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Full text of "Archiv für Geschichte der Philosophie"

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für 


Geschichte  der  Philosophie. 


Archiv 

für 

Geschichte  der  Philosophie 

in  Gemeinschaft  mit 

Hermann  Diels,  "Wilhelm  Dilthey,  Benno  Erdmann 

und  Eduard  Zeller 

herausgegeben 


von 


Ludwig   Stein. 


Band  VII. 


Berlin. 

Druck  und  Verlag  von  Georg  Reimer. 
1894. 


J3 

ßcL-7 


I  n  h  a  1 1. 


Seite 

I.     Gedankengang  von  Piatons  Phaedon.    Von  Gustav  Glogau  1 
IL     Die  Autonomie  des  Denkens,  der  konstruktive   Rationalismus 
und  der  pantheistische  Monismus  nach  ihrem  Zusammenhang 

im  siebzehnten  Jahrhundert.     Von  Willi  eint  Dilthey   .    .    .  28 

III.  Zur  orphischen  Kosmologie.     Von  Ferdinand  Dümmler  .  147 

IV.  Ueber  Demokrits  Dämonenglauben.     Von  H.  Di  eis     .    .    .    .  154 
V.     Patristische  Herakleitos-Spuren.    Von  Johannes  Dräseke  .  158 

VI.     Die  Kontinuität  im  philosophischen  Entwicklungsgange  Kants. 

Von  Harald  Höffding 173 

VII.     La  philosophie  de  l'action  au  Ve  siecle  av.  J.  Ch.  par  A.  Es- 
pinas      193 

VIII.  Sur  la  Composition  de  la  Physique  d'Aristote  par  Paul  Tan- 
ne ry  --' 

IX.     Der  Einfluss  Demokrifs  auf  Galilei.     Von  Löwenheim     .    .    230 
X.     Giordano  Bruno  und  Spinoza.     Von  Wilhelm  Dilthey   .    .    269 

XI.     Ammonius  Sakkas  und  Plotinus.     Von  E.  Zeller 295 

XII.     Aus    dem   Leben    des    Cynikers   Diogenes.     Von    Hermann 

Diels 313 

XIII.  Aus  der  Zeit  der  Spinoza-Studien  Goethe's.  Von  Wilhelm 
Dilthey 317 

XIV.  Zur  Methode  der  Geschichte  der  Philosophie  mit  spezieller 
Rücksicht  auf  die  Metaphysik  des  Cartesius.  Von  Benno 
Erdmann 342 

XV.     Das   erste  Auftreten   der   griechischen  Philosophie   unter   den 

Arabern.     Von  LudwigStein 350 

XVI.  Bibliographische  Bemerkungen.     Von  J.  P.   N.   Land.    .    .    .     362 

XVII.  Die  Kontinuität  im  philosophischen  Entwicklungsgänge  Kants. 
Von  Harald  Höffding 376 


VI  Inhalt. 

Seite 
Will.     Die  Kontinuität  im  philosophischen  Entwicklungsgange  Kants. 

Von  Harald  Höffding 449 

XIX.  Neuere  Philosophie  der  Geschichte:  Hegel,  Marx,  Cornte.    Von 

F.  Tönnies 486 

XX.  Zu  Descartes'  Briefen.     Von  Johannes  Kretzschmar    .    .    51(> 

Jahresbericht 

über 

sämmtliche  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte 

der  Philosophie. 

I.     Die  deutsche  Litteratur  über  die  sokratische,  platonische  und 

aristotelische  Philosophie.  1892.     Von  E.  Zell  er 95 

II.  La  Storia  della  filosofia  moderna  in  Italia.  1888 — 91.  Per 
Feiice  Tocco 113 

III.  Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  und  ihr  Verhältnis  zur 
Philosophie.     1889—1892.     Von  Paul  Wendland     ....    287 

IV.  Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  und  ihr  Verhältnis  zur 
Philosophie.     1889—1892.     Von  Paul  Wendland     ....    405 

V.  Bericht  über  die  neuere  Philosophie  bis  auf  Kant  für  die  Jahre 
1890  his  1893.  Herausgegeben  von  Wilh.  Windelband. 
I.    Descartes  und  Schule.     Bericht  von  Benno  Erd mann   .    521 

VI.  Comptes-rendus  d'ouvrages  sur  rhistoire  de  la  philosophie 
publies  en  francais  pendant  les  annees  1892  et  1893.  Par 
Paul  Tannery 535 

VII.     Gli  Studi  sulla  Storia  della  Filosofia  antica  in  Italia,  1890— 

1891.     Per  Alessandro  Chiappelli 552 

Neueste  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte   der  Philo- 
sophie   293.  447.    568 


Archiv 

für 


Geschichte  der  Philosophie. 


VII.  Band     1.  Heft. 


I. 

Gedankengang'  von  Platons  Pliacdon. 

Voll 

Gustav  Glogau  in  Kiel. 

Einleitung. 

Irre  ich  nicht,  so  wird  das  geistige  Leben  der  Zukunft,  das 
sich  aus  dem  langen  Ringen  der  besten  europäischen  Dichter, 
Denker  und  Forscher  entbindet,  wesentlich  durch  eine  vertiefte 
Anschauung  der  Geschichte  bedingt  sein.  Vergangenheit,  Gegen- 
wart und  Zukunft  gewinnen  ein  sehr  verändertes  Aussehen,  sobald 
die  Einheit  des  menschlichen  Geistes  innerhalb  der  Mannigfaltigkeit 
seiner  Schöpfungen  ernstlich  erfasst  ist.  Diese  erscheinen  dann  als 
die  charakteristischen  Stufen  und  Richtungen  —  und  freilich  weiter 
auch  als  Abartungen  und  hoffnungslose  Verquickungen  —  der 
einen  in  innerer  Notwendigkeit  sich  auswirkenden  Gedankenwelt. 
Damit  aber  tritt  die  Gegenwart  aus  der  Vereinsamung  heraus,  in 
welcher  sie  sich  zu  ihrem  Vortheile  und  gelegentlich  wohl  auch  zu 
ihrem  Nachtheile  weit  von  der  Vergangenheit  getrennt  wähnt. 
Die  Vergangenheit  erhält  vielmehr  ein  ewiges,  unverlierbares 
Recht,  sich  in  aller  Folgezeit  noch  als  ein  anregender,  ja  in  hohem 
Maasse  schöpferischer  Faktor  geltend  zu  machen.  Andererseits 
aber    wird    phantastischen    Reformatoren,    die    in    Politik,    Kunst, 

Arohiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     VII.  1 


2  Gustav  Gl ogau, 

Wissenschaft,  Religion,  auf  von  ihnen  zum  ersten  Male  gefundenen 
Grundlagen  plötzlich  ein  neues  Reich  der  Zukunft  errichten  wollen, 
der  Boden  unter  den  Füssen  entzogen  —  sie  worden  in  ihrer  ge- 
haltlosen Leere  und  nichtigen  Eitelkeit  sofort  erkennbar. 

Eine  wahrhafte  Anschauung  der  Geschichte  beseelt  und  läutert 
den  geistigen  Besitz  des  spätgeborenen  Enkels.  Erlöst  von  dem 
Drucke  einer  interessanten  Vielwisserei,  deren  Werth  zu  einem  guten 
Theile  in  dem  schwierigen  Zugange  und  der  Mühe  des  Erwerbes  be- 
schlossen liegt,  gleicht  ihm  der  Reiz,  geschichtliche  Zusammenhänge 
aufzudecken,  nicht  mehr  etwa  dem  Reize  des  Schachspiels,  dessen 
verschlungene  Züge  als  solche  für  uns  doch  sinnlos  und  ohne  Bedeu- 
tung sind.  Indem  er  mit  Ehrfurcht  an  den  Gegenstand  herantritt, 
sucht  er  vielmehr  in  den  längst  entschwundenen  Anschauungsfor- 
men und  Redeweisen  nicht  nur  ein  besonderes  antiquarisches  oder 
Sprach-Problem,  sondern  zugleich  den  ringenden  Geist  der  Mensch- 
heit selbst,  der  auch  in  uns  spricht.  Das  Verständniss  dieses 
Ursprünglichen  und  relativ  Einfachen  aber,  das  für  alle  späteren 
Zeiten  die  Grundlage,  ja  oft  die  massgebende  Richtschnur  für  die 
weitere  vielseitigere  und  umfassendere  Ausgestaltung  bedeutet,  er- 
fordert nun  ein  erhöhtes  Selbstvertrauen  zu  der  eigenen  einge- 
borenen Kraft.  Um  für  die  politischen,  religiösen,  erkenntnisstheo- 
retischen Thatsachen  der  Geschichte  den  ursprünglichen  Lebenspunkt 
zurückzugewinnen,  von  dem  her  diese  erstarrten  Gebilde  ihren 
Sinn  und  ihre  partikulare  Berechtigung  uns  wieder  erschliessen, 
muss  man.  von  allem  Conventionellen  sich  lösend,  in  die  dunkeln 
Regungen  des  eigenen  allgemeinen  menschlichen  Bewusstseins  zu- 
rückgehen und  dieses  rückhaltlos  den  in  der  Erfahrung  gegebenen 
Sondergestaltungen  hingeben.  Dann  baut  sich  in  und  über  dem 
endlichen  Individuum  des  Forschers  ein  neuer  Mensch  in  ihm  auf. 
Jedes  neue  Gebiet,  jedes  neue  Volk,  das  wir  wahrhaft  nachschaffen, 
nimmt  Binden  von  dem  durch  den  Zeitgeist  befangenen  geistigen 
Auge  weg,  und  der  persönliche  Lebensprocess  vertieft  und  erweitert 
sich  so  zum  Ganzen  der  Menschheit,  in  welchem  sich  alle  Zeiten 
gegenseitig  einander  verbürgt  zeigen.  Diese  eigentliche  Höhe  der 
Wissenschaft  aber  hält  nicht  nur  die  Ungeweihtcn  von  ihr  ferne; 
sie    steigert    auch    die  Anforderungen    an    die  Gelehrsamkeit,    die 


Gedankengang  von  Piatons  Phaedon.  3 

wissenschaftliche  Spürkraft  und  die  peinlichste  Akribie.  Es  is1  ein 
veraltetes,  für  den  todten  Alexandrinismus  aber  freilich  bequemes 
Vorurtheil,  dass  eine  philosophische  Durchdringung  des  Gegenstandes 

denselben  ins  Unbestimmte  verblassen  müsse.  — 

In  dieser  Zeitschrift,  welche  der  Sammlung  und  Bearbeitung 
des  Materiales  der  Philosophie  gewidmet  ist,  habe  ich  nun  nicht 
mehr  zu  zeigen,  auf  welchem  Wege  die  Schätze,  welche  Kritik  und 
Archäologie  in  dem  letzten  Jahrhundert  über  alle  Völker  und 
Zeiten  des  Orients  und  Occidents  an  das  Licht  gebracht  haben, 
zu  einem  inneren  Besitzthume  zumachen  sind;  noch  mich  gar  des 
modernen  anthropologischen  und  ökonomischen  Vorurtheils  zu  er- 
wehren. Ich  will  vielmehr  hier  nur  eine  schlichte  Vorarbeit  für  eine 
längst  von  mir  übernommene  ähnliche  Aufgabe  (vgl.  Abriss  der 
philos.  Grundwissensch.  I,  S.  1(>)  veröffentlichen,  welche  der  Titel 
dieses  Aufsatzes  angiebt.  Wir  alle  wissen,  was  die  griechische  Kunst 
der  modernen  Culturentwiekelung  bedeutet.  In  Plato  aber  sehe 
ich  den  Knoten  sich  schürzen,  durch  welchen  die  Philosophie  des 
Occidents  ein  für  alle  mal  von  dem  eigenartigen  Geistesleben  des 
'  Mients  sich  abgeschnürt  hat,  das  ahnend  die  letzten  Tiefen  schon 
ausspricht.  So  ist  er  mir  auch  für  die  Gegenwart  von  lebendigem 
unmittelbarem  Interesse.  Um  aber  in  Ursprung  und  Sinn  der 
Ideenlehre  wirklich  einzudringen,  hat  man  zuerst  die  einzelnen 
Dialoge  sorgfältig  zu  erfassen.  Auch  diese  aber  darf  man  nicht 
eher  auf  ihre  Echtheit,  Zeitfolge  u.  s.  w.  hin  prüfen  wollen,  als  man 
sich  des  genauen  Gedankengehaltes  derselben  bemächtigt  hat.  Aus 
Gründen,  die  sich  später  von  selbst  ergeben  werden,  wähle  ich  nun 
zunächst  den  Phaedon  und  den  Timaeus  für  eine  solche  Analyse. 
Diese  beiden  Dialoge  werden  uns  inhaltlich  und  methodisch  einen 
ersten  sicheren  Anhalt  gewähren,  um  nach  ihnen  das  corpus  Pla- 
tonicum  sachlich  zu  beurtheilen.  Nur  unmassgeblich  bemerke  ich 
noch,  dass  ich,  je  tiefer  ich  in  Plato  eindrang,  um  so  conservativer  in 
der  Platonischen  Frage  geblieben  oder  geworden  bin.  —  Für  heute 
also  haben  wir  es  lediglich  mit  dem  Gedankengange  des  Phaedon 
zu  thun,  an  welchen  ich  einige  Erläuterungen  und  Ausblicke  an- 
schliesse.  —  — 


1 


4  Gustav  Glogau, 

Der  Gedankengang  des  Phaedon. 

Wie  fast  alle  Dialoge  Piatons  an  ein  wichtiges  Ereigniss  des 
äusseren  und  inneren  Lebens  angeknüpft  sind,  so  handelt  der  Phae- 
don —  der  Schwanengesang  des  Socrates  p.  85  —  aus  Anlass  der 
Darstellung  von  Socrates'  Tode  über  Tod  und  ewiges  Leben.  Er 
entwickelt  eine  Auffassung  des  Lebens  überhaupt  und  damit  einen 
Umriss  der  gesarnmten  Socratisch-Platonischen  Philosophie.  Die 
folgende  Skizze  dieses  Dialoges  sieht  von  dessen  stilistischem  Zauber, 
den  scherzenden  Antithesen  wie  p.  64  b— 65  a  und  von  der  Ver- 
theilung  der  einzelnen  Aeusserungen  des  wiedererzählten  Gespräches 
au  die  betheiligten  Personen  ab,  um  allein  die  Gliederung  des 
Ganzen  scharf  herauszuheben.  — 

A.    Einleitung,   p.  57— 61e. 

I.  Einführung.  Echekrates  fragt  Phaedon,  der  in  Phlius  bei 
ihm  weilt,  nach  den  letzten  Worten  und  Thaten  des  Socrates 
(p.  58  c),  bei  dessen  Tode  dieser  zugegen  gewesen  zu  sein  bekennt. 
Das  ihm  und  seinen  Freunden  (vgl.  p.  57  b,  58  d,  102  a)  nun  wie- 
dererzählte Gespräch  scheint  so  dem  Echekrates  gewidmet.  Zu- 
gleich aber  bieten  die  Fragen  eines  Fremden  die  objektive  Veran- 
lassung dar,  auch  die  (in  Athen  wohl  allgemein  bekanuteu) 
Vorgänge  von  der  Verurtheilung  des  Socrates  an  bis  zu  seinem 
Todestage  zu  berichten.  Phaedon  also  erzählt  zuerst  die  Ursache 
der  Verzögerung  der  Hinrichtung;  dann  die  gehobene  Haltung  des 
Socrates  an  seinem  Todestage  und  die  gemischte  Stimmung  der 
anwesenden  Freunde,  mit  denen  er  die  folgenden  Gespräche  führt 
und  welche  ziemlich  vollständig  aufgezählt  werden;  endlich  die 
früheren  Besuche  derselben  und  die  Ereignisse  am  Vorabend  des 
Todes  und  am  letzten  Morgen.  Die  damals  mit  ihrem  jüngsten 
Kinde  im  Gefängnisse  anwesende  jammernde  Xantippe  wird  gleich 
entfernt,    p.  57 — 60  b. 

IL  Vorgespräche,  a)  Das  angenehme  Gefühl,  welches  So- 
crates nach  Lösung  der  Fesseln  durch  die  Elfmänner  empfindet, 
lässt  ihn  den  sonderbaren  Zusammenhang  von  Lust  und  Schmerz 
erörtern;  Aesop  würde  daraus  eine  Fabel  gemacht  haben,     b)  Dies 


Gedankengang  von  Piatons  Phaedon.  5 

Wort  erinnert  Kebes  an  dos  Dichters  Euenos  Frage,  wie  es  komme, 
dass  Socratcs  sich  jetzt  zuerst  im  Gefängnisse  mit  der  Dichtkunsl 
befasse.  Socratcs  erwidert,  er  habe  einem  häufigen  Traumbefehl, 
Musik  zu  machen,  dem  er  bisher  durch  die  Philosophie  zu  ent- 
sprechen gemeint  habe  ibc  cpiXoco<pta;  ouctjs  us-,^-/];  [lOüQitxrjs,  in 
seiner  jetzigen  Müsse  auch  im  wörtlichen  Sinn  zu  seiner  Sicherheit 
nach  Kräften  geniigen  wollen.  Euenos  möge  ihm  recht  bald  in  das 
Jenseits  folgen,  wenn  er  ein  Philosoph  sei;  nicht  jedoch  auf  dem 
Wege  des  Selbstmordes,  p.  60  b — Gld. 

III.  Uebergang  zum  Hauptgespräch.  Der  Widerspruch, 
dass  ein  wahrer  Philosoph  sich  zwar  keineswegs  seihst  entleiben, 
doch  aber  einem  Sterbenden  solle  bald  folgen  wollen,  fordert  eine 
Aufklärung  und  veranlasst  Socratcs  zur  Erörterung  des  Wesens  des 
Todes,  die  sich  für  seine  Lage  besonders  schickt,  p.  Gld — öle. 

B.    Das  Hauptgespräch,  p.  61e — 115a. 

I.  Die  Erledigung  des  erhobenen  Widerspruches  be- 
reitet das  Hauptgespräch  vor     p.  61  e — 64a. 

a)  Nach  der  Goheimlehre  sind  die  Menschen  auf  einer  Wache, 
der  sie  nicht  selbst  sich  entziehen  dürfen.  Sie  gehören  den 
Göttern  und  müssen  deren  Befehl  abwarten,     p.  61  e— 62c. 

b)  Obwohl  die  Götter  für  die  Menschen  bienieden  als  die 
besten  Herren  sorgen,  stirbt  der  Philosoph  doch  gerne,  weil  er 
nach  dem  Tode  zu  den  abgeschiedenen  weiseren  Menschen  zu 
kommen  hofft,  sicherlich  aber  zu  sehr  guten  Göttern  und  in  einen 
seeligeren  Zustand.  Der  nähere  Erweis  dieser  kühnen  Hoffnung 
soll  Socrates'  Abschiedsgabe  an  seine  Freunde  sein,  eine  Apologie 
dafür,  dass  er  sie  und  seine  guten  Herren,  die  Götter,  gerne  ver- 
lasse,    p.  62c — 63 d. 

c)  Die  Warnung  des  Dieners  (6  [jiXXcuv  uot  owasiv  xo  cpapjjLaxov), 
sich  nicht  zu  erhitzen,  weist  Socratcs  zurück  und  formulirt  heiter 
das  Thema  für  diese  seine  zweite  Verteidigungsrede,    p.  63d — 64a. 

II.  Erster,  ethischer  Thcil,  Socrates'  Apologie:  Die 
sittliche  Gesinnung  setzt  den  Unsterblichkeitsglaubcn 
voraus,     p.  64a — 69 e. 

a)  Der  wahre   Philosoph  strebt  nach  nichts  anderem,  als  nach 


G  Gustav  Glogau, 

dem  Tode  (etTroOviqöxeiv  -t  xott  isüvavat),  denn  er  verlangt  nach 
möglichster  Lösung  der  Seele  von  der  Gemeinschaft  mit  dem  Leibe, 
welcher  dem  Streben  nach  eiteler  Siuneulust  unterliegt,  p.  64a 
bis  65  a. 

b)  Der  Körper  hindert  die  Gewinnung  der  Wahrheit,  welche 
rein  nicht  mit  den  Sinnen,  sondern  nur  im  Denken  erfasst  wird, 
das  eben  der  Leib  und  die  Sinnlichkeit  hemmt  und  verdunkelt. 
Vorandeutung  der  Ideenlehre,     p.  65a — 66  b. 

c)  Daher  stellen  die  Reden  der  wahrhaften  Philosophen  zu 
einander  die  Loslösung  uud  Reinigung  von  der  Sinnlichkeit  als  den 
einzigen  Pfad  zur  Wahrheit  hin.     p.  66  b — 67  b. 

d)  Sie  können  folglich  die  völlige  Loslösimg  aus  den  Fesseln 
des  Leibes  und  d.  h.  die  Erfüllung  ihrer  langen  Bemühungen, 
welche  der  Tod  bringt,  nicht  fürchten.  Wenn  irgendwo,  so  kann 
die  Seele,  vom  Leibe  gelöst  uud  in  sich  selbst  gesammelt,  im 
Hades  die  reine  Wahrheit  erhoffen,     p.  67  b — 68b. 

e)  Wer  dagegen  den  Tod  fürchtet,  der  war  nicht  ein  Weis- 
heits-  sondern  ein  Körperfreund.  Er  erträgt  Uebel  nur  aus  Be- 
sorgniss  vor  grösseren,  ist  also  „tapfer"  aus  „Furcht";  „enthaltsam" 
aus  „Unenthaltsamkeit"  —  weil  er  nämlich  durch  Feigheit  und 
Unmässigkeit  im  gegebenen  Falle  einer  grösseren  Lust  verlustig  zu 
gehen  fürchtet.  Ein  solcher  Tausch  aber  von  Lust  gegen  Lust 
oder  Furcht  gegen  Furcht  ist  in  Rücksicht  der  Tugend  nicht  der 
wahre,  weil  die  Tugend  die  sinnlichen  Güter  nur  für  die  wahren 
eintauscht  und  vertauscht,  nämlich  für  die  Erhöhung  der  Weisheit. 
Es  ist  vielmehr  deren  Gegensatz,  eine  blosse  axio^pacpia.  p.  68b 
bis  69c. 

f)  Dies  deuten  auch  die  Weihen  an.  Die  wahrhaft  Geweihten 
aber  sind  die  Philosophen.  Schluss  der  hoffentlich  überzeugenden 
Apologie  p.  69c — 69e. 

III.  Zweiter,  metaphysischer  Theil,  Ideenlehre:  Der 
voll-giltige  Erweis  der  in  dieser  Apologie  dargelegten  Zu- 
versicht auf  ein  Weiterleben  der  vom  Leibe  gelösten 
Seele  bedarf  als  Grundlage  der  Ideeulehre.  p.  69e — 107b. 

1.  Erkenutnisstheoretischer  Nachweis  der  Ideen  als 
der  immanenten  Erkenntnisskräfte  des  Geistes,  die  jedoch 


Gedankengang  von  Piatons  Phaedon. 


'6 


zu  bewusster  Wirksamkeil  ersi  gelegentlich  der  sinn- 
lichen Erfahrung  kommen  (\tr\  ocMoöev  otöto  Evvevo>)xsvcH  prfik 
Suvaxov  sTvott  IvvoTjaai  dXX5  rj  Ix  tou  tösiv  r(  atyao&at  rt  ex  ttvos  a/././r- 
T(ov  otfoft^aeuiv  p.  75a).    p.  69c  —  77b. 

a)  Gegen  diese  Apologie  wendel  Kebes  ein,  sie  lasse  aoeh  zu 
erweisen  a)  dass  die  Seele  nach  der  Trennung  vom  Leihe  über- 
baupl  weiter  existirt  und  nichl  etwa  sieh  auflöst;  ß)  dass  sie  alsdann 
auch  Kraft  und  Erkenntniss  besitze,    p.  69e  — 70c. 

b)  (a)  Nach  den  Mythen,  welche  das  Wahrscheinliche  erfassen 
(öiauuiK/.'v/oyiv  z'{-z  e?xös  outo)?  I)(eiv  eits  ;xr]  p.  70b;  rcaXaiös  ////-; 
p.  70c),  gehen  die  Seelen  von  der  Erde  in  den  Hades  und  kom- 
men aus  dem  Totenreiche  hierher  zurück:  sie  müssen  also  dort 
sein.  —  Indessen  nicht  blos  die  menschliche  Seele,  sondern  alles 
Werdende  (oaaireo  zyz>.  y^vsöiv)  entsteht  nirgend  anders  woher  als 
aus  seinem  Gegensätze  und  vergeht  wieder  in  denselben:  das 
Grössere  wird  aus  dem  Kleineren,  das  Stärkere  aus  dem  Schwäche- 
ren, das  Schnellere  aus  dem  Langsameren,  das  Bessere  aus  dem 
Schlechteren,  das  Gerechtere  aus  dem  Ungerechteren  u.  u.  Ebenso 
entstehen  die  beiden  Thätigkeiten,  durch  welche  die  entge^en- 
-■•^etzten  Zustände  gewirkt  werden:  Zunehmen  und  Abnehmen, 
Soudern  und  Miseheu  u.  s.  w.,  je  aus  einander.  Nun  aber  sind, 
wie  Wachen  und  Schlafen,  auch  Leben  und  Totseiu  entgegenge- 
setzte und  daher  wechselnd  aus  einander  hervorgehende  Zustände 
und  Thätigkeiten.  eioiv  apa  ai  tyoyal  {jpuov  iv  A1800.  dvcq- 
y.y.W;  ~y.;  :mv  Tsüvsiu-rur;  'l'r/y.:  Eivai  ttou,  oöev  oq  7caX.1v  ^vss^ai.  — 
Indirect  beweist  dies  auch  die  Unmöglichkeit  des  Gegentheils:  ohne 
einen  solchen  Kreislauf  würde  zuletzt  alles  in  einem  dauernden 
Endzustande  verharren  müssen,    p.  70c  —  72e. 

c)  (J3)  Socrates'  Grundbehauptung  ijtaib/jaic  =  ava(xv7jat5  setzt 
ein  vorher  vorhandenes  Wissen  und  damit  nebenher  auch  die  Exi- 
stenz der  Seele  vor  der  Geburt  voraus.  Diese  etuottjjit]  Ivouöa  wird 
aber  erwiesen  einmal  durch  die  Spontaneität  des  Erkcnnens  (ocütoI 
\ifooat  iravta  v,  ^'/}'-)'-  zweitens  durch  die  Zergliederung  *\cs  ver- 
wickelten Vorganges  bei  der  Wiedererinnerung.  Gelegentlieh  der 
durch  Wahrnehmung  gegebenen  sinnlichen  Vorstellungen  werden 
wir  nämlich  einer  nicht  gegebenen  anderen  wesentlich  von   diesen 


8  Gustav  Glogau, 

verschiedenen  Gesetzlichkeit  inne  (eav  xi's  tt  r,  üowv  tj  dxouaas  ^  -iva 
oXXtjv  aia&rjöiv  Xctßwv  ^r;  fiovov  sxstvo  7va>,  dXXa  xal  üsTspov  .  .  .),  auf 
welche  wir  das  Sinnliche,  das  ihr  entsprechen  will,  beziehen  (iravta 
-A  iv  ataör^eatv  ixsivoo  xs  ops-j'siai  tou  o  scjtiv  ujov  xal  olutoo  evSeearcspa 
iottv).  Es  hatte  also  die  Seele  srplv  sTvoci  iv  avöpw-ou  siost.  Kraft 
und  eine  ihr  zugehörige  (oixeiav)  Erkenntniss  rcspl  a-av-wv  01; 
s~ts<ppGqtCrV£^a  "oSxo  o  ecreiv  p.  72  e — 77  b. 

d)  Dass  die  vor  der  Geburt  vorhandene  Seele  nun  nicht  etwa 
im  Tode  vergeht,  folgt  einstweilen  aus  dem  früheren  Zugeständniss, 
dass  sie  nur  aus  dem  Totenreiche  in  das  Leben  hat  treten  können, 
p.  77b— 77 d. 

2.  Die  Verwandtschaft  der  Seele  mit  den  einfachen 
und  eingestaltigen  Ideen  erweist  ihre  Unzerstörbarkeit. 
Recapitulation  des  ersten  Theils.     p.  77 d — 84b. 

a)  Den  uns  dennoch  natürlich  anhaftenden  Glauben  an  ihre 
Zerstörbarkeit  (ibtos  svi  tis  xal  Iv  r^Xv  toT?)  widerlegt  vor  allem 
die  vertiefte  Selbstbesinnung  (C/jxetv  j(p7j  auxou?  txet  c/.XX-qXiov,  osl 
rt\iä:  ocvspsaöai  locuxouc).  —  Das  Zusammengesetzte  nun  lässt  sich 
aullösen,  nicht  aber  das  Unzusammengesetzte ;  was  sich  immer  in 
gleicher  Weise  verhält,  scheint  aber  am  ehesten  (p-aXiaia  sr/.o?)  un- 
zusammengesetzt. Die  im  Denken  ergriffenen  Formen  des  Seins 
(«utö  tö  i'öov,  auTo  tö  xctXov,  auTo  sxctaxov  8  eöti,  to  ov)  sind  nun 
immer  sich  selbst  gleich,  ohne  Wandel,  einartig;  das  Viele  dagegen, 
welches  die  Sinne  erfassen,  das  nach  jenen  benannt  ist,  ist  in 
stetem  Wandel  begriffen,    p.  77 d — 79a. 

b)  Danach  setzen  wir  zwei  Gattungen  des  Seienden:  das  Sicht- 
bare und  das  Unsichtbare;  letzteres  immer  sich  gleich  bleibend, 
ersteres  aber  nicht,  Von  uns  selbst  nun  scheint  dem  letzteren  die 
Seele,  dem  ersteren  der  Leib  verwandter.  Daher  eben  geräth  die 
Seele,  wie  früher  gezeigt  ist,  in  Verwirrung  und  Schwindel,  wenn 
sie  mit  Hilfe  des  Leibes,  d.  h.  der  Sinne,  erkennt.  Stellt  sie  je- 
doch, die  Betrachtung  allein  für  sich  an,  so  erfasst  sie  die  unver- 
änderliche Wahrheit,  der  sie  verwandt  ist.  In  der  Verbindung 
aber  von  Seele  und  Leib  herrscht  naturgemäss  die  Seele  als  das 
Göttliche  und  der  Leib  als  das  Sterbliche  gehorcht,    p.  79a — 80b. 

c)  Nach   der  Trennung  beider  käme  folglich   dem  Leibe  Zer- 


Gedankengang  von  Piatons  Phaedon.  '.! 

störbarkeit  zu,  der  Seele  dagegen  schwerlich.  Wenn  nun  selbsl 
der  Leib  nach  dem  Tode  noch  geraume  Zeit  bestehen  bleibt,  wie 
solltr  die  Seele  im  Hades  sofort  verfliegen?!  [sl  sie  durch  wahre 
Philosophie  wirklich  vom  Leibe  gereinigt  und  in  sich  gesammelt, 
so  gehl  sie  vielmehr  zu  der  ihr  verwandten  Gottheit,  um  fortan 
seelig  zu  leben.  Im  entgegengesetzten  Falle  dagegen  scheut  sie 
den  Hades  und  schweift,  durch  ihren  Umgang  seihst  leihartig 
geworden,  als  sichtbarer  Schatten  um  die  Grabstätte,  bis  sie 
durch  die  ihr  noch  anhängende  Begierde  endlich  wieder  in  einer 
derselben  je  entsprechenden  Weise  verkörpert  wird :  als  Esel,  Wolf, 
Habicht,  Geier;  oder  andrerseits  als  Biene,  Wespe,  Ameise,  Mensch. 
p.  80b -82  h. 

d)  Wer  also  für  seine  Seele  sorgt,  lässt  den  Leib  mit  seinen 
Sorgen  gänzlich  fahren  und  denkt  allein  an  die  Reinigung  und 
Lösung  der  Seele  aus  der  Fessel  der  Begierden,  die  sie  in  der  tief- 
sten Unwissenheit  und  Selbsttäuschung  festhalten,  an  den  Leib 
festnageln  und  zu  schlimmen  Wiedergeburten  bereiten.  Die  Philo- 
sophie dagegen  führt  sie  zur  Selbstbejahung  ihres  unsichtbaren 
Wesens  (zi—s'jsiv  fiijSsvl  akkio  7././.'  rt  «uttjv  au'qj)  und  damit  zur 
Gemeinschaft  des  Reinen,  Einartigen,  Göttlichen.  Die  wirklichen 
Weisheitsfreunde  heherrscht  die  Rücksicht  auf  das  zukünftige  Leben, 
nicht  wie  die  Menge  der  augenblickliche  Vortheil  (vcrgl.  II,  e).  Da- 
mit sind  sie  der  Befreiung  von  den  menschlichen  Uebeln  und  des 
ewigen  Lebens  gewiss,     p.  82b  —  84b. 

3.  Einwendungen,  welche  sich  ausserhalb  des  Stand- 
punktes der  Ideenlehre  erheben,  werden  theilweise  wider- 
legt,    p.  84b  —  95a. 

A.     Die  Einwendungen,     p.  84b  —  88b. 

a)  Sokrates  ermuntert  die  Anwesenden,  uhne  Rücksicht  auf 
seine  gegenwärtige  Lage  die  sich  regenden  Einwendungen  auszu- 
sprechen, und  so  eine  genauere  Darlegung  zu  veranlassen  (auxa  ?xa- 
vw;  o-E;'.EV7.t).    Episode  über  den  Schwanengesang.    p.  84b  —  85c. 

h)  Simias  hält  in  der  Speculation  nur  annähernde  Wahrheit 
für  möglich,  es  sei  denn,  dass  man  göttlicher  Offenbarung  (Xo-you  ftsioo) 
theilhaftig  würde.  Socrate>'  Ausführungen  aber  scheinen  ihm  zu 
weit,  da  sie  auch  von  der  Harmonie  gelten  im  Verhätnisse  zu  dem, 


XO  G ustav  Glogau  , 

woraus  sie  hervorgeht,  nämlich  zur  Leier  und  deren  Saiten:  jene 
ist  unsichtbar,  unkörperlich,  herrlich,  göttlich;  diese  sind  körperlich, 
zusammengesetzt,  irdisch.  Dennoch  bleibt  die  Harmonie  nach  Zer- 
störung der  Leier  nicht  bestehen.  Allen  aber  erscheine  wohl  die 
Seele  gewissermaassen  als  die  Harmonie  des  richtig  gemischten 
Leibes  und  somit  wäre  sie  vergänglich,     p.  85c—  86 d. 

c)  Kebes  scheint  wohl  das  Dasein  der  Seele  vor  der  Geburt, 
nicht  aber  ihr  Weiterbestehen  nach  dem  Tode  erwiesen  (vcrgl. 
III,  1  d).  Sie  mag  stärker  sein  als  der  Leib  und  viele  Leiber  über- 
dauern, ähnlich  dem  Weber,  der  viele  Gewänder  überdauert,  die 
er  gewebt  hat;  endlich  aber  könnte  sie  dabei  ihre  Kraft  verzehren 
und  wie  dieser  vor  Verbrauch  des  letzten  Gewandes  zu  Grunde 
gehen.  Dann  aber  bliebe  uns  stets  die  Furcht,  dass  dies  im  be- 
vorstehenden Tode  geschehen  werde,     p.  86  d  —  88  b. 

B.  Der  Eindruck  dieser  Einwendungen  veranlasst 
Sokrates  zu  der  Warnung,  den  Glauben  an  die  Vernunft 
nicht  einseitiger  Erfahrung  zu  opfern,     p.  88b  —  91  e. 

a)  Wie  auf  die  damals  Anwesenden,  so  machen  diese  Ein- 
wendungen auch  jetzt  auf  Echekrates  einen  mächtigen  Eindruck. 
Wenn  eine  so  überzeugende  Darlegung  sich  als  hinfällig  erweist, 
welchen  Gründen  darf  man  noch  trauen?!    p.  88b  —  88e. 

b)  Sokrates  erfasst  diesen  Eindruck  ganz,  ohne  aus  seiner 
scherzenden  Seelenruhe  zu  gerathen.  Doch  ermahnt  er  vor  der 
Erwiderung  seine  Freunde,  sich  durch  erfahrene  Enttäuschungen 
niemals  zum  Vernunfthass  verführen  zu  lassen,  dem  grossesten 
Uebel.  Wie  Menschenhass  aus  dem  vorschnellen  Vertrauen  der 
Jugend  entstehe,  so  der  Vernunfthass.  Nicht  die  Vernunft  (xou? 
Xo^ou?)  —  sich  selbst  und  seine  Unerfahrenheit,  seinen  Mangel  an 
Kunst  müsse  man  anschuldigen,     p.  88  e  —  90  e. 

c)  Er  erscheine  indessen  vielleicht  jetzt  selbst  als  ein  un- 
gebildeter Rechthaber,  da  ihn  allerdings  vorwiegend  sein  gegen- 
wärtiges Interesse  bestimme,  der  Wunsch,  die  Anwesenden  zu 
überzeugen,  aber  nur  nebenher.  Sie  sollten  sich  also  nicht  be- 
trügen lassen  und  bei  ihrer  Zustimmung  und  ihrem  Widerspruch 
geringe  Rücksicht  auf  ihn,  grosse  dagegen  auf  die  Wahrheit  neh- 
men,   p.  90  e  —  91c. 


ö 


Gedankengang  von  Piatons  Phaedon.  11 

(1)  In  knapper  Schärfe  recapituliri  er  darauf  die  erhobenen 
Einwände,     p.  91  c  —  91  e. 

C.     Widerlegung  des  ersten  Einwandes.     p.  91e  —  95a. 

a)  Da  alle  Anwesenden  die  Lehre  von  der  Anamnesis  und  so- 
mit etwelche  Präexistenz  der  Seele  auch  jetzt  unerschütterlich  fest- 
halten, so  kann  die  Seele  unmöglich  eine  Harmonie  sein:  ausTheilen 
eines  zunächst  noch  gar  nicht  bestehenden  Körpers  könnte  sie  ja 
ohne  inneren  Widerspruch  nicht  hervorgehen!  Diese  Meinung  ergab 
sieh  auch  nur  aus  einer  gewissen  Wahrscheinlichkeit  und  äusse- 
ren Gefälligkeit,  welche  auf  allen  Gebieten  vielfach  täuschen; 
jene  Lehre  dagegen  wurde  aus  einer  einleuchtenden  Hypothesis 
zur  Erklärung  der  der  Seele  thatsächlich  zugehörigen  Erkenntniss 
gewonnen,    p.  91  e  —  92c. 

h)  Jede  Harmonie  ferner  entspricht  demjenigen  genau,  woraus 
sie  hervorgeht  und  ist  folglich  bald  mehr  bald  weniger  Harmonie. 
Die  Seele  aber  ist  nicht  bald  mehr  bald  weniger  Seele,  p.  92e 
bis  93  b. 

c)  Weiter  besitzt  die  Seele  entweder  Vernunft  und  Tugend 
oder  Unvernunft  und  Schlechtigkeit;  diese  könnte  man  allerdings 
Harmonie  und  Disharmonie  nennen.  In  einer  Harmonie  jedoch 
kann  nicht  eine  zweite  Harmonie  oder  Disharmonie  stattfinden. 
Wäre  also  die  Seele  selbst  Harmonie,  so  könnte  keine  Seele  an 
der  Schlechtigkeit  theil  haben,     p.  93  b  —  94b. 

d)  Endlich  setzt  sich  die  Seele  den  Affecten  des  Leibes  als 
die  von  ihnen  verschiedene  Herrin  entgegen  —  eine  Harmonie  aber 
kann  zugestaudenermaassen  den  Theilen,  aus  deren  Spannung, 
Erschlaffung,  Schwingung  sie  erst  hervorgeht,  nicht  gebieten. 
p.  94  b — 95  a. 

4.  Die  "Widerlegung  des  zweiten  Einwandes  erfordert 
eine  weitere  (metaphysische)  Entwickelung  der  Idcen- 
lehre:  die  Ideen  existiren  transscendent  und  sind  damit 
zugleich  die  objektiven  Gesetze  des  endlichen  Seins, 
p.  95  a — 103  a. 

A.  Die  empirische  Forschung  und  Anaxagoras'  allge- 
meine Einführung  des  vo-jc  erklären  das  Wesen  der  Diu-.' 
nicht,     p.  95a — 99d. 


12  Gustav  Glogau. 

a)  Socrates  warnt,  infolge  der  gelungenen  Widerlegung  des 
ersten  Einwandes,  nicht  allzu  grosses  Zutrauen  zu  fassen  und  re- 
capitulirt  nochmals  den  zweiten  Einwand  p.  95a — 95 e. 

b)  Die  Widerlegung  desselben  setzt  die  Erforschung  der  Ur- 
sache des  Entstehens  und  Vergehens  voraus  (womit  III,  1,  b  weiter- 
entwickelt wird).  Socrates  hat  sie  als  Jüngling  mit  Enthusiasmus 
in  der  Naturforschung  (-spi  'fussoK  faxopia)  gesucht,  nur  um  zu- 
letzt auch  hinsichtlich  der  scheinbar  sichersten  alltäglichen  Kennt- 
nisse seiner  vollen  Unfähigkeit  inne  zu  werden.  Denn  Mischun- 
gen, Stoff  und  äussere  Combinationen  desselben,  wie  Zusetzen  und 
Fortnehmen,  erklären  ein  vorher  nicht  schon  vorhandenes  wesent- 
lich Neue  nicht,  das  aus  solchem  Zusammentreten  hervorgehen  soll. 
Die  Entstehung  des  Lebens,  das  Dasein  und  die  Entwickelung  des 
Denkens,  Ernährung  und  Wachsthum,  ja  selbst  einfache  Grössen  und 
Zahlverhältnisse  werden  aus  blos  empirischen  Relationen  (xaxa  toütov 
töv  tpo7:ov  x9js  fisöooou)  niemals  verständlich,  p.  95e — 97b. 

c)  Anaxagoras'  ordnende  Welt-Vernunft  schien  freilich  die  in- 
neren Beziehungen  der  Dinge  erklären  zu  wollen.  Statt  nun  aber 
in  den  Formen  und  Einrichtungen  der  Dinge  und  der  Welt  über- 
haupt wirklich  den  Zweck  aufzuweisen,  aus  dem  sie  gedacht  sind,  be- 
ruft auch  er  sich  lediglich  auf  materielle  Elemente,  auf  die  gegebenen 
Bestandteile  der  Dinge,  deren  Eigenschaften  und  mechanischen 
Zusammenhang,  ohne  den  Sinn  derselben  und  die  leitende  Macht 
für  ihr  Verhalten  und  Sein  anzugeben.  Das  nun,  ohne  welches  die 
wahre  Ursache  (xo  «ixiov  xw  ö'vxi)  allerdings  nicht  wirken  könnte 
(oux  avso  ou  =  die  wirkende  Ursache),  gilt  nur  durch  Verwechse- 
lung für  diese  selbst.  Der  ganzen  Naturphilosophie  bleibt  die 
innere  Ursache  (oatjxovta  tcy/6c)  verborgen  —  xo  a-yaöov  xat  8sov 
c-jvostv  xal  Suvr/siv  ouosv  oiovxat.  Socrates  inusste  sich  seinen  eige- 
nen Weg  bahnen,     p.  97  b — 99  d. 

B.  Die  Ideen  sind  transcendente  Mächte  an  sich,  die 
auch  den  Dingen  irgendwie  einwohnen,     p.  99d — 103a. 

a)  Mit  völliger  Umkehr ung  suchte  er  nun  statt  in  der  empi- 
rischen Anschauung  in  den  dem  Geiste  eingeborenen  Voraussetzungen 
(vergl.  III,  1,  c)  und  deren  consequenter  Entwicklung  die  Wahr- 
heit der  Dinge  (xtöv  ovxu>v  xyjv  aXr^etav)  p.  99  cl  —  100  d. 


Gedankengang  von  Piatons  Phaedon.  1.", 

b)  Mit  der  fundamentalen  Annahme,  die  als  subjektiver  Be 
sitz  des  Geistes  nachgewiesenen  Ideen  existirten  an  sich  (&rco&sp.evo; 
stW  ti  xaXöv  abxb  xaf}'  a&xö  xal  7.-tod)ov  xai  pi^oi  xal  xaXXa  -a'vxot) 
ist  einmal  eine  transscendente  Quelle  für  dieselben  vorausgesetzt. 
Dann  aber  sind  auch  weiter  die  wandelbaren  sinnlichen  Dinge 
nicht  durch  sich  selbst  oder  irgend  etwas  anderes  als  durch  die 
Theilnahme  oder  Gegenwart  jener  ursprünglichen  Wahrheit  (abxh 
•/.7.H'  ot&To)  —  d.h.  durch  die  Wirksamkeit  der  ewigen  Ideen, 
die  so  drittens  eine  kosmische  Bedeutung  gewinnen  —  schön, 
gross  u.  s.  w.  Nicht  durch  äussere  Relationen  ist  etwas  grösser 
oder  kleiner  als  ein  anderes,  sondern  [xsxaayov  x9js  töi'as  oücrtas. 
Die  Sinnendinge  also  sind  nicht  sui  juris,  sondern  völlig  abhängig; 
sie  haben  von  den  Ideen  auch  ihre  Benennung  empfangen  (p.  102  b). 
Doch  lässt  Plato  sowohl  die  Art  der  Wirksamkeit  dieser  kosmischen 
Mächte  (das  Verhältniss  von  Wesen  und  Erscheinung)  als  auch  ihr 
Verhältniss  zu  den  wirkenden  Ursachen  mit  Absicht  und  mit  be- 
sonderem Nachdruck  gänzlich  im  Dunkeln,     p.  100  b  —  101  d. 

c)  Die  Rechtfertigung  und  Erklärung  der  Ideen  selbst  aber  — 
d.  h.  eben  die  nähere  Bestimmung  ihres  transcendenten  Daseins  und 
ihrer  letzten  gemeinsamen  Quelle  —  würde  weitere  höhere  Vor- 
aussetzungen nothwendig  machen,  die  in  strenger  Folge  zu  ent- 
wickeln sind,  bis  man  auf  eine  voll  genügende  Ursache  (im  xt 
ixavov)  kommt,     p.  101  d  —  102  a. 

d)  Bei  dieser  Sachlage  nun  bezieht  sich  jede  besondere 
Untersuchung  nicht  sowohl  direkt  auf  die  ihr  unterliegenden  sinn- 
lichen Gegenstände,  als  vielmehr  auf  die  an  ihnen  gerade  er- 
scheinende kosmische  Gesetzlichkeit  (o  xo^ydvBi  sytov),  z.  B.  auf  die 
geometrische  (xb  sv  fjfnv  [ji-j'siloc);  nach  dieser  werden  dem  Gegen- 
stande seine  Eigenschaften  beigelegt.  Wird  dies  beachtet,  so  ver- 
schwinden alle  Widersprüche,  welche  für  die  an  die  Scheinwelt 
sich  haltende  Reflexion  bestehen  (vergl.  III,  4,  A,  b),  da  weder 
die  reine  noch  die  erscheinende  Idee  Widersprüche  zulässt.  Ein 
jedes  an  einem  Gegenstande  nachgewiesene  Verhältniss  bildet  viel- 
mehr einen  bestimmten  Inhalt  für  sich,  der  nicht  wie  die  sinn- 
lichen Dinge  fliesst,  sondern  immer  nur  das  ist,  was  er  ist:  ein 
ewiges  Vernunftverhältniss.     p.  102  a —  103  a. 


14  Gustav  Glogau, 

e)  Dies  scheint  der  III,  1,  b  vorgetragenen  Lehre  zu  wider- 
sprechen, dass  die  Gegensätze  je  aus  einander  hervorgehen.  Damals 
aber  war  noch  von  den  materiellen  Ganzen  (irpayfia)  die  Rede, 
welche  die  Gegensätze  an  sich  tragen  (iyovxw  ~a  cvavtiV);  jetzt 
dagegen  reden  wir  von  diesen  Verhältnissen  selbst  und  an  sich. 
p.  103  a  —  103  c. 

5.  Anwendung  der  so  gewonnenen  Metaphysik  zur 
Widerlegung  des  zweiten  Einwandes:  die  Ewigkeit  der 
Ideen  verbürgt  die  Ewigkeit  auch  gewisser  Grund- 
attribute der  Dinge,     p.  103  c  —  107  b. 

a)  Die  sinnlichen  Dinge  wie  Schnee,  Feuer,  haben  gewisse 
Grundeigenschafteu,  von  denen  sie  selbst  noch  verschieden  sind, 
ohne  die  sie  aber  nicht  sein  könnten,  wie:  kalt,  warm.  Wenn  nun 
die  diesen  Grundeigenschaften  entgegengesetzten  anderen  [aus  dem 
transscendenten  Orte  der  Wahrheit  heraus  und]  an  sie  herantreten, 
so  weichen  die  Dinge  entweder  aus,  oder  sie  gehen  zu  Grunde. 
Nicht  nur  die  Idee  an  sich  selbst  also  hat  eine  ewige  Natur,  son- 
dern [in  sekundärer  Weise]  auch  das,  was  ihre  Gestalt  an  sich  hat, 
solange  es  nämlich  existirt  (äste  jat]  jaovov  auxo  to  eTöos  «qiouailcu 
tou  sautou  ovoixato;  si;  xov  öfei  ypovov,  aXXa  xai  akXr,  xt,  o  laxiv  iisv 
oöx  exeivo,  l'/si  3s  ttjv  exstvou  [xopcprjv  dsi,  oxav  rzzp  "(]).  [Vergl.  die 
unmittelbar  vorher  gegebene  Darlegung  mit  III,  2,  b  c,  das  hier 
weiter  entwickelt  wird,  ohne  dass  doch  die  die  Widersprüche  lö- 
sende Intuition  der  Monadenlehre  hervorbricht.]   p.  103c  — 103  e. 

b)  Wie  bei  Plato  üblich,  wird  dies  Yerhältniss  von  Ding  und 
Grundeigenschaft  an  elementaren  mathematischen  Verhältnissen 
verdeutlicht.  Nicht  nur  die  Idee  des  Ungraden  und  Graden,  auch 
die  verschiedenen  Zahlen,  welche  das  Grade  und  Ungrade  als 
Eigenschaft  an  sich  haben,  würden  zu  Grunde  gehen  [in  das  tran- 
scendente  Sein  oder  das  Wesen  zurücktreten]  oder  ausweichen, 
wenn  die  entgegengesetzte  Allgemeinheit  selbst  oder  eine  sie  an 
sich  habende  Zahl  an  sie  heranträte,     p.  103  e  —  105  b. 

c)  Eine  Eigenschaft  nämlich  wird  einem  Sinnendinge  mit- 
getheilt  nicht  nur  unmittelbar  durch  seine  Theilnahme  an  der 
ihr  Wesen  ausdrückenden  Idee  [ursprüngliche  Schöpfung],  sondern 
auch  mittelbar  durch   ein  anderes  Ding   [die  bestehende  WTeltord- 


Gedankengang  von  Piatons  Phaedon.  1 .". 

nung]:  Wärme  wird  sekundär  auch  durch  Feuer  mitgetheilt,  Krank- 
heit durch  [Ansteckung  /..  B.  an]  Fieber,  Ungradheit  durch  die 
Eins.  So  nun  wird  Leben  dem  Leihe  durch  die  Seele  mituethcilt. 
deren  [einziges]  unmittelbares  Grundattribut  eben  das  Lehen  ist. 
Also  kann  die  Seele  das  Gegentheil  dessen,  was  sie  dem  drs  Lebens 
an  sich  untheilhaftigen  Körper  aus  ihrem  Eigenthume  erst  bringt 
(dei  o'jtcoc  i'/z\  cjwfia  £5>v  stv?-..  cp  äv  '/'-»yr,  if^ivqTai.  iz'.^ion  dei), 
nicht  seiher  aufnehmen:  sie  ist  un-sterblich.     p.  105  b  —  105  e. 

d)  (iahe  es  nun  Gründattribute,  die  unzerstörbar  sind  (dvtoXsdpov, 
aiöiov,  äo'.a'^öopov)  [die  als  ursprüngliche  Attribute  der  Schöpfung 
überhaupt  nie  in  die  Transscendenz  zurücktreten  können],  so  fiele 
für  diese  die  /.weite  der  oben  unter  a)  aufgestellten  Miiolichkeiten 
fort:  bei  Herantritt  des  Gegentheils  könnten  sie  nicht  zu  Grunde 
gehen,  sondern  müssten  sie  ausweichen.  Nun  hindert  freilich 
nichts,  dass  das  Ungrade,  Warme,  Kalte  vernichtet  wird  und  an 
seine  Stelle  (j-hz  sxeivou)  die  entgegengesetzte  Bestimmung  tritt: 
[sie  sind  nicht  Grundattribute,  nach  deren  Verschwinden  das  end- 
liche Sein  überhaupt  aufhören  müsste!].  Die  Seele  aber  oöS5  iazat 
Te&v>jxuTa.  Das  Ln-sterbliche  muss  ewig  sein,  wenn  überhaupt  [in 
der  endlichen  Welt]  Unzerstörbarkeit  da  ist.     Nach   unmittelbarer 

Gewissheit  (~otpä  ~ocvt<uv  dtv  OfAoXo-pjdeo] dvdpcuirwv  xi  ~;z  xccl 

Ett  fj.5XA.ov,  oje  i-(juau  icapä  f>£u)v)  ist  der  Gott  und  die  Idee  des 
Lebens  unvergänglich.  Ist  nun  die  Seele  un-sterblich,  so  [hat  sie 
ursprünglich  an  der  Idee  des  Lebens  theil,  deren  unmittelbare 
-Mittheilung  an  das  Endliche  bleibend  ist,  weil  sie  zum  Wesen  der  Idee 
selbst  gehört  (man  vergl.  neben  Plotin  Spinoza's  ewige  Modifieatio- 
nen).  Folglich]  ist  sie  unzerstörbar.  Der  Träger  des  Lebens  weicht 
heim  Herantritt  des  Todes,  der  das  Sterbliche  auflöst,  dem  Tode 
aus  und  fährt  heil  und  unzerstört  von  hinnen,    p.  105 e  —  107a. 

e)  Trotz  dieser  überzeugenden  Darlegung  bleiben  Simias  in 
Folge  der  menschlichen  Schwäche  Zweifel,  und  Socrates  selbst 
spricht  es  aus,  dass  zu  einer  völligen  Gewissheit  ein  schärferer 
Ausbau  der  Ideenlehre  von  ihren  ersten  Voraussetzungen  an  er- 
forderlich wäre.     p.  107  a  —  107  b. 

IV.  Dritter,  eschatologischer  Theil:  vexuia.  p.  107b 
bis  115  a. 


16  Gustav  Glogau, 

1.  Das  Schicksal  der  Abgeschiedenen,  a)  Ist  die 
Seele  unsterblich,  so  fordert  nicht  nur  unser  zeitliches,  sondern 
das  ewige  Leben  ihre  sorgfältige  Bildung  und  Erziehung,  mit  der 
allein  sie  ja  in  den  Hades  geht,  b)  Die  Abgeschiedenen  aber  unter- 
liegen zuerst  am  Versammlungsorte  der  Seelen  einem  Gericht, 
worauf  die  Reinen  unter  dem  Geleite  von  Göttern  den  ihnen  zu- 
kommenden Ort  erreichen,  c)  Die  Unreinen  treiben  sich  dagegen 
erst  lange  um  den  sichtbaren  Ort  herum,  gelangen  dann  wider- 
strebend an  den  Versammlungsort,  wo  jeder  sie  flieht,  und  endlich 
werden  sie  gewaltsam  in  ihre  Behausung  gebracht,  p.  107  b 
bis  108  c. 

2.  Die  äussere  Gestalt  der  Erde,  a)  Entsprechend  ihrer 
Bestimmung,  Sitz  der  sehr  verschiedenartigen  endlichen  Geister  zu 
sein,  ist  der  Bau  und  die  Grösse  der  Erde  höchst  wunderbar.  Ein 
runder  Körper,  verharrt  sie  infolge  ihres  Gleichgewichts  in  der  Mitte 
des  überallhin  sich  selbst  gleichen  Himmels,  da  sie  nach  keiner  Seite 
hin  vorwiegend  sich  wenden  kann.  Der  Umkreis  des  Mittelmeeres 
bedeutet  auf  ihr  nur  etwa  einen  Sumpf,  b)  Ihre  Oberfläche  zeigt 
zahlreiche,  an  Gestalt,  Grösse  und  Tiefe  (p.  111  c)  verschieden- 
artige Höhlungen,  in  welche  der  Bodensatz  des  Aethers:  Wasser, 
Nebel,  Luft  sich  sammeln,  während  die  Erde  selbst  rein  im  reinen 
Aether  liegt.  —  Wir  nun  wohnen  in  diesen  Höhlungen.  Wie  auf 
dem  Grunde  des  Meeres  die  Sonne  und  die  Gestirne  getrübt  er- 
scheinen würden,  so  sehen  wir  die  Gestirne  durch  die  Luft  ge- 
trübt: den  wahren  Himmel  und  das  wahre  Licht  und  die  wahre 
Erde  kennen  wir  nicht.  Alles  bei  uns  ist  vielmehr  verdorben  und 
zerfressen,  ähnlich  wie  im  Meere  das,  was  uns  für  schön  gilt,  von 
der  Salzfluth  hässlich  zerstört  ist.  c)  Von  oben  angeschaut  gleicht 
dagegen  die  Erde  einem  Balle  aus  zwölf  Lederstücken  von  glänzend 
bunten  verschiedenen  Farben.  Dem  entsprechen  die  Bäume, 
Blüthen,  Früchte,  die  Berge  und  Steine,  wovon  nur  Splitter  in 
den  Edelsteinen  bei  uns  sich  finden,  ein  Anblick  für  Seelige. 
Den  Lebewesen  dort  ist  die  Luft,  was  uns  Wasser  und  Meer  ist; 
der  Aether  aber,  was  uns  die  Luft  ist.  Bei  der  herrlichen  Mischung 
der  Jahreszeiten  leben  die  Menschen  ohne  Krankheit  viel  länger 
als  wir  und  sind  an  Sinneskraft  und  Einsicht  uns  soweit  überlegen, 


Gedankengang  von  Piatons  Phaedon.  17 

wie  Luft  das  Wasser,  Aether  die  Lufl  an  Reinheil   übertrifft.     Sie 
stehen  in  wirklichem  Verkehr  mit  den  Göttern,  sehen  die  Gestirne 
in  ihrer  wahren  Gestalt  und  gemessen  alle  Glückseligkeit,    p.  108« 
bis  111  c. 

3.  Das  Erdinnere,  a)  Unter  der  Erde  sind  die  Höhlungen 
sämmtlich  in  mannigfacher  Weise  mit  einander  verbunden,  so  dass 
das  Wasser  aus  der  einen  in  die  andere  lliesst.  b)  Im  Erdinnern 
befinden  sich  ungeheure  Ströme  von  warmem  und  kaltem  Wasser, 
viel  Feuer  und  grosse  Feuer-  und  Schlammflüsse,  wie  z.  15.  die  sici- 
lischen  Krater  beweisen;  sie  füllen  die  je  von  ihnen  durchflosse- 
nen  Räume.  Alle  aber  entspringen  und  münden  im  Tartarus,  der 
die  ganze  Knie  durchbohrt  und  die  zahlreichen  Ausgangs-  und  Mün- 
dungsstellen dieser  Flüsse  in  bestimmter  geometrischer  Anordnung 
(p.  112  d  —  113  c)  aufweist.  Ihr  besonderer  Charakter  hängt  von 
dem  durchflossenen  Räume  des  Erdinneren  ab  (vergl.  auch  113  c). 
c)  Im  Tartarus  hat  die  Flüssigkeit  keine  Stütze  und  [da  sie,  wie 
die  Erde,  nach  keiner  Seite  hin  fallen  kann]  wogt  (sie)  oscillirend 
auf  und  ab.  Die  ihr  je  nachfolgende  Luft  erregt  die  Stürme;  der 
wechselnde  Stand  der  Flüssigkeit  aber  bewirkt  das  wechselnde  Ein- 
und  Auslliessen  der  Ströme  und  der  von  denselben  gebildeten  Becken 
und  Ausläufer.  Sie  fliessen  sämmtlich  an  einer  tieferen  Stelle  [dem 
Mittelpunkt  näher]  in  den  Tartarus  zurück,  als  diejenige  ist,  aus 
welcher  sie  ausflössen,  d.  h.  sie  senken  sich  beim  Rückfluss  [von 
den  Polen]  zur  Mitte  hin,  welche  sie  nicht  überschreiten  können, 
weil  sie  sonst  bergauf  fliessen  müssten.  [Die  Flüssigkeit  im  Tartarus, 
welche  eine  bestimmte  Mächtigkeit  hat,  muss  sich  nämlich  über 
beide  Stellen  bereits  entweder  erhoben  haben  oder  unter  sie  gesun- 
ken  sein,  wenn  ein  Fluss  zurück  in  den  Tartarus  fliesst  und  damit 
versiegt.  Ein  einfaches  Schema  kann  dies  verdeutlichen.]  Ihre 
bange  und  ihre  Windungen  sind  sehr  verschieden,  d)  Die  vier 
Hauptflüsse  sind  der  Okeanos,  der  Acheron,  der  Pyriphlegethon, 
der  Kokytus.  Die  beiden  ersteren  sind  die  äusseren,  die  beiden 
letzteren  die  inneren.  Die  letzteren  beiden  nähern  sich  dem  vom 
Acheron  gebildeten  Acherusischen.See  von  der  entgegengesetzirn 
Seite  her,  ohne  doch  ihre  Flüssigkeit  mit  ihm  zu  vermischen. 
1».  111c—  113  d. 

Archiv  f.  Geschiebte  <l.  Philosophie.     VII.  2 


18  Gustav  Glogau, 

3.  Das  jenseitige  Leben,  a)  Nach  jenem  ersten  Richter- 
spruche  empfangen  diejenigen,  welche  ein  mittleres  Leben  geführt 
haben,  am  acherusischenSee  die  gebührende  Vergeltung,  b)  Die  Unheil- 
baren dagegen  werden  für  immer  in  den  Tartarus  geworfen,  c)  Dies 
geschieht  zwar  den  noch  Heilbaren  ebenfalls;  doch  wirft  sie  nach 
einem  Jahre  die  Welle  in  den  Kokytos  oder  Pyriphlegethon.  wo  sie 
solange  umhergetrieben  werden,  bis  sie  am  acherusischen  See 
durch  ihr  Flehen  endlich  die  Vergebung  derjenigen  erlangen,  an 
denen  sie  einst  gefrevelt  haben.  Dann  dürfen  sie  ebenfalls  dort 
verweilen,  d)  Die  Reinen  aber  bleiben  von  diesen  Gefängnissen 
frei  und  gelangen  auf  die  obere  Erde;  ja  theils  leben  sie  ohne 
Leib  in  noch  herrlicheren  Wohnungen,  e)  Ist  also  der  Siegespreis 
gross,  so  muss  man  um  seinetwillen  die  ganze  Kraft  zur  Er- 
langung der  Tugend  und  Weisheit  einsetzen,     p.  113  d  —  114  d. 

4.  So  etwa  muss  man  sich  das  Bild  der  Abgeschiedenen  vor- 
stellen, wenn  die  Seele  unsterblich  ist,  und  mit  dergleichen  Be- 
sprechungen gegen  alle  Versuchungen  des  Sinnenlebens  sich  waff- 
nen.     p.  114d — 115  a. 

T.     Schluss  p.  115a— 118. 

I.  Ausklingende  Nachgespräche,  a)  Kriton's  Frage  nach 
seinen  letzten  Aufträgen  beantwortet  Socrates  mit  der  Aufforderung, 
seine  Freunde  möchten  im  Sinne  seiner  Gespräche  für  ihr  wahres 
Beste  sorgen.  Dann  sei  ihm  wie  ihnen  am  besten  willfahrt,  b)  Auf 
die  fernere  Frage  nach  der  Art  seines  Begräbnisses  meint  er  scher- 
zend, er  habe  seine  lange  Rede  vergebens  gehalten,  wenn  man  immer 
noch  ihn  selbst  zu  begraben  meine.  Seinen  Leib  möge  man  nach 
der  Sitte  bestatten,     p.  115a — 116a. 

II.  Vorbereitung  zum  Tode,  a)  Darauf  geht  Socrates  mit 
Kriton,  um  den  Weibern  die  lästige  Reinigung  des  Leichnams  zu 
ersparen,  in  das  Badegemach  und  nimmt  nach  dem  Bade  dort  von 
seinen  Kindern  und  den  Frauen  Abschied,  b)  Bald  nach  seiner 
Rückkehr  meldet  der  Diener  der  Elf,  es  sei  nun  Zeit,  das  Gift  zu 
trinken.  Dabei  zeigt  er  sich  von  Socrates'  Persönlichkeit  tief  er- 
griffen,  der  ihn  auch  seinerseits  freundlich  lobt,  c)  Kriton's  Bitte, 
mit  dem  Trünke  wie  andere  bis  zum  vollen  Sonnenuntergänge  zu 


Gedankengang  von  Piatons  Phaedon.  19 

warten,  lehnt  er  mit  dem  Bemerken  ab,  es  wäre  lächerlich  für  ihn, 
mit  dem  schon  entschwundenen   Leben  zu  geizen.    |>.  116a     11Ta. 

III.  Der  Tod.  a)  Den  Ueberbringer  des  Giftbechers  Tragt 
Socrates  nach  dem  richtigen  Verfahren.  Ohne  die  Miene  zu  än- 
dern, empfängt  und  trinkt  er  den  Becher,  nachdem  er  um  glück- 
liche Uebersiedelung  gebetet.  I>)  Den  nun  fassungslosen  Freunden 
giefrl  sein  mahnendes  Wert  die  Haltung  wieder,  c)  Wie  ihm  ge- 
beissen,  geht  er  so  lange  umher,  bis  die  Heine  ihm  schwer  werden. 
Dann  legt  er  sich  nieder  und  kurz  ehe  die  schnell  nach  oben  fort- 
schreitende Erstarrung  das  Herz  erreicht,  befiehlt  er  Kriton,  dem 
Asklepios  den  ihm  geschuldeten  Hahn  zu  opfern.  Er  zuckt  noch 
einmal  auf  —  dann  brechen  ihm  die  Augen,  die  Kriton  schlicsst. 
p.  117a— 118. 

IV.  Epilog.  So,  Echekrates,  endete  unser  Freund,  der  ge- 
rechteste und  einsichtigste  unter  den  Menschen,     p.  118.  —  — 

Erläuterungen. 

1.  Ueber  die  Symmetrie  und  die  weise  Oekonomie  im  Aufbau 
dieses  Gespräches  giebt  die  bis  in's  Einzelne  herausgehobene  Glie- 
derung dem  aufmerksamen  Betrachter  einen  genügenden  Nachweis. 
Das  ganze  Gewebe  zeugt  von  der  vollen  Herrschaft  des  Verf.  über 
seinen  Stoff,  ohne  dass  doch  in  den  entwickelten  Gedanken  eine 
üeberreife  hervorträte.  Indem  Plato  absichtlich  sowohl  die  Be- 
kämpfung der  Sophistik  wie  die  weitere  Ausgestaltung  der  Ethik 
zur  Staatslehre  in  dieser  Verherrlichung  seines  Lehrers  bei  Seite 
lässt,  die  sonst  einen  so  breiten  Raum  in  seinen  Werken  einneh- 
men, vollzieht  er  allein  die  vollständige  Entwickelung  des  speeifisch 
somatischen  Elements,  bis  zur  Metaphysik  des  ewigen  Lebens. 
Die  allerdings  stark  hervortretende  Beziehung  zum  Pythagoreismus 
hat  doch  selbst  im  dritten  Theile  mehr  nur  eine  negative  Bedeu- 
tung; denn  sie  führt  nirgends  zur  Aneignung  wirklich  neuer  Motive. 
In  dem  (späteren)  Entwürfe  des  Gesammtsystems  dagegen  ist  das 
anders.  Im  Timaeus  ist  die  Naturphilosophie  zur  Grundlage  auch 
für  die  Betrachtung  der  sittlichen  Welt  geworden  und  von  dieser 
Seite  her  haben  sich  nun  die  pythagoreischen    Ideen  zum   eigen  t  - 

2* 


20  Gustav  Glogau, 

liehen  Complement  der  Sokratik  entwickelt.  Ja  auch  für  die  beiden 
verschiedenen  zusammenhängenden  Darstellungen  der  Staatslehre, 
die  icokneia  und  die  vopoi,  bildet  der  Timaeus  so  zu  sagen  die 
Wasserscheide.  Doch  unterlasse  ich  es  für  jetzt,  diese  Andeutun- 
gen des  Näheren  zu  verfolgen.  — 

2.  Mit  Beiseitesetzung  also  sowohl  allgemeiner  entwicke- 
lungsgeschichtlicher  wie  besonderer  stilistischer  Betrachtungen  (dem 
entsprechend  ich  auch  die  kleinen  Verschiebungen  und  gelegent- 
lichen Vorwegnahmen  zu  kennzeichnen  unterlasse,  welche  sich 
namentlich  in  der  zweiten  Hälfte  des  Gespräches  nicht  ganz  selten 
finden)  wende  ich  mich  gleich  zu  dem  Inhalte  der  drei  Theile  des 
Hauptgespräches  und  ihrem  Verhältnisse  zu  einander.  —  Der  erste, 
die  Apologie,  ist  der  fundamentale  Theil.  Obzwar  in  anderem 
Pathos  bietet  derselbe  auf  griechischem  Boden  den  Seufzer  des 
Paulus:  „Ich  unglückseliger  Mensch!  Wer  wird  mich  erlösen  aus 
diesem  Leibe  des  Todes?"  Das  unmittelbare  (prophetische)  Be- 
wusstsein  der  Seele  von  ihrer  ewigen  Bestimmung,  das  diese  Zer- 
rissenheit erzeugt,  hat  aber  auch  Socrates  im  wesentlichen  genügt, 
Seine  logische  Thätigkeit  geht  darin  auf,  es  immer  mehr  zu  ver- 
deutlichen und  darauf  weiter  den  Weg  zu  finden,  auf  welchem  ihre 
ewigen  Forderungen  sich  durchsetzen  können.  Seine  Ethik  also  zeigt 
den  Ausweg  aus  dem  Leiden  der  Welt,  über  dessen  Entstehung 
sie  nicht  speculirt,  in  einem  Leben  des  Geistes.  So  ist  die  Frage 
des  Selbstmordes  gleich  Anfangs  (stilistisch  sehr  weise)  eliminirt.  — 
Den  Anlass  zum  zweiten  Theile,  welcher  das  prophetische  oder  reli- 
giöse Bewusstsein  in  das  philosophische  überführt,  bilden  die  Ein- 
wendungen des  Verstandes,  welche  hier  die  pythagoreischen  Freunde 
erheben.  Die  zu  genauerer  Orientirung  dem  Menschen  überall  not- 
wendige Zergliederung  eines  unmittelbar  sich  darbietenden  Thatbe- 
standes  führt  nämlich  zunächst  zu  einer  Schwächung  oder  Zerstörung 
der  Selbstgewissheit  des  in  sich  ruhenden  Prophetismus.  Daher  gilt 
es,  an  die  Stelle  der  sich  erhebenden  Zweifel  und  vorschneller 
Theorien  eine  Unterscheidung  und  abgesonderte  Behandlung  der 
einzelnen  letzten  Fragen  zu  setzen.  So  aber  wird  die  innere  per- 
sönliche Erfahrung  und  die  dieselbe  anregende  (gelegentlich  auch 
wohl  ersetzende)  Autorität  reiferer  und  höherer  Menschen  schein- 


Gedankengang  von  Piatons  Phaedon.  2] 

bar   vod    einer  im    Denken   allein    gewonnenen    höheren   Wahrheit 
abgelöst,  deren  eindeutige,  von  jedem  kräftigen  Geiste  selbstthätig 
erfassbare  Grandfaden   dann    den  Gegensatz   und   zugleich   den  be- 
stimmten Zusammenhang  einer   Well   des  Scheines   und   der  Wahr- 
heit biosiegen.    Es  is1  bemerkenswerth,  dass  den  Mittelpunkt  schon 
des  ersten  Theiles   die  Vorandeutung  der    Ideenlehre    hatte  bilden 
müssen  (B. II b).    Damit  nun  setzt  sich  das  Geistesleben  des 
Occidents    demjenigen    des   Orients    ein  für  allemal   ent- 
gegen, wozu  die  gewaltigen   vorsocratischen  Leistungen  doch  mir 
erst  die  Vorhalle  bilden,  welche  ohne  die  entscheidende  platonische 
That  wiederum  zerbröckelt  wäre.    In  diesem  metaphysischen  Ausbau 
des  allgemeinen  prophetischen  Bewusstseins,  welcher  die  innere,  und 
die  äussere  Erfahrung  beide  anerkennt  und  sie  mittels  der  Thätig- 
keit  des  Verstandes  in  Harmonie  setzt,  liegt  aber  alles  bei  weitem 
verwickelter:  namentlich  ist,  wie  gezeigt,  sein  Verhältniss   zu  den 
ursprünglichen  Quellen  der  Wahrheit,  die  rein    persönlich    lliessen, 
leicht  zu  verschieben.  —  Der  dritte  Theil  endlich  entwickelt  die 
transscendenten  Dinge.    Da  diese  sowohl  der  sinnlichen  Anschauung 
wie  auch  dem  Denken   unfassbar  bleiben,  so  kann  die  platonische 
Dichtung    leicht    als    ein    Rückfall    in    die    Phantasiegemälde    des 
Orients  erscheinen.    Das  ist  sie  aber  gar  nicht,  sofern  die  mythische 
Wirklichkeit  hier  zum   Gleichniss,    die  prophetische  Vision  zum 
Bilde  ausdrücklich  herabgesetzt  wird.    Bilder  und  Gleichnisse  aber 
sind  dem  endlichen  Geiste  zu  einem  gesunden   Leben  ganz  unent- 
behrlich: auf  dieser  Brücke  allein  tritt  ihm  die  kfcciq  us^a/,/,  (p.  114c), 
das  nachirdische  Leben,  fortwährend  sinnlich  erregend  nahe  (eiradetv). 
Zweitens  aber  sind  diese  Bilder    auch  wahr,    sofern   in    ihnen    die 
altvertraute  mythische  Deberlieferung  durch   das  sicherste  Wissen 
—    die   ethisch-religiösen  Postulate    —    gereinigt   und  verklärt  ist. 
Lässl   man  sie,  um  keinerlei  Concession  an  das  menschliche  Bedürf- 
niss  zu  machen,  völlig  bei  Seite,  so  hat  man  die  eben  nachgewie- 
sene sekundäre  Bedeutung  der  philosophischen  Kritik   vergessen. 
Aus  einer  Leben-erhöhenden  Macht  muss  sie  zur  Leben-zerstörenden 
Hyperkritik  und  endlich  zum  Skepticismus  und  Positivismus  herab- 
sinken.   Die  den  Sinnen  und  dem   Verstände  an  sich  selbst   unfass- 
bare  innere  Quelle  hör!  aber  dann  auch  auf.  rein  zu  lliessen. 


22  (>  ustav  Glogau, 

3.  Da  Kant  ausserhalb  des  Kreises  der  alles  umstürzenden 
Neuerer  immer  nocli  das  verdiente  Ansehen  geniesst,  so  mag,  ehe  wir 
auf  Einzelnes  eingehen,  ein  flüchtiger  Vergleich  mit  seiner  Philosophie 
das  e\vis;e  Recht  der  Platonischen  Gedanken  etwas  näher  erhärten.  — 
Piaton  geht,  wie  Kant,  auf  einen  ursprünglichen  Erwerb  des  Geistes 
zurück,  um  in  den  gegebenen  sinnlichen  Erscheinungen  Noth- 
wendigkeit  zu  entdecken  und  sie  damit  zu  Erkenntnissen  zu 
erheben.  Und  zwar  weist  er  principiell  das  Apriori  umfassender 
und  zarter  nach  wie  Kant  dies  thut  (vgl.  III,  1,  c),  ohne  doch  in 
dessen  logische  Systematisirung  und  breite  Scholastik  in  der  Ein- 
zelausführung  zu  verfallen.  Kant's  „Kopernikanische  Umkehr" 
lindet  sich  p.  99  d — lOOd  (III,  4Ba)  sogar  wörtlich  bezeichnet.  Die 
Basis  für  Kaut's  ethisch-religiöse  Lehren  aber  ist  hier  ähnlich  in  den 
Analysen  des  ersten  Theiles  vorgebildet,  nur  dass  der  Kantische 
Rationalismus  die  innere  Erfahrung  viel  weiter  sublimirt  hat.  Den- 
noch aber  ist  der  Boden  der  beiderseitigen  Weltanschauung  aller- 
dings ein  anderer.  Statt  sich  im  lebendigen  Gefühle  der  wesen- 
haften Einheit  des  All's  auf  Plato's  kosmischen  Standpunkt  (III, 
4,  B,  b)  zu  schwingen,  begnügt  sich  vielmehr  Kant,  gegebene  sinn- 
liche Erscheinungen  mittels  rein  logischer  Bänder  zu  regelmässigen 
Erfahrungsreihen  zu  binden.  So  wird  einerseits  die  Erkenntniss 
von  ihm  auf  dem  immanenten  Standpunkte  der  sinnlichen  Erschei- 
nungswelt festgehalten,  von  dem  aus  ihm  Plato  wie  die  leichte 
Taube  in  den  reinen  Aether  zu  verschwimmen  scheint.  Anderer- 
seits aber  sieht  er  sich  aus  den  in  der  vorhergehenden  Erläuterung 
bezeichneten  Motiven  dennoch  gezwungen,  ein  verblasstes  Analogon 
wenigstens  unseres  dritten  Theiles  in  den  Postulateu  zu  schaffen. 
Iudem  vor  seiner  Hyperkritik  die  Selbstironie  des  Platonischen 
Mythos  nicht  bestehen  kann,  ist  ihm  Plato's  hohe  Wahrscheinlich- 
keit (III,  2,  a  fiaXtatta  süxoc)  ein  leeres  Wort.  Analytik  und  Dia- 
lektik treten  in  feindlichen  Gegensatz  zu  einander  und  die  Einheit 
der  Seele  löst  sich  in  eine  transscendentale  Funktion  auf.  Der  Primat 
der  praktischen  Vernunft  erzeugt  eine  Wahrheit,  welche  mit  den 
Erkenntnissen  der  theoretischen  Vernunft  keinerlei  wirkliche  Ver- 
bindung zulässt,  woran  dann  beide  hinsiechen  müssen.  Zu  Gun- 
sten sauberer  und   kritisch  vollkommen  haltbarer  Positionen  bleibt 


Gedankengang  von  Piatons  Phaedon.  23 

also  die  leichte  Brücke  ins  Jenseits  anbetreten,  die  Speculation  ist 
\  öllig  verworfen.  Das  aber  heissl :  die  Seite  des  menschlichen  \\  esens 
ist  von  Kant  übersehen,  nach  der  es,  als  ein  unvollendetes,  stetig 
aus  dem  Endlichen  in  das  unendliche  hinüber  zu  schon  gezwun- 
gen ist.  Hierin  hat  die  Platonische  [ronie  ihre  ewige  Bedeutung. 
4.  Zu  den  mannigfaltigen  Untersuchungen  des  zweiten  Theiles 
bemerke  ich,  dass  die  Conception  der  erkenntnisstheoretischen  und 
metaphysischen  Begriffe  überall  ans  der  Behauptung  des  ethisch- 
religiösen Bedürfnisses  gegen  den  fliessenden  Sinnenschein  hervor- 
geht. Keineswegs  aber  sind  dieselben  schon  abgeschlossen,  auch 
das  ewige  Sein  der  Seelen  hat  noch  nicht  zur  Monadenlehre  ge- 
führt, der  Plato  vielfach  sich  nähert,  am  meisten  im  zehnten  Buch 
der  Gesetze.  Vielmehr  tritt  der  Begriff  des  Bleibenden,  der  Sub- 
stanz, und  damit  weiter  die  Ewigkeit  der  Seele  zunächst,  nur  un- 
bestimmt als  der  nothwendige  Gegensatz  zu  den  ewig  wechselnden 
Zuständen  in  unmittelbarer  Gewissheit  heraus  (III,  1  b).  Die 
nähere  Vermittelung  dieser  kühnen  Behauptung  mit  der  bestehen- 
den Weltordnung  und  der  ursprünglichen  Schöpferthätigkeit  Gottes 
aber  wird  später  wohl  zögernd  versucht  (III,  5c  und  d:  e  deutet 
selbst  das  Ungenügende  dieses  Versuchs  an);  aber  erst  der  Timaeus 
zeigt  den  entscheidenden  Fortschritt.  Noch  nämlich  ringt  Plato  müh- 
sam nach  der  Fixirung  der  notwendigen  Mittelbegriffe,  namentlich 
der  Unterscheidung  bleibender  und  vorübergehender  Eigenschaften 
(III, öa),  welche  für  jene  Vermittelung  die  Voraussetzung  bilden.  So 
klare  Unterscheidungen  wie  diejenigen  Descartes'  zwischen  modus 
und  attributum  fehlen  noch  gänzlich.  Auf  ihnen  aber  beruhen 
Spinoza's  und  zum  Theil  auch  Leibniz'  Gedanken.  Und  als  der 
letztere  weiter  von  der  unendlichen  Substanz  die  relativen  end- 
lichen Substanzen  als  für  sich  seiende  Träger  der  äusseren  und 
inneren  Modificationen  unterschied,  so  war  damit  auch  ein  klares 
Verhältniss  zwischen  der  transscendenten  Idee  und  den  Ideen  in 
der  Erscheinungswell  angebahnt,  das  Plato  hier  (III.;"))  verfehlt  und 
erst  in  Timaeus  einigermassen  erreicht  hat.  —  Dagegen  sind  der 
Nachweis  des  Apriori  als  einer  dem  Geiste  immanenten  ewigen 
■i/.liehkeit  (III,  1  c)  und  des  geistigen  Wesens  der  Seele  ihrer 
Grundlage  nach  tiefer  und  umfassender  als  irgendwo  sonsl  geführt. 


24  Gustav  Glogau, 

Auch  die  kosmische  Wendung,  die  Plato  den  Ideen  giebt  (III, 
4  B  d),  begründet  allein  die  tiefere  und  wesentliche  Bedeutung  der 
Wissenschaft.  Der  erkennende  Geist,  als  Schlüssel  des  All,  inuss 
ihm  in  seiner  Wurzel  durchaus  commensurabel  sein.  Das  ist  die 
Grundbedingung  für  die  Möglichkeit  der  Erfahrung. 

5.     Im  Besonderen  erinnere  ich  rücksichtlich   der  lichtvollen 
Widerlegung  der  von  Simias  und  Kebes  gemachten  Einwendungen 
an  zweierlei.    Einmal  kommt  in  ihnen  die  innere  Selbstgewissheit 
des  Geistes,  die  Intuition  und  logische  Consequenz,  zu  vollem  Rechte, 
wofür  ich  neben  der  wundervollen  Rede  III,  3  Bb  an  III,  lc;  III, 
2aundd;  III,  5  d  erinnere  und  weiter  an  Sätze  wie  ei  21  xtc  auxr,c 
zrt:  utzoMozu);  s/oixo,   xaiP£lv  HTi;  "v  'mi  °"x  dtooxpivaio  eö>s  äv  xa 
aic    sxstvr^   opfAYj&svxa  dxe^aio,   U  sot   aXX^Xoi?  tjojwptovei  rt  öiccfomT 
(p.  101  d).      Dann   aber  muss  man  sich,    wie  wir  heute  uns   aus- 
drücken würden,  in  Platon's  Seminar  und  die  geistige  Atmosphäre 
seiner  Schüler  versetzen,  um  die  mathematischen  Beispiele  III,  4Ab; 
Bb;  Bd;  III,  5b,  c,  d  ganz  zu  würdigen.    Dem  in  sinnlichen  Vor- 
stellungen und  geistreichelnder  Sophistik  völlig  befangenen  Jüngling 
ging  an  dieser  einfachen,  leicht  überschaubaren  Thatsache  immanenter 
absoluter  Logik  die  Aufgabe  des  Denkens  auf.    Uns,  die  wir  zudem 
an  entwickeltere  mathematische  Vorstellungen  gewöhnt  sind,  wer- 
den diese  Schulbeispiele  namentlich  dadurch  schwierig,  dass  sie  nur 
ganz  knapp  angedeutet  aber  nicht  näher  entwickelt  sind,  so  dass 
das  wahre  Weseu  der  Zwei  u.  s.  w.,    worauf  Plato  anspielt,  über- 
haupt bei  Seite  bleibt.     Immerhin  dürften  meine  Andeutungen  im 
Gedankengange  dem  sorgfältigen  Leser   die    sachlichen    Schwierig- 
keiten heben.     Freilich  aber  würden  bei  einer  tieferen  Auffassung 
des  Verhältnisses   von  Wesen  und  Erscheinung  die  Ideen  wie  die 
Zahlen  nicht  dinglich  sondern  dynamisch   genommen  worden  sein 
(vergl.  III,  4Bb;  III,  5a),  womit  dann  die  Schwerfälligkeit  der  Bei- 
spiele wie  des  Gedankens  in  Fortfall  käme. 

'6.     Der  dritte  Theil  beruht  wohl   neben  dem   einheimischen 

Mythos  mit  auf  orientalischem  Einflüsse:  ttoXXyj  fjiv  rt  'EXXas 

-rroXXa  os  xal  ta  xä>v  ßapßapiov  yivvj  ouq  Ttavxcc?  y[ji]  Stepsuvac&ai 
Cr;xouvxa;  xotouxov  stkooov  (p.  78a);  seine  Gestaltung  aber  ist 
durchaus   occidental.     Die  Forderung  nämlich,   welche  er  an  Ana- 


Gedankengang  von  Piatons  Phaoil.ni.  25 


'o""e 


xagoras  ordnende  Weltvernunft  vergeblich  gestellt  hatte  (III,  IAc), 
ist  hier  von  Sokrates  stillschweigend  in  ihrem  vollen  I  mfange 
ausdrücklich  erfüllt  (vergl.  IV,  2  und  3):  wir  erhalten  ein  Vorspiel 
zum  Timaeus,  in  welchem  das  Weltall  von  den  feinsten  Theilen 
der  Materie  und  deren  Veränderungen  hör  bis  zur  Bewegung  dos 
Fixsternhimmels  lückenlos  nach  il>n  höchsten  göttlichen  Zwecken 
zusammenstimmend  erbaut  wird.  —  Die  ungeheuere  Grösse  der 
Erde  nun  nimmt  nicht  nur  dem  griechischen  Gesichtskreise  ent- 
rückte Kultursitze  wie  China  und  Mexico  vorweg:  die  Erde  reprä- 
sentirt  vielmehr,  als  einziger  Sitz  der  endlichen  Wesen,  die  Gesammt- 
heit  aller  Planeten  und  enthält  obenein  zugleich  Hölle  und  Himmel, 
soweit  wenigstens  die  Seeligkeit  noch  einen  sinnlichen  Charakter 
trägt  (IV,  3d).  —  Lehrreich  ist  ferner  der  Vergleich  der  von  den 
Menschen  bewohnten  Erdhöhlungen  mit  der  Höhle  im  VII.  Buche 
der  Republik;  beide  stimmen  in  wesentlichen  Zügen  überein:  den 
trübenden  Medien,  der  Schwäche  der  menschlichen  Natur  (p.  I09d,  e) 
u.  a.  —  Das  Erdinnere  weiter  habe  ich  durch  Einschaltungen  im 
Gedankengange  bereits  genügend  erläutert.  Der  Widerspruch,  dass 
die  Ströme  ihren  besonderen  Charakter  erst  von  der  durchflossenen 
Gegend  erhalten,  während  sie  zugleich  umgekehrt  die  durchflossenen 
Räume  je  mit  ihrem  besonderen  Inhalt  erfüllen,  ist  deswegen  nur 
scheinbar,  weil  der  Vorgang  ein  ewiger  ist.  Kur  bleibt  zu  ergänzen, 
dass  die  in  den  Tartarus  zurück  fliessende  Masse  sich  dort  sofort 
nentralisirt.  ein  chemischer  Vorgang,  welcher  die  Höllenqualen  ge- 
wiss ausserordentlich  erhöht.  Beim  Austluss  aus  dem  Tartarus 
aber  berührt  dann  die  gleichartige  Masse  sofort  verschiedenartige 
Gebiete,  wodurch  sie  ihren  besonderen  speeifischen  Charakter  ge- 
winnt. —  Da  endlich  die  Rückkehr  vom  acherusischen  See  in  die 
Menschenwelt  nicht  mehr  erzählt  wird,  so  widerspricht  unser  My- 
thos auch  nicht  der  III.  2c  erwähnten  Wiedergeburt  der  Menschen 
als  Esel,  Biene  u.  s.  w. 

7.  Zum  Schlüsse  mache  ich  auf  die  Lücken  aufmerksam,  die 
Plato  selber  als  solche  bezeichnet  hat:  die  Ideenlehre  und  beson- 
ders die  Art.  der  Theilnahme  der  endlichen  Dinge  an  *\rw  Ideen 
ist  in  dieser  Gesammtdarstellung  in  wesentlichen  Punkten  noch 
dunkel   gelassen    (vergl.  Erläuterung  -1).      Schon   die    Vorsicht    dos 


26  Gustav  G  log  au. 

Ausdrucks  ist  zu  beachten,  z.  B.  p.  80b  <Vj-/yj  rcpoö^xst  xo  irapaitav 
a8taXux<p  elvat  r(  3776s  xt  xouxou,  zumal  im  Hinblick  auf  Timaeus 
p.  41;  uml  ebenso  die  scherzhafte  Berufung  auf  göttliche  Offen- 
barung p.  85b;  endlich  am  Schlüsse  des  zweiten  Theiles  p.  107b 
der  Hinweis  auf  eine  nöthige  schärfere  Fassung,  p.  100 d  aber  heisst 
es  ausdrücklich:  xouxo  airXais  xat  d-iyyi»;  xat  ibo>?  bu^Dids  i'/w  itap' 
£[xauT(o  ort  oöx  aXXo  xt  -otEt  auto  xotXov  tj  t,  exetvou  xou  xaXou  etxe 
rcapooöt'a  sixe  xoivtovta  eixs  otcyj  otj  xai  "j~u>;  jrpoöifipofisvov  oö  "fap 
In  touto  ouay'jrj'Xou.au  Seine  allgemeine  Behauptung  einer 
Theil nähme  des  Endlichen  an  den  Ideen  nennt  er  mit  Selbstironie 
p.  105c  7.:r6xptcJiv  aaadvj  und  lehnt  für  jetzt  die  unerlässliche  Forde- 
rung ab,  das  Verhältniss  derselben  zu  den  wirkenden  Ursachen 
anzugeben  osotd>c  «v,  xo  Xsyo[asvov,  tyjv  kaoxoo  öxtav  xat  tt(v  aiceiptav 
(p.  101c,  d).  Das  Alles  hängt  aber  damit  zusammeu,  dass  der  er- 
kenntnisstheoretische  Ausgangspunkt  der  Ideenlehre  (III,  1) 
und  die  spätere  objektive  Wendung  derselben  (III,  4B)  die 
beiden  entgegengesetzten  und  dennoch  gleich  sicheren  und  festen 
Pole  dieser  Lehre  geworden  sind,  deren  wirklicher  Ausgleich  zu- 
nächst völlig  unmöglich  scheint.  Nach  dem  ersteren  sind  die  Ideen 
immanente  Erkenntnisskräfte  des  endlichen  Geistes;  nach  derletz- 
teren  aber  sind  sie  die  formenden  Weltmächte:  in  diese  Lücke 
kann  die  anschaulich  von  aussen  wirkende  mechanische  Ursache  als 
eine  wissenschaftliche  Erklärung  natürlich  nicht  treten!  So  wird 
der  Ausbau  der  Ideenlehre  nach  ihrer  transscendenten  Seite  und 
der  letzten  gemeinsamen  Quelle  der  Ideen  hin  zwar  gefordert  (III, 
4Bc);  auch  führt  die  vertiefte  erkenntnisstheoretische  Schau  [im 
Symposion  und  in  mythischen  Vorstellungen  im  Phaedrus]  direct 
über  die  endliche  Welt  und  ihre  Unvollkommenheit  hinaus  —  doch 
eine  rationale  Vermittelung  weder  der  einzelnen  Ideen  unter 
einander  noch  auch  ihrer  aller  mit  einem  wahrhaften  txctvov  und 
ferner  die  Erklärung  der  endlichen  Causalität  will  Plato  nirgends 
gelingen,  in  wievielen  tiefsinnigen  Dialogen  er  auch  den  Ansatz 
dazu  gemacht  hat.  Wie  die  uiÜsct;  des  Endlichen  an  den  Ideen, 
so  bleibt  ihm  die  Gottheit  in  unsicheres  Zwielicht  gehüllt.  Um  es 
aufzuhellen,  dazu  nämlich  müsste  man  statt  in  einer  Vielheit  ein- 
zelner intuitiv  erfasster  Strahlen  der  Wahrheit,  den  Ideen,  die  sich 


Gedankengang  von  Piatons  Phaedon.  27 

Plato  zur  ursprünglichen  Wahrheil  verfestigt  haben,  vielmehr  direct 
in  dem  Schauen  des  göttlichen  Urlichts  den  Ausgangspunkt  finden 
und  dann  weiter  zur  Emanation  (oder  tiefer  und  schärfer  zum 
Schöpfungsbegriffe)  zu  gelangen  wissen.  Ich  erinnere  an  Plotin, 
aber  auch  an  Spinoza's  cognitio  intuitiva  und  weiter  an  Leibniz. 
Wie  nun  Plato  selbst  in  hohem  Alter  doch  noch  zum  wahrhaft 
ursprünglichen  vorgedrungen  ist  und  von  ihm  aus  das  gesetzliche 
Dasein  der  Welt  und  die  Erkenntniss  des  Menschen  begreifen  ge- 
lernt hat.  immerhin  mit  manchen  ungelösten  Bedenken  (vergl.  z.B. 
den  Ir^v/ny-',;):  das  soll  uns  in  Bälde  eine  nähere  Betrachtung 
d^s  Timaeus  erweisen. 


IL 


Die  Autonomie  des  Denkens,  der  konstruktive 
Rationalismus  und  der  pantheistische  Monis- 
mus nach  ihrem  Zusammenhang  im 
17.  Jahrhundert 

von 
Wilhelm  Diltliey  in  Berlin 

I. 

Hinter  uns  liegt  die  Befreiung  der  neueren  europäischen  Völ- 
ker, der  dritten  Generation  von  Nationen,  welche  wir  geschicht- 
lich klar  unterscheiden  können,  im  16.  Jahrhundert  durch  Re- 
naissance und  Reformation.  Ihr  Inhalt  war  die  freudige  Bejahung 
des  Lebens  und  der  Welt  in  deni  heroischen  und  künstlerischen 
Schaffen  der  Renaissancezeit,  die  intuitive  Erkenntniss  des  Lebens 
in  der  Kunst  derselben,  entsprechend  innerhalb  der  Sphäre  der 
christlichen  Religiosität  das  Unabhängigkeitsbewusstsein  der  reli- 
giösen Person,  die  Emancipation  der  Gemeinde  vom  päpstlichen 
System  und  des  religiösen  Prozesses  von  Papstmacht  und  Scholastik, 
die  Erfassung  des  religiösen  Selbstwertes  von  Familie,  Beruf,  Ge- 
sellschaft sowie  das  Wirken  der  neuen  Religiosität  als  eines  Prin- 
zips, das  Leben  und  die  Gesellschaft  von  innen  neu  zu  gestalten. 
Lioiiardo,  Raphael,  Michel  Angelo,  Dürer,  Ariost,  Copernicus,  Eras- 
mus,  Luther,  Melanchthon,  Zwingli,  Calvin,  Hans  Sachs,  Tizian, 
Rabelais,  Camoens,  Tasso,  Montaigne,  Shakespeare,  Cervantes, 
Lopc  gehören  diesem  Einen,  unermesslichcn  Jahrhundert  an.  Es 
klingt  aus  in  das  17.  in  Baco,  Kepler,  Galilei  und  Rubens.     Und 


Die  Autonomie  des  Denkens  im  17.  Jahrhundert.  2!' 

dennoch  hat  dies  grosse  Jahrhundert  in  dem  Humanismus  und 
der    Reformation    nicht    die    zureichenden    Mittel    besessen,    die 

schweren  Probleme  zu  lösen,  welche  nach  dem  Untergang  der 
IVudalitat.  der  katholischen  Einheit  und  der  kirchlichen  Vernunft- 
wissenschaft der  europäischen  Gesellschaft  aufgegeben  waren.  Der 
Humanismus  zerfloss  in  haltlosem  Litteraten  tum ,  consolidirte  sich 
als  Altertumswissenschaft  oder  vermischte  sich  mit  der  protestan- 
tischen Bewegung.  Diese  aber  hatte  ihr  Ziel  einer  einmütigen 
Reform  der  christlichen  Kirche  nicht  erreicht;  Spaltungen,  kon- 
fessioneller Hader,  Secten-  und  Religionskriege  erfüllten  Europa; 
hatte  Luther  in  seinen  grossen  Jugendschriften  durch  das  neue 
Christenthum  die  weltliche  Gesellschaft  und  deren  Ordnung  zu 
reformiren  gehofft:  gegenüber  der  lebendigen  Fülle  tiefsinniger 
lilaubensweisen  und  radikaler  Forderungen,  welche  auf  dem  Grunde 
des  echten  Evangeliums  von  den  Täufern,  den  revolutionären 
Bauern  und  den  städtischen  Spiritualisten  erhoben  wurden,  wusste 
er  dann  doch  nur  das  unzureichende  und  kahle  Schriftprinzip  und 
den  harten  Grundsatz  vom  göttlichen  Rechte  der  Obrigkeit  geltend 
zu  machen.  Es  erwies  sich,  dass  die  biblischen  Schriften,  wie  sie 
einst  im  Zusammenhang  mit  den  Lebensverhältnissen  des  Imperium 
entstanden  waren,  das  politische  und  soziale  Leben  dieser  ger- 
manischen Welt  nun  nicht  mehr  zu  regeln  vermochten.  Es  zeigte 
sich  ferner,  dass  die  zentrale  Lehre  von  der  Rechtfertigung  allein 
durch  den  Glauben  all  die  metaphysischen  Dogmen  zu  ihrer  Be- 
gründung zurückrufen  musste,  durch  welche  sie  einst  ihre  univer- 
sale Formulirung  erhalten  hatte.  So  war  über  Nacht  eine  neue 
protestantische  Scholastik  wieder  aufgeschossen,  enger  und  kümmer- 
licher, als  je  die  katholische  gewesen  war.  Neue  Formen  der 
christlichen  Lebensvcrneinung  traten  hervor,  um  so  unerträglicher, 
weil  sie  eben  das  Höchste  im  Menschen,  wissenschaftliches  Denken, 
freie  künstlerische  Kraft,  religiöse  Gemeindcgestaltung  mit  ihrem 
Banne  belegte. 

Unter  diesen  Umständen  führte,  wie  ich  nachgewiesen  habe, 
das  zunehmende  Gefühl  der  LTnerträglichkcit  des  Streites  der  Con- 
fessionen  zu  der  Anschauung  eines  Gemeinsamen,  in  welchem  der 
Friede   gefunden  werden    könne.     Mit   unwiderstehlicher  Macht   er- 


30  Wilhelm   Dilthey, 

hob  sich  der  Gedanke  einer  den  Kern  aller  Religionen  enthaltenden 
Wahrheit.  So  entstand  der  Begriff  der  natürlichen  Religion.  In- 
dern dann  das  auf  das  Schriftprinzip  gegründete  protestantische 
Glaubenssystem  sich  mit  humanistischer  Klarheit  aller  historisch 
kritischen  Hilfsmittel  zu  reiner  Feststellung  des  inneren  Zusammen- 
hangs der  biblischen  Sätze  bediente,  erhob  sich  im  Socinianismus 
die  vernichtende  innere  Kritik  aller  theologischen  Halbheiten  und 
Compromisse  zwischen  biblischen  Sätzen  und  altkatholischen  Sym- 
bolen. Und  indem  Melanchthon  in  ehrlicher  Arbeit  mit  gründlichem 
Wissen  die  allgemeinsten  Voraussetzungen  für  eine  der  neuen 
Bildung  genügende  Grundlegung  der  Glaubenslehre  aufsuchte,  ge- 
langte er  zu  dem  Prinzip  des  natürlichen  Lichtes,  der  naturalis 
ratio,  zu  einem  eingeborenen  Gottesbewusstseiu ,  dem  Sittengesetz 
in  der  Brust  des  Menschen,  der  Freiheit  des  Willens,  der  Würde 
des  Menschen;  und  so  wurden  noch  neben  Luther  die  Grundlinien 
des  Rationalismus  gezogen,  welche  dann  das  nachfolgende  Jahr- 
hundert allmählich  ausfüllte.  Noch  tiefer  aber  reichte  die  in  d.-er 
transcendentalen  oder  spiritualistischen  Richtung  der  Theologie  aus- 
gebildete Ueberzeugung  von  der  Universalität  des  göttlichen  Geistes 
und  der  Offenbarung  in  der  Geschichte:  von  diesem  Standpunkte 
aus  haben  Vives,  Bodin,  die  grossen  niederländischen  Philologen, 
Giordano  Bruno  die  Religionen  verglichen:  so  gelangten  sie  zu 
dem  Begriffe  einer  allen  Religionen  gemeinsamen,  das  Menschen- 
"i schlecht  vereinigenden  Wahrheit.  Die  Vernunft  übernimmt  es, 
die  Religionen  zu  vereinigen.  Von  ihr  allein  hofft  das  von  Blut, 
confessionellem  Hader  und  Verfolgung  erfüllte  Europa,  dass  sie 
dem  Prinzip  der  Toleranz  Geltung  verschaffen  werde.  Und  zwar 
ist  diese  Vernunft  das  von  Plato,  Cicero  und  Seneca  vertretene 
Vermögen  des  Menschen,  die  Erfahrungen  durch  eingeborene 
Leistungen  zu  verknüpfen  und  das  Leben  durch  sie  zu  regeln. 
So  hofft  von  ihr  auch  das  Zeitalter  immer  ausschliesslicher,  dass 
sie  die  Neuordnung  der  Gesellschaft  herbeiführen  werde. 

Herbert  von  Cherbury  (1581— 1648) ')  hat  die  Autonomie 


J)  De  veritate  1G24,  de  religione  geutilium  1645.    Ich  benutze  de  ver.  ed. 
III.  1656. 


Die  Autonomie  des  Denkens  im   17.  Jahrhundert.  ;'>1 

des  religiösen  Bewusstseins  zuersl  in  dein  christlichen  Buropa 
durch  eine  Zergliederung  des  religiösen  Brkenntnissvermö- 
ls  begründet.  In  dieser  gründlichen  Analysis  hat  er  die  traditio- 
aelle  aominalistische  Ansieht  von  der  ünmöglichkeil  der  Erkennt- 
niss transcendenter  Wahrheiten  und  von  der  Mitwirkung  der  Offen- 
barung für  das  Zustandekommen  jeder  die  Natur  überschreitenden 
Erkenntniss  verworfen  und  die  religiös- sittlichen  Wahrheiten  als  in 
der  Vernunft  begründe!  nachzuweisen  versucht:  so  hat  er  den  für 
das  Mittelalter  unlösbaren  Streit  /wischen  fides  und  ratio  beigelegl 
und  die  Vernunft  in  ihrer  autonomen  Herrlichkeit  zum  ersten  Male 
hingestellt.  Hierdurch  tritt  er  als  ein  ebenbürtiger  Geist  neben 
Hugo  Grotius. 

Die  Vernunft  besitzt  in  sich  seihst  das  Vermögen  aller,  auch 
der  religiös-moralischen  Wahrheiten.  Diesen  seinen  Hauptsatz  ver- 
tritt er  mit  der  Sicherheit  intuitiv  gewonnener  Ueberzeugung,  ohne 
ausführliche  Widerlegung  der  gegenteiligen  Meinungen.  Die  Offen- 
barung tritt  ihm  für  die  Erkenntniss  der  Wahrheit  an  die  zweite 
Stelle,  und  auch  das  nur  mit  Restriktionen  und  vielen  Cautelen, 
im  Grunde  gegen  den  Geist  seines  Systems.  Denn  die  auf  Auto- 
rität beruhende  Offenbarung  unterliegt  unserer  Prüfung  und  hat 
nur  den  Wert  der  Wahrscheinlichkeit.  Und  nur  insofern  eben 
die  Offenbarung  mit  unserer  Vernunft  identisch  ist  —  denn  in 
gewissem  Sinn  ist  ja  alles,  was  überhaupt  göttlicher  Art  in  uns 
ist,  Offenbarung2)  —  ist  sie  uns  gleichfalls  unzweifelhaft  gewiss. 
Dieser  ganze  Appendix  von  der  Offenbarung  entbehrt  des  uotwendi- 
gen  Zusammenhangs  mit  der  Untersuchung  Herberts,  und  der  Be- 
griff derselben  wird  aus  Scheu,  ihn  gänzlich  zu  verwerfen,  in  einem 
seiner  Leberzeugung  von  autonomer  Vernunft  und  lumen  naturale 
entsprechenden  Sinne  umgebogen.  So  ist  und  bleibt  immer  wieder 
die  Vernunft  die  einzig  wahre  und  zuverlässige  Richterin.  Alles 
bedarf  ihrer  Billigung,  und  was  vor  ihrem  Richterstuhle  nicht 
bestehen  kann,  ist  von  vornherein  verworfen3). 

Diese  Position  musste  in  seiner  Zeit  gegen  orthodoxes  Luther- 


2)  De  vor.  291:     „Ul  paucis  dicam,  omnis   novus  sensus  divinus,  beatus 
(qui  in  foro  interno  excitatur)  revelatio  est". 
'■"■)  De  caus.  err.  71. 


32  Wilhelm  Dilthey, 

tum,  Calvinisten,  Puritaner  gehalten  werden:  sie  alle  sind  darin 
einig,  dass  die  Natur  verderbt,  zu  nichts  Gutem  geeignet,  die 
Vernunft  durch  die  Sünde  verdunkelt  sei.  Kurzerhand  gebietet  er 
diesen  naturae  sugillatores  Schweigen  und  verwirft  die  exscriptores 
miseros,  welche  unsere  geistigen  Fähigkeiten  von  sinnlichen  und 
leidenschaftlichen  Begierden  verdunkelt  sein  lassen4). 

Die  Untersuchung  selber  über  das  sittlich-religiöse  Erkenntniss- 
vermögen des  Menschen  wird  von  dem  gründlichen  Nachweis  der 
Suffizienz  der  Vernunft  eingeleitet.  Und  hier  sind  es  nun  nament- 
lich zwei  Momente,  denen  er  sein  Augenmerk  zuwendet  und  welche 
seiner  Arbeit  die  grosse  Bedeutung  verleihen:  die  neue  Stellung 
des  Problems  und  die  durch  dessen  Lösung  bedingte  Auffassung 
vom  Zustandekommen  der  Erkenntniss  überhaupt. 

Da  er  seine  Zeit  sich  in  Zweifeln  über  die  Möglichkeit 
wahrer  Erkenntniss  verzehren  sieht,  ohne  dass  sie  doch  das  be- 
freiende Wort  fände:  geht  er  auf  die  Frage  zurück,  was  denn 
überhaupt  Wahrheit  sei.  Er  ist  sich  der  neuen  Wendung,  welche 
er  hier  der  Forschung  giebt,  vollauf  bewusst.  Mehr  als  einmal 
können  wir  von  ihm  hören,  dass  niemand  vorher  ex  professo  die 
Lösung  in  dieser  Art  versucht  habe5).  Er  beginnt  seine  Unter- 
suchung, indem  er  sieben  mit  mathematischer  Prägnanz  formulirte 
Lehrsätze  an  die  Spitze  stellt,  welche  Wesen  und  Eigenschaften 
der  Wahrheit  näher  bezeichnen.  Energisch  wendet  er  sich  im 
ersten  gegen  die  den  mittelalterlichen  Nominalisrnus  überspannende 
Skepsis  mit  der  Behauptung  einer  realen  objeetiven  Wahrheit, 
deren  Existenz  nur  insani  und  seeptici  bezweifeln  können.  Und 
daran  reihen  sich  nun  die  Bestimmungen  über  Constanz,  Umfang, 
Deutlichkeit,  Differenzirung  und  allgemeine  Verbreitung  der  Wahr- 
heit.   Er  sondert  weiter  vier  verschiedene  Arten  derselben,  sofern  sie 


4)  „Taceant  Naturae  sugillatores  neque  penitus  depravatam  praedicent, 
quae  nullo  non  saeculo  doeuit  horrere  scelus."  De  ver.  132.  „Valere  interea 
iubeinus  exscriptores  miseros,  qui  faeuhates  nostras  noeticas  in  inferiori  ani- 
mae  parte  uua  cum  coneupiseibilibus  et  iraseibilibus  posuere."      De  ver.  148. 

5)  „Veritatem  investigandi  ratio,  quae  quam  ardua  sit,  vel  ex  eo  conicias, 
quod  uullo  in  publicum  prodierit  saeculo,  qui  argumentum  istud  ex  professo 
traetaverit."  Lcct.  ing.  De  ver.  „Facultatum  humanarum  terminos  et  metas 
primi,  quod  seimus,  posuimus".  p.  195. 


Die  Autonomie  des  Denkens  im  17.  Jahrhundert.  ;;.", 

das  Ding,  die  Erscheinung,  den  Begriff  und  den  Intellekt  betrifft. 
Allen  aber  ist  gemeinsames  Merkmal  —  und  hier  beweg!  er  Bich 
ganz  in  dem  durch  die  Jahrhunderte  ausgefahrenen  Geleise  scho- 
lastischer Tradition  —  die  Conformität6),  die  er  nur  nicht  in  dem 
engen  Sinne  der  Uebereinstimmung  von  Intellekt  und  Ding  fasst7). 
Soweit  die  Eintheilung  der  Wahrheit  und  die  Beschreibung  ihrer 
charakteristischen   Merkmale. 

Al>er  weitaus  bedeutender  für  die  Folgezeit  als  diese  meta- 
physische Begriffsbestimmung  wurde  nun  derjenige  Teil  von 
Herberts  Werk,  in  welchem  er  die  Möglichkeit  wahrer  Erkennt- 
niss  zu  erweisen  unternahm.  Schon  die  sich  gegen  die  Skepsis 
wendenden  Merkmale  der  realen  Objektivität,  Konstanz  und  all- 
gemeinen Verbreituno  der  Wahrheit,  sofern  sich  darin  die  That- 
sache  eines  providentiellen  Zusammenhangs  in  der  Natur  andeutet, 
lassen  vermuten,  dass  sich  Herbert  nicht  mit  der  Erkenntniss- 
theorie, welche  vom  Problem  des  Nominalismus  ausgeht,  begnügen 
werde,  sondern  dass  er  einen  gesetzlichen  Weltzusammenhang  an- 
nimmt, welcher  die  Möglichkeit  einer  wahren  Erkenntniss  der 
Dinge  verbürgt.  Indem  er  die  Bedingungen  für  die  oben  unter- 
schiedenen Arten  der  Wahrheit  sucht,  kommt  er  für  die  Wahr- 
heiten des  Intellekts  zu  dem  folgeschweren  Satze,  dass  es  im  ge- 
wöhnlichen Sinne  für  sie  gar  keine  Bedingungen  giebt;  ja  nicht 
genug,  dass  sie  von  Erfahrung  und  Beobachtung  nicht  abgeleitet 
werden  können,  bilden  sie  im  Gegenteil  die  Voraussetzung  und  Be- 
dingung jeder  möglichen  Erfahrung  und  Erkenntniss8).  Soweit 
reichen  die  Wurzeln  der  Kantschen  Erkenntnisstheorie  zurück. 
Fragen  wir.  was  denn  jene  Wahrheiten  des  Intellekts  seien,  so  er- 
halten wir  die  sich  an  Cicero  und  die  römische  Stoa  anschliessende 


6)  „Est  igitur  omnis  veritas  nostra  conformitas."     De  ver.  16. 

7)  Thom.  „Quuui  veritas  intelleetus  sit  adaequatio  intellectus  et  rei." 
Summa  cont.  gent.  I  c.  49. 

s)  .Tantum  abest,  ut  ab  experientia  et  observatione  deducantur  elementa 
siye  prineipia  ista  sacra  (sc.  die  notitiae  commuues),  ut  sine  eorum  aliquibus 
Bive  filtern  aliquo  neque  experiri  neque  quidem  observare  possimus."  De 
ver.  35.  Ohne  diese  würden  wir  nuda  spectra,  portenta  et  terrorea  wahr- 
nehmen. 

Archiv  f.  Geschichte  il.  Philosophie.    VII.  ;> 


34  Wilhelm   Dilthey, 

Erklärung:  es  bestellen  notitiae  cominunes  in  jedem  gesunden  und 
verständigen  Mensehen,  welche  unserem  gleichsam  vom  Himmel 
her  erfüllten  Geist  die  Erkenntniss  der  Dinge  dieser  Welt  ermög- 
lichen9). Hierdurch  tritt  nun  Herbert  in  entschiedenen  Gegensatz 
gegen  diejenige  Anschauung,  welche  im  Intellect  nur  ein  leeres, 
unbeschriebenes  Blatt,  eine  tabula  rasa  sieht  und  alle  Erkenntniss 
auf  dem  Wege  diskursiven  Denkens  entstehen  lässt10).  Sein  ganzes 
Werk  ist  ein  fortlaufender  Protest  gegen  diese  nominalistische 
Theorie. 

Im  Gegensatz  gegen  diese  Lehre  begründet  er  die  Möglichkeit 
der  menschlichen  Erkenntniss  durch  das  Zusammenwirken  von 
natürlichem  Instinkt,  äusserer  und  innerer  Erfahrung  und  dis- 
kursivem Denken11).  Hierbei  wird  der  Irrtum  dem  letzteren  Ver- 
mögen zugeschrieben12).  Andrerseits  muss  aber  nach  dieser  Be- 
trachtungsweise selbst  dem  Irrtum  stets  ein  Keim  von  Wahrheit 
zu  Grunde  liegen13),  Im  Mittelpunkt  seiner  Begründung  steht  der 
natürliche  Instinkt  als  dasjenige  Vermögen,  welchem  certitudo 
mathematica  zukommt.  Er  ist  ihm  anklingend  an  die  mystisch  theo- 
sophischen  Lehren14)  vom  Lebensprinzip,  dem  Archeus,  die  ange- 
borene Grundkraft  alles  Creatürlichen,  welche  sich  als  Streben  nach 
Erhaltung  der  eigenen  Individualität,  der  conservatio  sui,  in  allem 
Seienden  offenbart,  in  der  Stufenfolge  der  Schöpfung  zu  immer  hö- 


9)  „Sunt  autem  veritates  istae  notitiae  quaedam  coramunes  in  omni  homine 
sano  et  integro  existentes,  quibus  tamquam  caelitus  imbuta  mens  nostra  de 
obiectis  hoc  in  theatro  prodeuntibus  decernit."    De  ver.  35,  vgl.  auch  p.  37  u. f. 

10)  De  ver.  68:  „Apage  igitur  istos,  qui  mentem  nostram  tabulam  rasam, 
sive  abrasam  esse  praedicant,  quasi  ab  obiectis  haberemus,  ut  in  illa  denuo 
agere  possimus."     144:  „Apage  igitur  veteratoriae  scholae  rasam  tabulam." 

n)  de  ver.  p.  47. 

12)  „Discursum  esse  infinitum  vulgo  creditur  et  nulluni  dari  dubiorum 
terminum,  sed  falso"  202.  „Quod  tarnen  discursum  paulo  acrius  perstrinxi- 
mus,  in  causa  est:  quia  nullus  nisi  a  discursu  solennis  error;  quod  ex  innu- 
meris  illis  absurditatibus,  quae  substructionibus  notitiarum  communium  inni- 
tuntür,  satis  constat."    201  f. 

13)  „Veritatem  enim  non  solum  veritatis,  sed  ipsius  etiam  erroris  basin 
esse  quodammodo  supra  observavimus."     202. 

14)  Die  Vorliebe  für  die  Theosophen  geht'  aus  der  angelegentlichen  Em- 
pfehlung des  Paracelsus,  Patrizzi  und  Telesio  hervor,  welche  sich  in  der  seiner 
Selbstbiographie  eingeflochtenen  pädagogischen  Unterweisung  für  Knaben  findet. 


Die  Autonomie  des  Denkens  im  17.  Jahrhundert. 

herer  Vollkommenheil  emporsteigt  und  endlich  im  menschlichen  In- 
tellekt als  dem  Vermögen  der  allgemeinsten,  allem  Denken  zu  Grunde 
liegenden  Begriffe  und  Axiome  gleichsam  ein  Teil  jener  das  ganze 
Weltall  durchwirkenden,  universalen  göttlichen  Providenz  isl '■');  da- 
her er  auch  durch  den  Tod  nielit  vernielitet  werden  kann16).  Hie- 
mit  tritt  seine  neue,  auf  gesetzliches  Welterkennen  sich  gründende 
Auffassung  in  das  hellste  Licht.  Eben  weil  eine  die  ganze  Well 
ewig  durchwaltende  Vorsehung  existirt,  giebt  es  von  Zeit  und  Raum 
anabhängige,  darum  auch  unsterbliche,  jede  Erfahrung  überschrei- 
tende Grundgesetze  des  menschlichen  Geistes,  welche  in  sittlich- 
religiöser Hinsicht  eine  geurdnete  Lebensführung  des  Menschen  er- 
möglichen"). Die  Kräfte,  welche  in  einer  Rose  zu  Pergamon  vor 
Jahrtausenden  wirkten,  wirken  heute  noch  ebenso18);  und  die 
gleichen  Fähigkeiten  sind  in  allen  Menschen  zu  allen  Zeiten  die- 
selben gewesen  19).  So  beruht  auf  dem  ewigen  Wirken  göttlicher 
Providenz  der  consensus  universalis,  und  andrerseits  ist  dieser  der 
Erkenntnissgrund  für  solches  Wirken20). 

Die  allgemeine  Uebereinstimmung  ist  das  Merkmal  der 
ewigen  Wahrheiten.  Weil  sie  allgemein  sind,  müssen  sie  angeboren 
sein81).  Dass  wir  nichts  Näheres  über  ihr  Entstehen  wissen,  darf  uns 
nicht  zu  ihrer  Leugnung  veranlassen;  so  wie  Geschmack,  Geruch, 
Gefühl  u.  s.  w.  beruhen  auch  sie  auf  unmittelbarer  Erfahrung  und 


15)  ,Est  provideutiae  divinae  universalis  instrurnentum  proxirnum  eiusque 
pars  aliqua  iu  ipsa  mente  signata."     De  ver.  5G. 

"')  „adeo  denique  necessaria,  ut  nee  morte  tolli  videatur."     II».  57. 

'')  „In  hoc  quoque  navabis  operam,  ut  verum  aeternum,  quod  semper 
praesens  et  parabile  a  praeterito  sive  verisimili,  a  futuro  denique  sive  possibili 
distinguas."    Ib.  65. 

18)  „ Vires  easdem,  quae  Pergami  olim,  modo  obtinet  rosa."     Ib.  .'». 

,9)  „Easdem  facultates  in  foro  interiori  hominis  cuiuscumque  sani  et  integri 
etiam  ab  omni  aevo  descriptas  fnisse  (tamquam  notitiam  aliquam  cotaumuem) 
proponimus."     Ib.  5. 

■>0)  „Unieam  veritatis  normam  in  necessariis  faeimus  consensum  istum  uni- 
■  dein,  qui  sine  Providentia  divina  non  instituitur."     Ib.  51. 

*'')  „Consensum  universalem  tamquam  doctrinam  instinetus  naturalis  et 
necessarium  provideutiae  divinae  universalis  opus  habemus."  [b.  50.  „(I»eus) 
notiones  commuues  tamquam  media  providentiae  suae  divinae  universalis  nullo 
non  saeculo  hominibus  impertivit."    51. 

3* 


36  Wilhelm   Dilthey, 

schöpfen  aus  dieser  ihre  Gewissheit.  Allerdings  kann  sie  der  Mensch 
trotzdem  leugnen,  aber  er  thut  es  dann  ebenso,  wie  er  wohl  die 
Augen  schliesst,  um  nichts  wahrzunehmeil22).  Sie  sind  eben  in  sich 
selbst  gewiss,  und  wenn  sie  auch  dem  Menschen  ohne  eine  äussere 
Mitwirkung  von  Objekten,  Worten  oder  Zeichen  nicht  deutlich  sind, 
so  werden  sie  doch  mit  deren  Hülfe  sogleich  klar23).  Ihr  Wert 
hängt  von  der  Schnelligkeit  der  Auffassung  und  Zustimmung  im 
Erkenntnissvorgang  ab,  daher  die  ohne  Verzug  innerlich  bestätig- 
ten Allgemeinbegriffe  den  ersten  Rang  behaupten24). 

Indem  er  nun  seine  Theorie  vom  natürlichen  Instinkt  ver- 
bunden mit  der  von  der  allgemeinen  Uebereinstimmung  als  höchster 
Norm  der  WTahrheit,  anwendet:  ergeben  sich  ihm  aus  der  Bezie- 
hung des  gemeinsamen  inneren  Sinnes,  wie  er  im  Gewissen 
repräsentirt  wird,  zu  seinem  Objekt,  dem  höchsten  Gut,  die  un- 
ser sittlich-religiöses  Leben  constituirenden  Prinzipien.  Sofern 
Glückseligkeit  in  dem  vollen  Umfang  des  Guten  und  Ewigkeit  in 
dem  vollen  Umfange  der  Zeit  besteht,  vollzieht  er  die  Gleichung 
zwischen  dem  höchsten  Gute  und  der  ewigen  Glückseligkeit,  dem 
ewigen  Heile25).  Die  Erreichung  dieses  Heils  wird  uns  gewähr- 
leistet durch  die  unserem  Gewissen  innewohnende  Anerkennung 
eines  höchsten  Wesens,  die  Zuversicht  zu  einer  Vorsehung  sowie 
zu  der  lohnenden  und  strafenden  Vergeltung,  welche  durch  die 
göttliche  Forderung  eines  streng  sittlichen  Lebenswandels  ver- 
bürgt ist26). 


22)  P.  66  f. 

23)  „Notitia  communis,  etsi  hominem  latere  possit,  quatenus  nonduin  ex- 
plicatur,  si  tarnen  ab  obiectis  vel  rerum  vel  verborum  vel  quidem  signorum 
excitata  fuerit,  communem  notitiam  futuram  existimandum  est."    59. 

24)  „Inter  communes  igitur  illae  primum  obtinent  locum,  quae  ex  omni 
obiecto  nulla  interposita  mora  conformantur."    62. 

25)  „Cum  autem  beatitudo  sit  omne  bonum  et  aeternum  sit  omne  tempus, 
summum  illud  bonum  erit  beatitudo  aeterna."     De  ver.  139. 

26)  „Est  igitur  in  omni  actione  egregius  conscientiae  usus.  Primo,  ut 
supremura  aliquod  numen  agnoscamus,  quod  ut  ubique  existat,  nullibi  tarnen 
luculentiore  indicio  deprehenditur.  Secundo,  ut  de  Providentia  eius  certiores 
facti  ad  illam  nos  totos  componamus.  Tertio,  ut  compertum  habeamus,  nisi  prae- 
minm  et  poena  nos  maneret,  Deum  a  nobis  rigidam  et  duram  illam  virtutem 
etc.  minime  exacturum."    De  ver.  p.  137.    Ad  salutem  tarnen  aeternam  com'pa- 


Die  Autonomie  des  Denkens  im  17.  Jahrhundert.  :;< 

So  ist  hier  der  eigentliche  Or1  der  Religionsphilosophie 
in  seinem  System.  Die  später  gegebenen  fünf  Grundprinzipien 
sittlich  religiöserj  Handelns97),  die  notitiae  communes,  auf  denen 
die  wahre  katholisch»'  oder  universale  Kirche  beruht28),  sind  im 
Wesentlichen  in  jenen  drei  im  Gewissen  gegründeten  Sätzen 
enthalten.  Er  hat  sie  immer  noch  gehalten.  Schon  in  zwei  Ju- 
gendgedichten,9)  sprach  er  die  sichere  Zuversicht  eines  künf- 
tigen Lebens  aus  und  wiederholte  bei  jeder  Gelegenheit  dies  sein 
Glaubensbekenntniss:  als  ein  Schriftsteller,  der  nicht  für  die  Schu- 
len schrieb,  sondern  seiner  Zeit  helfen  wollte80).  Dies  aber 
vollbrachte  er.  indem  er  durch  eine  ungeheure  Reduction,  welche 
er  am  Dogma  vornahm,  gleichsam  die  ersten  Richtlinien  wieder 
herzustellen  suchte,  welche  der  Baumeister  dieser  Welt  jedem 
Herzen  eingegraben. 

Hieraus  erklärt  sich  nun  auch  der  Charakter  seiner  Haupt- 
schrift. Er  lässt  sieh  in  keine  persönlichen  Debatten  ein;  höchstens 
weisl  er  ganze  Richtungen,  die  ihm  nicht  conform  sind,  kurz  ab. 
Durch  den  Eindruck  seiner  eigenen  originalen  Gedanken  hofft  er 
den  Gegner  schweigen  zu  machen.  Er  sagte  wohl  einmal,  dass  er, 
verzweifelnd  an  der  Belehrung  aus  Büchern,  diese  endlich  abthat 
(dehine  abiectis  libris);  dennoch  können  wir  aus  seinen  vielen 
Citaten  hervorragender  Schriftsteller  ein  einsehendes  Studium  der 
gleichzeitigen  Gelehrten  entnehmen31).     Das  Meiste  mag  allerdings 


randam  non  sufficere  perhibebunt  nonnulli.  Ceterum  qui  ita  locutus  fuerit, 
nae  ille  quidein  audax,  nedum  sacrum  temerariumque  effatum  (mea  sententia) 
protulerit;  cum  uulli  satis  explorata  sinl  indicia  divina."  De  rel.  gent.  Auist. 
1700  p.  --;!)3. 

-7)  De  ver.  268 ff. 
De  ver.  2 

--9)  The  life  p.  31. 

3°)  Remusat:  L.  H.  de  Cherb.  p.  114.  Life  p.  65,  322.  Raigne  of  Ileury 
VIII.     Ilaered.  ac  nepot.  praeeept.  p.  1  u.  f. 

3I)  Eigentümlich  ist,  unter  der  Menge  von  Herbert  eitirter  Namen  jenen 
Italiener  nicht  zu  finden,  welcher,  so  weit  ich  sehen  kann,  der  einzige  vor 
ihm,  das  Vermögen  des  natürlichen  Instinctes  in  dein  Sinne  angewendet  hat, 
wie  er  selbst  Es  ist  Franciscus  Puccius  aus  Floren/.  Vermutlich  c.  1  "»10/1 
geboren,  aus  vornehmer  Familie,  wird  er  angesichts  der  religiösen  Kämpfe  in 
Lyon  von  dem  Drange  nach  Klarheit  zum  Studium  der  heiligen  Schritten  ge- 


38  Wilhelm  Dilthey, 

der  von  Seimsucht  nach  Erweiterung  seiner  Anschauung  von  frem- 
den Ländern,  Leuten  und  Sitten  getriebene,  leicht  bewegliche 
Weltmann  im  lgbendigen  Verkehr  mit  den  bedeutenden  Gelehrten 
der  NiederlaiKie,  Frankreichs,  Italiens  gelernt  und  erörtert  haben; 
seine  Beziehungen  erstreckten  sich  überall  hin;  die  Remonstranten 
Daniel  Tilenius  und  HugoGrotius  ermunterten  ihn  zum  Druck  seiner 
Sl'!u-ift  de  veritate  1624;  sein  Werk  de  religione  gentilium  verrät 
die  eingehende  Bekanntschaft  der  ähnlichen,  aber  viel  umfangreiche- 
ren Schrift  von  Joh.  Gerh.  Vossius:  de  origine  et  progressu  idolola- 
triae,  in  welcher  der  Altertumsforscher  und  Ethnograph  mit  erstaun- 
licher Fülle  der  Gelehrsamkeit  ein  grosses  Material  angehäuft  hatte. 


trieben;  in  Oxford  und  London  liegt  er  dann  eifrig  weiteren  Studien  ob,  ver- 
wickelt sich  hier  aber  in  Disputationen  mit  den  Calvinisten.  In  Basel  be- 
freundet er  sich  nun  mit  Socinus,  sieht  sich  aber  wegen  seiner  freien  religiösen 
Aeusserungen  wieder  genötigt,  die  Stadt  zu  verlassen,  wird  in  England  aus 
ähnlichem  Grunde  eingekerkert  und  entkommt  nach  Holland,  wo  er  mit  den 
wiedertäuferischen  Sekten  in  Verbindung  tritt.  Und  wie  er  sich  nun  aber- 
mals zu  Socin  nach  Krakau  begiebt,  macht  seine  Art,  in  Disputationen  Be- 
weisgründe mehr  aus  Natur  und  Vernunft  als  aus  der  Schrift  zu  schöpfen, 
es  doch  auch  den  bibelgläubigeren  Socinianern  unmöglich,  seine  Gemeinschaft 
/u  ertragen.  Schliesslich  soll  er,  wie  Lucas  Osiander  berichtet,  in  Salzburg 
o-efangen  genommen  und  in  Rom  verbrannt  worden  sein. 

Dieser  Lebensbericht  beruht  auf  einem  Briefe  Socini  ad  Dudithium  3.  Non. 
Dec.  1580  Bib.  Unit.  Oper.  Socini  Tom.  1,495.  Sein  eigenes  Hauptwerk  ist 
selten.  Der  vollständige  Titel  desselben  ist  De  efficacitate  Christi  servatoris 
in  omnibus  et  singulis  hominibus,  quatenus  homines  sunt,  Assertio  catholica 
aequitati  divinae  et  humanae  consentanea,  universae  sacrae  scripturae  et 
sanctorum  Patrum  consensu,  spiritu  discretionis  probata,  Adversus  scholas 
asserentes  quidem  sufficientiam  Servatoris  Christi,  sed  negantes  sanitärem  effi- 
caciam  in  singulis  per  Franciscum  Puccium  Filidinum  Dei  et  Christi  servum 
(1592  Goudae  in  Hollandia).  Dieser  Titel  lässt  den  freien  Standpunkt 
des  Verfassers  erkennen.  Da  das  Buch  nicht  zu  -  erreichen  war,  seien  aus 
einer  sich  gegen  den  Puccianismus  richtenden  Streitschrift  von  Haas  (1712) 
die  uns  interessirenden  Daten  entnommen.  Danach  hat  bereits  Puccius 
diese  Reduction  des  Dogmas  vorgenommen  und  in  dem  einfachen  Glauben 
an  Gott,  einem  der  stoischen  Anschauung  entsprechenden  vernünftigen  Lebens- 
wandel und  der  Nächstenliebe  die  Bedingungen  für  das  ewige  Heil  gefunden. 
Ja,  um  dieses  zu  erlangen,  braucht  man  nicht  getauft  zu  sein  und  nicht  der 
Kirche  anzugehören.  Für  diese  unerhörte  Lehre  verweist  er  u.  a.  auf  das 
Beispiel  des  Hauptmanns  Cornelius,  welcher  nur  durch  „natürlichen  In- 
stinkt-' Gott  angerufen  hätte. 


Die  Autonomie  des  Denkens  im   IT.  Jahrhundert.  39 

Die  Lehre  Berbert's  ist  in  ihrem  Kerne  der  Versuch,  das 
Problem  des  Erkenntnissvermögens,  insbesondere  des  religiösen 
Erkenntnissvermögens  durch  die  Lein«'  der  Stoa  von  dem  Lnstinctus 
naturalis  und  den  notiones  communes  aufzulösen.  Alle  darge- 
stellten früheren  Versuche,  vom  römischen  Stoicismus  aus  einen 
allgemeinen  Religionsglauben  dem  Christentum  unterzulegen,  wer- 
den nun  hier  überboten  durch  die  ganz  freie  Entwicklung  eines 
allgemeinen  Religionsglaubens  im  Sinne  der  Stoa,  unabhängig  von 
jeder  einzelnen  positiven  Religion.  Er  überschreitet  die  Stoa.  in- 
dem er  der  unmittelbaren  Wahrheit,  dem  intuitiven  Auffassen  der 
veritas  einen  Nachdruck  und  eine  Färbung  giebt,  welche  rückwärts 
au  die  Vertreter  der  intellektualen  Anschauung,  vorwärts  an 
Jacobi  gemahnt.  Hieraus  entsteht  ihm  das  Bewusstsein,  in  der 
Erkenntnisstheorie  original  zu  sein.  Seine  Verwerfung  der  Kraft 
des  diskursiven  Denkens,  sein  tiefer  Glaube  an  die  Macht  des 
instinetus  naturalis,  das  menschliche  Leben  zu  regeln:  darin  liegt 
seine  Grundstimmung.  Hierdurch  erwartet  er,  der  Theologie  eine 
feste,  unerschütterliche  Grundlage  zu  geben3'2).    Die  Sonderung  der 


33)  Er  geht  von  einer  dem  discursus  der  schola  entgegengesetzten  Anf- 
ing aus.  Ans  diesem  ist  aller  Irrtum  entsprungen,  so  haben  seine  Ver- 
teidiger nur  den  Zweifel  gross  gezogen;  dem  gegenüber  gilt  es,  eine  ab- 
solut gewisse  Grundlage  zu  finden.  Eine  solche  gewährt  ihm,  wie  später  Kant, 
i  den  4  Erkenntnissquellen  nur  das  Apriorische,  aber  im  stoischen  Sinne 
als  teleologischer  Lebenszusammenhang  aufgefasst.  Cf.  p.  72:  obicientibus 
antem,  quid  novi  ex  doctrina  ista  notitiarum  communium  adferam,  respoudeo: 
certitndinem  in  rebus  etiam  mathematicam.  Diese  Stelle  erweist,  dass  Herbert 
in  dein  Nachweis  der  Bedeutung  des  instinetus  naturalis,  den  Montaigne, 
Charron  und  Bacou  im  engeren  Sinn  aus  der  römischen  Stoa  entnommen 
hatten,  für  das  ganze  menschliche  Erkenntnissvermögen  Originalität  in  An- 
spruch nimmt.  Und  wie  fest  er  von  der  Richtigkeit  und  Wichtigkeit  seiner 
Lehre  überzeugt  ist,  das  zeigt  auch  p.  204:  restat,  ut  ex  hac  methodo  nostra 
verum  a  falso  in  propositioue  quacumque  datasepares:  alia  enim  ad  veritatem 
aon  superest  via.  Zwar  bezieht  sich  diese  Stelle  zunächst  auf  die  Prädika- 
mente.  Da  aber  diese  Methodus  zur  Lehre  vom  discursus  gehurt  und  der 
discursus  nur  auf  Grund  der  notitiae  communes  operiren  kann,  so  bezieht 
sich  jene  obige  Stelle  wesentlich  auf  seine  Lehre  von  den  communes  notitiae 
und  deren  unumstösslicher  Gewissheit.  Auch  p.  195  behauptet  er,  dass  er  zu- 
•  i>t  diese  diundlage  und  diese  gesammte  Ausführung  der  Erkenntnisstheorie 
gegeben  habe. 


40  Wilhelm  Dilthey. 

vier  Faktoren  der  Erkenntniss,  die  Bestimmung  der  überwiegenden 
Bedeutung  des  instinetus  naturalis,  als  welcher  die  höchste  und 
absolut  unantastbare  Instanz  bildet:  diese  Lehre  begründet  den 
moralischen  Rationalismus  des  18.  Jahrhunderts  bis  zu  Kant 
und  Jacobi. 

Das  Problem    der  Erkenntniss  konnte    er  aber  im  Sinne  ob- 
jektiver Giltigkeit  derselben  nur  dadurch  auflösen,  dass  er,  wiederum 
im  Einverständniss  mit  den  Alten,  die  Gewähr  für  die  objektive 
Bedeutung   der  Evidenz   und    der  Allgemeingeltung    in    der  Ver- 
wandtschaft der  menschlichen  Vernunft  mit  der  objektiven 
Vernunft  des  Universums  fand.    Und  hier  erscheinen  weitere  Ver- 
wandtschaftsverhältnisse   des    Herbert    mit    anderen    Philosophen. 
Zunächst  tritt  hier  seine  Verwertung  der  Aehnlichkeit  oder  Korre- 
spondenz (similitudo)   auf,   und  diese  ist  in  der  ganzen  antik  an- 
gelegten metaphysischen  Tradition  gegründet,    wofür    auf  Thomas 
und  Agricola33)  verwiesen    sein  mag.     Indem   er   aber  diese  Ver- 
nunft   als  Leben    und  Natur  auffasst,    tritt    er  nunmehr  auf  den 
engeren  Boden  der  römischen  Stoa.    Ist  ja  doch  die  stoische  cpuöis 
die  Energie,  welche  den   elementarischen  Körpern  die  Kraft  ihres 
inneren  Zusammenhanges  giebt  und  sich  immer  höher  entwickelt 
zu  verschiedenen  Vermögen,    und   ihr  Grundwesen   ist  die  conser- 
vatio  sui34);    ist  doch    in  diesem  Zusammenhang  das  höchste  der 
Vermögen  in  der  Natur  die  mens,   der  die  allgemeinsten  Begriffe, 
und  das  sind  die  religiösen,  angeboren  sind35).    So  verbinden  sich 
die    stoisch  -  platonischen    Lehren    der    römischen    Philosophie    bei 
Herbert  sehr  natürlich  mit  den  Begriffen  von  Beseelung,  Verwandt- 
schaft, Sympathie,  Stufen  und  Graden,  welche  in  dem  neuplatoni- 
sirenden  Panpsychismus  und  der  Theosophie  des  Zeitalters  ihn  um- 
geben, daher  er  den  Telesio,  Patrizzi  und  Paracelsns  liebt  und  be- 
nutzt.     Der    instinetus    naturalis    ist    ihm    die    angeborene  Kraft, 
deren  Wesen  Selbsterhaltung,    diese  wohnt  jedem   Seienden   inne, 
den.  Elementen  sowohl  wie  den  Pflanzen,  Thieren  und  Menschen. 


33)  Agric.  dial.  C.  6,  p.  51,  52,  55,  57. 
3i)  Cic.  de  fin.  V  9,  24.    III  5,  16. 


:)5)  Cic.  de  fin.  V  21,  59.    deor.  nat.   II  4,  21.     Tuscul.  I  2,  27,    bes.  'I2, 
53  ff.   24,  57. 


Die  Autonomie  des  Denkens  im  17.  Jahrhundert.  II 

Im  den  Elementen  ist  ihm-  instinctus  naturalis  auf  die  unterster]  Funk- 
tionen beschränkt,  er  steigert  sich  in  Bezug  auf  dieselbeu  so,  dass  er 
im  Menschen  das  Vermögen  der  höchsten  und  allgemeinsten  Be- 
griffe ist.  Entsprechend  gebraucht1  Herberi  echt  stoisch  für  Pro- 
videntia universalis  divina  gern  den  Ausdruck  natura  (905'.;)'"). 
Hics  alles  ist  ihm  lebendige  Literatur87);  sie  begründel  seine  stoische 


•(;)  Cf.  Cic.  nat.  deor.  II  29,  73  u.  32,  81  u.  5.  Auch  Varro  ist  von  ihm 
benutzt  worden. 

:;r)  Er  erwähnt  Aristoteles:  p.  69.  147.  159.  161.242.  Varro  (bei  August, 
civ.  d.  19)  p.  264,  einen  non  obscurus  auetor  p.  273.  Anspielungen  p.  79: 
\1vl1iain1s;    p.  13:   oratorum    prineeps   [Cicero),   p.  40  Z.  1:   radii  aniinae  cf. 

.  V  L6,2;  p.58:  mentis  fenestrae  cf.  Cic.  Tusc.  I  20,  46;  p.  62,  p.85:  Spiritus 
emissarii  cf.  Gell.  V  16,2;  p.  305:  Cic.  de  tat.  c.  LO,  20ff.  p.  310,  Z.  4:  Cic. 
de  div.  I  .")T.  129;  30,  63ff.  ('0:  p.  74:  stoisches  Fatum  zurückgewiesen. 

In  de  causis  errorum  erwähnt  er  p.  8,  90:  Cornelius  Dribel.  p.  23: 
Lnatomisti;  p.  24:  philosophi;  p.  45,  46,  48:  medici;  p.  137:  medicus  celeber- 
rimus;  p.  61:  seepticus;  p.  63:  Empirici;  p.  63,  137,  110,  120:  auetores;  p.  105, 
112,  116,  122,  123,  li'."):  percelebris  opticus:  p.  79,  80,  102:  Neoterici  (=schola); 
p.  104:  primaria  schola;  p.  41.  82,  87,  127,  128,  135,  140,  141:  schola;  p.  113, 
115,  127.  12S.  136:  Aristoteles;  p.  122:  architecti;  p.  114:  mathematici;  p.  125, 
127,  137:  quidam;  in  de  religione  G.  Vossius  p.  14 — 15.  IG— 17.  24.  25. 
27.  30.  33.  34.  35.  36.  40.  41.  42.  43.  44.  öl.  52—53.  56.64.  69.  70.  72.  so. 
-I.  86.  87.  88.  90.  93.  95.  97.  102.  103.  104.  108.  111  ff.  116.  120.  12:;.  L26. 
137.  138.  139.  111.  1.'.;;.  164.  166.  181.  18:1202.  Cicero:  17.  24.  28.  2:».  30. 
33.  39.  40.  41.  43.  44.  48.  L9.  54.  56.  59.  60.  61.  64.  69.  71.  72.  73.  79.  101. 
102.  105.  IOC  110.  111.  112.  114.  117.  119.  120.  124.  125.  126.  128.  129. 
130.  132.  133.  136.  137.  141.  143.  144.  145.  148.  149.  150.  152.  153.  L59. 
0:0.  162.  184.  185.  1S6.  187.  188.  189.  190.  191.  192.  193.  194.  195.  196. 
l:i7.  199.  201.  201.  2ii5.  206.  213.  215.  216.  227.  228.  Varro:  10—12.  38. 
12.  17.  48.  59.  71.  77.  78.  92.  94.  95.  96.  101.  103.  114.  116.  119.  133.  141. 
11c.  148.  149.  152.  154—155.  156.  18t;.  187.  227.  229.  230.  [Der  Anfang  der 
rifl  ist  vielleicht  eine  eigene  Verarbeitung  Ciceronischer  (de  deor.  nat.  112. 
4ff.)  und  Varronischer  Gedanken.]  Galilei:  6.  32.  48.  83.  Jelden:  33.  38.  12. 
"7.  133.  Garcilasso  de  Vega:  20.34.42.  Philastrius:  35.  Gesner:  35.  Auetor 
Christ:  40.  Thomas  Aquinas:  40.  228.  Jesuita:  40.  Cartarius:  11.  t:i.  II. 
16.  71.  72.  85.  88.  122.  121.  136.  140.  111.  156.208.  Eutbynius  Zingabenus : 
12.  Mersennius:  42.  50.  Copernicus:  43.  51.  Seueca:  43.  47.  64.  es.  78. 
120.  137.  187.  196.  198.  204.  206.  Vincentius  Bellov.:  II.  Kepler:  IC  17. 
18.49.56.  Scheiner:  46.  47.  48.  56.  57.  Sauford:  47.  138.  Acosta:  53  54. 
92.  Tubus:  56.  1'.  Mexias:  57.  Avicenna:  166.  Permonchus:  58.  Fr.  Leo 
1.:  65.  Carpentarius :  66.  Glycas:  70.  Lipsius :  72.  74.  76.  109.  Heinsius: 
110.2hl'.    Jo.  Leo:   76.     Dausquius:  80.     A.  Piccolomini:  so.     Licetus:  87. 


42  Wilhelm  Dilthey, 

Lehre  von  der  universalen  Vernunftreligion;  wieviel  er  auch,  zu- 
mal terminologisch,  aus  der  scholastischen  Schultradition  übernimmt, 
so  hat  doch  seine  Bezeichnung  schola  für  dieselbe  etwas  Abschätziges, 
er  bekämpft  insbesondere  ihre  nominalistische  Neigung  und  ihre 
Beschränkung  der  Vernunft  auf  den  discursus38). 

II. 

Diese  Hoffnungen  auf  eine  Religion  der  Vernunft  empfingen 
schon  seit  dem  15.  Jahrhundert  eine  immer  zunehmende  Stärke  durch 
die  Erfolge  dieser  Vernunft  in  der  Unterwerfung  der  Natur  durch  das 
Wissen.  Die  Epoche  der  Erfindungen  und  Entdeckungen  war  bedingt 
durch  die  Veränderungen  in  der  bürgerlichen  Gesellschaft.  Die  fort- 
schreitenden praktischen  Ziele  dieser  Gesellschaft  in  der  städtischen 
Industriearbeit,  im  Handel,  in  der  Medizin  enthielten  überall  neue 
Aufgaben.  Was  konnte  diese  Gesellschaft,  deren  zunehmende  städ- 
tisch unruhige  Bevölkerung  nach  verbesserten  Produktionsmitteln  und 
rascherem  Seeverkehr  verlangte,  mit  den  scholastischen  Disputir- 
künsten  an  den  alten  Universitäten  anfangen?  Nur  auf  dem  Wege 
des  Versuchs,  der  Rechnung,  der  Entdeckung,  der  Erfindung  konnte 


Theodorus  Gaza:  89.  Patricius:  57.  78.  81.  Petr.  Aponensis:  48.  Hugo 
Grotius:  15.  202.  Roger  Baco:  48.  Tycho  de  Brahe:  50.  78.  Jos.  Scaliger: 
51.  53.  102.  116.  140.  Bullinger:  22S.  Boccatius:  89.  Wilibald:  91.  Demste- 
rus:  98.  Christopha  Castro:  116.  Füller:  122.  Fabricius:  122.  Budaeus: 
123.  Caelius  Rhodig. :  123.  Vives:  123.  145.  Bullin:  167.  G.  Choul:  181. 
214.  227. 

38)  Es  ist  wichtig,  den  Begriff  der  schola  festzustellen.  Er  spricht  über 
sie  in  de  veritate:  p.  18.  25.  29.  40.  41.  64.  67.  75.  78.  92.  95.  105.  109.  110. 
116.  118.  122.  127.  131.  136.  138.  141.  144.  147.  156.  164.  166.  168ff.  193. 
197.  198.  201.  203.  205.  206.  207.  208.  211.  225.  229.  230.  232.  238.  246. 
218.  249.  254.  255.  257.  259.  261.  262.  263.  268.-  270.  271.  282.  305.  311. 
Zuweilen  für  schola:  authores.  Er  stimmt  der  schola  zu  in  der  Lehre  vom 
Makrokosmus  und  Mikrokosmus  p.  116,  von  den  humores  p.  110,  den  ein- 
zelnen sensus  externi  p.  168ff.,  von  der  Eintheihmg  des  Seienden  p.  141.  Fer- 
ner operirt  er  mit  denselben  Begriffen:  facultates  p.  40.  41.  197  ff.,  conditio- 
nes  p.  29,  obiectum  p.  25,  differentia  (-facultas)  p.  40,  analogia  p.  201,  princi- 
pium  individuat.  p.  198,  conformitas  (conscientiae)  p.  138.  llauptdifferenzpunkte : 
Nominalismus  p.  164,  tabula  rasa  p.  68.  144.  168,  discursus  p.  64.  68.  75.  78. 
95.  131.  193.  197 f.  201  u.  ff..  Für  das  Verhältnis*  der  Schule  zu  Aristoteles  be= 
weisend  p.  127.  197.  204. 


Die  Autonomie  des  Denkens  im   17.  Jahrhundert.  |."» 

das  Denken  den  Forderungen  dos  Lebens  genügen.  Und  mm  lagen 
in  derselben  neuen  bürgerlichen  Gesellschaft,  aus  welcher  diese 
modernen  Aufgaben  entsprangen,  auch  moderne  Mittel  ihrer  Auf- 
lösung. Denn  in  ihr  bildete  sich  nun  im  Gegensatz  zu  der  antiken 
Trennung  der  arbeitenden  Hand  von  dem  wissenschaftlichen  Geiste 
die  schöpferische  Verbindung  der  [ndustriearbeil  mit  dem  wissen- 
schaftlichen Nachdenken.  Diese  Verbindung  der  Arbeit  mit 
dem  forschenden  (»eiste  im  Schoosse  einer  freien  bürger- 
lichen Gesellschaft  hat  das  Zeitalter  der  Autonomie 
und  Herrschaft  der  Vernunft  heraufgeführt.  Es  entstanden 
Hilfsmittel  der  experimentellen  und  messenden  Wissenschaft,  Er- 
findungen im  Dienste  der  Herrschaft  der  Arbeit  über  die  Natur, 
wie  der  Compass,  das  Schiesspulver,  die  Buchdruckerkunst,  die 
fortschreitende  Technik  Gläser  7.11  schleifen.  Bald  haben  dann 
diese  Erfindungen  zu  Ergebnissen  geführt,  welche  eine  ausserordent- 
liche Steigerung  der  Souveränität  des  Menschen  gegenüber  der 
Natur  zur  Folge  hatten.  Hierbei  verwoben  sich  überall  die  Ideen 
d^v  Alten  mit  dem  vordringenden  construetiven  Geist  der  neuen 
Zeit.  Als  in  wenigen, Jahren  hintereinander,  von  jenem  12.  Ok- 
tober 1492  bis  1522,  die  Entdeckung  Amerikas,  die  Auffindung  des 
Seeweges  nach  Ostindien,  die  Erreichung  des  stillen  Oceans  und 
die  erste  Erdumsegelung  einander  folgten,  hatte  sich  die  mensch- 
liche Vernunft  den  Erdball  unterworfen  und  begann  sich  auf  ihm 
einzurichten.  Und  indem  so  die  Kugelgestalt  der  Erde  definitiv 
festgestellt  war,  that  sich  ein  unermesslicher  astronomischer  Hori- 
zont auf:  von  der  zunächst  liegenden  Hypothese  der  Axendrehum>' 
aus  gelangte  Copernicus  zu  der  endlichen  Feststellung  der  grössten 
Hypothese  der  antiken  Welt.  Die  Bedürfnisse  der  Seefahrt  haben 
den  astronomischen  Arbeiten  Interesse  und  Hilfsmittel  zugewandt. 
Dunkle  und  nicht  ganz  verstandene  Nachrichten  über  die  helio- 
zentrische Hypothese  haben  Copernicus  zu  der  grössten  Erweite- 
rung hingeleitet,  welche  die  Welterkenntniss  jemals  erfahren  hat: 
zu  derselben  Zeit,  in  welcher  der  alternde  Luther  im  Symbol- 
glauben sich  vergrübelte,  entstand  in  dem  Kopf  eines  katholischen 
Domherrn  dieses  wichtigste  wissenschaftliche  Werk  der  Menschheit. 
Die  Erschliessung    des  Universums    durch    das    rechnende  Denken 


44  Wilhelm  Üiltliey, 

wurde  dann  durch  Kepler  und  Galilei  fortgeführt.  Und  unter 
dem  Einfluss  derselben  socialen  Bedürfnisse  der  neuen  bürgerlichen 
Gesellschaft  wurde  endlich  auch  der  erste  entscheidende  Schritt  ge- 
than,  die  complexen  Phänomene  dieses  Universums  einer  wirklichen 
Analysis  zu  unterwerfen,  welche  die  einfachen  gesetzlichen  Ver- 
hältnisse heraushob. 

Diesen  Schritt  that  Galilei  durch  die  Aufstelluno;  der  Ge- 
setze  der  Bewegung.  Die  Arbeit  in  den  Werkstätten  der  Städte, 
die  an  die  Erfindung  des  Schiesspulvers  sich  knüpfenden  Auf- 
gaben und  die  Festungstechnik,  die  Förderungen  der  Schifffahrt 
in  Kanalbau,  Schiffsconstruction  und  Schiffsausrüstung  machten 
die  Mechanik  zu  einer  Lieblingswissenschaft  der  Zeit;  zumal  in 
Italien,  den  Niederlanden  und  England  waren  diese  Bedürfnisse 
sehr  lebendig  und  riefen  Fortsetzungen  der  statischen  Arbeiten 
der  Alten  und  erste  Versuche  auf  dem  neuen  Felde  der  Dynamik, 
insbesondere  bei  Liouardo,  Benedetti  und  Ubaldi  hervor.  Galilei 
kam.  In  ihm  folgte  auf  mehr  als  zwei  Jahrtausende  von  Be- 
schreibung und  Formbetrachtung  der  Natur,  die  nun  in  dem 
Weltbild  des  Copernicus  einen  Abschluss  gefunden  hatte,  das 
Stadium  einer  wirklichen  Analysis  der  Natur.  Dieses  ist  einge- 
leitet durch  Copernicus,  Bacon  und  Kepler.  In  Bacons  dissecare 
naturam,  seinem  tiefsten  Begriff,  war  die  Formel  dieser  Analysis 
gegeben.  Kepler  war  bei  seinen  Forschungen  von  dem  Prinzip 
der  Harmonie  des  Universums  geleitet,  nach  welchem  die  Schön- 
heit die  Erscheinung  einer  Zweckmässigkeit  ist,  die  in  Zahl  und 
Maass  besteht.  Gott  ist  nach  ihm  an  die  Gesetze  der  Geometrie 
gebunden.  Die  erste  Eigenschaft  der  Substanz  ist  die  Quantität, 
und,  nur  soweit  qualitative  Bestimmungen  auf  quantitive  zurück- 
geführt werden  können,  kann  ein  Erkenntnisszusammenhang  ge- 
funden werden;  ut  oculus  ad  colores,  auris  ad  sonos,  ita  mens 
hominis  non  ad  quaevis  sed  ad  quanta  intelligenda  condita  est. 
Das  Maass  unserer  Erkenntniss  liegt  in  ihrer  Annäherung  an  die 
nudae  quantitates.  Hiermit  ist  der  methodische  Grundsatz  des 
modernen  Naturerkennens  gefunden,  nach  welchem  nur  soweit, 
als  die  Thatsachen  gleichsam  auf  dieselbe  Fläche  gebracht  und  so 
gänzlich  vergleichbar  gemacht  werden  können,  also  nur  in  der  ma- 


Die  Autonomie  des  Denkens  im  17.  Jahrhundert.  45 

thematischen  Naturwissenschaft  strenge  Naturerkenntniss  möglich 
ist.    Diese  Sätze  werden  von  Galilei   fortgeführt.    Die  Philosophie 

ist  nach  ihm  nicht  ein  Buch  aus  der  Phantasie  des  Menschen  wie 
die  Hins  und  der  Orlando  furioso;  vielmehr  ist  „das  wahre  Buch 
der  Philosophie  das  Buch  der  Natur,  welches  immer  aufgeschlagen 
vor  unsern  Augen  liegt,  es  ist  aber  in  andern  Lettern  geschrieben 
als  in  denen  unseres  Alphabets;  die  Lettern  .sind  Triangeln.  Qua- 
drate, Kreise.  Kugeln,  Kegel,  Pyramiden  und  andere  mathe- 
matische Figuren39)".  Kurz  „dies  Buch  kann  nur  gelesen  werden 
mit  Hilfe  der  Mathematik*40),  und  für  diese  Ansicht  von  der  Be- 
deutung der  Mathematik  für  die  Philosophie  wird  Plato  als  Ge- 
währsmann citirt41).  Vermittelst  jener  Vergleichbarkeit  und  Mess- 
barkeit  von  Kaum,  Zeit  und  Bewegung  versucht  nun  Galilei, 
seinem  Principe  folgend  „alles  messen,  was  messbar  ist,  und  ver- 
suchen messbar  zu  machen,  was  es  noch  nicht  ist."  die  Natur 
zu  konstruiren.  Diese  Aufgabe  war  nur  dadurch  lösbar,  dass  er 
die  Gleichförmigkeiten  in  den  Bewegungsvorgängen  auffand.  Die 
entscheidenden  Ausgangspunkte  hierbei  waren  die  zwei  aus  den 
^tatsächlichen  Bewegungsvorgängen  abstrahirten  Gesetze,  durch 
welche  ihm  die  Anwendung  der  Mathematik  auf  die  dynamischen 
Probleme  erst  möglich  war:  1)  die  Wirkung  jeder  einfachen  Kraft 
ist  eine  Bewegung  in  gerader  Linie;  sonach  ist  jede  Bewegung  in 
einer  Kurve  das  Produkt  aus  der  Zusammensetzung  von  Kräften. 
2)  Wie  ein  ruhender  Körper  in  seinem  Zustand  zu  beharren  strebt, 
so  tendirt  ein  bewegter  Körper  in  geradliniger  Bewegung  mit  gleich- 
massiger  Geschwindigkeit  zu  verbleiben,  und  diese  Tendenz  kann 
nur  durch  äussere  Kraft  aufgehoben  werden.  —  So  war  sein  Ver- 
fahren, wie  das  erste  Princip  zeigt,  die  erste  wirkliche  Analysis 
der  sich  verbergenden  Komplexität  der  Natur  in  Kräfte  als  Kom- 
ponenten, es  war  zugleich  überall  eine  Unterordnung  der  Er- 
fahrungen unter  allgemeinste  im  Denken  gegebene  logisch  ma- 
thematische Beziehungen.  Dementsprechend  war  auch  er  ein 
Vertreter  des  a  priori,  durch  welches  die  Erfahrungen  konstruirt 


39)  Galilei  opere,  ed.  Alberi,  VII  354ff. 

40)  Opere  XI  21. 
")  Opere  XIII  93. 


40  Wilhelm  Dilthey, 

werden.  Das  Korrelat  dieser  ganzen  Lehre42)  war  die  Erkeuntniss 
der  Subjektivität  der  sinnlichen  Qualitäten,  sofern  sie  zur  mathema- 
tischen Konstruktion  der  Natur  nicht  erforderlich  sind.  So  wurde 
durch  die  grossen  Entdeckungen  von  Copernicus,  Kepler  und  Galilei 
und  die  sie  begleitende  Theorie  von  der  Konstruktion  der  Natur 
durch  a  priori  gegebene  logisch  mathematische  Bewusstseinselemente 
definitiv  das  souveräne  Bewusstseiu  der  Autonomie  des  menschlichen 
Intellekts  und  seiner  Macht  über  die  Dinge  begründet:  eine  Lehre, 
welche  zur  herrschenden  Ueberzeugung  der  am  meisten  fortgeschrit- 
tenen Geister  wurde. 

III. 

So  gewann  die  menschliche  Vernunft  auch  zunehmenden  Mut, 
die  am  meisten  verwickelte  und  schwierige  aller  Aufgaben  sich 
zuzutrauen:  die  Regelung  der  Lebensführung  und  die  Ordnung  der 
Gesellschaft. 

Die  Autonomie  der  menschlichen  Vernunft  in  Bezug  auf  die 
sittliche  Lebensführung  der  Einzelperson  ist  zuerst  von  einem 
onedischen  Weltmann  und  einem  französischen  Priester  nachdrück- 
lieh  geltend  gemacht  worden.  Beide  stellten  diese  Autonomie  zu- 
nächst auf  dem  Wege  der  Loslösung  einer  autonomen,  auf  das  Ge- 
setz der  Natur  gegründeten  Moral  von  dem  religiösen  Glauben  fest; 
beide  stützten  sich  in  der  Darstellung  der  selbständigen  Kraft  der 
Menschennatur  auf  die  alten  Schriftsteller,  insbesondere  auf  Cicero 
und  Seneca. 

Ich  habe  früher  auf  die  ersten  Regungen  einer  unabhängigen 
Moral  in  der  stoisch  humanistischen  älteren  moralischen  Schule  von 
Florenz  hingewiesen.  Die  Richtung  auf  eine  autonome  Moral  wird 
in  Italien  fortgesetzt  von  Telesio  und  Giordano  Bruno,  in  Frank- 
reich, wie  ich  nachgewiesen  habe,  von  Montaigne  und  Bodin.  Die- 
ser Bewegung  gaben  nun  einen  populären  Ausdruck  von  grosser 
Kraft  Bacon  in  England  und  Charron  in  Frankreich. 

In  Bacon  manifestirt  sich  der  unbändige  Lebens-  und  Gestal- 
tungsdrang der  Menschen  der  Renaissance  in  einer  wissenschaftlichen 


42)  Für  das  Nähere  verweise  ich  vorläufig  auf  die  ausgezeichnete  Abhand- 
lung von  Natorp,  Galilei  als  Philosoph,  in  den  philosoph.  Monatsheften.    1882. 


1  He  Autonomie  des  Denkens  im  17.  Jahrhundert.  4< 

Phantasie,  weicht'  die  Herrschaft  des  Menschen  über  die  gesamrnte 
Natur  durch  die  Erkenntniss  der  Gesetze  derselben  herbeizuführen 
unternimmt.  Diese  Phantasie  ist  aber  ganz  positiv:  die  Imagination 
eines  von  Realitäten  erfüllten  Kopfes.  Er  construirt  von  diesem 
Wirklichen  aus  seine  Methode  wie  eine  ungeheure  Maschine,  welche 
die  Last  der  ganzen  Erfahrung  liehen  soll.  So  tritl  in  ihm  der  Ty- 
pus des  Menschen  der  Renaissance  in  einer  ueuen  Modifikation  auf: 
es  ist  der  Mensch,  welcher  seinem  Willen,  zu  leben,  zu  herrschen 
und  zu  gestalten,  ein  Feld  unbegrenzter  Erweiterung  durch  Erkennt- 
niss  der  Kräfte  der  Natur  und  durch  Herrschaft  über  sie  erobert. 
Die  mittelalterliche  Nachdenklichkeit  über  das  Elend  der  Menschen- 
natur bedarf  nach  ihm  der  Ergänzung  durch  das  Studium  der  Prä- 
ativen  desselben.  So  betont  er  im  Denken  das  schaffende  Ver- 
mögen, im  Willen  die  Verwirklichung  der  allgemeinen  Wohlfahrt. 
Langsam  steigen  diese  neuen  mächtigen  Beweggründe  neben  den 
kriegerischen  und  religiösen  Aü'ecten  der  feudalen  Zeit  auf  und 
bemächtigen  sich  der  Menschen.  Von  diesem  neuen  Standpunkte 
aus  hat  nun  Bacon  auch  die  Autonomie  der  moralischen  Kraft 
und  der  sittlichen  Erkenntniss  zur  Geltung  gebracht. 

Auch  im  Verhält niss  zur  moralischen  Welt  ist  Bacons  Grund- 
stellung eine  praktische,  herrscherliche,  im  höchsten  Sinne  utili- 
1  arische;  daher  er  sich  schon  hierin  mit  der  römischen  Stoa  be- 
gegnet. Und  zwar  entnimmt  er  dieser  antiken  Tradition  die  Lehre 
von  einer  obersten  Regel,  welche  in  der  moralischen  Welt  zu  herr- 
schen hat.  Er  macht  sich  den  Boden  frei  für  sein  Moralgebäude  in 
diesem  neuen  Stil,  indem  er  das  moralische  Leben  und  die  mora- 
lische Wissenschaft  loslöst   von  der  Theologie43).     Die  sittlichen 


43)  Den  klarsten  Einblick  in  Bacons  Stellung  zur  theologia  naturalis  bietet 
de  augin.  IX  p.  596—599  und  III  p.  185.  Die  Principien  der  Religion  unter- 
stehen nicht  der  Vernunft,  sie  sind  als  solche  in  sich  gefestigt:  erst  aus 
Hinen  hat  die  Vernunft  Sätze  herzuleiten.  B.  weist  der  theologia  naturalis 
und  dem  lumeu  naturale  die  Aufgabe  und  das  Vermögen  zu,  diu  Atheismus 
zu  widerlegen.  Herbert  erweist  die  Gewissheit  des  Daseins  Gottes  aus  dem- 
selben Vermögen,  hütet  sich  aber  jene  auf  die  christliche  Religion  auszu- 
dehnen, für  denn  Gewissheit  er  ja  die  relevatio  einstehen  lässt.  (Jebrigens 
dehnt  Bacon  p.  597  die  Fähigkeit  des  lumen  naturale  nur  auf  die  Klink  aus. 
wenigstens  spricht  er  nur  von  dieser;  doch  müsson  wii   sie  auch  für  den  Er- 


48  Wilhelm  Dilthcy, 

Ordnungen  stehen  unter  einem  Naturgesetz.  Er  sagt44):  habere 
homines  etiam  ex  lumine  et  lege  naturae  notiones  nonnullas  virtutis, 
vitii,  iustitiae,  iniuriae,  boni,  mali  id  verissimura  est.  notandum 
tarnen  lumen  naturae  duplici  significatione  accipi.  Im  eisten  Sinne 
deckt  sich  das  lumen  naturale  mit  dem,  was  Herbert  in  den  sensus 
externi.  interni  und  dem  discursus  betrachtet;  im  zweiten  Sinne 
ist  es  das,  was  er  intellectus  oder  instinctus  nennt;  denn  auch 
Bacon  spricht  von  dem  iustinctus  internus  in  der  Menschenseele. 
Dies  innere  Licht  ist  natürlich  angeboren,  es  sind  reliquiae  pri- 
stinae  et  primitivae  puritatis.  Herbert  und  Bacon  unterscheiden 
sich  insofern,  als  Herbert  gerade  die  Wahrheit  der  Religion  auf 
dies  innere  Licht  stützt,  Bacon  aber  das  entschieden  abweist.  Das 
lumen  naturale  ist,  als  göttliche  Naturanlage,  einerseits  das  innere 
Licht,  der  intellectus  oder  instinctus,  welches  die  höchste  natürlich 
erreichbare  Wahrheit  in  sich  schliesst  und  sie  verbürgt,  andererseits 
auch  zugleich  das  Licht,  welches  Wahrnehmung,  Induktion,  Schluss 
u.  s.  w.  bedingt.  Von  jenem  Naturgesetz  ist  jedem  Menschen  ein 
Bewusstsein  mitgegeben,  welches  freilich  verdunkelt  sein  kann. 
Das  äussere  Merkmal  dieses  Gesetzes  ist  der  consensus.  Alle 
diese  Bestimmungen  sind  aus  der  stoischen  Tradition.  Die  Herr- 
schaft des  Naturgesetzes  begreifen  und  fördern,  heisst  es  psycho- 
logisch auffassen,  sonach  muss  es  auf  die  in  ihm  wirkenden 
Kräfte  zurückgeführt  werden.  So  erwächst  ihm  zunächst  die 
schöne  Aufgabe,  nicht  bloss  die  Regeln  des  sittlichen  Lebens  auf- 
zustellen, sondern  über  die  Mittel  der  Unterordnung  unserer  Affekte 
unter  das  natürliche  Gesetz  praktische  Sätze  abzuleiten.  Auch 
hierin  folgt  er  dem  Weg  der  Stoa  und  bezeichnet  Aufgaben  für 
Hobbes  und  Spinoza.  Demgemäss  fordert  er  zunächst  eingehendes 
Studium  der  Affekte;  aus  diesem  gewinnt  er  den  Satz,  dass  ein 
Affekt  nur  durch  einen  anderen  gebändigt  werden  kann:   ein  Ge- 


weis des  Daseins  Gottes  in  Anspruch  nehmen,  wenn  doch,  wie  er  will,  die  theol. 
nat.  den  Atheismus  widerlegen  soll.  Der  ganze  Unterschied  besteht  hier  also 
darin,  dass  ßacon  den  Wert  dieses  lumen  naturale  möglichst  herunterdrückt 
zu  Gunsten  der  revelatio,  während  Herbert  die  Bedeutung  dieses  instinctus 
nicht  hoch  genug  anzuschlagen  weiss. 
")  De  augment.  IX  p.  597. 


Die  Autonomio  dos  Denkens  im   17.  Jahrhundert.  49 

setz,  das  Spinoza  and  Hume  übernehmen  und  für  ihr  ethisches 
System  weiter  nutzbar  machen.  Ebenso  erwägl  Bacon  Gewohnheit, 
Umgang,  Erziehung,  Lektüre  u.  s.  w.  als  psychologische  Mächte  für 
das  Wachsthum  des  Sittlichen.  Er  ist  in  alle  diesem  moralischer 
Realist.  Durch  dasselbe  Princip  ist  dann  sein  Bauptfortschriti 
ermöglicht,  die  Regel  selbst  als  einen  psychologischen  Kräfte- 
zusammenhang zu  lassen.  So  ist  die  sittliche  Kultur  nach  ihm 
beding!  durch  Kräfte  der  sittlichen  Welt.  Die  lex  naturalis  er- 
scheint bei  Bacon  als  socialer,  auf  das  Wohl  der  Gesammtheü 
gerichteter  Trieb  des  Einzelmenschen,  welcher  sich  mit  dem  Trieb 
der  Selbsterhaltung  auszugleichen  hat  ,f').  Aber  auch  von  die- 
ser neuen  Grundlegung  kann  erwiesen  werden,  dass  sie  ihre  Wur- 
zeln in  der  römischen  Stoa  hat4").    Die  wichtigste  Belegstelle  hier- 


*5)  De  augment.  VII  p.  434,  Iff.;  435,  15. 

iti)  Stoische  Lehren  und  überhaupt  alte  Schriftsteller  werden  von  B.  citirt: 
VII  p.  428:  reeta  ratio  =  XdYos  dp&o's.  p.  430:  Sen.  ep.  52,  14;  p.  132,  L3ff.: 
Sen.  ep.  66,5.  95,10.  Gic.  off.  I  3, 7— 9f.  5,17.  1112,7.  143,152.  1125, 
8Sff.:  p.  437,  18ff.:  Cic.  off.  I  2,6.  de  fin.  V  8,23.  de  leg.  I  13,  37 ff.  acad.  pr. 
1!  15,  139.  de  off.  III  33,  116.  acad.  pr.  II  4-.',  129;  p.  440,  17:  Cic.  off.  I  4,  11. 
p.  440,  8—9:  Varro  b.  August,  civ.  D.  VII  28:  p.  444,  10:  Cic.  fin.  V  13,  37 ff 
II!  91,  31.  off.  III  3,  13.  Seneca  de  vit.  beat.  8,  2 ff;  p.  445,  7:  Sen.  ep.  85,  18; 
p.  139:  Aristoteles;  p.  439:  Diogenes;  p.  445,3:  Plat.  Pbaedon  c.  9  p.  CIA.  ff 
Seneca  ep.  4,  12,  23,  24,  30,  32,  70,  77,  78,  80,  82,  98,  99,  101,  102  u.  s.  w. 
p.  1 16,  7:  Cic.  off  I  7,  20;  p.  447,  14:  Hecaton  b.  Cic.  off.  III  23,  89  u.  s.  u.: 
p.  152,  4;  Hecaton  b.  Seneca  de  benef.  II  18,  lff  21,  4.  III  18,  lff  Cic.  de  off. 
III  15,  63.  Seneca  ep,  94:  p.  453,  12:  Cic.  off.  III  4,  18;  p.  456,  17:  die  bekannte 
stoische  Auffassung  (als  Krankheit):  p.  456,5:  cf.  Posid.  b.  Galen  280  M.  (Ba- 
con hat  Galen  auch  gelesen  cf.  p.  220);  p.  457,  6ff.:  cf.  Cic.  off.  I  30,  10711'.  31, 
UOff.  32,  Hoff:  p.459,5ff.:  Cic.  off.  I  34, 122  u.  124.  32,  115:  p.459:  Aristot. 
rhet.;  461,  13:  Seneca  de  ira. ;  p.  463,  lff:  cf.  Cic.  off.  I  31,  110;  p.  464,  12: 
Aristot.;  p.  465,  17:  Arist.  Nie.  eth.;  p.  468,  lOff:  cf.  Cic.  off.  I  31,  110  u. 
114;  p.  4C9,  11  ff. :  Aristot. ;  p.  469,  17:  Plinius  paneg;  p.  470,  15:  Xenophon; 
p.  472,  10:  Unheil  über  Stoa. 

buch  VIII.  p.  474,4:  Cic.  ad.  Att.;  p.  474,  15:  Pindar;  p.  476,  7:  Cic.  ad 
Quint.  fratr.;  p.  476,  1:  Cic.  ad  Att.;  p.  477,  I2ff.:  Livius.;  p.  480,  11  u.ff.: 
Cic.  de  orat.  11133,1331V.:  p.  481,  7 f. :  Cic.  de  petit.  cons. ;  p.  510, 12:  Cic.  ad 
Att.;  p.  516,  20:  Q.  Cicero.:  p.  521,  10:  Epictet.;  p.  531,  6:  Cic.  ad  Att.;  p.  538,  9: 
Aristoteles. 

buch  III.  p.  180,4:  z.  B.  Cic.  off  1.43,153.  Sen.  ep.  89,5.;  p.  180.5: 
Aristot.  Nie.  eth.;  p.  187,  2ff:  Bomer.;  p.  189,  lff:  Cic.  Acad.  II  10,  32. 
Diog.  1X72;  p.  189,  13:   erinnert  an  d.  Unterabteilung  der  Physik  bei  Seneca 

\ i ■  luv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.    VII. 


50  Wilhelm   Dil  they, 

für  ist  Cic.  de  oft'.  1,4,11:  principio  generi  animantium  omni  est 
a  natura  tributum,  ut  sc  vitam  corpusque  tueatur  .  .  und  12: 
eademque  natura  vi  rationis  hominem  conciliat  et  ad  orationis  et 
ad  vitae  societatem  irnpellitque,  ut  hominum  coetus  et  celebratio- 
nes  et  esse  et  a  se  obiri  velit. 

Auch  die  Weisheit,  welcher  die  berühmte  Schrift  Charrons 
gewidmet  ist,  ist  schliesslich  in  ihrem  positiven  Kern  die  der  Stoa. 
Wie  berühmte  Hermen  des  Altertums  ein  doppeltes  Gesicht  zeigen. 
so  sieht  man  in  Montaignes  Essays  den  Skeptiker,  dreht  man  aber 
den  Kopf  um,  den  römischen  Stoiker.  Auch  hierin  ist  Charron 
dem  älteren  Freunde  ähnlich.  Ja,  er  hebt  noch  entschiedener  als 
dieser  den  positiven  Gehalt  seiner  Weisheit  hervor.  Wer  nun 
aber  auszusprechen  vermöchte,  was  über  alle  antiken  Schriftsteller 
hinaus  Charron  rückwärts  mit  Montaigne  verbindet,  vorwärts  mit 
Descartes  und  besonders  mit  Pascal:  romanische  Vitalilät,  kühles 
Geltenlassen  der  Passion  und  kühles  Abschätzen  der  Kehrseite 
des  Lebensglanzes,  unermesslicher  Verstand  ohne  Tiefe,  persönliche 
freie  Lebenshaltung  innerhalb  einer  regimentalen  kirchlich  poli- 
tischen Ordnung:  der  würde  den  ganzen  Gegensatz  der  edelsten 
Geister  dieser  romanisch -kirchlichen  Welt  zu  der  germanisch  pro- 
testantischen damit  ausdrücken.  Charron  wird  uns  geschildert  als  von 
ausserordentlicher  animalischer  Lebendigkeit.  Man  bemerkte,  dass 
der  Ausdruck  seines  Gesichtes  eine  beständige  überallhin  aus- 
strahlende Fröhlichkeit  zeigte.  Seine  Stimme  und  seine  Geberden 
waren  von  südlicher  Beweglichkeit.  Und  nun  lesen  wir,  wie  dieser 
Mensch,  nachdem  er  Doktor  der  Rechte  zu  werden  und  die  Ad- 
vokatencarriere  versucht  hatte,  enttäuscht  über  sie  Theologie  stu- 
dirte,  ein  berühmter  Prediger  zu  Paris  wurde,  gern  vom  Hofe  ge- 
hört ward,  dann  aber  nach  siebzehn-  oder  achtzehnjähriger  Thätig- 
keit  doch  von  Begierde  nach  der  Einsamkeit  ergriffen  in  den  Cister- 
zienserorden  einzutreten  beschloss.  -  Daran  wurde  er  dann  freilich 
durch  seine  vorgeschrittenen  Jahre   gehindert.     Er  verliess  Paris, 


89,  IG ;  p.  198,  10:  Cic.  divin.  II  46,  97.  I  19,  36;  p.  213,  8 :  Ps.  Plutarch.  doxogr. 
p.  214:  Lactantius,  Philo,  Philostratus,  Theophrastrus,  Paracelsus,  Telesius, 
Patricius,  Venetus  ;   p.  220:   Galen.;  p.  224:  Ileron;  p.  224:  Agricola. 


Die  Autonomie  des  Denkens  im   17.  Jahrhundert.  .~>| 

zu  dieser  Zeil  ist  er  Montaigne  begegnet  und  schloss  mit  ihm 
die  innigste  Freundschaft.  Nun  ersl  schrieb  er  sein  Werk.  Aus 
diesem  spricht  die  Lebenskenntniss  des  Romanen  und  Ars  Priesters. 
Wo  er  von  der  Macht  der  Gewohnheil  und  der  Zeit  spricht,  sagt 
er  einmal:  „Die  Galeerensclaven  weinen,  wenn  sie  die  Galeere 
/.uerst  betreten,  nach  3  Monaten  singen  sie". 

Die  trefflichste  und  nützlichste  Absicht,  so  beginnt  sein  Werk. 
doch  die  am  schlechtesten  ausgeführte,  ist.  sieh  seihst  zu  studiren 
und  sich  kennen  zu  lernen.  Dies  ist  ihm  das  Fundament  der 
Weisheit.  So  will  er  denn  nichl  aus  Büchern  lernen,  sondern  von 
sich  selbst,  doch  besteht  diese  Selbsterkenntniss  zunächst  in  einer 
Zergliederung  des  Seelenlebens,  welche  das  damals  (Jebliche  nir- 
gend  überschreitet.  Die  ausführliche  Schilderung  der  Passionen 
entspricht  der  stoischen  und  der  kirchlichen  Tradition.  Nun  aber 
wird  er  ganz  er  selbst,  wenn  er  über  die  Eigenschaften  des  Lebens 
zu  sprechen  beginnt.  „Dummheit  und  Blindheit  herrschen  über 
den  Anfang  unseres  Lettens.  Die  Mitte  ist  mühsame  Arbeit,  das 
Linie  Schmerzen,  das  Ganze  ein  Irrtum." 

Das  ist  für  ihn  nun  die  Bedingung  der  wahren  "Weisheit,  dass 
ihr  Mensch  seine  moralische  Gebrechlichkeit  und  seine  mise- 
rable Lage  erkenne.  Hierdurch  wird  er  fähig,  die  notwendigen 
Heilmittel  zu  suchen,  welche  der  grosse  Arzt,  die  Weisheit,  vor- 
schreibt. (IL  preface.)  „Ich  gebe  hier  ein  Gemälde  und  Lehren 
der  Weisheit,  die  vielleicht  Manchem  neu  und  fremdartig  erschei- 
nen werden  und  die  noch  Niemand  in  dieser  Manier  gab  und  be- 
handelte."    (Ebds.) 

Aber  wie  priesterlich  auch  diese  ganze  Disciplin  ist,  sein 
grosser  Arzt,  die  Weisheit,  ist  nicht  die  Kirche,  sondern,  nachdem 
der  Patient  durch  die  Erkenntniss  der  Passionen  und  die  Loslösung 
von  ihnen  in  einen  Zustand  der  vollen  und  universellen  Freiheit 
gelangt  ist.  empfängt  er  nun  Generalregeln  der  Weisheit  von  der 
Natur  selber  (II  c.  3  Anfang).  Befreiung  von  den  Irrtümern  und 
den  Fehlern  der  Welt  und  den  Leidenschaften:  so  lautet  das  vor- 
bereitende  CapiteL 

In  ciuer  Stelle,  welche  in  den  späteren  Auflagen  verschwand, 
spricht  er  dasPrincip  der  Unabhängigkeit  der  Moral   von  Ete- 

4* 


59  Wilhelm  Dilthey, 

ligion  und  Kirche  in  Worten  aus.  die  Marc  Aurel  hätte  schreiben 
können.  „Man  sei  sittlich,  weil  Natur  und  Vernunft  es  gebieten, 
die  allgemeine  Ordnung  der  Welt,  deren  Teil  die  Einzelperson  ist, 
es  verlangt.  Man  sei  sittlich,  werde  daraus,  was  wolle."  Moralist 
ist  das  Erste,  Religion  nur  ihre  Ergänzung  und  Vollendung.  Sic 
bringt  die  Moralität  nicht  hervor,  „welche  mit  und  in  dem  Men- 
schen geboren  ist  und  von  der  Natur  in  ihn  gelegt  wurde". 

Von  den  Leidenschaften  befreit  zunächst  eine  gewisse 
Stumpfheit  der  Seele,  dann  kann  bei  der  verschiedenen  Stärke  der 
Leidenschaften  jedesmal  die  schwächere  von  der  stärkeren  überwun- 
den werden,  oder  man  wendet  den  Kunstgriff  an,  den  Zufällen  des 
Lebens  auszuweichen  und  sich  vor  ihnen  zu  verbergen.  Das  beste 
Mittel  aber  liegt  in  der  Festigkeit  der  Seele,  welche  mit  den  Zu- 
fällen kämpft.  Die  Freiheit  der  Seele  wird  alsdann  befördert 
durch  den  Geist  allgemeiner  Prüfung  und  Beurteilung  aller  Dinge. 
(Buch  2  Kap.  2  No.  2  S.  324.)  So  manifestirt  sich  die  raison- 
nirende  Natur  des  Menschen.  —  An  diesem  Punkte  vernimmt  man 
schon  Descartes.  —  Sie  wird  alsdann  befördert  durch  die  kühle  und 
leidenschaftlose  Suspension  des  Urteils,  endlich  durch  eine  Uni- 
versalität des  Geistes,  in  welcher  der  Weise  auf  das  ganze  Weltall 
blickt,  sich  wie  Sokrates  als  Weltbürger  fühlt  und  das  Menschen- 
geschlecht mit  Neigung  umfasst.  Auch  muss  der  Weise  seine 
Affektion  möglichst  wenigen  Dingen  und  Objekten  zuwenden, 
sonst  wird  sein  Handeln  einseitig  und  affektiv  und  sein  Denken 
vorurteilsvoll.  Und  nun  noch  ein  rechtes  Wort  des  Romanen 
und  des  Priesters.  (Ebds.  No.  13  S.  349.)  „Schliesslich  muss 
jeder  sich  selbst  zu  unterscheiden  wissen  in  seiner  öffentlichen 
Rolle.  Denn  jeder  von  uns  spielt  zwei  Rollen  und  besteht  aus 
zwei  Personen;  die  eine  äusserlich,  die  andere  wesenhaft.  Er 
muss  die  Haut  vom  Hemde  zu  unterscheiden  wissen.  Der  ge- 
schickte Mensch  wird  seine  Rolle  gut  spielen  und  nicht  urteilen 
lassen  über  die  Dummheit,  die  Tollheit,  die  in  ihm  ist.  Man 
muss  sich  der  Welt  bedienen,  wie  man  sie  vorfindet,  inzwischen 
aber  sie  als  etwas  sich  Fremdes  ansehen."  So  wird  nach  Charron 
der  Schüler  der  Weisheit  vorbereitet,  um  deren  Regeln  zu  em- 
pfangen. 


Die  Autonomie  des  Denkens  im  17.  Jahrhundert.  .">"> 

Jetzt  tritt  der  Grundbegriff  seiner  Schrifl  auf.  Es  ist  der 
tische  Weise  in  Färbung  und  Gewand  eines  Franzosen  des 
17.  Jahrhunderts.  Die  wahre  Weisheit  des  Menschen  bezeichnet 
er  mit  einem  alten  französischen  Ausdruck  für  den  biederen, 
tapferen  Manu,  durch  welchen  schon  Froissarl  sein  Lebensideal 
bezeichnete,  nämlich  als  preud'homie  oder  prud'homie.  (Buch  2 
Kap.  2  No.4S.  353).  Die  wahre  prud'homie  isl  männlich  und 
edel,  lachend  und  freudig,  immer  sich  selbst  gleich  und  beständig; 
sie  LCoht  mit  festem,  stolzem  Tritt,  sie  hält  immer  ihren  Kurs 
imie.  sie  blickt  nicht  seitwärts,  nicht  rückwärts,  sie  ändert  ihren 
Schritt  und  ihre  Weise  nicht  nach  Wind,  Zeit  und  Gelegenheiten. 
So  sagt  auch  Seneca  Ep.  mor.  1.  VI  ep.  7  (59)  Haase  III  p.  129: 
„Sapiens  plenus  est  gaudio,  bilaris  et  placidus,  Lnconcussus.  Si  nun- 
quam  maestus  es,  nulla  spes  animum  tuum  i'uturi  exspeetatione  sol- 
licitat.  si  per  dies  noctesque  par  et  aequalis  animi  tenor  erecti  et 
placentis  tibi  est,  pervenisti  ad  humani  boni  summam."  „Gaudium 
hoc  non  nascitur  nisi  ex  virtutum  conscientia.  Non  potest  -andere 
nisi  fortis,  nisi  justus,  nisi  temperans."     cf.   de  vita  beata  c.  4. 

Die  Sprungfeder  dieser  prud'homie  ist  die  Natur,  welche  jeden 
Menschen  verpflichtet  sich  nach  ihr  zu  bilden  und  zu  regeln.  Sie 
ist  unsere  Herrin,  welche  uns  diese  Weisheit  vorschreibt.  Es  giebt 
eine  natürliche  innere  und  universelle  Verpflichtung  für  jeden  Men- 
schen brav,  gerade  und  ganz  zu  sein  gemäss  der  Intention  seines 
Schöpfers.  Der  Mensch  darf  keine  Ursache,  Verpflichtung  oder  Kraft 
für  seine  prud'homie  suchen  und  kann  niemals  eine  gerechtere,  mäch- 
tigere und  ältere  haben,  denn  diese  i-t  so  alt  als  er  selbst,  nämlich 
mit  ihm  geboren.  Jeder  Mensch  muss  brav  sein  wollen,  weil  er 
Mensch  ist.  Wer  sich  nicht  darum  kümmert  es  zu  sein,  ist  ein 
Monstrum,  verzichtet  auf  sich  selbst.  Die  prud'homie  muss  in  ihm 
aus  ihm  selbst  entspringen,  d.  h.  aus  der  inneren  Sprungfeder, 
welche  (iott  in  ihn  gelegt  hat,  nicht  aus  einer  äusseren  un^l  ihm 
fremden  Kraft.  (354.)  Der  Mensch  will  all  seine  Habseligkeiten 
in  gutem  und  gesundem  Zustande  haben,  Körper,  Kopf,  Augen, 
Urteil,  Gedächtniss,  Stiefel:  wie  sollte  er  nicht  auch  Wille  und 
Gewissen  in  gutem  Zustande  haben  wollen?  p.  •'>.'>•"».  Dies  stimmt 
überein  mit  Cic.  de  flnibus  I.  V  c.  12. 


54  Wilhelm   Dilthey, 

Und  hier  hebt  er  besonders  hervor,  dass  die  Beobachtung  der 
äusseren  Regeln  nur  eine  äusserliche  und  nichtsnutzige  prud'homie 
zur  Folge  hat.  „Ich  will  aber  für  meinen  Weisen  eine  vvesenhafte  und 
unbesiegliche  prud'homie,  die  in  sich  selbst  und  aus  ihrer  eigenen 
Wurzel  Festigkeit  hat  und  die  man  so  wenig  ausreissen  und  ab- 
trennen kann  als  das  Menschsein  vom  Menschen."  S.  355.  Dieser 
Zusammenhang  beruht  aber  darauf,  dass  in  uns  „die  allgemeine 
Vernunft",  raison  universelle,  durch  die  Natur  gelegt  ist  („equite 
et  raison  universelle").  Sie  ist  wesenhaftes  Gesetz  und  Licht  in  uns. 
So  kann  es  auch  als  Gesetz  der  Natur  bezeichnet  werden,  dass  wir 
als  homme  de  bien  zu  leben  uns  getrieben  finden47). 

,, Daher  sagt  die  Doktrin  aller  Weisen  aus:  wohl  leben  heisst 
secundum  naturam  leben:  das  höchste  Gut  ist  mit  sich  überein- 
stimmen." (1.  II  c.  3  no.  7  p.  359.)  Für  diese  Formel  citirt  er 
dann  Seneca.  „Die  Natur  ist  für  jeden  von  uns  die  genügsame 
und  milde  Herrin  und  regelt  alles,  wenn  wir  nur  auf  sie  hören." 
Es  verkünden  Priester  und  stoische  Philosophen  zugleich  das  Evan- 
gelium von  der  Natur  also:  „Um  zufrieden  und  glücklich  zu  leben, 
braucht  man  weder  Weiser,  noch  Hofmann,  noch  sonst  ausgezeich- 
net zu  sein.  Alles  ist  eitel,  was  über  das  Gemeinsame  und  Natür- 
liche hinäusreicht."  48) 

Alles  im  Werden.  Aber  zwischen  1600  und  1625  ist  nun 
eine  fruchtbare  Epoche ,  in  welcher  diese  stoisch  -  römische  Lehre 
von  mehreren  grossen  Schriftstellern,  und  zwar  von  ganz  verschie- 
denen Seiten  aus,  zur  Aufrichtung  eines  natürlichen  Systems  be- 
nutzt wird.  Dies  in  einer  Fassung,  welche  noch  der  antiken  sich 
anschliesst,  und  vom  aufdämmernden  Naturwissen,  vom  Bedürfniss 
einer  Construction  der  äusseren  Wirklichkeit  noch  nicht  in  der 
Bestimmung  der  mit  uns  geborenen  Elemente  oder  Triebe  beein- 
llusst  ist.  1601  Charrons  Schrift,  Bacons  Arbeiten  1605  — 1620, 
Herbert's  de  veritate  1624,  Hugo  Grotius'  Hauptwerk  1625:   diese 


47)  Charron,  Sagesse  II  c.  7. 

48)  Dieser  teleologische  Zusammenhang  der  Teile  zu  einem  seinen  Zweck 
verwirklichenden  Ganzen,  welcher  dann  natura,  ratio  naturae,  lex  naturae  ist, 
bildet  den  tiefsten  und  originalsten  Punkt  der  Stoa.    cf.  Zeller  p.  209  ff. 


Die  Autonomie  des  Denkens  im   17.  Jahrhundert.  55 

Werke  charakterisiren   die    unabhängige   Darstellung  der 
moralischen  Welt. 

[V. 

Die  /.weite  grössere  Aufgabe  war  die  Ordnung  der  europäischen 
Gesellschaft. 

Die  Genossen  des  Bundschuhs,  einer  der  geheimen  Bauernbünde, 
welche  die  Revolution  von  1524  and  1525  vorbereiteten,  hallen  auf 
die  Kraue  „Loset,  was  ist  nun  für  ein  Wesen?"  als  Erkennungszeichen 
die  Antwort:  ..Wir  mögen  vor  lM'atl"  und  Adel  nicht  genesen." 

Hierin  lag  das  Problem  der  neuen  bürgerlichen  Gesellschaft. 
Die  unwandelbar  vorgestellten  Berrschaftsverhältnisse  und  Arbeits- 
formen d.'s  Mittelalters  in  Ackerbau  und  Handwerk,  in  band  und 
Stadt  waren  von  wissenschaftlicher  Reflexion  nicht  berührt  worden; 
jetzt  forderte  die  ungemein  rasch  anwachsende  Bevölkerung  in  den 
Städten  Fortschritte  in  den  Produktionsmitteln  und  Auffindung  neuer 
Absatzquellen,  und  gerade  in  dem  Zeitalter  vor  der  Reformation 
hatte  das  soziale  Problem  der  Zeit  durch  die  Geldentwertung,  die 
grossen  Kaufmannsgesellschaften,  den  Import  neuer  Genussmittel 
ein,'  erhebliche  Verschärfung  erfahren.  Ueber  den  Druck  der 
Feudalherren  sagt  Luther:  „Und  wenn  der  Acker  eines  Bauern 
soviel  Thaler  wie  Aehren  trüge,  er  würde  nur  die  Ansprüche  der 
Herren  vergrössern."  Und  sein  Eindruck  von  der  ganzen  sozialen 
Ordnung  der  Zeit  ist:  „Wenn  man  die  Welt  jetzt  ansieht  durch 
alle  Stände,  so  ist  sie  nichts  anderes  denn  ein  grosser  weiter  Stall 
voll  grosser  Diebe.'-  Dasselbe  vernichtende  Urteil,  das  Luther 
über  die  deutschen  sozialen  Zustände  ausspricht,  hat  Thomas 
MortfS  in  seiner  Utopie,  einer  der  wertvollsten  Quellen  der  sozialen 
Geschichte,  über  die  sozialen  Zustände  Englands  ausgesprochen. 
Das-  schon  1516,  wenige  Jahre  vor  der  Ausbildung  der  religiös- 
spiritualistischen  politischen  Phantasien,  aus  dem  tiefen  Gefühl  der 
Inhalt  barkeit  der  sozialen  Zustände  eine  philosophische  Utopie 
sozialistischer  Richtung  hervorging,  bezeichnet  die  ganze  Lage. 
Wertvolle  Vorschläge  waren  doch  auch  in  ihr  enthalten.  lud 
ebenso  waren  in  den  Bauernmanifesten  viele  Forderungen,  welche 
die  spätere  Zeit  verwirklichen  musste:  Abschaffung  der  Leibeigen- 
schaft und  der  drückenden  Feudallasten,  Besserungen  in  Rechtspflege, 


56  Wilhelm  Dilthey, 

städtischem    Steuersystem    und    Armenwesen,    Einschränkung    der 

grossen  Kaufmannsgesellschaften. 

Nun  erwies  sich  aber,  dass  die  in  der  Bibel  enthaltenen  Prin- 
cipien  unfähig  waren,  die  erforderliche  Neuordnung  der  Gesellschaft 
zu  leiten. 

Die  Grundsätze  des  neuen  Evangeliums  waren  ganz  verschie- 
dener Auslegung  fähig.  Sie  wurden  in  Wittenberg  anders  verstanden 
als  in  Zürich,  in  Augsburg  und  Nürnberg  anders  als  in  Strassburg. 
Ja  in  den  grossen  städtischen  Zentren  lagen  die  verschiedensten 
Auffassungen  im  Kampf  miteinander.  Grenzenlose  Erwartungen 
waren  durch  das  Princip  der  christlichen  Freiheit  und  das  soziale 
Vorbild  des  apostolischen  Zeitalters  hervorgerufen.  Aus  der  christ- 
lichen Gleichheit  und  Bruderliebe  wurden  Gütergemeinschaft,  wur- 
den Aufhebung  der  Zinsen  und  Zehnten  abgeleitet.  Aus  der 
Freiheit  im  Geiste,  aus  der  Selbstbestimmung  der  Gemeinden 
wurden  neue  politische  Principien  von  unermesslicher  Tragweite 
gefolgert.  Insbesondere  das  Gemeinderecht  der  reformirten  Kirchen 
erwies  sich  als  der  fruchtbare  Boden  für  neue  politische  Gefühle 
und  Ideen.  Aber  wurden  so  die  Gefühle  insbesondere  in  den  re- 
formirten Gebieten  überall  für  politische  Freiheit  gestimmt,  wurde 
in  dem  Gemeinderecht  ein  Vorbild  für  politische  Gestaltungen  ge- 
geben, wurden  die  sittlichen  Kräfte  wachgerufen,  welche  jedes 
freie  politische  Leben  erfordert:  dies  alles  bedurfte  doch  der  Ergän- 
zung durch  ein  politisches  Denken,  welches  aus  dem  Zusammenhang 
der  ganzen  Kultur  der  Zeit  dem  rechtlich  staatlichen  Leben  seine 
selbständigen  Grundlagen  und  Aufgaben  bestimmte.  Aus  den 
Principien  der  biblischen  Schriften  war  nur  Ein  folgerichtiges 
Ideal  des  Gemeinlebens  abzuleiten:  eine  auf  Bruderliebe  und  Ge- 
meinsamkeit des  Besitzes  gegründete  theokratische  Ordnung.  Der 
Widerspruch  derselben  mit  den  thatsächlichen  Lebensbedingungen 
erwies  sich.  So  fand  man  sich  auf  die  politische  Philosophie  an- 
gewiesen. Hierbei  war  das  juristische  und  politische  Denken  der 
Körner  und  der  von  ihnen  bedingten  griechischen  Autoren,  wie 
des  Polybius,  überall  leitend. 

Macchiavelli  hat,  wie  ich  zeigte,  als  der  erste  Romane,  den 
r<'t;iipeutalen  Gedanken  der  römischen  Welt  unter  den   neuen  Be- 


Die  Autonomie  dos  Denkens  im   17.  Jahrhundert.  .">< 

dingungen  der  modernen  Völker  zur  Geltung  gebracht;  in  ihm 
lebte  in  urwüchsiger  Kraft  der  Herrschaftsgedanke  und  die  poli- 
tische Technik,  welche  auf  diesem  italischen  Buden  von  den  Zeiten 
der  Gründer  Roms  bis  zu  denen  der  Borghias,  seiner  Zeitgenossen, 
immer  gewaltet  hatte:  die  mit  Thatsachen  rechnende  positive 
Phantasie,  welche  dem  politischen  Körper  wie  einem  Mechanismus 
durch  Benutzung  der  vorhandenen  Triebkräfte  das  Maximum  von 
Energie  und  Dauer  zu  geben  strebt,  wirkte  aus  seinen  Schriften. 
Die  Schriften  Macchiavellis  haben  die  Souveränität  der  politischen 
Technik  des  weltlichen  Verstandes,  wie  sie  in  den  italienischen 
Staaten  eine  Realität  war,  auch  in  der  Theorie  zur  Geltung  ge- 
bracht, und  die  Staatsraison  der  folgenden  Zeil  zumal  in  den  ]wu 
aufkommenden  fürstlichen  Gewalten  beschaute  sich  doch  wie  in 
einem  Spiegel  in  den  Sätzen  da>  grossen  Florentiners.  Derselbe 
Boden  zeitigte  dieselben  Früchte,  nur  von  milderer  Art,  iu  den 
Werken  des  Guicciardini,  Paruta  und  Botero.  Sie  bedienen 
sich  wie  Macchiavelli  in  erster  Linie  der  Weisheit  des  römischen 
Scipionenzeitalters,  um  die  Staatskunst  von  Florenz  und  Venedig, 
in  welcher  sie  mitwirkend  leiten,  zum  wissenschaftlichen  Bewusst- 
sein  zu  bringen.  Wie  merkwürdig,  dass  es  dauu  im  Norden  zwei 
von  der  römischen  Stoa  genährte  und  erfüllte  Schriftsteller  ge- 
wesen sind,  welche  diesem  echt  römischen  Princip  der  Staatsraison 
eine  mehr  systematische  und  lehrhafte  Gestalt  gegeben  haben. 
Scioppius  in  seiner  Schrift  über  die  Methode  der  Politik  (Paedia 
Politices,  von  Coming  1613  herausgegeben)  erweist,  ohne  den 
Namen  des  Macchiavelli  auch  nur  einmal  auszusprechen ,  indem 
er  den  Aristoteles  und  Thomas  zu  Hülfe  ruft,  sonach  hinlänglich 
macchiavel listisch,  dass  das  politische  Denken  und  Handeln  nur 
auf  die  Autarkie  und  die  Wohlfahrt  des  Staates  gerichtet  ist,  also 
seine  Beweggründe  von  denen  der  Moral  zunächst  ganz  getrennt, 
nur  in  mittelbarem  Verhältniss  zu  ihr  sind.  Daher  hat  der  poli- 
tische Denker  —  und  diesen  Satz  konnte  später  Spinoza  nur  er- 
weitern —  über  die  Tyrannis  und  über  die  Revolutionen  nur  zu 
sprechen,  wie  ein  Arzt  über  Fieber  und  Entzündungen  redet.  Justus 
Lipsius  in  seiner  vielgeleseucu,  doch  recht  unbedeutenden  politischen 
ü'il't  (Politica  1G12),   welche   er   mit  ausserordentlichem  Selbst- 


58  Wilhelm   Diltliev. 

gefühl  allen  Fürsten  gewidmet  hat,  entwickelt  allerdings  in  den  bei- 
den ersten  Büchern  die  moralischen  Eigenschaften,  welche  er  seinem 
Fürsten  wünscht,  dann  aber  giebt  er  vom  dritten  Buche  ab  einen 
Inbegriff  der  Regeln  der  Staatsraison  (prudentia),  und  hier  erteilt  er 
seinen  Fürsten  den  Rat,  ein  wenig  Täuschen.  Betrug  und  Lüge  ohne 
moralische  Skrupel  in  ihr  Verhalten  zu  mischen.  „Mögen  es  mir 
auch  die  Zenonen  abstreiten,  sonst  hör1  ich  gewiss  gern  auf  sie, 
wie  kann  ich  es  aber  hier?  Sie  scheinen  mir  das  Zeitalter  und 
die  Menschen  nicht  zu  kennen.  Denn  unter  was  für  Menschen 
leben  wir.  Schlau,  schlimm,  aus  Betrug,  Hinterhalten,  Lügen 
scheinen  sie  ganz  zu  bestehen,  die  Fürsten  selbst,  mit  denen  wir 
zu  thun  haben,  gehören  meist  zu  dieser  Klasse."49)  Ueberwiegl 
doch  in  ihm  der  stoische  Rhetor  und  Sammler  über  den  römischen 
Geist.  So  dürfen  die  Schrift  des  Paolo  Sarpi  über  die  veneti- 
anischen  Regierungsniaximeu  (1615)  und  das  Testament  des 
Richelieu  (veröffentlicht  1667)  als  wahre  Fortbildung  der  Staats- 
raison des  Macchiavell  durch  aktive  Staatsmänner  von  grossem 
Genie  angesehen  werden.  Die  Schrift  des  Sarpi50)  entwickelt  mit 
eisiger  Kälte  Principien  und  Technik  der  oligarchischen  Regierung 
von  Venedig.  Gerade  durch  diesen  Geist  kalter  Rechnung  wirkt 
die  Darlegung  der  Mittel.  Solche  sind  ihm:  die  Herrschaft  all- 
mählich  in  der  Hand  des  Rates  der  Zehn  und  des  Senats  zu 
concentriren,  die  anderen  Adligen  durch  Armuth  zu  schwächen, 
innerhalb  des  venetianischen  Besitzes  auf  dem  festen  Lande  Fak- 
tionen, Konfiskationen,  Verheiratung  der  Erbinnen  mit  Veneti- 
anern  zu  fördern,  in  den  auswärtigen  Besitzungen  Brot  und  Stock 
anzuwenden.  Das  Testament  Richelieus  zeigt  die  höhere  Aus- 
bildung, welche  das  Princip  der  Staatsraison  in  den  grossen  erb- 
lichen Monarchien  erfahren  musste.  Als  sich,  zwei  Jahre  vor  Riche- 
lieus Tode  ein  Aufstaue!  gegen  ihn  erhob,  wurde  unter  dessen 
Zielen  hervorgehoben,  man  wolle  die  alte  Achtung  gegen  die  Geist- 
lichkeit und  den  Adel  wieder  herstellen.    Das  war  in  der  That  die 


1;|)  Lipsii  Politicorum  L.  IV  c.  XIII. 

")  Opiuioue  del  Padre  Paolo  servita,  come  debba  govenorsi  la  Republica 

veuo/.iaua  per  havere  il  perpetuo  douiiuio,  geschrieben  1615,  gedruckt  1681. 


Die  Autonomie  <lcs  Denkens  im   17.  Jahrhundert.  59 

grosse  Grundrichtung  der  Politik  Richelieus:  der  Staatsraison  all« 
Interessen  zu  unterwerfen,  auch  die  der  katholischen  (irisiliclikc.il 
uiul  des  Adels.  Den  kirchlichen  [nteressen  und  Lehren  gestattete 
er  keinen  Einfluss  mehr  auf  die  Geschäfte.  Denselben  Geisl  atmel 
auch  sein  Testament.  Aber  es  zeig!  nun  auf  höchsl  belehrende 
Weise,  wie  tue  Macchiavellistischen  Ausschreitungen  der  Staats- 
raison in  der  erblichen  Monarchie  durch  die  Würde  des  Königs 
und  die  moralische  Continuitäl  zwischen  Erbfolgern  eingeschränkl 
wurden.  „Ich  weiss  wohl",  sag!  das  Testament,  „dass  viele  poli- 
tische Schriften  das  skrupulöse  Festhalten  an  den  eingegangenen 
Verträgen  in  Frage  stellen.  Aber  ein  grosser  Fürst  muss  lieber 
>eine  Person  und  selbst  das  Staatsinteresse  wagen-,  als  sein  Wort 
zu  verletzen,  wodurch  er  seine  Reputation  und  dadurch  die  grösste 
Kraft  des  Souveräns  einbüsst51)". 

Aber  lauge  vor  diesem  Uebergang  der  von  Macchiavelli  begründe- 
ten romanischen  Politik  der  Staatsraison  in  das  politische  Denken 
der  grossen  Monarchien  haben  die  Vorgänge  in  Frankreich,  welche 
seit  der  Mitte  des  1(5.  Jahrhunderts  durch  die  Diktatur  der  Guisen, 
die  Verfolgungen  der  Protestanten,  die  Politik  der  Katharina  von 
Medici  und  den  Verlauf  des  Bürgerkriegs  seit  1562  die  Augen  von 
ganz  Europa  auf  sich  zogen,  einen  zweiten  grossen  Fortschritt 
in  der  politischen  Wissenschaft  zur  Folge  gehabt.  Ja  in  diesem 
Kampfe  stiess  gerade  Macchiavellis  Politik  der  Staatsraison.  in 
deren  (leiste  Katharina  von  Medici  handelte,  mit  dieser  neuen 
Evolution  der  politischen  Wissenschaft  feindlich  zusammen.  Die 
eine  wie  die  andere  politische  Richtung  bediente  sich  der  in  der 
griechisch-römischen  philosophischen  und  juristischen  Litteratur  über- 
lieferten Ideen.  Die  politische  Schriftstellerei  der  Protestanten  vor 
dieser  Zeit  hatte  i\u>  Recht  der  Fürsten  auch  über  Religionsange- 
legenheiten und  den  Ursprung  der  fürstlichen  Gewalt  aus  Gott 
vertheidigt.  Die  Bartholomäusnacht  vom  24.  August  1572  brachte 
hierin  eine  entscheidende  Veränderung  hervor.  Von  dieser  Zeit 
:il>  untersuchten  die  protestantischen  Schriftsteller  das  Verhältniss 
des  Rechtes  der  Fürsten  zu  dem  der  Unterthanen,  die  Grenze  der 

H)  Tot.    polit.   _••  pari.   i'.  6. 


ßO  Wilhelm  Dil they, 

fürstlichen   Gewalt    und    die  Befugniss  der   Unterthanen  zum   be- 
waffneten Widerstand,  ja  selbst  bis  zum  Fürstenmord. 

Franz  Hotomanus  war  1524  zu  Paris  geboren.  Er  war  ein 
Zeitgenosse  und  ein  ebenbürtiger  Mitarbeiter  der  zwei  grössten 
Juristen  dieser  Epoche,  des  Cujacius  und  des  Doriellus;  er  wurde 
in  Bourges  der  Nachfolger  des  ersteren  und  der  befreundete  Mit- 
arbeiter des  zweiten.  Die  Bartholomäusnacht  vertrieb  ihn  aus 
Frankreich,  machte  ihn  zum  Gegner  der  absoluten  Monarchie, 
und  so  hat  er  von  Basel  aus  in  der  Schrift  „De  jure  regni 
Galliae  libri  tres.  Bas.  1585"  die  Einschränkung  der  Monarchie 
durch  Volk  und  Stände  geschichtlich  als  das  zu  Recht  bestehende 
fransösische  Staatsrecht  aufzuzeigen  versucht.  Die  französische 
Monarchie  ist  nach  ihm  ihrem  Ursprung  nach  ein  Wahlreich. 
Die  Frauen  sind  von  der  königlichen  Würde  durch  französisches 
Staatsrecht  ausgeschlossen.  Die  staatsrechtliche  Stellung  der  Stände 
giebt  diesen  eine  entscheidende  Stellung  zwischen  dem  Volk  und 
dem  Monarchen.  Indem  der  Kampf  gegen  dies  Königtum  der 
Bartholomäusnacht  zu  einer  Rechtfertigung  des  Hugenottischen 
Widerstandes  aus  den  letzten  Principien  des  Staatsrechts  vordrang: 
entstand  der  Fortschritt  im  modernen  Staatsrecht,  welcher  für  diese 
ganze  Epoche  entscheidend  war.  Dies  geschah  durch  Hubert 
Languet  in  seiner  Schrit  „Viudiciae  contra  tyrannos"  1569.  In  ihr 
wird  der  griechisch  -  römische  Begriff  des  Staatsvertrags  als  der 
Quelle  der  Staatsordnung  und  des  Staatsrechtes  benutzt,  um  das 
Recht  des  Widerstandes  im  Falle  der  Verletzung  der  göttlichen 
Gesetze  durch  den  Monarchen  oder  der  Unterdrückung  des  ATolkes 
durch  denselben  zu  rechtfertigen.  Diese  Theorie  sollte  bis  zur 
französischen  Revolution  hin  die  Grundlage  aller  politisch -juristi- 
schen Konstruktionen  für  die  Neuordnung  der  modernen  Staaten 
bilden.  Auch  sie  war  eine  Schöpfung  des  Altertums.  Sie  war 
entstanden  in  der  Epoche  der  griechischen  Aufklärung  während 
der  Gewaltzustände,  gleichsam  der  permanenten  Revolution,  welche 
die  hellenischen  Politien  zur  Zeit  des  peloponuesischen  Krieges 
verwüstete.  Die  klassische  Darstellung  dieser  Theorie  gab  Plato 
in  seinem  politischen  Hauptwerk,  nach  seiner  Weise  eine  syste- 
niatisirende  Zusammenfassung  alles  dessen,    was  vor  ihm  darüber 


Die  Autonomie  des  Denkens  im   17.  Jahrhundert.  (>1 

geschrieben  war,  als  Grundlage  seiner  eigenen  Polemik.  Dieses 
Naturrecht  gehl  aus  von  dem  Kampf  der  Individuen  gegen  einander, 
einem  gesetzlosen  Leben  als  dem  Naturzustände;  es  lässl  die 
setzliche  Ordnung  im  Staate  vermittelst  eines  Vertrages  entstellen. 
Dieselbe  Lehre  vom  Herrschaftsvertrag  war  nun  das  Mittel  der 
Konstruktion  des  Staates  auf  der  Höhe  des  Mittelalters  bei  Mar 
silius  von  Padua,  Occam  und  Nicolaus  von  Cusa,  sie  blieb  in  den 
folgenden  Jahrhunderten  unerschütterl  ein  wesenhafter  Bestand- 
teil der  gesammten  naturrechtlichen  Staatslehre,  und  so  wurde 
sie  auch  im  16.  und  17.  Jahrhundert  von  Juristen,  Politikern,  Theo- 
logen und  Philosophen  benutzt.58)  Das  aber  war  nun  der  ausser- 
ordentliche Fortschritt  in  dieser  protestantischen  Bewegung,  dass 
sie  vermittelst  dieser  Lehren  in  einem  demokratischen  Sinne  die 
schwebenden  grossen  Fragen  des  Staatsrechts  aufzulösen  und  das 
Kecht  des  Widerstandes  zu  begründen  unternahm.  Die  Souveräni- 
tät des  Volkes  wurde  von  diesen  Schriftstellern  aus  der  Vertrags- 
lehre abgeleitet:  unmöglich  habe  die  Gesammtheit  bei  einer  ver- 
tragsmäßigen und  vernunftmässigen  Einsetzung  des  Herrschers  eine 
volle  Veräusserung  ihrer  Freiheit  beabsichtigen  können.  Ja  die 
Majestätsrechte  sind  nach  Althusius  die  unveräusserliche  Seele  des 
sozialen  Körpers.  Auch  historische  Deduktionen  aus  der  Rcchts- 
schichte  der  einzelnen  Staaten  werden  von  dieser  politischen 
Schuh'  bereits  gegeben.  Selbst  die  später  für  das  Naturrccht  des 
Hobbes  und  Spinoza  so  charakteristische  geometrische  Methode 
wird  von  Lauguet  als  die  seine  bezeichnet;  er  will  nach  der 
geometrischen  Methode  verfahren,  die  vom  Punkt  zur  Linie,  von 
dieser  zur  Fläche,  von  der  Fläche  zum  Körper  fortschreitet. 
Ebenso  fordert  der  protestantische  deutsche  Schriftsteller  Henning 
in  seiner  Schrift  de  lege  naturae  methodus  apodictica  1562,    dass 


K)  Die  mittelalterliche  Ausbildung  dieser  Lehre  uud  ihre  Uebertragung 
\<<in  Mittelalter  auf  das  16.  und  17.  Jahrhundert  ist  in  dem  klassischen  Werke 
von  Otto  Gierke  über  die  Staats-  und  Corporationslehre  des  Altertums  und 
des  Mittelalters  (1881),  sowie  in  dessen  Althusius  zuerst   dargestellt;  über  die 

aittlungen,  welche  von  dem  Naturrecht  und  der  Vertragslehre  der  So- 
phisten  zu  den  mittelalterlichen  Lehren  hinüberführen,  werde  ich  mich  au 
einem  anderen  Orte  aussprechen. 


62  Wilhelm  Dilthey, 

die  Methode  der  mathematischen  Wissenschaften  auf  das  Natur- 
recht angewandt  werde.  Seine  eigene  Anwendung  dieser  Methode 
ist  freilich  noch  höchst  unvollkommen. 

Die  Ergänzung  dieser  Lehre  vom  Rechte  des  Widerstandes 
lag  in  der  Ausbildung  der  Theorie  vom  Rechte  jedes  Glaubens  auf 
Toleranz.  Schon  von  Thomas  Monis  ist  die  Forderung  der  Tole- 
ranz aufgestellt  worden;  auf  seiner  idealen  Insel  wohnen  verschie- 
dene Glaubensbekenntnisse  friedlich  nebeneinander.  Dasselbe  Princip 
der  Toleranz  wurde  von  den  protestantischen  Sekten  überall  geltend 
gemacht.  In  den  Niederlanden  ist  es  dann  von  Kornhert  ausführ- 
lich begründet  worden.  Hier  hat  es  überhaupt  infolge  des  Zusam- 
menlebens der  Sekten  zuerst  die  Geltung  eines  unverbrüchlichen 
staatlichen  Grundgesetzes  erhalten.  Auch  dies  Princip  empfing 
erst  seine  theoretische  Begründung  durch  die  Lehren  des  Staats- 
vertrages  und  des  Naturrechtes,  nach  welchem  die  Freiheit  des 
Gewissens  ein  unveräusserliches  menschliches  Recht  ist,  sonach  nie- 
mals durch  den  Unterwerfungsvertrag  an  den  Fürsten  übergehen 
kann. 

Nicht  minder  stark  waren  die  Gründe  für  die  Ausbildung 
eines  allgemeingültigen ,  mit  dem  Richteramt  der  Vernunft  aus- 
gestatteten Naturrechts,  welche  zu  dieser  Zeit  in  den  sozialen  und 
politischen  Gegensätzen  und  Forderungen  enthalten  waren. 
Die  neue  bürgerliche  Gesellschaft  suchte  nach  Principien  ihrer  Recht- 
fertigung und  Durchbildung.  Dieselben  konnten  nicht  in  dem 
theok ratischen  Gedanken  des  Mittelalters  gefunden  werden.  Wen- 
dete man  sich  zum  Altertume,  insbesondere  zur  römischen  AVeit: 
so  lagen  in  der  Sklaverei,  im  Religionszwang,  im  imperialistischen 
Verwaltungssystem  überall  Schranken  des  Denkens,  welche  das 
Jahrhundert  nicht  mehr  anerkannte.  Es  galt  sonach  die  antiken 
juristischen  und  politischen  Grundbegriffe  fortzubilden.  Schon  bei 
Thomas  Monis  wird  der  Gedanke  von  der  rechtlichen  Gleichheit 
aller  Staatsbürger  zu  Grunde  gelegt.  Denselben  Gedanken  spricht 
unter  der  Einwirkung  der  Stoa  La  Boetie,  der  Freund  des  Montaigne, 
aus.  „Die  Natur  hat  uns  allen  dieselbe  Form  mitgeteilt,  sie  hat 
uns  allen  gemeinsam  die  ganze  Erde  zur  Wohnung  gegeben  und  uns 
so  in  demselben  Hause  einquartirt:  man  kann  nicht  zweifeln,  dass  wir 


Die  Autonomie  des  Denkens  im   17.  Jahrhundert.  (>."> 

alle  von  Natur  frei  sind:  es  kann  niemand  einfallen,  dass  die  Natur 
einige  von  uns  in  Sklaverei  gegeben  habe."58)  Ferner  hatten  die  reli 
giöseii  Kämpfe  die  Feststellung  unveräusserlicher  Rechte  aller  Men- 
schen gefordert.  Bndlich  verlangten  die  grossen  Monarchien  die 
Concentration  politischer  Machtbefugnisse  zum  Wohle  des  Ganzen 
in  der  Hand  der  Staatsgewalt.  Diesen  Anforderungen  an  ein  der 
Zeil  entsprechendes  staatsrechtliches  uwA  politisches  System  haben 
nun  drei  grosse  Werke  für  das  Zeitalter  entsprochen:  die  Staats- 
lehre tles  Bodin  1577.  die  Politik  des  Althus  1603  und  das  Völ- 
kerrecht des  Hugo  de  Groot  1625. 

Bodin  ist  der  grosse  Theoretiker  der  absoluten  Monarchie, 
welche  die  Gewissensfreiheit  achtel  und  die  Wohlfahrt  des  Ganzen 
zu  verwirklichen  strebt.  Er  vertritt  diejenige  Politik',  welche  als- 
dann durch  Heinrich  IV.  in  Frankreich  zum  Siege  gelangte  und 
nur  zu  Frankreichs  Unglück  nach  dessen  Ermordung  wieder  ver- 
lassen wurde.  Dieser  wahrhaft  philosophischen  Schuh»  von  Po- 
litikern, welche  zugleich  Hoyalisten,  Vertreter  des  historischen 
Rechts  und  der  Gewissensfreiheit  waren,  gehörte  von  Katholiken 
der  Kanzler  de  l'Hopital  an,  welcher  die  Politik  der  Guisen  in 
der  Schrift  über  Ziel  des  Krieges  und  des  Friedens  (1570)  als  eine 
grausame  Blutpolitik  im  wahren  Interesse  der  Monarchie  bekämpfte. 
Andere  katholische  Anhänger  dieser  Schule  waren  Etienne  Pasquier, 
de  Pithou  und  die  Verfasser  der  satyre  Menippee.  Von  Protestanten 
gehörten  zu  ihr  de  La  Noue  und  Duplessis-Mornay.  In  der  Richtung 
dieser  politischen  Denker  und  Schriftsteller,  welche  das  grosse  Re- 
gierungsprincip  Heinrichs  IV.  ausgesprochen  haben,  liegt  nun  die 
politische  Formel  des  Bodinus,  welche  von  unermesslicher  Wirkung 
gewesen  ist.  Die  allgemeinen  Grundlagen  alles  geselligen  Lebens 
der  Menschen  sind  die  göttlichen  und  natürlichen  Gesetze;  „alle 
Fürsten  der  Erde  sind  den  göttlichen  Gesetzen  unterworfen,  und  es 
Bteht  nicht  in  ihrer  Befugniss  diesen  entgegen  zu  handeln:"  die  im 
römischen  Geiste  autoritativ  gestaltete  Familie,  die  persönliche 
Freiheit,  das  Privateigentum,  die  Geltung  der  privatrechtlichen  Ver- 
pflichtungen der  Person  sind  solche  Grundlagen  des  gesellschaftlichen 


53)  Boetie  in  seiner  Schrift  de  la  servitude  volontaire. 


ß4  Wilhelm  Dilthey, 

Lebens.     Daher  liegen  in  den  göttlichen  und  natürlichen  Gesetzen 
und  in   den  privatrechtlichen  Verhältnissen,    als  auf  welchen    erst 
jeder  Staat  sich  aufbaut,    auch  die  Schranken    seiner  Gewalt.     In 
diesem  Sinne   leugnet  Bodin   die  Pflicht  des  Gehorsams  gegen  den 
Souverain,  wo  das  göttliche  Gesetz  und  die  Grundgesetze  der  Natur 
verletzt  werden,    und    er  fordert  im  Namen    der  Freiheit  als  eine 
notwendige   Reform    die  Sonderung  der  Rechtspflege   von  der  Re- 
gierung.    Auf   diesen    Grundlagen    entsteht    die    Regierangsgewalt 
vormittelst    des  Staatsvertrags.     Dieser  ist    ihm  wie    allen  grossen 
Juristen  und  Politikern  der  Zeit  die  selbstverständliche  Grundlage 
des    Staatsrechts54).      Der    Zeitgenosse    der    grossen    französischen 
Romanisten,    der  Vorkämpfer    der    kommenden    Monarchie    Hein- 
richs IV.  hat   nun   —  ein   geschichtlich    denkwürdiger    Fortsehritt 
im  Staatsrecht    —    den  Begriff  der  Souveränität  zuerst  construirt 
und  vermittelst  der  Merkmale  ihrer  Einheit  und  dauernden  Macht- 
fülle   in    allen    ihren  Konsequenzen    mit  unerbittlicher  Logik  ent- 
wickelt.    Er  schliesst  jede  Teilung   der  Staatsgewalt,  sonach  auch 
jede    staatsrechtlich    bestimmte  Mitwirkung    anderer  Faktoren  mit 
dem  Souverän  aus.     Jenen   Begriff   der    gemischten    Staatsformen, 
welchen    zuerst    der    grosse  politische  Denker  Dicäarch    in  seinem 
Tripolitikus    entwickelt    und    den    Polybius    und   Cicero    vertreten 
hatten,    bekämpft    er    als  Korruption    des    Staatsrechts.     Wo    der 
Fürst    beschränkt    ist,    ist    in    Wirklichkeit    das    Volk    souverän. 
Was  für    eine  Tragweite    hatten    diese   Sätze,    nach  welchen    der 
Fürst  zwar  unbedingt   beratender  Körperschaften  bedarf,    die    ihn 
über    das  Gemeinwohl    unterrichten,    niemals    aber    an  deren  Be- 
schlüsse gebunden  ist55)!  Er  entwickelte  den  römischen  Satz:  „prin- 
ceps  legibus  solutus  est"  als  das  wesentliche  Kriterium  der  wahren 
Souveränität.     Aber    darin    kommt    nun    die  Vielseitigkeit    dieses 
reichen  Geistes    erst    zum  Ausdruck,    dass    er   die  staatsrechtliche 
Konstruktion    mit    der  descriptiven    aristotelischen  Lehre   von  den 
Staatsformen  verknüpft.   Er  hat  mit  der  antiquarischen  Gelehrsam- 
keit   des  Jahrhunderts    die  von  Aristoteles   geschaffene  Lehre   von 


54)  Bodinus  de  republica  c.  8. 

55)  De  rep.  I,  e.  2.  II  e.  1.  e.  5.  C,  7.  VI.  ('.  t. 


Die  Autonomie  des  Denkens  im  17.  Jahrhundert.  li.'i 

der  Monarchie,  der  Aristokratie  und  der  Volksherrschaft  weiter 
entwickelt.  Im  Sinne  des  Aristoteles,  Theophrast,  Dicäarch  und 
Galen  gehl  er  dem  Einfluss  des  Bodens,  der  Atmosphäre,  der 
psychologischen  Anlagen  bei  der  Ausbildung  der  Staatsverfassungen 
nach:  hier  wie  in  seinem  grossen  Werk  aber  die  Religionen  ein 
vergleichender  Forschor  grossen  Stils,  der  Vorgänger  <\o>  Moni 
quieu.  Die  Gründe,  durch  welche  er  die  politische  Ueberlegenheil 
der  Monarchie  erweist,  sind  von  echtestem  geschichtlichen  Tief- 
sinn. Die  Monarchie  allein  ist  im  Stande  das  demokratische  Prin- 
cip  der  Gleichheit  und  das  aristokratische  der  Abmessung  von 
Funktionen  und  Rechten  im  Staate  zu  verbinden,  zugleich  die 
Bevölkerung  an  der  Regierung  teilnehmen  zu  lassen  und  doch  die 
notwendige  Einheit  derselben  aufrecht  zu  erhalten,  zugleich  die 
Vorzüge  der  Aristokratie  und  Volksherrschafl  in  gewissen  Grenzen 
sich  nutzbar  zu  machen  und  doch  eine  wirkliche  Teilung  der 
Gewall  zu  vermeiden. 

Der  zweite  grosse  politische  Denker,  welcher  den  kommenden 
Bewegungen  der  europäischen  Gesellschaft  die  Bahn  vorzeichnete, 
war  Johann  Althus.  Er  war  1557  in  einem  Dorf  der  Grafschaft 
Witgenstein -Berleburg  geboren,  wurde  1585  an  die  Nassauische 
Universität  Herborn  berufen,  und  dort  veröffentlichte  er  1603  seine 
politica  methodice  digesta.  Dieses  Werk  und  das  des  Suarez  de 
legibus,  welches  6  Jahre  danach,  1609,  erschien,  schlicssen  die 
grosse  naturrechtliche  Bewegung  der  reformirten  und  jesuitischen 
Schriftsteller  in  der  Lehre  von  der  Volkssouveränität  ab.  Aber 
während  Suarez  wie  Molina  die  Uebertragung  der  Herrschaft  vom 
Volk  auf  den  Souveraiu  sowohl  ohne  Vorbehalt  als  mit  Vorbehalt, 
selbst  geteilt  für  möglich  erklärten,  hat  Althusius  im  klaren 
Anschluss  an  Bodin  und  im  klaren  Gegensatz  zu  ihm  die  aus- 
schliessliche, einheitliche  und  unveräusserliche  Souveränität  des 
Volkes  als  Princip  alles  Staatsrechtes  ausgesprochen.  Er  zuerst 
proklamirte  die  „Majestät1'  dos  Volkes.  Milton  hat  auf  diese 
Lehre  von  der  fundamentalen  Gewalt  des  Volkes  seinen  Begriff 
der  Regierung  gegründet,  nach  welchem  diese  stets  nur  im  Auf- 
trag und  Namen  des  Volkes  geführt  wird.  Von  diesen  Voraus- 
setzungen aus  schrieb  Althus  in  jedem  Staate   der  Volksversamm- 

\r.im   f.  Geschichte  d.  Philosophie.    VII.  .> 


G6  Wilhelm  Dil they, 

Jung  als  ihr  unzerstörbares  Recht  die  Ausübung  der  parlamentari- 
schen Befugnisse  zu.  In  demselben  Sinne  haben  Milton  und 
Locke  die  parlamentarische  Repräsentation  als  eine  auf  Vollmacht 
beruhende  wahre  Stellvertretung  aufgefas.st. 

Der  einflussreichste  dieser  drei  grossen  politischen  Schriftsteller 
war  Hugo  de  Groot.  In  ihm  gelangte  die  grosse  Tendenz  dieser 
Epoche  zum  klassischen  Ausdruck,  für  die  Neuordnung  der  Gesell- 
schaft bestimmende  allgemeingültige  Begriffe  rechtlich  politischer 
Art  zu  entwickeln.  In  den  drei  ersten  Decennien  des  17.  Jahr- 
hunderts tritt  eine  Reihe  von  Werken  hervor,  welche  alle  auf  eine 
autonome  Constituirung  und  philosophische  Grundlegung  der  mora- 
lischen, rechtlich  politischen  Welt  gerichtet  waren.  Hierbei  be- 
dienen sich  aber  einige  der  wichtigsten  unter  ihnen,  darunter  auch 
Grotius,  ganz  vorwiegend  der  stoisch-römischen  Lehren.  Aus  dem 
Material  derselben  bauen  sie  ein  natürliches  System  der  mora- 
lischen Welt  auf.  1601  erschien  die  Schrift  von  Charron  de  la 
sagesse,  von  welcher  ich  zeigte,  dass  sie  überwiegend  auf  stoischer 
Grundlage  beruht.  Dann  folgten  von  1605  — 1620  die  Arbeiten 
Bacons,  deren  moralisch -politischer  Theil  erheblich  vom  stoischen 
und  römischen  Denken  beeinflusst  ist.  1624  erschien  dann  das 
Werk  des  Herbert  von  Cherbury  de  veritate,  in  welchem  ich  eben- 
falls den  Einfiuss  dieser  mächtigen  Strömung  aufwies.  Und 
1625  folgte  dann  das  grosse  juristisch -politische  Werk  des  Hugo 
Grotius.  Alle  diese  Werke  versuchen  eine  unabhängige  Consti- 
tuirung der  moralischen  Welt.  Dann  erst,  von  den  vierziger  Jah- 
ren ab,  unter  dem  Einfiuss  des  Galilei  und  Descartes,  erfolgte  jene 
Evolution  des  Naturwissens,  in  deren  Verlauf  das  natürliche  System 
der  moralischen  Welt  nunmehr  einer  umfassenden  Naturerkenntniss 
eingeordnet  wurde.  Auch  die  Begriffe  von  angeborenen  Tendenzen 
der  Menschennatur,  auf  welche  bis  dahin  im  Sinne  der  Stoa  dies 
unabhängige  System  der  moralischen  Welt  begründet  worden  war, 
erhielten  jetzt  eine  Fassung,  durch  welche  sie  den  Grundbegriffen 
des  Naturwissens  angepasst  wurden. 

Hugo  de  Groot  ward  geboren  am  10.  April  1583  zu  Delft.  Er 
gehörte  der  grossen  humanistischen  Epoche  der  Niederlande  an; 
seine   ganz   universelle  Gelehrsamkeit  stand   im    Dienste    der  Auf- 


l>ic  Autonomie  des  Denkens  im  17.  Jahrhundert.  i>, 

gäbe,  die  Neuordnung  der  Gesellschaft  unabhängig  von  den  Reli- 
gionen auf  die  Vernunft  zu  gründen  und  den  Kampf  der  Kon- 
fessionen zu  mildern  und  womöglich  zu  beendigen.  In  dieser  Ab- 
sicht entwickelte  er  eine  allgemeine  Jurisprudenz,  ein  Naturrechl 
und  ein  Völkerrecht.  Seine  theologischen  Werke  wollen  die  kon- 
■  Hineilen  Gegensätze  durch  die  historische  Erkenntniss  des  wählen 
Christentums  überwinden.  Sie  lassen  die  Opferidee  fallen;  Gott, 
Unsterblichkeit,  die  Würde  des  Menschen  bilden  die  Grundlage  einer 
Seligkeitslehre,  welche  ihm  der  Kern  des  Christentums  ist.  So 
lebt  und  wein  Hugo  de  Groot  in  den  Ideen  des  Friedens:  einer 
der  reinsten,  edelsten  und  wirksamsten  Menschen  dieses  grossen 
17.  Jahrhunderts,  vom  reellsten,  solidesten  Wissen,  aufrichtig  über 
die  Quellen  seiner  Gedanken,  überall  vermöge  der  praktischen  Rich- 
tung seines  Geistes  auf  das  l  Inanstössige,  Acceptable,  Gemässigte 
gerichtet. 

Er  geht  von  dem  Begriff  einer  allgemeinen  Jurisprudenz 
aus.  Hierin  ist  er  von  der  grossen  Richtung  der  Zeit  auf  ein  univer- 
selles, sowohl  das  private  als  auch  das  öffentliche  Recht  einschliessende 
Etechtssystem  bedingt;  insbesondere  wird  hierin  Althusius  ihn  be- 
einflusst  haben,  da  er  diesen  auch  sonst  augenscheinlich  berück- 
sichtigt5'5). Von  dieser  allgemeinen  Jurisprudenz  aus  entwickelt 
Groot  für  das  Völkerrecht  die  konstituirenden  Begriffe.  So  gelaugt 
er  zu   denjenigen  Begriffen,    welche  selber  eine  weitere  Ableitung 


'*'•)  Wenn  Groot  I   c.  3    die  Ansicht    derer   eifrig    bekämpft,    welche    die 
uveränität  als  Quellpunkt  jeder  Staatsgewalt  ansehen,    so  scheint   sieh 
diese  Polemik  besonders  gegen  Althusius  zu  richten,  dessen  Behauptung,  die 
igkeit,   also  auch  die  Könige  seien  nur  aduünistratores  consociationis  uni- 
salis,    er    in    §  8,  14   zu   widerlegen    sucht.     Insbesondere    nimmt    Gr.    die 
ichstellung  der  Eerrscher  mit  Vormündern  des  Volkes  auf.   welche  Althu- 
-   behauptet    und  in  ihren   rechtlichen  Folgerungen    klar   gelegt   hatte:    na- 
türlich erhält    dabei   die  Ansicht    des  Althusius   die  Korrekturen,    welche   der 
Vertretet  des  gemässigten    Absolutismus  vornehmen  muss.     Cf.  Groot.  1  c.  3 
11.    Auf  weitere  Beziehungen  zwischen  beiden  hat  Otto  Gierke,  Johannes 
Althusius   und   die   Entwicklung  der  naturrechtlichen  Staatstheorien  (Breslau 
1880    p.  29,  lol.  251   u.U.  aufmerksam  gemacht.  —  Sein  Verhältnis  zu  seinen 
Vorgängern  aul  dei  I  des  Völkerrechts  hat  Grotius  in  den  Proleg.  §36 

u.  ff.  bestimmt. 

5* 


GS  Wilhelm  Dilthey, 

nicht  mehr  gestatten,  gleichsam  zu  den  allgemeinsten  Bestand- 
teilen der  Jurisprudenz.  „Ganz  besonders  kam  es  mir  darauf  an, 
die  Erörterungen  naturrechtlicher  Fragen  auf  feste  Begriffe  zurück- 
zuführen, die  niemand  ableugnen  kann,  ohne  sich  selber  Gewalt  an- 
zuthun.  Sind  doch  die  Grundsätze  dieses  Rechts  für  den  genauen 
Beobachter  ebenso  klar  und  evident  wie  die  sinnlichen  Erschei- 
nungen, die  ja  auch  nicht  täuschen,  wofern  die  Sinnesorgane  ge- 
sund sind  und  das  übrige  Notwendige  vorhanden  ist57)."  — 

Die  Methode,  deren  sich  Grotius  bedient,  ist  hiernach  von  ihm 
selbst  als  die  der  Deduktion  der  einzelnen  völkerrechtlichen  Sätze 
aus  allgemein  giltigen  Begriffen  bestimmt.  So  ward  später  die 
Verbindung  dieser  Methode  mit  der  von  mathematischer  Konstruk- 
tion in  Hobbes  und  Spinoza  möglich.  Seine  Methode  ist  juristische 
Konstruktion.  Demnach  musste  Groot  sich  die  Aufgabe  stellen, 
die  wichtigsten  der  allgemeinen  Rechtsbegriffe  aus  den  positiven 
Rechten  auszulösen  und  sie  nach  ihrem  Ursprung  und  Gehalt  zu 
bestimmen.  Hätte  dies  Streben  nicht  ohnehin  in  seiner  Geistes- 
ric.htung  gelegen,  so  würde  das  Problem  des  Völkerrechts  ihn  auf 
dasselbe  geführt  haben.  Denn  wie  er  selber  ausdrücklich  hervor- 
hebt, sind  die  Hauptbestimmungen  des  Völkerrechtes  aus  dem  Na- 
turrecht  zu  schöpfen58). 

Dasselbe  Verhältniss  hat  er  nun  auch  in  einer  denkwürdigen 
Erörterung59)  von  einer  Gliederung  des  Rechtes  aus  verdeutlicht. 
Er  geht  von  der  Unterscheidung  in  natürliches  und  positives  Recht 
bei  den  Alten  aus.  Das  Naturrecht  bestimmt  er  durch  die  Merk- 
male seiner  Unveränderlichkeit  und  der  Uebereinstimmung  aller 
Völker  in  ihm.  Das  positive  Recht  bezeichnet  er  als  das  will- 
kürliche, durch  die  Setzung  im  Willen  bedingte.  Das  willkürliche 
menschliche  Recht    entspringt  im  engeren  Kreis  aus  dem   Willen 


")  Gr.  proleg.  §  39.  —  Cf.  Cic.  de  leg.  I,  10.  Acad.  I,  40.  Seil.  ep. 
120,4  ff.  etc. 

58)  Gerade  dahin  bestimmt  er  seine  Aufgabe.  Cf.  Proleg.  §  30.  Er  will 
die  natürlichen  Bestimmungen  innerhalb  des  Völkerrechts  in  ein  System  brin- 
gen. Da  sie  immer  dieselben  bleiben,  sind  sie  der  Darstellung  in  einer 
wissenschaftlichen  Form  fällig. 

59)  I  c.  1  §  3  ii.  ff. 


Die  Autonomie  des  Denkens  im   IT.  Jahrhundert.  69 

des  Vaters  oder  des  Herrn,  im  weiteren  aus  dem  der  bürgerlichen 
Obrigkeil  and  im  weitesten  aus  dem  gemeinsamen  Willen,  d.  h. 
dem  völkerrechtlichen  (Jebereinkommen  mehrerer  Nationen.  Daher 
beruhl  alles  Recht,  welches  über  das  natürliche  hinausreicht,  auf 
der  Uebereinkunft,  diese  aber  hat  ihre  verpflichtende  Kraft  aus 
dem  natürlichen  Kocht.  Sonach  ist:  „die  aus  der  Uebereinkunft  ent- 
springende Verbindlichkeit  die  Mutter  des  bürgerlichen  Rechtes"60). 
Und  diese  Ä.bhängigkei1  jedes  positiven  Rechtes  vom  natürlichen 
reicht  noch  weiter.  Die  Institute  des  Eigentums,  der  Obligatio- 
nen etc.  sind  schliesslich  in  Lebensverhältnissen  gegründet,  welche 
von  der  Willkür  des  Menschen  anabhängig  sind.  So  ergiebl  sich 
also,  dass  die  gesammte  Jurisprudenz  letzte  Begriffe  oder  Sülze  in 
sich  enthält,  die  unveränderlich,  bei  allen  Völkern  gleich  und  in 
der  Natur  der  Sache  gegründet  sind;  auf  ihnen  beruht  die  sichere 
Geltang  der  Rechtsordnung61). 

Sonach  concentrirt  sich  das  Problem  des  Hugo  Grotius  dahin, 
die  unveränderlichen,  allgemein  giltigen,  in  der  Natur  der  Sache 
»rundeten  und  darum  notwendigen  Begriffe  und  Sätze  des  Natur- 
rechts aufzufinden.  Den  schärfsten  Ausdruck  für  den  Charakter 
dieser  Kegrille  und  Sätze  enthält  I  c.  1  §  10:  „Das  Naturrechl  ist 
so  unveränderlich,  dass  es  selbst  von  Gott  nicht  verändert  werden 
kann  ...  So  wenig  Gott  bewirken  kann,  dass  zwei  mal  zwei  nicht 
vier  ist,  ebensowenig  kaun  er  bewirken,  dass  das,  was  seiner  in- 
neren  Natur  nach  schlecht  ist,  nicht  schlecht  sei"")". 


«°)  Proleg.  §  IC. 

6I)  Die    von    ihm    angestrebte   Generalisation    bezeichnet    Gr.   durch    ein 
Bild,  an  welches  eine  berühmte  Stelle  des  Spinoza  anklingt.    C\\  Proleg.  §  '>s: 

gestehe,    ich    habe    nach    Art  der   Mathematiker,    welche   die   Figuren  ge- 
■iiit  von  den  Körpern  behandeln,  bei   der  Behandlung  des  Rechts  die  Auf- 
merksamkeil   von  jedem    wirklichen   Einzelfall  abgelenkt". 

Einen  ähnlichen  Gedanken  hatte  bereits  Gabriel  ßiel  (f  1495)  ausge- 
sprochen: -i  per  impossibile  deus  non  esset,  qui  est  ratio  divina,  aut  ratio 
[IIa  divina  essel  errans:  adhuc  si  quis  ageret  contra  reetam  rationem  angeli- 
cam  vel  humanam  aut  aliam  aliquam,  si  qua  esset  —  peccaret.  ...  Im 
17.  Jahrhnndeii  i^t  auch  der  mittelalterliche  Gedanke,  dass  die  Pursten  Stell- 
vertreter Gottes  seien  und  ihre  Macht  und  ihre  Rechte  von'diesem  zu  Lehen 
Italien,  von  dem  erneuerten  Naturrechl  völlig  zurückgedrängt  worden. 


70  Wilhelm  Dilthey, 

Diese  Begriffe  sind  nun  aber  Lebensbegriffe,  nicht  Denkkate- 
gorien.  Sie  sind  weder  mit  den  logischen  noch  mit  den  mathe- 
matischen Axiomen  zu  vergleichen,  vielmehr  sind  sie  im  Ganzen 
des  Lebens  angelegt  und  schöpfen  aus  diesem  ihre  Ueberzeugungs- 
kraft.  Indem  Groot  von  diesen  Lebensbegriffen  ausgeht,  erneuert 
er  nur  die  wahre  Intention  der  römischen  Jurisprudenz.  Und  es 
ist  in  den  Zeiten  des  Grotius  ganz  so  wie  damals,  als  die  römische 
Civilrechtswissenschaft  entstand,  die  Stoa  gewesen,  aus  welcher 
man  ein  Verfahren  entnahm,  solch  allgemeine  Begriffe  und  Sätze 
tiefer  zu  begründen.  Dies  führt  auf  denjenigen  Punkt,  an  welchem 
die  notiones  communes  der  Stoa  in  ihrem  wahren  Verstände,  die 
Lebensbegriffe  des  römischen  Rechtes  und  die  Grundbegriffe  der 
allgemeinen  Jurisprudenz  des  Grotius  mit  einander  zusammen- 
hängen. 

Das  xotTaXrjTrTixov  und  die  Selbigkeit  ist  ein  Gegebenes,  hinter 
welches  nicht  zurückgegangen  werden  kann;  alle  Garautie  der 
Wirklichkeit  ist  nur  hierin  gelegen.  Hierdurch  ist  die  formale 
Seite  des  römischen  Naturrechts  und  der  Grotiusschen  allgemeinen 
Jurisprudenz  bedingt.  Seneca  ep.  117,  6:  apud  nos  veritatis  ar- 
gumentum est,  aliquid  de  omnibus  videri.  Die  inhaltliche  Kon- 
ception  aber,  von  der  auszugehen  ist,  liegt  in  dem  teleologi- 
schen Zusammenhang  der  Triebe,  Funktionen  und  Glieder,  ver- 
mittelst deren  ein  lebendiges  Wesen  sich  selbst  erhält.  In  die- 
sem sind  Kraft,  Leben,  Teleologie  und  ratio  identisch;  in  diesem 
ist  ratio  Leben,  und  das  Leben  ist  ratio.  Die  xotval  evvotai, 
welche  in  ihm  entstehen,  sind  nicht  das  Ergebniss  der  Erfah- 
rung: denn  die  lebendige  teleologisch  wirkende  Kraft  ist  als  Sub- 
jekt des  Erkennens  da,  ehe  dieses  ins  Spiel  tritt.  Diese  sind 
auch  nicht  angeboren  (vielmehr  aupi^utot),  da  sie  sich  doch  erst 
entwickeln  müssen. 

Für  die  Feststellung  dieser  Lebensbegriffe  hat  Grotius  ent- 
sprechend den  stoisch  -  römischen  Arbeiten  zwei  Methoden:  die 
direkte  Methode  leitet  aus  der  Natur  des  Menschen  und  der  Ge- 
sellschaft ab,  die  indirekte  beweist  den  allgemein  giltigen  natur- 
rechtlichen Charakter  eines  Begriffs  oder  Satzes  aus  seiner  Unver- 
änderlichkeit  und  Selbigkeit  bei  allen  Völkern  oder  doch  bei  allen 


Die  Autonomie  des  Denkens  im  17.  Jahrhundert.  .  I 


gebildeten  Völkern63).  Die  so  festgestellten  Rechtsbegriffe  haben 
nach  ihm  ihre  Geltung  unabhängig  von  dein  Glaubeo  an  ihre  Be- 
gründung in  einer  auf  Gotl  ruhenden  teleologischen  Ordnung 
„Auch  wenn  es  keinen  Gotl  gäbe",  würden  die  Sätze  des  Natur- 
rechts ihre  independente  Allgemeingiltigkeil  haben.  Die  klare  Er- 
kenntniss  dieses  Gedankens  ist  der  grösste  Fortschritt,  den  die 
Rechtslehre  dieser  Epoche  besonders  durch  die  Autoritäl  des  Gro- 
tius  aber  die  römische  Stoa  hinaus  gethan  hat,  welche  jenen  theo- 
logischen "der  metaphysischeu  Zusammenhang  festhielt. 

Die  analytische  «'der  indirekte  Methode  ist  die  eigentlich 
stoisch -römische.  Auch  begründel  sie  Grotius  auf  die  Sätze  des 
Cicero  and  Seneca.  Cicero  sagt:  „Die  Uebereinstimmung  aller  Völ- 
ker in  einem  Tunkt  ist  das  Zeichen  des  Naturrechts6*)".  Die  Ein- 
schränkung dieses  consensus  auf  die  (Jebereinstimmung  aller  nor- 
malen gebildeten  Menschen  beweist  Grotius  aus  Aristoteles,  Andro- 
oikus  von  Rhodus  und  Plutarch. 

Die  synthetische  Methode  ist  nach  llroot  schwerer  zu  hand- 
halten, doch  tiefer  reichend65).  Ganz  ausdrücklich  schliess!  sich 
Grotius  in  ihrer  Anwendung  an  das  antike  Denken  an66).  Er 
knüpft  so  gut  wie  Cicero  an  die  von  Carneades  hervorgerufene  Dis- 
kussion an.     In  der  Menschennatur  liegt  ohne  Frage    das  Streben 


G:i)  Interessant  isl  es  zu  beobachten,  wie  Gr.  .'inen  consensus  verschie- 
dener Rechtsansichten  durch  zum  Teil  willkürliche  Auslegung  der  Ueberlie- 
ferung  herzustellen  sieh  abmüht.  Bei  der  Frage  nach  dem  Rech!  des  Privat- 
krieges stützt  er  sich  auf  Ciceros  Wort:  ,Das  Schwert  zu  führen,  wäre  gewiss 
nicht  erlaubt,  wenn  man  es  in  keinem  Falle  gebrauchen  dürfte"  —  gleich  als 
wäre  daraus  zu  entnehmen,  dass  die  Führung  des  Sehweites  aichl  bloss  im 
atlichen,  sondern  auch  im  Privatkii  stattet    sei.     Noch   freier  ist  die 

Interpretation  einiger  christlichen  Sätze,  die  dem  Recht  des  Privatkrieges  zu 
widersprechen  scheinen,  cf.  I,  3  §  3  u.  IT.  Das  biblische  Gebol  der  Nächsten- 
liebe steht  in  der  engen  Begrenzung  des  Wortes  seiner  Ansicht  entgegen. 
Diese  Begrenzung  will  er  durch  den  antiken  Gedanken:  tarn  omnibus  parcere 
crudelit  quam  nulli,   aufheben  cf.  Sen.  de   (dement.  I   c.  2.     Dass    sieh 

übrigens   Gr.   der   Frei!  oer   Auslegung    bewussl    ist.    gehl    aus   I    c.  3 

I   :'.  hervor. 

<■'*)  Cf.  de  fii.it».  V,  06. 

6S)  Cf.  I  c.  1  §  10,  1. 
Proleg.  §  •">. 


72  Wilhelm  Dilthey, 

nach  dem  Nützlichen.  Carneades  hatte  nun  auf  das  utilitarische 
Princip  Recht  und  Moral  gegründet.  Aus  diesem  hatte  er  gefolgert, 
der  Nutzen  bleibe  stets  das  Kriterium  für  die  Geltung  eines  Recht 


DS- 


satzes.  Im  Gegensatz  zu  ihm  sucht  Groot  in  Anlehnung  an  die 
Stoa67)  einen  unerschütterlichen  Grund  allgemein  giltiger  Rechtsele- 
mente und  findet  ihn  in  dem  gesellschaftlichen  Trieb  des  Men- 
schen, welcher  mit  den  Mitteln  der  Sprache  und  mit  der  Fähigkeit, 
Regeln  zu  entwerfen  und  nach  ihnen  zu  handeln,  ausgerüstet  ist. 
In  demselben  sind  nun  die  einzelnen  Regeln  oder  Verbindlichkeiten 
enthalten:  Enthalte  dich  des  fremden  Gutes  oder  ersetze  es,  wenn 
du  in  seinem  Besitz  bist;  ersetze  den  durch  deine  Schuld  entstan- 
denen Schaden;  endlich  Strafvergeltung.  Als  sekundäres  Princip 
erkennt  Groot  alsdann  den  Nutzen  an  und  bestimmt  die  wirkende 
Kraft  dieses  Princips  aus  der  Ausrüstung  desselben  mit  dem  ab- 
messenden, die  Zukunft  berechnenden  Denken. 

Die  einzelnen  Grundbegriffe  oder  Grundsätze  des  Naturrechts 
werden  nun  von  Groot,  wie  sie  als  Grundlagen  für  das  Völkerrecht 
erforderlich  sind,  entwickelt.  In  einer  Darstellung  des  Systems 
von  Grotius  müssten  diese  Hauptsätze  ausgelöst,  gesammelt  und 
als  die  Elemente  seiner  allgemeinen  Jurisprudenz  hingestellt  werden. 
Unser  Zusammenhang  forciert  nur,  einige  dieser  elementaren  Rechts- 
begriffe herauszuheben,  um  die  Abhängigkeit  des  Grotius  von  den 
römischen  Schriftstellern  auch  hierin  darzulegen. 

Der  erste  Grundbegriff  der  allgemeinen  Jurisprudenz, 
das  Recht  zu  privater  Notwehr,  folgt  aus  der  allgemeinen  Regel, 
dass  der  Zweck  der  Gesellschaft  ist,  mit  gemeinsamen  Kräften  jedem 
das  Seine  zu  erhalten,  demnach  der  Trieb  der  Selbsterhaltunjj  und 
die  aus  ihm  entspringende  Anwendung  von  Gewalt  nur  an  dem 
Recht  der  Anderen  seine  Grenzen  hat68). 

Die  Lebensbegriffe,  auf  welche  dieser  Satz  sich  gründet,  ent- 
nimmt Grotius  der  Darstellung  der  stoischen  Lehre  bei  Cicero  de 
lin.  III,  5 ff.  Hier  treffen  wir  auf  ein  höchst  wichtiges  Verbindungs- 
glied zwischen  der  Stoa  und  Hobbes  und  Spinozas  Naturrecht.    Groot 


,;7)  Proleg.  §  5-7.     Cf.  Seu.  ep.  47,  3. 
"')  I  c.  2  §5.    Cf.  Cic.  de  off.  I  11. 


Die  Autonomie  des  Denkens  im   17.  Jahrhundert  l'.\ 

entwickelt  aus  Ciceros  Darstellung  der  Stoa,  dass  in  dem  mensch- 
lichen Grundtrieb  der  Selbsterhaltung,  der  sich  im  Kampf  der  In- 
dividuen um  ihre  Interessen  manifestire,  ein  Princip  der  allgem 
iu'ii  Jurisprudenz,  insbesondere  des  Natur-  und  des  Völkerrechts 
gelegen  sei.  Hobbes  isolirt  dieses  Princip,  Spinoza  erweiterl  es 
nur.  sofern  er  ihm  die  ratin.  dann  die  cognitio  adaequata  folgen 
lässt:  von  Grotius  wird  es  mit  genauem  Anschluss  an  die  römische 
Stoa  in  seinem  Zusammenhang  mit  den  gesellschaftlichen  und  ver- 
nünftigen Anlagen  der  Menschennatur  definirt.  Mit  dem  Natur- 
trieb,  mit  dem  sich  das  lebendige  Wesen  zu  erhalten  strebt,  ist 
zugleich  gegeben:  Festhalten  dessen,  was  der  Natur  entspricht,  und 
Fortstossen  des  Anderen.  Dieses  Streben  muss  aber  in  Ueberein- 
stimmung  mit  der  Vernunft  bestehen;  hierauf  beruht  der  sittliche 
und  rechtsgiltige  Charakter  dessen,  was  zum  Zweck  der  Selbster- 
haltung vollbracht  wird,  zumal  der  gerechten  Notwehr  und  dr-, 
•ehten  Krieges.  So  entsteht  der  Rechtssatz:  „Kein  Natur- 
trieb ist  dem  Krieg  entgegen,  alle  sind  ihm  vielmehr  günstig  etc." 
Auch  dieser  einschränkende  Satz  wird  in  der  Formel  Ciceros69) 
ausgedrückt:  „Die  Natur  gestattet  nicht,  dass  wir  mit  fremder 
Beute  unsere  Macht  und  Kraft  vermehren". 

Ich  löse  einen  zweiten  Rechtssatz 70)  aus.  Das  Privateigen- 
tum entsteht  aus  dem  ursprünglichen  Gemeineigentum  durch  Ver- 
trag; denn  bei  der  Teilung  liegt  ein  ausdrücklicher  Vertrag  vor. 
bei  der  Besitzergreifung  ein  stillschweigender  Kontrakt.  Diese  "Ver- 
tragstheorie begründet  Grotius  mit  Cic.  de  off.  1 II  c.  ö:  concessum 
est,  sibi  ut  quisque  malit.  quod  ad  vitae  usum  pertinet,  quam  alteri 
acquiri  uon  repugnante  natura.  Von  derselben  Theorie  aus  leint 
Grotius:  die  Grenze  des  Privateigenthums  ist  das  ursprüngliche 
Recht,  nach  dem  jeder  das  zur  Erhaltung  seines  Lebens  Notwen- 
dige von  anderen  nehmen  darf,  da  das  Privateigentum  nur  mit 
dieser  Beibehaltung  des  ursprünglichen  Rechtes  eingeführt  zu  sein 
scheint.  AI-"  Not  geht  vor  Recht.  Das  beweist  Grotius  aus  Seneca 
und  Cicero. 


69)  de  oiT.  III  c.  5. 
w)  II  2  §  -' 


74  Wilhelm  Dilthey. 

Nach  eiüeni  dritten  Rechtssatz  (II,  c.  5.  §1)  werden  Per- 
sonenrechte unter  Anderem  erworben  durch  Zeugung.  Durch  die 
Zeugung  erwerben  die  Eltern  ihre  Rechte  gegen  ihre  Kinder.  Der 
Vater  darf,  wenn  das  bürgerliche  Recht  es  nicht  verhindert,  seinen 
Sohn  verpfänden  oder,  wenn  nötig,  selbst  verkaufen.  Wieder  ist 
die  Grundlage  dieser  Rechtsverhältnisse  das  römische  Recht  sowie 
Sätze  der  Stoa  und  des  Aristoteles. 

Nach  einem  vierten  Rechtssatz  (II,  c.  20.  §5)  darf  Zweck 
der  Strafe  nicht  die  Befriedigung  der  Rachlust  sein.  Denn  dieser 
Trieb  ist  an  sich  so  unvernünftig,  dass  er  sich  auf  das  stützt,  was 
keine  Strafe  verdient;  er  entspricht  also  nicht  dem  vernünftigen 
Teil,  welcher  dem  Affekt  gebieten  soll,  und  daher  auch  nicht  dem 
Naturrecht,  welches  nur  die  Gebote  der  vernünftigen  Natur  als 
solcher  enthält.  Man  vergleiche  Seneca  de  ira  II  c.  12:  exsequar, 
quia  oportet,  non  quia  dolet,  ferner  II  c.  2G  u.  I  c.  5,  um  die  An- 
lehnung der  Grotius'schen  Straftheorie  an  die  der  römischen  Stoa 
zu  erkennen. 

V. 

Alle  diese  Bewegungen  in  der  Theologie,  den  Naturwissen- 
schaften, der  Moral,  Jurisprudenz  und  Politik  hatten  die  Tendenz 
auf  die  Herbeiführung  eines  in  naturgegebenen  evidenten  Begriffen 
und  Sätzen  gegründeten  natürlichen  Systems.  Die  Vernunft 
wurde  nunmehr  als  ausreichend  angesehen,  die  Natur  zu  begreifen, 
das  Leben  und  die  Gesellschaft  zu  ordneu.  Es  gab  seit  dem  Ende 
des  16.  Jahrhunderts  schon  einen  grossen  Kreis  gelehrter  und  gebil- 
deter Personen,  welche  ihr  Denken  und  ihr  Leben  auf  die  Autonomie 
der  Vernunft  gründeten.  Und  während  des  17.  Jahrhunderts  nahm 
die  Zahl  dieser  Personen  beständig  zu.     Diese  fortschreitende  Be- 


*ö 


wegung  hebt  sich  von  dem  Hintergrunde  der  andauernden  Herr- 
schaft des  dogmatischen  Glaubens  der  verschiedenen  Konfessionen 
und  der  Theologie  derselben  ab.  Noch  in  der  ersten  Hälfte  des 
16.  Jahrhunderts  wurden  metaphysische  Fragen  in  der  Regel  durch 
theologische  Dogmen  beantwortet.  Aber  da  die  Zahl  der  Sekten 
und  der  theologischen  Parteien  beständig  im  Wachsen  war,  erwies 
sich  doch  schliesslich  auch  zwischen  ihnen  die  Vernunft  als  die 
einzig   mögliche    Richterin.      So    bestand    die    herrschende    Meta- 


Die  Autonomie  des  Denkens  im   17.  Jahrhundert.  ,."> 

physik  bis  tief  in  das  17.  Jahrhundert  aus  einem  Compromiss  zwi- 
schen Dogmenglaube  und  Vernunftwissenschaft.  Hervorragende 
Forscher  wie  Paracelsus,  Campanella,  Kepler,  Newton,  Grotius, 
Althus  haben  an  den  Eauptdogmen  dos  Christentums  festgehalten. 
Negative,  zersetzende  Geister  wie  Charron,  Sanchez  und  Pierre  Bayle 
Iialicn  das  Princip  der  Offenbarung  nicht  aufgegeben.  Undurch- 
dringlich in  Bezug  auf  ihre  Ueberzeugungen  in  dieser  Rücksicht 
stehen  die  grössten  positiven  Forscher  ausser  Newton:  Galilei,  D^s- 
cartes  und  Leibniz  vor  uns:  sie  verraten  dies  letzte  Geheimniss 
jeder  Intelligenz  dieser  Epoche  nicht.  Dem  entsprechend  ist  die 
herrschende  metaphysische  Richtung  der  Zeit,  der  christliche  Theis- 
mus, die  Halbheit  des  rationalen  Supranaturalismus.  Der  Fort- 
schritt aber  vollzieht  sieh  in  der  Durchführung  eines  autono- 
men rationalen  Systems:  der  Konstruktion  des  Universums 
durch  die  Vernunft.    Dieser  Rationalismus  bestand  in  zwei  Formen. 

Die  deistische  Lehre  von  einem  Universum,  das  unabhängig 
von  seinem  Baumeister  besteht  und  konstruirt  werden  kann,  wurde 
durch  den  Begriff  des  Descartes  von  der  Maschine  der  Well  be- 
gründet. Sie  war  die  metaphysische  Projektion  der  grossartigen 
Willensstellung  dieses  Zeitalters  der  Mechanik.  Der  ganze  ma- 
terielle Mechanismus  ist  nach  ihr  nur  Instrument  für  die 
construktive  Vernunft  in  der  Gottheit  und  der  Einzelperson. 

Die  pantheistische  oder  panentheistische  Lehre  war 
angelegt  in  dem  Panpsychismus,  welcher  nach  Aufgabe  der  sub- 
stanzialen  Formen  vom  antik  mittelalterlichen  Vernunftsystem  als 
Erklärung  de^  Lehens  in  der  Natur  aus  einwohnenden  psychischen 
Kräften  übrig  blieb.  Er  wurde  schon  von  den  Okkamisten  Pierre 
d'Aüly  (1350—1425),  Joh.  Charlier  Gerson  (1363—1429),  Ray- 
mund von  Sabunde  (geboren  gegen  Ende  de^  11.  Jahrhunderts, 
t  1437)  und  Nikolaus  Cusanus  (1401— 1404)  vertreten.  Er  wurde 
in  Verbindung  mit  der  [deenlehre  von  Ficino,  Pico  etc.,  mit  phan- 
tastischer Naturerklärung  von  Reuchlin,  Agrippa,  Paracelsus.  mit 
alexandristischem  Naturalismus  von  Pomponazzi  ausgebildet,  lud 
wie  die  Vertiefung  in  die  Natur  und  in  die  allgegenwärtige  Gött- 
lichkeil innerhalb  des  Menschendaseins  zunahm,  machte  sich  im- 
mer mächtiger  als    fortschreitender  Zug   der  Zeil   diese  Lehre  von 


76  Wilhelm  Dilthey, 

der  Immanenz  geltend.  Die  Bejahung  der  höheren  Natur  des 
Menschen  in  Gott,  die  universale  Immanenz  Gottes  in  allen  from- 
men Seelen  war  das  Grundgefühl  der  Spekulation  von  Sebastian 
Frank,  Jacob  Böhme,  Weigel.  Die  Weltseele,  der  durch  das  Uni- 
versum verbreitete  beseelte  Aether  oder  der  beseelte  Wärniestoff 
war  der  Mittelpunkt  der  Spekulation  der  Renaissance  in  Cardano 
und  Telesio.  So  gelangte  das  metaphysische  Denken  der  Renaissance 
zu  seinem  Höhepunkt  in  dem  pantheistischen  Monismus  von  Gior- 
dano  Bruno,  Spinoza  und  Shaftesbury n).  Die  Bejahung  des 
Lebens,  der  Natur  und  der  Welt,  welche  die  Renaissance 
ausspricht,  wird  in  dem  pantheistischen  oder  panen- 
tlieistischen  Monismus  dieser  drei  Denker  zur  meta- 
physischen Weltformel.  Und  auch  darin  ist  nun  dieser  pan- 
theistische  Monismus  Renaissance,  italienische,  niederländische,  eng- 
lische Renaissance,  dass  sie  von  der  autiken  philosophischen  Tra- 
dition, insbesondere  Lucrez,  der  Stoa  und  dem  stoisch  gefärbten 
Neuplatonismus  völlig  erfüllt  und  durchdrungen  ist.     In  der  Kom- 


71)  Ich  bezeichne  den  Standpunkt  Shaftesburys  als  panentheistischen  Mo- 
nismus. Er  deckt  sich  in  dieser  Beziehung  bis  auf  die  Worte  mit  Formeln 
des  Giordano  Bruno.  Wie  nun  aber  seine  Lehre  von  den  beiden  Grund- 
trieben durch  Vermittlung  des  Bacon  auf  die  Alten  zurückgeht  (vgl.  bei  Bacon 
die  Cicerostelle),  wie  der  feinste  Duft  platonischen  Gefühls  für  die  Schön- 
heitsherrlichkeit des  sittlichen  Virtuosen  und  des  Universums  durch  sein 
Werk  weht,  wie  er  in  den  moralischen  BegrüTen  von  Symmetrie,  Propor- 
tion etc.  platonisirt:  so  ist,  wie  ich  an  anderer  Stelle  genauer  zeigen  werde, 
die  berühmte  Darstellung  seines  Panentheismus  in  der  Rhapsodie  durchweg 
von  der  Tradition  stoischer  Gedanken  bedingt.  Vgl.  Rhaps.,  Uebersetzung 
von  1777,  II  349  bis  365,  besonders  351,  353,  354,  355,  360,  363,  364.  (Be- 
sonders der  beseelte  Weltäther,  die  Entstehung  der  Welt  aus  ihm  und  der 
Rückgang  der  Welt  in  ihn,  die  Unterordnung  der  "Gesinnung  unter  den  er- 
kannten Naturzusammenhang,  das  Naturideal).  Andererseits  haben  die  Stellen, 
die  beginnen  mit:  „0  herrliche  Natur!  über  alles  schön  und  gut!  allliebeud 
etc.",  zweifellos  dem  Verfasser  des  Aufsatzes  über  die  Natur  im  Tiefurter 
Journal  vorgeschwebt,  welcher  ja,  auch  nach  den  belehrenden  Mitteilungen 
von  Steiner  im  letzten  Goethejahrbuch  p.  393—398,  in  irgend  einer  Art 
Goethe  war.  Auch  in  den  bei  der  Lektüre  Spinozas  niedergeschriebenen 
Sätzen  Goethes,  deren  Veröffentlichung  wir  neuerlichst  Suphan  verdanken,  tritt 
uns  nicht  einfache  Anhängerschaft,  sondern  zugleich  Gegensatz  gegen  Spinoza, 
und  zwar  auf  Grund  der  Uebereinstimmung  mit  Shaftesbury,  entgegen. 


r> i o  Autonomie  des  Denkens  im  17.  Jahrhundert.  ,, 

bination  der  Arbeiten  von  Telesio,  Giordano  Bruno,  Hobbes,  Geu- 
linXj  Spinoza  und  Shaftesbury  ist  ein  Vorgang  von  wahrhaft  dra- 
matischem Zusammenhang  enthalten,  welchen  auf  dem  Grunde  der 
antiken  Tradition  in  Zusammenhang  mit  der  modernen  Kultur 
und  dorn  Naturwissen  zu  erfassen  eine  hinreissende  Aufgabe  ist. 
Gehen  wir  hierfür  von  Spinoza  als  der  centralen  Person  dieser 
Bewegung  aus.  in  welcher  die  Richtung  der  Weltbeseelung  zusam- 
mentrifft mit  der  Richtung  des  universalen   Rationalismus72). 

Ich  weise  zunächst  nach,  dass  die  ganze  eigentliche  Ethik 
Spinozas,  das  Ziel  seines  Werkes,  auf  die  Stoa  gegründet  ist  und 
zwar  in  solchem  Umfang  und  mit  solchen  (Jebereinstimmungen  im 
Einzelnen,  dass  die  Benutzung  irgend  welcher  der  zumeist  gele- 
senen, die  antike  Tradition  verarbeitenden  niederländischen  huma- 
nistischen Schriften  z.  B.  Lipsius  de  constantia  anzunehmen  un- 
vermeidlich scheint73). 


7")  Indem  ich  an  dem  wichtigen  Punkte  meiner  Darstellung  anlange,  an 
welchem  es  gilt,  meine  Behauptung  Archiv  V  4  p.  484  in  diesem  und  in  den 
folgenden  Heften  zu  erweisen,  dass  „die  Abhängigkeit  von  der  römischen 
Stoa  tief  iu  die  Psychologie  und  Politik  von  Hobbes  und  Spinoza,  in  den 
Pantheismus  von  Spinoza  und  Shaftesbury  hineinreiche",  sowie  mein  Ver- 
sprechen zu  erfüllen,  den  Einfluss  der  römischen  Stoa  in  der  Entstehung  des 
ganzen  natürlichen  Systems,  also  des  erkenntnistheoretischen,  theologischen, 
moralischen  und  politischen,  aus  den  Quellen  darzuthun:  muss  ich,  obwohl 
ich  ja  seit  vielen  Jahren  besonders  für  Spinoza  und  die  Affektenlehre  ge- 
sammelt habe,  doch  ausdrücklich  bitten,  die  Unvollkommenheiten  eines  solchen 
ersten  Versuches  entschuldigen  zu  wollen.  —  Eben,  indem  ich  das  Manuskript 
abschliesse  und  in  den  Druck  gebe,  erhalte  ich  das  letzte  Heft  des  Archivs 
und  freue  mich,  dass  meine  Darlegung  im  Ganzen  in  Bezug  auf  Telesio  mit  dei 
des  Herrn  Prof.  Stein  in  der  Anzeige  des  Buches  von  Heiland  übereinstimmt. 

73)  Zwinger,  morum  philos.  2  tom.  1575:  Just.  Lipsius,  de  constantia 
1582,  (»olitica  1583,  manuduetio  ad  Stoicam  philos.  1004,  physiologia  Stoi- 
corum  HilO;  Scioppius,  element.  Stoicae  philos.  mor.  160G;  Daniel  Eeinsius, 
"Utiones  (bes.  XV)  1G27,  'Avöpovhtou  'PoStou  Ethicorum  Nicomach,  paraphrasis, 
cui  subiungitur  libellus  itepl  iradüv;  Jul.  Caes.  Scaliger,  exotericarum  exerci 
tationum  1.  15  de  subtilitate  ad  Gardanum  1620;  Hugo  Grotius,  de  iure  belli 
pacis  1625;  Gerh.  Joh.  Vossius,  de  theologia  gentili  (enthält  eine  Affekten- 
lehre), institutiones  oratoriae  et  poeticae;  Gataker,  de  diseiplina  Stoica  cum 
sectis  aliis  collata  vor  der  Edition  des  Antonin  Cantabr.  1653;  Salmasius,  com- 
meutarius  Simplicii  in  enchiridion  Epicteti  mit  disputatio  de  philos.  Stoica 
1640. 


78  Wilhelm  Dilthey, 

Die  ausdrückliche  Bemerkung  über  seine  Vorgänger  in  der 
Vorrede  zum  dritten  Buch  der  Ethik74)  bezeugt  die  Benutzung 
älterer  Moralisten,  und  die  Vergleichung  dieser  Bemerkung  mit 
der  Vorrede  zu  Buch  V,  in  welcher  die  Stoiker  wegen  ihrer  An- 
nahme eines  imperium  absolutum  des  Willens  über  die  Affekte 
getadelt,  dagegen  wegen  ihrer  Darlegung,  wie  viel  Gewöhnung  und 
Studium  zur  Bändigung  der  Leidenschaften  nötig  sei,  gelobt  wer- 
den, lässt  die  Beziehung  von  praef.  III  auf  die  Stoiker  als  die  na- 
türlichste erscheinen.  Ueber  Spinozas  klassische  Kenntnisse  ge- 
ben Auskunft  die  Stellen :  tract.  pol.  X,  1  und  ethic.  III  äff.  def.  44 
(Cicero),  ethic.  111,31  cor.  und  IV,  17  seh.  (Ovid),  tract.  polit.  C\  II 
§  5  (Sallust).  Die  humanistischen  Schriften  über  stoische  Ethik  wie 
die  des  Lipsius  und  Daniel  Heinsius  hatte  er  wol  schon  in  der  Zeit 
des  Verkehrs  mit  van  der  Ende  kennen  zu  lernen  Gelegenheit.  Den 
Grundsatz,  dass  das  Wesen  eines  jeden  Dinges  Selbsterhaltung  ist 
(ethic.  III  prop.  4 — 8),  hat  er  aus  der  stoischen  Tradition  geschöpft. 
Macht  er  doch  in  der  Sonderung  von  appetitus  und  von  cupiditas  als 
appetitus  cum  eiusdem  conscientia  denselben  Unterschied  wie  Chry- 
sipp  bei  Diogenes  7,  85:  zpÄrov  otxeiov  elvat  Xs-ftuv  jravxt  £ü<d  ttjv 
autou  aua-ocatv  jeal  ~r)v  xauxr^  auvEior^aiv.  Nächstliegend  ist  hierbei  die 
Benutzung  von  Grotius.  Vgl.  ferner  ethic.  IV  pr.  18  schob  mit  Sen. 
ep.  121,  14  und  ethic.  IV,  19  mit  Stob.  II,  126.  Ganz  stoisch  ist  fer- 
ner die  Ableitung  der  gesellschaftlichen  und  staatlichen  Verbindun- 
gen daraus,  dass  die  vernunftmässig  lebenden  Menschen  das  einan- 
der Verwandteste  sind,  daher  sich  gegenseitig  das  Nützlichste.  Vgl. 
ethic.  IV,  18  schob,  19.  20.  29—34.  35  u.  coroll.  73,  app.  7.  9.  12, 
tract.  th.-p.  c.  V  p.  436  (Vloten-Land)  35  mit  Zeller  III,  1 3.  287. 
Marc  Aurel  9,  8.  12,  20.  Ferner  erkennt  Spinoza  ebensowenig  wie 
die  Stoa  ein  Rechtsverhältniss  zwischen  Mensch  und  Thier  an, 
vgl.  Zeller  286  und  Sen.  de  ben.  4,  5  mit  Spin.  IV  37  seh.  1. 
app.  26.    Wie  die  Stoa,  so  steht  auch  Spinoza  auf  kosmopolitischem 


7i)  Non  defuerunt  tarnen  viri  praestantissimi  (quorurn  labori  et  industriae 
nos  multum  debere  fatemur),  qui  de  reeta  vivendi  ratione  praeclara  multa 
scripserint  et  plena  prudentiae  consilia  mortalibus  dederint:  verum  affectuum 
naturam  et  vires,  et  quid  contra  mens  in  iisclern  moderandis  possit,  nemo 
quod  sciam,  determinavit. 


Die  Autonomie  des   l'enkens   im    17.  Jahrhundert.  7'.' 

Standpunkte,  vgl.  Zeller  298  f.  und  ethic.  IV  L8  seh.  36.  Eine 
Stelle  Spinozas  über  die  Ehe  zeigt  mit  einer  des  Seneca  l"'i  Hie- 
ronymus  solche  wörtlichen  Heimlichkeiten,  dass  Spinoza  sie  wohl 
bei  einem  der  humanistischen  Darsteller  der  Stoa  gelesen  haben 
muss;  Son.  de  matr.  fr.  81  (Haase):  amor  formae  rationis  oblivio 
esl  e1  insaniae  proximus  und  ethic.  l\'  app.  XIX.  XX:  amor  me- 
retricius  —  species  delirii;  tnatrimonium  cum  ratione  convenire, 
si  cupiditas  —  nun  ex  sola  forma  —  ingeneretur  u.  s.  w.  Die 
Auflassung  der  Affekte  bei  den  Stoikern  als  eine  Art  von  Wahn- 
sinu  und  Aussersichsein  kehri  in  der  Bezeichnung  derselben  bei 
Spinoza  als  Arten  des  Wahnsinns  wieder:  IV,  44  schol.  und  Chry- 
sipp  bei  Galen  IV,  6,  409.  Plut.  virt.  mor.  10.  Der  stoischen  Un- 
terscheidung  von  -di)^  und  s'j-atk'.cu  entspricht  die  spinozistische 
in  passiones  und  actiones:  ethic.  IV  app.  2,  der  bekannte  Gedanke 
von  der  Knechtung  des  Menschen  durch  die  Affekte75)  wiederholt 
sich  in  eth.  IV  praef.  Chrysipp  erklärte  als  Merkmal  des  Affekts 
die  Störung  der  natürlichen  Symmetrie  der  Triebe;  dieses  die  Teleo- 
logie  berührende  Verhältniss  hat  Spinoza  IV,  39  beibehalten,  aber  als 
blosse  Thatsächlichkeit,  indem  er  uuter  dem  Schädlichen  das  ver- 
steht, was  das  natürliche  Verhältniss  vou  Ruhe  und  Bewegung  der 
Körperteile  aufhebt,  uuter  dem  Nützlichen,  was  dies  Verhältniss 
bewahrt,  und  nach  diesem  Grundsatz  werden  nun  in  IV,  40  ff.  die 
einzelnen  Affekte  beurtheilt.  Ueberhaupt  stimmen  ja  Stoa  und 
Spinoza  im  tiefsten  darin  überein,  das  Weltall  und  so  auch  den 
.Menschen  als  ein  Kraftsystem  aufzufassen;  hierin  lag  ja  in  erster 
Linie,  was  das  stoische  Denken  mit  dem  dieser  Epoche  verband: 
nur  dass  der  teleologische  Zusammenhang  der  Stoa  nun  seit  Ga- 
lilei sich  in  einen  mechanischen  umwandelte.  So  interpretirt  ja 
auch  Spinoza  die  antike  Lehre  vom  Mikrokosmus  und  Makrokos- 
mus rein  mechanisch:  postul.  von  II  propos.  13,  besonders  propos.  16. 
Amh  die  Anordnung  der  Affekte  in  de  deo  et  nomine  ist  stoisch76), 
doch  zugleich  von  Dcscartes  beeinflusst.  In  seiner  Erörterung  über 
den   Selbstmord    polemisirt    er  gegen    die  Stoa.     Diese    hatte   den 


Zellei   p.  250  Anm.  4.     Marc  Aurel  'J,  21.    II,  23. 
;")  Cf.  Zeller  p.  230ff. 


80  Wilhelm   Dilthey, 

freiwilligen  Austritt  aus  dem  Leben  damit  begründet,  dass  „in  ne- 
cessitate  vivere  nulla  neeessitas  est"77).  Dagegen  wendet  Spinoza 
IV  18  schob  ein,  dass  der  Selbstmord  dem  Princip  der  Selbst- 
erhaltung  widerspricht:  sequitur  eos,  qui  se  interficiunt,  animo  esse 
impotentes  eosque  a  causis  externis,  suae  naturae  repugnantibus, 
prorsus  vinci.  Tugend  ist  bei  Spinoza  IV  prop.  24  nichts  anderes 
als  Erkenntniss  durch  Vernunft.  Diese  Identität  entnahm  er  der 
Stoa78).  Beide  lehren  auch,  dass  wir  ohne  Tugend,  aber  zur  Tu- 
gend geboren  werden79).  Wie  Panaetius  bei  Cic.  de  off.  I  4,  11 
es  als  Eigentümlichkeit  des  vernunftbegabten  Menschen  bezeich- 
net, die  Zukunft  zu  erwägen  und  sich  nicht  wie  das  Thier  ganz 
vom  Eindruck  des  Gegenwärtigen  leiten  zu  lassen,  so  verlangt  auch 
Spinoza  die  vernunftgemässe  Abwägung  gegenwärtiger  und  zukünfti- 
ger Güter  und  Uebel  gegeneinander:  ethic.  IV,  63.  Q6  ff.  Wie  die 
Stoa80)  verwirft  auch  Spinoza81)  die  gewöhnlichen  Lebensgüter  als 
Selbstzwecke.  Der  dies  darstellende  Anfang  von  de  int.  emend. 
stimmt  genau  überein  mit  Marc  Aurel  8,  1.  Das  höchste  Gut  ist 
nach  Spinoza  die  cognitio  unionis,  quam  mens  cum  tota  natura 
habet82).  Dies  entspricht  der  stoischen  Lehre,  nach  der  das 
höchste  Gut  dasjenige  ist,  was  mit  dem  Gang  und  Gesetz  des 
eine  geschlossene  Einheit  bildenden  Universums  übereinstimmt  und 
aus  der  Erkenntniss  dieses  allgemeinen  Gesetzes  hervorgeht83).  Die 
Gegenüberstellung  des  Erkennens  als  eines  agere  gegenüber  dem 
Wahrnehmen  als  einem  pati  fand  Spinoza  bei  der  Stoa;  vgl.  Zellcr 
[>.  77  mit  den  bekannten  Stellen  Spinozas,  besonders  quatenus  Deum 
contomplamur,    eatenus  agimus 84).     Ebenso  ist  stoisch,    dass  nun 


77)  Seneca  ep.  12,  10. 

78)  Cic.  Acad.  I,  10,  38.  Tuse.  IV,  15,  34:  ipsa  virtus  brevissime  reeta 
ratio  dici  potest.     Seil.  ep.  113,  2. 

")  Spin.  IV,  G8;  IV,  66  schol.  et".  Zeller  p.  269. 
8°)  Diogen.  VII,  103.     Seil.  ep.  72.  91. 

81)  Track  de  intell.  einend. 

82)  Ebend. 

s:i)  Cic.  de  fin.  III  6,  21.    Diog.  VII  88.    Marc.  Aur.  12,  12.    Sen.  ep.  31.71. 

st)  Die  Uebereinstimmuugen  in  der  Erkenntnisstheorie  zwischen  der  Stoa, 
Descartes,  Spinoza  und  Ilobbes  werden  hier  noch  übergangen,  weil  sie  erst  dar 
zustellen  sind,  wo  Descartes  als  Vermittler  älterer  Philosophenie  behandelt  wird. 


Die  Autonomie  d«1^  Denkens  im   17.  Jahrhundert.  81 

die  Erkenntniss  die  Herrschaft  über  die  Affekte  dadurch  herbei- 
führt, dass  sie  den  ununterbrochenen,  Zufall  und  Freiheil  aus- 
schliessenden  Kausalzusammenhang,  in  welchem  die  Gottheil  gegen- 
wärtig ist,  erfassen  und  folgerechl  verehren,  ihm  sich  unterordnen 
lehrt:  vgl  Zeller  303  f.;  eth.  II.  49  schol.  bes.  Ende;  [V,  28.  50  seh. 
73  seh.  app.  32;  V.  10  seh.  27.  31  seh.  12  seh.  Wie  hierdurch 
Elass,  Zorn  u.  s.  w.  aufgehoben  werden,  lehrl  genau  wie  Spinoza 
Marc  Aurel  8,  1  und  3.  10,  20.  23.  27.  11.  18.  Sen.  ep.  91.  Dass 
wir  als  pars  totius  universi  in  der  Unterordnung  unter  dieses 
unser  höchstes  Gut  haben,  Maie  Aurel  8,5.  Dass  wir  die  Dinge 
sub  specie  aeterni  auffassen  müssen,  Marc  Aurel  7,  33.  so^xciTa- 
&sot?  als  der  Beifall,  mit  dem  wir  den  Weltlauf  begleiten,  sonach 
eine  Erkenntniss-  und  Willensseite  enthaltend;  vgl.  Stein,  Erkennt- 
nissth.  d.  Stoa  S.  L95.  So  stimmen  die  Stoiker  und  Spinoza  in 
der  tiefen  Art  überein,  wie  sie  aus  der  Netwendigkeitslchre  eine 
Ethik  ableiten:  ebenso  an  der  anderen  tiefsten  Stelle  der  stoischen 
Ethik:  Tugend  ist  Thun.  Kraft,  fortitudo,  gaudium.  In  dieser 
Verbindung  von  fortitudo  mit  der  Kindheit  dein  Aeusseren  gegen- 
über und  dem  Bewusstseiu  hiervon  in  dem  freudigen  Lebensgefühl, 
in  der  Identifizirung  dieser  seelischen  Form  mit  virtus  liegt  die 
dauernde  stoische  Tiefe,  welche  von  Spinoza  zur  Anerkennung 
gebracht  wurden  ist;  hieraus  fliessi  seine  Polemik  gegen  die  reli- 
giösen  Tauenden  der  Demut,  der  Reue  und  des  Mitleids,  in  wel- 
cher er  ebenfalls  mit  den  Stoikern  übereinstimmt.  Ganz  stoisch  ist 
in  Bezug  auf  den  Gegensatz  der  ignari  und  sapientes  und  die 
animi  aequiescentia  der  letzteren  — ■  die  Selbstzufriedenheit,  wie 
sie  Kant  in  dem  schönen  neu  gefundenen  moralischen  Fragmenl 
ganz  stoisch  schildert  —  der  Schluss  der  Ethik. 

Das  Bild  des  Weisen  wird  von  Spinoza  mit  durchaus  stoi- 
schen Zügen  gezeichnet,  die  er  in  den  Zusammenhang  seines 
Systems  eingeordnel  hat.  Vgl.  Sen.  de  const.  13,5.  75,  L8  ep.  29, 
12.  Stob.  flor.  7,  21  mit  eth.  IV,  63  und  schol.  V,  10  schol.  38 
und  schol.  (der  Weise  fürchtet  niemand,  auch  den  Tod  nicht); 
Sen.  ep.  9,  13.  29,  12  mit  Spin.  IV.  52  (Selbstgenügsamkeil  des 
Weisen);  Sen.  ep.  36.  41.  59,  L4ff.  72.  Man-  Aurel  8,1  u.  3  mit 
eth.  IV.  41.  42.  44.  45  cor.   2.  50  seh.  73  seh.    V.   LO  seh.  (gleich- 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     VII.  I'i 


82  Wilhelm  Dilthey, 

massige  Heiterkeit,  Tapferkeit  und  Ruhe  des  Weisen);  Zeller  235 
mit  eth.  IV,  51  seh.  (er  straft  ohne  Nachsicht,  aber  ohne  Erregung); 
Cic.  Tusc.  III,  9,  20  f.  Sen.  de  dem.  II,  5  f.  Diog.  7,  123  mit  eth. 
IV,  50  cor.  u.  seh.  (er  bemitleidet  niemand,  aber  ist  wohlwollend); 
Cic.  off.  I,  7,  20  u.  eth.  IV,  37  (Aufhebung  der  Affekte  im  Weisen); 
Marc  Aur.  8,  28.  11,  16.  Zeller  S.  234  mit  eth.  IV,  45  cor.  1  (er 
ist  frei  von  Hass,  Neid,  Verachtung,  Zorn);  Zeller  S.  250  f.  mit 
eth.  IV,  37  seh.  1  (er  lässt  sich  von  Gerechtigkeit,  Ehrenhaftigkeit 
und  Billigkeit  durch  niemanden  abbringen);  Zeller  S.  250*.  Sen. 
ep.  Gl  u.  88  mit  eth.  IV,  66  seh.  98  (er  ist  allein  frei);  Zeller 
S.  202 '  mit  Eth.  IV,  38  ff.  (er  erlangt  die  Unsterblichkeit).  Auch 
dass  zwischen  den  ignarus  und  sapiens  als  Zwischenstufe  das  Leben 
nach  der  ratio  gestellt  ist,  ist  in  Uebereinstimmung  mit  der  be- 
kannten stoischen  Lehre  von  den  TcpoxoTTTovies. 

Die  Uebereinstimmung,  wie  diese  Stellen  sie  erweisen,  zwingt 
zur  Annahme  der  Vermittlung  der  echten  Stoa  durch  die  nieder- 
ländischen Philologen,  und  dies  ist  ja  auch  mit  vielen  echt  nieder- 
ländischen Zügen  in  Spinozas  Leben  und  mit  seinen  persönlichen 
Relationen  in  Einklang.  Ein  Buch  wie  Coornherts  Sittenlehre  zeigt 
die  damalige  Verbreitung  stoischer  Moralgedanken  in  den  Nieder- 
landen. 

Der  früheste  der  Schriftsteller,  welche  selbständig  die 
stoische  Tradition  umgeformt  hatten  und  den  Spinoza  be- 
einflussten,  ist  Telesio  gewesen.  Dass  derselbe  vermittelst  des 
von  ihm  bedingten  Hobbes  auf  Spinoza  wirkte,  unterliegt  keinem 
Zweifel.  Die  nachfolgenden  Vergleichungen  scheinen  mir  aber  auch 
einen  direkten  Einfluss  der  Lektüre  des  Telesio  selbst  auf  Spinoza 
höchst  wahrscheinlich  zu  machen.  Und  dies  ist  nun  für  die  all- 
gemeine geschichtliche  Position  des  Spinoza  von  grösster  Tragweite: 
zumal  wenn,  wie  ich  glaube,  der  schöne  Fund  Sigwarts  von  der 
Uebereinstimmung  des  Spinoza  mit  Giordano  Bruno  die  Annahme 
einer  Lektüre  dieses  abschliessenden  Renaissance-Philosophen,  wel- 
cher die  metaphysische  Weltformel  der  italienischen  Renaissance 
aussprach,  durch  Spinoza  wahrscheinlich  macht.  Denn  aus  dieser 
Benützung  des  Telesio  wird  deutlich,  wie  in  Spinoza  der  Geist 
der    Renaissance    fortlebt,    welcher    in    der    Verbindung    von 


Die  Autonomie  dos  Denkens  im  17.  Jahrhundert. 

Selbsterhaltung,  Stärke,  Ehre,  Lebensfreudigkeit,  Tugend  sich  ausser! 
(Ausdruck  dieses  Renaissancegeistes  Telesio  IX  p.  363),  daher  Spi- 
uoza  auch  in  dieser  Rücksicht  der  reife  Abschluss  dieser  Epoche  ist. 
Wie  die  Stoa  von  der  Formen-  und  Begriffslehre  in  einer 
freien  Kombination  der  vorhandenen  Natureinsichten  zu  einem 
Ganzen  überging,  so  verfuhr  auch  Telesio.  Er  legte  dabei  den 
zweiten  Teil  des  parmenideischen  Gedichtes  zu  Grunde,  zugleich 
aber  in  demselben  Umfang  die  biologische  Lehre  vom  Zusammen- 
hang von  Wärmestoff,  Beseelung,  beseelter  Luft,  Atmungsprozess 
und  Lebensvorgang.  Er  erneuerte  den  Grundgedanken  des  antiken 
pantheistischen  Monismus,  nach  welchem  kraft  und  Stoff,  Körper 
und  Geist  identisch  ist":').  Das  göttliche  Pneuma  naturalisirl  sieh 
in  der  Weltentwicklung,  und  aus  der  Beziehung  von  Luft  und 
Körper  destillirt  sich  in  Lunge,  Herz,  Arterien  und  Gehirn  wiedei 
-  lenstoff.  Diesem  so  schaffenden  Ganzen  ist  die  Zweckmässig- 
keit immanent,  mit  welcher  jedes  sich  zu  erhalten  strebt,  wobei 
Vernunft  der  bewusste  Ausdruck  und  das  Instrument  dieser  Er- 
haltung ist.  Diese  stoische  Lehre,  auf  welcher  die  ganze  Biologie 
des  17.  Jahrhunderts  beruht,  erhielt  ihre  beste  Ausführung  durch 
Telesio.  Seine  Hauptquelle  für  die  dabei  zu  Grunde  liegende 
psychophysische  Theorie  war  Galen"6).  Mit  ihm  stimmt  er  über- 
ein in  der  Grundauffassung,  dass  in  den  physisch  bedingten  Lebens- 
geistern der  Erklärungsgrund  der  geistigen  Vorgänge  bis  zum 
Schliessen  hin  liegen  könne.  Wahrt  hierbei  Galen  den  Stand- 
punkt des  Empirikers,  indem  er  die  Möglichkeit  der  Mitwirkung 
eines  besonderen  Xus  offen  lässt,  so  entscheidet  sich  Telesius  für 


85)  Der   Himmel   ist  das  Werk    der    nach   dem    Willen  Gottes   wirk. 
Wärme.     Ueber  die  Zweckmässigkeit  seiner  liewegung  freut  sieb  der  Himmel 
(Allbeseelung). 

s6)  Vgl.  /..  B.  Gal.  III  Ö41K.    „Die  von  aussen  eingeatmete  Luft  empfängl 
in  dem  Fleische  der  Lunge  die  erste  Bearbeitung,  hierauf  im  Herzen  und  in 
den  Arterien,  namentlich   denen   des   netzartigen  Geflechts   die   zweite,    dann 
die  vollkommenste   in    ^-\\   Ventrikeln   des  Gehirns,    wo  sie  nun  völlig  p 
chisch  \\nd.-     Tel.  VIII  p.  351  ff.     -    Telesius  Bekanntschaft   mit  den  alten 

izinern   beweisen   die   I  III  c.  29   (Hippocr.  de  nat.  hoi 

I    Gal.  •!'    convuls.  ei  rig.j,   VII  c.  21  (Gal.  de  causis  sympt.  und  de  usu 
part.),  ■  !.  de  plac.  Hipp.  e1  Plat.). 

6* 


84  Wilhelm  Dilthey, 

eine  Trennungslinie  zwischen  dem  von  der  physischen  Teleologie 
der  Selbsterhaltung  getragenen  Denken  und  einer  platonisirend 
entworfenen  intellektuellen  Anschauungskraft87).  Der  erstere,  aus 
dem  Samen  gezogene  Geist  ist  körperlich  und  der  Thätigkeit  der 
körperlichen  Dinge  unterworfen.  Wie  die  Stoa  vor  ihm88)  und  Spi- 
noza nach  ihm,  so  lehrt  auch  Telesius89),  dass  der  Geist  nur  die 
Dinge  empfindet,  von  welchen  er  leidet  und  geändert  wird,  indem 
sie  ihn  bald  in  einen  engern,  bald  in  einen  weiteren  Raum  bringen, 
so  dass  seine  Substanz  bald  zusammengezogen,  bald  ausgedehnt 
wird.  Merkwürdig  ist.  wie  er  hierbei  die  moderne  Entwicklungs- 
theorie antieipirt  durch  den  Gedanken,  dass  Geschmack-,  Geruch- 
und  Gesichtssinn  nur  Tastsinn  von  ausgezeichneter  Art  seien90). 
Die  stoische  Lehre  vom  Gedächtniss.  welche  den  Zusammenhang  der 
weissen  Tafel,  der  darauf  geschriebenen  Wahrnehmungen  und  der 
Entstehung  der  Erfahrung  durch  Wiederholung  gleichartiger  Phan- 
tasiebilder darlegt,  erhält  durch  Telesio  die  mechanisch  gedachte 
Fortbildung,  dass  die  Bewegungen  eine  Disposition  zu  ihrer  Wieder- 
holung zurücklassen:  „es  bleiben  beinahe  die  Bewegungen  selbst 
zurück".  Es  liegt  nahe  anzunehmen,  dass  Telesio,  welcher  die 
aristotelisch -stoische  Lehre  von  der  t-j-ujcjic91)  vermutlich  aus 
Galen  schöpfte92),    sie   dem   Descartes  vermittelte.     In   demselben 


S7)  Vgl.  Galen  de  plac.  Hipp,  et  PI.  643:  „Soll  man  sich  aber  auch  über 
die  Seelensubstanz  aussprechen,  so  muss  man  entweder  diesen  gleichsam 
Schimmer-  und  ätherartigen  Körper  (das  vom  Gehirn  /-um  Sehnerv  gelangende 
Pneuma  —  es  ist  gerade  von  der  Physiologie  des  Sehens  die  Rede)  für  die 
Seele  erklären,  worauf,  wenn  auch  gegen  ihren  Willen,  die  Stoiker  und  Aristo- 
teles konsequenter  Weise  kommen  müssen;  oder  man  muss  sie  selbst  als  eine 
unkörperliche  Substanz,  als  ihr  erstes  Fahrzeug  (o/r^a)  aber  diesen  Körper 
betrachten,  durch  dessen  Vermittelung  sie  in  Verbindung  mit  den  übrigen 
Körpern  tritt."  Tel.  VIII  p.  232 ff.  c.  6.  Dass  er  die  Galenstelle  kannte,  wird 
besonders  wahrscheinlich  durch  das  wörtliche  Citat  einer  benachbarten  Stelle 
derselben  Schrift  (Tel.  VII,  28  =  Gal.  de  pl.  618). 

88)  Stein,  Erkenntnissth.  d.  Stoa  S.  156. 

89)  VII  277  ff.   VIII  341  f. 

90)  VII  280  f. 

91)  Aristot.  An.  post.  2,  14,  99b,  36;  de  anima  3,  4;  dox.  400. 

''-')  ..Der  anschaulich  vorstellende  Teil  der  Seele  ist  offenbar  auch  der 
Sitz  des  Gedächtnisses.     Wenn  er  nun   bei   den   anschaulichen  Vorstellungen 


Die  Autonomie  des  Denkens  im  17.  Jahrhundert  85 

Zusammenhang  stehl   Spinoza,    der  in   de    int.  em.  fcr.  11,83  das 
Gedächtniss    rein    stoisch    definirt;    vgl.   ferner  ebend.  11,  85.   82. 
eth.  II  post.  5.     Den  Kern  dc±   weiteren    Erkenntnissverlaufes   bil- 
del   bei  Tel.  die   epikureische   Bestimmung   des    methodischen    Er- 
kennens,   von  «lern  Bekannten    auf  das  Unbekannte  zn  schliessen; 
vgl.  Diog.  10,  33.    Tel.  VIII,  314 ff.     Das  Verstehen   gehl    aus  der 
Vergleichung  vergangener    und    gegenwärtiger   Bewegungen   hervor 
(VIII.  354—356).    Ans  der  Erfassung  des  Aehnlichen  in  den  Em- 
pfindungen  entstehen    Wahrnehmungen93)   und   Schlüsse.     Telesius 
•  j.   scientiarum   omnium   principia  a  sensu    haberi   vel   proxima 
eorum,    quae    sensu    percepta   sunt,    similitudine    et   conclusiones 
omnes  ex  eis  pendere  (VW,  4;  ähnlich  Hobbes).     Für  die  weitere 
Entwicklung  der  Erkenntnisstheorie   ist   von  Bedeutung  seine  Ab- 
leitung der  Verbindung    von  Eigenschaften    eines   Dinges    aus    der 
regelmässigen  Aufeinanderfolge9*).    Die  Ableitung  der  Unterschiede 
.   istiger    Eigentümlichkeiten   (Tel.  VIII,  28  und  29)    ans    körper- 
lichen  Verschiedenheiten    kann    ebenfalls    durch   Galen95)   vermit- 
telt sein  und  kehrt  geuau  bei  Spinoza  (eth.  II,  39)  wieder.    Stoisch 
(ebenso  Lucrez)  ist  auch  die  Bestimmung  des  Telesio  (IX, 365 — 367). 
dass  die  Erkenntniss   der  Natur  und   der  Kräfte  des  Inbegriffs  der 
Dinge  die  Weisheil   und   diese  die  Tugend  sei  (Spinozas  cognitio 
adaequata).     Die  Tugendlehre  des  Telesius  verbindet  die  aristote- 
lische Lehre  von  der  Mitte  mit  der  Ableitung  aus  Selbsterhaltung 
(IX.  376  ff.).    Tugend  ist  die  fortitudo,  welche  das  der  Selbsterhal- 
tung Dienende  realisirt  (VIII,356 — 358).    Dieser  Gleichung  zwischen 
Kraft  und  Tugend  entspricht  die  zwischen  Traurigkeit  und   Laster 
(IX.  376  —  382).     In    allen    diesen   Lehren    weht  derselbe    lebens- 
freudige Geis!  der  Renaissance,   welchem  wir  in  Spinozas  Polemik 
n  das  christliche  Ideal   der  meditatio  mortis  (eth.   IV.  67.  41) 


deutliche  Eindrücke  (xÜTtooc)  empfangt,  so  bewahrt  er  sie  für  immer,  und  dies 
ist  das  Gedächtniss;   wenn  aber  unklare  und  ganz  oberflächliche,   so  bewahrt 
e  nicht,  und  dies  ist  das  Vergessen."     Gal.  IY4-15K. 
»)  VIII  319.  320.     Zellei  S.  73.     Vgl.  Herberts  similitudo. 

Vlll  3U-316. 
'■' )  Vgl.  /.  B.  Gal.  I  322:   Scharfsinn   ist   das  Zeichen    einer    feinteiligen 
m/,  Langsamkeil   des  Verstandes  einer  grobteiligen,  Schnelligkeil 
im  Lernen  einer  bildsamen,  Gedächl  rke  einer  beharrlichen. 


gß  Wi  lhelm  Dilthey, 

wieder  begegnen.    Das  Tugendideal  der  sublimitas  (EX,  383  f.)  wirkt 
auf  Descartes  und  seine  Zeit. 

Die  Entstellung  der  beiden  Grundaifekte  aus  dem  Selbsterhal- 
tuiiü'striel)  ist  von  der  Lehre  der  Stoa  bedingt,   wird  aber  so  fort- 
gebildet, «lass  die  Stellen  darüber  (VIII,  314-316.  VI,  276— 279) 
zum  Teil  wörtlich  an  Spinoza  anklingen.     Affekte  und  Tugenden 
sind   wie  in  der  Stoa  (Zeller  226)    bedingt  durch   die  Intelligenz 
(IX,  365—367).     Lust   und  Schmerz  als  Bewusstsein  von  Förde- 
rung und  Störung  der  Selbsterhaltung  (IX,  362  f.)  hat  Telesio  mit 
Spinoza  gemein;  aus  ihnen  werden  bei  beiden  weitere  Affekte  ab- 
geleitet (IX,   363  f.).     Auch  hier    bereitet  Telesio    über  die  Stoa 
hinausgehend  die  mechanische  Vorstellung   von  seinem  naturalisti- 
sehen  Denken   aus    vor.     Die  Ableitung    von  Hass    und  Neid    als 
gesetzmässig  und    unvermeidlich,    die  Selbsterhaltung   als   Princip 
für  die  Abwägung  der  gegenwärtigen  und  zukünftigen  Uebel  (Tel. 
IX.  1;   eth.  IV,  66),  und  die  Erklärung  der  Affekte  des  Mitleids 
u.  s.  w.  sowie  der  gesellschaftlichen  Tugenden  aus  dem  Princip  der 
Ärmlichkeit  kehren  bei  Spinoza  wieder.    (Tel.  IX,  365.  367.  Spin. 
III,  35.  37.    IV,  18  schob  35  seh.  app.  28).    Die  Unsicherheit  und 
das    Elend    des    vorgeschichtlichen    Lebens     nötigen    zu    den    auf 
gegenseitiger   Unterstützung  der  einander    Aehnlichen    beruhenden 
uvsidlschaftlichen  Verbindungen  des  status  civilis. 

Ausser  Telesio  übertrug  dann  stoische  Gedanken  auf  Spinoza 
der  schon  durch  Telesio  bedingte  Hobbes.  Dass  Hobbes  den  Spi- 
noza sehr  stark  beeinflusst  hat,  bedarf  keines  Nachweises.  Wohl 
aber  ist  zu  zeigen,  in  welchem  Grade  doch  neben  anderen  antiken 
Ideen  die  der  Stoa  in  Hobbes  eingingen.  Hobbes  ist,  wie  die  aus- 
gezeichneten Untersuchungen  von  Tönnies  gezeigt  haben,  von  den 
moralisch  politischen  Problemen  ausgegangen.  Er  war  lange  Poli- 
tiker und  Humanist,  ehe  er  durch  Euklid  der  naturwissenschaft- 
lichen Richtung  gewonnen  wurde.  Ich  habe  in  der  Einleitung  in 
die  Geisteswissenschaften  die  beiden  Fraktionen  des  antiken  Natur- 
rechts unterschieden;  Hobbes  schloss  sich  der  Gewaltrechtslehre  an, 
wie  sie  die  späteren  Sophisten  entwickelten  und  wie  sie  bei  Thu- 
kydides,  Plato,  Euripides,  Aristophanes  ihre  erste  Darstellung  fand. 


Die  Autonomie  des  Denkens  im  17.  Jahrhundert.  8*3 

In  natürlicher  Verbindung  hiermit,  im  Zusammenhang  mii  seiner 
Gemütsverfassung  gründete  er  dieselbe  auf  den  Atomismus,  Ma- 
terialismus uml  Animalismus  der  Epikureer,  des  Lucrez.  Nun 
aber  führten  ihn  seine  humanistischen  Studien,  seine  juristisch 
politischen  Beschäftigungen,  seine  Bekanntschaft  mit  Telesio  zu- 
gleich auf  die  Stoa,  und  zwar  glaube  ich  an  der  Affektenlehre 
nachweisen  zu  können,  dass  er  auf  die  stoischen  Quellen  selber 
zurückgegangen  ist. 

Zenos  Definition  des  Affekts  als  einer  perturbatio  aversa  a 
reeta  animi  contra  naturam  animi  (bei  Cic.  Tusc.  IV. '.'.  vgl.  Diog. 
VII,  1 10  u.  ff.)  hat  Hobbes  in  de  homine  cap.  XII,  1  völlig  aeeep- 
tirt.  Jeder  Affekt  beziehl  sich  auf  den  appetitus  oder  die  aversio 
I.  de  hom.  cap.  6  mit  Diog.  \  II.  L04.  Stob.  ecl.  II  p.  142.  Plut. 
mor.  1037.  Cic.  Acad.  11,24).  Hobbes'  Erklärung  der  misericordia 
(de  homine  c.  XII.  10.  Leviath.  de  hom.  c.  VI):  dolere  ob  malum 
alienum.  i.  e.  condolere  sive  compati,  id  est  malum  alienum  sibi 
aeeidere  posse  imaginari,  misericordia  dicitur,  stimmt  überein  mit 
der  stoischen  bei  Diogen.  VII,  111.  Stob.  ccl.  II.  Cic.  Tuscul.  IV, 
17u.lV.  Die  desperatio  ist  bei  Hobbes  Leviath.  de  hom.  cap.  VI: 
appetitus  sine  opinione  obtinendi,  bei  Cic.  Tusc.  IV,  175  eine 
Tritudo  sine  ulla  rerum  expeetatione  meliorum,  vgl.  ausserdem 
i'-.  Andron.  Nach  Hobbes  de  hom.  cap.  XII,  3  (Leviath.  c.  VI) 
ist  Furcht  die  Vorstellung,  dass  wir  ineumbente  bono  coneipi- 
mus  modum  aliquem  quo  amittatur,  nach  Diogen.  VII,  11*2  '-f^ßoe  = 
irpoaSoxia  xaxoo,  vgl.  ausserdem  Cic.  Tuscul.  IV,  14;  Ps.  Androni- 
kus;  Stob.  ecl.  II.  88,  17.  Hobbes  lehrt,  dass  der  Affekt  der  Freude 
entsteht  durch  die  Vorstellung  eines  bonum  adveniens  sine  com- 
pensatione  ullius  mali  consequentis,  der  Affekt  des  Hasses  durch  die 
•  •II •  _  setzte  Vorstellung.     Dasselbe  behauptet  Cicero  Tusc.  IV, 

II:  aegritudo  est  opinio  recens  mali  praesentis,  in  quo  demitti 
contrahique  animo  rectum  esse  videatur.  Hierzu  vgl.  Hobbes"  I  )> - 
linition  der  Affekte  in  de  hom.  cap.  XII,  1:  consistunt  autem 
affectus  in  diversis  motibus  etc.  Der  All'ekt  der  Niedergeschlagen- 
heit  wird  voii  Hobbes  Leviath.  c.  VI  rein  stoisch  definirt,  vgl. 
Cic.  Tusc.  IV.  17.  Dei  Affekt  der  pietas  naturalis,  der  dem  Be- 
griff des  Aberglaubens    entspricht,   ist  von  Hobbes    Leviath.  c.  VI 


88  Wilhelm  Dilthey, 

de  hom.  c.  XII,  5  aus  der  stoischen  SetGiSaifiovia  abgeleitet,  vgl. 
Stob.  ecl.  II;  Ps.-Andron.  Der  stoische  Begriff  der  CqXoToma  (vgl. 
Cic.  Tusc.  IV,  8,  18.  ad  Attic.  10,  8  §  1)  wörtlich  von  Hobbes  ent- 
lehnt in  de  hom.  c.  VIII,  der  der  iatjvic  (vgl.  Stob.  ecl.  II,  Ps.-An- 
dronikus,  Cic.  Tusc.  IV,  21)  in  de  hom.  c.  XII,  4.  Ebenso  iden- 
tisch ist  der  pudor  bei  Hobbes  de  hom.  c.  XII,  6.  Leviath.  de  hom. 
c.  VI  mit  der  alay6\>rt  bei  Diogen.  VII,  112.  Stob.  ecl.  II,  aemu- 
latio  und  invidia  bei  Hobbes  de  hom.  c.  XII,  11.  Leviath.  c.  VI 
mit  dem  C^Xo;  und  cpöovo?  bei  Diogen.  VII,  111.  Cic.  Tusc.  IV,  17. 
Stob.  ecl.  II.  Die  Einteilung  des  amor  bei  Hobbes  de  hom.  c.  XII,  8 
in  amor  pecuniae  und  amor  potentiae  entspricht  der  Einteilung  der 
£~ti)u[j.t'a  in  <ptX'j/_pr/tj.7.n'a  und  cpdoxifxta  vgl.  Cic.  Tusc.  IV,  21,  die 
Erklärung  der  ira  in  de  nomine  c.  XII,  4  der  bei  Diog.  VII,  113. 
Stob.  ecl.  IL  Ps.-Andron.  Cic.  Tusc.  IV,  21  etc.96) 

Der  dritte  unter  den  selbständigen  Denkern,  welche  eine  Zu- 
fuhr antiker  Gedanken  dem  Spinoza  vermittelten,  war  Descartes. 
In  welchem  Umfang  die  ethischen  Gedanken  des  Descartes  stoisch 
sind  und  Spinoza  mitbestimmen,  hat  Trendelenburg  nachgewiesen. 
Die  Schrift  über  die  Passionen  beruht  auf  Galen,  Telesio  etc. 
Alier  auch  die  Erkenntnisstheorie  des  Descartes  ist  von  an- 
tiken Gedanken  erheblich  bedingt. 

Ihr  Verhältniss  zu  dem  definitiven  System  Spinozas  wird  erst 
deutlich  durch  die  Einsicht,  dass  die  erkenntnisstheoretische  Grund- 
legung in  de  intellectus  emendatione  dauernd  das  Fundament  der 
Ethik  Spinozas  bilden  sollte,  Eth.  II  prop.  40  schol.  sagt  Spinoza, 
dass  er  den  Ursprung  der  notiones  communes  übergehe,  quoniam 
haec  alii  dicavi  tractatui.  Dass  daneben  zugleich  die  Grundlinien 
der  Erkenntnisstheorie  auch  in  der  Ethik  selbst  von  dem  zweiten 
Buch  ab  bis  zu  ihrem  Schluss  gezogen  werden,  ist  ja  durch  die 
Beziehung  des  Erkenneus  zum  psychologisch  ethischen  Zusammen- 


96)  Hobbes  TugencUehre  erwächst  zumeist  aus  einer  Polemik  gegen  Aristo- 
teles cf.  de  nomine  c.  XI,  4  (Leviath.  c.  VI  u.  Diog.  VII,  85);  de  cive  c.  III, 
(!  mit  Aristot.  eth.  Nie.  V  3,  1130  a  u.  1T.,  ferner  de  cive  III,  32.  Leviath.  de 
hom.  c.  XV  (Leviath.  de  hom.  c.  VIII  u.  Cic.  Acad.  I  10,  38).  liegen  die 
Stöa   wendet  sich  IL  in  de  hom.  c.  XI,  8. 


Die  Am mir  des  Denkens  im  17.  Jahrhundert.  89 

hang  bedingt.  Dem  Geist  der  Zeil  entsprechend  sollte  diese  me- 
thodische  Grundlegung  durch  de  emendatione  intellectus  l>is  zu  den 
universalen  Definitionen  und  Axiomen  am  Anfang  der  Ethik  füh- 
ren: dies  zeigl  Spinoza  ed.  Gf.  |>.  504:  dicam  ;;  ceteris  omnibus  etc. 
Kür  den  Nachweis  der  antiken  Materialien  für  die  Erkenntniss- 
theorie des  Descartes  muss  man  von  den  beiden  erkenntnisstheore- 
tischen Jugendschriften  ausgehen97).  Seine  Lehre  von  der  sinn- 
lichen Wahrnehmung  stimm!  in  der  Grundlage  mit  der  römisch  stoi- 
schen  überein.  Nach  ihm  täuschen  die  Sinue  niemals,  wofern  sie 
nicht  krank  oder  von  dem  sinnlichen  Objekl  zu  weit  entfern!  sind: 
inq.  verit.  ed.  Amstel.  L566  p.  78;  vgl.  damit  Cic.  de  leg.  1,7.  Acad. 
N.T.  [1,27,87.  Sen.  nat.  quaest.  1, 2, 3.  [11,7,9.  Die  Mittel  der  Er- 
kennt niss  sind  imaginatio  und  sensus:  regul.  ad  direct.  rg.  VIII,  vgl. 
damil  Diog.  VII,  1'.'.  Philo  de mundi  opif.  c.  59, 1, 40.  Hobbes  Leviath. 
c  II.  Näheres  über  die  imaginatio  bei  Cartes.  medit.  de  pr.  ph. 
med.  VI.  Aber  nur  die  intelligentia  allein  (regul.  XII)  ist  fähig, 
die  Wahrheit  zu  begreifen;  vgl.  Chalcid.  in  Tim.  c.  "217  Mull.;  (das 
fjsu.ovixov  wird  von  den  späteren  Autoren,  besonders  von  Plutarch 
>nvni  mit  vous  gebraucht),  ferner  Galen,  de  plac.  Hipp,  et 
rhu.  V  219  K.  Die  Frage,  wie  die  Wahrnehmung  mittelst  der 
Sinne  zu  Stande  kommt,  beantwortet  Descartes  regul.  XII  ebenso 
wie  dii  Stoa:  Wir  bringen  unsere  äusseren  Sinne  durch  unsere 
Aktion  an  die  Objekte  heran,  wir  sind  hei  der  Empfindung  völlig 
ssiv,  ..wie  das  Wachs  den  Kindruck  des  Siegels  empfängt".  Die 
Form  des  empfindenden  Körpers  wird  dabei  durch  das 
Objekl  in  Wirklichkeil  verändert,  wie  die  Oberfläche  des  Wachses 
durch  das  Siegel.  In  demselben  Augenblick,  wo  der  äussere  Sinn 
durch  das  Objekt  in  Bewegung  gesetzl  wird,  wird  das  Bild  zu 
einem  andern  Körperteil  getragen,  zum  sens  commun.  Dieser  spiel! 
die    Rolle    des    Siegels,    welcher  eindrückt   in    die   imaginatio  etc. 


Nach  Baillet   lautet   der  Titel   der   ursprünglich   französisch   aiederge- 

riebenefl  achung  der  Wahrheil  durch  das  lumen  naturale:  la  recherche 

par  les  lumieres  uaturelles   qui  ä  •■l!-s   seules  ;>i  saus  le  secours 

ligion   '•!   de  la  philosophie   determinenl    les   opinions   que   doil  avoii 

im  bonneti    bomme  sur  toutes  les  chöses  qui  doivenl  faire  l'objel  de  ses  pen 

trenl  'laus  les  secrets  des  sciences  les  plus  abstraites. 


90  Wilhelm  Dilthey, 

Vgl.  damit  die  Darstellung  des  Wahrnehmungsvorganges  bei  Sextus 
Emp.  adv.  Math.  VII,  228;  II,  70;  VIII,  401  u.  ff.  Cic.  Acad.  I, 
11.  11,27.  Philo,  quod  deus  s.  immut.  19  p.  279  Mang.  Procl.  iu 
Parm.  Plat.  ed.  Cous.  p.  74  etc.  cf.  Hobbes  Phys.  e.  XXV,  10; 
ferner  Desc.  diso,  de  la  methode  einq.  partie.  Diese  so  geartete 
Lehre  von  einer  tabula  rasa  findet  sich  auch,  wie  bereits  im  Vor- 
hergehenden dargethan  ist,  bei  Cartes.  iuq.  verit.  p.  74;  regul.  IV 
p.  9  Z.  12  ff.  und  p.  10  Z.  1  erinnern  beide  au  Cic.  de  fin.  V,  21, 
59  ff.;  speziell  der  Ausdruck  semina  u.  s.  w.  stammt  von  den  Stoi- 
kern cf.  Cic.  de  leg.  I,  8,  24.  Iu  reg.  IV  p.  11  Z.  3  sind  sicher 
auch  die  Stoiker  gemeint;  denn  die  Ethik,  tue  er  rühmt,  ist  die 
stoische,  bezw.  diejenige,  welche  Cicero  in  de  off.  behandelt;  denu 
dort  wird  gezeigt:  honestum  utili  praeferendum  esse.  Ferner  reg.  X 
p.  30  Z.  2  ff. :  der  Einwand  des  Carneades  gegen  den  Syllogismus 
cf.  Sext.  hyp.  Pyrrh.  II,  194  ff.  Ueber  die  Wertschätzung  der 
Dialektik  vgl.  reg.  II  mit  Stob.  ilor.  82,  7—15.  Diog.  VII,  161 
IV,  18.  Bezüglich  des  Ziels  unserer  geistigen  Thätigkeit  vgl.  reg.  I 
mit  Diog.  VII,  165.  Epict.  diss.  IV,  8,  12.  Die  wichtigen  Stellen 
über  das  lumen  naturale  in  reg.  I,  IV,  VI,  XII  vgl.  mit  Cic.  de 
fin.  V,  21,  59.    Tusc.  I,  24,  57.    nat.  deor.  II,  4,  12. 

Für  das  fortdauernde  Verhältniss  der  römischen  Stoa  und 
der  Akademie  zum  discours  sind  folgende  Stellen  zu  vergleichen: 
1.  Abschn.:  „Ich  überlegte,  wie  vielerlei  verschiedene  Meinungen 
über  einen  Gegenstand  von  den  Gelehrten  verteidigt  werden,  wäh- 
rend doch  die  wahre  nur  eine  sein  kann",  cf.  Cic.  Acad.  11,23, 
72  ff.  36,  115.  —  1.  Abschn.:  „Selbst  bei  der  Betrachtung  der  Sitten 
anderer  fand  ich  nichts  Zuverlässiges ;  ich  sah  hier  beinahe  dieselben 
Gegensätze  wie  früher  iu  den  Meinungen  der  Philosophen".  Dies 
ist  ein  berühmtes  Argument  der  Skeptiker  cf.  Cic.  rep.  III,  7,  14  ff. 
ib.  12,  21.  Cic.  Tusc.  I,  45,  108  ff.  Horteusius  frg.  29.  Sext.  hyp. 
Pyrrh.  I,  145  ff.  III,  190—238.  Cic.  de  div.  II,  46,  96.  -  -  2.  Abschn.: 
„Ich  hatte  bereits  in  dem  College  gelernt,  dass  man  nichts  so  Frem- 
des und  Unglaubliches  sich  ausdenken  könne,  was  nicht  ein  Philo- 
soph behauptet  hätte"  vgl.  Mommsen,  röm.  Gesch.  III  p.  590.  — 
3.  Abschn.:  „Es  ist  ein  richtiger  Spruch,  dass,  wo  man  das 
Rechte  nicht  mit  Gewissheit  erkennt,    man  dem  Wahrscheinlichen 


Die  Autonomie  des  Denkens  im   17.  Jahrhundert.  91 

zu  folgen  habe"  vgl.  Cic.  Acad.  II.  31,  99 ff.  32,  KM  IV.  -  -  3.  Äbschn.: 
„Ich  wollte  damit  nicht  etwa  den  Skeptikern  folgen,  welche  nur 
zweifeln  um  zu  zweifeln  und  eine  stete  ünentschlossenheit  vor- 
spiegeln. -  cf.  Cic.  Acad.  IL  25,  79;  7.  19.  Sext.  byp.  Pyrrh.  I. 
I2ff.  [1,79.  —  4.  Abschn.:  „Deshalb  nahm  ich.  weil  die  Sinne 
uns  manchmal  täuschen,  an.  dass  es  nichts  gebe,  was  s<»  beschaffen 
wäre,  wie  sie  es  uns  bieten"  ct.  Cic.  Acad.  II,  2;"),  7 '.MV.  Sext.  hyp. 
Pyrrh.  11.  l'.MV.  1.  40ff.  —  1.  Abschn.:  „Dieselben  Gedanken  wie  im 
Wachen  können  uns  auch  im  Traume  kommen,  ohne  dass  im  ersten 
Falle  ihre  Wahrheil  begründe!  istu  cf.  Cic.  Acad.  II,  27,  s7.  Sext. 
hyp.  Pyrrh.  1.  104  1V.  113  n.  ö.  —  4.  Abschn.:  „Die.  Gestirne  er- 
scheinen weit  kleiner,  als  sie  in  Wahrheit  sind"  cf.  Cic.  a.  a.  0. 
26,  82.  —  4.  Abschn.:  „So  sehen  die  Gelbsüchtigen  alles  gelb" 
cf.  Sext.  a.  a.  (>.  1.  44:  104  u.  ö.  Cic.  a.  a.  0.  II,  27,  87  IV.  Für 
die  Meditationes  sind  folgende  Stellen  zu  beachten:  I.  conti- 
nuata  rerum  series  cf.  Cic.  de  div.  I,  55,  125.  de  lato  !),  20.  — 
II.  pergam,  donec  aliquid  certi  vel,  si  nihil  aliud,  saltem  hoc  ipsum 
pro  ertn  nihil  esse  certi  cognoscam  cf.  Cic.  Acad.  II,  i),  28.  — 
l\.  inv  ullum  de  hac  re  dubium  superesset,  nisi  inde  sequi  vide- 
ar  me  errare  ounquam  posse  cf.  Cic.  nat.  deor.  III,  31,  77  ff. 
—  IV.  oecurrit  mm  unain  aliquam  creaturam  separatim,  sed  oninem 
rerum  iiniversitatem  .  .  .  cf.  Cic.  de  nat.  deor.  II,  34,  87.  —  VI.  oempe 
imprimis  hie  adverto  magnam  esse  differentiam  inter  meutern  et 
corpus.  .  .  .  cf.  Cic.  Tusc.  I,  29,  71.  vgl.  auch  reg.  ad.  direct.  XII. 
Wie  aus  diesen  stoischen  und  stoisch  gefärbten  Ideenmassen 
der  glänzende  klargeschliffene  Krystall  des  Spinozistischen  Systems 
zusammenschoss,  nach  welchem  Gesetz  er  sich  bildete,  das  kann 
ersl  dargelegt  werden,  wenn  man  nun  Spinozas  Verhältniss  zu  der 
naturwissenschaftlichen  Bewegung  und  zu  Giordano  Bruno  ins  Auge 
fasst. 


Jahresbericht 

über 

sämmtliche  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte 

der  Philosophie 

in    Gemeinschaft    ra  i  t 

Clemens  Baeumker,  Ingram  Bywater,  Alessandro  Chiappelli,  Hermann  Diels, 

Wilhelm  Dilthey,   Benno  Erdmann,  Andrew  Seth,   Paul  Tannery, 

Feiice  Tocco  und   Eduard  Zeller 

herausgegeben 


Ludwig  Stein. 


I. 

Die  deutsche  Iitteratnr  über  die  sokratische, 

platonische  und  aristotelisclie  Philosophie. 

1892. 

Von 
E.  Zellcr. 

Erster  Artikel. 

N  irden,  En..  Beiträge  zur  Geschichte  der  griechischen  Philosophie. 
Sep.  -Abdr.  aus  den  Jahrbb.  f.  cl.  Philologie.  Supplc- 
mentb.  XIX.  367—462.  1892. 

Von  den  fünf  wertlivollen,  aus  tüchtigen  Studien  hervor- 
angenen  Abhandlungen,  welche  N.  unter  diesem  Titel  ver- 
einig! hat,  fallen  zwei  vollständig,  zwei  andere  theilweisc  in  den 
Rahmen  dieses  Berichts,  und  so  mag  das  Ganze  hier  besprochen 
werden.  —  Nr.  1:  „Ueber  einige  Schriften  des  Antisthenes" 
(368 ff.)  sucht  zuerst  für  die  -.  cjocpiat&v  den  Nebentitel:  yuaio'fvui- 
•//>;  zu  erklären,  und  wendet  sich  dann  den  beiden  Büchern 
zu.  welche  nach  Diog.  VI,  18  im  10.  Band  von  Antisthenes' 
Werken  standen  und  bei  Cobet  Kupos  rt  IptDjisvos,  Kupos  Jj  xaTct'oxo- 
irot  betitelt  sind.  X.  zeigt,  dass  die  besseren  HSS  statt  Kupo? 
beidemale  „xupios"  geben,  und  bezieht  die  beiden  Titel  darauf, 
dass  der  Weise  nach  cynischer  Lehre  der  geborene  Herr  der  Un- 
weisen, dass  er  allein  iSiepaötos,  und  er  von  den  Göttern  zum 
'■i-.'jz/.'-.',:  und  i-'.z//-.',:  der  menschlichen  Bandlungen  verordnet 
ist;    und  seine   eingehenden  Xachwei.se   geben  wirklich  dieser  Ver- 


i)(;  E.  Zoller, 

muthung,  die  sich  zunächst  last  zu  künstlich  ausnimmt,  eine  er- 
hebliche Wahrscheinlichkeit.  —  In  Nr.  2:  „Zu  de*  Briefen  des 
Heraklü  und  der Cyniker"  (S.  386ff.,  457f.),  weist  X.  überzeugend 
nacli.  dass  Bernays  kein  Recht  hatte,  in  dem  4.  Heraklitischen 
und  dem  28.  Diogenes  -  Briet'  jüdische  oder  christliche  Interpola- 
tionen zu  vermuthen,  indem  er  mit  umfassender  Belesenheil  die 
vielen  Berührungspunkte  zwischen  dem  späteren  Cynismus  und 
dem  Christenthum,  insbesondere  dem  christlichen  Mönchsthum,  be- 
leuchtet. Ein  kleiner  Nachtrag  hiezu  findet  sich  in  den  Sitzungs- 
berichten der  Berliner  Akademie  1893,  S.  129ff.  S.  395  war  als 
Beweis  dafür,  dass  Odysseus  t)"(uv  Stcvou  war.  vor  allem  an  den 
verhängnissvollen  Schlaf  Od.  K.  31,  S.  399  unter  den  Schriften 
über  Stoicismus  und  Christenthum  an  Baur's  „Seneca  und  Paulus" 
zu  erinnern;  Phileb.  15  E  spricht  Plato  nicht  (nach  S.  398.  1)  von 
Reden  über  Thiere  und  Barbaren,  sondern  von  Reden  an  die- 
selben. —  Nr.  3:  „Philosophische  Ansichten  über  die  Entstehung 
des  Menschengeschlechts,  seine  kulturelle  Entwicklung  und  das 
goldene  Zeitalter"  (S.  411  tV.)  zeigt,  dass  schon  die  Sage  von 
Prometheus  statt  des  goldenen  Zeitalters  einen  Zustand  der  Hoheit 
und  Hülfsbedürftigkeit  als  Urzustand  der  Menschen  voraussetze; 
und  dass  dann  neben  einem  Archelaos  und  Demokrit  namentlich 
die  Sophisten,  und  in  der  Folge,  durch  Theophrast  gefördert. 
Epikur  darzuthun  suchten,  wie  die  Menschen  Schritt  für  Schritt 
zur  Kultur  gelangten,  während  die  Cyniker  Lobredner  des  bedürf- 
nisslosen Naturzustandes  waren.  Unter  dem  sorgfältig  gesammel- 
ten Material,  aus  dem  X.  sinne  Darstellung  aufbaut,  habe  ich  nur 
Xenophanes"  10.  Fragment  (Stob.  Floril.  39,41.  Ekl.  1.224)  ver- 
misst,  in  dem  der  Gedanke  eines  allmählichen  Erwerbs  der  mensch- 
liehen Bildung,  anscheinend  im  bewussten  Gegensatz  zu  den 
Mythen  über  die  Erfindung  der  verschiedenen  Künste  durch  Götter, 
zuerst  auftritt.  —  Nr.  4:  „Die  varronische  Satura  Prometheus,  ein 
Kapitel  aus  der  Lehre  von  der  icpovota"  (S.  428-439.  153f.)  geht 
in  Anknüpfung  an  die  Ueberbleibsel  des  varronischen  Prometheus 
den  Spuren  der  Verhandlungen  nach,  welche  in  philosophischen 
Kreisen  über  die  Frage  gepflogen  wurden,  ob  die  Natur  den  Men- 
schen   so   zweckmässig  gebildet  habe,    wie   Plato.    Aristoteles  und 


Die  deutsche  Litteratui  fibei  die  sokratische  etc.  Philosophie.  \\'t 

die  Stoiker,  öder  so  unvollkommen,  wie  Epikur  und  die  Skeptiker 
behaupteten.  In  Nr.  5:  „Ueber  den  Streit  des  Theophrasl  und 
Zeno  bei  Philo  ir.  atpöapaias  >c6o|xoo"  (S.  140  152)  widerlegt  N. 
mit  überzeugenden  Gründen  Arnim's  Versuch,  das,  was  a.  a.  0. 
aus  Theophrasl  mitgetheilt  wird,  einem  späteren  Peripatetikei 
zuzuweisen;  und  wenn  schon  hieraus  folgt,  dass  nur  Zeno  der 
hier  bestrittene  Stoiker  sein  kann,  so  führt  er  auch  den  Nachweis, 
dass  die  von  Theophrasl  zurückgewiesenen  Einwürfe  gegen  die 
Ewigkeit  der  Welt  bereits  Epikur  bekannl  waren  und  von  ihm 
Im   sich  benützt  wurden. 

Mit  Xenophon  und  seiner  Darstellung  des  Sokrates  be- 
schäftigen sich  die  nachstehenden  drei  Schriften,  von  denen  die 
/weite  noch  1892,  die  dritte  allerdings  erst  im  Februar  1893  er- 
schienen  ist: 

1.  Richter,  E.,    Kenophonstudien.      Jahrbb.    f.    «dass.    Philologie 

L9.  Supplementb.  59—154. 

2.  Joel,   K..   Der  ächte  und  der  Keno phontische  Sokrates.    Berlin, 

Gaertner,  L893.   VII  u.  554  S. 
:;.     Birt,   Tu..     De    Xenophontis    Commentariorum    Socraticorum 
compositione.    (Marburger  Proömium  für  d.  Sommer  1893). 
XXU  S.  4". 

Die  Verfasser  dieser  Schriften  begegnen  sich  nun  in  einem 
Zuge:  sie  halten  sich  nicht  für  berechtigt,  das.  was  ihnen  in  den 
lophontischen  Berichten  über  Sokrates  zum  Anstoss  gereicht, 
nach  einer  neuerdings  beliebten  Methode,  Xenophon  kurzweg  ab- 
zusprechen; in  der  Kritik  seiner  Schriften  conservativ,  machen  sie 
ihn  selbsl  dafür  verantwortlich,  und  fragen,  wie  wir  uns  diese 
Dinge  bei  ihm  zu  erklären  haben.  Sie  gewinnen  aber  hiebei  weit 
genug  auseinandergehende  Ergebnisse. 

Nr.  1  und  3  sind  zwar  darüber  einig,  dass  Mein.  I.  1.  '2  ur- 
iprünglich  ''ine  in  sich  abgeschlossene  und  für  sich  herausgegebene 
Verteidigung  'I''-  Sokrates  gegen  die  Anklage  bildeten,  welche 
Polykrates  dem  Anytus  in  den  Mund  Lieleut  hatte.  Aber  gleich 
i»'i  1, 3  beginnen  ihre  Wege  sich  zu  scheiden.  Richter  glaubt, 
sj  1—1  dieses  Kap.  haben  ursprünglich  hinter  <■.  1,9,  oder  es  habe 

'■■.      VII.  | 


98  E.  Zeller, 

19,  §5 — 14  hinter  c.  2,  5  gestanden;  c.  4  soll  mit  IY,  3.  5.  6  zu- 
sammen eine  eigene  Apologie  gebildet  haben;  I,  5.  6.  7.  II,  1 
nebst  III,  S.  9  ebenfalls  ein  Ganzes  für  sich  sein,  eine  dritte 
Apologie,  von  der  ein  Theil,  I,  5,  in  IV,  5  wiederkehre;  II,  2  bis 
10  (über  die  tptXia)  und  III,  1 — 7  (über  die  axpctTr^'ia)  seien  zwei 
weitere  selbständige  Werkchcn.  Auch  die  zwei  Gespräche  IV,  2 
und  IV,  4  sind  nach  R.  vereinzelte,  erst  nachträglich  in  die 
Memorabilien  aufgenommene  Aufzeichnungen;  B.  III,  10 — 14  „rein 
apomnemoneumatisch"  und  aphoristisch,  IV,  1  vielleicht  eine  Ein- 
leitung zu  einem  besonderen,  jetzt  verlorenen  Werk,  IV,  7  ein 
(wie  R.  meint  zu  der  bisherigen  Schilderung  des  Sokrates  nicht 
passender,  in  Wahrheit  mit  seinem  Utilitarismus  ganz  zu  ihr 
stimmender)  Zusatz,  IV,  8  ein  Schluss,  der  bei  der  Vereinigung 
der  verschiedenen  Bestandteile  unserer  Schrift  unter  Benützung 
der  Apologie  beigefügt  wurde.  Nachdem  sodann  R.  S.  90  —  123 
gezeigt  hat,  dass  Xenophon's  eigene  philosophische  Darstellungen 
mit  dem,  was  die  Memorabilien  Sokrates  in  den  Mund  legen,  nach 
Inhalt  und  Ausdrucksweise  durchaus,  und  bisweilen  fast  wörtlich, 
übereinstimmen,  zieht  er  S.  124 ff.  aus  dieser  und  andern  Wahr- 
nehmungen den  Schluss,  dass  Xenophon's  Berichte  über  sokratische 
Gespräche  freie  Erfindungen  seien,  und  dass  diess  auch  von  solchen 
Unterredungen  gelte,  die  er  mit  einem  yjxouov  oder  olooc  und  ähn- 
lichem anführt,  da  er  diess  ja  auch  bei  Stücken  thue,  die  offenbar 
selbsterfunden  seien,  wie  der  Oekonomikus  und  das  Gastmahl. 
Mem.  IV,  2,  Stf.,  wo  Sokrates  mit  Euthydem  allein  ist,  und  III,  5, 
wo  §  4  Verhältnisse  vorausgesetzt  werden,  wie  sie  erst  nach  der 
Schlacht  bei  Leuktra  eingetreten  seien.  Zeigen  uns  aber  die 
xenophontischen  Darstellungen  zunächst  nur  die  eigenen  Ansichten 
des  Schriftstellers,  so  können  wir  aus  diesen,  wie  R.  (S.  133 ff.) 
glaubt,  auf  die  des  Sokrates  um  so  weniger  schliessen,  da  beide 
Männer  gar  nicht  in  dem  nahen  Verhältniss  standen,  das  man 
zwischen  ihnen  gewöhnlich  voraussetzt.  Diese  Behauptung  ist  aber 
freilich  nicht  allein  durch  das,  was  R.  zu  ihrer  Begründung  bemerkt, 
nicht  bewiesen,  sondern  sie  wird  sich  auch  überhaupt  nicht  be- 
weisen lassen.  Dass  Xenophon  weder  von  Plato  noch  von  Ari- 
stoteles genannt  wird,  hat  nichts  auf  sich;   denn    die  wenigen  Ge- 


Die  deutsche  Litteratur  über  die  sokratische  etc.  Philosophie.  (.üi 

legenheiten,  bei  denen  Plato  einzelne  von  seinen  Mitschülern 
oenni  (Apol.  20 E.  32Ef.  38B.  Krito  15 B.  Phädo  59 Äff.  54A, 
39A  f.  Theät.  Anf.  Symp.  Eingang  und  Schluss),  sind  lauter  solche, 
bei  denen  Xenophon  gar  oichl  genannl  werden  konnte;  Aristoteles 
vollends  erwähnl  von  somatischen  Schülern  ausser  Plato  überhaupl 
nur  des  Antisthenes  und  Aristippus,  alle  anderen:  Aeschines,  Sim- 
mias,  Kebes,  Phädo  ii.  s.  w.,  werden  von  ihm  übergangen,  selbst 
Euklides  Metaph.  IX.. ">  nur  unter  dem  Collectivnamen  der  Mega- 
riker    berücksichtigt.      Im    übrigen   rechnel    das    ganze   Alterthum 

ophon  einstimmig  zu  dem  engeren  Kreis  der  sokratischen  Schülei 
um!  er  selbsl  macht  offenbar  gleichfalls  diesen  Anspruch,  wenn  er 
Mem.  I.  3,  1  u.  5.  aus  eigener  Erinnerung  zu  berichten  behauptet, 
und  selbsl  wenn  er  eigene  Erfindungen  in  dieser  Form  einfuhrt, 
-  doch  immer  voraus,  dass  er  als  Genosse  des  sokratischen 
Kr  kaum  war.     Nur  unter  dieser  Voraussetzung  können  auch 

Denkwürdigkeiten,  so  viel  wir  wissen,  von  Anfang  an  Rh- 
eine urkundliche  Quelle  der  sokratischen  Lehre  gehalten  worden 
sein.  —  Mit  1.'.'-  Vermuthungen  über  Xenophon's  persönliches  Ver- 
hältnis zu  Sokrates  hängl  es  nun  zusammen,  dass  er  sich  (S.  13GfF.) 
die  Uebereinstimmung  zwischen  Aeusserungen  des  platonischen  und 
des  xenophontisehen  Sokrates.  deren  er  noch  manche  weitere  hätte 
anfuhren  können,  nur  aus  einer  Benützung  der  platonischen  Schriften 
durch  Xenophon  zu  erklären  weiss.  Standen  dagegen  Xenophon 
und  Plato  Jahre  lang  und  gleichzeitig  mit  Sokrates  in  nahem  Ver- 
kehr,  so  Isl  es  nicht   „ein  Zufall,  mit   dem  nicht   zu  rechnen  ist" 

140),  sondern  die  natürlichste  Sache  von  der  Welt,  wenn  nicht 
allein  solche  Auseinandersetzungen,  welche  die  leitenden  Gedanken 
kratischen  Philosophie  betrafen    und  desshalb  mit  ihrer  Be- 
gründung   und   den   sie  erläuternden  Beispielen  gewiss  oft  wieder- 
holt wurden,  sondern  wenn  auch  einzelne  überraschende  Wendungen 
und  Behauptungen  (wie  Mem.  IV.  1.  6.   Gorg.  491  Af.  Mem.  IV.  2, 
I9f.   Hipp.  min.  365Cff.)   -ich  der   Erinnerung  der  beiden  Sokra- 
tiker  in  der  Hauptsache  gleichlautend  einprägten.    Um  eine  schrift- 
llerische  Abhängigkeil    des  einen  von   dem  andern  zu  beweisen, 
mosfl   ihre  l        reinstimmung   Bolchea   betreffen,    was  sich   aus  der 
-<  haltlich, m   Quelle   nicht  ableiten  lässt,   wie  diess  /..  I».  bei 

V 


100  E.  Zeller. 

der  Berücksichtigung  des  platonischen  Gastmahls  im  xenophonti- 
schen  der  Fall  ist.  Ob  Xen..  wie  R.  glaubt,  im  Iliero  den  Isokrates 
De  pace  benutzt  hat,  will  ich  hier  nicht  untersuchen;  dass  Mein. 
I,  6  von  Isokrates'  Sophistenrede  beeinflusst  sei,  hat  er  mir  (S.  145f.) 
nicht  wahrscheinlich  gemacht.  Ueber  die  Entstehung  der  Memora- 
bilien  und  der  meisten  xenophontischen  Schriften  stellt  er  S.  1491V. 
(nach  S.  00.  152  von  Di  eis  hiezu  angeregt)  die  Vermuthung  auf. 
Xen.  habe,  bereits  alternd,  durch  den  Verlust  seines  Gutes  in 
Skillus  (um  370)  sich  genöthigt  gesehen,  durch  den  Vortrag  seiner 
Werke  sein  Brod  zu  verdienen,  und  daher  haben  wir  uns  die  viel- 
fachen Variationen  der  gleichen  Themata  und  den  Umstand  zu  erklä- 
ren, dass  so  viele  Stücke  ohne  Einleitung  mit  einem  os  und  o.Wj. 
anfangen,  indem  nämlich  erst  bei  ihrem  Vortrag  für  die  jeweilige 
Zuhörerschaft  die  geeignete  Einleitung  vorangestellt  worden  sei.  Ob 
Xen.  freilich  seit  seiner  Vertreibung  aus  Skillus  sich  dauernd  in 
einer  so  bedrängten  Lage  befand,  wissen  wir  um  so  weniger,  da 
wir  zu  der  Annahme  keinen  Grund  haben,  bei  seiner  Verbannung 
aus  Athen  sei  sein  dort  befindliches  Vermögen  eingezogen  worden, 
und  da  seine  Söhne,  wenn  sie  362  in  der  attischen  Reiterei  dienten, 
der  zweithöchsten  Vermögensklasse  angehört  haben  müssen. 

Aus  verschiedenen  Bestandtheilen,  die  in  verschiedenen  Zeit- 
punkten niedergeschrieben  wurden,  denkt  sich  auch  Birt  (Nr.  3) 
die  Memorabilicn  zusammengesetzt;  aber  seine  Erklärung  des  Tat- 
bestandes, den  uns  diese  Schrift  in  ihrem  jetzigen  Zustand  zeigt, 
ist  einfacher  als  die  von  Richter.  Xen.  setzte,  wie  er  glaubt, 
bald  nach  seiner  Heimkehr  aus  Asien  der  Klagrede  des  Polykrates 
die  Apologie  des  Sokrates  entgegen,  welche  B.  I,  c.  1.  2  enthält. 
Diese  Apologie  erhielt  in  der  Folge  in  I,  3 — 7  und  B.  II  Zusätze, 
in  denen  X.  das,  was  sie  über  Sokrates  ausgesagt  hatte,  im  ein- 
zelnen näher  ausführte  und  namentlich  mit  sokratischen  Gesprächen 
belegte,  die  er  jetzt  nach  dem  Vorgang  anderer  Sokratiker  dar- 
stellte. In  der  Anordnung  dieser  Zusätze  hielt  sich  Xen.  an  die 
Disposition  von  I,  1.  2;  nur  dass  er  durch  die  nachträgliche  Ein- 
legung von  I,  4  auf  die  I,  3 — 4  allzu  summarisch  abgemachte 
Frage  über  Sokrates'  Religiosität  noch  einmal  zurückkam.  Mit 
dieser  Erweiterung  wurde  die  Apologie  nochmals  veröffentlicht,  so 


Die  deutsche  Litteratui  über  die  sokratische  etc.  Philosophie.  HU 

dass  jetzl  die  beiden  ersten  Bücher  unserer  Memorabilien  fertig- 
stem waren.  (Was  B.  bei  dieser  Gelegenheil  S.  XI!'..  mir  aichl 
recht  einleuchtendes,  aber  den  Grund  dafür  bemerkt,  dass  Ken. 
nur  [,  3,  8ff.  sich  selbst  als  Mitunterredner  einführt,  muss  ich  hier 
übergehen.)  Einer  neuen  Ausgabe  seiner  Schrill  fügte  X.  nach 
längerer  Zeit  in  B.  111.  ohne  strengere  Disposition,  vier  Nachträge 
bei:  c.  1  7:  c.  8.  9;  c.  10—12;  c.  IUI'.  Kino  eigene,  mit  dem 
Gastmahl  und  dem  Oekonomikus  auf  einer  Linie  stehende,  und 
mit  den  früher  erschienenen  Memorabilien  (B.  1 — 3)  eben  so  lose, 
wie  jene;  verknüpfte  Schrift  ist  unser  viertes  Buch,  das  last  ganz 
•ms  Gesprächen  mit  Euthydem  besteht:  sein  Thema  bildet  die  so- 
kratische jratiSsia,  welche  nach  zwei  einleitenden  Erörterungen  un- 
ter vier  (3,1  angegebenen)  Gesichtspunkten  geschildert  wird,  dass 
nämlich  Soki  S  aüler  1)  craxppovas  in  Beziehung  auf  (bit- 

ter (c.  3)  and  Menschen  (c.  4).  2)  jcpaxtixob?  (c.  5),  3)  Xsxtixw; 
(c.  6),  4)  ;ir(-/r."./vj:  (c.  7)  gemacht  habe;  woran  sich  dann  als 
Epilog  anschliesst,  was  c.  8  über  eleu  Tod  des  Sokrates  als  wohl 
vereinbar  mit  der  ihm  zutheilgewordenen  dämonischen  Weissagung 
ausgeführt  ist.  Die  Apologie  muss,  falls  sie  acht  sein  sollte,  nach 
Mem.  [V,  vielleicht  auch  nach  dem  Gastmahl  und  Oekonomikus 
verfasst  sein.  Von  Xenophon's  geschichtlicher  Zuverlässigkeit  hat 
15.  kein,'  hohe  Meinung;  er  geht  aber  hier  auf  diese  Frage  nicht 
naher   ein. 

Dagegen  i-t  eben  dieses  die  Aufgabe,  welche  sich  Joel  in  sei- 
n-'in  unter  Nr.  2  verzeichneten,  erst  zur  Hälfte  erschienenen  Werke 
stell!  hat:    \  oophon's  Schilderung  des  Sokrates  auf  ihre  Glaub- 
würdigkeil   zu  prüfen,    und    statt    des  von    ihm   überlieferten   das 
wahre    Bild    des   Philosophen    und    seiner  Lehre    wiederherzustellen. 
\       •   isl  nun  allerdings  viel  zu  weitschichtig  und  wortreich 
ausgefallen,   ihre  Ausdrucksweise    nicht    selten    zur   Uebertreibung 
aufgebauscht,  und  sie  muthet   durch  leides  der  Geduld  des  Lesers 
mlich  viel  zu;  aber  sie  ruht  auf  einem  fleissigen  und  umfassen- 
den Studium  der  hergehörigen  Litteratui  und  behandelt   ihren  Ge- 
-tand  eindringend    genug,   um    auch    dann    Beachtung  zu   ver- 
len,    wenn    man   dem   Verfasser    in    vielem    nicht    beizustimmen 
•I.  will  den  xenophontischen  Sokrates  von  dem  geschieht- 


102  E.  Zeller, 

liehen  streng  unterschieden   wissen   und   weiss   in  jenem   zunächst 
nur  eine  Schöpfung  des  Schriftstellers  zu  sehen.    Was  er  zur  Begrün- 
dung  dieser  Ansicht  in  seiner    ausführlichen  Einleitung  (S.  1  —  68) 
sagt,  ist  nun  freilich  von  ungleichem  Werthe.     Dass  z.  B.  Aristo- 
teles Poet.  1.  1447  b  11    „die  Xo-pt  Stoxpcmxol   zu   den  Werken  der 
Dichtkunst  stellt",  ist  ohne  alle  Bedeutung,  denn  er  thut  diess  nur 
um  sie  von  ihnen  zu  unterscheiden:  sie  Hessen  sich,  sagt  er,  auch 
dann,  wenn  man  ihnen  eine  metrische  Form  gäbe,  mit  den  Mimen 
eines  Sophron    nicht  unter   demselben  Gattungsnamen  zusammen- 
fassen,  was  er  doch  unmöglich  behaupten  könnte,   wenn  er  beide 
gleichsehr    für    -oir^as'.c  hielte;    er  scheint  aber    überdiess  bei  den 
kratischen  Reden"   hier  wie  Polit.  11,6.  1265a  12.  Rhet.  III,  16. 
1417a  20.  Fragm.  Gl  (72)  nur  an  die  platonischen  zu  denken.    Dass 
Mem.  III,  6.  7  eine  „Kritik  Plato's  in  politischer  Hinsicht"  enthal- 
ten, ist  eine  ganz  aus  der  Luft  gegriffene  Behauptung,    lieber  mein 
Verständniss  geht  ferner  die  Beweisführung,  mittelst  deren  J.  S.62f. 
aus  Mem.  IV,  3, 2   ein  Selbstzeugniss  Xenophon's  für  den   fiktiven 
Charakter    seiner   Mittheilungen    herauszulesen    weiss.     Auch    von 
Mem.  I,  4, 1  gibt  J.  S.  52  eine  grammatisch  unmögliche  Erklärung; 
denn  X.  sagt    hier:    „wenn    aber    manche,    gestützt   auf  das,    was 
Einige    über  Sokrates    schreiben    und    sagen,    der    Meinung   sind" 
u.  s.  w.,  er  unterscheidet  also  die  vo;j.i"Cov-s;  nicht,  wie  J.  sagt,  von 
den  Texfiaip6(i£voi,  mit  denen  sie  vielmehr  zusammenfallen,  sondern 
von  den   -p^ovTsc  xal  Xi-pvtsr.     Aber    darin    hat    J.  Recht,    dass 
diese  Stelle  das  Vorhandensein  von  Schriften  voraussetzt,  in  denen 
Sokrates,    nach   Xenophon's  Meinung    zu    ausschliesslich,   als  Pro- 
treptiker  dargestellt  war;   und  es   ist  möglich,   dass  wir  bei  diesen 
Schriften  mit  J.  zunächst   an  den  Protreptikos   des  Antisthenes  zu 
denken    haben.     Auch    das  muss    ich  Joel  (S.  36.  63),    wie    oben 
schon  Richter,  einräumen,  dass  Xenophon's  Versicherung,  ein  Ge- 
spräch   sei' ist    angehört    zu    haben,    zum   Beweis  dieser  Thatsache 
nicht  ausreicht,  da  uns  die  gleiche  Behauptung  auch  im  Eingang 
des  Oekonomikus  und   des  Gastmahls   als   eine  stehend  gewordene 
Wendung   begegnet;   und  nimmt   man   dazu,   dass   nach  so  langer 
Zeit,    wie   sie   zwischen  Xenophon's  Abschied   von  Athen   und   der 
Abfassung  der  Memorabilien  jedenfalls  in  der  Mitte  liegt,  eine  ge- 


Ii  utsche  Litteratur  über  die  sokratische  etc.  Philosophie.  103 

aaue  Erinnerung  an  Gang  und  Inhalt  einzelner  sokratischer  Unter- 
haltungen /war  nicht  anmöglich,  aber  dooh  für  die  Mehrzahl  der 
Fälle  kaum  zu  erwarten  war,  so  wird  mau  sich  dem  Zugeständnis 
schwer  entziehen  können,  dass  Kenophon'a  sokratische  Gespräche 
nur  seine  Auffassung  der  sokratischen  Philosophie  als  unmittelbare 
Urkunden  bezeugen,  dass  dagegen  ersl  durch  weitere  Untersuchun- 
gen ausgemittell  werden  muss,  inwieweit  diese  mit  Sokrates'  eige- 
ner Lehre  übereinstimmte.  Hiefür  >tellt  nun  J.  S.  64f.  zwei  Kri- 
terien auf:  einerseits  die  Aussagen  des  Aristoteles  über  die  Lehre 
des  Sokrates,  andererseits  'las.  wovon  wir  aus  Kenophon's  übrigen 
Schriften  sehen,  dass  es  seinem  eigenen  Gedankenvorrath  angehörte. 
Was  mit  Aristoteles'  Darstellung  nicht  übereinstimmt,  ist  Sokrates 
abzusprechen,  was  über  Kenophon's  sonstigen  Gedankenkreis  hin- 
ausgeht und  sich  mit  dem  acht  Sokratischen  verträgt,  ihm  beizu- 

'.:  wo  aber  die  Memorabilien  mit  Kenophon's  übrigen  Schriften 
zusammentreffen,  i-t  nach  Wahrscheinlichkeitsgründen  darüber  zu 
entscheiden,  -'I»  ein  Satz  eher  Sokrates  als  Kenophon  zuzutrauen 
ist  "I'  J.  bei  der  Anwendung  dieser  Regeln  mit  der  nöthigen 
Vorsicht  verfahren  ist,  werden  wir  noch  zu  untersuchen  haben; 
schon  jetzt  aber  muss  daran  erinnert  werden,  dass  noch  ein  wei- 
teres,  von  .1.  viel  zu  wenig  beachtetes  Hülfsmittel  zur  Prüfung  der 
senophontischen  Darstellung  in  ihrer  Vergleichung  mit  der  plato- 
nischen  liegt:  denn  so  weit  diese  beiden  Sokratiker  in  ihren  Aus- 

u  übereinstimmen,  wird  man  ihnen  doch  wühl  Glauben  schen- 
ken müssen. 

J.  bespricht  nun  in  dem  vorliegenden  Bande  nach  den  ange- 

inen  Gesichtspunkten  A.  „die  religiösen  Anschauungen",  B.  „die 
Individual.'thik"  des  Sokr.;  jene  S.  69  — 170.  547  —  554,  diese 
8.  171—545.  Den  ersten  Abschnitt  eröffnet  S.  70 — 89  eine  Er- 
iber  das  Dämonium,  aus  der  sich  aber  schliesslich,  wenn 
wir  in  Kenophons  Aussagen  oicht  mehr  hineinlegen  als  darin  steht, 
doch   nichts   «  ergibt,  als  dass  dieser  Schriftsteller,  der  frei- 

lich aui  Vorzeichen  und  Wahrsagerei   übermässig   viel   hielt .  auch 
den   Weissagungsglauben  seines   I. ehreis  seinem    eigenen   vielleicht 
su   nahe  gerückt,    ihm   vielleicht   (denn  beweisen   lässl   es 
da  und  dort  (wie  IV.  7.  10  oder  11,6,8)  eine  Aeusse- 


1Q4  E-  Zeller, 

rang  in  den  Mund  gelegt  hat,   die  er  so  nicht    gethan  haue.     Da 
aber  Sokrates    unstreitig    an    Mantik    geglaubt,    den    Aussprüchen 

des   delphischen    Orakels    hohen   Werth    beigelegt,    ausser    seinem 
Dämonium    auch    nach    Plato's    Zeugniss    (Apol.   33  (')    Offenba- 
rungen   aller   Art    zu    erhalten    gemeint   hat,    kann    es  sich    hier 
jedenfalls  nur  um  einen   unwesentlichen  Gradunterschied   handeln. 
Mem.  I,  1,  2   hat  J.  (S.  72)  missverstanden:    die    Stelle   bezieht 
sich,  wie  das  SisTeöpuXtojTO  77.0  zeigt,  nicht  auf  Opferschau  u.  s.  w.; 
sondern  eben  auf  das  Dämonium;  Arist.  Fr.  4  (1)  bei  Plut.  adv. 
Col.  20,  2,    woran  J.  S.  80  erinnert,    wiederholt  nur,   was  Phädr. 
229  E  steht,  und  man  kann  fragen,  ob  A.   dieses  in  eigenem  Na- 
men gesagt  oder  als  eine   platonische   Aussage   über  Sokrates  an- 
geführt   hatte.      Aber  Plato's    Zusammentreffen    mit    Mem.  IV,  2, 
24  ff.  beweist,   dass  sich  Sokrates  wirklich  für  die  Notwendigkeit 
der  Selbsterkenntniss   auf   den    delphischeu  Spruch  berufen   hatte. 
Dass  die  Grundsätze,  welche  Sokrates  in  Betreff  der  Frömmig- 
keit und  des  Kultus  Mem.  I,  1,  16.  3,  1-3.  IV,  6,  2—4  ausspricht, 
nur  von   ihm   selbst,   nicht   von  Xenophon   herrühren    können,  er- 
kennt   J.   (S.  89  — 106)    an    und  bestätigt    es  durch    erschöpfende 
Nachweise    über   Xenophon's    Auffassung    und    Behandlung    dieser 
Dinge.     Dass  aber  das,   was  wir  Mem.  I,  4,  10.  13.  18.   II,  1,  28. 
III,  8,  10.   IV,  3,  13.  16.  17  lesen,    nicht  sokratisch,    sondern  nur 
xenophontisch  sein   könne  (S.  97),    hat  er  nicht  erwiesen.     IV,  6, 
2 — 4  die  v6jj.ijj.oc  irepi  xouc  ftsobs  auf  die  Ritualien  zu  beschränken, 
gibt  der  Ausdruck  hier  so  wenig,  wie  etwa  bei  Plato  Krito  53  C. 
Gore.  504  D  und  in   vielen   andern  Stellen   ein  Recht:    und  wenn 
es  J.   S.  103  zum  Anstoss  gereicht,    dass  Xen.  Mem.  I,  1,  17  So- 
krates' Verhalten  im  Arginusenprocess  als  Beweis  seiner  Eidestreue 
und  Frömmigkeit  anführt,  hätte  er  ebensogut  Plato  darüber  tadeln 
können,    dass    sein    Sokrates    Apol.   35  C  die  Heliasten    an    ihren 
Richtereid  erinnert.     Wem  es  mit  dem  Glauben   an  die  Götter  so 
ernst  ist  wie  Sokrates,   für  den  hat  der  Eid  eben  noch  seine  reli- 
giöse   Bedeutung.    —    In    der    hieran    sich    anschliessenden    aus- 
führlichen    Erörterung  über  das   „Wesen   und  Wirken  der  Götter" 
(S.  106—170)  zeigt  .1.  zunächst  mit  reichlichen  Belegen,  wie  Xeno- 
phon selbst  sich  zu  diesen  Fragen  stellt.    Er  findet  sodann  S.  11411"., 


deutsche  Litteratur  über  die  sokratische  etc.  Philosophie.  105 

das8  die  Grundidee  von  Mem.  IV,  1.  19  25  (über  die  ungeschrie- 
benen Gesetze  der  Götter)  /.war  sokratisch  sein  möge,  die  nähere 
Ausführung  aber  sicherlich  Xenophon  angehöre.  Was  ich  seiner 
Begründung  dieser  letzteren  Behauptung  entgegenzuhalten  hätte, 
kann   ich    hier    nicht    auseinandersetzen;    dass  Sokrates   nichl   der 

ste  war,  der  von  ungeschriebenen  Gesetzen  der  Götter  gesprochen 
hat,  hätte  J.  auch  mit  Arist.  Rhet.  1.  13.  15  belegen  können;   um 

mehr  wird  aber  die  Begründung  Moni.  a.a.O.  ihm  angehören, 
und  mag  uns   manches  darin   noch   sc   mangelhaft    erscheinen,    so 

<r[  daraus  doch  noch  lange  nicht,  dass  es  nichl  sokratisch  sein 
kann:  in  Wahrheil  ist  Kaufs  hölzerne  Definition  der  Ehe  im  letzten 
Jahrzehend  des  L8.  Jahrhunderts,  sind  Plato's  Vorschläge  über  die 
Züchtung  der  Staatsbürger  im  Mund  eines  so  idealen  Erotikers  viel 
auffallender  als  was  Sokrates  sagt,  um  die  Unzulässigkeit  der  Ehe 
zwischen  Eltern  und  Kindern  zu  beweisen.  Dieser  hält  sich  darin 
nur  an  die  griechische  Auffassung  der  Ehe:  ist  der  wesentliche 
Zweck  derselben  die  Erzeugung  von  Kindern,  so  wird  die  natür- 
lich-' Strafe  für  eine  unsittliche  ehliche  Verbindung  darin  bestehen, 
dass  dieser  Zweck  schlecht  erreicht  wird.  —  Der  Versuch  (S.  118 
bis  166),  in  den  theologischen  Erörterungen  I.  4.  IV.  3  Sokratiscb.es 
und  Xenophontisches  zu  scheiden,  bringt  zwar  manche  treffende 
Bemerkung  s  gen  die  neueren  Athetesen  dieser  Kapitel,  entbehrt 
aber  in  -einen  eigenen  Ergebnissen  nicht  selten  einer  genügenden 
Begründun  Was  xenophontisch  ist.  braucht  darum  nicht  unso- 
kratisch  zu  -ein.  es  muss  vielmehr  in  jedem  einzelnen  Fall  beson- 
ders untersuchl  werden,  wie  es  sich  damit  verhält.  Und  da  zeigl 
sich,  dass  /..  B.  die  Unterscheidung  zwischen  dem  Feuer  und  dem 
Licht  ..Um.  IV.  7.  7.  .1.  121)  auch  Plato  Tim.  45  B  nicht  fremd 
licht  hin.  Mem.  I.  1.  7  (.1.  129),  sondern  auch  Tim.  90  Ef. 
der  Geschlechtstrieb  auf  eine  göttliche  Einrichtung  zurückgeführt 
wird;  dass  die  Idee  einer  göttlichen  Natur  der  menschlichen  Seele. 
die  .1.  130  Sokrates  abspricht,  sogeläufig  sie  auch  der  griechischen 
war,  nichl  blos  für  Plato  die  höchste  Bedeutung  hatte. 
sondern  Phileb  29  \il.  von  Sokrates  auch  genau  so  begründet  wird. 
wie  .Mem.  I.  1.  8;  dass  endlich  die  ganze  teleologische  Naturerklä- 
ning  ch  Plato  als  der  allein  wahren  huldigt,  sich  als  ein 


106  E.  Zeller, 

meinsamer  Besitz  der  sokratischen  Schule  darstellt,  und  desshalb  in 

ihren  leitenden  Gedanken  nur  von  dem  Stifter  dieser  Schule,  nicht 
(mit  J.  123 ff.  147)  von  einem  Xenophon  hergeleitet  werden  kann, 
vollends  wenn  man  anerkennen  muss,  dass  dieser  (wie  J.  1471V. 
gegen  Dümmler  nachweist)  auch  unter  den  Zeitgenossen  des  So- 
krates  keinen  nennenswerthen  Vorgänger  auf  diesem  Wege  gehabt 
hätte.  Aus  ähnlichen  Gründen  ist  es  verfehlt,  wenn  J.  die  Unter- 
scheidung des  Weltbildners  von  den  übrigen  Göttern,  Mein.  IV,  3, 
13,  welche  ja  gleichfalls  bei  Plato  wiederkehrt  und  welche  von  J. 
selbst  S.  132  als  sokratisch  anerkannt  war,  nachher  (S.  136f.)  wied<  r 
für  xenophontisch  erklärt.  Dümmler's  Behauptung,  dass  das  be- 
rühmte Wort  über  die  Bedürfnisslosigkeit  I,  6,  10  von  Antisthenes 
entlehnt  sei,  wiederholt  J.  166 f.  ohne  etwas  neues  dafür  beizu- 
bringen; ob  auch  Plato  den  Satz  (Gorg.  492  E),  dass  die  Bedürf- 
nisslosen glückselig  seien,  von  dem  Cyniker  hat,  sagt  er  uns  nicht. 
S.  547  ff.  sucht  J.  unter  Beschränkung  früherer  Ergebnisse  darzu- 
thun,  dass  auch  in  Mein.  I,  4.  IV,  3  manches  von  Antisthenes 
herrühre,  und  ebenso  der  Mythus  des  Protagoras  ihm  angehöre; 
seine  Begründung  dieser  Annahmen  ist  aber  (wie  hier  freilich  nicht 
näher  nachgewiesen  werden  kann)  sehr  ungenügend  ausgefallen, 
sie  ist  überwiegend  ein  Rechnen  mit  unbekannten  Grössen,  und  be- 
weist u.  a.  den  antisthenischen  Ursprung  des  Satzes  von  der  gött- 
lichen Natur  der  Seele  daraus,  dass  Plato  diesen  Satz  Phädr.  230A 
in  einer  Stelle  ausspricht,  von  der  J.  vermuthet,  er  polemisire 
darin  gegen  Antisthenes.  Dass  Plato  Rep.  II,  364  C.  Hesiod  "E.  x. 
'H.  (i.  285f.  „als  ein  pädagogisch  gefährliches  Lügenwort"  anführe 
(J.  168),  ist  nicht  richtig.  PI.  erwähnt,  dass  die  Gegner  jenes  Wort 
für  sich  verwenden,  aber  er  deutet  mit  nichts  an,  dass  sie  ein  Recht 
dazu  haben,  und  er  selbst  ist  ja  mit  Hesiod  ganz  einverstanden, 
denn  dass  die  wahre  Tugend  nicht  bei  der  grossen  Masse  zu  suchen 
sei,  und  dass  ihr  Erwerb  Mühe  koste,  sagt  er  oft  genug.  —  Den 
zweiten  Theil  unseres  Bandes  eröffnet  S.  171—202  ein  Abschnitt, 
worin  des  Breiteren  ausgeführt  wird,  dass  die  sokratische  Philoso- 
phie Rationalismus,  dass  sie  im  besondern  „attische  Geistesphilo- 
sophie", und  dass  sie  die  historisch  erste  Form  der  Geistesphilo- 
sophie sei.     Im  einzelnen  wäre  auch  hier,  neben  vielem  richtigen, 


deutsche  Litteratur  über  die  sokratische  etc.  Philosophie.  107 

meisl  aber  nichl  neuen,  dieses  und  jenes  zu  beanstanden.  Nichl 
blos  bei  Xenophon  (bei  dem  diess  J.  177  ein  „ Witzeln"  nennt!) 
sondern  auch  bei  Plato  (Apol.  36  C.  Gorg.  521  D)  versichert  So- 
krates, dass  er  durch  sittlich-politische  Erziehung  seiner  Mitbürger 
der  Stadt  mehr  zu  nützen  glaube,  als  wenn  er  Belbsl  Politik  triebe. 
Der  Versuch  Protagoras  trotz  dem  tox'vtcuv  j(prj|xaxa)v  jxetpov  avfrpojitos 
and  Gorgias  trotz  seiner  Tugendlehre  von  den  jüngeren  Sophisten 
desshalb  zu  trennen  (bezw.  jene  Lehren  ihrer  späteren  Zeil  zuzu- 
weisen), weil  die  anthropocentrische  Betrachtungsweise  erst  Athen 
and  dem  mittleren  Griechenland  angehöre  (J.  186f.),  ist  ein  ab- 
schreckendes Beispiel  apriorischer  Geschichtsconstruction;  und  ebenso 
verfehl!  isl  die  Behauptung  (J.  198),  dass  die  merkwürdige  Aeusse- 
rung  über  Tragödie  und  Komödie  am  Schluss  des  platonischen  Gast- 
mahls  ..a  priori  dem  Sokrates  zugesprochen  werden  könne".  — 
-  202  —312  bespricht  .1.  die  bekannten  Aeusserungen  der  aristo- 
telischen Klinken  über  die  Timendlehre  des  Sokrates  und  ihr  Ver- 
hältniss  zu  Kenophon.  Aber  so  sorgfältig  er  hiebei  in  alles  ein- 
zelne eingeht,  so  vielen  Bedenken  lassen  doch  seine  Ausführungen 
noch  Kaum.      Bei  der  Frage  nach  den  Quellen,   denen  Aristoteles 

le  Kennt niss  der  sokratischen  Philosophie  verdankt,  durfte  er 
sich  weder  auf  Khet.  1-417  b  1  stützen,  wo  mit  dein  Aeschines  allem 
aach  nicht  (wie  er  S.  206  mit  Andern  annimmt)  der  Sokratiker 
sondern  der  Redner  gemeint  ist,  noch  (S.  204)  auf  Khet.  1398  b  31, 
das  mit  der  „historischen  Kritik  über  Sokrates"  absolut  nichts  zu 
thun  hat.  Dagegen  hätte  er  die  Quelle  für  soph.  el.  183  b  7  (J.  207) 
im    Tb  L50C    linden    können,    für    Et h.   1 145  b  21 11".  (J.  237) 

Prot  352  B  l.  357  C,  für  Eth.  111G  b  2  IV.  Eud.  122»)  a  15  (von  J.329 
völlig  missverstanden)  Prot.  349  E  f.  Neben  Aristoteles  und  Eude- 
mus  auch  die  grosse  Moral  als  selbständigen  Zeugen  zu  behandeln 
hatte  .1.  kein  Recht;  diese  erweist  sich  vielmehr  in  ihren  Aussagen 
aber  Sokrates  wie  in  allem  andern  lediglich  als  eine  überarbeitende 

mpilation  aus  jenen  beiden,   und  wo  sie  aber  dieselben  hinaus- 
sind ihre  Aussagen  ohne  allen  Werth  und  dürfen  nicht  (wie 
von  .1.  S.214.  218.  222f.  243f.)  zur  stütze  geschichtlicher  Beweis- 
führung verwendel  werden.    Bei  der  Vergleichung  der  aristotelischen 
und  der  xenophon  tischen  Angaben  über  Sokrates'  Tugendlehre  räumt 


108  E.  Zeller, 

J.  (S.  207)  zwar  ein,  dass  die  Zurückführung  der  Tugend  auf  das 
Wissen  oder  die  Weisheit  (welche  beide  auch  Euthyd.  279  B  ff.  als 
gleichbedeutend  gebraucht  werden)  und  der  Satz  von  der  Unüber- 
windlichkeit des  Wissens  auch  Xen.  (III,  9,  4f.)  bekannt  ist;  um  so 
unversöhnlicher  findet  er  dagegen   den  Widerspruch  zwischen  ihm 
und  Aristoteles  in  Betreff  der  dxpaoia,  deren  psychologische  Möglich- 
keit Sokrates  nach  Aristoteles  leugnete,  während  er  bei  Xenophon 
1,5,4  die  frptpateta  die  Grundlage  der  Tugend  nennt  und  IV,  5  die 
Verderblichkeit  der  dxpaoia  ausführlich  darthut.    Allein  Aristoteles 
sagt  Eth.  VII,  3.  1145  b  21  nicht,  dass  Sokrates  die  Möglichkeit  der 
Akrasie  direkt   und  ausdrücklich  bestritten,   sondern  nur,  dass  er 
sie  durch   die  Behauptung,    das  Wissen  könne  nicht  von  der  Be- 
gierde überwältigt  werden,  thatsächlich   aufgehoben   habe;    erst 
die  grosse  Moral   macht  daraus  1200  b  25:    oux  ecpirj  dxpaotav  slvai. 
Folgt  aber  auch  aus  jener  Behauptung,  dass  Sokrates   das  für  un- 
möglich erklärte,  was  Aristoteles  dxpaoia  nennt,  eine  neben  der 
besseren   Einsicht  hergehende    und    ihr   widerstreitende   Herrschaft 
der  Begierden    über  den  Menschen    (was   aber  etwas  anderes   ist. 
als  das  dvatpstv  des  rcafros,  womit  es  die  grosse  Moral  1182  a  20, 
das  Aufheben  störender  Mächte  neben  dem  denkenden  Geist,   wo- 
mit es  J.  233  verwechselt),  so  folgt  doch  keineswegs,  dass  Sokrates 
auch  die  Thatsache    bestreiten   musste,    dass    viele  Menschen  von 
ihren  Begierden  beherrscht  werden,  und  dass  er  diese  Erscheinung 
nicht  dem  allgemeinen  Sprachgebrauch  gemäss  als  dxpaoia  bezeich- 
nen konnte;  erklären  konnte  er  sie  sich  freilich,  wenn  er  ihre  Er- 
klärung überhaupt  versucht  hat,    nicht   aus  einer  üeberwältigung 
der   Einsicht    durch    die    Begierde,    sondern    nur    aus  dem  Fehlen 
«lieser  Einsicht,  aus  Unwissenheit.      Jene  behauptet   aber  Sokrates 
auch  bei  Xenophon  nicht,    selbst  Mem.  III,  9,  6  sagt  er  nur,    die 
Menschen  lassen  sich  oft  zum  Schlechten  verführen  auch  wenn  sie 
eine  Empfindung  davon  haben  (aio&avofievoo?),  was  gut  und  schlecht 
ist,  "aber  er  sagt  nicht,    dass  es  ihnen    begegne,    wenn    sie  diess 
wissen.     Das  letztere  erklärt  er  vielmehr  III,  9,4  für  unmöglich, 
und   wenn   Jemand    seine   Begierden    nicht    zu   beherrschen   weiss, 
schliesst  er  daraus  mit  Plato  (Prot.  357  E),  dass  er  ein  dooepo?  sei. 
Der   Widerspruch   zwischen   Xenophon    und    Aristoteles    zeigt    sich 


hie  deutsche  Litteratur  über  die  sokratische  etc.  Philosophie.  lo'.i 

daher   weil    anerheblicher  als  .1.  es  darstellt.      Xenophon   hai   den 

sok ratischen  Standpunkt,    namentlich   im  Ausdruck,    nicht    im r 

streng  festgehalten,  aber  er  hai  ihm  nirgends  direkl  widersprochen. 
Was  .!.  S.  230  über  eine  Aeusserung  von  mir  Ph.  d.  Gr.  IIa,  164 

;.  ist  ein  auffallendes  Missverständniss:  es  handelt  sich  dorl 
nicht  um  die  Willensfreiheit,  sondern  um  die  innen'  Unabhängig 
keil  des  Menschen.  Dass  erst  die  Schüler  des  Sokrates  diesen 
„etbisirt"  und  zum  sittlichen  Reformator  gemacht  haben,  Sokrates 
„nicht  Ethiker  sondern  Dialektiker"  sei  (J.  253 ff.),  dass  sich 
„ein  bewusster  Beruf  zu  sittlicher  Erziehung  und  Charakterbildung" 
bei  ihm  „mit  der  von  Aristoteles  dargestellten  Sokratik  nicht  ver- 
einigen lasse"  (266),  dass  (wie  später,  S.  476f.  u.  ö.  ausgeführt  wird) 
nur  Xenophon  seinem  Lehrer  Ermahnungen  zur  Tugend  beilege, 
diesem  selbst  eine  protreptische  Tendenz  fremd  sei,  sind  Behaup- 
tungen, um  deren  Begründung  sich  zwar  J.  eifrig  bemüht,  die  aber 
sammt  dieser  Begründung  doch  eher  geeignet  sind,  sein  ganzes 
Verfahren  ad  absurdum  zu  führen.  .T.  kennt  natürlich  alles  das 
auch,  was  man  seinen  Annahmen  entgegenhalten  kann:  alier  er  ist 

befangen   von    der  Vorstellung,    die   er   sich  über  Sokrates  als 
blossen   Dialektiker  gemacht  hat,    dass  er  alles  ausser  Acht   lässt, 
umdeutet  oder  als  unglaubwürdig  beseitigt,  was  ihn  nöthigen  würde, 
sie  zu   berichtigen:    die   Erklärungen  Plato's   in   der  Apologie,    im 
Euthydem,  im  Ladies,  im  Gastmahl,  die  für  sich  allein  ausreichten. 
wie  die  Schilderung  Xenophon's,  die  aristotelische  Aussage 
Bi  .runder   der  Ethik    wie   das  Zeugniss   der  Geschichte, 
•(tätigt.    Er  fragt  auch  nicht,  was  jene  sokratischen  Schüler. 
Meister  erst  ethisirt   haben  sollen,   was  vollends  die  un- 
philosophischen Naturen,  an  denen  es  unter  den  Freunden  des  So- 
krates nicht  fehlte,    zu    ihm  hingezogen   haben  soll,    wenn  er  nur 
dialektische  Theoretiker  war,   zu  dem   er  ihn  machen  möchte. 
Er   sagt    uns   nicht,    was   diesen   trockenen    Dialektiker   bestimmen 
konnte,  rtatt  der  Physik   -ich  au!'  die  ethischen  Untersuchungen  zu 
werfen,    die   doch   auch    er   ihm   zuschreibt.      Er   meistert    die  <ie- 
Bchichte,   statt  sie  zu  begreifen,    mit  derselben  Gewaltsamkeit   wie 

i  Antipode  Krohn  sie  gemeisterl  hatte,  nur  dass  dieser  den  Phi- 
losophen, er  den  Ethiker  aus  dem  Bilde  des  altischen  Weisen  aus- 


HO  E-  Zeller, 

tilgt:    und  wer    es    so  macht,    mit   dem   ist    es  schwer  sich  über 
historische  Fragen  zu  verständigen. 

Der  Raum  fehlt  mir,  um  noch  weiter  in's  Einzelne  einzugehen 
und  um  über  den  Rest  unseres  Bandes  auch  nur  so  ausführlich 
zu  berichten,  wie  bisher.  J.  behandelt  in  demselben  die  Darstel- 
lung der  sokratischen  „Individualethik"  in  den  Memorabilien,  und 
zwar  S.  313 — 449  die  Tugendlehre,  450—545  die  Wirksamkeit  des 
Sokrates.  In  dem  ersten  von  diesen  Abschnitten  geht  er  vor  allem 
darauf  aus,  diejenigen  Stellen,  welche  die  Tugend  streng  auf's 
Wissen  beschränken,  von  denen  zu  scheiden,  welche  „eine  Wil- 
lenstugend mit  den  Principien  der  Mässigung,  Selbstbeherrschung, 
Uebung  u.  dgl.  verkünden";  nur  jene  sollen  den  Standpunkt  des 
Sokrates,  diese  nur  den  seines  unphilosophischen  Schülers  wieder- 
geben. Aber  wenn  auch  der  letztere  ohne  Zweifel  in  den  Reden 
des  xenophontischen  Sokrates  sich  nicht  verleugnet,  so  darf  man 
doch  andererseits  (wie  schon  Ph.  d.  Gr.  IIa,  163 f.  bemerkt  und  von 
J.  230 ff.  nicht  widerlegt  ist)  nicht  voraussetzen,  dass  Sokrates  in 
seinen  Gesprächen  immer  mit  der  gleichen  wissenschaftlichen 
Strenge  verfahren  sei,  dass  er  in  jenen  protreptischen  Reden,  die 
ihm  J.  zwar  abstreitet,  in  denen  ihn  aber  Xenophon  und  Plato 
und  selbst  Halbgegner  wie  der  Verfasser  des  Klitophon  einstimmig 
als  Meister  anerkennen,  in  jenen  Unterhaltungen,  worin  er  die 
Menschen  zwang,  sich  über  ihren  moralischen  Zustand  Rechen- 
schaft zu  geben  (Plato  Apol.  29  D  ff .  31  B.  Lach.  187  E.  Symp. 
215  E  ff.),  immer  nur  den  Satz,  die  Tugend  bestehe  im  Wissen,  mit 
lehrhafter  Einförmigkeit  wiederholt  habe.  Gieng  er  aber  auf  die 
persönlichen  Zustände  und  die  praktischen  Bedürfnisse  der  Men- 
schen ein,  so  musste  er  sich  auch  der  ihnen  verständlichen  Begrün' 
bedienen,  wollte  er  sie  dazu  bringen,  tyoyr^  £7ri[xsXsTai)ctt ,  aps-Tp 
£-i[xsXsi3i)ott  (Apol.  a/a.  0.  Euthyd.  275  A),  so  konnte  er  sich  nicht 
mit  einem  Tugendwissen  ohne  Tugendübung  begnügen.  Aber  er 
rechnet  ja  (auch  bei  Plato  Prot.  349  E  f.  Arist.  Eth.  1116  b  2  ff.) 
zum  „Wissen"  selbst  solche  Fertigkeiten,  die  ganz  und  gar  auf 
Uebung  beruhen;  was  hätte  ihn  da  nöthigen  sollen,  das  Wissen, 
in  dem  eine  Tugend  besteht,  für  etwas  zu  halten,  das  ohne  jede 
eigene  Erfahrung    über    die  Natur    und    den  Werth   derselben  ge- 


Die  deutsche  Litteratur  aber  die  sokratische  etc.  Philosophie.  1 1  | 

wonnen  werden  könne?  Nach  dem  gleichen  Gesichtspunkt,  wie  die 
Lehre  des  Sokrates,  wird  von  J.  folgerichtig  auch  seine  Wirksam- 
keil behandeil  und  Xenophon's  Berichten  darüber  nur  so  weil 
Glauben  geschenkt,  als  sie  mit  J.'s  Voraussetzungen  übereinstim- 
men. Mit  dieser  Kritik  Kenophon's  verbindel  aber  .1.  uoch  eine 
Fülle  von  weiteren,  näher  oder  entfernter  mit  ihr  zusammenhängen- 
den Hypothesen,  dir  ihm  sein.'  fruchtbare  Phantasie  an  die  Hand 
gibt,  mit  deren  Begründung  es  aber  theilweise  recht  schwach  be- 
stelll  i-t.  „Plato  bekämpft  im  Protagoras  wesentlich  seinen  (. 
ner  Antisthenes" ;  von  den  Gründen,  mil  denen  diess  S.  357  ff.  dar- 

than  wird,  ist  keiner  überzeugend,  mehr  als  einer  ähnlichen  Ka- 
libers, wie  dei-  scharfsinnige  Schluss  (S.  :'>.">*.  48<>),  dass  Protagoras 
den  Antisthenes  bedeute,  weil  dieser  von  Plato  im  Sophisten  ö^t- 
scholten  wird,  und  Protagoras  in  dem  Gespräch  dieses  Na- 
qs   ein   älterer  Mann    isl  (der  freilich   nach  Meno  '.»1  E  schon  in 

nein  .">»>.  Jahr  als  Lehrer  aufgetreten,  also  nichts  weniger  als 
war).  .).  selbst  behandelt  seine  Hypothese  im  weiteren 
(z.  B.  S.  189.  445 f.)  natürlich  wie  eine  Thatsache,  mit  der  man 
wieder  andere  Thateachen  darthun  kann;  wie  er  überhaupt  stark 
in  der  Kunst  ist.  ein  Unbekanntes  mit  einem  andern  zu  beweisen. 
Derselbe  Antisthenes,  der  im  Protagoras  bekämpft  wird,  soll  aber 
(S.  480f.  503)  über  Plato  in  der  ersten  Zeit  nach  dem  Tode  des 
Sokrates  (wo  dieser  indessen  in  Megara  bei  Euklid  war)  eine  solche 
Gewalt  ausgeübt  haben,  dass  er  unter  seinem  Binfluss  in  der  Apo- 
logie seinen  Lehrer  zu  dem  Protreptiker  machte,  den  er  in  ihm 
kennen  zu  lernen  nach  .1.  während  eines  achtjährigen  vertrauten 
Verkehrs  keine  Gelegenheit  gehabt  hatte;  ein  schlagender  Beweis 
dafür  Ist  es  S  I81f.),  dass  der  Klitophon  und  Dio  Chrysostomos 
sich  mit  der  (natürlich  von  ihnen  benutzten)  Apologie  berühren. 
Noch  unbedingter  i-t  Plato  (S.  507.  495 flf.)  im  I  Alcibiades  (den 
.1.  schliesslich,  nach  starkem  Schwanken,  für  acht  nimmt)  dem 
Hinllu-  antisthenes  „unterlegen".    Im  Klitophon  Freilich  (auch 

dieser  -"II  nach  s.  182 ff.  507  ächt  sein,  und  was  Klitophon  an  So- 
krates tadelt,  eigentlich  von  Plato  dem  Antisthenes  vorgehalten, 
d.h.  es  -^11  von  Plato  auf  Sokrates  geschlagen  werden  um  An- 
tisthenes zu  treffen!)  und  im  Euthydem  wendet   sieh  Plato  ebenso 


112  E.  Zeller,  Die  deutsche  Litteratur  etc. 

wie  im  Protagoras  wieder  gegen  seinen  Mentor,  und  auch  im  Char- 
mides  soll  (S.  488  ff.)  sowohl  Charmides  als  Kritias  (die  sich  beide 
zu  dieser  Kelle  gleich  schlecht  eigneten)  den  Antisthenes  vertreten, 
und  wenn  sich  eine  Stelle  der  Memorabilien  mit  einer  solchen  der 
Cyropädie  berührt,  lässt  sich  diese  Uebereinstimmung  (S.  518i'.)  nur 
daraus  erklären,  dass  Antisthenes  in  beiden  benützt  ist.  Eine  so- 
phistische Eristik  hat  es  nicht  gegeben:  Demokrit's  Klage  darüber 
geht  auf  Sokratiker  (S.  370) ;  von  den  zwei  Helden  des  platoni- 
schen Euthydem  ist  Dionysodor  eine  erdichtete  Persönlichkeit.  Eu- 
thydem der  Sokratiker,  der  bei  Xenophon  so  oft  auftritt,  von  Plato 
nur  Symp.  "222  B  genannt  wird,  der  aber  (J.  weiss  diess)  ein  Lieb- 
lingsschüler des  Antisthenes  war  und  in  seinem  Protreptikos  die 
leitende  Rolle  spielte,  und  aus  diesem  stammen  auch  die  eristi- 
schen  Sätze  und  Schlüsse,  die  Plato  und  Aristoteles  von  Euthydem 
anführen  (S.  370ff. ;  ebd.  eine  ganz  unbegreifliche  Behauptung  über 
die  angebliche  Seltenheit  des  Namens  Euthydemos).  Plato  soll 
(S.  416f.  vgl.  390f.)  im  Euthydem  gegen  die  Protreptik  des  An- 
tisthenes polemisiren.  während  Xen.  Mein.  IV,  2  diese  wieder- 
hole; in  Wahrheit  stimmt  er  (vgl.  Arch.  V,  446 f.)  mit  Xenophon 
in  der  Sache  durchaus  überein,  und  setzt  seine  Protreptik  278  D. 
282  D  nicht  einer  solchen  entgegen,  die  so,  Avie  er  und  der  xeno- 
phontische  Sokrates,  zum  Tugend-  und  Weisheitsstreben  ermuntert, 
sondern  den  unfruchtbaren  Spitzfindigkeiten  der  beiden  Sophisten. 
Schliesslich  mag  noch  erwähnt  werden,  dass  J.  S.  398 ff.  sich  be- 
müht, auch  die  oi<7./i;sic  ^ötxat  einem  Antistheneer  zuzuweisen: 
ich  glaube  aber  nicht,  dass  er  viele  davon  überzeugen  wird. 


IL 

La  Storia  della  filosofia  moderna  in  ltalia. 

1888—91. 

Pietro  Ragnisco  —  Nicoletto  Vernia,  studi  storici  nella  seconda 
meta  de]  secolo  decimoquinto  (atti  del  R.  Istituto  Veneto 
di  scienze  lettere  ed  arti  tom.  II  scric  VII)  Venezia  Anto- 
nelli  1891. 

Documenti  inediti  e  rari  intorno  alla  vita  ed  agli  scritti  di 
Nicoletto  Vernia  e  di  Elia  del  Medigo  (atti  e  memorie 
della  R.  Accademia  di  scienze  lettere  ed  arti  in  Padova 
vol.  7  Disp.  :'.)  Padova  Randi  1891. 

Qaesti  due  scritti  importanti  si   riferiscono  principalmente  ad 

un    prol re  Chietino,    che  per  trentatre  anni  tonne  la  cattedra 

di   fisica   oell'   univereita  Padovana,    e  crebbe    in    tanta    fama    da 

meritarei  la  cittadinanza  di  Vicenza,   dove  possedeva  casa  e  ville. 

Avea  Dome  Nicoletto  Veruia  (il  diminutivo  e  a  cagione  della  pic- 

cola  statai  -    sondo  i  giusti  calcoli  del  Ragnisco  dove  entrare 

iK'll"  insegnamento  >in  dal  14G5  come  supplente  di  Gaetano  Thiene. 

im  altro  |        38ore   che   dopo  quaranta  anni  d'  inseguamentu   mori 

ael  1466     9  .       la  tradizione  Averroistica,  che  da  Pietro  D'Abano 

in  poi  ii"ii  tu  mai    interrotta   oell'  Universita  Padovana,  e  il  vc- 

■  "  Barozzi  dice  di  lui,  che  disputando  e  insegnando  sull'  unitä 

dell'  intelletto,  fu  principale  causa  che  questo  fatale  errore  si  diffon- 

per   tuiia  ltalia.     <ili  scritti  <lel  Vernia  sono  ben  pochi.     II 

trattato    suo   De  intellectu    citato    dal   Nifo    non   esiste    piü.     I 

mmentarii,    che  avea   stesi   alla   Fisica   e  agli  altri  libri  naturali 

di  Ariatotele,  oon  !i   pubblicö,  nun  essendit<r|i  bastatu  il  tempo  per 

l'hil (itiie.      VII.  8 


114  Feiice  Tocco, 

correggerli  quando,  come  ora  diremo,  si  ritrasse  dall'  Averroismo. 
Non  restano  adunque  se  non  sei  dissertazioui.  La  prima  porta 
la  data  del  1480  ed  e:  quaestio  an  ens  mobile  sit  totius 
philosophiae  naturalis  subiectum;  la  seconda  riguarda  la  par- 
tizione  della  filosofia:  la  terza  utrum  medicina  jure  civili  sit 
nobilior,  entrambe  del  1482;  la  quarta  de  gravibus  et  laevi- 
bus,  d'  incerta  data  ma  senza  dubbio  anteriore  all1  altra,  che  ha 
per  titolo:  quaestio  an  dentur  universalia  realia,  che  e 
dunque  la  quinta,  compiuta  il  Giugno  1492;  la  sesta  infine  De 
unitate  intellectus  del  18  Settembre  1492,  e  la  piü  nota,  come 
quella  in  cui  1'  autore  sconfessa  le  sue  opinioni  Averroistiche.  Tra 
le  ultime  due  dissertazioui  non  corrono  piü  di  tre  mesi,  ma  la 
contradizione  non  potrebbe  essere  maggiore.  Nella  quistione  degli 
universali  accanto  ad  Aristotele  mette,  come  sempre,  il  fido  commen- 
tatore  Averroe,  e  quelli,  che  dall'  uno  e  dall'  altro  si  dipartono, 
fieramente  combatte.  Per  lui  come  per  Averroe,  l'universale  iu 
re  esiste,  ed  e  appunto  quell'  inchoatio  formae,  quel  germe 
specifico,  che  si  occulta  nella  materia  e  da  lei  stessa  e  prodotto. 
Invece  nel  De  unitate  intellectus  combatte  la  dottrina  Aver- 
roistica  dell'  Iutelletto  uuico;  ammette  come  vera  teoria  Aristo- 
telica  non  la  produzione  delle  forme  dal  seno  della  materia,  ma 
la  creazione  ex  nihilo;  pone  tante  anime  individuali  quanti 
souo  i  corpi  che  inforniano,  e  ciascuna  d'esse  crede  creata  da  Dio 
ed  infusa  nell'atto  della  generazione  nel  corpo.  La  ragione  di 
questa  rapida  mutazione  il  Ragnisco  la  trova  nell'editto,  che  il 
vescovo  Barozzi  pubblicö  il  4.  Maggio  1489  contro  la  dottrina  della 
unitä  dell'Intelletto,  vietando  sotto  pena  di  scomunica  di  sostenerla 
e  difenderla.  Veramente  anche  dopo  questo  editto  il  Vernia  se- 
guitö  a  pensare  e  scrivere  nel  senso  Averroistico,  come  lo  prova 
la  quaestio  de  universali bus;  ma  probabilmente  quest'  ultima 
pubblicazione  fu  quella,  che  avea  spinto  il  vescovo  ad  insistere 
presso  il  Vernia  per  la  ritrattazione  delle  sue  dottrine  (me  monere 
et  hortari  non  destitit)  e  a  minacciarlo  in  caso  d'inobbedienza 
di  applicargli  immediatamente  la  pena  della  scomunica,  a  termini 
dell'editto  (si  non  obtemperarem,  flagitium  non  mediocre  pu- 
tavi).     Oltreche  egli  sperava  un  canonicato  dal    nuovo    patriarca 


La  Storia  della  Glosofia  moderna  in  ftalia.    1888—91.  11,") 

Grimani,  che  dod  avrebbe  potuto  concederlo  a  chi  professasse  aper- 
tamente  l'incrednlita  Averroistica.  M;i  piii  che  tuttn.  .•ij.'Lriunir«»  u>. 
avrä  potuto  sul  suo  animo  la  difficolta  intrinseca  della  tesi  di 
Averroe.  Nicoletto,  a  confessione  dello  stesso  Ragnisco,  qod  fu 
maj  im  Averroiata  tatto  d'un  pezzo,  ma  cercö  Bempre  di  conciliare 
Averroi  con  Alberto  Magno.  Ma  che  la  eonciliazione  non  po- 
se  nun  apparente,  egli  stesso  nun  doveva  stentare  rnolto 
a  convincersene.  Coei  a  parer  mio  si  possono  risolvere  le  con- 
traddizioni  stridenti  del  testamento  stesso  de]  Vernia,  pubblicato 
dal  Elagnisco.  I vi  infatti  dopo  aver  detto:  Disputavi  et  tenui 
quod  opinio  unitatis  intellectus  Averrois  fuerit  opinio 
Aristotelis,  soggiunge:  Deum  testor  quod  nunquani  credidi 
tali  opinioni.  Intese  alle  lottere  queste  affermazioni  si  esclu- 
dono  a  vicenda  a  tal  segno  ehe  mal  si  compreiide  come  abbia 
potnto  scriverle  an  vecchio  venerando  sulF  orlo  della  tomba1)  in 
un  atto  solenne,  dove  non  aveva  nessun  interesse  di  nascondere 
la  verita,  Ma  se  in  quel  contrasto  di  espressioni  ei  adoperiamo 
a  I  .  il  ricordo  doloroso   di   lotte  coinbattute  nell'  intimo  pen- 

sii  po,  tutto  si  fa  chiaro.  Poiche  ben  si  comprende  come  il  Vernia, 
addetto  'pial  pubblico  insegnante  alla  scuola  Averroistica,  ne  difen- 
le  dottrine  non  meno  calorosamente  dei  suoi  predecessori, 
Ben:  -vre  a  pieno  convinto  della  verita  sua.  Di  qui  dubbii, 
incertezze  e  desiderio  di  mettersi  per  altre  vie,  che  doveano  per 
renne  riescire  al  Tomismo,  se  tanto  caso  faceva  egli  di  Alberto 
Magno,  il  quäle  boIo  in  punti  secondarii  dilferisce  dal  suo  grande 
diseepolo,  Tommaso  d'Aquino.  Sarebl)e  interessante  entrare  nei 
particolari  di  questa  pretesa  eonciliazione  tra  Averroe  ed  Alberto 
Magno,  principalmente  neUa  quistione  an  coelum  sit  anima- 
imii.  intorno  alla  quäle  il  Bagnisco  pubblica  dal  cod.  Marciano 
\  nei  I  lasse  \  I  n.  CXLIX  uno  scritto  di  Alessandro  Sermoneta, 
che  riproduce  le  argomentazioni  de!  Vernia  suo  maestro.  Ma  sn 
qoesta  pubblicazione  c'e  poco  da  fidare,  perche  l'cditore  ha  „cer- 
to    alla    meglio    di    aecomodare   lo   scritto  in  modo  che  si  possa 


')  II  testamento  ba  la  data  :>.  Agosto  140'.»  pochi  mesi  prima  della  morte 
del  I 

8* 


HG  Feiice  Tocco, 

trovare  il  senso,  perche  l'inchiostro  e  talmente  sbiadito,  che  in 
alcuni  luoghi  non  si  puö  leggere"  (Documenti  p.  21).  Dell'  esat- 
tezza  di  questa  restituzioue  io  non  posso  dir  nulla,  non  avendo 
sott"  occhi  il  manoscritto;  rna  certo  l'editore  avrebbe  fatto  meglio 
a  riprodurre  il  testo  quäl  e,  lasciando  pure  in  bianco  i  luoghi  sva- 
niti,  anziehe  raffazzonarlo  a  modo  suo  sulla  scorta  delle  citazioni. 
Nel  lavoro  del  Ragnisco  oltre  a  questo  studio  sul  Vernia  c7  e,  anche 
un  capitolo  importante  sui  Tomisti  e  gli  Scotisti  a  Padova,  e  due 
altri  su  Elia  del  Medigo,  un  ebreo  padovano,  maestro  di  Pico  della 
Mirandöla,  e  nei  documenti  e  un'  appendice,  dove  si  correggono 
gli  errori  di  Giulio  Dukas,  che  illustre-  un  manoscritto  di  Elia  del 
Medigo  sulla  Fisica  di  Aristotele  conservato  nel  N°.  6508  fondo 
latino  della  Nazionale  di  Parigi.  Giosef  del  Medico,  pronipote  di 
Elia,  in  alcuni  cenni  biografici  intorno  a  costui,  pubblicati  dal  Gei- 
ger, dice  che  fu  eletto  „arbitro  per  la  sua  sapienza  ed  acutezza 
tra  due  partiti  di  studenti  filosofi,  divisi  fra  loro,  i  quali  erano 
una  turba  di  molte  centinaia,  armati  di  spada,  pronti  a  combat- 
tersi,  perche  non  potevano  separarsi  Pud  Faltro  con  le  argomen- 
tazioni":  Nessun  altro  scrittore  conferma  questa  notizia,  la  quäle 
del  resto  e  cosi  vaga  da  permettere  moltissime  congetture.  II  Ra- 
gnisco, raecostando  insieme  molti  fatti,  crede  verisimile  che  il  dis- 
sidio  tra  gli  Scolari  patavini  abbia  avuto  luogo  per  le  discussioni  sulla 
unitä  delF  intelletto  tra  i  professori  di  Fisica  come  il  Vernia  e  il 
Nifo,  e  quelli  di  Metafisica  come  il  Trombetta.  II  dotto  ebreo,  che 
non  ostante  la  sua  religione,  era  da  tutti  rispettato  per  la  sua 
dottrina  e  le  sue  alte  relazioni,  sarä  stato  invitato  non  dalP  Uni- 
versita, ma  piuttosto  dal  Senate  a  intervenire  per  calmare  gli 
animi,  se  pure  non  si  sia  offerto  da  se  medesimo  a  dare  un  parere, 
che  dovea  mostrare  i  torti  e  le  ragioni  delle  due  parti.  Inno  a 
nuovi  documenti  non  oserei  dire  che  mi  paiano  molto  probabili 
codeste  ipotesi  per  quanto  fondate  su  fatti  veri  e  bene  accertati. 

Cicchitti  Suriani  Filippo.     I    Sopra  Raimondo   Sabunda  —  Teo- 
logo,  Filosofo  e  medico  del  secolo  XI.  Aquila  1889. 
II    Melchiorre  Cano   teologo   c  filosofo  del  secolo  XVI.  e  la  sua 
npposizione  al'  Aristotelismo  della  Scolastica.  Aquila  1890. 


La  Storia  della  filosofia  moderna  in  Italia.    1888    91.  117 

111  Ottavio  Colecchi  filosofo  e  matematico  abruzzese  e  i  pii- 
mordi  del  kantismo  in  Italia  —  Aquila  L890. 
II  primo  lavoro  >ul  Sabunda  »•  molto  all'rettato.  Anche  nella 
parte  <li  semplice  erudizione  occorre  qualche  errore,  che  era  ben 
facile  di  evitare.  Coai  l'Autore  dice  che  la  prima  edizione  della 
Theologia  Naturalis  e  de!  1496,  mentre  i!  Fabricio  giä  citava 
una  editione  s.  1.  de!  1487,  innanzi  alla  quäle  se  ne  dovrebbero 
contari  -  >ndo  lui.  ahn'  due  o  tre.  Süll'  ultra  opera  De  na- 
tura ei  obbligatione  hominis  dialogi  sive  Viola  animae, 
che  alcuni,  non  il  solo  Labanca,  credono  sia  im  rifacimento  della 
Theologia  naturalis  fatto  dallo  stesso  Raimondo,  ed  altri  invece, 
na  i  quali  il  Cicchitti,  l'attribuiscono  ad  im  frate  domenicano 
Pietro  Aurato.  ua-unwa.  come  su  tutti  i  punti  controversi ,  im 
maggiore  studio.  Solle  quaestiones  theologicae  disputatae, 
che  l'Autore  afferma  di  aver  trovate  in  im  codice  della  Vaticana, 
dopo  questo  breve  cenno,  non  torna  piu,  neanche  per  dirci  somma- 
riamente  il  contenuto  del  libro.  Ma  lasciando  pur  da  parte  queste 
minuzie,  l'esposizione  critica  della  Teologia  naturale  lascia  molto 
a  desiderare.  1/  Autore  si  perde  in  molte  digressioni  inutili. 
si  a  proposito  delT  argomento  del  Sabunda,  che  si  debba  credere 
quello  che  piu  giovi  all'  anima,  stima  opportuno  di  trattare 
dell'  atilitarismo  di  Carueade  e  del  Mill.  Nel  toccare  la  dottrina 
di  Raimondo  intorno  all'  amore  di  l)io  si  crede  obbligato  di  risalire 
al  Convito  platonico;  ma  quello  che  piu  importa  di  sapere,  cioe  in 
qua!  rapporto  stia  la  conoscenza  coli'  amore  di  Dio,  l'espositore 
qod  dice.  E  pure  era  oecessario  fermarsi  so  questo  punto  per 
deeidere  quanta  ragione  abbiano  aleuni  storici  della  filosofia  a 
mettere  il  Sabunda  tra  i  mistici.   In  luogo  di  esporci  le  idee  proprie 

Sabunda  intorno  alla  giustifieazione  dei   principali  dommi  del 
Cristianesimo,    e  al   rapporto   che  corre  tra  il  Libro  della   Natura 

ai'll"  della  Rivelazione,    l'Autore  fa   una  inutile  e  vertiginosa 

-     sui  padri  e  dottori  della  Chiesa,   mettendo  insieme   dottrine 

ed   Indirizzi  affatto  disparati.     In  rapporto   poi  alle  quistioni  filo- 

Bofiche,  \a!.-  ;,  dire  al  contrasto  fra  Realisti  e  Nominalisti,  che  pur 

juitava  al  tempo  del  Sabunda,   l'Autore  n lice  verbo,  e  mal 

si  saprebbe  indovinari   -        lesto  filosofo  debba  mettersi  tra  i  seguaci 


118  Feiice  Tocco, 

o  gli  avversarii  delF  Occaui.  Non  dico  nulla  del  posto  che  spetta 
al  Sabunda  nella  storia  della  Medicina.  II  uon  aver  creduto 
all'  Astrologia  e  alla  Demonologia  nel  tempo  iu  cui  parecchi  ci 
credcvano,  e  eerto  un  merito,  nia  non  basta  per  distingucre  il  Sa- 
bunda  dagli  altri,  che  prirna  e  dopo  di  lui,  non  ci  credevano 
del  pari. 

Nel  secondo  lavoro  su  Melchiorre  Cano  riconosco  ben  volentieri 
il  merito  delF  Autore  di  rivolgere  il  suo  studio  a  scrittori  ingiusta- 
meute  dimenticati.  Ma  pur  troppo  anche  in  questo  gli  accessori 
e  le  digressioni  vincono  rargomento  priucipale.  Fin  dal  prirno 
capitolo  in  luogo  di  esporre  il  modo  come  il  Cano  combatta  i  Ge- 
suiti,  cd  in  che  si  distingua  dagli  altri  polernisti,  fa  una  lunga  di- 
gressione  sui  Socini,  che  certamente  e  fuor  di  posto.  E  quando 
pare  che  piü  si  accosti  all'  argomento  suo,  e  allora  che  piu  sc  ne 
allontana.  Cosi  per  determinare  il  concetto,  che  il  Cano  si  forrnava 
dell'  autorita  papale  o  dei  suoi  rapporti  con  la  civile,  FAutore 
espone  succintamente  le  dottrine  del  Cusano.  col  quäle  il  Cano 
s'accorderebbe,  rna  della  dottrina  del  Cano  non  dice  niente  altro 
se  non  questo:  che  secondo  il  Döllinger  „S.  Tonimaso,  il  cardinal 
Gaetano  e  Melchiorre  Cano  sono  i  tre  principali  fondatori  della 
niiova  dottrina  intorno  all'  autorita  del  Papa:  aggiungendo  che  i 
luoghi  teologici  del  Cano  furono  sino  al  Bellarmino  la  fönte  prin- 
cipale,  alla  quäle  attinsero  i  cattolici"  (p.  37).  Tutto  questo  e 
cosi  vago  e  indeterminato ,  che  ci  lascia  al  buio  sulle  opinioni 
proprio  del  Cano.  Ma  se  una  cosa  e  chiara,  e  che  egli  propenda, 
come  S.  Tommaso,  per  la  supremazia  del  Papa  incondizionata,  il 
che  c  proprio  il  contrario  di  quel  che  voleva  il  Cusano  nel  De 
concordantia,  dove  sosteneva  ad  oltranza  la  superiorita,  del  Con- 
cilio.  Anche  Fesposizione  dei  luoghi  teologici,  che  e  Popera  priu- 
cipale del  Cano,  lascia  molto  a  desiderare.  Vi  si  afferma  che  la 
Teologia  „propugnata  e  vagheggiata  dal  Cano,  potrebbe  dirsi  irenica 
o  conciliatrice" ;  ma  in  che  stia  questa  conciliazione,  e  quali  modi- 
iicazioni  abbia  apportato  il  Cano  alle  dottrine  di  S.  Tommaso  per 
renderle  adatte  ai  nuovi  tempi,  Fautore  non  dice.  Ne  della  filosofia, 
che  prcdilige  il  Cano,  ci  da  notizie  piü  precise.  Quello  che 
sappiarno    solo  e,    che    nei    luoghi   teologici    sono    enumerati  dieci 


La  Storia  della  filosofia  modema  in  [talia.    1888—  :u.  1  l'.l 

errori  di  Aristotele,  e  che  al  di  9opra  di  Ajristotele  e  posto  Pia- 
tone, il  quäle  sugli  argomenti  che  piii  premono  ai  cristiani, 
come  sulla  provvidenza,  Bulla  immortalita  dell'  anima  ccc.  in- 
jna  molte  verita.  II  che  e  troppo  poco  per  apprezzare  qua! 
posto  spetti  aJ  Cano  tra  i  platonici  a  lui  contemporanei ,  sc  pur 
platonico  possa  dirai.  tili  Ultimi  due  capitoli  riguardano  molto 
indirettamente  il  Cano,  ed  anche  il  paragone  col  quäle  si  chiude 
il  volume,  tra  il  Cano  e  il  Rosmini  e  molto  imperfetto;  perche 
l'autore  non  ci  ha  esposto  in  nessun  luogo  quali  fossero  i  pensieri 
de]  Cano  sulla  riforma  da  introdurre  nel  Cattolicesimo  per  opporsi 
piü  ef&cacemente  alla  protesta,  ne  ci  dice  se  in  tutto  o  in  parte 
s'aecordino  colle  idee  Rosminiane.  II  Cano  combatte  quegli  stessi 
Gesuiti  che  furono  e  sono  tuttora  i  piii  implacabili  nemici  del  Ro- 
smini; ma  i  due  teologi  vdssero  in  tempi  cosi  diversi,  che  forse  1c 
discrepanze  tra  loro  due  la  vincono  sulle  analogie. 

I..i  studio  sul  Colecchi  ha  maggior  valore  dei  due  precedenti. 
Raccogliendo  da  varie  parti  le  opportune  notizie  PAutore  ha  saputo, 
per  quanto  si  poteva,  ricostruire  la  storia  di  questo  filosofo,  che 
aacque  a  Peseopagano  il  19  Settembre  1773,  e  mori  a  Napoli 
il  25  Agosto  1847.  Da  giovane  eutro  nell'  online  Dominicano, 
ma  l»cn  presto  ne  usci  all1  epoca  della  soppressione,  per  rientrarvi 
per  poco  tempo  ancora  dopo  il  1815.  Mandato,  pure  per  missione, 
in  Russia,  \i  resto  quattro  anni,  c  al  ritorno  in  Italia  ebbe  una 
cattedra  di  matematica  nel  Liceo  di  Aquila,  che  perdette  dopo 
i  in- »t i  de]  LHl'1.  Riduttusi  nel  1830  in  Napoli,  vi  tonne  lino  alla 
sua  morte  un  insegnamento  privato,  mantenendo  in  mezzo  alle  piü 
gravi  strettezze  sempre  integra  la  fierezza  dell'  aninio  e  l'indipen- 
denza  del  pensiero.  Era  uno  dei  pochi  Kantiani  in  Italia,  che 
entravano  ben  addentro  oel  pensiero  del  filosofo  tedesco,  e  lo  cri- 
tiche  che  Egli  moveva  al  Cousin  <•  al  Galluppi  per  avere  Eraintesi 
i  concetti  Kantiani.  si  possono  ripetere  anche  oggi.  Perö  del 
Kant  non  accettava  tutto,  anzi  pare  che  del  Fenomenismo  de] 
Konisberghese  fosse  scontento.  „Non  vorremmo,  dice  egli  in  un 
pa8so  riportato  da]  Cicchitti,  che  altri  ci  reputasse  partigiani  nclle 
irvazioni  che  saremo  per  fare.     Protestiamo  anzi  che  lc  cate- 


120  Feiice  Tocco, 

gorie  dichiarate  impotenti  da  Kant  a  rilevare  FEssere,  le  leggi  del- 
riütelligeuza  diveuute  leggi  della  natura  fenomenica,  il  grande 
abisso  che  separa  questa  natura  dall'  altra  invisibile  e  reale,  souo 
cose  che  ci  rivoltano  nel  suo  sisteina.  Noi  pensiamo  colle  proprie, 
e  sol  quando  si  accordano  con  le  nostre,  adottiamo  le  idee  altrui". 
Ma  questa  protesta  dovea  restare  sterile,  e  non  ben  si  rileva 
dall'  esposizione  del  Cicchitti,  come  il  Colecchi  riescisse  a  pensare 
il  noumeno. 

Pietro  De  Nardi.     Abbozzo  di  una  storia  filosofica  della  filosofia. 
Foligno  1889. 

—  Genesi    Dialettica    dei    Nominalisti,    Realisti    e    concettualisti. 

Voghera  1890. 

—  Fonti    logiche    del    Soggetivismo    teoretico    di    E.    Kant.      Fi- 

renze  1880. 

II  primo  lavoro  o  abbozzo  di  una  storia  filosofica  della  filoso- 
fia  c  un  capitolo  di  filosofia  della  storia.  L'Autore  cerca  di  deter- 
minare  la  legge  di  sviluppo  del  pensiero  filosofico,  e  nell'  attuazionc 
del  suo  disegno  s'ispira  al  Cousin,  benche  non  lo  citi.  Secondo 
l'Autore  „tutti  i  sistemi  filosofici  si  ponno  ridurre  a  tre  fondamen- 
tali,  sensistico,  idealistico,  seusistico  -  idealistico,  o  sistema  della 
vcrita,  secondoche  i  filosofi  nella  ricerca  delle  ragioni  ultimo 
dell'  essere  tolgono  a  loro  guida  o  il  solo  senso,  o  la  sola  ragione, 
od  il  senso  e  la  ragione  insieme"  (P.  I  p.  61).  A  questi  tre 
sisterni  si  aggiunga  il  quarto,  che  comprende  „i  sistemi  di  reazione, 
di  negazione  della  filosofia"  vale  a  dire  „misticismo,  tradizionalismo, 
e  sopranaturalismo",  che  non  sono  in  fondo  se  non  „scetticismo 
mascherato",  e  cosi  si  avranno  i  quattro  sistemi,  che  con  varia 
ibrtuna  si  avvicendano  nel  corso  della  storia.  Siffatti  sistemi  filo- 
sofici „si  succedono  con  quest'  ordiue,  obbediscono  a  questa  legge. 
Primo  sensismo  ed  idealismo,  poi  la  loro  dialettica  conciliazione, 
terzo  lo  scetticismo.  Sensismo  ed  idealismo,  quando  succedentisi, 
quando  contemporanei,  segnano  il  periodo  di  fondazione  della 
filosofia  ....  La  dialettica  conciliazione  ....  segna  il  periodo 
della  fioritura  della  filosofia.  Lo  scetticismo,  negazione  del  senti- 
mento  e  dell'  idea    e  della  loro   dialettica   conciliazione,  segna  il 


La  Storia  .Ulla  filosofia  moderna  in  [talia.    1888—91.  121 

periodo  della  Bofistica.  Questo  movimento  quasi  circolare  dei  si- 
stemi  ßlosofici  appare  esattamente  verificato  nella  filosofia  greca  ed 
antica  colle  sette  antesocratiche,  jonica  o  sensistica  ed  eleatica  od 
idealistica,  con  Socrate  e  piu  con  Piatone,  dialettici  e  conciliativi; 
e  colle  sette  postsocratiche,  che  finiscono  oello  scetticismo.  Appare 
eziandio  verificato  oei  tre  periodi  per  cui  passo  la  scolastica,  uelle 

te  Dominalistiche,  realistiche  e  concettualistiche,  in  S.  Tommaso, 
dialettico  econciliativo;  all'  ultimo  oello  scetticismo  c  nel misticismo. 
II  medesimo  dicasi  della  filosofia  moderna,  che  s'inizia  con  Locke 
sensista  e  con  Cartesio  idealista,  si  sviluppa  col  grande  Leiboizio 
dialettico  e  conciliativo,  precipita  con  Kant  ncllo  scetticismo,  cou 
Jacobi  ed  altri  oel  misticismo,  coli'  Hegel  nel  nullismo"  (Gvi  p.  67) 
-  condo  dunqne  l'Autore,  come  secondo  il  Cousin,  la  vicenda  dei 
quattro  sistemi  ricorre  in  tutti  i  periodi  della  storia  della  filosofia. 
E  per  questo  verso  la  filosofia  medievale  dovrebbe  staccarsi  dalla 
filosofia  moderna  precisamente  nella  stessa  guisa  come  a  sua  volta 
si  staccö  dalla  filosofia  greca.  Se  non  che  all'  Autore  non  garba 
questa  conseguenza;  poiehe  egli  considera  la  filosofia  cristiana  come 
im  tutto  unico,  che  si  puö  dividere  in  quattro  epoche  della  pre- 
parazione,  rappresentata  dai  padri  apologisti  e  controversisti,  della 
sistemazione  rappresentata  in  ispecie  da  S.  Agostino,  della  deca- 
denza,  rappresentata  della  scolastica  schiettamente  Aristotelica,  ed 
inline  «lel  Risorgimento ,  rappresentato  dalla  filosofia  moderna,  il 
.in  püi  illustre  rappresentante  e  il  Rosmini  (P  2a  p.  34).  Secondo 
questo  altro  modo  di  vedere  il  Medio  Evo  e  l'Eta  moderna  dovrebbero 
formare  un  periodo  solo,  in  cui  domina   un  pensiero  unico  e  pro- 

Bsivo.  E  ciö  confessa  esplicitamente  l'Autore,  quando  dice  che 
il  Cristianesimo  aprendo  una  „fönte  inesausta  di  luee  intellettuale", 
impossibili  quelle  cadute,  che  si  operaronu  nell'  antichitä  pa- 
gana.  Anche  nei  tempi  moderni  si  notano  arresti,  regressi,  ma  sono 
fatti  accidentali  e  passeggeri.  ..II  movimento  circolare  della  filosofia« 
pagana  divenne  per  le  uazioni  cristiane  un  movimento  progressivo, 
benche  Bpesso  intennittente".  Queste  due  vedute  sul  corso  della 
storia  ßloaofica  non  sono  bene  d'aecordo  fra  loro.  Secondo  la  teoria 
dei  quattro  sistemi  ricorrenti,  S.  Tommaso  appare  come  un  filo- 
n-iliativu.  che  avrebbe  lo  stesso  posto  di  Piatone  nel  periodo 


122  Feiice  Tocco, 

greco  e  di  Rosmini  uel  modemo.  Secondo  la  teoria  dell'  uuica 
iilosofia  cristiana,  FAquiuate  con  tutta  la  scolastica  segna  un  regresso 
e  uiia  decadenza,  e  non  e  lui  il  filosofo  conciliativo  ma  bensi  S.  Ago- 
stino.  E  lasciando  da  parte  queste  contraddizioni,  certo  e  che  l'Autore 
non  ha  ricavato  la  presente  legge,  come  cgli  dice,  a  posteriori  o  in- 
duttivamente,  nia  invece  ha  contorti  stranameute  i  fatti  per  adattarli 
alla  legge,  della  quäle,  se  dimostraziouc  adduce,  e  affatto  a  priori, 
e  ricavata  dal  cosiddetto  principio  psicologico  „Lo  spirito  umano 
si  affissa  priruamento  uella  seusazione,  che  fa  una  cosa  sola 
coli'  idea;  poi  la  seusazione  distiugue  dall'  idea,  s'avvede  dell' idea 
di  cui  la  uso,  e  colpito  dalla  magnitudine  di  essa,  iu  essa  esclusi- 
v;i  Diente  si  affissa,  dispregiando  la  sensazione.  Iu  progresso  s'affissa 
e  uella  sensazioue  e  uell'  idea,  uei  caratteri  dell'  uua  e  dell'  altra, 
ne  conosce  i  diversi,  eppur  connessi  ufüci,  all'  ultimo  abbandona, 
oblia  e  l'una  e  1'  altra".  Senonche  dato  pure  che  il  processo  psi- 
cologico sia  quello  descritto  dall'  Autore,  uon  si  capisce  la  ragione 
di  quell'  oblio,  di  quell'  abbandono,  che  nulla  giustilica  quaiido  la 
meute  abbia  couseguito  l'armouico  temperameuto ,  in  che  deve 
riposare. 

Iu  una  costruzione  cosi  arbitraria  ed  artificiale  e  ben  naturale 
che  gli  errori  storici  abboudino.  Lasciamo  pure  quelle  fallaci  elo- 
cubrazioni  sul  corso  delle  tre  civilta,  camitica,  semitica  e  giapetica, 
dove  non  c'  e  posto  per  la  civilta  cinese,  uon  certo  inferiore 
all'  indiana  e  alla  persiana.  Ma  come  mai  si  afferma  che  la  stirpe 
camitica  „iniziö  e  creö  uua  civilta  grandiosa,  impoueute,  ma  spicca- 
tameute  materiale",  mentre  poi  si  ritiene  che  l'Egitto  fu  la  culla 
delle  scienze  e  non  si  dubita  „che  Licurgo,  Salomoue,  Pitagora  e 
Piatone  erauo  stati  della  sapieuza  egizia  discepoli?  (P.  II  p.  3.  5). 
E  che  vuol  dire  che  „fra  i  sistemi  ebraiei  asiatici  e  celebrc  la 
Cabala,  ma  non  ebbe  commentatori?"  (Ivi  p.  6).  Citerö  altri 
pochi  esempi  di  simiglianti  errori  storici.  „Piatone,  specialmente 
uei  Parmenide,  avea  esposta  la  dottrina  di  questo  filosofo". 
(P.  1  p.  14).  Gli  scolastici  erano  „inteuti  a  servirsi  di  Aristotelc 
per  combattere  Averroe"  (Ivi  p.  15).  II  Locke  „per  riflessione 
intendeva  il  lavoro  delle  facolta  dello  spirito  umano  sulle  sensa- 
zioni"  (Ivi  p.  37).     Hume  avrebbe  detto  che  il  priucipio  di  causa 


La  Storia  della  filosofia  moderna  in  Italia.    L888-  91«  L23 

..;■  falso  ed  illasorio,  perche  la  causa  non  puö  mai  essen'  una  sen- 
sazione,  ma  deve  essere  un  ente  attivo,  ora  La  sensazione  non  e 
an  ente,  ma  la  modifieazione  di  un  ente"  (p.  38)  11  gran  merito 
dello  Stagirita"  e  oscurato  dall'  avere  egli  aella  teorica  delle  idee 
abbandonato  il  suo  maestro  Piatone,  retrocedendo  ai  Pitagorici 
äteriori"  (P.  II  p.  14).  Dopo  i  Jonici  „vennero  i  Dorici  e  videro 
che  bisognava  creare  questo  ente  al  di  lä  dei  sensibili  ....  con- 
temporaneamente  i  Pitagorici  erano  pervenuti  all'  esistenza  dell'  uno 
ii, -i  moltij  poi  ai  numeri  aveano  aggiunte  lc  forme"  (Ivi  p.  15). 
do  XVI  cominciö  nel  clero  La  cura  dei  beni  terreni" 
(Gvi  p.36).  „La  chiave  dei  pensieri  dei  Brano  si  fcrova  nel  libro 
Delle  ombre  delle  idee  .  .  .  E  su  questa  dottrina  torna  sovente 
in  alt ri  suoi  scritti,  come  nella  Cabala  dei  Cavallo  pegaseo" 
|\i  p.  54).  11  Leibnitz  „ridusse  le  üleo  innate  a  piecolissimi  sen- 
timenti,  uon  avvertiti  dall"  anima"  (Ivi  p.  57).  Kaut  „lo  forme 
innate  ridusse  a  due  per  il  senso,  a  dodici  per  1'  intelletto,  a  tre 
per  la  ragiuiK'*"  (Ivi  \>.  5S).     E  parmi  che  basti. 

L  altro  lavoro  ha  per  iscopo  di  mostrare  la  genesi  delle 
scuole  medievali  dei  nominalisti,  realisti  e  concettualisti.  L'autore 
aon  oega  che  il  noto  passo  dell'  Isagoge  Porfiriana  fu  la  causa 
della  controversia,  che  s'  agito  nei  primordi  della  Scolastica,  ma 
la  ilicr  causa  occasionale  per  distinguerla  dalla  vera  causa 
reale,  ehr  aecondo  lui  sta  nell'  obblio  della  dottrina  Platonica, 
alla  quäle  sottentra  senza  rivali  l'Aristotelica.  Questo  stesso  con- 
cetto  ripete  in  uno  scritto  polemlco,  mdirizzato  contro  1'  introduzione 
dell'  Eresia  nel  Medio  Evo  (Monde  di  storia  della  filosofia  — 
primo  periodo  della  scolastica  —  di  Feiice  Toceo  —  Voghera 
1890  .  ml  quäle  scritto  adduce  l'autorita  dei  Rosmini  per  mo- 
strare  che  il  Medio  Evo  oltre  il  cenno  di  Porfirio  intorno  alla  na- 
tura  delle  idi  rea  di  piu  la  soluzione  data  da  Boezio  sia  nel 
primo  Dialogo  sulT  Introduzione  di  Porfirio,  tradotta  da  Vittorino, 
sia  nel  libro  primo  dei  Commentarii  sulla  traduzione  propria  della 
medesima  Introduzione".  Se  non  ehr  L'Autore  nun  fa  ehr  sfondare 
porte  aperte;  poiehe  uessuno  storico  della  filosofia  ha  mai  negato 
I    i 1 1 ll li — .  di  Boezio,    e  questo   solo  concordemente  si  afferma  da 


124  Feiice  Tocco, 

tutti,  che  nellc  scuole  dcl  Medio  Evo,  quaudo  di  Aristotele  uou 
erano  aucor  note  altre  opere  oltre  alle  logiche,  usandosi  l'Isagoge 
Porfiriana  coi  cornmenti  Boeziaui,  da  questa  traevano  origine  le 
dispute  interniinabili  sugli  Universali.  Che  Pobblio  del  Platonismo 
dovesse  entrarci  ben  poco  in  quel  battagliare,  si  puö  argomentare 
da  ciö,  che  i  libri  di  S.  Agostino  erano  letti  e  studiati  da  tutti, 
e  nella  rnancanza  del  testo  di  Piatone  potevano  fornire  una  discreta 
inlbrrnazione  della  dottrina  delle  idee.  Del  resto  la  parte  realistica 
affermando  la  realta  degli  Universali,  piegava  appunte  verso  il 
Platonismo,  e  platonico  piü  che  Aristotelico  si  puo  dire  Scoto 
Erigena.  Secondo  l'Autore  invece  Piatone  conobbe  che  „le  idee 
socio  obbietti  propri  della  rnente  iudipendenti  dai  reali  (sie)  e  dai 
sensibili",  Aristotele  invece  pur  facendo  immateriali  le  idee  „le 
realizzo,  confondendo  l'orcline  ideale  coli1  ordine  reale".  E  di  qui 
anche  il  realismo  del  Medio  Evo  e  pretto  Aristotelico,  e  l'unico 
che  si  puo  dire  seguace  di  Piatone  e  S.  Agostino.  S.  Anselrno 
di  Aosta  e  per  l'Autore  un'  eeeezione,  anzi  un  anacronismo. 
Siffatta  interpretazione  della  filosoiia  Platonica  ed  Aristotelica  non 
e  suffragata  da  prova  aleuna,  e  fra  tutti  gli  studiosi  di  filosoiia 
greca  neppure  uno  vi  si  aeconcerebbe.  In  questo  stesso  scritto 
l'Autore  cornbatte  nie,  che  avevo  proposta  una  interpretazione  del 
nominalismo  (del  resto  non  mia),  la  quäle  avea  per  fine  di  dare 
un  senso  all'  espressione  flatus  vocis  usata  da  Roscellino.  La 
mia  congettura  all'  autore  non  garba;  poiehe  ritiene  che  per 
Roscellino  gli  universali  erano  puri  nomi,  a  cui  non  rispondc  un 
coucetto  neanche  arbitrario.  Beato  il  De  Nardi,  che  intende  o 
dice  d'intendere  quello  che  nessun  altro  saprebbe!  Di  tutte  le 
altre  obbiezioni  che  mi  move,  non  e  questo  il  luogo  di  far  meu- 
zione.  Voglio  solo  notare,  che  mi  rimprovera  di  non  aver  eulto 
Tcrrore  cardinale  di  Gilberto  Porretano  (che  l'Autore  chiama 
Gilberto  della  Porretta,  come  sc  fosse  nato  vicino  a  Bologna),  e 
poi  ripete  in  un  modo  iuvoluto  quello  stesso,  che  io  avevo  detto 
in  una  forma  piü  chiara. 

Nel    terzo    scritto  l'Autore    si    propone    di  mostrare    le    fonti 
logiche  immediate  c  mediate  del  prineipio  supremo  del  Kantismo. 


La  Storia  della  filosofia  moderaa  in  ftalia.    1888    91.  [25 

II  quäl  principio  sarebbe  lasoggettivitä  della  forma  dell'  timana 
intelligenza,  quindi  dell'umane  cognizio.ni,  quindi  della 
Scienza.  II  Kant  sarebbe  stato  condotto  a  far  soggettiva  la  forma 
della  mente  umana  1"  per  reazione  all'  Bume.  In  che  stia  questa 
reazione  l'autore  dod  dice.  Forseche  l'Hume  avrä  sostenuta 
l'obviettivita  della  forma  della  mente,  e  per  reazione  a  lui  Kant 
la  dichiara  subbiettiva? 

2  Per  concessione  al  Locke,  poiche  dal  Locke  il  Kan1  accetta 
il  pregindizio  materiale  e  cieco  (sie),  il  postulato  arbitrario,  che 
ciö  che  nun  viene  dall'  esperienza  sensibile,  viene  dal  soggetto 
umano  intelligente,  od  anche  che  due  soli  sono  le  Conti  delle 
amane  cognizioni,  la  sensazione  e  l'uomo  (sie). 

per  isviluppo  immediato  de]  sistema  di  Reid.  Chi  mai 
avrebbe  potuto  supporre  codesto?  Eppure  e  cosi  secondo  l'Autore, 
che  attinge  la  dimostrazione  non  dal  testo  di  Kant,  come  dovrebbe, 
ma  da  an  magnifico  brano  dello  schizzo  delle  filosofia  moderna 
del  Rosmini.  Secondo  il  Reid  l'affermazione  dell1  esistenza  dei 
corpi  non  puö  venire  dalla  sola  sensazione,  ma  da  una  facolta  dello 
spirito  „che  e  primitiva,  e  un  istinto  dell'  anima,  una  suggestione 
della  natura  intelligente,  e  da  un  complesso  di  leggi  de!  soggetto  umano 
intelligente,  leggi  misteriose,  inesplicabili.  Ora,  seguita  l'Autore, 
il  Kant  si  avvide  che  l'inesplicabilitä  di  questa  legge  conti uceva  allo 

tticismo.  Ammise  quindi  il  fatto,  ma  aggiunse  che  sc  non  si 
poteva  spiegare  interamente,  si  poteva  perö  analizzare,  discernere, 
esplicare,  determinare".  Etl  eeco  come  il  Kant  e  diseepolo  e  con- 
tinuatore  de]  Reid! 

1  per  isviluppo  immediato  del  sistema  del  Leibnitz.  Anche 
questo  e  da  notare.  Secondo  il  Leibnitz  „le  idee  prima  che  cadano 
oella  nostra  coscienza  psicologica  .  .  .  .  si  rappresentano  successiva- 
mente  all'  anima  come  una  serie  di  sue  modifieazioni,  di  suoi  istinti, 
di  sue  virtualita,    di  abiti  naturali,  di  abbozzi,  rudimenti,    tracce 

*erissime  d'idee  .  .  .  Li;  idee  concenite  cosi  sono  tuttc  innate. 
Differiscono  dalle  forme  de]  Kant  nun  per  la  sola  natura,  ma  per 
il  numero  e  per  l'origine".  Povero  Leibniz  esposto  e  storpiato  ;i 
'li"''  modo,  e  povero  Kant  il  cui  criticismo  nun  e  piu  l'opposto 
del  dommatismo  Leibniziano,  ma  invece  la  continuazione! 


12G  Feiice  Tocco, 

5°  per  influsso  di  Aristotele.  Questo  e  poi  il  colrao,  e  vale  la 
pena  di  riferirlo  colle  parole  stesse  dell'  Autore,  per  mostrare  como 
conosca  a  foudo  e  Aristotele  e  Kant.  „Le  categorie  souo  prodotte 
in  noi  da  una  nostra  ingenita  facoltä  di  conoscere,  dette  Intelletto 
agente,  che  e  tavola  rasa,  ma  che,  per  una  certa  virtü  astrattiva  le  cava 
dai  fautasmi.  Senonche  1'  Intelletto  agente  di  Aristotele  nou  puo 
cavare  le  categorie  dalle  sensazioni,  che  il  particolare,  il  finito,  il 
contingente  non  puo  fornire  l'universale,  l'infinito,  l'immutabile,  il 
necessario.  Uopo  e  quindi,  conchiuse  il  Kant,  che  le  nozioni 
prime  o  categorie  non  siano  inerenti  ai  sensibili,  ma  che  scaturiscano 
dal  fondo  dell'  anima  umana  all'  occasione  delle  sensazioni".  Ma 
l'aütore  si  e  guardato  bene  dal  riferire  im  luogo  solo  o  di  Ari- 
stotele o  di  Kant,  che  conforti  quella  strana  interpretazione 
dell'  intelletto  agente,  e  quelF  assimilazione  delle  categorie  Ari- 
stoteliche  alle  Kantiane.  II  De  -  Narcli ,  benche  se  la  prenda  coi 
Neo  -  Kantiani.  non  ha  letto  neppure  uno  degli  scritti  di  costoro, 
e  Finterpretazione  che  egli  da  del  Kantismo  e  tolta  di  peso  dal 
Rosmini,  non  tenendo  alcun  conto  di  tutte  le  critiche  che  vi  sono 
state  fatte.  II  suo  linguaggio  iracondo  e  quello  stesso,  che  im 
tempo  tenevano  il  Gioberti  e  i  Giobertiani  contro  il  Cartesio  e  lo 
stesso  Rosmini,  accusato  anche  lui  di  subbiettivismo  o  psicologismo, 
come  allora  si  diceva,  e  la  conoscenza  che  egli  ha  clella  storia 
della  filosofia  non  e  superiore  a  quella  dei  peggiori  Giobertiani. 
Uno  scrittore,  che  espone  Kant  come  se  le  idee  di  Dio,  dell'  anima 
e  del  mondo  fossero  tre  forme  della  mente  umana  da  aggiungere 
alle  due  della  sensibilita  e  alle  dodici  dell'  Intelletto  (p.  9 — 10),  o 
come  se  „la  forma  delle  umane  cognizioni  fosse  una  produzione 
dell'  umano  soggetto  (p.  11)",  non  ha  letto  un  rigo  solo  della  Cri- 
tica  della  Ragione  pura,  e  poträ  bene  montare  in  pergamo  e 
scagliare  anatemi,  dipingendo  il  sistema  Kantiano  come  scettico, 
ateo,  panteistico,  spiritualistico  e  materialistico  (p.  23);  ma  ripro- 
durre  esatto  il  pensiero  del  Conisberghese  e  criticarlo  non  e 
affar  suo. 


I.    Storia  della  Bloaofia  moderna  in  Italia.   1888—91.  127 

Pügua  FkedinandOj  II  Risorgimento  Filosofico  in  Italia.  Napoli 
Anfossi  1891. 
II  concetto  informatore  di  questo  libro  i  lettori  lo  cono- 
Bcono;  perche  tu  svolto  dall'  autore  stesso  in  questo  Archivio.  Giä 
da  im  pezzo  in  Italia  va  facendo  strada  questo  concetto,  che  e  il 
rovescio  di  cib  che  sostenevano  i  restauratori  della  filosofia  italiana. 
I  quali  ispirandosi  al  Vico,  pretendevano  che  fino  dai  primissimi 
tempi  esistesse  una  tradizione  filosofica  italiana,  la  quäle  raccolta 
da  Pitagora  e  Parmenide,  fu  conservata  da  Piatone,  c  per  il  tramite 
dei  Padri  della  Chiesa,  tornö  in  Italia,  ondc  non  si  parti  piü,  con- 
servandosi  nei  piu  insigni  filosofi  oazionali,  il  Vico  in  primo 
luogo,    e  dietro    a  lni    il  Rosmini,    il  Gioberti  c  il  Mamiani.     Gli 

rici  recenti  dod  oegano  quest'  aurea  tradizione,  raa  sostengono 
che  dod  e  quäle  ce  la  descrissero  i  restauratori,  ina  tutto  l'opposto 
di  quel  che  essi  credevano.  II  pensiero  nazionale  non  fu  dualistico, 
ma  beu  piuttosto  rigorosamente  monistico.  Monisti  furono  Pitagora, 
Parmenide,  monista  il  grande  poeta  filosofo  Lucrezio,  monisti  i 
rinnovatori  della  filosofia  ael  Risorgimento ,   come  il  Bruno.     E  sc 

J  i  piu  insigni  pensatori  italiani  tornano  al  Monismo,  non  fanno  sc 
qod  rinverdire  una  tradizione  filosofica,  che  indarno  s'e  tentato  di 

-  iirare.  Per  dimostrare  il  suo  assunto,  il  Puglia  comincia  dal  negare 
che  la  storia  della  filosofia  possa  dividersi  in  periodi  ben  netti  e 
definiti,  come  il  greco-romano,  il  medievale  e  il  moderno.     Poiclie 

-  ndii  il  pensiero  filosofico  sottoposto  anche  esso  alla  grande  legge 
dell1  evoluzione,  si  deve  ammettere  nel  suo  corso  tale  continuita, 
che  mal  Bapresti  dire  dove  il  vecchio  si  chiuda  e  dove  si  apra  il 
dqovo  periodo.  II  che  appare  evidente  nclla  storia  del  pensiero 
italiano,  che  forma  un  tutto  omogeneo  e  continuo  dall'  antichitä 
piu  remota  fino  all'  eta,  che  giustamente  fu  detta  del  Risorgimento. 
Ne  tal<  continuita  si  rompe  o  Lntermette  per  colpa  della  Scolastica, 
come  lia  creduto  il  Trezza;  poiehe  la  filosofia  scolastica  s'ha  da 
tenere  come  im  fiore  esotico  nel  nostro  cielo,  e  non  in  quelle 
Bpeculazioni  piu  teologiche  che  filosofiche  s'ha  da  cercare  la  tra- 
(li/.i"ii"  del  aoatro  pensiero  nazionale,  ma  ben  piuttosto  negli  studi 
dei  (üuii>ii.  che  conservano  intatto  col  Diritto  romano  quella  massa 
di  pensieri  ed  idee  filosofiche,  che  l'infonnano.    Le  quali  idee  sono 


128  Feiice  Tocco, 

attinte  specialmente  allo  stoicismo,  che  insieme  coli'  Epicureismo 
sono  le  due  filosofie  grecbe  a  preferenza  dclle  altre  trapiantate  a 
Roma.  E  qucste  due  filosofie  risorgono  quando  ai  glossatori  succe- 
dono  i  iilologi  e  gli  umanisti.  Tra  i  quali  se  il  Filelfo  inchina 
alle  idee  stoiche,  Lorenzo  Valla  riproduce  invece  le  epicuree.  Ed 
in  questa  risurrezione  clel  pensiero  dell'  antica  Roma,  quäle  fu 
cantato  dalla  musa  di  Lucrezio,  sta  tutto  il  merito  del  Valla, 
non  certo  iu  quel  teutativo  di  accomodameuto  del  sistema  Epicureo 
alle  intuizioni  cristiane.  Poiche  quel  teutativo  non  dev'  essere 
preso  sul  serio,  ne  s'ha  da  credere  sull'  antorita  del  Fiorentino 
che  r ultima  parte  del  dialogo  De  voluptate  esprima  il  vero 
pensiero  dell'  autore.  Sarebbe  strano  che  cercasse  di  accomo- 
darsi  colla  Chiesa  chi  avea  scritto  contro  la  donazione  di  Costau- 
tino,  ed  inaugurata  la  critica  biblica.  Quell'  ultima  parte  serve 
di  baudicra  per  far  passare  la  merce  di  contrabbaudo,  artifizio, 
non  insolito  in  quei  filosofi,  che  speravano  di  farsi  perdonaro  le 
loro  arditczze  in  grazia  di  qualche  concessione  al  sentimento 
religioso. 

A  nessuna  di  queste  considerazioni  io  saprei  acconciarmi,  e 
dico  schietto  e  franco  l'avviso  mio;  perche  questo  nuovo  indirizzo, 
che  in  grazia  di  una  tesi  nega  quello  che  v'e  di  meglio  accertato, 
mi  sembra  pericoloso  e  rovinoso,  risuscitaudo  quistioni  che  sem- 
bravano  per  sempre  risolute.  Che  1' Autore  stesso  abbia  bisogno 
di  una  partizione  comechesia  del  corso  storico,  lo  mostra  quando 
ai  periodi  storici  vuole  sostituire  le  fasi  evolutive.  A  lui, 
evoluzionista  convinto,  non  dovea  sfuggire  la  legge  della  divergenza, 
che  nel  corso  dell'  evoluzione  cresce  con  tale  rapidita,  che  un 
grado  o  uua  fase  superiore  dell'  evoluzioue  e  per  nulla  rassomi- 
gliante  al  grado  o  fase  inferiore.  E  che  sono  altro  i  periodi 
storici?  che  la  fine  di  un  periodo  digradi  insensibilmente  nel  prin- 
cipio  di  un  altro  non  v'ha  chi  neghi;  ma  ciö  non  toglie  che 
ciascun  periodo,  determinato  da  uu  nuovo  stato  della  coltura  e  del 
pensiero,  abbia  uua  fisonomia  propria  da  non  confoudersi  con 
altra.  Che  poi  appartenga  all'  Italia  la  filosofia  della  Magna  Grecia 
e  uu  vero  errore  storico,  che  non  si  sa  come  rinasca  fra  noi,  dopo 
che   tanti  e    tanti    lo  hanno    vittoriosamente   confutato.     Per   dire 


I      S1  ria  della  aiosofia  moderna  in  [talia.    1888—91  129 

italica  la  ßlosofia  di  Pitagora  da  Samo,  bisognerebbe  supporre  che 
oella  Magna  Grecia  fosse  nata  ima  ßlosofia  oostrana  prima 
dell'  immigrazione  Dorica,  e  che  Pitagora  avesse  cominciato  a  filo- 
Bofare  solo  quando  venuto  in   [talia  pote  attingere  a  questa  antica 

gente.  Tutte  supposizioni3  giä  fatte  da]  Vico,  l'una  piii  gratuita 
e  improbabile  doli"  altra.  Peggio  ancora  quando  si  sconosce  il 
carattere  mistico  dell'  istituzione  pitagorica,  la  quäle  e  strettamente 
connessa  coli'  Orfismo,  e  oon  si  pone  differenza  alcuna  non  pure 
fcra  la  ßlosofia  Pitagorica  e  l'Eleatica,  ma  neanche  tra  l'Eleatica  <• 
l'Ei  clea.    Nessuno  storico  del a  iilosofia  greca  potrebbe  accettare 

strane  confusioni. 
V  divi  -  giudizio  si  puö  portare  di  quel  che  dice  l'Autore 
sulla  ßlosofia  del  Medio  Evo.  Ma  con  qua]  dritto  si  chiama  esotica 
una  ßlosofia,  che  fu  elaborata  da  grande  iii^r^ni  italiani.  coine 
S,  Anselmo,  S.  Bonaventura,  S.  Tommaso,  e  addottata  e  rivestita 
della  pin  smagliante  forma  da!  piu  grande  dei  nostri  poeti  nazio- 
ualir  E  dato  pur«'  die  in  [talia  manchi  per  tutto  il  Medio  Evo  il 
vero  pensiero  ßlosofico,  come  puö  sostituire  al  suo  difetto  la  col- 
tura  giuridica,  ehe  sopratutto  oe]  periodo  dei  glossatori  non  e  certo 
informata  a  larghe  vedute?  Ne  si  potrebbe  dire  die  nel  risorgimento 
rifiorisse  l'antico    nostro   pensiero   nazionale,    perche   tornarono   in 

iv  i  sistemi  stoico  od  epicureo.  Ma  l'Accademia  platonica  non 
appartiene  anche  a  quell'  eta?  E  non  le  appartiene  parimente  il 
Peripatetismo  Averroistico  della  scuola  Padovana?  II  restringere  il 
pensiero  italiano  nei  confini  cosi  angusti  segnati  dall'  Autore,  e  uno 
la  larghezza,  la  varietä  di  quel  pensiero.  E  per  tanti 
altri  ßlosofi,  che  sono  trascurati,  l'Autore  ne  esalta  alcuni  oltre 
all.t    giusta   misura.     II  dire  ehe  l'opera  del  Valla  „e  uno  dei  piü 

udi  tentativi  fatti  in  quell'  epoca  per  la  ristaurazione  della  vera 

ßlosofia,  '-i lila  ßlosofia  che  si  emanripa  dal  um^u    della  toolo- 

giaa  e  im  manifesta.     II  Valla  nun  e    un   filo9öfo,  e 

un  letterato,  e  benche  se  la  pigli  con  Cicerone,  tratta  i  problemi 
filosofici  con  la  stessa  disinvoltura  e  leggerezza,  con  cui  li  soleva 
trattare  I'oratore  romano.  E  foree  il  !)<•  \roluptate  non  e  sc  mm 
episodio  della  grande  lotta,  che  il  Valla  sostiene  contro  Cicerone 
•■  i  '         uiani.    Certo  <■  «•he   il   carattere  proprio  dell'  Etica  epi- 

V||.  «I 


1B0  Feiice  Tocco, 

curea,  che  la  distingne  dalla  Cirenaica,  egli  non  sa  cogliere.  E 
della  fisica  e  della  Teologia  Epicurea,  che  sono  i  presupposti  e  i 
fondainenti  dell'  Etica,  face  affatto.  Bei  modo  di  far  risorgere 
una  data  (ilosofia,  sopprimerne  le  parti  piü  uotevoli.  Ne  posso 
accettare  che  il  discorso  del  Niccoli  non  riproduca  il  vero  pensiero 
del  Valla.  Ma  perche  mai?  Lo  serivere  contro  la  donazione  di 
Costantino,  e  l'inaugurare  la  eritica  e  l'Esegesi  biblica,  vuol  dire 
forse  negare  affatto  il  Cristianesimo,  e  rinunziare  al  dritto  d'inter- 
pretarne  gl'  insegnamenti  in  modo  diverso  di  quel  che  facessero  i 
Teologi  scolastici? 

Tarozzt  Giuseppe.  I  principii  della  natura  secondo  Gerolamo 
Cardano.  Rivista  Scientifica.  Milano  Dumolard  1891 
pp.  35. 

Questa  monografia  riguarda  alcuni  punti  soltanto  della  filosofia 
del  Cardano,  vale  a  dire:  l'opposizione  di  forma  e  privazione,  i 
concetti  della  materia,  del  moto,  del  luogo  o  spazio  e  dell'  anima. 
Si  puo  dire  in  generale,  secondo  l'Autore,  che  il  Cardano  muove 
pur  sempre  da  Aristotele,  dal  quäle  si  stacca,  come  a  dire,  senza 
volerlo,  per  influsso  principalmente  del  Neoplatonismo,  e  clei  nuovi 
bisogni  scientilici,  dei  quali  nessun  altro  sente  piü  acutamente  il 
pungolo,  benche  non  sappia  meglio  degli  altri  dar  loro  soddisfazione 
alcuna.  Anche  il  Cardano  come  il  Telesio,  non  puo  accettare  il 
concetto  Aristotelico  della  privazione,  perche  mal  si  concepisce  „il 
contrasto  i'ra  una  sostanza  e  un  altro  principio  che  non  puo  asso- 
lutamente  essere  sostanziale".  A  proposito  degli  elementi  il  Car- 
dano „invece  di  porre  come  qualitä  attiva  il  caldo  e  il  freddo,  e 
passiva  il  secco  e  l'umido,  scorge  un'  azione  effectrix  nel  caldo 
e  nell'  umido"  e  il  freddo  e  il  secco  ripugnandogli  di  considerarli 
come  mere  privazioni  „e  costretto  a  dare  a  queste  qualitä  Tazione 
d'impedimento"  (p.  15).  Neanche  la  materia  prima,  sa  concepirla 
al  inodo  di  Aristotele  come  pura  potenza,  poiche  egli  Tintende 
„come  apparisce  al  senso"  vale  a  dire  concreta  e  determinata,  se 
non  altro  come  quantita.  Fin  qui  il  Tarozzi.  Ma  egli  non  ha 
nsservato  che  Aristotele  se  da  una  parte  considera  le  difl'erenze 
dei   quattro  elementi    come    eterne  al  pari  del  mondo ,    däll'  altra 


La  Storia  della  filosofia  moderna  in  ftalia.    lssv<    91.  I .".  I 

aminette  una  oontinua  mutabilita  degli  elementi,  l'uno  Dell'  altro. 
La  contraddizione  tra  queste  due  vedute  l'una  che  oega,  l'altra 
che  afferma  an  proci  »smogonico,   il  Cardano  sa  ben  rilevare. 

\mh  e  dunque  perche  la  materia  appaia  cosi  al  senso,  ma  perche 
il  modo  come  Aristotele  l'intende  e  contradditorio,  che  il  Cardano 
b  allontana  dallo  Stagirita.  Ed  e  per  questo  che  egli  cerca  di 
rappresentarsi  il  mutamento  dei  quattro  elementi  come  un  processo 
di  condensazione  <>  di  rarefazione.  La  stessa  quantitä  di  materia 
stretta  in  pio  angusti  coofini  e  acqua,  dilatata  in  piu  ampii  e 
aria.  Se  l'Autore  fosse  entrato  piu  addentro  oella  teoria  degli 
elementi  de!  Cardano,  sarebbe  riescito  senza  dubbio  a  qiiesti  risul- 
tati.  Nella  teoria  del  moto  e  de!  luogo  il  Cardano  non  s'allontana 
gran  fatto  da  Aristotele,  e  dagli  interpreti  scolastici,  come  S.  Tom- 
maso.  Se  ne  allontana  nel  concetto  dell' anima.  Egli  e  .,;nl  ora  ad 
ora  Averroista,  Alossnmlrista,  neoplatonico:  mm  appartiene  in  modo 
assoluto  ;i  tieesuna  di  queste  scuole,  ma  in  questa  incertezza  oon 
consiste  un  difetto  de!  suo  pensiero,  perche  prendendo  elementi 
delle  divei*se  scuole,  risultava  alla  sua  mente  la  caratteristica 
assenziale  di  un  sentimento  vago  dell'  infinito  vivente  ....  L'uni- 
vereo  e  un'  anima  immensa,  eeco  il  pensiero  grandioso  e  capitale 
che  costituisce  l'importanza  storica  di  questi  filosof  (p.  28)". 

Alcune  di  queste  conclusioni,  specie  quella  dell'  Alessandrismo 
del  Cardano  doveano  essere  suffragate  da  prove,  che  mancano  affatto. 
Ed  anche  intomo  al  concetto  dell'  animazione  uniyersale  l'Autore 
avrebbe  dovuto  mostrarci  se  e  in  qua]  modo  si  concilii  con  le  pro- 
fonde  differenze  ehr  il  Cardano  stabilisce  tra  gli  Esseri,  dei  quali  al- 
coni  sono  sostanze  corporee  altre  ineorporee,  e  delle  incorporee  al- 
cune sono  incorruttibili,  altre  corruttibili,  e  delle  corruttibili  alcune 
viv li  per  se,  altre  traggono  la  vita  dal  di  füori  (p.  10). 

I  elice)  Le  opere  inedite  'li  Giordano  Bruno.    Memoria  letta 
all'  Accademia  di  Scienze  morali  e  Politiche  della    Societä 
Reale    di  Napoli  -  Napoli,    Tipografia    della    Regia    Univer- 
1891. 

I."  Bcopo  di  questa  memoria  e  t'esposizione  delle  opere  inedite 

del  Bruno,  contenute  nel  codice  di  Mosca,  e  recentemente  pubbli- 

ü* 


132  Feiice  Tocco, 

cate.  Una  di  queste  opere,  che  per  la  sua  ampiezza  si  puo 
dire  la  principale,  e  chiamata  Lampas  triginta  Statuarum,  e 
non  e  altro  se  non  un'  amplificazione  dell'  arte  inventiva  del 
Lullo.  In  luogo  dei  nove  soggetti  e  dei  nove  predicati  Lulliani 
qui  si  distinguono  trenta  categorie  trenta  soggetti,  trenta  predicati  e 
trenta  modi  di  predicazione.  L'Autore  ha  tanta  fcde  nell'  efficacia 
dell'  arte  sua,  che  ne  mostra  il  valore  applicandola  alla  soluzione  di 
uno  dei  piü  intricati  problemi  metafisici,  quäle  e  quello  della  sostan- 
zialitä  dell'  aniina.  Quest'  opera  non  ha  valore  ne  per  il  congegno  in- 
ventivo,  ne  per  Fapplicazione  che  se  ne  fa,  ma  ben  piuttosto  per 
la  copia  d'idee  e  per  il  vigore  d'imagini,  che  rischiarano  di  nuova 
luce  le  dottrine  gia  note  del  Nolano.  Seguono  i  commentarii  alle 
opere  fisiche  di  Aristotele  scoperti  dallo  Stölzle.  Senza  dubbio 
sono  lezioni  date  dal  Bruno  sul  testo  Aristotelico  nei  collegio  di 
Carabray  c  a  Vittemberga.  Non  tutta  la  tisica  Aristotelica  abbracciano 
ma  solo  i  primi  quattro  libri,  il  primo  dei  quali  a  preferenza  e 
largamcnte  commentato,  laddove  gli  altri  tre  sono  alle  voltc 
cosi  stroncati  da  non  riconosccrsi  piü.  Rispetto  a  questo  punto 
il  compendio  della  fisica  Aristotelica,  che  avevamo  gia  per  le 
stampe,  e  piü  compiuto,  poiche  nessuno  degli  otto  libri  trascura; 
ma  nei  Commentarii  oltre  alla  fisica  sono  studiati  alcuni  testi  del 
De  Generatione  et  corruptione,  e  il  quarto  libro  dei 
Mctcreologici.  —  Tutti  gli  altri  scritti  inediti  formano  per  cosi 
dire  un'  opera  sola  con  continui  richiami  da  uno  all'  altro  scritto. 
Trattano  di  Magia,  che  va  divisa  in  naturale  o  fisica  e  in  mate- 
matica.  La  magia  fisica,  colla  sua  ricapitolazione  nelle  Theses 
de  Magia,  riguarda  quei  fenomeni  della  natura,  come  i  magnetici 
e  gli  elettrici,  che  non  si  possono  spiegare  dälle  qualita  attive  o 
passive  della  materia,  quali  erano  secondo  Aristotele  il  caldo  e  il 
freddo,  l'umido  e  l'asciutto.  La  spicgazione  del  Bruno  e  attinta  a 
Lucrczio,  le  cui  teorie  sono  perö  profondamente  modificate  secondo 
l'intuizione  animistica.  La  Magia  matematica  non  e  un'  opera 
originale,  ma  degli  excerpta  da  diversi  autori,  come  Pietro 
d'Abano,  Tritemio,  il  pseudo  Alberto,  e  principalmente  Agrippa. 
Ai  quali  excerpta  tien  dietro  un  trattato,  che  tenta  giustificare 
i    presupposti    della  Magia  matematica,    e    che    e    intitolato:    De 


La  Storia  della   filosofia  mmlenia  in    Italia.    1888-  Dl.  [33 

rerum  principiis,  elementia  ei  causis.  Come  oompimento, 
o  vogliam  dire  applicazione  dei  principii  esposti  nei  precedenti 
trattati,  abbiamo  la  medicina  Lulliana,  dove  si  mostrano  gl'  influssi 
de]  Cielo  sulla  genesi  e  8ulla  cura  delle  malattie.  Anche 
quest'  opera  non  e  originale,  Dia  degli  excerpta  da  opere  de) 
Lullo,  principalmente  dal  De  regionibus  sanitatis  et  infir- 
mitatie  e  dal  Liber  principiorum  medicinae.  L'ultima 
delle  opere  magiche  e  intitulata  De  vinculis  in  genere,  ed  e 
strettamente  connessa  colla  Magia  fisica.  Ma  si  puö  dire  senza 
errore,  che  ha  tutt'  alt  10  carattere;  poiche  lasciando  da  parte  lc 
Fantasticherie  magiche,  entra  aello  studio,  sarei  per  dire,  naturali- 
o  di  quelle  attrazioni  tra  gli  uomini',  onde  nascono  gli  affetti. 
L'opera  sfortunatamente  e  incompleta,  ma  quello  (die  c'e  rimasto 
\  al^  certo  a  farci  rimpiangere  che  l'Autore  abbia  dovuto  troncarlo 
a  mezzo.  Tatte  queste  opere  sono  autentiche,  perche  l'una  cita 
l'altra  e  prese  insieme  formano  come  un  tutto.  Non  aggiungono 
molto  di  quovo  a  quello  che  giä  sapevamo  delle  dottrine  dcl 
Bruno,  ma  giovano  a  chiarire  qualche  punto  rimasto  ancor 
dubb 

\  Giovanni.  1"  La  cosa  in  se.  Milano  Dumolard  1888.  2°  La 
metafisica  e  la  teorica  della  conoscenza  del  Leibnitz.  Pa- 
dova  Drucker  e  Senigaglia  1888.  3°  11  Fenomenismo 
dell'  Hobbes.  Fratelli  Dracker  Padova- Verona  1891. 

Di  questi  tre  lavori,  il  primo  l'u  pubblicato  nella  Rivista  di 
Filosofia  scientifica  serie  _  anno  V  vol.  V.  ed  ha  un  doppio  (ine, 
teoretico.  Lo  storico  e  mostrare  le  coutraddizioni,  in  cui 
>i  sarebbe  involto  il  Kant  nella  dottrina  della  cosa  in  sc:  il  teo- 
retico,  Fermare  quello  ehr  resta  di  questa  dottrina,  c  che  forma 
„parte  integrante  <li  ogni  filosofia,  ehr  voglia  basarsi  sulle  saldo 
fondamenta  dell3  esperienza  e  sull'  elaborazione  critica  dei  dati  di 
Trascurando  affatto  la  parte  teoretica,  che  dod  e  oostro 
compito  discutere  qui,  ci  restringeremo  a  quella  che  piii  diretta- 
mente  appartiene  alla  storia  della  filosofia.  L'Autore,  ehe  sul 
Criticismo  ha  scritto  finoi-a  [»iti  di  dieci  lavori,  conosce  a  fondo 
la    letteratura  Kautiana,    e  aessuna    pubblicazione  trascura,    dalle 


134  Feiice  Tocco, 

piü  antiche  dello  Zwanziger  e  dello  Schnitze  alle  piü  recenti  del 
Lehmann  e  del  Drobisch.  Le  sue  opinioni  rispetto  al  Kant  si  sono 
alquanto  mutate  dai  primi  lavori  sin  oggi;  ina  mantiene  sernpre 
fermo  essere  la  Critiea  travagliata  da  una  profunda  contraddizione 
tra  il  punto  di  partenza  cd  il  punto  di  arrivo.  „II  Kant,  scrive 
il  nostro,  ammise  tacitamente  a  base  della  sua  dottrina  delle 
teorie  senza  esaminarle  prima  criticamente;  ma  nell'  elaborarle 
e  nel  progredire  nell"  edificio  critico  arrivo  a  risultati  tutto  del 
opposti,  che  lasciö  coesistere  coi  punti  di  partenza"  (p.18).  Le  teorie 
ammesse  tacitamente  senza  esaminarle,  sono  quella  della  cosa  in 
se,  qnal"  e  intesa  nell'  Estetica  trascendentale,  e  l'altre  del  Nou- 
meno  e  dell'  oggetto  trascendentale,  svolta  nell"  Analitica.  Tra 
queste  due  teoriche,  soggiunge  l'Autore  „ben  a  ragione  si  vide 
un"  opposizione,  giacehe  cio  che  e  problematico  e  la  cni  realta 
non  si  puö  affermare,  non  si  puö  dire  che  sia  la  causa  oggettiva 
delle  nostre  sensazioni,  e  qnesta  ultima  non  puö  essere  im  concetto 
problematico"  (p.  11).  Ma  io  credo  che  qni  e  attribnito  all'  espres- 
sione  Kantiaua  im  senso  non  volnto  dall'  antore,  il  quäle  nel  chia- 
mare  il  Noumeno  im  concetto  problematico,  voleva  dire  non  che 
si  potesse  dubitafe  della  realta  del  Noumeno  stesso,  ma  solo  fosse 
una  perenne  esigenza  della  Ragione,  im  problema,  che  sempre  si 
pone,  e  non  si  pub  a  meno  di  porre,  e  mai  si  rivolve.  Questo  io 
tentai  di  dimostrare  im  da  dodici  anni  or  sono  in  uno  scritto  in- 
titolato  Fenomeni  e  Noumeni,  che  l'Autore  non  ha  sott'  occhi,  ne 
cita  ne  discute.  Anche  oggi  mantengo  tutte  le  mie  opinioni  antiche, 
cd  affermo  che  tra  l'Estetica  e  l'Analitica  non  v'ha  contraddizione 
di  sorta.  Neil"  estetica  scomponendo  il  fenomeno  nei  suoi  fattori 
s'incontra  im  resto,  il  materiale  sensibile,  che  non  si  puo  rivolverc 
in  elementi  formali.  Abbiamo  dimqne  im  limite.  Neil'  Analitica 
risalendo  di  causa  in  causa,  di  sostanza  in  sostanza.  di  condizione 
in  condizione  abbiamo  tanti  altri  limiti,  quante  sono  le  serie  che 
si  vogliono  e  non  si  possono  chiudere.  Li  e  il  limite  piu  basso, 
<[iii  il  piü  alto,  ed  entrambi  bisogna  ammctterli,  se  si  vuol  restare 
Qdi  alla  teoriä,  anche  dal  Cesea  ammessa,  della  relatMtä  della 
cognizione.  In  qualche  punto  i  due  limiti  s'incontrano  e  ne  for- 
mano   uno  solo.     Cosi  se  noi  dimaudiamo   in  che  stia  la  materia. 


La  Storia  della  filosofia  moderna  in  [talia.    1888    91.  135 

v;,!,.  a  dire  quell'  elemento,  che  abbiamo  indarno  tentato  di  risol 
\,,-,.  in  fattori  formali,  la  possiamo  pensare  come  formata  da  atomi 
..  sostanze  semplici  (Leibniz),  o  come  an  essere  di  sim  natura  com 
posto,  il  cui  attributo  fondamentale  sarebbe  l'essere  una  parte 
fuori  deir  altra  o  l'estensione  (Cartesio).  Nessuna  delle  due  alter- 
native appaga  la  mente,  onde  si  conchiude  che  il  Noumeno  della 
materia  e  impensabile.  Si  vede  quindi  come  a  torto  il  Cesca  com- 
batta  quegl'  interpreti  de!  Kantismo,  che  fanno  coincidere  il  Nou- 
[o  deir  Analitica  coli'  Idea  trascendentale.  [mperocche  quegli 
ultimi  anelli  dai  quali  pendono  le  catene  dei  fenomeni  o  fisici  o 
psichici  che  siano,  non  possono  essere  se  qoii  im  prodotto  della 
Ragione  Speculativa,  un  Noumeno  iuteso  non  uel  senso  negativo, 
che  vuole  l'Analitica,  di  concetto  limite,  bensi.nel  positivo  della 
Dialettica,  che  chiude  la  serie,  ponendo  l'idea  che  dovrebbe  coin- 
cidere colla  Realtä  qua!  e  in  se  stessa. 

Questo  scambio  de]  Noumeno  positivo  col  negativo    produce  i 
parologismi  e  le  antinomie. 

II  secondo  lavoro  sulla  metafisica  e  gnoseologia  »le I  Leibnitz, 
uon  e  aeanche  esso  del  tutto  storico,  poiche  la  critica  vi  primeggia, 
una  critica  attinta  il  piu  delle  volte  non  alle  contraddizioni  interne 
della  dottrina  Leibniziana,  ma  ben  piuttosto  al  contrasto  tra  questa 
e  le  teorie  dalT  autore  preferite.  S'e  tanto  scritto  e  discusso  snl 
Leibnitz,  che  nou  si  puö  certamente  pretendere  molto  di  quovo, 
e  l'Autore  stesso  uei  punti  piü  importanti,  specie  nella  gnoseologia, 
cita  i  predecessori,  ;ii  quali  piu  deve,  come  per  esempio  Kuno 
Fischer,  Zeller,  Erdmann  wv.  Ma  talvolta  da  essi  dissente  e  li 
combatte,  vittoriosamente  a  parer  mio.  Cosi  egli  non  puö  accettare 
resposizione  'li  Kuno  Fischer  secondo  il  quäle  l'armonia  prestabilita 
sarebbe  una  teoria  rigorosamente  scientifica,  fondata  su  due  con- 
dizioni,  una  negativa,  che  e  la  materialita  o  la  limitazione  degli 
ii.  e  P altra  positiva,  che  e  la  continuitä  o  la  gradazione  delle 
<litl>':.'ii/..-  impercettibili.  L'autore  nou  accetta  il  primo  punto 
perche  „la  connessione  esige  una  limitazione  reale  dipendente 
dalle  mutue  azioni  <•  reazioni  tra  le  c,,sr.  e  perciö  uon  si  potrebbe 
dire   ehr    le   monadi  sono  in  armonia,    perche  sono  liraitate,    ma 


136  Feiice  Tocco, 

perche  sono  in  continua  azione  reciproca  tra  loro"  (p.  26).  Non 
accetta  il  secondo,  poiche  l'armonia  „sta  nell'  accordo  che  nelle 
monadi  v'e  tra  i  loro  continui  cangiarnenti  e  nell'  adattazione 
mutua  iTello  mouadi,  e  perciö  non  puö  avere  per  base  le  differeuze 
Lnfinitesimali  tra  le  monadi,  ammesse  le  quali  si  puö  avere  una 
disposizione  seriale  continua,  ma  mai  un  accordo  tra  le  azioni  e 
le  passioni  delle  diverse  monadi"  (p.  26).  La  conseguenza  e  che 
l'armonia  prestabilita  non  deriva  dalla  natura  stessa  delle  monadi. 
ma  e  qualche  cosa  di  estrinseco  e  di  avventizio.  E  in  questo  punto 
avrebbe  potuto  scoprire  la  ragione,  che  indusse  il  Leibnitz  ad 
ammettere  la  monade  delle  Monadi.  Se  l'armonia  fosse  stata  una 
conseguenza  necessaria  del  rapporto  o  di  limitazione  o  di  gradazione 
tra  le  monadi,  non  ci  sarebbe  piii  posto  nella  metafisica  Leibnitziana 
ue  per  la  Creazione,  ne  per  il  Dio  previdente  e  provvidente,  e  non 
solo  la  metafisica,  ma  benanche  la  teodicea  del  Leibnitz  ne  an- 
drebbero  spiantate  dalle  fondameuta.  Sulla  teoria  delle  cognizioni 
ci  sarebbe  qualche  cosa  da  notare.  Non  e  esatto  che  per  Cartesio 
le  idee  sono  belle  e  formate,  mentre  il  Leibnitz  le  tiene  per  sem- 
plici  disposizioni  (p.  32).  Anche  Cartesio,  stesso  alle  strette  non 
s'espresse  diversamente,  ed  il  Liard,  per  non  citare  altri,  lo  ha  ben 
rilevato.  Ne  si  puö  dire  che  per  Leibnitz  il  principio  di  ragion 
sufficiente  serva  per  la  verita  di  fatto,  e  quello  di  contraddizione 
per  le  verita  necessarie  (p.  33).  E  tanto  meno  si  puö  accettare  la 
dottrina  del  Lewes,  che  „tutte  le  verita  sono  si  necessarie  che 
contingenti,  necessarie  se  si  considerano  come  verificate  e  se  si 
manteugono  i  termini  sempre  omogenei,  contingenti  in  quanto  non 
si'  sono  osservati  tutti  i  casi,  cui  si  possono  applicare"  (p.  37). 
Ma  per  compenso  si  puö  accettare  senza  mutar  sillaba  l'acuta 
critica,  che  l'Autore  fa  della  Gnoseologia  Leibniziana  confrontandola 
con  la  metafisica  „Se  la  monade  e  del  tutto  chiusa,  non  puö 
conoscere  nulla  al  di  fuori;  ammesso  poi  possibile  per  l'armonia 
prestabilita  un'  azione  ideale  tra  le  sostanze,  queste  potrebbero 
conoscere  soltanto  la  reazione  che  i'azione  delle  altre  desta  in  loro; 
in  seguito  poi  alla  diversitä  nella  disposizione  originaria  delle 
monadi,  ognuna  potrebbe  avere  soltanto  una  conoscenza  doli"  üni- 
verso  relativo  a  lei"  (p.  43).    In  altre  parole  le  teorie  metäfisiche 


La  Storia  della  filosofia  moderna  in  Italia.    ivvs    91.  L31 

avrebbero dovuto  menare  il  Leibnitz  ad  una  gnoseologia  relativistica, 
raentre  il  Qlosofo  tedesco  afferma  senz'  ambagi  che  si  possano 
conoscere  le  cosi  come  sono  in  se,  mm  soltanto  quali  paiano  a  uoi. 

II  terzo  lavoro,  che  dobbiamo  esaminare  e  quello  sul  Feno- 
menismo  dell'  Hobbes.  Diversi  altri  scritti  ha  pubblicato  il  uostro 
Autore,  ••  parecchi  di  essi,  come  l'idealismo  critico  de]  Cohen 
Napoli  1886,  Lo  spiritualismo  de]  l.otze  Napoli  1887, 
L'idealismo  critico  de]  Cohen  Napoli  1887,  II  transub- 
biettivismo  del  Volkell  Napoli  1S^T.  L'animismo  de] 
Womit  Milano  1891  dovrebbero  entrare  nellc  mia  Rassegna,  se 
iiuu    fossero    prevalentemente   polemici    e    critici,    anzieht'    storici. 

v'entra    di    pieno    dritto    questa    memoria    sul    fenomenismo 

dell'  Hobbes,  dove  l'antore  tratta  della  gnoseologica  del  filosofo  di 

Malmesbury,    che   e    la   parte   piii   trascurata   della  costui  filosofia, 

mentre  a  giudizio  del  Cesca  e  la  [>iii  notevole.  e  [>iii  ehe  sufficiente 

,ritenere  l'Hobbea  come  uno  dei  principali  precursori  de]  Criti- 

cismo".     L'Hobbes  senza  dubbio  alenno  e  nominalista;   poiehe  per 

lui  i  concetti  stessi  aniversali  uon  nascono,  se  non  dopo  ehe  l'ar- 

bitrio  Qmano  ha  creato  i  nomi  per  significare  le  cose.     Lavorando 

sui  nomi,  ehe  sono  segni  compendiati  delle  cose.  si  puö  sotto  im 

Dome  solo   comprendere   piii   cose;    ma  come  arbitrario  e  il  mnne, 

si  arbitraria  e  la  signifieazione  universale  che  noi  sogliamo  dare. 

E  il  Dominalismo  dell'  Occam  spinto  alle  ultimo  conseguenze  sue. 

Ma    oltreche    nominalista    L'Hobbes    e    anche  soggettivista  o  feno- 

she  dir  si  voglia,    poiehe  t'a  sue  rendendole  piü  rigorose 

le  dottrine  dei  Galilei  e  del  Cartesio,    che  ritengono  le  cosiddette 

qnalita  dei  corpi,  come  gli  odori,  i  sapori,  i  suoni  non  essere  altro 

doq   affezioni    oostre,   che   nun   hanno   nulla   ehe  fare  con  quel 

che  accade  oei  corpi,  quando  in  noi  snscitano  quelle  tali  affezioni. 

I.  Hobbes  conobbe  il  Galilei,   e  dichiarö  ehe  fu  lui  che  gli  apri  la 

porta  della  fisica,  e  per  mezzo  del  padre  Mersenne  fu  in  relazione 

col  Cartesio.     Nun   e  quindi    strano    che  anche  egli   sostenne   non 

rvi  alcuoa  equazione  tra  quello  che  noi  diciamo  sensazione,  che 

an  mutainento  interno  o  una  reazione   propria  de]  senziente,    e 

quello  die  in  realta   u<>u  e  altro  se  uon   un  moto  o  ondulatorio  o 


138  Feiice  Tocco, 

oscillatorio  o  che  altro  sia  del  corpo.  Auzi  va  piü  in  la  del  Car- 
tesio  stesso,  perche  non  riconosce  la  distinzione  fatta  da  lui  tra 
qualita  primarie  e  secondarie  „e  cosi  riesce  ad  una  dottrina  critica 
superiore  a  quclla  che  indipendentemente  da  lui  costrtu  piü  fcardi  il 
Locke"  (p.  12).  Qui  parmi  che  il  nostro  Autore  esageri.  L'Hobbes, 
come  il  Cesca  rnedesimo  riconosce,  ammettcndo  l'obbiettivitä  del 
inoto  non  toglie  di  mezzo  la  distinzione  tra  qualita  primarie  e 
secondarie;  nel  quäl  caso  avrebbe  dovuto  sostcnere  che  anche  il 
raovimento  non  e  se  non  un  fenomeno  subbiettivo,  quäle  il  colore 
e  l'odore.  Ecco  perche  l'Hobbes  „ammette  un  realismo,  ma  noD 
pensa  in  nessun  modo  ne  di  conciliarlo  col  fenomenismo,  ne  di 
giüstificare  la  sua  ammissione".  Di  questa  giustificazione  l'Hobbes 
non  avea  bisogno,  perche  il  suo  fenomenismo  e  parziale  e  non 
totale,  e  non  oltrepassa  la  sfera  delle  qualita  sensibili,  o  delle 
sensazioni,  ne  attinge  quella  dci  corpi  a  cui  erroneamente  si 
attribuiscono,  o  dei  moti  che  le  provocano.  Del  resto  bisogna  bene 
intendersi  su  fenomenismo  e  fenomenismo.  Anche  i  dommatici 
piü  risoluti  possono  bene  ammettere,  clie  la  cognizione  sensibile, 
fönte  di  errori  e  d'illusioni,  non  coglie  Pessere  come  e:  ma  questo 
non  e  un  vero  fenomenismo,  poiche  non  esclude  che  per  altra  via 
lo  spirito  umano  possa  cogliere  quello  che  sfugge  alla  sensazione. 
Ne  solo  Piatone  argumenta  cosi,  che  oltre  al  senso  ammette  la 
räg'ione  speculativa  indipendente  da  esso,  ma  lo  stesso  Democrito 
non  dice  diversamente,  benche  per  lui  come  per  l'Hobbes,  Punica 
fönte  della  cognizione  non  e  se  non  il  senso.  Imperocche  si  puö 
distinguere  senso  da  senso,  lo  spontaneo  e  volgare  dal  piü  raffi- 
nato  e  controllato,  e  ciö  che  sfugge  al  primo  non  c'e  ragione  che 
il  secondo  non  lo  colga.  Comunque  sia,  certo  e  che  Democrito 
accanto  al  suo  fenomenismo  costruisce  ün  dommatismo  mate- 
rialistico,  senza  addarsi  della  contraddizione.  II  che  vuol  dire 
che  il  suo  fenomenismo  non  e  di  buona  lega.  E  lo  stesso  si  deve 
dire'delP  Hobbes,  che  risuscita  l'antica  dottrina  materialistica.  cd 
ha  una  convinzione  ben  ferma  sulla  natura  dello  spirito.  che  mm 
e  altro  se  non  un'  attivitä,  una  iünzione  diremmo  oggi  della  ma- 
teria.  Ne  mi  convince  quel  che  dice  il  nostro  Autore  dell'  Hohles, 
il  quäle  „non  vuol  dare  una  spicgazione  ontologica  delle  cose  come 


La  Storia  della  filosofia  moderna  in  [talia.    1888  -91.  139 

sono  in  8e,  ne  dire  che  queste  si  riducono  a  materia  e  movimento, 
ma  soltanto  cerca  di  coordinare  i  fatti  della  bostra  esperienza  e 
di  dare  una  teoria  valida  soltanto  entro  il  campo  dei  aostri  feno- 
nu.,,r  Q>.  16).  L'Autore,  che  e  cosi  scrupoloso  in  citazioni,  non 
oe  adduce  neppure  una  per  giustificare  questa  audace  inter 
pretazione. 

I  Baro  i  e  R.  Sabbadini.  Studi  sul  Panormita  e  sui  Valla 
^Pubblicazioni  de!  R.  [stituto  di  studi  superiori).  Firenze 
Le  Monnier  1891. 

Lo  studio  sulle  opere  de]  Valla  e  una  tesi  di  laurea,  presen- 
tata  nel  1873  dal  rimpianto  Barozzi,  che  L'anno  dopo  immatura- 
mente  mancö,  portando  seco  nel  sepolcro  im  tesoro  di  ben  fpndate 
sperauze.  II  Prof.  Sabbadini,  gia  condiscepolo  de]  Barozzi,  e 
autore  «li  pregevoli  scritti  sugli  (Jmanisti,  si  assunse  la  malagevole 
impresa  di  curare  l'edizione  di  un  lavoro,  eh*1  per  quanto  merito 
avesse,  era  pur  sempre  vecchio  di  parecchi  anni,  e  mal  rispondente 
allo  stato  attuale  degli  studi  sul  Risorgimento.  A  codesto  incon- 
veniente  l'editore  pensö  di  riparare  in  doppio  modo,  da  un  lato 
col  sopprimere  le  pai'ti  piii  difettose,  sostituendovi  un  lavoro  de] 
tutto  uuovo;  dair  altro  coli'  apporre  alcune  note  per  rettificare  o 
compiere  il  testo  de]  Barozzi,  quando  le  nuove  ricerche  lo  richiede- 
vano.  lo  per  parte  mia  sarei  stato  piü  radicale.  <•  in  luogo  di  ri- 
produrre  il  testo  errato,  correggendolo  in  nota,  lo  avrei  senz'  altro 
modificato,  come  avrebbe  fatto  l'Autore  stosso,  sc  avesse  potuto 
tornare  sul  -u<<  lavoro  a  tanti  anni  di  distanza.  E  parecchi  altri 
luoghi  oltre  quelli  uotati  dal  Sabbadini  avrei  corretti.  Cosi  ad 
mpio  aon  avrei  lasciato  correre  periodi  quali  i  seguenti;  p.  190: 
..I.'  »orie  Aristoteliche  .  .  .  erano  state  ridotte  a  quattro  dagli 

Stoici  (sostanza,  essenza,  maniera  d'essere,  maniera  d'essere  rela- 
tivamente)  e  da  IIa  scuola  teologica  a  due  comprendenti  le  dieci 
dello  Stagirita";  p.  201:  „Lo  stoico  ci  dice  che  questo  (il  sommo 
bene)  e  l'onesto,  poiche  la  natura  pose  in  noi  i  germi  di  molti 
niali  ecc.u;  p.  -l'.vi:  „Nel  secolo  Will  In  scetticismo  cominciö 
di  eccessi  della  critica,  i  quali  provocarono  la  reazione  della,  scuola 
teologica";  p.  249:  „questo  spirito  pratico  e  concetto  semplice  che 


140  Feiice  Tocco, 

avea  della  natura  umana,  che  mostro  nelle  sue  opere  filosofiche, 
domina  eziandja  m  tutta  questa  dissertazioue  „ecc.  ecc.  Dobbiamo 
ricordare  che  il  lavoro  del  Barozzi  era  opera  affatto  giovanile,  e 
l'Autorc  stesso  avrebbe  riconosciuta  la  necessitä  di  limarlo  piü  e 
|)iii  volte  prima  di  darlo  alla  luce. 

In  quanto  alla  dissertazioue  del  Sabbadini  intitolata:  Crono- 
logia  della  vita  del  Panorrnita  e  del  Valla,  io  profano  in  molta 
parte  a  questi  studi,  non  posso  portare  sicuro  giudizio,  ma  parmi 
che  gitti  nuova  luce  su  punti  assai  oscuri,  ed  abbia  il  merito 
di  fondarsi  sopra  im  materiale  talvolta  inedito.  Mi  basti  citare  ad 
esempio  le  importanti  lettere,  giä  indicate  dal  Barozzi,  che  Ambrogio 
Traversari,  Leonardo  Aretino  e  Carlo  Marsoppini  scrissero  al  Valla 
per  ringraziarlo  delF  opera  De  vero  bono.  E  notevole  che  TAretino 
loda  la  forma,  ma  fa  le  sue  riserve  delle  idee,  delle  quali  non  sa  nem- 
meno  quali  TAutore  abbracci;  poiehe  i  dialoghi  sono  scritti  apposta 
per  nascondere  i  propri  pensieri.  Ed  anche  qui  come  neir  Isago- 
gicon  Leonardo  si  da  per  Aristotelico  sehietto.  Citero  ancora 
la  lunga  lettera  del  Valla  al  Serra  (creduta  perduta  dal  Vahlen), 
dove  lo  scrittore  si  difende  dalle  aecuse  dei  suoi  nemici,  e  prin- 
cipalmente  contro  chi  lo  rimprovera  di  aver  combattuto  Aristotele 
esclama:  Quid?  Si  hoc  lieuit  Theophrasto,  quanto  magis 
aliis  sectis  liceat,  quanto  magis  et  mihi  qui  nulli  seetae 
me  addixi?  Molte  altre  lettere  dovrei  citare,  se  pur  non  tutte; 
poiehe  da  tutte  il  Sabbadini  sa  trarre  argomenti  per  fissare  l'incerta 
cronologia. 

A  queste  ricerche  cronologiche  segue  il  lavoro  espositivo  del 
Barozzi,  dove  e  ben  rilevato  il  carattere  critico  del  celebre  uma- 
uista,  clie  piü  di  tutti  seppe  addentrarsi  nel  magistero  della  lingua 
laiina,  e  della  filologia  si  serve  per  mover  guerra  a  lettcrati,  a  giu- 
risti,  a  storici,  a  Iilosoii,  che  si  credono  gli  eredi  della  sapienza 
antica,  mentre  ne  ignorano  perfino  il  linguaggio.  „II  lato  piü 
caratteristico  del  Valla,  scrive  il  Barozzi,  era  l'attitudine  critica, 
per  la  quäle  i'u  terribile  ai  suoi  tempi...Per  mezzo  della  filologia 
sepp»'  scliiudersi  la  via  ad  ardue  quistioni  risguardanti  varie  disci- 
pline  ....  Egli  volea  provare  che  Iilosoii.  grammatici,  teologi  c 
giuristi  cadevano  in  molti  errori  e  versavano  in  grande  ignoranza, 


I.    Storia  della  filosofia  moderna  in  [talia.    1888-  91.  III 

perche  oulla  sapevano  di  latino  (p.  166)".  A  questo  lavorio  critico 
il  Barozzi  tien  dietro.  e  De  rfleva  con  molto  acume  la  oovita  e 
l'arditezza,  ma  noo  di  rado  si  desidera  maggiore  pienezza  di  espo- 
sizione.  Cosi  per  dod  escire  dai  libri  filosofici,  della  riforma  che 
il  Valla  tenta  della  sillogistica  dod  si  fa  se  dod  questo  coDfuso  ed 
errooeo    coddo  „Riguardo  ;il  sillogismo  sostieoe   che  dei    19   modi 

otto  sodo  comodi,  cioe  coDcludenti,  e  la  c ilusione  d'uD  sillogismo 

e  oecessaria,  possibile"  (p.  190)  Dell'  opuscolo  De  libero  arbitrio 
e  fatta  im*  aualisi  iocompleta,  <i  foDdandosi  sopra  im  solo  passo  si 
attriboisce  al  Valla  il  merito  di  precorrere  i  determioisti  moderni, 
che  l'opera  dell'  aomo  derivano  „dalla  cooformazioDe  de!  suo  or- 
gauismo,  dalla  razza,  dall'  ambiente  in  cai  si  trova"  (p.  219). 

Tali  vuoti  il  Barozzi  avrebbe  certamente  riempiti,  tornaDdo 
sul  bqo  lavorOj  al  quäle  avrebbe  aggiuoto  lo  studio,  che  ora  manea, 
delle  Adnotatiooes  in  uovum  Testamentum.  Ma  difficilmeDte 
avrebbe  cambiato  il  suo  giudizio  sul  trattato  De  vero  bono  „ove 
nuii  sa  beue  il  lettore  se  debbasi  ammirare  la  porteutosa  erudizioue 
filologica,  la  oovita  della  materia  o  l'ordioe  de!  peosiero"  (|).  195). 
Ed  avrebbe  forse  sempre  seguitato  ad  attribuirgli  uu  iütcndimenlu 
aoticristiano;  poiehe  se  vi  si  finge  „di  lasciar  la  vittoriä  al  Cristia- 
oesimo,  sebbeue  con  qualche  concessioDe  all'  Epicureisoio,  lo  fa 
per  nna  di  (juelle  precauzioni  prudeuti,  couformi  al  carattere  dei 
tempi".  Eppure  a  me  sembra,  o  io  m'iugauDO,  che  qui  il  Barozzi 
sia  fuor  di  strada.  Non  v'ha  dubbio  che  il  Valla  muova  aspra 
guerra  alla  tradiziooe  religiosa,  oe  sappia  perdoDarle  di  accettare  a 
occhi  chiosi  il  testo  delle  scritture  sacre,  auche  quando  sia  errato; 
b  di  credere  Dell'  autoritä  di  tutti  i  documenti,  auche  se  mani- 
festamente  apoerifi,  cöme  la  douazioue  di  Costantino;  e  di  fare 
violeoza  alle  leggi  di  natura  glorificaudo  il  celibato  e  la  verginitä, 
e  mcitaodo  gli  Domini  a  segregai-si  dal  moodo.  Ma  tutto  questo 
dod  e  far  guerra  al  Cristianesimo,  si  a  quella  trasformazioue  che 
subi  per  opera  dell'  ascetismo  medievale.  Se  il  Valla  fosse  stato 
del  tutto  aoticristiaoo ,  avrebbe  scritto  in  altro  tono,  De  gliene 
maoeava  il  modo,  aoehe  seuza  compromettersi.     iDvece  il   Barozzi 

gli  Diostra  nna  specie  d'uggia  coutro  la  filosofia 
„perche  voleva  sig eggiare  la  religiooe,  meDtre  In   sempre  causa 


142  Feiice  Tocco, 

di  eresie"  (p.  196).  Curioso  incredulo  costui,  che  „insiste  in  pa- 
recchie  opere  su  questa  idea"  e  park  come  tutti  i  mistici  antichi  e 
moderni,  che  per  amore  della  fede  hanno  in  sospetto  la  filosofia! 
Non  diversamente  nel  De  libero  arbitrio  il  Barozzi  stesso  nota: 
„Beuche  si  scagli  contro  gli  Scolastici  ed  Aristotele  (io  avrei  detto 
invece:  appunto  perche  si  scaglia)  contro  il  pseudo-razionalismo  degli 
scolastici,  di  cui  nulla  v'ha  di  piü  superbo  ed  odioso,  pur  egli  rac- 
eomanda  che  si  freni  l'irrequietezza  della  mente  umana.  quasi  tra- 
ducendo  quei  versi  dell"  Allighieri:  State  contenti  umana  gente  al 
quia.  Yolgesi  dunque  alla  fede  per  conciliare  queste  sue  dottrine 
colla  bonta  di  Dio,  che  e  misericordioso,  e  tale  essendo  si  dee  nutrire 
fiducia  in  lui,  che  vuole  non  la  morte  del  peccatore,  raa  la  sua  con- 
versione"  (p.  219).  Per  quanto  si  attenui  il  valore  di  queste  diehia- 
razioni,  non  si  puö  ne  si  deve  sconoscerue  il  significato,  come  fa 
il  Barozzi.  quando  poche  righe  piü  su  scrive:  „Se  i  tempi  l'irreti- 
rono  di  nuovo  nei  lacci  teologici,  sieche  intrica  piü  il  nodo  della 
(juistione,  e  ciö  da  attribuir  a  circospezione  piuttosto  che  a  vero 
intendimento". 

Mancini  Girolamo.    Vita  di  Lorenzo  Valla.  Firenze  Sansoni  1891. 
E  un  libro  di  erudizione,  ben  meditato  e  meglio  scritto,  dove 

TAutore  sa  mettere  nella  debita  luce  il  principe  dei  critici  del 
Quattrocento.  Ed  accanto  al  Valla  illustra  altri  minori,  rieavandone 
da  manoscritti  le  opere  a  ben  pochi  note.  Cosi  del  giurista  Catone 
Sacco  espone  succintamente  il  primo  libro  delle  Origini  (cod.  Naz. 
di  Napoli  V.  B.  21  f°.  41),  dove  s'attacca  direttamente  Aristotele, 
contrapponendo  all'  eternita  del  mondo  da  lui  sognata,  il  prineipio 
della  creazione.  secondo  il  quäle  „le  cose  ebbero  origine  dal  sommo 
Artefice,  e  quando  a  lui  piacerä,  anderannö  in  dissoluzione".  Di 
Maffeo  Vegi,  „scrittore  elegante  in  prosa,  eccellente  artefice  di 
versi",  riporta  un  carme  da  lui  diretto  ai  maestri  di  teologia 
perche  vietino  „nelle  chiese  le  orgie  dette  feste  vesperie,  solem- 
nizzate  con  mascherate,  spettri,  schiamazzi,  gozzoviglie,  giuochi, 
canzoni  turpi  ed  atti  da  arrossire  a  ricordarli.  Se  non  l'ascolte- 
ranno,  espellerä  col  flagello  i  sacerdoti  dal  tempio ,  si  rechera  a 
Basilea.  dove  s'aduna   il  Concilio  generale,   per  chiedere  che  sieno 


La  Storia  della  filosofia  moderna  in  Itali.i.    1888—91.  1  1:'. 

vietate  profanazioni  simili,  e  riuscendo  vano  il  tentativo,  abbando- 
Dorä  il  sacro  buoIo  di  Pavia  e  toraerä  alla  patria  Ravenna"  (Cod. 
Laur.  55  XXXIV   Fol.  79).      Di    Leonardo    Aretino    sa    apprezzare 

giustamente   l'Isagogic aoralia    philosophiae,    dialogo  che 

,i,,n  i'u  certo  „scritto  per  conciliare  le  dottrine  pagane  con  le 
cristiane;  poiche  a  queste  oon  vi  si  accenna  nemmeno  da  lontano, 

I  concetto  cristiano  che  gli  uomini  devono  praticare  in  terra  la 
virtä  per  conseguire  il  bene  eterno  oella  vita  tnondana  noo  si  fa 
minima  allusiom  ".  ma  ben  piuttosto  e  indirizzato  a  conciliare  le 
diverse  s<  uöle  (Uosofiche,  delle  quali  cod  buona  pace  del  Mancini, 
all'  Aristotelica  qod  alla  Stoica  e  »lata  la  preferenza. 

Del  dialogo  de!  Valla  1»»'  voluptate  ac  de  vero  bono  il 
Mancini  pote  vedere  l'antica  edizione  di  Lovanio  del  1483  c  con- 
frontarla  cod  quella  «li  Basilea  del  1519.*)  Le  diflferenze  tra  i  due 
a  stampa  uoo  sono  rilevanti,  e  si  riducouo  tutte  ai  nomi 
degl' interlocutori  (Antonio  Berneri.  Antonio  da  Rokindido  Docembri, 
Giovanni  Marchi,  Matteo  Vegio,  Antonio  d'Ambrogio  Bossi,  il 
Guarino,  Catone  Sann,  e  Ginseppe  Brissi  secondo  il  testo  di  Lo- 
vanio; Leonardo  Aretino,  il  1'oggio,  il  Loschi,  il  Rustici,  lo  Scri- 
bani,   Rinuccio,   Antonio   Arena,    Niccolö  Niccoli    e    il   Panormita 

indo  i!  testo  di  Basilea).  Anche  il  luogo,  ove  si  suppone  tenuto 
il  dialogo,  e  differente;  il  portico  Gregoriano  di  Pavia  secondo  l'uu 
•  il  palazzo  vaticano  secondo  l'altro.  A  parte  qneste  diffe- 
renze, i  due  testi  combaciano,  il  che  fa  sospettare  che  la  primitiva 
redazione,  la  quäle  a  confessione  del  Valla  stesso  era  piu  breve 
della  seconda,  fosse  una  cosa  affatto  differente  da  loro3).    Ke  varia- 


-    I.     rti  ss     Mancini  nelT  opuscolo  recente,  dove  pubblica  alcune  letl 

■  li  Lorenzo  Valla   [Giornale  Btorico  della  Lett.  ital.  vol.  XXI  p.  27)  crede  che 

1  dialogo  De  vero  bono  Bia  indiretta  risposta  al  dialogo  De  felicitate  di 

rminato   il    19  ottobre  1400  e   stampato  a   Padova  dal 

1  1655. 

*)  II  Sabbadini  aella  r<  .  che  fece  del  libro  del  Mancini  (Giornale 

della  letteratura  italiana  vol.  XIX  p.  M)8)  combatte  questa  ipotesi.    Dia 

_  oni  del  ••  r it i<-< .  furono  vigorosamente  oppugnate  dal  Mancini  medesimo 

iddetto  vol.  XXI  p.  20).   Certo  e  che  la  redazione  primitiva 

del  diaJ  dimidio  brevior,   ••  frequentemente  \i  si  ripeteva  il  n 

Loscbi.     V.   poiche   le  due  redazioni,   che  abbiamo  ora,   Bono  di  eguale 


144  Feiice  Toc co, 

zioni  maggiori  hanno  clovuto  aver  luogo  nel  secoudo  libro,  dove 
il  Panormita,  traeudo  all'  estreme  conseguenze  le  dottrine  di  Epi- 
curo,  condanna  tutto  quello  che  frappone  ostacolo  alla  soddisfazione 
degli  umaui  appetiti,  e  dello  stesso  arnor  di  patria  fa  strazio. 
Probabilmente  il  Valla  offri  a  Papa  Eugenio  VI  la  prima  edizione 
del  suo  dialogo,  dove  mancavano  siffatte  aniplificazioni,  do- 
vnte  all'  influsso  del  Panormita.  in  bocca  al  quäle  non  suonavan 
male  quelle  sentenze  cinicamente  scandalose,  ben  degne  dell'  au- 
tore  delF  Ermafrodito  *).  Certo  e  che  questi  concetti  non  esprimono 
l'intimo  pensiero  del  Valla:  poiche  egli  comprendeva  b'enissimo  la 
preferenza  da  darsi  al  bene  morale  sul  materiale,  ammirava  l'abne- 
gazione  degli  uomini  ed  i  pericoli  incontrati  per  il  bene  dei  loro 
simili,  e  delle  molteplici  forme  di  sacrifizio  onorate  dal  rispetto 
c  dalla  venerazione  dei  popoli,  faceva  grou  conto  a  cominciare  dalla 
magnanimita  del  soldato  pronto  a  perder  la  vita  per  la  patria,  per 
linire  alla  virtü  della  propria  madre  Caterina,  rimasta  vedova  per 
educare  i  suoi  figli  (p.  55).  Meno  importante  e  l'altra  opera  del 
A  ;illa  intitolata  Dialecticarum  disputationum  libri  tres.  Vi 
si  mostra  scontento  delle  teorie  Aristoteliche,  accettate  concordemente 
nelle  scuole,  e  cerca  di  semplificare  le  categorie  riducendole  a  tre 
sole,  sostanza,  qualita,  atto.  Elimina  il  fuoco  dagli  elementi,  ed 
afferma  che  sopra  di  noi  esiste  il  solo  fuoco  sidereo.  „Nega  che 
Dio  sia  come  lo  concepi  Aristotele  motore  immobile  della  natura, 


lunghezza,  e  il  nome  del  Loschi  o  non  vi  apparisce  affatto,  o  e  solo  ricordato 
per  incidenza,  ragion  vuole  che  nessuua  di  esse  sia  la  piü  antica.  L'indica- 
zione  data  dal  Valla  stesso  e  cosi  precisa,  che  mal  potrebbe  convertirsi  in 
una  fräse  uu  pö  esagerata  come  vuole  il  Sabbadini. 

4)  Di  quest'  ultima  conghiettura  io  dubito  assai;  poiche  secondo  la  lettera 
de]  Valla  ad  Eugenio  IV  (che  e  la  prima  delle  20  pubblicate  dal  Maneini 
stesso  nel  citato  scrittö  p.  29)  fu  offerto  al  Papa  non  tutto  il  trattato  1''' 
vero  bono,  ma  il  terzo  libro  solo:  tertium  dumtaxat  De  vero  bono 
libruin,  partem  operis  non  totum  opus,  ne  forte  longior  lectio 
plus  afferat.  inolestiae  til)i  quam  voluptatis,  quod  ego  minime 
velim.  C  ö  da  scommettere  che  la  vera  ragione  della  mutilazione  non  sia 
questa  addotta  dal  Valla,  ma  invece  l'altra,  che  per  non  mettere  sotto  gli 
occhi  del  Papa  il  secondo  libro,  scandaloso  pareccbio,  si  sopprime  anche  il 
primo,  contentandosi  ili  mandare  il  terzo  soltanto,  (luve  e  la  descrizione  del 
Paradiso. 


La  Storia  della  filosofia  moderna  in  Italia.    1888—91.  14."> 

attaccato  al  delo  neJ  modo  stesso  che  favoleggiano  d'Issione  avvinto 
alla  raota"  (103).    II  Valla  „era  natu   critico,  quindi  analizzatore, 
mapossede  limitate  facoltä  creative  .  ..  fcrasportato  della  vivacitä 
de!    oarattere    pecco    di  precipitazione,    e    come    altri    riformatori 
distrusse,  non  sostitui  cose  nuove  e  migliori  (109)".   Neil' opuscolo 
De    libero   arbitrio  il  Valla   combatte  Boezio,   che  nel  libro  V 
De  consolatione  philosophiae  pose  beiie  il  quesito  come  s'ac- 
cordi  la  liberta  umana  con  la  prescienza  divina,  ma  lo  risolve  male 
o   almeno    oscuramente.      Secondo    l'opuscolo    la    prescienza   non 
restringe  il  libero  arbitrio;  poiche  Iddio    col  prevedere  le  buone  e 
le  malvage  azioui  degli  uomini.    non  li  obbliga  a  risolversi  iu  im 
modo  o  nelP  altro.    Presente  alle  deliberazioni  loro,  le  inteode,  ma 
non  vi  prende  parte.     „Le  dottrine  svolte  uel  dialogo,  conclude  il 
Mancini,  distruggono   dalle  fondamenta  l'accusa  d'eresia.     Per  un 
quattrocentista    sono  vero    miracolo    d'ortodossia".     Le  altre  opere 
de!  Valla  piü  letterarie  che  filosofiche  non  e  qui  il  luogo  di  esami- 
nare.    Faremo  un  eccezione  per  il  trattato  sulla  donazione  di  Costan- 
tino.  che  il  Valla  scrisse  per  rintuzzare  le  pretese  della  Curia  Ko- 
mana  sul  regno   di  Napoli.     Altri  prima  del  Valla  aveano    dubi- 
tato  della  famosa  donazione,   e  il  Mancini  avrebbe  potuto  risalire 
sino  alla    lettera  di  im  Arnaldista   al  Wezel,    dove  si  parla  della 
donazione  come  di  una  favola  da  comari.    Ma  senza  dubbio  nessuno 
primo    del  Valla    avea    saputo    esporre  tutte  le  ragioni  storiche  e 
filologiche,  che  ora  si  adducono  contro  l'apocrifo  documento.     „Le 
liere  parole  del  Valla  piü  gravi,   che  non  lo  consentisse  La  rive- 
reuza    delle    somme    chiavi,    come    Topinione    che  il  dominio 
temporale  sia  un'  usurpazione,  ed  il  non  possederlo  segnalato  beni- 
iizio    per    la  Chiesa,    affinche    i  pontiüci    esercitino  con  maggiore 
liberta  la    sola  autorita  ecclesiastica ,    non    alterano  in  Lorenzo  le 
convinzioni  religiöse  o    diminuiscono  la    venerazione    sempre  pro- 
fessata  verso  le  dottrine  cristiane".     Citeremo  infine  le  Collatio- 
nes    „lavoro    coscienzioso ,   profonäo,    quäle    pochi    quattrocentisti 
avrebbero  osato  di  tentare  senza  speranza  di    riescire  egualmente. 
Lorenzo,  versatissimo  nelle  lingue  greca  e  latina,  abbastanza  esperto 
nell'  ebraica,  poteva  francamente  accingersi   a  correggere  il  testo 
della  Volgata,  confrontandolo  coli'  originale  greco,  applicandovi  i 

Ar'tiiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     VII.  10 


146  F-  Tocco,  La  Storia  della  filosofia  moderna  in  Italia. 

criteri  della  filologia,  per  riescir  meglio  a  giudicarne  la  proprietä  ed 
eleganza.  Pose  uello  studio  comparativo  la  maggior  diligenza,  per 
il  solito  confrontava  sei  codici,  tre  latini  e  tre  greci,  e  se  li  ravvi- 
sava  poco  corretti  ne  consultava  altri  .  .  .  Nei  luoghi  dubbiosi, 
se  i  codici  erano  discordi,  s'ajutava  con  esempi  desunti  dal  Testa- 
mente vecchio  dai  Padri  e  dai  teologi,  esaminava  poi  se  quei  testi 
erano  citati  da  S.  Cipriano,  da  demente  Alessandrino,  dei  SS.  Ago- 
stino,  Girolamo  ed  Ambrogio,  da  Remigio,  da  Graziano,  e  da  S. 
Tommaso.  Certamente  avea  la  maggior  familiaritä  con  questi 
scrittori  per  citarli  con  tanta  frequenza".  „II  trattato,  conchiude 
il  Mancini,  non  contiene  una  parola  di  censura  allo  spirito  della 
Bibbia  .  .  .  esamina  la  lingua  non  il  cuore,  la  forma  non  il 
senso,  le  parole  non  le  cose". 


Archiv 


Dir 


Geschichte  der  Philosophie. 


VII.  Band     2.  Heft. 
III. 

Zur  orphischeu  Kosmologie. 

Von 
Ferdinand  Dünunler  in  Itasei. 

Die  Frage  nach  dem  Alter  der  orphischen  Theogonieen,  welche 
für  die  Geschichte  der  griechischen  Philosophie  von  grundlegender 
Wichtigkeil  ist,  isl  durch  Otto  Kerns  Untersuchungen  jedenfalls 
von  neuem  in  Fluss  gekommen,  wenn  auch  der  Zeitpunkt  der 
Eünigang  auch  nur  der  competenten  Beurtheiler  noch  fern  sein 
mag.  Während  noch  in  der  neuesten  Auflage  seines  klassischen 
Werkes  Zeller  für  hellenistischen  Ursprung  der  sog.  rhapsodischen 
Theogonie  eintritt,  hat  Kern  neuerdings  in  Gomperz  einen  Bundes- 
genossen erhalten,  welcher  in  seinen  griechischen  Denkern  S.  74  ff. 
mit  beachtenswerthen  Gründen  für  das  Alter  jener  Theogonie  ein- 
tritt. Amli  der  Hinweis  von  Gomperz  auf  wahrscheinliche  orien- 
talische Einflüsse,  durch  welche  jene  theogonische  Spekulation  be- 
frachtet worden  >'•!.  i-t  durchaus  beachtenswerth  und  geeignet. 
manches  auffällige,  das  zu  späterer  Datirung  verleiten  könnte,  na- 
turgemäss  zu  erklären.  Nur  die  eigentlich  klassische  Zeit  dv>  V. 
und  IV.  Jahrhunderts  zeigt  bewusste  nationale  Abgeschlossenheit, 
während  die  Jugendzeil  des  griechischen  Volkes  ebenso  wie  die 
hellenistische  durch  i><_r''n  Cultur-  and  Gedankenaustausch  mit  dem 
Orient  ausgezeichnel  ist. 

VII.  11 


148  Ferdinand  Dümmler, 

Es  liegt  mir  fern,  mich  gegenwärtig  an  der  principiellen  Er- 
örterung der  Streitfrage  zu  betheiligen;  nur  auf  einen  nicht  zu 
vernachlässigenden  Seitenweg  möchte  ich  von  neuem  die  Aufmerk- 
samkeit lenken.  Diesen  Weg,  die  Verfolgung  der  Anklänge  an 
das  orphische  Gedicht,  hat  Kern,  wie  mir  scheint,  mit  Erfolg  ein- 
geschlagen in  seinem  Aufsatz  Empedokles  und  die  Orphiker,  Ar- 
chiv I  S.  498 ff.,  freilich  ohne  den  Beifall  Zellers  zu  finden.  Kern 
folgt  hier  der  Anregung  von  Diels,  welcher  in  Kerns  Schrift  de 
theogoniis  p.  52  darauf  hinweist,  dass  in  Parmenides  Prooemium 
V.  14  dem  orphischen  Verse  fg.  125  Abel  nachgebildet  ist,  ein 
Hinweis  der  nicht  genügend  beachtet  ist.  Das  Verhältniss  der  Nach- 
ahmung umzukehren  dürfte  wenigstens  in  diesem  Falle  schwer  sein. 

Mir  sind  auch  von  den  Empedokleischen  Anklängen  Kerns 
einige  überzeugend  und  scheint  der  Einwand,  dass  dann  das  or- 
phische Gedicht  dem  Empedokles  seine  vier  Elemente  vorweg- 
genommen habe,  nicht  unüberwindlich.  Dass  diese  vier  Elemente 
keine  bahnbrechende  Hypothese  waren,  sondern  eine  einfache  Sum- 
mirung  der  einzelnen  vpyou  der  Monisten,  ist  ja  wol  allgemein  zu- 
gestanden, und  da  der  orphische  Theologe  auch  nicht  Monist  war, 
so  lag  dieser  Schritt  für  ihn  schon  ausserordentlich  nahe,  ebenso 
begreiflich  ist  es,  dass  Aristoteles  den  mythischen  Sophisten  igno- 
rirte  und  so  kam  Empedokles  zu  der  ganz  unverdienten  Würde 
eines  Vaters  der  Chemie. ') 

Wenn  ich  nicht  irre,  bietet  eben  jenes  orphische  Fragment, 
in  welchem  die  Elemente  vorkommen  (123),  noch  anderweitige 
Kriterien  unzweifelhafter  Altertümlichkeit.  Mit  prophetischem 
Schwünge  wird  geschildert,  wie  Zeus  nach  Verschlingung  des  Pha- 
nes  wieder  alles  in  sich  vereinigt.  Der  Dichter  begnügt  sich  aber 
nicht,  dies  zu  versichern  und  verschiedentlieh  zu  umschreiben,  son- 
dern er  sucht  es  auch  anschaulich  zu  machen,  wie  sich  alle  Theile 
der  sichtbaren  Welt  dem  Zeus  unterordnen.  Dies  wird  im  einzel- 
nen ausgeführt  S.  13 ff.:  „Als  sein  Haupt  und  schönes  Antlitz  ist 
der  strahlende  Himmel  zu  sehn,  welchen  die  goldnen  wundervollen 
Haare  der  funkelnden  Sterne  rings  umflattern,  und  zwei  Stierhörner, 


')  Vgl.  Kern  Archiv  I  S.  502. 


Zur  orphischen  Kosmologie.  1  19 

Aufgang  and  Niedergang,  sind  auf  beiden  Seiten,  Wege  der  himm- 
lischen Götter,  Augen  aber  sind  die  Sonne  und  der  glänzende  Mond 
und  das  untrügliche  Ohr  des  Königs  isi  der  unvergängliche  Aether, 

durch  welch. Mi  er  alles  hört  und  weiss so  ist  sein  unsterb- 
liches Haupt  und  seine  sinne  beschaffen.     Sein Körper  aber 

ist  aui  folgende  Weise  gefügt:  Schultern  und  Brust  und  breitei 
Rücken  des  Gottes  isi  die  gewaltige  Luft  und  Flügel  sind  ihm 
darausgewachsen,  mit  welchen  er  überallhin  fliegt,  und  ein  heiliger 
Leib  wurde  ihm  die  Allmutter  Erde  und  die  steilen  Häupter  der 
Berge  und  mittelster  Gürtel  die  Fluth  des  tieftönenden  Meeres  und 
des  Pontes,  und  unterster  Stand  das.  wo  die  Wurzeln  der  Erde 
und  der  dunkle  Tartarus  und  die  äussersten  Enden  der  Erde.  Nach- 
dem er  das  alles  verborgen  hat,  wird  er  es  zum  erfreulichen  Lichte 
wieder  aus  seinem   Haupte  hervorbringen  in  göttlichem  Thun." 

Dies  die  Beschreibung  eines  Weltzustandes,  der  offenbar  nicht 
der  jetzi  herrschende  ist,  sondern  eines  concentrirtcren  einheit- 
licheren, in  welchem  Zeus  allein  existirt.  Dieser  Zustand  würde 
etwa  der  Anaximandrischen  Rückkehr  ins  aursipov,  dem  Herakliti- 
schen  Weltbrande  oder  dem  Empedokleischen  Sphairos  entsprechen. 
Aber  der  theologische  Dichter    ist    conservativer    als  jene  Denker, 

behält  den  alten  mensehenuestaltigen  Zeus  bei  und  macht  die 
Theile  der  sichtbaren  Welt  in  phantastischer  Weise  zu  seinen  Glie- 
dern umgekehrt  wie  tue  Edda  aus  den  Gliedern  des  toten  Riesen 
die  AVeit  entstehn  las 

Leider  besitzen  wir  nicht  die  entsprechende  Schilderung  des 
andern  Weltzustandes,  in  welchem  die  AVeit  wieder  aus  dem  Gott 
heraustritt,    jedenfalls    liess    der   Dichter    den  Vorgang    sich  nicht 

udig  wiederholen,  sondern  erzählte  wie  Eesiod  eine  einmalige 
Theogonie,  aber  dir  innere  Verwandtschaft  mit  den  philosophischen 
Theorieen  vom  wechselnden  Weltzustande  liegt  auf  der  Hand.  Mir 
wäre  nun  schon  gewissermassen  aus  stilistischen  Gründen  diese 
phantastische  Conception  zwischen   Anaximander   und  Empedokles 

^reiflich,  in  hellenistischer  Zeil  durchaus  nicht.  Allerdings  ist 
eine  gewisse  Verwandtschaft  mit  dem  stoischen  Pantheismus  nicht 
zu  verkennen,  aber  daraus  folgt  noch  nicht,  dass  dieser  das  Vorbild 
ist,  Bondern  rie  erklärt  -ich   daraus  zur  Genüge,  dass  da-  Vorbild 

11* 


150  Ferdinand  Dümmler, 

der  stoischen  Naturphilosophie,  das  Buch  Heraklits,  in  zeitlicher 
Nähe  und  zum  Theil  in  Opposition  zu  unsrer  theologischen  Spe- 
culation  entstanden  ist.  Der  stoische  Gott  ist  bekanntlich  sine 
capite  sine  praeputio.  Das  orphische  Fragment  gehört  also  in  die 
Entstehungszeit  des  philosophischen  Pantheismus,  der  sich  bei  den 
Milesiern  vorbereitet  und  bei  Heraklit  vollzieht,  es  bildet  eine  Art 
Reaction  gegen  diese  Denkweise,  oder  besser  einen  Comprom iss- 
versuch zwischen  dem  ionischen  Hylozoismus  und  der  Volksreligiou, 
die  Heraklit  so  bitter  zu  schmähen  pflegte. 

Nun  richten  sich  allerdings  Heraklits  Angriffe  grossentheils 
gegen  den  wirklich  geübten  Cultus  und  die  populären  Vorstellun- 
gen von  den  Göttern,  und  ebenso  beschäftigt  sich  Xenophanes  in 
den  erhaltenen  Versen  vornehmlich  mit  den  Propheten  des  Volkes 
Homer  und  Hesiod;  aber  wenigstens  ein  Fragment,  das  man  längst 
mit  Recht  dem  Xenophanes  zugetheilt  hat,  scheint  mir  deutlich 
Bekanntschaft  mit  unsern  orphischen  Versen  zu  verratheu.  Es  ist 
das  zweite  bei  Karsten: 

ouXoc  opa  ouX.05  6s  vosT  ouXoc  os  x'  dxoust. 
Der  orphische  Zeus  sah  mit  Sonne  und  Mond,  hörte  und  dachte 
mit  dem  Aether,  in  seinem  Haupte  allein  sassen  Sinne  und  Ge- 
danken, sein  Bewegungsvermögen  war  in  der  Luftschicht  localisirt. 
alles  was  darunter  war,  war  schwere  tote  Materie.  Gegen  diese 
Ansicht  richtet  sich  der  Xenophanische  Vers,  sein  Gott  ist  der 
runde  Kosmos  ohne  menschliche  Glieder,  überall  gleich  göttlich, 
aber  wie  es  Reformatoren  zu  ergehen  pflegt,  er  bleibt  auch  noch 
zum  Theil  in  den  Banden  seines  Vorgängers  befangen,  indem  er 
diesem  unpersönlichen  Gotte  menschliche  Sinne,  nur  ohne  die  dazu 
gehörigen  Organe  lässt.  Das  nachdrücklich  anaphorische  ou/.oc  drängt 
von  selbst  den  Gedanken  an  eine  Polemik  auf,  hier  kann  aber  der 
Gegner  nicht  der  Volksglaube  sein,  denn  eine  so  abenteuerliche 
Vorstellung,  dass  der  v.6a\if^  mit  bestimmten  Theilen  sehe,  mit 
andern  höre,  fand  sich  wol  nirgends  als  in  unserm  orphischen 
Gedicht. 2) 


2)  Dass  in  andrer  Beziehung  X.  den  Orphikern  manches  verdankt,  wie 
Freudeiithal  Die  Theologie  des  X.  nachzuweisen  sucht,  soll  damit  nicht  ge- 
leugnet werden. 


Zur  orphischen  Kosmologie.  151 

In  der  Polemik  gegen  den  anthropomorphen  Kosmos  schl 
sich  nun  auch  Empedokles  an   Kenophanes  an,  wie  überhaupt  das 
Xenophanische  fv    in    seinem  Sphairos  wieder   auflebt.     Ohne  die 
orphischen    Verse    werden    die    Verse  344ff.  (Stein)   weit    weniger 
verständlich: 

oö  u3v  ;-)/>  ßpote^  v.zyj.):^  y.777.  pta  xsxaaxai, 

oö  osv  7.-at  vuYcoio  860  xXaSot  aiffCfovToct, 

OÖ     IC08e<     OÖ     iK'}.    '//JV  .     O'J     [A7]8sa    Ä7./V/;3VT7. 

7././.7  9pi]V  130t;  xat  dösacpatos  sirXeto  [jlouvov, 
ppovti?,  xoafiov  awma  xaxataoouc«  oVflötv3) 

Er  vermeidet  den  Fehler  des  Xenophanes,  seinem  Gotte  Sinne  zu- 
zuschreiben.  Er  ist  eine  Eep)]  yprjv  und  nicht  mit  Flügeln,  sondern 
mit  schnellen  Gedanken  durcheilt  er  die  ganze  AVeit.  Mag  Em- 
pedokles die  Verse  auch  von  einem  bestimmten  hellenischen  Gotte, 

dem  Apollon  wird  überliefert  —  gesagt  haben,  so  liegt  darin 
doch  eine  radicale  Verwerfung,  nicht  nur  der  anthropopatbischen, 
Mindern  auch  der  polytheistischen  Vorstellungen.  E.  kann  etwa 
a  sagl  haben  Apollon  Isl  nicht,  wie  ihr  ihn  euch  vorstellt,  sondern 
ist  die  Welt  in  ihrer  vollkommensten  Form,  der  Sphairos  oder  die 
Weltvernunft    und    dasselbe   würde    er  wol   von   jedem  Volksgotte 

gl  halten,  wofern  er  ihn  nicht  zum  \)th;  SoXt^aituv,  d.  h.  zum 
Dämon  degradirte4).  Dass  die  Verse  dem  Kosmos  oder  vielmehr 
seiner  Vernunft  galten,  verbürgt  schon  ihre  Xenophanische  Fär- 
bung. Im  Sphairos  ist  diese  Vernunft  jedenfalls  mit  der  OiXöt^s 
identisch,  welche  ganz  in  ihm  enthalten  ist,  deshalb  kann  Empe- 
dokles vom  Sphairos  sowol  monotheistisch  in  der  Art  des  Xeno- 
phanes wie  pantheistisch  in  der  Art  des  Heraklit  sprechen'),  aber 
auch  nur  vom  Sphairos.  denn  die  ihn  beseelende  OiX6t7js  ist  ja 
■/»y/.zri^   sie  wird  periodisch  allmählich  durch  d^n  Hass  ausgetrie- 


*)  Auch  vnii  Kern  a.  a.  0.  S.  504  werden  diese  Verse  mit  den  orphischen 
in  Verbindung  gebracht ,  doch  scheint  er  die  beträchtlichen  Unterschiede  zu 
überseht 

4)  E.    kann   aber   auch   ebenso,   wie  er  den  Elementen  Götternamen  gab, 
Sphairos    wegen    der    in   ihm  herrschenden    Harmonie  Apollon    genannt 

v  ;;  der  Heraklitischen  Weltvernunfl  ist  xaxetfaoeiv  entlehnt. 


1  Y_>  .i  Dämmler, 

1.,-n.  Verführerisch  ist  es  den  von  der  Liebe  geeinigten  and  sie 
umfassenden  Sphairos  in  Parallele  zu  setzen  mit  dem  Orphischen 
Zeus,  der  den  Phanes  verschlungen  bat. 

\\  ir  sind  hier  leider  auf  Combinationen  angewiesen,  aber  ich 
glaube  auch  dazu  verpflichtet  Dass  die  Empedokleische  Theologie 
so  zusammenhangslos  war.  wie  Zeller  I  S.  813 ff.  Bie  darstellt, 
glaube  ich  nicht.  Freilich  isl  das  System  des  E.  ein  buntschillern- 
des und  überall  ist  die  Benutzung  der  Vorgänger  sichtbar,  aber 
die  Vorarbeitung  des  entlehnten  isl  nicht  unselbständiger  al>  bei 
Anaxagoras.  Es  isl  ein  ganz  allmähliches  Fortschreiten  in  der 
Entmenschlichung  und  Entstofflichung  des  Gottesbegriffes  zu  beob- 
achten. Die  Entmenschlichung  ist  bei  Heraklit  bereits  vollzogen, 
die  Entstofflichung  hal  einen  weiteren  Weg.  Der  orphische  Zeus 
suchl  uoch  Menschlichkeil  und  Stofflichkeil  im  höchsten  Grade  zu 
vereinigen.  Xenophanes  nimmt  ihm  alles  Menschliche  ausser  den 
Sinnen,  Empedokles  auch  diese,  sein  Goti  isl  eine  lepy\  tpp^v,  die 
aber  in  der  vollkommensten  Weltperiode  in  schwer  auszudenken- 
der Weise  mit  dem  Stoffgemenge  verbunden  isl  und  nur  in  der 
schlechtesten  Periode  ihm  ganz  isolirl  gegenübersteht .  endlich 
Anaxagoras  macht  den  vom  Stoff  getrennten  vou?  zum  Weltordner, 
aber  auch  nicht  ohne  Unklarheiten    zu   vermeiden.     Dass  der  • 

den  Dingen  beigemischl  sei.  eri rt  an  die  Empedokleische  OiXottjc, 

seine  ganze  weltordnende  Thätigkeil  an  den  orphischen  Demiurgen. 
Es  isl  eine  Entwicklung,  die  zum  guten  Thei]  eine  Verwitterung 
ist,  eine  fortschreitende  Abstraction.  Der  Schritt,  den  auf  diesem 
Wege  Anaxagoras  gethan  hat,  wurde  von  Piaton  und  Aristoteles 
überschätzt  und  wird  es  vielfach  uoch. 

Da  nun  aber  spiritualistische  Weltanschauungen  trotz  Piaton 
und  Aristoteles  dem  griechischen  Geiste  eigentlich  fremd  waren. 
wurde  in  der  Stoa,  die  in  der  Theologie  entschieden  die  Führer- 
rolle übernahm,   der  göttliche  vous  wieder  immanent  und    aufrich- 

materiell.  Man  kehrte  zum  vernünftigen  Weltfeuer  Heraklits 
zurück.  Daneben  war  aber  für  eine  grotesk  phantastische,  anthro- 
pomorph-pantheistische  Conception  wie  den  Orphischen  Zeus  kein 
Platz;  die  antlu-mimi-plicn  Vorstellungen  waren  in  der  Philosophie 
seit  Xenophanes  abgethan;    wenn  unsere  Verse  nicht  vorxenopha- 


Ferdinand  Dämmler,   Zur  orphischen  Kosmologie.  153 

oisch  sein  könnten,    so  miisste  man,    um  ihre  Entstehung  zu    be- 
greifen in  eine  weil  spätere  Zeil   hinabsteigen,   als  die   Deberliefe 
rang  und  die  Form  zulassen. 

Es  scheint  mir  somil  festgestellt,  dass  der  interessante  Ver- 
such zwischen  Pantheismus  and  Volksglauben  zu  vermitteln  späte- 
stens ins  VI.  Jahrhundert  fällt,  und  jedenfalls  gehören  die  Verse 
der  rhapsodischen  Theogonie  an. 

Den  letzten  Nachklang  des  orphischen  Weltzeus  glaube  ich  in 
Piatons  Kratylos,    in  der  allegorischen   Deutung    des  Namens   und 

der  Gestalt  des  Gottes   Tan  (=  x6  rcav)6)  zu    finden.     Aber  sc) 

der,  welcher  hier  parodirt  wird,  nach  meiner  Ansicht  Antisthenes, 
macht  keinen  Versuch  mehr  zwischen  Pantheismus  und  anthropo- 
morphem  Volksglauben  zu  vermitteln,  sondern  sucht  letzteren  als 
tiefsinnige  pantheistische  Allegorie  zu  retten.  Allegorie  und  Volks- 
glaube gehen  dann  in  bunter  Mischung  in  dem  II.  orphischen 
Hymnus  durcheinander.  Dieser  Tan  ist  zugleich  das  Weltall  und 
der  Spielgenosse  der  Nymphen. 


6)  Vgl.  meine  Ä.kademika  S.  133. 


IV. 

lieber  Deinokrits  Däuionenglauben. 

Von 
H.  Diels  in  Berlin. 

Das  Gebiet  der  griechischen  Philosophie  ist  von  dem  frucht- 
baren Regen,  den  uns  die  wunderbaren  Papyrusfunde  der  letzten 
Jahre  gebracht  haben,  nur  wenig  berührt  worden.  Doch  hat 
der  Londoner  medicinische  Papyrus  137,  der  soeben  im  dritten 
Bande  des  akademischen  Supplementum  Aristotelicum  veröffentlicht 
worden  ist,  sowohl  für  die  spätere  Zeit  (Stratons  Physik)  wie  für 
die  Vorsokratik  (Hippon,  Philolaos  und  besonders  für  einige  mit 
Diogenes  von  Apollonia  zusammenhängende  Schriften  des  Hippo- 
kratischen  Corpus)  neues  Material  und  damit  auch  besseres  Ver- 
ständnis des  Bekannten  gebracht. J)  Bis  uns  daher  Aegypten  ein- 
mal ein  Buch  Demokrits  oder  einen  Dialog  des  Aristoteles  schenkt 
(beides  liegt  nicht  ausserhalb  des  Bereiches  der  Möglichkeit),  gilt 
es  die  vorhandene  Litteratur  bis  auf  das  letzte  Stäubchen  auszu- 
klopfen. Und  da  findet  sich  an  verstecktem  Orte  wol  hier  und 
da  noch  eine  übersehene  Kleinigkeit. 

Freilich  das  neue  Parmenidesfragment,  das  Hr.  P.  Couvreur  in 
der  Revue  de  philologie  1893  S.  108  aus  Proklos  in  Cratylum  p.  36 


')  Da  ich  hierüber  an  leicht  zugänglichen  Orten  gehandelt  habe  (Sitzungs- 
ber.  d.  Beil.  Akademie  1893  S.  101  — 127:  lieber  das  physikalische  System  des 
Straten  und  Hermes  XXVIII  407 — 434:  lieber  die  Excerpte  von  Menons  Iatrika 
in  dem  Londoner  Papyrus  137),  so  verzichte  ich  darauf  diese  Dinge  hier  zu 
wiederholen.  Doch  bitte  ich  in  dem  Hermesaufsatz  S.  420  in  dem  Fragmente 
aus  Hippon  auf  Grund  neuer  Lesung  Z.  29  ff.  zu  verbessern  oti  ywpis  uypoTTjTos. 
dvaXdytus  07)  ia  7^Xfj.axa  dvata&rjTa,  oti  xxX. 


üeber  Demokrits  Dämonenglauben.  155 

Boiss.  hervorgezogen  hat,  ist  weder  neu  noch  von  Pannenides.    Es 

heisst  da:  e<JTi  S'  oü  Ttav  xo  ösa>v  \ivoc  ovojiast&v '  6  jasv  fip  iir&tsiva 
xu)v  SXeav,  oti  appijros,  xott  6  llap|i.evi§i]g  f^as  &{ii|j.vij<jev '  „oute  77.0 
övofiata  otötou,  ynjoiv,  oute  ko^os  lorlv  ouSefe".  Die  \ rerstechnik  des 
Parmenides  geniesst  bereits  im  Altertum  keinen  besonderen  Ruf 
und  wir  dürfen  nicht  allzuviel  erwarten.  Aber  einen  so  schlechten 
Vers,  wie  den  von  Hrn.  Couvreur  gebauten: 

„ooxe  77.0  o'jvoaotT'  oüt'  aötoö  y5  isttv  Xoyos  oöSets" 
wird  Niemand  dem  alten  Eleaten  zutrauen.  Und  der  Inhalt?  ..// 
convient  fort  bim  ä  Vidde  que  Parmenide  se  faisait  de  VEtre  su- 
preme",  wird  versichert.  Ich  behaupte  das  Gegenteil.  Parmenides 
kann  wol  sagen:  Die  Gottheit  ist  nicht  mit  Worten  zu  fassen,  aber 
auch  nicht  mit  dem  Xoyoc?  Dann  wäre  Parmenides  mit  raschem 
Schritte  zum  Nihilismus  des  Gorgias  oder  wenigstens  zum  Scepti- 
cismus  des  Protagoras  fortgeschritten.  Daher  hat  denn  auch  schon 
Karsten  in  seiner  Fragmentsammlung  des  Parmenides  S.  209  das 
angebliche  Fragment  des  Proklos  als  Misverständniss  des  Neupia- 
tonikers  zurückgewiesen.  Es  ist  auffallend,  dass  diese  bis  jetzt 
allein  brauchbare  Sammlung  Hrn.  Couvreur  unbekannt  geblieben 
zu  sein  scheint. 

I  ebrigens  erledigt  sich  die  Sache  noch  einfacher  als  Karsten 
annahm,  indem  Proklos,  wie  Zeller  mich  erinnert,  gar  nicht  den 
Eleaten,  sondern  den  Parmenides  des  Piaton  meint,  wo  es  p.  142  A 
vom  zv  heisst :  oöS'   apa  ovojxa  eotiv  aötiu  oö8s  /.oyoc  kxK. 

Dagegen  liefert  ein  anderer  christlicher  Neuplatoniker,  der  wol 
dem  sechsten  Jahrhunderte  angehören  dürfte,  der  anonyme  Ver- 
fasser des  Dialoges  Hermippos  ein  neues  und,  wie  ich  glaube,  ech- 
tes Demokritfragment. -')  Da  Blochs  Ausgabe  (Hauniae  1830)  sich 
nur  in  wenigen  Händen  befinden  dürfte  und  der  auch  sonst  inter- 
essante Schriftsteller3)  fast  ganz  unbekannt  ist,  so  setze  ich  den 
betreffenden  Abschnitt  I  c.  16  S.  22—24  zur  Charakteristik  her. 


2)  Ich  verdanke  den  Hinweis  darauf  meinem  Freunde  Professor  Frau/. 
Cumont  in  Gent,  dessen  Gelehrsamkeit  meiner  Fragmentsammlung  schon  man- 
chen wertvollen  Beitrag  aus  entlegner  Litteratur  beigesteuert  hat, 

3)  Z.  B.  der  Anfang  des  zweiten  Buches,  den  J.  G.  Schneider  wegen  der 
dort  gegebenen  Unterscheidung  des  männlichen   und  weiblichen  Geschlechtes 


156  H.  Diels, 

Kai  &<nrep  ö  vornjö;  xtSöpios  xöv  ateöijxdv  TOpir/mv  TiXigpÖi  auxöv  (Jyxiöv  tat; 
-otxt'Xai;  xal  7ravxofj.dp<pots  PAcac-  &?  54  xal  ö  5jXios  iv  t<Ij  x(fopwp  jrdvxa  nepisywv 
öyxoi  7ravT<üv  ras  ysvdaet?  xai  fa^upOTroteT,  xaptö'vTojv  xs  xai  puEvxtov  dTroS^ye-rat 
rds  auaxaaets.  xal  yopot  xtvcuv  OstoxE'pujv  olptat  ouva'jj.Eiuv  EaxäJxE;  nepl  aüxöv  £<po- 
po)Gt  xä  T(üv  ävHpd'jTccov,  axpaxia  xivt  iotxdxES.  exEpoi  oe  aü  ü~ö  -rot;  xtöv  daxEptov 
7rXtv!h'oa;  rexaypivot,  ixdaxtp  xoüxwv  tadpiöpiot  bmrjpETOÖai  xd  rrpöcroopa.  xal  pisxä 
xoütous  Ixipa  -t;  S6vap,i?  Seoxepa  xal  bcpeipt^vT)  xal  ofov  xrjv  cp'iatv  [mxxtj.  bjtoxdxu) 

OE    X06XU)V    E^ETtEGSV    6    XtÜV    ivaspt'lOV    7TVEU{ACtX(UV    Elp.0?.      TToXXol    OE    O'JXOt    xal    7iaVX0- 

Sarcol  xal  7coix£Xot,  o'tv  orj  öatp.ovs?  xsxXnjvxai  epiaiv  e/ovxsc  xyjv  ivEpyEtccv.  oöxoi  xtjv 
S-Tjpäv  xal  bypdv  -/.ai  ivae'piov  Äv^tv  otaÄayovTc?  xux&oiv  aöxijv  -/.cd  xapdxxouoiv. 
ixdaxoi»  oe  Ttöv  im  yrjs  7rpaypLdxa>v  dfp/Eiv  Ja^uptCdfAEvoi  xal  äyeiv,  of  ßo6Xoivxo, 
jcotxi'Xous  9op6ßoos  xal  xapa^ds  ev  te  toXegi  xal  I&veaiv  ÖXot?  xal  töt'a  Exdaxip 
xuiv  äv9pu)7T(ov  EpydCovxat,  xal  Siä  ;j.ev  xö  öXri;  [aexe/eiv  üAata  7tve6piaxa  auxoi>s 
<5vofidCouai,  otd  oe  xö  cpafvsaiku  TuoXXdxis  xai  cptovrjv  dcpisvat  EtStuXa.  xal  oöxds 
saxtv  6  EiiiyEto;  ofxetos  xo'tioc  auxotc,  dpwptxvscp^s  xe  xal  xdpxapos 4)  xal  rcäv  xotoüxov 
xaXoifievos.  ei  oe  xi«  xai  aixd  jtoo  xtjs  yrjc  x6  jieaafxaxov  d>e  Cocptoosoxaxov  dvsla&ai 
xotixot?  tpVjöEi,  oi>x  otTro  oo;ei  xoü  uxoiTOÜ  ßdXXsty.  5tä  xoüxo  xaXöis  %tv  i}etoi  xal 
Upol  dvSpEg  i&ESTTiaav  iiraXXdxxsiv  xä  xöv  drat)(op^va>v  övo'piaxa,  o~io;  xsXwvouv- 
xas  aüxoü?  xaxd  xöv  ivaiptov  xottov  Xav^dvEtv  ££fl  xal  ötsp-/£CJi}at.  dTtaxrjXol  ydp 
övxe;  xal  ßdaxavoi  lir-npsdCstv  xal  xaxä»s  ttoieiv  Trspt  TrXsfoxou  TceTrofyvxai,  xal  Äav- 
&dvouatv  £'!)  oxe  xal  aüxol  a7rax(i)piEVOt.  xö  (jlevxoi  xoü  A  rj  [a  o  x  p  t  x  o  u  (oü)  ■')  xaXü>; 
äv  E^ot  TOxpaXiTTEiv,  ö?EtO(uXa  aüxoü?  <5vop;dC<ov(i.saxdv  xe  e?v«i  xöv  dspa 
to6x(ov  cprjat,  xal  vsupot?  xat  [aueXo!;  iyxa97][AEVous  dveyei'petv  xal 
äva-Xdxx£tv  xä?  fyuyoK;  Tjp.wv  Et?  aüxou?  ötd  xe  cp A e ß ä> v  xat  dpxT)- 
ptdiv  xal  auxoü  xoü  EyxscpdÄou  xat  fAE/pt  xwv  auXcty^viuv  öt^xovxa;- 
TTjv  äpy/jv  xe  sxasxov  yEVo'fAsvov  xal  '^u/to&Evxa  TiapaXapißdvstv  xou? 
xax"1  IxeTvo  xfjs  y£vi<j£cos  ÜTTTjpixas,  xävxsü&sv  xrjv  Itt^eiov  xaüxrjv 
ötotxrjatv  öt'  öpya'viov  xüiv  rj[A£XEp(juv  atufxdxtov  ötotxEtv. 

Aus  der  Fassung  des  ganzen  Stückes  ergiebt  sich  von  selbst, 
dass  man  hier  kein  wörtliches  Citat  vor  sich  hat,6)  aber  die  ma- 
terialistische Anschauung,  die  so  stark  von  der  des  Verfassers  selbst 
abweicht,  ist  doch  treu  bewahrt  und  das  vsupois  xal  fiusXot^  ipca- 
Ö7j[iivou?  avs-fetpsiv  xat  avaTiXatrsiv  xa?  fyuya;  Yjpv  eis  auxouc  oia  xs 
cpXeßÄv  xal.  apx7]piwv  xal  auxou  xou  i-yxeipdXou  xal  p-s^pt  xaiv  stiXgc^vcdv 


der  Pflanzen  aus  Laur.  86,28  edirt  hatte,  enthält  auch  eine  merkwürdige  (teil- 
weise auf  Deraokrit  zurückgehende)  Kosmogonie,  welche  mit  Recht  die  Auf- 
merksamkeit Eduard  Nordens  auf  sich  gezogen  hat  (Beiträge  z.  Gesch.  d.  gr. 
Phil.  (J.  f.  cl.  Phil.  XIX  Suppl.  B)  S.  423. 

4)  So,  wie  Fabricius  conjicirt,  hat  der  Laur.  86,28  S.  XV,  dessen  Colla- 
tion  ich  Freund  Vitelli  verdanke:  xdpaxxo;  (woraus  Bloch  xa'pajros)  der  Vatic. 

5)  oü  fügte  Fabricius  zu. 

6)  Mit  i)7irjplxas  am  Schlüsse  vergl.  c.  5  p.  7. 


üeber  Demokrits  Dämonenglauben.  I.'iT 

StTQxovta?  erinnerl  stark  an  das  iyxaTaßucfcfoucföat  ta  EiStoXot  8to  täv 
rcoptov  3tc  T7.  5u)[jLaxot,  wie  Demokril  sieb  nach  Plutarch  Quaest. 
conv.  VIII  L0,2  über  die  traumerzeugenden  Bilder  geäussert  hatte. 
Wir  erhalten  also  mil  dem  neuen  Fragmente  eine  genauere  Aus- 
führung zu  dem  locus  classicus  über  Demokrits  Dämonenlehre  bei 
Sextus  adv.  Math.  I\  19  [Zeller  I5  937 ']:  A^öxpitos  Ei&iuXd  nva 
^vjcjiv  ifiirsXaCeiv  ~r>U  av&p<uirois  xat  toutcuv  ~A  fisv  Etvai  aYaftoicoia, 
ta  02  xaxoitoia.  evdev  xai  ep^exc«  suXo'y^wv  ')  ru^siv  ei3o>Xü>v.  eTvcu  os 
rauta  fis^aXa  ts  xat  O—ou^ü)/;  xai  Buccp&ocpta  p.sv,  oöx  acp&apxa  8s, 
rcpoarj}xatvEiv  xs  tot  p.eXAovTa  tois  avfrptoTroi?,  &sa>pou[ieva  xcxl  epouva? 
iftptsvTa. 

Demokrit,  der  über  alles  nachgedacht,  dem  nichts  mensch- 
liches fremd  geblieben,  hat.  wie  es  scheint,  der  Nachtseite  der 
menschlichen  Natur  eine  bei  seinem  Rationalismus  auffallende  Vor- 
liebe zugewandt.  Ernst  Maass  hat  in  der  Anzeige  von  Heegers 
Dissertation  De  Theophrasti  q.  f.  üspi  S7]{aeiu)v  libro  in  den  (lött. 
gel.  An/.  L893,  624  den  wenigstens  in  der  Hauptsache,  wie  mir 
scheint,  gelungenen  Beweis  geliefert,  dass  die  unter  Theophrasts 
Namen  gehenden  2-np.sTa  und  Arat  auf  ein  ausführliches  Wetter- 
buch Demokrits  zurückgehen.  Der  grosse  Ruf,  den  diese  Bücher  dem 
al identischen  Philosophen  in  weitesten  Kreisen  verschafften,  erklärt 
die  Unmasse  von  Fälschungen,  die  auf  diesem  Gebiete  der  Litteratur 
von  Bolos  an  bis  auf  die  traurigen  Verfertiger  der  Goldmacherkunst 
sich  an  Demokrits  Namen  angehängt  haben.  Aber  es  wäre  voreilig 
nun  deswegen  alles  derartige  Schrifttum  für  apokryph  zu  erklären. 
Ein  Stamm  muss  jedenfalls  echt  gewesen  sein,  aus  dem  das  Spätere 
sich  entfaltete  Mau'  in  diesen  Schriften  ein  noch  so  krasser  Aber- 
glaube geherrscht  haben,  einzelne  Beispiele,  wie  das,  was  über 
seine  Theorie  der  Träume  und  der  Opferschau  (Cic.  Div.  I  57, 131. 
II  13,  30)  bekannt  ist,  zeigen,  dass  er  auch  in  dem  sinnlosen  Wüste 
i\i'<.  Volksglaubens  das  Walten  seiner  Naturgesetze  nachzuweisen 
bemüht,  dass  er  auch  als  Mystiker  Rationalist  geblieben  ist. 


7)  Diese  Lesart   steht  auch   durch    die  Analogie   des    Epithetons  ot'Xoy/o; 
fest,   womit   Kratinos  in  den  Bparrai  Fr.  SO  die  thrakische  (!)  Bendis  bezeich- 


net hatte.     Vgl.  Ko.k  Com.  Att.  I  37.  III  711. 


V. 

Patristische  Herakleitos-  Spuren. 

Von 
Dr.  Johannes  Dräseke  in  Wandsbeck. 

Keines  alten  Philosophen  Lehre  und  schriftstellerische  Hinter- 
lassenschaft ist  seit  Sokrates'  Tagen  so  oft  der  Dunkelheit  geziehen, 
keine  weniger  verstanden ,  keine  schiefer  beurteilt  und  in  ihrem 
innersten  Kern  und  Wesen  mehr  verkannt  worden  als  die  des 
Herakleitos.  Erst  den  scharfsinnigsten  Denkern  unserer  Zeit, 
wie  Schleiermacher,  Bernays,  Lassalle,  Zeller  u.  a.,  war 
es  beschieden,  je  länger  je  tiefer  in  die  oft  so  widerspruchsvoll 
erscheinende  Gedankenwelt  des  Ephesiers  einzudringen  und  dieselbe, 
wenn  auch  in  Einzelheiten  vielfach  von  einander  abweichend,  zur 
Darstellung  zu  bringen.  Grössere  Uebereinstimmung  in  den  An- 
sichten der  Forscher  über  die  Philosophie  des  Herakleitos  hat  sich 
aber  erst  anzubahnen  begonnen,  seitdem  es  Schuster  und  beson- 
ders By water  gelang,  die  weit  versprengten  Bruchstücke  der 
Schrift  desselben  zu  sammeln  und  zu  ordnen.  Einen  überraschend 
tiefen  und  glücklichen  Blick  in  den  Gedankenzusammenhang  der 
letzteren  hat,  soviel  ich  sehe,  in  jüngster  Zeit  auf  Grund  der  ge- 
nannten Leistungen  A.  Patin  gethan.  Ihm  verdanken  wir  „Quel- 
lenstudien zu  Heraklit"  (Würzburg  1881),  in  denen  er  den  zwin- 
genden Nachweis  erbrachte,  dass  die  fälschlich  des  Hippokrates 
Namen  tragende  Schrift  irspl  TpowYJs,  besonders  aber  die  rcepl 
oigutt]?  durchaus  von  Herakleitos'  irspi  cpoosio?  abhängig  ist.  Noch 
wichtiger  und  bedeutender  aber  ist  seine  Schrift  „Heraklits  Einheits- 
lehre, die  Grundlage  seines  Systems  und  der  Anfang  seines  Buches" 


l'at i  ist ische  Uerakleitos-Spuren.  159 

• 

(München  1885).  In  ihr  gewährt  er  uns  einen  vortrefflichen  Ein- 
blick in  Herakleitos'  Grundgedanken  and  legt  mich  Beseitigung 
aller  [rrtümer    und  verkehrten  Anschauungen    der   Früheren    zum 

ersten  Male  den  last  lückenlos  wiedergewonnenen  Anfang  seines 
berühmten  Buches  vor  (S.  92).  Der  Beweiskraft  der  scharfsinni- 
gen, tief  eindringenden  Erörterungen  dieser  Schrifi  Patin's  sich  zu 
entziehen,  dürfte  recht  schwer  sein,  ja  ein  etwaiger  Versuch,  die 
tn'iniinerhafte  Ueberlieferuug  anders  und  hesser  als  er  zu  erklären, 
erscheint  mir  fast  völlig  aussichtslos.  Thatsache  ist,  dass  die  Schrift 
und  ihre  Ergebnisse  bisher  nicht  widerlegt,  ja  leider  sogar  vielfach 
noch  gar  nicht  einmal  beachtet  worden  sind.  Gefördert  und  be- 
festig! hat  Patin  die  wissenschaftlichen  Ergehnisse  beider  genann- 
ten Schriften  durch  eine  dritte:  „Heraklitische  Beispiele.  1.  Hälfte" 
(Neuburg  a.  I).  1892).  Er  kehrt  hier,  wie  er  schon  am  Schluss 
seiner  Erstlingsschrifl  andeutet,  zu  der  grossen  Beispielsammlung 
des  Hippokratikers  zurück,  von  der  sich  einzelne  Teile  auch  bei 
Philo u  finden.  Dort  hatte  er  die  Möglichkeit  der  endgültigen 
Beurteilung  jenes  Beispiel -Abschnitts  erwiesen,  „weil  die  Einheit 
desselben  und  die  Idee,  auf  der  diese  beruht,  Heraklits  unbestrit- 
tenes Eigentum,  weil  die  Benutzung  einer  Vorlage  und  diese  selbsi 
so  gewiss  ist.  dass  es  ganz  gleichgiltig  und  für  den  Charakter  des 
ganzen  Abschnitts  völlig  belanglos  ist,  ob  sich  eine  als  solche  er- 
kennbare Abweichung  als  Eigentum  des  Kompilators  oder  als  an- 
derweitige Reminiscenz  oder  gar  als  Anlehen  bei  einem  anderen 
Philosophen  herausstellt"  (Herakl.  Beisp.  S.  18).  Hier  erhebt  er 
in  sehr  sorgfältigem  Nachweise  die  aus  mehreren  Gründen  sich 
aufdrängende  Vermutung,  dass  der  Diätetiker  seinen  aus  Hera- 
kleitos' Schrift  begonnenen  Auszug  getreulich  bis  zu  Ende  durchge- 
führt hat,  zur  unanfechtbaren  Gewissheit  und  verschafft  uns  die 
frohe  Ueberzeugung,  „dass  wir  in  diesen  Beispielen  die  Kette  hera- 
klitischer  Gesetze  nach  ihrem  äusserlichen  Bestände  geschlossen 
und  vollständig  vor  uns  haben,  mögen  noch  so  viele  Glieder  schwer 
geschädigt,  verstümmelt  und  verschrumpft  vorliegen"  (a.  a.O.  S.104, 
Anm.  140). 

Einen  weiteren,  bedeutungsvollen  Fortschritt,  wenn  auch  nicht 
in  der  Erklärung  und  Aufhellung  der  Philosophie  des  Herakleitos, 


IßQ  Johannes  Dräseke, 

• 
so    doch    in    der  Frage    des  Nachweises,    in    welcher   Weise   seine 

Schrift  mit  ihren  tiefsinnigen  Gedanken  und  packenden  Beispielen 
fortgewirkt,  machte  Edmund  Pflei derer  in  seinem  Werke  „Die 
Philosophie  des  Heraklit  von  Ephesus  im  Lichte  der  Mysterienidee; 
nebst  einem  Anhang  über  heraklitische  Einflüsse  im  alttestament- 
lichen  Kohelet  und  besonders  im  Buche  der  Weisheit,  sowie  in 
der  christlichen  Literatur"  (Berlin,  1886).  Er  führte  dies  Werk 
selbst  ein  durch  einen  in  den  Jahrb.  f.  prot.  Theol.  XIII,  8.  177 
bis  218  erschienenen  Aufsatz  „Heraklitische  Spuren  auf  theologi- 
schem, insbesondere  altchristlichem  Boden  inner-  und  ausserhalb 
der  kanonischen  Literatur".  Besonders  wies  er  hier  auf  die  er- 
kennbaren Einwirkungen  des  Herakleitos  bei  einer  Reihe  bekannter 
Gnostiker  hin  und  gab  zudem  in  seinem  Werke  über  Kohelet, 
Buch  der  Weisheit,  Evangelium  Johannis  und  Epheser- 
brief  Gesagten  weitere  Ausführungen.  Mögen  nun  Pfleiderer's 
Ergebnisse  auch  immerhin  vielfachen  Widerspruch  erfahren  haben, 
so  ist  es  doch  sehr  erfreulich  und  erhöht  auf  dem  betretenen  Ge- 
biete das  Gefühl  der  Sicherheit,  dass  ein  so  genauer  Kenner  des 
Ephesiers,  wie  Patin,  Pfleiderer  unbedingt  zugiebt,  richtig  erkannt 
zu  haben,  „w7ie  weit,  wie  unglaublich  weit  diese  Spuren  Heraklits 
führen".  Ja  er  rechnet  seinen  Nachweis,  dass  Kohelet  3  herakli- 
1  isiert,  „trotz  des  Widerspruchs  der  Recensenten  unter  seine  sicher- 
sten Resultate"  (Herakl.  Beisp.  S.  5,  Anm.  6)  und  weist  über  ihn 
hinaus  auf  das  stark  heraklitische  Gepräge  von  Jacobus  3,  3  hin. 
Ich  theile  Pfleiderer's  „ganz  unmassgeblich"  geäusserte  Meinung1) 
durchaus,  „dass  es  für  alle  mitzählende  Wissenschaft,  zumal  in 
unserer  auf  konkrete  Bestimmtheit  dringenden  Zeit  denn  doch  ein 
kleiner  Unterschied  ist,  ob  man,  wie  im  gegenwärtigen  Fall,  nur 
mit  vager  Unbestimmtheit  von  irgend  welcher  philosophischen  An- 
regung gewisser  theologischer  Schriftsteller  wusste,  oder  ob  das 
auf  den  klaren,  bestimmt  nachweisbaren  Ausdruck  gebracht  wird". 
Und  in  dieser  Lage  befinden  wir  uns  zur  Zeit  durch  Pfleiderer's 
und  Patin's  Bemühungen.  Mit  oberflächlichem  und  leicht  fertigem 
Absprechen  ist  es  daher  jetzt  auf  keinen  Fall  mehr  gethan,    die 


')  Jahrbücher  für  protestantische  Theologie  XIII,  S.  218. 


Patristische  Herakleitos-Spuren.  161 

angeregten  Fragen  der  Abhängigkeil   der  Späteren  von   Berakleitos 

lassen  sich  nicht   mehr  kurzer  Sand  aus  i\cv  Well  schaffen. 

Es  ist  unstreitig  Pfleiderer's  Verdienst,  auf  eine  ganze  Reihe 
von  Beziehungen  und  Zügen  aufmerksam  gemachl  zu  haben 
(a.a.O.  s.  183if.),  welche  die  Gestall  und  Lehre  des  Weisen  von 
Ephesus  altchristlichen  Kreisen,  sofern  sie  iiberhaupl  philosophi- 
sches Bedürfnis  empfanden,  mehr  als  irgend  einen  anderen  Philo- 
sophen empfehlen  und  anziehend  erscheinen  lassen  mochten.  ..Mehl 
wie  die  Stoiker  und  Platoniker  jener  Tage  als  Verächter  und  Feind 
des  neuen  Glaubens,  und  zusammenhängend  damit  nicht  als  kon- 
servativer Apologel  des  heidnischen  Polytheismus,  vielmehr  als 
dessen  urwüchsig  schroffer  Gegner,  sonst  aber  in  parteiloser  Ferne 
und  Vorzeii  stund  er  zu  freier  Benützung  der  mannigfachsten  Art 
in  mystischem  Halbdunkel  da."  Wenn  Pfleiderer  annimmt.  Hera- 
kleitos  sei  in  der  Urschrift  und  namentlich  in  vielen  Auszügen 
„ohne  Zweifel  bis  in  die  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts  n.Chr. 
vorhanden  und  weitverbreitei  gewesen",  und  auf  Justinus  den 
Märtyrer  und  Clemens  von  Alexandria  verweist,  so  können 
wir.  wie  ich  denke,  noch  erheblich  darüber  hinausgehen.  Nicht 
bloss  Hippolytos  hat  für  sein  Werk  gegen  alle  Ketzereien 
('\j.v;-/'j;  xaxd  -7.5(T)v  «-yipssctov)  Iierakleitos  noch  gelesen  und,  — 
es  i>t  last  wörtlich  zu  nehmen  —  den  Finger  auf  dem  Buche, 
ausgesehrieben,  nein,  sogar  Gregorios  von  Nazianz  am  Ende 
des  vierten  Jahrhunderts,  zeigt,  wie  Patin  zuerst  bemerkt  zu  haben 
seheint  (llerakl.  Beisp.  S.  84,  Anm.  94)  und  nur  im  Einzelnen 
gezeigt  zu  werden  braucht,  in  seinen  Gedichten  so  starke  herakli- 
ti-chc  Einflüsse  und  Anklänge,  dass  ihm  die  Schrift  des  Ephesiers 
seihst  noch  unmittelbar  zur  Hand  gewesen  sein  muss. 

Dasselbe  scheint  mir  der  Fall  zu  sein  bei  dem  Verfasser  der 
beiden  fälschlich  bisher  dem  jugendlichen  Athanasios  beigelegten. 
thatsächlich  um  350  abgefassten  Schriften  „Gegen  die  Hellenen" 
und  „Von  der  Menschwerdung  des  Logos",  als  welchen  ich  Euse- 
bius  von  Emesa  mit  lieber  Wahrscheinlichkeit  glaube  nachgewiesen 
zu   liaben.'-)     Auf  die  gründliche  philosophische  Schulung  dieses  in 


Vgl.   meine  Abhandlung  „Athanasiana"    in   den  Theol.  Sind.  n.  Krit. 


162  Johannes  Dräseke, 

Alexandria  gebildeten  Mannes,  besonders  auch  seine  Vertrautheit 
mit  den  Gedanken  Platon's,  habe  ich  a.  a.  0.  aufmerksam  gemacht. 
Dass  er  aber,  über  Piaton,  ja  über  die  vier  Elemente  des  Empe- 
dokles  hinaus  philosophisch  bewandert,  mit  Herakleitos  selbst  noch 
vertraut  erscheint,  dürfte  das  Folgende  zeigen. 

Die  Stellen,  welche  hierfür  in  Betracht  kommen,  finden  sich 
sämmtlich  im  ersten  Buche  (Kaxa  cEXXtjv<ov,  Kap.  27 — 42)  und  be- 
ziehen sich  auf  physikalische  bezw.  kosmogonische  Verhältnisse  und 
Vorgänge.  Wir  lesen  Kap.  27:  pj  ok  oux  crf'  eocuxtj?  sp7jpsi3xat, 
d)X  stti  txsv  TTjV  T<ov  uodxu>v  ouaiav  auvssxrjxev,  sjxTrspt^exat  8s  xal 
aoT7]  xaxa  xo  [liarov  auvosösTaa  xou  Travxo?.  Dazu  treten  ergänzend 
folgende  Sätze  aus  Kap.  36:  Tic  optov  xrjv  -pjv  ßapuxdx7jv  ouaav  ttjj 
cpuaei,  Sri  xo  uStup  sopaaösTaav  xal  dxiV/jxov  |xsvouaav  stcI  xo  cpuaet 
xivoujj-svov,  oü  oiavor^rjasxai  sivat  xivct  xov  xaux/jv  oiaxacducvov  xod 
irorrjaavxa  Osov;  und  wenige  Zeilen  später:  yj  fisv  -^  ßapuxdx7j  saxi, 
xo  o'  au  iraXiv  uoojp  xou©oxepov  suxi  tocuxtjC"  xat  OfiuK  um  x«>v  IX.a- 
cppox£pa>v  to  ßapuxspov  ßaaxdCsxat  xal  oo  xaTacpspexai,  dXA'  sottjxsv 
axivTjxoc.  "fj  -(Tj.  —  Im  ersten  und  zweiten  Satz  ist  die  Ansicht  deut- 
lich ausgesprochen,  dass  die  Erde  auf  dem  Wasser  gegründet  ist, 
ein  Satz,  der  nach  Theophrastos3)  auf  Thaies  und  Hippon 
zurückgeht  (x-Jjv  pjv  £cp'  uooixoc  d7rscpr|Vavxo  xsiöOat).  Jener  aber 
erweiterte  nur  Aristoteles,4)  und  bei  den  Späteren,  wie  Hippo- 
lytos5)  und  Hermias6)  kehrt    der  Satz  einfach  wieder:    f;   -p)  eVt 


1893,  S.  251— 315,  besonders  S.  294  ff.  Titel  der  Schrift  Katä  louSoucov  xat 
TAXtjvüjv,  entsprechend  dem  von  Hieronymus  (Vir.  ill.  XCI)  angeführten  „Ad- 
versum  Iudaeos  et  gentes"  (a.  a.  0.  S.  313).  Vielen  werden  meine  Ergebnisse 
überraschend  sein,  weil  sie  mit  dem  Herkömmlichen  einmal  wieder  gründ- 
lich brechen.  Ich  darf  darum  wohl  auf  das  Urteil  eines  sehr  sachkundigen 
Kenners  verweisen,  Victor  Schnitze's,  der  über  meine  Untersuchung  im 
Theol.  Literaturbl.  XIV,  Nr.  17,  Sp.  191  u.  a.  schreibt:  „Die  wichtigsten  Er- 
gebnisse, dass  die  beiden  Schriften  dem  Eusebios  von  Emesa  angehören  und 
lim  die  Mitte  des  vierten  Jahrhunderts  entstanden  sind,  sind  meines  Erachtens 
unerschütterlich." 

:!)  ^Etc  töüv  cpusrx&v  So^iüv  bei  Diels,  Doxographi  Graeci,  S.  475,9. 

4)  Aristot.  Metaph.  A3,  p.  983^21  und  de  caelo  II,  13,  p.  294«29. 

5)  Hippol.  1,7,4,    in   Miller's  Ausgabe   S.  12,    bei  Diels,  Doxogr.  Gr. 
S.  561,4. 

c)  Diels,  Doxographi  Graeci,  S.  653,22. 


Patristische  Berakleitos-Spuren.  163 

xto;  u-/z\-i.l  Nur  die  erste  Stolle  enthält  eine  gewisse  Schwie- 
rigkeit, insofern  sie  die  Lehre  ausspricht,  dass  das  Innere  der  Erde 
aus  Wasser  besteht.  Sie  erinnert  an  Anaxagoras,  der  nach 
Bippolytos7)  lehrte:  tob?  81  itoTafx.005  xal  dito  xa>v  oaßpcuv  X.a(ißavetv 
t/v  friroaraaiv  xal  i;  58atü>v  T(ov  iv  tyj  -fit'  eivai  y«p  «uttjv  xoiXtjv 
xal  ;/3'.v  58o)p  iv  tois  xoiXu>p.aaiv  —  und  an  den  Elcateu  Zenon, 
der  nach  Epiphanios 8)  t))v  ^v  dxiv>jTov  }A-;z<.  xai  txyjoiva  to-ov  xev&v 

/:.  l'ass  derartiges  auch  von  Jleraklcitos  gelehrt  sei,  dürfte 
sich,  wie  mir  scheint,  schwer  beweisen  lassen.  Der  Inhalt  des 
dritten  Satzes  aber  bringt  zu  dem  Bisherigen  etwas  Neues  hinzu. 
Eusebios  nennt  daselbst  die  Erde  sehr  schwer,  das  Wasser  dagegen 
leichter  als  diese,  „und  gleichwohl",  sagt  er,  „wird  das  Schwerere 
vom  Leichteren  getragen,  und  die  Erde  sinkt  nicht  abwärts,  son- 
dern steht  unbeweglich".  Erinnert  nicht  Inhalt  und  Ausdruck 
hier  an  llerakleitos?  Ist  er  es  nicht,  nach  dessen  Kosmogonie 
sich  die  Erde  ebenso  wie  dort  in  und  unter  dem  Wasser  festet, 
so  dass  sie  das  alleranterste  ist,  als  das  Schwerste  unten  bleibt 
und  den  Weg  abwärts  abschliesst,  der  von  ihr  aus  aufwärts 
umbiegt?  Dass  in  jenen  Sätzen  des  Eusebios  nach  der  Andeu- 
tung de>  letzten  llerakleitos  irgendwie  beteiligt  ist,  lässt  sich 
zwar  nicht  mit  voller  Sicherheit  nachweisen,  erscheint  mir  aber 
um  der  Umgebung  willen,  in  der  jene  Sätze  sich  finden,  sehr  wahr- 
scheinlich. 

Achten  wir  nunmehr  auf  diese  Umgebung.  llerakleitos' 
erstes  Gesetz  ist  bekanntlich  die  Harmonie  der  Gegensätze,  das 
zweite  deren  Umschlagen  und  Auseinanderhervorgehen.  Wenn  sich 
nun.  dies  folgt  daraus  mit  innerster  Notwendigkeit,  die  tiefgreifeud- 
sten  Gegensätze,  die  trennendsten  Grundursachen  der  Besonderung 
vereinen,  so  entspringt  der  Einheit  eine  Vielheit,  der  Vielheit  eine 
Einheit  (Brachst.  59.  Byw.):  auvctysias  oSXa  xal  w/\  o3Xa  aujxcpepo- 
[aevov  Siacpepojxevov  aruv^Sov  8uj8ov  zca  sx  iravxeov  2v  xal  i;  ivo^ 
iräVta.  Diese  Satz. •  hat  llerakleitos  nachweislich  auf  kosmogonische 
Vorgänge  angewendet.     Aber  um   ihn    recht   zu   verstehen,  scheint 

7)  Hippol.  1,  s,.').    in    Miller's  Ausgabe  S.  14,   bei   Diels,   Doxogr.  Gr. 
562,11. 
*)  Epiphan.  Pauar.  III,  2,8.     Ed.  Oehler  Bd.  III,  S.  498. 
im-  i.  Geschichte  d.  Philosophie.    VII.  12 


164  Johannes  Dräseke, 

es  mir  durchaus  uiclit  überflüssig,  au  diejeuigeu  Einschränkungen 
zu  erinnern,  die  Patin9)  unbedingt  hervorheben  zu  müssen  geglaubt 
hat,  einmal,  „dass  seine  Naturphilosophie  eine  sekundäre  Rolle 
spielt  und  wenn  auch  nicht  ohne  Beobachtung,  doch  auch  nicht 
aus  theoretischer  oder  unabhängiger  Beobachtung  geworden  ist" ; 
sodann,  dass  Herakleitos  „für  die  Einzelgebilde  der  Natur,  für  die 
, Spiele  seines  Götterkindes'  gar  kein  unmittelbares  Interesse  hatte, 
sondern  sich  nur  damit  beschäftigte,  um  die  stete  Veränderung 
und  das  geteilte  Eine,  die  unsichtbare,  doch  zu  erschliessende 
Harmonie  in  ihnen  nachzuweisen";  und  endlich,  dass  er  nicht  so 
oberflächlich  war,  „die  unendliche  Vielheit  durch  die  Verände- 
rungen des  Kühl-,  Trocken-,  Feucht-,  Warmwerdens  oder  seineu 
Fluss  durch  eine  in  jedem  Moment  fertige  Umwandlung  der  Ele- 
mente erklären  zu  wollen". 

Indem  wir  uns  diese  Gedanken  gegenwärtig  halten,  wenden 
wir  uns  zu  Philon,  der  wie  Patin10)  bewiesen,  in  seinen  „Qnae- 
stiones  in  Genesin"  III,  5  stark  von  Herakleitos  abhängig  ist,  so 
zwrar,  class  auch  ihm  „das  ungeheure  von  Heraklit  gesammelte 
Beweismaterial  nicht  der  speciellen  Physik,  der  naturwissenschaft- 
lichen Forschung  dienstbar  war,  sondern  nur  der  Lehre  von  den 
Gegensätzen  und  ihrer  welterfüllendeu,  weltbeherrschenden  Harmo- 
nie". Wenn  wir  bei  Philon  lesen:  t<5  -yap  ovet  irotvö'  oaa.  h  xoajxip 
a^EOov  svavxia  sivat  TTECpuxöv.  «pxTEov  os  aro  töjv  irpanauv.  öspaov 
svavTiov  <];uypm  xocl  £r]pov  u-;p(p  xai  xoucpov  ßapsT  xal  Cxotos  cpum  xal 
vu£  vjjxspa  —  und  Patin  aus  dieser  und  den  ihr  folgenden  Stelleu 
(a.  a.  0.  S.  8 ff.)  den  zwingenden  Beweis  erbringt,  1.  class  ihm  die 
sogenannten  Elemente  nur  die  von  Herakleitos  (Brachst.  21,  39, 
68)  gemeinten  Elementarstufen,  die  grossen  Teile  oder  Schichten 
der  werdenden  und  gewordenen  Welt  bedeuten  und  diese  ihm 
andrerseits  wieder  zu  Elementen  werden,  2.  dass  dort  bei  Philon 
die  ersten  heraklitischen  Gegensätze,  wie  sie  im  39.  Bruchstücke 
verzeichnet  sind,  mit  der  einzig  deutlich  erkennbaren  Beziehung 
auf  den  Menschen  und  die  Unterschiede  seiner  Eigenart   erschei- 


9)  Patin,  Heraklits  Einheitslehre,  S.  98.  99. 

10)  Patin,  Heraklitische  Beispiele,  S.  3— 17. 


Patristische  Herakleitos-Spuren.  IC.") 

neu.  und  3.  dass  Licht  und  Dunkel,  Naclri  und  Tag  von  Hera- 
kleitos'  Standpunkt  und  zwar  nur  von  diesem  elementare  Bedeu- 
tung haben:  so  ist  damit  die  Grundlage  gewonnen,  von  der  aus 
auch  auf  die  kosmogonischeu  Sätze  des  Eusebios  helleres  Licht 
l-illt. 

Tragen  wir  die  Stellen  zusammen,  die  hier  besonders  in  Be- 
tracht ktunmen,  mit  Weglassung  derjenigen,  in  denen  Eusebios 
seiner  a.  a.  0.  S.  261/2(12  näher  gekennzeichneten  Gewohnheit  ge- 
mäss, sieh  einfach  wiederholt.  Kap.  ."><>  g.  E.  heisst  es:  To  '^r/oöv 
xq>  hsouui)  ivavxt'ov  icTi,  xai  to  ofpöv  xiji  £vjo(o  [iayexar  xai  oara,' 
aoveXöovxa  oö  a-rJ.j'.rJ.'lv.  noöc  iaoxa,  -xXX'  s;  ofiovotas  sv  aä>ti.a  xai  Tr// 
rcavxtuv  yeveatv  drcoxeXoöatv.  Erinnern  diese  Worte  in  ihrer  Fassung 
schon  an  Philon  bezw.  Herakleitos,  so  weisen  die  folgenden,  wie 
bei  Philon,  trotz  der  ausdrücklichen  Erwähnung  der  vier  Elemente, 
noch  weit  mehr  auf  kosmische  Entwicklungsstufen  hin,  wie  sie 
Herakleitos  im  Sinne  hatte  (Kap.  27  a.  Schi.):  llepi  -{äp  ~<ov  xec- 
aoepcov  arxot^eicuv,  i-  &v  xai  soveöTTjxsv  f(  t&v  a<o;j.aTU)v  <puais,  tt)V 
&epjjir)v  ä£y(0  XGtt  "V  f\}y/!/^K  S^pav  ts  xai  ö^pdv  ouatav,  ti'c  xocooxov 
ötirsaxpairxat  ttjv  Siavotav,  «o^ts  ur(  stosvai,  oxt  gjxou  jasv  aov^txusva 
xaöxa  soviGxavxai,  Staipoujieva  os  xat  xafr'  iaoxa  -j-ivoiAsva,  Xoitcov  xäi 
aXXy]X«>v  etalv  avatpsxixd  t7.0t7.  xaxd  T7;v  tou  TrXsovaCovxo?  sv  auxots 
iTrixpaxstav ;  öspjiov  xs  77.0  Gzo  'I/j/ovj  TTÄsova'aravTo?  dlvaipeTxat  •  xat 
'Vj/pov  rcaXiv  6iro  tt(c  Bsp^f^  txcpavt'Csxat  ouva'usco:;  •  S>jp6v  ts  au  Giro  xou 
&Ypoo  §toYpatvsxat,  xai  xouxo  Giro  toü  sxspou  SirjpaivsTai.  Ja  unmittel- 
bar hinein  in  den  heraklitischen  Streit  der  Urstoffe  versetzt  uns 
die  Ausführung  des  37.  Kapitels.  Ei  \ir\  xpetxxovt  rcpocxa'&t  —  sagt 
Eusebios,  die  persönliche  Fassung  dieses  Ausdrucks  werden  wir 
gleich  näher  betrachten  -  i^ovst  xoöxoav  (d.  h.  der  am  Schluss 
viin  Kap.  36  genannten  Grundstoffe  ^o^pov,  ösppiov,  Eyjpov,  u-ypov) 
;j.i7.  xpaois,  jcS?  av  xo  ßapu  -<\>  IA.acpp<j>,  •?;  to  ctjoov  t<i~>  uyptp,  yj  xo 
iteptcpspe?  t<o  öpd(5,  ^  xö  irop  x(j5  ^o^pä),  5]  oXok  r(  öa'Xaasa  rjj  -,/,. 
?l  6  tjXios  rfl  ffsXrjVig,  rj  T7  asxpa  xq>  0007.'/«}.  xai  6  arjp  xats  ve<pgXat<; 
sot'-;//  xai  sovTjXfrev,  avofioibo  ouarjs  x^s  exadxoo  rcpbs  to  Ixepov  'fjjscos; 
l,o.s/./.s  77.0  xai  \it'[rJ.i:r[  3T7^'.;  -(rlvs^!t7.'.  rcpös  otuxa,  xou  o.sv  xatovxo?, 
xou  os  'Vj/ovto;.  xai  xou  fiev  ßapeios  xaxto,  xou  os  xo&poo  sx  t(T>v 
evavxt'tov  aveo  IXxovxos,    [vorher  Kap.  36  biess  es:  to  p.sv  ydp  58a>p 

12* 


Ißß  Johannes  Dräseke, 

cpuast  ßapb  xal  xaxea  peov  eöxiv,  ai  5s  vetpsXat  xoifyai  xal  x«ov  sXa- 
cppuiv  xal  tö»v  öcvaxpeptov  xuy/avouai]  xal  xou  fxev  tjXiou  cptoxi'Covxoc, 
xou  oe  aipos  oxoxtCovxos"  xal  -yap  xal  x«  acxpa  eaxaöi'affav  av  -po; 
sauxa,  oxi  xa  <xsv  öcva>xepa>,  xa  os  xaxtoxspco  xyjv  Oeciv  s/ei-  xal 
7)  vu$  o=  oux  av  Tcapex«up?Jöe  "TJ  ^spa  dXXa  Sfievev  av  toxvxws  jia/o- 
jxevt!  ~poc  auxTjv  xal  axaaia'Couaa.  Touxtov  os  -j'qvofiivwv,  Xoitcov  y> 
i'osiv  ouxsxt  xocp-ov  aXX'  axocJfitav,  oöxexi  xa£tv  aXX'  dxaEtav, 
ouxext  ausxacriv  dXX'  dauaxaxov  xo  oXov,  ouxsxt  {isxpa  aXX'  dfie- 
xpiav.  Tg  -,ap  Exaöxou  ata'ssi  xal  p-a/Tj  tj  Tcdvxa  äVgpoövxo,  r,  xo 
xpaxouv  aovov  icpaivsTO,  xal  xouxo  toxXiv  X7jv  xou  -rravxo?  dxoöfuav 
eoei'xvue.  Hier  haben  wir  die  für  Herakleitos  so  bezeichnenden 
Gegensätze,  hier  auch  die  beiden  Formen  des  Werdens,  das  Ent- 
stehen  und  Vergehen,  in  jener  seiner  oooc  avo>  xaxco. 

Greifen  wir  nunmehr  auf  Herakleitos'  erstes  Gesetz,  die 
Harmonie  der  Gegensätze  zurück.  Ist  bei  der  Vereinigung  der 
Gegensätze  dem  Ephesier  der  Oslo?  vojxos,  der  Aai'«x«>v,  die  r-fviuix/j 
beteiligt,  so  dürfen  wir  uns  nicht  wundern,  wenn  wir  bei  dem  spä- 
teren Diätetiker  zwar  gleichfalls  die  Erwähnung  jenes  heraklitischen 
Wzluz  voaoc,  daneben  aber  unvermittelt  den  Satz  finden:  cpuatv  8s 
iravxwv  Osol  Sisxoajxrjsav,  während  Herakleitos,  dem  die  Götter  weder 
Bildner  noch  Ordner  der  Welt  (Bruchst.  20),  noch  die  Lehrer  des 
Menschen  (Bruchst.  121)  waren,  gewiss  niemals  gesagt  hat,  dass 
Götter  die  Natur  des  Alls  gestalteten.  Wenn  endlich  ein  Scholiast, 
zwar  der  Zeit  nach  jünger,  aber  dem  Geiste  nach  älter,  den  Ord- 
ner der  Welt  wenigstens  noch  „Gott"  nennt  und  damit  die  einst 
so  unstatthafte  Verpersönlichung  des  Göttlichen  einführt,  so  sind 
wir  damit  unmittelbar  auf  der  Linie  angelangt,  auf  der  die  christ- 
liche Anschauung  nur  einzusetzen  brauchte,  um  sich  von  hier  aus 
aller  Gedanken  des  alten  Ephesiers  rückhaltlos  zu  bemächtigen. 
Es  bedurfte  ja  nur  einer  ganz  leichten  Umformung  oder  Umbe- 
nennung  des  letzten  Grandes.  Und  diesen  Schritt  that,  wie  mir 
scheint,  und  zwar  mit  vollem  Bewusstsein,  Eusebios  von  Emesa. 
Der  Ordner  des  Alls,  der  Versöhner  der  Gegensätze  ist  der  Logos: 
'AfaJlou  ^ap  roxxpöc  dyaOoc  X070S  uTrapywv,  sagt  er  Kap.  40,  auxö? 
xyjv  twv  iravxtov  oiexos^se  oiaxaStv,  xa  [xsv  svavxta  xots  ivavxtois  öuv- 
aixxtuv,   ex  xoux<wv    81   p-iav   oiaxoajxäiv  app-oviav.      Der  Logos   ist  es, 


Patristische  ETerakleitos-Spuren.  1  ( >  7 

der  (Kap.  42)  tas  ts  dp^A?  iraaijc  atoÖTj-rijs  oöat'ac,  afirep  3'.7;  &ep(i7] 
xat  'Vj/o7  xal  S^pä  xal  E*jpa,  efc  iv  3u*pcepavvu(üv  iroisi  p.7]  dvxtaxa- 
r;tv,  C/././.7.  [itav  xoti  (jujicpiüvov  t£iroxeX.siv  4p|xovtav  (ebenso  Kap.  12 
i.  A.).  Bekanni  ist,  wie  Herakleitos  zur  Veranschaulichung  des 
Satzes,  dass  in  der  Zusammenhaltung  and  Ausgleichung  der  Gegen- 
sätze, in  welche  sich  das  Weltleben  spaltet,  dien  ihre  Einheil  be- 
stehe, sich  des  Gleichnisses  von  der  Harmonie  des  Bogens  und 
der  Leier  bedient.  Den  oämlichen  Vergleich  linden  wir  bei  Euse- 
bios  (Kap.  42):  OFov  77.0  ei  tu:  Xupav  [xoootx&s  apfiocrafisvos  xal  xot 
ßapsa  ~<>\z  S^sat  xal  xa  fjiaa  xois  aXXois  7  7,  "ri/vr,  tJüva^a-ytuv  Iv  70 
37j|xaiv6p.evov  aiÄoc  diTOxeXo«}'  vj'710  xai  y,  xou  &sou  croepta,  xö  o/.ov  u>s 

/.'J07V    ETTSYtOV,     Xal    77    SV    (XSpi    XOt?     ETtI    ",">,;    SUVa^a^tUV,     Xal     17.     sv    oö- 

pavej)  xot?  iv  aspt,  xat  xä  oXa  xois  xaxa  [xspo?  auvaTrxü>v  xal  Trspwqcov 
x(u  iauxou  vsöfiaxt  xal  ösXTjfiaxt,  Iva  xov  xoajxov  xal  puav  xtjv  xouxou 
xa'civ  dixoxsXsT  xaXw;  xat  ^pfioapsvaK,  7'jtöc  |xsv  axivujxos  [livtov  irapa 
7«}  -770'.'.  itavxa  8s  xivSv  rjj  Iauxou  a'jaT753'..  <ik  äv  sxaaxov  xtp 
Iauxou  iraxpl  Sox^j).  xö  yap  jtapa'8o£ov  auxou  xSjs  ösoxr^xos  xouxo  sjtiv, 
oxt  svt  xal  T(ö  aöxtp  vcijaat'  itavxa  6p.ou  xal  oux  Ix  8iaaxrjp.axtov,  7/./.' 
aöpoto?  oXa  xa  73  öpfta  xal  xa  irepi<psp^,  xa  ava>,  xa  fjicja,  77  xaxto, 
77.  uypd,  xa  'l'y/yJ..  xa  &spp.d,  xa  cpatvop.eva  x7.i  77.  aopaxa  rapid-fei 
xat  oiaxoo|xei  xaxa  xtjv  Bxaaxou  cpuatv. 

Hier  wird  man  kein  Redenken  tragen  dürfen,  die  Abhängig- 
keil der  Darstellung  des  Eusebios  von  Herakleitos  anzuerkennen. 
Wollte  mir  der  Hinweis  auf  den  Ephesier  bei  meinen  ersten  Aus- 
zügen aus  Eusebios  nicht  zwingend  genug  erscheinen,  so  dass  ich 
nur  auf  die  heraklitische  Umgebung,  in  der  jene  ersten  Sätze 
standen,  mich  berufen  konnte,  so  wird  das  Folgende  den  Eindruck, 
dass  wir  heraklitische  Weisheit  vor  uns  haben,  verstärk!  haben. 
In  unmittelbarer  Verbindung  mit  der  oben  aus  Kap.  36  angeführten 
Stelle  linden  wir  —  ein  deutliches  Zeichen,  dass  mich  bei  Eusebios 
dvv  in  seiner  Vorlage,  d.h.  doch  wohl  Herakleitos  selber,  vor- 
handene Zusammenhang  mit  der  Lehre  vom  Menschen  noch  nicht 
verwischl  ist  —  folgende  Stelle:  Kai  xb  ;j.ev  appev  oö  xauxov  3371 
7<<J  &7jXet,  xal  0[xto?  zU  iv  auvdfsxai,  xal  fita  jcap5  d[icpoxspo>v  ofocoxe- 
XeTxat  Yeveais  xou  ojaoiou  £a>ou.  Ob  dies  nur  eins  von  den  vielen 
dem  Menschenleben  entlehnten  Beispielen  ist,  durch  welche  Hera- 


168  Johannes  Dräseke, 

kleitos  die  Vorgänge  jenes  als  Nachahmungen  der  grossen  Natur- 
vorgänge betrachten  lehrte,  ist  zweifelhaft.  Es  könnte  auch  an 
jenen  Satz  des  Diätetikers  gedacht  werden,  den  Patin  (Herakl. 
Beisp.  S.  35  ff.)  als  heraklitisches  Beispiel  nachgewiesen  hat,  dessen 
u.  a.  sich  der  Ephesier  etwa  behufs  Schilderung  der  Logik  (S.  38) 
bediente:  Der  Mensch  erkennt  aus  dem  Sichtbaren  (sinnlich  Ge- 
wissen) das  Gegenteil,  da  er  nach  der  Vermählung  ein  Kind  er- 
wartet, czv7]p  yuvouxl  £u"fj,sv6(ucv<x  iraiStov  iizoiiqas'  xa>  cpccvc^oj  to 
ao7)Xov  yivaxjxsiv  oti  oG'xtu?  eatai.  Das  Sichtbare  und  Unsicht- 
bare sahen  wir  zum  Schluss  der  soeben  aus  Kap.  42  mitgeteilten 
Stelle  betont.  Doch  wie  dem  auch  sei,  jedenfalls  finden  wir  noch 
andere  Spuren  des  Ephesiers  bei  Eusebios,  die  ihren  Ursprung 
nicht  verleugnen  können. 

Durch  Patin 's  Untersuchungen,  besonders  in  seinen  „Herakli- 
tischen  Beispielen"  haben  wir  jetzt  erst  eine  lebendige  Anschauung 
von  der  Fülle  derjenigen  Beispiele  gewonnen,  durch  welche  Hera- 
kleitos dieselben  Gesetze,  welche  das  kosmische  Leben  beherrschen, 
auch  in  den  menschlichen  Verrichtungen  nachwies.  Die  Hand- 
werke und  Künste  ahmen  der  Natur  nach.  Das  ist  der  Satz 
des  Ephesiers.  Wir  linden  ihn  zweimal  auch  bei  Eusebios, 
Kap.  18:  Ttjv  77.fi  -iyyrp  xai  al  tcoXXoI  Xi^ooai  cpuasoK  auTYjv  eTvoci 
fii(jfif)|j,a  und  Kap.  20:  [xovtj  Se  rt  ;j.öt'  ir^xr^r^  ts^vtj  zb  Usiov  ixxa- 
Xsitou,  rJzt  ovj  ji-iti-r^Aa  ty(?  cpuasoK  ctuTrj  -u-f/avo-js?..  Von  allen  jenen 
Beispielen,  die  in  ihrem  geschlossenen  Zusammenhange  aus  Pseudo- 
Hippokrates  Patin  in  musterhafter  Weise  entwickelt,  ist  kaum 
eines  berühmter  als  das  von  der  Musik,  den  hohen  und  tiefen 
Tönen  und  der  Harmonie.11)  Dasselbe  war,  wie  es  urkundlich 
gewiss  ist,  von  Anfang  an  bei  Herakleitos  mit  dem  von  der 
Schreibkunst  verbunden,  erscheint  aber  frühzeitig  auch  von 
diesem  getrennt.      Aus  Herakleitos  entnommen,  wie  Patin  gezeigt 


]1)  Wie  lange  und  wje  oft  dieses  Beispiel  des  Herakleitos  verwendet, 
nachgebildet  und  immer  wieder  zur  Veranschaulichung  herangezogen  worden 
ist,  dürfte  schwer  zu  sagen  sein.  Ich  finde  einen  der  spätesten  Nachklänge, 
gerade  ein  Jahrtausend  nach  Eusebios,  bei  Nikephoros  Gregoras  (111,3). 
Der  Geschichtschreiber  hat  im  Hinblick  auf  einen  bestimmten  Fall  die  fast 
völlige  Unvereinbarkeit  der  theologischen  Beschaulichkeit  mit  dem  thatkräftigen 


Patristische  Eerakleitos-Spuren.  It/j 

hat,18)  findel   sich  das  Beispiel  von  der  Musik   bei  Pseudo-Ari 
teles  (-ev.  KOöfiou  5  p.  396)   und   Pseudo-Hippokrates  (irepl 
I.  p.  643).     I'li  gebe  es   in  der  von  Patin  (Herakl.  Beisp.  S.  63) 
wiederhergestellten   Fassung:    äpfiovfyv  crovxccxxouaiv  i/.  tou  ö£eos  xal 
tou  ^oso;.  ovdu.axt  ;j.zv  Ofioitov,  'fi^o",";".'  °^  o0X  Sp10"0^    ouvxa£eis  ix 
xfiiv  ototcov  o'j/  a{  aüxai.      x«   -Lzij-'j.  Sta^opa   piaXtaxa   Sop<pspet  xat 
tä  i/.7./'.7T7.  Siofyop«  TJxtaxa  £up^>spei.     3;  os  Spioia   icavxa   itonjoei  u? 
oux  i'vi  -rio'V.c.     a(   irXeiaxai   piexaßoXa?   xat  ai  iroXuei8s<Jxaxai    paXiaxa 
xspicouoiv.    Patin  verweis!  auf  Platon's  Philebos,  aus  dem  der  Grund- 
bestand der  heraklitischen  Lehre  längsi  gesichert   ist,  und  vergleicht 
insbesondere  17C,    8uo  oe  S)aju.ev   ßaph   xal  ö£u    xal   xpi'xov  ou-oxovov, 
„wo  sogar  die  Form  den  Zusatz  Platon's  vom  alten  Bestand  noch 
deutlich  unterscheiden    lässt'1.     Dass  dort  aber  (Abschn.  18  beim 
Diätetiker   und   auch  Abschn.  23)  die  ältere,    vorplatonische,    also 
heraklitische  Stufe  vorliegt,  dafür  führt  Patin  mit  Recht  als  haupt- 
sächlichsten Grund  den  Umstand  an,  dass  beide  Male  die  Zweizahl 
des  Gegensatzes  (in   Abschn.  18  Hochton  Tieften)  als  das  Festbe- 
grenzte   erseheint,    während    bei    Piaton    von    zahlreicheren,    zwar 
streng    unterschiedenen,    aber    nicht  gerade  gegensätzlichen   Arten 
die  Rede  ist.      Das  aber  erklärt  er  (a.  a.  0.  S.  62.   Anm.  80)  für 
„die  spezifische  Differenz  zwischen  beiden,  dass  für  Heraklit  nicht 
die  Bestimmtheit  der  Zahl,  sondern  der  einige  Gegensatz,  für  Piaton 
eine  erschöpfende  Unterscheidung  der  Arten,  also  die  Klassifikation, 
die  fast  eine  Vorstufe  der  Entdeckung  einer  förmlichen  Kategorien- 
lehre heissen  möchte,  das  wesentliche  Merkmal    wissenschaftlicher 
und  technischer  Erkenntnis    bedeutet."     Nun  finden    wir   das    P>ci- 
spiel    von   der   Musik   bei  Eusebios    an   mehreren  Stelleu,    eine 
derselben    (Kap.  42)    ist    zuvor    schon   angeführt.     Im  31.  Kapitel 


Eingreifen  in  <l.  iebe  des  staatlichen  Lebens  behauptet:   i\t.oi  8'  dpeaxei, 

fährt  er  fort,  xpäaw  iz  dpupoxäpiuv  S}(eiv,  Saxis  rcoxi  Isxiv  h  ßouXdpievos  dp^eiv, 
xaOctTtep  xdv  tot?  pouaixotc  öpäipiev  öpydvois  ~o;j;  aötöäv  äiuax^pova?  jrpdxxovxac 
ob  ydp  laoxdvou«  xd«  veupds  xadiaxüatv  drcdffas'  aptoosov  ydp  t;j  xoioüxov  xal  ix- 
[iz/.i;-  dXXä  xds  |.<iv  jrpös  xö  ßap6xepov  xefvavxec,  xds  6e -po;  xö  ö^j-rspov,  xal  xds 
luv  [läXXov,  zäz  8'  ^xxov,  o8xoi  itotxCXqv  rtvi  xal  £p.p.ooaov  -/.aittjtciüa'.  X7]\ 
appovfav. 

'-)  Quellenstudien  z.u  Heraklit,  S.  I  ff.     Heraklitische  Beispiele,  S.  62  ff. 


170  Johannes  Dräseke, 

heisst  es:  'ßc  ydp  at  sv  Xupa  veupal  fxasxou  jasv  e^ouöi  xov  föiov 
cpdoyyov,  yj  txöv  ßapuv,  yj  os  o£uv,  yj  os  jxecfov,  yj  os  öCuxovov,  y]  os 
dXXov  dSiaxpixos  os  saxiv  aux&v  yj  dpjzovi'a  xal  dSidfVöxjTOs  yj  auv- 
Osstc  /(opl?  toü  sTrtaxYjtAovoc'  tote  *;dp  xal  yj  apfxovta  aöxSv  Betxvoxai 
xal  yj  oovxafo  äp(hg,  oxav  6  xaxs^wv  xyjv  Xupav  tcXy]£]()  xdc  veupds 
xal  apftoSuoc  IxdöXYjs  dtyrjxaf  xouxov  xov  tpoicov  xal  xa>v  aiaÖTjxSiv  sv 
xu5   cftofiaxi  oje  Xupac  Yjp[i.oö[X£va)V,    oxocv   6  STCtatYjjxcuv  vouc  auxwv  YJ 


M 


e- 


[lOveüTQ'  totö  xat  öiaxpivei  yj  '^u/yj  xal  oiosv  o  tcoisT  xal  Tcpdxxei.  — 
Kap.  32:  xal  yap  oux  s'cwösv,  dXX'  ev8o&sv  auxrj  (d.  h.  yj  ^o/yj)  x(3  3u>= 
|iaxt,  öjc  6  [jlougixoc  rg  Xöpa  svyj/si  xd  xpei'xxova.  —  Am  schönsten  und 
reinsten  klingt  der  Vergleich  von  der  Lyra  und  dem  Musiker  im  38. 
Kapitel  aus :  Ka&a-sp  77p  ei  xtc  Ttoppcodsv  dxouet  Xupac  ix  tcoXXäv  xal 
Siacpopcöv  veopSv  aoyxeijiivYjs,  xal  &aojidCoi  xouxcuv  xyjv  dpftoviav  xyjc 
soji/pumac,  oxi  jay]  [xovyj  yj  ßapeta  xov  yj/ov  diroxsXeT  p.Y}8s  uovrj  yj  ö£eia 
fiYjSI  jjlovyj  yj  [a£5yj,  dXXd  Tuaaai  xaxd  xyjv  isyjv  dvxiaxaaiv  dXXYJXais  suv- 
ijjfouai'  xal  irdvTios  ix  xooxa>v  ivvost  ouy  §aoxY]  xivstv  xyjv  Xupav, 
dXX  ouSs  utto  icoXXtov  auxYjv  xuTrxssilcu,  Iva  os  sivai  uouaixov  xov 
i/aaxYjc   vsopdc   yjj^ov   Ttpo;  xyjv    Ivappioviov    auji/pumav    xspdaavxa    xyj 

EICiaTYjflYj,    xdv    ptYj    TOUTOV    ßXiinQ'     OUXtl)     TCaVapfAOVlOU     OU(JYJS    XYJC    X«';£U)C 

sv  xij)  y.o3ix(o  nravxi,  xal  [AYjxs  xäv  d'vo)  Ttpös  x6  xdxcu  U./JXE  xÄv  xdxcu 
~poc  xd  dvcu  öxaaia£6vxu>v,  «XXd  [uas  xtöv  -dvxiuv  dTcoxeXoofiEVYi?  xd- 
c-sojc,  sv«  xal  [xyj  ttoXXouc  voetv  dxoXouftov  iöxt  xov  dpyovx«  xal  ßaaiXea 
xyjc  TcdafYjs  xxisetos,  xov  x<5  iauxou  cpcuxl  xd  icdvxa  xaxaXdjUTtovxa  xal 
xivo5vx7.  Man  wird  hier  trotz  der  in  der  Weise  des  Philebos  über 
die  beiden  Grundtöne  hinaus  genannten  Klangfarben  der  Saiten 
nicht  an  Abhängigkeit  von  Piaton  denken  dürfen,  am  wenigsten 
an  die  Stelle  des  Symposion  (p.  187),  wo  Piaton  den  Eryximachos 
ziemlich  oberflächliche  Einwendungen  erheben  lässt  gegen  Hera- 
kleitos'  Satz,  dass  das  Eine,  eben  indem  es  auseinandergehe,  mit 
sich  selber  zusammengehe,  wie  die  Fügung  eines  Bogens  und  einer 
Leier.  Vielmehr  erinnert  in  dieser  Stelle,  ganz  wie  in  der  aus 
dem  42.  Kapitel  mitgeteilten,  die  Betonung  des  einigen  Gegensatzes, 
die  Schaffung  der  harmonischen  Ordnung  in  den  teils  abwärts 
(xdxoj),  teils  aufwärts  (dvco)  strebenden  Teilen  der  Welt  an  Hera- 
klei tos.  Doch  zeigt  sich  die  christliche  Umbildung  der  philoso- 
phischen Grundanschauung  des  alten  Ephesiers,  wie  ich  zuvor  schon 


Patristische  fferakleitos-Spuren.  17  1 

hervorhob,  gerade  darin,  das  Eusebios  begeistert  auf  den  einen 
Herrscher  und  Schöpfer  der  Welt,  Gott,  den  grossen  Musiker,  hin- 
weist, „der  mit  seinein  Lichte  alles  erleuchtel  und  bewegt",  wäh- 
rend in  den  ersten  beiden  Verwendungen  des  Gleichnisses  die  den 
Körper  beherrschende  und  die  widerstrebenden  Regungen  desselben 
einigende  Macht  der  Seele  den  Grundzug  bildet. 

Patin  war  bei  seinen  Berakleitos-Forschungen  in  der  glück- 
lichen Lage,  die  reiche  Bilderwelt,  deren  sich  der  Ephesier  be- 
diente, in  der  Schrift  des  Hippokratikers  gewissermassen  neu  zu 
entdecken  und  aus  dieser  in  seinen  „Heraklitischen  Beispielen" 
(deren  zweite,  erst  im  Laufe  dieses  Jahres  (1893)  erschienene 
Hälfte  zum  Zwecke  dieser  meiner  Nachweisungen  durchzuarbeiten 
und  zu  verwerten  mir  nicht  möglich  war)  zum  ersten  Male  ein 
trotz  aller  Entstellungen  und  Verstümmelungen  jener  lebendiges 
Abbild  eines  Teiles  des  Buches  irepi  <pucjs<i>s  zu  entwerfen.  Das 
schriftstellerische  Abhängigkeitsverhältnis  war  dort  ein  einzigartig 
und  ist  für  uns  Spätgeborene,  die  wir  mit  den  Trümmern  der  Ge- 
danken jenes  Alten  uns  begnügen  müssen,  von  hohem  Werte.  Eine 
gleiche  Annahme  ist  durch  die  Natur  der  Sache  bei  der  apo- 
logetischen Schrift  des  Eusebios  völlig  ausgeschlossen.  Dass  aber 
der  letztere  wahrscheinlich  Herakleitos'  Werk  selbst  noch  gekannt 
und  benutzt  hat,  das,  denke  ich,  werden  die  vorstehenden  Mit- 
teilungen, zu  denen  mir  Patin's  scharfsinnige  Untersuchungen  zu- 
nächst unmittelbaren  Anstoss  gaben,  zur  Genüge  haben  erkennen 
lassen.  Vielleicht  veranlassen  dieselben  nunmehr  auch  philoso- 
phische und  philologische  Leser,  der  vortrefflichen,  tiefsinnigen 
Schrift  des  Eusebios.  deren  zweiter  Teil  (IIspl  t^c  ivav&pcoTrqaea)? 
tvj  X6700),  leider  allein,  kürzlich  von  Archibald  Robertson  (St. 
Athanasius  on  the  Lncarnation,  edited  for  the  use  of  students  with 
;i  brief  introduetion  and  notes.  London,  David  Nutt.  1891)  in 
einer  Sonderausgabe  leichter  zugänglich  gemacht  wurde,  näher  zu 
treten.  So  lange  die  Schrift  für  ein  Werk  des  Athanasios  galt, 
war  sie  den  Theologen  ein  Rätsel,  das  zu  erklären  bisher  vergeblich 
versucht  worden  ist.  Nachdem  ich  aber  jene  durch  jahrhunderte- 
lange Gewöhnung  fast  zum  Wert  einer  feststehenden  Thatsache 
aufgerückte   Annahme    beseitigt    und  Eusebios    von  Emesa    als 


172  Johannes  Dräseke,  Patristische  Herakleitos-Spuren. 

wahrscheinlichen  Verfasser  (a.  a.  0.)  nachgewiesen  und  damit  das 
Werk  erst  der  Möglichkeit  einer  richtigen  Beurteilung  teilhaftig- 
gemacht  habe,  wird  es  sich  verlohnen,  der  philosophischen  Begrün- 
dung der  Gedanken  neben  der  theologischen  noch  weitere  Aufmerk- 
samkeit zu  schenken.  Die  Geschichte  der  Philosophie  des  Alter- 
tums wird  dadurch  unmittelbare  Förderung  und  Bereicherung  zu 
erwarten  haben. 


VI. 

Die  Kontinuität  im  philosophischen  Entwick- 
lungsgänge Kants. 

Von 
Harald  Ilött'rtiiig  in  Kopenhagen. 

Ei  nleitung. 

1.  Dem  Hauptwerke  Kants,  der  „Kritik  der  reinen  Vernunft" 
(1781)  geht  bekanntlich  eine  lange  Reihe  von  Jahren  voraus,  wäh- 
rend  deren  die  grossen  Ideen,  die  mittels  dieses  Werkes  auf  das 
Geistesleben  des  folgenden  Jahrhunderts  so  bedeutenden  Einfluss 
erhalten  sollten,  langsam  zur  Entwicklung  gelangten.  Kant  wurde 
deshalb  oft  als  ein  Beispie]  später  Reife  angeführt.  Er  war  57  Jahre 
alt,  als  die  „Kritik  der  reinen  Vernunft"  erschien.  Ol  »schon  er 
nun  seine  Bedeutung  und  seinen  Ruhm  zweifelsohne  besonders 
diesem  Werke  verdankt,  würde  es  doch  eine  falsche  Annahme 
sein,  dass  seine  vorausgehenden  Schriften  nur  als  vorbereitende 
Glieder  seiner  Entwicklungsgeschichte  von  Werl  sein  sollten  und 
ihre  Bedeutung  verlören,  seitdem  das  Hauptwerk  das  Licht  er- 
blickte. Wie  sie  seiner  Zeit  Kant  bereits  einen  so  hoch  ange- 
sehenen  Namen  verschaffte n.  dass  er  ihretwegen  sogar  mit  Lessing 
verglichen  wurde,  ehe  er  als  Verfasser  der  „Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft" dastand,  so  bieten  sie  noch  jetzt  etwas  mehr  als  ein  rein 
historisches  Interesse  dar.  Sie  enthalten  Gedanken,  deren  Zeil 
noch  nicht  zu  Ende  ist.  Viele  dieser  Gedanken  hat  Kant  —  zum 
Teil  mit  Metamorphosen,  die  durch  seinen  späteren  Standpunkt 
bedingt  waren  —  in  seinen  späteren  Werken  stets  behauptet  und 
aufs  neue  entwickelt;    und  vorzüglich   mit  diesen  wird  sich  die 


174  Harald  Höffding, 

Aufsatz  beschäftigen.  Es  finden  sich  in  den  früheren  Schriften 
aber  auch  Gedanken,  die  in  den  späteren  Werken  mit  Unrecht 
verdunkelt  oder  gänzlich  verlassen  wurden.  Nicht  in  allen  Be- 
ziehungen war  es  ein  Fortschritt,  den  Kant  machte,  als  er  seinen 
definitiven  Standpunkt  erreichte.  Besonders  was  die  Form  betrifft, 
besitzen  die  früheren  Schriften  entschieden  den  Vorzug.  In  diesen 
tritt  Kant  als  klarer  und  eleganter  Schriftsteller  auf,  was  sich  keines- 
wegs von  allen  Teilen  seiner  späteren  Werke  sagen  lässt. 

Es  war  natürlich,  dass  das  Neue,  Grossartige  und  Bedeutende 
des  Hauptwerkes  sowohl  bei  Kaut  selbst  als  bei  seinen  Schülern 
und  Auslegern  die  früheren  Schriften  überschatten  mussten.  Erst 
während  der  letzteren  Jahre  hat  man  sie  aus  rein  historischem 
Interesse  hervorgezogen.  Dann  war  es  vorwiegend  nur  darum 
zu  thun,  die  Uebergangsglieder  zum  definitiven  Standpunkt  nach- 
zuweisen. Dieses  Studium  hat  —  in  Verbindung  mit  den  Kanti- 
schen Manuskripten,  die  während  der  letzten  Jahre  zum  erstenmal 
uns  Licht  gezogen  wurden  —  in  mehreren  Beziehungen  Klarheit 
über  Kants  Entwicklungsgang  verbreitet,  indem  es  sich  zugleich 
an  einigen  Punkten  als  unmöglich  erwies,  ein  bestimmtes  Resultat 
zu  erzielen.  In  diesem  Aufsatze  werde  ich  einige  Hauptpunkte  im 
philosophischen  Entwicklungsgange  Kants  zu  erhellen  suchen,  so 
zwar,  dass  ich  namentlich  dessen  Kontinuität  und  die  dauernde  Be- 
deutung ansehnlicher  Teile  der  früheren  Schriften  darlegen  werde. 

Kaut  selbst  äusserte  gelegentlich  wiederholt,  dass  seine  Ent- 
wicklung bestimmte  Wendepunkte  gehabt  habe.  In  einem  Brief 
au  Mendelssohn  vom  18.  August  1783  schreibt  er  von  der  Weise, 
wie  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  ausgearbeitet  worden  war: 
„Das  Produkt  des  Nachdenkens  von  einem  Zeiträume  von 
wenigstens  zwölf  Jahren  hatte  ich  innerhalb  etwa  4  bis  5  Mo- 
naten zu  stände  gebracht."1)  Diese  Aeusserung  deutet  auf  das 
Jahr  1769  als  den  Zeitpunkt,  da  die  direkt  zur  Kritik  der  reinen 


')  Eine  ganz  ähnliche  Aeusserung  findet  sich  schon  in  Kants  Briet  an 
Garve  vom  T.August  1783:  „Den  Vortrag  der  Materien,  die  ich  mehr  als 
12  Jahre  hintereinander  sorgfältig  durchdacht  hatte....  brachte  ich  in 
etwa  4  bis  5  Monaten  zu  stände."  (Dieser  Brief  ist  abgedruckt  in  Alb.  Stern: 
üeber  die  Beziehungen  Chr.  Garves  zu  Kant,  S.  33  u.  f.) 


Kontinuität  im  Entwicklungsgänge  Kants.  ^75 

Vernunft  führende  Gedankenreihe  eingeleitet  wurde.  Und  hiennil 
stimmt  überein,  was  Kant  weil  früher  (2.  September  1770)  an 
Lambert  geschrieben  hatte:  „Seil  etwa  einem  Jahre  bin  ich,  wie 
ich  mir  schmeichle,  zu  demjenigen  Begriffe  gekommen,  welchen 
ich  nicht  besorge  jemals  ändern,  wühl  aber  erweitern  zu  dürfen, 
und  wodurch  alle  Art  metaphysischer  Quästionen  nach  ganz  sichern 
and  leichten  Kriterien  geprüft  and,  inwiefern  sie  auflöslich  sind 
oder  oicht,  mit  Gewissheit  kann  entschieden  werden."  In  den  von 
Benno  Brdmann  unter  dem  Titel  „Reflexionen  Kants"  herausgeg 
benen  Aufzeichnungen  von  Kant,  die  mehrfache  interessante  Bei- 
träge zu  seiner  Entwicklungsgeschichte  enthalten,  heissl  es  in  dem 
wahrscheinlich  dem  Entwurf  einer  geplanten  Vorrede  zur  Kritik 
der  reinen  Vernunft  angehörenden  Fragmente:  „Das  Jahr  lTi.'.t  gab 
mir  grosses  Licht."3)  Und  als  einer  der  Schüler  Kants  eine  Samm- 
lung von  dessen  kleineren  Schriften  veranstalten  wollte,  wünschte 
Kant,   dass    keine    alteren   Schriften    als   von   1770    aufgenommen  V 

würden  (Brief  vom  6.  Februar  1798  an  Tieftrunk). 

liier  hat  man  also  ein  Datum  für  den  Anfang  der  letzten  IV 
riode  von  Kants  Forschen  und  einen  Beweis,  dass  er  selbsl  dieses 
als  ein  zusammenhängendes  Ganzes  auffasste.  Ein  Wendepunkt 
-eine-  Entwicklung! n lies  ist  festgestellt,  und  mithin  wird  es  die 
Aufgabe  sein  besonders,  wenn  mau  die  Kontinuität  des  Ent- 
wicklungsganges zeigen  will  —  zu  erklären,  wie  dieser  Wende- 
punkt durch  die  vorausgehende  Periode  vorbereitet  wird  und  mit 
derselben  im  Zusammenhang  steht. 

Ein  anderes  Problem  hat  Kant  selbst  denjenigen,  die  sich  mit 
seinem  Entwicklungsgang  beschäftigen,  gestellt,  indem  er  darauf 
hinweist,  was  er  David  llume  verdanke.  „Ich  gestehe  frei", 
heisst  es  in  der  Vorrede  zu  deu  „Prolegomena",  „die  Erinnerung 
des  David  llume  war  eben  dasjenige,  was  mir  vor  vielen  Jahren 
zuersl  den  dogmatischen  Schlummer  unterbrach  und  meinen  Un- 
tersuchungen im  Felde  der  spekulativen  Philosophie  eine  ganz  an- 


")  Reflexionen  Kants  zur  kritischen  Philosophie.  Aus  Kants  handschrift- 
lichen Aufzeichnungen  herausgegeben  ?on  Benno  Brdmann.  11.  Leipzig 
1884.  S.4.  (No  4.) 


176  Harald   Höffding, 

clere  Richtung  gab".3)  Hier  wird  also  ebenfalls  auf  eine  Unter- 
brechung hingedeutet,  indem  ein  äusserer  Impuls  eingreift  und  der 
Denkarbeit  eiue  ganz  neue  Richtung  verleiht.  Es  entsteht  nun 
zunächst  die  Frage,  auf  welchen  Punkt  in  Kants  Entwicklung 
diese  Erweckung  zu  beziehen  ist,  Diese  Frage  hat  trotz  aller  darauf 
angewandten  Gelehrsamkeit  und  Scharfsinnigkeit  keine  überein- 
stimmende Beantwortung  der  Kantforscher  gefunden.  Es  gibt  keinen 
Punkt  in  Kants  Gedankenentwicklung,  an  welchem  ein  derartiger 
Sprung  zu  finden  wäre,  dass  das  entschiedene  Eingreifen  eines 
fremden  Gedankenganges  eine  unerlässliche  Voraussetzung  genannt 
werden  müsste.  Ueberall  lässt  sich  das  Fortschreiten  sehr  wohl 
als  Fortsetzung  der  vorhergehenden  Thätigkeit  erklären.  Einer  der 
hervorragendsten  Kantforscher  nahm  an,  das  Jahr  17G9,  in  wel- 
chem nach  Kants  ausdrücklicher  Erklärung  der  Grundgedanke  sei- 
ner definitiven  Philosophie  entstand,  möchte  auch  der  Zeitpunkt 
sein,  da  die  Erweckung  aus  dem  dogmatischen  Schlummer  statt- 
fand.4) Die  Sache  würde  allerdings  am  einfachsten  liegen,  wenn 
die  beiden  von  Kant  selbst  erwähnten  Wendepunkte  zusammen- 
träfen. Ob  es  sich  so  verhält,  lässt  sich  erst  nach  näherer  Unter- 
suchung der  1769  eingetretenen  Veränderung  entscheiden.  An  und 
für  sich  ist  es  nicht  nothwendig,  dass  die  beiden  Zeitpunkte  zu- 
sammentreffen. Eine  Erweckung  ist  etwas  anderes  als  eine  Ent- 
deckung; eine  neue  Richtung  etwas  anderes  als  ein  neues  Ergebnis. 
Was  im  Jahre  1769  geschah,  kann  ein  Fortschritt  gewesen  sein, 
der  nur  dadurch  ermöglicht  wurde,  dass  die  Erweckung  vorausge- 
gangen war  und  zwar  vielleicht  seit  langer  Zeit.  Das  Licht,  das 
Kant  in  jenem  Jahre  erschien,  hat  er  möglicherweise  lange  suchen 
müssen,  bis  er  es  fand.  Und  dies  wird  teils  dadurch  bestätigt, 
dass  er  in  den  Briefen  an  Garve  und  Mendelssohn  von  „mehr  als 
zwölf  Jahre  durchgedachten  Materien",  von  „dem  Produkt  von  we- 
nigstens zwölf  Jahren"  spricht,  teils  dadurch,  dass  er  in  den 
„Prolegomena"  äussert,  die  [in  der  „Dissertatio"  (1770)]  aufge- 
stellte  Unterscheidung  der  Elementarbegriffe  der  Sinnlichkeit  von 

3)  Prolegouiena  zu  jeder  künftigen  Metaphysik.     Riga  1783.   S.  13. 

4)  Friederich   Paulsen:     Versuch    einer     Entwicklungsgeschichte    der 
Kantischen  Erkenntnistheorie.     Leipzig  1875.  S.  12.6  u.  f. 


Kontinuität  im   Entwicklungsgänge  Kants.  177 

denen  dos  Verstandes  sei  ihm  erst  „nach  langem  Nachdenken" 
gelungen. 5) 

Es  wäre  sicherlich  von  nicht  geringem  Interesse,  wenn  sich 
der  Zeitpunkt  der  Erweckung  bestimmt  angeben  Hesse.  Kants  Be- 
ziehung zu  Bume  ist  ein  Hauptpunkt  in  der  Geschichte  der  neue- 
ren Philosophie.  Man  wird  diese  Geschichte  als  einen  grossen  Dialog 
darstellen  können,  in  welchem  Bumes  Replik  und  deren  Erwide- 
rung durch  Kant  als  die  bedeutendsten  Aktenstücke  dastehen.  So- 
wohl wegen  ihres  Kontrastes  als  wegen  ihrer  Verwandtschaft  ist  das 
Studium  ihrer  Werke  eine  Quelle  stets  neuer  Orientierung  mit  Be- 
zug auf  philosophische  Prinzipienfragen.  Es  würde  nun  von  grossem 
Interesse  sein,  zu  erfahren,  an  welchem  Punkte  seiner  Entwick- 
lung Kant  so  recht  eigentlich  Bumes  Replik  gehört  hatte.  Dass  es 
nicht  damals  war,  als  er  den  Humc  zum  erstenmal  las,  liegt  in 
seiner  Aeusserung:  „die  Erinnerung  des  David  Hume".  Es 
würde  zugleich  von  allgemeinem  psychologischen  Interesse  sein, 
wenn  diese  Frage  sicli  näher  erhellen  Hesse;  wir  würden  hiermit 
ein  klassisches  Beispiel  erhalten,  wie  ein  entscheidender  Einfluss 
auf  eminent  selbständige  Weise  angenommen  werden  kann. 

Eben  in  den  Schwierigkeiten,  die  damit  verbunden  sind,  den 
Zeitpunkt  der  Erweckung  nachzuweisen,  erblicke  ich  aber  einen 
Beweis  der  Kontinuität  in  Kants  Entwicklung.  Eben  weil  Kants 
Denken  in  fortwährender  Entfaltung  blieb,  —  gerade  wegen  seines 
unablässigen  Strebens  und  seiner  unermüdlichen  Selbstkritik  (we- 
nigstens bis  der  ihm  definitive  Standpunkt  erreicht  war),  ist  es 
schwer  zu  entscheiden,  wann  und  wie  die  äusseren  Impulse,  die 
unseres  Wissens  an  einzelnen  Punkten  bestimmend  waren,  zum 
Eingreifen  kamen.  —  Diese  Bemerkungen  gelten  übrigens  uicht 
nur  von  dem  Einfluss  David  Bumes,  sondern  auch  von  der  Ein- 
wirkung, die  ein  anderer  grosser  Zeitgenosse  auf  Kant  ausübte, 
und  die  auf  dem  moralphilosophischen  Gebiete  nicht,  weniger  tief 
in  Kants  Entwicklung  eingrifi  als  jener  auf  dem  erkenntnistheo- 
retischen, —  die  Einwirkung  des  Jean  Jacques  Rousseau  nämlich. 
Auch  auf  diese  würde  man  nicht  au l'merksam  geworden  sein,  wären 


5)  Prolegomena.    Riga  1783.  S.  L19. 


178  Harald  Höffding, 

nicht  zufällig  hierauf  bezügliche   Aeusserungen  Kauts  aufbewahrt 
worden. 

Die  hier  erscheinende  Schwierigkeit  kehrt  bei  der  Unter- 
suchung eines  Entwickelungsprozesses,  besonders  auf  geistigem  Ge- 
biete, häufig  wieder.  Die  genaue  Bestimmung  des  Verhältnisses 
zwischen  innerer  Entfaltung  und  äusserem  Einfluss  kann,  wenn  von 
Anfang  an  grosse  Kräfte  in  Bewegung  sind,  leicht  zur  unlösbaren 
Aufgabe  werden.  Es  kann  hier  oft  scheinen,  als  vermöchte  die 
innere  Entfaltung  alles,  wenn  sie  nur  günstige  Bedingungen  erhält, 
ohne  dass  ein  besonderer  äusserer  Impuls  nötig  wäre.  So  geht  es 
uns  gerade  mit  Humes  und  Rousseaus  Einfluss  auf  Kant;  nur  die 
äusseren  Zeugnisse  bewegen  zu  dessen  Untersuchung.  Wo  die 
Kantforscher  uneinig  sind,  wenden  sie  in  der  Debatte  denn  auch 
die  Methode  an,  dass  sie  zeigen,  wie  der  Fortschritt  um  den  be- 
stimmten Zeitpunkt,  der  vom  Gegner  als  Zeitpunkt  der  Erweckung 
angenommen  wird,  ohne  äussere  Einwirkung  verständlich  ist.  Diese 
Methode  lässt  sich  um  so  leichter  durchführen,  als  die  Einwirkung 
auf  die  Entwicklung  eines  bedeutenden  Geistes  ihren  Einfluss  sehr 
oft  auf  indirekte  Weise  üben  wird,  indem  sie  vielmehr  in  der 
Auslösung  der  eignen,  bisher  gebundenen  Kraft  als  in  der  Mit- 
teilung neuen  Stoffes  besteht.  Was  dann  das  Resultat  der  Er- 
weckung wird,  braucht  der  erweckenden  Einwirkung  nicht  ähnlich 
zu  sein.  Das  erweckende  Wort  hat  oft  ja  gar  nichts  mit  der  Hand- 
lung zu  schaffen,  zu  der  man  erweckt  wird. 

Obgleich  ich  mir  im  Folgenden  gelegentlich  eine  Vermutung 
über  den  Zeitpunkt  der  Erweckung  gestatte,  lege  ich  dem  Streite 
hierüber  das  grösste  Interesse  doch  darum  bei,  weil  derselbe  den 
Eindruck  der  Kontinuität  in  Kants  Entwicklung  bestätigt  hat. 
Kant  selbst  war  übrigens  auch  nicht  der  Meinung,  dass  seine  vor- 
kritischen Schriften  gänzlich  ihre  Bedeutung  verloren  hätten.  In 
einem  Entwürfe  zur  Vorrede  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  sagt 
er:  „Durch  diese  meine  Abhandlung  ist  der  Wert  meiner  vorigen 
metaphysischen  Schriften  völlig  vernichtet.  Ich  werde  nur  die 
Richtigkeit  der  Idee  noch  zu  retten  suchen."6)     Es  wird  also 


6)  Reflexionen.  II.  S.  5  (No.  7). 


k   iiiinuitiit  im  Entwicklung«  Kants.  1  ,'.» 

trotz  der  Erweckung  and  des  Wendepunktes  doch  eine  Gedanken- 
verwandtschafl  anerkannt.  Diese  isl  es,  die  im  vorliegenden  Auf- 
satz besonders  bebandell   werden  soll. 

Der  EJebersicht  wegen  teile  ich  die  Darstellung  in  vier  Ab- 
schnitte, so  dass  wir  innerhalb  jedes  derselben  »las  Verhältnis 
zwischen  dem  früheren  und  dein  späteren  Standpunkte  mit  Bezug 
auf  einen  einzelnen  bestimmten   Punkt  untersuchen. 

I. 

Der  K  a  usa  1  begriff. 

'2.  Kants  Interesse  wurde  während  seiner  Studienjahre  vor- 
züglich von  Wolfs  Philosophie  und  Newtons  Physik  gefesselt.  Beiden 
jenüber  nahm  er  eine  selbständige  Stellung  ein.  was  schon  des- 
wegen notwendig  war.  weil  sie  sieh  im  Zwiespalt  befanden,  da 
Wolf  noch  der  Cartesianisch-Leibnizischen  Physik  huldigte  und 
Newtons  Attraktionslehre  bekämpfte.  Schon  dieser  Zwiespalt  musste 
das  Nachdenken  erregen,  und  wir  sehen  denn  auch  in  der  ersten 
selbständigen  Periode  Kants  (17"):")  — 1761) 7)  Versuche  hervortre- 
ten, seine  philosophische  Grundlage  dergestalt  zu  ändern,  dass 
Newtons  Physik  zu  ihrem  Hechte  gelangen  könnte.  Kant  stand 
mit  seiner  Anerkennung  Newtons  in  der  Wölfischen  Schule  nicht 
allein").  Er  trat  aber  selbständiger  auf  als  andre  Wolfianer.  und 
zwar  nicht  nur  Wolf,  sondern  auch  Newton  gegenüber.  In  seiner 
berühmten  Jugendschrift  „Allgemeine  Naturgeschichte  und  Theorie 
des  Himmels"  (ITT)."))  nimmt  er  das  Problem  von  dem  natürlichen 
Zusammenhange    d^    Weltalls    an    dem    Punkte    auf,    wo    Newton 


7)  Dieser  Periode  voraus  gehen  nur  eine  Abhandlung  über  die  Schätzung 
der  lebendigen  Kräfte  (1747)  und  zwei  kleine  naturwissenschaftliche  Abhand- 
lungen. 

Kants  Lehrer,  Martin  Knutzen,  hatte  es  bereits  versucht,  Newtons 
Physik  mit  Wolfs  Philosophie  zu  verbinden,  und  er  führte  seinen  Schüler  in 
das  Studium  dieser  Forscher  ein.  Vgl.  Benno  Erdmann:  Martin  Knutzen 
und  seine  Zeit.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Wolfischen  Schule  und  ins- 
besondere zur  Entwickelungsgeschichte  Kants.  Leipzig  1876.  —  In  Däne- 
mark erklärte  sieh  der  Wolfianer  Jeus  Kraft.  Professor  zu  Sorö,  in  seiner 
„Kosmologie"  (Kopenhagen  1752)  wider  die  Cartesianische  und  für  Newtons 
Physik. 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     VII.  13 


180  Harald  Höffding, 

dasselbe  nicht  nur  verlassen,  sondern  auch  als  unlösbar  erklärt 
hatte.  Trotz  seiner  grossen  Ehrerbietung  vor  Newton  konnte  Kant 
sich  nicht  mit  dessen  Aeusserung  zufrieden  geben,  dass  sich  kein 
natürlicher  Grund  finden  Hesse,  weshalb  die  Planeten  sich  in  der 
nämlichen  Richtung  und  ungefähr  in  der  nämlichen  Fläche  in  kon- 
zentrischen Bahnen  um  die  Sonne  bewegen  und  dasselbe  Verhältnis 
in  betreff  der  Trabanten  stattfinden  solle.  Kant  betrachtete  die 
Appellation  an  eine  übernatürliche  Ursache  als  nicht  wissenschaft- 
lich und  versuchte  zu  zeigen,  dass  dieselbe  gesetzmässige  Ordnung, 
die  jetzt  alle  Körper  und  Elemente  zu  einem  grossen  Ganzen  vereint. 
auch  bei  der  Entstehung  der  Weltsysteme  gewaltet  habe.  Somit 
wurde  er  zu  einer  kosmogonischen  Hypothese  geführt,  mittels  deren 
er  zu  zeigen  suchte,  dass  die  Entstehung  des  Sonnensystems  (und 
analog  diejenige  anderer  Weltsysteme)  durch  die  Thätigkeit  von 
Kräften,  die  noch  jetzt  wirken,  verständlich  sei.  Er  wandte  das 
Aktualitätsprinzip,  die  von  Newton  aufgestellte  Forderung  der  vera 
causa,  auf  das  zeitlich  Entfernte  an,  während  Newton  dieses  nur 
auf  das  räumlich  Entfernte  angewandt  hatte. 

Kants  Eifer  für  die  Durchführung  einer  mechanischen  Natur- 
auffassung steht  in  enger  Verbindung  mit  einem  philosophischen 
Gedankengang,  der  sich  schon  damals  in  ihm  entwickelte.  Man 
gehe  von  einer  falschen  Voraussetzung  aus,  meint  er,  wenn  man 
glaube,  die  Natur  würde,  sich  selbst  überlassen,  nur  Unordnung 
und  Chaos  erzeugen.  Nicht  durch  Zufall,  sondern  zufolge  ihrer 
eignen  Gesetze  bringe  die  Natur  das  Zweckmässige  hervor.  Und 
eben  die  Thatsache,  dass  die  verschiedenen  Elemente  solchergestalt 
von  Anfang  bis  zu  Ende  zusammenwirken  und  von  einer  und 
derselben  Naturordnung  umspannt  werden,  bezeuge,  dass  sie  ihrem 
Wesen  und  Ursprünge  nach  nicht  von  einander  unabhängig  seien. 
Der  mechanische  Zusammenhang  zwischen  allem  in  der  Welt  führe 
also  gerade  zur  Annahme  eines  Einheitsgrundes  für  alles.  Zwei 
Auffassungen  bekämpft  Kant  —  einerseits  diejenige  Atomistik, 
welche  voneinander  unabhängige  Atome  annimmt,  die  nur  durch 
Zufall  zusammenwirken  sollten,  —  anderseits  die  Physikotheologie, 
die  ein  äusseres  Eingreifen  der  Gottheit  in  die  Weltmaschinerie 
annimmt.      Die    drei   Begriffe:    Element,  Gesetz  und  Kraft  wollte 


Kontinuität  im  Entwicklungsgänge  Kants.  [81 

er  nicht  auf  äussere  Weise  getrenul  wissen").  Diese  Betrach- 
tung erhielt  besondere  Bedeutung  bei  dem  Problem  des  I  rsprungs 
der  in  der  Welt  herrschenden  Harmonie  und  Zweckmässigkeit. 
Kant  bedauert,  dass  ein  fasl  allgemeines  Vorurteil  die  meisten 
Forscher  eingenommen  habe,  so  dass  sie  das  Vermögen  <\^\-  Natur. 
aach  ihren  allgemeinen  Gesetzen  ein  Geordnetes  zu  erzeugen,  oichl 
erblickten.  In  seinen  Augen  sind  gerade  die  Ordnung  und  die 
Harmonie,  die  in  dem  erscheinen,  was  nach  den  Gesetzen  der  Natur 
erzeugl  wird,  ein  Zeugnis,  dass  das  Wesen  aller  Dinge  einen  ge- 
meinschaftlichen Ursprung  in  einem  Urwesen  halte.  Die  gemein- 
schaftliche Verbindung  deute  auf  gemeinschaftliche  Abhängigkeit. 
Je  mehr  man  die  Natur  kennen  lerne,  um  so  mehr  werde  man 
aberzeugt,  dass  die  Dinge  der  Welt  ihrem  innersten  Wesen  nach 
nicht  voneinander  getrennt  und  einander  oichl   fremd  seien. 

In  dieser  seiner  Jugendschrifi  finde!  Kant  die  Verbindung 
wissenschaftlicher  Erkenntnis  und  religiösen  Glaubens  also  nicht 
durch  Unterbrechung  des  Zusammenhanges,  den  erstere  in  der 
Natur  findet,  sondern  gerade,  indem  er  von  diesem  Zusammenhang 
ausgeht.  Und  er  fasst  Teleologie  und  Mechanismus  nicht  als  Gegen- 
sätze auf,  sondern  verlangt,  dass  das  Zweckmässige  als  das  Ergeb- 
nis eiuer  den  allgemeinen  Naturgesetzen  gemäss  stattgefuudeneu 
Entwicklung  erklärt   werde. 

3.  Den  nämlichen  Gedanken,  den  Kaut  in  seiner  astrono- 
mischen Hypothese  zur  praktischen  Verwendung  gebracht  hatte, 
sprach  er  gleichzeitig  in  seiner  Habilitationsschrift  über  die  Prin- 
zipien der  Erkenntnis10)  in  abstrakter  Form  aus.  Hier  nennt  er 
denselben  das  Prinzip  der  Koexistenz.  Wollte  man  annehmen, 
—  dies  ist  Kants  Gedankengang  —  dass  die  einzelnen  Dinge 
(Substanzen)    der   Welt  jedes   für  sich,    voneinander   unabhängig, 


9)  Den  innigen  Zusammenhang  der  Begriffe:  Element  und  Kraft  behan- 
delt besonders  ein  Aufsatz  von  Kant  aus  dem  folgenden  Jahre:  Monadologia 
physica  (175G),  in  welchem  die  Atome  (die  absoluten  Atome)  als  Kraftpunkte 
aufgefasst  werden,  ähnlich  wie  in  neuerer  Zeit  Fechner  sie  in  seiner  „Atomen- 
lehre- aull'asste. 

,0)  Principiorum  primorum  cognitionis  metaphysicae  nova  dilucidatio. 
(Sämll.  Werke,  herausg.  von   Rosenkranz  und  Schubert.  I.  S.  1— 44.) 

13* 


182  Harald  Hoff  ding, 

existieren,  so  würde  mau  nicht  von  einem  einzelnen  derselben  auf 
die  Existenz  der  anderen  schliessen  können.  So  verhalte  es  sich 
aber  nicht.  Wegen  des  gegenseitigen  Zusammenhanges  aller  Dinge 
der  Welt  könne  man  von  dem  einen  auf  das  andere  Schlüsse  ziehen. 
Dies  sei  nicht  der  blossen  Koexistenz  der  Dinge  zu  verdanken, 
sondern  müsse  auf  Gemeinschaftlichkeit  des  Ursprungs,  auf  gemein- 
schaftlicher  Abhängigkeit  von  einem  und  demselben  Wesen  beruhen. 
In  der  Naturordnung  selbst  liege  also  ein  Beweis  einer  höchsten 
Ursache.  Diesen  Nachweis  eines  gemeinschaftlichen  Ursprunges 
aller  Dinge  der  Welt  als  Voraussetzung  der  Wechselwirkung  nach 
allgemeinen  Gesetzen  glaubt  Kant  zuerst  gegeben  zu  haben  (primus 
evidentissimis  rationibus  adstruxisse  mihi  videor). 

Wir  haben  hier  einen  Gedanken  vor  uns,  dem  Kant  nicht  nur 
in  seinen  ersten  Schriften  grosse  Bedeutung  beilegte,  sondern  auf 
den  er  später  stets  wieder  zurückkehrt,  und  der  für  seine  Behand- 
lungsweise  der  Probleme  charakteristisch  ist.  Wo  Kant  sich  einem 
grossen  Prinzip  (wie  hier  z.  B.  der  mechanischen  Naturauffassung) 
gegenüber  befindet,  nimmt  er  dasselbe  in  seiner  ganzen  Tragweite 
und  sucht  entweder  zu  zeigen,  dass  es  bei  näherem  Nachdenken 
ganz  andere  Konsequenzen  herbeiführt,  als  die  anfänglich  erschei- 
nenden, oder  auch,  dass  die  gesamte  Sphäre,  welcher  es  gilt,  nicht 
die  absolute  Wirklichkeit,  sondern  nur  eine  Seite  derselben  aus- 
drückt. Ersteren  Verfahrens  bedient  er  sich  in  seiner  früheren, 
des  letzteren  in  seiner  späteren  Periode.  Dieses  Verfahren  besitzt 
eine  gewisse  Erhabenheit;  es  zeichnet  sich  vorteilhaft  vor  dem  so 
häufigen  Halbieren  der  Begriffe  und  der  Kurzsichtigkeit  aus,  die 
lieber  in  scheinbaren  Ausnahmen  ein  armseliges  Versteck  sucht 
als  das  Prinzip  resolut  zu  Ende  denkt.  Es  enthält  aber  auch 
seine  Gefahren,  wie  Kants  eignes  Beispiel  uns  später  zeigen  wird. 

4.  Sieben  Jahre  nach  der  Habilitationsschrift  und  nach  dem 
Erscheinen  der  kosmogonischen  Hypothese  wurde  derselbe  Gedanken- 
gang, der  diese  Abhandlungen  beseelte,  von  Kant  in  der  Schrift 
„Einzig  möglicher  Beweisgrund  zu  einer  Demonstration  des  Daseins 
Gottes"  wieder  aufgenommen  (17G2). 

Hier  wird  die  schon  in  der  „Allgemeinen  Naturgeschichte  und 
Theorie  des  Himmels"  eingeleitete  Kritik  der  Physikotheologie  mehr 


Kontinuität   im   Entwicklungsgänge  Kants.  183 


im  einzelnen  durchgeführt-,  Kant  macht  derselben  den  Vorwurf, 
sie  betrachte  die  Harmonie  und  die  Zweckmässigkeit  der  Natur  als 
Zufälligkeiten  und  suche  deshalb  deren  Ursache  ausserhalb  der 
Natur.  Hierdurch  werde  sie  unwissenschaftlich  und  habe  sie  oft 
die  Fortschritte  der  Erkenntnis  gehemmt,  indem  Nutzen  und  Voll- 
kommenheit als  Anzeichen  betrachtet  würden,  dass  ein  dieselben  be- 
sitzendes Ding  keinen  natürlichen  Ursprung  habe,  weshalb  man  alles 
fernere  Forschen  unterlasse.  Und  selbst  wenn  man  auf  den  physiko- 
theolotdschen  Gedankengang  eingehe,  führe  dieser  doch  Dicht  zu 
dem.  was  der  religiöse  Glaube  verlange.  Er  erkläre  nämlich  nur 
die  Ordnung,  nicht  aber  den  Ursprung  der  Elemente.  Die  Gottheit, 
auf  deren  Dasein  sich  nach  diesem  Gedankengange  schliessen  lasse, 
werde  dann  nur  der  Baumeister,  nicht  aber  der  absolute  Urheber 
der  Welt11). 

Auch  die  anderen  landläufigen  Beweise  von  dem  Dasein  Gottes 
linden  keine  Gnade  vor  Kants  Augen.  Schon  in  der  Habilitations- 
schrift hatte  er  sich  Crusius'  Kritik  des  ontologischen  Beweises  an- 
chlossen.  Crusius  hatte  dargelegt1"),  dass  dieser  Beweis,  auf 
welchen  die  vorhergehenden  methaphysischen  Systeme  (namentlich 
das  Cartesianische  und  das  Wolfische)  so  grosses  Gewicht  gelegt 
hatten,  auf  einem  falschen  Schlüsse  beruhe.  Kant  führt  Crusius' 
kritischen  Gedankengang  weiter,  ähnlicherweise  wie  er  dies  in  der 
bekannten  Entwicklung  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  aus 
dem  Unterschied  zwischen  Begriff  und  Existenz  später  fortsetzt.  — 
Ebensowenig  lässt  er  den  kosmologischen  Beweis  gelten.  Ein  Schluss 
aus  der  in  der  Erfahrung  gegebenen  Welt  könne  nicht  zur  An- 
nahme eines  absolut  notwendigen  Wesens  führen. 

Diejenige  Kritik  der  natürlichen  Theologie,  die  später  in  der 


u)  Es  hat  sein  Interesse,  zu  bedenken,  dass  Kants  Kritik  der  Physiko- 
theologie  bereits  aus  den  Jahren  1755  und  17(!2  herrührt.  l)enn  den  Haupt- 
zügen nach  stimmt  sie  mit  Humes  Kritik  in  den  „Dialogues  on  natural  iv- 
Iigion"  überein,  die  1779  erschienen,  zwei  Jahre  vor  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft  (obsehon  sie  seit  vielen  Jahren  ausgearbeitet  waren).  Kants  Selb- 
ständigkeit ist  also  festgestellt.  AN  er  später  die  „l>ialoguesu  kennen  lernte, 
schätze  er  sie  hoch. 

'-)  Chr.  Aug.  Crusius:  Entwurf  der  aotwendigen  Vernunft-Wahrheiten. 
Leipzig   1745.  §  235.     (Hier  nach  der  dritten  Ausgabe  citiert.) 


L84  Harald  Höffding, 

Kritik  der  reinen  Vernunft  so  grosses  Aufsehen  erregte,  findet  sich 
also  schon  im  „Beweisgrund".  Bliebe  man  bei  Kants  Hauptwerken 
stehen,  so  würde  man  die  bedeutungsvolle  Thatsache  übersehen, 
dass  mehrere  der  wichtigsten  Abschnitte  weit  früher  entstanden  sind. 

Jedoch  hatte  Kant  1762  noch  nicht  jeden  Versuch  einer  theo- 
retischen Begründung  der  natürlichen  Theologie  aufgegeben.  Aller- 
dings sieht  er  Beweise  nicht  für  notwendig  an,  da  der  religiöse 
Glaube  eine  andere  Grundlage  als  die  der  Beweisführung  habe. 
Da  er  aber  den  Versuch,  wie  weit  man  auf  dem  Wege  der 
Vernunft  gelangen  könnte,  als  wertvoll  ansieht,  stellt  er  fol- 
gende Abänderung  des  ontologischen  Beweises  auf:  „Alle  Mög- 
lichkeit setzt  etwas  Wirkliches  voraus,  worin  und  wodurch  alles 
Denkliche  gegeben  ist.  Demnach  ist  eine  gewisse  Wirklichkeit, 
deren  Aufhebung  selbst  alle  innere  Möglichkeit  überhaupt  aufheben 
würde.  Dasjenige  aber,  dessen  Aufhebung  oder  Verneinung  alle  Mög- 
lichkeit vertilgt,  ist  schlechterdings  notwendig.  Demnach  existiert 
etwas  absolut  notwendigerweise"  13).  Besonders  deutlich  ist  dieser 
Gedankengang  nicht,  und  Kant  gibt  ihn  auch  nicht  als  Beweisfüh- 
rung, sondern  nur  als  Beweisgrund,  den  einzigen,  den  er  für  mög- 
lich hält.  Kann  dieser  nicht  zum  Ziele  führen,  so  kann  keiner 
es,  sagt  er.  —  Dass  derselbe  nicht  zum  Ziele  führt,  liegt  darin, 
dass  auch  wenn  jede  Möglichkeit  ihren  Grund  in  etwas  Wirklichem 
haben  muss,  dieses  Wirkliche  doch  nicht  absolut  notwendig  zu  sein 
braucht;  es  selbst  kann  seinen  Grund  in  einem  anderen  Wirklichen 
haben  —  und  so  weiter. 

Was  Kant  bei  dieser  versuchten  Umwandlung  des  ontologi- 
schen Beweises  hauptsächlich  interessiert,  ist  jedoch,  dass  dieselbe 
den  völligen  Abschluss  des  aus  seinen  früheren  Schriften  bekannten 
Gedankenganges  ermöglichen  würde,  der  wegen  des  mechanischen 
Zusammenhanges  der  Natur  zu  einem  Einheitsgrunde  für  alles 
führte.  Hätte  jedes  der  Dinge  der  Welt  seine  besondere  Notwen- 
digkeit, so  würde  es  ein  Zufall  sein,  wenn  sie  so  zusammenpassten, 


13)  Einzig  möglicher  Beweisgrund  zu  einer  Demonstration  des  Daseins 
Gottes.  Königsberg  1763  (1762)  S.  29.  —  Schon  in  der  Habilitationsschrift 
findet  sich  dieser  Gedankengang  (Sectio  II,  Prop.  7),  nur  in  mehr  dogmati- 
scher Form. 


Kontinuität  im  Km«  icklung  Kants.  1 85 

dass  'in  Ganzes  aus  ihnen  entstehen  könnte.  Damit  Wechselwir- 
kung möglich  werde,  müssten  die  Dinge  von  Anfang  an  ein  System 
bilden  and  alle  von  einem  gemeinschaftlichen  Grunde  abhän 
sein.  Es  müsse  ein  Prinzip  geben,  in  welchem  alles  Verschieden- 
artige verbunden  sei  und  alles  Mannigfaltige  sich  in  Einheit  befinde. 
Dieser  Einheitsgrand,  aus  dem  die  ersten  Möglichkeiten  der  Dinge 
entsprängen,  müsse  zugleich  der  Grund  aller  Weisheil  und  Güte 
sein;  nur  hierdurch  werde  es  möglich,  dass  das  gesetzmässige  Zu- 
sammenwirken der  Dinge  mit  den  Forderungen  der  Weisheit  und 
der  Güte  übereinstimmen  könnte. 

Dies  ist  der  kühnste  Aufschwung,  den  Kants  Henken  in  spe- 
kulativer Richtung  nahm.  Weit  über  den  gewöhnlichen  anthropo- 
morphistischen  Gottesbegriff  hinaus  greift  er  auf  eine  Grundlage 
zurück,  aus  welcher  sowohl  die  sieh  in  der  Welt  kundgebende 
Weisheit  als  die  in  der  Welt  zusammenwirkenden  Elemente  ent- 
springen. In  seinem  Eifer,  die  letzte  Konsequenz  aus  dem  Grund- 
faktum zu  ziehen,  von  welchem  er  ausgeht,  —  aus  dem  mecha- 
nischen Naturzusammenhang  nämlich  und  dem  inneren  Zusammen- 
hang aller  Weltelemente,  den  dieser  voraussetzt.  —  verliert  sich 
sein  Gedanke  zuletzt  in  mystische  Tiefe.  Hatte  er  hier  unten 
seinen  dauernden  Sitz  aufgeschlagen,  statt  an  das  Tageslicht  des 
rationellen  Bewusstseins  zurückzukehren,  so  würde  er  unter  den 
wenigen  Denkern,  die  sich  in  dieser  Dämmerung  bewegen,  Jakob 
Böhme  und  Spinoza  erblickt  haben.  Denn  wenn  Kant  bei  seiner 
ersten  Aufstellung  des  Gedankenganges,  dessen  letzte  Konsequenz 
er  hier  zog.  mit  Sell.»tgeftihl  erklärte,  er  sei  dessen  erster  Urheber, 
so  war  dies  historisch  nicht  richtig.  In  mystischer  Form  findet 
sich  derselbe  bei  Böhme,  und  in  klarer  Verbindung  mit  der  mecha- 
oischen  Naturauffassung  und  als  deren  Konsequenz  bei  Spinoza, 
dessen  ganzes  System  eigentlich  eine  Durchführung  des  Gedankens 
ist.  der  Kausalzusammenhang  sei  unverständlich,  wenn  die  einzel- 
nen Diuge  der  Welt  als  selbständige  und  unabhängige  Wesen  (als 
Substanzen  im  strengsten  Sinne)  betrachtet  würden.  In  seiner 
Abhandlung  „de  emendatione  intellectus"  stellt  Spinoza  eben  den 
gesetzmässigen  Zusammenhang  der  Erscheinungen  als  die  l'rthat- 
sache  auf,  von  welcher  das  Denken  seinen  Ausgangspunkt   nehmen 


186  Harald   Hoff  ding, 

müsse.  Spinozas  einzige  Substanz  entspricht  dem  Einheitsgrunde 
Kants.  —  Kant  hat  Spinoza  nie  aus  erster  Hand  gekannt  und 
wäre  gewiss  in  hohes  Erstaunen  geraten  über  die  Uebereinstim- 
mung,  die  zwischen  ihm  und  dem  einsamen  Denker  sich  eingestellt 
hatte,  für  dessen  Verständnis  die  Zeit  noch  nicht  gekommen  war. 
als  Kant  seine  Habilitationsschrift  und  seinen  „Beweisgrund"  ver- 
fasste. 

In  neuerer  Zeit  haben  zwei  geistreiche  Denker  in  ihrem 
Streben,  eine  idealistische  Weltanschauung  zu  behaupten,  ohne  der 
Konsequenz  der  mechanischen  Naturauflassung  etwas  zu  vergeben, 
einen  ähnlichen  Gedankengang  entwickelt  wie  jenen,  dessen  erster 
Urheber  Kant  zu  sein  glaubte.  In  Fechners  und  Lotzes  philo- 
sophischen Anschauungen  spielt  derselbe  eine  wichtige  Rolle.  Be- 
sonders hat  Lotze  seinen  idealistischen  Monismus  mit  grossem  Scharf- 
sinn auf  die  Analyse  des  Begriffes  des  Mechanismus  gestützt14). 

5.  Es  lässt  sich  schwer  denken,  dass  Kant  einen  Gedanken 
von  solcher  Tiefe  und  solchem  Interesse  wieder  hätte  fallen  lassen, 
nachdem  er  ihn  erst  einmal  zur  Welt  gebracht  hatte.  Derselbe 
durchflicht  denn  auch  unter  verschiedenen  Formen  seine  spätere 
Philosophie,  obschon  der  veränderte  Gesichtspunkt  ihm  andere 
Stellung  und  Form  gibt.  —  In  dem  nämlichen  Jahre,  das  den 
„Beweisgrund"  entstehen  sah,  trat  (wie  wir  später  zeigen  werden) 
eine  wichtige  Aenderung  in  Kants  Interessen  ein.  Von  den  ob- 
jektiven Problemen  hinweg  wandte  er  sich  der  Untersuchung  einer 
Methode  ihrer  Behandlung  zu.  Auf  diesem  Wege  war  es,  dass 
Kant  sich  dem  oben  erwähnten  Wendepunkte  näherte,  au  welchem 
die  kritische  Philosophie  ihrem  Prinzipe  nach  entstand.  In  der 
Schrift,  die  dieses  Prinzip  aussprach  (Dissertatio  de  mundi  seusi- 
bilis  et  intelligibilis  forma  atque  prineipiis.  1770),  treffen  wir 
(Kap.  4)  den  aus  den  älteren  Schriften  bekannten  Gedankengang 
wieder  an.  Ausser  dem  Zusammenhange  der  Dinge  der  Welt,  der 
in  den  Formen  der  Zeit  und  des  Raumes   erscheint,   wird  ein  ob- 


u)  Drei  Bücher  der  Metaphysik.  Leipzig  1879.  S.  135  u.  f.  (Schon  im 
Mikrokosmus  Drittes  Buch.  Kap.  5.)  In  der  jüngsten  Zeit  hat  Fr.  Paul- 
sen  sich  dieser  Betrachtung  angeschlossen  (Einleitung  in  die  Philosophie. 
Berlin  1892.  S.  212—224). 


Kontinuität  im  Entwicklung  Kants.  1  - , 

jektives  Prinzip  der  realen  Wechselwirkung  postuliert,  welche  die 
Well  als  eio  Ganzes  ermöglicht.  Die  Frage  lautet:  „Wie  isl 
möglich,  dass  mehrere  Substanzen  in  einer  wechselseitigen  Gemein- 
schaftstehen und  auf  diese  Weise  zu  einem  und  demselben  Ganzen 
gehören,  das  man  Well  nennt?"  (§16).  Und  es  wird  geantwortet, 
liirs  sei  nur  dann  möglich,  wenn  sie  alle  einen  und  denselben 
Ursprung  hätten,  mithin  keine  Substanzen  in  absolutem  Sinne 
seien  i:'). 

Als  Kant  die  Dissertation  an  Lamberl  sandte,  äusserte  er 
Brief  an  Lamberl  vom  2.  Sept.  1770),  das  Kapitel,  in  welchem 
sich  dieser  Gedankengang  finde,  könne  als  unerheblich  übergangen 
werden.  Es  vorhielt  sich  nämlich  so,  dass  jetzt  ein  ganz  anderes 
Problem  in  den  Vordergrund  getreten  war.  indem  Kant  die  Ueber- 
zeugung  gewonnen  hatte.  Kaum  und  Zeil  seien  mir  subjektive  Au- 
schauungsformen,  so  dass  die  Dinge,  insofern  wir  sie  zeitlich  und 
räumlich  auffassen,  nur  als  Erscheinungen  erkannt  würden.  Noch 
jetzt  nahm  er  allerdings  noch  an,  wir  könnten  mittelst  des  Kausal- 
begriffes und  anderer  Yerstaudesbegriffe  die  Dinge  an  sich  erken- 
nen (Noumeua).  Gleich  nach  dem  Erscheinen  der  Dissertation  fühlte 
er  jedoch  die  grossen  Schwierigkeiten  dieser  Ansicht.  Indem  er 
diese  zu  überwinden  suchte,  kam  er  nun  (wie  wir  später  etwas 
eingehender  zeigen  werden)  zu  dem  Ergebnis,  dass  alle  unsere 
wissenschaftliche  Erkenntnis  nur  die  Erscheinungen,  nicht  aber  die 
Dinge  an  sich  betreffe. 

Es  ist  klar,  dass  er  jetzt  nicht  mehr  ebenso  wie  früher  aus 
dem  Naturmechanismus  auf  einen  objektiven  Eiuheitsgruncl  schliessen 
konnte.  Das  Prinzip  des  festen  Zusammenhanges  in  der  Welt  der 
Erscheinungen  wurde  ein  rein  subjektives  Prinzip,  die  vereinende 
Kraft  des  Bewußtseins.  Der  Einheitspunkt  der  Weltanschauung  lag 
jetzt  nicht  mehr  in  einem  mystischen  Urgründe,  sondern  eben  im 
erkennenden  Subjekte.  So  heisst  es  in  einer  Aufzeichnung,  die 
aus  den  siebziger  Jahren  herzurühren  scheint  (aus  dem  Zwischen- 


1S)  Totum   e   substantiis   neces>ariis    est    impossibile   (§  ls\         l'iritas  in 
conjunetione  substantiarum   um  conseetarium   dependentiae  oinnimn 

ab  Uno  (§  20  , 


188  Harald  Höffding, 

räum  zwischen  der  Dissertation  und  der  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft): „Die  Exposition  desjenigen,  was  gegeben  ist,  beruht,  wenn 
man  die  Materie  J  als  unbestimmt  ansieht,  auf  dem  Grunde  aller 
Relation  und  der  Verkettung  der  Vorstellungen  (Empfindungen). 
Die  Verkettung  gründet  sich  ....  nicht  auf  die  blosse  Erscheinung, 
sondern  ist  eine  Vorstellung  von  der  inneren  Handlung  des 
Gemüts  Vorstellungen  zu  verknüpfen,  nicht  bloss  bei  ein- 
ander in  der  Anschauung  zu  stellen,  sondern  ein  Ganzes  der  Materie 
nach  zu  machen  ....  Die  Exposition  der  Erscheinungen  ist  also 
die  Bestimmung  des  Grundes,  worauf  der  Zusammenhang  der  Em- 
pfindungen in  denselben  beruht16)." 

Mit  diesem  Gedanken  war  die  kritische  Philosophie  vollendet. 
Sie  stützt  sich  auf  den  Grundgedanken,  dass  unsere  gesamte  Welt- 
anschauung das  Gepräge  der  Thätigkeitsart  unseres  Geistes  trägt. 
Die  Gesetze  unserer  Vernunft  gelten  allen  möglichen  Erscheinun- 
gen, weil  diese  nur  dadurch  von  uns  erkannt  werden,  dass  unsere 
Vernunft  sie  auf  ihre  Weise  und  ihren  Gesetzen  gemäss  anschaut 
und  denkt.  Die  Kontinuität  in  Kants  Denken  kommt  hier  nun 
aber  zum  Vorschein,  denn  auch  für  die  kritische  Philosophie 
ist  der  Kausalzusammenhang  (neben  dem  räumlichen  und  zeit- 
lichen Zusammenhange)  das  Grundfaktum,  aus  welchem  auf  das 
Einheitsprinzip  geschlossen  wird,  —  nur  dass  das  Eiuheitsprinzip 
nun,  wie  gesagt,  subjektiv,  nicht  mehr  objektiv  ist.  Der  Grund- 
begriff der  Kritik  der  reinen  Vernunft,  die  Synthese  als  Ausdruck 
der  Erkenntnisthätigkeit  auf  allen  ihren  Stufen,  ist  das  subjektive 
Abbild  des  objektiven  Einheitsgrundes,  den  Kant  in  seinen  Jugend- 
schriften aufsuchte.  Nachdem  er  den  Grund  gesucht  hat,  der  die 
Welt  zusammenhält  und  zu  einem  objektiven  Ganzen  macht,  geht 
er  nun  zum  Aufsuchen  des  Grundes  über,  der  das  Weltbild  zu- 
sammenhält und  zu  einem  subjektiven  Ganzen  macht.  Nach  sei- 
nem innersten  Wesen  als  verbindende  Einheitsthätigkeit,  als  Syn- 
these, ist  der  erkennende  Geist  dann  ein  Vorbild  alles  dessen,  was 
zu  erkennen  sein  soll,  da  dieses  stets  das  Einheitsgepräge  tragen 
muss.    Wie  Kant  sagt:  „Ich  bin  das  Original  aller  Objekte",  oder: 


16)  Lose  Blätter  aus    Kants   Nachlass.     Mitgeteilt  von   Rudolf  Reicke. 
Erstes  Hei't.     Königsberg  1889.  S.  16. 


Kontinuität  im   Entwicklungsgänge  Kant--.  [QQ 

„Das  Gemüt  [das  Bewusstsein]  ist  sich  selbst  das  I  rbild  der  Syn- 
fchesis."17) —  Nicht  die  Substanz,  sondern  die  Synthese  ist 
nuiniH'lir  der  Grundbegriff.  Hierdurch  wird  der  Gegensatz  der  kri- 
tischen und  der  dogmatischen   Philosophie  bezeichnet. 

I).  In  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  findet  sieh,  was  die 
Kritik  der  .sogenannten  Beweise  des  Daseins  Gottes  betrifft,  nichts 
eigentlich  Neues  im  Vergleich  mit  den  vorkritischen  Schriften.  Das 
Neue  i>t  hier  ein  Negatives:  die  Auslassung  des  Gedankenganges, 
der  für  Kant  seiner  Zeit  (noch  in  der  Dissertation)  eine  Brücke 
zwischen  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  und  dem  religiösen 
Glauben  gebildet  hatte.  Diese  Brücke  zerfiel,  als  die  Anwendung 
der  Verstandesbegriffe  auf  die  Welt  der  Erfahrung  beschränkt  wurde. 
Denn  nur  mittels  eines  Sprunges  ist  es  jetzt  möglich,  aus  der 
bedingten  Welt  der  Erfahrungen  zu  dem  unbedingten  zu  gelangen. 
das  der  religiöse  Glaube  sucht,  und  dieser  Sprung  geschieht  aus 
praktischen,  moralischen  Motiven,  nicht  aus  Erkenntnisdrang.  Die 
Erfahrung,  die  stets  bedingt  ist,  kann  den  Gedanken  einer  unbe- 
dingten Ursache  nicht  begründen.1")  Mithin  lässt  sich  nicht  mehr 
aus  dem  Kausalzusammenhang  der  Welt  auf  einen  absoluten  Ein- 
heitsgrund schliessen. 19) 

Das  grosse  Interesse  für  die  Kausalerkenntnis  und  für  deren 
konsequente  Durchführung  in  ihrer  streng  wissenschaftlichen  Form 
fällt  jedoch  nicht  weg,  weil  ihre  Anwendbarkeit  auf  die  Welt  der 
Erscheinungen  begrenzt  wird.     Es  kommt  wieder  zum   Vorschein 


17)  Lose  Blätter  I.  S.  19.  20. 

,8)  Kritik  d.  r.  Vera.  2.  Aufl.  S.  665.  —  Auch  den  Gedankengang,  mittels 
dessen  Kant  einst  (siehe  §  4)  den  ontologischen  Beweis  umzuwandeln  sucht'', 
hat  er  jetzt  als  nichts  beweisend  verlassen.  Die  Idee  des  absoluten  Wesens 
als  Grund  aller  Möglichkeit  ist  aber  nicht  zugleich  weggefallen.  Diese  tritt  als 
„das  transcendentale  Ideal"  auf,  als  höchst«  r  Massstab  alles  dessen,  welchem 
man  Realität  beilegt.  Siehe  Kritik  d.  r.  Vera.  2.  Aufl.  S.  600.  606.  Schon  in 
der  Dissertation  ist  die  höchste  theoretische  Idee  exemplar  aliquod,  omnium 
aliorum,  quoad  realitates  mensura  communis  (§  9).  liier  ist  also  eine  der  Sub- 
jektivierung  des  „Einheitsgrundes"  analoge  Metamorphose  vor  sich  ge 

19)  Das  Problem  der  Wechselwirkung  wird  indes  erwähnt  in  den  Prole- 
gomena  S.  98  u.  f.  und  in  der  Kr.  d.  r.  Vera.  2.  Aufl.  S.  265,  Note,  292  u.  f., 
428,  so  zwar,  dass  zu  ersehen  ist,  wie  Kant  seinen  alten  Gedanken  nicht  ver- 
gessenhat.   Vgl.  auch  Reflexionen  Kants  II.  s.  219  u  f.   Lose  Blätter  1.  S.  274, 


II 

in  « 1t- 1  VVeise,  wie  Kant  alle  verschiedenen  Grandsätze,  welche  die 

glichen  Erfahrung  enthalten,  auf  das  Gesetz 
der  Kontinuität  zurückführt.  Die  vier  Klassen  von  Grund- 
sätzen, die  in  Kam-  -  m  den  vier  Klassen  v.'ii  Kategorien  ent- 
sprechen -  iwie  letztere  wieder  den  vier  Klassen  von  logischen 

ilen  .  werden  in  vier  Mottos  resümiert:  l)  In  Mundo  oon  datur 
hiatus.  '_'  In  Mundo  neu  datur  saltus.  •"•  In  Mundo  oon  datur 
casus.  I  In  Mundo  non  datur  fatum.  Und  als  gemeinschaftliches 
Merkmal  aller  gilt  es,  dass  sie  ausschli essen,  was  den  kontinui 
liehen  Zusammenhang  unterbrechen  würde.'  Kam  bal  an  dieser 
merkwürdigen  Stelle  seine  ganze  Erkenntnistheorie  im  <i  der 

Kontinoitäl  zusammengefasst.  Hätte  er  diesen  Gesichtspunkt  zu 
Grunde  gelegt  statt  die  logische  Systematik  zu  befolgen,  deren 
Konstruktion  ihm  zu  seiner  Freude  gelungen  war,  so  würde  seinen 
Grundgedanken  ihr  Hecht  mehr  geworden  sein.  Es  finden  sich 
Spuren,  wonach  er  diesen  Weg  zu  betreten  gedachte,  indem  er  in 
einer  Aufzeichnung  aus  den  siebziger  Jahren  das  Kausalgesetz  aus 
dem  allgemeinen  Kontinuitätsgesetz  herzuleiten  versucht:  „Dass 
alles  Zufällige  oder  was  entsteht,  seinen  Grund  habe,  Biessl  daraus, 
weil  ohne  prius  keine  Kontinuität  der  Phänomene,  und  ohne  Regel 
keine  Identität  derselben  sein  würde."*1) 

Der  zu  Grunde  Liegende  Gedanke  ist  hier,  dass  das,  was  wir 
im  Verständnisse  einer  Erscheinung  Midien,  nicht  «leren  rein  aus 

Zusammenstellen  mit  anderen  Erscheinungen  ist,  sondern  eine 
so  enge  und  bestimmte  Verbindung  derselben,  dass  diejenige  Er- 
scheinung, welche  wir  zu  verstehen  suchen,  als  Portsetzung  der 
vorausgehenden  Erscheinungen  dastehen  und  mit  diesen  eine  kon- 
tinuierliche Reihe  bilden  kann.  I>a>  Zusammenhangslose  und  Iso- 
lierte ist  uns  unverständlich.  Diese  wichtige  Betrachtung  hat  Kant 
nur  angedeutet;  sie  ist  aber  als  Keim  in  der  Auffassung  und  An- 
wendui  Kausalbegriffs  enthalten,  der  er  von  Jugend  an  das 

Wort  redete.  Der  scharfsinnigste  seiner  nächsten  Nachfolger  bat 
diesen  Gedanken  klar  ausgesprochen.") 

Kritik  d.  r.  Vera.  2.  Aufl. 
»')  Reflexionen  Kants  1  -    No.  1074     Vgl.  S.  514   No.  1747     50). 

Salomou   tfaimon:     Versuch    über    'li<'  philosophie. 


Kontinuität  im  Entwicklung  Kants.  191 

Den  ununterbrochenen  Naturzusammenhang  behauptet  Kanl 
energisch  inbetreff  der  Erscheinungswelt,  [n  dem  interessanten 
Abschnitte  von  der  „Disciplin  der  reinen  Vernunfl  in  Ansehung 
der  Hypothesen"  verlang!  er,  dass  keine  Erklärungsgründe  ange- 
wandt werden  sollten,  die  nicht  nach  bestimmten  Gesetzen  mit 
den  gegebenen  Erscheinungen  zusammenhingen.  Dies  ist  das  Prin- 
zip der  vera  causa,  das  er  selbsl  in  seiner  kosmogonischen  Hypo- 
these auf  so  grossartige  Weise  zur  Verwendung  gebracht  hatte. 
Auch  in  seiner  Methodenlehre  wird  es  von  Bedeutung,  und  vor- 
züglich verlangt  er  dessen  Anwendung  da,  wo  sich  die  grösste  Ver- 
keilung zu  seiner  Uebertrelung  gezeigt  hat,  nämlich  bei  der  Er- 
klärung der  Ordnung  und  Zweckmässigkeit  der  Natur.  „Ordnung 
und  Zweckmässigkeit  in  der  Natur",  sagt  er,  „muss  wiederum  aus 
Naturgründen  und  nach  Naturgesetzen  erklärt  werden,  und  hier 
sind  selbst  die  wildesten  Hypothesen,  wenn  sie  nur  physisch  sind, 
erträglicher,  als  eine  hyperphysische,  d.  i.  die  Berufung  auf  einen 
göttlichen  Urheber,  den  man  zu  diesem  Behuf  voraussetzt."  2S) 

7.  Noch  entschiedener  kehrt  Kant  in  seinem  letzten  "Werk 
auf  dem  Gebiete  der  theoretischen  Philosophie  zu  dem  grossen  Ge- 
danken seiner  Jugend  zurück.  Die  „Kritik  der  Urteilskraft"  (1790) 
stellt  sich  gewissermassen  dieselbe  Aufgabe  wie  die  „Allgemeine 
Naturgeschichte"  und  der  „Beweisgrund",  die  Untersuchung  näm- 
lich, wie  die  Schönheit  und  Zweckmässigkeit  der  Welt  zu  erklären 
seien.  Kant  kommt  nach  vielen  kritischen  Bedenken  zu  dem 
Ergebnis,  dass  der  Unterschied,  den  wir  in  unserer  Betrachtung 
der  Welt  zwischen  mechanischer  und  teleologischer  Auffassung 
machten,  die  Meinung  nicht  berechtige,  dass  eine  analoge  Doppel- 
heit  der  Prinzipien  im  Wesen  der  Dinge  bestehen  sollte.  Er  sucht 
zu    zeigen,    dass  wenn  wir   bei  gewissen   Naturerscheinungen    ihrer 


Berlin  1790.  S.  140:  „Die  Ursache  der  Erscheinung  [aufzusuchen,  heisst]  das 
stetige  in  derselben  aufzusuchen  und  die  Lücken  unserer  Wahrneh- 
mungen auszufüllen,  um  sie  dadurch  zu  Erfahrungen  zu  machen.     Denn 

versteht  mau  sonst  in  der  Naturlehre  unter  dem  Wort  Ursache  als  die 
Elitwickelung  einer  Erscheinung  und  Auflösung  derselben,  so  dass  man  /.wischen 
ihr  und  der  \urhergehenden   Erscheinuug  die  gesuchte  Stetigkeil  finde." 

-■•)  Kr.  d.  r.  Vera.  2.  Aufl.  S.  800. 


[92  Barald  Höffdinj  I.  Eutwiekelungsg.  B 

speziellen  Eigentümlichkeil  wegen   bewogen  wurden,   einen  Zweck 

al>  erklärenden  Grund  anzunehmen,   während  wir   bei  einfacheren 

,   kein   solches  Bedürfnis  fühlten,        dies  durch   die 

tur  unseres  Verstandes  begründet  sei  und  keine  absolute  Be- 
deutung verdiene.  Das  sogenannte  teleologische  Problem  ist  Kant 
mir  eine  Form  des  allgemeinen  Problems,  das  unsere  gesamte  Er- 
fahrung uns  stellt:  \\i<-  das  Vielfache  mittels  gemeinschaftlicher 
Gesetze  könne  zur  Einheil  verbunden  werden,  —  mit  welchem 
Problem  Kant  sich  während  seines  ganzen  philosophischen  Ent- 
wicklungsganges bei  l  od  obwohl  er  allenfalls  inbetreff 
der  Ausdrucksweise        der    natürlichen    Theologie    die    möglichst 

ssen  Zugeständnisse  macht,  deutet  er  dennoch  die  Möglichkeit 
als  sein  eigentliches  Resultat  an,  „dass  in  dem  uns  unbekannten 
Grunde  der  Natur  selbst  die  physisch-mechanische  und  die  Zweck- 
verbindung in  einem  Prinzipe  zusammenhängen  könnten,  nur  dass 
uns*  Vernunft  sie  in  einem  solchen  zu  vereinigen  nicht  anstände 
wiiiv.  •')  Der  aus  den  Jugendschriften  bekannte  Gedanke  einer 
den  letzten  Möglichkeiten   der  Dinge   und  der  göttlichen  Weisheit 

ueinschaftlichen  Grundlage  erweist  sich  hier  als  durchaus  nicht 
aufgegeben,  obgleich  er  tnit  noch  grösserer  Vorsicht  und,  von  kri- 
tischen Korrektiven  eingehegt,  auftritt.  Kant  hat  von  Beinen  ersten 
naturphilosophischen  Abhandlungen  aus  durch  das  kritische  I  • 
feuer  hindurch  bis  zu  dm  tiefsinnigen  Andeutungen,  mit  welchen 
Beine  Denkarbeit  endigt,  einen  Bogen  beschrieben.  Trotz  der  ver- 
änderten Gesichtspunkte  behauptet  sich  dennoch  eine  Kontinuität 
der  Weltauffassung,  deren  Beachtung  hier  von  besonderem  fn- 
teresse  ist. 


)  Kritik  der  Urteilskraft  §  Tu  [vgl.  g  76,  80, 


VII. 

La  Philosophie  de  l'action  au  Ve  siecle  av.J.Ch. 

par 
A.  Espinas  ä  Bordeaux  ')• 

Rapports  de  l'Art  avec  la  Nature.  —  Voilä  donc  l'art, 
st-ä-dire  l'ensemble  des  ceuvres  fabriquees  par  rintelligence  hu- 
maine  ei  des  intelligences  elles-memes,  pari'aiternent  distinct  de  la 
Datare,  c'est-ä-dire  de  l'ensemble  des  etres  et  des  clioses  incapables 
d'aetions  deliberees.  Mais  l'activite  humaine  se  meut  au  milieu 
de  la  nature:  n'est-il  pas  necessaire  quelle  en  tire  des  secours  ou 
qu'elle  y  rencoutre  des  obstacles?  Cornmeut  les  rapports  de  l'art 
avec  le  milieu  cosmique  ont-ils  ete  coneus  par  la  technologie  na- 
turaliste? 

Nous  discernons  trois  Solutions,  les  seules  possibles  d"ailleurs; 
ou  l'art  se  passe  de  la  nature,  ou  il  s'efi'ace  et  s'annihile  devant 
eile,  ou  il  la  prend  pour  alliee.  D'apres  les  deux  premieres  theses 
l'art  n"a  rien  de  commun  avec  la  nature;  ils  tendent  ä  s'exclure 
peeiproquement.  D'apres  la  troisieme  Tun  et  Tautre  sout  quelque 
chose  de  reel,  mais  d'aualogue  et  leur  parente  facilite  leur  con- 
cours.  Hätons  nous  de  remplir  ces  divisions  abstraites  avec  les 
realites  historiques  d'oü  elles  nous  paraissenl  >e  degager. 

A.  Souverainete  de  l'art.  —  Nous  avons  dit  qu'au  point  de 
vue  oü  nous  nous  sommes  necessairement  place,  le  caractere  general 
de  toute  cette  periode  etait  la  diffusion  dans  les  foyers  de  eulture 
les  plus  avances,  d'une  coneeption  naturaliste  de  l'action,  c'est-ä- 


')  Voir  le  coiumeucement  du  preseut  travail  dans  cette  revue,  Baml    \  I, 
Befl  4. 


194  ^     Espin 

communemenl  acceptee  qu'il  j  u  dea  moyens  determinea 
d'atteindre  im  but  donne  ei  que  celui  qui  emploie  ces  moyena 
atteinl  süremenl  le  bul  sana  avoir  besoin  de  compter  avec  une 
iuterventioo  surnaturelle.  Cette  assurance  implique,  <!<'  la  pari 
eux  qui  la  profeasent,  la  croyance  plus  ou  moina  explicite  dan8 
l'exü  -  loia  de  la  natura  et  dana  la  possibilite  pour  resprit 
liuiiKiin  de  conna  3  lois  avec  certitude.    Or,  parmi  les  hommea 

ii  vne  ;i  cette  epoque  dana  1<-  monde  grec,  parmi  ceux 
ijui  participenl  le  plus  activemenl  au  mouvemeul  d'idees  que  nous 
exposons,  ßgurenl  de8  sophistes,  lea  G  lea  Protagoras,  connu8 

pour  leur  scepticisme  ei  qui  nierenl  soil  l'exiatence,  >■  -i  1  l'accessi- 
bilite  d'une  verite  objective.  Nou8  ne  l'ignorona  pas.  Mais  uous 
croyons  que  lea  doctrines  sophistiques  au  sena  moderne  du  mo1 
I  im  elemenl  important,  uon  l'elemenl  easentiel  de  la  pem 
cque  au  \  siecle.  C'esl  au  nom  de  aa  confiance  dana  la  science 
en  general  el  dana  sa  Bcience  personnelle  que  Protagoras  revendique 
tout  d'abord  le  oom  de  Bophiste.  <  'esl  dana  cette  tentative  d'ex- 
plicatioo  ei  de  refection  rationnellea  dea  institutions  religieus 
politiques  ei  morales  dont  noua  venona  de  parier  que  gil  pour  lea 
contemporaina  la  caracteristique  de  l'espril  oouveau  ei  il  j  a  des 
exemples  que  dea  poetea  ei  dea  ecrivaina  de  toutea  sortea  aienl  ete 
appeles  «!<■  ce  oom  dea  qu'on  lea  supposail  precuraeurs  ou  partisana 
de  ce1  esprit.  Plus  tard,  an  fori  de  la  lutte  engagee  par  lea 
cratiques  et  de  la  reaction  qui  accompagne  lea  malheurs  d'Athenes, 
le  sena  du  mol  Be  restreignit;  im  sophiste  tut,  en  meme  tempa 
qu'uu  novateur,  an  professeur  retribue  de  connaissances  frelal 
e1  plu8  particulieremenl  un  rheteur  qui  abusail  de  la  parole;  ei 
alore,  Piaton,  qui  nous  parail  Lei  le  meilleur  guide  ä  suivre,  pre^- 
cisemenl  parce  qu'il  se  place  ä  un  poinl  de  vue  symetriquemenl 
oppose,  ue  se  serl  plua  comme  le  uai'f  Kenophon  du  mol  'I«'  so- 
phiate  pour  designer  sea  adversaires:  il  lea  designe  comme  d'habilea 
gena  3090I  avSpec,  ou  plua  simplemenl  comme  une  multitude 
-'j:>-',i i<,\.  -',//•,'.  II  entend  par  la  lea  innombrablea  eaprita  en- 
trainea  dana  le  meme  couranl  de  critique  ei  de  libre  reforme  ei 
croyanl  ä  l'efficacite  de  l'experience  pour  l'etablissemenl  dea  prin- 
cipea  de  la  c luite.    „Noua  aommea  tombea  sana  aoua  en  aperce- 


La  philosophie  de  l'action  Ml    V     äifccle  av.  J.  Ch.  195 

vöir,  dit  au  K«  livre  des  Loia  l'interlocuteur  qui  repr&ente  la  pensee 
de  Piaton  (TAthenien),  uous  sommes  tombes  sur  une  doctrine  ex- 
traordinaii*e.   —  Laquelle?  —   üne  doctrine  qui    passe   aux   yeux 
de  bien  du  monde    icapok   jmXXoi;,    pour   la   plus   sage  de    toutes 
sootuTorcov  äicavtcuv.  —  Designe-la-moi   plus   clairement.  —  II  v  a 
des  gens  qui   pretendent   que   toutes   les  choses  qui  existent,    qui 
existeronl    ou   qui    ont   existe  doivenl    leur  origine   les   unes  ä   la 
nature,  d'autres  a  l'art,   d'autres  au  hasard.  —  N'out-i!s  pas  rai- 
sons —  11  0st  vraisemblable  quc  des  horamcs  aussi  eclaires,  arocpous 
avBpac,  nese  trompent  point.    Suivons-les  cependant  ä  la  trace  et 
voyons  ä  quelles  conceptions  arrivent  les  personnes  qui  partenl  de 
cette  diyision.  — "     Suit  le   passage  que  nous  avons  cite   et   qui 
donne  comme  traii  dominant  du  groupe  la  constraction  de  la  science 
et   de  la  morale  d'apres  le  type  des  dvapccu  ou  connexions  meca- 
niques.     On  voit  au  XII  livre  du  memo  dialogue  quc  Piaton  con- 
sidere  ce  grand  mouvement  comme  pres  de  sa  liu:    il  le  regarde 
pour  ainsi  dire  de  loiu.  corame  un  phenomene  historique,  et  ee  qui 
l'j   frappe,  ce  nc  sont  pas  les  abus  de  la  dialeotique,  ce  n'est  pas 
l'eristique  bien  qu'encore  vivante,   c'esl  la  physique  mecaniste  qui 
exclut  1'intelligence  de  Toriginc  des  choses  et  uaturalise  de  proche 
en   proche  jusqu'aux  Institutions  religieuses.     „La  foule,  dit-il,  01 
icoXXoi  imagine  que  quand  on  etudie  ces  questions  (de  l'existence 
des  dieux  et  du  principe  du  dcvoir)  du   point    de   vue   de   l'astro- 
Qomie  et  des  autres  sciences  necessaires,  dva-)fxaiais  atlr/x;  -i/yjx;. 
on  devieni   athee,    en   voyant,    autant  que  cela  se  peut,    que  les 
choses  sont  engendrees  par  ^^  mecanismes,    dvoqxais,  et  nun  pur 
les  reflexions  d'une  volonte  qui  a  le  bien  pour  but.     II  en  est  tout 
autrement.     De  la,    ceux   qui  ont  concu  ainsi   un  ciel  saus  äme 
(ötyox°0  ont   soupconne  qu'il  y  avait  la  dessous   quelque   mystere, 
(i)7.'j;i7T7.)  et  devine  ce  qu'on  admel  maintenant  que  des  corps  sans 
äme  ne  seraient   pas  capables  d'aussi  exacts  raisonnements;  si  bien 
que  quelques-uns,  meme  en  ce  temps  la  —  au  temps  de  Leucippe 
et  d'Anaxagore  —  se  sonl   risques  jusqu'ä  dire  que  c'etail   I  Espril 
qui  avait   iutroduit   l'ordre  dans  le  ciel.     Malheureusemenl  ils  ont 
cm  pouvoir  expliquer  tout  le  detail  des  phenomenes  par  des  causes 
physiques.     D'oü  le  discredit  jete  sur  la  philosophie  ei  les  aecu- 

biebte  (1.  Philosophie.     VII.  14 


196  \. 

ions  i1  philosophes'   B     Voila  pour  :i i n-i  dire  le 

P  lila  1<-  probleme  'ju'il  recommande  avanl 

mir   ;  rdiena   il>-   la   cite.     El   dans  lea   dialogues  qui 

,i  le  poinl  culminanl  de  sa  carriere,  la  Republique  ei  I     G 

fail  |»l  11-  intervenir  lea  sophistes  pour  les  railler  de  leucs 

mais  pour  <li-  i  m  laquelle  vaul  mieux  <!<•  la 

vie  naturelle  qui  eal   oecessairemenl  immorale  ou  de  la  \i<'  morale 

qui  esl  necessairemenl  relig  La  Bophistique  au  sens  restreint 

n'esl  donc  pour  nous  qu'une  brauche  prematuremenl  deviee  de  la 

Philosophie    oaturaliste.     A    quoi    on   objecto   le   peu   de  sophh 

propremenl  dits  qui  aienl  etc  physiologues.     Assurement  lea  habi- 

lites    verbales    onl   ßni   chez    eux    par  absorber   toutes   les  autres; 

mais,  saus  parier  d'Hippias,  d'Antiphon  ei  de  Prodicus  qui  on1  <'ii 

une  culture   scientifique   plus   ou   moins  serieuse')  il   ne   faul   pas 

croire  que  ceux-lä  memes  auxquels  les  sciences  positives  restaienl 

etn  •     i   pour  cela  moins  uaturalistes  aus   yeux  de  leurs 

contemporains.     Protagoras   traitait   en   oaturaliste  de  l'origine 

societes  *)  *  ei    de  la   vertu.     Enseigner   la  Strategie  ei  l'oplomachie, 

puis  la  morale  comme  L'onl   fail  Euthydeme  ei   Dionysodore,  expli- 

quer  les  origines  de  la  religion  ei  du  langage,  precher  pendanl  la 

\i«'  la  vertu  ei   la   tranquillite  en   face  de   la  morl  comme   le   fail 

Prodicus;   exposer  comme  Critias  les  moeurs  des  differents  peuples 

*)  I  7  a.    Platon  rappeile  i>-\  formellemenl  li 

intre  les    philosophes;   en    effet    Aristophane   a  dii 

tre  les  nataralistes  plus  qu itre  les  disputeurs.    Socrate,  type  populaire 

du  sophiste,  y  est  ridiculise  pour  ses  recfaerches  en  physique  e1  en  me'teoro- 
logie.  sciences  im pies,  plus  que  pour  ses  subtilites  logiques.    Dans  l'Apolog 
de  Platon,  qu  ume  les  griefs  du  peuple  contre  lui,  berches 

der  rang;  rimmoralite*  dialectique  ue  \  i»- n t  qu'en  derniei  bleu. 

Le  philosophe   esl    d'abord   l'habile  bomme  qui  s'occupe  des  phen aea  '■•'■- 

herche  ce   qui   se    passe   sous  la  terre;  qui   ue  croil  pas  ;i  l'exi- 

e  des  Dieux.    Dans  leBanquel  de  Kenophon  VI,  7.    Socrati  esl  ei 

appi  ensuite  qu'on  lui  reproche  _'!>•  reudre 

fori  le  discours  faible  „18b;   cf.  26d,  ?.  331    el    suiv.     Voir   l'Ari- 

de  M.  iü  toul   cel  ordre  d'i  ■  >l"  la  maniere  la 

|ilu>  vivante;  surtoul  les  p  I 

Poui  Bippias  voir  Protagoras  315,c  —  318  Hippias  285, b. 

Le  donl  le  Prol  a  g  oras  de  Platon  semble  re| 

Qt  uii  passage  tait :  II.  ;:w;. 


La  philosophie  de  l'action  au  V«  siecle  av.  J.  Ch.  1 '.  *  T 

et  la  genese  de  la  morale,  faire  comme  Hippiaa  l'histoire  des  grands 
hommes,  toul  cela  rentrait  dans  la  meme  methode  ei  tendail  au 
meme  Resultat:  constituer  iine  science  el  une  morale  lai'que,  or- 
ganiser  la  vie  en  dehors  des  croyances  traditionnelles:  prendre  en 
toul  la  natiiiv  comme  guide.  II  \  a  plus:  les  sceptiques  donl  qous 
allons  parier,  qui  pensaienl  vaincre  la  aature  par  les  prestiges  de 
l'art,  appareinment  croyaienl  encore  que  L'artiste  devail  obeir  ä 
certaioes  lois  ei  que  Le  succes  oe  s'obtenail  pas  au  basard5).  Jl  > 
avait  douc  encore  quelque  chose  d'objectif  dans  leurs  recherches 
litteraires  et  grammaticales.  Eriger  l'eristique  en  art  (Protagoras) 
sl  la  fonder  sur  l'observation,  c'est  la  traiter  en  chose  serieuse; 
en  toul  cas,  c'esl  renoncer  ä  la  priere  et  aus  sacrifices  pour  ob- 
tenir  la  persuasion.  Socrate  inaugure  une  periode  nouvelle,  parce 
qu'il  y  revient. 

II  n'v  a  rien  et  s  il  y  a  quelque  chose,  ou  ne  peut  ni  le 
penser  ni  l'exprimer.  Tel  est  le  paradoxe  soutenu  par  Gorgias  au 
nom  des  principes  Eleatiques.  Jl  n'impliquait  evidemment  pas  la 
negation  des  apparences  et  nc  tendait  qu'a  substituer  la  cuiisidera- 
tion  de  la  vraisemblance  ä  la  recherche  de  la  verite  absolue.  Dans 
quel  but?  Pour  laisser  ä  1'aetion  comme  il  la  concevait  un  plus 
libre  jeu.  Sa  these  sceptique  n'est  qu'une  forme  aigue  de  l'opiniou 
tres  generaJement  admise  alors  que  la  science  n'a  pas  sa  fin  en 
eile  meme  et  qu'elle  ne  sert  en  liu  de  compte  qu'ä  guider  la  pra- 
tique,  ou  plutot,  comme  nous  le  verrons,  que  la  science  et  la  pra- 
tique  ne  i'ont  qu'un.  L'une  et  l'autre  lui  paraissaient  dieses  emi- 
nemment  relatives;  la  mesure  de  leur  valeur,  il  la  trouvait,  comme 
plusieurs  de  ses  contemporains,  dans  le  sucobs. 

Thrasymaque,  un  autre  sophiste,  dit  ä  Socrate  dans  la  Re- 
publique:6)  „Tu  crois  que  les  bergers  pensent  au  bien  de  leurs 
troupeaux,  qu'ils  les  engraissent  et  les  soignent  dans  une  autre  vue 
que  celle  de  leur  Lnteret  et  de  celui  de  leurs  maitres!  Tu  t'ima- 
gines  encore  que  ceux  qui  gouvernent,  j'entends  toujours  ceux  qui 
gouvernent  veritablement,  sont  dans  d'autres  sentiments  a  l'egard 


s)  Cf.  Phedre  263b. 
6)  L.  I,  34^a. 

14  = 


a.  E aplna 

sujets  iju«'  lefi  bergen  ä  L'egard  de  leura  troupeaux  et  que 
jour  el   nuit  ils  sonl   ocoupes  d'autre  chose  que  de  leur  avant 

pers i'l.'""    II  en  est  '!<■  meme  da  medecin  <■:  ']<•  tous  les  autres 

praticieiis.  Tous  recherchenl  avant  toul  ou  le  gain  ou  le  pouvoir 
ei  toul  esl  bien  quand  ils  obtiennent  l'un  ou  Pautre.  L'art  confere 
im.-  <  :i ] «ii. -i t » ■,  ihm  .  une  superiorite;  il  o'a  pas  d'autre  bu1  ni 

d'autre  [ue  'I'  y  reussir  ei  de  reculer  !<■-  Limites  de  l'activite 

»■ii  chaque  ordre  d'actiona.    II   <->i  souverain  uu  |>lui<"'t  l'interet  de 
celui  qui  L'exerce  ue  se  subordonnea  rien  qu'aux  conditions  mei 
du  succes     Toul  praticien  doil  se  considerer  comme  le  centre  des 
choses       considerer  l<-  monde  comme  im  ensemble  de  moyens. 

Par  suite,  les  difterents  ans  De  se  subordonnent  les  ans  aui 
autres  qu'au  poinl  de  vue  de  leur  utilite  pour  celui  qui  I  rce. 

Le  meilleur  est  pour  chacun  celui  qui  confere  la  puissance  la  plus 
grande.  Or,  pourvu  qu'on  ait  les  aptitudes  necessaires,  l'art  qui 
ouvre  a  ses  adeptes  le  plus  large  acces  vers  Les  richesses  et  les 
honneurs,  o'est  la  rhetorique.  Sa  vertu  essentielle  et  exclusive 
de  produire  la  persuasion;  eile  est  ouvriere  de  persuasion  itetfti 
Sr^toup^o;;  par  cela  meme  ''11«'  a  des  avantages  propres  qui  sont 
d'assurer  ä  l'homme  eloquent  La  securite  et  le  pouvoir  par  son  action 
^ur  Les  assemblees;  mais  eile  a  aussi  des  avantages  indirects  con- 
siderables.  D'abord  La  plupart  des  arts  se  servent  de  La  parole  ei 
Lliabilete  ;i  discourir  double  leur  effet ');  mais  il  y  a  jilus:  BLe  talent 
de  la  parole,  dit  Gorgias,  t'asservit  et  le  medecin  et  le  professeur; 
et  il  se  trouve  que  l'homme  d'affaires  s'esl  enrichi  nun  pour  lui 
meme,  mais  pour  toi  qui  possedes  l'art  de  parier  et  de  persuader 
la  multitude." 8)  En  faisant  des  hommes  qui  eultivent  les  divers 
arts    autant    d'instruments  dont  L'orateur  politiqu  serl   a  son 

-n;,  la  rhetorique  reunit  en  eile  meme  les  ressources  de  tous  les 
arts.  A  cel  orateur,  -"il  possede  pleinement  Les  ressources  de  son 
art,  eile  donne  l'omnipotence.  Elle  en  fall  im  candidat  permanenl 
a  la  tyrannie. 

Par  quei   serait-il   arrete?     Par  son   incompetence?     Mais  il 


7)  ( .  156  b. 

152  e. 


La  philosophie  de  Paction  au   V«  siecle  av.  J.  Ch.  l'.i'.i 

n'y  a  pas  de  verite  absolue.     A  plus  forte  rais [uand  on  parle 

devanl  une  foule  est-il  inutile  de  s'en  preoccuper.  L'apparence, 
le  vraisemblable  suffit.  C'esl  l'aifaire  de  L'ari  de  fournir  sur 
tun-  les  sujets,  en  laissanl  de  cote  les  choses  meines,  quelque 
truc  qui  enleve  l'adhesion  des  ignorants. 9)  Les  creations  de  l'arl 
oratoire  s'etendenl  sur  an  champ  illimite  comme  celles  du  peinrte 
et  du  poete:  los  unes  ei  les  autres  sonl  puremenl  ßctives10). 
D'autanl  plus  qu'il  s'agil  de  faire  croire  aus  gens  ce  qu'on  souhaite 
qu'ils  croient,  non  de  les  instruire!  Pour  cela  prenez  comme  poinl 
de  deparl  leurs  illusions:  chaque  foule  a  ses  prejuges:  leur  poids 
suffil  pour  ecraser  l'adversaire n).  L'orateur  s'embarassera-t-il  da- 
vantage  des  idees  qui  ont  cours  sur  la  justice?  La  rhetorique  n'est 
par  elle-meme  nijuste  ni  injuste;  olle  est  uu  enscmble  de  moyens, 
uuo  machine  a  persuader  et  ce  n'est  pas  a  eile,  c'est  ä  celui  qui 
s'en  serf  qu'il  taut  s'en  prendre  s'il  vient  ä  heurter  les  opinions 
recues  en  matiere  de  bien  et  de  mal.  La  rhetorique  est  indepen- 
dante  de  la  moralc  eomrue  l'escrime. 12)  D'ailleurs  l'orateur  sait 
la  justice,  comme  le  reste,  c'est  a  dire  qu'il  peut  la  ramener  a 
une  illusion.  11  peut  soutenir  victorieusement  que  la  justice  est 
l'avantage  du  plus  fort,  c'est  a  dire  le  sien  propre,  qu'elle  con- 
sacre  et  suit  la  vraie  superiorite,  ä  savoir  celle  de  l'artiste  eu  parole. 
C'esl  a  son  instigation  que  la  justice  sanetionne  en  chaque  ville 
les  actes  du  pouvoir  dominant,  aristoeratie,  demoeratie  ou  tyrannie. 
La  iu>tice  est  donc  un  Instrument  de  l'eloquence,  comme  le  reste13). 
L'orateur  habile  peut  donc  tout  ce  qu'il  veut;  mais  c'est  ä  la 
condition  qu'il  ose  tout  ce  qu'il  peut  et  ne  fasse  rien  a  demi.  Ce 
n'est  pas  assez  de  violer  la  justice  vulgaire  pour  les  petites  choses; 
il    faut    s'assurer  l'impuuite  en  se  mettant  au  dessus  des  lois,  en 


9)  aj-ra  piv  yao  -A  npcEfftara  oö8lv  Set  afrrijv  stoevai  O7tio;  ejrei,  [j.7)yav7]v  o£ 
Tiva  t.vM'/k  e&pTjx^vai  uiste  tpa(veaöai  tot«  ofoe  eioodi  (xötXXov  eioevou  :wv  eioorouv. 
Gorgias  459c. 

10)  Tioieiv  —ott  op'äv  jxta  te/vt)  Sova-avTct.     Sophiste  233 d. 
")  Gorgia^.    171,  e. 

'-)  Gorgias.  456,  a. 

u)  Gorgias.  461,  c.  Gorgias  ne  so  vantait  pas  comme  les  autres  sophistes 
d'enseigner  la  vertu  a  ses  eleves;  il  leur  promettail  seulement  de  les  rendre 
tres  forts,  irresistibles,  5eivo6c 


\.  Espin 

aparant  du  pouvoir  souverain.  Celui  la  seul  qui  fail  la  l>»i  n"a 
rifii  ä  craindre  d'elle.  II  laut  aller  jusque-lä  >i  l'on  veut  eprouver 
dans  sa  plenitude   le  pouvoir  de  l'art.    Toul  "/•  sl  donc  eu 

i'ait    et    pratiquemenl    an  candidat  a  La  tyraonie  eu  ce  qu'il  doit 
s'affranchir   <!>•    toute  regle  ei   a   im]         sa  volonte  am 
autres  sei«      ses  1       -    *) 

.  sali  commenl  Protagoras  tiraii  de  la  philosophie  du  devenir 
ou  de  la  Sensation  an  relativisme  qui  lui  paraissail  rendre  inutile 
la  recherche  d'une  verite  objective.  Des  lore,  Belou  le  momenl 
la  disposition,  le  pour  ei  le  contre  etanl  aussi  fain  ou  auasi  vrais 
Tun  que  l'autre,  l'art  de  la  parole  conquerail  une  liberte  absolue. 
1  »".»11  l'Erisl ique,  donl  Protagoras  a  I'ait  la  theorie,  montranl  par 
quela  pro©     a  generaui  Les  tl  -  pouvaient  alternative- 

menl  etre  attaquees  ei  defendues.    Mais  un  passage  du  Pr  ras 

aur  le  caractere  objectif  des  lois  sociales  que  uous  aurons  a  invoquer 
plus  loin  uous  avertil  de  oe  pas  conclure  hätivemenl  de  ces  faits 
que  le  plus  illustre  des  sophistes  all  professe  Le  subjectivisme  sans 
restriction.  Tandis  que  pour  lui  La  connaissance  esl  subjective,  la 
pratique  ne  l'esl  pas.     S'il  esl  vrai  que  toul  o  mouvemenl  ei 

.11  changement,  <  jii>-  chacun  de  dous  esl  la  mesure  des  choses,  que 

ses  s  '  telles  pour  les  particuliers  ei  les  Etats  qu'elles  leur 
paraissenl  e1  que  par  consequenl  il  n'\  a  pas  de  verite  en  soi,  il 
ne  l'esl  pas  in- »ins  que  ces  opinions  des  particuliers  e1  des  Etats 
Bönl  oecessairemenl  avanta  ou  uuisibles  a  ceux  qui  les  ont, 

t  dire  propres  a  consolider  ou  ebranler  la  Constitution  des 
uns  ei  des  autres15).  L'art  de  La  politique  reposerail  donc  uon 
sur  L'illusioQ  ei  la  jonglerie,  mais  a  an  certain  degre  sur  la  aature 
des  choses,  ei  l'orateur  verse  dans  L'Eristique  e1  la  Rhetorique  serail 
veritablemenl  Le  medecin  ei  L'educateur  des  cites,  en  taut  que  seul 
capable  de  donner  aui  citoyens  des  opinions  plus  conformi  - 
leura  interetSj  plus  saines,  salutaires.  L'arl  ici  dependrail  .1.'  la 
oature. 

II  faul  de  plua  reconnaitre  que  par  l'etablissemenl  de  la  Rhe- 


'    i: 

dvantes. 


La  philosopbie  de  l'action  au  V«  siede  av.  .1.  Ch.  201 

torique  les  sophistes  onl  temoigne  implicitemenl  de  leur  confiance 
dans  les  lois  de  l'esprit  humain.  Le  tyraii  esl  au  dessus  des  lois 
de  son  pays;  il  n'esl  pas  au  dessus  des  lois  du  discours.  Les 
Gorgias,  les  Protagoras,  les  Prodicus  qui  onl  fail  les  premiers  ma- 
ti utls  de  Rhetorique  ei  de  Grammaire  onl  du,  pour  remplir  l'arsenal 
des  futurs  sophistes,  beaucoup  emprunter  ä  la  Psychologie  positive 
individuelle  et  sociale"').  C'etaü  encore  reveDir  ä  la  oature:  on 
voi<  ainsi  que  ceux  qui  soutenaienl  la  souverainete'  < !«■  I  ar1  eo 
reconnaissaient  tacitement  les  limites.  lls  admettaienl  d'ailleurs 
ei  ue  pouvaient  guere  sans  etre  taxes  de  folie  sc  dispenser  d'ad- 
mettre  que  „s'il  est  de  certains  arts  comme  la  peinture  ei  la 
musiijuc".  comme  la  Legislation  elle-meme,  ..<|iii  en  un  sens  n  en- 
pruntenl  rien  ä  la  nature,  il  y  en  a  d'autres  dont-les  produetions 
sonl  plus  solides  et  que  ce  sunt  ceux  qui  joigneiif  leur  puissance 
a  edle  de  la  nature.  comme  la  medecine,  l'agriculture  et  la  gyin- 
nastique."    Piaton  ledit17)etle  fail  esl   vraisemblable:  il  est  donc 

a  croire  qu'il   a  lui-meme,   selon   sa   method 'dinaire,   pousse  a 

l'cxtreme  rartificialisme '^  des  premiers  techniciens  de  la  Rhetorique. 
II  nous  a  du  moins  permis  par  la  <U'  mieux  comprendre  l'esprit 
de  leur  siecle. 

B.  Souverainete  de  la  Nature.  D'autres  soutenaient  en  par- 
tant  des  memes  prineipes  des  doctrines  logiquement  opposees,  mais 
conduisanl  aux  memes  applications  pratiques.  Nous  venons  de  1>'  voir; 
si  l'art  est  tout,  tout  est  fiction  et  apparence,  on  peut  f'ouler  aux 
pieds  les  lois  de  la  nature  et  les  lois  de  la  morale:  l'interel  individuel 
de  l'artiste  devient  le  seul  criterium  du  bien  et  du  mal.  Mais 
d'autre  part  si  l'art  n'esl  rien,  >i  la  nature  est  tout.  les  freies  barrieres 
opposees  par  le  travail  de  la  civilisation  au  dechainement  des  con- 


16)  .11  esl  donc  evidenl  que  Thrasymaque  ou  toutautre  qui  voudra  enseig 
serieusement  la  rhetorique  decrira  d'abord   1'äuie   avec   exaetitude"    comme   le 
fait   Bippoerate  pour  le  corps.      „Ceux  qui  ont  ecrit   de  nos  jours  des  traites 
de  rhetorique  sont  des  fourbes  qui  dissimulent  la  parfaite  connaissance  qu'ils 
ont  de  l'äme."     Phedre.  271,  a. 

,7)  Lois  X.  889,  d. 

1S)  Qu'on  nous  pardoune  ce  mot  barbare,  nous  ne  trouvons  pour  exprimer 
l'idee  que  celui  lk  ou  un  autre  j >  1 1 1 ~-  barbare  peut-etre:  instrumentalisme.  Le 
mot  falirication  pourrait  etre  egaletnent  utilise;  mais  il   na   pas  d'adjectif. 


V  Bspi  i. 

voitises  tombenl  sous  l'efforl  « i <  *  la  cntiqae  ei  La  societo  se  traus- 
forrae  bientol  •■!!  une  melee  "ii  la  victoire  est  promise  an  moins 
Bcrupuleux.  Quelqu'un  a-t-il  pris  la  responsabilite  de  cette  doctrine? 
II  oe  semble  paa  qu'on  puisse  L'attribuer  a  an  auteur  ou  ;t  an 
maitre  connus.  L  \  Biecle  o'a  paa  eu  bod  Hobbea,  Piaton  mel 
cette  these  dana  la  bouche  d'un  politique  donl  l'existence  meine 
donteuf  dana  celle  d'un  sophiste,  Thraaymaqne, 

donl  nous  n'avons  aucun  ouvrage;  noua  la  trouvona  encore  expoj 
dana  un  fragmeni  etenda  d'une  tragedie  de  Critiaa,  peut-etre  d'Euri- 
pide  ei  le  |  parail  Pavoir  pretee  a  un  personnage  sacrifie,  plutol 
qu'il  oe  l'enseigne  en  son  propre  oom.  El  c'esl  tont  Mais  i!  eel 
tain  encore  qu' eile  avail  un  large  coura,  e1  dous  La  voyons  dans 
les  Lois19)  attribuee  ä   des  hommea   instruita  du  oouveau  regime 

qui  oe  sonl  paa  des  philosophea  de  profeaaion*0),  ei  | tea. 

Personne  ae  l'aurail  donc  priae  ä  son  compte  parmi  les  repreaen- 
tants  autorises  de  la  philosophie  natnraliste.  N'avons  oous  paa  vu 
de  dos  joura  certaines  consequences  Lmmorales  attribuees  a  La 
philosophie  de  l'evolution  sans  qu'aucun  philosophe  du  groupe  les 
all  prol 

Ici  toutes  les  institutions  humainea,  religion,  morale,  langag 
legislation,  hierarchie  sociale,  droil  de  cite,  famille,  Bonl  consid«  i 
comme  des  Conventions  puremenl  arbitraires  ei  o'ayanl  aucun 
fondemenl  dans  la  oature.  Blies  Bon1  düferentes  Belon  les  lieux 
ei  changeantes:  donc  elles  oe  sonl  pas  naturelles.  Au  dessoua 
d'elles  il  oe  reste  de  ree]  que  L'ensemble  des  lois  ei  des  forces  nn;- 
caoiques,   necessaires,   aveugles,    Lrresponsables.     Le  monde  social 

comme  le ode  physique  o'esl  donc  au  fond  qu'un  conflil  tumul- 

tueux  d'impulsions   brutales.     Ecoutons  Piaton   lui-meme  exposer 


V  890,  a.     <  f.  Republique.  358,  c   ei   363,  d.     La  coincidence  da 
avec  celui  des  Luis  eal  curieuse:  sauf  Tbraaymaque  aucon 
philosophe  u'esl   citi;  ce    ^"iii  encore  des  amateurs  el   des  poetes   qui  Bonl 
Incriminös.     II  faul  aussi  tenir  compte  des  passages  du  Qorgias  192,  d  et 
de  la  Rep.  349,  a  oü  il  esl  insinue  que  Callicles  et  Tbraaymaque  vonl   pi 
au    delä    de  leur  pensee  e(  que   les  theories  qu'on  leur  prete   sonl 
des  types  de  Convention. 
Ucibiade  peut-i  la  jeunesse  dorde  qui  les  environnait 


La  philosophie  de  l'action  au  V-  siecle  av.  J.  Ch.  203 

l'idee  generale  de  ce  singulier  Systeme  e1  ses  principales  applica- 
tions.  „II  y  a  toute  apparence  que  la  nature  ei  le  basard  Bonl 
les  auteurs  de  ce  qu'il  y  ;i  de  plus  grand  e1  de  plus  beau  dans 
l'univers  et  quo  les  choses  de  moindre  Importance  sonl  produites 
par  l'art  qui,  recevanl  de  la  nature  les  oeuvres  les  plus  grandes  oees 
les  premieres,  s'en  serl  pour  former  ei  fabriquer  tous  les  ouvraj 
les  plus  melius  tjue  dous  appelons  kous  artificiels.  (Suil  le  passage 
sur  la  genese  des  astres  ei  des  etres  animes  selon  les  lois  de  la 
mecanique).  L'art,  posterieur  ä  la  nature  ei  au  tiasard,  donl  il 
tieut  sod  existence,  invente  par  des  etres  mortels  et  mortel  lui- 
meme,  a'donne  plus  tard  aaissance  ä  ces  vains  jouets  qui  onl  ;i 
peine  quelques  traits  de  la  verite...;  tels  sont  les  ouvrages  qu'en- 
fantent   la   peinture   et    la   musique   et  les  autres  arts  de   Dieme 

sorte La  politique  elle-meme  a  tres  peu  de  chose  de  commun 

avec  la  nature  et  tient  presque  tout  de  l'art  et,  par  cette  raison, 
la  legislation  tout  entiere  est  le  produit  non  de  la  nature,  mais  de 
l'art,  dont  les  creations  sont  purement  arbitraires.  —  Comment 
cela?  —  A  l'egard  des  Dieux  tout  d'abord,  ils  pretendent,  mon 
amij  qu'ils  n'existeut  point  par  nature,  mais  par  art  et  en  vertu 
de  certaines  lois  (ou  regles  conventionnelles);  qu'ils  sont  differents 
chez  les  differents  peuples,  selon  les  inventions  intervenues  parmi 
les  legislateurs,  que  l'honnete  est  autre  suivant  la  nature  et  autre 
selon  la  loi,  que  pour  ce  qui  est  du  juste,  rien  absolument  n'esl 
tel  par  nature,  mais  que  les  hommes  vivent  dans  de  perpetuellcs 
discussions  a  ce  sujet  et  fönt  dans  ce  domaine  d'incessantes  modi- 
ticaüons:  que  ces  modifications  sont  la  mesure  du  juste  pour  autant 
de  temps  qu"elles  durent,  tirant  leur  origine  de  l'art  et  des  lois 
(contrats),  et  nullement  de  la  nature""1).  CallieK-s.  dans  le  dis- 
cours  bien  connu  que  lui  prete  Piaton  au  cours  du  Gorgias, 
explique  la  tendance  de  toutes  les  legislations  vers  Pegalite  par  la 
coalition  des  faibles  contre  les  forts.  La  reprobation  qui  s'attache 
aux  violations  de  la  loi  vient  de  la  meme  source:  „Voila  poui- 
quoi,  dans  l'ordre  de  la  loi,  il  est  injuste  et  hontcux  de  chercher 
ä  Temporter  sur  les  autres  et  pourquoi  ils  donnent  a  cela  le  nom 


L-.i-.   X.,  889 — 890.     Gorgias.  483,  b. 


204  \-  ' 

dinjusti  Mais    la    natura  elle-meme  demontre   que    la  justice 

cod8  elui  '|tii  vaul  mieux  ail   plus  qu'un  autre  qui 

v;iut   moins."     Od   voil   ce  partag  avanta^   -  -  ciaux  propor- 

tionnellemenl   aux   forces  prevaloir  dana  lea  rapports  de  toua  lea 
-  vivants,    bommea  ei   animaux.      La  regle  entre  lea  'li\< 

paa  autre  que  la  prepotence  «In  superieur  sur  l'inferieur. 

le  principe  deruier  de  cette  loi,  c'eai  l'irresistible  impulsioo  de 
tous  lea  etres  vivants  ä  satisfaire  leura  appetits,  ä  ne  s'appuyer  lea 
uns  sur  lea  autres  que  pour  s'assurer  cette  satisfaction ,  .1  grandir 
leur  pouvoir  indefinimenl  pour  ecarter  toua  lea  obstacles.    La  vertu 

le  bouheur  reposenl  ä  la  foia  aur  ce  principe"). 
La  religioo  est  venue  a    L'aide  des  faibles  dans  cette  conapi- 
ratioD  contre  les  forts.     Elle  a  invente  la  conscience  morale.     La 
croyance  aus  Dieux  est  devenue  ainsi  le  gardien  interieur  des  Con- 
ventions:   le  maintien  de  la   morale  a  ete  sa  Beule  raison  d'etre: 
eile  est   un  artifice  ajoute  a  im  autre.      C'eai   ce  qui   esl  exp 
longnemenl   «laus   la   tragedie   de  Sisyphe  attribuee  .1  Critias:    ..II 
j'ut    un   tempö  "ii   la   vie  de   l'homme  <;iait  sans  regle  ei   bestiale, 
.i  sous  l'empire  de  la  Force.    Alors  il  n  \   avail  nul  avantage  pro- 
pose  a  l'emulation  <\r-  bons,  nulle  punition  pour  lea  mauvais.    I 
posterieurement,  ce  me  semble,  que  lea  bommea  onl  etabli  les  loia 
repressives,    afin   que   la  justice   Fül    maitresse  ei   tinl    la  violence 

-  sa  sujetion.  Ceux  qui  enfreignaienl  la  l"i  Furenl  des  lora 
punis.  Mais  comme  ce  que  les  Lois  interdisaienl  par  la  Force  de 
Faire  ouvertement,  on  le  Faisail  en  cachette,  alors,  je  le  crois,  un 
bomme  lin  ei  babile  inventa  un  epouvantail  a  l'usage  dea  mortels, 
pour  que  lea  mechants  ressentissenl  encore  quelque  crainte,  alors 
meine  <|ii<'  leura  actions,  leure  parolea  ei  leurs  pensees  resteraient 
etes.  C'esl  ainsi  <|u"il  introduisil  la  religion;  a  savoir  qu'il  j 
a  un  daimön  ßorissanl  d'une  vie  imperissable,  donl  l'espril  entend, 
voit,  connail  ei  surveille  toutea  choses,  ayanl  une  uature  divine-, 
«|ui  peul  entendre  toul  ce  <|u<'  disenl  les  bommea  ei  voir  toul 
qu'ils  Font.  El  si  vou8  meditez  en  silence  quelque  mefait,  cela 
n'echappera    paa  aux  dieux,  car  il-  onl  la  pensee.     En  disanl 

G01  ;iaa   191,  1     192,  a,  b,  c. 


La  philosophie  »le  l'action  au  V«  siecle  av.  J.  Ch.  205 

choses,  cel  homme  a  introduil  le  plus  agreable  des  enseignements, 
cachanl  la  verite  soua  uu  langage  trompeur.  Pour  frapper  davan- 
tage  lea  esprits  des  hommes,  il  dil  que  les  dieux  habitaienl  lä 
(1*0(1  il  savait  que  viennenl  aux  mortels  ei  les  plus  terribles  craintes 
ei  les  bienfaits  les  plus  precieux  au  milieu  de  leur  malheureuse 
vio,  (laus  la  regioE  des  mouvements  superieurs,  oü  il  savail  que 
resident  les  eclairs  ei  les  horribles  grondements  de  la  foudre,  dans 
la  splendeur  constellee  du  ciel,  chef-d'oauvre  du  temps,  ce  grand 
artiste,  d'ou  s'eleve  la  masse  en  feu  du  soleil  ei  d'oü  tombe  sur 
la  fcerre  la  pluie  rafraichissante.  Teiles  sont  les  craintes  qu'il 
inspira  de  toutes  parts  aux  hommes.  C'est  ainsi  que,  sc  reglanl 
sur  elles,  il  assigna  au  daimön  la  demeure  qui  lui  convenait  1c 
mieux  ei  etouffa  le  desordre  sous  l'empire  des  lois.  Voilä  com- 
ment.  ä  mon  avis,  un  homrue  persuada  pour  la  premiere  fois  aux 
mortels  qu'il  y  a  uue  race  de  genies  divins." 

Le  langage  resulte  comme  la  murale  et  la  religion  dune  in- 
tervention  individuelle  acceptee  par  eontrat:  c'esl  la  these  soute- 
nue,  ce  semble,  par  Prodicus  dans  son  traite  respl  övou-atojv  öoDo- 
njxos  et  que  nous  voyons  mise  dans  le  Cratyle  en  Opposition  avec 
celle  de  Petablissement  divin.  L'une  se  rattache  a  la  doctrine  de 
la  relativite  enseignee  par  Protagoras,  tandis  que  lautre  etait, 
comme  nous  l'avons  vu.  uue  derivation  de  l'Heracliteisme.  Her- 
mogene  qui.  dans  le  dialogue  de  Piaton,  represente  la  theorie  de 
la  Variation  arbitraire,  Tenonce  ainsi:  „Pour  moi.  apres  bien  des 
discussions  avec  notre  ami  (Cratyle)  et  avec  beaucoup  d'autres, 
je  Qe  puis  croire  que  les  noms  aienl  d'autre  propriete  öp&otr^,  que 
edle  qu'ils  doivent  a  la  Convention  '-■j-A)flv:ri,  et  au  consentemenl 
des  hommes  (60.0X0710:).  11  me  semble  que,  dl's  que  quelqu'un  a 
attribue  uu  nom  ä  une  chose,  c'esl  la  le  moi  propre;  et  si,  cessant 
de  se  servir  de  celui-lä.  il  le  remplace  par  un  autre,  le  nouveau 
nom  ne  me  parait  pas  avoir  moins  de  propriete  que  le  premier. 
-1  ainsi  que,  s'il  vous  arrive  de  changer  le  nom  d'un  de  vos 
esclaves,  le  nouveau  nom  n'esl  pas  moins  propre,  öp&o?,  que  le 
precedent.  C'est  ainsi  que  je  vois  dans  differentes  villes  les  memes 
choses  porter  <\e^  noms  differents,  soil  de  Grecs  a  Grecs,  soil  de 
Grecs    ä  Barbares.     Car  la  nature   n'a   donne  aucun  nom  a  quoi 


\.  Es| 

qu<  it:    les  ii« •  f 1 1  —  on(  Lablis  par  la  loi  vouac,   ei  la  con- 

tume,  au  g  bommes4"'). 

•  tu  ae  pouvail  conclure  de  ce  qu'on  vienl  de  Lire  que  la  li- 
berte  illimitee  «In  oeologisme.  II  \  ;iv:iit  des  consequences  pra- 
tiqaes  bien  autremenl  graves  .1  ürer  du  mol  fameux  d'Hippias  sur 
la  vanite  des  distinctiona  legales  entre  lea  populationa  des  cites 
diverses:  „Vous  tous  qui  etes  i<  i.  je  vous  regarde  tous  comme  pa- 
rents,  allies  ei  concitoyens  selon  la  oature,  >i  ce  o'esl  selon  la  l"i. 
semblable,  en  eflfet,  ;i  une  affinite  naturelle  avec  le  semblable; 
mais  la  loi,  ce  tyran  des  bommes,  fail  violence  a  la  oature  en  bieu 
des  circonstances*"4).  La  oature  voulail  donc  l'abolition  <!«■>  pa- 
tries  particulieres!  Elle  n'approuvail  pas  ooo  plus  les  difßcultea 
considerables  donl  la  loi  positive  entourail  l'admission  d'un  etran- 

.111  droil  de  cite.  Eo  realite,  ce  droit  n'etail  confere  que  par 
la  oais8ance.  Gorgias  demande  Lroniquemenl  de  qui  les  premiers 
citoyens  de  chaque  <-ii<:  onl  tenu  ce  droil  ei  >'il  faut,  puisque  la 
oaissance  o'a  pas  pu  le  leur  transmettre,  imaginer  <|u'ils  on1  ete 
fabriques  par  des  ouvriers  speciaux,  comme  les  mortiera  sonl  fa- 
briques  par  les  fabricants  de  mortiers"). 

L'esclavage  n'echappail  pas  davantage  ä  la  critique.  Un  au- 
teur  donl  Aristote  oe  qous  a  pas  conserve  le  oom  declarait,  <lu 
meme  poinl  de  vue  que  Callicles,  que  l'esclavage  estcontre  oature: 
„car,  disait-il,  la  distinction  entre  l'homme  libre  ei  l'esclave 
l'ceuvre  de  la  loi;  la  oature  oe  fail  entre  eux  aucune  difference. 
L'esclavage  n'esl  donc  pas  juste,  etanl  fonde  sur  une  violence  que 
fail  la  loi  a  la  oature"  ' 

Toutes  ces  doctrines  sonl  revolutionnaires.  Elles  ruinenl  le 
droil  antique  fonde  sur  la  tradition  religieuse.  Elles  tendent,  par 
L'exaltation  de  la  volonte  arbitraire  <1>'  l'individu,  ä  nur  Subversion 


*»)  Cratyle.  384,  .1:  385,e;  ei    13 

u)  Prol a Lr" ras.   337,  d. 
Po  in  ique.    III.  i,9. 

kristote.    Politique.  1,1,3.  Dans  les  Nuees,  on  voitun  fils  battre  son 
lui  dämontrer  qu'il  :i  raison  du  poinl  de  vue  de  la  natura,  parce  que 
battent  l'-ur  pere  des  qu'ila  son!  les  plus  forts.    vers  1410. 


La  philosophie  de  l'action  au  Va  siede  av.  J.  Ch.  201 

complete   de   l'ordre  social   etabli.     Blies   ae   vonl    pas  seulemenl 

contre  le  droit  Bellenique,    tel  qu'on   le  concevail  au   V siecle. 

Elles  renversent  toul  droit  ei  sonl  Lncompatibles  avec  toute  societe. 
Le  droit  est  pour  l'homme  im  ensemble  d'idees  avanl  d'etre  im 
Systeme  de  Forces:  en  niant  le  role  de  l'idee  dans  le  monde  lui- 
main,  en  substituant  la  violence  et  la  rapine  ä  la  justice,  les  demi- 
philosophes,  comme  Callicles,  s'i]  y  en  a  eu  de  tels,  enfantaient 
une  monstruosite  d'autant  plus  digne  de  reprobation  qu'ils  ne  pre- 
naient  pas  meme  la  peine  de  montrer  commenl  les  impulsions  indi- 
viduelles en  conflit  pouvaient  d'elles-memes  aboutir  ä  im  mini mum 
d'ordre.  lls  lächaienl  la  bride  au  caprice;  ils  proclamaient  le  chaos 
et  s'en  tenaient  la.  C'est  l'individualisme  absolu.  Cependant,  ils 
n'avaient  pas  besoin  de  pousser  bien  loin  leurs  reflexions  pour  voir 
sortir  l'ordre  du  desordre,  le  droit  de  la  lutte.  Piaton  leur  ob- 
jecte  deux  fois87)  que  si  les  faibles,  coalises  contre  les  forts  pour 
leur  imposer  le  respect  de  la  justice  et  maintenir  l'egalite,  out  re- 
ussi  dans  cette  entreprise,  c'est  que  les  faibles,  somme  toute,  dis- 
posent,  ä  cause  de  leur  nombre,  pourvu  qu'ils  s'accordent,  d'une 
force  irresistible,  et  qu'ainsi  dans  toute  societe  le  triomphe  des  po- 
litiques  selon  la  uature,  c'est  ä  dire  des  scelerats,  ue  saurait  etre 
qu'un  accident .  que  l'injustice  absolue  equivaut  enlin  pour  une 
societe  ä  l'impuissance  absolue  et  a  la  dissolution.  N'est-il  pas 
vraisemblable  quo  c'est  aux  livres  et  aux  conversations  de  ses  ad- 
versaires  quo  Platon  a  empruute  cette  idee  si  bieu  d'accord  avec 
leur  naturalisme?  Quand  Socrate  dit  ä  Thrasymaque,  dans  la  Re- 
publique.  „Fais-moi  la  gräce  de  me  dire  si  un  Etat,  une  armee, 
une  troupe  de  brigands,  de  voleurs  ou  toute  autre  societe  pourrait 
reussir  dans  ses  entreprises  injustes,  si  les  membres  qui  la  compo- 
sent  violaient  les  uns  ä  Fegard  des  autres  toutes  les  regles  de  la 
justice",  quand  le  Socrate  de  Platon  tient  ce  langage,  uous  pou- 
vons  croire  qu'il  n'ctait  pas  le  premier  a  le  fcenir  et  que,  parmi 
taut  d'esprits  si  clairvoyants,  si  capables  de  Gne  dialectique,  quel- 
qu'un  s'etail    rencontro   pour  reconcilier  au  moins  jusque  la  la  loi 


-7)  ßepubl.  351,  a,  et  la  Buite   jusqu'ä   352,  d,  ei  Gorgias  488,  c: 

OÖXOÜV   -a  TOJTuuv  vrffilfxa   /.nz'J.  tpuoiv  xoXd,   xpecrttfvow  ys  tfvTUIV. 


\.  Espi  11 

instituee,  la  regle  des  interets  el  des  moeurs  avec  la  na  iure18). 
Heureusement,  Piaton  lui-meme  oous  montre  que  cel  homme  s'etait 
fall  entendre  ä  Athei  -  la  premiere  beure  da  regne  <!<■  la 

phistique:   c'esl   Protagoras.     II   esl  temps  d'utiliser  ce  temoign 
qui    ramene   ä    leur  valeur   les   portraits  sinistres  des   oaturalis 

»lutionnaires  traces   avec   tanl  de   vigueur  dans  1<'  Qorgias  et 
la  Republique. 

Mais  reconnaissons  auparavanl  que,  dans  la  mesure  ou  cette 
these:  que  les  institutions  sociales  les  plus  augustes  sonl  des  Con- 
ventions modifiables,  que  le  droit  et  la  morale  sonl  des  Oeuvres 
arbitraires  ei  passageres  de  L'humaine  Industrie  comme  la  forme 
des  bateaux  ei  des  vetements,  dans  la  mesure,  disons-nous,  oii  cette 
these  a  ete  pronee  ei  accueillie  au  sein  des  cites  grecques  du  \ 
siecle,  eile  esl  venue  ä  propos  pour  combattre  par  un  exces  en 
sens  contraire  l'attachemenl  a  des  dogmes  uon  moins  excessifs  qui 
consacraienl  comme  divines  e1  immuables  des  formes  caduques  de 
justice  et  de  moralite,  ei  ne  tendaienl  ä  rien  moins  qu'ä  paralyser 
luutc  initiative  individuelle.  La  religion  des  Dieux  de  la  cite  n'etail 
que  trop  souvenl  sans  vertu.  Piaton  lui-meme  reconnail  qu'elle 
avail  engendre  la  j>lu>  detestable  des  li\|iucri>ic>-  .  L'organisation 
politique  de  la  pluparl  des  cites,  qui  reposail  sur  cette  religion, 
admettail  une  trop  grande  pari  d'inegalite  ei  d'injustice.  II  etail 
Im, 11  que  l'une  ei  l'autre  fussenl  remplac£es.  Et,  pour  cela,  il  fal- 
lait  qu'elles  recussent  le  choc  de  ces  uegations  ei  de  ces  affirma- 
tions  audacieuses,  qui,  sans  trouver  aueun  interprete  de  genie, 
eurenl  pourtanl  leur  momenl  de  popularite'.  Lern-  forme  la  plus 
sensible  esl  la  uegation  du  caractere  mural  de  la  technique  poli- 
tique, ei  l'affirmation  que  L'ideal  de  la  conduite  est,  en  cel  ordre 
d'aetions  comme  en  toutes  les  autres,  le  succes  de  l'habilete  indi- 
viduelle. Cette  glorification  de  la  tyrannie  consacrail  l'existence 
de  pouvoirs  revolutionnaires  ei  destruetifs  en  un  sens,  mais  ue- 
i    me  bienfaisants   ä  un  autre  poinl  de  vue,  puisque 


Cf.  Democrite,  Fragm.  mor.  199.     \,ith  ■  ■  rot  \uf<£ka  Ipyo 

i    Suvatöv  xarepycfaaa&ai,  £XÄu>(  8    o&. 

i:,  ,,.  um,    n.  364,  b  •  I   Loi     K    885  c 


La  pbilosophie  de  l'action  au  V«  siecle  av.  J.  Ch.  209 

le  tyran   populaire  «M&il  alors  l'unique  instrumenl   possible  des  re- 
formes  e1    lo  progres. 

C.  Conciliation  de  l'Art  avec  la  nature.  Od  n'a  paa 
a  examiner  ici  dans  quelle  mesure  Protagoras  s'esl  contredil  en 
soutenant,  d'une  part,  que  les  opinions  des  cites  sur  le  bou  ei  le 
mauvais,  lejusteel  l'injuste  sonl  relatives  ei  subjectives,  et,  d'autre 
part,  que  ces  opinions  sonl  salutaires  ou  nuisibles,  ei  interessenl 
leur  existence  meme.  Peut-etre,  alors  qu'il  declarail  que  ces  opi- 
nions, qu'il  appelle  encore  sensations 30),  ue  sont  ni  vraies  ni  fausses, 
avait-il  le  pressentiment  que  les  tendances  ei  les  emotions,  facteurs 
du  vouloir,  ne  sonl  pas  de  l'ordre  speculatif  ei  doivenl  etre  di- 
stinguees  des  Operations  intellectuelles  pures,  perceptions,  jugements, 
raisonnements,  dans  lesquelles  seules  resident  La  verite  ei  l'erreur. 
Si  cette  suppositiou  etail  exacte,  ou  comprendraü  fort  bien  que 
ces  etats  toul  subjectifs  de  bien-etre  ou  de  malaise  decelenl  ei 
meme  constituenl  la  sante  ob  la  maladie  chez  les  individus  et 
dans  les  societes.  Quoi  qu'il  en  soit,  il  est  incoutestable  que  Fidee 
dominante  du  mythe  oü  Protagoras  retrace  la  genese  de  la  societe 
es<  qu'il  y  a  une  certaine  Constitution,  une  certaine  structure  des 
corps  sociaux  comme  des  corps  individuels,  qu'ils  ne  peuvent  sub- 
sister  que  sous  certaines  conditions  et  si  certaines  fonctions  vitales 
leur  sont  devolues,  qu'enfin  la  justice  et  la  moralite  comptent  au 
premier  rang  parmi  les  conditions  de  l'existence  sociale,  en  d'autres 
termes  parmi  les  fonctions  vitales  de  l'humanite.  Aucune  doctrine 
u'esl   plus  objective"). 

Kjiiinethee  et  l'roniethee  sonl  charges  par  les  dieus  de  tirer 
des  entrailles  de  la  terre  les  etres  mortels.  Epimethee  commence. 
11   distribue   aux   divers   animaux    les   divers  dons   necessaires  au 

M)  II  les  compare  aux  sensations  des  animaux  et  des  piantes  que  l'eleveur 
et  le  cultivateur  changenl  ;'t  propos  pour  le  salul  des  uns  ei  des  autres. 
Theetete.    167,  a. 

■;1)  Protagoras  qui  n'etait  pas  religieux,  n'accordail  pas  que  la  vertu 
et  la  saintete  aienl  une  existence  en  sc.i,  transcendante  comme  nous  dirions 
(ü>;  ojy.  .--.<.  -y'j-jii  abx&w  oö84v  obalav  eaotoü  lyov  .  Voilä  pourquoi  Piaton 
l'accuse  dans  le  Theetete  de  leur  refuser  toute  realite:  c'esl  le  sens  de  la 
protestatio]]   vigoureuse   en    l'honneur   du    divin    modele    qui    remplit   la  di- 

ion   !  72,  a  ä   177,  c. 


210  A.  E-piuas, 

maintien  il<-  chaque  »Tijpfav:    ici  la  force  Bans  \  i t • — . 

la  la  \  in-  force,  armes  redoutables  aas  audacieax,  Lnstincts 

reaser  des  demenres  soaterraüies  aux  timides,  ailes  aus  ans, 
masse  imposante  aux  autres.  ...  „II  combina  toul  cela  en  prenanl 
bien  garde  qu'aucune  espece  ue  puisse  etre  detruite."  II  donna  ä 
tous  d<  j  ins  oaturels  de  protection  contre  les  intemp6ries  e1 

leur  assigna  une  Dourritore  speciale.     Les  races  predatrices  furenl 
creees  peu   fecondes  et  les  races  destinees  a   leur  servir  de  proie 

-  prolifiqaes  ei  pai  ce  moyen  La  conservation  de  celles-ci  5o»t>jj 
tut  assuree.    Promethee  arriva  alors  ponr  voir  comment  Epimethee 

iit  acquitte  de  sa  tache.  ..II  tronva  L'homme  toul  au,  u'ayanl 
ni  armes,  oi  chaussures,  ni  couvertures";  ne  Bacbanl  „de  quel  moyen 
d'existence  le  pourvoir"  ijvnva  3u>T7jpiav  top  dvdpcoicm  supot,  il  de- 
roba  a  Vulcain  ei   a  Minerve  L'habilete  dans  les  artB  avec  le  feu 

ävvov  jocpuxv  z'-y-  icopi,  ei  voilä  commenl  l'homme  enl  une  res- 
source  pour  entretenir  sa  vie.  II  pul  ainsi  creer  une  religion,  un 
langage;  il  se  bätil  des  maisons,  se  fil  des  habits,  des  chaussures, 
des  Lits  ei  tira  Bes  aliments  du  Bein  de  la  terre.  Mais  un  arl  Uli 
manquait,  la  politique.  Jupiter  s'en  etail  reserve  le  secrel  ei  eile 
restail  au  fond  des  cieux,  inaccessible.  C'esl  pourquoi  nos  ancetres 
n'eurenl  pas  l'idee  de  ><>  rassembler  en  groupes  uomtyreux  e1  de 
bätir  des  villes.  „L'art  de  la  guerre,  partie  de  Pari  politique"  leur 
manquait,  ils  furenl  decimes  par  1»'-  animaux.  II-  essayerenl  de  con- 
struire  des  cites,  l'injustice  de  tous  contre  tous  les  dispersa  ei  ils  reste- 
renl  toujours  exposesä  ladenl  des  betes feroces.  Alors  „Jupiter, crai- 
gnanl  que  la  race  humaine  ne  fül  bientol  erterminee,  envoya  Mercure 
avec  ordre  de  donnei  aux  hommes  l'honneur  e1  lesentimenl  dujuste, 
afin  qu'ils  fussenl  l'ornemenl  des  villes  ei  le  lien  des  cobuts.0 

Unequestion  Be  presentail :  commenl  distribuerces  uouveaux  dons? 
Les  autres  arts  avaienl  ete  partagea  entre  un  petil  uombre  d'indivi- 
«lu-.  chacun  en  exercail  un  pour  plusieurs  desessemblables;  fallait-il 
.•il  faire  de  meine  pour  L'honneur  ei  la  justice?   Jupiter  oe  le  voulul 

pas;  il  attribua  ces  capacites  a  tous  les  I imes  indistinctement,  quoi- 

que  ä  des  degres  divers  „car  sans  cela  il  n'j  aurail  paseude  villes"  *). 

«)  Protagoras,320,  c.    Od  voii  que  aous  ne  partageona  pas  l'opinion  de 
..;  .Im  vol.  1   (trad.  Franc).    »Le  r&ultal  final  est  done  le  meme 


La  philosophie  de  I'action  au  V«  siecle  av.  .t.  C'h.  211 

II  est   impossible   de  dire  plus  clairement  que    La   morale  ei 
la  vertu  politique  sonl   des  facultes  essentielles  a  l'homme,    uei 
saires  ei  correlatives  ä  l'existence  des  societes.     La   uature  e1  l'arl 
-     rapprochenl  ici  au  poinl   de  Be  rencontrer,  car,  bien  que  don- 

-  par  Jupiter,  les  vertus  sociales  u'eo  sonl  pas  moins  appe] 
des  arts  ei  leur  acquisition  n'en  forme  pas  moins  la  derniere  etape 
du  progres  humain.  i  il  en  meme  temps  des  impulsions  spon- 
tanees,  naiiws  ei  des  conquetes  de  l'activite  reflechie 8a).  La  con- 
ception  primitive  du  plus  illustre  des  Sophistes,  u'etait  donc  pas 
celle  d'un  divorce  irremediable  entre  la  naturc  et  la  loi,  entrc 
le  hasard  et  l'arl  humain;  les  diverses  technes  constituaient  dans 
la  pensee  de  Protagoras  de  veritables  fonctions  caracteristiques  de 
L'espece  humaine  comme  les  moyens  d'attaque,  de  fuite  ou  de 
tief«  -  -  ml  les  fonctions  caracteristiques'  des  especes  animales. 
Elles  sunt,  bien  que  capables  de  culture,  notre  nature  meme.  Mais 
cette  doctrine  est  presentee  par  prudence  sous  le  voile  du  mythe: 
nous  en  pouvons  trouver  une  autre  forme  plus  scientifique,  quoique 
malheureusement  ecourtee  et  mutilee.  vers  la  fin  de  la  periode  que 
nous  etudions:  les  fragments  de  Democrite  nous  en  fournissent  les 
ligi    -     äsentielles. 

On  ne  peut  dire  que  Democrite  partage  les  tendances  scepti- 

-  de  Protago]  Nous  savons  qu'il  les  a  combattues.      Son 
-•eine    est    un   mecanisme  cohereut  et   ce    que    nous    avons   dit 

au  debut  de  la  sürete  de  Faction  fondee  sur  la  science,  a  cer- 
tainement  repu  une  notable  confirmation  de  la  facon  dont  il  con- 
-  ience  qu'il  ramene  ä  la  connaissance  des  mouvements 
jsaires.  Nous  l'avons  indique.  Mais  ce  mecanisme  ne  l'em- 
peche  pas  d'accorder  aus  phenomenes  de  conscience,  au  monde 
moml    l'importance    qui  leur  appartient.     L'äme,  saus  etre  autre 

ici  qne  dans  les  considerations  theoriques  du  monde,  c'est  la  subjectivite  ab- 

La  formale  de   la  page  545   ne  nous  parait  pas  moins  inexacte.    La 

divergeuce   yient  de  ce  que  Zeller   prend  pour  essentiel  dans  la  technologie 

ce  que  nous  prenons  pour   accidentel,    ä  savoir   I 
Thrasymaque  et  de  Callicles. 

I:  plus  liaut  oü  Protagoras  expose  ce  que 

la  vertu  politique  doit  ä  l'daxTjoi«,  ;i  l'inui&eia  et  ä  la  8i8av^,    Cf.  le  Eragment 
Mullach:  z'jiuu;  xal  dtoxV)oeu>{  8i5acxaX(a  Selten. 

VII.  l.j 


•  >]•>  A.  Espin 

choae  qu'une  fonction  du  corps,  jouif  eo  fail  d'une  preeminence  in- 

•  pour  1<-  corps  une  sauvegarde:   ses         -  sont 

divins  comparea  ä   ceiu  du  corps.     Non-seulemenl  eile  peul  gou- 

verner  le  corps,  mais  ••ll»'  |»<-ut   se  vaincre  elle-meme,  c'est-a-dire 

mouvements  desordonnes.     <  'est  en  eile  <|in'  resident  le 

bonheur  ei  !<■  malheur*4). 

Avant    donc   de  .-••  demander   ce  qu'on    peul   attendre  de   la 
natinv.  il   laut   voir  ce  que  Fäme  peul  pour  sou  bonheur  par 
propres  ressourci  s.      Le  bonheur  depend  avanl  toul  du  calme,  de 
l'equilibre   ei   de  l'harmonie,  appovta,    qu'on   reussil 

etablir  dans  L'äme;  e1  ces  biens  sonl  assures  .1  celui  qui  sail  dis- 
cerner  les  plaisirs  des  Bens  dea  autres,  choiair  des  plaisirs  durab 
moderes  ei  honnetes,  borner  ses  desirs  au  possible  eviter  l'envie,  la 
rivalite  ei  la  haine,  les  plus  grands  fleaus  de  la  rie.  „Celui 
i|iü  se  porte  vaillammenl  au\  actiona  honnetes  ei  permisea  eprouve 
iasque  dans  son  Bommeil  an  sentimenl  de  force,  de  serenite  ei 
de  joiea,s). 

Mais  enfin  le  monde  esl  la:  qu'est-ce  que  l'arl  humain  doil 
redouter  ou  esperer  de  lui?  II  semblerail  qu'un  monde  livre  au 
hasard    dea    chocs    mecaniques  dul  pour    la    freie    creature 

entrainee  «laus  sou  tourbillon  la  source  de  froissements  oruels. 
Ou  es1  3urpri8  de  constater  que  Democrite  apprecie  cette  action 
de  la  uature  rar  l'homme  avec  une  parfaite  serenite.  Les  objets 
sonl  eo  grand  nombre  indifferente,  en  ce  sens  qu'il  depend  de  ooua 
de  tirer  de  noa  rapporta  avec  eux  dea  biena  ou  des  maux:  ainsi 
l'eau  profonde,  si  noua  y  tombons,  opus  engloutira;  mais  l'arl  de 
la  natation  ä  ete  invente  pour  la  traverser  ei  on  y  oage  mieux. 
La  pluparl  sonl  plutöl  favorables  que  auisibles;  c'esl  decidemenl 
la  faute  de  notre  aveuglemenl  ei  de  ootre  Ignorance  si  uous  ae 
savons  pas  en  tirer  parti.  Un  homme  sobre,  qui  s'observe  e1  se 
i,,.  ä  prop  presque  bjot  de  vivre  en  saute.    II  es1  vrai.  la 

fortune  esl  Lnoonsistante  dana  ses  dons,  mais  le  genie  uaturel  de 
l'homme  doil  savoir  3e  Buffire  ei  se  defendre  dea  deeeptiona 
qui  suivenl    Lee    granda  espoira   par    la   mesure  ei   la  Bolidite*  des 

Ät)  Pragm.  5,  6,  7,  75,  76,  TT. 

Fragm.  mor.  1.  2.  3,   IT.  37,  82,  20,  118. 


La  philosophie  de  l'action  au  V«  siicle  av.  J.  Ch.  213 

avantages  qu'il  poursuil  La  richesse  esl  relative  au  desir;  on 
toujours  pauvre  quand  on  souhaite  plus  qu'on  n'a  ei  riche  quand 
ou  se  contente  de  peu.  Eu  somme  „la  Fortune  es1  nn  fantome 
que  le>  hommes  on1  imagine  pour  s'excuser  de  leur  temerite,  car 
la  Fortune  oe  resiste  guere  a  la  reflexion  e1  la  pluparl  du  temps 
dana  la  vie  l'äme  avisee  ei  perspicace  atteinl  son  but".  Voilä  ane 
Philosophie  de  l'action  bien  differente  du  pessimisme  pratique  des 
theologiens:  comparez  ce  ton  joyeux  a  l'accenl  navre  des  Solon  ei 
des  Theognis:  que]  contraste!  Ein  face  des  Dieux,  L'homme  se  sentail 
menace  ei  paralyse;  en  face  de  la  nature,  fori  de  son  genie,  il  esl 
allegre  e1  plein  de  confiance  '"'). 

La  nature  esl  memo  notre  guide  dans  le  perfectionnemeul  des 
arts  par  lesquels  nous  luttons  contre  les  souffrances  ou  ameliorons 
notre  sort.  Nous  o'avons  eu  qu'ä  observer  les  animaux  pour 
trouver  a  leur  exemple  les  arts  les  plus  varies:  nous  avons  pris  le 
tissage  aux  araign  es,  la  construction  aux  hirondelles,  le  chant 
aux  cyg  -  I  aux  rossignols  ol  aiusi  de  suite;  les  animaux  savent 
s  -  igner  eux  meines  et  notre  medecine  n'esl  qu'une  Imitation  de 
la  leur.  L'ouvrier  dans  l'atelier  est  comme  Tabcille  dans  la  ruche; 
il  travaille  avec  resignation  „comme  s'il  devait  vivre  toujours". 
En  general  les  societes  animales  et  les  societes  humaines  sont  les 
efifets  d'uu  meme  principe  qui  regit  tous  les  groupements  de  choses 
ou  d'etres  similaires.  L'union  des  sexes  n"  a  rien  d'arbitraire; 
eile  resulte  d'une  loi  universelle  dans  tout  le  domaine  de  la  vie: 
de  meme  l'elevage  des  jeunes  et  l'education:  par  consequent  toute 
la  famille.  L'esclave  doil  y  etre  employe  comme  nos  organes,  a 
div<  octions.    La  societe  politique  n'esl  pas  moins  naturelle.  Elle 

implique  la  Subordination  du  faible  au  fort,  ou  au  plus  intelligent. 
Et«  ibordination  esl  an  avantage  pour  le  faible 37).    La  societe 

Fragm.  mor.  11.  12,  13,  22,  24,  26,  27,  29,  36,  15,  66,  14;  il  Faut 
i    compte  du  Fragment  89   qui  semble   indiquer  nur   moindre 
et  du  Fragment  -11   qui  insiste  sur  les  maus  de  la 
i  tle  l'homme  qu'il  borne  Bon  ambition  et  se  contente  du 

3T)  II  serail  possible  que  le  discours   de  Callicles  dans   le  Gorgias  tut 

icature  malveillante   de  la  theorie  de  Dei :ritu;   comparez  483d  avec 

L93,  484c,  d    avec  F.  m.  140  ei  1 12,  486a  a 

15* 


l'l  1 

ig  les  interets  bumains:  si  eile  se  dissout, 
la  perl  ses  meml  La  loi  est  l'instru- 

•  g  bienfaits.    La  loi  a  pour  raison  d'etre  la  o  de 

refrener  ou  «!<•  prevenir  le  desordre:  1<n  sacrifices  qu'elle  demande 
a   la  liberte   n'onl   pas  d'autre   but:    <1 1»-  ae  peui  subsister  que  si 
toyena  lui  obeissenl  ou  lui  pretenl  main  forte  volontaire 
mont.    Tous  les  citoyens  doivenl  concourir  aux  affaires  publiques. 
I»u   reste  les  bommes  bien   nes  onl   un   respecl   ei   an  amour  na- 
turel   pour  la   vertu;    malgre  la  difference  des  goüts,   la  jus 
la  verite  sonl   assureea  de  leurs  bommages.     I     •         qui  fall  que 
lea  bommea  des  divera  pays  s'accordenl  sans  peine:  le  monde  entier 
esl    la  patrie  d'une  äme  bien  faite,    ••!  il  faudrail  que  partoui  !<•> 
scelerats  fussenl  poursuivis  e1  mia  ä  mort  comme  les  betes  Pen 
et  les  Berpents18). 

D'oü   \i>'nt   donc  ce  merveilleux  accord  de  l'Arl  bumain  ai 
l'ensenible  des  chosea  sur    lesquelles    il  s'exera  \    \  quelle   cause 
attribuer  ce   bon   naturel  de  l'homme  <'t   de  tous  les  etres  doues 
d'äme  comme  lui?  Commenl  se  fait-il  que  !<•  basard,  non  -lui 

qui  exclul  les  causes  determinantes,  mais  celui  du  moins  qui  aurail 
le  droil  <!<•  rester  Indifferent  aux  interets  des  etres  vivants  ei  con- 
scients,  conspire  en  quelque  sorte  avec  la  providence  bumaine  pour 
le  bonheur  des  Individus  ei  le  maintien  des  cites?  C'esl  que  i. 
a  pris  dans  la  philosophie  de  Democrite  un  sens  nouveau;  sans 
Ber  d'etre  regie  dans  ses  phenomenes  elementaires  par  des  lois 
mecaniques,  la  mauere  selon  lui  s'esl  degagee  ä  un  certain  momenl 
elf  la  rencontre  tumultueuse  des  atomes  pour  adopter  une  marche 
plus  reguliere  e1  plus  definie,  et  c'esl  ainsi  que  les  etres  vivants  on1 
vulejour,  avec  leurs  tendances  determinees  qu'on  retrouve  jusque 
dans  leurs  germes,  „car  <!<'  tri  germe  nail  un  olivier,  «le  t.'l  autre 


201,  218,  214.    * I •  1> — t  ro  äp^eiv  oix^'i'ov  nji  »  f.  KM,  Berail  le  centre  des 

attaquea  de  Piaton.     Democrite  Berail  um'  pierre  de  toucbi  186d, 

pour  l;t  pens4e  <i'-  Piaton,  parce  que  c'esl  dan  que  la  doctrine 

politique  et  morale  naturalis!  ouverail  le  plus  completement  exposeV    La 

rencontre   d'un   tel  exp  ai1   en   effel   pour  le   philosopbe   metaphysicien 

sincere  um'  ve*ritable  trom  S,  e. 

Plutarque:    !»<•  L'habilete*  des  animaux  974,  b  el  fragm.  mor.,  de 
crite  IM.  210,  212,  189,  193,  196,  197,  226,  238,  225,  Ml.  S 


La  philosophie  de  l'action  au  \  ••  siecle  av.  J.  Ch.  215 

im  homme"'9).  C'esl  cette  oature  qui  travaille  au  sein  des  or 
uismes  pour  les  douei  des  appareils  oecessaires  ä  la  vie.  C'esl 
eile  qui  forme  les  societes  animales  ei  qui  donne  aux  hommes  leurs 
instincts  bienfaisants.  II  o'esl  donc  paa  surprenanl  que  la  vo- 
lonte ei  la  pensee  de  rhomme,  que  la  culture  ei  l'arl  soienl  d'ac- 
cord  avec  cette  oature  quand  Us  entreul  en  commerce  avec  eile! 
II  \  a  entre  les  deux  principes  one  parente:  „La  oature  ei  la  cul- 
ture sonl  bien  pres  l'une  de  l'autre,  car  la  culture  iotroduil  l'ordre 
dana  l'humanite,  e1  en  y  mettanl  l'ordre,  eile  y  continue  l'oBuvre 
de  la  oature."  II  ©uois  xcu  r,  StSa^-J]  TCapairX^oiov  iati,  xai  7/0  ri 
5i8aj(l  fiexa^pu&u.ot  r;>v  av&pcoicov,  fieTo$po{)[j.ouaa  8s  tpuaiOTtoisei4  ). 

Mais  en  substituanl  ainsi  au  mouvement  Lmpose  le  libre  con- 
cours,  Democrite  depasse  l'horizon  de  son  siecle  e1  de  son  groupe: 
il  annonce  une  oouvelle  philosophie  pratique.  Les  individus  re- 
trouvenl  dans  sa  conceptiou  de  la  politique  et  de  la  morale  le  Eovov 
d'Heraclite:  c'esl  le  centre  moral  autour  duquel  ils  gravitent,  c'esl 
l'interei  collectif  de  la  famille  ei  de  la  cite.  Dans  le  toul  oature! 
qu'ils  forment  ainsi,  la  persuasion  »'1  l'affection  les  tienneni  assem- 
bles,  non  la  force  et  la  crainte  seules.  L'education  n'a  seule  le 
pouvoir  de  former  a  la  vertu  que  parce  qu'elle  persuade  et  deter- 
mine  les  hommes  ä  agir  selon  le  devoir  en  secret  conimc  en  pu- 
bb'c;  ei  encore  son  succes  suppose  la  bonne  volonte  initiale  de 
l'enfant  La  crainte  engendre  la  flatterie:  eile  ne  saurait  creer 
l'affection.    Ce  qui  la  foude,  c'est  l'accord  des  interets  et  des  i<l 

si    l'abstention   de  reproches    inutiles,    c'est  la  renonciation  aux 

rivalites  et  aux  lüttes,    c'est  la  generosite  accompagnee  de  delica- 

-1  la  pitie,   c'esl  l'indulgence,  c'est  en  un  mot  l'affection 

meme:  il  faut  aimer  si  l'on  veul  etre  aime.    L'homme  ne  sc  juge 

si  olemenl    par  ses  oeuvres:    il  laut  tenir  compte  de  ses  inten- 

39)  Un  fragm.  d'Epicharme  (556 — 160)  attribuail  ä  la   nature  l'instincl  de 
la  poule  qui  couve  les  oeufs  ipioique  eu  appareuce  inanimes:  „la  aature  seule 

rvoyance;  cas  c'esl   eile  qui  instruil  L'oiseau."     II 

1  la  one  trace  de  l'influence  Pythagoricienne.    .Mais  I » 'inocrite  est  il  abso- 

1  u  1 :  ette  influence?    Les  termes  employes  par  lui  pour  exprimer 

le  calme  de  l'äme  (voir  plus  baut)  sonl  Pythagoriciens:  il  en  esl  de  meme  de 

I  l'ordre  d'idees  que  nous  parcourons. 

Physique  I96,a,  24.    Dimocrite  fragm.  mor.  133. 


216  A-    '-": 

tions,  de  ra  volonte,  <!•  tte  opjA^  rcpo?  •i/./.r,- 

vertu.    La  conspiration  des  volonl  - 
voilä  le  vrai  fondement  de  la  et  da  bonheur  public  auquel 

lie  Le  bonhenr  individuel.     Si   a  rmule  n'est  pas  de  D 

.    tel    est    incontestablemenl    L'esprit   des  fragments  de  - 
ouvragi  z  uombreux   qui   qous  onl  -  sur  la  |">li- 

üque  ei  la  morale41).  Tont  cela  \;i  plus  loin  et  plus  avant  dam 
l'etude  de  ootre  oature  pratique  que  la  Technologie  de  rinstnunenl 

Classification  des  arts.  Lee  termes  Platoniciens  dont  qous 
oous  sommes  servi  pour  distinguer  Part  <1«'  la  oature  laissent  croire 
que  les  sophistes,  tout  en  distinguant  le  delibere  de  l'indelibere,  la 
reflexion  de  la  necessite,  ne  faisaient  pas  plus  que  Piaton  la  di- 
stinction  indispensable  entre  la  volonte  et  l'intelligence.  M;ti> 
LI  est  rapp  ser  que  -i  nous  possedions  leurs  ouvrages,  uous  j 
trouverions  au  moins  L'ebauche  d'une  theorie  <l«'  la  volonte.  La 
question  de  l'independance  de  la  volonte  par  rapport  ä  L'intelligence 
etait  frequemmenl  agitee  et  on  se  demandail  dans  les  milieux 
philosophiques  au  temps  de  Socrate  commenl  La  p  vraie  pou- 

vail   laisser  place  ä  une  conduite  mauvaise,  ou  une  conduite  - 

^ister  avec  l'erreur").    L'opinion  dominante  etait  que  la  clarte 
<lr  In  connaissance  peut  etre  tenue  en  ecb.ec  par  des  Forces  etran- 

ss  residant  dans  l'äme  meme  „tantöt  la  colere,  tantöt  I«'  plaisir, 
tantöt  la  douleur,  quelquefois  l'amour,  souvent  La  crainte",  et 

forces  avaient,  comnu le  voit,  La  plus  grande  affinite*  avec  Le  vou- 

l«>ii-*3).  „Le  plus  grand  oombre,  Lisons-nous  dans  le  Protagoras44), 
n'est  pas  en  cela  de  ton  avis  ni  du  mien,  que  la  science  esl  bou- 
veraine  dans  les  ämes  et  ils  disent  que  beaucoup  de  gens,  connais- 
sanl    le  meilleur,    ue  Le  veulent    pas  faire,    quoique  cela  soit  en 


•")  Fragm.  i '.  240  „Dans  le  poisson  commun  (collectif)  ;•->•«•}.  il  n'y  a  pas 

d'ai  fragm.  92.    Poui  l'ensemble  des   idees  i 

dans  ['ordre  adopt^  ici,    les  fragm.  135  (tres  important)    150,  235,   152,    153, 
146,  117.   160,  167,  243  11'.'.   161,  171,   1.  241. 

on,  dialogu  i       phon .    Cyro  pid  i  e 

l,iv.  III    eh.  I    „Tu  pretends  donc  que   la  esl  une  affection  de  l'ame 

comme  la  douleur,  el  qod  une  science  acquise?"  etc. 
|  Prota  b. 

152  d. 


La  philosophie  de  l'action  au  V»  siecle  av.  J.  Ch.  217 

leur  pouvoir,  ei  fonl  toul  autre  chose."  Le  mol  i^i'f.z'y  es!  Lei 
entoure  d'expressions  qui  en  soulignenl  I«-  sens.  Protagoras,  dil 
Piaton,  n'etail  pas  de  l'avis  de  la  majorite  des  philosophes  (des 
sophistes  tres  probablement)  qui  soutenaienl  cette  these  de  I  inde- 
pendance  du  vouloir.  Mais  son  intellectualisme  souffrail  mainte 
attenuation.  II  expliquail  l'echec  des  meilleurs  rnaitres  en  fail  de 
vertu  par  le  defaul  d'aptitudes  natives  chez  leurs  disciples:  les 
enfants  des  meilleura  joueurs  de  flute  ne  profitenl  de  meme  des 
lecons  de  leurs  peres  que  s'ils  sonl  bien  doues.  Premiere  condition 
du  succes  dans  l'art*5).  Nous  avons  vu  quo  le  futur  praticien  en 
quelque  arl  que  ce  soit,  la  morale  comprise3  doil  apporter  ä  l'etude 
um-  perseverante  application,  qu'il  lui  faut,  pour  reussir,  des  exer- 
cices  prolonges,  que  l'eflfort,  par  consequent,  ei  le  temps  ou  l'habi- 
tnde  doivent  se  joindre  ä  l'intelligence  instantanee  des  notions 
fcheoriques.  S  mde  e1  troisieme  conditions  de  succes46).  II  semble 
donc  que  le  groupe  des  facultes  pratiques  ai1  commence  des  la 
periode  premiere  de  la  sophistique  ä  se  degager  et  a  si  distinguer 
de  l'ensemble  des  fonetions  mentales.  Prodicus  allait  meme  jusqu'ä 
distinguer  la  volonte  du  desir").  Democrite  enfin  insistait  sur  le  role 
des  dispositions  naturelles  eultivees  par  l'education  qu'il  opposail 
a  l'action  du  temps  et  ä  la  pretendue  souverainete  de  la  connais- 
sance  abstraite.  .,11  y  a,  disait  il,  des  jeunes  gens  sages  et  des 
vieillards  depourvus  de  sens;  ce  n'est  pas  le  temps  qui  enseigne 
la  prudence,  c'esl  l'education  donnee  a  son  heure  et  l'aptitude  na- 
turelle." Et  ailleurs:  „Beaucoup  de  gens  munis  de  connaissances 
multiples  sonl  deraisonnables"  —  „Xe  vise  pas  ä  tout  savoir  de 
r  de  tout  ignorer  „ — "  C'est  ä  avoir  des  aptitudes  multiples 
aon  des  connaissances  multiples  qu'il  faut  travailler."  —  „La  vertu 
n'esl  pas  dans  les  paroles,  mais  dans  l'action."  —  „Le;  hommes 
d'un  heureux  naturel  connaisseut  le  bien  (sans  etude)  et  y  ten- 
denl  spontanement48)."  Toutes  ces  indications  prennent  un  sens 
plus  oel  >i  un   les  groupe  autour  de  l'assertion  significative  d'Ari- 


4S)  Protagoraa  327,  a. 

(Jialugiic  .)  K >,  ;i  ßoüXeaftat  xai  en'.ibwilv  otatpei;  tu;  oj  toüt< 
.    140,    il-.-.   in.  99,   in:;.    KU.  226. 


A    Bspin  . 

:    >|u-  mait  dans  l'ame  dem   fonctions,  la 

fonction  m<  et  la  1  et  que  la  fonction  motrice 

sa  fon<  .    I.'.-u!  iparail  donc  pas  seule- 

menl   de  la  oature;    il   tendail  a  parer  de  la  seien ce;    maia 

Separation  n'etail  pas  | 

Quelques  Bophistes  avaient   une  predilection   pour  ies  seien 
distingnaienl  par   lä  des  autres   maitres  en  vogue   qui   p 
ttaienl  surtoul  d'armer  leura  disciplea  pour  la  vi«     S  ayanl 

presente  an  eleve  (Hipp  ä  Protagoras,  celui-ci  sl  Piaton 

qui  mel   la  cl  a   scene  —  raille  a  cette  d   Bippias  de 

methode.  „Hippocrate,  dil  il.  n'eprouvera  poinl  en  s'adreasanl 
<•«•  qui  lui  serail  arrive  s'il  3'etail  attache  a  toul  autre 
Lea  autres  abusenl  des  jeunea  lvu~.  Quelque  aversion 
que  ceuxci  temoignenl  pour  lea  sciences,  il  lea  j  jettenl  malgre  eux, 
leur  apprenanl  le  calcul,  rastronomie,  1-'  geometrie  e1  In  musique 
(od  disanl  ces  mots,  il  jetait  lea  yeux  snr  Bippias);  au  lieu 
qu'Hippocrate  u'apprendra  ä  mon  ecole  que  oe  qu'il  vienl  j 
apprendre  .  .'"')"  ä  savoir  l'arl  de  gouverner  sa  maisoo  >'t  celui 
de  parier  «'t  d'agii  pour  lea  interets  de  l'Etat.  Noua  avons  'lit 
sciences:  >'t  c'esl  bien  de  sciences  qu'i]  s'agit.  Piaton  ecril  -iy 
ce  mol  a  donc  voulu  dire  au  dela  meme  du  V  siecle  a  la  fois 
action  methodique  e1  science.  La  distinetion  ne  s'aehevera  qu'avec 
Aristote. 

A  cote  ilc  ce  groupe  des  quatre  te<  hniquea  plus  propremenl 
spekulatives  qui  parail  avoir  ete  constitue  par  les  Pythagoriciens 
et  formera  plua  tard  le  quadrivium,  se  placenl  la  grammaire,  la 


49)  De  l'ame,   103,  b,  29. 

**)  Les  mots  Ixobatoz,   dxoüato;,    -  i).vjtiipiii    se  trouvenl   pour  la 

liere  t"i-  dans  les  oeuvres  '!«•  Democrite  :i\<-'-   un  Bens  psychologique  in- 
contestable.    „Les  travaua  volontaires  Ixoüatoi  itdvoi  aous  fonl  suppoii 
facilemenl  les  travatu  force*8  it  I  uous  en  dalassend  fr.  86,  B7.    L'e'du- 

cation   ne   rdussit   qu'avec  'I'--    enfants  capables   d'eßbrts   spontanes  fexouc 

tiv  fr.  2  £Eooafr]v  fr.  196.     Le   parier   franc   est   le  - 

de  la  liberl  fr.  124.  ci  fr.  ü»7:  8tav  od  u,  s'ils  com 

ulenl  \! 
l'.'i.ut  du  l'rni.  Dans  le  pr.  Hippias  la  m£me  divi- 

sion 


La  philosophie  de  l'action  au  N  J.  Ch.  219 

rhctorique    et     l'histoire,    melange    de   Bciences   ei    de   pratiqu 
Mais  l'education,    la    morale   ei   la    politique,    encore   confondu 

apenl  au  dessus  de  cea  dein  groupes  iine  place  preponderante. 
On   a   vu   que    d'apres    le    mythe    du    Protagoras   la    politique 
jusqu'au  demier  momenl  de  la  genese  des  societes  renfermee  chez 
Jupiter.     I-;i  maniere  donl  les  Sophistes  ei   Democrite  parlenl   i 
affaires    publiques    montre    assez    la    dignite    exceptionnelle    qu'ils 

ordenl  a  l'arl  correspondanl  .  .  Parmi  les  autres  arts  la   mede- 
cine   parait  emprunter   quelque    lustre  ä  la   comparaison    faite    si 
tre  eile  ei  la  politique  ou  la  morale.    Protagoras  dil  que 
la  politique  esl    la   therapeutique  des  cites")  et  Democrite  que  la 
si   la  medecine  de  l'äme").     Nous   verrons  ces  comparai- 
Bons  -       »ntinuei  -  affinites  se  soutenir  dans  la  periode  alte- 

rieure.  Quanl  aux  arts  manuels,  ils  formenl  un  groupe  plus 
humble*4).  Mais  i]  ne  faul  par  oublier  quo  depuis  la  politique 
jusqu'ä  l'agriculture  ei  la  cordonnerie,  bien  que  l'ordre  <le  ces  ele- 

ats  ne  soil  pas  encore  determine,   tous  les  arts  sont  consideres 

comme   formant    un   tout,   comme  appartenant  ä  la  meme  famille 

et   comme  soumis  aux  memes  conditions  generales.     L'unite  de  la 

-i/yrt    dan-   son    ensemble    n'esl    pas    douteuse.      D'une    part    les 

relevenl    les   arts  manuels    en   se   glorifiant  d'en    parier 

rtinemment  et  meine  d'y  reussir.  Hippias  se  presente  ä  Olympie 
•  un  costume  dont  toutes  les  pieces  sont  faites  de  sa  main  et 
Protagoras  invente  an  coussinel  pour  les  portefaix.  D'autre  part 
ils  sentenl  que  l'arl  de  se  conduire  et  de  conduire  les  autres  est 
un  art  au  meme  titre  que  la  navigation  et  l'agriculture,  c'est  a 
dire  qu'il  sert  comme  les  autres  a  assurer  le  salut  de  la  race 
humaine.    Les  p  mtemporains  ne  manquent  pas  de  les  men- 

tionner  tous  ensemble,  lüen  que  dans  un  ordre  incertain.  Et  le 
bumain,  lai'que  de  ces  conceptions  est  accentin''  par  leur 
Opposition  finale  avec  des  doctrines  de  plus  en  plus  repandues 
<pii  montraienl  le  principe  de  l'activite  humaine  dans  l'existence 
<fun   Dien- Pro videni  celle  d'une    äme  separee    du  corps,    et 

•    l  166,  a. 

l  i    ...  mor.  • 
150,  b. 


•j-ji  i  A.  Es| 

j'hii.-aifiit   l'interel    de  la    vie   presente   dans   la   preparation   d'une 
vie  olterieure.    Tandis  que  lea  doctrines  qu'il  nous  reste  ä  exp 
scindenl    les    affaires    humalni  lea    a<  tea    humains    en    dem 

•u\  <jui  assurenl  le  bien-etre  tempore]  ei  ceux  qui  assu- 

renf  l«-  I beur  veritable,  fonde  stur  le  commerce  avec  des  realites 

transceudantes,  lea  doctrines  oaturalistes  impliquenl  formellemenl 
l'unite  de  la  pratiqae  orientee  vers  des  avantages  concrets,  com- 
pris  'laus  l'horizon  de  cette  vie.  „C'esl  nur  folie  que  de  oe  pas 
rejouir  de  la  vie.a  —  „Si  le  corpa  faisail  bod  proces  a  l'äme 
pour  le  mal  qu'elle  lui  fait,  il  aurail  gain  de  cause.0  „Quelques 
hommes,  ignoranl  la  dissolution  finale  de  uotre  oature  mortelle, 
il  q'j  :i  d'eternel  que  les  aton  -  des  Fautes 

commises  par  eux  au  cours  de  la  vie,  assombrissenl  chacuu  de 
leurs  jours  par  de  miserables  angoisses;  c'esl  qu'ils  se  forgenl  des 
idces  mensongeres  sur  le  temps  qui  doil  Buivre  leur  mort.a  Ainsi 
parle  Democrite '*).  A  moins  que  nous  ue  uous  trompions  de  toul 
au  toul  sur  La  Bignilic;itiun  de  ce»  j • .- 1 ^ - .  _■  - .  qous  sommes  ici  eu 
presence  d'un  uaturalisme  pratique  arrive  ä  la  pleine  conscience 
de  Lui-meme. 

Passe  e1  avenir  des  arts:  Tous  sortenl  de  la  meme  souche, 
ils  onl  pour  bul  de  satisfaire  aus  besoins  de  l'homme.  On  com- 
mence  ä  comprendre  que  loin  d'avoir  ete  donnes  ä  l'etat  d'acheve- 
ment,  il-  onl  ete  commc  L'avail  dil  Kenophane  une  penible  ei  lente 
conquete  de  l'homme  sur  la  uature  ei  sur  lui-meme.  Critias  dans 
sod  Sisyphe  fail  allusion  ä  im  6ta1  primitif,  abjecl  de  L'hnmanite 
ei  le  mythe  de  Protagoras,  confirme  parplusieurs  mythes  de  Piaton, 
temoigne  dans  le  meme  sens.  Les  sophistes  on1  conscience  des 
progres  accomplis  depuis  ces  lointaines  origines:  ils  se  aentenl 
entrainea  dans  la  meme  evolutiou  que  l'univers:  im  passage  lto- 
□ique  de   Platou   dous   l'apprend.      Hippias   raconte  que  s'il  n'esl 


")  Pragm.  mor.  51,  23,   11!».    —    Chez   les  philosophea  d(  mps 

arts  oe  Bonl  null.-  pari  distingues  des  arts  atiles. 
II  esl  ä  remarquer  que  cette  confusioa  n'esl  pas  faite  par  les  |  dans  les 

äuumeYations  d'arts  qu'ils  dous  onl  laissdes.     Od  oe  la  rencontre   ni  dans  le 

Suppliant«  iripide   au   vera  199,  ni  dans   celui 

d'  \  n  i  igone  que  dous  donnerons  toul  ä  l'heui 


La  philosophie  de  L'action  au  V"  siecle  av.  J»  Ch.  221 

pas  venu  depuis  longtemps  a  Athenes,  c'esl  qu'il  a  ete  depute  par 
l'Elide  cii  differentes  villes  pour  des  missions  politiques  Lmportantes. 
Socrate  lui  dit:  „Voilä  ce  que  c'est,  Hippias,  d'etre  an  bomine 
vraimenl  sage  ei  accompli,  car  d'abord  tu  es  en  etat,  comme 
bomme  prive,  de  procurer  aux  jeunes  gens  des  avantages  bien 
autremenl  precieux  que  l'argenl  qu'ils  te  donnenl  en  grande 
quantite,  et  ensuite  tu  peux  rendre  ä  ta  patrie,  comme  citoyen, 
de  ces  Services  capables  non  seulemenl  de  mettre  im  homme  au 
dessus  «In  mepris,  mais  de  lui  acquerir  de  la  renommee.  Mais,  dis- 
moi,  quelle  peuf  etre  la  cause  pour  laquelle  les  anciens  donl  les 
ooms  son<  >i  celebres  pour  leur  sagesse,  im  Pittacus,  un  Bias,  im 
Thaies  de  Milel  ei  ceux  qui  sonl  venus  depuis  jusqu'ä  Anaxagoras, 

-  sonl  tous  "ii  presque  tous  ölöio;m's  dos  allaiivs  publiques?  — 
Quelle  autre  raison,  Socrate,  penses-tu  qu'on  puisse  alleguer,  si  ce 
n'esl  leur  unpuissance  ä  embrasser  ä  la  fois  les  affaires  de  l'Etal 
ei  celles  des  particuliers?  —  Quoi  donc!  au  nom  de  Jupiter,  est- 
ce  que  comme  les  autres  arts  so  sont  perfectionnes  et  que  los 
ouvriers  du  temps  passe  sont  bien  chetifs  aupres  de  ceux  d'aujour- 
d'hui,  nous  dirons  aussi  que  votre  art,  a  vous  autres  sophistes,  a 
lair  les  memes  progres  et  que  ceux  des  anciens  qui  s'appliquaient 
ä  I  -  3  ss  a'etaient  rien  en  comparaison  de  vous?  —  Rien  n'esl 
plus  vrai.  —  Ainsi,  Hippias.  si  Bias  revenait  maintenant  au  monde, 
il  paraitrait  ridicule  aupres  de  vous,  ä  peu  pres  comme  los  sculp- 
teurs  dix'iit  que  Dedale  se  ferait  moquer,  si  de  nos  jours  il  faisail 
des  ouvrages  tels  que  ceux   qui  lui  ont  acquis  toute  sa  celebrite? 

—  Au  fond,  Socrate,  la  chose  est  comme  tu  dis;  cependant  j'ai 
coutume  de  louer  les  anciens  et  nos  devanciers  plus  que  les  sages 
de  ce  temps,  car  si  je  suis  en  garde  contre  la  Jalousie  dos  vivants, 
je  redoute  aussi  la  colere  des  morts56)." 

Nous  touchons  Ici  une  dos  raisons  qui  ont  empeche  les  pMlo- 
Bophes  naturalistes  de  montrer  a  ciel  ouvert  leur  legitime  orgueil 
pour  les  progres  recemment  aecomplis  et  une  foi  plus  ferme  dans 
l'avenir*7).      Une  partie  de  Popinion  etail   deja  persuadee   que  le 

l'r.  Eippias  281,6. 

:'  dit,  il  est  vrai,  au  fragmenl  205,  que  dans  l'etal  actuel  i 

...   xarcorecüTi  y->~;>-<i  ■    les  chefs   des   Etats   peuvenl   difficilen 


222  ^  Espina 

1 » 1 1 *  u  etail    1«'   plus   parfait;   et  deprecier   le   passe  eüi  parn 

un  sacrili  -  une  bardiesse   qae   de  dire  que  les  lois 

religiös  -  produits  r  de  l'arl  <'t  des  contrats. 

Piaton  tera  dans  les  Lois  contre  S    l'on  admettail 

\"l  que  les  astres  ei  la  oature  inanim         montaienl  ä  l'<>ri- 

-t  parce  qu'on    les   regardail  comme  divins 
qu'oa   croyail   la  des   dieux   >•!   celle   da   monde   contempo- 

raines.     Quand  on  entendil  dire  nettemenl   que  la  matiere  brüte 
i  anterieure  ä  la  pensee  ei  que  l'arl  etail   posterieur  a  la  na- 
ture,  bien  des  esprits  en  fiirenl  troubles;  "ii  o'eül  pu  in-  saus 

peril  sur  l'idee  que  la  perfection  devail  trouver  place  a  la  liu  des 
temps,  bien  que  l'idee  contraire  u'ait   pas  encore  decidemenl   | 
valu.    Mais  il«'  plus  l'idee  d'une  accumulation  graduelle  <-t  necessaire 

Qnaissances  au  cours  <!<•  Devolution  sociale  ae  ß'etail  encore 
formulee  'lau-  l'espril   de  personne  '-t  qu]  n'avait,  meme  dans 
pensee,  affirme  de  l'avenir  ce  progres  auquel  on  croyail  tacitemenl 
pour  le  passe.     On  u'en  avail  pas  une  experience  assez  ancieune. 
El  puis  im  nc  voyail  autour  de  soi  aucune  d<  grands  ei  ine- 

branlables  etablissements  politiques  qui   fonl  croire  a   leur  <  t <  in ir . • 
.•1  a  l'eternite  de   l'oeuvre  bumaine  qui  se  poursuil  a  leur  "in1 
On  etail  seulemenl  beureux  du  presenl   e1  tres  satisfail  'I.-  penser 
que  c'etail  au  genie  bumain  qu'on  devail  toul  cela.    Les  poetes  dra- 
matiques  dn  siecle  onl  celebre  la  civilisation  grecqu  -  bienfaits 

en  termes  qui  prouvenl  combien  peu  les  doctrines  que  dous  venons 
d'analyser  etaienl  des  curiosites  d'ecole  etrangeres  au  public:  voici 
que  ilit  le  choeur  dans  rAuti^une  de  Sophocle;  dous  termine- 
rons  par  la:  „Le  monde  esl  plein  de  merveilles  <•(  la  plus  grande 
de  cea  merveilles,  c'esl  l'homme.  II  franchil  la  mer  ecumante 
et,  pousse  par  les  venl  jeux,   il  a'ouvre  un  chemin  a  travers 

les  \a'_ru<'>  qui  mugissent.    La  terre,  la  plus  venerable  <lrs  divinil 
la  terre   incorruptible,  infatigable,   il  la   fouille   d'annee  en  annee 
avec  les  socs   recourbes;  c'esl    le  cheval  qui  creuse  le  sillon.     La 


r  de  toute  injustice  ei  qu'il   taut  installer  un  ordre  de   cboses  non- 
i  un  I'-  justi  contre  toutes  !<■-  attaques,  poun  fidele  il 

prin  da lation  du  prdsenl  i  espoir  dana   l'avenir 

ml  pas,  ä  propremenl  parier,  une  thjorie  du  progres. 


La  philosopbie  de  l'action  au  V«  Biecle  av.  J.  Ch.  223 

race  etourdie  des  oiseaux,  [es  betes  feroces,  lea  especes  maritimes, 
il  les  chasse  ei  les  enferme  dans  des  Gilets,  cel  homme  avise!  II  a 
des  ruses  pour  s'emparer  dans  les  montagnes  de  leurs  habitants 
sauvages:  le  cheval  ä  la  belle  criniere  qu'il  plie  au  joug  et  le 
taureau  indompte.  II  s'esl  forme  a  la  parole,  a  la  peiisee  au 
rapide  que  le  vent,  aus  decisions  regulatrices  des  cites  ei  il  sail 
preserver  sa  demeure  de  l'atteinte  importune  de  la  pluie  et  <lu 
froid.  Fecond  eu  ressources  de  toul  genre,  il  va  saus  trouble  vers 
l'avenir.  II  y  a  une  chose  qu'il  ae  peul  eviter,  l'Hades,  mais  du 
in. miis  il  a  trouve  l'art  de  conjurer  les  maladies58)." 


"    Antig   □  .  vers  332-  363. 


VIII. 

Sur  La  Compositum  de  La  Physique  d'Aristote. 

Paul  Tanner}       Paris. 

1.  Je  desirerais  appeler  ['attention  sur  ane  difference  de  ter- 
minologie,  qui  n'esl  pas  sans  importance,  entre  lea  livres  III  el  V 
de  la  Physique  d'Aristote. 

Au  livre  V.  eh.  1  ei  2.  la  ootion  la  plus  generale  du  chan- 
gemenl  esl  « 1  *  - — I  i_i  1 1  *  *-  < '  par  L'expression  [iSTaßoXij  transition).  Le 
concepl  n'en  esl  pas  il<:lini.  mais  il  es1  explique  qu'i]  peul  y  avoir 
trois  sortes  de  transitions:  celle  d'ua  etal  oegatif  ä  im  « •  t : 1 1  positif 
(ex  ■/ri  uiroxeipivou  i;:  &irox£i[isvov),  qui  esl   la  ;  la  transition 

inverse,  qui  esl  la  cpöopa;  enfin  la  transition  d'un  etal  positif  .1 
im  autre  Hut  positif  (i:  uTtoxeijiivou  :■':  u7toxeijjL6vov),  qui  esl  la 
xivrjatc  Le  devenir  ei  le  cesser  (yeviais  ei  ipÖopa"  8on1  ainsi  nette- 
menl  distingues  des  mutations  (xtv^oei?)  ei  il  esl  specialemenl  nie 
qu'ellea  rentrenl  sous  cette  derniere  appellation,  car  elles  concer- 
oenl  la  categorie  de  l'oöcfa.  Les  mutations  se  rapportenl  an  oon- 
traire  aus  trois  categories   du  itotov,  du  irocrov  ei  du  tötco?;    de  la 

la  triple  distineti le   la  mutation   en   qualite  (dMoiWi?,  modifi- 

cation),  eu  quantite  (aureus  e1  ipdiaic,  accroissemenl  ei  de'croiss 
ment),   en    lieu    (translation,    ^opa,    mol    auquel   Axistote   ddclare 
attribuer  an  sens  g^neral  qu'il  n'avail  pas  ••innre  dans  le  lang: 
de  son  temps,  \ .  2,  226b,  33). 

Au   livre  III.  eh.   1  e1  2,    le  concepl   general  du  changemenl 

esl  designe"  par  !<■  terme  de  >  celui  de  fwtoßoX^  esl  employe 

ondairement  comme  synonyme  exaet     Ce  concepl   gön^ral   ro- 


Sur  la  l  tion  de  la  Physique  d'Aristote.  225 

coit  sa  celebre  definition:  la  realisation  du  possible  (/,  toö  Sova'fxei 
ovxos  IvteXe^eio,  (j  rotootov).  Comme  especes  differentes  de  la  xt- 
vr(7u-.  sonl  » l  i » t  i  1 1  u  1 1  <  - « ■- :  l'dXXouucric,  l'aufcTjais  e1  la  cpdiats,  la  •,  .'- 
ei  la  tp&opa,  enfin  la  tpopct  (mol  introduil  sans  remarque  particu- 
liere  ei  comme  d'un  usage  courant).  Aristote  ne  voit,  cette  fois, 
aacune  difficulte  ä  parier  de  xivtjcis  selon  le  t68s  ti,  c'esl  ä  dire 
selon  L'essence. 

La  difference  des  deux  points  de  vue  ressorl  oettemenl  si  l'on 
compare  lea  dernieres  lignes  de  Phys.  III.  2.  ou  il  esl  parle  de 
/"./:•:.  lorsque  rhomme  en  acte  l'ait  an  homme  de  ce  qui  ue  l'esl 
qu'en  puissance,  avec  V,  1.  225b.  15  oii  lc  passage  du  nou-blanc 
an  blanc  esl  qualifie  de  yheais  du  blanc  et  ainsi,  ä  prendre  les 
choses  ä  la  lettre,  exclu  du  concepl  general  de  la  xtvrjcris  et  par 
suite  du  concepl   particulier  de  l'dXXoi'axxis. 

2.  Dira-t-on  qu'Aristote,  apres  avoir.  de  prime  abord,  dans 
la  redaction  de  sa  Physique,  confondu  les  teraies  de  xivtjgis  et  de 
[ietoßoX^,  aura  voulu,  en  poursuivant  son  ouvrage,  les  distinguer 
par  ane  analyse  plus  profonde?  J'estirne  au  coutrairc  qu'il  y  a 
en  dans  sa  doctrine  (et  non  seulement  daus  sa  terminologie),  une 
lutiou  sensible,  mais  qu'elle  s'est  produite  dans  le  seus  Lnverse 
de  celui  qu'indique  l'ordre  apparenl  de  ses  livres,  je  veux  dire  qu'- 
Aristote  esl  passe,  au  beut  ^\\\\  laps  de  temps  peut-etre  conside- 
rable,  du  point  de  vue  du  livreV  a  celui  du  livre  III. 

Si  les  deraiers  chapitres  du  livre  XI  de  la  Metapbysique  pou- 
v.nt  etre  consideres  comme  representant  une  premiere  redaction 
de  Phys.  III.  1.  2.  4.  V,  1,  2,  3,  je  n'ai  pas  ä  rechercher  un  ar- 
gumenl  plus  decisif;  car  il  est  precisement  tres  remarquable  que 
dans  cette  redaction,  le  point  de  vue  soit  exaetement  celui  du  livre 
\  .  1 1 *  la  Physique;  qnoique  le  chapitre  Metaph.  XI,  9  (=  Phys. 
III.  1.  •_',.  contienne  dejä  le  definition  de  la  xtvr^ais  comme  reali- 
Bfttion  du  possible,  on  n'y  tronve  aneun  des  develuppenients  qui, 
dans  la  Physique,  fonl  expressement  rentier  sous  cette  definition 
le  changement  d'essence,  la  liv&avz  et  la  cpöopa.  A  cette  date,  la 
pensee  d'Aristote  esl  donc  encore  arretee  dans  sa  marche  logique; 
eile  se  trouve  entravee  par  des  distinetions  qu'il  a  precedemment 
admises  <'t  auxquelles  il  lui  repugne  encore  de  renoncer. 


q]  Tanne' 

Mi  -.  -  fourni  pai  iction  pri- 

mitive, il  vue  du  livre  III 

[ue  que  celui  da  livre  V 
ud  progrcs  philosophique  ü  stable. 

distinction  du  livre  \  la  xivi; 

puremenl  logique  ei  w  icune  realite  effe<  eile 

par  la    consideration    des    cal  ei    n<-  s'ada] 

Dullemenl  aux  conceptions  devel  Phys.  I    sur   les   principes 

de  la  oature,  la  matiere  ei  la  forme.     La  trän«  tei- 

i  l'uirox  .    concevable    dialectiquement,  ible 

physiquement,  car  il  y  a  toujoura  un  urcox«  .  une  mati 

meme  toujoura  une  matiere  ayant  deja  forme.  Le  germe  qui  de- 
vient  plante  change  continüment,  par  modification,  accroissemenl 
ei  mouvements  locaux;  peut-ou  saisir  ud  momenl  precis,  une  trans- 
formatioD   instantanee,  ;  i  j  >  1- » *  ^  laquelle   l'eföoc,    auparavanl  absei 

desormais   presente?     Quel   mi  tii    scientifique    peut-il    donc   j 
avoir  de  distinguer  la  des  autres  chaogemeDts  qui  l'accom- 

pagnenl  ei   la  determinenl  toujoura,  quelle  raison   philosophiqui 
a-t-il  de  maintenir  dans  L'etude  de  la  oature    une  Separation  <K' 
cooeepts  qui  ue  repose  en  derniere  aoalyse  que  sur  des  habitui 
de  laogagi 

II  es1  evidenl  qu'Aristote  ue  s'esi  qu'ä   la  longue 

habitudes  d'esprit  411c  lui  avait  imposees  L'enseignemenl  de  Piaton; 
or  la  coDceptioD  de  ce  dernier  est  precisemenl  opposee  au  poiul 
de  vue  scientifique  que  je  vieus  de  rappeler;  il  demeure  sur  le 
terrain  dialectique;  l'eföos  esl  immuable  ei  transcendanl  (^opiorcov); 
3a  presence  (irapooaia)  daos  un  sujel  esl  donc  un  fall  d'un  toul 
autre  ordre  que  le  simple  mouvement.  Cette  position  esl  oette 
ei  logiquemenl  irreprochable;  Aristote  o'en  a  senti  le  defaul  qu'en 
s'appliquanl  a  l'etude  de  la  oature,  e1  il  a  conclu  a  l'immanence  de 
maifi  il  oe  8'esl  pas  entieremenl  debarrasse  de  la  tradition 
de  son  maitre;  c'esl  ainsi  que  pour  maintenir  l'immuabilite  de  la 
forme,  il  insiste  sur  ce  que  le  changemenl  doil  etre  attribue*  au 
Bujet,  a  la  matiere,  e1  que  la  forme  esl  le  terme  (ef;  8  xivettat)  du 
changemenl  re'alise;  formule  incontestablemenl  peu  commode  ei 
qui  oe  l'empeche  par  de  parier  d'autre  pari  d<  k«  m\   - 


Sur  la  Com position  de  la  Physlque  d'Arisl  227 

/  (formes  naturelles   ei    perissables).      En  toul  cas,    il   es!   clair 
que  la  doctrine  de  l'immanence  conduil   ä  ramener  toua  lea  chan- 

gement8  ä  im  seul  c :ept,   celui  de  la  realisation  du  possible  ou 

de  la  xi'vTjatc;  que  l'exclusion  de  la  yiveais  ei  de  la  cpdopa  bors  de 

concepl  esl  ane  concession,  au  moins  de  forme,  aux  distinctiona 
resultanl  de  la  doctrine  de  la  transcendana 

Si  des  lors  la  redaction   actuelle  du   livre  III    de   la   Phy- 
sique  es1  posterieure  ä  celle  du  livre  V,  peut-on  admettre  qu'Ari- 

te,  ayant  commence  a  corriger  son  ouvrage   pour  le   mettre  au 
poinl  d'apres  ses  idees  definitives,  aura  laisse  cette  revision  inache- 

.  eu  ae  touchant  pas  au  livre  V?    Je   ae   pense   pas  que  cette 
bypothese  puisse  etre  serieusemenl  soutenue. 

■Festime  que  les  livre-;  V  et  VI  (pour  ne  pas  parier  du  livre 
VII.  au  snjel  duquel  la  question  est  dejä  tranchee)  n'appartien- 
nent  nullement  au  plan  general  de  la  Physique.  Qs  constituent 
an  ecrit  auterieur:  itspl  xiv7j<Teu>c,  probablement  dejä  communique 
dans  le  cercle  des  disciples,  sinon  effectivemeni  publie,  qu'Aristote 
par  suite  ne  pouvail  guere  remanier,  au  moment  oü  il  a  concu 
le  remarquable  ensemble  constitue  par  les  livres  I  ä  IV  (cpuaixa) 

par  le  livre  VIII  (rapl  xiv^ceios). 
Concevanl  la  nature  corarae  ayant  le  changement  (xivtjcjis)  pour 
caractere  essentiel,  Aristote  a  commence  par  exposer  (Livre  I) 
quels  sont  les  principes  ä  considerer  dans  ce  qui  change;  il  a 
distiogue  ensuite  les  differentes  causes  des  changements  (Livre  II); 
au  Livre  III  il  l'ait  ressortii  brievemenl  les  caracteres  generaux 
de  la  /•'•//-  reconnail   la  necessite  de  traiter  de  l'espace  et  du 

temps,    a|  iir  au   prealable,  elucide   le    concept    de    l'infini. 

Apt  ir  accompli   ce  programme  et  termine  ce  qu'il  a   ä  dirc 

du  temps  (IV,  lin:  y.7i  itepl  ukv  j^povou  xcct  aötou  xal  xoiv  rcepl  aöxov 
otxeuov  r/,  z/.ilz'.  Efp7)xai),  il  trouve  une  transitioii  toute  naturelle 
pour  revenir  au  changemenl  ei  ä  la  determinatiou  du  premier 
moteuj  dire   a  La  question  annoncee  ä   la  lin  du  Livre  I. 

'ii  taut  du  moins  qu'elle  peul  etre  traitee  en  dehors  de  la  npioxri 
cpiXoooofot. 

Livre  VIII,  comm.:    „Mais  es  jue  le  changemenl  a  com- 

„mence    a    im    certain   momenl    sans   avoir   existe  auparavanl  et 

Philosophie.    V 1 1.  IG 


228  v- 

mais  absolumeul  ou  bien  an  contraire  n'a-t-il 
i  ae  peul -il  ,   a-t-il   toujoura  et<  ra-t-il 

ijoure? 
I.        ia  d  avec  les  cbapitres  consacres  an  temps  eatfrapparj 
lis  que  dana  cel  ensemble,  les  livrea  \  et  VI  apparaissenl  comme 
im  hors  d'ceuvre  sans  relation  |ui  pr<  •  <|iii  suit, 

hors  d'oeuvre  im  I  par  lai-meme,  mais  inutile  de  fail  au  de- 

ppement  «lo  la  pens 

On  oe  doil  pas  se  laissei  tromper  par  I«-  renvoi  qui  semble 
fail  Phya.  \lll.."».  257a,  34  a  Phya.  71,1—4.     La  phrase  oii 
trouve  ee  renvoi  )  est  plua  que  BU8]  :ij>t  brusquem 

le  ül  dea   idees,  sans   la   moindre   utilifc       I  Interpolation 

evidente,  venue  de  la  marge  au  eile  ae  rapportail  probablemenl 
an  endroil  passable]  loigne  (Phys.    VIII,  5,  />< 

.'/v  avcqxatov  slvai   aov&yis).      La    forme   du   renvoi:    iv 
xadoXou  icepl   cpuaeio?  n'eat    an    reste  nullemenl  «laus  lea  habitu 
du  langage  d'Aristote. 

Od  autre  renvoi  de  Phys.  \  III.  B,  263  11.  ä  Phys.  \  1,2, 
corrobore  an  contraire  l'opinion  qne  j'ai  avancee.  Aristote  revient 
Bur  uii.-  aporie  relative  an  monvemenl  donl  il  a  donne  la  Solution 

iv    T'.r:   JrptüTOl?   '/.'',■/.::   -.',::    r.z'A   XtVqGetoq     cette    SOlatiOD    681    incom- 

plete   (~'/'jz  ro  -yr^yj.  xa\  tjjv  iXijdetav  f-0y  fxavä>{);    il    doil    donc 
reprendre  la  question. 

L'expression  Sv  -'.::  irpcutoic  >.v,v.:   marque  clairemenl  qu'Ari- 
Btote  oonsidere  le  livre  VIII   comme  im    oouveau  ).•',■/.:  rcepl  xi 
aecuc.  maia  anssi  que  lea  traites  precedents  (Phys.  V  et  VI),  donl 
il    oe    dissimule   pas    lea    imperfections,    avaienl   ete  redigea  bien 
anparavant. v) 

4.    La  questioD  oe  ferail  evidemmenl  aucuo  doute,  ai  Eudfeme 


\ .    ,  rrocv  zhi:  8(0  <•  toüt 

■/.T'/i  ry  ,  toi;   /.otDo/vj  n  rräv  to   .  itvov 

•    '  o  ime  preuve  que  le  livre  \  III  ae  fail  oullemenl    Buite  ä  V— VI.   od 
que  VIII,  I.  aristote  fail  la  distinction  dea  moteura  ei 
mobiles  pai  •    -  ainsi  qu 

oaturel. 


Sur  la  Composition  de  la  Physique  d'Arisl  229 

n'avail  pas  dejä  commente  les  livrea  V  ei  VI  de  la  Physique  ä 
[eur  place.  Aiusi  les  disciples  immediats  d'Aristote  avaienl  juge 
ä  propos,  pour  completer  le  cours  de  Physique  de  leur  maitre,  d'j 
intercaler  ä  la  place  qui  leur  semblail  la  plus  naturelle,  un  ecril 
anterieur,  doni  l'etude  etail  evidemment  utile.  Peut-etre  ä  ce 
momenl  eu  ont-ils  supprime  le  commencement,  qui  faisait  double 
emploi  avec  le  debut  du  Livre  III.  s'il  reproduisait  la  redaction 
Metaph.  XI,  9.  10. 

On  peat  meme  supposer  que  le  rattachement  du  deruier  /.v,o: 
-3v  v.v^'tio;  aux  precedents,  et  de  toiit  l'ensemble  aux  iposixa, 
avail  ete  admis  par  Aristote  lui-meme  ä  la  lin  de  sa  vie  'laus  un 
lau  didactique,  malgre  les  differences  de  dates  et  de  doctrine. 
sl  co  que  semblerait  indiquer  le  renvoi  de  Metaph.  VIII,  1  liu 
a  Phys.  V,  1  (iv  toi;  »umxois)  au  lieu  de  la  designation  qu'on 
attendrait:  £v  tois  jrspl  xtv^asu>?. 

Mais  sans  aller  plus  loiu  dans  le  dornaine  des  conjectures,  on 
peut  s'eu  tenir  au  fait  que  je  crois  avoir  mis  eu  lumiere,  ä  savoir 
quo  la  redaction  des  livres  V  et  VI  do  la  Physique  est  auterieure 
ä  celle  du  reste  de  Touvrage  et  qu'il  en  resulte  une  certaine  in- 
coherence. 


1(>* 


I\. 

Der  Kintliiss  Demokrit's  auf  Galilei 

Voll 

Dr.  Löwenheim  in  Berlin. 

Die  Auffassung  der  Geschichte  der  neueren  Philosophie  hat  in 
der  letzten   X<it  dadurch    einen  wesentlich    anderen  Character 

wonnen,  dass  man  an  die  Spitze  derselben   nicht  mehr  Bac ler 

Cartesius,   sondern  Galilei  stellt,    der  nicht  nur  als  Naturforscher, 

lern  auch  als  Philosoph  Epoche  machend  gewirkl  bat.    Der  Er* 
der  meines  Wissens  diese  neue  Auffassung  vertreten  hat.  Isi  Tönnies, 
der  bereits   im  Jahre  L879  schrieb:1)  „Die  traditionelle  Bistorio- 

phie  der  Philosophie  bat  Galilei  nnter  den  Tisch  geschoben. 
Ein  künftige]  Geschichtsschreiber  dieser  Historiographie  mag  unter- 
suchen weshalb."  In  ähnlicher  Weise  sprach  sich  Natorp  einige 
Jahre  später  folgendermaassen  aus:'-')  „Am  Ende  isi  nichl  der- 
jenige der  Philosoph,  der  überkommene  Anschauungen  für  den 
Schulgebrauch  in  ein  bequemes  System  bringt,  sondern  der,  welcher 
die  entscheidenden,  zu  seiner  Zeil  oder  überhaupt  neuen  Gedanken 
selbständig  concipirl  und  mit  dem  Bewusstsein  ihrer  Bedeutung 
ausspricht.  Dies  aal  Galilei  hinsichtlich  der  Grundzüge  derjenig 
Naturansicht,  welche  bis  heute  ihre  Geltung  unerschütterl  behauptet, 
in  Bahn  brechender  Weise  getan,  obwohl  er  den  Nachfolgenden 
noch  Manches  zur  Vollendung  des  mächtigen  Haue-,  zu  tun  übrig 
gelassen  hat.     lud  so  wird  man  ihm  denn  einen  Platz  unter  den 

I    onii   .  Anmerkungen  über  die  Philosophie  des  Bobbes;  Vierteljahrs- 
scbrifl  fü  ascbafüiche  Philosophie  III.  Leipzig   1879,  p.  155. 

■    Natorp,  Galili  'hilosoph;  philosophische  Monatshefte  KVIII,  Heidel- 

p.  224. 


Der  Einfluss  Demokrit'8  auf  Galilei.  •_':'.  I 

Gründern  der  neuera  Philosophie  nicht  länger  verweigern  dürfen." 
\\  .im  aber  Galilei  eine  solche  Bedeutung  zukommt,  so  muss  es 
von  höchstem  Interesse  sein,  etwas  von  dem  Entwicklungsgang 
dieses  merkwürdigen  Mannes  zu  erfahren.  Denn  die  Frage  nach  dem 
Entwicklungsgange  Galilei's  ist  gleichbedeutend  mit  der  Frage  nach 
dem  Ursprung  unsrer  modernen  Kultur.  Während  aber  über  den 
Entwicklungsgang  Kant's  fasl  jedes  Jahr  neue  Bücher  erscheinen 
sieht,  Isl  über  den  Entwicklungsgang  Galilei's  bisher  nur  sehr  wenig 
schrieben;  nnd  das  reiche  Material,  welches  Männer  wie  Alberi 
und  Favaro  zur  Aufklärung  dieses  Gegenstandes  herbeigeschafft 
haben,  isl  bisher  noch  wenig  benutzt  worden.  Dm  diese  Lücke 
auszufüllen,  habe  ich  mich  seil  einer  Reihe  von  Jahren  mit  dem 
Entwicklungsgange  Galilei's  beschäftigt  und  werde  die  Früchte  dieser 
Studien  in  einem  grösseren  dreibändigen  Werke  niederlegen,  möchte 
mir  aber  erlauben,  hier  vorläufig  die  wichtigsten  Resultate,  zu 
denen  ich  gelangl   bin,  mitzuteilen. 

Allgemein  bekannt  ist.  dass  Galilei  seine  Laufbahn  mit  der 
Opposition  gegen  Aristoteles  begann,  der  damals,  wenn  auch  nicht 
mehr  so  unwidersprochen  wie  ein  Jahrhundert  früher,  noch  allge- 
mein als  unfehlbare  Autorität  ualt.  Da  man  nun  früher  die  Aui- 
fassung  hatte,  dass  Aristoteles  die  ganze  vorangegangene  Wissen- 
schaft der  Griechen  zusammen  gefasst  habe,  und  daher  den 
Aristoteles  als  den  eigentlichen  Repräsentanten  der  griechischen 
Wissenschaft  ansah,  so  betrachtete  man  Galilei's  Lossagung  von 
Aristoteles  als  eine   Lossagung  von   der  griechischen  Wissenschaft. 

Diese  Ansicht   \ ler  Bedeutung  des  Aristoteles  muss  aber  heute 

als  veraltet  gelten.  Es  hat  sich  jetzt  weiter  Kreise  die  Anschauung 
bemächtigt,  dass  in  der  griechischen  Wissenschaft  zwei  einander 
en'_  zte    Richtungen    vorhanden    waren,    wovon    die    eine 

durch  Demokrit,  die  andere  durch  Plato  und  Aristoteles  vertreten 
ward;  ja,  diese  neue  und.  wie  mir  scheint,  richtigere  Auffassung 
der  griechischen  Philosophie  hat  sogar  schon  in  einem  Lehrbuch 
ihren  Ausdruck  gefunden3).     Es  liegt  demnach  der  Gedanke  nahe. 


*)   Windelband,    Geschichte   der   griechisches  Philosophie;    Iwan  Muller, 
b  <k-r  klassischen  Altertumswissenschaft  V,  1. 


.  Ii  e  i  ia , 

les  nur  eine  ( Opposition  gegen 
die  eine  Rieht  u  -  iechischen  Wissenschaft  und  eine  Anlehnung 

an  die   andere   Richtui  Iben  bedeutet.     Eil  \ 

gleichu  \       hten    Demokrit's   and   Galilei's   ergiebt    in   der 

Tat   in  fielen  wichtigen   Punkten   eine  merkwürdig  instim- 

mung.     Dies  hat  bereits  Natorp  richtig  erkannt,  der  sich  darüber 

•  nd.Tii.  ausspricht4):  ...Mit  keiner  früheren  Philosophie  hat 

lei's  Denkart  entschiedenere  Verwandtschaft  als  mit  derjenig 

lenn    auch   nicht  Ku    verwundern   ist 
seine  SVeltansicht    inhaltlich    mit  der    d  leriten   in   so  vielen 

wichtigen  Zügeo  zusammentrifft.0  Gleichwohl  glaubt  Natorp  jeden 
Einfluss  Demokrit'a  auf  Galilei  entschieden  in  Abrede  stellen  zu 
müssen.     Denn  in  demselben  Artikel   Natorp's  In  .. Es 

wahr,  dass  die  Zeit  auf  die  Erneuerung  der  Demokritischen  Denk- 

se  hindrängte.  Schon  war  Lucrez  in  Aller  Bänden;  und  uoch 
zu  Lebzeiten  Galilei's  versuchte  Gassendi  die  Wiederherstellung  der 
Lehre  Epikur's,  der  ja  seine  Naturphilosophie  wesentlich  von  De- 
mokrit  entlehi  ^ber  ganz  verschieden  von  solcher  Restauration 

vergessener  Systeme  war  die  Leistung  Galilei's,  der  dieselben 
grossen  Grundanschauungen  mit  weit  haltbarerer  Begründung  und 
bestimmterer  Ausprägung  der  ein/einen  Züge  nicht  aus  einer  halb- 
verschollenen Tradition  hervorholte,  sondern  wesentlich  aus  den 
Forschungen  seiner  Zeit,  vor  Allem  aber  aus  -einen  eigenen  Grund 

aden    Entdeckung  Ibständig    gewann."      Fragen   wir,    wie 

die  Ansicht,  dass  Galilei  von  Demokrit  nicht  beeinftusst 
worden  ist,  begründet,  so  erhalten  wir  die  Antwort,  da—  er  dafür 
nur  ein  einziges  Argument  anführt,  das  aber  entscheidend  zu  sein 
scheint.  Dasselbe  besteht  nämlich  darin,  dass  Galilei  selbst  auf 
den  Vorwurf,  dass  er  ein  Schüler  Demokrit's  und  Epikur's  sei, 
antwortete,  dasa  er  Demokrit  und  Epikur  garnicbl  kenne).  Auf 
die  Autorität  Natorp's  bin  ist  dies  allgemein  geglaubl  worden;  und 


0  p.  213. 
.  0.  p.  213    21 1. 

.i"i|i  a.  a.  1 >.  p,  .'1  I    Ainnri ;. 


Der  Einfluss  Demokrit's  auf  Galili  233 

lesen  wir  bei  Deberwcg-Heinze7):  „Ohne  Demokrit,  wie  er  selbst 
versichert,  gekannt  zu  haben,  gelangte  er  (Galilei)  zu  einer  ähn- 
lichen Weltanschauung  wie  dieser."  Wenn  wir  aber  in  den 
Werken  Galilei's  die  von  Natorp  angezogenen  Stellen  Dachschlagen, 
so  findet  sich,  dass  Galilei  hier  nur  sagt,  dass  er  Epikur  nicht 
kennt  Wenn  ihm  aber  vorgeworfen  war,  dass  er  eiD  Schüler 
Demokrit's  und  Epikur's  sei,  und  er  darauf  nur  erwidert,  dass  er 
Epikur  nicht  kennt,  so  giebt  er  damii  indirekt  zu,  dass  er  Demo- 
krit sehr  wohl  könnt.  In  der  Thal  konnte  er  dies  auch  nicht  in 
Abrede  stellen,  da  er  in  der  damals  bereits  erschienenen  Abhand- 
lung über  die  schwimmenden  Körper  nicht  nur  Demokrit  wieder- 
holt erwähnt,  sondern  denselben  an  einer  Stelle  auch  ausdrücklich 
über  Aristoteles  gestellt  hatte,  wodurch  sich  eben  der  erwähnte 
Vorwurf  erklärt.  Die  interessante  Stelle  lautet  folgendermassen8): 
„Ihn  (Demokrit)  damit  zu  bekämpfen,  dass  man  saut.  dass.  wenn 
die  aufsteigenden  warmen  Körper  diejenigen  wären,  welche  die 
feinen  Platten  in  die  Höhe  heben,  ein  solcher  fester  Körper  noch 
weit  mehr  in  der  Luft  gestossen  und  in  die  Höhe  gehoben  werden 
müsste,  das  zeigt  bei  Aristoteles  den  Wunsch.  Demokrit  zu  Boden 
zuschlagen,  der  ihm  hinsichtlich  der  Feinheit  des  gediege- 
nen Philosophirens  überlegen  ist."  Diese  Stellung  Galilei's  zu 
Demokrit  ist  durch  eine  vor  einigen  Jahren  aufgefundene  Jugend- 
schrift Galilei's  bestätigt  worden,  in  welcher  es  folgendermassen 
heisst9):  „Ueber  das  Leichte  haben  wir  bis  jetzt  kein  Wort  gesagt, 
sondern  nur  über  das  Sclrwere  und  weniger  Schwere;  deswegen 
haben  wir  hier  Veranlassung  zu  untersuchen,  ob  dies  von  uns  mit 
Recht  oder  mit  Unrecht  geschehen  ist.  Wenn  also  Aristoteles  und 
die  übrigen  Philosophen  damit  zufrieden  wären,  als  leicht  das  an- 
zunehmen, was  wir  weniger  schwer  nennen,  so  würden  auch  wir 
keine    Beschwerde   dabei    finden,    diese   Benennung  „leicht"  zuzu- 


T)  Ueberweg,  Grundriss  der  Geschichte  der  Philosophie,  bearbeitet  von 
Ueinze,  3.  Band,  7.  Auflage,  Berlin  1888,  p.  40. 

®)  Opere  di  Galileo  Galilei,  herausgegeben  von  Alberi,  Florenz  1842 — 
1856,  XI 1  p.  88. 

9)  Favaro,  Alcuni  scritti  inediti  di  Galileo  Galilei,  Roma   1SS1,  p.  55. 


l.    prenbeim, 

■!i.     Abei   da  sie  wollten,  das  -  d  leichten 

I.    der   dies  Bchlechthin  wäre  und   jeder  Seh* 

tbehrte,  so  haben  wir  versucl  \      cht,  die  wir  als  geradezu 

seh  rabscheuen,  auf  jedi    W     -  rund   aus  l>is 

auf  das  tz  au  in.      Deswegen    werden   wir  hinsichtlich 

Meinung  der  Alten,   welche  Arisl  gebens 

im  vierten  Buch  seiner  Schrift  über  das  Himmelsgebäude 

zu  widerlegen  Bucht,  das  von  Ai  les  Zurückgewiesene 

behaupten,  das  von  ihm  Behauptel  r  zurückweisen   and   in 

diesei   Weise  seine  an  diesem  Orte  folgenden  Zurückweisungen  und 

Behauptungen  einer  Kritik  unterwerfen." 

Aus  dem   vor  Kurzem   erschienene]       -    d  Bande  der  neuen 
Favaro  veranstalteten    Ausgabe   von  Galilei'a  Werken  ergiebl 
sich,  d  lilei  im  ersten  Stadium  seiner  wissenschaftlichen  Ent- 

wicklung ganz  ausserordentlich  für  Archimedes  schwärmt«  -  er- 
wächst somit  das  Problem,  zu  erklären,  wie  Galilei  durch  Beine 
Beschäftigung  mit   Archimedes    auf    Demokril  hii  werden 

konnte,    den   er  in   der   1  hoch  stellt,  das  ntschieden 

Demokrit's   Partei    gegen   Aristoteles    ergreift,      [ch    glaube    dies 
Problem  folgendermaassen  lösen  zu  können.     Demokril  lehrte,  dass 
alle  Körper  schwer  sind  und  dass  das  Aufs  mancher  Körper 

\\i''  des  Feuers,  welches  da-  ganze  Altertum  für  einen  eigenen 
Körper  hielt,  sich  dadurch  erklärt,  da--  die  weniger  schweren  Atome 
von  deu  schwereren   in   die  Höhe  getrieben  werden.     Di  iebl 

sich  deutlich  aus  folgender  Stelle  des  Simplicius10):  „Die  Anhäi 
Demokrit's  und  später  Epikur  behaupten,   dass  all''  Atome  gleich- 
artig, und  zwar  schwer  seien ;  dadurch  aber,  dass  gewisse  von  ihnen 
schwerer  seien,  sänken  diese  nieder;  und  die  leichteren  würden  von 
ihnen    3  in   und  so  in  die  Höhe  getrieben;   und  •  en  sie, 

scheine  es,  als  ob  die  einen  leicht,  die  andren  schwer  seien."    Aris 
teles  setzte  dii  31  1    Lehre  die  Behauptung  entgegen,  da-  alecht- 

hin  leichte  und  schlechthin  schwere  Körper  giebt  und  da—  die  natür- 
liche Bewegung  der  ersteren   nach  oben,  der  letzteren  nach  unten 


Sil  iplii  as  zu  ad  Preller,    historia    philo- 

■  L49B 


Der  Einfluss  Demokrit's  auf  Galilei.  235 

gerichtet  ist.  Eine  Consequenz  dieses  verschiedenen  Standpunktes  war 
es,  dass  die  aufsteigenden  Körper  nach  Demokril  um  so  schneller, 
nach  Aristoteles  dagegen  um  so  langsamer  in  die  Böho  steigen,  je 
grösser  das  specifische  Gewichl  des  Mediums  ist,  durch  welches  das 
Aufsteigen  geschieht;  denn  nach  Demokril  liegi  beim  Aufsteigen  die 
treibende  Kraft  in  dem  Medium,  durch  welches  der  Körper  auf- 
steigt, während  nach  Aristoteles  die  treibende  Krall  in  dem  auf- 
steigenden Körper  selbsl  liegt  und  das  Medium  dem  Aufsteigen 
einen  Widerstand  entgegensetzt,    der  natürlich  un  rösser  sein 

muss,  je  dichter  das  Medium  ist.  Nun  lautet  bekanntlich  das 
Archimedische  Princip,  dass  ein  fester  Körper  in  einem  flüssigen 
Medium  so  viel  an  Gewicht  verliert,  wie  das  Gewicht  der  ver- 
drängten Flüssigkeil  beträgt,  dass  er  also  um  so  mehr  an  Gewichl 
verliert  d.h.  um  so  schneller  aufsteigt,  je  grösser  das  spezifische 
Gewicht  des  flüssigen  Mediums  ist.  Galilei  fand  daher,  dass  das 
System  Demokrit's  auf's  Beste  mit  den  Theorieen  des  Archimedes 
stimmt,  das  System  des  Aristoteles  dagegen  denselben  diametral 
entgegengesetzt  ist.  Und  so  ward  aus  dem  Schüler  des  Archimedes 
ein  Schüler  Demokrit's. 

Nun  lehrte  aber  Demokrit  weiter,    dass  im  leeren  Raum  alle 

Körper  gleich  schnell  fallen.     Denn  das  müssen  wir  trotz  der  ent- 

jenstehenden  Behauptung  Zeller's  aus  folgender  Stelle  des  Theo- 

phrast    schliessen "):    „Vom  Warmen    und  Kalten ist    es 

wahrscheinlich,  dass  sie  eine  gewisse  Natur  haben:  wenn  aber  von 
diesen,  so  auch  von  den  anderen  Dingen.  Nun  aber  nimmt  er  (De- 
mokrit) zwar  vom  Harten  und  Weichen  und  vom  Schweren  und 
I.  ehten.  von  denen  man  doch,  wie  es  scheint,  ebenso  gut  sauen 
könnte,  dass  sie  nur  in  Bezug  auf  uns  existieren,  an.  dass  sie  eine 
gewisse  Existenz  hätten,  vom  Warmen  und  Kalten  aber  und  den 
andern  Dingen  nicht.  Und  doch  müssen,  wenn  man  das 
Schwere  und  Leichte  nach  der  Grösse  unterscheidet,  not- 
wendig alle  einfachen  Körper  denselben  Antrieb  der  Be- 
wegung halien.  so  dass  sie  aus  demselben  Stoff  und  von  der- 
selben  Natur  >ein  dürften."     Demokrit  unterschied  bekanntlich  das 


")  Theophrast  de  sensibus  71. 


:  uihI  daraus  folgl  nach  Tl • 

phrast    n<  i      A  sich    hinsichtlich   der  durch 

I  »keil    hi  rufenen  Bewegung    lt K ■  i < •  1 1  ver- 

halten.     \  Theorii         Behauptung  eni 

□   Raum    überhaupt    nicht    giebl    und  dass  im 
lufterfüllten  Kaum   die   Fallgeschwindigkeit   der   Körper  ihrem  G 
wichte  proportional  deden  gr —   Körper  aus 

demselben  Stoff  um  so  schneller  fallen  sollen,  ind. 

Galilei  überzeugte  sich  zunächst  durch  folgende  einfache  Betrach- 
tung davon,  dass  hinsichtlich  der  aus  demselb  -  henden 
Körper    Demokrit    Recht    und    Aristoteles   Unrecht    hal         Wenn 

i  in  jeder  Beziehun  he  Körper  zu  derselben  Zeit  von  der- 

selben Höhe  aus  zu  fallen  beginnen,    so  werden    sie  zu  derselben 

'  am    Boden   ankommen.     Dies  kann   Bich  auch   nicht  ändern, 

an    beide    Körper    zu    einem    einzigen   verbunden    sind.      Zwei 
Körper  aus  demselben  Stoff,  von  denen  der  eine   doppelt   si 

wie  der  andere,    müssen   also  gl«  shnell  fallen,      und  das- 

selbe wird  gelten,  wenn  der  eine  Körper  dreimal,  viermal  u. s.  w. 
-i  wie  der  andere.  Galilei  leinte  also,  da—  alle  Körper 
von  demselben  spezifischen  Gewichl  gleich  schnell  lallen.  D 
sich  sehr  wohl  bewusst  war.  sich  dabei  in  CTebereinstimmung  mit 
den  griechischen  Atomisten  zu  befinden,  ersehen  wir  ausfolgender 
Stelle  einer  seiner  Jugendschriften12):  „Es  ist  also  nicht  wahr,  dass 
ein  Körper  sich  schneller  bewegt  als  ein  kleiner,  wenn  sie 

von  demselben  Stoffe  sind,  was  Aristoteles  in  dem  ganzen  Verlauf 
des  vierten  Buches  seiner  Schrift  über  das  Himmelsgebäude  gegen 
die  Alt  eii  als  bekannt  voraus  setzt." 

Während  also  Galilei  schon  sehr  früh  lehne,  dass  alle  Körper 
von  demselben  spezifischen  Gewicht  gleich  schnell  lallen,  hielt  er 
lange  Zeit  an  *\c\-  Behauptung  fest,  dass  Körper  von  verschiedenem 
spezifischem  Gewichl  mit  verschiedener  Geschwindigkeit  lallen. 
Dass  er  diese  Behauptung  endlich  aufgab,  wurde  wiederum  da- 
durch bewirkt,  dass  er  sich  um  einen  weiteren  Schritt  Demokrit 
näherte.     Schon   in  der  eben   erwähnten   Jugendschrift   linden   wir 


XI  p.  I 


Der  Einfluss  Demokrit's  auf  Galilei.  237 

folgende  Stelle18):  „Ich  wüsste  keine  andere  Ursache  (für  eine 
ihe  Ordnung,  dasa  das  Schwere  unten  und  das  Leichte  obon 
ist)  anzugeben,  als  dass  die  Dinge  in  irgend  eine  Ordnung  zu 
bringen  waren,  es  der  Natur  aber  gefiel,  sie  in  diese  Ordnung  zu 
bringen,  wenn  wir  nicht  vielleicht  sagen  wollen,  dass  das  Schwer 
deswegen  dem  Mittelpunkte  Daher  sei  als  das  Leichtere,  weil 
wissermaassen  das  schwerer  zu  sein  scheint,  was  auf  engerem  Raum 
mehr  Materie  enthält."  Galilei  betrachtet  es  also  bereits  hier  als 
eine  nicht  schlechterdings  zu  verwerfende  Hypothese,  dass  Körper 
von  verschiedenem  spezifischem  Gewichl  nicht  aus  qualitativ  \ 
schiedener  Materie  bestehen,  sondern  sich  nur  dadurch  unterschei- 
den, dass  eine  qualitativ  gleichartige  Materie  in  den  Körpern  mit 
grösserem  spezifischen  Gewicht  im  gleichen  Raum  sich  in  grösserer 
Menge  befindet.  Was  hier  als  Hypothese  erscheint,  das  spricht 
Galilei  in  einer  späteren  Schrift  mit  voller  Bestimmtheit  aus.  wo 
es  folgendermaassen  heissl  '*):  „Wir  wollen  Schwere  jene  Neigung, 
sich  auf  natürliche  Weise  nach  unten  zu  bewegen,  nennen,  welche 
in  den  soliden  Körpern  sich  durch  die  grössere  oder  geringere 
Menge  von  Materie  verursacht  findet,  von  der  sie  constituirt  wer- 
den." Könnte  es  noch  zweifelhaft  sein,  durch  wen  Galilei  zu  dieser 
Ansicht  von  der  Constitution  der  Materie  bestimmt  worden  ist,  so 
würde  jeder  Zweifel  durch  die  folgende  Stelle  aus  der  Abhandlung 
über  die  schwimmenden  Körper  beseitigt  werden15):  „Er  (Aristo- 
teles) versucht  .  .  .  ,  Demokrit  zu  widerlegen,  weil  er  sich  nicht 
mit  dem  blossen  Namen  begnügt  hatte,  sondern  spezieller  hatte 
erklären  wollen,  was  denn  die  Schwere  und  die  Leichtigkeit  d.  h. 
die  Ursache,  warum  die  Körper  nach  unten  und  nach  oben  gehen, 
■ntlich  wäre,  und  das  Volle  und  das  Leere  eingeführt  hatte." 
Galilei  wusste  also  sehr  gut,  dass  die  von  ihm  arfgenommene  An- 
sicht über  die  Constitution  der  Materie,  wonach  die  spezifisch 
leichteren  Körper  in  demselben  Volumen  mehr  leeren  Raum  und 
und  daher  eine  geringere  Quantität  der  in  allen    Körpern   gleich- 


>3)  Opere  XI   p.  19. 
ipere  XI  p.  90. 
lä)  Opere  XII   i».  88. 


\  von    I  i  it   herrührt      I  >ass  Galilei 

Ansicht  \  i  onstitution 

-    üe  Ma- 
i  und  im  wandeil  \  sammeng  - 

\\        u  Galil     -         .  w  enn  wir  uns 

V  tur    des  V  und    der 

üb]  :i    bequemen  wün      .   so  wurden  wir  vielleicht 

itution   ihrer  Theile  derart   i>t.    d    -  - 
uicht  allein  der  Teilung  nicht  widerstreb!  lern   «1  nichts 

ss    ler  Widerstand,  den  man 
rkt,    wenn    man    sich   im    Wasser  1  ähnlich   demjeni^ 

welchen  wir  empfinden,  wenn  wir  durch  eine 

ii.  wo  wir  uns  gehindert  fühlen    nicht 
in   I  der  Schwierigkeit,    welche   wir  bei   der  Teilung 

haben,  da  ja  Niemand  von  denen  geteilt  wird,  ans  denen 

nsel  /' .    sondern   nur  dabei,    die 
Pers         iznrS  u  schieben,  welche  schon  geteilt  und 

nicht  verbunden  sind."     Dieses  Einl  Galilei's  für  di<    AI 

ii   Demokrit's  Lsl  von  grundlegender  Bedeutung  für  die  Chemie 
rorden.     Denn  von  dem  Augenblick  an,  wo  die  durch  Aris 
verl  Anschauung  von  der  Verwandelbarkeit  der  Elemente  in 

ander  durch  Galilei's  Zurückgehen  auf  di      \     mistik  Demok 

.ir.    wurde  die  unv  baftliche   Alchemie  durch    die 

-     schaftliche  Chemi«  tzt     Da  sich  nun  Galilei  schon  früher 

klar  -  alle  Körper  aus  demselben  Stoff  gleich  schnell 

lallen,  und  nun  annahm,  dass  auch  Körper  \"ii  verschiedenem  spe- 

zili-  rieht  a  .  überall   gleichartigen  Materie  be- 

zu  dei  [uenz  gedrängt  werden,    dass 

imtliche  Körper  gleich  schnell  lallen.     Als  er  dies       S    /.  aus- 
spn  er  auf  die  stärkste  Opposition  von  Seiten  der   Peri- 

patetiker,  da  er  dan  ien  Bruch  mit  der  Aristotelischen  Welt- 

anschauung aufs  Deutlichste  dokumentiert  hatte.    Er  verwies 

il  die  Erfahrung  und   stellte  vom  schiefen  Turm    in    I 
Fallversuche    an,    welche   im   lufterfüllten    Raum    die    annähernde 


Der  Einflusa  Demokrit's  auf  <"J n.1  i l ■  -^'.Vj 

Richtigkeit  des  Satzes  ergaben,  dass  alle  Körper  gleich  schnell 
fallen.  Dagegen  hütete  er  sich  wohl,  wieder  die  Autoritäl  Demo- 
krit's gegen  diejenige  des  Aristoteles  auszuspielen;  «leim  da  die 
demokritisch-  epicureische  Philosophie  als  gottlos  galt,  so  hatte 
die  Abhandlung  über  die  schwimmenden  Körper,  worin  er  sich 
deutlich  als  Anhänger  Demokrit's  zu  erkennen  gegeben  hatte,  .-inen 
solchen  Sturm  heraufbeschworen,    di  lilei   in  seinen   späteren 

S  hriften  nie  wieder  den  Namen   Demokrit's  erwähnt  hat. 

Ganz  unabhängig  von  der  Entdeckung,  dass  alle  Körper  gleich 
schnell  fallen,  hat  Galilei  die  Untersuchung  geführt,  wie  die  Fall- 
geschwindigkeit und  der  Fallraum  von  der  Fallzeit  abhängen.  Und 
hier  ist  er  nicht  von  Demokril  abhängig,  der  sich  mit  diesen 
Fragen,  soweit  unsre  Kenntnis  reicht,  überhaupt  nicht  beschäfl 
hat.  Dagegen  hat  er  bei  einem  andren  wichtigen  Satze  der 
Mechanik  sich  wieder  an  Demokrit  angeschlossen,  nämlich  beim 
Beharrungsgesetz,  dessen  Aufstellung  nicht  selten  als  die  bedeu- 
tendste Leistung  Galileis  hingestellt   wird. 

Für  den  nicht  wissenschaftlich  geschulten  Menschen  legi  die 
unmittelbare  Erfahrung  die  Ansicht  nahe,  dass  eine  einem  Körper 
erteilte  Bewegung  eine  gewisse  Zeit  anhält,  um  dann  aufzuhören, 
dass  also  für  eine  längere  Zeit  andauernde  Bewegung  eine  Reihe 
von  Ursachen  zu  suchen  sind,  welche  dem  in  Bewegung  begriffenen 
Körper  immer  wieder  neue  Anstösse  erteilen.  Im  Gegensatz  zu 
dieser  Anschauung  des  ungeschulten  Denkens  hat  zuerst  Demokrit 
das  Prinzip  aufgestellt,  dass  wir  nicht  für  die  Fortdauer,  sondern 
nur  für  die  Aenderung  eines  bestehenden  Zustandes  eiue  Ursache 
zu  suchen  haben.  Denn  in  den  Scheuen  zu  Aristoteles  lesen 
wir17):  „Er  (Aristoteles)  billigt  es  nicht,  wenn  Demokrit  die 
natürlichen  Ursachen  auf  das  Princip  zurückführt,  dass  auch  der 
frühere  Zustand  so  war.  indem  er  (Demokrit)  es  nicht  für  richtig 
hält,  von  dem.  was  immer  in  gleicher  Weise  ist,  noch  einen  An- 
fang und  eine  Ursache  zu  suchen."  Dass  Demokrit  dieses  Prinzip 
auch  auf  die  Bewegung  angewandt  hat,   ersehen  wir  aus  folgender 


Scholia  in  Aristotelem,  coli  ndis,  ed.  academia  regia  Bi 

Berlin  L836,  p.  I 


240  im, 

„Di<    l  ■  •■  rsuchung  aber  darüber,   woher 

mint,  haben  auch  diese  (die 

den  Anderen  leichtsin  Wie 

le   za    verstehen   Lsl .  bl  sich    aus  5ti  lle 

Demokril  meint )  diese  Bewegung  der  Atome 

müs  keinem  Princip,  rn  dari  standen  werden,  i 

r  Zeil  besteht."     \>        ~     Uen  müssen  wir  uns 
wärtig  halten,  wenn  wir  di  ade  wichti 

in  ihre  I  verstehen  wollen10):  ..I  len  führen 

e  mythisch      'S   twendigkeil   dafür  ein,    dass  der  Bimmel  nicht 
lallt  ben  bleibt  und    seinen  Umschwung    macht  .  .  .  . 

Die  Andren    aber  in   eine   physische   Notwendigkeil   dafür  an, 

dass  der  Wirbel  nicht  herniederfällt,  indem  er  -  a  Gewicht, 

das  gering         .  überwinden  soll,  wie  Empedokles  sagl  und  Anaxa- 
...     Alicr  was  die  Sage    über   den  Atlas  betriffl  .  .  .  . 
Aber  mich  das  lsl    nicht  richtig,  dass  durch  den  schnellen  Wirbel 
ätherischen  Korpers,  da  die  der  i  Schwere  folgende  Be- 

wegung   des    Himmels  .  .  .  gering  i,    die    Kreisbewegung    des 

Himmels  .  .  .  ewig  beharre,  wie  Empedokles  zu  sagen  schien  und 
Anaxagoras  und  Demokrit.  Sie  behaupten  nämlich,  wenn  auch 
der  ätherische  Körper  ....  schwer  sei,  so  werde  doch,  da  seine 
Kreisbewegung   schneller   sei    als  seine    der   eigenen  Wucht    uach 

unten  folgende   Bewegung  und    daher  jene  diese  überwinde 

der  Himmel  ....  an  seinem  Orte  beharren,  gerade  so  wie  das 
Wasser  in  der  Trinkschale  nicht  ausfliesse,  wenn  die  Schale  im 
Kreise  herumgeschwungen  werde,  wenn  nur  die  Kreisbewegung 
schneller  gescbiehl  als  die  Bewegung  des  Wassers  nach  unten." 
Es  Ist  zunächsl  bemerkenswert,  dass  an  der  Stelle,  wo  nur  von 
Empedokles  und  Anaxagoras  die  Rede  ist,  die  Kreisbewegung  des 
Himmels  nicht  als  ewig  bezeichnet  wird,  sondern  dass  dies  nur  an 
der  Stelle  geschieht,  wo  auch  von  Demokrit  die  Rede  ist.  Wir 
müssen  danach  annehmen,  dass  Empedokles  die  Theorie  aulstellte, 


r.  M<  1. 1,4  i  tter  u.  Preller  §  1 19.) 

in.  I.e.  IT. 

p.  167  b 


Der  Einflusa  Demokrit's  auf  Galil  241 

dass  die  Himmelskörper  deswegen  nicht  herniederfallen,  weil  die 
Kraft,  welche  sie  antreibt,  sich  im  Kreise  zu  bewegen,  stärker  ist 
als  die  Schwere,  welche  sie  nach  unten  zieht,  dass  Anaxagoraa 
diese  Theorie  unverändert  annahm,  Demokrit  aber  hinzufügte,  dass 
diese  Kreisbewegung  ewig  beharrt.  Diese-  eine  Wor1  „ewig"  isl 
al>er  von  ausserordentlicher  Wichtigkeit.  Denn  daraus  ersehen  wir, 
dass  Demokrit  aus  seinem  Princip,  dass  wir  nicht  für  die  Zustände, 
sondern  nur  für  die  Aenderungen  der  Zustände  Ursachen  zu  suchen 
haben,  dass  also  für  die  Fortdauer  einer  einmal  vorhandenen  Bewegung 
keine  Ursache  zu  suchen  ist,  bereits  den  Schluss  gezogen  hat,  dass 
eine  einmal  vorhandene  Bewegung,  wenn  keine  Ursache  vorhanden 
ist.  welche  sie  ändert,  ewig  in  gleicher  Weise  fortdauert.  Demokrit 
hat  also  nicht  nur  zuerst  das  Beharrungsgesetz  aufgestellt,  sondern 
dasselbe  auch  genau  in  derselben  Weise  begründet,  wie  es  unsre 
heutige  durch  Kirchhof!  und  Belmholtz  repräsentirte  Physik  im 
Gegensatz  zu  Newton  tut,  der  dasselbe  aus  einer  Eigenschaft  der 
Materie  herleitete,  welche  man  später  als  Trägheit  bezeichnete, 
eine  Herleitungsweise,  die  sich  noch  heute  in  unsren  populären 
Handbüchern  der  Physik  lindet.  wo  das  Gesetz  im  Gegensatz  zu 
dvn  von  Kirchhoff  und  Helmholtz  vertretenen  Anschauungen  als  Er- 
fahrungssatz bezeichnet  zu  werden  pflegt,  (deichzeitig  ersehen  wir 
aber  auch  aus  unserer  Simplicius-Stelle,  inwiefern  das  Beharrungs- 
!/.  Uemokrifs  sich  vom  Beharrungsgesetz  der  modernen  Natur- 
wissenschaft  unterscheidet.  Demokrit  glaubte  nämlich,  dass  ein  in 
Kreisbewegung  befindlicher  Körper,  auf  den  keine  Kraft  wirkt,  in 
Folge  des  ßeharrungsgesetzes  sich  ewig  im  Kreise  fortbewegen  wird. 
Demokrit  lehrte  also  in  Uebereinstimmung  mit  der  heutigen  Natur- 
wissenschaft, dass  ein  in  Bewegung  begriffener  Körper,  auf  den  keine 
Kraft  wirkt.  >eine  Bewegung  nicht  ändert,  weder  in  Bezug  auf 
-chwindigkeit  noch  in  Bezug  auf  Richtung,  glaubte  aber,  ab- 
weichend von  der  heutigen  Naturwissenschaft,  dass  die  Kreislinie 
eine  ebenso  einfache  Linie  sei  wie  die  gerade  Linie  und  dass  daher 
•  in  in  Kreisbewegung  befindlicher  Körper,  wenn  er  seine  Richtung 
nicht  ändert,  fortfährt,  sich  im  Kreise  zu  bewegen.  Dieser  Theorie 
!>■  imokrit'a  stellte  nun  Aristoteles  eine  Lehre  entgegen,  welche  von 
der    dem   ungeschulten  Denken    nahe  liegenden    Anschauung  nach 


abweicht  \\  i < ■    die    Lehre  Demokril 
ine  einem  Körper  mitgeteilte  Bewegung 
nicht  nur  nie  ohält,    sondern   auch  nicht  km 

dern    nur    einen    '.         blick    nnd    dass,    wenn    ein    geschleuderter 
die    ihm  erteilte   Bewi  eine  Zeit   lang  beizubehalten 

Bcheine,  dies  nur  daher  komm  das  Medium,  durch  welches 

er  sich  b<  ihm   immer  wieder  neue  Ansl  ile.      I1 

Theorie    d  wurde    im    Mittelalter  während   der  Herr- 

schaft d  telischen  Naturphilosophie  unverändert  beibehalten. 

Ende  des  Mittelalters  kehrten  einige  selbständiger  den- 
kende Gelehrte  wie  Nicolaua  i  les,  Leonardo  da  Vinci,  Tartaglia, 
Cardanus,  Scaliger,  Telesius,  Giordano  Bruno  zu  der  Anschauung 
des  gewöhnlichen  Denkens  zurück,  d  für  die  Fortdauer  einer 

einem  Körper  mitgeteilten  Bewegung  der  Vermittlung  des  Mediums 
nicht  bedürfe,  sondern  die  ihm  mitgeteilte  Kraft  (vis  impi  eine 

Zeit  langandaure,  um  sich  dann  allmählich  zu  verlieren'1).     Einen 
Schritt    weiter   ging    Benedetti,    der   in  L585    erschienenen 

Schrift  zum  ersten  Mal  den  Gedanken  aussprach,  dass  die  Richtung 
einer    krummlinigen   Bew<  durch  die  Tangente  an  die  Bahn 

bestimmt  wird,  und  daher  lehrte,  dass  «'in  in  Kreisbewegung  be- 
findlicher Körper  das  Bestreben  hat,  sich  eine  Zeit  lang  in  der 
Richtung  der  Tangente  weiter  zu  bewegen,  ein  Bestreben,  da-  er 
.vidi  aber  ebenso  wie  seine  Vorgänger  allmählich  abnehmend 
dachte").  Was  nun  Galilei  betrifft,  so  lassen  sich  in  seinem  I 
wicklungsgang    hinsichtlich    des    Beharrung.  deutlich    drei 

dien  unterscheiden.     Im  ersten  Stadium,  das  durch  die  Jugend- 
schrift de  motu  gravium  repräsentiert  wird,  polemisirt  er  nur  des- 
weg<  n  gegen  Aristoteles,  weil  dieser  die  Fortdauer  einer  mitgeteilten 
trog  sich  von  der  Mitwirkung   des  Mediums  abhängig  denkt, 
mid  macht  d  in  ganz  gleicher  Weise  wie  seine  unmittelbaren 

Vorgäi  Itend,   dass  eine  mitgeteilte  Bewegung  eine  Zeil  lang 

beharre.     Im  zweiten  Stadium  steht  er  ganz  auf  dem  Standpunkt 


Wohlwill, 

und  Sprache  KI\    p. 

Wohlwill  a.  ...  0.  p 


luss  Demokrit'8  auf  Galilei.  2  \'-'< 

Demokrit's  und  lehrt,  dass  eine  einmal  vorhandene  Bewegung, 
wenn  keine  Kraft  sie  abändert,  ewig  in  gleicherweise  beharrt,  und 
schliessl  daraus,  dass  ein  in  Kreisbewegung  befindlicher  Körper, 
auf  den  keine  Krafl  wirkt,  sich  ewig  im  Kreise  weiter  beweg 
wird.  Dieses  Stadium  wird  repräsentirl  durch  den  Brief  an  Velser 
über  die  Sonnenflecken,  worin  es  heisst'8):  „Wenn  alle  äussereu 
Hindernisse  beseitig!  sind,  so  wird  ein  schwerer  Körper  auf  einer 
Kugeloberfläche,  welche  der  Knie  concentrisch  ist,  indifferenl  gegen 
Ruhe  und  gegen  Bewegung  in  irgend  einer  Richtung  des  Hori- 
zontes*4) sein  und  wird  sich  in  demjenigen  Zustand  erhalten,  in 
welchen  er  einmal  versetzt  ist;  d.  h.  wenn  er  in  den  Zustand  der 
Kühe  versetzt  ist,  so  wird  er  diesen  beibehalten,  und  wenn  er  in 
Bewegung  gesetzt  ist,  z.  B.  nach  Westen,  so  wird  er  in  demselben 
Zustand  beharren.  So  würde  z.B.  ein  Schiff,  das  ein  einzig 
Mal  auf  ruhigem  Meer  irgend  einen  Anstoss  erhallen  hat,  sich  be- 
ständig um  die  Erdkugel  bewegen,  ohne  jemals  aufzuhören:  und 
wenn  es  daselbst  ruhig  hingesetzt  wäre,  so  würde  es  beständig  in 
Ruhe  sein,  wenn  sich  im  ersten  Fall  alle  äusseren  Hindern' 
beseitigen  liessen  und  im  zweiten  Falle  keine  äussere  Bewegungs- 
ursache plötzlich  auf  dasselbe  einwirkte."  Der  Brief,  in  welchem 
diese  Stelle  vorkommt,  ist  datiert  aus  dem  Jahre  L612,  also  aus  dem- 
selben Jahre,  in  welchem  Galilei  die  Abhandlung  über  die  schwim- 
menden Körper  verfasst  hat,  aus  welcher  deutlich  hervorgeht,  dass 
er  sich  gerade  damals  eingehend  mit  Demokrit  beschäftigte.  Wir 
dürfen  also,  wenn  auch  in  unsrem  Brief  der  Name  Demokrit's 
nicht  erwähnt  wird,  als  sicher  annehmen,  dass  Galilei  zu  dem  zwei- 
ten Stadium  durch  den  Einfluss  Demokrit's  gelangt  ist.  Im  dritten 
Stadium  endlich,  welches  durch  Galilei's  astronomisches  Haupt- 
werk, die  Dialoge  über  das  Ptolomäische  und  das  Koperni- 
kanische  Weltsystem,  repräsentiert  wird,  verbindet  Galilei  die  An- 
schauung Demokrit's  mit  derjenigen  Benedetti's  und  gelangt  so  zum 
en  Male  zum  Heharrungsgesetz  der  modernen  Naturwissenschaft. 


23)  Opere  III  p.  418. 

Offenbar  versteht  Galilei  hier  unter  dem  Korizonl  nicht  die  Horizontal- 
Ebene,  sondern  eine  mit  der  Krde  concentrische  Kugeloberfläche. 

Philosophie.    VTL  17 


24  l  .heim, 

in  der  von   Wohlwill  vertretenen  Ansicht,  dass  Galilei  das  Be- 
liarni!._  ■  nie  "hur  eine  j  bränkung  ausgesprochen 

habe,    während  «in  so  untergeordn<        i    Ist  wie    Baliani    genügt 
haben  boII,    am  den  Worten  des   Meisters  eine  Verallgemeinerung 
zu  entnehmen,  welche  dieser  selbst  nichl  zu  finden  vermocht  babe 
B  ich  nichl  zuzustimmen.     Wenn  Wohlwill  betont,  dass  l 
lilei  das  Beharrung*  nicht  so  hervorgehoben  hat,   wie  wir  es 

voo  dem  Begründer  der  neueren  Physik  erwarten"  .  so  wird  Jeder, 
der  die  Darlegung  gehört  oder  gelesen  hat,  in  welcher  Helmholtz 
bei  der  Feier  Beines  70.  Geburtstages  auseinandersetzte,  wie  er  zum 
Prinzip  von  der  Erhaltung  der  Kraft  gelang!   ist,  die  Ueberzeugung 

sonnen  haben,  dass  gerade  wichtige  Prinzipien  von  ihren  Ent- 
deckern für  so  selbstverständlich  gehalten  werden,  dass  ßie  gar 
nicht  auf  den  Gedanken  kommen,  sie  besonders  hervorzuheben, 
wenn  sie  nicht  durch  Widerspruch  gegen  dieselben  auf  ihre  Be- 
deutung aufmerksam  gemachl  werden.  Und  wenn  Wohlwill  meint, 
dass  man  bei  einer  Stelle  aus  Galilei's  astronomischem  Hauptwerk 
glauben  könnte,  eine  Stelle  aus  Aristoteles  de  coelo  zu  lesen' 
so  verkennl  er,  dass  Galilei  in  diesem  Werk  mich  einander  die 
verschiedenen  Stadien  auseinandersetzt,  die  er  selbsi  durchgemachl 
hat,  und  dass  daher  die  Stelle,  in  welcher  er  das  erste  Stadium 
klarlegt,  keineswegs  die  Anschauungen  des  Verfassers  zur  Zeil  der 
Abfassung  der  Schrift  wiedergiebt.  Indem  Wohlwill  hervorhebt, 
dass  man  zur  allgemeinen  Formulierung  des  Beharrungsgesetzes 
dadurch  gelangt  Bei,  dass  die  ersten  Leser  der  Auseinandersetzung 
Galilei's  über  diesen  Gegenstand  von  einer  Beschränkung  des  Prin- 
zips nicht-  bemerkt  haben'8),  legt  er  damit  selbst  die  Ansicht 
nahe,  dass  er  diese  Beschränkung  nur  künstlich  in  die  Worte 
Galilei's  hineingelegt  hat.  Wohlwill  setzt  dann  weiter  auseinander. 
dass  Cartesius  /war  indirect  durch  Galilei  vom  Beharrungsgesetz 
Kenntnis    erhalten   hat'*"),  ahm'  zuersl    den  Versuch  einer  phili 


Wohlwill  a.  a.  0.  KV  p.  134     135  u.  359     3G2. 

Yohlwill  ...  ...  0.  W  p.  127  u.  346. 

Wohlwill  ...  a.  0.  XV  ,,.  346. 

•     Wohlwill  ;..  a.  0.  X\  p.350. 

Wohlwill  a.  ;..  <».  \\  p  364     367. 


Der  !unt1u>»  Demokrit's  auf  Galilei.  245 

phischen  Ableitung  des  Gesetzes  machte,  indem  er  die  Lehre  vom 
Beharren  der  Beweguog  als  speziellen  Fall  der  allgemeinen  Er- 
kenntnis hinstellte,  dass  Alles,  was  ist,  in  seinem  Zustande  unver- 
ändert beharrt,  so  lange  oichl  äussere  Ursachen  eine  Aenderung 
bedingen,  und  dadurch  die  Bedeutung  des  Beharrungsprinzipes  zu 
allgemeiner  Anerkennung  gebrachl  hat80).  Gartesius  wird  diese 
philosophische  Begründung  des  Beharrungsgesetzes  Demokril  ent- 
l.'lmt  haben.  Und  wenn  der  bereits  verurteilte  Galilei  bei  der 
Ausarbeitung  seines   mechanischen   Hauptwerk  sorgfältig  ver- 

mieden hat,  das  Beharrungsgesetz  damit  zu  begründen,  dass  wir 
nicht  für  die  unveränderte  Fortdauer,  sondern  nur  für  die  Verän- 
derungen eines  bestehenden  Zustandes  Ursachen  aufzusuchen  haben, 
was  in  einer  Zeit,  in  welcher  die  Komentare  zu  Aristoteles  noch 
mehr  gelesen  wurden  als  heut  zu  Tage,  eine  Erneuerung  des  alten 
Vorwurfes,  dass  er  ein  Schüler  des  Atheisten  Demokrit  sei.  zur 
notwendigen  Folge  gehabt  hätte,  so  dürfte  dies  einen  ganz  anderen 
Grund  haben,  als  'Wohlwill  vermutlich  Allerdings  hat  Wohlwill 
in  überzeugender  Weise  nachgewiesen,  dass  Galilei  das  Beharrungs- 
itz niemals  zur  Ableitung  der  Fallgesetze  angewandt  hat:  und 
s  isl  ein  grosses  Verdienst  Wohlwill's,  die  bis  zum  Erscheinen 
seiner  Abhandlung  allgemein  geglaubte  Legende,  dass  Galilei  bei 
den  Fallgesetzen  zum  Beharrungsgesetz  gelangt  sei.  gründlich  zer- 
stört zu  haben.  Vielmehr  ist  Galilei  genau  ebenso  wie  Demokrit 
zum  Beharru]  gsg  setz  durch  astronomische  Theorieen  gekommen, 
ein  deutlicher  Beweis,  dass  weder  Demokrit  noch  Galilei  durch 
die  Erfahrung  zum  Beharrungsgesetz  gelangt  sein  kann.  Wenn 
aber  Wohlwill  daraus,  dass  Galilei  das  Beharrungsgesetz  nicht  zur 
Ableitung  der  Fallgesetze  angewandt  hat.  den  Schluss  zieht,  dass 
er  die  volle  Bedeutung  desselben  noch  nicht  erkannt  habe,  so  scheint 
mir  dies  ein  Fehlschluss  zu  sein.  Denn  die  Anwendung  des  Be- 
harrungsgesetzes zur  Ableitung  der  Fallgesetze  liegt  nur  dann  nahe, 
wenn  man  weiss,  dass  die  Schwere  nicht  eine  dem  fallenden 
Körper  inne  wohnende  Kraft  ist.  sondern  vielmehr  ein  spezieller 
lall   einer   allgemeinen  Anziehung,   welche   für  irdische   Fallhöhen 


Wohlwill  a.  a.  (i.  xv  p.  :;t;,-:;77. 

17 


■ .  Ii  e  i  m , 

sse  hat.    und  gerade  diea  bal  Galilei,  wie  Wohl- 
will selbsl  hervorhebt'1),    nichl  gewusst,    was  freilich  um   so  auf- 
fallender ist,  als  Bein  Lehrer  Demokril  diese  Erkenntnis  nach* 
bar  BchoD  gehabt  hat. 

Trotzdem  beschränkt  Bich  der  Einfluss  I1  mokrit's  anf  Galilei 
nicht  auf  das  Gebiet  der  Mechanik,  sondern  erstreck!  sich  in  glei- 
cher W  uch  auf  das  astronomische  Gebiet  Demokril  lehrte, 
dass  der  Weltraum  anendlich  gross  Bei,  und  dachte  sich  denselben 
erfüllt  von  unendlich  vielen  Welten,  von  denen  er  annahm,  dass 
sie  gelegentlich  zu  Grunde  gehen  können,  da  er  dem  Grundsatz 
huldigte,  dass  am  Bimmel  ebenso  wie  auf  Erden  Alles  im  fort- 
währenden Wechsel  begriffen  ist.  Wir  ersehen  dies  aus  der  fol- 
genden Stelle  Hippolyt's"):  ..1  r    Demokrit)  sagte dass  der 

Welten  unendlich  viele  seien  und  sich  durch  ihre  Grösse  von  einan- 
der unterscheiden;  in  einigen  aber  existiere  kein«'  Sonne  und  kein 
Mond;  in  einigen  aber  Beien  sie  (Sonne  und  Mond  grösser  als  bei  uns; 
und  in  einigen  existieren  deren  mehrere.  Es  seien  aber  die  Ent- 
fernungen der  Wehen  von  einander  ungleich;  und  an  diesem 
Orte  seien  mein-,  an  jenem  weniger  Welten.     Er  sagte  ferner,  dass 

die   einen   sieh   Vi  rn  .   die   anderen    ihren    Höhepunkt    erreicht 

hätten,  die  dritten  abnehmen  und  dass  hier  welche  entstehen,  dorl 
welche  verschwinden;  sie  gingen  aber  unter  durch  einander, 
indem  sie  auf  einander  stiessen.  Einige  Welten  aber  entbehrten 
der  Thiere  und  Pflanzen  und  aller  Flüssigkeit."  l>a->  Demokril 
leinte,  dass  einige  Welten  ohne  Tiere  und  Pflanzen,  also  unbe- 
wohnt seien,  isl  namentlich  deswegen  interessant,  weil  wir  daraus 
Bchliessen  müssen,  dass  er  sich  die  meisten  bewohnt  dachte.  I  nd 
ist  wiederum  deswegen  bedeutungsvoll,  weil  wir  daran-  ersehen, 
dass  Demokril  sich  unsre  Welt  in  keiner  Weise  vor  den  übrigen 
ausgezeichnet  dachte.  Damil  hat  er  aber  den  geocentrischen  Stand- 
punkt bereits  prinzipiell  überwunden.  Wenn  er  also  innerhalb 
unsrer  Well  die  lade  in  den  Mittelpunkt  stellte,  so  ha1  das  keine  prin- 
zipielle Bedeutung,  sondern  lediglich  die,  dass  diese  Anordnung  bei 


Wohlwill  a.  a.  0.  W  p.  122     123. 

Hipp.  R(  i.  hat  r.  I..  L3  [Ritter  u.  Preller  §  151  B.] 


Der  Einfluss  Demokrit's  auf  Galilei.  2  I  ■ 

den  damaligen  astronomischen  Kenntnissen  die  Erscheinungen  am 
besten  zu  erklären  schien.  Diesen  Anschauungen  Demokrit's  stellte 
nun  Aristoteles  die  Theorie  entgegen,  dass  das  Weltall  begrenzl  sei, 
dass  es  our  eine  Well  gäbe,  in  deren  Mittel punkl  die  Erde  stehe, 
so  dass  man  im  ganzen  Weltall  von  einem  Oben  und  Unten 
sprechen  könne,  da  man  einen  Orl  böher  zu  nennen  habe  als  einen 
anderen,  wenn  er  vom  Mittelpunkt  der  Erde  weiter  entfern!  sei, 
dass  ferner  zwar  auf  der  unvollkommnen  dunklen  Erde  Alles  im 
fortwährenden  Wechsel  begriffen  sei.  dagegen  in  den  vollkommnen 
lichten  Bimmelsräumen  Alles  ewig  and  unabänderlich  sei  und  nur 
bei  den  Bimmelskörpern  untei  dem  blonde  die  Erdnähe  sich  schon 
dadurch  bemerkbar  mache,  dass  sie  nicht  mehr  ganz  so  vollkom- 
men und  in  jeder  Beziehung  gleichbleibend  seien  wie  diejenigen 
in  ilfii  höheren  Regionen.  Diese  Anschauungen  des  Aristoteles 
blieben  während  des  ganzen  Mittelalters  bis  tief  in  'las  IG.  Jahrb. 
hinein  herrschend.  Sie  liegen  nicht  nur  Dante's  Divina  comedia 
zu  Grunde,  sondern  auch  noch  dem  Werke  des  Kopernikus:  denn 
auch  Kopernikus  lehrte,  dass  es  nur  eine  Welt  giebl  und  dass 
diese  kugelförmig,  also  endlich  ist33),  lud  sein  berühmter  Satz, 
das-  nicht  die  Erde,  sondern  der  Himmel  ruht,  ist  nichts  Anderes 
als  die  letzte  Consequenz  der  aristotelischen  Weltanschauung. 
Denn  unter  den  Gründen,  die  er  seihst  zur  Begründung  dieses 
Satzes  anführt,  befindel  sich  auch  d^v.  dass  der  Zustand  der  l'nbe- 
weglichkeit  edler  und  göttlicher  sei  als  derjenige  der  Veränderung 
und  [nconstanz,  der  daher  eher  der  Knie  zukomme34)-  Galilei  hat 
bekanntlich  das  heliocentrische  System  mit  grosser  Begeisterung 
aufgenommen.  Wie  er  sich  aber  im  Uebrigen  zu  der  aristotelisch- 
kopernikanischen  Weltanschauung  stellte,  das  sollte  sich  zeigen,  als 
im  Jahre  lii<>4  im  Steinbild  des  Schlangentreters  ein  neuer  Stern 
entdeckt  wind''.  \\;is  Galilei  damals  tat,  teilt  uns  sein  Schüler 
\i\iani  in  folgenden  Worten  mit35):  „Da  mittlerweile  durch  eine 
seltsame  und  wunderbare    Bimmelserscheinung   im   Sternbild    des 


pernicus,  de   revolutionibus  orbium  coelestium  libri  sex.,  IIb.  I  cap.  1. 
3«)  A.  a.  0.  lib.  I    cap.  8. 

3S)  Viviani,   Vita  di  Galileo;  Opere  di  Galileo  Galilei,  herausgegeben  von 
Alberi,  XV  p.  338. 


248  iit-iui. 

IG  'l  -  Igte,   wurde  von 

Herrn  Galilei  in  drei  langen  and  sehr  gelehrten  Vorlesungen  öffent- 
lich iü  erhabenen  gehandelt,    in    denen  er 

iiiKti  war  zu  der  li'       51  rn   sich  ausserhalb  der 

elementaren    Region    und    an    einer    sehr  hohen  Stelle  ober  allen 

Planeten  befand  gegen  die  Meinung  der  peripal  q  Schule  und 

des   Philosophen   <  remonino,    der   damals    bemühl    war. 

B  genteilige  Meinung  aufrecht    zu    erhalten   und   den  unverän- 
derlichen   und   von   jeder    zufälligen   Veränderung    freien    Bimmel 

Aristoteles   zu   vertheidigen."      Dass    diese    Handluj 
nicht    aus    einer  augenblicklichen    Aufwallung,    sondern   aus  einer 
dauernden  (Jeberzeugung  entsprang,  siehl  man  daran-,  da--  Galilei 
in    seinem    '_'s  Jahre    später  erschienenen    astronomischen    Haupt- 
werke die  Gesprächspersonen  Simplicius,  welcher  die  aristotelischen 

sichten   vertritt,    Salviati,  welcher  die  Ansichten  des  Yerfae 
vertritt,  und  Sagredo,  welcher  meist  Salviati  unterstützt,  folg 

sprach  fuhren  lässt"):  „Simplicius:  I >!<•  Körper,  welche  erzeug- 
bar, vergänglich,  veränderlich  u.s.  w.  Bind,  sind  durchaus  verschie- 
den von  denen,  welche  nicht  erzeugbar,  unvergänglich,  anverän- 
derlich u. -.  w.  sind  ....  Die  Sinneswahrnehmung  zeigt  uns.  wie 
auf  Erden  fortwährendes  Entstehen,  fortwährendes  \  ergehen,  fort- 
währende Veränderung  u.  s.  w.  stattfindet,  Dinge,  wovon  weder 
durch  unsere  Sinne  noch  durch  die  Ueberlieferung  oder  durch 
das  Gedächtniss  unsrer  Alten  irgend  etwa-  am  Himmel  gesehen 
wurden  ist;  also  i-t  der  Himmel  unveränderlich  u.  -.  w.  und 
die  Erde  veränderlich  u.  s.  w.  und  deswegen  verschieden  vom 
Himmel.  Das  /weite  Argumenl  entnehme  ich  einer  principiellen 
und  wichtigen  Tatsache,  uämlich  folgender.  Derjenige  Körper,  der 
nach  seiner  Natur  dunkel  und  des  Lichtes  beraubt  ist,  i-t  ver- 
schieden von  den  leuchtenden  und  glänzenden  Körpern;  die  Erde 
i-t  dunkel  und  ohne  Licht:  und  die  Himmelskörper  sind  glänzend 

und  erfüllt   von  Licht ;  also  u.  s.  w 

Salviati:    Was  den  ersten  Punkt   betrifft,    dessen  Beweiskraft 
Ihr   aus  der  Erfahrung  entnehmt,   so  vermisse  ich,    dass   Ihr  mir 

ipi  re  l  p.  .".1     • 


Der  Einflu8S  Demokrit's  auf  Galilei.  249 

bestimmter  die  Veränderungen  angebt,  welche  Lhr  auf  der  Erde 
und  nicht  am  Elimmel  sich  vollziehen  seht,  weswegen  Ihr  dir  Erde 
als  veränderlich  bezeichnet   und  den  Bimmel  nicht. 

Simplicius:  Ich  sehe  auf  der  Erde  beständig  Sträucher,  Pflan- 
zen, Thiere  erzeugt  werden  und  zu  Grunde  gehen,  Regengü 
niederstürzen,  Winde,  Ungewitter,  Stürme  sich  erheben  und  über- 
haupt den  Anblick  der  Erde  eine  beständige  Verwandlung  zeigen, 
Alles  Veränderungen,  von  denen  man  keine  an  den  Bimmelskör- 
pern bemerkt,  deren  Constitution  und  Aussehen  ganz  genau  damit 
übereinstimmt,  wie  es  alle  Deberlieferung  beschreibt,  ohne  dass 
dort  irgend  etwas  neu  erzeugt  wäre  oder  etwas  von  dem  Alten  zu 
Grunde  gegangen  wäre. 

Salviati:  Aher.  da  Ihr  Euch  bei  diesen  sichtbaren  oder,  um 
es  besser  auszudrücken,  gesehenen  Erfahrungstatsachen  beruhigt. 
so  müsst  Ihr  China  und  Amerika  zu  den  Himmelskörpern  rechnen, 
weil  Ihr  da  sicher  niemals  diese  Veränderungen  gesehen  habt,  die 
Ihr  hier  in  Italien  seht,  und  meinen,  dass  sie,   soweit   es  sich  um 

Eure   Wahrnehmungen  handelt,  unveränderlich  sind und 

warum  habt  Ihr  es  nicht,  ohne  darauf  zurückzukommen,  den  Be- 
richten Andrer  Glauben  schenken  zu  müssen,  selbst  mit  Euren 
eignen  Augen  beobachtet  und  gesehen? 

Simplicius:  Weil  jene  Länder  ....  so  entfernt  sind,  dass 
das  Gesicht  nicht  so  weit  reichen  würde,  solche  Veränderungen 
wahrzunehmen. 

Salviati:  Seht  ihr  nun,  wie  Ihr  ganz  von  selbst  zufällig  das 
Trügerische  Eures  Argumentes  aufgedeckt  habt!  Denn  wenn  Ihr 
.  da—  Ihr  die  Veränderungen,  welche  man  auf  der  Erde  in 
unsrer  Nähe  sieht,  wegen  der  zu  grossen  Entfernung  nicht  sehen 
könntet,  wenn  sie  in  Amerika  geschehen  sind,  so  könntet  Ihr  sie 
noch  viel  weniger  auf  dem  Monde  sehen,  der  so  viele  hunderte 
.Male  weiter  ist.  Und  wenn  Ihr  die  mexikanischen  Veränderungen 
auf  die  Nachrichten  hin  glaubt,  die  Euch  von  dort  gekommen  sind, 
welche  Berichte  Bind  Euch  vom  Monde  gekommen,  um  Euch  anzu- 
zeigen, dass  auf  ihm  keim'  Veränderung  statthat?  ....  Schwerlich 
wird  Herr  Simplicius  ein  wenig  die  Auffassung  der  Texte  des 
Aristoteles    und    der    anderen    Peripatetiker    modificieren,    welche 


thei  m . 

ii.  dass  len   Bimmel   deswegen   für  anveränderlich  halten, 

!  man  an  ihm  niemals  irgend  einen  Stern  erzeugl  werden  oder  zu 
Grunde  gehen  gesehen  hat,  der  vielleicht   ein   ;  et  Teil  vom 

II  mmel  ist  als  eine  Stadt  von  der  Erde;  und  doch  sind  anzahlige 
derselben  in  einer  Weise  zerstört  worden,  dass  auch  nicht  einmal 
die  Sparen  davon  ans  geblieben  sind  .  .  .  Ich  behaupte,  dass  wir 
in  im-,  nn  Jahrhundert  neue  Ereignisse  and  Beobachtungen  von 
der  An  haben,  dass  ich  durchaus  Dicht  zweifle,  data  Aristoteles, 
wenn  er  in  unsrem  Zeitalter  lebte,  seine  Meinung  ändern  wurde, 
was  handgreiflich  aus  der  Art  seines  Philosophierens  folgt;  denn  da 
er  schreibt,  dass  er  die  Bimmel  als  anveränderlich  u.  s.  w.  be- 
trachtet, weil  man  dort  nicht«  v  les  sich  erzeugen  oder  etwas 
Altes  -ich  auflösen  gesehen  bat,  so  läast  sich  implicite  erkennen, 
dass  er,  wenn  er  eines  dieser  Ereignisse  gesehen  hätte,  die  ent- 
tzte  Meinung  aufgestellt  hätte  ....  Nun  ....  be- 
haupte ich.  dass  die  zu  unsrer  X.*i t  in  den  Bimmeln  entdeckten 
Dinge  derart  sind  und  gewesen  sind,  dass  sie  allen  Philosophen  völlig 
ögen  können;  denn  sowohl  an  besonderen  Körpern  wie  am 
universellen  Himmelsraum  sind  gesehen  worden  und  werden  be- 
ständig Ereignisse  gesehen,  welche  denen  gleichen,  die  wir  Lei  ans 
Entstehen  und  Vergehen  nennen,  da  es  eine  Tatsache  i>t.  dass 
von  ausgezeichneten  Astronomen  viele  Kometen  beobachtet  worden 
sind,  welche  entstanden  sind  und  in  Teile  zerstoben  sind,  obgleich 
sie  höher  waren  aN  die  Mondbahn,  und  ausserdem  zwei  neue 
Sterne  vom  Jahre  1">T-J  und  vom  Jahre  1604,  die  ohne  allen 
Widerspruch  -ein-  hoch  aber  allen  Planeten  standen;  und  im  Aus- 
sehen der  Sonne  selbst  bemerkt  man  dank  dem  Teleskop  dichte 
und  dunkle  Massen  sich  bilden  und  sich  auflösen,  die  dem  An- 
scheine nach  grosse  Aehnlichkeit  haben  mit  den  Wolken  auf  der 
Erde'7)  ....  Was  habt  Ihr.  Berr  Simplicius,  gedacht  diesen 
unbequemen  Flecken  entgegenzusetzen,  die  da  gekommen  sind,  den 

Hiernach    Bebeint  bereits    Galilei,    dei   Entdecker  dei  Sonnenflecken, 

dieselben  als   Woll  nnenball  angesehen   zu   haben,    eine    \n- 

«reiche   Bp&ter  verlassen  wurde,    bis  in  unsren  Tagen  Kirchoff  in- 

einer  Bpektral-analytischen  Untersuchungen  wieder  darauf  zurückkam. 


Der  Einfluss  Demokrit'a  auf  Galili  251 

Bimmel    zu    verdüstern    und   mehr  aoch  die   peripatetische   Philo- 
sophie? .  .  . 

Sagredo:  [ch  kann  oichl  ohne  grosse  Verwunderuüg  .  .  .  hören, 
wie  man  Naturkörpern,  die  integrirende  Teile  des  Universums 
sind,  wegen  grossen  Adels  und  grosser  Vollendung  diesen  Zustand 
zuschreibt,  allen  Einflüssen  unzugänglich,  keiner  Modifikation  fähig, 
unveränderlich  u.  s.  w.  zu  sein  und  es  dagegen  als  eine  grosse  Un- 
vollkommenheit  betrachtet,  veränderlich,  erzeugbar,  rinn-  Modifi- 
kation fähig  u.  s  w.  zu  sein:  ich  meinerseits  betrachte  die  Erde  als 
sehr  edel  und  bewunderungswürdig  wegen  so  vieler  und  so  ver- 
schiedener Veränderungen,  Modifikationen,  Erzeugungen  u.  s.  w., 
welche  auf  ihr  unaufhörlich  vor  sich  gehen;  und  wenn  sie,  ohne 
irgend  einer  Veränderung  unterworfen  zu  sein,  ganz  und  gar  eine 
grosse  Sandwüste  wäre  oder  eine  Jaspismasse  oder  wenn  sie  zur 
Zeit  der  Sintflut,  als  die  Gewässer,  welche  sie  bedeckten,  gefroren, 
eine  ungeheure  Eiskugel  geworden  wäre,  wo  niemals  irgend  etwas 
entstände  oder  sieh  veränderte  oder  modificierte,  so  würde  ich  sie 
für  einen  elenden  Körper  halten,  welcher  für  die  Welt  unnütz 
wäre,  voller  Müssiggang  und,  um  es  kurz  zu  sauen,  überflüssig  und 
gleich  als  ob  sie  in  der  Natur  nicht  vorhanden  wäre:  und  ich 
würde  jenen  selben  Unterschied  machen,  der  zwischen  dem  leben- 
den und  dem  toten  Tiere  besteht;  und  dasselbe  sage  ich  vom 
Monde,  vom  Jupiter  und  von  allen  übrigen  Weltkörpern  .... 
Jene,  die  so  sehr  für  die  Unvergänglichkeit,  Unveränderlichkeil  u.  s.w. 
schwärmen,  würden,  glaube  ich,  ....  verdienen,  einem  Medusen- 
haupt zu  begegnen,  welches  sie  in  eine  Bildsäule  von  Jaspis  oder 
Diamant  verwandelte,  um  vollendeter  zu  werden,  als  sie  sind." 

Diese  /eilen  sind  recht  geeignet,  uns  einen  Blick  in  die 
Kämpfe  des  17.  Jahrhunderts  tun  zu  lassen,  die  von  den  üblichen 
Darstellungen  der  philosophischen  Bewegung  de-  17.  Jahrhunderts, 
wie  mir  scheint,  gar  zu  sehr  vernachlässigt  werden.  Was  nun 
weiter  Galilei's  Ansicht  filier  die  Unendlichkeit  des  Weltalls  betrifft, 
spricht  ersieh  darüber  in  einem  Brief  an  Ingoli  folgendermassen 
aus3"):  „Wisst  Ihr  nicht,  da--  es  mich  unentschieden  ist  (und.  wie 


38)  Opere  II  p.  84. 


heim. 

ich  glaube,  innerhalb  der  menschlichen  ^  issi  nschaften  immer 
unentschieden  bleiben  wird),  ob  das  Universum  endlich  oder  un- 
endlich tzt,    d  in   Wahrheil   unendlich  wäre, 

dass  d      l  der  Fixsternsphäre  in  k.i- 

nem  richtigen   Verhältnis  zu    der   grossen    Bahn  stehe, 

wenn  -  Ibsl  im  Vergleich  zum  Universum  weniger  sein  würde 

als  ein  Hirsekorn  im  Vergleich  zu  ihr?"  Was  endlich  die  Lehre 
von  der  Mehrheil  der  Welten  betrifft,  so  deutel  Galilei  seine  An- 
sicht über  diesen  Tunkt  nur  an,  wenn  er  in  seinem  astronomischen 

Hauptwort  „Man  sieht dass  Aristoteles  andeul 

dass  der  Welt  nur  eine  Kreisbewegung  und  Folglich  nur  ein 
Centrum  zukommt,  auf  das  allein  die  gradlinigen  Bewegungen  Dach 

n  und  nach  unten  sich  beziehen  ....  Ich  werde  Bagen,  dass 
in  der  Gesammtheit  der  Natur  tausend  Kreisbewegungen  vorhan- 
den sein  können  und  Folglich  tausend  Bewegungen  nach  oben  und 
Dach  unten.-  Wir  sehen  also,  dass  in  allen  principiellen  Punkten 
der  astronomischen  Betrachtung,  \\"  Aristoteles  im  Gegensatz 
steht  zu  Demokrit,  Galilei  stets  Für  Demokril  gegen  Aristoteles 
Partei  nimmt.  Doch  hat  Galilei  auf  diesem  Gebiete  einen  \ 
ganger  gehabt,  nämlich  Giordano  Bruno,     heim  das  astronomische 

em,  welches  Galilei  in  seinem  astronomischen  Hauptwerk  \ 
teidigt,  isl  keineswegs,  wie  der  Titel  vermuten  lässt,  das  koperni- 
kanische    System,    sondern    vielmehr    dasjenige    System,    welches 
Giordano  Bruno  durch  Verbindung   des   kopernikanischen   Syst 
jnit  den  Anschauungen  der  demokritisch-epikureischen   Philosophie 

hallen  hat.  lud  wenn  Galilei  hier  nicht  direel  von  Demokrit 
beeinflussl  3ein  .-"Ute.  so  würde  er  es  doch  jedenfalls  indirect  sein. 
Denn  ohne  Zweifel  hat  Galilei  von  den  Modifikationen  Kenntnis 
gehabt,  welche  Giordano  Bruno  mit  dem   kopernikanischen  System 

genommen  hat.     V'>n  Giordano  Bruno  aber  wissen  wir,  dass 
zo  diesen  Modifikationen  durch  die  Lektüre  des  Lucrez  gelangt  ist 
Lucrez    aber    hat    das   System    Epikur's  dargestellt;    und    Bpikur 
schliessl   Bich  in   -'inen  Anschauungen    über   die    Einrichtung  des 
Elimmelsgebäudes  ganz  an  Demokril  an. 


1  p.20. 


Der  Einfluss  Demokrit's  auf  Galilei.  253 

Der  Einfluss  Demokrit's  auf  die  astronomischen  and  auf  die 
mechanischen  Ansichten  Galilei's  hängt  aufs  [nnigste  mit  einander 
zusammen.  Es  hat  sich  im  LT.  Jahrhunderl  ein  Umschwung  der 
äammten  Weltanschauung  vollzogen,  denn  es  sind  zwei  einander 
diametral  entgegengesetzte  Waltanschauungen,  von  denen  im 
17.  Jahrhunderl  die  eine  durch  die  andere  überwunden  ward. 
Nach  der  mittelalterlichen  Weltanschauung,  welche  einsl  von  l'l 
und  Aristotel  ründel  wurde,   ist  der   Himmel   das  Gebiet  des 

ewig  Unverändlichen  und  die  Erde  das  Gebiel  des  dem  steten 
Wechsel  Unterworfenen;  und  ob  ein  Körper  seine  Bewegung  bei- 
behält oder  verändert,  häng!  daher  in  erster  Linie  davon  ab,  ob 
er  sich  am  Bimmel  oder  auf  Erden  befindet.  Nach  der  modernen 
Weltanschauung  dagegen  isl  jede  Veränderung  des  bestehenden 
Zustandes  die  Wirkung  einer  Kraft:  und  jeder  Körper,  auf  den 
keine  Kraft  wirkt,  muss  daher,  mag  er  sieli  nun  am  Himmel  oder 
auf  Erden  befinden,  seine  Bewegung  so  lange  unverändert  beibe- 
halten, bis  eine  auf  ihn  ausgeübte  Kraft  dieselbe  abändert.  Diese 
Weltanschauung  ist  von  Demokrit  begründet  und  von  Galilei  mit 
Consequenz  durchgeführt  worden;  und  gerade  hierin  erblicke  ich 
den  wichtigsten  Einfluss  Demokrit's  auf  Galilei. 

Endlich  giebt  es  noch  ein  wichtiges  Gebiet,  auf  dem  sich  ein 
Einfluss  Demokrit's  auf  Galilei  constatieren  lässt,  nämlich  hinsicht- 
lich der  Subjektivität  der  Sinnesqualitäten.  Bekanntlich  lehrte 
Demokrit.  dass  das  Süsse  und  das  Bittere,  das  Warme  und  das 
Kalte,  die  Farbe  und  der  Schall  nicht  tpuaet,  sondern  vojjwjj  existie- 
ren40), dass  sie  nur  Namen  für  unsere  Zustände  sind4');  und  er  be- 
gründete dies  damit,  dass  die  Empfindungen  durch  die  Affektionen 
uns*  es  Körpers  zu  Stande  kommen42)  und  daher  für  jedes  Individuum 
andere  sind43).  Ob  Demokrit  der  Erste  ist,  der  diese  Ansicht  ver- 
treten hat  ob  oder  dieselbe  bereits  von  seinem  Lehrer  Leucipp  her- 
rührt, ist  eine  noch  strittige  Frage.     Ich  bin  der  Ansicht,  dass  diese 


40)  Sext.  Math.  VII,  135   (Ritter  u.  Preller  §  157).  Stob.  ecl.  lib.  1 
ed.  Wachsnmth  vol.  I  p.  IT 

41)  Sext.  Log.  VIII,  184. 

*■)  Stob.  ecl.  lib.  I  eap.  50,  ed.  Wachsmuth  vol.  I   p.473. 
4:i)  Tkeophra»t  de  sensibus  63  (Kitter  u.  Preller  §  l'r2). 


25 1 

Leh  k ri t  aufgestellt  worden  \-\.     Allerdings  isl 

richtig,    das  Alten  hon  dem  Leucipp  beile§  Im 

die  Alten  haben  <\'\<x  Lehren  Leucipp's  and  Demokrit's  ni<ht 
auseinander  zu    halten   gewuse        Theophrast    aber,    der  sich  ein- 
onder  mit   Leucipp  beschäftigt  hat,  Bchreibl   in   dem  erhaltenen 
.inriit  de  sensibus  diese  Lehre  dem  Demokril  zu,  ohne  Leucipp 
Gelegenheit    überhaupt    zu    erwähnen.      Dazu   kommt, 
Lehre   dei   AI  i  isten   von    der  Subjektivität   <I<t  Sinnes- 
qualitäten   in    UD8rer    Ueberlieferung    immer    im    Zusammenhang 
mit    der     Unterscheidung    zwischen    tpuoic    und    yopoc    erscheint. 
Diese    Unterscheidung    aber    rührt    von  den  Sophisten   her.      Nun 
konnten    <ii<'    Sophisten    zwar    schon    auf    Demokrit,    aber    noch 
nichl    auf    Leucipp    wirken.      Aus  diesen    beiden  Gründen   nehme 
ich  an,  dass  Demokril  es  i-t.  welcher  zuersl  die  Subjektivität   der 
Sinnesqualitäten  behauptel  hat.     Er   begnügte  sich  aber  nichl  mit 
der  allgemeinen  Behauptung,  sondern  suchte   bereits   im  Einzelnen 
restzustellen,    welche    objektiven    Verhältnisse    unsren    subjektiven 
Empfindungen  zu  Grunde  liegen.     Was  den  Geschmack  betrifft,  so 
dachte    er    sich    den    scharfen    Geschmack    hervorgebracht    durch 
kleine  und  reine,    eckige  und    stark  oe  Atome,    den  süssen 

schmack  durch  runde,  nichl  allzu  kleine  Atome,  'l<'ii  Bauren 
G  schmack  durch  grosse  polygonale  Atome,  den  bittren  Geschmack 
durch  kleine,  glatte  und  runde  Atome,  den  salzigen  Geschmack 
durch  grosse,  hockrige  Atome,  den  beissenden  Geschmack  endlich 
durch  kleine  Atome,  die  sowohl  rund  als  <•«  k iij:  sind**).  Was  den 
Schall  betrifft,  so  führte  er  ihn  auf  eine  Bewegung  der  Lufl  zurück, 
wodurch  sich  die  Lufl  verdichte,  eine  Bewegung,  welche  sich  zwar 
unsrem  ganzen  Körper  mitteile,  am  besten  aber  dem  Ohre*').     Die 

|';nl rklärte  er  aus  der  Oberflächenbeschaffenheil  der  gesehenen 

Körper;  bo  dachte  er  sich  z.  I!.,  dass  eine  glatte  Fläche  weiss 
aussieht*6),  eine  Ansicht,  welche  nicht  nur  Aristoteles  gelten 
Iäs8l  indem  welche  sich  erhalten  hal   bis  unmittelbar  vor  der 


Tbeophi  67. 

*■-)   A.  a.  <). 

'      \  ii.  I  j..  1029 b. 


Der  Einfluss  Demokrit's  auf  Galilei.  255 

Entdeckung  Newton's,  dass  das  weisse  Licht  sich  aus  den  verschie- 
denen Regenbogenfarben  zusammensetzt48).  Sicherlich  wird  er 
auch  angegeben  haben,  welche  äusseren  Verhältnisse  die  Empfin- 
düng  der  Wärme  in  uns  hervorrufen.  Es  ist  aber  darüber  oichts 
überliefert.  Wir  können  jedoch  indirekt  erschliessen,  was  er  hier- 
über gelehrt  hat.  Wir  lesen  nämlich  bei  Aristoteles*9):  „Er  (De- 
mokrit) saut,  dass  von  den  verschiedenen  Gestalten  die  kugelför- 
mige am  leichtesten  beweglich  sei;  derart  aber  sei  sowohl  der 
Denkstoff  wie  das  Feuer."  Bekanntlich  lehrte  Demokrit,  dass  die 
verschiedenen  Stoffe  sich  nur  durch  die  Grösse  und  Gestall  ihrer 
Atome  unterscheiden.  Er  nahm  also  an,  dass  das  Feuer,  das  er 
wie  das  ganze  Alterthum  als  einen  eigenen  Körper  betrachte 
aus  solchen  Atomen  bestehe,  welche  in  Folge  ihrer  Gestall  die 
grösste  Beweglichkeil  besitzen.  Dies  wird  bestätig!  durch  Demo- 
krit's Theorie  der  Träume,  über  welche  Plutarch  folgendermassen 
berichtet50):  „Demokrit  sagt,  dass  die  Bildchen  durch  die  Poren 
iu  die  Körper  eindringen  und  bewirken,  dass  während  des  Schlafes 
Gesichte  aufsteigen.  Diese  Bildchen  aber  gehen  unstät  umher. 
nachdem  sie  von  allerwärts  sich  abgelöst  haben,  von  Geräthen,  von 
Kleidern,  von  Pflanzen,  besonders  aber  von  Tieren  und  Menschen 
in  Folge  der  starken  Bewegung  und  der  Wärme."  Demo- 
krit muss  sich  also  gedacht  haben,  dass  die  höhere  Temperatur 
der  warmblütigen  Tiere  dadurch  hervorgebracht  wird,  dass  in  ihrem 
Körper  die  Feuer-Atome  stärker  vertreten  sind  und  dass  diese  hier 
wie  überall  sich  in  lebhafter  Bewegung  befinden,  welche  bewirkt, 
dass  die  von  jedem  Körper  sich  fortwährend  ablösenden  Bildchen 
hier  mit  besondrer  Energie  fortgeschleudert  werden51).  Wir  finden 
demnach  bei  Demokrit  die  Theorie,  dass  die  Wärme  eine  lediglich 
subjektive  Empfindung  i-t  und  dass  das  Objektive,  das  ihr  ent- 
spricht,  Atome    sind,    welche   sich   in   Folge  ihrer  Gestall    stets  in 


Spinoza,  Brief  27. 
<9)  Ar.  de  an.  I.  •_'  p.405a. 
M)  Plut.  Quaest.  conv.  VIII.  LO,  2. 

5I)  Vergl.  Hart.  Zur  Seelen-  and  Erkenntnislehre  des  Demokrit,  Gymna- 
sial Programm,  Mühlhausen   1886,  p.  9. 


.heim, 

lebhafter  I  Wii  sehen  also,  dass  Demokrit  nicht 

mir  in  inen  die  Lehr  der  Subjektivität   der  Sini 

qualitäl  stellt  hat,  -  -  auch  unternommen   hat,  die- 

selbe im  Einzelnen  durchzuführen.  Eine  solche  nüchtern«  W  Bsen- 
Bchaftlichkeit,  welche  d  ön<   W  farblos  erscheinen  li 

rief  aber  begreiflich»  bei  dem  \ tisch  Griechen- 

k  eine  Reaktion  hervor.     Dnd  in  ganz  ähnlich  das 

mpört  war  über  die  Newton  I  arben- 

lehre  und  der  Dichter-Philosoph  Schopenhauer  empör!  war  aber 
die  ündulationstheorie  des  Lichtes,  so  war  auch  Plato,  den  man 
nicht  mit  Dnrechl  den  griechichsten  aller  Philosophen  genannt  hat 
iL  Ii.  den  am  meisten  charakteristischen  philosophischen  Vertri 
des  kunstbegabtesten  aller  Völker,  empörl  aber  die  Lehre  Demo- 
krit's.  Hatte  Demokrit  gelehrt,  dass  wir  uns  täuschen,  wenn  wir 
an  die  objektive  Existenz  des  Weissen,  des  Ton  -  un<l  der  Wärme 
glauben,  und  dass  diese  Täuschung  dadurch  hervorgerufen  wird. 
dass  verschieden  gestaltete  und  verscljieden  I"  Uome  existie- 

ren, •/.!(•  Plato  dem  die  Lehre  entgegen,  da—  wir  uns  täuschen, 

wenn  wir  an  »li'1  objektive  Existenz  weisser,  tönender  und  warmer 
Körper  glauben,  und  da--  diese  Täuschung  dadurch  hervorgerufen 
wird,  dass  die  eigenschaftslose  Materie  vorübergehend  teilnimmt  an 
den  objektiv  existierenden  und  sich  stets  gleich  bleibenden  Ideen  des 
Weissen,  des  Tones  und  des  Warmen,  und  Aristoteles,  der  in  viel 
höherem  Maasse,  als  man  gewöhnlich  annimmt,  der  Schüler  Plato's 
nichl  nur  dein  auch  sti  lieben  ist,    schloss  sich 

dieser  Lein.-  an.  Mochte  auch  Plato  die  Ideen  ausserhalb  der 
Dinge,  Aristoteles  dagegen  in  den  Dingen  suchen,  so  stimmten  sie 
doch  darin  iiberein,  dass  die  Ideen  das  einzige  sich  stets  Gleich- 
bleibende sind,  was  objektive  Existenz  hat.  I  nd  zu  den  Ideen 
rechnete  Plato  da-  Warme  und  Kalte"),  Aristoteles  das  Weisse**). 


Phädon  p.  103  D-  E.  Dass  hier  das  Wort  M  mit  Begriff,  -<>n- 

dern  mit  Idee  zu  übersetzen  ist,  geht  daraus  hervor,  dass  p.  I"l  B,  wo  noch 
von  demselben  die  Rede  ist,  was  vorh  lannt  war.  ausdrücklich 

Woi  ;ebraucht  wird. 

\e   \i.  t.  \  111,5  p.  1044b;  X.::  p.  1054b. 


Dtfr  Einflusa  Demokrit'a  auf  Galilei.  •_'.",, 

Und  so  polemisierte  denn  sowohl  Plato")  als  Aristoteles  gegen 
die  Ansicht  von  der  Subjektivitäl  der  Sinnesqualitäten.  Epikur, 
der  sich  im  Grossen  and  Ganzen  an  Demokrit  anschloss,  tral  für 
die  Suhjektivitäl  der  Sinnesqualitäten  ein.  Als  aber  die  platonisch- 
aristotelische Philosophie  herrschend  geworden  war.  ging  die  Er- 
kenntniss  von  der  Subjektivitäl  der  Sinnesqualitäten  verloren. 
Der  Erste  unter  den  Neueren,  der  wieder  für  dieselbe  eintrat,  war 
Galilei.  Derselbe  schreib!  Dämlich56):  „Dass  in  den  ausser  ans 
befindlichen  Korpern,  um  in  uns  die  Geschmacksempfindungen,  die 
Geruchsempfindungen  und  die  Tonempfindungen  zu  erregen,  etwas 
Anderes  erforderlich  ist  als  Grösse,  Gestalt,  Menge  und  langsame 
"der  schnelle  Bewegung,  das  glaube  ich  eicht;  und  ich  halte  dafür, 
dass,  wenn  man  Ohr.  Zunge  und  Nase  beseitigt,  wühl  Gestalt, 
Anzahl  und  Bewegung  bleibt,  aber  nicht  mehr  die  Geruchsempfin- 
dungen, die  Geschmacksempfindungen  oder  die  Tonempfindungen, 
von  denen  ich  nicht  glaube,  dass  sie  ausserhalb  des  leitenden 
Tieres  etwas  Anderes  sind  als  Namen."  Wenn  wir  nun  bedenken, 
dass  wir  Galilei  schon  in  verschiedenen  Punkten  sieh  haben  Demo- 
krit  anschliessen  sehen  und  dass  er  hier  nicht  nur  dieselbe  Ansicht 
vertritt  wie  Demokrit,  sondern  sich  auch  sogar  desselben  Aus- 
drucks bedient,  dass  die  Empfindungen  nur  Namen  sind,  so 
werden  wir  unmöglich  bezweifeln  können,  dass  er  auch  in  dieser 
Beziehung  von  Demokrit  abhängig  ist.  Von  (ialilei  alier  haben  die 
Lehre  von  der  Subjektivität  der  Sinnesqualitäten  Hobbes  und  Car- 
tesius'  aulgenommen.  Durch  Cartesius  i-t  sie  zu  Spiuoza  gekom- 
men: und  durch  Hobbes  ist  sie  zu  bocke  und  von  diesem  zu  Hume 
gekommen.  Und  was  Kanl  betrifft,  dessen  Lehre,  dass  wir  nicht 
Dinge  an  sich,  -endern  nur  Erscheinungen  wahrnehmen,  sich  der 
Hauptsache  nach  auf  den  zuerst  von  Demokrit  ausgesprochenen 
anken  stützt,  dass  unsre  Empfindungen  nur  durch  die  Verän- 
derungen bedingt  sind,  welche  die  Aussendinge  in  unsern  Sinnes- 
werkzeugen hervorrufen,  so  kann  es  nur  zweifelhaft  sein,  ob  er  die 


Theätet  p.  153E— 154  B. 

Ar.  de   sensu   Kap.  IV.  p.  442a;  de  gen.  et  com  I,  8  p.  326a;  II.  2 
29b;  Met  IV,:,  ,,.  1009b  u.  LOlOb;  IX.:;  p.  1047a. 
*)  Opere  IV  p.336. 


heim, 

Lehre  vod  der  Subjektivität  der  Sinnesqualität  Locke,   von 

II 11  i   vielleichl  von  Spinoza  erhalten  hat.  -    Galilei's  Erneue- 

run.  itischen  Lehre   von   der  Subjektivität   der  Sini 

qualita  aber  nicht  nur  für  die  Philosophie,  sondern  auch  für 

die  Physik  grundlegend  geworden.    Wenn  Demokrit,  wie  wir  sahen, 
lehrte,  dass  die  Schallempfindung  durch  eine  Luftbe^  bervor- 

ufen  wird,  so  bat  Galilei  des  Weiteren  ausgeführt,  wie  unsre 
Gehörsempfindungen  dadurch  zustande  kommen,  dass  Luftwellen 
an  unser  Ohr  schlagen  '),  und  hat  dadurch  die  Qndulationstheorie 
3  balls  begründet.  Die  Undulationstheorie  des  Schalls  ist  aber 
später  das  Vorbild  geworden  für  die  Undulationstheorie  des  Lichts. 
Alter  auch  Demokrit's  Ansichten  über  das  Wesen  der  Wärme 
wannen  einen  weittragenden  Einfluss.  Wir  sahen,  dass  nach  De- 
mokrit 'las  Objektive,  das  der  subjektiven  Wärmeempfindung  ent- 
spricht, Atome  sind,  die  sich  stets  in  lebhafter  Bewegung  befinden. 
Und  ganz  in  demselben  Sinne  lässt  sich  Galilei  in  seinem  Saggia- 
tore  über  das  Wesen  der  Wärme  folgendermassen  aus  '):  „Nachdem 
wir  schon  gesehen  haben,  wie  viele  Affectionen,  von  denen  man 
annimmt,  dass'es  Eigenschaften  sind,  welche  in  den  äusseren  Ob- 
jekten ihren  Sitz  haben,  in  Wahrheit  keine  andere  Existenz  bäben 
als  in  uns  und  ausser  uns  nichts  anderes  sind  als  Namen, 
ich,  ilass  ich  sehr  dazu  neige,  zu  glauben,  dass  die  Wärme 
dieser  Art  sei  und  dass  jene  Stoffe,  welche  in  uns  das  Warme 
hervorbringen  und  empfinden  lassen,  die  wir  mit  einem  allge- 
meinen Namen  Feuer  nennen,  eine  Menge  ganz  kleiner  Körper- 
chen sind,  die  in  der  und  der  Weise  gestaltet  sind  und  mit  der 
und  der  Geschwindigkeit  Bich  bewegen,  welche,  wenn  sie  auf  un- 
sern  Körper  treffen,  ihn  mit  ihrer  sehr  grossen  Feinheil  durch- 
dringen, und  dass  ihre  Berührung,  die  bei  ihrem  Durchgang  durch 
unsern  Körper  hervorgebracht   und  von  uns  empfunden  wird,   die 

Affection  ist,  welche  wir  Wärme  nennen U>er  dass  ausser 

der  Gestalt,  der  Menge,    der  Bewegung,    der    Durchdringung   und 
Berührung  im  Feuer    noch    eine  andere   Eigenschaft   existiere  und 


■.in  p.  11 
Opere  l\    p.  I 


Der  Einfluss  Demokrit's  auf  Galilei.  259 

dass  diese  das  Warme  sei,  das  glaube  Leb  durchaus  nicht;  und  ich 
glaube,  dass  dieses  Warne'  so  sehr  uns  angehört,  dass  nach  Bes 
tigung  des  belebten  und  empfindenden  Körpers  die  Wärme  nichts 
Anderes  isl  als  ein  einfaches  Wort,  und  wenn  dem  so  ist,  dass 
diese  Affektion  in  uns  bei  dem  Durchgang  und  der  Berührung  der 
kleinsten  Feuerteilchen  durch  unsern  Körper  hervorgebracht  wird, 
so  liegi  es  auf  der  Hand.  dass.  wenn  jene  still  ständen,  ihre  Wir- 
kung sich  auf  Null  reduzieren  würde.  Ebenso  sehen  wir  eine 
Menge  Feuer,  wenn  es  in  den  Poren  und  engen  Höhlungen  von 
ungelöschtem  Kalk  zurückgehalten  wird,  uns  nicht  erwärmen, 
wenn  wir  es  auch  in  der  Hand  halten,  weil  es  in  Ruhe  bleibt;  aber 

wenn    man    den    Kalk    in  Wasser  wirft, so    geraten    die 

kleinsten  Feuerteilchen  in  Bewegung,  treffen  auf  unsre  Hand  und 
durchdringen  sie;  und  wir  empfinden  das  Warme.  Deswegen 
nügi  also,  um  die  Empfindung  dr>  Warmen  hervorzurufen,  nicht  die 
äjenwart  der  Feuerteilchen;  sondern  es  ist  auch  ihre  Bewegung 
notwendig,  da  es  mir  scheint,  dass  es  nur  ganz  richtig  gesagt  wäre, 
dass  die  IWegung  die  Ursache  der  Wärme  ist."  Dass  diese  Stelle 
in  der  That  auf  die  Zeitgenossen  Galileis  den  Eindruck  gemacht 
hat,  dass  Galilei  damit  sich  der  Ansicht  Demokrit's  über  das 
W  esen  der  Wärme  anschloss,  ersehen  wir  daraus,  dass  der  Pater 
Grassi,  der  unter  dem  Pseudonym  Sarsi  eine  Schrift  gegen  Galilei 
veröffentlichte,  in  dieser  Schrift  sich  folgendermassen  ausdrückt59): 
„Nun  komme  ich  zu  der  Abschweifung  über  die  Wärme,  in  wel- 
cher sieh  (ialilei  als  ein  Anhänger  der  Schule  Demokrit's  und 
Epicur's  bekennt."  Die  citierte  Erörterung  Galilei's  über  das  Wesen 
der  Wärme  Lüdet  aber  die  Grundlage  der  modernen  mechanischen 
Wärmetheorie.  Freilich  pflegt  man  die  Anfänge  dieser  Theorie  in 
eine  viel  spätere  Zeit  zu  setzen.  Aber  wir  lesen  bereits  bei  Baco 
von  \erulam60):  „Man  verstehe  wohl,  wir  sagen:  die  Bewegung 
verhalte  sich  zur  Wärme  als  eine  verwandte  Beschaffenheit;  nicht 
dass  die  Wärme  wirklich  eine  Frucht  der  Bewegung  sei,  dass  sie 
die  Bewegung  hervorbringe,    wenngleich  es  zuweilen  eintrifft,  son- 

b9)  Lotbarius  Sarsius,  ratio  ponderum  librae  ac  simbellaej    Opere  di  I 
herausgegeben  von  Alberi,  IV  p.  -186. 
X'.vum  Organum   II,  20. 
.    f.  Geschieht«  d.  Philosophie.    VII.  ]S 


n  e  n  li  e  i  m . 

:i    ,ia--  Wärme   selbst    nicht-   anderes    als    Be* 

!>;.•  wahre    hiernach  gefunden«     Definition  der 

\\  ...    wäre  nun  die  Wärme    isl    eine    expansive, 

.  die  kleineren  Teile  durchdringende  Bewegung."    Liebig 
l,a!  i  die  Gründe,  welche  Baco  für  si  isicht  anfuhrt, 

unmöglich  diejeni  in  können,   welche  zn  Ansicht  vom 

Wes  o  der  Wärme  geführt  haben").  Offenbar  Ist  also  Baco  zu 
.  sieht  über  das  Wesen  der  Wärme  dadurch  gekommen, 
,1a--  er  sich  Galilei  angeschlossen  hat.  Allerdings  ist  die  Schrift 
.  in  welcher  «li«-  citi<  Stelle  vorkommt,  schon  1620  er- 
schienen, während  Galilei's  Saggiatore  erst  L623  erschien.  Aber 
wir  wissen,  dass  Galilei  die  Gewohnheit  hatte,  in  Vorlesun- 

auch  -eine  noch  nicht  veröffentlichten  Ansichten  vorzutragen, 
and  dsu  Vorlesungen  Galilei's  zu  .-einen  Lebzeiten  über  alle  Län- 
der Europa's  verbreitet  waren.  Die  Ansicht  Galilei's  und  Baco's  über 
das  Wesen  der  Wärme  blieb  nicht  ohne  Wirkung  auf  die  un- 
mittelbar folgende  Zeit.  So  schreibt  Spinoza6'):  „Wenn  /..  1'..  die 
Ruhe  sich  vermehrt  and  die  Bewegung  Bich  vermindert,  so  wird 
dadurch  dann  der  Schmerz,  oder  die  l'nlu-t  verursacht,  welche 
wir  Kälte  nennen.  Wenn  aber  in  der  Bewegung  das  Gegenteil 
schient,  so  wird  dadurch  der  Schmerz,  den  wir  Hitze  nennen, 
verursacht."  Auch  Hooke,  der  Rivale  Newton's,  Fasste  die  Wärme 
als  eine  Art  »hr  Bewegung  auf"),  und  Locke  spricht  sich  über  diesen 
enstand  folgendermassen  aus  '  :  „Die  Wärme  ist  eine -ehr  lebhafte 
Bewegung  der  anwahrnehmbaren  kleinsten  Teile  eines  Gegenstandes, 
welche  in  uns  diejenige  Empfindung  hervorruft,  wegen  deren  wir 
den  Gegenstand  al.- wann  bezeichnen.  Was  in  unsrer  Empfindung 
als  Warne  'eint,    ist    also    am    Gegenstande    selbst    nur    Be- 


i  o  und  die  Geschichte   der  Naturwissenschaft;    Reden  und 

Abhandl  L  .  B  1874,  p. 

□  Auerbach,   II.  Bd.,  2.  Aufl.,  Stutt 

1871,  p. 

H  Physü  von  if  die  u<  ueste  Zeit, 

II.  Band.  Stuttgart   1884,  p.  731. 

Tyndall,   die  Wann,'   betrachtel   als    eine  Art  der  Bev  deutsch 

von  Elelmholtz  u.  Wiedemann,  Braunschwi  p.  33. 


Dei  Einflusa  Demokrit's  auf  Galilei.  26] 

wegung."  Und  io  Deutschland  lesen  wir  bei  einem  Geologen  aus 
der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  folgende  Auseinandersetzung65): 
„Metalle  schmelzen  demnach;  das  ist,  sie  werden  durch  die  ein- 
dringenden elastischen  Feuerteile  ausgedehnt;  es  trennt  sich  der 
feste  Zusammenhang  ihrer  Teile;  und  sie  werden  dadurch  weich. 
Ein  Satz,  der  durch  nichts  besser  kann  bewiesen  und  klar  gemachl 
werden  als  durch  die  Erkenntnis  des  Feuers  ....  Die  ganze 
Sache  kommt  also  kürzlich  darauf  an,  dass  man  wisse,  was  das 
Feuer  sei.  zum  Anderen,  dass  man  die  Metalle  in  ihrer  Zusammen- 
setzung kenne.  Dass  das  Feuer  grösstenteils  a  us  e  i  n  er  elastischen 
Bewegung  zart  saurer  im  höchsten  Grade  aufgeschlossener  Teile  be- 
stehe, ist  gewiss."  Vergegenwärtigen  wir  uns  nun.  dassRumford 
am  Mnde  des  vorigen  Jahrhunderts  die  moderne  mechanische  Wärme- 
theorie begründete,  so  glaube  ich  die  Kontinuität  von  Galilei  bis  zum 
Begründer  der  modernen  mechanischen  Wärmetheorie  nachgewiesen 
zu  haben.  Und  da  nun  Galilei's  Theorie  der  Wärme,  wie  wir 
sahen,  auf  diejenige  Demokrit's  zurückgeht,  so  haben  wir  Demokrit 
als  den  ersten  Begründer  unsrer  heutigen  Theorie  der  AYürrne  an- 
zusehen. —  Endlich  ist  Galilei's  Erneuerung  der  demokritischen 
I.'  hre  von  der  Subjektivität  der  Sinnesqualitäten  auch  für  die 
Physiologie  von  grosser  Bedeutung  geworden;  denn  die  Konse- 
quenzen welche  die  Physiologen  aus  der  Lehre  von  der  Subjekti- 
vität der  Sinnesqualitäten  gezogen  haben,  führten  zur  Entdeckung 
des  Gesetzes  von  der  spezifischen  Energie  der  Sinnesorgane;  und 
-  -  _e\\is-  kein  Zufall,  dass  gerade  ein  Physiuloge,  der  eine  so 
tiefe  philosophische  Bildung  besass  wie  Johannes  Müller,  zum  ersten 
Mal  da-  Prinzip  von  der  spezifischen  Energie  der  Sinnesorgane  mit 
voller  Klarheit  aussprach.  lud  iudem  Helniholtz  dieses  (iesetz 
bis  in  seine  letzten  Knn>e<[uenzen  durchführte,  gelangte  er  zu  seiner 
Entdeckung  von  der  Bedeutung  der  Corti'schen  Fasern  für  das 
Hören  and  zu  seiner  Ausbildung  der  Young'schen  Theorie  von  den 
drei  Grundfarben. 

Nach  alledem  werden  wir  nicht  umhin  können,  der  Philosophie 


65)  Lehmauu,  Abhandlung  von  den  Metallmüttern  und  der  Erzeugung  dei 
Metalle,  Berlin  llbö,  p.  23    24. 

18* 


1..", u  enhelm, 

zuzuerkennen,  als  man  ihr  im 
all.  gesteht     Nehmen  wir  hinzu,  dass  Demokril  auch  in 

der  Mathematik  sehr  bedeutend  war'    .  während  die  Anschauung, 
js  Plato  für  die  Entwicklung  nematik  \  Bedeu- 

tung gewesen  Bei,  lediglich  *im-   unhistorische   Leg    ide   ist67)    und 

jsend  in  der  Mathematik  war.  dass  Galilei  schon 
in    »in  gendschriften    ihm    diese  Unwissenheit    in    den 

stärksten  Ausdrück»  n  vorzuwerfen  wag  id  später  den  Simplicius, 

der  in  den  Diali        (  Immer  die  Anschauungen  des  Ari- 

teles  vertritt,  wiederholt  als  einen  Mann   hinstellt,  der  nichts  von 
Mathematik   versteht6    .   berücksichtigen  wir  weiter,    dass,   wir  im 

n    Halbbande    meines    i  rwähnten    W  erk<  a 

werden  wird,  die    Kant-Laplace'sche  Theorie,  die   ueu 
das    Prinzip    von    der    Erhaltung    der   Kratt    und  die  Darwinsche 
Theorie  nachweisbar  auf  Demokril  zurückgehen,    und  /war  in  der 
Weise,  dass  sich  die  kontinuirliche  Entwicklung  von  Demokril  bis 
Laplace,  Werner,   Belmholtz  und   Darwin  deutlich  verfolgen  I 
vergegenwärtigen   wir    uns  ausserdem,    da—    Demokrit    bereits    die 
experimentelle  Methode  in  solcher  Weise  handhabte,  dass  uns  be- 
richtet wird,  er  habe  sein  ganzes  Leben  unter  Experimenten  zu 
bracht  " ).    während  Plato  es  als  eine  unwissenschaftliche  Methode 
betrachi  inf  das  Zeugnis  der   sinn.'   zu   vertrauen,    und   sein 

Schüler  Aristoteles,  soweit  iinsre  Kenntnis  reicht,  kein  ein* 
Experiment  angestellt  hat.  bringen  wir  damit  in  Zusammenhang, 
dass  Demokrit  schon  die  richtige  Ansicht  hatte,  dass  die  höheren 
tentätigkeiten  aus  der  Sinneswahrnehmung  hervorgehen,  während 
Plato  und  Aristoteles  die  Ansicht  vertraten,  dass  die  Vernunft 
eine  von  dir  Sinneswahrnehmung  völlig  getrennte  Geistesfunktion  sei, 
eine  Ansicht,  welche  durch  ihre  Autorität  so  lange  herrschend  blieb, 
dass  selbst  Kant  dieselbe  uoch  nicht  völlig  überwunden  hat,  ziehen 
wir  dann  in  Betracht,  dass  Demokrit  es  ist,  welcher  die  berühmte 


i ..  i  .  p.  122—123. 

i  p.  132     133,  T 

Opere  M  p.  63. 
ipere  I  p.36,  218,  224  10;  XIII  p.93,  ■• 

P(  tro arbiti  r,  ed.  Bi 


Einfluss  Demokrifs  auf  Galilei.  263 

Theorie  vom  Gesellschaftsvertrag   aufgestellt  hat71),    und  dass,    da 
Lucrez,  der  diese  demokritische  Theorie  auseinandersetzt,  im  17.  und 
18.  Jahrhunderl  sehrviel  gelesen  worden  ist,  Hobbes  und  Rousseau 
diese  Theorie  schwerlich,  wie  Gierke  behauptet78),  aus  dem  wenig 
bekannten   Schriftsteller  Althusius,    sondern    aus   Lucrez  geschöpfl 
haben  werden,   tragen   wir   weiter  der  Thatsache   Rechnung,    dass 
die  Ethik  Epicur's,  der  in  der  Ethik  ebensowohl  wie  in  der  Physik 
sich  an  Demokrii  anschliesst"),  nicht  ohne  Einfluss  auf  die  christ- 
liche  Ethik    geblieben   ist7*),   ja   dass  sogar  die   Ethik   Demokrifs 
höchsl  wahrscheinlich  direkten   Einfluss    auf   die    christliche  Ethik 
ausgeübt  hat,  da  einige  Aussprüche  Demokrifs  an  das  Evangelium 
erinnern75),  die  Evangelien  wahrscheinlich  in  Aegypten  geschrieben 
sind  und  die  christlichen  Dogmatiker  der  alexandrinischen  Schule 
sich  eingehend  mit  der  Ethik  Demokrifs  beschäftigt  haben76),  fügen 
wir  endlich  hinzu,   dass  Demokrit  unsres  "Wissens   der   erste   Kos- 
mopolit  war77)    und  dass  er  in   dieser  Beziehung    auf   die  Cyniker 
gewirkt  hat,  die  Cyniker  auf  die  Stoiker  und  die  Stoiker  auf  die 
Christen,    so    werden    wir    uns  nicht    länger    der  Erkenntnis   ver- 
schliessen  können,  dass  die  Lehre  Demokrifs  eine  grössere  Beach- 
tung verdient,  als  die  üblichen  Lehrbücher  der  Geschichte  der  Phi- 
losophie ihr  beizumessen  pflegen. 

In  der  That  spricht  Vieles  dafür,  dass  die  alexandrinischen 
Gelehrten  Demokrit  höher  gestellt  haben  als  Plato  und  Aristoteles. 
Hatte  doch  Archimedes  in  Alexandrien  studiert,   welcher  dereinst 


ri)  Lucrez,  De  natura   rerum  V,  1017  —  1025,  1141—1148.     Diese  Lucrez- 
■11    in    einer    Erörterung    über    die    Entwicklung   des   Menschen- 
Uechts,  welche  nachweisbar  auf  Demokrit  zurückgeht. 
'-)  Gierke,  Johannes  Althusius  und  die  Entwicklung  der  naturrechtlichen 
Staatstheorie,  Breslau  1880. 

73)  I  ■  Epicureische  Schriften  auf  Stein;  Rheinisches  Museum,  neue 
Fol.             17,  p.  425. 

74)  Zeller,  Die  Philosophie  der  Griechen,  [IIa3  p.464,  Ahm.-. 

75)  Man  vergleiche  Fragmenl  160  der  ethischen  Fragmente  Demokrit's  mit 
Math.  VI, 1,  Fragment  1  mit  Math.  VI, 25,  Fragment  94  u.  95  mit  Math.  MI. 
3—5. 

76)  Lortzing,   üeber  die  ethischen   Fragmente  Demokrit's,  Programm 
Sopl         Gymnasiums,  Berlin  1873,  p.  20 — 21. 

I     gmenl  225  der  ethischen  Fragmente  Demokrit'-. 


.v  e  n  h  e  i  m . 

das  Echo  Ute,  das    die    Stimme    Demokrit's    duroh   die 

Jahrhui  hindurch    bis  zu  den  Ohren  Galilei's    dringen    liess. 

-  halt  ans  den  Händen  der  Alexandriner  in  die 
Hände  ing,  wurde  die  Sache  anders.    Der  bekannten 

Thal  bei   der  Eroberung  von  Syrakus  Archimedes  von 

einem  römischen  Soldaten  ermorde!   wurde,  kommt   eine  geradezu 

bolische  Bedeutung  zu;  durch  die  römische  Militärmacht  wurde 
die  griechische  W  issenschafl  ertötet.     Boraz  sagt  einmal,  dasa  das 

rwältigte  Griechenland  seinerseits  den  wilden  Sieger  überwältigte, 
in. Irin  es  seine  Kultur  zu  den  Latinern  brachte1  Diese  Behaup- 
tung is1  seil  den  Zeiten  des  Soraz  anendlich  ofl  wiederholt  worden; 
und  doch  ist  Bie  nur  in  sehr  bedingtem  Masse  richtig.  Gewisa 
sind  die  Römer  durch  die  griechische  Kultur  beeinflussl  worden. 
Aber  sie  haben  auch  ihrerseits  wiederum  die  griechische  Kultur  be- 
einflusst.  Nicht  nur  in  politischer,  sondern  auch  in  kultureller 
Beziehung  wurde  die  griechische  Well  von  römischen  Anschauungen 
abhängig.  Dies  fand  seinen  prägnantesten  Ausdruck  darin,  dass jetzt 
auch  die  Griechen  Plato  und  Aristoteles  höher  stellten  als  Demokrit. 
Mit  besonderem  Eiferwandten  Bich  die  Römer  dem  Studium  des  Aristo- 
teles zu,  dm-  ihnen  schon  deswegen  sympathisch  war.  weil  er  keine 
mathematischen  Kenntnisse  besass.  Denn  vielleicht  bestehl  der 
wichtigste  unterschied  zwischen  der  griechischen  und  der  römischen 
Kultur  darin,  dass  in  der  höheren  Bildung  der  Griechen  die  Ma- 
thematik eine  sehr  grosse  Rolle  spielte,  in  der  Bildung  der  Römer 
dagegen  so  gu1  wie  gar  keine.  Dazu  kam,  dass  Aristoteles  über 
die  liedensten  Wissensgebiete  geschrieben  hatte  und  man  daher 

glaubte,    durch  Auszüge  aus  Aristoteles  in  der  bequemsten  W 
das  ganze  Wissen  sich  in  kurzer  Zeit  zu  eigen  machen  zu  können. 

wurden  denn  in  den  von  Römern  besuchten  Schulen  die  Haupt- 
werke des  Aristoteles  zum  Inbegriff  alles  Wissens.  \  on  dem  Schick- 
sal dieser  Werke  wusste  man  eine  sehr  romantische  Geschichte 
zu  erzählen.  Danach  kamen  sie  nach  dem  Tode  des  Aristoteles 
zunächst  in  den  Besitz  de.  Theophrasl  und  nach  dessen  Tode  in 
den  Besitz  seines  Erben  Neleus  aus  Skepsis  in  Kleinasien.     Dieser 


piatel  il.  I,  156. 


Der  Einflu88  Demokrit's  auf  Galilei.  265 

w.-ir  ein   eifriger  Zuhörer    des  Aristoteles    and    des  Theophrasi  ge- 
wesen.     Aber   Beine   Nachkommen    besassen    keine    philosophische 
Bildung.     Sie  hatten  daher  keine  grössere  Sorge  als  ihren  Bücher- 
schatz  vor  den  Nachstellungen  der   pergamenischen   Könige  zu   be- 
wahren, welche  bei  der  Begründung  der  pergamenischen  Bibliothek 
eifrig  Dach  wertvollen  Büchern  fahndeten.     Sie  verbargen  daher  die 
Schriften  des  Aristoteles   in   einem  dunklen  Keller,    wo   sie  durch 
Moder  und  Metten  zum  Teil  zerfressen  wurden.    Endlich  verkauften 
sie    dieselben  an  Apelliko  aus  Tees,    der  sie  Dach  Athen  brachte. 
Er  war  mehr  Bücherliebhaber  als  Philosoph,  füllte  die  Lücken,  so 
gul    es  ging,    aus   und  stellte   neue   Exemplare  her.      Diese  fielen, 
nachdem  die  Römer  Athen  erobert  hatten,    dem  Sulla  als  Kriegs- 
beute in  die  Hände.     Sulla  brachte  sie  nach  Rom.     Und  hier  er- 
hielt Tyrannio  die  Erlaubnis,   sie  zu  benutzen.      Von   ihm   erhielt 
sie  Andronicus  von  Rhodus,  welcher  die  erste  Ausgabe  der  Ilaupt- 
schriften  des  Aristoteles  veranstaltete,  wodurch  diese  Schrillen  erst 
einem  grösseren  Publikum  zugänglich  wurden.     Es  besteht  heutzu- 
tage kein  Zweil'el  mehr  darüber,  dass  diese  Geschichte  unhistorisch 
ist.     Man   hat  alter  meines   Wissens  noch   nicht  versucht,  die  Ent- 
stehung dieser  eigentümlichen  Legende  zu  erklären.      Diese  Erklä- 
rung schein!    mir  sehr  nahe  zu  liegen.      Den  Römern    musste    es 
aullallen,  dass  der  Mann,  den  sie  für  den  grössten  Philosophen  der 
Griechen  hielten,  hei  den  Griechen  selbst  so  wenig  Beachtung  ge- 
funden hatte:  und  sie   suchten  daher   nach  einer  Erklärung  dieser 
l'ür  sie  befremdlichen  Thatsache.     Seit  den  Zeiten  des  Andronicus 
von   Rhodus  stand  nun  bei  den  Römern  Aristoteles  im  Mittelpunkt 
des  philosophischen  Interesses.     Allerdings  erhielt  auch  die  Philo- 
sophie Demokrit's  in  der  verwässerten  Gestalt,   welche  Epikur  ihr 
l>en.  durch   da-   Lehrgedicht  des  Lucrez  bei  den  Römern    eine 
gewisse  Verbreitung.      Doch    trat  seit    dem  Beginn  der  Kaiserzeil 
die    demokritisch -epikureische    Philosophie    immer    mehr    zurück. 
und    mit    dem    Siege    des    Christentums    und    der  damit    im  Zu- 
sammenhang stehenden  Schliessung  der  öniversitäl  Athen  verschwand 
sie    ganz    vom    Schauplatz.       So    blieb    sie    während    des    ganzen 
Mittelalters  vollständig    verschollen;    und   Aristoteles  galt  daher  im 
Mittelalter  als  der  Meister  derer,  die  da  wissen.     Die  demokritisch- 


266  '.v  e  n  h  e  i  m , 

epicureische  Philosophie  wurde  aber  zu  oen  kt,  al< 

••ii  IIa:  -   15.  Jahrhunderts  ein  italienischer  Philolo 

inl1  land  ein  Exemplar  des  Lucrez  entdeckte.     Die  erste  Wir- 

k ii i  nng  war  die  Erneuerung  der  Lehre  vom  S 

Wichtiger«  dass  die  Lektüre  des  Lu<  -  q  Ein- 

druck auf  Giordano  Bruno  macht        Wie  dieser  infolge  davon   in 
schaftliche  Entwicklung  eingegriffen  hat,  haben  wir  oben 
ben.     Sein  Tod,   den  <t  auf  i         Scheiterhaufen  als  Märtyi 
ong  erlitt,  i.:illt   in   das   letzte  J  hr  des  16.  Jahr- 
hunderts.    In  diesem  Jahrhundert  hatte  die  vnn  den  Arabern  nach 
Europa  gebrachte  mathematische  Wissenschaft  immer  weitere  Aus- 
dehnuc  innen.     Und   in  demselben    Masse   wie   dies    geschah, 

wuchs    die   Abneigut  ?en    Arisf  Aber    all«-    Stimmen, 

weli  li    im    L6.  Jahrhundert  Aristoteles  erhoben,    ver- 

mochten seine  Autorität  Dicht  zu  brechen,  Bondern  nur  zu  er- 
schüttern. Erst  Galilei  blieb  es  vorbehalten,  die  Autorität  des 
Aristoteles  für  immer  zu  vernichten,  indem  er  mit  allen  Mitteln 
Beines  reichen  Geistes,  durch  philosophische  Deduktionen,  durch 
mathematische  Rechnungen  and  durch  Beobachtung  der  Natur  zu 
zeigen  versuchte,  dass  man  auf  dem  Sandboden  der  aristotelischen 
Philosophie  kein  wissenschaftliches  Gebäude  errichten  könne,  son- 
dern dass  die  erste  Vorbedingung  für  einen  Fortschritt  der  Wissen- 
schaft darin  bestehe,  von  Aristoteles  oichl  auf  Epikur,  sondern  auf 
Demokrif  zurückzugehen.  \  ron  den  gewaltigen  Kämpfen,  welche 
dieses  Vorgehen  Galilei's  hervorrief,  können  wir  uns  nur  schwer 
eine  Vorstellung  machen,  ich  bin  überzeugt,  dass  die  Verurteilung 
Galilei's  ihren  tieferen  Grund  darin  hat,  dass  er  das  System  des 
Atheisten  Demokrif  erneuerl  hatte;  dass  das  von  ihm  verteidigte 
heliocentrisch  m  mit  einer  Bibelstelle  im  Widerspruch  steht, 

war  nur  ein  Vorwand,  den  man  brauchte,  weil  Galilei  so  vorsichtig 
gewesen  war.  nur  in  solchen  Punkten  seine  Zustimmung  zu  dem 
System  Demokrit's  auszusprechen,  die  vollkommen  unverfänglich 
wann.  Nachdem  alle  Einsichtigen  sich  davon  überzeugt  hatten. 
dass  Galilei  gegen  Aristoteles  Recht  behalten  musste,  war  die  not- 
wendige Folge  davon,  dass  man  allgemein  Demokrif  über  Aristo- 
bei  Ite,      Wenn    Baco  von   Verulam    zu    den    Ersten    gehört, 


Der  Einfluss  Demokrit'a  auf  Galilei.  26*3 

weicht-  dies  aussprachen,  so  liegl  dies  nur  daran,  dass  er  sich  früh 
von  den  Anschauungen  Galilei's  zu  unterrichten  wusste;  denn  aus 
einem  an  Baco  gerichteteten  Brief  wissen  wir,  dass  er  sich  Galilei's 
Abhandlung  über  die  schwimmenden  Körper,  welche,  wie  wir  oben 
sahen,  Demokril  als  dein  Aristoteles  hinsichtlich  der  Feinheil  seines 
gediegenen    Philosophierens    überlegen    bezeichnet,    zu    verschaffen 
wusste,  bevor  er  seine  philosophischen  Werke  verfasste T9).     Ebenso 
spricht  CaTtesius  von  den  „grossen  Männern  Epikur,  Demokril  und 
Lucrez",  deren  Autoritäl  er  als  einen  Grund  gegen  seine  Ansicht 
vod    der   Nichtexistenz    eines  leeren  Raumes  anführt,    während  er 
die  Thatsache,    dass  diese  Ansicht    mit    derjenigen  des  Aristoteles 
übereinstimmt,  nicht  einmal  für  der  Erwähnung  wert  hält"),     und 
Spinoza,    der  mehr  von  Galilei  abhängig  ist,    als   man  gewöhnlich 
annimmt"1),  sagt,  dass  er  auf  die  Autorität  eines  Plato,  Aristoteles 
und  Sokrates  nicht  viel  gebe,  während  er  von  Demokrit  mit  _ 
Achtung  spricht88).     Die  Autorität,  welche  Demokrit  im  17.  Jahr- 
hundert erlangt  hatte,  wurde  von  Bedeutung  für  die  Geologie.    In 
der  Geologie  besteht  nämlich    der  Unterschied    zwischen  Demokrit 
und  .Aristoteles    darin,    dass  Demokrit    lehrte,    dass    das   Meer  in 
langen  Zeiträumen    allmählich  abnimmt,    während  Aristoteles  hier 
ebenso  wie    auf   allen  übrigen  Gebieten  im  Natur-  und  Menschen- 
leben annahm,  dass  nur  Schwankungen  um  einen  sich  ewig  gleich- 
bleibenden Gleichgewichtszustand  stattfinden  *3).    Im  17.  Jahrhundert 
nahm    man   nun  die  Theorie  Demokrit's  an  und  führte  sie  bis  zu 
der  Konsequenz,  dass  ursprünglich  die  ganze  Erdkugel  von  Wasser 
liedeckt  war,  wodurch  die  schon  im  16.  Jahrhundert  angenommene 
oeptunistische  Theorie    eine    prägnantere  Gestalt    erhielt  und  nun 
für  die  gesammte  folgende  Geschichte  der  Geologie  von  massgeben- 


79)  Lil>ri.  Histoire  des  sciences  mathematiques  IV,  Halle  18(;.'),  p.  4G6. 
«>)  Lettres  de  Descartes,  Paris  1657,  p.  331.  (Brief' 

Spiuoza's   Unterscheidung    zwischen    Erkenntnis  zweiter  Art    und    Er- 
atnis  dritter  Art  (Ethik  II  prop.  40  schol.  2)  sehliesst  sich  anmittelbar  an 
an  Galilei'-  Unterscheidung  zwischen  menschlicher   und  göttlicher  Erkenntnis 
re  1  |'.  116 — 117)  und  kann  nur  unter  \  <>iaussetzung  dieser  Stelle  in  Ga- 
lilei's Werken  Oberhaupt  verstanden   werden. 
Spinoza,  Brief  GO  gegen  Schluss. 
83)  Ar.  Meteor.  11,3  p.  356  b— 357  a. 


1.    «renheim,  I'er  Einflosa  Demokrit's  auf  Galilei. 

dem  Einfluss  ward.    l>m  Kampfe  des  IT.  Jahrhunderts,  welche  dazu 
öhrt  hatten,    Demokrif   aber  Aristoteles  zu  stellen,  ten  im 

18.  Jahrhundert,  9 das  >i<-li  durch  einen  ausserordentlichen  Mangel 
an  historischem  sinn  auszeichnet,  allmählich  in  \  senheit 
Immerhin  i   Wleland's    „Abdorrten"    and   Lafontaine's   Fabel 

von  Demokril  und  den  Abderiten,  dass  sich  im  18.  Jahrhundert 
\  ratellung  erhalten  hat,  dass  Demokril  ein  sehr  bedeu- 
tender Gelehrter  war.  Im  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  aber  be- 
herrschte die  Romantik  alle  Gebi<  I  »ens.  Und  so 
kann  es  ans  nichl  wundern,  dass  man  sowohl  die  romantische 
Philosophie  der  Neuzeit,  deren  Hauptrepräsentanl  Hegel  ist,  wie 
die  romantische  Philosophie  des  Altertums,  deren  Repräsentanten 
Plato  und  Aristoteles  sind,  höher  stellte  als  diejenigen  Richtung 
der  Philosophie,  welche  mehr  Fühlung  mit  der  Naturwissenschaft 
haben,  da  die  romantische  Richtung  ihre  Spitz«  in  das  natur- 
wissenschaftliche Denken  richtete.  So  isl  es  gekommen,  dass  man 
im  Zeitalter  der  Romantik  die  Philosophie Demokrit's  alles  Ern 
für  «'im'  anwissenschaftliche  Entartung  der  Systeme  des  Empedol 
and  Anaxagoras  erklärte.  In  dem  Masse  nun.  wie  mau  sich  von  der 
Romantik  emanzipierte,  hal  man  Demokril  allmählich  wieder  immer 
höher  schätzen  lernen.  I<'li  glaube  aber  Dicht,  dass  dieser  Prozess  be- 
reits beendel  ist;  und  vielleicht  kann  der  hier  versuchte  Nachweis 
von  dem  grossen  Einflüsse  Demokrit's  auf  Galilei,  welcher  die  beiden 
Brennpunkte  in  der  bisherigen  Entwicklung  <  1«t  menschlichen  Kultur, 
nämlich  das  5.  vorchristliche  und  das  IT.  nachchristliche  Jahrhun- 
dert, in  die  innigste  Beziehung  zu  einander  setzt,  etwa-  dazu  bei- 
tragen, der  Lehn'  Demokrit's  in  der  Geschichte  der  Philosophie 
eine  höhere  Bedeutung  beizulegen,  als  es  j«'t/.i  üblich  ist. 


Giordano  Bruno  und  Spinoza. 

Von 
Wilhelm  Dilthey  in  Berlin. 

Erster  Artikel. 

Giordano  Bruno  ist  das  erste  Glied  in  der  Kette  pantheistischer 
Denker,  welche  durch  Spinoza  und  Shaftesbury,  durch  Robinet, 
Diderot,  Deschamps  und  Buffon,  durch  Hemsterhuys,  Herder,  Goethe 
und  Schelling  zur  Gegenwart  geht.  So  bildet  seine  Stellung  in  dies 
Entwicklung  und  sein  geschichtliches  Verhältniss  zu  dem  pantheisti- 
schen  Monismus  von  Spinoza  und  zu  der  Monadologie  von  Leibniz 
ein  erhebliches  geschichtliches  Problem.  In  dem  Zusammenhang, 
welchen  diese  Aufsätze  in  der  Entstehung  der  neueren  Philosophie 
aufzuzeigen  suchen,    hat  aber  seine  Person   eine  noch  viel  weiter 

ifende  Bedeutung.      Auf  Grund  der  Entdeckung  des  Copernicus 

hat  er  zuerst  den  Widerspruch  des  wissenschaftlichen  Bewusstseins 

■n  die  Dogmen  aller  christlichen  Confessiönen  aus  einem  grossen 

sichtspunkt  gezeigt  und  den  modernen  Ideen  und  Lebensidealen 
einen  ersten  ganz  universalen  philosophischen  Ausdruck  in  einem 
von  der  Autonomie  des  Denkens  erfüllten  System  gegeben.  Seine 
erklärenden  Naturbegriffe  gehören  noch  der  Vergangenheit  an:  aber 
der  Athem,  der  sie  beseelt  und  verbindet  ist  moderner  Geist:  dieser 
kündigt  sich  in  ihm  wie  in  einer  Morgendämmerung  an,  in 
welcher  die  Schatten  der  Nacht  sich  noch  mit  dem  Licht  der  auf- 
gehenden Sonne  mischen. 

Wir    zergliedern    zunächst    das    in   Giordano   Bruno    gelegene 


270  Wilhelm  Dilthej  . 

schichtliche    Problem.      Giordano    Bruno    ist    der  erste    monisti- 
sche Philosoph  der   oeueren  Völker;    denn  ihm    ist    die    göttliche 
mg  um   die  andere   and  anabtrennbare   S        der  Materie: 
bilden  beide  S  die  Eine  anendliche  Welt,  deren  Zu- 

imenhangGotl  ist,    DerB        dies  s  Monismus  ist  eine  neue  ast 
aoi  Ansichl  and  deren   metaphysische  Verwerthung  im  Sinn-' 

i\rv  Schönheitsherrlichkeil  der  Welt,   entsprechend  dem  Be 
wusstsein  der  italienischen  Renaissance.  Das  praktische  Ziel  desselben 
ist  die  Lehre  vom  heroischen  Affekt,  in  welch«  i  uiiber  «lein 

Christ enth um  die  Seelenstimmung  der  Renaissance  zur  moralischen 

mel  erhoben  wird.  So  1  * •  1 » i  in  den  Grundideen  Brunos  <I<t  * i.i-t 
der  Renaissance.  Giordano  Bruno  isl  zugleich,  aach  der  Seite  der 
Form  angesehen,  der  erste  welcher  innerhalb  der  Deueren  europäi- 
schen Völker  die  Kunstform  der  Philosophie  wiederfand,  aach  der 
langen  Herrschaft  der  scholastischen  Architektonik  sowie  nach  der 
mystischen    und    humanistischen   Erschlaffung  des    philosophischen 

3.  Es  muss  nun  einen  Einheitspunkt  geben,  anter  welchem  G 
halt  und  Form  des  Dichterphilosophen  gänzlich  verständlich  werden, 
ine  Person  dieselbe  Frage  als  die  Piatos.  Aber  ein 
reiches  Material  gestattet  uns.  diese  Frage,  die  in  Bezug  auf  Plato 
vielleicht  immer  nur  in  einem  gewissen  Nebel  von  Allgemeinheit 
wird  beantwortet   werden    können,    in  Bezug   auf  Giordano  Bruno 

wirklich  zu  entscheiden.    Giordi Bruno  war  der  Philosoph  der 

italienischen  Renaissance,  [hr  künstlerisches  Lebensgefühl  und 
ihr«-  Lebensideale  wurden  durch  ihn  zu  einer  Weltansicht  und  zu 
einer  moralischen  Formel  erhoben.  Dieser  Geisl  der  Renaissance 
steigerte  sieh  aber  hier  darum  zn  philosophischen  Schöpfungen  von 
entscheidender  Bedeutung,  weil  er  sich  in  Bruno  mit  dem  wissen- 
schaftlichen  Bewusstsein  von  An  inhaltlichen  und  methodischen 
Tragweite  der  Entdeckung  des  Copernicus  verband.  So  belebte 
sich  in  ihm  das  ganze  Material  der  europäischen  Metaphysik, 
au  sieh  grossentheils  eine  nun  schon  todte  Masse,  zur  Lehre  vom 
Einen,  unendlichen  und  göttlichen  Universum.  Das  ästhetische 
Vermögen  der  Renaissance  liess  auch  in  seinem  Verfall  zur  Künst- 
lichkeit   und   I  eberladung    <\<n-\\   in    ihm    ooeh    den  ersten   philo- 

»hisohen  Künstler  der  modernen  Welt  erwachsen. 


Giordano  Bruno  und  Spinoza.  271 


Giordano  Bruno  isl  im  Jahre  L548  geboren.  In  Nola,  einer 
wahrscheinlich  von  GriecheE  gegründeten  Provinzialstadl  am  nord- 
westlichen Fuss  des  Vesuv,  um  welche  alle  Zauber  tropischer  Lebens- 
fülle ausgebreitel  sind.  Tasso  sag!  einmal  „die  Erde  brächte  über- 
all die  ihr  ähnlichen  Bewohner  hervor"  (La  terra  simili  a  se  gli 
abitator'  produce).  Bruno  war  der  Sohn  dieses  Landstrichs  zwischen 
Vesuv  uml  Mittelmeer.  Feurig  wie  der  Vesuv  und  das  brennende 
Luftmeer  über  diesem  Lande,  gleichsam  eine  Aeusserung  der  Natur- 
kraft die  dort  in  der  üppigen  Vegetation  waltet  und  von  Con- 
trasten  launisch  bestimmt,  wie  der  Landstrich  sie  zeigt.  Er  erzählt 
im  lateinischen  Gedichl  l>e  Inunenso  (III,  1)  wie  dem  Knaben, 
im  Contrast  zu  den  mit  Kastanien,  Lorbeeren  und  Myrten  bedeck- 
ten Umgebungen  Nolas,  der  Vesuv  als  eine  düstere,  unfruchtbare 
Masse  erschien:  als  er  sich  ihm  aber  näherte,  umgaben  ihn  auch 
hier  Reben  und  tropische  Naturfülle:  damals  zuerst  habe  er  erkannt, 
dass  die  Natur  überall  schön  sei. 

In  den  Jahren  seiner  Kindheit  und  ersten  Jugend  lag  noch 
der  eiste  Glanz  der  Renaissance  über  Italien.  Michel  Angelo  und 
Tizian  waren  noch  am  Leben.  Aber  schon  gelangte  der  Jesuiten- 
orden unter  seinem  zweiten  General  Lainez  zum  Bewusstsein  seiner 
welthistorischen  Mission  und  das  Trientcr  Conzil  sammelte  alle 
innere  Kraft  des  Katholicismus.  Man  könnte  sich  denken,  dass 
er  sich  in  heiterer  Lebensfülle  zu  einem  grossen  Dichter  entfaltet 
hätte  wie  sein  älterer  Zeitgenosse  Tasso  und  der  jüngere  Ariost. 
War  doch  eine  mächtige  Einbildungskraft  in  ihm.  Aber  sie  war 
wie  in  Lionardo  und  Galilei  verbunden  mit  einem  ausserordent- 
lichen Vermögen  wissenschaftlicher  Combination  und  einem  feinen 
tiefdringenden  Verstände.  Da  entschied  es  nun  über  sein  Leben. 
dass  er  nach  dem  gewöhnlichen  humanistisch  scholastischen  ünter- 
richl  jener  Tage  in  seinem  1  1.  oder  15.  Jahre  (1562  oder  1563) 
in  den  homiuikanerorden  eintrat.  Im  Kloster  des  heiligen  Donii- 
nicus  zu  Neapel,  wo  einsl  Thomas  von  Aquino  gelebt  und  gelehrt, 
hatte,  verweilte  er  zueilt,  empfing  die  Priesterweihe  1572,  dann 
hielt    er    sich    an   verschiedenen   benachbarten  Orten  zeitweise   zu 


272  Wilhelm  Dill 


kirchlichen  l1  auf,  bis   157<  r  im  Orden  geblieben.     In 

15  Jahren  bis  zu  seinem  "_'s.  Lebensjahr  legte  er  den 

ind    zu  selten   ausgebreiteten   philosophischen  Belesenheit 

bronomischen  Kenntnissen,  wodurch  ihm  dann. 
Id  er  das  Kloster  verliess,  ermöglicht  wurde,  in  der  Philosophie 
und  der  Astronomie  zu  unterrichten.  Zugleich  versuchte  er  sich 
im  Kloster  in  tragischer  und  in  komischer  Dichtung.  Er  schrieb 
wahrscheinlich  schon  dort  in  erstem  Entwurf  das  Lustspiel  II  Can- 
delajo,  dessen  derber  Cynismus  nach  Klosterlufl  riecht,  und  eine 
verlorene  Allegorie  Parca  di  N  den  Rangstreit  der  Thiere  und 

die  Wind-'  des  Esels  gewiss  in  demselben  burlesken  Ton  behandelt 
hat:  wie  denn  auf  diesem  Boden  derbe  Stoffe  und  Spassmacherei 
heimisch  waren.     Doch  müssen  den  genialen  Jüngling  damals  die 

-.ii  kirchlichen  Streitigkeiten  auch  ernsl  berührl  haben.  Denn 
schon  der  Novize  entfernte  aus  seiner  Zelle  die  Heiligenbilder  und 
behielt  nur  das  Kruzifix.  Er  empfahl  einem  Genossen,  statt  der 
sieben  Freuden  der  Madonna  das  Leben  der  heiligen  Väter  zu  lesen. 
Mit  achtzehn  Jahren  fasste  er  dann  Zweifel   an  der  Trinität,  der 

theil  Christi  und  der  Verwandlung  im  Messopfer.  Solche  Ketze- 
reien nahm  die  neue  katholische  Restauration  ernster  als  das  in 
den  guten  alten  Zeiten  Leos  X.  üblich  gewesen  war.  So  entwich 
Giordano  Bruno  aus  dem  Kloster.    Er  stand  nun  im  28.  Jahre,  seine 

Lehrjahre   waren   zu    Eni 

Vergebens  suchl  man  in  der  eintönigen  düstern  zurückhalten- 
den Erzählung  seines  Lebens  vor  dem  venetianischen  Inquisitions- 
tribunal  nach  einer  Spur  von  dem,  was  die  Seele  des  genialen 
Jünglings,   den  über  -eine  Klostermauern  weg   das  bunte  Treiben 

der    lärmendsten    Stadt    der    Welt    und    alle    Zauber    des    Golfs    von 

Neapel  anlachten,  in  diesen  schönsten  Jahren  des  Lebens  erfüllt 
haben  mag.  Sicher  begann  er  als  Anhänger  des  Aristoteles.  Die 
Dominikaner  schworen  auf  Aristoteles  und  dessen  Fortsetzer  Thomas, 
der  ja  der  Philosoph  des  Klosters  war.  Die  tiefdringende  Kennt- 
nis- des  Aristoteles,  welche  Bruno  später  überall  zeigt,  die  be- 
ständige Gegenwart  dieses  Denkers  vor  seinem  Geiste,  gleichviel 
welche  Frage  er  Bpäter  erörtert,  weisen  auf  eine  Längere  Herrschaft 
•  Iben   über    sein   Denken   mit   grosser   Wahrscheinlichkeit   hin. 


Giordano  Bruno  und  Spinc  •_',:'■ 

Und  von  den  astronomischen  Ansichten  des  Aristoteles  erwähnl  er 

ausdrücklich  an  mehreren  Stdlcn  .seiner  Werke,  er  babe  in  seiner 
Jugend  ihnen  angehangen.  Wie  kurz  oder  lang  diese  Herrschaft 
der  üblichen  Schule  aber  seinen  jungen  Geisl  gedauert  haben  mau: 

ct  wandte  sich  von  ihr  ab.  Er  berichtet  selber  von  sich,  dass  er  nun 
eine  lange  Zeit  hindurch  Anhänger  des  Naturalismus  gewesen  sei. 
Auch  diese  Entwicklungsepoche  muss  man  zweifellos  in  seine  ita- 
lienischen Lehrjahre  verlegen.  Er  spricht  von  der  Theorie  nach 
welcher  die  Formen  zufällige  Zustände  der  .Materie  .sind,  diese 
Materie  selbl  aber  die  Substanz  der  Dinge,  die  göttliche  Natur  ist. 
Er  nennt  Demokrit  und  die  Epikureer  als  ihre  Repräsentanten, 
dann  die  Stoiker  und  Avicebron.  „Ich  bin  lange  dieser  Theorie 
sehr  zugethan  gewesen,  und  zwar  nur  darum,  weil  ihre  Grund- 
lagen der  Wirklichkeit  mehr  entsprechen  als  die  des  Aristoteles1)." 
Frag!  man  nach  den  Schriften,  deren  Einfluss  in  dieser  Wendung 
zur  Geltung  kam,  so  ist  zunächst  an  Lucrez  und  vielgelesene  Nach- 
bildungen desselben,  wie  das  Gedicht  des  Capicius  de  natura  rerum, 
sowie  au  seinen  Landsmann  Telesio  zu  denken.  Telesio  hatte 
nach  dem  Erscheinen  seines  Werkes  de  natura  rerum  1565  dem 
Andringen  seiner  Verehrer  nachgegeben,  er  lebte  in  Neapel  und 
hielt  dort  allgemein  gehörte  und  bewunderte  Vorträge,  dort  ent- 
stand auch  unter  seiner  Autorität  die  Akademie,  welche  den 
Aristoteles  zu  stürzen  und  das  Naturwissen  zu  begründen  beab- 
sichtigte. Bruno  hat  das  Recht  dieser  naturalistischen  Philosophie, 
und  besonders  des  Telesio  auch  damals  noch  anerkannt  als  er  1484 
seine  reden  Ansichten  darstellte-).  Aber  sein  künstlerischer  tief- 
sinniger <ieist  bedurfte  einer  idealen  Ergänzung  dieses  Standpunktes. 
In  dem  citirten  Bericht  fährt  er  fort:  „Doch  nachdem  ich  reiflicher 
erwogen  und  mehrere  Thatsachen  berücksichtigt  hatte,  fand  ich 
nothwendig,  in  der  Natur  zwei  Arten  von  Substanzen,  Form  die 
eine  und  Materie  die  andere,  anzuerkennen3)."  Mit  diesen  Worten 
will  er  die  platonisirende  Ergänzung  des  Naturalismus  bezeichnen, 
welche    seine    Schrift     über   die    Ursache    und    das   Eine   näher   eiit- 

')  De  la  causa,  dialogo  terzo  ed.  Wagner  p.  250. 
'-■)  So  im   dritten   Dialug  de  la  cau 
*)  ebendaselbst. 


27  \  Wilhelm  Dilti).  \. 

wickelt  hat:  sonach  den  (Jebergang  zu  seinem  definitiven  Stand- 
punl  Es  erscheint  min  aus  mehreren  Gründen  als  das  Natür- 
lichste anzunehmen,  dass  er  auch  diesen  definitiven  Standpunkt 
im  Prinzip  gefunden  bat,  ehe  er  aus  m  Kloster  entfloh,  ob- 

wohl es  nicht  erwiesen  werden  kann. 

welchem  Punkte  dieser  Entwicklung  die  Bekanntschaft  mit 
sehen  System  eingriff,   weiss   ich  nicht  anzugeben. 

isl   aber  gewiss,    dass  sich  dii  ändern  1er   Naturan- 

sichl  ziemlich  früh  in  diesen  Lehrjahren  zugetragen  hat  Er  hatte 
der  aristotelischen  Astronomie  angehangen,  in  zartem  Jünglings- 
alter schon  wurde  er  dann  von  der  Wahrheit  des  copernicanischen 

ems  überzeugt.  „Edler  Copernicus,  dessen  Schriftdenkmale  in 
/arten  Jahren  meinen  Geisl  in  Bewegung  versetzten4)."  Und  ebenso 
sich.r  ist,  dass  Copernicus  in  ihm  eine  Revolution  hervorbrachte, 
aus  welcher  der  originale  Grundgedanke  sein,-  Systems  hervor- 
ging und  sich  allmälig  in  all  seinen  Consequenzen  entwickelte. 
Die  Stimmung  in  welcher  er  das  Kloster  und  die  Enge  des 
ptolemäisch -kirchlichen  Weltbildes  verliess  und.  ein  neues  Welt- 
bild in  der  Seele,  in  das  Leben  trat,  spricht  aus  folgendem  Sonett: 

o  dunklen  Knker  nun  entronni 
Wo  langt    mich  der  Irrthum  hielt  gebundi 
B  t.  ilie  mich  gebundi 

l»;i  ich  die  Busse  Freiheil  mir  gewonnen. 
ailnn'  ich  in  d<  -  neuen  I.  Ura 

Denn,  der  den  Python  schlug  mit  edlem  Muthe 

i  der  d  irbt  mit  dessen  Blute, 

Er  hat  auch  mir  verscheuchel  die  Meg 
Dir  weih'  ich  all'  mein  Berz,  erhab'nea  Wesen! 
Die  kranke  Seele  lassest  Du  genesen, 
Dir  will  ich  lauschen,  meine  holde  stimme! 
Du  rufest,  dass  dem  Abgrund  ich  entklimi 
Dir  dank  ich,  gottlich  Lieht.  Du  m  ine, 

Die  Du  mich  fuhrest  in  dass  Haus  der  Wonne! 

II. 

Wehh  ein   Kontrast    jedoch!     Als    Luther   das    Kloster   und 
Mönchthum  verliess,  war  er  festgewurzelt   in  seiner  Beimath  und 

l.  1 1 1  e.  9,  eil.  Piorentino  I    1 .  380.  I. 


Giordano  Bruno  and  Spino  275 

wirkte  in  dem  neuen  Geiste  anter  seinem  Volke.  Giordano  Bruno 
hat  von  dem  Jahre  der  Flucht  (1576)  ab  bis  zu  jenem  23.  Mai 
1592,  an  welchem  er  zu  Venedig  von  der  Inquisition  ergriffen 
wurde,  also  durch  sechzehn  Jahre,  heimathlos  in  der  Schweiz, 
Frankreich,  England,  Deutschland  wechselnd  gelebt,  nirgend  wur- 
zelte er  fest,  auch  wo  das  Glück  ihm  zu  lächeln  seinen,  niemals 
vergass  er  seine  Beimath,  diese  „Erzieherin  und  Berrscherin  über 
die  anderen  Geschlechter  der  Menschen,  Berrin,  Amine  und  Mutter 
aller  Tugenden,  Wissenschaften,  Humanitäten  und  leinen  Sitten"5); 
bis  die  unwiderstehliche  Sehnsucht  ihn  dahin  zurück  in  den  Tod 
trieb.  Sein  ganzes  Wesen  war  geformt  für  dies  Italien  der  Re- 
naissance, dessen  strahlendes  Licht  nun  ausgelöscht  war  von  der 
katholischen  Restauration.  Er  fühlte  sich  überall  als  Fremdling 
in  den  nordischen  barbarischen  Landstrichen.  Krieg,  Religionshass, 
scholastischer  Universitätsbetrieb  umgaben  ihn  überall  wie  ein  nor- 
discher Nebel.  Wohl  war  die  lateinische  Sprache  an  den  Uni- 
versitäten damals  immer  noch  ein  Band,  das  die  Angehörigen  aller 
Nationen  verknüpfte  und  ihnen  eine  europäische  Breite  des  Lebens 
ermöglichte.  Die  Freiheiten  der  Universitätsordnungen  jener  Tage 
gestatteten  den  Gelehrten  ein  europäisches  Wanderleben.  Dasselbe 
war  nichts  Ungewöhnliches.  Paracelsus  vertheidigte  es  mit  den 
Worten:  ..keinem  wächst  sein  Meister  im  Haus  noch  hat  Einer 
seinen  Lehrer  hinter  dem  Ofen",  „die  hinter  dem  Ofen  bleiben, 
n  RebhühnerT  die  den  Künsten  nachgehen,  essen  eine  Milch- 
suppe". Auch  genoss  in  dieser  Epoche  von  Aneignung  der  ita- 
lienischen Renaissance  kein  Fremder  soviel  Sympathie,  zumal  in 
England,  als  ein  gebildeter  und  vom  Geiste  der  Renaissance  er- 
füllter Italiener.  Als  Vertreter  der  lullischen  Denkmaschine  hatte 
zudem  Giordano  Bruno  einen  besonderen  Zugang  zu  den  Universi- 
täten. Seile'  Verse,  sein  immenses  Gedächtniss,  sein  Wissen  und 
sein  sprühender  Witz,  sein  vom  Schönheitssinn  der  Renaissance  er- 
füllt^ Wesen  eröffneten  ihm  die  vornehme  höfische  Gesellschaft. 
Ä.ber  -eine  vulkanische  Natur,  die  stürmischen  Kontraste  in  ihr,  die 
Ausbrüche   \un   masslosem   Selbstgefühl,    von  mönchischem,  cyni- 


5)  de  la  causa,  dialogo  primo,  ed.  Wag.  ^l'l'. 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     VII.  \{J 


■j-,;  Wilhelm  Dilth« 

>w    literarische    Widersacher    und    vod    burlesker 
politanischer  Poss  und  kata- 

phen  hervor.  Die  thatsächliche  Superiorität  seines  philosophi- 
sch« ?  ndpunktes  über  die  Menschen  seiner  Zeit  machte  ihn 
einsam  mitten  in  dem  Lärm  der  philosophischen  Disputationen, 
die  damals  noch  Mode  waren,  mitten  in  dem  geschäftigen  Betrieb 
von  Pari-.  Oxford,  Wittenberg  und  Helmstädt.  5  aähungen, 
läumdung,  fremde  Bosheil  und  eij  chtmässige  Furcht  wer- 

den dich  vertreiben  aus  deiner  Heimath,  deinen  Freunden  dich 
entfremden  und  dich  in  wenig  freundliche  Gegenden  verbannen." 
er  sich  selber  an,  und  sein  Trost  ist  -  Resignation. 
..  W  irke,  mein  Fleiss,  dass  dies  ein  ruhmvolles  Exil  für  mich  werde 
und  mir  die  Ruhe  erkämpfe,  dies  bessre  Vaterland6)." 

Zunächst  vertrieb  ihn  aus  der  Beimath  mehr  al>  die  momen- 
tane Gefahr  die  monotone  Armseligkeit  und  Dürftigkeit  im  Leben 
eines  entlaufenen  Mönchs,  der  in  den  Winkeln  durch  Privatunter- 
richt und  Korrekturen  3ein  Dasein  fristete.  Das  war  sein  Loos  in 
Genua,  Turin,  Venedig  und  Padua.  Als  er  der  französischen  Grenze 
zuwanderte,  geschah  es  in  einer  Dominikanerkutte  aus  feinem 
weissen  Tuch,  die  er  sich  in  Bergamo  hatte  machen  lassen,  dar- 
über da-  Skapulier:  das  hatte  er  bei  der  Flucht  aus  Rom  mil 
nommen.  Er  rechnete  auf  die  Klöster  Beines  Ordens.  Lyon  war 
sein  nächsti  -  Ziel.  Aber  der  kalte  Empfang,  mit  dem  man  dem 
falschen  Mönche  auf  der  Reise  begegnete,  liess  ihn  nun  einen  Ent- 
schluss  ganz  anderer  Art  fassen.  Die  Stadl  des  grossen  Calvin 
war  die  Freistätte  für  alle  katholischen  Flüchtlinge  der  romanischen 
Welt.  Indem  er  die  Richtung  dorthin  einschlug,  löste  er  sich  wie 
mit    Einem  Ruck   aus    allen   bisherigen  Verhältnissen. 

Dort  fand  er  eine  ganze  italienische  Kolonie.  Das  Haupt  der- 
selben, der  neapolitanische  Marchese  von  Vico,  uahm  sich  seiner 
freundlich  an.  Da  er  nun  seine  Kutte  ablegte,  stattete  man  ihn  mit 
Hut  und  Degen  aus.  Aber  Alles  das  geschah  doch  unter  der  \  oraus- 
zung,  dass  er  sich  dem  protestantischen  Glauben  anschliessen 
winde.    |)as  furchtbare  Schicksal  der  Hypokrisie  und  Doppelzüngig- 


■  de  la  bestia  trionf.  im  Ei  al    des  Pei 


irdano  Bruno  und  Spin.  -_>  j  , 

keit,  das  auf  dem  monistischen  Denker  in  dieser  Well  von  Glaubens- 
streitigkeiten lastete,  dies  Schicksal,  unter  dem  er  schon  im  Kloster 
so  -«'litt.'!!  and  welches  der  Bestandteil  moralischer  Grösse  in  seiner 
tischten  Natur  abzuschütteln  trachtete,  begleitete  ihn  auch  hier- 
her. Er  hat  der  Inquisition  gegenüber  behauptet,  oichl  zum  Calvi- 
uismus  übergetreten  zu  sein.  Das  mag  in  irgend  einem  zweideu- 
tigen Verstände  wahr  sein.  Jedenfalls  findel  sich  sein  Name  in 
den  Listen  der  italienischen  evangelischen  Gemeinde.  Nur  als  zu 
dieser  gehörig  hatte  Bruno  Mitglied  der  Genfer  Akademie  werden 
können.  Ja  es  findet  sich  ausdrücklich,  dass  er  wegen  seiner  Irr- 
thümer  in  der  Lehre  und  seiner  Schmähungen  gegen  Geistliche  vom 
Abendmahl  ausgeschlossen  wurde  und  auf  seine  Abbitte  hin  diese 
Ausschliessung  wieder  aufgehoben  wurde.  All  diese  neuen  Zwei- 
deutigkeiten waren  doch  nutzlos  für  ihn.  Nur  vom  Frühjahr  bis 
zum  Herbst  1579  hat  er  in  der  Atmosphäre  Calvins  ausgehalten. 
Armuth.  geistlicher  Zank,  Correkturen,  Heuchelei,  moralische  Ker- 
kerluft:   Elend,  nichts  als  Elend! 

Aber  was  für  den  Menschen  Giordano  Bruno  von  Nola  sich 
so  darstellt,  das  hatte  für  den  philosophischen  Genius,  welcher 
über  alles,  was  das  Europa  dieser  Zeit  von  Ansichten  über  das 
Leben  enthielt,  hinausgehen  sollte,  eine  ganz  andere  Seite.  Dies 
Europa,  wie  es  damals  war,  nahm  ihn  in  seine  Schule.  Der 
Unterricht  begann,  welchen  die  Hauptsitze  der  geistigen  reli- 
a  sen  und  moralischen  Kultur  dieses  Europa,  die  Hauptsekten 
äselben  und  seine  Hauptländer  ihm  ertheilen  sollten.  Ein  sol- 
cher Hauptsitz  war  Genf  und  eine  solche  Hauptsekte  war  der 
Calvinismus.  Die  Lehre  von  dem  Unvermögen  der  christlichen 
Parteien,  eine  edle  Gestaltung  des  Lebens  und  der  Gesellschaft 
herbeizuführen,  ward  von  Bruno  durch  sehr  intensive  Erfahrungen 
erwarben.  Sie  war  in  dem  Geiste  der  Renaissance  enthalten.  Aber 
jetzt,  in  diesem  Wanderleben,  eben  in  der  Epoche  der  katholischen 
Restauration  und  des  protestantischen  Dogmenglaubens,  in  dem 
Kloster  von  Neapel,  in  den  Universitätssälen  von  Paris,  in 
der  höfischen  Gesellschaff  von  London,  unter  den  Calvinisten 
Genfs  und  den  Lutheranern  Wittenbergs  empfing  diese  Lehre 
ihre    Begründung    und    ihre   Vertiefung.      I>a~  rein    philosophische 

1!' 


278  Wilhelm  Dilthe 

,1  des  -   wurde  gesättigt   gleichsam    mit   dem  erfahrenen 

europäischen  Welt.  Er  hatte  eine  starke  Sympathie  für 
das  Seroische  im  Protestantismus,  welcher  *  1  * ■  n  Kampf  führte  gegen 
„mit  der  dreifachen  Tiara  geschmückten  dreiköpfigen  Böllen- 
hund".  Im  Gegensatz  gegen  den  „wahnsinnigen  katholischen  Kul- 
tus" respektirte  er  die  reineren  Formen  der  protestantischen  Gott 
Verehrung.  Aber  er  fand  -i<di  angeekelt  von  dem  Missbrauch  des 
philologischen  Apparates  in  den  Synopsen,  Bibelschlüsseln  und 
Commentaren  dieser  Schriftorthodoxie.  Er  bekämpfte  leidenschaft- 
lich die  Lehre  von  der  Unfreiheit  des  Willens,  der  Prädestination 
und  der  Wertlosigkeit  der  Werke,  und  er  durchschaute,  wie  di 
neu.-  Dogmatik  eine  angeheure  Vermehrung  des  Kirchenzwanf 
und  der  Dogmenstreitigkeiten  zur  Folge  haben  tnusste.  Je  mehr  der 
Calvinismus  jede  Silbe  des  alten  Testamentes  in  den  Wortglauben 
an  'li''  einheitliche  Schrift  aufnahm,  desto  ablehnender  verhielt 
dieser  Wortglaube  Bich  gegen  'li'1  copernikanische  Astronomie  und 
jeden  Fortschritt  des  Naturwissens  über  die  niedrige  Naturansicht 
des  alten  Testamentes  hinaus.  Das  alte  Testament,  das  Volk,  wel- 
che- es  hervorgebracht  hatte  und  die  Calvinisten,  welche  sich  an 
dasselbe  hielten,  waren  Gegenstand  des  gleichen  Basses  für  den 
italienischen  Philosophen. 

Derselbe  hat  seine  gründliche  Auseinandersetzung  mit  dem 
Calvinismus  in  der  Schrift  über  die  triumphirende  Bestie  vollzogen. 
Unter  dem  Schutz  der  antiken  Göttermasken  wird  hier  die  ganze 
evangelische  Geschichte  als  „ein  gewisses  tragisches  Mysterium  aus 
Syrien"   einer  höhnischen   Kritik   unterworfen.      Vermittelst    eines 

issartigen  Apercus  wird  die  ganze  Dogmatik  des  Christentums 
als  anthropocentrisch,  jüdisch  particular,  im  Scheingegensatz  des  Jen- 
seits und  Diesseits  befangen  und  das  Jenseit  Belbsl  versinnlichend, 
dem  Standpunkt  des  Sinnenscheins  und  der  Imagination 
untergeordnet.  Diesem  gegenüber  wird  das  philosophische  IV- 
wusstsein,  welches  diesen  Schein  auflöst,  zur  Geltung  gebracht  In 
derselben Schrifl  schildert  erdannmil  einer  ausnehmenden  Bitterkeit 
die  besonderen  Mängel,  welche  in  den  protestantischen  Confeasionen 
hinzutreten.  Sie  ertödten  das  heroische  Lebensgefühl,  welches  für 
das  Gemeinwohl  mit  löblicher  Freude  am  Ruhm  zu  leben  fähig  ist. 


Giordano  Brunn  and  Spinoza.  279 

Sic  betrachten  dies  löbliche  Streben  als  sündhaft  und  eitel.  Der 
Mensch  soll  sieh  nur  „ich  weiss  nicht  was  für  einer  tragödia  cabba- 
listica  rühmen".  „Es  i-i  anwürdig  profan  und  lächerlich  zu  glau- 
ben,   die  Götter  brauchten  Dankbarkeit,    Furcht,    Achtung,  Liebe 

und  Verehrung  der  Menschen  zu  anderem  Zweck  als  um  der  Men- 
schen selbsi  willen."  Die  Lehre  von  der  Rechtfertigung  durch 
den  Glauben  verdirbl  unter  dem  Vorwand,  die  deformirte  Religion 
zu  reformiren,  was  an  ihr  noch  gu1  war.  Mit  dem  Grusse  „Fri 
-ei  mit  euch"  verbreiten  ihre  Prediger  nur  Zwietracht,  sodass  von 
diesen  eingebildeten  Pedanten  schliesslich  jeder  seinen  besondern 
Katechismus  in  petto  hat.  Zur  Erlangung  unsichtbarer  Dinge,  die, 
sie  selbsi  nicht  begreifen,  bedarf  es  nach  ihnen  nur  einer  unab- 
änderlichen Gnadenwahl,  und  diese  ist  schliesslich  von  den  Leiden- 
schaften der  Gottheil  abhängig.  Die  Menschen  werden  nicht  durch 
ihre  Handlungen  selig,  sondern  durch  Anpassung  an  den  Kate- 
chismus 7). 

III. 

Von  1578 — 1583,  fünf  Jahre  hindurch  verweilte  Bruno  nun 
im  katholischen  Frankreich.  Zwei  ruhige  Jahre  hindurch  hielt 
er  in  Toulouse  als  ordentlicher  Lehrer  der  Philosophie  insbeson- 
dere über  Aristoteles  Vorlesungen.  Da  er  nun  als  Doktor  und 
ordentlicher  Lehrer  der  Philosophie  zur  öffentlichen  Lehrthätig- 
keit  an  der  Pariser  Universität  berechtigt  war,  trat  er  alsdann 
an  diesem  Centrum  des  philosophischen  Unterrichtes  auf.  Er  fand 
in  der  Hauptstadt  der  katholischen  Philosophie  einen  neutralen  Vor- 
lest! n  ^gegenständ  in  der  Lullischen  Kunst.  Das  Aufsehen,  welches 
er  durch  seine  selbstständige  Benutzung  derselben  im  Dienst  der 
ichtnisskunst  und  der  Redekunst  machte,  liess  ihn  hier  nun 
endlich  in  Verhältnisse  eintreten,  welche  seinen  Gaben  entsprachen 
und  ihm  zuerst  den  Blick  in  die  grosse  Welt  eröffneten.  Da  der 
König  Heinrich  III.  von  den  wunderbaren  Gedächtnissleistungen 
des  Italieners  vernommen  hatte,    unterhielt    er  sich  mit  ihm  und 


r)  bestia  triouf.  im  ersten  I>ialag  zerstreut  und  im  Anfang  des  zweiten. 
Es  ist  unmöglich  in  der  Kürze  einen  Begriff  vom  Hass  Bruno's  gegen  den  Cal- 
vinismus zu  geben. 


Wilhelm  D i  1 1 h  • 

—  für  Beine  Gedächtnisswissenschaft.  Brano  durfte 
ihm  Beine  gedankenreiche  Schrift  »von  den  Schatten  der  Ideen* 
widmen.  Er  erhiell  eine  Anstellung  als  besoldeter  ausserordent- 
licher Lehrer.  Er  fand  Müsse  zu  grösserer  schriftstellerischer 
Thätigkeit  Vier  Arbeiten  von  ihm  Bind  L582  gedruckt.  Aber 
\\:ii  nun  die  Widerstände,    die  ihm  entgegentraten,    war 

die  schaftliche  Unruhe,  welche  auch  andere  bedeutende  Männer 

jener  Z'dt  öfter  als  nötig  den  Orl  wechseln  liess,  Ende  des 

Jahres   L583  verliess  er  Paris    and  begab    sieh   mit  Empfehlungen 
des  Königs  Heinrich  an  seinen  Gesandten  oach  London. 

Diese  fünf  Jahre  in  der  katholisch  französischen  Welt,  zumal 
im  Mittelpunkl  der  ganzen  katholischen  Philosophie  waren  für 
Brunos  endgültige  Philosophie  von  anermesslicher  Bedeutung.  Mit 
dem  Mönchthum  und  'lein  vulgären  Katholicismus  war  er  fertig 
!■  das  tlloster  verliess.  Der  Protestantismus  lag  mit 
'Irr  Sta.lt  Genf  definitiv  hinter  ihm.  Jetzl  studirte  er  in  allen 
ihren  Lebensäusserungen  die  Verbindung  der  Katholicitäl  mit  dem 

jtoteles,  welche  auf  allen  philosophischen  Kathedern  jener  Ti 
ooch  herrschte  und  die  selbsl  von  den  protestantischen  Lehrstuhlen 
Besitz  genommen  halte.    Aristoteles,  Ptolemäus  und  das  kirchliche 

Dogma,   verkoppell   miteinander:   das   war  die   dreiköpfige  Katheder- 
bestie,   die  ihn    wo  er  auch  aultrat  angrinste,   ihn  anfuhr  und  zauste. 

[n  Toulouse,  in  Paris,  in  Oxford.  Dieser  machte  er  nun  den  Krieg. 
Er  war  der  erste  unter  den  grossen  Philosophen,  welche  sich  ausser- 
halb dieser  theologisirenden  Kathederathmosphäre  eine  Existenz 
suchten.  Und  /.war  musste  er  in  seiner  Zeit  ooch  diese  Stellung 
durch  einem  erbitterten  und  äusserlich  anglücklichen  Krieg  be- 
haupten. Schriften  gegen  die  aristotelische  Schule  waren  damals 
Handlungen.  Wie  Bruno  seihst  haben  mehrere  von  denen,  welche 
diese  Kathedertradition  angrüfen  in  Klöstern  dieselbe  kenneu  \ 
lernt  und  auf  theologisch  eingeschränktes  Kathedern  Aristoteles 
vorgetragen.  Der  Kampf,  den  Bruno  fahrte  gehl  durch  alle  seine 
Schriften.  Wie  ein  irrender  Kitter  hat  er  ihn  an  ihn  verschi« 
denen  europäischen  Universitäten  durchgefochten,  insbesondere  griff 
er  wie  Telesio  und  Campanella  gerade  die  Naturphilosophie  des 
Aristoteles  an.    Er  durchschaute,  dass  die  doppelte  Well  des  Arial 


rdano  Bruno  and  Spino  281 

fceles,  die  himmlische  and  sabluoare,  in  Verbindung  mit  der  Centri- 
rung  des  Weltlaufe  auf  der  Erde,  die  wissenschaftliche  Grundlage  des 
ganzen  Gebäudes  der  Dogmen   war.     Er  hasste  in  Aristoteles  den 
Senker  der  anderen  göttlichen  Philosophien:  ähnlich  wie  Bacon  sagte, 
Aristoteles  habe  seine  Brüder  umgebracht,  um  sichrer  zu  herrschen, 
nach  der  Manier  der  Sultane  von  Constantinopel.    Der  schulmässige, 
magistrale  Geist,    der    von  Aristoteles  ausging,    wurde   von  seiner 
freien  Seele  drückend  empfunden.    Aber  der  Bekämpfer  des  Aristo- 
teles war  weit  entfernt,  bei  den    Humanisten  jener  Tage  Bundes- 
genossenschaft zu  .-liehen.    Von  seiner  Jugendkomödie  ab  war  sein 
komisches  Ideal  der  Pedant,  und  dieser  erhält  in  den  grossen  Dia- 
logen seine  Züge  von  den  leeren  grammatischen  Worthelden  jener 
Tage.      Dagegen  schloss  er  sieh   an  die  lebendige  Renaissancebil- 
dung an,  welche  in  der  vornehmen  Gesellschaft  und  an  den  Höfen 
bestand.     Ein  Virtuose  der  Unterhaltung,  überfliessend  von  Fröh- 
lichkeit. Witz  und  Laune,  als  Meister  spielend  mit  seinem  Wissen, 
wie  er  in  dieser  Gesellschaft  erschienen  sein  muss,  erlangte  er  in  Paris 
die  Gunst  des  von  der  Renaissance  lebendig  berührten  Königs,  auf 
diesen  Zusammenhang  mit  der  neuen  vornehmen  gesellschaftlichen 
Bildung  stützte  er  sich,  und  hierauf  gründete  sich  nun  seine  Stellung 
in  England. 

IV. 

Bruno's  Aufenthalt  in  England  von  1583—1585  bildet  den 
Höhepunkt  seines  Lebens.  In  Paris  vordem  und  nun  in  London 
fand  er  etwas  von  dem  Glück,  nach  welchem  seine  Irrfahrt 
ging,  Ruhm,  Gunst  der  Könige  und  der  Grossen,  Neigung  der 
hauen.  Die  italienische  Renaissance  war  das  gesellschaftliche  und 
ätige  Element,  dessen  feiner  durchdringender  Duft  das  höfische 
und  dichterische  Leben  jener  Tage  ganz  erfüllte.  Welchen  Zauber 
Giordano  Bruno's  Unterhaltung  besass,  geht  daraus  hervor,  wie  er 
über  die  Köpfe  der  angesehensten  und  achtbarsten  Gelehrten  hin- 
weg seinen  Weg  zum  Hof  und  der  ersten  Gesellschaft  fand.  Er 
war  durch  Heinrich  III.  an  dessen  Gesandten  von  Castelnau  em- 
pfohlen worden,  und  nach  einem  UniVersitätstournier  in  Oxford,  in 
welchem  er  für  das  coperuikanische  Weltsystem  wieder  eines  seiner 


Wilhelm  Dilthey. 

fruchtlosen   Kampfspiele   b  n  hatte,    lebte   er  im  Hau-.'  des 

französischen  Gesandten  als  einer  •    i  I    valiere  desselben.     Er  war 
mit  Philipp  Sidney  innig  befreundet.     Dieser  Neffi    Leicesters  and 
Liebling  der   Konigin    war  das    Musterbild   vornehmster   höfischer 
Sitte,  ritterlichen  Muthes  nnd  kunstvoller  vornehmer  Poesie.     I 
Durchdringung  des  kraftvollen  und  exentrischen  englischen  G 
mit  dem  der  italienischen  Renaissance  kam  in  ihm  zur  glänzendsten 
Erscheinung.    Er  war  Platoniker.    Wenn  er  in  seinem  Sonettenkranz 
lih.  wie  die  Tugend  die  Gestall  Stellas  angenommen  habe,  „sie 
jenen  Bimmel    sehen    lassend,    den   heroische  Seelen  infolge  iL 
inneren  Fohlens  Beben0  inner!  dieser  I  el    rgang    ler  persön- 

lichen Liebesleidenschafl  in  das  [deelle  und  Mystische  an  den  8 
nettenkranz  des  Giordano  Bruno  aus  der  Zeil  Beiner  Freundschaft 
mit  ihm.  Ueberhaup!  bildet  die  Verwandtschaft  des  Sonetten- 
kranzes von  Bruno,  «los  anderen  von  Sidney  und  des  dritten  von 
Shakespeare,  welche  an  demselben  Il"l  und  in  derselben  Epoche 
nacheinander  entstanden  sind,  eines  der  fesselndsten  Probleme  der 
Literaturgeschichte.  Dem  Philipp  Sidney  waren  auch  zwei 
Beiner  schönsten  philosophischen  Kunstwerke  gewidmet.  Die  \ 
oehmsten  Engländer  jener  Tage  hat  Giordano  Bruno  gesehen 
und  kennen  gelernt.  Die  Königin  Elisabeth  selber  hörte  ihm  mit 
Vergnügen  zu  und  er  hat  ihre  Freundlichkeil  mit  Lobsprächen  von 
einer  besonders  übertriebenen  höfischen  Ueberschwänglichkei!  er- 
wiedert.  In  der  feinsinnigen  Geselligkeit  im  Mau-.'  Castelnau's  er- 
weiterte sich  seine  Seele  zu  den  ihr  natürlichen  Massverhältnissen. 
Nun  erst  fühlte  er  sich  seihst.  Und  so  traten  in  dieser  glücklichen 
Zeit,  in  einem  Zeit  räum  von  weniger  als  zwei  Jahren  hinter  ein- 
ander in  italienischer  Sprache  die  sechs  philosophischen  Kunst- 
werke hervor,  welche  ihn  zum  grössten  philosophischen  Schriftsteller 
Beines  Jahrhunderts  gemacht  haben.  Man  bemerk!  öfter,  wie  «ine 
glückliche  Lage  des  Gemütes  in  einer  bestimmten 
Lebensepoche  den  Leistungen  eines  Schriftstellers  eine  Kraft  und 
Harmonie  verleiht,  welche  er  hernach  nie  wieder  erreicht, 
gin  damals    Bruno    in    dem   England    der  Elisabeth   und  des 

Shakespeare.     Hierzu  trat  aber  eis  inhaltliches  Wachsthum  Beiner 
grossen  Seele  in  dieser  grossen  I  Umgebung.    Nirgend  anders  als  in  dem 


Giordano  Bruno  und  Spinoza.  283 

Vaterlande  Shakespeare's  and  Carlyle'a  hätte  er  die  herrliche  Schrift 
über  „den  Beiden  Wahnsinn"  so  schreiben  können.  In  diesem 
Lande,  im  vertrauten  Umgang  mit  Sidney,  in  der  Anschauung 
dieser  heroischen  Well  welche  auch  den  Gesichtskreis  Shakespeare's 
ausmachte,  steigerte  sich  der  Enthusiasmus  des  Plotin  in  ihm  zum 
activen  heroischen  Lehensgefühl,  ward  sein  dichterisch  philosophi- 
scher Geisl  aller  Fesseln  schulmässiger  Tradition  ledig,  and 
überliess  er  sich  in  der  Sprache  seiner  Heimat  zum  ersten  Male 
ganz  den  Einleitungen  seines  Genius,  in  tiefsinnigen  wissenschaft- 
lichen Combinationen,  in  ungestümer  Polemik  und  in  ausgelassenem 
Scherz.  Und  so  i>t  es  gekommen,  dass  dieselbe  Regierui 
zeit  der  grossen  Königin  neben  den  grössten  Dramen  aller  Zeiten 
durch  einen  Fremden  an  ihrem  Hof  die  vollkommensten  philo- 
sophischen Kunstwerke  des  Jahrhunderts  hervorbrachte.  Beide 
Klassen  von  Werken  haben  dieselbe  Yer>chwenduug  im  Reichthum, 
dieselbe  Verbindung  von  Melancholie  und  Humor  —  wie  das  Motto 
seiner  Cömödie  lautete:  in  der  Melancholie  heiter,  iu  der  Heiter- 
keit melancholisch  (In  tristitia  hilaris,  in  hilaritate  tristis)  —  und 
denselben  excentrischen  und  überladenen  Styl  des  ausgehenden 
Jahrhunderts.  Die  italienischen  Werke  dieser  Londoner  Jahre, 
hingeworfen  in  fliegender  Eile,  mit  der  Sicherheit  des  Genies,  be- 
zeichnen die  Reife  der  Jugend.  Nach  der  ungedruckten  italieni- 
schen Schrift  Purgatorio  del  Inferno  folgen  einander:  La  Ccna  de 
le  Ceneri  1584,  De  la  Causa,  Principio  et  Uno  1584,  De  L'In- 
finito,  L'nivers  eo  Mondi  1584.  Spaccio  de  la  Bestia  Trionfante 
1584,  Cabala  del  Cavallo  Pegaseo  1585,  De  gli  eroiei  furori  1585. 


Jahresbericht 

aber 

sämmtliche  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte 

der  Philosophie 

in    Gemeinschaft    mit 

Clemens  Baeumker,  Ingram  Bywater,  Alessandro  Chiappclli,  Bermann  Diels, 

Wilhelm  Dilthey.  Benno  Erdmann,  Andrew  Seth,  Paul  Tannery, 

Feiice  Toeco  und  Eduard  Zeller 

herausgegeben 


Ludwig  Stein. 


III. 

Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  und  ihr 
Verhältnis  zur  Philosophie.    1889—1892. 

I.    Teil 

von 

Paul  Weildlaild  in  Berlin. 

Ich  erwähne  zunächst  mehren'  Werke  von  allgemeiner  Bedeu- 
tung. Nach  langer  Zeit  ist  in  Möllers  Lehrbuch  der  Kirchen- 
geschichte (1.  Bd.  Die  alte  Kirche.  Freiburg  i.  B.  1889)  ein  Werk 
erschienen,  das  die  Resultate  der  neueren  Forschungen  zu  einem 
kunstvollen  Gesamtbilde  vereinigend,  nicht  nur  als  Nachschlagebuch 
benutzt,  sondern  als  Ganzes  gelesen  und  genossen  sein  will. 

Loofs'  Leitfaden  zum  Studium  der  Dogmengeschichte  (2.  Aufl. 
Halle  1890)  ist  durch  übersichtliche  Anordnung  des  Stoffes,  gute 
Auswahl  der  Quellen  und  scharfe  Fassung  der  Lehrbegriffe  ausge- 
zeichnet. Er  ist  nicht  nur  dem  Laien  zur  Orientirung  zu  empfehlen, 
sondern  wird  auch  dem  Kundigen  zur  Klärung  seiner  Anschauung 
dienen. 

Näher  gehe  ich  ein  auf  den  ersten  Teil  von 
UseneEj  Religionsgeschichtliche  Untersuchungen.  Bonn  1889, 
da  derselbe  die  ältesten  Probleme  des  christlichen  Denkens  be- 
handelt. Usener  geht  aus  von  der  Frage,  wie  das  Tauffest  zum 
Geburtsfest  werden  und  mit  diesem  vereint  werden  konnte.  In 
der  Geschichte  der  Evangelientexte  spiegelt  sieh  ihm  die  Geschichte 
der  Auffassungen  von  Christi  Person,  der  Versuche,  die  göttliche 
and  menschliche  Natur  in  eins  zu  setzen,  wieder,  Versuche,  die 
h  aufdrängen  mussten,  nachdem  der  Glaube  an  das  Göttliche  in 


Hand, 

Chi  auf  die  Auferstehung,  dann  auch  auf  die  Verklä- 

re ündet  war.     Der  eine   und  zwar  der  ältere  judenchrist- 

lich suche  ist   die  Geschichte  von  der  Taufe,  die  Dach 

ihrem  ursprünglichen  Sinn.-  (der  älteste   I'-  \;   Luc.  3,22  i-t   nach 

•  v  je,  aber  Johannes  -  •  auch  den 
beiden  andern  synoptischen  Evangelien  lieg!  dies«  Vorstellung  zu 
Grund«    S.  50  göttlich«    i       irl  ist,   durch  die  der  als  Mensch 

Geborene  unter  Feuererscheinung  (stoische  Lehre  vom  feurig      G  iste 
den  Geisl  G  mpfangt.     Der  anden    Versuch,  den  Ur- 

sprung der  Göttlichkeit  zu  erklären,  isl  die  Geschichte  von  der 
wunderbaren  Geburt.  Die  zu  Grunde  liegende  Vorstellung  ist,  wie 
I  sener  an  einer  Fülle  mythologischer  Parallelen  zu  zeigen  sucht 
und  wie  die  begleitenden  Züge  des  .Mythus  (Erscheinung  des  Ster 
Auftreten  der  Magier,  Kindermord)  zu  bestätigen  scheinen,  „der 
naturnotwendige  Widerschein  der  Göttlichkeit  Christi  in  den  Seelen 
bekehrter  Griechen",  also  auf  griechischem  Boden  erwachsen.  „Der 
jüdische  Monotheismus  zieht  im  Bewusstsein  die  scharfe  Grenze 
zwischen  der  Gottheil  und  dem  Menschenleben;  der  Bellenismus 
kennt  diese  nicht"  Weizsäcker).  Dass  Jordantaufe  und  jungfrau- 
liche Geburt  aus  demselben  Bedürfnis,  die  Göttlichkeit  Christi 
schichtlich  abzuleiten,  erwachsen  sind,  dass  sie  sich  gegenseitig 
ausschliessen  (S.  L28),  isl  zwar  auch  yon  andern  gefühlt  und  aus- 

prochen.  üsener  hat  das  Problem  schärfer  gefasst  und  geschicht- 
lich begründet.  Der  durch  die  älteste  Litteratur  verfolgte  Bestand 
der  evangelischen  Geschichte  giebt  ihm  ein  Bild  des  allmählichen 
Zuwachses  an  neuen  Bestandteilen  des  Evangeliums,  der  Umbil- 
dungen und  neuen  Fassungen,  der  Verschiebungen  und  Verstüm- 
melungen, die  dann  wieder  diese  zu  erfahren  halten.  Marcion 
''und  die  Quellenschrift   des   Lucas)  und  die  Gründer  der  ältesten 

^tischen  Sekten  wissen  nichts  weder  von  der  Taute  noch  von 
der  wunderbaren  Geburt,  Christus  isl  ihnen  der  auf  Erden  erschie- 
nene Gott;  und  Karpokratee  lässl  durch  Kombination  altevangeli- 
scher Auffassung  und  platonischer  Gedanken  Arn  Menschen  Jesus 
durch  eigene  Kraft  vergottel  werden.  Ersl  Kerinth,  der  Nachfolger 
ßndet,  kennt  die  Taufgeschichte  und  lässl  in  Anlehnung  an  sie 
den    himmlischen  Aeon    in    den   Menschen  Jesus    eingehen.      Auf 


Jahresbericht  5ber  die  Kirchenväter  etc.  1889     1892. 

Grand  der  Jordantaufe  verbindel  er  so  die  auf  lebendiger  Erinne- 
rung an  das  menschliche  Dasein  Christi  rahende  judenchristliche 
Anschauung  mit  der  hellenistischen  Vorstellung  des  vom  Himmel 
herabgekommenen  Christus,  aber  die  wunderbare  Geburl  kennl  er 
noch  Dicht.  Justin  setzt  Geburl  and  K im lli.ii  als  Bestandteile 
des  Evangeliums  voraus,  and  die  dann  folgende  Litteratur  müht 
sich  mil  mehr  oder  weniger  Glück  an  der  Aufgabe  ab,  diese  oeue 
Bereicherung  des  Stoffes  mit  der  Taufe  in  Einklang  zu  bringen. 
l»i.  älteste  Entwicklungsstufe  des  Evangelienstoffes  wird  auch  durch 
Paulus  bezeugt,  der  Taufe  und  Geburl  nicht  kennt,  die  weitere 
Stute  bezeichnet  die  Apostelgeschichte,  welche  bereits  die  Tauf- 
;hichte  (nicht  wunderbare  Geburt)  voraussetzt. 
Auf  einen  ruhen  Abriss  des  Inhaltes  nur  des  ersten  Teiles 
muss  ich  mich  hier  beschränken.  Auf  die  Punkte  einzugehen,  die 
»Bedenken  wecken,  ist  hier  nicht  möglich,  scheint  mir  auch  noch 
wenig  an  der  Zeit.  Die  Kritik  hat  sich  mehr  gegen  die  Aussen- 
werke  gerichtet,  und  die  für  Usener  besonders  wichtige  These,  dass 
die  Spekulation  der  Gnostiker  den  ihnen  vorliegenden  Evangelien- 
stoff erkennen  lasse,  ist  in  manchen  Fällen  mindestens  unerweisbar. 
Aber  in  Hauptresultaten  könnte  Usener  nur  widerlegen,  wer  durch 
ein  gleich  gross  angelegtes  geschichtliches  Gesamtbild  eine  befrie- 
digendere Lösung  der  in  ihrem  Zusammenhang  scharf  gefassten 
Probleme  zu  geben  vermöchte.  Im  übrigen  sei  hier  hingewiesen 
auf  die  schöne  Besprechung  des  Werkes  durch  Weizsäcker  Preuss. 
Jahrb.  LXIY  S.  389—407. 

In  Useners  Spuren  wandelt  A.  Dieterich,  Abraxas,  Studien  zur 
Religionsgeschichte  des  späteren  Altertums.  Leipzig  L891. 
An  der  Ifand  der  ägyptischen  Papyrusurkunden  giebt  der  Verf., 
der  sich  schon  durch  seine  Abhandlung  in  den  Suppl.  zu  den 
Neuen  Jahrb.  I.  Philol.  1888  um  dies  Gebiet  verdient  gemacht 
hatte,  wertvolle  Beiträge  zum  Verständnis  des  religiösen  Synkre- 
tismus der  späteren  Zeit,  durch  die  z.B.  die  orphische,  gnostische, 
hennetische  Litteratur  vielfach  neu  beleuchte!  wird.  Für  uns  hier 
sind  unter  anderen  von  besonderem  [nteresse  die  Bemerkungen  aber 
den    Einfluss    der    pantheistischen    Vorstellungen    der  Stoiker    und 


P  a  11 1  W  en  dl  a  n  d . 

ihrer  Anlehnung  an  den  Volksglauben  auf  die  ELeligionamischui  g, 

r  das  Eindrinj  ischer  Vorstellungen  in  religiöse  Urkunden 

33  ff.),   die  Behandlung  der  orphischen  Th<  o,    die 

Besprechung  eines  Bymnus,    den  der  Verf.  auf  eine  den  Essäern 

ipeuten  verwandte  Sekte  zurückzuführen  sucht,     [ch  \\' 
im  übrigen  auf  meine  Besprechung   I».  LZ.  18  2  -    1131. 

\.\.  Der  romische  Staal  and  die  allgemeine  Kirche  bis  auf 
Diocletian  l.  Bd.  Leipzig  L890. 
Das  Werk  behandeil  in  gründlichster  Weise  Dicht  nur  das 
Verhältniss  der  Kirch«'  zum  Staut,  sondern  auch  des  Christentums 
in  >.'in<T  geschichtlichen  Entwickelung  zu  den  gesellschaftlichen 
Formen  und  Lebensanschauungen  des  Beidentums.  Einige  Ab- 
schnitte Beien  hier  besonders  hervorgehoben.  8.  'Uli.  behandelt 
Neumann  die  heidnischen  urteile  über  die  Christen  (über  Tacitus 
s.  Zeller  Z.  f.  w.  Th.  L891  S.  356 ff.  Die  Stelle  des  Aristidea  wird 
jetzt  von  Norden  Fleckeis.  Jahrb.  19.  Suppl.  Bd.  S.  (04ff.  und 
auch  von  Neumann  mit   Recht  auf  die  Eyniker  bezogen),  S.  I13ff. 

i.  s.  r.  ><  >  iv.)  die  Ansichten  des  (hui.  Alex.  (Paedag.)  und 
Tertullian  über  die  Stellung  dir  Christen  zur  Welt  und  heidnischen 
Gesellschaft  (S.  117.  132  Wissenschaft).  Eine  nicht  anwichtige 
Quelle  für  dies  Gebiet  ist  jetzt  gewonnen  in  den  oft  mit  Clemens 
-ich  berührenden  Sprüchen  des  Sextas  (s.  den  2.  Teil  des  Berichtes). 

257  ff.  bespricht  der  Verf.  das  Schisma  des  Hippolytus,  S.  265  ff. 
setzt  er  die  Abfassungszeit  der  Bücher  des  Origenes  gegen  <'e|-u>  ins 
Jahr  248  und  sucbl  nachzuweisen,  dass Origenes  durch  den  in  diesem 
Jahre  gefeierten  tausendjährigen  Bestand  des  römischen  Reiches 
und  das  durch  die  Feier  gesteigerte  nationale  und  religiöse  Gefühl 
der  Heiden  zur  Abfassung  der  Schrift  bestimmt  wurde.  In  das- 
selbe  Jahr  will  er  auch  die  Apologie  des  Minucius  Felix  rücken 
(S.  242).  Deber  sie  fei  jetzt  auch  zu  vergleichen  De  Lagarde, 
Septuagintastudien.     Göttingen  1891  S.  85. 

A.  StöckLj    Geschichte    der  christlichen   Philosophie  zur  Zeit   der 
Kirchenväter.     Mainz  1891. 
Zunächst   ist   es  scharf  zu   rügen,   dass  der  Verf.  mit  keinem 
Worte  das   Verhältnis  dieses   Werkes  zu  seinem   Früheren  (Gesch. 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  etc.   1889     L892.  291 

d.  Philos.  der  patristischen  Zeit.     Würzburg   1859),  mit  dem  es  in 
grossen    Partien   fasl    wörtlich   übereinstimmt,   andeutet.     Mit   dem 
principiellen  Standpunkt  des  Verfassers  zu  rechten,  wäre  fruchtlos. 
Wer  das  spätere   Heidentum   für   moralisch   und   intellektuell   ban- 
kerott erklärt,  um  eine  christliche  Philosophie  ganz  aus  dem  Nichts 
geboren  werden  zu  lassen  —    gerade  umgekehrt  scheu  wir  die  ethi- 
schen   und    religiösen    Tendenzen    im    spätem    Heidentum    immer 
stärker  werden   und   dasselbe   sich  damit  dem  Christentum  uähern 
— ,  wer  sich  ganz  der  Erkenntnis  verschliesst,  dass  gerade  die  grie- 
chische Philosophie  das   Fermenl   der  christlichen   Dankbarkeil  ge- 
wesen   ist    und  dass    die   Entwicklung   des    christlichen    Denkens 
wesentlich  durch  äussere  Faktoren,   wechselnden  Einfluss  <\<>>  Stoi- 
cismus,  Piatonismus,  Neuplatonismus  bestimmt  ist,  für  den  ist  eine 
geschichtliche  Auffassung  unmöglich.     Was  der  Verfasser  giebt,  ist 
eine  aus  fleissiger  Lektüre  hervorgegangene  Blumenlese  der  Haupt- 
gedanken der  einzelnen  Autoren  oft  mit  auffallender  Vernachlässigung 
der  Ethik  (s.  z.  B.  Clem.  u.  Tert.),  aus  der  aber  kaum  jemand  wird 
ersehen  können,    „wie   die  Eutwickolung   des   christlich  philosophi- 
schen Gedankens  bei  ihnen  Schritt  für  Schritt  vorwärts  schreitet". 
Wie  naiv  die  Methode  des  Verfassers  ist,  zeigt  z.  B.  die  Aeusserung 
S.  388:  „Wir  verfolgen  hier  nicht  die  Zwecke  der  Kritik,  sondern 
wir  schreiben  eine  Geschichte  der  Philosophie",  womit  er  die  Frage 
der  areopagitischen  Schriften  in  der  Schwebe  lässt  (s.  dagegen  das 
frühere  Werk  S.  498).     Wer  ratlos  ist,  ob  er  ein  Werk  wie  dieses 
an   den  Anfang   oder  ans  Ende  der  christlichen  Lehrentwickelung 
setzen      II.  wie  kann  der  im  Ernste  sich  einbilden,  diese  Entwicke- 
lung    begriffen  zu  haben?     Die  gesamte  Forschung  der  protestan- 
tischen Theologie  existirt  für  den  Verfasser  nicht.     Für  die  Erklä- 
rung der  Genesis  des  Gnosticismus  hat  der  Verf.  nur  eine  Bemerkung' 

O 

über  den  jüdischen  Philonismus  (S.  2»').  31).  Die  Auswahl  der 
Quellen  ist  hier  völlig  willkürlich.  .Marcion  z.  B.  wird  nur  nach 
den  Philosophumena  behandelt,  die  wieder  beim  Valentinianismus 
ganz  vernachlässigt  sind.  Lipsius  und  Hilgenfelds  Forschungen 
kennl  Stöckl  nicht.  Für  den  Manichäismus  ist  Augustin  sein 
einziger  Gewährsmann.  Apollinarius  wird  ganz  kurz  abgefertigt, 
Marius  Victorinus  und  Leontius  von  Byzanz  nicht  erwähnt.     \ 

iv  f.  Geschieht«  d.  Philosophie.     VII.  ->l  ) 


292  Paul  Wendland,  Jahresber.  üb.  d.  Kirchenvater  1889—18 

den  neueren  Quellenforschungen  zu  Clemens  Alex.,  Nemesius,  Ter- 
tullian,  Minucius  Felix,  Lactantius  weiss  der  Verf.  nich  Pro- 
bleme, die  andern  Gelehrten  Muhe  gemacht  haben,  vermag  er  auf 
Beinern  Standpunkt  gar  nichl  zu  fassen;  bo  z.  B.  bemerkt  er  ober 
die  Consolatio  des  Boethius,  dasa  es  nicht  die  heidnische,  Bondern 
die  christliche  Philosophie  war,  die  ihm  als  Trösterin  entgegenkam 
-  120).  I>ic  spätere  heidnische  Philosophie  nennt  er  eine  Nach- 
äflung  des  Christentums  (S.  1-)  ohne  zu  wissen,  dass  die  von  ihm 
bemerk  ineinsamen  Züge  schon   vor  dem  Christentum  in  der 

heidnischen  Philosophie  sich  nachweisen  Lassen.1) 

K.  Gräfe,  Das  Verhältnis  der  paulinischen  Schriften  Schriften  zur 
Sapientia  Salomonis.  Theologische  Abhandlungen  C.  von 
Weizsäcker  gewidmet.  Freiburg  i.  B.  1892.  2i  3  8. 
Die  viel  erörterte  Frage  wird  hier  mil  Umsicht  von  neuem 
behandelt.  Der  Verf.  macht,  nachdem  er  die  belanglosen  Parallelen 
ausgeschieden  hat,  es  wahrscheinlich,  dass  Paulus  Rom.  9,19—22, 
wo  die  Uebereinstimmung  zum  Teil  eine  wörtliche  ist,  von  Sap.  L2, 
L2.  20.  1"'.  T  abhängig,  dass  seine  Beurteilung  des  Götzendienstes 
und  die  Schilderung  der  Folgen  derselben,  seine  Vorstellung  des 
Verhältnisses  des  Leibes  zur  Seele  (U  Kor.  5,1.  I  b  toi  sx^vei 
xreva'Copev  [kpoufievoi  Sap.  9,  15)  durch  die  Sap.  bestimml  ist.  Dazu 
kommen  andere  Parallelen,  die  für  sich  nichl  Ausschlag  gebend, 
aber,  wenn  die  Benutzung  einmal  erwiesen  ist,  beachtenswert  sind. 
Jedenfalls  isl  das  bleibende  Resultat  der  Untersuchung,  „dass  Bich 
Paulus  mit  bedeutsamen  Gedanken  und  Gedankenverbindungen  des 
Griechentums  auch  im  Ausdrucke  vielfach  berührt".  Zu  S.  261  über 
Verwendung  der  von  Kampfspielen  hergenommenen  Bilder  verwebe 
ich  auf  meine  Arbeit   über  Philos  Schrill  über  die  Vorsehung  S.  17. 

esandl  zur  Bespi  ist  uns  Nikel,     Die   heidnischen  Kultur- 

völker des  Altertums  und  ihre  Stellung  zu  fremden  Religionen.     Leobscbütz. 
•  0/91.      I  die  Bemerkung,    dass   auf  11  S.  China,  Indien, 

\  in-.  Babel,  i  Griechen,  Römer  abgehandelt  werden. 


Neueste  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  <ln* 
Geschichte  der  Philosophie, 

A.     Deutsche  Litteratur. 

Adu'lis.  Th.,   Der  Begriff  des  l  nbewussten  bei  Ed.  v.  Bartmann,  Philos.  Jahr- 
buch VI.  4. 
\polt.  <>..    Zu  Platon's  Politeia,  Neue  Jahrb.  für  Philo!.  Bd.  148,  ff.  8  u.  9. 
Arnim,  II.  v.,  Der  angebliche  Streil  des  Zenon  und  Theo phrastos,  ebenda  ff.  7. 

i.  \..    De  i  o  Philodemi  de  Rhetorica  lib.  II.  Progr.,  Rostock. 

Am-.  .'..  Quam  rationem  Aristoteles  inter  virtutes  etbicas  ei  dianoeticas  inter- 

cedere  statuerit,  IM-s..  Bonn. 
Bardowitz,  I...    Die  rationale  Schriftauslegung  des  Maimonides,  Diss.,  Erlangen. 
Bastian,  Der  Buddhismus  als  religionsphilosophisches  System,  Berlin,  Weidmann. 
Baur,  A.,    Pierre  Jurieu  (1637     1713)    als  Staatsphilosoph,    Philos.   Monatsh. 

IM.  29,  II.  s. 
Becker,    Jean  Lemaire,  der  erste  humanistische   Dichter  Prankreichs,  Strass- 

burg,  Trübner. 
Berger,  EL.,    Die  Entwicklung  von  Schillers  Aesthetik,  Weimar,  Wöhlau. 
Bergmann,  •'..  Geschichte  der  Philosophie.  II.  IM..  2.Abth.,  Berlin,  Mittler  <fi  Sohn. 
Bruns,  .L.    Michael  Marullus,  Preuss.  Jahrbücher  Bd.  74,  II.  1,  Oct.  1893. 
Buschik,  R.,    I'i'    Paedagogik  Augustins,  Diss.,  Hallo. 
Deich  mann,    I1.;-  Problem  des  Raumes  in  der  griech.  Philos.  bis  Aristoteles, 

pzig,  Fock. 
Diebow,  I'.,    Die  Paedagogik  Schleiermacher's,  Diss..  Erlangen. 
Dietzel,    11..    Die  Ekklesiazusen   des   Aristophanes    und   die  piaton.   Politeia, 

Zeitschr.  für  Litt.  u.  Gesch.  d.  Staatswissensch.  IM.  I,  II.  .">  u.  6. 
—     —    Beiträge    zur    Geschichte     des    Sozialismus    und    des    Gommunismus, 

ebenda   II.  1  u.  S. 
Eiser,  Die  Lehre  des  Aristoteles  über  das  Wirken  Gottes,  München,  Aschendorff. 
Kit  er.  A.,  De  Gnomologiorura  Graecorum  historia  atque  origine  Gommentatio  III, 

Progr.,  Bonn. 
Eppstein,  A..    Studien  zum  Jezirabuch,   Monatsschrift   für  Gesch.  d.  Judenth. 

Bd.  I.  II.  10. 

Seelenlehre  Tertullians,  Paderborn,  Schöuingh. 
Fleischer,  .1.   W.,    Pierro  Poiret  als  Philosoph,   I'i-.-..   Krktngen. 
Goldbacher,  A.,    Zur  Erklärung  und  Kritik  des  platonischen   Dialogs  Lysis, 

An  esia,  Graz,  Styria. 

pp,  G.j    Kulturgeschichte  des  Mittelalters,  Bd.  I,  Stuttgart,  Roth. 
Gurlitt,  L.,  In  Ciceronis  epistulas  ad  Atticum,  N.  Jahrb.  f.  Philol.  Bd.  148,  II.  Id. 
Guttmann,  J. ,    Die    Beziehungen    des    Job.    Duns    Scotus    zum    Judenthum, 

Monatsschr.  für  Gesch.  d.  Judenth.  Bd.  II,  IT.  1. 
Hartmann,  E.  v.,  Kaut's  Erkenntnisstheorie  und  Metaphysik  in  den   I  Perioden 

ihrer  Entwicklung,  Leipzig,  Friedrichs, 
ffausrath,    Pein-  Abälard,  Leipzig,  Breitkopf  dz  ffaertel. 
Seiler,  M.,  Quibus  auetoribus  Aristoteles  in  Republica  Atheniensium  usus  sil 

Di--..   Berlin. 

ca  und  Athenodorus,  Gel.,  Freiburg,  1893. 
Hert<  r,    Weltanschauung  Wolfram's  von  Eschenbach,  Progr.  Stuttgart. 
Herbart's  sämmtliche   Werke,  berausg.   von   Hartenstein,   Bd.  L3,    Nachti 

Hamburg,  Voss. 
Holzinger,  C.  \..  Aristoteles'  und  Herakleides'  lakonische  und  kretische  Pohl 

Philologus  IM.  52,  II.  1. 
II-  -        l  und  seine  Quellen,  Rhein.  Museum  N.  F.  IM.  48,  II.  3. 

Jung,  K..    Causa  finalis,  eine  Bacostudie,  Diss.,  Gi 
Ivanoii.  T..    Steinthal's  Abweichung  von  der  Ethik  Herbarts,  Di-s..  Jena. 


294     v  an  auf  dem  G  escbichte  d.  Philosophie. 

Kieil,    Gassendi's  Skeptizismus  und  seine  Stellung  zum  Materialismus,  Philo- 
sophisch s  Jahrbach  VI,  4. 
Kl.-u.    S  iphontischen  Hemorabilien,  Leipzig,  Fock. 

•  ril  de  ling  uaei  itur,  Diss  ,  Gi<  ssen. 

.  J  .    Bonaventurain  in  doctrina  im  Natural  ium  origine  augusti- 

nun)  secutui  Braunsl 

Mi.  i:..  s  Tertullianae  criticae  I.  Diss.,  Göttingen. 

Kunert,  lt..   Die  doppelte  Rezension  des  platonischen  Staats,  Progr.,  Spandau. 
,.  Paul,    Der  Sophist  Bippi  in. 

'...   Die  Aufstellung  ?on  Postulaten         Kant,  Philosophische  Monaten. 

Bd.  29,  ll.  - 
lianitius,  M..  Beitri  i       hichte  römischer  Dichter  im  Hittelali 

Philologus  Bd.  52,  II.  3. 
Meyer,  E. ,  Der  Philosoph  Franz  Bemsterhuis,  lu->.,  Briangen. 

rp,   Die  Ethika  des  Demokritos,  Marburg,  Elwi 
Nehring,  L,  Ueber  die  Originalität  von  S  -  Naturales  quaestiones,  N.  Jahrb. 

für  Philol.,  Bd.  1  18,  II.  10. 
\    ■■..,.;...    \..   Leibniz'  Lehre  von  der  menschlichen  Wahlfreiheit,  Dias.,  Balle. 

len,  Ed.,   Beitrage  zur  griech.  Philosophie,  Leipzig,  Teubner. 
Novaro,    Die  Philosophie  Malebrancbes,  Berlin,  Mayei   &   Böller. 
Pade,  EL,   Die  Äffectenlehre  des  Joh.  Lud.  Vh  -  .  Münster. 

Pohlmann,  Rob.,   Geschichte  des  antiken  Communismus  und  Sozialismus  I.  Bd., 

München,  B 
Raumer,  \..   Die  Matapher  bei  Lucrez,  Erlangen,  Blaesing. 
Reinhardt,  Untersuchungen  über  Cicero's  Officien,  Progr.,  0 
Richter,  P.,  Bume's  Kausalitätstheorie  und  ihre  Bedeutung  für  die  Induction, 

Diss.,  Balle. 
i;..  Schopenhauer' s  Verhältniss  zu  Rani  1.  Diss.,  Lei] 
Rohde,  Ki win.   Psyche  2.  Bd.,  Freiburg,  Mohr. 
i;  senstock,  P.  E.,  Platon'a  Kratylos  und  die  Sprachphilosopbie  der  Neuzeit, 

Progr»,  Strassbi 
Schenkel,  II.,  Zur  handschriftlichen  Ueberlieferung  von  M.  Antonius  c(c  lau 

Eranos  Vindobonensis,  Wien,  Bölder. 
Schirlitz,  C,    Die  Reihenfolge  der  5  ersten  Reden  im  Symposion,  N.  Jahrb.  f. 

Philol.  Bd.  148,  II.  8,  9  u.  10. 
Schlemm,  A.,   De  fontibus  Plutarchi  comment.,  Diss.,  Göttingen. 
Schreiner,  Mart.,    Zur  Geschichte   des   aacharitenthums,   Verhandlungen   des 

ntalistencongresses. 
Sepp,  S.,   Pyrrhoneische  Studien  I  u.  II.  Freising,  Feilerer. 
Stein,  Ludwig,  I  riedrieb  Nietzsche's  Weltanschauung  und  ihre  Gefahren,  Berlin, 

Reimer. 
',.  .1..    Homerstudien  der  Stoiker,  Progr.,  Lörrach. 
\V..   De  Moschi  el  Bionis  aetate,   Diss.,  Tübingen. 
Sudhau  Aristoteles  in  der  Beurtheilung  des   Epikur  u.  Philodem,  Rhein. 

Mus.  Bd.  18,  II.  I. 
Tausch,  E.,  Sebastian  Francis  und  seine  Lehren,  Diss.,  Berlin. 
Tollin,  IL.  Thomas  v.  Aquin  als  Lehrer  Servets,  Zeitschr.  f.  wissensch.  Theol. 

Jahrg.  36,  B.  2. 
FJebingi  r,  Joh.,  Die  philos.  Schriften  des  Nicolaus  Cusanus,  Zeitschr.  für  Philos. 

103,  il.  l. 
Veil,  II..  Justin's  des  Philosophen  Rechtfertigung  d.Christenth.,  Progr.,  Strassburg. 
Weigand,  W.,  I  Voltaire,  Rousseau,  Taine,  St.  Beuvi  chen,  Franz. 

Wentscher,  M.,  Lotze's  Gottesbegriff,  Diss.,  Balle. 

Willamowitz-Möllendorf,  \..   Aristoteles  und  Athen,  2  Bde.,  Berlin,  Weidmann. 
Windelbam     i       bichte  dei  griechi  chen  Philosophie,  2.  Aufl.,  München,  B 
Wohlgemuth,  J.,   Benrj   Bome's  Aesthetik,  Diss.,  Rostock. 


Archiv 

Im  r 


Geschichte  <1<t  Philosophie. 


VII.  Band     3.  Heft. 

XL 

Amnioiiius  Sakkas  und  Plotinus. 

Von 
E.  Zollcr  in  Berlin. 

Die  Qeuplatonische  Schule  betrachtete  als  ihren  Stifter  von 
Anfang  an  jenen  Alexandriner  Ammonius,  der  sich  vom  Lastträger 
zu  einem  angesehenen  Lehrer  der  Philosophie  emporgearbeitet,  und 
von  seinem  früheren  Beruf  den  Beinamen  Saxxäk  erhalten  hatte. 
Nach  dem  Tode  dieses  -Mannes  waren,  wie  Porphyr  (Plot.  5)  er- 
zählt, seine  Schiller  Herennius.  Origenes  und  Plotinus  überein- 
gekommen, seine  Lehre  nicht  unter  die  Leute  zu  bringen  (fjurjosv 
ixx<zXu7rc£iv  TrTjv  O.OXOO  BoYp-axtov);  da  aber  zuerst  Herennius  und 
dann  auch  Origenes  dieser  Verabredung  untreu  wurde,  fand  sich 
auch  Plotin  nicht  länger  durch  sie  gebunden  und  eröffnete  in  Kein 
eine  Schule,  in  der  er  die  ihm  von  Ammonius  überlieferten  Lehren 
vortrug  (Ix  zrfi  A|ajiu>viou  tjovoocias  iroioujievos  täc  Siatptßas,  ähn- 
lieh ^  14  i.  ohne  doch  während  der  ersten  zehn  Jahre  etwa-  davon 
in  Schriften  niederzulegen.  Porphyr  hält  demnach  die  Lehre  Plo- 
tin's  nur  für  eine  Wiedergabe  dessen,  was  dieser  Philosoph  von 
Ammonius  gehört  hatte.  Ebenso  urtheileu  auch  spätere  Mitglieder 
der  Schuh-.     Hierokles,    der  Schüler  Plutarch's,  der  um  430—440 

blieben  haben  mau.    sagt  in  einer  durch   Photius1)    auf  uns 


')  Cod.  251,  S.  461a,  30.    Cod.  214,  S.  173a,  32. 

Philosophie.     VII.  21 


E.  Zell 

meueu  Stelle  seiner  Schrift   über  die  Vorsehung:   Bis  auf  Am- 
iii"i  lehrten8  haben  Akademiker  und   Peripatetiker 

sieh  befehdet,   indem  sie   behaupteten,   dass   Plato  und   Aristoteles 
bei  den  wichtigsten  Fragen  (xorra  rol  xatjpiet)  einander  widersprechen; 

i.  welcher  die  Lehren  jener  beiden  Philo- 
sophen richtig  verstanden  und  in  ihnen  ein  und  dasselbe  System 
erkannt   habe  (o  /'/•  töv  stöt  i»),   jenen    reinen 

Piatonismus  (t^j  nXatcoi  Kexadappevi  x),  durch  den  er, 

wie  Hierokles  versichert,  l>ei  seinen  Nachfolgern,  einem  Plotin  und 
Origenes,  Porphyr  und  Jamblich  und  den  andern  Männern  der  I 

x  bis  auf  Plutarchos  herab  jedem  Streit  der  Meinungen  ein 
Ende  machte  (aoxaoiaoxov  rijv  cpü  •   irapaoeScuxe).     Dies«    N 

platoniker  setzen  mithin  voraus,  dass  Plotin  seinen  Schülern  und 
Lasern  die  Lehre  des  Ammonius  im  wesentlichen  unverändert 
überlieferl  habe.  Audi  Plotin  selbst  scheint  diese  Voraussetzung 
zu  bestätigen.  Seine  oben  besprochene  Verabredung  mit  Orig< 
und  Herennius  lautet  so,  als  ob  keiner  von  ihnen  ausser  'lern 
System  ihres  Meisters  und  über  ihn  hinausgehend  Eigenes  vorzu- 
tragen gehabl  hätte.  Aber  daraus  folgt  doch  noch  lange  nicht, 
dass  Plotin  die  Lehren,  durch  welche  er  den  Standpunkt  der  frü- 
heren Platoniker  und  Pythagoreer,  eines  Numenius  und  seiner 
Vorgänger  überschritt,  oder  wenigstens  die  wichtigsten  von  ihnen 
dem  Ammonius  zu  verdanken  hatte.  Denn  wir  wissen,  für's  erste, 
niclii   im  geringsten,    wann   er  diese  Lehren  entdeckt,   ob  er  nicht 

ade  in  den  1<>  ersten  Jahren  seiner  römischen  Lehrthätigkeit, 
die  eifriger  Forschung  gewidmet  waren  (Porph.  •'»).  von  denen 
uns  alier  Kein,'  seiner  Schriften  Kunde  gibt,  sein  System  aus  dem 

Ammonius  herausgebildet,  und  daher  beim  Beginn  dieses  Zeit- 
raums sich  naturgemäss  erst  als  Schüler  dieses  Philosophen  gefühlt 
hat.  Sollte  er  aber  auch  sein  Leben  lang  an  der  Identität  seiner 
Philosophie  mit  der  seines  Lehrers  festgehalten  haben,  so  hätte  er 

iiir  ebenso  gemacht,   wie  es  Plato   und  Kenophon,   Antisthenes 
und  Buklides  vor  ihm  gemacht  hatten.     Alle  diese  Männer  waren 
überzeugt,   dass   ihre  Philosophie   die  ächte  Sokratik,    sie    die 
treuen  Ausleger  ihres   Meisters  seien.     I  nd  wir  wissen   doch,    wie 
weil  sie  über  diesen  hinausgegangen,  oder  auch  hinter  ihm  zurück- 


Ammonius  Sakkaa  und  Plotinus.  •_".!, 

geblieben  waren.      Wenn  Plotin    zu   der  Lehre  des   Amn iua   in 

dem  gleichen  Verhältniss  zu  stehen  glaubte,  so  könnte  man  sich 
darüber,  wie  viel  er  auch  zu  ihr  hinzugethan  haben  möchte,  bei 
ihm  gerade  am  wenigsten  wundern.  Wer  in  Plato  so  viel  peri- 
patetisches  und  stoisches,  aeupythagoreisches  und  neuplatonisches 
hineinzulesen  wusste,  wie  er,  den  konnte  es  noch  viel  weniger 
kosten,  zu  der  ihm  so  nahe  stehenden  Lehre  des  Ammonius  alles 
das  zu  rechnen,  was  er  selbst  in  weiterer  Verfolgung  der  Gedanken 
gefunden  hatte,  die  er  ihr  verdankt«'.  Vollends  selbstverständlich 
war  dies  für  seine  Schüler  und  Nachfolger,  «'inen  Porphyr,  Hie- 
rokles  u.  b.  w.  Sie  wussten,  dass  Ammonius  Plotin's  Lehrer  ge- 
wesen  war.  sie  hatten  wohl  auch  gehört,  dass  dieser  selbsl  bezeugt 
hatte,  er  folge  in  seiner  Erklärung  Plato's  (und  Platoerklärung 
wollte  ja  der  ganze  Neuplatonismus  sein)  seinem  Lehrer.  Wie 
weil  die  Uebereinstimmung  beider  gehe,  kennten  sie  nicht  unter- 
suchen, denn  Ammonius  hatte  keine  Schriften  hinterhosen.  Sie 
konnten  aber  auch  «las  Bedürfniss  dieser  Untersuchung  nicht  em- 
pfinden; denn  da  sie  zum  voraus  überzeugt  waren,  dass  alle  ächten 
Philosophen  in  allen  Hauptpunkten  einverstanden  seien,  konnte 
bei  ihnen  die  Frage  gar  nicht  auftreten,  oh  dieses  Einverständnis 
auch  zwischen  Plotin  und  Ammonius  bestehe:  sondern  was  sie  als 
die  Ltdire  ihrer  Schule  anerkannten,  das  führten  sie  auf  Ammonius 
als  den  Stifter  derselben  ebenso  zurück,  wie  man  in  diesen  Kreisen 
schon  längst  gewohnl  war  alles  pythagoreische  und  akademische. 
mochte  es  noch  so  spät  und  apokryph  sein,  auf  Pythagoras  und 
Plato  zurückzuführen.  Ergibt  sich  daher  auch  aus  Porphyr's  und 
Bierokles1  Zeugniss,  «las-  Plotin  auf  dem  Grund  fortbaute,  den  sein 
Lehrer  gelegt  hatte,  und  werden  wir  Ammonius  namentlich  das 
Bestreben  zuschreiben  dürfen,  die  wesentliche  Uebereinstimmu 
des  Plato  und  Aristoteles  nachzuweisen,  so  lassen  uns  die  Aus- 
n  jener  .Manier  doch  darüber  ganz  im  Dunkeln,  wie  die  ge- 
meinsame Lehre  des  Plato  und  Aristoteles  von  Ammonius  gefasst 
worden   war.    und   sie   .  uns  kein   Recht   zu  der  Behauptui 

dass  Plotin  die  unterscheidenden  Züge  seines  Systems,  die  Er- 
hebung des  1  rwesens  über  das  Sein  und  das  Denken,  die  Lehre 
vom    Btufenweisen    Herabsteigen    der    göttlichen    Kräfte,    die   Ab- 

21* 


E.  Zell 

leitung  der  Matei  P  w.,  Amnionitis  zu  ver- 

danken ha 

Bestimmter  scheint  dies  aus  N  sius  hen  eben.     Dies 

christlishe    $<  iplatooiker,    der  seine  Schrift    über  die   menschliche 
N  bl   bald   nach    150  verfassl    bat,  .l'li.  «I.  Gr.  [IIb,    158,1 

»ahnt   in   derselben   des  Ammonius  an  zwei  Stellen.      I>h'  erste 
v liesen,  c  2,  -  1     69,12     72,14  Matth.)*)  beweist  aller- 

dings   nichts.      \        sius    beruft    sich    hier    zur    Widerlegung    des 
psychologischen  Materialismus  auf  eine  Ausführung  monius 

und  Numenius.  Diese  enthält  jedoch  nichts,  was  die  eigentüm- 
lichen Zug  aeuplatonischen,  d.  li.  des  plotinischi  -  stems 
erkennen  liesse;  da  vielmehr  der  Anfang  S  eile  oichts  weiter 
isl  als  eine  etwas  freie  Paraphrase  des  von  Eusebius  pr.  ev.  XV, 
IT  mitgetheilten  Bruchstücks  aus  Numenius  1.  Buch  itep  k>5, 
so  ist  zu  vermuthen,  auch  das  weitere  stamme  ebendaher,  und 
Ammonius  werde  hier  nur  desshalb  genannt,  weil  der  Verfas 
der  Paraphrase,  wenn  nicht  Nemesius  selbst,  so  doch  ein  anderer 
Neuplatoniker  war.  welcher  das  von  Numenius  entlehnte  seinen 
Schulgenossen  durch  'li«-  Bemerkung  empfehlen  wollte,  dass  auch 
die  Lehre  ihrer  Schule,  die  des  Ammonius,  damit  übereinstimme. 
Etwas  anders  verhält  es  sich  mit  der  zweiten  Stelle,  in  der  Am- 
monius Y"ii  Nemesius  genannt  wird.  In  seiner  Erörterung  über 
die  Verbindung  der  Seele  mit  dem  Leibe  berichtet  dieser  c 
-  5l  59  ^129,9-  137,4  M.),  wie  „Ammonios  der  Lehrer  Plotin's" 
«li*-  Frage   gelöst    habe.      I>a-  Qebersinnliche  (tä  votjto  .    habi 

könne  sich  mit  den  Dingen,  die  zu  seiner  Aufnahme 
int  .sind,    so  <  li.  verbinden,   wie  vollkommen   gemischte  Stoffe  (tä 
suvecpöapfieva;    über  diesen  Ausdruck  Ph.  d.  Gr.  [IIa,   Il'T.I)  sich 
mit  einander  verbinden,  ohne  sich  darum  mit  ihnen  zu  vermischen 

r  sich  zu  verändern;    das    gleiche    müsse   daher  auch   \ ler 


i  nämlii  I  ütal  aus  '•  ius  und  Ammoi 

-  erhellt,  dass  es  Ni  mit  <  1  •- 1 1  Wo 

m  IlAw  und    daraul 

.  2,  I  ■">  M.  absch 

n  . 


Ammonius  Sakkas  und  Plotinus.  299 

\  erbindung  der  Seele  mit  dein  Leibe  gelten.  Sie  sei  mit  ihm 
ohne  Vermischung  zu  Einem  Wesen  verbunden,  sie  durchdringe 
ihn  ganz  und  sei  vollständig  in  jedem  seiner  Theile,  bleibe  aber 
dabei  von  ihm  geschieden  and  werde  in  ihrem  einheitlichen  Wesen 
nicht  verändert,  sei  (im  Unterschied  von  den  3uve<pöapuiva)  d8ia- 
pdipos  .  .  .  xai  to  xaD5  lauT/jv  sv  8iaau>Couaa  .  .  .  xat  ;j./(  rpsirouivr] ; 
sie  sei  in  ihrem  Leibe  nicht  wie  in  einem  Gefäss,  sondern  viel- 
mehr  der  Leib  in  ihr,  -ei  ihm  nicht  räumlich  gegenwärtig,  sondern 
nur  dadurch,  dass  sie  sich  ihm  zuwende  (-/,  j/.^s'-  xat  "(i  ~'/': 
loirfl  xat  Bia&ecrei)  und  von  ihm  gefesselt  werde  wie  der  Liebende 
von  der  Geliebten;  es  wäre  daher  richtiger,  nicht  zu  sagen:  „sie 
i-t  hier",  sondern  ..sie  wirkt  hier".  Alles  diese-  findel  sich  dem 
Sinne  mich,  und  theilweise  auch  mit  den  gleichen  Ausdrücken  und 
Wendungen,  bei  Plotin  gleichfalls3).  Ebenso  Iässl  -ich  der  Satz 
(Nem.  185,6  .  da—  die  votjtq:  entweder  in  sich  selbsl  <»\ry  in  den 
höher  stehenden  vorjta  -(den,  die  Seele  /..  15.  entweder  in  sich  oder  im 
Nu-,  nur  aus  der  Lehre,  die  im  Mittelpunkt  de-  plotinischen  Systems 
steht,  vom  Hervorgang  des  Abgeleiteten  aus  dem  Ersten  und  der 
Immanenz  des  Niederen  in  dem  Höheren,  verstehen.  (Vgl.  Phil. 
d.  Gr.  IUI..  502ff.3  507  f.  Plotin  V,5,  <)  u.a.)  Wenn  daher  Ne- 
mesius  -'inen  Berichl  aus  einer  glaubwürdigen  üeberlieferung  über 


3)  Dass  die  Seele,  wie  alles  ünkörperliche,  unveränderlich  sei  (Nem. 
-.  130.  133  M.),  und  daher  /.war  Ursache,  aber  nicht  Subjekt  von  Veränderun- 
gen -ein  könne,  zeigt  Plotin  in  einer  eigenen  Schrift,  111,0;  er  spricht  ihr 
(z.  B.  c.  1)  die  xpoTtai  und  dXXotwaetg  ab,  nennt  sie  «ttociK,;  und  axpETtros. 
Wenn  sie  nach  Nein.  133  den  Leib  vollständig  durchdringt,  aber  -••  xaJF 
jccj-:t(v  h  SiaawCouaa,    -"   da>-    sie  überall  ganz  ist,  sagt  auch  Plotin,    sie 

iräat  [xepeai  des  Beseelten,   aber  o/.r,  Iv  -Az<.  xai  h  Sttpoüv  airoS  ö'Är,   denn 
auch  in  dem  n  Leibe  ota  itfiazarai  toü  eIvoi  [xt'a  (IV, 2,  1.  S.  195, 17  ff.  Md. 

VI,4,3).  Dass  die  Seele,  als  unkörperlicb,  dem  Leibe  und  seinen  ein- 
zelnen Theilen  uicht  räumlich,  sondern  nur  durch  ihre  Wirksamkeit,  nur  in- 
sofern gegenwärtig  sei,  al-  sie  dieselben  zu  ihren  Werkzeugen  macht,  (Nem. 
135,3-  137,4]  lehrt  auch  Plotin  (VI, 4.:;.  16  S.  435,28.  146,8.  [V,3,20f. 
8.  211,47ff.  212, 45 ff.  c.  23  S.  214,19),  inde r  sieh,  wie  jener  (135,2),  da- 
gegen   verwahrt,    dass   d        -            im  Leib   -ei   <!j;  i;  dyjfeup   (S.  212,4),   und    ihre 

Anwesenheil  in  demselben  mit  der  des  Lichts  in  der  Luft  vergleicht,  zugleich 
134,5  ff.)  den  Unterschied  beider  bemerkt,  dass  die  Wirkung 
Lichts  an  .'in,;  im  Raum  befindliche  Lichtquelle  gebunden,  die  der  - 
schlechthin  unräumlich  i-t    \  I.  1.  '■'*. 


F..  Zeller. 

Lehre  des  Amnionitis  Sakkas  entnommen  hat,  so  müssten  wir 
;it    bloa    die   lrit.-n.lrn   Gedanken    der    plotinischen   Psycho! 
:i    auch    di  o   ihr  ohnediess  antrennbaren     des   ganzen 

neuplatonisch     3;  sterns  bereits  Plotin's  Lehrer  zuschreiben.    Allein 
wer  bürgl   uns  dafür,    dass  Nemesius  wirklich  eine  auf  Ammonius 
zurückgehende  zuverlässige  Darstellung  seiner   Lehre   vor  sich 
habt  hat? 

Ammonius  selbst  hatte  oach  dem  einstimmigen  Zeugniss  seiner 

Schüler  keine  Schriften   hinterlassen.      Longinus    b.  Porph.  Plot 

liess  ausdrücklich,  Plotin,  Origenes  und  Herennius  bestä- 

m  es  durch  ihr  Verhalten;  denn  ihre  obenberührte  Verabredung, 
Ammonius'  Lehren    nicht    bekannl    zu    machen,    wäre    sinn-    und 

Qstandslos  gewesen,  wenn  er,  selbst  sie  schon  in  Schriften  be- 
kannt gemacht  hatte.  \  sius  könnte  demnach  das,  was  er  über 
diesen  mittheilt,  nur  durch  Dritte,  Bei  es  auf  mündlichem  oder 
auf  schriftlichem   W  rfahren  habe.     Aber  dass  ein  ver- 

wickelte wissenschaftliche  Erörterung,  wie  die,  welche  Nemesius 
uii-  vorlegt,  von  Ammonius'  Tod  bis  zur  Abfassung  von  V  •..  jius' 
Schrift,  volle  200  Jahre  lang,  sich  in  mündlicher  Ueberlieferung 
wesentlich  unverändert  fortgepflanzt  haben  sollte,  wie  diess  Va- 
cherot*)  anzunehmen  geneigt  ist,  erscheint  ganz  undenkbar.  v 
mesius  müsste  mithin  einen  schriftlichen  Bericht  über  Ammonius 
benützt  haben,  und  zwar  einen,  der  von  einem  persönlichen  Schüler 
selben  herrührte;  denn  nur  ein  solcher  konnte  aus  eigener 
Kenntniss  und  von  späteren  Lehrbildungen  nicht  beeinflussl  über 
den  Inhalt  seiner  Vorträge  berichten.  Finden  sich  nun  Spuren 
von  dem  Dasein  rinn-  solchen  aus  Ammonius'  Schule  hervorj 
gangenen  Darstellung  seiner  Lehre,  und  würde  sich  die  Annahm.'. 
dass  sie  dem  Bericht  des  Nemosius  zu  Grunde  liege,  mit  dem  ver- 
tragen, was  uns  anderweitig  über  Ammonius  und  seine  Schüler 
bekannt  ist? 

Die  erste  von  diesen  Fragen  glaubl  II.  v.  Arnim6)  bejahen 
zu  können.     Priscian  der   Lyder  nennt    in  seinen   um  530  ver- 

;    Bist,  de  l'ecole  <l'  W-  - 16)  I.  349ff. 

le  der  Ueberlieferung  über  Ammonius  Sakkas"  Rhein. Mus.  M.ll 


Ammonius  Sakkaa  und  Plotinus,  ;;i)| 

fassten    Solutiones    ad    Chosroem    (Supplem.   Arist.  tb)    S.    12,15 
unter  den  von  ihm  benützten  Schriftstellern  einen  im- nicht  weiter 
bekannten  Theodotus,   von   dem   er  sagt:    aestimatus  est  autem   ei 
Theodotus  nobis  oportunas  occasiones  (oi<popu-Äc)  la/rgiri  ex  Collectiom 
.  I   \monii  scholarum   (ix   ttjs   Sovoqfwpjs  tcov  'Au-fiumou   syoXSiv)  <v 
Porphyrius  ea    Commixtis   Quaestionibus.     Mit    diesem    Ainmonius, 
glaubl   nun  A..  sei   kein  anderer  gemeint,   als  der  Lehrer  Plotin's, 
und   mit   dem  Theodotus   der  Platoniker  dieses  Namens,    der   von 
Longinus  b.  Porph.  Plot.  20  als  ein  athenischer  Diadoche  seiner 
Zeit  genannl   wird:  an  denselben  isi  aber  A.  geneigl  auch  bei  Por- 
phyr s   Wollen   Plot.    i:    9so8oaiou  tou  'A[X}mdviou  ysvojasvou   statpou 
zu   denken,    und    diesen    desshalb    in   einen  Theodotus   oder   auch 
(was  alter  viel  weniger  passte)  den  Theodotus  Priscian's  in   einen 
Theodosius   zu    verwandeln.    —    Allein    diese  Combination   verliert 
seilet   den   Schein   einer  Begründung,  sobald  man   unter  dvu  Daten, 
mit  denen   sie   rechnet,   /.wischen    dem.    was  überliefert,   und   dem. 
was  blosse  Vermuthung  ist.  schärfer  unterscheidet.     Priscian  nennt 
Theodotus'   Sammlung  der   von  Ammonius  vorgetragenen    Lehren. 
Aber  er  theilt  uns  nicht  blos  über  die  Person    und  die  Lebenszeit 
des  Theodotus  nichts   mit.    sondern    er    deutet    auch    mit    keinem 
Wort    an,    dass   mit    dem  Ammonius   der  Lehrer  Plotin's   gemeint 
sei,  so  QÖthig  diess  auch  gewesen  wäre,  wenn  seine  Leser  an  ihn. 
und  nicht  an  den  gleichnamigen  Sohn   des  Hermias,   den   berühm- 
testen Vertreter    der  Schule  seit   Proklus,    den  Lehrer  des   Dama- 
scius,    Simplicius,    Asklepius,    Olympiodorus,    Philoponus.    denken 
sollten,    welcher    den  Zeitgenossen    dieser    Männer   ungleich  näher 
lag  und  bekannter  war  als  Ammonius  Sakkas,  und  von  dem  auch 
Asklepius  Vorträge   (über  Aristoteles'   Metaphysik)    herai  ben 

hat.  Lässl  sich  aber  von  diesem  Theodotus  weder  erweisen  noch 
wahrscheinlich  macheu.  sondern  nur  nicht  gerade  als  unmöglich 
darthun,  dass  er  über  Ammonius  Sakkas  geschrieben  hat.  so  stelri 
es  von  dem  athenischen  Diadochen,  dessen  Longinus  erwähnt  und 
den  Arnim  mit  dem  Theodotus  Priscian's  identificirt,  fest,  dass  er 
diess  nicht  gethan  hat.  Denn  Longin  sagt  nicht  blos  nichts  von 
einer   Verbindung    di  ["heodotus    mit    Ammonius,    sondern    er 

rechnet  denselben    auch    ausdrücklich    zu  denjenigen  Philosophen, 


E.  Zei: 

-    triften  hinterlassen,  Bondero  sich  mit  der  mündlichen 
Mittheil ong  ihrer  Ansichten    begnügt   hal  D  nselben    zählt   er 

nun  allerdigs  auch  Origenes  nnd  Eubulus  zu,  wiewohl  diese  ein 

i  hatten,  weil  dieses  zu  unbedeutend  nnd  nebensächlich 
und    so    könnte    man   denken,    auch    von  Theodotus 
möge  wohl  eine  Schrift  vorhanden  gew«  in.     Aber  von    ihm 

mginus  diess  eben  nicht,  und  es  i-t  auch  sehr  unwahrschein- 
lich, dass  er  eine  Darstellung  der  Lehre  des  Ammonius,  dessen, 
\\:t-  Longin  und  seinen  Mitschülern  für  den  ächten  Piatonismus 
galt,   unter  die  oöx  iyi;; t>a,    seinen  \  erfasser   unter  dii  inet 

hätte,  welche  es  verschmähten,  5id         -       rd  8ox< 

:  doppelt  unwahrscheinlich,  wenn  diese  Darstellung  alles 
das,  was  Nemesius  als  die  Lehre  des  Ammonius  Sakkas  bezeichnet, 
und  ebendamit,  wie  wir  gesehen  haben,  die  leitenden  Gedanken 
plotinischen  Systems  enthalten  hätte.  Lässt  sich  aber  hier- 
nach weder  von  dem  Theodol  Priscian's  noch  von  dem  Longin's 
darthun,  dass  er  ein  Schüler  des  Ammonius  Sakkas  war  und  -<-i in* 
Lehre  dargestellt  hat,  so  i-t  es  verlorene  Mühe,  dieser  Annahme 
durch  die  Vermuthung  aufhelfen  zu  wollen,  der  von  Porphyr  als 
Ammonius1  Schüler  genannte  Theodosius  sei  mit  einem  von  den 
zwei  Theodotus,  oder  noch  besser  mit  beiden  und  sie  mit  ein- 
ander, dieselbe  Person.  Denn  8eo86aio?  und  8e68oxo;  sind  nun 
einmal  zwei  Namen  und  nicht  einer,  und  diesen  Umstand  durch 
eine  T<  Ktesänderung  unschädlich  zu  machen,  wäre  nur  dann  zu- 
lässig, wenn  die  Identität  der  Personen,  die  mit  beiden  bezeichnet 
werden,  d.  h.  wenn  eben  das  schon  erwiesen  wäre,  zu  dessen  Er- 
weis man  sich  gerade  durch  jene  Textesänderung  ersl  die  Mittel 
schaffen  müsste. 
Viel  werthvoller  als  diese  Vermuthungen  isl  der  von  Arnim 
geführte  Nachweis,  dass  die  Darstellungen  des  Nemesius  und  Pri- 
scianus  auf  Porphy'rius  als  ihre  Quelle  zurückgehen.  Im  Anschluss 
an  -eine  oben  besprochene  Erörterung  über  die  Verbindung  der 
e  mit  dem  Leibe  bemerkt  Nemesius:  die  gleichen  Bestimmungen 
lassen  sich  mich  auf  das  Verhältniss  der  zwei  Naturen  in  Christus 
anwenden,  und  er  führt  in  diesem  Zusammenhang  S.  139,  I  M. 
aus  dem  2.  Buch  von  Porphyr's  jö|ip.txxa   '.i-i^T.-)  die  Worte  an: 


Ammonius  Sakkas  und  Plotinus.  ,",i  (3 

oöx  a7co"yvö)OTSov  ouv,  huiyzz\)rd  nva  oöaiav  icapaX,7j<pö5jvai  :•-  lOfi* 
TrX^pcuaftv  Itspcts  ouai'a?  xcd  eIvgu  pipo;  oüaia»,  [xsvouöav  xorci  rrjv 
EctutTjS  cpuoiv  fiötä  t;j  juixTrXrjpouv  aXXr(v  oöaiav,  ?v  ts  juv  aXXu)  yev<1" 
uev/(v  xal  to  xaS''  laux'Jjv  Sv  8iaaa>Cooaav  xal,  xo  [xsTCov,  (und, 
was  noch  mehr  ist)  aöt'fyv  uzv  jitj  tpeTcofisvKjv  tpiiroucav  ^s 
ixeiva  £v  ots  äv  Y'TV7Jxat  £'-^  "V''  £äottjs  Ivlp^siav  xtjj  napou- 
sia.  Von  diesen  Worten  linden  sich  die,  welche  im  Druck  hervi 
gehoben  sind,  theils  genau  so,  theils  mil  wenigen  unerheblichen 
Abweichungen  auch  in  dem  vorangehenden  Berichl  des  Nemesius 
über  die  Lehre  des  Ammonius  von  An-  Verbindung  der  Seele  und 
dos  Leibes  S.  133,4 — 6  (s.  o.  S.  299),  und  es  wird  dadurch  erwiesen, 
dass  dieser  Berichl  mittelbar  oder  unmittelbar  ans  Porphyr's  „Ver- 
mischten Untersuchungen"  entlehnt  ist.  .Mit  dem  Kapitel  des  Ne- 
mesius,  von  dein  er  einen  Theil  bildet,  trifft  aber,  ohne  Ammonius 
zu  nennen,  (wie  Arnim  a.a.O.  S.  279ff.  zeigt)  auch  Priscian 
in  dem  auf  das  Verhält niss  von  Seele  und  Leib  bezüglichen 
Abschnitt  seiner  „Solutiones"  S.  50,25— 52,9  Byw.  in  dem  Inhalt 
und  der  Gedankenfolge  und  vielfach  auch  in  den  ^Yorten  so  auf- 
fallend zusammen,  dass  man  sich  der  Annahme  nicht  entziehen 
kann,  beide  baben  aus  einer  gemeinsamen  Quelle  geschöpft;  denn 
dass  der  christliche  Bischof  seinerseits  die  Quelle  Priscian's  gewesen 
sein  sollte,  ist  theils  an  sieh  höchst  unwahrscheinlich,  theils  würde 
-  h  diese  Annahme  damit  schlecht  vertrauen,  dass  Priscian  bei  der 
Aufzählung  der  von  ihm  benützten  Schriften  (von  denen  er  freilich 
viele  nur  aus  fremden  Anführungen  gekannt  haben  mau)  zwar  die 
von  Nemesius  citirten  „Vermischten  Fragen"  Porphyr's,  nicht  aber 
Nemesius  nennt,  dass  er  ferner  im  Vergleich  mit  diesem  einmal 
(S.  51,  32)  das  ursprünglichere  gibt,  und  da.-s  er  durch  Erweiterung, 
Verkürzung  und  veränderte  Ordnung  vielfach  von  ihm  abweicht. 
Wie  sollen  wir  uns  nun  diesen  Sachverhalt  erklären?  Haben  Ne- 
mesius und  Priscian  Porphyr's  Schrift  unmittelbar  oder  nur  mittel- 
bar benutzt?  und  hat  Porphyr  selbsl  eine  Darstellung  der  Lehre 
des  Ammonius  Sakkas  vor  sich  gehabt?  Weder  Nemesius  rjoch 
Priscian  gibt  uns  darüber  Auskunft.  Ihre  Uebereinstimmung  wie 
ihre  Abweichungen  von  einander  können  ebensogut  davon  her- 
rühren,  dass   sie  verschiedenen   Bearbeitungen   des  gleichen  Textes 


K.  Zelli 

•Igt    sind,    als   davon,    dass  sie   selbst  diesen  Text    verschieden 
iahen.      Keiner   von   beiden  ins  ferner,    woher  er 

Mittheilungen  bezogen  hat     Nemesius  will  in  dem  Abschnitt 
137,4  aber  die  Ansicht  des  Ammonius  Sakkas  vom  \ 
hältniss  der  Seele  and  des  Leibes  berichten.     Aber  dass  Porphyr's 
/  seine  Quelle  seien,  verräth  er  mit  keinem  Wort, 
und  auch  im  folgenden     139,4  ff.),    wo   er  ein  5.  133,4 

benützt    W    ■•     aus  dies      -  Inil'i  anfuhrt,   erinnert   er    nicht    da- 
ran, dass  er  sie  kurz  vorher  Bchon  gebrachl  hat;  andererseits  al 
tzt   er    133,2    die  Anfangsworte  der  Stelle,    die   er   139,4   aus 
phyr  anfährt,  durch  andere,  und  133,6  hat  er  statt    <  a  S.  1  10,5 
enden,    durch  Priscian  S.  51,32    al-  acht   erwiesenen    Ivs 

Dieses  Verhältniss  der  beiden  Texte  lässt  es  nichl  blos 
als  möglich  erscheinen,  sondern  es  empfiehll  sogar  die  Annahme, 
-  beide  aus  verschiedenen  Vorlagen  entnommen  seien,  dass  Ne- 
mesius den  Bericht  über  Ammonius  (129,9-  137,4)  nicht  von 
Porphyr  selbst,  sondern  von  einem  Andern  entlehnt  habe,  der 
seinerseits  diesen  benützt,  aber  Dicht  genannt  hatte;  noch  ein 
weitere  Gründe  für  diese  Vermuthung  werden   sich   uns  später 

ii.      Priscian  seinerseits  sagt  S   50,25 ff.   überhaupt  nichts  da- 
von,   dass    er  sich  an   eine   fremde  Vorlage   hält;    in    der    ber 

-   301)  angeführten  Stelle   seiner  Einleitung  stellt    er  Tl lotus' 

Mittheilungen  aus  den  Vorträgen  des  Ammonius  und  Porphyr's 
Vermischte  Untersuchungen  in  einer  Weise  zusammen,  welche 
allerdings  die  Vermuthung  begünstigt,  er  habe  entweder  die  Schrift 
des  Theodotu8  bei  Porphyr,  oder  die  Porphyr's  bei  Theodotus  an- 
geführt gefunden;  aber  zwischen  diesen  zwei  Möglichkeiten  mit 
Sicherheit  zu  <■ni-.-liri.lrn.  fehlen  uns  die  Mittel,  und  der  Umstand, 
Schrift  des  Theodotus  als  besonders  werthvolles  Hülfe- 
mitte] vorangestellt,  Porphyr  dagegen  nebst  Jamblich  Alexander 
und  Themistius  nach  ihm  nur  kurz  genannl   wird,  macht  eher  den 

Eindruck,  Th lotus'  Aufzeichnungen  aus  den  Vorträgen  des  Ammo- 

ii i u -  (d.h.  des  Ammon.  'Epjtsfou)  seien  Priscian's  nächste  Quelle 
gewesen,  und  die  Titel  von  Schriften  des  Porphyr  n.  s.  w.  ihm  nur 
durch  diese  an  die  Hand  gegeben  worden. 

!.'■  ichen  aber  «Ii»-  Mittheilungen  des  Nemesius  und   Priscianus 


Ammonios  Sakkas  und  Plotinus.  305 

nicht  aus  um  darüber  zu  entscheiden,  ob  ihren  and  Porphyr's  Aus- 
führungen ein  authentischer  Bericht  über  die  Vorträge  des  Ammo- 
nius  Sakkas  zu  Grunde  lag  oder  nicht,  so  bleibl  uns  nur  übrig, 
für  die  Beantwortung  dieser  1  ra.e  allgemeinere  Erwägungen  zu 
Hülfe  zu  nehmen  und  zu  untersuchen,  was  sich  aus  unserer  ander- 
weitigen Kenntniss  der  ueuplatonischen  Schule  und  ihrer  Litteratur 
in  dieser  Beziehung  ergibt.  Und  da  kann  ich  nicht  umhin,  auf 
zwei  Punkte  zurückzukommen,  auf  die  ich  schon  längsl  aufmerk- 
sam gemacht  habe'"'):  dass  es  1)  in  der  Litteratur  aussei-  den  un- 
sicheren Andeutungen  die  man  bei  Nemesius  und  Priscian  zu  fin- 
den geglaubt  hat,  an  jeder  Spur  von  dem  Dasein  der  angeblichen 
Aufzeichnungen  aus  der  Schule  des  Ammonius  fehlt;  und  dass 
2)  Plotin's  Mitschülern  <  frigenes  und  Longinus  Lehren  von  eingrei- 
fender Bedeutung,  die  nach  Nemesius  schon  Ammonius  angehört 
halirn  müssten,  nachweislich  noch  fremd  waren.  Ich  will  dies 
etwas  naher  begründen. 

Wenn  es  eine  Darstelluni;  der  Lehre  des  Ammonius  Sakkas 
von  einem  seiner  Schüler  gegeben  hätte,  so  hätte  diese  für  die 
Späteren,  welche  in  ihm  den  Stifter  ihrer  Schule  verehrten,  und 
welche  keine  andere  geschichtliche  Urkunde  seiner  Philosophie  be- 
-"ii.  doch  sicher  das  höchste  Interesse  haben  müssen.  Man 
müsste  daher  erwarten,  sie  in  den  zahlreichen  Schriften  und  Bruch- 
stücken neuplatonischer  Philosophen,  die  wir  haben,  erwähnt  zu 
linden:  nur  von  Plotin  gilt  dies  nicht,  da  er  seinen  Lehrer  über- 
haupt nie  nennt,  und  die  Kenntnis-  seiner  Ansichten  auch  nicht 
erst  einem  Andern  zu  entnehmen  nöthig  gehabt  hätte.  Aber  diese 
Erwartung  wird  vollständig  getäuscht.  Abgesehen  von  der  Theo- 
dotusschrift  Priscian's,  deren  Beziehung  auf  Ammonius  Sakkas  sich 
uns  bereits  unerweislich  gezeigt  hat.  wird  auch  nicht  einmal  eines 
Werkes  über  die  Leine  dieses  Philosophen  gedacht.  Porphyrius, 
auf  den  Nemesius'  Bericht  über  Ammonius  zurückgeht  (s.  o.).  nennt 
in  keiner  seiner  Schlitten  und  keinem  seiner  zahlreichen  Bruch- 
stücke einen  Schüler  des  Ammonius.  der  über  ihn  geschrieben 
hätte,    und    den   Ammonius    selbst    auch    nur   im    Leben    Plotin's: 


*)  Philo-.  .1.  Gr.  III  b,  S.  <<  :;)ff. 


306  K.  Zeller. 

r  auch  in  Schrift,  welche  er   nach  60  Jahre 

-    I  .     rwähnt  er  keiner  solchen  Dar- 

u  Anlass  auch  die  von  ihm  berichtet  n  Verhand- 
lungen zwischen  den  Schülern  des  Ammonius  dafür  geboten  hätten, 
und  so  wird:  die  Aussagen   eines  Ohrenzeug 

fnhall    seiner  Vorträge    zu    vernehmen.      Bei   Jamblich 

uns  der  Name  des  Ammonius  oirg  und  auch  in  den 

ausführlichen    I  bten    über    die    psychologischen    Annahmen 

ler  \  oi  .   die   uns  Sl  obäus   Ekl.   1.  ;        358     926.   1056 

bis  1068  von  ihm  erhalten  hat,  kommt  er  oichl  vor;  und  doch 
sind  es  gerade  die  hier  besprochenen  psychologischen  Fragen,  mit 
denen  nicht  allein  die  Mittheilungen  des  Nemesius  ül  \  monius 
sich  beschäftig  ndern  die  auch  (nach  Phot.   L72b,   I9ff.  461b, 

1  f.  I''.  .i  in  Hierokles1  angeblich  auf  Ammonius  zurückgehendem 
Werk  über  die  Vorsehung  besonders  eingehend  besprochen  waren. 
Nicht  anders  verhält  es  sich  mit  Proklus.  Auch  er  verweist  nie 
auf  'In-  Schrift  über  Ammonius,  <lie  doch,  wenn  sie  seinen  Zeil 

jsen  Hierokles  und  Nemesius  bekannt  war.  seiner  umfassenden 
Gelehrsamkeil  unmöglich  hätte  entgehen  können.  Er  wundert  sich, 
dass  Ol  .  der  Mitschüler  Plotin's,  von  dem  Einen  des 

kens  und  Seins  nichts  wisse7);  wie  sich  Ammonius  in  seinen 
Vorträgen  dazu  verhalten  habe,  sagt  er  nicht.  Ebensowenig  be- 
rücksichtigt einer  von  den  neuplatonischen  Erklärern  des  Aristoteles 
dies«    \  so  wenig  es  auch.   /..  B.  in  Simplicius'  und  Philo- 

ponus1  Commentaren  zu  den  Büchern  von  der  Seele,  an  Geleg 
heil  dazu  gefehlt  hätte.  Nicht  einmal  Hierokles  und  Nemesius 
berufen  sich  auf  sie:  weder  dieser  noch  jener  sagt  uns,  w <in  er 
seine  Kenntniss  der  Lehren  verdankt,  die  er  Ammonius  zuschreibt. 
Die  angebliche  Aufzeichnung  seiner  Vorträge  hat  in  den  Schriften 
der    neuplatonischen   Schul. •   I  sichtbare  Spur   zurückgelassen. 

\\  ie  wäre  diess  möglich,  wenn  diese  Aufzeichnung  schon  seil  Plo- 
tin's Zeit  vorhanden  war?  Mochte  auch  Plotin  keinen  Gebrauch 
von    ihr   machen,    so  wäre  sie  doch  für  alle  Späteren  der  einzige 

bichtliche  Bericht   über  die  Lehre  des  Stifters  ihrer  Schule 

DI    ol.  Plat  II.  1  Anf.  vgl.  I'h.  d.  Gr.  [IIb, 


Ammonius  Sakkaa  urul    Plotinus.  307 

wesen;  und  dass  auf  einen  solchen  Berichl  im  Laufe  von  drei 
Jahrhunderten  von  allen  den  Gelehrten,  welche  einander  die  I' 
inen  und  die  Geschichte  dieser  Schule  überlieferten,  kein  einziger 
zurückgewiesen  haben  sollte,  oder  dass  uns  alle  ihre  derartigen 
Aeusserungen  verloren  gegangen  sein  sollten,  isl  doch  höchsl  un- 
wahrscheinlich. 

Dazu  koininl  aber,  wie  bemerkt,  noch  ein  zweites.  Dürften 
wir  Nemesius'  Ausführungen  c.  •">  S.  I29ff.  M.  auf  Ammonius  Sak- 
kas  zurückführen,  so  müssten  wir  schon  diesem  Philosophen,  wie 
oben  gezeigl  ist,  mit  Plotin's  Psychologie  auch  die  Grundlehre 
seiner  Metaphysik,  die  Lehre  von  der  herabsteigenden  Stufenreihe 
der  göttlichen  Erzeugungen,  und  insbesondere  von  der  Aufeinander- 
folge des  Nu-  und  der  Seele  beilegen,  die  hier  (S.  135,  7)  bereits  als 
etwas  feststehendes  und  anerkanntes  erscheint;  und  da- diese  Lehre 
eben  nur  dazu  dienen  soll,  die  Gesammtheil  des  Endlichen,  bis  zur 
Materie  herab,  streng  monistisch  aus  Einem  transcendenten,  in 
seiner  Unendlichkeit  auch  über  den  Nus  hinausliegenden  Princip 
abzuleiten,  so  könnten  wir  uns  nicht  weigern,  auch  diese  monistisch- 
emanatistische  Construction  des  Universums  wenigstens  in  ihren 
leitenden  Gedanken  für  die  Schöpfung  des  Ammonius  7.11  halten. 
Allein  Plotin's  Mitschüler,  Longinus  und  Origenes,  können  dies  - 
System  noch  nicht  als  das  ihres  Lehrers  gekannt  haben.  Longinus 
(b.  Porph.  Plot.  19)  erklärt  offen,  dass  er  mit  den  meisten  von 
Plotin's  Annahmen  nicht  einverstanden  sei;  einen  Streitpunkt 
zwischen  beiden  bildete  (Porph.  a.a.O.  §18.20  u.a.  vgl.  Phil. 
d.  Gr.  [IIb,  464f.)  namentlich  die  Frage,  ob  die  Ideen  ausser  oder 
in  dem  Nus  seien:  jenes  behauptete  Longin  im  Anschluss  an 
Plato,  dieses  Plotin,  für  dessen  System  der  Satz,  dass  die  Well 
der  übersinnlichen  Wesenheiten  oder  der  Ideen  im  Nus  befassl  sei, 
die  grösste  Bedeutung  hat.  Origenes  Hess  die  Unterscheidung  des 
1  rwesens  von  dem  Nus,  und  die  bei  Plotin  daraus  folgende,  wenn 
auch  zunächst  von  Numenius  übernommene,  des  Weltschöpfers 
(der  bei  Plotin  eben  der  Nus  i-t  vom  höchsten  Gotte  uicht  gelten 
(Ph.  d.  Gr.  Mb,  462f.  vgl.  633,3).  Diesen  Schülern  des  Ammonius 
waren  daher  gerade  diejenigen  Lehren,  durch  welche  Plotin  den 
bisherigen  Standpunkt  der  platonischen  Schule  überschritt,  so  fremd, 


K.  Zell 

ilben  sogar  ausdrücklich  entgegentraten.     Baben  aber 
Männer  in  der  Schule  des   Ammonius  nichts  von    denselben 

nommen,  -  ch  nichl  annehmen,  dass   sie  diesem  Philo- 

sophen   überhaupt    schon    angehörten.      Wenn    uns   daher    in    der 
Folge    Darstellungen    l  u,     in    denen     diese    und    die    mit 

ihn  sammenhängenden    Bestimmungen  Ammonius  Sakkas   bei- 

können diese  Darstellungen  nichl  auf  Quellen 
beruhen,  «reiche  Ammonius1  Lehrvortrage  ihrem  [nhall  nach  treu 
\\  iedergaben. 

Blicken  wir  nun  von  hier  aus  auf  die  oben  besprochenen 
-  Ilen  des  Priscian  und  Nemesius  zurück,  so  machl  der  erstere 
überhaupl  nicht  den  Anspruch,  <  1  i * '  Lehre  des  Ammonius  Sakkas 
wiederzugeben;  hat  sich  uns  andererseits  gezeigt,  dass  der  hei 
hörige  Abschnitl  seiner  Schrift  die  freie  Bearbeitung  eines  Kapitels 
aus  Porphyr's  3ufj.ji.ix-a  './-r^'v-v.  ist,  so  kann  man  nur  fragen,  ob 
diese  von  ihm  selbst  oder  von  einem  Anderen  herrührt;  und  da 
spricht  allerdings  die  Zusammenstellung  von  Porphyr's  Schrift  mit 
Theodotus'  Collectio  Ammonii  scholarum  im  Eingang  seines  Buchs, 
wie  bereits  bemerkt  wurde,  für  die  Vermuthung,  er  habe  Porphyr 
nicht  direkt,  sondern  durch  Vermittlung  der  Collectio  benützt, 
deren  Verfasser  von  seinem  Lehrer  Ammonius,  dem  Sohne  des  Her- 
mias,  einen  an  Porphj  r  anknüpfenden  \  ortrag  über  das  \  erhältniss  der 
Serie  zum  Leibe  gehört  und  aufgezeichnet  hatte.  Es  ist  ja  be- 
kannl  und  es  lag  in  der  Natur  der  Sache,  dass  in  diesen  späten 
Jahrhunderten  das  Lesen  und  Besprechen  philosophischer  Schrillen 
im  l  nterrichl  einen  breiten  Raum  einnahm;  ein  Beispiel  gibt 
Porph.  Plot.  1  I. 

Nemesius  betreffend  habe  ich  schon  S.  304  bemerkt,  dass  die 
Vergleichung  der  zwei  Stellen,  in  denen  er  Porphyr's  jutt|j.ixTa 

777  benützt  hat,  die  Annahme  begünstigt,  diese  Benützung  sei, 
wenn  eicht  bei  beiden,  jedenfalls  bei  der  ersten  derselben  eine 
blos  mittelbare  gewesen.  Diese  Vermuthung  wird  nun  noch  durch 
einige  weitere  Anzeichen  uuterstützt.  Nemesius  und  Hierokles 
sind  die  einzigen  Schriftsteller,  von  denen  un>  bekannl  ist,  dass 
^e  über  die  Lehre  des  Ammonius  Sakkas  berichtel  hatten,  während 
kein    anderes    Mitglied    der    neuplatonischen    Schule,    auch    ihre 


Lmmonius  Sakl  l   Plotinus.  31  >9 

grössten  Gelehrten  nicht  ausgenommen,  etwas  über  sie  mittheilt. 
Dieses  weisl  daraufhin,  dass  diese  Lehre  nichl  zu  dem  Gemeinbesitz 
der  Schule  und  der  Schulüberlieferung  gehörte,  sondern  nur  Einzelne 
etwas  von  ihr  zu  wissen  glaubten;  und  wenn  uns  nun  als  solche, 
die  diess  glaubten,  nur  zwei  gleichzeitig  lebende  Männer  bekannt 
sind,  so  spricht  alles  für  die  Vermuthung,  der  eine  von 
diesen  habe  sein  Wissen  dem  andern  zu  verdanken  gehabt.  Dass 
es  nun  in  diesem  Fall  nicht  der  Vorsteher  der  platonischen  Schule 
in  Alexandria  von  dem  christlichen  Bischof  entlehnt  haben  kann. 
sondern  nur  dieser  von  jenem,  versteht  sich  zwar  eigentlich  von 
selbsl :  es  gehl  aber  auch  daraus  augenscheinlich  hervor,  dass  Ne- 
mesius  nur  zweimal,  aus  Anlass  besonderer  psychologischer  Fragen, 
des  Ammonius  erwähnt,  während  Hierokles  (nach  Phot.  172a. 
2ff.  173a,  32.  461a,  24ff.)  diesen  Philosophen  ganz  allgemein  als 
den  Wiederhersteller  der  wahren  Philosophie  gepriesen,  und  das 
ganze  7.  Buch  seiner  Schritt  von  der  Vorsehung  der  Siatpißr]  rou 
'.W'Kov.'vj  gewidmel  hatte.  Entweder  in  einem  Abriss  seines 
Systems,  den  dieses  Buch  enthielt,  oder  im  Verlaufe  der  psychog- 
nen Ausführungen,  deren  Photius  172b,  2011'..  463b,  14 ff.  er- 
wähnt, mag  Hierokles  im  Anschluss  an  Porphyr,  aber  unter  Berufung 
auf  „die  Lehre  des  Ammonius",  d.  h.  die  der  platonischen  Schule, 
jene  Erörterungen  über  das  Wesen  der  Seele  und  ihr  Verhält  niss 
zum  Leibe  gebracht  haben,  die  Nemesius,  wie  ich  annehme,  von 
ihm  geborgt  hat. 

Für  ein  jüngeres  Alter  der  Schrift,  aus  der  sie  Nemesius  entnommen 
hat.  spricht  auch  seine  psychologische  Terminologie.  Um  den  Gedan- 
ken auszudrücken,  dass  die  Seele  trotz  ihrer  engen  Verbindung  mit 
dem  Leibe  durch  dieselbe  keine  Veränderung  ihres  Wesens  und 
ihrer  Eigenschaften  erfahre,  nennt  sie  Plotin  (z.B.  111,6,1  vgl. 
S.  299)  otüaÖTjs  und  r/.-yz- -.',;:  dagegen  wird,  so  viel  ich  sehe,  jene 
Verbindung  von  ihm  nie  als  dz^yy-^;  bezeichnet,  so  treffend  auch 
dieses  Worl  ausdrückt,  dass  die  Vereinigung  der  Seele  mit  dem 
Leibe  uim  mich  des  hier  auch  für  die  Neuplatoniker  massgebenden 
stoischen  Sprachgebrauchs  zu  bedienen)  keine  ady/pais  sei8).     Fehlt 

l  eber  die  Begriffe  dei    itapcföeai;,  [AZU«   und  &üy)ru3«   und   ihre  An" 


E.  Zel: 

aber  diese  Bezeichnung  Plotin  noch,  so  wird  sie  auch  seinem  Lehrer 
hlt  haben  us  dagegen  bedien!  sich  neben  dem  dh 

\  irli  - .  nicht  blos    S.  138,  5.   10.   11 1.  2    um 

i    rbindung  der  Naturen  in  <  hristus,  für  welche  di  mel  in 

Chalcedon  stellt   war,   Bondern   auch   um   das  Verhältniss  des 

zu  bezeichnen,  das  jener,  \\i<-  er  meint,   so  voll- 
kommen anal  S.  L39f.    Worte  Porphyr's,  von  denen 

ehen  eigentlich  a      3         und  Leib,  (die  S 
angeführten)  trotzdem  als  ein  Zeugnis*  s  Christenf         -  für  die 

Wahrheil  der  kirchlichen  Christologie  verwerthet  Nach  Nemesius 
soll  Ammonius  Sakkas  gelehrt  haben  S.  129,  1"  -  S.  4):  Die 
.',f-'j.  können  mit  den  Dingen  svouaöat  xadarcep  td  juvetpdapfisva 
um  :v7   pieveiv   iaöy/o-za   xai    tzStacpdopa   r.,.-   ra   - 

(wie    ausser  einander  befindliche   Dinge);    dauf^oTox  jjva>xai  -«) 
<-)-.'.  ij  '>j/r(  .  .  .    dooy/u-os   ;j. £ v ; •     S.    131,4);   tzacojxaTo; 
■/-'j  xs^cupTjxev  <■<:  ta  auve^8otpu^va,  (livouaa  aöiacp&opo? 
ta    vz'j\yj-.r/.  xoti  t;>  xaö    eaurrjv  Sv  8iaoa»Couoa  u.  s.  \\ .  (S.  133,  2, 
wozu  das  oben,  S.  303,  aus  Porphyr  angeführte  zu  vergleichen  \t 
w  i<'  ja  auch  «las  Licht   in  der  Luft  sei,  ä.aoyy6xws  Hpa   xai  xsr/u- 
,"iv"       S    134,2).    Die  gleichen  Ausdrücke  (inconfusi  unita\   incon- 
■    unitur  et  per  totum  diffusa  est;  incorporales  esseni  poribus 

u unnit it r  ,i  iiiiimiit  inconfusae;  lux  unitur  acri  sicut  ea  quat  sunt 
concorrupta  et  inconfusa  manei  ad  eum)  gebraucht  Priscian  indem 
Abschnitt  seiner  Solutiones,  der  ebenso,  wie  der  entsprechende  des 
Nemesius,  auf  Porphyr's  „Vermischten  Untersuchungen"  beruht, 
-      1.   1".  •_'."».  30.  52,]    Byw.     Auch   Hierokles  kennl  diese  Termi- 


dung  auf  die  Anthropologie  habe  ich  Ph.  d.  Gr.  lila,  I26f.  I95f.  gesprochen, 

über  Plotin'a  Tl rie  ebd.  [IIb,  580f. 

I •  -   •    Gleichstellung  von  zwei  bo  verschiedenen  Fragen,  wie  die  nach 
der  Vereinigung  einer  menschlichen  Seele  mit  einem  menschlichen  Leibe  und 
aach  der  Vereinigung  eini  r   absoluten   Persönlichkeil   mit   einer  vollst 

chlichen    Natur,    hal    für  uns  allerdings  etwas  auffallendes;    aber 

äth  uns  den  Weg,  auf  dem  die  Theologie  des  5.  Jahrhunderts  zu  ihren 

christologischen  Formeln  gekommen  ist.     Dieser  i>«'-iaiiil  eben  darin,  <la>s  man 

timmungen,    durch    welche  die  Zeitphilosophie  die   Möglichkeil   einer 

.ii    erklären  suchte, 
Anthropologie  in  die  Christo 


Ammooius  Sakkas  und  Plotinus.  '.\\\ 

uologie,  w  .mim  er  bei  Phot.  172  a,  39,  in  seinem  Abriss  der  „Lehre 
des  Amnionitis",  ober  den  Zusammenhang  der  drei  Klassen  von 
Vernunftwesen,  die  es  gebe,  bemerkt:  sie  seien  /.war  mit  ein- 
ander verknüpft,  dcu7XUT0V  'J-  ~"(i  -'"•>'jZ'  xal  tfj  7//y/>/;>/ 
T7jv  /.7T-)  cpuoiv  exut&v  Btaxpiatv  suvi^peiaöai.  Als  den  l  rheber 
dieser  Terminologie,  welche  erst  bei  den  Neuplatonikern  dann 
bei  den  christlichen  Theologen,  dorl  in  der  Psychologie,  hier  in 
der  Christologie,  allgemein  in  Gebrauch  kam.  werden  wir  Porphyr, 
die  gemeinsame  Quelle  des  Nemesius,  des  Priscian,  und  ohne 
Zweifel  auch  des  Hierokles,  anzusehen  haben10);  so  dass  dem- 
nach in  der  christologischen  Formel  des  Concils  von  Chalcedon 
das  axpsTrceus  schliesslich  von  Plotin,  das  acruYxuTtus  von  Porphyr 
herstammt. 

Nach  allem  diesem  scheinl  es  sich  mit  den  Schriften,  die  uns 
bisher  beschäftigt  halten,  so  zu  verhalten.  Porphyr  hatte  in  seinen 
„Vermischten  Untersuchungen"  Plotin's  Bestimmungen  über  das 
Verhältniss  der  Seele  zum  Leihe  in  einer  seihständigen  Bearbeitung 
wiedergegeben,  von  der  wir  werden  annehmen  dürfen,  dass  sie,  wie 
andere  Arbeiten  dieses  Philosophen,  die  eigenen  Ausführungen 
seines  Lehrers  an  Fasslichkeit  und  Uebersichtlichkeil  übertraf. 
D  se  Darstellung  fand  bei  den  späteren  Neuplatonikern  solchen 
Beifall,  dass  sie  dieselbe  ihrer  Behandlung  des  gleichen  Lehr- 
stücks mit  Vorliebe  zu  Grunde  legten.  An  sie  hielt  sich  Hierokles 
in    seinem   Abriss    der  neuplatonischen   Lehre,    oder    wie  er  sagt: 


10)  Das  Wort  '/.TJyyjTo;,  vielleicht  stoischen  Ursprungs,  finde!  sich,  wie- 
wohl nicht  oft,  auch  bei  Plutarch  und  Anderen,  (so  auch  non  confusus  bei 
tull.  adv.  Prax.  27)  aber  die  combinirte  Formel:  oh'jyy/JTU);  Ivoüa&ot,  Ivuist; 
dauy^UTOs,  und  ihre  Anwendung  auf  die  Einheit  von  Seele  und  Leib,  scheint 
nicht  vor  Porphyr  vorzukommen.  Den  Stoikern,  welche  die  Seele  für  ein 
Feuer  oder  Pneuma  hielten,  konnte  zur  Bezeichnung  ihres  Verhältnisses  zum 
Leibe  der  Begriff  der  |J.t;'.:  und  das  stehende  Beispiel  derselben,  das  glühende 
Bisen,  genügen.  Die  Neuplatoniker  dagegen  mussten  sich  bei  ihrem  spiritua- 
listischen  Dualismus  und  ihren  Bedenken  gegen  die  Durchdringung  der  Kör- 
per (Plot.  IV,  7)  nach  anderen  Bestimmungen  umsehen;  wesshalb  denn  auch 
Porphyr  (s.o.  S.  303)  die  seinigen  nieht  allgemein  für  die  oöofott  sondern  nur 
für  die  voijtd  gibt 

phie.    vii.  22 


K.  . 

der  Lehre    des    Ammonins  Sakkas;    and    ebenso  50  Jahre    spater 
a   Hermias  Sohn    in    den   Lehrvorträgen,    die  Theo- 

:>    oiederechrieb.     Jener   ist  von   N       riua,         -      sind    von 
Priscian  benutzt  worden.     Dass  i  rinn,,  \,,n  diesen  Schrift- 

lern  ein  Werk   vorlag,    in    dem    ein    personlicher  Schuler   des 
Ammonius  Sakkas  über  die  Lehre  desselben  berichtel   hatte,  1 
sich  nichl  annehmen. 


XII. 

Aus  dem  Leben  des  Cynikers  Diogenes. 

Von 
II« ■  rill a im   Diels  in  Berlin. 

..Aus  der  Jugendzeit  des  Diogenes  wissen  wir  nichts  weiter 
als  dass  er  aus  Sinope  gebürtig  war.  dass  sein  Vater  Hikesias 
Wechselgeschäfte  trieb  und  den  Sohn  früh  zu  demselben  Geschäfte 
anhielt.  Der  Vater  scheute  sich  nicht  neben  dem  Geschäfte  des 
Wechslers  auch  das  eines  Falschmünzers  zu  betreiben  und  den 
Sohn  in  dasselbe  hei  Zeiten  einzuweihen.  Diesem  scheint  nun 
freilich  gleich  anfangs  nicht  ganz  wohl  zu  Mute  gewesen  zu  sein 
hei  dieser  geheimen  Hausmünze,  aber  er  beruhigte  sich  darüber 
und  hatte  später  sogar  die  Schwäche,  sein  Gewissen  auf  eine  wahr- 
haft perfide  Weise  durch  jesuitische  Auslegung  eines  Götteraus- 
spruchs zum  Schweigen  zu  bringen.  Als  fertiger  Falschmünzer 
kam  er  nämlich  auch  nach  Delphi  in  den  Tempel  des  Apollon. 
Dort  hätte  er  sich  nun.  als  er  in  den  Vortempel  trat  und  die 
Sprüche  überlas,  die  dort  standen,  an  den  klaren  Spruch:  „Erkenne 
Dich  selbst"  halten  sollen;  aber  sein  Leichtsinn  mit  dein  Humor 
-•paart,  der  ihm  von  jeher  eigen  war,  haftete  mit  Vergnügen  auf 
.1  doppelsinnigen  Spruche  „Auf  die  Münze  präg"  den  eignen 
51  mpel".  Er  überredete  sich  der  Spruch  enthalte  eine  offenbare 
Billigung  seines  Falschmünzergeschäftes  und  so  durch  seine  falsch- 
münzerische Interpretation  *\*'>  Götterspruches  scheinbar  beruhigt, 
kam  er  wieder  nach  Sinope  und  münzte  mit  -einem  Vater  fort, 
bis  die  Strafe  über  beide  hereinbrach.  Der  Vater  starb  im  Ge- 
fängnis, der  Sohn  suchte  das  Weite;  die  Achl  ward  über  dem  Flie- 
henden ausgesprochen,  der  sich  nach  Athen  wendete." 

■>■)* 


:;i  |  ü  .• !  m 

AJso  lautet  ungefähr  der  Roman,  den  Göttling,  der  Biograph 
.  \..n  dessen  Jugendleben  zu  berichten  weiss  Sehn- 
lich, nur  etwas  confuser  erzählt  Laertios  I1  s,  und  ähnliches 
müssen  auch  bereits  die  alexandrinischen  Litteraten  gefabelt  haben. 

Nun  i>t  es  ja  heutzutage  unzweifelhaft,  dass  weder  im  Tempel 

zu    Delphi    noch    ZU    Del08    der  Spruch    -nyjyiyj-'.;    - 

standen  haben  kann.  <la  er  in  seiner  eigentlichen  Bedeutung  sinn- 
los  und   in   übertragener  jedenfalls    für  *  1 1  *  -  heiligen   Stätten,    die 
(itzer  und  Bewahrer  d<  -  len 

davon,  dass  eine  solche  Sentenz  vor  « l«'in  fünften  Jahrhunderte 
überhaupl  undenkbar  wäre  und  van/  abgesehen  von  den  metrischen 
Spielereien,  die  Göttling'),  nicht  zu  seinem  Ruhme,  mit  den  an- 
geblich Pythischen  Sprüchen  getrieben  bat.  Aber  der  Kern  der 
Erzählung,  dass  der  Cyniker  in  seiner  Jugend  Falschmünzer 
wesen  sei,  wird  trotz  der  scharfsinnigen  Bedenken,  die  bereits 
Steinhart  ,  dagegen  vorgebrachl  hatte,  :h  immer  aufrechl  erhal- 
ten; wie  ich  glaube,  mit   Unrecht. 

Zunächst  ist  es  lediglich  eine  Vermutung  Göttlings,  dass  jener 
Falschmünzerspruch  zu  den  altberühmten,  in  der  Vorhalle  zu  Del- 
phi  angeschriebenen,  gehöre.  Vielmehr  behauptet  die  alexandri- 
uische  Biographie,  von  der  Diokles  Laertios  .  Julian  und  Suidas 
abhängig  sind,  ausdrücklich,  der  Orakelspruch  sei  dem  Diogenes 
persönlich  auf  seine  Anfrage  erteilt  worden.  Diokles  bringt  nun 
in  dem  Wirrwar  streitiger  Nachrichten  über  die  angebliche  Falsch- 
münzerei des  Diogenes  "der  seines  Vaters,  die  wertvolle  Notiz,  dass 
Diogenes  sich  selbst  in   seinem  Dialoge  Pordalis4)  zur  Falschmün- 

l)   I  du    Philosophü    des  griechit  /'       lariats  in 

Abhandlungen  aus  •!<  m  class.  Altertum   I   (Halle   1851     251  ff. 
a.  0.  S.  221  tl'. 

3)  Ersch  u.  Gruber  Encyclop.     S.  I.  B.  \\\     1834    - 

Laert.  VI20  iv  t(j!  IlopSdXet.     Die   1 1 <  1  — . .   hier  rcop8cEXq>.     Das  rieht 
WCii  gibt  der  K  D  Schriften  zweimal  §  su  als  [lcEpfaXtc, 

aeben  dei   Form  -  tltdialectische,   vermutlich  äolische  Nebenfi 

stehen   bleiben    kann.      Welche   Symbolik  Diogenes    an    den   Namen 
fleckten  Bestie  geknüpft  hat,  weiss  ich  nicht,  aber  dass  der  Titel  wirklich  di 
mein  dei   Dialoge    \/<  i  ;    K  im  K  i 

taloj 


iua  dem  Leben  des  Cynikers  Di i'.l 5 

zerei  bekannt  habe  (u>s  irapa/apaSott  r&  v<5|iiop.a).  Dies  Bekenntnis 
scheint  mir  eine  andere  als  die  wörtliche  Erklärung  nichl  nur  zu 
tatten,  sondern  zu  fordern. 

Verstehen  wir  nemlich  «lies  Sündenbekenntnis  wörtlich,  so 
mag  ja  das  Prahlen  mit  Dingen,  die  nach  der  gewöhnlichen  Moral 
infam,  Dach  der  cynischen  Adiaphora  sind,  der  Persönlichkeit  des 
Diogenes  zugetraut  werden,  alter  anverständlich  wäre  dann  die 
Verbindung  mit  dem  delphischen  Gotte,  zu  der  ja  doch  diese  in 
Sinope  begangenen  Jugendsünde  gar  keine  Veranlassung  gab,  in 
der  antiken  Biographik.  Wir  werden  daher  jene  Selbstbezichtigung 
i  twas  anders  verstehen  müssen. 

Wie  Sokrates  sich  als  Sohn  einer  Hebamme  der  Maieutik 
rühmte  und  zur  Bestätigung  seines  Berufes  sich  auf  den  delphi- 
schen Gott  berief,  der  ihn  durch  das  Orakel  ik'+  Chairephon  wie 
durch  den  alten  Spruch  Vviofa  ueautov,  zur  Selbstprüfung  und  Men- 
schenprüfung autorisirt  habe,  so  wird  Diogenes,  die  Caricatur  des 
rates,  sich  mit  Beziehung  auf  den  Beruf  seines  Vaters,  des  Tra- 
peziten  Bikesias  mit  seiner  Falschmünzerei  aufgespielt  haben,  die  er 
im  Auftrage  des  Pythischen  Gottes  treiben  müsse.  Er  wird  es  als  -eine 
heilige  Aufgabe  hingestellt  haben,  das  Naturgesetz  an  die  stelle  der 
Menschensatzung,  das  Wissen  an  die  Stelle  des  Glaubens,  die  Phi- 
losophie an  die  Stelle  der  traditionellen  Bildung  zu  setzen,  mit 
einem  Werte:  die  gültige  Moral  umzuwerten.  Trapcc^apa&at  xh  vou.i<jfia. 
Das  isl  das  Schlagwort  des  Cynismus,  ja  man  kann  sagen  der 
.  izen  Sokratik.  So  hat  das  Worl  schon  Julian  verstanden  und 
mit  Sokrates  in  Beziehung  gesetzt5),  und  offenbar  schwebte  es  auch 


5)  Or.  VII  p.  -11  I!  xl  os  etrav  6  &e<$s  äp  t(J|J.ev;  Sti  ttjs  täv  noXXtBv  aotqi 
h'j'-r^  i-zrrj.;z-<  bmpopäv  v.al  itapayopcrtreiv  oO  t))v  dX^detav  dXXd  rö  •<r'j\v.-j\i.% 
(=Td  voptiCrffieva  p.  211c)  und  VI  p.  188Dff.  vergleicht  er  in  dieser  Beziehung 
schauung  des  Sokrates  (Kriton  p.  44c).  Auch  die  alten  Biographen 
halten  teilweise  noch  die  Ahnung  des  wirklichen  Sachverhaltes  Laert.  VI  20 
toü  ii  ~yj-; /<>i', it lavto;  tö  icoXitixov  v<5{j.iapia,  ob  aovefc,  rö  v.i'/yx  IxtßS^Xeuae,  wo 
das  Misverständnis  i  yniker  selbsl  in  die  Schuhe  geschoben  wird,  einfäl- 

.   Verständig  dagegen  Diokles  (denn  M-inc  Art  spricht  sich  hier  i 
\'l  71:  roioüta  '  tevo«  Eteiske)  xcd  zotüv,  StpafosTo  ö'vtid;  v(5(Aiap.a 

icapayapdrTuiv  ;",":'  oStcu  tot«  xaxd  v<$pwv  tu?  toi«  xaxd  tpüdw  5t5o6?.     Was  das 
Wort  nap«rj(opdTT€iv  betrifft,  so  beisst  es  allerdings  gewöhnlich  die  Münze  t'al- 


:\\i\  an  Diels,  Aas  den  i  des  Cynlkers  D 

Friedrich  N  tzsche  noch  von  Beinen  Laertiosstudien  her  vor  der 
-  le,  als  er  dii  -  sse  moralische  Revolution,  <li''  nach  Beiner 
Meinung  durch  Sokrates  and  die  Juden  hervorgerufen  worden  ist, 
al>  „Umwertung  der  Moral"  bezeichnete,  die  nun  »einerseits  wieder 
auf  ili'-  richtige  Währung  „jenseits  von  Gut  und  Böse"  zurück. 
_•   werden  mtU 

:■/,  kann  aber  wie  i«  zunächsl   nur  die  oeul 

Bed  '■'.  durch  A.nwi  -  /^/: 

rn,  habi  tardner  I  v  VII,  1893,  S. 


XIII. 

Aus  der  Zeit  der  Spinoza-Studien  Goethe's. 

Von 

Wilhelm  Dilthey  in  Berlin. 

Im  Goethe-Archiv  fanden    sich    oeuerdings  drei  zusammen^ 
hörige   Bogen   vod   der  Band  der   Frau   von   Stein.     Sie   enthalten 
einen  kleinen  Aufsatz,  dictiri  und  mit  augenscheinlicher  Beziehung 

auf  Spinoza.  Suphan  hat  diesen  Aulsat/  im  Goethe-Jahrbuch  (1891) 
unter  dem  obenstehenden  Titel  herausgegeben  und  mit  einer  ge- 
schichtlichen  Erläuterung  begleitet.  Nun  ist  er  auch  in  die  Wei- 
marer Goethe -Ausgabe  aufgenommen. 

Deber  den  Verfasser  und  die  Zeit  dieses  Aufsatzes  konnte 
unter  Goethe-Kundigen  kein  Zweifel  sein.  Wir  wissen,  dass  Goethe 
im  Winter  1784/85  zuerst  den  Spinoza  gelesen  hat1).  Er  las 
ihn  gemeinsam  mit  Frau  von  Stein.  Er  suchte  zur  seihen  Zeit 
in  Gesprächen  mit  Berder  sich  philosophisch  mit  Spinoza  ausein- 
anderzusetzen. Hierzu  hatte  ihn  die  vertrauliche  Mittheilung  des 
I  ssing'schen  Gesprächs  durch  Fr.  H.  Jacobi  und  dann  dessen  Be- 
such  im  September  1784  angeregt.  Dass  diese  Anregung  ein  an- 
haltend.'- metaphysisches  Interesse  für  Spinoza  zur  Folge  hatte, 
war  tiefer  durch  das  voraufgegangene  und  auch  damals  fortdauernde 
Symphilosophieren  mit  Herder  bedingt.  Auf  den  so  vorbereiteten 
Boden  fiel  der  Eindruck  aus  der  Lektüre  Spinoza's.  Diese  Lek- 
türe war  schon  Mitte  November  in  vollem  Gang.  Am  11.  No- 
vember 1784  schreibt  Goethe  an  Knebel,  da>s  er  mit  der  Frau 
von  Stein  Spinoza's  Ethik   lese,  und  er  ii'i-t  hinzu:    ..Ich  fühle  mich 


_■!.  u.  u.  den  folgenden  Brief  Herders  an  Jacobi  20.  Di 


318  Wilhelm  Diltb« 

ihm  sehr  nah.-.    < . t .;_rl . •  i <•] i  -.in  (i.i-t  viel  tiefer   and  reiner  im  als 
der  mein  ig         Sie  lasen  zunächst  die  deutsche  U<  ang,  dann 

brachte  Goethe  aus  Jena  ein  geliehenes  Exemplar  des  lateinischen 
Spinoza  mit,  and  zu  Weihnachten  1784  erhielt  er  von  Herder  aus 
Bibliothek  einen  lateinischen  Spinoza  zum  Geschenk, 
schreibl  Herder  20.  Dezember  1784  an  Jacobi,  ..hat 
seil  I>u  weg  bist,  den  Spinoza  gelesen,  and  es  ist  mir  «'in  grosser 
Probirstein,  dass  er  ihn  ganz  -  standen,  wie  ich  ihn  verstehe.0 
Dnd  Goethe  selbst  schreibt  am  12.  Januar  1785:  „Ich  lese  und 
ilm  wieder."  In  dieser  Bpoche  hat  zweifellos  Goethe  der 
Frau  v.  Stein  den  Aufsatz  dictirt.  Dass  ihn  Goethe  verfast 
dass  er  ihn  damals  verfasste,  dafür  sprechen,  neben  den  angej 
benen  ooch  andere  äussere  [ndicien,  welche  alle  Suphan  in  seiner 
Erläuterung  sorgfaltig  zusammengestellt  hat;  es  wird  aber  auch 
bestätigl  durch  innere  Merkmale  des  Styls,  der  seelischen  Stim- 
mung sowie  des  Verhältnisses  der  hier  geäusserten  Gedanken  zu 
den  Dichtungen  Goethe's  aus  der  entsprechenden  Bpoche;  dies  \  - ir- 
hältniss  wird  sich  im   Folgenden  ergeben. 

So  entstehl  die  Aufgabe,  das  merkwürdige  Dokument  Ihr  das 
Verständnis^  Goethes  zu  verwerten.  Da  das  niemand  bisher  > 
-ncht  hat.  möchte  ich  zu  einer  solchen  Verwertung  durch  die  fol- 
genden Bemerkungen  anregen.  Mehr  als  das  beabsichtigen  diese 
Bemerkungen  nicht,  [ch  lasse  nun  zuerst,  am  mich  verständlich 
zu  machen,  den  Aufsatz  selbsl  folgen  und  füge  nur  Ziffern  zu  den 
einzelnen  Sätzen  hinzu. 


Der    Ä.u f 8 at z    ' 1  o  e  th  eJ  s. 

i  Der  Begriff  vom  Daseyn  und  der  Vollkomenheit  i-t  ein  und  eben  der- 

Ibe;   wen  wir  diesen  Begriff  so  weil  verfolgen  als   es   uns  möglich  isl 
■■li  wir  dass  wir  uns  das  Unendliche  dencken. 

Das  Unendliche  aber  oder  die  volständige  Existens  kau  von  uns  nicht 
dachl  werden; 

Wir  können   nur  Dinge  dencken   die   entweder  beschränckl   sind 
die  sich  unßn  beschränkt.     Wir  haben  also   in  so  fern  einen  Begriff 

i    \ Unendlichen    ;il-  wir    uns    dencken   können    ila--  es  eine  volständige 

be  welche  aufer  der  Faßungsk  rafft   eines   beschräncktei 
d. 
m  in  kau  nicht  sagen  dass  das  Unendliche  Theile  habe. 


Aus  der  Zeil  der  Spinoza-Studien  Goethe's.  319 

Alle    beschränkte  Existenzen    sind    im  Unendlichen,    Bind   abei    keü 
Theile  des  Unendlichen  sie  nehmen  vielmehr  Theil  an  der  Unendlichkeit.      ' 

Wir  können  uns  nichl  denken  dass  etwas  Beschräncktes  durch  sich  8 
selbsl  existire,  und  doch  existirl  alles  würcklich  durch  sich  selbst,  ob  gleich  9 
die  Zustände  so  verkettel  sind  dass  einer  aus  den  andern  sich  entwickeln  io 
dquss  und  es  also  scheint  dass  ein  Ding  vom  andern  I  t  werde,  n 

welches  aber  nichl    ist;    sondern    ein  lebendiges  Wesen   giebl  dem  andern  12 
Aula--    u  seyn  und  nöthigl  es  in  einem  bestimmten  Zustand  zu  existiren.  13 

Jedes  existirende  Ding  hat  also  sein  Daseyn  in  sich,  und  so  auch  die  11 
Uebereinstimmung  nach  der  es  existirt. 

Das  Messen   eines  Dings   isl   eine   grobe  Handlung,  die  auf  lebendigi 
Körper  nicht  anders  als  höchst  unvolkommen  angewendet  werden  kau. 

Ein  lebendig  existirendes  Ding  kau  durch  nichts  gemessen  werden  was 
aufer  ihm  ist,  sondern  wenn  es  ja  geschehen  solte,  müfte  es  den  Maasstab 
seihst  da/u  bergeben,  dieser  aber  isl  höchsl  geistig  und  kau  durch  die 
Sinne  nicht  gefunden  werden;  schon  beym  Zirckel  lässl  sich  das  Maas  de 
Diameters  nichl  auf  die  Perieferie  anwenden.  So  hat  man  den  Menschen 
mechanisch  meßen  wollen,  die  Mahler  haben  den  Kopf  als  den  vornehmsten 
Theil  zu  der  Einheil  des  Maafes  genommen,  1  -  lässl  sich  aber  doch  das- 
selbe nicht  ohne  sehr  kleine  und  unaussprechliche  Brüche  auf  die  übrigen 
Glieder  anwenden; 

In  jedem  lebendigen  Wesen  sind  das  was  wir  Theile  nennen  dergestall 
unzertrennlich  vom   Ganzen   dass    sie   nur   in  und    mit    denselben   begriffen 
werden    können,    und    es   können  weder   die  Theile    zum  Maas  des  Ganzen  17 
noch  das  Ganze  zum    Maas   der  Theile  angewendet   werden,    und    so    nimt 
wie  wir  oben  gesagt  haben  ein   eingeschränktes   lebendiges  Wesen  Theil  18 
an  der  Unendlichkeit  oder  viel  mehr  es  hat  etwas  unendliches  in  sich,  wen  ig 
wir  nicht  lieber  sagen  wollen  dass  wir  den  Begriff  der  Existens  und  der  Vol- 
kommenheit  des  eingeschränektesten   lebendigen  Wesens  nicht   ganz  faßen  19 
können  und  es  also  eben   so  wie   das  Ungeheure  Ganze   in   dem   alle  Exi- 
stenzen begriffen  sind,  für  unendlich  erklären  mäßen. 

Der  Dinge  die  wir  gewahr  werden  ist  eine  ungeheure  Menge,  die  Ver- 
hältuille  derselben  die  unsre  Seele  ergreifen   kau    sind    äuferst  manigfaltig 
Seelen  die  eine  innre  Krafft  haben  sieh  auszubreiten,  langen  an  zu  ordnen 
um  sich  die- Erkentniss  zu  erleichtern,   fangen  an  zu  fügen  und  zu  verlan- 
den um  zum  Genuss  zu  gelangen. 

Wir  müssen  also  alle  Existens  und  Volkommenheit  in  unßre  Seele  y\'\- 
gestalt  beschräneken  dass  sie  unßrer  Natur  und  unßrer  Art  zu  dencken  und  jt 
zu  empfinden  angemeßen  weiden:  dann  sagen  wir  erst  dass  wir  ein     - 
begreifen  oder  sie  g< 

Wird  die  S  q  Verbältniss  gleichsam  im  Keime  gewahr  deßen  Har- 

monie wen  sie  ganz  entwickelt  wäre,  sie  nicht  ganz  auf  einmahl  überschauen  22 
oder  empfinden  könte,  so  nennen  wir  diesen  Eindruck  erhaben,  und  es  ist 
der  herrlichst.'  der  einer  menschlichen  Seele  zu  theile  werden  kau. 

Wen  wir  ein  Verhältniss  erblicken  welches  in  seiner  ganzen  Entfaltun 


Wilhelm  Dilthey, 

a   hinreicht, 
Eindrucl 

Bindruck    ab?  irohl  ein  -  in 

•  r  nur  aus  i! 
■\alir    und    9  theilfi     :mf 

und  in 
•  zu  uni  rer  ifen 

in  u. 

• 
'  iiihI  nunmehr  den  Ki> 

ken,    u  "riu    Bie    ein 
können,  für  da  te  halten,  ja  man  wird  d 

thi  ich    nicht 

und  ii  aschlicher  I » i 1 1 ^ •  uni 

mit  einem  zun  i<  ^ I i 1 1  o i < I  ansehen 

aheil    i  n    trotzig    merken   laßen    d  im    Wahren    i 

runden  welche  über  allen  Bi  ind   Vers! 

ii  nichl  the  Ruhe  und  1  üh- 

len  und  diese  Glückseeligkeil   einem  jeden  als  das   lei  ten. 

Da  Bie  aber  weder  klar  zi  ken  im  Stande  Bind  auf  welchem  W< 

zu  dieser  Ueberzeugung  gelangen,   mich   was   eigendlich  sel- 

bigen idern  bloss  von  Gewissheit  als  (  sprechen,  so  bleib! 

auch    dem   lehrbegierigen  wenig  Trost  bey    ihnen    indem    er    immei 
muss,  das  Gemahl  müße  immer  einfältiger  und  einfältiger  w<  sich  nur 

auf  einem  Punckl  hinrichten,  Bich  aller  manigfaltigen  Verwirrenden  Verhält- 
niße  entschlagen  und  nur  alsdenn  könne  mau  aber  auch  um  desto  sich 
in  einem  Zustande  Bein  Glück  finden,    der  ein  freywillig  :henck  und 

ein  '  labe  l  • 

Nun  mögten  wir  /.war  nach  äußrer  Art  zu  dencl  ränekung 

e  nennen  weil  ein  Mangel  aichl  als  eil  len 

kau,  wohl  aber  mögten  wir  es  als  eine  Gnade  der  Natur  ansehen  da 
da   dei    Mensch    nur    meist    zu    unvolständigen  Begriffen  langen    im 

inde   ist,    sie   ihn  doch  mit    einer  Bolchen  Zufriedenheil   in   - 
rgl  bat. 

Goethes  Pantheismus  in  seiner  Ausbildung  vor  der 

\\  e  i  iii;i  rer  Ze  it. 

ethe  hal  zu  jeder  Zeil  seines  Lebens  bezweifeil .  dass  ein 
allgemeingiltige8  metaphysisches  System  im  Bereich  menchlichen 
Erkennens  liege  Er  sonderte  Btets  ein  Qnerforschliches  von  dem 
was  wir  denkend  erreichen  können.    „Der  Mensch  isl  nichl  geboren 


Las  der  Zeit  der  Spinoza- Studiei  321 

die  Probleme  der  Well  zu  lösen,  wohl  aber  zu  Bachen,  wo  das 
Problem  angeht,  und  sich  sodann  in  der  Grenze  des  Begreiflichen 
zu  halten"').  Die  Energie,  mit  der  wir  ans  dem  Dnerforschlichen 
in  der  Sphäre  des  Begreiflichen  nähern,  isl  bedingt  durch  den  Zug 
in  ans,  im  Bandeln  and  Bilden  zu  ihm  in  Beziehung  zu  treten. 
Durch  das  Leben  seihst  erfahren  wir  am  besten  was  an  ihm  sei. 
Wie  er  in  die  männlichen  Jahre  kam,  dehnte  sich  ihm  die  Sphäre 
des  Begreiflichen,  Fassbaren,  dessen  was  wir  langen  und  erreichen 
können,  weiter  aus.  Im  Ahn-  gewann  «las  Gefühl  der  Unerforsch- 
lichkeil  des  Wirklichen  wieder  mehr  Macht  über  seine  Seele.  Wie 
dies  der  natürliche  Gang  der  Lebensalter  ist. 

Alter  dies  lebendige  Sinnen  und  Denken  über  die  Natur  und 
den  Menschen  war  von  einer  Grundstimmung  getragen,  welche 
seinem  dichterischen  Naturell  entsprang.  Das  lebendigste  Gefühl 
des  eignen  inneren  Zustandes  war  immer  in  ihm.  Dasein  und 
Lebensgefühl  desselben  waren  in  ihm  ungetrennt.  Wo  das  freu- 
dige Bewusstsein  seiner  Selbst  gehemmt  war.  da  war  mitten  im 
Schmerz  die  Zuversicht,  dass  die  Dissonanz  sich  lösen  müsse.  Alles 
was  er  darstellte  war  Zustandsbild,  Lehen,  das  auch  durch  Schuld 
und  Kampf  zur  Läuterung  und  einem  verklärteren,  milderen,  von 
Resignation  erfüllten  Glückszustand  führt.  So  war  ihm  auch  die 
Welt  immer  vom  Licht  der  eigenen  Lebensfreudigkeit  bestrahlt. 
Die  sinnliche  Schönheit  alles  Wirklichen  empfand  er  beständig. 
Wirklichkeit  war  ihm  so  der  Sitz  der  Vollkommenheit.  Er  suchte 
keine  vollkommene  Welt  ausser  der.  von  welcher  er  ein  Theil 
war.  Sir  erschien  seinem  Dichtergeiste  als  höchst  lebendig,  schön, 
unerforschlich.  Diese  Gemüthsverfassung  und  ihre  Darstellung  in 
einem  Weltbild  während  dieser  versehirdenen  Stadien  nenne  ich 
seinen  Pantheismu-. 

Das  älteste  Dokument  seiner  Weltansichl  sind  die  Epheme- 
riden,  sein  Tagebuch  von  177n.  l.  Es  zeigl  mannichfaltige  Lek- 
türe von  Schriften,  welche  der  Menschenkenntniss  dienen  konnten. 
ein  besondres  Intere>se  für  das  Onausschöpfbare  des  Lebens,  für 
Mystiker  wir  Agrippa  und  Paracelsus.    Kr  notirt  aus  Cicero:  ..und 


■0  Eckermann  I  156. 


322  Wilhelm  Dilthey, 

da  Alles  durchdrungen  und  erfüllt  von  ewigem  Sinn  und  gött- 
lichem Geist  ist,  müssen  durch  die  Verwandtschaft  mit  den  gött- 
lich stern  auch  die  Mensch«  •  Alles 
M\-  -  lit  ihn  an.  l>a  fuhrl  ihn  nun  aber  Bayle  auf  Gior- 
dano   Bruno,  und  er  vertheidigl   eine  von  Bayle   citii 

•i  der  Renaissam  q  den  Philosophen  der  Zerrissen- 

heit.   ,Das  Eine,  lendliche,  das  Seiende  und  das  was  im  Gan- 

und  durch  das  Ganze  hin  ist,  daa  ist  dasselbe  überall.  Daher 
die  unendliche  Ausdehnung,  weil  sie  keine  Grösse  Ist,  mit  dem  In- 
dividuum zusammenfallt.  \\ rie  ja  auch  die  unendliche  Vielheit,  w « - i  1 
sie  keine  Zahl  ist,  mit  der  Einheit  zusammenfallt.'4)  Er  selbst  spricht 
sich  emanatistisch  oder  pantheistisch  aus.  .Getrennt  über  Gott  und 
über  ili''  Natur  der  Dinge  handeln  ist  schwierig  und  gefahrlich, 
wie  wenn  wir  über  Körper  und  Seele  einzeln  denken.  ImV  Seele 
erkennen  wir  nur  vermittelst  des  Körpers,  Gott  nur  durch  den 
Einblick  in  die  Natur.  Daher  scheint  mir  thöricht,  die  der  Thor- 
heil  zu  zeihen,  welche  acht  philosophisch  Gott  mit  d<  r  Well 
knüpft  haben.  Denn  Alles  was  ist  muss  zum  Wesen  Go1 
hören,  da  Gott  das  einzige  Wirkliche  ist  und  Alles  umfasst.'  Das 
ganze  Alterthum  isl  für  Goethe  Zeuge  dieser  Denkart,  er  bezeichnet 
sie  als  Emanatismus,  wie  dieser  ja  auch  thatsächlich  zum  Pan- 
theismus hinüberführt,  und  er  beklagt  nur.  dass  ,dieser  so  reinen 
Lehre  im  Spinozismus  ein  so  böser  Bruder  erwachsen  ist',  wobei 
er  offenbar  wiederum  aus  Bayle  seinen  Begriff  von  Spinoza 
schöpft  hat.  Die  Weltseelen-Lehre  der  Stoa,  der  Naturalismus  des 
Lucrez,  insbesondere  aber  der  Pantheismus  des  Bruno  klingen  in 
dieser  Ansicht  an. 

Das  zweite  Dokument  ist  der  Wert  her.  Sehen  177*_'  schrieb 
Goethe:  „was  die  Natur  uns  zeigt,  ist  Kraft,  die  Kraft  ver- 
schlingt; nichts  gegenwärtig,  Alles  vorübergehend,  tausend  Keime 
zertreten,  jeden  Augenblick  tausend  geboren,  gross  und  bedeutend, 
mannigfaltig  in's  Unendliche,  schön  und  hasslich,  gut  und  böse, 
alles  mit   gleichem   Recht    aeben   einander.      Die  Kunst    entsprii 


\us  Cic.  de  divinatione. 
•    De  la  causa,  prin  aemiale  epistola. 


Aus  der  Zeil  der  Spinoza -Studien  Goethe  323 

aus  den  Bemühungen  des  Individuums,  sich  gegen  die  zerstörende 
Krafl  des  Universums  zu  erhalten."  Der  ganze  Werther  1771.  ist 
dann  aufgebaul  auf  das  Princip  der  Natur  im  Gegensatz  zur  Con- 
vention, fn  diesem  isl  aber  die  Zusammengehörigkeil  der  Menschen 
untereinander  und  mit  dem  unermesslichen  Naturganzen  enthalten. 
Die  Heimlichkeil  der  Einschränkung  des  Daseins,  das  befriedigte 
Gefühl  der  Enge  des  Lebens,  in  welchem  wir  uns  doch  von  dem  un- 
ermesslichen Ganzen,  wie  von  einem  Horizont  umgeben  und  zu  ihm 
hingezogen  finden:  das  ist  der  Grund-Akkord,  mit  welchem  da- 
Werk  anhebt.  Man  kann  sagen,  dass  das  Verhältniss  der  einge- 
schränkten Intelligenz  zum  Universum  bei  Goethe  nur  der  Reflex 
dieses  Lebensgefühls  in  der  Sphäre  des  Erkennens  ist.  „Die  thätigen 
und  forschenden  Kräfte  des  Menschen  sind  eingesperrt."  „Alle 
Beruhigung  über  gewisse  Punkte  des  Nachforschens  ist  nur  eine 
träumende  Resignation,  da  man  sich  die  Wände,  zwischen  denen 
man  gefangen  sitzt  mit  bunten  Gestalten  und  lichten  Aussichten 
bemalt."  (Werther  I.  Buch  22.  Mai.)  So  entstellt  mitten  im  heim- 
lichen Gefühl  des  nächsten  Zusammenhangs  mit  der  nächsten  Natur 
das  Streben,  das  Unendliche  sich  anzueignen.  „Wie  oft  habe  ich 
mich  mit  Fittichen  eines  Kranichs,  der  über  mich  hinflog,  zu  dem 
Ufer  des  ungemessenen  Meeres  gesehnt,  aus  dem  schäumenden  Becher 
des  Unendlichen  jene  schwellende  Lebenswonne  zu  trinken  und 
nur  einen  Augenblick  in  der  eingeschränkten  Kraft  meines  Busens 
einen  Tropfen  der  Seligkeit  des  Wesens  zu  fühlen,  das  Alles  in 
sich  und  durch  sich  hervorbringt."5)  Dann  am  18.  August:  Dies 
Unendliche  ist  nicht  ein  Jenseitiges,  sondern  ..das  innen'  glühende, 
heilige  Leben  der  Natur"  selber,  „die  unendliche  Welt".  Und  sie 
wird  nach  dem  (leset/.  Arv  eigenen  Phantasie  als  Quellen,  als  Kei- 
men, als  ewiger  Wechsel,  Gebären  und  Vernichten  aufgefasst.  Ja 
unter  dem  Druck  des  Leiden-  erscheint  dasselbe  Universum  natu- 
ralistisch als  „ewig  wiederkäuendes  Ungeheuer",  welches  vordem  in 
der  freudigen  Kühe  der  Anschauung  pantheistisch  als  göttliches  Le- 


5)  \  ftesbury  II.  S.  429.    Wie  oft  macht  ich  nicht  den  Versuch,  wie 

"ti  \\;i'_rt  ich  mich  mil  schnellem  Schwünge   in  den   tiefen  Ocean  der  Welten. 

i  127.    Vollkommen  bol  dieser  Grundstimmung  Faust,  Spatziergang. 


324  Wilhelm 

ben  sich  darstellte.    Aue        -  Grundgeiuhl  stammt  der  Protest 

Transcendenz    im    Prometheus,    durch    dessen    Leetüre 

Leasings   Bekenntniss  zu  dem  ,Eins  und  Alles1    im  Gespräch    mit 

sst  wurde.     Aus  ihm  ist  gleichzeitig  mit  dem  Werther 

dei  schrieben  worden.     Darin  in  Einem  gros« 

Win!  die   Verkündigun  emanatistisch  angeschauten  Alleinen 

..  \\  ie  Alles  sich  zum  Ganzen  webl  vgl.  das  Religionsgespräch), 

gleich  aber  die  Darstellt!  -  Unvermögens  der  menschlichen 

Erkenntniss,  auch  nur  die  Kraft,  die  das  Brdganze  durchwaltet,  zu 

stehen  (Weltgeist,  Erdgeist  und  Faust). 

Der    A  u  fs  atz    N  at  u  r. 

Das  nächste    Dokument    ist  der  Aufsatz  Natur,    welcher  1782 
im  Tiefurter  Journal  erschien. 

Nachdem   dieser   Aufsatz    lang  -und    höchster  Bewun- 

derung und  eine  Hauptquelle  für  die  Entwicklung  der  Naturansicht 
gewesen  ist,  erfahren  wir  durch  die  scharfsinnigen  Aus- 
einandersetzungen Rudolf  Steiner's,  von  welchem  wir  auch  die  bei- 
den musterhaften  Ausgaben  der  naturwissenschaftlichen  Schriften 
fche's  besitzen,  dass  derselbe  höchst  wahrscheinlich  von  Tobler 
nach  Gesprächen  Goethe's  im  Sommer  1781  niedergeschrieben  ist. 
Tobler  war  im  Sommer  1781  in  Weimar.  Er  genoss  als  philosophi- 
scher Kopf  da  ein  ausserordentliches  Ansehn.  Goethe  hatte  ..mit 
ihm  über  diese  Gegenstände  oft  gesprochen".  Er  führte  offenbar 
selbst  auf  diesen  intimen  geistigen  Verkehr  mit  Tobler  den  Inhalt 
Aufsatzes  zurück  und  fand  nur.  dass  er  selber  dem  Aufsatz 
vielleicht  diese  Leichtigkeit  und  Weichheit  nicht  hätte  geben  können. 
Im  Uebrigen  müsste  Tobler  als  Verfasser  die--  Aufsatzes  auch  sti- 
listisch sich  ganz  nach  Goethe  geformt  haben,  dessen  Einfluss  auf 
Beine  I  mgebung  damals  ja  ausserordentlich  war.  Nun  muss  aber  ein 
ander,-  Moment  hinzugenommen  werden,  das  Steiner  nicht  berück- 
sichtigt hat.  Tobler  als  Verfasser  des  Aufsatzes  muss  zunächst 
\"ii  der  Rhapsodie  Shaftesbury's  inspirirl  gewesen  sein.  I  ml  so 
ergiebt  -ich  als  wahrscheinlichste  Annahme,  dass  Tobler  nach  dem 
Vorbild    der   Rhapsodie    von    Shaftesburj    einen    Hymnus    auf   die 


Ahn  iI.t  Zeil  der  S  Studien  Goethe  :'r_'."i 

Natur  abfasste  and  in  demselben  die  verwandten  und  ihm  ver- 
trauten Goethe'schen  Anschauungen  vereinigte. 

Suphan  hat  bereits  feinsinnig  mehrere  Berührungen  des  Auf- 
satzes Natur  einerseits  mii  Shaftesbury,  andererseits  mit  Herder  her- 
ausgehoben.6)  Shaftesbury  hat  aber  iiberhaupl  auf  dies  ganze  ästhe- 
tische Zeitalter,  auf  Wieland,  Herder,  Goethe  und  Schiller  einen  Ein- 
fluss  geübt,  welche!-  dem  von  Spinoza  ganz  gleichwerthig  gewesen 
ist.  Heide  Denker  leiten  dann  aufGiordano  Bruno  zurück.  Herder 
hatte  auf  die  hier  entscheidende  Partie  in  Shaftesburj  Rhapsodie 
frühe  seine  Aufmerksamkeit  gerichtet.  Befindet  sieh  doch  seine 
dichterische  Behandlung  dieser  Partie,  der  Lobgesang  auf  die  Natur, 
schon  in  dem  „Buch  der  (irälin"  von  1773  handschriftlich,  sonach 
fällt  die  Aufnahme  des  Pantheismus  von  Shaftesbury  in  Her- 
der's  Gedanken  vor  die  Einwirkung  Spinoza's  auf  ihn. 

Der  Einheitspunkt  so  verschiedener  Einwirkungen  liegt  in 
Shaftesbury's  Auffassung  der  Natur  unter  dem  Gesichtspunkt 
des  künstlerischen  Vermögens.  Die  ursprüngliche  allverbrei- 
tende, alles  belebende  Seele  des  Universums,  das  unermessliche  We- 
-  .  das  durch  ungeheure  Räume  eine  unendliche  Menge  von  Kör- 
pern ausgestreut  hat,  wirkt  in  ihnen  als  eine  künstlerisch  bildende 
Kraft.  Hierdurch  ist  die  von  Shaftesbury  angewandte  Personifica- 
tion  der  Natur  bedingt.  Er  redet  sie  an.  Darin  folgt  ihm  der 
Naturhymnus. 

Ich  hebe  nun  einige  Belege  für  die  Uebereinstimmung  zwischen 
Shaftesbury  und  dem  Aufsatz  über  die  Natur  aus  meiner  Samm- 
lung heraus.  Herder  hat  dann  den  Aufsatz  Natur  immer  zur 
Hand  gehabt  und  benutzt;  durch  ihn  wirkte  zunächst  Goethe  auf 
ihn.  dann  trat  für  die  Kenntnis*  der  einzelnen  in  der  Technik  der 
Natur  enthaltenen  Verfahrungsweisen  seit  August  1783  die  vertraute 
Freundschaft  mit  Goethe  hinzu.  Ueber  das  Verhältnis-  Schiller's 
zu  Shaftesbuy  werde  ich  an  andrer  Stelle  handeln. 


6)  Suphan:  Goethe  und  Spinoza  S.  13.  26,  ders.:  Goethe  und  Herder  in 
der  D.  Rundschau  S.  69.  Ders.:  in  der  Anmerkung  zu  Herder's  Werke  B.22 
S.  -"'00  vergl.  B.  12  S.  130.    Lei  i  [täte  waren  mir  entgangen,  als  ich  Ar- 

chiv Q,45  auf  dir  Verwandtschaften  einzelner  Stellen  aufmerksam  machte. 


Wilhelm   Dill 


hlichkeit  der  Natur. 


»D<  un- 

lieb.       In 
-ich 
alle  !n'   ich 

nicht  d<      \      will,   w'n-  oft  wagt'  ich 
schnellem  Schwünge  io  den 
sobald 
ktli r    ich  nicht  in  mich  selbst  zurü 
■ 

'■'•       ii-.  und   der   Fülle 
tdli<  Ihm.  aich 

nicht    länget   \\ 
in    den     fürchterlichen     Abgrund 
schauen,    01 
zu  ergründi  S.  '<  - 

In   einer   l  n<  odlichkeit   von  Din- 
lie  in  wechselseitig      B(  i  iehung 
unter  einander  stehen,  kann  i  in  i  leist, 
der    nicht    die    Dnendlichkeil    durch- 
schaut, unmöglich  etwa-  völlig  sehen. 
S.  lölff.   157. 

Näherer  Beweis :  1  unsre  Kennt- 
ni--  der  Bewegungen  reicht  nichl  in's 
Innen  dei  Körper,  2  die  Zeil  i-t  als 
unmerklicher   Punkt    für    unsere   Fas- 

ii  klein.  als  Ewigkeil  ü 
schreitet    sii  .;>.-.     3    Di  i    Raum 

ülerfüllenden  göttlichen 
Wesens  Newton  ist  ein  Abgrund  für 
die  Erkenntniss.  1  Wie  Gedanke  aus 
Materie  und  Bewegung  oder  diese 
Gedanke  entspringen  könne,  ist  uner- 
forschlich. 


über  die  Natur. 

itut '    Wir  Bind  V"n  ihr  umgeben 
und  umscblu  unvermögend,  aus 

ihr  In  ra  .  und  um  ml. 

ukommen. 
\\  ir  leben  mitten  in  ihr  uud  sind 
ihr  fremde.  t   unaufhörlich 

mit  nn-  und  verräth  uns  ihr  Geheim- 

nis8   nicht.      Wir  w  it  auf 

und  ha'  iit  über 

-  ■    lebt  in  lauter  Kindern,   und 

.   wo   i-t    5  -  n  keine 

Sprache  ihm  I 

.1-  l.  vi  erscheint  sie  in 
neu  t i estalt.     S  -ich  in  tau- 

l  Namen  und  Firmen  und  ißt  imo 
Ibe. 

Sie  hüllt  den  Menschen  in  Dumpf- 
heit ein  und  spornt  ihn  ewig  zum 
Licl  -      macht   ihn  abhängig  zur 

Erde,  trag  und  Bchwer,   und  schüttelt 

ihn    immer   wieder   auf." 

-  hilderung  der  Natur  im 
Aufsatz    durch    Widersprüche.      Alles 
neu   und   immer  da-  Alte,  lieblich   und 
schrecklich,    veränderlich    und 
lieh,  ganz  und  immer  unvollendet,  um 
und  in   uns   und   fremd.     Jedem 
seht  .it. 

Vergl.  <  i ■<■  thea  Aufsatz  über  den 
Granit,  naturw.  Sehr.  9,  I 


Die  Natur    ist  überall  von   einem   einheitlichen  Princip   beseelt   und    göttlich, 

die  Mutter  allei   Dinge. 


Shaftesbury. 
_\\'ie  können  « ir  den 
sen  allgemeinen  V 
geisl  verwei  fen  ?  W  ie  kön- 
nen   wir   ><i    unnatürlich 
sein,  die  göttliche  Natur. 
gemeinschaftliche 
Mutter,  zu  verläugnen  und 
un-   weigern,    den    höch- 
sten   allbeseelten,    allre- 
gierenden Genius  zu  -li- 
ehen   und    zu   ei  kennen." 


Aufsatz  über  die  Natur.  Herder. 

„Sie  lebt  in  lauter  Ein-  Erster     Entwurf     der 

dem,    und    die    .Mutter.     Ideen  13,    147:     ,Gi 
wo  i-t  si  .Mutter.    Deine    Kraft    im 

Gedachl  ba1  sie  und     überall  ganz  und  unend- 
sinnt     beständig ;    aber    lieh." 
nicht  aisein  Mensch,  son- 
dern als  Natur." 


17.'». 


Vergl.  Granit   S.  IT.".. 


Aus  der  Zeil  der  Spinoza- Studien  Goethe's. 


327 


Einheit  in  allen  tndividuis  der  Natur. 


Sliat'trslilll  \ 

Beweis  eh  bäl- 

genden   geistigen    Prin- 
cips  in  der  Natur  s.  I  l.'HV. 


Aufsatz  über  die  Natur. 

„Jedes   ihrer  Werke 
li.it  ein  eigenes  Wesen, 
jede  ihrei 
den    isolirtesten 
und    doch    macht    Alles 
eins  aus." 


inungen 
Begriff 


Hi  rder. 

„Jedes  Deiner  Werke 

uz 


macbtesl    l>u 
Eins  mal  siel 


HUI 


und 
selbsl 


gleich;     l>u    schufst 
gleichsam  von  innen  her- 
aus. 

Grosse  -Mutter!  Dei 
Kraft  ist  überall  ganz  und 
unendlich ;     allenthalben 
hast  1  > t l  compensiret." 


Shaftesbury. 

Sie    wird    von 
ihm  nur  durch  die 

rotirenden    Blassen 
im  Universum,  ins- 
idere  durch  die 
i  ira\  itationslehre 
erwiesen. 


Gleichartigkeit  des 
Aufsatz   Natur. 

Die  einheitliche 
Technik  derEünst- 
lerin  Natur  in  den 
inismen  wird 
überall  aufgewie- 
sen. „Auch  das 
Unnatürlichste  ist 
Natur." 

Vi  i  gl.  Granit  S. 
17:;. 


ganzen  Universums. 

Goethe. 

Grundstimmung 
im  W  er  t  h  e  r.  vgl. 
Hempel'sche  Aus- 
gabe 1  1,19.  Eben- 
so in  den  Worten 
des  Erdgeistes. 
M  n  nolog  „Wald 
und  Hohle":  „Du 
führst  die  Reihe 
der  Lebendigen 
\un  mir  vorbei  und 
lehrst  mich  meine 
Brüder  im  stillen 
Busch,  inLuft  und 
Wasser  kennen." 


Herder. 

Entwurf  der  er- 
sten drei  Bücher 
der  Iiheu,  Band 
L3S.445:  „Vorzi 
des  Menschen  vor 
seinen  Brüdern  den 
Erdthieren". 

S.  44C :  „Welche 
Unendlichkeit  um- 
fasst  mich ,  w 
ich,  überzeugt  und 
betroffen  von  tau- 
send Proben  dieser 
Art,  Natur!  in  Dei- 
nen heiligen  Tem- 
pel trete.  Kein 
Geschöpf  bist  Du 
vorbeigegangen : 
Du  theiltest  Dich 
Allem  in  Deiner 
Unermesslichkeit 
mit  undjeder  Punkt 
der  Erde  ist  Mittel- 
punkt Deines  Krei- 
ses." S.  447:  „Der 
Mensch  ist  ein  Thier 
der  Erde." 

Die  Natur  hat  sich  aus  einander  gesetzt,  um  sich  seihst  zu  geniessen  und  zu 
fühlen.     Neue   Form  des   Pantheismus,  vgl.  in.  Darstellung  Archiv  II,  1. 
Shaftesbury.  Aufsatz  über  die  Natur.  H  rder. 

neuen   Ankömm-  „Sie  liebt  sich  selber          „Die  Schöpfung  ist  da- 

linge  schauen  das  Lieht,  und    haftet     ewig     mit  zu    geschaffen,    dass    sie 

damit    auch    andere   Zu-  Augen  und  Herzen  ohne  auf  jedem  Punkte  genos- 

schauer     der     herrlichen  Zahl  an  sich  selbst.     Sie  sen,     gefühlt,     gekostel 

Scene  werden   und   gros-  bat  sieh   auseinanderge-  werde;    es   mussten   also 

Uengi                 I  ■■  setzt,  um  sich   selbst  zu  mancherlei     i :            tio- 

schenks  der  Natur  genies-  g             u.     Immer  lässt  neu  sein,   sie  überall  zu 

v,-n.      S.  156.)  sie    neue   Geniesser  er-  fühlen  und  zu  kosten. 

Arilin   f.  Geschiebte  d.  Philosophie.     VII.  23 


328 


Wilhelm   I>il  t  i 


;tml  i     mit 
ii  Anfai  liebt 

S| 
und  'i 
und    theologisch    formel- 
haft tsthe- 
tiscbe  Leben 


.Diese  höheren  Scenen, 
dieses  edlere  Schauspiel." 

S.  I    - 


Aufsatz  ül'cr  die  Natur. 

wachs«  a,      unersättlich, 
b  mitzutheili 

S 

; :    ,,i,    sie  es  selbst 

D   wir  nicht. 

uiul  doch  spielt  - 
im  uns.  die  wir  in  der 
Den. 
Ich  Borach  Dicht  von 
ilir.  Nein,  was  wahr  i-t 
and  was  falsch  i-t.  Alles 
hat  -  prochen,   al- 

les i-t  ihre  Schuld,  Al- 
les i-t  ihr  Verdienst 
Ihr  Schauspiel  i-t  immer 
neu,  weil  Bie  immer  neue 
Zuschauer  schafft" 


Herder. 

.  .  .  wenn  sie  von  Mil- 
lionen Geschöpfen  auf 
allen  ihren  Seiten  durch- 
durebempfun- 
den  wird." 


Die  Natur  als  Künstlerin. 


Shaftesbury. 


„Können  wir  aus  dein,  was  uns 
sichtbar  ist.  anders  schliessen,  als  dass 
Alles,  wir  in  einem  harmonischen 
Kunstwerke,  Zusammenhang!  "  S.  131. 
ji.  herrliche  Natur!  über  Alles  Bchön 
und  '.rut !  Allliebend,  allliebenswürdig, 
allgöttlich  I  deren  Blicke  so  unwidersteh- 
lich reizt  ad,  so  unendlich  bezaubernd 
sind:  (Irren  Erforschung  bo  viel  Weis- 
heit, deren  Betrachtung  soviel  Wonne 
gewahrt:    denn    k!  Werk    eine 

shere  Scene,  ein  edl«        :  bauspiel 
darstellt,  als  Alles   was  je  die  Kunst 

erfand  I" 

„Die  Quelle  und  Orgrund  aller 
Schönheit  und  Vollkommenheit"  S.  128. 

.Nicht  weniger  vor  theilhafl  können 
wir  von  jener  höchsl  vollkommenen 
Kunst  urtheilen,  die  sieh  in  allen  Wei- 

Natur    offenbart      ün 
Augen,  durch  mechanische  Kunst  ge- 
kt,    entdecken    in    diesen    Werken 
eine  verbot  i  ue  von  Wundern; 

Welten  in  Welten,  unendlich  klein 
und  doch  an  Kunst  den  ich, 

und  Bchwanger  \ on  Wundei a,  die  dei 
Bchärfste  Sinn,  mit  Bten  Kunst 

oder  durchdringendsten  Vernunft  ver- 
bunden, nicht  ergründen  "der  ent- 
fallen kann.-     (S.  1 

Sie    ist    allenthalben    wohltbätig 

und   gütig".       i  i 


Ulfsatz  über  die  Natur. 

„Sie  ist  die  einzige  Künstlerin  :  aus 
dem  simpelsten  Stoff  zu  di  «ten 

Kontrasten;  ohne  Schein  der  Lnstren 
gung  zu  di  i   grösstt  a  Vollendung  zur 
. nisten  Bestimmtheit  immer  mit  et- 
wa- Weichem  überzogen." 

Sie  wird  als  Genie  bezeichnet. 


spielt  ein  Schauspiel. 


„Sie  macht  Ules  was  Bie  giebt  zur 
Wohlthat"    „Si<    ist  gütig." 


\us  der  Zeit  der  Spinoza- Stadien  Goethe's. 


Hin 
Shaftesbury. 

S.  !Ti  stoisch  gedacht 
unsichtbare  ätheri- 
sche Substanz  ist  durch 
das  Weltall  verbreitet." 
■:  kalten, 
trägen,  festen  Klumpen, 
und  erwärmt  Ihn  bis  zum 
Mittelpunkt  Sie  bildet 
Minerale,  giebt  Leben  und 
Wachsthum  den  Pflai 
facht  in  der  Brust  leben- 
diger Geschöpfe  eine 
sanfte,  unsichtbare,  bele- 
bende Flamme  an,  baut, 

elt  und  nährl  die  un- 
endlich mannichfall 
Formen."  Sie  erhält  ilie 
Harmonie  „ihren  eigen- 
thümlichen  Gesetzen  ge- 
Dann  löst  sie 
dieselbe  wieder  in  den 
Zustand  auf.  in  welchem 
Alles  Gott  ist.  L708  war 
die  einheitliche  Technil! 
der  Natur  nur  in  der 
Astronomie  nachgewiesen. 
Die  Gravitationslehre  des 

ton  (1687)  liegt  der 
Darstellung  der  Einheit 
und  Gleichartigkeit  in 
der   Technik    der    Natur 

Off.  zu  Grunde.    Das 

gleichende       Studium 

der  Organismen  entstand 

erst  später.  Vorbereitend: 

S.  351  ff.  -ein  allgemeines 

m,    i  in    zusammen- 

hängender   grosser    Plan 

der    Dinge".      Wie    das 

all,  so  ist  auch  jeder 

inismus    ein   System, 

•  Ichem  dieTheile  zum 
•  tanzen  durch  die  Kiuheit 
des  Zweckes  geordnet 
sind,  l'ies  System  ist  be- 
dingt durch  das  Milieu, 
in  dem  es  sich  befindet. 
Das  Studium  dieser  Be- 
ziehungen ist  Gegenstand 
der  Zoologie  u.  Botanik. 
Zu  1.  ..  3.  \'_rl.  nächstes 
Citat  Zu5.Tgl.S.283:die 

enschaften  „die  g 
ten    Betrüger  der  Welt" 


heitliche  Technik  der  Natur. 
Aufsatz  über  die  Natur. 
Der  Nachweis  der  ein- 
heitlichen   Technik    hat 
hier    die    vergleich« 
achtung    des    thie- 

risch  -  menschlichen      Le 

ä  .  ur  Unterlage,  ist 
aber  unbestimmte  Divi- 
nation.  Dies  entspricht 
dem  Jahr  1782. 

1)   Sie    erweck!    nach 

unwandelbaren  <  lesetzen 
beständij  nderung. 

Mies  auf  ln- 
di\  idualitäl  an  .aus  dem 
simpelsten  Stoff  zu  den 
grössten  Contrasten,  zur 
genauesten  Bestimmt- 
heit,   immer    mit    etwas 


Weichem  überzo 


3)  L'm  sich  mitzuthei- 
leu,  lässt  sie  immer  w 
Geniessererwachsen.  I ' e r 
Tod    ist   ihr  Kunstgriff, 
viel  Leben  zu  haben. 

4)  Sie  hat  wenige 
Triebfedern. 

5)  Sie  freut  sich  an 
der  Illusion. 

6)  Die  Geschöpfe  sol- 
len nur  laufen.  Die  Hahn 
keimt  sie. 

7)  Sie  giebt  Bedürf- 
nisse, weil  sie  Bewegun- 
gen liebt;  diese  erreicht 
sie  mit  wenigen. 


Qerdei , 

Herder  giebt  dl 

Stellungen  von  dei  I 
uik  der  Natur,  in  den 
dem  Gott  und 
der  Kalligone.  1  dieselben 
sind  vcin  Shaftesburj  be- 
dingt, er  hat  offenbar  den 
Aufsatz  Natur  immer  zur 

Hand,     und     er     hat     den 

Umgang  mit 
nutzt. 

Kalligone,    1800,    22 

S.  126.      „In   allem    näm- 
lich,   WO    \iele  und   man- 
cherlei .Mittel    angewandt 
werden,  um  Werke    bei 
vorzubringen,  die  als  treu- 
liche Zusammensetze  □ 
in's  Auge  fallen,  in  di 
bei    einem     System     von 
Regeln      ein      offenb 
Zweck  erscheint,    nennen 
wir  mit   Recht  die  Natur 
eine  Künstlerin." 

Entwurf  der  Ideen  13, 
417:  ,Allenthalben  hast 
Du  compensiret.' 

22,  127.  „Sie  schafft 
indem  sie  zerstört  und 
zerstört  indem  sie  schaffet. 
Individuen  lässt  sie  sinken 
und  erhalt  Geschlechter." 


23 


330 


Wilhelm  Dilti 


Vielheit,  Wechsel  and  Tod  als  Mittel  der  N  sich  mitzutheilen. 


sbury. 
-I  ist  all- 

rtheilt  and  von  anendlich  ab- 
tfannichfaltigkeit ;  siedorch- 
inäle  der  Well 
und    v<  ends.      alles    lebt, 

kehrt  durch  )el   iui- 

mer  in's  Le  i  Sek.     1 1 

liehen  Wesen  verlassen  ihi 

und  treten  die  Elemente  U 
Substanz  immer  neuen  Ankömmlinj 
at>.      -         di(    Reihe  an  sie  kommt, 
in's  I  das 

Licht  und  vergehen  im  Schauen,  damit 
auch  andere  Zuscha  i  herrlichen 

'•■  werden,  freigebig  und  gross, 
theilt  sie  sich  bo  vielen  als  möglich  mit, 
und  vervielfältigt  die  Gegenstände 
ihrer  <üite  in'-  unendliche.  Nichts 
thut  ihrer  geschäftigen  Band  Einhalt 
Keine  Zeit  geht  verloren,  keine  Sub- 
Btanz.  rmen  gehen  in's  Dasein 

hervor,    und    werden    gleich    den    alten 

'>"-rt ,    so   bleibt    doch   die  Materie, 

woraus     sie     zusammengesetzt     waren. 

nicht  ungenützt,  selbst  in  der  Verwe- 
sung. Dieser  verworfene  Zustand  ist 
bloss  di  i  Weg  "der  l'ebergang  zu 
einem  ren." 


Aufsatz  über  die  Natur. 
,Wii  Bin  I  von  ihr  umschluu 


.Es  ist  ein  ew  :.  V.      den 

und  I  Für's  B    iben 

hat  sie  keinen  Begriff." 

BSie  lebt  in  lauter  Kindern."  .lm- 
mei    lässt   sie  i  erwach- 

„Ihre  Kinder  sind  ohne  Zahl." 
.Di     i        ■•  ihr  Kunstgriff,  viel  Leb 
zu  haben." 


Die  Bildung8krafl  in  der  organischen  Welt  in  dem  Instinkt. 
Shaftesbury.  Aufsat/  über  die  Natur.  II<  rder. 

„Sie  sprit/t  ihre  Ge- 
Bchöpfe  aus  dem  Nichts 

hervor     und    BSgl    ihnen 

nicht,    wober    sie    kom- 
men und   wohin    Bie 
hen.       Sie    Bollen    nur 

lauten:    die    Kahn    keimt 

sie." 


510ff.  Bi  weis  l  aus 
dei  Entstehung  der  <  >rga- 
nismen  aus  den  Keimen. 
"2)  aus  dem  Instinct  S.  511. 

Merkmal  ist.  dass 
in  ihm  die  Natur  uns 
ohne  Erziehung  belehrt 
'.'•,  aus  der  Vorempfindung 
und  demGenuss  des  S 
neu  oder  Gut»  □  im  Men- 

Bl  hell. 


Kalligone,  Werke  22, 

S.  126:  Die  Natur  .eine 
li  bendige  Wirkerin."  „Die 
Werke  der  Bienen  ,  B. 
den  Hau  der  Biber  IL  f. 
jedermann  kunst- 
reich, wenn  ihren  Arbei- 
tern gleich  menschliche 
Vernunft  und  Freiheit 
fehlet.  Wie  Ihr  auch  die 
Kräfte,  durch  welche 
hervorgebracht  sind,  nen- 
nen mög<  t :  die  Werke 
seihst  sind  kunstreich." 


Liehe  und  Enthusiasmus 
ala  höchste  Aeusserung  der  Individuen  im  Universum. 


Shaftesbury. 

Die  Rhapsodie  gipfeil  in  dem  die 
Selbstsucht  überwindenden  Enthus 
mus  S.  19G.  532.     Weise  ist  der,  wer 
als  Baumeister  -eines  eigenen  Lehens 


Aufsatz  aber  die  Natur. 

„Nile     Kr. Hie    i8l      die      l.i'he.        \lil 

durch   sie   kommt    mau    ihr    nahe.      Sie 

macht    Klüfte   /wischen    allen    Wesen, 
und  \lh  s  u ill  sieh  verschlingen. 


Lua  der  Zeil  der  Spinoza- Studien  Goethe  :;:',] 

Shaftesbury.  Aufsatz  über  die  Natur, 
und  Glücks  dessen  Schönheil  verwirk-  bal  Alles  isolirt,  am  Alles  zusammen- 
licht.   S.  539:  Befreiung  von  der  Scla-  zuziehen.     Durch    ein    paar  Züge  aus 
verei  der  Selbstsucht  und  Leidenschaft,  dem  Becher  der  Liebe  hall  sie  für  ein 
Aussöhnung  mit   der  herrlichen   Ord-  Leben  voll  Mühe  schadlos, 
nung    les  Weltganzen,   Barmonie   mit  Sie    hat    mich    hereingestellt,    sie 
der  Natur,   in  Freundschaft  leben  mit  wird  mich  auch  herausführen.  Ich  ver- 
tl  und  Menschen.     Vgl.  Brief  über  traue    mich    ihr.      Sie    mag    mit    mir 
den  Enthusiasmus    W.  I  s.  Iff.   S.  70:  schalten." 
Enthusiasmus   bedeutel    göttliche  Ge- 
wart, alles  Erhabene  in  den  mensch- 
lichen Leidenschaften.  Weltfreudigkeit 
Merkmal   des  wahren  Enthusiasmus. 


Entstehung  des  Spinozaufsatzes. 

Am  28.  August  1783  hol)  Goethe's  Bund  mit  Herder  an.     Das 

Problem,  das  von  nun  ab  für  die  Entstehung  der  Ideen  von  Her- 
der und  der  Naturansicht  von  Goethe  erwächst,  kann  nur  aus  den 
Manuskripten  gelösl  werden.  Eiuige  Sätze  können  doch  ans  dem 
Bekannten  abgeleitet  werden.  Das  erste  Buch  der  Ideen  ist  ausser 
Frage,  das  Problem  selbst  hebt  mit  dem  zweiten  an;  nun  las 
Herder  erst  December  1783  die  ersten  Capitel  <\r±  ersten  Buchs 
vor:  sonach  war,  als  sein  Bund  mit  Goethe  anhob,  höchst  wahr- 
scheinlich das  /.weite  Buch  noch  im  Fluss.  Dieser  Thatbestand 
Isi  im  besten  Einklang  mit  Goethe's  Aeusseruug:  „In  dem  ersten 
Bande  sind  viele  Ideen,  die  mir  gehören".  Goethe's  ernstes  Natur- 
studium war  aber  damals  schon  auf  seiner  Höhe.  Seine  leiten- 
den Gedanken  waren  vorhanden.  Er  liess  sich  schon  1780  seine 
mineralogische  Sammlung  ordnen,  begann  die  Granitabhandlung, 
begann  17sl  bei  Loder  ein  methodisches  anatomisches  Studium, 
-uejite  nach  vergleichender  Methode  in  die  Technik  der  Natur  ein- 
zudringen und  entdeckte  auf  diesem  Weg  Frühling  1784  die 
Existenz  des  Zwischenkieferknochens  beim  Menschen,  wovon  er 
gleich  Herder  Mittheilung  machte.  Er  besass  schon  den  Gedanken 
des  Typus,  welcher  der  ästhetischen  Auffassung  der  Technik  der  Natur 
zur  wissenschaftlichen  Morphologie  den  Weg  öffnete:  einen  Ge- 
danken, welche!-  von  dem  des  allgemeinen  Begriffs  logisch  gänzlich 
verschieden  ist.  und  der  für  Naturforschung,  Geschichte,  Gesell- 
schaftswissenschafl  und  Poesie  eine  dauernde  Bedeutung  gewinnen 
muss.     In  dieses  Fortschreiten   fällt   die  Aufzeichnung  zu  Spinoza. 


Wilhelm  Dilth« 

ist    bei    Gelegenheit    der    Leetüre    Spinoza's    entstanden, 
welohe  im  Winter  L784  s">  stattfand.     Nun  zuerst  li  the  den 

Spinoza.     Auch  damals  war  «li«>.-  Leetüre  weder  systematisch  noch 
vollständig      G  ethe  bekannte  Jacobi  (19.  Juni  IT  r  habe  nie- 

mals die  Schriften  Spinoza's  in  einer  Folge  gelesen;  das  ganze 
seiner  Gedanken  habe  ihm  nie  völlig  überschaulich  vor 
der  Seele  gestanden:  „aber  wenn  ich  hineinsehe,  glaube  ich  ihn 
zu  verstehen".  Wahrscheinlich  beziehl  sich  auf  diese  Lektüre  die 
Bemerkung  der  italienischen  Reise,  dass  die  Süchtige  Lesung  eines 
Buches  sofort  eine  entscheidende  Einwirkung  zur  Folge  haben 
könne,  zu  welcher  dann  Wiederlesen  und  ernstlich«  trachten 
in  der  Folge  kaum  etwas  hinzuthun  können.  Was  war  nun 
natürlicher,  als  dass  er  mit  den  Augen  Herder's  den  Spinoza 
ansah.  Dieser  hatte  in  seiner  An  seit  längeren  Jahren  den  Spinoza 
sich  assimilirt  Er  las  ihn  nun  von  neuem  und  fand  seinen  ers 
Eindruck  bestätigt').  Er  theilte  Goethe  seine  brieflichen  Ausein- 
andersetzungen an  Jacobi  mit  und  es  scheint,  dass  Goethe 
den  Februarbrief  eigenhändig  abgeschrieben  hat.  ..Wir  sind  — 
schrieb  Goethe  im  Mai  1787  an  Herder  —  so  nah  in  unsern  Vor- 
stellungsarten, als  es  möglich  ist,  ohne  eins  zu  sein,  und  in  den 
Hauptpunkten  am  nächsten"  "). 

Aber  es  gab  eine  Differenz  /.wischen  beiden,  welche  die  Art 
ihres  ganzen  wissenschaftlichen  Verfahrens  betraf  und  daher  ihre 
Wirkung  überallhin  äusserte.  „Ich  fühlte  mich  zu  sinnlichen  Be- 
htungen  der  Natur  geneigter,  als  Herder,  der  immer  schnell 
am  Ziele  sein  wollte,  und  die  Idee  ergriff,  wo  ich  kaum  noch 
einigermaassen  mit  der  Anschauung  zu  Stande  war.  wiewohl  wir 
grade  durch  diese  wechselseitige  Aufregung  uns  gegenseitig  förder- 
ten." Herder  war  der  Metaphysiker.  Goethe  setzte  die  Einheit 
und  Gleichartigkeit  de-  l  niveraums  voraus  und  ging  nun  von  dieser 
Annahme  aus  vergleichend,  anschauend  und  induktiv  der  einheit- 
lichen   Technik    der    Natur    nach.      „Willst    du    ins    I  nendliche 


7)  II  I        i   20.  Dezember   1784.     Ki    theill  Goethe  seine  Briefe 

an  Jacobi  mit. 

I  al.  Reise  s.  306  fg.  17.  Mai  1787. 


\u-  der  Zeil  der  Spinoza- Studien  Goethe's.  333 

schreiten,  geh  nur  im  Bildlichen  nach  allen  Seiten."  Hierbei  ge- 
wahrte er,  dass  das  Unendliche,  wie  der  Horizont,  vor  dem  Vor- 
wärtsschreitenden bestandig  zurückweicht.  Durch  diese  Gedanken 
war  er  von  Herder  getrennt,  aber  noch  schärfer  von  Spinoza.  Da 
isl  es  nun  vom  höchten  Interesse,  dass  gerade  diese  Differenz 
fches  von  Spinoza  und  Herder  durch  die  vorliegende  Aufzeich- 
nung auf  das  hellste  erleuchtet  wird.  Goethe  war  niemals  Spi- 
Qozist.  Auch  nicht  ein  Spinozisl  von  Leibnizischer  Observanz.  Leibniz 
war.  wie  Spinoza,  ja  nach  seiner  schaffenden  Theilnahme  an  der 
Begründung  einer  construktiven  mathematischen  Naturwissenschaft 
viel  tiefer  und  kernhafter  als  dieser  von  der  construktiven  Auf- 
gabe des  Denkens  bestimmt.  Er  unterwarf  Alles  der  Mach!  der 
Ratio,  dem  Satz  vom  Grunde.  Dagegen  (Joethe  erkannte  im  Uni- 
versum, ja  in  jedem  Individuum  ein  Unerforschliches  an.  Nicht 
als  Kantianer,  sondern  als  Dichter,  wie  seine  ganze  Entwicklung 
uns  gezeigt  hat.  Seine  Erkenntniss  der  Schranken  des  Intel- 
lekt  war  nur  der  Reflex  seines  ganzen  lebendigen  Verhal- 
tens. Er  sann  als  ein  Poet  über  die  Welt.  Am  nächsten  standen 
ihm  Shaftesbury  und  Herder,  weil  deren  Verhalten  dem  seiuigen 
verwandt  war. 

Interpretation  des  Aufsatzes. 

Der  Aufsatz  läuft  gleichsam  der  Ethik  Spinoza\s  entlang  sei- 
nem Ziele  zu.  Sein  Gegenstand  ist  die  einheitliche  Lebendig- 
keil des  Universums,  des  Individuums  uud  des  auffassenden  Ver- 
mögens, daraus  folgend  die  Unerforschlichkeit  des  Weltganzen. 
Goethe  sucht  sich  bei  der  Lektüre  Spinoza's,  möglichst  im  Sinne 
dieses  Denkers,  die  Vorbegriffe  klar  zu  machen,  welche  der  Er- 
kenntniss der  Natur  nach  ihrer  einheitlichen  Technik  und  der  Ver- 
wirklichung von  Typen  in  ihr,  allgemeiner  aber  welche  überhaupt 
der  Auffassung  und  künstlerischen  Darstellung  de-  Wirklichen  zu 
Grunde  liegen.  I)ic  leicht  erkennbaren  vier  Theile  handeln  1.  von 
Dasein,  \"llkommenheit  und  dem  unendlichen,  '2.  von  dem  Ver- 
hältniss  des  beschränkten  Einzeldings  zum  unendlichen.  :'>.  vom 
Einzelding,  insbesondere  den  organischen  Wesen.  4.  von  der  ästhe- 
tischen  Auffassung  und  der  Erkenntniss  des  Wirklichen. 


Wilhelm  Dilta«  > . 

1. 

1»  gangspunkt  Goethes  bildet  der  Satz,  mit  welchem  der 

nitt  des  Au:  1 — 4)  anhebt:    „der  Begriff  vom 

und    der    Vollkommenheit    ist    ein    und    eben    dereell 
riefe  des  J  .  nnl 

hall    das  gan;      Syst        -  -    zusammen,  glicht    den 

mechanischen   und   naturalistischen   Begrifts Verzeich- 
nungen   zu    einem   Pantheismus,    der   eine  Ethik   gestattet.     L.  I. 
p.  1 1.  zweit  ätration  potenti  L.  I.  prop.  3 1. 

1.:  aus  dem  Elementarbegriff  von  causa  sui  folgt:  Dei  potentia 
ipsa  ipsius  essentia.    Macht  isl  aber  Vollkommenheit ;  Prop.  1 1  Si  hol.: 
pert  litas.     Daraus  ergiebt  rieh  dann:  Tugend  ist  Thun 

G  gensatz  zur  passio),  Kraft,  fortitndo,  gaudium.    In' 
ze  Zusammenhang  war  schon  in  der  Stoa  ang      gl    Archh  VII,  1 
-    1$  F.). 

Das    gemeinsame  Denken   \<>n   Herder    und    Goethe  assimilirl 
sich  di  Satz    in  einer  durch  die  ästhetisch«  sve.r- 

fassung  bedingten  Modifikation.    Herder  hatte  von  dem  Kant 
Jahres  1765  >i<-h  ang  3  Philosophie  al>  Analysis  auf  un- 

analy sirbare  Begriffe  treffe:  sin,  Kraft,  Raum  und  X 

ästhetisc  ies  Naturell  und  sein  Nachleben  des  Dichterischen  erfüllten 
ihn  aber  mit  dem  lel  e  sn  Bewusstsein,  wie  Dasein  überall  Gefühl 
seiner  Selbst,  I  ade,  Genuas  und  Vollkommenheit  a  S  Eitstand 
ihm.  in  Gegensat  d  Kant,    doch  auch  unterschieden  von  Spi- 

rkettung  des  Modus,  der  Selbsterhaltung  und  des  Will 
die  inni  rbindung  zwischen  dem  Lebensgefühl  und  den  Be- 

griffen von  Dasein  und  Kraft.  Dasein  war  seinem  Dichternaturell 
ohne  quellende  Kraft,  Gefühl  Beiner  Selbst  und  Trieb  der  nach 
Entwicklung  drängt,  unfassbar.     Shaftesbury  ward  ihm  das  Organ, 


I:  Zasammi  nstellui  I  und  Kraft 

wird  durch  Kant  als  sein  Eigenthum  schon  in:  „Man- 

kritiseben  Invasion"   1-  .  i n<  1  i<-i r t 

tiriftlicbeo  Nach  atisch   erwiesen  in  den 

Erdmann  II  123.  124.  158.     Dadurch    auch    ;  Baym, 

Hei  iff. 


An-  der  Zeit  der  Spii        3t  ethe's. 

diese  Gemuthsverfassung  in  ästhetischen  Pantheismus  umzusetzen10). 
S     war  sein   Pantheismus  schon   da,    war   von    Kant,    Shaftesbury 
und    Leibniz  schon   zu   bestimmtem   Bewusstsein   gebracht,    als   er 
Spinoza  kennen  lernte.      Mit    seinem   ausserordentlichen  Assimila- 
tionsvermögen ek  er  sieh  nun   diesen   an.      Der  Goethe   wohl- 
bekannte Brief   an  Jacobi  vom  6.  Februar  L784   gehl   vom   Begriff 
des  Seins  als  dem   Grundbegriff  au-.       Ausser   der   Welt    kann   nun 
kein  Sein  existiren,    denn   der  Raum   i-f  eine  A.bstraction    aus  den 
Erscheinungen  der  Welt,  daher  i>t  ein  Gotl  ausser  der  Well   Non- 
sens.    Auch  ist  ein  eingeschränkter  Gott  kein  Gott   mehr.     Gott  i-t 
also  entweder  garnicht   oder  er  ist  der  'Welt    immanent").      Nach 
dem  ebenfalls  Goethe  bekannten  Brief  Herders  vom  20.  Dec,  17^1 
an  Jacobi   schliesst  dann  göttliches   Dasein    überall  Genuss    seiner 
Selbst  ein.    „Spinoza's  einzige  Substanz  ist  da-  ens  realissimum,  in 
welchem  sich  Alles,  was  Wahrheit,  inniges  Lehen  undDasein 
ist.    intus   und    radiealiter   vereinigt."    „Was   sollte    Dir   der   Gott, 
wenn  er  sich  nicht  in  Dir  als  in  einem  Organ  seiner  tausend  Mil- 
lionen   Organe   geniesset."      ..Kr   wirkt  aus  allen   edlen  Menschen- 
-  ■•dien  "-}••.     Und  nun  durfte   Herder  erklären:    „Goethe  hat  den 
Spinoza  ganz  so    verstanden   wie   ich  ihn  verstehe13)."      In 
diesem    geschichtlichen    Zusammenhang  schrieb  Goethe    den   ersten 
Satz   des    Aufsatzes   und   wiederholte   ihn   an  Jacobi  9.  Juni  1785. 
..Du  erkennst  die  höchste  Realität,  welche  der  Grund  des  ganzen 
Spinozismus    ist,    woraus  alles    übrige  fliesst.      Das    Dasein    ist 
Gott." 

2.  :>.     In  diesen  Sätzen  trennt  sich  (roethe  von  Spinoza.   Herder 
und  allen  .Metaphysiken),  zugleich  ist  er  in  ihnen  ganz  einstimmig 


10)  Vgl.  die  frühe  Umdichtung  der  entsprechenden  Stellen  der  Rhapsodie 
in  seinem  Naturhymnus  und  an  Merk   12.  Sept.  1770. 
")  Aus  Herders  Nachlass  II 251. 

12)  Entsprechend  Herders  Gotl  I7V7  Suph.  S.  502:  „der  reelle  Begriff, 
in«  welchem  alle  Kräfte  gegründet  sind,  ist  das  Dasein."  536ebd.:  „Dasein  ist 
in  Gott  und  in  jed(  ienden  Ding  Grund  und  Inbegriff  alles 

552:    „alli     Vollkommenheit   eines   Dings    isl   seine    Wirklichkeit;    das  Gefühl 
der   Wirklichkeit    ist    der   einwohnende    Lehn    seines    Daseins,    -eine   im 

13)  In  Herders  Nachlass  11  261  ff. 


Wilhelm  Dilthey, 

mit  obigem  Brief.    Er  äussert  sich  in  diesem  Brief  ungern  und  nur 
„Vergieb  mir,  dass  ich  ne  schweige,  wenn  von 

■  •im  tlichen  Wesen  die  Rede  i-t.  das  ich  nur  in  und  aus  den 

rebus  singularibus  erkenne,  zu  deren  nähern  und  tiefern  Betrach- 
tung niemand  mehr  aufmuntern  kann,  als  Spinoza  selbst,  obgleich 
vor  seinem  Blicke  alle  einzelne  Dinge  zu  verschwinden  scheinen.0 
„Hier  bin  ich  auf  und  unter  Bergen,  suche  das  Göttliche  in  berbis 
ei  lapidibus." 

[ch  entwickle  das  Gemeinsame,  welches  Brief  und  Sätze 
(2.  :'..  1  und  17.  18)  aussprechen.  Verfolgen  wir  den  in  der  An- 
schauung gebildeten  Begriff  von  Dasein  und  Vollkommenheit  so  weit 
uns  möglich  ist,  bo  entsteht  der  Gedanke  der  vollständigen 
Existenz  oder  des  Unendlichen:  ein  Grenzbegriff  für  unseren 
beschränkten  Geist,  der  seine  Fassungskraft  übersteigt.  ..Willst  da 
ins  Unendliche  schreiten,  so  geh  nur  ins  Endliche  nach  allen  Sei- 
ten." Unser  anschauendes  Wissen  geht  von  Zusammenhang  zu 
Zusammenhang,  erreichl  aber  niemals  das  Ganze.  Diese  Sätze 
Goethe's  nehmen  einen  Begriff  Spinoza's  auf,  setzen  sich  aber  dann 
doch  dem  rationalistischen  Zug  seines  Denkens  entgegen.  Goethe 
übernimmt  nämlich  von  Spinoza  die  cognitio  intuitiva,  welche  sich 
über  die  res  singulares  ausbreitet.  Quo  magis  res  singulares  intel- 
ligimus,  eo  magis  Deum  intelligimus  V  24.  Aber  diese  intuitive 
Erkenntniss  des  Singularen  ist  bei  Spinoza  (und  in  andrer  Art  bei 
Herder)  durch  ein  Begriffsgerüst  getragen,  welches  die  unendliche 
Substanz  und  aus  ihr  das  einzelne  Ding  definirt  und  bestimmt. 
Dies  -  let  sich  Goethe  nicht  an.  Das  Unendliche  li«'Lri  ausser- 
halb der  Fassungskraft  eines  beschränkten  Geistes  (4.  2).  Das  In- 
dividuum und  das  vollständige  Ganze  haben  etwa-  Unerforschliches 
in  sich  (18.  1!»).  So  widersprechen  Goethe's  Sätze  der  rationa- 
listisch construktiven  Lehre  des  Spinoza  \<m  der  «-n^niiin  adae- 
quata14),  und  sie  sind  in  Uebereinstimmung  mit  dem  ganzen  ju- 
gendlichen Goethe. 


Prop.   171:    Mens   buroana  adaequatam   habet  Cognitionen]  aeterna 
intii,  •  oliae  I »ei. 


\u^  der  Zeil  >l<'i  Spinoza-Studien  Goetb  :'.:'.i 


Vod  ") — L3  reichl  der  /weite  Abschnitt  des  Aufsatzes, 
er  handelt  über  das  Verhältniss  des  Einzeldings  zu  diesem 
vollständigen  Ganzen,  [ch  bestimme  zunächsl  das  Verhält- 
niss dieser  Sätze  zu  Spinoza.  Satz  5:  .man  kann  nicht  9a 
dass  das  Unendliche  Theile  habe',  ist  ans  Spinoza  I.  12  und  15 
Schol.;  er  verwirf!  dort,  ,substantiam  posse  dividi',  und  zeigt 
die  Widersprüche,  die  ans  dem  Begriff  von  partes  der  Sub- 
stanz entstehen.  Satz  •>:  .alle  beschränkten  Existenzen  sind  im 
Unendlichen'  ist  aus  Spinoza's  Begriff  des  modus  geschöpft.  I.  Def. 
.">  per  modum  intelligo  id  quod  in  alio  est.  Dies  Andere  ist  aber 
das  Unendliche.  I.  prop.  18.  Doch  schon  der  nächste  Satz  (7): 
.die  beschränkten  Existenzen  nehmen  vielmehr  Theil  an  der  Un- 
endlichkeit' biegt  von  Spinoza  ah:  .Theilnehmeif  ist  etwas  ganz 
Anderes  als  in  Dco  esse;  ein  rationales  Verhältniss  ist  hier  durch 
ein  unerforschliches  ersetzt.  Ebenso  steht  es  mit  8.  9.  Zwar  ist 
zunächst:  .wir  können  uns  nicht  denken,  dass  etwas  Beschränktes 
durch  sich  seihst  existire"  aus  Spinoza  entnommen;  lib.  I.  prop.  15 
Demonstratio:  .Modi  sine  substantia  nee  esse  nee  coneipi  possunt.' 
Entsprechend  sagt  auch  Jacobi  im  Spinozabuch  S.  17:  .wir  sind 
nicht  im  Stande  uns  von  einem  für  sich  bestehenden  Wesen'  (näm- 
lich Einzelding)  .eine  Vorstellung  zumachen.'  Auch  der  Ausdruck 
beschränkt'  für  dr\i  Modus  ist  aus  dem  Sprachgebrauch  Spinoza's; 
1.  prop.  25  , durch  die  res  particulares  exprimuntur  Dei  attributa 
certo  et  determinato  modo.'     Aber  der  folgende  Satz  (9)  ,und  doch 

-tirt  Alles  wirklich  durch  sich  selbst"  ist  wie  6  und  14  von 
S  linoza    abweichend    und    einer    anderen    Denkweise    angehörig. 

snso  verhält  sich  13:  .ein  lebendiges  Wesen  giebt  dem  anderen 
Anlass  zu  sein.'  Spinoza's  berühmtes  Axiom  I,  1  omnia  quae  sunt 
vel  in  se  vel  in  alio  sunt  ist  unter  der  Voraussetzng  der  louischen 
Bestimmbarkeil  des  Unendlichen  richtig;  in  Wirklichkeil  zerschnei- 
det es  i]en  Punkt,  in  welchem  das  Leben  sitzt,  nämlich  das  Le- 
bensgefühl  des  Individuums,  das  sich  zugleich  selbständig  und  be- 
dingt findet.  Dagegen  Goethe's  Ausdrücke  für  dies  Verhältniss  des 
Einzelnen  zum  unendlichen  Ganzen  setzen  Spinoza  die  beben- 


Wilhelm  Dilth, 

digkeil  and  Unerforschlichkeil   des  Wirklichen  entgegen. 

n  ;im  lebendigen  Einzeldasein  den  Charakter  von  imma- 
nenter Zweck]     -     keil  and  Einheil  (14),  das  unendliche  und  Uner- 

anihm  18.  19  ,  Das  Verhältniss zum  unendlichen  Ganzen 
tritt  aus  dem  von  in  Be  und  in  alio  ss  in  das  der  Theilnahme 
an  der  Unendlichkeit  (7.  18).  Hierdurch  entstehen  dann  in  10-13, 
welche  au-  Spinoza,  besonders  aus  I.  prop.  26—28  und  I  •'•:  una 

substantia  i  potesi  produci  ab  alia  substantia  entnommen  sind, 

Modi6kati n.  durch  welche  sie  von  den  Propositionen  des  Spinoza 

leise  abweichen. 

Diese  Abweichungen  von  Spinoza  sind  min  andrerseits  Ver- 
wandtschaften u ! i t  der  Vorstellungsart  von  Herder.  Nach  Her- 
ders Gott  ist  der  Grundfehler  Spinoza's,  dass  er  die  Ausdehnung  zur 
Eigenschaft  Gottes  macht  (446);  geschieht  dies,  so  können  Aus- 
dehnung und  Leben  als  angleichartig  nicht  innerlich  verbunden  und 
die  Theil barkeit  Gottes  kann  nicht  vermieden  werden  148.  4  19). 
Spinoza's  System  wird  in  sich  einig,  wenn  man  dem  Raum  den- 
selben blos  symbolischen  Werth  für  die  innere  Einheit  substan- 
tieller Kräfte  zutheilt,  welchen  bei  ihm  dir  Zeit  hat  (451.    153). 


Der  dritte  Abschnitt,  14— 19,  handeil  vom  Einzelding,  insbe- 
sondere de 'ganischen  Wesen.     Verwandt   sind  Schaftesburj 

»53ff.  und  Herders  Got1  456:  »Das  Ewige  ist  an  sich  selbst 
kein.  -  Mass«  -  fähig;  in  jedem  Punkt  seiner  Wirkung  trägt  es  Beine 
ganze  Unendlichkeit  in  sieh.-  Vgl.  457.  189 f.  Nach  diesem  Ab- 
schnitt hat  das  Einzelding  die  „Uebereinstimmung,  nach  der 

existirt"  in  sich  seihst.  Alis  diesem  Prinzip  weist  Goethe  die 
Messungen  der  Proportionen  des  lebendigen  Körpers  ah.  wie  sie  in 
der  Anatomie  seiner  Zeit  angestellt  wurden.  Damalige  Anatomen 
glaubten  am  Knochengerüsl  Proportionen  in  einfachen  Zahlen 
nachweisen  zu  können.  Insbesondre  aber  nahmen  die  über  Kör- 
perschönheil grübelnden  Künstler  seil  Polyklet  an.  die  [dealschön- 
heil  müsse  sich  in  einfachen  Proportionen  ausdrücken  lassen;  hier- 
bei  legten   Bie  vorwiegend   das  Verhältnisa  des  Kopfs  /um  ganzen 


\u-  dei  Zeit  der  Spinoza-Studien  Goethe's. 

Körper  zu  Grunde. ' 6)  Eben  damals  waren  Auszüge  aus  Vorlesungen 
Campers  in  der  Amsterdamer  Maler-Akademie  erschienen  (kleinere 
Schriften  1784).  Da  Goethe  Aehnliches  versucht  hatte,  mochten 
sie  ihn  interessiren.  Sie  beschäftigten  sich  ebenfalls  mit  Messun- 
gen. Sie  unterwarfen  einige  herkömmliche  Ergebnisse  von  solchen 
der  Kritik,  und  sie  gaben  zugleich  Grundzüge  jener  Lehre  vom 
Gesichtswinkel,  welche  dann  in  der  berühmten  Schrift  von  1 7 '. » ij 
ausfuhrlich  dargestelll  wurde.  Murinen  nun  dies.'  Schriften  der 
Anlass  sein  oder  lag  dieser  in  der  ganzen  herkömmlichen  Lehre: 
Goethe  wendet  sich  in  diesem  Aulsatz  zur  Ueberraschung  des  Lesers 
plötzlich  gegen  die  Messungen  am  lebendigen  Körper.  1»  zen 

einen  räumlichen  und  von  Aussen  herangebrachten  Massstab  vor- 
aus, der  lebendige  Körper  aber  hat  nur  in  sich  selber  seinen  .Mass- 
stal», und  dieser  ist  ein  höchst  geistiger.  So  lässt  sich  auch  das 
Verhältniss  des  Kopfes  zum  ganzen  Körper  nicht  in  einem  einfachen 
Zahlenverhältniss  ausdrücken.  Der  Abschnitt  gipfelt  in  der  posi- 
tiven Darlegung,  dass  jedes  eingeschränkte  Ding  im  Verhältniss 
seiner  Theile  zum  Ganzen  etwas  Unendliches,  ganz  Lebendiges  und 
Unerforschliches  hat.  So  hat  der  Abschnitt  seinen  Kern  in  der 
Auffassung  des  Individuums,  seiner  inneren  geistigen  Einheit,  der 
nur  ihm  eigenen  Beziehung  seiner  Theile  zum  Ganzen,  schliesslich 
seiner  Unerforschlichkeit.  So  klärt  er  die  genialen  Blicke  des  Auf- 
satzes über  die  Natur  auf. 


Der  letzte  Abschnitt,  20 — 26,  handelt  von  der  Erkenntniss 
und  der  ästhetischen  Auffassung.  Sonach  correspondirt  er  dem 
fünften  Buch  der  Ethik  über  die  adäquate  Erkenntniss  und  die  in- 
tellektuale  Liebe  zum  Universum.    Er  gelaugt  durch  ein  in  Spinoza 


lä)  Ueber  die  Messungen  des  Knochengerüstes  durch  Anatomen  in  dieser 
orientirt  Mayer,  Beschreibung  des  menschlichen  Körpers  17s;;  I  s.  I45ff. 
»er  die  Proportionen  der  Schönheit  vgl.  das  anonyme  Schriftchen  von  der 
Ausmessung  des  menschlichen  Körpers  1759,  dann  die  Disputatio  qua  pro- 
batur  mensuram  et  proportionem  membrorum  corporis  bumani  summam  per- 
fectionem  ei  rigorem  mathematicam  aon  admittere  und  Nicolai  von  der  Schön- 
heil des  menschlichen  Körpers  1746. 


\0  Wilhelm   Diltbej  . 

enthaltenes  Princip  vermittelst  Bpinozistischer  Begriffe  zu  der  Er- 
kenntniss der  subjektiven  gestaltenden  Energie  im  ästhetischen 
und  intellektuell  _;m_.  welche  Goethe  ganz  eigen  i-t.    Das  aus 

Spinoza  hervorgehende  Princip  i-t:   Die  denkende  Anschauung  des 
Wirklichen  ist  eine  Aeusserung  der  Selbstmachl  der  Seele  and  i>t 
daher  von  einem  freudigen  Gefühl  begleitet.     III   L:    Menf  nostra 
quaedam  agit,  quaedam  vero  patitur,  oempe  quatenus  adaequatas 
habet  ideas,  eatenus  quaedam  oecessario  agit     l\    def.  B:    Mentis 
virtus  esl  ipsa  hominis  essentia  quatenus  potestatem  habet  quaedam 
efficiendi.     I\    28:    Est    igitur   mentis   absoluta    virtus  intelligi 
\    ■_'."•:    Summus  mentis  conatus  summaque  virtus  est,   res  intelli- 
ertio  cognitionis  genere.     Diese  dritte  Stufe  der  Erkenntnis« 
ist  das  Begreifen  der  res  Bingulares  in  ihrer  Gesetzmassigkeit,    und 
da  jede  Aeusserung  der  Macht   zn  handeln  (fortitudo)  mit  Freude 
iidium)  verbunden  ist,  so  i-t  diese  Anschauung  ganz  mit  einem 
Gefühl  des  Glückes  erfüllt  and  von  ihm  gesättigt.    S     enthält  dies 
Princip  die  Möglichkeit,  die  ästhetischen  Begriffe  abzuleiten.    Dazu 
bietet  sich  die  Stelle  im  Anhang  des  ersten  Buches  über  den  Ur- 
sprung des  Begriffes  der  Schönheit    dar.     I  App.:    ea   oobis   prae 
ceteris  grata  sunt,  quae  facile  imaginari  possumus  etc.     In  diesen 
einfachen    tiefen    und    ästhetisch    folgenreichen    Begriffen  Spinoza's 
lebt   (iuethe.     Aber    diese    thätige    freudige  Fassungskraft    isl   nun 
naili  ihm  anfahig,  sich  des  Universums  anders  zn  bemächtigen  als 
indem  sie  dasselbe  beschränkt.   So  entstehen  aus  den  verschiedenen 
Verhältnissen  einer  selbstmächtigen  Seele  zum  Wirklichen  die  ästhe- 
tischen  Stimmungen   des  Erhabenen,    Grossen    und  Schönen.     Im 
Gebiel  der  Erkenntniss  isl  die  Auffassung  eines  Gegenstandes  wahr, 
wenn   „der  Eindruck   aus  dem  vollständigen  Dasein  desselben  ent- 
springt".   Höchst  merkwürdig  also  wie  hier  die  Unendlichkeit,  Le- 
bendigkeil   und   I  aerforschlichkeit    des  individuellen  Ganzen  dem 
Begriff  von  Wahrheit   seien  subjektiven  Charakter  aufprägt.     Wie 
anbedingt  muss  hiernach  Goethe  die  adäquate  Erkenntniss  des  l  ni- 
ums   ablehnen.     Er  endigt   so  mit  der  völligen  Aufhebung 
jeder  Metaphysik  and  Theologie.    Jede  philosophische  oder  re- 
ligiöse Metaphysik  erklärt  das  für  das  Gewisseste,  was  sie  am  I»'- 
quemsten  denken  und  worin  sie  einen  Genuss  linden  kann.    Seine 


Aus  der  Zeil  der  Spinoza-Studien  Goethe's.  ;;  |  ] 

Darstellung  steigerl  sich  zum  leidenschaftlichen  Ausdruck  gegenüber 
den  anmasslicheD  Meinungen  über  die  Gottheit,  welche  ihm  in  der 
Person  von  Lavater  und  Jacobi  soviel  zu  schaffen  gemacht  hatten 
und  Doch  machten.  Gegen  sie  isi  der  Schluss  seines  Aufsatzes 
richtet  Hier  klingl  denn  auch  nochmals  Spinoza  an  mit  den  be- 
kannten Stellen  gegen  die  Vertheidiger  der  göttlichen  Personalität. 
So  ha1  Goethe  die  aus  seiner  Phantasie  quellende  Grundvor- 
stellung durch  ernste  Gedankenarbeit  zur  Lebendigen  Anschauung 
eines  göttlichen,  in  sich  verwandten  und  unerforschlichen  Univer- 
sums entwickelt,  welche  als  verborgene  Seele  allen  seinen  Dich- 
tungen Leben  giebt.  Das  Ringen  des  beschränkten  Geistes,  zu  Er- 
kenntniss  und  Genuss  dioes  Unendlichen  zu  gelangen,  isi  naiv  im 
ersten  Faust  ausgesprochen.  Es  ist  in  dein  nun  entstehenden 
/weiten  mit  bewusster  Klarheil  dargestellt.  Der  Monolog  in  Wahl 
und   Höhle  ist   der  Ausdruck   dieser  neuen  Stufe. 


XIV. 

Zur  Methode  der  Geschichte  der  Philosophie 

niii  spezieller  Rücksichl  aal  die  Metaphysik 
des  Ca  rl  esi  us. 

Benno  Erdmann  in  Halle  a  3 

I. 

-  11  der  Begriff  der  Philosophie  eine  Nm-in  für  die  Lehrmei- 
oungen  Liefern,  die  ihr  in  den  einzelnen  Perioden  ihrer  Entwick- 
lung zugewiesen  werden  müssen,  so  wird  man  etwa  sagen  können: 
Philosophie  i>i  wissenschaftliche  Gesamtauffassung  des 
Wirklichen.  Die  herrschenden  Züge  dieser  Gesamtauffassung  Mini 
den  Voraussetzungen  über  ihn  Bestand  des  Wirklichen  zu  ent- 
uehmen,  die  aus  der  praktischen  Weltanschauung  unbesehen  in 
die  theoretische  Auffassung  der  Einzelwissenschaften  einzufiiessen 
pflegen.  Die  kritische  Untersuchung  dieser  materialen  Voraus- 
ungen  unseres  Erkennena  bildet  die  Aufgabe  der  Erkenntniss- 
theorie oder  Metaphysik.  Denn  eben  diese  Probleme  haben  der 
unglücklich  sogenannten  Metaphysik  stets  ihr  eigentliches  Thema 
geliefert.  Je  mehr  demnach  die  Problemlösungen  der  übrigen  phi- 
losophischen Wissenschaften,  der  Logik,  Ethik  und  Aesthetik  sowie 
der  Psychologie,  mit  denen  der  materialen  Fundamentalwissenschafl 
zu  einem  Ganzen  verknüpf!  werden,  um  so  mehr  wird  diese  zur 
le  der  Philosophie. 

Wie  jede  Wissenschaft,  so  isl  auch  die  Philosophie  ihrem  W< 
-'•n  uach  systematisch.    Sie  sucht  das  Wirkliche  als  ein  begriff- 
lich bezogenes  Ganze  unseres  Erkennena  als  Kosmos  zudeuten. 

Das  Bedürfnis  zu  dieser  metaphysischen  Systematik  tritt  ein, 


Zur  Methode  der  Geschichte  der  Philosophie.  343 

sobald  die  einzelwissenschaftliche  Erkenntnis  hinreichend  fort- 
geschritten ist.  um  den  Versuch  einer  wissenschaftlichen  Gesamt- 
auffassung wagen  zu  hissen.  Da  das  Bedürfnis  einer  religiösen 
Gesamtauffassung  sich  früher  entwickelt,  als  das  metaphysische,  so 
ist  schon  der  Anfang  der  Philosophie  durch  eine  Wechselwirkung 
zwischen  Religion  und  Metaphysik  charakterisirt.  Die  Grund) 
iles  metaphysischen  Bedürfnisses  ist  die  iinserm  Vorstellen  imma- 
nente Systematik,  die  jedes  Vorgestellte  zum  Glied  einer  Vorstel- 
lungsreihe werden,  und  auf  dem  gleichen  Wege  die  einzelnen  Reihen 
als  Glieder  in  eine  Gesamtreihe  einordnen  lässt.  Da  unser  Vor- 
stellen, auch  das  begriffliche  Denken,  mit  unserm  Fühlen  unlösbar 
verknüpf!  ist,  und  aus  diesen  beiden  Elementen  sich  unser  Wollen 
auferbaut,  so  ist  das  metaphysische  Bedürfnis  ein  Seitentrieb  des 
religiösen.  Der  Mutterboden  der  Metaphysik  ist  daher  in  letzter 
[nstanz  die  tatsächliche  Einheit   unseres  Seelenlehens. 

Niemals  hat  sieh  die  Philosophie  in  wesentlich  anderer  Weise 
entwickelt  als  die  übrigen  Wissenschaften.  Sie  hat  stets  die  Pro- 
bleme „geschichtlich  aufgenommen  und  weitergeführt".  Die  Be- 
dingungen ihrer  Entwicklung  sind  nur  mannigfaltigere,  als  die  der 
speziellen  Disciplinen.  Eben  weil  sie  wissenschaftliche  Gesamt- 
auffassung  ist,  spiegelt  sie  in  jeder  Periode  den  gesamten  Wissens- 
stand und  überdies  wie  das  sittliche  Bewusstsein  so  auch  die  reli- 
giösen Oeberzeugungen  ihrer  Zeit.  Dass  ein  jedes  philosophische 
System  zugleich  in  besonderem  Maasse  die  Individualität  seines 
Urhebers  wiederstrahlt,  liegt  vornehmlich  an  den  unzureichenden 
Erkenntnismitteln,  die  der  Metaphysik  für  die  hypothetische  Bewäl- 
tigung ihrer  Aufgaben  zu  Gebote  stehen. 

In  dem  Lehrbestand  eines  philosophischen  Systems  lassen  sieh 
demnach  verschiedene  Problemlagen  scheiden. 

Fürs  erste  drängt  sich  auch  dem  Philosophen  eine  Reihe  von 
Voraussetzungen  aus  der  Qeberlieferung  auf,  die  er  unbesehen 
festhält,  die  ihm  also  selbstverständlich  scheinen,  weil  er  auf  die 
Probleme  nicht  aufmerksam  wird,  die  sie  bergen.  Wir  beachten 
im  allgemeinen  nur,  was  wir  vorbereitet  sind  zu  erkennen.  Durch 
diese  unterste  Problemlage  isl  das  System  in  die  breiten  Schichten 
der  allgemeinen  Deberlieferung  eingebettet. 

Archiv  i.  Geschichte  d.  Philosophie.     VII.  '1A 


.nitn. 

ber  $  Systems 

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\  '.        ':  rag  .:.-  r:  ■  zt- 


Zur  Methode  d<  lachte  d 

stellt  worden,  hängen  nicht  nur  sys  -  -      lein 

fliessen  mannig        -    in   einander  üt'er.      N  -  .    wir 

ennt,  «ras       .  so  v<         -  n,  und  verbanden,, 
dem  gelernt  haben.   Es  ist  des         S  s 

jene  Probleme  im  Einzelnen  zu  -  u. 

Der  hü       -  he  Takt    hängt   in   allen    - 
auch  in  der  eben  bezeichi.  uletzt  an  sachlic  i ti- 

li t.      Diese  li  .  an   Philosophen  nicht    wenig  Maass 

e    l'iir   die  Erkenntnis   der  Probleme    und    den  Erkennt:.  - 
ihrer  Lösungsversuche,  als  etwa  dem  Mathematiker,  dem  Chemiker 
r  dem  Historiker.     Gerade  weil  diese  Ma  sss  lel- 

3S  -ehalten  im  allgemeine:.  -  -  od  als  in  der  Philosophie, 
bedeutet  die  sachliche  Einsicht  für  den  Historiker  der  Philosophie 
-  ,ar  mehr  als  für  denjenigen,  der  die  Geschichte  einer  Eiuzel- 
as  schaft  verfolgt  Unvermeidlich  wird  allerdings  eben  deshalb 
die  Färbung  des  Grrundriss  -  der  Geschichte  nach  der  systemati- 
sehen  Parteistellung  des  Forschers  abgetönt,  werden  sogar  die 
Linien  des  Grundrisses  selbst   verschoben.      Aber  selbst   ein 

-   —.-mansche  Befangenheit  ist   mehr    dazu    angetan,    die 
-entlichen  Gedanken  eines  Inbegriffs  von  Lehrmeinungen  zu  T.  s 
zu  fordern,  als  die  sachliche  Unkunde  derjenigen,  denen  die  Phi- 
sophie  in  der  Geschichte  aufgeht. 

Nur  ansnahms      s<    kann  die  historische  Gliederung  der  1 
bleme  unmittelbar   dem  Gefüge  entnommen  werden,    in    dem    der 
Philosoph  seine  Lehren  selbst  darstellt.     Der  sachliche  Zusammen- 
hang, durch  welchen  der  Denker  das  Recht  zu  seinen  Aufstellung 
B  sichert   findet,    deckt  sich  nur  selten  mit  dem  historischen, 
dem  sie  tatsächlich  hei     -         s    i.     Wir  suchen  tmsys  -    ien 

iiken  nicht  u:.-    -      lern  die  Sache.     Was  uns  in  den  . 
allgemeinen  Ueberli«  _   s    ilt.  sind  wir  verurteilt  zu  übersehen. 

Bande,    mit  denen  wir  an    unsere  Zei:   gefesselt  s 
wir  nicht  zu  fühlen,  weil  wir  -  Jug  ad  au!        g    i,  und 

Frohgeruh]  weiter    zu    sehen,    als  diejenigen,    auf  d< .       v  hultern 
wir  stehen,  unserer  Eiu-lk       -     meichelt     Aus   z       hen  l    s 
1   wir  g       -  -        S      -         _  .  -  unsern  /. 

--ii  zu  äberschätsen.     I  nsere  Denkgewohnheiten  endlich  hin- 


3  [Q  Ben  no  Erd  ma  an, 

ken  vielfach    unsern   methodologischen   I  gongen  nach, 

rade  dann,  wenn  die  letzteren  begrifflich  ausgearbeitet  sind. 

-  bwierig<       Verwicklungen  entspringeD  daraus,   dass  wir  die 
philosophischen  Systeme,  auch  die  wenigen,  die  uns  in  einer  einzig 
relativ   abgeschlossenen    Darstellung   gegeben    Bind,    als  sich   ent- 
u  i ekelnde  Ganze  auffassen  müssen.    Diese  immanente  Entwicklung 
der   :  verläuft,    auch  wenn   wir  \"ii  den  Unterschieden  der 

litterarischen  Qeberlieferung  absehen,  in  Behr  verschiedenem  Sinuc 
Glücklicher  W<  •  selten  bo  wie  etwa  bei  Fichte  oder  Comte,  Gior- 
dano  Bruno  oder  Schelling,  dass  wir  mehrere  wesentlich  von  ein- 
ander verschiedne  Systemversuche  scheiden  müssen.  Häufig  in 
der  Ali.  wie  bei  Piaton,  Spinoza,  Leibniz,  Kaut.  <la--  wir  mehr 
oder  weniger  Entwicklungsstufen  der  Gedankenmassen  bis  zur  Ab- 
lösung von  der  Zeitphilosophie  und  der  Aufstellung  eines  originalen 
Lehrgebäudes  zu  trennen  haben.  Häufiger  uoch  bo,  dass  wir 
von  der  ursprünglichen  Form  des  Systems  eine  spätere,  modifi- 
cirte  abtrennen  müssen,  wie  in  aufsteigender  Reihe  bei  Hume,  Scho- 
penhauer, Lotze,  Piaton,  Kaut.  Es  isl  klar,  dass  diese  Entwicklungen, 
deren  fliessender  Zusammenhang  auf  der  Hand  liegt,  nicht  aus- 
schliesslich, Bondern  nur  vorwiegend  immanente  sind,  der  Reg<  I 
nach  allerdings  in  grösserem  blasse,  als  die  landläufigen  historischen 
Rekonstruktionen  erscheinen  lassen.  Mehrfach  sind  in  allen  den 
hierhergehörigen  Systemgruppen  selbst  die  tiefer  fortbildenden  An- 
triebe andere  als  die  ursprünglich  entscheidenden.  Nicht  selten 
treten  Momente  hinzu,  die  einer  Reaktion  gegen  die  wissenschaft- 
liche Aufnahme  des  Systems  zuzuschreiben  sind. 

Vorausgesetzt  ist  bei  dem  allen,  dass  die  üeberlieferung  der 
Lehre  in  der  Hauptsache  vollständig  ist.  Die  mannigfaltigen  me- 
thodologischen Schwierigkeiten,  die  je  nach  dem  Grad  und  der 
An  der  ünvollständigkeil  der  unmittelbaren  und  mittelbaren 
'.»uellen  entstehen,  sollen  hier  ausser  Betracht  bleiben. 

Die  Richtung  dieser  historischen  Untersuchung  gehl  auf  die 
objektiven  Bedingungen  der  Problementwicklung.  Aehnlich  wie 
in  allen  Gebieten  der  Geschichte  des  Menschen  müssen  wir  hier 
in  der  Regel  darauf  verzichten,  die  psychologischen  Bedingungen 
der  Entwicklung  eines  Systems  im   Geiste  seine-   l  rhebers   aufzu- 


Zur  Methode  dei  Geschichte  der  Philosophie.  :;  |7 

>l»iin-ii.  Wer  jemals  einen  grösseren  Zusammenhang  selbständig 
durchdacht  hat,  weiss,  wie  hoffnungslos  es  ist,  im  Einzelnen  fest- 
zustellen, wann,  wo  und  wie  die  Gedanken  zu  einem  neuen  - 
bilde  zusammenschiessen,  und  welche  unter  ihnen  den  Abschluss 
herbeiführen.  Es  liegt  zwar  eine  feinsinnige  Beobachtung  in  der 
paradox  zugespitzten  Behauptung,  dass  die  Begriffe  selbst  sich  be- 
wegen. Niemals  jedoch  ist  der  Denker  ein  blosses  Gefäss  für  seine 
Gedanken.  Und  es  ist  weder  der  kleinere  noch  der  geringere  Teil 
der  geistigen  Arbeit,  der  sich  unterhalb  der  Schwelle  des  Bewusst- 
seins,  also  auch  ausserhalb  der  Sphäre  des  eigentlichen  Denkens 
vollzieht.  Wir  vermögen  wo!  gelegentlich  die  eine  und  die  andere 
jener  psychologischen  Bedingungen  so  zu  bestimmen,  dass  sie  ein 
leidlich  sicheres  Hilfsmittel  der  Rekonstruktion  wird.  Aber  selbsl 
dann  reicht  ihr  konstruktiver  Einfluss  auf  die  psychologische  Genesis 
weder  so  weit  noch  so  tief,  dass  er  es  möglich  machte,  dn\  ver- 
schlungenen Wegen  der  geistigen  Arbeit  auch  nur  in  einem  klei- 
nen Zusammenhang  ernstlich  nachzugehen. 

Wir  müssen  jedoch  nicht   nur.    wir    sollen   auch    auf  solche 
psychologisirende  Rekonstruktion  verzichten.     Sie  ist  nur  dazu  an- 

ai.  die  Aulgaben  der  Geschichte  zu  verwirren.  Denn  diese 
liegen  in  den  objektiven  Bedingungen  der  Entwicklung,  nicht  in 
dem  zufälligen  Spiel  ihres  psychologischen  Zusammenwirkens.     Die 

stige  Energie  der  historischen  Persönlichkeiten  ist  eine  wesent- 
liche unter  jenen  objektiven  Bedingungen.  Ihr  gebührt  sogar  eine 
grössere  Beachtung,  als  ihr  zumeist  zu  Teil  wird.  Aber  sie  kommt 
hier  nur  soweit  in  Betracht,  als  sie  sich  in  dem  Inhalt  und 
der  Form  des  Gedachten  wirksam  erweist.  Die  Art.  wie  diese 
Wirksamkeit  im  Einzelnen  zu  Stande  kommt,  bedeutet  für  die  hi- 

ische  Rekonstruktion  gar  nichts.    Der  Zug  einerseits  muh  dem 

ziellen,  andrerseits  nach  Zusammenhäufung  alles  möglichen  Ma- 
terials, der  unsere  alternde  Zeit  bewegt,  hat  nicht  bloss  in  der 
literarhistorischen,  sondern  auch  in  der  philosophischen  Einzelfor- 
schung manche  abschreckende  Beispiele  solcher  psychologisirenden 
Methode  erzeugt.  Wenn  irgend  eine  Selbsterkenntnis  die  tieferen 
Grunde  unserer  Arbeitsmängel  auf  dem  Felde  der  Geisteswissen- 
schaften blosslegt.  >o  ist  es  die.  das.  wir  über  der  notwendig  ge- 


348  Benno  Kr dmann . 

wordenen    Kleinarbeit    die    umfassenden    Gesichtspunkte    verloren 
haben,  welche  die  kühnen  Konstruktionen  des  siebzehnten  and 
nden  neunzehnten  Jahrhunderts  möglich  machten. 

Wie  es  scheint,  hat  schon  Knut  diese  Methode  objektiver 
historischer  Rekonstruktion  im  Auge  gehabt  Er  sagt  in  seiner 
Architektonik  der  reinen  Vernunft,  «leren  tiefsinnige  Systematik 
allerdings  begriffen  sein  will,  mit  deutlichem  Rückblick  auf  Beine 
ne  Entwicklung:  „Die  Systeme  scheinen  ....  aus  dem  blossen 
Zusammenfluß  von  aufgesammelten  Begriffen  anfangs  verstümmelt, 
mit  der  Zeit  vollständig  gebildet  worden  zu  sein,  ob  sie  gleich 
alle  insgesamt  ihr  Schema  als  den  ursprünglichen  Keim  in  der 
sich  bloss  auswickelnden  Vernunft  hatten,  und  darum  nicht  allein 
ein  jedes  für  sich  nach  einer  Idee  gegliedert,  sondern  ooch  da/u 
alle  untereinander  in  einem  System  menschlicher  Erkenntnis  wie- 
derum als  Glieder  eine-.  Ganzen  zweckmässig  vereinigt  sind  .  .  . 
Dm  deswegen  muss  man  Wissenschaften,  weil  sie  doch  alle  aus 
dem  Gesichtspunkte  eil  wissen  allgemeinen  Im 
dacht  werden,  nicht  nach  der  Beschreibung,  die  der  Urheber  der- 
selben   davon   gibt,    - lern   nach  der   [dee,  welche  man  aus  der 

natürlichen  Einheit  ^\^v  Teile,  die  er  zusammengebracht  hat,  in 
der  Vernunft  Belbsl  gegründet  findet,  erklären  und  bestimmen." 
Der  Wortlaut  dieser  Stellen  sowie  der  Zusammenhang  der  ganzen 
Ausführung  zwingt  allerdings  zu  der  Annahme,  dass  der  Philosoph 
zugleich  Bachliche  Aufgaben  im  Sinne  hatte,  die  mit  denen  einer 
lediglich  nachbildenden,  historischen  Rekonstruktion  nicht  vermischt 
werden  dürfen. 

Nur  der  hauptsächliche  Gewinn  der  objektiven  historischen 
Untersuchung  isl  im  wesentlichen  schon  von  Kant  zutreffend  cha- 
rakterisirt.  sie  allein  macht  es  möglich,  in  dem  Wechsel  der 
Standpunkte  den  Portgang  zum  Höheren  zu  erkennen.  Ein  solcher 
Fortgang  muss  in  <\*'r  Geschichte  der  Philosophie  dem  in  das 
Ganze  <l'\'  Entwicklung  Schauenden  ebenso,  also  auch  mit  der 
gleichen  Beschränkung  durch  das  Widereinander  von  Aktion  und 
Reaktion,  deutlich  werden,  wie  etwa  in  der  Geschichte  der  Einzel- 
wissenschaften, des  sittlichen  Bewusstseins  und  der  Religion.  Ge- 
wisa   i-t    die    Geschichte   aller   materialen    Disciplinen,    d.i.  aller 


Zur  Methode  der  Geschichte  der  Philosophie.  349 

Wissenschaften  von  Tatsachen,  eine  Geschichte  unserer  Irrtümer. 
Aber  sie  isl  eine  Geschichte  der  Irrtümer,  die  auf  dem  Wege  zur 
Wahrheit  liegen. 

Eine  Vorbedingung  für  die  Lösung  der  allgemeinen  histori- 
schen Aufgabe  der  Philosophie  ist,  dass  die  Geschichte  der  philo- 
sophischen Systeme  durch  Monographien  über  die  Entwicklung  der 
einzelnen  Probleme  ergänzt  werde.  Denn  wer  in  der  beschriebenen 
Weise  zu  rekonstruiren  versucht,  soll  einerseits  die  Gleichför- 
migkeit der  Problemlage  unter  den  verschiedenen  systematischen 
Umhüllungen  zu  erkennen  wissen,  die  den  Problemen  und  ihren 
Lösungen  als  Bestandstücken  verschiedener  Systeme  zu  Teil  wei- 
den. Er  soll  andrerseits  die  Unterschiede  der  Problemgestaltung 
linden,  die  sieh  mehrfach  hinter  dem  ähnlichen  und  selbst  dein 
gleichen  Wortlaut  verbergen.  Verfehll  wäre  es  jedoch,  an  die 
Stelle  der  Geschichte  der  Systeme  eine  blosse  Zusammenfassung 
der  Geschichte  der  Probleme  treten  zu  lassen.  Nicht  nur  die  sub- 
jektiven Einheiten  der  Geschichte  der  Philosophie,  die  Individua- 
litäten der  führenden  Geister,  gehen  bei  einem  solchen  Versuch 
verloren,  sondern  auch  die  objektive,  die  wissenschaftliche  Gesamt- 
auffassung des  Wirklichen. 

Es  wird  zweckmässig  sein,  diese  allgemeinen  Bemerkungen 
an  einem  speziellen  Fall,  der  Problemlage  in  der  Metaphysik  (]os 
Cartesius  zu  erläutern. 

(Fortsetzung  folgt.) 


w. 

Uns  erste  Auftreten  der  griechischen 

Philosophie  unter  den  Arabern. 

Von 
Ludwig  Stein  in  Bern. 

Aul  der  arabischen  and  jüdischen  Linie  der  Philosophie,  <li«'  sich 
von  Alexandrien  abzweigen,  um  Dach  und  nach  in  Florenz  anzulan- 
gen, gibl  es  eine  erkleckliche  Anzahl  von  Zwischenstationen,  an  de- 
nen sich  politische  and  religiöse  Interessen  wunderlich  genug  beg 
nen  and  kreuzen.  Auf  der  byzantinischen  Seite  der  philosophischen 
Entwicklung  hat  man  es  in  der  Hauptsache  doch  nur  mit  einer 
Nation  zu  thun,  hier  aber  stossen  wir  auf  eine  buntscheckige  Reihe 
von  Nationalitäten,  <lic  einander  in  der  grossen  Culturaufgabe, 
die  wissenschaftlichen  und  philosophischen  Ideen  der  Griechen  zu 
hüten  and  künftigen  Generationen  zu  übermitteln,  ablösen.  Syrer, 
Perser,  Armenier,  Araber  und  Juden  theilen  sich  hier  in  die  Auf- 
gabe, die  hellenischen  Traditionen  fortzupflanzen.  Antiochien,  «las 
als  Musensitz  schon  Cicero  bekannt  war'),  Apamea,  Emesa,  Laodicea 
und  andere  syrische  Städte,  später  besonders  Berytus,  Edessa,  Nisi- 
bis,  Seleucia,  Bagdad,  Basra,  Granada  and  Cordova  heissen  'li<-  vor 
aehmlichsten  Städte,  in  deuen  die  philosophische  Tradition,  genährt  an 
der  gemeinsamen  Mutterbrust  der  griechischen  Philosophie,  sich  er- 
hielt. Durch  dieses  bunte  Völkergemisch  erhält  die  hier  zu  skizzirende 


Ri  de  pro  Archia  | ta  cap.  •"- 


Das  erste  Auftreten  d.  griech.  Philosophie  anter  d.  Arabern.         :'>.">1 

Traditionskette  Leben  and  Farbe.  An  die  Stelle  der  einschläfern- 
den Monotonie  der  Philosophie  bei  den  Byzantinern  tritl  hier  reges 
Entfalten  oeuer  Gedankenkeime.  Insbesondere  bietel  der  jungfräu- 
liche geistige  Boden  der  mit  rasender  Geschwindigkeit  emporsprossen- 
den arabischen  Cultur,  die  aber,  wie  wir  bald  sehen  werden,  nur 
durch  die  Sonne  der  hellenischen  Wissenschaft  ihr  belebendes  Ele- 
ment, ihre  keimkräftige  Triebfähigkeil  empfängt,  ein  glückliches  Ver- 
suchsfeld neuer  [deenbildungen.  Es  machl  last  den  Eindruck,  als  ob 
unter  den  Arabern  eine  Unsumme  anverbrauchter  und  verhaltener 
Geisteskraft  aufgespeichert  gewesen  wäre,  die  nur  des  entscheiden- 
den Moments  harrte,  durch  ein  elementares  Ereigniss  ausgelöst  zu 
werden,  lud  als  Muhammed  dieses  erlösende  Wort  gefunden  hatte. 
da  explodirte  diese  verhaltene  Kraft  zunächst  in  beispiellos  kühnen 
Religionskriegen.  Ms  aber  diese  mit  märchenhafter  Expansions- 
kraft durchgefochten  waren,  da  machte  sich  das  Bedürfniss  geltend, 
dem  strotzenden  Kraftüberschuss  ein  anderes,  edleres  Ziel  zu  setzen. 
Und  so  entstand  bereits  ein  Jahrhundert  nach  der  Hegira  unter 
der  Herrschaft  der  Abbäsiden  jenes  plötzlich  aber  hell  aufprasselnde 
Feuerwerk  der  arabischen  Philosophie,  das  einzelne  prächtige  Ge- 
dankenraketen aufblitzen  liess,  um  nach  wenigen  Jahrhunderten 
schon  kläglich  zu  verpuffen  und  in  einem  muhammedanisch-ortho- 
doxen  Schlamm  zu  versumpfen. 

Seit  den  Eroberungszügen  Alexanders  des  Grossen  waren  in 
Syrien  unter  den  Ptolemäern  und  Seleuciden  griechische  Sprache  und 
Sitte  so  -ehr  eingedrungen,  dass  Antiochia  mit  dem  ganz  gräzisirten 
Alexandrien  zu  wetteifern  begann.  Als  Syrien  nach  schweren  Schick- 
salsschlägen im  Jahre  64  v.  Chr.  dem  römischen  Reiche  einverleibt 
wurde,  hielt  es  in  seinen  Institutionen,  wie  in  Sprache  und  Sitte 
die  griechische  Tradition  aufrecht.  Im  zweiten  christlichen  Jahr- 
hundert war  die  griechische  Sprachtradition  unter  den  Syrern  noch 
Lebendig  genug,  dass  sieh  Männer  fanden,  das  neue  Testament  in's 
Syrische  zu  übertragen.  Dass  sich  die  griechische  Sprache  in  der 
christlichen  Liturgie  der  Syrer  forterhielt,  kann  nicht  Wunder  neh- 
men. Wichtiger  ist,  dass  auch  in  der  Profanlitteratur  die  griechische 
Sprachtradition  bis  in  das  siebente  Jahrhundert  hineinwirkt.  In 
äem  Jahrhundert  hat  nämlich  imch  Jacolm-  aus  Edessa  aeben 


Ludwig  S  t  im  n  . 

mehreren  Kirchenschriftstellern  auch    di<    logischen    Schriften    des 
Aristoteles  aus  <1<  m  Griechischen  in's  Syrische  übertragen  *). 

Dass  in  Syrien  die  neuplatonische  Philosophie  besondere  Pfl< 
fand,  darf  uns  am  so  weniger  auffallen,  als  ja  zwei  der  bedeutend- 
sten Häupter  <li'  -  S  Syrien  entstammten.  Porphyr  Däm- 
lich war  zu  Batanea  in  Syrien  and  Jamblich  zu  Chalkia  in  Cöle- 
syrieo  geboren.  Audi  der  weniger  bedeutende  Schüler  Jamblich's, 
Sopater,  den  Constantin  <l<r  I  hinrichten  Hess,  war  ein  Syrer 
aus  Apamea.  Und  so  entsteh.1  eine  eigene  Schule  von  syrischen 
Philosophen.  Selbst  der  letzte  Scholarch  von  Athen,  Damascius, 
war  t'in  Syrer.  Dass  die  Syrer  eine  besondere  Vorliebe  für  die 
aus  ihren  Reihen  hervorgegangenen  Philosophen  beeassen,  wird 
ihnen  Niemand  verdenken.  Wesentlich  diesem  Umstände  durfte 
es  daher  zuzuschreiben  sein,  dass  Porphyrius  zu  unverdient  grossem 
Ansehen  und  unverhältnissmässig  weiter  Verbreitung  unter  den 
Arabern  gelangt  ist  Da  die  Araber  ihre  Uebersetzungen  fasl  nur 
durch  Vermittlung  syrischer  Aerzte  erhielten,  so  isl  ea  b  greiflich, 
dass  diese  alle  Veranlassung  hatten,  den  Schriften  ihres  Landsmanns 
Porphyr  eine  möglichsl  grosse  Verbreitung  zu  verschaffen. 

Au  der  Verschiebung  des  Schwerpunktes  philosophischer  Tra- 
dition tiefer  in  den  Orienl  hinein  sind  politische  Unduldsamkeil 
und  kirchliche  Verfolgungssuchl  gleichsehr  betheiligt.  Bai  doch  Kai- 
ser .lustiiiian  durch  Verfolgung  aller  Nichtchristen  und  Schliessung 
der  freilich  ohnehin  nur  noch  kümmerlich  dahinvegetirenden  Phi- 
losophenschule za  Athen  (529)  den  letzten  Scholarchen  derselben, 
den  Syrer  Damascius,  wie  dm  ausgezeichneten  Commentator 
des  Aristoteles,  Simplicius,  genöthigt,  mit  einer  Anzahl  ueu- 
platonischer  Philosophen  (Diogenes  und  Bermias  aus  Phönikien, 
Lsidorus  aus  Gaza,  Eulalius  aus  Phrygien,  Priscianus)  nach  Persien 
zu  entfliehen '),  woselbsl  der  Sassanide  Chosroes  Nuschirwan  den 
Musen  ergeben  war.  Obgleich  alle  diese  Philosophen  aach  dem 
Friedensschluss  zwischen  Persien  und   dem   römischen  Reich  (5 


Vgl.  Wenrich,    De  auctorum   Graecorum  versionibua   ei   commentariia 
Syriacis  Arabicis  Armeniacis  Persisque  Commentatio  Leipzig  1842  p.  7. 

Vgl.  Agatbias,   de   imperio  ei   rebua  gestis  Justiniani  II.  cap.  SO    81, 
buhr  p.  131  IT. 


Das  erste   auftreten  d.  griech.  Philosophie  unter  d.  Arabern.  .">.">."> 

wieder  Dach  Griechenland  zurückkehrten,  so  hinterliessen  sie  doch 
Spuren  ihres  Daseins.  Am  Hofe  eben  dieses  Chosroes  wirkte  der 
Syrer  Uranius,  der,  anfGeheiss  seines  Gönners,  dessen  Lieblings- 
schriftsteller Piaton  und  Aristoteles  Ln's  Persische  übertrug4).  Es 
h;it  indess  für  unsern  Zweck  wenig  Bedeutung,  diese  persische 
Auszweigung  der  griechischen  Litteratur  weiter  zu  verfolgen,  zumal 
dieses  dürftige  Bächlein  bald  genug  versandete.  Will  man  freilich 
ein/einen  fragwürdigen  Berichten  glauben,  so  wären  auch  durch 
persische  Uebersetzungen,  die  später  von  Abdullah  ben  Almokaffa 
in"s  Arabische  übertragen  wurden,  einige  medizinische  und  logische 
Werke  des  griechischen  Alterthums  in  die  muselmännische  Cultur 
hinübergerettel  worden.  Aber  einmal  sind  schon  diese  Berichte 
wenig  zuverlässig,  andermal  würden  sie,  wenn  sie  selbsl  besser 
beglaubigt  wären,  von  nur  geringem  Belang  für  unsere  Zwecke 
-ein.  Suchen  wir  doch  nur  jene  Culturwege  auf,  die,  wenn  auch 
nach  vielen  Krümmungen  und  zickzackartigen  Windungen,  immer- 
hin vorwärts  führen  und  mittelbar  iu  die  Renaissance,  weiterhin 
in  unsere  philosophische  Entwicklung  einmünden.  Das  lässt  sich 
indess  weder  von  der  persischen,  noch  von  der  armenischen 
Oebersetzer-Litteratur  nachweisen,  wenngleich  die  Perser  ihre  Aka- 
demien in  Nisibis  und  Gandisapora,  und  die  Armenier  schon 
an  der  Wende  des  5.  Jahrhunderts  einen  so  bedeutenden  In- 
terpreten des  Aristoteles  aufzuweisen  hatten  wie  David  den 
Armenier5).  Da  ein  merklicher  Einfluss  dieser  beiden  Culturen 
auf  den  Entwicklungsgang  der  arabischen  Philosophie  nicht  nach- 
weisbar ist,  so  verlieren  sie  sich  eben  für  uns  in  Sackgassen,  die 
weiter  zu  verfolgen  dem  Zweck  dieser  Untersuchungen  durchaus 
nicht  entspricht. 

Von  desto  einschneidenderer  Bedeutung  ist  aber  für  uns  die 
syrische  Linie,  die  unmittelbar  in  die  arabische  hinüberführt. 
Dass  die  Syrer  in  den  ersten  christlichen  Jahrhunderten  im  Gno- 
stiker  Bardesanes    und    in   Ephraem  Syrus    eine    bemerkens- 


4)  Ibid.  II,  cap.  28,  p.  126. 

5)  Vgl.  aber  ihn  C.  F.  Neumann,  Memoire  sur  la  vie  et  les  ouvrages  de 
David,  Paris  1829,  p.  54.     Seine  Schriften  sind  i.  Th.  abgedruckt  in  Brandis1 

Scholien^ainmluug  des  Aristoteles. 


!t. 

werthe    litterarische   Vertretung    besassen,    ist    bekannt     Weniger 
bekannt  ■-  ss,  dasa  im  fünften  Jahrhunderl  die  griechische 

Sprachtradition    an    der   syrischen   Akademie    zu   Edesaa    noch    - 
kräftig  oachwirkte,  dasa  die  Lehrer  dieser  Akademie,  Cumas  und 
Probus,    sowie    das   Kirchenhaupt   Hibaa  eine   Uebersetzung  der 
Schriften  des  Aristoteles  in's  Syrische  veranstalten  konnten6). 

Doch  sollte  die  Akademie  zn  Edessa  sehr  bald  ein  traurig 
Ende  nehmen.  Die  unseligen  Kirchenspaltungen,  die  den  ersten 
christlichen  Jahrhunderten  eine  so  wenig  anmuthende  Physiognomie 
verleihen,  haben  auch  dieser  Pflanzstätte  hellenischen  Geistes  ein 
jähes  Ende  bereitet.  Als  nämlich  der  Presbyter  von  Antiochien 
und  nachmalige  Patriarch  von  Constantinopel,  Nestorius,  die 
Jungfrau  .Maria  nicht  als  Gottesgebärerin,  sondern  nur  als  Christus- 
gebärerin  anerkennen  wollte,  beschloss  das  Concil  zu  Ephesos,  die 
Ketzereien  des  Nestoriua  zu  verdammen.  Sogleich  bildete  sich  im 
aufgeklärten  Edessa,  wo  durch  die  Pflege  des  griechischen  Geü 
eine  etwas  freiere  Lufl  wehte,  eine  nestorianische  Gemeinde  (43 
welche  die  Ketzereien  >\r>  Nestoriua  freudig  jriff  und  für  die 
neue  Lehre  Propaganda  zu  machen  suchte.  Die  orthodoxe  Kirche 
i rat  jedoch  diesen  sectirerischen  Gelüsten  mit  der  ihr  eigenen  Schroff- 
heit entgegen.  Die  Lehrer  der  Akademie  zu  Edessa,  nestorianische 
Christen,  wurden  verbannt,  die  Akademie  selbst  aufgehoben,  und  so 
iiiu— ten  die  Süchtigen  Nestorianer  ebenso  im  gastfreundlichen  Persien 
eine  Zuflucht  suchen7),  wie  später  die  neuplatonischen  Philosophen 
vor  der  Verfolgungssucht  Justinians.  Die  bitteren  Lehren,  welche 
die  christliche  Kirche  durch  .Mark  Aurel  und  Diocletian  erhalten 
hatte,  waren  in  alle  Winde  zerflattert.  Aus  dem  Verfolgten,  der 
noch  kurz  zuvor  unter  Julianus  Apostata  erproben  kennte,  ein  wie 
tiefes  Weh  die  Religionsverfolgung  hervorzurufen  vermag,  wurde 
gleichwol  ein  noch  grausamerer  Verfolger. 

Im  heidnischen  Persien  konnten  die  verfolgten  nestorianischen 
Christen  ebenso  ungestörl  ihrem  Glauben  leben,  wie  später  an  den 
Höfen  der  Chalifen.    Was  die  eigene  Kirche  nicht  duldete,  hat  die 


\   ■■  in. um.   I'.ii'l.  Orient    Bd.  III,  Th.  I,    p.85;    vgl.  dazu  Wenricb  I.e. 
p.  8. 

Ebenda  Bd.  II.   102,  und  Bd.  III.  Th.  I.  376  und  3' 


l>;i»  erste  auftreten  d.  griecb.  Philosophie  anter  d.  Arabern.         355 

feindliche  unbedenklich  gewähren  lassen.  I >!>•  aus  Edessa  vertrie- 
beneu uestorianischeu  Gelehrten,  die  uach  Mesopotamien,  Arabien 
und  Persien  geflohen  waren,  konnten  an  den  persischen  Akademien 
zu  Nisibis  und  Gaudisapora8)  ihrer  Uebersetzerthätigkeit  ungehin- 
dert obliegen.  Zu  Ihnen  gesellten  sich  noch  die  gleichfalls  ihres 
Glaubens  wegen  von  ihren  eigenen  Religionsgenossen  verfolgten 
Jakobiten,  deren  Patriarch,  Athanasius  II..  noch  im  7.  Jahr- 
hundert unter  Anderem  Porphyrs  [sagoge  in's  Syrische  übersetzte. 
Tutor  den  persischen  Königen  erfreuten  sich  diese  Flüchtlinge 
grosser  Beliebtheit;  sie  wurden  zu  hohen  Staatsämtern  zugelassen 
und  zuweilen  zu  Gesandtschaften  verwendet.  Gau/,  besondere 
Schätzung  aber  besassen  sie  als  Aerzte.  Es  ist  uns  eine  statt- 
liche Liste  von  syrischen  Aerzten  aufbewahrt,  die  ihre  Kunsl  an 
den  Höfen  der  Grossen  mit  Auszeichnung  ausgeübt  haben.  Diesen 
syrischen  Aerzten  war  nun  durch  das  Zusammentreffen  weltge- 
Schicht  Hoher  Ereignisse  eine  Culturmission  ersten  Ranges  vor- 
behalten. 

Im  siebenten  Jahrhundert  brauste  nämlich  der  Sturmwind  mos- 
lemischer Begeisterung  mit  orkanartiger  Wildheit  über  den  Orient 
dahin  und  fegte  Alles  fort,  was  sich  ihm  widersetzte,  schonte  jedoch 
Alles,  was  sich  ihm  unterwarf.  Schon  wer  vorsichtig  genug  war. 
gleich  beim  Herannahen  des  Sturmwindes  eine  höfliche  Kniebeugung 
zu  machen,  blieb  unbehelligt.  Wenigstens  finden  wir  die  Nestorianer, 
die  sich  jetzt  chaldäische'  Christen  nennen,  schon  an  den  Höfen 
der  ersten  Chalifen  als  Aerzte  thätig,  ohne  dass  sie  ihres  Glaubens 
wegen    Bedrückungen  ausgesetzt  gewesen  wären. 

Theologisches  Schulgezänk  blieb  natürlich  bei  den  Moslemin 
so  wenig  aus  wie  bei  den  Christen.  Noch  ruhte  das  Schwert  nicht 
in  der  Scheide  und  schon  entstanden  im  Schosse  der  kaum  flügge 
gewordenen  Religion  Meinungsverschiedenheiten  über  die  starre 
Prädestinationslehre  des  Koran9).  Zu  Anfang  des  8.  Jahrhunderts 
(728)  wurde   denn   auch   schon   eine  Anzahl  moslemischer   Ketzer, 


")  Ueber  diese  Akademie  vgl.  Schulze,  disputatio  de  Gandisaporä,  in 
Comment.  societ.  sei. Mit.  Petropol.  vol.  XII,  Wenrich  p.  10. 

9)  Vgl.  meine  Willensfreiheil  bei  den  jüd.  Philosophen  des  Mittelalters, 
Berlin   1882,  S.  1. 


356  L  u  d  ■  11 . 

welche  die  Willensfreiheit  Lehrten,  gekreuzigt14).  Auf  einen  völlig 
anderen  Boden  wurden  indess  diese  Debatten  gestellt,  als  die  Ara- 
ber durch  die  Vermittlung  der  syrischen  Aerzte  die  philosophischen 
Schriften  der  Griechen  kennen  Lernten,  and  dies  geschah  bald  genug. 

Die  Abbasiden,  Nachkommen  Abbas1  [.,  des  Oheims  Bfuham- 
meds,  mussten  unter  der  Berrschafl  der  Omejjaden  in  Arabien, 
Mesopotamien  und  Pereien  ein  Asyl  vor  den  Nachstellungen  ihrer 
Feinde  Buchen,   and  da   diese  Geg  gerade  von  den  Nestoria- 

ii.  in  bevölkerl  wann,  macht«  -  sich  von  Belbst,  dass  die  zur 
Thatenlosigkeit  verurtheilten  Prätendenten  sich  den  auf  einer  hö- 
heren Culturstufe  befindlichen  Nestorianern  anschlössen11).  Und 
als  die  Abbasiden  749  zur  Berrechafl  gelangten,  da  war  nichts 
uatürlicher,  als  dass  sie  die  ehemaligen  aestorianischen  Freunde 
als  Aerzte  an  ihre  Böfe  zogen  and  in  jeder  Weise  auszeichneten. 

Gleich  der  zweite  Abbaside,  Abu  Gafar  L,  bekannt  unter  dorn 
Namen  Almansor  (der  Siegreiche  704—77.")),  nimmt  einen  mäch- 
tigen Anlauf,  die  hellenische  Cultur  auf  moslemischen  Boden  zu 
verpflanzen.  Er  hatte  seine  Jugendjahre  in  Persien  im  Verkehr 
mit  Nestorianern  verlebt  Nach  seinem  Regierungsantritt  zog  er 
die  berühmtesten  syrischen  Aerzte  an  seinen  IM  und  veranlasste 
dieselben,  die  von  ihnen  ins  Syrische  übersetzten  Werke  der  t iri.-- 
chen  in-  Arabische  zu  übertragen.  Nach  einem  Berichte  des  J Im 
Chaldün  sollen  die  Elemente  Euclid'a  das  erste  ins  Arabische 
übersetzte  Werk  gewesen  sein.  Dass  bei  dieser  Debersetzerthätig- 
keit  Astronomie  und  Philosophie  ebensosehr  betheiligt  waren,  wie 
die  Medizin,  darf  uns  nicht  Wunder  nehmen.  Der  Arzt  jener 
Tage  war  eben  nicht  einseitiger  Repräsentant  Beines  Faches,  son- 
dern Träger  des  Bildungsinhaltea  seines  Zeitalters.  Die  meisten 
Philosophen  der  arabisch-jüdischen  Epoche  waren  von  Beruf  Aerzte. 
Es  war  daher  ganz  begreiflich,  dass  die  .syrischen  Aerzte,  durch 
Mäcene  zu  üeberaetzungen  aufgemuntert,  ebensosehr  philosophische 
Schriften    wie    medizinische    bearbeiteten,      oh    diese    Qebersetzer 


I0)  Vgl.  Dngat,  Pbilosophea  et  the'ologiens  musulmans,  Paris  lsT'.'.  p,  i:;. 

")  8o    erklärt    mit    Behr  einleuchtenden  Gründen  Jourdain,  Rechercbes 

criliquea  sur  \'<  origine  des  traductiona  latinea  d'Ariatote,  Paria  1848, 
p.  81  den  \  org  u 


Das  1.  Auftreten  d.  griecb.  Philosophie   unter  d.   Arabern.         357 

nur  aus  dem  Syrischen  oder  auch  direel  aus  dem  Griechischen 
ins  Arabische  übertragen  haben,  lässl  sich  schwer  feststellen. 
Wollte  man  Abu'lfarag  glauben,  dann  hätte  Theo phil  aus  Edessa, 
der  am  Bofe  Almahdi's,  des  Nachfolgers  von  AJmansor,  gewirkl  hat. 
noch  genügend  griechisch  verstanden,  zwei  Bücher  'In-  Qias  in's 
Syrische  zu  übertragen").  Allein  mögen  auch  einzelne  dieser  Ueber- 
setzer  aoeh  leidlich  griechisch  verstanden  haben,  so  dürften  sie  doch 
in  ihrer  Überwiegendon  Mehrzahl  den  syrischen  Text  ihren  Ueber- 
setzungen  zu  Grunde  gelegt  haben. 

Die  mit  Almansor  einsetzende  bildungsfreundliche  Tradition 
wird  von  seinen  Nachfolgern  respeetirt.  Der  Chalif  Harun  -ar- 
Raschid  (der  „Gerechte"  796 — 809)  nimmt  dieselbe  in  grossem 
Stile  auf.  Es  entstehen  im  neuen  Musensitz  Bagdad  ganze  üeber- 
setzerschulen.  Ihren  Höhepunkt  erreicht  diese  Bewegung  unter 
Almamün  (813  —  833)13).  In  jenem  Jahrhundert,  das  man  als 
das  dunkelste  der  byzantinischen  Culturent wicklung  bezeichnet  hat, 
fasst  Almamün  den  grandiosen  Plan,  allerorts  wissenschaftliche 
Manuskripte  aufzuspüren,  ja  er  soll  an  den  Kaiser  von  Byzanz 
mit  der  Bitte  herangetreten  sein,  ihm  sämmtliche  philosophische 
"Werke,  die  aufzutreiben  seien,  zu  übersenden  l4).  Diese  Liebe  zur 
Wissenschaft  hatte  unter  den  Abbäsiden  nach  und  nach  so  tiefe 
Wurzeln  geschlagen,  dass  selbst  ein  so  zügelloser  und  blutdürstiger 
Geselle  wie  al  Muttawakkel  (847 — 861)  nicht  umhin  konnte. 
die  litterarischen  Traditionen  seines  Hauses  nicht  bloss  zu  behaup- 
ten, sondern  sogar  noch  zu  steigern.  Denn  unter  ihm  und  mit 
seiner  Unterstützung  wirkte  der  erfolgreichste  Uebersetzer,  llonaiu 
neu  Isaac,  der  iu  Alexandrien  die  griechische  Sprache  erlernt 
hatte,  daneben  aber  auch  die  syrische,  persische  und  arabische 
Sprache  gleich  gut  beherrschte15).  Ilonain  und  sein  Sohn  Isaac 
haben  eine  geradezu  staunenswerthe  Uebersetzerthätigkeit  entfaltet, 

,s)  Vgl.  Abulfarag,  bist,  dynast.  p.  -'28  arab.  Text,  p.  148  lat.  Uebers. 
Wenrich  1.  c.  p.  14:  über  die  Streitfrage,  welche  dieser  Bericht  hervorrief, 
vgl.  Wenrich  ib.  p.  7-i  f. 

,3)  Vgl.  Buhle,  de  studiis  litterarum  graecarum  inter  Arabes  Initiis  ei  ra- 
tionibus,  in  Comment.  societ.  Gott.  Vol.  XI.  p.  216f. 

u)    Abulfarag,  1.   C.   p.  246   arab.   Text.    p.   160   lat.    tJebers. 

1 ')  Ibid.  p.  117. 


Lud«  :i. 

and  zwar  Bowohl  aas  dem  Griechischen  in">  Syrische,  wie  aas  dem 
ii'fi  Arabische.      Das  M  ibern  aus  der 

» 

philosophischen  Litteratar  der  Griechen,  insbesondi  i  n  den 
Schriften  des  Aristoteles,  bekannl  geworden  ist,  rührt  bereits  von 
dieser  I  ersetzerfamilie  her.  Es  gab  j;i  später  elegantere  and 
hmackvollere  üebersetzer,  wie  Jahja  ben  Adi,  Kosta  ben 
Laka,  Thabel  ben  Korrah;  aber  EJonain  ben  [saac  gebührt 
doch  die  Palme.  Denn  einmal  gehörte  er  zu  den  Bahnbrechern 
dieser  Richtung,  andermal  hatte  er  den  Vorzug,  dass  er  vortreff- 
lich griechisch  verstand,  was  seinen  arabischen  Debersetzunj 
sehr  zu  Gute  kam.  Tritt  nun  noch  hinzu,  dass  er  auch  an  Umfang 
der  Leistungen  alle  Uebereetzer  überragte,  so  wird  man  nicht 
anstehen,  Honain  ben  [saac  trotz  der  an  sich  untergeordneten 
[Jebersetzerthätigkeit  mit  Rücksicht  auf  die  Continuitat  der  Geistes- 
entwicklung eine  centrale  Stellung  anzuweisen.  Er  hat  aeben  Al- 
Kendi  für  die  Araber  etwa  das  geleistet,  was  der  eine  Zeitgenoss  . 
Photios,  für  die  byzantinische,  and  der  andere,  Johannes  Sco- 
tus   Erigena,  für  die  christliche  Scholastik  vollbracht  haben. 

Wer  die  Continuitat  des  Geisteslebens  im  Mittelalter  bezwei- 
felt and  zwischen  der  Antike  auf  der  ''inen,  der  Renaissance  auf 
der  anderen  Seile  nur  «in  _  rtiges  Vacuum  zu  sehen  geneigt  ist, 
der  sollte  auf  folgendes  merkwürdige  Zusammentreffen  achten.  1  m 
die  Mitte  des  neunten  Jahrhunderts,  das  vielfach  als  eine  dunkle 
Epoche  der  Culturentwicklung  ausgegeben  wird,  leben  gleichzeitig 
auf  den  drei  Hauptlinien  der  Culturentwicklung  mehrere  Männer. 
die,  ohne  dass  der  Eine  von  der  wissenschaftlichen  Existenz  des 
Anderen  etwas  geahnt  hätte,  ungefähr  um  dieselbe  Zeil  den 
Anstoss  zu  neuen  Gedankenbildungen  geben.  Es  Ist  wohl 
ooch  nicht  auf  den  merkwürdigen  Umstand  hingewiesen  worden, 
dass  Photios,  Johannes  Scotus  Erigena,  Al-Kendi  und  Honain  ben 
[saac  Zeitgenossen  waren,  die  «gleicherweise  um  die  Mitte  des  neun- 
ten Jahrhunderts  ihre  Wirksamkeit  entfaltet  haben.  Photios  bestieg 
den  Patriarchenthron  im  Jahre  857,  Johannes  Scotus  war  im  Jahre 
:  schon  ein  berühmter  Mann16),  und  Honain  ben  Isaac  entfaltete 

Wort»    Staudenmaier's,  Johannes  Scotua  Erigena   u.   die  Wissenschaft 
Frankfui i  a.  If.   1834,  I.   156 t. 


Das  erste  Auftreten  d.  griecb.  Philosophie  untei  d.  Arabern. 

neben  dem  gleichzeitig  lebenden  Al-Eendi  seine  grandiose  l  eber- 
setzerthätigkeit  unter  der  Regierangszeil  al  Muttawakkel's  (847  bis 
861),T).  Es  steh!  demnach  Fest,  dass  Photios  in  Constantinopel, 
Johannes  Scotus  in  Paris,  Al-Kendi  und  Honain  in  Bagdad  fasl  um 
die  gleiche  Zeit,  vielleichl  gar  im  gleichen  Jahrzehnt,  aul  allen 
drei  Linien  der  Culturentwicklung  eine  neue  Epoche  begründen. 
Alle  diese  Reformatoren  sind  aber  von  der  griechischen 
Philosophie  ausgegangen,  und  /.war  ruhen  alle  diese  Män- 
ner, ganz  unabhängig  von  einander,  auf  der  gleichen  aristotelischen 
und  neuplatonischen  Basis.  Photios  geht  auf  Aristoteles  zurück. 
stützt  sich  aber  in  seinen  dialectischen  Arbeiten  hauptsächlich  auf 
Porphyrios,  Ammonios  und  Johannes  von  Damaskos18);  Johannes 
Scotus  gehl  gleichfalls  auf  Aristoteles  zurück 19),  daneben  aber  auch 
vorzugsweise  auf  Dionys  den  Areopagiten,  den  er  aus  dem  Griechi- 
schen in's  Lateinische  übersetzt,  und  Maximus  Confessor,  den  Com- 
mentator  des  Areopagiten.  Al-Eendi  ist  reiner  Aristoteliker.  Bonain 
endlich  übersetzt  Aristoteles  aus  dein  Griechischen  in's  Syrische20), 
daneben  aber  auch  Alexander  von  Aphrodisias8'),  Porphyrs  [sa- 
.  die  sehr  bald  ein  Lieblingsbuch  der  Araber  werden  sollte, 
sodann  in's  Arabische  Platon's  Politik  und  Gesetze23),  lerner  lo- 
gische, naturwissenschaftliche  und   ethische  Schriften  des  Aristote- 

.  daneben  aber  auch  Themistius85). 

Diese  Zusammenstellung  beweist  klärlich,  dass  um  die  Mitte 
des  neunten  Jahrhunderts  an  den  drei  Culturzentren  i\rs  Mittelalters 
—  Constantinopel,  Paris  und  Bagdad  —  die  aristotelische  und  neu- 
platonische Tradition  in  unmittelbarer  Anknüpfung  an  die 
griechischen  Texte  wieder  aufgenommen  und  nunmehr  in  leb- 
hafterem Tempo  weitergeführt  wurden  sind.  An  einem  anderen  Orte 
werde  ich  die  Continuität  der  griechischen  Philosophie  bis  in's  neunte 
Jahrhundert   verfolgen  und  aufzeigen,  dass  der  geistesgeschichtliche 


,7)  Abulferag,  I.e.  p.  263f.  arab.  Text.  p.  171t.  lat.  üebers. 

V*gl    Krumbacher  Gesch.  der  byzantinischen  Litteratur  S.  224. 

51  ludenmaier  a.  a.  0.  S.  288  u.  5. 

Wenrich,  a.  a.  0.  S.  69,  126,  129. 

I.     ada  p.  275.         ")  Ebenda  p.  2  Ebenda  p.  117.  [18 

-')  Ebenda  p.  131,  134,  1-  -5)  Ebenda  p.  287. 

biebte  d.  Philosophie.     VII.  25 


Lud*  n. 

Zusammenhang  bis  zu  diesem  Jahrhundert  keine  Unterbrechung 
ihren  hat.  und  so  darf  i «1 1  es  wol  als  Bestätigung  des  Haupt- 
•  iiki'ii-.  von  welchem  diese  Untersuchung  beherrscht  wird,  an- 
sehen, dass  in  diesem  vielfach  als  anfruchtbar  verrufenen  neunten 
Jahrhundert  sich  die  entscheidenden  Persönlichkeiten  auffinden 
liessen,  welche  —  gleicherweise  von  der  griechischen  Philosophie 
ausgehend  —  auf  «hm  drei  Cultnrlinien  des  Mittelalters  unabhängig 
von  einander  die  Continuität  <I«t  griechischen  Gedankenwelt  nicht 
bloss  aufrechthalten,  sondern  auch  zur  Fortbildung  and  Umbildung 
derselben  in  durchgreifender  Weise  den  Ansporn  geben. 

Je  trager  und  seichter  aber  der  nur  dürftig  gespeiste  byzan- 
dsche  Gedankenstrom  dahinfloss,  desto  frischer  und  lebendiger 
entfaltete  sich  der  arabische.  Aus  dem  theologischen  Schulgezänk, 
das  <li<'  starre  Prädestinationslehre  des  Koran,  wie  oben  bereits 
angedeutet,  hervorgerufen  hatte,  wurde  eine  regelrecht  ausgebildete 
Philosophie,  sobald  den  Arabern  duroh  die  l  ebersetzungen  der 
syrischen  Aerzte  der  Zutritt  zur  griechischen  Philosophie  eröffnet 
war.  Hatte  bisher  der  Widerstreit  der  von  Muhammed  dogmatisch 
behaupteten  Prädestination  mil  der  von  einzelnen  Gläubigen  gefor- 
derten Willensfreiheit  das  wesentlichste  Streitobjeot  des  sich  d 
matisch  befestigenden  and  ausbauenden  Muhammedanismus  al 
geben86),  so  erfuhr  der  [deenkreis  der  muhammedanischen  Theologen 
in  ilom  Augenblick  eine  gewaltige  Bereicherung,  als  ihnen  ein  Ein- 
blick in  die  reiche  griechische  Gedankenwelt  erschlossen  wurde.  Wie 
Früh  »lies  bereits  der  Fall  war.  dürfte  folgende  Combination  ergeben. 

Der  erste  Araber,  von  dem  man,  soweit  ich  es  übersehen  kann, 
mit  Sicherheit  nachzuweisen  vermag,  dass  er  die  griechischen  Phi- 
losophen bereits  gelesen  and  mit  Erfolg  benutzt  hat,  war  oeben 
AI  rlendi  der  Mu'ta/.ilii  Ibrahim  ben  Sajjär  an-Nazzam,  dessen 
Wirksamkeit  um  das  Jahr  *2l'<>  der  Hegira  bezeugt  ist").  Seine 
Blüthezeit  fallt  demnach  in  <las  Jahr835'8).    Von  an-Nazzäm  aber 

■'')  VgL  Steiner,  die  Mu'taziliten  odei  die  Freidenker  im  Islam,  Leipzig, 
1865,  8.  töff. 

Vgl.  Ainilin;ili;'iiiii  l,  |>.  656;  Steiner  a.a.O.  S.  56. 

Rechne!  man  zui   li  622    die  220  muhammedanische  Jahre  hinzu 

220    7),  dies  das  Jahi  885  dei  christlichen  Zeitrechnung. 


Das  erste  Auftreten  d.  griech.  Philosophie  unter  d.  Arabern.         :>i;i 

sagl  Schahrestani  ausdrücklich  „er  ha1  diese  Meinung  nur  vmi 
deD  alten  Philosophen  entlehnt  "'-'")•  Wenn  daher  der  am  835 
lehrende  an-Nazzäm  bereits  griechische  Einflüsse  in  erheblichem 
Umfange  an  sich  erfahren  hat,  bo  müssen  ihm  schon  die  ersten 
Uebersetzungen  zu  Gesicht  gekommen  sein.  Seinen  Lehrsätzen,  die 
freilich  nur  in  kümmerlicher  Gestall  auf  uns  gekommen  sind,  merkl 
man  indess  selbsl  in  dieser  ihrer  dürftigen  Form  schon  die  läuternde 
Wirkung  griechischen  Denken-  an,  was  bei  Abu-1-Hudail,  einem  älte- 
ren Mutaziliten,  noch  nicht  der  Fall  ist.  Er  verwirft  alle  anthropo- 
morphischen  und  anthropopathischen  Definitionen  der  Gottheit,  die 
seitens  der  orthodoxen  Anhänger  des  Ealam  aufgestellt  worden  .sind, 
und  beschränkt  die  Allmacht  Gottes  dahin,  dass  Got1  das  Böse,  auch 
wenn  er  es  wollte,  nicht  vollbringen  könnte,  weil  eine  so  weit- 
gehende Allmacht,  die  auch  die  Möglichkeit  des  Bösen  einschlös 
dem  weit  höheren  Begriff  der  Allgerechtigkeit,  den  er  als  Mnta- 
zilit  natürlich  in  den  Vordergrund  stellt,  widersprechen  und  ihn  eben 
damit  aufheben  würde.  Er  beschränkt  also  den  göttlichen  Willen 
zu  Gunsten  der  göttlichen  Gerechtigkeit,  aus  welcher  er  alsdann  Ge- 
setz und  Ordnung  im  Lauf  der  "Welt  ableitet30)  —  ein  Gedanken- 
gang, der  später  bei  Voltaire  fast  in  derselben  Fassung  wiederkehrt. 31) 
hie  weitere  Entwicklung  der  griechischen  Philosophie  unter 
den  Arabern  bleibt  einer  späteren  Untersuchung  vorbehalten,  liier 
kam  es  nur  darauf  an.  den  ersten  philosophirenden  Araber  auszu- 
mitteln,  der  vielleicht  noch  früher  als  der  um  870  gestorbene  Ari- 
stoteliker  Al-Kendi  die  Einwirkung  der  griechischen  Philosophie 
nachweislich  an  sich  erfahren  hat. 


Schahr  ed.  Coreton,  1842,  I.  r*v  letzte  Zeile: 

Vgl.  auch  die  deutsche  Oebersetzung  bei  Eaarbrncker,  [,54.     Deber  die  Lehren 
an-Nazzäm  findet  Bicb  noch  Einiges  bei  Mawäkif  ed.  Sörensen;  vgl.  Steiner 

a.a.o.  S.  56.     Vgl.  auch  G.  Flügel,  Dissertatio  de  arabicis  scriptorum  Grae- 

'•"iui]]  interpretibu8,  Misenae,  1841. 
Vgl.  Meiner  a.  a.  0.  S.  .'.7. 
3I)  Vgl.   I».  Fr.  Strauss,  Voltaire,  S.  236. 


25 


XVI. 

Bibliographische  Bemerkungen. 

.1.  I*.   V   I  ;mi«I   in   Loyden. 

I.    Louis  de  la  Forge  über  den  menschlichen  Geist 

I  eber  dem  Andenken  «In-  Hauptschrift  des  Cartesianers  de  la 
Forge  \\ : 1 1 1 . •  i  ein  eigenes  Missgeschick.  Seil  188?  besitzen  wir  über 
dessen  Lehre  eine  Monographie  von  Dr.  Heinrich  Seyfarth1),  die 
gerade  genügt  am  das  Dürftige  und  sich  Widersprechende  in  den 
andläufigen  Nachrichten  rechl  Fühlbar  zu  machen.  Das  ganze 
Thema  Dach  Gebühr  zu  behandeln,  dazu  wäre  allerdings  nur  ein  in 
Französischen  Sammlungen   Bewanderter  in  «In-  Lage. 

Der  holländische  Staatsmann,  Gelehrte,  Dichter  and  Musikei 
Constantin  Huygens  schreibl  am  21.  Januar  L666  an  Monsieur  de 
Montmor  in  Paris,  und  erkundigt  sich  im  Auftrag  seines  Sohnes 
Christian  (des  berühmten  Physikers)  nach  einem  eben  erschienenen 
Buch  de  L'Esprit  de  l'Homme.  Damit  kann  nicht,  wie  Jemand 
vermuthete,  Descartes'  l'Homme  gemeint  sein,  von  dem  die  erste 
gute  Ausgabe  durch  Clerselier  schon  1664  besorgt  wurde,  und  in 
dem  la>i  nur  vom  Körper  die  Rede  ist;  sondern  nur  der  „Traitte* 
von  de  la  Forge. 

Wer  diesen  nicht  selbst  zur  Hand  bat,  wendet  sich  um  das 
Buch  genau  zu  bestimmen,  zu  den  bekanntesten  Handbüchern. 


')  L.  d.  I.  F.   I    jeine    Stellung    im  Occasionalismus,    ein   Beiti 

b    d.  Pbilos.     '  lotha,  Emil  Behrend, 


Bibliographische  Notizen.  363 

Francisqüe  BouiLLiEE(Hist.  de  la  revolution  cartesienne,  1842 
l>.  189,  und  Hist.  de   la   philos.  cart,   1854,  I.  p.  500)  und 
I'm.  Damiron  (Essai  sur  l'hist.  de  la   philos.  en  France, 
au  XVII1   siecle,   L846,  p.  24)  geben  den  Titel  in  zwei,  resp. 
drei  verschiedenen  Formen: 
B.   1842:   Traite    de   l'äme    humaine,   de  ses    facultes,    de    ses 
fonctions  (1854:  de  ses  fac.  et  fonctions)  el  de  son  union 
aveo  le  corps  d'apres  les  principes   de   Descartes. 
Daraus  Kuno  Fischer,  Gesch.  d.  n.  Phil.  I.  2,  S.  "J<>. 
I».   1846:  Traite  de. l'esprit  de  l'homme,  de  ses  facultes,  de  ses 
fonctions,  de  son  union  avec  le  corps,  suivanl   les  prin- 
cipes   de    Kene   Descartes. 
Noace    (Philosophie-geschichtliches     Lexicon,    Leipz.     1879, 
S.  527)  schreibt   de   l'esprit    de   l'homme,   folg!   aber 
im  Uebrigen  der  ersten  Fassung  von  Bouillier. 
Nach   B.    erschien    das   Werk    1866    in    Paris    in  Quart,    und 
wurde   im  nämlichen  Jahr    von  Flayder   ins    Lateinische    übersetzt. 
D..  welcher   die  Seiten   der  französischen  Originalausgabe  anführt, 
sie  also  in  Händen  hatte,  setzt  sie  in  1661,  und  die  üebersetzung 
des  Flayderus  in  1666.     Fischer  gibt  mit   B.  1854  an.    ohne    die 
Üebersetzung    zu    erwähnen.      Noack    mit  Damiron    ändert  jedoch 
dessen   1661   in   1664,  und  1666  in   1(569. 

Nachdem  man  das  alles  erfahren,  sollte  man  meinen,  des 
Namens  Flayder  sicher  zu  sein,  während  der  Titel  und  die  Jahres- 
zahlen noch  ermittelt  werden  müssen.  Jetzt  kommt  aber  der  alte 
Jöchee  (All-.  Gelehrten-Lexicon  IL  Leipz.  1750,  S.  675)  noch 
mit  der  Angabe:  „Traite  de  l'esprit  del'Homme,  so  J.  Flender 
lateinisch  übersetzt".     Also  Flayder  oder  Flender? 

Befragen  wir  die  grossen  biographischen  Wörterbücher,  so 
mehrt  sich,  wenn  noch  möglich,  die  Verwirrung.  Im  Dictionnaire 
nniversel  von  1810  (D.  im.,  historique  et  critique,  d'apres 
la  huitieme  ed.  publiee  par  MM.  Chaudon  ei  Delandine. 
I.\  ed.  revue,  corrigee  e1  augmentee  etc.),  t.  VII,  p.  84b, 
wird  das  Buch  nur  als  lateinischer  Quartband,  Parisiis  L666, 
Amstelodami  1669  und  Bremae  1674  mit  Commentaren  und  Re- 
gistern   erwähnt.     Die    Biographie    universelle    bei    Michaud 


.1.   P.   N.   1. 

(1816  .  i.W.  p.  266a,  welche  Hr.  Seyfartta  S.  7  benutete,  weiss 
von  einem  französischen  Original,  lässt  aber  die  Uebersetzung  von 
.1.  Flayder  in  Paris  1666  zuerst,  und  später  mehrere  Male  in 
Deutschland  drucken.  Nach  diesen  beiden  bedeutenden  Nach- 
schlagewerken war  der  \  ir  Arzt  in  Saumur,  aach  dem 
letzteren  aber  in  Paris  geboren.    Nichl  also  nach  der  Biographie 

Dr.  Hoefei     i.XWIII.  Paris  1859),  wo  aus  der  France  pro- 

tante  der  Gebrüder  Haag  wiederholt  wird,  Louis  de  Laforg 

ein  protestantischer  Theologe  und  aus  Saumur  gebürtig  gewesen 

v..il  etail  de  Saumur").     Seine  Schrift  heisse  Traitc  de  l'Esprit 

de  l'Homme,  il«  ses  I  acultes  ei  de  son  Union  avec  le  Corps 

(Paris  1666,  Genf  1725,  jedesmal  in  Quart). 

So  wüssten  wir  also  nicht  einmal,  welchen  Glaubens  und 
Standes  unser  Autor  gewesen;  nur  scheinen  die  Herren  Haag,  als 
Specialforscher  auf  ihrem  Gebiel  rühmlich  bekannt,  zunächst  unser 
Vertrauen    zu  verdienen.     Freilich  Bouillier  1^~>1  seinerseits, 

daas  er  Ar/t  gewesen,  und,  obgleich  Katholik,  sämmtliche  protestan- 
tischen Cartesianer,  wie  Goussel  und  Chouet,  die  der  I  nivereität 
wegen  nach  Saumur  kamen,  freundlich  empfangen  und  in  .-einen 
Schutz  genommen  habe.  Das  kann  doch  schwerlich  bloss  Ver- 
muthung  -ein  ,  ht  da:  „OD  le  voil  proteger  ei  accueillir  ei 

und  80  etwas  „sieht  man"  doch  oicht  in  der  Einbildung  sondern 
in  irgendwelchen    Berichten. 

Aus  einem  -flehen  Wirrwarr  kommt  man  nicht  heraus  ohne 
aiil  die  er>ten  (Quellen  zurückzugehen.  Mir  standen  anfangs  nur 
ein  französischer  Nachdruck  und  eine  lateinische  Bremer  Ansehe 
zu  Gebote;  dazu  gesellten  sich  ersl  später  die  erste  von  Paris  und 
zwei  lateinische  von  Amsterdam.  Ich  wandte  mich  also  au  Herrn 
Lucien  Herr.  Bibliothekar  der  Ecole  Normale  Superieure,  dessen 
Liebenswürdiges  und  sachverständiges  Entgegenkommen  mir  au-  den 
Bücherschätzen  in  Paris  die  zuverlässigsten  Angaben  zur  Verfügung 
-teilte.  Mit  diesem  Material  gelingt  es,  in  dieser  gar  zu  nach- 
lässig behandelten  Reihe  von  Fragen  die  wesentlichen  Punkte 
zustellen. 

Eine  französische  Ausgabe  \"i    1666  "der  eine  lateinische  vor 
L669    lässl    -ich    in  den  Hauptbibliotheken   Europas  nirgends  auf- 


Bibliographische  Bemerkung  365 

weisen.     In   keinem   bekannten   Exemplar   wird   ein    Flayderus 
naimt:  dagegen  ein  Johannes  Flenderus  besorgte  eine  neue  Anil 
der  schon  in  Bande!  befindlichen  (Jebersetzung. 

Weiter  enthalten  die  Exemplare,  welche  ich  aus  eigener  An- 
schauung oiler  den  Berichten  meines  pariser  Mitarbeiters  habe 
kennen  lernen,  das  Folgende: 

1.    Französisch:    Paris  L666.   Quart. 
(Ex.  bei  mir,  in  Paris  und  Berlin.) 
Titel:  Traitte  |  de    l'Espril  |  de   l'Homme,  I  de  |  see  facultez 
ei  fonetions  |  et  de  son  union    avec    le  corps.  |  Sui- 
uant  les  Principes  de  Rene  Descartes.  |  Par  Louis  de 
la   Forge,   DocteuF  en  |  Medecine  demeuranl   ä  Sau- 
mur.  |  [Emlilem.|  |  A  Paris  |  chez    Theodore   Girard, 
dans    la    Grand'    Sülle  |  du  Palais,    du    coste    de    la 
('mir  des  Aydes,  ä  1"  En\ie.  |  —  |  M.DC.LXVI.  |  Avec 
Privilege  du  Roy. 
Rückseite  des  Titelblatts:    Noös  6p9]  voüc  dxooet  ta  8'  aXXa 

Ku)cpa  xal  xucpXot. 
Epicharme  chez  Clement 
Alexandrin. 
3  Plaitei-.-    A   Monsieur  de  Montmor  Conseiller  du   Roy   en 
tous  ses  conseils  (u.  s.  \v.).    Ueber  den  Seiten:  Epistre. 
Zuletzt:  Pre-  als  Hinweisung  auf  das  Folgende.    Signatur  ä. 
15  Seiten:     Preface  |  Dans    laquelle    l'Auteur    fait    voir    la 
conformite  de  la  doctrine  de  Saint  Augustin  avec 
les       sentiments  de  Monsieur  Descartes,   |  touchant 
la    nature    de        l'Ame.     Dann    21/3  Seite   Table    des 
Chapitres.     (Bei   mir  fehlen  diese  Blätter,  aber  die  Hin- 
weisung Pre-    ist    vorhanden.)     Signatur:    e,  I,  ö.  5,  ää, 
T.  1 — 4">:J):    Traitte  de   l'Esprit  de  l'Homme.     Auf  derselben 
Seite  folgt:  Si  l'absence  de  l'Autheur  est  cause  qu'  il 
s'esl  ^  1  i  —  -  ■  beaueoup  de  fautes,  1' ex  amen  exacl  qu'on 
en  a  fait  les  a  icy  suffisammenl  reparees.    Corrigez- 
les  dune  s"il  vous  piaist,  avanl  que  d'entreprendre 
la    Lecture    de    l'Ouurage.     41  Zeilen    Druckfeh  lerver- 
zeichniss.     Signatur  A     Z.  Aa— Zz,  AAa— LL1. 


i.  P.  N.  Land, 

Rückseite  \"n  453  und  folgende  S  Privilege  du   Roj    vom 

tober   l  dann:    Acheve  d'imprimer    pour   I  :i 

premiere    fois    le    5   N  ivembre    1665.      Weiter:    1.' •■- 

ii r  le   Livre  de  la  Communaute  dea  [mpri- 

urs  ei  Libraires  de  cel  te  Ville  'u.  s.  w.)  31.  0 

1665.     Endlich    \\ir<l    vermerkt,   da&a    der  Verfasser   Bein 

Privilegium   dem   Buchhändler  Th.   Girard,    und  Dieser  die 

Hälfte  davou  seinen  Fachgenossen   Michel  Bobin  und  Nicolas 

le  Gras  überlassen  habe. 

Wirklich  ßnden  sich  Exemplare  mit  der  Adr.--.':     .\   Paris, 

chez    Michel    Bobin    ei    Nicolas    !>•   Gras,    3    Pilier   de    la 

G    Salle  du  Palais  ä   l'Esperance  ei   a  1-  couronnee.     Ein 

solches  besitzl  die  Nationalbibliothek.    Hier  fehlt,  wie  in  dem  mei- 

oigen,    ein    wichtiges    Blatt,    welches  d         a    in    der    Bibliothek 

des  [nstituts  dem  Buch  vorgeheftel  ist:  ein   Bildniss  des  Verfassers 

mit  sechs  Verszeilen  (s.  dieselben  bei  Seyfarth  S.  8,  aus  der  Kön. 

Bibl.  in   Berlin). 

Offenbar  isl  dies  also  die  erste  Ausgabe,  und  deren  Titel  nichl 
ganz  so  wie  irgend  einer  der  Neueren,  die  wir  kennen  lernten,  ihn 
abdrucken  liess.  De  la  Forge  war  Arzt  und  in  Saumur  bloss  wohn- 
haft. Auch  war  er  Katholik,  denn  der  Traitte  achliessl  wie  folgt: 
.. i I  esl  aussi  louable  ä  im  Chrestien  de  se  soumettre  (comme 
ie  l .  1  - ;  1  >  toute  ma  vie)  ä  l'autorite  de  l'Eglise,  qui  es1 
infaillible.  Der  von  Hrn.  Seyfarth  (S.  6 — TN.)  herbeigezogene 
Jacques  Gousset')  weiss  dass  der  Tractal  schon  Ende  L665  Lr>'- 
druckl  war,  und  damil  stimml  Huygens1  Nachfrage  im  Januar  1666, 
ade  bei  Hrn.  de  Montmor,  dem  er  gewidmel  war.  Ferner  die 
Thatsache,  dass  der  Verfasser  in  seinen  Noten  zu  Descartes'  I '  Homme 
(Ausg.  von  Clerselier  1664)  seinen  eigenen  Tractal  über  den  mensch- 
lichen Geisl  als  schon  geschrieben  aber  noch  ungedruckl  citirl 
Wir  wissen  aus  Clerselier' s  Vorrede,  da—  er  die  Bekanntschafl  des 


'-')  Dieser  lebte   1635     1704,  und  war  seil   Iti'.U   Prof.  in  Groningen.     Das 
von  Seyfarth  benutzte  Werk  erschien  in  Leeuwarden   1 7 1  < ". . 

In  den  lateinischen   ausgaben  Amsterdam   l « '•  7 7  und  1686  S.  2,  59,  91, 
95,   105,  lll,  L28,  137. 


Bibliographische  Bemerkung  36*3 

Letzteren  ersl  dann  gemachl  hatte,  als  er  ihm  nach  dem  pyrenäi- 
schen  Frieden  und  dem  Einzug  der  neuen  Königin  Maria  Theresia 
im  Sommer  (1660)  seine  Mitwirkung  anbot.  Er  erhiell  alsbald 
eine  eenaue  Abschrifl  des  Textes,  uuA  lieferte  dann  innerhalb 
Jahresfrisl  seine  Noten  and  Figuren  dazu;  auch  einen  ziemlich 
ausführlichen  Tractal  über  den  menschlichen  Geist,  den  Clerselier 
anfänglich  als  Fortsetzung  des  physiologischen  von  Descartes  drucken 
lassen  wollte.  Also  etwa  li*)i')l  war  diese  Arbeit  fertig  gestellt, 
und  Gousset,  in  jenen  Jahren  vor  1662  Studirender  in  Saumur, 
kann  Rechl  haben  wenn  er  behauptet,  das  System  sei  schon  L658 
völlig  durchdacht  gewesen.  Das  wäre  also  die  Erklärung  der  Jah- 
reszahl 1661  bei  Damiron,  wenn  wir  nicht,  wie  sieh  unten  zeigen 
wird,  eine  weil  einfachere  in   Bereitschaft   hätten. 

•J.    Französisch:    Amsterdam  o.  J.  Duodez. 

(Bei  mir  und  in  Paris.) 

Titel:  Traitte  |  de  l'Esprit  |  de  l'IIomme,  |  De  ses  Facültez 
et  Fonctions,  |  et  de  son  uniou  avec  le  Corps.  J  Sui- 
vant  Ies  Principes  de  |  Rene  Descartes,  |  Par  |  Louis 
de  la  Forge,  |  Docteur  en  Medecine  demeuranl  ä  San 
mur.  [Emblem  |  |  A  Amsterdam,  Che/.  Abraham 
Wölfgang. 

Rückseite  des  Titelblatts:  Griechisches  Citat  wie  oben. 

1  Blätter:  A  Monsieur  de  Montmor  u.  s.  w.  (Epistrc)  wie 
oben. 

"in  Blätter:    Preface  wie  oben. 

Ein  Blatt:    Table  des  Chapitres. 

S.   1 — 462:    Traitte  de  l'Esprit  de  l'IIomme. 

Eine  ?  :  Fautes,  qui  so  sont  glissees  dans  l'impression, 
que  l'Auteur  desire,  qu'on  corrige,  avant  que 
d'entreprendre  la  lecture  de  cet  Ouvrage.  Sämmt- 
liche  Verbesserungen  (nur  bis  S.  77  gehend)  sind  schon  am 
Ende  der  pariser  Ausgabe  vermerkt. 

Diese  Auflage  isl  einlach  Nachdruck  der  vorigeu.  Das  Druck- 
fehlerverzeichniss  war  bis  zu  jenem  Punkl  vom  Corrector  unbe- 
achtel  geblieben,  wurde  dann  aber  gehörig  befolgt,  und  die  im  An- 


i.  P    Y  Land, 

fang  sehenen  Fehler  am  Schiusa  des  Bändchens  aufgeführt.    I  >!»• 

fehlende  Jahreszahl  aufzufinden  geling!  nicht  etwa  durch  Verglei- 
chung  der  folgenden  Ausgabe,  l»-i  welcher  <li>-  Wolfgang'sche  nicht 
benutzt  wurde. 

:i.    Lateinisch:   Amsterdam  1669.    Quart. 

Bei  Hrn.  Prof.  Spruyl  in  Amsterdam.) 

Titel:    Tractatus  |  de     Mente  Humana,  |  Ejus  Facultatibus 
et  Functionibus,     Nee  dod     de  ejusdem  unione  cum 
rpore;     S<  ;undum    Principia    Elenati    Descartes, 
A  utor       Ludovico    de    la   1  M  adici  nae    ;i  pud 

lmurien8es    Doctore      [Emblem]  istelodami, 

Apud  Danielem   Elzevirium,       I     I   ■■  I.M.V 
Das  griechische  Cital  und  dir  Epistre  fehlen. 
16  Blätter:    Praefatio,    in    qua    Autor    ostendit    con- 

I  SU  111    (u.    s.    w.) 

1    Blatt:    Index  Capitum. 

S.   I     22 1    Tractatus  de  Mente  II  umana. 

Keine  Errata. 

Die  öebersetzung  ist  das  Werk  eines  Ungenannten,  vielleicht 
eines  der  nach  Holland  schon  damals  vielfach  ausgewanderten 
Hugenotten.  Von  dem  Verfasser  selber  könnte  -i>'  schwerlich  gleich 
Anfangs  bezweckt  worden  sein,  sonst  hätte  er  sich  zugleich 
für  sie  das  königliche  Privilegium  gesichert,  wovon  jedoch  in  der 
Urkunde  keine  Rede  ist.  Ausgeschlossen  ist  also  der  angebliche 
pariser  Druck  von  L666;  und  der  Elzevir'sche,  zum  Bedarf  gelehr- 
ter Ausländer  veranstaltete,  i-i  der  erste  lateinische.  Vorlage  hier- 
bei war  nicht  etwa  der  Nachdruck  (dessen  Zeitbestimmung  dadurch 
erleichtert  würde),  sondern  der  pariser  Quartant.  Denn  es  werden 
allerdings  die  hinter  beiden  bemerkten  Versehen  U'riirk.»i<ditiLrt. 
aber  weiterhin  bisweilen  'Irr  unverbesserte  Text  übertragen,  wo 
der  Nachdrucker  ihn  Bchon  nach  der  Weisung  seines  Vorgang 
stillschweigend  verbessert  hat.  So  Paris.  S.  93 :  20,  \\"  der  Nach- 
druck '-'l  statt  palais  schon  palais  enchante  hat  und  der 
Uebersetzei  18  einfach  palatium  schreibt,  ohne  etwa  magicum 
hinzuzusetzen.     Ebenso    Paria  276:20;    der  Verfasser    wollte    hin- 


Bibliographische  Bemerkung  369 

beigefügl  baben:  et  a  laquelle  la  Nature  l'a  jointe;  der  Nach- 
drucker 281)nimm1  die  Worte  auf.  nichl  aber  der  Lateiner  (137). 
Hingegen  /..  B.  Par.  101:28  und  197:18  ist  die  Correctur  von 
Beiden  benutzl  worden. 

4-.     Lateinisch:    Bremen  l^l'.\.   Quart. 
(Universitätsbibl.  in  Leyden.) 

Titel:  Ludovici  de  la  Forge,  Medicinae  apud  Salmuri- 
ensis  Doctoris,  Tractatus  |  de  |  Mente  Humana,  | 
.■jus  Facultatibns  ei  Functionibus,  |  ncc  non  |  de 
ejusdem  unione  cum  corpore,  |  secundum  Principia 
Renati  Descartes,  |  emen,datus  et  auctus  praeter 
Qumeratam  paragraphorum  distinctionem  Sum-  | 
mariis  marginalibus,  atque  rerum  primariarumque 
quaestionum  j  Philosophicarum  [ndicibus,  |  per  |  J. 
F.  |  Emblem]  Bremae,  |  Literis  Arnoldi  et  Johan- 
nis  Wesselii  Reipubl.  Typogr.  |  Prostaut  apud  Jo- 
hannem  Wesselium.  |  —  |  cIo  Ioc  LXXIII. 

Auf  der  Rückseite  des  Titelblatts:  Anrede  an  den  Stadtsyndicus 
u.  s.  w.  Johannes  Wachmann  und  seine  beiden  Söhne, 
welchen  als  seinen  hochverehrten  Patronen  der  Tractat  ge- 
widmet wird  von  der  Hand  ihres  ergebensten  Johann  is 
Fl  enderi,  Sigeno-N  assavi. 

Hin  Blatt  Widmung  (ohne  Nachricht  über  das  Buch),  unterzeich- 
net Bremen  28.  Oct.  1673. 

»i  Blätter  Praefatio. 

S.  1—  224  Tractatus  de  Mente  Humana. 

Eine  Seite  Index  ('anitum,  l1/,  S.  Index  Rerum,  2  S.  Index 
Quaesl  ionum. 

Der  üeberblick  über  den  Inhalt  dc^  Tractats  wurde  dadurch 
etwas  erschwert,  dasa  die  Absätze  innerhalb  dvi  theilweise  recht 
langen  Capitel  nicht  numerirt,  und  orientirende  Ueberschriften  und 
Randbemerkungen  nicht  beigegeben  waren.  Diesen  Uebelstand  be- 
seitigt, sowie  Such-  und  Fragenregister  beigefügt  zu  haben,  ist  das 
einzig  Verdienst  des  Bearbeiters,  welcher  übrigens  den  lat.  Text 
von   1669  (bis  S.  57  sogar   Zeile    für  Zeile;    wörtlich    wiederholt. 


i.  P.  N.  Land, 

rneuter  Vergleichung  mit   dem   Urtext    Lsl  keine  Spur.      Jo 
hannes  Elender  war  L653  in  Siegen  geboren,  nnd  also  zn  jung  am 
selber  der  Ueber«  in.     1685  wurde  er  Rector  und 

liothekar  in  Zutphen,  im  folgenden  Jahr  von  den   Standen  der 
gleichnamigen  Grafschaft   zum  Titularpr  der   Philosophie  er- 

nannt, in  welch*  Qschafl  Bein  Sohn  Joh.  Sebastian,  Conrector 

der   Lateinschule,    seit    Anfang  Juni   1 7  _'  I   Bein    Nachfolger   wurde. 
In   1696  und   1709  war  er  auch   bei  den  Ausgaben 
Kthik  betheiligt,  ohne  dafür  etwas  besonderes  zu  leisten. 

•").     Lateinisch:    Amsterdam   L688.     Quart. 

Bibliothek  der  Mennonitengemeinde  in  Amsterdam.) 

Titel,   mit   geringen  Abweichungen   in  der  Zeilen vertheilung,    dem 
der  vorigen  Aus  gleich.     Nur  das  Emblem  ist   hier  an- 

ders, sowie  die  Adresse :  Amstelodami,  \  K\  Typographia 
Blaviana,   M  DC  IAWVIII.  |  Sumptibus  Societatis. 

Der  Inhalt  ist  Nachdruck  der  Bremer  Ausgabe.  Blaeu  ent- 
lehnte die  Zusätze  dem  Brem<  r  Verleger,  wie  Dieser  den  T 
dem  Elzevir  entnommen  hatte.  Sonst  fand  ich  noch  Ausgaben 
Bremen  1674  und  1  T<  >  1  und  Amsterdam  1708  erwähnt,  auch  eine 
französische,  Genf  1725.  Diesen  weiter  nachzuspüren  hat  für  uns 
kein  \\  -   Enteress  müssen  Nachdrucke  nach  No.  1.  _  oder 

I  gewesen  sein. 

-  mit  wäre  die  Sache  ins  Reine  gebracht.  Nur  fragt  sich  noch, 
woher  denn  jene  falschen  Angaben  kommen.  Dm  Jahreszahl  1664 
kann  von  Noack  oder  einem  Vorgänger  aus  Clerseliers  erwähnter 
Vorrede    oder    de  la    I  Noten    erschlossen    Bein,    wo    unser 

Tractat  als  soforl  zu  erwartender  erscheint.  1661  stelll  sich  jetzt 
heraus  als  Versehen  eines  Schreibers  bei  der  Nationalbibliothek,  der 
das  dortig     Exemplar   in   d  m    Publicum   in   der   Regel   unzu- 

gängliche) Inventar  eintrug,  und  dabei  etwa  das  V  in  der  Eile 
übersah.  Jenes  Inventar  wurde  dann  wieder  als  bequemes  rlülfs- 
mittel  zur  Anfertigung  bibliographischer  Notizen  beliebt  und  un- 
vorsichtigen   verderblich.      Wie    sorglos    man    dabei    verrühr,    ist 

sc) daraus  ersichtlich,   tlass  nirgendwo   der  Wortlaut    des  Titels 

richtig  mitgetheilt  wird.    Herr  Seyfarth,  der  die  erste  Ausgabe  vor 


Bibliographische  Bemerkungen. 

Bich  hatte,  schreibl  ihn  nicht  einmal  aus,  und  behilf!  sich,  um  die 
Jahreszahl  berauszu bekommen,  mit  dein  Zeugniss  von  Gousset.  In 
(In-  Folge  fit i 1 1  er  ohne  Weiteres  eine  nicht  näher  bestimmte  latei- 
oische  Ausgabe;  nur  aus  der  Anführung  von  Paragraphen  ersiehl 
man.  dass  es  eine  mit  den  Plenderschen  Zusätzen  war.  Das  sind 
schon  kaum  verzeihliche  Unterlassungssünden;  was  aber  soll  man 
von  selchen  sauen,  die  als  berufene  Fachleute,  statt  sich  die  Quellen 
in  ihrer  Nähe  gehörig  anzusehen,  aus  zweiter  und  dritter  Hand 
Falsches  entlehnen  und  überliefern  helfen?  Das  schlimmste  Beispiel 
i>t  der  Name  Flayder.  Die  Nationalbibliothek  besitzl  den  Tractal 
eines  gewissen  Flayderus  de  arte  volandi,  während  ihr  Flender 
und  überhaupt  die  lateinischen  Drucke  unseres  de  la  Forge  zu  Fehlen 
scheinen.  [rgend  ein  Compilator  vor  1816  wird  die  Jöchersche 
Notiz  früher  einmal  gelesen  und  sie  dann  nach  seinen  verblichenen 
Erinnerungen  aus  dem   Inventar  verschlimmbesserl   haben. 

Hellen  wir.  dass  einer  der  tüchtigen  Forscher,  deren  sich  das 
heutige  Frankreich  rühmen  darf,  die  Figur  des  misshandelten  alten 
Schriftstellers  einmal  vollends  zu  ihrem  Rechte  verhelfe.  Mir  war 
-  diesmal  hauptsächlich  darum  zu  thun.  bemerklich  zu  machen, 
da—  sein  Occasionalisnus  erst  Ende  Dil')."),  zunächst  in  Paris,  öffent- 
lich bekannt  wurde,  während  der  Geulincx'sche  sogenannte  schon 
in  einei-  Abhandlung  erscheint,  deren  Widmung  am  27.  Juli  des- 
selben Jahres  in  Leyden  unterzeichnet  worden  war,  und  sieh  von 
gemeinschaftlichen  Bekannten  oder  sonstigem  Zusammenhang  keine 
Spur  findet. 

II.    Hobbes'  Leviathan. 

Di'-  Universitäl  Leyden  besitzl  in  zwei  ganz  alten  Pergament- 
bänden die  bekannte  Ausgabe  von  Hobbes'  sämmtlichen  lateinischen 
Werken  hei  Joannes  Blacu  in  Amsterdam  1668.  Nach  den  Signa- 
turen  zu  urtheilen,  ist  dir  Folge  der  Schriften  vom  Buchbinder 
richtig  beobachtet  werden:  nur  sollten  die  Blätter  G— K  (Quadra- 
tuni circuli)  nicht  erst  hinter  a-f,  sondern  gleich  nach  dem  ersten 
Alphabel  A— F  stehen,  wenn  nicht  wegen  der  Verwandtschaft  der 
jenstände  ein  Versehen  in  der  Signatur  (G—K  statt  g—k)  wahr- 
scheinlich   wäre.      Zuletzl    aber    kommt    der    Leviathan   mit  einem 


372  ■'    !'    N-  Land, 

ganz    vollständigen   Titelblatt   und  «rieder  von   vorne    anfangender 
iatur: 

Leviathan,  I  sive  |  de  Materia  Forma,  ef  Potestate  '  Civitatis 
Gcclesiast  et  Civil  I  lioma   Hobbes,  '  Mal- 

mesburiensi  iblem]      Amstelodami,  |   Apud   Joannem 

Blaeu     M.  DC.  IA\. 

Demnach  wäre  der  lateinische  Leviathan  erst  zwei  Jahre  nach 
dem  I  tliNL.r''ii  herausj  en  worden,  was  nicht  ohne  \N  ichtigkeit 
Bich  fragt,  ob  Spinoza,  dessen  Tractatus  theologico-poli- 
ticus  unstreitig  im  nämlichen  Jahre  1»»7<>  zuerst  erschien,  und 
dem  das  englische  Buch  anverständlich  war.  die  lateinische 
Bearbeitung  i\'»\i  hatte  lesen  können. 

Nun  fand  sich  aber  in  der  schonen  Büchersammlung  der  Ver- 
einigten Menno  nitengemeinde  in  Amsterdam  ein  zweites  Exemplar, 
das  nur  den  Leviathan  enthält,  diesmal  ohne  Adresse  und  Jahreszahl, 
sodass  das  Titelblatt  ganz  so  aussiehl  wie  diejenigen,  welche  in  der 
sammtausgabe  »Im  einzelnen  Werken  oder  Gruppen  vorgesetzt 
Bind.  Der  Catalog  giebt  als  Vermuthung  L655  an,  ein  .fahr  das 
bei  unserer  heutigen  Bekanntschaft  mit  Hobbes'  Lebensgeschichte 
nicht  mehr  in  Betracht  kommt.  Könnt.'  aber  das  leydener  Exem- 
plar vielleicht  nur  ein  Sonderabdruck  aus  der  vollständigen  Blaeu- 
schen  Ausgabe  sein,  der  Pur  Bich  verkäuflich  sein  sollte  und  des- 
halb ein  eigenes  Titelblatt  erhielt?  Bei  oberflächlicher  Betrachtung 
scheint  dies  allerdings  der  Fall  zu  sein,  denn  der  Text  stimmt  in 
beiden  Exemplaren  sogar  Seite  für  Seite  und  Zeile  für  Zeih'  überein. 
Bald  aber  stellt  sich  heraus,  dasa  wir  in  dem  yon  1670  einen 
zweiten  Druck  der  nämlichen  Officio  vor  uns  haben,  welcher,  bo 
viel  mir  bekannt,  nirgends  verzeichnet  stein.  Dagegen  gehört  der 
Band  in  Amsterdam  unzweifelhaft  der  Gesammtausgabe  an,  und 
er  isl  von  den  zweien  der  ältere.  Die  Signatur  hat  zu  Anfang  des 
Bogens  jedesmal  die  Angabe  Leviat  wie  bei  den  übrigen  Theilen 
der  Reihe,  und  fängt  gleich  mit  aaa  an,  womit  sie  sich  dem  System 
A-l.  Aa  Ti.  Aaa  Zzz,  Aaaa— Llll,  AA— LL,  AAA  ZZZ, 
AAAA,  a  i.  (i  K  (oder  g  -k),  aa  hli  folgerichtig  anschliesst. 
Hingegen  der  Sonderdruck  giebl   in  der  Signatur  keinen  Titel  an, 


Bibliographische  Bemerkungen.  '.\~t'.'> 

beginnl    mi1    einem    Sternchen    statt    des   Buchstabens,    und  fährt 
,|;iini   beim  Texl  des  Werkes   fori    mit  A—  X.  A.i     //.,  Aaa     Bbb. 

In  diesem  leydener  Exemplar  ist  auf  dem  Titelblatt  die  zweite, 
sechste,  siebente,  aohte  Zeile  etwas  kürzer,  die  dritte  und  fünfte 
ein  wenig  länger  als  in  dem  anderen.  8.  s"_}  ist  der  Schlusszierrath 
derselbe,  am  Ende  des  Endes  Capitum  ein  anderer.  Die  65  Errata 
sind  weggelassen,  während  ganz  zuletzt  noch  eines,  das  nur  hier 
vorkommt,  falsch  verbessert  wird.  Uebrigens  sind  die  im  älteren 
Druck  verzeichneten  Fehler  im  jüngeren  berücksichtigt  worden: 
nur  steht  noch  zweimal  (172:  antipaenult.  und  275:16)  das  alte 
Wort,  und  lesen  wir  cognominen  (58:8  cognomen  1.  cogno- 
minem)  und  eoertiono  (90:29  euere ione  1.  coercitione). 
Beim  Schluss  der  Widmung  ist  statt  humilime,  humillime 
eingesetzt,  und  derartige  Kleinigkeiten  mag  es  noch  mehrere  geben. 

Wirklich  abweichende  Lesarten  linden  sich  meines  Wissens  an 
drei  Stellen.  Pag.  84:4  „Multitudo  autem  quae  securitatis  suae 
spem  praestare  potest,  numero  non  certo,  sed  cum  viribus  hostium 
com parato  determinatus  ut  major  sit  quam  ut  excessus  tanti 
ei  tum  conspicui  momenti  ad  Bellum  finiendum  sit,  ut 
hostis  ad  aggrediendum  provocetur."  Statt  ei  ist  nach  dem  Ver- 
zeichnis et  zu  lesen,  und  so  steht  es  denn  auch  in  der  neuen 
Ausgabe  von  Sir  W.  Molesworth  (Hobb.  Opp.  Latt,  III,  128).  Das 
leydener  Exemplar  vereinfacht  den  Satz:  „  .  .  .  quo  major  sit 
quam  ut  excessu  aliquo  conspicui  momenti  ad  Bellum 
fin  ie  ndum ,  host  is  etc." 

Pag.  1(>4  :  2(5  „Ignorantia  autem,  praesertim  Civitati  ipsi, 
cujus  culpa  erat,  quod  melius  docerentur  imputanda  si1 
condonari  vel  levius  puniri  debet."  Das  Verzeichniss  verbessert: 
„pra —  r t  i in  si  partim  Civitati  ipsi  etc."  Molesworth  [11,251 
nimmt  di.-s  auf  und  verbessert  seinerseits:  „quod  non  melius 
docerentur."  Der  Druck  von  1670  hat  gleichfalls  die  Negation. 
giebi  aber  die  Stelle  wie  folgt:  „  .  .  .  .  cum  praesertim  ipsi 
Civitati.  quod  non  melius  edocti,  imputandum  sit. 

Pag.  -71  :.j  v.  ii.:  „Neque  in  Gvitate  nun  Romana  quiequam 
est  Potestatia  concessum  homini  externo  oeque  Archicum, 
uequr   Craticum,    sed   tantum   Didacticum."     Ebenso   bei  Moles- 


;;;  |  J    P.  N.  Land, 

worth  III.  122.     Im  leydener  Exemplar  stehl  dafür  sinnlos:   sive 

\    -    ,     i  Iral  i-i  "ii." 

Aul  diese  drei  Abweichungen  der  zweiten  Auflage  i-i  offenbar 
kein  Werth  zu  legen;  sie  rühren  nicht  vom  Verfasser,  sondern  von 
einem  halbgelehrten  Corrector  her.  I»:i-  vorhandene  Exemplar  mit 
seinem    coercione    (90:19),     debita    ab    aliis    contractata 

III:  15),  Pharaohnis  (205:  11)  wurde  nach  Hobbes'  eigener 
Handschrift  gedruckt,  denn  nur  im  Englischen  schreibl  man  coer- 
cion,  debts  contracted  bj   others,  Pharaoh.    Auch  die  Errata 

hinter  dem  Index  Capitum  mögen  noch  von   i In ler  seinem  G 

hülfen  in  England  herstammen.  Jedenfalls  isl  aber  der  lateinische 
Leviathan  in  Amsterdam  der  Schluss  der  von  ihm  selber  veran- 
stalteten Gesammtausgabe  1668,  und  «K-r  in  Leyden  eine  Separat- 
ausgabe 1»'»7<»,  aus  der  wir  weiter  nichts  lernen,  als  dass  sie  eben 
vorhanden  ist. 

III.    Spinozistisches. 

In  ilfii  bald  dreiundzwanzig  Jahren,  seitdem  die  Schrift  des 
Dr.  A.  van  der  Linde:  Benedictus  Spinoza— Bibliografie, 
bei  Mari  Nijhoff  im  Haag  erschien,  sind  nur  wenige  Nachträge  zu 
diesem  nützlichen  Verzeichniss  nöthig  geworden.  Dass  es  (N.  •») 
vier  verschiedene  Ausgaben  des  Tractatus  theologico-politicus 
mit  «Irr  nämlichen  Jahreszahl  1670  giebt,  habe  ich  schon  1882  in 
der  Vorrede  zum  ersten  Band  der  Opera  ausführlich  genug  erwiesen, 
um  die  Bestimmung  der  einzelnen  vorkommenden  Exemplare  zu 
einer  leichten  Aufgabe  zumachen;  weitere  Auszüge  aus  den  damals 
angelegten  Collectaneen  hier  mitzutheilen,  hätte  keinen  vernünf- 
tigen Zweck. 

Meinem  Freunde  Sir  Frederick  Pollock  verdanke  ich  einen  Titel, 
der  muh  \.  I  1  anzuführen  wäre: 

Tractatus  j  <lr  j  Miraculis.  |  Authore  |  spectatissimo.  ;  Lon- 
dini  MDCCLXIII.     Duodez. 

folgt  eine  lateinische  Widmung:  Davidi  Hume  armigero 
von  L  M.  Q.  Dann  eine  Praefatio  aus  dein  vorletzten 
Absatz  der  Vorrede  zum  Tractatus  theol.-polit.,  mit  ge 


Bibliographische  Bemerkungen.  31  5 

ringen   Abweichungen;    endlich    als  Texl    ein   Abdruck    des 
sechsten  Capitels  aus  jener  Abhandlung  Spinozas. 

Zu  N.  22  wäre  jetzl  zu  bemerken,  dass  die  <>[>»>  in  Posthuma 
von  (i.  II.  Schuller  besorgl  worden  sind.  \  gl.  dessen  Brief  an 
Leibniz  vom  29.  März  li>77  bei  Ludwig  stein.  Leibniz  und  Spinoza, 
Berlin   L890,  S.  287. 

\.  182  „Carolus  Tuinman"  (vgl.  den  vollständigen  Titel  bei 
van  der  Linde.  S.  106)  und  183  „Brief  (daartegen)  von  Constantius 
Prudens  en  Tuinmans  Andwoord"  sollten  ersl  hinter  N.  185  kom- 
men. Denn  Constantius  Prudens  schrieb  nicht  gegen  N.  L82,  son- 
dern in  Erwiderung  auf  N.  185.  Dann  kam  „Tuinman's  Andwoord", 
d.  Ii.  \.  182,  „de  Liegende  cn  bedriegende  Vrygeest",  und  hierauf 
entgegnel   Pius  Fidelis  mit   N.  186. 

Die  Geringfügigkeil  der  hier  gebotenen  Mittheilungen  wird 
wohl  Jeder  entschuldigen,  der  uns  eigener  Erfahrung  weiss,  was 
wir  anscheinend  unwichtigen  aber  zuverlässigen  Notizen  manch- 
mal zu  verdanken  haben. 

Leyden  im  Oct.  1893. 


Hebte  d.  Philosophie.    VII.  "Jl'i 


XVII. 

Die  Kontinuität  im  philosphischen  Entwick- 
lungsgänge Kants. 

Von 
ll.u;il«l   lloirdiii^  in   Kopenhagen. 

II. 
A  im  I  \  se  ii  od   K  onsl  ru  k  i  ion. 

8.  Wir  kehren  nun  zu  einem  Früheren  Punkt  in  Kants  Ent- 
wickelung  zurück,  um  eine  andere  Reihe  seiner  Gedanken  zu  ver 
folgen,  so  wie  wir  dem  Kausalbegriffe  nachzuspüren  suchten.  I1 
die  verschiedenen  Gedankenreihen  während  der  Entwickelung  in- 
einander greifen,  folgl  von  selbst;  darum  kann  es  aber  dennoch 
erspriesslich  sein,  jede  für  sich  klar  zu  stellen.  Die  Kontinuität 
tritt  hierdurch  um  so  deutlicher  hervor.  Und  an  den  wichtigsten 
Punkten  werden  wir  «'ine  Untersuchung  ihrer  Wechselwirkung 
niiht  unterlassen. 

Das  Jahr  1762  (und  der  Anfang  des  folgenden  Jahres)  isl 
eines  der  fruchtbarsten  in  Kants  Schriftstellerleben.  Nicht  weniger 
als  vier  bedeutende  Abhandlungen  rühren  aus  diesem  Jahre  her. 
das  schon  dieser  -linken  Produktion  wegen  die  Aufmerksamkeit 
auf  sich  lenkt.  Die  eine  dieser  Schriften  kennen  wir  bereits:  den 
„Einzig  möglichen  Beweisgrund".  Diese  behandelte  den  Kausal- 
begriff in  seiner  Bedeutung  für  die  Naturwissenschaft  und  als  das 
die  Naturerkenntniss  und  die  Gotteserkenntniss  verbindende  Glied. 
Als  spezielles  Beispiel  enthielt  Bie  eine  kurze  l  ebersicht  der  sieben 
Jahre   vorher    aufgestellten    kosmogonischen   Hypothese.     Die  drei 


Kontinuität  im  Entwicklunj  Kants.  ;;,; 

anderen  Schriften  („Die  falsche  Spitzfindigkeil  der  Byllogistischen 
urenB;  „Ueber  die  Deutlichkeil  der  Grundsätze  der  natürlichen 
Theologie  und  Moral";  „Versuch  den  Begriff  der  uegativen  Grössen 
in  die  Weltweisheil  einzuführen") ')  behandeln  anscheinend  ganz 
andere  Fragen.  Dnd  doch  wurden  die  bierin  angestellten  l  nter 
suchuugeu  gerade  für  die  Auffassung  desjenigen  Begriffes  entscheidend, 
auf  dessen  Bedeutung  für  die  Naturwissenschaft  und  die  natürliche 
Theologie  Kant  noch  im  „Beweisgrunde"  so  grosses  Gewichl  gelegl 
hatte.  Im  genannten  Jahre  (dessen  Produktivität  sich  vielleicht 
eben  hieraus  erklären  lässt)  bewegten  sich  zwei  Gedankenreihen 
in  Kants  Bewusstsein,  deren  Zusammenstoss  ihn  einem  wichtigen 
Probleme  gegenüberstellen  musste. 

In  seiner  Kritik  der  Schlussfiguren  gehl  Kant  von  dem  Ge- 
sichtspunkl  aus,  dass  jedes  urteil  ein  Vergleichen,  sei.  Urteilen 
heisse  ein  Merkmal  mit  einem  Dinge  vergleichen  und  es  als  Re- 
sultat diesi  -  \  srgleichens  dem  Dinge  entweder  zu-  oder  absprechen2). 
Eine  ähnliche  Auffassung  der  Natur  d<-<  Denkens  liegt  der  Abhand- 
lung „Ueber  die  Deutlichkeit  der  Grundsätze"  zu  Grunde.  Hier 
wird  der  Unterschied  zwischen  der  philosophischen  und  der  rnathe- 
matischen  Methode  eingeschärft.  Die  Methode  der  Philosophie  sei 
die  Analyse,  die  der  Mathematik  die  Konstruktion.  Die  Mathe- 
matik vermöge  sogleich  fertige  Begriffe  zu  bilden,  mit  denen  sie 
operiren  könne.  In  der  Philosophie  aber,  die  ihren  Stoff  der  Er- 
fahrung  entnehme,  werde  die  Begriffsbestimmung  ersl  dann  fertig, 
wenn  die  Analyse  des  Gegebenen  vollendet  sei.  Hier  stelle  sich 
nun  die  Schwierigkeil  ein,  auf  welche  Weise  man  sich  überzeugen 
könne,  dass  die  Analyse  hinlänglich  weil  geführt  sei,  so  dass  keine 


')  InV  vier  Schriften  Bind  wahrscheinlich  (vgl.  R.  Erdmann:  Reflexionen 
Kants.  I.  S.  X \  1 1  u.  l.)  in  folgender  Reihe  erschienen:  1)  Die  Spitzfindigkeit; 
'-',  B  lie  Deutlichkeit;  4)  Die  negativen  Grössen.  —  Für 

das  Verhältnis  ihr«      i         ikeninhalts  is1  die  Reihenfolge  des  Verfassens  and 
des  Erscheinens  natürlich  nicht  massgebend. 

„Etwas  als  ein  Merkmal  mit   einem  I>inge  vergleichen   heissi  urteilen' 
lie  falsche  Spitzfindigkeit.   §  I).  —  Vgl  „Träume  eines  Geisterseh» 
1766):  „1  nsere  Vernunftregel  gehl  mir  auf  die  Vergleichung  nach  der  Iden 
tität  und  dem  Widerspru  21         ','  [Kehrbachs  ä 

26* 


Hara 

anderen  Merkmale  mehr  zu  entdecken  seien!  In  der  Mathematik 
bildeten  Definitionen  deshalb  den  Anfang,  während  sie  in  der  Phi- 
losophie ersl  am  Schlüsse  kommen  konnten.  Die  l  nvollkommen 
heiten  der  früheren  Philosophie  werden  daraus  hergeleitet,  dass 
man  mit  unfertigen  Begriffen  operiii  und  Bicfa  auf  voreilige  Kon- 
struktionen eingelassen  habe.  AU  Beispiel  eines  Begriffes,  mit  < Km 
man  in  der  dogmatischen  Philosophie  ruhig  operirte,  als  wäre  er 
Fertig  und  abgeschlossen,  wird  der  Begriff  „Geist"  (denkende  Sub- 
stanz) genannt,  der  bei  Descartes,  Leibniz  und  Wolf  eine  so 
Rolle  spielte.  Derselbe  sei  willkürlich  konstruiert,  stütze  sich 
ni.lit  auf  eine  durchgeführte  Analyse').  Kant  erklärt  es  für  weil 
schwieriger,  die  Analyse  verwickelter  Erkenntnisse  durchzufuhren, 
als  einfache  Erkenntnisse  durch  Synthese  zu  verbinden  und  Schlu 
auf  dieselben  zu  stützen.  Die  Metaphysik  Bei  deswegen  die  schwie- 
rigste aller  Wissenschaften  —  es  ->i  aber  auch  noch  keine  Meta- 
physik geschrieben!  Es  werde  noch  lange  dauern,  !>i>  man  in  der 
Metaphysik  synthetisch  verfahren  könne.  Dies  werde  ersl  gesche- 
hen können,  wenn  die  Analyse  zu  deutlichen  und  ausfuhrlich  ent- 
wickelten Begriffen  verholfen  habe. 

Es  musste  hier  eine  Konsequenz  nahe  liegen:  Nur  solche  Ver- 
hältnisse seien  verständlich,  wo  das  Denken  auf  dem  Wege  der 
Analyse  von  dem  einen  Gliede  des  Verhältnisses  zu  'lern  anderen 
hinüberfuhren  könne.  Diese  Konsequenz  zog  Kant  jedoch  nicht  in 
der   Abhandlung    ..  I -her  die    Deutlichkeit".      Dagegen    erhält    die 


..Ti  iume  eines  Geistersehers"  Bind  eigentlich  nur  eine  nähere  Entwicke 
lung  dii  u  um  /u  zeigen,  wohin  das  Operieren   mit  unfertigen  B 

fen  fährt     Der  Begriff  „Geist"  (in  Bpiritualistischem  Sinne)  wird   hiei  für 
eim  buchenen  Begriff  erklärt.     Das  Resultat  dei   geistreichen  Schrift 

„Die  Pneumatologie   dei   Menschen   Kann  cm  Lehrbegriff  ihrer  notwendi- 
gen Unwissenheit  in  \ t > -- i ••  ti t  auf  eine  vermutete  Art  Wesen  genannt  weiden" 
r.   I.  Hauptst.)    (Kehrbachs  Ausg.  S.  13).     VgL   hiermit   Kam-   „Nachricht 
\"n  der  Einrichtung  seiner  Vorlesui  B6),  wo  es  heisst,  die  empi- 

,i  nicht,  ob  dei  Mensch  eine  Seele  besitze.       NN  ie 
man  sieht,  war  an  diesem  Punkte  der  Entwickelung  Kants  nicht  nur  die  tri 
tik  dei  The»  auch  die  Kritik  der  rationalen   s.  Bpiritualistischen) 

Psy<  hol  sentlich  fertig. 


Kontinuität  im  Entwicklung  Santa.  379 

vierte  Schrift,  die  Abhandlung  aber  die  negativen  Grössen  In  der 
Philosophie,  ihre  grosse  Bedeutung,  weil  hier  diese  Konsequenz  mit 
voller  Klarheil  gezogen  wird.  Indem  Kanl  in  dieser  Schrifl  den 
von  den  spekulativen  Philosophen  aller  Zeitalter  so  ofl  übersehenen 
Unterschied  zwischen  logischer  Negation  und  realem  Gegensatze 
einschärft,  komml  er  ganz  natürlich  auch  zur  Untersuchung  solcher 
Fälle,  in  denen  ein  Etwas  aufgehoben  wird,  weil  ein  anderes  Etwas 
eintritt:  und  hier  tritt  ihm  nun  das  Kausalproblem  entgegen.  Aul' 
dem  Wege  der  Analyse  oder  der  Vergleichung  könne  man  nicht 
die  Notwendigkeil  des  Zusammenhanges  /wischen  dem  Eintreten 
des  einen  und  dem  Aufhören  des  anderen  nachweisen,  ebensowenig 
wie  überhaupt,  dass  etwas  geschehe,  weil  etwas  anderes  geschehe. 
Kam  lässl  die  Präge  angelöst  dahingestellt  sein.  Nur  dessen  ist 
er  -icher.  da—  der  Grundsatz  des  Widerspruches,  auf  welchen  der 
Dogmatismus  alle  Begründung  zurückführen  wollte,  keine  Erklä- 
rung gebe*). 

Kant  hat  hier  das  Kausalproblem  so  ziemlich  in  ähnlichen 
Ausdrücken  aufgestellt,  wie  schon  Hume  es  aulstellte.  Eigentlich 
hatte  er  aber  bereits  in  -einen  früheren  Schriften,  zuletzt  im  „Be- 
weisgrund" mit  dem  Kausalproblem  zu  schallen  gehabt.  Was  dem 
G  dankengange  zu  Grunde  lag,  der  ihm  die  Natur-  und  die  Got- 
rkenntniss  verband,  und  den  er  zuerst  betreten  zu  haben  glaubte 
he  §  3),  war  ja  die  Unmöglichkeit,  die  Wechselwirkung,  den 
Kausalzusammenhang  der  Dinge  der  Welt  zu  verstehen,  wenn  man 
nicht  einen  gemeinschaftlichen  Grund  ihrer  aller  annehmen  wollte. 
Solange  sie  in  ihrer  Verschiedenheit  dastünden,  sei  ihr  Kausalver- 
hältnis unverständlich.  Was  in  den  merkwürdigen  Aeusserungen 
am  Schlüsse  der  Abhandlung  über  die  negativen  Grössen  geschieht. 


*)  Versuch  den  Begriff  *  1  »•  t   negativen  Grössen  in  die  Weltweisheit  einzu- 
fübn  erringen  über  das  Kausalproblem  finden  sich  in  der  Schluss- 

anmerkung.)  -  Vgl.  „Träume"  (2.  T.  3.  Hauptst.):  „Unsere  Vernunftrege] 
geht  nur  auf  die  Vergleichung  nach  der  Identität  und  dem  Widerspruche. 
Sofern  aber  etwas  eine  Ursache  Ist,  so  wird  dadurch  etwas  gesetzt,  und  es  ist 
also  k"in  Zusammenhang  vermöge  der  Einstimmung  anzutreffen;  wie  denn 
auch,  wenn  ich  eben  dasselbe  nicht  als  eine  Ursache  ansehen  will,  niemals 
ein  Widerspruch  entspringt"  (Kehrbachs  Ausg.,  S.  64). 


Hara 

i->t  nun  . -i^r*-iit  1 1«-l*  nicht  die  Aufstellung  eines  ganz  neuen  Problems, 
sondern  <li'j  l  eines  Problems,   das  bisher  in  me- 

taphysisch-objektiver Form  behandelt  wurde,  in  erkennt- 
istheoretisch-subjective  Form.  Es  i-t  zu  verstehen,  dasa 
Kant,  oachdem  er  nun  die  Gesichtspunkte,  die  er  vor  sieben  Jahren 
zum  ersten  Mal  darstellte,  von  neuem  durchgearbeitet  hatte,  und 
indem  er  zugleich  in  rein  logische  und  methodische  Untersuchun- 
riet,  beim  Zusammenstoss  dieser  beiden  Gedankenreihen  er- 
blicken musste,  dass  das  Kausalverhältnis  nicht  our  ein  objekth 
sondern  auch  ein  subjectives  Problem  stellt.  Unter  der  *..  intensiven 
und  produktiven  Denkarbeil  dieses  Jahres  ist  diese  Umsetzung  <li«' 
wichtigste  Frucht,  allerdings  «'in»-  Frucht,  die  uoch  nicht  zur  völ- 
ligen Reife  gediehen  war.  Derjenig«  Begriff,  den  er  selbsl  bei 
seiner  Erforschung  der  Natur  auf  so  geniale  Weise  angewandt  hatte, 
und  der  ihm  noch  vor  kurzem  die  Brücke  zwischen  den  Regionen 
der  Religion  und  denen  der  Naturwissenschaft  bildete,  erwies  sich 
nun  plötzlich  als  ein  grosses  Problem  enthaltend  heim  Aufwer- 
fen der  einfachen  Frage,  wie  man  von  dem  einen  Gliede  des  durch 
ihn  bezeichneten  Verhältnisses  zum  anderen  korm 

D.  Für  Kant    einen  derartigen   Zusammenhang    zwischen 

dem  Kausalproblem  in  dessen  metaphysischer  und  in  dessen  er- 
kenntnistheoretischer Form  gab,  ist  deutlich  aus  einer  Aeusserung 
in  den  „Träumen  eines  Geistersehers"  (Schlusskapitel)  zu  ersehen. 
Hier  wird  von  neuem  auf  das  Kausalproblem  aufmerksam  gemacht 
und  zwar  im  Zusammenhang  mit  dem  allgemeinen  Problem  von 
der  Natur  der  geistigen  Wesen  und  ihrer  Beziehung  zur  Materie. 
Es  wird  gezeigt,  wie  die  Probleme  innerhalb  der  Spekulation  an- 
fangen, \\"  man  in  aller  Ruhe  mit  den  „Grundverhältnissen"  (Ur- 
sache und  Wirkung,  Substanz  und  Handlung)  operiere,  wie  man 
al'er  heim  fortgesetzten  Philosophieren  schliesslich  eben  in  den 
Grundverhältnissen  Schwierigkeiten  linde.  Und  dieser  Zusammen- 
hang zwischen  dem  metaphysischen  und  dem  erkenntnisstheoreti- 
schen Problem  tritt  noch  deutlicher  in  dem  Brief  an  Mendelssohn 
vom  8.  April  1766  hervor,  indem  > i <  1 1  die  allgemeine  Frage,  wie 
etwas  eine  Ursache  sein  könne,   hier  aus  der  spezielleren  auslöst, 


Koutinuiiiit  im  Entwicklungsgänge  Kants.  381 

wie    eine    geistige  Substauz  das  Vermögen  besitzen  könne,  in  der 
Beziehung  zur  Materie  zu  wirken  und  leiden. 

Auf  Obiges  mioh  stutzend  ßnde   ich  die  Kontinuität  in   Kants 
Eutwickelung  an  einem  anderen  Punkte  als  Friedrich  Paulsen. 
Dieser  Forscher  legt  den  Nachdruck  darauf,  dass  Kaut   bei  näherer 
Untersuchung  des  metaphysischen  Gottesbegriffes,  dem  zufolge  Gott 
der  Inbegriff  aller  Realitäten   sein   sollte,   die  Entdeckung  machte, 
dass  es  ja  Realitäten  gebe,  die  in  reellem  Widerspruch  miteinander 
stünden  und  sich  also  nicht  vereinen  liessen.    Die  Abhandlung  über 
die  negativen  Grössen  wäre  nun  eine  durch  die  theologischen  Betrach- 
tungen    im  „Beweisgrund"  angeregte  Spezialuntersuchung5).     Dass 
zwischen  dein  „Beweisgrund"  und  der  Abhandlung  über  die  nega- 
tiven Grössen  ein  Zusammenhang  stattfindet,    stelle    ich    nicht    in 
Abrede.     Schon   im  „Beweisgrund"    wird,    wie  Paulsen    nachwies, 
der  wichtige  Unterschied  zwischen   logischer  Negation   und    realem 
Widerspruch  behauptet.     Mir  ist  die  Hauptsache    aber    die  plötz- 
liche und  eigentümliche  Wendung,  die  Kant  in  der  Schlussanmer- 
kung  der   letztgenannten  Schrift    unternimmt.     Er   hätte  das   Pro- 
blem   der   negativen   Grössen    ausführlich    und    gründlich    erörtern 
können,  ohne  gerade  die  Konsequenz  zu  ziehen,  die  er  hier  zieht. 
Diese   Wendung  ist  es,   die  ich  mir  nur  dadurch  zu  erklären  ver- 
mag, dass  Kant  das  Kausalverhältnis   als  das  Wichtigste  aller  Er- 
kenntnis vor  Augen  hatte.     Es  musste  also  zu  einem  Zusammen- 
ss  kommen. 
9.    Kants    Gesamtstimmung  am  Ausgange   des  an  Denkarbeit 
reichen    Jahres    war    entschieden    antidogmatisch.      Nach    dem 
sicheren  Operieren  mit   bisher  anerkannten  Begriffen  fühlte  er  sich 
nun  bewogen,  einige  der  wichtigsten  dieser  Begriffe  zu  untersuchen, 
und  er    fand    sie    unklar    und  unfertig.     Er  stiess  jetzt  auf  grosse 
Schwierigkeiten  bei  dem,  was  andere  —  und  bisher  auch  er  selbst 
—  leicht  gefunden  hatten.     .Mit   Ironie    kehrt    er    sich    gegen    die 
grundlichen  Philosophen,  deren  täglich  mehrere  werden,  mit  dem  Er- 
suchen,   ihm  diese  einfachen  Fragen  zu  lösen,    vor  denen  er  Halt 


•)  Entwickelungsgescbichte   der  Hantiscben  Erkenntnistheorie.    S.  64  u.  f. 


Harald  Höffdin 

.acht  batte  \  ii  stärker  und  kecker  erscheint  diese  Stimmung 
in  den  „Traumen  eines  Geistersehers",  wo  er  der  „Luftbaumeister" 
spottet,  'li>'  ihre  Gebäude  aus  erschlichenen  Begriffen  konstruier- 
ten, und  denen  gegenüber  nichts  zu  thun  Bei,  als  sich  zu  gedulden, 

Bie  ausgeträumt  hatten. 

der   start  asatz  zwischen  Konstruktion  nnd  Ana- 

lyse bezeichnet  einen  Bruch  mit  der  Philosophie  der  vorhergehen- 
den Zeit.  Kant  fordert  die  Beschaffung  einer  ganz  neuen  Grund- 
lage, ehe  die  Z>-it  einer  philosophischen  Systematisierung  kommen 
könnte.  Seine  Aufmerksamkeit  war  von  nun  an  auf  die  Methode 
gerichtet,  auf  die  Untersuchung  der  Grenzen  der  Erkenntnis, 
wiss*)  hat  er  schon  am  diese  Zeit  die  antinomische  Methode  ein- 
i  am  die  Grenze  der  Erkenntnis  nachzuweisen,  indem  er 
eine  solche  Grenze  dorl  fand,  wo  Bich  rücksichtlich  des  nämlichen 
Problems  einander  widerstreitende  Sätze  begründen  Hessen.  „Ich 
versachte  es  ganz  ernstlich",  Bagt  er  später7),  „Sätze  zu  beweh 
und  ihr  Gegenteil,  nicht  um  eine  Zweifellehre  zu  errichten,  son- 
dern, weil  Ich  eine  Illusion  des  Verstandes  vermutete,  zu  ent- 
decken,  worin  sie  stäke".  In  einem  Briefe  an  Laudiert  (vom 
31.  December  1765)  sagt  er,  sein  Streben  gehe  nun  hauptsächlich 
auf  dir  eigentümliche  Methode  der  Metaphysik  aus.  Nach  mehr- 
jähriger Erwägung  habe  er  jetzt  eine  Methode  gefunden,  die  er  an- 
wende, um  eingebildetes  Wissen  zu  vermeiden.  Bei  jeder  Unter- 
suchung sehe  er  nach,  was  er  wissen  müsse,  am  das  Problem  zu 
lösen,  und  welchen  Grad  der  Erkenntnis  das  Gegebene  gestatte; 
hierdurch  werde  Bein  Urteil  ofl  allerdings  mehr  begrenzt,  aber  auch 


Wie  von  Benno  Erdmann  nachgewiesen  in  der  Einleitung  zu  seiner 
\  u  -_'•* '  "•  der  Prolegomena.   S.  I.XWI  u.  £   and  ausführlicher  in  den  Reflej 
aen  Kants.    II.  S.  XXXV—  XI. VII. 

:)  Reflexi 11  Kants.    II.  S.  I    V  .  1).     Hiermit   stimmt   ein,.  Aeusserung 

in  dem  Briefe  an  G  im  21.  Sept.   1798  überein,   es   seien   die   kn>mnlo- 

chen    Antinomien  der   reinen  Vernunft,    >li'-    .ihn    aus    dem    dogmatischen 
Schlummer  ufweckten  und  zur  Kritik  der  Vernunft   selbst  hintrieben, 

um  .i.i-  Skandal  des  scheinbaren  Widerspruchs  der  Vernuufl    mil    ihi    selbst 
zn  beben".      Dei   Briet  i-i  abgedruckt  in  Albert  Stern:    üeber  die  Beziehun- 
zu  Kant) 


Kontinuität  im  Entwicklungsgange  Kants.  383 


sicherer,  als  es  gewöhnlich  der  Fall  sei.  In  üebereinstimmung 
hiermit  äussert  er  in  den  „Träumen",  die  Metaphysik  sei  die  Lehre 
\nii  den  Grenzen  der  Erkenntnis,  und  in  der  „Nachrichl  von  der 
Einrichtung  Beiner  Vorlesungen",  die  ..Kritik  der  Vernunft"  sei 
ihm  eine  Bauptaufgabe  bei  seiner  Bearbeitung  der  Logik.  Unge- 
fähr in  dieselbe  Zeil  gehör!  gewiss  auch  ein  Fragment,  in  welchem 
es  heisst:  „Die  Metaphysik  ist  die  Kritik  der  menschlichen  Ver- 
nunft ...  (sie)  i>t  subjeetiv  und  problematisch"8). 

10.  Diejenigen  Kantforscher  haben  sicherlich  recht,  welche 
nachzuweisen  suchten,  dass  die  Entwickelung,  die  1762  und  wäh- 
rend der  folgenden  Jahre  in  Kants  Gedankengang  vorgeht,  nicht 
mit  Notwendigkeil  «'inen  äusseren  Einfluss  voraussetze,  Mindern 
an  und  für  sieh  sehr  wohl  aus  seiner  vorhergehenden  Entwicke- 
lnng  zu  verstehen  sei.  Anderseits  kenne  ich  keinen  Zeit  raunt  in 
Kants  Entwickelung,  für  den  der  Ausdruck  „Erweckung  aus  dem 
dogmatischen  Schlummer"  so  gut  passte,  als  hier.  Selbst  Benno 
Erdmann,  der  die  Erweckung  weit  später  ansetzt  (so  viel  später, 
dass  mir  scheint,  fr  gerate  in  Konflikt  mit,"  Kants  Aeusserung, 
da>s  die  Erweckung  „vor  vielen  Jahren"  eingetreten  sei),  erklärt 
die  sechziger  Jahre  für  die  Epoche,  in  der  die  Kantischen  Ge- 
danken am  meisten  in  Fluss  waren.  Aus  dogmatischem  Schlummer 
erweckl  werden  will  gerade  heissen,  dass  die  bisher  festen  Ge- 
danken in  Fluss  kommen.  Freilich,  will  man  unter  dem  Ausdruck 
„Erweckung  aus  dogmatischem  Schlummer"  den  vollständigen 
Uebergang  zur  kritischen  Philosophie  verstehen,  so  passt  er  nicht 
für  diesen  Zeitpunkt.  In  diesem  strengen  Sinne  nimmt  ihn  Benno 
Erdmann,  wenn  er  ihn  erst  dort  anwendbar  findet,  wo  die  Hoff- 
nung, die  Dinge  an  sich  mittels  des  Verstandes  zu  erkennen. 
..niehi  bloss  bis  auf  die  letzte  Faser  ausgehoben,  sondern  durch 
eine  konträr  entgegengesetzte  Auffassung  ersetzt  werden  konnte"9). 
Dies  i-t  doch  gewiss  zuviel  von  einer  Erweckung  verlangt.  Kam 
selbst     hat     in    dem    Entwurf  einer   Vorrede   zur  Kritik   der  reinen 


Reflexionen  Kants.   II.  S.  158    Nfo.  507 
'    Einleitung  zu  Proli  g ma.   S.  2LCII. 


384  Sarai 

\     imnri    .  n :    J!>  dauerte  lange,   bia  ich  die  ganze  dogma- 

tische Theorie  dialektisch   fand     Aber  ich  suchte  etwas 

in  nicht  in  Ansehung  des  Gegenstandes,  doch  in  Ansehung  der 
\  tur  uml  der  Grenzen  dieser  Erkenntnisart" ,0).  Wer  so  sucht, 
ist  wach.  W  i  i-  hörten  ebenfalls,  dasa  er  selbsl  am  diese  Zeit 
die  Dogmatiker  als  träumend   betrachtete.     Ich  vermag  nichts  an- 

-  zu  sehen,  als  dass  der  scharfe  Gegensatz  zwischen  Kon- 
struktion und  Analyse,  der  gr< —  Nachdruck  auf  die  Methode 
und  auf  die  Grenzen  der  Erkenntnis  nebsl  der  geringen  Mei- 
nung von  dem  in  der  Philosophie  bisher  Erreichten  Kant  schon 
/.u  dieser  Zeil  entschieden  ausserhalb  des  Kreises  der  Dogmatiker 
-teilen.  Nur  von  einem  (in  Kantischem  Sinne)  „hyperkritischen0 
Standpunkte  aus  liesse  sich  sagen,  da—  er  wahren. I  dieser  Periode 
in  dogmatischem  Schlummer  ruhte.  Sollte  Kant  dennoch  im  Jahre 
17s;  die  sechziger  Periode  zum  Dogmatismus  gezähll  haben, 
hat  er  Bich  selbsl  grosses  Unrecht  beigefügt.  Seine  eigne  Defini- 
tion des  Begriffes  „Dogmatismus0  ist  ja,  dieser  bestehe  „in  der  An- 
massung,  mit  einer  reinen  Erkenntnis  aus  Begriffen  nach  Prinzi- 
pien, so  wie  sie  die  Vernunft  längsl  im  Gebrauche  habe,  ohne 
Erkundigung  der  Art  und  des  Rechts,  wodurch  sie  dazu 
gelangt  sei,  allein  fortzukommen"11),  oder  wie  es  anderswo 
beisst:  in  „dem  allgemeinen  Zutrauen  zu  ihren  (s.  der  Metaphysik) 
Prinzipien,  ohne  vorhergehende  Kritik  des  Vernunftver- 
mögens  selbst"").  Infolge  dieser  Definition  war  Kant  nach  1762 
nicht  mehr  zu  den  Dogmatikern  zu  zählen.  Allerdings  hatte  er 
nicht  einmal  in  den  ..Träumen  eines  Geistersehers"  die  Hoffnung 
aufgegeben,  beharrliches  Arbeiten  auf  dem  Wege  der  Analyse 
könne  dereinst  eine  konstruktive  Erkenntnis  ermöglichen.  Die 
Schwierigkeiten  standen  ihm  jedoch  klar  vor  Augen,  und  er  traute 
den  landläufigen  Prinzipien  nur  wenig,  wie  er  auch  bestimmt  über- 
Reflexionen Kam-.   II.  S.  I  (N.  3).  -    Ich  betone  .las  Wort  ,ganz". 

")  Kritik  d.  r.  Vern.    2.  Ufl.    \  3.  XXXV. 

''-')  Uebei    eine    Entdeckung,    nach   der  alle  oeue  Kritik  der  reinen  \ 

nnnt't  durch  eine  alte atbehrlicb  gemacht  werden   soll.    Königsberg   1790, 

,s. 


Kontinuität  im  Entwicklungsgange  Kam-. 

zeug!  war,  dass  das  Resultat,  wenn  ein  solches  zu  erzielen  sei,  mii 
einer  Begrenzung  onsrer  Erkenntnis  verbunden  sein  würde.  Il;it 
er  selbst  diese  Periode  später  zur  dogmatisohen  Schlummerperiode 
mii  gerechnet,  so  müssen  die  Resultate  der  ..Kritik"  ihm  den 
Blick  für  seine  eigne  Vergangenheil  geblendel  haben.  —  Die  Frage 
nach  dem  Zeitpunkt  der  Erweckung  mit  Sicherheil  zu  entscheiden, 
das  ist  nach  dein  Vorliegenden  indes  nicht  möglich.  Ich  sehe 
nicht  anders,  als  dass  die  Verlegung  ins  Jahr  1762— 63 IS)  die 
wahlscheinlichste    ist.    obschon    SO    hervorragende    Kant  lorscher    wie 

Fr.  Paulsen  und  Benno  Erdmann  /.u  anderen  Ergebnissen  ge- 
langten. Wie  wiederholt  bemerkt  ist  die  Unsicherheit  in  dieser 
Frage  ein  Zeugnis  von  der  Kontinuität  in   Kants  Entwickelung. 

11.  Benno  Erdmann14)  glaubt  aus  Herders  Aeusserungen  aus 
den  Jahren,  während  welcher  jener  Kants  Zuhörer  war  (1762 — <>4). 
schliessen  zu  können,  dass  Kant  um  diese  Zeit  noch  nicht  von 
llunie  erweckt  sein  könne.  Man  müsste  sonst,  meint  Erdmann, 
an  der  Weise,  wie  Herder  von  llume  spräche,  etwas  von  der  Be- 
geisterung bemerkt  haben,  die  Kant  seinen  Zuhörern  zweifelsohne 
für  den  englischen  Denker  eingeflösst  habe. 

Diese  Annahme  scheint  mir  keine  zwingende  zu  sein,  beson- 
ders wenn  mau  bedenkt,  dass  die  Erweckum}-  höchst  indirekten 
Charakters  gewesen  sein  muss,  so  dass  sie  wesentlich  in  der  Aus- 
lösung und  völligen  Klärung  von  Gedanken  und  Zweifeln  bestand, 
die  schon  im  Begriffe  standen,  sich  emporzuarbeiten.  Es  war  nach 
Kants  Aussage,  ..die  Erinnerung  des  Hume",  die  ihn  erweckte. 
Folglich  hatte  Kant  schon  früher  den  llume  gelesen  (es  handelt 
-ich  hier  um  des  letzteren  „Inquiry"  in  deutscher  Uebersetzung). 
der  Gedanke  an  Humes  Problemaufetellung  hat  ihn  aber  erst  später 
beeinflusst.    Es  isi  leicht  zu  verstehen,  dass  diese  Erinnerung  an  das 

13)  Auf  diesen  Zeitpunkt  wird  die  „Erweckung"  \<>u  Kuno  Fischer, 
Rieh!  niiil  Vaihinger  zurückgeführt  (letzterer  nimmt  jedoch  auch  ''ine 
spätere  Erweckung  an).  Meine  Motivierung  unterscheidet  sich  indes  von  der 
dieser  Forscher. 

w)  .Kant  und  llume  um  17fc_'.-  Archiv  für  die  Geschichte  der  Philo- 
sophie.  I.  S.  62—77;  216—230. 


Harald  Söffdinf 

Gelesene,   das  Beiner  Zeil    keinen    besonders  starken  Eindruck  - 

macht  batte,   in  Kant  gerade  in  dem  Jahre  auftauchen  konnte,  in 

li t  in    die    beiden   Gedankenreihen  —  das  Kausalverhältnis  als 

sdruck  der  Verbindung  verschiedener  Elemente  und  das  Denken 

als  Analyse,  nur  mit  dem  Grundsatze  des  Widerspruchs  operierend, 

—  die  sich  bisher  in  seinem  Bewusstsein  nebeneinander  beu 
hatten,  alle  beide  wieder  zu  neuer,  eingehender  Bearbeitung  vor- 
genommen mirden  und  ein  Zusammenstoss  leicht  eintreten  muaste. 
Man  darf  annehmen,  dass  ..'li''  Erinnerung  des  Hume"  diesen  Zu- 
sammenstoss entweder  begünstigt  oder  doch  dessen  Wirkungen 
verstärkt  hat.  Jedenfalls  ist  Knut  sich  aber  wohl  kaum  sogleich 
der  Bedeutung  dessen,  was  in  ihm  vorging,  völlig  bewussl  gewor- 
den; ilms  konnte  er  erst,  als  der  durch  'li'-  Erweckung  eingeleitete 
Entwickelung8prozess  sich  dem  zurückschauenden  Blicke  als  durch- 
aus fertig  darstellte.  Somit  wird  es  auch  verständlich,  dass  er  die 
Erweckung  durch  Bume  erel  viel  später  und,  wie  Erdmann  selbst 
darlegt,  auf  besonderen  Aula--  in  seinen  Schriften  erwähnt. 

Es  gibl   keinen  Grund,   anzunehmen,  dass  Kaut  während  der 
Zeit,  die  Herder  unter  seinen  Zuhörern  Bah,  des  Hume  (als  theo- 
retischen   Philosophen)    in    seinen    Vorlesungen    hätte    anders 
denken  sollen,  als  er  seiner  >jiä t <  t-  stets  erwähnt,  nämlich  als  des 
Skeptikers,  der  mit   Bezug  auf  den  Dogmatismus  ein  gesundes  l 
gengewicht    und    nützliches    Ferment    bildete.     Bisher   gebrach 
Kant   überdies  ja  noch  an  der  „höheren  Einheit",  dem  Kritizismus, 
den  <'i-  später  über  den  Dogmatismus  und  den  Skeptizismus  pflegte 
triumphieren    zu    lassen,    und    er    musste    Bume    vorwiegend    als 
einen    zu    überwindenden    Widersacher    betrachten.     In    den    von 
Erdmann    angeführten    Aeusserungen   Herders   erwähnt    dieser  des 
Hume  gerade  so  wie  zu   erwarten   war.    nämlich    als  eines  Feinen 
Kopfes,    zugleich   aber  als  eines  Erzzweiflers;    er  beschuldigt    ihn 
sogar  „eines  erstrebten  Zweifeins".    Ich  verstehe  nicht,  wie  Erd- 
mann aus  diesen  Aeusserungen  zu  schliessen  vermag1  ;.  Kant  habe 

—  wenn  man  ->hdi   auf  Herders  Zeugnis  stütze        wahrend  dieser 


Archiv.    I    S.  216, 


Kontinuität  im  Entwicklungsgänge  Kants. 

Jahre  an  Bnme  aichi  den  metaphysischen  Zweifler,  sondern  nur 
den  Moralisten  hochgeschätzt.  Aul'  den  Zweifler  Bume  scheini 
Herder  doch  zur  Genüge  aufmerksam  gemachl  worden  zu  sein* 
Herder  ha1  die  Sache  gewiss  sogar  übertrieben.  Der  Ausdruck 
„erstrebt"  i-t  wahrscheinlich  ihm,  nicht  Kaut  auf  die  Rech- 
oung  zu  schreiben16).  Herders  ganzem  Naturell  und  geistiger 
Richtung  gemäss  war  es  kein  Wunder,  dass  Humes  Zweifel  ihm 
abertrieben  und  willkürlich  erscheinen  konnte.  Herder  fand  keine 
Verwendung  für  denselben  wie  Kant,  dessen  Gedanken  in  stär- 
keren Fluss  dadurch  gesetzt  wurden,  ja,  Herder  konnte  wohl  nicht 
einmal  verstehen,  wie  Kant  ihn  zu  verwenden  vermochte;  sein 
späteres  Verhältnis  zu  Kant  lässl  dies  vermuten.  Was  Herder  um 
die»'  Zeit  an  Kant  so  hoch  schätzte,  war  (nacdi  der  bekannten 
Aeusserung  in  den  „Humanitätsbriefen")  der  offene  Sinn  für  alles 
Menschliche  sowohl  als  für  die  Natur,  der  lebhafte  Geist  und  der 
klare  Verstand.  Für  den  suchenden,  auf  einsamen  und  dornen- 
vollen  Wegen  wandelnden   Denker  hatte   Herder  keinen  Sinn. 

12.  Durch  die  klare  Distinktion  zwischen  Konstruktion  und 
Analyse  hatte  Kant  einen  grossen  Fortschritt  gemacht.  Der  Fehler 
der  dogmatischen  Systeme  war  der.  dass  sie  zu  eilig  zur  Kon- 
struktion  schritten,  obgleich  sie  die  Analyse  natürlich  nicht  durch- 
aus  entbehren    konnten,   die  —  wenn  auch  noch  so  unvollständig 


l6)  Ein  Brief  Kants  an  Herder  vom  9.  Mai  17G7  (auf  den  ich  erst  durch 
ein  freundliches  Geschenk  des  Herrn  Bibliothekars  Dr.  R.  Reicke  in  Königs- 
berg aufmerksam  wurde)  zeigt,  dass  Kant  um  diese  Zeit  dennoch  eine  mehr 
positive  Auffassung  des  Huine  hatte,  als  man  aus  Herders  .Wasserungen  ver- 
muten machte.     Kant  wünscbl  seinem  jungen  Freunde,  er  möge  die  (kein 

fühllose)  Ruhe  des  Gemüts  erhalten,  die  dem  Philosophen  im  Gegen- 

zum  My-tiker  eigentümlich  sei,  und  setzt  darauf  hinzu:  „Ich  hoffe  diese 
Epoche  Ihres  Genie-  aus  demjenigen,  was  ich  von  Ihnen  kenne,  mit  Zuver- 
sicht, eine  Gemütsverfassung,  die  dem,  so  sie  besitzt,  und  der  Welt  unter 
allen  am  nützlichsten  i-t.  worin  Montaigne  den  untersten  und  Huine,  soviel 
ich  weiss,  den  obersten  Platz  einnehmen."  Dieses  in  Kant-  Kunde 
-.1  bedeutende  Lob  muss  nach  dem  ganzen  Zusammenhange  nicht  dein  -Mo- 
ralisten" allein  gelten.  fl»er  Brief  i-t  abgedruckt  in  der  Altpreuss.  Mon 
schrift  B.  28,  Heft  3  und  4.  1891:  Zu  Berders  Briefwechsel.  Von  Victoi 
Diederichs.) 


Harald  Höffding, 

uii'  1  anfertig  —  in  der  Thal  Bteta  die  Vorbereitung  bildet.  Kant 
erblickte  vorläufig  in  der  genaueren  Analyse  daa  wichtigste  Mittel 
I ml  —  was  /ur  Behauptung  der  Kontinuität 
seines  Entwickelungsganges  \"ii  besonderem  Interesse  ist  n i.-. 
nicht  einmal  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft,  gab  er  eigentlich 
die  Beziehung  der  Analyse  zur  Konstruktion  auf,  die  er  in  der 
iiil't   „über  die  Deutlichkeil  der  Grundsätze0  d  111   hatte. 

In  seiner  Hervorhebung  der  Bedeutung  der  Analyse  : rillt  Kan1 
mit  Lamberts  Bestrebungen  zusammen.  W  ihrend  Kant  aber 
die  Konstruktion  in  blauer  Ferne  1  i- -_r«-u  sieht  und  meint,  vor- 
läufig sei  es  das  Zeitalter  der  Analyse,  nimmt  Lambert  an,  dass 
das  Ziel  Daher  liege.  Durch  Vergleichung  und  Kombination  der 
einfachen  Begriffe,  zu  denen  die  Analyse  geführt  hat,  will  letzterer 
ohne  weiteres  Axiome  und  Postulate  bilden  (Brief  an  Kant.  \ 
vember  ITC».")).     Zwar  siehl   er  ein,   dass  eine  oähere  Prüfung  der 

verschiedenen  Kombinati in  notwendig  seiIT);  er  (uhll  aber  oichl 

das  Bedürfnis,    besondere  Prinzipien   zu   finden,    Dach  denen  di 
Prüfung  dn-   möglichen  Grundsätze   stattfinden  könnte.     Er  oäherl 
sich    dem   in   der   merkwürdigen  Brief  an    Kant,   I 

bruar  1766),  in  welcher  er  die  Präge  aufwirft,  ob  die  Erkenntnis 
der  Form  unseres  Wissens  zur  Erkenntnis  des  Inhalts  unseres 
Wissens  führe.  Bei  der  prinzipiellen  Schwierigkeil  des  Uebergangs 
aus  der  Analyse  der  Grundbegriffe  in  die  Konstruktion  der  Grund- 
sätze hielt  er  sich  aber  oichl  auf,  wie  er  auch  nicht  die  Analyse 
in  dm-  bestimmten  Richtung  führte,  durch  welche  Kant  dahin 
brachl  wurde,   die  einzige  Möglichkeit  konstruktiver  Erkenntnis  in 

der  Philosophie   ZU    linden.     Obschon  Kant  daher  Lambert    als  seinen 

Vorgänger  so  hoch  ehrte,  dass  er  ihm  die  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft gewidmet  haben  würde,  wäre  Lambert  nicht  vor  Vollendung 
des  Weik,-  gestorben1  ),  so  lautete  doch  sein  I  rteil  über  ihn  da- 
hin, dass  er  sich  innerhalb  der  Analyse  bewege,  ohne  den  „kriti- 
schen" Standpunkt  zu  erreichen  ' '). 


1    II.  Lambert:  inon.   Leipzig  ITiM.   I,  s.  :;•_';;  u.  i.;   199. 

ehe  den  Entwurl  einei  Widmung:    Reflexionen  Kants  II.  S.  I   u.  f. 
R  aen  Kants.  II.  S.  67  u.  f.  (No.    !  .  •-,:'.l). 


Kontinuität  in  Entwicklung  Kants. 

Die   Analyse,  die  in   Kants  definitiver   Erkenntnistl rie   von 

so  grosser  Bedeutung  ixt.  betriff!  die  Weise,  wie  das  Erkenntnis- 
vermögen selbsl  wirkt.  Diese  Richtung  erhiell  Kants  Analyst 
schon  damals,  als  eine  sorgfältigere  r»*'st iiinnun^  der  Grenzen  dei 
Erkenntnis  sich  ootwendig  zeigte  (siehe  § '•).  Sic  führte  aber  ersl  zu 
entscheidenden  Resultaten,  als  er  nach  1769  zwischen  der  Materie 
uuii  der  Form  clor  Erkenntnis  zu  unterscheiden  begann.  Wie  dieser 
Wendepunkl  entstand,  wird  später  zu  untersuchen  sein;  hier  soll 
nur  erörtert  werden,  welcher  Art  die  Analyse  war.  mit  (eist  deren 
Kant  diese  für  sein  definitives  System  so  wichtige  Distinktion  be- 
gründete. 

Kant  hat  diese  Analyse  nirgends  methodisch  ausgeführt.  Stets 
setzl  er  sie  voraus  oder  deute«  sie  in  grosser  Kürze  an.  In  der 
„Dissertation"  heissl  es,  dass  wir  durch  l'eobaehtung  der  Weise, 
wie  das  Bewusstsein  auf  Anlass  der  Erfahrung  wirke  (attendendo 
ad  ejus  actiones  occasione  experientiae)  die  Gesetze  entdeckten, 
nach  denen  dieses  Wirken  vorgehe.  Wird  nun  hei  der  sinnlichen 
Erkenntnis  zwischen  Stoff  und  Form  unterschieden,  so  dass  die 
Form  das  Gesetz  bedeutet,  nach  welchem  das  Bewusstsein  den 
empfangenen  Stoff  ordnet,  so  geht  es  aus  den  von  Kant  gebrauchten 
Ausdrücken  hervor,  dasx  die  Form  das  Konstante,  Unveränderliche 
der  sinnlichen  Wahrnehmung,  der  Stoff  dagegen  das  ins  unendliche 
Variierende  ist.  Die  Analyse  findet  also  einen  unterschied  zwi- 
schen einem  Konstanten  und  einem  Wechselnden,  einem  Bestimm- 
ten und  einem  Unbestimmten-'").  Die  Form  steht  als  unveränder- 
liches Vofbild  (typus  immutabilis)  da.  das  stets  von  neuem,  jedes- 
mal wenn  ein  neuer  Inhalt  zu  ordnen  ist,  nachgeahmt  wird.  In 
den  Aufzeichnungen  aus  den  siebziger  Jahren  findet  sich  derselbe 
Zug.  ..Die  Exposition  desjenigen,  was  gedachl  wird,  beruht  bloss 
auf    dem    Bewusstsein;    desjenigen   aber,    was  gegeben  ist,    wenn 


M)  Tempus  est  .  .  .   subjeetiva    conditio    ihm-    naturam    inentix    humanae 
essaria,   qvaelibet  sensibilia  oerta  lege  sibi  coordinandi  (I>ixS.  §  14,5). 
—  Spatium  est  .  .  .  subjeetivum    ei    ideale    e   natura  mentis    stabili    h 
proficiscens,  veluti   sebema,   omnia   omnino  externe   sensa  xii,i   coordi- 
nandi   Diss.  j  15  D). 


Harald  Böffdin 

man  <li«-  Materie  als  unbestimmt  ansieht,  auf  dem  Grunde 
aller  Relation  and  der  Verkettung  der  Vorstellungen  (Empfindun- 
l  ii. I  wenn  wir  ans  klar  machen,  nach  welchen  Gesetzen 
diese  Verbindung  vorgeht,  erhalten  wir  „das  Original  aller  Objekte", 
„das  Urbild  von  jeder  möglichen  Synthesis,  das  sich  anabhängig 
von  der  Eiozelnheit,  darin  eben  war",  erkennen  lässt"). 

Auch  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunfl  finden  -i<h  Spuren 
der  Analyse,  mittels!  deren  die  Form  vom  Stoffe  getrennl  wird. 
Wenn  Kant  in  ziemlich  unglücklicher  Ausdrucksweise  -;iu't .  wir 
könnten  die  Form  vor  der  wirklichen  Wahrnehmung  «mt- 
decken,  so  Betzl  er  voraus,  dass  eine  solche  Analyse  bereits 
unternommen  sei,  und  anter  wirklicher  Wahrnehmung  verstehl  <t: 
jede  bestimmte,  besondere  Wahrnehmung.  Einige  Beispiele 
werden  dies  zeigen. 

„Wenn  ich  von  der  Vorstellung  eines  Körpers  das,  \\;i-  der 
Verstand  davon  denkt,  als  Substanz,  Kraft,  Teilbarkeil  u.  s.  w., 
imgleichen,  was  davon  zur  Empfindung  gehört,  als  Qndurchdring- 
lichkeit,  Barte,  Farbe  o.  b.  w.  absondere,  so  bleibl  mir  aua 
dieser  empirischen  Anschauung  noch  etwas  übrig,  uämlicfa  A 
dehnung  and  Gestalt  Diese  gehören  zur  reinen  Anschauung,  die 
a  priori,  auch  ohne  einen  wirklichen  Gegenstand  der  sinne  oder 
Empfindung  als  eine  blosse  Form  der  sinnlichkeil  im  Gemüte 
stattfindet."    Ks  wird  hier  eine  Analyse,  d.  h.  ein  successives  Bin- 

wenden    der  Aufmerksamkeil    auf   die    verschiedenen  Seite ler 

Elemente  des  Gegebenen  beschrieben,  and  die  Resultate  der  Ana- 
lyse werden  in  drei  verschiedene  Klassen  geteilt,  die  auf  die  drei 
Vermögen  des  Verstandes,  der  Anschauungsform  and  der  Sinnes- 
empfindung zurückgeführt  werden").  Wie  die  „Aussondern! 
oäher  begrundel  wird,  ist  an  anderen  Orten  zu  ersehen.  „Raum 
und /cii  sind  die  reine  Form  [der  Sinnlichkeit],  Empfindung  aber- 


Lose  Blatter.   S.  16;  19    21.   (Vgl.  oben  §  ■  >  Ende.) 
Sani    Äussert    -i'-li  hier  in   dei    Weise  dei    alten  Abstraktionstheorie, 
obgleich  er  diese  an  anderen  Orten    entschieden   »erwirft     Siehe  „Kritik  dei 
i.  Vera."    -•  Aufl.  E  lie  Note  zur  ersten  Antithesi        B  i  Kants. 

II.  s.  126    V.    1 1 _- . 


Kontinuität  im  Entwicklungsgänge  Kant-.  391 

hanpl  die  Materie  ...  Jene  hängen  unserer  Sinnlichkeil  schlecht- 
hin notwendig  an,  welcher  Art  auch  unsere  Empfindungen 
sein  mögen;  diese  können  sehr  verschieden  sein."  »Wir 
nennen  die  Synthesis  des  Mannigfaltigen  in  der  Einbildungskraft 
transcendental,  wenn  ohne  Unterschied  der  Anschauungen  Bie 
auf  nichts,  als  bloss  auf  die  Verbindung  des  Mannigfaltigen  a  priori 
geht."  „Die  Apperzeption  und  mit  ihr  das  Denken  geht  vor 
aller  möglichen  bestimmten  Anordnung  der  Vorstellungen 
vorher M).a  —  Und  wo  Kant  in  den  Prolegomena  von  der  Ent- 
stehung der  Kategorienlehre  spricht,  sagt  er:  „Ich  sah  mich  nach 
einer  Yctstaudeshandlung  um,  die  alle  übrige  enthält,  und  sich 
nur  durch  verschiedene  Modifikationen  oder  Momente 
unterscheidet,  das  Mannigfaltige  der  Vorstellung  unter  die  Einheit 
des  Denkens  überhaupt  zu  bringen,  und  da  fand  ich,  diese  Ver- 
standeshandlung bestehe  im  Urteilen24)." 

Es  stellte  sich  Kant  zugleich  die  Aufgabe,  gemeinsame  Merk- 
male der  konstanten  Elemente  zu  finden,  die  er  auf  diese  Weise 
in  unserer  Erkenntnis  aussondern  konnte.  Dieser  Teil  der  Analyse 
ging  mit  der  Nachweisung  der  konstanten  Elemente  Hand  in  Hand, 
indem  Kant  erst  recht  auf  letztere  aufmerksam  wurde,  nachdem 
er  eine  gemeinsame  Grundbestimmung  aller  unserer  Erkenntnis 
gefunden  hatte.  Diese  Grundbestimmuug  war  die  Verbindung,  die 
Synthese,  und  da  diese  eine  Function  ist,  betrachtete  Kant  es  als 
selbstverständlich,  dass  sie  nicht  mit  dem  blossen  Eindruck  gege- 
ben sein  könne.  Diese  Seite  der  Analyse  wird  im  Kap.  IV  näher 
besprochen  werden.  Hier  verweilen  wir  nur  bei  der  allgemeinen  Be- 
deutung, welche  die  analytische  Methode  fortwährend  für  Kant  hatte. 

Diese  Analyse,  die  darauf  ausgeht,  die  Thätigkeitsweise  eben 
des  Erkenntnisvermögens  zu  finden,  wird  ausdrücklich  unterschieden 
von  „dem  gewöhnlichen  Verfahren  in  philosophischen  Untersuchun- 
gen, Begriffe,  die  sich  darbieten,  ihrem  Inhalte  nach  zu  zergliedern 
und  zur  Deutlichkeit  zu  bringen".  Die  eigentliche  Aufgabe  der 
kritischen  Philosophie  sei  die  Zergliederung  des  Verstandes  vermö- 


■*)  Kritik  der  reinen  Vernunft.    2.  Aufl.  S.  35,  GO,  345;  1.  Aufl.  S.  118. 
M)  Prolegomena.    Riga  1783.   S.  119. 
Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie,    vi I.  27 


392  Barald  Höffdin 

s  selbst,  das  Auffinden  der  Grundbegriffe  an  ihrem  Entstehungs- 
orte  und  die  Nachweisung  Ihres  Gebrauchs.  Und  diese  kritische 
An  welche  die  Form  von  dem  Stoffe  trenne,    könne   nicht 

eher  vorgehen,  „als  bia  lange  l  ebung  ans  darauf  aufmerksam  und 
zur  Aussonderung  dessen,  was  unser  eignes  Brkenntnisvermög 
aus  sich  selb8l  herausgebe,  aus  dem,  was  wir  durch  Eindrücke 
empfingen,  geschickt  gemacht  hat*  Deshalb  aal  Kant  auch 
nichts  dagegen,  dem  Mathematiker  Kästner  das  Zugeständnis  zu 
machen,  dass  der  Begriff  des  Raumes  aus  sinnlichen  Vorstellungen 
abstrahierl  sei:  „denn,  ohne  Anwendung  onseres  sinnlichen  Vor- 
Btellungsvermögens  auf  wirkliche  Gegenstände  der  Sinne,  wurde 
Belbsl  das,  was  in  diesen  [den  Sinnen]  a  priori  enthalten  sein 
mag,  uns  -.ir  iiichi  bekannt  werden*.") 

13.  Die  mit  Bilfe  der  Analyse  gefundene  Grundlage  der  kri- 
tischen Erkenntnislehre  tritt  in  der  ersten  Auflage  der  „Kritik  der 
reinen  Vernunft"  stärker  hervor  als  in  den  Prolegomena  und  der 
zweiten  Auflage'6).  Dort  entwickelt  er  auf  eine  in  psychologischer 
Beziehung  Behr  interessante  Weise  den  Begriff  der  Synthese  als 
der  allgemeinen  Form  der  Bewusstseinsthätigkeil  auf  den  verschie- 
denen Stufen.  Später  begnügt  er  sich  damit,  ganz  im  allgemeinen 
auf  den  verbindenden  Prozess  zu  verweisen,  namentlich  auf  dem 
Gebiete  des  Verstandes87).  Wegen  der  Missverständnisse  in  psy- 
chologisch-idealistischer Richtung,  denen  die  ..Kritik  der  reinen 
Vernunft"  BOgleich  verfiel,  Buchte  Kant  in  den  späteren  Bearbei- 
tungen die  Aufmerksamkeit  von  der  psychologischen  Analyse  des 
Erkenntnisprozesses  (von  dem.  was  er  in  der  Vorrede  der  ersten 
Ausgabe  die  subjektive  Deduktion  nannte)  abzulenken,  weil  diese 
nur  als  Vorbereitung  von  Bedeutung  war.  damit  seine  Hauptauf- 
gabe,   die   Konstruktion   *\<v  für  alle  Erscheinungen   gültigen  und 

Di  ert.  §  15.  Coroll.  -  Kritik  der  reinen  Vernunft.  2.  Aufl.  S.  1  u.  f.; 
90.        Willi.    Dilthey:    Au     den  i;  Kanthandschriften.    Archiv  für 

die  Geschichte  der  Philosophie.   III.  S.  VT. 

Wii-  \..|,  Benno  Erdmann  in  der:  Einleitung  zn  Prologomena. 
S.  XXXII-    XXXVIII  nachgewiesen. 

Vgl.  ebenfalls  den  Brief  an  Tioftruni  vom  11.  December  1797  übei 
den  Begriff  dei  Zusammensetzung,  die  allen  Kategorien  zu  Qrunde  li< 


Kontinuität  im  Entwicklungsgänge  Kants.  393 

dennoch  von  denselben  unabhängige]]  Vernunftsätze  um  so  schärfer 
hervortreten  könnte. 

Don  scharfen  Gegensatz  der  mathematischen  zur  philosophi- 
schen Methode,  den  Kant  in  der  Abhandlung  über  die  Deutlichkeil 
der  Grundsätze  dargestelli  hatte,  behauptet  er  jedoch  stets.  In 
dem  interessanten  Anschnitt.  „Die  Disciplin  der  reinen  Vernunft 
im  dogmatischen  Gebrauche"  wird  derselbe  zum  Teil  in  den  näm- 
lichen Wendungen  ausgesprochen,  wie  in  der  last  zwanzig  Jahre 
älteren  Schrift.  Auch  hier  wird  gezeigt,  dass  die  philosophischen 
Begriffe,  die  mittels  Analyse  gewonnen  würden,  nicht  aber  wie  die 
mathematischen  mittels  direkter  Konstruktion,  sich  nichl  im  streng- 
sten Sinne  definieren  Hessen,  da  man  keine  apodiktische  Gewiss- 
heil  habe,  dass  der  Inhalt  des  Begriffes  vollständig  sei.  Als  Bei- 
spiele werden  die  Begriffe  Ursache,  Recht,  Billigkeit  genannt.  Es 
könnten  dunkle  Nebenvorstellungen  vorhanden  sein,  die  wir  bei 
der  Analyse  übergingen,  und  die  dennoch  bei  der  Anwendung  niit- 
bethätigi  seien,  ohne  dass  wir  es  merkten28). 

Der  unterschied  zwischen  den  älteren  Schriften  (17G2  u.  f.) 
und  der  „Kritik  der  reinen  Vernunft"  ist  der,  dass  Kant,  während 
er  früher  nur  zwei  Arten  von  Begriffen  unterschied,  die  empiri- 
schen und  die  mathematischen,  deren  erstere  durch  Analyse,  letz- 
tere durch  direkte  Konstruktion  gewonnen  würden,  später  drei 
Arten  von  Begriffen  unterschied:  1)  empirische,  2)  apriorisch- 
diskursive,  3)  apriorisch -intuitive.  Die  ersten  beiden  Arten  wür- 
den durch  Analyse,  die  letzte  durch  direkte  Konstruktion  gewonnen. 
Die  Analyse,  mittels  deren  die  erste  und  die  zweite  Art  erzielt 
werden,  ist  indes,  wie  im  Vorhergehenden  (siehe  §  12)  nachge- 
wiesen, von  verschiedener  Beschaffenheit. 

14.  Für  die  Kritik  der  Kantischen  Erkenntnistheorie  ist 
dieser  Zusammenhang  des  älteren  und   des  späteren  Standpunktes 


28)  Kritik    der  reinen   Vernunft.    2.  Aufl.  S.  756.    —    Vergl.    hiermit    die 
iume  eines  Geistersehers".    1.  T.  1.  Rauptet  (Kehrbachs  Ausg.  S.  6  Note), 

wo  die  Beschreibung  erschlichener  1;,,^,  nr,.  (|je  angeführte  Stelle  der  „Kritik" 

lebhaft  ins  Gedächtnis  ruh. 

")  Vgl.  Bchon  „Aenesidemns"  (von  G.  E.  Schulze).   1792.  S.  401, 406. 

27* 


:; 94  Harald  Hüffdii. 

\„n  grossem   [nt  Denn    hiermit    tritt    die  Frage  nahe,    ob 

Kant  wirklich  eine  ganz  neue  Klasse  von  Begriffen  entdeckt  bat, 
die  inmitten  der  empirischen  and  der  konstruierten  stehen  sollten. 
Zur  Entscheidung  dieser  Frage  braucht  man  nicht  ober  Kants 
ie  Aeusserungen  hinaus  zu  gehen.  Denn  er  erklart  ja  rund 
heraus,  dass  die  apriorisch-diskursiven  Begriffe  (>.  die  Kategorien) 
nicht  völlig  fertig  seien  —  und  dennoch  operirt  er  mit  ihnen  um 
Grundsatze  aufzustellen,  als  ob  Bie  völlig  fertig  wären!  Betrachten 
wir  ihre  Entstehungsweise,  so  sind  sie  denselben  Bedingungen 
unterworfen  wie  die  gewöhnlichen  empirischen  Begriffe.  W  ie  wir 
sahen,  sind  sie  die  Frucht  der  Beobachtung  konstanter  Elemente 
während  des  Wechsels  unserer  Erfahrungen.  Die  Annahme,  wir 
hätten  hier  die  Natur  des  Erkenntnisvermögens  selbsl  (oder,  wie 
Kant  zu  sagen  pflegt,  „die  Quellen*)  vor  uns,  ist  ein  Schluss  aus 
dieser  Konstanz  oder  deren  Auslegung.  Sie  isl  also  eine  Hypo- 
these. In  der  Vorrede  zur  ersten  Ausgabe  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft  sagtEanl  denn  auch,  die  „subjektive  Deduktion0  (s.  den 
Nachweis  der  Quellen  der  Erkenntnis  mittels  der  Analyse)  könne 
als  eine  Hypothese  aussehen,  da  sie  ja  auf  die  „Aufsuchung  der 
l  raache  zu  einer  gegebenen  Wirkung"  ausgehe;  er  meint  indes, 
dem  sei  nicht  so.  und  verspricht,  dies  bei  anderer  Gelegenheit  zu 
zeigen.  Dieses  Versprechen  hat  er  jedoch  nicht  -ehalten,  im  Gegen- 
teil in  seinen  späteren  Darstellungen  diesen  analytischen  Teil  be- 
deutend reduziert. 

Kant  ist  also  in  gewissem  sinne  auf  seinem  definitiven  Stand- 
punkte nicht  weiter  ^elainjt.  als  er  1 T < » li  war.  Die  Möglichkeit 
einer  derartigen  liostiininun^  der  „Formen",  dass  die  Genauigkeit 
und  Vollständigkeil  der  Bestimmungen  völlig  verbürgt  wäre,  hat  er 
oichl  nachgewiesen.  Eigentlich  kann  er  sich  also  nicht  von  dem- 
selben Vorwurf  befreien,  iU-n  er  Keilmiz  und  Wolf  machte:  dass  sie 
mit  unfertigen  und  erschlichenen  Begriffen  operierten,  und  in  dem 
System  von  Formen,  das  er  als  Fundament  unserer  exakten  Er- 
fahrung aufstellt,  ist  ein  bedeutendes  hypothetisches  Moment  Er 
meint  mit  Recht,  das-  wir.  könnten  wir  ganz  gewiss  sein,  dass 
diese  Formen  hei  all  unserer  Erfahrung,  all  unserer  Auffassung  be- 


Kontinuit&l  im  Entwicklungsgänge  Kants.  :'»'.•."> 

teiligt  wären,  auch  von  den  Gegenständen  der  Erfahrung  ein  aprio- 
risches Wissen    besitzen    würden.    Eben    diese    völlige   Gewissheil 

l,:isst  sich  aber  nicht  darlegen'0). 

Der  Erkenntnistheorie   bleib!  kein  anderer  Weg  übrig  als  das 

Operieren  mit  der  durch  Analyse  gefundenen  (Wundläge  wie  mit 
einer  Hypothese,  indem  man  der  fortgesetzten  Analyse  die  Berich- 
tigung der  Grundlage,  von  welcher  man  ausgeht,  überlässt.  Die 
Sache  ist  die.  dass  die  verschiedenen  Operationen  miteinander  im 
Wechselverhältnis  stehen.  Man  kann  nicht  alle  mögliche  Kon- 
struktion beiseite  legen  und  sich  ans  Analysieren  machen;  dies 
würde  der  Analyse  selbst  zum  Schaden  gereichen,  da  die  Konstruk- 
tion als  unterstützender  Prozess  und  als  Experiment  notwendig 
sein  kann.  Kants  eigne  antinomischc  Methode  war  eigentlich  ein 
Versuch  solcher  Konstruktionen,  welche  die  Beschaffenheit  der 
Voraussetzungen  erhellen  sollten,  wenn  diese  sich  nicht  direkt 
analysieren  Hessen.  —  Ebenfalls  gilt  natürlich  das  Umgekehrte,  dass 
die  Konstruktion  die  Analyse  voraussetzt,  weshalb  es  sich  bei 
näherer  Untersuchung  ergibt,  dass  sogar  die  mathematischen  Be- 
griffe,  die  durch  direkte  Konstruktion  aufgestellt  zu  sein  scheinen, 
eine  vorhergehende  Analyse  voraussetzen.  Kants  Gegensatz  zwi- 
schen Mathematik  und  Philosophie  ist  also  in  der  von  ihm  aufge- 
stellten Form  nicht  haltbar. 

Die  Gewissheit,  dass  wir  an  den  konstanten  Elementen  der 
Erfahrung  die  notwendigen  Formen  unserer  Bewusstseinsthätigkeit 
halten,  kann,  wie  weit  die  Analyse  auch  geführt  werden  möge,  nur 


30)  Vgl.  die  Distinktion  zwischen  dem  Angeborensein  und  dein  ursprüng- 
lichen Erwerben  in  der  Dissert.  §  8,  Coroll.  —  Ueber  eine  Entdeckung  u.  s.  w. 
S.  68.  —  Kritik  d.  r.  Vern.  :.'.  Aufl.  §  27.  —  Brief  an  Hertz  vom  21.  Febr. 
1772.  —  Von  einem  rein  psychologischen  Standpunkt  aus  inuss  ebenfalls  ein 
Einwarf  gegen  Kants  Distinktion  des  Stoffes  und  der  Form  erhoben  werden. 
Die  Empfindungen  sind  nicht  bloss  passiv  aufgenommener  Stoff,  sondern  jede 
Empfindung  wird  in  ihrer  Entstehung  und  Beschaffenheil  durch  den  Gesamt- 
zustand des  Bewus8t8ein8  bestimmt.  Hier  findet  in  sofern,  was  die  Empfin- 
dungen Belbst  betrifft,  ein  Formen  und  Verbinden,  eine  Synthese  statt.  Vgl. 
meine  Psychologie.  Leipzig.  2.  Ausg.  S.  152  u.  f.  Dieser  Einwurf  hebt  Kants 
Distinktion  nicht  auf,  führt  sie  aber  weiter  und  anders  durch,  als  er  es  that. 


Harald  Höffdin( 

approximativ  «rerden,  and  die  Schlüsse,  die  sich  auf  diese  Gewiss- 
heil Btützen  lassen,  müssen  natürlich  deren  Schicksal  teilen.  Kante 
Neigung  auf  seinem  definitiven  Standpunkte,  die  Analyse  beiseite 
zn  schieben,  machte  ihn  wider  seinen  eignen  Willen  zum  Dogma- 
tiker.  Richtiger  Bah  er  1762,  da  er  die  analytische  Methode  als 
\\   Bfe  gi  gen  die  Dogmatiker  benutzi 

15.  Dass  die  Analyse  in  Kants  definitiver  Philosophie  das 
-  ikiml  war.  obgleich  sie  ihren  Platz  in  ihr  hat,  zeigt  sich 
besonders  darin,  dass  die  Ableitung  der  „Formen"  aus  dem  kon- 
kreten Zusammenhang,  in  welchem  sie  Bich  nach  Kant  anfänglich  an 
den  Tag  legen,  oichl  durchgeführt  ist.  Das  gegenseitige  Verhältnis 
der  beiden  Sätze,  die  Kant  alle  beide  anerkennt:  „Alle  Erkenntnis 
hebl  mit  der  Erfahrung  an.-  und:  ..Nicht  alle  Erkenntnis  ent- 
springl  aus  der  Erfahrung,"  hat  er  nicht  deutlich  Dachgewiesen. 
Dies  wäre  nur  dann  geschehen,  wenn  er  die  verschiedenen  Ent- 
wickelungsstufen  dargestellt  hätte,  welche  die  „Formen"  von  der 
angeborenen  Grundlage  an  bis  zu  der  durch  Uebung  erworbenen 
bewussten  Klarheit  durchlaufen  müssten'1). 

Alier  oichl  nur  als  völlig  fertig  setzl  Kant  die  Formen  vor- 
aus; er  setzl  sie  auch  in  einer  idealen  Vollkommenheil  und  Rein- 
heil voraus,  in  welcher  keine  wirkliche  Anschauung  "der  Erfah- 
rung sie  aufzuweisen  vermag.  Dass  dies  sich  mit  Bezug  auf  den 
Raum  und  die  Zeii  bo  verhält,  bedarf  keines  näheren  Nachweü 
Newtons  absoluter  Raum  und  absolute  Zeil  sind  bei  Kant  sozu- 
sagen eingeschlagen,  sind  subjektive  Formen  geworden  -  ohne  je- 
doch  ihre  Absolutheft   zu   verlieren.     So  wird   in   der  Dissertation 


3I)  Was  die  Zeil  betrifft,  machl  Kant  keinen  Unterschied  zwischen  Zeiten) 
pfindung,  Zeitvorstellung  und  Zeitanschauung.  \  gl.  meine  Psychologie.  2.  Ausg. 
11  und  meine  Abhandlung:    »Lotze's  Lehren   über  Kaum  und  Zeit" 
ilos.  Monatsb.  1890.  S.  428    432).   -    Was  den  Raum  betrifft,    so  drück! 
Kau:  Bich  in  anderen  Schriften  weil  deutlicher  aus  als  in  der  »Kr.  d.  r.  Vera*. 
in  den  „Metaphysischen   Anfangsgründen  der  Naturwissenschaft" 
Riga  i  3  u.  f.:    »Dei   absolute    Raum   ist   an  sich    nichts   uml 

kein  Objekt,  sondern  bedeute!  nur  einen  jeden  andern  relativen  Raum,  den 
ich  mir  ausser  dem  gegebenen  jederzeit  denken  kann".  — S.  16:  »Der  abso- 
lute Raum  ist  für  alle  mögliche  Erfahrung  nichts". 


Kontinuität  im  Entwicklungsgänge  Kants.  .">'.i( 

jede  der  Anschauungsformer]  als  typua  immutabilia  bezeichne! 
(§  15,  Coroll.)-  K;mt  denkt  sich  also  Vorbilder,  ideale  Rahmen,  auf 
welche  alles,  was  uns  erscheine,  zurückzuführen  sei,  am  in  einen 
allgemeinen  Zusammenhang  verwoben  zu  werden")»  Bin  ähnliches 
Vorbild  (exemplar)  werde,  der  Dissertation  (§  9)  zufolge,  auch 
rücksichtlich  der  Verstandeserkenntnis  gebildet  und  gebe  den  ge- 
meinsamen Massstal)  aller  Realitäl  ab.  In  der  „Kritik  der  reinen 
Vernunft"  entsteht  der  Erfahrungsbegriff  oder  der  Naturbegriff 
eben  durch  eine  ähnliche  ideale  Konstruktion.  Die  Parallele  jenes 
„unwandelbaren  Vorbildes"  tritt  deutlich  hervor,  wenn  es  heisst: 
„Es  ist  nur  eine  Erfahrung,  in  welcher  alle  Wahrnehmungen 
als  im  durchgängigen  und  gesetzmässigen  Zusammenhange  vorge- 
stellt werden,  ebensowie  nur  ein  Raum  und  eine  Zeit  ist. 
in  welcher  alle  Formen  der  Erscheinung  und  alles  Verhältnis  des 
Seins  oder  Nichtseins  stattfindet33)."  „In  dem  Ganzen  aller 
möglichen  Erfahrung  liegen  alle  unsere  Erkenntnisse."  „Alle 
Erscheinungen  liegen  in  einer  Natur  und  müssen  darin  liegen, 
weil  ohne  diese  Einheit  a  priori  keine  Einheit  der  Erfahrung,  mit- 
hin auch  keine  Bestimmung  der  Gegenstände  in  derselben  möglich 
wäre34)."  —  Die  letzte  Begründung,  die  Kant  von  dieser  Einheit 
der  Erfahrung  (oder  der  Natur)  gibt,  ist  die,  dass  bewusstes  Er- 
kennen nur  dann  möglich  sei,  wenn  die  gegebenen  Elemente  mit- 
tels Synthese  vereint  würden.  Die  synthetische  Einheit  sei  das 
Prinzip  aller  Verständnis.  „Wenn  eine  jede  einzelne  Vorstellung 
der  anderen  ganz  fremd,  gleichsam  isoliert,  und  von  dieser  ge- 
trennt wäre,  so  würde  niemals  so  etwas,  als  Erkenntnis  ist,  ent- 
springen, welche  ein  Ganzes  verglichener  und  verknüpfter  Vor- 
stellungen ist35)."  Wir  hätten  deshalb  an  dem  Begriffe  des  syn- 
thetischen  Charakters  unseres  erkennenden  ßewusstseins  ein  Urbild 
alles  dessen,  was  wir  erkennen  könnten  (vgl.  §  5  Ende:  §  12). 
In  welchem  Masse  befriedigen  nun  aber  die  wirklichen  Wahr- 


32)  Kr.  d.  r.  Vern.  1.  Aul!.  S.  110.      33)  Kr.  d.  r.  Veru.  2.  Aufl.  S.  185:  263. 
3')  Kr.  .1.  r.  Vern.   1.  Aufl.  S.  97  (vgl.  2.  Aufl.  S.  103  . 
3ä)  Lose  Blätter.   I.  S.  35,  136.  —  Reflexionen  Kants.  II.  S.  307  (Xo.  l(»Tl  . 
-    Kr.  d.  r.  Vern.  1.  Aufl.  S.  126;  2.  Aufl.  S.  303. 


Harald  Höffdinj 

nehmungen  die  ideale  Forderung,  die  von  diesem  Vorbild  aus  an 
II  wird?  Hiervon  kann  man  von  vornherein  offenbar 
oichts  wissen.  Ein  von  unserer  Erkenntnisthätigkeit  durch  Abstrak- 
tion und  Idealisierung  gebildet  \  rbild  Eeigl  seine  Bedeutung  da- 
durch, dass  es  den  Gedanken  in  Bewegung  Betzt.  Ob  der  Gedanke 
aber  adäquate  Abbilder  des  Vorbildes  findet,  und  ob  er  inmitten 
der  unübersehbaren  Vielfachheil  der  Wahrnehmungen  das  Vorbild 
durchzufuhren  vermag,  das  i>t  die  grosse  Frage,  die  nicht  dadurch 
beantwortet  wird,  dasa  man  nachweist,  wir  konnten  nur.  wenn 
dies  geschehe,  die  notwendige  Erkenntnis  haben. 

Mitunter  spricht  Kant  sich  denn  auch  so  aus,  als  ob  durch 
das  Vorbild  nur  ein  Suchen  eingeleitet  werde.  So  wird  in  der 
Dissertation  das  Prinzip,  dass  alles,  was  geschehe,  der  Ordnung 
der  Natur  gemäss  geschehe,  als  ein  subjektives  Prinzip  unserer 
Forschung  (principium  convenientiae),  dem  Gesetze  der  Sparsam- 
keil (§30)  nebengeordnet  aufgestellt.  In  einer  Aufzeichnung  aus 
den  siebziger  Jahren  wird  von  einer  Präsumtion  geredet,  der  zu- 
folge sich  alles  nach  einer  Regel  bestimmen  lasse.  In  einer  Auf- 
zeichnung aus  der  ersten  Zeit  Ars  Kritizismus  wird  gefragt:  „Da 
wir  die  Möglichkeil  eines  Realgrundes  nicht  einsehen,  wie  können 
wir  denn  a  priori  sagen,  dass  es  durchaus  solche  geben  müsse?... 
Gilt  nicht  dies  Prinzipium  als  Antizipation,  weil  ohne  Regel 
wir  auch  keine  Erfahrungen  haben  würden,  diese  Regel  aber  in 
der  Ordnung  der  Zeil  und  des  Raums  nach  allgemeinen  Gesetzen 
besteht?"  In  einer  Aufzeichnung  aus  den  achtziger  Jahren  heisst 
„Die  Prinzipien  der  Exposition  der  Phänomena  sind  Prinzipien 
der  [ntellektion,    nicht   der  Perspizienz   derselben,  Ursachen   zu 

suchen,   aber   nicht    zu   bestimmen.0     Und  in  der  Kritik   der   reinen 

Vernunft:  ..her  Verstand  i-t  jederzeit  geschäftig,  die  Erschei- 
nungen in  der  Absicht  durchzuspähen,  um  an  ihnen  ir- 
ad  eine  Regel  aufzufinden".  ..Der  Verstand  kann  a  priori 
niemals  mehr  leisten  als  die  Form  einer  möglichen  Erfahrung 
überhaupt  zu  antizipieren 


Schon  Salomon   Maimon  wies  dieses  nach.    -Für  midi  ist  Erfah- 


Kontinuitäl  im  Entwicklungsgänge  Kants.  399 

Wäre  Kani  hierbei  Btehen  geblieben,  so  hätte  er  nicht  mehr 
behauptet,  als  er  zu  beweisen  vermochte.  Dann  würde  er  aller- 
dings aber  keinen  Grund  gehabl  haben,  seinen  scharfen  unter- 
schied zwischen  Kategorie  und  [dee  aufzustellen,  da  es  sich  dann 
zeigen  würde,  dass  schon  die  Kategorie  ideale  Ansprüche  macht. 
welche  die  reale  Erkenntnis  stets  nur  unvollkommen  befriedigt"). 
Durch  sein  Vertrauen  auf  den  „ Kopernikanischen"  Gedanken, 
worin  (wie  später  zu  erörtern)  die  Entdeckung  von  ITC»'.»  bestand, 
war  Kaut  übers  Ziel  hinaus  geführt  worden.  Dasselbe  verlieh  ihm 
den  Mut,  die  synthetische  Konstruktion  zu  unternehmen,  die  ihm 
noch  vor  wenigen  Jahren  als  ein  fernes  Ziel  dastand.  Von  dem 
Drbilde  und  der  Präsumtion  ging  er  ohne  weiteres  zum  Ge- 
/.c  als  ob  letzteres  sich  aus  ersteren  ableiten  Hesse.  Die  wirk- 
liche Erkenntnis  betrachtet  er  als  mit  dem  Begriffe  der  Er- 
kenntnis gegeben:  der  alte  ontologische  Gedankengang  hat  hier 
«-einen  grossen  Gegner  überlistet!  Die  transcendentale  Deduktion, 
die  ihm  so  viele  Mühe  gekostet  hatte,  und  auf  die  er  so  stolz 
war.  war  in  der  That  nur  erkenntnistheoretische  Alchymie.  Wie 
die  Alchymisten  aber  oft  bei  ihrem  Suchen  nach  dem  Stein 
der  Weisen  unterwegs  neue  chemische  Beziehungen  entdeckten,  so 
kam  Kant  während  seines  eifrigen  Strebens,  eine  absolute  Lösung 
des  Humeschen  Problems  zu  finden,  dazu,  wertvolle  Beiträge  zur 
Verständnis  der  Natur  unserer  Erkenntnis  zu  geben. 

16.  Nur  ein  einzelner  Punkt  sei  noch  zur  Erhellung  der 
analytischen  Methode  Kants  hervorgehoben.  "Wie  wir  (§  12)  sahen, 
geht  er  davon  aus,  dass  die  konstanten  Elemente  unserer  Erfah- 
rung von  der  Erkenntnisthätigkeit  allein  herrühren  müssteu  und 
nur  deren  Gesetze  ausdrücken  könnten.  Hätte  Kant  sich  ein- 
gehender auf  die  Analyse  eingelassen,  die  ihm  zur  Aufstellung  der 
I  ormen  bewog,  so  miis>te  er  auch  dazu  gekommen  sein,  die  Be- 
rechtigung    dieser  Annahme  genauer  zu  prüfen.     Er  geht  ja  vuu 


rung  im  strengen  Sinne  kein  in  der  Anschauung  darstellbarer  Begriff,  son- 
dern eine  Idee.-  Kritische  Untersuchungen.  Leipzig  1794.  S.  154.  —  BDie 
kritische  Philosophie  kann  nur  hypothetisch  philosophieren.-*  Die  Kategorien 
des  Aristoteles.  Berlin  1 T . >  i .   s.  [33. 


400  Barald  11  öffdin 

Anfang  an  davon  aus,  dass  das  Bewusstsein,  das  erkennende  Sub- 
jekt, nichl  das  einzige  Existierende,  sondern  nur  ein  Glied  des 
ganzen  Daseins  sei  und  mit  dem  übrigen  Existierenden  in  Wechsel- 
Verhältnis  stehe.  Die  Weise,  wie  das  Subjekt  das  I >:i-»in  auffasst, 
kann  dann  nicht  durch  dessen  eigne  Natur  allein  bestimmt  sein, 
sondern  ebenfalls  durch  die  Natur  des  Existierenden. 

Ea  liegen  bei  Kaut  verschiedene  nicht  beachtete  Andeutungen 
in  dieser  Richtung  vor.    In  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  (1.  Ausg. 
158)  ist  die  Rede  von  „demjenigen  Etwas,  welches  den  äusseren 
Erscheinungen    zum  Grunde  liegt,    was  unseren  Sinn  bo  affiziert, 
dass  er  die  Vorstellungen  von  Kaum.  Materie,  Gestalt  n.  &  w.  be- 
kommt".   „1  od  mit  Bezug  auf  «Im  Frage,  wie  in  einem  denkenden 
Subjekt    überhaupt    'Im  äussere   Anschauung  des  Raumes  möglich 
.,i.  wird  bemerkt,  hierzu   lasse  sich  nur  Bagen,  'Im  Vorstellungen 
.In-  äusseren  Erscheinungen  hätten  ihre  Ursache  in  dem  Dinge  an 
sich    („dem    transcendentalen    Gegenstände")   (ibid.  S.  393).     IM.' 
Weise,  wie   ich  »'in  Ding  auffasse,   brauche  dem  Objekte,  das  'Im 
Auffassung  Mm  Sinnesempfindung  oder   die   Raumanschauung)    in 
mir  hervorrufe,  gar  nicht  völlig  ähnlich  zu  sein  —  heissl  es  in  den 
Prolegomena  ^.i\\.    Die  Raumanschauung  sei  durch  das  Verhältnis 
des  Gegenstandes  zum  Subjekte  bestimmt  (Kr.  d.  r.  Vern.  2.  Aufl, 
S.  66,  69).  hie  deutlichsten  Aeusserungen  finden  sich  an  mehreren 
Orten  in  dm-  „Dialektik".     Es  ist  unmöglich,  heissl    >■-.    die  Ant- 
wort auf  die  Frage  zu  finden,    „weshalb  der  transcendentale 
Gegenstand   unserer  äusseren  sinnlichen  Anschauung 
rade  nur  Anschauung  im   Räume  und    nicht    irgend    ''in-' 
andere    gebe".     „Viele  Kräfte  der  Natur,   die  ihr  Dasein  durch 
gewisse  Wirkungen  äussern,   bleiben  für  uns  unerforschlich;  denn 
wir  können  ihnen  durch  Beobachtung  nicht  weit  genug  nachspüren. 
Das  den   Erscheinungen   /um  Grunde    liegende    transcen- 
dentale Objekt,    und    mit    demselben   der  Grund,    warum 
unsere    Sinnlichkeit    diese    vielmehr    als   andere   oberste 
Bedingungen   habe,   sind  und  bleiben  für  uns  unerforsch- 
lich, obzwar  dir  Sache  seihst  übrigens  gegeben,  aber  nur 
nicht    eingesehen    ist"   (2.  Aufl.  S.  585;  631  u.  f.).  —  An  den 


Kontinuität  im  Entwicklungsgänge  Kants.  10 1 

zuletzt   angeführten   Orten  wird   der  Grund    der  Raumanschauung 
sogar  durchaus  vorwiegend  dem  Dinge  an  Bich  zugeschrieben.17) 

Aus  diesen  Andeutungen  ist  zu  ersehen,  dass  Kan1  nichl  nur 
den  Stoff,  sondern  auch  die  Form  aus  dem  Dinge  an  sich  ableitete. 
Wenn  «lem  aber  so  ist,  wird  es  anberechtigt,  dass  er  so  off  ein 
Dilemma  aufstellt,  das  die  Wahl  gibt,  ob  der  Gegenstand  die  Vor- 
stellung oder  die  Vorstellung  den  Gegenstand  bestimme.  In  seiner 
eignen  Theorie  wird  in  der  That  beides  vorausgesetzt.  Kant  kann 
konsequent  daher  nicht  der  strenge  Apriorikcr  sein,  der  er  gern 
sein  möchte.  Es  giebt  eine  Grundvoraussetzung,  die  er  nicht  her- 
vorhob, und  auf  die  sich  doch  sein  ganzes  „System  der  Grund- 
sätze" stützt:  diejenige  nämlich,  dass  das  Ding  an  sich  konstant 
wirkt.  Wäre  dies  nämlich  nicht  der  Fall,  so  würden  ja,  die  Na- 
tur des  Subjekts  als  unveränderlich  vorausgesetzt,  die  konstanten 
Elemente  der  Erfahrung,  welche  die  wirkliche  Grundlage  von  Kants 
gesamtem  erkenntnistheoretischem  Aufbau  bilden,  Abänderungen 
erleiden  können,  und  alsdann  würden  die  Grundsätze  sich  eben- 
falls verändern.  —  Auch  von  dieser  Seite  zeigt  es  sich,  dass  „die 
kritische  Philosophie  nur  hypothetisch  philosophieren  kann".  Kants 
Glaube,  eine  Philosophie  der  Erscheinungen  durchführen  zu  kön- 
nen, ohne  es  nötig  zu  haben,  irgend  eine  Voraussetzung  vom  Dinge 
an  sich  aufzustellen,  war  falsch.  Schon  seine  ersten  Kritiker  mach- 
ten darauf  aufmerksam,  dass  das  Ding  an  sich,  wenn  er  die  Be- 
griffe Ding,  Existenz  und  Ursache  von  demselben  gebraucht,  doch 
nicht  absolut  unbekannt  sein  könne.  Es  sei  indes  hinzugefügt, 
dass  er  auch  voraussetzt,  dasselbe  wirke  auf  regelmässige  Weise. 

Kant  glaubte  einen  Beweis  von  der  Gültigkeit  des  Kausalsatzes 
geführt  zu  haben,  was  Wulf  durchaus  misslungen  war.  Während 
Wolf  denselben  aus  «lein  Grundsätze  des  Widerspruchs  herleiten 
wollte,  begründet  Kant  ihn  als  die  Voraussetzung  der  Möglichkeit 
der  Erfahrung88).    Kants  Beweis  stützt  sich  auf  die  Annahme,  der 


37)  Vgl.  den  Brief  an  Reinhold  vom  12.  Mai  1789:    „Das  Realwesen  von 
Raum  und  Zeil  und  der  erste  Grund,  warum  jenem  drei,  dieser  nur  eine  Ä.b 
messung  zukommt,  isl  uns  unerforschlich". 

3<)  Kr.  d.  r.  Vera.   -'.  Autl.  s.  264. 


102  H.  Söffding,    Kontinuität  im   Kntwuklin..  Kants. 

Kausalbegriff  sei  eine  dex  subjectiven  Formen,  ohne  die  keine  Er- 
fahrnng  im  strengen  Sinne  entstehe.  Ebensowenig  aber  wie  der 
Umstand,  dass  wir  änseere  Brscheinnngen  in  der  Form  dos  Rau- 
mes auffassen,  sich  ans  der  Natur  des  Subjektes  allein  herleiten 
lässt,  ebensowenig  betrachtet  Kant  es  als  vom  Dinge  an  rieh  un- 
abhängig, dass  wir  die  Erscheinungen  als  1  rsachen  und  Wirkun- 
gen auffassen.  Dies  ist  aus  einer  Aeusserung  wie  Folgender  zu  er- 
sehen: ..Dem  transcendentalen  Objecto  können  wir  allen  Umfang 
und  Zusammenhang  unserer  möglichen  Wahrnehmungen  an- 
schreiben .  .  .  Die  Brscheinnngen  sind,  ihm  gemäss  ....  ge- 
geben""). Hier  wird  also  gesagt,  dass  die  Erscheinungen  nichl 
mir.  was  den  Stoff,  sondern  auch,  was  die  Form  betreffe,  mit  dem 
Dinge  an  sich  in  Uebereinstimmung  seien,    indem    auch    ihr  Zu- 

^amiuenhang    auf    das.-elhe    zurückgeführt    wird.      Das    Ding    an 

sich  musa  also  in  seinem  Wirken  auf  das  Subjekt  ebenso  konstanl 
-ein  wie  der  Zusammenhang  der  Erscheinungen.  Und  hier  treffen 
wir  nun  eine  Grundvoraussetzung  vom  Dinge  an  ßich  an. 
die  Kant  niemals  formuliert  hat.  Es  erweisl  sich,  dass  zu 
derjenigen  „Möglichkeil  der  Erfahrung",  welche  die  ganze  Erkennt- 
nistheorie Kants  trägt,  mehr  gehört  als  die  subjectiven  Bedingun- 
gen. Hierdurch  wird  sowohl  der  Apriorismus  als  der  Phänomena- 
lismua  beschränkt.  Die  Möglichkeit,  die  Erscheinungen  zu  antizi- 
pieren, und  die  Notwendigkeit,  zwischen  diesen  und  dem  Dinge 
an  sich  zu  unterscheiden,  werden  auf  bedeutungsvolle  Weise  be- 
grenzt Namentlich  fällt  die  Notwendigkeil  weg,  das  Kausalprin- 
zip  von  der  Gültigkeil  für  das  Ding  an  sich  auszuschliessen.  Ob- 
gleich der  Btrenge,  apriorische  Beweis  des  Kausalsatzes  wegfallt, 
wird  doch  der  Vorthei]  erreicht,  da-  die  grosse  Schwierigkeit,  die 

darin    enthalten    war.   das^    Kan!    das    Ding   an    -ich   als    Ursache   der 

Erscheinungen  auffasste,  augenblicklich  verschwindet  Indem  das 
System  in  empirischer  und  realistischer  Richtung  abgeändert  wird, 
verlierl  es  zugleich  auch  seine  grosse  Inkonsequenz. 


Kr.  d.  r.  Vera.    J.  Auil.  S.  522. 


Jahresbericht 

aber 
sämmtliche  Erscheinungen  auf  dein  Gebiete  der  Geschichte 

der  Philosophie 

in    Gemeinschaft    in  i  1 

Clemens  Baenmker,  Ingram  Bywater,  Alessandro  Chiappelli,  Hermann  Diels, 

Wilhelm  Dilthey,  Benno  Erdmann,  Andrew  Setb,  Paul  Tannery, 

Feiice  Tocco,  Wilhelm  Windelband  und  Eduard  Zeller 

herausgegeben 


Ludwig  Stein. 


IV. 

Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  und  ihr 
Verhältnis  zur  Philosophie.   L889-1892. 

Von 
Paul  Wcmllaml  in  Berlin. 

Gnosticismus  und  Manichäismus. 
Bilgenfeld,  Der  Gnosticismus.     Z.  f.  w.  Th.  1890.  S.  1—63. 

Der  Verl..  der  eine  Ableitung  des  Gnosticismus  aus  dem  reli- 
giösen Synkretismus  ablehnt,")  sucht  dessen  Geschichte  aus  der 
überlieferten  Succession  der  Gnostiker  zu  begreifen.  Zum  Teil  von 
einer  Kritik  der  llarnackschcn  Auflassung  ausgehend  schildert,  er 
als  Anfang  des  Gnosticismus  Simons  Lehre,  die  durch  Menander 
dem  Christentum  mehr  angenähert  sei,  und  unterscheide!  dann  zwei 
Richtungen,  deren  erste  (gnostisches  Christentum)  vom  unhaltbaren 
Nomismus  des  Kerinth  und  dem  libertinistischen  Antinomismus  des 
Karpokrates  zum  ernst  religiösen  Antinomismus  des  Kerdon  l'ort- 
schreitend  in  Marcion  abgeschlossen  sei.  deren  zweite  (christlicher 
Gnosticismus)  vom  gestörten  Monismus  simonianischer  Gnostiker  zu 
den  dualistischen  Systemen  des  Basilides  und  Saturnin  führe,  um 
in  Valentins  Lehre  seine  Vollendung  zu  finden. 


'-')  In  einzelnen  Punkten  wenigstens  ist  der  Einfluss  mythologischer  Vor- 
stellungen auf  die  Gnostiker  durch  üsener  (a.  0.  and  in  den  Weizsäckei 
widmeten  Theol.  Abbandl.  S.  211)  and  Dieterich  erwiesen. 


406  dland, 

II.  Staehelin,  Die  gnostischen  Quellen  Hippolyta  in  seiner  Haupt- 
schrift  gegen  die  Bäretiker.     Texte  and  Untersuchungen  zur 
schichte  der  altchristlichen  Litt  VI,  3.     Leipzig  1890. 

Der  Verf.  begründet  die  jetzt  allgemein  anerkannte  Ansicht, 
daas  die  Bippolyi  eigentumlichen  Berichte  im  Verhältnis  zu 
dem  \  "ii  Justin  and  [renaeus  Qeberlieferten  den  Charakter  des 
Spateren  und  Abgeleiteten  tragen,  sorgfältig,  indem  er  das  \  erhältnis 
derselben  (er  zählt  aeun  Berichte  zu  dieser  Kategorie)  zur  Schrift 
untersucht,  darauf  hinweist,  dass  die  ursprüngliche  Verbindung  der 
Lehre  mit  den  Sektennamen  hier  bereits  mehr  oder  wenig  -  löst 
ist,  auf  die  Vermischung  widersprechender  Vorstellungen  und  die 
Abweichungen  von  [renaeus  und  Clem.  Alex,  aufmerksam  macht. 
Es  Lässt  sich  meisl  eine  ältere  Grundlage  erkennen,  in  die  Fremd- 
artiges hineingearbeitel  i>t.  Nur  der  Bericht  über  das  valentinia- 
oische  System  macht  den  Eindrack  bc — rer  Ordnung  und  grösserer 
Einheitlichkeit 

Weiter  zeigen  aber  die  Relationen  anter  sich  die  engste  Ver- 
wandtschaft, nicht  nur  in  Grundanschauungen,  wie  sie  vielen  gno- 
stdschen  Systemen  gemeinsam  sind,  sondern  auch  in  den  eigentüm- 
lichen Begründungen  und  Dlustrationen  dieser  Grundgedanken,  in 
dem  Bcweisapparat  aus  der  Schrift  (der  Kontamination  mehrerer 
Bibelstellen),  in  der  gesamten  Methode  der  Beweisführung,  vor 
allem  der  Wiederkehr  seltener  Worte,  der  auffallenden  Gast  wörtlichen 
Debereinstimmung  ganzer  Sätze  in  verschiedenen  Berichten.  I1 
einheitliche  Gepräge,  meint  Staehelin  könne  nicht  erst  durch  1 1 i [ >— 
polyt  geschaffen  sein.  Dagegen  spreche  die  Thatsache,  dass  er, 
wie  sein  Verhältnis  zu  [renaeus  und  Josephus  (auch  Sextus)  be- 
weist, fast  wörtlich  die  Berichte  seiner  Quelle  zu  übernehmen 
pflege.  Diese  Beobachtungen  sind  im  ganzen  richtig.  Aber  in  der 
letzten  Lösung  des  Rätsels  kann  ich  staehelin.  nicht  beistimmen. 
Er  meint,  einen  Gedanken  Salmons  (Hermathena  [885)  verfolgend, 
dass  die  Berichte,  abgesehen  von  ihrer  älteren  Grundlage,  als  Ganzes 
freie  Erfiadung  seien,  dass  ein  Fälscher  den  Hippolyt  düpiert  habe; 
ja  dieser  Fälscher  habe  mit  Absicht  zum  Bohn  auf  die  Gnosis 
manche  Widersprüche  der  Systeme  erst   geschaffen.     Die   an   und 


Jahresbericht  über  die  Kirchenvatei  etc.  ivvl     1892.  |u, 

für  sich  unwahrscheinliche  Annahme,  dass  ein  Fälscher,  der  selbst 
der  Gnosis  fern  stand,  der  vielköpfigen  Hydra,  mit  der  die  Kirche 
a  Bohon  genug  zu  schaffen  hatte,  neue  Häupter  hinzugefügt,  wird 
durch  die  Vermutung  nicht  wahrscheinlicher,  dass  die  Hoffnu 
auf  Gewinn  ihn  bestimml  haben  könnte.  Denn  was  berechtigl  zu 
der  Annahme,  es  sei  für  Hippolyl  so  schwer  gewesen,  sich  ein 
Paar  gnostische  Papyri  zu  verschaffen,  dass  er  sie  mit  Gold  auf- 
:i  und  dadurch  die  böse  Lusl  eines  Fälschers  erweckt  hätte? 
Analogieeo  aus  der  Litteratur  des  religiösen  Synkretismus  geben 
eher  die  S.  105  abgewiesene  Lösung  an  die  Hand.  Wir  haben  in 
den  ägyptischen  Papyri  Urkunden,  die  das  heterogenste  Material 
zu  einem  Ganzen  verarbeitet,  kontaminirt  und  interpolirt,  mitunter 
g  gar  den  gleichen  Text  in  verschiedenen  Recensiorien  neben  ein- 
ander überliefert  haben  (s.  Dieterich  Abraxas,  für  die  frühere  Zeil 
Wiedemaun,  Religion  der  alten  Aegypter  S.  47).  Ich  glaube,  in 
ähnlicher  Weise  hat  der  Gewährsmann  Hippolyts,  ein  Anhänger 
gnostischer  Lehren,  das  Material,  dessen  er  aus  schriftlicher  und 
mündlicher  Tradition  habhaft  werden  konnte  verbunden,  Verwandtes 
vereinigt,  was  er  nicht  besser  unterzubringen  wusste,  an  falschen 
Stellen  interpolirt.  Daraus  ergeben  sieh  für  den  Wert  dieser  Be- 
richte folgende  Konsequenzen: 

1.  Die  freie  Erfindung  des  Verfassers  hat  wesentlich  in  der 
Verbindung  der  Kiemente  bestanden.  Diese  Verbindung  ist  daher 
mit  Staehelin  oft  preiszugeben,  die  Systeme  in  ihrem  Zusammen- 
han- sind  nicht  immer  als  Realitäten  zu  betrachten.  Nur  Ver- 
mutungen über  die  historische  Grundlage  sind  möglieh. 

2.  Im  G  gensatz  zu  Staehelin  glaube  ich,  dass  sich  die  Erfin- 
dung des  Verfassers  nicht  auch  auf  einzelne  Elemente  und  Lehren 

erstreckt.     Er  wird  alles  einzelne  oben tmen,  nur  vielfach  falsch 

eingeordnet,  aber  wenig  aus  eigenem  hinzugethan  haben. 

3.  Damit  gewinnen  wir  zugleich  einen  Einblick  in  die  Ge- 
schichte der  gnostischen  Litteratur;  es  zeigt  sich,  dass  die  gnostische 

itembildung    die   Bedürfnisse  der  gnostischen   Gemeinden  wenig 
berücksicht  -ich   über  denselben   bewegte,  das   religiöse   Leben 

der  Menge  wohl  wenig  beeinflusst   hat  (vgl.  Harnack,   Dogmengesch. 
I   L96ff. 

bil  lit'-  iL   l'liil  VII.  iö 


108  Paul  Wendland, 

Beigegeben  sind  zwei  Aufsätze  Harnacks,  welche  neue  Bruch- 
stücke der  Syllogismen  des  Apelles,    ferner   eine  deutsche  üeber- 
ung    and  allseiti  schichtliche  Würdigung    der  von   Gwynn 

entdeckten  Fragmente  des  Caius  und  Bippolytus  enthalten. 

Bönig,    Die  Ophiten.      Ein   Beitrag  zur  Geschichte  des  jüdischen 
Gnosticismus.     Berlin   1889. 

Die  Gründe,  mit  denen  der  Verfasser  nachzuweisen  sucht,  dass 
die  ophitische  Lehre  ursprünglich  rein  jüdisch  gewesen  sei  und  erst 
später  eine  christliche  Richtung  Bich  von  Ihr  abgezweigl  habe,  dass 
der  I  rsprung  der  Gnosis  überhaupt  im  Judentum  zu  suchen  sei, 
sind  nicht  überzeugend.  Die  enge  Anlehnung  an  die  mit  all 
rischer  Willkür  gedeutete  Schöpfungslehre  der  Bibel  und  die  An- 
wendung hebräischer  Namen  ist  bei  christlichem  Einfluss  ebenso 
begreiflich.  Die  Einschiebung  eines  Demiurgen  i-t  -^wi  keinen 
lall  jüdisch.  Die  aus  dem  spätem  jüdischen  Schrifttum  angeführten 
Parallelen  zur  ophitischen  Lehre  betreffen  zum  Teil  Vorstellungen, 
die  gerade  nachweislich  von  der  Philosophie  stammen  (Gotl  als 
Quelle  <\<-s  Lichtes.  Urmensch,  Mannweiblichkeil  der  pleromatischen 
Wesen,  Trichotomie  <\<-^  menschlichen  Wesens),  und  können  schon 
deshalb  nichts  beweisen,  weil  die  Zeitbestimmung  jener  jüdischen 
«.»Hellen  meist  durchaus  unsicher  ist.  Indem  der  Verfasser  die  Lehre 
vom  Demiurgen  und  die  Gnosis  überhaupl  aus  der  Beschäftigung 
mit  dem  Problem  des  Bösen  hervorgehen  lässt  und  auf  das  Zeugnis 
des  Philo  Q.  o.  pr.  I.  §  12  S.  458  t&  kocvtcov  \th  ifabm  n.<- 
xotxou  'A  [xrjSevö?  wojxi'Ceiv  elvai  t;>  l>zr',v  hin  annimmt,  dass  auch  die 
Essäer  das  Böse  von  einem  von  Gotl  verschiedenen  Princip  ab 
leitel  hatten,  rückt  er  beide  Sekten  in  einen  engen  Zusammenhang, 
ja  spricht  die  kühne  Behauptung  aus,  dass  das  Christentum  sowie 
der  Gnosticismus  in  ihren  Anfangen  nur  eine  Verallgemeinerung 
der  esst  aischen  Ideen  anstrebten.  Man  mag  über  das  Verhältnis 
und  die  Bedeutung  der  verschiedenen  Faktoren,  die  im  Synkretis- 
mus der  gnostischen  Systeme  zusammenwirken,  streiten.  Die  Ein- 
seitigkeit, mit  der  hier  überall  jüdischer  Einfluss  gesucht,  die  Ge 
waltsamkeit,  mit  der  das  Nichtjüdische  als  sekundär  ausgeschieden 
wird,  kann   nicht  gebilligt   werden. 


Jahresbericht  über  die  Kircheny&ter  etc.    1889     1892.  109 

K.  Kessler,  Mani.     Forschungen   über  die  manichäische  Religion. 
Ein   Beitrag  zur  vergleichenden  Religionsgeschichte.     I.  Bd. 
Voruntersuchungen  und  Quellen.     Berlin,  Reimer,   1889. 
Der  Manichäismus  isl   Dach  der  Auffassung  Kesslers,  die  durch 
seinen   Aufsatz   in    Herzogs   R.  E.    (vgl.    Harnact    Dogmengesch.  r 
S.  737  IV.)  bereits  in  weitere  Kreise  gedrungen  ist,  auf  dem  Boden 
der  babylonischen  Religion  erwachsen,  mit  parsistischen,  christlichen, 
vielleicht  auch  buddhistischen  Elementen  durchsetzt,  aber  in  seinen 
Grundlehren    und    in    seiner  Genesis  weder   aus  dem    Christentum 
31  in   der  Verbreitung    nach    dem   Westen   nahm   die  Lehre  die 
mehr  christliche  Gestall  an,  wie  wir  sie  bei  Augustin  linden),  noch 
aus  dem   Parsismus  noch  aus  dem  Buddhismus   zu  begreifen.     Die 
Begründung  dieser  Ansicht    im   einzelnen  wird   Kessler  im  /.weilen 
Bande  seines  Werkes  geben  und  erst,  wenn  sie  vorliegt,  wird  man 
auch  auf  den  jetzt    nur  hingeworfenen  Gedanken,  dass  der   baby- 
lonische Semitismus  auch  der  Boden  sei.  aus  dem  im  letzten  Grunde 
Ebioniten   und  Neupythagoreer,    Essener    und  Gnostiker    hervorge- 
wachsen seien  (S.  XIII.  KV.  63.  491),  ernstlich  eingehen  können.3) 
Der  vorliegende   Band    giebl    aus    den    orientalischen   Quellen  die 
Materialien,   mit    denen    die  zusammenfassende   Darstellung  ZU   ope 
riren  haben  wird.     Der  Verf.  behandelt  zuerst  die  Quellenberichte 
über  die    Vorgeschichte   und  Entwickelung  Manis.      Wenn  er  hier 
sich    darauf    beschränkt    hatte,    das  Sagengewebe  der  griechischen 
Quellen  auf  Grund  der  völlig  widersprechenden  und  zuverlässigeren 
orientalischen  Tradition  zu  zerreissen,  hätte  er  auf  ungeteilten  Bei- 
fall   rechnen    Linnen.      Alter   er  geht   von   der  Voraussetzung   aus. 
dass  die  abendländische  Ueberlieferung  trotz   ihrer  Sagenhaftigkeit 
sehr  wertvolle  historische  Reminiscenzen   bewahrt   hat,  dass  durch 
eine  Kombination  der  Leiden  Berichterstattungen  die  Wahrheit  zu 


3)  Di^  Erfahrung,   dass    fort  und   fort   viele  Forscher  die  Lösung  die 
ssen  Rätsel  der  Religionsgeschichte  gerade  auf  dem  Gebiete  des  Wissens 
Buchen,  das  sie  beherrschen,  im  Judentum  (Philonismus !)  oder  in  der  Suci 
Bionsliste   christlicher   Ketzerbestreiter   oder    im   hellenistischen  Synkretismus, 
im  Parsismus  oder  Buddhismus,  macht  von  vornherein  gegen  ''im-  Erklärung, 
die  einen  einzigen  Paktor  vorwiegend  geltend  macht,  misstrauisch. 

28* 


-Um  l  Wendland, 

gewinnen  sei.      Die  Möglichkeit,    dass  die  abendländische   Ueber- 
lieferung  ganz  unabhängig  entstanden  und  auch  zp  betrachten  sei, 

ss  die  Tendenz,  durch  * i i » *  diese  Dichtung  beherrscht  i-t.  noch 
zu  erkennen  sei  (Hilgenfeld  Z.  f.  w.  Th.  189  8.  247  ff.)  wird  nicht 
erwogen.      Die    Methode,    mit    der   Kessler   dieser    Ueberlieferung 

schichtliche  Wahrheiten  entlockt,  darf  wühl  auch  wer  .-eine 
sprachlichen  Deduktionen  zu  beurteilen  nicht  im  Stande  i-t.  willkür- 
lich nennen,  her  Sxul  ist  nur  missverstandener  Eigenname, 
thatsächlich  Volksname  und  identisch  mit  Manis  Vater  Fatak. 
Wird  dieser  al>  Saracen  bezeichnet,  so  wird  damit  dei  Einfluss 
der  Saracenen  auf  Fatak  angedeutel  (S.  64,  ähnliche  Symbolisi- 
rungeu  S.  11.73).  Durch  ein  -  Hypothesengewebe  wird  weiter 
der  /weite  sagenhafte  Vorgänger  Manis  I  i  fiiv&os  mit  Mani  selbst 
identificirt.  Zu  solchen  Hypothesen  ist  Kessler  jedenfalls  nur  ver- 
leitet worden  durch  seine  Ueberzeugung,  dass  die  Acta  Archelai 
eine  I  ebersetzung  aus  dem  Syrischen  seien,  aber  der  S.  87  171 
versuchte  Beweis  ist  nach  dem  Urteil  der  kompetenten  Richter 
\  erunglückt. 

Sein-  viel  wertvoller  sind  die  folgenden  Teile  des  Werk  s 
Hier  werden  zunächst  die  orientalischen  Zeugnisse  über  die  mani- 
chäische  Litteratur,  die  acht  Hauptschriften,  die  zahlreichen  Send- 
schreiben, die  den  weiten  Umfang  der  manichäischen  Propaganda 
erkennen  lassen,  die  Gebetsformeln  zusammengestellt.  Weiter  sam- 
melt Kessler  die  orientalischen  Berichte  über  Main  und  -eine  Lehre, 
indem  er  die  noch  nicht  allgemein  zugänglichen  Quellen  vollständig 
mit  Uebersetzung  mittheilt.  Für  das  Verhältnis  zum  Christentum 
ist  besonders  wichtig  Manis  Bekenntnis  S.  L87  (317).  Zu  dem 
Fragment  S.  191  ist  zu  vergleichen  Augustin  C.  epist.  fund.  c.  24 
S.  221   Zycha,  besonders  Z.  12.   L3. 

A  pol  oget  en. 
Clemen,    Die    religionsphilosophische  Bedeutung  des  stoisch-christ 
liehen  Eudämonismus  in  Justins  Apologie.     Leipzig   1890. 

Nach  principiellen  Erwägungen,  auf  die  ich  hier  nicht  ein- 
gehen kann,  und  Bemerkungen  über  .. Philosophisches  im  l  rchristen- 
i  wiii  --  bespricht  der  Verf.  S.  55  ff.  den  Gottesbegriff  Justins,  der  mir 


Jahresbericht  aber  die  Kirchenväter  etc.   1889     1892.  IM 

dem  platonischen  nächstverwandl  erscheint,  auf  keinen  Fall  als 
Gegensatz  gegen  ihn  gedachl  Bein  kann  (s.  Berl.  Philol.  Woch.  1891 
Nr.  23),  weis!  die  Unklarheiten  nach,  von  denen  die  Aussagen  über 
den  Logos  und  das  Pneuma  behaftet  sind.  Die  Ethik  Justins  ist 
im  wesentlichen  rationell.  Wie  er  als  Werk  Christi  die  Offen- 
barung der  Sittenlehre  ansiehl  (daneben  Bekämpfung  der  Däruone 
so  als  Aufgabe  des  Christen,  durch  Annahme  seiner  Lehre  und 
Befolgung  seiner  Gebote  die  Gerechtigkeit  zu  erlangen.  Wohl  treten 
.•in/. •  1 1 1 o  paulinische  Formeln  auf.  aber  uiiv.M--~taiiil.Mi  und  in  fremd- 
artigem Zusammenhange.  Den  paulinischen  Begriff  der  Recht- 
fertigung oder  der  Wiedergeburl  kennt  .lustin  nicht,  die  Sakramente 
werden  im  allgemeinen  geistig  aufgefasst.  Dieser  Moralismus,  der 
(Ion  Menschen  auf  seine  Kraft  verweist  und  daher  seinen  freien 
Willen  stark  betont,  findel  in  der  Lehre  von  der  Vergeltung  uach 
dem  Tode  einen  natürlichen  Abschluss.  Wenn  Justins  Auffassung 
des  Christentums  durch  -eine  philosophische  Bildung  bestimmt  ist, 
-•i  ist  es  erklärlich,  dass  er  im  Gegensatz  zu  andern  Apologeten 
Anknüpfung  an  philosophische  Lehren  sucht  (S.  141  ff.). 

Besondere  Sorgfalt  wendet  der  Verf.  darauf,  Anklänge  und 
Ansätze  zu  Lehren  Justins  in  der  früheren  Litteratur  nachzuweisen 
und  hat  namentlich  mit  Erfolg  die  spätem  Schriften  des  X.  T. 
herangezogen.  Unklar  bleibt  es  dagegen,  wie  er  sich  Justins  Ver- 
hältnis zum  Gemeindeglauben  denkt.  Dass  Justin  sich  mit  diesem 
ein-  wusste,  dass  er  ihn  in  keiner  seiner  Schriften  mit  Bewusstsein 
verkürzt  ..der  verdreht  habe,  brauchte  kaum  so  oft  und  heftig  be- 
tont zu  werden:  aber  darum  wird  man  doch  von  seinen  Schriften, 
wie  von  allen  älteren  Versuchen,  i\vi\  christlichen  Glauben  in  zu- 
sammenhängender Lehrentwickelung  darzulegen,  den  Eindruck  mit- 
nehmen, das>  die  Verfasser  nicht  nur  mit  der  Sprache  ringen  und 
oft  der  religiösen  Erfahrung  den  rechten  Ausdruck  nicht  verleihen. 
—  die  Lateiner  halten  das  rascher  gelernt  uml  besser  verstanden 
— ,  sondern  auch  hei  dem  Mangel  fester  Lehrnormen  sich  mit  grosser 
Unsicherheit  in  subjektiven  und  ofl  widersprechenden  Anschauungen 
bewegen,  kurz  da--  Bie  mit  ihren  Spekulationen  gerade  so  hoch 
über  dem  Gemeindeglauben  standen  wie  auch  heute  irgend  .ine 
D  gmatik.     Es  scheint  mir  daher  bedenklich,    wenn  der  Verfasser 


Hl»  Paul  Wendland, 

Justins  platonischen  Gottesbegriff  (S.  67),  seine  Ansicht  von  den 
Si  kramenten  (8.  81)  für  die  (römische)  Gemeinde  in  Ansprach 
nimmt  (s.  auch  S.  78.  79.  '.'7). 

Im  übrigen  verweise  ich  auf  meine  Besprechung  a.  0. 

I..  Paul  setzt  seine  Untersuchung  über  die  justinische  Log  - 
lehre   in  den  Jahrb.  für  prot  Theol.  l^'."1  -  »78  und  1891 

S.  124     1 18  fort,  indem  er  eine  scharfe  Auslegung  der  einzelnen  Aus- 
ii  des  Dia)  bt.    Derselbe  teilt  in  den  Neuen  Jahrb.  f.  Philol. 

1891  S.  155ff.  textkritische  Bemerkungen  zu  den  Apologieen  mit. 
—  Usener  a.  0  S,  101.  106  zeigt,  dass  vor  der  üblichen  An- 
setzung  der  Apologie  um  150  die  ältere  Datirung  (138)  den  Vor- 
zug verdient;  vgl.  dazu  Krüger  Jahrb.  f.  prot.  Th.  I^'."1  S.  579 
bis  593,  der  übrigens  wieder  für  die  Sonderung  der  beiden  Apo- 
logieen eintritt.  Diels  (Sitzungsberichte  der  preuss.  Akad.  d. 
Wiss.  l^'-'l  S.  151— 153)  widerlegt  das  Gerücht,  Justins  Schrift 
Nr/-  ''.>v/v  sei  in  einer  athenischen  Hs.  aufgetaucht,  und  zeig!  auf 
Grund  von  Mitteilungen  Sakkelions,  dass  hier  dieselbe  Bpitome 
aus  Aristoteles  vorliegt  wie  im  Berliner  Hamiltonianus  .~>r_'  und 
diese  mit  dem  Kompendium  des  Pachymeres  identisch  ist. 

Die  meines  Wissens  erste  deutsche  Uebersetzung  des  von  .1. 
I;.  Harns  entdeckten  syrischen  Textes  der  Apologie  des  Aristides 
giebt  Schönfelder  in  der  Tab.  Theol.  Quartalschrifl  1892  S.  531 
bis  557,  eine  üebersetzung  mit  textkritischen  und  sachlichen  Er- 
läuterungen Raabe  in  den  Texten  und  Untersuch.  I\  1.  eine  Re- 
konstruktion des  Textes  aus  der  syrischen,  armenischen  und  Lrrir- 
chischen  öeberlieferung  (im  Roman  Barlaam  und  loasaph)  II  en- 
necke  ebenda  IV  ■'>.  l^'.1-''.  Ih"  Gliederung  des  oXtjUyjs  ''''/■■'  des 
Celsus  behandelt  Koetsch au  Jahrb.  f.  prot.  Theol.  1892  S.  604 
I  is  632. 

.1.  Lehmann,  Die  Auferstehungslehre  des  Athenagoras.    Inaug.-Diss. 
Leipzig  1890. 

Der   Gedankengang  der  Schrift   des  Apologeten,    welche    das 

Thema   nur  mit  dialektischen  Gründen,  christliche  Argumente  fast 

völlig  ausschliessend,  behandelt,  i-t  ein  sehr  klarer.     Der  Verfasser 

•  ihn  in  etwas  breiter  Darstellung  dar.     Die  Auferstehung  wird 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  etc.  1889     18!  H.-; 

erwiesen  aus  dem  Wesen  Gottes,  der  die  Toten  I.  auferwecken 
kann  und  2.  :  t  u » ■  1 1  will,  aus  dem  Wesen  des  Menschen,  der  1.  zum 
ewigen  Leben  geschaffen  Ist,  2.  In  der  zwiefaltigen  Natur,  in  der 
er  geschaffen  ist,  auch  fortdauern  muss,  '■'>.  für  Gerichl  und  Selig- 
keil  bestimml  ist.  Lehmann  zeigt,  wie  die  materialistische  Auf- 
erstehungslehre  des  Ath.  zur  gnostischen  und  alexandrinischen 
Auffassung  in  Widerspruch  steht.  Sehr  lohnend  wäre  es  gewesen, 
die  Anlehnung  einzelner  Gedanken  und  Termini  an  die  griechische 
Philosophie  nachzuweisen  und  das  Verhältnis  zu  der  S.  7  aufge 
zählten  Litteratur  zu  behandeln.  Leider  hal  Lehmann  auf  eine 
schichtliche  Betrachtung  in  weiterem  Zusammenhange  verzichtet. 
1  eber  die  textkritische  Arbeit  von  Kronenberg  zu  Minucius 
Felix  (Minuciana  Leiden   1889)  s.  meine  Anzeige  D.  L.  /.   L890. 

Grjllenberger,  Studien  zur  Philosophie  der  patristischen  Zeit. 
Jahrb.  f.  philos.  u.  spekul.  Theol.  1889  S.  104— 118.  II»', 
bis  161.  260—269.     L891  S.  1—14. 

Eine  jetzl  kaum  noch  vertretene  einseitig  protestantische  Beur- 
teilung des  Minucius  wird  durch  eine  einseitig  katholische  hier 
bekämpft.  Mit  seiner  Apologie  für  das  Christentum  des  Minucius 
Felix  isl  der  Verf.  nur  in  einzelnen  Punkten  im  Recht.  Zu  leicht 
macht  er  sich  z.  B.  den  Beweis,  wenn  er  zwar  Berührungen  des 
Autors  mit  philosophischen,  namentlich  stoischen  Lehren  zugiebt, 
diese  Lehren  aber  als  christlich  in  Anspruch  nimmt,  indem  er  sie 
bei  andern  Kirchenlehrern  nachweist.  Der  Erkenntnis,  dass  in  das 
kirchliche  Lehrsystem  zahlreiche  Anschauungen  aus  der  Philosophie 
übernommen  sind,  verschliesst  er  sich.  Missl  man  .Minucius  nicht 
an  Bpäteren  kirchlichen  Normen,  sondern  am  Urchristentum  oder 
auch  nur  an  der  gleichzeitigen  Litteratur,  so  muss  man  zugeben, 
dass  die  speeifisch  christlichen  Lehren  bei  ihm  fast  ganz  zurück- 
treten, wenn  es  auch  verkehrt  wäre  zu  meinen,  dass  er  zu  ihnen 
im  Gegensatz  gestanden  hätte.  Uebel  angebracht  ist  der  Hohn 
n  Baehrens  S.266,  der  für  c.  36,  ö  aves  sine  patrimonio  vivunl 
ei  in  diem  paseuntur  Benutzung  Senecas  vermutete,  nachdem 
Wilhelm  für  diese  Stelle  in  der  Thal  das  Original  bei  Sen.  Rem. 
fort.  10,1    nachgewiesen.     Mattb.  6,26  isl   nicht   benutzt.    S.  112 


Hl  .1    W\n  .IIa  u.1. 

wird   gar  Abhängigkeit    des  Minucius   \"ii   der  späteren  Cohortatio 
ad  Gn       -  angenommen. 

In  einer  zweiten  Abhandlung  bespricht  Grillenberger  die  Dn- 
sterblichkeitslehre  dea  Arnobius,  dessen  Verhältnis  zu  Piatos  Phaedon 
er  beleuchtet. 

I  renaeus. 

.1.    W  Der    Paulinismus    dea    [renaeus,    Texte    und    Unter- 

Buchungen zur  Gesch.  der  altchristlichen  Litt.  \  I.  "_'.     Leip- 
zig 1889. 

Die  scharfsinnige  und  gründliche  Arbeil  behandelt  in  ihrem 
ersten  Teile  die  Art  der  Verwertung  einzelner  paulinischer  Stellen 
und  giebt  dann  eine  ausführliche,  sehr  übersichtliche  Darlegung  der 
irenaeischen   Heilslehre,   gemessen  an  dem  Maassstabe  der  paulini- 

schen  Tl logie.     I>.t  Verf.  zeigt  8.  L22ff.,  dass  [renaeus  dem  von 

den  Gnostikern  ins  Naturhafte  hinabgezogenen  Prädestinations- 
gedanken gegenüber  die  sittliche  Selbständigkeit  und  Selbstverant- 
wortlichkeil des  Menschen  (vgl.  auch  S.  94)  betont.  Dieser  mora- 
listische Standpunkt,  in  dem  das  Ideal  heidnischer  Sittlichkeil 
fortlebt,  wird  nicht  aufgehoben  durch  die  aus  specißsch  christ- 
lichem [nteresse  eingefügte  Vorstellung  des  allgemeinen  Ungehor- 
sams i  Gott,  durch  den  das  Menschengeschlecht  als  Ganzes  zu 
Gott  in  einen  Zustand  der  Verschuldung  gerät,  den  die  erlösende 
Thätigkei!  Christi  aufhebt.  Der  moralistischen  und  intellektuali- 
stischen  Gedankenreihe  wird  auch  nichl  das  Gleichgewicht  gehalten 
durch  die  mystische  Vergottungsidee,  die  freilich  Anknüpfung^ 
punkte  an  den  Paulinismus  bot,  aber  im  Grunde  auch  aus  dem 
Hellenismus  Btammte:  Der  Mensch  wird  durch  den  Geist  Gottes 
stufenweise  vergeistigt  und  vergottet,  er  nimmt  Teil  an  Gott,  lebt 
in  der  ewigen  Anschauung  Gottes,  ja  wird  selbst  Gotl  (S.  l  15 ff.  . 
Auch  der  Leib  wird  zu  ewiger  göttlicher  Fortdauer  mystisch  um- 
jchaffen  (s.  auch  S.  88  ff.).  Das  religiöse  Leben  „ist  aus  dem 
Gebiet  dea  Religiös-Sittlichen  in  die  Sphäre  dea  Substantiell-Natur- 
haften übertragen".  Es  tritt  hier  hervor  die  „phantastische  Sehn- 
suchl  der  sterbenden  Antike  nach  Teilnahme  am  Wesen  Gott 
S.  154).    Daher  ruhl  auch  der  Hauptl ler  Erlösungslehre  darauf, 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  etc.   lsv'-'     12  U5 

dass  der  Mensch  gewordene  Gotl  dem  Menschen  die  Vergottung 
ermöglicht  S.  L79  ff.  besprich!  der  Verf.  die  Gedanken  des  [re- 
oaeus  aber  die  göttliche  Erziehung  der  Menschheit,  die  allmähliche 
Entwickelung  der  göttlichen  Heilsveranstaltungen. 

Hingewiesen  sei  noch  auf  die  mechanische  [nspirationstheorie 
des  [renaeus  (S.  29  ff.)  ind  seinen  doppelten  Begriff  vom  Leben 
und  Tod  (S.  131). 

Clemens  A  lex  andrinus. 
Scheck,    De  fontibus  Clementis  Alex.     Augsburger  Gymn.   Progr. 


Nach  einer  weitschweifigen,  vieles  oberflächlich  berührenden 
Einleitung  redel  der  Verf.  von  den  jüdischen  Fälschungen,  die 
Clem.  benutzte.  Den  Numenius  hält  er  für  einen  .luden.  Alexander 
Polyhistors  Schrift  über  die  Juden  für  gefälscht,  gegen  Aristobuls 
Schrift  äussert  er  keinen  Zweifel  (s.  dagegen  zuletzt  Freudenthal, 
Arch.  I  S.  330).  Clemens  Abführungen  über  die  Plagiate  der 
griechischen  Schriftsteller  werden  ohne  Grund  auf  Aristobul  zurück- 
geführt.  Schürers  Gesch.  des  jüdischen  Volkes  isi  gar  nichl  berück- 
sichtigt. 

<>.  Staehlin,  Observationes  criticae  in  dementem  Alexandrinum. 
Inaug.-Diss.  Erlangen  1890. 
Der  Verl'.  benandeH  das  Verhältnis  der  llss.  (die  für  Protr. 
und  Paed,  wichtige  Oxforder  Bs.  ist  von  ihm  neu  verglichen), 
berühr!  die  indirekte  üeberlieferung  und  giebi  eine  Reihe  beach- 
tenswerter Verbesserungsvorschläge  zu  einzelnen  St. dien. 

I   [.      T  e  i  1. 

Ich  behandle  zunächsl  im  Zusammenhang  die  Kirchenlehrer 
des  Abendlandes. 

T  er  tu  1 1  i  a  n. 
E.  Noeldechen,  Teil ulliau.     Gotha  1890. 

Genauer  eingehen  können  wir  auf  dies  Werk  nicht.  Der  Verf. 
verzichte!  auf  eine  zusammenfassende  Darstellung  der  Lehre  und 
Weltanschauung   des  Tertullian;    er  verfolgt,    wie  auch   das  letzte 


II,;  '.       dl  and, 

Kapitel  („Geistesart")  zeigt,   wesentlich   geschichtliche   and   kultur- 

;chichtliche  Inten — n.   Die  dürftigen  Nachrichten  üJ>«i  das  äuse 
Leben  Tertullians  werden  durch  Schlüsse  aus  seinen  Schriften,  die 
freilich  mit  grosser  Vorsicht  aufzunehmen  sind,   ergänzt     Das  gilt 
'..  von   den  Ausfohrungen   über  den   römischen  Aufenthalt,    die 
einstige  Theilnahme  am  Mithraskulte    9  ine  Reisetour 

durch  Griechenland  kennt  Noeldechen  ganz  genau  S.  71).  In  die 
Biographie  ist  die  Besprechung  der  einzelnen  Schriften  eingelegt; 
ihr  Inhalt  wird  mit  Hervorhebung  besonders  charakteristischere 
danken  skizzirt,  der  historische  Hintergrund  gezeichnet.  Nicht 
gründlich  zeigt  sich  der  Verf.,  wo  er  literarhistorische  Probleme 
berührt.  Er  spricht  hier  mit  grosser  Bestimmtheil  Behauptungen 
aus,  die  eines  Beweises  bedürfen.  Nach  ihm  wäre  Hermogenes 
von  Numenius  beeinflusst  S.  203  .  hätte  Tertullian  Athenagoras 
(S.  19.  386  .  Justin  S.  Tl  .  Clemens  (S.  95  und  sonst  oft]  gelesen, 
Celsus1  Streitschrift  berücksichtigt  (S.  55ff.).  Nach  S.  54  hätte  er 
sich  unter  Minucius1  Eiufluss  gebildet,  wählend  neuerdings  sehr 
beachtenswerte  Stimmen  sieh  für  die  Umkehrung  dieses  Verhält- 
nisses ausgesprochen  haben.  Für  die  Beurteilung  der  Gelehrsam- 
keit des  Tertullian  ist  der  Nachweis  von  Diels  wichtig,  dass  Ter- 
tullian in  De  anima  Soranus  ausgeschrieben  hat. 

Der  Verf.  verspricht  das  Verhältnis  Tertullians  zur  griechi- 
schen Philosophie  zu  behandeln.  Zur  Beurteilung  der  Ethik  i>t 
vor  allem  eine  Berücksichtigung  der  stoisch -kynischen  Diatribe 
oötig.  Die  S.  •"''-,  1  angeführte  spottende  Wendung  /..  B.  ist  ein 
kynisches  Diktum.  Unbequem  ist  es,  dass  der  Verf.  meist  ältere, 
wenig  zugängliche  Ausgaben  der  Kirchenväter  citirt. 

Von  kulturgeschichtlicher  Bedeutung  ist  auch  der  Aufsatz  von 
.1.  Jung,  Wiener  Studien  1891  S.231  244,  Zu  Tertullians  aus- 
wärtigen  Beziehungen. 

Sehr  wertvolle  textkritische  Beiträge  giebt  im  Anschluss  an 
den  ersten  Hand  der  neuen  Ausgabe  Hartel  in  den  Sitzungsber. 
der  Akad.  d.  Wiss.   in   Wien.    L890.  II.  Wirth,    l  eher   Am 

Verdienstbegriflf  bei  Tertullian.  Leipzig  1892,  ist  mir  nur  aus 
Anzeigen  bekannt,  nach  denen  die  Untersuchung  Dicht  tiei  zu 
gehen  scheint;  zur  Sache  vgl.  Harnack,  Dogmengesch.  IM.  s.  16 ff. 


Jahresbericht  ober  die  Kirchenväter  etc.    1889   -1892.  Mi 


( '  \  p  r  i  an. 

MobgenstebNj  Cyprian,  Bischof  von  Carthago,  als  Philosoph,  [naug. 
Diss.  Jona  1889. 
unter  den  altern  Kirchenschriftstellera  wüsste  ich  keinen  zu 
nennen,  dem  jede  philosophische  Ader  so  sehr  gefehlt  hätte  wie 
Cyprian.  Glücklich  gewählt  ist  daher  das  Thema  nicht.  So  findet 
man  denn  /..  B.  unter  «K-in  Titel  „Theologie"  dürftige  Aussagen 
über  Gott  statt  eines  scharfen  GottesbegrifFes,  unter  dem  Titel 
„Kosmologie"  die  Gedanken  über  Verfall  und  Vernichtung  der 
Welt.  Teufel  und  Dämonen  zusammengestellt.  Man  vermisst  auf 
ethischem  Gebiel  jede  Innere  Verbindung  und  principielle  Begrün- 
dung der  vom  Verf.  zusammengestellten  Anschauungen.  Und 
doch  hätte  der  Verf.,  wenn  er  über  eine  grössere  Belesenheil  verfügl 
hätte,  manche  interessante  Anklänge,  namentlich  an  die  stoische  Er- 
bauungsliteratur nachweisen  können.  Was  mir  auf  diesem  Gebiete 
aufgestossen  ist,  trage  ich  nach.  Wörtliche  stoische  Parallelen 
halieu  die  Deklamationen  gegen  den  Luxus  S.  1(.»T.  202.  259  (auch 
500,  15)  llartel.  das  rechte  Verhältnis  des  Christen  zu  den  Leiden 
wird  S.  301ff.  36  1.  409  in  einer  mit  stoischen  Ideen  sich  auffallend 
berührenden  Weise  geschilderl  (was  M.  S.  36  im  einzelnen  hätte 
zeigen  müssen).  Auch  das  S.  5.  9.  10  besprochene  Bild  von  Gotl 
als  Zuschauer  unserer  Thaten  und  Leiden  findel  sieh  bei  Seneca. 
3.  105,  13.  721,9  wird  das  erste  Weinen  des  Kindes  als  Ahnung 
all  des  künftigen  Leides  gedeutet  (Epicurea  S.  251,  Tertull.  !>>■ 
anima  K.  19).  S.  730,23  wird  nach  kynisch-stoischer  Art  das 
Muster  der  Tierw eil  den  Menschen  vorgehalten.  681,21  findel  sieh 
wörtlich  hei  Philo  und  Clemens.  —  Auch  aus  den  unechten  Schrif- 
ten  sei  manches  angeführt.  De  bouo  \)\\i\.  S.  ls.  18ff.  linden  wir 
die  bekannten  philosophischen  Gründe  für  die  Ehelosigkeit,  K.  12 
ähnliche  Polemik  gegen  die  Putzsucht  wie  hei  Musonius  und  Cle- 
mens. Zu  !»'•  speetac.  S.  10,  IT  in  tali  certamine  stare  (est  iacere) 
vgl.  meine  Arbeit  über  Philo'a  Schrift  über  die  Vorsehung  S.  12  . 


II«»  Paul  Wendland, 

I.  ;t  c  1  ;i  11  !  i  u  8. 

.    lieber  die  dualistischen   Zusätze    und  die   Kaiseranreden 
bei  Lactantius.     Nebst  einer  Untersuchung  über  das  Leben 
des  !,;ict;intiiis  und  die  Bntstehungsverhältnissc  seiner  Pr 
Bchriften.     Sitzungsberichte  der  Wiener  Akademie  Bd.  118. 
119.  120.   125. 

Der  um  die  Echtheil  der  dualistischen  Ausführungen  and  der 
Kaiseranreden  geführte  Streit  scheint  durch  die  vorliegende,  grund- 
liche Untersuchung  endgiltig  entschieden.  Der  Verf.  giel  t  zuerst 
eine  Darlegung  des  dualistischen  Systems,  wie  es  uns  sonsl  bei 
Lactanz  entgegentritt,  zeigt  dann,  dass  die  in  jedem  Falle  von  einem 
Verf.  herrührenden  dualistischen  Zusätze  nur  in  wenigen  älteren 
II--.  erhalten  sind,  sich  nicht  natürlich  in  den  Zusammenhang  fügen 
und  Lehrabweichungen  von  Lactanz  enthalten.  Nach  ihnen  ist 
von  Gott  <I<t  gute  und  der  böse  Geist  (nach  einer  anderen  Stelle 
das  Gute  und  das  Böse)  ausgegangen,    die  mit   einander  kämpfen. 

Lactanz  redel  nie  v liesem  Kampfe   und  Bucht   auch   nichl  den 

Ursprung  des  Bösen  in  Gott.  Ebenso  lässt  der  [nterpolator  G  tt 
gute  und  böse  Engel  schaffen,  wovon  Lactanz  nicht-  weiss,  und 
scheidet  nichl  sorgsam  moralisches  und  physisches  üebel,  brauchl 
Arv  asketischen  Weltanschauung  des  Lactanz  fernliegende,  vom 
Brettspiel  und  Cirkus  hergenommene  Bilder.  Er  huldigt  einem 
konsequenten  Dualismus,  der  wohl  in  der  Richtung  der  Lehre  des 
Lactanz  liegt,  dem  dieser  aber  auszuweichen  gesucht  hat.  Der 
Verfasser  der  Zusätze  wollte  eben  die  Widersprüche  im  System 
des  Lactanz  durch  eine  einheitliche  Fortbildung  desselben  besei- 
tigen. Die  Zusätze  Belbst  ergeben  für  die  Frage  nach  der  Person 
des  Verfassers  Folgendes:  Derselbe  kannte  die  1  zweifellos  echten 
Schriften  des  Lactanz,  die  Epitome  noch  vollständig,  schreibt  einen 
reinen  Stil,  ist  rhetorisch  gebildet,  kennt  Lucrez  und  Sallust,  scheint 

vom  Mai)ich;'ii-inus  beeinflusst,  hat  in  einer  grösseren  Stadt,  viel- 
leicht Trier,   wo   Lactanz  lebte,   Cirkusspiele  gesehen.      Alles  weist 

auf  frühe  Zeil  der  Abfassung,  nach  Brandt   -h    I.  Jahrhundert. 

Die  meisten  Momente,  die  für  die  Unechtheil  dieser  Zusätze 
sprechen,  zeugen  auch  gegen  die  wahrscheinlich  von  gleichem  Verf. 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  etc.    1889     IS  419 

herrührenden  Kaiseranreden.  Durchschlagend  ist  namentlich  noch 
der  Grund,  dass  diese,  wie  mit  Charakter  und  Weltanschauung 
des  Lactanz,  so  mit  seinen  Aussagen,  nach  denen  die  [nstitutiones 
zur  Zeil  einer  heftigen  Christenverfolgung  (nach  V,  23  vor  310) 
verfasst  sind,  in  schroffem  Widerspruch  stehen.  Dass  sich  derselbe 
nicht  durch  die  Annahme  einer  doppelten  Ausgabe  oder  uachti 
licher  Dedikation  ausgleichen  lässt,  zeigt  der  Verf.  Die  Beziehung 
von  Augustin  De  civ.  dei  V,21ff.  auf  die  Kaiseranrede  bei  Lactanz 
I.  1.  12  scheint  mir  nicht  sicher  erwiesen. 

Ferner  behandelt  der  Verf.  die  Lebensverhältnisse  des  Lactanz, 
seine  Namen,  -eine  Heimat  (Afrika,  nicht  Italien).  Er  zeigt  unter 
anderm,  dass  Lactanz  als  Heide  geboren  ist  und.  obgleich  Schüler 
des  Arnobius,  zu  diesem  in  gewissem  Gegensatz«'  stand. 

In  einer  weiteren  Abhandlung  (Sitzungsber.  Bd.  125)  bespricht 
Brandt  die  Entstehungsverhältnisse  der  Schriften  des  Lactanz,  weist 
die  Echtheit  der  Epitome  aus  den  [nstitutiones  und  die  ünechtheit 
der  Schrift  De  mortibus  persecutorum  nach  (vgl.  Neue  Jahrb.  !'. 
l'hilol.  1S93  S.  121—138.  203—223)  und  behandelt  die  Chronolo- 
gie der  Schriften  und  die  verlorenen  Schriften. 

Derselbe,   Lactantius   und  Lucretius.     Neue  Jahrb.  f.  Philol.  1891 

S.  -22."»— 259. 

Der  Verl',  bespricht  den  Wert  der  wörtlichen  Citate  für  (\cn 
Text  des  Lucrez,  zeigt,  dass  Lactanz  mitunter  durch  ßeminiscenzen 
aus  Lucrez  seiner  Darstellung  mehr  Leben  und  Farbe  verleiht, 
auch  manche  Gedanken  des  Dichters  beifallig  anführt.  Die  die 
Schriften  des  Lactanz  durchziehende  heftige  Polemik  gegen  Epikur, 
der  in  Lucrez  bekämpft  wird,  erklärt  sich  nicht  allein  aus  dem 
christlichen  Standpunkte  des  Autors,  sondern  auch  daraus,  dass  er, 
bevor  er  Christ  wurde,  jedenfalls  auf  stoischem  Boden  stand  (vgl. 
Sitzungsber.  Bd.  120  S.  16). 

De  opif.  8, 12 ff.  bekämpft  Lactanz  die  Theorie  des  Sehens 
bei  Lucrez  (III.  359ff.),  indem  er  die  von  Lucrez  bekämpfte  An- 
sicht, dass  der  Geist  durch  die  Augen  (wie  durch  Fenster)  sich 
auf  die  Gegenstände  richtet,  vorträgt.  Dass  diese  Ansicht  auf  Il>- 
raklil  zurückgeht,  schliessl   Brandt  aus  der  Debereinstimmung  von 


420  P»ul  Wendlaud, 

•.  Emp.  A.l\.  in;ith.   VII,   l-'.Ml.    mit  Chalcidius   zu   Piatos  Ti- 
maeus  S.  272,6  Wrobel  (von  Bywater  überseh  ler  eine  ähn- 

liche,  vielleicht  aufVarro  zurückgehende  doxographische  Zusammen- 
stellnng  giebl  wie  Lactanz  und  Gellius  V,  16,3  s.  den  Exkurs 
-  252 ff.  .  Bpikur's  Ethik  wird,  wie  sie  auch  Lucrez  nur  gelegent- 
lich berührt,  ganz  kurz  behandelt,  um  bo  ausführlicher  polemisirt 
■!i  die  epikureischen  Lehren  von  den  Atomen,  der  Entstehung 
Menschengeschlechts  und  der  Lebewesen,  der  Kulturentwicke- 
lang  a  die  Ansicht,  da—  die  Organe  nichl  zu  einem  bestimmten 
Zwecke  geschaffen  seien,  gegen  die  Vorwürfe,  die  der  Vorsehung 
wegen  der  Unzulänglichkeit  und  Armseligkeil  der  menschlichen 
Natur  gemachl  werden,  gegen  die  Psychologie  und  Götterlehre. 
Brandt  zeigt,  dass  Lactanz,  in  den  Voraussetzung  iner  Welt- 
iniscliauuiu:  -an/,  l'f i.-iiili.mi.  für  die  Physik  und  besonders  den  Kau- 
salitatsbegriff  Epikurs  k*in  Verständnis  zeigt,  einzelne  Stellen  des 
Lucrez  ausserhalb  des  weiteren  Zusammenhanges  der  Dichtung  und 
.1.-  Systems  betrachtet  und  darum  missversteht,  rieh  oft  Zirkel- 
schlüsse zu  Schulden  kommen  lässt.  Bndlich  macht  er  wahrschein- 
lich, da-  Lactanz  die  Angaben  vom  Wahnsinn  und  Selbstmorde 
des  Lucrez  nicht  kannte,  dir  Nachrichten  bei  Sueton  also  wohl 
nicht  allgemeine  Tradition  waren. 

Derselbe,  üeber  dir  Quellen  von  Lactanz'  Schrift  !»<•  opificio  dei. 
Wiener  Studien  IM.  13  (1891  .  S.  255  292. 
Nach  einer  Darlegung  des  Gedankenganges  der  Schrift,  in  der 
christliche  Elemente  völlig  fehlen,  stelll  der  Verf.  dir  direkten  Ci- 
tate  aus  Varro,  meist  Etymologieen  \"ii  Körperteilen  betreffend, 
und  dir  ohne  Gewährsmann  eingeführten  Etymologieen  zusammen, 
welche  wenigstens  auf  Varro  zurückgehen  könnten.  Benutzt  ist, 
aber  nicht  direkt  (S.  268),  jedenfalls  der  Loghistoricus  Tubero,  !><• 
origine  humana  (s.  Diels  Doxogr.  S.  I86ff.),  auf  den  der  ganze 
Abschnitt  !>>■  utero  ei  coneeptione"  Kap.  12  zurückzuführen  i~i  (s. 
auch  8.  288  Aber  doch  nur  au  einzelnen  Stellen  liegt  diese 
Schrift  zu  Grunde.  Aul'  eine  andere  Schrift  als  Hauptquelle  führt 
dir  Beobachtung,  dass  der  dir  Behandlung  der  einzelnen  Körp 
teile  bei  Lactanz  beherrschende  doppelte  Gesichtspunkt  der  Zweck- 


Jahresbericht  über  die  Kirchenvater  etc.  1889—1892.  421 

mässigkeit  and  Schönheil  nach  dem  Zeugnis  tost;  II,  10,13  ra 
einer  hermetischen  Schrift  durchgeführt  war,  deren  [nhall  vielleichl 
skizzirl  ist  im  5.  Kap.  des  Poemander  S.  14,10  45,8Parthej  und 
von    der  ein  Rest    bei    Stob.  Ecl.  I.  S.  295  W.  erhalten    zu    sein 

scheint. 

Im  zweiten  Teile  der  Schrift  des  Lactanz,  der  psychologische 
Fragen  behandelt,  muss  eine  andere  Vorlage  benutzt  sein,  der  auch 
die  mit  Aeusserungen  der  [nstit.  und  dem  ersten  Teile  derSchrifl 
im  Widerspruch  stehende  skeptische  (nicht  teleologische)  Tendenz 
entlehnt  ist.  Die  Ausführungen  des  Lactanz  berühren  sich  hier 
vielfach  mitNemesius;  vielfach  gehen  sie  von  doxographischen  An- 
gaben aus.  sind  aber  zum  Teil  ausführlicher  als  Aetius  oder  weichen 
von  ihm  ab.  Beachtenswert  ist  auch  die  Polemik  gegen  stoische 
Lehren.  —  Den  Inhalt  von  Kap.  3  führt  Brandt  im  wesentlichen 
auf  Cic.  De  rep.,  Kap.  4  zum  Teil  auf  Sen.  De  inmatura  morte 
zurück.  Das  Verhältnis  des  Lactanz  zu  Nemesius  verdiente  eine 
genauere  Untersuchung  (s.  Brandt  in  der  Vorrede  seiner  Ausgabe 
partis  II.  fasc.  I.  S.  VIII).  zu  der  auch  Clem.  Recogu.  Buch  VIII 
heranzuziehen  wäre. 

Fb.  Mabbach,   Die  Psychologie  des  Firmiauus  Lactantius,  ein  Bei- 
trag zur  Geschichte  der  Psychologie.     Halle  1889. 

„Bei  Marbach  liegt  der  Fehler  ...  in  seiner  ganzen  Arbeit 
darin,  dass  er  das  Denken  des  Lactanz  viel  zu  sehr  als  ein  selb- 
ständiges und  einheitliches  auffasst"  (Brandt  Wiener  Studien  13 
-  280).  Dass  es,  um  Lactanz'  Verhältnis  zur  Philosophie  zu  ver- 
stehen, vor  allem  einer  scharfen  Analyse  seiner  Schriften  und 
Untersuchung  der  Quellen  bedarf,  hat  Brandt  an  De  opif.  vortreff- 
lich gezeigt,  freilich  auch  die  grosse  Unselbständigkeit  und  den 
Mangel  einer  zusammenhängenden  Weltanschauung  bei  Lactanz  er- 
wiesen. Für  eigentlich  theoretische  Probleme,  wie  die  Fragen  nach 
Substanz  und  Sitz  der  Seele,  Verhältnis  der  Seelenkräfte,  für 
Theorie  der  Erkenntnis  und  der  Sinne  hat  Lactanz,  wie  Marbach 
selbst  hervorhebt,  kein  rechtes  [nteresse.  In  dem  aber,  was  Lac- 
tanz über  den  Vorrang  der  Se.de  über  den  Körper  (damit  hängt 
auch  sein  Kreatianismus  zusammen),  über  Willensfreiheit  (zu  ver- 


I  •_>•_»  '       dland, 

gleichen  war  aocfa  De  opif.  19,7),  aber  den  Unterschied  von  Mensch 
und  Tier,  die  Affekte  (welche  peripatetisch  beurteil!  werden),  die 
Unsterblichkeit  der  Seele  ausführt,  beschränkt  er  sich  auf  (meisl 
stoische  Gemeinplätze.  Eine  originale  Idee  Bucht  man  in  Mar- 
bachs  Zusammenstellung  vergebens,  nur  selten  findet  mau  eine 
specifisch  christliche  Ausprägung  der  Gedanken. 

Das  Verhältnis  von  anima  und  animus  8.  I9ff.  wäre  am  besten 
erläutert   worden  durch  die  stoische  Unterscheidung  von  <|»o^  und 
.    (8.  auch  Brandt,  Wiener  Studien   1"».  S.  280).     Im   Uebrigen 
ist  zu  vergleichen  die  Anzeige  L.  Steins  (D.  L  Ztg.   1890  No. 
und  Brandt,  Neue  Jahrb.  a.  0.  8.  255,  12.  233,  I. 

A  m  b  r 08  i  u  s. 

\1.  Ihm.  Studia  Ambrosiana.  Jahrb.  f.  kl.  Philol.  17.  Suppl.-ßd. 
L890  S.  1—124. 
Der  Verf.  giebt  eine  sorgfältige  chronologische  Debersicht  aber 
Ambrosius'  Leben,  untersuchl  gründlich  die  Abfassungszeit  und 
Echtheit  Beiner  Schriften,  wobei  er  zu  wertvollen  Resultaten  kommt, 
stellt  die  Zeugnisse  für  die  verlorenen  Schriften  zusammen  und 
bespricht  die  Abhängigkeit  des  Ambrosius  von  andern  Autoren, 
namentlich  Vergil.  Auf  das  einzelne  kann  hier  nicht  eingegangen 
werden. 

\|  a  r  i  n  a    Vi  et  o  r  i  n  u  s. 
Im  vorigen  Berichte  isl  mir  entgangen 

ti.  Geiger,    C.   Marius   Victorinus,    ein    neuplatonischer   Philosoph. 

L.Teil.    Beilage  zum  Jahresbericht  der  Studienanstalt  Metten 

1881  B8. 
Ers1  neuerdings  beginnt  man  die  Bedeutung  des  Marius  Vic- 
torinus für  die  Dogmen-  und  Philosophiegeschichte,  in  der  früher 
von  ihm  nichl  viel  mehr  als  der  Name  erwähnt  wurde,  zu  schätzen. 
Durch  seinen  christlich  umkleideten  Neuplatonismus  bat  er  mäch- 
tig auf  Augustin  gewirkl  und  ist  so  neben  Dionysius  einer  der 
Ausgangspunkte  für  die  neuplatonische  und  mystische  Strömung 
in  der  Kirche  geworden.  Die  philosophische  Terminologie  des 
Abendlandes  scheint  er  wesentlich  beeinilusst  zu  baben. 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  etc.    1889     Lfi  123 

Sein  Got  tosbegriff  zeig!  die  beiden  Seiten  des  aeuplatonischen. 
AU  absolute  Kausalität  i-t  Goti  der  [nbegrifif  alles  Seins  und  Le- 
bens, der  Erkenntnis.  Andrerseits  wird  seine  absolute  Transcen- 
denz  betont.  Gott  isl  erhaben  über  alles  Sein  und  alle  besondern 
Bestimmungen,  nur  durch  negative  Attribute  annähernd  zu  be- 
zeichnen. Er  ist  beides,  öeberlülle  d«'>  Seins  und  Nichtsein 
(S.  23  30).  Indem  die  Gottheil  ihr  eigenes  Sein  konstituirt,  bringt 
sie  zugleich  den  Xo-yos  hervor,  der  in  den  drei  Momenten  der  övto- 
-r,:.  Cojotkjs,  vorjots  gedacht  wird.  Vorwiegend  aber  wird  der  //'/,- 
bezeichnet  als  Thun,  Lehen.  Bewegung,  wie  der  Vater  als  Sein. 
Weil  alier  beides  untrennbar  ist,  so  sind  sie  6;j/joucjioi4).  [hr  Ver- 
hältnis wird  durch  die  bekannten  Vergleiche  mit  dem  kö-yos  IvSiot- 
öeros  und  rcpocpopixo;  und  mit  der  Ausstrahlung  des  Lichtes  erläu- 
tert. Als  wesenhaftes  heben  Gottes  ist  der  >/r,oc  auch  Princip 
alles  l.rh, ms  ausser  Gott;  er  isl  der  Weltschöpfer.  Die  (ewige) 
Weltschöpfung,  die  mit  der  ewigen  Zeugung  des  Myos  zusammen- 
fällt, ist  im  Grunde  ein  Emanationsprocess,  der  sich  in  der  be- 
kannten neuplatonischen  Stufenfolge  vollzieht.  Der  Akt  der  Zeugung 
und  Schöpfung  ist  zugleich  Akt  des  Willens  und  der  Intelligen/. 
des  )*''r{',;.  Indem  diese  zweite  Seite,  die  Intelligenz,  als  besondeer 
Hypostase  gedacht  wird,  gewinnt  Victorin  die  dritte  Person  der 
Gottheit.  Genauer  wird  das  Verhältnis  so  beschrieben,  dass  der 
//'//>:.  der  im  Schöpfungsakte  gleichsam  aus  Gott  herausgetreten 
ist,  im  Erkenntnisakte,  welcher  der  heilige  Geist  ist,  sich  zu  seinem 
Ursprünge  zurückwendet.  Wo  Victorin  sich  streng  fasst,  lässt  er 
den  drei  Hypostasen  eine  oöota,  nicht  etwa  die  erste  Hypostase  den 
beiden  andern  zu  Grunde  liegen.  Wie  Augustin  veranschaulicht 
auch  er  das  Verhältnis  der  drei  Hypostasen  durch  einen  psycholo- 
gischen Vergleich  (S.  59.  60).  Victorin  verwahrt  sich  gegen  den 
Vorwurf  des  Pantheismus.  Die  Dinge  haben  nicht  an  Gottes  Wesen, 
sondern  nur  an  seiner  Aktualität,  und  auch  das  nur  in  beschränk- 
tem und  verschiedenem  Maasse  Teil.  Wir  linden  hier  den  dyna- 
mischen  Pantheismus  Plotins. 


4)  Haraack  a.  0.  S.  32   bemerkt,    il;i>>    der    konsequente    (panth eistische 
Neuplatonismus  der  Lehre  von  <1lt  II usie  günstig  ist. 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie,     vi  1  29 


)•_>{  llaml. 

]>  setzung  der  sorgfältigen   Arbeit   wird   auch  Viotorins 

Verhältnis  zu  neuplatonischen  Philosophen  und  vom  Neuplatonia- 
mus  l inflns8ten  Kirchenschriftstellern  behandeln. 

-  \.i..  Tulliana  ei  Mario-Victoriana.     München  1888.    Programm 

des  K.  Luitpold-Gymnasiuma  8.  12    60. 

Im  Anecdoton  Holderi  S.  59ff.  bal  Dsener  oamentlich  auf  Grund 
eini  den    der  Verf.  des   von  der  Qeberlieferung  dem 

Boethius  zugeschriebenen  Schriftchens  !>••  definitionibus  auf  seine 
Uebersetzung  und  Bearbeitung  von Porphyrius'  I  .■:-./•,<•>■/   irepl  n 

■  <~>s  macht,  der  Subskription  eines  Vaticanua  und  ausdrücklicher 
Citate  oachgewiesen,  dass  diese  Schrift  von  Marius  Victorinus  ver- 
fasst  Ist  Die  Sohrift,  „welche  zu  den  geschichtlich  wichtigsten 
Denkmalen  der  späteren  römischen  Logik-Rhetorik  gehört  und  im 
Mittelalter  .  .  .  viel  gelesen  and  verwerte!  wurde"  (S.  13),  wird 
ans  hier  in  sorgfältiger  Ausgabe  vorgelegt.  Grundlage  derselben 
MIiKmi   drei   !!>>..    die  Zeugnisse    seiner   Excerptoren  auch  für 

jsiodor  sind  oeue  Bss.  benutzl  worden  -  .  endlich  auch  die 
direkte  Ueberlieferung  der  Gewährsmänner  (besonders  Cicero's  To- 
pik).  Von  besonderem  Interesse  sind  die  unter  den  Texl  gesetzten 
genauen  Nachweise  der  Quellen  und  der  Excerptoren  des  Victorin. 

—  Ein  Aidiaii-  giebl  wertvolle  Bemerkungen  zum  Texte  Ars  victo 
rinischen  Kommentars  zu  Cicero's  Rhetorik. 

A  ugust  in. 

Die  vortreffliche  Charakteristik  der  Weltanschauung  Auguatins 
und  ihrer  geschichtlichen  Bedeutung  von  Eucken,  die  Lebensan- 
schauungen der  grossen  Denker  S.  258  295  ist  bereits  im  Archiv 
V,  537  erwähnt.  .Mit  Augustin  beschäftigt  sich  ausschliesslich  der 
erste  Theil  von 

Habnack,  Lehrbuch  der  Dogmengeschichte.     3.  Bd.    Freiburg  i.Br. 
L889. 

„Die  Geschichte  der  Frömmigkeit  und  der  Dogmen  im  Abend- 
land Ist  von  Anfang  des  5.  Jahrhunderts  bis  zur  Reformationszeil 
so  durchgreifend  von  Augustin  beherrschl  gewesen,  dass  man  diese 
ganze  Zeil   als  eine   Periode  zusammenfasset!   muss."      Das  Mittel- 


Jahresbericht  aber  die  Kirchenvater  etc.    1889     18!  125 

alter  ist  „die  Periode  der  Auseinandersetzung  der  Kirche  mit 
Augustin  und  mit  allen  den  zahlreichen  von  ihm  gegebenen  Im- 
pulsen". Im  2.  Kapitel  bohandell  Harnack  «las  abendländische 
Christentum  und  die  abendländische  Theologie  vor  Augustin.  Er 
zeigt,  wie  Augustin  eine  von  Tertullian  und  Cyprian  bestimmte 
Richtnng  fortsetzt  und  weiterbildet,  wie  er  aber  durch  Vermittelung 
der  von  den  Griechen  beinflussten  abendländischen  Theologen  viele 
Elemente  der  griechischen  Theologie  iil>ernimin1  und  sich  innerlich 
aneignet,  so  die  allegorische  Auslegung  und  mit  ihr  eine  Fülle 
wertvoller  spekulativer  Ideen,  die  Verbindung  neuplatonischer  Spe- 
kulation mit  dem  kirchlichen  Christentum  (Marius  Victorinus  S.  3011'.). 
die  mönchische  Lebensauffassung.  Das  3.  Kapitel  schildert  Augustin 
als  Reformator  der  christlichen  Frömmigkeit,  die  Sünden-  und  Gna- 
denempfindung als  Grundstimmung,  neben  der  als  besonders 
mächtige  Momente  seiner  Frömmigkeit  die  Unterwerfung  unter  die 
Autorität  der  Kirche,  die  Annahme  sakramentaler  (magischer) 
Gnadenmitteilung,  eine  gewisse  Unsicherheit  über  das  Wesen  des 
Glaubens  und  der  Sündenvergebung,  die  eschatologische  Stimmung 
genauer  behandelt  werden.  Es  folgt  S.  84 — 215  das  4.  Kapitel: 
Die  weltgeschichtliche  Stellung  Augustins  als  Reformator  der  Kirche. 
In  den  einleitenden  Bemerkungen  zeigt  Harnack,  dass  August  in 
neben  einander  in  widerspruchsvollen  Aussagen  die  Schrift  und  das 
Symbol  oder  die  Kirchenlehre  als  Normen  hinstellt  (s.  auch  S.  1 15), 
ja  einen  über  diese  äussern  Autoritäten  erhabenen  religiösen 
Standpunkt  kannte,  dass  er  oft  der  Philosophie  einen  seiner  Heils- 
lehre  widerstreitenden  Einfluss  gestattet,  in  der  Ausführung  seiner 
Lehren  oft  entgegengesetzten  Richtungen  folgt.  Nur  aus  der  .Macht 
der  Persönlichkeit  begreift  es  sich,  wie  alle  diese  Elemente  doch 
zu  einem  ganzen  verbunden  werden  konnten,  dosen  Einheitlichkeit 
wir  nachzuempfinden  meinen.  Es  ist  aber  auch  natürlich,  dass 
diese  nur  im  Bewusstsein  des  einzelnen  verbundenen  Elemente  wie- 
der auseinander  streben  mussten,  und  dass  die  verschiedensten 
Richtungen,  die  von  ihm  ausgegangen  oder  beeinflusst  sind,  sich 
auf  ihn  als  ihren  Meister  oder  eine  Autorität  beriefen  und  es  mit 
einem  gewissen  Rechte  thun  durften.  Die  Darstellung  seiner 
..I. ehren   voii  den   ersten   und   letzten   Dingen"   (S.  94     \-l)  weisl 

•_".'■ 


}•_>.•,  llaiul. 

im  einzelnen  nach,  wie  neben  dem  Neuplatonismus  and  der  kirch- 
lichen Deberlieferung  vor  allem  die  feine  psychologische  Beobach- 
tung als  ein  wesentlich  neuer  Faktor  Augustin's  Theologie  bestimmt 
hat,  in  der  Bich  Beine  seelischen  Zustände  und  inneren  Erfahrungen 
wiederspiegeln.  S.  127  l  ~ ■  1  wird  ausgeführt,  wie  sich  im  dona- 
tistischen  Streite  Augustinus  Lehre  von  der  Kirche  und  ihren  Punk- 
tionen ausbildet,  8.  151—199,  wie  sich  im  Gegensatz  zu  dein  aus- 
ffihrlich  behandelten  Pelagianismns  (desen  Verwandtschaft  mit 
philosophischer  Ethik  8.  156  hervorgehoben  wird:  s.  auch  8.  159. 
1 T-J.  179,4)  seine  Lehre  von  der  Gnade  und  Sünde  darstellt.  Den 
Schiusa  bildet  (S.  200—215)  eine  Analyse  und  geschichtliche 
Würdigung  der  Darstellung  der  katholischen  Religion,  wie  Bie 
Augustin  im  Enchiridion  giebt. 

Nur  noch  das  5.  Kapitel  (>.  219—244)  kommt  für  uns  in 
Betracht.  Es  zeigt,  wie  Bich  im  Semipelagianismus  die  alte  An- 
schauung der  Kirchi  die  neue  augustinische  Doktrin  erhebt, 
aber  dieser  sich  beugen  muss,  doch  uichl  ohne  dass  der  Augusti- 
nismus wesentlich  gemilderl  wäre.  Es  zeigt  weiter,  wie  Gref 
der  Grosse  die  vulgärkatholischen  Elemente  des  Augustinismus 
einseitig  betont  und  zu  einem  System  verbindet,  das  die  Kirche 
des  M.  A.  beherrscht.  —  Die  Aufgabe,  das  innerste  geistige  und 
religi  s<  Leben  und  Schaffen  einer  unendlich  reichen  Individualität, 
da-  Fortleben  der  zahlreichen,  von  dir  ausgehenden  und  zum  Teil 
l,i>  in  die  Gegenwart  wirkenden  Impulse  zu  schildern,  ist  mit 
solcher  Liebe  und  Kunst  gelöst,  dass  dieser  Abschnitl  vielleicht 
der  anziehendste  de-  q  Werkes  ist,  unzweifelhaft  der,  welcher 
das  allgemeinste  Interesse  beansprucht6). 

Gbassmann,  l>i'   Schöpfungslehre  des  hl.  Augustinus  und  Darwins. 

Gekrönte  Preisschrift.     Regensburg  1889. 

Der  Verfasser  giebl   eine  korrekte   Darstellung  der  Ansichten 

Augustins  über  die  K\\  igkeil  des  göttlichen  Entschlusses  der  Schöpfung 

und  den  zeitlichen  Anfang  der  Welt,  den  Willen  Gottes  als  letzte 


s)  Unbekannt  Bind  mir  die  Werke  von  Specht,  >li«'  Lehre  von  der  Kirche 
nach  dem  bl.  Aug.  und  Wörter,  die  Qeistesentwickelung  des  bl.  Aul'.  i>i-  ra 
i  beide  Pad<  rl i  I 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  etc.  1889     1892.  \J, 

Ursache  der  Welt,  der  Auffassung  des  biblischen  Schöpfungsbe- 
richtes durch  Augustin.  Der  zweite  Abschnitl  behandelt  die  Er- 
haltung and  Regierung  der  Well  durch  Gotl  (S.  55ff.  Erklärung 
des  Debels),  die  Entwicklung  and  Verbreitung  der  Organismen 
S.  62ff.  Entstehung  der  Seele,  S.64ff.  Entstehung  der  Arten  durch 
generatio  aequivoca).  In  der  Kritik  der  Lehre  Augustina  ist  es 
leider  im  letzten  Grunde  der  sehr  naive  Standpunkl  des  Verfassers 
zum  biblischen  Schöpfungsberichl  (S.  87.  141).  der,  wenn  dies  auch 
nur  selten  klar  hervortritt,  das  Urteil  bestimmt.  Daraus  erklärt 
es  sieh  doch  wohl  auch,  dass  zwar  die  bekannten  Einwände  gegen 
Darwins  Descendenztheorie  ausführlich  reproducirl  werden,  dessel- 
ben Theorie  über  die  Verbreitung  der  Arien  ohne  weiteres  als 
vorzüglich  adoptirt  wird.  —  weil  sie  in  das  theologische  System 
passt.  Die  allegorische  Auslegung,  auch  die  des  Schöpfungsberichtes 
durch  Augustin  hat  doch  immer  historisch  den  bleibenden  Wert, 
dass  sie  einen  tiefem  Ideengehalt  an  den  alten  geltenden  Buch- 
staben anknüpft  und  starkem  Geistern  Bahn  bricht,  die  dann  auch 
die  Macht  des  Buchstabens  brechen.  Der  Verf.  selbst  hat  diesen 
weitern  Schritt  nicht  gethan.  Die  „populäre  Darstellungsari  der 
Schrift"  zugeben  und  auf  derselben  Seite  87  behaupten,  dass  ..sich 
ihre  Darstellung  immer  mit  der  Wissenschaft  vereinen  lässt",  ist  ein 
etwas  starkes  Stück.  Die  Schrift  von  Scipio  (Archiv  1,642)  hätte 
benutzt  werden  können,  Ausdrücke  wie  „weiters,  fernere,  trefflichst, 
allenfalsig,  einlässlichere  Darstellung"  sind  unschön. 

.1.  Chbistinnecke,   Causalität    und  Entwicklung  in  der  Metaphysik 
Augustins.     I.  Teil.     Inaug.-Diss.     Jena  1891. 

Die  zum  Teil  aus  Anregungen  Euckens  entstandene  Schritt 
bespricb.1  zunächst  die  Beziehungen,  unter  denen  Augustin  das 
Verhältnis  Gottes  zur  Weh  darstellt:  < lott  die  absolute  Causalität, 
Grund  alle-  Seins,  alle-  Lebens  und  alles  Schönen  in  der  Welt. 
Scharf  hebt  der  Verf.  die  sich  durchkreuzenden  Aussagen  und 
Widersprüche  bei  Augustin  hervor,  der  z.  B.  die  [deen  bald  in 
•    hinein  verlegt,   bald   durch  Schöpfung    aus   ihm    herausgesetzl 

werden    lässt,    die    \\'c|t    bald    als    volles   Abbild   Gottes    und    liarmo- 

uisches  Kunstwerk  betrachtet,   in  dessen  Zusammenhang  auch  das 


dland, 

seine  aotwendi      -    lle  hat,  oder  das  Böse  ab  Mittel  ansieht, 

sittliche  Vollkommenheit,  Beine  Gute  und  Gerechtigkeit  zur 

■i  bringen,  bald  wieder  daa  Böse  auf  eine   besondere 

<  iausalität     zurückfuhrt    und    damit    einen    bedenklichen 

Dualismus  statuirt,  ohne  doch  den  Grund  des  I  •    eis  ganz  von  ( :<>it 

fern  halten  zu  können  (vgl.  auch  8.  40  und  Eucken  a.  0.  8.  278 

schwer  zu  vereinen  ist  die  Annahme  eines  ewigen  Schöpfui 
gedankens  Gottes  und  zeitlicher  Weltentstehung.  —  Das  zweite 
Kapitel  behandeil  die  Lehre  von  den  von  <i"tt  in  die  Qrmaterie 
gelegten,  die  gesamte  künftige  stufenweise  Entwickelung  in  Bich 
schliessenden  Keimen  der  Dinge.  Auf  diesem  < •  \\  i l: •  - 1 1  Gesetze  der 
Entwickelung  beruhl  die  Ordnung  des  Weltalls.  Dieselbe  offenbart 
sich  in  den  species,  den  Gattungstypen,  diese  wider  können 
sich  in  der  Erscheinungswell  nur  darstellen  in  »Im  modi,  den 
Einzelexistenzen.  Wie  die  Weltschöpfung  in  einem  Herabsteigen 
des  ordo  durch  die  species  zu  den  modi,  so  bestehl  der  Weltpro- 
-  in  einem  Zurückstreben  der  modi  durch  die  species  zum  ordo. 

Eine  vollkom ne  Darstellung  des  Schönen  in  der  Well  aber,  wie 

sie  diese  strenge  Entwickelung  nach  .lern  Causalitatsgesetze  fordert, 
wird  gehindert  durch  die  Materie.  Die  Entwickelung  der  in  die 
Materie  gelegten  Kräfte  überlassl  Gott  nicht  sich  selbst,  sondern 
er  wird  als  fort  und  fort  schöpferisch,  nicht  nur  transcendent,  son- 
dern zugleich  geistig  immanenl  gedacht.  Alles  Geschehen  und 
Wirken  wird  in  einer  Weise  auf  ihn  als  letzten  Grund  zuruckge- 
führt,  dass  für  die  Freiheit  des  Menschen  kaum  Raum  übrig  bleibt, 
wenn  diese  auch  behauptel  wird.  Wenn  ferner  Augustin,  wo  er 
die  ge8etzmässigi  Naturentwickelung  streng  verfolgt,  Lein  Wunder 
gelten  lassen  oder  doch  nur  die  übersinnlichen  Gesetze  alles  Ge- 
schehens als  grösstes  Wunder  anerkennen  kann,  so  wird  auch  hier 
wieder  der  Zusammenhang  des  Systems  durchbrochen  durch  die 
Annahme  einer  höhern  Naturordnung  und  eines  göttlichen  Causali- 
tätsgesetzes,  welche  die  Naturgesetze  durchkreuzen  und  unserer 
Kenntnis  sich  entziehen. 


Jabresberichl  über  die  Kirchenväter  etc.  1889     1892.  |-_»,i 

E.    Melzer,    Die    aagustinische    Lehn'    vom    Causalitätsverhältnis 
Gottes  zur  Welt.     Ein  Beitrag  zur  Gesch.  der  patristischen 
Philos.     Sonderabdruck  aus  dem  26.  Bericht  der  wiss.  G 
„Philomathie"  in  Neisse.     Neisse  1892. 

Verf.  behandell  die  Ideenwelt  und  den  ewigen  Schöpferwillen 
Gottes  als  Voraussetzungen  der  Schöpfung,  die  Verwirklichung  der 
VVeltideen  in  der  Schöpfung  durch  Gott,  die  Erhaltung  der  Well 
durch  Gott.  Auf  das  einzelne  brauche  ich  nichl  einzugehen,  da 
M.  kein  neues  Material  beigebracht  hat  und  seine  apologetischen 
Ausführungen  anfechtbar  sind.  Er  sucht  Augustins  Lehre  als  rein 
theistisch  zu  fassen  (S.  9.  22.  32;  Civ.  XII,  2  bezieht  sieh  fecit 
nicht  auf  das  esse,  sondern  auf  die  Materien),  aber  seine  Polemik 
trifft  nur  die  Annahme  einer  Emanation  als  Mitteilung  >\^^ 
Wesens,  nicht  die  Annahme  eines  dynamischen  Pantheismus  (Zeller 
III.  2  S.  507).  S.  1411'.  wird  gegen  Augustins  ausdrückliche  Aus- 
n  Wissen,  Wollen.  Schaffen  Gottes  differenzirt.  S.  31  wird  die 
Schwierigkeit  des  Problems  der  Materie  und  Freiheit  sehr  bequem 
durch  einen  dogmatischen  Gemeinplatz  beseitigt. 

Bähnel,  Verhältnis  des  Glaubens  zum  Wissen  bei  Augustin.    Abh. 
zum  Jahresber.  des  Gymn.  zu  Chemnitz.     1891. 

Wie  das  ganze  System  des  Augustin  ein  auf  der  Entgegen- 
setzung des  Ewigen  und  Zeitlichen  beruhender  Dualismus  der 
theologischen  Begriffe  durchzieht,  indem  von  ihnen  bald  die  über- 
sinnliche, bald  die  sinnliche  Seite  hervorgekehrt  wird,  so  hat  auch 
der  Glaube  für  ihn  bald  den  höhern  Sinn  einer  mystischen  Ge- 
meinschaft mit  Gott,  Kahl  ilvn  iU>s  geschichtlichen  Fürwahrhaltens. 
Mit  diesem  historischen  Glauben  beschäftigt  sich  die  sehr  sorgfältige 
Ahhandlung.  Die  Notwendigkeit  desselben  und  seine  Priorität  vor 
dem  Wissen  beweist  Augustin,  das  Wort  im  weitesten  sinne 
fassend,  daraus  dass  das  Bedürfnis  des  Glaubens  auf  allen  Gebieten 
des  I. ein. ns  und  Erkennens  Bich  zeige,  dass  durch  die  Sünde  die 
nunfl  geschwächt  und  der  Wille  verkehrt  sei,  dass  der  Glaube 
durch  die  Autorität  <\<<v  Schrift  und  >\r\-  Kirche  geforderl  werde. 
Der  Glaube  setzt  in  gewissem  Sinne  die  Vernunft  voraus  (intellej 
ut  credam),  aber  nur  insofern  diese  die  Worte  der  Schrift  und  des 


|:;o  Paul  Wendland, 

Predigers  rechl  versteht,  die  Notwendigkeit  des  Glaubens  erkennt 
und  den  Weg  des  Glaubens  einzuschlagen  >i<h  entschliesst.  Sonst 
wird  der  Glaube,  der  Geisl  und  Willen  in  beilsame  Zucht  nimmt, 
als  die  notwendig  Vorstufe  der  späteren  Erkenntnis  betrachtet. 
Im'.'  Reinigung  durch  den  Glauben  bereite!  das  Schauen  der  Wahr- 
heit vor,  und  wer  jenen  verachtet,  verschliessl  - i < •  h  den  Weg  der 
Erkenntnis  (credo,    ul  intellegam).     Denn  unter  I  Beistande 

soll  der  Glauben  sich  zum  Wissen  entwickeln;  was  im  Glauben 
Eigentum  des  Subjekts  geworden  ist,  boII  zur  klaren  Erkenntnis 
werden,  die  niedere  Stufe  des  Glaubens  -"II  überwunden  werden. 
Freilich  sieht  sich  Augustin  dann  wieder  genötigt,  den  Schwachen 
«las  Zugeständnis  zu  machen,  dass  für  sie  die  Unterwerfung  unter 
den  von  der  Kirche  geforderten  Glauben  genügt,  welche  für  die 
Intelligenten  nur  ein  Durchgangspunkt,  wenn  auch  ein  notwendiger 
ist.  Wie  Augustin  einen  doppelten  Glauben  kennt .  so  steht  bei 
ihm  audi  oeben  und  über  der  vernunftmässigen  die  durch  Con- 
templation  vermittelte  Erkenntnis. 

Der  Verf.  bat  sich  jeder  Kritik  enthalten.  Aus  S.  3  and  IT 
möchte  mau  schliessen,  dass  er  der  Augustinischen  Theorie  freund- 
lich gegenüberstehe,  was  mitunter  den  Wen  solcher  ArbeiteD  nicht 
verringert,  da  der  an  der  Ideenwelt  des  Kirchenvaters  mit  dem  eige- 
nen Herzen  Teilnehmende  dessen  Gedanken  wenigstens  besser  zu  re- 
produciren  vermag  als  wer  sich  hier  wie  von  einer  fremden  Welt  ab- 
■  ii  fühlt  Aber  die  richtigen  Gesichtspunkte  für  eine  Kritik 
der  von  ihm  vortrefflich  entwickelten  Lehre  Augustins  hätte  er  hei 
Bücken  a.  0.  S.  285  (Harnack  a.  0.  112)  finden  können.  Indem 
die  mittelalterliche  Kirche  «Im  oben  entwickelten  Gedankenreihen 
herausgriff  und  einseitig  fortbildete,  die  ein  gewiss  -  G  gengewicht 
bildenden  Aussagen  (s.  Reuter,  Augustinische  Studien  S.  250 ff.)  igno- 
rirte,  hat  sie  ihre  Machtansprüche  mit  Lehren  Augustins  begründet, 
Beiner  Theorie  folgend  die  Unterordnung  des  Wissens  unter  den 
Glauben,  der  Wissenschaft  unter  die  kirchliche  Autorität  gefordert 
Ja  Augustin  ist  dr\-  ideelle  „Hauptvorfechter  der  Glaubensverfol- 
gungen, der  Ketzerprocesse,  der  Inquisition"  (Eucken)  gewesen. 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  etc.    lss'-'     1892.  I.">1 

K.  Kühneb,    Augustina    Anschauung  von    der    Erlösungsbedeutung 
Christi   im  Verhältnis  zur  voraugustin'schen    Erlösungslehre 
bei  den  griechischen  und  lateinischen  Vätern.    Theol.  Diss. 
Heidelberg  L890. 
Der  Verf.  zeigt,  dass  Augustin   die  verschiedensten  Erlösungs- 
auffassungen  benutzt,    zum  Teil  modificirl  und  ergänz!  hat,    ohne 
sie  zu  einer  abgeschlossenen,  systematisch  entwickelten  Anschauung 
verbinden  zu  können. 

Die  Autorität  der  augustinischen  Heilslehre  verfolgl  durch  die 
Litteratur  des  Mittelalters  Koch  in  der  Tob.  Theol.  Quartalschrifl 
1891.  Ebenda  1889  S.  287— 317.  578— G48  behandelt  derselbe 
die  Heilslehre  des  Fanstus  von  Riez.  Das  Hauptresultat  der 
sorgfältigen  Untersuchung  ist,  dass  Faustus  in  Debereinstimmung 
mit  den  Massiliensern  (Cassian)  auf  semipelagianischem  Standpunkt 
steht,  nach  dem  „die  sittliche  Kraft  zum  Guten  und  der  Glaube 
vom  Menschen  selbsl  stammt  und  nur  zur  Vollendung  i\<'s  Heils- 
werkes die  Gnade  Gottes  erforderlich",  diese  also  das  Sekun- 
däre ist6). 

[ch  gehe  über  zu  der  griechischen  Litteratur: 
.1.  Deäseke,  Gesammelte  patristische  Untersuchungen.     Altona  und 
Leipzig  1889. 

Geber  die  1.  und  3.  dieser  früher  in  Zeitschriften  veröffent- 
lichten Abhandlungen  ist  bereits  im  Archiv  I  S.  ()40  IV  S.  162 
berichtel  worden.  In  der  "2.  Abhandlung  nimmt  der  Verf.  Hiplers 
Ansicht  über  die  dionysischen  Schriften  gegen  Foss  (Progr.  des 
Luisenstädt.  Gymn.  Berlin  1886)  in  Schutz.  Er  bietet  ein  grosses 
Material  von  Gelehrsamkeit  auf,  um  nicht  nur  einen  Dion.  im 
letzten  Viertel  des  1.  Jahrh.  ausfindig  zu  machen,  den  er  für  den 
Verfasser  meint  halten  zu  können,  sondern  auch  die  aposto- 
lischen Namen,  die  man  als  Beweis  der  Dnechtheil  meinte  ansehen 
zu  müssen,  auf  Zeitgenossen  dieses  Mannes  zu  beziehen.     Aber  die 


6)  Nur  aus  Anzeigen  bekannt  sind  mir  Engelbrecht,  Studien  äbei 
riften  des  Bischöfe  von  Eleu  Faustus  Wien  1889  und  desselben  Patristische 
Analekten,  die  für  die  Zwecke  unseres   Berichtes  nicht   in  Betracht  kommen. 


i;;-_<  Paul  Wendland, 

Zusammenstellung  der  Namen  Johannes,  Jacobus,  Petras,  Titus, 
Timotheus,  Polykarp  (Caius,  Carpus^  wird  stets  bei  dem  unbefan- 
genen den  stärksten  Verdacht  erwecken.  Und  ohne  Gewaltsam- 
keiten  komml  doch  auch  Dr.  nicht  aus.  Au  den  Worten  De  div. 
nom.  III.'-'  -  '--   laxmßo;  xal  llsTpoc  nimml  er 

An-  -  mau  riapTjaav  zu  erwarten  hal       -   38  .  ist  falsch 

Kroger,  Griech.  Sprachl.,  Syntax'  §63,  1.  ebenso  Hiplers  von 
Dr.  wiederholte  Behauptung,  dass  d8eX<pofteo«  (Bruder  des  Herrn) 
eine  sprachlich  unmögliche  Bildung  sei.  Zu  den  von  andern  an- 
geführten Beispielen  t'ÜLre  ich  ein  neu  hinzugekommenes  Byzant. 
/.  II  S.  643  hinzu.  Die  Beschaffenheil  des  Texl  s  giebt  also 
keinen  Aula—  zu  der  Aenderung  aöeX<po«  jou  (>c  des  Timotheus) 
ristpos  und  der  Ausmerzung  des  Jacobus,  auch  nicht  die  verein- 
zelte Lesart  a8e) .y'.:.  die  viel  leichter  aus  a8eXcp6deo;  entstehen 
konnte  als  umgekehrt.  (In  der  paläographischen  Erklärung  S.  36 
lässt  l>r.  das  o  aus.)  —  Dionys  ist  nach  Jerusalem  gezogen  bc)  rijv 
öeav  (Dr.  schreib!  sonderbarer  Weise  ftstav  nach  den  Ausgaben) 
roo  ütoapvixou  xal  &eo86)(ou  3a>(xaTO?.  Dräseke  liesl  nach  Hilduin 
zr-'-j-',:    und  versteht    das    Kreuz,    was    '■inen  guten  Sinn    geben 

würde    (Usener,  her  hl.  Theodosios  S.  170,   Leben    Sym is    bei 

Migne  Bd.  93  S.  L673  (nebsl  Anm.),  aber  sich  sprachlich  nicht 
rechtfertigen  lässt.  Eine  neue  Erklärung  des  scuuaxos  hat  Geizer 
Jahrb.  f.  prot.  Theol.  1892  S.457ff.  versucht.  Dass  im  7.  Briefe 
mit  den  Worten  njs  Iv  tq>  aravnjpup  orraupip  YsT0Vüta»  ^xXei<|«öK  nur 
eine  Sonnenfinsterniss  gemeinl  sein  kann  (nicht  eine  Lichterschei- 
nung, Hipler  liesl  mit  einer  Hs.  exXafi<J/eaK),  lehrt  die  weitere  Schil- 
derung. Langen,  der  dies  an  der  gleich  zu  erwähnenden  Stelle 
richtig  bemerkt,  suchl  durch  die  Deutung  der  Worte  als  Verfinste- 
rung nicht  bei  der  Kreuzigung,  sondern  in  Kreuzesform  die  Bezie- 
hung auf  das  Ereignis  bei  Christi  Tod  fortzuschaffen.  —  Wenn  der 
10.  Brief  an  den  Evangelisten  Johannes  auf  Patmos  gerichtet  ist, 
sieht  Dr.  die  Bezeichnung  „Evangelist"  als  Interpolation  an, 
vermutet,  dass  Johannes  der  ursprüngliche   Name  des   Sierotheos, 


Da  sich  Dr.  auf  bs.-liche  Zeugnisse,  deren  Werl   durchaus  zweifelhaft 
in!,  beruft,    bemerke    ich,    da      Johannes  Dam.  schon  für  unseren  Text zi 

..■  Bd.  96  8.  7  1: 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  etc.    1889     1892.  133 

l'at 8  vielmehr  Pithom,    \- ■-/.  wohin  er  zurückkehren  soll,  Cäsium 

sei.  Solchen  Hypothesen  würde  ich  das  Radikalmittel  vorziehen, 
durch  das  Langen  (Internationale  Theol.  Z.  1893  S.  590  609  die 
Schule  des  Hierotheos)  den  Verdachl  einer  Fälschung  abzuwehren 
sucht,  nämlich  die  Athetirung  der  anstössigen  Stellen,  die  ihm  den 
Zusammenhang  zu  unterbrechen  scheinen,  wenn  ein  solches  Mittel 
nur  nötig  wäre.     Wer  die  grosse  Reihe  der  litterarischen  Ealschun- 

überblickt,  welche  die  Anschauungen  der  spätem  Zeil  in  das 
apostolische  Zeitalter  übertragen  wollen,  wird  die  Fälschung  der 
dionysischen  Schriften  begreiflich  finden8). 

Weiter  sucht  Dr.  zu  erweisen,  dass  die  „Grundlinien"  des 
Dion.,  deren  Inhalt  er  uns  seihst  angiebt,  in  Hippolyts  Schrift 
[Ispi  DeoXoYi'as  xat  arapxtoasos  uns  erhalten  seien.  Z.  f.  w.  Th.  1892 
S.  408 — 418  behandell  er  die  Beurteilung  der  dionysischen  Schrif- 
ten in  späterer  kirchlicher   Litteratur. 

In  der  vierten  Abhandlung  zeigl  Dr.,  dass  die  von  Ryssel  aus 
dem  Syrischen  übersetzte  und.  was  Ryssel  übersehen,  mit  des  Gre- 
gor von  Nazianz  Schritt  an  Euagrius  identische  Schrifl  Gregors  an 
Philagrius  nicht  yon  Gregorius  Thaumaturgus  herrühren,  noch 
weniger  dessen  Schrift  gegen  Porphyrius  sein  kann,  deren 
Existenz  überhaupt  zweifelhaft  ist  (vgl.  Preuschen  in  Harnacks 
'i  -di.  der  altchiistl.  Litt.  S.  432.  430).  Aus  inneren  Gründen 
macht  er  wahrscheinlich,  dass  die  griechische  Tradition  mit  Rechl 
dem  Gregor  von  Nazianz  das  Werk  zuschreibe. 

In  der  folgenden  Untersuchung  versucht  Dr.  zu  beweisen,  d 
die   beiden   unter  Athanasius'    Namen    überlieferten    Streitschriften 

q  Apollinarius  nicht  von  Athanasius.  auch  nicht  von  einem. 
sondern  von  verschiedenen  Verfassern  herrühren,  über  deren  Namen 
er  eine  Vermutung  äussert. 


Mein  urteil  war  im  wesentlichen  niedergeschrieben,   bevor  Nippold  Z. 
f.  w.  Th.  1S:>1  S.  306ff.  and  andere   sich  ähnlich  äusserten.     Für  die  weitere 
ing  der  Frage  vgl.   De  Lagarde  Mitteil.  IV.  S.  19.  20  Dräseke  Z.  f.  \\. 
TL     -       3.504-   509.     Die  Schrift  des  Dorotheos  (S.  48)  ist   übrigens  edirt; 
B.Migne  Patrol.  Gr.  LXXXVIII,  S.  L609.    Ueber  Eerennius  5.  ffeitz  in 

dem  Sitzungsber.   d.  Berl.  Akad.  1889   and   meine   Neu  entd.   Fragm.  Philos 
I  I  ff. 


l.'-l  Paul  Wendland, 

In  Maren-'  Lebensbeschreibung  des  Bischofs  Porphyrius  (ed. 
M.  Haupt  Berlin  1875)  ist  ans  ein  höchst  interessantes  Kapitel 
ans  der  Geschichte  der  Heiden  Verfolgungen,  eine  Schilderung  der 
gewaltsamen  Unterdrückung  Heidentums  and  der  Zerstörung 

Marnasheiligtums  zu  Gaza  —  Johannes  Chrys  stomus  wirkt  im 
Hintergrunde  mit  -  aufbewahrt.  Im  Anschluss  an  den  Bericht  des 
Augenzeugen  entwirf!  der  Verf.  in  seiner  letzten  Abhandlung  ein 
lebensvolles  Bild  dieser  Vorgänge,  die  in  dem  etwa  ein  Jahrzehnt 
vorauf  liegenden  Vernichtungskampfe  um  das  Serapeum  in  Alexan- 
dria ihre  Parallele  haben. 

Methodius. 

Y   Bonwetsch,  Methodius  von  Olympia  Bd.  1  Schriften.     Erlangen 
und  Leipzig,  Deichert   1891. 

Das  Wnk  ist  eine  sehr  wertvolle  Bereicherung  der  altchrist- 
lichen Litteratur. 

Der  Verf.  giebl  eine  deutsche  LJebersetzung  eines  in  mehreren 
H8S.  erhaltenen  altslavischen  Corpus  Methodianum  (S).  B.  giebt 
den  Wortlaul  der  ziemlich  sklavischen  (öfters  nur  excerpirenden) 
Uebersetzung  möglichst  wortgetreu  wieder,  wodurch  dem  mit  dem 
Gedankenkreise  und  der  Sprache  des  Methodius  Vertrauten  ofl  eine 

Rekonstrukti les  griechischen  Textes  ermöglicht  wird.   Verbunden 

ist  damit  eine  Ausgabe  aller  mit  Ausnahme  des  Anfangs  von    |! 

,-•[•,•>  nur  durch  indirekte  Qeberlieferung  griechisch  erhal- 
tenen Stucke,  mit  Ausschluss  des  Symposions.  Zahlreiche  Hss.  sind 
neu  verglichen,  auch  spätere  Benutzer  eifrig  herangezogen,  ich 
gebe  einen  Deberblick  über  die  jetzt  vorliegenden  Schriften  des 
Methodius: 

1.  ilepl  tou  ocÖTeEouaioo.  Das  Werk  ist  zum  weitaus  grössten 
Teile  griechisch  erhalten,  aber  in  seiner  Anlage  erst  jetzl  ver- 
ständlich, nachdem  die  griechischen  Stücke  in  s  eingeordnel  sind 
s.   12.  51-   58. 

2.  I  eber  das  Leben    und    die  vernünftige  Handlun 
nur  in  8.  erhalten. 

;'>.  Di<'  drei  Bücher  über  die  Auferstehung,  die  wesentlich  aus 
s  vervollständigt  sind. 


Jahresbericht  über  die  Kirchenvater  etc.  1889     1892.  j:;;, 

I.    Ueber   die    Unterscheidung   der   Speise  etc.   nur  in  S  er- 
halten. 

5.    Ueber  den   Aussatz  (S),  wovon  nur  kurze   Fragmente  des 
Urtextes  erhalten  sind. 

C).    Eine  Prov.  30, 15  ff.  und  Ps.  19, 25  erklärende  und  danach, 
schwerlich  richtig  betitelte  Schrift. 

Es   Folgen  die  griechischen    Fragmente    fiept  t&v  -/sw/pov  und 
K^Ti  flopcpuptou,  dann  zum  Teil  neue  Reste  <\r±  Hiobkommentars. 

Welcher  Gewinn  namentlich  aus  den  neuen,  durch  äussere 
und  innere  Gründe  sicher  beglaubigten  Stücken  zu  ziehen  ist,  wird 
B.  im  zweiten  Bande  darlegen.  Ich  begnüge  mich  hier  mit  An- 
deutungen. Des  Methodius'  polemisches  Verhältnis  zu  Origenes 
übersehen  wir  jetzt  klarer  als  früher.  In  Nr.  4.  .">.  6  lernen  wir 
ihn  als  Exegeten  kennen,  der  in  seiner  allegorisirenden  Methode 
sieh  von  Origenes  abhängig  zeigt,  so  sehr  er  auch  an  anderer 
Stelle  liegen  die  Willkür  neumodischer  Ausleger  eifert.  Aber  auch 
die  Geschichte  der  Philosophie  geht  nicht  ganz  leer  aus.  Nr.  2 
und  einzelne  Abschnitte  von  4  entwickeln  die  stoische  Lehre  vom 
rechten  Verhältnis  des  Menschen  zu  den  Gütern  und  Uebeln;  die 
christlichen  Zusätze  lassen  sich  leicht  absondern.  Daraufgehe  ich 
vielleicht  an  anderer  Stelle  genauer  ein  (S.  67, 1  Anspielung  auf 
Kleanthes"  Verse).  Sehr  oft  finden  wir  die  aus  heraklitisirenden 
Abschnitten  bei  Philo  und  Plut.  (s.  von  Arnim,  Quellenstudien  zu 
Thilo  S.  95)  bekannte  Lehre  von  den  verschiedenen  Altersstufen 
entwickelt,  nach  der  der  Mensch  in  seinem  Wesensbestande  einem 
beständigen  Wechsel  und  Fluss  unterworfen  ist.  S.  73ff.  linden 
wir  in  der  Ausführung  >\r>  Gegners  die  platonische  Geringschätzung 

-  Leibes:  für  die  /y.wz:  8epp.au vot  war  auf  Bernays,  Theophrasl 
über  die  Frömmigkeit  S.  143  zu  verweisen  (vgl.  meine  Neu  ent- 
deckten Fragm.  Thilos  S.  10t).  114).  Interessant  ist  auch  S.  297 
(über   Fleischenthaltung).     Manches  isl    aus  medicinischen  Quellen 

schöpft,  S.  79  wird  Aristoteles,  S.  80  Eippocrates  citirt.  Zahl- 
reiche oeue  Zeugnisse  kommen  für  die  Benutzung  Piatos  hinzu. 
Aus  den  schon  bekannten  Stücken  hebe  ich  noch  besonders  hervor 
den    ausgeführten    Mikro-   und   Makrokosmos  S.  212.  213  und  die 


136  Paol  Wendland, 

Darstellung  der  christlichen  Eschatologie  unter  der  Form  des  Btoi- 
Bchen  ixTrupto|M(  S.  l.">'_'. 

A  t  haua>iu  9. 

Die  Bedeutung  des  Mann.-,  die  tieferen  Motive  und  religiösen 
Interessen  der  von  ihm  vertretenen  Sache  Btelll  K  .  Jahrb.  f. 

pr.  Th.   1890  S   :;  <~>     356  in  einem  populären  Vortrage  dar. 

Die  Kappadocier. 

1.     Fb.  Hui.    Des  h.  Gregor   von    Nyssa    Lehre    vom    Menschen. 

Köln   L890. 
•_'.     A.  Krampf,  her  Urzustand  des  Menschen  nach  der  Lehre  des 

h.  Gregor  von  Nyssa.     Würzburg   1889. 
:'>.     Hummer,    Des  h.  Gregor  von   Nazianz   Lehre    von   der  Gnade. 

Kempten   1890. 

Der  Verf.  der  ersten  Schrifi  beschreibt  nach  Gregors  teleolo- 
gischen Gesichtspunkten  die  Stellung  des  Menschen  in  der  Well 
and  seine  natürliche  Ausstattung.  AU  Mikrokosmos  isl  er  ein 
Abbild  des  Universums,  als  geistig-leibliches  Doppelwesen  isl  er 
das  Mittelglied  der  geistigen  und  der  materiellen  Welt  Aul'  dem 
Gebiete  der  Anthropologie  /ei-i  der  Nvssaner  reges  Interesse  für 
die  landläufigen  Fragen,  behandelt  die  Stufenfolge  der  irdischen 
Wesen,  den  Unterschied  des  Menschen  muh  Tiere,  die  zweck- 
mässige Beschaffenheit  der  Glieder  des  Körpers,  Existenz,  Unsterb- 
lichkeit, >ii/  und  Einheit  der  Seele,  ihr  Verhältnis  /.um  Körper, 
ihre  Funktionen  und  deren  Verhältnis  zu  einander,  die  \\  illen.x- 
ireiheit  (vgl.  auch  Krampf  S.  25 ff.).  In  manchen  Punkten  schwankt 
Gregor  zwischen  verschiedenen  Anschauungen,  .-<»  zwischen  Dicho- 
tomie und  Trichotomie,  Kreatianismus  und  Traducianismus.  I'i. 
Schwanken  wäre  besser  anerkannl  als  weggedeutel  worden  (S.  36ff. 
51ff.).  Xu  der  natürlichen  Ausstattung  des  Menschen  kommt  im 
paradiesischen  Urzustände  eine  übernatürliche  hin/u.  als  6fiofa><jtc  der 
uübergestelll  nach  Gen.  L, 26.  Die  Summe  dieser  durch 
göttliche  Gnade  ^l^w  ersten  Menschen  verliehenen  geistigen  und 
körperlichen   Vorzüge  behandeln    beide   Schriften   ausführlich.     Die 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  etc.   1889     1892.  \'.\  ( 

Frage,  ob  man  auf  die  Gnadengaben  des  Urzustandes  den  katholischen 
Begriff  der  dona  superaddita  anwenden  dürfe,  ist  deshalb  unfrucht- 
bar, weil  die  altkirchliche  Theologie  unsere  scharfe  Scheidung  des 
Natürlichen  und  Uebernatürlichen  nichl  kennt.  Kr.  hebl  dies  S.  •">'.» 
hervor.  Die  höhere  Ausstattung  des  ersten  Menschen  muss  durch- 
aus in  enger  Verbindung  mi1  der  natürlichen  Wesensbeschaffenheit 
gedachl  werden  (s.  auch  Krampfs.  Uli),  einer  Verbindung,  die 
der  von  voüs  und  ''yy/j,  ähnlich  gedachl  werden  kann.  Wie  könnte 
sich  anders  die  eix&v  wieder  zur  opoiuxTic  entwickeln? 

Dureh  den  Sündenfall  gehl  die  ojjloiuxji?  dem  Menschen  ver- 
loren. Der  Begriff  der  Erbsünde  isl  bei  Gregor  nicht  klar  ausge- 
sprochen, im  Traktat  über  das  Schicksal  der  Kinder  nach  dem 
Tode  ganz  ignorirt.  Denn  diese  Schritt  ist  nur  verständlich  von 
der  Voraussetzung  aus.  dass  Gregor  von  ungetauften  Kindern  redet 
und  .-ich  im  Gegensatz  zum  griechischen  Volksglauben  setzte,  der 
diese  in  die  Hölle  gelangen  1  ioss  und  noch  heute  lässt.  Im  Gegensalz 
zu  llilt  vertritt  Krampf  diese  Auffassung,  der  dann  aber  die  Unecht- 
heil  der  Schrift  anzunehmen  geneigt  ist  (S.  45 4).  Weiter  behandelt 
llilt  die  Lehre  von  der  Erlösung,  Heiligung  und  Rechtfertigung  und 
die  Eschatologie.  Die  Erlösung  wird  von  Gregor  geistig  und  physisch 
zugleich  gedacht.  Sie  ist  „eigentlich  nur  der  Specialfall  einer  allge- 
meinen kcismologischen  Reconciliation"  (S.  156).  Durch  die  Auferste- 
hung wird  der  Urständ  wiederhergestellt.  Durch  die  origenistische 
Lehre  von  der  Apokatastasis  wird  das  Weltgericht  ziemlich  in  deu 
Hintergrund  gerückt.  Die  Hölle  ist  nicht  als  Ort  der  Strafe,  sondern 
als  Ort  der  Reinigung  dargestellt.  Durch  den  in  ihr  sich  vollzie- 
henden Läuterungsprocess  wird  alles  Böse  allmählich  ausgeschieden. 
ha-  Böse  als  rein  Negatives  und  als  Gegensatz  des  Guten  kann  kei- 
nen ewigen  Bestand  haben.  Alles,  nicht  nur  die  bösen  Menschen, 
sondern  auch  die  Teufel,  kehren  einst  zurück  zu  der  Einigung  mit 
Gott,  zu  der  alles  beständig  hinstrebt.  Die  Versuche,  diese  Lehre 
von  der  ontoxoixdaTa.au;  wegzudeuten  (der  letzte  bei  Krampf  S.  • 
hatten  kaum  80  weitschweifig  (S.  315 — 347)  widerlegt  werden 
brauchen.  Schwer  zu  begreifen  Is1  nur,  wie  llilt  S.  254 — 258 
dem  Gregor  die  hehr,'  vom  Fegfeuer  neben  der  von  der  Hölle  als 
Reinigungsort  zuschreiben  kann.  —  Für  «'ine  geschichtliche  Wurdi- 


138  Paul  Wendland, 

gang  des  Gregor  wäre  übrigens  vor  allem  Bein  enges  Verhältnis  zn 
Methodius,  auf  das  Möller  wiederholt  hinweist,  genauer  zn  unter- 
suchen. 

In  der  dritten  Schrift    tritt    der  Mangel  geschichtlicher  Auf- 
fassun  ders  scharf  hervor.     Nachdem   Bfimmer  des   Nazian- 

zaners  Lehre  vom  Urzustände,   die  mit  der  des  Gregor  vod  Nyssa 
übereinstimmt,  dargestellt  bat,  behandelt  er  ausführlich  die  Erlösungs- 
lehre   und  ordnet   dabei   nach    deu    Schemata  scholastischer    D 
matik    den  Stoff   in   einer  Art,    die  sogar  die  Benutzung  des  vod 
ihm  gesammelten  Materials  in  höchstem  Maasc  tiwert. 

.1.  Bauer,    Die  Trostreden    des  Gregor  von  Nyssa    in  ihrem  Ver- 
hältnis zur  antiken  Rhetorik,     [naug.  Diss.     Marburg   1892. 

Die  sorgfaltige  Arbeit  stelll  die  Theorie  der  alten  Rhetorik 
über  die  verschiedenen  Arten  des  i^xtup-tov  dar  und  zeigt,  dass 
Gregor  in  Auswahl  und  Anordnung  des  Stoffes  in  den  Trauerreden 
auf  Meletius,  Pulcheria,  Plakilla  mit  der  rhetorischen  Theorie  und 
den  nach  ihr  gearbeiteten  Reden  übereinstimmt,  ja  mitunter  im 
Anschluss  an  die  hergebrachte  Topik  Gedanken  vorträgt,  die  in 
christlichem  Mumie  befremden.  Auch  wo  er  das  Verhältnis  zur 
philosophischen  Trostschrifl  berührt  (S.  25.  61.  79ff.),  zeigt  sich 
B.  gut  orientirt,  so  dass  man  von  der  Fortsetzung  seiner  Arbeit, 
die  Inhalt  und  Zweck  der  christlichen  Trostrede  behandeln  wird, 
das  Beste  erwarten  darf. 

\  e  liles  i  us. 

Burkhard  behandell  in  den  Wiener  Studien  Bd.  1".  II  die 
iis. -liehe  üeberlieferung,  geht  auch  auf  die  von  Holzinger  veröffent- 
lichte lateinische  Cebersetzung  und  auf  die  von  ihm  entdeckte 
I  ebersetzung  des  Burgundio  ein,  die  wegen  ihres  engen  Anschlusses 
an  das  Original  von  Bedeutung  ist.  Eine  Probe  derselben  ver- 
öffentlicht er  in  der  Beilage  zum  Jahresbericht  des  Meidlingenschen 
Gymn.     Wien   L891/92. 


Jahresbericht  über  die  Kirchenvater  etc.    L889     1892.  139 

A  pollina  r  Los. 

.1.  Dräseke,    Apollinarios    von  Laodicea.     Sein   Leben    und    seine 
Schriften  nebst  einem  Anhang:    Apollinarii  Laodiceni  quae 
supersunt    dogmatica.      Leipzig    1892.     Texte    und    Unter- 
suchungen zur  Geschichte  der  altchristlichen  Litt.  \ll.  3.   I 
l'.'t  S. 

Der  Verf.  vereinigt  seine  zahlreichen  in  Zeitschriften  erschie- 
nenen Untersuchungen  zu  einem  Ganzen,  her  erste  Teil  stellt 
die  dürftigen  Nachrichten  über  «las  Leben  des  Apollinarios  zusam- 
men, sucht  die  Schriften  desselben  in  die  verschiedenen  Perioden 
seines  Lebens  einzuordnen  und  das  Lebensbild  aus  den  Schrillen 
zu  ergänzen.  Der  zweite  Teil  beschäftigt  sieh  mit  dem  Schrifttum 
des   Apollinari  Bekanntlich    halten   Anhänger  des  Apollinarios 

dessen  Schriften  auf  falsche  Namen  gesetzt,  um  unter  orthodoxer 
Etikette  die  Werke  ihres  verketzerten  Meisters  der  Nachwelt  zu 
wahren.  Der  Verf.  hat  nach  Caspari  eine  Reihe  dieser  Schriften  für 
Apollinarios  in  Anspruch  genommen.    Es  sind  dies  im  wesentlichen: 

1)  Die  unter  Justins  Namen  erhaltene  Cohort.  ad  Graecos, 
bei  der  man  freilich  nach  meinem  Gefühl  eine  durch  die  verschie- 
dene Litteraturgattung  verursachte  auffallende  Abweichung  des  Stils 
von  den  dogmatischen  Schriften  annehmen  müsste. 

2)  In  dem  sicher  nicht  von  Basilius  herrührenden  Anhange 
zu  dessen  drei  Büchern  gegen  Eunomins  findet  Dräseke  <l'>  Apol- 
linari".«,' Streitschrift  gegen  Eunomius  wieder    (vgl.  Z.  f.   Kirchen- 

jehichte  L890  S.  22  ff.). 

3)  Die  drei  ersten  (fiept  tt(;  dyias  tpidSos  betitelten)  der  sieben 
durch  die   Ueberlieferung  Athanasius  oder  Maximus  Confessor  zu- 

ächriebenen,  von  Garnier  für  Theodoret  in  Anspruch  genommenen 
Dialoge  hält  Dräseke  für  eine  (freilich  nicht  durch  die  Ueberliefe- 
rung bezeugte)  Streitschrift  des  Apollinarios  gegen  die  arianische 
Theologie;  vgl.  den  Aufsatz  in  den  Theol.  Stud.  u.  Krit.  1890 
S.  137—171. 

4)  Durch  Citate  wird  ausdrücklich  einem  Briefe  des  Apolli- 
uarios  an  Kaiser  Jovian  zugeschrieben  ein  kurzes  unter  dem  Titel 
ll:v  rijs  -'j',/.<!>-j--<>>:  too  &eou  X.6700  iinti-r  Äthan asius  Werken  über- 

Arcbii  f.  Geschichte  d.  Philosophie.    VII.  »' - 


I  \i  i  Paul  Wendland, 

lieferten  Bekenntnis,  worauf  Caspari  hinwies.  Ebenso  sind  <">)  fünf 
dem  Julius  von  Rom  zugeschriebene  Stücke  und  die  dem  Grqgorius 
Traumaturgus  zugeschriebene  Kotd  fiepoc  ictVri?  bereits  von  Caspari 
mit  überzeugenden  Gründen  dem  Apollinarioa  vindicirt. 

('))  In  <lir  kürzeren  Version    der   als  justinisch    überlieferten 
■  -i'j\  rpidoo«  erkennl  Dräseke  das  von  Gregor 
von  Nazianz  erwähnte  Werk  des  Apollinarioa  üep  wieder. 

Nachdem  ein  Fälscher  dasselbe  erweitert  und  es  in  <I«t  uns  auch 
erhaltenen  längeren  Version  auf  Justins  Namen  gesetzt,  wäre  dann 
auch  der  kürzere  und  echte  Text  mit  Justins  Namen  versehen 
(S.  181)  —  ein  Process,  für  den  freilich  die  innere  Wahrscheinlich- 
keit nicht  spricht 

Dazu  kommen  mehrere,  namentlich  bei  Leontaua  erhaltene 
Citate.  Den  Zusammenhang  der  Reste  der  christologischen  Hfaupt- 
schrift  auchl  Dräseke  S.  L83ff.  bes lers  auf  Grund  der  Gegen- 
schrift des  Gregor  von  Nyssa  herzustellen.  Diese  Texte  werden  im 
Anhange  auf  Grund  der  bisherigen  Ausgaben  abgedruckt,  mit  Aus- 
nahme der  Cohortatio.  Damil  ist  ein  Qeberblick  über  das  Schrift- 
tum des  Apollinarioa  und  eine  an  manchen  Punkten  gewiss  sehr 
wünschenswerte  Nachprüfung  der  Hypothesen  Dräsekes  erleichtert. 
—  Das  Werk  beschränkt  sich  auf  literarhistorische  Untersuchungen 
zu  einzelnen  Schriften  des  Apollinarios,  in  denen  freilich  einzelne 
besonders  charakteristische  Lehren  wiederholl  hervorgehoben  werden. 
Es  fehlt  leider  uoch  an  einer  zusammenfassenden  Darstellung  des 
Lehrsystems,  zu  der  freilich  auch  die  in  den  exegetischen  Sammel- 
werken erhaltenen,  dem  Verf.  nicht  zugänglichen  Fragmente  heran- 
zuziehen wären.  Bemerkt  Bei  noch,  dass  S.  64fF.  die  Psalmen- 
Metaphrase,  S.  100 ff.  der  Briefwechsel  des  Apollinarioa  mit  Basiliua 
als  echt  erwiesen  wird.  Mine  eingehende  Besprechung  des  Werkes 
mit  mancherlei  Ausstellungen  und  Berichtigungen  giebt  Jülicher 
Gott.  gel.  An/..   1-'.':;  Nr.  2. 

1)  i  o  n  v  s  i  u  s    A  r  e  o  i'  a  g  i  I  a. 

A.  Jahn,  Dionysiaca.  Sprachliche  und  sachliche  platonische  Blüten- 
lese aus  Dionysius  zur  Anbahnung  der  philologischen  Behand- 
lung dieses  Autors.     Altona  und  Leipzig,  Rehei    l^s'.i. 


Jahresbericht  über  die  Kirchenvätei  etc.   lsS'.'     1892.  III 

Der  Verf.  giebl  eine  sorgfältige  Zusammenstellung  der  plato- 
nischen Redewendungen  und  Vorstellungen  bei  Dionysius,  indem 
er  andere  platonisirende  Autoren  zum  Vergleiche  heranzieht.  Der 
Beweis,  dass  Dionysius  selbst  Plato  gelesen,  schein!  mir  gelungen. 
ha—  /..  B.  ei  :</,  xai  IjiauToG  l7tiXsX.Tjarjiae  (cf.  Phaedr.  288 A)  oder 
die  Anrede  ai  x«Xe  platonische  Reminiscenzen  sind  (S.  52.  57), 
lasst  sich  nicht  leugnen.  Die  Beweisführung  wäre  überzeugender 
und  ein  Urteil  über  den  Umfang  der  Lektüre  Plato's  erleichtert, 
wenn  der  Stoff  anders  gruppirt  und  solche  Reminiscenzen  an  be- 
stimmte Stellen  geschieden  wären  von  einzelnen  Ausdrücken,  die 
nicht  direkt  aus  Plato  geschöpft  zu  sein  brauchen.  Diese  wären 
besser  lexikographisch  angeordnet  worden.  Meist  lassen  sie  sich 
auch  in  der  sonstigen  philosophischen  Litteratur,  namentlich  der 
neuplatonischen  und  in  sehr  grosser  Zahl  bei  Philo  nachweisen. 
Die  philosophische,  ja  die  Sprache  der  Gelehrten  überhaupt  (s. 
Schmid,  Atticismus)  hat  sich  so  sehr  an  Plato  gebildet  und  ans 
seinem  Schrifttum  bereichert,  dass  sich  aus  einzelnen  Ausdrücken 
eigene  Lektüre  Piatos  nicht  sicher  erweisen  lässt,  wenn  auch  hier 
die  Masse  des  Materials  eine  solche  wahrscheinlich  macht. 

In  diesem  Zusammenhange  sei  erlaubt  hinzuweisen  auf 

Usenek,  Der  heilige  Theodosios,   Schriften  des  Theodoros  und  K\- 
rillos.     Leipzig  1890. 

Auf  den  kirchengeschichtlichen  Wert  dieser  hs.lichen  Publi- 
kationen für  die  Lehrstreitigkeiten  im  Reginn  des  6.  Jahrhunderts 
unter  Kaiser  Anastasius  und  auf  das  sprachliche  Interesse,  welches 
diese  Schriften  gewähren,  kann  ich  hier  natürlich  nicht  eingehen. 
Ueber  beides  giebt  der  reichhaltige  Kommentar  das  wertvollste 
Material.  Wohl  aber  verdienen  auch  hier  die  Worte  ihre  stelle, 
mit  denen  Usener  den  eigenartigen  bei/  schildert,  den  diese  Litte- 
ratur für  den  religionsgeschichtlichen  Forscher  besitzt  (S.  \\l): 
„Ich  gestehe,  dass  gerade  dadurch  diese  Geschichten  auf  mich 
besonderen  Reiz  ausgeübt  haben,  weil  sie  mich  an  eine  Stätte 
führten,  wo  man  die  Wunderblume  der  Sage  vor  seinen  Augen 
wachsen  sehen  kann.  Wir  erkennen,  wie  rasch,  wie  unwillkürlich 
und  notwendig  bei  gesteigerter  religiöser  Empfindung  ein  Erlebnis 


H-J  "•       .11:111.1. 

sich  in  Mythus  umsetzt"     Die  von  Theodorus  verfas«  graphie 

Zeugnis  al>  liir  jene  ans  christlichen  und  oenplatonischen  Vor- 
stellungen zu  Bammeng  ^I> -Tik.  welche,  seitdem  das  Ifönch- 
tum  auf  riii«'  Th.  a  bracht  und  hellenisirl  i-t  (Athanasius,  Chry- 
stomos,  die  Kappadocier  .  'Ii<-  mönchische  Litteratur  beherrscht 
und  die  durch  Augustin  einerseits,  Dionysins  Areopagita  und  Ma- 
ximus  Confessor  andrerseits  auf  die  Erscheinungen  der  mittelalter- 
lichen Mystik  bestimmend  einwirkt.  I);i  finden  wir  die  platonische 
Schätzung  des  Korpers  S.  100,16),  die  Forderung  der  awtöa 
§  16,17.  19,3.  24,19.  87,11),  die  Erhebung  zum  Himmlischen 
8  31,22)  and  die  verschiedenen  Stufen  derselben,  unter  dem 
Bilde  der  Jakobsleiter  vorgestellt  (Usener  S.  130),  die  fvcooic  mit 
Gotl  v.  16,19.  100,15),  cptXoao<peTv  vom  beschaulichen  Leben  des 
Mönches.  S.  183  sprichl  Usener  vom  Verhältnis  <l-<  Dämonen- 
und  Beiligenglaubens.  Vgl.  auch  das  Register  unter  „Neuplato- 
nisches". 

9  hr  wertvolle  Ergänzungen  zu  Useners  Schrift  giebt  Kram- 
bacher, Studien  zu  den  Legenden  des  II.  Theodosios,  München 
1892.  (Aus  den  Sitzungsber.  S.  220ff.)  Dort  werden  S.345ff. 
mehrere  mittelalterliche  Traktate  veröffentlicht,  die  die  mit  der 
Zeugung  des  Menschen  zusammenhängenden  Probleme  behandeln 
und  sich  mit  den  Doxogr.  S.  I  Ml.  (Lactanz  De  opif.  12)  mehrfach 
berühren. 


Christliche    Floril  e  g  i  e  u. 

Ganz  vorübergehen  dürfen  wir  auch  an  den   christlichen  Plo- 
rilegien  nicht,    da  dieselben  den   letzten  Niederschlag   der  phil< 

phischen    und    tl logischen    Bildung    den    breiteren    Massen    des 

Volkes  zu  übermitteln  bestimmt  waren.  Nachdem  ich  „Neu  entd. 
Fragm.  Philos"  S.  L8  die  verschiedenen  hs.lichen  Versionen  des  « l«-tn 
Johannes  Damascenus  zugeschriebenen  christlichen  Urflorilegs  be- 
sprochen, hat  Loofs  das  Verhältnis  derselben  und  die  Aufgabe  der 
Rekonstruktion  des  ursprünglichen  Werkes  gründlich  behandelt 
idien  über  <li''  'l<in  Johannes  von  Damascus  zugeschriebenen 
Parallelen,  Halle  1892),  auch  L.  Cohn  in  den  Jahrb.  f.  prot.  Theol. 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  etc.  1889     l-  143 

L892  s.  IT.MV.  wichtige  hs.liche  Notizen  mitgeteilt.     Eine  sehr  wert- 
volle Bereicherung  dieser  Litteratnr  ist  die  8chrif(  von 

Elter,  Gnomica  I.  Sexti  Pythagorioi,  Clitarchi,  Enagrii  Pontici 
sententiae.  Leipzig  1892. 
Waren  bisher  nur  einzelne  Sprüche  des  Sextus,  namentlich 
durch  den  Auszag  des  Klitarch,  den  Elter  S.  WWIIil.  rekon- 
struirt,  im  Urtext.'  bekannt,  so  legi  jetzl  Elter  den  von  ihm  ent- 
deckten vollständigen  griechischen  Text  nach  einer  vatikanischen 
und  einer  patmischen  Hs.  vor.  Den  theologischen  Standpunkt 
der  in  christlicher  Ueberarbeitung  erhaltenen  Sentenzen  habe  ich 
Theol.  Litt.  Z.  1893  Nr.  20  zu  würdigen  versucht  (vgl.  Berl.  Philol. 
Wbch.  1893  Nr.  8)  und  besonders  auf  die  für  die  Zeitbestimmung 
wichtigen  Beruhrungen  mit  ('lern.  Alex,  hingewiesen.  Zu  vergleichen 
ist  noch  46  b  txpiorov  boauiax-qpiov  i>s<ö  xapSia  xadapä  /.-j.\  avajtap- 
ttjtos  und  Minucius  Felix  32,  2  cum  sit  litabilis  hostia  .  .  .  pura 
mens,  auch  das  au  beiden  Stellen  Folgende.  S.  XLVII  ff.  giebl 
Elter  einen  Ueberblick  über  die  weitverzweigte  Ueberlieferung  der 
Gnomen  des  Euagrius  (über  den  .Mann  vgl.  Dräseke  Patrist.  1  nter- 
suchungen  S.  117  ff.),  auf  der  die  Ausgabe  beruht.  Schon  hier 
sei  erwähnt 

L.  Stebnbach,  Photii  patriarchae  opusculum  paraeneticum.  Appen- 
dix gnomica.  Excerpta  Parisina.     Krakau  1893. 

Es  liegen  hier  vor  eine  sorgfältige  Ausgabe  der  von  Hergen- 
rother ungenügend  edirten  [Iapottvsats  v.a  p'tojioXoYta?  Oam'ou  (252 
Nummern),  ein  mit  der  Wachsmuth'schen  Wiener  Apophthegmen- 
-  unlung  und  der  Wiener  Studien  IX — XI  veröffentlichten  ver- 
wandtes Florileg,  Mitteilungen  über  den  Inhalt  von  Par.  1168 
gl  Elter  a.  0.  XXXVil.  XM'III  Archiv  V,  246)  und  Benutzung 
von  Beliodors  Aethiopica  in  ßlorilegien,  endlich  eine  Ausgabe  der 
Gnomen  des  Plutarch,  Demokrit,  Sokrates,  Demonax  in  Par.  1168. 

Hier  sei  auch  bemerkt,  dass  Buresch  im  Anhange  seiner 
S  Hu  „Klaros,  EJntersuchungen  zum  Orakelwesen  des  späteren 
Altertums"  Leipzig  1889  einen  Auszug  aus  einer  Deoaocpia  veröffent- 
licht, die  nach  den  Bemerkungen  Neumanns  S.  89ff.  in  den  Jahren 
IT  I     491    verfasst    ist    und    von  der  bis  jetzt  nur  kleine  stück'1 


1 1 1  I'au J  Wendland, 

edirt  warm.  D(  II  derselben  umfasst  Orakel,  die  /.um 
Teil  'li>'  Kenntnis  des  auch  darch  die  Philosophie  beeinflussten 
religiösen  Synkretismas  fordern.  Manch.-  ist  christliche  Fälschung, 
anderes  wird  christlich  umgedeutet  Es  finden  sich  aber  ausser 
andern)  Wertvollen  z.  ß.  Heraklitfragmente  [Hermes  XV,605ff.), 
B5  eine  tendenziös  N  i/.  über  Porphyrius'  Leben,  eine  zum  Teil 
originelle  Gestall  der  Orphica  I  6  Abel.  Einig  -  -  i  auch  er- 
wähnt aus  der  voraufgehenden  Abhandlung.  S.  t3.  63  wird  mit 
unten  Gründen  die  Identität  dea  Freundes  Luciana  mit  .lern  Ver- 
fasser d  -  Wahren  Wortes  behauptet,  63  ff.  die  Zeil  des  Oe naus 

und  die  de«   I1  monax  bestimmt,  S.  55.  59    über  •  :;  und 

-,:/.'/  gehandelt.     Auch  für  «las  Verständnis  von  Porphyrius1  Orakel- 
schrifl  sind  manche  Ausführungen  wertvoll. 

E.  Hatch,  Griechentum  und  Christentum.  Zwölf  Hibbertvorlesungen 
über  'len  Einfluss  griechischer  Ideen  und  Gebräuche  auf  die 
christliche  Kirch.'.  Deutsch  von  E.  Preuschen.  Mit  Beilagen 
Nun  A.  Ilarnack  und  dem  Uebersetzer.     Freiburg  i.  I!.   lv 

Nachdem  die  Vorlesungen  de-  geistvollen  englischen  Theologen, 
der  der  Wissenschaft  zu  früh  entrissen  i-t.  uns  nun  auch  in  deut- 
scher Sprache  vorgelegt  sind,  benutze  ich  gern  die  Gelegenheit,  auf 
sie  hinzuweisen.  Ea  ist  der  erste  Versuch,  ein  Gebiet  im  Zusam- 
menhang zu  behandeln,  das  neuerdings  von  den  verschiedensten 
ichtspunkten  beleuchtet  i-t.  nicht  eine  durchaus  erschöpfende 
Abhandlung,  aber  ein  Versuch  reich  an  neuen  Anregungen  und 
weiten  Ausblicken,  wenn  auch  im  einzelnen  das  Bild  noch  schärfer 
und  genauer  zu  zeichnen  sein  wird,  hie  grosse  Frage,  um  di< 
sich  handelt,  ist:  Unter  welchen  Bedingungen  hat  sich  die  einlache 
Lehre  des  Urchristentums  zu  einem  metaphysischen  Lehrsystem 
entwickelt?  lud  die  Antwort  lautet:  dass  wir  diese  Entwickelung 
nur  aus  den  mannigfaltigen  Einwirkungen  griechischen  Denkens 
und  Glaubens,  griechischer  Kultur  begreifen  können.  Nach  einlei- 
tenden Bemerkungen  über  die  Methode  der  Forschung  behandeil 
der  Verf.  I  mfang   und  Begriff  der  griechischen   Bildung,    Stellu 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  etc.    1889-    1892.  (|."> 

der  Lernenden  und  Lehrenden.  I>i<>  dritte  Vorlesung  führt  in  fein- 
sinniger Weise  aus,  wie  die  von  den  Griechen  an  ihren  ältesten 
Dichtwerken  geübte  allegorische  Auslegungsart  von  Juden  und 
Christen  auf  ihre  heiligen  Schriften  übertragen  wurde,  wie  sie  sich 

gen  mancherlei  Widersprüche  behauptete.  Bin  Gesichtspunkt 
hätte  wohl  noch  hervorgehoben  werden  können.  Es  lässl  sich, 
glaube  ich,  zeigen,  dass  die  Kritik  eines  Celsus  und  Porphyrius 
zum  Teil  bestimmt  ist  durch  die  von  Allegoristen  geäusserten  Be- 
denken gegen  den  Wortsinn.  —  Nachdem  er  die  Einwirkung  der 
griechischen  Formen  der  Beredsamkeil  gewürdigt  (s.  oben  S.  438), 
gehl  llatch  zur  Philosophie  über:  Die  Neigung  zur  Definition,  so 
führt  er  aus,  Dialektik  und  Spekulation,  Glaube  an  die  Notwendig- 
keit und  Wahrheil  der  Metaphysik  dringt  allmählich  durch.  Wird 
auch  der  Inhalt  gnostischer  Spekulationen  verwürfen,  in  Princip 
und  Methode  herrscht  doch  wesentliche  Uebereinstimmung  mit  der 
Gnosis.  Der  ursprüngliche  Standpunkt  des  Christentums  wird  ver- 
lassen. Die  sittliche  Reformation  des  späteren  Heidentums,  wie 
sie  in  der  Eochschätzung  und  in  der  grösseren  Strenge  der  Sitten- 
lehre, in  ihrem  Einfluss  auf  weite  Kreise,  in  der  Richtung  auf  As- 
kese und  Weltflucht,  in  der  religiösen  Fassung  der  Ethik  hervor- 
tritt (S.  101  — 116),  kam  dem  Christentum  entgegen.  Freilich 
wurden  unter  dem  Einfluss  griechischer  Ethik  die  reinen  Anforde- 
rungen des  Christentums  immer  mehr  herabgestimmt  und  mussten 
um  so  tiefer  sinken,  je  mehr  die  Sittlichkeit  dem  Glauben  unter- 
_  rdnet,  je  mehr  Gewicht  auf  die  intellektuelle  Seite  gelegt  wurde. 
Wenn  auch  daneben  unter  dem  Einfluss  platonischer  Ideen  und 
der  Spannung  der  Zeitverhältuisse  die  asketische  Richtung  wuchs, 

musste  sie  doch   im  Mönchtum   von   der  Kirche    sich   zunächst 
sondern  und  über  dieselbe  erheben. 

In  der  Theologie  sind  es  meist  von  der  griechischen  Philoso- 
phie angeregte  Probleme,  die  die  christliche  Lehrentwickelung  zu 
lösen  und  mit  dem  christlichen  Glauben  auszugleichen  sucht: 
Waren  Piatonismus  und  Stoicismus  bereits  im  spätem  Synkretis- 
mus angenähert,  bo  linden  Bich  dann  auch  im  philonischen  Schrift- 
tum wie  in  den  christlichen  Lehrschriften  platonische  und  stoische 
Vorstellungen  verbunden,  wie  au  der  Kosmogonie  und  Kosmologie 


1  [i\  1'  tal  w  •  ndland,  Jahresbericht  über  die  Kirchenväter. 

gezeigt  wird  (7.  Vorlesung).  Mit  der  jüdischen  [dee  Gottes  als 
des  Richten  and  des  Gerechten  verbindet  sich  der  in  der  spätem 
Philosophie  immer  mehr  ethisch  gefasste  Grottesbegriff.  Marcions 
Ditheismus,  durch  den  er  sogleich  des  Problems  des  Bösen  Herr 
zu  werden  sucht,  wird  verworfen,  dies  Problem  durch  die  Betonung 
•In-  Willensfreiheit  in  wesentlich  stoischem  Sinne  -_'^1< >>t  (s.  Vorl.). 
In  den  Erörterungen  ober  Transcendenz  Gottes,  -ine  Offenbarung 
durch  Mittelwesen,  die  Unterschiede  innerhalb  seines  Wesens  wer- 
den Probleme  der  griechischen  Philosophie  mit  Hill'  bischer 
Dialektik  auf  christlichem  Boden  gelöst  (9.  Vorl.).  In  der  Aus- 
taltung  des  Kultus  werden  griechische,  besonders  vom  Mysterien- 
wesen entlehnte  Gebräuche  und  Vorstellungen  konservirt  (10.  Vorl.). 
Der  Glaube  tritt  aus  der  rein  sittlichen  8phäre  heraus  und  wird 
/uin  Glauben  an  ein  durch  neue  Definitionen  sich  erweiterndes, 
immer  fester  umschriebenes  Lehrsystem.  Weniger  in  der  Sittlich- 
keil als  in  der  rechten  Lehre  bewahrt  sich  das  Christentum  (11. 
und  12.  Vorlesung). 

Nur  kurz  konnte  der  reiche  Inhalt  angedeutet  werden;  ein- 
zelne Punkte  will  ich  genauer  berühren.  S.  44  war  noch  zu  ver- 
weisen auf  Di.'ls'  Doxogr.  S.  88ff.,  S.  65  ist  der  Inhalt  der  Rede 
Dios  nicht  richtig  bezeichnet,  die  Ueberaetzung  der  Eleanthesverse 
s.  11."»  ist  misslungen.  Die  z.  B.  S.  \-'>\  (1591)  geäusserte  Ansicht 
über  das  philonische  Schrifttum,  wonach  Philo  ein  Sammelname 
für  W'eike  verschiedener  Verfasser  war.',  bedürfte  doch  der  Begrün- 
dung. Ansichten  wie  die  s.  L89,  da—  Basilides  vielleicht  das  Er- 
scheinen des  Neuplatonismus  befördert  habe,  und  die  S.  L90  von 
Clemens  als  Vorläufer  Plotins  wären  modificirt  wurden,  wenn  nicht 
die  neuere  Dogmengeschichte  den  Piatonismus  des  2.  Jahrh.  so  ganz 
ignorirte.  I  od  doch  könnte  man  von  ihm  aus  dem  Vergleich  des 
Berichtes  in  Justins  Dialog  mit  Alkinus  ein  deutliches  Bild  ge- 
winnen und  würde  dann  vieles  auf  diesen  (übrigens  wohl  in  die 
vorphilonische  Zeit  zurückreichenden)  Piatonismus  zurückführen, 
was  man  jetzt  von  einem  für  uns  ziemlich  problematischen  Helle- 
nismus der  jüdischen  I liaspora  ableitet. 


Neueste  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der 
Geschichte  der  Philosophie. 

\.     Deutsche  Li  1 1  eral  u  r. 

Apelt,  ()..  Die  kleinen  Schriften  des  Alexander  von  Aphrodisias,   Rhein.  .Mus. 
V  F.  Bd.  19,  II.  1. 

Amsperger,  W.,  Lessings  Seelenwanderungsgedanke,  Diss.  Heidelberg. 

Brasch,  M..  Die  Politik  des  Aristoteles,  übersetzl  u.  erläutert,  Leipzig,  Pfeffer. 

Busse,  A.,  Zur  Quellenkunde  von   Piatons  Leben,  Rhein.  Mus.  Bd.  19,  II.  I. 

Gosattini,  A.,  Epicuri   „de  natura-  über  XXVIII,  Bermes,  Bd.  XXIX.  II.  1. 

Deichmann,  C.,  Das  Problem  des  Raumes  in  der  griech.  Philos.  bis  Arisl 
les,  Leip  :ig,  Fock. 

Dessoir,  M..   Ges  hichte  der  neuem   deutschen   r>ycl»ologie  von   Leibniz   bis 
Kant,  Berlin,  Duncker. 
artes,  R.,  Geometrie,  deutsch  von  L.Schlesinger,  Berlin,  Mayer  u.  Müller. 

Diels,  II..  Medizin  in  der  Schule  des  Aristoteles,  Preuss.  Jahrb.  Bd.  74,  II.:;. 

Dilthey,  W.,  Die  Glaubenslehren  der  Reformatoren,  Preuss.  Jahrb.  Bd.75,H.l. 

Falquera,  Schemtob.  b.  Joseph,  das  Buch  der  Grade,  herausg.  von   L.  Venetia- 
ner,  Berlin.  Calvary. 

Fechtner,  E.,  John  Lockes  „Gedanken  über  Erziehung"  erläut.,  Wien,  Holder. 

Flothow,  C.  \..  Aus  Kants  kritischen  Religionslehren,  Diss.,  Königsberg. 

Foerster,  F.  W.,   Der   Entwicklungsgang  der   Kantischen   Ethik    bis   zur  Ver- 
nunftkritik, Diss..  Freiburg. 

Garbe,  1!..   Der  Zusammenhang  der  indischen  Philos.  mit  der  griech.,  Philos. 
Monatsheft«'   Bd.  29   II.  10. 

Geinborn,  E.  v..  Bemerkungen  zur  Theogonie  des  Hesiod,  Progr.  Sigmaringen. 

Glossner.  M.,  l>ie  Lehre  des  Aristoteles  iilier  das  Verhältniss  Gottes  zur  Welt, 
Jahrb.  für  Philos.  Bd.  VIII,  IL  1. 

—  —   Die  Philosophie  Thomas  von  Aquin's,  ebenda. 

Holtzmann,  0.,  Studien  zur  Apo>teluvsehiehte:   I.   Die  Gütergemeinschaft,  Zeit- 
schrift f.  Kirchengesch.  Dil.  11.  IL  3. 

Kaufmann,  X.,  Die  Physiognomik  des  Aristoteles,  Progr.  Cantonsschule  Luzern. 

Eehrbach,  K..  Das  pädagogische  Seminar  Herbarts  in  Königsberg,  Zeitschr.  f. 
Philos.  u.  Pädagogik,  Bd.  1,  IL  1. 

Prleiderer,  Geschichte  der  Religionsphilos.  •".  Aufl.,  Berlin,  Reimer. 

Pohlmann,  Geschichte  des  antiken  Communismus  und  Sozialismus,  München, 
C.  IL  Beck. 

Radulescu-Motru,  C,  Zur  Entwicklung  von   Kants  Theorie  der  Xatureausalität, 
Diss.  Leipzig. 

Rubinstein,  Sus..  Ein  individualistischer  Pessimist:  Mainländer,  Leipzig,  Edel- 
mann. 

Schellwien,   R  .    Der  Begriff  der  Erfahrung    mit    Rücksicht  auf  Hutne  u.   Kant. 
Zeitschr.  f.  Philos.  Bd.  L03,  IL  1. 

Schneider.  C.  M.,  Der  hl.  Thomas  u.  der  Sozialismus.  Jahrb.  f.  Philos.   IM.  VIII, 
IL  2. 

Schoen,  IL,  Ernst  Renan,  Zeitschr.  t.  Philos.  u.  Pädagogik,  Bd.  I,  IL  1. 

Schwarze,  A.,    Am  Ausgang  des    19.  Jahrb.,  ein  Beitrag  zur  Zeitphilosophie, 
Zeitschr.  f.  exacte  Philos.  Bd.  20,  IL  3. 

Simon,  Th. .   Schwankungen    in    Lot/es  Lehre  von  den   Dingen,    Zeitschr.    für 
is.  IM.  20,  IL  3. 

Sodeur,  ().,  Die  Staatsidee   Kants   und    Hegels,    Diss.   Erlangen. 

Spitzer,  S.,  Zur  Geschichte  der  internationalen  Moral  bei  den  Griechen,  Zeit- 
schrift f.  österr.  Gymnasien  Jahrg.  4.*»,  IL  1. 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.    Vit.  31 


.}.!"*     \  11  auf  dem  G<  schichte  d.  Philosophie. 

k..  Die  christliche  Ktliik  in  ihrem  Verhaltniss  zu  Wundt,  Paulsen  um! 
Hartmann,  l 

-     riften  des  Nicola  mos,  Zeitschr.  f.  Philos. 

Bd.  103,  II.  1. 
\  ...  Wiederbelebung  des  i  len  Alterthums,  3.  Aufl.,  2.  Bd.,  hera 

von  I.'  bnerdt,  Berlin,  Reimer. 
Vor!  rmalismus  der  Kantischen  Ethik  in  seiner  Nothwen 

und  Fruchtbarkeit,  Diss.  Marl 
.i,i.  M  .  Die  Sittenli  a  Buddbismus,  Diss.  Jena. 

B.     Franz    Bische  Liti  era  t  u  r. 

.  La  Philosophie  t-ii  Fr. u.       Pi    niere  moitie  du  XIX 
Alcan. 
lier,    F.,    Deux  oouveaux  historiens   ':■■   Descartes,    Revue  philos.  No.  3, 

Delbos,  V.,  I.'    probleme  moral  dans  la  philos.  de  Spinoza,  Paris,    Ucan. 
Philosophie  de  l'action  au  V«  siecle,   Annales   de  la  Faculte* 
Lettrea  de  1893,  N.  l. 

i..   Tu  chapitre  inedit  de  la  philosophie  d'ibn  Sina,  Revue  x 
lastique,  Dir.  Mercier,  Bd   I.  II.  1. 
Iluii.  cii..  La  \i>-  ei  l'oeuvre  de  Piaton,  Paris,  Thorin. 
Levy-Bruhl,  Jacobi  ei  le  Spinosisme,  Revue  philos.  No.  1.  Jan.   1894. 
Marguerie,  A.  de,  II.  Taine,  Paris,  Poussielgue. 
\     :.  G.,  La  loj  Hegel,  Revue  de  Metaphysique,  Janv.  1894 

Oldenburg,  Bouddba,  traduction,  Paris,  Alcan. 
Quatrefages,  A.  de,  Les  emules  de  Darwin,  Paris,  Alcan. 

astique,  Directeur  I».  Mercier,  No.  I.  Paris,  Alcan. 
Wulf,  M.  de,  La  philos.  de  Benri  de  Gand,  Revu«    Ni     Scol.  Bd.  I.  II.  1. 

C.     Eng  lische  Litter atur. 

Adickes,  E.,  German  Kantian  Bibliograpby,  The  Philosophical  Review  III.  1. 

Jan.  1894. 
Harris,  W.  T.,  Kants  third  Antinomy,  ebda. 
Seth,    L,  Begelianism  and  its  Critics,  Mind,  Jan.  1894. 

et,  J.  M.,  The  Bthics  of  Begel,  Boston,  Ginn  u.  Co. 
Wallace,  W.,  Prolegomena  to  the  stu.lv  of  Segels  Philosophy  and  especially 

of  bis  Logic,  '  Oxford  Clarendon  Press. 
Windelband,  W.,  A  history  of  Philosophy,  translated  bj  J.  II.  Tufts,  London, 

Macmillan  u.  Co. 

D.     Italienische  Litteral  u  r. 

Acanfora-Venturelli,  A.,  II  monismo  teosophico  in  G.  Bruno,  Palermo,  Giannone. 
Dandolo,  G.,  La  dottrina  della  memoria  presso  la  scuola  si  Milan...   \\[. 

prandi. 
—  -    La  .1. .'tiina  della   memoria  in    Francis  nel  sec.  XIX.   Palermo,   Bara- 

hio. 
Gruber,  P.  E.,  Augusto  Comte,  trad.  .li  Cajazzi,  Polo  1- 
Novaro,  I».  M.,  La  Teoria  della  Causalita  in  Malebranche,  Roma,  Acc.  Lincei 

i.  (i..    Niccold  di  Cusa  e  la  Direzione  Monistica  del  Rinascimento,  Pisa, 
iri. 
Tocco,  F.,  Del  Parmenide,  del  Bofista  e  del  Filebo,  Firenze,  Bencini. 

3aggio  Storico  hMosofico   bu   Gerolamo  Cardano,   Rivista  ital.  ili 
filos.  \III.-'.  Die.  L893. 


Archiv 


für 


Geschichte  der  Philosophie. 


VII.  Band     4.  Heft. 


Will. 

Die  Kontinuität  im  philosophischen  Entwick- 
lungsgänge Kants. 

Von 

Harald  Hülttliiig  in  Kopenhagen. 

III. 

Theorie  und  Praxis. 

17.  Wir  kehren  jetzt  von  neuem  zu  Kants  Standpunkte  von 
L762  und  den  folgenden  Jahren  zurück,  um  denselben  von  einer 
neuen  Seite  zu  betrachten.  Kant  hatte  die  Notwendigkeil  einer 
Reformation  der  Philosophie  eingesehen  und  erwartete  das  Heil 
vorläufig  auf  dem  Wege  der  Analyse.  Wenn  aber  so  vieles  un- 
entschieden und  unfertig  dahingestellt  blieb,  und  wenn  wir  mit  Be- 
zug auf  einige  der  Grundbegriffe  (/..  B.  den  Kausalbegriff)  dem  Un- 
erklärlichen gegenüberstanden,  kann  der  Inbegriff  theoretischer 
Philosophie,  über  den  Kant  um  diese  Zeit  zu  positiver  Darstellung 
verfügte,  kein  grosser  gewesen  -ein.  In  .-einem  Streben,  lieber 
eine  gründliche  als  eine  weitläufige  Philosophie  zu  besitzen,  hatte 
er  reinen  Tisch  gemacht.  Sogar  im  „Beweisgrund",  der  am  mei- 
i  konstruktiven  Schrifl  aus  dieser  Zeit,  erklärl  er.  es  sei  nicht 
die  Absicht,  eine  eigentliche  Beweisführung  zu  geben,  und  Gottes 
Dasein  bedürfe  auch  gai  keines  Beweises.    Darauf  vertrauend,  dass 

Arclii.   i    Geschichte  ii.  Philosophie,    vil.  >_ 


Barald  Eöffdinj 

der  religiöse  Glaube  eine  ganz  andere  Grundlage  als  eine  Beweis- 
führung habe,  Btürzte  er  die  ganze  Basis  der  natürlichen  TheoL  - 
um.  und  ähnlicherweise  ging  er  in  den  „Traumen"  gegen  die 
Bpiritualistische  Psychologie  vor.  Zugleich  scheinen  die  kosmolo- 
gischen  Antinomien  bei  seinem  Versuche,  die  Grenzen  der  Erkennt- 
niss  zu  finden,  von  grosser  Bedeutung  für  ihn  gewesen  zu  sein. 
I1  -  Material  desjenigen  Teiles  der  ..Kritik  der  reinen  Vernunft", 
den  er  die  Dialektik  nennt,  und  der  beim  Erscheinen  des  Werkes 
nicht  zum  wenigsten  zu  dessen  Wirkung  beitrug,  war  also  wesent- 
lich fertig. 

Kants  Philosophie  musste  somit  im  Gegensatze  zu  dem  vor 
Positivitäl  strotzenden  Dogmatismus  ein  gewisses  negath 
präge  erhalten.  Rani  war  sich  dessen  völlig  bewusst.  Er 
braucht  von  seiner  Philosophie  den  Ausdruck  „die  Philosophie  der 
Unwissenheit",  auch  „die  negative  Philosophie".  Er  findet  diese 
Philosophie  die  schwierigste  unter  allen,  weil  sie  bis  aui  die  Quellen 
der  Erkenntnis  zurückgehen  müsse  um  ihr  Nicht-Wissen  begründen 
zu  können. 

„Wo  der  Irrtum  verleitend  und  zugleich  gefährlich  ist,  da 
sind  negative  Erkenntnisse  und  Kriterien  wichtiger  als  p  »sitive, 
machen  <>!'t  das  eigentliche  Objekl  unserer  Wissenschaft  aus  ... 
Sokjates  hatte  eine  negative  Philosophie  in  Ansehnng  der  Speku- 
lation, nämlich  von  dem  ünwerl  vieler  vermeintlicher  Wissenschaft, 
und  von  den  Grenzen  unseres  Wissens.  Der  negative  Teil  der  Er- 
ziehung ist  der  wichtigste  (Rousseau)"1). 

Diese  Verweisungen  aufSokrates  und  Rousseau  sind  für  Kants 
damaligen  Standpunkt  charakteristisch.  I>a-  Wissen  des  Sokrates 
war  ja  das  Wissen,  dass  er  nichts  wisse,  ein  Wissen,  das  sich  auf 
die  klare  Einsichl  dessen  -rundete,  was  dazu  gehört,  etwas  zu 
wissen,  und  Sokrates  warnte  ja  ebenfalls  vor  unfertigen  Begriffen 
und  suchte  durch  allseitige  Erörterung  richtige  Begriffsbestimmungen 
zu  erzielen.  Was  Rousseau  betrifft,  so  zieht  Kant  in  der  erwähn- 
ten Aeusserung  eine  Parallele  zwischen  dessen  ,  negativer  Er- 
ziehung" und  seiner  eignen  negativen  Philosophie.    I  nter  negativer 

')  Reflexionen  Kants.    II.   S.  II  u.  f.  (No.  1 18  -151 


Kontinuität  im  Entwicklung  K  inte.  15 1 


Erziehung  verstand  Rousseau  „eine  Erziehung,  welche  die  Organe, 
die  Werkzeuge  unserer  Erkenntnis  zu  vervollkommnen  strebe,  be- 
voi  sie  uns  die  Erkenntnis  selbsl  biete,  und  welche  durch  Debung 
der  sinn«'  auf  die  Vernunft  vorbereite.  Die  uegative  Erziehung 
lege  nichl  die  Hände  in  den  Schoss,  im  Gegenteil:  siebringe  keine 
Tugend  bei,  baue  aber  dem  Laster  vor:  sie  lehre  nichl  die  Wahr- 
heit, verhüte  aber  den  Irrtum."  Begründel  wird  sie  besonders 
durch  die  Notwendigkeit,  die  Natur  und  den  Charakter  des  Indi- 
viduums kennen  zu  lernen,  so  wie  diese  sich  unwillkürlich  ent- 
falten, bevor  man  allgemeinen  und  überlieferten  Regeln  gemäss 
eingreift.  In  ihrer  Sorge,  den  Irrtum  fernzuhalten  und  die  Gren- 
zen der  eigentümlichen  Natur  zu  linden,  isl  sie  eine  schwier 
Kunst  —  die  Kunst:  toul  faire  en  ne  laisant  rien '"')•  —  In  meh- 
reren Beziehungen  hat  das  Beste  und  Berechtigteste  der  kritischen 
Philosophie  dem  Wesen  nach  sein  Vorbild  an  Rousseaus  Lehre 
von  der  negativen  Erziehung.  An  beiden  Orten  dienen  die  Nega- 
tion und  die  Kritik  der  positiven  Entfaltung  des  Lebens  zum 
Schutz,  während  der  Dogmatismus  sowohl  in  der  Philosophie  als 
in  der  Pädagogik  eifrig  eingreifen  und  alles  nach  seinen  „ewigen 
"Wahrheiten"  feststellen  nnd  regulieren  möchte. 

Es  ist  bekannt,  in  wie  hohem  Masse  die  Schriften  Rousseaus 
Kant  interessierten.  Als  er  den  „Emile"  empfing,  hielt  dieser  ihn 
von  -einem  gewöhnlichen  Spaziergang  ab.  Wären  Kants  Aufzeich- 
nungen und  Glossen  zu  den  „Beobachtungen  über  das  Schöne  und 
Erhabene"  aber  nicht  im  äussersten  Augenblick  aus  der  Makulatur 
eines  Gewürzkrämers3)  gerettet  worden,  so  hätte  man  nicht  er- 
fahren, wie  tief  persönlich  dieser  Kindruck  war.  Bei  Kant  führte 
er  eine  ganz  neue  Grundlage  der  Schätzung  der  .Menschen  und  der 
menschlichen  Verhältnisse  herbei.  Bisher  war  Knut  Optimist,  be- 
trachtete die  intellektuelle  Entwicklung  als  das  Höchste  und  sah 
den  Fortschritt  durch  diese  entschieden.  Von  Rousseau  lernte  er 
einen  Massstab  des  Menschenwerts,  der  bis  zu  einem  gewissen 
Grade   von  der  intellektuellen  Entwickelung    unabhängig  war.     Er 

•    L  ttn      M.  de  Bi  fs  d  ceu> res  de  J.  J.  Rousseau.    P 

313.  -    Emile.  Livre  II.  (Pa  :     a.  f.;   l 

»)  Sämtl.  W  akranz  u.  Schubert.  KI,  1.   -  f. 


152  Rata] 

lernte  nun.    dass  der  Pol  tri    zu    verachten   Bei,    bloss    weil 

er  nichts  Er  „lernte  die  Menschen  ehren".     Und    er  pries 

au,   weil  er  die  tief  verborgene  Natur    des  Menschen  anter 
den   Formen  ivilisation,    di  allzu  ofl  kten,    her- 

vor^ a  habe*).  —  Es  war  hier  also  tim-  Faktische  Grund- 
menschlichen  Lei  11.  welche  dieses  davon  unab- 
hängig machte,  wie  di<-  wissenschaftliche  Erkenntnis  des  Daseins 
und  dessen  Ursprungs  sich  31  itze 
für  Kam.  der  ja  soeben  seine  Kritik  der  natürlichen  Th 
und  der  spiritualistischen  Psychologie  begründel  hatte.  Ginji 
die  Gelehrten  auch  einiger  Lieblingsdoktrinen  verlustig,  -  verlor 
„die  grosse,  für  uns  achtungswürdigste  Meng         doch  oich 

18.     Es   verhall   »ich   mit   diesem  Rousseauschen  Einflüsse  in- 
des wie  mit  dem  Humeschen:    wäre  er  uichl   durch  äussere  Zi 
oisse  sichergestellt,  so  wurden  wir  in  Kants  Schriften  keinen  zwin- 
genden Aula—  finden,  denselben  vorauszusetzen.     An  und  für  sich 
würde  man  sehr  wohl   im  Stande  sein,  au-  Kant-  Gedankengang, 
wie  dieser  sich  1 T t *» li  und  während  der  folgenden  Jahre  entwickelte, 
zu   verstehen,  dasa  er  zu  derjenigen    Distinktion   zwischen   The 
und   Praxis    kommen    musste,    die    von    der   Zeit    an   —   also  lan 
bevor  er  sie  in  -einen  Vernunftkritiken  feststellte  —  von  so  grosser 
Bedeutung  für  ihn  wurde. 

ben  der  Kritik  der  Beweise  von  Gottes  Dasein  musste  auch 
die  Doppelheil  der  Motive,  die  zur  Konstruktion  des  Gottesbegriffes 
geführl  hatten,  zu  Tage  treten.  Die  ein,'  Gruppe  der  Motive  war 
rein  theoretischer  Art  und  bestand  hauptsächlich  in  dem  Bedürfnis, 
die  Kaii-alivihe  abzuschliessen ,  die  arbeitenden  Gedanken  in  der 
Kontemplation  eines  ..in  sich  selbsl  gegründeten"  Wesens  zur 
Kühe  kommen  zu  lassen.  Die  andere  Gruppe  war  ästhetisch  — 
ethischer  Art  und  bestand  hauptsächlich  in  dem  Bedürfnis,  alles 
Wertvolle  der  Welt  in  einem  einzigen  Begriffe  zu  konzentrieren. 
Durch  Verschmelzung  beider  Motivgruppen  entstand  in  der  dogma- 
tischen Philosophie  der  Gottesbegriff  des  ens  realissimum,  des  ln- 
riffes    aller  Realität,    80  da--   Realität    dasselbe    bedeutete   wie 

itl.  Werke.  Ed.  Rosenkranz  u.  Schubert  XI.  l.  S.  240  248. 

ki.  d.  i.  \.  ii.    -'-  Aufl.  \  -    X  XXIII. 


Kontinuität  im  Entwicklungsgänge  Kam-,  153 

\  illkommenheit,  indem  Qu    N       tion  und  Begrenzung  ausdrückende 
Eigenschaften  ausgeschlossen  sein  sollten.    Schon  im  „Beweisgrund" 
(I.  I.  3)  bekämpfte  Kant  die  Vermengung  der  Begriffe  Realität  und 
\  illkommenheit.     Vollkommenheit   drücke   die   von   einem  fühlen- 
den  und  wollenden   Wesen   angestellte  Wertschätzung  aus.   mithin 
könne  sie   keine  absolute  Eigenschaft   sein.     Und   in   der  Abhand- 
lung über  die  negativen  Grössen  (III.  2.  Anm.)  macht  Kam  darauf 
aufmerksam,  dass  man,  da  Unlust  ebenso  positiv  und  real  sei  als 
Lust,    den    Inbegriff   aller   Realität    nicht    mit    der   höchsten   Voll- 
kommenheit  eins   machen  könne.     Soviel    von   der  metaphysischen 
-    te.     Von   der  psychologischen  Seite   aus   wird  die  Sache    in  der 
Schrift    über  die   Deutlichkeit    der    Grundsätze    behandelt,    \\< 
lieisst  (IV,  2):   ..Mau  hat   es  nämlich  in   unseren  Tagen  allererst  ein- 
zusehen angefangen,   dass  das  Vermögen,   das  Wahre  vorzustellen, 
die  Erkenntnis,    dasjenige  aber,    das  Gute   zu   empfinden,    das 
Gefühl  -ei.    und   dass   beide   ja    nicht    mit    einander   müssen  ver- 
wechselt werden.     Gleichwie   es   nun   unzergliederliche  Begriffe  des 
Wahren,  d.  i.  desjenigen,  was  in  den  Gegenständen  der  Erkenntnis 
für  sieh    betrachtet    angetroffen   wird,   gibt,   also   gibt    es   auch   ein 
unauflösliches  Gefühl    des   Guten    (dieses    wird    niemals    in    einem 
Dinge    schlechthin,    sondern    immer  beziehungsweise    auf    ein  em- 
pfindendes Wesen   angetroffen)."     Die   praktische  Philosophie  habe 
ihre  Grundsätze    ebensowohl    als  die  theoretische,    und    deren   l'r- 
sprung  -ei  noch  zu  erforschen,  wovon  Hutcheson  und  andere  einen 
guten  Anfang  gemacht  hätten.  —  In  der  „Nachricht  von  der  Ein- 
richtung  seiner  Vorlesungen''    wird  geäussert,    richtige  moralische 
Urteile   könnten   ohne   den   Umschweif  von  Demonstrationen    kraft 
dessen,  was  man  Sentimenl   nenne,  vom  menschlichen  Herzen 
fällt   werden.    Es  wird  aul  Shaftesburj  .    Hutcheson   und  Hume   als 
diejenigen  verwiesen,  welche  im  Aufsuchen  der  ersten  Gründe  der 
Moral    am  weitesten    gelangt  seien.     Kant   verweisl   hier  aul   Rous- 
l£    Vorg  An  Rousseau   selbst    werden    wir  erinnert,   sowohl 

wenn  Kant  als  Grundlage  der  Ethik  ein  Studium  der  mensch- 
lichen Natur  verlangt,  dir  unter  der  Mannigfaltigkeil  der  äusseren 
Verhältnisse  leicht  verkannt  werde,  als  auch,  wenn  es  zur  Auf- 
gabe gemacht  wird:    zu  entscheiden,   welche  Vollkommenheit  dem 


l.M  Uura 

im  Zustande  der  natürlichen  Einfalt,  und  welche  ihm 
in  dem   di  d  Einfall   gebühre  ),     Aber  mir.   weil  wir  auf 

and  "•  lousseaua    Einflusa    auf   Kanl    erfahren,    werdeu 

diese  Spu  atlich. 

Kaut  befand  sich,  wie  man  sieht,  auf  einem  Wege,   der  ihn 
dahin  bringen  m  mit  Rousseau  zu  sympathisieren.    Der  Ein- 

lln>-  des  !  '  wahrscheinlich  wie  der  des  Hume  erweckend, 

nend  g  .   h.it   eine  schnellere  und  entschiedenere  Ent- 

reita   spriess  odei   Gedanken  herbeigeführt,   bestand  aber 
;it   in  positiver  Mitteilung  von  einem  das  nichl  als  Mög- 

lichkeil in  ignen  vort  nden  Entwickelung  gelegen  hi 

Nicht  zum  w<  i  war  es  von  Bedeutung  »eau  lehrte, 

Menschen  hätten   auf  dem   intellektuellen   sowohl   als  auf  dem 
materiellen  Gebiete   viele  eingebildete  Bedürfnisse.     Noua  pou\ 
hommes  sans  etre  savants!   —    Jeune  homme,  sachez  etn 
aorant!  —  sagl  der  savoyische  Vikar  zu  sein«       :  aüler.     Indem 
Kanl  mm  den   Bruch   mit    der  dogmatischen  Spekulation  vorberei- 
tendem er  die  Grundlage  der  natürlichen  Theologie  und  der 
spiritualistischen  Psychologie    gestürzl   hatte,    musste  er  an   Rous- 
is  Gedankengang  eine  Stütze   linden.     Im   abschliessenden  Ab- 
schnitt der  „Träume  eines  Geistersehers"  isl  dies  deutlich  zu  spüren, 
hdem  er  die  spekulativen  und  visionären  Versuche,  die  Geister- 
well zu  betreten   oder  zu  erblicken,    kritisiert   hat,   bricht  er  aus: 
(Wieviel  !•  .loch,  dir  ich  nicht  einsehe!"    —  setzt  aber 

sogleich  hinzu:    „Und   wieviel  Dinge  giebt   es  doch,  die  ich  nicht 
brauch« 

Die  Emanzipation    der  Ethik    von    der   Metaphysik    und    der 
Theologie  war  -"mit  gegeben.    Kanl  erkennt  aber  nicht  allein  eine 

\"ii  der  Tl rie  unabhängige  Grundlage  des  Ethischen  an    -    er 

geht  noch  einen  Schritt  weiter,  indem  er  ausspricht,  es  würde  so- 
-    n   bedenklich  sein,  sollte  da-  moralische  Handeln  nur  durch 

den   Glauben    an    da-   .1    Qseits    motiviert     werden.      Statt    die    Moral 

aul  die  Religion  zu  -runden,   müsse  man   umgekehrt   die  Religion 

I  Kanl  weil  spätei .  unt 
auf  i  Schriften,  in  Beiner  Abhandlung:    «Mutmasslicher 


Kontinuität  im  Entwicklung  Kants.  155 

auf  die  Moral  gründen.  Diejenigen,  «reiche  von  der  künftigen 
Weh  Bescheid  haben  wollten,  müssten  warten,  bis  Bie  dahin 
kämen.  Vorläufig  wüssten  sie,  dass  sie  ihre  Pflichl  thun  soUten, 
und  mehr  brauchten  sie  nicht  zu  wissen.  Kanl  beschliessl  seine 
geniale  Schrift  wie  Voltaire  denCandide:  Lassl  uns  m  den  Garten 
gehen  und  arbeiten! 

Auch  ;m  diesem  Punkte  ist  also  Kontinuität  der  früheren  und 
der  späteren  Werke.  Der  Schlussabschnitl  der  „Träume"  wird 
zwanzig  Jahre  später  in  der  „Kritik  der  praktischen  Vernunft" 
weiter  entwickelt.  Und  dass  die  erworbene  Einsichl  während  der 
Zwischenzeil  behauptel  wurde,  ist  daraus  zu  ersehen,  da>>  in  der 
Dissertation  (§  9)  ausdrücklich  zwischen  dem  höchsten  theoreti- 
schen und  dem  höchsten  praktischen  Begriffe  gesondert  wird. 

L9.  Mit  Bezug  auf  die  Grundlage,  auf  welche  Kant  die  von 
Metaphysik  und  Theologie  unabhängige  Ethik  gründete,  haben  im 
kaufe  seiner  Entwickelung  bedeutende  Abänderungen  stattgefunden, 
-i  /war.  dass  ein  gewisses  Grundgepräge  den  verschiedenen  von 
seiner  ethischen   Auffassung  durchlaufenen  Stadien  gemeinsam  ist. 

In  den  „Beobachtungen  über  das  Schöne  und  Erhabene" 
(17<U  [1763])  wird  die  wahre  Tugend  schon  von  bestimmten 
Grundsätzen  abhängig  gemacht  im  Gegensatz  zur  „adoptierten  Tu- 
gend*, die  auf  unmittelbaren  natürlichen  Neigungen,  z.  1>.  dein 
Mitleid  und  der  Gefälligkeit  beruhe.  Das  Charakteristische  für 
diesen,  den  ersten  ethischen  Standpunkt  Kants  ist,  dass  die  Grund- 
sätze, aufweichen  die  echte  Tugend  beruhe  „das  Bewusstsein  eines 
ien,  das  in  jedem  menschlichen  Busen  lebe,  .  .  .  das  Ge- 
fühl von  der  Schönheil  und  der  Würde  der  menschlichen  Natur"7). 
Durch  das  prinzipielle  Hervorheben  der  Bedeutung  der  allgemeinen 
Grundsätze  trennt  Kant  sich  von  den  englischen  Ethikern,  auf  die 
er  sich  übrigens  während  dieses  Zeitraumes  stützt.  Die  Grund- 
sätze selbsl  entwickelten  -ich  seiner  Meinung  nach  dadurch,  dass 
man  sich  seines  Gefühls  von  der  Schönheil  und  Würde  der  mensch- 
lichen Natur  bewusst  werde.    Dieses  Gefühl  sei  also  das  moralische 


Beobachtungen  übet  Schönen  und  Erhabenen.    Koni 


1764.  - 


156  Sarai  i  II    ffdin 

ihl.     Im  diesem   Bei,    wie  es  in   den  „Träumen    eines  Geister- 
seh.  itwickelt   wird,   das  Gefühl   des  Einzelnen   an  den  allge- 

meinen Willen  gebunden:  „Eine  geheime  Macht  nötigt  uns,  uns 

sieht  zugleich  auf  andrer  Wohl  oder  nach  fremder  Willkür  zn 
richten,  ob  dieses  gleich  öfters  ungern  geschieht  and  der  eigen- 
nützigen Neigung  stark  widerstreitet;  —  and  der  Punkt,  wohin 
die  Richtungslinien  unsere]  Triebe  zusammenlaufen,  ist  also  nicht 
bloss  in  uns,  sondern  es  Bind  noch  Kräfte,  die  uns  bewegen,  in 
dem  Wollen  anderer  ausser  uns .  .  .  Dadurch  sehen  wir  ums  in 
den  geheimsten  Bewegungsgründen  abhängig  von  der  Regel  des  all- 
leinen  Willens,  und  es  entspringt  daraus  in  der  Well  aller 
denkenden  Naturen  eine  moralische  Einheil  und  systematische  Ver- 
fassung nach  bloss  geistigen  1 1  -    ■<  q" 

Kants  Ethik  srdi!  hier  auf  rein  psychologischem  Boden,  v 
sich  in  der  einzelnen  Stimmung  und  dem  einzelnen  Falle  kund- 
gibt, wird  demjenigen  untergeordnet,  was  die  Rücksicht  aut  die 
ganze  Welt,  der  das  Individuuni  angehört,  erheischt.  Des  erwei- 
ten, durch  die  umschauendste  Erfahrung  bedingten  Gefühls  wer- 
den wir  uns  in  allgemeinen  Grundsätzen  bewusst  und  kontrollieren 
diesen  gemäss  die  Regung  und  das  Bedürfniss  des  Augenblicks. 
Durch  diese  Unterordnung  des  Begrenzten  unier  das  Universelle 
erhalt  das  ethische  Gefühl  den  Charakter  des  Erhabenen,  und  eben 
deshalb  wird  es  von  Kant  in  den  „Beobachtungen"  erwähnt. 

20.  Kant  blieb  bei  dieser  Verbindung  der  Psychologie  mit 
der  Ethik  nicht  stehen.  Seine  Analyse  bewog  ihn  auf  dem 
ethischen  wie  auf  dem  erkenntnistheoretischen  Gebiete  zu  einer 
scharfen  Sonderung  zwischen  Vernunft  und  Sinnlichkeit,  zwi- 
schen Form  und  Stoff.  Ea  Bcheint  sogar,  als  hatte  er  diese 
Distinktion  früher  im  ethischen  als  im  theoretischen  Bereiche  ge- 
funden9).    Die   psychologisch-genetische  Auffassung,  die  er  in  den 


•)  Traun  G         sehers.  [,  2.    Kehrbachs  Ausg.  S.  23. 

Brief   an    M.  Hei/   vom    21.  Febr.  1772:    „In    der  Unterscheidung    des 

SinnlicbeQ  vom  rntellektualen  in  dei   Moral   und  den  daraus  entspringenden 

Grundsätzen    hatte    ich    es  schon  vorher    [vor  der  Dissertation   von    1770] 

auch    weil    gebracht."     Vgl.  Briet    an    Herder,    9.  Hai  1767,    an   Lambert 

1770. 


Kontinuität  im  Entwicklungsgang«  Kants  l.'n 

„Beobachtungen"  and  den  „Träumen"  noch  als  mit  der  Ethik 
vereinbar  ansah ,  schob  er  beiseite,  damit  das  Ethische  seine  Quelle 
in  der  reinen  Vernunft  finden  könnte.  Der  Einfluss  des  Dilemmas, 
.las  er  nun  zwischen  Vernunft  und  Sinnlichkeil  aufstellt,  wird  der, 
dass  alles  Gefühl  zum  sinnlichen  Teile  unserer  Natur  gerechnet 
wird'"),  zum  Stoffe,  dem  Empirischen,  zu  dem.  wobei  wir  ans 
passiv,  nicht  selbstthätig  verhalten.  In  diametralem  Gegensatze 
zum  Standpunkt  der  „Beobachtungen"  sollen  nun  die  Grundsätze 
das  Gefühl  bestimmen,  nichl  alter  umgekehrt.  Das  moralische  Ge- 
fühl wird  nun  das  durch  das  Bewusstsein  des  universellen  Gesets 
bestimmte  Gefühl  der  Achtung.  Achtung  vor  anderen  Persönlich- 
keiten wird  dadurch  begründet,  dass  sie  Organe  des  moralichen 
-  seien,  des  nämlichen  Gesetzes,  das  wir  selbst  in  unserem 
Innern  merkten.  Und  während  Kant  in  den  „Beobachtungen"  «las 
Gefühl  von  der  Schönheil  der  menschlichen  Natur  neben  dem  Ge- 
fühl von  deren  Würde  nannte,  ist  dieses  Schönheitsgefühl  spätei 
in  seiner  Ethik  ganz  weggefallen.  Dieses  Gefühl  setzte  eine  Har- 
monie der  Elemente  der  menschlichen  Natur  voraus,  die  Kant 
wegen  seines  scharfen  Gegensatzes  zwischen  Vernunft  und  Sinn- 
lichkeil  nicht  mehr  annehmen  konnte.  Deshalb  erregte  Schillers 
Zusammenstellung  von  „Anmut  und  Würde-  so  grosses  Bedenken 
in  ihm.  Obschon  es  seine  Meinung  war.  die  Pflicht  müsse  freudig 
und  freimüthig  geübt  weiden.  >ollten  doch  keine  sinnlichen  Ele- 
mente mitbethätigt  sein.  Der  Freimut  müsse  ausschliesslich  eben 
durch  die  Entfaltung  der  inneren  Kraft  des  Vernunftwillens  I  - 
dingt  .-ein.  nicht  aber  zugleich  durch  das  harmonische  Verhältnis 
zur  sinnlichen  Natur.  Jedenfalls  dürfe  die  Anmut  nicht  der  Würde 
vorangestellt  werden:  denn  auch  wenn  das  Pflichtbewusstsein  die 
Anmut  zur  Begleiterin  Italien  könnte,  dürfte  es  diese  doch  ^ar  nichl 
berücksichtigen.  Die  Stimmung,  die  (las  Pflichtbewusstsein  erre 
trage  den  Charakter  des  Erhabenen,  nicht  aber  den  des  Schönen, 
und  wo  es  das  ethische  Handeln  betreffe,  müssten  sich  die  Grazien 
in  ehrerbietiger  fern,'  halten.     Erst  wenn  Herkules  die'   Ungetüme 


„Alles  Gefühl   i-<  sinnlich."      Kritik   der   praktischen  Vernunft.  I 
[Kehrbachs  ,\ 


Harald  Böffdinj 

bezwungen    habe,    könne    ei   sich    anter   Musen    and  Grazien   he- 
gen1')• 

barf  auch   der  Gegensatz  zwischen  Kant-  früherem  und 
i  definitiven  ethischen  Standpunkt     -  in  mag,  sind  wir  dennoch 
im   stände,    mit   Bilfe  der  in  den  letzten  Jahren    veröffentlichten 
utischen  Aufzeichnungen  den  Obergang  von  dem  einen  Stand- 
punkt zum  anderen  zu  verfolgen. 

21.     Wenn  Kaut   seiner  eigenen    \  nach  von  Rousseau 

„die  Menschen  ehren"  lernte,  und  wenn  er  (in  den  „Beobachtung« 
das  moralische  Gefühl  als  das  Gefühl  von  der  Würde  der  Mensch- 
heit  auffasste,    worauf   beruhte    denn  in  seinen  Augen  diese  Ehre 
und  Würde?  —  Es  tritt  hier  schon  früh  ein   Hauptzug   in   Kants 
ethü  Auffassung    hervor,    der  dieselbe    nie    vi  .    obgleich 

Kant  ihn  auf  sehr  verschiedene  Weise  philosophisch  erklärte.  Dies 
ist  der  Wert,  den  er  dem  Vermögen  beilegte,  das  Einzelne  und 
Wechselnde  dem  Allgemeinen  und  Unveränderlichen,  Eindrücke 
und  Stimmungen  dem  trotz  aller  Geschicke  festen  Grundsatze, 
passiv  Empfangene  <U'\-  geistigen  Aktivität  unterzuordnen.  Di 
Zug  bewirkte,  das-  er  schon  in  den  „Beobachtungen0  das  moralische 
uhl  auf  das  Gefühl  des  Erhabenen  zurückführte,  ebenso  wie  er 
auch  später  (siehe  sowohl  die  „Kritik  der  praktischen  Vernunft" 
als  die  ..Kritik  der  Urteilskraft")  diese  beiden  Gefühle  nähr  ver- 
wandt fand.  ,sn  zwar,  da—  er  das  moralische  Gefühl  nicht  mehr 
zum  Gefühl  des  Erhabenen  rechnete,  sondern  vielmehr  den  ent- 
tzten  Weg  einschlug,  indem  er  das  Gefühl  des  Erhabenen 
dadurch  erklärte,  dass  er  ein  Mitwirken  des  moralischen  Gefühls 
annahm. 

Zum  Verständnisse  der  Änderung  in  Kant-  ethischer  Theorie, 
die  im  Zwischenräume  von  1766  (den  Träumen)  bis  1770  (der 
Dissertation)  vorgegangen  zu  sein  scheint,  könnte  vielleicht  folgende 
Betrachtung  dienen.  —  Je  mehr  jenes  gegensätzliche  Verhältnis 
des  Einzelnen,  Wechselnden,  Passiven  einerseits  zum  Universellen, 


")  Kants    \nt  .•                               \:imut  und  R  iner 

alb   d<                                       Vernunft".     2.  Aufl.  S.  i<>  u.  f. 

—  \                       \n!/'                           aai  li  dem  Leset           :  hen  A!>- 

■•  I         Blätter  I.  S.  120;   126  u.  t. 


Kontinuität  im  Entwicklungsgänge  Kant-..  |.v. i 

Pesten,  aktiven  andererseits  betont  wurde,  um  so  mehr  mnsste  für 
Kant  etwas  unbefriedigendes  darin  liegen,  die  Grundsätze  als  da- 
durch entstanden  zu  denken,  dass  wir  ans  des  moralischen  Gefühles 
bewussl  würden.  Sie  scheinen  hierdurch  von  Zufälligkeiten  abhängig 
zu  worden.  Ein  durchaus  sicherer  Ausgangspunkt  des  Ethischen 
wäre  dagegen  zu  erreichen,  wenn  die  Aktivität  der  Vernunft  als 
das  Erste  und  Ursprüngliche  gesetzt  und  das  Gefühl  mit-  als  deren 
Produkt  betrachtel  würde.  Das  Verhältnis  zwischen  Grundsatz 
und  Gefühl  wäre  also  umzukehren,  wenn  die  Richtung,  in  wel- 
cher Kants  Ethik  schon  in  den  „Beobachtungen"  und  den  „Träu- 
men" ging,  tlut  durchgeführt  werden  sollte,  und  dass  di 
Tendenz  durch  Kants  unermüdliches  Bestreben,  zwischen  dem 
„Reinen"  und  dem  „Empirischen"  zu  -in. lern,  verstärkt  werden 
musste,  ist  selbstverständlich.  Vielleicht  bekam  der  Begriff  des 
Keinen  in  Kants  Augen  unmerklich  einen  Anstrich  des  Morali- 
schen. Es  liegt  allenfalls  eine  Zweideutigkeit  in  der  Weise,  wie  er 
von  dieser  Zeit  an  den  Ausdruck  „Sinnlichkeit''  von  allen  Ele- 
menten der  menschlichen  Natur  mit  Ausnahme  der  Vernunft 
braucht. 

Er  entlernte   sich   nun   von    den  englischen  Moralphilosophen, 
auf    die  er  früher  verwiesen    hatte,    und    betracht  als  einen 

-  i  Fehler,  dass  diese  die  moralischen  Kriterien  auf  das  Gefühl 
der  Lust  und  Unlust  zurückgeführt  hätten.  Er  erblickt  keinen 
prinzipiellen  Unterschied  zwischen  dem  Standpunkte  des  Shaftes- 
burv  und  dem  des  Epikur  (Dissertatio  §  9),  was  schon  Mendels- 
sohn (Brief  an  Kant  23.  Dec.  1 770)  mit  Recht  tadelte.  Die  mo- 
ralischen Begriffe  sullten  jetzt  nicht  mittels  der  Erfahrung,  sondern 
mittels  der  reinen  Vernunft  erkannt  werden,  und  die  Moralphilo- 
;iie  gehöre  mit  Bezug  auf  die  ersten  Prinzipien  der  Wert- 
schätzung (prineipia  dijudicandi  prima)  zur  reinen  Philosophie 
(Dis>.  §  7:  9).  —  Wie  Kam  sich  in  dii  Stadium   die  Begrün- 

dung des  Ethischen  näher  gedacht   habe,  ist  nicht  zu  erfahren.     Es 
Jen  ind  serungen   und  Entwürfe  vor.   welche  zeig  lass 

ethischen  Theorie,  die  ei  in  der  „Grundlegung  zur  Metaphysik 
der  Sitten"  und  in  der  ..Kritik  der  praktischen  Vernunft"  ent- 
wickelte, eine  Theorie  vorhergeht,    die  Über- 


Barald  ll.tt.lii, 

gangsglicd  der  älteren  psychologisirenden  und  der  jüngeren  rationa- 
lst ik   bild 

In  den  „Reflexionen"  findet  sich  aus  rinn-  Zeit,  die  der 
mng  dei   „Dissertation"    nicht  fern  liegt:      b  sie  nun  auch, 

;h  Auffassung  des   II  bers,    vor  dieser  voraus  liegt,    eine 

•  Begrifl  praktischen  [dealismus,  welcher 

zufolge  derselbe  darin  bestehe,  dass  die  Glückseligkeit  uicht  von 
der  äusseren  Welt  abhänge,  oder  ausführlicher:  „dass  die  Welt 
nur  da*  ;.    wozu   wir  sie  machen,    dass  si<    in  fröhlichen 

Gemütern    heitere,    and   in   trübsinnigen  düstere  Ansichten  gel 

-   li    Gründe  eines  glücklichen  Zustandes  in  uns  selbst  zu  suchen 

m.     Und  diesen  praktischen  Idealismus  nennt  Kant  ausdrücklich 

ii  [dealismus  nicht  des  Hirngespinstes,   sondern    der  Vernunft, 
den  [dealismus  der  W  eisheit".18) 

Nichl  wenig  mit  dem  solchergestall  bestimmten  praktischen 
[dealismus  ist  die  Auffassung  verwandt,  » l  i  *  *  in  den  von  R.  Reick< 
hera  en    „Losen   Blättern   aus  Kants  Nachlass"    in    einem 

ralphilosophischen  Entwürfe  zum  Vorschein  kommt.     Bier  wird 
die  Moralitäl  definiert    als  „die    [dee  der    Freiheit    als    ei 
Prinzips  der  Glückseligkeit".     ..Es  ist  wahr,  die  Tugend  hat 
den  Vorzug,    dass  sie  aus  dem,   was  Natur  darbietet,    die    grösste 

-ill'alirt    zuwegebringen   würde.      Aber  darin   besteht    nicht    ihr 
hoher  Wert,  dass  sie  gleichsam   zum   Mittel  dient.     Dass  wir 
selbst  sind,  die  als  Urheber  sie  unangesehen  der  empirischen 
Bedingungen  (welche  nur  partikuläre  Lebensregeln   geben  können) 
hervorbringen,  das  Selbstzufriedenheil    bei  sich   führe,   das 

ist  ihr  innerer  Werl  ..Nur  der  ist  fähig,  glücklich  zu  sein, 
dessen  Gebrauch  seiner  Willkür  nicht  den  datis  zur  Glückseligkeit, 
die  ihm  Natur  gibt,  zuwider  ist  .  .  .  Glückseligkeil  isl  eigentlich 
nicht    die  imme    des  Vergnügens,    sondern   die    Lust  aus 

dein  Bewusstsein  seiner  Selbstmacht  zufrieden  zu  sein,  wenig- 
stens ist  dieses  die  wesentliche  formale  Bedingung  der  Glückselig- 
keit,        eich  noch   andere   materiell    (wie  bei  der  Erfahrung)  er- 

lerlich  sin',        Glückseligkeit  muss  von  einem  Grunde  a  priori, 

aen  Kants.  11.  S.  119.    No.  ll  16;  1 1 1 


Kontinuitäl  im  Entwicklung  Kants.  |f,| 

den  die  Vernunft  billigt,  herkommen."  „Freiheit  ist  an  sich  solbsl 
ein  Vermögen,  unabhängig  von  empirischen  Gründen  zu  thun  und 
zu  lassen  .  .  .  Ich  l>in  frei  aber  nur  vom  Zwange  der  Sinnlich- 
keit, aber  nichl  zugleich  von  einschränkenden  Gesetzen  der  Ver- 
nunft .  .  .  Diejenige  Ungebundenheit,  dadurch  ich  wollen  kann, 
was  meinem  Willen  seihst  zuwider  ist,  und  ich  keinen  sichern 
Grund  habe,  auf  mich  selbsl  zu  rechnen,  muss  mir  im  höchsten 
Grade  missfällig  sein,  und  es  wird  a  priori  ein  Gesetz  als  not- 
wendig erkannt  werden  müssen,  nach  welchem  die  Freiheil 
auf  die  Bedingungen  restringiert  wird,  unter  denen  der 
Wille  mit  sich  selbst  zusammenstimmt.  Diesem  Gesetze 
kann  ich  nicht  entsagen  ohne  meiner  Vernunft  zu  widerstreiten, 
welche  allein  praktische  Einheit  des  Willens  nach  Prinzipien 
festsetzen  kann."  „Die  Freiheit  nach  den  Gesetzen  einer  durch- 
gängigen Zus.ammenstimmung  mit  sieh  seihst  wird  den  Wert  und 
die  Würde  der  Person  ausmachen."  13) 

Der  diesen  Äusserungen  zu  Grunde  liegende  ethische  Stand- 
punkt unterscheidet  sieh  von  dem  in  den  „Beobachtungen"  zu  Tag< 
tretenden  durch  seinen  rationalistischen  und  individualistischen 
Charakter.  Derselbe  findet  das  Höchste  in  der  Aktivität,  durch 
die  der  Einzelne  der  Schöpfer  seines  eignen  Glücks  zu  sein  ver- 
möge, und  findet  als  das  wesentliche  Gesetz  dieser  Aktivität.,  dass 


,3)  Lose    Blätter.   I.  S.  10 — 15.      Dieses  Fragment  war  von    dem    Eera 
geber,  dem  Berrn  Bibliothekar  Rudolph  Reicke,  den  achtziger  oder  neunziger 
Jahren  zugeschrieben.     Da  es  mir  aus  dem  Inhalt  klar  war,  dass  es  aus  einer 
Zeil  herrühren  müsste,  die  der  1785  erschienen  „Grundlegung  zur  Metaphysik 
der  Sitten"  vorausli  te  ich  den  Berausgeber  um  Aufschluss  über  die 

Gründe,  die  ihm  hei  der  Bestimmung  des  Ursprungs  des  .Manuskripts  mass- 
gebend gewesen  wären.  Herr  !!<;rk.  war  so  gütig,  ii  ie  aufs  neue  zu 
untersuchen  und  teilte  mir  in  einem  Privatbriefe  vom  10.  Nov.  1892  mit,  dass 
nichts  verwehre,  das  Fragment  den  Siebzigern  zuzuschreiben,  dass  ei  es  jedoch 
nach  den  Schriftzügen  I               die  achtziger  setzen  möchte;  es  in  die  ueun- 

i   zu  s erlegen,   sehe   er  nun  für  unmöglich  an.     Blöglicherweisi 
Ende  der  siebziger  oder  Anfang  der  achtziger  entstanden.    Ich  möchte  glauben, 
sei  einige  Zeil   vor  der  letzten  Redaktion  d  i    „Kritik   dei    reinen  Vernunft" 

isst,  da  nichl  die  •  ntschii  dem   Imperativische  Ethik  hat,  die  schon 

in  dei   „Kr.  d.  r.  Vera."  angedeutet  isl  die  Lehre  von  dem 

intelligibeln  Charakti  r. 


Sara 

das  Individuum  mit  voller  Eonsequenz,  in  Uebereinstimmung  mit 
■d.  ■':.  handle.  Es  ist  hierein  wesentlicher  Schritt  in  der  Richtung 

Lhan,  das  Hauptgewicht  auf  die  formale  Seite  des   Ethischen  zu 
legen.      Dass  ethisch«    l       tz  müsse,  vom  Inhalt   abgesehen,    eben 
aus  der  Freien  Thätigkeil  entspringen,  und  könne  dann   nur  deren 
istbegrenzung14)    durch  die  Notwendig^  o,    die  Ueberein- 

stimmung mit  sich  selbst  zu  behalten.  Kant  hatte  hier  einen 
Hauptpunkt  seiner  Ethik  erreicht:  das  innere  Verhältnis  zwischen 
Handlung  und  Gesetz,  ein  Verhältnis,   d  h   seiner  Auffassung 

nur  dann  das  rechte  werden  könnte,  wenn  das  Gesetz  rein  formal 
wäre:    nur  dann  könnte  es  apriorisch  sein,  von  allem  bestimmten 
Inhalt  absehen.     In   genetischer  Beziehung   ist    jene-   moralphil 
phische  Fragment  daher  äusserst  inti  t.      Ein  Problem  bildet 

wegen  seines  eudämonistischen   und   individualistischen  Charak- 

-.  der  es  in  Gegensatz  zu  dem  früheren  sowohl  als  dem  späteren 
Standpunkt  stellt.  Das  Verhältnis  zwischen  Tugend  und  Glück- 
seligkeit, das  für  Kants  spätere  Ethik  eine  so  schwierige  Fr; 
wurde,  dass  nur  religiöse  Postulate  sie  erledigen  konnten,  enthielt 
die>em  „praktischen  Idealismus0  gemäss  keine  prinzipielle  Schwierig- 
keit. Die  .'in— eren  Güter  müssten  aufgegeben  werden,  oder  man 
müs  li   jedenfalls  bereit   machen,   auf   solche  zu   verzichten; 

dies  wird  aber  durch  das  Freiheits-  und  Machtgefühl  aufgewogen, 
das  hier  als  das  höchste  Gut  dasteht,  wie  es  auch  dadurch  be- 
stimmt wird,  was  hier  die  höchste  Tugend  ist.  Der  Standpunkt 
des  Fragments  bildet  in  Kam-  moralphilosophischer  Entwickli 
einen  Schwenkungsbogen  analoger  Art  wie  die  „Dissertation"  in 
-einer  erkenntnistheoretischen  Entwickelung.    Von  |  Wichtig- 

■   war  an  beiden  "neu   die   scharfe  Distinktion    zwischen    Form 

und    Inhalt,   /.wischen    dem    a    priori    und   a  posteriori.      Diese    wurde 

für  die  Zukunft  entscheidend.  I  >i<-  schärlere  Form,  anter  welcher 
dieser  Gegensatz  in  Kants  definitiver  Ethik  auftritt,  führte  unter 
anderem  auch    den   Gegensatz  der  Tugend   und  der  Glückseligkeit 


Dei    \u-'iHi.i    de    Fragments  von  der  Begi  Freiheit  möchte 

K  i.  d,  r.  V.  i  ii."  ei  innei  n,   l.  Aufl.  wo  die  I  von  „dem 

l'nii    p         durch   die  Vernunft   der   an  Freiheit  Schran 

setzt,"  und  *  als  ethisches  Ideal  aufgestellt  wird. 


Kontinuität  im  Entwicklungsgange  Kants.  163 

herbei,    der    sich    nur   atff   dem    Wege    des    religiösen    Postulats 
lösen  liess. 

Wollte    man   sich  denken,   was  Kant    von   dem  Standpunkte 
des  Fragments  zu  seiner  definitiven  Ethik  geführl  haben  kann. 
Liegt  es  nähr,   darauf  hinzuweisen,   wie  er   in  seiner  theoretischen 
Philosophie   dazu   gelangl    war.    .las  Allgemeingültige   als  das   mit 
der   Natur  aller  vernünftigen  Subjekte  üebereinstimmende   zu   be- 
stimmen.    In  Analogie   hierzu  wurde    »las  moralische  Gesetz  Dicht 
nur  der  Ausdruck  der  (Jebereinstimmung  des  einzelnen  Individuums 
mit  sieh  seihst,  sondern   es  drückte  auch  die    Erhaltung  des  Ver- 
nuuftzusammenhanges  überhaupt,   den  Zusammenhang  des   Indivi- 
duums mit  der  gesamten  intelligibeln  Well  aus.      So   heissl  es  in 
einer    Aufzeichnung    aus    den    siebziger   Jahren:    „Die    intelligible 
Well    hat   Gesetze,    nach   welchen    ich    für  jede   Well    passe,    nicht 
bloss  für  diese  oder  die  Sinnenwelt,  in  welche  Einrichtung  meiner 
eigenen  und  äusseren  Natur  oder  Gesellschaft  ich  auch  komme  .  .  . 
Sic   passl   mit  deu  Regeln   der  Klugheit,   wenn    diese   erweitert 
wird.*15)     Die  letzten  Worte  scheinen  eine  Entwickeln!!-  aus  dem 
früheren  rationalistischen  Standpunkt  in  den  definitiven  anzudeuten. 
Mittels  der  Idee  von  der  intelligibeln  Welt  hat   Kant   es  trotz  des 
Formalismus  erreicht,  seiner  rationalistischen  Ethik    einen    sozialen 
Charakter  zu  verleihen,    den  seine  erste,    psychologisch-motivierte 
Ethik  eben  durch  ihre  Genesis  besass. 

Auch  eiue  ganz  andere  (iedankenreihe  war  wahrscheinlich  hei 
diesem  Uebergange  mitbetheiligt,  und  zwar  eine  Gedankenreihe,  die 
rade  psychologisch-historischen  Charakters  war.  und  tue  insofern 
nur  wenig  mit  dem  rationalistischen  Wem;  übereinzustimmen  scheinen 
könnte,  den  Kant  eingeschlagen  hatte.  Im  Anfang  der  achtziger  Jahre 
war  Kant  mit  dem  Gedanken  stark  beschäftigt,  die  menschlichen 
Naturanlagen,  insoweit  sie  den  Gebrauch  der  Vernunft  beträfen, 
könnten  nur  im  Geschlechte,  nicht  aber  im  einzelnen  Individuum 
zur  völligen  Entwickelung  gelangen,  da  die  Entwicklung  der  Vei 
nuni'i  eine  viel  längere  Zeit  erfordere,  als  die  Lebensperiode  des 
einzelnen  Individuum-   betrage.      Das  Ziel   der   menschlichen  Ent- 


Reflexiom  □  Kants.  II.  S.  :«!  (No.  1158). 


\i\\  II 

vickelung  könne  daher  kein  individuelle  odern  müsse  ein 

uni  -  Ziel,  'in  Ziel  für  alle,  nicht  bloss  (ur  diesen  oder  jenen 

izelnen  sein.      Di         I   idankei  liegl    einer  merkwürdigen 

Abhandlung   Kant-  zu  Grunde,    der    rIdee    zu    einer   allgemeinen 

schichte  in  weltbürgerlicher  Absicht",  die  1784,  das  Jahr  vor 
der  „Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten",  erschien,  in  dem 
angeführten  Gedankengang  hat  man  zum  Teil  die  Erklärung  zu 
suchen,  weshalb  Kant  das  Moralgesetz  nun  nicht  als  die  formale 
■1  für  das  isolierte  Streben  des  einzelnon  Individuums  auffat 
lern  als  diejenige  Regel,  die  das  individuelle  Streben  mit  dem 
Streben  aller  Vernunftwesen  in  Uebereinstimmung  bringe.  Kant 
selbst  onbewusst  ist  es  eine  aus  psychologisch -historischer  Er- 
fahrung abgezogene  Idee,  die  seiner  definitiven  Ethik  ausser  dem 
rationalistischen  Charakter  auch  den  universalistischen  mitteilte. 
Eben  jene  universelle  Formel,  die  Kant  zum  Moralprinzip  macht. 
enthält  gleichsam  eine  Erinnerung  an  eine  Gesellschaft  von  [ndi- 
viduen,    deren    verschiedene   Willen    in  Harmonie    zu 

bringen  sind;    sie   ist   in  eigentlichem  Sinuc    eine  [dealisirung  der 
für  den  Verkehr  persönlicher  Wesen,  welche  die  Erfahrung 
uns  zeigt16),     her  grosse  Wert   der  Kantischen  Formel  beruht 
rade  hr  Kant   selbsl   dies  auch   bestreiten   möchte  —   auf 

diesem  ihrem  krypto-empirischen   Ursprung! 

-'.>.  Endlich  hat  auch  eine  erneute  Untersuchung  und  Analyse 
des  anmittelbaren  ethischen  Gefühls  grossen  Einfluss  auf  die  Ent- 
stehung der  definitiven  Ethik  Kants  geübt  Ebensowi  sich 
nachweissen  liess,  dass  Analyse  und  Konstruktion  bei  der  Grund- 
legung der  Kantischen  Erkenntnistheorie  zusammenwirkten,  ebenso 
linden  wir  auch  beide  Methoden  bei  der  Grundlegung  Beiner  Ethik. 
Es  sind  gerade  die  Nachwirkungen  dieser  unmittelbaren  Berührung 
mit  dem  Ethischen  in  der  Praxis,  die  Kam-  Schriften  (vorzüglich 
der  „Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten")  eine' so  frische  und 
kräftige  Farbe  verleihen.     In  der  „Grundlegung"   bahnl   Kant  sich 

ade  den  Weg  zur  eigentlichen  Moralphilosophie    durch  Analyst 


h  bierübe]   bereits  bemerkte   in 
Grundlage  dei   humanen  Ethik."  (Bonn 


K  mtinuitäl  im  Entwicklungsgange  Kants.  465 

der  „allgemeinen  sittlichen  Vemunfterkenntnis"  —  so  «renig  er 
sonst  auch  der  psychologischen  Erfahrung  Irgend  welchen  Einfluss 
auf  die  ethischen  Ideen  zugestehen  will.  Durch  diese  erneute 
Analyse  fand  er  nun  als  einen  Eauptzug  des  Ethischen,  dass  der 
Einzelne  sich  in  seinem  Innern  an  ein  Gesetz  gebunden  fühle, 
welches  der  Ausdruck  seines  eignen  innersten  Wesens  sei  und  ihn 
zugleich  einem  grossen  Vernunftreiche  als  Glied  einverleibe.  Das 
moralische  Kriterium  werde  nun  dies,  ob  der  durch  die  Handlung 
ausgedrückte  Grundsatz  zu  einem  allgemeinen  Grundsatze gemachl 
werden  könne.  Diese  Lehre  bildel  eine  Analogie  zur  Lehre  von 
dem  gesetzmäßigen  Zusammenhang  der  Erscheinungen  als  Ausdruck 
wirklicher  Erfahrung. 

Dem  Gesetze  entspricht  die  Kraft.  Von  dem  moralischen  Ge- 
setz als  einer  sich  in  allem  Pflichtbewusstsein  kundgebenden  That- 
sache  schliessl  Kant  auf  diejenige  reine  Selbstthätigkeü  der  Ver- 
nunft, die  er  Freiheit  nennt  (in  einer  der  mehreren  Bedeutungen, 
in  der  er.  hider,  dieses  Wort  gebraucht).  Denn  unmittelbar  lasse 
sich  die  Freiheit,  die  Selbsthätigkeit  nicht  auflassen,  und  ebenso- 
wenig könne  sie  aus  der  Erfahrung  abgeleitet  werden.  Des  mora- 
lischen Gesetzes  würden  wir  uns  unmittelbar  bewusst,  und  dasselbe 
bewege  zur  Annahme  der  Freiheit  als  des  Vermögens,  von  allen 
sinnlichen  Bedingungen  unabhängig  zu  handeln. 17)  Das  moralische 
Gesetz  sei  der  Ausdruck  der  Autonomie  der  Vernunft. l8)  Indem 
der  Einzelne  dem  Gesetze  seines  eignen  Wesens  gehorche,  befolge 
er  zugleich  das  allgemeine  Gesetz  der  geistigen  Welt. 

Hierdurch  unterscheidet  sich  Kants  Ethik  von  der  früheren 
rationalistischen  Ethik,  wie  sie  von  den  „Intellektualisten"  des 
17.  Jahrhunderts  und  von   Price   ausgestaltet   wurde.     Wenn   diese 


l7)  Kritik  der   praktischen  Vernunft.  §6.    Aiim.  (Kehrbachs  Ausg.  S.  53). 
Vgl.  Lose    Blätter  I,  S.  120.    —    Wenn   es  an   einzelnen    Orten,    z.B.  in  dei 

undlegung"  S.  107  heisst:  rda>.  was  in  ihm  [dem  Menschen]  reine 
Thätigkeil  sein  mag,  gelangt  unmittelbar  zum  Bewusstsein,"  so  ist  aach  dem 
Zusammenhange  da-  Wort  „unmittelbar"  als  Gegensatz  zu  „durch  Affizierung 
der  Sinne"  zu  verstehen. 

„Das    moralische    Gesetz    i>t    das  Gesetz    der    Autonomie    der    reinen 
praktischen   Vernunft.-     Kritik    der  praktischen    Vernunft.     Kehrbachs     S 

■3. 

Archiv  f.  Geschiebte  d.  Philosophie,     vii  od 


Harald  Hc  ffdin 

Ethische  auf  die  Vernunft  gründeten,  verstanden  sie  hierunter 
den  objektiven,  vernünftigen  Zusammenhang  der  Dinge,  «Im  der 
Mensch  mittel«  seiner  Vernunft  auffasse,  und  vor  dem  ersieh  dar- 
auf beuge.  Die  Vernunft  als  menschliches  Vermögen  hatte  liier, 
wir  IV.  Jodl  sich  treffend  ausdrückt,")  eine  bloss  rezeptive  Wir- 
kung auszufahren,  sich  Dämlich  die  Vernunft  anzueignen,  die  man 
sich  in  den  Weltverhältnissen  gegeben  dachte,  und  >ie  bei  ihrem 
Bandeln  anzuwenden.  Kam-  praktische  Vernunft  dagegen  ist,  wie 
seine   theoretische  Vernunft,    der  Ausdruck    <i  oen   innersten 

Wesens  des  Menschen,  Bin  [nbegrüf  der  Gesetze  Pur  die  G 
thätigkeit  des  Menschen.  Der  tiefeinnige  Gedanke  in  Kam-  defini- 
tiver Ktilik  ist  der,  <la»  der  Mensch,  indem  er  sich  des  moralischen 
setzes  bewusst  werde,  sich  bewussl  werde,  ein  Bürger  zweier 
verschiedener  Welten  zu  sein,  die  in  seiner  Person  zusammenträfen: 
,Das  moralische  Sollen  ist  also  eignes  ootwendiges  Wollen  als 
Gliedes  einer  intelligibeln  Welt  and  wird  aur  so  fern  von  ihm  als 
Sollen  gedacht,  als  er  sich  zugleich  wie  ein  Glied  der  Sinnenwelt 
betrachtet."80)  In  streng  rationalistischer  Form  hat  Kant  hier  aufs 
neue  einen  Gedanken  entwickelt,  der  unter  empirischer  Form  in 
in  den  „Beobachtungen"  zum  Vorschein  kam.  wo  ei  sich  auf  die 
Würde  der  menschlichen  Natur  berief.  Diese  Würde  ist  es,  die 
er  tiefer  begründen  zu  müssen  glaubte,  als  die  Psychologie  dies 
vermochte.  Die  Idee  der  Würde  des  Menschen  ist  das  kontinuir- 
liche  Element  in  Kam-  Ethik;  was  aber  variiert,  ist  die  Be- 
gründung. 

rrotz  ihre,-  erhabenen  Charakters  stützt  sich  Kants  rationa- 
listische Ethik,  als  Glied  seiner  kritischen  Philosophie  betrachtet, 
dennoch  aui  ein«  •••  Inkonsequenz.      Die  Parallele  der  theore- 

tischen und  der  praktischen  Vernunft  wird  nicht  festgehalten.    Den 
Feind,  den  Kant   mit  den  Wallen   der  Kritik  bekämpft,  erblickt  er 
auf  den  beiden  Gebieten  als  höchst  verschieden.     Aul'  dem  theore 
tischen  Gebiete  ist  es  die  Spekulation,  der  transcendente  Gebrauch 
der  Begriffe,  den  er  bekämpfen  will.     Die    .Kritik  der  reinen  Ver- 

")  Geschichte    dei    Ethik   in  der   neueren  Philosophie.  1.  Mönchen  l 
121. 

Grundlegung  zui   Metaphysik  dei  Sitten.    3.  Aufl.    Riga  1792.    S.  113. 


Kontinuität  im  Entwicklungsgänge  Kants.  161 

nunt'r  entspricht  Ihrem  Namen,  denn  sie  ist  wirklich  eine  Kritik 
der  Vernunft.  Die  „Kritik  der  praktischen  Vernunft"  isl  aber  gar 
keine  Kritik  der  Anwendung  der  Vernunft  auf  ethisch-praktischem 
Gebiete,  wie  man  aus  dem  Titel  und  der  Analogie  zu  jenem  Haupt- 
werke vermuten  möchte,  und  Kant  selbst  gibt  dies  eigentlich  zu. 
Die  Aufgabe  ist  hier,  sagt  er  (Einleitung.  Von  der  [dee  einer 
Kritik  der  praktischen  Vernunft),  „die  empirisch- bedingte  Vernunfl 
von  clor  Anmassung  abzuhalten,  ausschliessungsweise  den  Bestim- 
mungsgrund dos  Willens  allein  abgeben  zu  wollen".")  Dagegen 
untersucht  er  nicht  die  Anmassung  der  reinen  Vernunft,  der  aus- 
schliessliche Bestimmungsgrund  sein  zu  wollen,  sondern  nimmt 
ade  an,  dass  das  Ethische  hierin  allein  bestehe.  Er  räumt  nicht 
ein,  Jass  eine  kritische  Untersuchung  über  die  Berechtigung  der 
Vernunft  auf  dem  praktischen  Gebiete  anzustellen  sein  könnte, 
obschon  er  dennoch  stark  hervorhebt,  wie  unerklärlich  es  sei,  dass 
die  reine  Vernunft  den  Willen  eines  sinnlich -bedingten  Wesens 
bestimme.  —  Es  rächt  sich  hier,  dass  die  psychologische  Grund- 
lage beiseite  geschoben  ist. 

IV. 
Das  Kopernikanische  Prinzip. 

24.  Ich  kehre  zu  Kants  theoretischer  Philosophie  zurück,  um 
zu  untersuchen,  wie  der  Wendepunkt  von  1769,  der  die  eigent- 
liche Grundlegung  der  kritischen  Philosophie  herbeiführte,  sich  dem 
kontinuierlichen  Entwickelungsgange  Kants  als  Glied  einfügen  lässt, 
und  wie  nach  und  nach  die  Konsequenzen  dieses  Wendepunkts 
gezogen  wurden. 

Was  1762  erreicht  war,  bestand  in  der  Erkenntnis,  dass  die 
Begriffe,  mit  denen  man  bisher  in  der  Philosophie  operiert  hatte, 
unbrauchbar,  unfertig  seien:  die  Analyse  sei  nicht  durchgeführt; 
von  philosophischer  Konstruktion  könne  erst  in  ferner  Zukunft  die 
Rede  weiden.  Kant  hatte  nicht  die  Hoffnung  auf  eine  abschliessende 
theoretische  Philosophie  aufgegeben,  die  über  Fragen,  welche  ausser- 
halb des  Gebietes  der  Erfahrung  lägen,    Aufschluss  zu   geben   ver- 

'-'')  Vgl.  aähei   hiernbei    A.   Fouillee:   Critique   des   systemes  de  Morale 
Paris  1883.  S.  129—142. 

33* 


Harald  Höffdinj 

mocht  Er  kehrte  sich  aber  mit  Spott  und  Ironie  gegen  die 
Dogmatiker,  die  von  allen  Schwierigkeiten  anangefochten  ihre 
aufbauten  und  alle  Problem«  -  hieden.  Seine  Auf- 
merksamkeil richtete  sich  auf  die  Methode  und  auf  die  Bestim- 
mung der  Grenzen  der  Erkenntnis,  and  er  hatte  schon  angefangen, 
von  einer  Kritik  der  Vernunft  zu  reden.  Im  die  Grenzen  der 
Vernunfterkenntnis  zu  finden,  operierte  er  oach  der  Methode 
der  Antinomien,  indem  er  in  dem  Widerspruche  zweier,  jeder  rar 
sich  begründeten  Gedankenreihen  einen  Beweis  erblickte,  dass  die 
Vernunft  sich  zu  weil  gewagt  habe.    „Ich  suchte,"")  si  twaa 

Gewisses,  wenn  nicht  in  Ansehung  des  Gegenstandes,  doch  in  An- 
sehung der  Natur  und  der  Grenzen  dieser  Erkenntnisart.  Ich  fand 
allmählich,  dass  viele  von  den  Sätzen,  die  wir  als  objektiv  an- 
sahen, in  «Irr  Thal  subjektiv  seien,  «I.  i.  die  Konditionen  enthalten, 
unter  denen  wir  allein  dm  Gegenstand  einsehen  oder  begreifen." 
Von  drni  Inhalt  des  Bewusstseins  Bich  abwendend  richtete  Kant 
also  seine  Aufmerksamkeil  auf  die  eigene  Thätigkeil  des  Bewusst- 
seins und  machte  diese  zum  Gegenstand  seiner  Analyst  l  eber 
das  Verfahren  dieser  Analyse  wurde  oben  (§6)  geredet. 

Es  ist  eine  solche  Analyse,  dir  ihn  nicht  nur  zwischen  Form 
und  Stoff,  sondern  auch  zwischen  Anschauen  und  Denken  zu  son- 
dern bewog.  So  beissl  es  in  den  „Prolegomena"  S.  119):  „Bei 
einer  Untersuchung  der  reinen  (nichts  Empirisches  enthaltenden) 
Elemente  der  menschlichen  Erkenntnis  gelang  es  mir  allererst  nach 
langem  Nachdenken,  die  reinen  Elementarbegriffe  der  Sinnlichl 
(Raum  und  Zeit)  von  denen  des  Verstandes  mit  Zuverlässigkeil  zu 
unterscheiden  und  abzusondern."  —  Zugleich  entstand  die  Ueberzeu- 
gung  in  ihm.  wir  hätten  an  jenen  Elementarbegriffen  der  Sinnlichkeil 
nur  den  Ausdruck  derjenigen  Formen,  anter  denen  wir  der  Natur 
unseres  sinnlichen  Vermögens  gemäss  die  Dinge  auffassten,  nicht 
aher  den  Ausdruck  des  eignen  Wesens  der  Dinge,  und  dass  nur 
deswegen  mathematische  Naturerkenntnis  möglich  sei.  Dies  waren 
die  wichtigen  Schritte,  dir  Kant  lTt'.'.i  thal  und  in  der  Dissertation 
von  1  T7<)  entwicke] 

aen  Kants.  II.  S,  i    Ni 


Kontinuität  im  Entwicklung  Kants.  Ii'i'.i 

25.  An-  dem  vorhergehenden  Jahre  haben  wir  eine  kleine 
interessante  Abhandlung  von  Kant:  „Vom  ersten  Grunde  des 
Unterschiedes  der  Gegenden  im  Räume."  Er  verteidigt  hier  New- 
tons Auffassung,  der  zufolge  der  absolute  Raum  jeder  einzelnen 
Bestimmung  des  Raumes  zu  Grunde  liege,  gegen  Leibniz'  Auffassung 
des  Raumes  als  einer  Eigenschaft  öder  eines  Verhältnisses,  das 
durch  die  Natur  und  die  Thätigkeü  der  Dinge  bestimmt  sei.  Be- 
sonders stützt  er  sich  darauf,  dass  man  mit  Bezug  auf  ganz  gleiche 
und  dennoch  inkongruente  Körper  (wie  z.  B.  die  linke  und  die 
rechte  Hand)  den  Ort  der  Teile  nicht  bestimmen  könne  "Im«' 
den  Raum  ausserhalb  der  Körper  zu  berücksichtigen.  Bieraus 
schliesst  er,  der  Kaum  als  Totalität  liege  der  Bestimmung  des 
einzelnen  Ortes  zu  Grunde. 

Im  Laute  des  nächsten  Jahres  (1768 — 1769)  muss  es  Kant 
nun  klar  geworden  sein,  dass  der  „absolute  Raum"  nicht  ein  Ob- 
jektives und  Reales,  sondern  eine  subjektive  Form,  ein  Schema 
unserer  Auffassung  der  Dinge  sei.  Hirn-  haben  wir  also  ein  Bei- 
spiel de-  Umsetzens  aus  objektiver  Realität  in  subjektive  Bedin- 
gung, das  er  in  der  oben  angeführten  Aeusserung  erwähnt.  In 
diesem  Zusammenhange  ist  es  von  Interesse,  zu  bemerken,  dass 
Kant  das  nämliche  Argument,  dessen  er  sich  in  der  kleinen  Ab- 
handlung von  1768  bediente,  um  Newtons  Raumauffassung  gegen 
die  Leibnizsche  zu  beweisen,  später  (Prolegomena  §  13)a3)  gebraucht, 
um  seine  eigne  Lehre  von  der  Subjektivität  des  Raumes  gegen  die 
-'wohnliche  Annahme  von  dessen  Objektivität  zu  beweisen.  Es 
i-r  mithin  deutlich,  dass  Newtons  Anpassung  eine  Station  auf 
seinem  Wege  war.  Wer  sich  so  viel  wie  Kant  mit  dem  Studium  de» 
Newton  beschäftigt  hatte,  dem  lag  es  auch  nicht  so  fern,  die  Um- 
setzung aus  dem  Objektiven  ins  Subjektive  auszuführen.  Newton 
ste  den  Kaum  als  sensorium  dei  auf.  ein  Gedanke,  mit  dem 
Kant  sich  augenscheinlich  viel  abgab"4).  Es  kam  also  nur  darauf 
an.  statt   „sensorium  dei"   „sensorium  hominis"  zu  setzen,  was  denn 


-3)  Siehe  hierübei    „Metaphysische  Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft." 
Riga  L786.  -   7  u.  f. 

her    Benno    Ei  dmann   in    den    „Reflexionen   Kai 

II.  S.  104  u.  f.  (Anm.) 


470  Harald  Böffdin 

ofalls  einem  !  •    h  damit  !       •    .    die  allgemeine 

tur  and  Thätigkeil  der  menschlichen  Erkenntnis  zu  untersuchen, 
nicht  s  .       konnte.   —  chwirkungen  der   Newton- 

scheu  Aufl  findet  mau  in  den  psychologischen  Schwierig 

in  welche  Kants  Theorie  vom  Räume  sich  verstrickt,  weil  sie  <lic 
Bestimmung  des  Raumes  als  eines  I  aendlichen  beibehält  und  ihn 
dennoch  als  Form  der  in  der  Erfahrung  thätigen  sinnlichen  An- 
schauung,   deren   Gi  in   Endliches  sein  muss,    auf- 

-;.  —  Schwierigkeiten,  die  Kant  selbsl   unterstreicht,  indem 
vom  Räume  als  einer  gegebenen  Unendlichkeit  sprich! 

Die  Beweisführung,  mittels  deren  Kant  Kanin  und  Zeit  als 
subjektive  Anschauungsformen  darzulegen  sucht,  besteht  teils  in 
direkter  Anal-  ila  in  einem  apogogischen  Beweis.  Der  Kürze 
wegen  rede  ich  im  Folgenden  nur  vom  Räume,  da  Kants  Räsonne- 
ment  hinsichtlich  der  Z  oem   Räsonnemenl    von  dem   Kanin«' 

durchaus  parallel  verläuft. 

iVr  Kaum  müsse  eine  Form  der  Anschauung  sein,  weil 
ans  eine  Ganzheit  darstelle,  deren  wir  uns  durch  successives  Zu- 
sanu  jsen  der  Teile,  durch  Synthese  bewusst  winden.  Ein 
Verstandesbegriff  dagegen  zeige  uns  nur  die  Zusammensetzung  der 
Ganzheit  als  durch  die  Teile  bedingt,  ohne  uns  ihre  Entstehung 
zu  zeigen.  Für  die  Anschauung  sei  der  einzelne  Teil  durch  die 
Ganzheit  bedingt,  umgekehrt  aber  für  den  Verstand  (Diss.  §  l;   15 

roll.).  -  Wenn  anderseits  der  Kanm  nicht  eine  Form  der 
schauung  sondern  ein  Verstandesbegriff  wäre,  so  würden  die  Be- 
griffe der  Kontinuität  und  der  Unendlichkeit  «'inen  Widerspruch 
enthalten,  welcher  wegfalle,  sowie  man  dieselben  auf  das  stetige 
und,  dem  Principe  nach,  unaufhaltsame  Fortschreiten  von  Teil  zu 
Teile  stütze  (Diss.  §  1:  2,  III). 

Eine  doppelte  Beweisführung  —  eine  direkte  and  eine  apag 
gische  —  wird  ebenfalls  angewandt  um  darzulegen,  dass  der  Raum 
nur  eine  subjektive  Auffassungsweise  sei. 

B  Erd  in  ann  in  den  „Reflei 

M'st  hat  in   eil 
I»  i  1 1  Im- y   im  Anh.  eh.  d.  Philosophie  III 

ii  Abhandlun  ifzuklärei  bt 


Kontinuitäl  im  Entwickluni  Kants.  1  < 1 

Fassen  wir  den  Kaum  als  ein  subjektives  Schema  auf,  in 
welchem  wir  alle  in  uns  entstehenden  Empfindungen  ordneten 
(schema  coordinandi),  so  müssen  die  Gesetze  des  Raumes  auch 
für  alle  materiellen  Erscheinungen  gelten.  Denn  alles,  was  wir 
sollen  auffassen  können,  muss  ein  Gegenstand  der  ordnenden 
Geistesthätigkeil  (vis  animi,  omnes  sensationes  coordinans)  werden. 
Die  Gesetze  der  Sinnlichkeil  müssen  deshalb  notwendigerweise  die 
Gesetze  der  Na  im-  sein,  und  hierdurch  wird  die  Anwendung  der 
imetrie  in  der  Naturwissenschaft  erklärlich:  die  nämliche  An- 
schauung, aus  der  die  Geometrie  entspringt,  gebrauchen  wir  ja 
allemal,  wenn  wir  etwas  mittels  des  äusseren  Sinnes  auffassen 
wollen.  Die  Gültigkeil  der  angewandten  Geometrie  sei  also  ein 
einfacher  Schluss  aus  der  Subjektivität  der  Form  des  Raumes 
(I)iss.  §  15  C — E.).  —  Anderseits:  „Wäre  nicht  der  Begriff  des 
Raumes  durch  die  Natur  des  Geistes  ursprünglich  gegeben,  so 
würde  der  Gebrauch  der  Geometrie  in  der  Naturwissenschart  sehr 
unsicher  sein:  denn  man  könnte  ja  noch  zweifeln,  ob  dieser  von 
der  Erfahrung  entlehnte  Begriff  auch  mit  der  Natur  hinlänglich 
übereinstimme"  (Diss.  §  15  E.). 

Kants  Beweisführung  ist  von  Interesse,  weil  sie  uns  zeigt,  wie 
direkte  Analyse   und    antinomische  Schlussreihen    Hand    in    Hand 

ii.  Nachdem  er  mittels  der  Analyse  gefunden  hat,  der  Raum 
sei  eine  synthetische  Anschauungsform,  zeigt  er,  dass  eine  andere 
Annahme  uns  zu  Widersinnigkeiten  führen  würde.  Und  indem  er 
hierauf  dazu  übergeht,  die  ferneren  Schlüsse  aus  dem  solchergestalt 
Dargelegten  zu  ziehen,  untersucht  er  die  beiden  Möglichkeiten:  der 
Kaum  sei  subjektiv,  oder  er  sei  nicht  subjektiv,  und  zeigt,  dass 
beide  das  nämliche  Resultat  ergeben,  dass  die  Möglichkeit  der  an- 
gewandten Mathematik  nämlich  an  die  Subjektivität  der  Au- 
schaungsformen  gebunden  sei.  Hier  linden  wir  den  Abschluss  der 
langen  Reihe  von  Analysen  und  Antinomien,  durch  die  sich  Kaut 
zu  dem  entscheidenden  Principe  seiner  Erkenntnistheorie  empor- 
arbeitete. 

Die>e>  Prinzip  können  wir.  mit  Benutzung  *U:s  bekannten 
Vergleichs  in  der  Vorrede  zur  zweiten  Auflage  der  „Kritik  der 
reinen  Vernunft"  das  Eopernikanische  Prinzip  nennen.    D 


i;-_>  Harald  Hüffdin. 

selbe  Bprichl  aus,  dass  unsere  Erkenntnis  der  Welt  durch  ein» 

Natur   der    Erkennte  s<  ist,    und  dass  wir.    wenn 

deren  uns    bekannt    sind,    a   priori    entscheiden    können, 

welchen  allgemeinen  Gesetzen  die  Erscheinungen  unterworfen  - 
müssen.    —  Prinzip  offenbarte  Bich  Kant  nicht  sogleich  in 

er  ganzen  Trag«  ch  nicht  r  war.    In 

der  Dissertation  wird  es  nur  auf  die  sinnliche  Anschauung,  nicht 
mit  den  Verstand  angewandt.  Während  dir  sinnliche  Anschauung 
uns    die  Dinge    nur  als  Phaenomena  .    d.  b.  bo,    wi     -      sich 

unserer  Auffassung  darstellten,    die  ihnen  die  Formen  u  zu- 

sammenfassenden Anschauung  verleihe,  solle  der  Verstand  noch  in 
■  •II  reinen  Begriffen  (Substanz,  Ursache,  Möglichkeit,  Wirklich- 
keit, Notwendigkeit  n.  s.  w.)  zur  Erkenntnis  der  Dinge  an  sich. 
Inneren  Wesens  des  Daseins  führen  können.  Nach  Kants  eigner 
Aussage  hatte  es  ihm  lang  •  N  chdenken  gekostet,  den  von  der 
gmatischen  Philosophie  verwischten  Unterschied  zwischen  An- 
schauung und  Verstand  festzustellen.  Kein  Wunder  denn,  dass 
glauben  konnte,  diese  beiden  verschiedenen  Zweige  unseres  Er- 
kenntnisvermögens seien  verschiedenartigen  Bedingungen  unter- 
worfen, so  dass  die  Subjektivität  und  die  Begrenzung  auf  die  Er- 
scheinungen nur  der  Anschauung,  aber  nicht  dem  Verstände  gölten. 
Di.-  ehrwürdige,  von  Piaton  herrührende  Distinktion  zwischen  dem 
Phaenomena  und  den  Noumena,  die  er  nun  auf  eignem  W 
funden  hatte'-'"),  musste  für  ihn  ganz  natürlich  dem  Unterschied 
zwischen  Anschauung  und  Verstand  entsprechen.  Es  liegt  jedoch 
nichts  Neu.-  in  derjenigen  Erkenntnis  der  Noumena,  die  er  noch 
auf  dem  Wege  des  Denkens  für  müidich  ansieht.     Dieselbe  besteht 


Dei   Ausdruck  „intelligible  Welt"   findel  Bich  schon  in  den  „Träumt 
l    T.  2.  Hauptst.),  \\"  er,   offenbar  mit  Hinblick   auf  Leibniz1  Monadenwelt, 
von  der  auf  jen   Substanzen   bestehenden  Well   der  „mystischen   Ph 

sophie"  I        dz   selb  druck   „mundus 

intelligibilis"  \"ii  der  Monadenwelt  (Epistola  ad  Banschium.  Op.  phil.  ed. 
Erdmann  8.  145  C),  oder,  was  auf  dasselbe  herauskommt,  von  der  Welt  der 
ZwecJ  ■        \niin;i(l\.    im   Princip         irtesiana.    Phil.   Sehr.  Gerhardt    [V, 

B.  Erdmann   und  R.  Riedel   wiesen   nach,   \\;i-  durch  d 
!,-  ausführlich   bestätigt    wird,   dass   Kants   intelligible  Welt  die  I 
nizische  Monadenwelt  mit  angemessener  Modifikation  ist 


Kontinuität  im  Entwicklungsgänge  Kants.  I  * : * 

wesentlich  in  dem  aus  dem  „Beweisgrund*  und  älteren  Schriften 
bekannten  Gedanken  von  dem  Einheitsgrunde  des  Daseins  als  oot- 
wendiger  Bedingung  der  gesetzmässigen  Wechselwirkung  der  Natur. 
(Siehe  oben  §4.)  Die  Dissertation  stehl  hierdurch  in  kontinuir- 
licher  Verbindung  mit  Kants  früherem  Gedankengange,  indem  sie 
zugleich  mit  ihrem  Kopernikanischen  Prinzip  auf  die  „Kritik  der 
reinen  Vernunft"  vorwärts  deutet. 

Friedrich  Paulsen,  der  die  Erweckung  in  das  Jahr  1769 
verlegt,  fassl  die  Dissertation  als  eine  durch  Humes  Einfluss  her- 
beigeführte Reaktion  gegen  die  skeptischen  Neigungen  der  vorher- 
gehenden Jahn-  auf.  Ich  glaube,  dass  er  ihr  einen  gar  zu  grossen 
Gegensatz  zu  der  zunächst  vorhergehenden  Periode  beilegt.  Kant 
hatte  niemals  die  Boflhung  auf  ein  abschliessendes  Resultat  auf 
dem  Wege  des  Denkens  aufgegeben,  obschon  deren  Erfüllung  einer 
unbestimmten  Zukunft  überlassen  wurde.  In  der  Schrift,  in  der 
er  sich  am  meisten  als  Skeptiker  zeigt,  hatte  er  seihst  erklärt,  er 
sei  in  die  Metaphysik  verliebt,  und  in  einem  gleichzeitigen  Briefe 
hatte  er  geäussert,  es  komme  nur  darauf  an,  die  Metaphysik  ihres 
uatisehen  Gewandes  zu  entkleiden.  Psychologisch  ist  es  ver- 
ständlich, dass  er  glaubte,  dem  Zieh'  näher  gekommen  zu  sein, 
nachdem  er  den  Unterschied  zwischen  Anschauung  und  Verstand 
und  das  Kopernikanische  Prinzip  in  dessen  Anwendung  auf  die 
Erkenntnis    der    Sinnlichkeit    entdeckt    hat  Einen    Augenblick 

glaubte  er  die  mehrere  Jahre  lang  gesuchte  definitive  Bestimmu 
der  Grenze  gefunden  zu  haben.  Hierzu  kommt,  dass  diejenige  Er- 
kenntnis der  Noumena,  die  Kant  in  diesem  Stadium  für  möglich 
hält,  doch  nur  symbolisch  ist,  indem  es  an  jeglichem  Anschauui 
datum  gebricht.  Wie  streng  Kant  auch  zwischen  Anschauung  und 
Verstand  sondert,  so  schärfl  er  doch  schon  jetzt  ein  (Diss.  §  10), 
äs  aller  Stoff  unserer  Erkenntnis  durch  die  Sinnlichkeit  aufge- 
nommen werde.  Und  die  Verstandesbegriffe  nicht  minder  als  die 
Anschauungsformen  werden  als  Ausdruck  der  Natur  der  erkennen- 
den Geistesthätigkeil  aufgefassl  (Ibid.  §8).  Dies  ist  vielmehr  eine 
Begrenzung  als  eine  Erweiterung  des  ooumenalen   Wissens. 

26.     Was    Kant    uoch    fehlte,    um    seinen   definitiven   Stand- 
punkt zu  erreichen,   war  die    Durchführung    des  Kopernikanischen 


IT  |  Harald  II    ffdin 

Prinzips  Lnbetreff  allei  \  »raussetzungen  unserer  Erkenntnis 

nnd  somit  die  Erweiterung  des  Phänomenalismus  bis  zur  Gültigkeil 
für    all  schaftliche    Erkennte  Daseins.      Es    könnte 

ü.  als  wäre  er  dem  Ziele  nicht  mehr  fern,  nachdem  der  erste 
Schi  ja   am   meisten  zu   kosten   pflegt,    !         a  durch  die 

Grund!  der  kritischen  Lehre  vom  Räume  und  von   der  Zeil 

tan    war.     Es   kostete   Kant    indes    eine   elfjährige   Arbeit,    den 
ritt    vollends   zu   machen.      Ein    Beweis    dei  in  Gewissen- 

haftigkeit des  Forschers,  und  zugleich  ein  Zeugnis,  wie  höchst  ver- 
schieden sich  die  Sache  dem  mitten  in  den  Problemen  steckenden 
Denker  mnl  dem  zurückschauenden  Historiker  stellt!  Schon  aus 
praktischen  Gründen  isl  rständlich,  dass   Kant   sich   sträubte, 

die    Erkenntnis  definith    von   dem  Dinge  an    sich  auszuschliesf 
Die  Durchführung  des  Phänomenalismus  wurde   ihm   erst   möglich, 
als  ithische  Theorie  sich  bo     ntwickell  hatti        js  er  in  dem 

ethischen  Grundfaktum  eine  Möglichkeit  erblickte,  diejenige  Well 
zu  betreten,  die  nun  der  theoretischen  Erkenntnis  abgesperrt  wurde. 
Das  „Unbedingte",  das  er  nicht  mehr  durch  die  Erkenntnis  um- 
fassen konnte,  musste  er  jetzl  im  Glauben  unterbringen;  nun  erst 
sah  er  seine  Aufgabe  als  gelöst  an,  indem  er  „praktische  Data" 
eine.-  Begriffes  gefunden  habe,  den  er  nicht  aufgeben  könne,  dessen 
theoretische  Data  er  aber  aufgelöst  habe87).  Die  Hauptschwierig- 
keit war  indes,  wie  aus  den  „Reflexionen0  zu  ersehen,  ein«  tl 
retische.  Es  handelte  sieh  ja  darum,  ••inen  Gesichtspunkt  der 
Verstandesthätigkeit  zu  linden,  mittels  dessen  auch  für  diese  gültig 
werden  könnte,  was  rücksichtlich  der  sinnlichen  Anschauung  nach- 
gewiesen war,  trotz  des  in  der  Dissertation  so  stark  hervorgehobenen 
(Jnterschiei 

Dennoch    entstand    die  eigentliche  Kantische   Philosophie  mit 
der    Dissertation,      -     fasste    Kant    Belbst   es  auf.    als  er   (in  den 
Briefen  an  Garve  und   Mendelssohn)    die  ..Kritik  der  reinen  7er 
iiiinlt1'    für  das  Produkl   einer  zwölfjährigen  Arbeit  erklärte,    und 

•    „Kritil  aen  Vernunft"   2.   \ut1.  s.  \ IX     XXII, 

praktischen  Data*  als  Verifikation  des   „Kopernikanischcn  Prinzips" 

Gravitatioi  v      Bkation    der 


Kontinuität  im  Entwicklung  Kants.  175 

als  er  das  Jahr  1770  zur  Grenze  der  Schriften  machte,  die  er 
wieder  gedruckt  zu  sehen  wünschte.  (Siehe  oben  §  1.)  Ich  ver- 
mag nicht  zu  sehen,  dass  die  von  Benno  Erdmann  aufgestellte 
Behauptung,  die  Erweckung  habe  erel  gegen  Mitte  der  siebz 
Jahre  stattgefunden,  hiermil  vereinbar  ist.  In  diesen  Jahren  kam 
es  ja  auf  die  Durchführung  eines  schon  gefundenen  Prinzipes  an, 
eines  Prinzipes,  das  an  und  für  sieh  einen  Bruch  mit  dem  Dog- 
matismus voraussetzt.  Kant  kann,  als  er  1783  die  bekannten 
Zeilen  der  Vorrede  zu  <hn\  Prolegomena  schrieb,  die  dm  Kant- 
'forschern  so  viel  Kopfzerbrechen  verursachen  sollten,  denjenigen 
Zeitraum  nicht  in  zwei  scharf  gesonderte  Teile  Italien  teilen  wollen, 
den  er  sonsl  als  eine  Ganzheil  betrachtete.  Die  definitive  Sperrung 
des  Zutritts  zu  den  Dingen  an  sich  ist  allerdings  eine  epoche- 
machende Begebenheit.  Der  Ausdruck  „Erweckung"  passl  aber 
nicht  für  diese,  wogegen  derselbe  sehr  wohl  für  eine  Aenderung 
der  Forschungsweise  passt,  die  jene  Sperrung  als  letztes  Ergebnis 
herbeiführte. 

27.  In  der  Dissertation  wird  unterschieden  zwischen  einem 
blos  logischen  Gebrauch  des  Verstandes,  der  in  Vergleichung, 
Nachweisung  der  Identität  und  der  Verschiedenheit  bestehe,  und 
einem  realen  Gebrauch,  der  nicht  näher  charakterisiert  wird,  der  aber 
absolute  Gültigkeit,  nicht  nur  Gültigkeit  für  die  Erscheinungen  besitze, 
während  der  logische  Gebrauch  nur  zur  Anordnung  der  Dinge  diene. 
Die  zwischen  der  Dissertation  und  der  ..Kritik  der  reinen  Vernunft" 
liegende  Denkarbeit  geht  auf  eine  nähere  Untersuchung  ans.  wie 
ich  mit  diesem  „realen  Gebrauch"28)  verhalte.  Das  Problem 
stellte  sich  (wie  aus  Kants  Briefen  an  Lambert  und  Hertz  zu  er- 
sehen) sogleich  nach  dem  Erscheinen  der  Dissertation  ein.  Wenn 
die  Verstandesbegriffe  oder  „intellektualen  Vorstellungen",  deren 
wir  uns  bedienten,  um  auf  dein  Wege  des  Denkens  in  das  Wesen 
der  Dinge  einzudringen,  die  Thätigkeitsart  unseres  Geistes  aus- 
drücken, wie  lass  sich  dann  darthun,  dass  sie  Gültigkeil  für 
das  Dasein  selbst  besitzen?     "der  wie  es  im  Briefe  an  Hertz  \ 


Ausdruck    „realei    Gebrauch    «Irr  Vernunft",    als 
blos  ler  „Kritik  dei  rein»  i   Vernunft" 

vor,  jedenfalls  in  der  Dialektik  (2.  Aufl. 


176  Harald  Höffdin 

21.  Februar  1772  li-  Wenn  solche  intellektuale  Vorstellungen 

[in  der  1'  Q  genannt:   di  iffe  Möglichkeit,  Wirk- 

lichkeit,   Nota  Substanz,    Ursache]    auf   unsrer    innern 

Thätigkeit  beruhen,  woher  kommt   die  I  instimmung,   die 

mii  ständen  haben  sollen,  <li<-  doch  dadurch  nicht  etwa  hervor- 

rachl  werden,  und  d  imata  der  reinen  Vernunft  über  di  • 

jenstände,  woher  stimmen  sie  mit  diesen  überein,  ohne  dass 

instimmung  von  der  Erfahrung  hat  dürfen  Bilfe  entlehnen?" 
Zmn  Leitfaden  dieser  Untersuchung  hatte  Kant  die  Entdeckung 
in   der  Dissertation.     Es   könne,   was  die   mathematischen   Grund- 
verhältnisse betreffe,    ein    apriorisches  Wissen  von   der  sinnlichen 

•  ■li.  weil  die  mathematischen  Grundbegriffe  'li.-  G 
der  synthetischen  Konstruktion  ausdrückten,  die  sich  in  jeder  sinn- 
lichen Anschauung  an  den  Ti  s  Nun  ist  es  klar,  dass  der 
reale  Gebrauch  des  Verstau  Kant  seine  früher  so  kräftig 
verteidigte  Auffassung  des  Denkens  als  einer  Analyse  behaupte 
als  Rätsel  dastehen  musste.  Es  führte  Kant  einen  grossen  Schritt 
vorwärts,  als  er  so  entschieden  einschärfte,  alles  Urteilen  sei  Ver- 
gleichen. („Ueber  die  falsche  Spitzfindigkeit.")  Nun  kam  es  dar- 
an, eine  tiefer  gehende  Auffassung  der  Verstandesthätigkeit  zu 

rinnen,  so  da>>  diese  sich  in  Uebereinstimmung  mit  «Irr  sinn- 
lichen Anschauung  finden  könnte.  Den  Verstand  geradezu  als  eine 
Anschauung  zu  betrachten,  würde  zur  .Mystik  rühren.  Welcher 
Ausweg  war  hier  zu  finden? 

An-  den  „Reflexionen"  und  den  „Losen  Blättern"  kann  man 
sehen,  wie  unermüdlich  Kant  die  verschiedenen  Grundbegriffe  be- 
arbeitete, die  den  Inli.'ilt  der  älteren  Ontologie  ausmachten,  bis  er 
dies  nannte  Wissenschaft  dahin   änderte,    dass  sie  die  „Ana- 

lytik des  Verstandes"  wurde.     Allerersl  galt   es,   dieselben  aui 
wisse   Hauptbegriffe   zurückzuführen,    um   darauf   in   letzteren   den 

sdruck  bestimmter  Arten  i\r\-  Verstandesthätigkeit  zu  ßnden. 
Schon  in  dem  genannten  Briefe  an  Hertz  erwähnt  er  seines  Stre- 
bens,  „alle  Begriffe  der  gänzlich  reinen  Vernunfl  in  eine  - 
Zahl  von  Kategorien  zu  bringen,  wir  sie  sich  seilet  durch  einige 
wenige  Grundgesetze  des  Verstandes  von  selbsl  in  Klassen  ein- 
teilen".    Zwei  Wege  waren   liier  einzuschlagen.     Man  konnte  von 


Kontinuität  im  Entwicklungsgänge  Kam-.  1  <  ( 

einer  Analyse  derjenigen  Grundbegriffe  ausgehen,  mit  denen  der 
Verstand  operiert,  am  die  Gesetze  der  Thätigkeit  des  Verstandes 
zu  finden,  oder  auch  konnte  man  suchen,  die  Gesetze  der  Thätig- 
keü des  Verstandes  direkt  zu  bestimmen,  um  hieraus  wieder  zu 
finden,  welche  Hauptarten  der  Grundbegriffe  der  Verstand  seiner 
Natur  gemäss  auf  den  gegebenen  Stoff  anwendet.  Kant  scheinl 
beide  Wege  benutzt  zu  haben. 

Erst  hat  er  sich  mit  verschiedenen  Zusammenstellungen  und 
Einteilungen  der  „ontologischen"  Begriffe  vorgefühlt.  Er  verweilte 
z.  B.  bei  den  Begriffen  Vergleichung,  Verbindung  und  Beziehung 
(oder  Zusammenhang),  und  besonders  untersuchte  er  die  Begriffe 
Verbindung  und  Vergleichung  und  fand,  dass  durch  alle  beide 
< 'Iterationen,  die  sie  ausdrückten,  eine  Einheit  zuwegegebracht  oder 
festgestellt  würde:  „Alle  Einheit  ist  entweder  der  Vergleichung 
oder  der  Verknüpfung.  Die  erste  ist.  sofern  etwas  mit  viel  an- 
derem einerlei  ist:  die  zweite,  insofern  viel  in  einem  Grunde  ver- 
bunden sind-'1)."  Er  untersuchte  die  Begriffe  Substanz,  Ursache 
und  Wechselwirkung,  die  ihn  offenbar  besonders  interessierten 
Und  auch  hier  war  es  der  Begriff  einer  durch  tue  Denkform  l>c- 
wirkten  Einheit  des  Vielfältigen,  den  er  vorzüglich  beachtete:  „Der 
Begriff  Substanz  und  Accidenz  gibt  an  sich  selbst  eine  Synthesis, 
ungleichen  Ursache  und  Wirkung,  und  Menge  in  einer  realen  Ein- 
heit [Wechselwirkung].  Nun  muss  die  Natur  nach  den  verschie- 
denen Verhältnissen  auf  den  innern  Sinn  durchaus  unter  einer 
dieser  Syntheses  stehen30)."  Den  Begriff  Synthese  scheint  er  an- 
fangs nur  auf  diese  drei  Verhältnisse  angewandt  zu  haben,  die  er 
früher  unter  dem  Ausdruck  „Relation"  sammelte.  So  heisst  es  in 
einer  Aufzeichnung,  die  der  Entstehung  der  eigentlichen  Kategorien- 
lehre vorausgeht:  „Nur  von  der  Relation  gelten  objektiv  synthe- 
tische  Sätze    der    Erscheinung31)."     Es   kann    uns    (nach    dem    im 

-'9)  Reflexionen  Kants.  II.  S.  L43  (No.  461).  Vgl.  S.  164   ;No.  525  u.  f.). 

*>)  Lose  Blätter.    I.  S.  18  u.  f.    Vgl.    Reflexionen   Kants.    II.    S.  174  —  181 
N  i.  562—587). 

31)  Lose  Blätter.  I.  S.  17.  —  Den   Ausdruck  „Relation"    hal  Kau: 
der  Aristotelisches  Kategorientabelle  entlehnt.     Bi  gebrauchte  denselben  mit 
Bezug  auf  die  obengenannte  K  ihn  zur  Bezeichnung 

einer  Klasse  von  urteilen  anwandte,    siehe  hierüber  Adickes:  Kaut-  Syste- 


1 .  -  " 

d    Kapitel  Abhandlung   Entwickelten)    nicht    «rundern, 

mtlicb  diese  Klasse  der  K  i  Kant  g,  den 

grifl   d      8  auf   die   Verstandest!]  il    auszudehnen    und 

lil    zugleich    zu    entdecken,  das   Kopernikanische   Prinzip 

auch  für  diese  gelten  müsse.  -     Schon  im  An:  D      rtation 

hatte  er  es  als  "•'nun  gemeinsamen  Gesichtspunkt  aller  unserer  Er- 
kenntnis   angedeutet,    dass    diese   teils  auf  »enen  Elementen 
ein  Ganzes  bilde,  teils  Totalitäten  in  ihre  Elemente  auflöse.    II 
durch  entstanden  zwei  Grenzbegriffe:  <la>  absolul  Einfache  (simplei 
b.  pars  quae  oon  est  totum)  und  >la~  Weltganz*     mundus  s.  totum 
quod  oon  est  pars]     Es  wurdi           tuf  die  beiden  jen  Grund- 
operatiom              Synthes«    and   die  Analyse   hingewiesen,    an 
musste  nun  die  Fraj          stehen,   welche  derselben  die  primitiv 
Im  dei    Dissertation  wurde  nun  rucksichtlich  der  Anschauung 
eilt,   dass  sie  auf  Synthese  beruhe.     Der  grosse  Fortschritt, 
den  Kant  während  der  siebziger  Jahre  in  der  Psychologie  der 
kenntnis  machte,    war  nun  die  Entdeckung,    dass   nicht   nur  ;ille» 
whauen,  sondern  auch  alles  Denken  in  Synthese  bestehe,  wenn 
man  aui   die  Grundform  der  Denkthätigkeit  zurückgehe,   und   d 
die  Analyse   im  Verhältnis  zu  dieser   stets  sekundär  sei,    da   man 
nur    das    bereits  Verbundene    auflösen    könne.     Es    leuchtete    Kant 
nun  ein,  dass  nicht  nur  die  Anordnung  in  Raum  und  Zeit,   son- 
dern  auch   die   innere  Verbindung   der  Erscheinungen,    die   uns 
Erkenntnis  zuwegebringe,   von  einer  „Verkettung"   der  Vorstellun- 

herrühre,    vom   einer    inneren   Bewusstseinshandlung,    die    aus 
den  gegebenen   Elementen  ersl  ein    wirkliches  Ganze   herausbrii 
Ohne  solche  Bewusstseinshandlung  keine  Erfahrung;  also  müi 
Allgemeingültigkeit  besitzen 

matik  al  inbildender  Faktor.   Berlin   188*3    -  —  Vielleicht  wurde 

er  durch  den  Begriff  dei   Relation  dahin   geleitet,  lufmerksamkeil  auf 

,u  richten.     Vgl.  Reflex    N>  Vernunft  enthalt  nichts 

Relation  i  N       i9l      „Die   Kati  g  orie    des    Verhältnisse 

Einheit  des  B  I  die  vornehmste  untei  allen.     Denn 

Einh  lil  betrifft  eigentlich  uui  das  Verhältnis,    also  macht  di< 
den  Inhalt  ile  üb  erb.au  .  und  lasstsich  allein  apriori 

1  im  ml    <l>-  D 

i        Blattei    i 


Kontinuität  im  Entwicklung  Kants.  1 79 

Das  Kopernikanische  Prinzip  stand  also,  soweit  ersichtlich,  in 
seiner  vollen  Tragweite  für  Kanl  fest,  sobald  er  durch  Unter- 
suchung der  Kategorien  die  Synthese  als  gemeinsame  Bestimmung 
aller  Erkenntnisthätigkeil  gefunden  hatte,  unser  Geist,  unser  Ich 
stand  ihm  daher  als  Urbild  oder  Vorbild  aller  zu  erkennenden 
Objekte  da.    (Siehe  oben  §5  Schl'uss;   12;   15.) 

Die  Untersuchung   der  gangbaren  ontologischen   Grundbegriffe 
und    die    Nachweisung    ihres    Ursprungs    aus    einer    synthetischen 
Geistesthätigkeil  war  indes  nicht  ausschliesslich  der  Weg,  auf  wel- 
chem  Kant   zu    seiner  Kategorienlehre  gelangte.     Diese    war    ihm 
nur  eine  vorläufige  Methode,  die  ihn  nicht  befriedigte,  weil  sie  zu 
empirisch    war.     Sic   enthielt    keine   Garantie,    dass    alle   Grund- 
begriffe gefunden   seien,     und   für  Kant    war  es  eine   Hauptsache, 
dass  die  Grenzen  der  Erkenntnis  sieh  a  priori,    nach  vollständig 
Untersuchung  aller  Grundformen  der  Erkenntnis  abstecken  liessen. 
Dies  glaubte  er  dadurch   erreichen  zu   können,    dass  er  die  hehre 
von  den  Urteilen   zu  Grunde  legte,    so  dass  jeder  besonderen  Art 
der  Urteile  eine  gewisse  bestimmte  Kategorie  entspräche.     Ehe   er 
aber  diesen  Weg  einschlug,  der  ihn  bekanntlich  bewog,  seine  Dar- 
stellung  mit  einem  grossen   scholastischen  Gerüste  zu   beschweren, 
stand    ihm   die  allgemeine  Idee    von  der  Verstandesthätigkeit    als 
einer  Synthese   offenbar   klar  vor  Augen.     Dies  ist   aus   den   oben 
.  'führten  Citaten  der  „Losen  Blätter"  zu  ersehen,    wie  es   auch 
durch  die  „Reflexionen"  dargethan  wird.    So  wenn  es  heisst  (Reflex. 
\  o.  600):  „Die  Einheit  des  Bewusstseins  des  Mannigfaltigen  in  der 
Vorstellung  eines  Objekts  überhaupt  ist  das  Urteil.    Die  Vorstellung 
eines  Objekts  überhaupt,  insofern  es  in  Ansehung  dieser  objektiven 
Einheit  des  Bewusstseins  bestimmt  ist.   ist   Kategorie."     Hier   liegt 
der  Begriff   der  Synthese    der  Definition    des   Urteils    zu   Grunde. 
Dieser   musste   als  Grundbegriff  gefunden   sein,    bevor  es  sich    er- 
blicken   liess,    dass    alles   Urteilen    unter    ihn   gehörte.     Die   Dar- 
stellung   in    der  „Kritik    ihr    reinen  Vernunft"    bezeugl    dasselbe. 
lli.i-  wird  der  Verstand  zuersl  als  die  Fähigkeil   bestimmt,  mittels 
der  Begriffe  zu  erkennen.     Eine  Erkenntnis  durch  Begriffe  sei 
km  jetze  also  eine  geistige  Funktion  voraus,    und  eine  Funk- 

fcion -ei  zu  verstehen  als  „die  Einheil  der  Handlung,  verschiedi 


130  Bara 

Illingen  anter  einer  gemeinschaftlichen  /.u  ordnen0  [vgl.  die 
vis  ooordinandi  d  Dissertation].  Von  seinen  Begriffen  könne  nun 
der  \     stand  keinen  an  Gebrauch  machen]  als  dass  er  urteile, 

d.  Ii.  die  Vorstellung  eines  Gegenstandes  durch  eine  ändert    \ 
lung  bestimm^;  nur  «Ii«'  Anschauung  gehe  unmittelbar  auf  den 
•and.     Die   Funktionen    des  Verstandes    könnten    insgesamt 
inden  werden,   «renn  die  verschiedenen  Arten,   wie  in  den  Ur- 
teilen die  Einheil  verschieden«     \     Stellung  Irückl   würde, 
dargestellt   werden  könnten").     Und  dies  glaubt   Kam   nun   durch 
eine  verbesserte  Ausgabe  der  gangbaren   logischen  Lehre   von 

teilen  bewerkstelligen  zu  können'4).  Hierauf  werde  ich  mich 
nicht  näher  einlassen.  So  bedeutend  Kants  allgemeiner  Gedanke 
von  der  Verstandesthätigkeit  als  einem  Urteilen  und  von  dein  Ur- 
teile als  einer  Synthese  ist,  so  willkürlich  ist  die  Anwendung  im 
einzelnen,  obgleich  sich  auch  hier  sein  grosses  Genie  in  vielen 
wertvollen  Gedanken  zeigt,  die  er  in  dem  scholastischen  Rahmen 
anbringt.  Bätte  Kant,  statl  auf  die  Deduktion  eines  vollständigen 
Systems  von  Kategorien  und  Grundsätzen  so  grosses  Gewicht  zu 
legen,  sieh  an  den  allgemeinen  Gedanken  gehalten,  dass  die  L< 
sehen  Grundsätze,  welche  die  formelle  Gültigkeil  der  Urteile  be- 
dingen, auch  für  alle  Erfahrung,  für  allen  Zusammenhang  der  Er- 
scheinungen, die  sich  uns  darstellen  sollen,  gültig  sein  müssen, 
hätte  er  viele  Unklarheit  und  Willkür  vermieden,  und  die  trans- 
cendentale  Analytik  als  die  Lehre  von  der  Möglichkeil  der  an- 
wandten Logik  würde  dann  der  „transcendentalen  Aesthetik" 
als  der  Lehre  von  der  Möglichkeit  der  angewandten  Mathe- 
matik lehrreich  zur  Seite  gestellt  sein. 

28.     Die  „subjektive  Deduktion"  (d.  h.  die  auf  psychologische 
Analyse  gestützte  Ableitung  der  Natur  des  Erkenntnisvermögens  . 
mittels  deren  es  Kant  gelang,  die  Synthese  als  Grundform  der  Er 
kenntnis  zu  bestimmen  und  eine  Uebersichl  der  speziellen  Formen 
zu  geben,    unter  denen  sich  diese  an  den  Tag  legt,    war  für  ihn 

Kritik  d.  r.  Vera.    1.  \utl.  S.  67—69    Von  dem  logischen  Vei     i 

Wie  Kant  das  System  dei   Urteile  zu   seinem   „transcendentalen*  Qi 
iche  ändert  in    adickes:   Kants  Systematik  U. 


Kontinuität  im  Entwicklungsgange  Kants.  |-*1 

jedoch  nicht  die  Hauptsache.  Seine  Hauptaufgabe  war  im  Gegen- 
teil die  objektive  oder  transcendentale  Deduktion,  der  Nachweis 
der  Gültigkeil  und  der  Grenzen  der  Vernunfterkenntnis.  Hier 
bildet  die  analytische  Untersuchung  der  Formen  nur  die  Einleitung 
und  die  Grundlage.  Es  war.  wie  er  an  Garve  schreibt  (T.  Augusl 
1783),  seine  Aufgabe,  „eine  ganz  neue  und  bisher  unversuchte 
Wissenschaft"  zu  gründen,  „nämlich  die  Kritik  einer  a  priori  ur- 
teilenden Vernunft",  die  „aus  dein  blossen  Begriffe  eines  Erkennt- 
uisvermögens  (wenn  er  genau  bestimmt  sei)  auch  alle  Gegenstände, 
alles,  was  man  von  ihnen  wissen  könne,  ja  selbst,  was  mau  über 
sie  auch  unwillkürlich,  obzwar  trüglich  zu  urteilen  genötigt  sein 
würde,  a  priori  entwickeln  könnte".  Mit  Recht  beklagt  er  sich, 
dass  er  an  diesem  Punkte  bei  der  ersten  Beurteilung  seines  Haupt- 
werkes so  gröblich  missverstanden  sei,  und  dies  hatte  zur  Folge, 
dass  die  psychologische  Analyse  in  seinen  späteren  Darstellungen 
mehr  in  den  Hintergrund  trat.  (Siehe  oben  §  13.)  Das  An- 
ziehende der  ersten  Aullage  der  „Kritik  der  reinen  Vernunft"  be- 
steht gerade  in  der  Frische  und  Ausführlichkeit,  womit  der  Begriff 
der  Synthese  in  seiner  Bedeutung  für  die  Funktionen  der  Erkennt- 
nis, von  der  sinnlichen  Anschauung  an  bis  zu  dem  höchsten  Denk- 
akt, dargestellt  wird.  Es  ist  die  Frage,  ob  nicht  diese  in  der 
2.  Autlage  bedeutend  verkürzte  Darstellung  dasjenige  ist,  was  in 
Kants  Lehre  am  tiefsten  liegt  und  den  anhaltendsten  Wert  besitzt. 
Wie  so  oft  ist  es  nicht  der  bewusste  Hauptzweck,  sondern  die 
untergeordneten  Zwecke,  deren  Verfolgung  zur  Erreichung  des 
enteren  notwendig  war,  die  das  bedeutendste  Ergebnis  herbei- 
führten. 

Die  Bedeutung  des  Kantischen  Synthesebegritls  ist  erstens  die, 
dass  Kant  uns  hierdurch  zeigt,  was  damit  gemeint  ist,  ein 
Ding  zu  verstehen.  Seine  Erkenntnislehre  stützt  sieh  auf  den 
einlachen  Gedanken,  dass  „etwas  verstehen"  soviel  ist  als  es  in 
möglichsl  engem  Zusammenhange  mit  allem  anderen  uns  Bekann- 
ten erblicken.  Eine  verbindende  Geistesthätigkeit  muss  sich  bei 
aller  Erkenntnis  geltend  machen;  nur  wenn  wir  eine  solche  an- 
wenden können,  haben  wir  uns  den  gegebenen  Stoff  angeeignel 
und   fühlen    wir  die  eigentümliche   Befriedigung,    die    damit    ver- 

Arcln\    i  hie       VII,  . '.  1 


182  Harald  Höffdin 

bunden    ist,    dass  einem  Bedürfnisse  abgeholfen    wird.     Was    wir 
nicht    verstehen,    das    isl    das   [solierte    und    Zusammenhangs] 

türlich  L:il>t  es  viele  Grade  zwischen  den  beiden  äussersten 
Punkten:  dem  \  retehen  und  dem  Nicht-verstehen,  «lein  Zusammen- 
hang und  der  Zusammenhangslosigkeit,  und,  wie  wir  oben  (§  ll 
und  15)  sahen,  beging  Kant  den  Fehler,  diese  Unterschiede  des 
Grades  nichl  zu  beachten.  l>a-  isl  aber  Bein  Verdienst,  dass  er 
der  erste  war.  der  das  Problem  der  Erkenntnis  auf  diese  einfache 
Weise  betrachtete.  Es  isl  ein  Ei  des  Kolumbus,  das  er  fand  und 
auf  die  Spitze  stellte.  Merkwürdigerweise  hatte  II  nun-  da--. 'ihr 
Ei  gefunden,  li<  h  aber  entrollen.  In  seiner  „Treatise" 
(welche  Kant  nicht  kannte),  kam  llun.  otlich  zu  demselben 
Grundbegriffe,  den  Kant  in  der  ..Kritik  der  reinen  Vernunft" 
reichte.  Hier  führte  Hume  nämlich  das  Problem  der  Erkenntnis 
von  den  speziellen  Problemen  (vorzüglich  dem  Problem  von  der 
realen  Gültigkeit  der  Geometrie  und  von  dem  Kausalverhältiw 
aui  diejenige  Grundschwierigkeit  zurück,  die  für  ihn  -  wegen  der 
atomistischen  Psychologie,  von  welcher  er  ausging  in  der  Ver- 
bindung der  Vorstellungen  überhaupl  lag.  Das  Rätsel  lag 
ihm  schliesslich  in  dem  Einheitsprinzipe  (the  uniting  principL 
Kaui  zeigt  nun.  dass  der  Unterschied  zwischen  dem  Verständlichen 
und  dem  Rätselhaften  darauf  beruht,  ob  das  Zusammenfassen  in 
kontinuierlichem  Zusammenhange  stattfinden  kann,  oder  ob  eine 
solche  Funktion  nicht  möglich  Ist.  Die  verbindende  Funktion  kann 
man  min  offenbar  nur  dann  rätselhaft  linden,  wenn  man  entweder 
davon  ausgeht,  dass  das  Zusammenhangslose  das  Verständliche 
wäre,  "dm-  wenn  man  nach  dem  grösseren  Zusammenhang  fragt, 
durch  welchen  unsere  zusammenfassende  Funktion  wieder  bedingt 
ist.  Ersterer  Weg  führt  ins  Sinnlose;  letzterer  führt  zur  Auf- 
stellung des  äussersten  Problems,  das  die  Erkenntnistheorie  und 
die  Psychologie  überall  finden  können,  und  das  deren  Grenzen  be- 
zeichnet: das  Problem  nämlich  v lern  Ursprünge  der  Erkenntnis 

selbst  oder  des  Bewusstseins  überhaupt  im  Universum.    Der  Gedanke 


of  hun  I.  :;.  1 1    (ed.  Selbj  Oxford    If 

S.  LI  -    I.  Appendix,  (ibid. 


Kontinuität  im  Entwicklung  Kants  183 

ist  sein  eignes  letztes  Problem").  —  Es  wäre  sicherlich  von  grosser 
Bedeutung  für  Kants  Entwicklung  gewesen,  hätte  er  in  einem  früh- 
zeitigen Stadium  seiner  Laufbahn  mit  Humes  Hauptwerke  Be- 
kanntschaft  gemacht.  Her  Zusammenstoss  der  beiden  grossen  Den 
ker  würde  dann  eine  noch  mehr  zentrale  Frage  betroffen  haben, 
und  Kant  wäre  vielleicht  bewogen  worden,  dir  psychologische 
Grundlage  seiner  Erkenntnistheorie  vollständig  durchzuarbeiten, 
während  er  sich  anderseits  eine  weitläufige  scholastische  Midie 
hätte  sparen  können.  Das  Ei  wäre  früher  und  leichter  auf  dir 
Spitze  gestellt  werden.  Es  war  eine  für  die  folgende  Geschichte 
der  Philosophie  unheilvolle  Handlung,  die  Hume  beging,  als  er. 
missvergnügt  über  das  geringe  litterarische  Glück,  das  sein  Jugend- 
werk machte,  und  verdrießlich  über  die  ungeziemenden  Angriffe, 
denen  es  von  theologischer  Seite  ausgesetzt  wurde,  dieses  gro 
artige  Werk  verleugnete37). 

Während  Kant  mittels  seiner  beharrlichen  Denkarbeit  einen 
Grundbegriff  fand,  der  ihn  über  die  atomistische  Psychologie,  die 
dem  Empirismus  zu  Grunde  lag,  hinaus  führen  konnte,  hatte  er  mit 
Hilfe  desselben  Grundbegriffes  eine  Auffassung  vom  Wesen  des 
Geistes  erreicht,  die  ihn  über  die  erschlichenen  Begriffe  des  spiri- 
tualistischen  Dogmatismus  hinaus  führte  (vgl.  oben  §  8).  Gegen 
den  Empirismus,  der  die  Einheit  des  Geistes  mir  als  ein  Resultat 
der  vielfachen  Eindrücke  betrachten  wollte,  behauptet  er  die  ein- 
heitliche Thätigkeit  als  das  Grundgepräge  des  geistigen  Lebens. 
das  sich  nicht  durch  äusseren  Einfluss  allein  erklären  lasse;  gegen 
den  Spiritualismus,  der  dieses  Grundgepräge  zwar  erblickt,  es  aber 


36)  Vgl.  meine  Psychologie.  2.  Ausg.  S.  487. 

")  Eduard    Grimm   (Zur  Geschichte    des   Erkenntnisproblems.     Leipzig 
1891  M    siehl  in  diesei   Verleugnung  ein  Eingeständnis  des   Einseitigen 

„im  Treatise"  von  seiten  Humes      Dass  das  Biotin  abei  entschieden  das  oben 
führte   war.    is1   deutlich   zu    ersehen    teils  aus   Humes    Selbstbiographie, 
•    aus    dem    Briefe,   in   welchem    Hume   seinen  Verleger   ersuchte,    die   Er- 
klärung, durch  die  er  den  „Treatise"  verleugnete,  der  „Inquiry"  als  Bei 
mitfolgen   zu   lassen.      Letters   ol   David    Hume   to  William  Straban.      Edited 
i.y  c.  Birkbeck  Hill.  Oxforl   1888.  S.  288 u.f.        Aus   letztgenanntem  Grunde 
Hume    auch   die    „Dialoge"   Dicht    vor    seinem   Tode    erscheinen.      Ibid. 
• 

.;i 


JM  Bara 

b  auf  eine  mystische  Substanz  hinter  dem  Bewusstsein 
zurückführen  will,  behaupte!  er  (in  seiner  Kritik  der  rationalen 
1  '->  <  li  man  habe   nicht   das  riecht,    von   der  Funktion  auf 

die  Substanz  zu  schliessen,    und  ein  solcher  Schluss   könne  jeden- 
falls   nicht    zu    wirklicher   Erkenntnis  fuhren  ').     Kam-  Synth 
begriff  druckt    die  Grundform  und    das  Grundgesetz    des    geistigen 
Lebens   aus,    so    weil    wir   dieses   auf  dem  W  ler  Erfahrung 

kennen  lernen.     Er  hat  der  Psychologie  hierdurch  einen  wichtigen 
Gesichtspunkt  gegeben,  einen   Massstab  für  die  Schätzung  der  Ent- 
wickelung  des  geistigen  Lebens,         und  zugleich  einige  ihrer  wich- 
sten  Probleme,    denn   die    geistige   Einheil   wird    ofl   durch    die 
Mannigfaltigkeil   und  den  Widerspruch  der  Elemente  bedroht    B» 
-  uders  interessant  i-t  es,   zu  sehen,   wie  hoch  Kant  wegen  dj 
Begriffes   über  die  Zeit   der  Aufklärung   emporragt,    die  das    klar 
Bewusste    und    das    in    Gemässheit    des    Verstandes    Durchschaute 
hervorhob.     Denn   die  Synthese   liegl   allerdings   dem    Bewusstsein 
zu  Grunde,    wird   aber    nicht   notwendigerweise    vom    Bewusstsein 
selbst    bemerkt.     Sie   ist   die    unablässige  Bedingung   des  Bewu 
seins,  nicht  aber  mit  Notwendigkeil  Gegenstand.     Sie  wirkt 

blind,    instinktmässig    in    unserm    Inneren.      Wenn    Kant    in    der 
..Kritik  der  Urteilskraft"  (§  tu,  das  Genie  definiert  als  ..die  an. 
borne  Gemutsanlage  (ingenium),  durch  welche  die  Natur  der  Kunst 
die   Regel   gibt",    so    ist    dies    nur  eine  spezielle   Anwendung   von 
Etwas,  das  allem  Bewusstseinsleben   gilt.     Es  gibt,   wenn   man  s 
will,   in  jedem  bewussten   Wesen   etwa-  Geniales,    nur  dass  die* 
in  denen,  welche  vorzüglich  Genies  genannl  zu  werden  verdienen. 


unter  den  dogmatischen  Philosophen  komml  Leibniz  dem  Begriffe 
these  am  nächsten,  z.  li.  wenn  er  (Monadologie  §  II;  'li'-  ,perception"  so 
definiert:    l'ltal    passager    qui    enveloppe    ei               nte    iine   multitude  dans 
1  uiiin-  ou    dans    la    Bubstance    simple.   —    Leibniz   machte  den   Cartesianern 
den  Vorwurf,    sie   definierten    nicht,   was  sie   unter  „Denken*  [dem  B 
Bein             inden.                       q<     Definition    war:    das    Bewusstsein    ist 
iii    •           !  inheil    ausgedrückte    Vielfachheit.        Thilos.    Sehr,    berausg.   von 
;  n  n    VII.  S   551        .1                    Mi   des   nun.'-    el   les  Corps   des   mul- 
titudes,   mais   les  mm.  >   ne  laissenl  de  re]             i   les  multitudes  ,  . 
dans   cette   rdunion  qui    consiste   la  nature  admirable  du  senti nt. 


Kontinuitäl  im  Entwicklungsgänge  Kar  185 

in  höchster  Potenz  auftritt.  —  Das  Unmittelbare  und  unwillkür- 
liche des  geistigen  Lebens  wird  also  von  der  Kantischen  Auffassung 
in  seinem  Rechte  und  seiner  Bedeutung  als  beständiger  Grundlage 
behauptet  Kants  Synthesenbegriff  hal  weil  umfassendere  Bedeu- 
tung als  die,  welche  er  demselben  in  seiner  Erkenntnistheorie  bei- 
legt,  und  ist  jedenfalls  von  bleibenderem  Werte  als  andere  Be- 
standteile seiner  Philosophie,  die  von  ihm  vielleicht  höher  gestellt 
wurden. 


MX. 

Nenere  Philosophie  (1<t  Geschichte: 
Hegel,  Marx,  Comte. 

Von 
F.  Tdnnles  in  Kiel. 

Das  Stadium  der  gesammten  Literatur- Historie  is1  in  einer 
EvolutioD  begriffen,  durch  die  es  einen  wissenschaftlicheren  Cha- 
racter  zu  erhalten  scheint;  man  kann  auch  sagen,  es  werde  der 
Philosophie  der  Geschichte  untergeordnet,  wenn  man  dieser  die 
nächste  Aufgabe  einer  wissenschaftlichen  Behandlung  und 
Erklärung    historischer  Pro  ätellen  mag;    woraus  ja,    dass  sie 

Literatur  und  Kunsl  in  sich  begreifen  Bollte,  von  selber  .-ich  er- 
giebt').  Durch  Taine  is1  in  dieser  Tendenz  das  Schlagwort 
„Milieu"  eingeführt  worden,  das  vielleicht,  wenn  man  zu  bestimm- 
teren Causalitäten  fortschreitet,  wieder  verschwinden  wird.  Die 
Wirkungen  aber  des  Grundgedankens  beginnen  auch  in  der  G 
schichte  der  Philosophie  sichtbar  zu  werden,  and  können  ihr  zu- 
nächst und  zuletzl  nur  vortheilhafl  sein:  Missbräuche  und  ln- 
thümer  liegen,  wie  immer,  im  Haufen  dazwischen. 


')  Schillei    schreibl    an    Körner    (Briefe    S  „Eigentlich    sollten 

Kirchen-Geschichte,  Geschichte  der  Philosophie,  Geschichte  der  K n n >t  und 
Gescbichti  des  Bändels  mit  dei  politischen  in  Eins  zusammengefassl  werden, 
und  die  I  kann  Universal-Ilistorie  sein."    Bebbel,  der  den  Briefwechsel 

anzi  lirl  diese  Stelle  und  bemerkt  dazu:  „Wann  werden  wir  Geschicht- 

Bchi  rhalten,  die  konsequent  von  diesem  Princip  Werk«   10, 

178.  An  j      Ki min: 


Neuere  Philosophie  der  Geschichte:  Begel,  Marx.  Comte.  |^( 

[. 

Die  Abhandlung  dea  l>r.  Paul  Barth9)  weisl  alle  Vorzüge  eines 
wohlgerüsteten  Denkers  auf:  Ernst,  Sorgfalt,  mannigfaches  Wissen, 
Scharfsinn,  gewandte  and  sichere  Darstellung.  Aber  als  literar- 
historische Leistung  im  eben  bedeuteten  Sinne  kann  sie  kaum  sich 
geltend  machen  und  als  Kritik  nicht  in  allen  Stücken  befriedigen. 
Auch  verraten  schon  Motto  und  Vorwort,  dass  sie  es  nicht  sowol 
auf  Erklärung  eines  Phänomens  als  auf  Widerlegung  einer  Ansicht 
abgesehen  hat.  Die  Neiden  Zwecke  streiten  ja  auch  sonsl  gar  ofl 
mit  einander.  An  und  für  sich  kann  ich  nichts  dagegen  einwen- 
den, wenn  Hr.  B.  seine  Mühe  darauf  wendet,  die  Geschichtsphilo- 
sophie Hegels  u.  s.  w.  als  eine  falsche  zu  bekämpfen,  und  in  dieser 
Absicht  sie  zu  verstehen,  mithin  auch  sie  aus  den  Voraussetzungen 
de-  Hegelischen  Systemes  abzuleiten.  Alter  es  giebt  für  alle  histo- 
rischen und  literarischen  Tatsachen  eine  objektive  Ansicht,  vor 
deren  Licht   die  Werturteile  und   polemischen  Absichten  erblassen. 

Den  Gedanken,  dass  alles  Wirkliche  vernünftig  sei.  hat  Hegel 
wol  formulirt,  aber  nicht  erfunden.  Er  verbindet  ihn  mit  seinen 
Vorgängern  der  historischen  Schule,  der  romantischen  Philosophie; 
so  sehr  Hegel  diesen  wiederum  entgegengerichtet  ist,  so  verharrt 
er  doch  in    ihrer  magnetischen   Sphäre.      Jeuer  Gedanke   bedeutet 

Dtlich  einen  Willen,  den  historischen  Dingen  —  und  nur  auf 
diese  ist  seine  Anwendung  auffallend  —  auf  andere  Weise  als  die 
bisherige  gerecht  zu  werden,  und  die  Meinung  aufzugeben,  dass 
nur  das  Denken  der  Menschen,  wol  gar  nur  logisches  und  ab- 
stractes  henken,  etwas  Wahres  und  Gutes  für  Menschen  hervor- 
bringen könne.  Er  reicht  aber  noch  weiter.  Am  Ende  wird  er 
den  Gegensatz  von  Ja  und  Nein,  von  Gut  und  Böse,  Vernünftig 
und  Unvernünftig,  völlig  aufheben  —  wodurch  dann  der  Satz  -eine 
Schärfe  verliert,  aber  tiefer  wird,  und  alsbald  einen  echten  wissen- 
schaftlichen  Gedanken  darstellt,  denn  das  ist  der  wahre  Geist  der 
Wissenschaft,   qualitative  Gegensätze   in   quantitative   Unterschiede 


-)  ]  bichtsphilosophii   [legeis  und  der  Hegelianer  bis  auf  Marx  und 

Hartmann.     Ein   kritischei   Versuch   von   Dr.  I'.  B.     Leipzig.     0.  K.  Reisland 
i.     148SS 


188  P-  Tönni< 

aufzulösen.  Es  wurde  bo  der  Zusatz  entstehen:  „aber  mehr  oder 
weniger";  und  „vernünftig0  würde  Dicht  mehr  eine  Eigenschaft 
bedeuten,  Bondern  die  Tendenz  zu  bestimmten  Wirkungen.  Und 
damit  tritt  auch  das  Werturteil,  das  zuerel  -  stark  darin  sichtbar 
st,  zurück  Der  1  *« :_:  1  i  tt  wird  zuletzt  verschlungen  von  dem  Be- 
griffe des  Notwendigen,  d.  i.  des  aus  Beinern  Zusammenhange  Ver- 
standenen und  Abgeleiteten;  und  dieser  bleibt  In  seiner  Vollkommen- 
heil eine  regulative  Idee,  der  wir  als  Denkende  immer  näher  zn 
kommen  versuchen,  um  ihre  Entfernung  immer  neu  zu  empfinden. 
Die  Ableitung  aus  der  Einheil  des  Universums  und  seinem  Gesetze 
ist  das  Ideal:  aber  jede  Ableitung  von  Tatsachen  aus  einem  I 
sammtphänomen ,  aus  einem  lebendigen  Organismus  isl  ihr  v< 
wandt  Der  Uebergang  der  Naturforschung,  mit  einem  lt.  - 
Betrage  ihrer  Energie,  auf  die  Erscheinungen  des  Lebens  und  des 
socialen  Lebens,  gibl  allen  wissenschaftlichen  Bestrebungen  des 
19.  Jahrhunderts  ihren  Character.  1  fieser  Uebergang  ist  ein  not- 
wendiger Fortschritt  des  wissenschaftlichen  Denkens,  das  mit  Aus- 
dehnung von  Handel  und  Verkehr,  mit  Vermehrung  grosstädtischer 
und  internationaler  Lebensformen,  sich  entwickeln  muss  und  immer 
complicirtere,  damit  zugleich  immer  näher  liegende,  und  tiefer  mit 
naiven,  phantastischen,  religiösen  Urteilen  versetzte  Erscheinungen 
sich  unterwirft.  Eben  darum  hal  diese  Bewegung,  die  zugleich 
eine  Rückbiegung  in  Psychologie,  und  damit  in  die  „Philosophie 
des  Geistes"  bedeutet,  mit  ungeheuren  Widerständen  zu  kämpfen, 
und  gelangl  erst  langsam  zur  klaren  Besinnung  und  Erkenntniss 
ihrer  selbst.  Mine  unklare,  ahnungvolle  aber  mit  fremden  Motiven 
vermengte  Phase  wird  durch  die  deutsche  speculative  Philosophie 
bezeichnet.  Die  Verwandtschaft  mit  Spinoza,  dem  durch  das 
ganze  Zeitalter  der  Aufklärung  zurückgedrängten  Denker,  enthülll 
ihre  Tendenz  zur  Wissenschaft,  die  bei  jedem  folgenden  ihrer 
Scholarchen  Btärker  hervortritt,  so  fremd,  ja  feindselig  Bie  auch 
■  ii  die  Erfahrung  ßich  gebärden.  In  die  strenge  Ausscheidung 
der  Werturteile  aus  der  Analyse  der  Tatsachen  und  ihrer  Causa 
lität,  setzt  Spinoza  seinen  Stolz;  und  weiss  auch,  dass  diese  Aus- 
scheidung gerade  inbezug  auf  menschliche  und  sociale  Tatsachen 
um   so   mehr  wissenschaftlich  notwendig   ist,    als  sie  weniger  ver- 


Neuer»'  Philosophie  der  Geschichte:   Hegel,  Marx.  ('.»nur.  [%Q 

standen  wird  und  schwerer  durchführbar  ist.  In  solcher  Richtung 
alier  schreiten  wir  nun.  trotz  aller  Hemmungen,  unablässig  fort. 
Wenn  wir  Hegel  richtig  verstehen  und  aus  seinen  Bedingungen 
erklären,  so  werden  wir  ihn  am  sichersten  überwinden;  denn  die 
Gedanken,  die  seinen  Erfolg  trugen,  sind  teils  reiner  gestaltet  in 
unser  Denken  übergegangen,  teils  werden  sie  durch  ihren  Ursprung 
als  Irrtümer  klar,  denen  wir  vielleicht  andere  Irrtümer,  jedenfalls 
al'er  weiter  entwickelte  und  unserem  Wissen  entsprechendere  Ge- 
danken entgegenstellen. 

Die  ganze  Wuchl  des  Hegeischen  Systemes  liegt  in  der  Philo- 
sophie des  Geistes;  wie  Hr.  B.  berichtet,  hat  Ed.  von  Hartmann 
auch  den  „bleibenden  Wert"  des  Systemes  darin  erkennen  wollen, 
und  wir  wissen,  dass  ein  nachwirkender  Einfluss,  mehr  vielleicht 
im  Auslande  als  in  Deutschland,  davon  ausgeht.  In  diesen  Ge- 
danken über  Geschichte,  Kunst.  Religion,  liegt  aber  auch  der  Zu- 
sammenhang mit  der  gesammten  Geistesrichtung,  die  in  unserer 
(deutschen)  klassischen  Literatur  sich  ausprägte,  aufs  deutlichste 
zu  Tage.  Alle  deren  Häupter  glauben  an  „Ideen"  als  eine  Art 
von  metaphysischen  Wesen,  deren  Macht  in  allem  geistigen  Lei  im 
sich  offenbare;  nicht  eigentlich  platonische  Ideen  als  die  Realitäten 
der  einzelnen  Dinge  —  wozu  Hegel  sie  wieder  umgiesst  —  son- 
dern als  Ziele  des  Strebens,  als  Objecte  des  Sinnens  und  Sagens. 
als  Ideale.  Dieser  Denkungsart,  die  bis  heute,  wenn  auch  abster- 
bend. Gemeingut  der  höher  gebildeten  Kreise  in  Deutschland 
lieben  ist.  hat  Hegel  nur  die  spanischen  Stiefel  seiner  Logik 
umgelegt,  sie  dadurch  blutleerer  und  starrer,  aber  auch  ihrer  selbst 
gewisser  und  lehrhaft-anspruchvoller  gemacht.  Wenn  Hegel  die 
Geschichte  als  eine  Selbst-Realisirung  der  Freiheit  bestimmt,  so 
weicht  die»'  Definition  nicht  weit  ab  von  dem  Wege  Herders. 
der  den  Endzweck  der  menschlichen  Natur  in  Humanität  und  den 
Fortschritt  der  Menschheil  in  Vernunft  und  Gerechtigkeit  setzt; 
und  beide  haben  doch  nur  einer  seil  lange  umlaufenden  Münze 
das   neue  Gepräge  verliehen. 

Herr  Barth  erinnerl  ferner  (Anm.  s;:  „die  Freiheit  ist  schon 
bei  Kant  das  Ziel  der  Geschichte,  aber  nur  indirect,  indem  die 
Erreichung  einer  allgemeinen  das  Recht   verwaltenden  bürgerlichen 


F     I  ■  1 1 11 1  - 

tlichen  Ziels  der  Geschichte,  nur  möglich 

llschafl  Freiheit,  mithin  einen  durch- 

oismus   ihrer  Glieder  and  doch  di<-  genaueste  Be- 

und   Sicherung   der  Grenzen   dies  iheil  lmi.    damit 

mit  der  Freiheil  Anderer  bestehen  können«    (Idee  zu  einer  all- 

aeinen  Geschichte    in    weltbürgerlicher  Absicht   Satz  5  ."      Nun 
denke    man    an   die   Rolle,    welche  der  Begriff  Freiheit   in  der 
sammten  publicistischen  Literatur  des  18  Jahrhun  spielt;  man 

denke  an  den  tiefen  Einfluss  den  auf  Kant  wie  auf  Herder 
Rousseau  gehabt  hat;  man  bemerke  endlich  <li<'  Art  wie  Hegel 
aui  Montesquieu  hinweist  (Rechtsphilosophie  §  3  Anm.)  —  so  wird 
man  «las  Gemeinsame  and  das  Differente  in  den  fdeen  unsi 
Deutschen  zugleich  für  sich  beleuchten.  Man  wird  finden,  dass 
ihre  Ansichten  ober  Geschichte  wesentlich  bedingl  sind  durch  ihr 
Verhältniss  zur  politischen  Wirklichkeit,  ihre  Betonung  des  Staat 
die  bei  Herder  fast=0,  bei  Kant  strenge  begrenzt,  bei  Hegel  fast 
unendlich  ist.  Daher  nennt  der  Hegelianer  Gans  Herders  Philo- 
sophie der  Geschichte  „eine  Theodicee  mehr  des  Gemütes  und  \ 
Standes  als  der  Vernunft"  (Vorrede  zu  Hegels  Vorlesungen  p.  XI). 
Bei  Herder  ist  ferner  keim-  Spur  von  einem  philosophischen 
Systeme;  Kant  hat  sein  System,  und  so  auch  seine  Philosophie 
der  Geschichte  nicht  ausarbeiten  können,  weil  die  Kritik  des  alten 
Systemes  zu  seiner  Lebensarbeit  wurde,  bei  Hegel  ist  das  System 
alles  und    hat    alle  Kritik    uberwuchi  Es   sind    daher  für    das 

■  uwärtige  Thema  die  beiden  Fragen  von  höchst«  r  Bedeutung: 
1)  was  will  Hegel  mit  seinem  Systeme  leisten  in  Bezug  auf  die 
Probleme  des  socialen  Lebens,  also  für  das,  was  bei  ihm  „ob- 
jektiver G  ..'iianut  wird?  2)  wie  kommt  die  Geschichte  — 
Hegel  sagt  emphatisch:  die  Weltgeschichte  — -  in  das  System, 
wie  ist  also  für  Hegel  Philosophie  der  Geschichte  möglich?  — 
\\  s  hierfür  die  beiden  ersteu  Kapp,  der  anliegenden  Schrill 
(\.  Hegels  Methode,  II.  Anwendung  der  Methode  aut  «hm  Begriff 
der  Geschichte    darbieten,  bedarl  einiger  Ergänzung. 

I  Das  Naturrecht  (..und  Staatswissenschaft  im  Grundrisse") 
ist  das  einzige,  was  Henri  zur  Philosophie  des  Geistes  als  Compen- 
dium   —   ausser  dei   Encyklopädie    —     überliefert  hat;    es  enthält 


\       r<    Philosophie  dei  Geschichte:    Hegel    tyfarx,  Comte  l'Jl 

die  ganze  Betrachtung  des  objektiven  Geistes,  und  man  kann  die 
Vorrede  nicht  lesen,  ohne  sich  zu  überzeugen,  dass  er  in  diesen 
Teil  des  Systemes  die  ganze  Autorität  seines  Denkens  versenken 
wollte;  zeigen  wollte,  was  die  wahre  Philosophie  gegenüber  allem 
subjektiven  Meinen  und  Besserwissen,  wie  auch  gegenüber  der 
nackten  und  begrifflosen  Historie  zu  vollbringen  im  stände  sei. 
Wenn  man  die  dialektische  Entwicklung  lud  Seite  lässt,  so  ist 
seine  Absicht  folgende:  die  antirevolutionäre  "der  konservative 
Denkungsari  in  die  Apotheose  des  bestehenden  Staates  binüberzu- 
leiten.  Die  historische  Jurisprudenz,  die  das  Naturrecht  verneinte, 
verneinte  auch  in  einigem  Maasse  den  Staat,  nämlich  den  St 
in  seinei-  vollen  Majestät,  als  Gesetzgeber  und  Schöpfer  von  Recht, 
Segel  will  das  alte  Naturrecht  vollends  auflösen,  aber  zugleich  ein 
neues  herstellen,  das  den  Staat  als  die  sociale  Vernunft  schlecht- 
hin, als  vollendete  Idee  der  Sittlichkeit,  als  die  Einheil  und  Wahr- 
heit abstracten  Rechtes  und  subjektiver  Moralitäl  darstellen  soll. 
Denselben  Gedanken,  den  Hobbes  auf  logische  Weise  construirt 
hatte,  bringt  Hegel  mit  seiner  Dialektik  aufs  neue  hervor:  dass  der 
3  ia1  absoluter  Richter  über  Recht  und  unrecht,  über  Gul  und 
Bös<  -ei.  die  sittliche  Substanz,  das  sittliche  Universum  sei:  der 
Staat  allein  und  nicht  die  Kirche;  diese  ist  nur  eine  Erscheinung 
der  Idee  des  Staates  ..in  der  Form  der  Autorität  und  des  Glau- 
bens" —  damit  der  Staat  (lautet  die  sehr  bezeichnende  und  merk- 
würdige Stelle:  Rechtsphil.  §270  Anm.)  ..als  die  sich  wissende 
sittliche  Wirklichkeit  des  Geistes  zum  Dasein  komme,  ist  seine 
Unterscheidung  von  jener  Form  notwendig,  diese  Unterscheidung 
tritt  aber  nur  bervor,  insofern  die  kirchliche  Seite  in  sich  selbst 
zur  Trennung  kommt;  nur  so,  über  den  besonderen  Kirchen, 
hat  der  Staat  die  Allgemeinheit  des  Gedankens,  das  Princip 
seiner  Form,  gewonnen".  Divide  et  impera!  Und  so  tritt  überall 
hervor,  dass  der  moderne  Staat,  in  der  genauen  Gestalt  wie  er  ihn 
L820  in  Preussen  vorfand  —  mit  leichten  ständischen  Hüllen  um- 
geben —  Hegels  Ideal  bedeutet  Wenn  uns  dies  rast  komisch 
vorkommen  mag,  so  ist  es  doch,  was  Hegel  seine  bistorische  Stel- 
lung gibt.  Er  ist  —  etwa  wie  Rousseau  der  Denker  der  franzö- 
sischen Revolution  —  der  Denker  der  Bpecifisch  preussischen  Re- 


192  P.  T    ani< 

stauration,   welohe  trotz  aller  Romantik  and  beiliger  Alliance  den 

oken  mit  Zähigkeit  zum  Ausdrucke  brachte;  er  ist  (auf 
allem  osl   bedeutet)  der  Philosoph  eimen  \l 

ruDgsrathes,  der  Philosoph  der  preussischen  Büreaukratie.     Dies  isl 
der  wahre  sinn  „den  Staat  als  ein   in  sich  Vernünftiges  zu 

greifen    und   darzustellen"  (Vorr.  S    18),    und   in  diesem  Sinne 
ist    auch,    wie    bekannt,    Bein   Einfluss   am    tiefsten    und    längsten 
•i.     Aus    der  Weite    und  Beschränktheil    dieses  Ideales    er- 
gibt sich  aber  auch  notwendigerweise  Bein  Verhältnis«  zur  „ Welt- 
schicht« 

2)  Ihrer  Anlage  nach  hat  Beine  Philosophie  kein  Verhältniss 
zur  Weltgeschichte.  Sie  hat  es  überall  nicht  mit  Vorgängen,  die 
in  der  Zeit  Bich  ereignen,  zu  tun.  Sie  isl  ein«  echte  and  rechte 
Metaphysik,  im  alten  sinne,  aber  mit  neuem  Inhalte  und  neuer 
Form;  sie  beschränkt  Bich  auf  Gegenstände  der  Erfahrung,  und 
will  ihre  Begriffe  von  diesen  nicht  bloa  einteilen.  Bondern  aus  ein- 
ander entwickeln.  Die  eckige,  logische  Art  des  Denkens  (der  ..\ 
ätand")  soll  überwunden  und  durch  flüssige  Begriffe  die  Wirklich- 
keit auf  adäquate  Weise  beschrieben  werden.  Ihr  näher  zu 
kommen  kann  man  durch  diese  Behandlung  von  Begriffen  in  der 
Tal  lernen.  Hegel  aber  täuschte  sich  -  ein  allzu  gewöhnlicher 
Fall  —  über  Tragweite  und  Bedeutung  dessen,  was  er  vollbrachte. 
Er  meint.'  die  Notwendigkeit  der  Sache  zu  beweisen,  wenn  er 
ihren  Begriff  alileitete.  In  Wahrheit  würde  —  auch  wenn  sein 
System  der  Begriffe  ohne  Fehler  und  Lücken  wäre  (was  es  keines- 
wegs ist)  —  nur  in  dem  sinne  Causalität  daraus  folgen,  dass 
die  Voraussetzungen  des  Begriffs  auch  Voraussetzungen  des  Gegen- 
standes genannt  werden  können:  für  die  Causalität  irgendwelches 
Geschehens  i-i  keine  Erkenntniss  daraus  gewinnbar;  denn  die 
Entwicklung  des  Begriffes  ist  keine  Entwicklung  des  Dinges. 
Allerdings  aber  können  sich  gewisse  Berührungspunkte  dieser  Ent- 
wicklungen ergeben.  Die  Entwicklung  de-  Begriffes  i-t  aotwendiger- 
weise  Fortschritt  vom  Allgemeinen  zum  Besonderen,  und  Hegels 
Kunst  besteh  1  darin,  die  jedesmal  erste  Besonderung  zugleich  als 
die  einfach. ■  und  „abstract  dt  des  Allgemeinen,  die  jedesmal 

/.weite  al-    .v   .itmir    d.r  eisten    (-was  sie  jedenfalls  ist  insofern 


Neuere  Philosophie  der  Geschichte:   Hegel,  Marx,  Comte.  193 

sie  eben  die  erste  nichl  ist)*)  und  damit  zugleich  als Besonderung 
schlechthin  aufzustellen,  die  nun  jedesmal  in  der  dritten  wieder 
sich  aufhebl  und  eine  Rückkehr  ins  Allgemeine  wird,  weil  in 
diese  die  specifischen  Differenzen  (»Momente")  der  zweiten  und  der 
ersten  verbunden  werden;  der  Begriff  vollende!  sich  in  dieser 
dritten  Bestimmung,  weil  sie  als  eine  Bewegung  ins  Allgemeine 
aufgefasst  wird,  wie  er  beginnt  in  der  ersten,  weil  die  erste  als 
Bewegung  aus  dem  Allgemeinen  gedacht  wird.  Nun  isl  auch  die 
Entstehung  jedes  Dinges  eine  Absonderung  und  Besonderung  —  not- 
wendigerweise, denn  da  kein  Stoff  entsteht,  so  muss  es  in  einer  an- 
deren d.  Ii.  alter  in  «mimt  allgemeineren  Form  vorher  existirl  haben  — 
und  sein  Vergehen  ist  Verlust  dieser  Besonderung;  wenn  man  also 
ihr  Dasein  hineinschiebt,  so  ergeben  sich  von  selbsl  die  3  Termini, 
[sl  diese  Begegnung  zufällig?  Nein,  denn  Hegel  hat  den  Grund- 
gedanken seiner  Dialektik  aus  der  Bemerkung  geholten,  dass  jeder 
Begriff  als  entstehender  und  vergehender  gefasst  werden  und  dass 
er  durch  diese  Auffassung  einem  wirklichen  Dinge  gleich  gemacht 
werden  könne.  Den  Grundgedanken  hatte  er  bekanntlich  von 
Fichte  überkommen,  und  Fichte  war  es  um  das  Problem  der 
Aussenwelt  zu  tun,  die  bei  ihm  als  Nichtich,  bei  Hegel  als  die 
Idee  in  ihrem  Aussersichsein  definirt  wird,  von  beiden  richtig  als 
ein  aus  der  Vernunft  (dem  „Bewusstsein")  producirter  oder  pro- 
jicirter,  also  gewordener  und  immer  neu  werdender  Begriff.  Der 
Gebrauch  der  dialektischen  Methode  für  die  Betrachtung  irgend 
eines  (materiellen  oder  geistigen)  einzelnen  Dinges  liegt  daher 
mihe  genug;  er  ist  aber  eine  völlig  andere  Aufgabe,  als  ihre 
Bewährung  in  der  Bildung  von  Begriffen,  und  während  diese 
auf  Erfahrung  nur  im  allgemeinen  Sinne,  dass  dem  Denkenden  ein 
Inhalt  bekannter  Gegenstände  gegeben  ist.  beruhl  (was  Hegel 
sehr  wohl  weiss),  so  setzt  jene  eine  ganz  specielle  Erfahrung, 
nämlich  Beobachtung  und  Erforschung  von  Vorgängen  voraus. 
II  irr  Barth  meint  (S.  10):  dm  Begriff  der  Geschichte  und  die  gc- 
sammte  geschichtliche  n<'\w<_runu  zu  construiren,  sei  eine  der 
kühnsten  Anwendungen   der    Hegeischen   Methode.      Dies«    Anwen- 


3)  Herr  U.   aennl  dies:   den  contradictoriseben  tsatz    als  einen  con- 

trären  darstellen. 


J'.lj  1'.    1 

düng  i£  kühn,  dasa  sie  unmöglich  ist     Di<    geschichtliche 

Bewegui  d  überhaupt  aus  dem  Systeme  nicht  herausgeklaubt 

i.    das  es  nur  mit   der  Bewegung   von   Begriffen,    also    mit 
durchaus  Jen,    metaphysisch  in  zu   tun  hat;    und 

wie  der  Begriff  der  Geschichte  in  das    -  .  hineinkommt, 

hatte  unser  Verf.  zu  untersuchen.  Diese  Untersuchung  ist  ihm 
nicht  gelungen.  Er  fahrt  fort  (a.  a.  0  „Aber  der  Gegensatz  von 
:  und  Nichtsein  .  .  .  kann  die  ganze  Welt  erzeugen;"  und  [nach 
der  bekannten  Entwicklung):  „die  zum  Fürsichsein  gelangte  i 
kann  auch  Geisl  heissen,  der  gleichfalls  das  Absoluteist  (Encyklop. 
§384).  Au-  dem  „Drange  des  Geistes  das  Absolute  d.  h.  sich 
selbst  zu  linden"  ist  die  ^  i  Lfen    das.  "      Dann 

werden  die  vier  Stufen  vorgestellt,  in  denen  die  „Phänomenologie8 
den  Geisl  sich  verwirklichen  lasse,  und  (heissl  es  S  12),  ..man 
sollte  nun  erwarten,  dass  diese  selbe  Reihe  von  Momenten  wie  in 
der  Phänomenologie,  einem  der  frühesten  Werke  Hegels,  auch  in 
der  von  allen  Teilen  d<  smes  am  spätesten  entwickelten  Gi 

Schichtsphilosophie  Anwendung  fände,  zumal  .der  Geist  in  der 
Weltgeschichte  in  seiner  concretesten  Wirklichkeil  ist1  (Philos.  d. 
Gesch.  S.  21)."  Aber,  vielleicht  wegen  des  empirisch-psychol 
sehen  Aussehens  jener  Vierteilung,  vielleicht  ans  wachsender  Vor- 
liebe für  die  Dreiteilung,  habe  er  jene  ursprüngliche  Darstellung 
verworfen     und     durch    dialektische     Abhandlung     eines     neuen 

schichte  deducirt,  des  Gegensatzes  von  Frei- 
heit und  Unfreiheit.  —  Was  zuerst  die  Stelle  der  Encyklopädie 
betrifft,  so  hat  Hr.  B.  sie  missverstanden;  es  handelt  sich  da 
um  den  systematischen  Begriff  der  Geschichte  nicht.  Hegel 
ma<dit  nur  muh  dem  Satze  ..das  Absolute  ist  der  Geist"  eine 
Bich  selbst  bewundernde,  emphatische  Anmerkung,  indem  er  ßagt: 
„Diese  Definition  zu  finden  und  ihren  Sinn  und  Inhalt  zu  begreifen, 
dies  kann  man  sagen  [NB.]  war  die  absolute  Tendenz  aller  Bildung 
und  Philosophie,  aul  diesen  l'unkt  hal  Bich  alle  Religion  und 
Wissenschaft  gedrängt,  aus  diesem  Drang  allein  ist  die  Welt 
schichte  zu  begreifen."  Die  Stelle  wäre  wichtig,  wenn  ausserdem 
nicht  in  der  Encyklopädie  von  Weltgeschichte  die  Rede  wäre,  wie 
hiernach  den  Anschein  hat.     Was  die   Phänomenologie  angeht, 


Neuere  Philosophie  dei  Geschichte:  Begel    Marx,  Comto.  495 

so  kann  man  in  ihr  allerdings  eine  Philosophie  der  Geschichte 
finden,  wie  denn  jenes  Werk  ausserhalb  des  philosophischen 
Systemes  entstanden  und  geblieben  isl  Herr  Barth  hai  sie  aber 
nicht  gefunden.  Er  sprichl  nur  von  einer  Vierteilung  in  der  hier 
die  [dee  zu  ihrem  Fürsichsein  gelange,  welche  Vierteilung  ich 
nicht  darin  linde:  sie  lasse  auf  Bewusstsein,  Selbstbewusstsein, 
Vernunft,  den  Geisl  als  einen  objektiven  Ausdruck  der  Vernunfl 
folgen.  Mir  liegl  vielmehr  die  Einteilung  vor:  A.  Bewusstsein, 
B.  Selbstbewusstsein,  C:  AA.  Vernunft,  BB,  der  Geist,  CC,  die 
Religion,  DD,  das  absolute  Wissen;  die  Vierteilung  isl  also  von 
ganz  anderem  Inhalte  und  bezieh!  sich  auf  die  vorher  gesetzte 
dritte  Erscheinungsform  des  Geistes.  Was  hieran  am  meisten 
merkwürdig,  ist  das  völlige  Zurücktreten  des  Staat.'-,  von  dem 
kaum  dem  Namen  nach  die  Rede  ist.  während  er  in  der  späteren 
Darstellung  die  Wirklichkeil  der  sittlichen  Idee  und  somit  den 
objektiven  Geisl  in  seiner  concreten  Gestalt  vorstellt.  —  Völlig 
entgangen  isl  aber  unserm  Verf.  die  systematische  Stellung, 
welche  in  der  Encyklopädie ,  und  ausführlicherer  Weise  in  der 
Philosophie  des  Rechtes  der  Begriff  der  „Weltgeschichte"  erhalten 
hat;  eine  Stellung,  die  für  das  Verständniss  der  Sache  viel  wich- 
i  isl  als  die  ganze  Diatribe  in  den  Vorlesungen,  die  der 
Philosophie  der  Geschichte  ausdrücklich  gewidmet  sind,  und  als 
solche  unvermeidlicher  Weise  eine  exoterische  Färbung  erhalten 
haheii.  Die  Bestimmungen  jener  beiden  (von  Hegel  seihst  heraus- 
gegebenen) Werke  werden  zwar  hier  resümirt,  aber  ohne  den  stren- 
gen systematischen  Zusammenhang  widerzuspiegeln,  an  dem  uns 
gel«  in   muss.      In    naher   wenn   amh    keineswegs    wörtlicher 

Debereinstimmung  geben  diesen  §536  der  Encyklop.  und  §  "i.V.i 
der  Rechtsphilos.,  wo  die  Idee  des  Staates  entwickell  wird  als 
a)  Verfassung  oder  inneres  Staatsrecht,  b)  Verhältniss  zu  anderen 
Staaten  -  isseres  Staatsrecht,  c)  allgemeine  Idee  als  Gattung 
und  absolute  Macht  gegen  die  individuellen  Staaten,  der  Geis!  der 
sich    im    Pr<  ler   Weltgeschichte  seine   Wirklichkeil  gibt. 

In  der  Encyklop.  tritt  „die  Weltgeschichte"  geradezu  als  dritte 
Bestimmung  neben  das  innere  and  das  äussere  Staatsrecht;  aber  in 
erheblicher  Abweichung   stellt    die    Rechtsphil,    in    der    Einleitung 


496  l 

(§  33)  den  Staat  „als  die  in  der  freien  Selbständigkeit  des  beson- 
der« w  illens  ebenso  allgemeine  and  objektive  Freiheit  dar;  — 
welcher  wirkliche  and  organische  Geist  i.  eines  Volkes  sich  ß.  durch 
das  Verhältnis«  der  besonderen  Volksgeister  hindurch,  -,.  in  der 
Weltgeschichte  zum  allgemeinen  Weltgeiste  wirklich  wird  und 
offenbart,  dessen   Recht  das    Höchste  Ist."     So  auch   im  üel 

auf  die  Abhandlung  des  Begriffs  Belber  §340):  „Die  Prin- 
cipien  der  Volksgeister  sind  um  ihrer  Besonderheit  willen  in 
der  sie,  als  existirende  Individuen,  ihre  objektive  Wirklichkeil 
und  ihr  Selbstbewußtsein  haben,  überhaupt  beschränkte,  und  ihre 
Schicksale  und  Taten  in  ihrem  Verhältnisse  zu  einander  sind  die 
erscheinende  Dialektik  der  Endlichkeit  dieser  Geister,  aus  welcher 
der  allgemeine  Geist,  der  Geist  der  Welt,  als  unbeschränkt 
ebenso  sich  hervorbringt  als  er  es  ist,  der  sein  Recht  —  und  sein 
Rechl  ist  das  allerhöchste  —  an  ihnen  in  der  Weltgeschichte, 
als  dem  Weltgerichte,  ausübt."  Man  gewahrt  leicht  durch  wel- 
ches Kunststück  der  Vielgewandte  das  „ungeheure  Schauspiel"  (mit 
Ed.  Gans  zu  reden)  fertig  bringt  „von  der  Höhe  des  Staates  aus  die 
einzelnen  Staaten,  als  ebenso  viele  Flüsse  sich  in  das  Weltmeer  der 

chichte  stürzen"    zu    lassen!    Die  Begriffe  ,Staat'    und  ,Welt 
schichte'  sind  so  heterogen  als  möglich;  Hegel  substituirl  oach  B< 
lieben   dem  ersten  den  Begriff  »Volksgeisf,  dem  anderen  den  Begriff 
,Weltgeist',  nimmt  also  dem  Staate  ebenso   viele   Bestimmtheil  als 
•  r  der  Weltgeschichte  hinzufügt       und  siehe  sie  Bind  in  dem  flüssi- 
gen  Elemente  des  ,Geistes'  auf  bewunderungswürdige  Art  zusammen- 

chmolzen.  Er  kann  es,  mit  dieser  Interpretation,  wagen,  die 
Weltgeschichte  als  den  allgemeinen  und  concreten  Staat  zu  defi- 
oiren,    al>  dialektisch   vollendete    Idee    des  Staat  Man  durfte 

erwarten,  -"Mir  m  einem  universalen  Staate,  einer  Welt-Republik 
zu  finden,  die  sich  zum  einzelnen  Maat.-  verhielte,  wie  der  Staal 
zur  Familie.  Dieser  Begriff  wäre  ein  Rechtsbegriff  wie  der  Begriff 
Staat  Belber  und  dessen  erste  Entfaltungen:  inneres  und  äusseres 
Staats-Recht.  Wie  Hegel  diesei  Consequenz  ausweicht,  bezeichnet 
wiederum  die  Stärke  seines  Willens,  die  Begriffe  geradeso  zu  con 
Btruiren  wie  sie  seinen  gewaltigen  Zwecken  Bich  fügen  (§259  Zusa  I  - 
„Die  Staaten   als   solche  Bind   unabhängig   von   einander,    und   das 


tere  Philosophie    lei  Geschichte:   Eegel    tfarx,  Comte.  I'.i'i 

Verhältnis.-,  kann  also  qut  eio  äusserlichea  sein,  bo  dass  ein 
drittes  Verbindendes  über  ihneo  sein  muss  [vod  mir  her- 
vorgehoben, wie  'las  Folgende].  Dies  Dritte  isl  mm  der  Geist, 
der  sich  in  der  Weltgeschichte  Wirklichkeil  i_ci l » t  und  den  abso- 
luten Richter  über  sie  ausmacht.  Es  können  zwar  mehrere 
Staaten  als  Hund  gleichsam  ein  Gericht  über  andere  bilden,  es  kön- 
nen Staatenverbindungen  eintreten,  wie  z.  B.  die  heilige  Allianz, 
alier  diese  sind  immer  nur  relativ  und  beschränkt  wie  der  ew 
Frieden.  Der  alleinige  absolute  Richter,  der  sich  immer  und 
.•n  das  Besondere  geltend  macht,  ist  der  an  und  für  sich  seiende 
Geist."  Der  konservative  Professor  und  Bürger,  der  an  das  Gege- 
bene und  an  die  Erfahrung  wenn  auch  mit  grossen  Worten  sich 
ängstlich  hält,  schneidet  hier  dem  kühnen  und  konstruirenden 
Denker  seine  Bahnen  ab;  ein  Vorgang  der  bei  Hegel  überall  ein- 
tritt, wo  s,.hu.  Macht  darin  beruht,  dass  er,  in  dein  erhabenen 
Stile,  der  von  der  kritischen  Philosophie  her  die  Universitätsphilo- 
sophen  zu  tönenden  Propheten  jener  freien  und  mannigfachen,  ich 
möchte  sagen  Goetheschen  Bildung  machte,  die  zwischen  Auf- 
klärung und  Romantik  balancirend  der  damalige  Nationalcharacter 
des  Volkes  der  Denker  war  —  doch  gerade  an  dem  Punkte  Halt 
macht  und  einlenkt,  wo  die  Philosophie  das  bürgerliche  Bewusst- 
sein  zu  verletzen  und  die  enorme  Furcht  vor  neuen  Revolutionen, 
die  nach  Napoleons  Sturze  die  regierende  Gesellschaft  erfüllte,  auf- 
zuregen droht.  An  die  Stelle  des  Phantoms  der  Welt-Republik 
die  „Idee"  der  Welt- Geschichte  geschoben  —  und  alles  ist  in 
Ordnung  —  eine  Chamade  anstatt  einer  Fanfare.  Die  Ansicht 
von  der  Geschichte  und  ihrem  Endpunkte  in  gegenwärtigem  Zu- 
stande ist  ganz  trivial,  wenn  auch  geistreich  genug  um  die  alberne 
Trichotomie  von  Altertum-Mittelalter-Neuzeit  zu  überwinden.  Der 
Weltgeisl  vertritt  die  Stelle  der  christlichen  Vorsehung,  und  im 
Widerspruch  zur  Reichten'  Aufklärung,  die  am  Gegensatze  von 
Aberglauben  und  Philosophie  den  Fortschritt  der  Civilisation  ma 

dieser  Rationalismus  die  Theorie  der  Weltreiche  Wiederauf- 
leben (obzwar  in  einer  form,  durch  die  sie  ihres  Gehaltes  an 
Wahrheit  entleert  wird).  Viel  deutlicher  und  bedeutender  als  in 
den   Vorlesungen    tritt    dieser   Gedanke  was  wiederum   Hr.  B. 

vii.  35 


K.  Tt  iini< 

-  ben  hat   —  in  der  Rechtsphilosophie  auf,  \\"  nicht  anbe- 
atalischen  et    ,Weltf  s         I  wird,  sondera  ganz 

-  In'ickl.  Nach       sen  vier  Principien  -   der  Gestaltan- 

-  Wi  It-Si  Ibstbevt  -  —  >iml  der  welthistorischen  Reiche 

die  Viere:  1)  das  orientalische,  2)  da*   i       bische,  3]  das  römische, 
\     las  germanische."     Innerhalb    des  germanischen  dei 

-  weltlichen  and  des  intellectueUen  Reiches,  der  aber  am  Ende 
„zur  marl  It  g  schwunden  .  ...  so  dass         wahrfa 
Versöhnung          kl      _       rden,  welche   den  Staat  zum  Bilde  and 
zur    Wirklichkeit    der    Vernunft    entfaltet,    worin     das    Selbst 
wuss            li      Wirklichkeit     seines    substantiellen    W  -  as     and 
Wollens    in   organischer   Entwicklung,    wie    in    der   Religion  das 

5hl    and    die   Vorstellung  aer    Wahrheit    al>    idealer 

W<  -•  oheit,  in  der  Wissenschaft  aber  die  freie  begriffene  Erkennt- 
Wahrheit  als  Einer  und  derselben  in  ihren  sich  ergän- 
zenden Manifestationen,  dem  Staal  r  Natur  und  der  ideellen 
Welt,  findet"  (Schluss  der  Rechtsphilos.  §  360).  IL n  B.  \> 
einmal  treffend  hin  aul  Begels  „nie  vei  _  Bildersprache",  in 
der  Tat  i>t  die  Unverlegenheit,  Kühnheit  und.  mit  Schopenhauer 
zu  red  it.  womit  er  Begriffe  und  Worte,  Glei 
and  Meinungen  durcheinander  spielen  lässt,  seini  .  etliche 
Meisterschaft.  Um  so  mehr  muss  man  darauf  acht  geben,  wo  eine 
wirkliche  \  genheit  zugedeckt  wird.  Man  bemerke  wohl:  der 
Weltgeist  bezeichnet  im  Systeme  den  Debergang  zum  absolul 
'i  ist,  der  wiederum  seine  3  Manifestationen  als  Kunst,  als  geoffen- 
barte MV  Religion,  und  als  Philosophie  hat;  ja  er  isl  dieser  ab- 
Boln  -'  -  eil  r  —  läse  er  als  Weltgeschichte  und  in  Beziehung 
auf  dei  51  I  früher  im  Systeme  and  aoeh  anter  der  Kategorie 
,objektiven  G  auftritt,  hat  offenbar  für  Hegel  selber,  bei 
'•■  -  ligkeit  seiner  Methode,  keine  Bedeutung. —  Nun  aber 
hat  man  gutes  Rechl  zu  erwarten,  dass  der  Weltgeisl  nicht  blos 
Schicksal  oder  Vorsehung,  sondern  auch  als  Kunst,  als  Religion, 
als  Philosophie  in  der  Geschichte  wirksam  gezeigt  werde,  und  dass 
die  und  Unzulänglichkeit  seiner  Tätigkeit  als  Kunst 
und  al>  Religion,  seine  alleinige  Wahrheit  als  Philosophie  auch 
in  dei    W<  Itgeschichte  dargestellt  würde.     Aber  das  len 


lere  Philosoph»  schichte:  Begel,  Marx,  }'.»'.' 

protestantischen  Staat,  der  doch  immer  als  die  Wirklichki 
der  sittlichen  Substanz  allein  gemeint  ist,  vor  den  Kopl  stossen. 
Der  Gedanke  wird  angewandt  auf  die  Religion  schlechthin;  aber 
nicht  auf  die  ,geoffenbarte',  die  daher  ganz  inkonsequenter  Wi 
den  Begriff  im  Systeme  ausfüllen  muss;  und  auch  mit  der  geoffen- 
barten Religion  wird  kurzer  Prozess  gemacht,  um  die  „Sittlichkeit 
im  Staate"  d.i.  die  protestantische  Erhebung  des  bürgerlichen 
über  das  geistliche  Ideal,  als  ihre  innere  Befreiung  und  Wahrheit 
zu    feiern:    diese    eil     s     Gestaltung  der  religiösen  Idee,    das  pro- 

-  antische  Princip,  wird  dann  aber  viel  höher,   nämlich  zu  einer 
definitiven,  ewigen  Bedeutung  erhoben,  als  ihr  nach  dem   Systeme 
zukommt,    sodass    -  -       in    der    in    dieser  Hinsicht  merkwürdig 
Anm.  zu  §  552    der  Encykl.  sie,  die  Religion,  -die  Substantialität 
der  Sittlichkeit  selbst  und  des  S         -     -  aannt  wird. 

Trotz   aller  schillernden  Gruppirung    von    _  enden   Hypo- 

sen  verharrt  Hegel  (und  muss  es)  in  wesentlicher  Unklarheit 
aber  die  wirklichen  Pr<  -  les  s  ialen  Lebens,  schon  desshalb, 
weil  er  —  jenem  Bildungs-Standpunkte  gemäss  —  an  der  Idee 
einer  geradlinigen  Entwicklung  und  Vervullkommnung  festhielt,  die 
der  august iniseh- kirchlichen  Philosophie  der  Geschichte  und  der 
Aufklärung  gemeinsam  eigen  war:  jener  weil  sie  da-  Christentum 

-  Endziel  der  Menscheit  ansehen  musste,  dieser  weil  sie  die  Ver- 
mehrung der  Wissenschaft,  die  Verdrängung  des  Aberglaubens,  die 

leineruug  der  Sitten  allein  ins  Auge  fasst  und  wertschätzt. 
Hegel  hätte  —  ohne  sonst  den  Boden  seine-  historischen  Wissens 
intensiver  anzuhauen  —  eine  ganz  andere  Anwendung,  als  er  ge- 
tan, von  der  dialektischen  Methode  auf  die  Geschieht.'  machen 
können,    ganz    -    a    d   deren  Geist  er  sich  hier   beschränkt  auf  die 

ähnliche  Dichotomie  (bei  ihm  vorstaatliche  und  staatliche  Völ- 
ker) und  auf  eine  ziemlich  äusserliche  Tetrachotomie,  neben  der  die 
Trichotomie  (Einer  frei  —  Einige  frei  Alle  frei  — )  noch  in- 
haltleerer einhergeht  Und  doch  lag  eine  tiefer«  Trichotomie  gleich- 
sam in  der  Luft,  m  Rousseau  mit  s..  tiefreichendem  Erfolge 
eine  Ueberwindung  der  Cultur  durch  Cultur,  und  Rückkehr  zur 
Natur  a  rt  hatte:  unter  Rousseaus  Einflüsse  standen  Kant. 
-    liller,    Herder,  Fichte,  Iselin   und  andere:    in    die   Denkungsari 


Schellinga  and  der  Romantik  ging  •■  -  ^üick  davon  hinüber. 

Dnd  ganz  zei  siech  mit  Hegel  Bammelte  St  Simon,  der  auch 

auf  Goethe  Eindruck  machte,  am  sich  eine  Gemeinde,  aus  der  eine 
tiefere  and  wahrere  Ansichl  der  Kultur  und  ihrer  Geschichte  her- 
vortönt, die  sieh  aber  ohne  Zwang  in  ein  Hegelsches  Schema  liiirt: 

anische  Perioden  treiben  mil  Notwendigkeil  ihre  » i  l^* •  1 1  ■  \ 
aeinung,  die  kritische  Periode  hervor  and  diese  muss  sich  er- 
schöpfend in  eine  erneute  and  erhöhte  organi»  he  Periode  i  linmün- 
den.  Hegels  Philosophie  der  Geschichte  ist  ärmer  als  sein  System, 
selbsl  wenn  man  vod  den  wesentlichen  Mängeln  seiner  Erkenntniss 
historischer  Tatsachen  und  Causalitäten  absieht. 

Die  Wirkung  isl   vielleicht   am  so  stärkei    gewesen,    weil  sie 
von  einem  lange  als  die  Philosophie  angestaunten  and  zugleich  als 
unergründlich  tief  oder  auch  als  abstrus  gemiedenen  Systeme  das- 
jenige   war,    was    an   vorherrschende   und   bequeme  Ansichten 
(alliger  sich  anschmieg     .    wenigsl  dass  die  scharfen   Kanten 

sä  eben  diese   Hegeische   Philosophie    sich    selber   als  die 

mtlich  höchste  Vollendung  der  Menschheil  darstellt)  ohne  Dm- 
stän  rschliffen  werden  konnten. 

II. 

Das  -ehr   ausführliche  :'>.  Kap.    der    vorliegenden   Schrifl    be- 
schäftigt sich  mit  der  „allgemeinen  Geschichtsphilosophie  hei  II. 
Schülern";  als  solche  weiden  durchgenommen  Gans,  Lassalle,  Marx, 
einige  „Unselbständig  eidlich    Ed.  \.   Hartmann.     Die   drei  fol- 

genden Kapitel  betrachten  sodann  die  besonderen  Entwicklun 
der  Religion,  der  Kunst,  der  Philosophie  bei  Hegel  und  seinen 
Schülern,  ein  VII.  stellt  die  Ergebnisse  dar,  endlich  folgen  zahl- 
reiche Anmerkungen,  deren  hauptsächlicher  Zweck  Hegelianische 
Irrtümer  aach  Ergebnissen  neuerer  Forschungen  zu  berichtigen  ist. 
Die  An  und  Weise  solcher  Berichtigung  geschieht  etwas  schema- 
h  und  trocken,  Bie  trägl  einige  Züge  von  Pedanterie  an  sieh. 
Gleichwol  sind  di<  -••  Anmerkungen,  und  die  Kapitel  selber,  durch- 
aus verdienstlich  und  der  Beachtung  wert.  --  Verdienstlich  i-i 
—  Hr.  Barth  in  diesem  Zusammenhange  dei  h  aen- 

aenden  materialistischen  Geschichtsauffassung,  und  dem  der  für 


Neuere  Philosophie  dei  Geschichte:  Segel,  Marx,  Comte.  501 

sie  verantwortlich  gemaohl  wird.  Karl  Marx,  eine  sorgfälti 
Kritik  gewidmel  hat  Vor  einigen  Jahren  habe  ich  Gelegenheit, 
gehabt  (in  den  Philosophischen  Monats-Heften),  von  dem  literari- 
schen Balbdunkel  zu  reden,  »las  die  conventionelle  Gutgesinntheil 
die  oft  genug  auch  den  Altar  der  Wissens. 'hart  oichl  zu  gul  für 
ihre  Decorationen  hält,  aber  solche  Gestalten,  wie  Karl  Marx,  aus- 
gebreitet habe.  In  diesen  wenigen  Jahren  hat  aber  solches  Halb- 
dunkel sich  merklich  gelichtet.  Es  wird  oichl  lange  mehr  dauern, 
so  wird,  dass  Marx  in  der  politischen  Oekonomie  Epoche  gemacht 
habe,  ebenso  allgemein  zugestanden  werden,  wie  dies  etwa  von 
Kant  in  der  Erkenntnisslehre,  von  Darwin  in  der  Zoologie  als  fest- 
stehend gilt. 

Wenn  Hr.  Barth,  nach  seinem  Titelblatte,  die  „Hegelianer  bis 
auf    Marx    und  Bartmann"    behandeln   will,    so    kann    dies   nicht 
anders  verstanden  werden,   als  dass   er  diese  beiden  auch  als  He- 
gelianer bezeichnen  will.    Ed.  von  Hartmann  gehl  mich  hier  nicht 
an.    In  Bezug  auf  Marx  aber  niuss  ich  diese  Bezeichnung  für  falsch 
erklären.     Herr  B.  erzählt  selber  (S.  40):  „ein  anderer  Jünger  der 
Hegeischen  Philosophie.  K.  Marx,    hatte   unter  dem  Einflüsse   von 
Feuerbachs    Wesen    des    Christentums,    dieselbe    Schwenkung    wie 
dieser  vollzogen".    Dies  ist  richtig.    Beide  sind  von  der  Hegeischen 
Philosophie  abgeschwenkt,  haben  sich,  durch  Aufgebung  fundamen- 
taler Dogmeu.  davon  getrennt;   aus  besonderen  Gründen  bekannte 
sich   dennoch    Mars    als   „Schüler  jenes  grossen  Denkers"  (was  er 
doch  auch  nur  im  literarischen  Sinne  war)   und    beide  dürfen    als 
„Jünger  der  Hegeischen  Philosophie"  wol  in  Anspruch   genommen 
werden.     Aber   ein   „Hegelianer"  sollte   keiner  der  beiden   Aposta- 
ten heissen.    Aristoteles  war  ein  Jünger  der  Platonischen,  Kant  der 
Wölfischen  Philosophie,  abei  Aristoteles  war  kein  Platoniker,  Kant 
kein  Wolffianer.    Herrn  Barths  Titelblatt  ist  demnach  ein  Missver- 
ständniss  zu  erregen  angetan.   Er  bemerkt  im  Anschlüsse  an  obig 
Satz:  „Gleichwohl  bewahrte  Mars  in  formaler  Hinsich!  so  viel  von 
,1,1-   Hegeischen    Denkweise,    da>>    seine    Geschichtsauffassung    hier 
ni.ht  ausser  Rücksicht  gelassen  werden  darf-.    Es  i>>  oeuerdings  auf 
vortreffliche  Weise  (durch  lim.  Freudenthal)  gezeigl  worden,  dass 
vnü   der  scholastischen   Denkweise  —  gleich  anderen  Umsturz- 


-,,»•>  P.  Tönni< 

Philosophen  —  Spinoza  in  formaler  Hinsichl  gar  Behr  viel  be- 
wahrt hat;  wir»!  Herr  B.  ans  diesem  Grunde  Spinoza  einen  Scho- 
lastiker nennen?  An  einer  späteren  Stelle  die  Kritik  ober 
Marx  erfüllt  Dicht  weniger  als  20  Seiten  —  sagl  Hr.  B.  v 
„Die  Geschichtstheorie  von  Man  . .  .  isl  das  directe  Widerspiel  der 
Hegeischen,   in  deren  Schule  M.  sein«  Bildung(?)  empfangen 

!,;,t!.       \:    dieser  selbst   hal   sich  gewissermassen  jene  dialektische 
Bewegung  vollzogen,  der  nach  Hegel  alles  unterworfen  ist,  die  Be 
wegong  zum  Gegensatze.    Von  der  absoluten   Idee  I"  i  Hegel  selbsl 
ial  sie  auf  den  durchaus   oichl   absoluten,    sondern   sehi   relath 
endlichen    and    empirischen    ökonomischen   P     ess   1       M     » 
kommen."    Zuletzt  aber  giebl  er  als  Ursache,  warum  die  Marxische 
Theorie  von  ihm  « -i ( i l^< -1 1 1 -n « 1  beleuchtel  wurde,  an,  dass  sie  „inner- 
halb einer  über  alle  Kulturstaaten  ausgedehnten  politischen  Partei 
die  unbedingt  herrschende,  also  von  actuellem  Interes« 

-  ist  also  ein  Gesichtspunkt,  der  mit  Hegel  und  den  Hegelianern 
nichts  zu  tun  hat.  Die  Theorie  wird  richtig  dargestellt,  nach  dem 
Vorworte  der  (wenig  bekannten  und  selten  gewordenen)  Schrift 
„Zur  Kritik  der  politischen  Oekonomie"  (1859  ;  die  von  ihm 
tirten  Sätze  uennl  Hr.  I!  „leider  sehr  unbestimmte,  mit  Bildern 
zusammengeflickte  Formulirungen  der  socialen  Statik  und  Dynam 
Er  führt  die  historischen  Beispiele  an,  durch  welche  Marx  Beine 
Theorie  gelegentlich  erläutert  und  begründel  habe,  er  findet,  dass 
Marx  sei  bei  und  seine  Anhänger  den  Beweis,  dass  ille  Erscheinun- 
eschichtlichen  Lebens  durch  die  ökonomische  Structur  be- 
stimmt seien,  nur  mit  sehr  wenigen  „Illustrationen"  erbrachl  ha- 
ben4).   Er  versuchl  alsdann  die  Theorie  zu  widerlegen  und  darzu- 


»)  Dabi  i   vi  rsäuinl   der  Kritik«  utende  S 

alle  falschen  Anwendungen  zu  Boden  schlägt,  zi  Kapital       £ 

\iiin.  89:  »Darwin  hal  das  il  r  ch- 

qoI(  i  nl.i.  d.  h.  auf  die  Bildung  di  i   '"'        a-  und    I  Pi  • 

duktionsinstrumente    füi    da     Lebei    dei    Pflan  en    un      I  i  v        enl    die 

Bilcj  chichte  der    produktiven   Organe   des   Gesellschaftsmenschen,    dei 

materiellen    Basis    jeder    besoi  Gesi  llschafts  iche 

Aufmerksamkeit?    Und  e  uichl  leichter   zu  liefern,  da,    wi(    \ 

Uenschengeschichte   sich  dadurch    von  dei     •         eschichte   unterscheidet, 
wir  die  eine   gemacht   und  di<    andere  uichl   gemacht  haben?    [man  be- 


lere  Philosophie  der  Geschichte:  [Tegel,  Marx,  Comte.  503 

tun:  1)  dasa  zwischen  Oekonomie  und  Politik  die  engste  Wechsel- 
wirkung bestehe,  der  das  Gleichniss  von  Basis  and  Üeberbau  [wie 
jene  Formulirung  inthält]  nichl   entspreche;    2)  dass  aucli   das 

Rech!  nicht  eine  blosse  Function  der  Oekonomie,  sondern  eine 
selbständige,  eigene,  wenn  auch  nicht  anabhängig«  Existenz  führe; 
3)  dass  ebenso  mit  Unrechl  „die  Marxisten"  Mural  als  blosse 
Nebenerscheinung,  gewissermassen  Abfallsprodukt  aus  der  Oekono- 
mie hervorgehen  lassen;  1)  dass  das  Umgekehrte  dessen,  was  Marx 
behaupte,  in  Bezug  auf  Religion  überall  in  der  Geschichte  hand- 
greiflich sei.  nämlich  ihr  tiefgehender  Einfluss  auf  die  Oekonomie; 
5)  dass  sogar  die  Philosophie  z.  15.  in  der  Französischen  Revolu- 
tion die  Politik  und  indirect  durch  diese  auch  die  Oekonomie  be- 
stimmt halte.  Endlich  6),  was  die  historische  Bewegung  angeht, 
vertrete  Marx,  durch  die  Hegeische  Dialektik  verführt,  die  Illu- 
sion, dass  mit  derselben  Geschwindigkeit,  womit  ein  Urteil  durch 
eine  Verneinung  aufgehoben  werde  ein  historischer  Zustand  „inn- 
schiage''.  sein  (iegenteil  erzeuge.  —  Offenbar  hat  dieser  letzte  Punkt 
nichts  mehr  mit  dem  „materialistischen"  Charakter  zu  tun,  könnte 
eher  als  ein  Ueberlebsel  des  Gegenteiles  betrachtet  werden. 

Im  Vorbeigehen.  Marx  hat  niemals  öffentlich  behauptet,  in 
jenen  Sätzen  einer  Vorrede  irgendwelche  Theorie  aufgestellt  zu 
halien.  Ersl  Engels  bezeichnet  (1878)  die  materialistische  Ge- 
schichtsauffassung als  eine  der  beiden  grossen  Entdeckungen,  durch 
welche  Marx  den  Sozialismus  zu  einer  Wissenschaft  gemacht  oder, 
wie  der  bessere  Ausdruck  lautet,  den  wissenschaftlichen  Sozialismus 
:i  findet  habe. 

Wie  steht  es  nun  mit  dem,  was  Marx  gesagl  hat,  und  mit 
Herrn  Barths  Widerlegung  davon?  „„Die  Gesammtheil  der  Pro- 
duktionsverhältnisse" —  lautet  jene  Stelle  —  (die  einer  bestimm- 
ten Entwicklungsstufe  der  materiellen  Produktivkräfte  entsprechen) 
bildet  ilie  ökonomische  Struktur  der  Gesellschaft,  die  reale  Basis, 
worauf  sieh   ein  juristischer  und  politischer  Üeberbau  erhebt,  und 


merk'''    Die   Technologie    enthüllt   das    ;ikti\.-   Verhalten    des    Menschen  zur 
ir,  den  unmittelbaren  Produktionsprozess  seines  Lebens,  damit  auch  seiner 
ellscbaftlichen  Lebensverhälti  md    dei    ihnen   entquellenden   geisti 

tellungen." 


F    T     D 

welche]  Ischaftliche  Bewusstseinsformen  entsprechen. 

Produktionsweise  des  materiellen  Lebens  I  mmühltt  den  sozialen, 
politischen  und  geistigen  U  bensprocesa  überhaupt  Es  ist  nicht 
das  Bewusstsein  der  Menschen,  das  ihr  Sein,  Bondern  umgekehrt 
ihr  gesellschaftlii  n.   das  ihr  Bewussts  stimmt.""     Herr 

Barth    Bchliessl    leider  an  sein   richtiges  Citat    eine    völlig   falsche 

iphrase.     „Soweit    hat    Marx,    wenn    auch    mit    unbestimmten 
Worten    und   Bildern,    dasjenij  stimmt,    was  Comte   in   seiner 

chichtsbetrachtung  die  Statik  der  Gesellschafl  nennt:  die  Mittel 
dei   Produktion,   die   Reproduktion   «los  unmittelbaren   Lebens   ' 
-   an   einer  anderen  Stelle   heisst)  bestimmen  nach  Marx 
sellschaftliche  Bewusstsein,   die*  seilschaftliche  Bewusstsein 

stimml    wieder  das   ganz«    Sein,   den  sozialen,  politischen  und 
stigon  Lebensprocess   überhaupt."     Der  Gedanke   isl    hier  auf 
Kopl  gestellt  —  ich  denke,  dass  es  mir  durch  Flüchtigkeit  gesche- 
x  heh.  ii  ist.     Dagegen  beachtel  der  Kritiker  nicht,    dass   in   jenen 
Sätzen  zuerst   eine   Dreiteilung  dei    -«'/'ahn   Phänomene  vorgelegt 
wird:   ökonomische  Struktur  —  juristischer  und  politischer  l  i 
bau    -  ellschaftliche    Bewusstseinsformen;    sogleich    aber    die 

Zweiteilung  an   die  Stelle   tritt:   Produktionsweise   des   materiellen 
Lebens  =  gesellschaftliches   Sein  —  sozialer,   politischer,   geisl 
Lebensprocess  =  gesellschaftliches  Bewusstsein.     Und  doch  genügt 

Wahrnehmung,   dass   diese   Diskrepanz   nicht    ausgeglichen 

um   zu  verneinen,    dass   hier  eine   ausgearbeitete  Tl rie   vorlii 

Gegeben  sind,  als  Elemente  einer  Theorie  der  Geschichte,  nur  eine 
Reihe  Marxischer  Aphorismen,  von  denen  dies«  \  irrede  die  am 
meisten  principiell  gefassten  enthält.  Herr  Barth  fahrt  in  Beiner 
Kritik  fort:  ,Das  Bild  von  Basis  und  Ueberbau  schliesst  die  Fol- 
gerung in  sich,  dass  die  ökonomischen  Verhältnisse  die  Urform, 
das  Erdgeschoss  sind,  die  übrigen  wie  darauf  ruhende  Stockwerke 
diese  Formen  nur  wiederholen,  als..  Recht,  Politik  und  Religion 
nur  den  Grundriss  der  wirtschaftlichen  Verhältnisse  wiederepie- 
geln."  Wenn  Herr  Barth  das  Stückwerk  von  Bildern  bei  Marx  an- 
klagt, so  muss  ich  ihm  vorwerfen,  dass  er  au  neu  Mitteln  diese 
Bilder  vermehrt  Marx  hat  weder  von  Erdgeschossen  und  darauf 
ruhenden  Stockwerken,  uoch  von  Wiederspiegelungon  eines  Grund- 


Neuere  Philosophie  der  Geschichte:   Segel,  Marx.  Comte.  ".n. 

rissi  a  gesprochen.  Seine  eigene  hier  gegebene  Ausdrucksweise  halte 
auch  ich  nicht  eben  für  glücklich,  sie  isi  jedenfalls  sehr  unbestimmt, 
Meinung  tritt  doch  klar  genug  hervor  und  bedarf  keines 
Umschriebenwerdens.  Sie  erscheint  aoeh  deutlicher  durch  die  Art 
wie  das  Gesetz  der  Bewegung  dargestellt  wird.  „Auf  einer  gewissen 
Stute  —  so  oeht  die  citirte  Stelle  weiter  —  ihrer  Entwicklung  ge 
raten  die  materiellen  Produktivkräfte  der  Gesellschaft  in  Widerspruch 
mit  il'n  vorhandenen  Produktionsverhältnissen ,  oder,  was  nur  ein 
juristischer  Ausdruck  dafür  ist,  mit  den  Eigentumsverhältnissen,  inner- 
hall) deren  sie  sich  bisher  bewegt  hatten.  Aus  Entwicklungsformen 
der  Produktivkräfte  schlagen  diese  Verhältnisse  in  Fesseln  derselben 
um.  Es  tritt  dann  eine  Epoche  socialer  Revolution  ein.  Mit  der 
Veränderung  der  ökonomischen  Grundlage  wälzt  sich  der  ganze 
ungeheure  üeberbau  langsamer  oder  rascher  um.  In  der  Betrach- 
tung solcher  Umwälzungen  muss  man  stets  unterscheiden  zwischen 
der  materiellen  naturwissenschaftlich  treu  zu  konstatirenden  Um- 
wälzung in  den  ökonomischen  Produktionsbedingungen  und  den 
juristischen,  politischen,  religiösen,  künstlerischen  oder  philosophi- 
schen, kurz  ideologischen  Formen,  worin  sich  die  Menschen  dieses 
Conflictes  bewusst  werden  und  ihn  ausfechten."  Der  Gedanke 
wird  deutlicher,  obgleich  der  Ausdruck  schillernder.  Dem  Gedanken 
>e]her  hätte  Herr  Barth  mit  einiger  Hingebung  nachgehen  sollen. 
anstatt  ihn  durch  neue  Gleichnisse  zu  entstellen,  und  mit  mehr 
um  als  Tiefe  zu  bestreiten.      Der  Gedanke    lässl    sich,    wie 

ncher  andere,  worin  die  zu  viel  suchen,  die  ihn  völlig  absolut 
verstehen  wollen,  nur  richtig  deuten  durch  die  Beziehung  zu 
seinem  Gegensatze,  woraus  er  erwachsen  ist.  Hegel  war.  wie 
ich  auszuführen  versucht  habe,  der  systematische  Wortführer  einer 
allgemein  herrschenden,  noch  heute  vorherrschenden  Denkungsarl 
über    die  Geschichte   der  Menschheit.     Fr.  Engels  (Anti-Dühring 

0  bemerkt:  „Die  alte  idealistische  Geschichtsauffassung  .  .  . 
kannte  keine  auf  materiellen  Interessen  beruhenden  Klassenkämpfe, 
überhaupl  keine  materiellen  Interessen;  die  Produktion  wie  alle 
ökonomischen   Verhältnisse    kamen    in    ihr    nur   so    nebenbei,    als 

unterg 'dnete   Elemente    dei      Kulturgeschichte     vor."      Er  hätte 

dürfen:    „weder   die  wesentlich    politische    Geschieht 


F.  Tönnii  s, 

Schreibung  Qoch  die  wesentlich  idealistische  Philosophie 
der    Geschichte  .  Denn    es    ist    zweierlei.      Die    Historie 

selber  dient,  parallel  mit  der  Entwicklang  moderner  Staaten,  der 
herrlichung   oder   Kritik   von   Fürsten   und  ihren  Leuten,   oder 
anderen  Staatsmännern,    daher   vorzugsv  ler  Schilderung  von 

Kriegen  und  von  Gesetzgebungen.  Ursachen  sind  die  Personen, 
ihre  Klugheit  oder  Dummheit,  ihr  starker  oder  schwacher  Wille. 
Die  Philosophie  hingegen  vertritt  schon  das  Volk,  und  erkennt  in 
den  Schicksalen  des  Volkes  das  Problem.  Aber  sie  verwechselt 
das  Volk  mit  der  Gesellschaft  d.  h.  mit  deren  Entwicklung  in  der 
bürgerlichen  Classe;  der  Fortschritt  der  Wissenschaft,  die  Aufklä- 
rung erscheint  als  wesentlich  bestimmendes  Moment.  Hierfür  fin- 
del  Hegel  den  letzten  grossen  Ausdruck:  die  Gedanken  selber  be- 
wegen  sich  als  substanzielle  in  der  „Weltgeschichte."  I  rsachen 
sind  die  Ideen;  und  nur  als  Träger  von  Ideen  haben  die  grossen 
Männer    ihre   Bedeutung.      Die  öffentliche  und    gelehrte    Mein' 

haltet  noch  heute,  zwar  nicht  am  Ausdrucke,  aber  am  Inhalte 
dieser  Sätze.  Sie  kann  als  die  liberale  jener  politischen  als  der 
mehr  konservativen  oder  gouvernementalen  Meinung  entgegengesetzt 
werden,  richtiger  aber  als  die  gesellschaftliche  der  staatlichen 
Bei  Hegel  i>t  wie  im  alten  Naturrecht,  der  Staat  selber  Idee,  und 
i-t  bedeutend  ohne  Ansehen  der  Personen,  die  an  seinei  spitze 
stehen. 

l"iü  die  Causalitäl  in  der  Geschichte  zu  begreifen,  mu<s  man 
Klarheit  besitzen,  was  man  unter  dieser  Causalität  verstehen  wolle. 
ohne  Zweifel  haben  alle  die  Gruppen  von  Erscheinungen,  welche 
Marx  „ideologische  Formen"  nennt,  je  ihre  innere  Geschichte  und 
innere  Causalität;  Hr.  Barth  scheint  unbedachterweise  anzunehmen, 
da—  Marx  dies  habe  leugnen  wollen.  Marx  würde  dann  wol  nicht 
-,,  ungeheure  Muhe  nm  di<  Geschichte  der  politischen  Oekonomie, 
oinei  vergleichungsweise  untergeordneten  Form  des  wissenschaftli- 
chen Bewustseins,  Bich  gegeben  haben.  Es  gibt  auch  keinen  Grund, 
ihn  für  -'»  töricht  zu  halten,  als  ob  er  nicht  gewusst  hätte,  dass 
durch  wissenschaftliche  Theorien  politische  Acte  bestimml  werden, 
und  dass  diese  wiederum  auf  das  Kelten  gestaltend,  /.um  wenigsten 
inodificirend,    einwirken,     ha-   sind    aber   Betrachtungen,    die  nur 


Neuere  Philosophie  der  Geschichte:   Segel,  Marx,  Comte.  501 

Einzelheiten  angehen.  Werden  dagegen  die  Tatsachen  so  zusam- 
mengefasst,  dass  neben  und  über  die  Tatsachen  des  Lebens  - 
seilschaftliches  Sein)  die  Tatsachen  des  Denkens  (das  Bewusstsein 
der  Menschen)  gestelll  werden,  so  lautet  die  einfache  Frage:  welche 
Gruppe  kann  ohne  die  andere  existiren  und  gedachl  werden?  be 
ruht  Leben  im  Denken  oder  beruh!  Denken  im  Leben?  wird  das 
Sein  durch  das  Bewusstsein,  oder  wird  das  Bewusstsein  durch  das 
Sein  bestimmt?  Der  Streit  muss  dann  verschwinden  vor  der 
Wahrheit.  Alle  politischen  und  wissenschaftlichen  Ideen  bedürfen 
notwendigerweise  der  .realen'  Grundlage  eine-  .materiellen'  Daseins: 
alier  diese  bedarf  nicht  notwendigerweise  des  üeberbaus  irgend 
welcher  Ideen.  Insoweit  genügt  das  architektonische  Gleichni 
das  Hr.  Barth  talschlich  dahin  auslegt,  dass  die  Formen  „wieder- 
holt", der  Grundriss  „wiedergespiegelt"  gedachl  werde.  Hr.  Barth 
schiebt  für  die  Basis  das  Erdgeschoss  unter  und  stellt  sich  nun 
eine  grosstäd tische  Miethskaserne  mit  schablonenmässiger  Zimmer- 
einteilung vor.  Und  doch  ist  sonnenklar,  dass  nur  gemeint  war: 
das  Haus  bedarf  eines  Fundamentes;  das  Fundament  bedarf  keines 
Hauses.  So  bedürfen  die  höheren  Tätigkeiten  dos  Lebens  der 
niederen,  aber  die  niederen  bedürfen  nicht  der  höheren.  Wir 
fügen  hinzu  und  Marx  hätte  nicht  versäumen  sollen  darauf  hin- 
zuweisen: des  individuellen  wie  des  sozialen  Lebens.  In  der 
Tat  ist  die  biologische  oder  genauer:  die  anthropologische  Analogie 
hier  unvermeidlich.  Auch  das  menschliche  Einzelleben  ist  denkbar 
oder  kann  vorhanden  sein  ohne  alle  Mitwirkung  von  Sinnes-  und 
Bewegungs-  geschweige  denn  von  Denkorganen.  als  schiere-  Y 
tiren;  in  seinem  nurmalen  und  gereiften  Zustande  ist  es  aller- 
dings durch  die-.'  Organe  mitbedingt.  Dasselbe  Verhältniss  ist 
evident  im  sozialen  beben:  aber  die  grosse  Com plication,  die  hier- 
aus sich  ergibt,  darf  uns  die  einfache  Rangordnung  nicht  verdun- 
keln. Der  höhere  Rang  ist  eben  dadurch  der  höhere,  das-  er  von 
i   niederen  en  wird;   so  wird  die  höhere,   die  an  Schätzen 

und  an  Wissen  reichere  Classe  gleichsam  getragen  und  gehoben  von 
der  Menge  des  arbeitenden  Volkes;  so  die  [deen  selber,  die  in  den 
höheren  Classen  zur  Blüte  gelangen,  durch  die  Muskel -Anstren- 
gungen,  die  den   Nahrungsafl   des  Stammes   in  frischer  Circulation 


F.  Tönni  ■ 

erhalten;  die  --  nach  dem  Manischen  Ausdrucke  —  der  „Repro- 
duktion des  unmittelbaren  Lebens"  dienen.  Darum  lässt  sich  der 
Rai  '  and  der  Wichtigkeit  auch  umkehren:  das  Aeltere 

ere,  Allgemeinere  ist  dann  das  Ehrwürdigere,  sofern  es  ander 
twendigkeil  und  an  der  produktiven  oder  tragenden  Kraft 
messen  wird.  —  Ist  nun  so  im  sozialen  Leben  die  Causalitäl  der 
ökonomischen  Structur,  der  Produktionsweise  des  materiellen  l>;i 
seins  zu  den  übrigen  Lebensprozessen?  Ist  in  dem  \\;i-  Marx  be- 
hauptet nichts  anderes  und  nichts  mehr  enthalten?  Es  ist  in  seinen 
Ausdrucken  etwas  anderes  enthalten.      Wenn  da-  Materielle  dem 

it-Materiellen  und  insbesondere  dem  Geistigen  entgegengesetzt 
wird,  so  ist  es  herkömmlich  und  scheinl  unausrottbar,  dass  das 
Materielle  verstanden  wird  als  ob  es  kein.'  geistige  Seite,  und  das 
ds  ob  es  keim-  materielle  Seite  hätte.  Wie  irrtümlich 
-  ist,  wird  gerade  durch  d.i.-  soziale  Leben  gleichsam  in  grossen 
Buchstaben  lesbar.  Die  Güterproduktion  geht  sichtlich,  auf  jeder 
Stufe,  in  psychologischen  Formen  vor  sich,  und  das  soziale,  poli- 
istige  Leben  iiberhaupl  kann  niemals  ohne  ihm  eigen« 
nomische  Ausdrücke  vorhanden  sein.  Hier  i>t  nicht  die  tat- 
sächliche Wechselwirkung  der  Organe  und  Functionen  gemeint, 
sondern  die  begriffliche  Identität  und  Coexistenz  objektiver  und  sub- 
jektiver Phaenomene.  Wenn  wir  alle  Ursache  Indien,  da-  niedere 
und  vegetative  Leben  wesentlich  als  objektive  —  in  der  sozialen 
Sphäre  als  ökonomische  —  da-  höhere,  animalisch-mentale  wesent- 
lich als  subjektive  -  dorl  als  ideologische  Tatsachezu  betrachten, 
so  fordert  doch  diese  Betrachtung  ihre  beständige  Correctur  heraus, 
um  aufdringlichen  Missverständnissen  zu  wehren.  Vollkommener 
und  genauer  würde  das  Verhältniss  dargestellt  werden  als  bestehend 
/.wischen  der  Produktion  allgemeinerer  und  der  Produktion  beson- 
derter  Weit.'  (denn  der  Unterschied  materieller  und  immaterieller 
deckt  Bich  damit  nicht)  auf  der  einen  Seite;  auf  der  anderen: 
zwischen  dem  geistigen  Lehen  da-  auf  jene  und  dem  geistigen 
Leben  das  auf  diese  sich  bezieht.  Hat  etwa  da-  ökonomische 
Wesen  keine  ideale  Seite?  Ist  dir  Liebe  des  Hauern  zu  seinem 
Acker,  di<  ill  der  Hausfrau  für  Küche  und  Leinwand,  ist  der 

Eifer    de-    Mechanikers,  ja   i-t    nicht    das    banale   Streben    nach 


Neuere  Philosophie  der  Geschichte:  Segel,  Ifarx,  Comte.  50iJ 

wirthschafüicher  Selbständigkeil  und  Begründung  des  eigenen 
Herdes,  ein  geistiges  Motiv?  Und  hat  üichl  wiederum  die  Kirche, 
trotz  aller  asketischen  [deale,  einen  guten  Magen?  gehl  nicht  die 
Kunst  demBrote  nach?  und  heissl  es  nichl  überall:  primum  vivere 
deinde  philosophari?  —  Durch  solche  Ansicht  Bcheint  die  fast  von 
selbst  verständliche  These,  dass  die  höheren  Functionen  durch  die 
niederen  bedingt  sind,  viel  von  ihrer  Paradoxie  zu  verlieren,  die 
ihr  diese  Anwendung  zugefügt  hat.  Die  Oekonomie,  die  für  Nah 
rungsmittel,  Kleidung,  Wohnstätten  etc.  sorgt,  trügt  und  bcgriindc-i 
die  Oekonomie,  deren  Function  die  Herstellung  und  Erhaltung  des 
politischen  Gebäudes,  der  Kunst.  Wissenschaft  und  aller  edleren 
Kultur  ist.  Und  das  Gedankenleben  selber  muss  sich  notwendiger- 
weise zuerst  und  im  allgemeinen  auf  die  Sorge  ums  tägliche  Brot 
hinwenden,  worüber  die  grosse  Mehrzahl  des  Geschlechtes  immer 
nur  um  weniges  sich  erheben  kann,  ehe  es  Einigen  vergönnt  ist, 
ihre  Ideen  und  ihren  Willen  ganz  und  gar  in  Politik  und  Hecht, 
endlich  gar  auf  das  Schöne  und  Oute  zu  richten,  und  aus  der 
Praxis  entfliehend  in  die  Theorie  und  Spekulation  sich  zu  vertiefen. 
Und  die  Art  wie  das  Höhere  geschieht,  bleibt  durch  die  Art  wie 
und  den  Umfang  in  dem  das  Niedere  geschieht,  schon  darum  be- 
dingt, weil  nur  in  einer  dichteren  Volksmenge  die  Aussonderung 
der  Müssigen  möglich  ist.  und  weil  die  Dichtigkeit  des  Zusammen- 
lebens nur  durch  die  Menge  und  Vielfachheit  der  Produktion  von 
Gütern  Ihm  zunehmender  Leichtigkeit  des  Verkehres  und  des  Aus- 
tausches möglich  gemacht  und  vermehrt  wird.  Dies  ist  alles  sehr  be 
kannte  Wahrheit,  wie  ich  denn  früher  erinnert  habe  (Ph.  Monats- 
hefte L892.  S.  446),  dass  ihre  Einsichl  schon  der  hergebrachten  Ein- 
teilung und  Folge  von  Jägern-,  Nomade.n-  und  Ackerbauvölkern  zu 
Grunde  liege,  und  in  der  ebensowenig  aeuen  Entdeckung  sich  wie- 
derfinde, dass  durch  Gewerbfleiss  und  Handel  das  städtische  Leben, 
durch  städtisches  Leben  aber  alle  höhere  Bildung,  als  Knust  und 
Wissenschaft,  wesentlich  bedingt  sei. 

Die    Bemerkungen    des    Kritikers    über    Unabhängigkeil    und 
Einflu8s  von  Politik.  Recht   Moral,  Philosophie,  möchten  alle  richtig 
sein  (vielleicht  sind  aber  einige  etwas  leicht    und  oberflächlich 
fasst),  sie  können  doch  den  Kern  des  Problemes  garnichl  berühren. 


510  1     i    uni 

richtig  vendung  richtigeD  Grundgedankens  der  mate- 

rial       \   sichl  historischer  Verwandlungen  wird  sich  als  ein  Fort- 
schritt wissenschaftlicher  Brkenntniss  behaupten.     Marx  hatte  <lu- 
Kraft   seines  Denkens  daraufgespannt,  das  Bewegungsgesetz 
•  Irr  modernen  Gesellschaft  zu  enthüllen;  und  am  Verständnis^ 
»enwärtiger  Zeitläufe  ist  auch  uns  am  meisten  gelegen,  wenn 
wir  aus  der  Einsicht  in  die  Boziale  Bedingtheit  menschlichen  I1 
kens  und  Wollens  einen    Nutzen   für  unser    eigenes    Denken    und 
w  ollen  abzuleiten  wünschen      Wir  i  rkennen  hier  —  und  d 
der  andere  Theil  der  Methode  -    wie  unterhalb  aller  Unterschi 
nationaler,   politischer,   religiöser   und  sittlicher,    ein  gemeinsamer 
Process  durch  alle  Kulturländer  hindurchgeht,  auf  jene  mannigfi 
ausgeprägten  Formen  des  sozialen  Lebens  und  Denkens  in  gleichem 
oder    sehr    ähnlichem   Sinuc  wirkend,    ohne   dass  er  selber  ander« 
als  in  seinen  accidentellen   Erscheinungen  durch  diese  Formen  mo- 
dificirt    würde;    und    jener    Process  isl   der    ökonomisch-technische 
Process,  der  durch  die  allgemeinsten  und  notwendigsten  Bedürft] 
des  Menschen,  durch  materielle  Bedürfnisse  des  Lebens  und  Wohl- 
lebens,  am  entschiedensten  bewegt   wird,   und  seinen   eigenen   G 
setzen,    wenn    auch    nicht   als  absolul    unabhängigen,    so   doch  als 
relativ   am    meisten   unabhängigen  folgt.      Die  herkömmliche   Dar- 
stellung lässt  etwa  die  Kirche  der  „mittelalterlichen"   Kultur  ihren 
Charakter  verleihen,  den  Charakter  der  Gläubigkeit;  und  die  Kirche 
war  von  Gott  selber  begründet,   sagen  die  Einen        sie  entsprang 
der  Herrschsucht    und    Habsucht   einiger   Menschen,   die   von    Rom 
aus    die    in  Aberglauben    befangene   Well    unter    ihrem    Einflu 
hielten,  sagen  die  Anderen.    So  werden  die  Vorgänge  selber  iil 
all  den  entgegengesetzten  Ansichten  unterworfen,  über  denen,  wie 
\    Comte  trefflich  bedeutet   hat,  die  positiv -wissenschaftliche  An 
sieht  sich  erheben  muss:  der  theologischen  und  der  revolutionären, 
aber  die  Artungen  beider  sind   viel    mannigfachei    als  das  einlach. 
Schema  Comte's  erkennen  lässt.    Allen  ist  der  Irrtum  gemeinsam, 

sie  die  Meinungen  der  Menschen  als  primäre  Tatsachen  be 
trachten   und   daran.-  di(    Ereignisse   herzuleiten  versuchen:    uur 
dass  die  Einen   beklagen,  was  die  Anderen  verherrlichen.    Wir  aber 
lernen  und  werden  lernen,  dass  sich  hinter  den  Kämpfen  der  Mei 


Neuere  Philosophie  der  Geschichte:   Begel,  Marx.  Coml  ,'t|  | 

aungen,  wenn  sie  durch  ein  Objektivglas  gesehen  werden,  Kämpfe 
sozialer  Mächte    oder  Tendenzen    verbergen;    zwar    nicht   aul 
einfache  Weise,  wie  einige  „Marxisten"  sich  dies  vorstellen  mög 
an  denen  Herr  Barth  Anstoss  nimmt.    Aber  als  Ganzes  isl  es  wahr: 
die   freie   theologische   Denkungsari    und   vollends  die   freie  Natur 
und  Staatswissenschaft,  die  Alles  zermalmende  Philosophie,  wären 
nicht  mächtig  geworden,  wenn  nicht  freie  Individuen,  freie  Classen 
oder  doch  die  Elemente  einer  solchen,  schon  mächtig  gewesen  wären 
und  nach  vermehrter  Macht  mit  Ungestüm  gestrebt   hätten.     Auch 
hängen    die   neuen    Meinungen,    in    vielen    Stücken    sogar    aus 
sprochener   Massen,    mit    den    neuen    praktischen    Tendenzen    aufs 
engste    zusammen.      Die    neue   Freiheit.    Willkür.    Kühnheit    und 
Macht  von  Individuen   und  Parteien  beruht   aber  in  der  Geldwirt- 
schaft,   die   rastlos  um  sich  greift.      Die  Geldwirtschaft  wiederum 
isl    die   Stadt,    und   so    ist    der   Fortschritt    der   Zivilisation,    ihrem 
Namen  gemäss,  Fortschritt  der  Verbürgerung,  hiermit  zugleich  Fort 
schritt    des  Gegensatzes   von    Reichen    und    Armen,    von  Geniessern 
und  Arbeitern.     Nicht  die  Reformation  oder  der  Liberalismus  hat 
die  alten   Produktions-Organismen    und   die    feudalen   Verfassui 
formen  aufgelöst,  und  den  freien  Handel  erzeugt,  sondern  der  freie 
Handel  und    die  gesellschaftliche  Aullösung    reflectiren  sich   in   den 
Tendenzen  der  Staaten-Absonderung,  der  Unterwerfung  aller  korpo- 
rativen Gemeinschaften,   daher   zumal   der  Kirche:    in    den  Bestre- 
bungen alle  Verhältnisse  nach  vernünftig  erkannten  Zweckmässig- 
keiten, sei  es  der  Einzelnen,  die  sich  suchen  und  linden,  sei  es  der 
für  Alle  denkenden  Gesellschaft  seiher.  die  sich  im  liberalen  Staat« 
concentrirt,  umzugestalten  oder  sich  umgestalten  zu  hissen.    Sicher- 
lich   wirkt    die    Denkungsart,   wirken   die   Theorien   aul'  die  Praxis 
des   Lebens,    auf  die   sich   bekämpfenden    oder  fördernden   Willen 
zurück.      So    wirkt    auch    im    individualen    Lehen    bei    den    meisten 
Menschen   das    Denken    auf  die   Ausführung  ihrer   Arbeiten,    ihrer 
Geschäfte;   den  Geschäften  selber  liegen  sie,  um  sich  und  um  ihre 
Familie  zu  erhalten,  ob,  und  die  Gedanken  an  sich  seiher  und  an 
ihre  Liehen  sind  durch  vegetative  und  animalische  Antriebe,  wenn 
auch   menschlich   gestaltete,   ganz   und   gar   bedingt    und   gotrag» 
Hunger   und    Liehe    sind   die    Motoren   —    was    anderes    bat    Marx 


.'•iL'  P.  Tönnies 

ii  wollen?  was  anderes  bedeutet  die  materialistische  Philosophie 
1  -  schicht 


Wie  wir  nun  in  diesem  Zusammenhange  Comti  -  gi    achten, 
der  von  einer  idi  hen  Ansicht  immer  mehr  in  die  realistische 

und  -lfi<'ii  Zusammenhang  mit  der  vie  affective,  hinubergeführt 
wurde,  so  ist  es  uns  erfreulich,  hier  am  Schlüsse  auf  eine  neue 
Darstellung  des  gesammten  „  Positivismus  u  hinzuweisen,  die  in 
Deutschland  bisher  nicht  ihre-  gleichen  hat  und  al>  durchaus  ver- 
dienstlich ang  hen  werden  darf*).  \\*  i « -  merkwürdig,  dass 
Hegel  und  Comte  zu  gleichet  Zeit  in  den  benachbarten  Ländern, 
den  innerlich  so  verwandten  Staaten  Preussen  und  Frankreich, 
ihren  Einfluss  geübt  haben:  sehr  verschieden  gebrochene  Strahlen, 
aber  doch  eines  Lichtes  Zeugen.  Beide  sind  encyklopädische  Philo 
sophen;  aber  Hegel  spinnl  nur  Begriffe  aus  dem  Begriff«  —  alle 
Wissenschaf!  ist  sein  eigenes  Werk;  Comte  nimmt  die  Wisa 
Schäften  als  gegebene  Thatsachen,  deren  Inhall  er  beschreibend 
vorlegt;  sein  besonderes  Werk  soll  nur  die  Darstellung  des  not- 
wendigen Ganges  dieser  Wissenschaften  sein,  und  ihre  Krön 
durch  die  positive  Philosophie  der  Geschichte,  oder  -  was  dasselbe 
Bagt  -  -  durch  Erhebung  der  „Socioli  t  in  ihr  drittes  Stadium. 
Das  ist  ja  aber  auch  Hegels  .-im  tiefsten  gehende  Unternehmung: 
die  Entwicklung  der  Menschheil  zu  deuten,  lud  beide  suchen 
eine  Verbindung  jener  Gegensätze,  die  als  Gegensätze  von  Auto- 
rität und  Revolution,  von  Glauben  und  Denken,  von  Gebundenheil 
und  Freiheil  auch  die  Ansichten  der  Geschichte  notwendigem« 
bestimmen.  Für  Hegel  ist  dei  Standpunkl  der  Idee  seiner  Natur 
Dach  diesen  Gegensätzen  überlegen;  aber,  wenn  wir  den  mittleren 
herausgreifen,  so  last  zugleich  keinen  Zweifel  darüber,  dass 
trotz  aller  Verachtung  des  seichten  Verstandes,  dieser  Standpunkt 
loch  in  der  eigenen  Bewegung  des  Denkens  und  nichl  in  der  des 
Glaubens  liegt,   wenn  gleich   dei   Inhall  der  Philosophie  nur  eine 

Dei    I  onus,  asu  b  seil pi  anglichen  l  t<  lli  und 

teilt     Von    Dr.   Maximilian  ßrütt.     Separat  Vbdruck   aus   dem  0 

Uambui  |    188 


phie  der  Geschichte:   Eleg«  I,  Marx,  «'Mint''.  5  | :; 

Verdeutlichung  der  Wahrheiten  sei,  die  auch  in  „der  Religion"   für 
„die   Menschen   aller   Bildung"   vorhanden   seien    (Encyklop.  Vorr. 
zur  2.  A.usg.   i».  XIX).      A.us  dieser  verfeinerten    Betrachtung   ent- 
springt aber  auch  die  praktische  Bewertung,  also        so  zu  sagen 
die  Parteistellung.     Sie  ist  ihrer  Absicht   nach,  indifferent;   wir  .las 
Gouvernement    oder   wenigstens  —  einer  verbreiteten    Vorstellung 
gemäss  —  das  Königtum   es  sein   will   und  soll,     in  Wirklichkeit 
wird  sie  daher  mehr  nach  der  rechten  oder  mehr  nach  der  linken 
Seite  sich   hinneigen  —   wie  diese  Tendenzen   denn  in   der  Hegel- 
schen    ..Schule"     rasch    auseinander    gehen.      Hegel    selbst    ist     im 
Praktischen  ohne  Zweifel    mehr  konservativ  als  revolutionär  zu 
nennen,   aber   doch   mit    jener   liberalen   Färbung,   die  von  Zeit   zu 
Zeil    der   konservativen  Gesellschaft   an   dem    höheren  Staats- 
beamtentum unangenehm  auffällt.     Comte  war  alles  andere  als 
ein  .offizieller  Philosoph.    Persönlich  mehr  ein  Proletarier  als  ein 
Würdenträger;  im  socialen  Denken  mehr  Phantast  und  Prophet   als 
Verherrlicher    der    Wirklichkeit.      und    doch    ist    die    Tatsache 
leicht  erklärbar,   dass  sich  als  Kritiker  und  Reformatoren   der  ge- 
sellschaftlichen  Zustände    überall  Comtisten   mit  Hegelianern    be- 
dien.6)    Jene   Gegensätze   haben    für  Comte  eine  prominente 
Bedeutung;   sie  bezeichnen  ihm  ja   die   notwendigen  Phasen  durch 
die  das  sociologische  Denken  —  wie  alles  wissenschaftliche  Denken 
—  hindurchgehen  musste;  und  so  gewiss  als  alle  früheren  Wissen- 
schaften endlich  positiv  geworden  sind,  um  so  später  je  besonderter 
und   komplicirter  ihre   Beschaffenheit    ist,   ebenso  gewiss   wird   die 
Soziologie    positiv  werden,    ist    im   Begriffe   es  zu  werden    und  eine 
Politik  aus  sich  zu  erzeugen,  die  der  konservativ-theologischen  und 
der  revolutionär-metaphysischen  so  überlegen  sein  soll  wie  die  Ko- 
pernikanisch-Kepler'sche  Astronomie  den  Chaldäern  und  Astrologen 
sowohl  als  den  ptolemäischen  Konstruktionen  und  scheinbaren  Er- 
klärungen  überlegen   sei.      „Mit   der   Disziplinierung   des   Denkens 
und  der  Neubegründung  der  Sitten  konstituirt  -ich  eine  neue  geist  - 
liehe   Obrigkeit,   welche  das   Organ   für   die  endgültige   Leitung 

Hervorragende   englische    Comti  hörten    zu    den   Mitbegründern 

der  „Int           male",  d              neral-Sei  K.  Marx  war  —  was  im  J.  1864 

ein  sehr  avancii  tes  D(  i              eichnet !  — 

VII.  •>'  > 


51  1  V.  Tönnii 

der  Menschheit  bilden  wird"  (Krim  s.  47).  Dies  könnte  ganz  wo! 
auch  al>  Formel  dea  Hegelischen  Gedankens  gelten,  nur  dass  bei 
Hege]  die  Forderung  als  eine  ,niedrijge'  und  fasl  erfüllte'  sich  dar- 
stellen würde,  l  I  tnte  als  ,höhere(  aber  auch  »unerfüllte1;  wir 
beziehen  uns  lii«r  auf  einen  Goethe'schen  Sprach,  der  die  höheren 
lerungen,  wenn  auch  unerfüllt,  als  „an  sich  schon  schätzbarer" 
bezeichnet  Comte  weiss  so  wenig  von  dem  Zusammenhange  seiner 
Postulate,  als  Hegel  von  dem  Zusammenhange  Beines  Staates  als 
des  „an  und  für  sich  Allgemeinen"  mit  dem  keimenden  Sozialis- 
mus oder  den  [deen  der  Arbeiterklasse,  und  doch  stehl  II 
in  einer  ähnlichen  Filialität  zu  dem  ersten  deutschen,  \si<-  Comte 
zu  dem  ersten  französischen  Sozialisten,  jener  zu  Fichte,  dieser  zu 
St.  Simon,  auf  den  er  „während  seiner  ersten  Jünglingsjahre  mit 
schwärmerischer  Verehrung  emporschaute"  (Hr.  v.  52  . 
waltig  ist  die  Macht  der  Thatsachen  ubei  die  Eigenwilligkeit  des 
D  nkens,  dass  überall  innerhalb  des  ungeheuren  Rückschla  gen 

die  Revolution,  womil  'las  Jahrhunderl  anhebt,  das  bleiche  Antlitz 
des  revolutionären  Proletariates  emportaucht,  obgleich  es  erst  am 
Ende  dieses  selbigen  Jahrhunderts  sein  Dasein  als  ein  öffentlich 
anerkanntes  auf  die  Bühne  gesetzl  hat.  Fasl  ohne  es  zu  wissen 
hat  .In- Staat  von  Anfang  an  in  seinen  grössten  Actionen  mit  ihm 
zu  tun,  sii  sehr  wie  er  mit  Begünstigung  der  grossen  Agricultur 
und  der  grossen  Industrie  zu  tun  hat.  und  wie  der  Staat  ober- 
halb der  beiden  Klassen,  die  mehr  und  mehr  mit  ihren  Id. tu  die 
Häupter  dieser  beiden  Stämme  des  Kapitalismus  repräsentiren,  die 
Tendenz  der  Neutralität  und  des  Gleichgewichtes  darstellt,  bo 
unterhalb  ihrer  jene  rasch  wachsende  dritte  Klasse,  die  beiden 
den  Krieg  erklärt  und.  je  nachdem  Bie  gerade  die  eine  oder  die 
andere  stärker  bekämpft,  mehr  zu  der  jedesmal  anderen  sich  hin- 
neigt. Auch  sie  setzl  sich  als  das  Allgemeine  allen  streitenden 
Int.  der  alten   und   neuen  Stände  entgegen;    auch  sie  will 

auf  einer  höheren  Stufe   wiederherstellen,    was  die  alte  Ordnung 
der  Naturalwirtschaft  Positives  in  sich  barg,  was  die  Ivevolutiiui 
die  Geldwirthschaft        an   die  sie  doch   mit  allen  Fäden  sich  an 
knüpfen  muss,  zerstörl  hat  und  ferner  zerstört;  auch  sie  verkündet  — 
wie  Hege]  -    das  zum  Selbstbewußtsein  Gelangen  der  historischen 


\  aere  Philosophie  der  Geschichte:  Hegel,  Ifarx,  Comte.  515 

\  ernunfl  and  die  Freiheil  ÄJler,  auch  Bie  will  wie  Comte 
ihre  Ordnung  begründeD  in  der  exaeten  Wissenschaft  des  sozialen 
Lebens  und  in  planmässiger  Anwendung  der  schon  im  kapitali- 
stischen Zeitalter  zur  Herrschaft  gelangten  Naturwissenschaften  und 
der  mechanischen  Technik.  So  finden  wir  viele  verwandte  Züge 
in  diesen  von  einander  abgewandten  Gestalten.  Sie  weisen  den 
Forscher  darauf  hin.  dem  Notwendigen  und  Gesetzmässigen  in  hi- 
storischen Dingen  durch  Beobachtung  der  ihn  umleitenden  Strö- 
mungen ti-'t'er  nachzuspüren  und  die  organische  Einheit  in  den 
mannigfachen  Erscheinungen  einer  gleichzeitigen  Kultur  zu  ent- 
decken. 


36 


\x. 
Zu  Descartes'  Briefen. 

Vn|, 

Johannes  Kretsschmar  in  Marbi 

Unter  den  Papieren  des  hessischen  Ministers  Johann  Caspar 
\.  Döraberg  (t  1680),  welche  jetzl  im  Staats -Archive  zu  Marburg 
aufbewahrt  werden,  befindel  sich  eine  Anzahl  von  Briefen  (gleich- 
zeitigen Abschriften)  Descartes  an  die  Pfalzgräfin  Elisabeth, 
sind  zwar  sämmtlich  im  9.  Bande  der  Ausgabe  von  Cousin  (Paris 
1825)  schon  gedruckt,  liegen  aber  hier  in  ihrer  ursprünglichen  i 
stall  vor,  die  in  manchen  Punkten  von  der  bisher  bekannten  ver- 
schieden ist.  Cousin  hat  sie  alle  nur  annäherungsweise  datier! 
nach  den  Angaben  des  Unbekannten,  welcher  in  dem  Pariser  Exem- 
plare seine  Eintragungen  gemachl  hat  (vergl.  Vorrede  zu  den  Briefen, 
Bd.  6  der  Oeuvres);  hier  hat  sich  überall  das  volle  Datum  erhalten, 
das  doch  immerhin  um  Monate  gegen  die  jetzigen  Ansätze  differiert 
Abweichungen  und  Ergänzungen  dem  Inhalte  aach  werden  unten 
angeführt,  sie  finden  sieh  nur  bei  2  Briefen. 

W  ie  diese  Briefe  unter  die  Papiere  Dörnbi  rgs  gekommen 
sind,  lässl  sieh  niii  Bestimmtheil  nicht  ermitteln.  Da  Dörnberg 
aber  in  politischen  Missionen  häufig  am  Pfalzer  Hofe  zu  verhan- 
deln hatte  er  war  einer  der  hessischen  Unterhändler,  welche 
die  traurigen  ehelichen  Zwistigkeiten  zwischen  dem  Kurfürsten 
Karl  Ludwig  von  der  Pfalz,  dem  Bruder  der  Prinzessin  Elisabeth, 
und  seiner  Gemahlin  Charlotte  von  Hessen-Kasse]  gütlich  beilegen 
sollten  und  da  er  zu  den  gebildetsten  Diplomaten  -einer  Zeil 
gehörte,    ist   es  unschwer  zu  erraten,    wie  er  in   den  Besitz   jener 


Zu  Descartes1  Briefen.  51  < 

Briefe  gekommen   ist     Er  war  lebhaft   an  allen   Bewegungen   des 
geistigen  Lebens,  vor  allem  des  religiösen  interessier!,  wie  er  denn 
zu  den   Hauptverfechtern   der   Einigungsversuche  John  Duruys 
hörte,  und  ein   Freund  und   Verehrer  Charles  Drelincourts  war. 
Es  sind  folgende  7  Schreiben: 

1)  d.  d.  d'Egmonl  le  21  de  Juillet  1645  (Cousin  p.  207:  ca. 
20.  April). 

2)  d.  d.  d'Egmonl  le  4  d'AousI  1645  (Cous.  p.  210  Anm.: 
ca.    1.  Mai). 

3)  d.  d.  d'Egmonl  le  18  d'AousI  1645  (Cous.  p.  215,  vergl. 
p.  210  Anm.:     ca.    1.").  Mai). 

4)  d.  d.  d'Egmonl  le  premier  de  Septembre  1645  (Cous. 
|i.  l'1'".'.  vergl.   p.  "-MO  Anm.:    ca.  1.  Juui). 

5)  d.  d.  d'Egmont  15.  Septembre  1(545  (Cous.  p.  230,  vergl. 
p.  210  Anm.:  ca.  15.  Juni).  Am  Schlüsse  wird  hier  noch  hinzu- 
gesetzt:  Lorsque  je  ferrnois  cete  letre,  j'ay  reccu  celle  de  v.  a.  du 
13  mais;  j'y  trouve  taut  de  choses  a  considerer,  que  je  n'ose  entre 
prendre  d'y  respondre  sur  le  champ,  et  je  massurc  que  V.  A. 
aymera  mieux  que  je  pren  un  peu  de  tems  pour  y  penser. 

ii)  d.  d.  dl^gmont  le  6  octobre  1645  (Cous.  p.  236:  vers  le 
mois  de  septembre).  Auf  p.  245  lautet  der  Anfang  des  zweiten 
Absatzes  anders: 

....  dans  les  esprits  qui  vienent  du  coeur. 

Voyla  ce  que  ie  pensois  escrire  il  y  a  8  iours  ä  vostre  Altesse, 
et  muii  dessein  estail  d'y  adjoustcr  une  parti  [cu]  liere  explication 
de  teilt'-  h  -  |iassions,  mais  ayant  trouve  de  la  difficulte  a  les 
denombrer,  ie  fus  contraint  de  laisser  partir  le  messager  sans  ma 
letre.  et  ayant  receu  cepandant  celle,  que  V.  A.  m'a  fait  l'honneur 
de  m'escrire,  iay  une  nouvelle  occasion  de  respondre,  qui  m'oblige 
de  remetre  a  une  autre  fois  cet  examen  des  passions,  pour  dire 
icy,  que  toutes  les  Causes  raisons  (sie!),  qui  prouvent  l'existence 
de  Dieu  .... 

7)  d.  d.  d'Egmont  le  3  novembre  1645  (Cous.  p.  360:  1646 
Kehr.  1). 


Jahresbericht 

über 

sämmtliche  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte 

der  Philosophie 

i  li    G  c  m  einschaft    mit 

Clemens  Baeomker,  Ingram  Bywater,  Älessandro  Chiappelli,  Hermann  Diels, 

Wilhelm  Dilthey,  Benno  Erdmann,   Martin  Schreiner,  Andrew   Seth, 

Paul  Tannery,  Feliee  Tocco,  Paul  Wendland,  Wilhelm  Windelband 

und    Eduard    Zeller 

herausgegeben 
von 

Ludwig   Stein. 


V. 

Bericht  über  die  neuere  Philosophie  bis  auf 
Kant  für  die  Jahre  1890  bis  L893. 

Herausgegeben    von    Wilh.  Windelband    in    Strassburg. 

I. 

Descartes   und   Schule 

Berichl  von 

Benno  Krdiuanu  in  Halle  a.  S. 

Goldbeck,    Emil.     Descartes'    mathematisches    Wissenschaftsideal. 
I.  D.    Halle  1892,  44  S.    8°. 

In  wenigen,  aber  scharfen,  von  gereifter  Methode  zeugenden 
Strichen  entwirft  der  Verf.  die  Umrisse  von  Descartes'  Stellung  zur 
Mathematik  sowie  der  Auffassungen  des  Philosophen  vom  Wesen 
der  Mathematik,  der  scientia  universalis,  den  Axiomen  dieser  Wissen- 
schaft,  von  Deduktion  und  Enumeration,  und  vom  Naturzusam- 
menhang. 

Die  unklare  Stellung  der  Erfahrung  in  den  methodologischen 
Voraussetzungen  des  Philosophen  wird  nur  im  allgemeinen  richtig 
hervorgehoben.  Bedenklich  bleibt  die  Zurück führung  der  Enume- 
ration oder  Induktion  auf  den  (formalistisch  gedeuteten)  indirekten 
Du 

Bedenklich  sind  auch  die  meisten  Andeutungen  des  Verf.'s 
aber  die  Entwicklungsgeschichte  des  Philosophen,  insbesondere  die 
Annahme  einer  späteren  Periode  scholastischen  Einfluss  »wie 
die  Behauptung  v*on  der  entscheidenden  Kraft  des  religiösen  Be- 
dürfnisses auf  die  philosophischen  Konceptionen  des  Denkers. 


Benno  Erdmann. 

Hinsichtlich  der  Lehre  von  der  [ndnktioa  and  damit  auch 
der  Erfahrung  überhaupt  würde  eine  eingehende  Erörterung  der 
telisch-Scholastischen  Tradition  Bowie  der  Art,  wie  tatsächlich 
Erfahrung  in  die  Konstruktionen  des  Philosophen  hineingreift, 
heileres  Licht  verbreitel  haben.  Die  Fragen  der  Entwicklunesee- 
Bchichte  fordern  hier  wie  in  jedem  Fall  ein  gründliches  Eingehen 
in  die  Problemstellungen,   in  die  das   Denken   Descartes1  einsetzt. 

Ludwig,    ,1    gito  ergo  suma    J.  D.  Leipzig   1890  (  Wies- 
baden I».  Bergmann)  58  5.    -  . 

Eine  historische  Untersuchung  über  den  Cartesianischen  Be- 
griff der  cogitatio  hätte  die  Bedeutungen  festzustellen,  in  denen 
Descartes  das  Wori  gebraucht,  den  sachlichen  und  den  entwick- 
lungsgeschichtlichen Zusammenhang  dieser  verschiedenen  Bedeu- 
tungen darzulegen,  und  ihre  historischen  Verknüpfung  mit  den 
zeitgenössischen  und  früheren  Bestimmungen  des  Begriffs  aufzu- 
decken. 

Auf  die  erstgenannten  Feststellungen  und  Darlegungen  geht 
der  Verf.,  der  schon  L889  einen  Grundriss  der  Philosophie  als 
„Bestimmungslehre"  veröffentlicht  hat,  mit  Sachkenntnis  and  nicht 
ohne  kritische  Schärfe  .'in.  Ein  klares  Bild  der  allerdings  schwan- 
kenden Bestimmungen  des  Philosophen  erhalten  wir  jedoch  nicht 
Dazu  i-t  die  Untersuchung  des  Verf.'s  nicht  speziell  und  eindrin- 
gend genug.     Immerhin   gewinnl   die  spatere  Forschung   reinlicher 

chiedene  Grundlagen,  als  bisher  vorhanden  sein  möchten.     W< 
niger  Neues  und  gleichfalls  nicht   hinlänglich  Abgerundetes  bietet 
die  weitere  Analyse  de.  Fundamentalsatzes.    Die  einleitenden  Hin- 
weise auf  die  Vorgeschichte  des  cogito  ergo  swm  erhalten  ein«,  brei- 

Ba  nur  dadurch,  dass  der  Verf.  nicht  Btreng  hei  der  Sache 
bleibt. 

Kalligo,  II  \n  .  Des  Cartesius  Ansicht  aber  den  Ursprung  unserer 
Vorstellungen  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  eingebo- 
renen Vorstellungen.    .1.  B.  des  K.  Gymn.  zu  Vinzburg  91  92 
2,  Progr.   158).     19  S.    I  . 
Der  Verf.  beschränkt  sich  in  dem  wesentlicheren  Teil  der  Ab- 
handlun      9    ■      !">)  auf  'ine  sorgsam   (undirte  und  durchdachte 


Bericht  über  die  neuere  Philosophie  eto.  L890 — 1€  523 

Zusammenfassung  der  zerstreuten  Äusserungen  des  Philosophen 
aber  das  Wesen  and  die  Arten  der  angeborenen  Ideen.  Er  zieht 
manche  von  den  früheren  Darstellern  unbeachtete  Auslassungen 
Descartes'  heran.  Weitergeführt  sind  allerdings  die  historischen 
Streitfragen  über  diesen  Teil  der  Cartesianischen  Lehre  nicht.  Der 
Verf.  hat  anscheinend  von  ihnen  keine  Notiz  genommen.  Er  bätte 
sonst  die  spätere,  das  Wesen  der  angeborenen  tdeen  verwischende 
Deutung,  zu  der  sich  der  Philosoph  gezwungen  sah,  nichl  als  eine 
Ergänzung  der  ursprünglichen  Annahmen  behandeln  können.  Auch 
die  historische  Kritik,  nieht  bloss  die  sachliche,  in  die  der  Verf. 
gar  nieht  eintritt,  hat  doch  auf  dieses  Zurückweichen  längsl  auf- 
merksam gemacht.  I>ie  historischen  Bedingungen,  die  zu  der  über- 
raschenden Wiederaufnahme  der  Lehre  von  den  angeborenen  tdeen 
durch  Berbert  von  Cherbury  und  Descartes  geführt  halten,  bei 
jenem  im  [nteresse  des  Deismus,  lud  diesem  im  Zusammenhang 
der  Annahmen  des  mathematisirenden  Rationalismus,  bleiben  an- 
erörtert. 

Twabdowski,  Kasimir,  [dee  und  Perception.    Eine  erkenntnis-theo- 

retische  Untersuchung  aus  Descartes.     Wien.  Kunegen  IS'. »2. 
46  S.     8°. 

Der  Verlasser  analysirt  in  methodischer,  begrifflich  scharfer 
Erörterung  Descartes'  Kriterium  der  Wahrheit,  dessen  verschiedene 
ssungen  er  aufzählt.  Aus  der  Untersuchung  der  Begriffe  der 
pereeptio  und  der  !<l<«.  der  pweeptio  clara  et  distineta,  der  idea 
•■Iura  et  dütineta  sowie  des  iudicium  gewiunt  er  das  Resultat :  die 
klare  und  deutliche  Idee  ist  für  das  richtige  Urteil  nur  Bedin- 
gung, die  klare  und  deutliche  Perception  dagegen  seine  ratio. 

Grundlegend  für  den  Sinn  dieser  Scheidung  ist  die  Bestim- 
mung der  pereeptio  als  Wahrnehmung  im  Sinne  Brentanos.  Sie  hat 
auch  ausserhalb  der  Kreise  Brentanos  Zustimmung  gefunden  (Sey- 
ring  in  diesem  Archiv  VI.  45ff.).  Twardowski  weicht  in  diesem 
Punkte  von  der  schon  innerhalb  der  Cartesianischen  Schule  fest- 
stehenden Ueberlieferung  ab.  Diese  stützt  sich  auf  die  bündige 
Erklärung  des  Philosophen  (Trine,  philos.  I.  32):  „omnes  modi  co- 
gitandi,  quo»  in  nobis  experimur  ad  duos  generales  referri  possunti 


_'  I  I  m  b  n  d  . 

'•""'    "  itt,  II,  CtU8}    „Iltis     r,  rO 

Denn  von  bier  aus  erscheint  die 
/"/■■  -  \     Stellung  ler  idea  als  dem  stellten. 

W  1a  Tu.  tinbedenklich  macht,  die   Deutung   Brentanos  in  Des 

Ausfuhrungen  hineinzulegen,  ist  die  Scheidung  des  Philosophen 
zwischen  und  'Jectu  percipi.     Es   stehen    jedoch 

dieser  Schwierigkeit    bei  Beiner  Interpretation  enüber, 

welche  sich  ergeben,  sobald  man  von  dem  Begriff  der  cogitcüio 
ausgeht,  den  Tw.  nichl  zum  Ausgangspunkt  wählt.  Ich  halte  in 
Rücksicht  auf  di  Schwierigkeiten  die  Deutung  Tw.'s  für  ver- 
fehlt. Gerade  «Irr  Wechsel  einerseits  zwischen  percipere,  deprehen- 
</-/•«.  apprehendere >  animadvertere,  andererseits  zwischen  perci} 
intettigm  und  concvpen  dient  in  der  Beleuchtung  durch  die  Carte- 
sianische  Fassung  der  cogüaüo  dazu,  der  Oeberlieferung  Etechl  zu 
geben. 

Reinlich  allerdings  wird  die  Zusammenfassung  der  Cartesiani- 
schen  Lehren  auch  auf  diesem  Wege  nicht.  Aber  nur.  weil  die 
Aristotelisch-Scholastischen  Nachwirkungen,  die  bei  historischer  Prü- 
fung gerade  in  der  Lehre  von  der  cogitatio,  speziell  in  den  schwan- 
kenden Bestimmungen  des  sensus,  der  imaginatio  ct.  erkennbar 
werden,  sich  auch  in  diesem  Punkte  als  unausgeglichen  erweisen. 
Der  historische  Rekurs  aber  wird  bei  näherer  Ausführung  ebenfalls 
eine  Bestätigung  der  überlieferten  Auffassung  ergeben. 

Müller,  Bebmann,  Joh.  Clauberg  und  seine  Stellung  im  Cartesia- 
nismus,  mit  besonderer  Berücksichtigung  seines  Verhältnis 
zu  der  occasionalistischen  ITieorie.    I.  I>.  Jena  91,  77  s.  B 

Die  Erörterungen  über  den  Occasionalismus  und  sein  Verhält- 
nis zu  der  prästabilirten  Harmonie,  die  in  den  Jahren  L882  L894 
angestellt  worden  sind,  haben  einen  nachhaltigen  litterarischen 
Einflusa  ausgeübt.  Sie  haben  unser  Wissen  von  <\<iv  inneren  und 
äusseren  Geschichte  der  Cartesianischen  Schule  mehrfach  über  den 
Stand  der  grundlegenden  Untersuchungen  von  Fr.  Bouillier  L854 
hinausgeführt.  Weniger  ist  ihr  Einfluss,  trotz  des  tüchtigen  An- 
laufs von  König,  bisher  der  Geschichte  des  Kausalproblems  im 
siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhundert  zu  gute  gekommen. 


Bericht  aber  die  neuere  Philosophie  etc.   1890     1893. 

Auch  die  vorliegende,  etwas  breite,  aber  verständige  und 
überall  aus  erster  Quelle  geschöpfte  Darstellung  bleibt  durchaus 
innerhalb  des  engeren   Rahmens  der  erstgenannten   Fragen. 

Der  Verf.  weis!  überzeugend  oach,  dass  wir  kein  Rechl  haben, 
Clauberg  den  Occasionalisten  beizuzählen,  dass  es  auch  nicht  rieh- 
tig  war.  einen  Einfluss  von  Clauberg  auf  de  la  Forge  zu  kon- 
struiren.  Gegenüber  früheren  Darstellern  i\i>*  Cartesianismus  und 
dem  Verf.  wird  anzunehmen  sein,  dass  auch  das  Substanzprublem 
keine  Fortbildung  durch  Clauberg  erfährt.  Die  Wendungen,  die 
für  sieh  betrachtet,  Clauberg  zu  einem  Vorläufer  Spiimzas  stem- 
peln würden,  vertrauen  in  dem  Zusammenhang  des  Claubergschen 
Cartesianismus  sowie  in  Rücksicht  auf  verwandte  scholastische  Er- 
klärungen eine  solche  Deutung  nicht.  Sie  beweisen  nur  neben  den 
ungleich  tiefergehenden  analogen  Wendungen  l>ei  Geulincx,  Male- 
branche  und  anderen,  wie  stark  die  neuen  Atributsbestimmungen 
der  endlichen  Substanzen,  insbesondere  der  körperlichen,  zu  der 
Spinozistischen  Eonsequenz  aus  dem  altüberlieferten  Substanzbegriff 
drängen. 

Mit  Recht  weist  der  Verf.  darauf  hin,  dass  Claubergs  histo- 
rische Stellung  vorzugsweise  durch  die  Versuche  charakterisirt 
wird,  die  Impulse  der  Cartesianischen  Methodenlehre  für  die  scho- 
lastische  Logik  fruchtbar  zu  machen.  Leider  geht  er  auf  die  logi- 
schen Lehren  Claubergs  nicht  so  weit  ein,  dass  ihr  Verhältnis  zu 
der  Logik  von  Port-Royal  fester  bestimmbar  würde.  Doch  bleibt 
der  Anschein  bestehen,  dass  Clauberg  auch  hier  über  den  Bestand 
der  Oeberlieferung  ungleich  weniger  hinaus  gekommen  ist,  als 
Pierre  Nicole  und  insbesondere  Antoine  Arnauld. 

Arnold]  Geulini  x  Antverpiensis  Opera  philosophica  recogn.  J.  P.  V 
Land  vol.  I— III.    Hagae  Coinitum  1891 — 93. 

Die  Anzahl  der  zuverlässigen  Gesamt -Ausgaben,  die  wir  von 
den  (uhrenden  Philosophen  des  siebzehnten  und  achtzehnten  Jahr- 
hunderts besitzen,  Ist  gering.  Von  den  philosophischen  Schrillen 
Bacons,  Descartes'  und  Hobln-'.  Malebranches  und  Lockes,  ja  selbsl 
von  denen  Humes  und  Kants  besitzen  wir  nur  unzureichende 
Sammlungen.     Der  Textbestand   dieser  aller        auch  der  Ausgabe 


.  malt  n. 

der  Philosophical   Works    von   Same   durch  Green   und  Grose  — 
Ansprüchen  Dicht;  die  meisten  sind  überdies  un- 
vollständig.    Welch  ein  Unstern  auch   aber  der  neuesten,  grossen 
von    Leibnizens   Philosophischen  Schritten    gewaltet    hat, 
ist   den   Lesern    dieser  Zeitschrift    bekannt     Fräsers  Ausgabe  der 
Werke  \  >d  Berkelej   scheint  eine  rühmliche  Ausnahme  zn  bilden. 
Um  so    erfreulicher  ist,    dass   Lands    Ausgabe    von    Geulincx 
Schritt. Mi  sich  würdig  der  Jubiläumsausgabe  von  Spinozas  Werken 
anreiht.     Ich    unterlasse,    der    vortrefflichen,    nach    dem  Vorbilde 
der  Spinoza-Ausgabe  glänzend  ausgestatteten  Sammlung  gegenüber, 
einzelne  Bedenken  über  Anordnung  und  Umfang  des  Abgedruckten 
auszusprechen.    Kein  Serausgeber  vermag  es  in  solchem  Fall  allen 
Recht  zu  machen.    .Manchen  leicht  zu  Bndenden  Einwänden  stehen 
auch  in  diesem  Fall  sicher  Ueberlegungen  entgegen,  die  der  Seraus- 
er überflüssig  linden    darf,    ausfuhrlich    darzulegen.     Ueberdies 
machte  der  eigenartige  Bestand  des  Materials,  den  der  Serausgeber 
in  Bd.  I  kurz,  verzeichnet,  den  van  der  Saeghen  in  seiner  Biblio- 
graphit    des  oeuvres  </•    Geulincx  sachkundig   besprochen   hat,    die 
Aufgabe  des  Herausgebers  zu  einer  besonders  schwierigen.    Auf  die 
stimmungsvolle   Würdigung   des    ersten   Bandes  der  Ausg  I    .    die 
K.  Bücken  in  den  Philos,  Monatsheften  veröffentlicht  hat,  sei  ins- 
besondere hingewiesen.    Man  vgl.  den  Bericht  des  Serausgebers  in 
diesem  Archh   86ff. 

Novaeo,  Mabio,  Die  Philosophie  des  Nicolaua  Malebranche.    Berlin, 
Mayer  u.  Müller  L893.     \    u.   107  S.    -  . 

Die  Schrift  von  Novaro  bringt  eine  sorgsame,  auf  eingehende 
und  selbständ  Studien  gestützte  Reproduktion  der  philosophi- 
schen Lehre  des  berühmten  Oratorianers.  Auf  die  Entwicklungs- 
bedingungen für  die  Lehren  des  Philosophen  geht  der  Verf.  nur 
kurz,  und  nicht  ohne  Unterschätzung  des  Einflusses  von  Augustin 
ein;  auch  die  Entwicklung  der  occasionalistischen  Lehre  in  der 
Cartesianiscben  Schule  Btreift  er  nur  mit  kurzen  Bemerkungen. 

Trotzdem  kommt  der  Schritt  eine  tiefergehende  Bedeutung  für 
die   Frage   nach   der  Entwicklung   des  Kausalitätsproblems   bis  aul 

llllllie    Z.U. 


Berichl  über  die  neuere  Philosophie  etc.  1890—18  .YJ, 

[ch  habe  schon   in  der  Besprechung   von  Koenigs  Buch  aber 
das  Kausalproblem    angedeutet,    wie   sich    mir    diese   Entwicklung 

.larstollt.     Es  sei  gestattet,  sie  hier  kurz  darzulegen. 

In  der  Aristotelischen  Kausalauflassung  Lsl  die  Annahme  eines 
analytischen  Zusammenhangs  zwischen  Ursache  und  Wirkung 
nicht  bestimmt  ausgesprochen,  aber  deutlich  enthalten.  Diese  Auf- 
Fassung  wird  (ebenso  wie  die  Aristotelische  Substanztheorie)  in 
der  späteren  Philosophie,  auch  in  der  Scholastik  festgehalten.  Sie 
gehl  von  dieser  aus  unbesehen  in  die  neuere  Philosophie,  in  die 
der  Renaissance  wie  in  die  mechanischen  Systeme  ein,  die  um  die 
Mitte  des  siebzehnten  Jahrhunderts  entstehen.  So  kann  Descartes, 
der  hier  allein  in  Betracht  gezogen  werden  mag,  naiv  behaupten: 
„Jam  vero  limine  naturali  manifestum  est,  tantundem  ad  minimurn 
debert  in  causa  efßcienh  et  totali,  quantum  in  eju&dem  causae 
tu:  nam  quaeso,  undenam  posset  assumert  realitatem  suam 
effectus  nisi  a  causa?  Et  quomodo  illam  ei  causa  dare  posset,  nisi 
etiam  haberetf  Rine  autem  sequitur,  nee  posse  aliquid  a  nihilo 
fieri,  nee  etiam  id  quod  magis  perfectum,  hoc  est  quod  plus  realitatis 
in  se  continet,  ab  co,  quod  'minus"  ct. 

Aber  Descartes'  attributäre  Scheidung  der  endlichen  Substanzen 
macht  den  analytischen  Kausalzusammenhang  für  die  Wechselwir- 
kung zwischen  den  beiden  wesensverschiedenen  endlichen  Sub- 
stanzen im  Grunde  unmöglich.  Die  Macht  der  Ueberlieferung,  die 
Descartes  das  Problem  ungeprüft  aufnehmen  lässt,  ist  jedoch  so 
stark,  dass  nicht  der  Gedanke  eines  analytischen  Zusammenhangs 
aufgegeben  wird,  sondern  dass  in  seiner  Schule  wie  bei  seinen 
Nachfolgern  vorerst  Versuche  entstehen,  auf  Grund  dieser  Annahme 
den  Schein  der  Wechselwirkung  zu  erklären.  Eben  weil  der  attri- 
butäre  Kontrast  der  endlichen  Substanzen  keinen  analytischen  Ab- 
hängigkeitszusammenhang zwischen  ihren  Modifikationen  ergiebt, 
wird  der  unmittelbare  Causalzusammenhang  zwischen  ihnen,  den 
schon  Descartes  nicht  reinlich  mehr  darzulegen  vermag,  von  -einen 
selbständigeren  Schülern  aufgehoben.  Er  wird  nicht  nur  für  die 
endlichen  Substanzen  überhaupt,  sondern  auch  insbesondere  für 
die  wechselseitigen  Modifikationen  der  ausgedehnten  Substanz  be- 
stritten,   weil    sich    mit   der   traditionellen    Kausalvorstellung    und 


528  Erdmann, 

dem  n.u.  ii  \\  ,sitz  zwischen  denkender  nnd  ausgedehnter 

Substanz  die  Cartesianische  Bestimmung  des  Körpers  verwickelt. 
heim  «ii«-  geometrisch-mechanische  Deutung  der  ausgedehnten  Sub- 
stanz lä&sl  den  Körper  uichl  als  Ursache,  sondern  Lediglich  als  Ob- 
jekt der  Bewegung  erscheinen. 

Auf  dieser  Grundlage  entstehen  die  Kau&altheorien  einerseits 
des  Occasionalismus,  andrerseits  des  Parallelismus  der  he- 
terogenen Modifikationen  bei  Spinoza.  Letzterer  entwickelt  den 
überlieferten  Gedanken  des  analytischen  Zusammenhangs  zwischen 
äache  and  Wirkung  in  klassischer  Schärfe.  Die  Immanenz  der 
Modifikationen  in  der  Substanz,  der  Wesens  atz  zwischen  den 

Modifikationen  des  Denkens  und  der  Ausdehnung,  endlich  «Ii.'  Kon- 
struktion des  Zusammenhangs  der  [deen  nach  dem  Muster  des 
metrischen  Zusammenhangs  der  ausgedehnten  Dinge:  dies  alles 
führt  ihn  dazu,  den  realen  Causalzusammenhang  als  einen  rein 
logischen,  begrifflichen,  analytischen  zu  formuliren.  In  diesem 
Sinne,  dadurch  also,  dass  eine  unbesehen  \ ler  oeueren  Philo- 
sophie festgehaltene  Voraussetzung  prägnant  zu  Tage  tritt, 
winnt  das  causari  ab  aliqua  n  die  Bedeutung  eines  sequi  ex  ejus 
deßnitioru . 

[ndem  die  traditionelle  Urteilslehre  in  jene  Bestimmungen 
hineinwirkt,  kommt  Spinn/.;!  zu  dem  Axiom:  „Effect  \  cognitio  <> 
Cognition*   causcu   dependet  <f  eandem  involvit." 

Aus  der  gleichen  metaphysischen  Tradition  heraus  bildet  Leibniz 
den  Occasionalismus  zur  prästabilirten  Harmonie  hui.  Denn 
die  Voraussetzungen  dieser  seiner  Kausaltheorie  wurzeln  in  jener 
Periode  seiner  Entwicklung,  in  der  er  die  Entelechien,  in  Anlehnung 
an  die  Scholastik,  noch  als  substantielle  Formen  der  Körper  deutet. 
Es  zeugt  lediglich  von  der  Macht  der  Aristotelisch -Cartesianischen 
I  eberlieferung,  da—  er  diese  Voraussetzungen  und  die  auf  ihnen 
erbaute  Theorie  des  Kausalzusammenhangs  Bpäter  festhält.  Audi 
dann  noch,  als  ihn  seine  mechanisch-physikalischen  Untersuchunj 
sowie  die  Entdeckungen  der  [nfinitesimalmethode  dahin  bringen, 
den  überlieferten  Hylozoismus  zu  einem  Spiritualismus  fortzubilden, 
der  die  Materie  zu  einem  Inbegriff  unendlich  vieler,  unendlich 
kleiner,  unendlich  weni  chi edener,  unendlich  viel  darstellender 


Bericht  über  die  neuere  Philosophie  etc.  1890—18  529 

geistiger  Substanzen  macht.  Denn  der  Dualismus  der  Wesensbe- 
stimmung des  Endlichen,  der  zur  Leugnung  des  unmittelbaren,  als 
analytisch  gedachten  Kausalzusammenhangs  rührte  ist  fortgefallen. 
Aber  der  Antrieb  für  diese  Leugnung,  der  in  dem  durch  jenen 
Dualismus  verschärften  Substanzbegriff  liegt,  bleibl  stärker,  als  die 
Kraft  des  neuen  spiritualistischen  Monismus. 

lu  jeder  dieser  drei  Theorien,  oder,  bei  prinzipiellerer  Schei- 
dung, sowol  in  der  des  occasionell-prästabilirten  als  in  der  des  Paral- 
lelismus-Zusammenhangs, wird  die  Kausalverknüpfung  /.wischen  dem 
Endlichen  hergestellt,  indem  die  unendliche  Substanz,  als  Mittel- 
glied eingeschoben  wird.  Die  AHweisheit  und  Allmacht  Gottes, 
weiterhin  seine  omnitudo  realitatis  überhaupt,  wird  zum  ultimum 
refugium  der  analytischen  Notwendigkeit.  Bei  den  einen  wird 
dieser  Zusammenhang  ein  vorwiegend  extramundancr,  bei  Spinoza 
Isl  er  ein  rein  immundaner;  die  religiösen  Motive  der  üeberliefe- 
rung,  die  jene  mitbestimmen,  bildet  Spinoza  auch  hier  mit  scharfer 
Konsequenz  um. 

Diese  Problemlage  komplicirt  sich  bei  Berkeley  mit  dem 
Empirismus  Lockes,  der  zwar  eine  tiefgreifende  Kritik  des  über- 
lieferten Substanzbcgrill's  gegeben  hatte,  hinsichtlich  des  Kausal- 
problems jedoch  nicht  über  die  Tradition  hinausgekommen  war. 
Sie  liefert  Berkeley  die  Grundlage  für  den  Beweis,  dass  die  Ideen 
der  körperlichen  Dinge  kein  Moment  von  Kraft  oder  Tätigkeit  ent- 
eilt halten,  dass  also  „Ausdehnung,  Figur  und  Bewegung"  nicht  die 
Ursachen  unserer  Empfindungen  sein  können.  Erweist  in  dem  Zu- 
sammenhans dieses  Beweises  vielfach  direkt  auf  den  Occasionalis- 
mus  hin.  So  auf  „the  modern  philosophers,  u'/to  though  they  allow 
matter  to  exist,  yet  will  have  God  ahne  to  be  the  immediate  effi- 
czent  cause  of  all  things.  These  men  saw  that  amongst  all  t/u 
objeets  of  sense  there  was  none  which  had  any  power  or  activity 
included  in  it"  .  .  .  Nicht  bloss  religiöse  Antriebe  sind  es  andrer- 
seits, die  ihn  hindern,  die  Konsequenz  der  empiristischen  Substanz- 
kritik Lockes  nur  für  die  materiellen  Objekte,  die  Ideenwelt  zu 
ziehen,  die  Geister  dagegen  in  ihrer  substantiellen  Realitäl  zu  be- 
lassen. Auch  hier  spielen  vielmehr  Gedanken  aus  der  Kausali- 
tätstheorie   der   selbständigeren  Cartesianer    hinein.     Es  isl    oichl 

Archiv   f.  Geschichte  d.  Philosophie.     VII.  .')( 


Benno  Brdmann, 

schwer,   von   dem   „principium  eoidentusimum  /»r  se",  dem  Sai/.: 

.   id  non  facis"    aus.  den   historischen 
Zusammenhang  zu  der  Behauptung  zu  finden,  dass  „tht  of 

d.  i.  der  ■  .  iL  things)  ie  an   meorporeal  a* 

v  jh.    words,   will,  soul,  spirit?  </<> 

dl,  bvi  lometking   which   ü  very 

...<•<  ing  cm  <"/<  n 
Von  der  durch  Berkelej  umgebildeten  Problemlage  aus  kommt 
Harne,  in  diesem  Tunkt  der  Antipode  Spinozas,  zu  der  Erkennt- 
nis, «reiche  ihn  zum  Kritiker  der  überlieferten  Kausalauffassung 
macht.  An  die  Stelle  des  analytischen  Zusammenhangs  zwischen 
I  reache  und  Wirkung  tritt  ein  empirisch-associativer,  d.  i.  \\i«'  wir 
ii  können,  ein  synthetischer  a  posteriori.  Er  erklärt: 
„The  mind  com  never  possibly  find  Hu  effeci  in  t/u  supposed  cause, 
by  the  mosi  accuraU    scrutiny  <m<l  examination.     For  Ü  i   i» 

totaliy  differeni  from    tht  and    consequently    can    never   I»' 

discovered  in  it." 

Verwickelter  gestaltet  sich  das  Kausalproblem  in  der  Leibniz- 
Wolffischen  Schule  und  in  den  Streitigkeiten,  die  ihre  Zersetzung 
herbeiführen.  Wolffs  schwächliche  Abwehr  der  Einwurfe  des  Pie- 
tismus die  prästabilirte  Harmonie  giebl  <  I  >  ■  r  Hypothese  des 
injhi.ins  reaUs,  die  anscheinend  längsl  überwunden  war.  neue 
Kraft.  Von  verschiedenen  Gliedern  der  Schule  wird  Bie  allmählich 
zu  der  Annahme  eines  mfitucus  idealü  umgearbeitet  Diese  meta- 
physischen Erörterungen  stehen  überdies  in  engen  Zusammenhang 
mit  den  Streitigkeiten,  die  das  von  Leibniz  mehrdeutig  formulirte 
Prinzip  des  zureichenden  Grundes,  insbesondere  seil  Crusius'  An- 
grifl  zur  Folge  hat.  Aus  diesem  Zussammenhang  heraus  gelangt 
Kant  unabhängig  von  Hume  (s.  dieses  Archiv  [,  62ft,  216  ff.)  und 
vorerst  ohne  Bewusstsein  seiner  Qebereinstimmung  mit  ihm  zu  der 
gleichen  Erkenntnis  des  synthetischen  Charakters  der  Kausalbe- 
ziehung. Als  Kant  später,  nach  1772.  den  Standpunkt  gefunden 
bat,  der  ihm  das  Verständnis  für  Humes  Kaus.ilthc.nic  eröffnet, 
wird  er  nicht  nur  seiner  Einstimmigkeit  mit  Bume  in  diesem 
Punkte  gewiss,  sondern  lernt  auch  nach  langem  Ringen  von  sei- 
nem „Vorg  die  Kausalbeziehung  lediglich  in  dem  Ge- 


Berichj  über  die  aeuere  Philosophie  etc.  1890     18  531 

biel  möglicher  Erfahrung  objektive  Geltang  besitzt.  Nur  gegen 
den  Scliluss  auf  den  empirischen  Ursprung  dieser  Synthesis  Isl  er 
hützt.  da  er  bereits  alle  Synthesis  als  die  ursprüngliche  und 
eigentliche  Funktion  des  Verstandes  erkannl  hat.  Der  Zusammen- 
hang  zwischen  Ursache  und  Wirkung  steh!  ihm  als  ein  syntheti- 
sch er  a  priori  fest. 

Novaros  Darstellung  im  siebenten  Abschnitt  seiner  Schrifl  ge- 
wahrt eine  lehrreiche  Bestätigung  des  eben  umgrenzten  histori- 
schen Sachverhalts.  Nov.  irrt  allerdings  in  der  Behauptung,  di 
„kein  Historiker  der  Philosophie  in  Malebranche  den  so  offenlie- 
genden Ursprung  dos  Humeschen  und  Kantischen  Problems  gesuchl 
halic".  Die  „abstrakte  Grundlage  der  Theorie"  des  Occasionalis- 
mus  hat  Nov.  gründlich  verfehlt  Es  ist  sogar  nach  dem  Obigen 
falsch,  dass  die  objektiven  Entwicklungsbedingungen  für  die  Hume- 
Kantische  Entdeckung  lediglich  bei  Malebranche  gefunden  werden 
können.  Nov.  sieht,  wie  gleich  zu  zeigen  ist,  nicht  einmal  die  Ge- 
dankengänge im  rechten  Licht,  die  bei  Malebranche  vorliegen. 
Aber  er  hat  den  historischen  Zusammenhang  des  Occasionalismus 
in  der  Formulirung  bei  Malebranche  mit  den  Ausführungen  Humes 
selbständig  in  su  weit  getroffen,  als  er  die  Ausführungen  des  Phi- 
losophen über  das  Kausalproblem  last  Schritt  für  Schritt  mit  Wen- 
dungen des  englischen  Positivisten  belegt. 

Dass  er  hierbei  die  entscheidende  Differenz  zwischen  dem 
Occasionalismus  und  Humes  Theorie  der  Kausalität  verfehlt,  den 
tiefgreifenden  Fortschritt  der  letzteren  über  den  Problemstand  des 
ersteren  und  der  verwandten  Kausalitätstheorien  nicht  findet,  hat 
seinen  Grund  in  einem  wunderlichen  Missverständnis. 

Novaro  stellt  Malebranches  Lehre  von  der  Kausalität  der 
Humes  viel  zu  nahe.  Mit  Recht  zwar  betont  er,  dass  auch  Hume 
über  die  Grenzen  der  Erfahrung  hinausgeht,  sofern  dieser  vielfach, 
im  Treatise  wie  im  Essaj  .  ein  für  uns  unerkennbares  Band  zwi- 
schen Ursache  und  Wirkung  annimmt.  Aber  Humes  häufige  kri- 
tische Erörterungen  gegen  den  Occasionalismus,  die  X.  zu  ein- 
seitig auf  Melebranche  bezieht,  treffen  doch  auch  diesen  gerade  in 
der  entscheidenden  Voraussetzung  Beiner  Kausalitätstheorie.  Diese 
aber,    die    Annahme    des   analytischen    Zusammenhangs    zwischen 


Benno  Brdmann, 

I  rsache  und  Wirkung,  würdig!  Novaro  so  wenig,  dass  er  >n 
die  ausdrücklichen  Erklärungen,  ja  gegen  den  inneren  Aufbau  der 
ganzen  Lehre  des  Philosophen  geradezu  leugnet  l  n<l  dies,  ob- 
gleich er  die  hierhergehörigen  Ausführungen  Malebranches  sehr 
wol  gesehen  hat  Selbsl  wenn  es,  \\i>-  Novaro  behauptet,  nur  zwei 
her  Ausführungen  l"i  Malebranche  gäbe  —  Novaro  Belbsl  citirl 
tatsächlich  deren  vier  — ,  liessen  sie  >i«h  doch  oichl  mit  der  Be- 
merkung abtun:  „Gegen  die  beiden  einzigen  Stellen,  in  denen 
Malebranche"  —   dt  uteil  behauptet! 

In  der  Tal  aber  wird  es  nach  dem  Obigen  ausser  Zweifel 
sein,  dasa  wir  die  selbstverständliche  Voraussetzung  eines  analyti- 
schen, notwendigen  Zusammenhangs  zwischen  Ursache  und  Wir- 
kung lediglich  als  einen  wesentlichen  Bestandteil  auch  der  Lehre 
von  Malebranche  hinzunehmen  haben.  Die  Selbstverständlichkeit 
dieser  Voraussetzung  auch  für  ihn  folgl  schon  aus  dem  Umstand, 
< l.is-  er  nur  gelegentlich  Anläse  findet,  sie  ausdrücklich  zu  formu- 
liren,  obgleich  sie  sein  Denken  durchweg  beherrscht.  Sie  gehört 
eben  zu  dem  festen  Schulbestande  der  Cartesianischen  Lehren. 
Eben  dafür  zeugt  auch  die  Art,  wie  Malebranche  sie  zum  Aus- 
druck bringt.  So  in  der  sechsten  der  Miditations  ChrHiennes: 
..'»/■  il  y  a  contradiction  qut  />i,u  veuillt  qut  ton  bras  soü 
r.  Uni'    ,t  iju'il  ,l,ni,  in-,    immobile:  tu  es  sür  qu'il  y  a  um   liaison 

in  entrt  les  oolontes  d?un  etre  tout-puissant  et  leurs 
,i  tu  ii,  vois  inil  rapport  entn  les  desvrs  et  leur  esecution.  Donc 
la  force  qui  produit  le  mouvement  oient  dt  Dieu"  .  .  .  Und  ebenso 
in  dem  sechsten  Buch  der  Recherche  de  la  Viriti:  „Mais  non 
seulement  les  hommes  ne  soni  point  les  veritables  cause*  des  mouve- 
ments  qu'ils  produisent  dans  leurs  corps,  il  semble  mime  </u'il 
y  ii  it  contradiction  qu'ils  puissent  etre.  Une  caun  v&'üable 
est  um  entre  laquelle  et  aon  effet  Vesprit  apercoit  um   liaison 

nicessaire,  c*est  ainsi  </u<  je  Pentends.  Or  il  n'y  u  que  Vetn 
i nii ii  im,  ni  parfait  entre  la  volonte"  duquel  ei  les  effets  Vesprit  aper' 
coivi  im-  liaison  necessaire.  II  n'y  a  donc  qtu  Dieu  qui  soit  >;'- 
ritable  causi  et  qui  ait  veritablement  In  puissanct  de  mouvoir  le 
corps"  .  .  .  Ueber  den  Inhalt  dieser  Voraussetzung  und  -eine 
Uebereinstimmung   mit   dem  oben  Gesagten  kann  kein  Streu  sein. 


Bericht  über  die  neuere  Philosophie  etc.  1S90 — 1893.  533 

Der  Sinn   der   vorausgesetzten    liaison   nicessain     bleibt    aller- 
dings bei  Malebranche   notwendiger  Weise  bo  unbestimmt   wie  bei 
dvn  übrigen  Occasionalisten ,   bei  Leibniz    und  bei  Spinoza.     Audi 
in    diesem    Punkte    seiner    Kritik    hat    Hume   Recht.     Die    1  nbe- 
stimmtheit    liegt    in    dem    Inhalt    des  Gottesbegriffs,    der    positive 
Momente  der   Erkenntnis   nicht   enthält,    sundern    nur    vortäuscht, 
unsere   rationale   Unwissenheit    mit    dem    .Mantel    von  Worten    zu- 
deckt, deren  metaphysischer  Gehalt,   eben   weil    er  ausserhalb  <\rv 
Grenzen  unseres  Brkennens  liegt,  für  jode  eindringende  Kritik  ver- 
schwindet.   Ader  Malebranche  ist  einer  der  tiefsten  metaphysischen 
Henker  seiner  Zeit.    Er  hat  sich  so  bestimmt  wie  kaum  einer  der 
sonstigen   Anhänger   der   alleinigen  göttlichen  Kausalität   auch  die 
Frage   nach   dem  Sinn   der   liaison  necessaire  gestellt.     Seine  Ant- 
wort bestätigt  jedoch  nur  wiederum  die  Stärke  des  metaphysischen 
Vorurteils,  die  Selbstverständlichkeit  der  Voraussetzung  eines  not- 
wendigen Zusammenhangs  zwischen  Ursache  und  Wirkung.    Novaro 
führt   selbst    die  entscheidenden  Erklärungen    des  Philosophen   an, 
aber  nicht   vollständig  genug  und  ohne  zu  sehen,  dass  sie  die  An- 
nahmen,   die   er  dem  Philosophen   abstreitet,    auf  das  deutlichste 
enthalten.     In  dem  Entretien  d'un  philosophe  Chretien  avec  un  phi- 
vphe  Chinois  erklärt  jener:   „Qui  fait  tout  cela   en  moi  et  dans 
tous  les  kommest    C'est  un  etre  infiniment  intelligent  et  tout-puissant. 
II  le  faii  parce  qu'il  l<    veut     Mais  quel  rappori  entre  la  volonte 
dt   Vetre  souverain  et  la  moindre  de  ses  eß'etsf    Je  ne  le  vo/'s  pas 
clairementj   ce   rapport,    mais  je  Je  conclus  de  l'ide'e,    </ue 
j'ai  de  cet  etre"  (!).     „Je  sais  que    les    volontes  <l'un  etre  tout- 
puissant  doivent  necessairement  etre  efficaces  jusqu'ä  faire 
tout  <■<   qui  n<    renferme  pas  de  contradiction.<t     Gewiss   ist 
dieser  Schluss  ein  charakteristisches  Probestück  eines  Xv.isuoc  vodog. 
Muss  doch   Malebranche    seinen    christlichen   Philosophen    zugehen 
lassen:  „Quand  je  verrai  Dieu  tel  qu'il  est,  ce  que  ma  religwn  m 
j'oit  esperer,  je  comprendrai  clairement,    en  quoi  consiste  Veffic 
de  ses  volontis;*    und   dementsprechend  in  den   Miditations  Chri- 
tiennes  erklären:    Tu   me  demandes  une  idde  ciain    et  distinete  de 
cette   efjicace    infimu    qui  donm    et  conservi    Vetre   ä  toutes    cho 
Je  rCai  poini  maintenant  de  response  ä  te /am   qui  soit  capabh   de 


rdmann,  Bericht  üb.  d.  neuere  Phi 

...       /  iwriras 

A  v    iitt,lli::  ,,//; 

D  qv?ü 

qu'il    y    a    unt    raison 
de  Du  .    puisqtu    tu 

Dieu,   um' 
qu*il  nt  </"■    Dieu   n  it  />n.s  tout-puissani 

lue*   demeuraient  inefficaces."     Deutlicher 
kann  man  kaum  sagen,  dass  die  Lösun  Rätsels,  die  man  zu 

besitzen  wähnt,  nur  darin  besteht,  dasa  das  Rätsel  in  die  Allmacht 
Gottes  hineinverlegt  ist:  die  notwendige  Verbindung  zwischen  der 
wahren  Ursache  and  ihren  Wirkungen  ist  zweifellos,  selbstver- 
ständlich, aber  —  sie  folgl  lediglich  aus  der  Allmacht  des  gött- 
lichen Willens,  den  wir  nicht  kennen! 

In  welchem  Grade  Novaro  Malebranche  aberschätzt,  folgt  aus 
seiner  Bemerkung:  „Vor  Kant  zählt  die  moderne  Philosophie  bloss 
drei  Systeme:  das  von  Hobbes,  das  von  Bruno  uml  Spinoza,  and 
das  von  Malebranche."  Die  Geschichtsauffassung,  welche  diese 
und  verwandte  Wendungen  verraten,  macht  begreiflich,  dass  N 
varo  seine  glückliche  Einsicht  in  die  Gleichartigkeil  der  Problem- 
lage bei  Malebranche  und  Bume  historisch  nicht  zu  verwerten 
weiss.  Hume  hat  die  Kausalität,  welche  die  Philosophie  des 
siebzehnten  Jahrhunderts,  soweil  sie  von  Descartes  beeinflusst 
ist,  in  den  Himmel  verlegt  hatte,  wieder  zur  Erde  herabgeholt, 
und  damit  nicht  nur  ähnlich  wie  Kant,  den  Bann  des  vermeint- 
lich analytischen  Zusammenhangs  zwischen  Ursache  und  Wirkung 
gebrochen,    sondern    auch    als  der   erste,    fast    an  wissentlich,   die 

Grundlage   für   die   logische   Tl rie    der    Induktion    gelegt.     W  o 

Bacon  von  Induktion  redet,  Isl  das  Wort  ein  Schiboleth,  dessen 
Gebrauch  davon  zeugt,  dass  er  nicht  zu  Descartes  und  Hobbes, 
überhaupt  oichl  in  die  neuere  Philosophie  gehört,  Bondern  noch  zu 
eben  den  Begriffsphilosophen,  gegen  die  er  mit  Paucken  und  Trom- 
peten zu  Felde  zieht. 


VI. 

Comptes-rendus  d'ouvrages  sur  l'liistoire  de  la 

Philosophie  publies  eu  franniis  pendaut  les 

annees  L892  et  1893. 

Par 
Paul  Taimery  ä  Pari-. 

Oi.  r>i':N.\i:i>.     riaton.  Sa  philosophie,  precedee  d'un  apercu 

de  sa  vie  et  de  ses  ecrits.     Paris  Alcan,   L892.  546pages 

in--. 

L'ouvrage  de    M.  Benard    „ne  s'adresse   ni    aux    savants,    ni 

aus  erudits  de  profession.    mais  au  public  eclaire  et  surtout  ä  la 

jeunesse   des   ecoles".     A  ce  point  de  vue  c'est  un  bon  livre    qui 

manquail    en  France,    les   volumes  de  Fouillee  etant  limites  a   la 

doctrine  des  idees.    M.  Benard  s'esl  au  contraire  propose  d'exposer 

la  philosophie  de  Piaton  dans  son  entier,    la  physique   et  >urtout 

l'ethique  aussi  bien  que  la  dialectique.    Cette  exposition  est  claire, 

completej  bien  fondee  sur  des  textes;  on  n'y  trouvera  ni  polemique 

subtile,  ni  paradoxes  vieux  ou  nouveaux;  l'interpretation,  pour  les 

idees,    est  donnee  dans  le  sens  theiste  et  spiritualiste,    mais  sans 

exageration;    M.  Benard  signale  les  difficultes,    mais  n'approfondit 

pas  leur  discussion,  ce  qui  aurait  change  le  caractere  de  son  travail. 

Personne  ne  peut  se  vanter  de  connaitre  tout  Piaton '),  disait 

Origene  contre  Celse;    personne  non  plus  ne  peut  esperer  d'ecrire 


')  C'est    l'epigrapbe    grecque    du    volume   de    M.  Benard.      .1  mal- 

heureusement  oblige  de  remarquer  que  la  defectueuse  accentuation  d'un  grand 
nombre  des  mots  grecs  qu'il  a  inseres  dans  son  texte  est  une  preuve  typique 
de  la  difficulte  qu'on  eprouve  en  France,  on  dehora  de  quelques  ateli( 
ciaux,  pour  faire  imprimer  correcteinenl  dans  la  Langue  de   Piaton. 


Paul  Tanne: 

im  volume  sur  Piaton  Bans  provoquer  la  contradiction.    II  est  vrai 
.   dana  le  conflil  dea  opinions  but  des  sujeta  taut   discutes,   le 
contradictenr   n'a    guerea   de  chancea    lui-meme  de   voir  accepter 
onanimen  bsen  ationa. 

Je  im-  bornerai  es  toul  caa  ä  toucher  dem  oa  troia  ji"iut» 
quij  malgre  toul  ce  qu'  cril  aur  Piaton,  auraienl  besoin  d'< 

eclaircis  ei  me  paraissenl  Buaceptibles  de  l'etre.     <»n  repete  couram- 
ment,  a  prop  -   aombres  ideaux  dana  la   doctrine  platoni- 

cienne,  i|u'ils  sunt  an  l'ruii  tardif  <lu  g^nie  du  Maitre,  uo  paa  re- 
trograde \ .  r-  le  pythagorisme.  11  me  semble  qua  la  conolusion 
recherchea  de  Zeller  but  le  oeopythagorisme  devrail  etre  que 
•  ■  invention  dea  dpidpoi  etöi]Tixoi  e8l  au  contraire  un  paa  en 
avanl  dana  une  direction  aettemenl  differente  de  celle  de  l'ancien 
pythagorisme.  Nous  connaisaona  asaez  bien  par  Aristote  au  moina 
deux  Qombreä  ideaux  de  Piaton:  l'eTv  identifie  a  l'cqadov  ei  la 
Buas  doptatoc;  evidemmenl  ce  sonl  dea  principea  intelligiblea  qui 
n'onl  da  aombre  quo  le  uom;  Bi  cea  termea  onl  ete  repria  par  le 
oeopythagorisme,  rien  ue  prouve  qu'ilä  appartiennent,  'laus  le 
meme  Bena,  ä  an  autre  qu'ä  Piaton  lui-meme;  il  a  depasse  dans 
le  Philebe  le  poinl  de  vue  de  Philolao8;  toul  ce  qui  a  ete  ajoute 
dana  les  afypcqpa  '/'--MTa  vienl  soil  de  lui,  soil  de  sea  disciples,  Bans 
que  la  distinction  aoil  au  reste  facile  ä  faire. 

Je  penae  d'aüleur8  que  c'e8<  par  suite  d'une  meprise  que 
M.  Benard  fail  dire  ä  Aristote  que  les  oombrea  ideaux  tiennenl  le 
milieu  entre  les  ideea  ei  les  objets  sensibles.  Cette  position  inter- 
mediaire,  [leta^o,  appartienl  aus  |xadr^|xaTixd,  d'apres  an  pass 
bien  connu  de  la  Republique,  ei  Aristote  a'a  pas  dil  autre  ch 
J'estime  au  contraire  que,  pour  Piaton,  les  apiftpo)  stöijTixoi  sonl 
des  principea  Buperieurs  qu'il  a  essaye  de  constituer,  d'ailleurs  en 
petil  Qombre  (a-t-il  lui  meme  complete  la  decade  donl  parle 
Aristote  ei  qu'il  faudrail  chercher  a  retablir?),  et  saus  enseigner  ja- 
maia  que  toutea  loa  ideea  fussenl  des  aombres. 

La  dimculte  qui  amene  les  divergences  d'interpretation  pour 
la  doctrine  des  ideea  (en  Dieu  ou  hora  de  IM  aite*  supreme)  esl 
evidemmenl  insoluble,  puisque  Piaton  ae  s'etanl  pas  prononce  ä 
cel  egard,  Aristote  a  pa  dire  que,   d'apres  lui,  lea  ideea  a'etaienl 


Comptes-rendus  d'ouvrageB  but  ITnstoire  de  la  philosophie  etc.      531 

Dulle  part;  Speusippe  ni  Kenocrate  u'on!  eu  la  dessus  ancune  trar 
ditioD  e1  ils  ii"nnt  pu  s'en  ürer.  Ed  posanl  les  idees  comme 
condition  necessaire  de  la  science,  Piaton  s'etail  volontairemenl 
enferme  dana  une  forteresse  oü  il  pouvail  resister  ä  toutes  Les 
attaques,  maia  donl  il  lui  etail  interdil  de  a'eloigner  saus  s'exposer 
a  im  echec  certain.  II  en  avail  conscience  et  au  moins  dans  Lee 
Dialoglies,  il  a  fermemenl  maintenu  sa  position.  11  ue  faul  donl 
pas  chercher  ä  lui  attribuei  dos  deduotions  qu'il  s'esl  refuse  ä  tirer. 
C'esl  ä  pres  peu  pres  la  conclusion  de  M.  Benard  comme  la 
mienne;  mais  il  me  semble  quo  la  difficulte  esl  aggravee  par  le 
l'ait  quo  Ton  place  d'ordinaire  loutes  los  idees  platoniciennes  sur 
lc  meme  rang.  Or  je  remarque  tout  d'abord  que  si  Piaton  a  pose 
Les  s'.oY,  [xa&7)p.ctTixct  comme  intermediaires  entre  le  monde  transcen- 
ilant  et  1«'  monde  sensible,  les  zlort  physiques,  les  formes  <|iii 
jouent  le  plus  grand  role  che/.  Aristote  (le  froid,  le  chaud,  le  see, 
l'humide)  sont  necessairement  pour  Piaton  ä  un  degre  encore  iu- 
ferieur,  d'autant  qu'il  les  l'ait  resulter  dans  le  Timee  des  figures 
geometriques.  L'idee  du  lit,  dont  il  parle  dans  la  Republique, 
doit  aussi  saus  doute  appartenir  au  p.eta£u,  comme  au  fond  tout 
ce  qui  peut  s'apprendre  et  est  susceptible  d'une  deünition  ri- 
goureuse. 

Restent  comme  idees  proprement  dites,  deux  classes:  d'une 
pari  les  idees  abstraites  positives  (le  bon,  lc  vrai,  le  beau,  le 
meme,  le  grand  etc.),  les  seules,  de  fait,  dont  Piaton  lasse  usage; 
de  Tautre  les  idees  des  especes  (Phomme,  le  clieval,  etc.)  qui  creentla 
grande  difficulte.  Sil  u'y  avait  que  la  premiere  classe,  on  pour- 
rait  dire  que  les  idees  ne  sont  que  les  divers  aspects  de  l'Unite 
supreme,  qu'eUes  rentrent  dans  ce  principe,  qu'elles  lui  sont  im- 
manentes, et  ne  s'en  distinguent  que  par  les  effets  de  leur  commu- 
nication  avec  la  dyade  indeterminee,  la  veritable  matiere  intelli- 
giblede  Piaton;  »le  cette  communication  resultent  necessairemenl  les 
idees  negatives  opposees,  et  les  differentes  distinctions. 

II  me  parait  en  tout  cas  impossible  de  soutenir  que  Piaton 
ai1  jamaia  place  au  meme  rang  les  idees  des  especes;  mais  quel 
degre  de  la  hierarchie  pouvait-il  Imir  reserver?  les  faisait-il  descendre 
dans  le  u.zt7;Ö?    les  mainteiiait-il   au    dessus?    La    question    merite 


Paul  Tanner>. 

um-  longue  diacussion  que  i<'  ne  puis  aborder  ici;  mala  il  me  semble 
que  l'on  peul  emettre  des  argumenta  dans  Les  dem  - 

LJn  autre  point  aar  lequel  j  ette  de  me  troaver  en  >rd 

V.  Bi  aard,  precisement  parce  qu'il  a  etudie  avec  amoar 
l'etnique  de  Piaton,  est  relatif  aux  principea  fondamentaux  de  La 
morale  da  Maitre.  L'ecole  spiritualiste  met  volontiere  dans  l'ombre 
la  partie  de  la  doctrine  qui  a  la  moindre  appareoce  de  determiniame; 
eile  aime  a  dire  que  le  moraliate  contredil  le  theoricien,  que  le 
sens  moral  rectifie  L'erreur  Bpeculative.  J'estime  tout  an  con- 
traire  que,  sur  le  principe  de  l'action  bumaine,  Piaton  a  \u  plus 
clair  que  les  deterministes  en  general  ei  aussi  que  leura  adver- 
saires,  que  la  doctrine  que  Pignorance  est  la  Beule  cause  da  mal, 
que  nul  a'esl  volontairemenl  mauvais,  est  la  doctrine  veritable,  celle 
;i  laquelle  od  reviendra,  quand  L'imperatif  categorique  sera  d 
J'estime  qu'un  vrai  platonisanl  devrail  avanl  toul  relever  cette 
doctrine  ei  La  mettre  dans  sa  pleine  lumiere.  Mais  sur  ce  poinl 
qod  plus,  je  oe  puia  entrei  plus  avant  dans  la  discussion. 

Ihn    (Chakii-  .      La    \ir   e1    l'cBuvre    de  Piaton,    2  vo\  in-8 
(506—676  pages),  Paris,  Thorin,  L893. 

L'ouvrage  de  M.  Unit  represente,  avec  des  augmentations 
considerables,  an  memoire  couronne  en  1887  par  L'Academie  des 
Sciences  Morales  ei  Politiques.  L'objel  du  concoura  etail  de 
combler  one  lacune  sensible  dans  la  litterature  philosophique 
francaise  bot  Piaton,  il  s'agissail  de  reunir  les  documenls  relatifs 
a  la  vie  ei  aux  ecrits  «In  Maitre,  Bans  entrer  dans  Les  discussions 
que  peul  soulever  L'interpretation  <lr  La  doctrine. 

Programme  ;i  ete  heureusemenl  rempli  par  M.  Unit:  il  a 
t.iii  oeuvre  d'erudil  ei  <!<■  critique,  ei  montre  que,  -il  etail  capable 
de  defendre  aabilemenl  ane  these  plus  ou  moins  paradoxale,  comme 
Q l'avait prouve  dans  plusieura  de  ses  precedents  essaia,  il  ne  -;i\;iii 
pas  moins  exposei  fidelemenl  les  opinions  d'autrui,  Les  apprecier 
avec  mesure  ei  oe  se  prononcer  qu'avec  circonspection. 

350  pages  sonl  consacräes  a  la  \  i<'  de  Piaton;  Los  titrea  des 
dix  chapitres:  —  I.  Introduction ;  II.  Athenes  au  cinquieme  siecle 
;i\;uii  Qotre  '-it.      III.  Piaton  jusqu1  ;i  la  morl  de  Socrate.    IN.  Pia- 


Comptes-rendus  d'ouvrages  sur  l'histoire  de  la  philosophie  etc.       539 

ton  apres  la  morl  deSocrate  (sejour  ä  Megäre  ei  Voyages).  V.  Pla- 
ton  ä   L'Academie.     VI.  Vieillesse    e1  morl    de    Piaton.     VII.   Les 

jngements  des  anciens  sur  Piaton.     \  III.   Rapports   pers eis  de 

Piaton  avec  ses  contemporains.  I\.  Piaton  e1  la  politique  athe- 
oienne.  K.  Traits  dlstinctifs  de  l'esprü  platonicien  ■ —  montrenl 
assez  que  Ic  sujei  es1  traite  sous  toutes  ses  faces;  \u  le  pen  que 
l'on  sail  en  realite  sur  les  evenements  de  la  vie  de  Piaton,  on  doil 
bien  penser  que  ce  long  expose  comporte  d'assez  oombreux  hors 
d'oeuvre.  Le  plus  important  a  etc  insöir  m  lsss  ,iails  les  SJances 
e1  travaux  de  l'Acad.  d.  sc.  mor.  et  pol.,  et  mentionne  par  Zeller 
(Phil.  d.  Gr.  I  ed.  II  Th..  1  Abth.  p.  404,  n.  1);  il  concerne  la 
question  generale  de  l'influence  de  la  philosophie  Orientale  sur  celle 
de  la  Grece;  tout  en  refutant  soigneusement  les  arguments  par  les- 
quels  on  a  pretendo  prouver  cette  influence,  M.  Huit  ne  la  reduil 
pas  absolument  a  un  minimum  lu^liuealile,  [niisqu'il  conclut  en 
disant  que  si  Piaton  est  un  Grec  d'Athenes,  c'est  im  Grec  qui  a 
echauffe  son  imagination  aux  rayons  du  soleil  de  l'Orient;  que  s'il 
est  permis  de  comparer  la  philosophie  platonicienne  ä  une  <i'U\  re 
d'art,  le  dessin  du  tableau  n'a  rien  que  d'hellenique,  mais  que, 
daus  les  details  de  l'execution,  un  regard  exerce  decouvre  saus 
peine  le  reflet  d'heureux  emprunts  faits  ä  d'autres  races,  ä  d'autres 
croyances,  ä  d'autres  civilisations. 

Cette  conclusion  aurait  du  ctre  plus  explicitement  motivee; 
daus  les  oeuvres  de  Piaton,  en  dehors  du  mythe  de  1' Atlantide,  il 
y  a  quelques  emprunts  reels  et  bien  connus  faits  aux  Egyptiens; 
pour  les  reconnaitre,  il  n'est  nullement  besoin  d'un  regard  exerce, 
puisqu'ils  sont  avoues;  mais  leur  rarete  et  leur  insigninance  sont 
plutot  de  nature  ä  nous  faire  croire  que  si  Platon  avait  espere 
trouv.r.  sur  les  bords  du  Nil,  l'occasion  d'elargir  le  cercle  de 
pensees,  il  en  sera  revenu  desillusionne.  Sans  son  precieux  juge- 
menl  sur  le  caractere  cpiXo^pVjfiaxov  des  Egyptiens  e1  des  Pheniciens 
(Civ.  436a),  on  pourrait  meme  etre  porte  a  dire  qu'il  a  voyage 
plutöt  en  simple  curieux  qu'en  veritable  philosophe. 

A-t-il  l'ait  au  contraire  a  la  pretendue  „sagesse  Orientale"  des 
emprunts  Caches?  ils  sont  en  toui  cas  assez  bien  deguises  pour 
qu'il  convienne  de  les  faire  ressortir.     Dans  la  pensee  de  M.  Iluit, 


mprunts   se   bornenl  probablemenl   ;i   quelques  traite  insi 
daufl  lea  mythee  platoniciena,  et  l'interel  de  la  queation  esl  plutol 
d'ordre  litteraire  que  d'ordre  philosophique;  <    sl         qui  explique 
qu'il  n'ait  paa  cherche  ä  l'approfondir.      Mais   la  veritable  origine 

divers  elementa  mythiquea   utilises    par   Piaton   (par  exemple, 
lea  Civ.  \.  615  e)  n'en    reate  paa  moins  un 

Probleme  encore  a  resoudre. 

En  resume,  M.  Jluit  a  reuni  ei  critique  avec  Boin  ce  qui  a 
deja  iii  sur  la  vie  de  Piaton;  .1  ce  poinl   de  vue  son   travail 

peul  etre  eminemmenl  utile;  mais  il  n'a  pn  apporter  aucun  docu- 
menl  oeglige  avanl  lui,  ni  etablir  aucun  reaultal  oouveau'). 

I.'  -  etudes  aur  l'oBuvre  <!«•  Piaton  Bonl  diviaees  en  fcrois  partii 

La  premiere  comporte  deux  chapitrea:  but  la  production  litte- 
raire au  Biecle  de  Pericles;  sur  la  publicite  donnee  aux  ecrita  de 
Piaton;  la  discussion  y  est  menee  de  fa^on  a  faire  re&sortir  les 
points  faibles  de  la  these  de  Grote,  d'apres  laquelle  un  canon 
ecrits  de  Piaton  aurail  existe  de  fall  aussitöl  apres  Ba  morl  ei 
aurail  permis  aux  anciens  de  reconnaitre  exactemenl  les  dialogues 
authentiques  ei   les  apocrypb.es. 

La  seconde  partie,  sur  l'authenticite  des  dialogues,  esl  la  plus 
etendue;  M.  Iluii  commence  par  poser  les  regles  de  la  critique 
d'attribution,  puis  discute  l'application  aus  ecrits  de  Piaton  d'abord 
du  criterium  externe  ou  des  temoignages  bistoriques,  en  second  lieu 
du  criterium  interne.  II  insiate  sur  l'incertitude  plus  ou  moins 
grande  des  resultats  qu'il  esl   possible  d'atteindre. 

Le  chapitre  qui  Buit,  but  lea  travaux  des  critiques  modernes, 
est  un  des  plus  interessant»  de  l'ouvrage;  il  presente  nur  revue 
li<l«'l«'  ei  Impartiale  des  opinions  emises  par  les  divers  auteurs  qui 
onl  traite  de  l'authenticite  des  dialogues  depuis  Brucker  ei  Meiners 
au  WIM  sieclejusqu'  aus  contemporains  les  plus  recents.  Comme 
conclusion,  M.  Unit  constate  que  la  queation  a'exiate  pas  serieuse- 


emarque   toutefois   qu'il  a  en  raison  de  mettre  en  doute  les  don- 
ne,  visiblemenl   inventees   pour  lui  faire  visiter  le 

metre  The'od II  est  constanl  que  ce  dernier  s'etail   etabli   a    Uhenes; 

d'un  aul  ou  Piaton  faisail  s<  •  voyages,   Theodore  o'avail 

tainemenl  plus  rien  a  lui  apprendre. 


Comptes-rendus  d'ouvrages  sui  l'histoire  de  la  pbilosophie  etc.      .">  1 1 

nit'iit  pour  la  Republique,  le  Timöe,  le  Gorgias,  le  Phedon, 
le  Protagoras,  1«'  Theetete,  le  Phedre  ei  la  Banquet.  II 
esl  d'avia  qu'on  a  attaque  a  tor<  lea  Luis,  le  Philebe,  le  Menon, 
le  Cratyle,  l'Euthydeme,  le  Critias,  mais  avec  raison  le  Par- 
menide,  le  Sophiste  ei  le  Politique  (ainsi  que  lea  Lettres). 
Quant  aus  autres,  \  compria  meme  les  deux  acephales  du  Juste  et 
de  la  Verta  ei  le  Clitophon,  il  lea  ränge  suivant  ane  serie  dans  la- 
quelle  ledegrede  probabilite  ei  d'authenticite  decroil  succeaaivemenl 
de  la  preaque  certitude  ä  la  plus  forte  suspicion,  mais  pour  l'en- 
semble  de  laquelle  il  refuse  de  sc  prononcer. 

Le  probleme  a  ete  longuement  discute  sous  toutes  ses  faces, 
les  opinions  contraires  mises  en  regard  les  unes  des  autres;  c'esl 
au  lecteur  ä  reprendre  Piaton  et  ä  se  decider  d'apres  son  iiu- 
pression  personnelle. 

L'ouvrage  se  termine  par  une  partie  consacree  ä  l'ordre  chro- 
nologique  des  dialogues;  la  question  est  developpec  de  la  meme 
facon,  avec  une  critique  approfondie  des  methodes  proposees,  mais 
sans  aboutir  davantage  ä  une  conclusion  neuve  ou  precise. 

Deux  appendices  tres  interessants  et  constituant  une  innovation 
heureuse  dans  les  ouvrages  de  ce  genre,  sont  consacres  aux  manu- 
scrits  de  Platou  et  aux  principales  traductions  de  ses  a?uvres. 

En  resume,  le  travail  de  M.  Huit  rendra  d'incontestables  ser- 
vil vs  et  eparguera  bien  des  peines  a  eeux  qui  commenceront  par  l'etu- 
dier  avant  d'essayer  de  se  former  par  eux-memes  une  opinion  sur 
Piaton;  quanl  a  ceux  qui  ont  deja  leur  siege  fait,  ils  y  trouveront 
au  moins  une  reunion  commode  de  renseignements  nombreux  et 
gencralement  tri-s-siirs  (ä  part  deux  ou  trois  inadvertancee  d'im- 
pression,  qu'il  est  facile  de  corriger).  Le  style  est  aise  et  agrcable 
a  lire,  ce  qui  n'est  pas  a  dedaigner  pour  les  platonisants. 

A.  Bebthaüd.  Sancti  Augustini  doctrinam  de  pulchro  iu- 
genuisque  artibus  e  variis  illius  operibus  excerp- 
tam  etc.     Poitiers,  Oudin,  1891.  —  112  pagea  iu-8. 

S.  Augustin  qui,  avant  sa  conversion  au  christianisme,  avait, 
a  l'äge  i\v  viu_ri->ix  ou  vingt-sepl  ans,  ecril  deux  on  trois  livrea 
perdua  De  pulchro  et  apto,  parail  avoir  eu  en  esthetique  quel- 


5  [2  Paul  ranne  i  j . 

>iu>--  idees  originales.  Ed  toul  '-a».  il  avait  evidemment  profonde- 
nitiit  reflechi  sur  «■<•  Bujet,  ei  les  idees  qu'il  b  emises  dana 
divers  ouvrages,  eo  particulier  dana  les  livres  De  musica,  onl 
lim-  importance  historique  d'autanl  plus  grande  qu'ellea  onl 
constitue  au  dix-huitieme  siecle  !<•  fond  de  l'Essai  sur  le  Beau 
du  P.  Ami i  it  de  la  sorte  passe  dans  le  conrani  moderne. 

1  imme  la  plupart  des  theses  latmes  de  doctoral  soutenues  <'n 
France,  celle  de  M.  Berthaud  est  malheureusement  trop  peu  <l<;- 
veloppee.     La  matiere  est  ex]  lairemenl  ei  methodiquement; 

les  questions  d'origine  sonl  Lnsuffisammenl  trau  d  vroil  bien  eu 

quoi  S.  Augustin  9'ecarte  de  Plotin  el  aussi  bien  de  Platou  ei 
d'Aristote;  on  oe  voil  pas  autanl  si  sa  conception  <lu  numerus 
(comme  rhytme)  esl  empruntee  a  quelque  ueopythagoricien  ou  ä 
quelque  musicographe,  si  au  contraire  <'ll<-  lni  appartienl  <'ii  pro] 
ce  qui  me  parail  |>>'ii  probable.  La  questiou  me  semble  donc  a 
reprendre,  au  poinl  de  vue  historique;  .M.  Berthaud  aura  eu  au 
moins  le  merite  de  la  poser  uettement. 

Berthaud  (l'abbe).   Gilbert  de  la  Porree,  eveque  de  Poitiers, 
e1  sa  philosophie.    349  pages  in-8.    Poitiers,  Oudin,  L892. 

Ce1  ouvrage  est  une  these,  tres  serieusemenl  faite,  pour  le 
doctoral  de  philosophie.  En  dehors  d'une  introductiou  donnanl  la 
bibliographie  des  livres  et  manuscrits  utilises  et  d'une  conclusiou 
•  luiit  l'objel  esl  d'etablir  la  liste  authentique  des  oeuvrea  theologiques 
(la  plupart  inedites)  de  Gilberl  de  la  Porree,  le  livre  esl  divise  eu 
sepl  chapitres.  I.  Etudes  de  la  Porree,  ses  maitres.  -  II.  Le 
professenr  (avec  une  digressiou  sur  la  philosophie  scolastique  du 
temps). —  III.  I.''  logicien.  Analyse  ei  critique  du  Liber  box  prin- 
cipiorum.  •  IV.  Le  metaphysicien.  Analyse  et  critique  du  Liber 
«l<-  causis,  avec  im  excursus  sur  l'authenticite  <!<•  cel  ouvrage.  — 
\.  Analyse  et  critique  des  commentaires  sur  Boece.  VI.  L'eveque 
;m\  conciles  de  Paris  e1  de  Reims.  VII.  Les  dernieres  annees 
de  l'eveque. 

Ne  ä  Poitiers  eu    1070,  Gilberl    de  la   Porree  oommenca  - 
Etudes  a  l'ecole    episcopale   de    sa   rille    uatale,    les    poursuivit   a 
Chartres,    oü  sou  maitre  Bernard  exerca  une  grande  Influence  but 


Comptes-rendus  d'oxivrages  sur  l'hiatoire  de  la  philosophie  etc.      543 

le  developpemenl  de  ses  idees,  puia  ä  Paris,  sous  Guillaume  de 
Champeaux  ei  Abelard,  enfin,  pour  la  theologie,  a  Laon,  sous  An- 
lehne. Vers  L125  seulement,  il  remplace  Bernard  de  Chartres 
cemme  professeur,  devienl  celebre  par  sa  subtilite  parmi  les  re'a- 
listes,  occupe  ane  chaire  a  Paris  (1137—1140),  puis  esl  rappele 
a  Poitiers  poui  en  diriger  l'ecole,  donl  il  continua  a  s'occuper 
activemenl  apres  avoir  ete  promu  ä  IVpiseopal  cn  1142.  Denonce 
a  Rome  par  deux  de  ses  archidiacres  pour  ses  opinions  sur  le 
dogme  de  laTrinite,  il  est  cite  devanl  im  concile  ä  Paris  en  1117. 
se  defend  victorieusement,  revient  en  1148  devant  im  second  con- 
cile  ä  Reims  e1  retourne  dans  son  diocöse  apres  avoir  au  moins 
desavoue  les  erreurs  <|u"un  lui  attribuait  et  que  continuerent  ä 
soutenir  ceus  que  ilo  son  nom  on  appela  les  Porretaius.  11  mourut 
Bis  aus  apres,  en  1154. 

M.  Berthaud  discute  serieusement  les  temoignages  contradic- 
toires  qui  existent  sur  les  actes  de  ces  conciles  et  rejette  nettement 
celui  de  Geoffroy,  le  secretaire  de  S.  Bernard,  lequel  pretend  que 
Gilberl  tut  condamne.  Le  plus  clair  est  que  le  pape  Eugene  III, 
qui  presida  lui-memc  les  conciles,  chercha  ä  etre  impartial  et  ä 
assoupir  le  differend;  que  les  adversaires  de  Gilbert  se  trouvaient 
Burtout  parrni  ses  collcgues  franpais  et  que  S.  Bernard  s'aeharna 
contre  lui;  qu'il  fut  au  contraire,  au  moins  pour  les  questious  de 
forme,  soutenu  par  les  cardinaux  Italiens.  L'abbe  Berthaud  pense 
neanmoins  que,  dans  ses  Commentaires  sur  Boece,  l'eveque  de 
Poitiers  s'est  ecarte  de  la  doctrine  catholique,  en  adoptant  certaines 
formules  realistes  relatives  au  dogme  de  rincarnation. 

|)es  ouvrages  laisses  par  Gilbert  de  la  Porree,  celui  qui  a  joue 
le  role  le  plus  importanl  esl  le  petit  Liber  sex  prineipiorum, 
qui,  cousacre  aus  six  dernieres  categories  d'Aristote,  eut  l'honneur 
d'etre  pris  dans  les  ecoles,  jusqu'  au  XVI  siecle,  comme  comple- 
ineut  de  l'Isagoge  de  Porphyre,  et  comme  tel,  d'etre  souvenl 
commente,  meme  par  Albert   le  Grand  et  S.  Thomas  d'Aquin. 

La  Liber  de  causis  est,  comme  on  sait,  un  extrail  para- 
phrase  de  la  Stoi^ewook;  BeoXoifix^  de  Proclus;  l'origine  de  ce  traite, 
celebre  aa  moyen  age,  reste  an  probleme  a  elueider.  Pour  en 
attribuer  la  redaction  a  Gilbort  de  la  Porree,  M.  Berthaud  s'appuie 


;,  \ 1  Paul  Tannei 

sur  la  suscriptioD  du  plus  ancien  manuaciH  connu,  celui  de  Bru 
(commencemenl  da  XIII*  aiecle).    II  remarqae  que  Gilbert  s&vail  da 
•  qai  ae  suffil  paa  prouver  qu'i]  <■  ü  t  ete  capable  de  faire  one 
tradaction;  maia  il  ;i  pa  se  Bervir  >l«'  veraiona  latinee  faitea  bot  ud 
arabe  qui  aarail  ete  etabli  aar  le  Byriaqae  <\r  David  l'Ai 
menien. 

M .i  1  _t.-  la  valeur  de  l'argamentation  <!<•  M.  Berthaud,  In  de- 
monstration  o'esl  point  faite;  il  faudrail  evidemmenl  retrouver 
l'original  arabe  ei  verifier  juaqu'  a  quel  poinl  le  Liber  '!<•  oausis 
en  est  reellemenl  une  tradaction.  Le  probleme  esl  renda  plus 
difficile  par  le  Iah*  qu'i]  semble  y  avoir  eu  pluaieura  traitea  arabea 
differenta,  maia  anal  Bur  le  meme  Bujet.     Enfiu  .-i  Alberl   le 

Grand  attribue  '■>■  traite  a  im  David  le  Juif,  inconnu  d'ailleura,  et 
qui  l'aurail  compose  d'aprea  lea  auteura  arabee,  il  eal  evidemmenl 
hardi  de  vouloir  i* hn t i li . •  i-  ce  David  avec  ['Armenien,  !>•  diaciple  de 
Proclua;    il  vaudrait    mieus  rejeter  ce  temoignage,  comme  l'a  lait 

-  Thomaa,  qui  a  reconnu  le  premier  la  correlatiou  entre  la  Ztoi« 
'/'-''">'■-'  öeoXoftx^  «'t  le  Liber  '!<•  cau8i8,  maia  n'a  paa  cru  pou- 
voir  deaigner  expreasemenl  l'auteur  de  ce  dernier  traite. 

I'.n  toul  cas,  il  semble  bieu  etabli  que  Gilbert  de  la  Porree  a 
au  moina  contribue  a  faire  connaitre  uu  ouvrage  donl  la  doctrine 
eal  identique  a  celle  dea  commentairea  sur  Boece.  L'etude  du 
Liber  <!'■  causia  est  donc  bieu  a  sa  place  'laus  uu  volume  con- 
Bacre  a  l'eveque  de  Poitiera. 

Ed  somme,  le  travaiJ  de  M.  Berthaud  oflre  uu  interel  veritable 
comme  contribution  a  l'hiatoire  de  la  philosophie  scolaatique;  l'ex- 
poaitioD  ea1  claire,  ei  la  partie  critique  temoigne  d'un  eapril  juate; 
lea  renaeignementa  biatoriquea  sonl  abondanta  <•!  parfoia  curieux. 

Monchamp  (George).  Galilee  e1  la  Belgique,  essai  hi>t<>- 
rique  Bur  lea  viciasitudea  du  Systeme  de  Copernic 
eu  Belgique  (XVII6 ei  WIN  siecle).  Saint-Trond,  Moreau- 
Schonberechta,  1892        246+76  pagea  in-16. 

—  N  "i  j  i  i.;i  t  imi  de   la  condamnatiou  de  Galilee  datee  de 

Liege,   20  aeptembre  1633,  publice  par  le  ice  de 

logne  dana  lea  paya    rhenana    ei    la    Baase-Alle* 


Comptes-rendus  d'ouvrages  stir  l'histoire  de  la  philosophie  etc.      545 
maene.      Saint-Trond,    Moreau-Schonberechts,     L893    — 

■ 

30  pages  in-8. 
Le  patienl   ei  judicieux  auteur  de   l'Histoire  du  Cartesia- 
nisme  en  Belgique  (voir  Archiv,  III.  p.  663  suiv.)  a  consacre  im 
Douveau  volume  ä  qous  retracer,  sur  im  plan  semblable,  lea  disputea  e1 
lea  controversea  auxquelles  a  donue  lieu,  dans  son  pays,   le  Systeme 
de  Copernic,  depuis  la  condamnatioD  de  Galilee  jusqu'au  triomphe 
definitif  de  la  doctrine  declaree  suspecte  d'heresie.     Ce  sujel   inte- 
ressant plus  particulierement  l'histoire  des  sciences  que  celle  de  la 
philosophie,  je  ine   contenterai   de  signaler    la    richesse  des  docu- 
ments  que  contienl   cel   ouvrage  sur  l'enseigiiemenl   dans   les  uni- 
äites    ei   Colleges    de    Belgique,    ä    Pepoque  oh    la    philosophie, 
d'apres  la  langage  courant,  embrassait  tous  les  cours  de  la  Faculte 
des  Arts,    c'est-ä    dire    l'ensemble  des  sciences  experimentales   et 
rationneUes.      Au   reste    le   principal    heros  du   livre    de   M.  Mon- 
champ   es1   le  cartesien   Martin  van  Velden  qui  en  1691  s'attira  im 
curieux    proces  avec  la    Faculte,    pour   avoir   laii  soutenir  malgre 
eile  au  College  du   Faucon  une  these  copernicienne,    et  finalemenl 
dut  faire  amende  honorable.     Toutefois,  il  continua  d'enseigner  le 
Systeme    heliocentrique,    sauf  a  prendre  soiu   de  rediger  ses  thi 
avec  des  formules  subtilemenl   calculees  pour  ne  pas  s'attirer  de 
oouveljles   difficultes.     Toute  cette   histoire  est  remplie  de   <l<:iails 
piquants  e1  de  singuliers  traits  de  meeurs. 

Dans un  opuscule  posterieur,  M.  Monchamp  a  pul»li<:.  d'apres  une 
copie  manuscrite,  ei  avec  quelques  remarques  interessantes,  le  texte, 
jusqu'  alors  introuvable,  de  la  piece  imprimee  sur  le  vu  de  laquelle 
Descartes,  craignanl  1»-  sorl  de  <ialil<:r.  renonca  ä  la  publication 
de  -"ii  .Monde.  C'esl  pour  moi  l'occasioD  de  presenter  quelques 
remarques  personnelles  qui  onl  pour  bul  de  faire  ressortir,  sur 
u n  exemple  topique,  la  difficulte  d'une  reedition  de  la  Correspon- 
dance  de  Descartes. 

II  a  surtoul  pari«'  de  la  condamnation  de  Galilee  «laus  trois 
lettrea  ä  Mersenne:  A,  Clers.  II.  76,  Cousin,  VI,  242;  B,  Clers. 
II.  106,  Cousin  VI,257;  C,  Clers.  11.77,  Cousin,  VI,  247;  sur  le 
texte  e1  la  date  des  deux  dernieres,  il  n"\  a  pas  d'incertitude;  la 
lettre  C  ('.'  de  la  collection  Lahire)  d'Amsterdam,  le  l4aoü1  1634, 

i-.   i    <  tesi  hi( .  \'ll 


546  Paul  Tanner]  . 

tuellemenl  co  .1  la  Bibliotheque  Victor  Cousin,  ä  Paris; 

la  lettre  B,  d'Amsterdam,  le  15  mal  1634,  8  de  la  collection  Lahire) 
rui-  lement,  aux  Archive«  de  I' Institut;  mais  la  lettre  A.  que 

I  grand  a  supposee  etre  du  lOjanvier  1634,  n'a  jamais  figure  dans 
la  collection  Lahire  <-\  eile  a'esl  connue  que  par  Clerselier,  c'est-a- 
dire  par  les  minutes  de  Descartes.  M.  Monchamp  remarque  qu'une 
partie  au  moins  de  cette  lettre  doil  etre  posterieure  ä  la  lettre  B 
du  15  in:ii.  car  dans  cette  derniere,  Descartes  fail  offrir  a  im  ecele- 
siastique  francais  (probablemenl  Boulliau,  d'aprea  M.  Monchamp) 
.|iii  tinif  pour  le  Systeme  de  Copernic,  de  lui  fournir  des  arguments; 
dans  la  lettre  A.  il  retire  cette  öftre. 

I.a  conjecture  de  M.  Monchamp  esl  completemenl  confirmee 
par  ce  fail  que  dans  la  ßn  de  la  meme  lettre,  Descartes  parle  du 
concours  qui  avail  eu  lieu  recemment  pour  la  chaire  de  Ramus 
au  College  de  France;  or,  nous  savons  que  <•<■  concours  se  passail 
t •  ■  1 1  —  [es  trois  ans,  vers  Päques;  la  lettre  ne  peul  donc  etre,  pour 
cette  partie,  «In  1*»  janvier;  eile  esl  plus  probablemenl  de  mai  ou 
de   juin. 

I.a  premiere  partie  de  la  lettre  A  parail  au  contraire,  a  pre- 
miere  vue,  quelque  peu  anterieure  a  la  lettre  B;  Descartes  \  parle 
en  effel  des  memes  questions  ei  en  des  termes  qu'il  n'aurail  pas 
employes  dans  nur  lettre  posterieure  ä  celle  du  15.  mai.  Rl  Mon- 
champ admel  que,  comme  cela  a  certainemenl  eu  lieu  dans  d'autres 
cas,  Clerselier,  par  suite  du  desordre  des  minutes  de  Descartes, 
aura  rattache  Tun  a   l'autre  des  Fragments  de  lettres  differentee 

Cette  hypothese  leverail  la  difficulte,  mais  «'II.'  ne  peul  etre 
aeeeptee  -an-  controle,  parce  que  la  lettre  A  est  assez  courte 
pour  que  la  minute  im  ecrite  sur  im.'  meme  feuille  de  papier;  il 
serail  donc  uecessaire  de  rechercher  au  prealable,  par  une  discussion 
minutieuse  des  cas  non  douteux,  quelle  esl  la  nature  et  la 
limite  des  confusions  resultanl  de  l'accidenl  qui  a  mis  en  desordre 
les  minutes  de  Descartes.  Cette  discussion,  qui  devrail  preceder 
'"Uli'  tentative  de  faire  disparaitre  ces  confusions,  n'a  jamais 
faite  el  il  j   a  la  im  sujel  de  travail  ä  recommander. 

En  second  lieu,  lorsque  'lau-  In  lettre  A,  Descartes  declare 
qu  il  im-  peul  expliquer  la  raison   pour  laquelle  un  arc  courbe  se 


Comptes-rendus  d'ouvrages  3ui   l'histoire  <le  la  philosophie  etc. 

redresse  sans  exposer  les  principes  de  la  philosophie  „desquels  il 
pense  etre  > »1  > ! i l^ * ■  dorcnavanl  de  se  taire";  lorsque  dans  la  lettre  B, 
il  explique  au  contraire  le  phenomene  en  parlanl  des  pores  ei  de 
la  matiere  subtile;  on  peul  se  demander  si  cette  lettre  A  a  rcelle- 
menl  ete  envoyee  ä  Mersenne,  si  eile  n'esl  pas  au  contraire  (ei 
serail  assez  ma  croyance  pour  la  lettre  toul  entiere)  im  premier 
projel  pour  la  lettre  du  1"»  mal,  projel  «l<»nt  Descartes  a'aura  pas 
ete  satisfait,  auquel  il  aura  substitue  une  redaction  toul  ä  fail 
differente  (savoir  la  lettre  B),  mais  que  cependanl  il  aura  voulu 
conserver  dans  ses  minutes. 

Kn  publianl  la  correspondance  de  Descartes,  Clerselier  a  cer- 
tainemenl  (il  le  declare  lui-meme)  modifie  certaines  expressions 
trop  vives  qui  pouvaienl  blesser  des  personnes  vivanl  encore;  peut- 
etre  s'est-il  cru  permis  de  faire  quelques  autres  changenients;  mais 
d'autre  part,  malgre  le  soin  extreme  que  parail  avoir  pris  l)cs- 
cartes  de  garder  le  texte  de  ce  qu'il  ecrivait,  meme  ä  im  ami  in- 
time, comme  Mersenne,  il  parait  incontestable  qu'il  a  sur  ses 
lettres  envoyees  fall  certains  changenients  ou  certaines  additions 
a  ses  minutes.  Je  dis  que  de  plus  la question  se  pose,  precisemenl 
a  propos  de  la  lettre  A  precitee,  de  savoir  si  toutes  les  minutes 
publiees  par  Clerselier  ont  correspondu  de  i'ait  ä  des  lettres  reelle- 
meiit  envoyees.  Or  cette  questiou  n'est  certainement  pas  »les  plus 
aisees  ä  resoudre. 

Paul  Tannert.  La  Correspondance  de  Descartes  dans  les 
inedits  du  fonds  Libri,  etudiee  pour  l'histoire 
des  mathematiques.  Paris.  Gauthier  Villars,  1893.  — 
VII +  U4  pages  in-8. 

J'ai  reuni  dans  ce1  opuscule,  en  l'accompagnanl  de  commen- 
taires,  les  parties  interessanl  les  mathematiques  dans  les  pieces 
inedites  de  la  Correspondance  de  Descartes  que  j'ai  publiees  dans 
l'Archiv  (IV.  p.  442  449;  .v_".i-556:  V,  217  -222;  469—477). 
J'j  ai  joinl  um'  lettre  inedite  de  Roberval  ;i  Cavendish,  touchant 
demeles  avec  Descartes  a  propos  <I<j>  centres  d'oscillation ,  ei 
im.-  serie  de  pamphlets  mathematiques  contre  Descartes;  Cousiu  a 

parle  de  ces  pamphlets  dans  son   article   Etoberval   philosophe, 

::s* 


j . 

du  Journal       -  Si  vanta  de  man   1845,  el  les  a  attribues  ä 
rival  de  l'auteur  de  la  Geometi  -   avoir  demontre  que 

ittributioD  est  tout-a-fail  errom  que  le  veritable  auteui 

des   pamphlel  d<    B  od,    «j n i  j   parle  d'aüleurs  de 

.l'ai  particulicremenl    insiste   sur   les  incidents  de   I  ade 

dispute  D  •       Roberval  (celle  qui  commenca  eo  164 

incidents  qui,  il  faul  l'avouer,  oe  sonl  pas  tous  .:i  l'honneur  du 
premier.      Enfin,    dans    le   preambule,   j'ai    discui  detail    les 

questious  relatives  ä  l'histoire  de  la  collection  Sahire,  au  oombre 
des  pieces  qu'elle  contenait,  ä  la  determination  de  Celles  qui  sonl 
encore  ignorees.  Les  resultats  de  cette  discussiou  sonl  ceux  que 
j'ai  fail  connaitre  dans  VA  rchi  \ . 

Vhiii];  Delb  Le    probleme    moral    dans   la   philosophie 

de  Spinoza   e1  dans  l'histoire  du  Spinozisme.    Paris, 
Aican,   1893,  569  pages  Lu  3. 

i  .:  constitue  une  excellente  etude  bistorique,  sous  une 
forme  malheureusemenl  un  peu  oratoire.  II  se  divise  eu  deux 
parties. 

La  premiere,  apres  une  exposition  des  donnees  ei  <lu  sens  <lu 
probleme  moral,  aborde  les  principes  metaphysiques  de  la  morale 
de  Spinoza;  il  traite  de  la  methode  ei  de  la  doctrine,  de  la 
distinctioo  du  bien  ei  du  mal,  <lu  vrai  ei  du  faux;  de  la  oature 
numaine,  de  la  vie  morale  de  l'homme  (son  esclavage  e1  son 
aflraDchissement),  de  la  \i.'  sociale  (l'Etal  sous  le  regime  de  la 
libertc);  « - 1 1 1 i  1 1  de  la  vie  eternelle. 

Apres  une  conclusion,  nous  passons  a  la  seconde  partie  com- 
prenanl  dix  chapitres  consacres:  au  spinozisme  eu  Hollande  ä  la 
lin  du  dix-septicmo  siech  ;  ä  1'influence  des  doctrines  ethiques  de 
Spinoza  sur  Leibniz  ei  sur  Lessing;  ä  Herder;  Schiller  «'t  Goethe; 
..ilis  ei  l'Ecole  romantique;  Schleiermacher;  Schelling;  Hegel; 
au  Spinozisme  eu  Angleterre;  au  Spinozisme  en  France  (Taine). 

Cette  seconde  partie  esl  particulicremenl  neuve  ei  remarquable- 
MH'iii  traitee.  Les  modifications  qu'une  doctrine  aussi  systematique 
que    cclle  <!<■  Spinoza  <  1 « » i t   subir   pour  otre  assimilee  par  les  pen- 


optes-rendua  d'ouvrages  sur  l'histoire  de  la  philosophie  etc.      549 

seurs  qui  s'en  rapprochenl  plus  ou  moins,  sonl  decrites  clairemeni 
ei  exactement.  Comme  l'ethique  constitue,  ä  vrai  dire,  le  princi- 
pal  objel  de  Spinoza,  od  peul  ainsi  mesurer  l'influence  enorme 
exercee  par  ce  penseur  sur  la  philosophie  moderne,  tandis  que,  si 
on  se  borne  au  point  de  vue  metaphysique  propremenl  dit,  cette 
Lnfluence  apparait  au  contraire  comme  tres  limitee.  In  Systeme 
metaphysique  digne  de  ce  uom  esl  en  effel  ud  tout  bien  ordonne, 
dont  on  n *  •  peul  changer  quelqu'  elemenl  sans  bouleverser  l'en- 
semble;  une  conception  particuliere  du  probleme  mural  peul  au 
contraire  se  plier  aisement  ä  dos  vues  originales  et  oouvelL 

L'ouvrage  de  M.  Delbos  me  paraii  d'autant  plus  appele  au 
succes  que  je  lui  souhaite  qu'il  comble  ä  mon  sens  une  veritable 
Iacuue;  aucun  autre  auteur,  que  je  sache,  n'avail  jusqu'  a  presenl 
aborde  la  meme  question,  au  moins  dans  im  livre.  Si  le  pro- 
bleme,  dans  l'histoire  de  la  philosophie  moderne,  est  en  general 
de  decouvrir  la  pensee  de  „derriere  la  tete"  des  metaphysiciens, 
ei  si,  le  plus  souvent,  cette  pensee  concerne  la  morale,  M.  Delbos 
a  apporte  une  contribution  impoi*tante.  Comme  exposition  des 
doctrines  propres  de  Spinoza,  malgre  les  lacunes  voulues,  son  livre 
aura  d'ailleurs  toujours  la  valeur  que  lui  assure  la  fidelite  el  l'im- 
partialitc  de  l'auteur. 

Ch.  Adam.     La  philosophie  en  France  (premiere  moitie  du 
\l\    siecle).     Paris,  Aican,   1894.     444  pages  in-8. 

M.  Adam,  qui  s'esl  A>\\i\  fail  connaitre  notamment  par  ud  re- 
marquable  volume  sur  la  Philosophie  de  Francois  Bacon,  a 
trouve  une  imitiere  encore  mieux  appropriee  ä  son  talent  d'expo- 
sition  et  a  sod  jugemenl  aussi  forme  que  penetrant,  quand  il  s'esl 
propose  de  nous  retracer  le  mouvemenl  de  pensee  en  France  pendanl 
la  premiere  moiti';  de  siecle.  Son  ouvrage  esl  infinimeni  superieur, 
comme  forme  litteraire  ei  comme  valeur  de  fond,  ä  celui  que 
M.  Ferraz  a  dejä  public  sur  la  meme  periode,  quoiqu'il  n'entre  pas, 
-..(i-  certains  rapports,  dans  autanl  de  details. 

Dire    que    l'introductioa  esl    coosacree   a   Chateaubriand  el   ä 
Madame    de  Stael,    c'esl  aononcer  que  M.  Adam  ue  se  borue  | 
avec raison,  aux  philosophes  propremenl  dits;  ceux-ci  n'apparaitront 


Paul  Tsnnei 

qu'au    livre  II     '   em  de  Main.'  de  Bir&n,  de    Royer- 

Collard,  de  Viel      Cousin,        J         13    une  place  importanta   * 

Ampere.    Le  li>  re  aux  catho 

liques;  Bona!  stre,  Lamennais,    Lacordaire,   Montalembert;  le 

[ivre  III  aux  socialisl   s,  S      t-Sii        et  a  .  Fourier,  Pierre 

id,  Au  1       te. 

mme  le  remarque  M    Adam,  la  periode'  <|u'il  a  etudi 

eile  offre  un  commencement,   im   milieu  «'t  une  lin:    la 
Revolution  francaie         ouverl    une   ere   uouvelle  el    lea   problci 
politiquea  aus    passenl   au   premier   plan.     Lee   evenements 

,|iii  nt   deroules  onl   si   peu  repondu  a  l'attenti 

aux  promesses  de  la  philosophie  du  dix-huitieme  siecle  que 
celle-ci  oe  trouve  plus  de  partisans;  un  retour  marque  Be  fail 
droite  vera  lea  idees  religieuses;  ä  gauche,  dea  uovateura  revenl 
une  transformation  plua  profonde  encore  ei  proposenl  un  ideal 
qu'ila  croienl  plua  ou  moins  prochainemenl  realisable.  Au 
tre,  "ii  senl  la  necessite  de  marcher  en  avant,  mais  ob  ne  peul 
leeider  a  suivre  une  direction  bien  nette;  on  aboutil  ä  l'ecl 
tisme  ■  mol   d'ordre,    on   a  des  velleites  de  psycholoj 

velleil  metaphysique,   on   fail 

on  use  dea  talenta  reels,  on  depense  dea  eflforta  considerablea  pour 
des  resultata  insignifiai 

La  revolution  de  1848  ei  l'avenement  du  second  Empire  mar- 
quenl  la  lin  de  cette  periode  qui,  a  son  apogee  vera  1830,  sem- 
blail  promettre  un  meilleur  avenir.  Mais  la  divergence  radicale 
des  troi8  ecoles,  en  dehora  meme  des  tendancea  en  differenta  sen8 
.1  1'interieur  de  ehäeune  d'elles,  accusail  malheu  reusemenl  en  France 
une  desunion  dea  esprits  qui  ne  pouvail  aboutir  qu'a  un  avorte- 
ment.  Bientöl  apres  la  publication  dea  ouvragea  de  Darwin  et  de 
Spencei  I  sur  la  pluparl  des  penseurs  un  effel  que  l'on  peul 

qualißer  de  veritable  revolution  intellectuelle;  une  ere  uouvelle 
mmencail  e1  l""ii  ae  trouve  maintenanl  de  fail  assez  cloigne  dea 
idees  ol  des  coneeptions  de  la  premiere  moitie  du  aiecle  pour  pouvoir 
lea  juger  aussi  froidemenl  ei  aussi  impartialemenl  que  Celles  de 
De8carte&  ou  de  Montesquieu. 

Ci  [u'a  lait   M.  Adam,  en  ayanl  Boin  d'ailleurs  de  faire 


Comptes-rendus  d'ouvrages  sui  l'histoire  de  la  philosophie  etc.      551 

revivre  devanl  dous  dod  seulemenl  la  philosophie,  mais  encore  les 
bommes.  II  les  a  depeints  de  main  de  maitre;  j'ignore  si  tous 
les  jugements  qu'il  a  portes  sur  leur  caractere  ei  sur  leur  puissance 
intellectuelle  seronl  acceptes  saDs  protestation  par  les  survivants 
de  la  generation  qui  les  a  connus,  aimes  ei  bai's;  mais  tous  sonl 
empreints  non  seulemenl  du  sceau  de  l'equite,  mais  encore  de 
celui  de  la  bienveillance  qui  est  due  aus  honnetes  gens  apres  leur 
mort,  quels  qu'aienl  ete  leurs  fcravers  ou  leurs  defauts.  I'.n  parti- 
culier  pour  Victor  Cousin.  M.  Adam  a  su  trouver  ei  garder  la 
juste  mesure,  bieu  difficile  ä  atteindre  quand  il  s'agil  d'uu  homme 
<|iii  a  ete  aussi  seduisanl  comme  ecrivaiu  ei  comme  orateur,  mais 
donl  l'influence  a  ete  incontestablemenl  facheuse,  ei  qui  a  sulii  des 
attaques  donl  le  souvenir  esl  dans  toutes  les  memoires.  Dire  ce 
qu'il  y  a  de  vrai  »laus  les  spirituelles  boutades  de  Taine,  lc  dire 
sous  uui'  forme  presqu'aussi  agreable,  c'esl  ce  qui  n'est  pas  donne 
ä  tuut  le  monde. 

I'.  K.   Paülhan.     Les  caracteres,  Paris,  Alcan,  1894,  2'M  paj 
in-8. 

Je  signale  cet  ouvrage,  parce  qu'il  reunit,  d'une  part,  quel- 
ques traits  de  divers  philosophes,  parce  que,  d'un  autre  cote,  il 
i'llrc  une  tentative  de  classificatioo  des  differentes  manieres  d'etre 
des  bommes  süffisante  pour  servir  de  poinl  de  deparl  a  une  etude 
generale  des  penseurs  sous  le  rapport  de  leur  caractere.  Pour 
cette  etude  qui  n'a  jamais  ete  tentee,  que  je  sache,  il  faudrait, 
bien  entendu,  ecarter  les  anciens;  mais  sur  les  philosophes  moder- 
oes,  uii  possede  assez  de  renseignements  aneedotiques  serieux  et  de 
details  biographiques  pour  trouver  matiere  saus  doute  ä  d'inter- 
essants  rapprochements. 


VII. 

<üi  Sliuli  sulhi  Storia  della  Filosofia  antica 
in  ltalia,  L890    1891 

per 
Ah'ssandro  Chiappelll  in  Nap 

II  periodo  storico  della  filosofia  antica  a  cui  <li  preferenza 
sembrano  volgersi  gli  studiosi  italiaui  in  questi  Ultimi  anni,  b  il 
periodo  prcsofistico.     Certo  I'  Itulin  qod  ha  im  la\  mprensivo, 

anche  per  questa  parte,   che  delinei  il  movimento  di  tutte  1(  scuol< 
fi siehe  greche  secondo  i  resultati  delle  piü   recenti   ricerche,    come 
qod    parlare    della   V   ediziooe  di   questa   parte  della   grande 
i.-i  dello  Zeller)  in  Francis   ba  dato  il  Tannery,   in    Inghilterra 
entemente  il  Burnetl  (Earlj  Greel  Philosoph)   London   L892),  e 
com   e  per  la  Germania  stessa  la   prima  parte  del  lavoro,  in  corso  <li 
publicazione,  del  Gomperz  (Griech.  Denker  I.  II.  Leipzig  L893-  '.'I 
M.i  non  mancono  i  lavori    monografici   >u  questo   ••  su   quello   dei 
li>i«i  antichi  e  delle  scuole  oaturalistiche,  dopoche  alla  conoscenza 
di  esse  hanno  aperta  tanta  via   le  ricerche  dossografiche  <l*-l  Diels. 
Questa  preferenza    per   il   periodo    piü    antico    devesi    in    generale 
all'   essore   le   ricerche  sulle   origini    'li   per  sc   le   |>in  attraenti,    e 
alla  sl  ndizione  frammentaria  delle  notizie  che  ne  abbiamo, 

la  quäle  invoglia  ;i  tentarne  via   via  la  ricostruzione. 

I  Ferbi.  Sguardo  retrospettivo  >u IL-  opinioni  degl1  [taliani  sulle 
Origini  del  Pitagorismo,  Nota.  (Rendiconti  della  R.  Acca- 
demia  dei   Lincei   VI.   I.  fasc.   12    I-'.1«'  p.  532  ."-IT). 

Non  -■  proposito   dell'A.    ..'li   rifarc   in    questa  brevc    Nota    la 
iria  della  scuola  pitagorica  i    dol  suo  l latore".     „II  suo  inten- 


Gli  Studi  sulla  Storia  della  Filosofia  1890     L891. 

dimento,  egli   scrive,  e  soltanto  di  rilevare  alcuni  resultati,   parte 
certi,  parte  probabili,  ottenuti  dalla  critica  storica  de)  oostro  tempo 
circa  le  origini  de]  Pitagorismo,  materia  tanto  oscura  e  tanto  dis- 
cussa  sopratutto  in  [talia,  ove  ana  schiera  qod  piccola  di  scrittori 
le  volle  ad  ogni  costo  italiane,  e  >\un<\  oe  fece  una  questione  d'onore 
nationale".     A  questa  tendenza  risorgente  in  seno  ai  piii  vari  in- 
dirizzi  filosofici  (v.  Archiv.  VII.  127)  si  oppone  giustamento  il  Ferri, 
che  dopo  aver  rifatta  in  breve  la  storia  della  questione  sull'origine 
etrusca  o  italica  di  Pitagora  presso  di  noi,  dal  Vico  in  poi,  e  condotto 
oaturalemente  ;i  una  questione  piü  larga,  cioe  „a  dar«'  uno  sguardo 
comprensivo  alla  critica  delle  fonti  concernenti  il   Pitagorismo". 
Come   era   da   aspettarsi  de]  sapere  dell'  A.  e  da   uno  spiri 
come  il  -un.  Lontano  da  ogni  intemperanza  di  critica.  mentre  rico- 
Qosce  come  definitivamente  fermata  l'origine  greca  di  Pitagora  e  del 
suo  istituto  e  il  carattere  ellenico  delle  dottrine  pitagoriche,   mal- 
grado  le  analogie  sporadiche  e  superficial]   con   dottrine  e  associa- 
zioni  orientali,  le  quali  hanno,  anche  di  recente,  sedotto  anche  l'ra 
noi   qualche   autorevole    critico    (Archiv  V,  3,  p.  424.  s.),    tuttavia 
Don  giunge  ad  escludere  interamente  la  possibilitä  d'influssi  orientali, 
e  specie  della   cultura   e   della   religione   egizia   sul   Pitagorismo  e 
solla  mente  del  suo  fondatore.   „Sembra  difatti  eccessivo  il  giudizio 
dei  Critici    che  conti"  costanti  tradizioni  mettono  in  dubbio  o  ri- 
guardano  appena  probalnlc  il  viaggio  di  Pitagora  in  Egitto,  mentre 
!«•  relazioni  dei  Greci   con   quella  regione    a   loro    aperta    ßno  dai 
tempi  di  Psammetico    tolgono    ogni   ragione  di  cavillare  su  qn 
punto",   ne  ..la  vicinanza  di  Creta  alla  patria  nun  dubbia  di  Pita- 
gora unita  alla   fama  di  quel  centro  religioso  «die  era  il  tempio  di 
vr   [deo  ....  permettono  senza   eccesso  di   critica   di   mettere 
in  dubbio  la  verosimiglianza  di  qualcha  visita  di  Pitagora  a  quella 
isola  e  a  quel   tempio   famoso".      Parimente   mentre    ravvisa   l'in- 
nuenza    dorica     nell"  organismo    dell'  istituto.    aella    larga    parte 
fattavi  al  sapere  positivo  e  alla  filosofia  seuopre  l'azione  de]  genio 
ionico,  e  accanto  allo  spirito  religioso  de]  sodalizio  pitagorico,  che 
egli  pure  ripete  principalmente  dei  contatti  coli'  Orfismo,  sa  far  la 
debita    part<    all  indole  c  ai  propositi  di  riforma   politica   e    civile 
che  l'animarono  e  oe  determinarano  la  dissoluzione. 


A  t  ••  - > .i  ii .1  r <  l'elli, 

al    Pitagorismo    primitiv  a    Pitagora    -  risalga 

ta    dottrina    '1<-I    numero    sostanza   <•   legge  delle      -   .      ime   l'A. 

tbra    credere    p.  545)    <i   par   lecito  dubitare,    percfaö  La  noatra 

3  enza    della  dottrina   pitagorica   ooo   -i  spinge  probabilmcnte 
;il  <li  lä  tli  Filol  gli   la  metempsicosi,   il  concetto  della 

jpirazioD         mica  <•  Uro  che  possiamo  securamente  referire 

al    Pitagorismo  antii  dod    tutti  consentiranno   coli'  A. 

quando   sembra   che  consideri  i  Pitagorici    come  conciliazione  dei 
lilosoil  ionici  e  degli  Eleati  (II».)-     (  ,,vi  ,|"\''  l'A.  enumera  le  b 
raonianze  piii  antiche  intorno  ;i  Pitagora  prima  <li  Filolao,  oon  era 

forse  da  dimeoticare  le  ootizie  de)  | ta  Jone  di  Chios  (Diog.  I. 

126  \  III.  •'..     t  Kiii.  Strom  IM.  333  A  .  contemporaneo  d'Erodoto1); 
anche  se  oon  -i  vuole  riferire  col  Wilamowitz  (Herakles  I  28  e  53, 
ondo   Jambl.   Vita    Pyth.    196)    ;i    Pitagora    il   frammento   che 
va  >"Hw  il   oome    d'Euripide   (Fr.   964    Nauck*),    e    chi 
d'un    poeta    del    quinto    secolo    (Diels,    Archiv    III.    458).       N 
dopo  le  testimonianze  di  autorevoli  egittologi  riferite  dallo  Schi 
der,    potremmo    senza  riserve  äottoscrivere    qoeste  parole  (p.  5 
„malgrado  le  lunghe  controvereie   ora    ridotte  ;ii   giusti  confini   di 
spazio  e  di  tempo,  una  critica  oculata  oon  porra  in  dubbio  la  testi- 
monianza  d'  Erodoto  «•  la  sua  allusione  all'origine    egiziaca    della 
dottrina    pitagorica   della   metempsicosi".     Ma  qu  vazioni 

non  bolgoa    nulla  al   pregio  di   questa   oota  dovuta   ad   uno  acrit- 
tore,  cosi  reputato  e  cosi   benemerito  degli  studi   ßlosofici  italiani. 

Lo  stesso  giudizio  conviene  in  sostanza  anche  allo  scritto  d'un 
altro  filosofo. 

P.  D'Ercole.  L'origine  Indiana  del  Pitagorismo,  secondo 
L.  von  Schröder.  (Rivista  ital.  di  Filosofia.  Nov.-  l>ic 
1891.  pp.  51). 

Mentre  im  egregrio  critico  in  Italia  (cfr.  Archiv  \.  .'.  ha  ripresa 
in  pari.  la  tosi  dello  Schröder,  I'  A.  ba  voluto  discuterla  di  proposito, 
aggiungendo    ouovi    argomenti    a    queili    che  altri   ha   gia   portato 


Gesch.  d.  Pytbagoras.   (Sitzungs- 
i.  Berl.    Mcad.   XI. \    18 
ra      chi    üelloi   15   lv  I 


(ili  Studi  sulla  Storia  deUa  Filosofia  1890     1891. 

contro  di  essa').  Si  puö  dubitare  Be  oramai  valesse  il  pregio  d'una 
cosi  diffusa  confutazione  dello  Schröder,  in  parte  perche  egli  stesso 
ba  modificato  piü  tardi  le  sue  opinioni  su  queata  pretesa  deriva- 
zione  della  primitiva  ölosofia  greca  dalla  cultura  Indiana,  in  parte 
per  la  poca  solidita  dei  suoi  argomenti,  facilmente  riconoscibile. 
M;i  l'A.  crede  che  l'opinione  dello  S.  „non  sia  stata  invincibil- 
mente  dimostrata  falsa"  e  che  „e  ancor  poco  o  punto  aota  fra 
noi  ed  e  bene  conoscerla".  A  ogni  modo  !"  A.  -i  giova  molto 
acconciamente  dell'  autorita  d'insigni  indianisti  contemporanei 
come  il  Max-Müller,  Weber,  Oldenberg,  per  dimostrare  die  i 
testi  indiani  su  cui  In  Schröder  >i  fonda,  sono  in  generale 
posteriori  all'  eta  di  Pitagora;  e  che  in  ogni  ^aso,  le  ana- 
logie  e  le  concordanze  fra  le  intuizioni  brahmaniche  e  pitagoriche 
sono  assai  vaghe  ed  insignificanti,  non  senza  avvertire  che  in  molti 
casi  e  piii  probabile  la  dipendenza  della  cultura  indiana  dalla  greca 
che  di  questa  da  quella.  E  alle  testimonianze  di  autorevoli  orienta- 
listi  la  seguire  (p.  25,  ss)  una  serie  di  considerazioni  sue  proprio, 
mol  -  onate  e  giudiziose,  contro  la  tesi  dello  Schröder.  Talora 
forse  conveniva  notare  che  alcune  dottrine  circa  le  quali  lo  Sehr. 
si  sforza  dimostrare  che  Pitagora  le  derivasse  delV  India,  oon  si 
possono  certo  far  risalire  a  Pitagora,  corue  quella  dei  cinque  ele- 
menti;  talaltra  che  e  assnrdo  ripetere  da  una  origine  cosi  lontana 
quello  che  i  Pitagorici  trovavan  ugiä  nella  letteratura  nazionale, 
come  il  dicreto  pitagorico  (Diog.  VIII,  17)  jtpös  ^Xiov  Texpafijxevov 
art  öur/sTv  ehr  >i  trova  giä  in  im  imn  sospetto  yerso  d'Esiodo  ('  »iq>. 
ei   I).  727). 

S    Feebabi.     La  Scuola  e  la  Filosofia  Pitagoriche  (Rivista  Italiana 
di  Filosofia   L890),  p.  11!). 

bbene   l'A..   a   cui   dobbiamo  una  serie  di  monografie  sulle 

antiche    scuole    italiche,    delle    quali    a    suo    liioy    dovremo    dar 

conto,  oon  si  proponga  di  dare  una  esposizione  completa  de!  Pita- 

ismo  antico  ([».  4).  tuttavia  e  condotto  a  trattare  con  sufficiente 

larghezza  di  tut!.-  le  principali  questioni  concernenti  questa  antica 


!  Döring  in  Archiv   V,  p.  503— 531, 


\  pelli, 

!'  oscura  sua  dottrina.     E   1"  fa  cod  molto  ordine  e  con 

i  i  ■ .  i .  ■  v . .  K-  chiarezza.    Non  si  discosta  molto,  anche  nella  distribuzione 

dello  scritto,  dalla  "ii<-    dello  Zeller,    ma    dod  m   che  dod 

:  studi  anche  piii  recenti  italiani  e  straneri,  <•  dod 

lichi    <-"ii    cnta  indipendanza  e  talora   in  seguito   a  studi  Buoi 

propri. 

-     dod  si  puö  chiedere  a<l  dd  antun-  cid  ch1  «'ltü  dod  intende 
darci,  coovieD  teoer  pr  che  il  l     \  iol  solo  „esporre,  per  quel 

che  v'e  di  piü  certo,  le  idee  foDdameatali  dell  la  eotro  i  ter- 

niiiii  de]  Bapere  filosofico"  (Ibid.).  Ma  da  od  lato  anche  tenuto  il 
lavoro  eotro  questi  modesti  coofini,  corre  l'obligo  all'  A.  di  rermar 
bene  il  valore  respettivo  che  egli  attribnisce  alle  fonti,  taute  piü 
quaodo  la  questiooe  delle  footi  >i  presenta,  come  ael  oosti 
di  capitale  importanza.  <  > i-; i  quello  che  l'A.  ae  dice  indiretta- 
mente  a  p.  14  "_M  e  a  p.  89s.,  e  beo  poco,  e  quanto  ai  fram- 
menti  di  Filolao  si  mostra  alquauto  irresoluto.  Dali'  altro  Lato 
all'A.  dod  ••  sfuggito   che  come   il  sistema  pitagoi  opera   di 

l»in    generazioDi" ,    cosi   a   questo  dovrebbe    mirare    la   ricerca    piü 
fruttuosa  che  si  potesse  fai  interDO  a  quest     -  _  _ -t  t.i ').      E 

vero  che  egli  a  questa  nuova  ricerca  reuunzia  (p.  87);  ma  dod 
tanto  che  talora  qua  «•  la  dod  accenoi  a  qoalche  punto  in  cui,  a 
parer  suo,  si  puö  ravvisare  una  trasformazione  di  dottrine  ml  seoo 
della  scDola.  N  solo  a  proposito  d'  alcune  intuiziooj  Bcieotifiche 
I'.  I06s8.)3  ma  anche  quanto  al  concetto  foDdamentale.  Egli  sembra 
credere  (p.  31,8.)  che  meotre  la  primitiva  riflessioDC  pitagorica 
dava  al  Dumero  valore  <li  modello  o  <li  legge  delle  -  .  solo  a  poco 
.i  poco  il  oumero  diveDDe  ..il  vero  intimo  substrato  delle 
Del  che  c  lecito  dubitarc  perche  Aristotele  attesta  chiaramente, 
quello  che  del  r<  -  naturale  aspettarsi  da  im  peosiero  incipiente 

d  immaturo,  cioc  che  la  ideotificazione  sostanziale  del  Dumero  colla 
real  tu  sensibile  e  la  prima  forma  e  il  puoto  di  partenza  della  me- 
tufisica  pitagorica.     A  ogoi  modo  qui  appuoto  bisognava  approfoa 
dire  la  ricerca   piü  che  I  A.  dod  abbia  fatto. 

I  >a  una  serie  d'osservaziooi  che  la  lettura  <li  questo  scritto  «i 

m 


Gli  Studi  sulla  Storia  della  Filosofia  1890     18 

ha  -  ta,  oe  stralciamö  qui  qualcuna,  I"  spazio  qod  consenten- 

doci  d'estendersi  piu  oltre.  A  proposito  dei  Xpuoa  i'-r(  che  iden- 
tifica  coli'  tepos  h'.y,;  l'A  scrive  (p.  18)  „nulla  infatti  \i  si  nota 
d'alieno  dall' antichita  e  dal  pitagorismo",  ciö  che  dopo  le  ricerche 
de!  Nauck,  nonostante  il  tentativo  del  Wilamowitz-Möllendorf,  (cfr. 
Diels  Archiv  \  II.  l.">7).  non  e  forse  lecito  affermare.  Cosi  e  ine- 
satto  parlare  (p.  51)  dell'  „opposizione  platonica  dell'  5X>j  all'idea". 
L'attribuire  poi  l'idea  d'una  eternita  reale  del  mondo  ai  Pitaigorici, 
richiederebbe  prove  piü  convincenti  di  quelle  che  l'A.  da  ;i  p.  54, 
o.  u  proposito  di  Filolao,  riproduce  a  p.  !>•".>..  comunque  si  giu- 
dichi  questa  importante  questione  storico-critica.  Del  pari  nun  sap- 
piamo  in  quäl  senso  si  dica  (p.  60)  che  il  Fedro  e  il  Filebo  di 
Piatone  dimostrino  propria  dei  Pitagorici  l'idea  dell"  änima  del 
mondo.  A  proposito  dei  rrammenti  di  Filolao  (p.  90)  nun  era  da 
dimenticare  lo  scritto  del  Bywater.  AI  coscienzioso  e  diligente 
autore  del  lodevole  scritto  sieno  questi  appunti  stimolo  a  nuove 
ricerche. 

Non  diverso  giudizio  possiamo  portare  sull' altro  scritto  dell  A. 

h>.  Empedocle.    (Riv.  ital.  di  Filosofia)  Roma  189]   pp.  121. 

Anche  qui  lo  stesso  ordine  e  chiarezza  d'esposizione,  spiglia- 
tezza  e  talora  anche  eleganza  di  dettato  che  oe  rendono  gradita 
la  lettura.  L'A.  non  si  propone  novitä  de  ricerche.  originilitä  di 
raffronti  e  di  combinazioni ;    vuol  solo    presentare   una    esposizione 

nnaria  ma  completa  delle  dottrine  empedoclee.  Perciö  egli  trae 
partito  da  quasi  tutta  la  letteratura  recente  sull'argomento,  discu- 
tendo  p.  e  a  p.  70  ss.  se  allo  Zeller  o  al  Tannery  debba  darsi  ra- 
gione  quanto  alla  causa  della  Btvij  empedoclea,  o  a  p.  98  riducendo 
oei  suoi  giusti  confini,  come  ci  pare,  1'  opinione  del  Kern  (Archiv 
L  498)  sui  rapporti  fra  Empedocle  e  1' Orfismo.  ha  memoria, 
dopo  nn  breve  cenno  sulla  vita  d' Empedocle  (p.  L — 12),  si  divido 
in  due  parti:  nella  prima  delle  quali  si  tratta  dei  frammenti  e 
della  loro  probabile  distribuzione  (p.  12—31).  alla  quäle  segue  una 

-,ii  elegante  versione  d'  essi  in  endecasillabi  italiani  (p.  32—  59); 
nella  seconda  si  espone  la  filosofia  d1  Empedocle  (p.  60—  121).  Per 
ciö  <hr  concerne  i  frammenti  l'A.  da   la  preferenza,   nun  del  tutto 


All  '       i  :i  |  >  | "   1  I  i  . 

giustificata,  alla  edizione  del  Mallach  su  qaella  de]  Karsten  e  anche 
bu  quella  il«-ll"  Stein,  che  per  molti  rispetti  e  la  migliore,  finche 
la  promessa  edizione  'I.'i  frammenti  <l<'i  filosofi  presocratici  del 
Diels  dod  abbia  veduto  la  luc<      0 .  _  oeralmente  riconoacinta 

la  insuflicienza  critica  dell  Mullach,  e  pochi  consentirebbero  coll'A, 
quando  scrive  (p.  18  b.)  ..il  Mullach  e  veramente  riuscito  nell'intento 
che  s'era   prefisso,  <\\  dare  una  Ita  piu  piu  diligente 

di  tutte  le  anteriori,  e  oell'ordii nel  componimento  ha  supei 

senza  dubbio  mtii  gli  altri  che  nell'  opera  si  eran   provati." 

A  ogni  modo  nella  veraione  italiana  l'A..  come  il  Tannery, 
-i  attiene  al  testo  del  Mullach.  E  poiche  qui  non  e  il  lu< 
d'estenderci  in  un  esame  della  lezione  che  l'A.  segue,  ci  conten- 
teremo  di  far  poche  note  >ul  cosi  detto  Proemio,  che  piu  proba- 
bilmente,  ;il  meno  in  par.te,  appartiene  ai  Katarmi,  anziehe  ;il 
Poema.  A.  ;il  \.  1  (369Stein)  l'A.  segue  In  lezione  yyr/y-  dove  e  da 
adottarei  la  emendazione  del  ßernays  p^fto  (Diels,  Archi\  1,50 
il    ti?  del   v.  3   "-'~t\  St.)    dev'essere    unito    al  -    de)    v.  1.  e 

dev'essere    omesso    il  v.  4   collo    Knatz    (Empedoclea,   1891    p. 
come  una  glossa  marginale  dalla  Teogonia  Esiodea  \.  T'.1^.     I".  dubbio 
"v.  12)  significhi  „mutou,  o  non  piuttosto  de  ade 

I"  intensivo  dioMco)  „variopinto"  (v.  la  oota  del  Burnett,  Earlj  Greek 
Phil.  p.  234).  AI  v.  43  era  da  aotare  che  qui  il  poeta  si  rivolge 
a  Pausania,  ed  appartiene  certo  al  Proemio  del  Poema  (v.  Stein, 
Emp.  Pragm.  |».  19 as.).  Forse  era  meglio  col  Panzerbieter  leggere 
07ta>7rsv,  anziehe  opeupev.  Anche  I  oscuro  passo  \.  53  •",,.,  (20  88.  : 
meritava  una  oota;  giachhe  non  e  ben  chiaro  perche  l'A.  traduca 
con  „epperö"  una  disgiuntiva  (njte  che  ha  la  sua  correlativa  prece- 
dente,  mentre  giovava  awertire  che  il  vöet  e  il  voijaat  sono  asati  qui 
uell'ampio  Benso  originale.  Quanto  all'  esposiziene  della  filosofia  Em- 
pedoclea, in  generale  fedele  e  chiara,  come  abbiamo  detto,  ci  limi- 
teremo  a  due  sole  oaservazioni.  Che  ..il  mondo  attuale  corrisponde 
a  uno  dei  periodi  ascendenti  in  cui  l'amore  ricompone  ad  armonia 
sempre  maggiorc  le  cose  verso  1  unita  dello  sfero"  (p.  68  .  una 
affermazione  che  avrebbe  bisogno  d'esser  confortata  di  prove,  perche 
codesta  opinione  alla  quäle  inclina  I"  Zeller,  ba  contro  <li  se  la 
prei  timonianza d'Aristotole  (Gen.  ed  Corr.   II    I  i  5  cfr. 


Uli  Studi  BuJla  Storia  della  Filosofia  1890-  1891  559 

De  Coelo  lila.  301a  11)  e  la  stessa  descrizione  che  i  frammenti 
danno  dei  dolori  e  delle  i « i i-> > ii. •  de]  mondo  presente.  In  secondo 
luogo  la  contradizione  fra  le  dottrine  ßsiche  de]  Poema  e  l'insegna- 
mento  religioso  e  forse  minore  di  quello  che  reputan  I"  Zeller  e 
l'A.  p.  '.H».  AJmeno  im  vestigio  <li  im  loro  uesso  trasparisce  dai 
\.  33  ss.  (:>T7  ss.  St.). 

I>i  altre  'lue  memorie  dell'A.  sulle  scuole  italiche  dovremo 
trattare  oella  prossima  Rassegna.  [ntanto,  poiehe  lo  porta  l'ar- 
gomento,  mi  conviene  annunciare  uua  mia   Memoria. 

CfflAPPELLi  (Alessandro)  Dei  Frammenti  e  dottrina  di  Melisso  di 
Samo.  (Memorie  della  R.  Accademia  dei  Lincei  vo]  VI. 
Part.  1"  IS'. in)  p.  377—413. 

Mi  par  bene  riferine lo sommario  ehe  io  stesso  ne  ha  datonei 
Rendiconti  della  stessa  Accademia  (vol.  V.  2  Sem.). 

„La  mia  Memoria,  presupponendo  quello  che  e  generalmente 
noto  sopra  il  fisico  di  Samo  intende  illustrare  aleuni  aspetti  piü 
oscuri  o  meno  considerati  delle  dottrine  di  lui.  anche  depo  gli 
studi  recenti  dei  Kern,  de!  Tannery,  dell'Apell  e  de!  Pabst,  per 
\ia  d'un  esame  piü  diligente  dei  frammenti  c  delle  notrzie   dos 

fiche  relative  a  Melisso,  o  per  via  di  raffronti  con  altre  dottrine. 
In  secondo  luogo  e  diretta  a  ricercare  a  quali  precedenti  storici 
si  colleghi  il  pensiero  di  questo  lisico  e  quali  attinenze  abbia  rolle 
altre  scuole  contemporanee,  e  cosi  a  spiegare  i  motivi  de]  severo 
giudizio  di  Aristotele,  contro  cui  stanno  altre  c  solenni  testimo- 
nianze  della  Lmportanza  ed  efficacia  storica  che  ebbero  le  dottrine 
di  Melisso. 

„Nella  prima  parte  e  studiata  la  polemica  di  Melisso  contro 
le  dottrine  fisiche  contemporanee,  la  <|iiale  mentre  e  sfuggita  agli 
storici,  rivela  a  parer  mio,  una  notevole  originalitä  di  pensiero. 
A  studiarla  mi  conducevano,  oltre  vari  altri  dati,  im  accenno  carat- 
teristico  dei  pueta  Timone  il  sillugrafo,  e  una  allusione  al  \6fos  di 
Melisso  Dell'antico  scritto  pseudo  ippoeratico  !>■  Not.  hominis,  dove 
si  seuoprono  le  tracce  delle  dottrine  di  lui.  II  \6fos  MeXicroo 
la  writa  razionale  confermata  dalle  conrtradizioni  delle  scuole 
ßsiche  poste  in  luce  da  Melisso,  come  apparisce  da  un  frammento 


All  :..-lli. 

che  ci  ha  conservato  Simplicio.     II  paragone  dili- 
ii  questo  frammento  colle  celebri  aporie  'li  Zenone,  il  Pala- 
mede  d'El  ntro   la  molteplicita  delle  i   -         il   moto,  mostra 

ratutto  che  la  novita  >li  Melisso  >ta  nella  contradizione  maestre- 
volmente  rilevata  fra  la  ipotesi  della  molteplicita  delle  qualitä 
sensibili  che  implica  la  immutabilita  loro,  e  il  fatto  empirico  del 
fluire  perpetuo  dell<  elevato  a  legg<    da   Eraclito;   o,   in   altre 

parole,  la  inconciliabilita  « l « - 1 1 "  Eraclitismo  col  Pluralismo  degli  altri 
Gsici.  E  mentre  le  antinomie  'li  Zenone  e  le  oegazioni  di  Gorgia 
mantengano  1"  stesso  carattere  realisl  I  obiettivo  della  dottrina 

parmenidea,  la  ccitica  «li  Melisso  piega  ;i<1  una  conclasione  subiet- 

tiv;i.  ed  e  il  primo  seg l'una  critica  acuta  della  cognizione  sen- 

sibile  e  delle  sue  condizioni  contradittorie. 

..In  altro  resto  'li  questa  polemica,  conservatoci  oello  scritto 
pseudo    aristotelico    I  >■    Melisi     Xenoph,,    G  ci    fa  intendere 

che  Melisso  doo  -"I"  dimostrava   che   la    pluralita  delle  i    -        in- 
compatibile  colla  loro  mutabilita  empirica,  ma  escludeva  anche  la 
ipotesi  d'una  pluralita  associata  all'unita,  che  egli,  come  pare,  esa- 
minava  nelle  due    forme   che   presenta    la  mescolanza,  cioe  la    : 
Deaic  o  composizione,  e  Vkn  :■-  zione.    Anche qui  la 

conclusione  e  puramente  formale,  cioe  che  la  percezione  della  plu- 
ralita e  illusoria. 

„Nella  seconda  parte  sono  studiati  alcuni  punti  della  dottrina 
ritiva  propria  <li  Melisso,  che  in  generale  e  piü  nota.     Nel  ricer- 

care  in  quäl  modo  debl  I"  i   frammenti  e  le  ootizie)  inten- 

dersi  il  passaggio  logico  dalla  eternita  alla  infinita  dell'Ente  che 
Aristo  tele  rimprovera  a  Melisso  come  illegitimo,  sono  stato  condotto 
a  determinare  piii    precisamente   il  significato  dell  -  o  illiiui- 

tato  'li  Melisso.  II  paragone  colla  dottrina  di  Parmenide  da  ud 
lato  dimostra  che  1  onreipov  attribuito  all'ente  significa  la  negazione 
dell'osistenza  d'altri  esseri  al  «li  fuori  «li  esso,  cioe  la  totalita  delle 

da    •  äe    oello    spazio,    e    perciö    qod    altra    i 

dal!  ente  che  Parmenide  rassomiglia  ad  una  sfera  * l"< «ui t i  parte  per- 
fettamente  equilibrata  e  che  tutto  circoscrive.  Dal  Tal  tro  lato  come 
per    Anassimandi  ngnifica   il  continuo  reale,    uniforme, 

che  C8clude  perciö  ogni  distinzione  o  limitazione  interna 


Gli  Studi  sulla  Storia  della  Filosofia  1S90— 18'.»l.  561 


• 


„Questo  secondo  aspetto  di  quest'idea,  si  collega  alla  critica 
de]  concetto  de]  vuoto,  deUa  quäle  rimangono  vestigi  in  alcuni 
frammenti  e  dottrlne  di  Melisso.  Per  poter  stabilire  contro  quali 
scuole  de]  tempo  sia  diretta,  ho  delineata  la  storia  de]  concetto 
de!  vuoto  (xev&v)  nei  punti  principaü  del  suo  svolgimento  in  questo 
antico  periodo,  e  per  via  deUa  combinazione  di  rnolti  indizi  ho 
creduto  di  poter  concludere  che  ancora  probabilmente  all'antica  c 
rozza  intuizione  pitagorica  de]  vuoto  aereo  aspirato  da]  cosmo  vi- 
vente  >i  collegava  Leucippo,  e  che  il  concetto  scientifico  de]  vuoto 
assoluto,  sconosciuto  ancora  ad  Anassagora,  e  fissato  per  la  prima 
volta  da  Democrito.  La  critica  di  Melisso,  secondo  ogni  probabilita, 
si  riferisce  ancora  all'antica  dottrina  del  vuoto  aereo  riprodotta 
da  Leucippo,  e  giä  combattuta  meno  vigorosainente  da  Parmenide 
ed  Empedocle,  e  forse  anche  giä  prima  di  Melisso  da  Anassagora. 
E  cosi  indirettamente  si  ha  un  segno  notevole  d'uno  svolgimento 
dottrinale  nella  scuola  atomistica  da  Leucippo  a  Democrito. 

„Poiche  l'aiteipov  di  Melisso  esprime  l'illimitato  dello  spazio  e  il 
continuo  esteso.  viene  a  cadere  da  se  l'opinione  generalmente  ac- 
cettata  dagb"  storici  che  Tultimo  degli  Eleati,  staccandosi  dalla 
tradizione  della  scuola,  si  sia  rappresentatö  l'essere  uno  come 
qualche  cosa  d'incorporeo,  e  Funitä  di  esso  come  una  unitä  ideale. 
Ma  anche  L'esame  del  frammento  su  cui  si  fonda  questa  interpre- 
tazione,  ci  ha  persuasi  che  quel  l'rammento  non  contiene  giä  pa- 
role  proprie  di  Melisso,  bensi  una  erronea  affermazione  di  Simpli- 
cio,  derivata  da  una  falsa  interpretazione  d'un  luogo  del  pseudo- 
Aristotele  su  Melisso.  AH'incoutro  e  un  altro  l'rammento  autentico, 
e  la  testimonianza  d'Aristotele  ed  altre  notizie  ci  convincono  che 
Melisso  non  e  un  idealista  come  si  crcde,  ma  rimane  fedele  al 
realismo  tradizionale  della  scuola  e  al  naturalismo  comune  a  tutti 
i  fisici  anteriori  all'eta  dei  Sofisti  e  di  Socrate". 

Come  appendice  al  precedente  riassunto.  nun  mi  pari'  inoppor- 
t  u  110  l'aggiungere  qui  due  osservazioni  in  risposta  ad  alcuni  appunti 
critici   che  mi  furono    lätti   a  proposito  della  precedente  Memoria, 
dallo  Zeller  e  dal  Natorp.     II  primo  (Phis.  d.  Gr.  1 ',  609)  a  str 
rigore  ha   ragione  dicendo  che  nel  ragionamento  di   Meli—"  pn 
Aristot.  Soph.  El  c.  ■">.   167  b   L3,    il   termine   medio   nun    e  gia    il 

Ar'iii\   i.  Geachichte  d.  l'hii  VII.  O«? 


562  Alessandro  Cbiappelli, 

• 

tto    <li  ffirav,    come  io  avevo  «lein,  (p.  22),    bensft  qoello  «li 
'io/rv  Ma  ciö  dod  esclude  che  il  concetto   di  „Tutto" 

<ia  quello  da  cui  tutta  rargomentazione  dipende,  perche  la  premi 
maggiore  tatßu>v  lr.  7.  oö  yckp  «iel  bTi  rr&v 

^  irav   l<m)    dod   e  che  la  cooseguenza  d'un  altro  ragiona- 
mento  precedeote:  dal   dod  ente  aulla  divieae    (ix   fäp  \i 
o&8ev  äv  -^vijii'y.   ib.);  ora  il  t m t<«  dod  ha  fuori  <li  se  che  il  dod 
ente,  danqae  il  tut:  ijtov. 

2.  I"  avevo  detto  che  la  deduzione  di  Melisso  Bulla  infinita 
spaziale  dod  poggia  -"I"  sopra  il  paralogismo  rimproveratogli  da 
Aristotele,  ma  sopra  uoa  pio  forte  ragione,  cioe  che  il  „Tutto" 
dod  i'iii.  esser  liiaitato,   perche  darebb'esser    limitato    da   qaalche 

altro,  <•  dod  sarebbe  piü  il  ..Tun..-  (cfr.  ora  aache  il  Buraett, 
Earlj  greek  Phil.  342).  Questa  argomentazione  dod  appariace, 
\.'i-.i.  de]  IV.  7.  ma  de)  im  luogo  aristotelico  dove  certo  -i  allude 
a  Melisso  De  Geo.  I,  8  325  a  L3  s.  Che  1'uDiverso  o  il  ..tun..-,  dod 
abbia  nulla  ;il  di  fori  di  se  l'aveva  giä  detto  d'  altronde  Parmenide, 
e  Mellsso  dod  fa  che  trarne  l'opposata  coosegaeoza  „danqae  e  illi- 
mitato."  Questo  resalta  chiaro  deU'altro  luogo  da  me  citato  (p.  2  3 
Phys.  IM.'-..  207  ;i.  11.  ed  e  confermato  dell'  analogo  ragionamento 
di  Melisso  per  provare  Finita  dell'essere  Fr.  1<>  (Simpl.  Phys.  22  \. 
103,  28  D). 

3.  Lo  Zeller  scrive  1.  <•.  <>14.  „Chiappelli's  Meinung,  d 
Mel.  in  onserem  Bruchstück  (p.  17)  die  Veränderlichkeit  der 
Sinnenwelt,  in  Anschlags  an  Heraklit,  in  eigenem  Namen  behaupte, 
halte  ich  für  «in  entschiedenes  Missverständniss".  Oraameduole 
il  dire  che  l'illustre  storico  ha  piattosto  „decisamente  frainteso" 
il  mio  pensiero.  lo  miravo  a  dimostrare  che,  „a  differenza  deUe 
aporie  <li  Zenone",  la  critica  di  Melisso  piega  verso  dd  senso 
Babiettivo,  rilevando  piii  che  una  inconciliabilita  d'ipotesi  aulla 
natura  delle  cose,  la  contradizione  fra  due  condizioni  generali  de] 
senso  i'  della  conoscenza  aensibile"  (p.  11).  cioe  la  moltiplicita  e 
il  moto,  quali  sono  dati  dai  sensi.  Si  tratta  danqae  d'una  critica 
<l<'l  bi  oso  fondata  Bulla  contradizione  deUe  Bue  condizioni.  Ma  che 
Melisso  accettasse  da  Eraclito  la  mutabilitä*  dell'essere,  Lo  dod  ho 
mai  pensato  *  l i  dirlo.     All'incontro  scrivevo  p.  26":     La  mutabilita 


GH  Studi  Bulla  Storia  della  Filosofia  1890     I-  563 

delle  cose  e  per  Meliso  puramento  fenomenica  (8oxet  ^fiTv):  e  an 
dato  del  sen80  e  dell'  esperienza  questo  cangiarsi  dell'una  qualita 
oelPaltra 

„L'essere  vVm  qual'e  colto  dalla  ragione  (Xo^o?)  e  immutabile 
e  uno".  — 

II  senso  vero  della  mia  dimostrazione  ba  invece  colto  il  Na- 
torp  (Philos.  Monatshefte  1891  p.  476)  che  dod  solo  riconosce  con 
me  ael  Fr.  IT  iina  critica  dell'antica  dottrina  ionica  della  muta- 
liilita  degli  elementi  (cl'r.  Bäumker,  Das  Problem  der  Materie 
p.  126),  ma  anche  che  la  critica  di  Melisso  si  avvicina  ad  una 
ricerca  delle  condizioni  subbiettive  della  conoscenza.  Mentre  poi 
riconosce  meco  che  a  Molisso  qod  possa  attribuirsi  Pimmaterialita 
dell'essere,  e  sembra  consentire  che  il  Fr.  16  devesi  a  una  inter- 
pretazione  di  Simplicio,  nega  senz'altro  che  nel  Pseudo-Aristotele, 
De  Mel.  976  a  11  sia  direttamente  espressa  l'unitä  dell'essere.  Ora 
io  non  ha  asseverato  tanto  (v.  pag.  37  della  mia  Memoria).  Ho 
detto  solo  ch'al  Psendo-Aristotele  qod  repugna  Pattribuire  la  cor- 
poreita  all'ente  di  Melisso  976  a  12  (Apelt)  airsipov  ei  xal,  u>?  aöxös 
).i\z'..  £v  z?-.'..  xal  toüto  iwyj.  Tii.  29.  ei  oz  fi^ts  fiTjxos  i/y.  [iijSsv, 
-(ö;  äv  arceipov  [äv]  3;.V(:  E  questo  aspetta  ancora  dal  Natorp  la 
coni'utazione. 

I  lettori  dell'Archivio  conoscono  giä  la  mia  memoria  „Nuove 
Ricerche  snl  natnralismo  di  Socrate"  inserita  in  questa  Rivista 
(IV.  3  p.  369 — 413)  la  quäle  fa  seguito  ad  un  altra  precedente 
pubblicata  nei  Rendic.  della  R.  Accad.  dei  Lincei,  1886  (p.  28  1-303), 
occassionata  principalmente  dalle  obbiezioni  mossemi  dello  Zeller 
[1,2*.  p.  136—141). 

La  chiarezza  e  l'ordine  che  pregiammo  negli  scritti  de]  Ferrari 
(v.  sopra),  dil'ettano  nei  due  seguenti  del 

Passamonti  (E.).     Le  idee  pedagogiche  d'Aristotele  (Riv.   ital.  di 
Fih.s.     Maggio-Guigno  1891)  p.  1—24. 

L'A.  intende  raccogliere  specialmente  del  quarto  e  quinto  libro 
della  Politica,  i  pensieri  d'Aristotele  sulla  edueazione  del  cittadino. 
Ma  nel  tentare  di  ricomporli  ad  unitä  nun  sembra  seguire  una 
distribnzione   ordinata  e  logica.     Si   limita   piuttosto   a  porre  una 


564  iappelli, 

dietro  l'altra  le  varie  sentenze  aristo teliche,  talora  procedendo 
anche  saltuariamente;  il  che  deriva,  senza  dubbio,  oon  dalla  in- 
suffizienza  delle  attitudini  nell'A.,  <h<'  qui  abbiamo  avuto  a  lodare 
per  im  altin  lavoro,  ma  della  fretta  in  cui  quesl  bra  composto. 

ci  spieghiamo  espressioni  come  questa  p.  12  „ma  ili  quesfc 
d'altre  siffath  Aristotele  promette  trattare   in  appresc 

-  •  l'lia  fatto  oella  opera  perduta  intorno  alla    educazione  della 
quäle  si  hanno  insignificanti  frammenti  (Pol  IV  17.  1.".  6        ,; 
Egualmente  a  |».  23  sembra   credere  che  le  trattazioni   incompiute 
oella  Politica    abbiano  avuto  il  loro  svolgimento  oel   trattat..  , 
duto.     Ora  qu  tie  non  puo  >-         se  oon  lo  scritto  -.  iraiS 

(Rose  Fr.  62  s.  1886  p.  73)  e  molto  probabilmente  im  opera  pre- 
cedente  alla  Politica,  mentre  Aristotele  in  piu  luoghi  di  questa  pro- 
mette ili  trattare  in  seguito  vari  argomenti  (p.  e  VII  15.  L334b, 
3;  17.  L336  b.  20  e  24;  I  13.  L260  6.  8);  ciö  che  trova  la  sua 
spiegazione  natural.'  oella  condizione  imperfetta  in  cui  e  rimasta 
l'opera  aristotelica. 

Id.    Dicearco  da    Messina,    oota,    oei    Etendic.  '1.   Acc.    dei    Liucei 
Vol.  VII  sem.  2.   l-'.'l   p.  236—246. 

Auche  in  questa  monografia  l'A.  ba  voluto  raccogliere  le  scarse 
ootizie  sulle  dottrine  filosofiche  'li  questo  autico  Peripatetico.  Ma 
anche  in  .|ii.'>ta  scarsita  di  ootizie,  manca  in  lui  1"  sforzo  di  <■"- 
gliere  l'unita  d'uo  peosiero  filosofico  che  spieghi  le  varie  senteuze 
che  <li  lui  ci  riroangono  (cfr.  Zeller  II.  "J.  891. s.).  Per  trapassare 
dall'un  ordine  di  peosieri  all'altro  all'A.  basta  ona  riflessione  come 
questa  (p.  242)  „Perö,  spirito  acuto,  (Dicearco)  oon  si  lasciava 
sopranare  da  queste  maliocouie:  (!)  l'amore  del  sapere,  la  ricerca 
dei  latti  lo  richiamavauo  presto  ad  altri  pensien."  Per  que)  che 
concerne  il  puoto  piu  importante  di  ein  che  delle  dottrioe  di  Di- 
cearco  ci  e  perveouto,  la  dottrioa  dell'anima,  <■  come  ^i  gossa  con- 
ciliare il  materialismo  di  lui  «-..IIa  fede  oella  divioazione  e  oel  ra- 
pimentp  che  gli  viene  attribuita,  I1  a.  ammette  senz'altro  eh.'  i 
Placita  (V,  l.  1  come  cita  l'A.  p.  242)  congiungano  qui  Dicearco 
con  Aristotele;  il  che  pub  esser  vero,  ma  ad  ogni  modo  meritava 
dimostratOj    taoto    piu    „se    alcuni    luoghi  del    !><•   Anima 


Gli  S1  di  sulla  Storia  della  Filosofia  1890-  1891.  565 

d'Aristotele  si  prestano  per  riannodare  alla  dottrina  aristotelica 
quella  di  Dicearco  sull  anima"  (p.  246).  A  ogni  modo  l'A.  risolve 
l;i  difficoltä  sopraccennata  (che,  giovava  il  notarlo,  si  ripresenta 
identica  anche  per  gli  Stoici,  materialisti  e  pure  credenti  nella  di- 
vinazione)  ammettendo  come  applicabile  a  Dicearco  la  spiegazione 
naturale  della  divinazione  de'segni  che  trovasi  ael  trattato  Aristo- 
telico  -.  njs  v/j.'S  uirvov  (lavttxr^  (di  cui  nun  cita  con  precisione  il 
luogo).  Acuta  pero  e  la  congettura  dell'A.  (p.  241)  che  il  solutus 
ei  vaeuus,  ut  ei  plant"  nihil  sit  cum  corpore,  applicato 
da  Cicerone  Divin.  I  )'>.  5  a  Dicearco.  non  sia  che  una  amplifieazione 
dell1  ep>jfios  xed  ksvtj  rcavxtov  aristotelico. 

Ciö  die  poi  rende  diffettosa  questa  Nota,  oltre  certe  relazioni 
assai  vaghe  che  l'A  trova  fra  questo  Peripatetico  e  i  Sofisti,  sono 
le  citazioni  talora  inesatte,  talalt ra  incompiute.  Cos]  p.  e  e  mal 
citato  Bermia  [rris.  a  p:  238;  a  p:  239  le  due  citazioni  Sext.  Emp. 
Adv.  Mathen1..  VII  e  Sext.  Emp.  ad.  Math.  Jl  vanno  corrette  cosj 
Math.  711,349.  Pyrrh.  Byp.  11,31.  Plutarc.  Plac.  II  cosi  Plac. 
V  1,4.  (di-.  Diels  Dox.  416).  A  p.  246.  la  citazione  «li  Temistio 
dev'essere  <  »rat.  XXIII,  285  c. 

Assai  oscuro  per  la  distribuzione  tlclle  parti  c  per  la  dicitura, 
ma  senza  dubbio  di  gran  lunga  superiore  e  per  copia  di  dottrina  c 
conoscenza  delle  fonti  e  della  recente  letteratura  e  il  lavoro  de] 

Giambelu  (Carlo)  Gli  Studi  Aristotelici  e  la  Dottrina  d'Antioco 
nel  „De  Finibus"  (dalla  Iviv.  di  Filologia  classica  a.  XIX) 
1890  p.  109. 

L'A.,  valente  latinista  e  commentatore  d'una  edizione  de!  „De 
finibus  (Colleze  dei  Classici  greci  e  Latini  de!  Loescher).  si  propone, 
ae  pare,  aella  prima  parte  di  questo  scritto  (p.  1—37)  di 
mostrare  che  la  conoscenza  degli  scritti  aristotelici  fosse  in  Cice- 
rone nioltu  maiiifiure  di  quello  ehr  da  molti  critici  si  suol  credere. 
E  dico  mi  pare.  poi  che  la  sua  ricerca  e  Lnterrotta  a  ogni  mo- 
mento  da  digressioni  le  quali,  se  attestano  la  molta  dottrina  dell'A.. 
estranee  come  sono   talora  al  sogetto  o  almeno    mal  collegate  con 

i,  reiid Itremodo  faticosa   la  lettura.    Quanto  alla  tesi  soste- 

nuta.  crediamo  che  generalmente  sia  giusta,  sebbene   aon   riguardi 


alessandro  Chiappelli, 

che  gli  scritti  popolari  non  gli  scritti  dottrinali  di  Ariatotele  che 
Qoi  quasi  esclusivamente  conoaciamo.  Per  ciö  appunto  non  sap- 
piamo  redere  qua]  rapporto  \i  abbia  l'excursua  dell'A.  (p.  LOss 
sulla  Dota  storia  delle  ricende  degli  scritti  aristotelici,  tanto  piii 
che  easa  e  intieramente  ignota  8  Cicerone.  Talora  poi  conviene 
riconoacere  che  bj  tratta  d'un  oao  soltanto  indiretto  «li  qnalche 
Bcritto  'li  Ariatotele  pr< —  Cicerone.  8e  p.  e  l'A.  (p.  20)  trova 
in  De  Off.  II  .">.  18  un;t  imitazione  de]  frammento  dell'  Aristotelioo 

-  aperTjs  preas     3    I egh'  stesso  ammette   poi  coll'Hirzel  che  ai 

tratta  d'un  aao  indiretto,  per  mezzo  «li  Panezio.  Tal'altra  inv< 
['imitazione  diretta  e  sicura,  dove  l'A.  qod  vede  che  an  oao  indi- 
retto, come  a  proposito  de!  Protreptico  d'Aristotele  (p.  21),  che 
dopo  la  mirabile  ricerca  de)  Diela  (ignota  foree  alTA.)  non  puö  du- 
bitarsi  e8aere  stato  imitato  Qell'Hortenaius  di  Cicerone.  Edel  Diela 
medeaimo  oon  sembra  cono3ca  I'altra  oota  Memoria  sni  )•',■/,• 
tspixot,  a  proposito  dei  qnali  pare  aderisca  ancora  all'opinione  de! 
Bernaya  (da  Uli  perö  non  citato),  che  e  poi  l'antica  «li  Cicerone, 
intorno  all'identita  di  essi  coi  Dialoghi.  Anche  cio  che  l'A.  p.  34 
dice  de]  Pseudo-Arist.  I»«'  Melisso,  ch'egli  crede  noto  a  Cicerone, 
e  annovera  fra  i  cosi  detti  scritti  „ipomnematici"  o  commentari,  <• 
insufficiente  e   nun   poco  OSCUTO. 

Dopo  una  digressione  (§  III).  che  l'A.  stesso  riconosce  estranea 
al  soggetto,  sul  Tiraeo  e  sul  Filebo,  e  motivata  solo  della  citazione 
dell'IvSeAixeta  (iv-z/.iyi'.y.)  aristotelica  presso  Tusc.  I  1".  19  ch'egli 
crede  derivata  de]  Commento  d'Aristotele  al  Timeo  platonico  (Diog. 
\.  •_'.")_)  e  dopo  aver  cercato  «li  mostrare  (p.  61—57)  che  auch«'  il 
Filebo  non  dove  essere  ignoto,  almeno  per  mezzo  dello  studio  che 
gli  Stoici  «■  i  Peripatetici  oe  avevano  fatto,  anche  a  Cicerone,  l'A. 
riprende  a  cercare  negli  scritti  ciceroniani  !«•  fcracce  della  dottrina 
Aristotelica  della  natura  e  della  vita.  «•  dell'uso  <l«'i  libri  naturali 
d'Aristotele  (p.  68—86).  Ma  anche  qui  la  dimostrazione  e  Intral- 
ciata  «la  tanii  elementi  estranei  all'argomento,  <-li«'  e  difficile  il 
ia.-<-..'jli«  i«  una  conclusione  chiara  e  determinata.  Solo  ootiamo 
che  l'A.  crede  gli  i")fx<SxXta  come  una  opera  a  parte  d'Aristotele 
(p.  728.)  e  ammette  resistenza  d'un  opera  esoterica  «li  lui  it. 
>v  (p  BO),  <i"  che  difficilmente  gli  sara  conaentito  d'altri.    Ma 


GH  Studi  sulla  Storia  della  Pilosofia  1890—1891.  5ß7 

poi  egli  stessu  sembra  sospendere  ogni  conclusione  definita,  scri- 
vendo  (p.  81)  „Fin  dove  si  estendesse  la  cognizione  delle  opere 
Aristoteliche  in  M.  Tullio,  ooi  qui  ae  pössiamo  dirlo,  ue  crediamo 
opportune  trattarne  ".     Ma  che  altro  si  propose  TA.  se  non  appunto 

questo? 

Assai  piii  chiaro  e  il  soggetto  se  aon  La  trattazione,  dclla  ultima 
parte  (p.  SG  ss.),  il<>\ o  si  parla  della  dottrina  d'Antico  „e  de]  lavorio 
preparatorio"  al  sistoma  di  ijucsto  eclettico.  L'A.  sembra  inten- 
dere  a  dimostrare  che  Antioco  anziehe  awicinare  1' Accademia  alla 
Stoa  (Sext.  Ilvpoth.  1,33)  inclinö  a  congiungerla  al  Peripato,  risa- 
lemlo  all'antica  Accademia,  non  senza  aver  sentiti  i  contatti  dello 
Stuicisnio;  „che  il  sistema  di  Antioco  parteeipe  in  gran  parte  deDe 
dottrine  morali  degli  Stoiei,  risale  da  una  parte  a  quelle  di  Pia- 
tone per  niezzo  degli  Accademici  antichi  e  delTaltra  ad  Aristotele" 
(p.  107).  Ora  mentre  questo  non  e  stato  ne  puo  essere  revocato  in 
dubbio  d'alcuno,  si  piii  invece  dubitare  dell'utilitä  di  questa  nuova 
dimostrazione,  e  cos\  involuta  per  giunta,  per  quanta  dottrina  ci 
dimostri  e  per  quanta  fatica  vi  abbia  adoperato  Tautore.  Alla  cui 
diligenza  non  vorremmo  fosse  sfuggita  la  segnente  espressione  a 
p.  106.  „E  parmi  pure  che  a  lui  (Antioco)  si  debba  se  lo  Scetti- 
cismo  della  nuova  Accademia  dopo  il  suo  maestro  Filone  non  fece 
guari  progessi,  ridotto  a  pochissimi  settatori,  due  o  tre,  principe 
Sesto  Empirico  (!)" 

Mi  sia  lecito  aggiungere  infiue  che  nel  mio  articolo 

Le  donne  alle  Scuole  dei  filosofii  Greci  (Nuova  Antologia  15 
Guigno  1890). 

II  quäl'  e  naturalmente  piü  d'indole  letteraria  che  scientifica, 
io  ho  raecolte  le  sparse  notizie  di  questa  simpatia  delle  donne 
colle  varie  scuole  greche  e  cercatene  le  ragioni,  rilevando  special- 
mente  l'azione  che  Aspasia  esercitö  sopra  il  circolo  Socratico,  e  le 
ragioni  dell'affluenza  dell' elemento  femminile  alla  Scuola  platonica 
e  neoplatonica. 


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Arnoldt,  E.,  Zur  Beurtheilung  von  Kant-  Vernunftkritik  und  dei  Prob 

Altpreuss.  Monatsschr.  Bd.  30,  II.  7  u 
Justin,  <i..  Dei   Eid  in  der  platonischen  Ethik,  Progr.,  Elbu 
\\.i.  I.  C,    !':•'  Ethik  Joseph  Butlers,   Diss.,    I 
Backhaus,   A..     Der   Gedankengang   des    I.  Buches   des    platonischen   Staats, 

Progr.,  Köln, 
de  Boer,    l'i'    Widersprüche   der   Philosophie   nach    Al-Gazzali   und    ihr    \ 

gleich  durch  ibn  Roschd,  Strassburg,  Trübner. 
Boetticher,  •'..    Eros  und  Erkenntniss  bei  Plato,   Progr.,   Berlin. 
Bonnhöfer,  Ad.,    Die  Ethik  des  Stoikers  Epictet,  Stuttgart,  Em 
Carls,   W.,     \n.i>     ä   Rüdiger's  Moralphilosophi  Balle. 

Casattini,  A.,    Epicuri  „di  libei  XXVIII,  Hermes,   Bd.  29,  II.  1. 

Diebow,  I'..    l'i'    Pai  :   hleiermachers,  Hall''.  Niemeyer. 

Eiser,  K..    Die  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wirken  Gottes,  M  lendorff. 

Faust,  K.,    Der  Bauernpbilosoph  Eonrad  Deubler,  München,  Mehrlich. 
Finkelscherer,  I..    Mos«    Maimunfs  Stellung  /um  Aberglauben  und  zur  Mystik, 

Fromm,  E.,    Kanl  und  die  preussische  Gensur,  Hamburg,  \  "--. 

Graf,    E.,     Die    Theorie    'Irr    Akustik    im    griechischen    Alterthum,    Pr< 

<  rumbinnen. 
Grundmann,  I:..    Die  Entwicklui  Ästhetik  Kants.  l>i->..  Leip 

r.  E.,    Dei  <  reisl  dei    Antike,  Graz,  Moser. 
II, ,i  ligkeitslehre  des    Aristoteles  und  Thomas  von  Aquin's, 

l'i 
r,  TL.    Heinricl    :  '  B 

.  final  is,  eine  R  lie,  Diss.,  Giessen. 

Kappes,  M.,     Aristoteles-Lexi i,  Paderborn,  Schöningb. 

Klein,  C,    l'i'-  Froiheitslehre  des  <  1 

Kl. it.  Tli..  oach  den  Senophontischen  M abilien,  I -<-i j «/ i tr.  Fock. 

Kohlschmidt,  0.,    Kant's  Stellung  kui  Theologie  und  Psychicotheologie,  Diss., 

Jl  na. 

Philosophie  in  iiussland,  Zeitschr.  füi  Philos.  Bd.  104,  II.  1. 


Neueste  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  d.  Geschichte  d.  Philosophie.     569 

Kulm.  \'..    Kritik  der  praktischen  [deen  Herbarts,  Diss.,  Leip 

Lehmann,  I!..   Schopenhauer,  Berlin,  Weidmann. 

Liedtke,  11..    Die  Beweise  für  das  Dasein  Gottes    bei  Anselm  von  Canterburj 

und  Descartes,  I 'i-->..  Beidelbi  i 
Fuetke,  ('.,    I'hereoj  dea,  1  >iss.,  '  löttingen. 
.Mann.  (i..    Lessing's   Paedagogik,    dargestellf   auf  Grund    seiner   Philosophie, 

Diess.,  Jena. 
Meyer,    Die  Gotteslehre  dos  Gregor  von  Nyssa,  Leipzig,  Fock. 

—  F..    Bumes  und  Berkeley's  Philosophie  der  Mathematik,  Diss.,  Halle. 
Müller,  L,    Die  Originalität  der  Nat.  quaest.  Seneca's,  Progr.,  Innsbruck. 

—  —    Die  Seelenlehre  dran   Paul's,  Diss.,  Erlangen. 

Nassen,    I  eber  den  platonischen  Gottesbegriff,  Philos.  Jahrbuch  Bd.  7.  II.  2. 
Neumann,  W..    Die  Bedeutung   Bume's  für  die  Aesthetik,  Diess.,  Balle. 
Noeldeke,  Th.,    Süfi,  Zeitschr.  der  deutsch.  Morgenl.  Gesellschaft   Bd.  18  II.  1. 
Patin,  A..    Beraklitische   Beispiele,  2.  Bälfte,  Progr.,  Neuburg  a,  D. 
Pawlicky    St.,    Leben  und  Schriften  E.   Renan's,  Wien,  Leo-Gesellschaft. 
Plutarchi  Moralia,  rec.  Bernardakis,  Vol.  V,  Leipzig,  Teubner. 
Reinitz,    E.,     Schiller's    Gedankendichtung    in    ihrem    Verhältniss    zu    Kant. 

jr..  Ratibor. 
Richter,    Bume's  Causalitätstheorie   und    ihre   Bedeutung   für   die  Begründ 

der  Theorie  der  luduction,  Halle,  Niemeyer. 
Röhricht,   A.,    Die  Seelenlehre  des  Arnobius,    Bamburg,    Agentur  des  Rauhen 

Bauses. 
l>'"M'nstock,    Paul   E.,    Plato's   Kratylos    und    die  Sprachphilos.    der   Neuzeit, 

Progr.,  Strasburg   i./Preussen. 
Rule,  K  .    Die  Erkenntnisstheorie  von  I!.  A.  Lipsius,  Karlsruhe,  Reiff. 
Schaper,  F..    Schelling's  Philosophie  der  Offenbarung,  Progr.,  Nauen. 
rmann,    Vergil's  Vorstellungen  vom  Jenseits,  Progr.  Ravensburg. 
Schmidt,  W.,  Schopenhauer  und  das  Christenthum,    Erlangen,    Bloesing. 
Schneider.  F.  I.  (J..    Fichte  als  Social politiker,  l>iss..  Halle. 
Si    "rnstein,   M.,     Dillmann's    „Darstellung    der   leibnizischen    Monadenlehre ", 

Diss.,   Erlangen. 
Schreiner.  M.,  Eine  Easida  al-Gazälis,   Zeitschrift  der  deutschen   Morgenl.  i 

Seilschaft,  Bd.  48,  II.  1 
Schwarz,  11..    Fi''  Feine  von  den  Siiine.s(|ualitäteu  lud  Descartes  und   Bobbes, 

Diss.,    Halle. 

Sepp,  S.,    Die  philosophische  Richtung  des  Cornelius  Celsus,  Progr.,  Freising. 
Simon,  Th.,    Leib  und   -  i  Fechner  und  Lotze    Götti   jen,   Vanderl :k 

und   Rupprecht. 
Spaulding,  F.  F..    Richard  Cumberland    als    Begründer  der   englischen   Ethik, 

Diss.,  Leipzig. 
Tietzel,  II. .    Die  Idee  des  Guten  in  Plato's  Staat,  Progr.,  Wetzlar. 
Tollin.  F..    Thomas  v.   Lquino,  dei  Lehrei  Servets,  II.  Zeitschr.  für  Wissensch. 

Theologie,  Bd.  :;T,  II.  2 
Türk,  II. .  Kuno  Fischer's  ki i ti^<h.-  Methode,  Jena,  Mauke. 

Ar.  lii\   f.  Geschichte  d.  Philosophie.     VII.  1' • 


schichte  d.  Philosophie. 

die  Trug8cbläs8e  ilcr  griecli.  Philosophen,  GeL,   Inns- 
i.i  i. 
II..   Justintu  det  Philosophen    \p  ■  i/.t.  Strassburg,  Hertz. 

II..    Die  Lehre  von  den  Seelentheilen  in  der  alten  Philosophie,  Pi 

ler,   K..     Bin  noch    unentdeckter    Zusammenhang    Kam-    mil 

Schiller,  Philos.  Honatsh.  Bd.  30,  II.  1  n.  2. 

'.'  mte    in   Beiner   Bedeutung   für   die  Socialwissenschaft, 

Leipzig,  Dunkei  <S   FJumblot 
Wentscher,  M  .    Lol  riff,  Balle,  Kaemmerer. 

.    \..    Kant  und  kein  Ende,  Pr  »gr.,  Braunschn 
Wel  stein,    Die  Wandlungen  der  stoischen  Lehre  II.  Prog  trelitz. 

Winli.  Ch.,    Der  moderne  Pessimismus  über  den  l  rsprung  der  Debel,  Pn 

Baj  reuth. 
\N* < •  I tr.   K..     De   la   Forge's   Psychologie   in   ihrer  Abweichung  von    I' 

l»i>^ .  Jena. 
Wyczolkowska,    \..  Schopenhauer1»  Lehre  »on  <t<i   Freiheit,  Diss.,  Zürich 


Druckfi  hier. 

S.  363  /.  16  v.  o.  lies:   1666  Man   1866. 

'/,.  l'(I  v.o.  lies:  Piscber  gehl  mil   B.  1854,   statl  Fischer  ^ril>t  mil 
B.  1854  an. 


0 


UNDING  QEPT.  jiMis  1961 


University  of  Toronto 
Library 


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