  Apperception  ein- 
geführt hatte.  Dies  erinnert  an  das  „quoyque  ce  soit  imperceptible- 
ment" Montaigne's.  In  den  Nouveaux  Essais  gebraucht  Leibniz 
dafür  den  Ausdruck  „perceptious  insensibles"  (ähnlich  in  der  Epi- 
stola  ad  Wagnerum  Erdm.  p.  466).  Möglicherweise  stammen  die 
bezüglichen  Stellen  der  Theodicee  aus  einer  früheren  Zeit.  Alel- 
leicht  ist  auch  der  Vergleich  in  Nouv.  Ess.  Erdm.  p.  197  b  „comme 
ou  ne  romperoit  jamais  une  corde"  von  Montaigne  suggerirt.  — 
Die  Entlehnung  ohne  Quellenangabe  kann  bona  lide  geschehen  sein, 
gemäss  Leibnizens  eigener  Theorie  des  unbewussten  Plagiats,  ib. 
p.  221:  „II  est  arrive.  qu'un  homme  a  cru  faire  un  vers  nouveau, 
qu"il  s"est  trouve  avoir  lü  mot  pour  mot  etc." 


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Jaliresbericlit 


über 

sämmtliche  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte 

der  Philosophie 

i  u    G  e  m  e  i  n  s  c  h  .1  f  t    mit 

Ingram  Bywater,  Alessandro  Chiapelli,  Hermann  Diels,  ^yilhelm  Dilthey, 
Benno  Erdmann,  J.  Gould  Schurman,  Paul  Tannery,  Feiice  Tocco 

und  Eduard  Zeller 

herausgegeben 


Ludwig  Steiu. 


oo* 


32 


\ 


IX. 

Jahresbericlit  über  die  deiitsclie  Litteratiir  zur 
Philosophie  der  Renaissance  1886-1888. 

Von 
LiKlwig  Steiu  in  Zürich. 

Poster  Theil. 
Carkieue,  Mokitz.     Die  philosüphische  Weltanschauung  der  Refur- 
mationszeit  in  ihren  Beziehungen   zur  Gegenwart.     Zweite 
vermehrte  Auflage.     2  Bde.  419 und  319 S.  Leipzigl887, 
F.  A.  Brockhaus. 
Ein  Buch  von  scharf   ausgepriigtem   Character  ist    häufig  ein 
Individuum  für  sich,  zu  welchem  man  ganz  unbekümmert  um  die 
Person    des   Verfassers   Stellung  zu    nehmen    pflegt.      Und    wie  es 
nicht  selten  beobachtet  werden  kann,  dass  man  für  ein  bestimmtes 
Individuum  trotz  aller  offenkundigen  Schwächen  desselben  aus  un- 
erklärlichen Beweggründen  entschiedene  Sympathien  besitzt,  ja  dass 
gerade  die  Schwächen  jenes  Individuums  durch  liebgewordene  Ver- 
trautheit  uns    auf  die  Dauer  derart  anheimeln,    dass  wir  sie  gar 
nicht  missen  möchten,  so  pflegt  es   zuweilen  auch  mit  Büchern  zu 
ergehen.     Es    gibt  Bücher,    die   wir    unbeschadet    ihrer  greifbaren 
Mängel  so    liebgewonnen  haben,    dass  wir  es    nur  ungern    sähen, 
wollte  man  jene  Mängel  auszumerzen  suchen. 

Ein  solches  Buch  von  starkmarkirter  Individualität  ist  unstreitig 
Carriere's  „philosophische  Weltanschauung  der  Reformationszeit". 
Entstanden  in  einer  gälirenden,  wildbewegten  Zeit  (1847),  getragen 
von  einer  jugendfrischen,  flammenden  Begeisterung  hat  sich  dieses 
Buch  einen  bestimmten  Platz  in  der  deutschen  Litteratur  erobert. 
Und  wenn  jetzt,    nach   vierzig  Jahren ,    eine  neue  Auflage  nothig 


47('>  Ludwig  Stein, 

wurde,  so  musste  die  jugendliche  Urspriinglichkeit  und  fri.sche 
Unmittelbarkeit  des  Buches  gewahrt  bleiben,  wollte  man  keinem 
bedenklichen  Anachronismus  verfallen.  Denn  andere  Zeiten,  an- 
dere Menschen;  andere  Menschen,  andere  Bücher.  Hätte  Carriere 
diese  zweite  Auflage  seines  Buches  dem  heutigen  Stande  und  der 
jetzt  geltenden  Methode  der  Wissenschaft  entsprechend  ummodeln 
und  zurechtstutzen  wollen,  dann  musste  er  ein  neues,  grundanderes, 
Buch  schreiben,  das  mit  der  ersten  Auflage  nicht  viel  mehr  als 
den  Namen  gemein  hätte.  Dann  aber  wäre  dem  eingeführten, 
gerade  in  .«einer  Eigenart  beliebt  gewordenen  Werke  jener  Reiz 
genommen,  den  es  durch  seine  eigenthümliche  Verquickung  von 
strenger  Wissenschaft,  und  rhetorischem  Pathos  ausübt.  Mit  fein- 
sinnigem Verständuiss  für  die  gesteigerten  Forderungen  einer  neuen 
Zeit  hat  daher  Carriere  bescheidentlich  darauf  verzichtet,  sein 
schönes  Buch  zu  einem  umfassenden,  erschöpfenden,  die  neuesten 
Forschungsergebnisse  sorgsam  verarbeitenden  Handbuch  der  Renais- 
sance-Philosophie umzugestalten.  Deim  ein  so  dringendes,  allgemein 
empfundenes  Bedürfniss  ein  solches  Handbuch  auch  ist,  zumal  auch 
die  ausserdeutsche  Litteratur  diese  empfindliche  Lücke  in  der  Ge- 
schichtsdarstellung der  Philosophie  immer  noch  nicht  ausgefüllt  hat, 
so  wenig  eignete  sich  ('arriere"s  Werk  seiner  ganzen  Anlage  und 
Richtung  nach  zu  einem  .solchen. 

Nur  wenig  Neues  fügt  die  zweite  Auflage  der  ersten  hinzu. 
Es  steht  uns  darum  auch  nicht  recht  zu,  eine  einlässliche,  tiefer- 
gehende Kritik  an  dem  Werke  selbst  zu  üben,  da  die  A'orzüge  und 
Mängel  desselben  männiglich  bekannt  sind.  Nur  im  Allgemeinen 
sei  bemerkt,  dass  ein  gewisser  wähl  verwandter  Zug,  den  Carriere 
mit  den  treibenden  Strebungen  der  Renaissance-Periode,  ganz  be- 
sonders mit  den  Gedankenrichtungen  eines  Giordano  Bruno,  Tommaso 
Campanella  und  Jacob  Böhme  gemeinsam  hat,  der  Darstellung  jl 
stellenweise  ungemein  zu  Gute  kommt.  Dort,  wo  der  congeniale 
Carriere  sich  auf  heimischem  Boden  bewegt,  wird  seine  durch- 
dringende Wiedergabe  der  philosophischen  Systeme  kaum  über- 
troffen werden  können.  Hingegen  gelangen  jene  Richtungen  der 
Renaissance-Philosophie,  die  ihrer  Natur  nach  eine  trockenere  Be- 
handlung   heischen,    nicht    ganz    zu    ihrem    Rechte.     Männer    wie 


Jahresbericht  üb.  d.  deutsche  Litt.  z.  Philos.  d.  Reuitissauce  1886 — 1888.     477 

JSicolau.s  CusaniLs,  Gemistos  Plcthon,  Marsigliü  Ficino,  die  l»eiden 
Pico  von  Mirandula  u.  A.  verdienen  denn  doch  wol  eine  schärfere 
Beleuclitung  und  tiefergehende  Beachtung. 

Dieser  letztberiihrte  Mangel  hängt  übrigens  mittelbar  mit 
einem  anderen  zusammen,  der  dieser  neuen  Auflage  anhaftet. 
Carriere  hat  die  seit  40  Jahren  erschienene  Litteratur  über  die  von 
ihm  beliandelte  Materie  nicht  beachtet.  AVährend  der  damalige 
.Stand  der  monographischen  Litteratur  in  den  Noten  der  ersten 
Auflage  fast  erschöpfernd  angegeben  war.  hat  es  Carriere  bedauer- 
licherweise verabsäumt,  in  den  Noten  der  zweiten  Auflage  die 
inzwischen  erschienene  Litteratur  nachzutragen,  geschweige  denn 
inhaltlich  zu  berücksichtigen.  Das  hätte  aber  geschehen  können, 
ohne  den  ursprünglichen  Character  des  Buches  irgendwie  zu  beein- 
trächtigen. Eine  solche  Angabe  der  seit  40  Jahren  erschienenen 
monographischen  Litteratur  zur  Philosophie  der  Renaissance  war 
nun  aber  um  so  mehr  geboten,  als  es  uns  an  einer  solchen  leider 
immer  noch  gebricht.  Und  doch  haben  uns  die  letzten  Jahrzehnte 
so  manche  fruchtbare  Arbeit  gebracht.  Abgesehen  von  den  grund- 
legenden Werken  Burkhardt's  und  Voigt"s,  die  in  ihren  zusammen- 
fassenden Darstellungen  der  Renaissance  auch  für  die  Philosophie- 
geschichte jener  Zeit  so  manche  beachtenswerthe  Winke  gegeben 
haben,  liegen  uns  auch  einige  Monographien,  namentlich  von 
italienischen  Gelehrten,  direct  zur  Renaissance-Philosophie  vor, 
durch  deren  Zusammenstellung  sich  Carriere  den  Dank  der  Fach- 
geuossen  in  hohem  Grade  verdient  hätte.  Allerdings  erhebt  Carriere 
nicht  den  Anspruch  auf  Vollständigkeit;  aber  da  sein  Buch  nun 
einmal  das  einzige  in  Deutschland  ist,  das  speziell  der  Renaissance- 
Philosophie  gewidmet  ist,  würde  es  an  Brauchbarkeit  erheblich 
gewonnen  haben,  hätte  es  den  derzeitigen  Stand  der  bezüglichen 
Litteratur,  wenn  auch  nur  im  knappen  Rahmen  von  Titelangaben, 
verzeichnet. 

Es  soll  allerdings  nicht  geläugnet  werden,  dass  eine  solche 
Zusammenstellung  der  hergehörigen  Litteratur  auf  erhebliche 
Schwierigkeiten  stÖsst,  zumal  wenn  auch  die  ausserdeutschen 
Publikationen  volle  Berücksichtigung  finden  sollen.  Der  wissen- 
schaftliche Wechselverkehr  unter  den  Kulturnationen  ist  eben,  so- 


47,S  Ludwig  Stein, 

weit  die  riiilo.sopliiegeschichte  in  Betraclit  kommt,  noch  gar  zu 
jungen  Datums.  Daher  mag  es  auch  kommen,  dass  die  mit  Recht 
so  gerühmten  und  sonst  so  /Aiverlässigen  Litteraturangaben  des 
Ueberweg-Heinze'schen  Grundrisses  gerade  bei  der  Renaissance- 
Periode  einige  Lücken  aufweisen.  Und  so  dürfte  es  denn  als  Er- 
gänzung des  Carriere'schen  Buches  nicht  unwillkommen  sein,  wenn 
ich  bei  dieser  Gelegenheit  auf  einige  neuere  ausserdeutsche  Publi- 
kationen zur  Renaissance-Philosophie  hinweise,  wobei  ich  mich  in- 
dess  nur  auf  solche  beschränke,  die  auch  im  L'eberweg-IIeinze'schen 
Grundriss  nicht  verzeichnet  sind.  Von  allgemeineren  Werken, 
welche  die  ganze  Periode  umspannen  oder  doch  einzelne  Abschnitte 
des  Weiteren  behandeln,  führe  ich  au:  E.  Gebhard,  Les  ori- 
gines  de  la  renaissance  en  Italic,  Paris  1879,  und  dessen  La 
renaissance  italieune,  Paris  1887,  Cerf.  Albert  Castelnau,  Les 
Medicis,  Paris,  1879,  Calman  Levy.  Mamiani  della  Rovere, 
Del  rinnovamento  della  hlosotia  antica  italiana.  Paris,  Delaforest. 
Francesco  Fiorentino.  II  Risorgimento  Filosofico  nel  Quattro- 
cento. Napoli  1885.  Carducci,  Studi  Letterari,  Livorno  1874. 
Antonio  Casertano.  Saifgio  dcl  rinascimento  dcl  classicismo  durante 
il  secolo  XV,  Torino,  1887. 

Einzelne  Philosophen  der  Renaissance  behandeln:  Galeotti, 
Saggio  intorno  alla  vita  ed  agli  scritti  di  Marsiglio  Ficino,  im  Archivio 
sto'rico,  It.  Bd.  IX  und  X.  Henri  Vast,  le  Cardinal  Bessarion. 
Paris  1878.  Labanca,  Giacomo  Zabarella,  Xapoli  1878.  Pietro 
Ragnisco,  Giacomo  Zabarella,  Atti  del  instituto  Veneto  1885, 
IV,  6.  Derselbe,  Un  autografo  del  Cardinale  Bessarione,  atti  del 
instituto  Veneto,  1884,  III,  1.  Villari,  Macchiavelli,  sowie  dessen 
Storia  di  Gir.  Savonarola,  Firenze  1887.  '  F.  Buttrini,  Girolamo 
Cardano,  Savona  1884.  Domenico  Berti,  Vita  di  Giordano  Bruno, 
ed.  Paravia.  Zu  beachten  ist  auch,  die  mit  Unterstützung  der 
italienischen  Regierung  von  Fiorentino  begonnene  und  nach  dessen 
Tode  von  den  Professoren  G.  A^itelli  und  Feiice  Toccoiu 
Florenz  fortgesetzte  Ausgabe:  Bruui  Nolani  opera  latine  conscripta, 
Xapoli  1886—88.  B.  Spaventa,  Saggi  di  critica  (Bruno-Cam- 
panella), Napoli  1867.  Luigi  Amabile,  Tommaso  Campanella; 
Xapoli,  Morano.     Natürlich  sind   meine  ergänzenden  Litteraturan- 


Jahresbericht  üb.  d.  deutsche  Litt.  z.  Philos.  d.  Renaissance  1886  —  1888.     479 

oal)en  weit  davon  entfernt,  den  Gegenstand  zu  erschöpfen.  Nur 
eine  genaue  Umfrage  bei  italienischen  Gelehrten  kann  uns  dazu 
verhelfen,  die  etwa  noch  vorhandenen  bibliographischen  Liiclcen 
gUicklich  auszufüllen.     Werke  von  hervorragender  Wichtigkeit  frei- 

j  lieh  dürften  in  diesem  Nachtrag  kaum  übergangen  sein. 

In  neuester  Zeit  entwickeln  die  italienischen  Gelehrten  eine 
besondere  Rührigkeit  in  (Kn-  historischen  Erforschung  der  Glanz- 
periode ihrer  Philosophie.  In  dieser  Richtung  haben  namentlich 
die  o-rundleuenden  Arbeiten  des  leider  frühverstorbenen  Fiorentino 
höchst  anregend  und  förderlich  gewirkt.  Aber  zu  einer  durch- 
greifenden Erfassung  und  allseitigen  Beleuchtung  der  gesammten 
Renaissauce-Philosophie,  die  ja  das  zweihundertjälmge  verzweifelte 
Ringen  des  mündiggewordenen  Menschengeistes  wider  die  beengen- 
den Schranken  einer  verknöcherten  Scholastik  auf  allen  Gebieten 
darstellt,  hat  sich  noch  kein  Italiener  aufraffen  können.  Es  ist  eben 
immer  noch  nicht  ausreichende  monographische  Vorarbeit  vorhanden,  ■ 
um  eine  solche  Riesenaufgabe  mit  einiger  Aussicht  auf  vollen  Er- 
folg in  Angrift"  nehmen  zu  können.  Und  so  lange  wir  ein  solches, 
von  den  Fachkreisen  sehnlichst  herbeigewünschtes  Werk  über  die 
Renaissance-Philosophie,  das  auf  der  Vollhöhe  der  wissenschaftlichen 
Forderungen  der  Zeit  steht,  noch  nicht  besitzen,  wird  Carriere's 
„philosophische  Weltanschauung  der  Reformationszeit"  seinen  her- 
vorragenden Platz  in  der  Litteratur  behaupten.  Trotz  mancher 
Mängel  in  Anlage  und  Auflassung,  die  Carrierc  selbst  nicht  ver- 
kennt, ist  es  doch  bislang  das  einzige  deutsche  Buch,  das  uns  ein 
farbenreiches,  von   idealer  Gesinnung  durchhauchtes  und  mit  echt 

Jm  dichterischem  Schwung  gezeichnetes  -Bild  der  einander  durch- 
kreuzenden |)hilosophischen  Strömungen  der  Renaissancezeit  ent- 
wirft. 

Gaspary,  Adolf.     Die    italienische  Litteratur    der   Renaissaucezcit 

(Geschichte   der    italienischen    Litteratur  Band  II),    Berlin 

1888,  Robert  Oppenheim.  704  S.     M.  12. 

Nur  ein  bescheidenes  Plätzchen  hat  Gaspary  der  philosophischen 

Litteratur  in  seiner  umfassend   angelegten  italienischen  Litteratur- 

geschichte  angewiesen.     Weder  hat  er  ihr  einen   besonderen   Ab- 


4S0  Ludwig  Stein,  Ämijli«' 


I 


schnitt  gewuliiiet.  iiucli  brachte  er  durt,  wu  er  philosophische  Stre- 
bungen in  enger  Yerllechtung  mit  anderen  litterarischen  Erschei- 
nungen darstellt,  den  vorwaltenden  oder  doch  weitgreifenden  Ein- 
fluss  der  Philosophie  auf  die  litterarischen  Grenzgebiete  scharf  genug 
zum  Ausdruck.  Und  doch  boten  sich  gerade  hier  iler  litterar- 
historischen  Forschung,  soweit  sie  mehr  sein  will,  als  dürre  Wieder- 
gabe des  spröden  poetischen  Stottes  und  trockene  Aufzählung  von 
Daten,  sofern  sie  vielmehr  die  tieferen  und  feineren  Zusammen- 
hänge unter  den  einzelnen  Litteraturgattungen  aufzuspüren  bestrebt 
ist,  höchst  fruchtbare  Beziehungspunkte  dar.  Eine  solche  enge 
AVechselbeziehung  von  Philosophie  und  Dichtkunst,  wie  sie  uns  in  ^<n 
der  Renaissance  entgegentritt  —  man  denke  nur  u.  A.  an  Petrarca, 
Boccaccio,  Pico  von  Mirandula,  Bruno,  Campanella  —  begegnet  uns 
nur  noch  einmal  in  der  Litteraturgeschichte:  bei  Lessing,  Herder, 
.Schiller  und  Goethe.  War  aber  das  philosophische  Interesse  in  der ' 
Renaissance  so  rege  und  lebendig,  dass  es  bei  einzelnen  hervor- 
ragenden A'ertretern  der  Dichtkunst  auch  in  die  Poesie  merklich 
hinübergegriffen  hat,  so  erheischt  die  Darstellung  der  poetischen 
Litteratur  der  Renaissance  gebieterisch  eine  entsprechende  Mitberück- 
sichtigung der  herrschenden  philosophischen  Strömungen  und  deren 
Einwirkungen  auf  die  Gesammtlitteratur. 

Mag  nun  aber  auch  die  im  Verhältniss  zu  ihrer  Bedeutsamkeit 
geringe  Beachtung,  die  Gaspary  der  Philosojjhie  der  Renaissance 
widmet,  ein  bedenklicher  Mangel  seines  mit  Recht  allgemein  ge- 
rühmten Werkes  sein,  so  trifft  ihn  selbst  doch  nur  der  geringste 
Theil  der  Schuld.  Der  Litterarhistoriker  ist  nicht  dafür  verant- 
wortlich zu  machen,  dass  einzelne  durch  den  Character  der  von 
ihm  dargestellten  Epoche  uothwendig  gewordene  philosophische  Ab- 
schnitte seines  Werkes  unbedingt  lückenhaft  ausfallen  müssen,  weil 
die  Philosophen  von  Fach  es  verabsäumt  haben,  die  betreffende 
Periode  mit  gebührendem  Ernst  und  gebotener  Gründlichkeit  zu 
behandeln.  Man  kann  keinem  noch  so  gediegenen  Litterarhistoriker 
zumuthen,  sämmtliche  Werke  der  Renaissance-Philosophen  mit  der 
erforderlichen  eindringlichen  Schärfe  zu  studiren,  um  sich  durch 
die  zuweilen  unwegsamen  Irrpfade  und  krausen  Gedankengänge 
jener  Halbscholastiker  selbst  die  Bahn  zu  eignen.     Hier  zuvörderst 


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Jahresbericht  üb.  cl.  deutsche  Litt.  z.  Philos.  d.  Renaissauce  188fi— 1888.     481 

den    Boden     von    dem    überwuchernden    Gestrüpp     phantastischer 
Schwärmereien    zu   säubern,    die   philosophischen   Endi)estrebungen 
der  Renaissaucedenker    klar  und    unverhüllt    herauszuschälen    aus 
dem  fast  erdrückenden  Wust  von  mystischen  Umhüllungen,  in  welche 
jene    eingekleidet    sind,    das    ist    zunächst    und    zuhöchst    Ehren- 
pflicht   der   Fachphilosophen!     So    lange   also    von   philosophischer 
Seite  dieser  Ehrenpflicht  nicht  genügt  ist,    haben  wir  kein  begrün- 
detes Recht,  es  den  Litterarhistorikern  zu  verübeln,   weini  sie  bei 
einer  zusammenfassenden  Darstellung  der  litterarischen  Gesammt- 
leistungen    der  Renaissance    die    philosophische  Schöpferkraft   der- 
sellten  nur  gering  anschlagen.     Wir  wollen  darum  mit  Gaspary  um 
Iso  weniger  darüber  rechten,    dass  die  philosophischen  Abschnitte 
[seines  sonst   vortrett"lichen   ^Verkes  etwas  mager   und  farblos  aus- 
Igefallen  sind,  als  man  ihm  das  Zeugniss  kaum  versagen  kann,  dass 
ler  sämmtliche  Ansätze  zur  Geschichte  der  Renaissance-Philosophie, 
Isofern  sie   ihm   zugänglich   waren,    sorgfältig    gesammelt    und    ver- 
Iständnissimiig    benutzt  hat.     So  ist  z.  B.   die  Kennzeichnung    der 
philosophischen    Persönlichkeit  Lorenzo  Vallas,   (S.  136 ft'.),  da  sie 
sich  auf  die  glänzenden  Vorarbeiten  Vahlen"s  stützen  konnte,  ganz 
vortrefflich  ausgefallen.     Minder  gelungen  hingegen  scheint  mir  die 
Schilderung  (S.  156ft'.)  des  gewaltigen  Streites  für  und  wider  Plato 
lund  der  mit  dieser  Fehde  ursächlich  zusammenhängenden  Entstehung 
l-der  neu-platonischen  Akademie  zu  Florenz.     Bei  der  einschneiden- 
Iden  Wichtigkeit  dieser  Akademie   für    das  gesammte  Geistesleben 
der  Renaissance  und  nicht  zuletzt  der  Poesie,  die  damals  mit  der 
Philosophie    stark   verquickt    war,    wäre  doch   wol    eine  schärfere 
Beleuchtung  der  weitgreifenden  Einwirkungen  dieser  Akademie  am 
Platze  gewesen.     Allerdings  muss  auch  hier  wieder  entschuldigend 
für  Gaspary  hervorgehoben  werden,  dass  noch  ein  ungeahnt  reiches 
Material  an  unedirten  Documenten  aus  jener  für  den  Umschwung 
der  Philosophie  so  wichtigen  Epoche  in   den    italienischen   Biblio- 
theken, namentlich  in  der  Laurentiana   zu  Florenz,  aufgespeichert 
liegt,  so  dass  eine  erschöpfende  Bearbeitung  dieser  Periode  zur  Zeit 
kaum  möglich  ist. 

Die    Nichtberücksichtigung    handschriftlicher    Materialien    hat 
|inancherlei  UnvoUkommenheiten   zur  nothwendigen   Folge.     So   ist 

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482  '''"'  ^^'i?  Stein, 

durch  clicseu  Mangel  beispielsweise  die  höchst  beraerkenswerthe 
Persönlichkeit  des  Lionardo  Aretino  (eigentlich  Lionardo  Bruni 
genannt)  von  Gaspary  stark  iü  den  Hintergrund  gedrängt  worden. 
Durch  den  Umstand,  dass  zahlreiche  Werke  Bruni's  in  der  Lauren- 
tiana  noch  der  Veröß'eutlichung  harren,  ist  Gaspary  diesem  gelehrten 
A'ielschreiber,  dessen  vielseitige  Gelehrsamkeit  jedoch  von  keinem 
Zeitgenossen  erreicht,  geschweige  denn  überboten  wurde,  nicht  ge- 
nügend gerecht  geworden.  Wo!  war  Bruni  weniger  origineller 
Denker,  denn  eine  encyclopädisch  angelegte  Natur;  allein  er  hat 
den  Ruhm  der  florentinischen  Gelehrsamkeit  wesentlich  mitbegriindet 
und  —  was  ihn  in  erster  Reihe  auszeichnet  —  Schule  gemacht. 
Nahezu  alle  florentinischen  Geisteshelden  aus  der  zweiten  Hälfte 
des  15.  Jahrhunderts  verehrten  ihn  als  Lehrer  oder  doch  als 
litterarisches  Vorbild.  Boninsegnius  z.  B.,  der  Verfasser  der  ersten 
„Geschichte  der  antiken  Philosophie  in  der  Neuzeit"  (vgl.  Archiv  1, 
S.  538 ft'.),  der  Freund  und  philosophische  Berather  des  Marsilius 
ricinus,  knüpfte  unmittelbar  an  das  Isagagicon,  seu  introductio  ad 
moralem  philosophiam  des  Lionardo  Bruni  an.  (Nebenbei  bemerkt 
ist  dieses  Isagagicon,  das  Janitschek,  Voigt  und  Fiorentino  für  uii- 
gedruckt  halten,  imd  das  Gaspary  (S.  659)  in  einer  Ausgabe  von 
Joh.  Weidner,  Jena  1607  auf  der  Stadtbibliothek  zu  Breslau  ge- 
funden hat,  schon  1475  in  Löwen  gedruckt,  vgl.  Bandini's  Index 
latinus  der  Laurentiana,  I,  260). 

Glücklicher  ist  (Jaspary  in  der  Kennzeichnung  solcher  Philo- 
sophen, deren  Werke  gedruckt  vorliegen.  So  ist  seine  Skizzirung 
der  Philosophie  des  Marsilius  Ficinus  (S.  161 — 68)  trefi'ljch  gelungen. 
Hier  zeigt  (iaspary  eine  Vertrautheit  mit  den  eigenthümlichen  (Je- 
dankengängen  der  Renaissancephilosophie,  die  einem  Fachmann 
Ehre  machen  würde,  und  darum  ist  es  denn  auch  doppelt  be- 
dauerlich, dass  der  Verfasser,'  der  sich  bei  der  Behandlung  des 
Ficinus  als  ein  eingeweihter  Philosophiekundiger  ausgewiesen,  sich 
gelegentlich  der  Besprechung  anderer  Philosophen  eine  gar  so  kühle 
Reserve  auferlegt  hat.  Abgesehen  davon,  dass  er  Männer  wie 
l^mpouatius,  Zabarella,  CVcmonini,  Patritius,  Cardanus,  Telesius, 
ja  sogar  einen  Tomaso  Campanella  ganz  unerwähnt  Hess,  hat  sich 
Gaspary  die  lockende  Gelegenheit,  die  sich  ihm  bei  der  Ikhandlung 


Jahresbericht  iili.  d.  deutsche  Litt.  z.  Philos.  d.  Renaissance  188G— 1888.     483 

der  Comödie  Candelaio  des  Giordano  Bruno  (S.  598 f.)  bot,  das 
Wechsel verhältniss  von  Poesie  und  Philosophie  an  dem  klassischen 
Beispiel  Bruno's  7a\  besprechen,  entschlüpfen  lassen.  Unterliess  der 
Verf.  aber  diesen  naheliegenden  Streifzug  auf  das  philosophische 
Gebiet  deshalb,  weil  die  Philosophie  in  den  Rahmen  jenes  die 
Comödie  behandelnden  Capitels  sich  nicht  recht  hineiuflechten  Hess, 
so  ist  die  Frage  denn  doch  berechtigt,  warum  er  der  philosophischen 
Litteratur  in  seinem  breit  angelegten  Werke  keinen  besonderen 
Abschnitt  gewidmet  hat? 

Meine  Bedenken  gegen  das  von  den  litterarhistorischen  Fach- 
kreisen mit  allseitigem  Beifall  aufgenommene  Werk  Gaspary's  treffen 
natürlich  nur  die  philosophischen  Theile  desselben,  und  auch  diese 
nur  in  dem,  was  sie  unterlassen,  aber  nicht  in  dem,  was  sie  geboten 
haben.  Das  Wenige,  das  der  Verf.  positiv  7Air  Philosopliiegeschichte 
beiträgt,  ist  wie  das  ganze  Buch  solid  und  gründlich. 

MoNNiER  Marc.  Litteraturgeschichte  der  Renaissance  von  Dante 
bis  Luther.  Deutsche  autorisirte  Ausgabe.  Nördlingen 
1888.  C.  H.  Beck'sche  Buchhandlung.  422  S. 
Nicht  als  Anhängsel,  sondern  als  auffälliges  Gegenstück  mag 
das  Monnier'sche  Buch  neben  das  Gaspary's  gestellt  werden.  Beide 
AVerke  behandeln  zum  grossen  Theil  die  gleiche  Materie,  aber  mit 
■wie  grundverschiedenen  Mitteln  und  entgegengesetzten  Methoden! 
Beide  W^erke  sind  ihrer  Anlage  und  Schreibart  nach  typisch: 
Gaspary  repräsentirt  in  vollendeter  Weise  den  deutschen  Gelehrten, 
Monnier  den.  französischen  Schöngeist.  Germanische  (iediegenheit 
und  romanische  Geistreichelei  können  kaum  an  einem  glücklicheren 
Beispiel  aufgezeigt  werden,  als  an  diesen  l)eiden,  den  gleichen 
Gegenstand  behandelnden  Werken.  (Jaspary  ist  von  peinlichster 
Vorsicht  im  Urtheil,  wenngleich  er  dasselbe  auf  eine  umfassentle 
Durcharbeitung  und  tiefere  Durchdringung  des  Stoffes  gründet. 
Monnier  hingegen  urtheilt  nach  persönlichen  Stimmungen  und 
augenblicklichen  Eingebungen  etwas  vorschnell,  zumal  ihm  eine 
erschöpfende  und  vertiefte  Kenntniss  seines  Gegenstandes  offenbiir 
abgeht.  Das  deutsche  Buch  ist  dementsprecliend  von  einer  erstaun- 
lichen Objectivität  dev  Darstellung,  das  rranzr.sisclH"  stark  subji'ctiv 


434  T'  '1  '1  ^^' '  D  '*^  t  p  i "  j 


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gefärbt .  Stylistisch  IVeilicli  ist  der  Franzose  im  Vortheil;  denn  eine  i  * 
subjective  Parteinahme  macht  den  Styl  wärmer,  lebendiger  und  ^  '' ' 
anschaulicher,  während  eine  objeetive  Berichterstattung  naturgemäss 
etwas  trocken  und  farblos  ausfallen  muss.  Da  es  nun  dem  ernsten 
Forscher  lediglich  um  genaue  Ermittlung  des  Thatbestandes  zu  thua 
ist,  wobei  zierliche  Redeblumen  und  bestechende  Vergleiche  eher 
hinderlich  als  förderlich  sind,  so  wird  in  Fachkreisen  nur  Gaspary's 
Buch  Geltung  gewinnen.  Weiteren  Laieukreisen  jedoch,  denen  es 
mehr  auf  eine  allgemeine  Orientirung  über  die  Geistesbewegung  der  i 
Renaissance  ankommt,  mag  das  Monniersche  Buch  eine  gewisse 
Anziehung  bieten.  Der  lockere,  geistreichelnde  Ton  macht  das  Buch 
zu  einer  angenehmen  Erhol ungslectüre. 

Die  philosophischen  Theile  des  Buches,  sofern  man  von  solchen 
reden  kann,  sind  last  gänzlich  missgliickt.  Die  hastige,  sprunghafte 
Arbeitsweise  des  Verfassers  eignet  sich  eben  nicht  für  die  Behand- 
lung philosophischer  Fragen,  die  eine  umsichtige  Nachprüfung  und 
ein  tieferes  Eindringen  gebieterisch  heischen.  Das  Verhältniss  d 
,,Göttlichen  Komödie"  zur  scholastischen  Philosophie  ist  S.  35  kaum 
ilüchtig  gestreift.  Petrarca's  Anschluss  an's  griechische  Alterthum 
und  der  aus  demselben  hervorgegangene  begeisterte  Aufruf  nach 
Erneuerung  der  Antike  hat  Monnier  garnicht  der  Erwähnung  vverth 
befunden.  Und  doch  liegt  in  Petrarca's  Feuereifer  für  das  classische 
Alterthum  eine  der  mächtigsten  AN'urzelfasern  der  philosophischen 
Renaissance. 

Eine  gar  zu  grosse  Willkür  herrscht  auch  in  der  Anordnung 
des  Stofles.  Männer  von  einschneidender  Bedeutung  •  werden  kurz 
abgethan,  andere  uuverhältnissmässig  breit  l)ehaudelt.  Laurentius 
Valla  Avird  (S.  l()2f.)  mit  einigen  Zeilen  abgefertigt,  die  platonische 
Akademie  auf  zwei  Seiten  (S.  181  f.)  skizzirt  (Plethons  Vorname  wird 
dabei  konsequent  Gemistios  geschrieben).  Hingegen  werden  von 
Savonarola  z.  1^.  ganze  Predigten  abgedruckt  (S.  187 — 192) '). 


')  Bei  dieser  Gelegenheit  möchte  ich  auf  die  wenig  bekannte  Thatsache 
hinweisen,    dass  Savonarola  auch  ein  ziemlich  fruchtbarer  philosophischer 
Öchiiftsleller   war,   der   iil)er   die    meisten   Gebiete   der  damaligen  Philosophie; 
Compendien  verfasste.    Die  Laurentiana  in  Florenz  bewahrt  folgende,  gedruckt 
vorliegende  philosophische  Schriften  Savonarolas:  Compendium  Logicale.  librigi 


Jahresbeiiclit  \\\>.  d.  deutsche  Litt.  z.  Philos.  d.  Renaissance  1886—1888.     485 

Am  breitesteu,  freilich  auch  am  eiiiiseitigsten  wird  Erasmus 
von  Monnier  behandelt  (8.  205—224  und  243—247).  Bei  ihm 
werden  alle  Schwächen  und  Halbheiten  mit  dem  Mantel  der  Liebe 
behutsam  verhüllt,  während  die  kleinen  Blossen  Ulrich  von  Hutten's 
(S.  231 — 243)  unnachsichtig  aufgedeckt  werden.  Der  zaghafte,  un- 
schlüssige, zweidentige  Erasmus  erscheint  da  als  ein  Characterheld, 
während  die  urwüchsige  Kraftnatur  eines  Hütten  zur  jammervollen 
Zwergfigur  eines  „Bettelstudenten"  zusammenschrumpft.  Das  ist 
denn  doch  eine  so  augenfällig  tendenziöse  Umkehrung  der  That- 
sachen,  dass  man  beinahe  versucht  wäre,  hinter  Marc  Monnier,  der 
sonst  einen  unbefangenen,  freien  Geist  zeigt,  einen  katholischen 
Tendenzschriftsteller  zu  vermuthen. 

Vom  philosophischen  Gesichtswinkel  gesehen  leidet  Monniers 
[Buch  endlich  noch  an  dem  bedenklichen  Mangel,  dass  es  bei  der 
i  Werthabschätzung  litterarischer  Strömungen  kleineren  politischen 
Vorgängen  und  kleinlichen  persönlichen  Motiven  eine  zu  grosse, 
hingegen  treibenden  Kultnrgedanken  und  tragenden  philosophischen 
Ideen  eine  zu  geringe  Beachtung  widmet.  Man  versteht  die  Geistes- 
geschichte doch  nur  halb,  wenn  man  sie  willkürlich  aus  einzelnen 
zusammenhanglosen,  zersprengten  Trümmern  zusammenfügen  will, 
ohne  ein  höheres  leitendes  Prinzip  anzuerkennen,  das  in  allen 
mannigfaltigen,  wie  auch  gearteten  Ottenbarungen  des  Geistes  mehr 
|.oder  minder  deutlich  zum  Durchbruch  gelangt. 

Dante. 
IHettingek,    Franz,    Dr.      Dante's    Geistesgang,    Köln  1888,    J.  P. 
Bachern.  132. 
Den    etwas    fremdklingenden  Titel  erklärt  der  gelehrte,    fein- 
I sinnige  Verfasser  S.  54  dahin:    „In  Dantes  Geistesgang  stellt  sich 


XL     Corapendiuin    philosophiae    naturalis    ad  Aristotelis   et  Tlioinae  menteiii. 

Compendiuin  Dialecticae,  Physicae  et  Ethices.  Tractatus  de  actibus  hunianis. 
ICompendium    Metaphysices.      Die    opera    oimiia    Savonarola's    sind    1548    in 

Venedig  erschienen.  Allein  die  philosophische  Thiltigkeit  Savonarola's  wurde 
Ivou  seiner  sozial-reformatorischen  derinassen  überstrahlt,  dass  sie  fast  ganz,  in 

Vergessenheit  gerieth,   bis  der  gediegene  Pasquale  Viliari   in  seiner  .,stori;i   dl 

Girolumo  Savonarola  e  di  simi  tempi"   sie  wieder  in   l'',iiinu'riing  gebrai'iit  bat. 


480  Ludwig  Stein, 


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uns  stets  ein  Fortschritt  dar  vom  Leiblichen  zum  Geistigen,  von 
der  Geschichte  zur  Idee"  und  erläutert  ihn  ferner  S.  103  mit  den 
Worten  „So  haben  wir  denn  in  Dante's  Geistesgang  eine  allmälig 
sich  entwickelnde,  stetig  fortschreitende,  organisch  sich  aufbauende 
Aus-  und  Durchbildung  zu  erkennen,  die  durch  keinen  Gegensatz 
zum  Glauben  durchbrochen,  ja  nicht  einmal  durch  einen 
Zweifel  gehemmt  oder  getrübt  worden  ist". 

In  diesen  letzten   Worten    spiegelt    sich    die    wissenschaftliche 
Eigenart  und  hervorstechende  Tendenz  dieser  dankensvverthen  Studie  Jalirf 
des  hervorragenden  Dantekenuers  mit  unverkennbarer  Deutlichkeit 
wieder.     Neben   dem   warmen   und   erfolgreichen  Eintreten   für  diej   -. 
Ansicht,   Dante's   angebetete  Beatrice  sei  keine   allegorische  Figur" 
keine  abstrahirte  Idee  gewesen,  sondern  habe  in  leibhaftiger  Wirk- 
lichkeit bis  zu  ihrem  1290  erfolgten  Tode  in  Florenz  existirt  (S.  32 
und  115),  springt  uns  in  dieser  gehaltvollen  und  lehrreichen  Studie 
namentlich  nur  noch  der  eine  Gedanke   als  thoma  probandum  in 
die  Augen.  Dante  könne  niemals  auch  nur  einen  Anflug  von 
Skeptizismus    gehabt   haben.     Die    gediegensten   Dantekeniier, 
wie    Karl    Witte.    Hugo  Dellf,    J.  A.  Scartazzini    und    Fr.  AVegele 
nehmen  nämlich  mit  einer  Einmiithigkeit.  die  bei  gleichstrebenden 
Forschern  selten  genug  ist,  an,  Dante  zeige  in  seinem  der  „göttlichen 
Komödie"  vorausgehenden  Werke  „II  amoroso  Convivio"  (oder  con- 
vito,  wie  die  neue  Schreibung  lautet)  eine  solche  kirchliche  Lauheit 
und  dogmatische  L'nfestigkeit,  dass  man   versucht  ist,   dieses  Buch 
als  das  Erzeugniss  einer  skeptischen  Anwandlung,  eines  verzweifeln- 
den Ringens  der  philosophischen  Anschauung  gegen  die  kirchliche 
anzusehen.    Diese  Annahme  stützt  sich  auf  die  unbestreitbare  That- 
sache,  dass  man  an   zahlreichen,   von   AVitte  sorgfältig  zusammen- 
gestellten Stellen  des  „Gastmahls"  die  Zuckungen  der  Skepsis  deut- 
lich   herausfühlen    kann.     Dazu    tritt    noch    das  Selbstbekenntniss 
Dante's  in  den  Schlussgesängen  des  Pui'gatorio,    in  welchen  Dante 
die    früheren    Irrthümer    bitter    bereut.     Die    „Divina  Commedia" 
bezeichne  demnach  den  Höhepunkt  der  religiösen  und  philosophischen 
Katharsis  im  „Geistesgang"  Dante's,  sofern  hier  bereits  die  skep- 
tischen Misstöne  des  „Gastmahls"  überwunden  wären  und  in  einen 
berauschenden  Accord  harmonischer  Kirchlichkeit  ausklängen. 

ii 


Jahresbericht  iü-.  d.  deutsche  Lilt.  z.  Philo.s.  d.  Renaissance  1886—1888.     487 

Dieser  psychologisch  so  naheliegende  und  historisch  so  leicht 
erweisliche  philosophische  Entwicklungsgang  Dante's  misshagt  Het- 
tinger  gründlich,  weil  er  den  poetischen  Hort  der  scholastischen 
Philosophie  zu  einem,  wenn  auch  nur  vorübergehenden,  Skeptiker 
macht,  und  der  Verfasser  wagt  daher  den  kühnen  Versuch,  diese 
skeptisclie  Periode  durch  scharfsinnige  philosophische  Exegese 
(S.  77—95)  wegzucleuten.  Die  spitzfindige  Beweisführung  stützt 
sich  vornehmlich  darauf,  dass  die  scheinbar  skeptisch  gefärbten 
Lehrsätze  des  „Gastmahls"  sich  auch  bei  gut  scholastischen  Philo- 
sophen, wie  Albertus  Magnus  und  Thomas  von  Aquin,  oder  bei 
Mystikern  wie  dem  heil.  Bernard  und  Hugo  von  St.  Victor  wieder- 
finden (dabei  fällt  Hettinger  S.  76  ein  treffliches  Urtheil  über  das 
Verhältniss  von  Scholastik  und  Mystik).  Damit  hat  H.  aber  den  Ske})- 
tizismus  Dante's  nur  zurückgerückt;  seine  Beweisführungen  zeigen 
eben  nur,  dass  auch  scholastische  bezw.  mystische  Schulhäupter 
wie  Albertus  und  Hugo  v.  St.  Victor  zuweilen  skeptische  Anwand- 
lungen hatten.  Warum  auch  eicht?  AVer  nicht  wie  H.  (S.  36\  39) 
strict  auf  dem  Boden  der  Encycl.  vom  4.  August  1879  steht, 
sondern  sich  mehr  an  Augustin's  „Confessionen"  hält,  für  den  hat 
die  Annahme,  Dante  könnte  in  seiner  Jugend  Skeptiker  gewesen 
sein,  nichts  Verwunderliches  und  Befremdendes. 


I 

J  * 


Archiv  f.  Geschichte  il.  Vlülosopliie.     II. 


B3 


X. 

L'Histoire  de  la  PliilosopMe  en  France  peiidaiit 

l'auuee  1887. 

Par 
Paul  Tannery  u  Bordeaux. 

L'aniiee  1887  a  vu,  lait  bleu  exceptloiiiiel,  paraitre  eu  France  ^ 
au    moins  trois  volumes    importants   consacres  a    Thistoire    de    la 
Philosophie ') : 

A.-Ed.  CiiAKiNET.    Histoire  de  la  psychoIogie  des  Grecs,  —  Tome  I. 

Histoire  de  la  psychologie  des  Grecs  avant  et  apres  Aristote. 

—  Paris,  Hachette,  1887.  —  XXII— 426  pages. 
M.  Chaignet,  recteur  de  l'Academie  de  Poitiers,  correspoiidaiit 
de  rinstitut,  aiiteur  de  nombreux  volumes  couronnes  par  FAca- 
demie  des  Sciences  morales  et  politiques,  est  bien  connu,  en  France 
et  a  Tetranger,  de  ceux  cjui  s'interessent  a  Thistoire  de  la  philo- 
sophie,  Qui  a  lu  ruii  de  ses  ouvrages  historiques:  Pyt hagere 
et  la  [)liilosQphie  pythagoricieune,  1873;  Yie  de  Socrate, 
1866;  La  Yie  et  les  ecrits  de  Piaton,  1871;  ])e  la  psycho- 
logie de  Piaton,  1863;  Essai  siir  la  psychologie  d'Aristote, 
1884;  sait  d'avance  ce  qu'il  trouvera  dans  un  voliime  comme  celui 
qui  vient  de  paraitre,  une  abondance  documcntaire  qui  temoigne 
(Fun  travail  aussi  acliarue  que  consciencieux,  une  interpretation 
prudente  a  tendances  spiritualistes,  bref,  les  renseignemeuts  les 
plus  complets  sur  le  siijct  traite;  il  sait  aussi  ce  qu'il  n'y  trouvera 


')  Kn  raison  de  la  longueur  que  je  suis  eu  consequence  amene  ä  douuor 
a  ce  compte-remlu,  je  diflVTe  jus(|u";t  l'auuee  prochaiue  ii  parier  des  untres 
travaiix   inoius  consiiltMaliles  et  des  rc-iMÜtions  d^ouvrag-es  dejä  ancieus. 


L'nistoire  de  la  Pliilosopliie  en  France  pendant  raniii'e  1887. 


489 


pas,  la  decisioii  critique  hardie  et  revelatrice,  le  developpemeut 
regulier  d'idees  directrices  que  le  lecteur  puisse  aisement  retrouver 
au  niilieu  des  digressions  et  des  preuves  et  auxquclles  il  puisse 
rattaclier  ce  qui  passe  devant  ses  yeux.  M.  C'haignet  veut  sans 
doute  que  nous  nous  construisions  nous-memes  l'histoire  et  se  con- 
teute  de  nous  fburuir  tous  les  materiaux  prepares  et  ordonnes; 
peut-etre  a-t-il  eu  raison  dans  le  clioix  de  cette  metliode,  en  ce 
sens  du  moins  que  ses  ouvrages  ont  peut-etre  ainsi  plus  de  chauce 
d'etre  etudies  et  consultes  pendant  longtemps.  Mais  je  crois  que 
pour  susciter  le  travail  dans  Tesprit  du  lecteur,  il  est  encore  plus 
utile  de  lui  proposer  quelque  chose  de  fortement  construit,  fut-il 
au  reste  a  demolir. 

Dans  son  dernier  volume,  M.  Chaignet,  apres  quelques  pages 
siir  les  plillosophes  anterieurs,  reprend  son  ancieu  expose  de  la 
Psychologie  de  Piaton,  esquisse  la  doctrine  de  Speusippe  et  de 
Xenocrate,  saute  Aristote,  deja  traite  en  18<S4,  et  oontinue  par 
Theophraste  jusqu'ä  Straten.  Un  appendice  renferme  une  histoire 
exterieure  de  l'ecole  d'Aristote  et  une  liste  alpliabetique  raisonnee 
des  peripateticiens  du  Lycee,  liste  comportant  286  noms  et  sur  le 
type  de  celle  de  la  Bibliotheca  Graeca  de  Fabricius. 

II  est  au  moins  singulier  que,  dans  sa  preface,  M.  Chaignet 
declare  qu'il  ne  connait  personne  ayant  traite  le  nieme  sujet  que 
lui  depuis  Carus  en  1808.  II  ne  faudrait  pas  en  conclure  que, 
par  exemple,  auciin  exemplaire  des  ecrits  de  Siebeck  n'a  penetre 
en  France,  et  n'y  a  ete  analyse  par  los  recueils  competents.  Je 
n"ai  pas  besoin  d'ajouter  que  Fexpose  de  la  doctrine  du  pneuma 
par  M.  Chaignet  dillere  sensiblement  de  celui  donne  par  le  philo- 
sophe  allemand. 


Victor  Brociiard.  Les  sceptiques  Grecs,  Paris,  Alcan.  —  4?>0  pages. 
Ce  volume  reprosente,  avec  les  remaniements  d'usage  lors  de 
la  publication,  un  memoire  qui  a  obtenu  en  1884  le  prix  Victor 
Cousin  a  FAcademie  des  Sciences  morales  et  politiques.  C"est  peut- 
etre  le  cas  de  dire  quelques  mots  sur  le  Ibnctionnement  en  France 
de  cette  institution  de  prix  decernos  aux  ouvrages  sur  Ihistoire  de 

la  Philosophie. 

33* 


490 


Paul  T  a  n  n  e  r  y , 


C'est  iine  coiiditiou  impo.see  aux  concurreiits  L[ue  de  presenter, 
eil  meine  temp.s  que  l'expose  des  doctriue.s  etudiees,  une  appreciatioii 
de  ces  doctrine.s  et  des  conclusions  faisaut  nettemeüt  ressortir 
l'opiuion  propre  de  Fauteur  sur  les  questions  agitees.  Cette  con- 
dition  est  une  consequence  d'abord  de  l'usage  traditionnel,  toujours 
respecte  dans  uue  compagnie  savaute,  en  second  Heu,  de  la  com- 
position  raeme  de  rAcadeniie  qui  decerue  les  prix  et  qui  est  formee 
de  pliilosophes  plutöt  que  d'erudits. 

Comme  d'ailleurs  les  ouvrages  couronnes  out  en  general  une 
valeur  incontestable  et  que  quelques-uns  ont  ete  particulierement 
remarquables,  ils  donneut,  en  France,  le  ton  aux  travaux  sur 
riiistoire  de  la  pliilosopliie;  il  s'y  est  cree  ainsi  uu  genre  special, 
dans  lequel  le  merite  doctrinal  Temporte,  le  plus  souvent,  sur  le 
nierite  historique.  Pour  preciser  ma  pensee,  il  nie  suflira  de 
rappeler  les  ouvrages  de  Fouillee  sur  Socrate  et  Piaton  ou  de 
Yacherot  sur  TEcole  d'Alexandrie. 

Le  public  fran^ais  est  habitue  ä  ce  genre  et  se  trouve  deroute 
en  presence  de  recherches  poursuivies  dans  un  autre  esprit.  Ce- 
pendaut  je  crois  que  le  genre  est  faux  et  je  considere  comme 
eminemment  regrettable  le  melange  qu'il  coniporte, 

8i  j"ai  comme  philosophe  a  combattre  le  scepticisme.  j'ai  a 
m'occuper  de  la  forme  que  mes  contemporains  donnent  a  leurs 
arguments.  non  pas  de  celle  que  Carneade,  par  exemple,  donnait 
aux  siens.  Si,  au  contraire,  je  pretends  interesser  a  Carneade,  il 
s'agit  pour  moi  de  determiner  son  etat  d'esprit,  de  montrer  en  quoi 
et  pourquoi  il  diflerait  de  celui  des  liommes  de  notre  temps;  je 
n'ai  pas  ;i  m'inquieter  davantage.  Autrement  dit,  Thistoire  de  la  | 
Philosophie  na  nullement  a  pröparer  des  arguments  pour  les  dis- 
])utes  des  ecoles;  eile  doit  proceder  ä  l'analyse  des  conditions 
iiitellectuelles  oii  se  sont  produites  et  developpees  telles  uu  telles 
opinions.  C'est  par  lä  qu'elle  i)eut  enseigner  quelque  chose  d  utile 
au  [)hilosophe  et  non  pas  en  entreprenant  des  discussions  qui 
risquent  d'aboutir  a  une  vaine  logomachie. 

Je  ne  fais  pas  ces  observations  pour  IM.  l)rochard  qui  a, 
autant  que  ])Ossible.  evite  les  delauts  du  genre.  II  a  reduit  au 
iniuiiiuiiii   (ililige  soii   iutcrveiitinn  (hins  le  rule  de  philosophe,   et  a 


L'IIistoire  de  lu  Tliilüsophie  eu  France  peurlaut  I'amiee  1887.  491 

singuliercment  developpe,  dans  la  partie  historiqiie ,  le  memoire 
couronue.  11  uous  a  donc  donne  da  scepticisme  grec  un  tableaii 
complet.  clair  et  anime  et  dont  devront  tenir  compte  tous  ceux 
qui  aborderont  desormais  le  meme  sujet. 

Uue  introdiiction  traite  des  antecedeuts  du  scepticisme,  avaut 
Socrate  et  chez  les  socratiques.  L'auteur  conclut  en  sommo  a 
Turiginalite  absolue  de  la  positioii  pnse  par  Pyrrhon. 

Le  premier  livre,  avant  de  parier  de  Pyrrhou  et  de  Timon, 
c'est-a-dire  des  anciens  sceptiques,  traite  de  la  division  de  l'histoire 
de  la  secte.  Dans  la  premiere  periode,  Tecole  se  contente  d'echap[)er 
aux  sul)tilites  des  sophistes  en  n"y  repondant  pas;  Tessentiel  est  la 
vie  pratique. 

Dans  la  seconde  periode,  (Aenesideme  et  ses  successeurs  im- 
mediats),  le  scepticisme  devient  au  contraire  dialectique;  les 
tropes  sont  classes  et  on  s'efforce  de  mettre  partout  la  raison  en 
coutradiction  avec  elle-meme. 

Enfm,  dans  la  derniere  periode,  Tecole  est  dirigee  par  des 
medecins  empiriques  (Menodote:  Sextus  Empiricus):  au  fond  ils 
meprisent  la  dialectique;  ils  entrevoient  d'ailleurs  la  methode 
d'observation  et  voudraient  la  substituer  au  dogmatisme  et  ä  la 
dialectique.     On  peut  les  rapprocher  des  positivistes. 

A  cliacune  de  ces  deux  dernieres  periodes,  est  consacre  un 
des  deux  derniers  des  quatre  livres  de  Touvrage:  apres  lancien 
scepticisme,  se  trouve  iutercalee,  dans  un  livre  speciaL  Fliistoire 
de  la  nouvelle  Academie,  d'Arcesilas  a  Antiochus  d'Ascalon.  Dans 
un  chapitre  final,  avant  les  conclusious,  Fauteur  indique  les 
ressemblances  et  les  difterences  entre  les  sceptiques  et  les  acade- 
miciens;  il  se  prononce  pour  une  distinction  tranchee,  reconuaissant 
ä  Carneade  et  a  ses  disciples  par  rapport  aux  pyrrhoniens  la  position 
du  probabilisme,  il  va  jusqu'a  dire  du  criticisme  kantien,  eu  face 
du  positivisme  phenomeniste. 

L'epoque  d'Aenesideme  est  fixco  vcrs  80—70  av.  J-C;  il 
aurait  douc  ete  contemporain  de  Philon  de  Larisse,  d" Antiochus 
et  de  Cicpron.  Rien  ne  prouverait  quaucun  pyrrhonien,  cntrc 
Ptolemee  de  Cyrene  et  Menodote,  ait  ete  mcdecin. 


402  Paul  Tannery, 

Favoriniis  serait  plulöt  ä  rapprocher  de  la  Xouvelle  Academie 
quc  du  pyrrhonismc. 

Je  terminerai  ces  breves  iiidications  en  .signalaiit  ime  ciirieuse 
inscription  grecque,  publice  dans  un  recent  numero  du  Bulletin 
de  Cori-espondance  hellenique  (XII,  p.  308)  et  dont  M.  Bro- 
cliard  n'a  pu  avoir  coünaissauce: 

6  Toc?  7.0' oac  a",'ö|jLd)V  7.v'  'EXÄaooi, 

y.al  Tav  ä":a[>a)^ov  £v  ßpoxoic  ösusa^  ooov 
IluppwviaciTac  McVczXf/jc  oo'    sitj-l  s^tu. 

M.  Picavet  a  lu,  eu  1888,  a  rAcademie  des  sciences  morales  et 

politiques,  iine  note  sur  cette  inscription. 

V.  Tannehy.     Pour  Fhistoire  de  la  science  hellcne.  —  De  Thaies 
ä  Empedocle.  —  Yll   -f  396  pages.  —  Paris,  Alcan. 

Oblige,  par  suite  d"une  circoiistance  imprevue,  de  rediger  moi- 
meme  Ic  compte-rendu  d"uu  volume  dout  je  suis  Tauteur.  j'eii 
profiterai  pour  repondre  a  quelques-unes  des  bienveillantes  critiques 
qui  m'out  ete  adressees. 

Le  titre  a  ete  trouve  singulier,  surtout  en  Frauce;  cependant 
11  correspond  assez  exactement  au  but  que  je  me  suis  propose. 
Sans  doutc  ce  livic  interessera  surtout  ceux  qui  s'occupent  de 
riiistoire  de  la  philosophie;  mais,  de  fait,  j'ai  ete  amene  primiti- 
vement  a  le  commencer  a  la  suite  de  recherches  sur  les  origines 
de  Pastronomie,  et  je  Pai  destine  plutot  aux  savants  qui  peuvent 
prendre  goüt  a  la  philosophie  qu'aux  philosophes  que  la  science 
attire.  Cela  explique  d'ime  part  les  traductions  de  docuraents 
originaux  dont  je  Tai  charge,  au  Heu  de  citer,  le  plus  souvent, 
les  textes  grecs  eux-memes ;  cela  explique  aussi  diverses  digressions 
eil  j'ai  pris  ä  partie  les  theories  scientitiques  contemporaincs;  cela 
explique  surtout  le  point  de  vue  special  oii  je  me  suis  place,  pour 
etudier,  d'aprcs  les  sources,  les  doctriues  des  premiers  philosophes. 

Apres  avoir  propose,  dans  Pintroduction,  pour  Phistoire  de  la 
science  aucienne,  une  division  en  quatre  periodes  d'environ  trois 
Cents  ans  chacune:  —  periode  hellene,  jusqu'aux  conquctes 
d'Alexandrc;  —  alexandrine,   jusqua  la   fondation    de   Pempire 


L'Histoire  de  la  Philosophie  eu  France  peudant  l'annee  1887, 


493 


romain;  —  grcco-romaine,  jii.sqirau  triomphe  du  christianlsme ; 
—  de  decadence,  jusqii'ä  Finvasion  arabe;  —  division  qui  me 
paiait  presenter  de  serieux  avantages,  j'ai  essayc  de  preciser  la 
methode  que  je  comptais  employer  et  de  Fopposer  a  la  methode 
ordiuairement  suivie  daiis  Fhistoire  de  la  pliilosophie,  methode  quo 
je  ii^ai  d'ailleurs  pas  Fiiitention  (Fattaquer,  mais  qui  ne  me  parait 
pas  avüir  coüduit,  pour  les  origines  de  la  science,  a  des  resultats 
satisfaisants.  Le  but  qu'on  se  propose  de  part  et  d"autre  etant 
dift'erent,  les  procedes  employes  pour  Fatteindre  doivent  varier. 

Eu  substituant  ainsi  le  poiut  de  vue  positiviste  au  point  de 
vue  metaphysique  (je  me  sers  d'expressions  qui  me  ferout  com- 
prendre,  je  crois,  quoiqu'elles  ne  soient  pas  rigoureusement  exactes), 
on  arrive  a  des  consequeuces  qui  peuveut  parfois  choquer  le  lecteur 
imbu  dos  opinions  geueralement  et  mcme  justement  admises.  Far- 
menide,  par  exemple,  sera  rapproche  d'Heraclite!  Mais  si  Fou  se 
placait  ä  un  troisieme  poiut  de  vue,  comme  celui  de  la  religiou, 
pour  etudier  les  auciens  philosophes,  on  pourrait  bleu  arriver  a 
une  troisieme  Classification,  peut-etre  encore  plus  choquaute.    Tout 

|:  rapprochement    entre    des    penseurs    origiuaux    u'a    qu'uue   valeur 
relative  et  doit  etre  essentiellement  limite  au  rapport  cousidere. 

II  Je  crois    donc  que   mon    volume   a  une    tendance  reellement 

nouvelle..et  sans  m'exagerer  Fimportance  de  cette  tendance,  sans 

•  demander  aucunement  aux  philosophes  de  profession  de  renonccr 
a  leur  point  de  vue,  que  je  serais  le  premier  a  partager  dans 
d'autres  circonstances,  il  m'est  permis  de  penser  qu'ils  pourront 
trouver  quelque  interet  a  se  placer  momentanement  au  mien,  et 
je  m'estiraerai  suffisamment  heureux  si  la  lecturc  de  mon  volume 
"leur  suggere  quelque  reflexion  nouvelle. 

Le  premier  chapitre,  destine  ä  faire  connaitre  comment  nous 
est  parvenue  Fhistoire  des  opinions  des  premiers  penseurs  grecs, 
est  emprunte,  de  fait,  aux  prolegomencs  des  Doxographi  Graeci 
de  üiels,  et  destine  a  faire  connaitre  en  France  les  resultats  de  cc 
travail  sur  lequel  je  puis  avouer  avoir  longuement,  mais  vaincmcnt. 
cherche  Foccasion  d'unc  critique  de  detail. 

Le  second  chapitre,  sur  la  Chronologie  des  physiologues.  a  do 
meme    pour  fonds    principal    le    travail    de  Diels    sur   Apollodore 


494  Paul  T  u  u  n  e  r  y , 


I 


(Rheini-sches  Museum,  XXXI),  dout  j"adopte  pleinement  les 
priucipes  et  les  priucipales  conclusious.  Cependant  j'ai  cru  mieux 
suivre  la  methode  tracee  par  mon  giiide,  eii  m'ecartant  de  lui  sur 
certains  poiiits,  notammeüt  on  cherchaut  ä  preciser  le  role  joue 
par  Sosicrate. 

La  divergence  la  plus  importaute  est  relative  a  la  lixation  des 
dates  de  Feclipse  de  Thaies  (j'admets  585  suivant  Sosicrate,  597 
suivant  Apollodore,  610  suivant  Herodote)  et  de  la  prise  de  Sardes 
par  Cyrus  (548  suivant  Sosicrate,  558  suivant  Apollodore,  ce  qui 
serait  la  date  veritable).  Pour  Teclipse  de  Thaies,  j'ai  admis  comme 
bonne  la  date  deduite  des  recits  d"Herodote,  malgre  les  contra- 
dictions  dont  ces  recits  ont  ete  Tobjet.  J"ajouterai  aujourd'hui  que 
la  question  ne  me  parait  pouvoir  etre  tranchee  que  par  les  decou- 
vertes  des  assyriologues,  et  que  ce  que  j'eu  connais  jusqua  ce  jour 
ne  me  parait  poiut  decisif. 

Suiveut  onze  chapitres  consacres  a:  Thaies  —  Anaximandre  — 
Xenophane  —  Anaximene  —  Heraclite —  Hippasos  et  Alcmeon  —  j 
Parmeuide  —  Zenon  —  Melissos  —  Anaxagore  —  Empedocle,  dans 
Tordre  chronologique  suppose.  Chaque  chapitre  est  suivi  d  une 
doxographie,  et  le  volume  est  termine  par  deux  appendices;  une 
traduction  de  Theophraste  sur  les  sensations  et  une  etude  sur 
Tarithmetique  pythagorieime. 

Dans  la  liste  des  uoms  ci-dessus,  on  remarquera  Tabsence  de 
Pythagore  d'uue  part,  de  Leucippe  et  de  Democrite  de  Pautre.  Le 
raotif  qui  m'a  determine  a  ces  exclusious  est,  pour  Pythagore,  quo 
les  documents  qui  lui  sont  relatils  ont  leur  histoire  propre  et  surtout 
leur  incertitude  tout-a-fait  speciale,  ("e  sont  donc  des  materiaux 
qui,  d"apres  mon  plan  general,  devraient  etre  utilises  a  part,  d'autaut 
qu'on  ne  peut  supposer,  du  Maitre,  aucuü  ecrit  authentique. 
D'ailleurs,  j'ai  etc  assez  souvent  amene  a  parier  des  doctrines  de 
l'ecole  de  Pythagore  pour  que  la  lacune  ne  soit  pas  sensible,  aux 
yeux  au  moins  de  qui  ne  cherchera  pas  dans  mou  volume  une 
histoire  complete,  que  je  n'ai  jamais  eu  la  pretention  de  faire. 

Quant  aux  atomistes,  j'avouerai  simplement  que  je  u'ai  encore 
rien  trouve  a  dirc  sur  leur  Systeme  qui  me  pariit  digne  d'et^-o 
public.     Pour  tous  les  autres  penseurs  dont  j'ai  aborde  Petude,  je 


L'Histoire  de  la  Philosophie  en  France  pendaiif  raiinee  1887. 


495 


crois  au  contrairo  avüir   dit  quelque   chose   de   ucul',   au   niuins  en 
France. 

Le  cliapitre  siir  Thale;^.  public,  il  y  a  deja  dlx  ans,  dans  la 
Revue  philosopliiquo,  renferme  notamment  unc  divination  qui 
a  generalement  ete  acceptee  comme  plausible.  Je  ne  puis  me 
rappeler  sans  quelqu'emotiou  cette  publication,  parce  que  c'est  eile 
qui  a  occasionne  mes  relations  avec  Teichmiiller,  et  quoique  ce 
puissant  genie,  trop  ardent  ä  la  bataille  comme  a  la  poursuite  de 
tollte  piste  ueuve,  n'ait  pas  su  se  menager,  dans  sa  patrie,  l'accueil 
qu'il  pouvait  esperer,  je  suis  sür  que  ses  adversaires  eux-memes 
ont  deplore  la  mort  qui  Ta  frappe  en  pleine  vigueur,  et  quant  a 
moi,  je  n'oublierai  jamais  qu'il  m'a  montre  uu  „coeur  d"or". 

J'ai  adopte,  dans  mon  volume,  sous  certaines  reserves  inutiles 
ä  signaler  ici,  ses  vues  sur  Anaximandre  et  sur  Hcraclite.  C'est 
la  surtout  ce  qui  a  provoque  les  critiques  les  plus  graves  dont  j"ai 
ete  informe. 

La  tliese  que  les  premiers  Joniens  ont  attribue  au  mouvemcnt 
de  revolution  diurne  de  la  spliere  Celeste  une  predominance  marquee 
sur  tous  les  autres  mouvements,  a  de  trop  graves  consequences  pour 
etre  acceptee  sans  conteste.  Tout  en  la  croyant  vraie  et  en  la 
defendant,  je  recouuais  quelle  n'est  pas  fondee  sur  des  textes 
decisifs  qu'on  chercherait  en  vain  dans  Aristote  ou  dans  Platou; 
•  mais  je  pense  que  Tabsence  de  ces  textes  tient  plutöt  a  ce  que 
cette  idee  etait  trop  courante,  trop  vulgaire,  pour  avoir  besoin 
d'etre  scientifiquement  aftirmee,  et  il  me  suflit  de  voir  que,  dans 
Aristote,  l'action  du  premier  moteur  se  reduit  en  l'ait  a  produire 
le  mouvement  de  la  sphere,  de  voir  que  dans  Piaton,  le  meme  du 
Timee  est  purement  et  simplement  identilie  k  ce  mouvement.  Je 
crois  donc  reconnaitre  la  un  etat  d'esprit  qui  n'est  plus  le  nötrc, 
a  nous  qui  avons,  des  l'enfance,  ete  inities  au  Systeme  de  ('opcrnic. 
C'est  cet  etat  d'esprit  dont  j'ai  essaye  de  donner  une  idee'). 


2)  M.  Chiappelli  a  parle  ici  meme  (Archiv,  I,  4,  p.  582  sniv.)  de  mon 
chapitre  sur  Anaximene.  Je  crois  devoir  faire  remarquer,  car  autremeut  on 
pourrait  s'y  tromper,  que  ropiuion  qu'il  adopte  sur  Texplication  des  eclipses 
suivaut  le  Milesien  est  precisemeut  ia  mienue  et  que  j'ai  meine  etö,  je  crois, 
le  premier  ä  la  proposer. 


496  Paul  Tannery, 

Pour  Heraclite-thcologuo.  je  .suis  dispose  ä  faire  plus  de 
concessious,  peut-otre  meine  a  adopter  la  formule  suggeree  par 
M.  Natorp  „Heraclite  n"a  pais  mis  la  theologie  dans  Tetude  de  la 
liature,  il  a  mis  Tetude  de  la  iiature  dans  la  theologie".  Toutefois, 
(juand  se  produit  une  these  aussi  neuve  et  aussi  importante  que 
l'etait  en  realite  celle  de  Teiclimiiller,  je  crois  bon  qu'elle  soit 
reprise  et  propagee,  ne  füt-ce  que  pour  provoquer  des  etudes  plus 
approfondies'*);  il  .suflit  de  se  garder  des  exagerations,  ce  que  j'ai 
essaye  de  faire  pour  ma  part.  L'historieu  de  la  pliilosophie  ue 
doit  jamais  s'endormir  sur  la  breche,  et  quelque  mouument  quil 
alt  eleve,  il  doit  bien  se  convaincre  que  son  (Puvre  ne  .sera  pas 
eternelle,  comme  ceux  des  grands  penseurs  qu'il  etudie.  C"est  le  • 
sort  reserve  ä  tout  travail  d'eruditiou  que  de  ne  valoir  que  pour 
quelques  generations;  amassons  au  moius  le  plus  de  materiaux  et, 
pour  cela,  remuons  le  plus  d'idees  qu"il  uous  sera  po.ssible.  Nos 
petits-neveux  en  profiteront. 

La  favon  dont  j"ai  convu  les  Eleates,  et  qui  cette  fois  m'est 
plus  purement  personnellc,  a  souleve  egalement  d'assez  nombreuses 
contradictious.  J"ai  traite  Xenophane  comme  un  poete  fantaisiste, 
reellement  etrauger  a  Fecoie,  Parraenide  comme  un  realiste,  parlant 
du  plein  et  du  vide  sous  les  termes  d'etre  et  de  non-etre,  Zenou 
comme  s'attaquant  non  pas  au  sens  commun,  mais  a  des  formules 
erronees  de  l'ecole  pythagoricienne;  je  n'ai  pas  salue.  avant  Melissos, 
le  veritable  pere  de  lidealisrae  moderne. 

Je  crois  quo,  pour  juger  ces  theses  avec  equite,  et  pour  pouvoir 
apprecier  a  leur  ju.ste  valeur  les  arguments  que  j"ai  developpes,  il  I 
est  cssentiel  de  se  depouiller  des  prejuges  d'ecole  et  surtout  de 
celui  que  Pidealisme  est  une  conception  facile  pour  celui  qui  n'a 
pas  recu  Feducation  philosophique.  Qu'on  prennc  cent  paysans  et 
qu'on  es.saie  de  leur  faire  comprendre  seulement  de  quoi  il  s'agit, 
ou  y  pcrdra  sa  peine;  mais  qu'on  prenne  meme  cent  hommes  lettres, 
dont  IVklucation  aura  toutefois  ete  termiuee  a  ce  qu  on  appellc  en 
France  la  rhetorique,  et  dont  l'esprit  ne  soit  plus  malleable,  comme 


')  Je  Signale,  pages  197 — 20(1,  iiiie  note  speciale  <]ue  j'ai  consacree  ä  l'ex-  ' 
plication  du  fragmeut  Dl  (Mullach)  et  qui  en  tout  oas  est  iudependante  de  la 
question  agitee  ci-dessus. 


L'Hisioire  de  la  Philosophie  eu  France  pendant  Tannee  1887.  497 

Test  encore  celui  des  eleves  de  philosophie,  et  qu'on  fasse  la  meme 
experience;  on  se  fera,  le  plus  souvent,  traiter  par  eux  d'esprit  de 
travers.  Or,  au  Yl"  et  au  V"  siecle,  les  Grecs  eii  ctaient  lä;  je 
me  suis  donc  demaude  comment  ridealisrae  s"etait  constitue  et  je 
n"ai  pas  ete  le  premier  k  constater  que  bien  certaiuement  il  n  a 
pas  8urgi  d"un  seul  coup,  arme  de  toutes  pieces.  Uu  germe,  plus 
ou  moins  facile  a  discerner,  est  d'abord  apparu;  il  s'est  developpe 
par  une  evolutiou  plus  ou  moins  lente.  Mainteuaiit  ou  peut  cer- 
taiuement discuter  sur  le  momeut  oii  il  convient  de  lui  attribuer 
le  caractere  decisif  pour  la  Classification;  car  les  teudances  a  ce 
caracterc  auraient  pu  avorter  et  la  doctrine  ne  pas  survivre. 

En  tout  cas.  je  puls  dire  que  j'ai  procede  ä  mes  recherches 
saus  aucun  parti  pris,  et  meme  avec  un  prejuge  en  sens  contraire  a 
celui  des  conclusions  que  j'ai  flnalement  adoptees.  ( 'e  n'est  qu'apres 
avoir  reconnu  le  veritable  caractere  des  apories  de  Zenon  sur  le 
mouvemeut,  et  en  avoir  donne  une  explication  qui  me  parait  lever 
les  difficultes  anterieures,  que  je  suis  revenu  sur  Parmenide  et  que 
je  me  suis  forme  la  conviction  que  son  role  idealiste  avait  ete 
beaucoup  trop  exagere.  J'ai  travaille  trop  longtemps  moi-meme 
cette  question  et  j'ai  du  la  retourner  sur  trop  de  faces  pour  que  je 
puisse  esperer  quime  simple  lecture  de  mon  volume  suffise  a  faire 
par  tager  mon  opinion. 

J"ai  parle  Tannee  derniere  (Archiv,  I,  2,  p.  304)  du  chapitre 
sur  Anaxagore;  quant  a  celui  qui  est  consacre  a  Empedocle,  ce 
qu  il  coutient  de  neuf  est  surtout  relatif  au  Systeme  cosmologique, 
dont  je  crois  avoir  sensiblemeut  avance  la  restitutiou.  C'est  en  effet, 
d'apres  le  plan  que  j'ai  indique,  surtout  aux  conceptions  de  ce 
genre  que  je  me  suis  particulierement  attache  dans  tout  mon 
volume,  et  des  resultats  que  j'ai  obtenus,  on  peut  conclure,  je  crois, 
que  si  les  teudances  metaphysiques  des  premiers  pcnseurs  grecs 
offrent  des  divergences  et  des  retours  singuliers,  sur  lesquels  je 
n'avais  pas  a  iusister,  leurs  tentatives  d'explication  du  monde 
presentent,  au  point  de  vue  scientifique,  une  unite  profonde  et 
temoignent  d"uu  progres  regulier  et  d'un  developpemcnt  suivi  dans 
les  conuaissances.  C'est  l'etablissement  de  ces  conclusions  t[ui  peut 
former  le  principal  interet  de  mon  livre  et  en  justilior  le  titrc. 


498  Paul  Tannery,  L'IIistuiro  de  la  Philosophie  etc. 

L'appenclice  sur  l'arithmetiquc  pythagorienue  a  puur  übjet 
priiicipal  cl'en  distiugiior  le  cotc  mystique  et  le  cote  scieutifique. 
J'ai  cherche  a  preciser  le  developpement  atteint  par  rancieuiie 
ecole  daiis  ce  deruier  sens;  pour  Fautre,  j"ai  montre  qu"il  a  apparu 
des  Torigiue,  mais  sous  une  forme  peii  importante  et  qui  semble 
avoir  eu  un  caractere  mnemoteuhnique;  la  singulieie  lloraison  a 
laquelle  il  a  doiine  uai.ssauce-  me  parait  .simplement  uue  fantaisie  ' 
de  faussaires  Alexandrins,  labricateurs  de  poesies  pretendues 
orphiques. 

Sur  les  travaux  de  matlieraatiques  propremeut  dits  attribucs 
aux  pliilosophes  grecs  depuis  Thaies  jusqira  Tepoque  de  Platon,  on 
trouvera,  si  on  le  desire,  des  renseignements  daiis  im  autre  volume 
que  j'ai  public  la  meme  anuee: 

P.  Tannery.     La  Geometrie  grecque,    comment  sou  histoire  iious 
est  parvenue  et  ce  que  iious  en  savons.  —  1"  Partie:   Geo- 
metrie elementaire.  —  Paris,  Gauthier- Villars. 
J"y  ai    iiotamment  essaye    de  monti-er    que    rattributiou  d"uii 

role  important  attribue  a  Platon  pour  le  developpement  de  la  geo- 

metrie  ne  repose  quo  sur  une  legende  iuconsistante  et  Ibrgee  apres 

coup  sur  la  lecture  de  ses  ccrits. 


! 


KI 


Uli 


XI. 


The  Literatiire  of  Ancient  Philosopliy  in 
England  in  1887. 

By 
'  Ingram  By  water. 

D.  Marcoi.ioi  rri.    Analecta  Orientalia  ad  Poeticam  Aristoteleam.  — 
I  Londini,  I).  Nutt.  1887. 

^  We  have  now  at  last  in  print  the  Arabic  ver-sion  and  suudry 
other  Oriental  texts  relating  to  Aristotle's  Poetics,  edited  moreover 
by  a  Scholar  who  possesses  qualifications  for  the  work  such  as  are, 
in  this  awe  of  specialization,  very  rarely  found  comhined  in  any 
one  man.  Tlie  gift  would  have  been  niore  acceptable  if  the  texts 
hat!  been  accompauied  by  a  translation  for  the  benetit  of  those 
who  are  not  orientalists;  bat  Mr.  Margoliouth  makes  up  for  this 
Omission  to  a  certain  extent  by  a  section  (Symholae  Orientales  ad 
emendationem  Poetices,  pp.  46—72)  in  which  he  breaks  ground 
in  the  new  iield,  and  shows  how  the  Version  may  be  turned  to 
account  for  the  purposes  of  criticism  in  refereuce  to  the  Greek 
original.  It  is  obviously  a  somewhat  hazardous  undertaking  to  set 
to  work  to  recover  a  Greek  text  from  the  evidence  presented  by 
a  translation  of  a  translation;  and  in  the  case  of  the  Poetics  the 
difliculty  in  intensified  i'rom  the  fact  that  the  book  treats  of  matters 
which  were  remote  stränge  and  incomprehensible  to  an  Oriental 
mind.  The  Arabian  translator  accordingly  miist  have  offen  misun- 
derstood  the  Syriac  text;  and  the  Syriac  translator  himself,  as  we 
may  see  from  the  surviving  fragment  of  liis  version,  was  by  no 
means  incapable  of  making  very  gravo  mistakes   in    his  rendorings 


500  Ingram  By water. 


of  the   Greek.     As    is    the    way  witli  trauslators  too  even   in  our 
own  day,    important    words    in   tlie    original  seeni    tu  have    been 
sometimes  overlooked  or  ignored;  and  on  the  otlier  liand  there  are 
here   and   there  instance.s  of  a  tendency   to    amplify    the  text  by 
glosses    and    other    additious    intended  to  make  things  easier  and 
niore  intelligible  to  an  Oriental  reader.    And  over  and  above  this, 
I  believe  I  am  right  in  saying  that,  owing  to  the  way  in  which  the 
text  is  written  in  the  Paris  MS.,  the  Interpretation  of  the  Arabic 
text  itself  is  in  sundry  places  by  no  means  clear  and  unquestionable, 
and  tliat  the  seuse  that  one  Arabic  scholar  finds  in  it  woukl  not 
always  be  accepted  by  another.     This  is  a  poiut  however  which  I 
niust    leave    to    the   cousideration    of   others.     I  can  only  say  for 
myself  that  in  the  Version,  as  translated  by  the  Editor,  there  are 
passages  which  seem  to   me  so   hopelessly  wide  of  the  mark  tliat 
it  is  a  mere  waste  of  time  to  attempt  to  trace  a  connexion  between 
them  and  any  statement,  possible  or  actual.  in  the  Greek  original 
As  has  been  ah-eady  intimated,  the  part  of  this  book  to  which 
an  ordinary  Greek  scholar  will   turn    is  the  section  entitled  'Sym- 
bolae  Orientales'   —  in  which  the  Editor  deals  with  certain  select 
passages  in  the  Poetics  and  teils  us  what  light  the  Version  throws  • 
on  them.     The  selection  itself  is   not  qaite  what  one  could  have 
wished,    as  there  are  assuredly    many    interesting    and   important 
pas.sages  about    which    we   are    left    without    Information,   e.  g.   in 
1451*17   where    there    is   some  rea.sou  to  think   that  the  Version 
Supports  the  reading  -(\)   k-A  (Journal  of  Phil.  10  p.  6<S),  but  if  it 
does,  the  Editor  has  omitted  to  state  that  that  is  really  the  case. 
My  own  irapression.   derived,   I  need  not  say,    simply  from  what 
the  Editor  teils  us  of  the  Version,  is  shortly  this,  that  the  Greek 
text   underlying  it    was    in   general    agreement    with  A''.    even  in 
readiugs  which  are  manifestly  impossible  (e.  g.  avaXo-ov  in  1460"! 3), 
and  that  it  was  not  free  from  errors  of  its  own  (e.  g.  ot'-Xas-ot  in 
1455=*  30);  it  had,  however,  occasionally  better  readings  thau  A^  and 
above  all   preserved  here  and   there  a  word  or  words  which  have 
dropped  out  in  our  one  Greek  MS.    Thus  in  1455»^  17  the  Version 
implies.  as  the  Editor  points  out,  (ou>  u.7.xooc.  and  in  1458^27.  töjv 
(aX/.iov)  ovotiGt-tüV.     It  justiiics  in   1447 ''O  the  Insertion  of  avojvuuo; 


I 


Tlie  Literafure  of  Ancient  Pliilosophy  in  England  in  1887. 


501 


(witli  Beiuays);  in  1456''28  tliat  of  ouosv  (with  Yalileu);  and  in 
|l46P17  tiiat  of  iTTTToxo/iusToti  (witli  Christ).  It  seems  to  justify  also 
Isundry  omissions  that  have  been  suggested;  e.  g.  in  1447=' 26  the 
lomission  of  fjbijjLouvT7.'.  (witli  Spengel):    in  1447^29  that  of  SKOTCOti-x 

(witli  Ueberwog);  in  1450H6  that  of  ttevts  (Journal  of  Phil.  5 
Ip.  119).  It  Supports  also  a  number  of  the  more  simple  emen- 
Idations  that  have  been  from  time  to  time  proposed;  e.  g.  Forch- 
Ihaiumer's  tio  iv  stspoic  in  1447^17,  Heinsius'  cpuar/ov  in  1447''16, 
Ißonitz's  rjX)Ä  xi\  in  1448'^35.  Tyrwhitt's  af/pt  ixsv  toG  in  1449^9, 
igg's  h  Tiu  ßaoi'Csi  K/ia)v  to  KXeiüv  in  1457  ="27,  Vahlen's  h  t(u 
lövotj.o'.tt  in  1457^33,  Madius'  xsxpaalk'.  in  1458'''31,  Castelvetro's 
wsix/jC  in  1458''25,  Bonitz's  atf/sTaOai  in  1460^4,  Twining's  uTisvav- 
Ituu;  in  1461*^16.  There  are  besides  some  few  indications  of  a 
Ifuller  text  than  what  we  now  have:  e.  g,  after  y)[j.iv  3=  '{Kmz-i  in 
|l457''6  the  Version  (according  to  the  Editors  translation)  adds 
'oopu  vero  nobis  proprium,  populo  autem  glossa'.  A  very  per- 
Iplexing  addition  is  that  in  1457^35,  where  after  'Ep;jioxo(txrKavi}oc 
Ithe  Version  inserts  the  equivaleut  of  'qui  supplicabatur  dominum 
Icaelorum'  —  beneath  which  there  lurks,  I  suspect,  another  ab- 
Inormally  long  proper  name  iutroduced  as  a  second  instance  of  a 
liroXXa-XoOv  övoao:.  This  is  only  one  of  the  many  interesting  points 
Iwhich  will  have  to  be  discussed  when  the  Version  comes  to  be 
Itaken  in  hand  l)y  Aristotelian  students.  Kothing  serious  can  be 
jdoue  hoAvever  until  \ve  have  a  careful  translation  of  the  entire 
IVersion  witli  a  critical  comparison  of  its  readings  witli  those  of 
Ithe  existing  Greek  text.    Though  this  is  too  much  to  expect  from 

one  man,  it  would  not  be  impossible,  if  two  would  put  their  heads 
Itogether,    an   Orientalist    well-versed    in    the    ways  of  Syriac  and 

Arabian  translators  working  in  collaboration  with  a  Greek  scholar 

familiär  with  the  Poetics  and  with  the  language  and  ideas  of 
lAristotle. 


jThe  I^olitics  of  Aristotle,  with  an  Tntroduction ,  two  prefatory 
Essays  and  Notes  critical  and  explanatory  by  W.  L.  New- 
man,  M.  A.  Fellow  of  Balliol  College,  and  formerly  Reader 
in    Ancieiit   llisloiv    in    the   Universitv    nf  Oxfoni.     ^  ol.   I. 


502  Ingram  Bywater, 

Ifitroduction  to  tlie  Politics.    —  Vol.  ]l.     Prefatory  Essays. 
Books  I   and  IL     Text   aüd  Notes.   —    Oxford,    Clarendon  1 
Press  1887. 

This  is  in  every  way  a  noteworthy  book,  and  one  whicli  must 
be  recognized  forthwith  as  a  distinct  addition  to  the  literature  of 
Aristotle.  It  is  the  mature  fruit  of  many  years  of  study  on  the 
part  of  a  scholar  who  through  bis  niany  -  sided  interests  and 
attainments  is  fitted  as  few  men  are  for  the  work  of  editing  the 
Politics:  every  page  shows  how  completely  he  is  at  home  in 
everything  that  relates  to  Greek  history  and  ancient  political  aud 
social  ideas. 

The  bouk,   if  the  rest  of  it  is  to  be  on  the  some  scale,   will 

be  in  four  volumes.    Of  the  two  uow  before  us  the  first  is  entirely 

devoted  to  an    lutroduction   of  577  pages,   which  is   practically  a 

survey  of  the   contents  of  the   Politics,   with  incidental   criticisms 

and  digressions  on  a  number  of  points  of  general  interest,  e.  g.  as 

to  the  Life  of  Aristotle,  the  connexion  between  bis  political  teaching 

and  bis  })hilosophic  System,  his  relations  to  liis  predecessors,  more 

especially    to   Plato    —    in   other   words,    as    to    the    antecedents, 

historical   and  personal,    of  all  the  niain  points  in  Aristotle's  dis- 

cussiou.    As  a  specimen  showing  the  character  and  quality  of  this 

part  of  Mr.  Newman's  work.   I  caunot  do  better  than  quote  what 

he   has  to  say   on   a   question  which  every  reader   of  the  Politics 

must  feel  to  be  a  difficulty,  How  comes  it  that  Aristotle  is  sileut ' 

US  to  the  relations  l)etweeu  Greece  and  the  new  political  factor  in 

the  Greek  world,  Macedon?  — 

'Not  a  particle  of  Aristotle's  attention  is  diverted  IVoni  the  -oÄt;  to  the: 
£8vo;  ....  It  is  the  -oXts,  not  the  l9vo;,  wliich  Aristotle  raakes  it  his  object 
to  reform.  It  is  the  -oXic  that  hrings  inoii  couipleteness  in  respect  of  good 
life,  as  (listiuguishefl  from  completeness  in^  respect  of  necessaries.  It  is  in 
Greece,  not  Macedon,  that  the  future  of  human  society  in  to  be  niade.  or 
niarred.  Aristotle  writes  as  a  Hellene  and  a  disciple  of  Plato,  not  as  one 
whom  circumstances  had  more  or  less  attached  to  the  fortiines  of  Macedon. 
The  great  spirits  of  antiquity,  and  Aristotle  among  them,  seem  to  draw  their 
creed  from  sources  too  deep  to  be  greatly  affected  by  accidents  such  as  that 
which  liad  connected  liiiii  with  Macedon.  Ile  still  follows  in  the  track  of  his 
philosophical  predecessors,  and  especially  of  Plato,  with  wliora  he  Stands  in 
complete  tiliation.    The  object  of  the  Politics  is  to  carry  on  and  complete  the 


Tlie  Litcralure  of  Ancient  Pliilnsophy  in  England  in   1887. 


503 


work  tliat  Pinto  had  hegun  —  tlie  work  of  re-adapting  tlie  t.öIk;  to  tlie  pro- 
[mofion  of  virtue  and  noble  living.  Aristotle's  relation  to  Plato  was  the  cri- 
Itical  fact  of  liis  life,  not  liis  relation  to  Philip  or  Alexander'  (!.  p.  478). 

The  second  Volume,  coutaining  the  first  two  Book.s  and  the 
critical  and  explanatory  commentaries  on  them.  i,s  prefaced  by 
Essays  on  the  history  of  the  Politics,  their  nnity  and  origin,  and 
[on  the  data  we  have  at  our  disposal  for  the  estalilishment  of  tlie 
text.  As  regards  the  MSS.  the  Editor  depends  for  them  chiefly  on 
Susemihl;  he  attaches  however  a  higher  valiie  than  Susemihl  does 
to  the  MSS.  of  the  second  family,  and  is  able  to  point  to  the 
recently  recovered  Vatican  fragments  as  confirming  the  view  at 
which  he  had  arrived  independently  Ijefore  the  appearance  of 
Heylbiit's  article.  To  his  account  of  the  Yetus  Versio  Mr.  New- 
man  adds  in  an  Appendix  a  minute  collation  of  the  Cheltenham 
MS.  in  P)Ooks  I — II:  certain  other  English  MSS.  have  also  been 
examined,  the  Corpus  MS.  of  the  Greek  text,  for  instance,  and  the 
New  College  MS.  of  Aretinus. 

The  commentary  on  Bks  I — II  occupies  nearly  300  pages. 
As  may  be  supposed,  it  is  very  füll  on  every  point  that  seems 
capable  of  Illustration ,  and  it  will  be  invaluable  to  the  student 
from  the  care  with  which  in  cases  of  doubt  or  difliculty  all  possible 
views  are  stated  and  considered.  If  any  fault  is  to  be  found  with 
-this  part  of  the  Editor's  work,  it  can  hardly  be  on  tlie  score  of 
Omission:  tliere  are  very  few  instances  indeed  in  whicli  I  have 
been  able  to  note  auything  as  wauting  in  his  pages.  Perhaps  on 
1256*36,  when  Aristotle  is  speaking  of  Etruscan  piracy,  a  reference 
to  fr.  60  in  Rose's  last  edition  might  have  been  giveii  with  nd- 
vantage;    and    in    the    comment    on    1262''19    (nvsc    tojv    -9;? 


-,-/): 


TTspiooouc  7:pc(Y;j.ot-£uo[xiyü>v)  the  reader  miglit  have  been  remended 
that  a  -(Ti^  TTspioöoc  liad  been  written  by  Ilecataeus  and  others, 
and  that  the  allusion  may  be  to  one  of  these  rathcr  than,  as  the 
Editor  thinks.  to  Herodotus.  In  matters  of  textual  criticism  Mr. 
Newmaii  is  a  'Conservative',  and  therc  are  not  many  cmcndations 
which  meet  with  his  approval.  In  1260'\31  he  appears  to  think 
that  -u-j'/avojatv  may  possihly  l)c  right  after  all,  though  he  is  quite 
aware  of  the  strong  arguments  in  iavour  of  the  indicative,    which 

34 


|;^ 


Archiv  f.  Gcscliichte  d.  l'liilosoplii«.     II. 


!f 


5Q4.  Ingram  ?>ywater, 

he  quutes  him.sell'  In.iu  Buiiitz  aiul  Vahleii.  in  12(34^' 2  he  decides 
a'rainst  Bernavs"  '  brilliaiit  und  ingeinoiis'  emendation,  sOvscjiv  (for 
ETsaiv),  and  refers  iu  defence  of  the  vulgate  to  Vahlen  oii  the 
Poetics  p.  87  —  where,  however,  if  I  mistake  not,  Vahlen  is  dealing 
with  a  very  different  kind  of  tautology  to  that  which  is  iuvolved 
in  Itsaiv.  In  1265^40  the  reading  7.v  oa7A'.3()-/;3oaEvov  is  retained, 
but  the  reference  in  siipport  of  it  to  Goodwin\s  Moods  and 
Tenses  is  liardly  oonclusive,  as  Goodwin  distinctly  says  that  the 
possibility  of  such  a  construction  is  open  to  a  certain  Moubt  and 
suspicion'.  An  invaluable  element  in  the  conimeutary  are  the 
(.ccasional  uotes  on  points  of  granimar,  and  especially  Aristotelian 
grammar,  which  the  Editor  has  evidently  studied  with  all  due 
cai-e  and  attention.  Very  few  points  connected  with  it  seem  to 
have  escaped  him.  I  observe  that  on  toTv  /s.ooiv  in  1274*^14  he 
acqiiiesces  in  the  statement  (of  Liddell  and  Scott)  that  in  Attic 
the  dual  of  the  article  'has  couimonly  but  one  gender'  —  instead 
of  which  it  would  have  been  more  appropriate  to  say  that  in  in- 
scriptions  of  the  Attic  period  there  is  uo  trace  of  an  exception  to 
the  rule  which  Aristotle  is  here  following.  In  a  note  too  on 
1253*' 35  there  is  a  question  raised  as  to  why  we  have  the  article 
before  the  proper  name  in  -ol)c  to-j  '  H'f oc'^itoü  -pt-oocxc;  but  the 
answer  which  is  tentatively  suggested  is,  I  take  it,  soinewhat  wide 
of  the  mark:  the  Hephaestus  meant  is  the  Homeric  Hephaestus 
(II.  18,376),  and  as  pointed  out  long  ago  by  Fitzgerald  and  after 
him  by  Graut,  it  is  a  rule,  at  any  rate  with  Aristotle,  to  prefix 
the  article  to  the  names  of  the  personages  in  a  poem  or  dialogue. 
In  taking  leave  of  a  book  of  such  importauce  to  all  serious 
students  uf  the  l^litics,  I  venture  to  express  a  hope  that  the 
Kditor  will  not  forget  to  give  us  a  very  füll  and  complete  Index, 
and  also  that  the  appcarance  of  the  runcluding  volumes  niay  not 
long  f)e  delayed. 

Journal  of  l'liilulugy.  Xo.  'M.  .1.  P.  Postgate:  Lucretiana.  DTs- 
cu.sses  the  reading  and  Interpretation  of  Lucr.  1.  356, 
469—70,  884—7;  II.  20—4,  98,  180—1,  1033—7:  III. 
647,  940;    IV.    642,   1152;    V.    1U7  — 9;    VI.    1022  —  7,        ^ 


I 


Till'   l.itiTiilure  of  Aiicieut  Philosdiiliy  in  Euglaml  in   18S7. 


505 


1194—5.  —  No.  32.    R.  Ellis:   On  Cic.  Acacl.  Priur.  XXV. 

79 — 80.     Suggests  in  torquata  for  inportata. 
Dictiüuaiy    ol'    Christian    Biography,    edited    by    W.    Smith    and 

H.  Wace.  Vol.  IV.  London,  John  Murray,  1887. 
Amonti"  the  articlcs  in  this  volumc  which  treat  of  matters  uf 
Ancient  philosophy,  1  may  Single  out  two  as  deserving  especial 
attention,  that  on  Philo  by  Dr.  Edersheim,  and  that  on  Synesius 
by  the  late  T.  R.  Halcomb.  Dr.  Edersheim  gives  us  a  very  com- 
plete  and  seholarly  survey  of  Philo's  life  and  writings,  and  from 
the  care  with  which  the  literature  on  dispiited  points  is  noted  bis 
article  is  simply  invaluablo  for  purposes  of  reference.  The  account 
of  Synesius  is  an  attractive  and  brilliant  etude,  but  too  long  and 
too  literary  in  its  treatment  of  the  subject  for  the  ordinary  pur- 
poses of  a  dictionary. 


I 


n 


üeiie 


i-l«! 


\m, 


Neueste  Erscheimnisi,eii  auf  cleui  (Tebiete  der 
(jeschiclite  der  Philosophie. 

"A-('itK'Ji  KavEÄXo?,  AiaTpißY)  ntr/i  Br,S50(pi(ovos  w?  cpiXoaocpou,  Diss.,  Leipzig,  Athen, 

"Petri. 
]?eer,  Georg,   AI.  Gazzfilis  Makäsid  al  Faläsifat,   Diss.,   Leipzig,   Leiden,   Brill. 
Berendt,   M.,    Die  rationelle  Erkenntniss  Spinoza's.     Abdr.  der  prenss.  Philo- 

logenzeitnng,  Berlin,  Lazarus. 
Bobtsohew,   Nicola,    Die  Gefiihlslehre  von  Kant  bis  auf  unsere  Zeit,  Dissert., 

Leipzig,  Osw.  Mutze. 
Böhringer,  Ad.,  Kant's  erkenntnisstheoretischer  Idealismus,  Progr.,  Freib.  i.  B. 
Brinkmann,  A.,  Quaestionuui  de  dialogis  Piatoni  faiso  addictis  specimeu,  Diss., 

Bonn,  Georgi. 
Bruni,  .L,   Le  opere  italiaue,  ristarapate  da  P.  de  Lagarde,  Gott.,  Dietrich. 

(Vgl.  auch  Göttinger  gel.  Anzeiger  1889,  No.  4  von  P.  de  Lagarde.) 
Claussen,  Fr.,   Kritische  Darstellung  der  Lehren  Berkeley's  über  Mathem.  und 

Naturwissensch.,  Diss.,  Halle. 
Cron,  Chr.,  Zu  Heraklit,  Philologus,  N.  F.,  Bd.  L  H.  3,  S.  400-425. 
Dessoir,  K.,  Ph.  Moritz  als  Aesthetiker,  Berlin,  Duncker. 
Draesecke,  Joh.,  Zu  Augustin's  de  civit.  dei  XVlll,  42,  Zeitschr.  f.  wissensch. 

Theol.  Bd.  32,  H.  2. 
F^rbes.  C.  Lic,  Die  Lebenszeit  des  Hippolytus,  Jahrb.  f.  protest.  Theol.  Bd.  14, 

U.  4,  S.  611—656. 
Feller,   Die  tragische  Katharsis  in  <ler  Auffassung  Lessiugs,  Progr.,  Duisburg. 
FeJsch,   C,    In    welchem  Verhältniss   steht   die  Moral   der  Bhagavad-Gitä  zur 

Moral  der  Inder  etc.,  Zeitschr.  f.  exacte  Philos.  Bd.  XVI,  H.  4. 
Oabelentz,  v.  d.,    lieber  den  chinesischen  Philosophen  Mek  Tik,   Abband I.  d. 

Sachs.  Gesellsch.  ilcr  Wissensch.  1888,  S.  62— 71. 
Garbe,   Rieh.,    Die  Theorie  der  indischen  Rationalisten  von  den  Erkenntniss- 
mitteln, Ebenda  S.  1—30. 
Geil,  (i.,  Schiller\s  Ethik  und  ihr  Verhältniss  zu  Kant,  Leipzig,  Fock. 
Gieser,    Garolus,    De  Plutarchi  contra  Stoicos  disputationibus,  Diss.,  Münster, 

Coppenrath. 
Gille,  Alb.,  Ilerbart's  Ansichten  über  den  mathem.  Unterricht,  Dissert.,  Halle, 

Waisenhaus. 
Glossner,  Die  philos.  Reformationsversuche  des  Nicolaus  Cusanus  und  Marius 

Nizolius,  Philos.  .Jahrbuch  III,  3. 
Güldschmidt,   J.,    Schiller's    Weltanschauung   und   die    Bibel,    Berlin,   Rosea- 
baum  u.  Hart. 


l>k 


Neueste  Erscheiuuugen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  l'hilnsophie.     5(J7 

(iompertz,  Th.,  Ueber  die  Charactere  Theophrast's.  Soiiderabdr.  der  Akademie, 

Wien,  Tempsky. 
(irassinaun,   Frz.  L.,    Die   Schöpfuugslehre   des    heil,  .^ugustin   und   Dar\vin*s, 

Kegensburg,  Verhigsaustalt. 
Grillenberger,  Studien  zur  Philos.  der  patristischen  Zeit,  Philos.  Jahrb.  Ill,  3. 
Hausrath,  A.,  Philodemi  rspi  -otT,aaT(ov  libri  seeundi  quae  videntur  fragmeuta, 

Diss.,  Bonn,  Georgi. 
lleinig,  M.  Eugen,  Die  Ethik  des  Lactauz,  Diss.,  Leipzig,  Grimma,  Bode. 
Heussler.  H.,  Francis  Bacon  uutl  seine  geschichtliche  Stellung,  Bresl.,  Koebner. 
.Jansen,  W..    Die  Theorie  der  Möglichkeit  in  Kaut's  Kr.  d.  rein.  Vern..    Diss., 

Strassburg,  Essen,  Geck. 
Judl,  Fr.,   Geschichte  der  neueren  Ethik  seit  Kant,  Stuttgart,  Cotta. 
Katzer.  Kaufs  Lehre  von  der  Kirche,  Jahrb.  f.  protest.  Theol.  Bd.  \'j,  18S9,  IL  L 
Kille,  Job.  Alex..   Platon's  Lehre  von  der  Materie,  Diss.,  Marburg,  Friedrich. 
Klette,   Th.,    Beiträge  zur  Gesch.  u.  Litterafur    der   ital.  Gelehrtenrenaissance 

(Lion.  Bruni),  Greifswald,  Abel. 
König,  G.,  Maine  de  Birau,  der  französ.  Kant,  Philos.  Monatsh.  Bd.  2.5,  IL  3,  4. 
Krampf.  A.,  Der  Urzustand  der  Meuschen  nach  Gregor  von  Nyssa,  Wnrzburg, 

Bucher. 
Kühne,  Benno,  Die  Fortbildung  der  Naturphilosophie  auf  plat.-aristot.  Grund- 
lage, Einsiedeln,  Henziger  &  Co. 
Lehmann,   E.,    Die   verschiedenen  Elemente   der  Schopenhauer'schen  Willens- 
lehre, Strassburg,  Trübner. 
Liebhold.  K.  J.,  Zur  Textkritik  Piatons,  N.  Jahrb.  für  Philol.  1888,  H.  H. 
Maier,  K.,    Darstellung  des  philos.  Standpunktes  des  Horaz,   Progr.,  Kremsier. 
Mannheimer,  D.,  Die  Kosmogouie  der  jüd.  Philosophen  von  Saadia  bis  Maimon., 

Diss.,  Halle. 
Martin,  Br.  Rieh.,  Leibnizen's  Ethik,  Diss.,  Erlangen,  Würzen,  Jacob. 
Martin,  Rud.,  Kaut's  philos.  Anschauungen  1762— (56,  Diss.,  Freiburg,  Lehmann. 
Mechelson,  (^arl,  Meister  Eckart,  ein  Versuch,  Berlin,  Mittler  &  Sohn. 
Menzel.   P.,    Der  griechische   Eintluss  auf  Prediger  und   Weisheit  Salamonis, 

Halle,  Kämmerer. 
Möbius,  Ernst,    Oharacteristik  der  Brüder  des  gemeinsamen  Lebens,    Dissert., 

Leipzig,  Grumbach. 
Noiret,  H.,  Lettres  inedits  de  Michel  Apostolis,  Paris,  Thorin. 
Oethe,  Franz,  Lucan's  philos.  Weltanschauung,  Programm,  Brixen. 
Ohse,  J.,  Der  Substanzbegriff  bei  Leibniz,  Dissertation,  Dorpat. 
Pappenheim,  Eugen,  Der  angebliche  Heraklitismus  des  Skeptikers  Aenesidem, 

Progr.,  Berlin. 
Petersen,  J.,  Ad  Galeni  de  plac.  Hipp,  et  Piatonis  libros  quaestiones  criticae, 

Göttingen,  Vandenhoeck  d'  Rupprecht. 
Pfennig,   Rieh.,    De  librorum  quos  scripsit  Seueca  de  ira  compositione,  Diss., 

Greifswald,  Abel. 
Rahstede,  H.  Georg,  Studien  zu  Larauchefoucauld's  Leben  u.  Werken,  Braun- 
schweig, Schwetschke. 
Reicke,  R.,  Lose  Blätter  aus  Kants  Nachlass,  Heft  1,  Königsberg,  Beyer. 
Rogge,  Die  Anschauungen  des  Apostels  Paulus  vom  relig.-sittlicheu  Character 
des  HeidenthumS;  Leipzig,  Reichard. 


'1 


ÖOS     Neueste  Eisoheinuiigeu  auf  dem  (jcbiete  der  Geschichte  der   Philosophie. 

Schanz,  Juh.,   Das  Freiheitsproblein  Itei  Kant  u.  Schopenhauer.  Diss.,  Leipzig, 

Lössnitz,  Sülze. 
Schneider,    Ceslaus,    M,,    St.  Thomasltlätter,    Zeitsuhr.    für    die   Lehre    des   h. 

Thomas,  11.  I,  Kegensburg,  Yerlagsanstalt. 
Srhiitz,  H..    Kritische   Bemerkungen   zu    Aristoteles'  Rhetorik.    X.  .lahrb.  für 

Philol.  1888,  IL  10. 
Sievel,  K.  G.,   Die  Lehre  von  der  Freiheit  bei  Kant  und  Schopenhauer,  Diss., 

Erlangen,  Junge  &  Sohn. 
Sperling,  K.,  Aristoteles'  Ansicht  \on  der  Zeit.  Diss.,  Jlartmrg,  Friedrich. 
Stapfer,   Aurel.  Aug.,    Studia  in  Aristotelis  de  anima    libros  collata,   Dissert., 

Erlangen,  Landshut,  Thomann. 
Stein.    Luilwig.    Antike    und    uiittelalterliL-he    Vorlaufer    des   Occasionalismus, 

Sonderabdruck  des  Archivs  f.  Gesch.  d.  Philos.,  Berlin,  Georg  Reimer. 
Stock,  Otto,  Descartes"  Grundlegung  der  Philosophie,  Diss.,  Greifswald,  Abel. 
Stückl,  Geschiciite  der  Philosophie,  2  Bände.  3.  Auflage,  Mainz,  Kirchheim. 
Sudhaus.   S..   Zur  Zeitbestimmung  des  Euthydem,  Gorgias  und  der  Republik, 

Rhein.  Mus.  1881)",  Bd.  44,  H.  1. 
Sybel,  V.,    Platon's  Technik  au  Symposion  und  Euthydem  nachgewiesen,  Mar- 
burg, Ehvert. 
Thieme,   K..    Der  Primat  der  praktischen  Vernunft  bei  Lotze,    Diss.,  Leipzig, 

Ackermann  u.  Glaser. 
YoiD't,  G..    Ueber  den  Ramismus  der  Universität  Leipzig,    Abh.  d.  sächs.  Ges. 

d.  Wissensch.  1888,  H.  2,  S.  31— fi'i. 
Wachsmuth,  Zu  Cicero's  Schrift  de  repubiica,  Leipziger  Studien  Kl,  II.  •-'. 
Wähle,  Rieh.,    Ueber  das   Verhältniss  von  Substanz  und  Attribut  in  Spinozas 

Ethik,  Sonderabtlr.  der  Akademie,  Wien,  Tempsky. 
Wahn,  .Joh.,   Kritik  der  Lehre  Lotze's  von  der  Willensfreiheit,  Diss.,  Halle. 
Waldae.stel,   Otto,    De   enuntiatorum  temporalium   structura  apud  L.  An.  Se- 

necam,  Diss-,  Halle. 
Weinsberg,    Der  Mikrokosmus  des  ibn  Zaddik   auf   seine  Erhtheit    untersucht, 

Breslau,  Köbner. 
Werner,  Rud.,   De  L.  An.  Senecae  Hercule  etc.  quaestioues,  Diss.,  Lpz.,  Fock. 
Wolf,  E.,  Joh.  Elias  Schlegel,  Berlin,  (Jppenheim. 

Zeller,  E.,  Ueber  die  richtige  Auffassung  einiger  aristotelischer  Citate,  Sitzungs- 
berichte der  Akademie  1888,   Heft  51. 
Ziegler,  Th.,  Thomas  Morius  und  seine  Schrift  von  der  Insel  Utopia,  Vortrag, 

Strassburg,  Heitz. 


Archiv 

für 


Geschichte  der  Philosophie. 


II.  Band     4.  Heft. 


XXVI. 

L  liypotliese  geometriqiie  du  Menon  de  PlatoiL 

Par 
Paul  Tannery  ä  Bordeaux. 

M.  Alfred  Gercke  a  recerament  propose  ici  meme  (Archiv, 
Bd.  II,  Heft  2,  p.  171)  une  nouvclle  tentative  d'explication  du 
locus  mathematicus  de  Piaton  =  Menon  86.  Je  voudrais  exposer 
les  raisons  pour  lesquelles  cette  tentative  ne  nie  parait  point 
acceptable. 

J'ai  moi-meme  traite  autrefois  cette  question  (Revue  philo- 
.sopliique,  acut  1876,  p.  285  suiv.);  apres  avoir  indique  comme 
pos.sible  la  Solution  de  Benecke'),  j'en  ai,  moi  aussi,  propose  une 
autre  et  je  m'appuyais  sur  des  motifs  semblables  a  ceux  qu'invoque 
M.  Gercke.  Mais,  depuis  longtemps  dejä,  une  etude  plus  appro- 
fondie  ui'a  montre  que  ces  motifs  sont  insuffisants  et  je  me  suis 
rallie  a  Fopinion  de  Benecke,  egalement  admise  d'ailleurs  par 
riiistorien  le  plus  competent  de  la  mathematique,  je  veux  dire 
Moritz  Cantor '). 

II  est  certain  cependant  que,  dans  cette  explication  de  Benecke, 
l'enonce   de  l'hypothese  geometrique ,    donne  comme  exemple   par 

')  üeber  die  geometiische   Hypothesis  in  Platons  Menon,  Elbing,   1867. 
*)  Vorlesungen  über  Geschichte  der  Mathematik,  Leipzig,  1880,  p.  187. 

Archiv  f.  Geschichte  d.   Philosophie.     IJ.  "-"^ 


510 


Paul  Tannery, 


Platon,  offre  quelque  chose  de  defectueux  et  d'obscur.  Pour  preciser, 
Piaton  ferait  a  peu  pres  comme  un  mathematicien  de  nos  jours, 
qui  ayaiit  a  exprimer  uiie  coudition  teile  que 

n  =  a, 
la  deguifserait  sous  une  transformation.  comme 

n^  =  2an  — a^ 

Est-il  admissible  quil  fasse  parier  Socrate  de  la  sorte,   dans  • 
la  Situation  que  suppose  le  dialogue? 

Tous  ceux  qui  ont  commente  ce  passage  (sauf,  je  crois,  Carl 
Demme,  Progr.  no.  122,  Dresde,  1888)  sont  d'accord  pour  recounaitre 
que  riiypothese  geometrique  de  Platon  est  la  condition  necessaire  j 
et  süffisante  pour  que  le  probleme  auquel  il  la  rapporte  soit  possible; 
autrement  dit,  c'est  ce  que  les  matliematiciens  grecs,  dans  leur 
langage  teclmique,  ont  appele  plus  tard  le  otoptsiio?  du  probleme, 
expression  qui,  d'apres  le  temoignage  d"Eudeme  dans  Proclus, 
remonterait  au  reste  a  un  Leon,  contemporain  et  ami  de  Platon^). 

Ceci  nous  indique  que  dans  la  passage  du  Meuon,  comme 
daus  celui  bien  connu  du  Theetete,  167—168,  il  y  a  une  allusion 
a  une  question  a  Tordre  du  jour  chez  les  geometres  de  Facademie, 
et  meme  a  un  travail  recent  qui  avait  attire  Tattention.  Apres 
avoir,  dans  le  Menon,  traite  assez  louguement  de  problemes  geometriques 
tout  a  fait  elementaires ,  Platon  pouvait  sans  doute  se  permettre 
une  allusion  de  ce  genre,  pour  une  question  de  methode  qui  devait 
d'aillenrs  l'interesser  vivement.  et  comme  cette  allusion  peut  se 
rapporter  a  un  texte  que  nous  ne  connaissons  poiut,  nous  ne 
sommes  pas  bien  places  pour  reconnaitre  si  eile  est  reellement 
äussi  malheureuse  dans  la  forme  qu'elle  peut  nous  le  sembler. 

En  tout  cas,  l'interpretation  de  M.  Gercke  donnerait  a  l'enonce 
dont  il  s'agit  un  sens  encore  moins  admissible,  ce  me  semble, 
dans  la  bouche  de  Platon.  Car.  si  ce  sens  est  relativement  clair 
pour  les  profanes,  il  lui  manque  absolument  le  caractere  de  pre- 
cision  qui  etait  certainement  exige  des  ce  temps-la,  comme  il  l'est 
de  nos  jours.  pour  quiconque  veut  s'exprimer  en  geometre,  Äa-sp 
ot    YswuETpa-..      Platon   commettrait    une   veritable    tautologie    sans 


^)  Cantor,  Vorlesungen,  p.  20.'). 


L'hypothese  geometrique  du  Meuon  de  Piaton.  511 

faire  avancer  la  question  crun  seul  pas,  puisque  l'existeiice  de  la 
condition  imposee  est  precisement  aussi  difficile  a  reconnaitre  que 
la  possibilite  de  la  Solution.  Si  le  Menon  avait  ete  ecrit  par 
Socrate,  on  pourrait  peut-etre  admettre  rinterpretation  de  M.  Gercke; 
mais  il  ne  faut  pas  oublier  qu'il  s'agit  d'une  opuvre  de  Platoii, 
qu'elle  etait  destiiiee  a  un  cercle  passablement  savant,  devant 
lequel  le  maitre  pouvait  se  montrer  singulier,  mais  iion  ridicule 
en  parlant  incongrüment. 

Un  autre  poiut  sur  lequel  je  partageais  aussi  autrefois  ropinion 
de  M.  Gercke,  c'est  qu'au  teinps  de  Platon,  la  langue  mathematique 
etait  encore  flottante,  que  les  termes  tecliniques  pretaient  encore 
a  coufusion.  Je  citais  rneme,  couime  exemple  topique,  le  passage 
precite  du  Tlieetete,  oü  o6votjj.i?  est  employe  dans  le  sens  de  raciue 
carree,  tandis  que  dans  la  Republique  !X,  187  d,  le  meme  mot 
signifie  au  coutraire  carre.  Mais  depuis,  la  poursuite  de  mes 
etudes  sur  les  variations  qu'a  pu  subir  la  langue  mathematique 
des  Grecs  m'a  conduit  a  des  couclusions  tout  ä  fait  opposees  et  je 
n'hesite  plus  desormais  a  regarder  le  terme  de  öuvaaic  dans  le 
Theetete  comme  devant  etre  remplace  par  celui  de  ouvotalvr/). 

Or,  dans  cet  ordre  d'idees,  il  est  impossible  de  ne  pas 
identifier  l'expression  dont  se  sert  Platon  dans  le  Menon:  -oDto  xo 
ywrjirjv  .  .  .  ~a[A  -TjV  ooi)3raav  ^)  .  .  T:7[>aT£''vav-:a  sXXnrsiv  -oiouxm  y/upi'"> 


*)  Annales  de  la  Faculte  desLettres  de  Bordeaux,  1884,  3  fasc. 
p.  95  suiv.  —  Que  la  laugue  rualhematique  grecque  ait  ete  fixee  de  tres  bonue 
heure  et  qu'elle  n'ait  subi  par  la  suite  des  temps  que  des  variations  sans 
importance,  cela  resulte  notamment  de  l'important  fragment  geometrique 
d'Hippocrate  de  Chics,  conserve  par  Simplicius  (Simplieii  in  Äristotclis 
Physicorum  libros  quattuor  priores,  ed.  Diels,  p.  61 — 68). 

jnllJ  Ou  doit  egaiement  remarquer,  au  sujet  d'un  autre  passage  mathematique 

de  Platon  celebre  par  sa  difficulte,  celui  du  nombre  nuptial  (Republique  Vll, 
546b),    que    rinterpretation   de   la   secoude   partie:    wv   ir.kpizoi  7:'j6fj.7]v  .... 

fP"^  fcxoTÖv  5e  x'jßwv  Tptccoo;,  donnee  en  admettant  la  fixite  absolue  du  langage 
technique  (celle  d"Otto  Weber),  doit  etre  certainemcnt  consideree  comme  acquise 
desormais,  ainsi  que  l'a  coustate  E.  Zeller  ici  ineme  (Archiv,  l,  4,  p.  98). 
Le  fait  rae  parait  absolument  indeniable,  depuis  hi  publication  par  Scholl  des 
parties  inedites  du  comraentaire  de  Proclus  sur  la  Republique  (.Vnecdota 
greeca  et  latina  de  Scholl  et  Studemund). 

'•-)  Le   texte   de   Platon   ajoute   ccjto'j    yp'-'l-'-.'-'V' •    ii>"'"ne    explication    n"est 

35* 


er. 


s 


512  Paul  Tannery, 

olov  äv  ctu-h  To  irapaTe-caii-svov  fj ,   avec   Texpression  technique  '.xarA  \&  '' 
TYjv  SoOeraoiv  euösTotv  toj  ooHiv-i  süöoYpajxtjLU)  (=  yiupt'oi)  ibov  TrapaXX'/iXo-  j»)Sf 
7po!}i[xov  (=  -/(uptov)  TrrjtpotßotAsTv  sXXsiTrov  (ou  ÄofTS  IXXetuSiv)  -apaXXr^Xo-  '%"''* 
7paa}xii)  6[xotu)  xtu  ooUiv-i  (Eucliile,  VI,  28),  dont  Tusage  est  de  la 
plus  grande  frequence  dans  la  theorie  des  sections  coniques. 

Des  que  Ton  admetcette  Identification,  on  tombe  necessairement, 
sauf  quelques  divergences  plus  ou  moins  significatives,  sur  l'inter-    2 
pretation  de  Benecke.    Yoici  an  reste  comment  je  voudi-ais  la  voir  1^  '' 
exposer  avec  Tempi oi  du  langage  et  des  notations  modernes. 

Le   Probleme  pose,   qui   peut  etre  possible  ou  impossible,    s; 
TovSs  Tov  xüxXov  TÖos  TO  /(upi'ov  xpqcuvov   svtaÖTjvai,   serait:    Inscrire  m 
dans    ce    cercle    donne    cette  figure    (c'est    a    dire    un    des   carres 
primitivement  traces  par  Socrate)^),  mais  non   pas  sous  la  forme  j 
de  carre,    au   contraire  sous    celle   de  triangle,    en    conservant   la 
meme    aire,    et    d'ailleurs    en    donuant    a    ce    triangle    la  base  la 
plus  grande  possible  (=vx£iv£iv),   c'est    a   dire   en  lui   donnant  pour  | 
base  le  diametre  meme  du  cercle. 

L'interpretation  donnee  au  mot  Ivteivciv  n'est  certainement  | 
appuyee  sur  aucun  texte  comparable,  ce  terme  n"etant  pas  reste  '> 
dang  la  langue  mathematique  grecque.  Mais  il  doit  necessairement 
avoir  pour  Piaton  une  signification  technique  differente  do  celle 
d'i-j'ypacpsiv,  mot  dejä  bien  connu  d'Hippocrate  de  Chios.  et  si  on 
le  compare  ä  TTotpotistvetv ,  qui  vient  ensuite  et  dont  le  sens  est 
bien  determine,  on  est  conduit  a  catte  double  signification  de  de- 
formation  de  la  figure  et  de  plus  grande  extension  possible  de  la 
base  a  l'interieur  du  cercle. 


possible  si  Ton  n'admet  pas  que  ccitoü  se  rapporte  an  cercle  dont  Piaton  a 
parle  un  peu  plus  haut,  et  il  faut  alor.s  supposer  tjue  Socrate,  tout  en  euoncant 
la  condition  geometrique,  montre  ä  Menon  les  figures  tracees  sur  le  sable. 
ilais  il  est  tres  conforme  aux  habitudes  geometriques  de  dire  siraplement  uapä 
-rTjv  ooOeiaav  et  le  sens  n'eu  reste  pas  moins  clair.  II  est  donc  possible  que 
les  mots  a'jToü  Ypa;j.[j.Y]v  soient  une  glose  tres  ancienne  et  d'ailleurs  nialadroite, 
qui  sera  passee  dans  le  texte. 

'^)  Dans  le  langage  mathematique  grec,  /tupi'ov,  pris  isolement,  designe 
proprement  un  parallelogramme  rectangle:  c'est  par  extension  que  le  sens  devient 
celiii  d'aire  d'une  tigure  quelconque,  en  tant  que  celle -ci  peut  etre  mesuree 
sous  forme  de  rectanale. 


L'hypothese  geometrique  du  Menon  de  Platon. 


513 


Sans  doute  aussi,  le  texte  d'Euclide  cite  plus  haut  montre 
bien  que,  pour  exprimer  la  meme  idee,  meme  en  conservant  le 
terme  Ivteivsiv,  il  aurait  prefere  dire  ic  tov  öoöevtc«  xux^ov  tio 
Soöevtt  /«)puo  i'sov  xpqtuvov  svxsivstv;  mais  cette  forme  plus  longue 
et  plus  reguliere  qu'il  a  adoptee  daus  son  enonce  avec  TiapoißaXsiv 
est  loiu  d'avoir  ete  suivie  dans  le  langage  classique  et  a  cet  egard 
il  ue  düit  pas  y  avoir  de  difficulte. 

Püur  le  Probleme  ainsi  pose,  designons  par  b^  le  carre  doiinej 
par  2a   le   diametre   du   cercle  ou   la   base   du   triangle.   par    y  sa 
hauteur  (a  construire),  ori  düit  avoir  evidemment 
»:  b^  =  ay. 

Mais  il  laut,  pour  que  le  probleme  soit  possible,  que  y  soit  iuferieure 
ä  TordouDee  maxima  de  la  circonfererice  par  rapport  au  diametre, 
c'est  a  dire  iul'erieure  a  a.  D'oü  la  conditiou  que  b  soit  plus  petit 
que  a. 

Au  coutraire.  Platon  cxprime  une  condition  qui  se  traduit 
exactemeut  par  la  possibilite  de  requation 

b'  =  2au— n'. 
b"  etaut  le  /topi'ov  TrapaxExotfxivov,  2a  la  droite  6o\}eX(SOL,  n^  riXXsifxjj.« 
sembiable  au  yw^jw^  7rapa-£ia|jiivov  (carre).     La   condition  n'en  est 
pas  moins  identiquement    la   meme,    et  cette    identite    se    trouve 
enoncee    dans   le   oiopiGaoc   du   probleme   precite   d'Euclide:    Ssr  -o 

I.SlOOiXSVOV     SuDu'j'pajXfXOV      [XY]     ti-SlCoV     STV7.1    TO'J     OtTTO    TVj^    yjixt!3c''a;     7.va- 

Ypacpoasvou  6[xoiou  xoji   £XXsi'[X[xaxi. 

II  y  a  certaiuement,  comme  je  Tai  dit,  dans  cette  complicatiuu 
de  Tenonce,  un  raffinemeut  qui  n'est  point  absolument  de  mise 
dans  la  bouche  de  Socrate.  Mais  ce  raffinement  n'est  en  tout  cas 
pas  de  nature  a  choquer  un  geometre,  car  Platon,  au  Heu  de  se 
borner  au  cas  particulier  du  probleme  pose  par  lui,  indique  de 
fait  une  methode  generale  en  faisant  intervenir  ce  qu'on  peut 
appeler  Pequation  du  cercle  rapportee  a  son  sommet: 


V^  =  2an 


n 


Des  l'invention  des  sections  coniques,  attribuee  ä  Menechme,  mais 
qui  remonte  peut-etre  a  Eudoxe,  elles  ont  ete  definies  par  des 
relations  fundamentales  qui  se  traduisent  par  des  equations  ana- 
logues.      Quoiqu'il    ne    puisse    certaiuement    etre    etabli    que    la 


514      Paul  Tannery,  L'hypothese  geometrique  du  Menon  de  Platon. 


decouverte  de  ces  relations  soit  anterieure  a  la  redactioa  du 
Menon,  il  n'est  pas  impossible  que  l'enonce  de  Platon  fasse  allusion 
a  leur  forme  generale.  En  tous  cas,  je  regarde  comme  facile  a 
demontrer  que  la  theorie  geometrique  que  suppose  cet  enouce, 
ä  savoir  celle  de  la  r:7p*7ßoXY]  avec  e>,Xei'!>i;  ou  u-öoßoXv;,  theorie 
qui  comporte  la  Solution  geometrique  des  problemes  du  second 
degre  et  qui  a  ete  appliquee  ensuite  a  la  defiuitiou  des  sections 
coniques,  remoute  aux  Pythagoriciens,  ainsi  que  Taffirme  Proclus 
en  invoquant  le  temoignage  d'Eudeme'). 


•T. 


0  Proclus  sur  Euclide,  ed.  Friedlein,  p.  419.  —  J'ai  truite  cette  question 
ä  fond  dans  les  Meinoires  de  la  societe  des  Sciences  physiques  et 
naturelles  de  Bordeaux,  IV,,  p.  396  suiv:  De  la  Solution  geometrique 
des  problemes  du  second  degre  avant  Euclide. 


i 

f 

i 


i\ 


XXVII. 

Zu  Thaies'  Abkunft. 

Von 
O.  Iiuiuisch  iu  Leipzig. 

Diels  hat  oben  (S.  165ff.)  den  Nachweis  geführt,  dass  Hexa- 
myes,  der  Name  von  Thaies' Vater,  auf  karische,  nicht  auf  phoinikische 
Abkunft  deute.  Die  Sicherheit  dieses  Nachweises  lässt  sich,  wie 
ich  glaube,  noch  durch  folgende  Erwägung  erhöhen. 

Athenaios,  welcher  S.  174  f.  von  einer  in  Karieu  üblichen 
phoinikischen  Flöte  spricht,  fügt  hinzu,  st  ixyj  apa  xal  y]  K^pta  Ooivi/y) 
I-kc/XzXto,  o)s  Trapa  Kopt'vv(j  xai  Bccx/uXioiq  sstiv  supsiv.  Die 
Griechen,  so  meint  H.  D.  Müller  (Mythol.  I  308,  wo  auch  noch 
andere  Belege)  vermochten,  als  sie  zuerst  mit  Kariern  und  Phoi- 
nikiern  in  Berührung  kamen,  beide  Nationen  nicht  scharf  zu  unter- 
scheiden. Gewiss  ist  das  richtig.  Als  nun  die  ionische  Kolonisation 
begann  und  es  nach  hitzigen  Kämpfen  mit  den  alten  Insassen  an 
vielen  Punkten  zu  einem  Synoikismos  der  Griechen  und  Karicr. 
sowie  anderer')  asiatischer  Nationen  kam,  so  mussten  fast  not- 
gedrungener Weise  die  zahlreichen  Ansiedler,  die  aus  Boiotien 
kamen,  ihre  heimischen  kadmeischen  Erinnerungen  an  den  neu- 
gewonnenen karisch  -  phoinikischen  Boden  anknüpfen,  was  auch 
thatsächlich  nachweisbar  ist^).  Unter  dieser  Voraussetzung  wiid 
die  Herleitung  eines  karischen  Geschlechtes,  wie  das  der  Thelidon, 
aus  Phoinikien  völlig  begreiflich,  besonders  wenn  es  das  Geschlecht 


')  Vgl.  z.  B.  über  Erythrai  Paus.  VII  3,  7. 
2)  Vgl.  meine  Schrift  „Klaros"  S.  129  ff. 


516 


0.  Immisch,    Zu  Thaies'  Abkunft. 


eines  Weisen   war,   dessen  Ideen   in  so  innigem  Bezüge  zu  orien- 
talischen Lehren  zu  stehen  schienen  ^). 

Interessant  ist  übrigens,  dass  auch  zu  Kolophon,  wo  das  Hinter- 
land gleichfalls  karisch  war,  der  Name  Hexamyes  nachweisbar  ist. 
Ein  Genosse  des  Mimuermos  hiess  so,  wie  wir  durch  Hermesianax 
wissen  (Leontion  fr.  2,  38  Bergk). 


^)  Der  unverständliche  Zusatz  bei  Diogenes  (I  23)  iTro/aToypacpTjÖTj  6e  h 
MiX/jTw,  o-E  riXbz.  ouv  NeiXeio  IxTicaovTi  (Potvi'xTj;  bezieht  sich  wohl  auf  den 
Ahnherrn  der  Thelideu  und  mag  seinen  Ursprung  haben  in  einer  der 
mannigfaltigen  Variationen  der  xxi'ai;  MiXtqtou. 


XXVIII. 


Zur  Psycliologie  der  Scholastik. 


Von 
H.  Siebeck. 


Averroes. 

Avicenna,  Aristoteles  und  Alhacen  kann  man  als  die  Lehr- 
meister der  objektiven  empirischen  Psychologie  im  MA  betrachten. 
In  der  zweiten  Hälfte  des  13.  Jahrh.  aber  tritt  ihnen  zur  Seite 
und  theihveise  voran  der  Einliuss  des  grössten  der  arabischen 
Philosophen,  des  Averroes,  mit  dessen  Herübernahme  in  der 
Christenheit  die  Zeit  der  unbefangenen  Hingabe  an  den  zugefiihrten 
Bildungsstuff  ihr  Ende  erreichte.  Der  Aristotelismus  des  Averroes 
steht  erkenntnisstheoretiscli  wie  metaphysisch  von  vorn  herein  im 
Dienste  einer  bestimmten  Tendenz;  dem  platonisch-christlichen 
Dualismus  der  Weltanschauung  tritt  mit  ihm  der  Monismus  im 
Sinne  des  pantheistischeu  Naturalismus  gegenüber,  dessen  Einfluss 
sich  bis  in  die  kirchlichen  Kreise  des  Abendlandes  fühlbar  machte 
und  auf  dem  wissenschaftlichen  (jebiete  den  Empirismus  aus  einem 
Mittel  der  blossen  Belehrung  zu  einer  aggressiven  und  oppositio- 
nellen Richtung  umzugestalten  suchte. 

Von  Averroes  Werken  kamen  in  das  Abendland  zuerst,  wie 
es  scheint,  um  1217,  die  von  Michael  Sootus  übersetzten  Comraeu- 
tare  zu  de  coelo  und  de  anima  herüber.  Gegen  die  Mitte  des 
13.  Jahrh.  lag  abgesehen  von  dem  Kommentare  zum  Organen  und 
der  polemischen  Destructio  destructionum  der  ganze  Inhalt  derselben 
in  lateinischer  Sprache  vor.     Eine  Vorstellung  von   dem  Einflüsse, 


518  H.  Siebeck, 

welchen  Averroes  um  dieselbe  Zeit  bereits  besass,  gewinnt  man 
besonders  aus  dem  Werke  des  Wilhelm  von  Auvergne  (f  1249),  worin 
die  Art,  wieseine  Ansichten  in  dem  Munde  „unverständiger Schüler" 
sich  zur  Geltung  bringen,  aller  Orten  bekämpft  wird.  Allerdings 
scheinen  die  ersten  Anfänge  des  oppositionellen  Pantheismus  und 
Naturalismus  im  MA  schon  vor  die  Zeiten  der  eingehenden  Be- 
kanntschaft mit  Averroes  hinaufzureichen');  sicher  aber  ist,  dass 
die  ganze  Strömung  an  seiner  Philosophie  das  breite  und  tiefe 
Bett  fand,  welches  ihr  noch  innerhalb  der  Scholastik  für  längere 
Zeit  den  Bestand  sicherte. 

Die  charakteristische  Stellungnahme  des  Averroes  gegenüber 
der  ganzen  bisherigen  Weltanschauung  liegt  in  dem  Umstände, 
dass  er  für  den  Prozess  des  Werdens,  der  ihm  das  Wesen  der  Welt 
bedeutet,  die  Materie  im  Grunde  zum  Hauptfaktor  macht  und  die 
bei  Plato,  wie  auch  noch  bei  Aristoteles  vorherrschende  Bedeutung 
der  Form  in  eine  schon  der  Materie  als  solcher  wesentliche  Eigen- 
thümlichkeit  aufzuheben  sucht.  Als  reine  Rezeptivität  noch  frei 
von  jeder  positiven  Qualität  ist  die  Materie,  nach  averroistischer 
Lehre,  an  sich  gleichmässig  geeignet,  entgegengesetzte  Modifikationen 
anzunehmen.  Sie  ist  daher  die  Möglichkeit  zu  allem,  und  als 
solche  nicht  erschaffen  oder  in  ihrem  Dasein  sonstwie  bedingt,  son- 
dern ewig  und  selbständig.  Daher  sind  auch  die  Substanzen  ewig 
atif  Grund  der  Materie,  in  der  sie  wurzeln.  Die  Reihe  der  Gene- 
rationen ist  nach  beiden  Seiten  unendlich;  es  giebt  kein  Werden 
aus  nichts  und  kein  Vergehen  des  materiellen  Substrates  der  Dinge. 
Die  Form  ist  zwar  nothwendig.  um  aus  der  Materie  Bestimmtes  zu 
gestalten,  sie  ist  alter  in  ihrer  Wirksamkeit,  ja  selbst  in  ihrem 
Dasein,  gebunden  an  das  Bestehen  der  Materie.  Die  Formen  bil- 
den somit  einen  integrirenden  Bestandtheil  derselben  und  treten  in  1 
der  Bewegung  lediglich  aus  derselben  heraus,  um  ihre  Wirksam- 
keit zu  entfalten.  Diese  Verwirklichung  bringt  aber  folgerichtig 
nichts  anderes  zuwege  als  was  im  Grunde  (der  Möglichkeit  nach) 
in  der  Materie  schon  lag,  sodass  im  strengen  Sinne  überhaupt 
keine  absolute  Veränderung  und  kein  Zuwachs  an  Sein  stattfindet. 


I 


')  Vgl.  Renan,  Averroes  (Par.  1853)  S.  175  ff. 


\ 


Zur  Psychologie  der  Scholastik.  519 

Das  Heraustreten  der  Form  ist  auch  kein  willkürlicher  oder  durch 
Willkür  vermittelter  Akt,    sondern   ein    uothwendiger    (im   Wesen 
der  Materie  liegender)  Prozess,  gegeben  durch  die  Bewegung,  welche 
mit    der  Materie   von  Ewigkeit    her  besteht.     So    ist  alles  in   der 
i  Natur    Dothwendige    Entfaltung    der    Materie    und    Rückkehr    in 
1  dieselbe.     Es  giebt  kein  Chaos,    das  der  geordneten  Welt  voraus- 
läge, so   wenig  wie  man   von  Fortschritt    oder  Rückschritt  in  der 
Welt  reden   kann.     Die   Welt  hat  nach  alledem   auch  keine  Ent- 
;  Wickelung  nach  einem  obersten  Ziel  hin.     Auch  das  geistige  Prin- 
j  zip    (die  Formen)    ist    der  Materie    und    ihrer  Ausgestaltung,    der 
I  Natur,  nicht  entgegengesetzt,  sondern  wesentlich  und  ursprünglich 
I  in  ihr  beschlossen  und  enthalten^). 

i  Das  Wesen   des   Seelischen  musste  bei  dieser   Auffassung  des 

Verhältnisses  von  Materie  und  Form  folgerichtig  seine  substanzielle 
Unterschiedenheit  und  Selbständigkeit  gegenüber  dem  Materiellen  ver- 
lieren und  Hand  in  Hand  hiermit  die  Tendenz  sich  herausbilden, 
die  Bewusstseinszustände    und   Veränderungen    lediglich    als  uoth- 
wendige  Ausgestaltungen  des  mit  der  Materie  gegebenen  Entwick- 
lungsgesetzes zu  betrachten.    Die  Ausbildung,  welche  der  Averrois- 
mus im  christlichen  Abendlande  gefunden  hat,  trägt  in  der  That 
die  charakteristischen  Züge   einer  nach  dieser  Richtung  gehenden 
Weltauffassung.     Die    psychologischen   Erörterungen    bei    Averroes 
!    selbst  waren  auch  bereits  danach  angethan,  nicht  allein  den  Bestand 
j    an  empirischen  Beobachtungen  zu  vermehren,  sondern   namentlich 
I    auch  die  vorwiegend  spiritualistische  Seite  der  Innern  Erfahrung  in 
!    das  Licht  der  naturalistischen  Grundanschauung  zu  stellen. 

In  seinen  Kommentaren  zu  den  aristotelischen  Schriften  lässt 
Averroes  sich  die  Gelegenheiten  zur  Hervorhebung  selbständiger 
Beobachtungen  und  eigenthümlicher  Ansichten  keineswegs  entgehen. 
Zu  der  Lehre,  dass  Anschauung  (imaginatio)  immer  mit  Empfindung 
zusammengeht,  bemerkt  er'),  dass  bei  niederen  Thieren  die  An- 
schauung nur  in  Gegenwart  der  Empfindung  selbst  vorhanden  ist, 
der  Besitz  von  Anschauungen   als  bleibende  Bilder  der  Wahrueh- 


2)  Vgl.  ebd.  S.  85  f. 

3)  d.  an.  II,  20  (Ed.  Ven.  1550.     totn.  VI,  f.  130  C  40). 


520  H.  Siebeck. 


i 


mungen  dagegen  nur  dem  Menschen  und  den  höheren  Thiergattungen 
zukomme.     Zu  der  Einsicht,  dass  die  Zeitvorstellung   auf  dem  Ge-     • 
wahrwerdeu  der  Succession  der  Bevvusstseinszustände  beruht,   hebt   '  ' 
er  hervor,   dass  im   traumloseu  Schlafe    auch    das  Zeitbewusstseiu 
schwindet,  im  Traume  selbst  aber  dasselbe  mit  der  Bewegung  der   :j 
Imagination  wieder  vorhanden  ist^).     Zu   der  Lehre  von   den  Be-    '•) 
gehrimgen    führt  er  aus '").    dass    die  des  Gesichts    und  Gehörs  in     a 
einer  näheren  Beziehung  zur  Vernunft   stehen   als  die  der  andern    \m 
-Sinne,  und  unter  diesen  beiden  wieder  der  Gehörsinn  heftiger  nach    J 
Vernunft,   d.  h.    Deutung,    dränge    als    die   Gesiclitswahrnehmung: 
man  verlange  sehr,  das  zu   sehen,   was  man  hört:    nicht  gleicher- 
maassen  das  zu  hören,  was  man  sieht.     Zu  der  J^ustlehre  wird  ge- 
legentlich bemerkt,   dass  Gegenstände  der  Erinnerung  um  so  ange- 
nehmer sind,  je  weiter  ihre  Objekte  zeitlich   zurückliegen,   ausser- 
dem aber  hingewiesen  auf  die  Bedeutung,   welche   das  dem  Men- 
schen natürliche  Verlangen   nach   Einheit  für   die  Entstehung  von 
Lustgefühlen  besitze:  Komposition  und  Theorie  (conhctio  und  doc- 
triua)  sind  angenehm.   Aveil  sie  die  Einheit  unter  den  Dingen   zur 
Geltung  bringen ;  aus  dem  gleichen  Grunde  gefallen  Assimilationen 
und  Beispiele,  ferner  innerhalb  der  Gattung  der  Mensch  dem  Men- 
schen, das  Pferd  dem  Pferde  u.  s.  w.  (a.  a.  0.  f.  39  bf.). 

Bedeutsamer  aber  für  die  Zeit  der  Scholastik  als  derartige 
vereinzelte  Bemerkungen  ist  die  naturalistisch-pautheistische  Aus- 
deutung, die  Averroes  den  aristotelischen  Lehren  mit  Vorliebe  an- 
gedeihen  lässt.  Man  erkennt  sofort  die  Bedeutung  wieder,  welche 
bei  ihm  die  Materie  für  das  Hervortreten  der  Form  hat.  wenn  zu 
der  Lehre  von  der  Theilbarkeit  der  Seele  sich  die  Ansicht  ausge- 
sprochen findet,  einige  Kräfte  derselben  seien  nichts  anderes  als 
Vollkommenheiten  körperlicher  Organe,  da  die  Prinzipien  des  Xatur- 
wirkens  (formae  naturales)  durch  die  Materie  erst  zur  Vollendung 
kommen ")  und  mithin  nichts  von  dem  Materiellen  (Leiblichen)  wesent- 


*)  s.  Reuau  86,   der  auf  die  Verwandtschaft   seiner  auf  Zeit   und  Traum 
bezüglichen  Ansichten  mit  denen  von  Dugald  Stewart  aufmerksam  macht. 
^)  in  Rhet.  I,  14;  f.  39  b. 
^)  perficiunlur  per  materiam,  d.  an.  II,.   11.  f.  12üA  12t'. 


^ 


Zur  Psychologie  der  Scholastik. 


521 


lieh  Getrenntes  sein  können.  Die  Seele  selbst  wird  einerseits  vom 
Leibe,  andrerseits  vom  unpersönlichen  Intellekt')  unterschieden  und 
hiernach  mehr  im  Sinne  eines  zu  der  Wärme  noch  hinzutretenden 
Lebensprinzips  aufgefasst,  welches  ohne  Materie  nicht  bestehen 
kann  und  nach  dem  Verfalle  des  Leibes  zu  der  spiritualen  und 
unsichtbaren  Materie  zurückkehrt,  in  der  sie  ursprünglich  beschlossen 

war^). 

Auch  die  bekannte  pantheistische  Fortbildung  der  aristotelischen 
Lehre  vom  voü;  otTrai)-);;  zu  der  von  der  Einheit  des  aktiven  In- 
tellekt ruht  hei  Averroes  auf  naturalistischer  Grundanschauung.  In 
den  weitläuftigen  Ausführungen  derselben  tritt  bei  ihm  aller  Orten 
das  Eine  deutlich  heraus,  dass  die  schon  von  Aristoteles '^)  ange- 
deutete Analogie  des  begrifflichen  Erkennens  mit  dem  Vorgange 
des  Sehens  und  insbesondere  der  Vergleich  der  Wirksamkeit  des 
vouc  cÜTiotHrj?  mit  der  des  Lichtes,  durchgreifend  und  maassgebend 
gewesen   ist'").     Wie  man    beim  Sehen   zu   unterscheiden   hat  das 


0  s.  Gesch.  d.  Psych.  I,  2,  S.  439 f. 

f)  Destr.  destract.  t.  IX  f.  62  d  f.:  Nos  nou  concedimus  quod  sit  separata 
a  corpore  (sc.  anima),  63a:  Wir,  die  wir  wissen,  dass  die  Seele  sit  additmu 
quiddam  calori  elemeutall,  (weil  die  Wärme  als  solche  nicht  die  Ordnung 
der  Denkvorstelluugen  bewirken  kann),  wissen  auch,  dass  die  im  Saamen  be- 
findliche Wärme  zur  Erzeugung-  und  Gestaltung  des  Leibes  nicht  ausreicht. 
Hae  autem  animae  aiit  erunt  tamquam  mediae  inter  aniraas  corporum  coelestium 
et  animas  quae  sunt  hie  in  corporibus  sensibilibus,  et  habebunt  absque  dubio 
in  animabus  quae  sunt  hie  et  corporibus  dominium  .  .  .,  aut  ipsae  in  se  ipsis 
.sunt  alligatae  corporibus  quae  ab  eis  sunt  creata  propter  similitudinera  quae 
est  inter  ea.  Et  cum  corrumpantur  corpora,  revertuntur  ad  materias  suas 
spirituales  et  corpora  sua  subtilia  quae  non  sentiuntur. 

9)  Ar.  d.  an.  III,  5;  430a  15 f.  s.  Gesch.  d.  Psych.  I,  2  S.  64.  67. 

'0)  Aver.  d.  an.  III  (t.  VI,  f.  169  Df):  Intentio  cogens  ad  poneudum  in- 
tellectum  agentem  alium  a  materiali  et  formis  rerum  quas  intelleptus  materialis 
comprehendit,  est  similis  intentioni  propter  quam  visus  indiget  luce,  cum 
hoc  quod  agens  et  recipiens  alia  sunt  a  luce,  .  .  .  modus  qui  coegit  nos  ad 
pouendum  intellectum  agentem,  idem  est  cum  modo  prupter  quem  indiget  visus 
luce.  Denn  wie  das  Sehorgan  von  den  Farben  nicht  erregt  wird,  ausser  wenn 
es  in  actu  ist,  und  dies  wieder  nicht  der  Fall  sein  kann  ohne  die  Gegenwart 
des  Lichtes,  da  dieses  selbst  sit  extrahens  eos  (die  Farben)  a  pötentia  in  lu-tuiii, 
so  erregen  auch  die  intentiones  iraaginatae  den  int.  materialis  nicht,  ausser 
wenn  sie  intellectae  in  actu  sind  (f.  170  A);  quod  non  perrtcitur  eis  nisi  aliquu 
praesente  (nämlich  eben  die  Gegenwart  des  intell.  in  actu).-    f.  179  B:   der  In- 


522  H.  Siebeck, 

Organ,  die  vou  ihm  aufgenommene  Qualität,  und  den  äussern  Er- 
reger, das  Licht,  so  aucli  heim  Erkennen  ein  Empfangendes  (den: 
materialen  Intellekt),  den  iiitelligiblen  Inhalt  als  das  vou  ihm  Auf- 
genommenes, und  ein  Wirkendes,  welches  das  Aufgenommene  im 
Aufnehmenden  gleichsam  transparent  macht"),  ein  Vorgang,  mit 
dem  nicht  wie  beim  Sinnesorgan  eine  qualitative  Veränderung  ver- 
bunden ist,  sondern  nur  die  „Apprehension"  des  Inhalts,  die  ihrer- 
seits nichts  anderes  ist  als  die  aktive  Bethätigung  des  eigenen 
Wesens  von  Seiten  des  Intellekt  (t.  IX,  f.  65  A),  Wie  das  Licht 
wirkende  Ursache  und  zugleich  Form  und  Zweck  der  Farben  ist, 
mithin  Anfang  und  Ende  des  Sehvorgangs  in  seinem  Wesen  be- 
schlossen hält,  so  verhält  sich  auch  der  wirkende  Intellekt  zAim 
materialen  nicht  nur  als  anregendes  Moment,  sondern  auch  als 
dessen  Vollendung  und  Ziel'^).  Die  pantheistische  Wendung  dieser 
Lehre  vollzog  sich  nun  bei  Averroes  dadurch  dass  er  die  Analogie 
des  Intellekts  mit  dem  Lichte  auch  aufrecht  erhielt  hinsichtlich 
des  ümstandes,  dass  das  Licht  gegenüber  der  Vielheit  der  indivi- 
duellen Augen  ein  allgemeiner  und  für  sich  bestehender  Faktor  ist, 
der  in  allen  einzelnen  wirkt,  ohne  darum  selbst  zur  Individualität 
jedes  einzelnen  zu  gehören.  Wie  das  Licht  eins  ist,  sagt  er  (de 
an.  beat.  3,  f.  65  C),  welches  alles  der  Möglichkeit  nach  Sichtbare 
wirklich  sichtbar  macht,  so  muss  auch  der  Intellekt  Eins  sein,  der 
alles  Intelligible  zum  Akt  bringt. 

Offenbar  ist  diese  Ausdeutung  der  aristotelischen  Ansicht  zu- 
gleich eine  Fortbildung  derselben  in  derjenigen  Richtung,  welche 
nachmals  in  der  Lehre  Spiuoza's  ihren  konsequentesten  Ausdruck 
fand.  Schon  Averroes  selbst  ist  dieser  letzteren  aber  noch  näher 
gekommen  durch  seine  Ansicht,  dass  die  Vereinigung  des  materialen 


tellekt,  qui  in  nobis  existit,  hat  zwei  Funktionen:  cognoscere  intelligibilia 
(analog  dem  Auge,  wenn  das  Licht  darin  ist)  et  efficere  intelligibilia  (analog 
dein  Liohto  selbst). 

")  Opp.  f.  IX,  f.  65  a  (d.  anim.  beat.  3).  t.  VI,  f.  179  D:  in  hoc  (dem 
int.  materialis)  se  habet  res  sicut  in  ipso  transparente,  quod  qiiidem  recipit 
colores  et  lumen  simiil:  lunien  autcra  colores  efficit. 

'^)  d.  an.  beat.  3.  t.  IX,  f.  65  A.  66  A:  Sol  dat  visui  hicem  et  postea  per 
lianc  lucera  quam  recipit  videns  a  sole,  efticitur  videns  ipsum  solem  in  actu 
qui  fuit  causa  faciens  ipsum  videre  rem  in  actu. 


tofi 
ulü 
er 

in, 
ina 


i  Zur  Psychologie  der  Scholastik.  523 

mit  dem  wirkenden  Intellekt  für  den  Menschen  das  Resultat  einer 
allmäligen  Entwickelung  ausmacht,  die  im  Verlaufe  des  Lebens  mit 
seiner  geistigen  Aus-  und  Durchbildung  Hand  in  Hand  geht  und, 
wenn  sie  erreicht  ist,  das  wahre  Wesen  zugleich  der  Vollkommen- 
I  heit  und  Glückseligkeit  darstellt,  ein  Ziel  welches  von  den  Einzel- 
j  nen  je  nach   der  individuellen  Beanlagung  in  verschieden    hohem 
1  Orade  erlangt  werde '■^).     Auch   darin   endlich  kommt  seine  Lehre 
mit  der  des  Spinoza  überein,  dass  dieses  oberste  Ziel  der  intellek- 
I  tiven  Erkenntniss  für  ihn  im  letzten  Grunde  nichts  anderes  bedeu- 
j  tet   als    die  Thätigkeit,    in    welcher  der    allgemeine  Intellekt  sich 
I  selbst  in  seinem  Thun  und  Wesen  innerhalb  des  Individuums  er- 
greift und  erkennt,  und  dass  in  dieser  einen  und  einheitlichen  Er- 
i  keuutniss  seiner  Ansicht  nach   alle  anderen  begrifflichen  Erkennt- 
i  nisse  enthalten  und  beschlossen  sind^*). 

,         Es  war  ein  belangreicher  Umstand,  dass  das  Hervortreten  der 
1  averroistischen  Lehre  im  christlichen  Abendlande  schon  eine  kräftig 
entwickelte  empirisch-psychologische  Richtung   innerhalb  der  Scho- 
lastik vorfand.     Denn  je  verbreiteter  und  gleichsam  selbstverständ- 


'•■')  Die  Abhaudlung  de  aniiuae  beatitudine  ist  dem  Erweise  dieses  Satzes 
gewidmet,  f.  65B42f.  heisst  es:  eventus  hiijus  perfectionis  ut  plurimum  con- 
tinget  tempore  senectutis,  aber  erst  nach  anhaltendem  spekulativem  Studium 
und  Entfernung  überflüssiger  Dinge,  die  nur  scheinbar  nothwendig  sind  .... 
Cuilibet  enti  inest  divina  intentio,  ut  perveniat  ad  recipiendum  tantum  illius 
nobilis  finis  quantum  competit  suae  naturae  nee  denegatur  ab  ejus  essentia 
pars  sibi  concessa.  ib.  5,  f.  66  B:  Substantia  intellectus  ageutis  est  una,  quam- 
vis  gradus  suus  contineat  id  quod  dependet  ab  omnibus  animalibus  rationahbus 
receptivis  beatitudinis.  Vgl.  Spinoza,  Eth.  V,  die  Scholien  zu  Propos.  10,  20, 
36,  42. 

i-»)  de  an.  beat.  f.  65D:  Intellectus  agens  redueit  eam  (sc.  virtutera  ratio- 
nalem) in  intellectum  in  actu  et  concedit  quod  alia  sint  sibi  intelligibilia  iu 
actu.  Ist  dies  eingetreten,  so  ascendit  ille  intellectus  in  actu  ad  assimilationem 
remm  abstractarum  et  iutelliget  suum  esse  quod  est  actu  intellectus  (66  A): 
Intellekl,  Intelligibles  und  Intelligirendes  sind  dann  Eins,  sind  ganz  intellectus 
agens  geworden.  Nam  intentio  divina  in  hoc  fuit  quod  formae  quac  sunt 
aeternae  in  genere,  iit  universalia,  debeant  ascendere  ad  funiKun  uiiam  uuuiero. 
Ebd.  5,  f.  66  C:  Pluralitas  intelligendi  non  est  deputata  pro  ultima  nobilitate. 
Das  primuni  erkennt  ja  sich  allein  und  damit  alles  andre  ,  da  alles  sein  Sein 
von  ihm  hat.  Itaque  pluralitas  intelligendi  perfeetio  non  est.  Vgl.  bei  Spi- 
noza die  Erkenntniss  sub  specie  aeternitatis  und  Eth.  'S     36. 


524  ^-  Sieb  eck, 

lieber    die  letztere    sich  bereits    zeigte ,    um   so    eher    konnte    der 
naturalistische  Gesichtspunkt  als  die  naturgeraässe  Konsequenz  und 
Ergänzung  derselben  erscheinen,    da   er  mit    seiner  neuen  Bestim- 
mung des  A^erhältnisses  von  Materie  und  Form  der  Erfahruugs-  und 
Naturwissenschaft  einen  berechtigten  Anspruch  auf  Alleinherrschaft 
zu  verleihen  schien.     Die  objektive   empirische  Psychologie  wurde 
auf  diese  Weise  zum  tendenziös -naturalistischen   Empirismus.     In 
wie  ausgesprochener  Weise  dies  wenigstens  in  bestimmten  und  allem 
Anschein   nach   ziemlich   ausgedehnten   Kreisen   der  Fall   war,   ha.t-.'ii 
die  kirchliche  Zensur  jeuer  Richtung  selbst  deutlich  ins  Licht  stellen 
helfen.     In  der  langen  Reihe  ketzerischer  Lehren,  welche  der  Erz- 
bischof von  Paris  im  Jahre  1279  den   dortigen  Averroisten    aufzu-  ; 
rücken  sich  veranlasst  fand"),  finden  sich  Sätze  wie  die  folgenden:  i  . 
Alles  geschieht   durch   Xothwendigkeit;  jedes  Agens  wirkt   nur  in 
einer  ganz   bestimmten   Weise:    der  Mensch   ist   Mensch   auch  ab- j| 
gesehen  von  seiner  (nicht  organischen)  Denkseele;  die  Substanz  der 
Seele  ist  ewig  (d.  h.  nicht  geschaften);  die  Seele  ist  unzertrennlich  vom 
Leibe  und  vergeht,  wenn  dessen  Harmonie  sich  auflöst:  der  Intellekt  | 
(der  unvergänglich  ist)  macht  die  \Vesensvollkommeuheit  (perfectio 
essentialis  hominis)  aus;  er  ist  von  Ewigkeit  her,  und  seiner  Natur 
nach  nicht  früher  in  der  Potenz  als  im  Aktus;  es  giebt  zwischen  den 
(individuellen)  Intellekten  keinen  Unterschied  der  Vollkommenheit; 
die  Aenderungen   im   Inhalte  des  Willens   sind  immer  durch  vor- ' 
hergehende  Ursachen  bedingt:  der  Wille    unterliegt  den  seine  An- 
regung   bewirkenden  Einflüs.sen    mit   Unausweichlichkeit:    dasselbe 
gilt  vom  sinnlichen  Triebe;    bei  jeder  Handlung    giebt    unter  ver- 
.schiedenen    Antrieben    immer  der    stärkere  den   Ausschlag;    gegen 
die  thatsächlichen  Wirkungen  von  Passionen  und  Erkenntniss  kann 
der  Wille  von  sich  aus   nichts   ausrichten:    leidenschaftliche  Hand- 
lungen sind   unausweichliche   Wirkungen   (coacte)  bestimmter  Ur- 
sachen; was  aus  einem  Menschen  wird,  kann  man  aus  bestimmten 
Zeichen  an  seinem  Wesen  vorauswissen""')  u.  u.    Besonders  deutlich 


t 


'^)  s.  Du  Plessis  d'Argciitre,  Collectio  judicioium  etc.   L  .S.  177  ff. 
'6)  a.  a.  0.  no.  21.   IT.O.   11.   1G9.  116.  7.  124.  39.  131.   131.  ir4.  208.  129.] 
131.   167. 


Zur  Psychologie  der  Scholastik. 


525 


tritt  hier  ausserdem  die  Tendenz  heraus,  die  bis  dahin  unbefangen 
an  die  Objekte  der  äussern  und  innern  Erfahrung  herangebrachte 
empirische  Methode  des  Erkennens  als  die  allein  giltige  im  Gegen- 
satze zu  den  Inhalten  und  Methoden  der  kirchlichen  Glaubenslehre 
hinzustellen ''). 


')  Vgl.  ebd.  110.33.  37.  120.  152f.  177  u.  a. 


Archiv  f.  Oescliiclite  d.  Pliilusupliie.     II. 


36 


I 

m 


XXIX. 

„Jordaui  Brimi  Nolani  Opera  iueclita,  manu 

propria  scripta". 

Ton 

W.  liUtoslawski, 

Privatdocent  an  der  Universität  zu  Kazan. 

„Jordani  Bruui  Nolaui  Opera  iiiedita,  manu  propria 
scripta"  —  diesen  überraschenden  und  vielverheissenden  Titel 
trägt  ein  dickes  Heft  in  4°  der  Moskauer  Bibliothek  des  Rumian- 
zow-^Iuseums.  Schon  vor  mehr  als  zwanzig  Jahren  kündigte  die 
Buchhandlung  Tross  in  Paris  an,  dass  sie  noch  ungedruckte 
Autographa  von  Giordano  Bruno  besitze.  Da  seit  mehr  als 
250  Jahren  keine  neuen  Werke  von  diesem  Philosophen  bekannt 
geworden  sind,  ausser  den  bei  seinen  Lebzeiten  und  zweien  kurz 
nach  seinem  Tode ')  erschienenen,  so  erregte  diese  Nachricht  unter 
denen,  die  sich  mit  Bruno  beschäftigt  hatten,  ein  grosses  Aufsehen. 
Domeuico  Berti,  der  damalige  italienische  Uuterrichtsminister  und 
spätere  Biograph  von  Bruno,  beabsichtigte  die  neu  entdeckten 
Werke  anzuschaffen.  Es  kam  ihm  aber  darin  Abraham  Noroff 
zuvor,  der  in  seiner  reichen  Bibliothek  schon  seit  Jahren  mit 
grosser  Mühe  die  seltensten  Ausgaben  verschiedener  Werke  von  [i 
Bruno  vereinigt  hatte.  j 

Die  Bibliothek  von  Noroff  kam  nach  seinem  Tode  seinen  ,» 
Wünschen  gemäss  an  das  Museum  von  Rumianzow  in  ]\loskau,  <  ■ 
das  gegenwärtig  eine  der  reichsten  Bibliotheken  Russlands  besitzt,  's 


^)  Summa    t  e  r  ra  i  n  o  r  u  m    M  e  t  a  p  h  y  s  i  c  o  r  u  m    Jordani    B  r  u  n  i    Mar- 
purgi  1609  und  Artifieium  perorandi  Francoforti  1G12. 


Jordani  Bruni  Nolani  Opera  inedita,  manu  propria  scripta.         527 

Darin  befindet  sich  jetzt,  nebst  einer  beinahe  vollständigen  Collec- 
tion  der  ersten  Ausgaben  gedruckter  A\'erke  von  Giordano  Bruno, 
auch  das  von  der  Buchhandlung  Tross  zuerst  angekündigte 
Manuscript. 

Die  erste  Beschreibung  dieses  Manuscripts  erschien  im  J.  1868 
in  französischer  Sprache  in  dem  von  Nor  off  selbst  herausgegebenen 
Kataloge  seiner  Bibliothek')  und  wurde  von  Berti ^),  Frith*)  und 
Previti^)  abgedruckt. 

Diese  Beschreibung  ist  jedoch  in  vielen  Hinsichten  unzuver- 
lässig. Noroff  glaubte,  dass  das  ganze  Manuscript  von  Brunos  Hand 
geschrieben  sei,  und  hielt  auch  solche  Theile  desselben,  die  wohl 
kaum  Bruno  zuzuschreiben  sind,  für  dessen  Werke.  Er  hat  das 
Verhältniss  der  einzelnen  Theile  gar  nicht  untersucht,  und  hielt 
!  einzelne  Capitel  für  besondere  Abhandlungen,  so  dass  er  dies 
Manuscript,  welches  nur  zwei  vollständig  vorliegende  Werke  von 
Bruno  enthält,  für  eine  Sammlung  von  nicht  weniger  als  9Trac- 
taten  erklärte. 

So  wie  das  Manuscript  gegenwärtig  vorliegt,  enthält  es  nicht, 
wie  Noroff  angiebt,  184,  sondern  nur  182  Blätter,  die  mit  Bleistift 
numerirt  sind.  Daraus  folgt  nicht,  dass  zwei  Blätter  verloren  ge- 
gangen seien,  da  zwischen  Bl.  69  und  Bl.  70  zwei  vollständig  un- 
beschriebene Blätter  liegen,  die  von  Norofl^  mitgezählt  worden  sind, 
dagegen  bei  der  endgültigen  Numerirung  von  der  Moskauer  Biblio- 
thek-Verwaltung unberücksichtigt  gelassen  wurden.  Von  den  182 
Blättern  hängt  der  grösste  Theil  noch  gut  zusammen,  und  zwar 
waren  Bl.  7  —  182  in  einer  gleichmä.ssigen  Weise  geheftet;  Bl.  1— 6 
haben  dagegen  nicht  zu  demselben  Hefte  gehört,  und  wurden  nur 
lose  hineingelegt.  Von  den  Bl.  7—182  sind  auch  einige  ganz  los- 
gelöst, aber  mit  sichtlichen  Spuren  der  Zugehörigkeit  zu  den  übrigen. 
So  sind  die  Blätter  7,  10,  11,  161  ganz  frei.  Bl.  8—9,  36—47, 
48_55^  70—75,  99—106  hängen  mit  den  übrigen  nur  an  einer 
Stelle  zusammen.     Aber   alle    diese  Blätter,    von   7—182,    hal)en 

2)  Bibliotheque  de  Mr.  Al)raham   de  Noroff  S.  Petersbourg  18G8. 

=')  Berti  Domenieo  Doeumenli  intorno  a  Giordano  Bruno  Roma  1880. 

*)  J.  Frith  Life  of  Giordano  Bruno  tiie  Nolan  London   1887. 

')  P.  Luiffi  Previti  S.  J.  Giordano  Bruno  e  i  suoi  tenipi.     Prato  1887. 

^  36* 


59^  \V.  Liif  oslawski, 

Spui-eii  von  Nadelstichen  in  der  Entfernung  von  18,  45,  165,  195  mm 
vom  oberen  Rande,  und  haben  also  ein  ganz  zusammenhängendes 
lieft  gebildet,  von  dem  sich  nur  mit  der  Zeit  beim  Blättern  ein- 
zelne  Blätter  zum  Theil  oder  gänzlich  losgelöst  haben. 

Dass  aber  diese  Blätter  7—182  nicht  immer   ein   Ganzes  ge- 
bildet haben,  das  ersieht  man  daraus,   dass   in  den  Bl.  7—63  alte 
Nadelstiche,    durch    die  jetzt    der  Faden    nicht    geht,    deutlich  zi^ 
sehen  sind. 

Mit  Rücksicht  auf  diese  Nadelstiche,  so  wie  auch  auf  die  Bei 
schaflenheit  des  Papiers,  kann  man  das  ganze  Mauuscript  in  foli 
gende  Theile  eintheilen: 

I.  Theil:  Bl.  1-5. 

T.  Bl.  1—5  haben  nie  zu  dem  Rest  des  Ms.  gehört,  wohl  aber  j 
zu  einem  anderen  Heft,  da  in  ihnen  alte  Nadelstiche  sichtbar  sind, 
in  der  Entfernung  14,  62,  122,  188  mm  vom  oberen  Rand.    Die  ; 
Lage  dieser  Nadelstiche  stimmt   weder  mit   denen,   die  durch  das 
ganze  Heft   von  Bl.  7—162  gehen,   noch    mit   den  andern,   die  in 
den  Blättern  7—63  sichtbar  sind,  und  durch  die  jetzt  kein  Faden 
geht,   iiberein.     Die  gleichen  Nadelstiche  sind  nicht  nur  in    Blatt  | 
1—4,   von   denen   1    mit  4  und  2  mit  3  noch  zusammenliängen, 
sondern  auch  in  dem  Bl.  5  sichtbar.    Von  dem  Bl.  5  ist  das  dazu- 
gehörige Blatt  wcggeri.ssen,  und  nicht  vorhanden. 

Die  Blätter  1—4  haben,  wie  durch  Nebeneinanderlegen  ganz 
sicher  zu  ersehen  ist,  einen  Bogen  gebildet,  von  einem  Papier,  in 
dem  ein  AVasserzeichen  sichtbar  ist,  das  einen  Krug  mit  über- 
schäumendem Trank  darstellt.  Legt  man  die  Blätter  so  neben  ein- 
ander, dass  Bl.  3  r"  links  oben,  Bl.  2  v°  links  unten,  Bl.  4  v°  rechts 
oben  und  Bl.  1  r"  rechts  unten  zu  liegen  kommen,  so  ist  der  Krug 
in  der  Mitte  der  linken  Hälfte  des  Bogens  zu  sehen,  mit  einem  Griff  an 
seiner  rechten  Seite.  Auf  dem  Kruge  bemerkt  man  zwei  Buchstaben, 
von  denen  der  erste  unleserlich,  der  zweite  aber  ein  N  oder  ein  H  be- 
deutet. Da  das  Papier  nicht  beschnitten  ist,  und  der  Rand  in  Folge 
dessen  eine  etwas  unregelmässige  wellenförmige  Linie  bildet,  so  sind 
die  Dimensionen  der  Blätter  nicht  ganz  übereinstimmend,  und  der  [I 
Bogen,  den  Bl.  1—4  gebildet  haben,  hatte  in  der  angeführten  Lage 


1 


Jordani  Bruni  Noiani  Opeia  inedita,  manu  propria  scripta.  529 


der  Blätter    unten   eine  Breite    vun   411mm,    oben    von  414  mm, 
sein  linker  Rand  betrug  300  mm,  der  rechte  304  mm.    Die  durch- 
schnittlichen   Dimensionen    jedes    Blattes    sind    also   152.206  mm, 
wobei  die  einzelnen  Blätter  etwas  kleiner  oder  grösser  sind.     Im 
Papier  sind  Linien  sichtbar:    die  Querlinien  dicht  beisammen,   die 
Längslinien  in   einiger  Entfernung  von  einander.      Die  Querlinien 
gehen  in  den  einzelnen  Blättern  von   oben   nach    unten,   und  sind 
auch  sichtbar  ohne  das  Papier  gegen  das  Licht  zu  halten,  sie  sind 
ly^mm  von   einander  entfernt,    da  ihrer  8  auf  10  mm  kommen. 
Die  Läugslinien  treten   erst  hervor,   wenn  man  das  Papier  gegen 
das   Licht    hält.     Es  sind    ihrer   im    ganzen    Bogen  20  vorhanden, 
und  also  auf  jedem  Blatte  10  zu  sehen.     Die  Entfernungen  dieser 
Linien  sind  nicht  ganz  gleichmässig,  und  weichen  an  verschiedenen 
i  Stellen  um  1 — 2  mm  vom  Mittel  ab.    Da  diese  Längslinien  in  den 
I  einzelnen  Blättern  von  links  nach  rechts  gehen,  so  Hess  sich  iiire 
!  Lage  durch  die  Entfernung  vom  oberen  Rand   bezeichnen;   sie   be- 
j  trägt,   im  Durchschnitt   aus   10  Messungen,    von  denen    an    jedem 
:  Blatte  zw^ei  ausgeführt  wurden: 

9,  20,  43,  63,  86,  107,  128,  151,  173,  195  mm. 

Solche  Messungeu  reichen  hin,   um  die  Identität  des  Papiers 

I  von  Bl.  5  mit  Bl.  1 — 4  festzustellen,   und  zugleich  auch,   um  mit 

I  Bestimmtheit  behaupten  zu  dürfen,   dass  sich  im  ganzen  übrigen 

Manuscript    kein  einziges  Blatt    von   dem    gleichen  Papier  findet. 

Bl.  1  recto  ist  sehr  vergilbt  und  schmutzig,  und  hat  offenbar  lange 

an    der  Luft    gelegen  —  aber    schon  das    verso  ist    weisser,    und 

j  ebenso  auch  die  Bl.  2 — 5.    Was  den  Inhalt  anbelangt,  so  ist  darin 

'  zuerst  ein  lateinischer  Text  bemerkbar,  von  dem  ein  grosser  Thcil 

durchstrichen   ist.     Auf  Blatt  1    recto    sind    zwischen    den   Zeilen 

i  mit   anderer   Tinte    aber  von    derselben    Hand    einige  italienische 

j  Verse  zu  lesen.    Auch  auf  Blatt  5  recto  kommen  italienische  Verse 

!  und  Prosa  vor.    Auf  Bl.  5  v"  sieht  man  6  Zeilen  eines  lateinischen 

j  Textes,  der  sehr  verblasst  und  unleserlich  ist,  und  der  dem  Aus- 

I  sehen    nach    denselben  Einflüssen    ausgesetzt    gewesen    sein    muss, 

wie'Bl.  1  r". 
}  Diese  Blätter  scheinen  Conceptblätter  gewesen   zu   sein,   und 

sind  von  Brunos  eigner  Hand  geschrieben,  wie  dies  von  Prof.  Sig- 


530 


W.  Liitoslawski, 


wart*),  der  mehrere  unzweifelhaft  echte  Autographe  Brunos  gesehen 
und  diese  mit  dem  von  Noroft'  publicirten  Facsimile  verglichen  hat, 
iür  unzweifelhaft  gehalten  wird.  Auf  Grund  einiger  Abbildungen 
von  unzweifelhaft  echten  Autographen  von  Giordauo  Bruno,  die  ich 
der  Güte  von  Prof.  Sigwart  verdanke,  glaube  ich  auch  entscheiden 
zu  können,  dass  diese  ersten  5  Blätter,  vielleicht  mit  Ausnahme 
von  Bl.  5  verso,  von  Giordano  Bruno  selbst  geschrieben  sind. 

Bl.  1  r°  beginnt  mit  dem  Titel  „De  vinculo  spiritus"^). 
Von  derselben  Hand  aber  mit  anderer,  weniger  verblasster  Tinte 
ist  neben  dem  Titel  später  hiuzugeschriebeu 

naturali  *) 

animali 

divino. 
Dicht  unter  dem  Titel,  aber  wahrscheinlich  auch  später  geschrie- 
ben und  in  Folge  dessen  weniger  verblasst  steht  der  Satz  „His 
absque  medicus  non  est,  divinator  non')  est,  Operator'")  uon^) 
est,  amator  non  est,  philosophus ")  non  est  etc."  und  „per'^)  haec 
sunt  omnes  '^)  omnia". 

Dann  beginnt  der  eigentliche  Text,  der  aus  einzelnen  nicht 
immer  zusammenhängenden  Sätzen  besteht,  und  dessen  erste  vier  , 
Zeilen  gestrichen  sind.  Sie  lauten  „Nihil  absolute  pulchrum'*)  | 
quod'^)  vinciat:  sed  adaliquid  pulchrum'^),  alioquin  asini  amarent 
pulchras  mulieres,  simiae  a^o^erent '*^)  filios.  Similiter  nihil  absolute 
bonum '■)  quod"^)  alliciat,  sed  cum '^)  deus^°)  seu  Universum^')  et 
ens  est  ex  contrariis^"'').  ita  etiam  bonum  est  ex  contrariis.  sunt 
enim"")  alia  quae  consistunt  igne  alia  quae  aqua  etc." 


")  Dem  Herrn  Prof.  Sigwart  verdanke  ich  eine  Abschrift  von  Kl.  1  recto, 
Bl.  4  recto  und  Bl.  5  recto,  die  er  nach  einem  Facsimile  und  einer  Photo- 
graphie angefertigt  hat,  und  die  mir  das  Lesen  der  sehr  undeutlichen  Hand- 
schrift ausserordentlich  erleichterte,  so  dass  ich  einen  grossen  Theil  der 
andern  Seiten  habe  entziffern  können. 

')  Ms.:  vinc"  spüs.  ^)  3Is. :  näli.  ^)  Ms.:  n.  "^)  ojiator. 

")  phüs.  '-)  j}.  '■■')  oes.  ")  g..  '=)  pulchrü. 

'^)  Dies  Wort  konnte  ich  nicht  sicher  lesen,  zwischen  dem  a  und  e  sind 
2 — 3  Buchstaben,  von  denen  zwei  zu  den  oben  hervorragenden  gehören  (b,  d, 
h,  k,  1,  t).  '')  bona.  'S)  a-  '■■>)  cfi.  ■-")  deö. 

*')  universü.  ^^  cöriis.  -')  .n. 


Jordani  Bruni  Nolani  Opera  iuedita,  manu  propria  scripta.         531 

Nach  diesen  vier  Zeilen  kommen  zunächst,  aber  später  ge- 
schrieben und  weniger  vcrblasst  zwei  Verse  „se  si  potesse  a  to 
chiuder  l'entrata,  tant  il  regno  d'amor  saria  piu  vagü",  die  den 
Lesern  Brunos  aus  seinem  Werk  „GH  eroici  furori"  bekannt  sind, 
(wo  sie  im  ersten  Dialog  im  6..  Sonuett  vorkommen).  Der  dritte 
dazu  gehörige  Vers  „quanf  il  moudo  senz'  odio  et  senza  morte" 
kommt  erst  nach  weiteren  7  Zeilen  Text,  von  dem  die  5  letzten 
durchstrichen  sind.  Die  nicht  durchstrichenen  Zeilen  lauten 
„Honestum  et  justum  civile  lege  videtur  esse,  et  nou  natura^*): 
sed  opinio  multum  valet  ad  habitum:  ut  quasi  naturale  ^^)  sitquod^'^) 
appetitur  et  vinciat  appetitum").  et  e  contra".  In  derselben  Weise 
geht  der  Text  in  den  ersten  4  Blättern  fort,  wobei  am  Rande  viel- 
mals die  Worte  „vinciens",  „vincibile",  „vinculum"  vorkommen. 
Als  weitere  Probe  mögen  einige  Sätze  aus  dem  Blatt  4 r"  dienen: 
(dies  Blatt  wurde  von  Prof.  Sigwart  nach  einer  Photographie  bei- 
nahe vollkommen  entziffert) 

„Is  vere  uni  vincitur,  qui  in  rebus  negotiisque  aliis  torpescit 
et  in  ipso  sollicitatur,  jocundior  enim  operatio  alteram  excludit, 
animus  auribus  intentus  remittit  oculos,  hinc  vehementius  gau- 
dentes,  tristitia  aestuantes,  uon  vivide  aliud  agimus,  imo  statim 
cessamus  ab  opere;  hoc  est  tencri,  vinciri,  abstrahi,  trahi." 

„Vinculorum  diversitas". 

„Voluptas  hominum  minus  est  determinata  ad  unum,  undc 
rationalis  dicitur,  quam  voluptas  brutorum  quae  naturalis  appellatur, 
hinc  equa  pariter  omnes  equos  vincire  potest,  mulier  uua  viros 
omnes  non  item:  ita  amatur^-)." 

„Relaxatiü  viuciili." 

„Pudor  et  fides  propugnator  vinculorum  optimus.  est  autem 
pudor  ignominiae  metus.  quae  bene  vinculis  obstat  et  vero  afficitur 
pudore  rubet.  Quae  vero  timure  vecordiaquc  se  proripit  a  vinculis 
pallet.  Haue  qui  vincire  cupit,  additis  animis  superabit.  non  illam. 
Primum  proprio  dicimus  verecundiam,  secundiim  vero  proprio 
pudorem  dixerim,  verecundia  enim  recti  honestique  rationern  habet, 


-*)  nä.  25)  nr^ig_  26-)  ^, 

^")  appetitü.  ^*)  ita  amf. 


532  W.  Lutoslawski, 


I 


pudor  autem  infamiae  timorem  prae   se  fert;   pallent  enim   et  qui 
tiraent  verbera  et  mortem." 

„Amor." 

„Amor  ut  in  araante  est  passive  dicitur  et  est  vinciilnm,  alio  :. 
modo  dicitur  active  id  quod  amare  facit:  et  est  quaedam  divina  ^^ß 
vis  in  rebus,  et  liic  est  ille  qui  vincit.  Et  Orplieo  atque  Mercurio  li 
est  ])aemon  magnus.  Antiquus  ante  mundum,  quo  chaos  orna-  » 
mentum  appetebat,  eratque  in  sinu  illius  quia  amor  in  generatione  j  j 
operatur  et  uova  facit  et  principiis  dominatur.  Senectutem  fugere  ; 
et  odisse  dicitur,  juvenibus  se  miscere,  duros  liabitus  aufugit,  mites  (, 
mollesque  inhabitat,  juvenis  et  tenellus  et  coelestis  habetur"  ...       ' 

„Hunc  vincientem  vel"  viuculum  lioc  nee  pulclirum  neque  bo-    , 
num  appellat  Socrates    quod   pulchrum    appetit  atque   bonum,  eo    i 
igitur  caret  ideoque  noluit  esse  Deorum  aliquem.    Item  inquit  ille 
amorem  medium  inter  bonum  et  malum,  turpe  et  pulchrum,  mor- 
tale et  immortale.     Secl  hie  rhetorice  et  aequivocc  sentit  de  appe- 
titu   et  medio.     Sumimus    amorem   vinculiim    secundura   rationem 
communem  active  passive,  quo  omnia  voluut  perfici  uuiri  copulari    i 
ordiuari  et  natura  agit  perfectionem  unionem  copulam  et  ordinem." 
„Et  sie  nihil  est  sine  amore  perfectum." 

In  der  gleichen  Weise  handelt  auch  Blatt  4  verso  von  Liebe 
und  von  der  Lust.  Es  schliesst  mit  dem  Satze  „plus  vincit  cautus 
adulator  quam  verus  amicus". 

131.  5  recto  beginnt  mit  dem  Vers  „Chi  mette  il  pie  su  Tamo- 
rosa  pania  etc.".  der  gleichfalls  den  „gli  eroici  furori"  entnommen 
ist,  und  sich  dort  im  Dialogo  secondo  am  Schluss  findet '").  Hier 
fehlt  aber  der  zweite  ihn  ergänzende  Vers  „cerchi  ritrarlo  e  non 
v'inveschi  l'ali".  L'nter  dem  ersteren  Verse  liest  man  einen  latei- 
nischen Satz  „Grates  Thebanus  dixit  remedium  amoris  fames,  si 
hoc  non  sufficit  tempus,  si  hoc  non  sufficit  laqueus".  Auf  diesen 
Satz  folgen  wieder  ein  italienischer  Satz,  und  einige  italienische 
A^'erse  ohne  Abschluss. 

Bl.  5  verso  sieht  man  einige  Zeilen,    die  ich  nicht  entziffern 


-'■')  Opere  di  Giordano  Bruno  Nolano   ora  per    la  prima  volta    racoolte  e 
pubblicate  da  Adolfo  Wagner  Dottore,  Lipsia  1830  vol.  II  p.  329. 


Jordani  Bnmi  Nolani  Opera  inedita,  manu  propria  scripta.  533 

konnte,  und  die  vielleicht  auch  nicht  von  Bruno  geschrieben  wur- 
den: die  Tinte  ist  sehr  verblasst,  und  die  Schrift  sehr  hastig  und 
undeutlich'"). 

II.  Theil:  Bl.  6. 

II.  Bl.  6  ist  ein  einzelnes  loses  Blatt,  sehr  vergilbt  und  mit 
zerfetztem  Rande,  von  einem  Papier,  das  nach  den  Quer-  und 
Längslinien  und  nach  einem  noch  sichtbaren  Theil  des  Fabrik- 
zeichens zu  urtheilen,  identisch  ist  mit  dem  Papier  der  Blätter  11 
bis  86.  (Dies  Papier  ist  auch  identisch  mit  dem  Papier,  auf  dem 
Brunos  Brief  an  den  Rector  der  Helmstädter  Universität  geschrieben 
sit,  wie  ich  auf  Grund  einer  genauen  Beschreibung  dieses  Papiers, 

i  die  ich  der  Güte  von  Prof.  Sigwart  verdanke,  entschieden  behaupten 
i  darf.    Dieser  Brief  belindct  sich  jetzt  in  der  Bibliothek  zu  Wolfen- 
',  biittel,   und  gehört  zu  den   unzweifelhaften  Autographen  Brunos.) 
I  Eine  Seite  des  Blattes  6   ist  ganz  unbeschrieben,   auf  der  anderen 
j  Seite    sieht   man    eine  Zeichnung   mit  11  Zeilen   eines   erläutern- 
den lateinischen  Textes,  beides  von  Brunos  Hand:  die  Zeichnung 
,  stellt  drei  in  einander  liegende  Quadrate  dar,  wobei  an  den  Seiten 
i  des  mittleren  die  Namen  der  vier  Elemente  „ignis",  „aer",  „aqua", 
„terra"  geschrieben  sind,  in  den  Ecken  des  grössten  aber  die  vier 
AVeltrichtungen    und    die    vier    Haupteigenschaften    der    Elemente 
stehen.     Diese  Zeichnung  gehört  zu    dem   Werk    von  Bruno   „De 
rerum  principiis   et  elementis  et  causis",    das  in  unserem 
Ms.  Bl.  39—54  vorliegt. 

III.  Theil:  Bl.  7-10. 

III.  Bl.  7—10  von  einem  Papier,  das  in  dem  ganzen  Manu- 
script  nicht  wieder  vorliommt,  und  das  an  seinem  Fabrikzeichen 
leicht  erkenntlich  ist.  Dies  Fabrikzeichen  stellt  ein  Wappen  dar, 
in  der  Mitte  mit  einem  Herz,  in  dem  zwei  Pfeile  und  eine  Kugel 
mit  oben  hervorragendem  Kreuz  zu  sehen  sind.  Das  Papier  ist 
dicker  als  das  des  vorhergehenden  Blattes,   aber  kleiner,    da  der 


^uI<| 


3»)  Proben  aus  den  Bl.  2—3  werde  ich  anführen  bei  der  Beschreil)ung  der 
Blätter  87—98. 


534  W.  Lutoslawski, 

Bogen  410  mm   Breite  und  321  mm  Länge  gemessen   hat.     Durcl 
Nebeneinanderlegen  der   Blätter  kann   man  sich   überzeugen,  dass^ 
diese  4  Blätter  einen  Bogen  gebildet  haben.     Die  Querlinien  sind 
etwas  näher  bei  einander  als  in  den  ersten  5  Blättern:    es  gehen 
ihrer  19  auf  20  mm.    Die  Längslinien,  die  in  den  einzelnen  Blättern  ■ju 
von    links    nach    rechts    gehen,    sind   14,  43,  73,  101,   129,   158,  Äi 
187  mm  vom  oberen  Rand  entfernt,  den  oberen  Rand  der  Blätter  ,| 
bildet  aber  die  Linie,   auf  der  der  Bogen   durchgeschnitten  wurde,  ij||p 
wie  überhaupt  in  allen  Blättern  von  7 — 160.     Die  andern  Ränder 
sind  uubesclinitten,  aber  weniger  unregelmässig  als   au  den  ersten 
5  Blättern. 

Bl.  7  r°  beginnt  ohne  Titel  „Antequam  de  Magia,  sicut  ante- 
quam  de  quocumque  subjecto  disseratur,  uomen  in  sua  significata 
est  dividendum."  Die  Handschrift  ist  von  der  Brunos  verschieden. 
Am  Rande  sind  Bemerkungen,  Ergänzungen  und  Inhaltsangaben 
von  derselben  Hand.  Der  ganze  Inhalt  dieser  Blätter,  so  wie  der  j 
folgenden,  bezieht  sich  auf  Magie,  ' 

IV.  Theil:  BL  11-27. 

IT.  BL  11—27   von  demselben  Papier,  wie  Bl.  6  und  BI.  28 

bis  86;  und    nur  dadurch    von   den    folgenden  Blättern  zu   unter- 
scheiden, dass  diese  einem  anderen  Heft  angehört  haben,  wie  aus 
den  Nadelstichen  zu  ersehen  ist.    Bl.  11 — 27  bilden  den  am  meisten 
zerfetzten  und  vergilbten  Theil    des   ganzen  Ms.    und   jedes  Blatt 
trägt    die  Spuren    von    Nadelstichen    an    zwölf   Stellen,    nämlich 
erstens  18.  45,  165,    195mm  vom    oberen  Rand,    wo    der  Faden 
auch    gegenwärtig    durchgeht,    und   die  den    durch   das  ganze  Ms. 
durchgehenden  entsprechen.    Ausserdem  sind  noch  alte  Nadelstiche 
sichtbar  10,  58,  88,  03,  119,  138,  143,  178  mm  vom  oberen  Rande 
der  Blätter  entfernt.     Die  meisten  von  diesen  lassen  sich  auch  in 
Bl.  7 — 10  nachweisen,    und  es  ist  ersichtlich,    dass  Bl.  7 — 27  ein 
Heft  ursprünglich  gebildet  haben.    Das  Papier  hat  ein  Fabrikzeichen,  |' 
das  in  jedem  Bogen  an  derselben  Stelle  angebracht  ist,  wie  in  dem  ■ 
Papier  der  Blätter  1  —  4,  und  das  ein  kleines  Schild  darstellt.    Die; 
Querlinien  sind  noch  näher  bei  einander  als  bei  den  Bl.  7 — 10,  es  : 
gehen  ihrer  21  auf  20  mm.     Die  Längsliuien  sind  11,  39,  70,  98,  ^ 


1«! 


ii 


Jordani  Bruni  Nolani  Opera  ineditaj  manu  propria  scripta.  535 

'.  126,  154,  182,  198  mm  vom  oberen  Rand  in  jedem  Blatte  entfernt, 
I  und  das  Papier  ist  nnbeschnitten,  von  dem  Format  828  mm  Lunge 

und  418  Breite,  also  noch  grösser  als  das  der  vorhergehenden 
!  Blätter,    aber    etwas    düuuer.      Jedes    Blatt    hat    durchschnittlich 

164  mm  Breite  und  209  Länge.     Es  ist  hier  überall,  wie  auch  auf 

Bl.  7 — 10,  ein  4—5  cm  breiter  Rand  gelassen,   der  auf  dem  recto 

rechts,  auf  dem  verso  links  gelegen  ist.    Was  den  Inhalt  anbelangt, 

so  bildet  er  eine  Fortsetzung  der  auf  Bl.  7  begonnenen  Abhandlung 

über  Magie,  wobei  keine  Unterbrechung  zu  bemerken  ist,  da  Bl.  10 

mit  den  Worten  schliesst 

„Porro  animus  ipse  cum  sua  virtute", 

und  Bl.  11  fortsetzt 

„praesens  est  quodammodo  universo.  utpote  talis  substantia,  quae 

non  est  inclusa  corpori  per  ipsam  ^dventi,  quamvis  eidem  obligata, 

adstricta" . 

Die  Handschrift  ist  dieselbe  wie  Bl.  7 — 10,    und  ist  von  der 

von  Bruno  leicht  zu  unterscheiden,  da  bei  Bruno  die  Tendenz  der 
j  Bewegung  von  links  nach  rechts  vorherrscht,  während  hier  der 
i  Schreiber  eine  grosse  Vorliebe  zu  allen  Strichen  von  rechts  nach 
'  links  zeigt,  und  dadurch  besonders  das  d,  v,  s,  g  anders  aussieht, 
j  als  dieselben  Buchstaben  in  Brunos  Handschrift. 
!  Bl.  14  r°  kommt  eine  Ueberschrift 

''  „De  Motu  rerum  duplici  et  attractlone", 

■   worunter  der  Text  beginnt 

„Duplex  est  rerum  motus,  naturalis  et  praeternaturalis:  naturalis 
;  qui  est  a  principio  intrinseco,  praeternaturalis  qui  a  principio  ex- 
i  trinseco:  item  naturalis  qui  est  conveniens  naturae,  consistentiae 
'  vel  generationi,  praeternaturalis  qui  non,  et  hie  est  duplex:  vio- 
i   lentus,  qui  est  contra  naturam.  et  ordinatus,  seu  coordinabilis,  qui 

non  repugnat  naturae." 

Der  Inhalt    bezieht   sich  offenbar  auch    auf  magische   Kräfte. 

Dasselbe  gilt  von  dem  folgenden  Capitel 

„Quo  modo  Magnes  trahat  ferrum,  corallium,  sanguinem 

etc.", 

das  auf  Bl.  15  recto  mit  den  Worten  beginnt 

„ex  istis  sequitur  ratio,   quam  (q^m,  sie)  magnes  secundum  genus 


^ 


536  W.  Lutoslawski, 

attrahit:  porro  attractio  est  duplex:  quaedam  ex  consensu,  ut  quando 
partes  moventur  ad  suum  totum,  locata  ad  siuim  locum,  similia  ra- 
piuntur  a  similibus  et  convenientia  a  convenicntibus:  alia  est  sine 
consensu,  ut  quando  contrarium  trahitur  a  contrario,  propter  victo- 
riam  illius,  quod  non  potest  effugere." 

Die    Abhandlung    über    die    magnetische    Anziehung    schliesst   j  - 
Bl.  17  recto  und  wird  durch  eine  kurze  Zusammenfassung  der  ver- 
schiedenen   Ursachen    der  Bewegung    im  Räume    ergänzt.     Bl.  17 
verso  schliesst  sich  daran  ein  weiteres  Capitel  an  betitelt 

„de  vinculis  Spirituum" 
das  mit  den  Worten  lieginnt 

„Supra  dictum  est  spiritus  alios  crassiorem,  alles  subtiliorem  in- 
colere  materiam:  alios  in  compositis,  alios  in  simplicioribus  cor- 
poribus  consistere,  alios  sensibilia,  alios  insensibilia,  unde  opera- 
tiones  animae  aliis  sunt  promptiores,  aliis  difficiliores,  aliis  hebe- 
tatae  aliis  aptatae,  aliis  ablatae;  alii  item  secundum  geuus  unum, 
alii  secundum  aliud  genus  potentius  operantur;  unde  hominibus 
datae  sunt  quaedam  operationes,  et  actus,  et  voluptates  quibus 
privantur  daemones". 

Diese  Worte  könnten  sich  auf  Bl.  13—14  beziehen,  wo  von 
den  Beziehungen  zwischen  Geist  und  Körper  die  Rede  war.  An- 
dererseits aber  scheinen  die  Bl.  17v— 21r  den  Text  zu  unter- 
brechen, und  enger  zu  der  Abhandlung  zu  gehören,  die  Bl.  70  ohne 
Titel  beginnt.  Jedenfalls  ist  der  allgemeine  Zusammenhang  mit 
dem  Vorangehenden  unverkennbar.  Es  wird  hier  der  Gedanke  ent- 
wickelt, dass  nicht  alle  Dämonen  den  Menschen,  und  nicht  alle 
Menschen  einzelnen  klugen  Thieren  überlegen  sind.  Es  wird  auch 
der  von  Bruno  in  vielen  seiner  AVerke  wiederholte  Satz  verthei- 
digt,  dass  alle  Körper  beseelt  sind,  was  vielleicht  Noroff  dazu  ver- 
anlasste, dies  Werk  Bruno  zuzuschreiben.  Bl.  18  verso  folgt  iu 
engem  Zusammenhange  mit  dem  A'orangehcnden  ein  Capitel 

„De  Analogia  spirituum", 
worin  von  „unterirdischen  Dämonen"   unter  Anderem  Bl.  19  recto 
gesagt  wird: 

„Esse  daemones  subterraneos  non  solum  sensus,  experientia, 
et  ratio,  sed  etiam   et  divina  quaedam  authoritas  confirmat  apud 


l 


Jordani  Bruni  Noiani  Opera  inedita,  manu  propria  scripta.  537 

sapientissimum  et  multae  philosophiae  ac  profuiidissimae  libruni 
Jobi."  Es  werden  den  Dämonen  verschiedene  Mächte  zugeschrieben, 
und  andererseits  wieder  zugegeben,  dass  viele  Dämonen  von  gewissen 
Menschen  beherrscht  werden  können.  Bl.  20  verso  wird  diese 
Auseinandersetzung  mit  den  Worten  geschlossen: 

„Jani  ad  multiplex  spirituum  vinculum  referendum  convertamur, 
ubi  omnis  Magiae  doctrinu  continebitur." 

Es  folgt    die  Aufzählung  von  20    viucula,    mit  Hinweisungen 
auf  §  3,  5,  11 — 29   eines  Werkes,  das  nicht  näher  angegeben  ist, 
das  sich  aber  in   unserem  Ms.  Bl.  70 — 86  findet.     Als  erstes  vin- 
culum wird  die    „triplex  facultas  quae  requiritur  in  vinciente  seu 
mago,    physica,    mathematica    et    metaphysica"    augegeben.      Das 
j  zweite  vinculum  ,.triplex  est,  quod  requiritur  tum  in  operante,  tum 
;  in    operato,    tum   in    eo  circa    quem    est  operatio    et  est    fide  seu 
'  credulitate    constans,    item    invocatione,    item    amore,    et    ardenti 
i  aftectu".     So  werden  die  weiteren  „vincula",  d.  h.  magische  Älittel 
i  angeführt,    und    Bl.  21   recto    schliesst    die    Aufzählung    mit    dem 
'  XIX.  vinculum    „annuli"    und    dem    XX.  „artificia  fascinatorum", 
wonach  der  Satz  kommt:  „praeter  haec  generalia  vincula  sunt  quae 
I  in  17  articulis   ex  Alberti  doctrina  colligiintur,   (|Uorum   quaedam 
j  sunt  relata,  quaedam  referenda  supersunt". 

Bl.  21    verso    ist   weiss,    auf  Bl.  22   recto    beginnt    ein    neues 
i  Capitel  mit  der  Aufschrift 
„De  vinculis    spirituum,    et   primum    de  eo    quod   est  ex 
triplici  ratione  agentis,  materiae,  et  applicationis." 
Dies   Capitel    enthält  die  Fortsetzung    dessen,    was  Bl.  7—17 
verso  abgehandelt  wurde,  und   kann   als   eine   andere  Fassung  der 
Capitel  „De  vinculis  Spirituum"  und   „De  Analogia  Spiri- 
tuum" die  von  Bl,  17 — 21  gehen,  angesehen  werden. 

Von  Noroff  wurde  dieser  Abschnitt  fälschlich  für  eine  beson- 
dere Abhandlung  gehalten.  Er  ist  von  derselben  Hand  auf  dem- 
selben Papier  wie  das  A^orhergehende  geschrieben,  und  es  fehlt  in 
ihm,  wie  in  dem  Vorhergehenden,  jede  Spur  irgend  einer  Bemer- 
kung oder  Ergänzung  von  Brunos  Hand. 

Der  Text  beginnt  Bl.  22  recto  mit  den  Worten: 

„Ad  hoc  ut   actiones    in   rebus    perliciantur    tria  requiruntur: 


538  ^^-  I-utoslawski, 

potentia  activa  in  agente,  potentia  passiva  in  subjccto  seu  patiente, 
seil  dispositio  qiiae  est  aptituclo  quaedam  vel  rioii  repugnaiitia,  seu 
impotentia  resistendi,  qiiae  omnia  ad  unum  tenninum  reducuntur, 
nempe,  potentiam  materiae,  et  debita  applioatio  quae  est  per  cir- 
cumstantias  temporis,  loci  et  reliquorum  concurreutium". 
Blatt  23  verso  kommt  ein  neues  Capitel 

„Secundum  vinculum  ex  voce  et  cantu", 
das  aufs  Neue    den  Zusammenhang   mit  dem  Vorangehenden   be- 
stätigt; jedoch   stimmen   die   Titel   des  IIL,   IV.  und   V.  vinculum 
nicht  mit  denen,  die  Bl.  20—21  angeführt  wurden. 

Bl.  24  verso  „Tertium  vinculorum  geuus  ex  visu" 
Bl.  25  recto  „Quartum  vinculum  est  ex  Phantasia" 
Bl.  26  verso  „De  vinculo  quinto  quod  est  ex  Cogitativa." 
Bl.  27  verso  schliesst  die  ganze  Abhandlung  mit  den  Worten 
„et  haec  de  vinculis  in  genere  dicta  sint"  worunter  ein  FINIS  von 
derselben  Hand  geschrieben  ist. 

Aus  dem  Inhalt  ist  ersichtlich,  dass  Bl.  7  —  27  ein  Ganzes 
bilden,  obgleich  die  ersten  vier  Blätter  aus  anderem  Papier  sind, 
als  die  folgenden.  Dies  Ganze  ist  ein  Theil  einer  Abhandlung  (p|i( 
über  die  Magischen  AVirkungen.  Der  Name  von  Giordano  Bruno  | 
kommt  hier  nirgend  vor,  und  da  die  Nadelstiche  beweisen,  dass 
die  Bl.  7  —  27  einem  ganz  anderen  Hefte  angehört  haben  als  die 
Bl.  1 — 6,  so  ist  kein  äusserer  Grund  vorhanden  anzunehmen,  dass 
wir  es  hier  mit  einem  Werke  von  Bruno  zu  thun  haben,  um  so 
weniger,  als  er  in  Venedig  vor  dem  Inquisitionsgerichte  ausdrück- 
lich sagt^'),  dass  er  nichts  über  Magie  geschrieben  habe,  und  nur 
einige  darauf  bezügliche  Werke  hat  abschreiben  lassen,  um  sie  zu 
benutzen.  Vielleicht  ist  das,  was  hier  vorliegt,  ein  Auszug  oder 
eine  Abschrift  aus  einem  dieser  Werke  ^^).  Die  Gegenstände,  die 
hier  behandelt  werden,  hängen  in  so  fern  zusammen,  als  sie  sich 
alle  auf  magische  Wirkungen  beziehen.  Dass  das  Heft  Bl.  7—27 
Bruno  angehört  haben  kann ,   dafür  haben   wir  mehrere  Hinweise. 


3')  Berti,  Documenti  p.  42. 

32)  Das  Capitel  De  vinculis  spirituum  Bl.  17  verso  —  Bi.  21  recto 
scheint  den  Text  zu  unterbrechen,  und  gehört  vielleicht  einem  anderen  Werke 
an  als  Bl.  7—17  und  22—27. 


Jordani  Bnini  Nolaui  Opera  iuedita,  manu  propria  scripta.  539 

I  Erstens  ist  das  Papier  der  Bl.  11 — 27  identisch  mit  dem  von  Bl.  6, 
i  worauf  sich  Worte  von  Brunos  Hand  geschrieben  finden;  ferner 
'  ist  der  Commentar  zu  diesem  Tractat  über  magische  Wirkungen, 
der  mit  Bl.  28  beginnt,  wahrscheinlich  von  Bruno  verfasst,  da  eine 
Stelle  aus  diesem  Commentar  in  unzweideutiger  AVeise  in  dem 
Werk  „de  vinculis  in  genere"  citirt  wird,  wie  dies  bei  der 
Betrachtung  dieses  Werkes  gezeigt  wird.  Schliesslich  ist  eine  in- 
teressante Uebereinstimmung  zu  erwähnen:  Bl.  20  recto  werden 
die  Verse  von  Vergil 

„Principio  coelum  et  terras,  camposque  liquentes 
Lucentemque  globum  lunae,  Titaniaque  astra 
Spiritus  intus  alit,  totamque  infusa  per  arctus 
I  Mens  agitat  molem" 

!  mit  dem  Spruch  der  Bibel  „Spiritus  Domini  replevit  orbem  terra- 
I  rum  et  hoc  quod  continet  omuia"  durchaus  in  derselben  Weise 
I  zusammengestellt,  wie  dies  Bruno  bei  dem  Verhör  in  Venedig") 
i  gethan  hat.  Eine  solche  Uebereinstimmung  ist  jedoch  nicht  hin- 
'  reichend,  um  ohne  weitere  Gründe  die  Abhandlung  über  magische 
1  Wirkungen  dem  Nolaner  zuzuschreiben. 


's^ 


T.  Theil:  Bl.  28  —  63. 

V.  Bl.  28  —  63,  von  demselben  Papier  und  derselben  Hand 
wie  Bl.  11  —  27,  aber  zu  einem  anderen  Hefte  ursprünglich  gehörig, 
da  hier  alte  Nadelstiche  zu  sehen  sind,  die  nicht  mit  denen  von 
Bl.  11 — 27  übereinstimmen,  und 

für  Bl.  28— 47:  11,  96,  152,  185  mm 
für  Bl.  48  — 55:  11,  96,  148,  190  mm 
für  Bl.  56  —  63:  11,  96,  146,  190  mm 
vom  oberen  Rande  jedes  Blattes  entfernt  sind. 

Was  den  Inhalt  anbelangt,  beginnt  Bl.  28  recto  ohne  Veber- 
schrift  und  Titel: 

„Magia  sumitur  multipliciter:  communissime,  commuuiter, 
proprie  et  propriissime : 


^')  Berti,  Documenti  p.  27,  vergl.    De  la   causa  principio    et  uno  Wagner 
I,  242. 


540  W.  Lutoslawski,  ; 

I     modo  pro  omni  geiiere  scientiae  et  sapientiae. 
II     pro  scientia  naturali  seu  rerum  naturalium  in  genere, 

III  pro  sapientia   qua  complectitur    triplex    genus    scientiarum 
realium,  cum  triplici  moralium  et  triplici  rationalium.  \ 

IV  pro  aggregato  habitu  ex  omnibus  Ins  ' 
vel  pluribus,    cum   facultate   mirabiliter  coguoscendi  vel  operandi,  j-^t 
et  hoc  dupliciter,    vel   per  se,  vel  per  aliud,  et  hoc  tripliciter,  vel    j 
per  superiora  vel   per   aequalia,    vel   per   inferiora,    et   hoc   juxta 
diversas  circumstantias,   notatas  et  inclusas  in  significatiouibus  10 
quibus  dicitur  magus."  ■ 

Diese    zehn    Bedeutungen    des    Wortes    „magus"    wurden    auf  i  j 
Bl.  7  aufgezählt.     Wir  haben   jedoch   hier  nicht  eine   Fortsetzung  j 
der  vorhergehenden  Abhandlung,  sondern  eine  andere  Behandlung 
desselben  Gegenstandes.     Der  Text  ist  in  Paragraphen  eiugetheilt,  i 
und  stimmt  an  vielen  Stellen  liberein  mit  dem  Text  der  Bl.  7 — 27. 
So  kommt  eine  Auseinandersetzung  über  die  Elemente,  die  Seele,  j 
die  Bewegung,  die  magnetische  Anziehung,  das  viuculum  ex  voce 
et  cantu,  ex  visu,  ex  phantasia,  ex  cogitativa,  wobei  auf  den  Text 
Bl.  7 — 28  zurückgewiesen  wird,  in  einer  AVeise,  die  darauf  schliessen 
lässt,   dass   wir  hier   einen  Commentar  der  Abhandlung  über  ma- 
gische  Wirkungen  haben,   die  Bl.  7 — 27    gegeben  war.     Man  lese 
z.  B.  folgende  zu  einander  gehörige  Stellen  beider  Texte: 


Bl.  8  recto,  Zeile  12  Bl.  28  recto,  Zeile  12 

„Magiam  esse  de  genere  „Magiam  esse  de  genere 
bonorum."  bonorum." 

„Magiam  triplicem  accipimus,  „Magia  est  triplex,  divina, 
divinam,  physicam  et  mathema-  physica  et  Mathamatica,  et 
ticam,  primi  et  secundi  generis  ita  dupliciter  consideratur  vel 
magia  est  necessario  de  genere  ex  parte  subjecti,  scientiae  seu 
bonorum  et  optimorum,  III  vero  coguitionis  et  ita  absolute  et 
generis  et  bona  est  et  mala  prout  simpliciter  est  bona,  vel  quatenus 
magi  eadem  bene  etmale  utuntur.     venit  in  usum  scientis,  et  ita  in- 

terdum    bona    est    interdum    est  • 
mala,    malam    autem    esse    uon 


ii; 


I 


Jordaiii  Bnmi  Nolani  Opera  ineiiita.  uianu  propria  scripta. 


541 


Bl.  8  recto,  Zeile  28 
„Ut  autem  ad  particularia  modo 
deveniamus.    haben  t     Magi     pro 


intelligimus  sub  ratione  scientiae 
proprie  dictae,  scientia  enim 
quateuus  scientia  semper  est 
bona  .  .  .  sed  sub  ratione  istius 
vel  illius  in  hoc  vel  illo." 
Bl.  28  verso,  Zeile  1 
„Principiuni  Magiae  est 
considerare       ordinem      in- 


axiomate,    in  omni    opere    ante     fluxus  seu  schalam    entium 
oculos  habendum,  influere  Deum     qua   Deum  in    deos,   deos  in 
in  Deos,  Deos   in   (corpora  coe-     astra,     astra    in    daemones, 
lestia  seu)  astra,  quae  sunt  cor-     daemones  in  elementa,   ele- 
porea  Numina,  astra  in  daemones,     menta  in  mista,  etc.  Distingue 
qui     sunt     cultores    et     incolae     de  influxu:    influxus  est  duplex, 
astrorum,  quorum  unumesttellus,     essentialis  et  accidentalis,  et  hie 
daemones  in  elementa,  elementa     intrinsecus  et  extrinsecus"  .... 
in  mista,  mista  in  sensus,  sensus 
in   animum,    animum    in    totum 
animal,     et    hie    est     descensus 
schalae,  mox  ascendit  animal  per 
animum  ad  sensus,  per  sensus  in 
mista,  per  mista  in  elementa,  per 
haec   in   daemones,    per    hos  in 
elementa,  per  haec  in  astra,  per 
ipsa    in    Deos     incorporeos    seu 
astereae  substantiae  .  .  . 

Die  zu  commentirenden  Worte  sind  auf  Bl.  28   mit  grösserer 
Schrift  aber  von  derselben  Hand  geschrieben.     Ebenso  ferner: 
Bl.  8  verso,  Zeile  19  Bl.  28  verso,  Zeile  17 

„luxta  tres  praedictos  magiae  „Iiixta  tres  praedictos 
gradus,  tres  mundi  intelliguntur,  magiae  gradus  tres  mundi 
archetypus,  physicus  et  rational is. "     intelliguntur  etc. 

Distinguendum  est  de  mundo 
secundum  signiticationem  com- 
munem,   propriam   et   propriissi- 

raam  .  .  .  ." 

37 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     II. 


542 


W.  Liitoslawslii, 


Bl.  11  recto,  Zeile  16  Bl.  30  verso,  Zeile  1 

„Ita    cum    Animiis    cujusque  „Immateriales    substantiae   ut 

uniiis  continuationem  habeat  cum  ubi   sunt   totae   sunt,    ita   etiam 

anima  universi,  non  sequitur  ea  in  unn  et  eodem  spacio,  eo  modo 

impossibilitas  quae  fertur  in  cor-  quo  esse  possunt,   totae  in  toto, 

poribus,    quae    non     se    mutuo  et  totae  in  qualibet  parte  illius, ..." 
penetrent.  ..." 

So  beziehen  sich  Bl.  28  recto  —  Bl.  32  recto  auf  die  Bl.  7—17. 
Das  Capitel  „De  vinculis  spirituum"  das  von  Bl.  17  verso — 
Bl.  21  recto  geht,  ist  in  diesem  Commentar  unberücksichtigt,  da- 
gegen wird  das  ebenso  betitelte  Capitel  „De  vinculis  spirituum" 
das  von  Bl.  22  recto  —  Bl.  27  verso  geht,  ausführlich  commentirt 
Bl.  32  recto  —  38  verso,  wie  dies  aus  folgenden  Beispielen  zu  er- 
sehen ist: 

Bl.  22  recto,  Zeile  1  Bl.  32  recto,  Zeile  19 

„Ad  hoc  ut  actione.s  in  rebus  „In  omni  actione  seu  ma- 
perficiantur  tria  requiruntur:  Po-  gica  seu  physica  seu  cujus- 
tentia  activa  in  agente,  potentia  cunque  generis  ilhi  sit  tria 
pas.siva  in  .subjeeto  seu  patiente  requiruntur:  potentia  activa, 
....  et  debita  applicatio  ...  ex  passiva.  et  debita  applicatio 
defectu  horum  trium  perpetuo  alterius  ad  alterum,  et  ex 
impeditur  omnis  actio"  .  .  .  defectu  omnium  istorum  ac- 

cidit  impedimentum  secun- 
dum  totum  vel  secundum 
partem  simpliciter,  vel  se- 
cundum quod  in  omnibus 
productionibus^^). 

Distinguendum  est  hoc  de  po- 
tentia et  de  actione,  quia  alia 
est  immanens,  alia  transiens,  et 
item  est  distinguendum  de  defectu 
omnium,  consideratio  vel  sim- 
pliciter, vel  secundum  quid,  .  . ." 

3-«)  Das  gespeirte  ist  iui  Original  mit  grösserer  Schrift  geschrieben,  aber 
von  derselben   Hand. 


I 


Jordani  Bruni  Nnlaiii  Opera  inedita,  mann  propria  scripta. 


54B 


Bl.  23  verso,  Zeile  1 
„33.     Secundum     vincukim     ex 
voce  et  cantii. 

II  vinculi  ratio  est  a  confor- 
mitate  numeronim  ad  numeros, 
mensurae  ad  mensuram,  momenti 
ad  momeiitum.  unde  illi  rythmi 
atque  cantus  qui  maximam  habere 
efficatiam  perhibentur". 


Bl.  34  recto,  Zeile  1 

„33.  Multiplex  est  vinculorum 
genus.  quo  spiritus  atque  Cor- 
pora physice  alligantur,  quorum 
primum  genus  non  ex  natura  rei 
sed  ex  positione  constituimus  ex 
voce  et  cantu:  cantum  vero  non 
soluni  harmonicum  anteferimus, 
seu  mathematicum,  sed  etiam 
occultum  quendam  qui  nihil  ad 
tibiam  vel  ad  lyram,  qui  non  ex 
consensu  quodam  animae  opera- 
tur  sed  interdum  ex  occulta  qua- 
dam  violentia." 

„Patet  ex  his  quae  habeutur  in 
33  articulo.'' 


Man  sieht  aus  diesem  Beispiel,  dass  die  einander  entsprechen- 
den Stellen  des  Textes  und  des  Comnientars  dieselbe  Paragraphen- 
zahl am  Rande  haben.  Dies  ist  aber  nicht  bei  allen  der  Fall,  da 
diese  Randzahlen  nur  im  Commentar  Bl.  28  —  38  ununterbrochen 
fortlaufen  von  1—57.  Im  Text  Bl.  7  — 27  kommen  die  Zahlen 
nicht  überall  vor,  und  folgen  nicht  auf  einander,  da  z.  B.  auf  14 
(Bl.  11)  18  (Bl.  13)  22  (Bl.  15)  folgen. 

Bl.  24  verso,  Zeile  1  Bl.  34  verso,  Zeile  22 

„41  Tertium  vinculorum  ge-  „41  Visum  etiam  vincire  seu  per 

nus  ex  visu.  visum  spiritum  obligari,  inculcari 

Per  visum  etiam  vincitur  spi-  altercari  et  consequenter  corporis 

ritus  ut  passim  quoque  superius  et  compositi  totius  immutationes 

est  attactum,  dum  formae  aliter  notabiles    ingenerari    non    dubi- 

atque  aliter    ante   oculos    obver-  tamus,    neque   sapiens   quispiam 

santur,  hinc  fascinationes  activae  dubitare    debet.      Probatur    per 

et    passivae    ab    oculis    proficis-  exempla  articulo  41  allata." 
cuntur     et     per     oculos     ingre- 
diuntur.^' 

37* 


^°)  Dass  dieser  Commeutar  nicht  von  demselben  Verfasser  ist,  wie  das 
Werk,  auf  das  er  sich  bezieht,  sieht  man  aus  manchen  Wendungen,  die  den 
Unterschied  der  Meinungen  hervorheben.  Bl.  33  recto  sagt  der  Commentator 
in  Bezug  auf  eine  Behauptung  des  Textes:  .iilud  si  praestabit  argumentator, 
uos  libenter  docebimur  ab  ipso". 

■">)  D.h.  in  dem  schon  1584  herausgegebenen  Werke  von  Bruno  „De 
rinfinito,  universo  e  mondi*. 


544  ^^'-  T,  u  1 0  s  I  a  w  .s  k  i .  ^  A 

In  derselben  Weise  wird  auch  das  quartum  viiiculuni  ex  plian-  . 
tasia  und  das  quintum  ex  cogitativa  Bl.  35 — 38  erläutert:  dabei 
finden  sich  jedoch  im  Commentar  RrlJiuterunö-en.  die  sich  auf  solche 
Stellen  des  Textes  beziehen,  die  Bl.  7 — 27  nicht  vorhanden  sind, 
Avoraus  zu  schliessen  ist,  dass  uns  in  Bl.  7 — 27  eine  unvollständige 
und  gekürzte  Abschrift  oder  ein  Auszug  aus  einem  grös.sereii 
Werke  iilier  die  magischen  Wirkungen  vorliegt,  zu  dem  der  Com- 
mentar auf  Bl.  28  —  38  verfasst  wurde  ^^).  Ob  dieser  Commentar 
ganz  oder  theilweise  Bruno  zuzuschreiben  ist.  darüber  ist  .schwer 
zu  entscheiden,  da  Brunos  Name  nirgends  vorkommt,  untl  auch 
keine  Bemerkungen  oder  Ergänzungen  von  Brunos  Hand  zu  sehen 
sind.  Aber  wahrscheinlich  ist  wenigstens  der  Schluss  auf  Bruno 
zurückzuführen,  da  darin  alle  vincula  auf  ein  einziges  „amor" 
zurückgeführt  werden,  und  diese  Stelle  in  dei'  Abhandlung  „de 
vinculis  in  genere"  aufgeführt  wird.  Ferner  haben  Bl.  28  —  38 
allem  Anschein  nach  ein  Heft  mit  den  folgenden  gebildet,  die  eine 
wahrscheinlich  von   Bruno  verfas.ste  Abhandlung  enthalten. 

„De  reruiii  principiis  et  elemeiitis  et  causis." 

Die.se  Abhandlung  beginnt  Bl.  39  recto.  Rechts  vom  Titel  am 
Rande  liest  man  das  Datum:  A"  1590  16  Martii  i) ,  das.  wie 
es  scheint,  von  derselben  Hand  des  Schreibers,  den  wir  mit  A. 
bezeichnen  wollen,  geschrieben  ist.  wie  der  Text,  u:iil  wie  die 
Bl.  7  —  38.  Der  Text  beginnt  mit  den  Worten:  „Rerum  causae 
efficientes  et  moventes  sunt  intellectus  et  anima,  supra  quibus  est 
principium  unum  absolutum,  mens,  seu  veritas  .  .  ." 

Weiter  im  Text,  Bl.  39  recto,  liest  man  „Sub  istis  est  unum 

spatium   iniiuitum,    intinitae   substantiae    capax et   hoc 

pluribus  rationibus  ostendimus  in  dialogis  de  infinito  et  uni- 
verso et  mundis."  ^'^). 


Jordani  Bruni  Nolaiii  Opera  iuedita.  manu  propria  scripta. 


545 


Rl.  39  verso  schliesst  die  Eiiileitimg  mit  deu  Worten:  „Hac 
staute  renim  primoidialium  distinctione  ad  complementum  pro- 
fundioris  iiiijus  philosophiae,  quatenus  ad  naturalem  contempla- 
tionem  et  uperationem  spectat  praetermittimus  Metaphysicam  con- 
siderationem  de  mente  et  intellectu,  ad  peculiarem  aliam  tiacta- 
tionem  difterimus  contemplatiouem  de  spiritu  et  auima,  nunc 
tantum  universalia  aggregemus  I  circa  lucem  communiter  et  ignem, 
generalem  loquendi  niüdum  usurpantes,  II  circa  spiritum  seu  ven- 
tum  seu  aerem  ....  III  circa  aquam  seu  vaporem,  seu  teuebras, 
ultimo  circa  terram  seu  aridum." 

Dann  kommt  Bl.  40  recto  ein  Capitel  „De  Liice  et  igne'', 
Bl.  42  verso  ..De  aere  seu  spiritu",  Bl.  44  recto  „De  aqua", 
BI.  45  recto  „de  Terra".  In  diesen  vier  Capiteln  werden  die 
Eigenschaften  der  vier  Elemente  behandelt,  und  man  bemerkt 
ebensowenig  wie  in  den  vorangegangenen  Blättern  irgend  welche 
Bemerkungen  oder  Ergän/Aiugen  von  Brunos  Hand.  Bl.  46  kommt 
ein  weiteres  Capitel  „De  Tempore"  und  neben  dem  Titel  be- 
gegnen wir  zuerst  einigen  Worten  von  einer  andern  Hand,  die 
wohl  die  von  Bruno  sein  könnte:  „P"  de  dominio  elementorum." 
Eine  sichere  Entscheidung  ist  schwer.  Der  Text  beginnt  mit  den 
Worten  „Ad  complementum  istius  pertractationis  maximum  et 
praecipuum  negotium  et  ut  videtur  totius  rei  forma  est,  temporis 
habere  rationem,  .  .  ."  und  bildet  offenbar  eine  Fortsetzung  des 
Tractats  „De  rerum  principiis  et  elementis  et  causis". 
Dasselbe  gilt  vom  folgenden  Capitel,  das  Bl.  47  recto  beginnt  unter 
dem  Titel  „De  Tempore  et  dominio  Planetarum  7  seu  7 
principinn".  Unten  unter  dem  Text  liest  man  eine  Bemerkung 
von  einer  fremden  Hand  „post  impetum  cogita  an  uncus  hie  sit 
Nolani",  welche  uns  bezeugt,  dass  schon  ein  früherer  Leser  an  der 
Echtheit  dieser  Handschrift  zweifelte.  Bl.  48  recto  wird  die  Schrift 
von  Bruno  „de  iimbris  idearum" ")  angeführt,  was  wieder  dafür 
spricht,    dass   wir  hier  es   mit  einem   Werke   von  Bruno  zu  thun 


■")  De  uinbris  i(le;irum  iiiiplicantibus  altera  qiiaerendi,  inveniendi,  judi- 
candi,  ordinaudi  et  applicandi  ad  inteinam  scripturara  et  iion  viilgai-es  per 
memoriam  nperatioaes  explicatis.     Paris.     1582. 


546  ^^  •  Lutoslawäki, 


? 


I 


haben.    Bl.  48  verso  beginnt  ein  weiteres  Capitel  „  De  inveniendo 
arcu  diei  et  noctis". 

Bl.  49  verso    schliesst    mit    den    Worten:    „  .  .  .  universalem 
rationem  rerum  debemus  indicare,  ex  qua  quilibet  vel  mediocris  in- 
genii  per  seipsum  fragmenta  veritatis,  quae  sunt  sparsa,  in  medio 
tot  vanitatum^^),  quibus  referti  sunt  libri  astrologici  et  judiciarii, 
perfacile  possit  colligere,  experiri,  eorrigere   et  complementum   in-     v 
venire,  cujus  rei  viam  demonstramus   eam  quam   novimus   per  in- 
telligeutiae  superioris  solis  favorem,  de  particularibus  periculum  et 
experientiam    facere   hactenus    non  est    concessuni    nobis,    propter    a 
magis  urgentes  occupationes  et  plurima    impedimenta  quibus  obli-    ^ 
gamur.    Haec  sunt  quae  plus  quam  ad  medietatem  facere  quilibet    -^ 
per    se  potest  videre,    crebra   et  jugi  experientia  hoc  huc  ambu- 
lantibus  facile  sine  aliorum  librorum  studio  et  rerum  particularium 
ratio  se  illis  insinuabit." 

Dies  stimmt  iiberein  damit,  was  Bruno  vor  der  Inquisition  in 
Venedig  sagte  „Quanto  alli  libri  di  conjurationi,  et  altri  simili  io 
sempre  li  hu  disprezzati,  e  mai  li  ho  havuti  appresso  di  me,  ne  li 
ho  attribuito  efticacia  alcuna,  quanto  poi  alla  divinatione  parti-  fls 
cularmente  quella  che  e  dalla  astrologia  giuditiaria  ho  detto,  et  fti 
havuto  ancora  proposito  di  studiarla  per  vedere  se  haveva  veritä, 
0  conformita  alcuna,  et  questo  mio  proponimento  l'ho  communicato 
a  diversi  dicendo  liaver  atteso  a  tutte  quante  le  parti  della  lilo- 
sofia,  et  d'esser  stato  curioso  in  tutte  le  scientie  eccetto  che  nella 
giuditiaria,  et  che  havendo  commodita  et  otio,  volevo  attendere  a 
quella  trovando  loco  sulitario,  et  quieto,  il  che  non  ho  l'attu  ancora 
et  giamai  proposto  di  l'are  se  nuu  a  questi  tempi  incirca"  '^). 

Wenn   man    dies  Zeugniss  mit    dem  oben    citirten  Text    und 
noch   mit  folgendem  Bekenntuiss   von   Bruno   zusammenstellt:    „io 
ho  fatto  trascrivere  a  Padoa  un  libro  de  sigillis  Hermetis,  et  Pto- 
lemei,  et  altri,  nel  quäle  non  so  se  oltra  la  divinatione  naturale  l« 
vi  sia  alcun  cosa  dannata,   et  io  l'ho   fatto   trascrivere  per  servir-  ^s 
mene  nella  giuditiaria,  ma  ancor  non  Tho   letto,   et   ho   procurato 


^^)  Im  Original   uiclit  unterstrichen.  ■! 

•'^)  Berti,  Documenti  p.  43.  fli 


Jürdani  Bruni  Xolaui  Opera  inedita,  mami  propria  scripta.  547 

d'haverlo  ...  et  l'ho  fatto  trascriver  a  Padoa  come  ho  detto  di 
sopra,  et  hora  si  trova  in  mano  del  Claris.  Mocenigo*")",  so  wird 
man  wohl  nicht  annehmen  können,  dass  die  Abhaudluns  über 
Magie  Bl.  7 — 27  dem  Bruno  zuzusehreiben  sei,  sondern  sie  wird 
wahrscheinlich  eine  von  denen  sein,  die  Besler  für  Bruno  abge- 
schrieben hat,  und  die  dieser  noch  nicht  Zeit  gehabt  hat  durchzu- 
lesen, woraus  sich  auch  erklärt,  dass  darin  gar  keine  Bemer- 
kungen oder  Verbesserungen  von  Brunos  Hand  zu  finden  sind. 
Einer  Mittheilung  von  Prof.  Sigvvart  verdanke  ich  die  Bestätigung 
dieser  Voraussetzung,  da  Hieronymus  Besler  Noribergensis 
am  19.  November  1589  im  Album  der  Universität  Helmstadt  im- 
matricnlirt  worden  ist,  und  also  im  J.  1590  in  Helmstadt  dem 
Bruno  als  Schreiber  dienen  konnte,  ebenso  wie  er  nach  dem  Zeug- 
niss  von  Bruno  im  J.  1591  ihm  in  Padua  als  Schreiber  gedient  hat. 

Obgleich  Bl.  49  einen  gewissen  Abschluss  zu  enthalten  scheint, 
folgen  noch  einige  Capitel,  die  mit  dem  Vorangehenden  zusammen- 
hängen: 

Bl.  50  recto  „De  virtute  et  vitiis  signorum  etplanetarum 
singulorum,  nempe  luce  et  tenebris  quibus  singuli  do- 
min an  tu  r. 

Bl.  51  De  virtute  loci. 

Bl.  52  verso  „De  virtute  nominum". 

Bl.  53  verso  „De  virtute  gestus". 

Bl.  54  recto  „De  numero  et  meusura"'. 

In  diesen  Abschnitten,  die  jedenfalls  ein  Ganzes  mit  dem  Vor- 
angehenden immer  gebildet  haben,  werden  also  einige  Einzelheiten 
in  der  auf  Bl.  49  projectirten  Weise  behandelt.  Es  ist  kein  Grund 
anzunehmen,  wie  dies  Noroff  thut,  das  mit  Bl.  50  ein  neuer  Trac- 
tat  beginnt. 

Das  ganze  Werk  De  rerum  principiis  et  elementis  et  causis 
schliesst  auf  Bl.  54  verso  mit  den  Worten  „Et  haec  sunt  praecipu:i 
capita  circa  quae  oportet  meditari,  aggregare  universalia,  exercere 


■'")  Berti,  Documenti  p.  47.  Vergl.  p.  24  „io  Tho  fatto  trascrivere  da  uu' 
altro  libro  scritto  a  mano,  che  era  appresso  de  un  inio  scolaro  Alcmano  de 
Noriraberga,  che  si  chiama  Hieroiümo  Bi.slero  et  che  stava  poco  fa  in  Padoa, 
ni'ha  servito  per  scrittor  for.si  dui  inesi".    (Sein  eigentlicher  Name  ist  Besler.) 


548  ^^  ■  I-'  u  t  ci  s  1  a  w  s  k  i , 

actum  contemplationis  et  applicare  praxes  eum  qui  plene  rnagiam 
vult  in  pristinum  et  nobilissimum  statum  iüstaurare,  et  de  his 
satis."  Daraus  sieht  man,  dass  die  aufgezählten  Capitel  von  Bl.  39 
bis  Bl.  54  zu  einem  Ganzen  gehören,  vielleicht  auch  mit  dem  In- 
halt der  Bl.  7 — 38  einem  Werk  über  Magie  zum  Theil  ent- 
nommen sind. 

Von  anderem  Inhalt  ist  der  folgende  Abschnitt,  der  Bl.  55 
recto  mit  der  Teberschrift  beginnt: 
„Medicina  Lulliana  partim  ex  mathematicis,  partim  ex 
physicis  priucipiis  educta.  fideliter  collecta  per  nos, 
nihilo    praeter    et    extra    iutentionem    adducto,    addito, 

neque  diminuto". 

Wir  haben  hier  einen  Auszug  aus  einem  Werk^')  von  Lullus, 
das  nicht  näher  angegeben  ist.  Zuerst  kommen  IX  Capitel,  die  zum 
Theil  in  Paragraphen  eingetheilt  sind,  und  bis  Bl.  62  recto  reichen. 
Das  IX.  Capitel  schliesst  Bl.  62  recto  mit  den  Worten  „Quod  vero 
ad  complementum  artis  attiuet,  sufficiet  potentis  nostrae  Lullianae 
institutos  colligere,  proprietates  et  virtutes  domorum  aspectuum, 
planetarum,  signorum,  imaginum  mansionum  luuae  et  diversorum 
synodorum  quibus  solent  concurrere  simul  variae  virtutes,  quae 
omnia  nos  aptissime  et  luculenter  si  tempus  dabitur  adducemus 
sub  specie  imaginum  minori  quam  centenario  numero  contentarum, 
iuxta  canones  in  30  sigillis  explicatos." 

Aus  dieser  Beziehung  auf  das  W^erk  Brunos  „Recens  et  com- 
pleta  ars  reminiscendi",  worin  die  „triginta  sigillorum  explicatio" 
gegeben  wurde,  folgt,  dass  der  vorliegende  Auszug  entweder  von 
Bruno  selbst  oder  von  einem  seiner  Schüler  ausgeführt  worden  ist. 
Bl.  62  verso  beginnt  wieder  ein  Capitel  „De  febribus",  das  bis 
Bl.  66  recto  geht. 

Tl.  Theil:  Bl.  64—86. 
YI.  Theil  Bl.  64—86,   von   demselben  Papier  und  von   der- 
selben Hand  wie  Bl.  11—63,  aber  von    dem  IV.  und  V.  Theil  da- 


■*')  I)er  grösste  Theil  des  Auszugs  ist  l)eiuahe  wörtlich  genommen  aus 
dem  ,Liber  priucipiorum  meclicinae  Divi  Raymoncii  Lulli  Hoctoris  illuminati"', 
p.  31  —  39.  Dies  Werk  tindet  man  im  „Beati  Raymundi  Lulli  Doctoiis  illurai- 
nati  et  martyris  operum  tomus  primus  Moguutiae  MDCCXXI'. 


Jordani  Bmni  Nolani  Opera  inedita.  mami  propria  •^oripta. 


549 


durch  zu  unterscheiden,  das  hier  nicht  mehr  frühere  Nadelstiche 
zu  sehen  sind.  Daraus  darf  mau  nicht  schliessen,  dass  nicht 
wenigstens  die  ersten  Blätter  zu  dem  Heft,  das  mit  Bl.  28  beginnt, 
gehört  haben,  da  wir  hier  bis  zum  Bl.  69  eine  Fortsetzung  des 
vorhergehenden  Textes  haben,  ohne  dass  irgend  eine  Lücke  be- 
merkbar wäre.  Bl.  63  verso  schliesst  mit  den  Worten  „nam  si 
gradus  IV»"  qui  agit  per  appetitum"  und  Bl.  64  recto  setzt  fort 
„agit  per  appetitum  corrumpitur  et  tollitur  a  febre ,  alii  gradus 
subordinati  ipsi  IV"  et  ad  unum  finem  teudentes  non  consistent". 
Bl.  66  recto  schliesst  das  Capitel  „de  febribus""  und  beginnt  ein 
anderes  „de  urinis"  Bl.  69  recto:  „de  pulsibus".  Der  Text 
bricht  Bl.  69  verso  plötzlich  ab.  wodurch  die  Ansicht,  dass  Bl.  64 
bis  69  zu  demselben  Hefte  wie  die  Bl.  28 — 63  gehört  haben,  aber 
nicht  dazu  geheftet  waren,  sondern  frei  darin  lagen,  eine  Bestätigung 
findet;  nach  dem  Bl.  69  kommen  noch  zwei  unbeschriebene  und 
von  der  Moskauer  Bibliothekverwaltung  nicht  numerirte  Blätter, 
die  den  Schluss  des  Heftes  bilden,  das  mit  Bl.  28  beginnt.  Dies 
Heft  hat  also  enthalten:  1.  einen  Commentar  zu  dem  Werk  über 
magische  Wirkungen,  von  dem  wir  einen  Theil  in  Bl.  7  —  27 
haben.  —  2.  ein  Werk  von  Bruno  „de  rerum  principiis  et  elemen- 
tis  es  causis",  3.  einen  Auszug  aus  den  auf  Medicin  bezüglichen 
Theilen  von  nicht  näher  angegebenen  Werken  von  Raymundus  Lullus, 
oder  seinen  Schülern. 

Nach  den  zwei  unbeschriebenen  Blättern  kommt  das  Bl.  70, 
womit  wahrscheinlich  ein  neues  Heft  begonnen  haben  wird. 

Bl.  70  recto  beginnt  ohne  Titel  mit  den  Worten: 

„Infliiit  Deus  in  angelos,  angeli  in  corpora  coelestia,  coelestia 
in  elementa,  elementa  inmixta;  mixta  in  sensus,  sensus  in  animum, 
animus  in  animal.  Ascendit  animal:  ascendit  auiraal  per  animum 
ad  sensus  per  sensus  in  mixta,  per  mixta  in  elementa,  per  elementa 
in  coelos,  per  hos  in  daemones  seu  augelos,  per  istos  in  Deum  seu 
in  divinas  operationes." 

Dieser  erste  Paragraph  stimmt  dem  Sinne  nach  mit  der  ent- 
sprechenden oben  citirten  Stelle  des  Blattes  8  durchaus  überein. 
So  findet  man  auch  im  weiteren  Text  Anklänge  an  Bl.  7 — 27  — 
dabei  aber  macht  das  Ganze  den  Eindruck ,    als  ob  es  nicht   von 


550  ^^  •  Lutoslawski, 


I 


demselben  Verfasser  wäre,  wie  der  Text  der  Blätter  7 — 27.  Xur 
das  Capitel  „De  vinculis  spirituum"  Bl.  17 — 21  scheint  in  engem 
Zusammenhange  mit  dem  vorliegenden  Text  zu  stehen,  und  ge- 
wissermaassen  die  Einleitung  dazu  zu  bilden.  Bl.  7  — 17  und 
Bl.  22 — 27  sind  in  einem  viel  weitläufigeren  Stil  geschrieben,  als 
die  von  Bl.  70  an  beginnende  kurze  Zusammenfassung  der  Magie. 
Diese  Zusammenfassung  ist  eingetheilt  in  XXIX  Paragraphen,  die 
durchaus  genau  den  Paragraphenzahleu  entsprechen,  die  Bl.  20 — 21 
bei  der  Aufzählung  der  XX  vincula  citirt  waren.  Es  werden  hier 
also  die  dort  aufgezählten  vincula  genauer  erörtert.  Dabei  trägt 
der  XXV.  Paragraph  noch  den  besonderen  Titel  Secuudus  Trac- 
tatus  (Bl.  80  recto)  und  die  Paragraphen  XXVI  — XXIX  werden 
unter  dem  Titel  Tertius  tractatus  zusammengefasst.  Dieser 
Tertius  tractatus  behandelt  unter  Anderem  auch  einige  Gegenstände, 
die  gleichfalls  in  dem  Werk  „De  rerum  principiis  et  elementis  et 
causis"  behandelt  waren,  aber  beim  Vergleich  ergiebt  sich,  dass 
man  beide  Texte  wohl  kaum  demselben  Verfasser  zuschreiben 
könnte.  Dagegen  kann  die  Identität  der  Handschrift  keinem  Zwei- 
fel unterliegen.  Meistentheils  gleicht  der  Text  einer  sorgfältigem 
Abschrift;  an  mehreren  Stellen  findet  man  einige  Worte  oder 
Citate  von  einer  anderen  Hand,  die  aber  nicht  Bruno  zugeschrieben  ij 
werden  können,  sondern  eher  diesem  späteren  Leser,  der  auf 
Bl.  47  einen  Schriftzug  von  Bruno  erkennen  zu  können  meinte, 
und  eine  hierauf  bezügliche  Frage  aufschrieb. 

Bl.  84  verso  folgt  mit  der  Ueberschrift  „Alberti  generalis 
doctrina"  ein  Capitel,  auf  welches  schon  M.  21  hingewiesen  wurde, 
und  das,  in  Uebereinstimmung  mit  diesem  Hinweis,  in  17  articuU 
eingetheilt  ist.  Der  magische  Tractat  schliesst  Bl.  86  verso  mit 
den  AVorten: 

„Haec  sunt  quae  universam  magiae  rationem  cuntinent,  quae 
homini  prudenti  atque  sensato  sola  sufficiunt,  nee  placuit  attulisse 
exempla  et  caetera  particularia,  in  quibus  alii  occiipantur,  quan- 
doquidem  illa  non  habenti  harum  rerum  rationem  nihil  deservire 
possunt,  et  frustra  tentantur.  Porro  haec  ipsa  intelligenti  et  in  |i 
eorum  consideratione  profundanti,  non  solum  talia  et  eadem,  sed 
et  similia  et  maiora  et  maxima  sunt  pervia;  si  quis  quidem  existi- 


Jordani  Bruni  Noiani  Opera  inedita,  manu  propria  scripta.  551 

met,  nos  completam  artem  non  attulisse,  et  omnia  quae  ex  aliorum 
studiis  ad  complementum  scientiae  solum  super vacaiieis  praeter- 
missis  non  aggregasse,  sciat  illud  esse  defectum  siii  judicii,  et  men- 
tis  imbecillitatera,  quae  ad  haec  et  alia  percipienda  minus  a  coelo 
facta  est  idonea.  Quod  si  qui  libros  maiores  inscripsisse  videntur, 
ipsuni  est  quia  extranea  et  ad  rem  minus  facientia  plurimum  mi- 
scuere  fortasse  ut  artem  minus  perviam  facerent,  quod  nos  fecisse 
potuimus." 


» 


FINIS.« 


TU.  Theil:  Bl.  87—98. 

VII.  Theil  Bl.  87 — 98  hat  allem  Anschein  nach  ein  beson- 
deres Heft  gebildet,  und  trägt  die  Spuren  früherer  Nadelstiche,  die 
nicht  mit  denen  der  anderen  Theile  des  Ms.  übereinstimmen.  Die 
Entfernung  dieser  Nadelstiche  vom  oberen  Rand  beträgt 

9,  18,  46,   99,  147,   162,  183,  200  "mm 
wobei  durch  die  unterstrichenen  Stellen   noch   der  Faden  in   einer 
Weise  geht,  welche  die  ursprüngliche  Unabhängigkeit  dieses  Heftes 
von  dem  Rest  beweist. 

Das  Papier  ist  anders  als  in  den  Bl.  1 — 86.  Es  hat  das  For- 
mat von  308  .  420  mm,  und  die  Querlinien  sind  sehr  dicht  bei  ein- 
ander, es  gehen  ihrer  13  auf  10  mm.  Die  Längslinien  der  Bögen 
kommen  in  jedem  Blatt  als  Querlinien  zum  Vorschein,  in  der  Ent- 
fernung von  18,  47,  73,  100,  127,  154,  181,  207  mm  vom  oberen 
Rande.  Man  bemerkt  zwei  Fabiikzeicheu  auf  jedem  Bogen:  ein 
Hammer  an  derselben  Stelle,  wo  sich  auf  dem  früher  beschriebeneu 
Papier  das  Fabrikzeichen  l)efand,  und  ausserdem  ein  E  in  einer 
Ecke  des  Bogens. 

Das  Papier  ist  viel  weisser  als  das  der  Bl.  7— 86,  und  viel 
besser  erhalten. 

Bl.  87   recto  beginnt  mit  dem  Titel 

„Jordani  Bruni  Noiani  De  vinculis  in  geuere". 

Hier  kommt  zum  ersten  Male  im  Manuscript  der  Name  Brunos 
vor.  Die  Handschrift  ist  viel  sorgfältiger  als  auf  den  Bl.  7—86, 
aber  ist  von  derselben  Hand,  was  besonders  leicht  zu  ersehen  ist, 
wenn  man  gewisse  characteristische  Buchstaben  vergleicht:  d,  v,  t, 


552  W.  Lutoslawski, 


X,  q,  f,  g.  Der  Unterschied  dieser  Handschrift  von  der  Brunos  ist 
gerade  hier  leicht  ersichtlich,  da  sich  die  Blatter  1 — 5  auf  den- 
selben Gegenstand  beziehen,  und  ganze  Sätze  aus  diesen  Blättern 
hier  wiederholt  werden.  i 

Erwägt  man,  .dass  hier  das  Wort  vinculum  in  einem  ganz  : 
anderen  Sinne  gebraucht  wird,  als  in  den  Werken  iiber  magische  \ 
Wirkungen,  die  wir  Bl.  7 — 28  und  70—86  haben,  su  wird  man 
wohl  darin  eine  neue  Bestätigung  der  Ansicht  haben,  dass  jene  i 
Werke  nicht  Brunos  eigene  Lehre  enthalten.  Nach  einer  kurzen 
Einleitung,  worin  von  der  Mannigfaltigkeit  der  Wirkungen  auf 
Menschen  gesprochen  wird,  beginnt  Art.  I  betitelt  „V^incientium 
species",  mit  den.  Worten  „Viucientia  per  Universum  sunt  Dcus, 
Daemou,  Animus,  Animal,  Natura,  Fors  et  Fortuna,  tandem  Fatum". 
Das  ganze  Capitel  ist  in  30  articuli  eingetheilt,  und  schliesst  Bl.  90 
verso.  Bl.  91  recto  beginnt  ein  anderes  „De  Vincibilibus  in 
genere",  das  ebenfalls  in  30  articuli  eingetheilt  ist.  In  dem  ersten 
articulus  „Species  vincibilis"  sind  4  solche  angeführt  „Mens,  anima, 
Natura,  Materia,  Mens  per  se  stabilis,  anima  per  se  mobilis,  Natura 
partim  stabilis  partim  mobilis,  Materia  ex  toto  mobilis  et  ex  toto 
stabilis",  in  völliger  und  wörtlicher  Uebereinstimmung  mit  einem 
auf  Bl.  1  verso  von  Brunos  Hand  geschriebenen  aber  gestrichenen 
Satze  „mens,  anima,  natura,  materia,  mens  per  se  stabilis,  anima 
per  se  mobilis,  natura  mobilis  in  alio  non  ab  alio,  materia  mobilis 
in  et  ab  alio". 

Aus  dieser  Uebereinstimmung  und  einigen  anderen  sieht  mau, 
dass  die  losen  Blätter  1 — 5  sich  auf  dies  W^erk  Brunos  „De  vin- 
culis  in  genere"  beziehen,  und  nicht,  wie  Noroff  glaubte,  auf 
das  Capitel  „De  vinculis  spirituum",  das  zu  der  ersten  Ab- 
handlung iiber  Magie  gehört.  In  beiden  Werken  ist  der  Sinn  des 
Wortes  vinculum  durchaus  nicht  übereinstimmend.  Bei  Bruno 
handelt  es  sich  hauptsächlich  um  die  Bande,  die  zwischen  Menschen 
bestehen,  und  er  führt  sie  gern  auf  Liebe  zurück.  In  den  Frag- 
menten der  magischen  Werke,  die  uns  Bl.  7 — 27  und  70 — 86  vor- 
liegen, bedeutet  meistentheils  „vinculum"  ein  magisches  Mittel,  um 
übernatürliche  Wirkungen  auszuführen,  die  sich  nicht  nur  auf 
Menschen,  sondern  auch  auf  Dämonen  erstrecken.    Auch  sieht  man 


Jordani  Rnini  Nolani  Opera  inedifa,  inaim  ]iropi'ia  scripta. 


553 


ibei  lii'uno  oine  viel  grössere  Vorsicht  bei  solchen  Beliauptuugeii, 
,(lie  schwer  /u  beweisen  sind.  Während  der  Verfasser  der  magischen 
I Auszüge  die  Existenz  der  verschiedenen  Engel  und  Dämonen  für 
i unzweifelhaft  hält,  sagt  Bruno  im  XXX.  articul.  des  Capitels  „De 
j  vincihilibus  in  genere"  (Bl.  93  verso) 

„etsi  enini  nullus  sit  infernus,  opinio  et  imaginatio  inferni 
sine  veritatis  fundamento  vere  et  verum  facit   infernum". 

Bl.  94  lecto  l)eginnt  ein  neues  Capitel 

„De  vinculo  cupidinis  et  qu  od  am  modo  in  genere." 

„Diximus  in  liis  quae  de  naturali  magia,  quemadmodum  vin- 
cula  omnia  tum  ad  Anioiis  vinculum  referantur,  tum  ab  araoris 
vinculo  pendeant.  tum  in  Amoris  vinculo  consistant." 

Dies  l)ezieht  sich  nicht  etwa  auf  Bl.  7 — 27.  wo  von  einer 
.solchen  Einheit  alier  vincula  nirgends  die  Rede  ist,  sondern  auf 
den  Schluss  des  C'ommentars  zu  diesem  Theil  des  Ms.,  Bl.  38,  wo 
invidia,  aemulatio,  indignatio,  verecundia,  timor,  odium,  ira  auf 
amor  zurückgeführt  werden,  und  geschlossen  wird  „satis  ergo  fecerit 
qui  eam  nactus  fuerit  philosophiam  seu  magiam  quae  vinculum 
summum  praecipuum  et  generalissimum  amoris  sciat  contractare. 
nde  fortasse  amor  a  Platonicis  daemon  magnus  est  appellatus". 

Im  Text  findet  man  wieder  viele  Sätze,  die  auf  den  losen  Con- 
ceptblättern  von  Bruno  selbst  geschrieben  waren,  z.  B.: 


Bl.  2  recto,  Zeile  16 

„solae  res  compositae  vin- 
cirent  ....  Nunc  autem  puri 
colores,  vox  una,  fulgor  auri. 
rgenti  candor  .  .  .  nil  citius 
abitur  et  senescit  quam 
mlchritudo:  nil  tardius 
:(uam  figura  .  .  .  utaccedit  qui- 
3usdam  post  fruit ionem  rei 
imatae  ....  sed  et  in  quadam 
•apientis  et  rapti  condispo- 
»itione  ut  ita  dicam  .  .  ." 


Bl.  94  recto,  Zeile  27 

„Ad  plura  vero  respicientibus, 
saltem  ad  hoc  quod  non  solum 
res  compositae,  et  membro- 
rum  varietate  consistentes  vin- 
ciunt,  sed  interdum  purus  color 
pura  vox:  Nihil  enim  citius 
labitur  et  seuescit  quam 
pulchritudo:  nihil  vero  tar- 
dius alteratur  quam  figura  et 
forma  quae  ex  membrorum  com- 
positione  enitescit  ....  interdum 
post  rei  amatae  fruitiouem 


w 


554  W.  T.ut  osla  wsk  i, 


praeterit  amor,  quocirca  praeser- 
tira  in    quadam    rapientis  et 
rapti     condispositione     vin-  : 
culi  ratio  consistit."  , 

Diese  Beispiele  zeigen  uns,  dass  die  Bl,  1—5  nur  einen  ersten!; 
Entwurf  der  Gedanken  Brunos  enthalten,  der  hier  vollständig  aus-ifi 
geführt  ist.     Die  übereinstimmenden  Worte  sind  in  beiden  Texten  'H 
gesperrt  gedruckt.    Auch  ist  die   Reihenfolge   der    übereinstimmen- 
den Fragmente  nicht  identisch.    So  findet  man  weiter  Bl.  95  verso 
Sätze,  die  im  Concept  Bl.  1   verso  stehen: 

Bl.  1  verso,  Zeile  28  Bl.  95  verso,  Zeile  10 

„Haec    Piatoni    pulchrum,  „Vinculi  descriptio:  art  IX.| 

Socrati  excellens  animi  ve-  Vinculum  Piatoni  est  secundum 

nustas,  Timaeo  animi  tyran-  genus  pulchritudo,  seu  confor- 

nis,  Plotino  naturae    privi-  mitas,  Socrati  excellens  aui- 

legium,  Theophrasto  tacita  mi  venustas  Timaeo  animae 

deceptio,     Salomoni      ignis  Tyrannis,    Plotino    naturae  | 

absconditus,  aquae  furtivae,  privilegiuni, Theophrasto  ta-  ^ 

Theocrito   eburneum    detri-  cita  deceptio,  Salomoni  ignis  i 

mentum,    Carneadi   regnum  absconditus    et    aquae    für-} 

sollicitum,  et  aliis  alia."  tivae,    Theocrito    eburneum 

detrimentum,    Carneadi   re- 
gnum sollicitum." 


I 

i 


So  könnte  man  viele  andere  Beispiele  anführen,  aber  die  schon 
angeführten  reichen  wohl  vollkommen  dazu  aus,  um  die  vorhandene  j 
Uebereinstimmung  nachzuweisen.  Wir  sehen  also,  dass  in  den 
Bl.  87—98  ein  Werk  von  Giordano  Bruno  vorliegt,  das  aber  nur 
ein  Fragment  geblieben  ist,  da  es  mitttMi  im  XXII.  articul.  des 
III.  Capitels  Bl.  98  recto  mit  den  Worten  abbricht: 

„judicat  amans  debitum  amatae,  ut  animani  illi  ablatam 
restituat,  ubi  in  proprio  corpore  mortuus  in  alieno  vivit.  Si  amans 
amatae  minus  blanditur,  queritur  haec  quasi  eam  ille  curet  minus. 
Queritur  amans  versus  amatam  si" 

Man  sieht,  dass  der  letzte  Satz  unbeendet  geblieben  ist,  sei  es, 
dass  er  im  Original  von  Bruno  nicht  beendet  war,  sei  es,  dass  nur 


1 


f 


.lordani  Rnuii  Nolani  Opera  ineclita,  manu  prnpria  scripta. 


55r] 


I  der  Abschreiber  durch  irgend    etwas   verhindert   wurde,   seine  Ab- 
j  Schrift    7A\  Ende    zu    führen.     Der    unterbrochene   Satz   ist   in   den 


Conceptblättern  1 — 5    nicht    vorhanden, 
schrieben. 


Bl.  98  verso  ist   unbe- 


160. 


Vin.  Theil:  Bl.  99 

Vlll.  Theil  Bl.  99—160  von  demselben  Papier  und  der- 
selben Handschrift  wie  Bl.  87 — 98,  aber  dadurch  zu  unterscheiden, 
dass  hier  keine  alten  Nadelstiche  zu  sehen  sind,  und  somit  dieser 
Theil  ein  besonderes  Heft  gebildet  hat.  Die  Handschrift  ist  ebenso 
sorgfältig  wie  Bl.  87—98,  und  bedeutend  sorgfältiger  als  Bl.  7—86. 
Die  Uebersch ritten  sind  hier  mit  grossem  Zeitaufwand  ausgeführt, 
und  überall  sieht  man  das  Streben  nach  Deutlichkeit  und  Genauig- 
keit, obgleich  der  Text  keineswegs  frei  von  Schreibfehlern  ist,  die 
den  Abschreiber  verrathen.  Dieser  Abschreiber  A,  der  auch  den 
ganzen  Text  von  Bl.  7  an  geschrieben  hat,  hat  besonders  in  seiner 
Schrift  ein  characteristisches  d,  das  dem  t  zum  Verwechseln  ähn- 
lich ist,  und  ein  v,  das  man  häufig  für  ein  p  halten  könnte. 

Hier  ebensowenig  als  in  den  früheren  Theilen  der  Handschrift, 
begegnen  uns  Ergänzungen  oder  Bemerkungen  von  Brunos  Hand. 
Nur  das  Datum  am  Anfang  und  am  Ende: 

„1591   VTl  1    G  — " 

„F  Anno  1591  I  Mens:  Octob:  N  Die  22  cf  I  Paduae  S" 
konnte  vielleicht  von  Bruno  geschrieben  sein,  aber  dies  ist  schwer 
zu  entscheiden.  Was  den  Inhalt  anbelangt,  enthält  dieser  Theil 
des  Ms.  das  von  Bruno  nicht  herausgegebene,  aber  als  von  ihm 
geschrieben  bezeugte  Werk,  das  bisher  unter  dem  Titel  „Liber 
XXX  statuarum"  bekannt  war,  hier  aber  mehrere  Mal  als  die  „Ars 
inventiva  per  XXX  statuas"  bezeichnet  wird.  Es  beginnt  ohne 
Titel  mit  den  Worten: 

„Animae  cibum  esse  veritatem  utpote  quae  in  ejus  substan- 
tiam,  veluti  proprium  nutrimentum  transmutabilis  e.st,  esse  constat." 
Es  wird  alsdann  in  einer  Einleitung  der  Zweck  des  Werkes 
erklärt:  es  soll  darin  das  ganze  Gebiet  des  Denkbaren  in  30  Felder 
eingetheilt.  und  mnemotechnisch  jede  Idee  mit  einer  concreteu 
Figur  oder  „Statua"   verbunden   werden,    damit   mit   Hülfe  dieser 


f 


5F)ß  W.  Liitoslawski, 

Kunst  jede  Eintheilung  und  Definition  eines  beliebigen  Gegenstandes 
erleichtert  werde.  Wir  haben  hier  also  ein  eigenthümliches  Lehr- 
buch der  Logik  und  Metaphysik,  das  viele  richtige  und  tiefe  Ge- 
danken, die  Giordano  Brunos  würdig  sind,  enthält,  aber  nur  durch 
die  phantastische  Form,  in  die  es  eingekleidet  ist,  zuerst  unver- 
ständlich und  sogar  sinnlos  erscheint.  Der  Substanzbegrift'  ist  hier 
nicht  weniger  eingehend  behandelt  als  in  irgend  einem  anderen 
Werke  von  Bruno,  aber  die  Gedanken  des  Philosophen  sind  häufig Ä 
verdunkelt  durch  chis  Streben,  sie  in  eine  willkürliche  und  phan- 
tastische Form  einzukleiden.  So  wird  jedes  ("apitel  beinahe  ohne 
Ausnahme  in  30  articuli  eingetheilt,  wie  in  dem  vorangehenden 
Fragment  „De  vinculis  in  genere".  Die  Zahl  der  Gapitel  sollte  \ 
auch  nach  dem  Plan  30  sein,  und  man  sieht,  dass  Bruno  dieser 
Zahl  eine  besondere  Bedeutung  zuschrieb.  Thatsächlich  enthält 
das  Werk  mehr  als  30  Capitel,  und  es  ist  schwer  zu  entscheiden, 
welche  von  diesen  in  eins  zusammengefasst  werden  mvissten,  damit  ; 
die  vom  Autor  beabsichtigte  Zahl  30  nicht  überschritten  werde.      | 

Die  Beschreibung  der  einzelnen  statuae  beginnt  Bl.  101   recto 
mit  der  Ueberschrift 

„De  tribus  inforinibus  et  inflgurabilibus." 

Dieser   erste  Abschnitt  enthält  vier  Capitel.    je  in  30  articuli 
eingetheilt: 

(1)  Bl.  101  recto  „De  Chaos  I  infigurabili'\ 

(2)  Bl.  103  recto  „De  II  informi,  orco  sive  abysso". 

(3)  Bl.  105  recto  „De  III  infigurabili  puta  de  nocte  seu 

tenebris". 

(4)  Bl.  107  recto  „De  noctis  statua". 
Dann  folgt  Blatt  108  recto  ein  zw^eiter  Abschnitt  betitelt: 

De  opposita  superna  Triade. 
Hier  haben  wir  drei  Capitel  zu  30  articuli: 

(1)  Bl.  108  recto  „  De  Patre  seu  mente  seu  plenitudine". 

(2)  Bl.  109  verso  „De  Primo  intellectu". 

(3)  Bl.  112  recto  „De  Lumine  seu  spiritu  universi". 
Bl.  114  recto  beginnt    ein    neuer    Abschnitt    unter    dem  Titel 

„Ordo  secundus",  und  zerfällt  in  die  8  folgenden  Capitel: 

(1)     Bl.  114  recto  „De  Apolline  et  monade  seu  unitate*. 


h 


I 


Jordani  Bruni  Molani  Opera  inedita,  maau  propria  scripta.  557 

(2)     Bl.  115  recto  „De  Saturni  statua  et  principio". 
Qi)     Bl.  116  verso  „De   statua  Promethei    et  causa  effi- 

ciente". 

(4)  Bl.  117  verso  „De   officina  Vulcani,    seu  de  30  for- 

mae  conditionibus  vel  rationibus". 

(5)  Bl.  118  verso  „De  Statua  Vulcani   vel    formae  pro- 

priis     distinctionibus     et     defini- 
tionibus". 

(6)  Bl.  120  recto  „De  Thetidis  Statua  seu  de  subjecto". 

(7)  Bl.  122  recto  „Statua    Sagittarii    pro    explicatione 

causae  finalis". 

(8)  Bl.  123  recto  „De  Monte   Olympo,   ad  describendas 

omnes    seu    universas    flnis    signi- 
ficationes". 
Bl.  124  recto  folgt  der  Ordo  tertius  mit  folgenden  17  Capiteln: 

(1)  Bl.  124  recto  „De  campo  coeli  etBonitate  naturali". 

(2)  Bl.  125  recto  „De  campo  Vestae  seu  Bono  morali". 

(3)  Bl.  125  verso  „De  campo  Oceani  seu  magnitudine". 

(4)  Bl.  126  verso  „De  statua  Martis  seu  virtutis". 

(5)  Bl.  127  recto  „De  campo  telluris  seu  de  potentia". 

(6)  Bl.  128  recto  „De  campo  Junonis  seu  medio". 

(7)  Bl.  129  recto  „De  Momorgene,  (sie)  hoc  est  Habitu- 

dine  seu  Relatione". 

(8)  Bl.  130  recto  „Explicatio    Cornu     Acheloi    seu    de 

Habere". 

(9)  Bl.  131  recto  „De  Campo  Minervae  seu  de  Noticia". 

(10)  Bl.  132  recto  „De  Schala  Minervae  seu  de  Habiti- 

bus  Cognitionis". 

(11)  Bl.  133  recto  „De  Campo   Veneris    hoc   est    de  cou- 

cordia". 

(12)  Bl.  134  recto  „De    Veneris     statua,     concordia     iu 

voluntate". 

(13)  Bl.  135  recto  „Tela  seu  nodi  Cupidinis,    Concordia 

in  actione". 

(14)  Bl.  135  recto  „De  Statua  et  Membris  Cupidinis  seu 

differentiis  voluntatis". 

Archiv  f.  Geschiebte  d.  Philosophie.     II.  ^^ 


558  W.  Lutoslawski, 

(15)  Rl.  136  vevso  „De  pelle  Amaltheae  capvae  et  Diver- 

sitatis  significationibus". 

(16)  Bl.  137  recto  „De    Campo    Litis     et    contrarietatis 

conditionibus". 

(17)  Bl.  137  verso  „De  Campo  Aeonos  seu  aeternitatis."  i 
Wenn  wir  die  dem  Inhalt  nach  verwandten  Capitel  „De  offi- 

cina  Vulcani"  und  „De  Statua  Vulcani"  zusammenfassen,  und 
ebenso  auch  die  Capitel  „De  concordia  in  voluntate"  und  „de  con-  ; 
cordia  in  actione"  die  einander  ergänzen,  so  erhalten  -wir  im  Ganzen 
30  statuae,  wie  am  Anfang  angekündigt  wurde.  Ob  aber  gerade 
diese  Paare  für  eins  zu  halten  sind,  oder  andere,  damit  die  im 
Titel  und  häufig  im  Text  erwähnte  Anzahl  „30  statuarum"  nicht 
überschritten  Averde,  darüber  finden  wir  keine  Andeutungen.  i 

Bl.  138  verso  beginnt  ein  neuer  Theil  des  Werkes  mit  dem 
Titel  „De  Applicatioiie  Triginta  Statnariim".  Hier  werden 
noch  verschiedene  Fragen  erörtert,  und  besonders  der  Begriff  der 
Substanz  untersucht. 

Die  Capitelüberschriften  sind  folgende: 

Rl.  138  ver.so  „Primo     de     applicatione     sex     infigura- 

bilium". 
Rl.  139  verso  „De  ratioiie  praedicatorum  comnmiiicabilium 
diversis  Schalae  gradibus". 
„De  quatuor  infimis  simplicibus". 
Bl.  140  recto    „De  quatuor  prope  simplicibus". 
Bl.  140  recto    „De   tribus  generibus  imperfecte   incom- 
positorum". 
„De  tribus  perfecte  compositis". 
„De  quinque  animalium  generibus". 
Bl.  140  verso  „De  imperfectis  compositis   prope   lucem 
seu  plenitudinem". 
„De  perfecte  compositis  prope  lucem". 
Bl.  141  recto    „De  iis  quae  sunt  prope  simplicia". 
Bl.  141  verso    „De  substantia  pura  et  simplici". 

„Arbor  substantiae". 
Bl.  142  verso   „De    explicata    sehala    praedicatorum    seu 
attributorum  substantiae  et  naturae". 


I 


Jordani  Bruni  Nolani  Opera  inedita,  inanvi  piopria  scripta.  559 

Bl.  145  verso  „De  Statuis  dictionum". 

Es  folgen  einige  Capitel  mit  mythologischen  Namen,  und 

Bl.  149  vevso  „De  Applicatione  Artis  inventivae  et  iu- 
dicativae". 

Bl.  150  recto    „Utilitas  Lampadis  huius  ad  alias". 

Bl.  151  recto    „De  praxi  inventionis  per  praedicta". 

Bl.  154  verso    „De  ratione  verificandi  seu  enuntiandi". 

Bl.  156  verso    „De  tertia  et  ultima  praxi". 

In  diesem  letzten  Capitel  ist  die  Anwendbarkeit  der  XXX  sta- 
tuae  au  einem  ausführlichen  Beispiel  illustrirt,  indem  der  Beweis 
für  den  Satz  geführt  wird  „Anima  nou  est  accidens".  Einen 
grossen  Theil  dieses  Capitels  hat  Noroff  in  seinem  Katalog  abge- 
druckt. Das  ganze  Werk  schliesst  auf  Bl.  160  recto  mit  folgenden 
Worten: 

„Itaque  gratias  Deo  agentes  Artem  inventivam  per  30  sta- 
jtuas  perfecimus.  Reliquum  est,  ut  quo  quisque  prout  credit  posse 
ex  istius  lumine  bonum,  meliorem,  vel  Optimum  fructum  comparare, 
jbene.  melius,  vel  optime  in  istis  assuescat:  Multum  enim  confert 
bonam  non  solum  incurrisse  disciplinam,  et  a  bono  lumine,  sed 
illud  praecipuum  esse  videtur,  ut  aliquis  quod  habet  fidat  se  habere, 
|et  iuxta  fidem  excolat  agrum  et  iugi  meditatione  rerum  rigaus 
■  agrum,  ingenii,  propria  iniecta  semina  adolescere  faciat,  incremen- 
tum  sumat,  et  fructus  suo  tempore  praestoletur.  Infidi  vero  et 
desperantes  quos  neque  numina  posse  curare  testantur,  otio  et  tor- 
pore  et  innata  desidia  talentum  sufl'odiunt  et  segetem  muribus 
corrodendam  praetermittunt. 

F  Anno  1591.    I  Mens.  Octob:  X  Die  22  cT  I  Paduae  S«'^. 

IX.  Theih  Bl.  161. 

IX.  Theil  Bl.  161  ist  ein  loses  Pergamentblatt,  mit  einem 
Netz  von  13  .  22  nebeneinander  gezeichneten  Quadraten,  von  denen 
158  ausgeschnitten  sind.  Noroff  glaubte  bei  seiner  Beschreibung, 
dass  sich  die  Erklärung  im  Text  finden  würde.    Ich  habe  diese  Er- 


*'0  Nach  dem  Bl.  160  folgen  noch  zwei  unbeschriebene  und  nicht  nume- 
rirte  Blätter  von  demselben  Papier,  die  das  Heft,  das  Bl.  99  begonnen  hatte 
jschliesseu. 

I  38* 


^ 


5ßO  W.  Lutoslawski, 

klärung  Dicht  finden  können,  und  kann  datier  nicht  entscheiden, 
ob  dies  lose  Blatt  zu  irgend  einem  der  Hefte,  aus  denen  die  Samm- 
lung besteht,  gehört  hat. 

X.  Theil :  Bl.  162-182. 

Sehr  \vichtig  ist  der  letzte  Theil  des  Ms.,  Bl.  162—184,  we: 

er  zum  Theil  von  Brunos  Hand  geschrieben  ist. 

Das  Papier  ist  dicker  und   viel  gelber   als  das  der  Blätter  8' 
bis  160.     Es   unterscheidet   sich   auch   von   allen   früheren   Theile 
des  Manuscripts  dadurch,  dass  der  Rand  hier  beschnitten  ist,  und 
infolge  dessen  man  die  Zusammengehörigkeit  der  einzelnen  Blätter- 
paare zu  Bögen  nicht  bestimmen  kann.    Wenn  man  davon  absieht, 
was  am  Rande  weggefallen   ist,    ergiebt  sich   für  jeden  Bogen  von 
4  Blättern    das  Format    von   428 .  315  mm.     Es    müssen    also    die 
Bögen  ursprünglich  viel  grösser  gewesen  sein  als  die  der  Blätter  87 
bis  160.     In  jedem  Blatt  .sind    wie  in  den    anderen    Blättern  des 
Ms.  Querlinien  und  Längslinien  sichtbar.     Erstere  sind    nicht  sehr  | 
nahe  bei  einander,  da  9  auf  10  mm  gehen.     Die  Längslinieu  sind 
nicht   so   deutlich  sichtbar   wie  in   den    anderen  Papiersorten,    aus 
denen  das  Ms.    besteht,    aber   in  jedem   Blatte    kann   man  ihrer  7 
zählen,  die  von  links  nach  rechts  gehen. 

Bl.  162  recto  ist  sehr  vergilbt,  schmutzig,  und  die  Tinte  ver- 
blasst.  Sowohl  das  Aussehen  des  Papiers,  als  auch  die  Farbe  der 
Tinte  erinnert  sehr  an  das  recto  des  Blattes  1. 

Beide  waren  offenbar  mehr  den  äusseren  Einflüssen  ausgesetzt 
als  die  inneren  Blätter.     Die  Handschrift  ist,  wie  mir  scheint,  bis 
Bl.  167   ohne  Zweifel    von   Bruno,    wenn   man   zugiebt.    da.ss    die 
Blätter  1—6  von  ihm  geschrieben  sind.     Leider  hat  Noroff,  der  in  i 
seinem  Katalog  8  Proben  der  Schrift  des  Abschreibers  A.  gegeben  hat,  ' 
in  der  Meinung,  es  seien  Proben  der  Schrift  von  Giordano  Bruno,  es 
nicht  für  nöthig  gehalten,  ein  einziges  Facsimile  aus  dem  letzten  Theile  \ 
zu  liefern,    so  dass    diese  Schrift    nicht  leicht  mit   einer  grösseren  m 
Anzahl   von   unzweifelhaften    Autographen  Brunos  wird   verglichen 
werden  können.    Die  Echtheit,  so  weit  dieselbe  aus  dem  Vergleich 
mit    den    ersten   losen   Blättern    des  Manuscripts    ersehen    werden 
könnte,  ist  für  mich  unzweifelhaft.     Auch  innere  Gründe  sprechen 


» 


Jnidniii  Bruni   Nolani   Opera   iiiPiiita,  manu   propria  scripta. 


561 


dafür,  class  der  hier  vorliegende  Text  vuii  Bruno  selbst  geschrieben 
sei.  Wir  liaben  hier  nämlich  einen  ersten  Entwurf  des  Auszugs 
aus  den  Werken  von  Lullus,  den  wir  in  einer  geordneten  Gestalt 
auf  den  Bl.  55 — 69  sehen.  Der  Text  ist  in  Capitel  und  Paragraphen 
eintretheilt,  aber  häutig  werden  die  Sätze  nicht  abgeschlossen,  und 
ganze  Paragraphen  bleiben  nicht  ausgeführt.  Das  Verhältniss  beider 
Texte  möge  aus  folgenden  Zusammenstellungen  ersehen  werden: 

Bl.  162  recto:  Bl.  55  recto: 

Artiflciosa    Methodu8     iiiedi-         Medicina    Lulliana    partim 

cinae  ex  LiiUianis  Fragiiien-  ex    matheniaticis   partim    ex 

tis'").  pliysicis     principiis     educta, 

iSubjectum   medicinae   est  tideliter  collecta  per   nos,  nihilo 

corpus    humanum    quatenus  propter  et  extra  intentionem  ad- 

sanabile    et    aegrotabile  .  .  .  ducto,  addito  neque  diminuto. 

§1-  §1- 

Intentio  nostra  non  est  de         Intentio     nostra    est    non 

medicina  tractare  sed  solum  tarn  vulgari  more  principia  me- 
modum  praebemus  ipsam  appli-  dicinae  quae  praxi  proxima 
candi  ad  artem  quandam  gene-  sunt  adducere,  quam  artem 
ralem  LuUii,  ad  quam  omnes  Lullii  illam  generalem  ad 
sciunt  difficultates  generaliter  omnes  scientias  et  facultates  ita 
applicare  ....  per  quem  modum  limitare  et  moditicare  iuxta  ejus 
unusquisque    in    verae    medi-      intentiones  ut  quislibet  facile  in 

verae  medicinae  totius  cogni- 
tionem  venire  possit  .  .  . 

§2. 

Subjectum  adaequatum  me- 
dicinae est  corpus  humanum, 
quatenus  sanabile  et  aegro- 
tabile .  .  . 

Bl.  163  recto:  Bl.  57  verso: 

Tractatus  secimdus.  Caput  II. 

§1.  §1- 

Medicus   causam    huius    in-         Medicus  etsi  in  astrologia 


cinae 


*-0  Im  Text  unterstreiche  ich  die  in  beiden  Texten  vorkommenden  Worte. 


562 


W.  Lutoslawski. 


vestigare  deberet  si  in  astro-     non   sit  peritus    habebit   ex  hac 
logia  .  .  .  figura  rationem  investigans  .  .  . 


Bl.  163  verso; 
§7. 


Bl.  58  recto: 

Tertia  regio  est  autumnus         III  regio  vocatur  Autumnus 

et    durat    de    domo  CC  usque  et  durat  ex  CC  usque  ad  DH, 

ad   domum  DH.      Haec    regio  haec  regio  constat  pariter  suis 

constat  ex  siguis  .  .  .  signis  .  .  . 

Bl.  164  recto:  Bl.  58  verso: 

Tractatus  tertius.  Capitulum  III. 

§1.  §1. 

Constructa  figura  ex  prae-  UM  figura  constructa  fuerit 
dicto,  investigandae  sunt  in  in  distinctis  eins  regionibus: 
earegiones...  ex  infirmitatis  et  sanitatis  eo  qui 

sequitur    modo     sunt    investi- 
gandae .  .  . 


I 

I 


Bl.  59  recto: 

Caput  IV. 

§1- 
domus  est  de  AB  secuuda    de         Secundae  circulationis  do- 

EF  etc.  .  .  .  mus  sunt  AB,  EF  .  .  .  . 


Bl.  164  verso: 

Secunda    circulatio  cap.  II 
Secundae  circulationis  prima 


Bl.  165  recto: 
Tertia  circulatio  cap  III. 

la  domus  tertiae   circula- 
tionis est  de  AF,  CE  etc. 


Bl.  59  verso: 
Caput  V. 

§1. 

Illae  circulationis    domus 

sunt  AF,  EC,  BG  .  .  . 


IL 


§  VIII.  §  VIII. 

.  In  domo  BH  est  aequaliter         In  domo  BH  est  aequaliter 
contrarietas  per  frigid""  cali-     contrarietas     per     frigidum 


Jordaiii  Bruiii  Xolani  Opera  inedita,  manu  propria  scripta. 


563 


dif"   hiimiditatem    et    sicci-  calidum  humidum  et  siccum, 

tatem,  sed  quia  H  est  iu  sua  sed  quia  H  est  iu  sua  regioue 

regione,    B  voro  nou,    H  est  B    vero    non,    H  dominat,   B 

dominus,    B    vero  serviis,    et  servit,    nee    adraodum    humi- 

luimiditas     non    est    multum  ditas  dominat  neque  admodum 

domina  nee  siccitas  ancilla. ..  siccitas  ancillat  .  .  . 

Bl.  165  recto:  Bl.  60  recto: 

Quarta  circulatio  Cap.  IV.  Cap.  VI. 

Prima    domus    4ae  <3ircula-  IVae  circulationis    domus 

tionis    est    de  AC,    2a  de  EG  juxta    suas     regiones    distinctae 

etc sunt  AC,  EG,  BD  .  .  . 


Bl.  165  verso: 

Quinta  circulatio  Cap.  V. 

Prima  domus  quintae  cir- 
culationis est  de  AC  2a  de 
DE  etc. 

Bl.  166  recto: 

Septima  circulatio  Cap.  VII. 
Prima  domus  Septimae  cir- 
circulationis  est  AH  in  qua 
A  vincitH,  ut  in  prima  cir- 
culatione  dictum  est. 


Bl.  60  verso  : 

Cap.  VII.     Va  Circulatio. 
Domus    Vae  circulationis 
sunt  AC,  ED,  BH  .  .  . 

Bl.  61  recto: 

Cap.  IV.    Vlla  circulatio. 

Vllae  circulationis  domus 
sunt  AH,  EH  .  .  . 

In  prima  domo  AHA  vincit 
Hut  in  la  circulatione  dic- 
tum est. 


Bl.  166  verso  ist  eine  Zeichnung,  die  sich  auf  den  vorangehen- 
den Text  bezieht,  und  der  entsprechenden  Zeichnung  Bl.  57  recto 
ähnlich  ist. 

Auf  der  Peripherie  eines  grossen  Kreises  sind  die  Namen  der 
zwölf  Monate  und  der  vier  Jahreszeiten  verzeichnet,  und  unter 
den  Monaten,  auf  einem  kleinereu  Kreise  die  Buchstaben  HAEBF 
CGD  in  derselben  Reihenfolge  auf  beiden  Figuren,  nur  dass  die 
Figur  auf  Bl.  57  sorgfältiger  gezeichnet  ist,  und  ausserdem  noch 
iu  der  Mitte  eine  Zeichnung  enthält,  die  in  der  Figur  des  Bl.  166 
nicht    ausgeführt    worden    ist.     Die  Berufung   auf   das   Werk    „de 


564  ^^-  I^utoslawski, 

30  sigillis"  die  Bl.  62  sich  findet,  fehlt  im  ursprünglichen  Entwurf, 
wo  sie  Bl.  166  hätte  kommen  müssen. 

Bl.  167  recto:  Bl.  62  verso: 

De  Febribus  Tractatus  quar-  De  Febribus. 

t  u  s.  Postquara    perfecimus    tracta- 

Actum    est     de     regionibus  tum  de  regionibus  sanitatis 

sanitatis  et  infirmitatis  praeter  et  aegritudinis   in    quarum   lati- 

quas  nullasanitas  et  infirmitas  tudine  omnis    sauitas  et   infir- 

esse  potest  ....  mitas  constituitur  .  .  . 


Cap.  II  de  Tertriana.  De  Tertiana. 

Tertiana    regio    tendit  de  Tertiana    regio    tendit   de 

BF  usque  ad  AE  et  CG  et  ha-  BF    usque    ad  AG    et  CG    et 

bet  unum  triangulum  .  .  .  habet  unum  triangulum  .  .  . 

Bl.  167  verso:  Bl.  63  recto: 

Cap.  III    de    febre     continua  De    Febre   continua   lenta 

lenta  et  acutissima.  et  acutissima. 


Cap.  IV.  De  febre  quotidiana.  De  Quotidiana  febre. 

Bl.  168  recto  beginnt  eine  Handschrift,  die  nicht  von  Bruno, 
und  auch  nicht  von  dem  Schreiber  A  ist.  Die  wichtigsten  Unter- 
schiede sind:  das  1  hat  häufig  eine  Schleife  oben  während  es  bei 
Bruno  immer  ohne  Schleife  ist;  das  b  und  das  d  haben  meisteu- 
theils  grössere  Schleifen  als  in  den  ersten  Blättern.  Dagegen  ist 
s,  V,  p,  a,  e,  m,  u,  t,  r,  c,  o,  u  sehr  ähnlich  den  entsprechenden 
Buchstaben  in  den  Bl.  1—6,  und  162—167.  Der  Inhalt  der  Blätter 
168 — 181  bildet  die  Fortsetzung  der  vorangehenden,  und  die  Ueber- 
einstimmung  mit  den  Bl.  63 — 69  ist  noch  vollkommener  als  am 
Anfang,  wie  aus  dem  Folgenden  zu  sehen  ist: 

Bl.  168  recto:  Bl.  63  verso: 

„Cap.V  de  febre  quartana".         „De  febre  quartana." 


i 


Jovclani    Humi    Nolaui   Opera  iiiedita,   mann   proprin   '■-rripta.           565 

BI.  169  verso:  Bl.  65  verso: 

„Cap.  VI  De  f'ebre  quartana  „De    febre    fjiiartana    du- 

duplici.  plici. 

§1- 

Quartana    duplex     incipit  Quartana    duplex     incipit 

in  camera  CD  et  mutatur   in  in  camera  CD  et  rautatur  in 

cameram   BD    et    ex  BD   le-  camerara   BD   et    ex   BD    le- 

vertitiir  CD  et  ideo  est  peiur  vertitu  r  CD  et  ideoestpeior 

in  CD  quam  in  BD"  ...  in  CD  quam  in  BD"  .  .  . 

Bl.  nOrecto:  Bl.  66  recto: 

{        „  De  urinis  tractatus  quin-  De  urinis. 
i   tus. 

Ad     maiüiem     evidentiam  „Ad   maiorem    febrium   et 

febrium"  .  .  .  morborum  evidentiam"  .  .  . 

Bl.  173  recto:  Bl.  69  recto: 

De  Pulsibus  tractatus  sex-  De  Pulsibus. 
tus. 

Bl.  173  verso:  Bl.  69  verso: 

„De  Pulsu  significante  do-  „De  Pulsu  significante  do- 

;  minium  sanguinis.  Pulsus  ho-  minium     sanguinis.     Pulsus 

minis  sanguinei  est  magnus  homini    sanguinei    est  raag- 

est  plenus  et  suavis  et  facit  nus,    plenus,   suavis  et  facit 

duas  percussiones,  una  enim  duas  percussiones,  una  enim 

est  propter  A  alia  vero  prop-  est    propter    A,     alia    prop- 

ter  B  .  .  .  ter  B  .  .  . 


Percussio  autem  facta  ab  percussio  autem  facta  ab 
ipso  A  est  maior  quam  per-  ipso  A  est  maior  quam  ipsius 
cussio  ipsius  B,  verumtamen  B,  verumtamen  percussio 
percussio  B  est  acutior  quam  ipsius  B  est  acutior  quam 
percussio  ipsius  A."  percussio  ipsius  A"  .  .  . 

Hier    bricht    der    Text  Bl.  69 
verso  ab. 


k 


m 


56ß  W.  Lutoslawski, 

Der  Text  Bl.  174  geht  noch  weiter  fort  und  enthält  folgende 
Capitel: 

Bl.  174  recto:  De  Pulsu  significante  dominium  Phlegm. 

Bl.  174  recto:  De  Pul.su  .significante    dominium  Melanc. 
De  Pulsu  tertianae.  I 

Bl.  174verso:  De  Pulsu  febris  continuae.  i- 

De  Pulsu  phlegmaticü.  i 

De  Pulsu  quartanae.  mJbv^' 

Bl.  175  recto:  De  regionibns  digestionum.  '  «ter 

Tractatus  7us.  .^ 

De  causis  doloris  tractatus  8. 

B1.175verso:  De  Appetitu  tractatus  nonus. 

Bl.  176  recto:  De  Humoribus  tractatus  X. 

Bl.  176  verso:  De  gradibus  infirmitatum  Tractatus  XI.  ui 

Bl.  178  verso:  De  curis  infirmorum  Tractatus  XII.  |      Jei 

Bl.  178  verso:  De     XVI   ellectuariis    generalibus     Trac- 
tatus XIII. 

Bl.  181  recto  schliesst  mit  den  Worten: 

„talis  doctrina  est  utilis,  et  facilis  scientibus  istum  librum. 
Et  quia  sine  isto  libro  vel  arte  non  potest  haberi  scientia  de 
Omnibus  supradictis,  quae  (?)  ars  sive  scientia  thesaurus  pauperum 
vere  erit". 

Bl.  181  verso  ist  unbeschrieben,  und  auf  Bl.  182  ist  die  Zeich-   ^ 
nuiig  begonnen,  aber  nicht  vollendet,  die  sich  auf  Bl.  57  und  zum   t 
Theil  auch  auf  Bl.  166  verso  findet.     Man  sieht,  dass  wir  Bl.  55 
bis  69  nicht  eine  einfache  Abschrift,  sondern  eine  Bearbeitung  des   i 
ersten   Entwurfs   haben,   der   von   Bruno    selbst   Bl.  162—167  und 
von    einem    Schreiber    Bl.   168—173    aufgeschrieben    worden    ist.   ! 
Wenn   man  Einzelnes  vergleicht,  scheint  der  Text  Bl.  55 — 69   ein   i 
Dictat  zu  sein,  das  Bruno   nach   dem  Entwurf  auf  Bl.  162 — 173   j 
seinem  Schreiber  dictirte.    Der  Schreiber,  der  da.  wo  er  abschreibt,   | 
wie  z.  B.  Bl.  87—160  eine  grosse  Sorgfalt  auf  die  Ausführung  der  i 
Titel  und  Initialen,    und  auch   auf  den  Text   verwendet,    hat    die   ; 
Bl.  55—69  viel  nachlässiger   und   wie  es   beim   Ansehen   derselben  i 
offenbar  ist,  flüchtiger  geschrieben.     Im  Entwurf  dagegen  sind  die 
letzten    Capitel    viel    mehr    ausgearbeitet    als    die    ersten,    und    es 


I 


Jordani  Briini  Xolaui  Opera  inedita.  mann  propria  scripta.  567 

kommen  darin  nicht  mehr  unterbrochene  wnd  unbeendete  Satze 
vor.  Es  ist  möglich,  dass  desswegen  auch  das  Dictieren  unter- 
brochen wurde,  weil  der  Rest  des  Entwurfs  dem  Verfasser  hin- 
reichend ausgearbeitet  erschien  und  keiner  Verbesserungen  bedurfte. 

Schluss. 

Aus  der  Betrachtung  des  Ms.  hat  sich  also  gezeigt,  dass  wir 
hier  A^erschiedene  von  einander  unabhängige  Hefte  haben,  die  erst 
später  zusammengenäht  wurden,  die  aber  wahrscheinlich  alle  einst 
im  Besitz  von  Giordauo  Bruno  gewesen  sind.  Da  die  Buchhandlung 
Tross  leider  über  die  Herkunft  des  Ms.  nichts  mittheilte,  bleibt 
ungewiss,  auf  welchem  Wege  diese  Hefte,  die  Brunn  auf  seiner 
letzten  Reise  vor  seiner  Gefangenschaft  begleiteten,  nach  Deutsch- 
land, und  später  nach  Paris  kamen.  Aus  folgenden  zwei  Tafeln 
ist  der  Zusammenhang  der  einzelnen  Theile  zu  ersehen: 


568 


W.   I,uf  fisla  wski, 


berslclit  der  einzelnen  Theile  des  nnedirfen  Ms.  von  einiisren  Werken  von  Giordai 
Kruno,  das  jetzt  sich  im  Moskauer  Rumianzow-Museuin  befindet. 


■•'(Jiiü- 


i       Hand- 
schrift 


lEiitfermiiig  iler  Na- 

[delstiche  vom  oberen 

Rand   in  mm 


Inhalt 


Bemerkungen. 


1  — .') 


7—10 
11-27 


r    28—38 
39—54 


55-63 

64-69 
70  -  86 


87—98 


II      99—160 


X 


161 


t      162-167 
167—182 


1    i  G.Bruno 


II 


III 

II 


II 


II 


G.  Bruno 


14,  62.   ]•.'■-',   188. 


keine      Nadelstiche 
vorhanden. 


Besler     18,    45,    165,   195, 

Besler   i  wo  der  Faden  auch 

i  jetzt  durchgeht  und 

!  noch:  10,  58.88,  93, 

i  119,  138,  M3,  178. 


II 

II 
II 


IV 


IV 


V 
V 


Besler 


Besler 


Besler 

Besler 
Besler 


Besler 


Besler 


G.Bruno     18,  45,   165.  195. 
X 


18,  45,  165,  195 
wo  der  Faden  auch 
jetzt  durchgeht  und 
ausserdem :  11,  96, 
146—152,  185  bis 
190. 

nurl8,45,165,195.  l 

18,  45,  165,  195  wo 
auch  jetzt  der  Faden  | 
durchgeht. 

9,][8,    46,  99,  147,1 

162,  183,200  durch  ' 

die  unterstrichenen  j 

geht  der  Faden. 

18,  45,  165,  195. 


Cunceptblktter  zu  j 
dem  Werk  Brunos  | 
„De  V i u c u li s  inj 
genere "  von  dem  ' 
ein  Fragment  auf  \ 
den  Bl.  87—98  er- 
halten ist.  Einzelne, 
nicht  immer  zusam-  \ 
menhängende     und  ' 

abgeschlossene 

Sätze,     von     denen 

viele  Bl.  87—98  sich 

wiederfinden. 

Zeichnung  und  Er- 
klärung zu  Bl.  39 
bis  54  gehörig. 
Auszug  oder  Ab- 
schrift ohne  Titel 
aus  einem  Werk  über 
magische  Wir- 
kungen,      nicht 

von  Bruno 
Commentar  zu  Bl.  7 
bis  27    wahrschein- 
lich von  Bruno. 

Werk  von  Bruno : 
„De  rerum  prin- 
cipiis  et  elemen- 
tis  etcausis"  un- 
vollständig ausge- 
arbeitet. 

Auszug   aus 

R.  Lullus. 

Wahrsch.  v.  B  r  u  n  o. 

Kurzer    Abriss    der 

ilagie,    wohl  nicht 

von  Bruno. 

Fragment  von   dem 

Werk     von     Bruno 

,De    vinculis    in 

g  e  n  e  r  e  " . 


Bl.  1  ix'ctu  stark  ve 
gillit  und  sclirautzi 
Bl.  1  und  4,  2  und 
hängen  zusamme 
und  liegen  im  Hef 
frei.  Alle  5  Blättl 
haben  einem  besoj 
deren  grösseren  He 
angehört.      ' 


liegt  frei  im  Heft,  ab 

nicht    au  der  Ste 

wo  es  hingehört 

B1.7rectoschmutzi 
und  Bl.  7— 27babi 
offenbar  ein  beso 
deres  Heft  gebiid« 


I  Bl.    28    recto     ui] 

i  Bl.  69   verso    etw 

i  beschmutzt.       De 

I  Aussehen  nach  ii 

;  beu   Bl.  28-63  e 

Heft  gebildet,  in  d 

zui  Ergänzung  noi 

die  Bl.  64-69  hi 

eingelegt  aber  nie 

angeheftet    wurde 


1-0 


3l,i-l() 

»iiili 


Ars     i  u  V  e  n  t  i  V  a 
per  30  statuas. 
ein  loses  Pergaraent- 
blatt  mit  einer  Zeich- 
nung. 

1.  Entw.  zudem  Aus- 
zug aus  R.  Lullus, 
der  Bl.  55—69  aus- 
gearbeitet vorliegt. 


Hat  allem  Ansehet 
nach  ein  besonder! 
Heft  gebildet. 

Hat  ein   besonder« 

Heft  gebildet.  B1.8 

recto  etwas  schmu| 

zig. 

ein  besonderes  He 


Rand      beschnitte; 

Bl.  162  recto    sei 

schmutzig  und  ve 

gilbt. 


"M6ü 


■Ö-1S3 

mi 


Joi'dani  Bruni  Noiani  Opera  inedita,  manu  piopria  scripta. 


569 


Uebersicht  der  verschiedenen  Papierarten,  die  in  dem  Ms.  vorkommen. 


1 

:                   j 

Entfer- 

t 

Entfernung    ;                     j 

Länge  des 

Breite  des 

nung  der 
Quer- 

der Längs- 

ausge- 

linien vom 

breiteten 

Bogens 

linien,  die 

oberen   Rand 

Papier 

Bogens 
von  oben 

von    links 
nat  li 

im   Bogen 
von    links 

jedes  Blattes, 
d.  h.  von  der 

Fabrik- 
zeichen 

Bemer- 
kunffeii 

nach      1       V  .    • 

nach 

Linie  auf  der 

O    " 

rectits  in 
unten  m  ! 

rechts 

der  Bogen  zu- 

mm             ">"! 

gehen,  in 

sammenge- 

mm 

legt  wurde 

I 

300-304  411-414 

L25 

9,  20,  43,  63, 

Ein   Krug    Der   Rand 

Bl.  1-5 

80,  107,  128, 

zwischen    [      unhe- 

gelblich 

15irT73, 
195  mm 

der  4.  und 
5.   Längs- 
linie  vom 
linken 

1  schnitten. 

—  zwischen 
diesen  beiden 

Linien  das 
Fal)rik- 

Rand    ge- 
rechnet. 

- 

zeichen 

11 

328 

418 

0,95 

11,  39,  70, 

Ein     klei- 

Der Rand 

Bl.  6     Bl. 
11—80 

98,  126,  154. 

nes  Schild 

un  be- 

182, 198 

auf  der 
5.    Längs- 
linie   von 

1  ■      1 

schnitten. 

ganz  gelb- 
braun 

—  auf  dieser 
Linie  das 

Fabrik- 
zeichen. 

Imks     ge- 
rechnet. 

111 

3-21 

410 

1,05 

14,  43, 

Ein 

Der  Rand 

Bl.7-10 

73,  101,  129, 

grosses 
Schild  mit 

unbe- 

beinah 

158,  187 

schnitten. 

weiss 

—  über  diese 
dreiLinien  er- 

zwei Pfei- 
len, eineoi 
Herz, 

streckt  sich 

das  Fabrik- 

einem 

zeichen. 

Kreuz  und 

einem 

Apfel. 

l\ 

308 

420 

0,77             : 

18,  47,  73, 

Ein 

Der  Rand 

Blatt 

! 

100,  127, 154, 

Hammer 

unbe- 

87—160 

181,  207. 

und  ein  E. 

schnitten. 

weiss 

V 

315 

428 

LH     1 

7Längslinien, 

Kein 

Der  Rand 

Rlatt 

•    schlecht 

Fabrik-     l 

be- 

XJltXvl. 

162—182 

sichtbar. 

zeichen. 

schnitten. 

ganz 

gelbbraun 

Alle  Maasangaben  sind  Mittelzahlen,  von  denen  die  einzelnen  Messungen 
häufig  um  1  —  2  mm.  abweichen.  Die  Entfernung  der  Querlinien  wurde  be- 
rechnet, indem  deren  Anzahl  in  20  mm.  gezählt  wurde. 


570  ^^-   I^ntosla  wski , 

Wie  man  sieht,  haben  w'w  hier  nicht,  wie  Noroff  in  seinem 
Catahjge  beliauptet  9  Tractate  von  Bruno,  sondern  nur 

1.  Ein  einziges  vollständiges  und  abgeschlossenes  Werk: 

„Ars  iuveniendi  per  XXXstatuas". 

2.  Ein  xwar  vollständiges,  aber  nicht  vollkommen  durch- 
gearbeitetes und  abgeschlossenes  Werk: 

De  rerum   principiis  et  elementis  et  causis. 

3.  Ein  l'ragment  von  12  Blättern  des  Werkes 

„De  viüculis  ingenere". 

4.  Den  Rest  bilden  verschiedene  Auszüge,  von  denen  einer 
aus  R.  Lullus  sowohl  in  seinem  ersten  Entwurf  als  auch  zum  Theil 
bearbeitet  vorhanden  ist;  die  beiden  anderen  Auszüge  aus  Werken 
über  Magische  Wirkungen  sind  nur  in  einer  Abschrift  da.  und 
rühren  vielleicht  gar  nicht  von  Bruno  her. 

Der  Schreiber  A.  der  mit  Ausnahme  der  Bl.  168—182  Alles 
was  nicht  von  Bruno  selbst  geschrieben  ist,  geschrieben  hat,  hat  zum 
Theil  abgeschrieben,  zum  Theil  nach  dem  Dictat  geschrieben,  wobei 
ihm  Schreibfehler  mitunterliefen,  aber  nicht  in  sehr  erheblicher  An- 
zahl. Dieser  Schreiber  könnte  Hieronimus  B es  1er  sein,  von  dem 
Bruno  in  seinem  Verhör  zu  Venedig  vor  dem  Inquisitionsgericht 
sagte,  dass  er  ihm  in  Padova  zwei  Monate  als  Schreiber  gedient  hat. 
Da  am  Schluss  der  „Ars  inventiva"  sich  das  Datum  22.  October 
1591  und  als  Ort  Padova  augeführt  findet,  so  könnten  diese  zwei 
Monate  oder  etwas  mehr,  sich  vom  1.  September  bis  zum  22.  October 
1591  erstreckt  haben,  übereinstimmend  mit  dem  Datum  am  Anfang 
und  Schluss  der  „Ars  inventiva".  Die  sorgfältige  Ausführung  dieser 
Ab.schrift  im  Vergleich  mit  den  übrigen  Theilen  des  Ms.  scheint 
darauf  hinzudeuten,  dass  Bruno  sie  für  eine  angesehene  Persön- 
lichkeit bestimmte,  vielleicht  für  den  Mocenigo,  der  ihn  aus  Deutsch- 
land nach  Italien  lockte,  und  später  so  verrätherisch  der  Inquisition 
überlieferte. 

Da  Besler  ein  Schüler  Brunos  gewesen  ist,  und  zwar  ein  aus 
Nürnberg  stammender  Deutscher,  so  ist  nicht  auffallend,  dass  er 
ihm  auch  schon  früher,  im  J.  1590,  als  Bruno  sich  in  Deutsch- 
land aufhielt,  Schreiberdienste  geleistet  hat,  und  so  erklärt  sich 
das  Datum   16.  März  1590.   das    neben  dem  Titel  der  Schrift  „De 


Jordnni   Hrimi  Xolaiii  Opera  inedita,  mann  [iropria  scripta.  571 

verum  pvincipis  et  elementis  et  causis"  7ai  lesen  ist.  Man  kann 
aber  auch  annehmen,  und  vielleicht  mit  grösserer  Wahrscheinlich- 
keit, dass  zum  Theil  diese  Zeitbestimmungen  sich  nicht  auf  die  Ab- 
schrift, sondern  auf  das  uns  nicht  erhaltene  Original  beziehen.  Jeden- 
falls ist  nicht  glaublich,  dass  alle  Hefte,  aus  denen  jetzt  unser  Ms. 
besteht,  in  kurzer  Zeit  oder  gleichzeitig  geschrieben  wurden:  dazu 
sind  die  Unterschiede  des  Inhalts  sowohl  als  auch  der  Ausführung 
zu  gross.  Es  ist  möglieli,  das  Besler  Giordano  Bruno  auf  der  ganzen 
Reise  von  Deutschland  nach  Italien  begleitet  hat,  und  dass  sich 
mit  der  Zeit  noch  andere  von  ihm  abgeschriebene  Werke  von 
Bruno  finden,  oder  wenigstens  das  Original  der  hier  unvollendeten 
und  sehr  sorgfältigen  Abschrift  „De  vinculis  in  genere^'.  Da  alle 
Papiere  und  Manuscripte  von  Bruno  durch  Mocenigo,  in  dessen 
Hause  er  zu  N'enedig  im  J.  1592  lebte,  der  Inquisition  überliefert 
wurden,  und  später  mit  Bruno  nach  Rom  kamen,  so  wäre  am 
ehesten  zu  hoffen,  dass  das  hier  noch  Fehlende  im  Vatican  ver- 
borgen liegt.  Vielleicht  ist  sogar  das  jetzt  in  Moskau  vorhan- 
dene Ms.  aus  dem  Vatican  auf  nicht  gesetzliche  Weise  entlehnt 
worden,  wodurch  sich  allein  erklären  Hesse,  dass  es  über  zwei  ein 
halb  Jahrhunderte  unbekannt  geblieben  ist,  während  alle  Werke 
von  Giordano  Bruno  stets  mit  hohen  Preisen  bezahlt  und  gesucht 
wurden.  Klarheit  in  dieser  dunkeln  Angelegenheit  würde  nur  dann 
zu  erreichen  sein,  wenn  die  Buchhandlung  Tross  etwas  Bestimmtes 
über  die  Herkunft  des  Ms.  mitgetheilt  hätte.  Noroff  weiss  nicht 
mehr  zu  sagen,  als  dass  er  es  durch  die  Vermittelung  der  Buch- 
handlung Tross  gekauft  hat.  Ob  erst  der  Buchhändler  Tross  die 
verschiedenen  Hefte  in  eins  zusammengeheftet,  oder  sie  schon  in 
dieser  Gestalt  „in  Deutschland",  wie  es  bei  Noroff  heisst,  vorge- 
funden hat,  bleibt  auch  ungewiss. 

Moskau,  d.  20.  Mai  1889.  W.  Lutoslawski. 


XXX. 

Einige  Beinerkimgen  über  die  sogenannte 
empiristisclie  Periode  Kants. 

Von 
G.  Heyniaus  in  Leiden. 

Es  hat  sich  während  der  letzteren  Decennieu  die  Kantliteratur 
in  so  schreckenerregender  Weise  angehäuft,  dass  man  fürchten 
könnte,  durch  Veröffentlichung  neuer  Ansichten  eher  die  Verwirrung 
noch  gründlicher  zu  machen,  als  zur  Klärung  derselben  etwas  bei- 
zutragen. Auch  erscheint  es  fast  übermiithig  zu  glauben,  dass 
man  über  einen  Gegenstand,  auf  welchen  schon  so  viel  Scharfsinn 
verwendet  worden  ist,  noch  etwas  Neues  und  zugleich  Richtiges 
vortragen  könnte.  Wenn  ich  es  dennoch  wage,  eine  Ansicht, 
welche  sich  mir  beim  Lesen  der  vorkritischen  Schriften  Kant's 
unabweislich  aufgedrängt  hat,  hier  zu  veröffentlichen,  so  kann 
ich  mich  nur  damit  entschuldigen ,  dass  diese  Ansicht  selbst, 
sowie  die  Gründe,  welche  ich  für  dieselbe  anführen  werde,  sehr 
einfach  ist;  demzufolge  dieselbe,  wenn  unrichtig,  in  kürzester  Zeit 
wird  abgeurtheilt,  begraben  und  vergessen  sein  können.  Wenn 
aber  richtig,  so  wird  sie,  wie  ich  glaube,  die  Entwicklung  Kant's 
bis  1770  etwas  natürlicher  und  einheitlicher  erscheinen  lassen  als 
bis  jetzt  möglich  war. 

Soviel  ich  weiss,  haben  alle  Schriftsteller  ohne  Ausnahme, 
welche  sich  mit  der  Vorgeschichte  des  Kriticismus  beschäftigten, 
angenommen,  dass  es  zwischen  den  Jahren  1755  und  1770 
eine    Zeit    gebe,    in    welcher    Kant    meinte,    „dass    alle    Wissen- 


i 


Einige  Bemerliungen  iiher  die  sog.  empiristische  Periode  Kaut's.     57B 

Schaft  des  Uebersiunlichen  ....  unmöglich  ....  sei" ');  in  welcher 
er  „erweiternde  (synthetische)  Erkenntnisse  apriori",  „Erkennt- 
niss  der  Dinge  an  sich  durch  die  ratio  pura"  verneinte "); 
nicht  glaubte,  „dass  man  aus  reiner  Vernunft  zu  der  Erkenntnis» 
von  Thatsachen  gelangen  könne"  ^).  Nun  ist  es  unbezweifelte 
Thatsache,  dass  Kant  sowohl  in  der  „Nova  Dilucidatio"  von  1755, 
als  in  der  Inauguraldissertation  von  1770  den  entgegengesetzten 
Standpunkt  einnimmt,  und  daraus  entsprang  dann  das  doppelte 
Problem,  erstens  jenen  Uebergang  zum  Empirismus,  zweitens  diesen 
Rückfall  in  den  Rationalismus  auf  befriedigende  Weise  zu  erklären. 
Wie  dies  möglich  sei,  darüber  herrscht  bekanntlich  ein  tiefgehen- 
der Streit.  Jenen  ersten  Frontwechsel  wollen  Einige  auf  den  Ein- 
fiuss  Hume's  zurückführen,  während  andere  für  diese  Zeit  densel- 
ben ganz  bestimmt  verwerfen;  der  zweite  wird  von  Einigen  der 
Einwirkung  der  „Nouveaux  Essais"  von  Leibniz  zugeschrieben, 
während  Andere  diese  Annahme  für  vollständig  „ausgeschlossen" 
erklären.  Diesem  Streit  gegenüber  wage  ich  nun  die  etwas  ver- 
messene Behauptung,  dass  derselbe  im  Grunde  gegenstandslos  ist. 
Zwischen  den  Jahren  1755  und  1770  hat  im  Kantischen 
Denken  keine  principielle  Revolution,  sondern  nur  eine 
regelmässig  fortschreitende  Entwicklung  stattgefunden. 
Fangen  wir  damit  an,  uns  über  den  Wortgebrauch  zu  ver- 
ständigen. Rationalismus  nennt  man  im  Allgemeinen  die  Ueber- 
zeugung,  dass  aus  dem  blossen  Denken,  ohne  Mitwirkung  der  Em- 
pfindung, Erkenntnisse  entspringen  können.  Dieser  Rationalismus 
kann  aber  sehr  verschiedener  Art  sein.  Es  kann  gemeint  sein, 
dass  sich  aus  den  logischen  Denkgesetzen  allein  diese  Erkenntnisse 
entwickeln  lassen,  oder  auch  dass  dazu  neben  den  logischen  Gesetzen 
noch  andere  im  reinen  Denken  gegebene  Grundbegriffe  oder  Grund- 
überzeugungen erforderlich  seien  (logischer-,  erkenntniss theo- 
retischer Rationalismus).  Es  kann  zweitens  behauptet  werden, 
dass    das    blosse  Denken   eine   vollständige,    das  Wesen    derselben 


')  Fischer,  Gesch.  d.  n.  Phil.  III  (3.  Aufl.)  268. 

^)  Vaihinger,  Viertelj.  f.  wiss.  Phil.  XI.  219. 

^)  Paulsen,  Entwickluugsgesch.  d.  Kant.  Erkeuntnissth.  97. 

Archiv  f.  (.iescliichte  d.  Philosophie.     II.  "'' 


fy'j^  G.  Heymans, 

erschöpfende  Erkenntniss  von  seinen  Objecten  erwerben  könne,  — 
oder  auch,  dass  es  nur  im  Stande  sei,  gewisse  allgemeine  Bestim- 
mungen derselben  zu  erfassen  (materialer  — ,  formaler  Ratio- 
nalismus). Endlich  kann  man  glauben,  dass  die  Objecte,  über 
welche  das  Denken  Aufklärung  giebt,  für  sich  existirende  Dinge,  — 
oder  auch,  dass  es  blosse  Erscheinungen  sind  (realistischer  — , 
idealistischer  Rationalismus).  Diese  dreifache  Unterscheidung 
setze  ich  bei  den  hier  folgenden  Untersuchungen  voraus. 

Sehen  wir  uns  zunächst  die  Schriften  aus  den  Jahren  1762/63 
uiul  1766  etwas  näher  an.  Dieselben  boten  l)is  jetzt  der  Inter- 
pretation unüberwindliche  Schwierigkeiten  dar.  Allgemein  hält  man 
sie  für  „Ausführungen  einer  und  derselben  Ansicht,  nämlich  des 
antirationalistischen  Princips:  es  giebt  aus  reiner  Vernunft  keine 
Wahrheit  über  Thatsachen"  (Paulsen  a.  a.  0.  45);  und  beruft  sich 
darauf,  dass  in  denselben  ganz  entschieden  die  Sterilität  der  logi- 
schen Gesetze  betont  und  die  Erfahrung  als  einzige  Grundlage  für 
die  Erkenntniss  specieller  Causalverhältnisse  anerkannt  wird.  Ist 
dann  der  Standpunkt  dieser  Schriften  derjenige  des  Empirismus? 
Jedenfalls  kaum  eines  bewussten  Empirismus:  denn  wie  hätte  Kant 
sonst,  von  zahlreichen  anderen  Incongruenzen  zu  sclnveigen,  eben 
in  dieser  Zeit  den  „Einzig  möglichen  Beweisgrund"  schreiben 
können?  Auch  findet  sich  in  den  sämmtlichen  vorkritischen 
Schriften  eine  unzweideutige  Erklärung  zu  Gunsten  des  Empiris- 
mus nicht  vor.  So  hat  man  denn  gemeint  annehmen  zu  müssen, 
Kant  schwebe  noch  in  einer  unhaltbaren  Mitte;  er  habe  zwar 
die  Principien  des  Rationalismus,  nicht  aber  alle  Anschauungen 
desselben  verworfen;  er  sei  sicher  in  der  Kritik  des  alten,  nicht 
aber  in  der  Ersetzung  desselben  durch  einen  neuen  Standpunkt. 
Mit  anderen  Worten:  man  glaubt  die  Sache  nur  erklären  zu 
können,  indem  man  bei  dem  vierzigjährigen  Kant  einen  Grad  der 
Unklarheit  und  der  Inconsequenz  voraussetzt,  der  genügen  würde 
einen  angehenden  Denker  für  sein  ganzes  Leben  hoffnungslos  zu 
discreditiren.  Einem  Kant  gegenüber  verdient  eine  solche  Erklä- 
rung kaum  noch  den  Namen. 

Demgegenüber    glaube  ich  nun   nachweisen   zu  können,    dass 
Kant  während  der  sechziger  Jahre  einen  scharf  bestimmten  erkennt- 


Einige  Bemerkungen  über  die  sog.  empiristische  Periode  Kant's.     575 

uisstheoretischen  Standpunkt  eingenommen,  denselben  in  der  Preis- 
sclirift  unzweideutig  dargestellt  und  in  den  übrigen  Schriften  mit 
vollster  Consequeuz  daran  festgehalten  habe.  Dieser  Standpunkt 
ist  derjenige  des  formalen,  erkenntnisstheoretischen,  reali- 
stischen Rationalismus.  Das  heisst  also:  Kant  hat  damals  ge- 
glaubt, dass  das  logische  Denken  nicht  an  und  für  sich,  sondern  i  n 
Verbindung  mit  gegebenen  Vernunftbegriffen,  aber  jeden- 
falls ohne  Hinzuziehung  von  Erfahrungsbegriflfen ,  zur  Erkenntniss 
gewisser  allgemeiner  Bestimmungen  der  existirenden  Dinge 
gelangen  könne;  —  dass  aber  Erfahrung  erforderlich  sei,  um  diesen 
allgemeinen  Bestimmungen  Inhalt  zu  geben  und  die  concrete  Be- 
schaffenheit und  Wirkungsweise  der  Dinge  kennen  zu  lernen.  Ich 
werde  jetzt  versuchen,  diesen  Standpunkt  aus  der  Preisschrift  zu 
erläutern. 

Die  Preisschrift  fängt  damit  an,  die  Anwendung  der  mathe- 
matischen Methode  in  der  Philosophie  (=  Metaphysik  und  Natur- 
wissenschaft) mit  den  bekannten  Gründen  zu  bestreiten.  Die  Phi- 
losophie solle  nicht  aus  allgemeinsten  Begriffen  deductiv-synthetisch 
ein  System  aufbauen,  sondern  durch  Analyse  der  gegebenen  „ver- 
worrenen Begriffe"  (Begriff  =  Vorstellung,  „idea")  den  wesentlichen 
Inhalt  derselben  kennen  lernen.  Soviel  von  der  Methode.  Das 
Object  der  Untersuchung,  die  aufzuklärenden  verworrenen  Begrifi'e, 
findet  die  Naturwissenschaft  in  den  Wahrnehmuugsdaten;  wo  findet 
es  aber  die  Metaphysik?  „Die  Metaphysik  ist  nur  eine  auf  allge- 
meinere Vernuufteinsichteu  angewandte  Philosophie"  (I.  100)'*). 
Dass  es  solche  Vernunfteinsichten  giebt,  ist  für  Kant  nicht  zweifel- 
haft: „es  ist  aus  Erfahrung  bekannt:  dass  wir  durch  Vernunft- 
griinde,  auch  ausser  der  Mathematik,  in  vielen  Fällen  bis  zur 
Ueberzeuguug  völlig  gewiss  werden  können"  (I.  100).  Keineswegs 
sind  aber  diese  reinen  Veruunfteinsichten  auch  schon  in  klaren 
Begriffen  gegeben:  „in  der  Metaphysik  habe  ich  einen  Begriff,  der 
mir  schon  gegeben  worden,  obzwar  verworren;  ich  soll  den  deut- 
lichen,   ausführlichen    und    bestimmten   davon   aufsuchen"   (I.  89). 


*)  Die  Citate  aus  Kant    beziehen    sich    auf  die  Roseukranz-Schubert'sche 
Ausgabe. 

39* 


f 


57G  *''■  H'^ymans, 

Diesen  Zweck  zu  erreichen,  giebt  es  nur  Einen  Weg:  man  soll 
durch  Selbstbesinnung  sich  des  eigentlichen  Inhaltes  jener  Ver- 
nunl'teinsichten  vergewissern,  und  dann  dieselben  einerseits  auf 
einfachere  und  allgemeinere  zurückzuführen  versuchen,  andererseits 
als  Grundlage  zu  weiteren  Folgerungen  benutzen.  „Die  ächte  Me- 
thode der  Metaphysik  ist  mit  derjenigen  im  Grunde  einerlei,  die 
Newton  in  die  Naturwissenschaft  einführte,  und  die  daselbst  von 
so  nutzbaren  Folgen  war.  Man  soll,  heisst  es  daselbst,  durch 
sichere  Erfahrungen,  allenfalls  mit  Hülfe  der  Geometrie,  die  Regeln 
aufsuchen,  nach  welchen  gewisse  Erscheinungen  der  Natur  vor- 
gehen. Wenn  man  gleich  den  ersten  Grund  davon  in  den  Körpern 
nicht  einsieht,  so  ist  gleichwohl  gewiss,  dass  sie  nach  diesem  Ge- 
setze wirken,  und  man  erklärt  die  verwickelten  Naturbegebenhei- 
ten, wenn  man  deutlich  zeigt,  wie  sie  unter  diesen  wohlerwiesenen 
Hegeln  enthalten  seyen.  Ebenso  in  der  Metaphysik:  suchet  durch 
sichere  innere  Erfahrung,  d.  i.  ein  unmittelbares  augenscheinliches 
Bewusstseyn,  diejenigen  Merkmale  auf,  die  gewiss  im  Begrift'e  von 
irgend  einer  allgemeinen  Beschaffenheit  liegen,  und  ol)  Ihr  gleich 
das  ganze  Wesen  der  Sache  nicht  kennt,  so  könnt  Ihr  Euch  doch 
derselben  sicher  bedienen,  um  Vieles  in  dem  Dinge  daraus  herzu- 
leiten" (1.  92). 

Man  wird  mir  einräumen,  dass  dieser  Standpunkt  an  princi- 
pieller  Klarheit  nichts  zu  wünschen  übrig  lässt.  Man  mag  den- 
selben richtig  oder  unrichtig  finden;  man  muss  aber  gestehen,  dass 
es  ein  Standpunkt  ist,  auf  dem  sich  stehen  und  nicht  blos  schweben 
lässt.  Auch  dass  derselbe  sich  einerseits  von  dem  logischen  Ra- 
tionalismus, andererseits  von  dem  Empirismus  scharf  genug  ab- 
grenzt. Es  i.st  nur  die  Frage,  ob  Kant  denselben  auch  in  den 
übrigen  Schriften  dieser  Periode  consequeut  festgehalten,  ausgeführt 
und  angewendet  hat. 

Offenbar  muss  nun  diese  Frage  wenigstens  für  die  Schrift  über 
den  Einzig  möglichen  Beweisgrund  unbedingt  zustimmend  beant- 
wortet werden.  Hier  wird  dem  Leser  gleichsam  ad  oculos  vor- 
deraonstrirt,  wie  man  einer  Sache  „durch  Vernunftgründe  bis  zur 
Ueberzeugung  völlig  gewiss  werden  kann":  aus  dem  blossen  Ver- 
nunft l)egrift'   des   Möglichen    wird    zu    beweisen   gesucht,    dass   ein 


1 


I 


Einige  Bemerkungen  über  die  sog.  empiristische  Periode  Kant's.     577 

absolut  nothwendiges  Wesen  existiren  und  dass  demselben  die 
Göttlichen  Eigenschaften  zukommen  müsse.  Auch  ist  Kant  über 
die  Natur  dieses  Beweises  sich  vollständig  klar:  „Der  Beweisgrund 
von  dem  Daseyn  Gottes,  den  war  geben,  ist  lediglich  darauf  erbaut, 
weil  etwas  möglich  ist.  Demnach  ist  es  ein  Beweis,  der  vollkom- 
men a  priori  geführt  werden  kann.  Es  w^ird  weder  meine  Exi- 
stenz, noch  die  von  andern  Geistern,  noch  die  von  der  körperlichen 
Welt  vorausgesetzt"  (I.  195).  Hätte  aber  wirklich  Kant,  wie  die 
Interpreten  behaupten,  schon  damals  eingesehen,  „dass  durch 
blosses  Denken  niemals  Dasein  zu  erkennen  ist"  (Fischer  IIL  211), 
so  liesse  sich  doch  vermuthen,  dass  er  etwas  von  dem  Widerspruch 
bemerkt  haben  würde.  Thatsächlich  aber  liegt  kein  Widerspruch 
vor:  Kant  hat  nur  eingesehen,  dass  durch  logisches  Denken  allein 
kein  Dasein  zu  erkennen  ist,  und  darum  verwirft  er  den  „Carte- 
sianischen"  Beweis.  Mit  Unrecht  haben  dann  auch  Fischer  (III.  211) 
und  Paulsen  (61)  gemeint,  dass  in  der  Kantischen  Kritik  dieses 
Beweises  schon  diejenige  seines  eigenen  enthalten  sei.  Es  ist  ganz 
etwas  Anderes,  aus  dem  willkürlich  construirten  Begriff 
eines  Dinges  die  Existenz  desselben  beweisen  zu  wollen,  — •  oder 
zu  glauben,  dass  durch  Zergliederung  gegebener  Vernunft- 
begriffe gewisse  allgemeinste  Bedingungen  alles  Daseins  erschlossen 
werden  können.  Allerdings  könnte  man,  wie  Fischer  (III.  211) 
ausführt,  aus  dem  Begriff  Gottes  auf  seine  Möglichkeit,  daraus  auf 
Möglichkeit  überhaupt  schliessen,  und  so  den  alten  Beweis  in  den 
neuen  überführen,  —  aber  nur  vermittelst  des  Vernunftbe- 
griffes  der  Möglichkeit.  —  Der  Kantische  Beweis  mag  werth- 
los  sein:  das  gebe  ich  gern  zu,  aber  er  pas.st  vollkommen  auf 
seinen  damaligen,  in  der  Preisschrift  entwickelten  Standpunkt. 
Auch  findet  er  sich  in  der  Preisschrift  schon  in  allgemeinen  Um- 
rissen angedeutet  (I.  106 — 107),  und  wird  dort  hinzugefügt:  „in 
allen  Stücken  demnach,  w^o  nicht  ein  Analogon  der  Zufälligkeit 
anzutreffen  ist,  kann  die  metaphysische  Erkenntniss  von  Gott  sehr 
gewiss  seyn."  Auch  Kant  selbst  betrachtete  demzufolge  seinen 
Gottesbeweis  als  ein  erstes  Ergebniss  jener  neuen  Methode,  welche 
er  in  seiner  wichtigsten  vorkritischen  Schrift  der  Metaphysik  zu 
Grunde  legen  wollte. 


578  G.  Heymaas, 

Es  ist  nicht  schwer,    aus  diesen  und  den  anderen  Kantischen  * 

Schriften  dieser  Periode  weitere  Belege  für  das  Fortwirken  derselben  '*' 
Denkrichtung  anzuführen.  Als  Objecte  reiner  Vernunfterkenntniss 
■werden  genannt,  und  theilweise  nach  der  in  der  Preisschrift  empfoh- 
lenen Methode  untersucht,  die  Begriffe  des  Raumes  und  der  Zeit 
(1.84,89;  116;  VII.  61),  des  Daseins  (I.  169— 17B),  des  Körpers  und 
der  Materie  (I.  92—94,  205—207),    der  einfachen  Elemente  der-  ^ 

selben  (I.  83),  der  Vorstellung  und  der  verschiedenen  Gefühle 
(I.  84),  und  Andere;  offenbar  hat  Kant  damals  noch  unter  Ver- 
nunfterkenntniss alle  von  der  äusseren  Erfahrung  unabhängige  Er- 
kenntniss  zusammengefasst.  Als  reine  Vernunfteinsichten  werden, 
ausser  der  Gewissheit  von  dem  Dasein  Gottes,   augeführt  oder  an-  - 

gewendet  die  Sätze:    dass  „um  etwas  Positives,  was  da  ist,  aufzu-  - 

heben,  eben  sowohl  ein  wahrer  Realgrund  erfordert  (wird),  als  um 
es  hervorzubringen,  wenn  es  nicht  ist"  (I.  142);  —  dass  „in  allen 
natürlichen  Veränderungen    der  Welt  ....  die   Summe    des  Posi-         " 
tiven  ....  weder  vermehrt  noch  vermindert  (wird)"  (I.  148);  — 
dass  „die  Folge  den  (Real-)  Grund  nicht  übertreffen  kann"  (I.  192); 
—   dass  „wenn  etwas  da  ist,  ....  auch  etwas  (existirt),  was  von    ^       1 
keinem  andern  Dinge  abhängt"  (I.  280);  —  dass  „die  Substanzen    fl» 
....  welche  Elemente    der  Materie    sind,  ....  einen   Raum   luu-        h\ 
durch  die  äussere  Wirkung  in  andre  einnehmen,    für  sich   beson-     |    ab 
ders  aber  ....  keinen  Raum  (enthalten)"  (VII.  41);  —  dass  „eine    HJisii 
jede  Substanz,    selbst    ein    einfaches    Element    der   Materie,    doch         m-i 
irgend  eine  innere  Thätigkeit  als  den  Grund  der  äusserlichen  Wirk- 
samkeit haben  (muss),    wenn   ich    gleich    nicht    anzugeben  w'eiss, 
worin  solche  bestehe"  (VII.  46).     Von  der  Metaphysik,  dieser  „auf 
allgemeinere  Vernunfteinsichten  angewandten  Philosophie",  schreibt    | 
er  S.April  1766  an  Mendelssohn:    „Ich  bin  so  weit   entfernt,    die 
Metaphysik  selbst,    objectiv   erwogen,    für  gering  oder  entbehrlich 
zu    halten,    dass   ich   vornehmlich    seit   einiger  Zeit,    nachdem   ich 
glaube,    ihre  Natur   und   die  iin-  unter  den  menschlichen  Erkennt- 
nissen cigenthümliche  Stelle  einzusehen,  überzeugt  bin.  dass  sogar 
das  wahre  und  dauerhafte  Wohl  des  menschlichen  Geschlechts  auf 
sie   ankomme"  (XL  8).     Und   in  der  „Nachricht  von  der  Einrich- 
tung   seiner  Vorlesungen    in   dem   A\'interhalbjahr    von   1765 — 6^^ 


Eiuige  Beiuerkungeu  über  die  sog.  empiristische  Periode  Kant's.     579 

beruft  sich  Kant  ausdrücklich  auf  die  Preisschrift  von  1762,  und 
erklärt  „(er)  habe  seit  geraumer  Zeit  nach  diesem  Entwürfe  gear- 
beitet", und  hoffe  „auf  diesem  Wege"  bald  so  weit  zu  kommen, 
„dasjenige  vollständig  darlegen  zu  können,  was  (ihm)  zur  Grund- 
legung (seines)  A^ortrages  in  der  genannten  AVissenschaft  (die  Meta- 
physik) dienen  (könne)"  (I.  293). 

Es  dürfte  demnach  nicht  mehr  zweifelhaft  sein,  dass  der 
formal- erkenntnisstheoretische  Rationalismus  in  dem  Kantischen 
Denken  der  60er  Jahre  eine  ganz  hervorragende  Stelle  einnimmt.  Es 
bleibt  aber  die  Frage,  ob  sich  daneben  vielleicht  Aeusserungeu 
Kant's  nachweisen  lassen,  welche  mit  diesem  Rationalismus  im 
Widerspruch  stehen  und  sich  nur  empiristisch  erklären  lassen.  Ich 
habe  nach  solchen  Aeusserungeu  eifrig  gesucht,  und  ich  werde 
Nichts  von  demjenigen  was  ich  gefunden  habe,  dem  Leser  vorent- 
halten. Insbesondere  werde  ich  diejenigen  Thatsachen,  welche  von 
den  Interpreten  als  Beweise  für  den  zeitweiligen  Empirismus 
Kant's  angeführt  worden  sind,  in  möglichster  Vollständigkeit  vor- 
führen und  die  Beweiskraft  derselben  untersuchen. 

Es  finden  sich  nämlich  erstens  zahlreiche  Stelleu,  welche  auf 
eine  klare  üeberzeugung  von  der  Werthlosigkeit  der  herrschenden 
Metaphysik  und  auf  einen  steigenden  Unwillen  gegen  die  Ver- 
treter derselben  hinweisen.  Da  aber  diese  herrschende  Metaphysik 
fast  ohne  Ausnahme  dem  Wolff 'sehen,  material-logischen  Rationa- 
lismus huldigte,  kann  aus  jenen  Aeusserungeu  nur  geschlossen 
werden ,  dass  Kant  diesem  material  -  logischen ,  keineswegs  aber 
dass  er  dem  Rationalismus  überhaupt  entsagt  habe,  oder  gar  zum 
Empirismus  übergetreten  sei. 

Es  finden  sich  zweitens  deutliche  Spuren  einer  scharf  aus- 
geprägten Vorliebe  für  empirische  Untersuchungsmethoden.  Aber 
empirische  Methode  ist  mit  Empirismus  keineswegs  identisch.  Auch 
der  formale  Rationalismus  ist  für  den  concreten  Inhalt  der  Er- 
scheinungen auf  die  Erfahrung  angewiesen;  und  selbst  die  allge- 
meinen Vernunfteinsichten,  welche  derselbe  voraussetzt,  kann  er 
auf  empirischem  Wege,  durch  Erforschung  der  gegebenen  Denk- 
erscheinungen, aufsuchen.  Eben  dieses  war,  wie  wir  gesehen  haben, 
die  Meinung  der  Preisschrift. 


580  G.  Heymans, 

Drittens  sind  es  aber  ganz  besonders  die  auf  das  Causalver- 
hiiltniss  sich  beziehenden  ürtheile  gewesen,  welche  Kant  den  Namen 
eines  Empiristen  oder  gar  Skeptikers  eingebracht  haben.  Betrachten 
wir  demnach  dieselben  etwas  genauer.  In  der  Schrift  über  die 
negativen  Grössen  wird  zuerst  die  Frage  aufgeworfen:  „wie  soll 
ich  es  verstehen,  dass,  weil  Etwas  ist,  etwas  anderes  sey"?  (I.  158). 
Und  nachdem  Kant  dieselbe  ausführlich  erläutert,  bittet  er  den 
Leser  zu  versuchen,  „ob  man  etwas  mehr  sagen  könne,  als  was  ich 
davon  sagte,  nämlich,  lediglich,  dass  es  nicht  durch  den  Satz  des 
AViderspruchs  geschehe"  (I.  159).  Aehnlich  in  den  anderen 
Schriften:  „wie  etwas  könne  eine  Ursache  seyn  oder  eine  Kraft 
haben  ist  unmöglich,  jemals  durch  Vernunft  einzusehen,  sondern 
diese  Verhältnisse  müssen  lediglich  aus  der  Erfahrung  genommen 
werden.  Denn  unsere  Vernuuftregel  geht  nur  auf  die  Vergleichung 
nach  der  Identität  und  dem  Widerspruche.  So  ferne  aber  Etwas 
eine  Ursache  ist,  so  wird  durch  Etwas  etwas  Anderes  gesetzt,  und 
es  ist  also  kein  Zusammenhang  vermöge  der  Einstimmung  anzu- 
treffen; wie  denn  auch,  wenn  ich  eben  dasselbe  nicht  als  eine 
Ursache  ansehen  will,  niemals  ein  Widerspruch  entspringt,  weil  es 
sich  nicht  contradicirt:  wenn  Etwas  gesetzt  ist,  etwas  Anderes  auf- 
zuheben. Daher  die  Grundbegriffe  der  Dinge  als  Ursachen,  die 
der  Kräfte  und  Handlungen,  wenn  sie  nicht  aus  der  Erfahrung 
hergenommen  sind,  gänzlich  willkürlich  sind,  und  wedc;-  bewiesen, 
noch  widerlegt  werden  können.  Ich  weiss  wohl,  dass  das  Denken 
und  Wollen  meinen  Körper  bewege,  aber  ich  kann  diese  Erscheinung, 
als  eine  einfache  Erfahrung,  niemals  durch  Zergliederung  auf  eine 
andere  bringen,  und  sie  daher  wohl  erkennen,  aber  nicht  einsehen" 
(VIT.  102 — 103,  Träume  eines  Geistersehers).  Und  in  dem  bereits 
angeführten  Brief  an  Mendelssohn:  „.  .  .  .  so  fragt  man,  ob  es  an 
sich  möglich  .sey,  durch  Vernunfturtheile  a  priori  diese  Kräfte 
geistiger  Substanzen  auszumachen.  Diese  Untersuchung  löst  sich 
in  eine  andere  auf,  ob  man  nämlich  eine  primitive  Kraft  d.  i.  ob 
man  das  erste  Grundverhältniss  der  Ursache  zur  Wirkung  durch 
Vernunftschlüsse  erfinden  könne,  und  da  ich  gewiss  bin,  dass  dieses 
unmöglich  sey,  so  folgt,  wenn  mir  diese  Kräfte  nicht  in  der  Er- 
fahrung   gegeben    sind,    dass  sie    nur    gedichtet    werden    können" 


Einige  Bemerkungen  über  die  sog.  empiristische  Periode  Kant's.     581 

(XI.  10).  —  Was  wird  nun  eigentlich  in  diesen  Sätzen  behauptet? 
Offenbar  nichts  anderes,  als  dass  man  aus  dem  blossen  Begriffe 
eines  als  Ursache  auftretenden  Dinges  oder  Ereignisses  durch  logische 
Schlussfolgerung  nicht  die  zugehörige  AYirkung  auffinden  könne, 
sondern  dafür  ausnahmslos  auf  die  Erfahrung  angewiesen  sei.  Mit 
anderen  Worten:  Kant  verneint  erstens  den  logischen  Rationalis- 
mus, der  iiehauptet,  dass  sich  die  Wirkung  aus  der  Ursache,  wie 
die  Folge  aus  dem  Grunde,  logisch  deduciren  lasse;  er  verneint 
zweitens  den  materialen  Rationalismus,  demzufolge  es  möglich  wäre, 
aus  reiner  Vernunft  (sei  es  auch  unter  Hinzuziehung  anderer  als 
der  rein  logischen  Vernunftbegriffe)  den  ganzen  Weltlauf  zu  recon- 
struiren.  Aber  keineswegs  verneint  er  das  Gegebensein 
abstracter  causaler  Begriffe  und  causaler  Grundsätze  aus 
reiner  Vernunft,  keineswegs  auch  die  Geltung  derselben 
für  die  reale  Welt.  Dass  alles  Entstehen  und  Vergehen  causal 
bedingt  sei,  dass  dabei  zwischen  Ursache  und  Wirkung  vollstän- 
dige Aequivalenz  stattfinde,  das  wird,  wie  wir  gesehen  haben,  in 
eben  derselben  Schrift,  welche  am  klarsten  und  ausführlichsten 
die  Unbegreiilichkeit  specieller  Causalverhältnisse  darthut,  ausdrück- 
lich gelehrt  und  nach  Kant's  eigenen  Worten  „aus  metaphysischem 
Grunde  hergeleitet"  (I.  149).  Dass  „die  Folge  den  (Real-)Grund 
nicht  übertreffen  kann"  (I.  192),  wird  in  dem  „Einzig  möglichen 
BeAveisgrund"  als  selbstverständlich  vorausgesetzt;  und  in  derselben 
Schrift  findet  sich  eine  ausführliche  Erörterung  über  nothwendige, 
in  der  Möglichkeit  der  Dinge  begründete  und  selbst  von  dem  gött- 
lichen Willen  unabhängige  Wirkungen  derselben  (I.  207 — ^209); 
sowie  die  Vermuthung,  dass  „die  Verhältnisse  des  Raums  .... 
Mittel  an  die  Hand  geben  können,  die  Regeln  der  Vollkommenheit 
in  natürlich  nothwendigen  Wirkungsgesetzen,  in  so  ferne  sie  auf 
Verhältnisse  ankommen,  aus  den  einfachsten  und  allgemeinsten 
Gründen  zu  erkennen"  (I.  250).  Und  in  den  Träumen  eines 
Geistersehers  gilt  es  als  apodiktisch  gewiss,  dass  „eine  jede  Sub- 
stanz, selbst  ein  einfaches  Element  der  Materie,  doch  irgend  eine 
innere  Thätigkeit  als  den  Grund  der  äusserlichen  Wirksamkeit 
haben  (muss),  ob  ich  gleich  nicht  anzugeben  weiss,  worin  solche 
bestehe"  (VIT.  46).     Offenbar   können    alle    diese   Einsichten   nicht 


582  Gr.  Heymans, 

der  Erfahrung  zu  verdanken  sein.  Denkt  man  sich  Kant  als  Em- 
piristen, so  können  dieselben  nur  wieder  der  Nachwirkung  früherer 
Anschauungen  zugeschrieben  werden;  liest  man  aber  in  seinen 
Worten  nicht  mehr  als  darin  enthalten  ist,  so  schliessen  sich  diese 
mit  den  vorher  citirten  Aussprüchen  ganz  leichf  unter  dem  gemein- 
samen Gesichtspunkte  des  formal-erkenntnisstheoretischen  Rationa- 
lismus zusammen^).  Kant  hat  gemeint,  die  Begriffe  der  Ursache 
und  der  "Wirkung,  mitsammt  den  causalen  Grundsätzen,  seien  als 
reine  Yernunftbegriffe,  wenn  auch  in  „verworrenem"  Zustande  ge- 
geben; auf  die  logischen  Grundbegriffe  seien  dieselben  aber  nicht 
zurückzuführen;  und  über  specielle  Causalverhältnisse  könne  nur 
die  Erfahrung  uns  belehren. 

Der  geneigte  Leser  hat  ein  Recht,  ungeduldig  zu  werden. 
Giebt  es  denn  gar  keine  Aeusserungen  Kant's,  so  wird  er  fragen, 
welche  die  herrschende  Ansicht  von  dem  Kantischen  Empirismus 
oder  Skepticismus  bestätigen?  —  Ich  habe,  wie  gesagt,  eifrig  und 
wiederholt  nach  solchen  gesucht;  und  ich  gestehe  offen,  dass  ich 
über  das  Ergebniss   dieser  Untersuchung  selbst  im  höchsten  Grade 


^)  Wie  weit  eine  vorgefasste  Meinung  selbst  den  redlichsten  Forscher 
führen  kann,  erhellt  aus  Kuno  Fischer's  Referat  über  die  Kantische  Wider- 
legung des  kosmologischea  Beweises.  »Auf  (der)  zweifachen  Täuschung  über 
die  logische  Erkennbarkeit  des  Realgrundes  und  des  Daseins  ruht  der  kos- 
mol'ogische  Beweis:  er  setzt  voraus,  dass  etwas  existire,  was  von  anderem  ab- 
hänge, es  müsse  daher  ein  Wesen  geben,  das  von  keinem  anderen  abhänge, 
also  schlechterdings  nothwendig  sei  und  darum  alle  Vollkommenheiten  in  sich 
vereinige;  er  schliesst  von  dem  Dasein  der  Welt  als  Wirkung  auf  die  Exi- 
stenz Gottes  als  Ursache.  Dieser  Schluss  ist  unmöglich,  weil  die  Verknüpfung 
zwischen  Ursache  und  Wirkung  (Realgrund)  durch  keinerlei  logische  Folge- 
rung begreiflieh  gemacht  werden  kann.  Auch  ist  der  Begriff  eines  schlechter- 
dings nothwendigen  Wesens  kein  empirischer,  sondern  ein  blosser  Begriff:  daher 
endet  der  kosmologische  Beweis,  wie  der  ontologische  anfängt"  (Fischer  III.  '201). 
Es  ist  aber  einfache  Thatsache,  dass  Kant  an  der  bezeichneten  Stelle  (Einz. 
mögl.  Beweisgr.  Abth.  III.  1—4)  den  Schluss  von  dem  Dasein  der  Welt  als 
Wirkung  auf  die  Existenz  Gottes  als  Ursache  nicht  nur  nicht  al>lehnt, 
sondern  ausdrücklich  als  eine  „regelmässige  Folgerung"  (I.  280) 
anerkennt.  Offenbar  hat  Fischer  unbewusst  seine  eigene  Auffassung  der 
Kaiitischen  Lehre  in  ilie  Darstellung  der  Kantischeu  (iedanken  liiueinge- 
mischt;  wovon  mau  sich  duicii  Vergleichung  der  betreffenden  Stellen  über- 
zeugen wolle. 


Einige  Bemerkungen  über  die  sog.  empiristische  Periode  Kant's.     583 

erstaunt  gewesen  bin.  Ich  habe  nämlich  in  den  sämmtlichen 
zwischen  1760  und  1770  erschienenen  Schriften  Kant's  nur  drei 
oder  vier  vereinzelte  Aussprüche  auftreiben  können,  welche  mit 
meiner  Autfassung  im  Widerspruch  zu  stehen  schienen.  In  der 
Falschen  Spitzfindigkeit  heilst  es  zweimal:  „dass  die  obere  Erkennt- 
nisskraft .schlechterdings  nur  auf  dem  Vermögen  zu  urtheilen  be- 
ruhe" (I.  72,  73);  und  in  den  Träumen  eines  Geistersehers:  „unsere 
Vernunftregel  geht  nur  auf  die  Vergleichung  nach  der  Identität 
und  dem  Widerspruche"  (VII.  103);  es  wäre  zu  erwarten  gewesen, 
dass  Kant  hier  auch  die  „reinen  Vernunftbegrifi'e"  erwähnt  hätte. 
Sodann  findet  sich  in  der  zuletztgeuannten  Schrift  noch  der  Aus- 
spruch, neben  der  w^enig  lohnenden  Aufgabe,  verborgenem  Eigen- 
schaften der  Dinge  durch  Vernunft  nachzuspähen,  gäbe  es  für  die 
Metaphysik  noch  die  andere:  „einzusehen,  ob  die  Aufgabe  aus 
demjenigen,  was  man  wissen  kann,  auch  bestimmt  sey,  und  welches 
Verhältniss  die  Frage  zu  den  Erfahrungsbegriffen  habe,  darauf 
sich  alle  unsre  Urtheile  jederzeit  stützen  müssen"  (VII. 
99).  Auch  diese  Stelle  lautet  entschieden  empiristisch.  —  Ich 
will  nun  nicht  einmal  fragen  (obgleich  es  vielleicht  nicht  schwer 
wäre  die  Frage  zu  beantworten),  ob  sich  nicht  diese  Aeusserungen 
aus  dem  Orte  wo  sie  stehen  oder  dem  Zweck  der  sie  enthaltenden 
Schriften  erklären  Hessen;  ich  bitte  nur  den  Leser  zu  überlegen, 
was  wahrscheinlicher  ist:  dass  Kant  einige  Male,  in  der  Hast  des 
Schreibens  oder  in  der  Erregung  des  Gemüths,  einen  unpassenden 
Ausdruck  für  seine  Gedanken  gewählt  habe,  —  oder  dass  die  ganze 
Preisschrift  ein  unverständlicher  Mischmasch,  der  Einzig  mögliche  Be- 
weisgrund eine  einzige  riesige  Inconsequenz,  und  die  sämmtlichen 
Schriften  dieser  Periode  ein  Tummelplatz  kleinerer  Inconsequenzen 
sein  sollten. 

Es  bleibt  nur  noch  die  Frage:  wenn  sich  wirklich  so  wenig 
zu  Gunsten  des  behaupteten  Kantischen  Empirismus  anführen  lässt, 
wie  ist  es  dann  zu  erklären,  dass  derselbe  nachgerade  zu  einem 
Dogma  in  der  Geschichte  der  Philosophie  geworden  ist?  Ich  finde 
hierfür  nur  zwei  Gründe.  Der  erste  liegt  in  der  Vernachlässigung 
des  Unterschiedes  zwischen  logischem  und  erkenntnisstheoretischem 
Rationalismus,  demzufolge  man  überall,  wo  ersterem  widersprochen 


584  G.  Hey  maus, 

wurde,  diesen  Widerspruch  auf  den  Rationalismus  überhaupt  aus- 
gedehnt und  auf  Empirismus  geschlossen  hat.  Dass  die  behauptete 
Vernachlässigung  hier  wirklich  vorliegt,  bezeugen  mehrere  Stellen 
aus  Fischer's  Geschichte:  „so  ist  der  Satz  vom  Grunde  ....  nicht 
mehr  dem  blossen  Denken  einleuchtend  oder  logisch  er- 
kennbar" (III.  183);  „der  Satz  vom  Realgrund  ist  demnach 
kein  Denkgesetz,  keine  logische  Regel"  (III.  191);  „die 
Existenz  kein  logischer  Begriff,  sondern  ein  Erfahrungs- 
begriff" (III.  211).  In  gleicher  Weise  Paulsen:  „Der  Satz  des 
Grundes  oder  das  Gesetz  der  Causalität  ist  nicht  identisch  mit 
dem  Gesetz  des  Widerspruchs  oder  der  Identität.  Eben  deshalb 
ist  es  nicht  ein  Princip  reiner  Yernunfturtheile"  (73).  Ueberall 
wird  vorausgesetzt,  dass  es  in  der  Erkenntniss  kein  Drittes  gebe 
neben  logischem  Gesetz  und  Erfahrung:  nach  Kant  giebt  es  aber 
ein  Drittes:  die  reinen  Vernunfturtheile.  —  Der  zweite  Grund 
liegt  in  dem  Mythus  von  der  frühzeitigen  Einwirkung  Hume's. 
Die  selbst  im  Wortlaut  beinahe  identische  Problemstellung  in  den 
„Negativen  Grössen"  und  in  Hume's  Essay,  in  Verbindung  mit 
der  bekannten  Erzählung  Borowski's,  mussten  offenbar  den  Gedan- 
ken nahe  legen,  Kant  habe  sich  vollständig  den  Hume'schen  An- 
schauungen angeschlossen.  Nachdem  aber  die  Untersuchungen  der 
letzteren  Jahre  es  stets  wahrscheinlicher  gemacht  haben,  dass  die 
theoretische  Philosophie  Hume's  erst  viel  später  in  Kaufs  Entwick- 
lung eingegriffen  habe,  ist  auch  dieser  letzte  Grund  für  die  An- 
nahme einer  empiristischen  Periode  im  Kantischen  Denken  hinfällig 
geworden. 

Man  hat  in  der  Preisschrift  nicht  nur  Empirismus,  sondern 
auch  Spuren  von  altwolffischem  (logischem)  Rationalismus  nach- 
weisen zu  können  geglaubt.  Als  solche  werden  von  Paulsen 
(79 — 82)  folgende  Kantische  Sätze  angeführt:  „Alle  wahren  Ur- 
theile  müssen  entweder  bejahend  oder  verneinend  seyn.  Weil 
die  Form  einer  jeden  Bejahung  darin  besteht,  dass  etwas  als  ein 
Merkmal  von  einem  Dinge,  d.  i.  als  einerlei  mit  dem  Merkmale 
eines  Dinges  vorgestellt  werde,  so  ist  ein  jedes  bejahende  Urtheil 
wahr,   wenn  das  Prädicat  mit  dem  Subjecte  identisch  ist.     Und 


Einige  Bemerkungen  über  die  sog.  empiristische  Periode  Kant's.     585 

ila  die  Form  einer  jeden  Verneinung  darin  besteht,  dass  etwas 
einem  Dinge  als  widerstreitend  vorgestellt  werde,  so  ist  ein  ver- 
neinendes Urtheil  wahr,  wenn  das  Prädicat  dem  Subjecte  wider- 
spricht ....  Es  ist  aber  ein  jeder  Satz  unerweislich,  der  un- 
mittelbar unter  einem  dieser  obersten  Grundsätze  gedacht  wird, 
aber  nicht  anders  gedacht  werden  kann;  nämlich,  wenn  entweder 
die  Identität  oder  der  Widerspruch  unmittelbar  in  den  Begriffen 
liegt  und  nicht  durch  Zergliederung  vermittelst  eines  Zwischen- 
merkmals eingesehen  werden  kann  oder  darf.  Alle  andere  sind  er- 
weislich" (I.  102 — 103).  Bei  etwas  schärferem  Zusehen  stellt  sich 
aber  der  ganz  unschuldige  Charakter  dieser  Sätze  leicht  heraus. 
Denn  die  „Begriffe",  von  denen  hier  die  Rede  ist,  sind  gegebene 
Begriffe,  Locke'sche  „ideas":  all  dasjenige,  welches  wahrgenommen 
und  vorgestellt  wird.  „Die  Identität  oder  der  Widerspruch  liegt 
in  den  Begriffen",  bedeutet  nichts  weiter  als:  die  Eigenschaft, 
welche  ich  dem  Dinge  beilege,  ist  in  der  durch  Wahrnehmung 
und  Experiment  gegebenen  Vorstellung  des  Dinges  enthalten.  Die 
Erfahrung  liefert  mir  z.  B.  ein  Ding,  welches  ich  Eisen  nenne,  und 
in  welchem  ich  experimentell  etwa  die  Eigenschaft  der  Schmelz- 
barkeit antreffe.  Sage  ich  nun  auf  Grund  dieses  Experiments: 
Eisen  ist  schmelzbar,  so  bilde  ich  einen  der  „unerweislichen  Sätze" 
Kant's.  —  Dass  wirklich  a.  a.  0.  nur  solche  Erfahrungsbegriffe, 
und  keineswegs  aus  willkürlicher  Synthese  entstandene  Begriffe  ge- 
meint sind ,  dürfte  durch  folgende  Parallelstelle  aus  der  „Fal- 
schen Spitzfindigkeit"  über  allen  Zweifel  erhoben  werden:  „Alle 
Urtheile,  die  unmittelbar  unter  den  Sätzen  der  Einstimmung  oder 
des  Widerspruchs  stehen,  das  ist,  bei  denen  weder  die  Identität 
noch  der  Widerstreit  durch  ein  Zwischenmerkmal  (mithin  nicht 
vermittelst  der  Zergliederung  der  Begriffe),  sondern  unmittelbar 
eingesehen  wird,  sind  unerweisliche  Urtheile,  diejenigen,  wo  sie 
mittelbar  erkannt  werden  kann,  sind  erweislich.  Die  menschliche 
Erkenntniss  ist  voll  solcher  unerweislieher  Urtheile,  vor  jeglicher  De- 
finition kommen  deren  etliche  vor,  sobald  man,  um  zu  ihr  zu  ge- 
langen, dasjenige,  was  man  zunächst  und  unmittelbar  an 
einem  Dinge  erkennt,  sich  als  ein  Merkmal  desselben 
vorstellt"    (I.  74).     Offenbar   ist  hier  nur    vor   Definitionen    auf 


586  ^-  Heyraans, 

Grund  der  Erfahrung  die  Rede,  und  der  Schluss  auf  die  Bedeutung 
der  entsprechenden  Stelle  in  der  Preisschrift  liegt  auf  der  Hand. 
—  Auch  der  Umstand,  dass  Kaut  in  der  Preisschrift  selbst,  wenige 
Zeilen  nach  den  incriminirten  Sätzen,  ganz  ausdrücklich  die  Noth- 
wendigkeit  „materialer  Grundsätze"  hervorhebt  und  die  Unfrucht- 
barkeit der  blos  formalen  („aus  diesen  allein  kann  wirklich  gar  nichts 
bewiesen  w^erden")  betont,  könnte  schon  beweisen,  dass  Kant  gewiss 
nicht  daran  gedacht  hat,  dem  logischen  Rationalismus  das  Wort 
zu  reden.  —  Als  ein  weiterer  Beleg  für  den  zeitweiligen  Rückfall 
Kant's  wird  von  Paulsen  angeführt,  dass  die  Preisschrift  schliess- 
lich doch  wieder,  wenn  auch  nur  für  die  entfernte  Zukunft,  ein 
demonstratives  System  der  Metaphysik  in  Aussicht  stellt:  „AVeun 
die  Analysis  uns  zu  deutlich  und  ausführlich  verstandenen  Begriffen 
wird  verholfen  haben,  wird  die  Synthesis  den  einfachsten  Erkennt- 
nissen die  zusammengesetzten,  wie  in  der  Mathematik,  unterordnen 
können"  (I.  97).  Freilich;  aber  was  ist  denn  damit  gesagt,  das 
nicht  auch  der  consequenteste  Empirist  unterschreiben  köunte? 
Denn  hier  ist  es  doch  vollkommen  klar,  dass  die  „deutlich  und 
ausführlich  verstandenen  Begriffe",  welche  Kant  der  Synthesis  zu 
Grunde  legen  will,  keineswegs  Ergebnisse  willkürlicher  Nominal- 
detinitlonen,  sondern  eben  allgemeinste  Erfahrungsbegriffe,  compri- 
mirte  Naturgesetze  sind.  Das  Ideal,  welches  Kant  für  die  Meta- 
•  physik  und  für  die  ganze  Philosophie  aufstellt,  ist  eben  dasjenige, 
welches  in  der  Jetztzeit  die  mathematische  Physik  für  ihr  Gebiet 
zu  realisiren  bestrebt  ist. 

Auf  Grund  der  vorhergehenden  Erörterungen  wird  man  sich 
jetzt  leicht  davon  überzeugen  können,  dass  die  Inaugural- 
dissertation von  1770  keineswegs  als  ein  „Rückfall  in  den 
Rationalismus"  qualificirt  zu  werden  verdient.  Rationalistisch  ist 
dieselbe  allerdings:  aber  es  ist  noch  immer  der  nämliche  formal- 
erkenntnisstheoretische  Rationalismus  von  1762,  nur  etwas  weiter 
ausgeführt.  Metaphysik  ist,  wie  damals,  die  Wissenschaft  der 
reinen  Vernunftbegriffe:  „philosophia  autem  prima  continens  priu- 
cipia  usus  intellectus  puri  est  Metaphysica"  (I.  313);  und  auch 
über  die  Methode  derselben  denkt  Kant  noch  ganz   so  wie   in   der 


Einige  Bemerkungen  über  die  sog.  empiristische  Periode  Kant's.     587 

Preisschi'ift:  „Conceptus  in  ipsa  obvii  noii  quaerencli  .suut  in  sensi- 
bus,  sed  in  ipsa  natura  intellectus  puri,  uon  tanquam  conceptus 
connati,  sed  e  legibus  menti  insitis  (attendendo  ad  ejus  actiones 
occasione  experientiae)  abstracti,  adeoque  acquisiti"  (I.  313).  Das 
heisst  also:  nicht  die  wissenschaftliche  Erkenntniss  der  Vernunlt- 
begriffe,  sondern  gewisse  das  Denken  beherrschende  Gesetze  sind 
angeboren:  aus  der  Wirkungsweise  dieser  Gesetze  soll  man  die 
reinen  Vernunftbegrifte  analytisch  kennen  lernen.  Was  nun  weiter 
diese  Vernunftbegriffe  selbst  betriift,  so  sind  Raum  und  Zeit  als  die 
reinen  Formen  derSinnliclikeit  von  denselben  abgesondert  worden;  da- 
gegen werden  noch  immer  als  solche  angeführt:  „possibilitas,  existentia, 
necessitas,  substantia,  causa  etc.  cum  suis  oppositis  aut  correlatis" 
(1.  313).  Dass  dieselben  reale  Geltung  haben,  daran  zweifelt  Kant 
eben  so  wenig  als  zur  Zeit  des  Einzig  möglichen  Beweisgrundes: 
„Quum  itaque,  quodcunque  in  cognitione  est  sensitivi,  pendeat  a 
special!  indole  subjecti  ....;  quaecunque  autem  cognitio  a  tali 
conditione  subjectiva  exemta  est,  nou  nisi  objectum  respiciat, 
patet:  sensitive  cogitata  esse  rerum  repraesentationes,  uti  appa- 
rent,  intellectualia  autem  sicuti  sunt"  (I.  309 — 310)'').  Aber 
noch  immer  ist  Kant  davon  überzeugt,  dass  aus  reiner  Ver- 
nunft nicht  der  concrete  Inhalt,  sondern  nur  allgemeine,  formale 
Bestimmungen  des  Daseins  erkannt  werden  können:  „Intellectua- 
llum  non  datur  (liomini)  Intuitus  sed  non  nisi  cognitio  sym- 
bolica,  et  intellectio  nobis  tantum  licet  per  conceptus  universales 
in  abstracto,  uon  per  singularem  in  concreto"  (I.  314);  „praedica- 
tum  in  qualibet  judicio  intellectualiter  enunciato,  est  conditio, 
absque  qua  subjectum  cogitabile  non  esse  asseritur"  (I.  332).  Wie 
dem  materialen,  so  widerspricht  er  auch  aufs  Bestimmteste  dem 
logischen  Rationalismus:    „ante  omnia  probe  notandum  est:    usum 


«)  Wenn  Fischer  (111.326-327)  und  Paulsen  (120—125)  den  unzweideu- 
tigen Worten  Kant's  gegenüber  behaupten,  nach  der  Inauguraldissertation 
beziehe  sich  auch  die  reine  Vernunfterkenntniss  am  Ende  nur  auf  die  Er- 
scheinungen, so  lässt  sich  zur  Bestätigung  dieser  Behauptung  aus  der  Schrift 
selbst  kein  einziges  Wort  anführen.  Dieselbe  steht  ausserdem  mit  den  be- 
kannten Mittheiluugen  Kant's  in  dem  Brief  an  Marcus  Hertz  vom  21.  Februar 
1772,  in  offenbarem  Widerspruch. 


588  •  G.  Tleynians, 

Intellectus,  s.  superioris  animae  facultatis  esse  dupHcem:  quoruni 
priori  dantur  conceptus  ipsi,  vel  rerum  vel  respectuum,  qui  est 
Usus  Realis;  posteriori  auteni,  undecuuque  dati,  sibi  tantum 
subordiuantur,  inferiores  nempe  superioribus  (notis  communibus) 
et  conferuntur  ioter  se  secundum  principium  contradictionis,  qui 
Usus  dicitur  Logicus"  (I.  310).  Und  was  speciell  die  Causali- 
tiitsfrage  betrifft,  so  wird  die  Unmögliclikeit  den  Realgrund  auf 
den  logischen  Grund  zurückzuführen,  die  Unerkennbarkeit  specieller 
Causalverhältnisse  aus  reiner  Vernunft,  und  die  ausschliessliche 
Erkennbarkeit  derselben  durch  Erfahrung,  fast  in  den  nämlichen 
Worten  wie  in  den  Schriften  aus  den  sechziger  Jahren,  aufs 
Nachdrücklichste  gelehrt.  „Cum  vis  non  aliud  sit,  quam  respec- 
tus  substantiae  A  ad  aliud  quiddara  B  (accidens)  tanquam  ra- 
tionis  ad  rationatum:  vis  cujusque  possibilitas  non  nititur  iden- 
titate  causae  et  causati,  s.  substantiae  et  accidentis,  ideoque  etiam 
irapossibilitas  viriuni  falso  confictarum  non  pendet  a  sola  con- 
tradictione.  Nullam  igitur  vim  originariam  ut  possibilem  su- 
mere  licet,  nisi  datara  ab  experientia,  neque  ulla  intellectus 
perspicacia  ejus  possibilitas  a  priori  concipi  potest"  (I.  338).  Selbst 
das  specielle  Ergebniss  der  „Träume  eines  Geistersehers"  findet 
.sicli  hier  noch  einmal  ausdrücklich  wiederholt:  „quidnam  vero 
immaterialibus  substantiis  relationes  externas  virium  tam  inter  se 
quam  erga  corpora  constituat,  intellectum  humanum  plane  fugit" 
(I.  335). 

Wie  mau  sieht,  ist  der  erkenntnisstheoretische  Standpunkt  der 
Inauguraldissertation  mit  demjenigen  der  vorhergehenden  Schriften 
vollkommen  identisch.  Hier  wie  dort  der  nämliche  formale, 
erkenntnisstheoretische,  realistische  Rationalismus:  ein  scharf  aus- 
geprägter, zwischen  Wolff  und  Hunie  in  der  Mitte  liegender  Stand- 
punkt, —  welchen  man  aber  eben  deshalb,  je  nach  dem  was  mau 
davon  erwartete,  in  dem  einen  Falle  für  Empirismus,  in  dem  anderen 
für  Wolff'schen  Rationalismus  ansehen  konnte.  Von  principiellen 
Revolutionen  in  dem  Entwicklungsgange  Kant's  ist  demnach  wenig- 
stens für  die  Zeit  zwischen  1760  und  1770  keine  Rede.  Und 
selbst    der   Uebergang    von    der  Nova  Dilucidatio    zu    den    ersten 


Einige  Bemerkungen  über  die  sog.  einpiristische  Periode  Kant's.     589 

Schriften  aus  den  seclizigern  Jahren  kann  kaum  als  eine  solche  be- 
trachtet werden.  Denn  auch  in  der  Nova  Dilucidatio  findet  sich 
schon  die  Einsicht  in  die  Unmöglichkeit,  aus  dem  blossen  Begriffe 
eines  Dinges  das  Dasein  desselben  abzuleiten,  mit  der  Anwendung 
auf  den  ontologischen  Beweis  (I.  13 — 14);  — ^  sowie  auch  die  andere, 
dass  aus  dem  blossen  Dasein  der  gegebenen  Dinge  sich  die  cau- 
salen  Beziehungen  zwischen  denselben  nicht  erschliessen  lassen 
(I.  40 — 41).  Man  glaubt  fast  die  Abhandlung  über  die  Negativen 
Grössen  vor  sicli  zu  haben,  wenn  man  in  der  Nova  Dilucidatio 
liest:  „Si  substantia  A  existit,  et  existit  praeterea  B,  haec  ideo 
in  A  nihil  ponere  censeri  potest.  Fac  enim  in  A  aliquod  deter- 
miuare,  hoc  est  rationem  continere  determinationis  C;  quia  haec 
est  praedicatum  quoddam  relativum,  non  intelligibile  nisi  praeter 
B  adsit  A,  substantia  B,  per  ea  quae  sunt  ratio  xou  C,  supponet 
existentiam  substantiae  A.  Quoniam  vero  si  substantia  B  sola  exi- 
stat,  per  ipsius  existentiam  plane  sit  indeterminatum,  utrum  quod- 
dam A  existere  debeat  nee  ne,  ex  existentia  ipsius  sola  non  in- 
telligi  potest  quod  ponat  quicquam  in  aliis  a  se  diversis,  hinc 
nulla  relatio  nullumque  plane  commercium"  (I.  41).  Andererseits 
schliesst  sich  aber  die  ganze  zugehörige  Ausführung  in  bemerkens- 
werther  Weise  an  die  Leibniz'sche  Bekämpfung  des  influxus  pliy- 
sicus  an.  Es  scheint  mir  keineswegs  unwahrscheinlich,  dass  in 
dieser  das  erste  Ferment  für  die  späteren  Ausführungen  der  Sech- 
zigern Jahre  zu  suchen  wäre;  doch  will  ich  diesen  Gedanken  liier 
nur  angedeutet  haben. 

Es  sei  mir  gestattet,  zum  Schluss  noch  zwei  allgemeinere  Gründe 
für  die  von  mir  vertretene  Auffassung  beizubringen. 

Erstens:  die  vollständige  Uebereinstimmung  zwischen  der 
Art  und  Weise,  Avie  in  der  Nova  Dilucidatio,  und  wie  in  der  In- 
auguraldissertation das  metaphysische  Causalproblem  gestellt  und 
zu  lösen  versucht  wird  (I.  40—44  und  327—329).  Diese  Ueber- 
einstimmung fordert  keine  Erklärung,  wenn,  wie  ich  annehme,  die 
betreffenden  Ansichten  Kant's  während  der  Zeit  von  1755  bis  1770 
im  Grossen  und  Ganzen  dieselben  geblieben  sind;  wohl  aber  w-cnn 
er  in  jenen  Jahren  durch  einen  denselben  völlig  entgegengesetzten 

Archiv  f.  Geschichte  d.   I'hilosophie.     II.  "i'J 


^ 


590  ß-  Heymans, 

Standpunkt  wie  denjenigen  des  Empirismus  hindurchgegangen  wäre. 
Es  gäbe  wohl  in  der  ganzen  Geschichte  der  Wissenschaft  kein 
zw^eites  Beispiel  eines  rastlos  arbeitenden  Denkers,  der,  nachdem 
er  einmal  den  Grundfehler  einer  Jugendanschauung  klar  eingesehen, 
genau  dieselbe  Anschauung  fünfzehn  Jahre  später,  ohne  neue 
Gründe  anzuführen  und  als  ob  Nichts  geschehen  wäre,  wieder  vor- 
getragen hätte.  Man  bedenke  doch,  dass  wie  die  Geschichte  über- 
haupt, so  auch  die  Geschichte  der  Wissenschaft  vor  Allem  die 
psychologische   Wahrscheinlichkeit  zu  wahren  hat! 

Zweitens    glaube  ich    mich    noch    auf   eigene  Worte  Kant's 
berufen  zu  können.    In  den  „Prolegomena"  hat  Kant  an  bekannter 
Stelle  über  sein  Yerhältniss  zu  Hume  Rechenschaft  gegeben;  es  sei 
mir    erlaubt    die    vielfach   citirten  Sätze  hier  noch   einmal   vorzu- 
führen.    „Ich  gestehe   frei:    die  Erinnerung  des  David  llume   war 
eben  dasjenige,  was  mir  vor  vielen  Jahren  zuerst  den  dogmatischen 
Schlummer  unterbrach,  und  meinen  Untersuchungen  im  Felde  der 
speculativen  Philosophie  eine  ganz  andere  Richtung  gab.     Ich  war 
weit  entfernt,  ihm  in  Ansehung  seiner  Folgerungen  Gehöi  zu  geben, 
die  blos  daher  rührten,  weil  er  sich  seine  Aufgabe  nicht  im  Ganzen 
vorstellte,    sondern   nur  auf  einen  Theil  derselben  liel,    der,    olnie 
das  Ganze  in  Betracht  zu  ziehen,  keine  Auskunft  geben  kann  .... 
Ich  versuchte  also  zuerst,  ob  sich  nicht  Hume's  Einwurf  allgemein 
vorstellen  Hesse,  und  fand  bald,  dass  der  Begriff  der  Verknüpfung 
von  Ursache  und  Wirkung  bei  AVeitem  nicht  der  einzige  sej',  durch 
den   der   Verstand   a  priori   sich  Verknüpfungen   der  Dinge   denkt, 
vielmehr,  dass  Metaphysik  ganz  und  gar  daraus  bestehe.    Ich  suchte 
mich  ihrer  Zahl  zu  versichern"  u.  s.  w.  (III.  9).    Daraus  geht  aber 
hervor:    erstens,    dass  Kant  selbst  den   Zeitpunkt  der  Einwirkung 
llume's  unmittelbar  vor  der  Entwerfung  der  transcendentalen  Ana- 
lytik,  also  jedenfalls  nach  dem  Jahre  1770,   gestellt  hat;    sodann, 
dass  er  bis  dahin  den  „dogmatischen  Schlummer",    in  dem  er  be- 
fangen   war,    fortdauern   lässt.     Wie  wäre    aber  Letzteres  mögli<'h, 
wenn  Kant  wirklich  schon  in  den  Sechzigern  Jahren  alle  Erkeiint- 
niss  aus  reiner  Vernunft  verw'orfen,    und  nur  die  Erfahrung  hätte 
gelten  lassen?  —  Dagegen  würde  sich  nach  meiner  Auflassung  die 
Sache  folgendermaassen  verhalten.    Kant  ist  vor  1762,  unaldiängig 


Einige  Bemerkungen  iitier  die  sog.  empiristische  Periode  Kant's.      ö91 

von  Hume.  zur  Einsicht  gelangt,  dass  der  Realgrund  kein  logischer 
Grund  ist,  und  dass  die  causalen  Axiome  sich  niclit  auf  die  logi- 
schen Gesetze  zurückführen  lassen.  Da  dieselben  aber  dennoch 
dem  natürlichen  Denken  einleuchtend  erscheinen,  hat  er  sie  für 
selb.ständige  reine  Vernunfteinsichten  gehalten,  und  übrigens  eben 
so  wenig  wie  seine  Vorgänger  daran  o;edacht,  die  reale  Geltung 
derselben  zu  bezweifeln.  Zwischen  1770  und  1772  (man  vergleiche 
den  bereits  angeführten  Brief  an  ^Marcus  Hertz  und  die  Einleitung 
der  Prolegomena)  hat  er  dann  Hume  näher  kennen  gelernt;  und 
diese  Bekanntschaft  hat  ihn  zu  der  Frage  geführt,  mit  welchem 
Rechte  wir  denn  eigentlich  Uebereinstimmung  der  Dinge  mit 
unseren  rein  subjectiven  „Vernunfteinsichten"  annehmen.  Aus 
dieser  Frage,  in  Verbindung  mit  den  bereits  vor  1770  erworbenen 
Einsichten  zur  transcendentalen  Aesthetik.  ist  dann  zuletzt  die 
transcendentale  Analytik  liervorgegangen. 


40* 


XXXI. 

Die  Eostocker  Kantliandschriften. 

Von 
Willielni  Dilthey  in  Berlin. 

HeiTii  Professor  Schirrmaclier  zugeeignet. 

I. 

Acht  Briefe  Kants  an  Jakob  Sigismund  Beck. 

Seitdem  ich  7Aierst  im  Yerhiuf  meiner  Nachforsclmngen  nach 
den  Handschriften  deutscher  Philosophen  auf  die  Handschriften 
Kants  aufmerksam  wurde,  welche  auf  der  Rostocker  Bibliothek 
liegen  und  sich  durch  einen  sonderbaren  Zufall  so  lange  Zeit  hin- 
durch den  Augen  der  eifrigsten  Kantsammler  und  der  gründlichsten 
Kantkenner  gänzlich  entzogen  hatten,  haben  Sie  meiner  Arbeit 
Ihren  einsichtigsten  Beistand  geschenkt.  Sie  haben  aber  inzwischen 
einen  noch  näheren  Anteil  an  den  nachfolgenden  Mitteilungen 
gew^onnen.  Denn  Sie  haben  nun  selber  w  eitere  Handschriften  Kants 
in  Rostock  aufgefunden  und  gestatten  mir  freundlich,  auch  aus 
diesen  mitzuteilen  und  über  sie  zu  berichten. 

Ich  beginne  doch  mit  den  beiden  Handschriften,  die  zuerst 
meine  Aufmerksamkeit  auf  sich  zogen,  und  von  deren  Existenz  in 
Rostock  ich  schon  im  letzten  Hefte  dieses  Archivs  Nachricht  gab. 
Sie  stehen  in  einem  inneren  Zusammenhang  mit  einander.  Die  erste 
besteht  in  acht  Briefen  Kants  an  seinen  Schüler  Jakob  Sigismund 
Beck.  Vor  nun  4  Jahren  hatte  der  um  Kant  hochverdiente 
Rudolf  Reicke  in  Königsberg,  welcher  zusammen  mit  Sinteuis  in 
Dorpat  eine  Sammlung  der  Correspondenz  Kants  vorbereitet,  17 
Briefe  von  Beck  an  Kant  als  Anhang  seines  Vortrags:    Aus  Kants 


Die  Rostocker  Kanthanrischriften.  593 

Briefwechsel  (1885)  mitgeteilt  und  eine,  wenn  auch  kurze  Ant- 
wort Kants  an  Beck  aus  dem  Besitz  von  Eduard  Erdmann  in  Halle 
einfügen  können.  Nun  bieten  die  Rostocker  Handschriften  uner- 
wartete Ergänzung,  indem  sie  in  nachstehender  Reihenfolge  ein- 
treten. Der  zweite  der  vorhandenen  Briefe  Becks  an  Kant  ist  vom 
19.  April  1791.  Nun  reiht  sich  ein:  Kant  an  Beck  9.  Mai  1791. 
Beck  an  Kant:  1.  Juny  1791.  Kant  an  Beck  27.  September  1791. 
Beck  an  Kant  6.  October  1791.  Kant  an  Beck  2.  November  1791. 
Beck  an  Kant  11.  November  1791.  Kant  an  Beck  20.  Januar  1792. 
Beck  an  Kant  31.  May  1792.  Kant  an  Beck  3.  Juli  1792.  Beck 
an  Kant  8.  September  1792.  Kant  an  Beck  16.  October  1792. 
Beck    an   Kant    10.  November  1792.     Kant   an   Beck  4.  Dezember 

1792.  Beck   an  Kant  30.  April  1793.     Kant  an  Beck  18.  August 

1793.  Und  zwar  liegen  die  7  ersten  Briefe  Kants  im  Original, 
der  8te  in  einer  eigenhändigen  Abschrift  Becks  vor.  Beck  selbst 
berichtet  in  einer  letztwilligen  Bestimmung  den  Grund  hiervon. 
Er  hatte  den  8ten  Brief  verschenkt.  Da  derselbe  aber  gerade  jenes 
]\lanuscript  der  ersten  Einleitung  zur  Kritik  der  Urteilskraft  betraf, 
welches  Kant  an  Beck  und  dieser  an  seinen  Freund  Professor 
Francke  geschenkt  hatte,  so  schrieb  Beck  diesen  Brief  für  Francke 
ab  „damit  meinem  Freunde  an  jener  Gabe  nichts  fehle".  So  hebt 
Beck  selbst  den  Zusammenhang  zwischen  den  Briefen  und  der  Ab- 
handlung; hervor.  Die  Abschriften  hat  Herr  Dr.  L.  Schicker  in 
Rostock  freundlich  für  mich  angefertigt  und  Herrn  Professor  Schirr- 
macher habe  ich  die  Revision  derselben  zu  verdanken. 

Die  Abhandlung  war,  nm  hier  den  früheren  Bericht  zu  ver- 
vollständigen, ursprünglich  als  Einleitung  zur  Kritik  der  Urteilskraft 
abgefasst.  Da  sie  für  dieses  Werk  zu  weitläufig  geworden  war,  sandte 
Kant  sie  an  Beck  zur  Benutzung  für  seinen  erläuternden  Auszug  aus 
(hn  kritischen  Schriften  des  Herrn  Professor  Kant  (1793  ff.) ,  und 
Beck  veröffentlichte  einen  Auszug  aus  der  Abhandlung  in  dem  an- 
gegebenen Werke.  (Band  2.  1794  S.  543  —  590.)  Dieser  Auszug 
Becks  ist  dann  unter  dem  Titel  „über  Philosophie  überhaupt"  in 
den  ersten  Band  der  Ausgabe  Kants  von  Rosenkranz  und  Schubert 
aufgenommen  worden.  Das  Original  dieses  Auszugs  ist  nicht  von 
Kants  Hand,  jedoch  von  diesem  vielfach  verbessert  und  mit  zahl- 


594  Wilhelm  Dil t he  y, 

reichen  Randbemeikuiigen  versehen.  Beck  selber  berichtet  in  der 
Vorrede  zu  seinem  erläuternden  Auszug  aus  Kants  Schriften  (II. 
179-1):  „während  der  Ausarbeitung  desselben  hatte  Herr  Professur 
Kant  die  Güte,  mir  ein  Manuscript  zuzuschicken,  welches  eine  Ein- 
leitung in  die  Kritik  der  Urteilskraft  enthielt,  die  er  ehedem  zu 
seinem  Werke  bestimmt  und  nur  ihrer  Stärke  wegen  verworfen  |^ 
hatte.  Er  iiberliess  es  mir  in  meinen  Schriften  davon  Gebrauch 
zu  machen."  Und  die  nun  mitzutheilenden  Briefe  Kants  an  Beck 
decken  das  ganze  Verhältniss  beider  in  den  neunziger  Jahren  auf, 
welches  den  Lehrer  bestimmt  hat,  seinem  Schüler  die  Handschrift 
zu  überlassen.  Sie  zeigen  wie  der  Auszug  Becks  zu  Stande  kam. 
Und  die  letztwillige  Bestimmung  Becks  erweist  dann,  wie  sie  nebst 
den  Briefen  in  den  Besitz  Franckes  übergegangen  ist,  aus  welchem 
sie  die  Rostocker  Bibliothek  empfin 


lg- 


Jakob  Sigismund  Beck  und    seine   Stellung  in   der    trans- 
scendental  p  h  ilosuphischen  Bewegung. 

In  dem  grossen  Vorgang  der  Ausgestaltung  unserer  deutschen 
Transscendentalphilosophie  auf  der  Grundlage  Kants  spielt  Beck 
eine  respectable  Rolle.  Als  Fichte  Becks  „einzig  möglichen  Stand- 
punkt, aus  welchem  die  kritische  Philosophie  beurtheilt  werden 
muss"  (1796),  in  seiner  Einleitung  in  die  Wissenschaftslehrc  mit 
der' vornehmen  Miene  des  Gönners  lobte,  bezeichnete  er  sie  als  die 
„beste  Vorbereitung  für  die,  welche  aus  meinen  Schriften  die 
AV'issenschaftslehre  studiren  wollen".  „Sie  führt  nicht  auf  den  Weg 
dieses  Systems,  aber  sie  zerstört  das  mächtigste  Hindcrniss,  das 
denselben  so  vielen  verschliosst"  ').  Die  Marke,  welche  Fichte  in 
diesen  W^orten  dem  Buche  aufdrückte,  ist  ihm  geblieben.  Eduard 
Erdmann  hat  zuerst  darauf  hingewiesen  (deutsche  Speculation  1,  538), 
dass  einer  der  ehrenvollsten  Plätze  in  der  Kantischen  Schule  Beck 
gebührt.  Aber  sowol  seine  Darstellung  als  die  Kuno  Fischers 
reihten  Beck  als  ein  Glied  in  den  dialektischen  Prozess  ein,  der 
nach  ihrer  Ansicht  von  Kant  zu  Fichte  hinführt.  Die  transscenden- 
talphilosophische  Bewegung,  welche  damals  stattfand,  hat  vielmehr 


')  Fichte  Werko  1.  444.     Vergl.  auch  420. 


P\ 


Die  Rostocter  Kauthandschriften.  595 

nach  unserem  heutigen  Urteil  in  sich  einen  selbständigen  Wert; 
die  Hauptpersonen  in  dieser  Bewegung  interessiren  uns  jede  für 
sich,  sofern  die  ganze  Verknotung  des  Problems,  um  welches  es 
sich  in  dem  langen  Streite  jener  Jahre  handelte,  sich  nach  ihren 
verschiedenen  Seiten  eben  in  diesen  verschiedenen  Personen  zeigt. 
Fichte  macht  uns  eben  auch  nur  Eine  Seite  sichtbar. 

Denn  die  Geschichte  der  deutschen  Philosophie  in  dieser  klassi- 
schen Zeit  unserer  Literatur  während  des  letzten  Drittheils  des 
vorigen  Jahrhunderts  ist  ein  spannendes  Drama  voll  von  Verwicke- 
lungen, welche  alle  auf  den  Voraussetzungen  beruhen,  unter  denen 
Kant  und  die  anderen  auftretenden  Personen  gedacht  und  ge- 
schrieben haben.  So  lange  diese  Voraussetzungen  bestanden,  waren 
die  Verwicklungen  unauflösbar.  Ilamann,  Herder,  Jakobi  zogen 
in  einem  gewissen  Umfang  diese  Voraussetzungen  in  Zweifel.  Aber 
sie  waren  Dilettanten  in  der  Philosophie.  Sie  haben  nicht  vermocht, 
diese  Voraussetzungen  durch  wissenschaftlich  haltbarere  Sätze  zu 
ersetzen.  Und  das  deutsche  Denken,  schliesslich  müde  einer  trans- 
scendentalphilüsophischen  Grübelei,  welche  alle  Wege  zum  Wissen 
und  Handeln  sperrte,  vollzog  dann  seit  dem  Beginn  unseres  Jahr- 
hunderts die  gewaltsame  Wendung  aus  dem  kritischen  Standpunkt 
in  die  Identitätsphilosophie,  welche  nur  aus  der  Unlösbarkeit  dieser 
Verwickelungen  unter  den  bestehenden  Voraussetzungen  verständ- 
lich —  und  verzeihlich  ist.  Die  Dämme,  durch  welche  die  Trans- 
scendentalphilosophie  das  metaphysische  Sinnen  eingeschränkt  hatte, 
wurden  durchbrochen. 

Kant  kam  ans  der  Schule  von  Leibniz,  Newton  und  W^olff", 
aus  der  Schule  der  mathematischen  Naturwissenschaft.  Er  setzte 
voraus,  im  Erkenntnisszusammenhang  sei  ein  System  von  Be- 
stimmungen enthalten,  welche  überall  gelten  und  allgemein  aus- 
gedrückt werden  können.  Solche  Bestimmungen  enthalten  die 
Axiome  der  Mathematik,  die  Denkgesetze  und  Denkformen  der 
reinen  Logik,  die  Principien  der  Physik  und  Metaphysik,  wie  sie 
Leibniz  und  seine  Geistesverwandten  ausgebildet  hatten.  Diese 
überall  im  Wahrnehmuugs-  und  Denkzusammenhang  auftretenden 
allgemeinen  und  notwendigen  Bestimmungen,  unter  denen  alle 
Einzelerfahrungen    stehen,    sind    das    logische    Prius    in    der    Ver- 


596  Wilhelm  Dilthey, 

kettuug  der  menschlichen  Erkcuutniss.  Die  Allgemeingiltigkcit  des 
Erfalirungswissens  ist  durch  sie  bedingt.  Dass  aus  unseren  Wahr- 
nehmungen eine  allgemeingiltige  Erfahrungserkenntniss  sich  bildet, 
ist  durch  sie  ermöglicht.  So  haben  wir  in  ihnen  den  Inbegriff 
der  Bedingungen .  unter  welche  die  AVahrnehmungen  treten  und 
durch  die  sie  in  einen  allgemeinen  und  notwendigen  Zusammen- 
hang gesetzt  werden.  Eine  solche  Bedingung  ist  die  Anschauung 
des  Raumes:  damit  ich  Empfindungen  auf  Etwas  ausser  mir 
beziehe  oder  sie  an  verschiedeneu  Orten  mir  vorstellen  könne, 
muss  diese  Anschauung  schon  zu  Grunde  liegen.  Dann  bilden  eine 
solche  Bedingung  die  Verstandeshandlungen,  durch  welche  der 
Gegenstand  entsteht  und  in  den  Urtheilen  und  Begriffen  erkannt 
wird:  denn  diese  A'erbindung  (conjunctio)  eines  Mannigfaltigen  kann 
niemals  durch  Sinne  in  uns  von  aussen  liereintreten,  muss  also  in 
der  verbindenden  Einheit  des  Bewusstseins  begründet  sein.  Ja  die 
grosse  Frage,  kraft  welchen  Rechtes  wir  diese  allgemein  und  not- 
wendig im  Verstände  bestehenden  Beziehungen  als  Begriffe  und 
Grundsätze  auf  die  Objekte  anwenden,  löst  sich  eben  durch  die 
Einsicht,  dass  dieselbe  synthetische  Einheit  der  Apperception  das 
Objekt  hervorgebracht  hat,  welche  es  dann  in  abstracto  durch  die 
Verstandeshandlungen  erkennt.  In  dem  Zusammenhang  dieser  Ge- 
danken hat  sich  die  Voraussetzung,  unter  welcher  Kants  Trans- 
scendentalphilosophie  steht,  entwickelt  und  befestigt. 

Gleichviel  wie  Jemand  die  schwebenden  Fragen  über  die  Me- 
thode Kants  und  den  Sinn  seines  apriori  bei  sich  entscheiden  mag; 
jedenfalls  sind  diese  im  abstrakten  wissenschaftlichen  Bewusstsein 
enthaltenen  Bestimmungen,  unter  denen  unsere  Erfahrungen  stehen, 
für  Kant  der  Ausdruck  der  in  der  Eiidieit  unseres  Bewusstseins 
wirkenden  Handlungen  unserer  Intelligenz.  So  hat  er  im  Ge- 
biet des  Wahrnehmens  und  Erkennens  einen  abstrakten  Intellek- 
tualismus durchgeführt,  der  weder  die  Existenz  einer  Aussenwelt, 
noch  die  Thatsache,  dass  wir  dieselbe  unseren  Begriffen  zu 
unterwerfen  vermögen,  erklären  oder  l)egrüuden  konnte.  Er  hat 
die  menschliche  Intelligenz  zu  einem  System  innerer  Beziehungen 
von  Formen  oder  Handlungen  gemacht,  deren  jede  gleichsam  die 
aligezogenc   Regel    eines    in    der    Intelligenz    überall    auftretenden 


Die  Rostocker  Kanthandschriften.  597 

Verhaltens  verwirklicht,  die  sieh  sonach  psychologisch  als  Vermögen 
darstellen.  Jedes  Rad  in  diesem  Werk  arbeitete  nach  Regeln; 
jedes  war  eine  vorstellende  Kraft.  Die  primitiven  Impulse  des 
menschlichen  Daseins,  der  ^Ville,  die  Triebe  waren  aus  diesem  Er- 
kenntnissvermögen Kants  ausgeschlossen. 

An  zwei  Punkten  musste  das  System  den  Schülern,  den 
Freunden  und  den  Gegnern  als  der  Aufklärung  und  Fortbildung 
bedürftig  erscheinen.  Der  eine  war  das  produktive  Ich  als  hervor- 
bringender Grund  dieser  Formen  und  Handlungen.  Der  andere  das 
Afficirende,  welches  den  Stoff  der  Empfindungen  liefert,  das 
Ding  an  sich. 

Die  Schüler  Kants  suchten  ein  oberstes  Princip  der  Trans- 
scendentalphilosophie.  Und  es  ist  für  die  Voraussetzungen  des 
Systems  bezeichnend,  dass  dieses  Princip  zugleich  oberster  Grund- 
satz im  Zusammenhang  der  Erkenntniss  und  oberste  Regel  in 
dem  Schaffen  der  Intelligenz  sein  sollte.  Reinbold  fand  ein 
solches  Princip  in  seinem  Satz  des  Bewusstseins:  Die  Vorstellung 
wird  im  Bewusstsein  vom  Vorgestellten  und  Vorstellendem  unter- 
schieden und  auf  beide  bezogen.  Fichte  ging  von  dem  Zusammen- 
hang der  Thathandluugen  aus,  in  welchem  ursprünglich  das  Ich 
sein  eigenes  Sein  setzt,  diesem  Ich  ein  Nichtich  entgegengesetzt 
wird  und  dann  schliesslich  innerhalb  dieses  Ich  durch  einen  Akt 
der  Synthesis  dem  theilbaren  Ich  ein  theilbares  Nichtich  gegenüber 
tritt  ^).  So  setzten  diese  und  andere  weniger  bedeutende  Philo- 
sophen ihre  Kraft  an  eine  unlösbare  Aufgabe.  Und  auch  der  Gegner 
derTranssceudentalphilosophie,  der  Verfasser  des  Aenesidemus,  ist 
hierin  mit  ihnen  einstimmig:  „Dass  es  der  Philosophie  bisher  noch 
an  einem  obersten  allgemein  geltenden  Grundsatze,  welcher  die 
Gevvissheit  aller  ihrer  übrigen  Sätze  entweder  unmittelbar  oder 
mittelbar  begründete,  gemangelt  habe,  und  dass  dieselbe  erst  nach 
der  Entdeckung  und  Aufstellung  eines  solchen  Grundsatzes  auf  die 
Würde  einer  Wissenschaft  Ansprüche  machen  könne:  darüber  bin 
ich   mit   dem  Verfasser    der  Elementarphilosophie  vollständig  ein- 


'^)  Grundlage    der    Wisseaschaftslehre   I.      Gruudsätze.    §  1  —  3.      G.    W. 
S.  91-123. 


598  Wilhelm  Dilthey,  ; 

verstanden."     Ta  Wirklichkeit  giebt  es  aber  einen  solchen  obersten  D 

Grundsatz  nicht,  aus  welchem  die  Beziehungen  aller  allgemeinen  '» 
und  notwendigen  Wahrheiten  abgeleitet  werden  können.  Und  gäbe  ^jiii 
es  einen  solchen  Grundsatz,  so  miisste  der  Zusammenhang  der  dl 
Wahrheiten  durch  denselben  innerhalb  der  hochentwickelten  Er-  -k 
kenntniss  ganz  unterschieden  werden  von  dem  Zusammenhang  )jk^ 
der  primitiven  Vorgänge,  welche  der  Intelligenz  zu  Grunde  liegen.         .^ 

Hier  war  nun    Beck   siegreich.     Die  Stellung,    welche  er  in         isi 
dieser    schwebenden    Frage    einnahm,    war    ganz    im    Geiste    der 
Transscendentalphilosophie,  selbstständig,  unanfechtbar.  Der  Anfang    ; 
der  Philosophie  kann  nicht  in  einem  obersten  Grundsatz  liegen. 
„Die  berühmten  Philo.sophen  in  unsern  Tagen,  die  Elementarphilo- 
sophien zu  gründen  für    nöthig  erachten,   geben   in   ihren  obersten 
Principien  Gesetze  das  ist:  Begriffe  vom  Bewusstseiu,  der  Vorstellung,    j 
der  Beseelung  u.  s.  av.     Diesen    Sätzen   Beglaubigungen   zu  geben, 
berufen    sie    sich    auf  Thatsachen.     Wie    kann    man    nun    anders 
urteilen,    als   dass   die  Thatsache    selbst    ein   noch    höheres  Princip 
abgeben  müsse?" 

Daher  muss  der  Trans.scendentalphilusoph  so  beginnen  wie  der 
Geometer.  Dieser  leitet  seine  Wissenschaft  von  keinem  Schulbegriff 
des  Raumes  ab,  sondern  er  postulirt  das  ursprüngliche  Vorstellen: 
Raum,  und  auf  dieses  Raumvorstelleu  gründet  er  seine  Wissen- 
schaft. Auch  der  Transscendentalphilosoph  beginnt  nicht  mit  einem 
Satz,  sondern  mit  einem  Postulat.  Er  fordert  seinen  Leser  oder 
Hörer  auf,  sich  ein  Objekt  ursprünglich  vorzustellen;  indem  er 
hinter  die  Begriffe,  hinter  die  Subsumtion  von  Dingen  unter  Merk- 
male, hinter  das  abstrakte  Denken  überhaupt  zurückgeht,  ergreift 
er  die  ursprüngliche  Einheit  des  Bewusstseins,  in  welcher  ein  Gegen- 
stand auftritt  und  erfasst  in  ihr  die  Handlungen  des  ursprünglichen 
Vorstellens,  durch  welche  dieser  entsteht.  So  besteht  das  Postulat, 
das  den  Anfang  der  Transscendentalphilosophie  ausmacht,  in  der 
Anmuthung,  sich  ein  Objekt  ursprünglich  vorzustellen  und  hiervon 
ausgehend  sich  in  die  ursprüngliche  Vorstellungsweise  ül)erhaupt 
zu  versetzen '). 


•■')  Beck:    Erläuternder  Auszug  aus   den  Schriften    des    Herrn   Prof.  Kant. 


Ili 


Die  Rostocker  Kanthandschriften.  599 

Die  Methode  Becks  will  in  den  Grenzen  der  Voraussetzungen 
seines  Lehrers  dessen  Methode  verbessern.  „Diese  Methode  fügt 
sich  in  die  dogmatische  Denkart  ihres  Lesers,  und  geht  von  dem 
Standpunkt  blosser  Begrift'e  aus.  Nur  nach  und  nach  leitet  sie  die 
Aufmerksamkeit  auf  den  transscendentalen  Standpunkt,  und  der 
Leser  wird  allererst  in  der  Deduction  der  Kategorien  auf  den  ur- 
sprünglichen Verstandesgebrauch  in  denselben  und  auf  die  ursprüng- 
lich synthetisch-objective  Einheit  des  Bewusstseins  geleitet.  Diesen 
transscendentalen  Standpunkt  miiss  man  schon  erreicht  haben,  um 
die  Kritik  auf  ihrem  Wege  zu  demselben  zu  verstehen"  ^).  Beck 
zeigt  musterhaft  klar,  welche  Nachtheile  aus  dem  äusseren  An- 
schluss  der  Vernunftkritik  an  die  dogmatische  Begriftsphilosophie 
entsprungen  sind '). 

Da  alles  Verfahren  mit  Begriffen  auf  dem  ursprünglichen 
Verstandesgebrauch  beruht,  in  welchem  die  synthetische  Einheit  des 
Objektes  entsteht,  so  muss  die  Darstellung  mit  dem  ursprünglichen 
Vorstellen,  mit  den  ursprünglichen  geistigen  Handlungen  beginnen. 
„Bios  demjenigen  Leser,  der  den  Sta.ndpunkt  der  ursprüug- 
lich-synthetisch-objektiven  Einheit  erreicht  hat  und  der  sich 
darauf  zu  erhalten  weiss,  wird  die  Kritik  aufgeschlossen  seyn;  und 
wenn  Philosophie  überhaupt  mehr  als  ein  kümmerliches  Gedanken- 
spiel seyn  soll,  so  muss  sie  diesen  verständlichen  Boden  haben"  *'). 
So  will  er  den  Leser  gleichsam  mit  einem  Ruck  auf  die  Höhe  des 
Standpunkts  erheben,  auf  welchem  derselbe  am  Schlüsse  der  trans- 
scendentalen Deduction  in  der  Vernunftkritik  sich  findet.  AVobei 
er  denn  freilich  erfahren  musste,  wie  wenig  zumal  seine  schwer- 
fällige mühsame  Darstellungsweise  die  Dunkelheit,  die  dieser  Methode 
naturgemäss  anhaftet,  überwinden  konnte.  Wusste  er  sich  nun 
in  diesem  seinem  Verfahren  mit  dem  Sinne  der  Kantschen  Philo- 
sophie völlig  eins,   so  empfand  er  andrerseits  aufs  stärkste  seinen 


Auf  Anrathen  desselben.  Band  3:  einzig  möglicher  Standpunkt,  aus  welchem 
die  kritische  Philosophie  beurteilt  werden  muss.  S.  120-  12(!.  IG!) f.  Beck 
Grundriss  der  critischen  Philosophie  1796  S.  6.  7, 

*)  Beck  (jrundriss  S.  56. 

^)  Beck  Grundriss  S.  57—70. 

•^  Beck  Standpunkt.  S.  483, 


()(X)  Willielm   Dilthey, 

Gegensatz  gegen  Fichte.  Er  hat  ihn  immer  als  einen  seichten  und 
unwissenden  Mann  angesehen.  „Wahre  kritische  Philosophie  be- 
steht in  der  kritischen  Vorsicht,  aul"  die  ursprüngliche  Synthesis  in 
(Umi  Kategorien,  wodurch  ursprünglich  Hegriffe  allererst  erzeugt 
werden,  aufmerksam  zu  seyn.  Gorade  eine  dieser  kritischen  ent- 
gegengesetzte Denkart  athmet  die  Wissenschaftslehre"  ^).  Hier  wie 
überall  bemerkt  man,  wie  Beck  sich,  in  aller  Bescheidenheit,  doch 
vermöge  seiner  Kenntniss  der  Mathematik  und  der  mathematischen 
Naturwissenschaft  besser  für  das  Verständniss  Kants  ausgerüstet 
wusste,  als  Reinhold  und  Fichte  es  waren. 

Damit  stimmt  überein,  dass  sein  Verständniss  Kants  in  ent- 
scheidenden Punkten  dem  der  heutigen  Kantschen  Schule  entspricht, 
^lit  sicherem  Griff  erfasst  er  den  Hauptpunkt.  Wir  können  die 
Dinge  nicht  mit  unseren  Vorstellungen  vergleichen,  ihre  Ueberein- 
stimmuDg  also  nicht  feststellen,  und  wenn  die  Dogmatiker  die  Be- 
ziehung zwischen  Vorstellungen  und  Dingen,  das  Band  zwischen  ihnen 
festzustellen  suchen,  die  Skeptiker,  insbesondere  Berkeley,  diese  Be- 
ziehung oder  dies  Band  verwerfen,  so  discutiren  beide  über  eine  Frage, 
die  gar  keinen  Sinn  hat.  „Wenn  gefragt  wird,  ob  der  Mond  Bewohner 
habe,  so  liegt  Bejahung  oder  Verneinung  dieser  Frage  in  der  Sphäre 
des  Verständlichen.  In  der  Frage  nach  der  Verbindung  zwischen 
der  Vorstellung  und  dem  Gegenstande  verstehe  ich  mich  selbst 
nicht"  **).  Der  Wahrheit  näher  wenigstens  sind  Hume  und  Ber- 
keley, weil  sie  das  Unverständliche,  das  in  der  objektiven  Realität 
des  Kausalbegritfs  und  in  der  Uebertragung  der  Eigenschaften  von 
Dingen  in  ein  l^ewusstsein  liegt,  erkannten.  Eine  Wissenschaft 
der  Erscheinungen  besteht,  das  heisst:  das  Verfahren  der  Wissen- 
schaft, welche  die  Dinge  durch  die  Kategorien  bestimmt,  sie  in  den 
Urtheilen  diesen  subsumirt  und  sie  so  zur  Erkenntniss  in  einem 
Zusammenhang  von  BegrilVcn  bringt,  ist  darum  berechtigt,  weil  der 
Verstand  durch  seine  Handlungen  (die  Kategorien)  ursprünglich  die 
objective  Einlieit  des  Gegenstandes  hervorgebracht  hat:  sonach  durcli 


0  Beck  in  Jacob's  Annalen  der  Philosophie  1795  S.  122.  Anonym. 
A'ergloichc  2.  .Jahrg.  1796  8.  402if.  (ebenfalls  anonym).  Gegen  diese  beide 
Besprechungen  Becks  dann  Fichte  Wr.  1.  444.  445. 

^)  Grundriss  17. 


Die  Rostocker  Kanthandschriften.  601 

dieselben  Verstaudeshandlungeu,  durch  welche  er  sie  nuuuiehr  in 
Begriffen  (in  abstracto)  erkennt.  Sonach  ist  die  kritische  Philo- 
sophie diejenige,  welche  hinter  den  Standpunkt  blosser  Begriffe,  durch 
■welche  ein  Ding  an  sich  erkannt  werden  soll  (den  Dogmatismus, 
die  Speculation)  zurückgeht  auf  den  Standpunkt  des  ursprünglichen 
Yorstellens,  der  Handlungen,  in  welchen  die  Einheit  des  Objektes 
entsteht,  und  von  hier  aus  die  Wissenschaft  durch  Begriffe  zum 
Yerständniss  ihrer  Selbst,  zur  klaren  Durchbildung  und  zur  Be- 
gründung bringt.  Sie  erkennt,  dass  der  analytische  Zusammenhang 
des  Denkens  einem  Dinge  Grösse,  Realität,  Substantialität,  Causa- 
lität  nur  beilegen  kann,  weil  diese  Bestimmungen  in  den  ursprüng- 
lichen Verstandeshandlungeu  die  synthetische  Einheit  des  Gegen- 
standes hervorgebracht  haben.  Die  Intellektualität  der  Sinneswahr- 
nehmungen, darauf  gegründet:  Wissenschaft  als  ein  immanenter  Zu- 
sammenhang der  Bewusstseinserscheinungen,  diese  Errungenschaften 
der  Kantschen  Philosophie  will  Beck  verwerthen  und  in  die  Natur- 
erkenntuiss  einführen"). 

Es  gab  einen  anderen  Punkt,  an  dem  man  in  jenen  Tagen  die 
Verständigung  Kants  mit  sich  selbst  und  die  Vollendung  seines 
Systems  herzustellen  suchen  musste.  Seitdem  Descartes  die  Be- 
ziehung der  Probleme  zu  einander  festgestellt  hatte,  die  von  der 
fiewissheit  des  Selbstbewusstseins  hinüberleitet  zur  Realität  und 
den  Bestimmungen  äusserer  Objekte,  hatte  der  Nachweis  der 
Existenz  einer  Ausseuwelt  die  Philosophen  beschäftigt.  Er  bil- 
dete ein  wichtiges  Glied  in  der  methodischen  Verkettung  der  Fragen, 
welche  das  Kennzeichen  der  modernen  Philosophie  ist.  Turgot 
disüit  souvent,  qu'un  homme,  qui  n'avoit  jamais  regarde  la  question 
de  Texistence  des  objects  exterieurs  comme  un  objet  difficile  et 
digne  d'occuper  notre  curiosite,  ne  ferait  jamais  de  progres  en 
Metaphysique.  So  erzählt  Condorcet  in  der  Lebensbeschreibung 
des  grossen  Vorgängers  von  d'Alembert  und  Comte  (1786  p.  213). 

In  dem  System  Kants  war  diese  Frage  durch  folgende  ein- 
fache Formel  beantwortet.     Die  Analysis  der  Form  unsrer  Intelli- 


'■>)  Vergl.  bes.  Grimdriss  §  8  ff .  S.  6ff.  §71  ff.  S.  äGff    Stau(l|.uiilit  S.  141  ff. 
l.rJ.  170.  171. 


C,Q9  W  i  I  li  e  1  in  D  i  1 1  h  e  y , 

genz  setzt  überall  die  IMaterie  der  Empfindungen  voraus,  und  diese 
Materie  der  Empfindungen  ist  in  der  Heceptivität  unsrer  Sinnlich- 
keit bedingt,  durch  die  Art  wie  wir  von  Gegenständen  afficirt 
werden.  So  behandelte  Kant  dieses  Afficirende  einerseits  als  die 
N'oraussetzung  aller  transscendentalen  Analysis,  andrerseits  raussle 
er  dessen  gänzliche  Unerkennbarkeit  behaupten.  Die  Schwierig- 
keiten die  hier  entstanden,  waren  unter  der  Voraussetzung  der 
intellektualistischen  Anschauung  der  menschlichen  Erkenntniss 
schlechterdings  unauflöslich.  Vergebens  hat  Kant  selber  auch 
nach  dem  Erscheinen  seiner  Erkenntnisskritilv  unablässig  an  der 
Auflösung  dieser  Verwicklung  gearbeitet"').  Es  war  wie  Jakobi 
sagte:  man  konnte  ohne  dies  Ding  an  sich  nicht  in  Kants  System 
hineinkommen,  mit  demselben  aber  nicht  darin  bleiben. 

Die  gänzliche  Unmöglichkeit,  auf  dem  Boden  der  Voraus- 
setzungen Kants  die  Frage  zu  lösen,  ist  nun  damals  eben  durch 
die  verschiedenen  Stellungen  deutlich  geworden,  von  denen 
aus  sie  behandelt  wurde. 

Reinhold,  welchem  bei  grossem  Scharfsinn  immer  seine  scho- 
lastische Erziehung  anhaftete,  wollte  aus  den  Beziehungen  der 
Vorstellungsthätigkeit  zum  vorstellenden  Subjekt  und  dem  vorge- 
stellten Gegenstande,  sonach  aus  den  blossen  Verhältnissen  der 
Vorstellungen  von  Subjekt  und  Objekt  im  Bewustsein  die  Existenz 
des  Objektes  l)ew^eisen.  Sein  Kunststück  war  der  Mönche  würdig, 
welche  den  ontologischen  Beweis  ersonnen  haben.  Er  analysirte 
das  räthselhafte  Verhältniss,  dass  ich  das  Was,  den  Inhalt  meines 
Vorstellens  diesem  als  Objekt  gegenüberstelle  (welches  Verhältniss 
in  dem  Satz  des  Bewusstseins  ausgedrückt  ist)  durch  die  Begriffe 
Stoff,  Form,  Receptivität.  Spontaneität  etc.  und  deren  im  Be- 
wusstsein  enthaltene  Beziehungen.  So  zeigte  er  selbstverständlich 
nur  im  Einzelnen,  dass  im  Bewusstsein  ein  Zwang  Gegenstände  zu 
setzen  besteht.  Aber  dafür  konnte  er  nur  einen  Scheinbeweis 
liefern,  dass  aus  diesem  Zwang,  Objekte  im  Bewusstsein  zu  setzen, 
deren  Realität  in  der  äusseren  Wirklichkeit  folge.     Der  Hauptsatz, 


•0)  Vergl.  jetzt  auch  Reicke,   lose  Jilätter  aus  Kants  Naclilass  S.  1)8—104, 
189.  190.  200-205.  209-21 G.  2G0-2G3. 


i 


Die  Rostocker  Kanthanflseliriften.  603 

um  den  dieser  Scheinbeweis  sich  dreht:  zu  jeder  Vorstellung  ge- 
hört deren  Inhalt,  ihr  'Was  oder  in  der  Sprache  Reinhold's")  ihr 
Stoff,  im  Unterschied  von  ihrer  durch  das  Bewusstsein  bedingten 
Form;  durch  diesen  Stoft'  der  Vorstellung  wird  nun  im  Bewusst- 
sein das  repräsentirt,  was  der  Vorstellung  ausserhalb  des  Bewusst- 
seins  zu  Grunde  liegen  muss  —  das  Ding  an  sich.  Der  Beweis 
selbst:  in  dem  blossen  Vermögen  der  Vorstellungen  ist  der  be- 
stimmte Inhalt  derselben  nicht  enthalten;  die  blosse  Beschaflenheit 
des  Vorstellungsvermögens  ist  nicht  im  Stande  eine  inhaltlich  be- 
stimmte Objektsvorstellung  zu  erzeugen;  solches  Hervorbringen 
wäre  eine  Schöpfung  aus  Nichts;  also:  „Das  Dasein  der  Gegen- 
stände ausser  mir  ist  eben  so  gewiss  als  das  Dasein  einer  A^or- 
stellung  überhaupt'^)." 

Welch  eine  andere  Stellung  zu  dem  Problem  zeigte  Jakobi 
(1787  üb.  d.  transscendeutalen  Idealismus)!  Er  erweist  mit  souve- 
ränem Scharfsinn,  dass  die  Schwierigkeiten  in  dem  Begriff  von 
Dingen  an  sich  unter  den  Voraussetzungen  Kants  überhaupt  nicht 
gehoben  werden  können.  Dinge  sind  für  uns  vermöge  der  unserer 
eigentümlichen  Sinnlichkeit  zugehörenden  Form  unseres  Bewusst- 
seins  vorhanden.  Aber  die  Annahme  der  Existenz  von  Gegen- 
ständen, welche  Eindrücke  auf  unsere  Sinne  machen  und  auf  diese 
Weise  Vorstellungen  hervorbringen,  kann  unmöglich  objektive 
Gültigkeit  haben,  wenn  weder  Raum  noch  Zeit,  ja  nicht  einmal 
Veränderungen  des  eigenen  inneren  Zustandes  diese  objektive  Rea- 
lität besitzen.  Wenn  ich  die  Annahme  festhalte,  dass  Gegenstände 
Eindrücke  auf  unsere  Sinne  machen,  so  muss  ich  auch  den  Be- 
griffen von  Kausalität  und  Dependenz  den  Werth  realer  und  ob- 
jektiver Bestimmungen  zuerkennen.  Daher  kann  unsere  ganze 
Erkenntniss  für  den  folgerichtigen  Idealismus  nichts  anderes  sein, 
als  das  Bewusstsein  eines  Zusammenhangs  von  Bestimmungen  un- 
seres eigenen  Selbst.  Von  da  trägt  kein  Schluss  hinül)er  zu  irgend 
etwas  ausserhalb  dieses  Selbst'^).  Aber  derselbe  Jakobi,  welcher 
so    scharfsinnig    einsah,    wie    unfähig    Kant    nach    seinen    Voraus- 

")  Reinholcl  Theorie  299 f.  258. 

'■')  Reiuhold  Theorie  299  ff. 

•3)  Jakobi  W.  11,  303.  304.  306.  308.  310. 


ß04  Wilhelm  Dilthey, 

Setzungen  war,  über  die  Erscheinungen  im  Bewusstsein  hinauszu- 
gehen, erwies  sich  zugleich  selber  ganz  unfähig,  diese  Voraussetzung 
Kants  durch  andere  von  wirklich  wissenschaftlichen  Charakter  zu 
überwinden.  Das  war  der  Unsegen  des  Dilettantismus  in  dieser 
grossen  Natur.     Sein  Glaube  war  ein  Sprung  in  das  unljestimmte 

lyeere. 

Grundverschieden  davon  ist  die  Stellung  des  Verfassers  des 
Aenesidemus,  obwohl  derselbe  die  Beweisführungen  der  älteren 
Schulen  und  Jakobis  l)enutzt.  Dem  dogmatischen  Beweis  des 
Dinges  an  sich  bei  Reinhold  tritt  in  Aenesidemus-Schulze  die  ein- 
fache  empirisch  -  skeptische  Zurückziehung  auf  die  Thatsachen  des 
Bewusstseins  gegenüber.  Kann  die  Kategorie  von  Ursache  und 
Wirkung  jedenfalls  nicht  über  den  Kreis  der  Erfahrungen  ange- 
wandt werden,  ja  ist  Humes  Zweifel  gegen  die  objektive  Bedeu- 
tung der  Kausalität  unwiderlegt  geblieben,  so  dürfen  wir  nicht 
als  Ursachen  für  den  Inhalt  unserer  Vorstellungen  Dinge  annehmen, 
die  ausserhalb  des  Vorstellens  existiren.  Ist  der  Grund  für  die 
Form  unserer  Vorstellungen  im  Subjekt  gelegen,  so  kann  die 
Annahme  nicht  ausgeschlossen  werden,  dass  auch  ihr  Stoff  durch 
dies  Subjekt  hervorgebracht  sei.  Umgekehrt:  wenn  Dinge  möglich 
sind  und  wir  von  deren  Eigenschaften  gar  nichts  wissen,  so 
können  wir  auch  nicht  behaupten,  dass  die  Form  der  Nothwendig- 
keit  in  unseren  Erfahrungen  nur  aus  den  Eigenschaften  unseres 
Bewusstseins  erklärbar  sei,  zumal  Zwang  (Nothwendigkeit)  jede 
sinnliche  Wahrnehmung  begleitet.  So  bleibt  nur  das  empirische 
Studium  der  Thatsachen  des  Bewusstseins.  Von  diesem  zu  dem 
äusseren  Sein  giebt  es  keinen  Uebergang,  und  aus  der  Einrichtung 
unseres  Bewusstseins,  das  die  Unterscheidung  des  Objektes  als  einer 
Realität  vom  Subjekt  enthält,  lässt  sich  nicht  deduciren,  (hiss  ihr 
ein  objektiv  gültiger  Thatbestand  unabhängiger  Gegenstände  ent- 
spricht. 

Eine  verblüffend  neue  Stellung  nimmt  nun  in  dieser  Verwick- 
lung Fichte  ein.  Er  geht  von  dem  schöpferischen  Vermögen  des 
Ich  aus.  Das  war  der  menschlich  mächtigste  Punkt  der  Trans- 
scendentalphilosophie,  Einheitspunkt  des  Denkens  und  Handchis: 
das  was  Schiller  bewegt  hat,  was  Goethe  in  seinen  späteren  Jahren 


Die  Rostacker  Kanthaudschriften.  G05 

immer  inniger  überzeugte  und  was  Carlyle  zum  Transscendental- 
philosophen  machte.  Aber  er  will  von  diesem  Prinzip  aus  auch  die 
Materie  der  Empfindungen  erklären  und  so  den  kritischen  Idealismus 
vollenden.  Das  konnte  nur  geschehen,  indem  er  den  die  ganze  Kanti- 
sche Philosophie  ermöglichenden  und  begründenden  Unterschied 
aufhob:  den  Unterschied  zwischen  dem  Was  der  Empfindungen, 
ihrer  Einzelgegebenheit,  und  den  in  der  Einheit  des  Selbstbewusst- 
seins  gegründeten,  mit  dem  Charakter  der  Allgemeinheit  und 
Nothwendigkeit  ausgestatteten  Bedingungen  des  Bewusstseins,  unter 
welche  diese  Empfindungen  einheitlich  geordnet  und  so  zu  allgemein 
gültigen  Erfahrungen  erhoben  werden.  Das  bewusstlose  Schaffen 
der  Einbildungskraft,  in  Avelchem  durch  eine  Begrenzung  der  an 
sicli  unbeschränkten  Thätigkeit  die  Empfindung,  dies  zufällige  Einzel- 
dasein, entsteht  und  nun,  als  unbewusst  producirt,  dem  Ich  als 
ein  von  aussen  ihm  Gegebenes  gegenübertritt:  das  war  die  Ver- 
nichtung der  ganzen  Grundlage  der  Kant'schen  Transscendental- 
philosophie,  wenn  anders  Tiefsinn  durch  solche  heroische  Ueber- 
spanuung  vernichtet,  und  nicht  blos  zeitweilig  in  Schatten  gestellt 
werden  konnte.  Nach  der  Aufhebung  dieser  Unterschiede  war  für 
Kants  Methoden,  auf  deren  Ergebnisse  Fichte  sich  berufen  musste, 
kein  Platz  mehr.  Das  Ich  Eichte's  musste  Kant  und  seinen  ächten 
Schülern  scheinen  in  einem  Zustande  von  Yerrückung  seine  eigenen 
Schöpfungen  als  Träume  sich  gegenüberzustellen,  sich  vor  ihnen 
zu  entsetzen  oder  an  ihnen  zu  erfreuen.  Das  war  die  Herrschaft 
entweder  der  dichterischen  Einbildungskraft  oder  des  Wahnsinns 
über  das  kritische  Denken. 

Wie  anders  muthet  uns  Heutige  die  Stellung  an,  welche  sich 
Maimon  und  Beck  in  dieser  Verwicklung  des  Dinges  an  sich  gaben. 
Gelten  die  Voraussetzungen  Kants,  so  ist  diese  Stellung  allein 
folgerichtig  und  wirklich  wissenschaftlich.  Dazu  ist  Fichte  in  dem, 
was  er  mit  Maimon  theilt,  abhängig,  Beck  aber  hat  sich  seinen 
Standpunkt,  auch  in  dem,  worin  er  sich  mit  Fichte  berührt,  selb- 
ständig, ich  will  mich  vorsichtig  ausdrücken:  in  den  wirklich  worth- 
vollen  Punkten  selbständig  errungen. 

Dem  Salomon  Maimon  gebührt  das  grosse  Verdienst,  /.um 
Zweck   einer   rechtfertigenden  Kantinterpretation    folgenden   bedeu- 

Aicliiv  f.  Gesdiichfe  d.  Pliilosopliie.     U.  i  i 


606  Wilhelm  Dilthey, 

tendoii  Satz  eingeführt  zu  haben,  dessen  sich  dann  Fichte  bediente. 
Der  Grund,  aus  welchem  die  Empfindung  als  ein  Gegebenes  in  uns 
auftritt,  liegt  darin,  dass  sie  nicht  in  vollständig  bewussten  Vor- 
giingeu  von  uns  hervorgebracht  wird.  So  ist  das  Gegebene  eben 
nur  dasjenige,  dessen  Ursache  und  Entstehungsart  uns  unbekannt 
ist.  Dasselbe  ist  für  die  bewussten  Handlungen  des  Erkenntniss- 
Vermögens  gleichsam  von  aussen  gegeben:  sie  finden  es  vor,  als 
ausserhalb  ihrer  entstanden,  und  es  ist  nicht  in  sie  auflösbar.  So 
ist  uns  nicht  nur  in  der  Empfindung  die  gelbe  Farbe  gegeben,  son- 
dern Zeit  und  Kaum  in  der  Anschauung  ebenfalls.  Nur  ist  die 
Gegebenheit  des  Raumes  a  priori,  weil  er  die  Bedingung  eines 
jeden  Körpers  ist,  die  der  gelben  Farbe  dagegen  a  posteriori.  Dieser 
und  viele  andere  weniger  einflussreiche  Sätze  sind  aber  augen- 
scheinlich von  Maimon  der  Philosophie  des  Leibniz  entnommen. 
So  kann  aktenmässig  die  Einführung  der  Lehre  von  unbewussten 
Leistungen  der  Intelligenz  in  die  neuere  Philosophie,  zunächst  in 
die  von  Fichte  und  Schelling.  weiterhin  in  die  Philosophie  des 
Unbewussten  durch  das  Mittelglied  von  Salomon  Maimon  auf  Leib- 
niz zurückgeführt  werden,  abgesehen  von  anderen  Verbindungs- 
gliedern, welche  bestehen.  Aus  diesem  fruchtbaren  und  wichtigen 
Satz,  zusammen  mit  negativ  wirksamen  Sätzen,  welche  die  Beden- 
ken von  Vertretern  der  älteren  Schule,  zumal  von  Jakobi  und  Aene- 
sidemus-Schulze  weiter  fortführen,  entsteht  für  Maimcn  folgendes 
Schlussergebniss:  „alle  Funktionen  des  Bewusstsein  beziehen  sich 
auf  einander  und  bestimmen  einander  wechselweise,  aber  keine  be-  i 
zieht  sich  auf  ein  fingirtes  Etwas."  Das  Gegebene  ist  Grundlage  der  j 
vollständig  bewussten  Verstandeshandlungen,  es  befindet  sich  also 
wol  gleichsam  ausserhalb  des  Erkenntnissvermögens,  aber  nicht  i 
ausserhalb  der  Intelligenz.  Ein  Ding  an  sich  ausserhall)  des  Be-  ; 
wusstseiiis  wäre  ein  Ding,  das  ohne  Merkmal  gesetzt  würde:  ein 
Nonsens,  ein  Nichts. 

Beck   ist    auch    an    diesem    kritischen    Punkte    der    sicherste  ; 
wissenschaftliche  Kopf,  zugleich  bedächtig  und  doch    höchst  folge-  , 
richtig.     Es  giebt  —  so  haben  wir  schon  oben  aus  seinem  Stand- 
punkt und  seinem  Grundriss  ersehen  —  eine  Wissenschaft  der  Er- 
scheinunsen.     Dieser  Zusammenhang  des  Bewusstseins  Ijegreift  das  : 


Die  Rostocker  Kantliandschriften.  607 

ganze  Yerliiiltiiiss  zwischen  dem  Ich  nnd  seinen  Verstandesliand- 
liiugen,  den  so  hervorgebrachten  Objekten  und  den  Regriffen,  durch 
die  wir  sie  iu  abstracto  denken,  in  sich.  Ein  Verhältniss  des 
Denkens  zu  Gegenständen  in  einem  anderen  Sinne,  im  Sinne  eines 
Verhältnisses  des  Bewusstseius  zu  etwas  ausser  ihm  ist 
innerhalb  der  theoretischen  Philosophie  ein  Wort  ohne  Sinn.  Beck 
stand  hier  dicht  vor  dem  Satz,  der  sich  uaturgemäss  eingefügt  hätte: 
das  Verhältniss  des  Abbihlens  oder  der  Aehnlichkeit,  das  zwischen 
den  Objekten  und  den  Begriffen,  durch  welche  sie  gedacht  werden, 
schon  vermöge  der  in  ihnen  beiden  wirksamen  Handlungen  der  In- 
telligenz besteht,  muss,  als  die  natürliche  Auflassung,  innerhalb 
der  dogmatischen  Philosophie  die  Lehre  vom  Abbilden  der  Dinge 
in  der  Intelligenz,  ihrem  Entsprechen,  dem  Band  zwischen  ihnen 
zur  Folge  haben. 

Die  Sinnlosigkeit  dieser  dogmatischen  Annahme  für  den  Trans- 
scendentalphilosophen  kann  näher  so  im  Einzelneu  gezeigt  werden. 
Die  Anssagen  von  Evidenz,  Dasein  oder  Wirklichkeit,  von  einem 
Etwas  das  afficirt,  sind  nur  der  Ausdruck  von  Verstandeshand- 
lungen ,  welche  die  synthetische  Einheit  des  Dinges  hervorbringen 
und  ebenso  dann  in  den  Begriffen,  durch  welche  dies  Ding  bestimmt 
wird,  sich  manifestiren.  In  den  Kategorien  der  Relation  und  ihrem 
Schematismus  entsteht  Dasein,  Afficiren,  und  ohne  diese  Denkbe- 
standtheile  hat  Ding  an  sich  keinen  Sinn  mehr.  „Da  das  Prädikat: 
Existenz,  das  wir  den  Gegenständen  beylegen,  auf  dem  ursprüng- 
lichen Yerstandesgebrauch:  Existenz  in  der  Kategorie  der  Relation, 
beruht,  und  also  (welches  dasselbe  sagt)  bloss  ein  Prädicat  der 
Gegenstände  der  Erfahrung  ist,  so  hat  die  Frage:  ob  Noumena 
existiren,  keinen  Sinn.  Diese  Frage  verlässt  die  Quelle,  aus  welcher 
alle  Bedeutung  und  Sinn  aller  Fragen  und  Begriffe  entspringen 
kann,  und  giebt  sich  doch  das  Ansehen,  als  unterscheide  sie  sich 
nicht  von  Fragen,  welche  Objekte  der  Erfahrung  betreffen.  Sie 
verwechselt  das  Noumenou  im  negativen  Sinn  mit  dem  im  positiven 
Verstände.  Denn  in  dem  letzten  ineynt  man  Gegenstände,  die  der 
Verstand,  nachdem  man  von  aller  Sinnlichkeit  (welches  so  viel  ist 
als:  vom  ursprünglichen  Yerstandesgebrauch)  abstrahirt,   erkennen, 

41* 


ß08  Wilhelm  Dilthey, 

wie  sie  an  sich  sind,  (existiren)" '^).  „In  dem  ursprünglichen 
Vorstellen  setze  ich  ein  Beharrliches,  woran  ich  mir  die  Zeit  selbst 
vorstelle,  setze  ich  ein  Etwas  (Ursache),  wodurch  der  Wechsel 
meines  eigenen  subjektiven  Zustandes,  da  ich  nämlich  ohne  diese 
Vorstellung  war,  und  da  ich  diese  Vorstellung  hatte,  seine  Zeit- 
bestimmung erhält"  '  ^). 

liier  legt  Beck  gleichsam  die  Wurzel  des  Kantschen  Idealis- 
mus blos.  Hätte  Kant  Recht,  wären  Existenz,  Dingheit,  Causalität 
Ausdruck  von  blossen  Verstandeshandlungen,  alsdann  gäbe  es  kein 
Entrinnen:  diese  Merkmale  von  Existenz,  Afficiren,  Substantiaiität, 
durch  welche  wir  etwas  von  uns  Unabhängiges  constituiren,  sie 
würden  nur  die  Natur  der  menschlichen  Verstandeshandlungen  aus- 
drücken. Kant  und  Beck  trennen  streng  die  theoretische  und  die 
praktische  Philosophie.  Das  Ding  an  sich,  das  bei  Kant  in  der 
theoretischen  Philosophie  keine  Stelle  mehr  haben  sollte  und  bei 
Beck  keine  mehr  hat,  wird  dann  in  der  praktischen  Philosophie 
wieder  zu  Ehren  gebracht.  Aber  die  primitiven  Vorgänge,  auf  denen 
die  Leistungen  der  Intelligenz  beruhen,  sind  eben  nicht  nur  Vor- 
stellen, blosse  Intellectualität.  Indem  an  diesem  Punkte  die  Vor- 
aussetzungen Kants  überschritten  werden,  kommt  doch  erst  zu  sei- 
nem Rechte,  dass  sein  harter  Verstand  an  dem  Afficirenden,  an 
der  Empfindung,  als  dem  in  der  Receptivität  gegebenen  Stoff,  an 
den  Dingen  an  sich  unentwegt  auch  in  der  theoretischen  Philo- 
sophie festhielt.  War  es  genug  damit,  diesen  Bestandtheil  der- 
selben auszustossen?  Indem  man  sich  über  die  Voraussetzungen 
Kants  erhebt,  vermag  man  dann  erst  diesen  Bestandtheil  zu  be- 
gründen. 

Aber  derselbe  Beck  musste  auf  Grund  seiner  soliden  Auffassung 
der  Grundlagen    einer  Transcendentalphilosophie    die    Lehre,    dass 
der  Stoff  der  Objekte  in  dem  Ich  seinen  Grund  habe,  ebenfalls  als  ^ 
eine  Ueberschreitiing  der    kritischen  Grenzen   ansehen.      Er    nahm 
es  sehr  ironisch  auf,  als  Fichte,  dem  er  in  Jena  Ostern  1797  einen  , 
Besuch  abstattete,  ein  Gespräch  damit  begann:    „Ich  weiss  es,  Sie; 


")  Beck  Gruudriss  S.  44. 

'^)  Beck  Krläiitenider  Auszug  III.  S.  \i)C>.  2.  Alischn. 


Die  Rostocker  Kanthandschriften.  609 

sind  meiner  Meynung,  dass  der  Verstand  das  Ding  macht".  War  er 
doch  schon  Februar  1795  in  den  Annalen  der  Philosophie  Fichte 
entschieden  entgegengetreten.  Damals  freilich  musste  er  noch  das 
an  Jakobi  erinnernde  Spiel  mit  einer  Offenbarung  von  Dingen  an 
sich  im  Gefühl  bekämpfen.  Er  tadelte  damals  Fichte  hart  wegen 
folgender  Aeusserungen:  „Die  künftige  Wissenschaftslehre  wird  wohl 
dahin  entscheiden,  dass  unsere  Erkenntniss  zwar  nicht  unmittelbar 
durch  die  Vorstellung,  aber  wohl  mittelbar  durch  das  Gefühl  mit 
dem  Dinge  an  sich  zusammenhänge;  dass  die  Dinge  allerdings  bloss 
als  Erscheinungen  vorgestellt,  dass  sie  aber  als  Dinge  an  sich 
gefühlt  werden""). 

Seine  Jugendjahre  und  der  Anfang  des  Briefwechsels. 

Jakob  Sigismund  Beck  war  den  6.  August  1761  zu  Marienburg 
in  Westpreussen  geboren'^).  Er  studirte  in  Königsberg  Mathematik 
und  Philosophie  und  gehörte  dort  zu  Kants  talentvollsten  und 
(leissigsten  Zuhörern.  Den  Einblick  in  seine  Jugendgeschichte  er- 
öffnen uns  nun  Briefe,  welche  er  von  dem  Sommer  1789  ab  an 
seinen  Lehrer  in  kindlichem  Vertrauen  richtete.  Siebzehn  solcher 
Briefe  haben  sich  erhalten  und  sind  von  Rudolf  Reicke  in  Königs- 
berg, welcher  zusammen  mit  Friedrich  Sintenis  in  Dorpat  eine 
Ausgabe  des  Kantischen  Briefwechsels  vorbereitet,  herausgegeben; 
auch  eine  Antwort  Kants  aus  dem  Besitz  von  Professor  Erdmann 
in  Halle  konnte  hinzugefügt  werden.  Diese  Briefe  umfassen  die 
Jahre  von  1789 — 1797.  und  nun  treten  aus  den  Rostocker  Hand- 
schriften acht  Briefe  Kants  hinzu,  welche  vom  Frühling  1791  bis 
zum  Sommer  1793  reichen. 

Da  sieht  man  nun  zuerst  den  jungen  mittellosen  Mathematiker 
und  Philosophen  sich  nach  einer  Stellung  umsehen,  in  welcher  er 
seine  wissenschaftliche  Laufbahn  verfolgen  kann.  Er  war  aus  der 
Heimath  nach  Halle  gegangen,  von  da  nach  Leipzig.  Auch  dort 
glückte  es  ihm  nicht.     Kant    hat  ihm  einen  Empfehlungsbrief  an 


'«)  Annalen  der  Philosophie  1795.     S.  123. 

'')  Erdmann  III,  1,  537  und  Kiino  Fischer  V,  1,  162  geben  Lissau  bei 
Öanzig  an,  wie  Mensel,  jedoch  das  Kirchenbuch  der  Rostocker  Jakobi-Gemeinde 
und  Brüssow  (Schwerin)  in  N.  Nekrolog  18,  928  Marienburg. 


010  Wilhelm  Dilthey, 

seinen  Scliiiler  Friedrich  Guttlob  Born  mitgegeben;  dieser  war  dort 
Professor  der  Philosophie  und  liat  sich  später  durch  eine  lateinische 
T'ebersetzung  der  Kantischen  Hauptwerke  verdient  gemacht,  die 
diesen  in  Klöstern  und  katholischen  Schulen  den  Eingang  erleich- 
terte. Doch  weiss  Beck  nur  vom  schlechten  Vortrag  des  Mannes, 
seinem  Mangel  an  Zuhörern,  und  seiner  Gereiztheit  darüber  zu  be- 
richten. Auch  der  Professor  der  Philosophie  Carl  August  Cäsar 
bemühte  sich  Kant  zu  studiren,  obwohl  er  durch  wunderliche 
Zweifel  Beck  in  Staunen  setzte.  Besonders  aber  konnte  Beck  von 
dem  berühmten  Mathematiker  Ilindenburg,  den  später  Schelling 
durch  das  schöne  Wort  schilderte:  einfach  wie  ein  Erfinder,  mit- 
teilen, „dass  derselbe, mit  der  Philosophie  wieder  versöhnt  sei,  seit- 
dem er  Kants  Schriften  studire".  Dagegen  war  der  Modephilosoph 
des  damaligen  Leipzig,  Ernst  Platner,  ein  scharfer  Gegner  Kants. 
Ordentlicher  Professor  der  Medicin,  wusste  dieser  zugleich  durch 
seine  philosophischen  Vorlesungen  zuerst  für  Leibniz,  dann  für  einen 
skeptischen  Eklecticismus  einen  grossen  Zuhörerkreis  zu  erwerben. 
Seine  Polemik  gegen  Kant  war  nicht  frei  von  der  Bitterkeit  eines 
Mannes,  der  sich  mit  diesem  auf  demselben  Wege  glaubte,  nun 
aber  hinter  ihm  zurückgeblieben  war.  „Platner  ist  ein  jämmer- 
licher Mann.  Sein  Ich  welches,  wenn  von  Philosophie  die  Rede 
ist.  wol  wenig  Bedeutung  hat,  vernimmt  der  Zuhörer  öfter  als  In- 
halt und  wirklich  öfter  als  das  was  dieses  Ich  eigentlich  geleistet 
hat.  Ohngeachtet  er  mich  kannte  und  im  Auditorium  zu  bemer- 
ken schien,  unterliess  er  doch  nicht  seine  Zuhörer  mi.sstrauisch 
gegen  Kantische  Philosophie,  deren  (Jeist  er  vollkommen  gefasst  zu 
haben  vorgab,  zu  machen'^)".  Durch  diese  Verhältnisse  zwis(;hen 
Kant  und  Platner  war  denn  wol  auch  das  Gesammturteil  des 
Kantianers  ein  wenig  bedingt.  „Reissender  kann  wohl  nicht  der 
Strom  der  Zuhörer  zu  den  philosophischen  Hörsälen  seyn ,  als  er 
hier  ist,  aber  elender  als  hier  kann  die  Art  Philosophie  zu  lehren, 
geschweige  sie  zu  entwickeln  und  zum  phllosophiren  anzuführen, 
nirgends   existiren."     Seine    persönlichen   ^^'ünsche   erreichte  Beck 


'*)  Reicke,    Aus  Kunt.s  Briefweclisel    S.  22,    vergl.  das    übereiustiintnende    '       (^t 
Urteil  Schelliiigs  in:  Aus  Schellings  Leben  I.  3.  .xl 


Die  Rostocker  KanthandschrifteD.  611 

nicht,  es  wollte  sich  ihm  weder  eine  Ilofmeisterstelle    noch  Arbeit 
bei  einem  Buchhändler  aul'thun,  so  verliess  er  Leipzig. 

Anfang  August  finden  wir  ihn  in  Berlin.  Von  hier  erbittet 
er  in  dem  ersten  Brief  an  Kant  (1.  August),  welcher  auch  die 
obigen  Mittheilungen  über  Leipzig  enthält,  eine  Empfehlung  an  den 
mächtigen  Gedike  oder  einen  anderen  einflussreichen  Mann.  Doch 
ist  schon  der  nächste  Brief  vom  19.  April  1791  aus  Halle  geschrieben. 
Er  hat  sich  nun  dort  mit  einer  Dissertation  über  das  Taylor'sche 
Theorem  habilitirt.  Er  hat  an  dem  dortigen  Professor  der  Mathe- 
matik Kliigel  einen  Halt  gefunden.  Auch  dieser  zeigte,  wie  Ilin- 
denburg,  für  die  Philosophie  Kants  ein  lebhafteres  Interesse;  „er 
§agt,  die  Ursache,  warum  Sie  von  Freunden  und  Gegnern  nicht 
verstanden  werden,  ist  weil  diese  nicht  Mathematiker  sind".  Dann 
nahm  sich  seiner  Ludwig  Heinrich  Jakob  an,  welcher  eben  damals 
mit  32  Jahren  ordentlicher  Professor  der  Philosophie  in  Halle  wurde 
und  mit  jugendlichem  Eifer  und  vielschreiberischer  Hast  die  Philo- 
sophie Kants  verkündete  und  vertheidigte.  Derselbe  verschaff"te 
ihm  eine  Stelle  am  alten  lutherischen  Gymnasium  der  Stadt  Halle, 
an  dem  er  selbst,  bis  er  nun  Professor  wurde,  unterrichtet  hatte. 
Diesen  zweiten  Brief  aus  Berlin  (19.  April  91)  beantwortet  nun 
Kant  am  9.  Mai  1791,  im  ersten  Brief  den  er  an  Beck  schrieb  oder 
wenigstens  der  sich  erhalten  hat. 

Kant  an  Beck  (1). 

Hochedelgebohrner  Herr  ^lagister 
Sehr  werthgeschätzter  Freund 
Die  Nachricht,  die  Sie  mir  von  dem  Antritt  Ihrer  neuen  Laufbahn, 
nämlich  der  eines  academischen  Lehrers,  geben,  ist  mir,  zusammt 
dem  Geschenk  Ihrer,  die  dazu  erforderliche  grosse  Geschicklichkeit 
hinreichend  beweisenden  Dissertation,  sehr  angenehm  gewesen.  Zu- 
gleich aber  hat  sie  mich  auch  an  eine  Unterlassungssünde  erinnert, 
die,  wie  ich  hoffe  doch  wieder  gut  gemacht  werden  kan. 

Ich  hatte  Sie  nämlich,  als  Sie  das  erstemal  in  Halle  waren, 
an  den  Canzler  Hrn.  v.  Hoffmann,  mit  welchem  ich  zufälliger  Weise 
in  Correspondenz  kam,  nach  Möglichkeit  empfohlen;  erfuhr  aber 
nachher,  dass  Sie  Ihr  damaliges  Vorhaben  der  Promotion  noch  auf- 


C,]2  Wilhelm  Dilthey, 

geschoben  hätten  und  nach  Preiissen  auf  ein  Jahr  7An-iick  gegangen 
wären.  Als  ich  nachdem  hörete,  dass  Sie  sich  zum  zweyten  Maale 
in  Halle  befänden,  so  schrieb  ich  abermal  an  den  Herren  v.  Hoff- 
mann, um,  was  in  seinem  A'ermögen  wäre,  zur  Beförderung  ihres 
academischen  Fortkommens  beyzutragen.  Dieser  hochschätzungs= 
würdige  Manu  schrieb  mir  darauf:  „Hrn.  Mag.  Beck  habe  ich 
kennen  lernen,  als  ich  von  meiner  Schweitzerreise  zu- 
rückkam; Ihm  nützlich  zu  seyn,  soll  mir  Wonne  werden." 
Er  setzte  hinzu:  dass,  ob  er  zwar  seine  Aviederholentlich  gebotene 
Dimission  vonder  Canzlerstolle  erhalten  und  sein  AVort  also  weder 
bey  der  Universität  Halle  (von  der  Er  sagt,  dass  das  Interesse  der- 
selben Ihm  jederzeit  ins  Herz  geprägt  bleibe  und  Er  stets  bemüht 
seyn  werde,  ihr  nützlich  zu  seyn)  noch  beym  Oberschulcollegio  viel 
Nachdruck  haben  könne,  er  sich  doch  für  einen  verdienten  Mann 
verwenden  wolle. 

Nun  wäre  es  nothwendig  gewesen  Ihnen  hievon  Nachricht  zu 
geben,  damit  Sie  gelegentlich  selbst  an  Hrn.  v.  Hoffmann  (geheimen 
Rath)  schreiben  und  etwas,  was  Ihnen  nützlich  seyn  könnte,  vor- 
schlagen möchten.  Allein,  gleich  als  ob  ich  voraussetzte,  dass  sie 
das  von  selbst  thun  würden,  oder  ob  ich  mir  es  vorsetzte  Ihnen 
jenes  zu  melden  und  es  hernach  vergessen  habe,  so  habe  ich  es 
Ihnen  zu  melden  unterlassen. 

Meine  Meynung  war  nehmlich:  dass,  da  die  Subsistenz.  die 
auf  blosser  Lesung  von  Collegien  beruht,  immer  sehr  mislich  ist. 
Sie  gleich  anderen  Lehrern  Ihres  Orts  eine  Stelle  beym  Pädagogio 
und  was  dem  Aehnlich  ist  zu^^)  suchen  möchten  die  Ihnen  Ihre 
Bedürfnis  sicher  verschaffte,  wozu  die  Verwendung  des  Hrn.  Ge- 
heimen Rath  V.  Hoffmann  wohl  beytragen  könnte.  —  Ist  es  nun 
dieses,  oder  etwas  Anderes  dem  Aehnliches,  dazu  dieser  würdige 
Mann  Ihnen  behülflich  werden  kan,  so  wenden  Sie  sich  getrost  an 
Ihn,  indem  Sie  sich  auf  mich  berufen. 

Aus  den  Ihrer  Dissertation  angehängten  thesilius  sehe  ich,  dass 
Sie  meine  Begriffe  weit  richtiger  aufgefasst  haben,  als  viele  andere, 
die    mir   sonst  Beyfall    geben.     Vermuthlich    würde    bey    der  Be- 


'^)  Die  cursiv  gesetzten  Worte  sind  in  den  Briefen  durchstrichen. 


Die  Rostocker  Kanthandschriften.  613 

stimmtheit  und  Klarheit,  die  Sie  als  Mathematiker  auch  im  Meta- 
physischen Felde  Ihrem  Vortrage  geben  können,  die  Critik  Ihnen 
Stoff  zu  einem  Collegio  geben,  welches  zahlreicher  besucht  würde, 
als  es  gemeiniglich  mit  den  mathematischen,  leider!  zu  geschehen 
pflegt.  —  Hrn.  Prof.  Jacob  bitte  meine  Empfehlung  zu  machen, 
mit  Abstattung  meines  Danks  für  Seine  mir  im  vorigen  Jahr  mir 
zugeschickte  Preisschrift.  Den  damit  verbundenen  Brief  habe,  lei- 
der! noch  nicht  beantwortet.  Ich  hoffe  es  nächstens  zu  thun  und 
bitte,  der  wackere  junge  Mann  wolle  hierinn  dem  68sten  Lebens- 
jahre, als  in  welches  ich  im  vorigen  Monat  getreten  bin,  etwas 
nachsehen.  Kürzlich  vernahm  ich  von  Hrn.  D.  und  Staabsmedicus 
Conradi  (einem  herzlichen  Freunde  des  Hrn.  Prof.  Jacob)  dass  Er 
eine  A^ocation  auf  die  Uniuersitaet  Giessen  bekommen  habe; 
worann  ich  jetzt  zu  zweifeln  anfange.  —  Wenn  Sie  einige  Zeit 
übrig  haben,  so  geben  Sie  mir,  so  wohl  was  die  obige  Angelegen- 
heit betrift,  als  auch  sonst  von  literarischen  Neuigkeiten  gütige 
Nachricht;  aber  wohl  zu  verstehen,  dass  Sie  Ihren  Brief  nicht  fran- 
kiren,  welches  ich  für  Beleidigung  aufnehmen  würde! 

Gelegentlich  bitte  meine  Hochachtung  an  Hrn.  Prof.  Kliigel  zu 
versichern  und  übrigens  versichert  zu  seyn,  dass  ich  mit  Hochach- 
tung und  Freundschaft  jederzeit  sey 

Koenigsberg  d.  9.  May.  1791. 

Ew:  Hochedelgeb.         ergebenster  Diener 

J.  Kant. 

Beck  antwortet  den  1.  Juni  1791.  Er  habe  inzwischen  seine 
mathematischen  Vorlesungen  vor  ein  paar  nichtzahlenden  Zuhörern 
begonnen:  für  seine  philosophischen  Vorlesungen  hatte  er  keinen 
Zuhörer  gefunden.  „Ich  bin  dieses  schlechten  Anfangs  wegen  aber  gar 
nicht  muthlos.  Denn  ich  meyne  es  ehrlich  und  glaube  dass  man  die 
Absicht  zu  nutzen  mir  anmerken  werde."  Der  Brief  des  Meisters 
hat  „sein  Gemüth  gestärkt,  das  leider  manchmal  wegen  Zweifel 
an  eigenen  Kräften  und  Tauglichkeit  niedergeschlagen  ist".  Auch 
von  der  literarischen  Lage  über  welche  Kant  gern  von  seinen 
Schülern  und  Freunden  Mittheilung  empfängt,  findet  sich  der  be- 
dächtige,   gründliche    und    mit    der    Scrupulosität    seines    Lehrers 


614  Willielm  Dilthey, 

lesende  und  arbeitende  Beck  nicht,  erbaut.  Er  schätzt  Jakob  wegen 
dessen  guter  Denkungsart,  wünscht  aber  doch,  dass  ihm  die  Philo- 
sophie mehr  Sache  des  Herzens,  als  des  Vorteils  wäre.  Die  Viel- 
schreiberei des  Mannes  macht  die  gute  Sache  vor  dem  denkenden 
Teil  des  T'ublikums  verdächtig,  und  die  AfVectation  seiner  kritischen 
W-rsiiche,  als  Mathematiker  erscheinen  zu  wollen,  lässt  ihn  ausser- 
ordentliche Absurditäten  begehen.  Ueber  Reinhold  kann  Beck  nicht 
günstiger  denken.  ,,Herr  Professor  Reiuhold  will  durchaus  alle 
Aufmerksamkeit  an  sich  ziehen.  Aber  so  viel  ich  aufgemerkt 
habe,  so  verstehe  ich  doch  kein  Wort  und  sehe  nichts  ein  von 
seiner  Theorie  des  Vorstellungsvermögens."  Ja  der  ehrliche  Beck 
muss  überhaupt  bemerken,  wie  in  der  an  Zahl  und  Macht  wachsen- 
den Genossenschaft  der  Kantianer  Ehrgeiz  und  Interesse  —  sehr 
unkantisch!  —  regieren.  „Verehrungswürdiger  Mann!  Sie  lieben 
die  Sprache  der  Aufrichtigkeit,  und  verstatten  es  mir  Ihnen  herzlich 
zu  l)eichten,  was  mir  auf  dem  Herzen  liegt.  Die  Kritik  habe  ich 
gefasst.  Es  war  mir  Herzenssache  sie  zu  studiren,  und  nicht  Sache 
des  Eigennutzes.  Ich  habe  Ihre  Philosophie  lieb  gewonnen,  weil 
sie  mich  überzeugt.  Aber  luiter  den  lauten  Freunden  derselben 
kenne  ich  keinen  einzigen,  der  mir  gefällt.  So  viel  ich  spüren 
kann,  ist  es  eitel  Gewinnsucht,  welche  die  Leute  belebt,  und  das 
ist  unmoralisch  und  schmeckt  wahrlich  nicht  nach  Ihrer  praktischen 
Philosophie." 

Nun  ist  es  Kant  selber  gewesen,  der  den  Bedächtigen  in  eben 
diese  schriftstellerische  Betriebsamkeit  der  Schule  hineinzog  und 
ihn  zu  der  wissenschaftlichen  Arbeit  bestimmte,  welche  seine  näch- 
sten Lebensjahre  erfüllen  und  ihm  seine  Stellung  in  der  Geschichte 
der  Transscendentalphilosophie  geben  sollte.  Der  Buchhändler 
Hartknoch  wünschte  einen  Auszug  aus  den  kritischen  Schriften, 
der  mit  selbstständigem  Geiste  abgefasst  wäre.  Kants  Kennt- 
niss  von  Beck,  die  von  demselben  erhaltenen  Aeusserungen, 
wie  er  Kants  Philosophie  liebgewonnen  und  von  ihr  überzeugt 
worden  sei,  Hessen  Kant  in  Beck  den  richtigen  Mann  erkennen. 
Zwar  wünschte  Hartknoch  einen  lateinischen  Auszug,  und  einen 
solchen  zu  schreiben  musste  Beck  ablehnen.  Er  bot  bei  dieser 
Gelegenheit  Hartknoch    eine  Prüfung    von  Keinholds  Theorie    des 


Die  Rostocker  Kanthandschriften.  615 

Yorstellungsverraögeiis,  oder  eiue  Vcrgleicluing  clor  Philosophie 
Humes  mit  der  Kants  an.  Aber  Kant  schlägt  ihm  nunmehr  vor, 
den  Auszug  zunächst  in  deutscher  Sprache  erscheinen  zu  lassen. 
Der  Plan  eines  lateinischen  Kant  ist  dann  in  anderer  Art  durch 
Born's  Uebersetzung  der  Kritiken  verwirklicht  worden.  Beck  nahm 
dies  an  und  so  begann  die  Arbeit  an  den  3  Bänden  dieses  Aus- 
zuges. Daneben  arbeitete  Beck  an  der  Schrift  gegen  Reinhold, 
welche  zugleich  die  AVahrheit  der  Kanfschen  Vernunftkritik  und 
die  Nichtigkeit  der  Reinhold'schen  Vorstellungstheorie  erweisen 
sollte. 

Kant  an  Beck  (2). 
Aus  beyliegendem  Briefe  Hartknochs  an  mich  werden  Sie, 
Werthester  Freund,  ersehen,  dass,  da  jener  einen  tüchtigen  Mann 
wünschte,  der  aus  meinen  critischen  Schriften  einen  nach  seiner 
eigenen  Munier  abgefassteu  und  mit  der  Originalität  seiner  eigenen 
Denkungsart  zusammenschmeltzenden  Auszug  machen  könnte  und 
wollte,  ich  nach  der  Eröfnung,  die  Sie  mir  in  Ihrem  letzteren 
Briefe  von  Ihrer  Neigung  gaben""),  sich  mit  diesem  Studio  zu  be- 
schäftigen, keinen  dazu  geschickteren  und  zuverlässigeren  als  Sie 
vorschlagen  konnte  und  Sie  daher  ihm  vorgeschlagen  habe.  Ich 
bin  bey  diesem  Vorschlage  freylich  selber  interessirt,  allein  ich 
bin  zugleich  versichert,  dass,  wenn  Sie  sich  von  der  Realität  jeuer 
Bearbeitungen  überzeugen  können,  Sie  wenn  Sie  sich  einmal  dar- 
auf eingelassen  haben,  einen  unerschöpllichen  Quell  von  Unter- 
haltung zum  Nachdenken,  in  den  Zwischenzeiten  da  Sie  von  Mathe- 
matik (der  Sie  keineswegs  dadurch  Abbruch  thun  müssen)  aus- 
ruhen, für  sich  ünden  werden  und  umgekehrt,  wenn  sie  von  der 
ersteren  ermüdet  sind,  an  der  Mathematik  eine  erwünschte  Erholung 
finden  können.  Denn  ich  bin  theils  durch  eigene  Erfahrung,  theils, 
und  weit  mehr,  durch  das  Beyspiel  der  grössten  Mathematiker 
überzeugt,  dass  blosse  Mathematik  die  Seele  eines  denkenden  Mannes 
nicht  ausfülle,  dass  noch  etwas  anderes  und  wenn  es  auch,  wie  bey 
Kästner,  nur  Dichtkunst  wäre,  etwas  sein  muss,  was  das  Gemüth 
durch  Beschäftigung  der  übrigen  Anlagen  desselben  theils  nur  er- 

-*')  oder;  geben. 


616  Wilhelm  Dilthey, 

quiekt,  theils  ihm  auch  abwechselnde  Nahruug  gielit  und  was  kan 
dazu,  un(l  zwar  auf  die  ganze  Zeit  des  Lebens,  tauglicher  seyn, 
als  die  Unterhaltung  mit  dem,  was  die  ganze  Bestimmung  des 
Menschen  betrift:  wenn  man  vornehmlich  Hofnung  hat,  dass  sie 
systematisch  durchgedacht  und  von  Zeit  zu  Zeit  immer  einiger  baare 
Gewinn  darinn  gemacht  werden  kan.  Ueberdem  vereinigen  sich 
damit  zuletzt  Gelehrte  —  so  wohl  als  Weltgeschichte,  auch  verliehre 
ich  nicht  die  Hofnung  gänzlich,  dass.  wenn  üe  dieses  Studium  gleicli 
nicht  der  Mathematik  neues  Licht  geben  kan,  diese  doch  umgekehrt, 
hey  dem  Teberdenken  ihrer  ]\Iethodcn  und  hevristischen  Principien. 
und  sammt  den^'w  ihnen  noch  anhängenden  Bedürfnissen  und  Desi- 
deraten, auf  neue  Eröfnuugen  für  die  Critik  und  Ausmessung  der 
reinen  Vernunft  kommen  und  dieser  selbst  neue  Üarstellugsmittel 
für  ihre  abstracte  Begriffe,  selbst  etwas  der  ars  uniuersalis  charac- 
teristica  combinatoria  Leibnitzens  Aehnliches,  verschaffen  könne. 
Denn  die  Tafel  der  Categorien  so  wohl  als  der  Ideen,  unter  welchen 
die  cosmolugische  Etwas  den  unmöglichen  Wurzeln'')  ähnliches 
an  .sich  zeigen,  sind  doch  abgezählt  und  in  Ansehung  alles  möglichen 
■\'ernunitgebrauchs  durch  Begriffe  so  be.stimmt,  dass,  als  die  Mathe- 
matik es  nur  verlangen  kan,  um  es  wenigstens  mit  ihnen  zu  ver- 
suchen, wie  wie  viel  sie,  wo  nicht  Erweiterung,  doch  wenigstens 
Klarheit  hinein  bringen  könne. 

W^as  nun  den  A'orschlag  des  Hrn.  Hartknoch  betrift,  so  ersehe 
ich,  aus  Ihrem  mir  von  ihm  communicirten  Briefe,  dass  Sie  ihn 
nicht  schlechterdings  abweisen.  Ich  denke  es  wäre  gut,  wenn  Sie 
ungesäumt  daran  gingen,  um  allererst  ein  Schema  im  Grossen 
vom  System  zu  entwerfen,  oder,  wenn  Sie  sich  dieses  schon  ge- 
dacht haben,  die  Theile  desselben:  daran  Sie  sich  noch  etwa  stosscn 
möchten,  aussuchen  und  mir  ihre  Zweifel  oder  Schwierigkeiten  von 
Zeit  zu  Zeit  communiciren  möchten,  (wobey  mir  lieb  wäre,  wenn 
Ihnen  jemand,  vielleiclit  Hr.  Prof.  Jacob,  den  ich  herzlich  zu 
grüssen  bitte,    behülflich  wäre,   aus  allen  Gegenschriften,   [als  den 


i  - 


2')  Kant  fügt  unter  dem  Text  Folgendes  hinzu.  Wenn  nach  dem  Grund- 
satze: in  der  Reihe  der  Erscheinungen  ist  alles  bedingt  ich  zum  des  unbe- 
dingten aU  jene  und  dem  obersten  Grunde  des  Gauzeu  der  Reihe  strebe  so 
ist  es  als  ob  ich  y—-  suchte. 


Die  Rostocker  Kanthandschrifteu.  ßl7 

Abhandlungen,  vornehmlich  Recensionen  im  Eberhardscheu  Magazin, 
aus  den  iilteren  Stücken  der  Tübinger  gel.  Zeitung  und  wo  sonst 
noch  dergleichen  anzutreffen  seyn  mag]  vornehmlich  die  mir  vor- 
gerückte Wiedersprüche  in  terminis  aufzusuchen;  denn  ich  habe 
deu  Misverstand  in  diesen  Einwürfen  zu  entwickeln  so  leicht  ge- 
funden, dass  ich  sie  längstens  alle  insgesammt  in  einer  Collection 
aufgestellt  und  wiederlegt  haben  würde,  wenn  ich  nicht  vergessen 
hätte  mir  die  jedesmal  bekannt  gemachte  gewordene  aufzuzeichnen 
und  zu  sammeln).  An  die  lateinische  Uebersetzung  kan,  wenn  Ihr  Werk 
im  Deutschen  herausgekommen  wäre,  immer  noch  gedacht  werden. 
Was  die  dem  Hartknoch  vorgeschlagene  zwey  Abhandlungen, 
nämlich  die  über  Reinholds  Theorie  des  Vorstellungsvermögens  und 
die  Gegeneinanderstellung  der  Humschen  uud  Kitschen  Philosophie 
betritt,  (in  Ansehung  der  letzteren  Abhandl.  bitte  ich  den  Band 
von  seinen  Phüosopli  Versuchen  nachzusehen,  darinn  sein  — 
Hume's  —  moralisches  Princip  anzutreffen  ist,  um  es  auch  mit 
dem  meinigen  zu  vergleichen,  mit  w^elchem  auch  sein  ästhetisches 
daselbst  angetroffen  wird)  so  würde,  wenn  letztere  Ihnen  nicht  zu 
viel  Zeit  wegnähmen,  es  allerdings  der  Bearbeitung  des  ersteren 
Thema  vor  der  Hand  vorzuziehen  sey.  Denn  Reiuhold,  ein  sonst 
lieber  Mann ,  hat  sich  in  seine  mir  noch  nicht  wohl  fasliche 
Theorie  so  leidenschaftlich  hinein  gedacht,  dass,  wenn  es  sich  zu- 
trüge, dass  Sie  in  einem  oder  anderen  Stücke,  oder  wohl  gar  in 
Ansehung  seiner  ganzen  Idee  mit  ihm  zusamm  uneins  wären,  er 
darüber  in  Unzufriedenheit  mit  seinen  Freunden  versetzt  werden 
könnte.  Gleichwohl  wünsche  ich  wirklich,  dass  Sie  nichts  hinderte 
jene  Prüfung  zu  bearbeiten  und  heraus  zu  geben  und  thue  dazu 
den  Vorschlag:  dass,  wenn  Sie  mich  mit  Ihrer  Antwort  auf  diesen 
meinen  Brief  beehren,  ?/wV  Sie  mir  auch  Ihre  Meynung  sag  darüber 
sagen  möchten:  ob  Sie  wohl  dazu  einstimmeten,  dass  ich  an  Rein- 
hold schriebe,  ihn  mit  Ihrem  Character  und  jetziger  Beschäftigung 
bekannt  machte  und  zwischen  ihnen  Beyden,  da  sie  einander  so 
nahe  sind,  eine  litterärische  Correspondenz,  die  ihm  gewis  sehr 
lieb  seyn,  veranstaltete,  wodurch  vielleicht  eine  freundschaftliche 
Uebereinkuntt  in  Ansehung  dessen,  was  Sie  über  jene  Materie 
schreiben  wollen,  zu  Stande  gebracht  werden  könnte. 


ßj g  W  i  1  li  e  1  m  D  i  1 1  h  e  y ,  # 

Das  llonorarium  für  Ihre  Arbeiten  (philosophische  so  wohl 
als  iniithematische)  würde  ich  zwischen  Ihnen  und  Hartknoch 
schon  vermitteln,  wenn  Sie  mir  darüber  nur  einigen  ^Viuk  geben; 
unter  5  oder  6  rthlr.  den  Bogen  brauchen  Sic  ihre  Arbeit  ihm 
nicht  zu  lassen. 

Icli  beharre  mit  der  grössten  Hochachtung  und  freundschaft- 
lichster Zuneigung 

Koenigsberg  Der  Ihrige 

d.  27.  Sept.  1791.  J.  Kant. 

N.  S.     Wegen  des  Postporto  bitte  ich  nochmals 
mich  keinesw'Cges  zu  schonen. 


I 


■^o^ 


Biesen  Brief  Kants  beantwortete  Beck  am  G.  Oktober.  Er 
konnte  Kant  damals  schon  eine  Probe  seiner  Schrift  gegen  Reinhold 
senden.  Das  kleine  Werk  war  in  Briefen  verfasst,  wie  das  in  der 
damaligen  philosophischen  Literatur  beliebt  war,  und  sollte  anonym 
erscheinen.  Beck  versprach,  Alles  was  Reinhold  verletzen  könnte 
aus  demselben  fern  zu  halten.  Zugleich  aber  war  er  nun  auch  zu 
dem  Auszug  aus  Kants  Vernunftkritiken  entschlossen.  „Die  Kritik 
der  r.  Vernunft  habe  ich  mit  dem  herzlichsten  Interesse  studirt, 
und  ich  bin  von  ihr  wie  von  mathematischen  Sätzen  überzeugt. 
Die  Kritik  der  praktischen  Vernunft  ist  seit  ihrer  Erscheinung 
meine  Bibel."  Er  war  auch  trotz  seines  Widerwillens  gegen 
die  Büchermacherei  für  seine  Existenz  auf  dieselbe  angewiesen. 
Er  wünscht  nur,  dass  Kant  wegen  derselben  bei  den  Königsberger 
Collegen  Kraus  sein  Fürsprecher  sei  „Seinen  Unwillen  fürchte 
ich  mehr,  als  den  Tadel  der  Recensenten."  Hierauf  beziehen  sich 
denn  auch  Kants  Scherzo  im  nächsten  Brief. 

Kant  an  Beck  (B). 

Werthester  Herr  Magister! 
Meine  Antwort  auf  Ihr  mir  angenehmes  Schreiben  vom  8.  Oct. 
kommt  etwas  spät,  aber,  wie  ich  holl'en  will,  doch  nicht  zu  spät, 
um  Sie  in  Ihren  Arbeiten  aufgehalten  zu  haben.  Meine  Decanats^ 
und  andere  Geschäfte  haben  mich  zeither  aufgehalten  und  selbst 
das  Vorhaben  zu  antworten,  mir  aus  den  Gedanken  gebracht. 


f- 


Die  Rostocker  Kautbandscliriften.  ßl9 

Ihre  Bedenklichkeit  sich  um  blossen  Gewinnswillen  dem 
leidigen  Tross  der  Biicherraacher  beyzngesellen,  ist  ganz  gerecht. 
Eben  so  vernünftig  ist  aber  auch  Ihr  Entschlus,  wenn  Sie  glauben 
dem  Publicum  „etwas  Gedachtes  und  nicht  Unnützes"  vorlegen  zu 
können,  Sie  auch  ohne  den  Bewegungsgrund  des  Erwerbs  zu  dem 
üfl'entlichen  Capital  der  Wissenschaft  gleich  Ihren  V\)rfahren  (deren 
hinterlassenen  Fonds  sie  benutzt  haben)  auch  ihren  Beytrag 
zu  thun. 

Zwar  hätte  ich  gewünscht  dass  Sie  von  den  zwey  Abhand- 
lungen, die  Sie  Hrn.  Ilartknoch  in  Vorschlag  brachten,  die  erstere 
gewählt  hätten,  um  damit  zuerst  aufzutreten;  weil  die  Theorie  des 
Vorstellungsvermögens  des  Hrn.  Reinhold  so  sehr  in  dunkele  Ab- 
stractionen  zurückgeht,  wo  es  unmöglich  wird  das  Gesagte  in  Bey- 
spielen  darzustellen,  so,  dass  wenn  sie  auch  in  allen  Stücken 
richtig  wäre  (welches  ich  wirklich  nicht  beurtheilen  kan,  da  ich 
mich  noch  bis  jetzt  nicht  habe  hineindenken  können)  sie  doch 
eben  dieser  Schwierigkeit  wegen  unmöglich  von  ausgebreiteter  oder 
daurender  Wirkung  sein  kan,  vornehmlich  aber  auch  Ihre  Beur- 
theilung,  so  sehr  mich  auch  die  mir  gütigst  zugeschickte  Probe 
derselben  von  Ihrer  Gabe  der  Deutlichkeit  auf  angenehme  Art 
überzeugt  hat,  die  der  Sache  selbst  anhängende  Dunkelheit  nicht 
wohl  wird  vermeiden  können.  —  Vor  allem  wünsche  ich  dass  Hr. 
Reinhold  aus  Ihrer  Schrift  nicht  den  Verdacht  ziehe,  als  hätte  ich 
Sie  dazu  aufgemuntert  oder  angestiftet;  da  es  vielmehr  Ihre  eigene 
Wahl  ist;  auch  kan  ich,  wenigstens  jetzt  noch  nicht  Sie  mit  dem- 
selben, wie  ich  Sinnes  war,  l)ekaunt  machen,  weil  es  ihm  alsdann 
leichtlich  falsche  Freundschaft  zu  seyn  scheinen  möchte.  Uebrigens 
zweifle  ich  gar  nicht,  dass  der  Ton  Ihrer  Schrift  nichts  für  diesen 
guten  und  sonst  aufgeweckten,  jetzt  aber,  wie  mir  es  scheint,  etwas 
hypochondrischen  Mann,  Hartes  oder  Kränkendes  enthalten  werde. 

Ihr  Vorhaben  Werthester  Freund  aus  meinen  critischen  Schriften 
einen  Auszug  zu  machen,  da  Sie  von  deren  Warheit  und  Nützlich- 
keit überzeugt  zu  seyn  bezeugen,  ist  ein  für  mich  sehr  inter- 
essantes Versprechen;  da  ich  meines  Alters  wegen  dazu  selbst  nicht 
mehr  wohl  auferlegt  bin  und  unter  allen,  die  diesem  Geschäfte 
sich  unterziehen  möchten,   der  Mathematiker   niii-  (Km-  lieitste  spvu 


(520  Wilhelm  Dilthey, 

muss.  Die  Ihnen,  die  eigene  Moral  betreffende,  vorgekommene 
Schwierigkeiten  bitte  mir  zu  erüfnen.  Mit  Vergnügen  werde  ich 
sie  7.U  heben  .suchen  und  ich  hofte  es  leisten  zu  können,  da  ich 
(las  Feld  derselben  oft  und  lange  nach  allen  Richtungen  durch- 
kreutzt  habe. 

Die  mir  zugesandte  Probe  Ihrer  Abhandlung  behalte  ich  zu- 
rück, weil  in  Ihrem  Briefe  nicht  angemerkt  ist,  dass  ich  sie  zu- 
rückschicken solle. 

Aber  dariun  kan  ich  mich  nicht  finden;  was  Sie  zum  Schlüsse 
Ihres  Briefes  anmerken,  dass  Sie  ihn  auf  mein  Verlangen  für  das- 
mal  nicht  frankirten  und  dennoch  habe  ich  ihn  frankirt  bekommen. 
Thun  Sie  doch  dieses  künftig  bey  Leibe  nicht.  Der  Aufwand  bey 
unserer  Correspondenz  ist  für  mich  unerheblich  für  Sie  aber  jetzt 
so  wohl  als  noch  eine  ziemliche  Zeit  hin  erheblich  gnug.  um  die 
letztere  deswegen  bisweilen  auszusetzen  welches  für  mich  Verlust  wäre. 

Dass  Hr.  Prof.  Kraus  alle  Gelehrte  gern  zu  Ilagestoltzen  machen 
möchte,  die,  weil  so  viel  Kinder  bald  nach  der  Geburt  sterben, 
sich  unter  einander  bereden,  lieber  keine  mehr  zu  zeugen,  gehört 
zu  seinen  fest  beschlossenen  Grundsätzen,  von  denen  ihn  unter 
allen  Menschen  wold  keiner  weniger  als  ich  im  Stande  seyn  würde 
ihn  abzubringen.  In  Ansehung  der  Parthey,  die  Sic  in  diesem 
Puncte  zu  nehmen  haben,  bleiben  Sie,  was  mich  betriff,  noch 
immer  völlig  frey.  und  Ich  verlange  mich  nicht  einer  Autorsünde 
thcilhaftig  zu  machen  und  wegen  der  Gewissensscrupel,  die  Ihnen 
darül)er  etwa  darauss  entspringen  oder  von  andern  erregt  werden 
möchten,  die  Schuld  zu  tragen:  und  bleibe  übrigens  mit  aller 
Ilochschätzung  und  Freundschaft 

Koenigsberg  Ihr 

d.  2.  Nov.  1791.  ergebenster  Diener 

J.  Kant. 

In  der  Antwort  auf  diesen  Brief  vom  11.  November  zeigte  sich 
nun  Beck  entschlossen,  die  Schrift  gegen  Reinholds  Theorie  des 
\'orstellungsvermögens  fallen  zu  lassen.  War  ihm  doch  immer 
deutlicher  geworden,  dass  sie  im  Grunde  kein  Publikum  habe. 
Und  als  dann  Kants  Brief  angekommen  war,  musste  Beck  zugleich 
empfinden,    wie  sein  Lehrer   durch    diese  Schrift    eines  seiner  be- 


•k' 


Die  Rostocker  Kanthandschriften.  621 

freundeten  Anhänger  gegen  den  andern  in  eine  wunderliche  Lage 
gebracht  wurde.  Dagegen  lebte  er  von  nun  ab  ganz  in  dem  Werke 
Kants.  Und  zwar  legte  er  sogleich  Kaut  seine  Bedenken  über 
eiuen  Punkt  vor,  von  welchem  aus  seine  ganze  Aulfassung  der 
Vernunftkritik  entscheidend  bestimmt  werden  sollte.  Denn  aus  dem 
reinen  Streben  einer  ganz  angemessenen  Darstellung  des  Kantscheii 
Systems  entsprang  ihm  sein  eigener  Standpunkt.  „Ich  habe  mich 
—  so  beschreibt  er  in  der  Vorrede  des  ersten  Bandes  sein  Ver- 
halten —  in  dem  Geist  der  kritischen  Philosophie  zu  denken  be- 
müht. Dieses  ist  eine  Sache  mehrerer  Jahre,  indem  ich  sie  in 
^'erbinduug  mit  Mathematik  als  die  beste  Gefährtin  meines  Lebens 
befunden  habe.  Auf  diese  Weise  habe  ich  den  Gang  der  Kritik 
gleichsam  zu  meiner  eigenen  Gedankeustimmung  gemacht,  und  die 
Gedanken  eines  Andern,  gleichsam  als  wären  sie  meine  eigenen, 
ausdrücken  gelernt."  So  strebte  er  von  Anfang  an  Kants  Trans- 
sceudentalphilosophie  in  Begriffe  zu  übersetzen,  welche  unter  ein- 
ander ganz  einstimmig  und  nirgend  misverständlich  wären.  Er 
versuchte,  die  Begriffe,  deren  die  Vernunftkritik  in  ihrem  An- 
fang bedarf,  so  zu  bestimmen,  dass  dieselben  nichts  einschliessen, 
was  erst  später  begründet  werden  könnte.  So  entsteht  ihm  nun 
schon  die  Definition  der  Anschauung  als  einer  in  Ansehung  eines 
Gegebenen  durchgängig  bestimmten  objektiven  Vorstellung;  er  findet 
die  Definition  des  Begriffs,  nach  welcher  dieser  eine  in  Rücksicht 
auf  ihren  hdudt  nicht  durchgängig  bestimmte  Vorstellung  ist^'Q. 
Zu  diesen  und  ähnlichen  Erörterungen  des  Briefs  vom  11.  November 
traten  dann  die  eines  weiteren  leider  verloren  gegangenen  Briefes 
vom  9.  Dezember,  welche  den  angegebenen  Gesichtspunkt  noch 
tiefer  und  genauer  durchgeführt  haben  müssen.  Das  zeigt  dei- 
wichtige  Brief  vom  20.  Januar  1792. 

Kant  an  Beck  (4). 
Werthester  Freund 
Ich  habe  Sie   auf  Ihren  Brief  vom   9ten  Dec:  vorigton  Jahres 
lange  warten  lassen,  doch  ohne  meine  Schuld,  weil  mir  dringende 


22)  Briefwechsel  S.  30.     Erläuternder  Auszug  1.  (1793):    Vorrede  7  f.,  Aus- 
zug S.  8. 

— „..„^..,..    ...  -^ 


ß22  Willielin  Dilthey, 


V 


Arbeiten  auf  dem  Halse  lagen,  das  Alter  mir  aber  eine  sonst  nicht 
gefühlte  Nothwendigkeit  auferlegt,  über  einen  Gegenstand,  den  icii 
bearbeite,  das  Nachdenken  durch  keine  allotria  7ai  unterbrechen 
bis  ich  mit  diesem  zu  Ende  bin;  weil  ich  sonst  den  Faden  nicht 
mehr  wohl  auffinden  kau,  den  ich  einmal  aus  tlen  Händen  ge- 
lassen habe.  Künftig  soll  es,  wie  ich  hoffe,  keinen  so  langen  Aul- 
schub mehr  geben.  b 

Sie  haben  mir  Ihre  gründliche  Untersuchung  von  demjenigen 
vorgelegt,  was  gerade  das  schweerste  von  der  ganzen  Critik  ist, 
nämlich  nämlich  die  Analysis  einer  Erfahrung  überhaupt  und  die 
Principien  der  Möglichkeit  der  letzteren.  —  Ich  habe  mir  sonst  schon 
einen  Entwurf  gemacht  in  einem  System  der  Metaphysik  diese 
Schwierigkeit  umzugehen  und  von  den  f'ategorien  nach  ihrer  Ord- 
nung anzufangen  (iiachdem  ich  vorher  blos  die  reine  Anschauungen 
von  Raum  und  Zeit,  in  welchen  ihnen  Objecto  allein  gegeben 
werden,  vorher  exponirt  habe,  ohne  noch  die  Möglichkeit  derselben 
zu  untersuchen)  und  zum  Schlüsse  der  Exposition  jeder  Categorie, 
z.  B.  der  Quantität  und  aller  darunter  enthaltenen  Prädicabilien, 
sammt  den  Beyspielen  ihres  Gebrauchs  nun  beweise:  dass  sie  ins- 
gcsammt  als  Grössen  vovgeste  gedacht  werden  müssen  und  so  mit 
allen  übrigen;  wobey  dann  immer  bemerkt  wird,  dass  sie  uns  nur 
als  in  Raum  und  Zeit  gegeben  vorgestellt  werden.  AYoraus  dann 
eine  ganze  Wissenschaft  der  Ontologie  als  immanenten  Erkennt- 
nisses Denkens  d.  i.  desjenigen,  dessen  Begriffen  man  ihre  objective 
Realität  sichern  kan,  entspringt.  Nur  nachdem  in  der  zweyten 
Abtheilung  gezeigt  worden,  dass  in  derselben  alle  Bedingungen 
der  Alöglichkeit  der  Objecto  immer  wiederum  bedingt  seyn  und 
gleichwohl  die  Vernunft  unvermeidlich  aufs  Unbedingte  hinaus 
zu  gehen  antreibt,  wo  unser  Denken  transcendent  wird,  d.  i.  den 
Begriffen  derselben  als  Ideen  die  objective  Realität  gar  nicht  ver- 
schafft werden  und  also  kein  Erkenntnis  der  Objecto  durch  die- 
selbe stattfinden  kan;  in  der  Dialectik  der  reinen  Vernunft  (der 
Aufstellung  ihrer  Antinomien)  wollte  ich  zeigen,  dass  jene  Gegen- 
stände möglicher  Erfahrung  als  Gegenstände  der  Sinne  die  Objecto  ■ 
nicht  als  Dinge  an  sich  selbst,  sondern  nur  als  Erscheinungen  zu 
erkennen  lassen  geben  und    nun  allererst   die  Deduction   der  Gate-    p' 


Die  Rostocker  Kanthandschriften.  ß23 

gorien  in  Beziehuug  auf  die  siuuliche  Formen  von  Raum  und  Zeit 
als  Bedingungen  der  Verknüpfung  derselben  zu  einer  möglichen 
Erfahrung  vorstellig  machen,  den  Categorien  selbst  aber  diene  als 
Begriffen  Objecte  überhaupt  zu  denken  (die  Anschauung  mag  von 
einer  Form  sevn  welche  sie  wolle)  dann  den  auch  über  die  Sinnen- 
grentzen  erweiterten  Umfang,  der  aber  kein  Erkenntnis  verschafft, 
ausmachen.     Allein  hievon  gnug. 

Sie  haben  es  ganz  wohl  getroffen,  wenn  Sie  sagen:  „Der  In n- 
begrif  der  Vorstellungen  ist  selbst  das  Object  und  die  Handlung 
des  Gemüths,  wodurch  der  Innbegrif  der  Vorstellungen  vorgestellt 
wird,  heisst  sie  auf  das  Object  beziehen."  Nur  kan  man  noch 
hinzufügen:  wie  kan  ein  Innbegrif !  Complexus  der  Vorstellungen 
vorgestellt  werden?  Nicht  durch  das  Bewusstseyn,  da.ss  er  uns 
gegeben  sey;  denn  ein  Innbegrif  u  erfordert  Zusammensetzen 
(synthesis)  des  Mannigfaltigen.  Er  muss  also  (als  Inbegrif)  ge- 
macht werden  und  zwar  durch  eine  /'  innere  Handlung,  die  für 
da?,  ein  gegebenes  Mannigfaltige  überhaupt  gilt  und  a  priori  vor 
der  Art,  wie  dieses  gegeben  wird,  vorhergeht  d.  i.  er  kan  nur  durch 
die  synthetische  Einheit  des  Bewusstseyns  desselben  in  einem  Be- 
griffe (vom  Objecte  überhaupt)  gedacht  werden  und  dieser  Begrif, 
unbestimmt  in  Ansehung  der  Art,  wie  etwas  in  der  Anschauung 
gegeben  seyn  mag,  auf  Object  überhaupt  bezogen,  ist  die  Categorie. 
Die  blos  subjective  Beschaffenheit  des  vorstellenden  Subjects,  so 
fern  das  Mannigfaltige  in  ilim  (für  die  Zusammensetzung  und  die 
synthetische  Einheit  desselben)  auf  besondere  Art  aber  Art  gegeben 
ist,  heisst  Sinnlichkeit  und  diese  Art  (der  Anschauung  a  priori 
gegeben  die  sinnliche  Form  der  Anschauung,  und  Beziehungsweise 
auf  sie  werden  vermittelst  der  Categorien  die  Gegenstände  blos  als 
Dinge  in  der  Erscheinung  und  nicht  nach  dem  was  sie  an  sich 
selbst  sind  erkannt;  ohne  alle  Anschauung  werden  sie  gar  nicht 
erkannt,  aber  doch  gedacht  und  wenn  man  nicht  blos  von  aller 
Anschauung  abstrahirt,  sondern  sie  sogar  ausschliesst,  so  kan  den 
Categorien  die  objective  Realität  (dass  sie  überhaupt  Etwas  vor- 
stellen und  nicht  leere  Begriffe  sind)  nicht  gesichert  werden. 

Vielleicht  können  Sie  es  vermeiden  gleich  anfänglich  Sinnlich- 
keit durch  Receptivität.  d.  i.  die  Art  der  A^orstellungen  wie  sie  im 


G24  Willielm  Dilthey, 

Subjecte  sind,  so  fem  es  an  Gegenständen  afficirt  wird,  7A\  defiuireti 
und  es  blas  in  dem  setzen,  was  in  einem  Erkentnisse  blos  die  lie- 
zieliung  der  Vorstellung  aufs  Subject  ausmacht,  so,  dass  die  Form 
derselben  in  dieser  Beziehung  nick  aufs  Objeet  der  Anschauung 
bezogen  nichts  mehr  als  die  Erscheinung  desselben  erkennen  lässt. 
Dass  aber  dieses  Subjective  von  nur  die  Art  wie  das  Subject  durch 
Vorstellungen  afficirt  wird,  mithin  blos  Receptivität  desselben  aus- 
machen, liegt  schon  darinu  dass  de  es  blos  die  Bestimmung  des 
Subjects  ist. 

Mit  einem  Worte:  da  diese  ganze  Analysis  nur  zur  Absicht 
hat  darzuthun,  dass  Erfahrung  selbst  nur  vermittelst  gewisser  syn- 
thetischer Grundsätze  a  priori  möglich  sey,  dieses  aber  alsdann, 
wenn  dise  Grundsätze  wirklich  vorgetragen  werden,  allererst  reclit 
fasslich  gemacht  werden  kan,  so  halte  ich  für  rathsam,  ehe  diese 
aufgestellt  werden,  so  kurz  wie  möglich  zu  Werke  zu  gelien.  Viel- 
leicht kan  Ihnen  die  Art,  wie  ich  hiebey  in  meinen  Vorlesungen 
verfahre,  wo  ich  kurz  seyn  muss,  hiezu  einiger  maassen  behiilf- 
lich  seyn. 

Ich  fange  damit  an,  dass  ich  Erfahrung  durch  empirisches 
Erkentnis  defhiire.  Erkentnis  al)er  ist  die  Vorstellung  eines  ge- 
gebenen Objects  als  eines  solchen  durch  Begriffe;  sie  ist  em- 
pirisch, wenn  das  Objeet  in  der  Vorstelhmg  der  Sinne  (welche  also 
zugleich  Empiindung  und  diese  mit  Bewusstseyn  verbunden  d.  i. 
Wahrnehmung  enthält)  Erkentnis  aber  apriori,  wenn  das  Objeet 
zwar,  aber  nicht  in  der  Sinnenvorstellung  (die  also  doch  nichts 
desto  weniger  immer  sinnlich  seyn  kan)  gegeben  ist.  Zum  Er- 
kentnis werden  zweyerley  Vorsteilungsarten  erfordert  1)  Anschauung 
wodurch  ein  Objeet  gegeben  und  2)  Begrif  wodurch  es  gedacht 
wird.  Aus  diesen  zwey  Erkentnisstücken  nun  ein  Erkentnis 
zu  machen  wird  noch  eine  Handlung  erfordert:  Das  Mannigfal- 
tige in  der  Anschauug  gegebene  der  synthetischen  Einheit  des 
Bewusstseyns,  die  der  Begrif  ausdrückt,  gemäs,  zusammenzAisetzen. 
Da  nun  Zusammensetzung  7ik-ht  durch  das  Oliject  oder  die  Vor- 
stellung desselben  in  der  Anschauung  nicht  gegeben  sondern  nur 
gemacht  seyn  kan  so  beruht  sie  auf  der  reinen  Spontaneität  des 
Verstandes   in  Begriffen   von  Objecteu  überhaupt  (der  Zusammen- 


Die  Rostocker  Kanthandschriften.  625 

Setzung  des  Mannigfaltigeu  gegebenen).  Weil  aber  auch  Begriffe, 
denen  gar  kein  Object  correspondirend  gegeben  werden  könnte, 
mithin  ohne  alles  Object  nicht  einmal  Begriffe  seyn  würden  u-eil 
sie  (Gedanken  durch  die  ich  gar  nichts  denke)  so  muss  eben  so 
wohl  a  priori  ein  Mannigfaltiges  welches  für  jene  Begriffe  a  priori 
gleichfalls  gegeben  sein  desseii  und  zwar,  weil  es  a  priori  gegeben 
ist.  in  einer  Anschauung  ("ohne  Ding  als  Gegenstand)  d.  i.  in  der 
blossen  Form  der  Anschauung,  die  blos  subjectiv  ist  (Raum  und 
Zeit)  mithin  der  blos  sinnlichen  Anschauung,  deren  Synthesis  durch 
die  Einbildungskraft  unter  der  Regel  ivelch  der  synthetischen  Ein- 
heit des  Bewusstseyns,  welche  der  Begrif  enthält,  gemäs;  da  dann 
die  Regel  auf  Wahrnehmungen  (in  denen  Dinge  den  Sinnen  durch 
Empfindung  gegeben  werden)  angewandt,  die  des  Schematismus  der 
Verstandesbegriffe  ist. 

Ich  beschliesse  hiemit  meinen  in  Eile  abgefassten  Entwurf  und 
bitte  Sich  durch  meine  Zögerung,  die  durch  zufällige  Hindernisse 
verursacht  woiden,  nicht  abhalten  zu  lassen  Ihre  Gedanken  mir, 
bey  jeder  Veranlassung  durch  Schwierigkeiten,  zu  eröfuen  und  bin 
mit  der  vurziiglichsten  Hochachtung") 

Der  Ihrige 

Königsberg '0  ^-  ^^^^ 

d  20.  Jan:  1792. 

N.  S.     Innliegenden  Brief  bitte  doch  so  fort  auf  die  Post  zu 

geben. 

Der  folgende  Brief  Becks  v.  31.  Mai  1792  gestattet,  weiter  zu 
verfolgen,  wie  Becks  Standpunkt  aus  dem  gewissenhaften  Streben 
allmälig  erwuchs,  die  Vernunftkritik  zu  interpretiren.  Er  suchte 
zunächst  Begriffsbestimmungen,  welche  von  den  Voraussetzungen 
frei  sind,  wie  sie  die  Sprache  der  Vernunftkritik  in  ihrem  Anfang 
dogmatisch  machen. 

Die  Kritik  nennt  die  Anschauung  eine  Vorstellung,  die  sich 
unmittelbar  auf  ein  Objekt  bezieht.     Da  nun  aber  erst  durch  die 


23)  Die  letzten  durch  das  Siegel  zerstörten  Buchstaben  sind  ergänzt. 
21)  Die  ersten  durch  das  Siegel  zerstörten  Buchstaben  sind  ergänzt. 


ß26  Wilhelm  Dilthev, 


i 


Anwendung  rler  Kategorien  auf  die  Anschauung  der  objektive 
Charakter  derselben  entsteht,  sonach  erst  in  der  transscendentalen 
Logik  die  objektive  Vorstellung  auftreten  kann,  so  muss  eine  De- 
finition der  Anschauung,  welche  dies  Merkmal  der  Beziehung 
derselben  auf  das  Objekt  entbehrlich  macht,  aufgesucht  werden. 
80  hatte  Beck  schon  im  Brief  v.  20.  Jan.  1792  geschlossen.  Er  |^ 
bestimmt  nun  also  die  dort  entworfene  Definition  genauer  und  hier 
redet  der  Mathematiker,  welcher  an  der  Raumanschauung  natur- 
gemäss  die  im  Denken  bestimmbaren  Elemente  bevorzugt.  „Die 
Anschauung  ist  eine  durchgängig  bestimmte  Vorstellung  in  An- 
sehung des  Mannichfaltigeu."  Mathematik  ist  ihm  eine  „Wissen- 
schaft durch  Construktion  der  Begriffe".  Und  zwar  wenlen  die 
Theile  des  Mannigfaltigen  durch  die  Identität  des  Bewusstseins 
verbunden. 

"Wie  nun  hier  Beck  Sinnlichkeit  und  Verstand  in  ihrem  leben- 
digen Zusammenhang  zu  erfassen  strebt,  so  beginnt  er  auch  schon 
von  dieser  Leistung  die  der  Urtheilskraft  zu  trennen,  welche  die 
Unterordnung  der  Anschauung  vermittelst  des  Schema  unter  die 
Kategorie  und  so  die  Entstehung  der  objektiven  Einheit  des  Gegen- 
standes bewirkt.  So  sagt  er  bereits  in  dem  früheren  Brief:  „diese 
Einheit"  (des  Mannichfaltigeu  im  Bewusstsein)  „erhält  nun  in 
meinen  Augen  den  Charakter  der  objektiven  Einheit,  wenn  die 
Vorstellung  selbst  unter  die  Kategorie  subsumirt  wird".  Und 
nun  erklärt  er  genauer:  „die  empirische  Anschauung  erhält  nur 
dadurch  Objektivität,  dass  sie  unter  die  Schemata  der  Kate- 
gorien subsumirt  wird."  Diese  Einsicht  löse  „die  Frage,  wie 
es  zugehe,  dass  die  Gegenstände  sich  nach  jenen  synthetischen 
Sätzen  a  priori  richten  müssen".  So  ist  der  Grundsatz,  dass  allen 
Erscheinungen  etwas  Beharrliches  zu  Grunde  liegt,  darum  gültig, 
weil  der  Gegenstand  erst  durch  diese  Anwendung  des  Schema 
der  Substanzialität  auf  die  empirische  Anschauung  entsteht,  also 
auch  in  abstracto  dieser  synthetischen  Verknüpfung  mich  Sub- 
stanz und  Accidenz  im  nachträglichen  L'rtheil  unterworfen  wer- 
den kann.  Sonach  ist  die  „Handlung  der  objektiven  Beziehung", 
durch  welche  empirische  Anschauung  zur  objektiven  Einheit  eines 
Gegenstandes  erhoben  und  so  der  Gegenstand  erzeugt  wird,  ein  l  r- 


I 


Die  Rostocker  Kanthaüdschriften.  627 

theileii,  eine  Leistung  der  Urtheilskraft,  sofern  hier  die  empirische  An- 
schauung vermittelst  des  Schema  durch  die  Kategorien  bestimmt  wird, 
aber  natürlich  ist  dies  Urtheilen  unterschieden  von  dem,  durch 
welches  nachher  analytisch  (im  discursiven  Denken)  das  Objekt 
der  Kategorie  subsumirt  wird. 

Hier,  in  diesem  Unterschiede  zwischen  Synthesis  in  der  An- 
schauung und  ol)jektiver  Beziehung  oder  Bestimmung  der  empiri- 
schen Anschauung  vermittelst  der  Kategorien  liegt  bei  Beck  der 
Ausgangspunkt  des  von  ihm  angestrebten  tieferen  Verständnisses 
vom  ursprünglichen  Vorstellen,  in  welchem  der  Gegenstand  ent- 
steht. 

Man  wird  zunächst  bemerken,  wie  Kants  Antworten,  mühsam 
demselben  abgerungen,  Beck  nichts  nutzen  können,  weil  sie  sich  gar 
nicht  in  seinen  Gedankengang  versetzen,  dann  aber,  wie  Beck  in 
der  eingeschlagenen  Richtung  weitergeht. 

Kant  an  Beck  (5). 

Es  ist,  hochgeschätzter  Freund!  ganz  gewis  nicht  Gringschätzung 
Ihrer  mir  vorgelegten  Fragen  gewesen,  was  mich  gehindert  hat 
Ihren  letzten  Brief  zu  beantworten,  sondern  es  waren  andere  Ar- 
beiten, auf  die  ich  mich  damals  eingelassen  hatte  und  mein  Alter, 
welches  mir  es  jetzt  nothwendig  macht  mein  Nachdenken  über  eine 
Materie,  mit  der  ich  mich  beschäftige,  durch  nichts  Fremdartiges  zu 
unterbrechen,  indem  ich  sonst  den  Faden,  den  ich  verlassen  hatte, 
nicht  wohl  wieder  aufiinden  kan.  —  Der  Unterschied  zwischen 
der  Verbindung  der  Verbindung  der  Vorstellungen  in  einem  Begrif 
und  der  in  einem  Urtheil  z.  B.  der  schwarze  Mensch  und  der 
Mensch  ist  schwarz,  (mit  andern  Worten:  der  Mensch  der  schwarz 
ist  und  und  der  Mensch  ist  schwarz)  liegt  meiner  Meynung  nach 
dariun,  dass  im  ersteren  ein  Begrif  als  bestimmt  im  zweyten  die 
Handlung  meines  Bestimmens  dieses  Begrifs  gedacht  wird.  Da- 
her haben  Sie  ganz  recht  zu  sagen,  dass  in  dem  zusammen- 
gesetzten Begrif  die  Einheit  des  Bewustseyns,  als  subjcctiv 
gegeben,  in  der  Zusammensetzung  der  Begriffe  aber  die  Einheit 
des  Bew'ustseyns,  als  objectiv  gemacht,  d.  i.  im  ersteren  der  Mensch 
blos  als  schwarz  gedacht  (problematisch  vorgestellt)   im  zweyten 


628  Wilhelm  Dilthey, 

als  ein  solcher  erkannt  werden  solle.  Daher  die  Frage,  ob  ich 
sagen  kau:  der  schwarze  Mensch  (der  schwarz  ist  zu  einer  Zeit) 
ist  weis  (d.  i.  er  ist  weiss,  ausgebleicht,  zu  einer  anderen  Zeit) 
ohne  mir  zu  wiedersprechen?  Ich  antworte  Nein;  wöil  ich  iceil 
in  diesem  Urtheile  den  Begrif  des  Schwarzen  in  den  Begrif  des 
Nichtschwarzen  mit  herüber  bringe,  indem  das  Subject  durch  den 
ersteren  als  bestimmt  gedacht  wird,  mithin,  da  es  beydes  zugleich 
seyn  würde,  sich  unvermeidlich  wiederspräche.  Dagegen  werde  ich 
von  eben  demselben  ^lenschen  sagen  können  er  ist  schwarz  und 
auch  eben  dieser  Mensch  ist  nicht  schwarz  (nämlich  zu  einer 
anderen  Zeit,  wenn  er  ausgebleicht  ist)  weil  in  beyden  Urtheilen 
nur  die  Handlung  des  Bestimmens,  welches  hier  von  Erfah- 
rungsbedingungen und  der  Zeit  abhängt,  angezeigt  wird.  In  meiner 
Crit:  d.  r.  V.  werden  Sie  da,  wo  vom  Satz  des  Wiederspruchs  ge- 
redet wird,  hievon  auch  etwas  antreffen. 

Was  Sie  von  Ihrer  Definition  der  Anschauung:  sie  sey  eine 
durchgängig  bestimmte  Vorstellung  in  Ansehung  eines  gegebenen 
Mannigfaltigen,  sagen,  dagegen  hätte  ich  nichts  weiter  zu  erinnern, 
als:  dass  die  durchgängige  Bestimmung  hier  objectiv  und  nicht  als 
im  Subject  befindlich  verstanden  werden  müsse  (weil  wir  alle  Be- 
stimmungen des  Gegenstandes  einer  empirischen  Anschauug  un- 
möglich kennen  können),  da  dann  die  Definition  doch  nicht  mehr 
seyn  würde  als:  sie  ist  die  Vorstellung  des  Einzelneu  gegebenen. 
Da  uns  nun  kein  Zusammengesetztes  als  ein  solches  gegeben 
werden  kau,  sondern  wir  die  Zusammensetzung  des  mannig- 
faltigen Gegebenen  immer  selbst  machen  müssen,  gleichwohl  aber 
die  Zusammensetzung  als  dem  Objecte  gemäs  nicht  willkührlich 
seyn  kan  mithin  wenn  gleich  nicht  das  Zusammengesetzte  doch  die 
Form  desselben^  nach  der  das  mannigfaltige  Gegebene  allein  zu- 
sammengesetzt werden  kan,  a  priori  gegeben  seyn  muss:  so  ist 
diese  das  blos  Subjective  (Sinnliche)  der  Anschauung,  welches 
zwar  a  priori,  aber  nicht  gedacht  (den  nur  die  Zusammen- 
setzung als  Handlung  ist  ein  l'roduct  des  Denkens)  sondern  in 
uns  gegeben  seyn  muss  (Raum  und  Zeit)  mithin  eine  einzelne 
Vorstellung  und  nicht  Begrif  (repraesentatio  communis)  seyn  muss. 
—  Mir  scheint  es  rathsam  sich  nicht  lauge  bey  der  allersubtilsten 


Die  Rostocker  Kanthandschriften.  629 

Zergliederung  der  Elementarvorstellungen  aufzuhalten;  weil  der 
Fortgang  der  Abhandlung  durch  ihren  Gebrauch  sie  hinreichend 
aufklärt. 

Was  die  Frage  betrift:  Kan  es  nicht  Handlungeu  geben,  bey 
denen  eine  Naturordnung  nicht  bestehen  kan  und  die  doch  das 
Natur  Sittengesetz  vorschreibt,  so  antworte  ich,  allerdings!  nämlich 
eine  bestimmte  Naturordnung  z.  B.  die  der  gegenwärtigen 
Welt  z.  B.  irmn  emem  Hofmann  muss  es  als  Pflicht  erkennen 
jederzeit  warhaft  zu  seyn,  ob  er  gleich  alsdann  nicht  lange  Hof- 
mann bleiben  wird.  Aber  es  ist  in  jenem  Typus  nur  die  Form 
einer  Naturordnung  überhaupt  d.  i.  der  Zusammenhang  der 
Handlungen  als  Begebenheiten  nach  sittlichen  Gesetzen  gleich 
als  Naturgesetzen  blos  ihrer  Allgemeinheit  nach;  denn  dieses 
geht  die  besondere  Gesetze  irgend  einer  Natur  garnicht  an. 

Doch  ich  muss  schliessen.  —  Die  Übersendung  Ihres  Manu- 
scripts  wird  mir  augenehm  seyn.  Ich  werde  es  für  mich  und  auch 
in  Gemeinschaft  mit  H.  Hofpr.  Schultz  durch  gehen.  —  Hrn.  Prof. 
Jacob  bitte  ich  für  die  Uebersendung ,  imgleichen  die  mir  erzeigte 
Ehre  seiner  Zuschrift  gar  sehr  zu  dancken;  imgleichen  dem 
Hrn.  Mag.  Hoffbauer,  der  mir  seine  Analytik  zugeschickt  hat,  da- 
für zu  danken  und  beyden  zu  sagen,  ich  würde  nächstens  ihre 
Briefe  zu  beantworten  die  Ehre  haben  —  Leben  sie  übrigens  recht 
glücklich  —  und  ich  verbleibe 

Der  Ihrige 

Königsberg  J  Kant 

d  3  July  1792 

Diesen  Brief  Kants  vom  3.  Juli  1792  beantwortet  Beck  am 
8.  September.  Er  sendet  nun  an  Kant  das  Manuscript  seines  Aus- 
zugs aus  der  Kritik  der  reinen  Vernunft,  das  bis  zur  transscenden- 
talen  Dialektik  reicht.  Er  wünscht  dringend,  dass  Kant  die  Dar- 
stellung der  transscendentaleu  Deduktion  der  Kategorien  und  die 
der  Grundsätze  durchlese.  Lag  hier  doch  für  Beck  übereinstimmend 
mit  unserer  heutigen  Ansicht  der  Schwerpunkt  des  Kantschcn 
Werkes.  Durch  ein  Versehen  sendet  Kant  das  Manuscript  früher 
als  nothwendig,  15.  November,  zurück,  dann  aber  folgenden  Tages 


630  Wilhelm  Dilthey, 

liest  er  Becks  Brief  nach  imd  ist  nun  bereit,  den  Abschnitt  nach- 
triiglich,  wenn  ihm  eine  Abschrift  gesandt  wird,  durchzusehen. 

Kant  an  Beck  (6). 

Königsberg  d  16  Octobr.  1792 
Hochgeschätzter  Freund 

Ich  habe  vorgestern  d  15  Oct  Ihr  Mscrpt  in  grau  Papier 
eingepackt,  besiegelt  und  A.  M.  B.  signirt  auf  die  fahrende  Post 
zur  retour  gegeben,  aber,  wie  ich  jetzt  sehe,  zu  eilig;  indem  ich 
durch  einen  Erinnerungsfehler  statt  des  Novembers,  vor  dessen 
Ablauf  8ie  Ihre  Handschrift  zurück  erwarteten,  mir  das  Ende 
Octobris,  als  den  gesetzten  termin,  vorstellte  und,  bey  der  schnell 
gefassten  Entschliessüng  den  eben  nahe  bevorstehenden  Abgang 
der  Post  nicht  zu  verfehlen,  es  unterliess,  Ihren  Brief  nochmals 
darüber  nachzusehen,  und,  da  ich  im  Durchsehen  der  ersten  Bogen 
nichts  Erhebliches  anzumerken  fand,  Ihre  Deduction  der  Cate- 
gorien  und  Grunsätze  ihrem  Schicksal  in  gutem  Vertrauen  überliess. 

Dieser  Fehler  kan  indessen,  wenn  Sie  es  nöthig  finden,  doch 
dadurch  eingebracht  werden:  dass  Sie  diejenige  Blätter,  worauf 
jene  befindlich  in  der  Eile  abschreiben  lassen,  sie  mir  durch  die 
reitende  Post  eilig  (versteht  sich  unfrankirt)  iiberschicken  und  so 
noch  vor  Ablauf  der  Zeit  die  Antwort  von  mir  zurück  erhalten. 
—  .Meinem  Urtheile  nach  kommt  alles  darauf  an:  dass  da  im 
empirischen  Begriffe  des  Zusammengesetzten  die  Zusammen- 
setzung nicht  vermittelst  der  blossen  Anschauung  und  deren  Appre- 
hension  sondern  nur  durch  die  selbstthätige  Verbindung  des 
Mannigfaltigen  in  der  Anschauung  gegeben  und  zwar  in  ein  Be- 
wustseyn  überhaupt  (das  nicht  wiederum  empirisch  ist)  vorgestellt 
werden  kan,  diese  Verbindung  und  die  Function  derselben  unter 
Regeln  a  priori  im  Gemüthe  stehen  müssen,  welche  das  reine 
Denken  eines  Objects  überhaupt  (den  reinen  Verstandesbegrif)  aus- 
machen unter  welchem  die  Apprehension  des  Mannigfaltigen  stehen 
muss,  so  fern  es  eine  Anschauung  ausmacht,  und  auch  die  Bedin- 
gung aller  möglichen  Erfahrungserkentnis  vom  Zusammengesetzten 
(oder  zu  ihm  gehörigen)  ausmacht"),   die  durch  jene  Grundsätze 


■")  Am  Räude:  d.  i.  darin  eiue  Syuthesis  ist) 


Die  Rostocker  Kanthaudschiiften.  631 

ausgesagt  wird.  Nach  dem  gemeiueii  Begriffe  kommt  die  Vor- 
stellung des  Zusammengesetzten  als  solchen  mit  unter  den  Vor- 
stellungen des  Manngfaltigen  welches  apprehendirt  wird,  als  ge- 
geben vor  und  sie  gehört  so  nach  nichts  wie  es  doch  seyn  muss 
ganzlich  zur  Spontaneität  u.  s.  w. 

Was  Ihre  Einsicht  in  die  Wichtigkeit  der  physischen  Frage: 
von  dem  Unterschiede  der  Dichtigkeit  der  Materien  betritt,  den 
man  sich  muss  denken  können,  wenn  man  gleich  alle  leere  Zwi- 
schenräume, als  Erklärungsgriinde  derselben,  verbannt,  so  freut  sie 
mich  recht  sehr;  denn  die  wenigsten  scheinen  auch  nur  die  Frage 
einmal  recht  zu  verstehen.  Ich  würde  die  Art  der  Auflösung 
dieser  Aufgabe  wohl  darinn  setzen:  dass  die  Anziehung  (die  all- 
gemeine, Nevvtonische,)  ursprünglich  in  aller  Materie  gleich  sey 
und  nur  die  Abstossuug  verschiedenen  verschieden  sey  und  so 
den  specifischen  Unterschied  der  Dichtigkeit  derselben  ausmache. 
Aber  das  führt  doch  gewissermaassen  auf  einen  Cirkel  aus  dem 
ich  nicht  herauskommen  kan  und  darüber  ich  mich  noch  selbst 
besser  zu  verstehen  suchen  muss.  Ihre  Auflösungsart  wird  Ihnen 
auch  nicht  gnug  thnu;  wenn  sie  Folgendes  in  Betrachtung  zu 
ziehen  belieben  wollen.  —  Sie  sagen  nämlich:  Die  Würkung  eines 
kleinen  Korpers  auf  der  Erde  auf  die  ganze  Erde  ist  unendlich 
klein,  gegen  die,  welche  die  Erde  durch  ihre  Anziehung  auf  ihn 
ausübt.  Es  sollte  heissen  gegen,  die  welche  dieser  kleine  Körper 
gegen  einen  anderen  ihm  gleichen  (oder  kleineren)  ausübt; 
denn,  so  fern  er  die  ganze  Erde  zieht,  wird  er  durch  dieser  ihren 
W^iederstand  eine  Bewegung  (Geschwindigkeit)  erhalten,  die  gerade 
derjenigen  gleich  ist,  welche  die  Anziehung  der  Erde  ihm  allein 
er  ertheilen  kan:  so,  dass  die  Geschwindigkeit  desselben  doppelt 
so  gros  ist,  als  diejenige,  welche  eben  der  Korper  erhalten  würde, 
wenn  er  selbst  gar  keine  Anziehungskraft  hätte,  die  Erde  aber 
durch  den  Wiederstand  dieses  Körpers,  den  sie  zieht,  eben  so  eine 
doppelt  so  grosse  Geschwindigkeit,  als  sie,  wenn  sie  selbst  keine 
Anziehungskraft  hätte,  von  dem  jenem  Körper  allein  würde  be- 
kommen haben.  —  Vielleicht  verstehe  ich  aber  auch  Ihre  Erklä- 
rungsart nicht  völlig  und  würde  mir  darüber  nähere  Erläuterung 
recht  lieb  seyn. 


632  Wilhelm  Dilthey, 

KöiiDteu  Sie  übrigens  Ihren  Auszug  so  abkürzen,  ohne  doch 
der  Vollstäudigkeit  Abbruch  zu  thun,  dass  ihr  Buch  zur  Grundlage 
für  Vorlesungen  dienen  könnte,  so  würden  Sie  dem  Verleger 
und  hiedurch  auch  Sich  seihst  viel  Vortheil  verschallen;  vornehm- 
lich, da  die  Grit.  d.  pract.  Vernuft  mit  dabey  ist.  Aber  ich  be- 
sorge die  transc.  Dialectik  wird  ziemlich  Kaum  einnehmen.  Doch 
überlasse  ich  dieses  insgesamnit  Ihrem  Gutdünken  und  bin  mit 
wahrer  Freundschaft  und  Hochachtung 

Ihr 
Koenigsberg  ergebenster  Diener 

d  16  Octobr  J  Kant 

1792 

Beck,  nachdem  er  Kants  Brief  vom  16.  Oktober  und  das 
]\lanuscript  zurückerhalten,  lässt  die  Blätter  abschreiben  und  sendet 
sie  mit  dem  Brief  vom  10.  November  1792  an  Kant.  Der  nach- 
folgende Brief  Kants  enthält  dann  kleine  Berichtigungen  zu  diesen 
Blättern.  —  Beck  fügt  eine  Nachricht  für  Kant  bei.  Garve  war 
vor  Kurzem  in  Halle;  Eberhard  hatte  mit  ihm  über  die  kritische 
Philosophie  Gespräche  und  Garve  ge.staud  in  diesen  Eberhard  zu, 
dass  der  Idealismus  Kants  und  der  Berkeley's  „ganz  einerlei  seien". 
Sowohl  Beck  als  Kant  finden  das  unfasslich.  —  Nun  zuerst  schreibt 
auch  in  dem  jetzt  folgenden  Briefe  Kant  von  der  Einleitung  in 
die  Kritik  der  Urtheilskraft,  die  er  an  Beck  senden  will. 

Kant  an  Beck  (7). 
Da  Sie  mir,  würdiger  Mann,  in  ihrem  Briefe  vom  lOten  No- 
vember einen  Aufschub  von  4  Wochen  bis  zu  meiner  Antwort  ge- 
lassen haben,  welchen  dieser  Brief  nur  um  wenig  Tage  übersteigen 
wird,  .so  glaube  ich  beygehende  kleine  Anmerkungen  werden  nicht 
zu  Späth  anlangen.  —  Iliebey  muss  ich  vorläufig  erinnern:  dass, 
da  ich  nicht  annehmen  kann,  dass  in  der  mir  zugeschickten  Ab- 
schrift die  Seiten  und  Zeilen  mit  Ihrer  in  Händen  habenden  eben 
correspondiren  werden,  Sie,  wenn  Sie  die  Seite  der  Abschrift,  die 
ich  citire,  nach  den  Anfangsworten  eines  Perioden,  die  ich  hier  durch 
Häckchen  „"  bemerke,  nur  einmal  aufgefunden  haben,  Sie,  wogender 
Gleichförmigkeit  der  Abschrift,  die  correspondirende  Seiten  in  Ihrem 


Die  Rostoclier  Kanthandschriften.  633 

Manuscript  wohl  auffinden  werden.  —  Denn  das  mir  zugeschickte 
mit  der  fahrenden  Post  an  Sie  zAiriick  zu  senden  würde  die 
Antwort  an  Sie  gar  zu  sehr  verweilen,  sie  aber  mit  der  reiten- 
den Post  abzusenden  ein  wenig  zu  kostbar  seyn:  indem  ihr  letzter 
Brief  mit  dem  Mscrpt  mir  gerade  2  Rthlr  postporto  gekostet  hat, 
welche  Kosten  der  Abschreiber  leicht  um  ^j^  hätte  vermindern 
können,  wenn  er  nicht  so  dick  Papier  genommen  und  mehr  com- 
press  geschrieben  hätte. 

Seite  5  heisst  es  von  der  Eintheilung:  „Ist  sie  aber  synthetisch, 
so  muss  sie  nothwendig  Trichotomie  seyn".  Dieses  ist  aber  nicht 
unbedingt  nothwendig,  sondern  nur,  wenn  die  Eintheilung  1)  nach 
blossen  a  priori,  2)  nach  Begriffen  (nicht,  wie  in  der  i\Iathematik, 
durch  Construction  der  Begriffe)  geschehen  soll.  So  kan  man  z.  B. 
die  reguläre  Polyedra  in  fünferley  Körper  a  priori  eintheilen,  in- 
dem man  den  Begrif  des  Polyedri  in  der  Anschauiig  dargelegt.  Aus 
dem  lilossen  Begriffe  desselben  aber  würde  man  nicht  einmal  die 
Möglichkeit  eines  solchen  Körpers,  viel  weniger  die  mögliche 
Mannigfaltigkeit  derselben  ersehen, 

S.  —  7.  Anstatt  der  Worte  (wo  von  der  Wechselwirkung  der 
Substanzen  und  deren  Aiialogie  der  wechselseitigen  Bestimmung 
der  Begriffe  in  disjuuctiven  Urtheilen  mit  jener  geredet  wird)  „Jene 
hängen  zusammen  indem  sie":  Jene  machen  ein  Ganzes  aus  mit 
Ausschliessung  mehrerer  Theile  indesseyi  ausser  demselben;  im  dis- 
junctiven  Urtheil  u.  s.  w. 

S. — 8.  Statt  der  Worte  am  Ende  des  Absatzes  „das  Ich 
denke  muss  alle  Vorstellungen  in  derSynthesis  derselben  begleiten" 
begleiten  können. 

S. — 17.  Statt  der  Worte  „Ein  Verstand,  dessen  reines  Ich 
denke  Ein  Verstand  dessen  reines  Ich  bin  u.  s.  w.  (denn  sonst 
würde  es  ein  Wiederspruch  seyn  zu  sagen  dass  sein  reines  Denken 
ein  Anschauen  seyn  würde). 

Sie  sehen,  1.  Fr.  dass  meine  Erinnerungen  nur  vun  geringer 
Erheblichkeit  seyn;  übrigens  ist  Ihre  Vorstellung  der  Deduction 
richtig.  Erläuterungen  durch  Beyspiele  würden  manchem  Leser 
zwar  das  Verständnis  erleichtert  haben;  allein  auf  die  Erspahrung 
des  Rauins  musste  auch  gesehen  werden. 


ß;^4  Willielra  Dilthey, 


Hrn.  Eberhards  und  Garven  Meynung  von  der  Identität  des  |« 
l^erkleyschen  Ideal isms  mit  dem  criti.scheR,  den  ich  besser  das 
Princip  der  Idealität  des  Raumes  und  der  Zeit  nennen  könnte, 
verdient  nicht  die  mindeste  Aufmerksamkeit:  denn  ich  rede  von 
der  Idealität  in  Ansehung  der  Form  der  Vorstellung:  jene  aber 
machen  daraus  Idealität  derselben  in  Ansehung  der  Materie  d.  i. 
des  Objects  und  seiner  Existenz  selber.  —  Unter  dem  angenom- 
menen Nahmen  Anesidemus  aber  hat  jemand  einen  noch  weiter 
gehenden  Scepticism  vorgetragen :  nämlich  dass  wir  gar  nicht  wissen 
können  ob  überhaupt  unserer  Vorstellung  irgend  etwas  Anderes 
(als  Object)  correspundire,  welches  etwa  so  viel  sagen  möchte, 
als:  Ob  eine  Vorstellung  wohl  Vorstellung  sey  (Etwas  vorstelle). 
Denn  Vorstellung  bedeutet  eine  Bestimmung  in  uns,  die  wir 
auf  etwas  Anderes  beziehen  (dessen  Stelle  sie  gleichsam  in  uns 
vertritt). 

Was  Ihren  Versuch  betrifft  den  Unterschied  der  Dichtigkeiten 
(wenn  man  sich  dieses  Ausdrucks  bedienen  kan)  an  zweyen  Kör- 
pern, die  doch  beyde  ihren  Raum  ganz  erfüllen,  sich  verständlich 
zu  machen,  so  muss  das  moment  der  acceleration  aller  Körper  auf 
der  Erde  hiebey,  meiner  Meynung  nach,  unter  sich  doch  als  gleich 
angenommen  werden,  so:  dass  kein  Unterschied  derselben,  wie 
zwischen  dx  und  dy,  angetroffen  wird,  wie  ich  in  meinen  vorigen 
Briefe  angemerkt  habe  und  die  Quantität  der  Bewegung  des  einen, 
gegen  mit  der  des  andern  verglichen,  (d.  i.  die  Masse  derselben) 
doch  als  ungleich  können  vorgestellt  werden,  wenn  diese  Aufgabe 
gelöset  werden  soll;  so  dass  man  sich  so  zu  sagen  die  Masse  unter 
demselben  volumen  nicht  durch  die  Menge  der  Theile  sondern 
durch  den  Grad  (Jer  specifisch  verschiedenen  Theile,  womit 
sie,  bey  eben  derselben  Geschwindigkeit  ihrer  Bewegung,  doch  eine 
verschiedene  Grösse  derselben  haben  könne,  denken  könne.  Denn, 
wenn  es  auf  die  Menge  ankäme,  so  müssten  alle  ursprünglich  als 
gleichartig,  folglich  in  ihrer  Zusammensetzung  unter  einerley  Vo- 
lumen nur  durch  die  leere  Zwischenräume  unterschieden  gedacht 
werden  (quod  est  contra  hypothesin).  —  Ich  werde  Ihnen  gegen 
Ende  dieses  Winters  meine  Versuche,  die  ich  hierüber  be^  wärcnd 
der  Abfassung  meiner  Metaph:   Anf:  Grude   der   N.  W,   anstellete, 


5    !t  "■' 


Die  Rostocker  Kantband^chriften.  635 

die  ich  aber  verwarf,  mittheilen,  ehe  Sie  an  die  Epitomirung  der- 
selben gehen.  —  Zum  Hehuf  Ihres  kümftigen  Auszugs  aus  der 
Critik  der  U.  Kr.  werde  Ihnen  nächstens  ein  Pack  des  Maniiscripts 
von  meiner  ehedem  abgefassten  Einleitung  in  dieselbe,  die  ich 
aber  blos  wegen  ihrer  für  den  Text  unproportionirten  Weitläuftig- 
keit  verwarf,  die  mir  aber  noch  Manches  zur  vollständigeren  Ein- 
sicht des  Begrifs  einer  Zweckmässigkeit  der  Natur  beytragendes  zu 
enthalten  scheint,  mit  der  fahrenden  Post  zu  beliebigem  Gebrauche 
zuschicken.  —  Zum  Behuf  dieser  Ihrer  Arbeit  wollte  ich  auch 
rathen  Snells,  noch  mehr  aber  Spaziers  Abhandlungen,  über  oder 
Commentarien  über  dieses  Buch  in  Ueberlegung  zu  ziehen. 

Den  Titel,  den  Sie  Ihrem  Buche  zu  geben  denken:  Erläu- 
ternder Auszug  aus  den  crit:  Schrifte  des  K.  Erster  Band, 
der  die  Crit.  der  specul:  und  pract:  Vernuft  enthält, 
billige  ich  vollkommen. 

Uebrigens    wünsche   Ihnen  zu  dieser,    so   wie    zu  allen  ihren 

Unternehmungen,  den  besten  Erfolg  und  l)in  mit  Hochachtung  und 

Ergebenheit 

Der  Ihrige 

Koenigsberg  J  Kant 

d  4ten  Dec:  1792 

Auf  Kants  Brief  vom  4.  Dez.  1792  antwortet  Beck  30.  April 
1793.  Der  erste  Band  des  Auszugs,  welcher  die  zwei  Vernunft- 
kritiken umfasste,  war  nun  abgeschlossen.  Beck  empfand  dankbar, 
dass  diese  Arbeit  seine  äusseren  Umstände  verbessert  und  ihm  Ein- 
sicht und  gegründete  Ueberzeuguug  in  Bezug  auf  die  kritische 
Philosophie  verschafft  habe.  „Diese  Philosophie  ist  mein  grösstes 
Gut  und  in  der  gegenwärtigen  Beschäftigung  mit  ihr  erkenne  ich 
mehr  als  jemals  die  wichtige  Wohlthat,  die  Ihre  Bearbeitungen 
der  Menschheit  erweisen,  und  preise  mich  glücklich,  weil  ich  in 
dieser  Epoche  und  in  Umständen  lebe,  da  ich  daran  Antheil  neh- 
men kann."  Wenn  er  damals  schon  die  stylistischen  Fehler  seiner 
Arbeit  lebhaft  empfand  und  mit  den  Eigenthümlichkeiten  des 
Mathematikers  entschuldigte,  so  hat  er  den  tiefer  liegenden  Mangel 
ein  Jahr  später,  in  der  Vorrede  zu  seinem  Auszug  aus  der  Kritik 


ß3f)  Wilhelm  Dilthey, 

der  Urtheilskraft.  folgeudermassen  ausgesprochen.  Da  die  Kritik 
erst  allinälig  in  dem  Kapitel  über  die  transscendeutale  Deduction 
den  Standpunkt  der  Transscendentalphilosophie  erreichte,  er  aber 
als  Epitomator  ihrem  Gange  folgte,  so  habe  er  dieser  Philosophie 
nicht  die  volle  Deutlichkeit  der  Darstellung  gegeben,  deren  sie 
nach  seiner  Ansicht  fähig  war. 

Schon  im  Frühling  1796  ist  Beck  dann  mitten  in  der  Dar- 
stellung der  Kritik  der  Urtheilskraft.  Er  hatte,  belehrt  durch  die 
Fehler  des  ersten  Bandes,  diese  mehrmals  durchgelesen  und  durch- 
gedacht ehe  er  die  Feder  ansetzte  und  konnte  nun  Kant  schon  den 
Anfang  zur  Prüfung  senden.  „Sie  erlauben  mir  aber  wohl,  Sie  an 
das  Versprechen  zu  erinnern,  das  Sie  mir  in  Ihrem  letzten  Briefe 
thaten,  mir  zur  Benutzung  ein  paar  ]Mamiscripte  zuzuschicken,  eins 
welches  die  Kritik  der  Urtheilskraft  und  ein  Anderes,  welches  die 
Metaphysik  der  Natur  angeht."  Hierauf  erfolgt  die  Uebersendung 
der  Einleitung  in  die  Kritik  der  Urtheilskraft  in  einem  Briefe,  bei 
dessen  Abschrift  folgende  eigenhändige  letztwillige  Notiz  Becks  lag. 

Erklärung  Becks. 
P.  M. 
Ich  habe  diese  in  diesem  Convolut  eingeschlossene  Briefe  von 
Kant  meinem  Freunde  dem  Prof.  F ran cke  zugesagt,  dass  sie  nach 
meinem  Tode  ihm  von  den  Meinigen  gegeben  werden  sollen.  Nun 
ist  aber  jetzt  hier  ein  Engländer,  Herr  Semple,  der  mich  bittet, 
ilmi  einen  dieser  Briefe  zu  schenken.  Ich  werde  seinen  Wunsch 
erfüllen.  Da  aber  der  Brief,  den  ich  ihm  schenken  wmII,  gerade 
das  mir  von  Kant  geschenkte  Manuscript  einer  Einleitung  zu  seiner 
Critik  der  Urtheilskralt  betritt,  die  er  ihrer  AVeitläuftigkeit  wegen, 
seinem  Werke  nicht  vorsetzte,  und  icii  dieses  Manuscript  schon 
dem  Professor  Francke  geschenkt  habe,  so  sehe  ich  mich  genöthigt, 
diesen  Brief  ehe  ich  ihn  weggebe,  abzuschreiben,  damit  meinem 
Freunde,  an  jener  Gabe  nichts  fehle.     Er  lautet: 

Kaut  an  Beck  (8). 

Königsberg  den  18.  Aug. 
1793. 
„Ich  übersende  Ihnen,  werthester  Mann!  hiemit,  meinem  Ver- 


Die  Rostocker  Kanthandschriften.  637 

sprechen  gemäss,  die  vordem  zur  Vorrede  für  die  Critik  der  U.  Kr. 
bestimmte,  uachlier  aber,  ihrer  Weitläuftigkeit  wegen,  verworfene 
Abhandlung,  um  nach  Ihrem  Gutbefinden,  Eines  oder  das  Andere 
daraus,  für  Ihren  concentrirten  AuszAig  aus  jenem  Buche  zai  be- 
nutzen —  zusammt  dem  mir  durch  Herrn  Hofprediger  Schultz  zu- 
gestelltem Probestück  desselben. 

Das  Wesentliche  jener  Vorrede  (welches  etwa  bis  zur  Hälfte 
des  Mspts.  reichen  möchte)  geht  auf  die  besondere  und  seltsame 
Voraussetzung  unserer  Vernunft;  dass  die  Natur  in  der  Mannig- 
faltigkeit ihrer  Producte  eine  Accomodation  zu  den  Schranken 
unserer  Urtheilskraft,  durch  Einfalt  und  spätere  Einheit  ihrer  Ge- 
setze und  Darstellung  der  unendlichen  Verschiedenheit  ihrer  Arten 
(species),  nach  einem  gewissen  Gesetz  der  Stetigkeit,  welches  uns 
die  Verknüpfung  derselben,  unter  wenig  Gattungsbegriffe,  möglich 
macht,  gleichsam  willkührlich  und  als  Zweck  für  unsere  Fassungs- 
kraft beliebt  habe,  nicht  weil  wir  diese  Zweckmässigkeit,  als  an 
sich  nothwendig  erkennen,  sondern  ihrer  bedürftig,  und  so  auch 
a  priori  anzunehmen  und  zu  gebrauchen  berechtigt  sind,  so  weit 
wir  damit  auslaugen  können.  —  Mich  werden  Sie  freundschaftlich 
entschuldigen,  wenn  ich  bey  meinem  Alter  und  manchen  sich 
durchkreuzenden  vielen  Beschäftigungen,  auf  das  mir  mitgetheilte 
Probestück,  die  Aufmerksamkeit  nicht  habe  wenden  können,  die 
nöthig  gewesen  wäre,  um  ein  gegründetes  Urtheil  darüber  zu 
fällen.  Ich  kann  aber  hierüber  Ihrem  eigenen  Prüfungsgeiste  schon 
vertrauen.  —  Uebrigens  verbleibe  ich  in  allen  Fällen,  wo  ich  Ihren 
guten  Wünschen  mein  ganzes  Vermögen  leihen  kann, 

Ihr  dienstwilligster 

J.  Kant" 


Mit  diesem  Briefe  endigt  die  Sammlung  der  Briefe  Kants  an 
Beck,  die  wir  mitteilen.  Acht  weitere  Briefe  Becks  an  Kant  und 
ein  kleiner  Brief  Kants  vom  19.  November  1796  sind  dann  noch 
in  Reickes  Druck  enthalten.  Wir  verfolgen  an  diesem  Leitfaden  die 
weitere  Geschichte  des  Verhältnisses,  die  interessante  Beziehung 
Becks  mit  Fichte  tritt  dann  hinzu. 

4;> 

Arcliiv  f.  Geschichte  tl.  Pliilosophie.     U. 


638  Wilhel-n  Dilthey, 

Der  weitere  Verlauf  des  Verhältnisses  von  Beck  zu  Kant 
und  sein  Verhältniss  zu  Fichte. 

Am  24.  August  1793  schreibt  Beck  an  Kant  voll  Begeisterung 
über  das  Licht,  welches  ihm  nun  das  Studium  der  Kritik  der  Urteils- 
kraft auf  die  Transscendentalphilosophie  geworfen  hat.  „Ich  habe 
seit  der  Zeit,  da  ich  Ihren  mündlichen  Vortrag  anhörte,  sehr  viel 
Vertrauen  zu  Ihnen  gehabt,  aber  ich  gestehe  auch,  dass  bei  den 
Schwierigkeiten  die  mich  lange  gedrückt  haben,  dieses  Vertrauen 
öfters  zwischen  dem  zu  Ihnen,  und  dem  zu  mir  selbst  gewankt 
hat."  Kant  hat  ihn  mit  sich  selbst  bekannt  gemacht.  So  hat  ihm 
diese  Philosophie  gewährt,  was  einem  vernünftigen  Wesen  das 
höchste  Gut  sein  muss.  Beinahe  ein  Jahr  nach  diesem  Brief, 
am  17.  Juni  1794"),  wie  sich  nun  seine  Darstellung  der  Kritik 
der  Urteilskraft  und  der  Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft  im 
zweiten  Bande  dem  Schlüsse  nähert,  legt  er  seinem  Lehrer  den 
Plan  der  neuen  Schrift  vor,  in  welcher  er  seineu  an  der  Inter- 
pretation der  drei  Kritiken  erworbenen  Standpunkt  selbstständig 
entwickeln  will;  die  Trennung  bereitet  sich  vor. 

Wir  haben  zwei  Zeugnisse,  wie  sich  ihm  damals  im  Frühjahr 
und  Sommer  1794  sein  Standpunkt  darstellte:  die  Vorrede  zum 
zweiten  Bande  des  Auszugs  vom  3.  April  1794  und  die  Briefe  an 
Kant  vom  17.  Juni  und  16.  September  desselben  Jahres.  Wir 
fassen  das  zusammen.  ^' 

Erster  Satz.  Ziel  und  Leistung  der  Transscendentalphilo- 
sophie besteht  im  Selbstverständniss. 

Zweiter  Satz.  Dieses  ist  bei  Kant  vielfach  noch  in  der 
Form  der  Begrilfsphilosophie,  es  sind  aber  die  hinter  den  Begriffen 
liegenden  Handlungen  überall  aufzusuchen.  So  ist  die  Verstandes- 
handlung, welche  sich  in  der  Kategorie  der  Grösse  darstellt,  eins 
mit  dem  reinen  Anschauen  von  Raum  und  Zeit.  Und  die  Geo- 
metrie hat  es,  wie  Klügel  u.  A.  von  Leibniz  bedingte  Mathematiker 
richtig  annehmen,  mit  Formen  der  Grössen  zu  thun^^).  Auch  die 
Denkgesetze  dürfen  nicht  als  ein  Ursprüngliches  betrachtet  werden. 


s8 


■'**)  Die  Briefe  11  und  12  sind  bei  Reicke  verstellt. 
")  Reicke  Briefwechsel  S.  Hl. 


Die  Rostocker  Kanthandschriften.  639 

Dritter  Satz.  Die  Methode  der  Darstellung,  die  in  der  Yer- 
minftkritik  vorliegt,  niuss  umgekehrt  werden.  Wenn  die.se  allmälig 
aufsteigt  zur  transscendentalen  Einheit  der  Apperception,  in  welcher 
das  Mannigfaltige  der  An.schauung  zum  Begriff  des  Objekts  vereinigt 
wird,  so  hat  die  neue  Darstellung  vielmehr  von  diesem  Vorgang  aus- 
zugehen und  ihn  zu  analysiren.  „Sie  führen  Ihren  Leser  in  Ihrer 
Kritik  der  reinen  Vernunft,  allmählig,  zu  dem  höchsten  Punkt  der 
Transcendentalphilosopie ,  nämlich  zu  der  synthetischen  Einheit. 
Sie  leiten  nämlich  seine  Aufmerksamkeit  zuerst  auf  das  Bewusst- 
seyu  eines  Gegebenen,  machen  ihn  nun  auf  Begriffe,  wodurch  etwas 
gedacht  wird,  aufmerksam,  stellen  die  Categorien  anfänglich  auch 
als  Begriffe  in  der  gewöhnlichen  Bedeutung  vor,  und  bringen  zu- 
letzt Ihren  Leser  zu  der  Einsicht,  dass  diese  Categorie  eigentlich 
die  Handlung  des  Verstandes  ist,  dadurch  er  sich  ursprünglich  den 
Begriff  von  einem  Objekt  macht,  und  das:  ich  denke  ein  Objekt 
erzeugt^**)".  Aber  erst  auf  dem  so  erreichten  Standpunkt  der  syn- 
thetischen Einheit  der  Apperception  kann  die  Natur  des  synthe- 
tischen und  analytischen,  des  a  priorischen  und  a  posteriorischen 
Urteils  aufgeklärt,  die  Möglichkeit  der  Erfahrung  eingesehen  und 
die  Streitfrage  entschieden  werden,  ob  das  was  uns  zur  Ding- 
vorstellung afficirt  als  Ding  an  sich,  oder  als  Erscheinung  zu 
denken  sei.  Also:  der  Gang  der  Vernunftkritik  muss  umgewandt 
werden. 

Vierter  Satz.  Auf  diesem  Standpunkt  löst  sich  die  Selbst- 
täusclmng  der  Vernunft  auf,  welche  im  Erkennen  eine  A^erbiudung 
der  Vorstellung  mit  ihrem  Gegenstande  aufsucht,  und  diese  Ver- 
bindung entweder  dogmatisch  behauptet,  oder  skeptisch  aufhebt. 
Die  Frage  des  Skeptikers:  was  verbindet  meine  Vorstellung  des 
Gegenstandes  mit  diesem?  ist  für  den  dogmatischen  Philosophen 
unüberwindlich.  Der  kritische  dagegen  durchschaut,  dass  alle  Er- 
kenntniss  das  Objekt  nachträglich  in  abstracto  denselben  Verstau- 
deshandlungen unterordnet,  welche  dasselbe  im  ursprünglichen  Vor- 
stellen erzeugt  haben,  und  dass  hierin  der  Rechtsgrund  für  alle 
Construktionen  der  Erfalirung  durch  Begriffe  gelegen  ist. 


^^)  Reicke  Briefweclisel  S.  b'dü'. 

43* 


(340  Wilhelm  Dilthey, 


^ 


Fünfter  Satz.  So  beginnt  der  Transscendeutalphilosoph  mit 
einem  Postulat  wie  der  Geometer.  Dieser  hebt  mit  der  Forderung 
an  sich  den  Raum  vorzAistellen.  Der  Transscendentalphilosoph  ver- 
langt von  seinem  Leser,  dass  er  das  ursprüngliche  Vorstellen  in 
sich  erzeuge,  in  welchem  durch  die  Einheit  des  Bewusstseius  ver- 
mittelst der  Beilegung  der  Categorien  das  Objekt  hervorgebracht 
wird.  Der  Satz  des  AViderspruchs:  kein  Gegenstand  kann  durch 
widersprechende  Bedingungen  vorgestellt  werden,  setzt  den  anderen 
Satz  voraus:  jeder  Gegenstand  muss  durch  Beilegung  gewisser  Be- 
stimmungen vorgestellt  werden.  Durch  solche  Beilegung  wird  so- 
nach das  Postulat  des  ursprünglichen  Yorstellens  erfüllt. 

Sechster  Satz..  So  geht  die  ursprüngliche  Beilegung,  in 
welcher  der  Gegenstand  entsteht,  der  abgeleiteten  regelmässig 
voraus,  in  der  durch  Merkmale  dieser  Gegenstand,  vermittelst  des 
Urtheils,  gedacht  wird,  ja  jene  ermöglicht  erst  diese.  Sonach 
muss  jede  abgeleitete  Beilegung  auf  eine  ursprüngliche,  auf  That- 
sachen  (des  Bewusstseius)  zurückgeführt  werden.  In  Kants  AVorten: 
jeder  Analysis  geht  eine  Synthesis  voraus.  Und  wie  nun  Kant 
weiter  die  Leistungen  des  Verstandes  und  die  der  Urthoilskraft, 
die  Synthesis  in  den  Categorien  und  den  Schematismus  derselben 
unterscheidet,  so  hat  Beck  diese  ursprüngliche  Beilegung  als  die 
Synthesis  nach  den  Categorien  unterschieden  von  einer  ursprüng- 
lichen Anerkennung,  nämlich  dem  Schematismus  derselben.  Doch 
findet  sich  diese  Laiterscheidung  in  der  Darstellung  der  Vorrede 
vom  3.  April  1794  und  des  Briefes  vom  17.  Juni  noch  nicht,  son- 
dern tritt  uns  zuerst  in  dem  Brief  vom  IG.  September  entgegen. 

Ein  Fall  von  sehr  grossem  Interesse.  Der  Entwurf  Becks,  den 
diese  vom  3.  April  179-4  datierte  Vorrede  mitteilt,  entstand  aus 
dem  Streben,  die  Transscendentalphilosophie  Kants  aufzuklären  und 
von  Widersprüchen  zu  befreien.  In  demselben  April  1794  bc- 
schloss  Fichte  den  Vortrag  der  Wissenschaftslehre  vor  den  Züricher 
Freunden;  er  siedelte  nach  Jena  über  und  veröffentlichte  sein  Pro- 
gramm: „Begriff  der  Wissenschaftslehre".  Sein  Entwurf  war  aus 
demselben  Streben  entstanden,  die  Transscendentalphilosophie  Kants 
klar,  folgerichtig  und  widerspruchsfrei  zu  machen,  und  er  war  mit 
dem  Becks  in  auffallender  L^bereiustimmung.    Die  gänzliche  Unab- 


Die  Rostocker  Kanthandschriften.  641 

hängigkeit  beider  Männer  von  einander  innerhalb  der  dargelegten 
Grundzüge  leuchtet  ein. 

Ist  aber  Beck  von  Fichte  ebenso  unabhängig  in  allen  weiteren 
Ausführungen  seiner  Standpunktslehre  von  1796?  Bevor  wir  diese 
Frage  zu  beantworten  suchen,  werfen  wir  einen  Blick  auf  das  Ver- 
halten Kants  zu  Beck. 

Kant  alterte  ungewöhnlich  früh.  Nach  der  systematischen  Ver- 
fassung seines  Geistes  grenzte  er  voneinander  Vermögen  ab,  inner- 
halb deren  er  Regeln  des  inneren  Wirkens  und  Formen  des  Ver- 
haltens annahm;  er  Hess  diese  Vermögen  maschinenartig,  gleich- 
sam in  festen  räumlichen  Abständen  und  von  da  ineinander  greifend 
zusammenwirken.  Der  Fluss  seiner  Gedanken  erstarrte  ungewöhnlich 
früh  in  solcher  abgezirkelten  Anordnung  von  Begriffen.  Den  Scrupeln 
Becks  hatte  er  nur  die  eigenen  geschlossenen  Sätze  gegenübergestellt. 
Nie  hatte  er  den  Werdenden  zu  verstehen  gesucht,  wie  hätte 
er  vermocht  ihn  zu  leiten!  Seitdem  nun  aber  in  Beck  ein  selbst- 
ständiger Standpunkt  sich  geltend  machte,  schwieg  Kant  sich  völlig 
aus.  Der  letzte  Brief,  den  wir  mitteilen  konnten,  war  vom  18.  August 
1793.  Dann  ist  erst  vom  19.  Nov.  1796  eine  flüchtige  Zeile  Kants 
da.  Beck  empfand  das.  Als  er  Kant  Juni  1794  den  Plan  des  „ein- 
zig möglichen  Standpunktes"  vorgelegt  hatte,  knüpfte  er  die  Frage 
daran:  „Was  urtheileu  Sie  wohl  davon?  Ihr  Alter  drückt  Sie  und 
ich  will  Sie  gar  nicht  bitten,  mir  hierauf  zu  antworten,  obwohl  ich 
gestehen  muss,  dass  Ihre  Briefe  mir  die  kostbarsten  Geschenke  sind." 
Im  nächsten  Brief  (Sept.  94)  hatte  er  geschrieben :  „meine  Briefe 
mögen  Ihnen  vielleicht  lästig  sein."  Noch  förmlicher  17.  Juni  95: 
„ich  ergreife  die  Gelegenheit,  einen  Brief  an  Sie  zu  bestellen,  weil 
ich  mich  versichert  halte,  dass  Sie  freundschaftlich  gegen  mich  ge- 
sinnt sind."  Dass  Kant  sich  in  dieser  Zeit  völlig  ausschwieg"), 
bestätigen  die  Zeilen,  in  denen  er  19.  Nov.  1796  wieder  anknüpft. 
„Sie  haben  mich  mit  verschiedenen  Ihnen  Ehre  bringenden  Schriften, 
zuletzt  noch  mit  dem  Grundrisse  der  crit.  Phil,  beschenkt  und  ich 
mache  mir  darüber  Vorwürfe,  die  in  ihren  Briefen  an  mich  ge- 
richtete Anfragen,  Entwürfe  und  Nachrichten,  so  angenehm  sie  mir 


29" 


')  Dagegen  beweist  der  Brief  Kants  17.  Nov.  1796.     Verloren  gegangen. 


ß42  Wilhelm  Dilthey, 

auch  allemal  waren,  durch  keine  Autwort  erwiedert  zu  haben.  — 
Werfen  Sie  immer  die  Schuld  auf  die  Unbehaglichkeit  meines 
Alters,  dessen  übrigens  sonst  ziemliche  Gesundheit  doch  nicht,  wie 
bei  einem  Kaestner,  durch  körperliche  Stärke  unterstützt  wird  und 
mich,  da  ich  immer  beschäftigt  seyu  muss,  durch  seine  Launen 
unaufhörlich  abzubrechen  und  mit  Beschäftigungen  zu  wechseln 
uöthigt." 

Gerade  in  dieser  Zeit  festigte  sich  andererseits  innerlich  und 
äusserlich  die  Position  Becks.  Die  ersten  Jahre  seines  Aiifent- 
lialts  in  Halle  waren:  „von  mancherlei  Kümmernissen  begleitet." 
„Jetzt  wird  derselbe  von  Tag  zu  Tag  heiterer".  „Fünf  Jahre  war 
er  den  Studirenden  ein  wahrer  Obskurus."  Jetzt  erfreut  er  sich 
ihres  Beifalls.  Er  hat  sich  von  der  Schule  freimachen  und  seine 
Schulden  abtragen  können.  Er  hat  viele  und  herzliche  Freunde'"). 
Das  war  schon  ehe  seine  Ilauptschrift  von  1796  erschien.  Die 
Vorrede  derselben  ist  vom  Aug.  1795  und  sie  trägt  dann  die 
Jahreszahl  1796.  Mit  ihr  war  nun  seine  Stellung  in  der  philo- 
sophischen Welt  entschieden. 

Hierzu  trug  Fichte  nicht  wenig  bei,  zu  welchem  nunmehr  Beck 
in  ein  ebenfalls  recht  zusammengesetztes  Vcrhältniss  trat.  Nach 
dem  Programm  der  Wissenschaftslehre  war  die  breite,  wenig  geniess- 
bare  Grundlage  der  Wissenschaftslehre  erschienen,  deren  Vorrede  von 
der  Ostermesse  1795  datirt  ist,  und  dem  Werke  Becks  folgte  dann  1797 
die  schöne  erste  Einleitung  in  die  Wisseuschaftslehre.  Wie  stellen 
sich  nun  beide  Männer  zu  einander?  Beck  besprach  sofort  in  Jakobs 
Annalen,  dem  Organ  der  Kantianer  (Febr.  1795)  Fichtes  Begriff 
sowie  dessen  Grundlage  der  Wissenschaftslehre'').  Hier  fertigte 
er  Fichtes  Aeusserungen  über  mathematische  Gegenstände  mit 
gebührendem  Spotte  ab.  Doch  zeigte  er  nicht  das  Talent,  sich  in 
den  Mittelpunkt  der  Lehre  desselben  zu  versetzen  und  ihn  so  wirk- 
lich  zu   kritisiren.     „Wir  glauben,  so  lautet  sein   derbes  Schluss- 


^^)  Reicke  Briefwechsel  S.  56. 

'')  Dass  diese  anonyme  Recension  Annalen  Stück  16.  17.  18,  sowie  die 
Recension  der  Grundlage  des  Naturrechts  Annalen  1796  S.  400—421  von  Beck 
sei,  erschliessc  ich  aus  dem  Styl  und  dem  Inhalt  derselben,  zusammen- 
genommen mit  der  nachher  berührten  Aeusseriing  Fichtes  W.  1.  444  f. 


I 


Die  Rostocker  Kanthandschriften.  643 

urteil,    jeden  Leser  der  wie   ein   Mann   denkt  durch   die  bisherige 
Beurteilung  und  Darstellung    der  Fichteschen   Einfälle    von  ihrem 
gänzlichen  Unwerth  überzeugt  zu  haben.    Ein  ungereimtes  Märchen 
ist  in  Wahrheit  etwas  ganz  leidlicheres,   als   eine  überfeine  Philo- 
sophie von  dieser  Art,  weil  in  jenem  die  Ungereimheit  selbst  doch 
noch  unterhalten  kann,  diese  aber  gar  nichts  zu  denken  verstattet"  ^^). 
Die  im  zweiten  Heft  des  Jahrgangs  1796    enthaltene  Anzeige  der 
Rechtslehre  war  massvoller.     Becks  Schrift  war  nun  abgeschlossen 
und  er  empfand  die  Verwandschaft  mit  der  eigenen  Ansicht,  wenn 
nach  Fichte  das  Ich  kein  Vermögen  ist,  sondern  Handlung,  wenn 
es  die  Sinnenwelt  ausser  sich  setzt  und  bestimmt  ^^).    Im  Uebrigen 
stiess  ihn  auch  dies  Buch  durchweg  ab.     Fichte  seinerseits  kannte 
Beck  als  den  Verfasser  der  Recension,    hob  ihn  aber  dennoch  in 
der  ersten   Einleitung   1797    aus    allen  Kantianern    hervor.     Kant 
war    nach    ihm    bisher     ein    verschlossenes    Buch,     „abgerechnet 
einen  neuerlich  gegebenen  Wink"  ^*).     Dass  hier  Becks  Schrift  ge- 
meint sei,  zeigt  die  nachfolgende  ausführlichere  Stelle,  in  welcher  er 
„dem  Manne,  der  sich  aus  der  Verworrenheit  des  Zeitalters  sclbst- 
^tändig  zur  Einsicht  erhoben,  dass  die  Kanntische  Philosophie  keinen 
Dogmatismus,  sondern  einen  transscendentalen  Idealismus  lehre  und 
dass  nach  ihr  das  Objekt  weder  ganz  noch  halb  gegeben,  sondern 
gemacht  werde,  öffentlich  seine  Hochachtung  bezeugt  und   es  von 
der  Zeit  erwartet,  dass  er  sich  noch  höher  erhebe"  ^^).    Doch  tadelte 
er,  dass  Beck  diesen  theoretischen  Idealismus,  der  das  Ding  an  sich 
verwirft   und   nur   einen  Zusammenhang  von  im  Bewusstsein   auf- 
tretenden Erscheinungen  kennt,  gänzlich  von  der  Moralphilosophie 
trennte,    welche  dann   doch  die  intelligible  Welt   wiederherstellte. 
Und  er  „bedauert  Beck  wegen  der  Eilfertigkeit,  mit  der  er  in  einer 
Gesellschaft,    für  die  er  zu  gut  ist,    über  Bücher  herfährt,   die   er 
nicht  versteht". 

In  den  Osterferien  1797,  nachdem  Becks  Buch  erschienen  und 
Fichtes  Einleitung  in  die  Wissenschaftslehre,   mit  der  Stelle  über 


32)  Jakobs  Annalen  1795.  S.  142. 

33)  Jakob  Annalen  1796  S.  407f. 
3*)  Fichte  W.  1.  419. 

3S)  Fichte  W.  1.  444  f. 


644  Wilhelm  Dilthey, 

diesen  darin,  geschrieben  war,  besuchte  Beck  in  dem  Halle  benach- 
barten Jena  Fichte.  Er  hat  Kant  über  den  Besuch  berichtet.  Der 
nüchterne,  in  seinen  tief  erwogenen  Gedankenkreis  eingeschränkte, 
unbehülfliche  Mann  hatte  das  Gefühl,  Fichte  wolle  ihn  als  „auf  dem- 
selben Wege  befindlich"  für  seine  Schule  „in  Anspruch  nehmen" 
und  „berücken".  Fichte  begann  das  Gespräch:  „ich  weiss  es  Sie 
sind  meiner  Meinung,  dass  der  Verstand  die  Dinge  macht".  „Er 
sagte  mir  manche  närrische  Sachen  und  vielleicht  ist  er,  da  ich 
meinen  Mann  bald  durchsah,  noch  von  Niemanden  durch  freund- 
liche Antworten  so  verlegen  gemacht  worden  als  durch  mich". 
Auch  der  Hauptunterschied  zwischen  ihnen,  wie  ihn  Fichte  im 
Journal  hervorgehoben  hatte,  kam  zur  Sprache. 

Nach  Fichte  wird  alle  Realität  durch  die  Einbildungskraft  her- 
vorgebracht. In  dieser  findet  vermöge  einer  gleichsam  rückläufigen 
Thätigkeit  BegrenzAing,  Bestimmung  statt.  Dem  entspricht,  dass 
Fichte  die  Unterscheidung  der  Intelligenz,  die  nach  Kant  in  Ver- 
bindung und  Verallgemeinerung  wirkt,  von  dem  Willen,  der  das 
Bestimmte,  Partikulare  setzt,  in  seinem  neuen  System  aufhebt. 
AV^ille,  Einbildung  und  Verstand  rinnen  so  in  trübem  Gemenge 
durcheinander.  In  dieser  Hervorhebung  der  Einbildungskraft  (vor- 
gebildet bei  Leibniz)  lag  doch  ein  originales  Element  des  Fichte- 
schen Denkens,  das  dem  ästhetischen  Zeitalter  entsprach.  Aber 
zugleich  wurde  durch  diese  Wendung  die  Grundlage  der  ganzen 
Transcendentalphilosophie  aufgehoben;  Fichte  sägte  den  Ast  selber 
ab,  auf  dem  er  sass. 

Beck  hatte  in  seiner  Hauptschrift  von  1796  und  dem  im  selben 
Jahre  erschienenen  GriuKhüss  der  kritischen  Philosophie  zu  den  bis- 
her dargestellten ,  dauernd  interessanten  Gedanken  andere  hinzu- 
gefügt, die  sich  der  Lehre  Fichtes  näherten,  mit  der  Grundlage 
Kants  unverträglich  waren  und  so  von  ihm  auch  nicht  festgehalten 
worden  sind. 

Die  Intention  im  Grossen,  in  der  er  ganz  selbstständig  mit 
Fichte  zusammentrifft,  ist  gesund.  Wie  Fichte  will  er  in  die  Tiefen 
des  bewusstlosen  Schaffens  dringen,  hebt  heraus,  dass  die  hier 
stattfindenden  Vorgänge  Handlungen  sind,  will  diese  erfassen, 
nicht  aber  Begriffe  der  Vermögen  voneinander  abgrenzen.     So  will 


Die  Rostocker  Kanthandschriften.  645 

er  die  Philosophie  auf  Thatsachen  (des  Bewusstseins)  gründen,  nicht 
auf  Begrifte^").  Er  möchte  erfassen,  wie  das  synthetische  Vermögen 
Raum,  Zeit  und  Kategorien  erwirkt.  Sinnlichkeit  und  Verstand 
gehören  ihm  demselben  Zusammenhang  dieses  Vermögens  an.  Immer 
wieder  hebt  er  das  Merkmal  des  Selbstververständnisses  an  der 
Transscendentalphilosophie  hervor. 

Wie  aber  hat  nun  Beck  das  ursprüngliche  Vorstellen  erfasst, 
in  welchem  das  Objekt  entsteht?  Dieses  wird  in  der  Einheit  des 
Bewusstseins  durch  die  Vcrstandeshandlungen,  deren  Ausdruck 
die  Kategorien  sind,  vermittelst  der  so  entstehenden  ursprünglichen 
Synthesis  und  ursprünglichen  Anerkennung  hervorgebracht. 
Synthesis  und  Anerkennung  sind  innerhalb  jeder  Verstandeshand- 
lung (Kategorie)  zusammengehörige  Vorgänge,  deren  Ineinander- 
greifen die  Entstehung  des  Objektes  bewirkt. 

So  ist  die  Kategorie  der  Grösse  „die  ursprüngliche  Zusam- 
mensetzung (Synthesis)  des  Gleichartigen,  welche  von  den  Theilen 
zum  Ganzen  geht:  der  Raum  selbst"").  Diese  Synthesis  ist  An- 
schauen'-), Anschauen  und  sinnliches  Anschauen  sind  dasselbe. 
Erst  indem  ich  nun  dieses  reine  Anschauen  mir  vorstelle,  entsteht 
die  abgeleitete  Vorstellung  oder  der  Begriff  des  Raumes.  Man 
sieht,  dass  hier  Beck  im  Einverständniss  insbesondere  mit  dem 
Ilalleschen  Mathematiker  Klügel  die  durch  die  Trennung  von  Sinn- 
lichkeit und  Verstand  charakterisirte  Seite  der  Kantschen  Raumlehre 
aufhebt.  Ich  betrachte  ein  Haus.  Das  Erste  ist  die  Synthesis, 
in  welcher  der  Raum  erzeugt  wird,  vielmehr  welche  der  Raum 
selber  ist").  Nun  macht  Beck  den  folgenden  Uebergang  vom 
Raum  zur  Zeit,  zu  dem  Schematismus  der  Kategorie  und  —  der 
Fixirung  des  Concreten  im  Denken.  Dieser  Uebergang  war  schon 
den  ihm  Nahestehenden  damals  dunkel  und  verdächtigt").  In  ihm 
nähert  er  sich  Fichte.  In  der  Synthesis  des  Räumlichen  nämlich 
entsteht   auch  Succession:    Zeit.     „Das    ursprüngliche    Festmachen 


3«)  Standpunkt  S.  1G9. 

3')  Standpunkt  S.  140. 

3^  Ebds.  141. 

3»)  Ebds.  143. 

•">)  Recension  in  Jakob  Annalen  1796.     S.  32  ff. 


646  Wilhelm  Dilthey, 

(Bestimmen)  dieser  Zeit  ist  die  ursprüngliche  Anerkennung. 
Uurcli  dieses  Fixiren  der  Zeit,  fixire  ich  jene  ursprüngliche  Syn- 
thesis  und  erhalte  dadurch  den  Begrifl'  von  einer  bestimmten  Ge- 
stalt des  Hauses*^)." 

Eine  zweite  ursprüngliche  Verstandeshandhing  stellt  sich  in 
der  Kategorie  der  Realität  dar.  Diese  ist  das  empirische  An- 
schauen selber.  In  ihr  „synthesire  ich  durch  einen  Vorgang, 
der  vom  Ganzen  zu  den  Theilen  geht,  meine  Empfindung". 
Auch  in  dieser  wie  in  jeder  anderen  Synthesis  erzeuge  ich 
die  Zeit  (Schematismus  der  Kategorien).  Und  nun  wird  auch 
hier  in  der  mitwirkenden  ursprünglichen  Anerkennung  die 
Synthesis  durch  das  Bestimmen  dieser  Zeit  fixirt:  so  erzeuge 
ich  das  Reale  des  Dinges.  Innerhalb  der  Kategorien  der  Re- 
lation entsteht  erst  Dasein  der  Dinge,  ja  in  der  Synthesis 
und  Anerkennung  innerhalb  dieser  Kategorien  besteht  das  ganze 
Dasein  der  Dinge.  Ich  setzte  nämlich  ein  Beharrliches,  woran  ich 
mir  die  Zeit  vorstelle;  ich  setze  ein  Etwas  (Ursache),  wodurch  der 
Wechsel  meines  eigenen  Zustandes,  da  ich  zunächst  ohne  diese 
Vorstellung  war,  sie  aber  nachher  hatte,  seine  Bestimmung  in  der 
Zeit  erhält^'^.  Der  Sinn  der  empirischen  Aussage:  der  Gegenstand 
afficirt  mich,  liegt  sonach  in  der  trauscendentaleu  Aussage:  der 
Verstand  setzt  ursprünglich  ein  Etwas.  Selbst  der  Begriff 
von  meinem  Ich  empfängt  erst  in  diesem  ursprünglichen  Setzen 
Sinn  und  Bedeutung"). 

Es  i.st  nicht  erforderlich,  auch  durch  die  anderen  Kategorien 
und  durch  die  Grundsätze  hindurch  dieser  unfruchtbaren  und  von 
der  Zeit  mit  Recht  weggespülten  Arbeit  zu  folgen,  welche  in  das  un- 
bewusste  Walten  der  Intelligenz  dringen  will.  Unfruchtbar  und 
dunkel:  denn  Beck  hält  an  den  intellektualistischen  Voraussetzungen 
Kants  fest,  der  in  der  Synthesis  und  deren  abstrakten  Handlungs- 
weisen die  ganze  Natur  unseres  Erkennens  erblickte  —  und  doch 
möchte  er  das  für  Kant  Unerklärbare  klar  machen.  Insbesondere 
hebt  er  an  der  Zeit,    die  Kant  wie  einen  abstrakten  Bestaudtheil 


*')  Standpunkt  143. 
^-0  Ebds.  15G. 
*3)  Ebds.  157, 


Die  Rostocker  Kanthandschriften.  647 

des  Begriffs  der  Bewegung  behandelt  hatte,  den  Grundzug  hervor, 
durch  welchen  Gegenwart  sich  von  Vergangenheit  und  Zukunft  ab- 
hebt. So  dient  die  Zeit  der  Bestimmung  und  Fixirung  des  Dinges. 
Dieses  und  verwandte  Probleme  können  ihn  zu  seiner  dargelegten 
Lehre  vom  ursprünglichen  Anerkennen  geführt  haben.  Ich  vermag  es 
nicht  zu  beweisen,  betrachte  es  aber  nicht  als  unwahrscheinlich, 
dass  Fichte's  Einflnss  mitwirkte.  So  verwandt  sind  die  Begriffe  des 
ursprünglichen  Anerkennens  und  des  ursprünglichen  Setzens.  Jeden- 
falls war  diese  Epoche  in  seiner  Entwicklung  die  der  grössten  An- 
näherung an  Fichte.  Er  musste  den  Widerspruch  mit  den  Voraus- 
setzungen Kants  bemerken.  Und  Kant  selber  rief  ihn  gleichsam 
zurück.  Hier  greift  der  Fortgang  seiner  Beziehungen  zu  Kant  ein. 
Kant  hatte,  wie  es  scheint,  Becks  Schrift  nicht  selber  gelesen. 
Aber  ihm  hatte  der  treucste  der  Seinen,  Schultz  über  dieselbe  mit 
Unwillen  berichtet.  Insbesondere,  dass  Beck  den  Nebentitel  „er- 
läuternder Auszug  aus  den  Werken  des  Herrn  Professor  Kant,  auf 
Anrathen  desselben"  belassen  hatte,  musste  Kant  missbilligen.  In 
die  Materie  der  Sache  scheint  sein  leider  verlorener  Brief  nicht 
eingegangen  zu  sein.  Beck  seinerseits  spricht  offen  aus,  dass  die 
beiden  1796  erschienenen  Schriften  dem  Missverständniss  ausge- 
setzt seien;  er  ist  zu  Retraktationcn  bereit,  welche  er  schon  vor 
dem  Eintreffen  des  Kantschen  Briefes  ins  Auge  gefasst  hatte  und 
in  denen  er  die  Dunkelheiten  und  Unbestimmtheiten  dieser  Arbeiten 
heben  will.  So  nachdrücklich  als  möglich  aber  erklärt  er  sich  da- 
gegen, dass  er  in  einem  der  beiden  Bücher  gelehrt  habe,  was 
Schultz  ihm  zuschreibt:  der  Verstand  mache  das  Ding.  Er 
erklärt  das  für  baaren  Unsinn  und  beruft  sich  auf  die  Stellung,  die  er 
zu  Fichte  in  seinen  Anzeigen  genommen  hat.  Vielmehr  ist  seine  Ab- 
sicht eine  methodische  Sonderung  der  theoretischen  und  der  prak- 
tischen Philosophie.  Er  will  den  Zugang  in  jene  dem  Ding  an  sich 
verschliessen.  Er  will  in  dieser  die  ganz  eigene  Art  von  Realität 
dieses  Dinges  an  sich  auf  das  moralische  Bewusstsein  begründen. 
Da  Erscheinung  das  Objekt  meiner  Vorstellung  ist,  in  welcher 
Bestimmungen  desselben  gedacht  werden,  die  ich  durch  das  ur- 
sprüngliche Verstandesverfahren  erhalte,  und  da  hierunter  auch  das 
ursprüngliche  Fixiren    meiner  Synthesis  von  Wahrnehmungen  als 


648  Wilhelm  Dilthey, 

einer  successiveu,  wodurch  Erfahrung  einer  Begebenheit  möglich 
wird,  gehört:  so  ist  der  Gegenstand,  der  mich  aflicirt,  Er- 
scheinung und  nicht  Ding  an  sich.  Dem  Menschen  ist  nur  das 
Bewusstsein  von  der  Beziehung  der  Natur  überhaupt  auf  ein  Sub- 
strat derselben  vergönnt:  eine  Beziehung,  deren  er  sich  in  seiner 
Anlage  zur  Moralität  bewusst  ist.  Dass  der  Naturmechanismus  einer 
Zweckeinheit  entspricht,  erhöht  in  der  Seele  des  guten  Menschen  das 
Bewusstsein  der  Beziehung  zu  diesem  Substrat,  obwol  er  sich  das- 
selbe immer  nur  auf  symbolische  AVeise  vorzustellen  vermag ^^).  In 
diesen  Sätzen  hat  Beck  seine  Position,  in  welcher  er  sich  eben- 
sowohl von  Fichte  als  von  Kant  trennt,  vollkommen  klar  ausge- 
drückt. In  der  persönlichen  Beziehung  erscheint  der  ehrenfeste 
Mann  derber,  als  Kant  gegenüber  angemessen  war.  Er  spricht  zu 
viel  von  Kants  Alter,  und  er  findet  „seine  Seele  täglich  durch 
den  Gedanken  erheitert,  einst  auch  nach  dem  Abgang  des  grossen 
Stifters  der  kritischen  Philosophie  diese  dem  Menschengeschlecht 
wichtige  Angelegenheit  kräftiglich  besorgen  zu  können."  Solche 
briefliche  Aeusserungen  waren  kaum  in  Kants  Geschmack,  Auch 
die  Vermittlung  von  Tieftrunk  hatte  kein  Ergebniss. 

In  der  Erklärung  Kants  gegen  Fichte  1799  findet  sich  dann 
seine  öffentliche  Absage  an  Beck.  „Der  Recensent  behauptet,  dass 
die  Kritik  in  Ansehung  dessen,  was  sie  von  der  Sinnlichkeit  wört- 
lich lehrt,  nicht  buchstäblich  zu  nehmen  sei,  sondern  ein  jeder, 
der  die  Kritik  verstehen  wolle,  sich  erst  des  gehörigen  (B eck- 
schen oder  Fichteschen)  Standpunktes  bemächtigen  müsse,  so 
erkläre  ich,  dass  die  Kritik  allerdings  nach  dem  Buchstaben  zu 
verstehen  ist"^').  Unter  den  Handschriften  der  Rostocker  Biblio- 
thek ist  ein  Zettel,  der  nach  der  Handschrift  von  dem  juristischen 
Professor  Roppe  geschrieben  ist,  mit  folgender  Aufzeichnung.  „Ein 
Kantisches  Wort  über  Herrn  Beck  in  Halle,  Verfasser  der  Stand- 
punktslehrc,  ist  folgendes:  der  gute  Mann  ist  mit  seinem  neuen 
Standpunkt  über  seine  eigenen  Füsse  gefallen.  Aber  das  kömmt 
daher,  wenn  die  Herren  Schüler  sich  selbst  setzen  und  stellen." 


*')  Briefw.  (Jlf. 

*'■■)  Intelligenzblatt  der  Jen.  Litt.  Z.  1799  Nr.  109,  Hartenstein  8,  600. 


Die  Rostocker  Kanthandscliriften.  649 

Spätere  Lebensschicksale  Becks. 

Beck  selber  aber  ging  aus  der  Gährung  dieser  Jahre  klar,  aus- 
gereift, obzwar  ohne  entschiedene  Originalität  hervor,  als  ein  selb- 
ständiger Kantianer.  So  zeigt  ihn  die  vortreft'liche  Propädeutik  zu 
jedem  wissenschaftlichen  Studio  1799.  Sein  Accept  der  Stellung, 
die  Kant  ihm  zu  sich  gab,  liegt  in  den  an  Reinhold  anklingenden 
Worten  der  Vorrede:  „auf  die  Vorbereitung  dieser  wahren  Philo- 
sophie, die  keines  J\launes  Namen  tragen  darf,  hinzuwirken,  ist  der 
Zweck  dieser  Schrift."  Die  eindringliche  Darstellung  der  grossen 
l^ehre  Kants  von  der  Intellektualität  der  Siuneswahrnehmungen, 
die  Vereinfachung  Kants,  die  männliche  Polemik  gegen  die  dogma- 
tische Fassung  des  Vernunftsglaubeus  bei  Kant  (besonders  in  Be- 
zug auf  die  Unsterblichkeitslehre)  zeigen  jene  freie  Handhabung 
der  Transscendentalphilosophie,  welche  für  Fries,  Schopenhauer  u.  a. 
eine  Vorstufe  gewesen  ist. 

In  diesem  Jahre  1799  wurde  er  auch,  iiachdem  er  inzwischen 
in  Halle  17.  Juni  1796  ausserordentlicher  Professor  geworden  war,  zu 
der  ordentlichen  Professur  der  Metaphysik  in  Rostock  berufen,  die  er 
von  da  ab  in  der  zweiten  längeren  Lebenshälfte  bis  zum  Todestag 
bekleidet  hat.  Die  Faknltät  schlug  in  einem  Schreiben  vom  29.  März 
1798,  als  der  bisherige  Professor  der  Metaphysik  Schadeloock  in 
eine  mathematische  Professur  eingetreten  war,  den  Bestimmungen 
entsprechend  6  Gelehrten  vor,  darunter  Bouterwek,  Beck,  Krug, 
Meilin,  hob  aber  aus  ihnen  Bouterwek  und  Beck  besonders  hervor. 
Man  bemerkt  wie  nun  die  Stellen  mit  Kantianern  besetzt  wurden. 
Beck  wurde  als  „ungemein  berühmt  durch  seinen  erläuternden 
Auszug  aus  Kants  Schriften"  bezeichnet.  AV'ar  doch  die  kritische 
Philosophie  durch  englische  Bearbeitung  seines  Auszugs  1797  iu 
England  verbreitet  worden.  Und  es  wurde  besonders  darauf  hin- 
gewiesen, dass  „sogar  Fichte,  der  selten  Anderen  Gerechtigkeit 
widerfahren  lässt,  sagt,  dass  er  das  Hauptmoment  der  Kritik  der 
reinen  Vernunft  am  besten  aufgefasst  habe"^").  Das  Concil  wählte 
Beck,    Krug  und  Visbeck,    den   Kantianer  von  Reiuholdscher  Ob- 


^'^)  Schreiben  der  Fakultät  v.  ■I'd.  Miirz  1798  au  Kektur  und  C'oucil,  iu  dem 
Rostocker  Uuiversitätsarchiv. 


650  ^Yilllelra  Dilthey,    Die  Rostocker  Kanthandseliriften. 

servaiiz:  so  gelangte  16.  April  1798  der  Vorschlag  an  Bürger- 
meister und  Ratli  in  Rostock  ^^).  Beck  nahm  12.  Februar  1799 
den  Ruf  an,  wurde  im  April  dem  Concil  vorgestellt  sowie  in 
die  Fakultät  aufgenommen^'*),  und  begann  mit  dem  Anfang  des 
Sommerhalbjahrs  1799  seine  Rostocker  Lehrthätigkeit.  Diese  er- 
streckte sich,  in  dem  Umfang  vergleichbar  der  seines  grossen 
Lehrers,  auf  verschiedene  Theile  der  Mathematik,  Mechanik,  mathe- 
matische und  metaphysische  Grundsätze  der  Physik,  Astronomie, 
mathematische  Geographie,  Anthropologie,  Encyclopädie  der  Philo- 
sophie, kritische  Philosophie,  natürliche  Theologie,  Pädagogik,  Ethik 
und  Moraltheologie,  Naturrecht,  Staatswirthschaft^^).  Auch  seine 
Arbeiten  breiteten  sich  nun  auf  mehrere  Gebiete,  z.  B.  auf  das  .staats- 
wissenschaftliche, aus.  Er  genoss  gro.ssen  Ansehens,  wie  er  denn  drei- 
mal Dekan  und  viermal  Rektor  der  Universität  war.  Einen  Ruf  nach 
Berlin,  als  Professor  der  Philosophie  bei  dem  adligen  Cadettenhofe, 
lehnte  er  ab,  „da  er  an  jedem  fremden  Orte  langer  Zeit  bedürfen 
würde,  sich  die  gute  Meinung  derer  zu  erwerben,  an  deren  Meinung 
einem  rechtdenkenden  Berufsmann  gelegen  sein  müsse"  ^").  Er 
starb  hochbetagt,  beinahe  achtzigjährig,  in  voller  Wirksamkeit  bis 
zum  letzten  Tage,  am  29.  August  1840^').  Ihn  überlebte  .seine 
seit  1803  mit  ihm  verheirathete  Frau  und  eine  einzige  Tochter. 


•*')  SchreiKen  v.  Rektor   und  Concil    an    den  Magistrat    IG.  Äpiil  1798  im 
Rostocker  Stadtarchiv. 

^»)  Missiven  v.  19.  u.  27.  April  1799. 

■•^)  Nach  den  Indices  lectionuiu. 

^'^)  In  dem   Rostocker  Stadtarchiv. 
.  ^^)  So  nach  Grabschrift  und   Kirchenbuch,   während   ein  Regierungserlass 
über  Wiederbesetzung  irrthümlich  9.  August  angiebt. 


Jahresbericht 


über 

sämmtliche  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte 

der  Philosophie 

in    Gemeinschaft    mit 

Ingram  Bywater,  Alessandro  Cliiapelli,  Hermann  Diels,  Wilhelm  Dilthey, 
Benno  Erdmann,  J.  Gould  Schurman,  Paul  Tannery,  Feiice  Tocco 

und  Eduard  Zeller 

herausgegeben 

von 

Ludwig  Stein. 


XII. 

Bericht  über  die  deutsche  Litteratiir  der 
Vorsokratiker.    1888. 

Von 
H.  Diels  in  Berlin. 

Wie  sehr  unser  Archiv  gleich  im  ersten  Jahrgange  dem  Be- 
dürfnisse entsprochen  hat,  einen  Sammelpunkt  philosophiegeschicht- 
licher Arbeiten  darzustellen,  ergiebt  die  Thatsache,  dass  von  den 
nicht  sehr  zahlreichen  im  J.  1888  veröftentlichtcn  Arbeiten  über 
die  vorsokratische  Philosophie  neun  in  unserer  Zeitschrift  erschienen 
sind.     Ich  verzeichne  hier  ihre  Titel: 

1)  Zu  Pherekydes  von  Syros  (Diels)  S.  11. 

2)  Ein  Wort  von  An  ax  im  an  der  (Ziegler)  S.  16. 

3)  Un  fragment  d'Anaximene  dans  Olympiodore  le  chimiste 
(Tannery)  S.  314  (vgl.  S.  594**). 

4)  Sur  le  secret  dans  l'Ecole  dePythagore  (Tannery)  S.  28. 

5)  Zu  Pythagoras  und  Anaximenes  (Chiappelli)  S.  582. 

6)  Zur  Lehre  des  Xenophanes  (Freudenthal)  S.  322. 

7)  Empedokles  und  die  Orphiker  (0.  Kern)  S.  498. 

8)  Ueber  Demokrits  7vrjai7]  -(Vttijjiy]  (Natorp)  S.  348. 

9)  Zu  Diogenes  von  Apollonia  (Weygoldt)  S.  161. 

Den  übrigen  anderwärts  veröffentlichten  Arbeiten  schicke  ich 
eine  kurze  Anzeige  voraus  über  ein  umfassenderes  Werk: 

AViNDELBAND,  W.     Geschichte  der    alten  Philosophie.     Nördlingen 

1888.     (Sep.-Abdr.  aus    I.  Müllers  Handbuch   d.   kh   Alter- 

tümsw.  V.  1,  117  ff.)  220  S.  8°. 

44 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     II. 


654 


H.  Diels, 


Es  ist  jetzt  kein  ^langel  mehr  an  guten,  für  die  studierende 
Jugend  bestimmten  Compendien  der  Geschichte  der  antiken  Philo- 
sophie. Trotzdem  darf  Windel bands  bescheiden  auftretender  Ver- 
such willkommen  geheissen  werden,  weil  er  es  verstanden  hat, 
nicht  nur  in  wissenschaftlicher,  sondern  auch,  was  viel  seltener  ist, 
in  pädagogischer  Beziehung  ein  brauchbares  Buch  zu  schreiben. 
Der  Verf.  ist  kein  C'ompilator.  Er  hat  trotz  der  Kürze,  und  trotz- 
dem seine  Specialstudien  auf  anderem  Gebiete  liegen,  eine  selbst- 
ständige und  geistvolle  Arbeit  geliefert;  namentlich  in  der  Ge- 
sammtauffassung und  Gruppierung  der  Systeme  geht  er  vielfach 
seine  eignen  Wege.  So  erscheint  Pythagoras,  was  Manchem  wun- 
derlich vorkommen  wird,  gar  nicht  unter  den  Philosophen,  sondern 
unter  den  religiös-politischen  Reformern  neben  den  Orphikern, 
Pherekydes  u.  A.,  während  der  wissenschaftliche  Pythagoreismus 
bei  Philolaos  abgehandelt  wird.  Die  milesische  Naturphilosophie 
des  Thaies,  Anaximander  und  Anaximenes  spaltet  sich  dann  in 
den  metaphysischen  Grundgegensatz  Heraklit  und  die  Eleaten. 
Der  Gegensatz  ruft  Vermittlungsversuche  hervor:  Empedukles,  Ana- 
xagoras,  Leukipp  und  Pythagoreertum.  Dann  konnnt  die  griechische 
Aufklärung:  die  Sophistik  und  ihr  Ueberwinder  Sokrates,  dessen 
Grösse  der  Verf.  bereits  in  seinen 'Präludien  in  lebhafter  Darstellung 
gewürdigt  hatte.  Die  kleinen  Sokratiker  dagegen  werden  als  Fort- 
setzungen der  Sophistik  in  Kürze  abgethan.  Die  Blüte  hellenischen 
Denkens  erscheint  in  den  beiden  grossen  Schöpfungen  Demokrits  und 
Piatons,  die  das  abschliessende  System  des  Aristoteles  vorbereiten.  Die 
nacharistotelischePhilosophie  fasst  W.  unter  dem  Namen  „hellenistisch- 
römische Philosophie"  kurz  zusammen  (1.  Schulkämpfe.  Peripatetiker, 
Stoiker  (9  Seiten!).  Epikureer  (5  Seiten).  2.  Skepticismus  und 
Synkretismus.  3.  Patristik.  4.  Neuplatonismus.  Schluss:  Augustin). 
Mit  sichtlicher  Vorliebe  verweilt  der  Verf.  bei  der  knospenden 
Philosophie  des  6.  und  5.  Jahrhunderts.  Er  bringt  dazu  nicht  nur 
(bis  philosophische  Interesse  für  die  allgemeinen  Probleme  der 
Wissenschaft  mit,  sondern  auch  die  historisch-kritische  Schulung, 
die  jetzt,  namentlich  durch  Zellers  Werk,  Gemeingut  gew^orden  ist, 
daneben  aber  auch  naturwissenschaftliches  Verständnis,  das  beson- 
ders zu  einer  ausführlicheren  und  tieferen  Erfassung  der  abderitischen 


Bericht  über  die  ileufsche  Litteratur  der  Vorsokratiker.     1888.       655 

Philosophie  geführt  hat,   ohne  dass  diese  Vorliebe  den  Verf.  etwa 
zu   positivistischer  Einseitigkeit    und  Plattheit    verleitet  hätte.     In 
Bezug   auf  Leukipps    und  Demokrits    historische  Stellung  schliesst 
sich  der  Verfasser    den  Ansichten    des  Ref.   au.     Leukipp   ist  ihm 
der  Gründer  des  atomistischen   Systems,  Demokrit   der  Vollender, 
der  sogar  durch  den  Sensualismus  des  Protagoras  starke  Einwirkung 
erfahren  hat.     Ich  glaube,  dass  der  Verf.  hier  etwas  hegelisch  kon- 
struiert hat.    Es  ist  unbezweifelbar,  dass  Demokrit,  wie  Piaton,  von 
der  Sophistik  beeinflusst  ist  und  sie  bekämpft,  aber  die  Erkenntnis 
der    Subjektivität    der   Sinnesqualitäten  z.  B.,    wie    überhaupt  die 
atomistische  Psychologie,  stammt  nicht  von  Protagoras,  sondern  von 
Leukipp,  so  gut  wie  der  Begriff  der  dva-f///].     Was  Leukipp  gelehrt 
hat,  kann  man,  abgesehen  von  der  noch  nicht  gehörig  gewürdigten 
doxographischen  Ueberliefernng,  indirect  durch  Rückschluss  aus  den 
Systemen    des    Empedokles    (vielleicht   auch    des  Anaxagoras)    ge- 
winnen.    Der  Verf.  wird  mir  dies  um  so  eher  zugestehen,  als  ihm 
die  Porentheorie   des  Empedokles    selbst  als    innerer  Widerspruch 
erscheint  (S.  45  ^).     Er  findet  aber  seine  einfachste  Lösung  in   der 
Abhängigkeit    von  Leukippos,    wie    ich    früher    einmal    ausgeführt 
habe.     Sehr  energisch  wird  Demokrits  Ethik  hervorgehoben  und  in 
geistreicher  Weise  mit  der  Physik  verknüpft.     Doch  scheinen   mir 
die  Grundlagen  dieser  Auffassung  (Hirzel  und  Natorp)  sehr  unsicher. 

Was  ich  sonst  noch  auf  dem  Gebiete  der  Vorsokratiker,  auf 
das  sich  mein  Referat  zu  beschränken  hat,  über  die  Auffassung  des 
Verfassers  bemerken  möchte,  ist  in  Kürze  folgendes: 

Beim  Hylozoismus  scheint  mir  der  Zoismus,  wenn  ich  so  sagen 
darf,  zu  wenig  betont.  Umgekehrt  wird  der  „Denkstofl"  des  Anaxa- 
goras doch  etwas  zu  materialistisch  behandelt.  Auch  hier  helfen 
uns  Nachtreter,  wie  Diogenes,  die  Lücken  der  Ueberlieferung  er- 
gänzen. Auf  Einzelheiten  einzugehen,  gestattet  der  Raum  nicht. 
Unwesentliche  Versehen,  wie  die  Erklärung  von  czioiov  als  „unsicht- 
bar" (S.  24.  30.  33  '■')  oder  die  Bezeichnung  des  Aristeas  von  Pro- 
konnesos als  „Logographen"  (neben  Kadmos,  Dionysios,  Hekataios) 
werden  um  so  weniger  Schaden  stiften,  als  das  Buch  sich  ja  au 
Philologen  wendet.  Die  Litteraturangaben  sind  mit  sorgfältiger 
Auswahl  gegeben.     Doch  vermisse  ich  z.  B.  beim  xuptsuwv  des  Dio- 


44 


656  H-  Diels,  ij 

doros  Zellers,  bei  Piatons  Gesetzen  Bruns'  Abhandlung  und  wünsche 
die  Erwähnung  der  Krohnschen  Bücher  weg,  die  jungen  Lesern 
nicht  empfohlen  werden  dürfen'). 

Theologen. 

Kern,  0.  De  Orphei  Epimenidis  Pherecydis  theogoniis  quaestiones 
criticae.  Berolini  1888.  1 10  S. 
Diese  aus  einer  Berliner  Dissertation  erweiterte  Schrift  enthält 
drei  Teile.  Im  ersten  versucht  der  Verfasser  die  Ansicht  Lobecks, 
dass  die  sog.  rhapsodische  Theogonie  der  Orphiker  mindestens  dem 
6.  J.  V.  Chr.  angehöre,  gegenüber  neueren  Zweifeln,  namentlich 
Schusters,  genauer  zu  begründen.  Er  schickt  einen  Abriss  des  In- 
haltes voraus  und  sucht  nun  die  Beziehungen  des  Xenophanes, 
Pindar,  Aischylos,  Parmenides,  Empedokles  (s.  Archiv  I  498)  Anaxa- 
goras,  Aristophanes  und  Piaton  zu  dieser  alten  Rhapsodie  sicher  zu 
stellen.  Vor  allem  sieht  er  in  der  Stelle  Piatons  Legg.  IV.  715  E 
eine  Beziehung  auf  die  pantheistische  Auffassung  des  Zeus  in  der 
Rhapsodie,  die  z.B.  Zeller  T  87  f.  als  deutliches  Kennzeichen  spä- 
teren (nachstoischen)  Ursprungs  betrachtet.  Die  sog.  hleronymia- 
nische  Theogonie  erklärt  er  für  eine  späte  Nachahmung  der  alten 
orphischen.  Die  Theogonie  des  Apollonios  Rhodios  verliert  ihren 
orphischen  Charakter  vollständig  dadurch,  dass  Kern  hier  eine  ge- 
lehrte Compilation  grösstenteils  aus  Empedokles  nachweist.  Auch 
die  Eudem'sche  Theogonie  scheint  ihm  identisch  mit  der  Rhapsodie; 
den  Irrtum  Eudems  über  die  principielle  Bedeutung  der  Nacht  in 
derselben  führt  er  auf  Aristoteles  unbestimmte  Aeusserung  Met. 
A  6.  1071b  27  Ol  sx  vuxto?  -(cvvwvtsc  zurück,  die  zu  falscher  Auf- 
fassung der  Rhapsodie  geführt  habe.  So  scharfsinnig  diese  A^er- 
mutung  ist,  so  halte  ich  doch  Eudem  eines  solchen  Irrtums  für 
unfähig.  Die  IMöglichkeit.  dass  verstümmelte  und  interpolierte 
Exemplare  der  Rhapsodie  früli  umliefen,  liegt  nahe  und  ist  that- 
sächlich  in  anderen  Fällen  zu  erweisen,  so  dass  mir  diese  Erklärung 


')  Nach  Abschluss  dieser  Zeilen  geht  mir  die  eingehende  Rezension  des 
Windelband'schen  Buches  von  F.  Lortzing  zu  (Beil.  philol.  Wochenschrift 
1889,  507),  die  in  der  Beurteilung  bis  in  Einzelheiten  so  merkwürdig  mit 
meiner  Anzeige  übereinstimmt,  dass  ich  ausdrücklich  die  gegenseitige  Unab- 
hängigkeit betonen  muss. 


Bericht  über  die  deutsche  Litteratur  der  Vorsokratiker.     1888.       657 


den  Vorzug  zu  verdieueu  scheint.  Abgesehen  von  solchen  Einzel- 
heiten hat  das  Ganze  der  gelehrten,  scharfsinnigen  und  originellen 
Beweisführung  einen  überzeugenden  Eindruck  auf  mich  und  Andere") 
gemacht.  Vielleicht  würde  dieser  Eindruck  noch  stärker  sein,  wenn 
die  Polemik  ruhiger  gehalten  und  Wichtiges  und  weniger  Wichtiges 
besser  geschieden  wäre.  Aber  bei  der  ausserordentlichen  Schwierig- 
keit der  Frage  wird  man  sich  schon  darüber  freuen  dürfen,  dass 
die  verschütteten  Gruben  wieder  fahrbar  gemacht  sind.  Es  wird 
noch  bedeutender  Einzelarbeit  bedürfen,  um  nun  das  Katzengold 
vom  echten  zu  scheiden.  Zunächst  wird  da  zweierlei  von  nöten 
sein:  1)  sorgfältige  Erklärung  der  einzelnen  Fragmente  (wozu 
Kern  einige  hübsche  Beiträge  gegeben  hat)  nebst  genauer  Unter- 
suchung der  Sprache  und  Metrik.  2)  Geschichte  des  orphischen 
Geheimcults  (möglichst  nach  Zeit  und  Ort  geschieden)^). 

Der  zweite  Teil  des  Kern'schen  Büchleins  beschäftigt  sich  mit 
Epimenides  von  Kreta.  Er  schickt  die  kärglichen  Fragmente  seiner 
0£o-|'ovta  voraus  und  sucht  sodann  die  Entstehungszeit  dieses  Wer- 
kes auf  das  Ende  des  6.  Jahrh.  zu  bestimmen.  Er  sieht  nämlich 
in  der  Vorausteilung  der  Luft  in  jeuer  Theogonie  eine  Einwirkung 
der  Lehre  des  Anaximenes,  wäiirend  sein  zweites  Princip  die  Nacht 
und  vor  allem  das  Weltei  der  orphischen  Rhapsodie,  anderes  Hesiod 
entlehnt  ist.  (Umgekehrt  sei  Epimenides  bereits  von  Anaxagoras 
ausgebeutet  worden  Schol.  Apoll.  Rhod.  I  498).  Die  hierdurch  ge- 
gebene chronologische  Bestimmung  der  Theogonie  berührt  sich  mit 
dem  von  G.  Löschcke  zu  Ehren  gebrachten  Zeugnisse  der  Platoni- 
schen Gesetze  (I  642  D). 

Der  letzte  Teil  ist  der  Pentemychos  des  Syriers  Phcrekydes 
gewidmet,  deren  Fragmente  S.  84  ff.  in  neuer  Bearbeitung  vorliegen. 
Die  Abfassungszeit  der  mystischen  Schrift  setzt  Kern,  meiner  An- 
sicht folgend*),  nach  Anaximander,  aber  auch  nach  der  orphischen 


-)  S.  Ref.  V.  Th.  Gomperz,  D.  Litteraturzeit.  1888,  974;  A.  Ludwich,  Beri. 
Wochenschr.  1889,  557;    0.  Crusius,  Lit.  Centralbl.  1889,  615. 

3)  Einen  feinsinnigen  Beitrag  dazu  hat  E.  Lübbert  gegeben  in  dem  Vor- 
lesungsverzeichnis der  Bonner  Universität  W.  S.  1888/9  Commentatio  de  Pin- 
daro  theologiae  Orpbicae  censore. 

■*)  Diese  Ansicht  beruht  wesentlich  auf  der  von  Zeller  gegebenen  Erklärung 


658  H.  Diels, 

Tlieogonie,  deren  Spuren  er  z.  B.  iu  dem  Xoovo;  und  der  XOovir^^) 
der  Pentemychos  erblickt.  Die  fünf  Schilifte  selbst  deutet  er  auf 
Feuer,  Luft,  Wasser  (Ogenos),  Erde  und  Tartaros,  womit  sich  wie- 
derum ein  orphisches  Fragment  123  Abel,  berührt. 

Gruppe,  0.  Berichtigung.  Beilage  zu  B.  137.  H.  11  d.  N.  Jahr- 
bücher f.  Philol.  u.  Fädag.  1888.    S.  1.  2. 

Der  Verf.  wendet  sich  gegen  die  Anzeige  des  über  die  Orphiker 
handelnden  Abschnittes  seines  Buches  „Griechische  Kulte  und 
Mythen",  die  im  Jahresberichte  des  Archivs  II  91  ff.  erschienen  ist. 
Da  die  Redaction  dieser  Zeitschrift  grundsätzlich  Antikritiken  aus- 
schliesst,  so  erfordert  es  die  Unparteilichkeit  unsere  Leser  umsomehr 
auf  jene  „Berichtigung"  hinzuweisen.  Als  wesentlich  hebe  ich  fol- 
gendes heraus: 

Es  ist  zunächst  erfreulich,  dass  der  Verf.  jetzt  das  gefälschte 
Orphikerfr.  bei  Clera.  Strom.  624  nicht  mehr  als  Original  Heraklits 
angesehen  wissen  will.  Freilich  wird  auch  jetzt  noch  jeder  Philo- 
loge die  Darlegung  S.  650  so  auffassen  müssen,  wie  es  Ref.  gethan 
hat,  aber  der  Autor  ist  ja  gewiss  der  beste  Interpret  seiner  Werke. 
Ref.  bittet  daher  um  die  Erlaubnis,  auch  seinerseits  eine  authen- 
tische Interpretation  abgeben  zu  dürfen.  Unter  den  „Fratzen 
paradiesischer  Urweisheit"  habe  ich  nicht  die  augeblichen  orienta- 
lischen Urgedichte  Gruppes  verstanden,  sondern  die  Constructionen 
Creuzers  und  seiner  Nachfolger,  auf  die  ich  durch  die  orientali- 
sierende  Tendenz  des  Verf.  und  vor  allem  durch  seine  eigen- 
tümliche quellenkritische  Methode  geführt  worden  war,  welche 
sich  als  eine  durch  und  durch  Creuzer'sche  bezeichnen  lässt. 
Man  vgl.  z.  B.  mit  dem  in  meiner  Anzeige  (S.  92  unten)  Ange- 
führten Creuzers  Symbolik  P  190.  Dass  die  ürrcligion  Gruppes 
sich  sehr  wesentlich   von  dem  Systeme  Creuzers  unterscheidet,   ist 


der  ÜTioTCTepo;  8püc,  gegen  die  soeben  A.  Cliia]i|ielli  in  einem  interessanten  Auf- 
sätze Sulla  teogouia  di  Fereeide  di  Syros  (Reudic.  d.  aec.  d.  Lincei  1889, 
230)  Widerspruch  erhoben  hat.     Ich  komme  vielleicht  später  darauf  zurück. 

^)  Er  deutet  diese  Göttin  auf  Demeter,  Avofiir  er  auch  Tansanias  III  14,5 
anführen  konnte  Ar^ij-Tj-rpa  oe  ySovt'av  Aax£O0(t[j.dvtot  [jiv  asßEiv  'jsaat  rapotoovxos  acpiüiv 
OpcfEco;. 


Bericht  über  die  deutsche  Litteratur  der  Vorsokratiker.     1888.       659 

mir  nicht  unbekannt.  Aber  ich  hatte  glücklicherweise  keine  Ver- 
anlassung im  Archiv  für  Geschichte  der  Philo.sophie  auf  diese 
Hypothese  einzugehen.  Ob  meine  Ansicht  über  das  Verhältnis  der 
griechischen  Philosophie  zu  den  Orphikern  richtig  wiedergegeben 
ist,  was  der  Verf.  bestreitet,  kann  ich  um  so  mehr  den  Lesern 
überlassen,  als  ich  ja  S.  91  durch  Abdruck  von  14  Zeilen  des 
Baches,  in  denen  jene  Ansicht  zusammengefasst  schien,  eine  objec- 
tive  Beurteilung  ermöglicht  habe. 


Heraklit. 
Ckon,    CuKi^^TiAN.     Zu    Heraklit.      Philologus  XLVIl«)  209  —  234. 
400—425.  599—616. 

Der  Verf.  plaudert  in  behaglichster  Breite  über  einige  Hera- 
klitfragmente.  Fr.  65  soll  heissen:  „Eins  will  das  weise  Wesen 
allein  nicht  genannt  werden,  es  will  auch  den  Kamen  Lebensquell". 
Gänzlich  verfehlt  wie  die  darin  gesuchte  Beziehung  auf  Xenophanes! 
Pfleiderers  Konjectur  zu  Fr.  38  (s.  Archiv  I.  107  unten)  wird  zurück- 
gewiesen, ebenso  wie  dessen  Bezeichnung  der  Heraklitischen  Philo- 
sophie als  Panzoismus,  statt  dessen  er  selbst  „Kosmologie"  vor- 
schlägt. 

Die  physikalische  Bedeutung  des  Systems  sucht  er  dann  aus- 
führlich gegen  die  religiöse  Auflassung  Pfleiderers  zu  rechtfertigen, 
wobei  u.  A.  neueren  Philosophen  bes.  Hamann  mit  Heraklit  zu- 
sammengestellt wird.  Zum  Schlüsse  wird  Fr.  1  und  der  Begrift' 
Xo-pc  weitläufig,  aber  ohne  greifbares  Resultat  behandelt. 

Gorgias. 
Apelt,  0.     Gorgias  bei  Pseudo-Aristoteles  und  bei  Sextus  Emperi- 
cus.     Rhein.  Museum  XLIIl  (1888)  203—219. 
Der  verdiente  Herausgeber  der  Pseudaristotelischeu  Schrift  de 
Melisso  etc.  (bei  Teubner  1888)  giebt   hier  eine  eingehendere  Be- 


*)  Die  mit  diesem  Bande  neben  der  bisherigen  eingeführte  Zähhing  als 
Neue  Folge  1.  Bd.,  zu  der  kein  Grund  vorliegt,  ist  geeignet,  Verwirrung  zu 
stiften,  zumal  die  Jahreszahl  1889  (statt  1888)  ebenfalls  irreführend  ist  (Bd.  45 
trägt  die  Jahreszahl  1886,  46  dagegen  1888).  Vielleicht  kann  wieder  zur  alten 
Band-  und  Jahr-Zählung  zurückgekehrt  werden.  Das  bereits  erschienene  erste 
Heft  des  Bd.  48  trägt  wenigstens  die  richtige  Jahreszahl  1889. 


660  H-  Uiels,    Bericht  über  die  deutsche  Litteratur  etc. 

sprecluiug  der  Gorgias  betreffenden  Abteilung  jener  Schrift  c.  5.  6. 
Er  zieht  die  sehr  corrupte,  aber  treuere  Darstellung  des  Peripa- 
tetikers  mit  Recht  der  des  Sextus  Emp.  Math.  VII  65—87  vor  und 
rechtfertigt  im  Einzelnen  seine  Verbesserungsvorschläge,  die  in 
seiner  Ausgabe  Aufnahme  gefunden  haben.  Vgl.  Bericht  im 
Archiv  I  246. 

DiELs,  H.     Atacta  II.     Hermes  XXIII  (1888)  284. 

Sucht  ein  Fragment  des  Gorgianischen  Olympikos  zu  bessern. 

Im  Anschluss  an   Gorgias  sei  wenigstens  der  Titel   einer  uns 
überwiesenen  Abhandlung  erwähnt 

LiERs.     Rhetoren  und  Philosophen  im  Kampfe  um  die  Staatsweis- 
weisheit.    Waidenburg  i.  Schi.  1888  12  S. 

Zu    näherem  Eingehen    hat    eine    wissenschaftliche  Zeitschrift 
keinen  Anlass. 


xni. 

Die  deiitsclie  Litteratiir  über  die  sokratische 
und  platoiiisclie  PMlosopliie  1888. 

Von 
E.  Zeller  in  Berlin. 

Das    einzige  diese  ganze  Periode  umfassende  Werk  aus  dem 
vorigen  Jahr  ist 

Zeller,  E.  Die  Philosophie  der  Griechen.  Zweiter  Theil  1.  Abth. 
4.  Aufl.  Leipzig  Fues's  Verlag  1889.  X  u.  1050  S. 
Da  es  sich  bei  der  Anzeige  eines  so  bekannten,  nun  schon  in 
vierter  Auflage  vorliegenden  Buches  nur  darum  handeln  kann, 
über  die  Aeuderungen  und  Zusätze  der  neuen  Bearbeitung  zu  be- 
richten, diese  aber  mir  am  genausten  bekannt  sind,  trage  ich 
kein  Bedenken,  dieses  Geschäft  selbst  zu  übernehmen.  Dass  es  nun 
solcher  Zuthaten  nicht  wenige  sind,  zeigt  schon  der  Umfang  der 
neuen  Auflage ,  welcher  gegen  den  der  dritten  um  149  Seiten  an- 
gewachsen ist.  Es  war  mir  dies  nicht  eben  erwünscht;  aber  es 
Hess  sich  schwer  vermeiden,  wenn  der  massenhaften  Litteratur  der 
letzten  14  Jahre  und  den  von  ihr  angeregten  Fragen  ihr  Recht 
widerfahren  sollte.  Von  den  Hunderten  von  Zusätzen,  welche 
diese  Erweiterung  bewirkt  haben,  will  ich  die  erheblicheren  im 
folgenden  berühren.  Die  Einleitung  (S.  1—43)  ist  nur  unbe- 
deutend vermehrt  worden.  Dagegen  schien  mir  in  dem  Abschnitt 
über  Sokrates  schon  S.  54 ff.  das  Märchen  von  seiner  Bigamie 
eine  etwas  eingehendere  Beleuchtung  und  S.  62  die  Vermuthung, 
dass   der  sokratische  Kreis  bereits  eine  ähnliche   Organisation  ge- 


662  E.  Zeller, 

habt  habe,  wie  in  der  Folge  der  platonische,  eine  Prüfung  zu  ver- 
langen. S.  73f.  sind  der  Untersuchung  über  das  Dämonium,  ohne 
Aenderung  des  Ergebnisses,  einige  weitere  Erläuterungen  beigefügt. 
S.  96 ff.  121  f.  veranlassten  mich  Krohn's  und  Teichmüller's  Auf- 
stellungen über  Xenophon's  Denkwürdigkeiten  zu  Erörterungen, 
deren  Ergebniss  in  einer  Bestätigung  ihrer  Aechtheit  und  Glaub- 
würdigkeit, der  letzteren  allerdings  mit  gewissen  Einschränkungen, 
besteht.  S.  101  ff.  1091.  wird  der  Antheil  des  wissenschaftlichen 
und  des  praktischen  Interesses  an  Sokrates'  Philosophie,  S.  107 f. 
die  ihm  von  Neueren  zugeschriebene  Unterscheidung  von  sTrij-v^fi-/) 
und  ö6;a  weiter  untersucht.  Der  sokratische  Eros  wird  S.  130 f. 
nicht  blos  an  einer  späteren  Stelle  als  in  den  früheren  Ausgaben 
besprochen,  sondern  auch  mit  der  erziehenden  Einwirkung  des 
Philosophen  auf  andere  in  eine  engere  Verbindung  gebracht. 
S.  136 f.  bestreite  ich  den  Versuch  (Krolm,  Fouillce,  Chiappelli), 
für  Sokrates  wenigstens  in  seinen  jüngeren  Jahren  eine  Beschäfti- 
gung mit  anaxagorischer  Physik  wahrscheinlich  zu  machen;  auch 
Mem.  IV,  7,  2 ff",  möchte  ich  eher  auf  eine  solche  Kenntniss  mathe- 
matischer und  astronomischer  Lohren  beziehen,  die  er  sich  in 
seiner  späteren  Zeit  erw^orben  hatte,  um  zu  sehen,  Avas  diese  Studien 
an  praktisch  verwerthbarem  Wissen  zu  bieten  haben.  S.  168  f. 
wird  (gegen  Bernays)  Sokrates'  angeblicher  Kosmopolitismus 
uoch  eingehender  als  früher  abgelehnt;  S.  175 f.  werden  Xenophon's 
Angaben  über  die  sokratische  Theologie  gegen  neuere  Einwen- 
dungen vertheidigt.  Für  die  Geschichte  der  gerichtlichen  V^er- 
haudlungen  gegen  Sokrates  ist  S.  193  Hirzel's  Abhandlung  über 
Polykrates  dankbar  benützt;  S.  212  wird  der  Nachweis  geführt, 
dass  seine  Verbindung  mit  Alcibiades  (trotz  Isokr.  Bus.  5) 
Sokrates  schon  vor  Gericht  vorgeworfen  worden  war.  Die  Ge- 
schichte der  sokratischen  Schule  gab,  neben  einzelnem  Xenophon 
betreffenden,  S.  243  zu  einer  weiteren  Erörterung  über  den  Schuster 
Simon  und  seine  angeblichen  Schriften  Anlass.  S.  251  ff.  empliehlt 
sich  mir  uach  wiederholter  Prüfung  die  Annahme,  dass  Plato 
Soph.  242  Bff.  die  Megariker  im  Auge  habe;  S.  258f.  wird 
Stallbaum's  und  Apelt's  Vermuthung,  die  Einwürfe  gegen  die 
Ideenlehre  im  ersten  Theil  des  Parmenides  stammen  von  Euklides, 


Die  deutsche  Litt,  über  die  sokrat.  u.  piaton.  Philos.  1888.  663 

durch  das  von  Bäumker  nachgewiesene  Vorkommen  des  xpixo? 
av{>ptuTro;  bei  einem  vSchiiler  Bryso's  bestätigt  und  für  die  Geschichte 
der  megarischen  Schule  benützt.  Auf  Euklides  beziehe  ich  S.  260,1 
auch  Plato  Rep.  VI,  505B.  Für  den  Abschnitt  über  die  Cynik er 
sind  neben  anderen  neueren  Untersuchungen  namentlich  Dümmler's 
Antisthenica  benützt,  an  die  ich  mich  S.  296 ff.  mit  der  Annahme 
anschliesse,  dass  schon  Antisthenes  den  Stoikern  in  ihrem  Materialis- 
mus vorangegangen  sei,  und  Plato's  Schilderung  einer  materialisti- 
schen Theorie  im  Theätet  und  im  Sophisten  ihm  gelten.  Wenn 
jedoch  die  Stoiker  das  Merkmal  der  Realität  in  der  Fähigkeit 
fanden  zu  wirken  oder  zu  leiden,  so  haben  sie  diese  Bestimmung 
m.  E.  nicht  Antisthenes  sondern  Plato  entnommen;  und  eben- 
sowenig folgt  aus  Theät.  191  Cff. ,  dass  schon  Antisthenes  die 
Wahrnehmung  als  einen  Abdruck  der  Dinge  in  der  Seele  be- 
zeichnete. Dagegen  stimme  ich  Dümmler's  Vermuthung  bei,  dass 
die  Theät.  161  Bft'.  erhobenen  und  später  ungenügend  befundenen 
Einwendungen  gegen  Protagoras  Antisthenes  angehören.  Auf  ihn 
beziehe  ich  ferner  fortwährend  Plato  Phil.  44  Bf.  51  A,  und  habe 
diese  Ansicht  S.  308f.  gegen  Uirzel  und  Natorp  vertheidigt. 
Aristippus  betreffend  zeige  ich  S.  3441'.,  dass  Diog.  II,  64.  84 
kein  Recht  zu  dev-  Behauptung  gibt,  Panätius  habe  seine  Schriften 
für  unächt  erklärt,  und  S.  352f.,  (vgl.  Archiv  I,  172ff.),  dass  Plato 
Phil.  31  Bff.  42  D.  53Cft'.  Arist.  Eth.  VII,  12.  1152  b  12  f.  auf 
ihn  gehen;  wogegen  ich  (S.  350)  nicht  glaube,  dass  die  im  plato- 
nischen Theätet  Protagoras  beigelegte  sensualistische  Theorie  eigent- 
lich Aristippus  angehört.  Ueber  Plato's  Leben  und  Lehre, 
namentlich  aber  über  seine  Schriften,  ist  in  den  letzten  15  Jahren 
so  viel  geschrieben  worden,  und  meine  eigenen  Studien  gaben  mir 
so  manches  neue  an  die  Hand,  dass  es  schwer  war,  und  vielleicht 
auch  nicht  gelungen  ist,  allem,  was  Berücksichtigung  verdiente, 
innerhalb  der  Grenzen,  die  meiner  Darstellung  gezogen  waren, 
gleichmässig  Rechnung  zu  tragen.  Aus  „Plato's  Leben''  er- 
wähne ich  S.  399,  2,  wonach  mir  eine  besondere  Abneigung  Plato's 
gegen  Demokrit  unerweislich,  seine  Bekanntschaft  mit  demselben 
wenigstens  für  seine  spätere  Zeit  unzweifelhaft  zu  sein  scheint; 
S.  400,  3  den  Nachweis,    dass  Plato's    Abwesenheit   an    Sokrates' 


664  E.  Zeller, 

letztem  Lebenstag,  nebst  der  Krankheit,  die  sie  veranlasst  haben 
soll,  wahrscheinlich  eine  Fiction  ist;  S.  40411".  einiges  was  meiner 
Ansicht  über  Plato's  Aufenthclt  in  Megara  und  seine  Eeisen  zur 
Bestätigung  dient;  S.  41 5 f.  425 f.  weitere  Bemerkungen  über  die 
platonische  Schule  und  die  ihr  und  ihrem  Haupte  von  Neueren 
zugeschriebene  politische  Parteistellung.  In  dem  Abschnitt  über 
Plato's  Schriften,  welcher  die  relativ  grösste  Erweiterung  erfahren 
hat,  war  es  haujitsächlich  die  vielumstrittene  Frage  nach  ihrer 
Reihenfolge  und  ihrer  Abfassungszeit,  die  eingehendere  Ausein- 
andersetzungen hervorrief;  auf  die  Aechtheitsfragc  bezieht  sich 
S.  441  f.  eine  weitere  Erörterung  über  die  Werthlosigkeit  der  An- 
gabe, das  Panätius  die  Aechtheit  des  Phädo  bezweifelt  habe; 
S.  461,  5.  480,  2  die  ausführliche  Besprechung  der  Gründe,  welche 
das  aristotelische  Citat  des  Menexeuus  unsicher,  seine  Aechtheit 
unwahrscheinlich  machen;  um  vieler  kürzerer  Zusätze  nicht  zu 
erwähnen ').  AVas  nun  die  Abfassungszeit  der  Schriften  betrifft, 
so  wird  zunächst  S.  488,  1  die  Werthlosigkeit  der  meisten  aus  dem 
Alterthum  stammenden  Angaben  darüber  an  der  immer  wieder 
benützten  Aussage  des  Gellius  (XIV,  B)  über  die  Republik  näher 
nachgewiesen.  Es  erfährt  ferner  S.  490f.  505  ff.  ölOff.  die  Unter- 
suchung über  die  Brauchbarkeit  der  Merkmale,  nach  denen  die 
neueren  Kritiker  die  Reihenfolge  der  Gespräche  bestimmen  zu 
können  geglaubt  haben,  eine  bedeutende  Erweiterung,  indem  sie 
auf  die  verschiedenen  seit  dem  Erscheinen  der  3.  Auflage  in  dieser 
Richtung  gemachten  Versuche  ausgedehnt  wird.  Mein  Ergebniss 
ist  aber  freilich,  dass  bis  jetzt  keiner  von  diesen  Versuchen  eine 
zuverlässige  Grundlage  darbiete:  dass  die  zeitgeschichtlichen  Be- 
ziehungen platonischer  Aeusserungen  auch  da,  wo  wir  solche  ver- 
muthen  müssen,  sich  verhältnissmässig  selten  mit  einiger  Wahr- 
scheinlichkeit ausmitteln  lassen;  dass  aus  dem  Theätet  (142  C) 
nicht  geschlossen  werden  könne,  Plato  habe  nach  demselben  keine 
wiedererzählten  Gespräche  mehr  verfasst,  dass  aber  auch  die 
statistische  Sprachvergleichung,  so  werthvoll  sie  auch  ist,  doch  bis 

')  Einer  von  diesen  jedoch,  437,  1  Schi,  beruht  auf  einem  Irrthum,  auf 
den  mich  Herr  Lucien  Herr  in  Paris  aufmerksam  gemacht  hat:  die  von 
Menander  r..  i-ioeixT.  c.  6  Schi,  angeführte  Stelle  steht  Gess.  11,  672  B. 


J 


Die  deutsche  Litt,  über  die  sokrat.  u.  piaton.  Philos.  1888.  ß65 

jetzt  auf  zu  unsicheren  Vorau.ssetzungen  beruhe,  au  zu  vereinzelten 
Beispielen  durchgeführt  sei.  und  zu  wenig  übereinstimmende  Er- 
gebnisse liefere,  um  über  die  Reihenfolge  der  platonischen  Schriften 
das  entscheidende  Wort  beanspruchen  zu  können.  (Ich  werde 
hierauf  tiefer  unten  noch  einmal  zurückkommen.)  Meine  Ansicht 
über  die  Abfolge  der  einzelnen  Gespräche  hat  sich  mir  bei  erneuter 
Untersuchung  bestätigt,  und  ich  habe  sie  da  und  dort  durch 
weitere  Gründe  gestützt;  so  S.  536 ff.  843,  3  hinsichtlich  des  Phädrus, 
S.  406,  1  hinsichtlich  des  Theätet,  S.  544f.  vgl.  697 f.  hinsichtlich 
des  Sophisten,  S.  547,  1.  548,  2  hinsichtlich  der  Priorität  des 
Parmenides  vor  dem  Philebus  und  des  letzteren  vor  der  Republik. 
Doch  hat  es  mir  (S.  541  f.)  Siebeck  wahrscheinlich  gemacht,  dass 
Meno  und  Gorgias  dem  Phädrus,  nicht  in  demselben  Masse  Gom- 
perz,  dass  der  Gorgias  dem  Meno  vorangeht.  Der  längst  ge- 
äusserten, neuerdings  wieder  von  Krohn,  Teichmüller  und  besonders 
eifrig  von  Chiappelli  verfochtenen  Behauptung,  dass  Aristophanes 
in  den  Eklesiazusen  die  platonische  Republik  berücksichtige,  bin  ich 
S.  551  ff.,  Krohn's  und  seiner  Nachfolger  Zerstücklungshypothese 
S.  558ff.  entgegengetreten.  Aus  der  Darstellung  der  platonischen 
Philosophie  mögen  als  die  erheblichsten  neuen  Zuthaten  die 
folgenden  angeführt  werden.  S.  572 ff.  wird  die  Bedeutung  der 
dialogischen  Gedankenentwicklung  für  Plato,  unter  Bestreitung 
JoeFs  (vgl.  Archiv  I,  413 ff.)  noch  genauer  als  früher  nachgewiesen. 
S.  590f.  vertheidige  ich  meine  Auffassung  der  Abzweckung  von 
Theät.  187  B  — 200  D  gegen  Bonitz;  S.  605,  4  deu  platonischen 
Protagoras  noch  eingehender  als  früher  gegen  den  Vorwurf  eines 
Widerspruchs  mit  Plato's  sonstigen  Grundsätzen.  S.  622  suche  ich 
zu  zeigen,  wie  die  Mängel  des  induktiven  Verfahrens  bei  Plato 
nicht  blos  mit  denen  der  sokratischen  Induktion,  sondern  auch  mit 
der  Hypostasirung  der  Begriffe  zu  transcendenten  Ideen  zusammen- 
hängen. S.  647—652  werden  die  Erörterungen  des  Sophisten  und 
des  Parmenides  über  das  Seiende  nicht  blos  ausfülu-licher,  sondern, 
wie  ich  hoffe,  auch  genauer  wiedergegeben  als  in  den  früheren 
Auflagen;  der  Zweck  des  Parmenides  wird  hier,  im  Anschluss  an 
Apelt  und  an  meine  eigenen  früheren  Erörterungen,  in  einer  Aus- 
einandersetzung   mit  Euklides,    und  der  seines  zweiten  Theils  im 


G66 


E.  Zeller, 


besondeni  in  dem  Nachweis  gefuiuleu,  dass  das  Seiende  nicht  als 
eine  alle  Vielheit  von  sich  aussch liessende  Einheit  gedacht  werden 
könne.  S.  661,  1  bestreite  ich  die  von  Steinhart  und  Jackson  ver- 
suchte Beschränkung  der  Ideen  auf  einen  Theil  der  allgemeinen 
Begrifte;  S.  665,  4.  668,  3  Aufl'arth's,  Jackson  s  und  Krohn  s  Um- 
deutung  der  Ideen  theils  in  subjektive  Gedanken,  theils  in  „natür- 
liche Typen":  S.  671  f.  Lotze's  Versuch,  ihr  Fürsichsein  auf  ihre 
unbedingte  „Geltung"  zurückzuführen.  S.  678f.  wird  die  Bestimmung, 
dass  in  jedem  Begriff  Sein  und  Nichtsein  verknüpft  sei,  etwas  weiter 
in  ihre  logischen  Motive  verfolgt,  dagegen  (675,  1)  ein  Zusammen- 
hang derselben  mit  Demokrit  abgelehnt.  Die  Untersuchung  über 
die  Causalität  der  Ideen  und  die  sie  betreffenden  Erörterungen 
des  Sophisten  und  des  Philebus  liegt  S.  686 — 698  in  neuer  Be- 
arbeitung, auch  inhaltlich  da  und  dort  modificirt  vor.  Plato's 
Lehre  von  der  Materie  (S.  719 — 744)  bot  vielfache  Veranlassung, 
meine  Auffassung  derselben  zu  vertheidigen  und  zu  erläutern;  die 
Frage,  woher  die  Weltseele  ihre  Bewegung  hat,  wird  774,  2  unter- 
sucht. Der  Sinn  und  die  Bedeutung  des  platonischen  Unsterblich- 
keitsglaubens wird  S.  825 ff.  durch  einige  weitere  Bemerkungen 
erläutert,  welche  sich  theils  gegen  neuere  Umd^utungen  rich- 
ten ,  theils  den  Zusammenhang  dieses  Dogmas  mit  den  übrigen 
Theilen  des  Systems,  die  Anamnesis  und  die  jenseitige  Ver- 
geltung betreffen.  Die  Darstellung  der  Psychologie  (S.  843 ff.) 
hat  bald  im  Anschluss  an  neuere  Bearbeitungen  derselben  bald 
im  Widerspruch  gegen  sie  Erweiterungen  erfahren,  welche  sich 
hauptsächlich  auf  die  Fragen  über  die  Theile  der  Seele  und 
über  die  Willensfreiheit  beziehen.  Die  Untersuchung  über  die 
platonische  Zahl  (S.  857  ff.)  konnte  mit  Rücksicht  auf  Susemihl's 
Behandlung  dieses  Gegenstandes  (Arist.  Politik.  1879.  II,  369  ff.) 
etwas  verkürzt  werden;  um  so  mehr  bemühte  ich  mich,  was 
sich  darüber  sagen  lässt,  möglichst  sicherzustellen.  Plato's  Ethik 
(S.  867  ff.)  gab  nur  zu  wenigen  Zusätzen  Anlass;  etwas  mehr 
bringt  deren  der  Abschnitt  ül)er  die  Staatslehre  des  Philosophen 
(S.  892 ff.);  da  sich  aber  auch  diese  auf  die  Vertheidigung  und 
Erläuterung  einzelner  Punkte  beschränken,  kann  ich  hier  ebenso 
von  ihnen  absehen,  wie  aus  demselben  Grunde  von  denen,  Avelche 


I 


Die  deutsche  Litt,  über  die  sokrat.  u.  piaton.  Philos.  1888.  G67 

sich  Kap.  10  (Plato's  Verhältiiiss  zAir  Religion  und  zur  Kunst) 
finden.  Aueli  die  Untersucliung  über  die  spätere  Form  der  pla- 
tonischen Lehre  (S.  94611'.)  ist  unverändert  geblieben,  und  der 
Bericht  über  den  Inhalt  der  Gesetze  (95111".)  nur  um  die  Erörte- 
rung über  die  „nächtliche  Versammlung"  und  die  sie  betreffenden 
Stellen,  S.  967,  2,  vermehrt  worden.  Dagegen  wurde  S.  978  ft'.  die 
Frage  über  die  Integrität  der  Gesetze  aufs  neue  besprochen  und 
es  wurde  im  Anschluss  an  I.  Bruns  und  in  w^eiterer  Verfolgung 
früherer  Bemei'kungen  wahrscheinlich  gefunden,  dass  der  Heraus- 
geber nicht  blos  platonische  Bruchstücke  ungeschickt  combinirt, 
sondern  sich  auch  eigene,  inhaltlich  nicht  gleichgültige,  Zusätze 
erlaubt  hat.  Die  Geschichte  der  platonischen  Schule  (S.  982 — 1049) 
gab  nur  zu  kleineren  Ergänzungen  Anlass;  in  der  Erörterung  über 
die  rechtliche  Stellung  des  akademischen  Vereins  hätte  986,  1  auch 
Heitz  (0.  Müller's  Geschichte  der  gr.  Litt.  IIb,  161ff.)  genannt 
werden  sollen. 

Siebeck,  H.  Untersuchungen  zur  Philosophie  der  Griechen.  Frei- 
burg i.  B.  Mohr.  1888.  279  S. 
Auch  hier  handelt  es  sich  um  die  zweite  Auflage  eines  Werkes, 
welches  den  Fachgenossen  schon  längst  (seit  1873)  bekannt  ist; 
dasselbe  hat  jedoch  eine  solche  Bereicherung  erfahren,  dass  mein- 
als  ein  Drittheil  seines  jetzigen  Inhalts  zu  dem  früheren  neu  hinzu- 
gekommen ist.  Von  den  vier  Abhandlungen,  welche  die  1.  Aus- 
gabe enthielt  (über  Sokrates'  Verhältniss  zur  Sophistik;  Plato's 
Lehre  von  der  Materie;  Aristoteles  von  der  Ewigkeit  der  Welt; 
den  Zusammenhang  der  aristotelischen  und  stoischen  Naturphilo- 
sophie) ist  in  der  2.  die  vorletzte  beseitigt  worden.  Dagegen 
sind  drei  seitdem  in  Zeitschriften  erschienene  Arbeiten  neu  hinzu- 
gekommen: Nr.  III:  „Zur  Chronologie  der  platonischen  Dialogen" 
(S.107— 151.  253— 274);  IV:  „Zu  Aristoteles"  (152— 180);  V:  „Zur 
Katharsisfrage"  (163—180).  Unter  den  älteren  Stücken  sind  mir 
nun  in  Nr.  I  (Sokr.  u.  Soph.)  nur  unerhebliche  Zusätze  oder  Weg- 
lassungen begegnet.  Auch  Nr.  II,  Plato's  Lehre  von  der  Materie,  hat 
nur  wenige  Erweiterungen  erfahren,  und  das  Ergcbniss  dieser  Unter- 
suchung ist,  wne  früher,  in  allem  wesentlichen  mit  dem  meinigen  in 


G68  E.  Zell  er, 


] 


Uebereinstimmung  geblieben.  Wenn  jedocli  Verfasser  S.  12,  1  die 
Ansicht  äussert,  die  Idee  des  Guten  sei  als  höchste  aixiot  der  gött- 
lichen Vernunft  übergeordnet,  so  scheint  mir  ausser  allem  andern 
auch  aus  Phileb.  22  C  hervorzugehen,  dass  Plato  vielmehr  mit' 
beiden  Begriffen  ein  und  dasselbe  absolute  Wesen  bezeichnen 
will  und  je  nach  dem  Gesichtspunkt,  unter  dem  es  sich  uns  dar- 
stellt, den  einen  oder  den  anderen  Ausdruck  wählt.  Vgl.  Ph.  d. 
Gr.  IIa*,  709 ff.  Dass  die  Worte  des  Aristoxenus:  xal  -o  -epot? 
oTi  a-^aöov  £<5tiv  Iv  nicht  so  erklärt  werden  können,  wie  diess 
S.  69,1  geschieht,  habe  ich  schon  a.  a.  0.  S.  578^  (692^)  gegen 
Rettig  bemerkt,  und  dieser  selbst  hat  es  inzwischen  eingeräumt. 
Die  letzte  von  den  sechs  Abhandlungen:  „die  Umbildung  der 
peripatetischen  Naturphilosophie  in  die  der  Stoiker"  ist  gleichfalls 
fast  unverändert  geblieben.  Zu  dem,  was  m.  E.  einer  Revision 
bedurft  hätte,  gehört  die  Angabe  (S.  241),  dass  Gott  bei  Aristoteles 
die  einzige  immaterielle  und  ewige  Substanz  sei,  und  die  Bemer- 
kung S.  222,  2  über  die  Stelle  des  Clemens  Protrept.  44  A,  welche 
Aristoteles  die  Annahme  einer  AVeltseele  zuschreibt;  denn  es  han- 
delt sich  hier,  wie  Di  eis  Doxogr.  130  f.  gezeigt  hat,  um  ein  Miss- 
verständniss,  dessen  Anlass  wir  nicht  in  dem  Inhalt  der  aristote- 
lischen Gedanken,  sondern  in  einem  Uebersetzungsfehler  (']^u/>j 
statt  vou;  für  Cicero's  mens)  zu  suchen  haben.  Ebensowenig  kann 
in  der  epikureischen  Aussage  bei  Cic.  N.  D.  I,  13  (mit  S.  225)  ein 
wirkliches  Zeugniss  über  Theophrast's  Lehre  gesehen  werden. 
Weiter  will  ich  aber  auf  diese  ältere  Arbeit,  deren  Werth  ich  nicht 
verkenne,  hier  nicht  eintreten,  und  nicht  untersuchen,  ob  Zeno  dem 
Aristoteles  in  derselben  nicht  doch  etwas  zu  nahe  gerückt  wird. 
Jüngeren  Datums  sind  die  drei  übrigen  Stücke,  unter  welchen  die 
1885  zuerst  erschienene  Abhandlung  „Zur  Chronologie  der  plato- 
nischen Dialogen"  (Nr.  III,  S.  107—151)  nebst  zwei  neueren  Nach- 
trägen zu  derselben  (S.  253 — 274)  nach  Umfang  und  Bedeutung 
die  erste  Stelle  einnimmt.  Vf.  verfolgt  in  dieser  Abhandlung  den 
Zweck,  „aus  Plato's  Werken  bestimmtere  Citate  seiner  eigenen 
Schriften  herauszuerkennen"  und  für  die  Chronologie  derselben  zu 
verwerthen  (S.  108 f.);  und  er  fasst  hiefür  theils  die  Fälle  in's  Auge, 
in  denen  ein  Gespräch  auf  ein  früheres,  theils  die,  in  denen  es  auf 


Die  deutsclr    Litt,  ülier  die  sokrat.  u.  piaton.  Pliiios.   1888.  G69 

ein  sp'iteres  Bezug  nimmt.  Hinsiclitlich  der  ersteren  ist  er  uuii 
mit  mir  und  andern  darüber  einig,  dass  Rep.  X,  611  Af.  der  Phädo, 
Phädo72Ef.  der  Meno,  Gess.  V,  739  Bf.  IV,  709  E ff.  die  Repu- 
blik citirt  werde,  während  er  die,  wie  mir  scheint  unverkennbare 
(Ph.  d.  (Jr.  IIa*,  5481".  nachgewiesene)  Berücksichtigung  des  Phi- 
lebus in  der  Republik  nicht  anerkennt;  andererseits  habe  ich  ihm 
a.  a.  0.  541,  1  eingeräumt,  dass  Phädr.  260  E  f.  auf  Gorg.  462  Bff. 
zurückweise.  Noch  mehr  Gewicht  legt  aber  S.  auf  die  Fälle,  in 
denen  ein  Gespräch  in  einem  andern  zum  voraus  augekündigt 
werde;  und  in  diesem  Theil  seiner  Untersuchung  hat  er  mich,  so 
weit  dieselbe  über  die  bisherigen  Annahmen  hinausführt,  nur  zum 
kleinsten  Theil  überzeugt.  Zunächst  nämlich  kann  ich  ihm  die 
Voraussetzung  (8.  122f.)  nicht  einräumen,  dass  Plato,  wenn  er  eine 
Erörterung  mit  einem  ötsocjOi?  G/.s'VjfxsOa  oder  einer  ähnlichen 
Wendung  abbricht,  dabei  immer  auf  „einen  erst  für  die  Zukunft, 
aber  mit  Bestimmtheit  in  Aussicht  gestellten  Dialog"  hindeute.  \n 
Stellen,  wie  Prot.  361  E.  Meno  99  E.  Gorg.  447  C.  449  B.  Phileb. 
33  B,  ist  das  „ein  andermal"  lediglich  eine  höflichere  Form  der 
Ablehnung;  ob  es  in  anderen  Stellen  neben  der  Anerkennung,  dass 
eine  weitere  Erörterung  wünschengwerth  sei,  auch  die  Absicht  aus- 
drückt, auf  den  Gegenstand  wieder  zurückzukommen,  ob  sich  ferner 
diese  Absicht,  wenn  sie  vorhanden  war,  auf  eine  schriftliche  Dar- 
stellung bezog,  oder  nur  überhaupt  eine  weitere  Besprechung  in 
Aussicht  gestellt  werden  soll,  die  aber  auch  eine  mündliche  sein 
konnte,  und  nach  Phädr.  276  Äff.  jedenfalls  auch  eine  solche  sein 
musste,  ob  endlich  die  Absicht  einer  weiteren  schriftlichen  Erörte- 
rung, falls  sie  bestand,  auch  in  einer  unserer  platonischen  Schriften 
ausgeführt  worden  ist,  auf  alle  diese  Fragen  lässt  sich  nicht 
allgemeingültig,  sondern  immer  nur  nach  den  Anhaltspunkten  ant- 
worten, die  uns  der  einzelne  Fall  an  die  Hand  gibt.  Diese  scheinen 
mir  aber  nur  zum  kleinsten  Theil  von  der  Art  zu  sein,  dass  sie 
uns  zu  der  Behauptung  berechtigten,  Plato  wolle  in  einem  seiner 
früheren  Gespräche  ein  späteres  ankündigen.  Für  die  Trilogie  des 
Sophisten,  Staatsmanns  und  Philosophen,  die  Tetralogie  des  Staats, 
Timäus  u.  s.  f.  steht  die  Sache  freilich  ausser  Zweilei,  und  ebenso- 
wenig wird  man  sie  für  den  Theätet  im  Verhältniss  zum  Sophisten 

ir, 

Areliiv   f.  GHscIiirlite  d.  l'liih.sn|,liie.     11. 


070  K-  Zeller, 

bestreiten  dürfen.  Aber  dass  I^ep.  VII,  532  1)  auf  Unter.. ucbungen 
bingedeutet  werden  soll,  „wie  sie  im  Sopbi.sten  und  im  Pbilebu.s 
vorliegen"  (S.  118).  ist  scbon  de.sbalb  nicbt  wabrscbeinlich.  weil 
gerade  das,  was  a.  a.  0.  zunäcbst  in  Frage  stellt,  die  Art  der  dia- 
lektischen Erbebung  zur  Idee,  dort  lange  nicbt  so  deutlich  und 
ausdrücklieb  erörtert  wird,  wie  hier.  Wenn  daher  Glaukon  dem 
Sokrates  sagt,  er  nehme  seine  Aeusserungen  zwar  an,  hoffe  aber 
später  noch  mehr  darüber  zu  hören,  so  soll  dies  m.  E.  zwar  darauf 
hinweisen,  dass  das,  was  hier  in  kurzen  Zügen  skizzirt  ist.  seine 
vollständige  Erläuterung  nur  in  dem  ganzen  Zusammenhang  der 
platonischen  Lehre  linden  könne;  dass  dagegen  Plato  in  weiteren 
Schriften  darauf  zurückzukommen  beabsichtigte  und  diese  Ab- 
sicht ausgeführt  hat,  folgt  nicht  daraus.  Von  Polit.  285  A  und 
Theätet.  206  A  f.  räumt  Vf.  (S.  119f.)  selbst  ein,  dass  eine  „Yor- 
ausdeutung"  dieser  Stellen  auf  den  Philebus  sich  nicht  erweisen 
lässt.  Bestimmter  sieht  er  (S.  120)  im  LacbeslOOC  den  Prota- 
goras  angekündigt;  ich  kann  dies  nicht  finden.  Ebensowenig  hatte, 
wie  ich  glaube,  einer  von  den  ersten  Lesern  des  Protagoras  Anlass, 
bei  355  f.  und  361  E  an  beabsichtigte  schriftliche  Fortsetzungen  der 
dortigen  Untersuchungen  zu  denken ;  so  glaublich  es  auch  ist,  dass 
sich  Plato  (wie  S.  124  bemerkt  wird)  an  beiden  Stellen  anders 
ausgedrückt  hätte,  wenn  der  ersten  Polit.  283  D ff.,  der  zweiten 
Meno  und  Gorgias  vorangegangen  waren.  Aus  Tim.  38  E  schliesst 
Vf.  mit  Susemihl,  Phito  habe  in  einem  späteren  Gespräch,  wahr- 
scheinlich dem  Ilermokrates,  seine  astronomische  Theorie  ausführ- 
licher darlegen  wollen.  Aber  das  Astronomische  kann  nach  27  A 
nur  dem  Tiraäus,  nicht  dem  Hermokrates  und  dem  von  ihm  zu 
behandelnden  Thema  zufallen,  jener  könnte  auch  38  E  schicklicher 
Weise  kein  Versprechen  geben,  das  dieser  einzulösen  hätte.  Es 
liegt  daher  am  Tage,  dass  die  Bemerkung,  „hierüber  werde  viel- 
leicht (latoq  -dy  o?v)  später  einmal  eingehender  gesprochen  wer- 
den", nicht  das  Versprechen,  dies  zu  thun,  in  sich  schliesst,  son- 
dern nur  das  Büttel  ist.  eine  solche  weitere  Erörterung  an  diesem 
Ort  abzulehnen.  Ebenso  klar  ist  dies  Charm.  169  D,  wenn  So- 
krates hier.  Tva  o  Xöyj:  -ooiot.  zu  Kritias  sagt,  sie  können  ja  die 
Möglichkeit   einer    i~i3Tr,|ji/j  i-'.STr^a-/);   vorläufig   zugeben;    7.uf)t?   os 


Die  deutsche  Litt,   iilier  die  sokrat.  u.  piaton.  Pliilos.  1888.  671 

i7nax£'Vj[i.£i)a  sits  oG'-co?  l/si  si'ts  \i-q.    Wird  diese  Frage  auch  Theät. 
200  B  wieder  berührt,  so  geschieht  dies  doch  viel  zu  fiiiclitig,  als 
dass  man  Plato  die  Absicht  zuschreiben  (h'irfte,   die   im  Charmides 
zurückgestellte  allgemeine  Erörterung  derselben  an  diesem  Orte  zu 
geben:   es  ist  ein  Zusammentreffen,    wie  es  sich    gerade  bei  Plato 
oft  ganz  ungesucht  ergeben  musste,  aber  dass  er  während  der  Ab- 
fassung des  Charmides  sich  schon  mit  dem  Plan  zum  Theätet  trug, 
kann   man    daraus  nicht    schliessen.     Soll    ferner  Polit.  263  A  mit 
dem  X7.ÜT7.   OS   siaauöic  .  .  .  [i.£xt[x3v    auf  Phil.  16 If.    vorausgedeutet 
werden  (S.  125),  so  steht  dem  entgegen,  dass  die  Frage,  aufweiche 
diese  Worte  sich  beziehen,  die  Verschiedenheit  von  -(svo:  und  [xspoc, 
im  Philebus  gar  nicht  untersucht  wird.     Noch  weniger  vermag  ich 
(mit    dem  Vf.   S.  126)  Rep.  IV,  430  C    eine   „Vorausdeutuug"    auf 
den  Laches  zu  entdecken,  der  mit  seinem  negativen  Resultat  keinen- 
falls  für  die  Ergänzung  dessen  gelten  könnte,  was  a.  a.  0.  ungleich 
inhaltsvoller  über  das  Wesen  der  Tapferkeit  gesagt  ist.     Das  ocuöi? 
0=  iTspl   ctutoü  .  .  .  £-1  '/.atliov  ouasv   geht  vielmehr   auf  S.  441  Cff., 
wo  der  dvopsta  itoXi-txYj   (430  C),  d.  h.  der  Tapferkeit  des   Gemein- 
wesens, die  des  Einzelnen  zur  Seite  gestellt  wird,  und  diese  zweite 
Besprechung    heisst    deshalb    eine    noch    schönere,    weil    sie    die 
Tapferkeit  ihrem  inneren  Wesen  und  ihrer  psychologischen  Begrün- 
dung nach  schildert.     Wenn  daher  Siebeck  (127.  13911.)  der  ]\Iei- 
nung    ist,    Rep.  1— IV,  444  E  müssen    vor    dem  Laches    und    mit 
diesem  vor  dem  Protagoras  verfasst  sein,  so  verliert  diese  in  seine 
Ansicht  über  die  Reihenfolge  der    platonischen  Schriften  tief  ein- 
greifende Annahme  durch  eine  richtigere  Beziehung  von  Rep.  430C 
sofort  ihren  Boden.    Auch  das  kann  ich  nicht  linden,  dass  Rep.  X, 
607  A    im  Widerspruch  mit    dem  früheren    alle  Poesie    aus   dem 
Staate   verbannt  werde  (S.  143),    es  wird  hier    vielmehr  nur  die- 
jenige verworfen,  welche  dem   blossen  Genuss   dient  (die   t,ou3-x£V7] 
Mousot),  Hymnen  und  Enkomien  dagegen   werden   ausdrücklich   zu- 
gelassen;  ebensowenig  steht  X,  600E  mit  III,  392  D  ff.   im   AVider- 
spruch:  alle  Poesie  ist  Nachahmung  der  Erscheinung,   aber  sie  be- 
dient   sich    dafür  (nach  B.  III)    verschiedener    Darstellungsformen; 
beanstandet    endlich    Vf.   S.  144    die  Angabc  X,  012  C:    uiiz^c  7«? 
r-i'sTcÖs  u.  s.  w.,  .so  scheint  sie  mir,  da  es  sich   hier  nur   um  eine 

45* 


G7'2  E.  Zell  er, 


kurze  Erinnerung  an  das  frühere  handelt,  durch  11.365  0.  366  E. 
367  C.  E  vollkommen  gerechtfertigt  zu  sein.  —  Vom  Phädrus 
sucht  Vf.  S.  130ff.  nachzuweisen,  dass  er  die  Sophistenrede  des 
Isokrates  berücksichtige,  und  somit  um  390  geschrieben  sei.  Ich 
meinerseits  glaube  mit  Useuer  vielmehr  den  Phädrus  in  der  So- 
phistenrede berücksichtigt,  und  halte  es  für  ganz  undenkbar,  dass 
Plato  dem  Rhetor  nach  dem  Erscheinen  dieser  mit  gegen  ihn 
selbst  gerichteten  Kriegserklärung  das  Lob  noch  ertheilt  hätte, 
das  ihm  am  Schluss  des  Phädrus  gespendet  wird.  Zwischen 
§  12 f.  der  Sophistenrede  und  Phädr.  275  C f.  scheint  mir  über- 
haupt keine  Beziehung  stattzufinden,  da  sich  jene  Para- 
graphen weder  auf  die  schriftstellerische  Thätigkeit  noch  auf  die 
Philosophen  beziehen;  wenn  Isokr.  §  2  die  letzteren  tadelt,  dass  sie 
Zukünftiges  zu  kenneu  glauben,  so  geht  dies  nach  §  3.  7  nicht 
auf  „logische  Tendenzen"  zur  Gewinnung  einer  Theorie  der  In- 
duktion (Sieb.  137f.),  sondern  auf  das  Versprechen,  ihre  Schüler 
glücklich  zu  machen.  Auf  Grund  der  bisher  besprochenen  Unter- 
suchungen setzt  nun  S.  den  Meno  um  395,  Rep.  I  394  an  und 
lässt  hierauf  Rep.  11 — IV,  Lach.  Prot.  Gorg.  Phädr.  Rep.  V — IX. 
Menex.  Symp.  (385)  Theät.  (nach  374)  Soph.  Polit.  Plileb.  Parm. 
Gess.  in  dieser  Ordnung  folgen.  Zur  Unterstützung  dieser  An- 
nahmen dienen  ihm  (neben  einer  Auseinandersetzung  mit  Pfleiderer, 
S.  266  fl'..  die  ich  hier  übergehen  darf)  einige  sprachstatistische 
Beobachtungen  (S.  253 If.).  welche  sich  auf  die  Frage-  und  Ant- 
wortsformeln beziehen.  Indessen  hat  das,  was  er  in  dieser  Bezie- 
ziehung  beibringt,  keine  grosse  Beweiskraft.  Von  100  direkten 
Fragen  werden  in  den  Gesetzen  28  mit  apa  eingeführt,  Soph.  27, 
Pol.  und  Phil.  29,  Rep.  nur  19.  Aber  in  der  Rep.  selbst  hat  das 
X  B.  einen  kleineren  Procentsatz  der  apa  (19)  als  B.  V — IX  (20), 
und  diese  einen  kleineren  als  B.  II — IV  (23),  und  unter  den  übri- 
gen Schriften  steht  eine  so  frühe  wie  der  Lysis  (23)  dem  Parme- 
nides  (24),  der  nach  S.  dem  Philebus  gleichaltrig  wäre,  nahezu 
gleich,  und  der  Theätet  (17),  den  er  so  weit  herabrückt,  wird  nicht 
blos  von  ihm  und  von  der  Rep.,  sondern  auch  vom  Phüdo  (19), 
Krat.  (19),  und  Pi'ot.  (19)  übertrolfen.  Da  fehlt  es  doch  gerade 
an  dem   einzigen,    worauf  ein   Schluss   auf  die  Abfassungszeit  der 


Die  deutsche  Litt,  über  die  sokrat.  u.  piaton.  Philos.  1888.  673 


Schriften  gegründet  werden  könnte:  an  der  .stetigen  Zu-  oder  Ab- 
nahme im  Gebrauch  eines  Ausdrucks.  Nicht  anders  verhält  es  sich 
in  einem  zweiten  Fall,  den  S.  anführt.  Auf  1(X)  S.  Herrn,  finden 
sich  in  den  Gess.  6,  23  (nach  Ritter  6,  95)  jxöiv,  Soph.  13,41 
(R.  14,  63),  Pol.  9,  64,  Phil.  10,  94  (R.  11,  49),  Rep.  nur  1,  26. 
Aber  was  kann  man  daraus  schliessen,  wenn  man  sieht,  dass  der 
Meno  und  Euthydera  (mit  je  6,  66)  in  der  Häufigkeit  der  ikuv  den 
Gess.  gleichstehen,  der  Theätet  (3,  96)  weit  hinter  ihnen  zurück- 
bleibt, dem  Parmenides  dieses  Fragewort  ganz  fehlt,  während  an- 
dererseits Soph.  Pol.  Phil.,  die  dem  Parm.  und  den  Ge.ss.  unmittel- 
bar vorangehen  sollen,  alle  andern  Gespräche  in  seinem  Gebrauch 
so  weit  übertreft'en?  Weiter  bemerkt  S.  (2591?.),  wenn  Plato  die 
Antworten  bald  problematisch  (sor/av  und  ähnliches)  bald  asser- 
torisch ('fiixt  u.  s.  w.)  bald  apodiktisch  (äva-f//;  u.  dgl.)  ausdrücke, 
so  zeige  sich,  „dass  der  Gebrauch  der  problematischen  Ausdrücke 
mit  der  Zeit  entschieden  zu  Gunsten  der  apodiktischen  zurückge- 
treten sei".  Allein  seine  eigene  Zusammenstellung  beweist,  wie 
unmöglich  es  ist.  die  Aufeinanderfolge  der  Gespräche  nach  diesem 
Merkmal  zu  bestimmen.  Berechnet  man  nämlich  auf  Grund  derselben 
das  Verhältniss  der  apodiktischen  Bejahungen  zu  den  problema- 
tischen in  den  Gesprächen,  welche  nach  diesem  Masstab  die  spä- 
testen sein  müssten,  so  erhält  man  auf  je  100  problematische  Be- 
jahungen an  apodiktischen:  im  Theät.  246;  Parm.  306;  Gorg.  328; 
Polit.  371;  Euthyd.  375;  Phädo  415;  Phädr.  420;  Soph.  451;  Gess. 
452;  Rep.  474;  Phil.  619.  Diese  Reihenfolge  stimmt  weder  mit 
der  von  S.  angenommenen  noch  mit  irgend  einer  anderen  denk- 
baren auch  nur  annähernd  übereiu.  In  der  Republik  allerdings 
ist  der  unterschied  der  späteren  Bücher  gegen  die  früheren  ein 
auffallender  (B.  I  hat  auf  100  problematische  Bejahungen  188  apo- 
diktische, B.  II— IV  341,  B.  A^— IX  673,  B.  X  980);  aber  wer  des- 
halb diese  Theile  des  Werkes  in  verschiedene  Sprachperioden  ver- 
legen wollte,  der  müsste  hieraus  auch  die  weiteren  Consequenzen 
ziehen,  die  Gesetze  für  älter  erklären  als  Rep.  V— X  und  Philebu» 
u.  s.  w.  Macht  S.  endlich  auch  noch  die  verschiedene  Häufigkeit 
der  Antwortsformeln  n'  [xr^v;  und  i-(<])^;z  geltend,  so  werde  ich  über 
jenes  sofort  (S.  680)  sprechen;  r.'cu-'s  (bezw.  ly^qs),  dessen  selteneres 


■5 


li 


674  E.  Zeller, 

Vorkommen  ein  Anzeichen  späterer  Abfassung  sein  soll,  findet  sich 
nach  Siebeck\s  eigener  Angabe  (S.  262)  im  X  B.  der  Republik 
verhältnissmässig  ebenso  oft  als  im  I,  und  häuliger  als  B.  II — IV. 
V — IX  und  Prot.;  im  Theät.,  den  er  so  spät  setzt,  doppelt  so  oft, 
als  Prot,  und  Rep.,  und  im  Phädrus,  den  er  doch  auch  nicht  über 
390  herabrückt,  fehlt  es  gänzlich.  Auch  dieses  Merkmal  ist  somit 
unbrauchbar.  —  Von  den  noch  übrigen  Theilen  unserer  Schrift 
bespricht  Nr.  IV  „Zu  Aristoteles"  (S.  152— 1G2  aus  Bd.  XL  des 
Philologus)  die  Stellen  De  an.  11,7.  418  b4.  III,  2.  425  blT.  III, 
4.  429b  16.  De  memor.  2.  452a  17fr.  (vgl.  Freudenthal  Arch. 
II,  5f.)  Anal.  post.  II,  19.  99  b  20,  und  macht  dabei  namentlich 
auf  den  Zusammenhang  zwischen  Aristotelischem  und  Platonischem 
aufmerksam.  In  Nr.  V  „Zur  Katharsisfrage"  (S.163 — 180,  v.  J.  1882) 
will  Vf.  die  zaöctpjt^  töjv  7:7.t}yi[xaTov  nicht  als  Befreiung  von  Affek- 
ten, sondern  als  Reinigung  der  Aflekte  aufgefasst  wissen  (was  mir 
aber  doch  für  den  aristotelischen  Sprachgebrauch  zweifelhaft  ist); 
die  sachlich  wichtigere  Frage,  wie  sich  Arist.  diese  Reinigung  be- 
wirkt denkt,  beantwortet  er  dahin,  dass  „der  Affect,  indem  er 
aufgeregt  wird  und  sich  ausleben  darf,  doch  auch  zugleich  einer 
ästhetisch-künstlerischen  Beeinflussung  durch  die  Eigenschaften  des 
Geschauten  unterliege";  was  in  ansprechender  und  durchdachter 
Erörterung  weiter  ausseführt  w^ird. 

■  Unter    den    Arbeiten    über     einzelne    Philosophen    bespricht 
Sokrates: 

GüoKEK,  J.  Sokrates  im  Verhältniss  zu  seiner  Zeit.  Lemberg 
1888  (Selbstverlag)  188  S. 
Was  uns  hier  geboten  wird,  sind  Vorträge  vor  einem  grösse- 
ren Kreise;  und  von  solchen  lassen  sich  im  allgemeinen  keine 
neuen  Forschungen  erwarten,  namentlich  wenn  der  Vortragende 
bei  seinen  Zuhörern  so  geringe  Vorkenntnisse  voraussetzen  zu 
dürfen  glaubt,  wie  dies  hier  der  Fall  zu  sein  scheint.  Zeigt  sich 
daher  der  Verfasser  auch  mit  den  Quellen,  denen  wir  unsere 
Kenntniss  des  Sokrates  verdanken,  wohl  vertraut  und  in  der 
neueren  Litteratur  über  ihn  und  seine  Zeit  belesen,  so  wird  doch 
der  Fachmann  seinem  Buche  kaum  etwas  Xeues  entnehmen  können. 


« 


Die  deutsche  Litt,  über  die  sokrat.  u.  piaton.  Philos.  1888.  675 

Es  soll  dies  an  sich  kein  Tadel  sein;  es  ist  vielmehr  viel  besser, 
sich  in  populärwissenschaftlichen  Schriften  an  das  Gesicherte  zu 
halten,  statt  ohne  ausreichenden  Beweis  (wie  man  in  diesem  Fall 
muss)  Neues  zu  bringen.  Allerdings  hätte  aber  der  Verfasser  auch 
innerhalb  der  Aufgabe,  die  er  sich  gestellt  hatte,  vollkommeneres 
leisten  können,  wenn  er  in  seinen  Schilderungen  das  bedeutende 
und  geschichtlich  wichtige  voller  ins  Licht  zu  stellen,  das  ausser- 
wesentliche  auf  einen  engeren  Raum  zu  beschränken  gewusst  hätte; 
wenn  er  ferner  unzuverlässigen  Berichten  der  Alten  und  unsicheren 
Vermuthungen  der  Neueren  grösseres  Misstrauen  entgegengebracht; 
wenn  er  sich  endlich  einer  geschmackvolleren  Darstellung  und 
eines  reineren  Deutsch  befleissigt  hätte. 

Eine  neue  Erklärung  des  sokratischen  Dämonium  verheisst 


DU  Pkel,  C.  Die  Mystik  der  alten  Griechen.  Leipzig,  Günther, 
1888.  S.  121—170. 
•Das  Mittel  dazu  ist  die  .,transcendentale  Psychologie''.  Ihr 
verdankt  der  Verfasser  die  Erkenntniss,  dass  „unser  irdisches  Wesen 
nur  die  Hälfte  unseres  eigentlichen  Wesens  ist,  dessen  andere 
Hälfte  für  uns  transcendental  bleibt"  (S.  136),  dass  aber  dieses 
„transcendeutale  Subjekt"  (was  muss  sich  der  gute  Kant  nicht 
alles  gefallen  lassen!)  doch  auch  in  manchen  Fällen,  wie  im  Traum, 
Somnambulismus,  Spiritismus  u.  s.  w.,  in  das  irdische  Bewusstsein 
herübergreift,  und  dass  in  solchen  Uebergrift'en  auch  das  dämonische 
Zeichen  des  attischen  Philosophen  bestand,  üb  sich  diese  Er- 
klärung auf  das  sokratische  Dämonium  anwenden  Hesse,  wenn 
sich  dieses  in  der  Weise  bethätigt  hätte,  wie  Verfasser  es  sich 
vorstellt,  kann  hier  deshalb  ununtersucht  bleiben,  weil  er  sich 
schon  von  dem  Thatbestand,  den  er  erklären  will,  ein  ganz  falsches 
Bild  macht.  Mit  den  authentischen  Mittheilungen  Xenophon's  und 
Plato"s  stehen  für  ihn  so  apokryphe  Berichte,  wie  die  des  I.  Alci- 
biades  und  des  Theages,  auf  Einer  Linie;  denn  wenn  der  letztere 
—  bemerkt  er  S.  149  scharfsinnig  —  auch  nicht  acht  sei,  so 
müsse  man  einem  Autor  doch  glauben,  dessen  Schrift  einem  Plato 
so  lange  zugeschrieben  wurde.  Den  Scherz  im  Euthydem  272  E 
nimmt    er    für    baare   Münze    und    aus  Symp.  175  C   schliesst    er 


676  K-  Zeller, 

(S.  147)  alles  Ernstes  auf  eine  physische  ,, Gedankenübertragung". 
Plutarch  De  genio  Socratis  ist  ihm  eine  Geschichtsqiielle  ersten 
Ranges,  und  zu  den  Eideshellern,  die  er  für  seine  Theorie  herbei- 
holt, gehört  neben  dem  Buch  Tobia  und  Virgil,  (  urdanus  und  der 
Seherin  von  Prevorst  und  vielen  anderen,  auch  Defoe's  Robinson. 
Wer  in  seiner  historischen  Kritik  über  diesen  Stand  der  Unschuld 
hinaus  ist,  kann  zum  Verständniss  des  Sokrates  mit  der  gemeinen 
Psychologie  auskommen  und  die  transcendentale  entbehren.  n 

lieber    die    kleineren    sokratischen    Schulen    liegt    mir    nichts 
vor.     Plato  betreffend  nenne  ich  zunächst: 

RiTTEK,  Cdnst.  Untersuchungen  über  Plato.  Stuttg.,  Kohlhammer. 
1888.  Vlll  u.  187  S. 
Von  den  zwei  Abhandlungen,  welche  diese  Schrift  enthält, 
bespricht  die  zweite  (S.  143ff.):  ,, Gedankengang  und  Grund- 
anschauungen von  Plato's  Theätet",  indem  sie  eine  klare  Ueber- 
sicht  über  den  Inhalt  und  Gang  dieses  Gesprächs  gibt,  und  S.  168ff. 
einige  weitere  Erläuterungen  beifügt.  Doch  ist  dieses,  vom  Ver- 
fasser selbst  in  einen  Anhang  verwiesene  Stück  von  geringerer 
Bedeutung;  dem  gegenüber,  was  es  S.  177 ff.  von  dem  Zweck  der 
Aporieen  hinsichtlich  der  o'jca  <\»toryqc  (Th.  187  Bff.)  sagt,  glaube 
ich  an  meiner  Auffassung  dieses  Abschnitts  (Ph.  d.  Gr.  11  a*.  o90f.) 
festhalten  zu  dürfen.  Viel  ausführlicher  und  wichtiger  ist  die 
erste  Abhandlung,  welche  die  Aeclitheit  und  die  Chronologie  der 
platonischen  Schriften  auf  dem  von  Ditten berger  zuerst  be- 
schrittenen  Wege  der  sprachstatistischen  Vergleichung  auszumitteln 
unternimmt.  Sein  Ergebniss  fasst  R.  selbst  S.  127  f  dahin  zu- 
sammen: Wir  haben  drei  zeitlich  getrennte  Gruppen  platonischer 
Schriften  zu  unterscheiden.  Die  erste  umfasst  diejenigen,  welche 
theils  vor,  theils  in  den  15  Jahren  nach  Sokrates'  Tod  verfasst 
sind;  zu  Jenen  rechnet  R.  Lach.  Hipp.  I  und  II,  Charm.,  Prot., 
Euthyd.,  Krat.;  zu  diesen:  Apol.,  Krito,  Euthyphro,  Gorg.,  Meno, 
]*hädo,  Menex.,  Gastmahl.  Eine  eigene  Schreibweise  haben  die 
Gespräche  der  zweiten  Gruppe:  Theätet,  Phädrus  und  Republik. 
Verfasser  lässt  diese  (S.  54.  128)  nach  einer  längeren  Pause  in 
Plato's  schriftstellerischer  Thätigkeit  in   dem   Zeitraum   entstehen, 


Die  deutsche  Litt,  über  die  sokrat.  ii.  piaton.  Philos.   1888. 


677 


den  seine  zweite  sicilische  Reise  begrenzt;  der  Theätet,  glaubt  er, 
sei  um  370,  der  Phädrus  etwas  später,  keinenfalls  aber  vor  375, 
und  beide  seien  in  denselben  Jahren  geschrieben  worden,  in  denen 
Plato  an  der  Republik  arbeitete.  Eine  dritte  Klasse  platonischer 
Schriften,  aus  der  letzten  Lebensperiode  des  Philosophen,  bilden, 
wie  schon  Dittenberger  annahm,  der  Sophist,  welcher  höchstens 
zwischen  der  zweiten  und  dritten  sicilischen  Reise  verfasst  sein 
soll,  und  die  nach  der  letzteren  niedergeschriebenen  Werke:  Polit. 
Phileb.  Tim.  Kritias,  Gesetze.  Auch  hier  findet  aber  R.  (S.  48 ff.) 
die  Annahme  nöthig,  dass  der  Philebus  den  ersten  Büchern  der 
Gesetze  gleichzeitig  sei  oder  unmittelbar  vorangehe,  der  Timäus 
gleichzeitig  mit  der  zweiten  Hälfte  der  Gesetze  geschrieben,  die 
Vollendung  des  Kritias  ebenso,  wie  die  der  Gesetze,  durch  Plato's 
Tod  verhindert  worden  sei.  Den  i.ysis  und  den  Parmenides  er- 
klärt er  für  unächt. 

Die  Begründung  dieser  Annahmen  beruht  bei  R.,  wie  bemerkt, 
fast  ausschliesslich  auf  statistischen  Erhebungen  über  den  Sprach- 
gebrauch der  einzelnen  Schriften;  nur  eine  nachträgliche  Ver- 
theidigung  ihrer  Ergebnisse  enthalten  die  weiteren  Bemerkungen 
S.  11 2  ff.  Folgen  wir  ihm  nun  zunächst  auf  das  von  ihm  gewählte 
Untersuchuugsfeld,  so  verdient  der  Fleiss,  die  Geschicklichkeit  und 
die  Genauigkeit,  womit  er  bei  der  Sammlung  und  Zusammen- 
stellung des  sprachstatistischeu  Materials  verfahren  ist,  eine  rückhalt- 
lose Anerkennung.  Die  Arbeit  des  Verfassers  übertrifft  alle  ihre 
Vorgängerinnen  in  dieser  Hinsicht  an  Reichhaltigkeit;  und  auch 
für  die  Verwerthung  dieses  Materials  finden  wir  bei  ihm  neue  be- 
achtenswerthe  Gesichtspunkte.  Er  sieht  nämlich  das  bezeichnendste 
Merkmal  für  die  chronologische  Abfolge  der  platonischen  Schriften 
in  dem  Gebrauch  der  verschiedenen  Frage-  und  Antwortsformeln; 
und  um  die  Durchschnittszahl  für  das  Vorkommen  jeder  Formel 
in  einer  gegebenen  Schrift  zu  bestimmen,  thcilt  er  die  Zahl  ihres 
A'orkommens  nicht  mit  der  Seitenzahl  dieser  Schrift,  sondern  mit 
der  Gesammtzahl  der  ,, formelhaften  Antworten",  die  sich  in  ihr  linden; 
so  dass  z.  B.  die  Republik,  in  der  auf  318  S.  35  ti  [iv  vorkommen, 
zu  den  Gesetzen,  welche  deren  auf  417  S.  48  haben,  im  Gebrauch 
dieser  Formel  sich  nicht  verhalten  soll,  wie  10,  69:  11,  51,  sondern 


678  E.  Zeller, 

wie  2,  78:8,  45,  weil  die  Gesammtsuinme  der  Antwortsformeln 
in  jener  1260  beträgt,  in  diesen  nur  5G8.  Indem  nun  Verfasser 
die  relative  Häufigkeit  der  verschiedenen  Antwortsformeln  nach 
diesem  Masstab,  die  vieler  anderen  Ausdrücke  nach  den  Seiten- 
zahlen bestimmt,  findet  er  (S.  321'.),  dass  unter  etwa  40  von  ihm 
zusammengestellten  sprachlichen  Erscheinungen,  die  „zum  über- 
wiegenden Theile"  dem  Soph.  Pol.  Philcb.  und  „so  weit  dort  Raum 
dazu  ist",  auch  dem  Timäus  und  Kritias  mit  den  Gesetzen  gemein 
sind,  24  auch  in  der  Rep.  vorkommen,  20  im  Theätet,  18  im 
Phädrus,  während  uns  in  den  übrigen  Gesprächen  nur  die  wenigsten 
derselben,  oft  nur  eine  oder  zwei  begegnen ;  und  er  glaubt  dadurch 
zunächst  •  seine  Unterscheidung  der  drei  Gruppen  hinreichend  ge- 
rechtfertigt zu  haben.  Mir,  ich  gestehe  es,  hat  er  weder  durch 
diese,  noch  durch  seine  weiteren  Erörterungen  die  Bedenken  be- 
nommen, welche  ich  den  bisherigen  Versuchen,  die  Reihenfolge 
der  platonischen  Schriften  ausschliesslich  oder  doch  überwiegend 
nach  sprachstatistischeu  Merkmalen  zu  bestimmen,  (zuletzt  Ph.  d. 
Gr.  IIa,  51 2 ff.)  entgegengestellt  habe;  und  er  hat  mich  weder  von 
der  Unfehlbarkeit  seiner  Methode  noch  von  der  Sicherheit  seiner 
Ergebnisse  so  ausreichend  überzeugt,  dass  ich  den  apodiktischen 
Ton  gerechtfertigt  fände,  in  den  er  dann  und  wann  verfällt.  Diese 
Anwendung  der  Sprachstatistik  auf  die  platonischen  Schriften  be- 
ruht auf  der  Voraussetzung:  wenn  sich  Schriften  desselben  Ver- 
fassers in  ihrer  Ausdrucksweise  so  erheblich  unterscheiden,  dass 
diese  Unterschiede  nicht  für  zufällig  gehalten  werden  können,  so 
müssen  dieselben  auf  eine  Aeuderung  im  Sprachgebrauch  des 
Schriftstellers  zurückgeführt,  und  somit  die  Schriften,  zwischen 
denen  sie  sich  linden,  verschiedenen  Perioden  seines  Stils  zu- 
gewiesen werden.  Aber  woran  lässt  sich  erkennen,  welche  Sprach- 
unterschiede nur  von  dieser,  welche  von  anderen  Ursachen  her- 
rühren können?  denn  ,, zufällig"  im  strengen  Sinn  ist  überhaupt 
keine  solche  Erscheinung,  so  möglich  es  auch  ist,  dass  ihre 
Gründe  zu  verwickelt,  ihre  äusseren  und  inneren  Veranlassungen 
zu  individueller  Art  sind ,  um  auf  dem  einzigen  hier  zulässigen 
^V^ege,  dem  der  Hypothese,  von  uns  aufgefuiulen  werden  zu 
können.     Und    wie  verhalten  sich    die    platonischen   Schriften    zu 


I 


I 

1 


Die  deutsche  Litt,  über  die  sokrat.  u.  piaton.  Philos.  1888. 


679 


einander  nicht  blos  hinsichtlich  einzelner,  wenn  anch  verhältniss- 
mässig  zahlreicher,  AVörter  und  Wendungen,  sondern  hinsicht- 
lich ihres  ganzen  Sprachgebrauchs?  Die  erste  von  diesen  Fragen 
Hesse  sich  nur  durch  eine  umfassende  Induktion  einigermassen 
befriedigend  beantworten :  es  müssten  von  einer  Reihe  von  Schrift- 
stellern Werke,  deren  Abfassungszeit  genau  bekannt  ist,  sprach- 
statistiscii  untersucht,  und  es  miisste  dadurch  so  weit  als  mög- 
lich ermittelt  werden,  ob  und  an  welchen  Merkmalen  das  Spätere 
sich  von  dem  Früheren  auf  diesem  Weg  unterscheiden  lässt.  So 
lang  es  an  sicheren  Kriterien  hiefür  fehlt,  schweben  alle  Ver- 
muthungen  über  die  Reihenfolge  der  platonischen  Schriften,  deren 
alleinige  oder  hauptsächlichste  Grundlage  die  Sprachstatistik  ist, 
mehr  oder  weniger  in  der  Luft.  Auch  die  zweite  Frage  bedarf 
aber  zu  ihrer  endgültigen  Beantwortung  eines  umfassenderen  Appa- 
rats, als  er  auch  nach  des  Verfassers  mühsamen  und  daukens- 
werthen  Ermittlungen  bis  jetzt  vorliegt.  Nur  eine  vollständige, 
auch  das  Grammatische,  Syntaktische  und  Stilistische  umfassende 
Bearbeitung  der  platonischen  Sprach-  und  Darstellungsweise  in  den 
verschiedenen  Schriften  könnte  der  Aufgabe  genügen,  wie  schon 
Ph.  d.  Gr.  a.  a.  0.  bemerkt  ist.  Eines  der  werthvollsten  Hülfsmittel, 
sowohl  für  diese  als  für  andere  Untersuchungen,  wäre  ein  neues, 
dem  Stand  und  den  Bedürfnissen  der  heutigen  Platophilologie  ent- 
sprechendes Lexicon  Platonicnm,  und  es  wäre  höchst  anerkenneus- 
werth,  wenn  der  Verfasser,  dem  bereits  so  schöne  Vorarbeiten  hie- 
für zu  Gebote  stehen,  einige  Jahre  einer  solchen  Arbeit  widmen 
wollte.  Denn  wenn  sich  überhaupt  auf  dem  Wege  der  Sprach- 
statistik etwas  erreichen  lässt,  so  kann  dies  nur  durch  eine  all- 
seitig erschöpfende  Untersuchung  des  platonischen  Sprachgebrauchs 
geschehen;  dagegen  lassen  sich  jeder  auf  partielle  Beobachtungen 
ruhenden  Theorie  über  die  Reihenfolge  der  platonischen  Schriften 
nicht  blos  aus  anderen ,  sondern  auch  aus  dem  sprachstatistischen 
Gesichtspunkt  selbst  Bedenken  entgegenstellen,  die  sie  wirklich  zu 
widerlegen  nicht  im  Stand  ist.  Ich  habe  dies  anderswo  an  den 
Vorgängern  des  Verfassers  nachgewiesen;  ich  will  es  auch  an 
seinen  Ergebnissen,  so  weit  mir  hier  möglich  ist,  nachzuweisen 
versuchen. 


680  E.  Zeller,  f\ 

Unter  100  von  den  Antwortsformeln,  auf  welche  R.  für  seine 
Anordnung  das  Hauptgewicht  legt,  kommen  auf  Nat  im  Gorg. 
19,  64;  Soph.  14,  92;  Theät.  12,  56;  Polit.  11,  15;  Phädr.  10,  14; 
Phädo  8,  52;  Phileb.  7,  32;  Rep.  7.  14;  Gess.  5,  83.  'AX-/if>f, 
ohne  Beisatz  Theät.  3,  16;  Rep.  2,  30;  Soph.  2.  22;  Pol.  2;  Gess. 
0,  71;  Phileb.  0,  64;  Phädo  0,  57;  Gorg.  0;  Phädr.  0.  Ilavu  -asv 
ouv  Phädo  9,  66;  Pol.  7,  17;  Phil.  6,  69;  Theät.  5,  64;  Gess.  5, 
8;  Rep.  5,  08;  Soph.  4,  44:  Phädr.  2.  90;  Gorg.  2,  08;  Ua^^xd-ara 
}x£v  o'jv  (welches  nur  in  dvn  nachbenannten  9  Gesprächen  vor- 
kommt) Phädr.  4,  35;  Rep.  3,  31;  Soph.  3,  17;  Theät.  3,  16; 
Gess.  2,  27;  Pol.  1,  6;  Lach.  1,  3;  Phil.  1,  27;  Tim.  (der  nur 
13  Antworten  hat)  7,-69.  Antworten  mittelst  Wiederholung 
der  Frage:  Rep.  17,  3;  Phädo  17,  04;  Phil.  10,  83;  Polit.  10,  79; 
Theät.  9,  82;  Phädr.  8,  7;  Gorg.  8,  33;  Soph.  6,  38;  Gess.  6. 
Tt  jxr^v;  Phädr.  17,  82;  Gess.  8,  45;  Phü.  8,  28;  Polit.  7,  97; 
Theät.  4,  56;  Soph.  3,  81;  Rep.  2,  78;  Phädo  0;  Gorg.  0.  'H  yap; 
Phädr.  5,  8;  Gorg.  3,  96;  Gess.  2,  81;  Theät.  2,  45;  Rep.  2,  22; 
Soph.  2,  22;  Phil.  1,  59;  Pol.  1,  19;  Phädr.  0,  57.  IlÄc;  Polit. 
6,  77;  Soph.  6,  35;  Phil.  5,  73;  Rep.  2,  54;  Gess.  2,  46;  Phädr. 
2,  9:  Theät.  1,  4:  Phädo  0,  57;  Gorg.  0.  Keine  von  diesen 
Reihen  entspricht  der  von  R  nach  andern  Beobachtungen  her- 
gestellten, keine  zeigt  uns  eine  stetige  Zu-  oder  Abnahme  der  an- 
geführten Antwortsformeln  in  der  Richtung  von  Gorgias  und  Phädo 
durch  Theät.  Phädr.  Rep.  zu  Soph.  Pol.  Phil.  Gess.  Und  das 
gleiche  Hesse  sich  noch  an  weiteren  Beispielen  nachweisen.  So 
kommt  z.  B.,  wenn  ich  richtig  gezählt  habe,  die  von  R.  nicht  ver- 
zeichnete Antwortsformel :  -ä)?  "i'otp  ou;  in  den  (iesetzen  (568  l'ormel- 
hafte  Antworten)  43mal  vor;  Soph.  (315)  25  m.;  Polit.  (251)  10m. 
Phil.  (314)  16m.;  ttöjc  o  o'j;  (bezw.  xcl  -Co;  o'j':)  Gess.  22  m.: 
Soph.  12  m.;  Pol.  14  m.;  Phil.  8  m.  —  so  dass  wenigstens  der 
Philebus  (und  bei  -Co;  -otp  oo;  auch  der  Polit.)  im  Gebrauch 
dieser  Formeln  hinter  den  Gesetzen,  denen  er  nach  R.  zunächst 
stände,  bedeutend  zurückbleibt  und  dem  Gorgias  (16  -.  -;.  ou; 
auf  336  Antworten)  fast  ganz  gleich  steht.  Noch  wichtiger  ist 
aber,  dass  die  Zahl  der  Antwortsformeln,  wie  sich  gerade  aus 
Ritter's  Uebersicht    ergibt,    und    somit    auch    die    der  ihnen  ent- 


Die  deutsche  Litt,  über  die  sokrat.  n.  piaton.  Philos.  1888.  681 

sprechenden  Fragen  und  Antworten,  auf  die  einzelnen  Gespräche 
so  ungleich  vertheilt  ist.  Es  kommen  nämlich  unter  den  oben- 
genannten Dialogen  von  jenen  Formeln  auf  je  100  Seiten  Hermann's 
in  Rep.  39(3;  Soph.  384;  Phileb.  361;  Polit.  302;  Gorg.  289; 
Theät.  282;  Phädo  223;  Phädr.  (nach  Abzug  der  Reden)  162; 
Gess.  136.  Der  Wechsel  von  Frage  und  Antwort  tritt  also,  so 
weit  er  in  diesen  Formeln  zum  Ausdruck  kommt,  in  den  Schriften, 
welche  R.  in  die  nächste  Nähe  der  Gesetze  herabriickt,  2 — 3  mal 
so  oft  ein,  als  in  diesen,  und  nicht  viel  weniger  häufig  als  in  der 
Republik,  welche  unter  allen  platonischen  Gesprächen,  mit  Aus- 
nahme des  Parmenides  (in  dem  auf  100  S.  972  kommen),  die 
höchste  Procentzahl  von  Antwortsformeln  hat.  Mir  scheint  diese 
Eine  Thatsache  für  die  vorliegende  Frage  entscheidender  zu  sein 
als  alles  Zusammentreffen  in  einzelnen  Frag-  und  Antwortsformeln. 
Denn  sie  beweist,  was  freilich  auch  sonst  am  Tage  liegt,  dass 
Plato,  als  er  die  Gesetze  verfasste,  von  der  dialektischen  Schärfe 
und  Beweglichkeit  weit  abgekommen  war,  die  sich  im  Sophisten, 
Politikus  und  Philebus,  trotz  ihres  theilweise  trockenen  Tons,  nicht 
weniger  bethätigt,  als  in  der  Republik  und  den  ihr  vorangehenden 
Schriften ;  dass  daher  jene  drei  Gespräche  den  Gesetzen  unmöglich 
gleichzeitig  sein  oder  zeitlich  so  nahestehen  können,  wie  R.  an- 
nimmt. Und  damit  stimmt  vollkommen  überein,  dass  auch  die 
Unterbrechung  des  Gesprächs  durch  längere  fortlaufende  Vorträge, 
welche  in  den  Gesetzen  einen  so  breiten  Raum  einnehmen,  (B.  V. 
VI,  754  A  — 768  E.     770  B  — 776  E.     VII,  806  D— 810  C.     SUD 

—  817E.  VIII,  842  B  — 852  D.  IX,  864  C —  876  A.  876  A  — 
883  C.  X,  907D  — XI,  922C.  XI,  926  A— 931  A.  931  E— XII, 
960  C)  in  Soph.  Pol.  Phil,  keine  Parallele  hat,  und  dass  den 
29  Fällen  von  fingirtem  Dialog,  die  meine  Plat.  Stud.  79 f.  aus 
den  Gesetzen  anführen,  in  den  genannten  drei  Schriften  zusammen 
(252  S.  gegen  417  der  Gess.)  nur  zwei  (Soph.  243  Dff.  Phil.  63 Äff. 

—  Soph.  248  A  ist  anderer  Art)  gegenüberstehen.  Auch  diese 
Züge  scheinen  mir  viel  charakteristischer  zu  sein  und  viel  weniger 
aus  ,, zufälligen"  Ursachen  abgeleitet  werden  zu  können,  als  das 
Zusammentreffen  in  einzelnen  Ausdrücken. 

Neben  den  Frag-  und  Antwortsformeln  sucht  R.  (S.  2911'.)  auch 


682 


E.  Zeller, 


von  anderen  Ausdrücken  zu  zeigen,  dass  ihr  Gebrauch  seine  An- 
ordnung der  Gespräche  unterstütze.  Auch  hier  kann  ich  aber  nicht 
umhin,  ihm  auf  Grund  seiner  eigenen  Ermittelungen  einige  nega- 
tive Instanzen  entgegenzuhalten.  Auf  100  Hermann'schen  Seiten 
finden  sich  Beispiele  von  AtjXov  oti  Rep.  14,  78;  Gorg.  12,  93; 
Soph.  12,  19:  Polit.  12,05;  Phädr.  11,  76:  Phil.  9,2;  Phiido  7,  59; 
Gess.  3,  84;  Theät.  1.  Jonische  Dativformen  ( —  oTai  —  atat) 
Gess.  20,  38;  Pol.  4,  82;  Phädr.  4,  41;  Rep.  1,  89;  Gorg.  Phädo 
Theät.  Soph.  Phil.  0.  'Evcxot  Gorg.  20,72;  Gess.  26,  62;  Polit. 
26,5;  Phil.  21,  84;  Rep.  21,7;  Phädo  16,  46;  Phädr.  13,  23; 
Theät.  11,  88;  Soph.  7,  32.  Xocf.iv  (wegen)  Phädr.  11,  76;  Gess. 
7,  91 ;  Theät.  3,  96;  Rep.  3,  77;  Pol.  3,  61;  Phil.  3,  46;  Gorg.  2,  58; 
Soph.  1,  22;  Phädo  0.  '\aw;  (ohne  -dyo.)  Gorg.  33,  62;  Phädo  24, 
0,5;  Phil.  21,  95;  Theät.  21,  78;  Soph.  19,  51;  Phädr.  19, 12;  Rep. 
17,  92:  Pol.  12,  05;  Gess.  0,96.  'Idya.  (in  der  Bedeutung  vielleicht, 
ohne  i'awc)  Soph.  8,  54;  Phil.  8,  04;  Phädr.  7,  35;  Pol.  6,  02;  Theät. 
3,  96;  Phädo  2,  53;  Rep.  1,  57;  Gorg.  0,  86;  Gess.  0,  24  [II,  658 A]. 
(Dagegen  allerdings  'dyx  iatuc,  das  sonst  nur  noch  einmal  im 
Timäus  vorkommt,  Pol.  3,  61 ;  Phil.  3,  46;  Gess.  2,  64;  Soph.  2,  44.) 
Auch  in  diesen  Fällen  stehen  Soph.  Pol.  und  Phil,  der  Republik 
und  einigen  anderen  Schriften  weit  näher  als  den  Gesetzen.  Ebenso 
fehlt  ihnen  ein  häufigeres  Vorkommen  jener  Eigenthümlichkeiten, 
deren  auffallendes  Hervortreten  in  den  Gess.  schon  meine  plat. 
Stud.  S.  85 ff.  nachgewiesen  haben:  die  Vorliebe  für  ungewöhnliche 
Wörter  und  AVortformen,  für  die  Substantive  auf  — aa,  die  zu- 
.sammengesetzten  Zeitwörter,  für  eine  feierliche,  sogar  schw'ülstige 
Ausdrucksweise,  für  Limitationen,  welche  die  Bestimmtheit  der  Rede 
verwischen,  für  eine  Verflechtung  von  Substantiven,  unter  welcher 
die  Durchsichtigkeit  leidet  u.  s.  w.  —  Dinge,  welche  doch  auch  zu 
dem  gehören,  was  den  Sprachcharakter  der  Schriften  bezeichnet. 
Höchst  auffallende  Erscheinungen  zeigt  ferner  (vgl.  Ph.  d.  Gr. 
II  a,\  514,  2)  Höfer's  Nachweisungen  zufolge  der  Gebrauch 
von  Ts.  Diese  Partikel,  in  der  Mehrzahl  der  platonischen  Ge- 
spräche, namentlich  in  den  anerkannt  frühesten,  sehr  vereinzelt, 
kommt  in  den  oben  verglichenen  nebst  Timäus  und  Kritias  in  fol- 
gender Progression  vor.     Es  .stehen  auf  je  100  Seiten:    1)  einfache 


Die  deutsche  Litt,  über  die  solirat.  u.  piaton.  Pliilos.  1888.  683 

-f.  Gorg.  0,86:  Phil.  1,15;  Pluidol,27;  Soph.3,G6;  Theät.  5,95; 
Pol.  7,23;  Rep.  7,  85;  Ges.s.  10,31;  Phäclr.  32,  35;  Krit.  147,35; 
Tim.  255,  68;  2)  "...  -s:  Phil.  0;  Gorg.  0,86;  Phädo  2,53;  Pol. 
3,61;  8oph.3,  66;  Theät.  4,  95:  Krit.  5,  26;  Rep.  11;  Gess.  11,99; 
Tim.  12,  5;  Phädr.  17,  65.  Es  wäre  sehr  kühn,  wenn  jemand 
schliessen  wollte:  da  eine  so  ausserordentliche  Ungleichheit  im  Ge- 
brauch einer  so  charakteristischen  Partikel  „unmöglich  zufällig  sein 
könne",  so  müssen  die  Gespräche,  zwischen  denen  sie  sich  findet, 
verschiedenen  Stilperioden  angehören:  der  Philebus  u.  s.  w.  der 
ersten,  Soph.  u.  a.  einer  zweiten,  Polit.  Rep.  und  Gess.  einer  dritten, 
Tim.  Krit.  Phädr.  der  letzten.  Aber  an  sich  wäre  dieser  Schluss 
ebenso  berechtigt,  wie  diejenigen,  welche  nach  der  gleichen  Methode 
aus  anderen  Erscheinungen  andere  Resultate  ableiten.  Mir  beweist 
dieser  Sachverhalt  nur,  wie  gross  auch  bei  scheinbar  durchschlagen- 
den Parallelen  die  Gefahr  ist,  dass  man  sich  zu  übereilten  Eolge- 
rungen  verleiten  lasse.  Und  das  gleiche  bestätigt  die  schon  öfter 
besprochene  Erscheinung,  dass  sich  nicht  selten  auch  zwischen  den 
Theilen  einer  und  derselben  Schrift  sprachliche  Unterschiede  von 
der  gleichen  Art  und  dem  gleichen  Umfang  finden,  wie  die,  deren 
Vorkommen  in  verschiedenen  Schriften  ein  unfehlbarer  Beweis  ihrer 
weit  auseinanderliegenden  Abfassungszeit  sein  soll.  R.  selbst  weist 
(S.  48f.)  darauf  hin.  dass  in  den  vier  ersten  Büchern  der  Gesetze 
die  Form  Trorspov  nur  dann  gebraucht  wird,  wenn  das  folgende 
Wort  mit  einem  Vokal  anfängt,  während  vor  Konsonanten  immer 
die  Pluralform  -Ko-epa.  dafür  eintritt;  dass  ferner  B.  A  und  VI  keines 
von  beiden  haben,  und  in  den  folgenden  Tzo-eocf.  nur  noch  einmal, 
sonst  immer  Trotepov,  darunter  viermal  vor  Konsonanten  steht.  Er 
schliesst  nun  daraus,  Plato  habe  seine  frühere  Uebung,  TroTspov  auch 
vor  Konsonanten  zu  setzen,  nur  vorübergehend  verlassen,  und  sei 
in  der  zweiten  Hälfte  der  Gesetze  wieder  zu  ihr  zurückgekehrt. 
Sehr  wahrscheinlich  ist  diess  eben  nicht;  und  in  anderen  Fällen 
urtheilt  Vf.  auch  anders:  dass  o'vtwc  in  der  Rep.  B.  I — IV  und  VIII 
gar  nicht,  B.  IX  nur  an  Einer  Stelle  vorkommt,  wo  es  gar  nicht 
aimgaugen  werden  konnte,  dass  ebd.  von  44  Troispov  B.  VII — IX 
jetzt  drei  stehen,  und  keines  davon  vor  einem  Konsonanten .  dass 
Iieit;  stdtuc  dem  V  und  IX.   -ri  o(X-/)i)cia   dem   I.    II.    V.   \  11,    /ct'piv 

Arthiv   f.  t. 


G84  E.  Zell  er, 

dem  I.  IV.  VIII— X  Buch  fehlt,  ist  für  ihn  mit  Recht  kein  Grund, 
der  Vertheilung  dieser  Schrift  an   verschiedene  „Stilperioden"   zu- 
/Aistiramen.     Ebensowenig  hindert  ihn  die  obenberiihrte  so  äusserst 
ungleiche  Vertheilung  der  —  und  "  .  .  .  tz.  den  Philebus  der  ersten, 
den  Timäus  und  Kritias  der  zweiten  Hälfte  der  Gesetze  gleichzeitig, 
den  Phädrus  weit  früher  zu  setzen.    Auch  dem  Fehlen  von  Tioicpov 
und  Ttotspa  Gess.  V.  VI  legt  er  keine  Bedeutung  bei.    Ist  es  dann 
aber  consequent,  ein   andermal  nach  analogen   Erscheinungeu   das 
Zeitverhältniss  der  Gespräche  mit  grösster  Sicherheit  bestimmen  zu 
wollen?     Die  Abfassungszeit  ist  doch  immer  nur  eines  von  den 
Momenten,    welche  den  Sprachcharakter    einer   Schrift    bedingen; 
neben  ihr  können   aber  noch  viele  andere  einen,    vielleicht  weit 
bemerkbareren  Einfluss  darauf  gehabt  haben.     So    mag  z.  B.    das 
Eigenthümliche,  was  die  Sprache   und  Darstellung  des  Parmenides ' 
bietet,  theilweise  damit  zusammenhängen,  dass  derselbe  in  seinem 
ersten   Theil  Einwendungen  Euklid's  gegen  die  Ideenlehre   berück- 
sichtigt (Ph.  d.  Gr.  IIa*,  259,  1),    im    zweiten    ein  Gegenstück   zu 
Zeno's  Schrift  geben  will;   so  lässt  sich  die  sprachliche  Verwandt- 
schaft des  Philebus  mit  Sophist  und  Politikus,   auch  wenn  er  von 
diesen  um  einige  Jahre  weiter  abliegen  sollte,  als  sie  von  einander, 
ohne  Mühe  daraus  erklären,  dass  diese  drei  Werke  (abgesehen  von 
Pol.  269Cff.)    in    dem    gleichen    Ton    einer    schmucklosen    streng 
wissenschaftlichen  Darstellung  gehalten  sind.     Ob  die  sprachlichen 
Berührungspunkte  zwischen  Soph.  Pol.  Phileb.  auf  der  einen,   den 
Gesetzen  auf  der  anderen  Seite  eingreifend  genug  sind,    um   eine 
besondere  Erklärung   zu   fordern,   steht   mir  bei   den  vielen  Dilfe- 
renzen,    welche  sich   in    der  Sprache    und   Darstellung    der   beiden 
Schriftengruppen,  und  namentlich  in  ihrer  Behandlung  des  Dialogs 
finden,  keineswegs  sicher.     Hält  man   aber  eine  solche  Erklärung 
für  nöthig,    so   könnte  sie  auch    auf  einer    anderen    Seite   gesucht 
werden,  als  dies  von  R.  geschieht.    Die  Gesetze  sind,   wie  auch  er 
annimmt,  nicht  von  Plato  selbst  herausgegeben;    es  ist   uns  auch 
nicht  der    von    Plato    hinterlassene   Entwurf    dieses   Werks   unver- 
ändert überliefert;  wer  bürgt  uns  nun  dafür,  dass  die  Eingriffe  de.-r 
Herausgebers,  welche  sich  an  so  manchen  Stellen  desselben  erke* 
lassen,  sich  nicht  auch  auf  seine  Sprache  erstreckten?     Das;' 


Die  deutsche  Litt,  über  die  sokrat.  u.  piaton.  Philos.  1888.  685 

vielleicht  einzelne  Partieen,  welche  in  dem  hinterlassenen  Entwurf 
ebenso,  wie  B.  V  und  andere  Stüclie,  die  Form  einer  fortlaufenden 
Darstellung  hatten,  erst  von  ihm  in  die  dialogische  gebracht  wur- 
den? Und  wenn  dies  der  Fall  gewesen  sein  sollte:  könnte  nicht 
die  eine  und  andere  Aehnlichkeit  zwischen  der  Ausdrucksweise  der 
Gesetze  und  derjenigen  gewisser  anderer  Schriften  auch  davon  her- 
rühren, dass  der  Herausgeber  der  Gesetze  aus  dem  reichen  Schatz 
der  platonischen  Sprache  gerade  diese  Ausdrücke  und  Wendungen 
sich  angeeignet  hatte?  und  wenn  R.  S.  93  sagt,  der  Verfasser  der 
Epinomis  habe  sich  die  Ausdrucksweise  der  Gesetze  fast  vollständig 
zu  eigen  gemacht,  ist  nicht  auch  das  andere  denkbar,  dass  er  in 
manchen  Fällen  die  ihrige  nach  der  seinigen  zurechtgemacht  hat? 
Wenn  diese  Frage  auch  nur  aufgeworfen  werden  kann,  so  beweist 
dies,  wie  unsicher  die  Operatiousbasis  ist,  welche  die  Gesetze  für 
sprachstatistische  Untersuchungen  darbieten. 

Weit  unerheblicher  als  seine  sprachstatistische  Schriftenver- 
gleichung  ist  R.'s  Erörterung  der  „inhaltlichen  Gesichtspunkte" 
(S.  112 — 141).  Auf  die  Entwicklung  der  philosophischen  Lehren 
legt  er  keinen  Werth,  da  von  den  hier  in  Betracht  kommenden 
Punkten  „die  Dreitheilung  der  Seele  zu  keiner  Zeit  Plato's  wahre 
Meinung  gewesen  sei",  und  die  Ideen  von  uns  allen,  seit  Aristoteles, 
mit  Unrecht  hypostasirt  werden;  wofür  natürlich  die  Beweise,  und 
/war  bessere,  als  sie  bis  jetzt  vorliegen,  erst  geführt  werden  müssten. 
Die  Rückweisungen  der  Schriften  auf  einander  werden,  wo  sie  dem 
Vf.  nicht  passen,  bestritten;  hier  mag  es  genügen,  dagegen  auf 
die  Belege  zu  verweisen,  die  Phil.  d.  Gr.,  II  a^  491,3.  547 f.  zu 
linden  sind,  und  denen  noch  die  Bemerkung  beigefügt  sei,  dass 
auch  Symp.  187'A  wie  eine  kritische  Bemerkung  zu  der  Angabe 
über  Heraklit  Soph.  242  E  aussieht.  Bei  der  Frage  über  die  zeit- 
geschichtlichen Beziehungen  einiger  Gespräche  hält  sich  R.  S.  121, 
den  Theätet  betreffend,  einfach  an  Rohde;  indessen  habe  ich  schon 
wiederholt  nachgewiesen,  wie  es  sich  mit  dessen  Vermuthung  ver- 
hält, und  wie  unstatthaft  es  ist,  den  Theätet  über  390  v.  Chr.  herab- 
zurücken (vgl.  Ph.  d.  Gr.  IIa*,  406,  1),  und  dieser  Nachweis  ist  bis 
jetzt  nicht  widerlegt.  Der  Phädrus  bringt  R.  sichtbar  in  Verlegen- 
heit; seine  Auskunft  (S.  129ff.),  dass  die  Mahnungen,  welche  Plato 

4ft 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     U.  ^^ 


686  E.  Zeller, 

im  Phädrus  dem  Lysias  und  Isokrates  ertheilt,  „nicht  eigentlich  an 
die  genannten  beiden  ^länner  gerichtet"  seien,  und  dass  Isokrates 
S.  278  E f.  nur  gesagt  werden  solle:  von  ihm  hätte  man  Besseres 
erwartet,  werden  wohl  nicht  allzAiviele  sich  anzueignen  den  Muth 
haben.  Der  Schluss  des  Euthydem.  den  Vf.  trotz  der  deutlichen 
Beziehungen  auf  Antisthenes  (301  A.  303  I)f.)  noch  vor  Sokrates' 
Tod  setzt,  soll  gar  nicht  auf  Isokrates  gehen,  auf  den  alles  darin 
Zug  für  Zug  pas.st,  sondern  auf  irgend  einen  uns  unbekannten 
Manu.  Wenn  die  sprachstatistische  Chronologie  der  platonischen 
Schriften  zu  solchen  Unwahrscheinlichkeiten  und  Gewaltsamkeiten 
zu  greifen  genöthigt  ist,  wäre  es  doch  wohl  Zeit,  sich  zu  erinnern, 
dass  sie  selbst  eben  auch  nichts  anderes  ist,  als  eine  Hypothese 
zur  Erklärung  gewisser  Erscheinungen:  eine  Hypothese,  die  nur 
dann  erwiesen  ist,  wenn  sich  darthun  lässt,  dass  diese  Erschei- 
nungen keine  andere  Erklärung  gestatten,  und  nur  dann  zulässig, 
wenn  sie  mit  andern  Thatsachen  nicht  in  Streit  kommt. 

Wai.be,  E.  Syntaxis  Platonicae  specimen.  Bonn  1888.  38  S.  In- 
auguraldiss. 
ist  gleichfalls  der  platonischen  Sprachstatistik  gewidmet.  Yf. 
untersucht  nämlich  mit  dankenswerther  Sorgfalt  das  Vorkommen  der 
Allheitsbezeichnungen  -ac,  aTiac,  ^ui^-otc,  cuva-a?  und  der  von  ihnen 
abgeleiteten  Formen  und  Wortverbindungen  in  den  platonischen 
Schriften.  Seine  Zusammenstellungen  scheinen  im  wesentlichen 
vollständig  zu  sein;  doch  war  S.  36  Nr.  IIa  das  S.  23  allerdings 
erwähnte  ^ujxira?  outoc  c?.pii}[xo;  Rep.  546  C  ebenfalls  zu  berücksich- 
tigen. Indessen  liefert  diese  Vergleichung  für  die  Frage  über  die 
Reihenfolge  der  plat.  Schriften  (ohne  die  Schuld  des  Vf.)  keinen 
grossen  Ertrag.  Auch  das  einzige  Ergebniss,  welches  er  selbst  in 
dieser  Beziehung  gewinnt,  dass  nämlich  Sopli.  Pol.  Phil.  Tim.  Gess. 
die  letzten  Gespräche  sein  müssen,  wird  durch  seine  Nachweise 
lange  nicht  so  sicher  gestellt,  ,^ut  paene  nefas  esse  videatur  dubitare^. 
Aus  der  Tabelle  S.  4  ergibt  sich  allerdings,  dass  ~y.z  und  seine 
Composita  in  Soph.  Pol.  Phil.  Tim.  Krit.  Gess.  besonders  häufig 
vorkommen  ^).     Da  aber  zwei  so  frühe  Schriften  wie  das  Gastmahl 


')  Es  finden  sich  nämlich    von    solchen  Allheitsbezeichniingen   auf  je   100 


/ 
I 


Die  deutsche  Litt,  über  die  sokrat.  u.  piaton.  Philos.  1888.  687 

(229,  32)  und  der  Eutliydem  (222)  den  Sophisten  hierin  noch  über- 
treffen und  hinter  dem  Philebus  nur  wenig  zurückbleiben,  kann 
man  aus  diesem  Umstand  über  die  Abfassungszeit  der  letzteren 
nichts  schliessen;  man  müsste  denn  auch  den  Timäus  für  später 
halten  als  die  Gesetze,  denen  er  in  der  Häufigkeit  jener  Wörter 
um  mehr  als  '/,  voraus  ist.  Auffallender  ist,  was  auch  W.  allein 
hervorhebt,  dass  die  genannten  Schriften  unter  den  Verstärkungen 
von  TCa?  die  Form  QU[x~rj.:  gegen  das  sonst  gebräuchlichere  Stzol:;  ver- 
hältnissmässig  bevorzugen.  Allein  sie  thun  dies  weder  gleich- 
massig  noch  in  stetiger  Progression.  Soph.  Pol.  und  Phil,  stehen 
in  der  Procentzahl  der  ar^.c  hinter  der  Republik,  Soph.  um  mehr 
als  100/00,  zurück,  die  Gesetze  übertreffen  dieselbe  fast  um  die 
Hälfte.  Dagegen  haben  jene  Gespräche  weit  mehr,  Polit.  mehr  als 
dreimal  so  viele  ^u[j.7:ot?  als  die  Gesetze,  welche  darin  noch  hinter 
dem  viel  älteren  Laches  zurückbleiben.  Soph.  und  Polit.  haben 
27^,  mal  so  viele  ^uji-a;  als  airac,  Gess.  halb  so  viele.  Im  Soph. 
Pol.  Phil,  zusammengenommen  kommen  6  zovdr.a;  auf  492  -ac,  im 
Tim.  3  auf  313,  in  den  Gess.  ein  einziges  auf  1035^).  Und  ebenso 
ungleich  ist  (s.  o.)  der  Gebrauch  von  r.avmTzaai,  den  W.  be- 
sonders zu  verfolgen  versäumt  hat.  Was  lässt  sich  mit  solchen 
Zahlen  anfangen? 

LiEBHOLD,  K.,  Zur  Textkritik  Platous.  Jahrbb.  f.  class.  Philol. 
Bd.  137.  1888.  S.  756—760. 
Verbesserungsvorschläge  zu  Apol.  21  C.  23  A.  E.  26  D.  41  B. 
Krito  4?  E.  52  E.  53  E.  Prot.  316  C.  323  D.  325  B.  327  C.  347  D. 
349  D.  Ich  kann  mir  von  allen  diesen  Vorschlägen  nur  einige 
wenige  aPeignen,  die  längst  von  andern  gemacht  sind. 


nerraann'scheA  Seiten:  Soph.  220,  1?^:  Phil.  240,  23;   Polit.  287,  ;)5;  Gess.  309, 
35;  Krit.  352,  63;  Tim.  42G,  14. 

•-)  Auf  100  7t5s  kommen 

Lach.         ßep.           Soph.  Polit.       Phileh.       Tim.            Gess. 

&T.a',          24,13        11,03          5,33  10,28         11,4         14,3           10,42 

e.Wac       10,34         2              13,33  25,71         12,6          4,47          8,11 

luv.'...          0               0               2  0,57          1,2          0,9G          0,1. 

46* 


688  E.  Zeller, 

Ai-Ki.T,  0..    Zu  Platons  Apologie  (Ebd.  S.  160) 

beantragt  Apol.  19  0  statt  des  seltsamen:  [j-Tj  ■üo>;  z';uj  u-o  Ms- 
Xt^tou  ToaauTOtc  oixctc  ciu-jOtjxi  zu  setzen:  jxr^  -oU'  ojc  iyw  .  .  .  'f'JY'Jt, 
und  es  gibt  dies  jedenfalls  einen  viel  besseren  Sinn  als  die  über- 
lieferte LA.  Nur  dürfte  in  diesem  Fall  aucli  im  vorhergehenden  eine 
kleine  Aenderung  angezeigt  sein,  indem  gesehrieben  wird:  xotl  (oder 
xav)  Bi  Ti;  .  .  .  £3ti  i).r,  iroi}'   u.  s.  w.  ohne  Kolon  hinter  h-i. 

Aars,    J.,     Das    Gedicht    des    Simonides    in    Platons    Protagoras. 

(Christiania  Videnskabs-Selskabs  Forhandlinger.  1888  Nr.  5.) 

Christiania,  Dybwad.  1.^88.  16  S. 
Eine  Reconstruction  des  bekannten  Gedichtes,  die  mit  Bergk 
und  Blass  von  der  Annahme  ausgeht,  es  sei  kein  Epinikion  sondern 
ein  monostrophisches  Enkomium  gewesen,  die  aber  im  einzelnen 
von  jedem  von  beiden  abweicht.  Da  sie  Plato  selbst  kaum  berührt, 
überlasse  ich  ihre  Prüfung  den  Philologen. 

Demme,  C,  Die  Hypothesis  in  Platons  Menon.  Dresden  1888. 
22  S.  4".  Gymn.  progr. 
Den  Gegenstand  dieser  Abhandlung  bildet  Meno  86  Ef.,  wo 
an  dem  Beispiel  eines  in  einen  gegebeneu  Kreis  einzutragenden 
Dreiecks  erläutert  wird,  was  mit  dem  Ausdruck :  axo-sTv  iE  uro- 
i}l3£(juc:  gemeint  ist.  So  viel  aber  Vf.  zu  diesem  Behuf  aus  seme/t 
Kenntniss  der  griechischen  Mathematik  beibringt  (und  es  ist  de.i^sen 
mehr,  als  für  den  nächsten  Zweck  erforderlich  war),  so  glaube  ich 
doch  nicht,  dass  er  in  der  Lösung  des  Rätlisels  glücklicher  gewesen 
ist  als  die  Gelehrten,  deren  Versuche  er  darstellt  und  prüft.  Das 
Beste  ist,  dass  wir  des  mathematischen  Beispiels  nicht  bedürfen 
um  die  Bedeutung  des  öxottsiv  iq,  u-oU.  zu  verstehen. 

SciiiKMTz,  C,  Beiträge  zur  Erklärung  der  Piaton -Dialoge  Gorgias 
und  Theätet.  Neustettin  1888.  31  S.  4".  Gy/nn.  p,-ogr. 
In  dem  grösseren  Theil  dieser  Abhandlung,  S.  1 — 22,  ver- 
theidigt  Vf.  mit  überzeugenden  Gründen  die  vo."!  Bonitz  ange- 
nommene dreigliedrige  Eintheilung  des  Gorgias;  der  ?iest  derselben  be- 
handelt mehrere  Stellen  dieses  Gesprächs  (460D.  464  C.  468  E.  485  D. 


Die  deutsche  Litt,  über  die  sokrat.  u.  platoii.  PFiilos.  1888.  689 

492  B.  503  D.  514  D)  und  des  Tlieätet  (155  D.  157  B.  167  B.  169  A. 
171  A.  182  D.  186  A.  188  A.  199  A.  210  D),  theils  nach  der  Seite 
der  Textkritik  theils  nach  der  der  Worterklärung.  In  einigen 
Fällen  scheinen  mir  seine  Conjecturen  nicht  nnerlässlich  zu  sein, 
da  auch  der  überlieferte  Text  einen  annehmbaren  Sinn  gibt;  Gorg. 
485  E  würde  ich  als  Ersatz  für  ixavov,  wenn  ein  solcher  nöthig  be- 
funden wird,  Heinclorf's  vectvixov  seinem  oixctvixov  vorziehen.  Gorg. 
514  C  hat  die  Vermuthung,  statt  „-oXXa"  sei  oXi-j-ct  zu  setzen,  viel 
für  sich.  Ebenso  Theät.  167  B:  aXX'  oux  aXTiOsis  für  ~z  xctl  7.X. 
(doch  wäre  oux  dX.  ohne  dXka  ausreichend  vgl.  Prot.  337  C);  169  B 
hinter  ^Lxst'pwva  jjiaXXov  der  Zusatz:  os  -po:  -ov  'Avtalov.  Theät. 
199  B  würde  mir  die  Aenderung  des  überlieferten  oia-STTTajxsvfov  in 
oiaTTSTiTajjivr^v  oder  oi(XTrTQtji.sv/)v  (bezw.  otctTTTOixsvr^v):  „einer  ihm  ent- 
flogenen Vorstellung  nachjagend"  genügen. 

Würz,  C,  Die  sensualistische  Erkenntnisslehre  der  Sophisten  und 
Piatons  Widerlegung  derselben.  Nach  dem  Theätet  dar- 
gestellt und  beurtheilt.  1888.  22  S.  4°.  Gymn.  progr. 
Ein  Auszug  aus  Theät.  142 — 187  A,  gegen  dessen  Richtigkeit 
sich  kaum  etwas  einwenden  lässt,  der  aber  keinem  Kenner  der 
platonischen  Schrift,  vollends  nach  Bonitz'  Analyse  derselben 
(Plat.  Stud.  47  ff.)  etwas  neues  bringt.  Auch  die  Untersuchung  über 
die  Treue  der  platonischen  Darstellung  lag  so  wenig  als  die  über 
die  Abfassungszeit  des  Gesprächs  in  der  Absicht  des  Vf.;  und  auf 
die  Oompositiou  desselben  bezieht  sich  nur  S.  19  die  Bemerkung, 
in  dei'  berühmten  Episode  172  B  — 177  C  werde  die  157  D  nicht 
erledigte  Frage  entschieden,  ob  auch  das  Gute  und  Schöne  ein 
Werdendes  sei.  Ich  kann  dies  nicht  finden:  diese  Frage  wird 
hier  weder  untersucht  noch  auch  nur  in  dieser  Form  aufgeworfen, 
und  die  wenigen  Andeutungen,  die  man  hicher  ziehen  könnte 
(176  E,  we'iiger  176  B)  werden  mit  der  Untersuchung  über  den 
Begriff  des  Wissens  in  keine  Verbindung  gesetzt.  Unser  Abschnitt 
gibt  sich  nicht  nur  als  Episode,  sondern  er  ist  es  auch;  an  der 
Hauptuntersucluug  würde  man  nichts  vermissen,  wenn  man  ihn 
herausnähme,  tnd  andererseits  weisen  in  ihm  zahlreiche  Spuren 
darauf  hin,  dass  tesoudere  Veranlassungen,  die  wir  thcihveise  noch 


690  E.  Zeller, 

muthmassen  können,  Plato  bestimmten,  iliu  dem  Gespräch  einzu- 
fügen. Möglich,  class  der  Theätet  auch  seine  bei  Plato  einzig  da- 
stehende Form  eines  vorgelesenen  Dialogs  einer  ähnlichen  speciellen 
Veranlassung  zu  danken  hat:  wenn  er  nämlich  bereits  als  direktes 
Gespräch  ausgearbeitet  war,  als  Theätet's  A'^erwundung  und  Er- 
krankung Plato  bestimmte,  ihm  in  c.  1  seine  jetzige  Einleitung 
voranzustellen. 

1.  Sybel,  L.  V.,    Platon's  Symposion  ein  Programm  der  Akademie. 

Marburg,  Elwert  1888.  VI  und  122  S. 

2.  Derselbe,  Platon's  Technik  an  Symposion  und  Euthydem  nach- 

gewiesen.    Ebd.  1889.  VI  und  46  S. 
Diese   zwei  zusammengehörigen  Schriften  gehen   beide   darauf 
aus,  den  Zusammenhang  zwischen  Plato's  Unterricht  in  der  Aka- 
demie und  seinen  schriftstellerischen  Arbeiten  an  den  obengenannten 
Gesprächen  in  der  doppelten  Richtung  zu  verfolgen,  dass  theils  der 
Zweck   und  Aufbau  dieser  Gespräche  durch  jenen  Zusammenhang 
beleuchtet,  theils  auch  ihnen  neue  Aufschlüsse  über  den  Gang  und 
Charakter  des  Unterrichts  entnommen  werden  sollen,  welchen  Plato 
seinen  Schülern  ertheilte.    Diese  Aufgabe  hat  unstreitig  etwas  ver- 
lockendes :  ihre  Lösung  würde  unsere  Kenntniss  der  platonischen  Phi- 
losophie und  ihrer  Urkunden  weseatlieh  fördern,  sie  würde  uns  von 
beiden  ein  vollständigeres  und  anschaulicheres  Bild  geben.    Je  alL' 
gemeiner  daher  jener  Zusammenhang  heutzutage  anerkannt  ist;  je 
ansprechender  uns  andererseits  aus  der  Darstellung  des  Vf.  nicht 
blos  eine  warme,  ja  begeisterte  Liebe  zu  Plato,   sondern   aijch  ein 
lebendiges  Verständniss  seines  Geistes  und   eine    kunstsiniijo-e  Be- 
trachtung seiner  philosophischen  Dichtungen  entgegentritt,   um   so 
dankbarer  wird  man  dem  Vf.  dafür  sein,  dass  er  die  Aufgabe  ge- 
stellt hat,  um  so  lieber  ihn  auf  den  Gängen   begleiten,  auf  denen 
er  den  Beziehungen  nachspürt,    deren  Aufsuchung  ihn  bcschäftift. 
Aber  das  darf  mau  sich  freilich  nicht  verbergen,  dass  wir  uns  hier 
ganz  und  gar  in  Vermuthungen  bewegen,  welche  von  sehr  ungleicher 
Sicherheit  sind,  und  welche  sich  zu  einem  höheren  (irade  der  Wahr- 
scheinlichkeit nur  dann  erheben  lassen,   wenn   es  gelingt,   sie  von 
dem  schwankenden  Grunde  subjektiver  Eindrücle    auf  den   festen 


Die  deutsche  Litt,  über  die  sokrat.  u.  piaton.  Philos.  1888.  691 

Boden  exegetisch  gesicherter  Thatsachen  zu  verpflanzen  und  als  die 
unentbehrlichen  Voraussetzungen  oder  Consequenzen  dieser  That- 
sachen zu  erweisen.  Sowohl  das  Gastmahl  als  der  Euthydem  sind 
nach  der  Ansicht  des  Vf.  Programme  der  Akademie,  in  denen  das 
Ziel  und  der  Gang  des  Unterrichts,  wie  er  in  Plato's  Schule  er- 
theilt  wurde,  für  eine  tiefer  eindringende  Betrachtung  noch  erkenn- 
bar niedergelegt  ist.  Diesem  Lehrgang  liegt  aber  (Nr.  2,  12  u.  ö.) 
das  nachstehende  Schema  zu  Grunde:  A.  Die  dialektische  Hodegese. 

1.  Propädeutik  (1.  der  Schüler;  2.  die  Aufgabe)  II.  Epistematik 
(1.  die  Wissenschaften;  2.  die  eine  Wissenschaft).  B.  Das  dialek- 
tische Wissenschaftssystem.     I.  Unterclasse  (1.  Natiirstudium; 

2.  Culturstudium)  II.  Oberclasse  (1.  Mathematik;  2.  Dialektik). 
Dieses  Schema  beherrscht,  wie  Vf.  nachzuweisen  sucht,  nicht  allein 
den  ganzen  Aufbau  der  beiden  Gespräche,  sondern  es  wird  auch 
in  zwei  von  den  Reden  im  Gastmahl,  der  des  Eryximachus  und 
der  der  Diotima,  mit  unverkennbarer  Deutlichkeit  ausgesprochen. 
Mir,  ich  gestehe  es,  würde  es  schwer  werden,  zu  glauben,  dass 
Plato  —  wenn  ihm  auch  nach  dem  Zeugniss  der  Republik  ein 
bestimmter  Stufengang  des  wissenschaftlichen  Unterrichts  als  der 
sachgemässe  feststand  —  in  seinen  Schriften  sich  an  ein  so  ein- 
förmig.  wiederkehrendes  Schema  gebunden  haben  sollte;  dasselbe 
müsste  sich  denn  in  denselben  so  sicher  erkennen  lassen,  dass  wir 

gewiss  wären,  es  wirklich  in  ihnen  zu  lesen  und  nicht  in  sie  hin- 
einZ'Ulesen.  Eben  dies  aber  ist  es,  wovon  ich  mich  bis  jetzt  so 
wenig  wie  Natorp  (Philos.  Monatsh.  XXV,  23511.)  zu  überzeugen 
vermocht  habe.  Ich  glaube  nicht,  dass  Symp.  210  Af.  mit  den 
xotXa  ai(i)!xaTa  etwas  anderes  gemeint  ist,  als  schöne  Menschenge- 
stalten, und  mit  dem  Ipav  etwas  anderes  als  die  Liebe  im  patho- 
logischen Sinn,  die  ästhetische  Freude  am  Schönen;  eine  Ilindeu- 
tung  auf  Naturstudien  weiss  ich  in  dieser  Stelle  nicht  zu  finden. 
Auch  statt  des  wissenschaftlichen  Kulturstudiums  möchte  ich  ebd. 
209  Alf.  210 Bf.  lieber  von  .sittlicher  Arbeit  reden;  denn  die  prak- 
tische Thätigkeit  des  Erziehers  und  Gesetzgebers  ist  es,  welche 
diese  Stufe  des  Eros  kennzeichnet.  Und  ähnlich  geht  es  mir  mit 
der  Rede  des  Eryximachus  S.  186  A  ff.  Dieser  Redner  weist  seinen 
Satz  von    der  universellen   Bedeutung  des  doppelten  Eros  an   der 


692  E.  Zell  er, 

Heilkunde  und  der  Musik,  au  den  Jahreszeiten  und  ihrer  Einwir- 
kung auf  Pflanzen  und  Thiere,  an  dem  Verhältniss  der  Menschen 
zu  einander  und  zu  den  Göttern  nach.  Aber  um  einen  Stufen- 
gang  des  wissenschaftlichen  Unterrichts  handelt  es  sich  hiebei  nicht, 
und  um  das  obige  Schema  in  dieser  Auseinandersetzung  zu  finden, 
muss  man  m.  E.  von  der  Kunst,  zwischen  den  Zeilen  zu  lesen  und 
auch  solches  als  „Metapher"  zu  deuten,  was  buclistäblich  genommen 
einen  befriedigenden  Sinn  gibt,  öfter  Gebrauch  machen,  als  dem 
einfachen  Ausleger  erlaubt  ist.  Der  Raum  fehlt  mir,  um  diese 
Bedenken  näher  auszuführen,  oder  die  Gründe  eingehender  darzu- 
stellen, welche  Vf.  für  sich  geltend  macht;  und  aus  demselben 
Grunde  muss  ich  darauf  verzichten,  auseinanderzusetzen,  weshalb 
mir  meine  längst  ausgesprocheneu  Bestimmungen  über  den  Plan 
des  Gastmahls  und  Bonitz'  Ansicht  über  den  des  Euthydem  noch 
immer  genügen.  Statt  diese  Differenzen  weiter  zu  verfolgen,  schliesse 
ich  lieber  mit  der  wiederholten  Anerkennung  des  Schönen  und 
Sinnigen,  was  unsere  Schriften  (z.  B.  in  dem  Abschnitt  1,  lÜOfl". 
über  die  Personen  des  Gastmahls)  auch  dem  bieten,  welcher  nicht 
alle  Bedenken  gegen  ihre  weitergehenden  Combinationen  über- 
winden kann. 

Zannetos,   J.,     ZuixßoXat    cpiXocJocpixott    ai;    xo    tiXoctiovi/ov    a'jijLKoa'.ov. 
Erlangen  1888.  99  S.  Inauguraldiss.  y^ 

Materialien  aus  alten  und  noch  mehr  aus  neueren  Schrift- 
stellern, nicht  ohne  Fleiss,  aber  mit  wenig  Auswahl  und  in  über- 
mässiger Breite  zusammengetragen.  Unter  den  Reflexionen .  die 
Vf.  selbst  hiuzugethan  hat,  ist  mir  nichts  begegnet,  dessen  Anfüh- 
rung sich  verlohnte. 

HoFFMAN.v,  H.,  Piatons  Philebus  erläutert  und  beurtheilt.  Ofien- 
burg  1888.  23  S.  4".  Gymn.  progr. 
Von  den  zwei  Aufgaben,  welche  diese  Abhandlung  sich  stellt: 
den  Philebus  zu  erläutern  und  ihn  auf  die  Richtigkeit  seiner  Er- 
gebnisse zu  prüfen,  geht  die  zweite  die  Geschichte  der  Philosophie 
nicht  direkt  an;  es  mag  daher  hinsichtlich  ihrer  die  Bemerkung 
genügen,   dass  II.   dem   Philebus    zwar    manche  Unklarheiten   und 


Die  deutsche  Litt,  über  die  sokrat.  u.  piaton.  Philos.  1888.  693 

sonstige  wissenschaftliche  Mängel  nicht  ohne  Grund  schuldgibt,  aber 
ihm  doch  nicht  immer  gerecht  geworden  ist.  Was  er  über  den 
Gang  und  Inhalt  des  Gesprächs  sagt,  ist  zwar  seinem  überwiegen- 
den Theile  nach  richtig;  aber  doch  muss  ich  seiner  Darstellung  an 
mehr  als  Einem  Punkt  widersprechen.  Die  Behauptung,  dass  Plato 
„die  Lust  als  solche  insgesammt  für  unvereinbar  mit  dem  Guten 
erkläre"  (S.  12  unt.),  ist  grundlos,  und  H.  gibt  auch  die  Stelle 
nicht  an,  in  der  er  dies  thun  soll:  PI.  sagt,  die  rfio^r^  sei  nicht 
lauTov  X7.1  ra^ot^ov  (22  C.  54  C  f.  u.  ö.);  aber  den  Widersinn  hat  er 
sich  nicht  zu  Schulden  kommen  lassen,  dass  er  in  Einem  Athem 
die  Lust  schlechthin  für  unvereinbar  mit  dem  Guten  erklärte,  und 
gewisse  Arten  der  Lust  ausdrücklich  in  seinen  Begriff  des  höchsten 
Guts  aufnahm.  Ebensowenig  hat  er  S,  63  E  „die  unlauteren  Freuden 
zum  Guten  zugelassen"  (H.  S,  21),  wie  dies  keines  Beweises  be- 
darf. Auch  das  ist  ein  Missverständniss,  wenn  S.  16  das  a^a&ov 
£v  Tip  iravTi  auf  dasjenige  gedeutet  wird,  was  für  das  Weltall,  und 
somit  für  einen  „Weltgeist"  das  höchste  Gut  sei,  während  PI.  viel- 
mehr fragt,  was  das  Werthvolle  im  Menschen  nnd  im  Weltganzen 
sei.  Indessen  hat  alles  dieses  nicht  so  viel  auf  sich,  wie  die  Ent- 
deckung des  Vf.  (S.  6f.  22),  dass  PI.  im  Philebus  „mit  der  Ideen- 
lehre im  alten  Sinn  breche"  und  „die  Welt  der  sinnlichen  Dinge 
in  den  Mittelpunkt  seiner  Weltanschauung  rücke,  den  früher  die 
'-Ideen  eingenommen  haben".  Dass  das  Gegentheil  Phil.  14Dft',  so 
dcut-Iich  wie  möglich  ausgesprochen  ist,  kann  er  selbst  sich  nicht 
ganz  verbergen,  und  was  er  dieser  Thatsache  entgegenhält,  wird 
niemand  überzeugen,  der  sich  deutlich  gemacht  hat,  dass  die  Frage 
nicht  die  ist,  ob  Plato  alle  Bedenken,  zu  denen  die  Ideenlehre 
Anlass  gibt,  befriedigend  beantwortet  hat,  sondern  ob  diese  Lehre 
die  seinige  war.  Ich  will  daher  nur  noch  darauf  hinweisen,  wie 
undenkbar  es  ist,  dass  der  Philosoph  das  Fürsichsein  und  die 
Transcendenz  der  Ideen  in  derselben  Zeit  aufgegeben  haben  sollte, 
in  der  er  sie  nach  Aristoteles'  unantastbarem  Zeugniss  auf's  ent- 
schiedenste gelehrt  hat.  In  diese  Zeit  nämlich  müsste  H.  die  Ab- 
fassung des  Philebus  verlegen,  da  nicht  blos  die  Republik  (die  er 
jenem  vorangehen  lässt),  sondern  auch  der  Timäus  die  Ideenlehre 
nur  „im  alten  Sinn"  kennt. 


694  E.  Zeller,  i 

( 
Liebhold,  C.    Zu  Platon's  Politeia.    Jahrb.  f.  class.  Philol.  Bd.  137.       i, 

1888.  S.  105—112  >! 

bespricht  die  Stellen  I,  328  E.  331  B— D.  332  C.  11,  359  J). 
364  C.  378  C.  III,  388  A.  IV,  430  B.  E.  439  E.  440  C.  444  B. 
V,  449  D.  459  C.  466  E.  467  C.  473  D.  478  B.  In  allen  diesen 
Stellen  schlägt  er  Textesänderungen  vor;  nur  III,  416  A  wird  der 
überlieferte  Text  gegen  Madwig  durch  Verweisung  auf  Gorg.  513  E 
u.  a.  mit  Glück  vertheidigt.  Von  seinen  Emendationen  empfiehlt 
sich  mir  am  ehesten  der  Vorschlag,  440  C,  in  theilweisem  Anschluss 
au  IISS,  zu  setzen:  ysA  oia  xou  7r£tv{]v  xcd  oia  tou  pi-j-ouv  X7i  rravtct 
ra  toioiu-a  tmt/wj  uttojxsvsiv  vtxi^.  Die  übrigen  halte  ich  theils  für 
überflüssig,  theils  für.  unannehmbar.  364  C,  wo  L.  für  oioovtc? 
„oisXöovTS?"  vorschlägt,  ist  vielleicht  euTcixsiav  oioovrctc,  439  E, 
wenn  hier  überhaupt  eine  Aenderung  nöthig  ist,  statt  axotjaac  --. 
„o!x.  Tivö?"  zu  setzen. 

Rawack,  P.    De  Piatonis  Timaeo  quaestiones  criticae.  Berlin,  Mayer 
u.  Müller.     1888.     81  S. 

Diese  werthvolle  Schrift,  das  Werk  einer  mühsamen  gelehrten 
Arbeit,  benützt  für  die  Texteskritik  des  Timäus  ein  Hülfsmittel, 
welches  für  diesen  Zweck  bisher  lauge  nicht  so  umfassend  herbei- 
gezogen worden  war:  die  Untersuchung  der  Lesarten,  welche  siclv^ 
den  alten  üebersetzungen,  Erklärungen  und  Anführungen  der  pla- 
tonischen Schrift  entnehmen  lassen.  Eine  aus  diesen  Quellen  ge- 
schöpfte reichhaltige  Vervollständigung  des  kritischen  Apparates 
zum  Timäus  nimmt  die  zweite  Hälfte  von  R.'s  Schrift,  S.  40 — 81 
ein;  die  erste  enthält  eine  kritische  Besprechung  von  Tim.  17  C. 
19  A.  21  E.  22  C.  30  B.  41  A.  80  E.  27  B.  40  C.  33  A.  D. 
41 E.  66  A.  70  D.  86  C.  Seine  Erörteruugen  erscheinen  mir 
fast  durchaus  überzeugend;  als  eine  Probe  derselben  wähle  ich 
S.  15ff. ,  w^o  für  die  berühmte  Stelle  41  A,  unter  Entfernung  der 
Worte:  ä  oi'  stjiou  ^evojisva,  (dies  im  Anschluss  an  Beruays,  auf 
Grund  der  ältesten  Citate)  der  Text  hergestellt  wird:  9öot  J)5(üv, 
(ov  sya)  o"/ju.voup7Öc  TTCXTr^p  le  £pYo>v  [a  oi'  i\i.  7£V.]  akii-n.  Sjxotj  •(- 
UiXovco?.     Doch  möchte    ich   bei   den  Schlussworten    mit  Bernays 


/ 


Die  deutsche  Litt,  über  die  sokrat.  u.  piaton.  Philos.  1888.  695 

der  LA  stxou  [x-q  Oc'äovt'j;  (-,3  jxr]  \}ik.)  den  Vorzug  geben;  denn 
sie  hat  nicht  allein  die  ältesten  Zeugen,  sondern  auch  die  Ver- 
muthung  für  sich,  dass  ein  Abschreiber  eher  das  [jlt)  in  -js  ver- 
wandelt haben  werde,  als  umgekehrt,  da  man  bei  ihr  zu  dem 
OoVjvtoc  aus  dem  äXutot  ein  Xueiv  ergänzen  muss,  was  weit  eher 
Bedenken  erregen  konnte,  als  die  bei  der  LA  •(■=.  nöthige  Ergänzung : 
äXoTOL  ilvat. 

TiKMANxN,  J.  Kritische  Analyse  von  Buch  I  und  II  der  platoni- 
schen Gesetze.  Osnabrück  1888.  33  S.  4".  Gymn.  progr. 
sucht  in  ausführlicher  Untersuchung  die  Ansicht  von  Bruns 
zu  widerlegen,  nach  der  in  B.  I  und  II  der  Gesetze  zwei  unabhängig 
von  einander  entstandene  Entwürfe  nebeneinander  gestellt,  aber 
nicht  in  innere  L^ebereinstimmung  gebracht  sind.  Ist  es  ihm  aber 
auch  gelungen,  den  einen  und  anderen  von  den  Gründen  zu  ent- 
kräften, auf  die  Bruns  seine  An.sicht  stützt,  so  hat  er  doch  m.  E. 
das  Hauptbedenken  gegen  die  ursprüngliche  Zusammengehörigkeit 
jener  zwei  Bücher  nicht  zu  beseitigen  vermocht,  welches  darauf 
beruht,  dass  B.  II  sich  zwar  in  seinem  Anfang  als  eine  Fortsetzung 
der  I,  632  D  ff.  begonnenen  Auseinandersetzung  über  die  Benützung 
der  (xi'ör,  für  die  Erziehung  zur  amziooa'jvri  gibt,  in  Wirklichkeit 
aber  von  etwas  anderem  handelt,  was  damit  gar  nicht  zusammen- 
-Jiängt:  von  der  erzieherischen  Verwendung  der  Musik  und  der 
hiefiii'  dienlichen  Einrichtung  eines  „dionysischen",  aus  Männern, 
denen  der  Weingenuss  erlaubt  i.st,  bestehenden  Chors.  Der  Be- 
weis. d«n  Verfasser  S.  18  f.  versucht,  dass  gerade  dieser  dionysische 
Chor  es  sei,  dessen  Mitglieder  durch  die  ti-sövj  zur  ato'fpotj'jvr;  er- 
zogen werden  sollen,  konnte  ihm  unmöglich  gelingen.  Denn  nach 
I,  635  C.  643  B  handelt  es  sich  bei  der  pädagogischen  Anwendung 
der  Trunkenheit  um  ein  Erziehungsmittel,  das,  wie  jedes,  von 
Jugend  auf  angewendet  werden  muss;  II,  666  A  f.  dagegen  wird 
den  jungen  Leuten  bis  zum  18.  Jahr  der  Weingenuss,  bis  zum  30. 
die  ixsi)-/]  und  -oX'joivi'ot  unbedingt  untersagt.  Andererseits  wird 
von  der  Trunlf^enheit  und  der  durch  .sie  beförderten  Ucbung  in 
(\ey  Selbstbehervschung  bei  dem  „dionysischen  Chor"  überhaupt 
nicht  gesprochen,  wie  es  denn  auch  seltsam  wäre,  mit  diesem  Theil 


696  E.  Zeller, 

der  Erziehung  erst  bei  den  Dreissig-  und  Vierzigjälirigen  anzufangen; 
sondern  es  handelt  sich  bei  ihm  nur  um  den  massigen  Weingenuss, 
der  nöthig  ist,  um  reifere  Männer  die  Scheu  vor  der  Theilnahme 
am  öffentlichen  Gesang  überwinden  zu  lassen.  Ebensowenig  wird 
später  für  die  Gesetzgebung  von  dem  Funde,  auf  den  B.  I  solchen 
Werth  legt,  irgend  ein  Gebrauch  gemacht;  während  dieses  Buch 
den  Hauptmangel  der  dorischen  Verfassungen  darin  sieht,  dass  sie 
für  eine  üebung  in  der  Bekämpfung  der  Lust,  wie  die  Trinkgelage 
sie  darbieten,  keine  Sorge  tragen,  ist  in  den  Einrichtungen  der 
kretischen  Kolonie  dieses  Bedenken  vollständig  in  Vergessenheit 
gerathen:  B.  I  ist  für  dieselbe  nicht  vorhanden.  AVird  ferner 
11,  664  E  auf  653  D  mit  den  Worten:  si'TiofxEv  xot-'  ap/dt;  twv  Xo^iov 
zurückgewiesen,  so  wäre  dies  sehr  seltsam,  wenn  dieser  Stelle 
schon  das  ganze  I.  Buch  vorangegangen  war;  denn  die  «p/ocl  töiv 
X6y(ov  können  nur  den  Anfang  der  ganzen  Unterredung,  nicht  den 
des  Abschnitts  bezeichnen,  der  mit  B.  II  beginnt').  Dass  endlich 
B.  III  mit  den  vorangehenden  nicht  verknüpft  ist,  räumt  auch 
Verfasser  ein;  aber  er  glaubt  (S.  26.  31)  ihre  Zusammengehörig- 
keit dennoch  durch  die  Voraussetzung  retten  zu  können,  es  sei 
in  dem  fehlenden  Schluss  von  B.  II  der  üebergang  zu  B.  III  mit 
der  Bemerkung  gemacht  worden,  dass  bei  dem  Ungenügenden  der 
dorischen  Verfassungen  eine  befriedigendere  mit  Hülfe  der  nun 
folgenden  historischen  Uebersicht  gesucht  werden  solle.  Alleijar 
sowohl  in  B.  I  als  in  B.  11  ist  die  Auseinandersetzung  der  ^si- 
tiven  Vorschläge,  dort  über  die  Trinkgelage,  hier  über  die  drei 
Chöre,  gegen  die  Kritik  der  kretischen  und  spartanischen  Ver- 
fassung so  entschieden  im  Uebergewicht,  dass  wir  den  Zweck  dieser 
zwei  Bücher  unmöglich  darin  suchen  können,  eine  kritisjche  Ein- 
leitung zu  B.  III  zu  geben.  Es  scheint  mir  daher  durch  die  Aus- 
führungen des  Verfassers,  so  beachtenswerth  sie  immerhin  sind,  doch 
die  Annahme  von  Bruns  in  der  Hauptsache  nicht  widerlegt  zu  sein. 


;1 


')  Anders  verhält  es  sich  mit  II,  671  A:  ozep  ö  Xoyo;  h  dpycäs  ißouXVjÖT). 
Hier  ist  mit  dem  Xofoz  die  vorliegende  Erörterung,  uml  mit  dem  Anfang  des- 
selben die  Stelle  665  Äff.,  insbesondere  666  Bf.  gemeint.  Wird  dann  aber 
zugleich  auch  auf  die  weit  davon  abliegenden  Stellen  I,  640  C.  646  Eff.  ver- 
wiesen, so  wird  mau  dies  dem  Herausgeber  auf  Rechnung  zu  setzen  haben. 


Die  deutsche  Litt,  über  die  sokrat.  u.  piaton.  Philos.  1888.  697 

Berndt,  Th.  Bemerkungen  zu  Platon's  Meuexeuos.  Herford  1888. 
11  S.  4°.  Gymn.  progr. 
vertlieidigt  seine  (schon  1881  vorgetragene)  Ansicht  von  der 
ironischen  Abzweckung  des  Menexenus  gegen  Roch  (Tendenz  d. 
Menex.  1882)  und  Perthes  (über  den  Arch.  I,  613f.).  Was  er 
diesen  entgegenhält,  ist  begründet;  warum  ich  meinerseits  mich 
weder  von  der  ironischen  Tendenz  noch  von  der  Aechtheit  des 
Menexenus  überzeugen  kann,  habe  ich  schon  Plat.  Stud.,  144ff. 
und  neuerdings  Phil.  d.  Gr.  II  a*,  480ff.  auseinandergesetzt. 

Lukas,  Fr.      Die    Methode    der    Eintheilung    bei    Platou.      Halle, 
Pfeffer.  1888.  XVI  u.  308  S. 
Den  kleineren  Abhandlungen,    die  Bd.  I,  421.  600  angezeigt 
sind,   lässt  Verfasser  hier   eine  ausführliche  Monographie  über  das 
im    Titel    bezeichnete    Thema    folgen.     Derartige    Untersuchungen 
haben  ja  nun   immer  nicht  blos  für  den  Verfasser,    sondern    auch 
für  den  Leser  etwas  Ermüdendes;  nichtsdestoweniger  verdient  der- 
jenige   unsern  Dank,    welcher    sich    durch    die  Trockenheit  seines 
Gegenstandes  nicht  alihalten  lässt,    demselben  eine    so  gründliche 
und    sorgfältige  Arbeit  zu   widmen,  wie  dies  in  der  vorliegenden 
Schrift  geschehen  ist.   Wäre  nun  über  die  Reihenfolge  und  die  Aecht- 
heit der  platonischen  Schriften  schon  ein  allgemeines  Einverständ- 
'■Jäiss  erreicht,  so  wäre  es,  wie  Verfasser  nicht  verkennt,  das  zweck- 
mäsäi^gste  gewesen,  sie  in  ihrer  zeitlichen  Aufeinanderfolge  zu  be- 
sprech'en,  und  uns  so  zu  zeigen,  welche  Fortschritte  der  Philosoph 
theils  in   der  thatsächlichen  Handhabung  des  Verfahrens,    um  das 
es  sich  bandelt,   theils  in  der  Feststellung  und  Begründung  seiner 
Regeln  gemacht  hat.     Da  dies  nicht  der  Fall  ist,    hat  er  es  vor- 
gezogen, sie  nach  dem  Grade  der  Sicherheit  zu  ordnen,    mit    der 
ihre    AechÜieit   sich    darthun    lässt.      Er    bespricht    demnach    die 
Methode  dev  Eintheilung  1)  „in  den  von  Aristoteles  vollgültig  als 
acht  bezeugten  Dialogen"  Rep.  Tim.  Gcss.;  2)  „in  den  von  Arist. 
zwar  nicht  vollgültig  als  acht  bezeugten,  aber  doch  allgemein  als 
acht    anerkanmen«,  Phädr.,  Gorg.  Theät.;    3)  „in    den   von   Arist. 
nicht  vollgültig  bezeugten  und  auch  nicht  allgemein  als  acht  aner- 
kannten", Soph.  lolit.  Philebus.    Bei  jedem  von  diesen  Gesprächen 


698  E-  Zellor, 

werden  zuerst  im  Anschluss  an  den  Gang  desselben  sowohl  die 
Beispiele  von  Eintheilungen,  Aufzählungen  u.  s.  f.,  die  darin  vor- 
kommen, als  die  Regeln  über  das  Eintheilungsverfahren.  wo  sich 
solche  finden,  erörtert  und  bei  dieser  Gelegenheit  wird  auch  man- 
ches andere  auf  ihre  Erklärung  bezügliche  berührt;  es  wird  sodann 
am  Schluss  das  Ergebniss  dieser  Einzelbetrachtung  übersichtlich 
zusammengefasst  und  das  gleiche  geschieht  am  Schluss  eines  jeden 
von  den  drei  Hauptabschnitten  und  am  Schluss  des  Ganzen.  Mir 
scheint  zur  Trennung  des  zweiten  Abschnitts  von  dem  ersten  kein 
genügender  Grund  vorzuliegen,  ohne  dass  ich  doch  darauf  viel  Ge- 
wicht lege.  Ich  hätte  ferner  gewünscht,  dass  Verfasser  aus  allen 
für  acht  zu  haltenden.  Gesprächen  —  wenn  es  auch  nicht  ange- 
bracht gewesen  wäre,  sie  ausführlich  zu  besprechen  —  doch  wenigstens 
übersichtlich  die  darin  vorkommenden  Eintheilungen  verzeichnet 
hätte.  Es  hätte  sich  endlich,  wie  mir  scheint,  immerhin  verlohnt, 
ausdrücklich  zu  untersuchen,  ob  und  wie  weit  sich  in  den  pla- 
tonischen Schriften  ein  Fortschritt  in  der  theoretischen  und  prak- 
tischen Behandlung  des  Eintheilungsverfahrens  wahrnehmen  lässt. 
Indessen  sollen  mich  diese  Desiderien  von  der  Anerkennung  dessen, 
was  uns  Verfasser  bietet,  und  der  Mühe,  die  er  darauf  verwendet 
hat,  nicht  abhalten.  Von  Einzelheiten,  die  mir  aufgestossen  sind, 
berühre  ich  die  folgenden.  Gess.  X,  894  A  kann  ich  der  sinnreichen 
A^errhuthung  (S.  77 f.)  nicht  beitreten,  dass  hier  auf  die  Lehre  dipsfT 
Timäus  von  der  Entstehung  der  Körper  aus  den  Elementen /und 
der  Elemente  aus  den  Elementardreiecken  hingedeutet  werde;/ denn 
es  liegt  nichts  in  den  Worten,  was  einen  Leser,  dem  der  Timäus 
nicht  gegenwärtig  ist,  hieran  erinnern  könnte,  und  ».p/vj  aucr// 
>,7.ßoij3a  kann  auch  nicht  ein  Zusammentreten  von  Begrenzungs- 
flächen zu  einem  Körper  bezeichnen.  Es  scheint  mir  vielmehr  hier 
nur  das  ganz  einfache  und  gewöhnliche  gesagt  zu  sein:  „wenn 
der  Kern  oder  Keim  eines  Körpers  sich  vergrössert  und  schliesslich 
seine  volle  Gestalt  und  Grösse  erreicht".  —  Dass  die  Vertheidiger 
der  Aechtheit  des  Sophisten  Arist.  part.  an.  I,  2.  642  b  10  auf 
Soph.  220  A  f.  beziehen  (S.  150),  ist  in  dieser  Allgemeinheit  nicht 
richtig;  ich  bin  z.  B.  Ph.  d.  Gr.  IIa,  438  (381)  dieser  Beziehung 
ausdrücklich    entgegengetreten.    —    S.  229    widirspricht   Verfasser 


Die  deutsche  Litt,  über  die  solirat.  u.  piaton.  Philos.  1888.  699 

der  Deutung  des  ixzan-o\it~.v  Polit.  265  A  auf  zwei  Theile  von 
gleichem  Umfang,  und  will  es  nur  von  zwei  (begrift'lich)  gleich- 
werthigen  Theilen  verstehen.  Indessen  verlangt  Plato  ja  nur 
ein  ixssoToijtsrv  (uc  jxaXtaxa  (so  viel  wie  möglich),  und  dagegen  ver- 
stösst  im  folgenden  die  Eintheilung  der  zahmen  Heerdenthiere  in 
gehörnte  und  ungehörnte  nicht:  zu  jenen  gehören  die  Ziegen  und 
Rinder,  zu  diesen  die  Schafe  (wenigstens  a  potiori),  die  Pferde 
und  die  Menschen.  —  S.  251  wird  gegen  Steinhartes  Meinung,  dass 
Plato  mit  den  Eintheilungen  des  Politikus  naturwissenschaftliche 
Klassifikationen  persifflire,  mit  Recht  daran  erinnert,  dass  es  deren 
um  jene  Zeit  wohl  noch  nicht  viele  gal).  In  Plato's  späterer  Zeit 
wird  gerade  er  und  seine  Schule  ihretwegen  von  Komikern  ange- 
zapft. —  Diejenigen,  welche  den  Sophisten  und  Politikus  ihrer 
Abfassungszeit  nach  zwischen  Republik  und  Gesetze  stellen  wollen, 
möchte  ich  auf  S.  280f.  aufmerksam  machen,  wo  treffend  gezeigt 
wird,  um  wie  viel  freier  sich  Plato  bei  der  Eintheilung  in  Phileb. 
Rep.  Tim.  Gess.  bewegt  als  im  Sophisten  und  Politikus;  wofür  der 
Grund  doch  wohl  der  sein  wird,  dass  er  die  elementarischen  Regeln 
des  Eintheilungsverfahrens  streng  anzuwenden  und  an  einer  Masse 
von  Beispielen  zu  erläutern  dort  nicht  mehr  so  nöthig  hatte, 
wie  hier. 

^AJK,  J.,    Piatons  Metaphysik  im  Grundriss.     Wien  1888.  26  S. 

,Die  7'atm  essendi  dieses  Schriftchens  besteht  darin,  dass  es  ein 
( i  ,•  ,^  ;sialprogramm  ist.  Tiefer  dringende  Untersuchungen  Hessen 
i.  \  einer  Darstellung,  welche  Plato's  ganze  Metaphysik  auf 
,  .,  :i,  änktem  Raum  erledigt,  schon  an  sich  höchstens  bei  ein- 
z'.iai'  Pimkten  erwarten.  Die  vorliegende  hat  sich  derselben  so 
v,,iuiM.,!i  ■  enthalten,  dass  sie  uns  eben  nur  sagt,  wie  ihr  Urheber 
Pin;»  V  r-^i^'i^ö^  o^^^'  ^^^^^^  missverstanden  hat.  Wir  erfahren  also 
dur(  •  ■' \  ^.v.'ar,  dass  der  Vf.,  beispielsweise,  der  Meinung  ist,  ge- 
wisse ,\e  ./u'*ft(^inge"  bewirken  nach  Plato  „der  Vernunft  ent- 
äusser^.tiv  n.fi  Zufällige  und  Ungeordnete"  (S.  8);  die  „Grenze" 
des  Phi.bn-  i'.en  die  Ideen  (S.  9);  die  Republik  rede  (wo,  wird 
uns  nic'it  M;j;i;,  von  einem  Demiurg,  der  als  „Gottes  pcrsoni- 
ficirte  Cref'iop.--?Vr;ft''  „im  Auftrag  und  nach  dem  Plane  des  Ilöch- 


ö 


700  E.  Zeller, 

sten  die  Welt  geformt  habe"  (S.  10.  18);  die  x^f''^-  ^^^^  Timäus  sei 
„die  Substanz"  als  „ein  Seiendes  oder  Absolutes"  (S.  14f.);  die 
Seele  sei  nicht  blos  eine  Idee,  sondern  sie  stehe  sogar  „unter  den 
Ideen  am  höchsten"  (S.  13f.)  u.  s.  w.  I)a  aber  alles  dieses  ohne 
jeden  ernsthaften  Versuch  einer  Beweisführung  hingestellt  ist,  bleibt  1 
nur  übrig,  es  da,  wo  es  steht,  stehen  zu  lassen. 

Ku.B,  J.  A..  Piatons  Lehre  von  der  Materie.  Marburg  1887. 
46  S. 
Diese  Dissertation,  welche  mir  jetzt  erst  zugekommen  ist,  will 
zeigen,  dass  Plato's  Lehre  von  der  Materie  „eine  ganz  neue  Be- 
handlung verlange";  und  der  jugendliche  Verfasser  bezw^eifelt  nicht, 
dass  sie  diese  durch  ihn  selbst  erhalten  habe,  und  sieht  mit  ge- 
hobenem Selbstgefühl  auf  die  herab,  die  sich  noch  immer  von  dem 
aristotelischen  Missverständniss  der  platonischen  Grundlehren  nicht 
loszusagen  vermögen.  Indessen  ist  das  Vollbringen  bei  ihm  hinter 
dem  Wollen  sehr  weit  zurückgeblieben.  Nachdem  er  sich  zunächst 
zu  Cohen's  (eigentlich  von  Lotze  herrührender)  Deutung  der  Ideen- 
lehre bekannt,  aber  für  den  urkundlichen  Naclnveis  ihrer  Zulässig- 
keit,  dessen  sie  so  sehr  bedürfte,  nicht  das  geringste  gethan  hat, 
ergeht  er  sich  S.  8 — 36  in  Betrachtungen  über  Plato's  An- 
sichten vom  Charakter  und  Werth  der  Mathematik.  Neu  ist 
darin  nur  der  Versuch,  eine  Fortbildung  dieser  Ansichten  nacjj;^ 
zuweisen.  Plato  lasse  nämlich  in  der  Republik  und  den  ihr^^or- 
angehenden  Schriften  die  Mathematik  zwar  „neben  den-'Ueen 
wissenschaftliche  Bestimmungen  an  den  Sinnendingen  treffet),  daher 
zu  ihrer  Objektivirung  beitragen",  (S.  18),  wenn  er  sie  auch  („man 
weiss  nicht  recht  warum"  S.  27)  der  Dialektik  nachsetze;  aber  erst 
im  Politikus  und  noch  bestimmter  im  Philebus  spreclie  er  den 
Gedanken  aus,  „alles  Sinnensein  habe  dadurch  Be  ,tand,  d§,ss  es  durch 
feste,  im  Hinblick  auf  die  Idee  gesetzte  Massbestimm uPo-en  geordnet 
und  bestimmt  ist"  (S.  23).  Allein  war  denn  Plato  durch  die 
Fragen,  mit  welchen  die  Pepublik  oder  der  Phädo  H\h\i  beschäftigen, 
genöthigt,  sich  über  die  Bedeutung  der  mathemati^iichen  Masse  für 
den  Bestand  der  Sinnenwelt  auszusprechen,  falls  &{  sich  diese  schon 
zum  Bewusstsein  gebracht  hatte?  und  yenn  er  (|ies  offenbar  nicht 


Die  deutsche  Litt,  über  die  sokrat.  u.  piaton.  Philos.  1888.  701 

war:  mit  welchem  Recht  kann  man  schliessen,  weil  er  in  der  Rep. 

nicht  von  ihr  spricht,  habe  er  auch  noch  nichts  von   ihr  gewusst, 

als  er  die  Republik  schrieb?     Oder  erwähnt  er  ihrer  etwa  in  den 

Gesetzen,    die  doch  auch  K.  nicht    für  älter  halten    wird  als  den 

Philebus  und  Timäus?     Aber  dass  alles  in  der  Natur  (den  oai;xov'a 

xal  ^zla  TTpa^ii.«-«)   wie   in    den   Werken   der  Menschen    durch  die 

Zahl  bestimmt  sei,  hatte  schon  Philolaos  (Fr.  13  b.  Stob.  Ekl.  I,  8) 

gesagt;  da  wird  es  Plato  bei  der  Abfassung  der  Republik  wohl  auch 

nicht  mehr  unbekannt  gewesen    sein.  •  Dass  die  letztere  ohnedies 

(wie  Ph.  d.  Gr.  II  a^  548  nachgewiesen  ist)  den  Philebus  an  mehr 

als  einer  Stelle  augenscheinlich  berücksichtigt,   wird  von   K.  ganz 

unbeachtet  gelassen.     In    seinen   Erörterungen    über    den  Philebus 

bespricht  Vf.  S.  28 ff.  auch  das  otTtEtpov,  unter  dem  er,  in  der  Sache 

zutreffend,  das  extensiv  oder  intensiv  Continuirliche  versteht.    Wenn 

er  nun  aber  dieses  von  der  sog.  Materie  des  Timäus  ganz  und  gar 

unterschieden  wissen  will  (S.  38f.),  so  ist  dies  nur  theilweise  richtig: 

die  letztere  fällt  mit  dem  a'irsipov  zwar  nicht  zusammen,  da  sie  ein 

engerer  Begriff  ist,  aber  sie  ist  eine  bestimmte  Art  des  «Tisipov,  das 

räumlich  Unbegrenzte,  der  Raum  als  eine  seiner  Natur  nach  einer 

unendlichen   Theilung    wie    einer    unendlichen  Vermehrung   fähige 

Grösse.     Auf   die  Materie    des  Timäus    kommt  K.    erst  S.  41   zu 

sprechen  und  schon  S.  43  hat  er  die  Ueberzeugung  gewonnen,  dass 

"^■^ie    Materie    „gar    kein    fundamentaler    Begriff    des    platonischen 

8yst<f^ms"  sei,  sondern  „ganz  ausserhalb  desselben  stehe",  und  von 

^-ri^M'  „nur  \ermuthungsweise  angenommen  werde",   um   ein  hypo- 

"^^tticlR^es  Substrat  für  die  mathematische  Construction  der  Elemente 

^''VAT^'^ft^n.     Mit  den  Beweisen  für  diese  Behauptung  nimmt  er  es 

'ii^MM  \mgemeut  leicht.     Es  genügt  ihm  dafür  an  der  Bemerkung, 

'fei^TMlSo  selbst  seine  Physik   als  ein  geistreiches  Spiel  bezeichne 

x^tfd  T^'e^-inen  stfeng  wissenschaftlichen  Charakter  beilege.     Aber 

ei?ff  ^Ä'M  nennt  er  bekanntlich  seine  Reden  oft  genug,  mag  es 

ihm  ^airil^uch  nocli  so    ernst   sein  (vgl.  Ph.  d.  Gr.  II  a\  574); 

undVeViti  (^^anerkennt,  dass  die  Naturerklärung  nicht  der  gleichen 

Sichei^cift'^i'.^^V.  sei,  wie  die   reine  Begriffswissenschaft  (Tim.  29  B. 

BOB.fe'^^^'St)-^.),  so  heisst  dies  doch  nicht,  dass  alle  „seine  Aus- 

einandei^feiftfe^-.  im  Tiir.äus  keinen  Anspruch  auf  irgend  welchen 

47 

Archiv  f    Geschichte;.  Philosophie.     11. 


702  E-  Zeller, 

wissenschaftlichen  Werth  machen  können"  (S.  41).  Oder  sollen 
wir  etwa  die  Beseeltheit  der  Welt  deshalb  bezAveifeln,  weil  diese 
30  B  xaxa  Xo^ov  xov  sixoia  für  ein  Cöjr>v  s[X'];u/ov  evvouv  is  erklärt 
wird?  Werden  wir  die  Lehre  von  der  Kreisbewegung  der  Gestirn- 
sphären und  der  Kugelgestalt  der  Welt  Plato  deshalb  absprechen, 
weil  sie  im  Timäus  vorgetragen  wird?  Oder  etwa  auch  die  Unter- 
scheidung des  Ewigen  und  des  Veränderlichen,  von  der  ebd.  51  Bff. 
gehandelt  wird?  Nach  der  Methode  des  Vf.  müsste  man  auch 
dies  thun;  denn  das  Erg^niss  dieser  ganzen  Auseinandersetzung 
wird  in  der  bekannten  Erklärung  zusammengefasst :  toutwv  os  ouTto; 
l'/rj^Tiuv  6[j,oXo"'(r^Teov,  Sv  ijlsv  civoti  to  xaxa  xauxo  sioo?  i'/ov  .  .  .  xo  o' 

6fia)VU[X0V    OtXOlOV    X£    £XS(V(0     OSUXÖpOV,     «XiaOr^XOV   .   .   .   Xpl'xOV     OZ     7.'j    •,£V0? 

ov  -rj  xTp  /«Jpotc  dzi  u.  s.  w.  Ist  uuu  vou  diescu  drei  Stücken  das 
dritte  eine  blosse  Vermuthung  „ohne  irgend  welchen  wissenschaft- 
lichen Werth",  so  müsste  dies  von  den  beiden  andern,  deren  un- 
entbehrliches Ergänzungsstück  es  bildet,  offenbar  ebenso  gelten. 
Plato  selbst  freilich  erklärt  von  seiner  Lehre  über  das  -avos/s;  49  D: 
aaciaXeaxaxciv  aaxrxo  uiSs  Xr/siv,  50  A:  a«xo(o  ttooc  7.X/,i)£i7v  äacsa- 
Xlaxaxov  £i7t£rv.  Allein  wir  wissen  das  heutzutage  besser:  wir 
sprächen  nicht  so,  wenn  wir  Plato  wären,  also  kann  er  auch  nicht 
so  gesprochen,  oder  es  wenigstens  nicht  so  gemeint  haben.  Mit 
dieser  Erhabenheit  des  Vf.  über  den  Text  des  Timäus  stimmt  es 
nun  ganz  überein,  dass  er  auch  nicht  den  Versuch  macht,  seiW 
Vorstellung  von  der  platonischen  Materie  als  einem  raumerfülle-'öden 
Substrat  gegen  die  gewichtigen  Einwendungen,  die  ihr  im  ^Vege 
stehen,  durch  Zergliederung  der  platonischen  Aussagen  zu  ver- 
theidigen  oder  die  Frage,  wie  sie  sich  mit  Plato"s  Lehre  von  den 
Elementen  verträgt,  zu  beantworten.  Auch  sein  Ausdruck  ist  mit- 
unter ungenau  und  inkorrekt.  Von  „apriorischen  Formen  des 
Denkens"  (S.  10)  hat  zwar  Kant,  aber  nicht  Plato  gesprochen;  das 
„wissenschaftliche  Sein"  (S.  11.  13)  ist  eine  sprachwidnge  Bezeich- 
nung desjenigen  Seins,  welches  Gegenstand  der  Wi'^^enschaft  ist; 
£X[i7.Y£tov  mit  „Bildungsmittel"  zu  übersetzen  (S.  W),  oder  von 
Plato  zu  sagen,  er  „werthschätzt  die  Mathematik",  ist  nicht 
deutsch. 


^ 


Die  deutsche  Litt,  über  die  sokrat.  ii.  piaton.  Philos.  1888.  703 

Sartorius,  Ruht  oder  bewegt  sich  die  Erde  im  Timäus?  Ztschr, 
f.  Philosophie  Bd.  93  (1888)  S.  1—25. 
Der  Vf.  dieser  Abhandlung,  die  ihren  Gegenstand  mit  gelehrter 
Gründlichkeit  bespricht,  sucht  S.  18ff.  aus  Plut.  plac.  III,  15,  10 
und  Arist.  De  coelo  II,  13.  293  b  15ff.  zu  beweisen,  dass  Plato 
der  Erde  zwar  keine  Ortsveränderung  und  keine  Achsendrehung 
zugeschrieben,  aber  ihr  Inneres  für  flüssig  gehalten  und  eine  Ver- 
schiebung seiner  Theile  angenommen  habe.  Indessen  ist  leicht  zu 
sehen,  dass  Arist.  a.  a.  0.  nicht  von  einer  Flüssigkeit  des  Erdinnern 
(von  der  auch  im  Timäus  nichts  steht)  sondern  von  einer  Achsen- 
drehung der  Erde  redet;  diese  schreibt  er  aber  (wie  Sitzungsber. 
d.  Berl.  Akad.  1888,  Nr.  51  gezeigt  ist)  nicht  Plato,  sondern 
Heraklides  zu.  Die  Placita  sagen:  ~o-ou?  gcüttjC  y.iz  7.poti6T-/jta 
aaXcusaöai,  w^ir  haben  jedoch  keinen  Grund,  dabei  an  etwas  anderes 
als  an  die  partiellen  Erderschütterungen  zu  denken,  welche  auch 
sonst  mit  diesem  Ausdruck  bezeichnet  und  von  Höhlungen  im  Erd- 
innern hergeleitet  werden.  Die  Vorstellung  einer  Bewegung  „des 
ganzen  Innern"  der  Erde  wird  durch  das  xotcou?  ctuir^?  ausgeschlossen. 
Dass  der  Kritias  (121  C)  die  Lehre  vom  Centralfeuer  voraussetze 
(S.  5.  24)  ist  unrichtig:  der  Mythus  folgt  der  populären  Vorstellung, 
und  die  Burs  des  Zeus  steht  auf  dem  Scheitel  des  Himmels- 
gewölbes. 

Kalv^s,  Platon's  Vorstellungen  über  den  Zustand  der  Seele  nach 
dem  Tode.  Pyritz  1888.  16  S.  4". 
Dieses  Gymnasialprogramm  enthält  in  seinem  Haupttheil  kaum 
etwas,  woran  jemand,  der  seinen  Plato  kennt,  Anstoss  nehmen 
müsste,  und  nichts,  woraus  er  etwas  lernen  könnte,  da  es  sich 
ganz  auf  Auszüge,  meist  aus  den  eschatologischen  Mythen,  be- 
schränkt. In  der  Einleitung  über  die  vorplatonischen  Vorstellungen 
vom  Zustand  nach  dem  Tode  kommt  ziemlich  viel  vor,  was  zu 
Ijeanstanden  wäre. 


1 


Neueste  Erscheinuiigen  auf  dem  (irebiete  der 
Grescliiclite  der  Philosophie. 

BeyerscIoriT,  R.,  Giordano  I^runo  und  Sliakespeare,  Leipzig,  Fock. 

Blencke,  F.,  Die  Trennung  des  Schönen  vom  Angenehmen  hei  Kant,  Lpz.,  Fock. 

Boderaann,    E.,    Der   Briefwechsel    des    Gottfr.   W.    v.   Leibniz    in    Hannover, 

Hannover,  Hahn. 
Bruni  Aretini,  de  triljus  vatiljus  florentinis,  herausg.  von  Wottke,  Lpz.,  Freytag. 
Brütt,  Max,  Der  Positivismus,  Programm,  Hamburg,  Herold. 
Cohen,  H.,  Kants  Begründung  der  Aesthetik. 

Deter,  Katechismus  der  Geschichte  der  Philosophie,  Berlin,  Weber. 
Droeseke,  Joh.,  Zu  Michael  Psellos,  Zeitschr.  f.  wissensch.  TheoL  Bd.  32,  H.  3, 

S.  303-330. 
Düraraler,  F.,  Äkademika,  Giessen,  Riecker. 

Feller,  W.,  Die  tragische  Katharsis  in  der  AufTassung  Lessings,  Lpz.,  Fock. 
Fiebiger,   Ernst,    Ueber  die  Selbstverleugnung   bei   den    deutschen  Mystikern, 

Leipzig,  Fock. 
Frank,  G.,  Kant  und  die  Dogmatik,  Zeitschr.  f.  wissensch.  Theol.  Bd.  32,  H.  3, 

S.  257-280. 
Geil,  G.,   Die  Lehre  von  den  piorj  ttj;  'i"-'y7i^  ^^i  Piaton,  Strassburg,  Heitz. 
(iermanu,  W.,  Altenstein,  Fichte  und  die  Univers.  Erlangen,  Erlangen,  Blaesing. 
Gompertz,  Th.,  H.  Bonitz,  Berlin,  Calvary  &  Co. 
(iroos,   K.,    Systematische  Darstellung  von  Schellings   rationaler   Philosophie, 

Heidelberg,  Weiss. 
Herders  Briefe  an  Hamann,  herausg.  von  Hoffmann,  Berlin,  Gaertner. 
Hermes,  H.,  Bemerkungen  zu  den  Briefen  Senekas,  Progr.,  Moers. 
Höffding,  H.,  Einleitung  in  die  englische  Philos.  unserer  Zeit. 
Hberg,    Ueber   die  Schriftstellerei   des   Galenos,   Rhein.  Museum  Bd.  44,  H.  2, 

S.  207—240. 
Kayser,   Das  Buch   von  der  Erkenntniss   der  Wahrheit,    nach    dem  Syrischen, 

Leipzig,  Hinrichs. 
Klee,  P.,  De  Ciceronis  librorum  de  officiis,  Jena,  Pohle. 
Kroneuberg,    Herders  Philosophie  nach   ihrem  Entwicklungsgang,  Heidelberg,   ^ 

Winter.  .---'' 

Meyer,  P.,  Quaestiones  Platonicae,  Progr.,  M. -Gladbach.  ^^ 

Müller,  J.,  Kritische  Studien  zu  Seneka,  Wien,  Gerold.  ^ 

Paik,  J.,  Piatons  Metaph.  im  Grundriss,  Progr.,  Wien.  i 

Pamer,  C,  Baco  v.   Verulam,  Progr.,  Triest. 
Papst,  A.,  De  Melissi  Saioii  fragmentis,  Diss..  Bonn. 

Pappenheira,  E.,  Der  angebliche  Heraklitismus  des  Ainesidemos,  Berlin,  Gaertner. 
Pullig,  H.,  Enjiio  quid  debuerit  Lucretius,  Leipzig,  Fock. 
Reusch,    Die    Fälschungen    im    Tractat    des   Aquinaten    gegen    die    Griechen, 

München,  Franz. 
Schenk,   R.,    Zum  ethischen  LehrbegrifF  der  PHrten   des  Hermas,    Programm, 

Aschersleben. 
Schmidt,   A.,    Kritische    Studie    über    Buch   I    von    Spinoza's    Ethik,    Berlin, 

Schneider  &  Co. 
Seidl,  A.,    Zur  Geschichte  des  Erhabenheitsbegriffs  seit  Kant,  Lpz.,  Friedrich. 
Tönnies,  F.,  Thom.  Hobbes,  Deutsche  Rundschau,  Bd.  15,  H.  7. 
Troost,    Inhalt   und    Echtheit   der   platonischen    Dialoge   auf  <jriuui    logischer 

Analyse,  Berlin,  Calvary  &  Co. 
Trcpte,  A.,  Das  moralische  Uebel  bei  Augustin  und  Leibniz,  Dissert.,  Halle. 
Ziegler,   Th.,    Schillers  Stellung  zum  Pessimismus,   Berichte  des  freien  deut- 
schen Hochstifts,  1889,  H.  2. 


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A69 

Bd. 2 


Archiv  für  Geschichte  der 
Philosophie 


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