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Archiv
für
Philosophie
in Gemeinschaft mit
Wilhelm Dilthey, Benno Erdmann, Paul Natorp,
Christoph Sigwart und Eduard Zeller
herausgegeben
von
L u <1 w i s: Stein.
Erste Abtheiliing:
Arcliiv für Gescliiclite der Philosophie.
H e r 1 i ii.
Druck iiiid Vorlag von Georg Keiiuor.
1902.
Archiv
für
Geschichte der Philosophie
in Gemeinschaft mit
Wilhelm Dilthey, Benno Erdmann, Paul Natorp,
Christoph Sigwart und Eduard Zeller
herausgegeben
von
Ludwig Stein.
Band XV.
Nene Folge
VIIL Band.
Berlin.
Druck und Verlag von Georg Reimer.
1902.
ß
1 11 li a 1 1.
Seite
I. Wie sich Spinoza zu den Collegiauteu verhielt. Vou W. Meijer 1
II. Le Kantisme de Carlyle de Camille Bos 32
III. Scholastic and Mediaeval Philosophy by Dr. James Lindsay 42
IV. La IVme figure ou syllogisme. Par E. Thouverez 40
V. Zu Leucippus. Von E. Zeller . 137
VI. Herakleides Pontikos und das heliokentrisehe System. Vou
Prof. Dr. IL Staigmüller 141
VII. Voltaire und die bernische Censur. Von Prof. Dr. Haag . . 166
VIII. Einige Corollarien des Simplicius in seinem Commentar zu
Aristoteles' Physik (ed. Diels). Von Prof. Dr. Joh. Zahlfleisch 186
IX. Die Naturphilosophie vor Sokrates. Von Prof. Dr. Ernst Chr.
Hch. Peithmann 214
X. Spinoza und die CoUegianten. Von Dr. Ad. Menzel, Professor
an der Universität Wien 277
XL French Philosophy in the Nineteenth Century. With Special
Reference to some Spiritualistic Pbilosophers by James
Lindsay, Kilmarnock 999
XIL Die Naturphilosophie vor Sokrates. Von Prof. Dr. Ernst Chr.
Hch. Peithmann. (Fortsetzung) 308
XIII. Wissen und Glauben bei Pascal. Vou Dr. Kurt Warrauth,
Licentiat der Theologie 343
XIV. Die Naturphilosophie des Th. Hobbes in ihrer Abhängigkeit
von Bacou. Von Max Köhler 370
XV. Julians Brief an Dionysios. Von Rudolf Asmus 425
XVI. Wissen und Glauben bei Pascal. Von Dr. Kurt Warmuth,
Licentiat der Theologie. (Fortsetzung) 442
XVII. The Philosophy of Plotinus. Von Dr. James Lindsay . . . 472
XVIII. Les Mathematiques et la Dialectique dans le systemo de Piaton.
Von E. Rodier 479
VI Inhalt.
Jahresbericht
ül)er
sämtliche Erscheinuugeu auf dem Gebiete der Geschichte
der Philosophie.
Seite
I. Die deutsche Litteratur über die Vorsokratiker 1894 — 1900.
Von E. Well manu 113
II. Congresso di Storia della Filosofia e Pedagogia in Rom . . . 133
III. Jahresbericht über die Geschichte der Philosophie im Zeitalter
der Renaissance (1893—1894). Von Ch. Schitlowsky und
Ludwig Stein. III. Folge 267
IV. Jahresbericht über die Kirchenväter und ihr Verhältniss zur
Philosophie, 1897—1900. Von H. Lüde manu in Bern (1. Theil) 403
V. Jahresbericht über die Kirchenväter und ihr Verhältniss zur
Philosophie, 1897— 1900. Von U. Lüdemann in Bern (IL Theil) 493
VI. Die deutsche Litteratur über die sokratische, platonische und
aristotelische Philosophie, 1899 und 1900. Von H. Gomperz 51G
Neueste Erscheinungen auf dem Gebiete der Geschichte der
Philosophie 135. 274. 422. 551
Arcliiv für Philosophie.
I. Abtheiluiig:
Archiv für Gesehiclite der Philosophie.
Neue Folge. XV. Band 1. Heft.
I.
Wie sich Spinoza zu den CoUegianten verhielt ').
Vou
W. Meijer im Haag.
Es ist jetzt wolil allgemein anerkannt, dass der Mensch in
seinen Tliaten und Erlebnissen das Produkt seiner Anlage und
äusseren Verhältnisse ist. Wer ihn glücklich preist vor seinem
Tode, trägt allen Umständen, die ihm begegnen können, keine
Rechnung; wer seine Anlage nicht mit in die Rechnung zieht,
stellt ihn dem unvernünftigen Thiere gleich.
Nach dem Maasse aber, als der Mensch kräftiger angelegt
ist, wird er von den Umständen weniger beeinflusst; den
Menschen, in dessen Leben oder Wirkungskreis das Ingenium oder
die angeborene Kraft stets über die äusseren Umstände zu domi-
niren und ihnen gegenüber selbständig aufzutreten vermag, nennen
wir ein Genie.
Der Dutzendmensch scheint bisweilen nichts anderes zu sein,
als der Reflex der Sitten, Gewohnheiten und Ideen seiner zeit-
lichen und örtlichen Umgebung — sonderbar genug von vielen
Schriftstellern das „Milieu" genannt. Doch trügt hier der Schein,
denn es ist Keiner, der nicht in irgend einer Hinsicht selbständig
^) Wir schreiben hier ^Spinoza", obgleich das Facsimile seiner Handschrift
uns überzeugt hat, dass er sich Despinoza genannt hat,
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV. 1. 1
2 W. Meijer,
tliätig wäre. Der Mann von ausserordentlicher Begabung versteht
es dagegen, obschon aucli dieser nicht in jeder Hinsicht sicli dem
fatalen Schlendrian zu entreissen vermag, über die Häupter der
Menge hinwegzusehen, obgleich sie ihn von allen Seiten mit der
Suggestion des Zeitgeistes bedrängt.
Ein derartiges Genie war Spinoza. Und unsere Vorfahren,
welche des historischen Sinnes ebenso zu wenig hatten, als wir
zuviel, haben unbewusst den rechten Weg eingeschlagen, als sie
diesen riesigen Geist ganz und gar zu erklären suchten aus
den grossen Ideen der Culturgeschichte der Menschheit, ohne
Rücksicht zu nehmen auf die Lebensverhältnisse seiner Persön-
lichkeit und die beschränkten Ideen seiner Zeit- und Landes-
genossen.
Das neunzehnte Jahrhundert aber hat eine ganz andere Richtung
eingeschlagen. Es lässt sich von den drei.ssiger Jahren an fast allein
von dem historischen Interesse führen, und es hat zuletzt selbst das
Ewige historisch zu begreifen versucht. Folgerichtig wird an die
Könige im Reiche der Gedanken derselbe Massstab angelegt wie
an den erstbesten Homunculus, und man wagt es, auch die grüssten
Genien aus ihrer Abstammung, Lebensart. Umgebung und dem Zeit-
geiste zu erklären. Eitler Versuch!
Wie mit so vielen Anderen, hat man es auch mit Spinoza
gethan.
Eifrigen Archivstudien ist es gelungen, Vieles, was bis jetzt
sowohl durch den oben angedeuteten Mangel an historischem Sinn,
als durch Glaubenshass und Religionseifer unter dem Staube der
Vergessenheit verschüttet war, wieder an's Licht zu bringen, und
aus dem grossen Denker einen Menschen von Fleisch und Blut zu
machen. Gern geben wir diesem Streben alle Ehre, denn je besser
wir die Accidentia dieses reichen Lebens kennen lernen, desto mehr
steigen die Essentia in unserer Achtung.
Wie im Voraus zu erwarten war, hat man bei diesen
Untersuchungen nicht immer sogleich das Richtige getroffen, und
namentlich herrscht über das Verhältniss des Spinoza zu den
Collegianteu m. E-. bei Vielen noch ein Mi.ssverständniss, das haupt-
sächlich dem Umstände zuzuschreiben ist, dass die Geistesrichtung
Wie sich Spinoza zu den Collegianten verhielt. 3
und die Hauptideen der Collegianteu so wenig allgemein bekannt
sind. Sind diese erst recht bestimmt, so wird es uns ein Leichtes
sein, festzustellen, wie Spinoza, der uns ja bekannt ist, zu diesen
Leuten sich verhielt.
In neuerer Zeit hat man wiederholt versucht, ihren Charakter
zu beschreiben. An erster Stelle erinnern wir an das Werk des
Herrn van Slee, unter dem Titel „De Rynsburger Collegianteu",
eine Arbeit, welche von „Teylers Genootschap" mit der goldenen
Medaille gekrönt wurde, und das, wie von dem tüchtigen Deventer
Archivar zu erwarten war, ein grundlegendes Werk für Alle ist, die
das Auftreten, die Wortführer und die Eigenthümlichkeiten der oben-
genannten Richtung näher kennen zu lernen unternommen haben.
In einem schönen Stile und mit grosser Sachkenntniss giebt uns
der Autor eine Uebersicht der verschiedenen Ideen, die in diesem
kleinen, aber deshalb nicht weniger rührigen und geistreichen
Kreise vorherrschten und einander bekämpften.
Daran schliesst sich das bekannte Buch K. 0. Meinsma's,
„Spinoza en zijn Kring" genannt, welches den Philosophen geradezu
in den Kreis der Collegianteu eingeführt und dadurch die Aufmerk-
samkeit der ganzen Welt auf sie gerichtet hat, weil das Interesse
für Spinoza sich auf alle erstreckt, die mit ihm verkehrt
haben.
Noch ist in diesem Jahre in Holland ein Werk unter dem
Titel „Reformateurs" erschienen, das, obgleich nur zum Theil
vollendet, ausführlich über Collegianteu und Quäker handelt,
und sich durch ernsthaftes Quellenstudium und glückliche Dar-
stellungsgabe auszeichnet. Wir verdanken es Herrn Dr. Hylkema
von Zaandam, und bedauern nur, seine Ansichten bloss zum
Theil zu kennen. In allen diesen holländischen Werken wird auch
die ältere Litteratur erwähnt. Endlich wurde neulich ausdrück-
lich auf den Zusammenhang zwischen Spinoza und den Collegi-
anteu aufmerksam gemacht von Dr. Adolph Menzel in seinen
„Wandlungen in der Staatslehre Spinozas" (Stuttgart 1898, Cotta-
sche Buchhandlung) — eine Bemerkung, die mich veranlasste, eine
schon lang geplante Skizze über diesen Gegenstand weiter aus-
zuarbeiten.
1*
4 W. Meijer,
Herr Dr. Menzel will Spinoza auch aus seinem „l\Iilieu" er-
klären, und betrachtet dazu hauptsächlich die Collegianten; er sucht
nämlich in ihren Zusammenkünften und Ideen den Ursprung der
demokratischen Gesinnung des Spinoza. AVir werden am Ende
dieses Aufsatzes dieser Behauptung näher treten; wollen sie
aber schon hier zu Anfang mehr formaliter betrachten, weil es eine
Priucipienfrage gilt, die zu der Hauptidee dieses Aufsatzes iu sehr
enger Beziehung steht. Während nämlich Herr Dr. ]\Ienzel Spinoza
aus seinem „Milieu" erklären will, stellt Dr. Joseph Hoff in seiner
Staatslehre Spiuoza's, S. 23, ihn in Gegensatz zu Machiavelli,
„weil dieser aus historischen Factis, Spinoza dagegen aus meta-
physischen Gründen seine politischen Anschauungen abgeleitet
haben sollte". Nun stimme ich dieser Meinung des Herrn
Hoff, dass Spinoza, more suo geometrico, ebenso wie er das in
der Ethik und in der Physik gethan hat, und selbst in der
hebr. Sprachlehre zu thun wünschte, auch seine politischen Mei-
nungen aus Principien abzuleiten sich vorgenommen hat, gern bei,
wenn nur nicht aus der von diesem Gelehrten hier ausgesprochenen
Behauptung deducirt wird, dass Spinoza sich au der Geschichte
seines Gegenstandes nicht gelegen sein Hess. Da er nicht gewohnt
war, mit dem, was er wusste, zu prahlen — Jedem ist seine
ausserordentliche Bescheidenheit bekannt — Hess er so viel wie
möglich alle Bemerkungen, Notizen und Citate weg. Im tractatu
politico sagen die Vorredner zu seinen I'osthumis: sententiam
suam solidissime proposuit, relictis multorum politicorum
opinionibus. Und dies ist factisch wahr.
Aus dieser Gewohnheit oder viel besser Methode rührt die
Meinung her, Spinoza hätte wohl viel gedacht, aber wenig gelesen.
Dass dies aber ein Irrthum ist, ist heute mit Sicherheit zu
beweisen. Wer so arm war an Büchern, und so reich an Wiss-
begierde wie Spinoza, muss seine eigene Bibliothek gekannt haben.
Diese Bibliothek aber ist uns durch die Entdeckung und die Aus-
gabe des Inventars von Herrn J. Servaas van Rooyen, Archivar
zu's Gravenhage, jetzt bekannt gemacht; Prof. J. Freudenthal hat
sie im Einzelnen umschrieben und die Titel näher erklärt, und
in Rynsburg wird sie jetzt durch die der Wissenschaft stets
Wie sich Spinoza zu den CoUegianten verhielt. 5
bei-eite Hülfe des Herrn G. Baroii vou Rüscntlial glücklich
zusammengebracht. Diese Bibliothek aber liefert uns den Beweis,
dass z. B. in Politicis Spinoza den Aristoteles, Tacitus, Calvin,
Clapmarius, Grotius, Hobbes, Machiavelli und de la Court (einen
Holländer, der damals mit Vorwissen von Jan de Witt politische
Broschüren schrieb), gelesen hat; ferner, wie aus Einzelnheiteu im
Tractatu Politico deutlich hervorgeht, dass er auch, wie ja selbst-
verständlich ist, mit der Geschichte Spaniens völlig vertraut war.
Hieraus erhellt, dass unser Autor unstreitig die Erfahrung
der Geschichte benutzt hat, auch wenn er nirgendwo mittheilt,
aus welchen Quellen er geschöpft hat. Wenn wir aber dies fest-
stellen, können wir der Thesis des Herrn Hoff unseren ganzen
Beifall schenken.
Eben deshalb aber müssen wir schon a priori die Meinung
des Herrn H. Menzel bekämpfen, der Spiuoza's vermeintlichen
Aristocratismus seiner Erbitterung über den an de Witt verübten
Mord, und seine ursprüngliche demokratische Gesinnung den CoUe-
gianten zuschreibt. Wir glauben, dass die Unrichtigkeit dieser Be-
hauptung aus der Charakteristik der CoUegianten schon von selbst
hervorgehen wird, werden aber am Ende dieses Aufsatzes diese
Frage näher betrachten.
Das geschichtliche Bild der CoUegianten und der „Rynsburg"sche
Vergadering" (Reinsburger Zusammenkünfte) ist nicht so ganz leicht
darzustellen; und wohl eben deshalb, weil diese Reformatoren sich
dadurch von allen ihren Zeitgenossen unterschieden, dass sie
durchaus keine festgestellte, documentierte Confession anerkannten.
Wenn wir aber die Aussagen der vielen CoUegianten, deren
Schriften wir noch kennen, zusammensuchen und uns die Sachlage
und den Ideenkreis vergegenwärtigen, die Constellation gleichsam,
unter der sie lebten, so wird es, glaube ich, wohl gelingen, auch
ihnen das Horoskop zu stellen ; denn obgleich sie zu ihrer Zeit
eine hervorragende Stelle einnahmen, so blieben sie natürlich
ganz und gar noch im Banne des Zeitgeistes und unter den Ein-
flüssen ihrer Umgebung, und sind deshalb auch zum grössten Theile
daraus zu erklären. Sich über die Gedankensphäre ihres Jahr-
hunderts zu erheben waren auch sie nicht fähig. Was einem
ß W. Mcijer.
Spinoza gelang, könnte Jarig Jcllcs anch mit dem besten Willen
nicht erreichen.
Sehen wir uns daher die Sachlage ein wenig näher au. Nach
Holland strömten im 16. und 17. Jahrhundert Alle, die von dem
orthodoxen katholischen Glauben mehr oder weniger abgewichen
waren, und demzufolge aus ihrem Vaterlande vertrieben wurden.
J)ie durch Wilhelm den Ersten und seine „Geuzen" mit Gewalt
erstrittene und Spanien gegenüber gewahrte Gewissensfreiheit
lockte sie herbei, und der grosse Handels- und Schiffsverkehr
unserer Seeprovinzen beförderte diese Auswanderung und Ucber-
siedelung in nicht geringem Maasse. — Die „Oosterlinge" — so
wurden die Bewohner der Ostsee in Holland genannt — , führten
ihren Lutheranismus hier ein, die Polen ihren Socinianismus. Aus
Beiden und Frankreich kamen die meisten Reformierten herüber
und Menno gründete bei uns seine Gemeinde der Taufgesiuuten
(Doopsgezindeu).
Wie verschieden alle diese christlichen Sekten auch sein
mochten, alle kamen darin überein, dass sie erstens die päpstliche
Autorität verwarfen und zweitens sich eine eigene Confession ge-
bildet hatten.
Eine piquantc Umschreibung ihrer Hauptkennzeichen findet
man in dem Buche van der Linde's über Antoinottc de Bourgignon.
Als diese anno 1(368 in Amsterdam wohnte, kam sie mit Allen
zusammen und berichtete Folgendes:
In den 6 verschiedenen Wohnungen, in meiner Umgebung,
wohnten Leute von 6 verschiedenen Religionen. Eine Zeit lang blieb
ich unbekannt, aber durch eine Krankheit ward ich gezwungen, einen
Arzt zu nehmen und seitdem bin ich von verschiedenen Leuten
besucht worden. Ich habe mit den von Calvin Reformierten ge-
sprochen, welche die Prädestination treiben und sagen, dass die-
jenigen, die zur Seligkeit erwählt sind, sie mögen thun, was sie
auch wollen, nicht umkommen können; die zur Verdammniss
Prädestinierten aber, und wenn sie auch alle guten Werke der
Welt thäten, könnten nicht erhalten werden. Hie Lutheraner
haben mich ebenfalls besucht. Sie behaupten, dass sie evangelisch
sind, ich kann in ihrem Leben aber nichts sehen, das der evan-
Wie sich Spiuoza zu den Collegianten verhielt. 7
gelischen Lehre Christi ähnlich wäre. Ich bin nicht in Gefahr,
meine Religion mit der ihrigen zu tauschen, denn sie scheint mir
in vielen Dingen ärger, in keinem Stück aber besser als die
katholische. Es haben mich auch die Wiedertäufer (Taufgesinnten)
besucht, die Menno Simonis Lehre folgen. Sie gründen sich auf
den Spruch: Wer da glaubt und getauft wird, wird selig werden.
Dies sind dem Ansehen nach fromme und sittsame Leute. Sie
tragen schwarze und einfache Kleider, wodurch man sie von
Anderen unterscheidet. Sie haben nach der Weise geistlicher
Personen gewählte Reden und Gebärden, und sind sehr geübt in
der H. S. — Ich vergleiche sie mit den Jesuiten unter uns, und
kann nicht bemerken, dass sie wiedergeboren sind, denn sie
trachten noch nach den Gütern dieser Erde. Diese Leute haben
öfter zu mir gesagt, dass ich keine Versammlung antreften würde,
die mehr mit meiner Meinung überein käme. Seht doch, wie jeder
die seine für die beste hält! Es finden sich hier auch Quäker,
die, weil ich nach dem innern Licht trachte, ebenfalls denken, ich
würde ihnen zufallen. Sie irren sich aber gewaltig, denn meine
Meinung streitet gänzlich wider die ihre. Sie sagen, dass sie von
Gott erleuchtet sind, folgen aber dem Lichte Gottes nicht und
nehmen öfter ihre eigene Einbildung für die Eingebung des
H. Geistes. Die Weiber, wenn ihr Geist sie dazu treibt, predigen
oder führen das Wort sowohl wie die Männer. Die Sozeiner, welche
sagen, dass es Götzendienst sei, Jesum Christum anzubeten, sind
gleichfalls zu mir gekommen. Sie haben mich gefragt, ob ich
denn an einen geschaffenen Gott glaube? Ich habe nicht viel
gesagt, denn auf solche ungebührende Fragen gehört keine Antwort.
Ich bin auch von den Juden, die in dem hartnäckigen Glauben
stecken, dass sie einen Messias bekommen werden, besucht worden.
Ich bin von ihnen geschieden, weil ich gesehen, dass sie der
Wahrheit, an J. C. zu glauben, keinen Raum geben wollten;
u. s. w.
Nicht weniger scharf wurden die verschiedenen Secten ge-
zeichnet von Jan Zoet, dessen Verse von K. 0. Moinsma im
a. W. abgedruckt sind, hier aber nicht aufgenommen werden, weil
sie in holländischer Sprache verfasst sind.
3 W. Meijer,
Es liegt in der ^'atur der Sache, dass in einer Zeit, die von
religiösem Leben erfüllt war, aus allen diesen Conlessionen fortwährend
Reibung und Streit entstand. Im 16. Jahrhundert aber forderten
Kriegs- und Staats-Angclegenheiten noch so sehr Aller Aufmerksam-
keit, dass die Religionsunterschiede dadurch einigermassen zurück-
gedrängt wurden. Der gemeinschaftliche Feind, die allgemeine Ge-
fahr war das Band, das Alle zusammenhielt. Im Anfang stritten
Katholiken wie Protestanten zusammen gegen Alba's Tyrannei, und
der strenggläubige Philipp II. verwies denn auch folgerichtig alle
Niederländer zum Henker: die Protestanten, weil sie von der Kirche
abgefallen, die Katholiken, weil sie mit den Protestanten gekämpft
hatten. Als aber durch die Politik 01denbarneveld"s und die
Strategie des Prinzen Moritz die unirten Provinzen aufgehört
hatten, der Schauplatz des Krieges zu sein, fing sogleich der geist-
liche Streit, der bisher unter dem Kanonendonner verstummt oder
vielmehr von demselben übertönt war, sich zu erheben au. Die
„Republiek der Vereenigde Nederlanden" hatte die reformirte Re-
ligion als die ihrige anerkannt. Es ist wahr, dass solches nicht
in der ,,Unie van Utrecht" geschrieben stand, die jeder Provinz
in Religionssachen alle denkbare Freiheit zusagte und allein Ge-
wissenszwang verbot, so dass z. B. sehr wohl in einer der verbün-
deten Provinzen die katholische Religion die öffentliche sein konnte,
aber die Union war keine „Grondwet", Constitution nach unseren
Begriffen, blos die allgemeine Formel, worunter die verschiedenen
Provinzen, — damals ebenso viele selbständige Staaten — sich zur
Abwehr gegen Spaniens Tyrannei verbunden hatten. Faktisch aber
waren, wie damals alle Rechtsbostimmungen aufgefasst wurden, die
unirten Provinzen (Gewesten) rcformirt. Der Statthalter musste
eidlich versprechen, die reformirte Religion wahren zu wollen,
ebenso wie er vorher dem Grafen versprach, die katholische zu
vertheidigen; in der Regierung, uiul in allen Aemtern bis zum
Anatomic-Professoratc wurden blos Reformirte ernannt und in Folge
dessen die innere wie die äussere Politik im Sinne der Calviuisten
gefüiirt.
Die übrigen Secteu wurden blos geduldet, die reformirte
Religion war, wie man sagte, „prädomiuirend"'.
Wie sich Spinoza zu den Collegianten verhielt. 9
In 1581 uud 1650 wurde dies auch von den General-Staaten
öffentlich anerkannt; wie es denn auch daraus ersichtlich war, dass
bei jeder Synode der Calvinisten „Gedeputeerden" oder Abgeordnete
der Regierung gegenwärtig waren, und besonders zu Tage trat, als
die grosse National-Synode zu Dordrecht abgehalten wurde, worauf
Beschlüsse der kirchlichen Autorität förmlich durch den Staat
sanctionirt wurden. Was in den übrigen Gemeinden und Kirchen
gepredigt und gelehrt wurde, wurde nicht oder weniger beachtet;
die reformirte Kirche aber, das Fundament der Republik, musste
unberührt bleiben.
Unentbehrlichkeit einer Staats-Kirche war damals ein Uni-
versal-Dogma. Hugo Grotius selbst trieb die „Staaten'' (worunter
Grotius die Staaten von Holland verstand) dazu an, alle Uneinig-
keit in der Landeskirche mit Gewalt zu bekämpfen. — Auch er
kannte dem Staate das Jus circa sacra zu. Vide: „der Herren
Staaten Godsdiensticheit (Pietas) verdedigt door II. de Groot" en het
„Jus summarum Potestatum circa sacra", auch von ihm verfasst
und nach seinem Tode herausgegeben. Der grosse Zwiespalt
der Remonstranten und Contra-Remonstranten war daher nicht
bloss Religionssache, sondern auch Staatsaugelegenheit. Die echten
Calvinisten trugen den Sieg davon; der ehrwürdige Oldcnbaruevelt
musste, wie die Zeit Solches erforderte, zum Opfer fallen ; die re-
monstrantischen Prediger mussten auswandern; Moritz hatte die
Staatskirche, dessen Lehre von ihm so wenig wie von Oldenbarne-
velt begriffen wurde, gerettet. Staats- uud Kircheu-lnteressen waren
damals unzertrennlich mit einander verbunden.
Damit war aber der Friede unter den Bürgern nicht hergestellt;
die Unruhe, obgleich äusserlich gebannt, war innerlich desto grösser
geworden.
Bis hierher war die Reformation, in den Niederlanden
wenigstens, aufgetreten im Sinne des Wilhelm von Orauien, als
Verfechterin unbeschränkter Gewissensfreiheit; durch die Dordrechter
Synode wurde die reformierte evangelische Religion ofÜciell zur
Staatsreligion. Die Prediger hatten daselbst die wahre Lehre wie
in einem Coucilium festgestellt, die Staatsgewalt hatte darin nicht
bloss consentiert, sondern war auch zugleich bereit den Banntluch
10 • W. Meijer,
gegen die Kemonstranten zur Auslührung zu bringen. Die Ge-
meinden wurden ihrer geehrten und geliebten Vorgänger
beraubt und letztere im Auslande der Armuth und dem Elend
preisgeben.
Dies erschütterte die Gemüther ausserordentlich.
War denn, so fragte man sich, die päpstliche Inquisition wieder
von Neuem eingeführt? Hatte man jetzt statt den Bischöfen den
Predisrern zu gehorchen? Hatten die Herreu der Reformation
«^
sich wiederum vor irgend einer kirchlichen Autorität zu beugen?
Mit Entrüstung wurden diese Fragen gestellt und überall
protcstirten dagegen die Geister; zumal als Prinz") Moritz bald
darauf zu Grabe getragen wurde und sein Nachfolger Friedrich
Heinrich, so wie später de AVitt, Gedaukenfreiheit, so weit sie der-
zeit möglich war, gewährten.
Hier, in dieser Periode, entsteht die Collegianten-Idee.
Was war die Hauptsache, der Grund der Reformation? In-
wiefern hatte man diese Idee realisirt? War sie nicht allmählich
mit sich selbst in Widerspruch gerathcn? Wie war das möglich
geworden ?
Viele aufrichtig Gläubige beantworteten diese kritische Frage
mit den Worten des Historikers Brandt und mussten bekennen,
„dass, indem man Glaubensartikel feststellte, das ursprüngliche
Licht der Reformation mehr verdunkelt wurde als „durch alle
Listen, Placate, Schwerter, Galgen uud starke Wallen des Papst-
thums". Ein anderer Schriftsteller dieser Zeit sprach sich
folgcndermaasseu aus: Man sollte nicht mehr darauf Acht geben, ob
man katholisch, griechisch, lutheriauisch, (sie!) reformirt, remon-
strantisch, menuistisch, socinianisch oder arianisch sei, sondern
einzig und allein auf das Wort Gottes.
Kurz, alle Denker jener Zeit in Holland verurtheilteu das
Treiben der Confessionellen.
Die hier erwähnten Feinde jeder Dogmatik müssen aber sorg-
fältiger, als bisher geschehen ist, in zwei Rubriken gethcilt werden.
'^) Der Uerr Menzel hat sich in seinem Aufsatz geirrt, als er Willem II,
als Grafen bezeichnete: der letzte Graf war Philipp II.
Wie sich Spinoza zu den Collegiauten verhielt. H
Einerseits die Euthusiasteu : die Mystiker, die Quäker, die „Vyfdc
Rykbeoogers", die „Duizeudjaristen", Chiliasten u. s. w.; anderer-
seits die Collegiauten; — ich möchte sagen, die Mystiker und die
Rationalisten.
Die erste x-Vrt der Anti-Confessionellen glaubten au eine un-
unterbrochene Inspiration und den Beistand des Heiligen Geistes.
Jeder für sich berief sich auf das Licht, das in ihm wohnte; sie
sprachen bisweilen in Sprach'en Alles, was ihnen momentan
einfiel, und meinten indessen keiner geschriebenen Offenbarung
mehr zu bedürfen.
Antoinette Bourgignon und ihre Gcistverwaudten suchten das
Heil in sich selber. AVie Naylor iu England beanspruchte
Antoinette für sich den Namen einer von Gott erleuchteten
Persönlichkeit.
Durch diesen Individualismus aber wurde jedes kirchliche Band
zerrissen. Wenn es Jedem erlaubt war, als höchste Wahrheit
zu verkündigen, was ihm eben einfiel, so hörte damit die Gemein-
schaft der Gläubigen eigentlich auf. Man möge sie Christen
nennen; sie standen ausserhalb der Kirche und fanden beinahe
allein ihren Anhang bei der grossen Menge und den Illiteraten.
Ganz anders verhält sich die Sache mit den Collegiauten. Nicht
weniger als Quäker und Enthusiasten gegen jede Priesterherrschaft
feindlich gesinnt und jeden Glaubenszwang, meinten sie an der
vorhandenen Offenbarung Alles zu haben, was zur Seligkeit noth-
wendig war. Was in der Heiligen Schrift als dazu unerlässlich
vorgeschrieben war, musste unbedingt geglaubt werden. Aber
ausserdem auch nichts mehr, weil sie fest überzeugt waren, dass es
nach den Aposteln keinen „sprekenden rechter" mehr auf Erden
gegeben hätte, dem mau in dieser Hinsicht sich zu unterwerfen hätte.
Dies war der Collegiauten gemeinschaftlicher Glaubensgrund-
satz: sie alle bekannten, dass Jesus war der Christus, der Sohn
des lebendigen Gottes.
Auf dieses unausgesprochene, aber von Allen unbestrittene
Glaubensbekenntniss wollten sie die „Allgemeine Kirche" bauen,
wo alle Christen zusammen sich vereinigen konnten, „tot de Papi-
sten incluis", selbst die Papisten mit einbegriffen, wie Breden-
12 W. Meijer,
bürg, einer der meist vorgeschrittenen CoUegianten, sich später
ausdrückte. Diese „Algemccne Kerk" schloss iSiemand aus als
Juden, Türken, Meiden und Mohammedaner, weil sie Ungläubige
waren; — und weiter Alle, die von ihrer Umgebung schuldig erkannt
w^areu an olVenbaren Werken des Fleisches, wie Diebstahl, Hurerei,
Ehebruch und Trunkenheit, und daher kurzweg als Gottlose gebrand-
markt wurden; denn Gottlosigkeit, d. h. Unsittlichkeit und Unglaube
waren Regrift'e, die sich damals vollkommen gleich standen und
deckten. So meinte Spinoza selbst, sich gegen die Beschuldigung
des Atheismus genügend vertheidigt zu haben, indem er sich auf seineu
tadellosen Lebenswandel berief. Man meinte, es würde Keinem
einfallen, den Gott der Christen zu verleugnen, dem es nicht darum
zu thun wäre, ein lüsternes Leben zu führen.
Ob man zu einer Kirche sich bekannte oder nicht, war den
CoUegianten einerlei; alle, die in Christo glaubten, waren in der
„Rynsburgsche Vergadering" willkommen. Vollkommene Einheit
aller Christen würde ihres Erachtens die Folge ihres Strebens sein.
Eigenthümlich war, dass des Herrn Abendmahl, eigentlich das
Kennzeichen der christlichen Einigkeit, in den Tagen von Sectcu-
hass die Gläubigen am strengsten auseinander hielt. — Wo man
zum Abendmahl ging, dazu wurde man gerechnet, und jede Kirche
versagte Mann oder Weib, die in irgend einer Hinsicht als un-
gläubig erkannt waren, unerbittlich das Abendmahl.
Dies war der kirchliche Bann der Protestanten.
Dagegen lud die „Allgemeine Kirche" der CoUegianten, ihrem
Princip zufolge, eben alle gläubigen Christen ohne Unterschied zu
dem Tische des Herrn.
Dieser war nicht, wie Bredenburg^) scharf betonte, „der
meuisten hecren Tafel" (der Tisch der Herren Mennisten), sondern
der Tisch des Herrn; deswegen durfte Niemand anders, als nur
die Ungläubigen und Gottlosen abgewiesen werden.
Und so wurde zweimal im Jahre in Ryusburg, mitten unter
^) Bredenburg war einer iler bekaimtosteu Rynsburger.
Siehe Theologisch Tijdschrift. 18'J9. -Johann Bredenburg, over den
Groud der Ueformatie.
Wie sich Spinoza zu den Collegianten verhielt. 13
den heftigsten christlichen und kirchlichen Streitigkeiten, die
Christenheit erinnert an jenen apostolischen Feierabend, als sich
Alle in Frieden und Harmonie um ihren grossen Meister versammelt
hatten, und vereinigt sassen am Liebesmahle, das er zu seinem
Gedächtniss eingestellt hatte.
Die Heilige Schrift als einzige Regula fidei und das Abendmahl
aller Gläubigen als Symbol ihrer Gemeinschaft, das ist also der
Inhalt des Glaubens der Collegianten,
Neben diesen beiden Punkten wurde auch wohl der soge-
nannte „Dompeldoop" (Taufe durch Untertauchen) als Merkmal
ihrer Versammlung hervorgehoben; diese war aber nicht gefordert,
und musste der Meinung der Brüder gemäss durchaus nicht mit
der Taufe der Kirchen verglichen werden, welche von ihnen als
eine Sectetaufe betrachtet wurde; die Taufe gehörte, wie Christian
Verbürg sagte, nicht zu der Natur der Rynsburgschen Versammlung.
Die Collegianten waren also keine „Vrije Gemeente", wie
sie in Amsterdam und in Amerika bestehen, Gemeinden, die bloss
das religiöse Leben zu fördern beabsichtigen; sie waren positiv
christlich gesinnt. Das damals bestehende Christenthum zu ver-
werfen und Freidenker zu werden, was Dr. Hylkema allen Kefor-
mateurs vorwirft, das findet auf die Collegianten keine Anwendung.
Selbst die Kirchen verurtheilten sie nicht, geschweige denn das
Christenthum. Nur dahin suchten sie es zu bringen, dass alle,
die Christum bekannten, sich bewusst würden, zu einem und dem-
selben Körper zu gehören.
In unseren Tagen hat man es so weit gebracht, dass Viele ver-
gessen zu haben scheinen, dass Protestantisch und Römisch-Katho-
lisch bloss Adjectiva sind, wobei das Substautivum, „Christen"
vergessen oder durch gegenseitigen Hass abgefeilt und verschwunden
ist, sowohl in der gewöhnlichen Redeweise als dem Wesen nach.
Dies wollten die frommen Collegianten verhüten.
„Reformateurs" waren auch sie, aber nur so weit als sie
jede Verketzerung Andersdenkender verurtheilten. Der Lchrzwang
Roms war auch ihnen ebenso wie den anderen Reformatoren zuwider,
nicht, weil sie die römisch-katholische Lehre verw^arfen — , die
apostolischen Glaubensartikel wurden von den meisten Collegianten
J4: ^^ • Meijer,
als wahr anerkannt — sondern bloss, weil sie keine andere Autorität
anerkannten als die Apostel und Propheten. Bredenburg sagte,
dass er mit allen Protestanten der Meinung war, dass die Concilien
kein Recht gehabt hätten als Richter in Glaubenssachen aufzu-
treten, aber Hess darauf sogleich diese Frage folgen, was ihm
selbst denn das Recht gäbe, anstatt der päpstlichen Autorität in
irsend einer Confession eine andere zu errichten und in deren Namen
die so sehr verabscheute Verfolgung und Inquisition wieder zu
erneuern?
Jeder Verurtheilung ihrer Christenbriider abgeneigt, wollten
sie auch ihrerseits Niemandem ihre Meinung aufdrängen. Ja so
weit ging diese Abneigung, dass sie selbst die sogenannte Yer-
draagzaamheid (Toleranz) als unchristlich verurthcilten. Man
hat, sagt Bredenburg, Niemand zu dulden; im Dulden liegt
(las Urthcil schon verborgen, und das Urtheilen ziemt Gott allein.
Hier kann, sagte er, von Dulden nicht die Rede sein. „Was soll
das heissen, w^enn man in einer Schule ist, wo keine Untcrlehrer
sind, sondern jeder Schüler von dem Meister besonders gelehrt
und instruiert wird, dass da die Schüler einander zu dulden
hätten, als ob sie das Recht hätten, einander z. B. aus der
Schule zu werfen u. s. w." „Man hat," sagte er, „nichts Anderes
zu thun, als sich zu bemühen, den Meister gut zu verstehen, ohne
sich anzumassen, darüber zu urtheilen, ob seine Älitschüler den
Meister wohl zu begreifen im Stande sind, viel weniger noch sie zu
zwingen, wegen dieser wahnwitzigen und übermüthigen Einbiklung
die Schule zu verlassen."
Die Colleß-ianten standen also auf rein christlichem Boden und
suchten den Grund der Reformation allein in der Negation aller
Verketzerung und Priesterherrschaft.
Das Christenthum, das sie bekannten, war derjenige Glaube, der
uns geschichtlich bekannt geworden und von Constantin dem Grossen
bis auf David Friedrich Strauss die Kulturgeschichte beherrscht
hat, und ja nicht zu verwechseln ist mit jenem mythischen oder
Ideal-Cliristenthum, das in unserem Jahrhundert in so vielen
Köpfen Missverständniss und BegrilTsverwirrung zu Wege ge-
bracht hat.
Wie sich Spinoza zu den Collegianten verhielt. 15
Sie gehören mit Rom zu derselben Kirclie, aber stehen dcarin
an der äussersten linken Seite. Weiter konnte man keinen Schritt
thun, ohne die Grenzen der Kirche zu überschreiten. Im Grunde
eines Glaubens, suchten Rom und Rynsburg auf den meist aus-
einandergehenden Wegen zur Kenntniss der Wahrheit zu kommen.
Entweder Rom, oder Rynsburg, sagt einer der Collegianten; ent-
weder die Bestimmung der Glaubenslehre einem Oberhaupte über-
lassen, wie es in der R.-K.-Kirche geschieht, oder einem Jeden die
Freiheit gegönnt, zu sagen, was er davon hält. Dies nannten
sie „de vrijheid van spreken" („Sprechfreiheit"), auch wohl das
Prophezeien; und diese „Vrijheid van spreken" war ihr Schibo-
leth. Auch von Anderen w^ar dies früher versucht, wie aus den
Akten der Weseler Synode hervorgeht. Auch M'ar dies in Zürich
und in London bei den Brownisten nicht unbekannt. In "Wesel
und Zürich geschah dies aber bloss zur Uebung der Proponenten,
und bei den Brownisten wurden doch immer Prediger angestellt.
Aber so durchgeführt, dass durch die allgemeine Priesterschaft
alle Prediger consequent ausgeschlossen wurden, haben es nur die
Collegianten getrieben. Noch Spener hat z. B. in seinen collegia
pietatis auch Laien das Reden gestattet, er selbst ist aber Hof-
prediger geworden, und der Pietismus hat nachher Andere verfolgt.
Dies war bei den Collegianten undenkbar.
Nachdem wir also die ideelle Genesis dieser Christensecte ver-
folgt haben, wollen wir kurz mittheilen, wie sie historisch geworden
ist. Den Verbannungsdecreten zufolge, über die remonstrantischen
Prediger von der Dordrechter Synode ausgesprochen, war auch im
Jahre 1619 die Gemeinde in Warmond, einem Dorfe in der Nähe
von Leiden, ihrer „Hirten und Lehrern", wie man die Prediger gerne
nannte, beraubt.
Ohne religiöse Zusammenkünfte, „godsdienstoefeniugeu" in
Holland genannt, konnten aber die frommen Leute jener Zeit nicht
leben, und bei ihren Antipoden, den Contra-Remonstranten zur
Kirche zu gehen, Avar zu viel von ihnen verlangt. In dieser
kritischen Lage schlug ein gewisser Gijsbert van der Kodde, ein
tüchtiger und denkender Kopf, seinen Geistesverwandten vor:
16 ^'' Meijer,
„altemet (dann und waun) eeus zonder predikauten by elkander
te komen, eenige capittels te lezen, een gebed te doeu en iets tot
stichting voor te dragen, Indien iemand daartoe bereid en bekwaam
werd bevonde. Zoodoende zou de gemeende niet verloopen en
niemand in perikel komen."
Dieses Perikel war in der Tliat nicht fingiert, denn die
„Heeren Staaten" hatten o. Juli 1619 alle Conventikel verboten,
worin über „die 5 controversen Religionspointen" gesprochen wurde.
Die remonstrantischen Prediger wurden von der Polizei streng
beobachtet, und so wurde jede Zusammenkunft mit ihnen gefährlich.
Kam mau als Laien zusammen, dann blieb solches viel leichter
den Schöffen verborgen.
Die Probe genel, und man beschloss, regelmässig zusammen
zu kommen. „Jeder christliche Mann (N.B.), der wohl bei Sinnen
war und meinte, etwas darbieten zu können, das zur Gottselig-
keit dienlich war, hatte die Freiheit solches zu thun."
Man sieht sogleich aus diesem Priucip, wie alle Extase und
Schwärmerei diesen nüchternen Leuten ein Gräuel war, wodurch
denn auch, ganz anders wie bei den Quäkern, vorzüglich die Ge-
bildeten sich angezogen fühlten.
Etwas „darbieten" hiess später Proponieren, etwas darauf
zu erwidern, hiess Protestieren, und dies beides zusammen heisst
Prophetieren, daher die Collegianten auch vielfach „Profcten"
genannt wurden. Die Zusammenkünfte selbst hiessen collegia
oder collegia prophetica, und nach diesen Collegien wurden nachher
die Leute Collegianten genannt').
Paulus' erster Brief an die Corinther, und davon das 14. Capitel,
war als ihre Kirchenordnung, ihre Constitution zu betrachten.
(Man siehe (hiriiber den Brief des Geesteranus bei van Slee.)
Die Frauen hatten zu schweigen. (Taceat mulier in eeclesia).
Alles Reden „in Sprachen und Zungen" wurde verurthoilt; das
Reden mit Verstand aber empfohlen, sowohl zur Erbauung der
Gläubigen als zur Belehrung von Ungläubigen, wenn diese sich
*) Nicht CülleiManten, wie iu der Revue des deux Mondes vom Mai 19U1
steht.
Wie sich Spinoza zu den Collegianten verhielt. 17
iii der Versammlung befanden, wie das z. B. in Amsterdam ohne
Zweifel von Beuuiugen, Hudde, van den Ende und Spinoza der
Fall gewesen ist.
„Heeren Staaten", z. B. die von Frieslaud im Jahre 1662, nahmen
oft alle Socinianer, Quäker und Dompelaars (so wurden die Colle-
gianten auch genannt) zusammen, weil bei ihnen (wie unerhört!) ge-
predigt wurde, „zouder Commissie", d. h. von Leuten, die nicht
dazu von irgend einer Autorität, sei es Papst, Bischof oder Synode,
beauftragt waren; — nach Allem, was wir hier mittheileu, wird
man aber leicht einsehen, dass dennoch zwischen diesen ein grosser
Unterschied bestand; auch sind die Propheten in Holland wenigstens
nie verfolgt worden wie die Socinianer. — Das „Prophetieren" der
Collegianten war nichts anderes als das Interpretiren der Heiligen
Schrift. Nabi=interpres, sagt Spinoza. Jeder Unterordnung inner-
halb der Gemeinde wurde streng gewehrt.
Als bald nach dem Anfange der ersten Zusammenkünfte in
Warmond der Arminianer Prediger Heinrich Holten im Geheimen
sich bei ihnen anmeldete, um wieder von ihnen als Prediger ange-
nommen zu werden, wies van der Kodde ihn selbst ziemlich roh
ab; er meinte, man brauchte keinen Prediger mehr; diese brächten
nur Gefahr, und der Holten sollte sich ein Fach wählen, um daraus
seinen Lebensunterhalt zu gewinnen. Obgleich dieses Auftreten nun
von den anderen Gemeindemitgliedern verurtheilt wurde, blieben doch
alle Versuche, nachher von Paschier de Fijne und anderen Predigern
angewendet, ebenso unfruchtbar, und als sich in Warmond schliess-
lich wieder eine ordentliche Gemeinde organisirte, zog das Collegiuni
nach Rynsburg, einem anderen Dorfe in der Nähe von Leiden, wo
die Familie van der Kodde eigentlich wohnte und damals grossen
Anhang hatte. Von da aus verbreiteten sich die Collegia allmählich
über das ganze Land, vorzüglich in den grösseren Städten. Li allen
Kreisen, meistens aber unter den gebildeten Mennoniten, fand die
obengenannte Praxis ihre Anhänger.
Beifall fand sie bei Allen, die vor Clericalismus oder Priester-
herrschaft einen Abscheu hatten; dieser Anti-Clericalismus äusserte
sich aber nicht wie in unserer Zeit in Religionsfeindlichkeit, Eigen-
dünkel und Verhöhnung jedweden Glaubens, er stammte vielmehr
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV. 1. 2
18 ^^'- Meijer,
unmittelbar aus der reinen Quelle der Bruder- oder Nächstenliebe
und des tiefsten Religionsbedürfnisses. Das odium theologicura war
ihnen zuwider.
Man vereinigte sich in Miethslokalitäten, hie und da in
Speichern, Böden und Scheunen, in Bücherläden, so wie bei
Jan Rieuwertsz, bisweilen aber auch in Consistorien-Ziramern. — Dies
Letztere kam jedoch allein bei Remonstranten und Mennoniten vor,
wurde aber nicht selten auch von den Predigern verboten. Die
Mennoniten, deren Prediger immer als Diener der Gemeinde be-
trachtet wurden und noch werden, standen natürlich den Collegiauten,
die gar keinen Unterschied oder Rangordnung unter den (männ-
lichen) Laien anerkannten, am nächsten.
Lidem man also überall in collegiis zusammenkam, wurde
zweimal im Jahre gen Pfingsten und Ende August das Abendmahl
abgehalten und gefeiert in Rynsburg, wo Alle die „de vrijheid
van spreken" und der „Algemeene Kerk" zugethan waren, sich als
Brüder vereinigten; daher die Collegianten auch Rynsburger oder
weniger richtig Rynsburger Collegiauten genannt wurden.
Das Rynsburger Collegium selbst war nämlich im Jahre 1660
nach dem Tode der van der Kodde und der Uebersiedelung der ge-
bildeten Familie Oudaan nach Rotterdam, beinahe aufgelöst — ohne
Gebildete konnte kein Collegium bestehen — , doch kamen die Brüder
gerne nach Rynsburg, ihrem Ausgangspunkt, dem Geburtsort ihrer
Gemeinde wieder zurück^). Dort feierten sie zusammen das Abend-
mahl, dass eigentlich in den Collegieu selbst nicht abgehalten
wurde. In der Stadt, wo er w^ohnte, feierte jeder Collegiant das
Abendmahl bei der Gemeinde, zu welcher er eben gehörte ; erst im
18. Jahrhundert wird auch im Waisenhaus in Amstenlam unter
Collegianten Abendmahl gehalten.
Als Bredenburg im Jahre 1691 über die „Rynsburg'sche
Vorgadering" spricht, meint er, dass diese jetzt schon mehr als
oO Jahre bestehe; wir können also annehmen, dass sie ungefähr
1640 ihren Anfang genommen hat.
'•>) van Slee vergleicht die Ryusburgsche Yergaderiug mit dem Israelitischen
Tempel, die einzelne CoUegien mit den Synagogen.
Wie sich Spinoza zu den Collegianten verhielt. 19
Eine schöne und ausführliche Beschreibung des ganzen Bei-
sammenseins findet man in van Slee's Buch.
Rynsburg war der Geburtsort der Collegianten, da sie sich
dort zuerst, im Jahre 1620(?), vereinigt hatten; Rynsburg hatte aber
auch noch zwei andere Vorzüge. Erstens lag es mitten im Lande,
d. h. im Staate Holland, der ja damals die Hauptprovinz war;
zweitens aber gehörte Rynsburg unmittelbar unter die Juris-
diction der Staaten, weil die Abtei mit Allem was dazu gehörte,
in die Hände der Ritterschaft übergegangen war und daher auch nach
der Zerstörung der Abtei von keiner Stadtregierung abhängig war.
Hier hatten die Brüder keine amtliche Belästigung zu fürchten,
so lange in der Ritterschaft liberale Männer wie de Witt dominierten.
Eigenthümlich ist, dass, wo im Mittelalter das römisch-katholische
christliche Element im höchsten Glänze strahlte; — die Rynsburg-
sche Abtei war unabhängig und „hief (relevirte) alleen van God
en de Zon"; — nach deren Untergang die äusserste Richtung des
Protestantismus seinen Centralpunkt fand.
Keiner Abtheilung der Christenheit ist es so sehr um gegen-
seitige Liebe, um ,, allgemeine Liebe", wie man sagte, zu thun
gewesen, als denen, die dort zusammenkamen, und wer Religions-
hass verabscheut, versäume nicht, wenn er die Gelegenheit hat,
eine Pilgerfahrt nach Rynsburg zu machen, wenn auch von dem
Bethause der Collegianten ebensowenig als von der Abtei ein Stein
auf dem andern geblieben ist®).
Wie weit das Princip des Friedens beim Abendmahl von
Einzelnen getrieben wurde, erhellt aus dem Zwiespalt, der am
Ende des 17. Jahrhunderts auch hier wieder Trennung zu bringen
drohte. Das „vrijspreken" war das Fundament ihrer Vereinigung
in den Collegien, und daher war es auch in Rynsburg Sitte, vor
und nach dem Abendmahl, Samstag und Montag, zu „prophetiren".
Dieses Proponiren und Protestiren verlockte dann und wann
einen Bruder zur Verurtheilung des Andern und deshalb wollte
Bredenburg, den wir schon öfters erwähnt haben, auf der „Ryns-
burgschen Vergaderiug" auch jedes Proponiren und Protestiren
^) Auch die Kapelle der Abtei ist verschwunden.
2--
20 W. Meijer,
untersagen, damit nicht Leute, die erst kürzlich einander verurtheilt
hatten, in dieser feindlichen Stimmung das Abendmahl feiern sollten.
Es ist selbstredend, dass hierbei allerlei Persönliches im Spiele war,
doch damit können wir uns hier nicht weiter befassen. Wir er-
wähnen nur, dass die Mehrzahl sich zu dieser Massregel nicht eut-
schliessen konnte und demzufolge von 1086 an während 10 Jahre
ungefähr, 2 Versammlungen in Rynsburg stattfanden, wovon die
folgerichtigste unter Bredenburg allein das Abendmahl feierte und
aus der Bibel las, ohne etwaiges Propouiren, während die Andern
meinten, dass dies von ihren Zusammenkünften unzertrennbar wäre
und bis hierher auch nie den Frieden gestört hätte.
Als Bredenburg aber 1691 gestorben war, und auch seine
Freunde und Anhänger verblichen waren, wurde von Leiden aus
eine Neuerung vorgeschlagen, die schon in 1700 zu einem guten
Erfolg führte.
Indessen hatte man im Jahre 1675 ein Waisenhaus „De
Oranjeappel" in Amsterdam gestiftet, da sich herausstellte, dass
Kinder von Leuten, die nur zu den Rynsburgern gehörten, von
keiner Secte oder Kirche aufgenommen wurden, und man be-
fürchtete, dass durch diese Weigerung, die Uebung und die Hand-
habung der „vrijheid van spreken" sich verlieren würde.
Während des 18. Jahrhunderts wurde die Versammlur.g zu
Ryiisburg regelmässig zweimal im Jahre, im Mai und August, ab-
gehalten.
Am 24. Mai 1787 kam man endlich zum letzten Male
zusairimon. Im Jahre 1801 wurden die letzten Rynsburgcr dort ge-
tauft und damit war das geistige Leben dieser Gemeinde erloschen.
Das Waisenhaus „de Oranjeappel", Ileerengracht, Amsterdam
und das „i\ozenhofje" in Amsterdam ist die einzige materielle
Hinterlassenschaft, welche die Erinnerung an die vornehmlich
ideelle Richtung des historischen Christenthums bewahrt.
In obigem Referate haben wir öfters Aussagen und Ideen des
Johann Bredenburg benutzt. Es wird dem Leser jetzt klar ge-
worden sein, weshalb wir das gethan haben. Eine Collegianten-
Confession kann ex rei natura nicht geboten werden; sie würde
Wie sicli Spinoza zu deu Collegiaiiteu verhielt. 21
eine contradictio in adjecto darstellen; der Ubcngcnannte war aber
einer der gebildetsten und /Aigleich cousequentesten seiner Richtung,
weshalb wir seinen Behauptungen und Betrachtungen den Vorzug
geben, wenn's gilt, den Charakter dieser Abtheilung der christ-
lichen Kirche zu definiren ^). Die „Theologisch Tijdschrift" vom
vorigen Jahre enthält eine Dissertation Bredenburg's über die Re-
formatiou, die uns den Standpunkt der Rynsburger klar und deut-
lich vor Augen stellt. Jeder, der die holländische Sprache des
17. Jahrhunderts versteht, wird dieser Deduction mit dem grössten
Interesse folgen.
Aber auch noch in anderer Hinsicht ist Bredeuburg für uns
von Bedeutung.
Nicht nur die Enthusiasten und CoUegianten, sondern auch
die Begründer der neuen Philosophie haben im 17. Jahrhundert
in Holland auf die Geister eingewirkt. In den Jahren 1625
bis 1647 Hess Descartes und in der Zeit von 1656 bis 1677 Spinoza
daselbst seine eiuflussreiche Stimme hören. Beide suchten in einem
zurückgezogenen Leben auf dem Lande, quasi in Museis suis
sepulti, nur ihren Studien zu leben, doch zog das Licht, das von
ihnen ausging, unwiderstehlich die Menge an. So hatte auch
Bredenburg die eiserne Logik des Spinozistischen Systems mächtig
ergriffen.
Vor Allem war er überzeugt dass „alle verstandclijke werkiug
nootsakelijk was" oder, dass die Causalität auch herrsche im Reiche
der Gedanken; er meinte sogar im Stande zu sein, solches in einer
demonstratio mathematica beweisen zu können. Durch Unbe-
scheidenheit seiner Freunde wurde diese ans Licht gebracht und
dadurch die Gemeinde veranlasst, ihn einen Spinozisten und Atheisten
zu schelten. Er vertheidlgte sich mit der Erklärung, dass der
Glaube mit dieser Theorie nichts zu schaffen hätte. Auch wenn
mau mathematisch von irgend Etwas überzeugt wäre, so könnte
das doch niemals dem Glauben schaden. Er war, wie sein Ver-
ehrer später sagte: ein tüchtiger Philosoph und frommer einfacher
Christ.
'■) 7\m Ende dieses Aufsatzes werden wir übrigens noch ein paar
holländische Texte anführen, die das Gesagte näher zu erörtern geeignet sind.
22 W. Meijer,
Diese Behauptuug Bredenburg s erklärt uns ebeu den Zeitgeist
uud veranlasste uns, ihm als dem echten Vertreter der Collegianten-
Idee zu folgen. — Er sowohl wie seine Geistesverwandten wiesen
die Beschuldigung des Spinozismus und des Atheismus mit Aergerniss
und Abscheu zurück. Sie erkannten des Weisen Gelehrsamkeit,
seine Freundlichkeit und besonders seinen unbescholtenen Wandel
an, aber wendeten sich mit der grössten Entrüstung von seiner
Philosophie ab. —
Wie verhielt sich nun aber Spinoza zu ihnen?
Dass er in Amsterdam viel mit ihnen verkehrte, ist unbedingt
sicher. Seine besten Freunde, de Vries und Jarig Jellis, waren
Meunoniten; de Vries hatte selbst ein Collegium instaurirt, wo
er die Ethik des Meisters studirte, wie aus dem 8. Brief hervorgeht;
— er wird daher die Collegien seiner Glaubensgenossen in
Amsterdam wohl nicht versäumt haben; von Jarig Jellis wissen
wir, dass er zu den freisinnigen Mennoniten gehörte und auch
eine kräftige Stütze des Collegianten- Waisenhauses war. Von
Amsterdam zog Spinoza nach Rynsburg, und wir haben Grund
anzunehmen, dass er gerade Rynsburg wählte, weil dort die
Freunde seiner Freunde zusammenkamen. — Ausserdem konnte er
hier am besten leben und studireu, da mau ihnen von Anfang au
gestattet hatte, ihre Collegien zu halten. Dass Spinoza bis zu seinem
Lebensende mit den Amsterdammer Collegianten befreundet ge-
blieben, beweisen wir auch daraus, dass eben in ihrem Waisenhause
die einzelnen Briefe wiedergefunden sind, die wir noch von ihm
besitzen. Wahrscheinlich ist es, dass in jenem Waisenhausc die
Ausgabe der Ethica, 1675 applanirt, 1677 erfolgt ist.
Eine ganz andere Frage ist aber, ob er zu ihrem Kreise gehörte.
Darauf muss die Antwort verneinend ausfallen. Wohl stand er
ihnen näher als irgend einer andern Geistesrichtung dieser Zeit, aber
doch auch wieder so weit von und über ihnen, dass von einer
Zugehörigkeit nicht die Rede sein kann. Es sei uns erlaubt, hier
die wichtigsten Punkte von Uebereinstimmung und Dilfcrenz zu
rcsumiren, und weil Spinoza's Lehre hier als bekannt vorausgesetzt
wird, werden wir uns an einer kleinen Andeutung genügen lassen. —
Die rührende, naive Erklärung von Männern wie Oldenburg,
Wie sich Spinoza zu den Collegianteu verhielt. 23
Blijenberg, Bredenhurg imd Jarig Jellis, "dass sie gerne Spinoza
alles zugäben, was er behauptete, aber dabei sich vorbehielten, die
Wahrheit des Evangeliums zu glauben, ist ein psychologisches
Ergebniss, das uns gewiss ausserordentlich wundern würde, wenn
es sich nicht noch nach zwei Jahrhunderten in unserer Umgebung,
ja bei den grössten Denkern der Neuzeit wiederholt hätte.
Wer damals nicht persönlich mit Spinoza befreundet war,
bekämpfte ihn.
Bredenburg, Oudaeu, Oldenburg, Wittichius, Deurhof und
Andere kehrten sich von ihm ab, sobald ös ihre christlichen
Principien und Glaubensartikel galt. Und sie hatten darin recht.
Denn Spinoza versuchte nicht wie Leibniz und so viele Andere
nach ihm das Dogma der Trinität philosophisch zu rechtfertigen.
Geradezu sprach er es im 6. Briefe^) an Oldenburg und im 7. Ca-
pitel des Tractatus de Deo aus, dass er ganz andere Eigenschaften
Gottes anerkenne, als seine christlichen Freunde und sich dessen
auch sehr wohl bewusst wäre.
Dass Gott Mensch geworden war, konnte er sich ebensowenig
erklären, als dass der Cirkel je die Natur eines Vierecks anzunehmen
vermöchte.^)
Er war überzeugt, dass es für das Lebensglück des Menschen
und ein frommes Leben gleichgültig wäre, ob man Gott gehorchte,
wie alle Gläubigen thaten; oder Gutes thäte, geleitet durch die
scientia intuitiva von der Wesenseinheit des Menschen mit Gott,
und die daraus folgende Einmüthigkeit und Harmonie der Menschen-
seele mit ihm, die er amor intellectualis Dei genannt hat oder das
Bewusstsein der unio quam mens habet cum tota Natura.
Seiner Hospita van der Spijck hat er dies mit den einfachsten
Worten erklärt; im Theol. Pol.-Tractat wissenschaftlich ausgeführt.
Glauben und Wissenschaft aber zugleich anzuerkennen, war
ihm unmöglich. Wer die scientia intuitiva besass, war über den
Glauben erhaben, und wer mit ihm die Causalitätslehre seiner
Philosophie zu Grunde legte, konnte keine Wunder annehmen.
®) Opera. Haager Ausgabe.
^) Haager Ausgabe, Brief 73.
24 ^^^' ^Icijer,
Gottesdienst und die Philo.süphic des freien Mannes hatten nichts
mit einandeivAi schaffen; beide liüirten freilich vai demselben Zweck.
Spinoza aber hatte sich die letztere zur Begleiterin und Fahrerin
seines Lebens erkoren.
Sonach ist es z. B. nicht wohl denkbar, dass Spinoza je das
Abendmahl mit den Collegianten zu Rynsburg getheilt hätte; — und
dies war doch das Zeichen ihrer und aller Christen Gemeinschaft.
Die Collegianten hätten ihn abgewiesen; — selbst hätte er sich nicht
eingeladen.
Die Collegianten gaben nie ihren Glauben preis; Spinoza wurde
nie seinem philosophischen Gewissen untreu.
Den Glauben an eine Offenbarung hielt er freilich für die meisten
Menschen von dem grössten Interesse, weil sie nicht im Stande
wären, selbständig nach den Geboten der Vernunft zu leben (siehe
das XV. Cap. des Theol.-Pol. Tr.); in seiner eigenen Ethik aber
ist von keiner Offenbarung die Rede.
Aber schon zu lange haben wir bei diesem Punkte verweilt;
er musste aber hervorgehoben werden, weil man so leicht dazu
kommt, hier die Grenzen zu verwischen, die Spinozismus und
Christenthum unbedingt von einander scheiden.
Abgesehen jedoch von dieser Hauptsache, gab es viele Be-
rührungspunkte zwischen den Collegianten und dem Philosophen.
Mit ihnen hatte er allererst seine Abneigung gegen jeden Clerica-
lismus und Kctzerverfolgung gemein. In seinem Briefe an Albert
Burgh und in dem 19. Cap. des Tract. Theol.-Pol. am Ende, bricht er
den Stab über die päpstliche Hierarchie; in dem 6. seiner Briefe^")
ist sein Urtheil über die Concinnatoren der Protestanten deutlich und
klar; und wenn man dabei an die Vorfülgung seitens der Rabbiner
denkt, die er selbst hatte ertragen müssen, kann es Niemand
wundern, dass er mit unseren Freunden alle Macht und Supre-
matie der Geistlichkeit geradezu verurtheilt. Echt collegiantisch ist
daher auch seine Behauptung, dass das Verderben der Kirche erst
anfing, als die Leute .sich aus dem Ministerium ein Amt und
Mittel zur Existenz gemacht hatten. Wer denkt hierbei nicht
unwillkürlich an van der Kodde und Iloltenius?
") Haager Ausgabe.
Wie sich Spinoza zu den Collegianten verhielt. 25
Prophetencöllegieu nannten weiter die Collegianten ihre Zu-
sammenkünfte. Wer konnte sich aber in dergleichen Versamm-
lungen besser zu Hause fühlen als der Jude, dessen reichhaltige
Kenntiss des alten Testaments, das damals bei den Christen weit
höher in Achtung stand als jetzt, den ehrsamen Mennoniten bei
ihrer Erklärung ausserordentlich gelegen kam.
Propheten nennt Spinoza in den Annotat. des Theol. Fol.-Tr.:
interpretes.
Es ist daher sogar nicht unmöglich, dass die Collegia in
Amsterdam durch ihn einen wissenschaftlichen Charakter bekommen
haben. Adrian Verwer zufolge gab er daselbst Unterricht in der
Philosophie: wahrscheinlich hat er in Amsterdam sein de Dco
dictirt, wie im Ms. das A genannt wird, am Ende in margine
heisst, aber von den Commentatoren bis jetzt übersehen worden
ist^'). Mit grosser Wahrscheinlichkeit kann diese Handschrift
dem Jarig Jellis zugeschrieben werden, so dass es nicht uuAvahr-
scheinlich ist, dass die gebildetsten Collegianten mit ihm in Amst.
zusammenkamen, so oft es sich um die Erklärung der Bibel handelte.
Wenn diese Hypothese richtig wäre, so wäre es möglich, dass die
ersten Capitel des Tr. Theol. Pol. in ihren Kreisen entstanden
sind, was zu ihrer Erklärung Vieles beitragrn würde.
Und dann die Redefreiheit? Ist nicht auch dafür der Trac-
tatus Theol. Pol. die beste Vertheidigungsrede (Cap. XX)?
Spinoza verbot wie Paulus den Frauen, in der Versammlung zu
sprechen; auch dies war den Collegianten Regel.
Noch in anderer Hinsicht nähern sich Beider Ideenkreise.
Obgleich Spinoza nirgends eine „Algemeene Kerk" im christlichen
Sinne lehrt, dachte auch er sich eine echte catholica religio, wozu
alle Menschen, die das Gute beabsichtigten, sich bekennen sollten
und deren Hauptzüge er im Iti. Cap. des obengenannten
Tractats umschreibt. Ja so gewiss ist er, dass diese Artikel das
Fundament eines allgemeinen Glaubens sein können, dass er in
seinem politischen Tractate in der Aristocratie-Abtheilung die
Anforderung stellt, dass alle Regierungspersonen jene Artikel
'') Siehe meine holländische Ausgabe: Vau God de mensch en deszelfs wel-
stand. S. L. van Looij. Amsterdam.
26 W. Meijer,
bekcuucn söIIcq; uud die Vielen gewiss befremdende Anordnung,
dass in der aristocratischen Republik alle kirchlichen Feierlich-
keiten, Taufen, liandauflegeu etc. von Laien behandelt werden
sollen, ist direct den Collegianten und ihren Sitten entnommen. Der
grosse Unterschied ist aber, dass seine catholica religio alle
Menschen seiner Zeit; die „Algemeene Kerk" der Collegianten
bloss alle Christen umfasste.
Zu dem Höhepunkt des Denkers konnten sie sich nicht er-
heben; wenn er aber aus seiner hohen Gedankenwelt herabstieg,
waren die Collegianten die ersten Freunde, denen er begegnete.
Jetzt bleibt nur noch die Frage zu behandeln übrig, welchen
Einfluss die Collegianten auf Spinoza's Staatstheorie gehabt
haben: die Frage, welche zu dieser Skizze die nächste Ver-
anlassung gab.
Ist hier vielleicht in der unmittelbaren Umgebung Spinoza's
die Quelle seiner Ideen über den Staat und die Staatsformeu
zu suchen? Stellen wir die Frage, ob man, wie Herr Adolph Menzel
meint, überhaupt das Recht hat, diese Ideen aus seinem „Milieu"
zu erklären, dann glauben wir, wie oben gezeigt, darauf antworten
zu müssen, dass dies bei einem Dogmatiker nnd Mathematiker, wie
Spinoza war, unzulässig ist; wir glauben aber, dass auch im Ein-
zelnen bewiesen werden kann, dass jener Versuch fehlgeschlagen ist.
Herr Dr. Menzel setzt voraus, dass im Theol.-Pol. Tr. von
Spinoza der Democratie das Wort geredet wird, indem er meint,
dass der Autor später davon abgewichen ist, was m. E. durch
§ 2 des letzten Capitcls geradezu widerlegt wird.
Dann aber sucht er den Ursprung dieser Vorliebe Spinoza's
für die Democratie.
Richtig erkennt er, dass dieser durchaus nicht in Hollands
Staatseinrichtung zu suchen ist; aristocrntischer als die holländische
Regierung im Zeitalter Spinoza's ist wohl kein Reich gewesen.
„Wat de Heeren wijzen, moeten de Burgers prijzen" (Was
den Herren gefällt, sollen die Bürger loben) war Volksüberzeugung
geworden. Und mit den „Heeren" wurden alle Regicrungspersonen
in der Stadt und im Staate bezeichnet. Offiziere, Gelehrte, Kaufleute,
Admiräle, Statthalter, ja Könige, wie Karl Stuart II. und der König
Wie sich Spinoza zu den Collegianten verhielt. 27
von Böhmeu raussten sich beugen vor den „Heeren Staaten" ; das
Volk that desgleichen. Man mochte darüber uneinig sein, ob es
besser wäre, Orauien mehr oder weniger Autorität neben den Staaten
zu lassen; der Volkssouveränität wurde von Niemandem das Wort
geredet.
Ebensowenig könnte von den umgebenden Staaten Spinoza diese
Vorliebe eingegeben sein. Auch dieses hebt der Autor hervor.
Dagegen war Spinoza in den Classikern nicht schlecht, wie
der Herr Menzel meint, sondern sehr wohl bewandert. Tacitus,
Justinianus, Sallu-stius und Aristoteles in lateinischer üebersetzuug
zierten seinen Bücherschrank, und von Späteren kannte er Hobbes,
Machiavelli und de la Court (van den Hove), den Freund Jan de Witts,
wie wir schon oben bemerkten. Von Grotius kannte er obendrein
das Posthumwerk de Imperio Summarum Potestatum circa Sacra,
das er zweifelsohne bei der Niederschrift seines Theol.-Pol. Tr. be-
nutzt hat, und weiter noch Clapmarius: De arcanis Rerum Publi-
carum.
Wir haben solches schon oben gegen Herrn Hotf hervorgehoben,
der Spinoza unter Machiavelli stellt; hier müssen wir nochmals daran
erinnern, um dem Vorwurf des Herrn Menzel zu begegnen, als ob
er seine politischen Vorgänger gar nicht gekannt hätte. Beim Lesen
des Tractatus Politicus ward man fortwährend au Aristoteles"
Politeia und die Politycke AVeegschaal des de la Court erinnert.
In dieser Hinsicht glauben wir also, dass Herr Menzel sich
geirrt hat.
Aber auch wenn dieser schliesslich die politische Gesinnung Spi-
noza's geradezu den Collegianten zuschreibt, können wir ihm nicht
beistimmen. Die politisch-religiösen Ideen der Collegianten waren,
wie die der Mennoniten, ausschliesslich verneinend, und jeder Theil-
nahme an der Regierung abgeneigt. Wer zur Regierung gehörte,
gehörte dieser Welt au, nicht der Gemeinde Christi. Kein Magistrat
konnte ein wahrer Christ sein. Ja es gab etliche Collegianten,
wie Paulus Jans, die allein communicirten mit deueu, welche die
„weereloosheijd" lehrten und ausübten.
Bis in unser Jahrhundert hinein haben die Mennoniten dieses
Dogma hoch gehalten, und wenn Graf Leo Tolstoi Gelegenheit gehabt
28 W. Meijer,
hätte, in Amsterdam bei eleu Meiinouiten Theologie zu studiren, hätte
er .sich viele Mühe ersparen köunueu. Seiu llauptspruch, „den booze
niet te weerstaan", war bei deu damaligen Meunouiten der Kern-
.spruch ihrer Lehre; er hat bei ihnen zwei Jahrhunderte geherrscht;
und ist — theoretisch und praktisch verurtheilt — im 19. Jahr-
hundert abgeschallt. Man lese dessen historisch-kritische Erörte-
rung in „de Gids" von Ds. Joh. Dijserinck, eine sehr interessante
Lcctiire für alle Anarchisten unserer Zeit.
Die Collegiauten waren nicht deshalb anti-autokratisch, um
sich selbst hervorzuthun, wie das bei allen Demokraten der Fall
ist; sie wiesen die Vorgänger nicht ab, um ihre V^ersammlung als
Autorität zu erkennen; sie erkannten nur eine Autorität an, und
diese war die Heilige iSchrift. Mit dem Staate Hessen sie sich
nicht ein ; ebenso wie Jesus, dem neuen Testamente zufolge, hierin
mit seinem Beispiel vorangegangen war.
Mit den Independenten hatten die Collegiauten eben deshalb
nicht die geringste Aehnlichkeit, obgleich das Laienpredigen auch
bei jenen galt.
AVenn man Spiuoza's echte Geistesverwandten in politischer
Hinsicht sucht, dann wären diese vielmehr bei den Reformirten
zu finden; beim Calvinismus, der damals in der Republik vor-
herrschte und den Spinoza besonderer Aufmerksamkeit gewürdigt
hatte, wie daraus hervorgeht, dass er die Institutionen Calvins im
Spanischen besass'"): in der Sprache nämlich, in welcher sein Geist
sich entwickelt hatte.
Dass übrigens auch der ■Mord des de Witt Spinoza nicht
von der Demokratie entfernt hat, ist in der scharfen aber wahren
Kritik in § XIV der [). Cap. des Pol. Tractats ausgesprochen, so-
wohl über die „Staatsregeling der Republiek van de Vereeuigde
Ncderlanden" im Allgemeinen, als über de Witts Regierung im
Besonderen. —
Will mau durchaus eine historische Schablone für seine An-
sichten suchen, dann kann solches nicht anders sein, als die, welche
^-') Diese spanischeu lustitutioneu sind jetzt uuili in Rynsburg wieder
vorhanden.
Wie sich Spinoza zu den Collegianten verhielt. 29
er selbst uns zeichnet im Tract. Theol. Pol.. nämlich die Gesetz-
gebung und Staatseinrichtung Israels.
Auch dies genügt aber nicht zur völligen Erklärung seiner
Staatslehre. Es kann kein historisches Factum geben, das für
alle Zeiten gelten kann. Das Ewige, die Wahrheit, ist uns nicht
in der Erscheinung geoffenbart, bloss in der Idee. Deshalb muss man
annehmen, dass Spinoza, ohne die Geschichte gering zu schätzen
oder sie zu übersehen, dazu mit völlig ausreichender Kenntniss der
Politik seines Jahrhunderts versehen, seine Staatslehre aufgebaut
hat aus seiner tiefen Kenntniss der menschlichen Natur und dem
Wesen der Gesellschaft.
Die ehrsamen, friedlichen, „weereloose" Collegianten werden
sich über seine Staatsallmacht, bis circa sacra. entsetzt haben.
Diese Fragen aber iuteressirten sie nicht; die „Cura Reipublicae"
hat für sie keine Bedeutung, sie meinten jeder für sich die voll-
kommene Glückseligkeit finden zu können in der Heiligen Schrift.
Sie mögen sich geirrt haben, aber sie haben fest daran geglaubt.
So meinen wir das A^'erhältniss der Collegianten zu dem christ-
lichen Glauben, der Kirche, der Reformation und dem Staate an-
gedeutet zu haben, um jeden, der Spinoza kennt, in den Stand
zu setzen, sich vergegenwärtigen, wie dieser über ihre eigen-
thümliche Geistesrichtung geurtheilt hat.
Dass er unter ihnen seine besten Freunde hatte, ist bewiesen;
dass er aber viel zu hoch stand, um auch von ihnen begriffen zu
werden, beweist der Ernst, womit ihre besten Mitglieder Jeden
zu überzeugen suchten, dass sie mit seinen Lehren keine Berührung
hätten, obgleich sie Alle, bis auf eine Ausnahme (Oudran), seine
Lebensführung nicht genug loben konnten, was eben für sie und
in ihren Kreisen von der höchsten Bedeutung war.
Nichtsdestoweniger bleibt ihre Erscheinung in der Kirchen-
geschichte ein merkwürdiges Factum, als der einzige, mit Ernst
durchgeführte Versuch, alle Christen in Geist und Wahrheit, an-
statt durch Feuer und Schwert und Confession, zur Einigkeit zu
bringen.
Der Name Rvnsburg ist durch sie zum zweiten Male von
30 W. Meijer,
grosser Bedeutung geworden, als der Ceutralpunkt der echten, ernst-
haften, consequenten Reformation.
Auch sie sind vorübergegangen, und jetzt ist daselbst ein
Museum errichtet worden für Benedictus de Spinoza, der wohl mit
ihnen während der Blüthezeit der Reformation lebte und lehrte,
dessen Gedanken aber erst im neunzelinten Jahrhundert begrifieu
werden sollten.
Die Seite 2G versprochenen Texte, zur Charakterisirung der
Collegianten, nehmen wir aus dem Buche van Slee's:
Auf Seite 227 seines Buches lesen wir, dass die Groninger
Collegianten, von der Behörde aufgefordert, zu erklären, w^as sie
über Christus lehrten, den 19. December 1701 antworteten: „dat
zij geene voor allen bindende Geloofsbelijdenis hadden en slechts
met de woordeu der Schrift die zij als eenigen regel des geloofs
beschouwden, omtrent Jezus getuigden, dat hij de Christus was, de
Zoon des levenden Gods, onze profeet, hoogepriester en koning." —
Auf Seite 253 erklärt die Bredenburgische Faction dass „de
' Ryusburgsche Vergadering" auf folgenden Principien fundirt sein
sollte: „1" dat ieder daar toegang zou hebben die de 12 Artikelen
des geloofs uit kracht der Schriftuur beleed, en zieh aan de
geboden van het Christendom onderwierp, zonder nogtans het recht
te hebben om hen die dit niet beleden te veroordeelen of te verklaren
dat men met hen geen gemeenschap hebben wilde, dat daar (d. h.
auf der Zusammenkunft der Collegianten in Rynsburg) 2" geen
burgerlijke of godgeleerde geschillen mochten worden behaudeld, en
eindelijk 3" dat zij, die om werken des vleesches door eenige
broederschap waren gecensureerd of gebaunen, daar ook niet mochten
stiebten en spreken of het avondmaal bedienen of celebreereu.
Auf Seite 203 lesen wir die Formel auf welche beide Parteien
sich den 10. December 1699 sich wieder vereinigten: iMan kam über-
ein, dass „de vergadering tot Rynsburg een vrije, algemeene
Christelijke vergadering zijn zal, die de heijlige Schriftuur heeft
tot een regelmaat vau geloof en leveu, daar een iegelijke zyn
toegang mag nemen tot stichting, tot de ouderhouding en bediening
Wie sich Spinoza zu den Collegianten verhielt. gl
van't H. Avondmaal des Here, welke beleijd dat Jezus is de
Christus, de Zone des levendigen Godts; en vrij sijnde van de bekende
werken des vlees, de evangelise geboden betragt, menschelijke
zwaklieden uijtgenomen; sonder dat iemaut, hij sij wie hij sij,
regt of magt heeft of gegeven wort, om enig mensch, welke in
Godts woord niet klaar veroordeelt wordt, te veroordeelen.
Werdende voorts, om dat selve eijnde wel te bereijken, een
ieglijk Christelijk, broederlijk en ernstig verraaand, dat alle
geschillen, so veel mogelijk, voor den dorpel gelaten, alle disputen
met voorsigtigheijd gemeijd en de stigting als het algemeene en
grote eijnde der bijeenkomst bevordert werde.
So nogtans iemant tegen het bovengemelde quam aan te gaan
(wenn also dennoch Jemand protestiren wollte) dat men den
sodanigen redelijk sal aanseggen, dat hij sulcs doet voor sijn
particulier en niet uijt de uaam van d'algemeene vergadering.
Es scheint, sagt van Slee zur Erklärung, dass das Protestiren
erlaubt blieb, auch auf „de Rynsburgsche Vergadering", dass dies
aber nie zu einer Abstimmung in der Versammlung führen
konnte, wodurch einer von der Communion ausgeschlossen werden
konnte. Damit war sowohl „de vrijheid van spreken", als die
„verdragzaamheid" gerettet.
IL
Le Kautisme de Carlyle
de
l'aiuille Bos a Paris.
Les «Kautstudien« lors de leur apparition sigualaieut, parmi
les problemes ä l'etude, celui de riuflueuce de Kant sur Carlyle.
Sans m'exagerer la porteo de cette questiou, je Tai trouvee assez
interessante pour meriter quelques reflexions que j'essaierai de
presenter ici.
Lorsqu'il s'agit d'un homrae comme Carlyle, d'une personnalitc
aussi accentuee, il couvient d'ecarter tout de suite l'idee du
rapport simple de disciple a maitre; on ne peut memo pas parier
cPune inlluenee predominante, lumiere centrale qui cclairerait le
temperanient complexe du penseur. Les etres comme Carlyle ne
rellechissent rien tel qu'ils l'ont rcyu: ce sont des foyers si ardents
qu'on n'y retrouve jamais tcls quels les materiaux jetes, tout est
utilise mais seuloment apres avoir ete ancanti — car les fortes per-
sonnalites sont des crcusets oii s'elaborent indöfiniment des syn-
theses nouvellcs.
L'inducnce de Kant sur un komme tel que Carlyle ne pourra
donc etrc quo lointainc, un moment d'arret avant de s'olancer
de ce tremplin plus avant, et nous ne serons guere autoriscs a parier
que d'une communaute de directiou. Nous verrons que Carlyle
est Kantien au scns lo plus general du terme, en un sens qu'il
Le Kantisme de Carlyle. 33
faudrait presque restreindre jusqu'a faire le Kautisme synonyme de
«Philosophie allemande«. Et nous verrons que s'il y a lieu a un
rapprochement plus direct, c'est entre Carlyle et les successeurs de
Kaut: d'une part, la jeune litterature allemande, de l'autre le
philosophe qui exer^a tant d'influence sur les romantiques, Fichte.
Si l'on veut ä tout prix rapprocher deux noms, c'est celui de
Fichte qu'il faut inscrire eu regard de celui de Carlyle.
Remarquons d'abord, en ce qui concerne Kant, que l'actiou de
celui-ci sur Carlyle se restreind singulierement si l'on veut bien
se mefier que certaines analogies entr'eux sont explicables a priori
et sans qu'il ait ete besoiu que Tun connüt l'autre.
La raison de ces analogies — qu'ou a peut-etre, sans y re-
garder d'assez pres, prises pour des influences — doit etre cherchee
dans une communaute de race, de religion, d'influences pietistes et
de discipline mathematique. Si Allemands et Anglais appartiennent
ä la meme famille des Anglo-Saxons, cela est vrai surtout des
Ecossais. II y a entre ceux-ci et les Allemands une tres etroite
et toute speciale parente qu'a tres bien mise en lumiere, en ces
derniers temps, Mr. HenseP).
Comme l'Allemagne, l'Ecosse s'oppose a l'Angleterre normande,
le goüt latin n'a pas penetre jusqu'a elles, elles sont habitees par
une race grave et triste, sobre de paroles et repliee sur soi-meme.
Et si Ton tient avec certains que la psychologie des peuples est
fa^onnee bien moins par des cause ethniques que par des causes
historiques et morales, ou trouvera que l'Ecosse, qui a eu tant ä
lutter ä la fois coutre un sol ingrat et contre l'oppressiou etran-
gere, — se rapproche encore par la, plus que l'Angleterre, de
TAllemagne. Entre l'homme de Königsberg et celui d'Eclefecham,
des analogies de temperament sont tres comprehensibles.
«Les philosophes allemands nous parlent avec des accents
durs, mais males, profonds et expressifs: ceux de cette vieille
langue saxonne qui est aussi notre langue materuelle»').
Mais l'ärae d'un peuple est surtout fa(,'onnee par ses croyances
^) Hensel, „Thomas Carlyle", Frommanu'sche Sammlung. Pleidelberg 1900.
-) Carlyle, Essays I, State of German Literature.
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV. 1. 3
34 Camille Bos,
et a ce point de vue les compatriotes de Kant, conime ceux de Carlyle,
ont ete modeles par la Reforme. L'un et l'autre ils sont protestants,
puritains meme, et sous les divergeuces de detail ce grand trait con-
stitiiera un foud commun; chez Tun comme cliez l'autre on sentira
le filleul de Luther, de ce Luther qui rejetant toute tradition cher-
chait la verite a sa source et auquel Carlyle a consacre des pages
si admirables,
Enfiü riufluence plus proche de la famille est ä peu pres la
meme chez le Prussien et chez l'Ecossais: les parents ' sont de sim-
ples artisans, c'est un milieu pietiste oii toute besogne est accomplie
sous l'inspiration de la religion, oii l'idee du devoir plane au-dessus
des täches quotidiennes, oii la foi est toute dans les ceuvres: «Labo-
rare est orare».
Carlyle, en outre, comme Kant, s'est adonne d'abord ä l'etude
des mathematiques (de la geometrie surtout) qu'il euseigna meme.
Et Sans qu'il seit besoin d'insister on entrevoit que cette discipline
mathematique est la source d'oii decouleront la rectitude d'esprit
commune aux deux penseurs, leur besoin d'absolu — comme aussi
les mathematiques ont pu etre favorables a la foi religieuse et
faciliter Taffirmation que «l'Invisible est peut-etre plus reel que
le reel.» Cette importance des etudes mathematiques, Carlyle Ta
bien sentie, il souligne le trait dans son portrait de Kant: «Un
homme paisible, clairvoyant, qui s'ctait acquis de la reputation en
mathematiques avant d'aborder la philosophie.» . . .
Notons en passant que les inconvenieuts que cette discipline
mathematique a eus pour Kant — (l'abus de la construction
symetrique et a priori) n'ont pas existe pour Carlyle. C'est qu'en
effet, ä cote des analogies il y a entre les deux hommes des
differences de temperament: Carlyle-apotre et Kant-arbitre et
de conditiou: Tun professeur, enferme dans une vie toute livresque,
l'autre litterateur considerant la litterature comme «TEglise mili-
tante des temps modernes» — d'oii l'un speculant au-dessus de
la vie dans la thöorie, l'autre jete en pleine melee et se debattant
dans la pratique.
jMaintenant une question de fait se pose: y a-t-il eu et dans
quelle mesure, influence directe de Kant sur Carlyle, sur cet esprit
Le Kantisme de Carlyle. 35
deja un peu parent et prepare pav des antecedents analogues?
Carlyle a ete initie a la litteratiire allemande par son ami
Irving; il a fait en outre deux sejours en Allemagne, Tun eu 1852.
l'autre en 1858. II a certaineroent lu la Critique de la Raison
Pure, il l'a connue, mais on ne peut pas dire qu"il l'ait etudiee, ni
qu"il en ait recu une iufluence directe. qu"il ait ete touche de la
gräce comme Malebranche en lisant Descartes.
Non, ce a quoi Carlyle se rattache c"est au Kantisme dans
son principe essentiel (le point de depart dans le Cogito, la position
critique des problemes); mais j'oserais presque affirmer que Carlyle
ne lut Jamals les deux autres Critiques et qu'il s"attarda peu ä
Celle de la Raison Pure. «Je connais peu Kant», declare-t-il lui-
meme.
Et j'oserais presque dire qu'il le connajt imparfaitement, quil
ne Ta meme pas toujours compris. car Carlyle ecrit des choses comme
celle-ci: „Que l'hypothese de Kant soit vraie ou fausse . . . etc.
Et il assure ses lecteurs que «la Critique de la Raison Pure ne
sera pas a beaucoup pres la tache la plus difficile qu'ils auront
entreprise.» — HumI on se demande avec effroi quelles etaient
les lectures ordinaires des auditeurs de Carlyle!
De meme, celui-ci a-t-il raison de croire que «la theorie
Kantienne de Tidealite du temps et de Tespace ait ete posee en
vue de la theologie?» Nous pensons que pour Kant, la Raison
Pure ne doit aider en rien la Raison pratique et que celle-ci doit
etre en mesure de se suffire a elle-raeme.
De meme encore on peut se demander si Carlyle a bien com-
pris le sens du mot «transcendental» applique ä la philosophie
Kantienne; il le traduit trop souvent par «Au-delä», le confon-
dant ainsi avec «transcendant».
Un fait significatif, d'ailleurs, c"est que Carlyle parle rarem ent
de Kant en particulier, c'est toujours «le Kantisme», ou «les pliilo-
sophes allemands». Ou bien, s'il commence a parier de Tun. in-
dividuellement, il termine par la forme collective. C'est ainsi qu'il
en arrive ä ecrire cette phrase qui, si Ton n'etait pas prevenu,
pourrait induire en plus d'une erreur, notamment sur les rapports
3*
36 C a m i 1 1 e B 0 s ,
chez Kant, eiitre la Raisoa Pure et la Raison Pratique: (Cavlyle
vient de decrire la revolutiou copernicienne operee par Kant et
il continue ainsi): «Ces Allemands cherchent la verite primitive
dans l'intuition; ils trouvent Dieu et Tarne immaterielle, comme
point de dopart de tonte philosophie, ccrits en caracteres obscurs
mais ineffayables an-dedans de nous-memes. Le probleme de la
Philosophie Critique, c'est d'ecarter les obscurites des sens qui
nous empechent de contempler cette verite primitive»^).
Qn'on y prenne garde! le criticisme n'est pas tont a fait cela
et les lignes precedentes fönt plutot pressentir Schelling.
A quoi donc se ramene le pretendu Kantisme de Carlyle?
A ceci d'abord que les deux penseurs se sont trouves en
presence des memes datas, le double point d'appui a ete le meme,
ä savoir la science. d'une part, la morale de l'autre: pour Carlyle
comme pour Kant, les mathematiques et le devoir constituaient
un Credo en deux articles qu'il s'agissait de concilier. «That clear
Knowledge might again be wedded to Religion»*). Mais nous avons
vu que les deux penseurs en etaient venus la chacun pour son
propre compte et sans qu'il y ait lieu de parier d'une influence de
Kant sur Carlyle.
Quant a leur morale, qui fletrit avec le meme acharnement
le grossier eudemonisme, eile repose en derniere analyse sur des
idees analogues: celle de la dignite chez Kant, celle du respect
(«reverence») chez Carlyle. Et eile est dominee par le meme im-
peratif categorique. «Dieu a ecrit en lettres lisibles dans la con-
science humaine une Loi que tous y peuvent lire», declare Carlyle;
et ailleurs, cette phrase plus siguificative encore:
«Le devoir de l'homme est un imperatif categorique impose
du dehors par un maitre qui a ecrit en lettres de feu sur le ciel :
Obeis, serviteur ingrat!»
Les deux murales, d'ailleurs, relletent l'une et l'autre un
«aftershine» du Christianisme et malgre leur caractere rationnel,
derivent de la revelation: ce sont deux Morales de rObeissance.
^) Essays I, State of German Literature.
•i) On Goethe.
Le Kantisme de Carlyle. 37
Enfin, un trait commun aux deux philosophies c'est qu'au
foucl ce sont deux philosophies de la Volonte; l'une comme l'autre,
elles vont du doute ä Faffirmation: «Convictiou is worthless tili
it converts itself iuto Couduct. Doubt of any sort cannot be
removed except by action»^).
Carlyle et Kant sont deux croyants: l'un pose le primat de
la raison pratique, l'autre met son espoir dans les «temps positifs»
qu'il oppose aux «temps negatifs» da scepticisme; il pose l'eternel
oui en reponse a Teternel non (cf. Sartor Resartus). L'un et
l'autre continuent ainsi la tradition de Duus Scot et de Descartes,
du Primat de le Volonte sur TEntendement: «All speculation is
by nature endless, formless, a vortex amid vortices: only by a
feit indubitable certainty of Experience does it find any centre
to revolve round and so fashion itself into a System.»
C'est d'ailleurs par cette predomiuance de la Volonte, plus
marquee encore chez Carlyle que chez Kant, que le premier se rap-
prochera davantage de Fichte.
Mais les differences restent profondes et sont contenues toutes
en Celle -ci que Kant est un theoricien, Carlyle un praticien.
Celui-ci n'eüt pas voulu etre l'autre, il ne se füt pas contente de
poser une „Erkenntnisstheorie", il voulait par ses livres donner
aux hommes ce qu'il estimait plus important, un «Lebensführer».
II n'etait pas, comme Kant, de ceux qui cultivent la philosophie a
cote de la vie, pour lui sa philosophie ce fut sa vie — en cela
encore pareil ä Fichte. Et cela suffit a nous faire comprendre qu'il
echappe a tous les systemes et que tout effort pour le rattacher
a Tun d'eux, doive rester vain.
En effet, ce n'est pas un philosophe de profession, il n'a pas
de Position precise vis-a-vis des diverses ecoles. S'il est legitime
de le considerer comme un idealiste, encore faut-il prendre garde
que l'idealisme transceudental de Kant s'equilibrait par un realisme
empirique et reconciliait l'antagonisme de Tempirisme et du ratio-
nalisme. Par cette philosophie du juste milieu, du bon sens,
Kant pourrait sembler plus ecossais que Carlyle — mais nous
'■") Sartor Resartus, p. 139.
6) Id.
38 Camille Bos,
verrons que c'est ä charge de revanche et que le mysticisme de
Carlyle le fait plus allemand que Kaut.
Pour Carlyle qui ne songe pas a intervenir dans la dispute
des systemes, Tidealisme c'est simplement l'esprit oppose a la
matiere. En uu mot il y a trois termes pour Kaut et son
idealisme s'interpose eiitre les deux combattants; pour Carlyle il
n'y a que deux termes, l'idealisme qui s'oppose au materialisme.
Meme difference dans les Morales: la celebre formule Kantienne
est toute formelle, ainsi qu'il convient a un theoricien. Peu Im-
porte a Carlyle les maximes, il n'est soucieux que de pratique et
a ceux qui cherchent dans les nuages une Regle, il donne celle-ci:
«Accomplissez d'abord le devoir le plus proclie, si petit soit-il,
celui-lä rempli vous en verrez aussitot surgir un autre» ^).
De cette diÜerence de position entr'eux s'ensuit une autre:
c'est que Carlyle fait une place ä ce qui, dans la vie reelle, en
occupe une importante, au «Gemüth», a I'amour — et c'est par
la encore qu'il rejoindra Fichte et les Mystiques, c'est en cela qu'il
sera plus allemand que Kant lui-meme.
Le chapitre intitule «Romance» (cf. Sartor) coutient des ligues
admirables sur I'amour, celles-ci entr'autres dont on cherclierait
vainement l'equivalent chez Kant:
«Lorsque dix hommes sont unis par I'amour, ils sont capables
de faire des choses oü dix mille hommes, pris isolemeut, eussent
echoue.»
C'est pour avoir compris cela, pour avoir senti le couraut de
chaude Sympathie qui, a travers l'humanite, relie les hommes les
uns aux autres, que Carlyle s'est trouve amene ä traiter elo-
quemment des questions sociales, a deplorer que le temps füt
passe (cf. Passe et Present) oü l'esclave Gurth etait attache a sou
maitre Cedric par un lien autre que Targent. Avec Carlyle la
personnalite vivante et harmonieuse revendique ses droits.
II.
Deja par cette place rendue au sentimeut, au Gemüth, ä
quelque chose de tout allemand, Carlyle se rapproche de Fichte.
') cf. Sartor Resartus (reternel oui).
Le Kantisme de Carlyle. 39
II le connait mieux qu'il ne connait Kant, les passages oü il
le mentionne sont tres nombreux, les points de coutact entr'eux
multiples. Dans l'essai si remarquable sur Novalis, Caiiyle nous
parle de l'influence qu'eut sur ce dernier la «Wissenschaftslehre»,
qui semble avoir ete la base de toutes ses speculations philo-
sophiques posterieures.» — Je crois, malgre M"" Hensel, que cela
peut s'appliquer aussi a l'Essayiste et en tous cas il est de
ceux qui, comrae Richter, «ont du moins le merite d'avoir compris
Fichte».
Le rapprochement s'impose uon seulement sur quantite de
points de detail (voir, par exemple, l'allusion a Topposition dans
le Mol infini du moi lini au non — moi fini*); et dans Sartor, le Moi
qui se veut et se pose libre), — mais le livre tout entier de Sartor
Resartus procede directement de 1'« Anweisung zum Seligen Leben.»
De meme, les grandes idees sociales se retrouvent presque identiques
chez Fichte et chez Carlyle, depuis la conception de la liberte (li-
mitation des volontes, on ne saurait etre libre seul) — Fapologie
des forts, des Heros «Macht ist Recht» — jusqu'a cette idee
directrice que la Reforme du corps social doit etre une reforme
individuelle, l'effort vers l'amelioration du Moi.
Bien plus nettement donc que chez Kant, nous sommes par-
tout, chez Carlyle, en presence d'une philosophie de la Volonte.
Et la deviation qu'il fait subir au Kantisme, dans la direction
idealiste, rapproche encore Carlyle de Fichte: l'opposition entre
l'entendement (Verstand) et la Raison (Vernunft) correspondra
chez Carlyle a celle entre les «temps croyants» et les «temps
incroyants», notre äge d'incredulite que iletrit si äprement Carlyle,
c'est ce que Fichte appelle une epoque de rebellion de Fentende-
ment contre la Raison^). C'est la periode de «vollendete Sünd-
haftigkeit.»
Et Carlyle etait mieux qu'un autre capable de comprendre
Fichte, car il etait, lui aussi, «de ceux qui ne trouvent pas que
^) Essay on Novalis, p. 205.
^) Carlyle se rapproche en cela de Jacobi, pour qui la Raison opposee
ä l'Entendement, c'est le Sentiment, la Foi.
40 CamilleBos,
la methode syllogistique «soit le meilleur instrument pour parvenir
ä la verite» ").
Carlyle, en efFet, cet apotre de la vie pratique, a sa place
marquee parmi les grauds mystiques, daus cette lignee qui va de
Maitre Eckardt a ce Novalis qu'il a si merveilleusement etudie,
en passaut par Jacob Böhme, auquel le dernier se rattache
directement.
Carlyle a ecrit, sur le Mysticisme, des lignes etonuantes (cf. Essais
sur Novalis, sur la litterature allemande). «II y a, dit-il, daus
l'esprit allemand uue tendauce au mysticisme, mais eile existe
aussi dans tous les esprits de meme famille, eile est inseparable,
d'ailleurs, de l'excelleuce que nous admirous en eux.»
C'est par ce mysticisme, nous l'avons dit, que Carlyle se
rattache a Fichte plutot qu'a Kant — et c'est par la qu'il est
plus allemand que celui-ci, car le mysticisme lui est si naturel
qu'il ne le remarque pas chez les autres ! Non seulement il declare
que, parmi les philosophes du XVIIl« siecle, nul moins que Kant
ne merite l'epithete de mystique, mais il trouve que Fichte et
Schelliug «sont des hommes d'un jugement froid»^')!
«Ce qui est surtout etonnant c'est qu'on puisse parier du
mysticisme de Fichte, cet esprit froid, adamantin, se dressant
pareil a un Caton l'Ancien parmi des hommes degeneres. ... Cet
homme qui eut pu enseigner dans la Stoa et discourir de la vertu
dans les bosquets de l'Academie!»
Que Carlyle se rattache a Fichte plus etroitement qu'a Kant,
cela ne doit pas nous surprendre si nous songeons que notre
auteur est un litterateur et si nous nous rappelons Finfluence
immense de Fichte sur les Romantiques'-). Car, selon Fichte,
«une Idee divine penetre l'ünivers visible, la saisir est le but de
tout effort spirituel et les littörateurs sont les interpretes designes de
cette Idee divine»"). Carlyle, comme ses confreres allemands, ces
mystiques au nombre desquels on est toujours tente de le compter,
10) Essay ou Novalis, p. 200.
•1) Essay on the State of German Literature, p. 65.
>2) cf. Haym, _Die romantische Schule".
13) „Ueber das Wesen des Gelehrten".
Le Kantisme de Carlyle. 41
a medite les legous de Fichte et le breviaire de son metier de
litterateur, c'est le recueil des Conferences du philosophe: «Ueber
das Wesen des Gelehrten».
Carlyle dans ses rapports avec le Kantisme est donc reste
avant tout litterateur: comme tel il avait le droit de ue pas
conuaitre le Systeme ä fond et de se rattacher plus directement a
Fichte qu'ä Kaut lui-meme.
Quant a son pretendu Kantisme, nous avons vu quelles con-
ditions pouvaient expliquer a priori l'analogie des pensees et la
commune direction des deux philosophies. Elles n'en restent pas
moins aussi opposees que les deux personnes de Carlyle, le «Pascal
Allemand» ainsi qu'il a lui-meme appele Novalis, — et de Kant
— qu'on a souvent rapproche de Socrate. Ce qui a agi sur le
temperament tres predispose de Carlyle, c'est l'äme allemande,
c'est l'atmosphere de la litterature allemande, de la jeune ecole
romantique. Rappeions - nous le mot de Goethe: «Carlyle est
presque plus chez lui que nous-memes dans notre litterature.»
Mais le grand merite de Carlyle est d'avoir parfaitement vu
que le «Criticisme etait le plus important evenement intellectuel du
siecle; qu'aucun ecrivain, qu'il l'ait connu ou non, n' avait echappe
ä son influence aunoblissante et que des hommes comme Goethe et
Schiller, dont l'empreinte resterait decisive sur la litterature alle-
mande, devaient d'avoir ete tels a la philosophie Kantienne» '*).
^*} State of Germ an Literature, Essays I.
III.
Scliolastic and Mediaeval Philosophy
Dr. Jaiues liiudsay in Kilmarnock (Schottland).
The threefold cord of speculation which runs througli thc
Scholastic Age is of far deeper Import and more lasting iuterest
than philosophical students have generally understood, and may
therefore bear some consideration. Some explanation — if not
justification — for this fact is to be found in the scant attention
accorded to scholastic philosophy in earlier manuals or histories
of philosophy. This defect is gradually becoming reraedied, so
that now, as not for two centuries at least, is realised the im-
portance of studyiug the scholastic philosophy, with its abidiug
effects for good and for evil. The modern contempt for scholasti-
cism has been an aft'ectation inherited from the Renai.ssance. The
philosophy of scholasticism should be understood as really not the
same thing as mediaeval philosophy. The ruling mind for med-
iaeval philosophy is Augustine, whose Christian philosophy catches
up the seeds of thought sown by Origen and Plotinus. The new
liue of development Struck by Augustine started from bis stress
on the principle of inwardness or inner experience — the Inner-
lichkeit of the Germans. The determinative thing for mediaeval
philosophy was the welcome it accorded to Aristotelianism, whose
dialectics were its life-blood. Scholastic philosophy may be taken
Scholastic and Mediaeval Philosophy. 43
to ceDtre in Anselm, Aquinas, and Duns Scotus, while mediaeval
thought was so wide in ränge as to include even such forms of
anti-schotastic teaching as were distinctly pantheistic. Mediaeval
philosophy comprehended not only scholasticism, but also Neo-
Platonic tendencies exemplified in mysticism, and comprised much
more besides. Scholasticism is no more than one, and that per-
haps the strengest, of the philosophical schools of the mediaeval
period. Scholasticism is the doctrine of the church scientifically
apprehended and set forth. But scholasticism, as generally under-
stood, is less a system than a chaotic Compound of all the Systems
— a Compound marked by a preference for judgments over facts,
and for authority before free reason. Necessarily deductive was
its method: from dogmatic premises it loved to forge its endless
train of syllogisms: under these arid and angular syllogistic forms,
however, reason managed to insinuate itself. The scholastic move-
ment sprang from the fact that faith, willing to justify itself at
the bar of reason, exemplified the Anselmic saying "Fides
quaerens intellectum", and sought to present its doctrines free
of absurdity. The distinctiveness of scholasticism lay hid in its
Union of philosophy and theology: to it, theology went before
philosophy — "fides praecedens intellectum": philosophy
followed in the steps of theology, and justified it to men. But
scholasticism, even in its early developments, was stoutly op-
posed by Abelard, who claimed self-evident validity for the funda-
mental Position that rational insight must prepare the way for
faith, since faith cannot otherwise be sure of its truth. Of course,
Anselm — the real founder of scholasticism — insisted that the
mind of man should develop itself after the manner and spirit of
science, spite of the fact that certitude came by another mode,
that, namely, of faith. But the aim of Anselm, Walking in the
Steps of Augustine, was quite other than that of Abelard, for while
Anselm aimed only to make the truths held by faith comprehen-
sible to the intellect, Abelard started with thought or reason as
the norm and test of truth, so proceeding in what woukl be ac-
counted a more rationalistic fashion. In the schools it became
the business of reason to vindicate theology as science. The dog-
44 James Lindsay,
mata of positive religion were to Anselm matters of uecessary
deduction.
The Realist and Nominalist Coutroversy which sprang up in
the Scholastic Age soou ceased to be one of merely logical iraport.
The discussion was one in which mediaeval Europe was torn:
rival theologies were fiercely pitted against each other: and kings
and emperors were ranged in hostile camps. The Nominalist
overthrow of universals seemed to leave an open door for rank
materialism, wherein the universal deity and the universal prin-
ciples of morality should no more be found. The Realist con-
tention for the reality of universals — reality being taken as one
and the same — tended, on the other band, to favour pantheism,
especially in the scientific direction, which Abelard was not slow
to poiut out. There was, besides, the negative transcendentalism
or mystic agnosticism of Dionysius, whose pautheistic and posi-
tivist tendencies were by no means unlit by faith and aspiration.
The dominant thought of the time took substances to be more
real, the more universal they were. Now the interest of that
controversial time abides for the reasou that the problem was both
real and far-reaching in its issues. Inquiries of our owu time like
that of the origin of species are but new phases of the problem
as to universals a parte rei, and these inquiries are found in
fields of philology as well as in those of physical science. It was
Abelard who iusisted that universals can neither be things, on
the one band, uor words on the other, and who, with his stress
on conceptual thought, gathered up into himself the differeut
Strands of thought in the time. It is with the nature of these
universals in the mind that we are philosophically concerned.
We still want to know whether, in its geueral reasonings, it is
thing or idea or name which is present to the raind. We know
how wisely Hobbes — by Leibnitz styled plus quam nominalis
— has written on the subject, and how much more acutely Locke
wrote than his eritics have always understood. Words, no doubt,
have a purely symbolic meaning for us, but they must bear a
signification and represent an idea. But both idea and name
must be brought into accord with things — things as they really are.
Scholastic and Mediaeval Philosophy. 45
It is the name whicli holds together the resemblances between
particular things. Thus all the elements are necessary, eacli in
its place. It was easy, before the Conceptualist position was
reached, for Realist and Nominalist to demolish each other's position,
just as it is still easy for the Idealist and the Materialist each to
destroy the other's ground, without suspecting the while that a
position may be assumed which not only preserves what is true
in each, but also retains in a true form what they each deny.
Universals as entities were to Aquinas fictitious, for to him, after
Aristotle, iudividuals alone exist. Yet he did not hold to the
Nominalist contention, that universals are mere names, represent-
ing no ideas in the mind or in things exterior to it. For
ideas were to him archetypal of things created, and so were eter-
nally existent in the divine mind. General terms, too, had for
him a certaiu real existence. It is in Roscellinus that the in-
dividualism is boldly taken which sees the truly real only in the
individual thiug. The whole tendency of scholasticism was towards
exhaustion in an arid Nominalism. What vital energy the later
Nominalism had, went towards the fostering of natural science.
Even the relation of God to morality came, in the Scholastic Age,
to be involved in the controversy. The real problem about which
Thomists and Scotists were at variance was the nature of God.
In the divine nature, will had a primary place with the Scotists.
Will was not determined by intellect, but determined itself. To
the Thomists, will and reason are so united in God as to be in-
capable of disharmony, reason supplying the guiding light of will.
So to the Scotists the moral law is grounded in the will of God,
and is upheld, but not as uncertainly, by His fiat, arbitrary as
this may appear. It is to them good just because God has willed
and enjoined it. Not reason, but groundless will, thus determines
the good. The Thomists, on the other hand, clear the moral law
of this sort of contingency, and ground it so necessarily in the
nature of deity that it is quite impossible to conceive its being
other than it is. What God commauds He commands, with
Thomas, because it is good, and seen by Him to be so. Not that
either Aquinas or Scotus regarded universals from a Nominalist
46 James Lindsay,
point of view, that distinctiou — such as it was — being re-
served for "William Ockam. Both Thomas and Duns Scotus held,
each in his own way, to the doctrine of intelligible species,
by which a copy of the object was supposed, in the process of
knowledge, to arise and be seen by the soul. But the powerful
Personality of Ockam, wittiest of the schoolmen according to Hooker,
swept aside the theory of intelligible species as a needless doubliug
of the subject, the supposed copy in the mind being. in his view,
no more than that sign for it which is found in our idea of it.
Ockam, in fact, scattered seeds that should afterwards rise in an
idealism, both epistemological and psychological. Ockam it was
who set forth the Opposition between dogma and reason so that,
with him, an irreparable breach took place between philosophy and
theologJ^ Scholasticism may then be said to have played its
part, and made an end of itself. It only remained for Dante, as
poet of Thomism, to sing the swan-song of scholasticism. There
can be no doubt that Duns Scotus, doughty champion of diviue
and human freedom and precursor of modern scepticism, is the
greatest name as thinker in mediaeval philosophy, with a truly
Scottish repugnance to the servility of Aquinas before Aristotle.
Yet it is the merit of Acjuinas to have been far more coherent,
systematic, and logically consistent than Augustine or Anselm, and
his ethical doctrine touching the will is much more developed
than that of Aristotle. ^Ve can hardly choose but lean to the
side of Aquinas, in the view he took of the divine nature and
moral law, since to us God is the absolute reason, and morality
an embodiment of that reason. To ground moral law, as does
Ockam, arbitrarily in the enactment of God's will, so that even if
what is right had been wrong, and what is wrong had been right,
it would have been our duty to ober, because it was commanded
— is utterly to fail of perceiving how the necessary and universal
truths of reason are grounded in God and His absolute reason. In
Him law is eternal as the absolute reason. His command is in
virtue of eternal law. His — the divine — reason is over all
His works. From the days of Origen to our own, the difficulty
has just been to get thought to allow that larger say to reason in
Scholastic and Mediaeval Philosophy. 47
the things of faith wliich becomes it as that on which universal
and uecessary truths and principles depend. Scholasticism made
the effort to reconcile faith and knowledge, and assumed at leugth
the form of thinking that the faith of the church is absolute
truth. Scholasticism succeeded in transceuding Aristotelian dualism
by its complete Subordination of all other beings to God. It over-
passed Aristotelian inquiry as to how God is ultimate cause of the
World by declaring the glory of God to be the end of the world
process.
Scotus Erigena held true religion for true philosophy, and true
philosophy for true religion, and, starting from the primary unity
of all things, he straightway unfolded a system that made for
majestic pantheism. ünder all phenomeua and all diversities, the
one real thing for him is God, Whose iutelligence embraces all
things. God is thus the most universal being in a way that ac-
cords well with his retention of the Neo-Platonic idealism. In
Scotus Erigena we find remarkable anticipations of the Schellingian
doctrine of potence. In Scotus Erigena, too, we have a precursor
of Spinoza and Hegel, as Ockam is a forerunner of Luther and
Melanchthon. No legacy of mediaeval realism is more character-
istic than the Anselmic mode of putting the Ontological argument
for the Being of God — far more capable of forceful presentation than
Anselm himself kuew. Its form in the "Proslogion" of Anselm
was that of presenting the idea of God in the human mind as
necessarily involving the reality of that idea. God is, in the An-
selmic presentation, "That than which nothing greater cau be
thought", and Anselm is able on occasion to insist that to nothing
eise can the structure of his reasoning be applied. The capabili-
ties of the argument have been well made manifest in the onto-
logical speculations of, and since, Hegel. The importauce of
setting forth the couceptiou of an absolute being as a necessity of
thought — of shewing that such a beiug as he pre-supposed must
be thought — was not realised by Anselm. He strangely failed
to urge, as against Gaunilo, what a necessary conception is that
of the most real being, and how free that conception is from ar-
bitrariness and contradictoriuess. Imperfect in dialectical adroitness
48 James Liüdsay, Scholastic and Mediaeval Philosophy.
as his argument might be, Anselm yet did a great service
to thought by his endeavour to give truth held by faith a
scientific form.
Mediaeval philosophy strangely failed to see the unsatisfact-
oriness of its treatment of logic as something purely formal aud
dissociate from reality. Hence the schoolmen did not realise that
they turned the Christian dogmas into so many logical puzzles.
This they did, despite the fact that they meant to apply reason
to the data of revelation, and to find out necessarv truth. of
which God should be to them basis. The discredit, into which
their System feil, sprang out of this divorce from reality and ex-
perience, into which the verbal subtleties of the system betrayed
them. The thought of Europe speedily left behind thinkers like
Suarez and others, who in modified ways vainly clung to the old
methods and principles. For all that, we hold to the view that
the modern contempt of scholasticism is exceedingly misplaced.
Dogmatic in character, no doubt, the thought of that epoch was,
but not without fruitful issues for dialectical thought, for theo-
logical formulation, and for ethical teaching and pronouncement.
To it we may well apply those words of Dante that speak of
magnificences yet to be known, so that the foes thereof shall not
be able to keep silent:
„Le sue magnificeuze conosciute
Saranno ancora si, che i suoi uimici
Non ne potran teuer le lingue mute."
IV.
La IV ™^ figure du syllogisme.
Par
E. Tliouverez h Toulouse.
„Elle est plus 6\o\gn6e d'un
degiv qiie la secoude et la
troisieme qui sout de uiveau
et egalement eloiguees de la
premiöre.'
Leibniz, (Gerh. ; V, 346)
I.
L'interpretation que Monsieur Lachelier a donnee ^) des figures
du syllogisme, marqiie le progres le plus considerable que les
etudes de logique formelle aient accompli depuis Aristote dans le
sens metaphysique. Cette Interpretation attribue a chaque figure
distincte du syllogisme une origine distincte et rationnelle. Elle
repond donc k la fois a cette question particuliere: « comment
les figures syllogistiques sont-elles fondees en droit? » et a cette
autre question, d'ordre plus genöral: « comment l'etude des forraes
techniques du raisonnement interesse-t-elle la science pure de la
raison, ou metaphysique? » Ainsi sont justifiees a la fois la theorie
classique du syllogisme et la place que cette theorie occupe dans
les cadres ordinaires de la philosophie; les scheraes logiques ex-
primeut les lois de la pensee; chaqne figure du syllogisme est un
point de vue qui se decouvre sur la coutexture rationnelle des
choses.
^) J. Lachelier: Etiide sur la Theorie du Syllogisme; Rev. Phil.; 1876,
1. I, p. 468 sqq.
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV, 1. 4
50 E. Tbouverez,
Or, cette theorie de ^I. Lachelier a pour consequence de
ramencr definitivement le nombre des figures au chiffre des trois
primitives qui sont Celles d'Aristote, et de confirmer une fois de
plus la coudamnation portee par les logiciens de l'ecole contre la
lyine fjgui-e du syllogisme, consideree comme une superfetation
vicieuse, analogue ä quelque fausse fenotre, ajoutee par raison de
symetrie et de mauvais goüt. C'est la valeur et la portee de cette
condamnatiou absolue que nous nous proposons d'examiner, de
modilier s'il y a lieu, et nous devons dire immediatement dans
quel sens.
Profondement convaincu de l'excellence du point de vue
metaphysique qui domine dans la uouvelle Interpretation du
.syllogisme, uotre Intention n'est pas de nous servir des modes de
la IV'"'' figure pour tirer parti, contre cette interpretation generale,
du fait que ces modes n'y paraissent pas justifies; nous desirons
au contraire los faire participer ä leur tour des bienfaits d'une
teile theorie, et c'est parce que cette theorie en elle-meme nous
parait eminemment seduisante et feconde, que nous serious etoune
si sa fecondite et son excellence aboutissaient en derniere analyse
a une exception et a un ochec. meme partiel, que la tradition
justifie plutot, nous semble-t-il, que la raison. — D'autre part
nous ne nions pas les differences de valeur qui subsistent entre
les diflerentes formes syllogistiques; et M. Lachelier lui-meme, qui
a si bien demontre contre Kant l'autonomie des figures d'Aristote,
ne nierait pas que ces figures sont cependant inegales entre elles,
comme simplicite, comme clarte, comme fecondite. Toutes ne
concluent pas l'universel et toutes ne concluent pas affirmativement.
La Contraposition est un usage indirect de l'universalite de la loi,
dout la subalternation est un usage direct; les deux premieres
figures sont fondees sur un principe immediatement producteur de
connaissance nouvelle: la III'"*^ figure reussit par une sorte d'arti-
fice, qui permet de prendre accidentellement un attribut du sujet
pour succedane du sujet. Si donc la I'** figure Temperte sur les
deux suivantes, et que celles-ci gardent malgre cela leur autonomie
et leur significatiou propre, il est possible que la IV^*^^ figure a
son tour apparaisse comme iuferieure aux autres a certains
La lYme iigure du syllogisme. 51
points de vue, sans qii'on ait pour cela le droit de l'absorber com-
pU'tement dans les precedentes et de nier sa part d'autonomie.
Enfin, s'il existe ainsi une hierarchie des flgures, c'est saus doute
qu'il existe, a cote de l'elemeDt purement metaphysique et formel
de la qualite, iin autre element, d'ordre inferieur, la quantite,
qui intervient ä son tour dans le syllogisme, et dont il faut tenir
compte dans l'explication synthetique des figures, La logique a
peut-etre pour probleme special de montrer dans quelle proportion
se combiuent ces deux Clements, mathematique et metaphysique,
et l'etude de la IV""' figure du syllogisme peut servir d'experience
cruciale pour mettre en relief cette indissoluble Harmonie de la
qualite et de la quantite en logique formelle.
IL
La theorie generale du syllogisme, teile que l'a con^ue Aristote,
constitue un cercle ferine, d'oii la IV'^'^ figure est exclue. II u'y
a que trois figures possibles du syllogisme aristotelicien, parce que
ce raisonnement consiste a mettre en relief les rapports d'attri-
bution qui existent entre deux termes au moyen d'un troisieme;
et que trois cas seulement sont possibles: le moyen peut etre
sujet d'un extreme et attribut de l'autre, ou attribut de tous deux,
ou sujet de tous deux *). Ces trois figures forment un tout coherent,
parce que les deux dernieres se ramenent aux modes universels
de la premiere, et les modes particuliers de la premiere aux modes
universels ile la seconde; toutes ces transformatious s'operent soit par
une reduction ä l'absurde, qui est elle-meme un syllogisme de la T"*^
figure, soit par une conversion ^). La conversion de l'universelle
affirmative est demontree par celle de l'universelle negative, et
celle-ci a son tour par une sorte d'ectliese, qui est un appel a
l'identite '). Ainsi les trois figures du syllogisme forment un tout
identique, d'oü la IV™'' figure est exclue.
2) Arstt.: An. Pr. I, XXIII, §8.
3) Arstt: An. Pr. I, VII, § 6, § 9; — I, XXIII, § 13.
*) Arstt.: An. Pr. I, II. — Cf. cepeudant Fonsegrive: Theorie du
Syllogisme Categorique dans Aristote (Annales de la Faculte des
Lettres de Bordeaux, 1881): p. 398.
4*
52 E. Thouverez,
La IV"'<^ figure est pourtant connue d'Aristote et designee
par lui: ou plutot, les modes qui la constituent sont indiques
dans son ouvrage a titre de modes indirects de la I'"'", conformement
a la doctrine restee classique. Cette indication est dounee en
deux repi'ises difterentes, et l'ou voit apparaitre ainsi, dans la theorie
des modes indirects, une dualite irreductible qui peut etre tournee
en objection. Les divers modes qui constituent la IV'"'' figure ne
derivent pas tous de la I''' par un procede homogene.
C'est d'abord, dans une revue generale des formes syllogistiques,
concluantes et non concluantes, qu'une premiere modification est
apportee ä la doctrine des trois figures. Apres avoir examine une
a une toutes les formes directes du syllogisme dans ces trois
figures, pour voir lesquelles sont concluantes et lesquelles ne le
sont pas, Aristote observe que les Solutions auxquelles il est arrive
dans cette recherche sont definitives et sans appel en ce qui con-
cerne les syllogismes a deux premisses particulieres, ou ;i deux
premisses negatives, ou a deux premisses affirmatives; mais qu'une
correction est possible pour les syllogismes qui ont une premisse
affirmative et une premisse negative universelle; parce que, la
negation universelle se convertissant dans ses propres termes, le
raisonnement qui ne reussit pas du grand terme au petit — c'est-
a-dire, dans la forme grecque, en prenant le grand terme pour
attribut du petit — reussit au contraire du petit terme au grand*).
Si nous adoptons d'abord, sans la discuter, cette Observation
d'Aristote, sous sa forme apparente la plus generale, nous voyons
qu'elle s'applique en cffet aux trois llgures et donne naissance ;i
un certain nombre de modes additionnels. C"est d'abord dans la
I"' figure, qui exige une mineure aflirmative, lorsque cette mineure
est precisemeut l'univeiselle negative, la majeure etant d'ailleurs
affirmative (soit universelle, seit particuliere) en sorte qu'elle peut,
apres metathese, jouer le röle de mineure dans cette figure'^).
i) Arstt.: All. Pr. I, VII, §§ 1, 2, 3.
c) 10 Tont M est A| rNul B n'est M
l^Quelque A n est pas B
Nul B n'est M = | Tout M est A
La IVme figure du syllogisme. 53
C'est daos la 11"^*' ligure, qui exige une majeure universelle, lors-
que la negative universelle est mineure, et qu'une affirmative
particuliere est majeure, car alors l'universelle negative peut devenir
majeure par metathese'). C'est enfin daus la IIl""*^ figure, qui
exige une mineure affirmative, lorsque cette mineure est preci-
sement l'universelle negative, la majeure etant d'ailleurs affirmative,
(soit universelle, seit particuliere) et pouvant par metathese devenir
la mineure affirmative dont cette figure a besoin*). On obtient
aiusi deux modes additionnels pour la premiere figure, uu pour
la seconde, deux pour la troisieme.
Mais les choses restent obscures et doivent etre suivies de
plus pres, parce qu'on ne voit pas de prime abord pourquoi la
correction d'Aristote ue convient qu'aux modes a universelle nega-
tive, et parce qu'on peut hesiter sur la question de savoir si cette
correction s'applique, dans la pensee d'Aristote, aux trois figures
ou a la premiere seulement. II s'agit de syllogismes qui ne concluent
pas par eux-memes, qui ont besoin d'etre corriges pour devenir
concluants, et qui peuvent etre corriges. Or un syllogisme peut
ue pas conclure soit parce qu'il peche contre les regles gencrales
des modes. soit parce qu'il peclie contre les regles speciales des
figures. Le premier cas doit etre ecarte. Lorsqu'un syllogisme
est fait de deux premisses particulieres, ou de deux premisses
negatives, il n'est, dans la doctrine classique, susceptible d'aucune
correction absolument; aucune con Version ni metathese ue peut
2» Quelque M est A^ /Nul B n'est M
Nul B n'est M =| Quelque M est A
-' I-Quelque A n'est pas B
') Quelque A est M-j /-Xul B u'est M
Nul B u'est M = Quelque A est M
J l-Quelque A n'est pas B
^) 1° Tout M est A -v ^Nul M n'est B
Nul M n'est B U= Tout M est A
-' 1- Quelque A n'est pas B
2« Quelque M est A-» ^Nul M n'est B
Nul M n'est B != Quelque M est A
J "-Quelque A n'est pas B
54 E. Thouverez,
supprimer la double negation ou double particularite. Restent les
regles propres a cbacjue ligure; et Ton peut donner d'abord ;\ la
remarque d'Aristote uu sens genöral. Les regles des figurcs cxigent
que teile premisse ait teile iiature et nou pas teile autre; or il
peut arriver que les deux premisses du syllogisrae soient disposees
au rebours de cette regle, eu sorte qu'uue simple metathese consti-
tucrait un syllogisme correct, compose des premisses qui sont
requises. Cette correctiou s'appli(|ue saus difdculte daus les iigures
II et III, parce que, le moyeii s'y trouvant deux fois attribut ou
deux fois sujet, chaque terrae garde les memes positious apres la
metathese qu'il occupait avant, et c'est a pcino si l'ou peut dire
qu"il y ait eu la un syllogisme iucorrect de corrige. Lorsque,
par cxemple, un syllogisme de la III"''' figure presente une
premisse en A et une autre en 0, Taflirmative est nccessairemeut
la mineure; la forme en AO est purement verbale et pour ainsi
dire inexistante. Au contraire, dans la I""'' ligure oü Ic raoyen est
tour a tour sujet et predicat, la metathese le deplace et il faut,
pour retablir les choses en etat, convertir les deux propositions
successives^); or, si les deux premisses etaient affirmatives, cette
double couversion donnerait deux premisses particulieres, ou bleu,
si l'une des premisses etait particuliere negative, eile ne pourrait
pas se convertir, et par consequent le fait qu'Aristote ecarte ces
deux cas pour la correction qu'il propose, montre que dans sa
pensec cette correction ne s'applique qu'a la I"^ ligure. La presence
d'une particuliere negative ne generait en rien la metathese dans
les deux autrcs Iigures; quant ;i la presence de deux affirmatives,
eile est inconciliable avec le scheme de la deuxieme, et rendrait
toute metathese inutile dans la troisiemc. II y a donc, semble-
^) En reprenant les exemples de la uote 6, pour passer du scheine PS
au scheine SP:
P Nul B u'est M = Nul M n'cst B
Tout M est A = Quelque A est M
Quelque A n'est pas B = Quelque A n'est pas B
2" Nul B n'est M = Nul M n'est B
Quelque M est A = Quelque A est M
Quelque A n'est pas B = Quelque A n'est pas B
La IV'ue figure du syllogistne. 55
t-il, trois manieres possibles de comprendre et d'etendre la correction
d'Aristote; dans le sens le plus etroit, qui parait etre celui de
l'aiiteur, eile s'applique exclusivement a la premiere figure; dans
uu sens plus conforme a la lettre, mais non pas a Tesprit du
texte, eile s'ctend aux modes des trois figures a premisse nega-
tive universelle; dans un sens tres geueral enfin, eile s'etendrait
a toutes les metatheses possibles dans les trois figures.
De toute fav'On, la IV™^ figure des modernes ne comprend,
parmi tous ces modes indirects, que les deux premiers d'entre
eux, Fapesmo et Frisesomorum"), vises dans la premiere hypo-
tliese, et nous pouvons noter immediatement une siugularite digne
de remarque. Les modes indirects de la I'"'' ligure, obtenus par
metathese, comme ceux qui sont calques sur le meme modele dans
les figures suivantes, e'est-a-dire tous les modes dont une premisse
est negative universelle, donnent, si Ton admet la quantification
du predicat, une conclusion directe, de la forme « nul B n'est
quelque A ». Par conscquent ces modes seraient immediatement
valables dans la theorie d"flamilton; et Ton peut prevoir des
maintenant que le sort de la IV™^' figure du syllogisme est lie
en fait au sort de cette autre theorie, d'aspect plus general, de
la quantification du predicat.
^") Note 6; P Fapesmo:
Tout M est A
Nul B n'est M
= Quelque A n'est pas B
ou, eu quantifiaut le predicat:
Tout M est A
Nul B n'est M
Nul B n'est quelque A.
2° Frisesomonim:
Quelque M est A
Nul B n'est M
= Quelque A n'est pas B
ou, en quantltiant le predicat:
Quel(|ue M est A
Nul B n'est M
Nul B n'est quelque A.
56 E- Thouverez,
La secoiidc Observation d'Aristote, qui a donue naissance aux
autres modcs indirects, s'applique aussi a toutes les ligurcs. C"est
que toutc proposition, autre que la pavticuliere negative, est
convertible; et que, par conscquent, tous les syllogisnies qui con-
cluent naturellement en universelle affirmative, en universelle
negative, en particulicre affirmative, sont susccptibles d'unc con-
clusiou seconde, par conversion de la preccdente^'). C'est ainsi
quo, dans la 1^^ figure, les trois modes directs: 15arbara, Celarent,
üarii, donnent naissance a trois modes indirects: Baralipton, Dabitis,
Celantes, inseres aujourd'hui dans la IV""^ figure ^^). II y a de
meme deux modes indirects de la JI"^'' figure et trois de la IIl'"^".
Les conclusions secondes, ainsi obtenues, resulteraient directement
des memes syllogismes dont les premisses seraient interverties par
metathcse; mais, ici comme plus haut, cette metathese, qui est
une Operation purement verbale quand il s'agit des figures II et III,
intervertit dans la I''' figure le role et la place du moyen pour
les deux premisses. II y a donc, dans cette figure seulement,
quclquc cliose de nouveau et de non verbal, qui explique que
I'attention sc soit portee sur les modes indirects de cette ligure
a l'exclusion des autres. En outre, la I"' ligure est la seule qui
ait une conclusion directe en A; 1' universelle affirmative est la
seule des propositions convertibles, qui uc sc convertisse pas dans
ses propres termes, mais par accident; et la chute apparente de
Barbara cn Baralip souligne en quelque fa^on ce qu'il y a de
specifique dans les modes indirects de la I"- figure, par Opposition
aux suivantes.
En resume, il y a dans Aristote deux observations difterentes
qui donnent naissance a un assez grand nombre de modcs in-
directs, et parmi eux aux modes indirects de la 1"^' figure; ces
") Arstt.: An. Pr. II, 1, § 2.
12) Baralipton, en SP: Celantes, SP: Dabitis, SP:
Tous les M sont A Nul M n'est A Tous les M sont A
Tous les B sont M Tous Ics H sont M Quelques B sont M
[Donc tous les B sont A] [Donc nul H n'est A] (DoncquelqueBsout A]
et, par conversion : et, par conversion: et, par conversion:
Quelques A sont B Nul A n'est B Quelques A sont B.
La IVme figure du syllogisme. 57
modes, qui coustituent aujourcrimi la IV""*' figure, sont derives de
la V^ suivant deux procedes distincts et heterogenes; les deiix
Premiers par une retrogradation des premisses, saus laquelle il n'y
a pas de conclusion possible: nous les nommerons complemcn-
taires ou retrogrades, les autres, par une conversion de la
couclusion directe, deja obtenue et dejä valable: nous les appellerons
convertis ou supplcmentaires. La IV™*' figure, quand on la
traite comme subalterne et derivee par rapport a la I'^ presente
donc une heterogeneite irreductible; eile n'est pas un tout homogene,
en Sorte qu'elle n'apparait pas purement et simplement comme
une certaiue doublure d'une autre figure et qu'on ne peut la traiter
comme teile qu'au moyen d'un double decalque. Or une hypothcse
qui se complique devient une hypothcse moins süre.
III.
Aristote a prevu les modes dont la IV'^'' figure se compose,
mais en fait il n"a pas mis ces modes- en relief; il n'a pas distingue
explicitemeut les modes indirects de la I'*" figure des indirects que
les autres figures peuvent fournir; il n'a pas rapproche les retro-
grades et les convertis pour en constituer un groupe special;
surtout, il n'a pas fait de ce groupe l'expression du scheme
PS, symetrique des trois autres. Une premiere demarche devait
donc consister a determiner nettement le nombre et la forme
des modes indirects de la IV™*" figure qu'il convenait d'inserer
dans une serie syllogistique complete; une seconde demarche devait
les classer nettement a part, sous la rubrique IV, le jour oü Ton
s'apercevrait quils correspondent, (ce que ne fönt pas les modes
indirects des figures II et III), a un role special et a une place
nouvelle du moyen terme dans les premisses.
La premiere demarche, qui consiste a tirer les modes indirects
de leur existence en quelque maniere virtuelle, pour les enoncer
formellement dans une serie syllogistique plus complete, a ete
accomplie par les successeurs immediats d'Aristote, par Theophraste
d'abord. Theophraste en effet portait le nombre total des syllo-
gismes de quatorze a dix-neuf, parce qu'il comptait neuf modes
dans la I"' figure, en ajoutant aux quatre modes directs et indc-
58 E. Thouverez,
montrables du Maitre, les cinq modes iiidirccts: les trois convertis
d'abord, les deux retrogrades ensuite, eiigendres los uus et les
aulres conforraemeut aux principcs indiqucs plus haut. Cette
enumcration et cet ordre nous out ete conserves par le tcraoignagc
grec d' Alexandre, et par le temoignage latiii de Boece, et ce dernier
nous apprend en outre que l'initiative de Theophraste avait ete
approuvee par Porphyre « vir gravissima- auctoritatis » '^). Cette
doctrine reprösente donc la tradition ol'ficiclle de l'ccole et Theo-
phraste cn est l'auteur.
Cependaut une double difdculte se presente, et les variations
des doctrines en porteut le temoignage. On pouvait se demander,
d'une part, s'il n'y avait pas lieu d'accroitre encore la scrie des
syllogisraes et de faire les honneurs d'une enonciation speciale a
tous les modes indirects des autres figurcs; d'autre part, si les
modes indirects de la premiere, admis a constituer un groupe
nouveau, n'etaient pas susceptibles d'un proccde de generation plus
homogene que la double derivation que nous avons vue.
Sur la premiere question, Alexandre d'Aphrodisiade, apres
avoir compte deux modes retrogrades dans la P"'' ligure, en compte,
d'apres le mcme principe d'assimilation des indirects a universelle
negative, un dans la 11™'' et deux dans la III"''', suivant a la lettre
l'observation d'Aristote sur les retrogrades^*). Or Alexandre cite
Theophraste pour les modes indirects de la I'"'' figure et ne le cite
pas pour les autres; et Boece, qui dcclare formellement s'inspircr
de Theophraste, n'enumere quo les cin(| modes indirects de la I'*^
figure. II y a donc eu partage dans l'ecole sur le degrc d'extension
des remarques d'Aristote, par consequent aussi sur le degre d'ori-
ginalite des indirects classiques, devenus plus tard les indirects
de la IV'"'' iigure. Ce partage pouvait ctre pousse plus loin et
il l'a ete, comme Apulec le temoigne. Ariston d'Alexaudrie cnume-
rait, pour tous les syllogismes h conclusion universelle, une forme
•3) Alex. Aphiotl.: In Anal. Pr. ed. Wallies (Berlin, 1883); p. 69, 1.27;
p. 110, 1. 13 (in Arstt. p. -JGI): L".)b). — Boece, De Syll. Catcg., edit. Basil.,
1578; p. 594. —
'•■) Alex. Aplir. op. cit. j). 110, 1. 21sqq.
La IVme figure du syllogisme. 59
seconde a conclusion particuliere subalternee; et Theophraste, en
iutrocluisant les syllogismes a premisses indeünies, portait le nombre
des formes valables de dix-neuf ä vingt-neuf ^^). Contre cette
double tentative Apulee proteste, en declarant que la conclusion
particuliere subalternee est oiseuse a cote de l'autre, et que les
propositions indelinies se confondent avec les propositions particu-
lieres. Toujours est-il qu'on peut ainsi allonger ou restreiudre a
volonte la liste des raisonnements concluauts; qu'on peut, par
exemple, Tameuer au chiffre uniforme de six modes par figure,
comme le fait Leibniz, rnais c'est a conditiou de mettre cote ä
cöte des syllogismes qui different essentiellement entre eux et
d'autres qui ne preseuteut qu'une distinction verbale et sans valeur.
Si par consequent il n'y a pas de criterium plus precis pour nous
faire accueillir les cinq modes indirects privilegies que pour tous
les autres modes possibles, uon seulement il n'y a pas de IV'"**
figure, mais il n'y a pas meme lieu de uommer ä part les cinq
modes indirects classiques, qui entraineraient peu a peu a une
enumeration indefinie et saus interet. Les modes indirects de la
I'*^ figure, s'ils ne sont que cela, vont se perdre dans une pluralite
indistincte.
Sur le second point la difficulte n'est pas moindre; le problcme
cousiste, en trouvant aux modes indirects de la I'''" figure une
uuite parfaite de derivation, a les lier plus etroitement entre eux
et a leurs prototypes. C'est un essai de ce genre, semble-t-il,
dont nous trouvons la trace dans Apulee, lorsque cet auteur, apres
avoir rapproche les trois convertis des trois premiers modes de la
I'"*^ figure qui leur donnent naissance, rapproche symetriquement
les deux retrogrades du quatrieme mode Ferio, comme si le procede
de derivation ici et lä etait le meme, et comme si toute la difference
etait que Ferio engendre deux indirects au lieu d'un seuP^). Eu
realite il n'en est rien, et les diflferences, qu' Apulee lui-meme
^^) Apulee: de Interpret., ed. Hildebrand (Leipzig, 184'2): t. II; p. 277.
^^) Apulee, op. cit., p. 272. — Voici d'ailleurs le tableau, en notution
moderne, des modes indirects de la Ii'^ figure, numerotes de 5 ä 9, ä la suit?
des quatre modes directs:
60
E, Thouverez.
Signale, reduisent ä nöant cette tcntativc d'unification apparente.
Les convertis possedent une conclusion qui est Tinverse de la con-
clusion prototype; au contrairo les retrogrades possedent la meme
conclusion quo Ferio. Los uns difl'erent par le resultat obtenu
« illatio » et les autrcs par le proccdc employc « conjugatio » '').
P chez Alexandre et Boece:
Tout M est A
Tüut B est M
I et, par couv. de lacoiicl.;
[Quelque A est B
6.
Xiil M ii'est A
Tout B est M
et, par conv. de laconcl.:
Nul A n'est B
TTout M est A
Nul B n'est M
= par conversiou de ch«que
o prciuisse
et metathese de leur ordre:
Nul M n'est B
Quelque A est M
donc Quelque A n'est pas B
2'^ che/. Apulee;
Tout M est A
Tout B est M
donc Tout B est A [1]
ou Quelque A est B [5]
Tout M est A
Quelque B est M
et, par conv. de la coucl.:
Quelque A est B
Quelque M est A
Nul B n'est M
= par conversion de chaque
, preinisse
et metathese de leur ordre:
Nul M n'est B
Quelque A est M
donc Quelque A n'est pas B
1—5.
B [6J
3—7
( Nul M n'est A
)_fi) Tuut B est il
jdonc Nul B n'est A [2]
l ou Nul A n'est
Tout 31 est A
Quelque B est M
donc Quelque B est A [3]
ou Quelque A est B [7]
Quelque M est B
Nul A n'est M
4 — 8 — 9\ donc donc, par metathese:
Quelque B n'est pas Quelque B n'est pas
A[4]= A[9] =
Dans le te.\te original, Ale.xandre ecrit le predicat avant le sujet et la
majeure avant la mineure; Apuk'e ecrit le sujet avaut le pn'dicat et la miueure
avant la majeure; Boccc suit l'ordre moderne.
'0 Illatio designe, dans le Pseudo-Apuli'e, la conclusion, resultat de
Tinference; conjugatio di'signe l'ordre et l'arrangemeat des premisses.
Nul M n'est A
Quelque B est M
donc
Tout M est B
Nul A n'est M
douc, par metathese :
Quelque B n'est pas
A[8]
La IVme iigure du syllogisme. 61
Les uns sont indirects parce qu'ils donnent, par un arrangement
insolite des premisses, uue conclusion uaturelle de la I'*^ figure;
les autres parce qu'ils donnent, par un tour regulier de la I'**
figure, une conclusion difterente. Tous ne sont pas indirects au
meme sens. De plus, lorsqu'on veut passer, comme Apulee le fait,
de Ferio ä Fepasmo, on tire par conversion une universelle affir-
mative d'une particuliere. Or c'est l'operation contraire qui est
plutot legitime et qui cousiste a supposer que Faffirmative particu-
liere de Ferio peut deriver soit de l'universelle A (Fepazmo) soit
de la particuliere I (Fresizom). II est donc plus naturel de dire
que les retrogrades sont les prototypes, et Ferio le derive, en sorte
que la dualite primitive des modes reparait sous cette forme: les
trois Premiers modes de la F'*^ figure produisent les convertis; le
quatrieme est produit par les retrogrades. — Non seulement enfin
les indirects classiques ne derivent pas de la F'^ figure par un
procede unique, mais, grace ä la correspondance qui existe entre
toutes les figures, ils peuvent, — au moins sous la forme PS
qui n'est pas autre chose, comme nous le verrons, que la mise en
relief, dans l'ecriture, des Operations de la pensee — etre aussi
legitimemeut derives des figures ulterieures II et III. Mais alors
les convertis affirmatifs se ramenent a la III™'^ figure, le converti
negatif a la II'"% les retrogrades ä l'unc ou a Fautre a volonte ^^).
Des modes qui peuvent se rattacher ainsi a des origines si difterentes,
ne possedent pas, par le fait de leur relation a la F*^ figure, une
unite assez grande pour que leur groupement se justifie par cette
relation unique. Le second point nous araene donc a la merae
conclusion que le precedent: les cinq modes indirects classiques
n'ont pas plus droit a une existence distincte que tant d'autres
indirect-s egalement possibles; ils doivent posseder, pour justifier
le choix dont ils sont l'objet, une unite intrinseque plus profoude
que Celle qui leur vient de leurs relations diverses a la F"'' figure.
Cette unite plus profonde est celle que les logicieus ulterieurs ont
cru decouvrir dans le scheme PS, symetrique des trois autres.
") J. Lacheller: De Natura Syllogismi; Paris, 1S71; p. SSsqq.
62 E. Thouverez,
IV.
La IV'"f iigure est ooustituee comme teile qiiand on lui donne
pour base la position nouvellc dn moyeii, PS, qui la diflercncie
nettement des autres figures. La tiadition du moyen-age attribue
cette innovation a Galien. Cette attribution reste douteuse; eile
n'est pas mentionnee chez les commcntateurs grecs et vomains; les
ouvrages couserves de Galieu n'en portent aucune trace et la
premiere origiiie semble en etre dans raffirmation d'Averroes, de
source arabe, c'est-a-dire derivee et tres posterieure. Averroes
cite Galien quand il critiqiie lui-mome la theoiie d'apres laquelle
les modes iudirects s'expliquent par Ic scheme PS, mais la citation
n'est pas assez explicite pour montrer si Galien avait adopte en
eft'et ce scheme pour fondement de ces modes, ou s'il signalait
seulement un rapport, soit enonce par d'autres auteurs, soit con^-u
par lui comme hypothese pureraent dialectique. Uu commentateur
grec anonyme, cite par Minoi'de Minas, corrobore seul la reference
d'Averroes, et il reste toujours possible d'admettre que ce com-
mentateur inconnu s'inspirait kü-meme de l'auteur arabe. En
somrae la theorie explicite de la IV™'^' figure, si eile est connue
des anciens, ne nous est parvenue que dans les textes du moyen-
age. Un moment vint, au Xlll""' siecle, oii les nouveaux auteurs
de logique, s'appuyant de lautorite de Galien, donnerent droit de
cite dans le syllogisme a la IV™*^ figure, par ce motif que, a une
nouvelle position du moyen, doit correspondre une figure nouvelie,
et que, en fait, dans la IV'"*^ figure, le moyen, plus petit que le
petit terme et plus grand que le grand, enveloppe les extremes
au Heu d'etre enveloppe par eux.
Des lors le probleme de la IV"*^ iigure et de son autonom ie
est pose nettement, et c'est en tonte connaissance de cause qu'on
accepte cette figure ou la rejette. Les deux auteurs que nous
venons de citer, et par lesquels nous connaissons Pinnovation de
Galien, la rejettent tous deux. L' Anonyme de Minas ne donne
pas a vraimeut parier une refutation du Systeme, mais oppose
simplement une affirmation a uneautre'^). Les nouveaux logiciens
''■•) Galien: EU oiaXexxivci^v öd. M. Minas; Paris, 1864; TtpoOeiup. p. ve'; cite
par Prantl, Geschichte der Logik, Leipzig, 1855; t. I; p. 572, not. 100.
La IVQie ligure du syllogisme. 63
affirment que la IV™*" figure est distincte, parce qu'elle correspond
a un nouvoau groupemeut du moyen terme; il affirme, lui, que ce
groupement n'est pas ce qui caracterise la IV""' figure, c'est-ä-dire
qu'il n'est pas necessaire d'imagiuer ce nouveau groupement
pour arriver a cette iigure, mais qu'on aboutit a eile en partant
de la P^ par les procedes (rAristote. Puisque ces procedes süffi-
sant pour expliquer la figure, eile n'exige pas, ponr etre comprise,
l'invention d'un scheme et n'exprime pas un mode de raisonnemeut
special. — C'est dire, saus preuve süffisante, que du nioment qu'une
figure s'explique par une voie indirecte il est illegitime d'en clier-
cher une explication directe, et que, par exemple, la IP"'' figure
n'est pas autonome parce qu'on peut la construire au moyen de
la F^ , par conversion de la majeure. M. Lachelier sur ce point
a refute Kaut. De meme ici, il ne suffit pas de montrer que la
voie indirecte est possible; il faudrait faire voir qu'elle est la seule
possible et qu'aucune Interpretation directe n'est legitime: et c'est
ce que le critique grec n'a pas fait.
C'est au contraire ce qu'Averroes a tente""). Le sclieme de
la IV™'' figure est a ses yeux verbalement possible et materielle-
ment distinct de celui des autres, mais il est ratiouellement illefi-
time, parce qu'il ne correspond pas a un procede legitime de la
pensee. Ici apparait pour la premiere fois l'idee explicite qu'il y
20) Averr.: In Prior. Resol., I, 8: Yenise, 1553; fol. GSb; cite par
Prallt], op. cit., t. I, p. 571, n. 99.
Premiere question , noi-inale: est-ce que C est A? — Reponse dans la
h'^ figure:
M est A
C est M
donc C est A
Deuxieme question, anormale: est-ce que A est C? — Premiere reponse:
on intervertit la question, pour revenir ä l'ordre normal, et Ton ilemoutre,
comme plus haut, dans la P'' figure que C est A: ignorauce du sujet. —
Deuxieme reponse: on fait voir en effet que A est C, mais dans une forme
anormale, qui est celle de la IVm«^ figure, caracterisee par ce fait que A est>C
dans les premisses, et <C C dans la conclusion:
Tout C est M
Tout M est A
donc Quelque A est C
64 ^- Thouverez,
a un clioix ä faire entre les diverses combinaisons logiques mecani-
quement possibles, et que certaines d'entre elles seulement peuvent
etre reyues a titre de lüis rationnelles ou psychologiqnes, parce que
seules elles sont rationnelles et fecondes. En ce sens la IV""'
figure rcsulte pour Averroes d'une question mal posee. II est
naturel, dit-il, de se demander si un certain attribut A appartieut
a un certain sujet C (en style moderne, si C est A), et la re-
ponse s'obtient dans la I" figure: « M est A, C est M, donc C
est A » ; il est au contraire singulier et heteroclite de se demander
si le sujet C est un attribut de l'attribut A (si A est C), et, pour
repondrc a une question ainsi posee, il n'y a que deux hypotheses
possibles. Ou bien en effet on retablira l'ordre naturel des termes;
on sc demandera, non plus si A est C, ce qui est la question ici
posee, mais si C est A, ce qui etait la question naturelle a se
poser; et Fon fera ainsi un raisonnement de la I'""^ figure. Ce
raisonnement sera correct et legitime en lui-meme, mais il pechera
en fait par ignorance du sujet, parce qu'il aura pour conclusion
autre cliose que la repouse a la question posee. On nous demande
si A est C, et nous repondons que C est A; on demande si du
bleu est ciel, et nous repondons que le ciel est bleu. Ou bien
au contraire on fait un raisonnement conforme a la question posee,
capable de donner la repouse attendue. Pour cela — A etant
attribut et C sujet d'un meme moyen M, et devant etre A sujet et
C attribut dans la conclusion — on construit la figure PS, dans la-
i[uello en efiet, conformement aux regles generales du syllogisme,
la majeure contient le futur attribut C de la conclusion dans la
formule « C est M » et la mineure contient le futur sujet A « M
est A ». Donc « A est C ». Mais alors ce raisonnement exprime
avec cxactitude l'absurdite de la question posee, car les deux
termes qui sont naturellement et dans les premisses Tun sujet, et
l'autre attribut d'un meme moyen, et qui devraient par couse-
quent dans la conclusion etre sujet et attribut Tun par rapport ä
l'autre, aboutissent au contraire dans cette conclusion a l'inverse
de leur rapport naturel. Par suite de ce renversement des roles,
le moyen est attribut du grand terme, qui est attribut du petit,
qui est attribut du moyen; le moyen est attribut de soi-meme, ce
La IVnie figure du syllogisme. 65
qui est absurde. Donc, conclut le Commentateur, la pensee
u'aboutit pas naturellemeut a un raisonuement de ce genre, mais
y arrive indirectement au moven de deux couversions: la IV""®
figure est uu decalque artificiel et mal fait de la pe,
L'argumentation d'Averroes revient ä dire que la IV""'' figure
est un procede logique illegitime, non pas en elle-meme , mais
parce qu'elle repend a ud probleme mal pose, et que ce probleme
est mal pose parce que nous u'avons jamais le droit, en logique,
de renverser Fordre naturel des sujets et des predicats et de nous
demander, memo d'une maniere abstraite, quel rapport les con-
cepts supportent reciproquement les uns par rapport aux autres.
Mais c'est lä uue affirmation insuffisamment fondee. Elle suppose
en effet que le jugement a par lui-meme une valeur strictement
reelle, qui est d'attribuer les qualites aux substances; or l'abstrait
peut deborder iufiniment le concret et le jugement logique peut
jouer un rule plus general qui est de cliercher les rapports d'ad-
equation ou d'inadequatiou qui existent entre des termes quelcon-
ques consideres tour a tour et reciproquement comme attributs et
comme sujets formeis. En ce sens ii n"y a pas de questiou mal
posee parce que chaque terme ne vaut que par le role relatif
qu'on lui fait remplir; l'objection d'Averroes devient caduque et
la forme meme de la reciprocite peut devenir a son tour le fonde-
ment metaphysique de la IV™'- figure.
La IV"*^ figure est iuutile pour 1' Anonyme de Minas, meta-
physiquement illegitime pour Averroes; restait a dire qu'elle con-
stitue en elle-meme, dans son mecanisme logique, un raisonnemeut
iuexact et faux, ce qui Tut fait par Lambert d'Auxerre"'). D'apres
cet auteur, la IV'"'' figure est condamnee a un dilemme; ou la
majeure est universelle et la conclusion est fausse, ou la majeure
est particuliere et il n'y a pas de conclusion. Cette allegation
prise au pied de la lettre est une erreur; ni Bamalip, ni Dimatis,
21) Texte inedit, publie par Prantl, op. cit.: t. IIF, p. 30, u. 121. —
«... natu si dicatur: omue animalest homo: omnis homo est risibile;
ergo omne risibile est animal: major erit falsa, qua sumpta particulariter
non sequitur conclusio ».
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV. 1. Ö
66 H- Thouverez,
construits sur le sclieme PS, ue depassent ou nc violent les pre-
misses daus leur conclusion. L'exemple donno par l'auteur, si la
citation de Prantl est exacte, est une sorte de Bamalap, materielle-
raent faux des la majeure, formellement faux dans sa conclusion,
vcritable monstre logique, et que personne ne s'aviserait de con-
struire directement sous cette forme. Une pareille construction
resulte donc Intention nellement d'une sorte de detour par lequcl
l'auteur preteud exprimer ce qui constitue pour lui l'essence, et
par suite le döfaut de la IV'"'" figure. II est difficile de retrouver
avec exactitude le raisonnemeut ainsi sous-eutendu par l'auteur,
raisonneraent qui sans doute est faux, puisqu'il a du l'etayer par
la construction d'un exemple pardoxal, exemple dont la condam-
nation n'implique nullement la condamnation de toute espece de
mode conforme a la IV""' figure. Peut-etre Lambert d'Auxerrc
avait-il dans l'esprit cette pensee que la IV'"*^ figure doit etre
necessairement l'inverse de la I™ , et se deduire d'elle par la con-
version successive des propositions qui la composaient; mais alors,
en partant de Barbara qui est le type le plus parfait de la I'''
figure, les conversions successives donnent, pour le mode corres-
pondant de la IV'"^' figure, des propositions particulieres suc-
cessives. D'oü cette apparence de dilemme: ou le mode de la
jynie f,gm-e, qu'il s'agit de construire, sera fait de propositions
particulieres, non concluantes faute d'universalite; ou il sera fait
de propositions universelles, qui ne sont pas, conime elles de-
vraient l'etre, les converties de Barbara, et qui, si les propositions
particulieres converties de Barbara sont vraies, seront fausses par
l'cxces d'universalite qui est en elles. En realite ce raisonnemeut
— ou quelqu'autre raisonneraent analogue — est inexact, puisquo
d'autres raodes que Bamalap existent et reussissent en PS; et cos
autrcs modes reussissent parce que la IV'"^' figure est autonome et
nc se deduit pas de la I''^' par conversions successives. Ce qu'il y a
de vrai dans la pensee de Lambert d'Auxerre, c'est que la P*-'
figure etant la seule dans laquelle le moyen est interieur aux ex-
tremes, est aussi la seule qui presente, avec Barbara, une serie de
subsomptions parfaites, de genres a especes, dans Tordre naturel
d'involution des termes en prescnce. Ilors de la P'' figure le
La IVuie figxire du syllogisme. 67
raoyen n'etant plus k la fois, et suivant l'ordre naturel des choses,
espece par rapport au graud terme et genre par rapport au petit,
le raisonnement ne reussit que par Faccession adveiitice de la
particularite ou de la negation. La IV""^^ figure surtout est de-
tournee de cet ordre naturel que la T'^ figure realise; eile est
caracterisee par ce fait que le moyen y est exterieur aux deux
extremes, c'est-ä-dire plus grand que le grand terme et plus petit
que le petit; or cette double coiidition est contradictoire. Le
meme terme ne peut pas etre, dans l'ordre naturel de succession
des genres et des especes, a la fois plus petit qu'une espece et
plus grand qu'un genre dont cette espece est partie. C'est cette
contradiction, semble-t-il, que Lambert d'Auxerre a voulu mettre
eu relief; mais il a etc oblige de l'exagerer et de la fausser,
parce que l'abstraction rationnelle permet precisement, dans toutes
les figures qui ne sont pas la premiere, d'employer pour moyen
logique un terme qui n'est pas dans toute la rigueur des choses
un moyen reel, et c'est pourquoi la P*^ figure, qui echappe seule
a cet artifice, est la seule aussi qui puisse se composer de deux
affirmatives universelles et conclure une universelle affirmative.
Ainsi le raisonnement de Lambert d'Auxerre — s'il est tel
que nous le supposons etre pour lui donner un sens acceptable —
prouve trop, car il serait valable contre les figures II et III, qui
ne peuvent presenter non plus, ni l'une ni l'autre, une serie de
subsomptions dans l'ordre naturel des especes et des genres, puisque
cet ordre est naturellement celui que la T'^ figure exprime, et qu'elle
exprime seule. Nous aboutissons donc toujours ä cette consequence
que la L« figure est la plus naturelle de toutes, la seule parfaite;
toutes les autres reussissent par des artifices qui introduisent dans
le raisonnement la forme de la negation ou de la particularite.
La IV'"<^' figure est, en ce point, analogue aux deux precedentes,
et presente, avec plus d'exageration, le meme defaut dont celles-ci
dejä sont affectees, et qui est de modifier artificiellement l'ordre
naturel des relations logiques entre les genres et les especes.
Mais cet artifice est legitime par sa necessite et par sa reussite
dans les modes propres ä ces figures, et par Textension qu'il
donne aux applications possibles de la forme syllogistique. Aussi
5*
68 E. Thouverez,
bien, si nous admettons la IV'"'' figure comme legitime, ne re-
vendiquerous-nous par pour eile autre chose que le dernier raug
logique a la suite des ligurcs moins indirectes et moius impar-
faites. Pour le momeut il uous suffit de constater que ni les
critiques de Lambert d'Auxerre, ni Celles de Galien ou de l'AüO-
nyme de Minas, ne demontreut, comme elles pretendent le faire,
Tillegitimite formelle de cette figure.
Ainsi los premiers textes qui manifestcnt au moyen-age
l'existeuce de la IV™« figure signifient en meme temps sa con-
damnation. Lorsque, le moyeu-äge disparu et le zele des grands
novateurs assagi, la philosopliie moderne examina les traditious
de l'Ecole dans un melange de respect et d'independance, dont
Leibniz et Arnauld, mieux que Bacou ou Descartes, donnerent la
mesure, le probleme de la IV™'' figure se posa de nouveau. Or,
sur ce Probleme special, la doctrine de Port- Royal, qui est celle
d'Arnauld, se ramene ä deux termes: la IV'"'' iigure est notoire-
ment inferieure aux autres, privee de foudement metaphysique,
et cependant, si peu rationnelle qu'elle soit, eile existe en fait et
en droit, reellement distincte des trois autres. Elle existe et eile
n'existe pas, voila la formule ambigiie qui correspond peut-etre
dans Port-Royal ") a quelque ambiguite naturelle dans la figure
elle-meme.
La IV'"" figure n'existe pas, en ce seus qu'on ne peut pas
euoncer pour eile de principe rationnel qui la justifie. Arnauld
en eßet, apres avoir donne du syllogismo une serie de reglos
mecaniques applicables aux diverses figures, declare que ce me-
canisme ne suffit pas a apporter la lumiere et que chaque figure
legitime du syllogismo correspond a une idee qui la dirige, a un
principe logique distinct qui enveloppe dans une sorte de synthese
l'ensemble de ses modes; ou plutot, pour etre plus exact, chaque
figure supposc deux principes correlatifs — car Arnauld n'est pas
--) Logique de Port-Royal: 4me ^d., Lyon, 1G75; III"'« partie; chap.
IV, p. 230sqq.; cliap. VIII, p. 245sqq.
La IVme figure du syllogisme. 69
abouti a rmiitc absolue — Tun pour les modes al'firmatifs, Tautre
pour les negatifs. Or, il n'existe, dit Aruauld, aucim principe
de ce genre pour la IV'"'' figure; eile n'est donc qu'un mecanisme
aveiigle, sans idee directrice et saus justification rationnelle. Et
cette Sorte de coudamnation a priori parait confirmee par Fexamea
des regles mecauiques qui y correspoudent. Taudis que, pour les
trois premieres figures, cn general, les regles s'expriment sous une
forme directe et absolue: « que la majeure soit teile saus con-
dition »; — par exemple, daus la T" figure, la majeure toujours
universelle et la mineure toujours affirmative — au contraire
toutes les regles de la IV'"^ figure ont une forme hypothetique:
« si une premisse est teile, qu'une autre soit teile » ; par exemple,
« si la majeure est affirmative, que la mineure soit universelle »,
II semble donc que chaque proposition soit successivement traitee
comme une conclusion des deux autres, par conscquent comme
une dependance conditionnelle; le raisonnement tout entier semble
rouler dans un cercle et dans une sortc de reciprocite sans fin.
II y a lä a tout le moins un iudice d'infcriorite que les partisans
memes de la IV"^'' figure doivent reconnaitre, et qui d'ailleurs
s'explique assez bien si cette figure participe de la nature de la
conversion, qui est par excellence reciprocite.
Et cependant Port-Royal se refuse a nier Texistence distincte
et autonome de la IV™<= figure. On ne peut la nier, dit justement
Arnauld, qu'a condition de la traiter comme une indirecte, c'est-
a-dire de supposer par avance que sa conclusion est renversee.
Or, puisque la conclusion indique le point oü Ton veut aboutir,
le Probleme qu'on s'est pose de prime abord, on n'a pas le droit
de dire qu'elle est renversee: eile est ce qu'elle est. On peut dire
que la question est posee dans des termes peu naturels, ou peu
ordinaires, ou peu satisfaisants; on ne peut pas dire qu'elle est
posee autrement qu'elle Test. La consequence en est tres-nettement
deduite dans l'enonce des symboles qui designent les modes. Les
adversaires de la IV™« figure construisent ces modes d'apres le
scheme qui convient a la P^ en supposant que le moyen est sujet
dans la majeure et predicat dans la mineure, en sorte que cet
ordre est designc par les termes: Baralipton, Geläutes, Dabitis,
70 E. Thouverez,
Fapesmo, Frisesomorum ; au lieii quo Port-Royal, voulant que Tüii
ecrive les prömisses daus l'ordre de la IV'""^ figure oü le moyeu
est predicat de la majeure et sujct de la raineure, les appelle iu-
versement: Barbari, Caleutes, Dibatis, Fespamo, Fresisom'').
II ne s'agit ici, dit Port-Royal, quo d'uue questioii de raots.
Port-Royal a tort: par derriere la querelle des mots s'exprime la
divergence des choses. Le problemc de la IV""' figure peut se
poser ainsi: y n-t-il, outre les trois manieres aristoteliciennes de
conclure, une quatrieme mauicre de penser possible, une quatrieme
demarche d'uue prcmisse a une autre qui donne une conclusion
valable? Les uns disent non; cettc pretendue quatrieme demarche
n'existe que sur le papier; eile diflcre par l'ocriture, mais la peusee
redresse cette ecriture; on ecrit d'uno autre maniere mais Ton
pense de meme. C'est toujours dans la I'^ figure qu'on raisonne
quaud ou croit raisouner daus la IV'"% et les symboles de la pre-
tendue IV™2 figure doivent exprimer cette identite. Les autres
disent: oui; la IV™^ figure exprime une maniere differente de
penser, en meme temps qu'une maniere differente d'ecrire, et les
symboles doivent exprimer nettement cette distinction. Ainsi, par
le clioix des symboles, on accepte ou rejette la figure contestee.
Pour uous rendre mieux compte du probleme, remarquons
d'abord qu'il n'y a pas seuleraent deux manieres, mais trois manieres
possibles de construire les modes en question: 1° nous pouvons les
ecrire suivant les formules classiques, Dabitis, Fapesmo etc. dans
le scheme SP, et nous obtenons les indirects d'Aristote; 2° nous
pouvons les ecrire suivant les memes formules, Dabitis, Fapesmo,
dans le scheme PS, et nous aboutissons ä un echec; 3" nous pou-
vons les ecrire suivant les formules corrigees, Dibatis, Fespamo,
dans le scheme PS, et obtenir ainsi ce que nous appellerons les
modes de la IVn'^ figure; et en eflet les premiers sont des indirects
de la I""^; les deuxiomes sont des monströs; les troisiemes sont les
modes de la IV™" figure, s'il en existo"^).
-■■') J. Lachelier, Thooric du SyUogisme, p. 482.
2*) Premier cas, modes de la I»'e figure, en SP, ä conclusion indirecte:
La IVme figure du syllogisme. 71
Prenons d'abord pour pierre de touche la seconde constraction
possible, qui est celle des hybrides. Si je coiistruis le converti
Dabitis avec les promisses qu'indique Aristote, et qui sont celles
de Darii (puisque ]a conclusion seule, daas Aristote, doit etre
modifiee), et si je construis cliaque promisse suivant le scheme
PS de la IV'"^ figure, il u"y a pas de conclusion possible de
rextrcme de la mineure pris comme sujet a Textreme de la ma-
jeure pris comme attribut. Dans les memes conditions Celantes
devient Celantos et Baralip reussit par une sorte de hasard, gräce
k la presence simultanee de deux universelles. De meme, si je
construis les retrogrades Fapesmo, Frisesom avec les premisses que
donne Aristote, c'est-a-dire avec les memes premisses que Celarent
et Ferio, raais disposes a rebours, et si je construis chaque premisse
suivant le scheme PS, Fapesmo devient Fapesme et Frisesom ou
Frisesum n'a pas de conclusion. Si donc la IV'"*^ figure est delinie
par le scheme PS, adapte aux modes indirects d'Aristote en AA,
(-Tout M est A |Nul M n'est A /Tout M est A
Baralipton Tont B est M Celantes Tout B est M Dabitis. QuelqueB estM
iQuelque A est B ' Nul A n'est ß iQuelqueA est B
j-Tout 31 est A j-Quelque M est A
Fapesmo] Nul B n'est M Friseson' Xul B n"est 31
«■Quelque A u'est pas B I-Quelque A n'est pas B
Deuxieme cas, inodes bybrides, avec premisses des modes, indirects de
la Ire ficrure, et scheme PS de la IVme, ä conclusion directe:
j-Tout A est M .Nul A n'est M
Baralip) Tout M est B Celantos I Tout M est B
iQuelque B est A l— Quelque B n'est pas A —
/•Tout A est 31 ,Tout A est 31 rQuelque A est 31
tusl Quelque 31 est B Fapesmel Nul 31 n'est B Frisesum» Nul 31 u'est B
l InuI B n'est A *■
Troisieme cas, modes de la IVme tigure h conclusion directe, de scheme
PS, marques d'un m pour designer l'inversion des schemes, et en outre d'un
z pour les modes de conclusion 0 caracteristiques de cette figure:
Barbari /Tout A est 31 Calentes /Tout A est 31 Dibatis |-Quelque A est 31
ou ]Tout3IestB ou Nul 31 u'est B ou j Tout 31 est B
BamaliplQuelque B est A CameueslNul B u'est A Dimatis I-Quelque Best A
Fespamo ,Nul A n'est 31 Fresison|-Nul A n'est 31
ou iTout 31 est B ou | Quelque 31 est B
Fepazmol Quelque B n'est pas A FresizomlQuelque B n'est pas A
Dabiti
'J2 E. Thouverez,
AI, EA; AE, IE, cettc IV'"*' iigure est en eilet uii monstre, qui
ne conclut pas ou qui conclut mal; il n'y a pas de IV'"« iigure.
Deux hypotheses seulement restent en presence, mentionnees
plus haut. Puisque le quatrieme scheme PS ne coincide pas avec
les indirects d'Aristote, il faut de deux choses l'une: ou faire con-
sister la IV'"'= figure daus un simple decalque de la l'-, c'est-a-dire
dans les indirects classiques de scheme SP en abandonnant PS;
ou bien, au contraire, fonder une nouvellc figure, en PS, dont les
modes seront en realite autres que les indirects. Teiles sont les
deux hypotheses seules admissibles qu'il faut examiner maintenant.
La premicre hypothese represente la doctrine classique. Cette
doctrine a eu son expression la plus achevee dans l'interpretation
de M. Lachelier^^), et cette Interpretation consiste a admettre quo
les modes, dits de la IV"'e figure, se construisent en realite sur
le scheme SP qui est celui de la P% qu'ils dillcrent seulement
des autres modes de la meme figure par un certain renversement
dans la maniere de les ecrire, et que l'esprit redresse par la peusee
l'ordre de l'ccriture apparente, seit rordre des termes dans la con-
clusion des modes convertis, seit l'ordre des premisses ellcs-memes
dans les retrogrades. — Cette formule exprime la condition minima
Sans laquelle les modes en question ne se rattacheraient absolument
pas a la P'' figure; ils se rattachent a eile ä condition qu'on les
transforme ou redresse. Encore faut-il insister sur ce point im-
portant que les deux groupes, distincts dans la penscc expresse
de M. Lachelier, sc comportent ici ditferemment, et qu'il y a peut
otre quelque abus a assimiler les uns aux autres sous ce rapport.
üans les modes convertis, c'est la conclusion seule qui est devisöe
et qui doit etre redressce; les premisses sont dans l'ordre oü elles
doivent etre; pour les retrogrades au contraire le mode tel quel,
par exemple Frizesom, ne reussit pas; il faut le renverser dans
ses premisses pour qu'il conclue. Cette Interpretation se heurte
donc a la mcrae difficulte que uous avons signalee ailleurs, de
manquer d'homogcucite profondc, malgrc son apparcnce d'unitö.
On voit des lors que les modes convertis, s'ils ne sont pas des
-•"') J. LacliL'lior, Tliuorie tlu .Syllogisino, p. 4^3.
La IVme figure du syllogisme. 73
episyllogismes, ue peuvent ctre qu'uue transcription detournee des
raodes primitifs; or il n'y a pas interet ä multiplier par de sem-
blables moyens les additions et les singularites possibles du rai-
soüuement normal. Les iiiodes iucrimines, s'ils ne sont pas autre
chose qu'une ecriturc cryptographique, peuvent etre rayes a hon
droit de la science logique et Ton a raison eu ce sens de Jes
traiter de batards et supprimer comme tels. Les modes retro-
grades sont quelque chose de plus ou de pire, puisque la crypto-
graphie eu question sert chez eux, non pas a cacher leur meca-
nisme veritable, mais ä prodiiire ce mecanisme, attendu qu'ils ue
reussissent pas directement. Peut - on dire alors que c'est unc
simple affaire d'ecriture, ou de retorsion de la pensee veritable,
que Celle qui est necessaire pour assurer le bien fonde du rai-
sonnement? Et, si cette construction ä rebours est essentielle a
ces modes, n'est-il pas pour le moins peu naturel de penser d'uue
maniere et d'ecrire d'une autre? En sorte que, si deux explications
possibles sont eu presence, l'une qui nie, 1' autre qui affirme la
conformite de Tecriture et de la pensee, la seconde sera preferable;
on ne devra recourir a la demonstration indirecte qu'en desespoir
de cause, si aucune demonstration directe n'est possible.
Mais en fait cette demonstration directe est possible, et l'ou
peut trouver aux modes de la IV™^ figure un autre sens, plus
naturel et plus distinct. Et d'abord, il convient d'ecrire ces modes
d'une maniere differente pour leur donuer toute leur signification
et toute leur valeur. Si l'on a commence par se poser ce pro-
bleme: « trouver des modes iudirects, en partant de la P® figure
qui, une fois reuverses, reussiraient dans cette figure » il n'y a
rien d'etonnaut ä ce que les modes ainsi construits reussissent
ainsi et ne reussissent pas autrement; il n'y a rien d'etonnaut a
ce que les modes veritablement iudirects de la P^ figure soient
incapables d'une iuterpretation directe. Mais peut-etre y a t-il ici
une confusion reelle, et c'est vraiment une question de fait qui se
pose. C'est uu fait que les iudirects de la l^^ figure en SP existent,
et que le redressement mental de M. Lachelier les cxplique; mais
ce peut etre un fait aussi que d'autres modes existent, directement
construits en PS, distincts des prccedents, avec lesquels on n'a pas
74 E. T houverez,
Ic druit de les confüiidrc: et ce.s modes soiit Tubjct de nolre
deiixieme hypothese.
La deuxieine hypothese cousiste donc ä admettre Texistence
distincte d'im certain groupe de modes, voisins des proccdents,
mais qui reussisent par la voic directe, dans une figure distincte.
Et en elFet, a cöte des symboles qiie iious avons vus Baralip,
Celantes, Dabitis, etc. (|ui ne reussissent que dans la l'^" figiire cn
SP, qui n'eu sout (|u"iine transpositiou verbale, et qui ne
reussissent pas en P8, il y a des modes reellement inverses:
Bamalip, Camenes, Dimatis, qui s'ecrivent dans la IV™" figure,
suivant le schcme PS, qui se pensent dans l'ordre que cette ecriture
suppose, qui reussissent ainsi et ne reussissent pas autrement: et
ce sont ces modes precisement que nous disons etre ceux de la
IV'"'' figure, II y a donc un cercle, serable-t-il, a dire: « le
scheme PS est superflu; les modes qu'on lui attribue correspondent
et doivent correspondre au scheme SP a condition d'y renverser
quelque chose; il faut donc ccrire suivant le scheme SP des modes
tels qu'une fois renverscs ils reussiront dans ce scheme en SP; »
et a conclure: « les modes qu'on voudrait rattacher au scheme en
PS reussissent indirectement en SP; donc ils ne sont que des
modes inverses de la P« figure et le scheme PS est superflu ».
On fabrique ainsi, dans une pretendue IV""« figure batardc, des
modes tels qu'ils ne peuvent s'expliquer en fait que par la P%
en Sorte que cette explication par la P'' est en effet la seule qui
par la suite reussisse. Nous ne contestons pas qu'il existe cn fait
des modes indireets de la P'^" figure auxquels la theorie du re-
dressement mental s'applique exactement; mais nous croyons que
d'autres modes existent, — sans autre preuvc que le fait nieme
de leur existence, — qui sont distincts des precedents et qui
peuvent fournir eux aussi, par un mode de raisonnement direct
qui leur est propre, des conclusions legitimes.
Pour en rcvenir a Port-Royal, il n'est pas indifferent d'ecrire
les syllogismes d'une maniere ou d'une autre, si du moins on veut
qu'ä n'importe quelle ecriture ne corresponde pas n'importe quelle
pensee, et que la distinction des schemes exterieurs exprime la
distinction des sigiiilications internes. En ce sens il existe deux
La IVme figure du syllogisme. 75
grüupes de modes, distiucts a la fois par Fecriture et la pensee:
les uns, qui sont des modes iudirects de la I"' figure, eu SP, et
qui s'expliquent par un mouvemeut iüdirect de la pensee dans
cette figure; les autres, qui s'ecrivent et se penseut daus un
scheme difterent, PS, et qui, par le fait de leur reussite, justifient
ce scheme. Le scheme eu question pourra etre Tobjet d'une
discussion ulterieure, quand on le comparera aux autres, soit pour
la commodite de son usage, soit pour la perfection rationnelle de
sa forme; mais son existence ue peut pas etre nice, puisque des
modes existent qui sont conformes a ce scheme, et qui rcussissent.
La question est donc resolue par les faits eux-memes de savoir si la
jyme figiive existe; il reste a se demander maintenant quelle eile
existe, c'est-a-dire quelle est sa valeur metaphysique et par conse-
quent sa place dans la hierarchie naturelle des figures.
VL
Leibniz a fait le premier une Classification methodique des
figures; il la fonde sur la generalisation d'uue remarque d'Aristote.
Lorsqu'Aristote reduisait les modes de la II™® et de la III '"*^
figure ä ceux de la P*^ au moyen de la conversion, il u'y
reussissait qu'en partie, et devait suppleer, dans deux cas au
moins, a Finsuffisance des conversions directes par une methode
de reduction a l'absurde. Les modes Baroko et Bokardo se
demontrent en faisant voir que, si Ton en contredit la conclusion,
on aboutit dans la I ''« figure a une conclusion nou volle qui est
la contradictoire de l'une des premisses primitives. D'une manierc
generale, la reduction a l'absurde repose sur ce principe qu'on ne
peut pas aflirmer a la fois les coutradictoires, parce que si Tune
est vraie, l'autre est fausse et reciproquement. La premisse
premiere etait vraie; donc la conclusion seconde qui la contredit
est fausse; donc encore la premisse seconde qui a donue cette
conclusion est fausse, et la conclusion premiere, dont cette premisse
est la contradictoire, etait vraie. II y a identite entre la formule
«ceci est vrai» et la formule «la contradictoire de ceci est faux».
C'est en ce sens que la demonstration par l'absurde peut se definir
une demonstration par les identiques, terme qui parait obscur
76 ■ E. Thouverez,
au prcmier abord, et qui rappeile, chez Leibniz, la constante pre-
occupation de ramener lesformes logiques a Celles d'une mathöinatique
universelle dont tous les (.'lements seraient lies par des rapports
aussi voisins que possible de lldentitc. Or, c'est la possibilite ou
rimpossibilite de cette demonstration par les identiques qui devient,
pour Leibniz, le principe de la Classification generale des syllogismes.
En efl'et, tandis que la conversion ne reussit que partiellement, et
par une sorte de hasard, ä operer les reductions d'Aristote, la
demonstration par l'absurde s'applique d'une maniere generale, et par
un procede identique, ä tous les modes de la 11'"« et de la III™«
figures. Ces figures sont donc aussi rapprochees que possible de
la P<^ et s'ideutifieut avec eile par ce procede. Au contraire, dit
Leibniz, la pure reduction par les identiques ne reussit pas avec
la IV""^ figure; il faut y ajouter une conversion. Par exemple,
la reduction de Baroko de la 11™^ ligure a la I""*^ reussit directe-
ment par les identiques, parce qu'une conclusion teile que «tous
les B sont M», du syllogisme derive, est immediatement contra-
dictoire avec la premisse «quelques B ne sont pas M», du syllogisme
primitif; au contraire, si l'on applique ä Bamalip le meme mode de
reduction, on obtient une conclusion «nul B n'est quelque M» qu'il
faut convertir en «quelque M n'est pas B» pour obtenir la contra-
diction de la premisse primitive «tous les M sont B» ^"). ]>a.
contradiction, quand il s'agit de la lY""^ figure, n'apparait donc
pas immediatement, mais a l'aide d'une conversion intermcdiaire.
-") Leibniz: Nouveaux Essais, liv. IV; chap. II, § 1.
Exemples: P Baroko: 2" Bamalip:
Tous les A sont 31 Tous les A sont M
QuelfiuesB ne sontpasM Tons les M sont B
— Quelques B ne sont — Quelques B sont A —
pas A — d'oü, par contradiction:
d'oii, par contradiction: P Tous les A sont M 2" uu bien:
Tous les A sont M —Nul 1! n'est A — — Nul B u'est A —
— Tous les B sont A— Nul B n'est quelque M Tous les M sont B
Tous les B sont M ou, par conversion: Nul M n'est A
contradictoire de: Quelque M n'est ])as B ou par conversion:
Quelques B ne sont pas M contradictoire lie: Nul A n'est M
Tous les M sont B contraire de
Tous les A sont M
La IVme figure du syllogisme. 77
C'est pourquoi la IV"« figure est plus eloignee de la I-"*" que les
deux autres; eile se place au dernier rang, mais ce rang ne saurait
lui etre enleve; avoir une place, quelle qu'elle soit, dans une serie
rationnelle, c'est y avoir son droit a l'existence. Leibuiz affirme
aiusi du meme coup la legitimite de la IV '"«^ figure et son role
subalterne.
II reste cependant quelque ambiguite dans la pensee de
Leibniz, comme il y en a eu dans celle d'Aristote. L'idee
maitresse d'Aristote est que la syllogistique constitue un corpus
unique, et que cette unite resulte de la Subordination de toutes
les figures a la l'*'. La I'"«^ figure parait etre ainsi le type de
toute clarte logique, grace peut-etre aux formes du langage grec
qui, enonyant dans toute proposition Tattribut d'abord et le sujet
ensuite, fait de la l'" figure celle dans laquelle le moyen apparait
le mieux a sa place precise, localise entre les deux extremes. Et
cependant Aristote, tout en ramenant les figures ulterieures a
celle-ci par la conversion, n'exclut pas un autre mode de demon-
stration, par ecthese, comme si chaque figure etait autonome et
se referait directement a Tidentite. De meme Leibniz semble
bien admettre qu'on arrive ä un maximum d'unite et de rigueur
logique quand on derive les figures secondaires de la figure type
par le moyen des contradictoires, soit immediatement, soit
mediatement; et en meme temps il admet, suivant Ramus, que la
conversion negative ou affirmative est un veritable syllogisme de
la II'"« ou de la III™'' figure. C'est faire implicitement ce que
fera plus tard M. Lachelier avec une beaucoup plus grande nettete
et conscience du but a atteindre^^): c'est ouvrir la voie a la doctrine
de l'autonomie des figures, caracterisees par autant d'inferences
speciales, et irreductibles a la T"^ figure, sinon par le moyen de
ces inferences memes. Mais, tandis que M. Lachelier nie toute
espece de rapport entre les figures II et III, qui se distinguent
absolument de la P- et existent d'une existence autonome, et la
figure IV, qui n'existe absolument pas, Leibniz admet au contraire,
27) J. Lachelier: Theorie du Syllogisme, p. 469 sqq. — Leibniz,
Nouveaus Essais, 1. IV, M. IL §1: chap. XVIL § 4 (ed. Gerhardt, t. V,
pp. 346, 462).
78 E. Thouverez,
par unc application naturelle de son principe gencral de continuite,
que le nieme sort a des degres difiereuts enveloppe toutcs les
figures secondaires; la IV'"«" figure, coinme les deux precedentcs,
est a la fois existante comme le dira Lambert, et non existante
comme le dira Kant; le debat va s'ouvrir entre les deux doctrines,
mais toutes deux lieront de meine le sort de la IV'"'' figure a
celui des deux precedentes.
La thcse de Kant, sur la fausse subtilite des figures^^), peut
se ramener a trois points: la formule generale qu'il donne du
Probleme logi(|ue, le rapport qu'il etablit entre la formule ainsi
posee et le mode de derivation des figures, la difference enfin qu'il
admet entre un certain degre de derivation simple pour les figures
II et III, et une derivation plus complexe pour la figure IV. —
La formule gcMierale du probleme logique «qu'il s'agit de trouver
un rapport entre une cliose et un signe par le moyen d'un autre
signe»''"*) est tonte positive. On tourne le dos a la logique classique
et a Aristote quaud on ramene le dictum de omni a n'etre
qu'un cas particulier d'une theorie generale des signes; c'est
generaliser le probleme ä la maniere des matliematiciens, ramener
la science, suivant Condillac, ä un Systeme de signes. Or, si la
logi([ue reclierche quelles sont les formes primitives et irrediictibles
du raisonnement, on fait une abstraction illegitime quand on elague
les distinctions de quantitc et de qualite qui sont precisement
l'ensemble dos categories logiqucs; et c'est pourquoi sans doute
M. Lachelier denie a Kant le droit de faire une simplification qui
repose, en dcrniere analyse, sur une non perception des dif-
ferences.
(!'est donc par une veritable contradiction que Kant ne met
pas toutes les (igures, en vertu de cette formule, sur un meme
plan d'egalite reciproque, comme 11 conviendrait si elles ne sont
que les doublures indilVerentes les uues des autres. II se montre
") Kant: Säm m tliclie Werke, öd. Hartenstein; Leipzig, 18G7: t. 11.
p. 55— (J8: Die falsciie Spitzfindigkeit der vier s yliogistisclicn
Figuren erwiesen.
-"■') „ ... die Vergleiclmng eines Merkmals mit einer Sache, vermittelst
eines Zwischenmerkmals." 1. c, p. 56.
La iVme figure du syllogisme. 79
fidele disciple d'Aristote par la Suprematie qu'il accorde ä la I""«
figure. Et cette Suprematie resulte elle-meme de l'analogie qui
existe entre la phraseologie employee par les deux auteurs. On
peut en eflet resoudre une difficulte toute verbale eu faisant passer,
dans la formule de Kant sur les sigues, l'ordre mome qu'Aristote
suivait dans sa formule sur les predicats. Dans la formule a
laquelle Kant conduit: «tel signe convient ä tel autre signe, cet
autre signe convient a tel objet, donc le premier signe convient ä
cet objet», l'ordre des termes est le meme que dans la formule
d'Aristote «A s'attribue de B; B s'attribue de C; donc A s"attribue
de C» ^"). Dans les deux cas, le moyen logique occupe en effet
la place moyenne entre les deux extremes, et cette superiorite
toute mecanique de la formule employee est ce qui designe la
!'■* figure comme plus facile a suivre pour la pensee. Mais
precisement cette facilite empirique de comprehension ne doit pas
faire conclure ä une superiorite rationnelle dans le fond des clioses.
Un algebriste ne ferait aucune difference entre cette serie de for-
mules: «x = 5; 5 = y; donc x = y», et cette autre serie «x = 5:
y = 5; donc x = y». II faut choisir entre les deux points
de vue. Ou bien, comme on Fadmettrait en algebre, toutes ces
formules sont indifferentes, et, dans ce cas, Kant n'a pas le droit
de dire que l'une d'entre elles est le prototype, qu'elle presente
seule un raisonnement rationnel pur et que le transport verbal
de quelque partie d'une autre formule, pour la ramener a la
precedente, constitue une modification reelle, par laquelle le
raisonnement apparait hybride ou mixte. Ou bien en effet il y
a, comme nous le croyons volontiers, autre chose qu'une difterence
purement verbale entre les ligures, parce que la position du moyen
terme correspond a des groupements differents de la quantite,
raodifiant par la meme les rapports de genre et d'espece. Mais
alors, si chaque figure diftere de la P'^ par un element reel,
l'acte par lequel on la ramene a la P« est autre chose qu'une
2") „ Ein Merkmal B von einem Merkmal einer Sache A ist ein Merkmal
der Sache A selbst"; loc. cit. p. 59: en d'autres termes: _B ist Merkmal von
C; C ist Merkmal von A; B ist Merkmal von A; » ou, comme ecrit Kant:
-C hat zum Merkmal B; A hat zum Merkmal C: also A hat /.um Merkmal B".
80 E. Thouverez,
transmutatioQ purement verbale; c'est im raisonnement particulier
dont la I""« figure ne rend pas compte, qui est quelque cliose
d'irreductible, et qui, comme M. Lachelier Ta fait vüir, est, poiir
chaqiie figure, cette figure meine.
De meme enfin que Kant fait une distinction, que ses principcs
justifient mal, eutre la valeur de la F*" ligure et celle des suivantes,
de meine il etablit une gradation, que ses principes n'autorisent
guere mieux, entre les diverses ligures derivees. Ici donc, comme
il arrive souvent pour les discussions d'un caractere purement
theorique, deux Solutions opposees produisent des consequences
analogues. Que la I"^' figure seit seule existante, comme le veut
Kant, ou qu'elle soit simplement la premiere de toutes en valeur
logique, il en resulte toujours que le degre de perfection des figures
suivantes se mesurera sur leur rapport a la I'"'" et siir la facilite
de leur reduction. Et si Ton objecte quo Kant, comme nous le
disions plus haut, ne doit etablir aucune difterence de valeur entre
des figures indifferemmeut subtiles, il pourra rcpondre qu'il les
ordonne simplement, comme fönt les algebristes pour les termes
d'une equation, par ordre de complexite grandissante, sans que
cette complexite purement materielle revete pour lui un sens
rnetapliysique. Or, cette ordonnance etablie par Kant au point
de vue des conversions est precisement la hierarchie que Leibniz
avait admise au point de vue des rcductions ä l'absurde. Les
figures IJ et III se laissent ramener a la figure I par une conversion
unique, en faisant suivre immediatement, dans chaque figure, la
premisse non conforme au prototype, de la meme premisse convertie:
puisqu'en cffet le scheme SP ne dilTore, que par un deplacement
unique du moyen, des Scheines PP et SP. Au contraire pour hi
j[yiue ligui-e, de scheine PS, le deplacement est double, et par
consequent la reduction (Pun degre moins simple. Mais il y a
plus, et ce procedc meme de derivation n'est pas homogene").
31) Kant, 1. c, p. Gl.
1" Modes il majeure negative (retro- Quelques savants sont pieux
grades): — en sortc que: quelques jiieux sont
Aucun sot n'est savant savants
— en Sorte que: aucun savant u'est donc
sot: quelques pieux ne sont pas sots.
La IV"ne ligure du syllogisme. 81
Si Ton suit d'aborcl le pur mecanisme de Kant, ü est naturel de
rediiire la IVm«' figure au moyen de deux conversions successives,
au lieu d'une seule; or ce procede qui reussit avec les inodes de
majeure universelle negative Fepazmo, Fresizora, ne reussit pas
avec les autres modes, parce qu'en effet la majeure de la I™ figure
doit etre universelle et que la proposition E est la seule qui puisse
se convertir universellement. La derivation doit donc, pour les
autres modes, s'operer par une autre voie, qui est la metathc'se,
et qui, d'ailleurs, exprime peut-etre avec plus de comprehension
le veritable rapport de cette figure ä la I'-', et son veritable caractere
en eile- memo. Kant intervertit l'ordre des premisses: premiere
Operation; puis, ayant obtenu ainsi une conclusion qui est la
convertie de celle qu'il fallait obtenir, il la convertit ä son tour
pour retrouver la premiere: seconde Operation. La reduction s'opere
donc en deux fois, par une sorte de polysyllogisme. Un premier
syllogisme, par metathese, ramene la forme normale a la I'*^ figure,
aux depens de la conclusion ; un deuxieme syllogisme, par conversion,
ramene la conclusion a sa forme premiere. Plus encore ici que
tout a l'heure la complexite de la derivation apparait par rapport
a Celle qui reussit pour les figures anterieures. Plus haut c'etait
le meme procede redouble; ici c'est un procede dififerent, plus long
et plus detourne. Et l'on n'a pas meme la ressource de faire de
ce procede le plus lointain, par metathese, le procede unique de
derivation, parce que la metathese ne reussit pas mieux avec les
modes de majeure E, que la conversion ne reussit avec les autres;
la metathese donnerait pour eux une mineure negative, ce que la
V^ figure n'admet pas. Une nouvelle complication se presente
donc; c'est que la IV""' figure n'admet pas un procede de derivation
homogene, quelque complexe qu'il soit. Remarquous d'ailleurs
que Kant opere bien ici sur los syllogismes qui sont ceux de la
2" k majeure positive (convertis): — ^Toiit espiit est simple
Tout esprit est simple douc
Tout simple est indestructible Tout esprit est iiidestructible
douc, par metathese daus la I'** et, jiar suite: Quelque indestructible
figure : est esprit.
— Tout simple est indestructible
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV. 1. O
82 E. Thouverez,
jyme figure. et que nous avons recus comme tels, par Opposition
aux indirects classiqaes de la P*". Nous avons vu deja qu'en effet
les modes de la IV'"^" figure ne se laissent pas ramener par un
procede unique a ceux de la I"', et c'est meme ce fait qui nous
avait engages ä chercher ailleurs, c'est-a-dire dans un principe qui
leur füt propre, Tunitc d'origine de ces modes. On peut generaliser
la remarque: la 11""^ et la III'"'^' figures ne sont pas plus homogenes
a cet egard, puisque ni la conversion ni la contraposition ne
reussissent a la reduction directe de Baroko et de Bokardo. Le
seul procede uniforme, qui s'applique ä toutes les figures et h
tous les modes, est la reduction a l'absurde de Leibniz, avec une
conversion additionnelle pour la lY"^^ ligure. D'une maniere
generale d"ailleurs, la discussion de Kant conduit aux memes con-
clusions que Celles de Leibniz en ce qui concerne le rang de la
lyme figure dans la serie complete. Leibniz faisait de cette figure
la plus mal habile et la plus humble dans l'ordre des existences;
Kant fait d'elle la plus detournee et la plus nulle dans l'ordre
des non- existences: tous deux s'accordent pour Her sa fortune a
Celle des deux figures prccedentes, qu'elle suit a un degre inferieur.
L'opuscule de Kant est de 1762; le « Nouvel Orgaue » de
Lambert est de 1764. La methode generale de Lambert consiste
ä se placer sur le terrain de l'experience avec Locke pour justifier
cette experience par le rationalisme de Wolf. Dans sa doctrine
speciale du syllogisme^^), Lambert admet que chaque figure corre-
spond a certains faits d'un ordre particulier, et se justifie ration-
nellemeut par son application a cet ordre de faits ou de problemes.
Chaque figure est autonome, parce que chacunc est la mieux adaptee
a certains ordres de recherche par Opposition ;\ d'autrcs. La I'*'
figure excelle a trouver les attributs des clioses; la II'"<^ exprime
les differences entre les objets; la III""^' fournit les exemples et les
^2) Nous exposons ici la doctrine de Lambert (Neues Organen, vol. I,
§ '225 a. 232) d'apres l'analyse qu'en a donnee Ilamilton, dans ses Lectures
on Logic; Edinburg, 1874; t. II, p. 43(j— 441. — M. Lachelier a bien voulu
nous sigiiaier I'existence d'un exemplaire du Neues Organon :i la Biblio-
theque Victor Cousin; mallieureusement cette bibliotlieque ne commuuique
pas ses livres aux Uuiversites des departements.
La IVme figure du syllogisme. 83
exceptions; la IV™*" enfin a pour objet les raisonnements par con-
version, eile est par excellence la figure de la reciprocite. Dans
cliacun de ces cas, c'est teile figure qui convient par Opposition
k toute autre, et ce serait reudre les choses plus obscures, et uon
pas plus claires, que de remplacer teile figure secondaire, qui
couvieut, par la 1'*' figure qui ne convient pas. II est naturel de
dire dans la III™'' figure: « l'aimaut attire le fer, Taimant est une
pierre; donc certaine pierre attire le fer » ou daus la 11™*^: « un
cercle est rond; un carre n'est pas rond; donc un carre n'est pas
un cercle ». Au contraire, si Ton ramene ces exemples, par une
transpositiou du moyen, au scheme de la I'*^ figure, on obtient des
formules contournees qui sont moius naturelles et par consequent
raoins lucides. II n'y a donc pas un privilege en faveur de la
r*^ figure; chaque figure a egaleraent son role qui lui est propre
et la IV™*^ figure comme les autres.
Cette theorie, d'allure toute pratique, offre une ressemblance
curieuse avec certaine partie de celle d'Aristote. Pour les modernes
eu general le syllogisme est un pur objet de science, et cette
science est oiseuse pour quiconque n'y per^oit que des combinaisons
verbales et subtiles, attachante seulement pour quiconque demele,
derriere Tecliiquier des symboles, les lois metaphysiques qui les
fondent. Au contraire pour les auciens et pour Aristote, le syllo-
gisme est en meme temps un art d'utilite pratique; et c'est pour
savoir trouver des raisonnements efficaces dans la discussion qu'on
se donne la peine d"en chercher les fondements solides. Les
Premiers Analytiques ont pour but de faire voir comment on
peut trouver, le cas echeant, le moyen terme dont on a besoin;
quel syllogisme il faut construire pour montrer qu'un genre, ou
qu'une espece, est ou n'est pas; en d'autres termes pour demontrer
la verite de Fune quelconque des conclusions possibles A, E, I, 0.
Or, un commentateur autorise d'Aristote, Prantl, admet que la
jyrae figure pourrait, dans quelques cas speciaux, convenir a des
problemes poses sous la forme particuliere negative'^). On pourrait
^^) .,Die Schlussmodi 8 uud 9 könnten höchstens als technisches Mittel um
ein Problem auf 4 [Ferio] zu reduciren, eine Bedeutung haben . . .". Prantl
6*
84 E- Thouverez,
admettre par hypothese que cette conclusion 0, la plus eloignee
de A, caracteritse la IV""^ figure, qui est la plus eloignee de la
I''", et que les modes de majeure E, Fepazmo, Fresizom en sont
les represeutauts naturels. Aristote aurait donc pu aboutir. par la
recherche pratique, a cette meme IV'"'^' figure, que des consideratious
theoriques l'ont empechc de voir ou d'admettre.
Quoi qu'il en soit de cette gradation toute formelle des con-
clusions et des figures, la tlieorie de Lambert qui se refere, non
pas ii la forme des conclusions, mais au mecanisrae des figures,
part de ce fait que dans certains cas on peut poser une questioii
a laquclle il est naturellement repondu par la IV"'" figure. Cela
signiiie, non pas que le raisounement de la IV'"'^' figure — et tout
a Fheure celui de la 11™'^' sur l'aimant, de la 111°"' sur le cercle —
seraient des arrangements verbaux plus commodes pour le langage:
ce qui trausformerait la syllogistique en uue rhetorique et la
distinction des idees en une distinction des mots; mais bien que
certains rapports tres divers pouvant exister entre les idees, —
entre les genres et les especes, comme on doit dire en logique, —
chacune de ces figures est en effet la plus capable d'exprimer
cliacun de ces rapports. Si donc la IV"*^ figure est la forme de
la reciprocite, et par consequent exprime les rapports inverses a
ceux que la T"'' figure exprime, eile doit conclure ou essayer de
conclure de l'espece au genre, comme la I"^ figure conclut du genre
a l'espece. Le rapport des deux figures est un rapport d'opposition
logique, qui a fait croire a fort a une simple relation d'opposition
verbale. Un renversement purement verbal est caractcrise par ce
fait que les resultats sont les memes dans les deux termes de
ralternative; un renversement rationnel est caracterise par ce fait
que les deux termes de l'alternative sont correlatifs et par conse-
quent complementaires Tun de l'autre, non pas identiques. La
formulc X = 5 est a la fois identique et correlative a la formule
5 — x; la formule « tous les medecins sont hommes » est correlative
et non pas identique a la formule « quelques hommes » sont medecins;
t. I, p. aOG. — of. J. Laclielier, Theorie du Syllogisme, p. 482—483:
« L'origiualite de la IV^e figme etc. ».
La IVme figure du syllogisrae. 85
ou, si Ton prefere, Ic rapport qui existe entre medecius et hommes
est correlatif, et non pas identique, ä celui qui existe entre homme
et medecio. C"est ce que Lambert exprime dans une formule
assez complexe et assez penible, par laquelle il resume l'office de
la lY""' figure: « ou bien, dit-il, la IV™'^ figure exprime les especes
d'un genre en Baralip et Dibatis; ou bien eile raontre que l'espece
u'epuise pas le genre en Fesapo, Fresison, ou bien enfin eile nie
Tespece de ce qui etait nie du genre en Calentes » ^^).
Cette formule est trop breve pour qu'on en puisse tirer une
conclusion süffisante, et Ton risque de travestir la pensee de Tauteur
a la vouloir traduire, sans autre secours. Rappeions cependant
que ridee de reciprocite est celle qui caracterise la IV™- figure
aux yeux de Lambert; or dans la P*^ figure, par exemple en Barbara:
« Tont M est A; tout B est M; douc tout B est A » le terme A
designe le genre et B l'espece , aussi bien dans la conclusion que
dans les premisses. On pourrait admettre de meme que dans
Bamalip et Dimatis la conclusion « Quelque B est A » signifie
aussi: « B est espece par rapport a A qui est genre ». Cependant
on se rapprocherait davantage, semble t-il, de la pensee de l'auteur
en disant: « B est genre et A est espece; une partie du genre B
est l'espece A; l'espece A est exprimee et mise en relief parmi les
autres especes possibles du genre B »; en sorte que Ton aurait ici
dans les termes A et B, un renversement de leur role par rapport
a celui qu'ils jouent dans la I'*^ figure; et cette reciprocite caracteri-
scrait bien la W^^'- figure, oii le grand terme nominal A est reellement
espece par rapport au moyen M, et le petit terme nominal B,
reellement genre. — De meme, en Fepasmo et Fresizom. la con-
clusion: « quelque B n'est pas A » signifierait: « B est genre
et A est espece; une partie du genre B n'est pas l'espece A; il y
a dans le genre B d'autres especes que l'espece A; l'espece A
2*) Lambert, \. c, § 229, 4": « The fourth figure finds Species iu a Genus
in Baralip and Dibatis; it shows that the species does not exiiaust the
genus in Fesapo, Fresison; and it denies the species of what was denicd
of the genus in Calentes »: (Hamilton, 1. c, p. 438). — Voir les syllogismes
construits d'apres ces schemes, ci-dessus, note 24, Sino cas.
36 E. Thouverez,
n'epuise pas le genre B »; et ici eiicore la meme reciprocite
apparaitrait par rapport ;i la I"' figurc. — Pour Camenes au
contrairc la reductiou au meme sens est beaucoup plus difficile;
d'apres la Ibrmule citee plus haut, on interpreterait: « Tout A est
M », c'est-a-dire l'espece A fait partie du genre M; <; or uul M
n'est B », c'est-a-dire Telemeut auxiliairc B est nie du genre M;
«donc Ulli B n'est A », c'est-ä-dire l'espece A est nice de l'element
auxiliaire B: l'espece est niee de ce qui ctait nie du genre. Ici
encore A serait cspece et non pas genre; mais B serait un
Clement auxiliaire et un moyen veritable; le genre serait M. —
Tout cela est bien difficile a expliquer rationnellement; toute cette
hetcrogeneitc deconcerte et justifie la formule de M. Lachelier que
Lambert fait de vains eflforts pour donner un sens — au moins
un sens homogene, car ce qui n'est pas un n'est pas — a la IV""'
figure qu'il voulait defendre. Et cependant, Techec de Lambert
n'est pas une preuve d"impossibilite absolue; si la IV™'' figurc est
la plus detournee de toutes de Fusage naturel des termes, il n'est
pas ctonuant qu'elle soit la plus rebelle aux solutions simples.
II nous semble au moins qu'il y a chez Lambert un commeucement
de Solution, et que Tidee de reciprocite est bien en elTet Tidce
directrice qui caracterise cette figure. C'est donc dans cette direction
qu'il faudra chercher une explication plus complete et plus homogene
pour rendre compte rationnellement de Fexistence de la IV™'' figure,
puisqu'en fait eile existe.
VIT.
En resume, les motifs pour lesqucls on revoquc en doutc la
legitimite de la IV™'' figure se ramenent ä trois chefs: que les
preteudus modes de cette figurc sont en realite des modes indirects
des autres iigures; que le cycle logique est complet avec les trois
figures d'Aristote et se referme sur elles; enfin qu'aucune Inter-
pretation directe de la IV™'' figure n'est possible. — Le premier
motif se detruit lui-meme par la multiplicitc des formes qu'il
revet; tous les logicicns, qui invoqucnt la reductiou possible des
modes contestes a ceux des figures anterieures, ne sont pas d'accord
La IV'iie figure du syllogisme.
87
sur les voies et les moyens de cette rcduction ^^). Los uus reduisent
exclusivemeut ces modes a ceux de la P*' figure, et c'est encore
la doctrine classique; les autres admettent qu'on peut substituer
a la !'■'' figure comme prototype, pour certains de ces modes, la
II"'"' et la III'"'- figure; d'autres eucore, rencherissant sur le
caractere hybride des modes de la IV'"'', la fönt resulter de
rassociatioii entre certains modes des figures legitimes. De meme
que les divers auteurs dilferent, de meme un seul penseur peut
liesiter entre tant d'interprctations possibles, sur celle qui convient
le mieux et par suite sur la forme meme des modes a interpreter.
Dans le De natura syllogismi M. Lachelier ramene les modes
de la IV "1'' figure ;i ceux des figures legitimes secondaires et
s'ecarte, pour cette Interpretation, des schemes classiques; dans la
Theorie du Syllogisme, il revient aux schemes consacres et a Tinter-
35) p cf. ci-dessus, note 16; et J. Lachelier: Theorie du Syllogisme,
p. 483: « Baralipton, Celantes et Dabitis, sont des modes de la Ire figure ä
conclusion renversee; Fapesmo et Frisesomorum sont des modes renverses ou
retrogrades de la 1™ figure ».
2" J. Lachelier, De Natura Syllogismi, p. 38—40,: p. e.:
Omnis sapiens est homo
atqui nuUus homo est
quadrupes
ergo nuUus quadrupes est
sapiens
Omnis sapiens est homo ■
atqui uullus quadrupes est
II Camestrcs ' homo '- = IV
ergo nullus quadrupes est
■ sapiens
«... En quartae figurae quinque modos receptos, unum e sccunda, duos
vero e tertia, duos denique, quos logici extremo loco ponebant, ex utraque:
quorum nomina ideo omisimus, quod vetera nostrae rationi nou congruebant,
nova autem fingere otiosum videbatur. »
3" G. Kodier, De vi propria syllogismi; Paris, Kiincksieck, 1891;
p. 29: «. . . tum enim a forma ad materiam mens regreditur, tum a materia ad
formam progreditur. Duo itaque syllogismi inter se miscentur ita ut unus ex
duobus efficiatur. » — p. e. en ecrivant la mineure avant la majeure:
(-Philosophus est homo
Homo est animal
atqui philosophus est homo
IV
Bramautip
ergo aliquod animal est phi-
losophus
I homo est animal
in
philosophus est animal
homo est animal
aliquis homo est philo-
sophus
aliquod animal est philo-
sophus
88 E. Thouverez,
pretation par la 1'^ figiirc au moyen d'un reaversement de la
pensec. II y a done trop de voies qui s'ouvrent et qui rcussissent
pour qu'aucuue d'entre elles soit proclaraee la bonne, et toutes
les autres mauvaises; il n'y a pas ici de criterium süffisant de la
vcrite. C'est que, si la IV ^^ figure cxiste au merae titre quo les
figures legitimes secondaiies, eile doit participer a toutes les
proprietcs des figures; or ces figures, ayaut entre elles des rapports
correspondant a la syraetrie de leurs schemes, peuvent se comparer
entre elles et se reduire les unes aux autres d'autant de manieres
differentes. Chacune peut otre derivöe, par voies indirectes, de
toutes les autres. Toute figure directe est done capable, par
definition, de plusieurs demonstrations indirectes; et le fait qu'une
figure est iudirectement demontree ne prouve pas qu'elle soit
incapable d'une preuve directe. Voila pourquoi il faut passer a
un second ordre d'arguraents et voir si Ton ne pourrait pas
determiner a priori le nombre des figures legitimes et le fixer a
trois.
C'est cc que fait Aristote cn se fondaut sur les rapports de
mediation des termes; c'est ce que fait, avec un plus grand souci
de compreheusion purement metaphvsique, M. Lachelier^'^), en se
fondant sur les rapports d'attributiou ou d'inhorence des qualites
au sujet. De part et d"autre la deduction est rigourcuse; irapeccable
en soi. Exclut-elle cepeudant toute autrc deduction possible? Los
principes sur lesquels de semblablcs classilications peuvent se fonder
sont multiples, et, si chaque Classification est la seule legitime a
tel point de vue, ce sont les points de vue eux-memes qui sont
discutables. II n'y a pas en eux erreur absolue, mais peut-ötre
erreur relative; la faussete de teile doctriue ne consiste pas alors
dans une contradiction intrinseque, mais dans son inferiorite vis-a-vis
d'une doctrine plus comprehensive. Toute systöraatisation de ce
genre est un peu comme une philosophie de Thistoire, — celle de
Bossuet ou Celle de Comte — qui veut etre objective, et nc
presente au fond qu'une Synthese subjective des vues de son auteur,
Par excniple, en cc qui concerne Aristote, si cet auteur a eu
36
) J. Lachelier, Th. du Syll., p. lÖÜ-^Si.
La IVme figure du syllogisme. 89
raison de distingner au moins trois fio-ures, avons-nous tort de
percevoir une distinction de plus, qu'il n'a pas vue ou pas voulu
voir, suivant que le raoyeu — qui n'est ni plus petit que les deux
extremes, ni plus grand que tous deux — est interieur ou exterieur
ä ces deux termes? Et si Ton objecte, avec Hamilton"), que ce
IV "^'^ cas est uno monstruosite logique, parce que le moyen est plus
petit que le petit terme et plus grand que le grand, ce qui fausse
toute signification de ces mots et de ces idees, la meme monstruosite
apparait des que le moyen cesse d'etre interieur, pour devenir plus
grand que le grand terme dans la II™'' figure, ou plus petit que
le plus petit dans la III ™^ II faut donc n'accepter que la P*^
figure comme irreprochable, ou, de proche en proche, par degrada-
tions progressives, les accepter toutes, M. Lachelier admet une
fois au moins^^), dans la III™'' figure, que Tattribut peut jouer,
par accident et par abstraction, le role de substance; un pas de
plus, et l'abstractiou redoublee permettra de concevoir une
figure oii Tattribut joue le role de substance par rapport a la
substance, jouant elle-meme le role d'attribut. II est donc difficile
de poser a priori, dans une formule rigide, des regles precises,
qui defendent d'elargir ou de restreindre le poiut de vue logique
duquel on juge. Si la raison en soi est le principe a priori qui
donne naissance aux ßgures et aux modes, la recherche reflechie
et empirique est Finstrument qui decouvre peu ä peu a nos
regards le Systeme de plus en plus complet de ces forraes, et qui
nous permet de nous faire, de la raison elle-meme, une idee de
plus en plus adequate. II convient donc de resister a la seduction
meme de ces formules absolues et de chercher, par l'examen du
troisieme argument invoque plus haut, si en effct aucunc inter-
pretation directe de la IV"^'' figure n'est possible.
Essayons donc, au moins a titre d'hypothese, de foudcr
^^) Hamilton, Lectures ou Logic t. I, p. 427—428.
'*) J. Lachelier, Th. du Syll., p. 473: «nous ne donnons aux sujets
X y z le nom de A que parce qu'ils possedent l'attribut A; d'autrc part, nous
affirmons que ces memes sujets possedent l'attribut A: nous pouvous donc
egalement les designer par le nom de ce dernier attribut, et en aftirmer ea-
suite explicitement l'attribut A ».
90 E. Thouverez,
la IV^n'^ figure sur un principe aualogue ä ceux des trois pröcedentes,
et partons de ce fait (|iic, si la IV""" figure a pu etre consideree
par les logiciens classiques coinme la l'ormc indirecte de la P^
renversee, c'est qii'elle joue en effet im role inverse a celui que
joue la I'^ En prenant pour point de depart le point d'arrivee
de Jjambert, si la I'*" ligure exprime Ic raisonueinent droit et
simple, la IV""', qui procede par reciprocite ou reversion, doit
etre Finverse de la figuro fondamentale prise pour type. Si douc
la I"" figure est par excelleuce Tinstrument de la subalternation,
et si la subalternation est par excellence le raisonnement deductif
propremeut dit, qui procede du genre a l'espece et de la loi au
fait, l'inverse de la I'"*^ figure devra aller au contraire du fait :i
la loi et de Tespece au genre, et ce procede est celui de Tinduction.
L'induction dans le syllogisme: voila sans doute le paradoxe,
Tetrangete qui fait les irregularites apparentes d'une figure qu"oQ
s'attendait peu a voir a sa place dans une theorie generale de la
deductiou. La deduction et Tinduction semblent incapables de se
jüindre; la deduction se fonde sur Tidentitc, epuise tous les cas en
presence et aboutit a former un cercle complet; Finduction se fonde
sur la raison süffisante, eile depasse les faits acquis pour aller au
delä, eile tend a fermer le cercle sans Favoir parcouru tout entier.
Par le principe de continuite, pourrait-on dire, l'induction tend a
la deduction comme une serie ;\ sa limite; par le principe des
indiscernables, un certain hiatus reste toujours entre le polygone
inscrit et le cercle. Par consequent, si Ton veut faire coi'ncider ce
polygone et ce cercle, on constate toujours quelque deficit de Tun
par rapport ■.\ Tautre; si Ton veut faire rentrer Finduction dans
les cadres de Fidentite, on constate toujours un certain deficit
du raisonnement. Or, parmi les diverses formes logiques qui
appartiennent ä Fidentite, il y en a particulierement une, la
conversion, qui presente cette sorte de deficit. Toute proposition ue
se couvertit pas dans ses propres termes, et, si Fon prend pour
type la proi)Osition ideale A, c'est-a-dire Faffirmation universelle,
la conversion s'obtient par accident, c'est-a-dire par une sorte de
defaut logique. II dc'pend de uous de renverser le role relatif du
sujet et du })redicat, de faire du plus graud terme le plus petit et
La IV'ue figure du syllogisme. 91
reciproquemeiit; mais alors, poiir quo la proposition reste vraie, il
fallt que le sujet, qui ctait d'abord uiiiversel, devienne particulier.
Renverser le rapport du grand terme et da petit, c'est ren versei-
le rapport du genre et de Fespece; c'est preteiidre que, de meine
qu'on passait du genre a Tespece, on peut passer de Fespece au
geure, et c'est proprement l'induction. L'induction est douc bien
le raisonnement qui a pour proccde forme! la conversion. La
deductiou attribue aux especes les attributs du genre; Tinduction
attribue au genre, a la plus grande partie possible du genre, k
certaines parties du genre, les attributs de Tespece. Si donc la
figure IV'"'' est en effet Finverse de la I'"'', eile s'oppose ;i eile
comme ;\ la subalternation la conversion , c'est-a-dire comme au
procede deductif, le procede inductif. Or, definir ainsi la IV "''^
figure, ce n'est pas en faire une doublure vide de la I"'. On ne
fait pas de la contraposition une doublure de la subalternation,
quand on fait voir que Tune est precisement Finverse de Fautre; de
raeme, on ne fait pas de la conversion une doublure de la sub-
alternation, quand on fait voir que Fune est le procede de descente
du genre a Fespece et Fautre le procede d'ascension de Fespece
au genre; ce sont precisement ces distinctions qui, irreductibles
en elles-memes, constituent Fheterogeneite des figures irreductibles
entre elles.
Une objection se presente. La conversion est le principe par
lequel, dans la theorie de M. Lachelier que nous ne devons pas
perdre de vue, la III'"'' figure s'explique, et M. Lachelier en infere
d'ailleurs que la III'"'' figure est en effet uu commencement
d'induction. Cette consequence a ete discutee par M. Rodier,
suivant lequel la III'^'" figure marque simplement Fexistence d'un
fait sur lequel on pourra s'appuyer, si Fou veut, })0ur fonder une
induction future, mais qui, en lui meme, n'est pas encore un
commencement d'induction: de meme que, si je vais ou si je suis
dans une ville qui se trouve sur le cliemin de Paris, je ne suis
pas pour cela au commencement d'uu voyage sur Paris"). En
39) J. Lachelier, Th. du Syll., p. 48fi— 487. — G. Rodier, op. cit.
p. 25—29.
92 E. Thouverez,
fl'autres termes, la TII'"'^ figiiro donne simplement pour M. Kodier
Uli fait et uon pas une tendancc h Texpression de la loi. D'autre
part, M. Lachclier lui-memc, daiis la premiere forme que sa theorio
a revotue, mentioiine expresscment la Substitution corame jouant
un lolc dans la Constitution de cettc figure; c'est dans une seconde
vue seulcmcnt (ju'il a donne le role preponderant et exclusif a la
convcrsiou. Peut ctre pouvons nous tirer de la un cnscignement
profitable II y a une conversion sans doute dans la III'"'' figure,
comme il y en a une dans la II™'' et deux dans la deruiere;
comme il doit y en avoir necessairement dans (oute figure, con-
formeinent :i sa structure mecanique, lorsqu'on la compare a la
premiere, prise comme prototype, mais a ce comptc la conversion
serait Ic principe de toutes les figures et l'on retomberait dans
Terreur de Kant et d'Aristote, qui est precisement dcvoilee par la
thcsc de M. Lachelier sur rirreductibilito de chaque figure par
rapport ;\ la premiere. II ne suffit donc pas, pour affirmer qu'unc
figure se fonde sur la conversion, de constater qu'il y a une
conversion cliez eile; il faut montrer aussi que la conversion est
le principe special duquel dccoulent les lois specifiques de cette
figure. Or il n'en est pas aiusi, semble-t-il, pour la III'"^ figure;
l'inconvertibilito de 0, la convertibilite partielle de A ne semblent
pas y jouer un role direct. Ce qui caracterise la 111""' figure,
c'est la nccessite d'une raineure affirmative; c'est, suivant la
theorie meine de JAI. Lachelier*"), qu'un sujet etant doue de deux
attributs, on peut remplacer pratiquement la designation du sujet
par Celle de l'un de ses attributs et affirmer ainsi par accident,
de l'attribut pris comme sujet, Fautre attiibut reste tel. Or, ce
qu'il faut pour cela, c'est la presence d'un attribut positif, d'une
relation positive entre le sujet et Tattribut privilegie, capable de
jouer ce role; c'est en un mot une proposition affirmative, qui
permette la Substitution de l'un a l'autre. Cette Substitution aura
pour moyen pratique une conversion, de raeme que, dans la 11'"^'
•'") J. Lachelier, Do Natura Syllogismi, p. 37; «. . . ut, non omnis
(|uidcm substitiitio couversio, conversio auf cm nihil aliutl quam substitutio,
(juae in identica majore iiat, esse videatur ».
La IVwe figure du syllogisme. 93
figure, c'est une couversion aussi qui sert de moyen pratique a la
Contraposition. M. Laclielier a eu raison cependant de distinguer
nettemeut daus la II™'' figure la contraposition"), qui est l'essence,
de la conversion qui est l'accident; peut-etre aurait il du de
meme, dans la III™'' figure, traiter la couversion comme un moyen,
conversio ancilla substitutionis, et regarder la Substitution
seule comme l'idee directrice de cette figure.
II y aurait donc quatre iuferences directes, correspondant aux
quatre figures du syllogisme: subalternation, contraposition, Sub-
stitution, conversion. Si la Substitution a ete jusqu'ici laissee de
cote, c'est sans doute parce que le principe d'identite nous est si
naturel que nous negligeons mome de le mentionner dans une
nomenclature systematique des demarches de la raison.
La Substitution de Tidentique a l'identique est le procede le
plus simple et le plus general, celui qui est suppose au fond par
tous les autres. En ce sens, la III™'' figure doit etre la plus
simple de toutes, et c'est en efl'ct la moins surchargee de regles,
puisqu'elle est soumise a cette unique loi que la mineure seit
affirmative; c'est en un sens la plus feconde, donnant six modes
directs, tous particuliers il est vrai, suivant la remarque d'Aristote
qu'il est plus facile d'etablir une verite particuliere qu'une uni-
verselle. Enfin, et sans prendre parti ici dans la discussion qui
sert de base a M. Laclielier, et qui consiste ä considorer les iu-
ferences immediates comme des resultantes, et non pas comme des
facteurs du syllogisme*'), il semble au moins que toute inference
immediate peut se developper en un syllogisme, et revetir, par
cette forme syllogistique, un maximum de clarte. Des lors, la
Substitution pourrait etre le type sur lequel se fondent en fait tous
les raisonnements mathematiques. Ces raisonnements ne sont pas
syllogistiques, dit M. Laclielier; ils le sont, dit M. Kodier, et peut
etre cette difference de poiut de vue ") vient eile de ce qu'on n'a
Jamals enonce formellement le principe de pure Substitution parmi
*') J. Laclielier, Th. du Syll., p. 476-477.
*-) J. Lachelier, Th. du Syll., p. 4G9.
*^) J. Laclielier, De Nat. Syll.. p. 1 — 17. — G. Kodier, op. cit.
p. 40—70.
94 E. Thou verez,
les fondcments des figures. Cette enonciation, si eile a pour re-
sultat de faire rentrer dofinitivement la matliematique daus la
syllogistique, etablit, en gardant d'ailleurs les distinctions neces-
saires, une certaine unite dans l'ensemble de tous nos proccdos
rationnels, de meine qu'une unite serablable est etablie daus la
demarche des sciences naturelles, si Ton peut ranieuer rinductiou
a une forme syllogistique de la IV"^^ figure, par l'intermediaire de
la couversion.
La Probleme precis est de savoir si les regles particulicres de
la TV""' figure s'expliquent en eflet par les regles particulicres de
la conversion, si les unes et les autres coincident. Prenous d'abord
ces regles de la IV™'' figure, telles qu'elles nous sont dounees en
fait; on peut les ramener ä trois: 1 " qu'aucune premisse ne soit
partlculiere negative, en 0; 2" et 3" que la majeure affirmative
entraiue a sa suite une raiueure universelle et que la mineure
affirmative eutraine a sa suite une conclusion particuliere. Or la
premiere regle coincide avec ce fait que la particuliere negative
ne peut pas se convertir; et les deux suivautes avec cet autre fait
que toutc affirmative couvertie donne une particuliere; des lors,
en eftet, si la majeure est affirmative, le moyen, qui s'y trouve
predicat, devient par la conversion particulier, et la mineure doit
etre universelle pour que le moyen, qui s'y trouve sujet, soit pris
au moins une fois universellemeut; et inversement, si la mineure
est affirmative, le petit terme, qui s'y trouve predicat, devient
particulier par la conversion et reiid la conclusion particuliere. II
y a donc coincidence des deux regles speciales de la conversion
et des deux groupes de regles propres ;i la IV'""' figure.
En proccdant a priori, nous pouvons dire: pour que la IV""^
figure soit fondee sur la conversion, c'est a-dire sur le renverse-
ment des roles relatifs du grand terme et du petit terme, il faut
que la conclusion exprime la röciprocation une fois faite. Par
consequent, puisque le grand terme est attribut de la conclusion
et le petit terme sujet, il faut quo, daus les premisses, le grand
terme soit au contrairc sujet et le petit terme attribut; il faut
par consequent que le inoyen soit attribut du grand terme et
sujet du petit suivaut le scheme PS. Mais alors, pour que la
La IVme figure du syllogisme. 95
reciprocation s'accomplisse, il faut que, dans chacune des deux
premisses, uii extreme change de role avec le moyen, ce qui n'est
possible que si aucane de ces premisses n'est 0, puisque 0 ne se
convertit pas. On pourrait raeme ajouter que par la aussi est ex-
clue la paire de premisses IE. A vrai dire, ce coiiple est exclu
par les lois generales des modes, parce que la conclusion d'un tel
syllogisme devrait etre negative et posseder par consequent uu
attribut ou grand terme universel, tandis que la majeure I ne
pourrait fournir qu'un grand terme particulier; mais, de plus, ce
couple IE ne peut pas figurer dans la I"', ni dans la 11'"® figiire,
qui exigent des majeures universelles, ni dans la 111™*^ qui exige
uue mineure affirmative; ui, ajouterons nous, dans la IV""", qui
veut que les deux premisses forment un tout convertible. Et eu
effet, si Ton ecrit la mineure en premier lieu, et qu'on eiimine,
dans la lecture et dans la pensee, le moyen terme qui occupe alors
la place entre les deux extremes, on obtient une particuliere
negative, qui ne peut pas se convertir, ni par consequent donner
la conclusion requise. Le principe essentiel de la IV'"" (igure
parait donc etre celui-ci: que les premisses forment un couple
convertible.
De ce principe essentiel se deduisent, comme des resultantes,
les deux regles de detail signalees plus haut, que toute majeure
affirmative soit suivie d'une majeure universelle, et toute mineure
affirmative d'une conclusion particuliere; ces deux regles sont des
consequences et non des principes. Cela est evident pour la se
conde, qui indique simplement le rapport de la conclusion aux
premisses, et qui n'a pas plus droit de cite, dans la definition
synthetique de la IV™'' figure, que n"auraient droit de cite, dans
les theories de M. Lachelier relatives aux trois figures precedentes,
les regles que donne Port-Royal, et que M. Lachelier ne preud
pas la peiue de reproduire, sur les cas dans lesquels la conclusion
doit etre particuliere ou negative, suivant la nature des premisses.
Par exemple encore, dans la 111°^*^ figure conformeraent a M. La-
chelier, avec la mineure universelle on peut obtenir des modes de
majeure universelle ou particuliere; avec la mineure particuliere,
on ne peut obtenir que des modes a majeure universelle et ceci
96 E. Thouverez,
est noe consequence de la theorie generale du syllogisme, plutot
que de la theorie speciale de cette figure. De meme ici, pour la
regle qui exige avec iine majeure allirmative une mineure uni-
verselle. Eu somme, le principe general de la figure est celui-ci:
qu'il y ait reciprocite eutre le petlt et le grand extreme, gräce a
la reciprocite possible entre chacun d'eux et le moyeu, et le prin-
cipe de la reciprocite pnrait etre ainsi, suivant la formule de
Lambert, celui de la IV™'' ligure. La regle que nous euoncerons la
premiere est donc celle qui interdit Texistence d'une premisse en 0.
11 est remarquable que Port-Royal ne fasse aucune mention
de cette regle, et reduise les lois de cette figure aux rapports
derives qui s'etablissent entre la nature d'une proposition et celle
d'une autre. Ainsi cette regle d'exclusion de 0 est exprimee en
fait, plus ou moins imparfaitement, par la troisieme regle de Port-
Royal; « si la conclusion est negative, que la majeure soit uni-
verselle. » Dans ce cas en effet l'une des premisses est negative.
Des lors, ou bien c'est la majeure qui est negative et qui, devaut
etre, par cette troisieme loi de Port-Royal, universelle, prend la
forme E; la mineure doit etre alors positive, puisque de deux
premisses negatives on ne peut rien conclure, en sorte qu'aucuue
premisse n'est 0; ou bien au contraire c'est la mineure qui est
negative; mais alors, et pour la meme raison, la majeure doit etre
affirmative et doit, conformemeut a une regle anterieure, etre
suivie d'une mineure universelle; cette mineure a la fois negative
et universelle sera de forme E, en sorte que, dans ce second cas
encore, la premisse 0 est exclue. On pose ainsi in directement et
obscuremcnt la regle qui doit etre le fondement direct de cette
figure et l'eclairer tout entiere.
On peut construire les divers modes dont la IV"''' figure se
compose. La majeure peut etre quelconque, sauf 0; avec la ma-
jeure A il ne faut, conformemeut a une regle secondaire de cette
figure, que des mineures universelles, ce qui donne deux couples,
soit AA, soit AE; avec la majeure E il ne faut, conformemeut
aux regles du syllogisme, que des mineures aflirmatives, ce qui
donne deux autres couples EA, EI; enfin avec la majeure I on
ne peut avoir ni une mineure particuliere, conformemeut aux
La IV'ne figure du syllogisine. 97
regles generales des modes, ni la mineure E conformement a l'ex-
clusion generale des modes en IE, et il reste un seul couple
possible lA; ainsi se forment les cinq modes de la IV"'' figure,
donnes par les logiciens classiques dans l'ordre qu'on sait: Bamalip,
Camenes, Dimatis, Fepazmo, Fresizom:
(
Tout A est M
Majeure
E
Mineure A — Bamalip ! Tout M est B
[ Quelque B est A
C Tout A est M
„ E — Camenes { Nul M n'est B
(.Nul B n'est A
( Nul A n'est M
Mineure A — Fepazmo j Tout M est B
i Quelque B n'est pas A
rNul A n'est M
,, I — Fresizom { Quelque M est B
[ Quelque B n'est pas A
( .( Quelque A est M
I — I Mineure A — Dimatis Tout M est B
\ { { Quelque B est A.
Ainsi se construisent, dans le scheme PS qui est le leur, les
cinq modes de la IV™'' figure. Cette construction mecaniquement
reussit, parce que la conclusion est rigoureusement conteuue dans
les premisses; eile y est contenue par voie d'identite ou d'ecthese,
qui enveloppe, comme uu cas particulier et legitime, la quanti-
ficatiou du predicat, lorsque cette quantification est uecessaire pour
mettre en relief I'identite qui existe entre une partie d'uu attribut
et la totalite ou partie d'un sujet. Le sort de la IV'^^'' figure est
lie, nous l'avons dit et nous reviendrons sur ce point, au sort de
la theorie d'Hamilton. Cette construction mecanique doit corre-
spondre ä un principe logique, de tous points analogue a ceux que
Port-Royal institue pour les autres figures. Nous essaierons plus loin
de Tetablir a peu pres sous cette forme: si l'attribut positif ou negatif
de tout un genre appartient a la totalite d'une espece contenue dans
ce genre, inversement l'attribut positif ou negatif de l'espece peut
n'appartenir qu'a une partie du genre dont cette espece fait partie.
Cet enonce fait immcdiatement prevoir les conclusions partielles en
I ou en 0, et nous verrons comment il rend compte aussi, par une
extension legitime, de la conclusiou E, dans le raode en apparence
anormal de Camenes. Enliu, la dilTerence de perfection logique et de
Arcliiv f. Geschiclite d. Pliilosophie. XV. 1. i
93 E- Thouverez,
valeur, que nous n'avons garde de nier entre la T'^ figure et la IV™*^,
expiique suffisamraent, nous semble-t-il la difference de simplicite et
de clarte qui existe entre la demonstratiou de la I''^ figure, teile
que M. Lachelier l'a faite, et la demonstration plus compliquee,
plus cmbarrassee de distinctions logiques et formelles, que nous
avons essaye d'esquisser pour la IV""' figure. II semble en elfet
qu'il y ait la une diü'erence de degre du plus confus au plus
distinct, plutot qu'une difference de nature, irrcductible, du de-
montrable a l'indcmontrable.
Chez M. Lachelier lui-meme, il y a uue degradation sensible,
pour la clarte a priori de la demonstration, entre les diverses
figures qu'il a egalement regardees comme legitimes, et comme
legitimemeut demontrees. La I"" figure, qui restera toujours le
prototype du syllogisme, presente seule dans tous ses dctails une
clarte parfaite, et cette clarte se tradiiit par l'application distincte,
a ses deux premisses differentes, des deux regles categoriques:
majeure universelle et mineure positive. II faut que ce soit la
mineure qui affirme, parce qu'elle joue dans le syllogisme le role
de cause efficiente, et il faut que ce soit la majeure qui soit uni-
verselle, parce quelle joue le role de cause finale. Le syllogisme
moutre, par le moyen de la mineure, que la conclusion est contenue
dans la majeure, et la I"* figure en est le type parfait. Des la
seconde figure quelque chose d'indefini apparait dans la contra-
position, qui veut simplement que les deux premisses soient de
qualites dillerentes, sans exiger d'une fa^on distincte que l'une soit
de teile qualite et l'autre de teile autre; la contraposition est
deja un certain rapport de reciprocitc entre deux premisses, dont
chacune peut jouer par rapport a l'autre soit le role positif, soit
le role uegatif. La loi d'universalite de la majeure marque seule
la difference des roles entre les deux premisses. Le dessin du
syllogisme est complet dans la I''' figure, a denii efface dans la
seconde. La III'"^ figure, plus proclie au point de vue de la qua-
lite de la V^, part de ce principe general que deux attributs d'un
meme sujet peuvent jouer Tun par rapport a l'autre le role de
sujet et d'attribut; en ce sens, il suffit qu'il y ait dans cette figure
La lV"ie tigure du syllogisme. 99
de raffirinatif et de l'universel, conditiou iniuiraa de tout syllogisme;
mais il y a plus, et raflirmation, devant aecessairement porter sur
la mineure, marque avec nettete son role de cause efficiente de
la Substitution. Aiusi la qualite reste indelioiment repartie entre
les premisses de la 11'"'- figure, la quantite entre les premisses de
la III™'^; daus le premier cas, la mineure perd de sa nettete et
s'efface; dans le second cas, la majeure. On peut rendre compte
de ces differences en remarquant que, dans la II'"^' figure, le moyen
ctant plus grand que les extremes, la liaison des premisses ne
peut s'etablir que par l'exlusion des attributs, et dans le second
cas, oü le moyen est plus petit que les extremes, la liaison s'etablit
par la Substitution des sujets, mais en somme il faut penetrer tres
avant dans le detail et dans le mecanisme des ligures pour se
rendre compte de ces distinctions, tandis que tout est immediatement
clair dans la I"' figure. A mesure donc qu'on descend les formes
du syllogismes, les premisses perdent leur distinction propre et le
.syllogisme tend a deveuir de plus en plus ce qu'il est etymolo-
giquement, une sorte de cercle entre les premisses et la conclusion,
cercle roulant et fuyant dans lequel on distingue mal aisement le
sens et le role de chaque elcment successif. La figure de la
reciprocite doit etre par excellence celle qui merite cette critique,
de presenter un rapport de plus en plus abstrait entre des
termes qui perdent de plus en plus leur caractere substantiel
et distinct. En fait la proposition 0 est egalement exclue des
deux premisses; les autres regles de la llgure se deduisent de
celle-ci par application des lois generales du syllogisme, et l'on
pourrait construire, en partant de la mineure comme base, le
tableau des cinq modes qui a ete precedemment construit en par-
tant de la majeure. Les deux premisses echangent donc reci-
proquement leur role; toutes deux peuvent etre, suivant les cas,
particulieres ou negatives; les distinctions rationnelles et a priori
s'effacent et se fondent dans le detail du raisonnement circulaire.
C'est pourquoi la derniere place, et la plus basse dans l'ordre
metaphysique, est celle qui convient a cette figure.
II y a quatre figures possibles du syllogisme et quatre especes
de conclusions possibles. II serait seduisant de dire que la IV™®
7*
100 E. Thouverez,
figure en PS correspoud ;i la IV"^*' conclusiou en 0, et que cette
figure se reduit par consequent aux deux modes retrogrades:
Fepazmo, Fresizom. On dirait avec symetrie: la I"' figure est seule
capable de fournir des conclusions de toute (|iuilite et de toute
quantite; la II'"'' De conclut que les negatives: la III"''' que les
particulieres; la IV™'^' enfln ne conclut que ce qui est ä la fois
particulier et negatif. M. Lachelier voit dans les modes en 0 les
plus caracteristiques de cette ligure, et Prantl reconnait que si
la IV '"'^ figure etait justifiee par quelque argument, eile le serait
comme procede de demonstration d'un probleme qui se presente
sous la forme particuliere negative. Enfin cette doctrine est
exprimee sous une forme absolue, dans le travail recent de M. Maier
sur la Syllogistique d'Aristote "). Cet auteur admet la legitimite
d'une IV '"'^ figure et la limite aux deux modes que nous avons
indiques. II lui parait legitime, comme ä nous, de pousser plus
loin qu'Aristote, Texamen des diverses hypotheses possibles sur les
rapports a intervenir entre les extremes et le moyen; et il voit,
dans le cas oii les extremes sont Interieurs au moyen, une sorte
de cas-limite, reductible aux formules d"Aristote. Si le moyen est
*4) H. Maier, Die Syllogistik des Aristoteles, II. Theil, II. Eälfte;
Tübingen, Lauppe, 1900; p. 261—269; savoir, p. 262: les trois premiers modes
de la IVnie figure sont des indirects de la I'^: p. 263: il n'en est pas de
meme des modes Fesapo et Fresisom: p. 264: ces deux modes represcnteut
une forme autonome de raisonnemeut; p. 266: ce raisonuemunt a la signiti-
cation d'un cas-limite; le moyen terme plus petit que le petit termc extreme
coüncide avec lui sur une certaine surface et peut etre consideröe, pour cette
portion de surface, comme le contenant : le meme moyen terme, plus grand
que le grand extreme, coincide de meme avec lui et ])eut etre considen',
pour cette portiou de surface, comme subsume, avec cette reserve que le grand
extreme et le moyeu ne peuvent echanger leur place et leur rule , sans dimi-
nution de quantite, iju'ä la condition que la majeure soit universelle negative :
p. 266: la IV'no tigure constituee par les deux modes de conclusiou 0 reuuit
cn eile les caracteres de la seconde et de la troi>ieme figures; p. 267: meme
le mode Calemes, malgre sa ressembiance apparente avec les precedents, est
exclu parce qu'il donne tout au plus dans la IVmi' figure une conclusion en 0:
et seulement dans la l'f tigure une conclusion en E; p. 268: la IVx't- figure
existe donc veritablement disliucte, formee de deux modes ü conclusion 0 tels
que le moyen positif est compris dans le petit extreme et est universeliement
exclu du grand extreme.
La IVrae figuie du syllogisme. 101
subsume au petit terme il peut etre coDsicIcre, pour la partie qui
leur est commune, comme le subsumant; et .si le moyen est
exterieur au grand terme, il peut etre considerc de meme, pour
la partie commune a Tun et a l'autre, comme subsume, ce qui
ameue ä euoncer un principe analogue ä ceux qu'Aristote enonpait
pour les figures preccdentes: il y a syllogisme dans la IV ™f' figure
lorsque le moyen terme (positif) est compris dans l'extension du
petit et qu'il est, ajoute Maier, une determination negative du
grand terme (un attribut universellement nie du grand terme).
Distiugjuons dans Maier la tlieorie generale du cas-limite et
la restriction de cette tlieorie au cas special des majeures en E.
La theorie generale coincide avec celle qne nous venons nous-
meme d'exposer; le gcnre deborde Tespece, mais, la debordant, il
coincide avec eile sur une certaine surface, et cette surface de
coincidence suffit pour qu"on puisse appliquer, partiellement au
moins, de Fespece au genre ce qui a ete dit du genre a l'espece.
L'application toute mecanique de cette theorie conduirait a quatre
combinaisons possibles, suivant que le rapport du moyen terme
au petit, ou du moyen au grand, ou de tous deux, ou d'aucun
des deux, est negatif; et c'est seulement dans le cas oii le rapport
du moyen au grand est universel negatif qu'il y a, dit Maier,
syllogisme possible, c'est-a-dire ici dans les modes de majeure E.
Le motif en est que cette proposition seule est convertible, sans
alteration quantitative et que par cousequent eile seule permet
au grand terme et au moyen d'intervertir leur role sans alteration.
C'est faire, comme nous l'avons dit, des lois essentielles de la
conversion, le fondement essentiel des modes de la IV i"' figure et
nous sommes particulierement heureux de cette coufirmation de
notre these. Mais, s'il est vrai que, en ce sens, les modes en E
sont les plus immediatement demontrables et provoyables, il ne
semble pas qu'on ait le droit d'exclure les autres qui se laissent
moins directement expliquer. Des quatre combinaisons enoncees
plus haut, une seule est a priori condamnee par les lois generales
du syllogisme, celle qui presente deux rapports negatifs, puisque
de deux prcmisses negatives ou ue peut rien conclurc; la seconde
est acceptce par Maier, lorsque le grand terme exclut le moyen;
1Q2 E. Th Olive lez,
]a troisieme est rejetöc par lui avec uiic sorte de regret, lorsque
le moyen cxclut le petit termc, toujours universellement, en
Cameues. Maier avoue quo ce mode ressemblc beaucoup aux
preccdents ; il le rejette ccpendant pavce quo, dit-il, avec ce mode,
la conclusion universelle n'est possible qiTe daus la 1'"'^ figure;
quand on Ic construit dans la IV'"" c'est tout au plus s'il peut,
dans le cas le plus lavorable, donuer unc conclusion particuliere,
et cn fait il ne conclut pas. Nous comprenons mal cettc allcgation
qui n'est pas suffisammeut dcmontrce par Tauteur. Elle provient
d'une Identification contestable entre Camenes et Celantes, et semble
contredite par la possibilite de construire, dans le sclicme PS, Ic
mode aiusi designe: «tous Tes A sont M; nul M n'est B; douc nul
B n'est A». Comme nous le disions plus haut, les roles de la
majeure et de la mineure sont suffisamment echangeables dans la
IV m« figure pour que Texclusion du petit terme produise le mcme
resultat, ici, que tout a l'heure celle du grand terme; et mome
l'avantage est du cote de ce mode, qui, par une sorte de paradoxe
deja Signale, conclut seul dans cetto figure universellement. Enfin
la quatrieme combinaison, qui suppose les deux rapports affirmatifs,
est cgalement ex eine par Maicr, et cette exclusion doit etre justiliee
chez lui par le fait que les affirmatives ne se convertissent pas
universellement, et par consequent par la nccessitc, oii Ton est, de
quantifier le predicat de la mineure une fois convertie pour con-
server au moyen son universalite, dans les modes affirmatifs. Cette
assertion absolue l'amene donc a dire que les trois modes a majeure
affirmative ne sont au fond que des indirects de la I"' figure.
C'est reproduire, sans dcmonstration nouvelle, pour une partie des
modes coutestcs, ce qui est dit usuellement de tous. Or, les modes
aiusi rejetös, s'ils sont de la P" figure, y constituent des epi-
syllogismes, par intercalation d'une conclusion sous-entendue, de
laquelle dcrive, par voie secondaire, la conclusion qu'on recherche.
Mais le fait positivement etabli, c'est quo ces syllogismes sont autre
chose, puisqu'ils existent cnPS, et puisqu'ils reussissent dans ce schcme.
Au fond l'argument fundamental de Maier est un argument a priori; il
pense que la IV""' figure rcussit parce qu'elle cumule les caractcres
de la II""" figure, oii le moyen est plus grand quo les deux prcmisses,
La IVnic figure du syllogisme. 103
et ceux de la III™'' oü le moyeu est plus petit que tous les deux;
et que par cousequent eile doit conclure ce qui est negatif comme
daus la II""', et particulier comme dans la \[l"^'', ce qui est a la
fois negatif et particulier, c'est-a-dire 0. Mais cette hypothese trop
coustructivc est demeutie par les faits, et eile devait l'etre parce
qu'elle applique a tort aux modes de la IV ™f' figure le sens compose
au lieu du sens divisc. II ne faut pas dire que cette figure conclut
a la fois comme la 11""' et comme la III '^'', mais tantot comme
l'une et tantot comme l'autre, et qu'elle peut par consöqueut
donner des conclusions universelles comme celle-lä et aflirmatives
comme celle-ci; la conclusion A seule lui manque. Les regles qui
excluent certaines conclusions sont par definition restrictives, et
doivent etre enteudues limitativement. Pour que la conclusion
ne puisso pas etre affirmative, il faut que le moyeu soit plus grand
que les deux extremes; or il n'en est rien dans la IV'"'' figure.
Pour que la conclusion ne puisse pas etre universelle, il faut que
Ic moyen soit plus petit que les deux extremes; or il n'en est
rien dans la IV "'*^ figure. Au contraire, pour que la conclusion
ne puisse pas etre universelle affirmative, il suffit que le moyen
ne puisse pas jouer son role dans toute sa plenitude, röle qui
cousiste a etre a la fois plus grand que le petit extreme et plus
petit que le grand: c'est pourquoi la IV""' figure, oii le moyen ne
joue pas plus ce role intcrieur que dans les deux precedentes, ne
peut pas conclure en A, et cette conclusion est la seule quo la
j^ymc ßgm-e exclut.
Peut-on donner eniin des modes de la IV""' figure une ex-
plication rationnelle qui les justifie? Les cinq modes se divisent
en deux groupes. Le premier est celui des convertis, dont
Bamalip est le type. La conclusion de Bamalip «tous les A . . .
sont B; donc quelques B sont A» signifie que, si A est espece,
dans les premisses, par rapport a B qui est genre, toute l'espece
A est contenue dans le genre B; mais inversement, dans la con-
clusion, une partie seuleraent du genre B est contenue dans
l'espece A. En d'autres termes, le genre n'est pas identique a
l'espece, et le rapport de Fun a l'autre n'est j)as reversible; ce
qui est universellemeut conclu de l'espece au genre n'est que
104 ^'- Thouvcrez,
particuliercment coüclii du gcnrc a Tespece: «Tous les chevaux —
ctant paehydcrraes — sont quadrupedcs»; mais iuversemeiit
«Quelques quadrupedcs seulemcnt sont clievaux», et j'aurais tort
d'induire, cn vüyant tous les chevaux quadrupedes, que tous les
quadrupcdes sont chevaux. Ainsi Bamalip i'opond bicn, comme
nous l'avons dit, a la non revcrsibilite de la deduction et de
rinduction. II cn est de mcme de Dimatis, en remplavant par
exemple «Tous les chevaux» par «Quelques mammifcres». — Le
mode negatif Camenes peut sc coustruire ainsi: «Les chevaux —
qui sont pachydermes — ne sont nulleraent oiseaux; donc les oiscaux
ue sont nullement chevaux»; eu d'autres termes: si une espcce ne
fait aucunemcnt partie d"un genre, le genre ne fait aucunement
partic de Fespece. Nous avons ici la contre-partie negative de ce
qui preccde, avec cette dilTerence que l'existence d'un rapport
positif de Tespece au genre se renverse toujours particulierenaent
du genre ä l'espcce, tandis quo Tabsence absolue de relatiou
d'espcce ä genre se renverse universellement cn une absencc de
relation du genre a l'espece. De 1;\ l'apparence paradoxalc de
Camenes qui conclut seul universellement dans la IV""' figure.
On pourrait dire, pour revenir a notre scheme de Tinduction, quo
la deduction et Tinduction coincident dans un seul cas, c'est lorsquo,
aucun motif n'existant de dcduire ou d'induire, il n'y a aucune
conclusion possible de part ni d'autre. Ainsi la deduction et
rinduction coincident au sujet des reveries de Swedenborg; on ne
connait inductivement aucun fait de transmission de la pcnsee
incorporellc et Ton nc connait aucune loi positive d'oii Ton puisse
dcduire cette transmission; la deduction et Tinduction coincident
donc pour faire rejeter dans le dömaine des reves les doctrines
visionnaires. — Les modes retrogades se ramcnent a la meme
forme de raisonnement. Dans les convertis nous comparons
directement Tespece au genre: «L'espece A est au genre B; donc
le genre B est partielleraent a l'espece A», et cette comparaison
est directe parce qu'on pense aux qualitcs qui sont positivemcnt
communes a Tespecc et au genre. Mais on peut aussi comparer
l'espece A au genre B indirectemcnt, cn la comparant aux autres
cspeces contenues dans ce genre, especes dont eile didere par
La IVme figure du syllogisme. 1Q5
certaines qualites qiii soiit, par consequent, negatives par rapport
au genre. Si le genre B «quadrupede» contient , outre Tespece
A «cheval», un ceiiaiu nombre d'autres especes, «bopiif, moiiton,
etc.» qu'on appelle «M = rumiuants», nous pouvons dire: l'espece
A, eu tant qa'elle n'est pas M, est distincte du genre B qui
contient M; eile est dans uue certaine mesure heterogene au genre
B, et, reciproquement, le genre B est dans la meme mesure
heterogene ä Tespcce A. «Le cheval n'est pas ■ — les rumiuants
qui sont — uue partie du genre quadrupede; donc le genre
quadrupede, en partie au moius, n'est pas l'espece cheval». Le
raisonnement est donc analogue a celui des modes convertis; dans
UD cas on etablit une relation dliomogeneite du genre a l'espece
a cause de celle qui existe de l'espece au genre, et dans Tautre
cas une relation d'heterogeneite; le. cas particulier de Camenes
marquant, dans un meme esprit, l'absencc de relation. Le tout
se ramenerait donc assez bien ä ces trois formules:
1° Camenes:
L'especes A n'est pas uue des especes du genre B; donc le
genre B n'est aucunement l'espece A.
2° Bamalip; Dimatis:
L'espece A est tout entiere, ou eu partie, dans le genre B;
donc le genre B est en partie dans l'espece A.
o° Fepazmo; Fresizom:
L'espece A est en dehors de certaines parties du genre B;
donc le genre B est en partie hors de l'espece A.
Deux objections se presentent. L\ine est la valeur que nous
avans dounee aux termes A et B et qui sont Linverse des valeurs
que ces termes re^oivent comme genre et espece dans la I'*^' figure.
Si notre hypothese est exacte, ce reuversement des termes est
l'expression de la reciprocite des deux figures. L'autre objection
vient de la complication, encore trop grande ä notre gre, de ces
trois formules necessaires pour expliquer cinq modes. Nous ne
pouvons que dire une fois de plus: la IV""^' figure est la moins
naturelle de tuutes, et il n'est pas etonnant qu'elle soit la plus
dilficile ;i reduire a un principe logique simple. Mais cette com-
106 E. Thouverez,
plication relative ne iious paralt pas une raison süffisante pour
röliminer absoliimcnt. Est iiicxistant ou non-ctre ce (|ui ne peut
pas absolument etre lio au sjsteme geucral de nos connaissances;
il suffit quo la IV'"'' figurc puisse se lier aux autrcs par des
rapports logiques, si dctourncs soieut-ils, pour qu'une place hü
soit due a cote d'cllcs et a leur suite. Enfin, les trois formules
mentionnees plus haut sc ramenent peut-ctre a cclle-ci, plus
synthetique: la IV'"'' figurc comparc l'espece a son genre, soit
pour cn conclurc, au moyeu des rcsscmblanecs qu'il y a cutrc
toutes les cspcces, que ce qui est vrai de Fespecc au genre est,
partiellement au moins, vrai du genre a l'espece; soit pour en
conclure, au moyen des dissemblances spccifiques qu'il y a d'une
espece a une autre dans un mome genre, quo ce qui est partiellement
faux de rcspcce au genre est partiellement faux du genre a
l'espece.
Ainsi sout justifies, semble t-il, en raison et en droit, les ciuq
modes que nous avons tircs directement du scheme de la IV'"''
figure, cn nous appuyant sur les lois de la conversiou. Les lois
de la conversion reussissent dans Femploi que nous en avons fait,
mais nous avons remarque par avance, et il est temps d'y insister
avec force, quo cette reussite etait due a l'usage de la quanti-
(ication du predicat dans certains modes au moins et peut-etre
dans tous. Cette objection suffira a ebranler et a ruiner toute
notre doctrine, dans Tesprit de quiconque repousse la tlicorie
d'IIamilton, comme decidemeut incompatible avec la definition
et la nature du syllogisme. Nous n'essaierons pas d'attenuer cette
difficulte cn niant la relation qui existe entre notre doctrine parti-
culirrc sur la IV""' (igure et la doctrine plus generale d'IIamilton
sur la legitimitc qu'il y a a quantifier le predicat dans les cas oü
cela est nccessaire. Nous n'essaierons pas non plus de restreindre
cette difficulte, cn montrant que les modes retrogrades y cchappcnt
et cn limitant notre dcmonstration a la ligure mutilee, preconisee
par Maicr. II est certain que la quantification apparait flagrante
dans les modes affirmatifs: Bamalip et Dimatis, « tous les A sont M;
tous les M sont 13; » et si je conclus: « donc quelques B sont A »,
c'est parce que j'ai pensc dans la mineure: « tous les M sont B;
La IVine figure du syllogisrne. 107
doDc quelques B sont tous les M; et, etant tous les M, sont les
M qui sontA; et par cousequent sont eux-memcs A ». La meine
quantification existe au fond dans les autres modes, et, si eile ne
l'rappe pas de la meme maniin-e, c'est siinplement parce que la
scolastique nous a habitues a cette inconsequence de regarder
toujours le predicat d'une negative comme universel, ce qui est
vrai, et de quantilier aiusi ce predicat tout en pretendant qu'on
no quautifie pas, ce qui est faux. Dans le mode Camcnes, le plus
apparente aux deux precedents, c'est par une sorte de hasard que,
la mineure etant negative, la quantification scolastique s'opcre saus
s'avouer. Dans les modes retrogrades, c'est la majeure qui est
negative et qui quantifie tacitement le predicat, ce qui evite la
peine de le quantifier d'une maniere apparente dans la mineure;
mais au fond le procede de raisonneraent est toujours le meme,
et ne reussit que par Tintermediaire diine quantification, tacite
ou expresse. Les modes de la IV"^'' figure ne sont legitimes que
si la quantification du predicat se justifie elle-meme.
Or, nous croyons qu'elle se justifie, et que les arguments qui
ont cte opposes a la theorie d'Hamilton, tantot d'un point de vue
empirique par Stuart Miil, tantot d'un point de vue rationuel par
M. Lachelier, possedent une valeur absolue quand on les applique
a des propositions isolees, qui forment un acte de pensee absolue,
mais qu'il n'en est pas tont ;i fait de meme quand il s'agit de
propositions liees entre elles par les rapports de moyen a fin,
comme il arrive dans le syllogisrne. II nous semble en ett'et qu'il
y a lieu peut-otre de faire une difterence qui n'a pas cte falte,
et de distinguer la quantification du predicat comme moyen et
comme fin*^). La quantification du predicat n'est pas le but du
raisonnement, et Ton a raison de dire, en ce sens, que tout
•1^) Hamilton, Lectuies on Logic, t. II, app. VJ. — Stuart Jlill:
Examen de la Philosophie d'ilamilton, trad. E. Cazelles, Paris 1860,
p. 47L — J. Lachelier: De Nat. Syll., p. 2(1. Nous sommes redevabie ä
M. Lachelier de cette remarquc si importante, que la conclusion de Bainalip,
dans le scheme PS, est obtenue au moyen d'une (luantitication sous-entendue
de la mineure couvertie,
108 E. T h 0 u V e r e z ,
Probleme lugique est im piobleme de coinpreheasion: « Ic ciel cst-il
ou n'est-il pas bleu? Mou voisin est-il inite oii ne l'cst-il pas? »
et üoii pas Uli pioblcmo d'extensiou. Mais la cjuantite, qui n'est
pas le Iiut du raisonnement logique, en peut ctre Ic moyeu
necessaire. llaaiiltou a raison de dire quo le souci du logicieu
doit etre de savoir, dans uue scric de })ropositions qui s'enchainent,
<jucllc est exactement la limite de chacune d'elles, aliu de counaitre
si Ton a le droit d'eu tirer la consequeucc qu'ou eii a ou eilet
tiree. Et, en fait, c'est ce que la logique classiquc a toujours
accorapli, admettaut, par une sorte d'entente tacite, que l'attribut
est toujours universellemeut nie, tandis qu'il peut n'ctrc que
partiellement afilrme. Mais, en realite, si Ton peut poser en regle
de prudence pratique de ne jamais considerer le predicat d'une
affirmative comme universel, quand la quantite n'eu est pas
nettement speciliee, inversement il parait arbitraire de refuscr cette
quantilication dans Ics cas coutraires signales plus haut. La theorie
classique signilie simplemcnt ceci: lorsque vous otes en presence
d'une particuliere afOrmative, vous ne pouvez pas savoir a priori
si eile rcsulte par conversiou d'une universelle ou d'une particulicre;
mais eile ne peut pas interdire, si je suis en presence d'une univer-
selle aflirmative, de laconvertir dans la pensee, comme dit Hamilton,
en uue affirmative parti- totale qui lui est recllement identique.
La (juantitc et la qualite sont les deux elements qui se combinent
dans le syllogisme, comme le moyeu et la fin; et il faut qu'il en
soit ainsi, puisque la logique a [)our domaine les genrcs et les
especes, c'est-a-dire des divisions et des subdivisions de dasses qui
sont distinguees par la totalite ou la particularite des attributs
qui Icur conviennent. Supprimer en logique la (juantite, ce serait
recourir a un monde d'idees matliematiques, ou mieux didees
platoniciennes, (jui nauraient plus cntro olles de participation
possiblo, parcc quo la participation suppose quehjue chose de
commun et ([uelque chose de distinct, des genres et des especes,
des partics et des touts. L'essai de logi(iue qui a ete fait dans
ce sens, [)ar M. Kodier, — au momeut memo oii il distingue le
syllogisme ideal, purement (jualitatil', du syllogisme en (juelque
maniere bätaul qui a ete corrompu par Laccession adveuticc de la
f
La IV'ue figure du syllogisme. 109
quantite^^) — ue fait pas autre cliose que ce que faisait Piaton:
rcleguer la qualite pure dans im domaine ideal, qui n'est pas le
notre, et admettre eii fait l'intervention de la quantite dans uii
domaiue d'accidents, qui est le notre. Aristote ne ferait pas cette
Separation, et, par consequent, malgre les textes contraires qu'on
a releves chez lui et qui sont partiels, devrait accepter la quauti-
fication d'Hamilton dans son Systeme^'). La quantite est l'indispen-
sable moyen par lequel les relations qualitatives s'etablissent, et
le fait, pour la lY^^^' ligure du syllogisme, de supposer la quanti-
fication du predicat, fait de cette figure, une fois de plus, la
deruiere de toutes et la plus eloignee de Fideal, mais non pas pour
cela irreelle.
Si donc la IV™'' figure, avec le role que nous lui avons assigne,
est reelle et legitime, nous pouvons jeter un regard d"ensemble
sur tonte la doctrine. Les quatre figures du syllogisme corre-
spondent a quatre inferences distinctes: subalternation, contra-
positiou, Substitution, conversion; et ces quatre principes rendent
compte de toutes les demarches possibles dans le domaine logique.
La logique a pour but de comparer entre eux les termes dont le
raisonnement se sert; ces termes different par Fextension et par
la comprehension, la qualite et la quantite etant les deux Clements
*^ Kodier, op. cit., p. 37—40.
") Alistote declare qu'il ii'y a pas syllogisme sans l'expression d'un
rapport des parties au tout (An. Pr. I. c. XLI, G); il admet que les deux
langages de l'extension et de la comprehension se correspondent (I c. I, 11)
il prend comme une sorte de juste milieu la quantification du sujet par Oppo-
sition k la non quantification du predicat (I c. 1, 5). — M. Rodier suit la
comprehension pure jusqu'ä eliminer, comme batards, les modes oii la quan-
tification intervient; Hamilton suit l'extension jusqu'ä quantifier le predicat:
Aristote exclut ögalement ces deux extremes, mais il devrait, si le syllogisme
a pour but de s'appliquer aux choses, preferer a la qualite pure, qui plane
au-dessus des realites empiriques, une quantification du predicat qui serre du
plus pres possible toutes les relations etablies par la nature entre les genres
et les especes, c'est-ä-dire entre les parties et les" touts, ici bas existants,
diverseraent qualifies et quantifies. — Remarquons d'ailleurs que M. Rodier,
p. 39, recounait une logique de Fextension ä cote de celle de la comprehension,
et admet comme legitime, dans cette logicpie extensive, la quantification de
Hamilton pour remedier aux defauts de la conversion des propositions dans
la doctrine scolastique.
11(3 E. Thouverez, La IVme figure du syllogisme.
primitifs et irreductibles de toute demarche rationnello. Par la
quantitc, los espoces rcntrent daiis les genres; par la qualite, las
diflV'rences specifiques se distinguent et les proprietes generiqiies
se confondent. Les genres et les especes, disposes en hierarchie,
rentrent les uns daus les autres par inclusions successives; les
genres compares aux genres, ou les especes aux especes, soutiennent
des rapports de similitude et de difference. Le probleme sera donc
tantöt de parcourir la serie quantitative, de descendre des genres
aux especes par subalternation ou deduction proprement dite, de
remonter des especes aux genres par conversion ou induction;
tantöt, au contraire, de composer entre elles les lignes paralleles,
de distinguer les differences specifiques irreductibles, par contra-
position, de concilier au contraire les proprietes generiques,
communes, par Substitution. Passage du plus au raoius et du
moins au plus dans le domaine de lextension; passage de l'identi-
que a l'identique ou refus de passage du different au different,
dans le domaine de la compreliension: desceute et ascension, these
et antithese, telles sont, semble-t-il, toutes les demarches que peut
accomplir la pensee dans Pordre logique et que les quatre figures
du syllogisme, toutes distinctes, expriment distinctement; en sorte
qu'on n'en peut pas supprimer une seule, meme la plus indirecte,
et la plus basse, sans mutiler et detruire le concert des Operations
logiques de l'esprit; et c'est pourquoi nous croyons, avec Leibniz,
que la IV""' figure est en eilet reelle et legitime, quoique « plus
eloignee d'un degre que la seconde et la troisieme, qui sont de
niveau et egalement eloignees de la premiere ».
I
Jahresbericht
über
sämmtliche Erscheinungen auf dem Gebiete der Geschiclite
der Philosophie
in Gemeinschaft m i t ■
0. Apelt, Clemens Baeumker, Ingram Bywater, Alessandro Chiapelli,
Wilhelm Diltliey, A. Dyroff, Benno Erdmann, IT. Liidemann, Martin
Schreiner, Andrew Seth, Paul Tannery, Feiice Tocco, E. Wellmann
und Wilhelm Windelband
herausgegeben
Ludwig Stein.
I.
Die (lentsclie Litteratiir über die Vorsokratiker
1894 bis 1900.
Von
E. Welluiauil in Berlin.
Th. Gomperz. Griechische Denker. Eine Geschichte der antiken
Philosophie. 1. Bd., Leipzig 1896. VI, 478 S. gr. 8^
(Fortsetzung. Vgl. Arch. VIII, 284—290.)
4. Capitel. Anaxagoras. S. 168 — 182. — In den Voraus-
setzungen wie in den Ergebnissen seiner Forschung dem Empe-
dokles verwandt, bildet A. zu ihm den stärksten Contrast durch
seinen nüchternen Verstand, die starre Folgerichtigkeit seines
Denkens, die Schlichtheit und Objectivität seiner Darstellung. Er
besass eine hohe deductive Begabung, einen mächtig entwickelten
Causalitätssinn, aber zugleich einen auffälligen Mangel an gesunder
Intuition. Von den Eleaten ist er ganz unberührt geblieben.
5. Capitel. Empedokles. S. 188— 204. — E. ist eine un-
ruhige, lebhafte, schwer zu beurtheilende Persönlichkeit, in der
das echte Gold gediegenen Verdienstes mit dem Flittergold wesen-
loser Ansprüche seltsam gemengt ist, durch seinen Hang zur
Schaustellung und zur Aeusserlichkeit ein echter Sicilier. Als
Philosoph ist er nicht weniger Anthropologe als Kosmologe, als
Naturforscher eher Physiologe, Chemiker und Physiker als Astronom
und Mathematiker. Drei Grundgedanken der modernen Chemie
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV. 1. 3
114 K- Wellmann,
treten zuerst bei ihm deutlich hervor: die Annahme einer be-
schränkten Zahl von Urstoflen, die Voraussetzung von mannigfachen
Verbindungen dieser Stofle untereinander und die Anerkennung
wechselnder Proportionen dieser Verbindungen. Die von ihm auf-
gestellte Lehre von den vier Elementen verwechselt Grundformen
des Stofflichen, Zustände und Vorgänge, mit den Grundstoffen
selbst; trotzdem war diese Scheinwissenschaft von unermesslichem
Werthe, denn aus dieser Larve konnte sich die echte Wissenschaft
entpuppen. Seine Sinnespsychologie betont die wechselseitige An-
ziehung des Gleichen durch das Gleiche. Seine Ansichten über
die Entstehung des organischen Lebens machen ihn zu einem Vor-
läufer Darwins und Goethes. Seine Allbeseelungstheorie ist ein
gesteigerter Hylozoismus. Die merkwürdige Seelenphysik des E.
neben seiner Seelentheologie hat ihr Seiteustück schon in Homers
Zwei-Seelentheorie, welche eine Hauchseele Oj^uyr]) und eine Rauch-
seele (Oujjto?) unterscheidet; sie zeigt deutlich, dass er halb orphischer
Mystiker, halb Naturforscher gewesen ist. Der Vorwurf des Eklekti-
cismus trifft ihn weniger als der, dass seinem rastlosen Geiste die
Geduld fehlte, die neuen von ihm ausgesprochenen Gedanken zu
Ende zu denken. Dies erhellt besonders aus seinem Vcrhältniss
zu den Eleaten.
6. Capitel. Die Geschichtsschreiber. S. 205—218. — ITekatäos
und Herodotos stehen mit ihrer halb geschichtlichen Methode in
der Epoche des Uebergangs zum Zeitalter der Aufklärung.
Drittes Buch. Das Zeitalter der Aufklärung.
1. Capitel. ])ic Aerztc. S. 221—204. — AVie bei den Philo-
sophen und den Historikern, so kam :iuch bei den Aerzten der
kritische Geist zum Ausbruch; er schied aus der Naturerkennlniss
das Element der Willkür aus und schuf durch gekräftigte Hcol)-
achtung ein Gegengewicht gegen haltlose Ausgeburten ausschweifender
Phantasie und aprioristischer Speculation.
2. Capitel. Die atomistischeii Physiker. S. 254—298. —
Die Atomistik war die reife Frucht an dem Baume der alten von
den ionischen Physiologen gepflegten Stofflehre. Leukippos wurde
Die Deutsche Littoratur über die Vorsokratiker 1894 bis 1900. 115
von Parmenides uicht heeinflusst, wohl aber von älteren namen-
losen, vermutlich pythagoreischen I)eni<ern. Sein Hauptverdienst
beruht darauf, dass er eine Brücke schlug zwischen der Welt der
Substanzen und der Welt der Phänomene, indem er die Qualitiiten
auf Quantitäten zurückführte. Demokrit war kein Skeptiker,
eher ein Vorläufer Galileis, sofern er aus mechanischen Ursachen
alles erklären wollte, ohne Rücksicht auf Zweckbegriffe. Seine
Ethik erwuichs aus seiner atomistischen Weltanschauung und fand
mit Recht selbst bei seinen Gegnern Bewunderung wegen ihrer
Reinheit.
3. Capitel. Die Ausläufer der Naturphilosophie. S. 298 — H06.
— Diogenes von Apollonia, bei dem der Wirbel des Leukipp
sich mit dem Nus des Anaxagoras so brüderlich vertragen muss,
wie dieser mit dem Luftgott des Anaximenes, Hippon, Archelaos
und ]Metrodoros von Lampsakos werden hier behandelt.
4. Capitel. Die Anfänge der Geisteswissenschaft. S. 306—331.
— Sie treten hervor in einer Reihe neuer Erscheinungen, in denen
sich die Vorherschaft des Intellektualismus äussert. Es beginnt
die berufsmässige Pllege der Redekunst, die Technik verdrängt die
Empirie, Lehrbücher werden verfasst über alle möglichen Gegen-
stände. Man fragt nach den Anfängen der Cultur uud vertritt
entweder eine organische oder eine mechanische Geschichtsansicht
in dem Gegensatze der Natur und der Satzung. Die Reflexion
bemächtigt sich auch des Gebietes der Religion, der Erziehung und
äussert sich in politischen Reformentwürfen.
5. Capitel. Die Sophisten. S. 331— 351. — Der Sophist des
fünften Jahrhundeits war halb Professor halb Journalist, ein
Honorar empfangender Lehrer der Jugend, meistens auch ein Ver-
treter der aufstrebenden Aufklärung. Piaton zeichnet die Sophisten
balfl gröber, bald feiner, aber immer als Gegner. Richtig ist es,
wenn er sie im Streite mit Sokrates den kürzeren ziehen lässt.
Wo er sie mit grimmem Ernst angreift, sind aber gar nicht diese
alten, echten Sophisten gemeint, sondern seine philosophischen
Gegner, Schüler und Enkelschüler des Sokrates, vor allen Anti-
sthenes. Ein böser Unstern hat über den Sophisten gewaltet:
8*
116 K. Wclliuaiiii,
gegen sie verschworen sicli die Laune des Sprachgebrauchs und
das Genie Piatons, und ihre Schriften sind so wenig wie ihr An-
denken durch treue Schüler behütet worden. Herkömmlich be-
handelt man unter dem Namen Sophisten eine Reihe von sehr
verschieden gearteten Denkern, die gar keine besondere Klasse für
sich bilden.
Zunächst Prodi kos. Eine tiefernste Natur, der älteste Pessi-
mist, der erste Forscher, der den Sprachstoff wissenschaftlich be-
handelte und den Begriff der Adiaphora in die Sittenlehre ein-
führte. — Hippias, der Tausendkünstler, hochgefeiert, durch
seinen Troischen Dialog wohl der älteste Vertreter dieser Kunst-
form, ist kaum ein Vertreter der Aufklärung zu nennen. —
Antiphon könnte man den frühesten Nominalisten nennen.
6. Capitel. Protagoras von Abdera. S. 352 — 380. — Ein
vielseitig veranlagter Mann und gefeierter Wanderlehrer. In Athen
erhielt er von Perikles den Auftrag, dem neugegründeten Thurioi
Gesetze zu geben; Pythodoros veranlasste seine Verbannung, und
und als er auf der Ueberfahrt nach Sicilien umgekommen war, be-
klagte Euripides seinen Tod im Palamedes (um 415). Seine Lebens-
zeit wird sich etwa von 487 — 417 erstreckt haben. Der bekannte
Satz über die Götter bedeutet, dass wir von diesen nichts wissen,
sondern nur an sie glauben können. Der sogenannte homo-men-
sura-Satz bezeichnet den Menschen als das Mass für die Existenz,
nicht für die Beschaffenheit der Dinge. Allein zulässig ist die
generelle Auffassung des Satzes; man kann das sogar bei Piaton
noch daraus erkennen, dass er in seinem Dialog Protagoras ganz
anders urthcilt als im Theätet, wo unter der Maske des Protagoras
in Wirkliciikeit Aristipp angegrill'en wird. Die Schrift -spt ~iyyr^>
hat einen Sophisten der älteren Generation, nicht einen Arzt zum
Verfasser, am wahrscheinlichsten den Protagoras. Dieser war ein
persönlich ehrenhafter Mann, und seine Rhetorik diente sittlichen
Zwecken.
7. Capitel. Gorgias von Leontinoi. S. 380 — 396, — G., einer
der Begründer der griechischen Kunstprosa, hat in seinem Stile
merkwürdige Parallelen im Zeitalter der Renaissance (Guevara,
Die deutsche Litteratur über die Vorsokratiker 1894 bis 1900. 117
Lyly). Als Wanderlehrer vertritt er den Gedanken der nationalen
Einheit unter den Hellenen. Die bei Zenou bereits hervortretende
Selbstzersetzung der eleatischen Lehre führt er fort bis zur völligen
Negation des Seinsbegriffs; doch besteht sein Nihilismus nur darin,
dass er die Wirklichkeit des Einen rein Seienden leugnet, ohne
den Bestand der Sinnenvvelt zu bestreiten. Mit seinen meisten
Zeitgenossen theilt er die Auflehnung gegen den selbstsicheren
Dogmatismus der älteren Schulen; er übt Selbstbescheidung, huldigt
daher dem Relativismus und bemüht sich — wie später Sokrates
— um scharfe Umgrenzung der Begriffe. Man hat kein Recht in
seiner Entwicklung zwei ungleichartige Abschnitte anzunehmen,
denn, nach Piatons Aeusserung im Menon zu urtheilen, hat er sich
noch als Greis mit physikalischen Fragen beschäftigt, wie denn
auch seine Schüler sich als Naturkundige erweisen.
8. Capitel. Der Aufschwung der Geschichtswissenschaft. S. 396
bis 413. — Dieser Abschnitt behandelt neben der Schrift Vom
Staate der Athener den Thukydides geistvoll und eindringend
mit besonderer Wärme.
Die Anmerkungen und Zusätze (S. 418—478) am Schlüsse des
Bandes sind werthvoll durch die Angabe der litterarischen Quellen
und der Fundstellen.
E. Zeller. Grundriss der Geschichte der griechischen Philosophie.
5. Aufl. Leipzig 1898. X, 324 S.
An dem bewährten Buche hat die nachbessernde Hand des
Verf. bei der neuen Auflage weniges geändert, nur einiges hinzu-
gefügt. Wir deuten das Erheblichere kurz an. § 5. Einfluss morgen-
ländischer Bildung auf die altgriechische. 6. Wichtigkeit der Mathe-
matik, Astronomie, Medicin für die Philosophie. 16. Physik des
Pythagoras. 18. Alkmäon. 25. Anaxagoras (genauer). 26. Entstehung
der Sophistik. 27. Protagoras um 485 geboren. U. ~i'/yr^<; nicht sein
Werk. 28. Sein Subjectivismiis, nicht Griticismus. 40. Piatos So-
phist, Politikos, Parmenides sind nicht Werke der letzten Periode.
51. Die avopfxot 07x01 des Ileraklides sind „nicht mit einander
verbundene" Urkörper. 64. Verhältniss des Kritolaus zur Stoa.
118 K. Well mann,
G5. Bedeutsam der Eintritt gräcisirter Orientalen in die Philo-
soplienschulen. 72. Zweideutigkeit des Begriffs der stoischen
xaör^xovxa und xaTopilfujj-oiTot. Stoischer Kosmopolitismus und Christen-
thum. 75. Epikur über den Fall der Atome, über Vernunft, Er-
innerung, Meinung der Menschen. 80. Psychologie und Ethik des
Pauaetius und Posidonius. 81. Philo von Larissa und Karneades.
Autiochus dogmatisch. 84. Seneca und Epikur. 85. Ethische
Wirkung der jüngeren Kyniker. 89. Aenesidems angeblicher
Heraklitismus. 91. Orphisch-Dionysisches und Platonisches im
Neupythagoreismus. 93. Bedeutung der Therapeuten. 97. Biotins
Ansicht über das Verhältniss von Leib und Seele. 99. Porphyrius
als Erklärer Plotins.
Otto Willmann, Geschichte des Idealismus. 1. Bd. Vor-
geschichte und Geschichte des antiken Idealismus. Braun-
schweig 1894. IX, 696 S.
Dieses Werk des auf dem Gebiete der P;ida<TO!Jik rühmlich
o o
bekannten Verf. soll nicht bloss eine Lücke in der Geschichte tler
Wissenschaft ausfüllen, sondern zugleich als eine Art von Er-
bauungsbuch für gleichgestimmte Seelen dienen. Gross angelegt,
weit ausholend, auf umfassende Belesenheit gegründet, mit warmer
Begeisterung geschrieben, ist es erheblich mehr geeignet dem zweiten
Theile der ihm gestellten Aufgabe zu genügen als dem ersten.
Denn alle sonstigen Vorzüge werden in den Schatten gestellt durch
den einen, für einen modernen Geschichtsschreiber allerdings un-
verzeihlichen Fehler der völlig unkritischen Benutzung und naiv
harmlosen Beurtheilung der litterarischen Quellen. Der Verf. stellt
sich überhaupt (S. 135f.) gegenüber der neueren Kritik entschieden
auf den bereits von Fr. Creuzer in seiner Symbolik vertretenen
Standpunkt, es habe eine monotheistische Urreligion gegeben, deren
Erbweisheit, nach Völkern dilferenzirt, in ilcr echten Philosophie
mit erneutem Lichte erglänzt. Diese echte Philosophie ist der
wahre Idealismus.
l. Vorgeschichtliche Anfänge der Philosophie. S. 1
— 13G. — Der Idealismus, d. h. die ^^'eltbetrachtung, welche das
Die deutsche Litteratui- über die Vorsokiatiker 1894 bil 1900. 119
Gegebeue aus übersinnlichen Principieu erklärt, (indet sich in philo-
sophischer Klarheit zuerst bei Platou, im wesentlichen auch schon
vorher bei Pythagoras. Aber die Wurzeln dieser Weltanschauung
liegen noch tiefer in den vorgeschichtlichen Anfängen der Philo-
sophie, auf die Piaton selbst (Phileb. IßC u. a. a. 0.) hinweist.
Man muss daher auf das zurückgehen, was in den religiösen Tra-
ditionen aus der Uroöenbaruug von dem gemeinsamen Erbgut der
Menschheit erhalten ist. Bei den Griechen findet sich derartiges
in dem apollonischen Glaubenskreise und in der Mysterienlehre,
ausserdem in der AVeisheit der Aegypter, der Chaldäer, der Magier,
in dem Veda der Inder und in dem Alten Testament der Juden.
II, Die Theologie als Grundlage der Philosophie und
des Idealismus im besonderen. S. 137—262. — Weiter aus-
gebildet wurden die UrÜberlieferungen durch theologische Systeme
namentlich bei den Indern, wo sich an den Veda der Vedänta an-
reiht, wie bei den Juden an die Thorah die Kabbalah; die alt-
griechische Theologie dagegen ist einem Palimpseste gleich, bei dem
die homerische Mythologie eine ältere Schrift zugedeckt hat. Die
Theologie der Griechen spaltete sich in einen politischen und in
einen physischen Zweig; aus jenem entwickelte sich die gesetzhafte
Weisheitslehre ethischen Inhalts (die wir bei Miuos, Lykurgos, den
sieben Weisen, im Apollokult, in den Mysterien und bei den
Orphikeru finden) zugleich mit den sakralen Wissenschaften (der
Sprachkunde, Metrik, Tonkunde, Eechtslehre, Heilkunde, Mathe-
matik, Astronomie); aus diesem erwuchsen die Kosmologie der
ionischen Hylozoisteu und später die des Anaxagoras und Empe-
dokles, die Mystik Heraklits und der Eleaten. Alle diese ver-
schiedenen Elemente der Theologie vereinigen nun zum ersten
Male die Gedankenbildungeu des Pythagoras. Er leiht den in die
Form des Symbols und des Mythus gekleideten Vorstellungen die
Sprache der Speculation und der Forschung, seine Lehre von der
Vorbildlichkeit der si'ö-/) oder loiai ist die älteste Form des
Idealismus.
III. Der vorplatouische Idealismus. S. 263 — 365. —
Die Hauptgestalt ist hier Pythagoras, auf den der Verf. nach
120 E. Wellinaiin,
Jamblich und ähnlichen späten Quellen unbedenklich alle wesent-
lichen Stücke des Pythagorcisraus zurückführt. — Die Atomeulchre
des Leukipp und Deraokrit ist verdorbener Pythagoreismus. — Die
Sophisten, Aufklärer, denen es an historischem Sinne völlig mangelte,
bekämpften die Sittlichkeit als willkürliche Satzung und leugneten
„nominalistisch" die Gültigkeit der Erkenntniss. — Sokrates steht
mit seiner intellektualistischcn Ethik ebenso wie mit seiner Dia-
lektik an Weite des Blicks und Grossheit der Auffassung weit
hinter Pythagoras zurück. Die Stärke seiner Philosophie liegt in
ihrem „Realismus", in dem Leitgedanken, das Wesen der Dinge
als ein Gedankliches und zugleich Reales aufzusuchen.
IV. Piaton. S. 366—454. — Nach Aristoteles' Angabe sind
die Quellen der Philosophie P.'s bei Heraklit, Sokrates und den Pytha-
goreern zu suchen. Wie Heraklit schliesst er sich an die Mysterien-
lehre an, und hier hat seine Lehre von den ewigen Ideen als
Siegeln und Mustern der Dingo ihre Hauptwurzel. Ueber Sokrates
geht er in der Durcharbeitung des intelligibelen Gebietes hinaus,
mittels Deduction und Division, indem er die Denkinhalte zu Or-
ganismen verknüpft und neben die Ideen die Idealien (die Ari-
stoteles XoYtxai Suvaaetc nennt) treten lässt. Unverkennbar pytha-
goreisch ist bei P. der gesetzhafte Grundzug seiner Theologie und
die sociale Tendenz: sein Staat ist ein erweiterter pythagoreischer
Bund. In den von Aristoteles angegebenen Elementen der pla-
tonischen Philosophie findet die Annahme der Transcendenz der
Ideen und der Dualismus der Ideenlehre keine genügende Erklärung,
bei diesen Lehrstücken wird daher ein Einlluss der Magierlehre
stattgefunden haben. Das Kernvverk des ganzen platonischen
Systems ist seine Theologie. Quelle der Gotteserkenntniss ist die
mystische Intuition und die geheiligte Ueberlieferuug; das zeigt
z. B. Tim. 40 DE, denn diese Stelle ist mit Grote als ernsthaft,
nicht nach Zeller als ironisch gemeint, aufzufassen. Die Idcen-
lehre, der Schlüssel der platonischen Probleme, bedarf selbst eines
Schlüssels; denn die Schwierigkeit, dass die Ideen transcendent
und immanent zugleich sind, lässt sich nicht beseitigen. Durch
ihre „Theilnahme" bilden sie das Bindeglied zwischen Gott und
der Endlichkeit, zwischen Sein und Erkennen. Wenn P., um das
Die deutsche Litteratiir über die Voisokratiker 1894 bis 1900. 121
lüiiewerden der Ideen durch den Geist zu erklären, zu der Annahme
einer Präexistenz der Seelen seine Zuflucht nimmt, so bleibt er
hinter den Pythagoreern zurück. Seine weltllüchtige Ethik, ihre
sociale Wendung und ihre kosmische Fassung haben Parallelen in
indischen Lehren; doch tritt daneben auch das historisch gesetzliche
Element des sittlichen Lebens stark hervor, indem P. den Staat
als ein Kunstwerk darstellt, das in der Urzeit wirklich bestanden
hat; auch ist seine Gerechtigkeit etwas anderes als der indische
Dharma und steht dem Gerech tigkeitsbegrift'e des alten Testaments
näher. Seine Verwirklichung hat der platonische Staat am meisten
in den Ritterorden des Mittelalters, vor allem in dem Orden der
Deutschherren gefunden. Li den Gesetzen des greisen Philosophen
tritt die Lehre von der Sünde und von der Willensfreiheit bedeut-
sam hervor.
V. Aristoteles. S. 455 — 564. — Auch die Philosophie des
Aristoteles ruht auf theologischen Grundlagen. Die religiösen
Ueberlieferungen der Vorzeit behandelt er mit Pietät. Er hat die
Lituition von den übersinnlichen Keimen und Samen philosophisch
geprägt in seiner Lehre von der ouvaui? und svsp^cict. Diese lei-
tenden Begriffe seiner organischen Weltanschauung haben selbst
etwas dem Organischen Verwandtes, Flüssiges, Geschmeidiges. Die
Vierzahl der Ursachen bei ihm entspricht der pythagoreischen
Tetraktys. Seine Gotteslehre enthält ein mystisches Element. Die
hier nur mangelhaft vereinigte Trias: Geist, Reich der Zwecke und
Weltprocess erhielt ihre vollkommene Ausbildung erst im Christen-
thum. Li der Ethik wie in der Physik hat A. Piatons Staudpunkt
tiefer herab verlegt, aber vielseitiger und gründlicher ausgenützt.
Die Begriffe der Freiheit und des Bösen fasst er tiefer als Piaton
und Pythagoras. Seine Eutelechien vermitteln Gott und die Welt.
Erkennen und Sein, das Natürliche und das Sittliche, wie es die
Ideen bei Piaton sollen. Ideenlehre und Entelechienlehre ergänzen
sich gegenseitig, und Neuplatoniker, Kirchenväter und Scholastiker
haben sich eifrig bemüht sie zu vereinigen.
VI. Der Idealismus in der hellenistisch-römischen
Periode. S. 565—696. — Die Erneuerung der physischen Theo-
122 1'- W eil m nun,
logie iu der Stua kauii nur uls eine liiickbikhiug gelten. In der
erneuerten pytiiagoreisch-platonischen Theologie tritt das lehrharte
Elcmeüt zurück gegen das mystische. Der Ilauptvertreter der
jüdisch-hellenistischen Mystik, Philon, muss als Kahbalist aufgefasst
werden: die Abweichungen seiner Lehre von der biblischen rühren
in erster Linie von dem Widerstreite zwischen Thorah und Kabbalah
her, nicht von einer Vermischung mosaischer und platonischer
Elemente, die er zuerst vorgenommen hätte. Durch seine Logos-
ichre lügt er der Reihe der idealen Principieu ein neues Glied hinzu;
diese Lehre ist keineswegs aus einer trüben Mischung jüdischer
uud griechischer Anschauungen hervorgegangen, sondern vielmehr
ein grosses Unternehmen der Fortbildung, Ergänzung, Zusammen-
führung. — Die Römer sind für den Idealismus mehr als ein
blosser Durchgangspunkt gewesen, sie waren seiner Grundanschau-
ung innerlich verwandt, und ihre Schriftsteller haben die Philo-
sophie lateinisch reden gelehrt und durch ihre Terminologie die
griechische Begriflswelt dem Abendlande zugänglich gemacht. —
Der Neuplatonismus nimmt, indem er das mystische Element mit
Verzicht auf das gesetzhafte weiter entfaltet, eine Wendung zum
Monismus. Aber dass er alle Philosophie auf die beiden AVeg-
weiser „von Gott aus" und „zu Gott ein" hinwies, war ein grosser
und frommer Gedanke. Die Auffassung des Neuplatonismus ist
„realistisch" auf die Anerkennung eines objectiven, realen Gehaltes
aller Gedankenbildung gebaut, darin liegt ihre Berechtigung und
ihre Grösse. „Die moderne Geschichtsschreibung, welche die Philu-
sophic vorzugsweise darauf hin ansieht, wie sie ihre Begrilfe zu
einem mehr oder weniger folgerechten und künstlerischen Ganzen
gestalten, ist nominalistisch, kann eine Wahrheit als das ob-
jectivc ]\Iass dieser Gestaltungen nicht gelten lassen uud darum
jene Bestrebungen nicht würdigen" (!) (S. 68G).
Anathon Aall, Geschichte der Logosidee in der griechischen
Philosophie, Leipzig, Reisland. 1896. XV u. 251 S,
Den von Max Heinze in seiner „Lehre vom Logos" bereits
l'^72 eingehend l)ehaudelten Gegenstand untersucht der Verf. aufs
neue, um, abgesehen von einzelnen Ikrichtigungen und Ergänzungen,
Die deutsche Litteratur über die Vorsokratiker 1894 bis 1900 123
namentlich dio Veränderunwen. die der Los;o.sbe!xrifr, in seiner
Entwickelung allraählicli erfahren hat, schärfer hervorzuheben und
diese Entwickelung (in einem zweiten Theile seines Werkes) bis
in die christliche Litteratur hinein weiter zu verfolgen.
Ihren Ursprung hat die Logosidee nach A.'s Ansicht in dem
ästhetischen Bedürfnisse des anschauenden, formsuchenden
Menschengeistes, der ein immanentes Gesetz in dem Zufall der
Erscheinungen aufsucht und dieses auf einen intellectuelleu Akt
zurückführt, um so das Wesen der Dinge unserem Verständnisse
näher zu bringen. Erst allmählich befreit sie sich von der ver-
wandten Gottesidee, deren Wurzel in dem moralischen Instinkte
des Menschen liegen soll und die das Transcendente, den Abstand
des Ideals von der Wirklichkeit, mehr betont.
1 . Wie ein theologisches Präludium zu der Logosidee bei den
Griechen klingt der orphische Spruch von dem Zeus, der alles ist
(Stob. ecl. I 40); schon mehr philosophisch spricht Thaies von
einer das beseelte All durchdringenden göttlichen Vernunft und
den sie erfüllenden Dämonen. Einen Schritt weiter führt die
Reinigung der Gottesidee durch Xenophanes. Bei Parmenides
begegnet der Xame Äo;o: zuerst als erkenntnisstheoretisches Cri-
terium. — 2. Aber eine wirkliche Lehre vom Logos finden wir
erst bei Heraklit. Diesem Philosophen widmet deshalb A. eine
eingehendere Untersuchung. Er sucht die Centralidee seines Denkens,
er betrachtet ihn zuerst als Beobachter, dann als Critiker und
Ethiker, prüft die erhaltenen Sprüche über den Logos, dessen Be-
griff gegen verwandte wie ']^u/t], ava&ufiiaatc, staoipixsv/j abgegrenzt
wird, und gelangt auf diesem etwas umständlichen Wege zu dem
Ergebnisse, dass der Inhalt der Auffassung des Ephesiers von dem
Logos sich kurz in zwei Hauptgedanken zusammenfassen lasse:
1) Die Vernunft ist das universelle Paradigma für den mensch-
lichen Geist, wenngleich die Menschen ihrer Leitung sich vermöge
einer ethischen Anarchie zu entziehen geneigt sind. 2) Der Logos
ist die intellectuelle Basis der nach seinem Bilde geschalfenen Welt
und zugleich der Wahrheit zuverlässigstes und klarstes Ideal. —
o. Die wahren Nachfolger des ephosischen Logosophen sind
die Stoiker, denn bei ihnen werden seine kühnen Anfänge weiter
124 E. Wellmunn,
ausgebildet. Doch liefern vor ihnen schon andere Denkgebilde
Beitrüge von AVcrth für diese spätere Ausbildung. So Anaxagoras,
dessen voj}? als Princip der Bewegung und der Zweckthätigkeit dem
X670C, der bei Ileraklit bloss eine Norm der Vernunftgemässheit
darstellt, ein neues, wichtiges Moment hinzufügt. — 4) So ferner
Piaton, obgleich Name und Begriff des Logos in dem Sinne Heraklits
ihm fremd sind, durch seine dialectische Methode, seine Ideenlehre,
seine Teleologie und überhaupt durch seine vernunftgemässe Welt-
und Lebenserklärung. — 5) Aristoteles lehrt über den Xo^o;
nichts von besonderem Interesse; seine Weltanschauung ist idea-
listisch, teleologisch wie die seines Lehrers, doch bereichert er den
Kreis der uns beschäftigenden Gedanken durch den werthvollen
Begriff des Organischen. — 6) Bei den Stoikern werden nunmehr
die von den Früheren gelieferten brauchbaren Elemente zum Auf-
bau eines gewaltigen Ideensystems verwertet, in dem die Lehre
vom Logos das Grösste und Werthvollste ist. Die Logosidee be-
leuchtet fast alle Punkte des stoischen Gedankenkreises und be-
stimmt die Stellung der meisten entscheidend. Beherrschend tritt
sie zunächst hervor in der Physik, wo die Stoiker mit eiserner
Strenge den Monismus als dynamischen Materialismus durchzuführen
suchen. Der Logos ist zugleich Feuer und das yj'sixovixov des
Weltganzen; er gestaltet die Welt, belebt sie, bildet ihre Einheit
und ist zugleich ihr Ideal, der Grund ihrer Schönheit. Als X070C
a7Tsp[i,7.Tizo'j zerlegt er sich in unzählige zeugende Kräfte. Besonders
eigcnthümlich ist seine Entfaltung im Menschen, wo dem X070;
ivoiofOsTo? der X. -po'^opixo; gegenübertritt. In der Ethik der Stoa
vermag der Logos den Dualismus nicht zu überwinden; Uebel und
Sünde bleiben unerklärte Thatsachen, und der ursprüngliche Opti-
mismus der Physik schlägt hier in sein Gegenthcil um. Anderer-
seits führt er zum Kosmopolitismus wie zur Apotheose des Weisen.
In der pantheistischen Gotteslehre vertritt er das immanente Ele-
ment und wird daher im Unterschied von der Gottheit niemals
personificiert. — 7) Die jüdisch-alexandrinische Philosophie bis auf
IMiilon ist für die Ausbildung der Logosidee bedeutsam geworden,
indem sie Wesens- und ^Villensäusscrungon Gottes (wie Geist,
A\'ort, Weisheit) von ihm selbst ablöste, in mystischer Weise per-
Die deutsche Litteratur über die Vorsokratiker 1894 bis 1900. 125
sonificirte und so Zwisclienglieder zwischen Gott und der Welt
herstellte. — 8) In Phil on, einer Persönlichkeit von weltgeschicht-
licher Bedeutung, erscheint alles, was die frühere Entwicklung von
Heraklit bis auf die Stoiker für die Logoslehre geleistet hat, wie
in einem Centrum vereinigt und eigenthümlich verarbeitet, und
wie er der Zeit nach zwischen dem Philosophen des 5. Jahrhunderts
V. Chr. und den christologischen Debatten des 5. Jahrhunderts n. Chr.
in der Mitte steht, so hält der Inhalt seiner Lehre die Mitte inne
zwischen der altgriechischen und der kirchlichen Auffassung des
Logos.
Philons System ist einerseits aus dem alttestamentlichen Kanon,
den er anbetet und nach Art des palästinensischen Midrasch alle-
gorisch auslegt, andererseits aus der logischen Disciplin der griechischen
Philosophie Piatons und der Stoa, die er aufs höchste verehrt und
in seinen Schriften orientalisirt hat, erwachsen. Während das
Wesen Gottes nach seiner Auffassung in dem reinen, qualitätslosen,
beziehungslosen Sein besteht, das uns völlig unerkennbar bleibt,
tritt der Logos in den Vordergrund seiner Betrachtung. Dieses
eigenthümliche Wesen stellt die Vermittlung zwischen Gott und
der Welt her, indem es zugleich das Urbild alles Geschaffenen und
als Xo-p; aTrepfxatt/oc; schaffende Lebenskraft ist; im Menschen tritt
er als X070? svoia&sxo? hervor, sofern in ihm die intelligibile Ideen-
w^elt erscheint, in den sichtbaren Dingen als X. -pocpopixo^ (so
werden stoische Begriffe bei ihm leise verändert). In der Ethik
findet er sich (nach stoischem Vorbilde) in der Gestalt des Xo-^oc
TTj? cpuasoK, Ocioc oder opöo; Xoyo^. Wenn er im Anschluss an
jüdische Vorstellungen Engel, Prophet, Hoherpriester, Paraklet,
Fürbitter, Statthalter Gottes genannt wird, so heisst er doch nie
Messias, und alle diese Bezeichnungen sind nur bildlich zu fassen.
Selbst aus der Benennung „Sohn Gottes" (denn auch für die Welt
braucht Philon sie) und „zweiter Gott" darf man ebensowenig
schliessen, dass der Logos bei Philon eine Persönlichkeit sei, als
dass er mit Gott zusammenfiille; der Logosbegriff ist und bleibt
eine incommensurable Grösse speculativer Natur. Es trifft nach
Aalls Ansicht nicht einmal recht zu, den Logos für eine Emanation
Gottes zu erklären. Durch die ganze Welt vertheilt sich der eine
126 E. Welliiiaiiii,
Logos m Gestalt vieler Xo-j'ot und ouvaueic, aber an dem Gebiet
der mystischen Comtemplation findet seine Wirksamkeit eine
Grenze; denn liier wird Gott olmc Logos in seinem nackten Dasein
durch die Mcuschcnseelc crfasst. — 9) So wie Philon die Logosidee
gestaltet hatte, blieb sie ohne wesentliche Aenderuugen bis zur
Zeit Plotins zwei Jahrhunderte hindurch. Für das, was sich bei
ihm über den Logos tindet, ist wohl Philon mittelbar oder unmittel-
bar Vorbild gewesen, doch tritt ein Rückschritt in dem Reichthura
des Inhalts unverkennbar zu Tage: diese Idee ist an das Ende
ihrer Bahn gelangt und ermattet. Seine Stellung erhält der Logos
bei Plotin zwischen dem Nus und der Seele als eine Ausstrahlung
von beiden. Der Logos oder die Logoi Plotins sind Formen, die
das Sein der Einzeldinge constituiren (Xo^ot Ysvvr^-ixoi); sie tragen
einen ästhetischen Charakter und erzeugen durch Harmonie und
einheitliche Organisation das Schöne in der Erscheinungswejt, die
sonst eine gottfremde Ilässlichkeit zeigen würde. Li seiner Ethik,
der als höchstes Ziel menschlichen Strebens die Vereinigung mit
Gott in der Ekstase gilt, die den Gedanken durch den Traum er-
setzt, ist kein Raum mehr für den Logos. — Inzwischen hatte
sich bereits eine neue Bahn für die weitere Ausbildung der Logos-
idee dadurch eröffnet, dass sie, wie es viej-ten Evangelium geschieht,
mit einer geschichtlichen Person, der Gestalt Christi, verknüpft wurde.
II. DiEi.s, Elemeutum. Eine Vorarbeit zum griechischen und
lateinischen Thesaurus. Leipzig, Teubner 1899. XIV, 93 S.
In dieser W. v. Ilartel zum 60. Geburtstage gewidmeten Mo-
nographie, die aus Vorstudien für den Thesaurus der lateinischen
Sprache erwachsen und daher „elemontuin", nicht „atoi/siov" be-
titelt i.st, bietet der gelehrte Verf. über die Entwicklung eines für
die Geschichte der Philosophie hervorragend wichtigen Begriffes in
geschmackvoller Darstellung auf engem Räume reiche Belehrung
dar. Hier können wir nur die Hauptergebnisse der ITntcrsuchuiig
angeben, deren Gang die Ueberschriflcn der 9 Abschnitten andeuten':
1) Atomistik, 2) Academie, 3) Peripatos, 4) Stoa, 5) späteres
Griecheuthum, ()) Christenthum, 7) Etymologie von aTor/siov,
8) Elemeutum bei den Römern, 9) Etymologie von clcmentum.
Die deutsche Litteratur über die Vorsakratiker 1894 bis 1900. 127
1. Das Wort elementum hat Lucretius (neben ihm Cicero) in
die lateinische Litteratur eingeführt. Er bezeichnet damit zunächst
die Buchstaben des Alphabets, dann auch Epikurs Atome. Da
Epikur selbst das entsprechende griechische Wort aioi/ciov nicht
von seinen Atomen, sondern von den vier Grundstoffen des Empe-
dokles, wie sie in der Piiysik seiner peripatetischen und stoischen
Gegner auftraten, gebraucht hat, so darf man annehmen, dass
Lucretius weniger die Schriften Epikurs unmittelbar studirt, als
sich auf die bequemere Belehrung durch mündliche Vorträge epi-
kureischer Zeitgenossen gestützt hat. Diels macht w^ahrscheinlich,
dass Demokrit es war, der zuerst die Atome mit den Buchstaben
verglich, um die unendliche Mannigfaltigkeit ihrer möglichen Yer-
bindungen anschaulich zu machen, und dass dann die Metapher
sich allmählich zum philosophischen Begrift'e verdichtet habe. —
2) Li der älteren griechischen Litteratur finden wir bei den Philo-
sophen die verschiedensten Ausdrücke zur Bezeichnung der physi-
kalischen Principien (cto/cc', oi^wjia-a, /pr^tiaTct, arspixocroi , tosott,
£107], ^ucöic, va3-a, a-o[j.a), aber q-^jv/zIi nennt sie niemand vor
Piaton. Dieser redet im Theätet (201 E), von den Buchstaben als
Wortelementen ausgehend, doppelsinnig, logisch und ontologisch,
von a-oi/sia; rein terminologisch im physikalischen Sinne verwertet
er den Ausdruck im Sophisten (252 B); freier ist die Verwendung
des Wortes für geometrische Grundfiguren im Timäus, und wieder
anders gewendet dient es dem greisen Philosophen zur Bezeichnung
seiner arithmetischen Principien. Unter den Schülern Piatons
bürgert sich der Ausdruck als technische Bennung für die physischen
Urbestandtheile fest ein. — 3) In dem aristotelischen Lexicon der
Begriffe Trspl xuJv -oaa/Äc Äs^opivojv (Metaph. A) ist unserm Worte
ein besonderer Abschnitt (Cap. 3) gewidmet. Hier werden fünf
Bedeutungen von einander unterschieden: 1) die sprachliche (Laut,
Buchstabe), 2) die physikalische (Grundstoff), 3) die mathematische
(Grundsatz, Beweis), 4) die topisch-dialektische (Kleines, Einfaches,
Untheilbares), 5) die logisch-metaphysische (oberster Gattungsbegriff').
Ln wesentlichen stimmt diese Darstellung zu dem Sprachgebrauch
des Stagiriteu in seinen übrigen Werken. Die Terminologie des
Meisters halten seine Schüler fest und führen sie auf ihrem Special-
128 E. Wellmaun
gebiete weiter durcli ohne wesentliche Neuerungen. — 4. Wie
anderswo so liier lehnt sich die Stoa an den peripatetischen Usus
an. Zcnon redet von ^xov/jXo. toü Xo-j'ou und von den empedoklei-
schcn 4 Elementen. Chrysipp nennt ganz besonders das Feuer st.,
anderswo heissen bei ihm so die grammatischen Redetheile. Be-
merkenswert ist, dass die Stoiker anfangen Laut und Buchstabe
(ar. u. YpaVP-^) ^^'i^ nach dem Vorgange des Aristoteles Element
und Princip (sx. u. otp/v]) klar von einander zu unterscheiden. —
5. Im späteren Griechenthum wird die stoisch-peri patetische Schul-
sprache Gemeingut. Deshalb ist über unsern Begriff und seine
Entwicklung auf philosophischem Gebiete bis auf Plotiu und Sim-
plicius kaum etwas zu berichten. Eine eigenthümliche Ausprägung
findet sich in dem Traumbuche Artemidors, der Natur, Herkommen,
Sitte, Kunst, Name, Zeit als axotysla aufstellt. Allein wichtiger
und wirklich neu ist die Umgestaltung, die auf dem Gebiete reli-
giöser Speculation etwa um die Zeit von Christi Geburt, durch den
Ncupvthagoreismus und verwandte Erscheinungen hervorgerufen,
der Begriff des Elements erfährt. Man versetzt das Alphabet an
den Himmel und identificirt z. B. die sieben Planeten mit den
Vocalen. Bald heisst dann jedes Sternbild ein ator/slov. Unter
stoischem und persischem Einflüsse entwickelt sich nun im Anschluss
an die ältere Verehrung der Gestirne eine abergläubische Anbetung
der Elemente, wie sie im Mithrasdienst eine grosse Rolle .spielt.
Achnliche Vorstellungen bilden sich auf dem Gebiete des Judcn-
thums in Anknüpfung an die verbreiteten Anschauungen von den
Engeln. Man schwört bei den Elementen, und die Astrologen von
Fach beschwören die Elementargötter. — 6. Spuren dieser aber-
gläubischen Vorstellungen finden sich auch auf christlichem Gebiete.
Tm Neuen Tesfament liefern dafür den Beweis die Stellen Gal. 4,3
und Coloss. 2,!^, wo unter den aioi)(£rct xou /ocjjxou Gestirne, die
von Engeln beherrscht werden, zu verstehen sind. Aehnliches
bieten die Schriften der Kirchenväter; erwähnt sei, dass bei Tatian
von einer sroiystVocji? als von einer Verkörperung der Gestirngeister
die Rede ist. Da als besondere Verkörperung der heidnischen
Dämonen ihre geweihten Bildsäulen galten, so wurde axotysTov zur
Bezeichnung für eine solche Bildsäule, und endlich nahm das Wort
Die deutsche Litteratur über die Vorsokratiker 1894 bis 1900. 129
OTOtysiouv die Bedeutung verzaubern an. So bei den mittelalter-
liclien Byzantinern. Die heutigen Bauern in Griechenland ver-
stehen unter den axot/siä Elementardämonen. 7. Das Wort STot-
YßXov, von axoi/oc (Reihe) abgeleitet, bezeichnet ein Reihenglied, ins-
besondere einen Buchstaben der Alphabetreihe. — 8. Als philoso-
phischen Kunstausdruck zur Wiedergabe des griechischen a-oiysiov
gebrauchte zuerst Lucrez statt desüblicheren synomymen principium
auch elementum. Durch Cicero wurde letzteres völlig eingebürgert
in die Sprache der Wissenschaft, durch das Christenthum in die
Sprache des Lebens. — 9. Dunkel und schwierig ist die Etymologie
des Wortes. Diels giebt versuchsweise in Ermangelung von Besserem
folgende Erklärung. Da es offenbar nicht altlateinisch, sondern ein
Lehnwort ist, so könnte nach Analogie von Tapac Tarentum und
'Axpaya? Agrigentum aus dem griechischen Ddoa^ elepentum ge-
bildet und, von den macedonischeu Elephantenführern des Pyrrhus
elementum ausgesprochen, in dieser Form um 280 v. Chr. nach
Italien gebracht und zur Benennung der elfenbeinernen Stäbe
gebraucht sein, an denen die römische Jugend spielend die Buch-
staben erlernte, wie Quintilian berichtet (inst. I 126).
Eduard Norden. Die antike Kunstprosa vom 6. Jahrh. v.Chr.
bis in die Zeit der Renaissance. 2 Bde. Leipzig, Teubner
1898. XVIII, 969 S.
Von dem reichen Ertrage der in diesem trefflichen Buche
niedergelegten Forschungen, mögen sie nun Neues zu Tage gefördert
haben oder bereits Bekanntes in neuer Beleuchtung zeigen und
durch Einordnung in einen grösseren Gedankenzusammenhang ihm
eine richtigere Stellung als bisher anweisen, ist manches für die
Beurtheilung der philosophischen Schriftstellerei des Alterthums
wichtig genug, um auch in dieser Stelle erwähnt zu werden.
Als Begründer der griechischen Kunstprosa betrachtete das
Alterthum die Sophisten Thrasy machos und Gorgias, jenen
wegen der Forderung rhythmisch gegliederter Prosa, diesen wegen
seiner Redefiguren und poetischen Ausdrücke. Allein tiefer ein-
dringende Untersuchung zeigt, dass diese sophistischen „Erfindungen"
sich auf viel ältere Anfänge zurückführen lassen. Von Gorgias
Archiv f. Geschichte d. Philüsuphie. XV, 1. 9
130 E. Wellmann,
hatte schon Diels vermuthet, er sei nicht bloss in seinen philo-
sophischen Anschauungen von Empedokles abhängig, sondern auch
in der Anwendung bestimmter Klangfiguren zu rhetorischen Zwecken.
Norden stimmt dem nur theilweise zu. Aristoteles, meint er erst-
lich, finde die Abhängigkeit des Gorgias von Empedokles (de soph.
elench. 183 b 31) nicht auf dem Gebiete der >icic, sondern der
supstjt?. Sodann brauche Gorgias seine Redefiguren nicht gerade
dem Agrigentiner entlehnt zu haben, denn sie seien ja schon bei
Heraklit nachzuweisen. Und bei diesem tiefen Denker erscheinen
sie als natürlicher Ausdruck einer ganz originalen Weltanschauung,
bei späteren durch ihn beeinflussten Philosophen mehr als Nach-
ahmung. Namentlich die Figur der Antithese sei für Heraklits
Lehre von den Gegensätzen gleichsam eine gegebene Form, deren
sich dann nach ihm der Eleat Zenon, der iatrosophistische Ver-
fasser der Schrift tibcji oiattr^? und wie Empedokles auch Demokrit
bedient haben. Auch die bei Gorgias üblichen Wortspiele haben
bereits vor ihm Heraklit, Demokrit und Empedokles in ähnlicher
Weise. Der Gebrauch poetischei' Ausdrücke in Prosa, weit ent-
fernt eine Erfindung des Gorgias zu sein, beruht auf uralter,
poesievoller Redeweise des Volkes. Bei den Griechen erinnert
Heraklit durch das poetische Colorit oft an das Epos, und Demokrit
wie Protagoras bedienen sich dieses Kunstmittels gleichfalls; neu
ist also bei Gorgias nur seine übertriebene Anwendung. Dass die
Rhythmik in der Prosa keine Erfindung des Thrasymachus ist, lässt
sich schon durch die Beobachtung hexametrischer Satzschlüsse bei
Heraklit (z. B. in Fragm. 3, 21, 37, 126 Byw.) und des gehobenen
Rhythmus an anderen Stellen (Fr. 12) nachweisen. Den Gorgias
verleitet das Streben nach rhythmischer Form zu einem zerhackten
Satzbau und zu einer gesuchten, oft unnatürlichen Wortstellung.
Wo er in seinen Gedanken geistreich sein will, verfällt er nicht
minder in Unnatur. Sein Zeitgenosse Hippias gefällt sich in bom-
bastischem W^ortschwall, sein Schüler Alkidamas in schwülstigen
Ausdrücken. Aus diesen Einzelbeobachtungen folgert N., dass
Heraklit auch stilistisch eine ausserordentliche Nachwirkung auf
weite Kreise unmittelbar oder mittelbar ausgeübt haben muss.
Ueber Xenophon als Schriftsteller fällt N. im Gegensatz zu
Die deutsche Litteratur über die Vorsokraüker 1894 bis 1900. 131
der Auffassung von Blass das Urtheil, er bediene sich aller Mittel
der Rhetorik seiner Zeit im Einzelausdruck wie im Satzbau mit
Absicht, aber mit gesundem Gefühl vermeide er es, sie in über-
triebenem Masse anzuwenden, und wisse so Kunst und Natur zu
einem harmonischen Ganzen zu verbinden.
Eingehender beschäftigt sich N. mit Piatons Stil. Er scheidet
die Partien seiner Schriften, welche die dialogische Form festhalten,
von denen, die sich in fortlaufender Rede bewegen. Jene ersteren
finden ungetheilte Bewunderung im Alterthum wie noch heute,
wogegen die letzteren bei den antiken Kritikern herbem Tadel be-
gegnen. N. betont zunächst, mit Recht habe schon Aristoteles den
Dialogen Piatons eine Mittelstellung zwischen Poesie und Prosa
augewiesen. Sodann gelangt er nach sorgfältiger Prüfung der
Stellen, wo sich gorgianische Figuren und hochpoetische Worte bei
Piaton finden, zu dem Ergebniss, die Auswüchse sophistischer
Kunstprosa seien unserm Philosophen autipathisch gewesen, und
wenn er zu ihnen greife, so thue er es nur um zu parodiren oder
um etwa seine stilistische Kunst einmal zu zeigen oder bloss aus
Scherz. Dagegen entspreche es dem Naturell Piatons mehr, hoch-
poetische Ausdrücke in seine Prosa einzumischen. Freilich bringe
er sie nur bei verhältuissmässig niederen Stoffen ganz oder halb
spielerisch an; wo er sich in seinen Gedanken zum Höchsten empor-
schwinge, da erziele er die gewaltigsten Wirkungen ohne alle solche
äusserlichen Mittel. Von Piatons Sprachgewalt urtheilt N., sie
stehe im ganzen Alterthum einzig da. Dieser Schriftsteller ver-
fügte über die reichste Skala von Tönen; er war einer der wenigen,
die ein grosses Ganze gut zu componiren verstanden, nur ein
Redner war er nicht. Durch seine Gedanken wie durch die kunst-
volle Darstellungsform hat er durch Jahrtausende auf dem Gebiete
der Aesthetik, der Ethik, der Religion fortgewirkt.
An Epikur rühmt N. die wundervolle Natürlichkeit, die Zart-
heit und Wärme der Empfindung, die seine Briefe athmen (z. B.
Fragm. 176 Usen.). Aber auch bei ihm finden sich Sätze, die ganz
kunstvoll rhythmisch gebaut sind. Den Verf. des pseudoplatonischen
Axiochos, dessen Beschreibung des Elysiums (BT IC) dem mo-
9*
132 E- Wellmanu, Die deutsche Litteratur über die Vorsokratiker.
dernen Gefühle überladen erscheint, hält N. für einen Zeitgenossen
Epikurs.
Aristoteles und Thcophrast waren einig in der Verwerfung
poetischer Diction in der Prosa, wie Gorgias sie geübt hatte. Doch
hat Aristoteles zeitweilig die Antithese für ein erlaubtes Ver-
schönerungsmittel gehalten. Dass er der rhetorischen Geschichts-
schreibung, die den Spuren des Isokrates folgte, abhold war, zeigt
die schlichte Darstellung seiner 'xlOr^votiojv TroXirsta.
n.
Congresso di Storia della Filosofia e Pedagogia
in Koma.
di
Alessaudi'o Chiapelli.
Nella primavera del prossimo anno 1902, sara teniito in Roma
im Congresso Storico Internazionale, al quäle lianno gia fatta adesioue
le piü alte aiitoritä scientifiche, le piü cospicue Academie ed Istituti
di tutto il moudo civile. Fra le Sczioni che ne faranno parte, uua
e specialmente destinata alla Storia della Filosofia e della Peda-
gogia; ai lavori della quäle, per mezzo di questo Archivio che di
tali studi e oramai Torgauo piü diretto e reputato, giova sieii
chiamati tutti coloro i quali, o colla loro adesioue, o coli' opera
loro, vorranno contribuire a reudere piii fruttifero questo convegno
scieutifico. E come allorche sorse questo Periodico, tu reputato
utile ed opportuno — e il fatto ha dimostrata giusta quella
opinione — il coordinare, in certo modo, la dispersa operosita
scientifica in questo vastissimo campo di ricerche critiche, cosi
sembra ora poter riescire giovevole uua intesa fra i vari filosofi e
dotti; sia sul modo migliore onde si possa delineare una storia del
pensiero filosofico e delle dottrine e sistemi educativi in qualcuno
dei meu noti periodi storici, sia sul metodo per ordinarne le
fonti disperse e malagevoli a rintracciarsi, e prepararue uua edi-
zione e collezione critica; come appuuto accade per il periodo del
Riuascimeuto.
134 A. Chiapelli, Cougresso di Storia della Filosofia etc.
Non e il caso di suggerirc qui argomenti ad huomini che su
questo campo hanuo fatti lunghi studi ed acquistata autoritä. Chi
scrive non ne ha facolta dai Colleghi della Presidenza provvisoria.
Ci sia lecito tuttavia acceuuarc soltanto ad alcuni, sui quali ameremmo
che il Congresso valesse a raccogliere l'attenzione della critica
futura ed a promuovere studi ulteriori. Tale, a parer nostro, il
determiuare il valore che per la storia della filosofia ellenica ha
il Corpus Hippocraticum: lo illustrare i rapporti, ancora cosi
oscuri, che la Gnosi cristiana ha, da un lato, colla filosofia giudaico-
alessandrina e il Filonismo, e, dell' altro, col Neoplatonismo; il pro-
muovere e sollecitare una edizione critica di Diogene, da tanto
tempo promessa ed aspettata. Ma a qualunque periodo storico si
riferiscauo i contributi che gli studiosi del pensiero filosofico nella
storia vorranno arrecare, sarauno beue accetti e giovevoli, poiche
non vi ha periodo storico in cui nou rimangauo molti punti oscuri
da illumiuarc e molte questioui da risolvere. Chi peosi quäl posto
centrale la storia della filosofia occupi uella storia generale della
cultura da uu lato, e come stia, dall' altro, in rapporto di coutinuita
organica con ogni odierna indagine filosofica che nella storia ricerca
necessariamentc i suoi clemeuti vitali e le sue premesse, non potra
non riconoscere Talta importauza che sara per avere un tale con-
vegno scientifico di dotti e di pensatori; al quäle auguriamo che,
e per concorso d'intervenuti e per copia di contributi sia dato
conscguire resultati degui di quella che ne c stata la idea ispiratricc.
Neueste Erscheiiiuiigeii auf dem Gebiete der
Greschichte der Philosophie.
A. Deutsche Litteratur.
Radstiibner, Oberlehrer, E., Beiträge zur Erklärung- und Kritik der philos.
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tages. Lpz., W. Engelmann.
Archiv für Philosophie.
I. Abtlieiluiig:
Archiv für Gescliiclite der Pliilosopliie.
Neue Folge. XV. Band 2. Heft.
V.
Zu Leiicippus.
Von
E. Zeller.
lieber Leucipp's grundlegender und als erster Versuch einer
atomistischen Welterkläruug heute noch nachwirkender Schrift hat
ein eigenthümliches Schicksal gewaltet. Aristoteles nennt sie nicht,
wiewohl er seine für uns unschätzbaren Mittheilungen über die
Lehre ihres Verfassers nur ihr entnommen haben kann. Durch
Theophrast (b. Diog. IX, 46) erfahren wir, dass sie von dem
Demokritischen MsYa^'Atot'xocrjxo; nicht verschieden war. Sie hatte
also den Titel Aiaxosixo?, war aber schon damals in die Sammlung
der Demokritischen Schriften aufgenommen, und wurde von Demo-
krit's gleichnamigem Werk dadurch unterschieden, dass man sie
Demokrit's grossen, jenes seinen kleineu Aiazosp-oc nannte. Und
dasselbe wird uns durch die Thatsache bestätigt, dass Epikur und
seine Schüler die Existenz eines Philosophen Namens Leucippus
ganz bestritten und nur Deraokrit als Urheber der Atomistik
anerkennen wollten. Denn diese selbst in Epikur's Mund höchst
auffallende Behauptung (worüber Ph. d. Gr. I, 337, 4) lässt sich
nach Di eis' treffender Wahrnehmung (in den a. a. 0. nachgewiesenen
Abhandlungen) nur daraus erklären, dass ihm keine Schrift, die
Leucipp's Namen trug, bekannt war. Auf den gleichen Grund
Archiv f. Geschichte d. PhUosophie. XV. 2. 10
138 E. Zeller,
werden wir es zurückzufiilireii haben, dass überhaupt seit dem
Anfang des 3. Jahrhunderts von den Schriftstellern, die der ato-
mistischen Lehren erwähnen, Leucippus so selten und vielleicht
blos von solchen genannt wird, welche mittelbar oder unmittelbar
aus Thcophrast's Geschichte der Physik geschöpft hatten. Nur um
so mehr Beachtung verdienen, aber alle Angaben, die wir auf
diese Quelle zurückführen können; und so mag denn auch hier
eine solche, die meiner Darstellung der Atomistik zur Vervoll-
ständigung dient, in der Kürze besprochen werden.
Die plutarchischen Placita berichten IV, 13, If.: Arifio/pitöc,
'Eirr/.oupoc xaioc eiöwXtüv aTcoxpiatv o'iovtoci ~o opatixov auixßcd'vstv (Stob,
fügt bei: iraBoc). Stob aus jedoch nennt in seiner Wiedergabe
dieser Notiz (Ekl. I, c. 52 W.) neben Demokrit auch Leucippus,
denn er schreibt: Asu/ittttoc, Ar^poxpixoc, 'Eicixopos xaxä stocoXwv u. s. w.
Ich hatte nun früher (Ph. d, Gr. I, 913) dieser Variante kein Ge-
wicht beigelegt, indem ich annahm, der Name des Leucippus sei dem
Texte der Placita erst nachträglich beigefügt worden. Jetzt habe
ich mich überzeugt, dass es sich umgekehrt verhält, dass er
ursprünglich in unserer Stelle stand und uns in ihr von Stobäus
erhalten worden ist, und erst in der Folge ausfiel.
Alexander bemerkt nämlich in seiner Erklärung der Schrift
TT. atsöv^asoj? S. 24, 14 Weudl.: ki'(zi -(äp 6 Ar|[xoxpiTo? xo opav slvai,
xh TTjV sfjicpaaiv (das in den Augapfel einfallende Bild) täv optufxsvtov
oi-/e(3i)ai . . . Tj^sixai oe auxo? xs v.ou irpo auxou Asoxirito? xctl Gaxspov
oö ot TTspi xov LTTtxoüpov, siowAa xiva airoppsovxa 0|j.oio[xopcpa xoi?
rX'^^ tüv aTTOppsT (xauxa 8s saxi xa opoLzd) £[XTCiTcx£tv xoT? xa>v opoivxoiv
ocpOaXfxoT? xotl ouxto; xö opav ",iv£(3Öc(t, wie dies das Spiegelbild im
Augapfel beweise. Auf den gleichen Gegenstand kommt Alexander
S. 56, 10 noch einmal zurück, und auch hier bezeichnet er nicht
blos Demokrit, sondern die irspl Aeuxitttcov xal Arjjxoxpixov als V^er-
treter der Annahme, dass das Sehen durch das Eindringen der
Bilder (diioppoiai, sioioXa) iu's Auge bewirkt werde. Er kennt also
diese Lehre als Eigenthum des Leucippus, mag er sie nun aus der
Schrift desselben, oder — was mir wahrscheinlicher ist — aus
Theophrast's Geschichte der Physik als solches kennen gelernt
haben. Dann wird sie aber auch Aetius bei Theophrast gefunden
Zu Leucippus. 139
haben. Wenn er sie daher nach Stobäiis in seinem Auszug aus
Theophrast's Werk wiederholt hat, so ist diese Angabe unzweifel-
haft richtig. Indessen genügt Alexanders Zeugniss auch für sich
allein, und ohne der Verstärkung durch das des Aetius zu be-
dürfen, zum Erweis der Thatsache, dass die atomistische Theorie
des Sehens nicht erst Demokrit, sondern schon Leucippus an-
gehört.
Für uns ist die Feststelluug dieser Thatsache in mehr als
einer Beziehung von Werth. Sie liefert zunächst einen weiteren
Beleg dafür, dass Leucippus nicht allein die leitenden Gedanken
der atomistischen Physik gefunden, sondern auch ihre Verwerthung
für das Einzelne der Naturerklärung viel weiter verfolgt hat, als
man ihm nicht selten zugestehen wollte; ebenso aber auch ein
weiteres Beispiel der schon von Theophrast bemerkten vielfachen
Anlehnung des Diogenes von Apollonia an Leucippus. Denn wenn
dieser Philosoph (nach Theophr. De sensu 40) das Sehen von der
Berührung der inneren Luft mit dem in das Auge einfallenden
Bild (der l'fjicpaaic) herleitete, kann ihm das letztere nur Leucippus
an die Hand gegeben haben. Das gleiche gilt aber auch von
Empedokles. Es ist schon längst bemerkt worden'), dass dieser
Physiker seine Lehre von den Poren und den Ausflüssen, zu der
seine eigene Xaturlehre keine genügende Veranlassung bot, Leu-
cippus' Annahmen über die Idole nachgebildet habe, welche sich
von der Oberfläche der Körper ablösen und durch die leeren
Zwischenräume zwischen ihnen fortbewegen. Dieser Nachweis er-
hält immerhin eine nicht unerhebliche Verstärkung, wenn wir er-
fahren, dass auch schon Leucippus jene Annahmen zu einer Er-
klärung des Sehens benützte, welche sich von der empedokleischen
nur dadurch unterschied, dass er die Bilder in das Auge selbst
eintreten, Empedokles sie ausser demselben mit seinen Ausflüssen
sich berühren Hess. Hat aber Empedokles den Leucippus gekannt
und für wichtige Theile seiner Physik benützt, so ist auch die
Frage (Ph. d. Gr. P, 958) entschieden, von wem der Gedanke,
') Phil. d. Gr. P, 767. Diels Verhandl. d. 35. Philologenversamml. 104f.
10*
140 E. Zell er, Zu Leucippus.
die Entstehung, die Veränderung und das Vergehen der Einzeldinge
aus der Verbindung und Trennung unveränderlicher Grundstoffe
7A\ erklären, ursprünglich herrührt. Nur Leucippus kann es ge-
wesen sein, welcher diese geniale Vermittlung zwischen der er-
fahrungsmässigen Wirklichkeit und der anscheinenden metaphy-
sischen Unmöglichkeit der Veränderung auffand und eben damit
der Naturforschung seiner Zeit und der Folgezeit einen neuen Weg
zeigte.
VI.
Herakleides Poutikos und das lieliokeutrisclie
System.
Von
Prof. Dr. H. Staigniüller in Stuttgart.
lu meinen „Beiträgen^) zur Geschichte der Naturwissenschaften
im klassischen Alterthume" bin ich — soweit sich diese Arbeit
mit Herakleides Pontikos beschäftigt — zu folgendem Schlüsse
gelangt: Herakleides gab zu der von Piaton gestellten Aufgabe^)
„die Bewegungserscheinungen der Wandelsterne^) durch gleich-
förmige und im Kreise sich vollziehende geordnete Bewegungen dar-
') Wissenschaftliche ßeihige des Programms des kgl. Realgymnasiums
in Stuttgart vom Jahre 1899. Dieses Programm enthält in denjenigen Theilen,
welche von Herakleides Pontikos handeln, Ergebnisse, welche ich schon in
einem öffentlichen Vortrage am 25. Februar 1893 dargelegt hatte. So kam es
auch, dass in dem Programm eine Abhandlung von Hultsch vom Jahre 1896
(siehe Fleckeisens Jahrbücher 1896 pag. 305 sq.) sowie eine solche von Tauuery
vom Jahre 1897 (siehe Revue des etudes grecques 1897 pag. 127sq.) unbe-
rücksichtigt blieben, desgleichen eine Rostocker Inauguraldissertation (: De
Heraclidis Pontici vita et scriptis) von Otto Voss vom Jahre 1896.
2) Vergl.: Simplicii in Aristotelis de caelo commentaria ed. Heiberg
pag. 493, 1-4.
^) AVenn ich in Folgendem das Wort „Wandelstern" gebrauche, ist das-
selbe im Sinne der Alten zu verstehen, d. h. es umfasst Sonne, Mond und die
fünf den Alten bekannten Planeten.
142 H. Staigmiiller,
zustellen", zwei Lösungen, welche für ihn als „Astronom" *) völlig
gleichberechtigt waren, und welche wir heute kurz mit den Mamcn
des tychonischen ^) und des coppernicanischen oder heliokeutrischen
Systems bezeichnen.
Was nun den ersten Theil meiner Behauptung aubetrüTt —
tychonisches System — , so befinde icii mich hierbei der Haupt-
sache nach in Uebereinstimmung mit den von Hultsch^), Schia-
parelli') und Tannery^^) ausgesprochenen Ansichten. Dagegen ist
Tannery in Bezug auf den zweiten Theil jener Behauptung —
heliokeutrisches System — zu folgendem Resultate gelangt"): « En
tout cas, l'attribution a Heraclide du Pont du Systeme helioceutrique
ne repose uullement sur Tautorite de Posidonius ou de Geminus;
c'est le fait d'un aunotateur anonyme d'epoque inconnue, et pro-
bablement le resultat d'une simple inadvertance, trop facile a
commettre: eile doit donc etre consideree comme nulle et nou
avenue ». Dies zwingt mich noch einmal ausführlicher auf jenen
*) lu autikem Sinne, vergl. Anmerkung 30 dieser Abhandlung.
*) Doch hatte das von Herakleides Pontikos aufgestellte System gegen-
über demjenigen von Tycho Brahe einen erheblichen Vorzug: Uerakleides
Hess die Erde um ihre Axe sich drehen, während bei Tycho das ganze
Himmelsgewölbe rotirte.
^) Vergl. Hultsch, das astronomische System des Herakleides von Pontos
in Fleckeisens Jahrbüchern 1896 pag. 305 sq. Doch kann ich mich, aus den
in meinen ..Beiträgen" dargelegten Gründen, nicht mit der von Hultsch auf-
gestellten Behauptung einverstanden erklären, dass Herakleides l^ontikos die
oberen Planeten noch um die Erde kreisen Hess. Von hohem Werthe für
die ganze Frage dagegen ist das Ergebniss, zu dem Hultsch in Bezug auf
die einschlägige Stelle des Chalkidios kommt. Er fasst dasselbe in die Worte
zusammen: „Diese Nachricht beruht also fortan nicht bloss auf der Autorität
eines spätlateinischcn Schriftstellers, sondern sie ist so sicher, wie es nur
immer bei der Lückenhaftigkeit der Ueberlieferung möglich war, auf Adrastos
zurückgeführt worden, dem wir doch wohl eine zuverlässige Berichterstattung
nach älteren, authentischen Quellen zutrauen dürfen.
') Vergl. Schiaparelli, Origiue dcl sistema plauetario elioceutrico presso
i Greci. Mem. R. Ist. l^omb. Vol. XVIII, IX della serie III, Cl. sc. matem. e
nat. (Hoepli, Milano IS'JS).
*) Vergl.: Tannery, Sur Heraclide du Pont. Revue des ctudes grecques
1899 pag. 305 s(j.
9) A. a. 0. pag. 310.
Herakleides Poutikos und das heliokentrische System. 143
zweiten Theil meiner Behauptung zurückzukommen , was ich in
Folgendem thun möchte, selbst auf die Gefahr hin, anderweitig
Dargelegtes nochmals in diesem Zusammenhange wiederholen zu
müssen.
Zunächst muss ich dabei vorausschicken, dass durch Otto
Voss'") und unabhängig von demselben später durch Tannery'')
der Nachweis versucht, und meines Erachtens auch erbracht worden
ist, dass Hiketas und Ekphantos, unter deren Xamen uns gewisse
kosmologische Aufstellungen überliefert sind, nichts Anderes waren
als Personen, welche in herakleidischen Dialogen auftraten'-).
Von einem Streitigmachen der Priorität irgend einer Lehre des
Herakleides Pontikos durch Hiketas oder Ekphantos kann damit
künftighin überhaupt nicht mehr die Rede sein.
Wie die Möglichkeit der Behauptung, dass Herakleides Pontikos
zur Erklärung der scheinbaren Bewegungen der Planeten das
„tychonische" System aufstellte, nur durch eine einzige Stelle'^)
eines Schriftstellers des vierten bis fünften Jahrhunderts —
Chalkidios — gegeben ist, so wurde auch bis heute zu der bald
mehr bald weniger sicher ausgesprochenen Behauptung, dass Hera-
'") Vergl.: Otto Voss, De Heraclidis Pontici vita et scriptis. lüaugiiral-
dissertation, Rostock 1896.
") Vergl.: Tannery, Pseudonymes antiques. Revue des etudes grecques
1897 pag. 127 sq.
'^) Darf ich hierzu eine Vermuthung aussprechen, so ist es diese, dass
Herakleides in seinem Dialoge ;,7r£pt tüjv £v oüpctvoj" wohl in erster Linie die
Drehung des Himmelsgewölbes zum Gegenstand hatte und dabei zeigte, wie
dieselbe nicht nur durch die gewöhnliche Annahme einer bewegten Fixstern-
sphäre, sondern mit völlig gleichem Erfolge ebensowohl durch die .philolaische"
Revolution der Erde um das Centralfeuer, als auch durch eine Axendrehung
der Erde erklärt werden könne. Die erstere der beiden über den direkten
Augenschein hinausschreitenden Erklärungen vertrat Hiketas, die letztere Ek-
phantos. [Im Namen Ekphantos liegt vielleicht eine Anspielung darauf,
dass eine ursprünglich geheim gehaltene Lelire Piatons öiTentlich dargelegt
wird; vergleiche in Betreff der kosmologischen Anschauungen Piatons meine
^Beiträge''].
'■') Chalcidius, Comment. in Tim. Plat. c. 1U9. Vergl. Fragm. philos.
graec. coli. Mullach. Paris 1867. Vol. II, pag. 206. [rec. Wrobel, Leipzig
187G, c. 110.]
144 H- Staigraüller,
kleides Pontikos das heliokentrische System kaDute, einzig uud
allein eine Stelle'*) eines Schriftstellers des 6. Jahrhunderts —
Simplikios — angezogen. Doch möchte ich, ehe ich mich zu
dieser Stelle selbst wende, zunächst die übrigen Stellen, in denen
Simplikios auf Heraklcides Pontikos und dessen astronomische
Lehren zu sprechen kommt, in den Kreis meiner Betrachtungen ziehen.
Es sind dies im Ganzen drei Stellen. Ich beginne mit der
kürzesten derselben, sie lautet^^): „'Ev Tip xevipio Ss ouaav Trjv -(r^v
xai xuxXu) xivoujjisvvjv, lov os oupavov r^pspisiv 'HpotxXstOTjs 6 riovTixo?
uTToOsasvos adil^ziv (o£-o la cpotivotxeva." Simplikios fügte diesen Satz
seinem Exkurse über jene vielumstrittene Behauptung'") des Ari-
stoteles an, nach welcher Piaton im Timaios die Axendrehung der
Erde lehre. Nicht Piaton, sondern Herakleides Pontikos ist nach
Simplikios der Urheber dieser Lehre, welche von Andern, in Folge
eines Missverständnisses, wie wir sahen, einem gewissen Ekphantos
zugeschrieben wird. In Wirklichkeit hatte Herakleides in einem
seiner Dialoge die Lehre von der Axendrehung der Erde einem
Sprecher Ekphantos in den Mund gelegt, und falls Herakleides in
diesem Dialoge überhaupt auf die Sonderbewegungen der Wandel-
sterne einging, was mir aber zv/eifelhaft erscheint, so möchte ich
die Vermuthung aussprechen, dass er dabei auf homokentrische
Sphären zurückgriff ").
!•*) Simplici iu Aristotelis physicorum libros IV priores commentaria ed.
Diels pag. 292.
'^) „Durch die Aunahme, dass die Erde im Mittelpunkt sich befinde uud
im Kreise sich bewege, der Himmel aber stillstehe, glaubte Herakleides Pon-
tikos die Erscheinungen retten zu können." Vergl.: Simplicii in Aristotelis
de caelo commentaria ed. Heiberg pag. 519, 9— 11.
,,Tä (fc(ivofj.£va awCeiV ist ein gerade bei Simplikios sehr häufig vor-
kommender Ausdruck, welcher besagt, dass die in der Erfahrung gegebenen
Erscheinungen am Himmel durch eine Aufstellung über den Bau des Alls uud
die Ikwegung seiner Theile wiedergegeben werden können, und zwar handelt
es sich dabei im Specielleu stets um eine Darstellung der .so verwickelten
scheinbaren Bewegungen der Wandelsterne unter Zugrundelegung gleich-
förmiger Bewegungen iu Kreisen.
'^) Ueber meine Stellung zu dieser Behauptung vergleiche meine „Beiträge"
pag. 17-19.
1') Zu dieser N'ermulhiing neige ich mich deshalb, weil an den Namen
des Ekphantos eben immer nur die Lehre von der Axendrehung der Erde sich
Herakleides Pontikos und das heliokcutrische System. 145
Als zweite Stelle wähle ich folgende^*): u-izoMatto; ös v^cimae
xoil To atxcpoTepcuv r^psjxouvTtuv, xaitoi otTrsfxcpaivov ooxouv x6 CJu>C£Ot)ai
XTfV cpcttvojxsvTjV otuTtt)V [leTaßaaiv cüficpoTsptuv i^pejjLOuvKüv, oia xo 7070-
vsvai Tiva?, wv 'Hpoix^störj; is 6 riovtixoc r^v xal 'Apt'axctpyoc, vofxt-
Covxa? awCesOai xa cpcctvoficyct xou usv oupavou xctt xäv aaxptwv r^ps-
jjLOuvxuiv, XTj? 6s YT^e TTSpl xouc Too lar^ij-cpivju TToXou; d~o 8u(3[j.a>v
xivoüjxsvr^C sxacyx/j? rjixspa^ [xiotv s-fj-iaxa -öpiaxpo'^y^v x6 os s'YYtaTa
7:pocjx£ixc(i ota xtjv xou r^Koo xr,? [j.ias (xoi'pots STrtxtv/icriv 6i:, si ye
jxrj xivoixo Yj "fr^, OTisp jjlsx' oXiyov asv aTznoti^Ei, vuv 03 (u; uTroOeaiv
sXaßsv, aSuvaxov xou oupotvou xcä xa)v aaxpojv r^p£[i.o6vx(uv a(ü09)V0(i xöt
'faiv6[j.£va. ttu); -,4? ^''' '^1 fASTaßctats awCoixo Tcotvxojv c/.xivrjxu)v Xotpißa-
voaevtüv;". Hier ist gleich der Ort, an dem Simplikios diese Be-
merkung einflicht, ungeschickt gewählt. Aristoteles behandelt im
8. Capitel des 2. Buches Trepl oupctvou die Frage, ob das Himmels-
gewölbe (6 oupcivk hier gleichbedeutend mit dem von Aristoteles
vorausgesetzten Sphärenmechanismus) oder die Gestirne (xa d'axpa
hier soviel als die einzelnen Sternkörper) sich bewegen, und geht
davon aus, dass die Veränderungen am Himmel nothwendig statt-
anschliesst, das ekphantische System also wohl nur in diesem Punkte von der
hergebrachten Ansicht sich unterschied. In anderen Schriften ging Herakleides
über das hinaus, was ich mit dem Namen „ekphantisches System" bezeichnen
möchte, und in der That knüpfen sich auch die kärglichen Spuren dieses
Weiterschreitens nie an den Namen des Ekphantos, sondern stets nur an den
Namen des Herakieides selbst an.
^^) Er (sc. Aristoteles) hielt auch das „dfAcpoT^pmv T^petio'jvTwv" (siehe oben)
der Hereinnahme werth, obgleich es unangemessen erscheint, die in die Er-
scheinung tretende Veränderung retten zu wollen, wenn beide unbewegt sind,
wie denn einige aufgetreten sind, unter ihnen Herakleides Pontikos und
Aristarch, welche glauben die Erscheinungen retten zu können, indem der
Himmel und die Gestirne stillstehen, die Erde dagegen um die Pole des
Aequinoktialkreises (= Aequator) von Westen jeden Tag annähernd einmal
sieb herumbewegt — das „annähernd'' ist wegen der gleichzeitigen Bewegung
der Sonne beigefügt, die (eben in einem Tage) einen Grad beträgt — denn,
wenn die Erde sich nicht bewegte, was er gleich nachher beweisen wird, vor-
erst aber als Voraussetzung annahm, wäre es unmöglich die Erscheinungen
zu retten, wenn der Himmel und die Gestirne stillstehen, denn wie sollte die
veränderte Stellung gerettet werden, wenn alles als unbewegt angenomnoen
würde." Vergl.: Simplicii in Aristotelis de caelo commeptaria ed. Heiberg,
pag. 444, 31-445, 6.
146 ^'- Staigmüller,
finden, entweder indem beide (das Himmelsgewölbe und die Ge-
stirne) ruhen [ „aacpoTspcov -/jf/sao'jvKov"]. oder indem beide be-
wegt werden, oder indem das eine ruht und das andere bewegt
wird. Hierbei kommt Aristoteles zu dem Schlüsse, dass die Ge-
stirne fest eingefügt in ihren Kreisen ruhen und nur durch die
Bewegung dieser Kreise herumgeführt werden. Dagegen handelt
es sich bei Aristarch, wie wir wissen, um eine „Rettung" der
Rotation der Fixsternsphäre und der Sonderbewegungen der Wandel-
sterne, d. h. um etwas, das mit jenen uns heute fast scholastisch
anmuthcnden Fragen des Aristoteles überhaupt gar nichts gemein
hat. Weiterhin steht und fällt die von Simplikios hier eingeflochtene
AViderlegung der Theorien des Herakleides und des Aristarch mit
dem von Aristoteles eben an anderer Stelle versuchten Nachweis
der Ruhe der Erde. Doch das sind alles nur nebensächliche Un-
geschicklichkeiten unseres Commentators, der sich an die Wider-
legung von Theorien wagt, die er überhaupt nicht im Stande ist
zu durchschauen.
Bedeutet auch xa aaipa im Allgemeinen die Sterne in ihrer
Gesammtheit, so folgt dennoch aus der einschlägigen Partie der
von Simplikios commentirten aristotelischen Schrift unbedingt
sicher, dass wir bei diesem Worte in unserer Stelle, wenn auch
nicht ausschliesslich, so doch in allererster Linie an die Wandel-
sterne zu denken haben. Damit ist aber auch der Beweis erbracht,
dass dem Simplikios nothwendige Vorbedingungen abgingen, die
kosmologischen Aufstellungen eines Ilerakleides oder eines Aristarch
richtig zu werthcn. Nur ein ,,a7£(o[x3Tpr^to;"^^), oder Jemand, der
Herakleides und Aristarch selbst für „aY£ü)[j.£Tpr^Tou;" hielt, konnte
glauben, Herakleides und Aristarch hätten versucht die Bewegungs-
1'') Wohl hat Simplikios einen Commentar zu ileu Erklärungen, Petitioueu
um! Axiomen des ersten Buches des Euklid verfasst (Vorgl. Codex Leidensis
399, 1. Euclidis Elcmenta ex interpretatioue Al-lladschdschadschii cum
coinmentariis Al-Nairiz.ii. Arabice et Latine ediderunt notisque instruxeruut
R. (>. Besthorn et J. L. Ileiberg, Pars I. Ilauniae 1897 um! Auaritii in decem
libros priores elenientorum Euclidis commentarii. Ex intcrpretatione Gherardi
Creinonensis in codico Cracoviensi 56!) servata edidit M. Curtze. J.ipsiae 1899)
aber als ein Mathematiker von Fach erweist er sich darin nicht gerade.
f
Ilerakleifles Pontikos uud das heliokeutrische System. 147
erscheinuiigeii des Fixsternhiramels und der Wandelsterne einzig
und allein durch irgend eine Bewegimg der Erde zu „retten". Doch
darf es uns nicht allzu sehr befremden, eine solche unhaltbare
Ansicht bei Simplikios zu finden, tritt uns doch etwas ganz Aehn-
liches schon bei Cicero'") entgegen, ja diese letztere Thatsache legt
die Vermuthung nahe, dass vielleicht Simplikios mit seiner ver-
fehlten Behauptung nur das wiedergiebt, was ihm schon seine
Quellen boten. Aber eben deshalb wäre es auch eine vergebliche
Mühe, aus unserer Stelle heraus direkt die Systeme des Herakleides
und des Aristarch reconstruiren zu wollen; wir müssen unsere
Frage vielmehr so stellen: „Welche Anordnung der kosmischen
Körper müssen wir dem Herakleides zuschreiben, damit die Ent-
stehung der bei Simplikios vorliegenden verfehlten Notiz überhaupt
denkbar ist?"
Zunächst weist schon die Zusammenstellung des Herakleides
mit Aristarch auf das heliokentrische System hin. Aber noch durch
einen zweiten zwingenderen Gedankengang kommen wir gleichfalls
auf dieses System. Nach unserer Notiz war das Charakteristische
auch des herakleidischen Systems die Thatsache, dass durch eine
Bewegung der Erde die Bewegungen des Fixsternhimmels und der
Wandelsterne gerettet werden sollten. Dasjenige herakleidische
System, auf welches unsere Stelle zurückzuführen sein dürfte, kann
also weder das ekphantische noch das tychonische gewesen sein,
da in diesen beiden Systemen die Bewegung der Erde eben nur
die Bewegung der Fixsternsphäre rettet. Es bleibt also nur das
heliokentrische System übrig, und in diesem rettet in der That
die Bewegung der Erde sowohl die Bewegung des Fixsternhimmels
als auch die Bewegung wenigstens eines Wandelsterns. Allerdings
liegt so in der Notiz des Simplikios neben einer verfehlten Ver-
allgemeinerung — aus „einem" Wandelstern werden „die" Wandel-
sterne — eine ebenso verfehlte Verengerung — aus zwei Kreis-
-") Vergl. die Notiz in Betreff des Iliketas bei Cicero, Äcad. prior. Hb.
II, c. 39. So wie Cicero aus die Lehre des Hiketas wiedergiebt, kann er die-
selbe unmüglich Theophrast entnommen haben. Der eflfecthaschende Rhetor
opfert augenscheinlich seinen Zwecken die Akribie des Historikers.
148 H- Staigmüller,
bewegungen der Erde wird eine Kreisbewegung — . Aber sollten
wir in unserer Stelle diese Fehler in Bezug auf das herakleidische
System nicht annehmen dürfen, da dieselben doch in Bezug auf
das aristarch'sche System thatsächlich vorliegen? Ja der zweite
dieser Fehler konnte bei Herakleides entschieden noch leichter sich
einschleichen als bei Aristarch. Herakleides stellte ja auch Systeme
auf, in welchen thatsächlich der Erde nur eine Axendrehung zu-
kam, Aristarch dagegen, soviel wir wissen, nicht.
Eine wenn auch nur scheinbare Schwierigkeit glaube ich bei
meiner Aufstellung nicht stillschweigend übergehen zu sollen.
Simplikios spricht ja in unserer Stelle ausdrücklich von einer
Bewegung der Sonne, also ist der Gedanke an das heliokentrische
System falsch. Der Einwurf liegt nahe, aber mit gleichem Rechte
müsste dann auch Aristarch das heliokentrische System abgesprochen
werden; ja noch mehr, unsere Stelle enthielte dann eine contradictio
in adjecto, geht sie doch von unbewegten Gestirnen aus. Doch
so liegt die Sache nicht. Simplikios glaubte, Herakleides und
Aristarch hätten versucht, durch eine Bewegung der Erde auch
die scheinbare Bewegung der an und für sich als ruhend voraus-
gesetzten Sonne zu retten. Dies im Auge behalten, kann man aus
jenem Passus von der Sonne noch eher ein Argument für als
gegen unsere Aufstellung machen; jedenfalls aber würde dieser
Zusatz, falls der in ihm liegende Gedanke auf Herakleides Pontikos
zurückgeht, dafür Zeugniss ablegen, dass Herakleides seine Hypo-
thesen nicht bloss aphoristisch hinwarf, sondern in allen ihren
Consequenzen auch durchdachte.
Gehen wir nun zur nächsten Stelle über, so werden wir finden,
dass dieselbe nicht nur unsere obigen Aufstellungen bestätigt,
sondern auch das, was wir bisher nur als wahrscheinlich aussprechen
konnten, zu voller Gewissheit erhebt. Die Situation ist in dieser
neuen Stelle insofern dieselbe wie in der eben besprochenen, als
Simplikios, wiederum von seiner verfehlten Ansicht über die Lehre
des Herakleides ausgehend, es versucht, diese Lehre zu widerlegen.
Dagegen ist der Ort der Einfügung'"^) unserer neuen Stelle sowie
^') Nämlich bei Aristoteles, de caelo II, 14 uud zwar ed. Bekk., pag. 297
a2, d. h. dort, wo Aristoteles die Ruhe der Erde zu erweisen sucht.
<(
ITerakleides Pontikos und das heliokentrische System. 149
auch zum grösseren Theile der innere Gedankengang derselben
durchaus sachgemäss. Die Stelle selbst lautet^'): toüxo 3s av auvs-
ßaivs, xcti st [jisTaßatixrjv STrotsrxo xtv/jaiv t; -j-r,* s? os xuxXm irspl to
xsvxpov, wq 'HpaxXsiÖTp 6 rTovttxoc uttsii'Osto, tcüv oupaviwv rjpsao-jvTtov,
£1 }i£v rpo? ouaiv, sxslösv av er^dvr^ xa aaxpa dvaxsX^vOVxot, si Ös Trpö;
avaxo/.a?, si [xsv Trspt xou? xou iar^iizpivou ttoXouc, oux av dr.b 5iacpopojv
opi'Covxo? TOTTCüV 6 r^}do: xal oi aX)wOt TrXavr^xsc dvsxs/./.ov, s'! os uspt
Touc toü C(«oiaxotJ, oux av oi airXavsT? octto xäv auxüiv dst xozwv
dvsxsXXov, (Sairsp vuv srxs 8s irspi xou; xoGi lar^iieptvou eixe itspl xou^
xou CtooiTMo, TTtu; av sacudrj xuiv TrXavojjxsvtuv fj sie xa £7ro[xsva C<pöia
jjLSxa'ßaai; dxivi^xojv xwv oupavi'ojv ovxtov;".
Zunächst bestätigt uns diese Stelle die Thatsache, dass Sim-
plikios von der vollständig verfehlten Ansicht ausging, Herakleides
habe versucht, durch eine Kreisbewegung der Erde, und zwar durch
eine solche ohne Ortsveränderung, d. h. durch eine Axendrehung
die scheinbaren Bewegungen der Fixsterne und der Wandelsterne
zu retten. Wie aber Herakleides Pontikos diese Kreisbewegung
des Genaueren sich dachte, darüber ist Simplikios sich nicht klar,
er weiss nur soviel, dass es sich um eine Kreisbewegung der Erde
um die Pole des Aequators oder der Ekliptik handelt. Dabei
schimmert aber selbst in der verfehlten Darstellung des Simplikios
soviel noch durch, dass jene erstere Bewegung die Bewegung des
2-) Dieser Fall (sc. dass die Gestirne uns nicht so erscheinen könnten,
wie sie uns thatsächlich erscheinen) würde auch eintreten, wenn die Erde
eine fortschreitende Bewegung machte, wenn aber im Kreise um den Mittel-
punkt, wie Herakleides Pontikos annahm, während die Himmelskörper still-
stehen,
entweder nach Westen, so würden die Gestirne als von dort aufgehend
erscheinen,
oder nach Osten, wenn dabei um die Pole des Aequinoktialkreises (= Aequa-
tor) so würden die Sonne und die anderen Planeten nicht an verschiedenen
Stellen des Horizontes aufgehen, wenn aber um die des Thierkreises (= Ekliptik),
so würden die Fixsterne nicht immer an den gleichen Stellen aufgehen wie jetzt;
ob aber um die Pole des Aequinoktialkreises oder um die Pole des
Thierkreises, wie würde der Uebergang der Wandelsterne in die folgenden Stern-
bilder des Thierkreises gerettet, wenn die Himmelskörper unbewegt sind."
Yergl.: Simplicii in Aristotelis de caelo commentaria ed. Heiberg, pag. 541, 27
-542, 2.
150 H. Staigmüller,
Fixsternhimmels, diese letztere die Sonderbewegungen der Planeten
rettete. Dass Herakleides Pontikos die erstere dieser beiden Be-
wegungen lehrte"), ist eine Thatsache, die so gut beglaubigt ist,
als überhaupt eine Thatsache der voralexandrinischen Astronomie.
Dass aber Herakleides je daran gedacht haben könnte, der Erde
statt dieser Axendrehung eine solche um die Pole der Ekliptik zu-
zuschreiben, ist absolut unmöglich; man mache sich doch nur die
Conseqiienzen klar; diese Möglichkeit im Ernste discutiren kann
eben wieder nur ein „a-j-sfou-^tpr^-os", oder Jemand, der Herakleides
für einen „otYctüuisTprjTo;" hält. Wie aber kam Simplikios oder
dessen Gewährsmann zu jener Deductiou? Einfach dadurch, dass
Herakleides in der That die Erde eine Kreisbewegung um die Pole
der Ekliptik ausführen Hess, allerdings nicht als Axendrehung,
sondern als Umkreisung der Sonne'*). Auf solche Weise und
nicht anders kann die Genesis unserer Stelle gedacht werden.
Simplikios oder dessen Gewährsmann glaubte eben alle Notizen,
welche er über Herakleides Pontikos fand, unter einen Hut bringen
zu müssen, dadurch entstand als erster Fehler die schiefe Auf-
fassung, dass „das") herakleidische System" ein geokentrisches
System sei^^), ein Fehler, der als zweiten jenes Missverständniss
nach sich zog, durch welches aus der Revolution der Erde in der
Ebene der Ekliptik eine Axendrehung wurde. Die beiden Kreis-
bewegungen, welche in unserer Stelle Simplikios einzeln ins Auge
-'■') Nicht aber aufstellte, vergleiche hierzu meine „Beiträge" pag. 18 — 19.
-*) Man beachte auch das Unbestimmte in den Worten: „ei ok v.'jxX<;)
-£pi TÖ •/.evTfjov." Hierzu könnten auch noch die beiden folgenden Stellen
beigezogen werden: ,.'Hpot<cXei8rj; [jAw o'jv 6 FIovTtxö;, oü IJXdxwvo; wv äxo'jsxr)?,
TaÖTTjV iyixio ttjv oo^av, v.iviöv xÜxXüj Tr)v yfjv. (Vergl.: Proclus, commentarius
in Piatonis Timaeum, rec. Schneider 281, E) und: „'llpa/.XctOT); 6 llov-txö;
-/.ivilallai -Ept TÖ [J.E30V TT]v fri^, tÖv oe ö'jpavöv /jpsfAEiv üttoS^eijievo; aiu^siv (ueto
-a cpatvoijievct. (Vergl.: Cod. Coisl. IßG — Scholia in Aristotelem yraeca coli,
l'randis pag. 505, b).
-'■'■) Auch von Hultsch lernten wir oben eine Arbeit kennen, welche den
zum mindesten missverständlicbeu Titel trägt: „Das astronomische System des
Herak leides von Pontes." (Vergl. Anm. (>).
'^^) Ganz den gleichen Fehler, welchen wir hier bei Simplikios voraus-
setzen, finden wir z.B. bei Böckh wieder. (Vergl.: Bi'ickh, Untersuchungen
über das kosmische System des Piaton, pag. 135.)
Herakleides Pontikos und das heliokentrische System. 151
fasst, geben, richtig gedeutet, in ihrer Vereinigung eben das helio-
kentrische System.
Doch ich hätte mich eigentlich viel kürzer fassen können.
Aus unsern beiden letzten Stellen geht jedenfalls so viel unbedingt
sicher hervor, dass sowohl Herakleides Pontikos als auch Aristarch
Systeme aufstellten, in denen die Bewegung der Erde nicht nur
zur Erklärung der Rotation der Fixsternsphäre, sondern auch zur
Darstellung der Planetenbewegungen beigezogen wurde, und damit
schon ist der Beweis erbracht, dass, wie Aristarch, so auch Ilera-
kleides die um ihre Axe sich drehende Erde zugleich um die
Sonne kreisen liess. Hätten sich also über die Lehre des Herakleides
Pontikos auch nur unsere zwei zuletzt besprochenen Stellen er-
halten, so hätte damit doch schon die Aufstellung der Behauptung,
dass Herakleides Pontikos das heliokentrische System lehrte, ihre
vollste Berechtigung-'), Zum Glück für unsere Frage bietet uns
aber Simplikios noch eine weitere einschlägige Stelle, und zwar
eine solche, die gegenüber den bisher betrachteten den grossen
Vorzug aufweist, in ihrem Wortlaute auf Herakleides Pontikos
selbst zurückzugehen und so wie sie vorliegt, aus der Feder eines
Astronomen zu stammen, und welche uns eben deshalb eine directe
Reconstruction der Lehre des Herakleides Pontikos gestattet.
In seinem Commentar zur 'fjaixrj «xpoaat? des Aristoteles
kommt Simplikios auf die Verschiedenheit der Aufgaben des Phy-
sikers und des Astronomen zu sprechen. Dabei führt er nach
Alexander von Aphrodisias eine Stelle aus Geminos an, und zwar
aus dessen Epitome eines Commentars zu den Meteorologicis des
Posidonios-'). In dieser so, wenn auch auf Umwegen, doch in
'^') Allerdings könnte noch die Frage aufgeworfen werden, warum Arclii-
medes, dort wo er die Theorie des Aristarch kurz auseinandersetzt, nicht aucli
des Herakleides Pontikos gedenkt. Die Antwort auf diese Frage bietet uns
folgende Stelle aus Stobaios: ..HXvr/.oi 6 'Epuilpotio; /.od 'HpaxXet'oT); 6 llov-txö;
ocTiätpov Tov -<c&'a[j.ov.'" (Vergl.: Stobaeus, Eclogae physicae rec. Meinecke T. 1,
pag.124).
2**) In Betreff dieser Epitome vergleiche die zusammenfassenden Dar-
legungen bei Manitius, FsfAivou EisoiYtuyrj et; ti cpaivo'aeva, pag. 2oT — •252.
(Teubn.er, 1898).
152 H. Staigmüller,
authentischer Form auf uns gekommenen Steile weist Geminos")
dem Physiker die Forschung nach dem Wesen der Dinge zu,
während für den Astronomen alle Hypothesen, durch welche die
Erscheinungen gerettet werden können, gleichberechtigt sind:
„oiov oia -i avu>u.aX(ü; r^kio^ xal asXrjvr^ xcxl oi rXavr^TS^ cpatvovta'
xivo'jasvoi; OTi zl uroöaiusOa exxsvTpo'j; au'viv tou? xuxXou? t, xaT'
IttixuxXov roXouuöva xa as-pa, atuörjas-ai ■?; 9aivo[jL£yr^ avajij,ot>v''a
auToiv, SsTJöet ts eTS^EXOeiv, xai)' osou? ouvaxbv TpoTtou? 'auia «tto-
teXeiaöai xa cpaivojisva, eSats eotxevat ifi xata tov svSs/^otxsvov xpoTrov
nixioXo^ia xtjv Trept xäv TrXavouiJLSvtov atjxpwv zpaYfiaxsiav. 8iö xal
zapeXöoiv xt? cpyjaiv 'HpaxXsiÖTj? 6 Ilovxixo?, oxt xal xivoufisvTj^ ttiu;
XYJs y^S, xou 0£ TjXio'j [xsvovxo; rto; Suvaxat f^ Trspl xöv ^Xiov cpaivo-
JXSV7] dvojijiaXta acpCs^öat. oXcu? y°^P ^^'^ esuv a^xpoXo-you xo '^vuivat,
XI r|ps}jLar6v laxi x^^ cpuasi xal TroTa xa xivrjxa, aXXa u-oOscfst? siöt^yo'j-
[isvos xü)v [xev jjisvovxtuv, xaiv Se xivouixsvtov oxo-si, xtaiv u-o&iossiv
dxoXouÖTjasi xa xaxa xov oupavov cpaivojisva" '"). Diese Stelle sagt
unter Anderem klar und deutlich aus, dass ein gewisser Herakleides
Pontikos aufgetreten sei und behauptet habe, auch wenn die Erde
2^) Wenu ich kurzweg Geminos schreibe, so möchte ich doch gleich in
diesem ersten Falle ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich vielleicht mit
besserem Rechte Posidonios schreiben würde; nur weil unsere Notiz, wenigstens
in der Form, in welcher sie vorliegt, aus der Feder des Geminos stammt,
wähle ich diesen Namen.
2") Zum Beispiel, warum scheinen die Sonne, der Mond und die Planeten
sich nicht gleichförmig zu bewegen? „Antwort:" Wenn wir die Kreise derselben
ekkentrisch voraussetzen, oder annehmen, dass die Gestirne auf einem Epikykel
sich bewegen , so wird die scheinbare üngleichfürmigkeit derselben gerettet,
und es ist noch nöthig auszuführen, auf wie viele Arten es möglich ist, dass
diese Erscheinungen zu Stande kommen, so dass die Lehre von dem that-
sächlichen Verhalten der Wandelsterne mit der als möglich gesetzten Begrün-
dung übereinstimme. Deshalb ist auch ein gewisser Herakleides Pontikos
aufgetreten und sagt, auch wenn die Erde in irgend einer Weise sicli
l)ewege, und die Sonne in irgend einer Weise stillstehe, könne die scheinbare
üngleichförmigkeit in Bezug auf die Sonne gerettet werden. Im Allgemeinen
nämlich ist es nicht Sache des Astronomen zu erkennen was seiner Natur
nach ruhig ist und welches die bewegten Dinge sind, sondern indem er
Hypothesen einführt von feststehenden Dingen einerseits und sich bewegenden
andererseits untersucht er, mit welchen Hypothesen die Ersclieinungen am
Himmel übereinstimmen." Vergl.: Simplicii in Aristotelis physicorum libros IV
priores commentaria ed. Diels, pag. 292. 15 — 26.
Herakleides Pontikos uad das heliokentrische System. 153
sich in irgend einer Weise bewege, und die Sonne in irgend einer
Weise stillstehe, könne eine gewisse Unregelmässigkeit erklärt
werden.
Lassen wir zunächst die Frage ganz aus dem Spiele, ob uns
unsere Stelle, wie wir einmal annehmen wollen, auch thatsächlich
das Recht giebt, in Herakleides Pontikos denjenigen Forscher zu
sehen, w^elcher jene kurz skizzirte Hypothese zur Erklärung der
TTspt xöv r^hov cpctivofASVYj äv(üaa/.ia beizog, und wenden wir uns zu-
erst dieser Hypothese selbst zu.
Der ganzen griechischen Astronomie lag die Annahme zu
Grunde, dass Sonne, Mond und die Planeten mit gleichförmiger
Geschwindigkeit in Kreisen sich bewegen^'); eine Annahme, welche
der griechischen Astronomie zugleich auch ihre erste Aufgabe zu-
wies. Jede Unregelmässigkeit im Laufe eines Wandelsterns konnte
deshalb nur eine scheinbare sein, daher die Bezeichnuno- f, ü7.ivo-
jAEVTj dvwuLGtXiot. Welche Unregelmässigkeit wird aber in unserer
Stelle durch den Beisatz Trspl xbv r^hov näher gekennzeichnet? Nichts
scheint einfacher als eine Beantwortung dieser Frage: „Natürlich
eine Unregelmässigkeit im scheinbaren Laufe der Sonne." In der
That haben auch Männer wie Böckh ^'), Bergk^^) und Martin^*)
diese Erklärung entweder direkt gegeben oder stillschweigend als
selbstverständlich vorausgesetzt; Schiaparelli^') gebührt das Ver-
dienst, zuerst die Unhaltbarkeit dieser Antwort nachgewiesen zu
haben.
In der Schrift des Herakleides, welcher Geminos sein Citat
entnimmt, war, wie jenes xott' beweist, unmittelbar vorher eine
andere Möglichkeit zur Rettung der -spl tov rjXiov c(V(utxc(X''c( ins
Auge gefasst gewesen, so dass dort unbedingt aus dem ganzen
3n
') „ÜTtdxsi-cai yäp rpö; oXrjv ttjv darpoXoytav t^Xio'v xs. xai osXr^^ri^ xal to'j;
7t£VT£ -XavTjTas iao-a/(L; xal ^yxux^iiu; xal ü-evavxi'tu? xul xdafjio) xtvstaöai."
Vergl.: FefAhou daa-jmyri eis tä cpdnvd[j.£va cap. I.
22) Vergl.: Böckh, Untersuchungen, pag. 135—137.
33) Vergl.: Bergk, fünf Abhandlungen zur Geschichte der griechischen
Philosophie und Astronomie, pag. 151.
^■') Vergl.: Memoires de Tinstitut national de France. — Academie des
inscriptions et belles-lettres. T. XXX, 2e partie, pag. 26sq.
^) Vergl.: Schiaparelli, Origine etc., pag. 88—92.
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV. 2. H
154 H. Staigmüller.
Zusammenhange hervorging, was unter diesem an und für sich etwas
unbestimmten Ausdrucke zu verstehen sei. AVenn dann weiter-'
hin Geminos in der oben wiedergegebenen Weise das Citat seinen
Betrachtungen einflicht, so ging er doch wohl auch davon aus,
dass in diesem neuen Zusammenhange jener Ausdruck nicht miss-
zuverstehen sei. In der That, würde sprachlich jener Ausdruck
nicht selbst auf die Sonne hinzuweisen scheinen, so würde darunter
jeder unbefangene Leser aus dem ganzen Zusammenhange unbe-
dingt in erster Linie eine Unregelmässigkeit im scheinbaren Laufe
der Planeten suchen, und zwar jene grosse, auffällige und sicher-
lich Herakleides Pontikos einzig bekannte Unregelmässigkeit, welche
in den Stillständen und Rückgängen der Planeten zum Ausdruck
kommt, und zu deren Darstellung die Epikykeln oder die beweg-
lichen Ekkentern dienten.
Zwei verschiedene „Anomalien" im scheinbaren Laufe der
Planeten unterscheidet die antike Astronomie^"); die eine steht in
Beziehung zum siderischen, die andere zum synodischen Umlauf
des betreffenden Planeten. Jene erstere — die sogenannte „erste
Ungleichheit" — nennt der Almagest: „r^ irpo? (irapa) toc tou
Cfootaxotj [i,£pr| c/.vtüti,o!X''a" "); sie besteht in der Veränderung der
scheinbaren Geschwindigkeit der Planeten in bestimmten Theilen
des Thierkreises und war weder Eudoxus noch Kallippos bekannt.
Diese letztere — die sogenannte „zweite Ungleichheit" — nennt der
Almagest: „v; -Kpo; xov f|Xiov avwuotXtct" ^^) oder auch: „tj uapa
Tov f^Xiov ava>[xaXtc(" ^''); sie umfasst die Stillstände und Rückgänge
der Planeten und trägt ihren Namen deshalb, weil diese Stillstände
und Rückgänge von der scheinbaren Entfernung der Planeten von
der Sonne abhängen, d. h. stets dann auftreten, wenn die Planeten
in eine bestimmte Lage zur Sonne zu stehen kommen. AVir sehen,
es liegt also auch sprachlich dem gar nichts im Wege, in unserem
Ausdrucke „r, irspi xov f^Xiov av(o[xc(Xta" das zu suchen, was wir,
dem ganzen Zusammenhange nach, oben unter diesem Ausdrucke
36) Vergl. i. B. Almagest IX, 2.
3'') Vergl. z. B. Almagest IX, 5.
38) Vergl. z. B. Almagest X, G.
39) Vergl. z. B. Almagest XU, 1.
Herakleides Pontikos und das heliokentrische System. 155
vermutlieten, nämlich die sogenannte zweite Ungleichheit. Hera-
kleides war bei seinen Untersuchungen über die Planetenbeweguogen,
wie die Aufstellung seines tychonischen Systems darthut, von den
unteren Planeten ausgegangen, und gerade bei diesen wird die
zweite Ungleichheit eigentlich noch besser durch tj Trspl -ov -^Xiov
av(i)aaXtot charakterisirt als durch rj T^pb;; oder y; Tzapy. xbv ^X'.ov
dvwfxaXtor, will man in der abwechselnden Verwendung jener Prä-
positionen überhaupt eine verschiedene Nuancirung des ganzen
Ausdrucks erblicken.
An und für sich betrachtet, könnte -f) Trepl tov t^Xiov dvwixaXt'a
allerdings auch eine Unregelmässigkeit im scheinbaien Laufe der
Sonne bedeuten, und zwar, da es keine andere giebt, diejenige,
welche in der Veränderung der Geschwindigkeit der Sonne in ihrer
jährlichen") Bahn zu Tage tritt. Wenn in diesem Falle auch in
erster Linie r^ xoGi yjXtou dvioactXt« erwartet werden dürfte, so schreibt
doch z. B. der Almagest auch von dieser einzigen Ungleichheit im
Laufe der Sonne in den einleitenden Worten des 4. Kapitels des
3. Buches: „xoutmv oy] outo)^ 7:po£XT£i)st|i.EV(uv, 7:poü~oXrj-x=ov xctt
XTjy Trspi TOV T^Xtov cpc3tivo[i£v/]v dv(u[xaX''otv svixsv xou [i-iav xs slvai ..."
Dagegen trägt allerdings das Capitel selbst die Ueberschrift: „~£pt
Tr^q xou YjXiou (faivoiiivr^; dvcuuaXia;", und auch das 3. Capitel des-
selben Buches beginnt mit den Worten: »i;r,'; o'ovxo? xal xtjv
cpaivotxlvr^v dvwixoiXiav xo'j vjXiou osicai, "; die dem 5. Capitel
desselben Buches beigegebene Tafel endlich aber ist bezeichnet
als: „xotvoviov ~r^<; TjXiotxTjS dvouaaXia;."
Es verbleiben also in der That zunächst sprachlich zwei Mög-
lichkeiten der Auffassung des Ausdrucks v; irspt xov -^Xiov dvoja^Xiot;
verfolgen wir nun beide in ihren Consequenzen.
Nach der ersten Auffassung behauptet Herakleides, die zweite
Ungleichheit im Laufe der Planeten könne auch dadurch gerettet
werden, dass die Erde in irgend einer Weise sich bewegt, die
■•o) In Betreff der ganz unmöglichen Auffassung Böckhs (Vergl.: Unter-
suchungen, pag. 135 — 137), dass i] Ttepi xöv i^Xtov cpatvo[i.^V7] ävu)[xaXia sich auf
den täglichen Lauf der Sonne beziehe, vergleiche meine „Beiträge", pag. 34.
Böckh sieht in „ifj Tiepl tov i^Xiov cpatvotAevY) ävcufj.aXfa'* überhaupt nichts anderes
als: „die Erscheinungen der Sounenbewegung."!
11*
156 H- Staigmüller,
Sonne in irgend einer Weise stillsteht, im Gegensatze zu einem
unmittelbar vorher behandelten Systeme, bei welchem die Erde
irgendwie stillstand, die Sonne irgendwie sich bewegte. Die That-
sache nun, dass Herakleides Pontikos eben zur Rettung der zweiten
Ungleichheit der Planetenbewegungen das tychonische System auf-
stellte, berechtigt uns zu der Annahme, dass jenes System, auf
welches das xat zurückweist, kein anderes als das tychonische war.
Durch die skizzirte Vertauschung der Rollen von Erde und Sonne
geht aber, für jeden, der auch nur über die ersten Elemente einer
reinen Bewegungslehre verfügt, das tychonische System mit mathe-
matischer Notliwendigkeit in das heliokentrische über, und Hera-
kleides hatte von seinem Standpunkte aus nur noch nöthig, der
Sonne den Mittelpunkt des Alls als Standort zuzuweisen, darauf
ist wohl die Wiederholung des AVortes ttoj; bei dem Worte
[xsvov-o? zurückzuführen, eine Wiederholung, welche sonst vielleicht
auffallen könnte. Nur wenn wir das tychonische System als das-
jenige voraussetzen, auf welches das xai' zurückweist, ist unser
Citat durchaus präcis und klar und der Uebergang zum helio-
kentrischen System sachlich gerechtfertigt und innerlich raotivirt.
Wollte man dagegen annehmen, das vorher besprochene System
sei auf dem Principe der homokentrischen Sphären aufgebaut ge-
wesen, so hätte ein Leser, der das heliokentrische System nicht
schon vorher kannte, mit jenen Worten des Herakleides wohl über-
haupt nichts anzufangen gewusst, günstigsten Falles hätten ihn
diese Worte auf Abwege geführt, ähnlich demjenigen, auf welchen
sie Martin führten. Wir sind also zu der Annahme, dass jenes
xai auf das tychonische System zurückweist, nicht bloss berechtigt,
sondern eigentlich gezwungen. Doch wollten wir selbst diese An-
nahme nicht machen, so Hesse sich dennoch unserem Citate absolut
kein anderer Sinn unterlegen als ein Hinweis auf das heliokentrische
System.
Wie aber läge die ganze Sache, wenn rj Tispt xov -^Xiov dtvo)-
|AotXia in unserer Stelle die Ungleichheit in der Bewegung der
Sonne bedeuten würde? Vor allem müssten wir dann davon aus-
gehen, dass der Philosoph Herakleides es versuchte, eine „Anomalie"
zu retten, welche für den grössten Astronomen jener Zeit, Eudoxus,
Herakleides Pontikos und das heliokentrische System. 157
nicht existirte. Aber nehmen wir einmal diese Unwahrscheinlich-
keit in den Kauf und fragen wir uns, auf welche Anordnung von Erde
und Sonne hätte alsdann Herakleides mit jenen Worten anspielen
können? Denn dass Herakleides bei seinen Worten überhaupt etwas
sich dachte, wird doch wohl unbedingt angenommen werden dürfen,
und dass auch andere etwas dabei sich denken konnten, beweist
gerade die Thatsache, dass ein Mann wie Geminos jene Worte
citirt. Die Antwort auf unsere Frage muss unbedingt lauten: nur
auf eine Anordnung, welche darauf hinausläuft, dass die Erde in
einem festen Ekkenter die Sonne umkreist. Nur unter dieser Vor-
aussetzung lässt sich die Sonnenanomalie bei einer irgendwie be-
schaffenen Ruhe der Sonne und Bewegung der Erde retten").
Und sollte noch in der herakleidischen Schrift, welcher unser Citat
entnommen ist, ein innerer Zusammenhang gewahrt bleiben, so
könnte jenes xat eigentlich nur auf Hipparchs festen Ekkenter zu-
rückweisen.
Man sieht, zu welchen Abenteuerlichkeiten diese zweite Mög-
lichkeit der Auffassung des Ausdrucks r^ TztrA -hv ^Xtov dywactXta
führt. Wohl wäre auch hier wieder Herakleides Pontikos der Ur-
heber eines heliokentrischen Systems, aber eines solchen mit
ekkentrischer Erdbahn, und ein solches wird im Ernste wohl auch
der blindeste Verehrer des herakleidischen Genies demselben nicht
zuschreiben wollen ^^). Diese zweite Möglichkeit muss also für
die weitere Betrachtung unserer Stelle völlig ausser Acht gelassen
werden, und es verbleibt bei dem, was wir oben unter Zugrundelegung
der ersten Auffassung jenes Ausdrucks entwickelten.
Darf so nun als unbedingt gesichert angesehen werden, dass
in unserer Stelle die Möglichkeit der Rettung der zweiten Un-
*') Abgesehen von seiner inneren Unwahrscheinlichkeit rettet eben Martins
so äusserst subtil ausgekünsteltes System die Ungleichheit der Sonnen-
bewegung — wie dieselbe schon Euktemon kannte, und wie wir dieselbe des-
halb unbedingt auch Herakleides zuschreiben müssten — nicht.
*■) Ich kann nur annehmen, dass Bergk sich dieser letzten Consequenzen
seiner Aufstellung nicht klar wurde. Ja es hat fast den Anschein, als ob
Bergk glaubte, durch ein heliokentrisches System, wie ein solches z. B. Archi-
medes dem Aristarch von Samos zuschrieb, werde schon die Ungleichheit der
Sonnenbewegung gerettet.
158 ^^- Staigmiiller,
gleichheit in der scheinbaren Bewegung der Planeten durch das
heliokentrische System ausgesprochen wird, so wenden wir uns jetzt
zu der zurückgestellten Frage, wer es war, der diese Möglichkeit
ins Auge fasste. Der Versuch, diese Frage aus unserer Stelle heraus
zu beantworten, führt auf eine weitere Schwierigkeit, welche diese
Stelle bietet. In hohem Grade muss es nämlich befremden, dass
ein Mann wie Herakleides Pontikos als „ein gewisser Herakleides
Pontikos" eingeführt wird. Doch wenn es auch fast kaum denk-
bar scheint, dass Geminos so schrieb, so liegt schon bei Alexander
von Aphrodisias die Sache anders. Alexander war kein Astronom
und Geometer wie Geminos, also zu eigenem Urthcil über Hera-
kleides und dessen astronomische Leistungen nicht fähig; welche
Trübung das Bild des Herakleides aber damals in der Auffassung
eines Litterarhistorikers erfahren konnte, ersehen wir am besten aus
Diogenes Laertios, einem Zeitgenossen Alexanders. Dass aber aus
einer Auffassung heraus, nach welcher der gelehrte Hanswurst
Herakleides überhaupt nicht ernst zu nehmen war, jenes xt; bei-
gefügt werden konnte, wer will es bestreiten? Sahen wir doch auch,
wie Simplikios dem Herakleides eine Lehre unterschiebt, die für
jeden, der nur mit einem Tropfen mathematischen Oeles gesalbt
ist, als platter Unsinn sich darstellt. Wie mögen da erst Urtheile
von Mathematikern über Herakleides gelautet haben, wenn die-
selben dessen Lehren nur aus solchen secundären Quellen kannten.
Lst also auch wahrscheinlich jenes xtc nicht auf Geminos selbst
zurückzuführen, so ist es doch nichts weniger als undenkbar, dass
in der Reihe der Ueberlieferer unserer Stelle einer sich für be-
rechtigt hielt, jenes -tc beizusetzen, seiner Würdigung des Hera-
kleides damit Ausdruck gebend. x\uch das za[i£Xf)cL)v, als Terminus
technicus für ein öffentliches Auftreten vor einer Versammlung,
fällt im Zusammenhange unserer Stelle sprachlich auf. Behalten
wir aber im Auge, dass es sich bei den Worten des Herakleides
augenscheinlich um ein wörtliches Citat des Geminos handelt, so
ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass die Verwendung des
W'ortes 7rap£Xi)u)v im Zusammenhang des ganzen Citats in der
Quelle, aus welcher Geminos schöpft, ihre Motivirung fand. Fasse
ich das alles zusammen, so komme ich zu dem Schlüsse, dass,
Herakleides Pontikos und das heliokentrische System. 159
wenn die Worte Tr^fisXöcuv tu auch zu mancherlei Bedenken Ver-
anlassung geben, denselben dennoch kein Grund entnommen werden
kann, der uns berechtigen würde, unsere Stelle unbedingt für
corrumpirt zu erklären. Ehe ich jedoch in der weiteren Behand-
lung unserer Stelle fortfahre, muss ich auf eine zweite Lesart der-
selben zu sprechen kommen.
Bieten auch die besten Codices den bisher unserer Betrachtung
zu Grunde gelegten Wortlaut"), so hat doch ausser den von Aldus
und Brandis besorgten Drucken") auch eine Handschrift"*') der
Ambrosiana das W^ort eXsysv hinter dem Worte FIov-ixo? eingefügt.
In dieser Fassung könnte die Stelle zunächst auf doppelte Weise
interpunktirt werden. Entweder: „810 xal TrctpsX&oiv vk cp-/icttv
'HpoixXsio-/jc 6 Ilov-izo? sA=7sv, oti xtX." (Deshalb ist auch Jemand
aufgetreten und sagt: Herakleides Pontikos hat behauptet, dass etc.)
oder: „oiö xotl r.y.rjsl^o}V ii'Z, cp-zjatv 'HpctxXstorj; 6 flovrixoc, iXs-j-sv
o-t x-X." (Deshalb ist auch Jemand aufgetreten, berichtet Hera-
kleides Pontikos, und sagte, dass etc.). Nach der ersten Auf-
fassung") wäre wiederum Herakleides Pontikos der Urheber des
heliokentrischen Systems; dagegen liegt bei der zweiten Art der
Zeichensetzung die Sache anders, hier referirt Herakleides Pontikos
nur über eine Hypothese eines Andern, und eben diese zweite
Art der Zeichensetzung bieten die Drucke von Aldus und Brandis.
Aber selbst von der Lesart der Aldina ausgehend ist Böckh'^),
der eben nur diese Lesart kannte, zu dem Resultat gekommen:
„der Jemand ist Herakleides selber." Im Gegensatze zu Böckh
glaubte Bergk^*) die Stelle nicht so hinnehmen zu können, wie
die Aldina dieselbe bot, er liest: „816 xal TipocXöcuv cp-/jaiv-
*•■') Vergl. eben die kritische Ausgabe von Diels.
'*■') Vergl.: Simplicii commentarii in octo Aristotelis physicae auscultationis
libros Venetiis in aedibus Aldi, 152G, fol. (j5, r: und Scholia in Aristotelem
graeca coli. Brandis, pag. 348.
*'=) Vergl.: Schiaparelli, die Vorläufer des Gopernicus im Alterthum,
deutsch von Curtze, Leipzig 1876, pag. 68.
*^) Doch muss zugegeben werden, dass sprachlich unbedingt die Inter-
punction der Aldina vorzuziehen wäre.
■•0 Vergl.: Böckh, Untersuchungen, pag. 133 — 141.
*>*) Vergl.: Bergk, fünf Abhandlungen, pag. 150.
160 rr. Staigmüller,
'HpotxXeiSr^s 6 llovxixö? iXe^sv, ort -/-/l." und schreibt dazu: „Alexander
theilt nur auszugsweise die Ansichten des Geminos mit, oio X7t
TrposXötuv cp-/]ai sind Worte Alexanders, mit denen er ein neues
Excerpt aus Geminos einleitet; folglich liegt kein direktes Citat
aus einer Schrift des Ilerakleides vor, sondern '[Ip^xXsio'/)? 6 FIoviixoc
eXs^sv xiX. ist eine Bemerkung des Geminos, welche Alexander
wortgetreu mitthcilt. Denn TiposXöwv ist der gewöhnliche Ausdruck,
wenn man eine Schrift wörtlich excerpirt und Einzelnes übergeht."
Obgleich also nach der Lesart der Aldina Ilerakleides Pontikos
nicht als der Urheber des heliokentrischen Systems erscheint, so
führten dennoch sowohl Böckhs Interpretation der unveränderten
Stelle als auch Bergks geistreiche Conjectur") zu dem gerade
entgegengesetzten Endergebniss. Doch darf uns dies nicht allzusehr
wundern. Ist es überhaupt denkbar, dass Geminos jene Andeutung
des heliokentrischen Systems nicht mit dem Namen seines Ur-
hebers, sondern mit dem mehr als gleichgültigen Namen eines
blossen Referenten verknüpft hätte? Da müsste unbedingt ein
Doppeltes angenommen werden: Erstens, dass Geminos den Namen
jenes Urhebers selbst nicht kannte, sondern in Betreff der ganzen
Frage einzig und allein auf den citirten Bericht des Herakleides
Pontikos angewiesen gewesen wäre, und zweitens, dass Herakleides
Pontikos bei diesem Berichte, über eine von ihm augenscheinlich
als wichtig erkannte Theorie, da wo er ausdrücklich auf den Ur-
heber desselben zu sprechen kommt, sich mit einem blossen xi?
begnügt hätte ^''). Wahrlich zwei Annahmen, von denen jede an
und für sich schon höchst unwahrscheinlich ist; wie viel unwahr-
■") Schiaparelli weist ebenfalls auf einige Möglichkeiten, die Stelle anders
zu eraendiren, hin: In TrapeXl^cbv könnte etwa der Name des Autors des helio-
kentrischen Systems oder eine Bezeichnung für eine bestimmte Klasse von
SIen.scheu (z. B. in der Form Tcxp /)p.Iv oder tcüv TruSayopr/üiv) verstümmelt
vorliegen; auch die Ersetzung der Worte TtccpeXOtov Tt? durch llXatcuv, w;
regt Schiaparelli an. Vergl.r Schiaparelli, Origirie, pag. 87.
"•") Die abenteuerliche Interpretation unserer Stelle durch Gruppe, welcher
in der eigenthümlichen Fassung derselben Absichten wittert (Vergl.: Gruppe,
die kosmischen Systeme der Griechen, Berlin 1851, pag. 134 — 135) wurde
schon von Höckh gebührend zurückgewiesen. (Vergl.: Böckh, Untersuchungen,
pag. 133—141.)
Herakleides Pontlkos und das heliokentrische System. Ißl
scheinlicher ist dann erst eine Annahme, welche diese beiden zu
ihrer Voraussetzung hat.
Schon um solcher Gründe willen miissten wir die Lesart der
Aldina, will man dieselbe nicht interpretiren wie Böckh, sowie
jede Conjectur zu derselben, die Herakleides zum blossen Refe-
renten der Theorie eines nicht näher bezeichneten „xt?" macht,
zurückweisen, wenn überhaupt nicht schon in einem Falle wie dem
unserigen in allererster Linie unbedingt die von den besten Codices
einstimmig überlieferte Lesart allen weiteren Folgerungen zu Grunde
gelegt werden müsste. Wir kehren deshalb zu unserer alten Les-
art zurück, nachdem noch der Vermuthung Ausdruck gegeben sein
soll, dass vielleicht die nicht wegzuleugnende Härte in der Con-
structiou von cp-/jaiv mit oxi zur Einschiebung des eXz'itv Veranlassung
v^ar.
Wir haben oben die Schwierigkeiten zu lösen versucht, welche
in den Worten TrapsXöwv xi; liegen, nichts desto weniger muss zu-
gegeben werden, dass diese Worte eigentlich so recht zu Con-
jecturen herausfordern. Bei der Werthung solcher Conjectureu
müssen wir von den folgenden Gesichtspunkten ausgehen. Die
Stelle giebt, so wie sie in den besten Codices vorliegt, einen guten
Sinn: Herakleides Pontikos bezeichnete auch das heliokentrische
System als eine zur Darstellung der Planetenbewegungen brauch-
bare Hypothese. Gegen einen Versuch der Aenderung unserer
Lesart, wodurch zugleich eine Aenderung dieses Sinns bedingt
würde, ist deshalb äusserste Vorsicht geboten; dagegen brauchen
wir für unsere Zwecke auf eine Werthung solcher Conjectureu,
welche jenen Sinn unberührt lassen, nicht näher einzugehen.
Thatsächlich liegt allerdings für unsere Lesart kein Vorschlag zur
Abänderung vor, der in gleicher AVeise Anspruch auf Berück-
sichtigung erheben würde, wie die „kritische Nachhülfe", welche
Bergk der Lesart der Aldina angedeihen Hess. Dagegen fehlt es
nicht an einzelnen Winken, in welcher Richtung etwa vorgegangen
werden könnte ^^), doch würden diese Winke alle zu Lesarten
•''') Schlaparelli berührt die Mögllchkeiteu, dass in TrapsX&wv xis der Titel
derjenigen herakleidischen Schrift verborgen liege, aus welcher Geininos sein
162 n. Staigmüller,
führen, welche den Sinn unserer Stelle nicht alterirten; ein Er-
gebniss, das, wie gesagt, nicht anders zu erwarten ist. So lange in
unserem Citate Herakleides Pontikos in direkte Beziehung zum
heliokentrischen System gebracht wird, ist eigentlich nicht abzu-
sehen, welche andere Beziehung sinngemäss dies sein könnte, als
die Beziehung des Autors zu seiner Lehre. Es ist deshalb nur
noch eine Möglichkeit eines kritischen Eingrifts in unsere Stelle
ins Auge zu fassen, nämlich der Versuch, die Schwierigkeiten da-
durch lösen zu wollen, dass die Worte „'Hfic/xXstSyj; 6 lloviixos"
für eine spätere Glosse erklärt werden.
Diesen Weg schlägt in der That Tannery ein ^^y, derselbe
schreibt: « Or, il saute aux yeux que, si le texte primitif portait
simplement: .,Aih xotl TtotpsXöwv xi? 'fr^stv oxi, •/.-. e., un glossateur
a pu noter en raarge, comme explication de xi?, le nom d'Heraclide
du Pont, qui sera ensuite naturellement passe dans le texte. —
La suppression de ce nom remet tout en ordre ». Um diese Be-
hauptung zu erweisen, giebt Tannery unsere Stelle in ihrem ganzen
Zusammenhange wieder, und übersetzt sie dabei folgendermassen
« Aussi on viendra meme dire qu'en supposant, dans certaines
conditions, la terre mobile et le solcil immobile, on peut rendre
compte de Panomalie solaire ». Hierzu bemerkt dann Tannery
noch: « L'expression oih xcd TrotfisXOtov xt? (p'/jaiv cadre tout natu-
rellement, comme on le voit, avec le developpement du sujet ».
Allerdings in dieser Uebersetzung klappt alles, doch gilt dasselbe
keineswegs vom griechischen Texte selbst. „Aio xctl TraosXilouv xi;
cpr^aiv heisst eben: „deshalb ist auch einer aufgetreten und sagt."
HapcXO(üv ist und bleibt ein Terminus technicus für ein öftent-
liches Auftreten in irgend einer Versammlung etc., und jede Ueber-
setzung, welche das xt? mit dem unpersönlichen „man" wiedergiebt,
verschleiert deshalb nur die Schwierigkeit, welche in der Wahl
jenes Wortes liegt, löst dieselbe aber nicht. Und dann erheben
sich bei Tannerys Vorschlag zum Theil jene Bedenken wieder,
Citat entnimmt, oder dass jene Worte ursprünglich irgend eine nähere Be-
zeichnung cntliielten, d. h. etwa z. B. irepi toökuv gelautet hätten. (Vergl.
Schiaparelli, Origine pag. 88.)
") Vergl.: Tannery, Sur Heraclide du Pont, Revue des etudes grecques
1890, pag. 305— 311.
Herakleides Poutikos und das heliokentrische System. 163
welchen ich oben Ausdruck verlieh, als es sich um die Zurück-
weisung jener Lesart handelte, welche das heliokentrische System
einem nicht näher bestimmten xi? zuschrieb. Wenn Geminos,
nachdem er die bekannten astronomischen Hypothesen aufgezählt
hat, nun auch noch eine letzte, fernliegende, von keinem der
grossen beobachtenden Astronomen recipirte Hypothese — von der
er sich sagen muss, dass sie den meisten seiner Leser neu sei, ja
gerade zu paradox klingen müsse — mit ein paar Worten ein-
führen will, so können diese Worte nimmermehr gelautet haben: „Alo
xai TTotpeXOtuv xi'? '-pr^aiv", hier musste unbedingt gleichsam als Ge-
währsmann diejenige Person genannt werden, welche „auftrat und
sagte". Die mit Recht oder Unrecht vermuthete Corruption unserer
Stelle wäre in erster Linie in den Worten -ctoE/.Öcuv tu zu suchen.
Die Streichung der Worte 'Hpcc/Xstor^: 6 Ilovrixoc hebt die Schwierig-
keiten unserer Stelle nicht nur nicht, sondern vermehrt dieselben
eher noch; ungleich weiter würde man daunbedingt mit der oben
ins Auge gefassten Wiederausmerzung des tu kommen. Und zu
allem hin werden wir sogleich sehen, dass bei Tannery eben auch
die Probe auf das Exempel nicht stimmen will: Tannery ist doch
verpflichtet plausibel zu machen, warum der Glossator gerade den
Namen des Herakleides Pontikos zur Erklärung des tt? beifügte.
« Comment douc la glosse erronee a-t-elle pu sintroduire? »
Diese Frage beantwortet Tannery mit den Worten: « Un annotateur
du 11^ ou du KF siecle de notre ere, ä une epoque oü Heraclide
du Pont etait suffisamment connu par les doxographes comme
ayant attribue un mouvement ä la terre, a tres bien pu, sur les
mots zivouasv/p -(oc tTjC -r,?, penser immediatement ä Heraclide
plutot qu'a Aristarque, et ecrire le nom du premier, sans faire
attention a la suite du contexte ». Dabei geht Tannery von der
Voraussetzung aus: « Sur ce point (d. h. über die Urheberschaft
des heliokentrischen Systems), tous les temoignages de l'antiquite
sont d'accord: l'invention du Systeme heliocentrique est unanimement
attribuee, non ä Heraclide du Pont, mais a Aristarque de Samos ».
Ja warum setzte dann der unglückliche Glossator nicht den Namen
des Aristarch ein? Darf man in diesem Glossator wirklich einen
Menschen suchen, der durch die Worte xivoup-svr^s -tue: tr,? 7t,c, ich
164 H. Staigmüller,
möchte fast sagen, so hypnotisirt ist, dass ihm die fünf unmittel-
bar folgenden, sogar mit xou os eingeleiteten Worte überhaupt
nicht mehr zum Bewusstsein kommen? Und dies selbst voraus-
gesetzt, warum grill' er dann gerade den Namen des Herakleides
Pontikos heraus? Aus denselben Doxographen, aus welchen ihn
Tannery diesen Namen schöpfen lässt, hätte er mit ganz dem
gleichen Rechte noch eine Reihe anderer Namen entnehmen können.
Müsste diese Möglichkeit ihn nicht unbedingt veranlasst haben,
sich die Stelle doch etwas genauer anzusehen? und dann — ?
Wir sehen also, die Aufstellung Tannerys ist in ihren beiden
Theilen — : in der Behauptung, dass die Streichung der Worte
HpaxXsßy]? 6 riovTixos die Schwierigkeiten unserer Stelle löse, und
in dem Versuche, plausibel zu machen, wie jener Name dann
später herein kam — unhaltbar und damit ist auch die letzte
Möglichkeit geschwunden, aus unserer Stelle etw-as anderes heraus-
lesen zu wollen, als was nun eben einmal, sowie sie vorliegt, in
ihr steht.
Gestützt auf die Autorität des Geminos dürfen wir es damit
als eine wohlverbürgte Thatsache betrachten, dass Herakleides
Pontikos die Möglichkeit aussprach, die Bewegiingserscheinungen
der Planeten durch ein System mit ruhender Sonne und bewegter
Erde zu retten.
Doch wir sind zur Beantwortung der Frage nach dem Urheber
des heliokentrischen Systems keineswegs auf die zuletzt besprochene
Stelle einzig und aliein angewiesen, haben wir doch vorher zwei
andere Stellen kennen gelernt, von denen jede für sich allein
schon uns zu einem ganz analogen Resultat führte. Fasse ich das
alles zusammen, so glaube ich — soweit hierbei überhaupt von
„Beweis" gesprochen werden kann — mit vorliegender Arbeit den
Beweis dafür erbracht zu haben, dass Herakleides Pontikos das
heliokentrische System aufstellte, und zwar „aufstellte als Astronom",
d. h. dass er in demselben eine neben andern gleichberechtigte
Hypothese sah, durch welche „die Bewegungserscheinungen der
Wandelsterne vermittelst gleichförmiger und im Kreise sich voll-
ziehender geordneter Bewegungen gerettet werden können".
Wollen wir zum Schlüsse kurz noch auf eine Würdigung der
Herakleides Pontikos und das heliokentrische System. 165
Verdienste des so oft und so viel verkannten Forschers Herakleides
Pontikos um die gesammte Astronomie eingehen, so kann zunächst
nicht eindringlich genug auf die hohe Bedeutung hingewiesen
werden, welche schon der Aufstellung des tychonischen Systems
zukommt: In diesem System haben wir den Keimling, aus dem
sich jene Lehren von den Epikykeln und beweglichen Ekkentern
entwickelten, welche die ganze antike Astronomie beherrschten, und
dieses System bildete zugleich die notwendige Vorstufe für jenes
andere System, dessen Wiederaufstellung die neuere Astronomie
nicht bloss äusserlich einleitete, sondern auch innerlich in ihrem
ganzen Wesen bestimmte. Fanden wir in vorliegender Arbeit dazu
noch, dass auch den Schritt zum coppernicanischen Weltsystem
Herakleides Pontikos selbst schon vollzog, so dürfen w'ir, ohne
Widerspruch gewärtigen zu müssen, Herakleides Pontikos den
glücklichsten Forscher auf dem ganzen Gebiet der Astronomie
nennen, ja wir würden der Bedeutung dieses Mannes nicht völlig
gerecht, wollten wir dabei in dem Worte Glück einen Gegensatz
zu dem Worte Verdienst erblicken.
VII.
Voltaire und die bernische Censur
Von
Prof. Dr. Haag iu Bern.
Verzeichniss der Abkürzungen:
Bg. = Voltaire, Bibliographie de ses ceiivrcs par Georges Bengesco.
1882—1890.
Seh. R. M. = Schulratsmanual im Bernischen Staatsarchiv.
P. B. = Polizeibuch „ _ „
M. B. = Mandatenbuch „ „ „
R. M. = Rat.smanual « „ ..
('. M. = Censurmanual „ „ „
Im Januar 1781 erschien der Prospectus der Ausgabe sämmt-
licher Schriften Voltaire's, welche Beaumarchais auf Grund eines
Privilegiums des Markgrafen von Baden vom 18. December 1780
in Kehl vorbereitete^), der sog. Kehlerausgabe, der Grundlage
aller modernen Ausgaben des grossen frauzösisclien Schriftstellers.
Nach diesem Prospectus sollten den Subscribenten die Werke
Voltaire's in 60 Octav- oder 40 Quartbänden zu Ende des Jahres 1782
abgeliefert werden. Wegen der grossen Schwierigkeiten aber,
welche Beaumarchais zu überwinden hatte, konnte erst zu Anfang
des Jahres 1785 der erste Theil der versprochenen Bände dem
Publikum abgegeben werden').
1) Bg. t. IV, p. 114 f.
•-') Bg. t. IV, p. 118.
Voltaire und die bernische Censur. Iß7
Inzwischen traf die neue typographische Gesellschaft in
Bern Vorbereitungen zu einem Naclitlrucke der Kehlerausgabe
und lud im October 1783 ohne vorangegangene Anzeige an die
Censurbehörde durch die im Land erscheinenden Zeitungen das
Publikum zur Subscription auf denselben ein; ihre Directoren
setzten voraus, dass sie sich der gleichen hochobrigkeitlichen Gunst
zu erfreuen hätten, die der Buchdrucker Fran^ois Grasset in
Lausanne bei seiner Herausgabe der Voltaire'schen Werke vom
Jahre 1770 u. ff. genossen hatte.
Aber das Auge des Gesetzes wacht! In der Sitzung des Schul-
rates vom 31. October 1783 that der Professor theologiae Joh.
Stapf er in seiner Eigenschaft als Censor der geistlichen Bücheren
den Anzug: ^)
„Da etwa vor 10 Jahren 2 Werk er des H. von Voltaire,
als die Pucelle d'Orleans und dessen Dictionaire Phil: aus Be-
fehl der hohen Regierung durch den Scharfrichter verbrant
worden, u. d dessen sämtliche übrige Schriften, welche die Re-
ligion ansehen, bey hoher Straf verbotten worden, die hiesige
Typographische Gesellschaft aber dem uhngeacht den Druck
einer neuen Auflag sämtlicher Schriften von Hh. von Voltaire
zur Subscription publicieren lassen, so sehe er sich in folg auf-
habender Pflicht gemiissigt, diese Publication zu ahnden; anbey
Mnhghh.*) anheimstellend was Sie bey so bewandten Umstand
zu verfügen am dienlichsten finden werden."
Prüfen wir diese Worte des gelehrten Censors und Gottes-
mannes auf ihre historische Wahrheit!
Den 5. Februar 1759 beantragte der Schulrat der Regierung
die von den Buchhändlern und Bücherausleiherr. der Stadt zum
Verkauf und zum Lesen angebotene neue Edition der Pucelle
d'Orleans, die „das aüsserste enthalte, was in ünreinigkeit
und Spötterei könne ausgedacht werden", zu verbieten ■'). Gemeint
ist oftenbar die Londoner Ausgabe der Pucelle vom Jahre 1758,
3) Seh. R. M. XIV, p. 10.
*) D. h. den Mitgliedern des Schulrats.
') Seh. R. M. IX, p. 132 ff.
168 Haag,
ein Nachdruck derjenigen vom Jahre 1756'')^). Die Regierung ge-
nehmigte den Antrag des Schulrates und beschloss nach einem
weitern Antrag desselben eine Revision der Censurordnung, damit
«) Rg. 1. 1, p. 130.
^ Dass Voltaire auch in Bern ein beliebter Schriftsteller geworden war,
für den Manche förmlich schwärmten, kann schon aus dem Umstand ersehen
werden, dass der in Bern wohnende Medailleur Joh. Melchior Mörikofer
von Frauenfeld im Jahre 1757 eine Voltaire-Medaille verfertigte und in Silber,
Kupfer und Zinn zum Verkauf ausbot. Die eine Seite zeigte das Bildniss
Voltaire's; auf dem Avers sind dessen Verdienste um die Geschichte, die
epische und dramatische Poesie dargestellt durch eine Leier auf offenem
Buch, unter der man eine Maske und einen Dolch erblickt, dahinter eine
Trompete, alles mit einem Lorbeerkranz malerisch durcbschlungen. Kenner
lobten das wohlgetroffene Bildniss des „sinnreichen" Mannes, wie man aus
Bern den in Zürich herauskommenden „Monatlichen Nachrichten" (p. 75 des
betr. Jahrgangs) schrieb, und fanden, dass die Voltaire-Medaille noch einen
grossem Grad der Vollkommenheit zeige, als die Haller-Medaille desselben
Meisters.
Der bernische Schulrat nahm also, wie seinem Schreiben v. 5. Febr. 1759
zu entnehmen ist, namentlich Austoss an der neuen Ausgabe der Pucelle
vom Jahre 1756 und in der That muss man ihm zustimmen, wenn er sagte,
dass dieselbe das äusserste enthalte, was in Unreinheit und Spötterei könne
ausgedacht werden. Eine Vergleichung der editio princeps mit der neuen
Edition lehrt uns, dass der Schulrat vor allem den Schluss des 18. Gesanges
der letztern im Auge hatte, in welchem das Abenteuer der bis auhin keuschen
Johanna mit dem sie liebenden Esel, das im 14. Gesang der ersten Ausgabe
durch die Dazwischenkunft Dunois' beendigt wird, bevor das dem Himmel ent-
stammende edle Thier Erhörung seiner kühnen Wünsche fand, weiter ge-
führt wird.
Mais ce bei äne est un amant Celeste
(sagt die Heldin in der neuen Ausgabe zu sich selber, von den ein-
schmeichelnden Worten des neben ihr knieenden geflügelten Wesens bereits
bethört).
II n'est heros si brillant et si leste;
Nul n'est plus tendre et nul n'a plus d'esprit,
II eut l'honneur de porter Jesus Christ;
II est venu des plaines eternelles;
D'un seraphin ii a Fair et les ailes;
II n'est point lä de bestialite;
C'est bien plutöt de la divinite.
L'äne est pressant, et la belle agitee
Ne peut tenir, daus son emotion,
Le gouvernail que l'on nomme raison.
Voltaire und die bernische Censur. 1G9
das Uebel der Verbreitung schlechter Bücher vollständig ausgerottet
werde. Bis dahin hatten die Buchhändler ihre Bücher, die sie
auf Lager hielten, nur dann visitiren lassen müssen, wenn mau es
von ihnen verlangte, d. h. die zwei Censoren veranstalteten von
Zeit zu Zeit die sog. Ordiuarj-Yisitation, nun bestimmte aber
die Regierung „nach dem Exempel anderer wohl policierten
Staaten" '),
„1) dass" — mit Beibehaltung der Ordiuarj -Visitation —
„allen Buchhändlereu in dero Landen verbotten werde, kein
Neüwes Buch zu verkauften, es seye dann solches vorher von
denen bestellten Censoren examiniert und aprobiert worden.
„2. Dass selbige den bestehen Herren Censoren fürderlich
von denen habenden Bücheren einen Catalogum übergeben, um
Und nun folgt die Schilderung des Begattungsactes in einer cynisch-
roheu Weise, wie man sie wohl nirgends mehr findet. ^Yahrlich, über solche
Verirrung der Phantasie, wie sie der gottbegnadete Dichter hier zeigt, der ja
auch in diesem Gedicht an vielen Stellen aus dem Füllhorn seiner Poesie
die schönsten Blüten ausschüttet, ist kein Urtheil zu schroff. In der folgenden
Ausgabe 17G2 in 20 Gesängen, die gegen die früheren viele Veränderungen
und Erweiterungen zeigt, jedoch in manchen Stücken wieder auf die erste
zurückgeht, ist diese ganze hässliche Scene zur grossen Genugthuung des
Lesers wieder weggelassen.
Ferner wird der bernische Schulrat noch besonderen Anstoss genommen
haben an folgender Episode der Ausgabe von 1756, welche in der ersten
Edition sich noch nicht findet und in derjenigen von 1762 ebenfalls wieder
fallen gelassen ist. Voltaire führt uns da in die Unterwelt, wo Prälaten und
Mönche, Kirchenlehrer und Prädikauten ewige Strafe verbüssen. Unter ihnen
sieht man auch den Genfer Calvin in einem grossen, glühenden Kessel:
ä son regard farouche, atrabilaire
On connoissoit de l'orgueilleux sectaire
Le mauvais coeur, l'esprit intolerant,
L'ame jalouse et digue d'un tyran.
Tout en cuisant, il sembloit etre encore
Dans sa cite, qu'un galant homme abhorre.
Et que redoute un esprit degage
Des contes vieux, et du sot prejuge,
A voir rotir Servet le grand apotre.
Die evangelischeu Orte hatten es aber gebilligt, dass nach dem Willen
Calvin's gegen den Ketzer Servet eingeschritten werde, also war die Vision
Voltaire's selber Ketzerei!
*) P. B. XIII, p. 689 ff.
Archiv f. Qeschicbte d. Fbilosopbie. XV. 2. 12
170 Haag,
zu wiissen, ob von denen darin enthaltenen Böcheren nicht
etwann dergleichen darunder begrifen, deren \'crkauf zu ver-
bieten. Massen Sie keine andere als die censiert, oder sonst
bewilligten Bücher feil halten mögen.
„3. Endlichen dass solche angehalten werden, dieserem Ihr
Gnaden Will nachzuleben und daharige Befolgung durch ein
Gelübt an Eidesstatt Ihnen Mnhwh. zusagen und versprechen."
Die zuwiderhandelnden Buchhändler sollten mit der Conliscation
der noch vorhandenen Exemplare des betr. Buches bestraft werden
und einer Busse von 20 Thalern, welche zu gleichen Theilen der
Bernischen Bibliothek, den Censoren und dem „Verleider" zufallen
sollten.
Den Bestimmungen dieses Reglements hatten sich auch die
fremden Buchhändler, welche an den Jahrmärkten Bücher feil
boten, sowie diejenigen, welche Bücher zum Lesen ausliehen, zu
unterziehen. Zu gleicher Zeit wurde zu wirksamerer Beaufsichtigung
der Buchläden die Zahl der Tensoren verdoppelt; von nun an
amteten in der Stadt Bern vier Censoren, zwei für die geistlichen
und zwei für die weltlichen Bücher. Alle vier waren Mitglieder
des Oberen Schulrates, da die Censur von je her dieser Behörde
Überbunden war; die Ernennung der Censoren stand dem Schulrat
selber zu. Die Censoren der geistlichen Bücher waren Professoren
der Academie, die dem geistlichen Stande angehörten, diejenigen
der weltlichen Bücher wurden aus dem weltlichen Stande ge-
wählt. Im welschen Cantonstheil hatten die Curatoren der Academie
zu Lausanne in Verbindung mit der dortigen Academie für die
Bekanntmachung des Ceusurreglements zu sorgen; die Bussen,
welche in der Waat von den Zuwiderhandelnden erhoben wurden,
sollten zu einem Drittel für die Lausanner Bibliothek verwendet
werden.
Von den zwei Censoren, welche nach der neuen Ordnung zu
den zwei alten hinzugewählt wurden (den 21. Februar 1759), war
der eine der oben genannte Professor Stapfer. Den 6. März kam
die neue Censurcommission zur constituirenden Sitzung zusammen
und vertheilte unter ihre Mitglieder die fünf Buchläden der Stadt
Bern zur Visitation. Die Inhaber derselben waren zu dieser
Voltaire und die bemische Censur. ]^7|
Sitzung eingeladen; es stellten sich aber nur drei, welchen nun
die neue Censurordnung „abgelesen und intimirt und anbey ein
Geliibd darüber abgenommen wurde" ^). Was mit den zwei
Sündern geschah, die nicht erschienen, besagen unsere Quellen
nicht '").
») Seh. R. M. IX, p. 205.
1") Der Umstand, dass mit der Pucelle d'Orleaus zugleich das Buch des
Helvetius de l'Esprit interdiciert wurde, weil es nach der Ansicht des Schul-
rates „den völligen Materialismus lehre und durch den kürzesten Weg zum
Unglauben und zur Freygeisterey führe", gab Veranlassung zu einer Anecdote,
die auch Tillier in seiner bernischeu Geschichte (V. p. 248) seinen Lesern
mittheilt. „Schnell hatte man", so schreibt er „bei ihrem ersten Erscheinen
das schmutzige Gedicht Voltaires la pucelle d' Orleans zu unterdrücken ge-
sucht. Man erzählt sich, dass bei dieser Gelegenheit der mit der Nachforschung
beauftragte geistreiche Bibliothekar Sinner von Balaigues dem Aratsschult-
heissen folgenden komischen Bericht abgestattet habe: « Monseigneur, maigre
le zele que j'ai mis ä executer vos ordres, mes recherches sont reste[es] in-
fructueuses, et je n'ai trouve dans tonte la ville ni esprit ni pucelle ».
Nun, es kann ja sein, dass der gelehrte Sinner von Balaigues in Gesell-
schaft den Witz machte, dass man in Bern bei allfälliger Nachforschung we-
der esprit noch pucelle finden würde, auf jeden Fall ist die Form, in die
man dann später diesen Witz einkleidete, schlecht gewählt und zeugt von
vollständiger Unkenntniss der Verhältnisse. Durch das Edict der Reffieruno-
vom 10. Februar 1759 verbot die Regierung den Verkauf der in Rede stehenden
zwei Bücher und beauftragte den Schulrat das Verbot durch die Zeitungen
und die Amtleute den Buchhändlern und dem Publikum bekannt zu machen.
Ein Weiteres aber geschah damals nicht; gar keine Rede davon, dass irgend
Jemand beauftragt worden wäre, die Stadt Bern, beziehungsweise deren Bucli-
läden nach den verbotenen zwei Büchern zu untersuchen und dem im Amt
stehenden Schultheissen Bericht über die Untersuchung abzustatten. So etwas
geschah erst im Jahre 1764, da es sich um die Verbrennung des Dictionuaire
philosophique von Voltaire handelte. Und wäre wirklich anno 1759 Jemand
beauftragt worden bei den Buchhändlern, Bücherausleihern u. s. w. den noch
vorhandenen Exemplaren nachzuspüren und sie der obersten Behörde auszu-
liefern, so wäre nicht der Bibliothekar der Beauftragte gewesen, sondern der
Grossweibel in Verbindung mit dem Rathausammann und dem Gericbtsweibel.
Zu Anfang des Jahres 1759 aber waren diese Aemter folgendermaassen
besetzt:
Grossweibel: Joh. Rud. Daxelhofer,
Rathausammann: Franz Em. v. Bonstetten,
Gerichtsschreiber: Samuel Haller.
Nach dem von uns Mitgetheilteu kann des Weiteren ersehen werden, dass
Tillier fälschlich sagt, die Pucelle sei bei ihrem ersten Erscheinen in Bern
verboten worden; es geschah erst wenigstens 3 Jahre nachher.
12*
172 TTaag:,
Den 8. Juli 1762 beantragte der Schulrat der Regierung,
Rousseau's Emile auf die Liste der verbotenen Bücher zu setzen").
Noch in derselben Sitzung, da dies geschah, wurde von einem
Mitglied des Schulrats geahndet^''*), „dass auch in verschiedenen
von denen Werken des Herrn de Voltaire irrige und sonder-
lieitlich unserer Christlichen Religion nachteilige Gedanken sich
befinden, und dass demnach nötig wäre ein Einsehen zu tun, um
zu verhindern, dass dergleichen Werke nicht je mehr und mehr
bekannt wurden." Diese „Ahndung" gab Veranlassung zu einer
Weisung an die Censoren, sie sollten die bis anhin erschienenen
Schriften Voltaire's „examinieren" und ihr Befinden sobald möglich
dem Plenum des Sehulrats mitteilen.
Die Herren Censoren hatten es aber mit diesem Auftrag nicht
sehr eilig; sie schwiegen — 272 J^hre lang, sie schwiegen, bis zu
Ende des Jahres 1764 ein neuer Sturm gegen Voltaire losbrach.
1764 war bekanntlich die erste Ausgabe des Dictionnaire
Philosopliique von Voltaire erschienen; den 2G. September dieses
In Bezug auf das Verbot von Ilelvetius' Werk de l'esprit sei liier noch
die Bemerkung angefügt, dass es einen heutzutage dopiielt schmerzen muss,
dass der orthodoxe Unverstand und Uebereifer auch in der Republik Bern
darin ein den Sitten gefährliches Buch erblickte, doppelt schmerzen, weil
sein Verfasser in der Ueberzeugung, dass nur in der Republik die wahre
Tugend gedeihen könne, seiner überaus wohlwollenden Gesinnung gegen die
Schweiz unverhohlen Ausdruck giebt und die naive Meinung vertritt, in diesem
glücklichen Lande, an dem auch jeder Einzelne ein Vorbild nehmen könne,
gebe es weder Intriguen noch Verfolgungen. Wahrscheinlich hätte er im
Jahre 1759 folgende Worte nicht mehr geschrieben (de l'Esprit, III, p. 157
in der Pariser Ausgabe vom Jahre 1758, b. Durand):
« Le bonheur u'est point Tappanage des grandes places; il (K'pend
uniqueraent de l'accord heureux de notre caractere avec l\'tat et les circon-
stances dans lesquelles la fortune nuus place. II en est des homraes comme
des Malions; les plus heureures ne sont pas toujours Celles qui joiient le plus
grand rüle dans Tunivers. Quelle Nation plus fortuuee que la Nation Suisse!
A Texemple de ce peuplo sage, Fheureux ne bouleverse point le monde par
ses intrigues; content de lui il s'occupe point des autres; il ne se trouve
point sur la route de TAmbitieux; l'etude remplit une partie de ses journees;
il vit peu connu et c'est robscurite de son bonheur qui seul en fait la
sürete.
") Haag, Süddeutsche Blätter IV, 9, p. 205 IT.
'■') Soll. R. M. IX, p. oib.
Voltaire und die beniische Censur. 173
Jahres war er iu Genf öifentlieh verbrannt worden. Als ver-
schiedene Exemplare bereits ihren Weg nach den bernischen Landen
gefunden hatten, kam das böse Buch auch im Schoss des Schul-
rates den 24. Dezember 1764 zur Sprache; die Entrüstung, die
sich unter seinen Mitgliedern darüber kundgab, wird am besten
aus dem „Vortrag" ersehen, den sie an die Regierung richteten;
er lautet also^^):
„Vor Mnhh. den SchulRäthen ist angebracht worden, dass
unlängst ein Buch heraussgekommen unter dem Tittel Dictionaire
Philosophique, welches wider die guten Sitten, wider die ge-
offenbahrte Religion und selbst wider das Höchste Wesen Gottes
die anstössigsten und verabscheüungsvvürdigsten Stellen ent-
haltet, und dessen Zwek schnurgerad dahin zielet, die Christ-
liche Religion zu Boden zu werlfen und aufs schimpflichste zu
durchziehen. Gegen ein so ruchloses Buch, davon schon ver-
schiedene Exemplaria in hiesige Land geworft'en worden, können
Mnhh. die SchulRäth nicht in denen Schranken der gemeinen
Censur verbleiben, sondern glauben allerdings ihrer Pflicht zu
sein, E: Gn: gerechten Eifer aufzuwekeu, und Hochdenenselben zu
Sinn zu legen, ob wider eine solche Lästerschrifft nicht auf
eine ausserordentliche Weise solte gehandlet werden. In diesem
Absehen haben Sie mitkommendes Exemplar zur Hand gebracht,
damit E: Gn; selbiges zu Bezeugung ihres gerechten Abscheüens
durch die Hand des Scharfrichters öffentlich können verbrennen,
und dabey das Dictionaire philosophique in dero samtlichen
Städten und Landen ernstmeinend verbieten, die vorhandenen
Exemplaria hier in der Statt zu Händen des H. Grosweibels und
auf dem Land zu Händen der Hh. Amtleuten einfordern, und
dann im ferneren eine Buss von Einhundert Thaler grössten
Theils zu gunsten des Verleiders auf alle diejenigen Kaürt'er
oder Verkaütfern sagen lassen, hinter welchen selbiges gefunden
wurde. Alles aber seye E: G: hochen Gutünden gehorsamst
anheim gestellt."
Unsere Quellen geben nicht an, wer im Schulrath über den
Dictiounaire philosophique referirte und die Veranlassung zu dieser
>3) Seil. R. il. X, p. 102 ir.
174 Haag.
Eingabe an die Regierung gab, aber aus folgender Weisung an die
Censores librorum^^), die in derselben Sitzung beschlossen wurde
und das reinste Tadelsvotum enthält, scheint mir mit aller Sicher-
heit hervorzugehen, dass der Ankläger nicht dem Censorencollegiura
augehörte :
„Aus heute vorgewaltetem Anlas haben Mehh. die Schul
Räht nöhtig gefunden , der Hochoberkeitlichcn Ordnung vom
10. Februar 1759 aufs frische die Execution zu geben; zu dem
End haben Sie Muhh. diese Ordnung hiermit Copeylich zusenden
und dieselben zugleich freundlich ersuchen wollen ihre InspectioQ
auf die samtlichen Buchläden hiesiger Stadt von neuem unter
sich zu verteilen, und dabey mit Zuziehung Mshh. Prof. Wilhelmis
auf Mittel und Weg bedacht zu seyn, wie die Aufsicht auf diese
Buchläden könte schärfer gemacht und der Verkauft" so vieler
der Religion und den guten Sitten zuwiederstreitenden Biiechereu
genauer eingezielet und so viel möglich gehemmt werden. Neben
diesem erinnern sich Mehh. die SchulRäht, dass Sie Mnhh. schon
unterm 8. Julij 1762 aufgetragen, die Werk des H. de Voltaire
zu examinieren um zu sehen, welche Theile davon für unsere
Christliche Religion die schädlichste seyen, und wie derselben
Verkauft" und fernere Bekanntmachung zu hemmen':' Diese nun
nahmentlich in der zu Genf heraussgekommeuen Edition zu er-
forschen, haben Mehh. die SchulRäht Sie Mhh. hierdurch friind-
lich ansinueu und Ihren dissörtigen Raport mit Befürderuug ab-
abzufassen ersuchen wollen."
Aus diesem interessanten Actenstück kann auch herausgelesen
werden, dass das Censurreglement vom Jahre 1759 ohne alle Wir-
kung geblieben war; natürlich: verbotene Früchte schmecken gut
und die Buchhändler und Bücherausleiher fanden immer Mittel
und Wege genug um hinter dem Rücken der Ceusur dieselben an
den Mann zu bringen; die Geschichte der bernischen Censur ist in
der Beziehung sehr lehrreich.
Im alten Bern war es stehende Sitte den Interpellanten oder
denjenigen, der in einer Broschüre gegen etwas aufgetreten war
oder etwas angeregt hatte, zu den Verhandlungen der Commission
1*) 1. 1. p. 103.
Voltaire und die bernische Censiir. 175
beizuzieheu, iu deren Bereich der angezogene Gegenstand fiel; in
Folge dessen ist man versucht, nach dem Zeddel des Schulrats
an die Censoren den Prof. Wilhelmi für denjenigen zu halten, der
die Verfolgung des Dictionnaire philosophique veranlasste. In der
That war Wilhelmi nach der Präsenzliste im Schulratsmanual in
der betreffenden Sitzung zugegen und doch kann man es kaum
begreifen, dass gerade Wilhelmi, Victor von Bonstettens Freund,
der aufgeklärte, litterarisch so fein gebildete Mann, die Hetze
gegen Voltaire heraufbeschworen haben soll.
Es ist hier wohl am Platz, über die erste Ausgabe des
Dictionnaire phil. port. Voltaire's einige Bemerkungen einzuschieben,
da sich in Folge der Erweiterungen, die sie mit der Zeit erfuhr,
ganz falsche Ansichten über dieselbe bildeten, schrieb doch ein
Moderner, ohne Zweifel Philosoph seines Zeichens, im Brockhaus-
schen Conversationslexikon'^) folgende ungeheuerliche Worte:
„Von seinen Bewunderern an die Spitze der Oppositionsbewegung
gestellt, verkündete V. in dem Dictionnaire philosophique (1764;
eine Sammlung von 7 Bänden der Artikel, welche er für Diderots
berühmte Encyclopedie verfasst hatte). . ." Nun, die jetzt selten
gewordene editio princeps unseres Werks, in Loudon 1764 er-
schienen, bildet einen einzigen Octavband von 344 Seiten, in
welchem 73 Artikel in alphabetischer Reihenfolge behandelt werden:
Abraham, Arne, Amitie, Amour, Amour uomme Socratique u. s. w.
bis Vertu, dem letzten Artikel. Wie Georges Beugesco in seiner
grundlegenden Bibliographie der Werke Voltaire's '^) darstellt,
stammt die Idee eines philosophischen Lexikons aus dem Jahre 1752,
da Voltaire am Hofe Friedrichs des Grossen sich aufhielt. Der
König selber fand an ihr Gefallen und las die ersten Artikel,
welche Voltaire ihm übergab, über Abraham, den Atheismus, die
Taufe u. s. w. mit Vergnügen. Die Arbeit wurde aber unter-
brochen und, wie es scheint, erst im Jahre 1760 wieder aufge-
nommen. Da schrieb Voltaire an Madame du Detfand die be-
zeichnenden Worte: «je suis absorbe dans un compte que je me
rends a moi meme par ordre alphabetique de tout ce que je dois
15; XVI, p. 834 im Jahre 1887.
1«) Bg. t. I, p. i\'2.
176 Haag,
peiiser sur se mondc-ci et sur Tautre, le tont pour mou usage et
peut-etre, apres ma mort. pour celui des honuetes geus."
Andere Arbeiten verursachten eine nochmalige Unterbrechung,
so dass das Werk erst im Juli 1764 erschien.
Vielleicht gehe ich nicht irre, wenn ich annehme, dass an
jenem Abend des 28. September 1752, da an der königlichen Tafel
zum ersten Mal die Idee eines Dictionnaire philosophique aufge-
worfen wurde, die Veranlassung dazu der kurze Zeit zuvor heraus-
gekommene erste Band der Encyclopädie Diderofs und d'Alembert's
gab. Man wird wohl darüber gesprochen haben, dass das gross-
artig angelegte Werk bis zu seiner Vollendung allzulauge Zeit in
Anspruch nehmen werde und dass es wünsclienswerth wäre,
wenigstens ein Compendium der Philosophie, wie sie jetzt in Eng-
land und Frankreich sich entwickelt hatte, alphabetarisch angelegt,
in Taschenformat für ein weiteres Publikum zu bearbeiten. Im
discours prelimiuaire des ersten Bandes feierte der Verfasser des-
selben, d'Alembert, den Voltaire als den grossen Autoreu der Gegen-
wart, der nie unter und nie über seinem Gegenstand stehe und
die IMiilosophie eine anmuthige Sprache zu reden gelehrt habe
(siehe auch K. Rosenkranz, Diderot's Leben und Werke J, 144).
Das mag dann wiederum die Veranlassung gewesen sein, dass ein
Mitglied der königlichen Tafel gesagt haben wird, der Herausgeber
eines Dictionnaire philosophique portatif sei durch die Editoren
der grossen Encyclopädie bereits prädestiniert, es könne nur
Voltaire sein.
Der Inhalt der einzelnen Artikel bildet in der That, wie ihr
Verfasser an die erblindete Madame du Dell'and schreibt, sein
deistisches Glaubensbekenntuiss, das er p. 318, als Antwort auf
die Frage « apres uotre sainte religion qui sans doute est la seule
bonne, quelle serait la moins mauvaise? » also in kurzer Form
wiedergiebt: « ne serait-ce pas la plus simple? ne serait-ce pas
Celle qui enseignerait beaucoup de morale et tres peu de dogmes?
Celle qui tendrait ä rendre los hommes justes, sans les rendre
absurdes? ccllo qui n'ordonnerait point de croirc des choses im-
possibles, contradictoires, injurieuses a la Divinitc et pernicieuses
au genre humain et ([ui n'oserait point raenacer des peines eternelles
Voltaire uud die bernische Ceusur. 177
quiconque aiirait le sens commiin? Ne serait-ce point celle qui ne
soutieudrait pas la creance par des bourreaux et qui u'inonderait
pas la terre de sang pour des sophismes inintelligibles? celle daus
laquelle une equivoque, un jeu de mots et deux ou trois chartes
supposees ne feraient pas un souverain et un Dieu d'un pretre
souveut incestueux, liomicide et empoisonneur? celle qui ne sou-
mettrait pas les rois a ce pretre? celle qui n'enseignerait que
Tadoration d'un Dieu, la justice, la tolerance et riiumanite? »
Auf Grund dieser Worte begreift man es freilich, dass der
Papst den 8. Juli 1765 den Dictionnaire philosophique auf den
Iudex librorum prohibitorum setzte und wer ihn mit allen seinen
gelehrten und zum Theil tief gehenden, jedenfalls immer eine ge-
waltige Belesenheit voraussetzenden Untersuchungen über die
kirchlichen Dogmen durchgelesen hat, der begreift es auch, dass
im Staate Bern die Kirchenlehrer gewaltigen Anstoss daran
nahmen. Im Frauciskanerkloster, wo die hohe Schule thronte,
duldete man jetzt, so wenig wie in Rom, ein Buch, das die stu-
dierende Jugend mit dem Gifthauch des Zweifels an dem, was zu
glauben vorgeschrieben war, hätte anstecken können. Es war im
„Kloster" eben anders geworden, als es im vorhergehenden Jahr-
hundert gewesen war: damals studirten Professoren und Studenten
eifrig die Werke des Cartesius und glaubten nicht, dass dies ihrer
Christlichkeit Abbruch thue uud sie thaten es, bis sie deshalb in
Folge der Hetze fanatischer Prädicanten durch die Regierung ge-
massregelt wurden (1680)'^); jetzt ging die Bewegung gegen den
") Im Frühjahr 1G80 war ein heftiger Streit ausgebrochen zwischen den
bernisehen Prädikanten und den Professoren der Academie: es wurden diese
beschuldigt, dass sie unter ihren Zuhörern der Orthodoxie zuwiderlaufende
Lehren vortragen; die Angelegenheit wurde in den officielleu Zusammenkünften
der Geistlichen besprochen und vom Rat durch eine Commission untersucht,
die Studenten wie die Professoren wurden einvernommen und schliesslich vom
Rat beschlossen, es sei des Cartesius Lehre zu lesen und zu lehren verboten
und auch die Studenten auf den fremden Universitäten sollten sich mit diesem
Autor nicht mehr beschäftigen. Die Sache endigte damit, dass der tägliche
Rat den drei Prädikanten der Stadt Bern die Gewalt ertheiite, dass sie
jeder Zeit nach Belieben die Schriften der Studenten nach Cartesiana unter-
suchen könnten, um, wo ihre Spürnasen etwas verdächtiges entdeckt hätten,
selbiges an gehörigem Orte anzuzeigen. Den Professoren aber, die solches
178 Haag,
Deismus vom Schulrat, bez. von den Professoren, von der hohen
Worte der Wissenschaft und freien Forschung aus. und doch
fand man es an anderen protestantischen Orten der Schweiz nicht
für nöthig gegen das in Bern verfehmte Buch öffentlich vorzugehen,
weder in Zürich noch in Basel. Mcht als ob in diesen Städten
ruhig über sich ergehen lassen mussten, wurde aufgetragen sich in „alter Ver-
traulichkeit und ungefälschter Bruderliebe" mit den Herrn Prädikanten zu
vertragen.
Die Weisung des Rates an den Schulrat in Sachen, schon ihres Stils
wegen intesserant genug, lautet (mit Weglassung dessen, was für weitere
Kreise kein Interesse haben kann) also:
,Euch Mnhh. ist bekannt, dass in letst gehaltenen beyden Bern und
Laugeuthaler Capitlen angezogen worden, ob solten unter den Studiosis all-
hier solche Opiniones im Schwang gehen, die nach dem Armiuianismo und
Socinianismo schmecken thun, inmassen darüber MeGhh. durch eine ansehnliche
Commission den Sachen nachforschen, die Studenten, an denen dergleichen
vermerkt worden, verhören, die Herren Professores, die auch eingezogen
worden, vernemmen, und, nach langem Consultiren, das ganze Geschafft
Ihnen wiederbringen lassen; Nachdem aber Ihr Gnaden aus allem ersehen
müssen, dass dadurch die hiesige Schul nicht allein in grosse Verachtung
gerahten wollen, sondern auch mit derselben der hiesige Kirchenstand leiden
müssen, und an benachbarten und äusseren Orten in Verdacht kommen, Ob
wäre allhier der Religion und Ortbodoxey halb alles zweifelhafftig, und wüsste
man nicht, was in Glaubens Sachen man Statuiren solle: Haben MeGhh. und
Obere, als eine Christenliche hohe Oberkeit, denen, nach dem Exempel ihrer
frommen fordern, nichts mehrers angelegen, als wie sie das erworbene Evan-
gelium durch die reine Lehre desselben pur und unverfälscht erhalten, und
auf die wehrte posteritet fortpflanzen könnten . . . Statuirt, angesehen und
verordnet haben wollen,
,1. Erstlieh, dass alles, so dieses Geschäffts wegen vorgegangen, von
Oberkeits wegen termiuirt, ausgemacht und erörtert seye, auch dessen nicht
mehr gedenkt werde, sondern zwischen den Herren Predickanteu die rechte
alte Vertraulichkeit und ungefälschte Bruderliebe Stabilirt und vestgesetzt
seyn solle.
„3. Solle des Cartesij Philosophey so weit verbotten seyn, dass nicht
allein dieser Author wie auch der Anthoine leGrand und andere ihre an-
bängere, sondern auch ihre Lehren und neue gefährliche Dogmata weder
publice noch privatim protitirt oder gelesen werden sollen und mögen, bey
poeu der Entsatzung deren, so hierwider handien wurden: und zwar unter
den Studiosis auch die, so dismahlen in der fremde drausseu sind, oder ins
künfftig dahin verschickt werden möchten, massen die, so dismahlen draussen
sind, dessen per Schreiben verwahrnet, und den künfftiglich verreisenden
sonsten bey ihrem Abreisen die Nohtdurfft deswegen insinuirt werilen soll.
Voltaire uud die beruische Censur. 179
es nicht Leute gegeben hätte, welche über den dict. philos. nicht
ebenso gedacht hätten, wie die bernischen Professoren: in dem
Exemplar, das der Basler Bibliothek angehört, hat jemand, offen-
bar der damalige erste Bibliothekar, der Theologieprofessor Jakob
Christoph Beck , auf der Rückseite des Einbanddeckels die Worte
geschrieben :
„Liber impius, Religioni
Christianae, Summis Imperantibus,
bonis Moribus, oppositus.
Auetore, ut ajunt,
Mr Aronet de Voltaire.
Est
Bibliothecae publicae Basilieusis."
und dann später, unter diese Empfehlung zu Händen des Lesers:
„Combustus per Caruilicem Parisiis, Genevae, Hagae Comitum,
et Bernae."
Wahrscheinlich ist diese Eintragung ein Auslluss des Aergers
darüber, dass die Censurcommissiou von Basel, die aus dem
Rector der Universität, den Dekaneu der vier Facultüten und dem
Stadtschreiber bestand, sich nicht bemüssigt sah, das Buch zu ver-
bieten.
Schon 5 Tage, nachdem der bernische Schulrat sich in Sachen
des Dictionnaire philosophique an die Regierung gewandt hatte,
„4. Damit aber desto besser band obgehalten, oder, da hierwider gehaudlet
wurde, bey Zeiten remedirt werden könne, wollen Meghh. und Obere obigen
punktens halb Mehh. die drei Predikanten allhier zu Aufseheren bestellt, und
denenselben hiermit Gewalt und Befehl ertheilt haben, den Studiosis, so offt
Sie es gut finden, ihre Schriften abzuforderen, dieselben zu durchgehen wann
Sie darin etwas fuuden, so aus des Cartesij priucipiis fliesset und bedenklich
wäre, mit den Herren Professoribus darum auch zu reden, von Ihnen sich
berichts zu erholen, und, je nachdem die Sachen seyn werden, die Nohtdurfft
gehöriger Orten zu erinnern.
„6. Insgemein aber wollen Ihr Gnaden, dass den Studiosis und Candidatis
ad S. S. Ministerium eingeschärfft werde . . in dem predigen sich eines solchen
Styli und Redensart zu befleissen, die heiliger Biblischer Schrifft uud der
Matery, die Sie tractireu, gemäs seye; Und hingegen der affectirteu unge-
wohnten neuen Teutsch sich zu müssigen, als welche die verständigen nur
ärgeret, uud das geraeine Volk in ihrem Christenthum nichts unterweisen thut."
180 Haag,
also den 29. Deceraber 1 764, behandelte diese den Vortrag des Schul-
rates und genehmigte dessen Vorschläge in allen Theilen mit der
einzigen Aenderung, dass die vorgeschlagene Busse von ICH) Thalern
auf die Hälfte herabgesetzt wurde; zu „besserer Ausrottung des
schändlichen Buchs" sollte die ganze Busse dem Verleider anheim-
fallen'^).
Der Beschluss der Regierung wurde durch alle Zeitungen und
das Organ der Amtleute deutschen und welschen Landes dem
ganzen Volk kundgegeben und am Sylvestertag 17G4 das vom
Schulrat der Regierung überschickte Exemplar des Dictionnairc
philosophique an der Kreuzgasse in Bern vom Scharfrichter öffent-
lich „lacerirt" und verbrannt. Es wurde also für die Execution
ein Tag gewählt, da alles Volk feierte und Müsse hatte derselben
zuzusehen. Dem Grossweibel und dem Rathausammann ward der
Befehl „bei den Buchdruckeren, Buchhändlereu, Buchführeren und
denen so Bücher zum Lesen auslichen dem so schändlichen Buch
bestmöglichst nachzuspurren" und die abgefaugenen Exemplaria
sofort verbrennen und abschaft'eu zu lassen; dasselbe hatten die
Amtleute im Cantou herum zu thun. Im Rundschreiben an die
Letzteren vom 29. December 17G4 heisst es'^), dass das Buch in
der Hauptstadt Bern und in Lausanne durch den Scharfrichter
ölfentlich laceriert und verbrannt worden sei, aber den 12. Januar
1765 berichtete der Praefectus von Lausanne, dass er aus Mangel
eines Exemplars den Dictionnaire philosophique von Voltaire nicht
nach Ihr Gnaden Befehl durch den Scharfrichter habe verbrennen
lassen können! Ihro Gnaden blieb nichts übrig als „an sothanem
seinen Bericht sich zu ersättigen"^").
Nach dem nun mitgetheilten ist also in der Aussage des
Censors und Professors der Theologie in der Sitzung des. Schul-
rates vom 31. October 1783, von der wir in unserer Abhandlung
ausgegangen sind, verschiedenes unrichtig. Einmal sind nicht die
Pucelle und der Dictionnaire philosophique verbrannt worden,
sondern nur das letztere Werk; des weitern geschah das nicht un-
gefähr 10 Jahre, sondern ungefähr 20 Jahre vorher und drittens
'^) P. i;. XIV. 1'. 4.')7iV.
>9) M. B. XXI, p. 423fl'.
20) K. M. 27o, p. 4GÜ.
Voltaire und die bernische Censur. 181
ist es ganz aus der Luft gegriffen, wenn Stapfer behauptete, dass
Yoltaire's sämmtliche übrige Schriften, welche die Religion ansehen,
bei hoher Strafe verboten worden seien.
In der auf den Stapfer'schen Anzug folgenden Discussion
scheint man dem Gedächtniss des alten Herrn etwas zu Hülfe ge-
kommen zu sein, wie aus der Eingabe hervorgeht, welche der
Schulrat in Sachen an die Regierung richtete ^^):
„Euer Gnaden haben vor Jahren, aus gerechtem Eifer für
Religion und Sittlichkeit bewogen, nicht nur den Druk und
Verkauf verschiedener Schriften des H. von Voltaire, die Hoch-
denenselben in Rüksicht auf das Beste ihres Volks, nachtheilig
und gefährlich geschienen, verbotten; sondern zum Beweis Ihres
Missfallens oftentlich in dieser Hauptstadt zerreissen und ver-
brennen lassen; den bestelten Censoren auch anbefohlen, über
diesem Verbott zu halten.
„Diese, ihrer Pflicht getreu, zeigten ohnlängst dem Wohl-
Ehrwürdigen Convent und dasselbe dem Obern Schulrath au:
dass dieser Erkenntniss zuwider, von der neuen Typographischen
Gesellschaft allhier, in dem Avisblatt sowol als der Zeitung, dem
Publike ein Nachdruk der in Kehl gedrukten Ausgabe sämtlicher
Werken dieses Verfassers augekündet und solches zur Unter-
schrift öffentlich eingeladen worden seye. Da nun dieses Unter-
nemnien dem Verbott Euer Hohen Gnaden und desselben ruhm-
würdigen Absicht gerade entgegen stehet, so achten sich Mehghh.
verbunden, diese Anzeige vor Hochdieselben gelangen zu lassen
und von E: G: Weisheit die fernere Verordnung gehorsamst zu
erwarten."
Die Regierung trug ordnungsgemäss dem Schulrat auf, zu
überlegen und zu erdauern, was „wegen dieser neuen Auflag
Meinen Gnädigen Herren anzurathen und allenfahls zu verfügen
seyn wolle" und sein Beünden ihr vorzutragen. Ordnungsgemäss
verlangte sodann der Schulrat zuerst ein Gutachten von der
Censurcommission. Diese bestand damals aus 5 Mitgliedern,
3 weltlichen und 2 geistlichen. Jene waren Victor von Bonstetten,
2') Scb. R. il. XIV, p. 12.
182 Haag,
der allbekannte Schriftsteller, der aber den betr. Sitzungen nicht
beiwohnte — er war offenbar von Bern abwesend — Prof
Tscharner, der an der Acaderaie den Lehrstuhl der Jurisprudenz
inne hatte und der Alt-Land vogt Herbort: die geistlichen Mitglieder
waren die Professoren der Theologie Stapfer und Studer. Das
Gutachten der 4 Censoren machte der Schulrat zum seinigen und
gab sodann den 8. December 1783 der Regierung folgendes in jeder
Beziehung interessante Gutachten ein''):
„zu folg . . . haben die S: R: nunmehr die Ehre Euer
Gnaden Ihre Gedanken, wiewohl in getheilten Meynungen vor-
zutragen.
„Voraus aber nehmen Wohldieselben die Freyheit, zu
mehrerer Aufheiterung dieses Geschäfts, Hochdenselben den
Rapport zu erstatten; dass Mnhh. der Censur Commiss: . . den
11. Schultheiss, als einen der Directoren der neuen Typographischen
Gesellschaft, vor Sie bescheiden, und über das Vorhaben ge-
dachter Gesellschaft betrefend den Druk dieses Werkes ver-
nommen, von demselben auch daraufhin erfahren: der wahre
Verleger dieses Kehlischen Nachdruks seye Hh. Regnault in
Lion, mit diesem haben vor einiger Zeit die hiesige Typogr:
Gesellschaft, die Typogr. Gesellschaft in Neuenburg, und H.
Heübach in Lausanne einen Contract geschlossen, kraft welchem
ein jeder gedachter Uebernemmern einen Antheil dieses Druks
auf sich genommen; er IL Schultheiss aber seye erbietig, sich
im Namen seiner Constituentin zu erklären, dass dieselbe nichts
anstössiges wider Religion und Sitten druken werde, und dass
sie alles, was unter ihre Press kommen soll, der hiesigen ordent-
lichen Censur unterwerfen wolle; übrigens getröste er sich zu
gedachten Händen der gleichen Hochobrigkeitlichen Gunst, die
Herr Grasset in Lausanne'^) vor einichen Jahren, bey üruk der
vorherigen Edition von Volt: [s] Schriften genossen.
22) Sch. R. M. XIV, p. 14 ff.
2'') Von der in Lausanne bei Grasset & Co. 1770—1776 in 57 Octav-
liiindeu erschienenen Gesaramtausgabe von Volfaire's Werken sind nur vor-
banden die 8 Hände, welche die dramatischen Stücke des Autors enthalten
und ein neunter (in iler kaiserlichen Bibliothek zu Petersburg), enthaltend
rUistoire de TKinpire de Kussie sons Pierre le Grand und vielleicht gehören
Voltaire und die bernische Censur. 183
„Demnach haben Mehghh. die Ehre, Ihre Gedanken über
obigen Auftrag gegen Euer Gnaden dahin zu äusseren:
„Mit der einten Meynung möchte man Euer Gnaden an-
rathen, den Nachdruk der ganzen zu Kehl neu aufgelegten Edit:
der Werken des H. de Voltaire zu verbieten, wie auch deren
Publikation durch das hiesige Avis-Blatt und die französ:
Zeitung widerrufen zu lassen. Und zwar aus folgenden Gründen,
„1." Weil nicht nur in einleben, sondern den meisten Werken
dieses Authors, das feinste Gift wider die guten Sitten, die Re-
ligion und Tugend verborgen ligt.
„2.° Weil diese neue Edit: von Kehl nicht nur alles ver-
derbliche der vorhergehenden Edit: enthält, sondern sogar solche
Schriften, welche H. de Voltaire sich nicht getraut hat, während
seinem Leben herauszugeben.
„3." Wie äusserst gefährliche Lehrsätze diese neue Edit: ent-
halten muss, erhellt daraus: dass ihr Verleger H. de Beaumarchais
sich vergebens in Frankreich um das Privilegium beworben hat,
dieselbe mit Königl. Authoritaet drukeu zu dürfen; und endlich
dasselbe zu Kehl hat suchen müssen.
„4.° Glaubt man, wenn in obiger Edit: das schädliche von
dem lehrreichen solte abgesondert werden; so müsste man der-
selben 60 Vol: censoriren. Wodurch man sich denn ohne
einichen Nuzen noch Ehre vor die Republik, grosse Mühe, Arbeit
und Kosten zuziehen würde. Auch steht man in den Gedanken,
diese abgesonderte Edit: würde der Typogr. Gesellschaft zu be-
trächtlichem Schaden gereichen, indem, wenn jene schädlichen
Werke in der neuen Edit: ausblieben, welche leyder bei gegen-
dahin noch zwei Bände in der Lausanner Bibliothek, von denen der eine die
Ilenriade, der andere auch die Geschichte iiusslands unter Peter dem Grossen
enthält. Diese Lausanner Ausgabe ist von hohem Werth, weil die dramatischen
Stücke bezeugtermaassen und wahrscheinlich auch die übrigen Schriften
Voltaire's von diesem selber vor der Drucklegung durchgesehen und corrigirt
worden sind. Für uns Berner ist diese Thatsache besonders bemühend, weil
die Stadtbibliothek noch im Jahre 1811 alle 57 Bände besass und sich dann
derselben entledigte, wahrscheinlich um mit Hülfe des Lösegeldes eine mo-
dernere Ausgabe anschaffen zu können. Wei' in den Besitz der veränsserten
Grasset-Ausgabe gekommen ist, konnle ich leider noch nicht austimiig
machen.
184 naag,
wärtigem Verfall der Religion und Sitten, die Liebhaber der-
gleichen Werken als die Probe des ganzen ansehen; so würde
das übrige gleichsamm von denselben als nur die Schale ge-
schäzt, sehr wenig Käufer und Abgang finden^*).
„Mit der andren Meinung pflichtet man zwar der ersteren
darin bey, dass der von der neuen Typogr. Gesellschaft publicirte
Nachdruk der Edit: von Kehl im ganzen hier nicht erlaubt
werden könne, indem dieselbe verschiedene anstössige und wirk-
lich von Euer Gnaden verbottene Werke enthalten würde; man
haltet es aber für rathsamer, dieses Verbot nach dem Anerbieten
des H. Schultheiss nur auf gedachte Werk einzuschränken,
welche wider die Religion und guten Sitten streiten; indem II.
de Voltaire sich benebens in verschiedeneu Fächeren von Wissen-
schaften ausgezeichnet, und darin Werke verfertiget hat, welche
gegenwärtigem Zeitalter zur Ehre gereichen, und der Nachwelt
'*) Diese vom Antragsteller ausgesprochene Ansicht, der Druck der
Voltaire'schen Werke werde der typographischen Gesellschaft eher zum
Schaden, als zum Nutzen gereichen — ob sie ernstlich oder ironisch gemeint
ist, lässt sich nicht entscheiden — ist an die Adresse seines CoUegen, des
Nikiaus Emanuel Tscharner gerichtet, der in der Sitzung des Schulrates vom
4. December, in welcher dieser das Gutachten der Censurcommission genehmigte,
anwesend war. Nikiaus Emanuel Tscharner (auch im Ausland als Arner in
Pestalozzi's Licnhard und Gertrud liinUuiglich bekannt), war damals
der Director der typographischen Gesellschaft. Dieselbe war im Jahre \li)S
als Actiengesellschaft von seinem Bruder Bernhard gegründet worden zum
Zweck einer Druckerei mit Verlag und Buchhandlung, um die Berner mit
den neuesten Erscheinungen der Litteratur bekannt zu machen. Das ITnter-
nehmen blühte anfänglich, namentlich auch, weil ihm Albrecht von Ilaller
thatkräftig zur Seite ging. Al>er es fehlte an einer richtigen kaufmännischen
j-eitung und au der nothigen Aufsicht von Seiten der Männer, die an der
Spitze standen und schon im Jahre 1772 war in der Handlung ein todtes
('apital von mehr als 100000 Eres, und im Verlag ein verlornes von 75000 Eres.;
1778 kam es zur Liquidation: Bernhard Tscharner, der fast sein ganzes Ver-
mögen eingebüsst hatte, starb über dem Kummer. Es fand sich kein Käufer
und um die Eamilieuelire zu retten, übernahm Nikiaus Emanuel die Direction
mit Einsatz seines Vermögens und Oredites. Die Gesellschaft führte nach
dieser Reconstruction den Titel der Neuen Typographischen Gesell-
schaft (vd. die Biographie V. B. Tscharner's von Tobler im Neujahrsblatt der
Bernischen Litter. Ges. von Jahre 1890). Der Ereuud Pestalozzis hatte einen
kummervollen Lebensabend.
Voltaire und die bernische Censur. 135
zum Nuzen und Vergnügen dienen werden; davon dessen epische
Gedichte, wie auch seine Theatralische und Historische Werke,
lebende Beweise sind. Indessen aber möchte man auch mit
dieser Meinung die Publicatiou derjenigen Schriften, welche
wider die Religion streiten, durch hiesige öffentliche Blätter
wiederrufen lassen. Alles etc."
Die Regierung schloss sich vollständig der letzteren Meinung
an; sie beschloss also (den 18. December 1783), dass der neuen
typographischen Gesellschaft in Bern und dem Buchhändler Heu-
bach in Lausanne gestattet sei diejenigen Werke Voltaire's zu
drucken, die nicht wider die Religion und die guten Sitten streiten,
wofern ein jeder zu druckende Band vorher der Censur zur Prüfung
vorgewiesen werde; die Regierung verlangte somit nichts anderes,
als wozu sich der vor der Censurcommission erschienene Director
der neuen typographischen Gesellschaft selbst anerboten hatte.
Mit der Censur der Bände, welche der Censurcommission vor
dem Drucke jeweilen vorzuweisen waren, wurde von dieser in
ihrer Sitzung vom 23. December Prof. Stapfer betraut"). Dessen
werden die Directoreu der Typographischen Gesellschaft zufrieden
gewesen sein: den alten Herrn konnten sie schon ein bisschen an
der Nase herumführen, ohne dass er es merkte.
25) C. M., p. 69.
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV. 2. 13
VIII.
Einige Coroliarien des Simplicius in seinem
Commentar zn Aristoteles' Physik (ed. Diels).
I. i>. 1129—1152 (contra Philopomim).
Von
Prof. Dr. Joli. Zahlileiscli in Graz.
Nachdem Ar. seine Defiuition der Bewegung aufgestellt, zeigt
er, dass es ewige Bewegungen gebe und begrenzte (S. 1130, 9ff.);
aber, fragt Philoponus, woher hat Ar. die begrenzte Bewegung als
eine der ewigen folgende hergenommen, da ja die Potenz ohne die
Energie immer bestehe, die Potenz, welche für die Bewegung eine
conditio sine qua non sei? Die Negation dieser Frage, d. h. die
Unmöglichkeit, die begrenzte von der unbegrenzten Bewegung zu
trennen, wird von Philop. auf folgende Art bewiesen. Jeder Be-
griff muss von dem Begriffnen her definirt werden. In Folge
dessen muss auch für die Bewegung, sowohl für die xivr^ai? avotpyoc,
wie für die apj(Yjv s/ouaa die nämliche Deiinition gelten (1130, 17).
Wenn daher für die letztere das Bewegte als nothwendige Vorau.s-
setzung gilt, so muss das auch für die erstere Geltung haben.
Somit muss die ouaia oupavou für die Himmelsbewegung voraus-
gesetzt werden (24 f.). Und nun gilt die Regel, dass nichts von
dem, was als nothwendige Voraussetzung ein Anderes hat, ewig
ist; also kann es auch keine ewige Bewegung geben, womit Ar.
Einige Corollarien des Simplicius etc. 187
Annahme von der ewigen Bewegung zAirückgewiesen wäre. Oder
man nimmt das Gegentheil von dem an, was Ar. wollte, man
nimmt nämlich an, dass nicht ein bewegtes dv-tooiov der Bewegung
gegenüberliegt (es lässt sich diese Annahme wieder nur in der
Weise schlichten, dass man den Begriff der Bewegung nicht ohne
seine Merkmale setzen darf, also auch nicht ohne sein Gegenstück,
die Welt oder die ouaia oucpavou. Freilich ist Ar. nicht zu dieser
Ansicht vorgedrungen, hat es daher dem Philop. leicht gemacht,
gegen ihn aufzutreten). Und Ar. selbst, sagt Philop. bei S. 1130, 29
bis 1131, 9, habe Potenz und Bewegung promiscue gebraucht.
Darauf erwidert nun S. 1131, 9 ff. so ziemlich das Gleiche, was
Philop. für seine eigene Behauptung zuletzt aus Ar. selbst heraus-
gelesen hat; hernach (1131, 13 ff.) ist festzuhalten, dass auch der
Umstand gilt, dass zwar überall in der Bewegung ein derselben
Vorangehendes vorliegt, dass aber hier in dem Gebiete der ewigen
Bewegung auch davon abgesehen werden kann. Denn hier ist
immer Bewegung, nur bald diese, bald jene. Immer aber müsse
man eine Potenz vor der Bewegung annehmen, wie z. B. die Sonne
als Potenz gilt für die Bewegung des Stiers, wenn sie im Widder
sich bewegt. Und während Philop. diese Bewegungsgleichzeitigkeit
absolut nimmt, verhält sich die Sache doch insofern anders, als
man, weit entfernt, die Unendlichkeit beider Verhältnisse voraus-
zusetzen, doch nebenbei ein fortwährendes Werden gelten zu lassen
hat. Während nämlich, sagt S. 1132, 7 ff., Ar. wirklich bemerkt,
dass mit dem Zustandekommen des Erfolges auch die Ursache, die
spezifische Potenz, aufhört, darf man nicht behaupten, dass mit
dem Fehlen der Bewegung auch die Potenz fehlt. J\l. a. W. : es
will S. wohl die Behauptung des Ar. gelten lassen, dass die Potenz
ewig ist, aber nicht die des Philop., welcher dem Ar. in die
Schuhe schiebt, dass er eine Potenz jemals als nicht existirend
hinstellen will. Dies wird 1132, 12 ff. noch weiter ausgeführt.
S. legt aber weiter dar, dass mau aus Ar, (201 al9, 201 b7) und
aus Themistios herauslesen könne, dass Philop. Unrecht habe.
Man muss nämlich, entgegen der Meinung des Philop. (bei S.
1133, 7 — 9), dass von dem Niedrigeren zum Höhereu bei der Be-
stimmung des letzteren ausoresansen werde, umgekehrt von dem
13*
188 Job- Zahlfleisch,
Höheren zum Niedrigeren fortschreiten, also dass die Bestimmung
des Letzteren in dem Ersteren enthalten ist, und dass man sich,
wie Philop., aus den logischen Elementen nicht verleiten lasse, die
Art als Hauptsache zu betrachten, um von dieser aus die Gattung
zu bestimmen, sondern vielmehr umgekehrt. Denn wenn auch
eine gegenseitige Bestimmung solcher Art vorkommt, so darf man
diese Wechselseitigkeit doch nicht für die Definition auch gelten
lassen.
Zweiter Einwand des Philop. 1133, 16ff. . worin er wieder zu
zeigen versucht, wie die Potenz eine endliche Macht ist, also dass
Ar. mit seiner Behauptung von der ewigen Himmelskraft Unrecht
habe. Denn, meint Philop., wenn man Feuer in einer ihm nicht
zukommenden Region anzünde, ebenso wie Wasser, wenn es als
Regen entsteht, so hätte immer nur die jeweils mitlaufende Potenz
des betreffenden Elementes, aber nicht die Potenz als solche etwas
zu bedeuten. Denn es gebe keine Potenz vor der Energie; das
Holz, aus welchem Feuer (1133, 30—1134, 19) entzündet werde,
sei nicht potentiell; denn wie könne ein Schweres und Hartes die
Potenz von einem Leichten sein? Insoweit nämlich das Holz
schwer ist, kann es nicht das leichte Feuer bewirken, und somit
siebt es keine Potenz in dem Holze für das Feuer.
Dritter Einwand (1134, 29 ff.). Vermöge der Lehre von der
Potenz müsste jede Bewegung in eine beliebige andere übergehen
können, was doch dem gesunden Verstände widerspricht (Philop.
hat dabei nicht wissen können, dass wir heut zu Tage wohl Analoge
zu dieser Voraussetzung haben. Denn die Thatsache von dem
Uebergang der wichtigsten Naturkräfte in einander, von Schall
in Licht, von Licht in ^Värme, von Wärme in Magnetismus, von
Magnetismus in Elektricität, von Elektricität in Chemismus u. s. w.
beweist, dass Philop. den Ar. mit Unrecht tadelt).
Viertens (1134, 33 ff.). Als Energie einer Bewegung muss
man immer das ansetzen, was sich an die eigentlich Kraft der
betreffenden Materie anschliesst; so haben Brot und Wein nur die
Energie des Brotes und Weines. Die daraus erfolgende Ernährung
unter dem Einflüsse der vegetativen Seele beim Genüsse der er-
Einige Corollarien des Simplicius etc. 189
wähuten Stoffe unterliegt einer anderen Kraft. So hat das Holz
au sich nicht die Kraft das Feuer in die Höhe zu heben, sondern
vorerst nur, das Feuer zu unterhalten^^
S. erwiedert hierauf (1135, 15 ff.), dass Ar. nur sagen wollte,
dass es uicht angehe, ein Princip anzunehmen, welches sich von
anderen Principien vollständig loslöse und selbständig sei. Hat
er sich hiermit nicht gut ausgedrückt, so ist das seine Schuld.
Aber daraus dürfe Philop. nicht den Schluss ziehen, dass seine,
des Ar., Annahme falsch sei. Gesteht ja Philop. selbst zu, dass
seine eigene Ansicht dasselbe besagt, wie Ar. Denn auch bei
Philop. sind Feuer und Wasser aus Ursachen entstanden, welche
nicht auf einmal abbrechen, sondern auf immer andere und andere
Ursachen hinüberführen.
Im Folgenden (1135, 28 — 34) erklärt S. , dass selbst unter
Voraussetzung der Unrichtigkeit des Aristotelischen Axioms von
der Bewegung die Annahme eines obersten Bewegenden, das zu-
gleich ewig ist, uicht umgestossen werde. Wir haben gesehen,
dass sich aus der Annahme der Potenz dies sowohl, wie vieles
Andere erklärt (vgl. Erdmann, Grundr. d. Gesch. der Philosophie,
Berlin 1896, 2. Bd. S. 59f.).
Aber es wird nicht einmal Ar. durch Philop. widerlegt. Denn
(1136, Iff.). Ar. habe, sagt S. gegen Philop., 2 Arten von Po-
tenzen angenommen; die eine ist diejenige, welche auf die Energie
hin wirklich endigt, die andere aber die ohne Energie bloss po-
tentiell gültige, d. h. nur in dem Sinne zu erwartende, dass man
keinen wirklichen Erfolg damit gegeben habe, sondern nur eine
Fähigkeit. Und insofern Philop. z. B. dem Holze die Kraft des
Feuers abspricht, während Ar. sie gelten lasse, insofern habe er,
Philop., Unrecht. Gegen diese Voraussetzung des S. will Philop.
1136, 26 f. geltend machen, dass man es hier ja nicht mehr mit
einer Bewegung, sondern mit einem Werden zu thun habe, insofern
Holz zu Feuer werde. S. wendet dagegen ein, dass dem Ar. ja
auch das Werden eine Bewegung ist nach E 1, 224 bSfi"., 2, 226
al2 u. s. w. Aber formell Hesse sich gegen diese Argumentation
des S. einwenden, dass es sich ja nicht darum handle, was Ar.
darüber meint, sondern was die Wahrheit ist.
190 Joh. Zahlfleisch,
S. giebt weiter au (1136, o51Y.), dass Ar. für das Werden
die Definition der Bewegung voraussetzte (201 a9), und dass das
Werden, das von Philop. bei dem Prozesse der Verbrennung dem
Holze zugeschrieben w^erde, nur darin bestehe, dass aus Holz Feuer
werde, während die Bewegung auf der Potenz des Holzes beruhe,
zunächst die avo) xi'vrjat; zu bewerkstelligen, eine Annahme, welche
gewiss nicht mit dem Aristotelischen Begriffe der o-jvotixic streite,
die in der xivyjök gelegen sei. Doch zu diesem Behufe will S.
die Worte des Philop. selbst anführen (1137, 24fi".).
In diesen verweist Philop. nochmals auf die bereits oben
(4l34>(19ff.) vorgebrachte Annahme von der gleichzeitigen An-
wesenheit zweier Potenzen im selben Stoffe, insoweit das Holz au
sich schwer, aber daneben, in Rücksicht auf das sich nach oben
bewegende Feuer, doch wieder leicht sei, eine Annahme, von
deren Absurdität Philop. überzeugt ist. Doch S. wendet die Sache
so, dass diese Potenzen nicht von der nämlichen Seite aus ge-
nommen werden dürfen, wie z. B. das Holz der Potenz nach wohl
leicht ist in Vergleich zu der Wirklichkeit des Feuers, dagegen
der Energie nach schwer in Hinsicht auf die daraus erst ent-
stehende, also potentiell im Holze schlummernde Fähigkeit der
Aufwärtsbewegung.
Wir haben nämlich iin Holze eine Potenz „leicht" und eine
Energie „schwer", daneben haben wir eine Potenz „Aufwärts-
bewegung" und eine Energie „Abwärtsbewegung" im Holze.
Während aber die eine von diesen Potenzen und Energien an sich
feiner erscheint, ist die andere nur nebensächlich. Also gilt von den
zwei Potenzen nur eine, während Philop. fälschlich deren zwei neben-
einander angenommen hat. So sei es auch mit dem ^Vasser,
welches au sich '{^u/et, während es in accidenteller Weise erwärmt,
ebenso wie das Holz evspYsta schwer ist, aber potentiell Wärme in
sich enthält (insofern es Brenn- und Wärmestoff ist). Und in der
That gehört auf diesem Wege jedem Elemente die doppelte Potenz
au, wie z. B. dem Wasser an sich die Kälte, dann aber auch in
der anderen ]\ichtung die Wärme (S. kommt hier aber wieder auf
das zurück, was er oben 1136,1 ff. aus Ar. von der doppelten
Potenz herausgelesen hat)./
Einige Corollarien des Simplicius etc. 191
Mit diesen Ausführungen hat S. den obigen ersten drei Punkten
des Philop. widersprochen. Dazu kommt der Einwand gegen den
vierten Punkt (1138, 17 ff.).
Gegen den vierten Punkt, den wir bereits oben hervorgehoben, ist
von S. (1138, 17 — 26) eingewendet, dass Ar. mit seiner Erklärung
der Potenz nicht von dem Standpunkt ausgeht, dass man die
Potenz und Energie als auf demselben Priucip fussend zu be-
trachten habe, insoweit Philop. behauptet, dass aus Brot nie
Fleisch, aus Holz nie Feuer werden kann, ausser in uneigent-
lichem Sinne. Denn Ar. habe gerade unter Potenz etwas von dem-
jenigen Verschiedenes verstanden, was sich daraus entwickeln soll.
Ferner (1138, 26 ff.) wenn auch Ar. nicht vom Brote ausdrück-
lich gesagt hat, dass es Fleisch, oder vom Samen, dass er ein
Mensch werde, so bleibt deshalb doch nach allgemeiner An-
schauung beides nicht in seinem ihm ursprünglich eigenen Zustande,
sondern unterliegt einer Veränderung.
Nun gibt es aber auch verschiedene Arten von Potenzen im
Hinblick auf die Einwirkung der nicht direct in dem unmittelbar
Vorliegenden enthaltenen Umstände; es giebt vollkommene und
unvollkommene Potenzen, zwischen denen eine dritte Art in der
Mitte sich befindet. Da der Gedanke neu ist, so müssen wir ihm
etwas genauer nachgehen. Als Beispiel für die erste Art von
Potenzen gelten dem S. alle Kräfte und Eigenschaften der Dinge
als solcher. So hat z. B. Holz jedenfalls die Kraft und Eigenschaft
des Holzes an und für sich, ebenso Luft die der Luft, Feuer die
des Feuers an und für sich. Die unvollkommenen Potenzen werden
veranschaulicht durch die Veränderung desjenigen, was eine Potenz
in sich hat, wonach die Energie zu Stande kommt, also dass
etwas, das etwa als Fötus noch nicht die Eigenschaften eines er-
wachsenen Wesens zeigt, erst das letztere werden lässt, oder das
z. B. als Pflanze eine gewisse Beschaffenheit des Pflanzenkörpers
zur Schau trägt, denselben dahin verändert, dass seine ursprüng-
liche Beschaffenheit in Bezug auf die Dimensionen eine andere
Gestalt annimmt, d. h. sich vergrössert, oder dass, wie aus einer
Raupe ein Schmetterling, ebenso aus einem Körper gewöhnlicher
Natur durch Umtauschung seiner Moleküle eine andere Art von
192 Joh. Zahlfleisch,
Körper wird, ein Vorgang, welcher bei der Nahrungsaufnahme
stattfindet, was man Veriinderuns: schlechthin nennt.
Wenn jedoch diese Sache, welcher eine Potenz innewohnt,
doch auch neben der Veränderung bleibt, welche mit ihr vor-
genommen wird, dann hat man einen mittleren Zustand, wie es
sich z. B. mit derjenigen Bewegung verhält, welcher bei den ört-
lich ihren Standpunkt verändernden Körpern vorkommt, und des-
halb ist auch die örtliche Bewegung die vollkommenste von allen
(vgl, Ar. Metaph. H. A.). So bewegt sich das Feuer in der Art,
dass man in ihm vermöge seiner Aufwärtsbewegung immer die
vollkommene Kraft der Bewegung erkennt (welche offenbar in dem
aus dem Himmelsfeuer hergenommenen vollkommenen Princip
ruht), während die ünvollkommenheit desselben in der Unterhal-
tung des Feuers durch niedrigere, der irdischen Natur sich an-
nähernde Kräfte dargestellt ist (xtö ctTeXsi osvotfisi xat t-^ cpuosi
TrXr^ata'CovTt 1139, 6f.). Beim Werdeprocesse z. B. sieht man (vgl.
das obige Exempel vom Fötus), keine in sich gleich bleibende
Kraft, während wir hier bei der Ortsbewegung eine solche wohl
haben (1139, 8—10).
Auf Grund nun derjenigen Potenzart, welcher von S. als die
mittlere bezeichnet wurde, hat er die Anschauung des Philop. zu-
nichte gemacht, welche nur eine einzige Potenz, die von S. als
die erste aufgeführte voraussetzt (1140, 10). Wollten wir aber
eine Polemik gegen S. in dieser Richtung eröftnen, so bestände
dieselbe rein nur darin, dass wir ihm den Vorwurf nicht ersparen
könnten, dass er anstatt eines eigentliches Beweises nur eine Be-
schreibung dessen geliefert hat, was er sich unter Potenz vorstellt. ^
Wollten wir aber einen Vergleich ziehen mit dem, was von uns
heutzutage als Potenz aufgefasst wird, dann hätten wir zu sagen,
dass unsere Philosophie leider über den Begrilf des Vermögens oder
der Kraft, oder der Potenz nacli niclit hinausgekommen, nur dass
wir im Stande sind, die betreft'enden Arten der Potenz nicht wie
S. als Anhängsel der ersten „vollkommenen" darzustellen, sondern
dass wir gerade die letzte Art der Potenz des S., die „unvollkommene"
und als die wichtigste betrachten: allerdings nur Trpos \\mc. nicht
xai>' auxo. Denn die genauere Betrachtung der Naturkräfte führt
Einige Corollarien des Simplioiiis etc. 193
uns immer mehr dazu, dass wir erkeuneu, es gebe nur eine Grund-
kraft und dass die übrigen bloss aus der Finflussnahnie uns un-
bekannter, ursprünglich in den Dingen liegender Kräfte hervor-
gegangen sind.
la Folge dessen hätte auch des Philop. Streitsache durch S.
1140, 11—1141, 4 mehr im Anschluss an das von S. aus Ar. selbst
herangezogene geschlichtet werden sollen, da es dortselbst heisst,
dass Ar. von keinem Vorhergehen einer besonderen Wesenheit vor
allem Sein und vor allem Werden handle, während doch, wolle
man dieses Sein und Werden nicht aus den [jly] ov ableiten (1140,
14 f.), ein positiv Seiendes vorausgesetzt werden müsste. Denn
nach Ar. 191 a 24ft". wird das Werden nicht entweder von einem
Seienden oder Nichtseienden, sondern von einem mittleren, einem
der Potenz nach Seienden, der Energie nach aber nicht Seienden,
einem ■/otxa a'jjxßsßr^xo^ ov erklärt, was eben mit der von mir so-
eben vorausgesetzten Unterscheidung zwischen 7:pö; /([j-ac und xaO' auxo
übereinstimmt. Philop. wendet die Sache so (1141,2), dass ein
sich bewegen Könnendes vor allem Bewegtwerden vorhanden sei,
wie die Wesenheit überall vor jeder Energie.
Nach S. 1141, 11 — 30 geht die weitere Auseinandersetzung
des Philop. auf Folgendes hinaus. Wenn des Philop. Parteigänger
auch annehmen, dass man etwas Potentielles dem Werden zu
Grunde zu legen habe, so müsse doch das Wirken der Gottheit
nicht mit jenem der Natur identificirt werden (1141, 16). Denn
Gott lässt nicht bloss die Ideen, sondern auch die Materie un-
mittelbar aus sich, nicht durch Potenzen, entstehen. Damit seien
die Potenzen überflüssig (21 ff'.); jedenfalls bedürfe es keiner neuen
Materie, um Materie hervorzubringen. Mau dürfe also keine
mittleren Potenzen aus der Macht Gottes sich entstanden denken.
Denn wenn auch die natürlichen Erscheinungen und Wirksamkeiten
auf dem Grunde von zeitlichen und räumlichen Folgeeft'ecten
(Wirkungen, bei welchen die eine durch die andere abgelöst wird),
zu Stande kommen, so steht Gott dennoch ausserhalb Raum und
Zeit. Denn er wirkt nicht, er will nur (otpxsi -j-ap (zukJ) ixovov -q
öeXeiv Et; x}]v tcäv TrpajjLYaxtov oyatwaiv 1141, 28ff.).
194 Joh. Zahlfleisch,
Wir sehen, wie Philop. durch die einzige Wirksamkeit Gottes
und nicht durch die Potenz die Dinge und das Werden derselben
erklären möchte.
Dies wird von Philop. in dem 11. Buche seiner gegen Praklos
gerichteten Schrift folgendermassen erklärt: Wenn weder aus der
uXr; noch aus dem auvoXov (Aristotelisch gesprochen), etwas wird,
weil diese Dinge nichts bedeuten, so kann das Werden nur aus
dem £100? stattfinden. Dieses letztere aber hat nur augenblickliche
Wirkung, weil aber dann beim Werden das sTooc hierdurch zu
Grunde gehen miisste, so ist auch diese Annahme unmöglich (S.
1142,1 — 14). Die fernere Annahme eines fortwährenden Werdens,
also auch einer fortwährenden Bewegung, ist unzutreffend, weil in
solchem Falle diese Bewegung endlich als die Voraussetzung des
Werdens erscheinen muss. Denn wenn man die Dinge durch fort-
währendes W^erden entstehen lässt, weil dasselbe durch Bewegung
zu Staude kommt, dann muss man schon vor dem Werden Be-
wegung gelten lassen, während doch das zu Beweisende erst die
Bewegung ist. Es sei also eine petitio principii hiermit gegeben.
Man kann aber das Sein der Dinge nur daraus erklären, dass
Materie und Zeit und überhaupt alles Seiende zusammen existiren,
so dass vor der Welt eine Bewegung nicht war. Und in Folge
dessen könne man nicht die Bewegung als Vorbedingung aller
Wirklichkeit gelten lassen. Denn es ist ja Alles zugleich (1141,
14-28).
Die von S. hier aus Philop. vorgebrachte These, wonach man
das Werden und die Bewegung der seienden Dinge nicht zeitlich
voraussetzen darf, also dass Ar. Unrecht habe, wenn er die Dinge
aus dem Werden und der Bewegung erklärt, ist kein Beweis gegen
Ar. Denn für Ar. ist die Bewegung genau so, wie für Philop.,
zugleich mit dem von der Gottheit gesetzten All gegeben. Nur
der Wirksamkeit nach muss die Bewegung von dem All getrennt
werden, wobei sie in Wahrheit aber noch immer nicht von dem-
selben wirklieh abgesondert ist. Denn Bewegung ist von dem be-
wegten Ding nicht trennbar. Nur wir verallgemeinern und ab-
strahiren den Bcgrilf Bewegung aus dem Ikwcgten. Ebenso Ar.
S. selbst entgegnet dem Philop. Folgendes (1142, 28ff.): Er
Einige Corollarien des Simplieius etc. 195
behauptet, dass die Annahme des Philop., dass Alles schon gegeben
sei, und dass man aus nichts die Dinge werden lassen müsse, un-
möglich von Philop. im Ernste gemeint sein könne (1143, 3—19),
ferner müsste man das Sein der Dinge nur so gelten lassen, dass
die Materie aus Materie und diejdeen der Atome aus gleichen
Ideen entstünden. Auf solche Weise könne man die Materie als
für sich allein bestehend annehmen, und das Entstehende wird
nicht Alles aus dem Seienden, da letzteres eben nicht von dem
Entstehenden getrennt ist (mit diesen Worten wollte Simpl. gegen
Philop. offenbar annehmen, dass es nicht angehe, ein solches Werden
gelten zu lassen, das eigentlich nur ein Sein ist — womit man
auf die Eleatischen Trugschlüsse zurückgeworfen würde) 1143,
20—1144, 4. Aber auch den Aristoteles hätte Philop. besser be-
achten sollen, welcher die Entstehung aus dem Nichtseienden 191 aSO
für unmöglich erklärt, weil man etwas Bestimmtes voraussetzen
müsste, wofür kein Grund vorliegt, weil dadurch ein progressus in
infinitum zustande käme, wenn man nicht ein Idem per Idem
constatiren wolle (1144, 4—8). Dieses Werden wird aber von
Philop. nicht genau erfasst. Denn wenn sie aus dem Nichtseienden
die Dinge werden lassen, dann haben sie die Autorität des Ar.
gegen sich, welcher, wie bereits erwähnt, das Nichtseiende unmög-
lich zur Grundlage des Werdens machen kann, während in Wahr-
heit nach Ar. oCi -o oc-' ahla.; oircosouv ucpia-aacvov, ä/Aa to sv
iispöi -/pövou -rjv £Üc -Jj sivai -a'pooov Xa/6v als Definition des Werdens
gilt (man muss aber dabei bedenken, dass S. damit doch hätte
erwägen sollen, dass auch im letzteren Falle eine Ursache ge-
geben ist) 1144,8—12. Ar. hat, bemerkt S., die Entstehung der
Dinge aus Gott entstehen lassen. Ar. sei nicht Pautheist, sondern
die Materie, welche Princip und Wirklichkeit zugleich ist, entstehe
fortwährend, obwohl sie ewig ist (freilich lässt sich Letzteres nicht
wohl denken, weil Ewigkeit und Gottheit auf identischer Basis
ruhen). Die damit in Verbindung gebrachte Lehre der a-Myr^^i;
bei Ar. will S. als ein blosses Hilfsmittel betrachten zu dem Zwecke,
um dasselbe zu erzielen, wie Philop. mit seinem von Ewigkeit her
vorausgesetzten Werdeprocess (1144, 12 — 1145,6). Man wird sich
bei dieser Darlegung des S. der Ansicht nicht verschliessen dürfen.
196 Joh. Zahlfleisch,
dass es eigentlich nur nebensächliche Unterschiede sind, welche S.
zwischen Ar. und Philop. aufdeckt. Denn die Gottheit des Ar.
wirkt in der Welt geradeso, wie die Materie und die Ideen und
Gott bei Philop. und in der durch ihn vertretenen Lehre des Neu-
platonismus zusammen gegeben, aber auch wirksam erscheinen.
Der Unterschied besteht nur darin, dass Ar. sich Gott ausserhalb
der Welt denkt, Philop. dagegen in derselben voraussetzt. Weil
wir aber Ersteres wie Letzteres nur analogisch fassen müssen, so
besteht in Wahrheit darin kein Unterschied. Denn die Analogie
liegt darin, dass wir auch in dem Falle, wie Gott ausserhalb der
Welt gedacht wird, voraussetzen, dass dieses „ausserhalb" nur in
dem Rahmen eines Begriffes gilt, welcher anthropomorphistisch ge-
bildet ist, d. h. wir können uns auch kein „ausserhalb" vorstellen,
ohne unsere eigenen Gedanken, durch welche wir uns die Vor-
stellung auch einer anderen Welt auf Grund der unserigen bilden,
auf dieses selbst anzuwenden. Freilich fragt es sich, ob in unserem
Denken selbst nicht schon jene metaphysischen Elemente aufgelöst
enthalten sind, welche als übermenschlich gedacht werden dürfen;
aber da wir nur schwache Vorstellungen davon besitzen, so bleibt
nichts übrig, als uns im Grossen darauf zu beschränken, mensch-
lich, d. h. endlich zu denken, obwohl unsere Gefühle uns nicht
selten veranlassen, in der That ein über die irdische Glückseligkeit
und über die irdische Intellectualität Hinausragendes nicht bloss
zu denken, sondern gerade auch und ausschliesslich zu fühlen.
J)amit ist aber die von S. betonte Scheidewand zwischen Deismus
und Pantheismus nicht aufgestellt, sondern aufgehoben.
S. will nun 1145, 7 — 20 dem Philop. den Vorwurf der In-
consequenz machen. Denn S. sagt: Philop. hätte die Gottheit als
aus dem Nichts schaffend, dagegen die Natur aus einem Seienden
vorausgesetzt; und doch habe Philop. zugleich bemerkt, dass die
Gottheit aus einem Seienden schafft, und dass sie in dieser Hin-
sicht vor der Natur nichts voraus habe. Auf solche Weise schafft
Gott nach Philop. die Materie aus einem anderen Stoffe, aber aus
einem nicht Seienden, während nach Ar., wie S. meint, die Prin-
cipien aYsv/jTa also ungeschaffen seien. Da nun aber nach Ar.
die metaphysischen Principien Gott nicht wirklich erschafft, so
Einige Corollarien des Simplicius etc. 197
müssen dieselben in den Dingen selbst enthalten sein. Zudem
kommt es darauf an, wie man jenes jxt] ov des Piiilop., aus welchem
Gott die Dinge nach der einen Version schaffen soll, zu erklären
habe. Es ist nach Allem, was wir von den Neuplatonikern wissen,
doch wohl anzunehmen, dass dieses Nichtseiende zugleich ein Sei-
endes ist, ungefähr so wie das Nichtseiende Hegels und Schellings.
Ueberhaupt dürfen wir, meint S. weiter (1145,21—27), aucli
wenn Philop. recht hätte, keineswegs das von ihm gegen Ar. Be-
merkte auch vom letzteren gelten lassen, weil in Wahrheit Ar.
die Dinge gar nicht aus einem Princip entstehen lässt in dem
Sinne, dass das letztere wieder anderswo nur abgeleitet wäre.
Denn den Ar. trifft dieser Vorwurf, dass er die Dinge und das
Princip aus einem Seienden ableitet, gar nicht, weil er diePrincipien
überhaupt nicht ableitet, sondern schon als gegeben voraussetzt.
(Nun gerade ganz richtig ist diese Annahme des S. eigentlich nicht;
denn in Wahrheit hat ja Ar. die Dinge aus Gott abgeleitet. Nur
das Wie? ist natürlich fragwürdig, weil zwischen Gott und den
Dingen hier eine Kluft sich aufthut, die auch heute noch nicht
überbrückt ist). Wenn Philop. die Dinge aus einem nicht Sei-
enden entstehen lässt, so muss dagegen eingewendet werden, dass
bei der Reduction der mit Accidenzen begabten Wesenheit auf
diese Letztere selbst am Ende die Wesenheit übrig bleibt, rück-
sichtlich welcher ja Ar. seinen Process iz ivavxiov si? Ivavxiov an-
nehme (1145, 25—1146, 16).
Und daher stellt sich nun die Sache so: Philop. nimmt an,
dass Gott aus dem Nichtseienden die Dinge geschaffen habe, Ar.
setzt die Wesenheiten voraus, über welche Gott gesetzt ist, und
lässt die Wirklichkeit durch den Spruch s^ sv st? iv entstehen.
S. bestreitet die Annahme des Philop. und will bloss die Ideen als
Principien gelten lassen.
S. meint, Philop. nehme den Beweis von der Ewigkeit der
Welt, wie er von Ar. gegeben worden, nicht an, und deshalb
könne Philop. auch von der Ewigkeit der Bewegung sich nicht
überzeugen. Diese Anschauung des Philop. hält S. für unrichtig,
weil Philop. die Aristotelische Voraussetzung, die Ewigkeit der
Welt, nicht zurückgewiesen habe (1146, 16—1147, 9). Vgl. die
198 Joh. Zahlfleisch,
Anschauung der Scholastik über die Aristotelische Annahme von
der Ewigkeit der Welt bei Math. Schneid, Ar. in der Scholastik,
i Eichstädt 1875 S. 82 f. u. ö.
S. fährt fort, gegen Philop. zu polemisiren, welcher in Abrede
stellt, dass ausser dem durch die Natur Gegebenen noch ein Ueber-
natiirliches vorhanden sein müsse, von dem alle Bewegung ausgeht.
Während nämlich die von Philop. aufgestellten Gegenbeweise nur
leere Behauptungen seien, ergebe sich aus Aristoteles' Darstellung
251a 16—21. b5— 9 genau das Gegentheil von dem, was Philop.
schliessen wolle (S. 1147, 10-1148, 25). Dabei nimmt nämlich
letzterer an, dass die Elemente, aus denen die Veränderung und
das Werden hervorgeht, mit einander und zugleich gegeben sind;
so 1147, 17, 27, 29. Man rauss übrigens dem Philop. Gerechtigkeit
widerfahren lassen und sagen, dass von ihm, wenn auch in anderem
Gewände, jene Theorie aufgestellt ist, welche auch heutzutage noch
die Anschauung eines grossen Theils der Philosophen bildet, die
nämlich, dass wir ausserhalb des durch die Natur und Sinnlichkeit
Gegebenen nun einmal nichts annehmen dürfen, weil sich alle
complicirteren Verhältnisse daraus allein erklären. Darauf gehen
eben jene Bestrebungen, welche auf der einen Seite von Causalität
nichts wissen wollen und auf der anderen ein mattes Analogie-
[)rincip einführen möchten, wobei sie sich nicht einmal consequent
bleiben, weil auch dies, wie die Causalität, auf eine Apriorität
hinauszielt. Vgl. den sehr interessanten Aufsatz Baumanns im
I.Heft des 4. Jahrggs. d. Archiv f. systemat. Philosoph. S. 44ft'.,
worin Macli als ein Gegner jeder Causalität hingestellt und gegen
ihn im obigen Sinne poleraisirt wird.
Am bündigsten aber hat Philop. bei S. 1148, 29—1149, 4 seine
Ansicht dahin ausgesprochen, dass, unter Voraussetzung einer be-
wegenden Kraft als der im Feuer ruhenden physischen Potenz und
eines Bewegbaren als des in dieser Potenz zu Grunde liegenden
Körpers, bei gleichzeitiger Entstehung des Feuers auf der einen
Seite eine active, auf der anderen eine passive Bewegung gegeben
sei. ohne dass man eine dieser activen und passiven Bewegung
voraufgehende Potenz wirklich der Zeit nach voraussetzen dürfe
Einige Corollarien des Simplicius etc. 199
und auch nicht eine an die Stelle dieser Doppelpotenz tretende
Relation. S. erwidert darauf Folgendes:
„Wenn das Bewegte eine Wesenheit ist, und die Bewegung
Energie, und wenn überall vor der entstandenen und vergangenen
Energie die Wesenheit der Zeit noch voraus liegt, so hat Ar. die
Wahrheit gesagt. Denn wenn es gilt, dass das Feuer von unten
nach oben sich bewegt, so muss man zuerst seinen Standpunkt
unten annehmen, weil sonst von einer Bewegung nach oben gar
nicht gesprochen werden könnte. Und wenn daher Feuer nicht so
ohne weiters in der sublunarischen Welt oder in den höheren
Regionen schon von vorn herein gegeben ist, dann muss offenbar
die Wesenheit des Feuers bereits früher vorhanden sein. Ausser-
dem, wenn von einer Potenz gesprochen wird, welche in dem Be-
wegten enthalten ist, so folgt daraus, dass dieselbe schon früher
gegeben ist; denn die Potenz ist ja eben deshalb etwas Unvoll-
endetes, weil sie der Vollendung erst bedarf. Und diese Voll-
endung wird durch das activ sich bewegende Princip bewirkt,
welches ein Vollkommenes ist und aus dem Bewegten in ähnlicher
Weise herausfällt, wie die Energie aus der Potenz" (1149,5—23).
Dies wird dann noch mit des Ar. eigenen Worten (202 all und
225 b29) bekräftigt und noch einmal (1150, 9—12) auf Grund
des bisher Gesagten die von Philop. auf die Relationstheorie ge-
baute Argumentation zunichte gemacht.
Gegen S. Hesse sich nur fragen, woher denn jene Principien
der Potenz und Energie kommen. Sie müssen ja doch in und mit
den Dingen gegeben sein, auf welche und in welchen sie wirken.
Es ist offenbar der alte Streit, ob man die Principien gesondert
ausserhalb der Dinge oder ihnen inhärirend zu denken hat.
Endlich wendet sich S. 1150—1152 gegen des Philop. An-
sicht, dass die Elemente von Gott aus Nichts geschaffen worden
sind (1150, 24 f.), indem S. sich an Ar. hält, Philop. gegenüber
aber behauptet, dass unter der Voraussetzung einer -i'svsst; ein
Späteres immer aus einem Früheren werden müsste und dadurch
ein progressus in infin. vorkäme, während die Rücksichtnahme auf
ein Erstes, unmittelbar aus Gott Entstandenes und nicht aus der
-(svsai; Hervorgegangenes, zur Aufstellung eines ewigen Princips
200 Job- Zahlfleisch,
führe (1151, 1—5). Ja, es miisste vielmehr bei Ableugnung
dieses Princips das aus dem uTtoxst'ixsvoy nach Philop. Hervorgehende
etwas Schlechteres sein (5 — 8).
Da Philop. bei S. (1151, 8 — 21) der Ansicht ist, dass es
keiner für sich bestehenden Wesenheiten bedürfe, um aus ihnen
die Elemente der Natur abzuleiten, wie Ar. will, sondern dass aus
den unteren Naturkräften wieder durch Combination derselben
andere entstünden, von denen das All gebildet werde, und dass
auch nur für diese letzteren die göttliche Schöpfung nöthig sei.
so fragt S. (1151, 30—1152, 2), ob denn nicht auch die von
Philop. vorausgesetzte Combination unter dem Einflüsse der gött-
lichen Macht stehe, welche daher einer ungeheuren Arbeit sich
unterziehen müsse, wenn sie bald eine Vereinigung, bald eine
Trennung der damit gesetzten Kräfte und zwar in einer unmess-
bar kurzen Zeit, zu 'vollziehen habe. (Man denkt bisher unwill-
kürlich an den sogenannten Occasionalismus, welcher, wie Ludwig
Stein gezeigt hat, keineswegs bloss auf der Anschauung der zur
neueren Philosophie zu rechnenden Denker Geulincs und Male-
branche beschränkt erscheint.) Nach S. 1152, 2—10) müsste Gott
nur die vergänglichen Dinge geschafften haben, wenn Philop. Recht
behielte, während ja auch die ewigen Wesen aus Gott hervor-
gegangen sind. Das Vergängliche hängt aber nach Ar. erst von
den durch S. hiermit hervorgehobenen ewigen Wesen ab. Das sei,
sagt S. (10 — 15) von Gott den Dämonen aufgetragen worden, zu
schaff"en, wenn mau Piatons Warten im Timäus 41 D. die richtige
Bedeutung geben wolle.
II. p. 1156—1169 (contra Philoponum).
Gegen die Annahme des Ar., dass die Zeit ewig sein müsse,
weil über den Jetztpunkt hinaus nach der Vergangenheit und nach
der Zukunft eine unendliche Zeit sich erstrecke, bemerkt Philop.
bei S. (1157, 4 — 26). dass mau vor Allem drei, oder vier der Reihe
nach auf einander folgende Körpereigenschaften in Betracht zu
ziehen habe, da erstlich zunächst die Körpermasse, hernach die be-
wegliche Potenz derselben und die wirkliche Bewegung, und end-
lich die Zeit als Zahl der Bewegung vorausgesetzt werden müsse.
Einige Corollarien des Siraplicius etc. 201
In zweiter Reihe käme nach Philop. die von Platou, Ar. und
anderen Philosophen aus der Materie und dem Körper abstrahirten
Wesenheiten in Betracht. Und schliesslich Tnuss man den vouic als
eine Kraft ansehen, welche, weit entfernt, zeitlos zu sein, selbst in
Gott der Zeit unterworfen erscheint. Denn selbst Gott muss in
seinem Denken und in seinem Wollen die Dinge mindestens vom
zeitlichen Standpunkt aus schaffen, d. h. so darstellen, dass schon
in seinem Verstände die Zeit, in welcher Jeder auftreten soll, ge-
trennt erscheint, also dass dem Einen diese, dem Anderen eine
andere Zeit angewiesen wird, was sich eben im göttlichen vou?
speciell reflectirt. Und deshalb muss umsomehr in der Bewegung
der Welt, die ja doch viel niedriger steht als der göttliche vouc,
die Zeitlichkeit oder die zeitliche Unterscheidung im Gegensatze zu
der von Ar. vorausgesetzten Ewigkeit festgehalten werden. Frei-
lich hat Gott die Fähigkeit, die verschiedenen Zeiten des Umlaufs
der Gestirne in sich zu denken, während die niederen Naturen
nur nach einer Zeit sich richten. In Gott ist der vou? eben im Stande,
sich über alle Zeiten hinauszusetzen, obschon Gott auch die Zeiten
im oben angegebenen Sinne denkt und schafft (1157, 26 — 1159, 7).
S. erwidert hierauf Folgendes. Während Philop. die Zeit nur zur
Messung der Energie benütze, müsse man dieselbe auch als das
Instrument betrachten, welches xyjv tou sTvai Tiapaiaaiv xai xrjv
xaxa xös TToioxTjxa^ misst (1159, 8 — 14). Ausserdem ist nach Piaton
Tim. 27 C D die Zeit nicht bloss als irdische Zeit aufzufassen,
sondern sie ist auch von dem Standpunkt der Idealzeit zu
nehmen.
Nach Philop. wäre ferner, meint S. 1159, 28 — 1160, 8, voraus-
zusetzen, dass man den vouc, welcher von den wirklichen Dingen
vollständig getrennt erscheint, als etwas Untheilbares auffasse,
welches nicht gestatte, zwei oder mehrere Vorstellungen zugleich
zu denken. Wie aber da, meint S., eine Logik möglich sei, in
welcher doch ein Merkmal mit einem andern sich decken müsste,
könne man nicht einsehen.
Indem ferner S. (1160, 8 — 31) hervorhebt, dass des Philop.
Behauptung in ein falsches Dilemma gerathe, da er entweder durch
seine Zerstückelung der Zeit die höhere W^esenheit oder durch seine
Archiv f. Geschiebte d. Philosophie. XV. 2. 14
202 Job- Zahlfleisch,
zeitliche Wesenheit das -po-epov xal uctspov aufhebe, kommt er
zum Schlüsse, dass es in der That ein -poxspov xat Saispov gebe,
welches unter den 3 Möglichkeiten der Reihenfolge (öisst, ouasi
xat ou3!.'a und /povo)) nur zur letzteren Begrifflichkeit (der Zeit)
gehöre. Aus dem Ganzen folgt nach S. (1160, 32 — 1161, 21)
dass man, um dem eben dargelegten falschen Dilemma zu ent-
gehen, ein zeitliches Trpoxepov xal uaTepov, damit aber die Bewegung
und damit wieder die Zeit als unumstössliches Princip gelten zu
'lassen habe.
Philop. erklärt bei S. (1161, 22 — 28) weiterhin, dass unter
Voraussetzung der Aufhebung der Körperlichkeit (in Folge der von
Ar. supponirten, von den Körpern als solchen abstrahirenden ouaiai)
auch die Zeit aufgehoben sei. und wenn auch von einem Tipotepov
und ucftspov in diesem Falle gesprochen werde, dann sei dasselbe
ausser aller Zeit zu setzen. Philop. hat aber, nach S. 28 — 37, die-
jenigen seiner Gewährsmänner, welche über das bisher gehörige
Verhalten des voijc sprechen, missverstanden. Denn nicht jxexa-
ßctTix«);, sondern dtxsTaßaxojc werde vom vou? das zeitliche Ver-
halten der Dinge betrachtet. (Man muss hier bemerken, dass die
Polemik in einen blossen Wortstreit auszuarten droht, wenn nicht
dabei beharrt wird, dass Philop. die Existenz der natürlichen Zeit
überhaupt leugnet, sondern das Bewusstsein von derselben nur dem
göttlichen Wesen zumutliet, während S. eine naturgemässere Hal-
tung einnimmt.) Philop. gesteht aber selber zu, wie S. 1162 f.,
insbesondere 1162, 30ff. ausführt, dass eine Zeit bestehen muss,
weil sie in Gott vorhanden ist, obwohl freilich auch dieses Lob
auf Philop. noch eingeschränkt werden muss, weil S. 1163,11 — 24
behauptet, dass zwischen der Zeit in Gedanken, wie sie Philop. im
göttlichen vouc voraussetzt, und zwischen der wirklichen Zeit ein
wohl zu betrachtender Unterschied besteht, umsomehr als ja auch
auf Ar. eine solche Supposition gar nicht passen würde.
Da jedoch Philop. bei S. 1158, 32 — 35 bemerkt hatte, dass
man sich für die Annahme der (gewöhnlichen) Zeit nicht auf
Redensarten berufen dürfe, wie: „es gab nicht immer eine Zeit"
oder: „vor dem Gewordensein war keine Zeit", so dass etwa daraus
gefolgert werde, dass schon iu den Worten die Voraussetzung der
Einige CoroUarien des Simplicius etc. 203
Zeit mit gegeben sei, während in der That damit nur darauf ver-
wiesen werde, dass ein fortwährendes Bestehen der Zeit undenkbar
sei, so wendet sich S. 1163, 25—1164,6 gegen diese Argumentation
und sagt: Wenn man schon einmal Worte gebrauche, so müsste
mit dieser der gewöhnliche Sinn verbunden werden. Nun liege
aber in den, von Philop. in so naturwidriger Weise interpretirten
Redensarten offenbar die Annahme einer Zeit verborgen. Es wäre
daher im hohem Grade ungereimt, dieselben anders zu fassen.
Auf die von Ar. 251 bl4— 19 vorgebrachte Schlussfolgerung,
dass in Hinsicht auf die allgemeine' Uebereinstimmung der Philo-
sophen (mit einziger Ausnahme Piatons) man bei der Annahme
der Ewigkeit der Zeit zu verbleiben habe, hatte Philop. bei S.
(1164, 7—19) erwähnt, dass in solchen Fällen die Stimmen nicht
gezählt, sondern gewogen werden sollten, und dass unter Voraus-
setzung des von Ar., angeblich nach Philop. befolgten Principes
Ar. selbst in die Klemme geriethe, insofern er mit seiner TrejxTrr/j
ouata gegenüber allen anderen Philosophen gänzlich allein stehe
und daher der verlierende Theil sein müsste. Ausserdem aber
hätte aus demselben Grunde Ar. kein Recht, auf seiner Annahme
von der Ewigkeit der Welt zu beharren, da er mit derselben voll-
kommen allein stehe. Und auf solche Weise, meint Philop. bei
S. 1164,20—25, ergebe sich, dass gerade Piaton die richtigere,
die anderen Philosophen die unrichtige Behauptung aussprechen,
weil ersterer sich consequent bleibt, indem er annimmt, dass unter
Voraussetzung der Schöpfung (der Welt) auch die Zeit in dem-
selben Acte zugleich mit erschaffen wurde, während die anderen
Philosophen wohl von einer Schöpfung der Welt, nicht aber auch
von einer solchen der Zeit sprechen. Und dann, sagt Philop.
ebend. (25 — 28), müsse es auffallen, dass Ar. seine Gegner, die
damaligen Philosophen, sonst immer so darstelle, dass sie nur Un-
richtigkeiten behaupten, an dieser Stelle jedoch dieselben zur Er-
härtung seiner eigenen Meinung verwende.
Darauf entgegnet nun S. 1164, 31—39, dass Philop. die An-
führung der alten Philosophen von Seiten des Ar. missverstanden
habe. Denn Ar. bringe dieselben als Zeugen, wie gewöhnlich,
erst nach der eigenen Aufstellung der betreffenden Theorie vor,
14*
204 Job. Zahlfleisch,
indem er damit nur seine Freude ausdrücken wolle, dass schon
Andere dieselbe Ueberzeugung gewonnen hätten, wie er selbst,
wodurch weiter für seine Leser der Anlass geboten sei, dass sie
seine eigenen Angaben urasomehr Vertrauen und Ueberzeugung
entgegenbringen. Ausserdem bemerkt S. (1165, 10—20), dass es
gar nicht vollständig richtig sei, was Philop. behaupte, dass Piaton
die Zeit nur als etwas Endliches gelten lassen wolle. Ar. habe es
überhaupt mehr auf die Anhänger der von Philop. vertretenen
schroffen Lehre abgesehen, aber nicht eigentlich auf Piaton selbst,
welcher ja nur ein Abbild der Ewigkeit in der irdischen und ver-
gänglichen Zeit aufgestellt habe.
Und was den von Philop. oben betreffs der Quintessenz ge-
machten Einwurf betrifft, so unterscheidet sich nach S. 1165, 21
bis 33 Ar. von den übrigen Philosophen und von Piaton insbe-
sondere hierin gar nicht. Denn wie dieser nahm er als Haupt-
elemente der problematischen Welt Erde und Feuer (neben Luft
und Wasser) au, wie dieser bemerkte er, dass es nothwendig sei,
für die ausserhalb der wirklichen Dinge befindliche Himmelswelt
noch ein eigenes Element aufzustellen, welches Piaton mit dem
Pentagondodekaider (vgl. meine Abhandlung „über Analogie und
Phantasie" im 4. Bande d. Arch. f. System. Philos., S. 167), Ar.
mit seiner usfjnrxYj ouata identificirie. Es musste sich aber Piaton
später dem Ar. genähert haben, weil Xenokrates bei S. 1165, 33
bis 39 hervorhebt, dass das fünfte Element bei Piaton der «iöt^o ge-
wesen sei.
Aber im Grunde haben auch diejenigen Philosophen, welche
von der Welt behaupten, sie sei geworden, während die Zeit un-
geworden ist, vollkommen Recht, da sie ja ersteres unter Voraus-
setzung der ewigen, ungewordenen Zeit annehmen, so dass nach
ihrer Ansicht das Gewordensein der Welt einzig und allein auf
einer hypothetischen Annahme beruht. Ar. hat immer anerkannt,
dass seine Vorgänger in der Philosophie untereinander und mit
dem Stagiriten selbst übereinstimmten, da er nur ihre Ausdrücke
tadelt. Und daher ist es dem Philop. auch nicht möglich, einen
zu nennen, welcher soweit von Ar. abwiche, dass jener den Ar.
einer Inconsequenz zeihen dürfte. Und wenn auch Philop. meint,
Einige Corollarien des Simplicius etc. 205
dass für seiue eigene Ansicht die Eingangsworte der hl. Schrift
sprechen, in welciien die Sonne erst am vierten Schöpfungstage
erschaffen worden sei, also dass zugleich auch die Zeit begann, so
müsste es doch als ein Widerspruch aufgefasst werden, wenn man
von einem vierten Tage spricht, ohne dass zugleich eine Zeit an-
genommen wird. So S. 1165,40—1166,31.
Philop. wirft aber dem Ar. auch noch petitio principii vor.
Ar. habe (251 bl9ff.) irgend einen beliebigen Gegenwartspunkt
genommen und habe zu zeigen versucht, dass unter dieser Vor-
aussetzung nach der Seite der Vergangenheit, wie nach jener der
Zukunft vor, bezw. hinter diesen beliebig gewählten Punkten eine
Zeit sich erstrecken müsse, weil man sonst die geläufigen 3 Zeiten
unmöglich festhalten könne; und so habe Ar. mit seiner Annahme
der Promiscuität oder beliebigen Auswahl jenes vuv die Unendlich-
keit der Zeit, welche er beweisen wollte, schon vorausgesetzt,
geradeso, wie einer, der von einer Linie zu beweisen unternehme,
dass sie unendlich lang sei, indem er einen beliebigen Punkt auf
derselben voraussetze, vor und hinter welchem die Linie immer
noch sich erstrecke (1166, 32 — 1167, 16). Darauf entgegnet S.,
dass die Aristotelische Darstellung auf keiner von den drei mög-
lichen Arten einer petitio principii beruhe, weder auf derjenigen,
welche auf verschiedene Bedeutung eines Wortes, noch auf jener,
welche auf eine unvermerkt in die Prämissen sich einschleichenden
Identität derselben mit dem Schlusssatze hinziele, noch endlich
auf der, die da nur als eine Umkehrung eines identischen Satzes
gelte. Ar. nehme das vuv absolut und gehe ohne Seitenblicke auf
die allgemeinen Eigenschaften der Zeit zu Werke. Und was das
Beispiel mit der Linie betrifft, so unterscheidet sich der Punkt als
Raumtheil von dem zeitlichen Jetzt in der Art, dass von dem
Letzteren auch die Vergangenheit und die Zukunft mitgezogen
wird. Und daher hat Philop. nach Simpl. die Sache unrichtig
dargestellt, weil er den Ar. falsch aufgefasst habe. Denn der
Raumpunkt ist eine eigentliche, also untheilbare Einheit, -während
das Jetzt getheilt werden kann.
Ausserdem weist S. den Vorwurf des Philop. bezüglich der
petitio pr. in der Art zurück, dass er zeigt, es sei nicht richtig,
206 Job. Zahlfleisch,
anzunehmeu, dass die Ewigkeit als Voraussetzung des Jetzt gelte,
also dass mau nicht im Stande sei, einen Beweis ohne diese Vor-
aussetzung zu liefern (1167 — 1169).
III. Simplicius' Corollar 1171,30—1182,39
(contra Philoponum).
Indem sich Philop. auf seine im Vorigen auseinandergesetzte
Entgegnung beruft, erklärt er bei S. 1171,30—33, dass er auf
Grund seiner bisherigen Darlegung im Stande sei, auch die Folge-
rung des Ar. 252 a3f. zunichte zu machen S. erwidert hierauf
(1171, 33—1172, 2), dass, insofern es dem Philop. nicht gelungen
sei, die vorige Streitfrage zu lösen, welche sich auf das d-clvr^xov
bezieht, ebenso nach dem nämlichen Gesichtspunkte auch die das
acpöapxov betreffende These des Ar. unangetastet bleiben muss.
Es geht ferner, meint Philop. bei S. 1172,5—13, nicht an
zu behaupten, dass hinter der Bewegung irgend eines physiolo-
gischen Organs noch eine weitere Bewegung in der Art stattfinde,
dass, wenn die diesem Organ eigenthümliche Bewegung aufgehört
hat, wie z. B. die des Herzens, der Arterie oder der Lunge,
oder wenn irgend ein Element, wie etwa das Feuer,
die ihm zukommende Wirksamkeit vollbracht hat, eine diesen
Bewegungen übergeordnete an ihrer Stelle treten soll. Darauf
entgegnet S. mit den Worten des Ar. 251 b31f., wo er sagt, es
sei nicht dasselbe, ob etwas in der energischen oder potentiellen
Bewegung sich befindet. Wenn die erstere aufgehört hat, kann
die letztere immer noch fortdauern. Denn dem Ar. kommt es
nicht darauf an, dass eine der vorausgegangenen Bewegung gleich-
artige immer vorhanden sei, sondern, weit entfernt. Die Ewigkeit
einer solchen gelten zu lassen, will Ar. nur die vorausgegangene
Bewegung vielmehr durch eine andere, neuartige, aufgenommen
wissen (1172, 13—20). Und nun verweist S. auf das, auch der
neueren Metaphysik geläufige Ineinanderwirkon der Elemente, wo-
bei er nochmals den Ar. 251 b29— 31 citirt. (Diels hat hier die
Anführungszeichen (1172, 31—37) zu weit ausgedehnt, da die
Worte 33—37 nur Erklärung des S. ist.)
Philop. beruft sich nun bei S. (1172, 39—1173, 15) auf Ar.
Einige CoroUarien des Simplicius etc. 207
selbst, iudeiü er darlegen will, dass nach dem Stagiriten eine so-
genannte d^rjöa "[sveai; und demgemäss auch eine 7.&p6a cpOopa
vorkommt, in welcher von einer ins Unendliche gehende Bewegung
nicht die Rede sein könne. S. verweist dagegen 1173, 15 — 25 auf
Ar., indem er bemerkt, dass Philop. den Ar. falsch verstanden
habe, insofern im Grunde auch bei der äOpoa -(ivaaiq und ciOopa
die Bewegung betheiligt sei. Indem nun S. dies noch weiter aus-
führt, bemerkt er, dass vor Gott, von dessen Allmacht die Existenz
der Welt abhängt, von keiner Zeit die Rede sein kann, sobald es
sich um die Erschaffung der Dinge handelt. Abgesehen davon
dass Philop. (vgl. S. 1174, (5—16) das Werden mit der Bewegung
verwechselt, muss man denselben darauf aufmerksam machen, dass
er jene göttliche Zeitlosigkeit annimmt, dass er jedenfalls sich
widerspräche, wenn er die Aristotelische Anschauungsweise nicht
gelten lassen wollte. Philop. habe den Fehler begangen, dass er
die Gottheit manchmal auch nicht wirken lasse, während sie in
Wahrheit zwar zeitlos, aber immer wirke (vgl. 1175, 5—10).
(Wie in allen metaphysischen Fragen, so steckt offenbar auch
hier ein Fehler: S. konnte nicht von der Zeitlosigkeit das Prädicat
„immer" aussagen).
Die folgende Auseinandersetzung des S. gleicht sehr dem, was
wir bereits kennen. Hervorgehoben mag 1176, 3f. werden, wo,
im Gegensatze zu einem positiven Werden, das Werden aus dem
Nichtseieuden als ein vollkommen Unbestimmtes und Unsicheres
dargethan wird.
Gegenüber der Voraussetzung des Philop. bei S. 1175, 16 — 26
und 1176, 14 — 16, dass man die vernichtende Kraft nicht immer
in einem ausserhalb des der Vernichtung anheimfallenden Gegen-
standes suchen darf, bemerkt S. 1176, 17 — 31, dass in diesem Falle
eine jener Wirksamkeiten gelten müsste, wie sie sich nur in den
unmittelbar vom Himmlischen regierten Regionen finden. In diesem
Falle könnte auch nicht von einer unmittelbar der Wesenheit ent-
strömenden Potenz gesprochen werden, weil auch keine messbare
Zeit vorhanden wäre. Der von Philop. 1175, 25 f. als verfehlt be-
zeichnete Beweis ferner, wonach Ar. mit seiner Voraussetzung des
fortwährenden Werdens und Vergehens einen progressus in infinitum
208 Job. Zahlfleisch
hervorrufe, wird von S. 1176, 34—1177, 8 dadurch zurückgewiesen,
dass man einen solchen Beweis hier jedenfalls nicht in dem Sinne
statuiren darf, wie dies Philop. thut, welcher glaubt, dasselbe be-
ruhe auf einem sophistischen Lorites. S. zeigt, dass man im
letzteren Falle von gar keiner Unendlichkeit reden darf, sondern
im Gegentheil nur von einer Alternative, wie in dem bekannten
Beispiele vom Tropfen, der den Stein aushöhlt, ohne dass man in
jedem einzelnen Falle dieser Wirksamkeit, d. h. bei jedem einzel-
nen Tropfen das Resultat seines Thuns oder Wirkens wahrzuneh-
men vermag. Vgl. Cicero Acad. II 16, 49,
Das Folgende dürfte nun von Wichtigkeit werden wegen der
Lesart bei Ar. S. sagt 1177, 10 — 37: „Nachdem Alexander be-
merkt hatte, dass die Vernichtung des derselben anheim Gegebenen
durch die Thatsache erfolgt, dass eine Bewegung mit gewissen
Dingen vor sich geht, nämlich mit dem, woher die Vernichtung
kommt (so hat ja Ar. gesagt), u. zw. sowohl dann, wenn dieses
Vernichtende nicht vernichtbar, als auch wenn es vernichtbar ist,
so hat Philop. nicht wahrgenommen, dass Alex, nicht von dem
Vernichteten, sondern dem Vernichtenden spreche. Zugleich hat
Philop. auch den Ar. vergessen, welcher sagt: xotl -o cpOctpTixöv Srj
oe^/^asi ©öapTyvai, oxotv cpöet'pTj, xo(l xh to'jxov cpDapxtxov ttocXiv uatspov.
Denn des Philop. Beweisführung: wenn die Natur auch nicht den
ersten Stoff erzeugt, so wird derselbe doch von der Gottheit zu-
stande gebracht, nicht aus der Materie, so dass er sie auch wieder
vernichten kann, wenn er will, was auch von der durch Gott aus
nichts geschalfenen Idee gilt, — ist unhaltbar. Vgl. S. 1170,
26—1171, 8.
Es ist schon oft gezeigt worden, dass das von Gott aus nichts
Geschaffene keineswegs unter dasjenige Gewordene gerechnet werden
d;irf, wonach ein früher nicht Seiendes später wirklich ist, weil
letzteres immer nach genauer Zeit- und Umstandsbestimmung
definirt werden kann, ersteres dagegen nicht."
Im Folgenden polemisirt S. (1177, 38—1178, ö) gegen Philop.
in dem Sinne, dass er ihm eine Begridsverkehrung vorwirft, welche
darauf hinausgeht, dass er wohl die Vernichtung der Welt auf
eine höhere, göttliche Instanz positiver Natur zurückführt, aber
Einige Corollarien des Simpliciixs etc. 209
nicht die Entstehung derselben. Denn Philop. erklärt, dass unsere
Welt einmal in eine bessere übergehe. Und das ist nach S. nicht
Vernichtung, sondern Vervollkommnung; also auch hier ein Wider-
spruch.
Die folgende lange Auseinandersetzung (1178, 5 — 1180, 30)
hat nun die Aufgabe, des Philop. Voraussetzung zu bekämpfen, dass
es unmöglich sei, durch eine unendliche Reihe von Bewegungs-
effecten die Bewegung als ewig zu demonstriren. Das TtpioTov
'!isu6o$, in welchem sich Philop. bei seiner fünffachen Deduction be-
wegt, liegt nach S. darin, dass er das dcTTctpov gerade in jenem Sinne
fasst, vor welchem Ar. bei verschiedenen Gelegenheiten gewarnt
habe, nämlich im absoluten, wirklichen, energetischen Sinne. Denn
das Unendliche ist nach Ar. nicht, sondern wird.
S. führt nun noch aus, dass dem Philop. mit seiner Voraus-
setzung der Bedeutung des airsipov keine Möglichkeit geboten sei,
das Werden der Dinge zu erklären, nicht bloss deshalb, weil ausser
dem von Philop. angenommenen Unendlichen kein Element gegeben
ist, sondern auch, weil mit dem blossen Unendlichen eine Ver-
knüpfung der Dinge unmöglich zustande kommen kann, da jenes
weder einen Anfang noch ein Ende besitzt (1181, 1 — 4). Die Be-
deutung dieser Worte erhellt aus dem Folgenden (4 — 26), wo S.
den Unterschied in der Auffassung des Philop. und des Ar. klarlegt,
indem er, offenbar mit denselben Argumenten, wie Ar. Metaph.
a 2, darthut, dass man nicht berechtigt sei, einen bis ins Un-
endliche gehenden Uebergaug einzelner Elemente in dem Sinne
gelten zu lassen, dass man immer verschiedene Elemente voraus-
setzt, da vielmehr dieser Uebergang nach Ar. ein kyklischer, kein
Uebergang xctx' 3ioo; ist (vgl. Metaph. 994a 2) oder IrC suOsia?
(1181, 27; vgl. Metaph. 994a 2 sk cuöuojpiav).
Philop. begeht, sagt S. 1181,27-1182,14, den Fehler, dass
er die Unendlichkeit, welche nach Philop. eine durch Energie,
und nicht, wie bei Ar., durch die Potenz bestimmte ist, als abge-
schlossen {rhzWiJziz 1182, 14) betrachtet. Denn in Wirklichkeit
fehlt zur Vollendung des ins Unendliche Strebenden immer noch
etwas. Diese Vollendung wird aber von einem Anfanglosen herbei-
geführt, durch welches auch die Bewegung der sublunarischen Welt
210 -To^- Zahlfleisch,
zustande kommt, welche uie aufhört (1182, 5). Und insofern hat
Philop. unrecht, wenn er der Energie grössere Bedeutung beilegt
als der Potenz; denn wenn auch die Energie ihrem Werthe nach
höher zu schätzen ist als die Potenz, so muss auf dem Gebiete
des Werdens doch das Gegentheil gelten, weil die Potenz eigentlich
als die Erhalterin alles Seienden erscheint (1182, 14—27).
Zum Schlüsse bemerkt S. noch, dass Philop. mit seiuen Ein-
wendungen eigentlich darauf ziele, die Ewigkeit der Welt, wie sie
von Ar. vorausgesetzt wird, illusorisch zu machen.
IV. Corollarbei S. 1326,38-1336,8 (contra Philop.).
Philop. wird hier von S. im Allgemeinen in gleicher Weise, wie
früher, zurechtgewiesen, indem sich Ar. nach S. das Unendliche nicht,
wie Philop. will, als etwas in sich Abgeschlossenes, sondern als
etwas immer und immer in der Entwickelung Begriffenes denkt.
Im Besonderen geht Philop. bei S. (1329, 19—25) so vor: Das
Himmlische und das Sublunarische besteht aus Materie und Form;
das Materielle bedarf der Materie zum Zwecke seiner Existenz;
das, was eines Anderen bedarf, ist nicht selbstständig; das nicht
Selbstständige ist nicht mit unendlicher Potenz ausgestattet. Also
ist die Welt nicht ewig, sondern vergänglich. S. erwidert hierauf,
dass (1329, 25—33) das Unendliche trotz der Annahme des Philop.
bestehen könne, dass ein Materielles nicht selbstständig sei. Denn
ein Ding, welches nicht selbstständig ist, kann immerhin an sich
nicht unendlich sein, wohl aber seine Unendlichkeit von aussen
her empfangen; und damit sei eben nicht die energetische, son-
dern die Unendlichkeit der Potenz wieder nachgewiesen. Die Vor-
aussetzung des Philop., dass eine einzige Materie für Himmel und
Erde genüge, kann man, meint S. 1329—1331, nicht gelten lassen.
Denn vor Allem sieht man nicht ein, mit weichein Rechte das
oberste Element, die Quintessenz, die Dinge auf der Erde gestalten
solle (1330, 10. 21). Und überhaupt könne man nicht dafür sein,
dass der Himmel als vernichtbar angenommen werde, wenn man
sehe, wie die Dinge dieser Welt in einander übergehen, ohne dass
jedoch mit Philop. des Glaubens sei, dass bei dieser Verwandlung
Einige Corollarien des Simplicius etc. 211
die Dinge nur ihre Plätze wechselten. Ein Vergehen oder Vernichtet-
werden könnte überhaupt nicht angenommen werden, weil die
Materie es sei, auf Grund welcher, während sie zu bestehen fort-
fährt, die Äenderung in den Dingen vor sich gehe. S. hält dem
Philop. entgegen, dass er eher auf Platou sich berufen sollte, nach
welchem durch die himmlischen Kräfte die irdischen regiert werden.
Indem nun ferner Philop. 1131, 17 — 25 mit theilweisem Wider-
spruch gegen sich selbst (vgl. 24, 25 — 30) behauptet, dass bei der
Zergliederung der Dinge am Ende doch nur wieder etwas übrig
bleibe, dem das Merkmal der Unendlichkeit fehlt, beruft sich S.
auf seine Erklärung zu tt. oupavou 270b 32ff., wonach schon die
Kreisbewegung des Himmels auf die Ewigkeit hinweise.
Und wenn nun Philop. aus dem Umstände, dass die irdischen
und himmlischen Elemente etwas Abgeschlossenes und nicht Un-
endliches bedeuten, schliesst, dass das gleichbedeutend mit dem
Vernichtbaren (cpöapxov) sei, so widerspricht ihm S. 1332, 3^7.
Die Endlichkeit und Vergänglichkeit der Dinge illustrirt Philop.
durch das Beispiel des Wassers, welches, zwischen den Händen zer-
rieben, verschwinde; ferner dadurch, dass man finde, je geringer
die dabei genommene Quantität des Wassers sei, umso rascher das-
selbe vernichtet werde, je grösser, umso langsamer, Dazu -will
Philop. aber auch die Endlichkeit der Zeit zum Beweise heran-
ziehen, indem er voraussetzt, dass ein Kyathos Wasser z. B. ein
Jahr lang aufbewahrt werden könne. Dasselbe sei aber mit jedem
derjenigen Kyathoi der Fall, in welche die gesammte Wassermasse
der Erde zerlegt werde. S. erwidert hierauf (1332, 33 — 35), dass
Philop. dabei die Verwandlung der übrigen Elemente in Wasser
nicht in Rechnung gezogen habe. Mit Rücksicht auf die damit
gekennzeichnete Verwandlung sämmtlicher Elemente in einander,
welche durch die ewige Einwirkung des lozb; y.6v.\o; herbeigeführt
werde, werde eben die Fortdauer der Elemente garantirt (1332,
35 — 40). Die nun folgende Auseinandersetzung des S. gegen Philop.
1332, 60 — 1334, 18 besteht darin, dass es nicht angehe, die himm-
lischen Elemente geradeso wie die irdischen in kleine Theilchen
zu zerlegen, ohne dass jemals eine Veränderung in der materiellen
212 Job. Zahlfleisch,
Qualität derselben erfolge, womit aber zugleich ein allmähliches
Verschwinden, eine Vernichtung der Theilchen für den Wahrneh-
menden gegeben sei; denn das, was einen Eindruck erleide (xa
TTctOr^Toc 1334, J3f.), werde wohl wirklich zerlegt, das davon Freie
jedoch nicht; denn wenn auf letztere auch die energetische Theilung
Anwendung finde, so gilt daneben doch noch, dass diese Theilchen
beisammen bleiben (1334, 14 — 16). Unter allen Umständen lasse
sich aber von einer Vernichtung nicht sprechen. Denn wenn wir
dem Augenschein trauen müssen, so ergiebt derselbe, dass wir noch
keineswegs dem Ende aller Dinge nahe sind, da wir kein Nach-
lassen der himmlischen Bewegung und im Gefolge desselben ein
Längerwerden der Tage und Nächte zu beobachten vermögen.
Denn ein Tagmarsch hat noch immer dieselbe Länge wie ehedem,
die Rinder pflügen während eines Tages noch ebensoviel Ackerland
wie früher oder noch weniger, und die Wasseruhren verbrauchen
Tag aus Tag ein dasselbe Quantum Wasser (1334, 18 — 1335, 16).
Endlich wendet Philop. Folgendes ein: Wenn man von einer
Unendlichkeit in der Dauer der Dinge sprechen soll, dann müsste
irgend ein Theil derselben unendliche oder endliche Potenz be-
sitzen. Ersteres ist unmöglich, weil das Unendliche selbstgenügend
ist, und weil jeder Theil der himmlischen Dinge nur durch seine
Verbindung mit einem Höheren lebt und Kraft besitzt. Ausserdem
müsste das Ganze entweder gleiche oder ungleiche Kraft gegenüber
jedem Theiie haben. Wenn Letzteres der Fall wäre, und wenn
diese Kraft grösser wäre, dann wäre eine Kraft vorhanden, welche
über das Unendliche hinausreicht. Aber auch gleich kann die
Kraft nicht sein, weil sonst Theil und Ganzes identisch wären.
Also bleibt nur die Endlichkeit des Alls, weil, insofern das Letztere
aus einzelnen endlichen Theilen besteht, und weil Endliches zu-
sammenaddirt, nur Endliches giebt, ein6 Unendlichkeit ausgeschlossen
erscheint. Doch ist demgegenüber von S. hervorgehoben, dass dem
Unendlichen, wie es von Ar. vorausgesetzt wird, keine Theilung zu-
kommt. Und, wie schon wiederholt hervorgehoben, ist die Un-
endlichkeit nicht schon sofort verbanden, sondern ist ein Product
der Evolution, wobei der Theil nicht ohne das Ganze und das
Ganze nicht ohne den Theil gedacht werden darf. Denn so gut
Einige CoroUarien des Simplicius etc. 213
wir selbst bei den lebenden Wesen zwar Theile finden, aus welchem
das Ganze besteht, aber daneben wieder andere, durch welche das
Ganze überdauert wird, wie die Knochen der Thiere, so hat man
bei dem Uebergang der Elemente, welcher durch die alles zu-
sammenfassende Ewigkeit der Zeit hindurch geschieht, nur an das
damit als ewig garantirte Ganze und nicht an die Teile allein zu
denken, welche nur in ihrer Verbindung mit dem Ganzen möglich
sind (1335, 17-1336, 33).
IX.
Die NaturpMlosopMe vor Sokrates.
Von
Prof. Dl. Ernst Chr. Hch. Peithmanii.
1. Einleitung: Das Verseheu des Aristoteles.
Es giebt verschiedene Gründe, weshalb das fast unausgesetzte
Studium der vorsokratischen Philosophie von Aristoteles bis auf
unsere Zeit doch nicht die gewünschten Früchte gezeitigt hat.
Wir sind heute noch ebenso weit entfernt von einem klaren Ver-
ständniss des Heraklit wie zur Zeit des Aristoteles oder des
Diogenes Laertius. Noch niemand hat eine vernünftige Auslegung
von dem „Sein" und „Nichtsein" des Parmenides gegeben. Die
Ausleger haben genug „in Worten gekramt", aber sie haben die
Sachen nicht klargelegt, um welche sich das philosophische
Interesse dreht. Und doch müssen wir voraussetzen, dass diese
ältesten Philosophen ganz bestimmte Sachen im Auge hatten und
nicht bloss leere Worte machten. Aristoteles ist nach meiner
Meinung schuld an all der Verwirrung, die in der Geschichte der
vorsokratischen Philosophie herrscht. Der Stagirite hatte sich
seine eigene Philosophie zurecht gemacht. Um irgend eine Sache
zu erklären, sagte er, muss mau ganz deutlich die vier Ursachen
klarlegen nämlich ttjv uXr^v, tö sTöos, to xiv9)aav und lö ou Ivsxof.
Diese vier ahiai mögen aber auch reducirt werden auf zwei: f, GXrj
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 215
und -0 £100?^). Diesen Ursachen nachzuforschen, sagt Aristoteles,
muss nun auch vor allen Dingen die Aufgabe des Naturphilosophen
seid. Aristoteles nimmt es für sich in Anspruch, dass es ihm
völlig gelungen, nach diesen Regeln die Welt zu erklären. Aber
zur selben Zeit giebt er zu, dass die verschiedenen Philosophen vor
ihm mit mehr oder weniger Erfolg über die eine oder andere
dieser Ursachen nachgedacht haben oder wenigstens zufälligerweise
darauf gestossen sind^). Wenn er nun zurückgeht zu den An-
fängen der Philosophie, so besteht für ihn wenig Zweifel, dass die
ältesten Philosophen ausschliesslich mit der u\-q beschäftigt waren.
Er hat durch mündliche Ueberlieferung erfahren, dass Thaies von
Milet die Aeusserung gethan hat, „dass die Erde auf dem Wasser
liege" und „dass sie in ihrer Lage verharre als schwimmender
Körper wie etwa ein Stück Holz oder dergleichen". Aristoteles
zögerte nicht, hieraus den Schluss zu ziehen, dass Thaies das
Wasser als GXtj oder materielle Ursache des Weltalls ansah. Be-
treffs Anaximander wusste man, dass er die Theorie aufstellte,
dass die Dinge aus dem «Trstpov entstanden und ebendahin auch
wieder verschwänden. Anaximander hatte nicht näher bezeichnet,
was er unter dem «Trstpov verstand, vermuthlich weil seinen Zeitge-
nossen dieser Ausdruck hinreichend bekannt war. Aristoteles aber
ist schnell bei der Hand, dies «Trsipov (nämlich den unendlichen
Raum) in eine bestimmte oXr^ umzuwandeln, indem er es be-
zeichnet TYjv [xsTacu cpuciv äspoc TS xctl TTUpo? r] dipo; is xat uSato?.
Betreffs Anaximenes hatte er leichte Arbeit. Dieser hatte nach
allgemeiner Ueberlieferung behauptet, dass die Dinge (xa ovia)
„aus der Luft" (dr^p) ins Dasein kämen und „in die Luft" auch
wieder verschwänden. Aristoteles konnte hier natürlich keinen
Augenblick zweifeln, dass der Letzte von den Milesischen Philo-
sophen die Luft als materielle Ursache oder uTroxsifxsvov ansah.
So hatte er denn die dfei ersten Männer glücklich untergebracht.
Jetzt kam Heraklit an die Reihe. Er wird von allen Historikern
') Aristoteles, Pariser Aasgabe. II, 2(59, 34; 26-2, 29; 551.
2) Arist. III, 222, 4ö; 220, 25; II 474, 10; 263, 15; 485, 42; 472, 48;
473; 634, 47; 277, 19; 483, 7; 364, 2.
216 Ernst Chr. ITch. Peitbmann,
als der Dunkle bezeichnet wegen seiner gelieimnissvollen Sprache
und der allgemeinen Unklarheit seiner Philosophie. Aber es war
allgemein bekannt, dass er in der Erklärung des Weltalls das
Feuer als Illustration und Erklärung des Weltgebäudes heranzog.
Diesen Punkt grill" Aristoteles heraus und behauptete kurz, dass
der grosse Ephesier das Feuer als Urstofi" ansah. Er konnte um so
weniger hieran zweifeln, da Empedokles später a.uch das Feuer als
eins von den vier Elementen erwähnt. Noch verwickelter wird die
Sachlage in Parmenides und Xenophanes.
Von Xenophanes war es bekannt, dass er zum ersten Mal den
Ausdruck ev auf das Universum anwandte und dass die Einheit
in Gott zu linden ist. Parmenides hatte behauptet, dass man nur
sagen kann iav', aber nicht oux satt, wie gewisse Vorgänger be-
haupteten, dass nur das ov Existenz hat und dass man nicht von
oux eivai oder einem [xt] ov sprechen darf. Diese Leute, die von
dem [iTj ov oder besser vom oux slvai sprechen, haben auch zwei
entgegengesetzte „Gestalten", das Feuer und die Erde. Aristoteles
hatte ausserordentlich grosse Mühe, hier eine uXrj zu finden.
Aber seiner ausserordentlichen Begabung gelang es doch zuletzt,
die Sachen so zu drehen und wenden, dass sie in seinen Kram
passten. Parmenides, so sagt er, hat eine doppelte Philosophie,
die der Vernunft und die der Erscheinung: nach der ersteren sagt
er, dass das „Sein" eins ist und nach der letzteren setzt er zwei
Ursachen und zwei Principien voraus, nämlich das Feuer und die
Erde, welche dann dem Sein und Nichtsein entsprechen. Doch
dies mag genügen. Nach dieser Methode gelang es Aristoteles,
alle vorsokratischen Philosophen unter einem einheitlichen Schema
hübsch zusammenzufasssen. Das principium divisionis ist die apxv
Die Einen sagen, dass der „Urgrund" „eins'' ist, die Andern
„mehrere". Die erste Gruppe zerfällt wieder in diejenigen, welche
den Urgrund „unbewegt" nennen und die andere, nämlich die
Naturphilosophen im engeren Sinne behaupten, dass er „bewegt"
ist. Diese letzten nehmen dann als erstes Princip entweder die
Luft oder das Wasser. Die Zweite Hauptgruppe hat auch wieder
ihre Unterabtheilungen, so dass wir das folgende Schema') erhalten.
3) Aristot. II. 248. 249.
Die Naturphilosophie vor Sokrates.
217
Der Urgrund
eins
mehrere
unbewegt
bewegt
Parmenides Die Naturphilosophen
Melissus
beschräukte unbeschränkte
Zahl
Empedokles Anaxagoras
u.
Demokrit
Luft Wasser
Anaximenes Thaies
Zwischenstoff
Anaximander
(?)
Diejenigen Philosophea, welche das aöi[xot uTroxstfievov (die ap/vj)
£v nennen, können auch hier wieder nach einem andern prin-
cipium divisonis eingetheilt werden in zwei Klassen. Die einen
nämlich lassen die Welt daraus entstehen, „iruxvoxyjTi xctt aavoxri-,
die anderen behaupten „-a? ivavxidtYjTo? sxxpi'vsaOoii^)" (Thaies,
Anaximenes, Haraklitus — Anaximander, Erapedokler Anaxagoras.)
In dieser Weise hatte Aristoteles den Weg gebahnt für die Doxo-
graphen und hatte ihnen die Arbeit des Studiums der vorsokratischen
Philosophie leicht und bequem gemacht. Die Nachfolger des
Stagiriten nahmen sich nicht die Mühe zu den Quellen zurück-
zugehen, sondern hielten sich einfach an den Meister. Oder wenn
sie die Quellen lasen, so suchten sie nur in erster Linie nach der
ap-///, oder dem uTroxstfxsvov und zerbrachen sich nicht den Kopf
wegen der übrigen Punkte. Auch die neueren Geschichtsforscher
gehen meistens aus von der allgemeinen Auffassung des Aristoteles.
Niemand hat es meines Wissens^) unternommen, die aristotelische
Darstellung der ältesten Philosophie in Bezug auf ihre Genauigkeit
und Glaubwürdigkeit zu prüfen. Die doxographische Tradition
wird meistentheils den Quellen im Werthe gleichgestellt, wenn
nicht gar im gewissen Sinne vorgezogen. Aber Aristoteles beweist
hinreichend, dass er kein Geschishtsforscher im moderneu Sinne
*) Aristot. II. 248 ff.
5) Dieser Aufsatz wurde i. J, 1898 verfasst.
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV. 'i.
15
218 Ernst Chr. Heb. Peithmann,
war. Er nahm nicht die Schriften zur Hand, um zu studiren,
was die einzelnen Männer für Ansichten hatten, sondern er wollte
nur untersuchen, inwieweit sie sich seiner vollendeten Philosophie
näherten. Hat er überhaupt ihre Schriften selbst zur Hand ge-
nommen? Die Schriften der Milesier hat er sicherlich nicht ge-
sehen. Aber es scheint, dass selbst die Arbeiten des Heraklit und
Parmenides und Empedokles vielleicht nicht in seinem Besitze
waren, oder dass er sie nur sehr oberflächlich gelesen hat.
Es ist daher nicht nur unser Recht, sondern auch unsere
Pflicht, die Fragmente allein zu untersuchen, um die Theorien der
einzelnen Philosophen zu gewinnen und sie dann mit der Inter-
pretation der Doxographen zu vergleichen. In Bezug auf die
Milesier, nämlich Thaies, Anaximander und Anaximenes, sind wir
freilich nicht in einer besseren Lage als Aristoteles: es sind uns
keine unzweifelhaften Fragmente überliefert. Von Heraklit besitzen
wir eine grosse Anzahl von Bruchstücken, die von Compilatoren
aus den verschiedensten Jahrhunderten aufbewahrt sind. Aber es
ist oft schwierig, den Text genau zu trennen von erklärenden Zu-
thaten der Doxographen und Geschichtsschreiber. Anders steht
es mit Xenophanes, Parmenides und Empedokles. Diese drei
Männer haben in Poesie geschrieben und es war hier schwieriger,
den Text zu verändern oder durch Zuthaten zu erweitern. Von
hier aus haben wir daher einen sicheren und festen Ausgangspunkt.
Da aber das philosophische Material in Xenophanes zu gering ist,
so scheint es mir gerathen, mit Parmenides zu beginnen. An ihn
schliesst sich dann Empedokles an. Aus diesen beiden Autoren
können wir eine ziemlich genaue Idee gewinnen über die Fragen,
um die sich die älteste Philosophie dreht. Alsdann schreiten wir
rückwärts zu Heraklit, Xenophanes und die drei Milesier und
springen zum Schluss über zu Anaxagoras, Diogenes und Demo-
kritus.
2. Vom „Sein" und „Nichtsein".
Wir können das Gedicht des Parmenides"^) nur dann recht
würdigen und verstehen, wenn wir fortwährend im Sinne behalten,
«) Mullach, Fragmenta Phil. Graec. I. 114 ff.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 219
dass es eine polemische Schrift ist, die sich in erster Linie damit
befasst, die Ansicht des Gegners als unhaltbar nachzuweisen. Nur
in zweiter Linie ist er auch bemüht, die richtige Philosphie an
ihren Platz zu setzen. Aber selbst die positive Darstellung seiner
eigenen Philosophie giebt er lieber in negativen als in positiven
Ausdrücken. Seine Gegner haben so seine volle Aufmerksamkeit
in Anspruch genommen, dass er die Stellung eines Kritikers kaum
für einen Augenblick aufgeben kann. Nach seiner Meinung giebt
es nur zwei philosophische Theorien oder Methoden in strengsten
Sinne (oüoI [xoSvat oiCr^aio?). Die eine ist die Philosophie seiner
strikten Gegner und die andere ist von ihm aufgestellt im schroffen
Gegensatz dazu. Beide sind unvereinbar. Für die eine oder
andere von ihnen muss sich jeder Denker entscheiden. Die eine,
von ihm aufgestellt und vertheidigt, ist die Philosophie der Wahr-
heit, die mit ihrem „aufrichtigen Herzen" jeden Forscher leicht
für sich gewinnt. Die andere ist eine Zusammenfassung der Mei-
nungen von gewissen „Sterblichen", an welche man keinen wahren
Glauben haben kann. Und wenn diese falsche Theorie den Haupt-
theil des Gedichtes ausmacht, so geschieht es nur, um den Un-
erfahrenen mit diesem so weit verbreiteten Irrthum gründlich be-
kannt zu machen. Denn nur wer die Irrwege gründlich kennt,
ist im Stande, sie zu vermeiden. Wer beide Systeme der philo-
sophischen Weltanschauung vor sich hat, kann nicht verfehlen,
das rechte zu wählen, denn es hat den Stempel der Wahrheit an
seiner Stirn, es ist „der Weg der Ueberzeugung und hat die Wahr-
heit in seinem Gefolge" '). Aber der falsche Weg hat nicht die
geringste Kraft der Ueberzeugung. Es ist daher fast überflüssig,
den Schüler der Philosophie vor diesem Wege zu warnen.
Parmenides kann indessen nicht umhin, im Vorbeigehen noch
auf eine dritte philosophische Ansicht aufmerksam zu machen, ob-
wohl sie kaum Erwähnung verdient. Es giebt gewisse Sterbliche,
die nichts wissen und mit schwankendem Wollen hin- und her-
irren. Unentschiedenheit lenkt in ihrer Brust den wankelmüthigen
Sinn. Und so werden sie fortgerissen, zu gleicher Zeit taub und
7) Mullach, Fiagm., Paim. V. 29—45.
15^
220 Ernst Chr. Hch. Peithmann,
blind, voll Erstaunen überwältigt, Leute ohne Urtheilskraft *). Sie
nehmen offenbar eine Mittelstellung ein, indem sie versuchen, die
Wahrheit und den Irrthum unter einen Hut zu bringen. Aber ihr
wohlgemeintes Bemühen kann unter keinen Umständen zum Ziele
führen. Sie verdienen deswegeii keine eingehende Beachtung.
Wir hätten uns demnach über drei verschiedene Meinungen
Klarheit zu verschaffen, nämlich 1. die Ansicht der Sterblichen,
2. die Ansicht der Wankelmüthigen (öi'xpavoi), 3. die Ansicht des
Parmenides.
Der Punkt, um den sich Alles dreht, ist offenbar die Frage
nach der Existenz oder dem „Sein". Wessen Existenz auf dem
Spiele steht, wird nicht näher erklärt, vermuthlich, weil jedermann
weiss, um was es sich handelt. Parmenides behauptet nun, dass
„es ist" oder existirt und dass es unmöglich ist, dass es „nicht
sein" sollte, oder aufhören sollte zu existiren 'O (u); ea-t ts xal w;
oux £(3tt tiT) elvat). Die Meinung seiner Gegner ist, dass es auch
„nicht ist" und dass eine sittliche Nothwendigkeit es erfordert,
dass es „nicht sein sollte '"). Die Leute, die daher an „Nicht-
Existenz" glauben, sprechen von jxr) eovxot, von Dingen, die keine
Existenz haben (V. 52). Dieselben Leute, die neben dem „Sein"
auch das „Nichtsein" anerkennen, sprechen auch von „Werden"
oder „Entstehen" und „Vergehen" (^qvcaOat xe zcxl -oXXua&oti, sTvcti
T£ xal ouxi V. 100). Sie sagen offenbar im Gegensatz zu Par-
menides, dass der Gegenstand, um den es sich handelt, entstanden
ist und auch wieder vergehen wird (V. 59). Sie lehren, dass das,
was existirt, eine Periode des Entstehens und einen Anfang gehabt
hat (V. 6(5) ('fuais sovxi xott otp/i]). Ihre. Centrallehre ist „Ent-
stehen und Vergehen", ylvcat; xal oXsbpo?, Ausdrücke, die wieder
und wieder von Parmenides zurückgewiesen werden. Diese Leute
sprechen offenbar von einer Mehrheit von existirenden Dingen.
Aber wir brauchen nicht länger herumzurathen nach der
Theorie dieser Leute. Ihre Meinungen werden uns im zweiten
Theile sogar mit verführerischer Eleganz und völliger Objectivität
*) Mullach, Fragm., Parm. V. 46—51.
9) V. 35.
10) V. 37.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. . 221
vorgetragen "). Sie setzen zwei verschiedene Erscheinungen vor-
aus (gerade eine mehr als nothwendig ist). Diese beiden Formen
stellen sie einander gegenüber und geben ihre charakteristischen
Eigenschaften an, eine getrennt von der andern. Auf der einen
Seite haben sie das „ätherische Feuer" der Flamme, welches äusserst
düüu ist und fein und nur sich selbst gleich ist, aber der entgegen-
gesetzten Form nicht gleich ist. Aber auf der anderen Seite eben-
so mit sich selbst identisch ist die „dunkle Nacht", eine dichte,
und schwere Masse. Auf diese Weise ist Alles angefüllt mit Licht
und dunkler Nacht. Beide halten sich die Wage, ohne irgend
welche Gemeinschaft mit einander zu haben. Dieselben Leute ver-
treten auch die Theorie von verschiedenen Ringen und behaupten
unter Anderem, dass die engeren Ringe gemacht sind von Feuer,
das nicht mehr völlig rein ist (azpixo?) und darunter sind Kreise
der Nacht, die aber mit einem Theil Feuer gemischt sind. In
dem Centrum derselben befindet sich „die Göttin, die Alles steuert".
Zu dieser Philosophie gehört auch die Anschauung von dem Ent-
stehen der verhängnissvollen Zeugung und Begattung, welches das
weibliche Geschlecht antrieb, sich zu vereinigen mit dem männ-
lichen und umgekehrt das männliche mit dem weiblichen.
Diese Sterblichen geben ferner ihre Ansichten von dem Ent-
stehen des Aethers und von allen „Zeichen", die sich im Aether
befinden und von den verborgenen Werken des klaren Lichtes
der runden Sonne und ihrem Ursprünge und von den Werken und
dem Entstehen des runden und rotirenden Mondes. Sie beschäftigen
sich auch mit dem Himmel, der alles umgiebt, und seinem Ur-
sprünge und beantworten die Frage, wie die herrschende Noth-
wendigkeit ihn angebunden hat, so dass er die Grenzen der Sterne
hält. Sie geben Auskunft darüber, wie die Erde und die Sonne
und der Mond und der gemeinsame Aether und die himmlische
Milchstrasse und der äusserste Olympus und die heisse Schaar der
Sterne „ursprünglich entstanden sind."^ Sie geben ihre Ansichten
über das fremde Licht, das um die Erde schweift, scheinend
während der Nacht u. s. w. Sie machen auch den Versuch, den
1') Vers 113—153.
222 Ernst Chr. Hch. Peithmann,
Verstand der Menschen zu erklären aus der eigenthiimlichen
Mischung der gekrümmten Glieder. Denn der Ursprung und die
Art der Glieder stellt bei allen und jedem Menschen dasjenige
Prinzip dar, welches denkt. Das vorwiegende (Element) im
menschlichen Körper ist der Gedanke. Betrefts Physiologie sind
sie der Anschauung, dass „auf der rechten Seite die Knaben und
auf der linken Seite die Mädchen" sich befinden. Zu dieser
. Philosophie scheint auch die Ansicht zu gehören, dass als der erste
der Götter „Eros" geschaffen wurde. Dies sind die erhaltenen
Bruchstücke der Philosophie „xata So^otv" und in solcher Weise
erklärt sie, wie diese Dinge „entstanden sind", wie sie jetzt
„existiren" und wie sie später wieder „vergehen" werden, nachdem
sie zu voller Reife sich entwickelt habeu. Und die Menschen
haben dann diesen einzelnen Dingen ihren besonderen Namen
gegeben.
Wie fängt Parmenides es nun an, diese definitive Ansicht
von den zwei ursprünglichen entgegengesetzten Stoffen und ihrer
gleichmässigen Macht, von der Bildung der verschiedenartigen
Ringe, von der Entstehung der Geschlechtsunterschiede, von dem
Ursprünge der grossen Weltkörper draussen und des menschlichen
Verstandes drinnen — zu widerlegen? Diese ganze Theorie, sagt
er, verlässt und stützt sich auf die Voraussetzung, dass die Dinge
erst „entstehen", dann eine Zeit lang „bestehen oder sind" und
endlich nach einer gewissen Zeit wieder „vergehen", dass sie zu
einer Zeit „sind" und zu einer andern Zeit „nicht sind". Grade
hier, in ihren fundamentalen Voraussetzungen greift Parmenides
seine Gegner an. Was jene Leute „Nichtsein" nennen, ist ein
Ding, das nicht existirt. Ein Gegenstand, der „nicht ist", liegt
gänzlich ausserhalb unseres Vorstellungsvermögens. Man kann solch
einen Gegenstand daher weder verstehen noch in Worten aus-
sprechen, da er sich ganz der Controle unseres Verstandes entzieht.
Von „Nichtsein" zu sprechen, ist daher ein wahres Unding. Denn
Sprechen und Denken setzt unbedingt das Sein einer Sache
voraus ''). Wenn ich, mit anderen Worten, etwas über einen
'-•) V. 94—95.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. ^ 223
SatzgegenstaDcl aussage, so muss dieser Gegenstand existiren (39
bis 44).
Denken und der Gegenstand des Denkens sind identisch. Denn
ohne „das Seiende", worin es sich ausspricht, findet man auch das
Denken nicht. Allein „das Seiende" hat für Gegenwart und Zu-
kunft wahre Existenz (94—97). Es ist daher unsinnig, über Dinge
zu reden, die „nicht existiren". Was ist oder existirt, hat absolut
keine Einschränkung in seiner Existenz, es hat wieder begonnen
noch wird es aufhören zu existiren: es ist ungeschaifen und un-
zerstörbar. Seine Gegner behaupten, dass es einen Anfang ge-
nommen hat. Aber wo soll man seinen Ursprung suchen? '^). Und
wo ist die Quelle, aus der man schöpfen kann, um es zu vermehren?
Es giebt zwei Möglichkeiten '*). Entweder muss man es entstehen
lassen aus dem, was „nicht existirt-' oder „nicht ist": und dies
lässt sich weder aussagen noch denken, dass nämlich etwas, was
„nicht ist", mit einem Male „ist". Ausserdem kann man
'sich überhaupt nicht vorstellen, dass etwas „nicht ist". Aber
wenn man annimmt, dass es einen Anfang genommen hat,
so drängt sich die Frage auf, weshalb es gerade zu einer bestimmten
Zeit, früher oder später'') ins Dasein kam. Aber „was ist", kann
weder einen Ursprung noch einen Anfang seines Daseins haben.
Ein Ding muss entweder sein oder nicht sein und wenn es nicht
ist, dann kann es nie und nimmer ins Dasein kommen (67).
Aber eine andere Möglichkeit wäre, dass es kommt aus dem, was
schon „ist". Und das widerspricht aller Glaubwürdigkeit dass aus
dem, was ist, etwas anderes werden könnte. So zwingt uns die
Nothwendigkeit von allen Seiten, anzunehmen, dass es weder ins
Dasein gekommen ist, noch aus dem Dasein verschwinden wird.
Und dies nachzuweisen, war die einzige Absicht des Parmenides,
als er sein Gedicht verfasste. Er wollte die unglaubliche Theorie
von „Schöpfung und Vernichtung", von einem Anfange und Ende
des Daseins für immer und endgültig widerlegen. Wir steheu, so
13) V. 62.
1*) V. 63—70.
15^ V. 66.
224 Erust Chr. Hch. Peithmauii,
sagt er, vor der Frage: „ist es" oder „ist es uicht?" (72). Was
„nicht ist", kann niemals anfangen „zu sein". Was wirklicli ist,
kann nie einen Anfang genommen haben und wird nie ein Ende
nehmen: es ist „ohne Anfang und ohne Aufhören". Die Ausdrücke,
die jene „Sterblichen" gebrauchen, nämlich ins Dasein kommen
oder „entstehen" und „vergehen", „sein" und „uicht sein", sind
trügerisch und verwerflich. Was existirt, existirt im obsoluten
und unbeschränkten Sinne. Es ist nicht etwa nur ein Bruchtheil
von einem grösseren Ganzen, sondern es ist selbst das Ganze: es
ist „eingeboren" und „unerschütterlich" und „unvergänglich".
Aber nun ist die Frage, was meint Parmenides mit diesem
„Seienden", das weder einen Anfang noch ein Ende nehmen kann?
Wir können diese Frage nur beantworten, wenn wir bedenken,
dass seine Gegner behaupten, dass diese Welt mit allen Himmels-
körpern und Erscheinungen und mit allem, was darin lebt und
webt, seine Geschichte hat. Dass diese Welt, die jetzt existirt,
einst entstanden ist und so auch später wieder vergehen wird*
Parmenides kann daher nur sagen wollen, dass jene Leute sich
gründlich irren. Was „ist", kann nicht anfangen oder aufhören
zu sein: Diese W^elt ist daher nie geschaffen und wird auch nie
vernichtet werden können. Das W^eltall ist „unsterblich"^*'),
es „existirt im wahrsten und unbegrenzten Sinne". Es ist der
Vernunft unfassbar, dass es zu irgend einer Zeit nicht war, oder
später nicht mehr sein wird.
Doch es giebt noch eine zweite irrige Ansicht vom Weltall
und den Erscheinungen darin. Es ist die Philosophie der „Wankel-
müthigeu". Sie schwanken hin und her zwischen zwei unverein-
baren Ansichten. Sie behaupten, dass „Sein" und „Nichtsein"
als dasselbe und auch wieder nicht als dasselbe angesehen werden
muss und dass der Weg, den das Weltall geht (TravTtov xsXsuöo?),
„sich rückwärts windet" (TraXivTpoTro; V. 50, 51). Diese Leute
scheinen im Gegensatz zu den ersten ^Sterblichen" dafür zu halten,
dass das Wettall immer „war" und immer „sein ward". (61, 75, 76.)
Aber nach ihrer Ansicht findet ein fortwährender Wechsel statt:
1«) V. 59.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 225
das Ganze ist in Theile zerrissen und an einer Stelle ist „mehr"
und an der anderen „weniger" (78—80, 105—108). „Alle Dinge"
sind, wie es scheint, in fortwährender Bewegung (82, 98), ver-
ändern fortwährend ihren Ort und ihre Farbe (101). Die Geschichte
des Weltalls besteht in einem unausgesetzten „Zerstreuen und
Sammeln" (92, 93). So ist die Welt jeden neuen Augenblick eine
neue und andere und doch bleibt sie dieselbe. Was heute ist,
wird morgen nicht mehr sein; in derselben Gestalt nämlich wird
es nicht mehr da sein, aber doch wird es noch da sein in ver-
änderter Form. „Sein und Nichtsein ist dasselbe und nicht das-
selbe" (V. 50). Aber nach Parmenides' Ansicht ist diese Stellung
unhaltbar. Man kann nicht sagen, dass „es war" und dass es
„sein wird", sondern alles „ist jetzt" zu gleicher Zeit. Unmög-
licher Weise kann es „später" sein und ebenso war es auch
nicht „früher". Denn wenn es früher war oder später sein wird,
so ist es jetzt nicht. Daher kann man nur sagen, dass es jetzt
„ist" in ungetheilter fortlaufender Gegenwart. Auch kann man
es nicht in Stücke zertheileu, da das ganze völlig gleichartig ist.
An keiner Stelle ist mehr als an einer andern, sondern das Ganze
ist ununterbrochen und „gleichartig". Nirgendswo befindet sich
eine Lücke, sondern das Ganze ist voll von „dem Seienden".
Ohne Unterbrechung reiht sich „Seiendes an Seiendes". „Unbe-
weglich" ist es gebunden innerhalb der Grenzen der Fesseln, die
es umgeben. Es bleibt daher für immer „dasselbe in demselben",
beruhend auf sich selbst. Die gewaltige Nothwendigkeit hält es
in den Grenzen seiner Fesseln und schliesst es fest ab nach allen
Richtungen hin. Daher kann von einer Bewegung oder Verände-
rung oder gar einem Verschwinden nicht die Rede sein. Aber
gerade aus diesem Grunde kann man es auch nicht als unendlich")
bezeichnen; denn es hat kein Bedürfniss und entbehrt nichts
andern Falls würde es alles entbehren.
So kommt Parmenides denn zu seinem positiven Resultat.
Diese Welt und alles was darinnen ist, ist ein Ganzes, ohne
Anfang und Ende unsterblich und unzerstörbar, unerschütterlich
1^) Xenophanes V. 13, Emped, V. 237,
226 Ernst Chr. Heb. Peithmann,
und unbeweglich, Dieses Ganze ist nicht unendlich, sondern von
bestimmten Grenzen eingeschlossen und ist ähnlich einer wohl-
geruudeteu Kugel. Nichts kann davon entschwinden, denn die
„Gerechtigkeit", von der Leute so viel sprechen, hält das Ganze
fest zusammen. Nichts kann hinzugefügt werden, denn der ganze
Raum ist ausgefüllt und es giebt so keinen Platz, den es einnehmen
könnte. Auch ist der Weltenraum überall gleichmässig angefüllt,
so dass absolut keine Veränderung stattfinden kann. Was „da
ist'', ist für immer da und wird immer so sein, wie es jetzt ist.
Hier giebt es „keine Veränderung noch Wechsel des Lichtes und
der Finsterniss",
Zu diesem Resultat kommt man nothwendiger Weise, wenn
man die Vernunft urtheilen'^) lässt, anstatt den unzuverlässigen
Augen und Ohren zu trauen. Man steht dann vor der Alter-
native, '^) dass das Weltall entweder „ist", oder „nicht ist". Man
kann nicht beides zu gleicher Zeit bejahen, sondern muss eins
von beiden wählen. Und der Vernunft kann die Wahl nicht
schwer fallen: sie bleibt dabei, dass die Welt ist und dass sie
im vollen und wahren Sinne des Wortes „ist" und nie ihr Dasein
verändern oder beenden kann. Denn „was ist" (xo ov), kann nie
angefangen haben „zu. sein" und kann nie aufhören „zu sein".
Diese Philosophie ist einfach und klar. Sie kann freilich nur
verstanden werden, wenn man die entgegengesetzte Philosophie
klar vor Augen hat. Nach Parmenides gab es Leute, die behaup-
teten, dass „alle Dinge'^ 1) zu einer bestimmten Zeit ins Dasein
gekommen sind, 2) dass sie jetzt eine Zeit lang bestehen oder
„sind", 3) dass sie zu ihrer Zeit wieder vernichtet werden und dann
„nicht mehr sind" und dass dieser Wechsel zwischen „Sein
und Nichtsein" einer sittlichen Nothwendigkeit zufolge statt-
findet. Ausserdem gab es eine unentschiedene Partei, die be-
hauptete, dass „Sein und Nichtsein" keinen absoluten Gegensatz
bezeichnete, sondern dass beides in einem Sinne dasselbe sei und
im andern Sinne nicht dasselbe sei; dass das Weltall in fort-
•8) Parm. V. 56.
19) V. 71, 72. . ,
Die Naturphilosophie vor Sokrates. , 227
währeuder Bewegung begriffen ist, aber dass der Weg der Dinge
immer wieder zurückführt zu seinem Anfange; dass die Welt ihre
Gestalt und Farbe fortwährend ändert, aber dass sie ihrem Wesen
nach immer dieselbe war und auch sein wird.
Im Gegensatz zu diesen beiden Anschauungen stellte Parme-
nides die Lehre auf, dass man von einem „Nichtsein" überhaupt
nicht reden kann; dass man nur sagen kann, dass alles was ist,
in der That und Wahrheit „ist" und dass es „unvergänglich ist".
Ja er geht sogar soweit, dass er behauptet, es finde überhaupt
keine Veränderung und keine Bewegung statt. Denn was ist, war
und ist für immer das, was es ist. Dieser Ausspruch ist etwas
schroff, aber es ist das einfache Resultat vernünftigen und folge-
richtigen Denkens. Jedermann, der die Frage recht gründlich
untersucht und darüber hinreichend nachdenkt, sagt er, wird ihm
unbedingt beistimmen müssen. Diese Lehre wird jedermann
überzeugen, denn sie hat den Stempel der Wahrheit auf der Stirn.
Hier haben wir nun ein erstaunliches Beispiel, wie es Ari-
stoteles gelungen ist, den Gesichtspunkt der älteren Philosophen
vollständig zu verdrehen und zu verschieben. Plato giebt in seinen
Dialogen nur sehr kümmerliche Berichte über die Geschichte der
Philosophie, aber soweit er sich damit beschäftigt, ist er wenigstens
wahrheitsgetreu und ohne Vorurtheil. Obwohl wir erwarten
müssen, dass Plato, dem Parmenides vielleicht nur durch Sokrates
bekannt war, die Philosophie des grossen Eleaten nicht in einem
vollständig ungetrübten Lichte wieder giebt, so trifft er doch im
Grossen und Ganzen das Richtige. Es hatte sich offenbar bald eine
weit verbreitete Schule des Parmenides und Zeno entwickelt'").
Und es ist zu vermuthen, dass die Lehre des Meisters bald modi-
ficirt vmd verändert, vielleicht vergeistigt wurde, wie wir z. B.
schon Spuren hiervon im Melissus finden. Trotzdem spricht es
Plato klar und deutlich aus, dass es gleichbedeutend wäre mit
Vatermord''), wenn man die Grundlehre des Parmenides verleugnen
wollte und sagen, dass das „Nichtseiende" im gewissen Sinne „ist"
20) I, 163, 3, Plato, Par. Ausg.
'•") I, 181, 53.
228 Ernst Chr. Heb. Peithmann,
uud das „Seiende" auf der andern Seite hinwiederum in gewissem
Grade „nicht ist". Er rechnet Parmenides unter die Zahl derer,
die versucht haben zu bestimmen, wie viel „die Dinge die sind"
(xa ovia) an der Zahl sind und wie sie beschaffen sind. Er wie
alle Eleatiker von Xenophanes an behauptet, dass das sogenannte
All (za Tictvia xc(Xou[Xcvct) „ein" Ganzes ist. Im Gegensatz zu der
Theorie, dass alles sich im fortwährendem Wechsel befindet oder
dass von den „Dingen, die existiren" (xwv ovicuv) die einen unbe-
weglich feststehen und die andern sich bewegen, haben Melissus
und Parmenides daran festgehalten, dass das sogenannte „All"
(t(u irav-' ovofi' S3xi) unbeweglich ist und das alle Dinge ein Ganzes
ausmachen uud dass dies in sich selbst unbeweglich feststeht, da
es keinen Platz hat, in dem es sich bewegen kann^^). Alle andern
Weisen behaupten, dass aus Ortsveränderung uud Bewegung und
Mischung des einen mit dem andern alle Dinge entstehen und
dass niemals etwas unveränderlich „ist", sondern immer nur „wird"
und entsteht. Ausgenommen ist nur Parmenides!") Und Melissus
und die andern, die „das All" als eins bezeichnen, sind alle zu-
sammengenommen von geringerer Bedeutung als Parmenides allein.
Er giebt seiner Lehre Kraft durch seine Würde und gewaltige
Persönlichkeit-'*). Plato citirt auch als den immer wiederkehrenden
Grundgedanken der Parmenideischen Philosophie, den Vers, dass
man nie dem Gedanken Raum geben darf, dass es Dinge giebt,
die „nicht sind" (d. h. die nicht mehr sind, oder noch nicht sind).
Auch Zeno, der ungefähr dieselbe philosophische Ansicht vertritt,
püichtet den Gedichten des Parmenides bei, dass das Weltall eins
ist, wofür Parmenides in zufriedenstellendster Weise Beweise liefert,
während andere behaupten, dass das All aus einer Mannigfaltigkeit
von Dingen zusammengesetzt ist"). Ferner giebt Plato die An-
sicht des Parmenides wieder, dass das Seiende ein Ganzes ist „von
allen Seiten ähnlich einer wohlgerundeten Kugel"). Nach Plato
■'■) I, 139, 4.
■'^) I, 117, 11.
2^) I, 141, 20.
«) I, 627.
«) I, 184, 20.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 229
behauptet Parmenides auch, dass „Eros" der erste und älteste
unter den Göttern ist").
Obschon diese Darstellung des Parmenideischen Systems nur
lückenhaft ist, so trift't sie doch in der Hauptsache den Nagel auf
den Kopf. Sie stellt Parmenides allen andern Philosophen gegen-
über, insofern er jede Ortsveränderung und Bewegung und Mischung
innerhalb des Weltalls leugnet und alle Dinge als „ein unbeweg-
liches Ganzes" auffasst und daran festhält, dass das „was ist" ab-
solut nichts zu thun hat mit „Nichtsein", sondern dass es „ist"
im absoluten Sinne und dass das, was „nicht ist" niemals „sein"
kann. Mit anderen Worten: allein das hat wirkliche und unver-
änderliche Existenz, was „ist"; es kann nie aufhören „zu sein."
Und was nicht ist, kann nie und nimmer ins Dasein treten. Es
giebt nur ein Ding, das existirt oder „ist", nämlich diese
Welt und sie existirt unveränderlich und ewig.
Nun müssen wir noch kurz sehen, was Aristoteles aus dieser
Philosophie gemacht hat. Dieser Grösste unter den Kritikern be-
trachtete die ältesten Philosophen von dem Standpunkte und nach
den Interessen seiner eigenen Philosophie. Es war ihm nicht in
erster Linie darum zu thun, einen klaren Einblick zu gewinnen
in das Problem und den Gedankengang der Schriften des Par-
menides, sondern er wollte in erster Linie ausfinden, wie viel Par-
menides von seiner (des Aristoteles) Philosophie vorausgesehen hat.
Er fängt gleich mit seiner beliebten Frage an: wie viele und was
für „Ursachen" hat Parmenides angenommen und wie viele Prin-
cipieu der Dinge kennt er"®)? Er sagt zunächst, dass Parmenides
„das Eine" nach dem Begriffe berührt hat, währen Melissus „das
Eine nach dem Stoffe" behandeltet^). Daher nennt Parmenides
es auch begrenzt, und Melissus nennt es unbegrenzt. Xenophanes
dagegen nennt „das Eine" Gott. Aber nach Aristoteles bleibt
Parmenides seiner Ansicht nicht immer treu. An einer andern
Stelle gewinnt er einen bessern Blick und modificirt seine erste
2^ I, 662, 675, 39.
^*) II, 476. Aristoteles Par. Ausg.
29) Arist. II, 476.
230 Ernst Chr. Hch. Peithmann,
Ansicht. Ursprünglich hält er neben dem „Seienden" das „Nicht-
seiende" für nichts und nimmt dann nothwendiger Weise das
Seiende als „eins" an und lässt daneben nichts anderes zu. Aber
daneben wird er doch gezwungen, der Erscheinungswelt zu folgen
und ist dann der Meinung, dass „das Eine" existirt nach dem Be-
griffe, aber dass „mehrere Dinge" existiren nach der Sinneswahr-
nehmung. Und so nimmt er dann zwei „Ursachen" und zwei
„Principien" an, nämlich das Heisse und das Kalte, womit er
Feuer und Erde meint. A'^on diesen identificirt er dann das Heisse
mit „dem Seienden" und das Andere mit dem „Nichtseienden".
An verschiedenen anderen Stellen wiederholt Aristoteles diese an-
gebliche „Doppelzüngigkeit" des Parmenides. Auf der einen Seite
macht er Parmenides zum Vertreter der Ansicht, dass das „All"
(-0 Tiav) oder „alle Dinge, die existiren" (r.dvza toc övta) oder „das
Seiende" (-0 Sv) oder das „Princip der Dinge" (f^ apX^) ^^^' »eius"
ist und dass dies „Eine" „unbeweglich ist und ungezeugt" und
dass es bestimmt abgegrenzt ist und körperliche Gestalt hat und
dass er mit Herodot übereinstimmt, iiulem er den Eros als das eine
Princip voraussetzt. Man achte auf diese Verwirrung und Un-
klarheit"°). Auf der anderen Seite soll Parmenides ein ebenso
entschiedener Vertreter des Dualismus '') sein. Er nimmt zwei
Principien an, nämlich das Warme und das Kalte, das Feuer und
die Erde, das Seiende und das Nichtseiende. — Ist es glaublich,
dass Aristoteles die Philosophie des Parmenides so entstellen und
gerade auf den Kopf stellen konnte? Es kann nur möglich gewesen
sein, weil er die Schrift des Eleaten nicht hinreichend studirt hat.
Aber die Thatsache bleibt, wie sie ist. Wir können uns daher
nicht wundern, wenn Aristoteles wenig Hochachtung zeigt vor
Parmenides und den übrigen Eleaten. Er nennt die Theorie eine
„zwiespaltige", einen X070; ipiaxixo;; aber für diesen Zwiespalt ist
Aristoteles, und nicht Parmenides verantwortlich. Betreffs des
£p(u? und der aiail-zjat; und anderer Probleme herrscht im Kopfe
des Aristoteles dieselbe Verwirrung. Aristoteles beweist deutlich
30) II, 473, 20; 249, 26; 250, 11; 497, 26; 630, 49; III, 674 , 23.
3') II, 473: 254; 476; 438 etc.
Die Naturphilosophie Yor Sokrates, 231
genug nach Allem, was er von Parmenides sagt, dass es ihm nicht
im geringsten gelungen ist, die Anschauungen des grossen Eleaten
zu verstehen und zu würdigen. Was Parmenides in seinem ganzen
Gedichte vom ersten bis zum letzten Verse bekämpft und
emphatisch zurückweist, das schiebt Aristoteles ihm unter als seine
eigene Lehre. Das ist freilich nicht die rechte Methode, wenn
man einen grossen Philosophen kritisiren will. Und bei solch
einem oberüächlichen Verfahren wird man sicherlich nicht in das
Verständniss einer fremden Theorie eindringen. Die eigentliche
Absicht, die Parmenides mit seinem Gedicht verfolgt, ist dem
Aristoteles denn auch völlig unbekannt geblieben.
Es ist nicht nöthig, auf die Berichte der Doxographen näher
einzugehen. Sie sprechen dem Aristoteles getreulich nach, was er
ihnen vorgesagt hat; dass Parmenides eine doppelte Philosophie ver-
tritt, eine Philosophie mit „einem Princip" und eine andere mit
„zwei Principien". Diese Verwirrung und Unklarheit hat sich dann
fortgeerbt bis auf unsere Zeiten. Man nimmt noch heute all-
gemein an, dass Parmenides die Philosophie des Irrthums im ge-
gewissen Grade anerkennt und billigt. Parmenides soll hier ent-
weder die Anschauung der gewöhnlichen Leute oder der Pytha-
goreer als berechtigt anerkennen. Aber die gewöhnlichen Leute
hatten keine solche eingehende Philosophie von der Weltentstehung,
wie wir sie im zweiten Theil des Parmenides vorfinden und die
Pythagoreer interessirten sich in der ersten Zeit ihrer Existenz
scheinbar durchaus nicht für Naturphilosophie. Nach dem allge-
gemeinen Ton des Gedichtes zu urtheileu, können wir nur an-
annehmeu, dass Parmenides die Ansicht bestimmter älterer Philosophen
von der Entstehung und Vernichtung der Welt widerlegen wollte.
Zu diesem Zwecke stellte er den Satz auf, dass die Welt einfach
„ist", d. h. „immer ist" und nie aufhört „zu sein". Denn das
„Nichtsein" ist völlig ausgeschlossen von dem, was „ist".
3. Sterblich und doch unsterblich.
Das Erste, was beim Studium des Empedokleischen Gedichtes
in die Augen fällt, ist die Thatsache, dass Empedokles mit den
32) Mullach, I, 1.
232 Ernst Chr. Hell. Peithinann,
Streitfragen des Parmenides bekannt ist und in dem Streit seiner-
seits Partei ergreift. Ein oberflächliches Lesen seines Gedichtes
muss uns davon überzeugen, dass sogar dieselben Stichvvorte immer
wiederkehren, wie „sein", „nicht sein", „es ist", „entstehen", „ver-
gehen", „Anfang", „Ende" u. s. w. ^'). Er sowohl wie Parmenides
bekämpft die Ansicht Derer, die von dem „Entstehen und Vergehen"
sprechen. Aber er hält es auch nicht völlig mit Parmenides. Er
giebt ihm in einem gewissen Masse Recht. Aber wir werden
sehen, dass er die Partei Derer ergreift, die Parmenides „die Wankel-
müthigen" genannt hatte. Er selbst kann sich nicht davon über-
zeugen, dass es in dieser Welt absolut keine Bewegung und keine
Veränderung giebt. Mit den Wankelmüthigen hält er dafür, dass
dieses Weltall sich in einem fortwährenden Wechsel befindet.
Sein Gedicht „Ueber Natur" könnte im Allgemeinen in vier Ab-
schnitte getheilt werden: 1. die Einleitung V. 1—61, welche die
am Schluss (V. 59—61) gegebene Aufstellung seines Themas mit
umfasst; 2. V. 62—97 eine Kritik des Parmenides; 3. V. 98—119
eine Kritik der Tlioren, die offenbar identisch sind mit den „Sterb-
lichen „des Parmenides; 4. V. 120—382 seine eigene Philosophie in
ihren Einzelheiten mit häufigen Wiederholungen aus den ersten
Abschnitten.
Die Einleitung ist nicht von grossem Belang und meistens
leicht zu verstehen und kann aus jeder Geschichte der alten
Philosophie ersehen werden. Interessant ist der allegorische Ab-
schnitt V. 18—28. in dem die philosophischen Stichworte seiner Vor-
gänger zu allegorischen Figuren erhoben sind, die in geisterhafter
Weise auf der Aue der „Ate" umherschweifen. Da findet sich der
„Mord" und der „Streit" und die übrigen „Schicksale", die
„Erdgestalt" und das „Sonnengesicht", die „Zwietracht" und
„Eintracht", die „Schönheit" und „Missgestalt", die „Eile"
und „Weile" die „Offenheit" und „Verstecktheit", das „Ent-
stehen" und „Verschwinden", der „Schlaf" und die „Wachsam-
keit", „Bewegung" und „unerschütterliche Ruhe", die „viel-
33) V. 72, 74, 93, 96, 97, 102, 103, 104, HO, lU— 119, 128, 132, 133
145, 149, 150, 155—158 etc.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 233
gekrönte Erhabenheit" und der „Schmutz", das „göttliche Schwei-
gen" und die „laute Rede". Es unterliegt kaum einem Zweifel, dass
das Entstehen und Verschwinden, die Erdgestalt und das Sonnen-
gesicht, an die Philosophie der „Thoren" erinnert. Die „un-
erschütterliche Ruhe" weist offenbar auf die Philosophie des „Par-
menides" hin. Die Zwietracht und Eintracht, die Eile und Weile,
der Mord und Streit, der Schlaf und die Wachsamkeit, Erhabenheit
und Schmutz, Schweigen und Rede repräsentiren offenbar die An-
schauungen der Wankelmüthigen. In den Versen 36 — 57 spricht
er dann von der Unzulänglichkeit des menschlichen Geistes und
kritisirt das eitle Prahlen Derer, die sich rühmen, „das Ganze" ge-
funden zu haben. Es giebt Leute, die in ihrer heissen Begier
nach einem Platze auf dem Throne der Weisheit sich zu Behaupt-
ungen verleiten lassen, die über die Grenzen der Bescheidenheit
hinausgehen, Leute, die die eine Sinneswahrnehmung der anderen
vorziehen, oder die Sinnesorgane hinten anstellen und sich auf den
sterblichen Verstand verlassen. Empedokles nimmt gern alles hin,
w^as er mit seinen fünf Sinnen erforschen und ausfinden kann,
während er daneben die Existenz einer höheren göttlichen Ver-
nunft anerkennt.
Nun kommt er zu seiner These ^*). Es giebt vier Grundwurzeln
„aller Dinge", und dies muss man zuerst wissen, nämlich Feuer,
Wasser, Erde und Luft. Aus diesen vier Elementen besteht Alles,
was „war" und was „sein wird" und die Dinge, die „jetzt sind".
Diese vier Grundelemente sind einem doppelten Lauf unterworfen.
Einmal werden sie aus ihrer gesonderten Lage genommen und
zusammengehäuft, so dass sie „ein Ganzes" ausmachen, und zu
einer anderen Zeit gehen sie wieder auseinander und aus dem
einen Ganzen werden wieder vier Haufen. Dieser zweifachen Be-
wegung entsprechend giebt es auch ein zweifaches „Entstehen" und
ein zweifaches „Vergehen" der sterblichen Dinge. Das eine Ent-
stehen und Vergehen findet statt, wenn die Vereinigung des Alls
Dinge erzeugt und wieder zerstört. Und das andere Entstehen und
Vergehen kommt zustande, wenn während der Trennung der Ele-
3*) V. 59.
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV, 2. Iß
234 Ernst Chr. Hch. Peithmann,
mente Dinge ernährt und wieder aufgelöst werden'''). Und diese
vier Elemente, im fortwährenden Wechsel begriffen, nehmen nie
ein „Ende". Einmal kommen alle vier in Liebe zu „einem Ganzen"
zusammen und zur anderen Zeit hinwiederum werden sie durch
den „Hass" der „Zwietracht" von einander abgesondert. So haben
die Elemente sich gewöhnt einerseits aus mehreren „Eins" zu
werden und andererseits, wenn „das Eine" sich auflöst, entstehen
wieder mehrere. Von einem Gesichtspunkte aus „entstehen" sie
daher und haben keine „unerschütterliche Dauer". Aber soweit
sie, im fortwährenden Wechsel begriffen, niemals ein Ende nehmen,
insofern „sind" sie immer im „unbeweglichen" Kreislauf. Unter
den vier Elementen ist also der verhängnisvolle Hass und auf der
andern Seite die Liebe thätig, beide den Elementen gleich an
Länge und Breite. Diese Liebe ^*) nun kann man nicht voll Er-
staunen mit den Augen erschauen, sondern man kann sie nur mit
der Vernunft wahrnehmen. Die Liebe ist dieselbe, welche auch
den menschlichen Gliedern eingeboren ist und kraft ihrer Wirksam-
keit sind die Menschen friedlich gesinnt und verrichten gleichartige
und einträchtige Werke. Sie geben ihr den Beinamen Frohsinn
und Aphrodite. Aber obwohl sie durch das Weltall dahinfährt,
hat noch kein Sterblicher sie kennen gelernt. Die vier Elemente
sind alle gleich stark und gleich alt, doch jedes hat seine eigene
Aufgabe und hat seine besonderen Eigenschaften. Und sie herrschen
im Wechsel, während der Kreislauf sich vollzieht; sie verschwinden
in einander und werden zusammengehäuft im Wechsel des Schick-
sals. Ausser diesen vieren entsteht nichts und sie selbst vergehen
nicht. Denn wenn sie gänzlich vernichtet würden, so „wären" .sie
schon längst nicht mehr. Und was giebt es und woher sollte es
kommen, das dies Weltall vermehren könnte? Und wie können
sie vernichtet werden, da sie das All ausfüllen? Nein, diese vier
„sind" (und bleiben) in der That, aber indem sie durcheinander
laufen, werden sie bald dies und bald das, immer sich selbst
ähnlich^').
") y. 02—66.
36) V. 80—87.
") V. 87—97.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. ' 235
Empedocles giebt hier eine werthvolle Erklärung und Ein-
schränkung des Parmenideischen „unbeweglichen Seins" und auch
des sogenannten „Einen". Aus dem Gedicht des Empedokles wird
es bestätigt, dass Parmenides mit dem „einen Ganzen" nur diese
unsere Welt meinte. Empedokles sagt: Ja, Parmenides hat
Recht, wenn er sagt, dass diese Welt als Ganzes genommen nie-
mals entstanden ist und niemals vergehen wird, sondern dass sie
unveränderlich und unbeweglich „ist". Die vier Elemente nämlich
in ihrem ewigen Kreislauf „hören nimmer auf", sondern „sind"
immer, und das wollte Parmenides in der That nur sagen, dass
diese Welt als Ganzes genommen „immer ist". Und Parmenides,
so fährt Empedokles fort, hat ferner darin Recht, dass nichts zu
dieser Welt hinzukommen und dass nichts davon verschwinden
kann, sondern dass sie in ihren Grundelemeuten „sich immer gleich
und ähnlich" bleibt.
Daneben kann man aber doch auf der anderen Seite nicht
leugnen, dass innerhalb des unerschaffenen unzerstörbaren Welt-
alls ein fortwährender AVechsel stattfindet. Hier steht nun Empe-
dokles auf der Seite der „Wankelmüthigen", wenn er behauptet,
dass es abwechselnd eine Sammlung und eine Zerstreuung des
Weltalls giebt. Zwei gewaltige Kräfte sind die Ursache dieser
fortwährenden Veränderung: Liebe und Hass, Anziehung und Ab-
stossung. Ihr Einfluss ist verantwortlich für die wechselnden
Formen und Erscheinungen, die wir täglich vor unseren Augen
sehen und die niemand leugnen kann. Durch diesen zwiefachen
Prozess der Vereinigung und Trennung kommen die sogenannten
„sterblichen Dinge" ins Dasein. Und zwar giebt es ein doppeltes
„Entstehen und Vergehen" der vergänglichen Erscheinungen. Sie
kommen einmal ins Dasein, wenn das Weltall sich auf dem Wege
der Vereinigung befindet, und zweitens, wenn es sich wieder auf-
löst in die vier Elemente. In diesem Punkte nun sind gewisse
Leute, die er „Dumme" (xaxci) und „Thoren"^*) nennt, sehr im
Irrthum. Absolutes Entstehen und absolutes Ende im „verhängniss-
vollen Tode" ist undenkbar und unmöglich für irgend eins unter
38) V. 105—119.
16*
236 Ernst Chr. Heb. Peithmann,
den sterblichen Dingen, und es giebt iu Wirklichkeit nur eine
Mischung und eine Trennung des Gemischten. Denn es ist un-
möglich, dass etwas entstehen sollte aus dem, was „nicht ist", und
ebenso ist es unthunlich, dass das, was „ist", zerstört werden
sollte. Denn was „ist", wird immer da sein, wohin man es auch
immer stossen mag. Man kann mit andern Worten mit einem
Dinge, das existirt, aufstellen, was man will, man kann es nie ans
der Welt bringen etwa durch Vernichtung: denn Vernichtung giebt
es nicht. Aber für die Unwissenden ist es schwer, dies zu glauben.
Sie sagen, wenn etwas in der Gestalt eines Menschen ans Tages-
licht kommt oder die Form der wilden Thiere annimmt oder der
Pflanzen oder der Vögel, das wäre absolutes „Entstehen". Und
wenn diese Dinge sich später wieder auflösen, so nennen sie dies
in unzutreffender Weise den „unglücklichen Tod". Und ich selbst,
so sagt Empedokles, folge dieser Gewohnheit um der Andern willen.
Aber solchen Leuten fehlt es an der klaren Vernunft, wenn sie
hüft'en, dass etwas, was „nicht ist", „entstehen" soll, oder dass
etwas sterben und „gänzlich vernichtet" werden kann. Ein weiser
Mann kann nie der Ansicht beipflichten, dass so lange die Sterb-
lichen „leben", was sie so Leben nennen, so lange „sind" sie und
erleben Glück und Unglück; aber bevor sie zusammengesetzt sind
und nachdem sie wieder aufgelöst sind, „sind sie nichts".
Hier haben wir nun genaue Angaben über die Philosophie
jener „Sterblichen", die Parmenides schon bekämpfte. Sie be-
haupten, dass die sterblichen Wesen auf dieser Welt nicht immer
gewesen sind, sondern es gab eine Zeit, in der sie „nicht waren",
wo man also von ihnen sagen musste: „sie sind nicht". Ebenso
wird die Zeit kommen, in der sie verschwinden und es von ihnen
wieder heissen wird, „sie sind nicht". Die Lebensgeschichte aller
sterblichen Wesen ist also wie folgt: 1. sie „sind nicht", 2. sie
werden zusammengesetzt (oder „werden geschaffen", wie jene
sich ausdrücken), 3. sie leben eine Zeit lang und „sind", '4. sie
werden wieder aufgelöst (oder „werden vernichtet"), 5. sie
„sind nicht".
Parmenides hatte hierauf geantwortet, dass man nicht auf die
einzelnen Dinge blicken darf, sondern dass mau das Ganze stets
>
Die Naturphilosophie vor Sokrales. 237
vor Augen halten muss, denn die Welt ist iu der That nicht zu-
sammengesetzt aus vielen Dingen, sondern sie ist nur „ein Ding".
Und wenn man dies beachtet, so ist es klar, dass es nie eine Zeit
gab, in der man von dem Weltall sagen konnte, „es ist nicht",
noch wird es je eine solche Zeit in der Zukunft geben. Das
W^eltall ist eben ohne Anfang und Ende, ist nie ins Dasein ge-
kommen, noch wird es je aus dem Dasein verschwinden, sondern
„es ist", d.h. „es ist immer". Empedokles sagt, Parmenides hat
völlig Recht, dass die ganze Masse des Weltalls unvergänglich und
ewig ist, aber „die Menschen" haben auch Recht, wenn sie von
^^sterblichen Wesen" reden. Nur haben sie keine klare Vorstellung
von der Geschichte dieser „sterblichen Dinge". Sie meinen z. B.,
wenn ein Mensch ins „Leben" tritt oder ein Thier oder Strauch
oder Vogel ins Dasein kommt, dass diese Dinge „aus nichts ent-
standen sind". Sie heften also, dass etwas werden kann, was
vorher „nicht war", oder dass etwas entstehen kann aus gar
nichts. Nur ein Thor kann so etwas glauben. Wenn der Vogel
ins Leben kommt, so heisst das eben nur, dass er aus gewissen
Theilen oder Elementen, die aber schon da waren, „zusammen-
gesetzt ist". Auf der anderen Seite haben diese Menschen die
Ansicht, dass, wenn ein Vogel stirbt, er gänzlich „vernichtet wird",
so dass nichts übrig bleibt. Aber in Wirklichkeit ist dies nur
eine Auflösung in die ursprünglichen Theile, aus denen er zu-
sammengesetzt war. Die vorübergehende Zusammenstellung „ver-
geht", aber die elementare Substanz bleibt und ist unzer-
störbar.
Hiermit ist das grossartige philosophische System des Empe-
dokles in seinen CTrundzügen gegeben, und was von S. 120 au
folgt, ist nur eine weitere Ausführung dieses Gedankens in seinen
Einzelheiten. Es ist seine Aufgabe ofi'enbar, Beispiele und Ver-
gleiche und „Beweise" zu bringen für seine allgemeine Regel, die
im ersten Theile ausgesprochen ist. Es wird genügen, auf die in-
teressantesten Punkte hinzuweisen. Die Geschichte des AVeltalls
mag am besten verglichen werden mit der Arbeit des Malers^').
39) V. 134—144.
238 Ernst Chr. Hch. Pcithuiauu,
Die Farbeu, die er gebrauchen will, stehen fertig da in ver-
schiedenen Töpfen. Er nimmt diese Farbeu und mischt sie zu-
sammen in passender Weise, bald nimmt er mehr von der einen
und bald von der anderen Farbe, und so macht er aus dem weni-
gen Material alle möglichen Gestalten und Wesen, malt Bäume,
Männer, Frauen, wilde Thiere, Vögel, Fische und selbst Götter.
Die Verschiedenheit der Gestaltung hängt nur ab von der ver-
schiedenen i\Iischung. Gerade so geht es in der grossen Welt
draussen. Die vier Grundelemente aller Dinge sind zuerst da: sie
sind früher da gewesen und werden sein, ja, der unendliche Zeit-
raum wird nie und nimmer ihrer entbehren. Aber sie sind einem
ewigen periodischen Wechsel unterworfen, während der Kreislauf
der Zeiten sich vollzieht. Sie allein haben unerschütterliche
Existenz und aus ihnen ist alles gemacht, was war und was ist
und was später sein wird. Während der Herrschaft des Streits
nehmen sie alle ihre besondere Form an und sondern sich ab von
einander, und wenn die Liebe die Oberhand fand, haben sie das
Verlangen nach gegenseitiger Einigung, um zuletzt „eine Welt" zu
bilden.
Von V. 163 an giebt er nun eine Schilderung von der Bildung
der gegenwärtigen Welt. Nachdem im Laufe der Zeiten das Welt-
all, welches eine unbewegliche, völlig ausgefüllte, nach allen
Seiten unendliche Kugel darstellt, lange genug unter der Herrschaft
des Hasses sich befunden hatte, war das Ganze zersplittert in seine
vier Elemente. Die Kugel, die vorher fest zusammengepresst war
in der engen Umarmung der Liebe, war allmählich durch die um
sich greifende Thätigkeit des Hasses auseinander gerissen. Aber
die trennende Wirksamkeit des Hasses hatte doch zuletzt ihren
Höhepunkt erreicht und er entwich zu der untersten Tiefe des
Strudels, und es gelang der Liebe, sich im Centrum wieder fest-
zusetzen. Unter ihrem anziehenden und gewinnenden Eiulluss be-
ginnt alles wieder zusammenzueilen zu einem Ganzen, nicht auf
einmal, sondern ganz allmählich sich ansammelnd von allen Rich-
tungen. So beginnt eine neue Periode sterblicher Wesen. Die
Elemente, die vorher in ihrer Trennung „unveränderlich" und „un-
sterblich" gewesen waren, werden jetzt gemischt und sind dann
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 239
wieder „sterblich". Was vorher ungemischt war, wird nun wieder
gemischt, indem Alles einen neuen Kreislauf beginnt. Und
während nun die allmähliche Mischung stattfindet, kommen un-
.zählige Schaaren von „sterblichen Wesen" ins Dasein, allen denk-
baren und möglichen Formen angepasst, ein Wunder anzusehen.
Noch ist der Streit nicht ganz vertrieben aus dem Weltall. Aber
die Liebe hat das Scepter in den Händen. Sie wird endlich gänz-
lich den Sieg davontragen, und die Welt wird dann wieder eine
rundliche gleichmässige Kugel bilden, nach allen Seiten unendlich
und von allen Seiten gleich, „jauchzend über die allseitige Ruhe".
Empedokles fährt fort, die Entwicklung des Weltgebäudes *")
zu beschreiben, indem er offenbar der Methode der sogenannten
„Sterblichen" des Parmenides folgt. Er berichtet über den Ur-
sprung der Sonne und aller sichtbaren Dinge, der Erde und des
Meeres und des Aethers und der Luft. Er behandelt die Frage,
ob die Tiefen der Erde und des Aethers unendlich sind, wie ge-
wisse Sterbliche behauptet haben. Er erklärt die wunderbare Ein-
richtung des Auges*') und den erstaunlichen Vorgang des Athmens")
und den räthselhaften Ursprung*') der Sinneswahrnehmungen und
manche andere physikalische und physiologische Erscheinungen.
Zuletzt fügt er auch noch eine kurze Abhandlung über die Götter
hinzu ").
Dies ist das tiefsinnige System des grossen Agrigentiners in
seinen allgemeinsten Umrissen. Es ist nicht nöthig, weiter in die
Einzelheiten zu gehen, da diese in jeder Geschichte der Philosophie
gefunden werden können. Die Hauptsache ist, dass wir den all-
gemeinen Gang der Gedanken und die eigentliche Absiebt des
Dichters klar vor Augen haben. Die Frage, um die sich Alles
dreht, ist otYenbar die, ob diese Welt als Ganzes vergänglich
ist oder unvergänglich, ob sie einen Anfang und ein Ende
hat, oder ob sie immer gewesen ist und immer sein wird,
^0) V. 233 ff.
*') V. 220— •221).
42) V. 343 - 367.
*^^ V. 378—382.
**) V. 385—396.
240 Ernst Chr. Hell. Peithmann,
SO dass der Krciölaiü' der Zeiten .sie immer voriindou wird. Die
zweite BVage ist, ob die ciiizeluen Dinge, die in der Welt er-
scheinen und wieder verschwiadeu, aus nichts entstehen und
in nichts vergehen, oder ob sie in irgend einer andern Form
vorher und nachher existiren. Von den vier Grundwurzehi
nun, aus denen das Weltgebäude zusammengesetzt ist, kann man
ohne EinschränkuDg sagen, dass „sie sind", wie Parmenides sich
ausdrückte. Das heisst, sie „sind immer" und bleiben immer
dieselben im unbeweglichen Kreislauf. Sie „sind immer gewesen"
und w^erden immer „sein" für alle Zeiten. Nicht das geringste
Stäubchen kann hiuzugethan werden und nicht ein Härchen kann
von ihnen verloren gehen. Könnte etwas davon vernichtet werden,
so würde die Welt längst schon vernichtet sein, und die Elemente
würden nicht mehr existiren. Und wohin sollten sie verschwinden,
da „Alles" mit ihnen angefüllt ist, es also nirgendswo einen leeren
Raum giebt. Und woher sollte neues Material kommen, um das
Weltall etwa zu vermehren? Denn es giebt weiter nichts als dies
unendliche „All". Nein, was ist, ist und bleibt für immer,
und nichts Neues kann hinzukommen, denn was nicht ist, muss
für ewige Zeiten „nicht sein".
Aber nun giebt es Leute, die behaupten z. B., dass einzelne
Dingo, wie Menschen, wilde Thiere, Sträucher und Vögel, ins
Dasein kommen und wieder verschwinden. Thoren, die sie sind!
Diese lebenden Wesen können doch nicht aus gar nichts kommen
und sie können doch nicht bei ihrem Tode in nichts aufgehen!
Nein, wenn Thiere ins Leben treten, so werden sie nur einfach
„zusammengesetzt" aus den betreffenden Elementen, die schon da
sind; und wenn sie sterben, so lösen sie sich nur wieder auf in
ihre Elemente. Denn die Elemente sind unter der Einwirkung
zweier Mächte, der Liebe und des Hasses, die zu gleicher Zeit, ob-
wohl in verschiedener Weise, ihren Einfluss ausüben. Die Welt
geht abwechselnd durch entgegengesetzte Entwickelungsstufen. Das
eine Mal zieht die Liebe das Weltall in eine einheitliche Masse
zusammen, und das andere Mal reisst der Ilass die vier Elemente
wieder auseinander. Einmal haben wir daher die vier Elemente
ganz vermischt und das andere Mal haben wir sie gänzlich ge-
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 241
schieden. Iii diesen zwei Punkten lien\scht offenbar völlige Ruhe.
Aber iu den beiden Entwickelungsstufeu dazwischen, auf dem
Wege zur Vereinigung und zur völligen Trennung, kommen die
sterblichen Wesen ins Dasein: Es ist die Folge des doppelten
Einilusses der Liebe und des Hasses, dass kurze vorübergehende
Vereinigungen der Elemente stattfinden. Es ist, als wenn zwei
gleich starke Kämpfer mit einander ringen: bald hat der eine
einen Vorsprung, bald der andere: ein fortwährend wechselndes
Bild. Gerade so geht es mit den Thieren und Pflanzen, die ins
Dasein kommen. Das eine Mal zieht die Liebe die Elemente zu-
sammen, das andere Mal löst sie der Hass wieder auf. Man kann
daher nicht sagen, dass die Thiere vor ihrem Entstehen „nicht
sind". Die Elemente, aus denen sie gemacht sind, sind und
bleiben dieselben für alle Zeiten: sie werden nur vorübergehend
zusammengezogen und wieder aufgelöst.
Was also die Streitfrage anlangt, ob die Welt unsterblich ist
oder sterblich, so sagt Empedokles: Alle Erscheinungen und Dinge
in dieser Welt sind vergänglich und sterblich. Aber die vier
Elemente, aus denen alle Dinge gemacht sind, siud unsterb-
lich und ewig! Die andere Frage war, ob die Welt beweglich
ist oder unbeweglich. Die Welt in ihren einzelnen Theilen ist in
unausgesetzter Bewegung und Veränderung während der beiden
Perioden, in denen Liebe und Hass herrschen. Jeden neuen
Augenblick zeigt sie uns ein neues Bild. Aber das Ganze bleibt
unbeweglich gleich, insofern nichts hinzukommen kann und nichts
verloren gehen kann. Ausserdem giebt es zwei scheinbar anhaltende
Perioden der Ruhe, wenn die Liebe oder der Hass absolute Allein-
herrschaft ausübt.
Die Frage, ob die Welt „eins" ist oder mehrere, beantwortet
er, wie folgt.. Zur Zeit, wenn die Liebe völlige Oberhand hat, ist
die Welt „eins", wie Parmenides behauptete; wenn der Hass das
Scepter hält, giebt es „vier" grosse Abtheiluugen in der Welt. In
den Zwischenzeiten giebt es „Myriaden" ^^) von verschiedenen
lebenden Wesen. Die Frage nach dem „Sein" und „Nichtsein"
*5) V. 204.
242 Ernst Chr. ITch. Peithmann,
erledigt er in ähnlicher AVeise wie Parmenides. Nur die Thoren
können sprechen, dass es eine Zeit giebt, wo die Dinge „nicht
sind", nämlich vor der Entstehung und nach dem sogenannten
,,uugliicklichen Todesschicksal", dass die Dinge also nur „sind",
so lange sie „leben", was man so „leben" nennt. In Wirk-
lichkeit leben die Dinge immer und „sind immer", denn die Ele-
mente, aus denen sie zusammengesetzt sind, „sind'' und „waren"
und „werden sein".
4. Rückblick.
Damit haben wir die beiden wichtigsten Denkmäler der vor-
sokratischen Philosophie erörtert. Sie sind die wichtigsten Denk-
mäler erstens, weil sie in Poesie verfasst sind und deswegen den
Text im Grossen und Ganzen unverändert bewahrt haben, zweitens,
weil sie uns das meiste Material bringen über die älteste Philo-
sophie infolge des polemischen Charakters, den beide Gedichte
tragen; drittens, weil sie von zwei der grössten philosophischen
Köpfe, die die Welt je gesehen hat, verfasst sind. Wir können
uns daher hier ein wenig ausruhen und zusehen,* was für ein Bild
wir von der ältesten Philosophie gewonnen haben.
Eine Thatsache ist klar: die Frage ist hier nicht in erster
Linie: was ist das „Princip" aller Dinge, oder welches ist die
„Ursache" aller Dinge? Die eigentliche Frage ist: was ist der
Ursprung und das Schicksal und die Bestimmung der
Welt und der Dinge, die darinnen sind? Ist diese Welt
immer gewesen, oder hat sie einen Anfang genommen? Wird sie
immer sein, oder wird sie ein Ende nehmen? Wolier kommen die
Dinge, die auf dieser Erde erscheinen und wieder verschwinden?
Kommen sie aus Nichts und verschwinden sie ins Nichts? Das
heisst, kann man sagen, dass Dinge zu einer gewissen Zeit „nicht
waren" und zu einer anderen Zeit „nicht sein werden", kurz,
giebt es ein Nichtsein der Dinge? Giebt es überhaupt einen
Wechsel uud eine Veränderung in dieser Welt, oder ist sie
unbewegt? Giebt es das, was die ^lenschen gewöhnlich „Tod"
nennen? Giebt es kurz ein „Entstehen und Vergehen"? Alle diese
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 243
Fragen werden vou den verschiedensten Leuten verschieden be-
antwortet.
a) Ursprünglich gab es offenbar eine Reihe von Leuten , die
meistens nur allgemein als Sterbliche oder Thoren bezeichnet
werden, die eine sehr ungenügsame und für die späteren Philosophen
abstossende Philosophie vertraten. Sie behaupteten, dass „alles"
„vergänglich" ist; dass Dinge „entstehen und vergehen" im un-
endlichen Wechsel der Weltgeschichte; dass Alles, was wir um uns
sehen, erst „nicht ist", dass es dann ins Dasein kommt oder
„entsteht", dass es für eine gewisse Zeit lebt oder „ist", um
endlich wieder zu „vergehen" und „nicht zu sein". Dies Auf-
einanderfolgen von „Nichtsein" und „Sein", von Leben und
Tod findet nicht nur statt für Menschen und Tiere und Pflanzen,
sondern das ganze Weltall ist dereinst ebenso entstanden. Es gab
eine Zeit, in der sich diese ganze Welt entwickelte und ins Dasein
trat" sammt Erde und Sonne und Mond und Sternen. Und diese
Philosophen, wenn wir sie so nennen dürfen, gaben auch eine
genaue Rechenschaft darüber, „wie" diese Weltkörper „entstanden
sind", obwohl die betreffenden Angaben nicht im Parmenides und
Empedokles erhalten sind. Und wie dieses Weltall früher ins
Dasein gekommen ist, so wird es auch dermaleinst wieder „ver-
gehen", nachdem es seine „Blütheperiode" erreicht hat, und es wird
keine Spur mehr davon zu finden sein wie die Blume, die „verwelkt
und ihre Stätte kennet sie nicht". Dies ist in der That eine
melancholische Philosophie. Sie lässt keinen Stein unbewegt.
Nichts, worauf man sich verlassen kann. Alle Dinge sind nur
wie Seifenblasen, die sich bilden und wieder vergehen, ohne Etwas
zurückzulassen. „Nichtsein und Sein, Sein und Nichtsein"
lösen sich ab in ununterbrochener Reihenfolge. In der
That eine „verhasste und unglückselige" Philosophie.
b) Aber schon vor Parmenides gab es Leute, die dagegen auf-
getreten waren. Parmenides nennt sie „die Wankelmüthigen" oder
Zweiköpfigen. Sie versuchen, den Gegensatz von „Sein und Nicht-
sein" zu überwinden, indem sie behaupten, dass beide eins und
dasselbe sind und hinwiederum nicht dasselbe*''). Sie behaupten.
46
) Parm. V. 50, 51.
244 Erust Chr. Hch. Peilhraaun,
dass die Bewegung in der Wcltgcsclüchtc nicht immer nach einer
Richtung verläuft, sondern dass die Bewegung vorwärts und rück-
wärts geht, dass die Dinge also am Schluss wieder da an-
kommen, wo sie zuerst anfingen. Nach ihrer Anschauung
gab es nie eine Zeit, wo diese Welt „nicht war", noch wird die
Zeit kommen, in der sie „nicht mehr ist": nein, sie war immer
und wird immer sein^^. Der Wechsel ist nur ein „Zerstreuen
und Sammeln-'*^), ein „Zertheilen"^^) und Zusammenfügen, es ist
nur ein Wechsel des „Ortes und der Farbe''"), nur ein Addiren
und Subtrahiren. Alles, was stattfindet, ist ein „hier und da""),
ein „mehr und weniger" ^0- ^^'^s die Leute „Nichtsein" nennen, ist
daher nur „Sein" in einem anderen Sinne: Nichtsein und Sein ist
dasselbe!
c) Parmcnides tritt nun beiden Anschauungen scharf entgegen.
Gegensätze, sagt er, kann mau nicht ausgleichen oder für identisch
und gleich erklären. Entweder muss man sich für das „Sein"
erklären oder für das „Nichtsein"! Ein Ding, das „nicht ist",
kann nie „sein". Ein Ding, das ist, kann nie und nimmer „nicht
sein", sondern was „ist", „ist" immer. Die Welt ist nicht
zusammengesetzt aus verschiedenen Dingen, sondern sie ist nur
„Eins". Und dies „Eine" ist nie ins Dasein gekommen und wird
nie aus dem Dasein schwinden. Es ist unvergänglich und un-
beweglich, ohne Anfang und Ende. Unu kann die Welt aber nur
verstehen, wenn man sie so als eins ansieht"), wenn man das
scheinbar Abwesende und Entfernte als gegenwärtig ansieht und
sagt, dass die Welt „ist" allzugleich in untheilbarer fort-
laufender Gegenwart. Sobald man von Vergangenheit und
Zukunft, von einem Hier und Da spricht, fällt das \Veltall in
Stücke und man kommt dann nothwendigerweise zu einer
") Parra. Gl, 75, 7G.
<8) Y. 92, 93.
") V. 78.
50) V. KU.
•■•1) V. 79.
52) V. 79, 80.
") V. 90.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 245
Philosophie, wie sie die Sterblichen aufgestellt haben*^). Aber
wenn man mit der \^ernunft das Ganze im Auge behält, so kann
man einfach sagen: „es ist", d. h. es ist ohne Unterlass. Ein
„Nichtsein" giebt es da nicht.
d) Nun kommt Empedokles. Er greift zurück zu der Theorie
vom „Sammeln und Zerstreuen", vom einfachen Wechsel des
Ortes und der Farbe. Parmenides geht ihm zu weit. Man mag
es noch so lebhaft versuchen, den Unterschied von Zeit und Ort
aus der Vorstellung zu verbannen, mau bringt es nicht fertig. Es
ist ein Unding, den Wechsel in der Welt leugnen zu wollen.
Parmenides hat recht, dass als Ganzes genommen die Welt un-
veränderlich und ewig ist. Und die „Thoren" irren sich,
wenn sie von der Möglichkeit sprechen, dass Etwas „nicht ist".
Was nicht ist, kann nicht werden und was „ist", kann nimmer
aufhören „zu sein". Die vier Elemente „sind" daher unveränderlich,
die einzelnen Dinge kommen nur zu Stande durch Zusammen-
setzung und Trennung der Elemente: sie können unmöglich
aus „nichts" kommen. Das All ist unvergänglich, aber die
sterblichen Dinge sind vergänglich. Und doch sind beide
dasselbe. Das All löst sich auf in die Vielheit der Myriaden von
sterblichen Dingen und alles Sterbliche sammelt sich wieder in
die unsterblichen Elemente oder das unsterbliche „All" oder
„Eins".
5. Der Tod kann nicht tödten.
Hier sind uns nun die Grundideen der vorsokratischen Philo-
sophie klar geworden und wir können es jetzt wagen, eine Arbeit
zu unternehmen, deren Vollendung vielen Doxographen und Gerichts-
schreibern als aussichtslos erschienen ist. Es ist die Philosophie
des Heraklit") von Ephesus. Viele Forscher haben ihn einfach
„den Dunklen" genannt und nicht versucht, seine Philosophie zu
analysiren. Andere haben alle Bruchstücke discutirt und neben
einaudergestellt, ohne ein einheitliches System daraus zu macheu.
'*) 61, 75, 76.
") Mullach r, 315.
246 Ernst Chr. Hch. Peithmann,
Manche haben Einzelheiten herausgegriffen und das Uebrige un-
Ijeriicksichtigt gelassen. Wer die Ausdrücke, die Parmeuides den
sogenannten „Wankelmiithigen" zuschreibt, im Gedächtniss hat und
sie vergleicht mit den Ausdrücken des Heraklit, kann keinen
Augenblick zweifeln, dass Heraklit der Anführer jener Partei ist.
Die Ausdrücke izikziv te -/.cd oux sivat xau-ov xou -aütov — ravrtuv
7:aXivTp07:os scjti xsXsu^o? — r,v xal sstat — e^evsto (= f,v) itikksi
£cj£csi)at — otatpsTov s3Tt axiSvaasvov xal auvtöTajxsvov etc., dieParmenides
jener Partei zuschreibt, linden sich fast wörtlich im Heraklit wieder.
Aber ein gründliches Studium der Heraklitischen Fragmente wird
auch zeigen, dass Heraklit in der That den Versuch macht, die
Gegensätze in der Philosophie Derer, die von Entstehen und Ver-
gehen, von Leben und Tod, von Sein und Nichtsein sprechen,
auszugleichen oder zu überbrücken. Er tritt offenbar einer Gruppe
von Leuten entgegen, die Ausdrücke gebrauchen wie ßt'o? und
ftavaTO?, Cv und Ovr^sxstv, ^öjv und -eövr^xo?, "yv-j-votJEva rav-a und
oi79i)£ip6[Xcvo!, oux T^v uud OUX laTctt, oux etjxt ast u. s. w., kurz
Leuten, die auf die Vergänglichkeit des Lebens den Nachdruck
legen und behaupten, dass Tod und Leben unversöhnliche und
unvereinbare Gegensätze sind, dass alle Dinge entstehen und
wieder vergehen. Es kann kaum ein Zweifel bestehen, dass diese
Leute genau dieselben sind, wie die Gegner des Parmenides und
des Empedokles. Wenn uns diese Absicht des' Heraklit klar wird,
dass er den Gegensatz von Leben und Tod als scheinbar nach-
weisen will, so werden wir alle Fragmente leicht deuten können.
Sein Bestreben ist in der That dasselbe wie das des Parmenides
und Empedokles, nämlich nachzuweisen, dass die Welt und alles,
was darinnen sich findet, unvergänglich und ewig ist. Die Gegen-
sätze mit allen Veränderungen und allem Wechsel sind nur von
untergeordneter Natur: die schroffen Widersprüche in den Einzel-
orsclieiuungen lösen sich in der Harmonie des Ganzen**^) auf-
ist dies nicht der Fall mit allen Erscheinungen auf dieser Welt?
Alles Leben und alle Thätigkeit äussert sich in Widersprüchen.
Immer in demselben Zustande zu verharren ist unerträglich: L'n-
'«) Heraklit, Fr. 40, 37, 38, 93.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 247
Veränderlichkeit ist eine Last, Abwechselung ist eine Erholung^').
Dient nicht die Krankheit dazu, die Gesundheit süss und angenehm
zu machen^^)? Macht nicht der Hunger die Sättigung und die
Arbeit die Ruhe ergötzlich? Kanu Harmonie ohne hohe und tiefe
Töne und können Tiere leben ohne männliches und weibliches
Geschlecht^')? Und alle diese Dinge sind doch Gegensätze. Aber
diese Gegensätze gehören zusammen. Man kann das Ganze und
„Nicht-ganze", das Passende und Unpassende, den Einklang und
und Missklang zusammenbringen: aus Allem wird Eins und aus
Einem wird Alles*'")! Das Widerstrebende ist brauchbar und aus der
Verschiedenheit entsteht der schönste Einklang und Alles geschieht
in der Form des Streites. Gott ist es, der hinter allen diesen
Widersprüchen verborgen ist und Alles zum Besten lenkt und in
Einklang auflöst. Gott ist Tag und Abend, Winter und Sommer,
Krieg und Frieden, Hunger imd Sättigung*^'). Alle Dinge sind
daher im Grunde genommen dasselbe®'). Alle Erscheinungen haben
dasselbe Wiesen zu ihrer Grundlage und sind daher eins. Deswegen
ist es der Sibylla*'^) auch möglich, in ihren Prophezeiungen einen
Zeitraum von tausend Jahren zu durchmessen, denn der Gott, der
alle Dinge zusammenhält, ermöglicht es ihr. Dieses „Gemeinsame"®*)
in allen Dingen ist von grösster Wichtigkeit und darauf beruht
eben die Idee des Staates. Denn alle menschlichen Gesetze w^erden
von dem „einen" göttlichen Gesetze genährt. Das ist wahre
W^eisheit, zu wissen, dass alle Dinge eins und dasselbe sind und
die Vernunft zu kennen, die Alles durch Alles steuert®^). Ist nicht
der Weg aufwärts und abwärts derselbe? Ist nicht der ^Veg des
Griffels, obwohl krumm und gerade, doch ein und derselbe®®)?
^') Fr. 66.
58) Fr. 47.
59) Fr. 4G.
60) Fr. 45.
c) Fr. 86.
62) Fr. 89, 92, 45.
«3) Fr. 10.
^) Fr. 19.
«) Fr. 55.
««) Fr. 91.
248 Ernst Chr. Hch. Peithmann,
Das unveränderliche Princip, das sich in den mannigfaltigen Er-
scheinungen offenbart, wird mit vielen Namen bezeichnet: es wird
genannt Gott, Vernunft, Verstand, Gesetz, Harmonie, Gerechtigkeit,
das Gemeinsame, Feuer, Blitz u. s. w. Dies Feuer offenbart sich
in der Welt in den mannigfaltigsten Formen und Gegensätzen und
alle Dinge sind nur verschiedene Erscheinungen dieses einen
Wesens. Jeden Augenblick bietet die Welt daher einen neuen
Anblick. Nicht zweimal kauu man daher in denselben Fluss
steigen, weil neues Wasser herzufliesst , obwohl es derselbe Fluss
bleibt^')- Die Veränderung der Dinge ist daher kein absoluter
Wechsel, sondern nur eine neue Daseinsforra desselben alten Dinges.
Die Sonne ist jeden Tag neu und doch bleibt es die liebe alte
Sonne'^^). Dasselbe unvergängliche Wesen, das der Welt zu
Grunde liegt, nimmt nur verschiedene Daseinsformen an, wie das
Feuer seinen Geruch*^') ändert je nach dem Weihrauch, den man
darin verbrennt.
Alles könnte daher in Rauch verwandelt werden und wir würden
es dann durch unseren Geruchssinn wahrnehmen'^). Daher giebt
es denn auch keinen Tod, wie die Menschen annehmen. Denn
ein Ding lebt vom Tode des andern, oder wenn ein lebendes
Wesen stirbt, so geht es nur in eine andere Lebensform über'^).
Für die Seelen ist es Tod, Wasser zu werden, für das Wasser ist
es Tod, Erde zu werden. Aus der Erde wird wieder Wasser und
aus Wasser wird Seele"). In uuserm Leben sowohl wie in
unserm Tode ist daher beides Leben und Tod vereinigt. Denn
weil ein Ding stirbt, lebt das andere. Daher ist das Lebendige
und das Todte geradeso gut dasselbe wie das Wachende und das
Schlafende, oder das Junge und das Alte. Dieses ist die Ver-
änderung von Jenem und Jenes, die Veränderung von diesem.
Alle diese Erscheinungen sind aber nur ein Austausch für Feuer,
«0 Fr. 22.
c8) Fr. 33.
«9) Fr. 87.
™) Fr. 26.
-') Fr. 52.
") Fr. 59, CO, 46.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 249
und Feuer ist wieder ein Austausch für alle Dinge, wie man
Waaren für Geld und Geld für Waaren austauscht. Der Blitz
„hält Haus" über alle Diuge. Das Feuer wird über alle Dinge
kommen und wird sie richten und ergreifen'^). Die wechselnden
Erscheinungen des Feuers aber sind zuerst das Meer und die Hälfte
des Meeres ist Erde und die Hälfte Gewitterwolke. Das Meer wird
ausgeschüttet und wieder zurückgemessen in dasselbe Verhältnisse*).
Alles hat seine Grenzen, und die Sonne wird ihre Grenzen nicht
überschreiten, denn sonst werden die Erinnyen, die Diener der
Gerechtigkeit sie ausfindig machen e^). Die Grenzen der Morgen-
röthe und des Nordpols sind zu finden im Nordpol und gegenüber
dem Nordpol ist die Grenze des feurigen Zeus. Alles hat sein
Mass und seine Grenzen auf dieser Welt. Alle Bewegungen und
alle Veränderungen gehen nur bis zu einem gewissen Grade und
wenden sich dann zurück, so dass diese Welt immer wieder zu
derselben Gestalt zurückkehrt. Eine Erscheinung ist nur die Kehr-
seite der andern: Wenn die Sonne nicht schiene, so wäre es
Abend. Diese Harmonie der Welt ist daher zurückspringend, wie
die der Leyer und des Bogens und sie findet ihren Ausdruck im
Gegensatz. Man muss daher wissen, dass der Krieg etwas Gemein-
sames und Einträchtiges ist und dass Gerechtigkeit Streit in sich
begreift und dass Alles entsteht und vergeht in der Form des
Zwiespaltes e"). Sogar Schönheit und Hässlichkeit, Tugend und
Schlechtigkeit sind nur scheinbare Gegensätze. Der schönste Affe
ist hässlich, wenn man ihn mit dem Menschengeschlecht vergleicht,
und der weiseste Mann erscheint als Affe im Vergleich mit Gott.
Ein thörichter Mann wird von Gott angesehen, wie ein Knabe von
einem Erwachsenen. Das reinste Wasser ist zugleich das
schmutzigste, trinkbar und heilsam für die Fische, für die Menschen
aber untrinkbar und verderblich"). Gut und Schlecht ist dasselbe.
Und die Aerzte, die die Kranken schneiden und brennen, erhalten
") Fr. 49, 50, 51.
?*) Fr. 28, 29.
") Fr. 34, 35.
'fi) Fr. 37.
") Fr. 88. 90.
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV, 2. 1 i
250 Ernst Chr. Hch. Peithmann,
sogar noch einen Lohn, denn sie bereiten Schmerzen, aber thun
damit zugleich etwas Gutes.
Dass alle Gegensätze in der Welt sich also ausgleichen, dass
alle Dinge im Grunde ein und dasselbe sind, nämlich ein
verschiedenes Auflodern desselben Feuers: dies zu erkennen, ist
wahre Weisheit. Dass diese Welt eins ist und dass es nie eine
Zeit gab, in der sie nicht existirte und dass sie für alle Zukunft
fortbestehen wird als ein immerlebendes Feuer, das sich kund-
thut in verschiedenen aufeinander folgenden Flammen: dies ist der
Grundgedanke der Philosophie des Heraklit^^). Die einzelnen Er-
scheinungen mögen wechseln, aber die Vernunft, die in der Mannig-
faltigkeit sich kund thut, „ist immer" "). Aber glauben's die
Leute? dass alle Dinge nach den Satzungen dieser Vernunft „ent-
stehen", ist ihnen ebenso unverständlich, ehe sie es gehört haben,
als wenn sie es zum ersten Male vernehmen. Was Heraklit aus-
einandersetzt, ist nur das Resultat eines gründlichen Studiums des
„Entstehungsprocesses" ^°) (cpuaic) der Dinge. Aber die Masse der
Menschen hat eine falsche Vorstellung von der Natur der Dinge.
Sie sind mit der „Entstehung der Dinge" nur oberflächlich be-
kannt und horchen nicht auf die „verborgenen" Vorgänge. Aber
die Natur liebt es, sich in ihrer Wirksamkeit „zu verbergen" und
die meisten Menschen bleiben deswegen in Unwissenheit über das
Entstehen der Dinge. Aber wenn man nichts weiss, sollte man
wenigstens den Mund halten: man macht sich dann nicht lächer-
lich. Das Schlimmste ist, dass die grosse Menge, die diese Dinge
nicht versteht, obwohl sie sie täglich vor ihren Augen hat, und
die sich auch nicht von Andern belehren lassen will, doch sich
einbildet, weise zu sein. Sie verstehen es nicht zu horchen und
können dann auch nicht recht sprechen. Wenn sie die Ohren auch
offen haben, so sind sie doch taub. Aber wer die Wahrheit aus-
finden will, muss sich darum bemühen. Wer nach Gold sucht,
muss viel Erde umgraben und findet wenig.
7«) Fr. 27.
") Fr 1.
«0) cpiai? Fr. 1.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 251
Aber die Lügner werden schon zur Rechenschaft gezogen
werden, denn die Gerechtigkeit wird sie erfassen. Sie sind zu
träge, in die Heimlichkeiten der Natur sich zu versenken und ihre
Fingerzeige, die mit dem delphischen Orakel zu vergleichen sind,
zu beachten. Sie setzen kein Vertrauen in die Wahrheit und
werden darum für immer in Unwissenheit bleiben. Denn wer
nicht das Unmögliche hofft, wird nie etwas ausfinden, da die
Wahrheit schwer zu finden und unzugänglich ist. Ein Mann mag viele
Einzelheiten lernen, ohne wirklich weise zu werden. So ging es
Hesiod und Pythagoras und Xenophanes und Hekatäus, Pytha-
goras z. B. hat mehr studirt als irgend ein anderer Mensch und
hat sich dann aus Allem seine eigene Weisheit zurecht gemacht,
eine „Vielwisserei", eine schlechte Kunst. Augen und Ohren sind
unzuverlässige Zeugen für einen Mann, der eine barbarische Seele
hat, so dass er die Sinneswahrnehmungen nicht richtig deuten
kann. Die Augen sind freilich noch zuverlässiger als die Ohren.
Aber besser als das Hören mit den äusseren Ohren ist das Horchen
auf die Vernunft: dies allein macht wahrhaft weise und zeigt uns,
dass alle Dinge eins und dasselbe sind, verschiedene Offenbarungen
desselben göttlichen Wesens*'). Weil den Leuten aber dieses
innere Verständniss fehlt, so haben sie solch einen Schrecken vor
dem Tode und sehen ihn als einen Process absoluter Vernichtung
an. Aber wenn sie sterben, so werden sie Dinge ausGnden, die
sich nicht träumen Hessen. Tod ist nur ein Zustand der Ruhe,
wonach alle Seelen sich begierig sehnen. Wenn die Leute drüben
anlangen, werden sie wieder auferstehen®'*) um im Zustande eines
wachenden und klaren Bewusstseins Wächter der Lebendigen und
Todten zu werden. Denn wie die Götter sterblich sind, so sind
die Menschen unsterblich; sie leben den Tod der Andern und
sterben das Leben der andern®*). Daher sagt man mit Recht,
dass die im Kampfe erschlagenen von Göttern und Menschen ge-
ehrt werden. Denn grössere Todesschicksale werden auch grössere
Schicksale eines neuen und fortgesetzten Lebens ernten. Daher
«0 Kr. 1. 2, r,, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 11, V^, 14, 15, 17, 23, 24 etc.
«^) Fr. 54.
»3) Fr. 62, 64, 65.
17*
252 Ernst Chr. Hch. Peithmann,
haben die Menschen auch den dunklen Trieb und das Verlangen
nach dem Tode in sich. Nachdem sie „ins Dasein gekommen
sind", wollen sie leben und ihrem Todesschicksale begegnen oder
vielmehr sie wollen ausruhen und lassen Kinder zurück, die auch
wieder ein Opfer des Schicksals werden ^^). Der „Hogen" (6 ßioc)
hat dieselben Buchstaben wie das „Leben" (6 ßt'oc), aber sein
Werk ist der Tod. Diese Thoren bringen daher in ihrer Un-
wissenheit dem Hades und dem Dion^'sus (dem Gotte des Todes
und des frohen Lebens) besondere Opfer dar, ohne zu wissen, dass
beide eins sind^'). Und so kommen sie zu dem Resultat, dass
wir nur für eine kurze Zeit „sind", nämlich so lange wir leben,
und dass wir nach dem Tode „nicht mehr sind". Aber die Wahr-
heit ist, dass wir zu gleicher Zeit „sind" und „nicht sind".
„Wir sind", was wir früher nicht waren und „sind nicht", was
wir früher waren.
Dies wird genug sein, um uns eine Vorstellung von den
Grundgedanken der Heraklitischen Philosophie zu geben. Es ist
klar, dass das Bestreben des Heraklit ist, die irrthümliche
Idee vom Tode als der Vernichtung des Lebens zu wider-
lesen. Es ist die uns bekannte alte thörichte Ansicht, dass die
Dinge nur für eine Zeit lang „sind" und dann wieder „nicht
sind"; dass auf eine Ewigkeit von „Nichtexistenz" ein Augenblick
von „Existenz" folgt, um dann wieder in eine Ewigkeit von Nicht-
existenz überzugehen. Es ist der alte oberflächliche Glaube, dass
der Tod ein absolutes Ende des Lebens bedeutet, ja dass
nicht nur die einzelnen Dinge dahinwelken und ins nichts ver-
schwinden, sondern, dass selbst das ganze Weltgebäude wie
ein Rauch vergehen wird, um wieder in das Nichts zu ver-
schwinden, aus dem es einst entstanden ist. Diese melancholische
und unbefriedigende Philosophie greift Heraklit an. Diese AVeit,
sagt er, in der alle Erscheinungen dasselbe eine Wesen zum Aus-
druck bringen^"), „war" immer und „wird immer sein",
8*) Fr. Ü6.
85) Fr. 81.
86) Fr. 27.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 253
immerlebendes Feuer, das angezündet wird nach bestimmten Ge-
setzen und Maasseu und wieder ausgelöscht wird nach jenen Ge-
setzen und Maassen. Der Tod hat keinen Stachel, kat keinen
wirklichen Schrecken, denn er bedeutet nur den Uebergang zu
einem erneuten Leben. Dies können wir nur verstehen, wenn es
uns klar wird, dass alle Dinge eins und dasselbe sind, indem
sie zusammengehalten werden durch das Band der Harmonie oder
der Gemeinschaft. Dieses Gemeinsame in allen Dingen ist die
Vernunft: und doch leben viele Menschen, als wenn sie ihre
„eigene Vernunft" hätten. Nennt es, wie ihr w^ollt, Gott oder
Gesetz ' oder Vernunft oder Feuer oder Blitz. Es ist die geheime
Macht, die alle Dino;e steuert und erhält und verbindet. Dies
Feuer flackert auf in immer neuen Flammen, aber jede neue
Flamme ist eine andere Erscheinung der alten. Daher giebt es in
Wahrheit nichts neues auf der Welt. Was scheinbar neu ent-
steht, ist nur ein Wiederaufleben des Alten. Ein Ding lebt den
Tod des andern, d. h. es ist nur eine Verwandlung dessen, was
vorher schon bestanden. Kurz, alle Dinge sind „eins" und dies
„Eine" unterliegt einem unaufhörlichen Wechsel; es ist wie ein
Feuer das nicht verlöscht, sondern flackert und lodert von Ewig-
keit zu Ewigkeit. Der Wechsel in der Welt ist nur ein „Sammeln
und Zerstreuen", ein „Auf und Ab", ein „Schlafen und Erwachen".
x4.ber das Ganze bleibt unveränderlich und ist unvergänglich. Das
Sterbliche ist unsterblich, wie das Unsterbliche auch sterblich wird.
Beide sind identisch Das Unsterbliche offenbart sich in dem Sterb-
lichen und das Sterbliche ist nur eine vorübergehende Daseinsform
des Unsterblichen. Das Unvergängliche ist immer da: „was nie
untergeht, wie kann das einem entgehen?" Und dass den Leuten
dies nicht ganz unbekannt ist. wird dadurch bewiesen, dass sie
von „Gerechtigkeit" sprechen. Dies Wort kann nach Heraklit nur
eine Bedeutung haben, wenn seine Philosophie recht ist.
Dies ist die Philosophie des Heraklit im Auszuge. Wir haben
uns überzeugt, dass die Grundfragen nicht verschieden sind von
denen, die Parmenides und Empedokles beschäftigten. Die Frage
ist wieder: „sterblich oder unsterblich, vergänglich oder
unvergänglich"? Bedeutet der Tod ein Ende, oder einen neuen
254 Ernst Chr. Heb. Peithmann,
Anfang? Wird diese Welt dereinst vergehen oder ist sie unzer-
störbar? Ist diese Welt gemacht und hat sie einen Anfang, oder
ist sie ewig gewesen? Die Antwort ist ebenso entschieden und
entschlossen, wie wir sie von Parmenides und Empedokles ver-
nahmen: unsterblich, unvergänglich, ohne Anfang und
Ende!
Hier haben wir nun wieder eine vorzügliche Probe davon,
wie Aristoteles es verstanden hat, die Philosophie seiner Vorgänger
zu entstellen und in ein falsches Licht zu schieben.
Selbst Plato") trifft den Nagel nicht gerade auf den Kopf.
Nach seiner Darstellung behauptet Heraklit, dass „nichts ist",
sondern „alles wird", dass „alle Dinge sich bewegen wie Ströme",
dass alle Dinge „werden und entstehen und vergehen und sich
verändern", dass „alles fliesst und nichts bleibt" und dass die Welt
der Strömung eines Flusses gleicht, dass die Dinge gehen und
nichts bleibt, dass es nichts gesundes in den Dingen giebt, sondern
dass alles „läuft wie es bei den Menschen der Fall ist, die an
Katarrh leiden", dass die Sonne nicht erlischt, dass der schönste
Affe hässlich erscheint, wenn verglichen mit dem Menschen-
geschlechte und dass der weiseste Mensch als Affe erscheint im
Vergleich zu Gott, dass „das Eine" auseiuandergerissen wird und
wieder sich ausgleicht wie die Harmonie des Bogens und der Leyer,
dass das Seiende „vieles und eins" ist, durch Hass und Liebe zu-
sammengehalten wird, sich zerstreut und wieder sammelt, dass
alles fortwährend „auf und niederläuft" u. s. w. Was man auch
zu dieser Darstellung sagen mag, es ist unzweifelhaft, dass Plato
nicht gerade das betont, was Heraklit immer betont hat. Heraklit
giebt zu, dass diese Weltall sich in Gegensätzen offenbart: aber
diese Gegensätze sagt er, werden in Einklang gebracht. Die
verschiedenen und fliessenden Erscheinungen sind ein und das-
selbe in verschiedenen Formen, derselbe Gott, dasselbe Feuer
thut sich in allem kund. Heraklit betont das Bleibende und
Gemeinsame gegenüber dem scheinbaren Wechsel, er weist auf
") Platou, Pav. Ausg. I, 117, 11; 120,40; 123,31; 138,14; 296,28,38;
325, 4; II, 114, 23; I, 744, 14; 669, 15; 75, 46; 182, 42; 422 36.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 255
die Vernunft hin, die alle Dinge steuert. Dieser Punkt wird nicht
recht klar im Piaton.
Und was hat Aristoteles**) von Heraklit zu berichten? Er
sagt, dass nach Heraklit „das Vergängliche" bald so und bald so
sich verhält und dass es so immer fortbesteht, wie auch Empedokles
und Anaxagoras behaupten. Aber Aristoteles glaubt, dass man
unmöglicher Weise sich denken kann, dass die Welt „wird" und
und zugleich „ewig ist". Er spricht auch von der Anschauung
des Heraklit, dass alles „wird" und „fliesst" und „nichts fest-
besteht" und dass nur „eins" verharrt, aus dem alle diese Dinge
durch Umgestaltung entstehen, dass die Sinneswahruehraungen
immer fliessen und es darüber keine Wissenschaft geben kann,
dass man zweimal nicht in demselben Fluss steigen kann; dass
man das Ganze und Nichtganze ausgleichen kann, die Sammlung
und Zerstreuung, Einklang und Missklang; dass das Ganze in fort-
währendem Wechsel begriffen ist; dass es möglich ist, zur selben
Zeit zu sein und nicht zu sein, ja das Sein und Nichtsein dasselbe
ist, dass Wahrheit nur relativ ist und dass im Grunde alles wahr
ist; dass aus den Gegensätzen die schönste Harmonie wird; dass
Gutes und Schlechtes dasselbe bedeuten; dass alles „wird" und
nichts „ist"; dass alle Dinge, die wir mit unseren Sinnen wahr-
nehmen, sich drehen und verändern, dass sie immer fliessen und
verschwinden, dass „Entstehen und Vergehen" nur Wechsel be-
deutet und da alle Gegenstände der Sinneswahrnehmung immer
fliessen, so muss es gewisse andere „Naturen" geben neben den
sinnlichen, wenn man anders eine Wissenschaft und ein Ver-
ständniss von irgend etwas gewinnen will, denn von Dingen die
fliessen, giebt es keine Wissenschaft. So weit ist alles in Ordnung.
Obwohl Aristoteles auch das Vergängliche zu sehr neben dem Un-
vergänglichen und Bleibenden betont, kann man doch im Grossen
und Ganzen die Philosophie des Heraklit hier wiedererkennen.
Aber nun kommt Aristoteles wieder mit seiner Frage nach dem
«8) Arist. Par. Ausg. I, 391,28: 268, 11; 179, 14; 587,30; IIP, 227,21;
635,17; 572,25; 535,21; II, 163,42; 383,25; 411, 13; 472,43; 477,29;
510, IG; 249,13; 78,42; 589,39; 513,35; 503,46; 591,49; 219,22; 19,33;
250, 13; 362,48; 615,8 etc.
256 Ernst Chr. Hch. Peithmaiin,
„Prinzip aller Dinge" und hier thut er wieder einen grossen Fehl-
grifl'. Heraklit hatte die ^Veltgeschichte mit einem immerlebenden
Feuer verglichen, das bald gezündet und bald gelöscht wird.
Er hatte angedeutet, dass das Leben und der Tod für die Menschen
nur soviel bedeutet wie das Anzünden und Auslöschen eines
Lichtes ^^). Er meinte natürlich nicht, dass die Menschen während
ihres Lebens in lichten Flammen brennen. Das Feuer ist ihm
bloss ein passender Vergleich für die Unsterblichkeit und ünver-
gänglichkeit. Es ist ganz gleichbedeutend für ihn mit „Vernunft"
oder „Gesetz" oder „Einklang" oder „Gerechtigkeit" oder „Gott".
Wir können dem Heraklit aber doch unmöglich die Ansicht zu-
schreiben, dass die Vernunft ein loderndes Feuer ist. Aristoteles
aber auf seiner Suche nach dem sogenannten „Urgrund oder
Prinzip" hat nur seine vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und
Erde im Sinne und, da Heraklit das Feuer als ein Symbol ver-
wendet, greift er dieses gleich heraus und macht es zum Urgrund
des W^eltalls, ohne weiter zu untersuchen, ob diese Auslegung des
Feuers auch für die Philosophie des Heraklit passt. So stellt er
denn das Feuer des Heraklit auf gleiche Stufe mit dem vermeint-
lichen W^asser des Thaies und der Luft des Anaximenes. So hat
er denn schon drei Elemente glücklich herausgefunden und Empe-
dokles hat dann „zu den dreien" das vierte, nämlich die Erde
„hinzugefügt", um die Zahl voll zu machen.
Die Nachfolger des Aristoteles wissen schon wenig mehr von
Heraklit zu berichten, als dass er das Feuer als Prinzip der
Dinge annahm. Die wahre Absicht des Heraklit, nämlich die
Lehre von „Tod und Vernichtung" umzustürzen mit seiner neuen
Theorie von dem „Einssein" aller Dinge und von der „Harmonie"
aller scheinbaren Gegensätze und der „Unvergänglichkeit der
Welt" — alles ist gänzlich in Vergessenheit geratheu. Schon
Aristoteles begann die Klage über die Unklarheit des Heraklitischen
Stils'") und alle späteren Geschichtsschreiber folgton ihm hierin.
Wer sich freilich keine Mühe giebt, den Grundgedanken eines
89) Fr. 75.
»0) Arist. I, 391, 28.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 257
Philosophen zu erfassen, sondern statt dessen seine eigenen Ge-
danken unterschiebt, kann sich nicht wundern, wenn er im
„Dunkeln" bleibt.
6. Der erste Versuch einer Kritik.
Doch wir müssen jetzt versuchen, die Streitfrage, die wir im
Empedokles und Parmenides und Heraklit vorgefunden haben, noch
weiter rückwärts zu verfolgen. Wir müssen jetzt einen Mann
Studiren, der nach Aristoteles zuerst die Lehre von „Einem" auf-
gestellt hat, nämlich Xenophanes"). Mit ihm treten wir in
eine gänzlich verschiedene Atmosphäre ein. Der Streit um das
„Sein" und „Nichtsein'S um das „Entstehen und Vergehen" ist
verstummt. Die Frage, ob die Welt und die Dinge darin ver-
gänglich oder unvergänglich sind , scheint Xenophanes nicht zu
interessiren. Die Frage nach dem „Einen" ist für ihn von unter-
geordneter Bedeutung. Das Interesse für das „unbewegliche"
Prinzip im Weltall ist nur vorübergehend. Die gesammelten
Bruchstücke seiner Gedichte befassen sich mehr mit Diät als
Philosophie, mehr mit Gymnastik als Metaphysik. Gegen die
Sitten die er auf seinen Reisen in Griechenland angetroffen, richtet
sich seine Kritik anstatt gegen philosophische Anschauungen. Nur
die Dichter Homer und Hesiod^") greift er an, weil sie den
Göttern allerlei schändliche Werke zuschreiben, deren sich selbst
ein Mensch schämen würde. Was seine Weltanschauung anbetrifft,
so scheint er offenbar an eine Vielheit der Dinge zu glauben.
Mit- den Gegnern des Parmenides und Empedokles und Heraklit
hält er dafür, dass die Dinge „entstehen" und „ins Dasein
kommen". Wir sind alle „aus Erde und Wasser entstanden" ; ja
alles, was immer entsteht und ins Dasein tritt, ist Erde und
Wasser. Das obere Ende der Erde sehen wir unter unter unseren
Füssen, aber nach unten hin dehnt sie sich aus ins Unendliche^').
Selbst das, was gewöhnlich Regenbogen genannt wird, ist seinem
Wesen nach einfach eine Wolke von purpurner und 'gelber und
91) Mullach I, 101.
92) Xenophanes V. 7.
93) V. 8—12.
258 Ernst Chr. Heb, Peithmann,
grüuer Farbe''). Betreffs der Götter'') haben „die Sterblichen"
sehr irrthiimliche Anschauungen. Sie glauben, dass die Götter
„gezeugt werden" und dass sie ein Wahrnehmungsvermögen und
Stimme und Gestalt haben. Die Thiere würden sich die Götter
jedenfalls auch nach ihrer Art vorstellen mit thierischen Eigen-
schaften ausgestattet. Das Neue in der Lehre des Xenophanes
scheint darin zu bestehen, dass er „einen Gott""') als den grössten
anerkannt unter den Menschen und Göttern, weder an Gestalt noch
an Verstand den Älenschen ähnlich. Er ist „ganz Auge und ganz
Ohr und ganz Vernunft". Und ohne Anstrengung seines Geistes
„steuert" er „alle Dinge" mit seiner Vernunft; er „verharrt"
immer in „demselben" Zustande ohne die geringste „Bewegung"
und es verträgt sich nicht mit ihm „von einem Orte zum andern"
zu „wandeln" '').
Dies ist ungefähr alles, was wir über seine Philosophie er-
fahren. Er scheint an der Mannigfaltigkeit der Dinge festzuhalten
und ihre Veränderlichkeit zuzugeben, obwohl er zugleich lehrt,
dass alle Dinge aus demselben Material gemacht sind, nämlich
„Wasser und Erde". Nur ein Wesen giebt es, dass „unveränder-
lich und unbeweglich" ist: der eine Gott. Sein innerstes Wesen
besteht in Wahrnehmung und Verstand und er ^steuert alle Dinge
mit der Macht seiner Vernunft".
Verschiedene Ausdrücke begegnen uns hier, die sich auch in
den Bruchstücken des Heraklit wörtlich oder doch dem Sinne nach
wiederfinden. Man beachte z. B. das „sie, ouAoc, opav, vosiv, axousiv,
Travx-x xpotSatvei, £v tau-tti xs jxevsiv, 7?^, uowp, -j-qvecjOcti" etc. Andere
Ausdrücke finden sich wieder im Parmenides, wie z. B. „xivouasvov
ouoev, o'jos u£T£f>/c(jöai otXXotc a/J.r^". Auch in der Beurtheilung
der „Menge", die unter dem Banne des „Scheins" steht'*),
scheint Xenophanes dem Heraklit und Parmenides den Weg ge-
zeigt zu haben. Aber die Bruchstücke sind zu spärlich, um be-
zeigi
t ZI
i n
laben.
9.)
V.
13.
95)
V.
5.
96)
V.
1.
97)
V.
1—4.
98)
V.
14.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 259
stimmte Schlüsse zu ziehen. Xenophanes kommt zu dem Schluss,
dass niemand volle „Gewissheit'' über die Dinge erhalten wird;
der höchste Grad unseres Erkennens ist „Wahrscheinlichkeit"^').
Auch von Piaton und Aristoteles'"") erhalten wir nur wenig
Auskunft über Xenophanes. Piaton sagt nur, dass die Eleatische
Schule, die mit Xenophanes und vielleicht schon vorher beginnt,
die Lehre vertritt, dass die sogenannte Allheit der Dinge in Wirk-
lichkeit nur „eins" ist. Aristoteles klagt, dass Xenophanes sich
nicht deutlich und hinreichend genug ausgesprochen hat über die
Theorie des „Eins", die er zuerst aufgestellt hat. Nur so viel
glaubt er schliessen zu können, dass Xenophanes zum ganzen
Himmel emporblickend Gott als „das Eine" bezeichnet.
Alles was wir demgemäss von Xenophanes sagen können, ist
auf die Vermuthung zu beschränken, dass er w^ahrscheinlich zum
ersten Male in unbestimmter und allgemeiner Ausdrucksweise die
Philosophie aufgestellt hat, dass die Mannigfaltigkeit der Welt von
„einem Wesen" und „einer Vernunft" „gesteuert" wird und dass
in dem ewigen Wechsel dieser „eine Gott immer derselbe bleibt
und nicht der geringsten Bewegung unterworfen ist und dass jed-
wede Ortsveränderung für ihn ausgeschlossen ist". Ob und wie
weit er Heraklit und Parmenides beeinflusst hat, lässt sich nicht
mit Gewissheit sagen, aber eine Vergleichung der Ausdrücke scheint
eine Beziehung zwischen den drei Männern wahrscheinlich zu
machen. Heraklit kannte wenigstens den Xenophanes gut, denn
er kritisirt ihn scharf und es wäre nicht das erste Mal, dass
jemand von seinem Gegner gelernt hätte. Aber wenn auch Xeno-
phanes thatsächlich zum ersten Male die Idee „des Einen" erfasst
hat, so hat er doch allem Anschein nach diesen Gedanken nicht
gründlich genug ausgebeutet und es ist kein Grund vorhanden, wes-
halb wir dem Heraklit nicht glauben sollten, wenn er sagt, dass
„niemand vor ihm klar eingesehen hat, dass alle Dinge eins
sind".
99) V. 14, 15.
100) Ärist. II 404, 36; 476, 32; 5lO, 8; I 378, 41 ; 380; 479; 345; IV 80.
260 Ernst Chr. Hch. Peithmaun,
7. Die Pioniere in der Philosophie.
Wir wollen nun unserem heissen Verlangen nachgeben und
untersuchen, was denn die drei grossen Philosophen von Milet,
nämlich Thaies, Anaximander und Anaximenes für eine
Stellung einnahmen in diesem Streit um die Einheit und Vielheit
der Dinge, um die Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit der
Welt, um die Bedeutung des Eutstehens und Vergehens der
Dinge. Aber wie bitterlich werden wir enttäuscht! Mit Xeno-
phanes versiegen unsere Quellen. Von den Schriften, die etwa
aus der Feder der drei grossen Pioniere der Philosophie geflossen
sind, ist uns nichts aufbewahrt. Plato^*") erwähnt nicht einmal die
Namen des Anaximander und Anaximenes. Von Thaies weiss er
nur, dass er ein gebildeter Mann war und dass sein Name mit
genannt wurde unter der Zahl Derer, die wegen ihrer ^Veisheit
sich auszeichneten, nämlich Pittakus, Blas, Selon, Kleobulus, Myson
und Chilon. Ausserdem sagt er, dass Thaies die Sterne beobachtete
und dass er die Werke und Künste eines klugen Mannes verrichtete.
V^ielleicht denkt er an Thaies, wenn er von der Theorie spricht,
dass „Alles voll ist von Göttern". Was Aristoteles von diesen drei
Männern sagt, lässt kaum einen Zweifel darüber, dass er sie nur
oberflächlich und vom Hörensagen her kennt, ohne ihre Schriften
gesehen zu liaben. Betreffs des Thaies "^^) war ihm erzählt, dass
er glaubte, „die Erde schwämme auf dem Wasser". Hieraus zieht
Aristoteles den Schluss, dass Thaies das Wasser für das „Urprincip"
aller Dinge gehalten habe. Ausserdem war ihm bekannt, dass
Thaies behauptete, der Stein habe eine Seele, da er „das Eisen
bewege" und „Alles sei voll von Göttern". Aristoteles giebt auch
vor, etwas zu wissen über die Lehren des Anaximander '°^): dass
die Erde in ihrer Stellung bleibt, weil sie in der Mitte schwebt
und nach allen Richtungen hin gleich weit von dem Umkreis des
Weltalls entfernt ist, dass das Weltall in seiner Gestalt eins ist.
'0') Pluto I 257, 19; 738, 20, 133, 53; II 180, 14: 518, 26.
>o-') Arist. 11 404,41; I 493,32: 519, 23: 11 70, 34; 472,22; 479,39:
ill 435, 12; 443,8.
'03) Arist. II 406,29; 277,47; 557,50; 252,24; 600; 601; 111673,48.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 261
Oft fasst er ihn zusammen mit andern Philosophen, z. B. mit „den
meisten der Naturphilosophen", die behaupten, dass der Urgrund
der Dinge „unsterblich und unzerstörbar" ist, oder er reiht
ihn zusammen mit Empedokles und Änaxagoras, die behaupteten,
dass aus „dem Einen" die innewohnenden Gegensätze ausgesondert
werden. Scheinbar schreibt er ihm die Lehre von dem
„dcTTsipov" als dem Urgrund der Dinge, oder von einer Substanz,
die „zwischen" den bekannten Elementen steht, zu. Einmal lässt
er ihn sogar sagen, dass das „All" Wasser ist. Auch seine An-
gaben über Anaximenes^"") sind sehr dürftig und kurz. Er er-
wähnt die Erklärung, die Anaximenes für Erdbeben "gab, und seine
Ansicht, dass die Erde in ihrer Lage bleibt, weil sie flach ist. Ge-
wöhnlich gruppirt er ihn mit anderen Leuten zusammen. Seine
sonstige Bekanntschaft mit Anaximenes beschränkt sich darauf,
dass er ihm in kurzen und nackten Worten die Ansicht zuschreibt,
„die Luft" sei das Princip der Dinge: diese letztere Behauptung
wiederholt er wenigstens fünfmal. Aber dass Aristoteles dies fünf-
mal wiederholt, macht den Thatbestand um nichts wahrschein-
licher, als wenn er es bloss einmal gesagt hätte. Ohne hier weiter
auf die Angaben der Doxopraphen einzugehen, wollen wir nur
eine Stelle des Simplicius'"^) etwas näher untersuchen, in der
Mullach ein kleines Fragment des Anaximander herausgefunden hat.
Hiernach sah Anaximander den „unendlichen Raum" als den
Ort an, aus dem alle „Himmel" „entstehen" und die
„Welten", die darinnen sind. Woraus aber die Dinge ihr
„Entstehen" nehmen, dahin muss auch wieder ihre „Ver-
nichtuncr" stattfinden nach der Forderung „sittlicher
Nothwendigkeit". Denn die Dinge erstatten Vergeltung
und „Gerechtigkeit" für die verübte Ungerechtigkeit
nach der Ordnung der „Zeit". Es ist auffallend, dass hier
genau dieselben Ausdrücke wiederkehren, die Heraklit und Parme-
nides und Empedokles ihren Gegnern zuschreiben. Man achte auf
104) Aristot. II 472, 42; 478, 48; 479, 39; 575, 51; 405, 8: III 591, 1:
673, 49.
»0^) Mullach I 240.
262 Ernst Chr. Heb. Peithmann,
die Ausdrücke -('qveaOai, airixavTas xou? oupotvou?, xou? xöaixouc, xa
&vxa, 7j Ysvecrt?, y] cpOopa, xo /pstov, 8tx7j. Demnach hatte Anaxi-
mander also die folgende Anschauung. Die Dinge „kommen ins
Dasein" und „vergehen wieder". Alles, was jetzt „ist", (xa ovxa)
ist entstanden aus dem unendlichen Raum und wird ebendahin
wieder vernichtet werden gemäss moralischer Nothwendigkeit. Der
Satz: Ttjv oöopav -j'qvsaöai si? xauxa ist offenbar identisch mit dem
Satz des Parmeuides w? ypswv eaxt [xy] eivat. Die Vernichtung oder
spätere Nichtexistenz der Dinge ist eine Forderung der sittlichen
Weltordnung. Es gehört sich so, dass im Laufe der Zeit Alles,
was entstanden ist, auch wieder vergehen sollte. „Was entsteht,
ist werth, dass es zu Grunde geht." Auch das Wort Sut) zwingt
uns fast, den Anaximander unter die Gegner des Heraklit zu rech-
nen, die ja auch das Wort Si'xvj kannten und viel davon sprachen.
Dies macht es also wahrscheinlich, dass Anaximander und mit ihm
vermuthlich auch Anaximenes die Leute waren, die die Theorie
des „Entstehens und Vergehens", des Seins und Nichtseins ver-
traten, ohne dass damit gesagt werden soll, dass diese Männer
allein diese Philosophie lehrten und dass nicht auch noch andere
Leute ihrer Partei angehörten. Die folgenden Thatsachen und Er-
wägungen müssen uns in der Vermuthung befestigen, dass die
Milesier die Lehre von einer Vernichtung der Dinge und vom
Nichtsein vertraten. Erstens, wir wissen weiter von keiner
Philosophie vor Xenophanes und Heraklit, die sich mit der Frage
nach dem Ursprünge und dem Schicksale der Welt befa-sste, als
die Schule von Milet. Pythagoras scheint sich nach Allem, was
uns von ihm berichtet wird, nur mit sittlichen Fragen beschäftigt
zu haben. Auch die ältesten Schüler und Anhänger des Pythago-
ras scheinen sich auf praktische und sociale Fragen beschränkt zu
haben- Die Kosmogonie hat wahrscheinlich erst unter Philolaus
eine Berücksichtigung gefunden in dem Orden der Pythagoräer.
Zweitens, es ist nicht möglich, diese Anschauung den „gewöhn-
lichen Leuten" beizulegen. Kein Laie kann im sechsten Jahr-
hundert vor Christi Geburt eine solche Theorie vertreten haben,
wie sie uns im zweiten Theile des Gedichtes des Parmenides ge-
schildert wird. Der gewöhnliche Manu philosophirte damals so
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 263
wenig wie heute. Der Ausdruck xaxiOcvxo in Parmenides deutet
an, dass dies sich nicht auf Privatmeinungen der gewöhnlichen Leute
bezieht, sondern, dass es eine Theorie ist, die öffentlich von hervor-
ragenden Leuten aufgestellt und vertheidigt ist. Drittens, Parme-
nides versucht es, zwei philosophische Anschauungen zu widerlegen.
Die eine ist die des Mannes, der in Ephesus in Kleinasien wohnte.
Ist es nicht wahrscheinlich, dass die andere den Leuten angehörte,
die in der Nachbarstadt von Ephesus, nämlich in Milet, eine wissen-
schaftliiche Schule errichtet hatten? Wenn Parmenides Heraklit
kannte, muss er dann nicht auch die Milesier gekannt haben?
Viertens, Aristoteles sowohl als alle anderen Geschichtsschreiber
sehen die Philosophie von Anaximander bis auf Demokritus als
eine ununterbrochene Entwicklung derselben philosophischen Fragen
und Ideen an. Heraklit giebt uns zu verstehen, dass er zum ersten
Male solch eine Philosophie von der Einheit und Unvergänglichkeit
der Welt ausgesprochen hat. Also müssen seine Vorgänger, näm-
lich die Mileser, noch an die Vergänglichkeit der Dinge geglaubt
haben. Fünftens, Melissus schreibt ausdrücklich den „Physikern"
(cpuaixoi) die Anschauung zu, dass die Dinge aus dem Nichts
„entstehen" und wieder ins Nichts „verschwinden". Und
nach Aristoteles und Simplicius sind die „eigentlichen und ur-
sprünglichen Physiker" die Männer von Milet, nämlich in erster
Linie Anaximander und Anaximeues. Sechste ns, alle Doxo-
graphen von Aristoteles an stimmen darin überein, dass die Männer
von Milet die Philosophie lehrten, dass die Dinge „entstehen" und
wieder „vergehen" und dass sie „aus" einer gewissen Urquelle
„kommen" und dahin wieder „zurückkehren".
(Schluss im nächsten Heft.)
Jahresbericht
über
sämmtliche Erscheinungen auf dem Gebiete der Geschichte
der Philosophie
in Gemeinschaft mit
0. Apelt, Clemens Baeumker, Ingrara By water, Alessandro Chiapelli,
Wilhelm Dilthey, A. Dyroff, Benno Erdmann, H. Liidemann, Martin
Schreiner, Andrew Seth, Paul Tannery, Feiice Tocco, E. Wellmann
und Wilhelm Windelbaud
herausgegeben
Ludwig Stein.
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV. 2. 18
III.
Jahresbericht
über die Geschichte der Philosophie im
Zeitalter der Renaissance (1893— 1899).i
Von
eil. Schitlowsky uncl liiidwig Stein.
III. Folge.
3. Dr. Alex. AVernicke, Director der Städtischen Ober-Healschule,
Professor au der Herzoglicheu Technischen Hochschule
Brauuschvveig. Die mathematisch-naturwissenschaft-
liche Forschung in ihrer Stellung zum modernen
Humanismus. Vortrag, gehalten in der Hauptversammlung
des Vereins zur Förderung des Unterrichts in der Mathe-
matik und den Naturwissenschaften zu Leipzig (Pfingsten
1898). Berlin, Verlag von Otto Salle, 1898 (18. 4").
Prof. Wer nicke gehört zu denjenigen Pädagogen, die, wie
Natorp und Bergemann, das gesammte Erziehungswesen der
moderneu Zeit auf eine kulturphilosophische Basis stellen möchten.
Ohne sich gerade „social" zu nennen, ist seine Pädagogik eine
sociale im vollsten Sinne des Wortes. Denn sie will die Nach-
kommenschaft in das moderne Culturleben einführen, für dasselbe
erziehen. In der pädagogischen Conception des Verfassers ist die
humanistische Pädagogik kein Gegensatz mehr zur socialen,
wie sie überhaupt die Synthese anstrebt, in der die berechtigten
Elemente der individuellen, der nationalen und der socialen
18*
268 Ch. Schitlowsky und Ludwig Stein,
Erziehuug sich /u einer geschlossenen Einheit zusammenfügen.
Das Individuum, der Einzelne ist darum von Werth, weil er zu-
gleich Mittel und Zweck der Culturentwicklung ist. Mittel, in-
sofern er Träger und Verkörperer einer für sich bestehenden
Cultur ist. Zweck, insofern „alle höchsten Culturgüter in letzter
Hinsicht dem Einzelnen dienen" (richtiger: „dienen sollen")
„und zwar zur harmonischen Ausbildung seiner ganzen Persönlich-
keit" (S. 2). Dieser Einzelne aber ist nur „als Glied seines Volkes
zu bilden". Er muss zum Kampfe ausgerüstet werden, der überall
zwingt, „die nationale geistige und körperliche Arbeit einzusetzen
und unter diesem Zwange beginnt auch bereits das Gros der inter-
nationalen Arbeiter-Armeen in nationale Corps zu zerfallen" (S. 11).
A^on diesem Grundgedanken ausgehend, sucht Verf. die noch
immer herrschende Ansicht zu bekämpfen, als ob nur die Geistes-
wissenschaften in freier Wahl dem Humanismus dienen, die
Naturwissenschaften und die ihnen zu Grunde liegende Mathematik
nur „niedere Sclavinnen des Realismus" seien (S. 1). Die rein
pädagogischen Resultate seiner Untersuchungen zu würdigen und
an ihnen einen kritischen Maassstab anzulegen (namentlich wegen
ihrer Missachtung des Momentes der internationalen Solidarität),
dies fällt vollständig aus dem Rahmen unserer speciellen Aufgabe.
Für unseren Zweck ist nur die erste Hälfte der Abhandlung von
Interesse, wo der Versuch gemacht wird, an der Hand geschicht-
licher Daten die Bedeutung der mathematisch-naturwissenschaftlichen
Forschung für die Ausbildung des Humanismus der Renaissance-
epoche festzustellen.
Das Zeitalter der Renaissance wird gewöhnlich mit dem
"Wiederbeleben der antiken Wissenschaften und Künste angesetzt.
Durch das erwachte philologische Studium der classischen
Sprachen sei eine neue Welt erschlossen worden, in der erst der
im innigen Vorkehr mit der Natur lebende Mensch entdeckt und
zum Principe der Lebensanschauung erhoben worden sei. Der
Unterricht in der klassischen Philologie und den in der antiken
Welt besonders gepflegten Geisteswissenschaften ist daher zum Haupt-
träger der humanistischen Bildung geworden. Diese allzu innige
Verschmelzung von Humanismus und klassischer Philologie be-
Jahresbericht über die Geschichte der Philosophie etc. 269
kämpft uuu der Verfasser. Er stellt /Amächst die Thatsache fest,
dass das Studium der Mathematik und die exacte Naturforschuug
keineswegs im klassischen Alterthum vernachlässigt wurde. Ja,
sie waren es, welche — wie v. Wilamowitz gezeigt hat — die
Arbeiten der alexandrinischen Philologen befruchteten und sie zur
Auffindung der Gesetzmässigkeit in den sprachlichen Gebilden ver-
halfen. Schon diese Thatsache sollte zur Einsicht führen, „dass
auch im Zeitalter der Renaissance Philologie und exacte Forschung
in gemeinsamer Arbeit neben einander gestanden haben (S. 3).
Dazu kommt, dass der Einfluss der Antike auf das Zustandekommen
der Renaissance und auf den Culturgehalt dieses Zeitalters stark
übertrieben wurde. Der Anbruch der Renaissance ist nicht mit
dem Sturze Constantinopels zu datiren. Von der eigentlichen
Renaissance in der Kunst musste mau auf eine Frührenaissance
und von dieser auf eine tief im Mittelalter liegende Vor-Renaissance
zurückgreifen. Ein Brunellesch i, Ghiberti, Donatelli oder
ein Giotto (um 1300) hatten noch nichts mit den Griechen zu
thun. Und auch in der Folgezeit, als die Platonische Academie
schon gegründet wurde, hatte die Antike nur auf die Form der
Kunst, nicht auf ihren Inhalt Einfluss: „worin stimmt Botticellis
(1440 — 1514) inniges Empfinden mit der Antike überein? Was
haben selbst Raffael und Michel Angelo innerlich mit der Antike
zu thun?" (ib.) Auf dem Gebiete der Malerei liegt der Schnitt
zwischen Altem und Neuem bei Giotto (geb. 1266). Auf intellec-
tuellem Gebiet ist es das Jahr 1210, in welchem die neue Welt
aus der alten hervorging. In diesem Jahre erlangte Francesco
d'Assisi vom Papst Innocenz III, das Recht der freien Predigt
und zwang hiermit die Kirche, eine Forderung zu bewilligen, um
welche die Ketzer vergebens gerungen haben. Die volksthümlichc
Predigt, die an die Stelle der lateinischen trat, ignorirte die ge-
lehrte Ueberlieferung und schöpfte ihre Motive aus den unmittel-
baren Bedürfnissen des Lebens. Ein mächtiges Naturgefühl er-
wachte in den proveu^alischen Psalmen d"Assisis. Bei seinem
deutschen Anhänger Berthold von Regeusburg kommt der
Gegensatz von Priester und Laie, Ueberlieferung und Natur schon
deutlich zu Bewusstsein. „Den Geistlichen, sagt er, hat Gott das
270 Ch. Schitlowsky uud Ludwig Stein,
alte uud das ueue Testameut gegebeu, deu Laien aber zwei andere
grosse Bücher, aus denen sie Weisheit lesen sollen, den Himmel
und die Erde". Auf das erwachte Naturgefühl folgte das Erwachen
der Naturwissenschaft, die im 13. Jahrhundert auch im christlichen
Europa, unter dem Einfluss der jüdisch-arabischeu Philosophie, be-
geisterte Anhänger fand; Roger Baco, ein Franciskaner, ist schon
ein wirklicher Naturforscher in ganz modernem Sinn, Nach der
Mitte des 13. Jahrhunderts konnten auf der Universität zu Paris
Sätze vertheidigt werden, wie: „Die Reden der Theologen sind
auf Fabeln gegründet", „Es wird nicht mehr gewusst wegen des
Wissens der Theologen", „Die christliche Religion hindert daran,
etwas hinzuzulernen". Und auch das scholastische System des
Thomas von Aquino ist keine Formulieruug des alten Geistes,
sondern vielmehr ein geluugener Versuch, das alte mit dem
Neuen couciliatorisch zu verbinden (S. 4 — 5). Durch diese Bin-
dung des Neuen an das Alte, wurde die neue Bewegung auf allen
Gebieten, ausgenommen die Kunst, gehemmt, aber nicht zum Still-
stand gebracht. Das Neue wird allmählich verketzert und verfolgt.
„Von den Vertretern der mathematisch -naturwissenschaftlichen
Forschung stirbt Pietro di Albano 1316 zu Padua im Gefäng-
nisse der Inquisition, und im Jahre 1327 wird Cecco d'Ascoli zu
Florenz als Astrologe und Ketzer verbraunt. In Paris muss 1348
Nicolaus de Austrieuria, der das Studium der Thatsachen
gegenüber dem Studium der Bücher empfiehlt, seinen „Atomismus
abschwören". Das konnte aber das siegreiche Vordringen der
mathematisch-naturwissenschaftlichen Forschung nicht aufhalten.
Petrus Ramus bezeugt ihr Gedeihen in Paris für die Mitte des
14. Jahrhunderts. Von hier aus verpflanzt sie Heinrich von
Hessa nach Oesterreich, von dem eine lange Kette von Natur-
forschern uud Mathematikern sich bis auf unsere Zeit ununter-
brochen zieht und die glänzendsten Namen des Zeitalters der
Renaissance enthielt. Liouardo da Vinci (1452 — 1519) con-
centrirte in sich den gesammten naturwi.ssenschaftlichen Reichthum
seiner Zeit und zeigt, wie gross diese Schätze der exacten Natur-
forschung schon angewachsen sind. Die enge Verbindung von
Kunst und mathcmatisch-naturwi.ssenschaftlichcr Forschung, die in
Jahresbericht über die Geschichte der Philosophie etc. 271
da Vinci hervortritt, wird auch von Albrecht Dürer (1471—1528)
angestrebt. Reuchlin und Erasmus besteigen „den Umweg, den
man über die fremden Sprachen zu den Dingen machen müsse."
„Res ipsa, non umbra verum" ist die Losung von Luther und
Melanchthon. Nach dieser „res ipsa" suchend, stürzte Coper-
nicus die ptolomäisch-mittelalterliche Weltanschauung und ent-
rückte das Centrum der Welt von der Erde zur Sonne. „Dafür
aber fand der Mensch in sich selbst ein unverlierbares Centrum"
und „mit der Bestimmung dieser beiden Centren, für die äussere
und für die innere Welt war man völlig mündig geworden." Von
Copernicus führt eine directe aufsteigende Linie durch Bruno,
Galilei und Kepler zu Descartes, Huyghens und Newton,
die die strenge Gesetzmässigkeit der Weltmechanik erarbeiten, zu
der sich bald der Begriff der Entwicklung gesellt, der von
Lessing, Schiller und Herder auf dem Gebiete der Geistes-
wissenschaften, von Wolff, Goethe und Lamarck auf dem der
Naturwissenschaften angewandt wird und die Grundlage für die
moderne Auffassung der Gesetzmässigkeit aller Lebens- und Geistes-
erscheinungen bildet (S. 6 — 8).
Die Renaissance ist somit eine Bewegung, welche mit dem
Anfang des 13. Jahrhunderts anhebt, um die Mitte desselben deut-
lich erkennbar wird. Als Gegendruck zum unerträglich gewordenen
Historismus spielt sie das „cpussi" gegen das „Oiasi" aus und pro-
clamirt als ihre Losung die Rückkehr zur Natur. Diese Bewegung
wiederholte sich später in Rousseau und ist vielleicht jetzt wieder
im Anzug (S. 8). —
Die Grundanschauung Wernickes über den Ursprung des Zeit-
alters der Renaissance kann also in die Formel zusammengefasst
werden: die Renaissance ist in Europa autochthon. Er ist
sogar geneigt ihren Anfang in dem Anfang der Scholastik zu
erblicken, in dem Momente nämlich, wo Ansei m von Canter-
bury (1033—1109) „einem neuen Bedürfnisse folgend, das Dasein
Gottes zu beweisen" sucht. Gewiss ist diese Aufspürung der
ersten, kaum bemerkbaren Keime der Renaissance, des Wieder-
erwachens des selbständigen Gedankens von grossem Werth. Be-
zeugen doch solche Forschungen die Richtigkeit des Satzes, dass
272 ^■^- Schitlowsky und Ludwig Stein,
die Conti uuität, diese Grundlage der Entwicklung, auf dem
Gebiete des Geistes in demselben Grade, wie auf dem der Natur
zum Vorschein kommt. Allein man hüte sich dabei in den Fehler
zu verfallen, den die dialectische Naturphilosophie begeht,
wenn sie die specitischen Unterschiede der einzelnen Naturgebilde
bloss darum zu niedrig anschlägt, weil sie durch eine ununter-
brochene Kette von Mittelgliedern mit einander verbunden werden
können. So weit von einander abstehende Gebilde wie Eiche und
Löwe können sicher durch eine Reihe von Zwischenstufen über
die Amöbe hindurch miteinander verbunden werden. Darum
fliessen noch nicht Pflanzenreich und Thierreich zusammen. Auf
dem Gebiete der Natur ist die Vermischung der Grenzen noch
nicht die Aufhebung des Unterschiedes. Nicht die Uebergangs-
stufen, sondern die typischen Gebilde sind für die Classification
maassgebend. Dasselbe soll auch auf dem Gebiete des Geistes
gelten. Man kann freilich die Grenzen zwischen Mittelalter und
Neuzeit so sehr verwischen, dass man auch in Bezug auf Anselm
von Canterbury schwanken kann, ob nicht mit ihm schon die
Neuzeit anbreche. Um diese Frage zu entscheiden, muss man ihn
aber nicht mit einem Franz d'Assisi, sondern mit einem Lionardo
da Vinci, einem Giordano Bruno vergleichen. Dann wird
die Antwort nicht schwer ausfallen. Hält man sich bei der Be-
stimmung des Zeitpunktes der Renaissance und der Würdigung
ihrer Quellen nicht an die Uebergangsstufen, sondern an die
typischen Gebilde, dann muss man, entgegen der Ansicht unseres
Verfassers, zur Ueberzeugung gelangen, dass die Renaissance im
eigentlichen Sinne die Wiederbelebung des klassischen
Alterthums war. Erst als die heidnische Welt auftauchte,
erst als man gewahr wurde, dass diese heidnische Welt ohne
Ueberlieferung, ohne Sündenfall und Erlösung, zu einer
grösseren Stufe menschlicher Vollkommenheit gelangt ist, als unter die
der Botmässigkeit der hl. Kirche stehende, erst dann wurde heller Tag.
4. Alois RiEHL. Giordano Bruno. Zur Erinnerung an den
17. Februar 1600. Zweite neu verbesserte Auflage. Leipzig,
Verlag von Wilhelm Engelmann 1900 (S. 56).
Die RiehPsche Schrift ist in erster Auflage 1889 erschienen.
Jahresbericht über die Geschichte der Philosophie etc. 273
Die zweite Auflage ist vielfach verbessert und die Darstellung der
Philosophie Brunos völlig umgearbeitet worden. Der Verfasser
hofft, „ein richtiges und in den Hauptzügen vollständiges Bild von
der Lehre und den Schicksalen des merkwürdigen Mannes gegeben
zu haben (Vorwort).
Schon als Knabe machte sich Bruno mit dem Gedanken ver-
traut, dass die rein sinnliche Erkenutniss Täuschungen ausgesetzt
ist, dass die Natur überall eine und dieselbe sei und nur die
Entfernung das Aussehen der Dinge verändere. Mit 18 Jahren
zweifelt er schon an der kirchlichen Lehre der Trinität und fasste
die Personen als Attribute der Gottheit auf. Li früher Jugend
ergriff die Lehre des Copernicus seinen Geist, die ihm zu einer
ganz neuen Conception des Weltalls erhoben hat. Die Un-
endlichkeit der Welten eröffnete sich seinem Auge. Die Un-
endlichkeit, die Einheit und die Lebendigkeit. Das ist der Kern-
punkt seiner Philosophie, deren rein kosmologischer Theil zum
Gesammtgute der modernen wissenschaftlichen Weltanschauung
geworden ist. Erst diese Lehre von den „anderen Welten" „be-
deutete den Zusammensturz der mittelalterlichen, anthropocentrischen
Weltanschauung, welche mit der Lehre von der Erdbewegung um
die Sonne zur Noth noch vereinbar blieb" (S. 22). Treffend
schildert Verf. den Unterschied zwischen Copernicus und Bruno
dahin, dass, wenn die Lehre jenes heliocen frisch ist, „so ist
die Lehre Brunos nicht etwa nur kosmocentrisch, sondern theo-
centrisch (S. 23). Der theocentrische Standpunkt, der seiner
Astronomie eine philosophische Seele einhaucht, bestimmt denn
auch alle seine metaphysischen Grundgedanken über das Verhältniss
von Substanz und Accidenz, Materie und Form, Möglichkeit und
Wirklichkeit, Freiheit und Nothwendigkeit und zwar in einer
Weise, die als eine Anticipation der gesammten Entwickelung der
speculativen Philosophie von Spinoza bis auf Hegel erscheint.
Ohne direct auf diesen Zusammenhang zwischen der kosmosophischen
Grundansicht Brunos und seinen metaphysischen Einzelanschauungen
hinzuweisen, gelingt es dem Verfasser in der klaren, durchsichtigen
und tief durchdachten Darstellung der Lehre Brunos ihre innere
Einheit zur Anschauung zu bringen.
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV. 2. ■!<-'
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I. Abtheiluiig;:
Archiv für Geschichte der Philosophie.
Neue Folge. XV. Band 3. Heft. -
X.
Spinoza und die CoUegianten. ')
Von
Dr. Ad. Menzel, Professor an der Universität Wien.
Vorbemerkung.
In der Abhandlung „Wandlungen in der Staatslehre Spinozas",
Stuttgart 1898, habe ich auf gewisse Gegensätze in der politischen
Theorie unseres Philosophen aufmerksam gemacht und eine
historische Erklärung derselben versucht. So viel mir bekannt
ist, haben diese Ausführungen sowohl in methodischer Hinsicht
als in Bezug auf die erzielten Ergebnisse Zustimmung gefunden^).
Nunmehr erhebt aber im vorletzten Hefte dieser Zeitschrift Herr
W. Meijer im Haag in einem Aufsatze gegen meine Aufstellungen
einzelne Bedenken. Dieser Aufsatz führt den Titel „Wie sich
Spinoza zu den Collegianten verhielt?" Er bringt auf Grund eines
^) Inhaltsübersicht-; Vorbemerkung. Die Theorie vom Milieu. Spinoza
und die Collegianten. Das Christenthum der CoUegianten. Der theologisch-
politische Traktat und das Christenthum. Der Briefwechsel mit Oldenburg.
Christlicher Spinozismus. Die Collegianten und die Demokratie. Wandlungen
in der Staatslehre Spinozas. Die Literaturkenntnis Spinozas.
2) Man vergl. statt aller Rehms Allgemeine Staatslehre S. 209 Anm. 1
und S. 220 Anm. 9.
Archiv f. Qescbicbte d. Pbilosophie. XV. 3. 20
278 Ad. Menzel,
reichen Materials eine Schilderung des Wirkens jener stillen
Christengemeinden, in deren Mitte Spinoza viel verkehrte, ins-
besondere der Rynsburger Vereinigung.
Diese Schilderung ist gewiss werthvoll und ihr warmer Ton
flösst auch für den Verfasser Sympathie ein. Herr Meijer hält die
Collegianten für eine Verkörperung des wahren Christenthums, des
Glaubens, „der uns geschichtlich bekannt geworden und von Con-
stantin dem Grossen bis auf David Friedrich Strauss ^) die Cultur-
geschichte beherrscht hat" (S. 14). Er rühmt an den Collegianten,
dass sie die Idee einer Vereinigung aller christlichen Kirchen pro-
pagirten. „Sie gehören mit Rom zu derselben Kirche, aber stehen
darin an der äussersten linken Seite" (S. 15). Der Verfasser
sagt, dass die Collegianten in der Kirchengeschichte eine merk-
w'ürdige „Erscheinung bilden als der einzige mit Ernst durch-
geführte Versuch, alle Christen in Geist und Wahrheit, anstatt
durch Feuer und Schwert zur Einigkeit zu bringen" (S. 29).
Ob hierin nicht einige üebertreibung liegt, möchte ich dahin-
gestellt sein lassen. Jedenfalls verdient dieser Theil der Abhand-
lung volle Anerkennung. Anders steht es aber mit den Schluss-
folgerungen, welche Herr Meijer aus seiner Schilderung der
Collegiantengemeinden auf die Stellung Spinozas ziehen zu müssen
glaubt.
Der Verfasser ist gewiss, als eifriger Verehrer Spinozas, mit
seinen Werken genau vertraut. Allein als er seinen Aufsatz
niederschrieb, scheint dieses Wissen kein präsentes gewesen zu
sein; namentlich die Lehren des theol. polit. Traktats über Christus,
die Offenbarung und über die Glaubensfreiheit waren ihm nicht
ganz gegenwärtig. Nur so kann ich mir erklären, dass er zu sehr
anfechtbaren Ergebnissen gelangt. Auch die Polemik gegen meine
Abhandlung ist nichts weniger als glücklich. Hier haben einige
Missverständnisse von vorn herein den richtigen Weg versperrt.
Der Leser erhält kein zutreffendes Bild vom Status controversiae.
Hierin lag für mich die Nöthigung zu einer eingehenden Replik.
^) Den Verfasser des Buches, „Der alte und der neue Glaube" als po-
sitiven Christen zu bezeichnen, ist auffallend.
Spinoza und die Collegianten. 279
Die Theorie vom Milieu.
Gleich zu Beginn seiner Abhandlung beklagt Herr Meijer die
moderne Richtung, welche grosse Persönlichkeiten aus ihrer Um-
gebung zu erklären versucht. Es werde hier an die Könige im
Reiche des Gedankens derselbe Maassstab angelegt, wie an den
erstbesten Homunculus; es sei ein eitler Versuch ein Genie, wie
es Spinoza war, aus seinen Lebensverhältnissen erklären zu wollen.
Es kann hier natürlich nicht so nebenbei eine der schwierigsten
und bestrittensten Fragen geschichtlicher Methodik behandelt
werden, welche durch jene Bemerkungen aufgeworfen wird. Gewiss
hat es manche Uebertreibuugen in der Verwerthung der „Umwelt"
gegeben; namentlich die Anhänger der materialistischen Geschichts-
auffassung sind davon nicht freizusprechen. Wenn z. B. in neuester
Zeit ersucht wurde, die Entwicklung der griechischen Philosophie
aus den wirthschaftlicheu Verhältnissen von Hellas zu erklären,
so kann dies nur Befremden erwecken; Piatos Ideenlehre wird kein
Vernünftiger auf äussere Einwirkungen zurückführen wollen.
Das schliesst aber durchaus nicht aus, dass die Gedanken-
welt grosser Geister in einzelnen Richtungen durch persönliche
Erfahrungen und äussere Ereignisse beeinflusst werden kann. Be-
sonders wird man dies von den politischen Ansichten der zu
beurtheilenden Persönlichkeiten behaupten dürfen. Was z. B. von
der Ideenlehre Piatos gilt, um bei dem obigen Beispiele zu bleiben,
kann nicht ohne weiteres auf seine Staatslehre angewendet werden;
hier haben neben den metaphysischen Grundlagen auch äussere
Momente, wie die Zustände Athens, das Beispiel Spartas, die Er-
fahrungen während des Aufenthalts in Sicilien u. s. w. entscheidend
mitgewirkt.
Oder will man etwa die Staatslehre des Hobbes, der gewiss
auch kein Homunculus war, nur aus seiner Metaphysik ableiten,
ohne die politischen Zustände Englands in Betracht zu ziehen?
Sollte bei Rousseau, gleichfalls ein Gemie, der Umstand, dass er
Bürger der kleinen Republik Genf war. für die Fassung seines
contrat social ganz bedeutungslos gewesen sein?
Diese Fragen aufwerfen heisst sie auch beantworten. Von
einer principiellen Unrichtigkeit meiner Methode kann keine
20*
280 Ad. Menzel,
Rede sein; es kann sich immer nur darum handeln, ob ich im
einzelnen Falle in der Verwerthung derselben das Richtige getroffen
habe. Da muss ich denn doch darauf aufmerksam machen, dass
es mir durchaus nicht in den Sinn gekommen ist Spinozas ganze
Rechts- und Staatsphilosophie aus seinem Milieu abzuleiten. Herr
Meijer hat diesen wichtigen Punkt leider übersehen und so er-
scheine ich in seiner Darstellung als ein Fanatiker der Umwelt-
Theorie — der ich gewiss nicht bin.
Ich erklärte ausdrücklich, dass meine Abhandlung sich ein
streng begrenztes Thema gesetzt hat; die Wandlungen zu zeigen,
welche sich in einigen staatsphilosophischen Ansichten Spinozas
vollzogen haben und ihre Ursachen zu erforschen (S. 5). Am
Schlüsse (S. 38) bemerkte ich: „Neben diesen variablen Elementen
giebt es einen festen Gedankenkern, welcher seiner Rechtslehre
das originelle Gepräge verleiht." Für diesen Theil seiner Staats-
lehre, der mir schon damals als der wichtigere erschien (S. 5) gilt
natürlich das Milieu-Princip durchaus nicht. Hier haben die
Affektentheorie , der Selbsterhaltungstrieb und eigenthümliche
Fassung des Freiheitsgedankens, kurz psychologische und meta-
physische Lehren seines Systems entscheidende Bedeutung. Gerade
dieser Theil der Staatslehre Spinozas bietet grosse Schwierigkeiten.
Was in dieser Beziehung bisher publicirt wurde, ist wenig be-
friedigend, namentlich das „Naturrecht" unseres Philosophen und
sein Verhältniss zu Hobbes wird bisher nicht richtig gewürdigt.
Ich hoffe bald in der Lage zu sein, meine Auffassung dieser Fragen
dem wissenschaftlichen Publikum vorzulegen.
So wenig daher auch die bisherige Literatur über Spinozas
Staatslehre in meinen Augen genügt: so schlimm steht es denn
doch nicht, dass man sich auf obskure Doctor-Dissertationen be-
rufen müsste, wie dies Herr Meijer thut, um eine bestimmte An-
sicht bekräftigt zu finden. Er citirt auf S. 4 die Arbeit eines
Herrn Josef Hoff über die Staatslehre Spinozas. Ich habe mir diese
Dissertation angeschaut und kann nur sagen: es lohnt nicht die
Mühe. Die Behauptung Hoffs, dass Spinoza im Gegensatze zu
Machiavelli nicht aus historischer Factis, sondern aus metaphysischen
Gründen seine politischen Lehren abgeleitet habe, welcher Herr
Spinoza und die Collegianten. 281
Meijer die Ehre eines Citats erweist, ist natürlich abgeschrieben,
und zwar aus den Erläuterungen v. Kirchmanus zum politischen
Tractat. Dieser nennt Spinoza einen Stubengelehrten, dem die
Erfahrungen und Geschichtskenntnisse eines Macchiavelli vollständig
fehlen. Wer sich aber über die Staatslehre unseres Denkers in-
formiren will, dem stehen doch schon bessere Hülfsmittel zur
Verfügung; ich nenne Kuno Fischers Spinoza, P. Janet, Histoire de
Sciences politiques, F. Pollock, Spinoza, Sigwart, Spinoza und
Hobbes u. s. w.
So viel über die priucipielle Frage. Im Folgenden sollen die
einzelnen Difterenzpunkte einer näheren Prüfung unterzogen werden.
Spinoza und die Collegianten.
Dass der Philosoph im Kreise der Collegianten zu Amsterdam
und Rynsburg viel verkehrte und dass aus ihrer Mitte seine besten
Freunde hervorgingen, konnte Herr Meijer natürlich nicht in Ab-
rede stellen. Er giebt auch zu (S. 24), dass es zahlreiche geistige
Berührungspunkte gab. Es sei nicht unmöglich, dass die Collegia
in Amsterdam durch Spinoza ihren wissenschaftlichen Charakter
bekommen haben und dass die ersten Capitel des theol.-pol.
Tractats in ihren Kreisen entstanden sind (S. 25). Er erkennt
an, dass die Redefreiheit, das Grundprincip der Collegianten,
in jenem Tractat die beste Vertheidigung gefunden habe, endlich
dass die Opposition gegen einen bevorrechten Priesterstand Beiden
gemeinsam war, duldeten doch die Collegianten nicht einmal die
Anstellung von Predigern in ihrer Gemeinde (S. 17).
Allein es giebt nach Ansicht des Herrn Meijer Grenzen,
welche Spinozismus und Christenthum unbedingt von einander
scheiden (S. 24). In dieser Ansicht ist Wahres mit Falschem
vermischt. Es kommt sehr darauf an, mit welchen Augen mau
den Spinozismus betrachtet und was man unter Christenthum ver-
steht. Es kommt ferner sehr darauf an, ob man den Spinoza
der „Ethik" oder den Spinoza des „theologisch-politischen Tractats"
in Betracht zieht. In diese Dinge ist jedoch Herr Meijer nicht
tiefer eingedrungen; er gelangt daher zu ganz unrichtigen Ergeb-
nissen.
2g2 ^^- Menzel,
Ich werde dies alsbald nachweisen. Vorher möchte ich aber
eine oft wiederkehrende Redewendung beleuchten, dass sich näm-
lich Spinozas Freunde von ihm mit Entsetzen abgewendet haben,
sobald von religiösen Dingen die Rede war. Es wäre eine psycho-
logische Merkwürdigkeit Jemand eine treue lebenslängliche Freund-
schaft zu beweisen, dessen Lehre man verabscheut, durch den man
sich in den heiligsten Gefühlen verletzt fühlt. Da hätte Herr
Meijer doch etwas kräftigere Beweise vorbringen müssen, um eine
so unwahrscheinliche Behauptung glaubhaft zu machen. Er beruft
sich auf den Briefwechsel Spinozas mit Oldenburg, der aber nichts
beweist, da doch Oldenburg kein Collegiant, sondern ein streng-
gläubiger Protestant war; von einem Abscheu vor Spinozas Lehren
habe ich aber selbst hier nichts entdecken können. Herr Meijer
beruft sich ferner auf Bredenburg, der sich öft'entlich gegen den
Vorwurf des Spinozismus vertheidigt hat. Allein Bredenburg sagt
doch nur, dass der christliche Glaube mit den Lehren Spinozas
verträglich sei.
Und wenn sonst öffentliche Erklärungen gegen unseren
Philosophen auch bei seinen Freunden vorkamen, kann das be-
weisen, dass sie auch innerlich seine Lehre missbilligten? Hier
muss man doch mit der menschlichen Schwäche rechneu; Spinozas
Schriften waren verboten und die Anhängerschaft brachte Gefahr;
sind doch aus diesem Grunde viele Briefe vernichtet oder ver-
stümmelt worden.
Herr Meijer setzt die Lehre Spinozas als bekannt voraus
(S. 21) und deducirt nun aus ihr einen unüberbrückbaren Gegen-
satz zu den Collegianten. Da wollen wir nun der Reihe nach das
Christenthum dieser Gemeinden und dann die Stellung Spinozas
zur Offenbarung und zu Christus betrachten.
Das Christenthum der Collegianten.
Herr Meijer bemüht sich eine zusammenfassende Darstellung
der Ideen zu geben, welche die „Rynsburgsche Vergadering" be-
herrschten. Soweit es sich um die negative Seite ihrer Be-
strebungen handelt, ist seine Schilderung vollständig gelungen.
Die Collegianten anerkennen keine festgestellte documentierte Con-
Spinoza und die Collegianten, 285
fessiou (S. 5). Sie verurtheilen das Treiben der Confessiouellen
als mit dem Wesen der Reformation in Widerspruch stehend; sie
sind Feinde jeder Dogmatik (S. 6). Von den Mystikern und
Quilkern unterschieden sie sich dadurch, dass sie nicht an eine
ununlerbrocheue Inspiration glauben, sie protestieren gegen jede
Priesterherrschaft und gegen jeden Glaubenszwang (S. 7); ob man
zu einer Kirche sich bekannte oder nicht, war den Collegianten
einerlei (S. 12). Sie wollen Niemand ihre Meinung aufdrängen
(S. 14). „Entweder Rom oderRynsburg", sagt einer der Collegianten;
„entweder die Bestimmung der Glaubenslehre einem Oberhaupte
überlassen oder einem Jeden die Freiheit gegönnt, zu sagen, was
er davon hält" (S. 15). Das freie Sprechen war das Fundament
ihrer Vereinigung (S. 19).
Minder überzeugend ist der Versuch des Herrn Meijer, einen
positiven Inhalt der Collegianten-Religion festzustellen. Er ist
sich der Schwierigkeit dieser Aufgabe bewusst, glaubt aber doch,
dieselbe durch Zusammenstellung von überlieferten Aussagen der
Collegianten lösen zu können (S. 5). Er spricht von einem „un-
ausgesprochenen aber von Allen unbestrittenen Glaubens-
bekenntniss" (S. 11); ein Bekenntniss, das man nicht ausspricht,
ist jedoch eine schwer zu fassende Vorstellung. Wie ist damit der
Satz auf S. 20 zu vereinigen: „eine Collegianteuconfession kann
ex rei natura nicht geboten werden; sie würde eine contradictio
in adjecto darstellen"?
Doch lassen wir vorläufig von diesen priucipiellen Bedenken
ab und sehen wir, was Herr Meijer als gemeinsamen Glaubens-
grundsatz der Collegianten gefunden zu haben glaubt. „Sie
meinten in der vorhandenen Offenbarung Alles zu haben, was zur
Seligkeit nothwendig sei." Alle bekannten, dass Jesus war der
Christus, der Sohn des lebendigen Gottes" (S. 11). „Die heilige
Schrift als einzige regula lidei und das Abendmahl aller Gläubigen
als Symbol ihrer Gemeinschaft, das ist also der Inhalt des Glaubens
der Collegianten" (S. 13). Schön! Wenn nun Jemand im Kreise
der Collegianten aufgestanden wäre und gesagt hätte: Ich glaube
an die Göttlichkeit der Bibel, aber ich behalte mir vor, zu unter-
suchen, worin diese Göttlichkeit besteht; ich werde feststellen,
284 ^^- Menzel,
was in der heiligen Schrift uur der Fassungskraft bestimmter
Völker und Zeiten augepasst ist; ich weiss, dass Christus Gottes
Sohn genannt wird, aber nach meiner Ansicht nur, weil sich in
ihm wie sonst niemals Gottes Weisheit offenbart hat; ich meine,
dass der Satz des Evangelisten, das Wort ist Fleisch geworden,
nur bildlich zu verstehen sei u. s. w. (der Betreffende hätte z. B.
Spinoza heissen können); ich frage, hätte die Rynsburger Ver-
gadering diesen Mann hinausweisen, ihm sagen können: „Du gehörst
nicht zu uns." Niemals! Denn wie die heilige Schrift zu inter-
pretiren sei, konnte nach dem Grundprincip der Collegianten
nicht autoritär festgestellt werden. Es war daher nur ein Zufall,
dass wie Herr Meijer berichtet (S. 13) die meisten (!) Collegianten
die apostolischen Glaubensartikel anerkannten*).
Der theologisch-politische Tractat und das Christenthum.
Herr Meijer legt seiner Charakteristik Spinozas die „Ethik"
zu Grunde, in ihr ist, wie richtig bemerkt wird, von Offenbarung
keine Rede (S. 24). Wer den Philosophen in seiner abschliessenden
Gedankenwelt darstellen will, muss darauf Gewicht legen; wer je-
doch die geistige Entwicklungsgeschichte im Auge hat, darf sich
darauf nicht beschränken. Es ist ein ganz vergeblicher Versuch,
den Gott der „Ethik" mit dem Gotte des „Tractats" zu identi-
ficiren; es ist unmöglich, das was hier Spinoza über Christus und
die Offenbarung sagt, mit den Lehren jenes Hauptwerkes in Ein-
klang zu bringen. Es bliebe nur der Ausweg, anzunehmen, dass
unser Philosoph im Tractate unaufrichtig gewesen sei, die Dinge
nur ironisch gemeint habe u. dgl., was auch schon behauptet
wurde. Wer jedoch den Tractat unbefangen liest, muss diese
Behauptung als völlig unbegründet erachten; ganz abgesehen davon,
dass der Charakter unseres Denkens eine solche Auffassung aus-
schliesst. Ich hoffe in dieser Frage Herrn Meijer auf meiner
Seite zu haben, da er stets mit den Ausdrücken höchster Ver-
^) Ich hoffe dass man diese Bemerkungen nicht dahin verstehen wird,
als ob ich den Collegianten einen Vorwurf machen wolle: mir ist es nur
darum zu thun den wirklichen Sachverhalt festzustellen.
Spinoza und die Collegianten. 285
ehrung von Spinoza spricht. Dann wäre es aber seine Pflicht
gewesen, jenen Gegensatz nicht zu verschweigen. Es .durfte nicht
die erst spät vollendete Ethik, sondern der Tractat herangezogen
werden, mit dessen Ausarbeitung Spinoza gerade während seines
Aufenthaltes in Rynsburg im Kreise der Collegianten beschäftigt
war.
Ich bitte nun folgende Stellen unseres Tractates zu würdigen,
Stellen, die ich aufs Geradewohl herausgreife, ohne auf A'oll-
ständigkeit Anspruch zu machen. In dem Glaubensartikel der
„allgemeinen Religion", welche Spinoza im 14. Capitel vorschlägt,
heisst es unter Punkt 7: „Endlich verzeiht Gott dem Reuigen seine
Sünden, denn es ist Niemand ohne Sünde; ohnedem müsste also
ein Jeder an seinem Heile verzweifeln und wäre kein Grund, Gott
für barmherzig zu halten. Wer dagegen fest glaubt, dass Gott
in seiner Barmherzigkeit und Gnade, mit der er Alles leitet, den
Menschen ihre Sünden vergiebt, wird dadurch in seiner Liebe zu
Gott mehr gehoben : er kennt in Wahrheit Christus im Geiste und
in ihm ist Christus." In der „Ethik" aber ist bekanntlich die
Reue ein Affect des Leidens und wird daher missbilligt. Ein Gott,
der die Sünden verzeiht, fällt ganz aus dem System heraus, das
deus sive natura an die Spitze stellt.
Ueber die Offenbarung sagt unser Tractat nicht bloss, wie
Herr Meijer (S. 24) meint, dass sie für die meisten Menschen von
Interesse sei, sondern es heisst im 15. Capitel, dass die Offen-
barung noth wendig gewesen sei, ja dass wir an dem Heile bei-
nahe aller verzweifeln müssten, wenn wir die Zeugnisse der hl.
Schrift nicht hätten.
Ueber Christus finden sich folgende Aussprüche: „Die Weisheit
Gottes hat in Christus menschliche Natur angenommen und Christus
ist das Heil der Welt gewesen. Ueber das, was einige Kirchen
über Christus festsetzten, will ich nicht sprechen, es auch nicht
bestreiten, denn ich gestehe offen, dass ich es nicht verstehe.
Was ich hier behauptet habe, entnehme ich aus der Bibel selbst."
„Ich behaupte daher, dass ausser Christus Niemand die Often-
barungen Gottes anders als mit Hülfe der Einbildungskraft cm-
286 Ad. Menzel,
pfaugcn hat. (Cap. I). „Gott hat seinen Christus allen Völkern
geschickt, um sie alle gleich aus der Knechtschaft des Gesetzes zu
erlösen, lehrt Paulus, also genau dasselbe, was ich behaupte"
(Cap. III). „Christus war nicht sowohl Prophet als der Mund
Gottes" (Cap. IV). Ueber die Apostel äussert sich Spinoza dahin,
„dass sie nicht bloss die Kraft empfangen haben, die Geschichte
Christi als Propheten zu predigen, d. h. mit Zeichen zu be-
kräftigen, sondern auch etc. (Cap. XI). Von den christlichen
Gebräuchen wie die Taufe, das Abendmahl, die Feste und
anderes sagt er (Cap. V), dass sie nur als äusseres Zeichen
der allgemeinen Kirche eingesetzt sind, aber nicht, um zur Seligkeit
beizutragen.
Ich schliesse hier gleich an, was die Collegianten über die
heiligen Gebräuche dachten. „Das Abendmahl allen Gläubigen
als Symbol ihrer Gemeinschaft" bezeichnet Herr Meijer selbst
(S. 13) als ihre Auffassung. Hinsichtlich der Taufe fügt er hinzu,
dass sie nicht gefordert wurde, „die Taufe gehörte, wie Christian
Verbürg sagte, nicht zu der Natur der Rynsburger Versammlung."
Und da behauptet Herr Meijer, es sei nicht denkbar, dass
Spinoza je das Abendmahl mit den Collegianten zu Rynsburg ge-
theilt hätte!) (S. 24.) „Spinoza, von jüdischen Eltern geboren,
nahm den christlichen Glauben an, ohne davon ein öffentliches Be-
kenntniss abzulegen", sagt ein niederländisches Geschichtswerk*)
und es dürfte damit das Richtige getroffen haben.
Der Briefwechsel mit Oldenburg.
Um seine These von der unüberbrückbaren Kluft zwischen
Spinoza und den Collegianten ins rechte Licht zu stellen, beruft
sich Herr Meijer auf die Stelle eines an Oldenburg gerichteten
Briefes, welcher in der Haager Ausgabe der Werke Spinozas die
Nummer 73 trägt. Ich habe schon oben bemerkt, dass Oldenburg
kein Collcgiant war, sondern „dem protestantischen Glauben in
*) Geschiedenis der uederlandsche Hervormde Kerk, citirt bei Antonius
\an der Linde, Spinoza S. 141.
Spinoza und die Collegianten. 287
aller Streuge uud mit voller Ueberzeugung zugethan" '^). Wenn
daher auch eine tiefgehende Difierenz vorhanden wäre, so würde
daraus noch nicht folgen, dass sie auch gegenüber den Collegianten
bestanden hat. Ueberdies ist zu bedenken, dass der fragliche
Brief wahrscheinlich aus dem Jahre 1675 stammt, also aus einer
Zeit, wo die „Ethik" schon ihre definitive Gestalt angenommen
hatte, wo seit der Publication des theol. Tractats 5 Jahre, seit
seiner Ausarbeitung 10 Jahre verflossen waren. Meine Behauptung
von der innigen geistigen Gemeinschaft Spinozas und der Collegi-
anten bezieht sich aber nicht auf diese späte Epoche, sondern auf
die Zeit des Aufenthalts in Amsterdam und Rynsburg.
Ich könnte daher jenes Argument a limine abweisen. Allein
meine Position ist so fest, dass sie auch diesen Angrift' nicht zu
scheuen hat. Ich werde also den citirten Brief, sowie die noch
in Betracht kommenden Briefe 75 und 78 nach ihrer Stellung zur
christlichen Lehre prüfen.
Im Briefe 73 sagt Spinoza nicht, dass er Gott andere Eigen-
schaften beilege als die christliche Religion, sondern als die
neueren Christen (Christiani ueoterici) und dass er sich dabei
mit Paulus in Uebereiustimmuug befinde. „Wenn indes Einzelne
meinen, dass der theol. -pol. Tractat auf der Identität von Gott
und Natur beruhe (wobei sie unter Natur eine Art Masse oder
körperlichen Stoff verstehen), so sind sie gänzlich im Irrthum."
Folgt eine Ausführung über die Wunden und daran schliessen sich
Bemerkungen über Christus: „Hier muss man von dem ewigen
Sohne Gottes d.h. von der ewigen Weisheit Gottes, die sich
in allen Dingen, hauptsächlich aber in der menschlichen Vernunft
und vor Allen und am meisten in Jesus Christus offenbart
hat, ganz anders denken." „Weil diese Weisheit, wie gesagt,
durch Jesus Christus am meisten offenbart worden ist, deshalb
haben seine Jünger gepredigt und gezeigt, dass sie sich des Geistes
Christi vor den Anderen rühmen können". Dann erst folgt die
Stelle, welche Herr Meijer allein citirt, nämlich das Bekenntniss,
^) J. Y. Kirch mann, Erläuterungen zu Spinozas Briefwechsel S. 2.
288 Ad. Menzel,
die Menschwerdung Gottes nicht zu verstehen. Ich kann in der-
selben, wenn der ganze Zusammenhang betrachtet wird, nichts
fmden, was mit dem von jedem Dogma befreiten Christenthum der
CoUegianten unvereinbar wäre.
In dieser Beziehung muss doch daran erinnert werden, wie
verschieden im Laufe der Entwicklung der christlichen Lehre die
Gottessohnschaft aufgefasst worden ist. Man vergleiche z. B. die
Formulirung, welch neuestens A. Harnack, der hervorragendste
Kirchenhistoriker unserer Zeit, in seiner viel gelesenen Schrift
„Das Wesen des Christenthums" 3. Aufl. S. 81 giebt. „Die Gottes-
Erkenntniss ist die Sphäre der Gottessohnschaft; sein Bewusstsein,
der Sohn Gottes zu sein, ist darum nichts anderes als die
praktische Form der Erkenntniss Gottes. Richtig verstanden
ist die Gotteserkenntniss der ganze Inhalt des Sohnes-
namens. Es ist aber hinzuzufügen: Jesus ist überzeugt, Gott so
zu erkennen wie keiner vor ihm, und er weiss, dass er den Beruf
hat, allen Andern diese Gotteserkenntniss und damit die Gottes-
kindschaft durch Wort und That mitzutheilen."
Oldenburg ist freilich von einer solchen Auffassung der Gestalt
Christi weit entfernt. Er dringt auf neue Erklärungen Spinozas,
von dem er sagt, dass er der christlichen Religion wohl zugethan
sei (Brief 74). Dieser antwortet ausführlich (Brief 75) und
schliesst mit den Worten „Die Hauptsache ist, was Christus von
sich gesagt, nämlich, dass er der Tempel Gottes sei, weil, wie ich
oben bemerkte, Gott sich vorzüglich in Christus offenbart hat,
was Johanne.^ in seiner kräftigen Sprechweise so ausdrückt: „Das
Wort ist Fleisch geworden." Auf die Anfrage Oldenburgs, wie
Spinoza die evangelische Erzählung vom Leiden, vom Tode und
der Auferstehung Christi auffasse, erwidert Spinoza (Brief 78):
„Ich nehme mit Ihnen das Leiden, den Tod und das Begräbniss
Christi in wörtlichem Sinne, aber seine Auferstehung nur im
allegorischen Sinne."
Diese Proben dürften wohl genügen, um darzuthun, dass
Spinoza selbst noch in den letzten Jahren seines Lebens, als die
Spinoza und die Collegianten. 289
pantheistische Auffassung schon den Sieg errungen hatte, eine
religiöse Ueberzeugung besass, welche ihn als nicht gänzlich ausser-
halb des Christenthums stehend erscheinen lässt.
Christlicher Spinozismus.
Ich habe gezeigt, dass der theol.-pol. Tractat keineswegs un-
verträglich erscheint mit jener Auffassung des Christenthums,
welche die Collegianteu als Princip anerkannten, wenn auch in
den Einzelfragen des Glaubens die meisten Rynsburger der refor-
mirten Kirche näher gestanden haben als Spinoza. Ich habe
ferner dargelegt, dass selbst der Briefwechsel mit Oldenburg keines-
wegs das Dilemma scharf hervortreten lässt : entweder Pantheismus
oder christliche Offenbarung. Alles aber wird überboten durch
die geschichtliche Thatsache, dass selbst nach dem Tode unseres
Philosophen, als seine „Ethika" schon veröffentlicht war, noch eine
grosse Anzahl tiefreligiöser Männer in zahlreichen Schriften die
Lehren Spinozas nicht etwa bloss neben dem Glauben zuliessen,
sondern mit der christlichen Dogmatik zu einem theologischen
System zu vereinigen bestrebt waren.
Die grösste Verbreitung, welche der Spinozismus
jemals gefunden hat, erfolgte in der Gestalt christlicher
Lehre, und zwar in seiner Heimath, in den vereinigten Nieder-
landen. Spinozistische Grundsätze gingen in das Volksleben über;
sie wurden nicht nur von den academischen Kathedern, sondern
innerhalb der orthodox - reformirten Kirche von der
Kanzel herab gelehrt'). Diese Thatsache, welche Herrn Meijer
nicht unbekannt sein sollte, hat er nicht erwähnt; sie ist allerdings
für seine Auffassung höchst unbequem.
Ich bin darauf gefasst, dass man die Bedeutung« dieser merk-
würdigen Erscheinung wird abschwächen wollen mit dem Argument,
dass ja die officielle Landeskirche diese Richtungen nicht billigte.
Allein was wird damit bewiesen? Es wurden doch auch die
Arminianer, die Coccejaner und die Collegianteu als heterodox
angesehen, obwohl diese religiösen Gemeinden" nach Ansicht des
0 A. V. d. Linde, Spinoza S. 134.
290 Ad. Menzel,
Herrn Meijer noch auf dem Boden des positiven Christenthums ge-
standen haben. Und wenn man ferner einwenden sollte, dass sich
alle christlichen Anhänger Spinozas, die ich später erwähnen
werde, geirrt haben, dass der Spinozismus unverträglich sei mit
der christlichen Lehre, so erwidere ich darauf Folgendes: Das
könnte zutreffend sein, ist aber für eine geschichtliche Betrachtung
ganz irrelevant. Es kommt nicht darauf an, wie wir heute
Spinoza verstehen, sondern wie er seinen Zeitgenossen erschien.
Der Ausgangspunkt der Abhandlung Herrn Meijers ist ja der,
dass zwischen Spinoza und den Collegianten deshalb keine Wechsel-
wirkung entstehen konnte, weil in der Hauptsache trotz mancher
Berührungspunkte eine unüberbrückbare Kluft bestanden habe;
man dürfe, sagt er, die Grenzen nicht verwischen, die Spiuozismus
und Christenthum unbedingt von einander scheiden (S. 24). Eine
grosse Anzahl tiefreligiöser Männer, darunter reformirte Prediger,
haben jedoch einen solchen Gegensatz nicht gefühlt. Ich nenne
von ihnen nur Wilh. Deurhoif, A. Koerbagh, A. J. Cuffeler,
H. Wayermars, B. Bekker; namentlich sind aber als Häupter
ganzer Schulen von grösstem Einfluss gewesen, Fr. v. Leenhoff und
P. van Hattem ^). In zahlreichen Schriften haben sie bald mehr
die rationalistischen, bald mehr die mystischen Lehren von
Spinozas Ethik zu einem christlich-theologischen System ausge-
arbeitet. Die Einzelheiten kann man bei Rene Worms, La morale
de Spinoza (Paris 1892) cap. XVI, bei Fr. Pollock, Spinoza Ins
life and philosophy, London 1880 p. 375 ff., namentlich aber in dem
schon citirten Werke A. van der Lindes nachlesen.
Der letztgenannte Schriftsteller, der sich keineswegs durch
Unparteilichkeit auszeichnet, bemerkt am Schlüsse seiner Dar-
stellung (S. 1*70), dass die jetzt (1862) in Holland dominirende
Theologie der Leydener Schule von einer strengen Prädestinations-
lehre ausgehe und zu einem entschieden pantheistischen Monismus
gelange. „Es wäre daher", sagt er mit Ingrimm „leicht aus den
8) Hattems bedeutendste Schüler sind J. Bril, M. Boems, D. Jans, G.
Buijterdyck.
Spinoza und die CoUegianten. 291
Quellen ein Buch über diese Theologie zu schreiben, mit dem für
seinen Inhalt sehr passenden Titel: Spinoza redivivus."
Die CoUegianten und die Demokratie.
Im theol.-polit. Tractat erscheint Spinoza als Anhänger der
unmittelbaren Demokratie, er erklärt sie als die natürlichste Staats-
form, als den Musterstaat. Ich habe in meiner citirten Festschrift
versucht, eine Erklärung für diese auffällige Erscheinung zu finden
und sprach die Verrauthung aus, dass hier der Ideenkreis der
Collegiantengemeinde nicht ohne Einfluss gewesen ist. Herr Meijer
bekämpft diese Hypothese in einer Weise, welche bei jedem Sach-
kundigen Erstaunen erwecken muss. Er stellt die Sache so dar,
als ob ich die CoUegianten als eine politische Partei bezeichnet
hätte, welche in Holland die Volksherrschaft an Stelle des
herrschenden aristokratischen Systems setzen wollte. Das ist mir
natürlich nicht in den Sinn gekommen. Sie bildeten religiöse
Corporationen, nicht politische Gemeinschaften. Allein in diesen
zunächst politisch indifferenten Vereinigungen gelangten die beiden
Grundgedanken der Demokratie, die Freiheit und die Gleichheit
zum Ausdruck. Die Idee der Freiheit konnte wohl nicht schärfer
formulirt werden, als in der „vrijheid van spreken" der Rynsburger
Vereinigung. Die Idee der Gleichheit aller Glieder war aber da-
durch realisirt, dass das Priesterthum in jeder Form zurückgewiesen
wurde; die Anstellung von Predigern galt als unzulässig. Erscheint
es da wirklich nicht nahe, diese Principien auch auf die politischen
Gemeinwesen zu übertragen und zu lehren, „dass die ganze Ge-
meinschaft womöglich gemeinsam die Herrschaft führen muss,
damit Jeder so sich selbst und Niemand Seinesgleichen
gehorche"^)? Wer freilich im todten Urkundenmaterial stecken
bleibt, dem erscheinen solche psychologische Verknüpfungen un-
fassbare „Irrthümer".
Uebrigens ist Dasjenige, was mein verehrter Gegner über das
Verhältniss der CoUegianten zum politischen Leben vorbringt,
9) Spinoza, Tr. th. cap. V.
292 ^^- Menzel,
kaum ganz richtig. „Die politisch-religiösen Ideen der Collegianten
waren wie die der Mennoniten, ausschliesslich verneinend und jeder
Theilnahme an der Regierung abgeneigt. Wer zur Regierung ge-
hörte, gehörte dieser Welt an, nicht der Gemeinde Christi" (S. 27).
Hier werden also die Collegianten und Mennoniten vollkommen
gleichgestellt, während Herr Meijer auf S. 12 selbst berichtet, dass
Bredenburg, einer der hervorragendsten Collegianten „der menisten
leeren Tafel" von sich gewiesen hat. Der Schluss aus dem Dogma
der Menuonisten. bei denen, wie Herr Meijer meint, Graf Tolstoj
seine anarchistische Lehre hätte schöpfen können, ist doch wohl
nicht zwingend.
Auf S. 25 giebt ferner Herr Meijer zu, dass die ersten Capitel
des theol. Tractats wahrscheinlich im Kreise der Collegianten ent-
standen sind. Und was lesen wir im 3. Capitel? „Kein besseres Mittel
lehrt die Vernunft und die Erfahrung, als eine Gesellschaft mit
festen Gesetzen zu bilden, einen bestimmten Landstrich einzu-
nehmen und alle Kraft für die Gesellschaft gleich wie für einen
Körper zu verwenden." In einer Gesellschaft von Anarchisten,
wie es die Collegianten angeblich waren, muss eine solche Ver-
herrlichung des Staates jedenfalls Entsetzen hervorgerufen haben!
Vergeblich suchen wir allerdings in den Briefen Spinozas eine
Spur jenes tiefen Gegensatzes.
Doch Herr Meijer behauptet wirklich, dass sich die Collegi-
anten über Spinozas Lehre von der Staatsallmacht bis zum jus
circa sacra entsetzt haben werden (S. 2ü). Da passirt ihm aller-
dings ein kleines Malheur. Er verwechselt das Staatskirchen-
system, wie es Hobbes und Grotius formuliren, mit der Cultus-
hoheit des Staates, welche der theol. Tractat zulässt. Nach
Hobbes kann der Staat bekanntlich Gesetze über das Dogma er-
lassen und Grotius trieb, wie Herr Meijer auf S. 9 selbst berichtet,
die „Staaten" dazu an, alle Uneinigkeit in der Landeskirche mit
Gewalt zu bekämpfen. Ist das aber auch die Lehre Spinozas?
Wer den Tractat auch nur oberflächlich gelesen hat, weiss, dass
unser Philosoph gerade das Gegentheil mit der grössten Energie
und in bestrickender Form vertheidigt hat. Das 19. und 20. Ca-
pitel sind zu bekannt, als dass ich sie hier citiren müsste; ich
Spinoza und die Collegianten. 293
begnüge mich daher damit, eine Stelle zu erwähnen, welche bisher
den meisten Forschern entgangen ist. Sie steht am Schlüsse des
7. Capitels und lautet: „Da mithin Jedem das Recht der Gedanken-
freiheit auch in Religionssachen zusteht und Niemand sich dieses
Rechtes begeben kann, so hat auch Jeder das Recht und die
Macht über Religion frei zu urtheilen und also auch sie für sich
zu erklären und auszulegen. Denn die Macht der Gesetzesaus-
legung und die höchste Entscheidung über öffentliche Angelegen-
heiten steht der Obrigkeit nur zu, weil es sich dabei um das
öffentliche Recht handelt. Deshalb muss aus gleichem Grunde
die oberste Macht die Religion auszulegen und darüber zu ent-
scheiden, dem Einzelnen zustehen, da es das Recht des Ein-
zelnen ist."
lieber solche Ansichten werden sich die Collegianten schwer-
lich entsetzt haben; besser hätten sie ihr Princip auch nicht for-
muliren können.
Wie soll man aber erst zu folgendem Satze sagen, den Herr
Meijer niederzuschreiben den Muth hat? „Wenn man Spinozas
echte Geistesverwandte in politischer Hinsicht sucht, so wären
diese vielmehr bei den Reformirten zu suchen, beim Calvinismus,
der damals in der Republik vorherrschte" (S. 28). Mau vergleiche
dazu die bei FreudeuthaP") unter Nr. 31 — 91 abgedruckten Be-
schwerden der Kirchenräthe und die Synodalbeschlüsse der Landes-
kirche betreffend die verderblichen Lehren des theolog.-polit.
Tractats. Jedes weitere Wort wäre Verschwendung.
Wandlungen in der Staatslehre Spinozas.
Herr Meijer meint (S. 28), dass die Ermordung der Brüder
de Witt Spinoza nicht von der Democratie entfernt habe. Das ist
insofern richtig, als Spinoza sich schon längst von ihr abgewendet
hatte"). Allein dieses traurige Ereigniss verstärkte seine Abneigung
'") Die Lebensgeschicbte Spinozas in Quellenschriften, Leipzig 1899.
") Es war, wie ich a. a. 0. ausführte, der Verkehr mit Jan de Witt und
die gereifte politische Einsicht, welche diese Wendung herbeiführte.
Archiv f. Geschichte d. PhUosophie, XV, 3. 21
294 Ad. Menzel,
gegen die Volksherrschaft. Diese Behauptung welche ich (a. a. 0.
S. 36) zunächst nur als eine psychologische Nothweudigkeit auf-
gestellt hatte, erfährt nunmehr ihre volle Bestätigung durch die Mit-
theilung aus Leibnitz' Papieren, publicirt bei Freudenthal S. 210
Nr. 11: „J'ay passe quelques heures apres diner avec Spinoza. II me
dit, qu'il avait este porte, le jour des massacres de M. M. de Witt de
sortir la nuit et d'afficher quelque part, proche du lieu (des
massacres) un papier, oii il y aurait „ultimi barbarorum"!
Mais son hote lui avait ferme la maison pour l'empecher de
sortir car il se serait expose a etre dechire".
Sollte wirklich Spinoza diese Volksmassen, welche er als die
äussersten Barbaren bezeichnet, als die würdigen Träger der
Staatsgewalt angesehen haben?
Doch Herr Meijer beruft sich auf eine Stelle im tractatus
politicus^^), welche angeblich beweisen soll, dass Spinoza ein An-
hänger der Demokratie geblieben sei. Auch dieses Argument ist
vollkommen missglückt. Spinoza kritisirt hier allerdings die hol-
ländische Verfassung. Allein er tadelt an ihr nicht, dass sie
aristokratisch sei, sondern etwas ganz anderes.
„Die Holländer haben es zur Erlangung ihrer Freiheit für
genügend erachtet, den Reichsgrafen zu beseitigen und den Reichs-
körper des Hauptes zu berauben, ohne sonst an Umgestaltung des
Reo'iments zu denken; vielmehr blieben alle Glieder desselben in
der früheren Verfassung, so dass die Grafschaft Holland ohne
Grafen, wie ein Körper ohne Haupt und die Staatsgewalt selbst
ohne Namen blieb. Es kann deshalb nicht auffallen, wenn die
meisten Unterthanen nicht wussten, bei wem die höchste Staats-
gewalt sich befand. Und wäre dies auch nicht der Fall, so war
doch die Zahl der wirklichen Inhaber der Staatsgewalt zu klein
für die Regierung des Volkes und die Niederhaltung ihrer mächtigen
Gegner. So kam es, dass Letztere ihnen ungestraft nachstellen
und zuletzt sie beseitigen konnten. Der rasche Umsturz der Ver-
fassung ist deshalb hier nicht daher gekommen, dass man seine
1«) Cap. 9 § 14.
Spinoza und die Collegianten. 295
Zeit unnütz in Berathungen verschwendet hat, sondern weil die
Staatsverfassung missgestaltet und der Regierenden zu wenig
waren."
Spinoza tadelt also ein Doppeltes: die mangelnde Konse-
quenz in der Ausbildung des aristokratischen Princips
und die zu geringe Zahl der herrschenden Patrizier. Man hätte
in der Verfassung ausdrücklich die „Staaten" d. h. die Stände als
Träger der Souveränität bezeichnen und ihre factische Macht durch
Heranziehung grösserer Gruppen von Rittern und Bürgern ver-
mehren sollen. An eine Herrschaft der unteren Volksklassen denkt
er jedoch nicht im mindesten; ihm erscheint die aristokratische
Föderativ-Republik die für sein Vaterland geeignete Verfassungs-
form. Das wird Jedem klar der auch nur flüchtig das 8. und
9. Capitel des politischen Tractats studirt. Hierbei legt Spinoza
allerdings grosses Gewicht auf die Einführung von Milizheeren
und er trifft damit den schwächsten Punkt in der politischen
Thätigkeit Jan de Witts, die Vernachlässigung der Landmacht.
Dieser Fehler des bedeutenden Staatsmanns war in der That die
Ursache der furchtbaren Bedrängniss, in welche die Niederlande
durch den Angrift' Ludwig XIV. gerathen sind und die Ursache
des Unterganges der aristokratischen Herrschaft.
Spinozas Kritik richtet sich also durchaus nicht gegen die
Aristokratie als solche, sondern nur gegen die mangelhafte Aus-
gestaltung, welche sie in den Niederlanden erhalten hatte. Wenn
hierüber noch ein Zweifel bestehen könnte, so muss er verstummen
angesichts der folgenden Aeusserung des Philosophen: „Da ich nun
gezeigt habe, dass die Verfassung beider Arten des aristokratischen
Regiments sowohl mit der Vernunft als mit den allgemeinen
Trieben der Menschen übereinstimmt, so kann ich behaupten,
dass, wenn irgend ein Regiment, sicherlich dieses von ewiger Dauer
sein werde und dass keine innere Schuld, sondern nur ein unver-
meidliches äusseres Unglück es zerstören kann" (Tr. pol. X § 9)^^).
13) Bern steht nicht entgegen was im pol. Tr. Cap. XI § 2 über die De-
mokratie gesagt ist, da hier ein ganz eigenartiger Begriff der Demokratie vor-
ausgesetzt ist.
21*
296 Ad. Menzel,
Ich war daher vollkommen berechtigt, von „Wandlungen in
der Staatslehre Spinozas" zu sprechen; dies um so mehr, als die
Werthschätzung der Staatsformen durchaus nicht den einzigen
Gegenstand dieses veränderten politischen Denkens bildet. Viel-
mehr zeigt sich auch in der Auffassung des Staatsvertrages, in den
Ansichten über den Zweck des Staates, in der Formulirung der
religiösen Toleranz eine bedeutende Verschiedenheit zwischen dem
politischen und dem theologisch-politischen Tractate, wie in meiner
Festschrift ausführlich gezeigt worden ist. Diese Dinge erwähnt
Herr Meijer gar nicht, so dass der Leser den Eindruck erhalten
muss, als ob es sich bloss um den Gegensatz zwischen demokratischer
oder aristokratischer Gesinnung gehandelt hätte.
Aber auch für jene andern „Wandlungen" bietet meine
Milieu-Theorie die einzig mögliche Erklärung. Wenn z. B. Spinoza
in einer berühmt gewordenen Stelle des theologisch-politischen
Tractates die „Freiheit" im politischen Tractate, hingegen die
„Sicherheit" als Zweck des Staates bezeichnet, wie anders ist
dies zu begreifen, als indem jene Schrift in einer Zeit gefestigter
politischer Verhältnisse, diese Abhandlung während des Kriegs-
zustandes und schwerer innerer Verwicklungen verfasst ist? Wo
alles schwankt, lernt man die Sicherheit als höchstes Gut schätzen;
zur Zeit des ruhigen Geniessens erblüht der Gedanke der Freiheit.
Wenn Herr Meijer den Einfluss der Umwelt auf Spinozas
politische Ansichten bekämpft, so wäre er wohl verpflichtet ge-
wesen eine bessere Erklärung an Stelle der meinigen zu setzen.
Das hat er aber nicht gethan. Die wenigen Bemerkungen, die er
dieser wichtigen Frage widmet, dürften jedoch kaum Jemanden be-
friedigen. So will er allenfalls die Gesetzgebung und Staatsein-
richtung der Hebräer als historische Schablone Spinozas gelten
lassen. Nun ist es ja richtig, dass der theol.-polit. Tractat die
jüdische Geschichte kritisch behandelt. Aber von der Theokratie
— als solche hat Spinoza das Reich der Juden richtig charakte-
risirt — zur Demokratie in einer Formulirung, wie sie später
erst Rousseau wieder aufstellte, liegt ein Abstand, der jede Ent-
lehnung ausschliesst. Dort ein Gottesstaat, auf einen Vertrage
mit Gott beruhend, von Hohenpriestern gelenkt, mit dem bevor-
Spinoza und die Collegianten. 297
rechteten Stamm der Leviten und hier ein Musterstaat, „wo die
Herrschaft bei Allen ist und die Gesetze nach allgemeiner Ueber-
einstimraung erlassen werde" '^) — man vergegenwärtige sich nur
diesen Gegensatz und wird w^ohl jede weitere Bemerkung für
überflüssig halten.
In der Meinung des Herrn Meijcr, Spinoza sei der Demokratie
treu geblieben, liegt übrigens eine völlige Verkennuug der damaligen
politischen Situation Hollands. Die unteren Volksklassen standen
auf Seite der orthodoxen Geistlichkeit; die freie Forschung hatte
ihre mächtigste Stütze in der Regierung Jan de Witts, des Führers
der Ritter und Patrizier. Von ihm wurde, wie wir jetzt er-
fahren '^) Spinoza zuweilen „invitirt und in rebus ad statum perti-
nentibus consultirt, als worin er sehr scharfsichtig gewest."
Spinozas Liter aturkenutniss.
Herr Meijer wirft mir schliesslich vor, dass ich gesagt hätte,
Spinoza war in den Classikern schlecht bewandert und hätte seine
politischen Vorgänger nicht gekannt (S. 27). Hier schreibt Herr
Meijer offenbar nur aus einer dunklen Erinnerung, nicht aus einer
wirklichen Leetüre meiner Abhandlung. Eine solche Behauptung,
wie sie mir imputirt wird, habe ich nicht aufgestellt. Ich sprach
nicht von den Classikern überhaupt, sondern nur von den
griechischen Autoren; auch stellte ich selbst deren Kenntniss
Dicht in Abrede, sondern behauptete nur, dass er diese griechischen
Autoren nur aus zweiter Hand gekannt habe. Als Beweis
führte ich an, dass Spinoza nach seinem eigenen Geständnisse der
griechischen Sprache nicht vollkommen mächtig war; charakte-
ristisch schien mir ferner, dass er den bekannten Ausspruch des
Aristoteles von Zoon politikon als eine Lehre der Scholastiker be-
zeichnet (tr. pol. II § 13). Der Bestand der Bibliothek Spinozas,
welchen ich übrigens zur Zeit meiner Abhandlung gar nicht kennen
konnte, zeigt, dass Plato und alle griechischen Autoreu bis auf
Aristoteles fehlen; ob es sich aber hier nicht bloss um eine la-
1*; Tr. theol. cap. V.
^*) Aeusserung Bayles über Spinoza bei Freudenthal, S. 230.
298 Ad. Menzel, Spinoza und die Collegianten.
teinische Uebersetzuug handelt, kann ich nicht bestimmt angeben ^^).
Jedenfalls finde ich nicht, dass der politische Tractat von Ari-
stoteles' Politik erheblich beeinflusst worden sei.
Ich habe ferner nirgends gesagt, dass Spinoza seine politischen
Vorgänger nicht gekannt habe. Ich wies vielmehr ausdrücklich
auf Hobbes und Machiavelli hin und bemerkte hinsichtlich Grotius,
dass er ihm keine Aufmerksamkeit geschenkt habe. Das halte ich
auch vollständig aufrecht, denn weder das sog. Naturrecht Spinozas
noch seine Ansicht über das Völkerrecht zeigen die Spuren des
berühmten Werkes von Grotius „de jure belli ac pacis", das sich,
nebenbei bemerkt auch gar nicht in der nachgelassenen Bibliothek
Spinozas vorfindet^').
Es ist richtig, dass unser Philosoph das Citiren nicht liebt,
und dass er mehr Literaturkenntnisse besass, als davon äusserlich
hervortritt. Es fehlte ihm auch nicht an geschichtlichen Kennt-
nissen. Allein ich habe es nur als unwahrscheinlich bezeichnet,
dass Spinozas Vertretung der absoluten Demokratie im theol.
Tractate einen geschichtlichen Ursprung hat, da er die bedeutendstQ
Verkörperung jener Staatsform, die griechische Demokratie, mit
keiner Silbe erwähnt.
Wenn schliesslich (S. 29) Herr Meijer erklärt, dass Spinoza,
ohne die Geschichte gering zu schätzen, seine Staatslehre aufgebaut
hat aus seiner tiefen Kenntniss der menschlichen Natur und dem
Wesen der Gesellschaft, so stimme ich ihm gerne zu. Allein da-
mit ist es ganz verträglich, dass er sich hinsichtlich einzelner
Postulate der Politik von seiner Umgebung und seinen Erfahrungen
beeinflussen Hess; daraus wird ihm kein Verständiger einen Vor-
wurf machen.
16) Es heisst bei Freudenthal S. 160 Mr. 12, Aristoteles 1548 vol. 2.*
Vgl. auch daselbst S. 226 die Aeusserung des Verlegers Spino/as über seine
mangelhafte Kenntniss des Griechischen.
'') Nur die theologischen und kirchenrechtlicheu Schriften des ..Vaters
des Naturrechts" finden sich im Inventar.
XI.
Frencli Philosophy in the Nineteentli Century.
With Special Refereuce to soine Spiritualistic Plülosophers
by
Dr. Jauies Ijindsay, Kilmarnock.
French philosophy in the uineteenth ceutury, while making
its owu all rieh material like that furnished by Kaut and Hegel,
has not failed to maintain its own continuous character and
distinctive features. Its Cartesiau spirit has been as clearly mani-
fest in the uineteenth as in the seventeenth and eighteenth cen-
turies. A dominant spiritualism pervaded the philosophy of the
seventeenth Century, whereiu speculative reasou had finally cast
off Scholasticism. Materialism and Sensism fouud vogue in the
eighteenth Century. The philosophy of the niueteenth Century in
France is a return to the spiritualism of the seventeenth Century.
In the first half of the uineteenth ceutury, philosophy in France
was largely concerned with questions of social reform and political
philosophy. These were often courageously and suggestively dealt
with. Philosophical Traditionalism, as represented by De Maistre
and De Bonald, Lamennais and Ballanche, looked on the critical
spirit as one of dauger. They urged, in ways extravagant enough,
Submission to the Church. Tradition, authority, and social life
they set up as couuteractives to iudividualism and anarchy. Saint
Simon proclaimed a collectivism of his own, and the need for a
300 James Lindsay,
learned and skilful clergy. Fourier propouuded his "phalausteries",
and dreamed dreams of au harmonious society whereiu Organization
should beget a happiness perfect and complete. Then came Comte
deuouncing all these endeavours as vitiated by the fact that an
all-convinciug social science — a science of practical politics —
had not first been formulated. It was on the heights of such
positive social science Comte hoped to gain a view-point which
should embrace not only the good in the eighteenth Century phi-
losophy, as handed" on by Condorcet, but also whatever of truth
might reside in it after the damaging assaults of De Maistre on
its negative character. Comte thus became the completer of Des-
cartes, who had done so much to fester the positive spirit. A
rcforra in philosophic method was the fundamental notion of
Positivism. It was precisely Comte who lirst understood the
scientific issues and realised the changed conditions of philosophy.
He saw that philosophy may no more seclude herseif in abstract
thought, and construct theories to which facts must bend. Comte,
realising the proud security whence the positive sciences now
scrutinize the results of speculative philosophy, makes the creation
of a positive social science constitute the fundamental unity of
the whole philosophical system. The conception of a social evo-
lution — of humanity as a developing organism — is set forth by
Comte in the "Positive Politics", but had already been dimiy
appreheuded by Condorcet. The historlc evolution set forth by
Comte is in marked contrast to Hegel's, sincc it is external — an
exterior proccssion in fact — in place of the Hegelian development
of spirit from vvithin. A positive theory of knowledgo could not,
in his vicw, be scparated from this new science of his, with its
not very pleasing name of Sociology.
To every brauch of knowledge he would apply one and the
same method. And the method is no sooner fouud than the phi-
losophy is formed. Now, it is obvious that, in treating the traus-
ceudental as inaccessible to the intellect, Comte made his system
defective and incomplete. Ile saw but one side of the shield, as
Spencer has secn the other. And it is a logical weakness to treat
humanity as an organism without extending the organic idea to
French Philosophy iu the Nineteenth Century. 301
the medium and couditions under vvhich the social life of humanity
is developed. Man or miud individual Comte would coustrue
through humanity. rather than humanity through individual miud.
The individual is for him only an "abstraction", and exists only
through universal humanity. Humanity is for him supreme moral
end, but he certainly unfolded no proper and universally related
moral system. Whatever difficulties may atteud the pursuit of
an absolute philosophy, these we certainly prefer to a system
which, like that of Comte, deceives itself as to what is divine,
disbelieves the relatedness of the universe that Stands over against
man, and destroys its unity by treating the part as the whole.
Even precursors of the positive philosophy, like Descartes and
Bacon, were not able to resist the craving for an "absolute"
knowledgc. Among those he most deeply influenced were Littre
and Hippolyte Taine. Vain and preposterous as have been the
attempts to take Comte's system in lieu of the great philosophies
of the absolute, these attempts derogate not from the highly
meritorious Services Comte rendered. These are evidenced by the
fact that over the broad realms of philosophical, historical, and
scientific research, the spirit of his doctrine may everywhere be
found today as a deep , pervasive influence. For no one in the
Century, perhaps, may be so truly claimed the merit of having
propounded a new system as for Comte.
In the latter half of the nineteenth Century, philosophy in
France presents a somewhat striking contrast to what we see in
the flrst half of the Century. This is in respect of the fact that
it presents no school so dominating and centralising in influence
as Eclecticism was about the year 1830. Novv the influence of
Kant is feit, and now that of Leibniz and Schelling. At other
times evolutionary tendencies are manifest, due to the theories of
Lamarck and Spencer, while at yet other points of time Comtean
influences come into view. To this we shall return later.
It was as succeeding the destructive and passionate criticism
of the eighteeuth Century that Maine de Birau became one of the
founders of Spiritualism in France. Theirs was a spiritualism
becoming enough, no doubt, but lacking in the ferment of life.
302 James Lindsay,
In the hands of Biran and Royer-Collard it soon became an official
spiritualism. Maine de Biran did not profess to find the absolute.
He kept sure foothold on experience. He distrusted the idea of
substance, which, in the philosophy of Descartes, had tended to-
wards pantheism. He made for himself, in the end, a kiud of
via media betvveen Stoicism and Christianity. The former he
supposed to make too much of man's will, and the latter too
little.
Maine de Biran was followed by his devoted disciple Cousin,
famed for his wide Eclecticism. Other founders of spiritualism
were such disciples of Cousin as Jouffroy, Saisset, Vacherot, Janet,
Garnier. Ravaisson, Jules Simon, Damirou, Franck, and brilliant
essayists like Caro and Bersot. Cousin's method is eclectic, but
spiritualism is the soul of his System. His morality is exactly
that of spiritualism, mediate and traditional. His Eclecticism was
clearly not that of piecing together parts of other Systems; that is
just what it was not. It professed to base itself on Observation
and induction, to arrive at unity "solely by the aid of the ex-
perimental method". Of course, this method, in resting on Obser-
vation that is complete, will include the truth iu other and less
complete Systems; therefore does Cousin choose to call his method
eclectic. So his Eclecticism has to do with the teachings of
historical philosophy, as well as with the facts of consciousness.
And, as matter of fact, he soon brought iuto his brilliant teachiugs
— for he was the most influential French philosopher of the Cen-
tury— Clements that stood in irreconcilable contradiction to each
other. The truth is, he was unable to abide faithful to his own
method, and to carry analysis to its furthest possibilities.
Eclectic spiritualism waned after Cousin. Even Jouffroy, with
soul athirst for certitude, did not find in the teachings of his
master perfect satisfaction. Joulfroy made man the centre of his
philosophical studies, and made will central in man. Man is a
free force; to him there is an order universal and impersonal in
God; all morality for him consists in respect for this universal
Order. The psychology of Cousin and Jouffroy, based on Observation
Freuch Philosophy in the Nineteenth Century. 303
by means of conscioiisness and reflection, was used in support of
a spiritualistic metaphysic.
Yacherot sat loosely to Eclecticism, and was not afraid to
deal with the metaphysical problems in the attempt to found a
new spiritualistic school. The idea of perfection, the conception
of the infinite, the notion of the ideal, were all handled by
Vacherot, who held perfection to be incompatible with real
existence. Vacherot had a spiritualistic bent, and, after Cousin,
tended to give au ontological turn to psychology. It has been, for
him, rather uusympathetically put that "the idea of perfection is
God, but that perfection has no existence"'. Caro has dealt with
Vacherot's positions in severely critical fashion , leaving him only
a shadowy deity — a figment of the imagination. The infinite is,
with Vacherot, simply the all — the all or nothing. The deity of
Vacherot's idealism is, when developed, merely an ideal one: he
cleaves to the notion of a perfect deity who does not really exist,
for a true God cannot, with him, be living and real! Caro contends,
on the other band, that a God who does not exist is no God at
all. As against Vacherot's conteution that he yet guards the ob-
jective reality of deity as perfectly independent of the mind, Caro
retorts that Vacherot's God — as the Supreme Ideal— is a purely
abstract and subjective conception, the mere product of human
reason, the pure and simple result of our own intellectual
Operations.
Saisset has rendered manifest how the personality of God is
maintained by pautheism always and only at the expense of per-
sonality in man.
Paul Janet has been a steadfast supporter of Eclecticism, and
has laid down a morality which is a Variation on the motives of
Kantian duty, coupled with a doctrine of final causes.
Damiron, as a nioralist of the school of Cousin, rejected a
priori every System that did not comport with faith in the
beautiful, in God, and in the future life.
From various sides we see metaphysical speculatiou gradually
asserting itself in the latter half of the Century against both
Eclectic and Positivist tendencies. Ravaisson sought to establish
304 James Lindsay,
an aesthetic morality, bascd on the identity of the good with the
beautiful. Influenced by AristoÜe, Leibniz and Schelling, hc
shewed philosophical leanings to a metaphysical koowledge in
which real being, or the absolute, is disclosed by an Intuition of
the reason. By such disclosure reason becomes linked to the ab-
solute as true principle of all existence, beauty, and knowledge.
Again, Secretan took up for the raain principle of his philo-
sophy the idea of God's absolute liberty, and founded thereupon
an argument for liberty in man. The problems of evil and of
divine personality did not escape him. But his pleadings for
liberty constituted his deepest influence on French philosophic
thought. Under Kantian Inspiration, teachings like those of
Lachelier and Boutroux have displaycd idealistic tendencies.
Büutroux has set forth the philosophy of contingeucy with great
power, and made his influence feit beyond the bounds of France.
This is a form of philosophic conception with which the twentieth
Century will have to reckon. Boutroux takes cognisance of the
postulates and results of the positive sciences, and seeks to do
füll justice to reality. Renouvior is at oncc Idealist and pheno-
raenalist, and has proved an able philosopher. Renouvier has
stood out as severe critic of eclectic spiritualisra. Hc blames its
method— or rather its lack of method— even more than its con-
clusious, Renouvier postulates a beginning for the world, holds
the ascending series or infinite regress of causes to have had a
first term, takes liberty and contingency to pertain to the world
of phenoraena, and thinks man's liberty and personality capable of
being critically established. For Renouvier is nothing if not
critical. His system he calls "Criticisme". It leans at points to
Leibnizianism. His stand for individual freedom is a bold one.
Pantheism and fatalism he would avoid by a rigid exclusion of
the idea of substance. Conscience is for him the revelation of the
absolute, and the main stress of his ethical teaching lies on duty.
This form of Neo-Kantism has exerced great influence for good
on French philosophic thought, under Renouvier, Brochard, Pillon,
and Dauriac. As "Criticisme", it raay bc allowed to have made,
French Philosophy in the Nineteenth Century. 305
in certain critical aspects, an advance (as idealistic phenomenalism)
on the older metaphysics.
Fouillee has propounded a System of philosophy which has the
great merit of being broad, comprehensive, and consistent. Its
dominating idea is that of the idees-forces. In his view, an
idea is not a mere reproduction or representation in the mind of
some object outside itself, but is at the same time a force working
for its own realisation. In this way ideas are real factors in our
mental evolutiou, for they condition actual changes wrought within
US. Not only so, but they have consequential effects on the vvorld
without US, as we give them outlet in our outward actions. The
bold and striking conception of Fouillee is that the idea is a form
of volition as well as of thought: it is, on his precise shewing,
no longer a form, but an act, couscious of its own direction,
quality, and intensity. We see what an important law is thus
suggested by his idees-forces, though, of course, it remains to
be Seen whether it will prove an adequate foundation for the vast
superstructure he has sought to rear thereupon. It is on this
basis Fouillee tries to rear a monism of idees-forces that shall
overpass any propounded by idealism or materalism. For critical
skill, constructive power, modernness of spirit, and metaphysical
acumen, the philosophical work of Fouillee deserves great praise,
whatever may by its final appraisement. He has shewn a most
worthy conception of philosophy as the study of „reality itself both
as fact and consciousness" — reality „not immobile and as if
crystallised in the past", but „in the process of becoming" and
determining „the future". Fouillee and Renouvier have done
more than any other thinkers, in the latter half of the nineteenth
Century, for philosophy in France, Fouillee by his idea-forces
opposing merely mechanical views of the universe, and Renouvier
opposing the unintelligible as being, in fact, the self-contradictory.
Fouillee rejects the philosophy of contingency, which Renouvier
accepts. Dauriac also has ably defended contingency against
Fouillee's attacks. Hardly behind Fouillee and Renouvier has
been Caro, in respect of his brilliant exposition and defence of
spirit ualistic philosophy. The highest problems of thought he
3Q6 James Lindsay,
confronted and treated witli a rare power of philosophical polemic.
Caro is a striking and beautiful philosophic personality, mamtaining
his positions with singuIar skill, lucidity, and grace. These po-
sitions ränge theinsolves round such subjects as God, the soul,
the future life, and duty. The God for whom, as a spiritualistic
philosopher, he contends, must be a God liviug, intelligent, and
loving. Only such a God carries for him real perfection — the
perfection ol' thought and love. Reason is able to conceive such
a deity, he holds, and the religious conscieuce can approve Him,
not blind Necessity.
Guyau took for his main idea that of life — life as a prin-
ciple of natural power, expansion, and fruitfulness. He strove to
shew how, in tliis vvay, the individual and the social points of
view might be reconciled. Guyau possessed great depth of feeliug
a,nd charm of style. That able and distinguished thinker, Cournot,
has sought to base his philosophy on a group of fundamental
ideas gleaned from tlie various sciences— such ideas as order,
chance, probability. He seeks not certainties in liis philosophy.
Cournot' s caution and freedom from dogmatic certitude have
militated against the power and prevaleuce of his teachings. His
„infinite probability" is in striking contrast to Comte.
Having completed this brief review of French philosophical
developments in the nineteenth Century, it only remains to be
Said that the official philosophy in France is still Eclecticism. Its
nearest danger is that of being content to teach. Its raost serious
lack has been fruitful development, and that is serious
enough for a philosophy. An eclectic philosophy that shall be
coniprehensive enough for this time must, I decidedly think, be
one that shall reconcile and do justice, in its vast synthesis, to
those three great philosophic types, or fundamental philosophic
raethods, represented by what I shall call Naturalism, Rationalism,
and Moralism.
Cartesianism thought to solve the problem of the uuiverse by
clearness of thought. In Opposition to Cartesianism, the sensa-
tionalism of Condillac thought to lind all the knowledge possible
to US through the correct Interpretation of our seusations. The
French Philosophy in the Nineteenth Century. 307
moralism or Neo-Kantianism of Renouvier teaches the supreme
worth of conscience and its revelations. What I maintain is, that
the Eclecticism of France must find room to do justice to all three
spheres or types of reality: 1) to the world of empiric reality,
mediated through the senses; 2) the world of abstract truth, to
which we are brought through the forms and processes of thought;
3) the world of ideal values, revealed to us in the imperatives
of conscience. How hard it is to get the justice we desiderate
for all these three spheres of truth or reality, the history of philo-
sophy is a Standing witness. Yet an Eclecticism that shall
neglect any one of these three factors is instantly open to damaging
assaults in the interests of the neglected factors. The weakness
of French philosophy in the nineteenth Century has arisen from
its bifurcated movement — its tendency critical and its tendency
reconstructive. And not only so, but in France, as elsewhere, we
find at the close of the nineteenth Century, philosophies rather
than philosophy. There the rieh and fruitful results of the
philosophical specialists await some unifying power or process,
whereby the lost sense of totality shall be brought back to men's
minds, and the unity of knowledge be restored in a rieh and
comprehensive philosophy. French philosophy of the future raust,
perforce, partake less of a merely national character, and
more form part — like other national philosophies — of European
philosophical development. To that development it has already
contributed its peculiar share of clearness of idea, lucidity of
expression, precision ofstatement, positiveness of spirit, fruitfulness
of method, richness of principle, acuteness of thought, and wealth
of System. Perhaps we shall await, with most interest, the
fortunes of critical idealism and the philosophy of contingency
in France during the twentieth Century.
XII.
Die Naturphilosopliie vor Sokrates.
Von
Prof. Dl Ernst Chr. Hch. Peithmann.
(Fortsetzung.)
Alle Berichte, die wir über Thaies und Anaxiraander und
Anaximenes besitzen, legen ihnen solche Ausdrücke in den Mund,
wie ^qveaOat, cpOstpsaOai, ^ivsaic, cpOopot, aTisipoi xoaixot, ap)(Y], xiKoq
XaßeTv, teXsutt^, -('Ivssi? T0u8e xou y.6cs\iou, ^Oapxov xöv xoatxov '°*).
Siebentens, Plato berichtet, dass alle Philosophen vor Sokrates
sich mit der Frage beschäftigen, ou/; ^lYvetcti r^ aKÖkluxii r^ isTt.
oder Sia xi ^qvsxai ixotaxov xal oia xi «TroXXuxat xat oia xl saxi.
Demnach müssen also auch wohl die Milesier diese Frage nach
dem Entstehen und dem Sein und Vergehen erörtert haben. Da
aber Heraklit als der erste gelten muss, der der Lehre vom
Vergehen und der Vernichtung entgegentrat und den Gedanken
aussprach, dass „diese Welt immer gewesen ist und immer sein
wire", so können wir nur annehmen, dass die Milesier noch an
der Idee des Entstehens und Vergehens der Welt und aller Dinge
festhielten. Achtens, Aristoteles"") giebt uns die folgende üeber-
sicht über die vorsok ratische Philosophie. Es gab grosse Meinungs-
1°*) „Ritter und Preller", unter Thaies, Anaximander und Anaximenes.
*"=) Arist. II 411.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 309
Verschiedenheiten unter den alten Philosophen, die sich auf die
Frage bezogen, ob etwas ,,aus nichts entstehen" könne oder nicht.
Er spricht von fünf Hauptparteien. 1. Eine Partei leugnet jed-
wedes „Entstehen und Vergehen"; keins von den Dingen, die
„sind", wird geschaffen oder vernichtet, sondern es scheint nur so.
Zu ihnen gehört Melissus, Parmemides. 2. Andere (ÄpTrep e-iTr^oi?)
haben gerade die entgegengesetzte Ansicht. Es giebt nämlich
Leute, die behaupten, dass nicht ein Ding „ungeschaffen" (a^syr^Toc)
ist, sondern dass alle Dinge „ins Dasein kommen", und nachdem
sie „entstanden" sind, bleiben einige von ihnen unvergänglich,
andere vergehen wieder. Hierher gehören in erster Linie Hesiod
und von den übrigen diejenigen, „die zuerst Naturphilo-
sophie getrieben haben". 3. Eine dritte Klasse hält dafür,
dass alle anderen Dinge entstehen und fliessen und nichts be-
ständig bleibt und dass nur ein Ding bleibt, aus dem alle anderen
Dinge auf natürliche Weise verwandelt werden. Diese Ansicht ist
vertreten von vielen anderen Männern, aber ihr Anführer ist
Heraklit. Ausserdem giebt es noch zwei andere Ansichten, näm-
lich 4. Leute, die an Entstehen glauben, aber die die Dinge aus
Oberflächen zusammensetzen und sie wieder in Oberflächen zer-
legen. 5. Die Pythagoreer sagen, dass die Natur der Dinge aus
Zahlen besteht. Wenn wir hiernach die Pythagoreer und die
Leute, die das Flächensystem vertraten, aussondern, so haben wir
unter den eigentlichen vorsokratischen Philosophen drei grosse
Klassen. Die Einen glaubten an „Entstehen (und Vergehen) aller
Dinge ohne Ausnahme". Dies sind Hesiod und die ersten
Naturphilosophen. Die Andern stellen dem gegenüber die
schroffe Lehre auf, dass „nichts entsteht und vergeht", dass also
das Weltall ewig ist. Hierher gehört Parmeuides und Melissus.
Die Dritten, mit Heraklit an der Spitze und einer grossen Anzahl
von Anhängern, lehren, dass alle anderen Dinge entstehen und
wechseln, aber dass „Eins" unvergänglich und ewig ist und dass
die anderen Dinge aus diesem Einen durch Verwandlung entstehen.
Dies scheint genau mit unseren Resultaten zu stimmen. Wir
haben gefunden, dass auf der einen Seite Parmeuides sagt, dass
das Weltall „immer ist", „ohne Anfang und ohne Ende"; Heraklit
Archiv f. Qeachichte d. Philosophie. XV. 3. 22
310 Ernst Chr. Hch. Peithmann,
und Empedokles lehren dagegen, dass die einzelneu Dinge ent-
stehen und vergehen, aber dass dieser Wechsel nur eine Verwand-
lung in neue Formen bedeutet. Die Frage ist nun: wer sind
die Männer, die an Entstehung (und Vernichtung) aller
Dinge glaubten? Wen hat Aristoteles im Auge, wenn er von
den „ersten Naturphilosophen" spricht? Die Pythagoreer sind aus-
geschlossen. Es bleiben nur die drei Milesier übrig,
namentlich Anaxinander und Anaximenes. Dass diesen
Männern von Aristoteles in seinem Versuche, die ältesten Philo-
sophen nach seiner eigenen Idee von der afz/r, zu gruppiren, eine
falsche Philosophie untergeschoben ist, kann keinem Zweifel unter-
liegen. Aristoteles und Theophrast sagen uns, dass die drei ersten
Philosophen das Princip aller Dinge als sv xoCi xivoufxsvov bezeichnet
haben. Dies kann unmöglich wahr sein. Aristoteles selbst sagt
an einer andern Stelle^'''*) Xenophanes habe zuerst die Theo-
rie von ev aufgestellt, und Heraklit rühmt sich zum ersten
Male, es klar gesehen zu haben, dass „alle Dinge eins sind". Und
in der That, die Art und Weise, wie er den Beweis dafür zu
bringen sucht, deutet an, dass dies wirklich der erste primitive
Versuch gewesen sein muss. Die Philosophie vor Heraklit und
Xenophanes muss an eine Vielheit von Dingen geglaubt haben,
die nichts mit einander zu thun haben. Da Heraklit so kühn be-
hauptet, dass seine Lehre von einer ewigen und unvergänglichen
Welt etwas absolut Neues ist, etwas nie Dagewesenes, müssen wir
unbedingt annehmen, dass die Männer vor ihm alle an die Ver-
gänglichkeit der Dinge und der Welt glaubten. Wenn aber die
vermeintliche Lehre der Milesier von dem fv unhaltbar ist und
weggeworfen werden muss, so ist die Frage, was sie damit meinten,
wenn sie sagten, die Dinge entständen „aus" dem unendlichen
Raum und „aus" der Luft. Nach Allem, was wir von der Ent-
wickelung der Philosophie gelernt haben, können sie unmöglicher
Weise das «Ttsipov und die drjp als „Stoff" angesehen haben, aus
dem die Dinge zusammengesetzt sind und in den sie sich wieder
auflösen. Erst nach einem langen und mühevollen Kampfe ent-
»06) Aristot. II 476,32.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. ^W
wickelte sich diese Idee der sogenannten uXr^ oder uiroxst'fjisvov, des
allen Dingen zu Grunde liegenden Stoft'es. Da die Philosophen
vor Heraklit und Xenophones behaupteten, die Dinge entständen
aus dem Nichts und verschwänden wieder ins Nichts, so kann der
unendliche Raum (otTreipov) und die Luft (dr^p') nur örtlich gefasst
werden. Anaximander und Anaximenes, die im Grunde dieselbe
Philosophie vertraten, behaupteten offenbar, dass die Dinge ins
Dasein kommen und dann wieder aus dem Dasein verschwinden,
sie existiren für eine Zeitlang, um dann „nicht mehr zu sein".
Auf die natürliche Frage, „woher" kommen die Dinge denn, gaben
sie die Antwort, aus dem unendlichen Räume, oder was dasselbe
heisst, aus der „Luft", d. h. aus dem leeren Raum oder dem
Nichts.
Was aber Thaies anbelangt, so deuten alle Anzeichen darauf
hin, dass er wahrscheinlich nicht der Beginner der Philosophie war.
Alles, was die ältesten Geschichtsquellen über ihn wissen, bezieht
sich auf seine Gewandtheit als Ingenieur und seine Klugheit als
Sternkundiger,
1. Herodot erwähnt in seinem Bericht über den Krieg
zwischen den Lydiern und Medern, dass eines Tages, als die beiden
sich gegenüber liegenden Heere sich eben zum Kampfe anschicken
wollten, der Tag sich plötzlich in Nacht verwandelte. Und diese
Verwandlung des Tages in Nacht hatte der Milesier Thaies den
Joniern vorausprophezeit und hatte auch gerade dieses betreffende
Jahr als Zeitpunkt angegeben, in dem das Ereigniss wirklich statt-
fand. Dies ist eine der glaubwürdigsten Thatsachen, die wir aus
dem Leben des Thaies und überhaupt aus der Geschichte der
Milesischen Wissenschaft kennen. Es kann nicht daran gezweifelt
werden, dass Thaies auf seinen Reisen im Orient sich hinreichend
astronomische Kenntnisse gesammelt hatte, um seinen Landsleuteu
vorauszusagen, dass in einem bestimmten Jahre eine Sonnen-
finsterniss stattfinden würde, die dann auch zufällig eintrat an
jenem denkwürdigen Schlachttage. Bei einer andern Gelegenheit
begleitete Thaies den Krösus -auf seinem Feldzuge und verrichtete
ein Werk, das zur Zeit des Herodot noch nicht aus dem Gedächt-
niss des Volkes verschwunden war, obwohl Herodot geneigt ist, die
22*
312 Erust Chr. Höh. Peithmann,
Richtigkeit der Tradition auzuzweireln. Thaies maciite es Krösus
und seinem Heere möglich, den Halysfluss ohne Brücke zu über-
schreiten, indem er den Fluss, der zuerst zur Rechten des Heeres
floss, herumlenkte zur linken Seite. Ausserdem war Thaies zu-
gegen auf einer Versammlung, die von den Jonischen Städten
unter dem Joch des Cyrus veranstaltet wurde. Nachdem Blas von
Priene zugerathen hatte, aufzubrechen und eine Panjonische Kolonie
auf der reichen und schönen Insel Sizilien zu gründen, trat Thaies
hervor mit dem Rathschlagc, dass die Jonier einen Bundesrath
gründen sollten, der seinen Sitz in Teos haben sollte. Hier wird
auch nicht im Geringsten etwas von der vermeintlichen Philosophie
des Thaies augedeutet. Er ist einfach ein Mann von praktischer
Gewandtheit, ein geschickter Ingenieur und ein kluger Rathgeber,
der zu gleicher Zeit auf seinen Reisen die Astronomie kennen ge-
lernt hatte. 2. Piaton entwirft genau dasselbe Bild von Thaies.
Er weiss nichts von seiner Philosophie zu erzählen, wie wir schon
oben gesellen haben. Thaies ist einfach einer der sieben weisen
Männer, hochgebildet, bewandert in allerlei Weisheit und Künsten,
ein Freund des Periander von Korinth. Ausserdem berichtet er
die bekannte Anekdote, dass er einst die Sterne beobachtete und
aus Unachtsamkeit in eine Grube fiel, worauf eine Thrakische
Magd die Bemerkung machte, dass er sich um entfernte Dinge
mehr bekümmere, als um die Dinge vor seinen Augen und Füssen.
Einmal spricht er im Allgemeinen von Thaies und seinen Genossen
als Männern, deren Namen berühmt sind „wegen ihrer Weisheit".
3. Heraklit hat in seiner Schrift für Thaies Zeugniss abgelegt,
obwohl er die übrigen Milesier mit Stillschweigen übergeht. Er-
klärt sich dies vielleicht daraus, dass Heraklit seine Landsleute,
deren Theorie er angreift, nicht mit Namen nennen wollte, aber
doch Thaies namhaft machen konnte, weil er ja nicht zu jener
Gruppe von Philosophen gehörte? 4. Auch Diogenes Laertius,
der den Thaies unter die sieben weisen Männer rechnet, behauptet,
dass alle diese Leute weder Weise noch Philosophen waren. Er
lässt die Philosophie ihren Anfang nehmen mit Anaximander und
Anaximenes, an die sich die zwei Schulen der Jonischen und
italischen Philosophen anschliessen. 5. Alle Tradition schreibt
Die Naturphilosophie vor Sökrates. 313
dem Thaies nur Bücher über Astronomie und Geometrie zu und
lässt den Anaximander zum ersten Male ein Buch irspi cp'jasw?
schreiben.
Aristoteles scheint demnach der erste zu sein, der aus
Thaies einen Philosophen machte. In seinem Kopfe scheint die
verhängnissvolle Lehre vom Wasser als dem Urgründe der Dinge
entstanden zu sein. Aber er weiss nichts Bestimmtes über die
Philosophie des Thaies. Er hat einige kurze Aussprüche des Thaies
durch Hörensagen erfahren und baut dann auf diesem sandigen
Boden der Ueberlieferung ein ganzes Gebäude von Vermuthungen
und phantasievollen Schlüssen. Alles, worauf er die berühmte
„Wassertheorie" des Thaies gründet, ist der von Thaies über-
lieferte Satz, „dass die Erde auf dem Wasser schwimme". Aber
das heisst doch ein bischen zu viel „schliessen"! Die ganze
Ausdrucksweise des Aristoteles deutet unzweifelhaft an, dass er
nicht hinreichend unterrichtet war von der Philosophie der ^lilesier,
um uns ein einigermassen glaubwürdiges Bild davon zu entwerfen.
Und wenn er die Schriften des Heraklit und Parmenides, die
offenbar im Alterthum viel weiter verbreitet waren, als die des
Anaximander und Anaximenes und Thaies, so völlig missverstand,
so müssen wir doppelt auf der Hut sein, wenn er uns eine Aus-
legung der ältesten Philosophen bietet. Wir können demnach den
Thaies getrost von der Liste der Philosophen streichen und ihm
seinen alten Platz unter den sieben Weisen wieder anweisen,
ohne damit seinem Ruhm und seinem Ansehen irgendwie zu
schaden.
Wir kommen daher zu dem folgenden Resultat. Die Milesier
suchten nicht die Frage zu beantworten: Was ist der L'rgrund
aller Dinge? Sie glaubten sammt Hesiod und den anderen Dichtern,
dass die Dinge „ins Dasein kommen" und wieder „aus dem Dasein
verschwinden" und stellten daher die Frage: Woher kommen die
Dinge? Anaximander, der erste Vertreter der Philosophie, sagte,
die Welten und alle Dinge darin entstehen aus dem unendlichen
leeren Räume (xö aireipov); Anaximenes, der ein treuer Schüler
des Anaximander war, nannte es Luft, aber meinte im Grunde
314 Ernst Chr. Hch. Peithmann,
dasselbe. Es kaun keinem Zweifel unterliegen, dass diese Männer
an ein absolutes Entstehen und absolutes Vergehen glaubten.
Aristoteles machte freilich dem Anaximander den Vorwurf, dass er
unnöthigerweise den materiellen Körper der Welt unendlich
nennt, da ja die Vernichtung des einen Dinges die Entstehung
eines andern sein könne. Aber abgesehen von der fälschlichen
Auffassung vom ocTieipov hat Aristoteles hier aus den Augen gelassen,
dass die ersten Philosophen und Dichter ja glaubten, dass „alles
entstanden" ist „aus nichts" und die Dinge daher auch wieder ins
Nichts sich auflösen, ausgenommen die wenigen, die unvergänglich
bleiben. Diese Leute konnten daher unmöglich annehmen, dass
das Entstehen des einen Dinges das Vergehen des andern sein
könnte. Und Heraklitus war offenbar der Allererste, der den
grossartigen Gedanken aussprach, dass „ein Ding den Tod des
andern lebt". Die Ausdrücke döavaxo? und avwXsOpo; gehen
sicherlich nicht bis auf Anaximander zurück, wie Aristoteles in
jenem allgemeinen Satze von den Physiologen behauptet. Das Iv
xotl xivo6{i.evov verträgt sich unter keinen Umständen mit den
ccTTSipot y.oaiAOi, deren „Schöpfung und Vernichtung sich abwechselt
von Ewigkeit zu Ewigkeit". Die Lehre von der o\r^ als dem zu
Grunde liegenden und bleibenden Stoffe für alle Dinge entwickelte
sich allmählich später und bildete zuletzt ein Haupttheil der Lehre
des Aristoteles. Im Heraklit wird zum ersten Male in anderer
Weise darauf hingedeutet. Aber die ersten Männer, die über den
Prozess des Entstehens und Vergehens (irspi ouatoi^) schrieben,
hatten keine Vorstellung von dieser GXrj.
8. Rückblick.
Das Bild, dass wir also aus den Fragmenten des Heraklit und
Parmenides und Empedokles gewinnen, ist das folgende: 1. Vor
Parmenides und Heraklit war es vermuthlich die allgemeine An-
schauung der Dichter und Denker, dass die Welt nicht von Bestand
ist. Die Dinge entstehen aus nichts und vergehen wieder in
nichts. Nicht nur die Pflanzen und Thiere und Menschen haben
nur eine vorübergehende Existenz, um dann wieder ins „Nichtsein"
zurückzukehren, sondern das ganze Weltgebäude mit dem Sonnen-
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 315
körper UDd runden Monde und den Schaaren von Sternen muss
eine Beute der zerstörenden Zeit werden. Alles muss sterben; was
da lebet, muss verderben! Auch Anaximander und Anaximenes
haben sich vermuthlich dieser Ansicht angeschlossen. Aber sie
ersetzten die phantasievollen mythischen Berichte der Dichter von
der Entstehung der Götter und der Welt durch eine nackte vernunft-
gemässe Annahme, dass die Dinge einfach aus dem leeren Raum
kommen, den wir Luft oder „das grenzenlose Blau" nennen.
Anaximander und Anaximenes gehören also in einem gewissen
Sinne zu der naiven Periode der griechischen Vorstellung, in
welcher die Leute die kindliche Anschauung haben, dass die Dinge,
die ins Leben treten, auf wunderbare Weise „geschaffen" werden.
Erst mit Heraklit beginnt die eigentliche Philosophie, in der als
erstes Princip die Unzerstörbarkeit des Weltgebäudes nach
Wesen und Substanz aufgestellt wird.
Es war die ausgesprochene Absicht des Parmenides'°') und
Erapedokles'"^), den Glauben an ein Entstehen und Vergehen von
Dingen für immer „auszulöschen" und „aus der Welt zu verbannen",
nachdem Heraklit zum ersten Male das Signal zum Angriffe ge-
geben hatte. Parmenides legte seinen Finger auf das „Eins" des
Heraklit und sagte: Hier ist die Lösung des Rätsels. Alles, was
ist, ist „ein" lebendes Wesen. Es giebt nicht „mehrere Dinge"^^
wie alle Leute vor dem Heraklit geglaubt hatten. Es giebt nur
„ein" Ding: das ist die Welt. Dass Parmenides unter seinem
„einen Ding" das Weltall verstand, wird klar aus Empedokles, der
es ersetzt durch „eine Welt" (af? xosij.oc). Dieses eine grosse
Wesen ist ohne Anfang und Ende. Es muss immer gewesen sein
oder besser „es ist" im uneingeschränkten Sinne. Was dies „es
ist" bedeutet, wird uns wieder klar aus der Schrift des Empedokles,
der es für gleichbedeutend erklärt mit „es ist immer". Parmenides
hat demnach nicht eine neue Philosophie vom „Sein und Nicht-
sein" aufgebracht. Die Philosophie vom „Nichtsein" war eine
uralte, schon vom Heraklit angegriffene Lehre. Parmenides setzt
"»O Parm. 69, 70, 77, 83, 84.
108) Emped. 98, 99, 110, 111, 114—118.
316 Ernst Chr. Hch. Peithmann,
au die Stelle der Theorie vom Nichtsein seine neue Theorie vom
„Sein". Man muss wählen, sagt er, zwischen dem Sein und dem
Nichtsein. Beides lässt sich nicht vereinigen, wie Heraklit gethan
hatte. Wenn Etwas nicht ist, so kann es nie ins Dasein kommen
und wenn Etwas ist, so kann es nie das Dasein verlassen und an-
fangen „nicht zu sein". Für das, „was ist", giebt es also „kein
Nichtsein". Dies ist also in wenigen Worten seine Lehre, „dass
das Weltall ist und dass es unmöglich für dasselbe ist, nicht zu
sein". Diese Philosophie ist klar und einfach und eines grossen
Mannes, wie des Parmenides, würdig. Wenn Parmenides wirklich
eine so imponirende Gestalt und ein so philosophischer Kopf war,
wie Piaton uns versichert, so kann er nicht jene unverständliche
Theorie vom abstracten Sein und Nichtsein vertreten haben, die
die neueren Geschichtsschreiber ihm unterschieben wollen. Wir
können nur annehmen, dass er Gedanken ausgesprochen hat, die
einen vernünftigen Sinn haben.
So haben wir denn zuerst diese beiden sich schnurstracks
widersprechenden Ansichten vom „Nichtsein" auf der einen
Seite, vertreten von den Dichtern und ältesten Philosophen und
vom absoluten „unveränderlichen Sein" auf der andern Seite,
vertreten in erster Linie von Parmenides. Aber dazwischen giebt
es eine Vermittelungsphilosophie, zuerst aufgestellt von
Heraklit und in glänzendster Weise vervollkommnet und vollendet
von Empedokles. Beide behaupten, dass eine Seite der Welt
„vergänglich" ist und ein anderer Theil „unvergänglich". Der
vergängliche Theil der Welt wird dargestellt durch die einzelnen
sterblichen Dinge: sie entstehen und vergehen, soweit es sich um
ihre vorübergehende Erscheinung handelt. Aber das Feuer, das
in ihnen Gestalt gewinnt, oder die vier Grundelemente, aus dem
sie zusammengesetzt sind, kennen keinen Tod: denn sie sind
immer gewesen und werden immer sein. So sind denn die Dinge
zugleich sterblich und unsterblich. Sie entstehen und vergehen
im Sinne der Orts- und Formveränderung; aber die alte Vor-
stellung der absoluten Schöpfung und Vernichtung ist ein Ding
der Unmöglichkeit.
Die Naturphilosophie vor Sokrates.
317
Die ursprüngliche Philosophie von Vernichtung der
Dinge ist dargestellt in den folgenden Ausdrücken:
2. Bei
Parmenides.
Allles
entsteht
entsteht aus
das Seiende
(ist)
vergeht
das Nichtseiende
ist nicht
es ist noth wendig,
Entstehung
Anfang
Erschaffung
Werden
Verrichtung
dass es nicht sei
es entstand
sein
es ist jetzt
es wird sterben
nicht sein
2. Bei Empedokles.
es entsteht
es hört auf
Entstehung
verhängnissvoller
Tod
Erschaffung
Ende
das Nichtseiende
das Seiende
wird vernichtet
entsteht
stirbt
wird vermehrt
vergeht
wird gänzlich ver-
nichtet
Leben
unglücklicher Tod
die Dinge
entstehen
leben
werden gänzlich
vernichtet
sind nicht
sind
sind nichts
war nicht
entsteht
lebend
leben
3. Bei Heraklit.
vergeht
sterben
das Leben
wir sind
ist nicht immer
wird nicht sein
gestorben
die Toten
der Tod
wir werden nicht
mehr sein
Die Geschichte dieses Weltalls ist also, wie folgt: Die Welt
1) war nicht, 2) entstand, 3) ist, 4) wird vergehen, 5) wird nicht
mehr sein. Und so kann man von jedem einzelnen Dinge wie
auch von der Welt im Grossen sagen: 1) es ist nicht, 2) es ent-
318 Ernst Chr. Hch. Peithmann,
steht, 3) es ist, 4) es vergeht, 5) es ist nicht. Parmenides sagt
nun, wir müssen die ersten beiden und die letzten beiden Aus-
drücke in dieser Entwickelungsreihe streichen und einfach sagen:
„es ist", d. h. „es ist immer". Die Ausdrücke „es ist nicht",
„es entsteht", „es vergeht" geben keinen Sinn. Denn wie kann
etwas entstehen, das nicht ist, oder wie kann etwas vergehen, das
ist. Man kann von der Welt nur sagen, dass sie „immer ist",
sie ist nie entstanden und wird nie vergehen, die Zeit wird daher
nie kommen, in der sie „nicht ist".
Heraklit und Empedokles sagen, die ersten beiden und letzten
beiden Ausdrücke beziehen sich nur auf die wechselnde und vor-
übergehende Seite des AVeltalls, nämlich die Einzelerscheinungen.
Aber das „ist" zusammen mit dem „war" und „wird sein" be-
zieht sich auf die Welt als ein Ganzes genommen.
9. Anhänger des Parmenides.
Bevor wir jetzt weitergehen zu den nächsten grossen Denkern,
nämlich Anaxagoras, Diogenes und Demokrit müssen wir einen
kurzen Blick werfen auf die beiden Männer, die an der schroffen
und einseitigen Philosophie des Parmenides fest zu halten suchten.
Es ist Melissus "'^) und Zenon'^"). Melissus giebt wenig neue
Gedanken. Er giebt einfach eine Exegese in Prosa zum Gedichte
des grossen Meisters. Wo er versucht, Zusätze, oder Verände-
änderungen zu machen, bezeichnet seine Philosophie eher einen
Rückgang als Fortschritt. Er giebt eine musterhafte Erklärung
von dem ov und .u-i) ov des Parmenides, indem er sagt: 6 -/dp xosixo?
0 TTjioailsv £(i)v oüx d-oXXuxat oute 6 [xt] iojy '/ivstai. Der Ausdruck
6 xoouo; 6 lojv ist offenbar gleichbedeutend mit dem tö ov (oder
TÖ £v ov) des Parmenides und das 6 x6a[j.oc 6 [irj iwv entspricht
dem urj ov des Parmenides: „was ist" und was „nicht ist", oder
„Dinge, die sind" und „Dinge die nicht sind". Der Ausdruck
xoa|xo; beweist zur Genüge (vergleiche auch das eis sva xoafiov
109) I, 261.
"0) I, 269.
"') Mullach I, 263, § 12.
Die Naturphilosophie vor Sokrales. 319
des Empedokles), dass Parmenides nicht von abstrakten Begriffen
redete, sondern von dieser unserer Welt, in der wir leben
und athmen. Melissus giebt uns auch neue Beweise dafür, dass
das saii des Parmenides gleichbedeutend ist mit dem dsl ia-i des
Empedokles, Was ist und wenn irgend was ist, so ist es entweder
entstanden, oder ist immer. Wenn es nun entstanden ist, wie
gewisse Leute zu behaupten scheinen, so ist es entweder „aus etwas"
entstanden, was „ist" (ec eovxo; oder aus dem, was nicht ist, aus
dem Nichtseienden (sx [xtj sovto?). Beides ist ein Ding der Un-
möglichkeit. Daher kann das, was ist, nicht entstanden sein.
Aber es kann auch nicht wieder vernichtet werden, wie behauptet
wird. Denn das, was ist, kann sich nicht verwandeln in etwas,
das nicht ist: und die Leute, die diese Ansicht irrthümlicher Weise
vertreten, müssen ihren Irrthum einsehen, nämlich die „Physiker",
Aber es kann sich auch nicht in etwas anderes verwandeln, das
ist, denn dann bliebe es ja und würde nicht vernichtet. Daher ist
das, was ist, weder entstanden noch wird es vernichtet werden
können oder vergehen: es „war also immer und wird immer
sein""^). Dies ist genau die Philosophie des Parmenides, ausge-
nommen dass der letztere das r^v und sa-cci, das vom Heraklit zu-
erst ausgesprochen war, nicht gelten lassen wollte, sondern sich
einfach auf das satt (oder vuv ia-i ouou Ttav) beschränkte. Me-
lissus fährt dann fort in umständlichster Weise die übrigen Sätze
des Parmenides als unbedingt wahr zu beweisen, dass das was
wirklich „ist", auch „keinen Anfang und kein Ende nehmen
kann"; dass es „unbeweglich" ist und „sich immer gleich bleibt",
dass es sich nicht verdichten und ausdehnen kann (Heraklit!);
dass es sich überhaupt nicht verändert (Heraklit!).
Wir haben nicht nöthig, näher auf die Einzelheiten einzu-
gehen, da er fast durchschnittlich nur die Ideen des Parmenides
wiederholt. In einigen Punkten dagegen weicht Melissus in zweifel-
hafter Weise von seinem Meister ab. So sagt er z. B., dass das,
was keinen Anfang und kein Ende hat, „unbegrenzt" oder „un-
endlich" ist. Abgesehen davon, dass er die Worte „Anfang und
112'
) Melissus § 1.
320 Ernst Chr. Hch. Peithmann,
Ende" hier in einem andern Sinne gebraucht als vorher und sich
somit der Zweideutigkeit schuldig macht, ist diese Ansicht der
Lehre des Parmenides diametral entgegengesetzt. Dieser sprach es
klar und deutlich aus, dass das, was ist, oder die Welt, einer
runden Kugel gleicht und von allen Seiten „begrenzt" ist. Dann
geht Melissus auch sogar zu der Behauptung über, dass es noth-
wendiger Weise keinen Körper haben kann, wenn es wirklich eins
ist. Dass dies uicht mit der Lehre des Parmenides stimmt, unterliegt
kaum einem Zweifel. Ob es sich mit 6 xooriirj^ 6 ewv, einem
Ausdruck, der ihm gerade vorausgeht, verträgt, ist ebenfalls eine
grosse Frage. Wir stossen hier unzweifelhaft auf etwas, das der
ältesten Phihosophie fremd ist und sehr nach einer späteren Zeit
schmeckt. Aber es ist fast unmöglich, zu entscheiden, wie weit
wir in den Fragmenten des Melissus den unverfälschten Text
haben und in wie weit spätere Ideen von den Abschreibern ein-
geschachtelt sind. Auch der Satz xou "/ap eovxo; aX-/jötvo5 xpsaaov
ouSsv macht uns stutzig. Ohne diese nebensächlichen Fragen zu
berücksichtigen, können w'ir zu dem folgenden Resultat kommen.
Melissus spricht von einer Gruppe von Männern, genannt oi
(poaixot, die scheinbar die Lehre vertheidigen, dass „das, was ist",
ein „Entstehen und Vergehen", einen „Anfang und ein Ende" hat
und genauer ausgesprochen, dass die Dinge „aus dem Nichts ent-
stehen und ins Nichts wieder vergehen". Demgegenüber hält
Melissus daran fest, dass „das was ist, immer ist" oder, wenn
man will, „immer war und immer sein wird": dass eine Welt,
die früher einmal „nicht war", nie ins Dasein kommen kann und
dass die Welt, die ist, nie vergehen kann. Die Welt ist daher
unvergänglich und unbeweglich. In zweiter Linie wiederlegt Me-
lissus die Ansicht derer, die Veränderungen in dieser Welt vor
sich gehen lassen, die von „Zusammenschiebung und Ausdehnung",
von einer „Verdichtung und Verdünnung" reden. Eine solche
Veränderung ist unmöglich, da die ganze Welt gleichmässig ange-
füllt ist und es also keinen leeren Raum giebt, indem sich die
Dinge bewegen könnten. Dieser zweite Angriff scheint gegen
Heraklit und seine Anhänger"^) gerichtet zu sein.
"^) Cf. Hippocrates Ttepl otairrj; iu Bywaters Heraklit.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 321
Es bleibt uns jetzt noch übrig einige Bemerkungen über
Zenon hinzuzufügen. Zenon behandelt nicht die Frage nach dem
Ursprünge und dem Schicksal der Welt, sondern er will durch
Beispiele beweisen, dass man unmöglich die Welt als eine Vielheit
ansehen oder eine Bewegung darin zugeben kann. Die Wider-
sprüche, in die man geräth, wenn man annimmt, dass die Welt
aus Theilen besteht und sich bewegt, oder auch dass die einzelnen
Dinge aus Theilen bestehen und sich bewegen — diese Wider-
sprüche beweisen deutlich, dass die Welt „eines" und „un-
beweglich" ist, dass also nicht die geringste Veränderung in der
Form und Lage der Dinge stattlindet. Das ist der Zweck seines
Gesprächs mit Protagoras über das Geräusch, das ein Scheffel
oder ein Korn macht, oder des Widerspruchs von der unendlichen
Theilbarkeit der Körper und von der Idee des Raums. Ausserdem
bringt er vier Beweise für die Unbeweglichkeit der Dinge: 1) die
Körper die sich in bestimmter Richtung auf ein Ziel zu bewegen,
müssen immer erst die Hälfte von dem Ganzen und vorher die
Hälfte von der Hälfte zurücklegen u. s. w., 2) der Widerspruch
von Achilles und der Schildkröte, 3) vom Pfeile der durch die
Luft fliegt und 4) von den Körpern, die sich in einer Ebene in
entgegengesetzter Richtung bewegen. Alle diese Beispiele bedürfen
keiner Erläuterung, da sie hinreichend klar sind, wenn man im
Auge behält, was Zenon damit beweisen will. Wir können nun
die Lehre vom „Eins" und der „Unbeweglichkeit" und dem „Sein"
verlassen und zu dem nächsten grossen Philosophen übergehen,
nämlich Anaxagoras.
ö^
10. Anhänger des Heraklit und Empedokles.
a) Geist und Stoff.
Anaxagoras"*) tritt auf die Seite Derer, die zu vermitteln
suchen zwischen den ältesten Philosophen und Parmeuides und
seiner Schule. Er hat off"enbar das Gedicht des Parmenides studirt:
das beweisen die Ausdrücke ojiou, iv, i'sa dsi. Er kennt die Philo-
sophie der Milesier, das beweisen die Ausdrücke öcTrsipov, xö Seppiov,
"*) Mullach I, 248.
322 Ernst Chr. Hch. Peithmanli,
zh <|^u)(pov, T^ dpatov xo ttuxvov, Yi-j-vsai)«'., aTroXXuaöai. Er ist auch
vertraut mit der Philosophie des Heraklit und entlehnt von ihm
offenbar die Lehre von dem ev Travxa sTvat, von dem voo?, von der
-j'vtutxTj und Ausdrucke wie xpaxsetv, Yqvcutjxstv, oictxoajxsrv, xivsTv, oaa
eatott xai eati X7.l tjv. Er hat auch den Empedokles studirt, wie
die Ausdrücke r^zpiywpzXv aroxpit'vsaBoti, oiaxptvsaÖai au[x[xiVj'£ai)at,
au[jL[jn;[c etc. andeuten. Die Streitfrage betreffs des „Entstehens
und Vergehens" der Dinge ist ihm wohl bekannt, und er tritt ganz
entschieden auf die Seite des Empedokles und Parmenides, wenn
er sagt: „kein Ding kann entstehen oder vergehen, sondern es
wird nur aus Dingen, die immer sind (dito iovTwv /pr^fj-ötcuv), zu-
sammengesetzt und wieder aufgelöst". Die Griechen gebrauchen
daher die Ausdrücke „entstehen und vergehen" in unzutreffender
Weise und sie sollten statt „entstehen" sagen „gemischt werden"
und statt „vergehen" lieber „sich auflösen""*). Anaxagoras
wiederholt hier einfach, was Empedokles vor ihm ausgesprochen
hatte. Auch in seiner Lehre, dass das Weltall nicht um das ge-
ringste Stückchen vermehrt oder vermindert werden kann, dass mit
andern Worten kein Atom Substanz geschaffen oder zerstört
werden kann, sondern dass das Weltall sich immer gleich bleibt'"^),
folgt er fast wörtlich dem Empedokles. Li Anaxagoras finden wir
eine neue Bestätigung dafür, dass das ov des Parmenides die
uns bekannte Welt bezeichnet. Empedokles hatte als das „immer
Seiende" die vier Elemente aufgestellt, Anaxagoras nennt es
TTOcvT« j(pv5[jLata oder xa aujjLTravxa, xö aufiTrav, xa TcoXXa, Travxot, Ttav
oder er ersetzt und umschreibt, mit xot aaxpot x«l 6 ^Xto? xcd f^ asXT^vrj
xat 6 cz/jp X7.1 6 cftör^p oder oaa laxai xs xai vuv laxi xai r^v -/.ou xa
äXXot Tra'vxa sv xul TioXXa irspis/ovxt, „alle Güter oder alle Dinge,
das All, die Masse, Alles", oder er ersetzt und umschreibt es mit
dem Ausdruck „die Sterne und die Sonne und der Mond und die
Luft und der Aether" oder „was sein wird und jetzt ist und war
und alle andern Dinge in dem, was das All umgiebt." Wir sehen,
dass er genau denselben Gegenstand behandelt wie Empedokles
'"5) Anaxagoras Fr. 17.
"ß) Fr. 14.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 323
und Parmenides und Heraklit und die ersten Philosophen, Par-
menides hatte nun von dem uns bekannten Weltall ausgesagt, dass
„alles zusammen jetzt ist" und „eins" ausmacht: wogegen Anaxa-
goras behauptet, dass im Anfange der Weltgeschichte allerdings
„alle Güter" (Dinge) zusammen waren, unendlich in Zahl oder
Grösse und Kleinheit, in einer Weise, dass kein einzelnes Ding
sichtbar war vor Kleinheit. Denn Alles umfing die Luft und der
Aether, die beide unendlich sind und diese beiden Elemente bilden
den Hauptbestandtheil des Weltalls. Aber die Luft und der Aether
sind auch nur abgesondert von einem noch grösseren Körper, der
das All umgiebt: dieses T:£pi£-/fjv hat keine Grenzen ^''^).
Dieses 7r£f>t£;(ov aTrsifyov scheint dem ocTTEipov des Anaximander
zu entsprechen: nur ist es hier nicht bloss ein Raum, sondern ist
zugleich eine materielle Substanz, ein Körper. Während die Dinge
sich nun in diesem Zustande befanden, war in allem Vieles und
Verschiedenartiges verborgen. Das Gemisch enthielt den Samen
für alle Dinge und allerlei Formen und Farben und Gerüche.
Darin befand sich ein Gemisch von dem Nassen und Trockenen,
dem Hellen und Dunklen, dem Heissen und Kalten und viel Erde
und zahllose Sonnen, nicht eins gleich dem andern. Dies war
nun ein Gemisch, auf das der Ausdruck des Parmenides passt: alle
Dinge waren „zusammen"; oder das Wort des Heraklit: alle Dinge
waren „eins" '^'). Aber dieses leblose Gemisch der Substanz hat sich
verändert. Heute kann man nicht mehr sagen, dass das Weltall
„zusammen", oder „eins" ist. Die vielen und verschiedenartigen
Dinge und mannigfachen Gerüche und Farben, die früher „eins"
ausmachten, haben sich gesondert, und obwohl das Ganze noch
„eine" Welt darstellt, so hat sich die Welt doch zertheilt in viele
Theile oder kleine Welten. Und während daher der Stoff, aus
dem die Welt gemacht ist, für ewig gelten muss, hat doch die
Welt nach ihrer jetzigen Gestalt „einen Anfang gehabt"'"*) (v-pqot-o).
Der „Anfang der Welt" datirt von dem Augenblicke, in welchem
der Geist den Stoff in Bewegung setzte und zu ordnen anfing.
^»«) Fr. 1, 2.
1") Fr. 3, 4.
118) Fr. 7 ^^pgctTO.
324 Ernst Chr. Hch. Peithraann,
Neben den Elementen giebt es also nur „eine" bewegende und
regirende Macht, den Geist. Er ist selbstherrschend und auf sich
selbst beruhend, mit keinem Dinge gemischt. Daher hat er die
Fähigkeit, die Dinge zu steuern und besitzt alle denkbare Einsicht
und Kraft. Er ist das feinste und reinste unter den Dingen. Und
während der Stoff ganz ungleichartig ist, ist der Geist ganz und
gar gleich. Er ist der Urheber der Bewegung des Weltalls und
aller Dinge, die „waren und sind und sein werden". Von ihm
rührt die Ordnung des ganzen Weltalls her. Sein erstes AVerk
war aber die „Absonderung" der Dinge im Allgemeinen, nämlich
des Kalten und Warmen, des Dünnen und Dichten, des Hellen
und Dunklen, des Feuchten und Trockenen. Die Trennung ist
freilich nur eine theilweise. Das Helle ist nur etwas, das mehr
Licht als Dunkelheit hat; das Dunkle hat mehr Dunkelheit als
Licht. Die Bewegung des Weltalls macht die Absonderung dessen,
was zusammengehört, leichter. So hat sich denn das dichte und
feuchte und kalte und dunkle Element da angesammelt, wo jetzt
die Erde ist. Das entgegengesetzte Element ist nach der Ausseu-
seite des Aethers entwichen"*). Der zweite Process, der die Welt
umgestaltet, ist die der Absonderung folgende „Verdichtung" der
Dinge. Hierdurch entsteht Wasser und Erde und Steine. Selbst
die Menschen und Thiere kommen durch Verdichtung des Stoffes
ins Dasein. Die schnelle Bewegung der Elemente ist die Ursache
der grossen Kraft, die nöthig ist, um alle diese Veränderungen
hervorzubringen ^''"').
Wir können also die Philosophie des Anaxagoras folgender-
masseu zusammenfassen. Er greift, wie Empedokles, in den Streit
zwischen den ältesten Philosophen und Parmenides ein. Gegen
die ersteren behauptet er mit Parmenides und Empedokles, dass
„nichts geschaffen oder vernichtet werden kann". Aber dem Par-
menides kann er nicht darin Recht geben, dass alle Dinge zu-
sammen und eins und unbeweglich und unveränderlich sind und
völlig gleichartig. Empedokles hatte behauptet, dass nach gewissen
119) Fr. 8.
i^ö) Fr. 9, 10, 11.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 325
periodischen Veränderungen die Welt immer wieder sich sammelt,
um „eins" zu bilden. Unser Philosoph kennt nur „eine" Ent-
wicklung des Weltalls. Die Entwicklung hat einen Anfang gehabt,
aber setzt sich nun fort ohne ein absehbares Ende. Im Anfang
war die Welt „eins" und „zusammen", wenigstens soweit der Stoff
in Betracht kommt. Die vier Grundwurzeln der Dinge hat nun
Anaxagoras ersetzt durch eine unendliche Zahl von kleinen Theil-
chen, die alle von einander etwas verschieden sind. Neben dem
Stoff giebt es eine bewegende und ordnende Kraft, den Geist.
Vermittelst der Bewegung bringt er die Ordnung der Welt zu
Stande. Nach der Ansammlung des Gleichartigen an verschiedene
Orte findet die Verdichtung statt und so kommen die einzelnen
lebenden Wesen ins Dasein.
Nach der Lehre des Empedokles wurde die Absonderung der
Elemente fortgesetzt bis zu einer völligen Scheidung, die dann das
Ende einer AVeltperiode bezeichnete. Anaxagoras sagt," diese
Entwicklung des Weltalls wird kein Ende nehmen, denn die
Trennung der entgegengesetzten Elemente kann nie und nimmer
vollendet werden. Wir haben daher einen Ausblick auf eine Ent-
wicklung ohne Ende. Die Ausdrücke „Mischung" und „Absonde-
rung" hat Anaxagoras olfenbar von Empedokles übernommen, aber
er spricht offenbar von einer doppelten Mischung und Trennung
der Dinge. Zuerst giebt es eine Mischung des Ganzen, wie wir
sie am Anfang der Weltgeschichte vorfinden und diese Mischung
löst sich dann auf in die Absonderung der grossen Massen von
entgegengesetzter Natur. Daneben giebt es offenbar noch eine
Mischung und Trennung, die die Griechen mit den Ausdrücken
„Entstehen und Vergehen" bezeichnen; sie beziehen sich auf die
einzelnen Dinge, die auf dieser Weltkugel und auf andern Welt-
kugeln ins Dasein treten. Die Welt als Ganzes bleibt sich immer
gleich, nichts entsteht und nichts vergeht. Das Entstehen und
Vergehen der lebenden Wesen ist nur ein Zusammenmischen und
Absondern der Elemente.
Nebenbei macht Anaxagoras noch einen Angriff aul' die An-
sicht, dass es ein Kleinstes des Kleinen giebt, d. h. dass
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV. 3. ^.T
326 Ernst Chr. Heb. Peithmanii,
man den Stoff nur bis zu einer gewissen Grenze theilen kann.
Er behauptet offenbar, dass die Dinge unendlich theilbar sind,
denn man kann sie nicht soweit theilen, dass zuletzt nichts übrig
bleibt, da es unmöglich ist, dass aus „etwas" zuletzt durch fort-
gesetzte Theilung „nichts" entstehen kann und so lange noch
„etwas" übrig bleibt, kann man fortfahren, es wieder zu theilen.
Ebenso giebt es auch kein Ende in der Multiplication oder A'er-
grösserung der Dinge. Denn es giebt immer noch „etwas Grösseres
als das Grosse." Und das Grosse ist dem Kleinen gleich an Menge,
jedes Ding ist aber im Vergleich mit sich selbst gross und klein.
Das Grosse und Kleine besteht aus gleich vielen Theilen. Und
jedes Ding hat in sich einen Theil von jedem. Man kann die
Dinge daher nie trennen durch Theilung, sondern in einem ge-
wissen Sinne sind und bleiben die Dinge für immer zusammen.
b) Absoluter Monismus.
Diogenes von Apollonia^'') benutzt manche Gedanken von
Empedokles und Anaxagoras und geht dann zurück zu dem Grund-
satze des Heraklit, „dass alle Dinge eins sind". Er fasst seine ganze
Philosophie zusammen in den Satz, dass „Alles, was ist" (ira'vTa tot
eovra) aus derselben Substanz entsteht durch Verwandlung und dass
also „Alles dasselbe ist"'"). Hierfür bringt er verschiedene Be-
weise. Wenn die Dinge, die jetzt in dieser Welt sind, z. B. Erde,
Wasser und alles, was sonst in dieser Welt zur Erscheinung kommt,
von einander verschieden wären und jedes seinen besonderen Ur-
sprung (cpucji?) hätte und nicht im Grunde ein und dasselbe dar-
stellte in mannigfacher Veränderung, so könnte sich das Eine mit
dem Andern überhaupt nicht mischen und das Eine könnte dem
Andern weder Schaden noch Nutzen bringen. Es könnte überhaupt
keine Pflanze aus der Erde aufwachsen und sonst kein lebendes
Wesen ins Dasein kommen, wenn es nicht wahr wäre, dass Alles
eins ist und „dasselbe". Aber es ist eine Thatsache, dass alle ver-
schiedenen Dinge sich „aus demselben" durch Verwandlung ent-
'21) Mullach I 254.
'") Diogenes Fr. 2.
I
t)ie Naturphilosophie vor Sokrates. 327
wickeln und dass dieselbe Substanz bald diese Form und bald jene
Form annimmt und wieder zu demselben Zustande zurückkehrt.
Die vier Elemente des Empedokles und die zahllosen verschieden-
artigen kleinen Körperchen des Anaxagoras sind hier ersetzt durch
„eine einzige Substanz". Empedokles und Anaxagoras hatten ferner
neben dem Stoff noch andere Mächte anerkannt, nämlich die Liebe
und Feindschaft, oder den Geist. Diogenes hat diese geistigen
Mächte nicht nöthig, denn der Stoff selbst hat die Eigenschaft des
Geistes: das „eine Wesen" ist nämlich natürlicherweise gross und
mächtig und ewig und unsterblich und von grosser Erkenntnis '").
Ohne Verstand könnte es nicht das Mass aller Dinge halten, des
Winters und Sommers, des Tages und der Nacht, der Stürme und
Winde und des heiteren Himmels. Denn alle Dinge in der Natur
sind so angeordnet, wie man es sich nur am besten ausdenken
kann. Was ist aber nun diese Quelle des Lebens und des Ver-
standes aller lebenden Wesen? „Die Luft!" Die Luft ist der Ur-
sprung des Lebens für Menschen und Thiere und aus der Luft
ziehen alle die Seele und den Verstand. Wenn die Luft einem
lebenden Organismus entzogen wird, so stirbt er und der Verstand
verlässt ihn"*). Alle diese Thatsachen deuten darauf hin, dass
das eine Wesen, welches Vernunft besitzt, die sogenannte „Luft"
ist und dass sie daher über alle Dinge herrscht und alle Dinge
lenkt. Von der Luft her stammt die Vernunft und vertheilt sich
über Alles und ordnet Alles und ist in Allem. Alles nimmt theil
daran, aber in verschiedenem Masse und in verschiedener Weise.
Denn es giebt vielerlei Zustände der Luft und des Verstandes.
Die Luft ist vielgestaltig, bald wärmer und bald kälter, bald
trockener und bald feuchter, bald stiller und bald bewegt und sie
hat ausserdem viele andere Veränderungen in Bezug auf Geruch und
und Farbe. Und die Seele der lebenden Wesen ist genau dasselbe,
nämlich Luft, die wärmer ist als die Luft um uns, aber viel kälter
als die Luft auf der Sonne. Und die Wärme unter den verschiede-
nen Thieren ist wiederum nicht gleich, sondern überall ein wenig
'23) Fr. 3, 4.
i^-*) Fr. 5.
23*
328 Ernst Chr. lieh. Peithmann,
verschieden, obschoii sie im Grossen und Ganzen gleich ist. Wie
könnte aber eine solche Verschiedenheit eintreten, wenn Alles nicht
ursprünglich dasselbe war? Weil die Verwandlung mannigfaltig
ist, deswegen sind auch die Thiere so verschiedenartig. Sie glei-
chen sich weder an Gestalt, noch an Lebensweise, noch an Ver-
stand: so gross ist die Mannigfaltigkeit der Verwandlungen. Und
doch haben alle ihr Leben und ihr Gesicht und Gehör und ihren
ganzen Verstand von ein und demselben AVesen^"). Diogenes be-
antwortet daher die Frage, ob die Dinge „entstehen und vergehen"
oder „ewig sind" in der folgenden Weise. Das eine Wesen, aus
dem alle Dinge durch Verwandlung ihr Leben und Dasein haben,
ist ein ewiger und unsterblicher Körper '•''). Von den einzelnen
Dingen aber „entstehen die einen und die andern vergehen wieder".
Der Ausdruck Körper beweist hier wieder, dass selbst zur Zeit des
Diogenes die Vorliebe zur Abstraktion nnd A^'erflüchtigung der Dinge
noch nicht Platz gegriffen hatte. Das „eine Wesen" des Diogenes
ist ein konkreter Körper, geradeso wie „das Eine" des Parmenides
ein Name war für das sichtbare Weltall. Die geistigen Eigen-
schaften stellen nicht ein von dem Stoffe verschiedenes Wesen dar,
sondern sind nur besondere Aeusserungen dieses Wesens, Wir
sehen, dass die Fragen, um die sich die Philosophie dreht, seit
Ileraklit nicht geändert sind. Giebt es ein Entstehen und Ver-
gehen? Ist Alles vergänglich? Haben die einzelnen Dinge in dieser
Welt nichts mit einander zu thun, oder sind sie verwandt? Die
Beantwortung der letzten Frage wird für die ersten beiden ent-
scheidend sein. Diogenes tritt auf die Seite des Empedokles, wenn
er sagt, dass die einzelnen Dinge „entstehen und vergehen", so-
weit ihre vorübergehende Gestalt in Betracht kommt, dass aber das
Element, aus dem sie ihr Dasein empfangen haben, durch blosse Ver-
wandlung, ewig und unsterblich ist. Dies erklärt sich daraus, dass
„alle Dinge eins und dasselbe sind". Alles hat denselben Ur-
sprung, die Luft: nichts hat seine eigene und besondere cpuai? oder
Entstehung, wie die ältesten Philosophen geglaubt hatten. Diogenes
>«) Fr. 6,
•26) Fr. 7.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 329
ist also ein strenger Monist: darin folgt er Pannen ides. Es giebt
im Grunde nicht viele Wesen, sondern es giebt nur „ein" Wesen
und dies ist immer gewesen und wird immer sein. Aber
dieses eine Wesen verändert fortwährend seine Gestalt und
bringt aus sich eine Mannigfaltigkeit von einzelnen Dingen hervor,
die vorübergehend ins Dasein kommen, um wieder zurückzukehren
zu ihrem Ursprung. Von der materiellen Seite betrachtet, nennen
wir dies eine Wesen Luft, von der geistigen Seite betrachtet ist
es Vernunft, die Alles in Grenzen hält und Alles steuert und Alles
beherrscht, die in Alles eindringt und Alles ordnet und in Allem
wohnt. Den ältesten Philosophen giebt er Recht darin, dass es
in dieser W^elt verschiedene Dinge giebt (xa iv twos xm xoaaoj
lo'vTa). Aber er stimmt ihnen nicht zu, wenn sie behaupten, dass
jedes Ding seinen besonderen Ursprung, seine loi'a '^uofi? hat und
dass ein Ding keine Beziehung hat zum andern. Er folgt hier
vielmehr dem Heraklit, wenn er immer wiederholt, dass alle Dinge
„dasselbe" sind und „von demselben Dinge" entspringen, und dass
in dem Einen ein fortwährender „Wechsel" und „Veränderung"
stattfindet, indem es sich bald so und bald so darstellt und dass
Alles zu „demselben Ursprung" „zurückkehrt". Dem Heraklit folgt
er in seiner Vorstellung von der regulirenden und ausmessenden
und steuernden und herrschenden Eigenschaft „des Einen". Von
Anaxagoras entlehnt er scheinbar den Gedanken von der Erkenntnis
der allgemeinen Vertheilung und ordnenden Thätigkeit dieses Wesens.
An Parmenides erinnern die Ausdrücke otioto? xal aöavaioc.
c) Der krönende Abschluss.
Demokrit'^^), der letzte in der Reihe der Naturphilosophen
vor Sokrates, stellt wieder die Frage auf: was „ist" wirklich
und immer und was ist nur vorübergehend und scheinbar?
Was hat wirklichen Bestand und wahre Existenz in dieser
Welt? Was bleibt und was verändert sich? Dcmokritus hat
diese Fragen beantwortet in seinen verschiedenen Schriften, die
1") Mullach I 357.
330 Ernst Chr. Heb. Peithmann,
wir unter dem Titel <l)uc5txot zusammenfassen mögen, die aber nur
einen kleinen Theil seiner vielseitigen Schriftstellerei darstellen.
Die wenigen Fragmente enthalten etwa Folgendes. Was diese
Welt ^an sich und für sich ist", kann Niemand sagen. Von der
absoluten Wahrheit ist der Mensch ausgeschlossen. Die Frage nach
dem wirklichen „Sein"" oder Nichtsein der Dinge kann nie be-
antwortet werden. Was jedes Ding in der That und in Wirklich-
keit ist, wird uns immer ein Räthsel bleiben. Wir nehmen die
Dinge nicht wahr nach der AVirklichkeit, sondern nach ihrer Ver-
änderung, die sie erleiden durch den Zustand unseres Körpers und
dessen, was „hineingeht oder Widerstand leistet". Ein Ding ist
daher süss und sauer nach unserer subjectiven Anschauung und
aus demselben Grunde ist es heiss und kalt oder zeigt eine be-
stimmte Farbe. Objectiv existiren nur die untheilbaren Körperchen
und der leere Raum. Was daher nach der Meinung der Leute
existirt und als Gegenstand unserer Wahrnehmung angesehen wird,
kann nicht in Wirklichkeit dafür gelten, sondern nur die Atome
und der leere Raum. Insere Erkenntniss, die die Dinge um-
gestaltet, ist von zweierlei Art, die echte und die unechte. Zu
der unechten Erkenntniss gehört Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack
und Gefühl. Aber die echte Erkenntniss ist hiervon verschieden
und abgesondert. Die ersterc kann nur bis zu einer gewissen
Grenze sich aufs Sehen oder Hören oder Riechen oder Schmecken
oder Fühlen verlassen. Wenn es sich um feinere Unterschiede
handelt, so versagt sie den Dienst. Dann müssen wir uns offenbar
an die höhere Erkenntniss wenden'-'^). Es ist zu schade, dass die
Fragmente weiter keine Erklärung geben von dem Ursprung und
der Art dieses echten Erkennens. Fast Alles, was in dieser Hinsicht
uns erhalten ist, ist nur eine genaue Analyse der Sinneswahr-
nehmungen. Wahrnehmungen sind oft'enbar subjective Ver-
änderungen in unserem Körper. Es ist in erster Linie ein
passiver Zustand. Das Sehen"') z. B. kommt zu Stande, indem
die Luft zwischen dem Gegenstande und dem Auge sich verdichtet
'28) Demokrit Fr. 1.
'•■'S) Fr. 13.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 331
und die Gestalt des Gegenstandes annimmt und hinüberleitet zu
dem Auge. Denn von allen Dingen strömen Bilder aus. Wenn
nun die Augen hinreichend nass sind , so spiegelt sich das Bild
hier wieder. In ähnlicher Weise wird das Gehör ^^*') hervorgerufen.
Der Schall dringt in Wirklichkeit ein durch die ganze Oberfläche
des Körpers, am meisten aber durch die Ohren, weil hier der
grösste leere Raum ist. Die Luft dringt nun durch die Ohren und
wird so zusammengepresst, um sich nachher wieder plötzlich innen
auszudehnen und durch die so hervorgerufene Erschütterung kommt
der Schall zum Vorschein. Das Gehör ist also thatsächlich dasselbe
innerhalb des Körpers, wie das Fühlen ausserhalb, und der Mensch
hört mit der ganzen Innenseite des Körpers, wie er mit der
Aussenseite fühlt^^^). Das Denken '^^), behauptet er, kommt zu
Stande, wenn die Seele sich nach einer Siuneserschütterung har-
monisch verhält: im andern Falle tritt eine Geistesstörung ein.
Was den Gefühlssinn anlangt, so führt er den unterschied des
Gewichtes eines Körpers '^^) auf seine Masse zurück. Aber auch
die Anwesenheit von grösserem oder geringerem leeren Raum hat
Einfluss. Die weiche und harte Beschaffenheit eines Körpers^ ^^)
hat seine Ursache in der grösseren oder geringeren Dichtigkeit,
ferner in der Lage und dem Vorhandensein des leeren Raumes.
Was wir im Allgemeinen wahrnehmen, existirt nicht so in den
Körpern der Aussenwelt'^' oder in Wahrheit und unveränderlich,
sondern ist nur eine Aeusserung des subjectiven Zustandes, der
fortwährend wechselt und hieraus kommt dann die Vorstellung zu
Stande oder die sogenannte „Einbildung" im ursprünglichen Sinne
des AVortes. So hat auch das Kalte und Warme keine wirkliche
Existenz, sondern beruht auf zwei Ursachen: Der veränderten
Form des Körpers und dem Wechsel in unserem Zustande. Daher
erscheinen die Dinge auch nicht allen lebenden Wesen in gleicher
130) Fr. 16.
131) Fr. 17.
132) Fr. 19.
'33) Fr. 21.
'34) Fr. 22.
135) Fr. 23.
332 Ernst Chr. Heb. Peithmann,
Weise, sondern was uns süss düiikt, das kömmt Auderu bitter
vor und wieder Anderen scharf oder ätzend u. s. w. Auch selbst
dieselben Leute verändern ihr Urtheil nach ihrem augenblicklichen
Befinden und körperlichen Zustande und nach ihrem Alter, üie
Gestalt der Körper hat also einen wirklichen objectiven Bestand,
aber das Süsse und überhaupt alle Sinueseindrücke sind verschieden
nach den verschiedenen Personen. Es ist nicht nöthig, auf die
Art und Weise näher einzugehen, wie Demokrit die verschiedenen
Formen des Geschmackes'^*') zu erklären sucht durch die mannig-
fache Form und Grösse der Atome, die den Körper bilden. Betreifs
der Farben'"), mit denen sich Demokrit sehr eingehend beschäftigt,
sei nur Folgendes bemerkt. Die Farben haben ebenso wie der
Schall oder die Körpereigenschaften von Schwere und Leichtigkeit,
Härte und Weichheit, Kälte und Hitze keine wirkliche Existenz.
Die stoffliche Grundlage des Weltalls, nämlich die Atome und der
leere Raum haben keine qualitative Verschiedenheit. Die einzelneu
Dinge, die aus ihnen zusammengesetzt sind, erhalten ihre Farbe
von der verschiedenen Anordnung, Gestalt und Lage derselben'^*).
Denn darnach richten sich die Sinneswahrnehmungen. Farbe hat
also keinen wirklichen Bestand, sondern ist nur eine Folge der
Veränderuno-en in den Atomen. Demokrit führt im Einzelnen
aus, was für verschiedenen Gestalten der Atome die einzelnen
Farben entsprechen. Er behandelt erst die vier einfachen Farben,
nämlich schwarz, weiss, roth und grün und dann die bedeutendsten
unter den unzähligen Mischfarben. Nichts geschieht in der Welt
durch Zufall, sondern alles mit Vernunft und Nothwendigkeit'^^.
Wir wollen nicht weiter auf die Einzelheiten eingehen, sondern
die Frage aufstellen: Was ist die Grundidee des Demokritischen
Systems und was für Beziehungen hat er zu den älteren Philo-
sophen?
Wir sehen gleich auf den ersten Blick, dass Demokrit sich
mit denselben Fragen l)cschäftigt wie seine Vorgänger. Seine
136) Fr. 24—29.
130 Fr. 30—39.
'38) Fr. 30.
'39) Fr. 41.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 333
Aufgabe ist offenbar zu untersuchen, was in dieser Welt un-
veränderlich und ewig ist und woher die scheinbaren Ver-
änderungen ihren Grund haben. Oder mit andern Worten,
die Frage ist die: W^as „ist" ewig und unveränderlich in dieser
W^elt und was ist nur vorübergehend, oder was „ist unvergänglich"
und was ist vergänglich in dem Weltall? Nach Demokritus giebt
es nur zwei Dinge, die in Wirklichkeit „sind", d. h. ,,immer sind"
und „unvergänglich und unveränderlich" sind: nämlich die un-
teilbaren kleinsten Körperchen und der leere Raum. Und diese
Atome sind alle gleich dem Stolle nach und unterscheiden sich
nur von einander durch ihre Anordnung, Form und Lage^"'). Die
Substanz ist also dem Wesen nach einheitlich: hierin folgt Demo-
kritus dem Diogenes von Apollonia. Aber dieselbe ist nicht „ein
Ganzes", sondern besteht aus unzähligen untheilbaren kleinen
Körperchen, die alle von einander verschieden sind in Form,
Anordnung und Lage: hier schliesst sich der Abderite an Auaxa-
goras an. Die einzelnen Dinge „kommen ins Dasein" durch Zu-
sammensetzung^*^) dieser Atome (a'j-(xpitj.a): dieser Gedanke ist
offenbar entlehnt von Empedokles. Insoweit ist Demokrit also ein
treuer Schüler der älteren vorsokratischen Philosophen, die im
Gegensatz zur Theorie von der Erschaffung und Vernichtung der
Dinge behaupteten, dass diese Welt dem Wesen und der Substanz
nach „eins" ist (Heraklit, Parmenides, Diogenes), oder wenigstens
zu gewissen Zeiten ein Ganzes gebildet hat (Empedokles und Ana-
xagoras) und dass sie in soweit unvergänglich und unveränderlich
ist; und dass die Veränderung nur durch verschiedenartige Zu-
sammensetzung oder Mischung entsteht (Empedokles, Anaxagoras
und Diogenes). Aber Demokrit hat nicht nur von den sogenannten
Physikern gelernt: seine Philosophie weist deutliche Spuren von
sophistischen Einflüssen. Während er einmal sagt, dass alle Ver-
schiedenheit und Veränderung in den Körperu der
Aussenwelt auf Anordnung, Form und Lage und Anzahl
der Atome zurückzuführen ist, giebt er nebenher noch die
"0) Fr. 30.
"') a6Yxpt(j.a Fr. 30.
334 Ernst Chr. Hch. Peithmanu,
Erklärung, dass diese Mannigfaltigkeit und dieser Wechsel unse-
sem verschiedenen Körperzustande und den wechselnden
Sinneseindrücken entspreche. Beide philosophische Schulen,
die Physiker und die Sophisten, haben einen unauslöschlichen Ein-
druck auf ihn gemacht, sodass es ihm nicht gelingt, eine klare und
einheitliche Erklärung des Wechsels der Dinge zu geben. Er
schwankt hin und her. Er sagt auch nicht deutlich, dass es zwei
verschiedene Ursachen hierfür giebt, sondern es hat den Anschein,
als wenn er das eine Mal die Anordnung und Gestalt und Lage
der Atome allein für eine genügende Erklärung der Veränderungen
in unseren Sinneseindriicken ansieht und das andere Mal wiederum
die subjektiv verschiedenen und schwankenden Sinneswahrnehmungeu
allein verantwortlich macht für den Wechsel, der unter den Kör-
pern der Aussenwelt vor sich geht. Ob das vojxu) auf die eine
oder andere Ursache allein oder auf beide zusammen sich bezieht,
könnte zweifelhaft sein. Das eine Mal "^) behauptet er z. B. ein-
lach, dass ein Gegenstand uns süss oder sauer oder bitter erscheint
nach unserem körperlichen Befinden oder nach unserem Alter, dass
kurz alle Eindrücke sich richten nach den Leuten, auf die sie ge-
macht werden. Auf einer andern Stelle '^'^) sagt er hingegen, dass
die verschiedenen Geschmäcke zurückzuführen sind auf Grösse und
Gestalt der Atome, aus denen die verschiedenen Speisen zusammen-
gesetzt sind. In derselben Weise giebt er zwei von einander ganz
unabhängige Erklärungen für die Farben. Bald sagt er, dass die
Farben verschiedenartig sind „"po; xr^v cpavi^aiav" oder „if^oTiij]"
(Wechsel der Sinneswahrnehmungen). Darnach haben dieselben
also absolut keine objektive Existenz in den Körpern, sondern sind
nur ein Produkt der Eindrücke auf unsere Sinne. Daneben aber
hat er noch eine eingehende Theorie von den Formen der Körper-
chen ausgearbeitet, die jene betreffenden Farben in uns hervor-
rufen. Verschiedene Erklärungen dieser Widersprüche sind möglich.
Man kann sie erstens zurückführen auf die psychologische Ent-
wickelung unseres Philosophen, die es möglich machte, dass er
»2) MuIIach 1,361.362.
'") Mullach l,3f)2.
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 335
beide Erkläruügen ausgeben konnte, ohne eine Vereinigung für
nöthis; zu halten. Oder wir können annehmen, dass er in der
That eine solche Vereinheitlichung seiner zweifachen Theorie ver-
sucht hat, ohne dass sie uns überliefert war. Vielleicht war seine
Meinung, dass beide Ursachen ihren besonderen Theil beitragen zu
dem einheitlichen Erfolge. Doch wir können diese Frage auf sich
beruhen lassen. Es genügt uns, zu sehen, dass Demokrit die Frage,
die die griechischen Naturphilosophen seit Anaximander beschäftigt
hat, in glänzendster und interessanter Weise beantwortet. Ist die
Welt mit Allem, was darinnen ist, sterblich und vergänglich
oder unvergänglich und ewig? Sind die Veränderungen, die
wir täglich um uns her beobachten, absolut oder nur relativ?
Kommen die einzelnen Dinge, die um uns her auftauchen, aus
nichts und verschwenden sie zuletzt wieder in nichts? Demokrit
antw'ortet: Das Material, das im letzten Grunde die Welt zu-
sammensetzt, „ist in der That" (e^c-r^), d. h. „es ist immer und
hat keinen Anfang und kein Ende", Und dies Material besteht
aus zwei Dingen, den Atomen und dem leeren Raum. Die Atome
entsprechen offenbar dem sv ov des Parmenides und den vier Ele-
menten des Empedokles und den unzähligen kleinen „Dingen" des
Anaxagoras und dem „einen Körper" des Diogenes. Das xsvöv
oder der leere Raum ist eine Zuthat des Demokrit, die ihm eigeu-
thümlich ist. Parmenides und Empedokles und wahrscheinlich auch
die übrigen älteren Philosophen hatten eine solche Vorstellung ge-
radezu ausgeschlossen'^') und die Abwesenheit jedes leeren Raumes
im Weltall als Grund dafür angeführt, dass nichts ins Dasein
kommen kann, da die Welt ganz angefüllt ist und also kein Platz
da ist für neue Geschöpfe. Dieser leere Raum hat aber sicherlich
nichts zu thun mit dem «j-tj eivczi oder [jltj ov der frühereu Philo-
sophen, wie man leicht annehmen könnte und wie die Doxographen
wirklich angenommen haben '"^^). Diese Atome und dieser leere
Raum haben also allein wahrhafte Existenz. Was sonst noch zu
„sein" scheint und als „Gegenstand" unserer Wahrnehmungen an-
1^*) Parm. V. 80. 107. Emped. 166.
'■•ä) Aristot. II 254,5.
336 Eiust Chr. Hch. Peithmann,
gesehen wird, hat in Wirklichkeit keine bleibende Existenz. Alle
diese Erscheinungen kommen von den verschiedenen Zuständen des
menschlichen Körpers und der Verschiedenartigkeit dessen, was auf
uns Eindrücke macht und in unserem Körper jenen Eindrücken
widersteht. Die einzelnen Dinge, die daher scheinbar entstehen
und wieder vergehen, stellen nur eine verschiedene Zusammen-
setzung der Atome dar. Und während die Atome an sich keine
Qualität besitzen, bringen sie in ihren Zusammensetzungen die ver-
schiedensten Effecte zu Stande, je nach Anordnung, Form und Lage
der einzelnen Atome. Diese Mannigfaltigkeit in Gestalt und An-
ordnung der Atome ist nach Demokrit hinreichend, um alle ver-
schiedenen Geschmäcke und Farben und Gerüche und überhaupt
alle Sinneseindrücke zu erklären.
11. Zusammenfassung.
DiePhilosophie vorSokrates entwickelte sich demnach folgender-
maassen 1) Die älteste Form der griechischen Philosophie vertrat
die naive Idee, dass die Dinge, wenn sie in die Erscheinung treten,
aus nichts geschaffen werden, dass sie für eine verhätnissmässig
kurze Zeit im Dasein „sind^ und dass sie zuletzt wieder iuslSichts
vernichtet worden. Während eines unendlichen Zeitraums „sind
sie nicht", dann kommen sie ins Dasein und „sind" vorübergehend,
um endlich wieder für alle Ewigkeit „nicht zu sein". Woher
kommen sie? Aus dem Nichts! Wohin gehen sie wieder? Ins
Nichts! Bevor sie „sind" und nachdem sie gewesen sind, sind sie
einfach „nichts". Anaximander und Anaximenes, die nach ein-
stimmiger Ueberlieferung die Theorie vom „Entstehen und Ver-
gehen" der Dinge vertraten, sagten freilich, die Dinge kommen aus
dem „ocTTsipov" oder der „Luft", statt aus dem Nichts. Aber es
ist höchst wahrscheinlich, dass die ersten Philosophen dieselbe naive
Anschauung vertraten, wie jedes Kind in unserer Zeit, dass näm-
lich „Luft" soviel ist wie gar nichts und dass der „unendliche
Raum", oder „das Plane" absolut leer ist. Wenn jene Männer
also behaupteten, die Welt und alle Einzelwesen entwickeln sich
aus „dem unendlichen Raum" oder der „Luft", so meinten sie da-
mit, sie entstehen aus dem Nichts und sie vergehen wieder ins
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 337
Nichts. Das „Nichtseiu" ist in dieser Philosophie in der That von
grösserer Bedeutung als das Sein, dieses ist nur von kurzem und
vorübergehendem Bestände, während jenes die Ewigkeit ausfüllt.
Aber das „Sein" eines Dinges ist nur ein abnormaler Zustand.
Jedes Ding muss zurückkehren ins „Nichtsein" ysxzb. to /psiov mit
.einer sittlichen Nothwendigkeit. Jedes Ding, das „ist", hat sich
mit seinem Blute dem Nichtsein verschrieben und muss zu seinem
Dienstherrn zurück, wie ein Sklave, der entronnen ist. Dies ist
daher die Philosophie des „Nichtseins". Sie erkennt zwei
verschiedene Existenzformen an, eine positive, das Sein, und eine
negative, das Nichtsein. Dieses erste Auftreten des philosophischen
Denkens ist, wie wir sehen, äusserst naiv. Es ist die Vorstellung
eines Kindes. Sie hat keine Ahnung von einer Substanz, aus der
die Dinge zusammengesetzt sind und in die sie sich wieder auf-
lösen; keine Ahnung von der Thatsache, dass die Pflanze die
wächst und an Grösse zunimmt, einfach Stoff aus der Erde zieht
und aus der Luft einathmet, um diesen als Baumaterial in ihrem
Innern niederzulegen. 2) Gegen diese Theorie vom „Nicht-
sein" als einem Zustande, der dem Sein absolut entgegengesetzt
ist, trat Herakl'it zum ersten Male mit vernichtender Geistes-
schärfe auf. Nichtsein, so behauptet er, ist nur in einer gewissen
Hinsicht vom Sein verschieden. In anderer Hinsicht aber ist Nicht-
sein dasselbe wie Sein. Was uns als Nichtsein erscheint, ist näm-
lich nur eine andere Form des Seins. Beide beruhen aber auf
demselben Princip. Dies wird klar, wenn wir bedenken, dass diese
Welt nicht eine unzusammenhängende Masse von Dingen ist,
sondern dass alle Dinge eins und dasselbe sind.
Hier kommt zum ersten Male in zweideutiger und dunkler
Ausdrucksweise der Gedanke von einer Substanz zum Vorschein,
der die verschiedenartigsten Körper bilden kann, ohne seinem Wesen
nach sich zu verändern. Die Art und Weise, in welcher er diesen
Gedanken von einem unvergänglichen und ewigen Wesen zum Aus-
druck bringt, ist aber höchst interessant und anziehend. Die
Einheit der Welt liegt nach Heraklit, wie nach Parmenides,
Empedokles, Anaxagora in der geistlichen Seite ihres Wesens,
die mau nur mit der Vernunft sehen kann. Die Dinge sind
338 Ernst Chr. Heb. Peithmauü,
nur scheinbar getrennt und von einander verschieden. Die Ver-
nunft entdeckt leicht das Gemeinsame, das alle Dinge zusammen-
hält. Und dieses Gemeinsame in den Dingen ist von der grössten
Bedeutung. Es ist der Gott, der hinter allen Dingen steht oder in
allen Dingen steckt, der Alles lenkt und zum Besten leitet. Es ist
der Einklang, der durch alle scheinbaren Gegensätze hindurchklingt.
Es ist das Feuer, dessen Flammen in den einzelnen Dingen empor-
schiessen. Es ist der Blitz, der über alles in ökonomischer Weise
Haus hält. Daher bildet Leben und Tod keinen Gegensatz. Ein
Ding lebt den Tod des andern. Tod ist Leben in neuer Form:
Nichtsein ist daher nur ein anderes Sein. Nichtsein und Sein ist
in Wirklichkeit „dasselbe und nicht dasselbe". Man kann daher
nicht sagen, dass wir jetzt „sind" und nach unserem Tode „nicht
sind". Wir „sind" zu gleicher Zeit und „sind nicht". Wenn wir
daher nach dem Tode „nicht mehr sind", so sind wir immerhin,
ja „wir sind" dann im höheren Sinne, wachende „Wächter der
Ledendigen und der Todten'^. Nichtsein ist in AVahrheit nur Anders-
sein und besseres Sein. Die Welt ist daher immer gewesen und
wird immr sein, da sie nur ihre Form verändert, aber dem Wesen
nach absolut unvergänglich und ewig ist. An die Stelle des alten
oux 7)v — £5X1, oux ecxai setzt er sein r^v asi xat eatai. 3) Aber
diese Brücke zwischen dem Sein und Nichtsein, die Heraklit in so
genialer Weise aufgebaut hat, wird wieder niedergerissen von Parme-
nides. Wir stehen hier vor Gegensätzen, sagt er, die sich nicht
vereinigen lassen. Sein und Nichtsein schliessen sich gegenseitig
aus. Das Nichtsein lässt kein Sein zu und das Sein macht das
Nichtsein unmöglich. Wenn eine Sache ist, so ist sie immer und
wenn sie nicht ist, so ist sie nie und nimmer. Es giebt nur zwei
philosophische Systeme, die sich zu einander verhalten wie Irrthum
und Wahrheit. Unter dem Irrthum versteht er die Philosophie
Derer, die behaupten, dass Nichtsein ebenso gut existirt, wie Sein.
Mit dem Ausdruck Wahrheit bezeichnet er seine eigene Lehre,
dass das Nichtsein überhaupt ein Unding ist und keine Existenz
hat. Zwischen diesen zwei Daseinsweisen muss jeder wählen, dem
Sein und dem Nichtsein. Wenn das letztere wirklichen und positiven
Bestand hat, so giebt es das erstere nicht und die Existenz des
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 339
ersteren hinwiederum schliesst das zweite aus. Aber das Nicht-
sein ist etwas, wobei man sich nichts denken kann. Um an etwas
denken zu können, muss man schon seine Existenz voraussetzen.
Es giebt daher nur „das Sein". Was ist, ist immer: wenn die
Welt wirklich ist, so ist sie immer. Um dies klar einzusehen,
müssen wir aber die Welt als „eins" auflassen. Es ist absolut un-
zulässig, das Weltall auseinander zu reissen vermittelst der sub-
jektiven Ideen von Zeit und Raum. Man kann nicht sagen: „hier"
ist etwas, oder „da" ist etwas. Man kann auch nicht sagen „es
war" oder „es wird sein", sondern man muss sich beschränken
auf die Formel „es ist" in einer ununterbrochen fortdauernden
Gegenwart. Das Weltall „ist" in Wahrheit und „ist" daher immer
und kann nie aufhören zu sein. Alle Veränderung und aller Wech-
sel ist unbendigt und ausgeschlossen. 4) Empedokles und
seine Nachfolger machen nun den Versuch, die Ansichten des
Heraklit und Parmenides auszugleichen und auszusöhnen. Beiden
Philosophen wird zugestanden, dass das Nichtsein keine Existenz
hat. Aber Parmenides hat nur eine Seite der Wahrheit. Das
Weltall „ist" und ist ewig, insofern das Ganze immer dasselbe
bleibt, insofern nicht das geringste Theilchen davon verloren gehen
kann und nichts hinzugefügt werden kann. Aber es findet eine
Veränderung in der Welt statt insofern der Stoff immer neue Com-
binationen bildet Die Mannigfaltigkeit besteht in der Form, die
Unveränderlichkeit in dem Stoff.
Wir könnten daher die älteste Philosophie folgendermassen
einteilen:
1. Die Lehre von Sein und Nichtsein als positive
Gegensätze: Die Dichter und Anaximander und Anaximenes,
2. Die Behauptung, dass Sein und Nichtsein dasselbe
bedeuten: Heraklit.
3. Die Philosophie vom blossen Sein: Parmenides,
Zenon, Melissus.
4. Vom Unterschied zwischen dem wahren Sein und dem
veränderlichen Sein oder Werden: Empedokles, Anaxagoras,
Diogenes, Demokrit.
?.40
Ernst C'hr. HcIi. Peithmann,
Oder wir können die Philosophen folgenderinassen zusammen-
gruppiren.
]. Diejenigen, welche in dieser Welt eine absolute Mannig-
faltigkeit von Dingen sehen und die Ausdrücke Ta ovtct oder
-oUa gebrauchen: Anaximander, Auaximenes.
Diejenigen, welche das Weltall als „eins" ansehen und
die Ausdrücke s'v und to ov gebrauchen: Xeuophanes, Parmenides,
Melissus, Zenon.
B. Diejenigen, welche beides, die Einheit und Vielheit der
Welt anerkennen, deren Motto also h xal tjX)ä ist: Ileraklit,
Kmpedokles, Anaxagoras, Diogenes, Demokrit.
Dieselbe Anordnung würde sich ergeben, wenn wir die verschiedenen
Philosophen gruppireu nach ihrer Stellungnahme zu der Frage
von Unsterblichkeit oder Sterblichkeit der Welt.
1. Anaximander und Anaximenes sehen die Welt als sterb-
lich an.
2. Parmenides, Melissus und Zeno sagen die Welt ist un-
sterblich.
3. Heraklit, Empedokles, Anaxagoras, Diogenes und Demokrit
lehren, dass das Ganze des Weltalls unsterblich ist, aber die ein-
zi'lnen Erscheinungen sterblich sind.
Wir könnten demnach die folgende Tabelle aufstellen.
„Das Unvergrängliche"
I)ie Milesier
FTeraklit
Parmenides
Kmpedokles
Anaxagoras
Diogenes
Demokrit
„Das Vergäugliche"
alles entsteht und vergeht
es zerstreut sich, es
sammelt sich
' Mischung und Trennung
der sterblichen Dinge
Mischung, Aussonderung
\'erbindung, Trennung
Veränderung
Gestalt, Anordnung
Lage-Zustaud, Stimmung
Einklang, Feuer, Vernunft,
Zeus, Gott, Welt.
Das Eine, das All
Die vier Elemente
Liebe und Hass
Die Dinge, der Geist
Luft- Vernunft
Die Atome, der leere Raum.
Wir sehen hieraus, dass sich die Idee von der unzerstörbaren
Substanz erst ganz allmählich im Laufe der griechischen Philo-
sophie entwickelte. Den ersten Denkern war die Vorstellung von
einem Stolfe, der verschiedenen Zusammensetzungen bilden kann
Die Naturphilosophie vor Sokrates. 341
in den verschiedensten Verhältnissen, völlig unbekannt. Heraklit
sprach zum ersten Male den unerhörten Gedanken aus, dass der
Tod keine Vernichtung bedeutet, sondern dass ein Ding lebt vom
Tode des andern. Hier wird zum ersten Male die Einheit der
Existenz in ahnender Weise ausgesprochen. Parmenides kommt der
Lösung noch näher, indem er die ganze Masse des Weltalls als
„eins" erfasst und für unerschaffen und unvergänglich erklärt.
Empedokles unterscheidet in genialer Weise zwischen den vier
unvergänglichen Elementen und ihrer vorübergehenden verschieden-
artigen Mischung. Anaxagoras entwickelt zum ersten Male die
Theorie von der „Aussonderung" der „entgegengesetzten Elemente",
nämlich des Kalten und Warmen, des Nassen und Trocknen aus
dem ursprünglichen Gemisch aller Dinge. Die unendlich vielen
verschiedenen Theilcheu vereinigen und trennen sich dann in der
Erscheinung des Entstehens und Vergehens der Körper. Diogenes
spricht zum ersten Male den Gedanken aus, dass die einzelnen
Dinge entstehen durch qualitative Verändernug desselben allen
Wesen zu Grunde liegenden Wesens, welches er Luft nennt. De-
mokrit endlich bringt die ganze Entwickelung zu einem konkreten
Abschluss in seiner Theorie von der alleinigen wahrhaften Existenz
der Atome und des leeren Raums. Die Verschiedenheit der Dinge
erklärt er einfach aus den verschiedenen Eigenschaften, der Lage
und Anordnung der Atome.
Nach alledem muss es uns als unmöglich erscheinen, dass
schon Thaies und Anaximander und Anaximenes die Lehre ver-
treten haben sollen, dass es „einen" allen Dingen zu Grunde
liegenden Stoff giebt, der entweder durch „Verdichtung und Ver-
dünnung" oder durch „Aussonderung" '") die Entstehung der Einzel-
dinge verursacht und ihre Mannigfaltigkeit erklärt. Dies ist die
verhängnissvolle Irrlehre, die von Aristoteles zum ersten Male im
allgemeinen ausgesprochen und von den Doxographen in ihren
Einzelheiten ausgedacht und ausgesponnen ist. Nach den Doxo-
graphen vertreten schon Thaies und Anaximenes die Philosophie
von einem Grundprincip aller Dinge, das durch Verdichtung und
'") Arist. ir, 252.
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV. 3. 24
B42 Peithraann, Die Naturphilosophie vor Sokrates.
Verdüuuuug die verscliiedensten Gestalten und Formen hervorbringt
Wir können deutlich sehen, wie diese Lehre von der Verdichtung
und Verdünnung der „Luft" zum ersten Male auftritt in dem
System des Diogenes. Nichts war daher natürlicher für die Doxo-
graphen, als diese Theorie zurückzudatiren zum Anaximenes, der
ja auch sagte, dass die Dinge „aus der Luft" kämen und „in die
Luft" wieder verschwänden. Dann war es aber äusserst leicht und
selbstverständlich, diese bequeme Lehre von Verdichtung und Ver-
dünnung auch auf die vermeintliche „Wassertheorie" des Thaies
anzuwenden: und sie passte vorzüglich. Ebenso verfuhr man mit
der Lehre des Anaxagoras von der Aussonderung der „entgegen-
gesetzten Qualitäten" nämlich des W^armen und Kalten. Dies war
um so verführerischer, da Anaximander und Anaximenes in ihrem
kosmogonischen System wirklich von den beiden „entgegengesetzten
Gestalten", nämlich dem „Feuer" und der „Nacht", dem „Dichten"
imd „Dünnen" gesprochen hatten'*'). Aber eine solche Zurück-
datirung der Lehre von Stoft" und seinen Verwandlungen ist ein
wahrer Unsinn und konnte nur vorgenommen werden von Männern,
die nur eine unklare und verwirrte Vorstellung hatten von der
Entwicklung der Geschichte der ältesten Fhilosophie. Die Lehre
von der uXif) gehört ans Ende der philosophischen Entwicklung,
aber nicht an den Anfang.
'■'^) Mullach I, Parm. 113—121.
xm.
Wissen und Glauben bei Pascal.
Von
Dr. Kurt Waruiuth, Licentiat der Theologie.
Einleitung.
Um Pascal, gleich gross an Geist und Herz, zu begreifen,
muss man an ihm den Mathematiker und den Jansenisten unter-
scheiden.
Wie er selbst sagt, hat er sich lange Zeit mit dem Studium
der abstrakten Wissenschaften beschäftigt und darauf zum Studium
des Menschen gewandt. ')
Als die Wissenschaft schlechthin gilt ihm die Mathematik.
Alle AVeit kennt seine hervorragenden Leistungen hierin.
Aber die abstrakten Wissenschaften thuen ihm nicht Genüge:
neben einem klaren, scharfen Verstände besitzt er ein Herz voll
Glut und Leidenschaft. Das Räthsel des Menschen bewegt ihn;
^) I 199. J'avais passe longtemps dans l'etude des sciences abstraites,
et le peu de communication qu'on eu peut avoir m'en avait degoüte. Qand
j'ai commence Tetude de l'homme, j'ai vu qua ces sciences abstraites ne lui
sont pas propres et que je m'egarais plus de ma condition en y penetrant
que les autres en les ignorant: j'ai pardonne aux autres d"y peu savoir.
Mais j'ai cru trouver au moins bien des compagnons en l'etude de riiomme
et que c'est la vraie etude qui lui est propre.
24*
344 Kurt Warmuth,
vergeblich sucht er bei den Philosophen die Lösung, er findet sie
im Christenthum, u. z. im Jausenismus. Das Studium des Menschen
führt ihn zum Studium der Religion.
Man kann so zwei Stadien seines geistigen Lebens unter-
scheiden: in dem ersten steht die Mathematik, in dem zweiten
der Mensch und die Religion im Vordergründe seines Interesses.
Der Mathematik hat er besonders seine Jugend gewidmet.
Von 1647, wo er zuerst mit den Jansenisten in Berührung kommt
— er liest Jansen: „Discours sur la reformatiou de l'homme
Interieur" — , bildet das Räthsel des Menschen sein Hauptinteresse.
Er studirt die Philosophen. Um sich von seinen angestrengten
Studien zu erholen, giebt er sich auf Rath der Aerzte kurze Zeit
dem weltlichen Leben hin. Das Ereigniss auf der Brücke zu
Neuilly ruft ihn 1654 zur asketischen Lebensweise zurück; er tritt
in nähere Verbindung mit Port-Royal und widmet sich zumeist
religiösen Studien: im Jansenismus hat er die Lösung des Räthsels
vom Menschen gefunden. Er fasst den Plan, die Atheisten zu
widerlegen. Er sammelt Gedanken über die Religion. Während
des Sammeins bestimmt sich ihm sein Plan näher dahin, den
Glauben bei den Ungläubigen vorzubereiten; kann doch der Mensch
weiter nichts, denn der Glaube ist göttliche Wirkung. Er befolgt
dabei die „Methode des Herzens", sie heisst: echauffer, non
instruire. ')
Das ist die Geschichte von Pascals Geist. Und die seines
Herzens? Von Jugend auf bis an das Ende hat den Grund seiner
Seele ein Glaube erfüllt voll Leben und Kraft; gewiss, er ist zu
Zeiten zurückgetreten, aber dann umso gewaltiger hervorgebrochen.
Das ist das Geheimniss von Pascals Grösse: er vereinigt in sich
ein eminentes mathematisches Genie und eine tiefreligiöse Natur.
Das erste Stadium. Als Mathematiker tritt uns Pascal in
den mathematischen, naturwissenschaftlichen und logischen Frag-
menten entgegen: Preface sur le traite du vide, nach Faugere
1647 ; L'Esprit geometriquc, 1655? L'art de persuader, wahr-
scheinlich erst 1657 oder 58. Hier vertraut Pascal der Kraft des
2) II 265.
Wissen und Glauben bei Pascal. 345
Verstandes und vertheidigt sein Recht gegenüber der Autorität.
Wissen ist möglich mit Hilfe des natürlichen Lichts und der
mathematischen Methode. Das Wissen erstreckt sich auf das
natürliche Gebiet, der Glaube auf das übernatürliche; jedes hat
seine besondere Ordnung: auf dem natürlichen hat der Verstand,
auf dem übernatürlichen das Herz das erste Wort. Das Wissen
ist des Menschen That, der Glaube ist Wirkung einer über-
natürlichen Kraft.
Bereits im ersten Stadium klingt das zweite an. Pascal
kennt eine ethische AVirkung der Mathematik. Der Begriff der
doppelten Unendlichkeit der Grösse und Kleinheit weckt im Herzen
Bewunderung für die Grösse der Natur und Selbsterkenntniss.
Diese ethische Wirkung hält er für mehr werth als die ganze
übrige Mathematik.
Das zweite Stadium. Die abstrakten Wissenschaften können
seinem glühenden Herzen, das der Wahrheitsdrang eines Faust
beseelt, auf die Dauer nicht genugthun; er gräbt tiefer. Sein
Interesse wird praktisch. Das Räthsel des Menschen lässt ihm
keine Ruhe. Er forscht bei den Philosophen: Epiktet und
Montaigne befriedigen ihn nicht. Ihre Erkenntniss des Menschen
ist einseitig. Er hält Abrechnung mit ihnen im Entretien avec
Saci sur Epictete et Montaigne, 1654. Die Lösung findet er im
Christenthum, u. z. im Jansenismus.
Als Jansenist zeigt sich Pascal in den Pensees. Die Lösung
der Widersprüche im Menschen hat er im Dogma vom Fall, von
der Erbsünde und Gnade gefunden. Alles Menschliche erscheint
ihm im Gegensatz zur göttlichen Gnade gering. Das Glück-
seligkeits-Interesse leitet ihn jetzt. Die Wissenschaft hat nur noch
formalen Werth. Ist doch Wissen dem Menschen aus meta-
physischen und psychologisch-ethischen Gründen unmöglich. Was
er erreichen kann, ist nur Ungewissheit: er ist unfähig, gewiss zu
wissen und absolut nicht zu wissen. Nur sein Elend kann und
soll er erkennen. Dies soll ihn zum Suchen eines Heilmittels
antreiben. Das Heilmittel ist der Glaube. Nicht aus eigener
Kraft kann er ihn erwerben. Er ist eine Gabe Gottes, göttliche
346 Kurt Warmuth,
Erleuchtung; der Mensch kann sich nur durch die Vernunft und
die Gewöhnung darauf vorbereiten. Die Entscheidung liegt in
Gottes Hand: er giebt den Glauben. Jedem? Nein, nur dem, den
er erwählt hat.
Wir sehen, Pascals Anschauung über das Wissen ist einer
Wandlung unterworfen. Als Mathematiker sagt er: Wissen ist
möglich mit Hülfe des natürlichen Lichts und der mathematischen
Methode. Als er sich von den abstrakten Wissenschaften zum
Studium des Menschen gewandt hat, w^ird er immer misstrauischer
gegen das Wissen, da er die verschiedenen, sich ganz wider-
sprechenden Ansichten der Philosophen über den Menschen liest.
Das Misstrauen wächst, er kommt zu dem Schlüsse des Sokrates;
„Ich weiss, dass ich nichts weiss!" Er steht jetzt auf dem
Standpunkt der weisen Unwissenheit, von der er selbst spricht.^)
Er unterwirft seine Vernunft dem Dogma vom Fall und von der
Gnade. Im Glauben findet er die Gewissheit, er ist das höchste
Wissen. Von hier aus erscheint ihm alles menschliche Wissen
unvollständig und unsicher.
Und seine Anschauung über den Glauben? Ueber das Wesen
desselben urtheilt er als Mathematiker und Jansenist gleich: er
charakterisirt ihn in der Preface sur le traite du vide als eine
„übernatürliche Kraft" und in den Pensees als eine „Gabe Gottes".
Ueber das Gebiet des Glaubens urtheilt er verschieden. Als Mathe-
matiker beschränkt er den Glauben auf das Gebiet der religiösen
Wahrheiten und lässt neben ihm, wenn auch im Range unter
ihm, das Gebiet des Wissens gelten/) Als Jansenist kennt er
nur ein Gebiet der Wahrheit, das des Glaubens.
^) I 180. Les Sciences ont deux extremites qui se touchent: la prcmieie
est la pure ignorance naturelle oü se trouvent tous les hommes en naissant;
l'autre extremitö est celle oü arrivent les grandes Arnes ijui ayaut parcouru
tout ce que les hommes peuvent savoir, trouvent qu'ils ue savent rien et se
rencontrent en cette meme ignorance d'oü ils etaient partis. Mais c'est une
ignorance savante qui se counait.
■*) DreydoriT erklärt sich diesen Respekt für die Theologie aus der Ten-
denz des Aufsatzes „Ueber das Leere", den Fortschritt der Naturwissenschaften
gegen die kirchliche Reaction zu vertheidigen. Dürfte er nicht tiefer, nämlich
in Pascals von Haus aus gläubiger Seele, begründet sein?
Wissen und Glauben bei Pascal. 347
Wir wollen uun im einzelneu zu zeigen versuchen, wie Pascal
über Wissen und Glauben zuerst als Mathematiker und dann als
Jansenist gedacht hat.
Litteratur.
Pascal hat die verschiedenste Beurtheilung erfahren.
Während Cousin *) und Jetter^) ihn für einen Feind der Philo-
sophie halten, nennen ihn Havet') und Nourrisson ') einen Freund
derselben.
Im Gegensatze zu Neander'), der sagt, dass Pascal den Streit
zwischen Glauben und Wissen ausgeglichen und somit das Problem
einer Versöhnung von Glauben und AVissen, Theologie und Philo-
sophie, gelöst habe, meint Jelter, dass Pascal auf die rationelle
Lösung des Problems verzichte, indem er auf die Lehre von der
Erbsünde und Prädestination zurückgehe, wobei zwischen dem Zu-
stande der Ungewissheit und dem der Gewissheit durch Offen-
barung keine Vermittelung stattfinde.
Darin stimmen allerdings fast alle Schriftsteller überein, dass
sie in Pascals eigenem Innenleben den Glauben als triumphirende
Macht ansehen.
Bereits Pascals Schwester, Gilberte Perier^"), sagt in der
Lebensbeschreibung ihres Bruders: „Sein grosser, wissbegieriger
Geist, der mit soviel Fleiss Ursache und Grund von allem suchte,
^) Cousin, Etüde sur Pascal, 5. ed. Paris, 1857.
^) Jetter, Jahrbücher für deutsche Theologie, 17. Bd., p. 228—320, 1872.
„Pascal wollte von der Philosophie überhaupt nichts wissen."
') Havet, Etüde sur les Pensees de Pascal als Einleitung zu seiner Aus-
gabe der Gedanken, 2 Bde. Paris 3. ed. 1881. „Dass Pascal kein Feind der
Philosophie ist, beweist sein Wort: La raison nous commande bien plus
imperieusement qu'un maitre; car en desobeissant ä Tun, on est malheureux
et en desobeissant ä l'autre, on est un sot".
^) Nourrisson, Pascal physicien et philosophe, Paris 1885 « Ramener les
esprits des distractions qui les leurrent ä l'etude d'eux-memes et de la con-
naissance d'eux-memes a la connaissance de Dieu — n'est pas encore les
ramener ä la philosophie? »
^) Neander, Ueber die geschichtliche Bedeutung der Pensees Pascals,
für die Religionsgeschichte insbesondere, Berlin, 1847.
10) Havet, Peusees de Pascal, Paris 1881 I p. LXIX.
348 Kurt Warmuth,
war iu Dingeu der Religion unterthänig wie ein Kind. Diese Ein-
falt hat sein ganzes Leben über in ihm geherrscht."
Auch Faugere^') giebt Pascals persönlichem, sein ganzes Wesen
durchdringendem Glauben ein glänzendes Zeugniss. Nach ihm ist
Pascals Meinung nicht, dass der Mensch ohne Christus schlechthin
jedes Begriffs von Gott, von dem wahren Guten, der Gerechtigkeit
und Seligkeit entbehre. Sein Misstrauen in die natürliche
Vernunft des Menschen ging nie so weit. Er glaubte vielmehr, dass
die vollkommene Erkenntniss Gottes, des Wahren und Guten un-
trennbar wäre von der Erkenntniss Christi.
Ebenso warnt Sainte-Beuve '''*), Pascal zu sehr als Skeptiker
zu fassen, wozu der Skepticismus unserer Tage verleite. Pascals
Glaube'^) war tief, lebhaft und wahr.
In seinem grossen Werke über Port-Royal'^) feiert Sainte-
Beuve Pascals Liebe zu Jesu, indem er ausruft: « Quel amour
debordant! quelle tendresse! quelle fusion de tout en l'unique Media-
teur! Ce livre des Pensees, dans son ensemble, si revctu d'eclat, si
arme de rigueur et comme d'cpouvante au dehors, et si tendre,
si onctueux au fond, se figure a mes yeux comme une arche de
cedre ä sept replis, revetue de lames d'or et d'acier impenctrable,
et qui, tout au centre, reuferme a nu, amoureux, douloureux,
joyeux, le coeur le plus saignant et le plus immole de l'Agneau.
Saint-Jean, l'Apotre de l'amour, eut-il jamais plus de tendresse
et de suavite sensible que cet Archimede en pleurs au pied de
la Croix? »
Aehnlich Havet^^). Von Anfang an steht Pascal auf dem
Felsen des Glaubens'*). Nicht als Freigeist, der vom allgemeinen
") Faugere, Pensees, fragments et lettres de Bl. Pascal, 1844.
12) Sainte-Beuve, Portraits contemporains, Paris 184G.
13) Cf. Kurt Warmutii, Das religiös-ethische Ideal Pascals, Leipzig, Georg
Wigand, 1901. p. 8.
'^) Sainte-Beuve, Port-Royal, Paris 1860 III, 381. Cf. II, 377 — III, 393.
») a. a. 0.
'*"') La vie de Pascal appartient ä la foi tout eutiere; on ne saurait trouver
dans cette existence si suivie un intervalle oü on puisse supposer que la foi
se soit retiree de lui.
Wissen und Glauben bei Pascal. 349
Zweifel ausgeht, darf man sich ihn vorstellen; er geht vom Glauben
aus, der Glaube ist bei ihm tief, unaustilgbar eingewurzelt; unter-
wegs begegnet er dem Zweifel, nicht als einem Princip, sondern
als einem Hindernisse. „Nicht ein Philosoph, der seinen Weg
sucht oder sich anstrengt, die Wahrheit zu entdecken, ist Pascal,
sondern ein Gläubiger, der die Wahrheit kennt, und der Schwierig-
keiten zu lösen sucht, die sie verdunkeln"^'). Am vollkommenen
Verständnisse Pascals hindert uns der Rationalismus unserer Zeit '*).
Auch Faguet '') sieht den Innern Grund von Pascal im
Glauben; „er ist Gläubiger gewesen von Geburt, Erziehung und
geheimem Instinkt des Herzens, vielleicht ohne Unterbrechung,
wenn auch nicht ohne Sturm". Faguet zeichnet den Gang von
Pascals Denken. Mit ^lontaigne überzeugt sich Pascal au tausend
Beobachtungen von der Ohnmacht des Menschen, irgend eine Wahr-
heit zu finden, die so sei, um sich darauf zu stützen. Aber er
findet keine Freude am Zweifel wie Montaigne, er schmerzt ihn.
Montaigne schätzt die Menschen in ihrem Elend gering, Pascal be-
mitleidet sie. So führt ihn die Liebe zum Glauben. Er recon-
struirt das ganze Gebäude, das er niedergerissen hat. Worauf?
Alle menschliche Gewissheit ist bis auf den Grund zerstört ! Darauf
nicht, sondern auf die göttliche Gewissheit. Man muss sich der
Offenbarung von oben anvertrauen. „Seid Christen, hört Gott!"
Die menschliche Vernunft ist für sich allein schwach, aber es ist
^0 «Er eröffnet sozusagen die Preisbewerbung unter allen menschlichen
Doctrinen, das Problem unserer Bestimmung zu lösen, den Preis der besten
Lösung versprechend. Aber diese Lösung hat er schon im Moment, da er
nach ihr fragt; sein Autrag ist nur eine Herausforderung". In der janse-
nistischen Theologie hat er die Lösung gefunden. „Der natürliche Mensch, in
dem das Werk der Gnade sich nicht vollzogen hat, ist so zur Finsterniss ver-
urtheilt, dass er sich nicht einmal vergewissern kann, wo das Licht ist, noch
ob die Religion, die es ihm darbietet, es in der That besitzt. Aber es giebt
eine andere Hebelkraft: sobald die allmächtige Gnade gewirkt hat, ändert sich
alles: ich sehe, ich weiss, ich glaube; wir sind Gottes und durch ihn alles
übrigen gewiss."
'*) cf. Kurt Warmuth, Das religiös-ethische Ideal Pascals. Leipzig, Georg
Wigand, 1901, p. 10.
'^) Faguet, Dix-septieme siecle, etudes litteraires, Paris 189-i.
350 Kurt Warmuth,
eine glückliche Schwachheit, da sie den Menschen zwingt, seine Zu-
flucht zur höchsten Vernunft zu nehmen.
Aehnlich Nourrisson^"): „Pascal n'est pas un pur speculatif
qui s'evertue en des recherches savantes. C'est un croyant qui
se tourne avec amour apres l'avoir decouvert vers le Christ, dont
il fait sans doute un Christ aux bras etroits, mais qui enfin a ses
regards consolcs apparait corame un Christ liberateur. Ne cher-
chez donc point dans les Pensees de Systeme curieux sur l'homme,
sur sa nature, sur sa destinee. Mais a chaque ligne, c'est l'homme
lui-meme que les Pensees nous presentent, melange extraordinaire
de grandeur et de bassesse, ni ange ni bete, tour a tour chetif ver
de terre et roi depossede. En un mot, la philosophie de Pascal
est une philosophie vivante qui saisit ii la gorge les plus frivoles
ou les plus braves, mais qui ne les trouble que pour les assagir."
Jetter "') erklärt die Widersprüche in Pascals Ansicht über
die Möglichkeit und Wahrheit des menschlichen Erkennens aus
Pascals mathematischem und jansenistischem Standpunkte. Als
Mathematiker bejaht er die Möglichkeit und Wahrheit des mensch-
lichen Erkennens, als Theolog verneint er sie. Als Janseuist be-
müht er sich, den Menschen in intellectueller und ethischer Be-
ziehung möglichst herabzudrücken zu Gunsten der Gnade. Das
Interesse, das ihn in den Pensees leitet, ist ausschliesslich ein reli-
giöses, kein philosophisches.
Dreydorfl") ist der Meinung, dass Pascal über das Verhältniss
von Glauben und Wissen zu verschiedenen Zeiten verschieden ge-
dacht habe.
Interessant ist, wie Ferdinand Lotheissen") Pascal beurtheilt.
Er rühmt dessen geistige Unabhängigkeit. „Ein freier, stolzer Geist
lebte in ihm, so sehr er sich auch bemühte, ihn in Fesseln zu
schlagen. Aber tiefer und tiefer versank er in die unselige, krank-
hafte Stimmunji, die ihn dazu brachte, gegen sich zu wüthen. Er
20) a. a. 0.
21) a. a. 0.
22) DreydoilT, Pascals Gedanken über die Religion, Leipzig 1875.
2'') Ferdinand Lotheissen, Gesch. der französischen Literatur im 17. Jahrh.
3 Bd., Wien 1883.
Wissen und Glauben bei Pascal. 351
gehörte offenbar zu dem Geschlecht der energischen Männer, denen
der Boden zu einer grossen Thätigkeit fehlt, die sich darum in
sich selbst verzehren, sich in gewagten, selbst gewaltthätigen
Theorien verlieren und rastlos in ihrem Geiste umgetrieben werden.
Hätte Pascal in den ersten Jahrhunderten des Christenthums ge-
lebt, sein Fanatismus hätte ihn als Einsiedler in die Wüste ge-
führt; er hätte in fremden Zungen geredet und wäre dem er-
schreckten Volke als ein Heiliger erschienen. Aber ebenso hätte
ihn, wenn er im Jahrhundert der Aufklärung erschienen wäre, sein
scharfer Geist, sein Schwung, seine ätzende Logik vielleicht in die
Reihe der entschiedensten Revolutionäre neben Rousseau geführt.
Das 17. Jahrhundert bot ihm am wenigsten Spielraum. Wir können
nur bedauern, dass er seine seltene geistige Kraft nicht der Er-
forschung der Naturgesetze zugewandt hat, wie er in seiner Jugend
so erfolgreich begonnen. Dann besässe Frankreich wahrscheinlich
in ihm einen Mann, den es neben Newton stellen könnte." In
den Pensees lobt Lotheissen besonders Pascals Schilderung des
Menschen und seiner Natur. „Pascal zeigt sich darin als einen
unübertroffenen Kenner der menschlichen Natur, deren Tiefen er
ergründet hat. Von dichterischer Kraft erfüllt, ragt er stellenweise
an Dante heran und grübelt gleich Hamlet über dem Geheimniss
alles Seins."
L. Petit de Julleville^*) polemisirt gegen die Behauptung,
Pascal sei Skeptiker auf religiösem Gebiet gewesen; sein ganzes
Leben, alle seine Worte, endlich sein Tod protestiren dagegen.
„Cet homme-la etait le contraire d'un sceptique ou meme d'un
chretien haute par le doute. » C'est un enfant, disait avec raison
le P. Beurier, sou eure, il est humble et soumis comme un en-
fant! « Si Pascal est sceptique, c'est a la fa^on de Descartes,
l'inventeur du doute provisoire, et s'il a ose se servir d'une arme
aussi dangereuse, c'est precisement parce que ce grand croyant ne
craignait pas de se blosser en la maniant pour exterminer ses
ennemis. Faire de Pascal une sorte de Rene, de Werther ou
-*) Histoire de la langue et de la litterature franijaise des origines ä 1900
Armand Colin, Paris 1897, Tome IV, p. 560 ff.
352 Kurt Warmuth,
d'Obeiland, c'est vouloir ue rien comprendre ni a sa vie ni a ses
(cuvres." Schön sind die Worte, in denen er den literarischen
Werth der Pensees charakterisirt : „II y a dans les Pensees une
poesie vraiment sublime. La coutemplation de ces espaces infinis,
le parallele du ciron et du firmament tout entier, la definition de
rhomrae, ce roseau pensant qui n'est ni ange ni bete, decelent
un poete de genie et nous ravissent d'admiration."
Auch Victor Giraud^^) verneint die Frage, ob Pascal Skeptiker
gewesen. Er sagt: Pascal nest pas un sceptique, puisqu'il croit
a la puissauce (au moins relative) de la raison pour preparer les
voies ä la grace; il ne faut meine pas dire que, si Pascal n'etait
pas chretien, il serait sceptique: car il ctait trop epris de certitude
pour que, une foi positive lui manquant, il ne la rempla^ät pas
par une autre.
Joseph Bertrand") giebt in der Einleitung eine Reihe inter-
essanter Urtheile über Pascal von Lenaiu de Tillemont, Fontaine,
Madame de Sevigne, Boileau, Racine, Voltaire, De Chateaubriand,
Lamennais etc. und sagt: Les esprits delicats admireut en Pascal
l'ecrivaiu le plus parfait du plus grand siecle de la langue fraucaise.
Les savants honorent son genie; les plus fervents chretiens se
disent fortifies par sa foi, et les incredules, saus ignorer qu'ils lui fönt
horreur, voient dans Tadversaire triomphant des jesuites un precieux
allie qu'ils menagent. Pascal est grand dignitaire dans
le monde des esprits; on serait tente de l'appeler Monseigneur.
On se compromet moins en meeonnaissant La Fontaine ou Moliere
qu'en parlant legerement de Pascal. Une faiblesse ou un tort de
Pascal, quand l'evidence contraint a les avouer, doivent prouver
seulement l'iraperfection de la nature humaine. Auf die Frage,
ob Pascal ein Skeptiker gewesen, antwortet Bertrand: Nein. Ueber
die Einwürfe des Skepticismus triumphirt Pascal in Kraft des
Glaubens.
25) Victor Glraud, Pascal, riiomme, IViivre, l'influeiice, Fribourg 1898
p. 120.
Siö) Joseph Bertrand, Blaise Pascal, Paris, Calmanu Levy 1891,
Wissen und Glauben bei Pascal. 353
Emile Boutroux") zieht in gedrängter, aber meisterhafter
Form die Summe der Forschung über Pascal, giebt eine scharf-
sinnige Analyse der Pensees uud lässt uns einen tiefen Blick in
die Eigenthümlichkeit dieses Genies thun. Die Beziehungen von
Vernunft und Glauben bei Pascal hat Boutroux in einer Vor-
lesung^^) im Sommersemester 1898 eingehend behandelt. Ein
Student hat sie nachgeschrieben. Boutroux war so liebenswürdig,
sie mir zu übersenden. Er sagt darin etwa folgendes: Die Vernunft,
eingeschlossen in die Welt der sinnlichen Dinge, ist unfähig, über-
natürliche und religiöse Dinge zu begreifen und zu beweisen; sie
verwickelt sich auf diesem Gebiet in unlösliche Widersprüche.
Der Mensch muss sich also der Religion anvertrauen, der Macht,
die über der Vernunft steht, und muss blindlings (les yeux fermes)
glauben. Das ist die classische Interpretation Pascals. Dagegen
sagen andere: Pascal unterscheidet nur zwischen dem rechten und
falschen Gebrauch der Vernunft, er hat nichts gegen die recht
gebrauchte Vernunft. Boutroux meint nun: es handelt sich bei
Pascal nicht um das Verhältniss zwischen Vernunft und Glauben.
Er beobachtet, was in einem Menschen vorgeht, der sich bekehrt
hat und sich auf dem Wege der Gnade befindet. Drei Phasen
lassen sich da unterscheiden.
1. Der Gebildete des 17. Jahrhunderts steht dem Christentum
mit seinen Wundern feindlich gegenüber, es ist ihm ein Greuel.
Die Vernunft begreift indess nichts vom Uebersiunlicheu, sie ist
nicht fähig, die Probleme zu lösen, welche unser Seelenheil be-
treffen, sie ist nur ein Werkzeug, Schlüsse zu ziehen ohne Rück-
sicht auf den Inhalt der Prämissen. Die christliche Religion ist aber
wenigstens eine mögliche Hypothese.
2. Neben den Sinnen und der Vernunft besitzt der Mensch
noch das Herz. Unsre Jiiebe ist indess egoistisch und macht sich
selbst zum Mittelpunkt von allem. Unser Herz muss nun auf
diese Eigenliebe verzichten und Gott zum Mittelpunkt des Ganzen
machen.
^^) Emile Boutroux, Pascal, Paris, Ilachette 1900.
^*) Revue des cours et Conferences, 7 Juillet 1898 Paris, societe tran^aise
d'imprimerie et de librairie.
354 Kurt Warmuth,
3. Wenn dann die Gnade Gottes in uns wirkt und uns zu
ihm zieht, so scheint es uns, als ob der Wandel von uns bewirkt
werde. Aber die Umkehr ist schon das Werk der Gnade Gottes.
Die Demut ist das Zeichen der göttlichen Inspiration. So zurück-
geführt zu seinem ersten Zustand der Unschuld, wird das Herz
fähig, die religiöse Wahrheit zu erkennen. Der Glaube ist eine
Mittelstufe zwischen der Blindheit der Sinne und dem Schauen
der Seligen.
Das sind die drei Phasen, durch welche der Mensch zu Gott
emporsteigt. Der Glaube ist nach Pascal eine Bewegung des
Herzens, die durch Gott bewirkt wird, und aus der eine fort-
schreitende, aber nie vollkommene Erkenntniss Gottes resultirt. —
Die Lehre Pascals über Glauben und Vernunft lässt sich auf zwei
Thesen zurückführen:
1. Die Vernunft genügt sich nicht, sie ist nicht autonom. Es
giebt etwas Höheres, dem sie sich unterordnen muss; sie ist nicht
der Massstab der Wahrheit.
2. Was Pascal über die Vernunft stellt, ist die Liebe, die
Liebe zu Gott, als ein Gnadengeschenk. Es ist das Uebernatür-
liche, das christlich Uebernatürliche. Der Mensch verleugne sich
selbst und ergebe sich Gott. Die Liebe zu Gott ist eine Pflicht,
da der Gegenstand unserer Liebe gross, schön und liebenswerth ist.
In dieser Liebe müssen alle einig sein, das ist die ethische Ein-
heit (unite morale). Es genügt nicht, die Menschen zu lehren,
dass sie die Interessen des Nächsten schonen, sondern alle Schranken
zwischen den Menschen müssen beseitigt werden, und alle müssen
in der Verehrung des Wahren, Guten und Schönen eins sein.
Bezeichnend ist, was Nietzsche"") von Pascals Glauben sagt:
„Pascals Glaube sieht auf schreckliche Weise einem dauernden
Selbstmorde der Vernunft ähnlich, einer zähen, langlebigen, wurm-
haften Vernunft, die nicht mit einem Streiche totzumachen ist."
2') Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der
Moral. Leipzig, Naumann 1899. p. 70 cf. p. 69: „Um zu erraten und fest-
zustellen, was für eine Geschichte bisher das Problem von Wissen und Ge-
wissen in der Seele der homines religiosi gehabt hat, da/.u müsste einer viel-
leicht selbst so tief, so verwundet, so ungeheuer sein, wie es das intellectuelle
Gewissen Pascals war."
Wissen uud Glauben bei Pascal. 355
Isaac Taylor'") vergleicht in der Einleitung zu seiner Ueber-
setzuug der Pensees Pascal mit La Rochefoucauld, beide nennt er
„Anatomiker des menschlichen Herzens". Während La Rochefoucauld
kalt und theiluahmlos die Verderbtheit des Menschengeschlechts fest-
stellt und au seine Besserung nicht glaubt, schaut es Pascal er-
schüttert und voll Mitleid an und hofft in athemloser Erwartung auf
die Stunde, wo es sich in der Kraft des heiligen Geistes erneuern
wird.
Eine warme Würdigung lässt Raoul Richter'^) Pascal, dem
Moralphilosophen, zu Theil werden. Pascal hat es wie kein anderer
verstanden, aus dem gefälligen Hinleben in der laxen und be-
quemen Jesuitenmoral den Menschen aufzurütteln, ihm den furcht-
baren Ernst und die ganze Schwierigkeit ethischer Konflikte vor
Augen zu stellen und die Stunden der Einsamtkeit, die alle fliehen,
nicht zu Stunden der Langenweile, sondern der Selbstbesinnung
und damit der Gewissensvertiefung und ethischen Selbstdisciplin
zu machen. So wollen die Pensees zunächst auch mehr aus
praktischem Bedürfnisse als aus wissenschaftlichem Interesse in
die Hand genommen sein. Der Bischof d'Aulonne, zum Druck
der ersten Ausgabe der Pensees um sein Gutachten befragt, schrieb
in dem Sinne: dass ein einziger dieser Gedanken genüge, um die
Seele eines Menschen einen ganzen Tag zu nähren, wenn er ihn
zu diesem Zwecke lese: so erfüllt seien sie alle von Wärme und
Glanz. Seine Lehre hat Pascal durch sein Leben besiegelt. Wie
Sokrates und Spinoza gehört er zu den Männern, bei denen man
Theorie und Praxis völlig im Einklang finden wird. So steht er
als Mensch und Denker da als einer, an dem die Goethesche
Bitte in Erfüllung gegangen: „Grosse Gedanken und ein reines
Herz, das ist's, was wir uns von Gott erbitten sollten."
Auch eines deutschen Theologen sei gedacht, dem ich die
Liebe zu Pascal verdanke: Chr. Ernst Luthardt '"). In seinen
^°) Isaac Taylor, Tlioughts on Religion and Philosopliy by BI. Pascal,
London, 1894.
2') Archiv für Gesch. der Philosophie, 12 p. 68ff.
^2) Luthardt, Apologet. Vorträge über die Grundwahrlieiten des Christeii-
thums, Leipzig, DörffUng u. Frauke 1883.
356 Kurt Warrauth,
Schriften und Vorlesungen erwähnte er oft Pascal. Und wenn
ich in seinem schönen Park in Leipzig mit ihm spazieren gehen
durfte und die Rede auf Pascal kam, leuchteten seine Augen in
heiliger Begeisterung.
Dass das Interesse für Pascal gegenwärtig in Frankreich ein
actuelles ist, beweist die stets wachsende Zahl der Ausgaben,
Studien und Vorlesungen, die Pascal behandeln. Victor Giraud
sagt in seinen ausgezeichneten Vorlesungsskizzen über Pascal,'^) dass
in den letzten Jahren nicht weniger als sechs Ausgaben der
Pensees erschienen sind: von Didiot (Paris, Desclee et Brouwer),
Guthlin (Paris, Lethielleux), Michaut (Fribourg, Collectanea Fri-
burgensia) 1896, Faugere (2*- edition, Paris, Leroux), Brunschvicg
(Paris, Hachette), Margival (Paris, Poussielgue) 1897.
Eine stattliche Reihe von Abhandlungen beschäftigt sich mit
Pascal. Ausser den Einleitungen zu den eben genannten Aus-
gaben sind folgende Studien zu nennen: P. Bourget: Pascal
(Etudes et portraits, Lemerre 1879): Droz: Essai sur le scepticisme
de Pascal (Alcan, 1886); Scherer: La religion de Pascal (Etudes
litt. cont. T. IX, 1887. C. Levy); Ravaisson: La philosophie de
Pascal (Revue des Deux-Mondes, 15 mars 1887); Brunetiere:
Etudes critiques, T. I, III, IV, (art. de 1879, 1885, 1889, 1890,
Hachette); C. Adam: Etudes diverses sur Pascal (1887, 1888, 1891;
cf. die Bibliographie der Ausgabe von Michaut); Rauh: La phi-
losophie de Pascal (Ann. de la Fac. de Bordeaux, 1891); Sully
Prudhomme: folgende Artikel in der Revue des Deux-Mondes
15. Juli, 15. October, 15. November 1890 und in der Revue de Paris
vom 1. Sept. 1894; Lanson: Pascal (Hist. de la litt, franvaise,
Hachette, 1894); Gazier: Pascal et les ecrivains de Port-Royal
(Historie de la langue et de la litt, franyaise. A. CoUin 1897).
Vorlesungen über Pascal hielten: E. Boutroux 1897 und 1898
an der Sorbonne; sie sind in der Revue des cours et Conferences
1898 erschienen; Lanson an der Ecole Normale; Nourrisson am
College de France (la metaphysique de Pascal); A, Betrand an der
83) Pascal, Fribourg 1898 p. 7 ff.
Wissen und Glauben bei Pascal. 357
Universität zu Lyon; Victor Giraud an der Universität Fribourg
im Sommersemester 1898.
Wie stark das Geistesleben in Frankreich jetzt von Pascal
beherrscht ist, beweisen endlich verschiedene Zeugnisse bedeutender
Gelehrter über ihn. Der jüngst preisgekrönte Dichter Sully Prud-
homme^*) sagt: « Ce qu'il nous importait surtout de reconnaitre,
c'etait la relation proche ou lointaine des idees de Pascal avec les
idees modernes et Celles que nous avions pu nous former nous-
memes sur les questions capitales remuees si puissamment par lui ».
Ein Historiker, G. Monod, ^^) rühmt: «Les ouvrages de Vinet
ont ete, avec les Pensees de Pascal, les livres qui ont le plus
influe sur ma vie morale. » Ein Theolog, A. Sabatier, ^'^j bekennt:
« Le premier livre qui passionna ma jeunesse, ce fut le livre des
Pensees, sans nul doute parce qu'il me faisait assister, dans l'äme
de Pascal, en la traduisant en paroles de flamme, ä cette lutte entre
la raison et la foi, entre la conscience et la science dont je com-
men^ais moi-merae a souffrir. »
Torbenierkuiig.
Anthropologie und Psychologie Pascals.
a) Anthropologie.
In seinen anthropologischen Anschauungen ist Pascal von
Descartes beeinflusst. "Wie dieser sieht er das Wesen des Menschen
im Denken. Wie dieser scheidet er scharf Geister- und Körper-
welt: Denken und Ausdehnung stehen sich als zwei einander aus-
schliessende Substanzen verbinduogslos gegenüber.
Der Mensch '') besteht aus zwei Substanzen verschiedener, ent-
^) Revue des Deux Jlondes, 15 oct. 1890 p. 760.
^^) Portraits et Souvenirs, Paris 1897, p. VI.
^^) Esquisse d'une philosophie de la religion, Paris 1897 p. 4.
'') II 73. Nous souimes composes de deux natures opposees et de divers
genres: d'ame et de corps. Car il est impossible que la partie qui raisonne
en nous seit autre que spirituelle; et quand on pretendrait que nous serions
simplemeut corporels, cela nous exclurait bien davantage de la connaissance
des choses, n'y avant rien de si inconcevable que de- dire que la matiere se
connait soi-meme.
Archiv f. Geschiebte d. PhUosophie. XV. 3. 25
358 Kurt Wariauth.
gegengesetzter Art: aus Leib und Seele oder Geist; Seele und Geist
sind bei Pascal identisch.
Das Wesen der Seele ist das Denken. Im Denken besteht
die Grösse und Würde des Menschen ='^). Der Gedanke erhebt ihn
über den Raum''). Der Gedanke ist etwas seiner Natur nach Un-
vergleichliches").
Aber man muss dem Denken die rechte Richtung geben, mau
muss gut denken: Das richtige Denken ist Princip der Moral*').
Den Menschen nach seiner psychisch-physischen Natur nennt
Pascal einen Automaten*'), eine Maschine*^). Die denkende
Seele erst constituirt das Wesen des Menschen^').
Zwischen Körper- und Geisterwelt giebt es keine Verbindung;
getrennt stehen sie sich gegenüber.
38) II 83. La Pensee fait la grandeur de Thomme. II 85. Toute la dignite
de l'homme est en la pensee. I 105: L'homme est ne pour penser.
39) II 84. Ce n'est point de l'espace que je dois chercher ma dignite,
mais c'est du reglement de ma pensee. Je n'aurai pas davantage en posse-
dant des terres. Par l'espace l'univers me comprend et m'engloutit comme
un point; par la pensee je le comprends.
L'homme n'est qu'un roseau le plus faible de la nature, mais c'est un
roseau pensant. Quand l'univers Tecraserait, l'horame serait encore plus noble
que ce qui le tue parce qu'il sait qu'il meurt.
*<*) II 85. La pensee est donc une chose admirable et incomparable par
sa nature.
*0 II 84. Toute notre dignite consiste en la pensee . . . Travaillons donc
k bien penser: voila le principe de la morale.
L'homme est visiblement fait pour penser; c'est toute sa dignite et tout
son merite, et tout son devoir est de penser comme il faut: or l'ordre de la
pensee est de commencer par soi et son auteur et sa fin.
*2) II 174, 175.
*^) I 182. Pascal kennt auch auf psychischem Gebiet Vorgänge, die
maschinenmässig und automatisch eintreten, d. h. völlig unwillkürlich, wie die
Associationen etc. Descartes dagegen bezeichnet nur den Körper als Maschine
oder Automaten. Wir sehen, Pascal dehnt die Anwendung dieses Begriffs aus.
''•') II 85. Je puis bien concevoir un homme sans mains, pieds, tete, car
ce n'est que l'experience qui nous apprend que la tete est plus necessaire
que les pieds; mais je ne puis concevoir l'homme sans pensee: ce serait une
pierre ou une brüte. C'est donc la pensee qui fait l'etre de Thorame, et sans
quoi on ne peut le concevoir. Qu'est-ce qui sent du plaisir en nous? Est-ce
la main? est-ce le bras? est-ce la chair? est-ce le sang? On verra qu'il faut
que ce seit quelque chose d'immateriei.
Wissen und Glauben bei Pascal. 359
b) Psychologie.
Die zwei Hauptvermögen der Seele sind nach Pascal Verstand
und Wille oder Geist und Herz*^); entendement, esprit, raison
braucht Pascal synonym, volonte, coBur, instinct und sentiment be-
zeichnen zwar nicht Identisches, wohl aber Zusammengehöriges
und fassen die dem Verstand gegenüberstehende Potenz des geistigen
Lebens von verschiedeneu Seiten auf.
Raison bedeutet Verstand und Vernunft zugleich; Pascal
scheint damit vorzugsweise die Thätigkeit des Verstandes zu
meinen.
Die Functionen des Herzens sind nach ihm mannigfach. Es
ist Organ des Willens: in „der Kunst zu überreden" will er es
mit seinen Launen und Neigungen vom Wissen ausgeschlossen
sehen. Sodann bedeutet es das unmittelbare Gefühl, so besonders
in den Pensees: durch das Herz erkennen wir die ersten Prin-
cipieu"). Hier leistet das Herz dasselbe, was das natürliche
Licht*') im „L'esprit geometricjue". Gemeint ist die Gewissheit
des unmittelbaren Gefühls im Gegensatz zu der durch den Ver-
stand vermittelten; die erstere zieht er übrigens der letzteren vor.
*^) I 155.
") II 108. Nous connaissons la verite non-seulement par la raison, mais
encore par le cceur; c'est de cette derniere sorte que nous connaissons les
Premiers principes, et c'est en vain que le raisonnement qui n'y a point de
part, essaye de les combattre. Les pyrrhoniens, qui n'ont que cela pour
objet, y travaillent iuutilement. Nous savons que nous ne revons point, quel-
que impuissance oü nous soyons de le prouver par raison; cette impuissance
ne conclut autre cbose que la faiblesse de notre raison, mais non pas l'incer-
titude de toutes nos connaissances, comme ils le pretendent. Car la con-
naissance des premiers principes, comme qu'il y a espace, temps, mouvement,
nombres, est aussi ferme qu'aucune de Celles que nos raisonnements nous
donnent. Et c'est sur ces connaissances du cceur et de l'instinct qu'il faut
que la raison s'appuie, et qu'elle y fonde tout son discours.
*0 In dem Maasse als Pascal an der Möglichkeit des Ideals einer durch-
aus demonstrativen Wissenschaft verzweifelt, weil er meint, alles müsse de-
monstriert werden können, recurirt er auf das Herz, d.h. auf das unmittel-
bare Gefühl, durch welches die Principien uns gewiss sind, obgleich wir sie
mit dem Verstände nicht als nothwendig einsehen können. Insofern ersetzt
in der Begründung der Gewissheit das Herz bei Pascal das natürliche Licht
des Cartesius.
25*
360 Kurt Warmutb,
Wenn er so dem Herzen das eine Mal Erkenntniss abspricht, das
andere Mal zuertheilt, kann man sich dies nur daraus erklären,
dass er das gleiche Wort in verschiedener Bedeutung braucht.
Endlich ist das Herz Aufuahmeorgan für die religiöse Wahrheit:
« C'est le coeur qui sent Dieu, et uou la raison; voila ce que c'est
que la foi: Dieu sensible au coeur, non ä la raison"). »
Verstand und Gefühl, jedes hat sein eigenthüraliches Verfahren;
« La raison agit avec leuteur, et avec tant de vues sur tant de
principes lesquels 11 faut qu'ils soient toujours presents, qu'ä toute
heure eile s'assoupit et s'egare, manque d'avoir tous ses principes
presents. Le sentiment n'agit pas ainsi; il agit en un instant, et
toujours est pret a agir*^). »
Pascal unterscheidet zwei Arten von Menschen: die einen ur-
theilen nach dem Gefühl, es sind die feinen Geister; die anderen
nach dem Verstand, es sind die Mathematiker. In der Difference
entre l'esprit de geometrie et l'esprit de finesse^°) skizzirt er die
verschiedene Wirkungsweise beider. Der feine Geist hat gute
Augen, er sieht die Sache auf einmal, er fühlt mit einem sehr
zarten, klaren Sinne die zarten, zahlreichen Principieu, ohne dass
er sie in der Ordnung der Geometrie beweisen könnte; er ist ge-
wöhnt, nach einem einzigen Blick zu urtheilen. Der mathematische
Geist schliesst erst, nachdem er die Principien gut gesehen und
gehandhabt hat. Selten ist ein feiner Geist zugleich ein mathe-
matischer und umgekehrt.
Geist und Herz — jedes hat seine eigene Methode. Die des
Geistes besteht in Principien und Beweisen, die des Herzens darin,
dass man bei jedem Punkte, der sich auf das Ziel bezieht, ab-
schweift, um stets auf dasselbe hinzuweisen. Christus, Paulus,
Augustin haben diese Methode befolgt. Ebenso Pascal in seinen
Pensees ^').
48) II 172.
") II 176.
50) I 149.
*') II 265.
Wissen und Glauben bei Pascal. 361
A.
Pascal, der Mathematiker.
Als Mathematiker behauptet Pascal die Möglichkeit des Wissens
auf Gruud des natürlichen Lichts und der mathematischen Methode.
Letztere leistet der Kunst zu überreden wichtige Dienste.
In heller Freude an der Wissenschaft vertritt er das Recht
des Verstandes und des Experiments gegen die Autorität; er theilt
die Wissenschaften in historische und dogmatische; dort hat die
Autorität, hier der Verstand sein Gebiet.
Aber bereits im Mathematiker kündet sich der Theolog an:
Pascal kennt eine ethische W^irkung der Mathematik, die er höher
schätzt als diese Wissenschaft selbst.
Streng sondert er schon als Mathematiker das Reich des
Glaubens und das der Vernunft, u. z. ordnet er das erstere dem
letzteren über. Die Principien der Theologie sind über Natur und
Vernunft erhaben. Bei den göttlichen Wahrheiten gilt eine über-
natürliche Ordnung. Ist diese Anschauung vielleicht durch seine
Erziehung veranlasst? Nach dem Zeugnisse der Schwester Gilberte
Perier hatte ein streng religiös gesinnter Vater bereits dem Knaben
die Maxime gegeben, dass in Sachen des Glaubens die Vernunft
nicht mitzusprechen habe.^") Dass Pascal aber in seineu mathe-
matischen Schriften überhaupt auf den Glauben zu " sprechen
kommt, zeigt seine von Haus aus gläubige Seele, die schon in
der Periode seines geistigen Lebens, wo die Mathematik im Vorder-
grunde seines Interesses stand, mit den Fragen der Religion und
des Glaubens sich innerlich beschäftigt hat.
I. Wissen.
1. Möglichkeit des menschlichen Wissens mit Hiilfe"r,der
mathematischen Methode und des natürlichen Lichts."")
Nur was bewiesen ist, verdient unsere Zustimmung. ^*)
^^) Sie sagt iii ihrer Biographie: « Mon pere qui' ayant lui-meme un tres
grand respect pour la religion, le lui avait inspire des l'enfance, lui donnant
pour maxime que tout ce qui est l'objet de la t'oi ne le saarait etre de la
raison et beaucoup moins y etre soumis ».
*3) I 123. De l'esprit geometrique, 1655?
^*) I 155. On ne devrait Jamals consentir qu"aux verites demontrees.
362 Kurt Warmuth,
Wer liefert uns vollkommeue Beweise? AUeiu die Methode
der Geometrie oder die mathematische Methode")
Allerdings giebt es eine noch höhere, vollendetere Methode;
sie besteht in einem Doppelten: erstens alle Ausdrücke sind zu
definieren, zweitens alle Sätze sind zu beweisen. Diese wahre
Methode, welche Beweise in höchster Vollkommenheit führen
würde, ist aber praktisch unausführbar; was über die Geometrie
hinausgeht, das übersteigt unsre Kräfte ^'^); denn es ist klar, dass
die ersten Ausdrücke, w^elche man definieren wollte, schon frühere,
zu ihrer Erklärung dienliche voraussetzen würden, und dass ebenso
die ersten Sätze, welche bewiesen werden sollten, andere voran-
gehende voraussetzten, und so würde man nie zu den ersten
gelangen. Man kommt, je weiter man die Untersuchung treibt,
auf gewisse ursprüngliche Wörter, welche man nicht mehr definieren
kann, und auf so klare Principien, dass man keine anderen findet,
die noch klarer wären, um jene zu beweisen. Hiernach scheint
es, dass die Menschen in einer natürlichen, unabänderlichen
Unmacht sind, irgend eine Wissenschaft in schlechthin vollendeter
Ordnung zu behandeln. Aber daraus folgt nicht, dass man jede
Ordnung aufgeben soll. Denn es giebt eine solche, die der Geometrie,
welche unter der Wahrheit steht, sofern sie weniger überzeugend,
aber nicht sofern sie weniger gewiss ist. Sie definiert nicht alles und
beweist nicht alles; hierin ist sie jener untergeordnet; aber sie setzt
nur klare und durch das natürliche Licht") gewisse Dinge voraus;
°^) Dreydorff: «Pascal gebraucht Geometrie öfter als gleichbedeuteud mit
Mathematik."
^^) I 124. Ce qui passe la geometrie nous surpasse.
^") Das natürliche Licht ist bei Cartesius eine intellectuelle Anlage, ver-
möge deren die obersten Axiome dem Verstand unmittelbar einleuchtend und
gewiss sind: auch oberste Grundsätze auf practischem Gebiet werden darauf
zurückgeführt. Nach Klöpel .,Das lumen naturale bei Descartes" (Dissertation,
Leipzig 1896) ist lumen naturale bei Cartesius:
A: der natürliche Verstand im Gegensatz zum lumen supernaturale
fidei.
B: a) Verstandesthätigkeit im Gegensatz zu den Sinnen;
b) gesunder Menschenverstand, der nichts weiss von bewusster An-
wendung logischer Gesetze:
c) in gewissem Gegensatz zu deductio, couclusio, accurata demon-
stratio.
Wissen und Glauben bei Pascal. 363
darum ist sie vollkommen wahr, indem die Natur sie stützt, wenn
es an der Rede fehlt. Diese vollkommenste Methode, die der Mensch
erreichen kann, definiert alles ausser dem Klaren, von jedermann
Angenommenen und beweist alles ausser dem allgemein Bekannten.
Solche Begriffe, welche die Geometrie nicht definiert, sind
Zeit, Raum, Bewegung, Zahl, Gleichheit und viele ähnliche, weil
diese Ausdrücke für jeden, der die Sprache versteht, die Sache,
welche sie bedeuten, so natürlich bezeichnen, dass jede nähere
Erklärung sie eher dunkler machen als aufhellen würde. Man
kann z. B. keine Definition des „Seins" geben; denn man kann
kein Wort definieren, ohne anzufangen: „es ist". Um also das
Sein zu definieren, müsste man sagen: „es ist" und so das zu
Definierende in der Definition anwenden. Hieraus ist klar, das es
Worte giebt, welche unmöglich definiert werden können: und wenn
die Natur diesem Mangel nicht durch die Gleichheit der Vor-
stellung, welche sie allen Menschen gab, abgeholfen hätte, so
wären alle unsere Ausdrücke verwirrt; während man so sie mit
derselben Zuversicht und Gewissheit verwendet, als ob sie ganz
unzweideutig wären, weil die Natur selbst ohne Worte uns
eine bestimmtere Einsicht davon gegeben hat als diejenige,
welche die Kunst durch unsere Erklärungen uns verschafft.
Wir sehen, nach Pascal beruht alles Wissen im letzten
Grunde auf einem Gegebenen, alle Wissenschaft — die Mathematik
ist ihm die Wissenschaft schlechthin! — auf undefinirbaren Begriffen
und undefinirbaren Axiomen. Ueber diese giebt das natürliche
Licht Aufschluss. Sie bilden gleichsam den festen Grund, auf
welchem der Mensch mit Hülfe der mathematischen Methode das
Gebäude des Wissens errichten kann.
2. Die Kunst zu überreden.")
Auf zwei Wegen dringen Ueberzeuguugen in die Seele: durch
den Verstand und den Willen. Der natürlichste Weg ist der des
Im Gebiete der Geometrie schliesst sieb Pascal dem cartcsiauischen
Sprachgebrauche an: die mathematischen Axiome sind intuitiv gewiss im
Gegensatz zu der demonstrativen Gewissheit,
^^ I 155. De l'art de persuader, 1657 oder 58.
364 Kurt Warmuth,
Verstandes, man sollte nie einer AVahrheit beipflichten, bevor sie
nicht durch Beweise dargelegt ist ; aber der gewöhnlichste Weg
ist der des Willens, denn alle Menschen sind fast immer geneigt,
nicht wegen der Beweiskraft, sondern aus Neigung sich für eine
Ansicht zu bestimmen. Dieser Weg ist niedrig, unwürdig und
ungehörig; auch verwirft ihn alle Welt: jeder behauptet, nur das
zu glauben und selbst nur das zu lieben, von dem er weiss, dass
es Glauben und Liebe verdiene.
Verstand und Wille haben jedes ihre Principien, der Verstand
natürliche, allgemein anerkannte Wahrheiten — z. B, das Ganze
ist grösser als seine Theile — und mehrere nicht allgemein
anerkannte Axiome, die aber, einmal zugegeben, wenn auch falsch,
ebenso gewaltig sind, den Glauben zu erwecken, als die wahrhaften.
Die Principien des Willens sind gewisse natürliche, allen gemein-
same Wünsche — z. B. das Verlangen, glücklich zu sein — und
besondere Neigungen, die, da sie uns gefallen, trotz ihrer Ver-
derblichkeit stark genug sind, den Willen zum Handeln zu
treiben.
Um nun eine Person zur Ueberzeugung zu bringen, muss
man einerseits sie kennen, welche Grundsätze sie hat, welche
Gegenstände sie liebt, anderseits die Berührungspunkte beachten,
welche der Gegenstand, von dem man überzeugen will, mit an-
erkannten Principien oder Neigungen hat. Leicht kann man von
den Dingen überzeugen, die man als in enger Beziehung entweder
mit den Principien des Verstandes oder mit denen des Willens
nachweisen kann; besonders leicht von den Gegenständen, die
mit beiden Principien in Verbindung stehen. Was aber weder
zu unseren L^cberzeugungen noch zu unseren Vergnügungen in
irgend einem Verhältnisse steht, ist uns widerlich, scheint uns
falsch und fremd. Bei Dingen, welche zwar auf anerkannten
Wahrheiten beruhen, zugleich aber unseren liebsten Neigungen
zuwiderlaufen, entsteht ein unentschiedenes Schwanken zwischen
Wahrheit und Vergnügen, wobei zumeist das letztere siegt. „Diese
gebieterische Seele, die sich rühmte, nur nach Vernunftgründen
zu handeln, folgt in schimpflicher, blinder Wahl dem Verlangen
Wissen und Glauben bei Pascal. 365
eines verdorbeneu "Willens, so stark sich auch der aufgeklärteste
Verstand dagegen sträuben mag."
Solange daher die Menschen sich mehr durch die Neigung
als durch den Verstand zu ihrem Handeln bestimmen lassen, besteht
auch die Kunst zu überreden ebenso in der Kunst zu gefallen als
in der zu überzeugen.
Die Kunst zu gefallen ist unvergleichlich schwieriger, feiner,
nützlicher und bewundernswürdiger. Pascal will sie nicht be-
handeln, weil er sich nicht stark genug dazu fühlt. Der Grund
dieser äussersten Schwierigkeit besteht darin, dass die Principien
des Vergnügens nicht fest und sicher stehen; sie sind verschieden
bei jedem Menschen, und bei jedem einzelnen mit so grosser
Mannigfaltigkeit veränderlich, dass kein Mensch je von einem
anderen so verschieden ist, als der Mensch von sich selbst in ver-
schiedenen Zeiten. Mann und Frau, arm und reich, Fürst, Krieger,
Kaufmann. Bürger, Bauer, Alte, Junge, Gesunde, Kranke — alle
haben verschiedene Vergnügungen.
o o o
Pascal will die Kunst geben, welche die Verbindung nachweist,
in der die "Wahrheiten mit den Principien des Wahren oder des
Vergnügens stehen. Er nennt sie: „Kunst zu überreden". Sie
besteht in zwei Momenten: alle Namen, die man anwendet, zu
definiren: alles zu bew'eisen, indem man in Gedanken stets die
Definition an die Stelle des Definirten setzt.
Wir sehen, die Kunst zu überreden kommt schliesslich auf
die mathematische Methode hinaus, deren Pascal so gewiss ist,
dass er sagt: .,Die Methode, nicht zu irren, wird von aller Welt
gesucht. Die Logiker behaupten, zu ihr zu führen, die Mathematiker
allein gelangen zu ihr, und ausserhalb ihrer Wissenschaft und
dessen, was sie nachahmt, giebt es keine wahrhaften Beweis-
führungen."
3. Eintheilung der Wissenschaften.
Das Gebiet des Verstandes.
In der Vorrede zur Abhandlung über das Leere, ^^) wo er
besonders frisch und warm das Recht des Verstandes und des
59) I 91.
366 Kurt Warmuth,
Experiments gegen die allzu grosse Achtung vcrtheidigt, die man
in den der Erfahrung und den Sinnen unterworfenen Wissenschaften
den Alten zollt, giebt er eine Eiutheilung der Wissenschaften. Er
scheidet genau das Gebiet der Autorität und das des Verstandes.
Er theilt die Wissenschaften erstens in historische: hier will
man nur wissen, was dieser oder jener Schriftsteller gesagt hat,
und zweitens in dogmatische: hier will man verborgene Wahr-
heiten entdecken. Zu erstereu rechnet er Geschichte, Geographie,
Rechtswissenschaft, Sprachen und besonders die Theologie. Hier
sehen nur die Bücher Aufschluss. Hier ist die Autorität an ihrem
Platz. Anders ist es mit den Wissenschaften, die den Sinnen
anheimfallen. Hier hat der Verstand allein sein Recht. Hierher
gehören Geometrie, Arithmetik, Musik, Naturlehre, Arzeneikunde,
Baukunst und alle der Erfahrung und dem Denken unterworfenen
Wissenschaften. Diese Gegenstände sind der Kraft des Geistes
angemessen, sie sind sein Bereich, in dem er sich frei bewegen
und fruchtbar erweisen kann in unaufhörlichen Entdeckungen.
Hier ist ein steter Fortschritt, eine beständige Erweiterung und Ver-
vollkommnung. Im Gegensatz zum Instinkt der Thiere, der sich
immer gleich bleibt — die Bienen bildeten ihre Zellen vor tausend
Jahren ebenso wie heut — , vermehren sich die Leistungen der
Vernunft unaufhörlich. Die ganze Menschheit kann man ansehen
als einen Menschen, der immer lebt und lernt. „Die wir die
Alten nennen, waren in der That neu in allen Dingen und bildeten
eigentlich das Kindesalter der Menschheit; und da wir zu ihren
Kenntnissen die Erfahrungen der folgenden Jahrhunderte gefügt
haben, so sind wir es, in welchen das Alterthum zu suchen ist,
welches wir in jenen hochachten".'^") „Welche Macht auch das
Alterthum bildet, die Wahrheit muss stets den Vorzug haben, auch
wenn sie erst neu entdeckt ist, weil sie immer älter ist, als alle
Meinungen, die man je über sie gehabt hat, und es würde ein
Verkennen ihres Wesens sein, wenn man sich einbilden wollte,
sie hätte erst da zu sein angefangen, da sie anfing, erkannt zu
werden."^')
60) I 98.
6') I 101.
Wissen und Glauben bei Pascal. 367
4. Ethische Wirkung der Mathematik.*')
Princip der Mathematik in ihren drei Gebieten: Mechanik
Arithmetik und Geometrie, ist der Begriff der doppelten Unendlich-
keit, einer Unendlichkeit der Grösse und der Kleinheit. „Welche
Bewegung, welche Zahl, welchen Raum, welche Zeit man annehme,
es giebt stets ein Grösseres und ein Kleineres, so dass sie sich
also alle zwischen dem Nichts und dem Unendlichen halten und
stets von diesen Extremen unendlich weit entfernt sind" '^^). Wir
können diese Unendlichkeit nicht beweisen, aber durch das natürliche
Licht erkennen wir sie. „Die, welche diese Wahrheiten deutlich
einsehen, können die Grösse und Macht der Natur bewundern in
dieser doppelten Unendlichkeit und aus diesem wunderbaren Ge-
danken sich selbst kennen lernen als gestellt zwischen eine Un-
endlichkeit und ein Nichts von Ausdehnung, Bewegung und Zeit.
Daraus kann man seinen Werth kenneu lernen und Gedanken
bilden, die mehr werth sind als die ganze übrige Mathematik."")
II. Glauben.
1. Die Principien der Theologie.
Die Principien der Theologie, die, wie wir oben sahen, nach
Pascal eine historische Wissenschaft ist, sind über Natur und Ver-
nunft erhaben. Der menschliche Geist, zu schwach, um durch
eigene Kraft dahin zu gelangen, kann diese hohen Einsichten nur
erreichen , wenn er durch eine allmächtige, übernatürliche Kraft
zu ihnen erhoben wird. Die Vernunft hat hier nur zu schweigen
und sich unterzuordnen der Autorität der heiligen Bücher, welche
die Wahrheit enthalten. In der Vorrede zur Abhandlung über das
Leere ^^) sagt Pascal: „Mais'oü cette autorite a la principale force,
c'est dans la theologie, parce qu'elle y est inseparable de la verite,
et que nous ne la connaissons que par eile: de sorte que pour
donner la certitude entiere des matieres les plus incomprehensibles
«2) I 136 ff.
«3) I 137.
6*) I 147.
«s) I 92.
368 Kurt Warmuth,
a la raison, il suffit de les faire voir dans les livres sacres: comme
pour montrer rincertitiide des choses les plus vraisemblables, il
faut seulement faire voir qu'elles n'y sont pas coraprises; parce
que ses principes sont au-dessus de la nature et de la raison, et
que, l'esprit de Thomme etant tvop faible pour y arriver par ses
propres efforts, il ne peut parvenir a ces hautes intelligences, s'il
n'y est porte par une force toute-puissante et surnaturelle. » In
der Theologie gilt allein die Autorität der Schrift und der Väter.
Hier neue Dinge einzuführen, ist nichts als thörichter Uebermuth**).
2. Die übernatürliche Ordnung.
Bei den göttlichen Dingen gilt eine andre Ordnung als bei
den natürlichen; bei letzteren hat der Verstand, bei ersteren das
Herz das erste Wort*').
Die göttlichen Wahrheiten sind über die Natur unendlich er-
haben. Sie sind der Kunst zu überzeugen nicht zu unterwerfen.
„Gott allein vermag sie in die Seele einzuflanzen, und zwar in. der
Weise, wie es ihm gefällt. Er hat gewollt, dass sie aus dem
Herzen in den Verstand übergehen und nicht aus dem Verstände
in das Herz, um dieses hochmüthige Vermögen des Verstandes zu
demüthigeu, das sich anmasst, über Dinge richten zu wollen, die
der AVille wählt; und um diesen schwachen Willen zu heilen, der
durch seine unreinen Begierden ganz verderbt ist. Daher kommt
es, dass man, wenn man von menschlichen Dingen spricht, sagt:
man muss sie kennen, um sie zu lieben, was zum Sprichwort ge-
worden ist. Die Heiligen sagen dagegen, wenn sie von göttlichen
Dingen reden: man muss sie lieben, um sie zu erkennen, und
man dringe zur Wahrheit nur durch die Liebe" "). Diese Ordnung
ist ganz entgegengesetzt der Ordnung, die bei natürlichen Dingen
den Menschen recht sein sollte. Dennoch haben sie dieselbe ver-
kehrt: sie thun bei den menschlichen Dingen, was sie bei den
ß^ I 94. II faut coufoudre Tiusoleuce de ces temeraires qui produisent
des nouveautes en theologie. Les inventions nouvolles sont infailliblement des
erreurs dans les matieres tbeologiques.
"; I 155 ff.
'"'*) I 156. On n'entre daus la vörite que par la charite.
Wissen und Glauben bei Pascal. 369
göttlichen thun sollten; wir glauben wirklich fast nur, was uns
gefällt. Daher der Widerwille gegen die Wahrheit der christlichen
Religion, die unseren Freuden ganz entgegengesetzt ist. Um diese
Unordnung durch eine Ordnung zu strafen, theilt Gott sein Licht
den Seelen nicht eher mit, als bis er die Auflehnung des Willens
mit einer himmlischen Sanftmuth gedämpft hat, die ihn entzückt
und fortreisst.
Wir sehen, nach Pascal heisst es bei den natürlichen Dingen:
„Aus dem Kopf ins Herz!" bei den göttlichen dagegen: „Aus dem
Herzen oder durch den Willen in den Kopf!"
Diese Anschauung finden wir in der „Kunst zu überreden."
Diese Schrift fällt allerdings in die letzte Zeit seines Lebens.
Faugere datirt sie 16.57 oder 58. Dreydorff bemerkt darin ein
starkes Zurücktreten des rein philosophischen Interesses. Schon
die Fragestellung, wie mau die Menschen überreden könne, ver-
rate den Apologeten, den Theologen. Nach ihm fällt diese Ab-
handlung in die Zeit der Gemeinschaft Pascals mit Port-Royal,
näher in die Zeit seines Schwankens zwischen Montaigne und
Port-Royal. Dass aber Pascal bereits früher in heiligen Dingen
das Herz obenan gestellt hat, entnehmen wir den Worten seiner
Schwester: « II (Pascal) disait que l'Ecriture sainte n'etait pas une
science de l'esprit, mais une science du coeur, qui n'etait intelli-
gible que pour ceux qui ont le coeur droit et que tous les autres
n'y trouvent que de Tobscurite » ").
69) I 370.
XIV.
Die NaturpMlosopliie des Tli. Hobbes in ihrer
Abhängigkeit von Bacon.
Von
Max Höhler.
Die Philosophie des Thomas Hobbes, wie sie in dem Geiste
ihres Urhebers in dem Aufbau einer universalen Wissenschaft sich
vollendete, empfing die entscheidenden Begriffe und Methoden, die
ihre Durchführung ermöglichten, von der mathematischen Physik
des siebzehnten Jahrhunderts. Der Zusammenhang, in welchem er,
aufsteigend nach geometrischer Methode von den allgemeinsten
Seitdem durch die Arbeiten von Ferdinand Tönnies („Anmerkungen
zu der Philosophie des Th. Hobbes" in der Vierteljahrsschrift für Wissenschaft!.
Philosophie 1879 f., Kritik von Robertson i. Philos. Monatsheften Bd. XXIII,
„Hobbes" in der Deutschen Rundschau 1889, Monographie über „Hobbes", Stutt-
gart 1896) ein erneutes Studium auch der theoretischen Philosophie des Hobbes
eingeleitet wurde, ist das Dunkel, das so lange über dem Materialismus und der
Naturphilosophie diesers Denkers lag, durch die weiteren Untersuchungen von
Lasswitz (Geschichte der Atomistik, Hamburg-Leipzig ]b90) und insbesondere
von W. Dilthey (Archiv für Geschiebte der Philosophie, Bd. XIII, Heft 4) ge-
hoben worden. Der folgende Aufsatz, der eine umfassendere Analyse der
Hobbes'schen Philosophie vorbereiten soll, ist durch diese letztgenannte grund-
legende Studie angeregt; durch eine eingehendere Verfolgung der Beziehungen,
in denen das System des Hobbes zu Baco einerseits, zu der mechanischen
Naturerklärung seines Zeitalters andrerseits steht, möchte ich einigen der
Gesichtspunkte nachgehen, die von Dilthey in seiner Abhandlung entwickelt
worden sind.
Die Naturphilosophie des Th. Hobbes in ihrer Abhängigkeit von Bacon. 371
Eigenschaften der Körper, nun als der Erste unter den Neueren
fortschritt zu einer Regulirung der Gesellschaft als einer metho-
dischen Ermittelung der Gleichgewichtsbedingungeu dieses „künst-
lichen Körpers" — dieser systematische Zusammenhang ist durch
das Vorbild der Mechanik des Galilei und des Descartes'schen
Wissenschaftsideal bedingt. Nie hätte diese Abhängigkeit über-
sehen werden sollen, wie es doch so vielfach geschehen ist. Freilich,
der Charakter seiner Schriften, wie sie zum grösseren Theil politischen
Tendenzen dienten und so rücksichtslos scharf in die Kämpfe der
Parteien eingritieu, war nicht geeignet, den Leser zu einem ruhigen
und vorurtheilslosen Studium der allgemeinen Ideen, in die sie
eingegliedert waren, fortzuführen. Wer in ihnen Antwort suchte
auf Fragen, die über die Gegensätze dieser Welt hinausreichten,
fand sich zurückgestossen von der Kühle, die ihn hier umgab.
Diese Schriften waren nicht gleich denen des Descartes durchweht
von dem Atem einer grossen Seele, seine Demonstrationen nicht
durchglüht von jener Gottesliebe, in der Spinoza seinen Frieden
fand. Sie waren hart und Hessen kalt. In ihnen wirkte, was in
den Kämpfen dieser Zeit lebendig war. Daher denn die geschicht-
lich bedeutsamste Leistung des Hobbes in seiner schöpferischen
Erneuerung des radikalen Naturrechtes liegt: in der Schätzung der
Zeitgenossen — im Guten wie im Schlimmen — trat schon die
Staatslehre aus dem Rahmen der übrigen Schriften, als ein Werk
für sich, hervorgegangen aus dem politischen Leben, und bestimmt,
dasselbe rückwirkend zu gestalten.
Und hierzu trat ein zweites Moment. Das Verhältniss, in
welchem Hobbes zu der mathematischen Physik steht, ist ein durch-
aus unterschiedenes von dem eines Descartes oder Leibniz. Die
Geschichte verzeichnet ihn nicht unter denen, die schöpferisch in
den Gang des Naturerkennens eingegriffen haben. Er war kein
Physiker, nie ist er einer geworden. Nicht ein specifisches Interesse,
nicht eine specifische Begabung verband ihn mit der neuen Wissen-
schaft. Erst auf der Höhe seines Lebens, als ein Vierzigjähriger,
nachdem er in humanistischen Studien schon seinen politischen
Interessen nachgegangen war, wurde er von ihrem Geist ergriffen.
Er erfasste sie, wie sie ihm als ein Ganzes entgegentrat; nie hat er
372 Max Köhler,
vermocht, sie sich in ihrer Totalität, in dem ganzen Umfang ihrer
Sätze und Methoden anzueignen. In seinen astronomischen An-
schauungen gelangte er nicht zu der Annahme der Keplerschen
Gesetze; seine Ablehnung der Atomistik verschloss ihm das Yer-
ständniss der grossen Arbeiten von Pascal und Boyle; der analy-
tischen Geometrie des Descartes und der Ausbildung der alge-
braischen Methoden durch Wallis gegenüber verharrte er rück-
ständig auf dem Standpunkt des Jos. Scaliger. Und bewegte sich
sein Denken in der Richtung, in der die Wissenschaft dann fort-
geschritten ist, so fehlten ihm doch gänzlich die Mittel der Durch-
führung allgemeiner Hypothesen, in ihnen erwog er nur die
Möglichkeiten principieller Lösungen. Und diese Unbestimmtheit
im Detail ist entscheidend für seine isolirte Position innerhalb der
Geschichte der Physik.
Was war es nun aber, das diesen von politischen Ideen und
Realitäten ganz anderer Art erfüllten Kopf zu mathematischen
Reflexionen und physikalischen Untersuchungen zog? zu Aufgaben
und Problemen, denen seine Kraft doch nicht gewachsen war, zu
denen er nie ein inneres Verhältniss gewann, ja denen gegenüber
er stets ein Dilettant geblieben ist?
Hobbes hat in seinem höchsten Alter zweimal versucht, den
Gang seiner Entwickelung und seines Lebens in kurzen Abrissen
autobiographisch darzustellen. Eine ausführlichere Skizze, die auch
auf ihn letzthin zurückgeht, ist uns von der Hand seines Freundes
J. Aubrey erhalten. Aber gerade in Bezug auf den Ausgangspunkt
seines philosophischen Denkens, auf die Anlange desselben, sind die
Nachrichten im Ganzen nicht in einer äusseren Einstimmigkeit. Sehen
wir aber von den Differenzen unter ihnen ab und heben wir nur das
Gemeinsame hervor, so können wir ihnen doch die Thatsache
entnehmen, dass das erste gründliche mathematische Studium des
Hobbes nicht zugleich mit der Ausbildung der Hauptsätze seiner
Naturphilosophie verbunden war. ') Ob es derselben nun voran-
1) I p. XIV, XXVI (Opp. philosophica, quae latine scripsit, ed. Moleswortb,
London 1839—1845) verlegen die Leetüre des Euklid in die Zeit der zweiten
französischen Reise, und zwar betonen beide Stellen ausschliesslich das Vor-
Die Naturphilosophie des Th. Hobbes in ihrer Abhängigkeit vonBacon. 373
ging oder folgte: es gab eine Zeit, in der Hobbes in dem syllogis-
tischen Verfahren der Mathematik, wie sie von evidenten Axi-
omen und Definitionen in zwingenden Schlüssen zu weiteren
Sätzen schreitet, das formale Vorbild eines jeden strengen wissen-
schaftlichen Systems erblickte. Das sieghafte Recht der Anwendung
dieser gedanklichen Folgerungen auf Gegenständliches war zunächst
nicht das treibende Moment jenes Enthusiasmus für die Geometrie,
der alle späteren Schriften des Hobbes durchzieht; erst in der
Verbindung des mathematischen Schliessens mit naturphilosophi-
schen Reflexionen war es als solches wirksam; zugleich jedoch
entstand das Problem dieses Rechtes. Die erste uns erhaltene
Zusammenfassung seiner Naturansicht zeigt diese innere Verbin-
dung nicht. ^) Obschon sie sich in der äusseren Darstellung eng
an das Muster des Euklid hält, weist doch deren Inhalt keinen tieferen
Einfluss des neuen Geistes auf als die staatswissenschaftlichen
Sätze des Werkes „Ueber den Bürger" oder des „Leviathan". Und
fragen wir nach dem psychologisch primären Motiv dieser Dar-
stellungsweise „modo geometrico" aller, auch der politischen Lehren,
so wissen wir nicht, ob das Bedürfniss der formalen Strenge in
der Ableitung der rechtlichen Doktrinen diesen systematischen
Kopf zu dem Studium der Mathematik führte, oder ob vielmehr
bildliche der Methode („delectatus metbodo illius, neu tarn ob theoremata
illa"). Erst während seines dritten Pariser Aufenthaltes habe er begonnen,
die Principien der Naturphilosophie zu studiren. Doch fügt I p. XXVIII hinzu,
dass Hobbes die grundlegende Einsicht von der alleinigen Realität der Be-
wegung in der Natur schon vorher erworben habe. I p. XXI und LXXXIX
heben nun hervor, dass in der Aufgabe einer Analyse dieser alles begrün-
denden Bewegung das Motiv seines Studiums der Mathematik gelegen war
(„Deinde ut cognosceret varietates et rationes motuum ad geometriam coge-
batur"). Diese beiden Angaben sind vereinbar, wenn man sie nicht als
chronologische Datirungen nimmt, sondern in ihnen den Ausdruck einer
Schätzung der Mathematik unter verschiedenen Gesichtspunkten erblickt.
2) „A Short tract on first principles". Von Ferd. Tünnies aufgefunden
und als Appendix I seiner Ausgabe der „Elements of law" Oxford 1888 ediert.
Es ist die Aufgabe unseres Aufsatzes, in Uebereinstimmung mit der chrono-
logischen Bestimmung von Tönnies nachzuweisen, dass die Abfassungzeit
dieses kurzen Tractates vor der Aufnahme der neuen mechanischen Ideen
liegt und in seinem Inhalt durch die Naturanschauung Bacos bestimmt ist.
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV, 3. 26
374 Max Köhler,
die zufällige Beschäftigung mit dieser ihn das überwältigende Vor-
bild jedes sicheren Wissens in ihr erblicken Hess. In den Dis-
cussionen über Herrenrechte und Unterthanenpflichten, von denen das
siebzehnte Jahrhundert erfüllt war, in den widerstreitenden Systemen
der Rechtstheorien war ja die Aufgabe einer allgemeingiltigen
Methode enthalten. Aber die Vorreden und die Anmerkungen zu
der Uebersetzung des Thukydides, in denen Hobbes schon Stellung
zu dem grossen Thema seines Lebens nimmt, lassen die Tendenz
auf eine solche zwingende Schärfe nicht erkennen; wie denn
auch sein Biograph den zufälligen Anlass der Euklid-Lectüre her-
vorhebt.') Eine sichere Entscheidung vermögen wir in dieser
Hinsicht nicht zu fällen; doch bleibt das Eine, sofern wir unseren
Quellen vollen Glauben schenken dürfen, bestehen, dass die Schätzung,
die Hobbes der mathematischen Construction entgegenbrachte, zu-
nächst ihrer Form, nicht ihrem Inhalt galt, dass jedenfalls der
materielle Gehalt seiner Naturphilosophie nicht in der grossen
wissenschaftlichen Bewegung seinen Ursprung nahm, die in Kepler
und Galilei sich vollendete.
Waren nun vielleicht die ersten Impulse einer naturalistischen
Weltansicht in der Abhängigkeit von der epikureischen Tradition
gegeben, die ihn, den Humanisten, beständig doch umgab, deren
naturrechtlichc Lehren er so ausgiebig verwerthete? Hobbes sagt
es uns nicht. Doch möchte es mir scheinen, als sei in seiner
Ablehnung des atomistischen Systems, an der er immer fest-
gehalten hat, in der Thatsache, dass ein bestimmter Einfluss
des Lukrez auf die entscheidenden Züge seines Weltbildes nicht
nachweisbar, ja zum Theil — wie sich zeigen wird — ausge-
schlossen ist, eine Antwort auf diese Frage enthalten. Was
Hobbes den Meinungen der Alten hätte entnehmen können, war
ihm auch in der stoischen Literatur gegenwärtig.
^) J. Aubrey, Letters by eminent persons, London 1813, II 6ü4; doch
ist diese Notiz mit Vorsicht aufzunehmen. Vgl. Tönnies, Vierteljahrsschrift f.
wisscnsch. Philosophie 1879, 461, Robertson, Hobbes, Edinburgh and London
1886, 31 ff., ü. Jaeger, Ursprung der moderneu Staatswissenschaft, Archiv für
Geschichte der Philosophie XIV, 545f.
Die Naturphilosophie des Th. Hobbes in ihrer Abhängigkeit von Bacon. 375
Aber stärker als die aatikeo Ueberlieferungen mussten auf
den Mann, der so ganz in den Aufgaben der Gegenwart lebte, die
Systeme der Naturphilosophie wirken, die das Zeitalter der Re-
naissance hervorgebracht hatte. Und keines von denselben trat
ihm so unmittelbar, so lebendig entgegen, wie das des Francis
Bacon. Hier konnte er eine universale Auffassung des Menschen
und seines Zusammenhanges mit der Natur finden. Und dürfen
wir von dem Charakter seines eigenen späteren Systems auf die
Motive schliessen, die seiner inneren Structur zu Grunde liegen,
so können wir, gleichsam nachzeichnend, wohl die Nothwendigkeit
begreifen, mit welcher der Politiker und der Historiker zu einer
Aufnahme der naturphilosophischen Lehren fortgeschritten ist, die
Baco ihm bot.
Hobbes steht mitten in jener Bewegung, die, ausgegangen von
den Stürmen der Reformation und dem Streit der Confessionen,
sich nun zu einer selbständigen Darstellung der geistigen Welt
erhoben hatte. In Bacos Essays hat ihre Tendenz, die politische
und moralische Ordnung der neuen Gesellschaft loszulösen von
dem Hintergrund einer theologischen Weltanschauung, schon sicht-
bare Gestalt gewonnen. Hobbes verlieh ihr den schärfsten
Ausdruck.
Seine Geburt fiel in das Zeitalter der englischen Renaissance;
als Humanist wuchs er auf in dem Studium der heidnischen Lite-
ratur, er nahm den utilitarischen Geist des Baco auf: nie hat ihn
ein inneres Verhältniss mit den Glaubenssätzen des Christenthums
verbunden. Möchte man bisweilen ein tieferes Interesse, ein per-
sönliches Bedürfniss in seinen weitschichtigen Auseinandersetzungen
mit den Lehren der Kirche und der heiligen Schrift vermuten, so
entstanden diese doch aus der geschichtlichen Nothwendigkeit, mit
dem christlichen Glauben als einer gegebenen Thatsächlichkeit zu
rechnen. Wie er es in der Dedicatiou seines politischen Haupt-
werkes selbst bezeichnet : „Was über das Reich Gottes hinzugefügt
ist, geschah in der Absicht, zwischen den Geboten Gottes, die er
in der Natur, gegeben und den Gesetzen Gottes, welche in der
heiligen Schrift überliefert werden, keinen Schein eines Wider-
376 Max Kühler,
Streites bestehen zu lassen"*). Und wenn dieser harte, jeder Art
von mystischen Gefühlen feindliche Geist zu der Feststellung eines
Canons religiöser Sätze schritt, der das Gemeinschaftliche der
streitenden Confessionen in sich begriff und so die Grundlage eines
Friedenszustandes unter ihnen zu bilden vermochte, so bewegte er
sich in einem parallelen Vorgang wie Herbert von Cherbury. Nur
von einer ganz entgegengesetzten Schätzung des frommen Empfindens
aus. Für Hobbes ist dasselbe ein geschichtliches Phänomen, das
er psychologisch zu erklären unternimmt. Er findet die voruehm-
lichsten Wurzeln der Gottesvorstellung in der Furcht vor unsicht-
baren Mächten und in der Ohnmacht des menschlichen Verstandes,
der die unendliche Reihe in dem Rückgang auf die natürlichen
Ursachen nicht auszudenken vermag^). Innerhalb seines natura-
listischen, ganz auf die Erfahrung eingeschränkten Standpunktes
lehnt er alle Aussagen über transcendente Fragen als keiner wissen-
schaftlichen Demonstration fähig ab. Schon in Baco hatten sich
Ahnungen von Antinomien erhoben, die entspringen, wenn der
menschliche Geist das Unerfahrbare denkbar machen will '^).
Hobbes betont noch schärfer diese Grenzen des wissenschaftlichen
Denkens; als ein endliches Wesen vermag der Mensch nur End-
liches zu begreifen. Gott offenbart sich uns in den Gesetzen, durch
die er die Natur regiert, und sie sind der alleinige Gegenstand
strenger AVissenschaft. Auf sie muss auch, sofern es eine allge-
meingültige Demonstration der Moral und der Politik giebt, das
System derselben aufgebaut werden.
Aber das Entscheidende für Hobbes, das, was ihn von Baco
trennt und in jene Sphäre führt, die Machiavelli repräsentirt, liegt
■*) II, 139. Es tritt noch ein anderes, ein persönliches Motiv hinzu.
Hobbes glaubte sich immer von der Geistlichkeit verfolgt, stets befand er sich
in bitterem Kampfe mit ihr. Wie er aber keine Märtyrernatur war, wollte er
seinen Feinden nicht die schärfsten Waffen in die Hände geben. Vgl. seinen
Rath an den Leser II 151, sich lieber den gegenwärtigen Staatszustäuden an-
zubequemen, als in persönlicher Aufopferung für spätere Zeiten und fremde
Menschen bessere zu erkämpfen. Lieber die Religiosität des Hobbes richtig
F. A. Lange, Geschichte des Materialismus P 244, 283 f.
^) m 45, 83, 89, I 334 ff.
*) Nov. org. üb. I, Aphorism. 48.
Die Naturphilosophie des Th. Hobbes iu ihrer Abhängigkeit von Bacon. 377
in seiner tief pessimistischen Werthung der Menschennatur. Viel-
leicht bei keinem unter den neueren Denkern ist der Gegensatz,
in welchem sie sich zu der anthropocentrischen Weltbetrachtung
des Mittelalters befinden, so schroll', wie bei ihm. Auch der
Mensch ist nur eins unter den natürlichen Geschöpfen, und da
er mit Klugheit und Verstand begabt ist, der eine Herrschaft über
die Mittel ermöglicht, das gefährlichste und grausamste von allen.
In ihm regieren die animalischen Triebe und der Eigennutz; keine
sittliche Potenz hebt ihn empor aus dieser irdischen Materie; so
wenig das Denken das Göttliche zu erfassen vermag, so wenig
reicht der handelnde Mensch hinüber in eine höhere, reinere Welt.
Hobbes selbst war eine leidenschaftliche und innerlich unruhige
Natur, die auch auf dem engeren Gebiet der wissenschaftlichen
Arbeit durch literarische Eifersucht und zahllose bis an das Ende
seines Lebens dauernde polemische Auseinandersetzungen den
Frieden sich zerstörte. In ihm lebte etwas von dem düsteren
Temperament seines Vaters fort, der, ein Landgeistlicher, wegen
einer Gewaltthat Hieben musste, die er im Jähzorn begangen. Und
wie nun Hobbes iu den Bürgerkriegen seines Vaterlandes, in der
Mordthat Ravaillac's, die auf allen Gemütern lastete, als er Frank-
reich zum ersten Mal betrat, sah, wessen die entfesselte Menschen-
natur fähig war, entstand ihm die grosse Aufgabe seines Lebens,
die Mittel der Bändigung dieser Bestie im Menschen zu finden.
Aber Mittel, die in den Eigenschaften seiner Natur selbst gelegen
waren. In den Schriften der Alten, in den Ländern verschiedener
Völker hatte er sie zu erforschen gesucht; aber Geschichte und
Beobachtung gaben nur singulare Erfahrungen. Sie reichten nicht
aus zu der Construction einer Rechtsordnung, die in festen Prin-
cipien begründet war und entrückt dem Kampfe der Ueber-
zeugungen die unerschütterliche Grundlage einer strengen Demon-
stration der politischen Sätze zu bilden vermochte. Hobbes musste
weiter zurückgehen. Denn das Wesen der menschlichen Natur,
wie sie aus den animalischen Trieben sich entfaltet, ist an die
Sinnlichkeit gebunden: iu den physiologischen Zuständen sind die
Bedingungen seiner Art gegeben. Alles Leben des Geistes ist her-
378 ^^^ Köhler,
vorgegangen aus den elementaren Wahrnehmungen und Streb ungen;
diese selbst aber sind Functionen des organischen Körpers.
Und hier haben wir den Punkt erreicht, von welchem Hobbes
von den politischen Thatsacheu aus hindurch schritt zu der Unter-
ordnung derselben unter die natürliche Wirklichkeit und zu dem
Versuch, die Gesetze dieser als das einzige sichere Wissen auch
auf die Structur der Gesellschaft zu übertragen. Der Mensch als
eine psychophysische Einheit bildet den Ausgangs- und den Mittel-
punkt seines Studiums der Natur. Wie er es selbst hervorhebt,
war es das Problem der Sinneswahrnehmung, das ihn zu der
Naturphilosophie führte ')• Und, schliessen wir nicht gänzlich fehl,
so lag ein nächstes mächtiges Motiv, das ihn auf diesem Wege
vorwärts trieb, in jenem Aufschwung der ärztlichen Wissenschaft,
die gerade in dem England dieser Tage zu einer bedeutenden
Höhe sich erhoben hatte. Männer wie Gilbert und Harvey standen
im Centrum des intellectuellen Lebens; in seinen berühmten Vor-
lesungen hatte der Letztere vom Ende des zweiten Jahrzehntes ab
seine neue Theorie des Blutumlaufes vorgetragen. Und Hobbes
fand sich immer gern in der Gesellschaft von Aerzten. Aus einer
unvollendet hinterlasseneu Schrift Herberts von Cherbury, seines
Freundes aus dieser Zeit, „Ueber des Irrthums Ursachen", geht
hervor, wie eingehend in den Kreisen dieser Männer die patho-
logischen Störungen der Wahrnehmungsthätigkeit beachtet worden
sind, und gerade in dem Versuch Herberts von Cherbury, die
scholastische Lehre des Wahrnehmens gegenüber der Fülle der
Thatsachen aufrecht zu erhalten, lag ein weiterer Austoss zu ihrer
Untersuchung.
Und nun wird Hobbes mit Baco bekannt; er half ihm bei
der Uebersetzung seiner Essays in das Lateinische. Gewiss waren
es zunächst humanistische und historische Interessen, die ihn mit
diesem Manne verbanden; aber in Bacos universalem Geist waren
doch auch die anderen Theile seines encyclopädischen Systems
gegenwärtig. In den Jahren dieses Verkehrs entstand die
„Historia naturalis", die Hobbes wohl kennt und später noch citirt;
') I, XX.
Die Naturphilosophie des Th. Hobbes in ihrer Abhängigkeit von Bacon. 379
iu ihr gab Baco seine Wahrnehmungstheorie ausführlich. Und wie
dieselbe iu einer engen Verbindung mit den Grundlagen seiner
Naturauffassung stand, musste auch Hobbes, weuu er sie durch-
dachte, zu einem Studium derselben fortgeführt werden. In
diesem wurzeln die ersten Anfänge der eigenen Naturphilsophie,
und es wird nun unsere Aufgabe sein, der hieraus entspringenden
Abhängigkeit im Einzelnen nachzugehen. Sie umfasst die obersten
Voraussetzungen, unter denen Hobbes immer die Wirklichkeit be-
trachtet hat.
In den historischen Darstellungen der neueren Philosophie
pflegt das System des Hobbes, wie es in seiner abgeschlossenen
Gestalt vorliegt, in die grosse englische Bewegung eingereiht zu
werden, die von Baco in einem inneren Zusammenhange sich bis
zu Hume und Mill erstreckt und neben der Kette der französischen
Mathematiker und Philosophen als die andere Trägerin des modernen
Empirismus und Positivismus augesehen werden kann. Eine solche
Einordnung ist auch unter einem klassificatorischen Gesichtspunkt
berechtigt, sofern dieselbe in Rücksicht auf die Grundtendenz der
Hobbes'schen Philosophie und ihre letzten Voraussetzungen geschieht;
freilich reichtsie nicht zu eiuervollständigen Ableitung seinesSystemes
aus. Aber gegenüber neueren Versuchen, Hobbes dann ganz von
den Vertretern einer naturalistischen Weltauffassung loszulösen,
um ihn aus jener idealistischen Gedankenströmung zu begreifen, die
in der Ausbildung des Rationalismus sich vollendete — demgegen-
über muss doch die geschichtliche Abhängigkeit betont werden, in
der sich Hobbes von seineu englischen Vorgängern befindet. Schon
der äussere Gang seiner intellectuellen Entwicklung zeigt, wie
er bereits vor seinem Eintritt in die Pariser Cirkel von den
uaturphilosophischen Ideen der Renaissance umgeben war. Dass
es nun aber insbesondere' die von Baco in einem eucyclopädischen
Geiste entwickelten Anschauungen waren, die seine Naturphilosophie
iu den Grundzügen bestimmten, erhellt, wenn man hinter den
coustructiven Zusammenhang seiner grossen Schriften hinabsteigt
zu den ursprünglichen Motiven, die auch in diesen wirksam sind,
aber in den ersten Entwürfen sich unabhängig von den mecha-
nischen Methoden entfalten.
380 M*^ Köhler,
Wir führen diesen Nachweis, indem wir von der Naturan-
schauung des englischen Grosskanzlers ausgehen.
In Baco von Verulara sind die antike Traditionen, die Atomistik
wie die Stoa lebendig; alles, was die Zeit an Erfindungen, Ent-
deckungen und Beobachtungen bot, ergrilf er. Aber wie er unter
dem Gesichtspunkt einer universalen Erfahrungsphilosophie nur die
Mittel suchte, die Natur zu erobern und zu beherrschen, ankerte
er sich in keinem der metaphysischen Standpunkte fest. Denn die
naturalistische VVeltansicht, wie sie in der äusseren Erfahrung ge-
gründet ist und aus dem Studium der in ihr gegebenen Realität
die Grundbegriffe schöpft, drängt mit einer inneren Nothwendigkeit
zu der Einschränkung der Giltigkeit ihrer Erkenntnisse auf eben
diese Erfahrung. Hatte Baco einst zu den metaphysischen Fragen
von der Constitution der Materie Stellung genommen, so enthielt
er sich später der Entscheidung über sie. Nur soweit der Versuch
reicht, vermögen wir das Wesen der Dinge zu erfassen, die Er-
örterung ihrer letzten Principien ist wissenschaftlich unfruchtbar.*)
Die Begriffe, unter denen Baco die Natur nun denkt, sind
durch die Aufgabe näher bestimmt, die er mit ihrer Hilfe zu lösen
sucht. Denn das Ziel seiner Forschung ist nicht auf eine reine
Abspiegelung des Seienden in der Erkenntniss gerichtet: es liegt in
der Herbeiführung einer Macht, die in einem gegebenen Körper
eine oder mehrere neue Eigenschaften zu erzeugen imstande ist. ")
Wie in den Anfängen der Chemie im Mittelalter, in der Schule
des Paracelsus, deren letztes systematisches Handbuch von dem
Dänen Severinus Baco benutzt und verwertet, zuerst das analytische
Verfahren des modernen Denkens ausgebildet worden war, das auf
die Grundsubstanzen zurückging und aus einer Mischung und Ver-
bindung derselben die einzelnen Körper begriff, so möchte Baco
die gesammte Natur in die elementaren Eigenschaften von Farbe,
Wärme, Schwere u. s. w. gleichsam zerschneiden, um aus ihnen die
*) „cum omnis utilitas et facultas operandi in mediis [sc. principiis]
consistat". Nov. org. lib. I Aphor. 66. Vgl, II Apli. 8 und 48,19 seiner Zurück-
haltung in Bezug auf die Atomistik.
^) Nov. org. II Aphor. 1 und 5.
Die Naturphilosophie des Th. Hobbes iu ihrer Abhängigkeit von Bacon. 381
Dinge wieder zusammensetzeu zu können, die der Mensch hervor-
bringen will. War in dem neuen Mischungsbegriff der Elemente
die aristotelische Form als das die Mischung constituirende Princip
endgiltig ausgeschieden, so sieht Baco in den concreten Einzeldingeu
nur eine Zusammenfiigung der einfachen Eigenschaften, die nun
nicht mehr einer besonderen Substanz, einer sich verwirklichenden
Form zur Erklärung bedürfen.") Wohl kennt auch er eine Wissen-
schaft, die die einzelnen Körper, ihre Anatomie gleichsam und
ihre Veränderungen in der Zeit zum Gegenstände des Studiums
hat. Aber diese Wissenschaft ist ihm blosse Physik; wie sie keine
wahrhafte Analyse einschliesst, sondern nur die verborgenen Ge-
staltungen der Körper und die Ursachen, die ihre Wirksamkeiten
auslösen, untersucht, dringt sie nicht zu der Erkenntnis's dieser
allgemeinen und fundamentalen Wirksamkeiten der Natur vor.
Dies allein vermag die „Metaphysik" auf dem Wege jenes Inductions-
verfahrens, das Baco in dem Zusammenhange dieser Naturau-
schauung entwickelt. Wir erkennen nun aber das Wesen einer
Eigenschaft, indem wir sie als die Besonderung einer anderen auf-
fassen, an deren Auftreten sie gebunden ist, und die, weil sie mehr
umfasst als die gegebene, als die übergeordnete angesehen werden
muss, '^) In diesem Princip ist zugleich eine nähere Bestimmung
der höheren Formen enthalten, in denen sich die innerliche Ein-
heit der Natur manifestirt. Denn sofern die höchste derselben
die allumfassendste ist, kann sie nur in der Eigenschaft zu finden
sein, die allen körperlichen Dingen gemeinsam ist: die verschie-
denen Formen und Qualitäten sind die Besonderungeu einer
universalen Thatsache, der Bewegung. So gelangt Bacon. indem
10) „To enquire the Form of a Hon, of an oak, of gold, nay or water, of
air is a vain pursuit". Ädv. of learn. 11, Bd. III, 355 der Ausgabe von Ellis
und Spedding. Auch De augm. sc. III 4, Opera, Frankfurt 1665, p. 90, wo
jedoch unter Berufung auf die heilige Schrift hinzugefügt wird ,Uno homine
excepto".
") Nov. org. II. Aphor. 4. „Forma vera talis est, ut naturam datam ex
fönte aliquo essentiae deducat, quae inest pluribus et notier est naturae (ut
loquntur) quam ipsa forma". Woraus die Regel der Erkenntniss folgt „ut
inveniatur natura alia, quae sit cum natura data convertibilis et tarnen sit
limitatio naturae notioris, instar generis veri". Vgl. Aph. 17. Schluss u. 26.
382 ^^ax Köhler,
er nun ergreift, was die epikureische und stoische Tradition ihm
bot, zu jenem obersten Satz, der, man möchte glauben, inhaltlich
mit jener Grundanschauung sich deckt, die den Gehalt der mecha-
nischen Naturerklärung ausmacht. Aber der Weg, auf dem er ihn
gewann, verschluss ihm zugleich die Auswerthung derselben in einem
modernen Verstände. Denn indem er in den allgemeinen Eigen-
schaften, die das Wesen des einzelneu Körpers constituiren. ein
begriffliches System übergeordneter Arten erblickte, verblieb er in
dem klassificirenden Denken der Scholastik: und wie hierin die
wissenschaftliche Unfruchtbarkeit seiner Methode gegründet war —
denn die Darstellung der Arten der Bewegung durch die Einteilung
ihres Begriffes nach seinen specifischen Merkmalen ist ein unmög-
liches Unternehmen — , so ergaben sich auch Consequenzen, die
Baco mit der Voraussetzung seines Naturerkeunens nicht in einer
klaren Auffassung verbinden konnte. Sind die Formen, d. h. die
elementaren Eigenschaften nur Besonderungen des logischen Gattungs-
begriffs der Bewegung, so ist diese allein real; wie denn Baco
nachdrücklich die Bewegung als das eigentliche Wesen der Wärme
bezeichnet. Und wenn er an einer anderen Stelle den Unterschied
des erscheinenden Gegenstands von seinem Wesen dem Unterschiede
in der Beziehung auf den Menschen und der auf das Weltall
gleichsetzt'*), so scheint er jenem Phänomenalisraus nicht mehr
fernzustehen, der aus den sinnlichen Gegebenheiten einen ge-
wissen Inbegriff als subjectiven Ursprunges ausscheidet. Aber Baco
erhebt sich doch nicht über diese flüchtigen Andeutungen, diese
fast spielenden Vergleiche; und wie er in seiner Wahrnehmungs-
lehre noch ganz auf dem Boden der mittelalterlichen Speciestheorie
verbleibt'^), hat er immer an der Thatsächlichkeit der Qualitäten
als eines objectiven Bestandes festgehalten. Vielleicht lag nicht
das geringste Moment zu dieser Unbestimmtheit in dem eigenthüm-
lichen Zwielicht, das keine Aufhellung des Verhältnisses gestattete,
in welchem die niedere Form zu der übergeordneten, in welchem
'2) ibidem II Aphor. 13.
^^) Historia naturalis, Centuria tertia. Die Erschütterung der Luft ist
bei dem Tone nur „causa sine qua non", Opera i». 802,
Die Naturphilosophie des Th. Hobbes iu ihrer Abhängigkeit von Bacon. 383
alle besoüderen Formen zu der Bewegung stehen — gleichsam,
als kehrten die unlöslichen Schwierigkeiten wieder, die einst in
der Frage nach dem Realitätswerthe der Universalien und der
Individuen bestanden hatten.
Baco hat in der Formenlehre, dieser seiner eigensten Schöpfung,
keinen Schüler gefunden. Auch Hobbes ist ihm nicht auf diesem
Wege gefolgt. Sein Interesse war nicht wie das des Grosskanzlers
in erster Linie auf die Technik und Methodik der wissenschaft-
lichen Forschung gerichtet; und als er den Problemen dieser näher
trat, war er im Besitze der neuen mechanischen Methode, die der
Formen und des dreifachen Instanzenweges des Inductionsverfahrens
entbehren konnte. Aber in seinem systematischen Geiste erfasste
er nun die grossen Motive, die dieser Conception zu Grunde lagen;
alles Zukunftsfähige, das in der Naturauschauung des Baco enthalten
war, nahm er auf. In dem Gebiete, das die Funktionen des
Menschen umfasste und auf das er seiner Natur nach in Verbin-
dung mit medicinischen Anregungen seine Aufmerksamkeit lenkte,
ging er in den Intentionen Bacos weiter. Und indem er nun von
dem Geiste der mathematischen Construction ergriffen wurde, führte
er den Gehalt, der iu den Essays und Aphorismen des Gross-
kanzlers in einer künstlerischen Ungebundenheit gegeben war, in
ein streng gegliedertes System über, des folgerichtig von den ersten
Annahmen in stringenten Conclusionen zu den schärfsten Conse-
quenzen schritt.
Diese Phase seines Denkens, welche die dauernde Grundlage
seiner Naturphilosophie geschaffen hat, ist uns in einem englisch
geschriebenen „kurzen Tractat von den ersten Principien'' erhalten.
In ihm umgiebt uns noch beständig, obschon die Form sich skla-
visch eng au den Aufbau des Euklid auschliesst, Bacouische Natur-
anschauung. Der erste Zug derselben ist die gänzliche Ausschei-
dung jeder teleologischen Betrachtungsweise; die Natur stellt einen
Zusammenhang von Wirkungen dar, die mit stets gleicher") Noth-
wendigkeit aus ihren Ursachen folgen; daher denn, so lautet der strenge
1*} Elements of law, ed. Tönnies, Appendix I, 197 ,Necessity hath no
degrees".
384 Max Köhler,
Schluss, die Annahme eines Wesens, das aus Freiheit handelt,
einen inneren Widerspruch eiuschliesst/'') Betrachten wir nun
näher, was in der Natur wirkt und wie es wirkt, so heben wir
einen zweiten Grundzug dieses Tractates hervor, der auch in einer
Fortsetzung von Tendenzen Bacos ausgebildet worden ist. Aber
noch eigenwilliger als dieser hält Hobbes mit der Zähigkeit, die
ihm eignet, an der Terminologie der aristotelisch-scholastischen
Philosophie fest; als Student hatte er sich ja in die Werke des
Suarez einleben müssen. So unterscheidet er die Substanz als das,
was sein Sein in keinem Anderen hat. sondern durch sich selbst
besteht, von dem Accidenz, das sein Sein in einem Anderem hat
und ohne dasselbe nicht bestünde.^*) In den Beispielen jedoch,
durch welche er diese Definitionen illustrirt, tritt schon die Tendenz
hervor, dieselben ihres metaphysischen Charakters zu entkleiden und
sie zu wissenschaftlichen Symbolen von Thatsachen der Erfahrung
umzubilden.
Aber darin besteht nun das Entscheidende, dass Hobbes, wie
er diese Begriffe nur auf den Inbegriff der äusseren Erfahrung
bezieht, in dem durch sie bestimmten Inhalt den Ausgangspunkt
alles weiteren Wissens findet. Wenn er in dem englischen Tractat
beweist, dass jedes Ding entweder eine Substanz oder ein Accidenz
ist,'') so ist dieses Schlussverfahren doch nur der umschriebene
Ausdruck für seine naturalistsche Anschauung, die in der sinnlich ge-
gebenen Realität die einzige unserer wissenschaftlichen Erkentniss
zugängliche Realität erblickt. Denn die Voraussetzung seiner
Bündigkeit liegt einzig in der Folgerichtigkeit, mit welcher Hobbes
alle Kategorien, unter denen er denkt, aus den Thatsachen der
wahrnehmbaren Aussen weit ableitet. Demgemäss umfasst der
Begriff der Natur den Inhalt alles Wirklichen, und die in ihr wirk-
samen Gesetze gelten für alle Veränderungen schlechthin.
Die Grundlage dieser Gesetze bildet eine Auffassung von Ent-
'^) iL», p. 196. „Hence appeares lliat the detinition of a Free Agent, to be
that, which, all things requisite to worke, beiug putt, inay worke or not
werke, implyes a contradiction".
'6) ib. p. 194.
'') ibidem.
Die Naturphilosophie des Th. Hobbes in ihrer Abhängigkeit von Bacon. 385
stehung und Uebertragung von Bewegungen, die deutlich den Ab-
stand des Hobbes von den mechanischen Einsichten Galileis und
des Descartes zeigt. So besagt das erste der Principien, dass die
Ursachen aller Veränderungen eines Dinges nicht in ihm selbst
enthalten sind. '*) Eine nähere Bestimmung erhält diese allge-
meine Erklärung durch den Sinn, in welchem Hobbes Wirkung
und Veränderung fasst. „Ein Agens", so definirt er, „bringt in dem
Patiens nur eine Bewegung oder eine inhärierende Form hervor."
Sehen wir zunächst von dieser Art von Wirkung ab, so ergiebt
sich der Schluss, dass in einem ruhenden Körper eine örtliche
Bewegung nur durch die unmittelbare oder vermittelte Berührung
mit einem selbstbewegten Körper zu enstehen vermag. '^) In diesen
Sätzen ist eine Interpretation von Bewegungsvorgängen gegeben,
die schon von Baco angedeutet ist, ^'^) und welche Hobbes später
als die erste Hälfte des Beharrungsgesetzes formulirt hat. „Was
ruht", so heisst es in seinem Hauptwerk, „wird immer ruhen, wenn
es nicht ein Anderes ausser ihm giebt, nach dessen Entgegensetzung
(quo supposito) es nicht mehr ruhen kann".^') Aber während
Hobbes hier die Erhaltung des Zustandes auch auf den bewegten Körper
nach Richtung und Geschwindigkeit ausdehnt, fehltdiese zweite Hälfte,
in welcher sich doch erst der durch die wissenschaftliche Mechanik
gewonnene Kraftbegriff ausspricht, dem englischen Tractat. Und
so verbleibt auch dieser concise Ausdruck der in Baco vorbereiteten
Vorstellung von der alleinigen Realität der Bewegung, so scharf
er sich von dem sprühenden Stil des Grosskanzlers abhebt, inner-
halb der Schranken der natürlichen Auffassung. Zwar erkennt
'*) ib. p. 193. „That, whereto nothing is added, and from which nothing
is taken, remaines in the same state is was".
'') ib. p. 196. „Nothiüg can move itself", welcher Satz ausser durch
Berufung auf das erste Princip auch durch die Unbestimmtheit der ent-
stehenden Bewegung bewiesen wird, sofern in dem Dinge selbst kein zu-
reichender Grund für eine Auswahl der möglichen Richtungen gelegen ist. —
p. 195. „That which now resteth, cannot be moved, unless it be touched by
some Agent".
20) Nov. org. II, Aph. 48, 8, 19.
*i) De corpore, I 177. Der Beweis dieses Satzes p. 102 f. ist fast wörtlich
aus dem „Short tract on first principles" wiederholt.
386 Max Köhler,
Hobbes wie Baco •^) die aristotelische Unterscheidung einer gewalt-
samen und einer naturgemässen Bewegung nicht an; aber beide
stehen noch vor den Consequenzen. welche die moderne Dynamik
aus dieser Aufhebung zog.
Hierzu tritt nun eine Gedankenfolge, welche die doch mögliche
mechanische Verwerthung der gewonnenen Einsichten durchkreuzt.
Die Conceptiou, in die sie einmündet, entsprang einer Mehrheit
von Problemen.
Hobbes hatte allgemein bewiesen, dass jede Wirkung eines
Agens entweder die unmittelbare Berührung mit dem Patiens
oder ihre successive Fortpflanzung an die Theile des zwischen ihnen
befindlichen Mediums voraussetzt. Nun aber giebt es Vorgänge
wie etwa die der Strahlung in der Natur, wo ein Effect von einem
Körper auf einen anderen gewirkt wird, ohne dass die Theile
des Mediums an ihm merklich participiren. Hobbes nimmt daher
zur Erklärung dieses Vorganges im Anschluss an die mittelalterliche
Wahrnehmungs-Theorie, wie sie ihm noch in Baco entgegentrat,
die continuirliche Aussendung von Species, d. h. kleinen Bildchen
der Gegenstände an.-^) Indem diese nun in dem Patiens anlangen,
repräsentiren sie gleichsam das ferne Agens in seiner Wirksamkeit
und machen so die scheinbare Fernwirkung desselben verständlich.
Und zwar fasst Hobbes diese Species in Consequenz seiner Defini-
tionen von Substanz und Accidens, da sie ihrerseits doch unab-
hängig von dem sie aussendenden Körper bestehen und selbst
Träger von Accidentien sind, als Substanzen auf.^0
") Nov. uig. I Aph. 60.
■") Elem. of law. App. 1 p. 198. „Agents at distauce woike not all on
the Patient by successive action on the parts of Medium''. Dem eingehenden
Beweis dieses Satzes folgt dann p. 199 der Schluss: „Some Agents, at distance,
worke by Species".
■*) ib. p. 203. „Species are substances". Die dargelegte Ableitung dieses
Satzes, der sich nahe mit der Eidolatheorie der antiken Atomistik berührt,
scheint mir die Möglichkeit der relativen Selbständigkeit von Bobbes darzu
thun, und, sofern nicht andere Momente hinzutreten sollten, kann aus ihm
allein nicht, wie FI. Schwarz, Umwälzung der Wahrnehmungshypothesen durch
die mechanische Methode iS'Jö, erster Abschnitt S. 1U2, will, eine Abhängig-
keit gerade von der epikureischen Tradition geschlossen werden.
Die Naturphilosophie des Th. Hobbes in ihrer Abhängigkeit von Bacon. 387
Hobbes verhehlt sich die Unzulänglichkeit dieser unmecha-
nischen Vorstellungsweise nicht. Dieselbe liegt in der nothwendigen
Annahme selbst unbewegter aber ewig bewegender Körper; jedoch
durch Einführung dieser Annahme unter die Principien der ersten
Section (Princip 9) hat er siesich ohne weitere Begründung ermöglicht.
Ferner ist er gezwungen, dieinstantane Geschwindigkeit des Lichtes zu
leugnen, ohne ihre thatsächliche, erfahrungsgemäss nicht feststellbare
Grösse durch die örtliche Bewegung der Species plausibel machen
zu können. Und endlich vermag er bei der Frage, woher der un-
erschöpfliche Vorrath der stoft'lichen Aussendungen eines Körpers,
der sich doch nicht verringert, komme, nur auf die Analogie des
Feuers zu verweisen, bei welchem die Thatsache einer Nahrungs-
zufuhr offenbar sei. '')
Für die in dieser Emission thätige Kraft eines Körpers, welche
die continuirliche Aussendung der Species unterhält, hat Hobbes
den Namen einer inhärirenden Form oder Qualität, welcher Name
doch nicht bloss äusserlich an die baconische Terminologie anklingt.
Indem diese Kraft wirksam ist, tritt der Fall ein, dass eine Bewe-
gung nicht durch Bewegung erzeugt wird, sondern beständig aus
dem Nichts entsteht. Diese uns so befremdlich anmuthende Con-
ception, die jede wissenschaftliche Darstellung mechanischer Vor-
gänge unmöglich macht, ist gleichwohl auch aus dem Grunde der
Auflösung gewisser Thatbestände in den Ablauf von Bewegungen
eingeführt. Diese sind durch die qualitativen Eigenschaften der
Dinge gegeben. Baco hatte dieselben im Princip dem Begriffe der
Bewegung untergeordnet; Hobbes fasst sie, wie sie auf eine con-
stante Eigenthümlichkeit der Dinge hindeuten, als die durch eine
ihnen innewohnende Kraft hervorgerufene Aussendung von Species.
Demgemäss erlangt ihre Theorie ihre volle Bedeutung, wenn er
nun zu der Analyse des Wahrnehmungsvorganges schreitet. Denn
auch der Mensch ist dem Zusammenhange der Natur eingeordnet;
er steht unter ihren Bedingungen. Und wie nun in der Wahr-
nehmung ferner Gegenstände dieselben eine oftenbare Wirkung auf
") ibidem p. 201.
3g8 Max Köhler,
die Orgaue üben, kann sie auch unter diesem Gesichtspunkt nur
als eine Sendung von Species verstanden werden.
Wie wirken diese nun aber, wenn sie in den Organen an-
gelangt sind? Der Vorgang der sinnlichen Empfindung, so antwortet
Hobbes, ist eine Bewegung der animalischen Lebensgeister durch
die Species von einem äusseren Object.-") Und an diesem Punkte
der Zergliederung des Zusammenhangs der Natur, da wo auch der
Mensch in ihn bezogen wird, wird der materialistische Grund-
aedanke des Hobbes sichtbar, der zu allen Zeiten als der be-
zeichnende Zug seines Systemes gegolten hat. Dieser Materialismus
lie^t nun vor der Aufnahme der mechanischen Ideen, er entstand
nicht in einer Consequenz derselben. Wir werden sehen, in welcher
Richtuno' er durch sie umgebildet worden ist; doch hier tritt her-
vor, dass diese seine Anschauung nicht in einer Weiteriührung
der atomistischen Tradition, die in der Annahme von Seelen-
atomen das geistige Leben des Menschen zu erklären suchte, ent-
standen ist, vielmehr in einer geschichtlichen Continuität von der
stoischen Lehre der Belebtheit der Welt durch den allgegen-
wärtigen Aether sich entwickelt hat.
Der Zwischenträger in dieser Continuität ist Baco. Li der
späteien Hälfte seines Lebens hatte er diese stoische Lehre auf-
(Tenommen und sie in einer detaillirten Form als die Theorie der
Spiritus durcligelührt.^O Diese Spiritus sind Eftluvien des Welt-
äthers und als solche ein wenn auch sehr dünnes und unsichtbares
Stoffliches. Und wie sie in jedem Körper als das thätige Princip
desselben einwohnen, so sind sie auch in dem Menschen die Träger
26) ibidem p. 207,
2^) Vgl. die Darstellung der baconischen Auffassung der Materie bei
Lasswitz, Geschichte der Atomistik, 1890, 1431 ff. In Bacos späterem System
ist der Obersatz der stoischen Naturlehrc von der Gebundenheit der Kraft an
den Stoff — und auch die geistigen Kräfte gelten als natürliche — enthalten.
In seinen mechanischen Ansichten tritt dies z. B. in seiner Ablehnung der
aristotelischen Annahme der Kraftwirkung eines rein mathematischen Punktes
hervor: Nov. org. II Aph. 35. Von diesem dynamischen Materialismus ging
der Weg zu Hobbes.
Die Naturphilosophie des Tb. Hobbes in ihrer Abhängigkeit von Bacon. 389
der Funktionen, wenngleich diese in ihrer Eigenart durch das
Specifische der verschiedeneu Organe bestimmt ist. ^®)
In der schroffen und scharfen Fassung des mathematisch ge-
bildeten Schülers verliert nun diese Theorie der Species das
Phantastische, das sie bei Baco noch umgiebt, und so unvollkommen
auch die mechanische Vorstellungsweise ist, in die sie Hobbes über-
zuführen sucht, so ermöglicht ihm doch, was er an medicinischen
Kenntnissen besass, eine physiologische Interpretation, die die
speculative Unbestimmtheit der baconischen überwunden hat. Noch
lange hat er an dem Begriffe des Spiritus als eines wissenschaft-
lichen Constructionselemeutes festgehalten; bis in die einzelnen
Fragen der speciellen Physik erstreckt ist der Gebrauch seiner
Anwendung. "')
In dem englischen Tractat bespricht er nur die Spiritus, so-
fern sie als die Träger der Lebenskräfte in dem sensorischen und
motorischen Apparat des organischen Körpers wirksam sind. „Die
animalischen Spiritus", so lautet das erste Princip der dritten
Section, „sind diejenigen Spiritus, welche die Instrumente (Instru-
ments) der Sinne und der Bewegungen sind". Da in ihnen der
Ausgangspunkt der willkürlichen körperlichen Bewegungen liegt,
so müssen sie, da sie selbst keine constant wirkende Kraft zur
Bewegung in sich tragen, örtlich bew'egt sein^"). Und wie diese
Bewegung nur als eine übertragene gedacht werden kann, muss
das, was sie überträgt, selbst bewegt sein, wie etwa die in den
Organen anlangenden Species, oder wie die Seele, sofern eine
2ä) Historia vitae et mortis, Opera Frankfurt 1665, p. 564: „Actiones
naturales sunt propriae i)artium singularum, sed spiritus vitalis eas excitat et
acuit". In der darauf folgenden Explication heisst es: „Actiones sive functiones,
quae sunt in singulis membris, naturam ipsorum membrorum sequuntur
(attractio, reteutio, digestio, assimilatio, separatio, etiam sensus ipse); pro
proprietate organorum siugulorum (stomachi, lecoris, cordis, splenis, fellis,
cerebri. oculi, auris, et caeterorum). Neque tarnen ulla ex ipsis actionibus,
unquaai actuata foret, nisi ex vigore et praeseutia spiritus vitalis et caloris ejus".
29j Vgl. z. B. die Bedeutung, welche diese Lehre noch 1641 für ihn be-
sitzt, V 283 f. Auf die dort gegebene Erklärung der Härte durch die Spiritus
komme ich einem anderen Zusammenhange zurück.
30) Elem. of law. App. I p. 205.
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV. 3. £l
390 Max Köhler,
Wirkung von ihr auf die animalischen Lebensgeister angenommen
wird, örtlich bewegt zu denken ist'*). Hobbes hebt hier die in
diesen Worten eingeschlossene Auffassung der Seele als einer
körperlichen Substanz nicht besonders hervor; führt er sie doch
nur als eine Möglichkeit, nicht als den faktischen Sitz der Bewusst-
seinsthätigkeiten ein, den er vielmehr den Lebensgeistern oder auch
dem Gehirn zuweist. Erst gegenüber dem Standpunkt des Des-
cartes, der in seinem Ausgang von dem Selbstbewusstsein die
Position der mittelalterlichen Metaphysik in Bezug auf die Lehre
von der Immaterialität der geistigen Substanzen wieder gewonnen
hatte, zieht er die Consequenzen seiner Voraussetzung. Aus den
Acten des Bewusstseins, so argumentirt er, könne mit Recht auf
ein sie fundirendes Subject geschlossen werden, aber „die Subjecte
aller Thätigkeiten scheinen nur unter dem Begriffe des Körpers
oder der Materie verständlich zu sein" ^^), mithin müsse das, was
denkt, als ein körperliches Ding angesehen werden. In einer
später geschriebenen lateinischen Abhandlung über Fragen der
Optik spricht er noch klarer diese naturalistische Wendung aus:
„Da aber das Sehen formaliter und realiter nichts anderes ausser
der Bewegung ist, so folgt auch, dass der Sehende, formaliter und
genau gesprochen, nichts anderes ausser dem Bewegten ist, näm-
lich ein Körper; denn nichts ausser einem Körper, nämlich einem
materiellen, mit Dimensionen begabten und räumlich umschreib-
baren Ding, kann bewegt werden" "). Vielmehr bedeutet die An-
nahme einer immateriellen Seele eine wissenschaftlich unfruchtbare
Verdoppelung des letzten Trägers der Empfindungen, da die Art,
wie sie nun der Bewegungen in den Nervenfasern und dem Gehirn
gewahr wird, nur nach Analogie des empfindenden thierischen
Körpers begreiflich gemacht werden kann.
Untersuchen wir nun den in dieser Epoche seiner natur-
philosophischen Ansichten gegebenen Materialismus näher, so heben
wir zunächst hervor, dass Hobbes hier wie immer den Begriff der
3') ib. p. 206. „Then is the Soul moved it seif."
32) V. 253.
") Eiern, of law. App. II. p. 2-iOf
Die Naturphilosophie des Th. Hobbes in ihrer Abhängigkeit von Bacon. 391
Seele! als^eines selbständigen Wesens, auf das die Thatsachen des
Bewusstseinlebens bezogen wären, abgelehnt hat: der unserer Er-
kenntniss zugängliche letzte Träger der seelisclien Thätigkeiten ist
der empfindende Körper als das einzige in unsere Erfahrung, d. h.
in unsere Sinnes Wahrnehmung fallende Substrat derselben. Ver-
stehen wir unter Materialismus allgemein diese Auffassung, so ist
in einem solchen Verstände Hobbes immer Materialist geblieben.
Aber der so bezeichnete Standpunkt enthält noch viele Möglich-
keiten seiner Durchführung in sich. Für Hobbes ist derselbe zu-
nächst durch die ursprünglichen Anschauungen bestimmt, von
denen er seinen Ausgang nahm. Diese aber nähern sich in einem
hohen Grade den hylozoistischen Vorstellungen, die in der Stoa
und dem späteren Baco lebendig waren. Die bewegte Materie ist
zugleich belebt, wie denn Baco nachdrücklich allen Körpern das
Vermögen der Perception zuschreibt''*). Hobbes discutirt in dem
kurzen englischen Tractat den Umfang der Ausbreitung des Be-
wusstseinlebens nicht; aber wenn er in den animalischen Lebens-
geistern die geistigen Funktionen des Menschen localisirt, so ver-
bleibt doch im Hintergrunde seiner Auffassung beständig die Vor-
stellung von der Zusammengehörigkeit der Bewusstseinsvorgänge
und der Bewegungen der Spiritus. Denn das ist nun das Ent-
scheidende für das Verständniss dieser materialistischen Wendungen,
dass sie vor jener scharfen Scheidung des Descartes einer geistigen
und einer materiellen Welt entstanden sind, durch welche das
psycho-physische Problem erst in seiner ganzen Schwere enthüllt
worden ist. Für Hobbes besteht noch nicht jene unüberbrückbare
Kluft zwischen den seelischen und den natürlichen Kräften, die
das System des Descartes aufdeckte. Die Möglichkeit einer Ver-
bindung und eines Zusammenhanges beider Kraftarten ward erst
das Problem der folgenden Zeit. Wie das Auftreten beider an die
Materie gebunden ist, kann eine wissenschaftliche Untersuchung
nur in einem Studium der physischen und physiologischen Beding-
ungen ihrer Wirksamkeit gegründet sein.
Wenn von dem aussendenden Object die bewegten Species in
") De augin. sc. N. 3. Opera, p. 118 f.
27'
392 Max Köhler,
den Organen anlangen, beginnt ihre Wirkung; dieselbe kann aber
nach den methodisch geforderten Definitionen nur eine Bewegung
oder die Erzeugung einer inhärirenden Qualität sein; da Letzteres
ausgeschlossen ist, erschöpft sie sich in der Bewegung der Spiritus,
auf die sie trill't; diesen Effect nennen wir nun Empfindung ''). So
ist es verständlich, wenn Hobbes zu einer Formulirung gelangt,
die dem Wortlaut nach eine Gleichsetzung von Bewegung und
Empfindung, von Bewegungen und Willensvorgängen enthält, wenn
er sogar nicht davor zurückschreckt, die Wirkungen eines Objectes
auf die Sinne und den Willen, die Anziehungskraft, die es uns
erstrebenswerth macht, als eine physisch wirkende Kraft darzustellen
und das Maass ihrer Grösse geometrisch abzuschätzen^''). Aber
dieser, bis zum höchsten Extrem zugespitzte und im Grunde gar
nicht vorstellbare Materialismus drückt doch nicht den Kern seiner
Ansichten in einer zureichenden Weise aus; wie er die Facticität
des in den Wahrnehmungen gegebenen Bewusstseiuzustandes nicht
leugnet, möchte er nur zu den letzten aufdeckbaren Gründen der-
selben hinabsteigen. Diese aber sind Bewegungen der animalischen
Lebensgeister. Hinter dem vorgeblichen Materialisten steht der
Physiolog und positive Naturforscher, der die physische Wirklich-
keit in allen ihren Verzweigungen verfolgt; und indem er nun
auch in dem Menschen die Seite seines Wesens studirt, die dem
beobachtenden und gleichsam von aussen her analysirenden Forscher
allein zugänglich ist und die unter den allgemeinen Gesetzen der
Wirkungen steht, schliesst sich ihm der Zusammenhang der Natur.
Der „kurze Tractat von den ersten Principien" bezeichnet in
der Reihe der Werke, die Hobbes schuf, einen ersten Entwurf
seiner jüngeren Jahre, naturphilosophische Ideen zu forrauliren; er
selbst hat ihn nicht veröffentlicht. Denn wenn auch die Natur-
anschauung, die in ihm enthalten war, permanent lebendig blieb
und auch noch in der Zeit seiner späteren Entwicklung fortwirkte,
so sind doch in der originalen Art seines Geistes und der nun ein-
tretenden bedeutsamen Wendung seines wissenschaftlichen Denkens
^^) Elements of law. App. I. p. 207.
8«) ib. p. 210.
Die Naturphilosophie tles Th. Hobbes iu ihrer Abhängigkeit vou Bacon. 393
Momente gegeben, die über diese Grundlage weit hinausführten.
Er ist daher nicht iu dem Verstände ein Schüler Bacos geblieben,
in welchem etwa Spinoza durch Descartes bedingt ist.
Schon in den Gesichtspunkten, von denen er ausging, war das
verschiedene Interesse bedingt, das er den verschiedenen Theilen
des baconischen Systems entgegenbrachte. Ein weiteres trennendes
Moment lag in der Aneignung und Anerkennung der mathemati-
schen Methode als dem Vorbilde jedes strengen Raisounements.
Baco hatte ihr ferngestanden; er erblickte sie nur in der phan-
tastischen Gestalt des Neupythagoreismus oder er schränkte doch
ihren V^'^erth ganz auf praktische Messungen ein. Das inductive
Verfahren, das er iu Aphorismen und immer neuen Wendungen
in den Vordergrund der methodischen Betrachtung gerückt hatte,
wurde durch die eherne Striugenz der geometrischen Deduction
verdunkelt. Und wie das Souveraine, gleichsam das Künstlerische
in der Darstellung des Grosskanzlers keinen Wiederhall in Hobbes
fand, so wandte sich dieser nüchterne und systematische Kopf mit
den Hilfsmitteln einer mathematischen Schulung einer anderen Art
von Untersuchung der Naturgegenstände zu. Denn darin liegt
nun das Entscheidende für den weitereu Fortgang, dass dieses sein
Verhältniss zu dem mathematischen Denken in allmählichem Fort-
schreiten eine steigende Beschäftigung mit der neuen mechanischen
Analyse der Xatur hervorrief. Seit dem Beginn der dreissiger
Jahre ist er iu dem Kreise aufgenommen, den der naturwissen-
schaftlich gebildete Baronet Charles Cavendish um sich gesammelt
hatte. In seinem Auftrage sucht er 1633 in London nach den
Dialogen Galileis „üeber die beiden hauptsächlichen Weltsysteme",
die vor kurzem erschienen waren ^'). Wie gross aber auch der
mächtige Eindruck dieses Werkes gewesen sein mag, in dem mit
einer überwältigenden Kraft und nur zu deutlich die Unzuläng-
^0 Dass Hobbes dieses Werk iu gründlicher Arbeit in sich aufgenommen
hat, beweist ausser seiner späteren Abhängigkeit von demselben in astro-
nomischem Betracht ein Brief vom 16. 10. 1636 (publicirt in Historical
Manuscripts Commission, Thirteen Report App. II, Vol. II. p. 129f.), der eine
Auseinandersetzung mit einer von Galilei dort aufgestellten optischen These
enthält. — Nach I p. XXVIII soll er den greisen Meister selbst besucht haben.
394 'iJi&x Köhler,
lichkeit des aristotelischen Weltbildes und die sieghafte Ueber-
legenheit der neuen analytischen Methode dargethan war: die ent-
scheidende Wendung, zu der alle diese Anregungen hinstrebten,
empfing Hobbes erst auf seinem dritten Pariser Aufenthalt. Die
Interessen, die nunmehr in ihm lebendig waren, brachten ihn in
bald enge Berührung mit einer Gesellschaft freier Denker, in deren
Mittelpunkt Marin Mersenue stand. Mit diesem verkehrte er nun
täglich.
Es war ein seltsamer Kreis, der sich in dem Paris Richelieu's,
umgeben von allem Glanz des höfischen Lebens, inmitten religiöser
Kämpfe und politischer Katastrophen, zusammengefunden hatte.
Nicht um als Partei gegen Parteien zu kämpfen, nicht um handelnd
einzugreifen in die Bewegungen der Zeit: was diese Theologen,
Physiker und Aerzte erfüllte, reichte hinaus über die Gegenwart.
In der stillen Zelle des Marin Mersenne, unter dem Schutze der
„fratres minimi" ward in einem lebendigen Austausch der Gedanken,
der rückwärts an die antiken Philosophenschulen, vorwärts an die
französischen Salons des achtzehnten Jahrhunderts gemahnt, in
einem Ineinandergreifen von Arbeiten und Untersuchungen, in
einer AVechselwirkung von Geben und Empfangen das grosse Werk
einer neuen Wissenschaft von der Natur gefördert. Sie alle Schüler
Galileis in einem weiteren Verstände. Man lese Campaueila, wie
er gleichsam von der Last der Tradition erdrückt wird: dieser
Nebel war nun von den Werken der Natur gewichen, den Ausblick
auf eine unermessliche Zukunft eröffnend. Auch für Hobbes erschloss
sich in diesem Kreise eine neue Welt.
Und Mersenne war nun gleichsam der lebendige Ausdruck
dieser unvergleichlichen Bewegung. Aus einer leidenschaftlichen
Religiosität hatte sich dieser Mönch zu dem Ideal einer neuen
Kultur durchgerungen, das, wie es auf erweisbare Erkenntniss
gegründet ist, die Momente des Lebens in einem versölmendeu
Ziel zusammeuzuschliessen gestattet; die Musik war es, wie sie
ihm in der grossen kirchlichen Kunst und in den Anfängen einer
weltlichen entgegentrat und aller Orten schon einer theoretischen
Untersuchung unterzogen ward, die ihn durch historische und psy-
chologische Studien hindurch zu der mathematischen Analyse der
Die Naturphilosophie des Th. Hobbes in ihrer Abhängigkeit von Bacon. 395
Phänomene führte. Und nun übertrug er die ganze Leidenschaft
seines Gemütes auf diese neue Wissenschaft. Es ging von ihm ein
fast unwiderstehlicher Enthusiasmus aus, der fortriss, wen er be-
rührte. Es hat viele Männer in der Wissenschaft gegeben, denen
dieselbe mehr verdankt als Mersenne. Aber nicht immer liegt die
Grösse einer Leistung in theoretischen oder literarisch hxirten
Ergebnissen. Wenn die kulturelle Bedeutung der mathematischen
Physik darin gegründet ist, dass sie nicht als ein neuer Glaube,
nicht als ein fertiger Bestand abgeschlossener Erkenntnisse auftrat,
vielmehr die Aussicht auf eine von allem Persönlichen, ja Nationa-
len unabhängige gemeinsame Arbeit eröffnete, so war es die
Lebensaufgabe des Mersenne, diese Funktion der Wissenschaft in
einer Fülle persönlicher Verhältnisse zum höchsten Bewusstseiu zu
steigern. Alles im Werden! Wohin er blickte, sah er Probleme.
Fast sein gesammter Briefwechsel, der sich bis Huyghens hin
erstreckt, erschöpft sich in der Stellung von Problemen. Von
ihm ging jene Frage nach der Schwingungsdauer ebener Figuren
aus, deren spätere Beantwortung durch Huyghens die erste Formu-
lirung des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft enthielt. Immer
legte er seinen Freunden Aufgaben vor, und so ist er der Gründer
einer Sitte geworden, die in der Zeit des Leibniz und der neueren
Akademien von der grössten Bedeutung wurde. Schon hegte er
den Wunsch einer universalen Akademie „wenn nicht von ganz
Europa, so doch von ganz Frankreich". ^^) Und wie er durch
Reisen in Frankreich, Italien und Holland in der persönlichen Be-
rührung der Gelehrten die neuen Ideen zu fördern suchte, so war
er auch bemüht, literarisch zwischen den Nationen zu vermitteln.
Er übersetzte die ungedruckte „Mechanik" des Galilei, und als dessen
„Dialoge über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme" verboten
waren, gab er ihren wesentlichen Inhalt in kurzer Zusammen-
fassung heraus. Nicht von vielen darf ohne Vorwurf gesagt werden,
was diesem Manen zum höchsten Lobe gereicht: er hatte keine
Feinde. In seinem Freundeskreise waren gar hartwilligc Indivi-
dualitäten, die, ihres inneren Gegensatzes ganz bewusst, nur durch
38) Lettres inedites, Paris 1894, 132,
396 Max Köhler,
die Person des Merseuue in einem Zusammenhange standen, dieser
sah hinweg über die Unterschiede der Charaktere, der Nationa-
litäten und auch der metaphysischen Positionen; er erachtete sie
gering gegenüber der gemeinsamen, der grossen Aufgabe, alles
,,per motum localem"' zu erklären. So wurde er der Vertraute von
Descartes wie von Gassendi und Hobbes. Als er durch einen
plötzlichen Tod ihrer Freundschaft entrissen wurde, lebte sein Bild
in ihrer Erinnerung fort; und immer hat Hobbes, der so bitter von
den Menschen sprechen konnte, seiner nur in den wärmsten
AVorten gedacht, denn alles, was er ihm verdankte, hatte sich
unlöslich mit dem Eindruck seiner Persönlichkeit verknüpft; wie
gross auch schon das Interesse war, das Hobbes der entstehenden
Physik entgegenbrachte: erst durch ihn wurde er in die aktive
wissenschaftliche Bewegung von der mechanischen Erklärung der
iS'atur eingeführt. In dem Verkehr mit diesem Manne vollendete
sich seine Keuutuiss der neuen Methode und der Glaube an ihre
weittragende Giltigkeit.
Aber die vermittelnde Thätigkeit des Pater Mersennc bewegte
sich noch in einer ganz anderen Richtung. Haureau hat hervor-
gehoben, dass schon in seinem Commentar zur Genesis der Gottes-
beweis cuthalten ist, von dem dann Campauella und Descartes
ihren Ausgang nehmen. Noch ist nicht untersucht worden, in
welchem Umfange Mersenne als ein ZAvischeuglied in der Con-
tinuität der philosophischen und eigentlich metaphysischen Ueber-
zeugungeu anzusehen ist; denn auch sein Wesen zeigt jene selt-
same und doch so charakteristische Zweiseitigkeit der Welt-
anschauung, die diesen Denkern an der Schwelle einer neuen
Zukunft eigen ist. Wie sie prophetisch die Ideen kommender
Zeiten gestalten, ist in ihnen doch zugleich der Glaube vergangener
Jahrhunderte lebendig — nicht als ein heterogenes und nur äusserlich
conservirtes Element ihres Lebens: sondern verschmolzen mit den
tiefsten Grundlagen ihrer Natur durchzieht ein Zusammenhang von
Ueberzeugungen die innerste Struktur ihrer Gedankenwelt bis hinein
in die feinsten Züge, eine religiöse oder metaphysische Position,
deren continuirliche Umbildung in steter Wechselwirkung mit der
entstehenden Wissenschaft eben den Fortgang des philosophischen
Die Naturphilosophie des Th. Hobbes in ihrer Abhängigkeit von Bacon. 397
Geistes bestimmt. Und Mersenne hatte in langen Jahren
historischeu Studiums in sich aufgenommen, was von dem Mittel-
alter erarbeitet war; wie er in der Jugend, gestützt auf die mönch-
ische Gelehrsamkeit, mit Leidenschaft in die religiösen Kämpfe
der Zeit eingegriffen hatte, so bildete später ein tief gefühlter
metaphysischer Idealismus den dauernden Untergrund seiner Natur-
uud Weltanschauung; nur dass er nicht vermocht hat, was so
in seiner Persönlichkeit in einer Einheit bestand, mit dem wissen-
schaftlichen Ideal eines universalen Mechanismus, das in der Me-
thode seines Forschens enthalten war, zu einem Ganzen in einer
begrifflichen Form zu verbinden; aber allenthalben hat er gern gegeben,
was von Eigenem und Uebernommenem in ihm lebte. Und viel-
leicht ist kein Zug sympathischer in dieser sympathischen Persön-
lichkeit, als die selbstlose Unterordnung dem grösseren Freunde
gegenüber, der nun alle diese Tendenzen in Einem Systeme
befasste.
Descartes ist der königliche Geist in diesem Kreise: als er
für immer aus ihm schied, beherrschte er ihn noch durch Mer-
senne. Die Einwürfe gegen die Meditationen, die dieser sammelte,
waren nur der natürliche Ausdruck der Stellung, die Descartes in
ihm behauptet hatte. Ganz in sich selbst versunken, nur mit
Gott und der Welt beschäftigt, war er abweisend gegen Jedermann,
er begehrte keine Liebe; und doch zwang er Jeden, sich für oder
gegen ihn zu entscheiden. Alles Grosse, was in Mersenne und
seinem Kreise lebendig war, vereinigte sich in seiner Person, und
in den langen Jahren tiefer Einsamkeit verdichtete es sich in ihm
zu jenem universalen System, durch das er der „Vater der neueren
Philosophie"' geworden ist. Wie in eine Formel ist in diesem
wunderbaren Manne der Gang der Zeiten zusammengefasst: wie-
er von dem tief christlichen Bew'Urrstsein der Selbst- und Gottes-
gewissheit aus nun die Schranken des mittelalterlichen Denkens
überschritt und die Natur gewann, welche die Renaissance erobert
hatte. Aber nicht die Natur in ihrer Pracht und Alllebendigkeit,
den Kosmos der Griechen: ihre Schönheit verwehte vor diesem
rationalen Kopfe zu einem Schein: es blieb Zahl, Ausdehnung
und Bewegung, als welche allein hinreichend sind, diese bunte
398 Max Köhler,
Welt zu erklären. Zu erklären als eine ungeheure Maschine, die
lautlos und stumm nach ewigen Gesetzen sich bewegt: ganz durch-
sichtig für das wissenschaftliche Denken. Auch die Thiere sind
blosse Automaten. Nur in der Menschheit erhebt sich ein Reich
freier Personen, au keine Notwendigkeit gebunden: eine andere
Art metaphysischer Realitäten, an welchen die mechanische Ordnung
der Natur ihre Grenze findet. Und wie nun diese beiden Reiche
in gänzlicher Unabhängigkeit von einander bestehen — ist doch das
Einwirken des Geistes auf die Körperwelt auf die Richtungsänderung
der Bewegung eingeschränkt — wird jedes derselben in der ihm
eigenen Bestimmtheit sichtbar. Nie zuvor ist diese schöne Wirk-
lichkeit in solcher Ausschliesslichkeit als ein seelenloser, entgötterter
Mechanismus gedacht worden. Wie gebannt hält Hobbes stets
den Blick auf diese vollendete mechanische Naturanschauung ge-
richtet.
Gegenüber einer unkritischen Geschichtsschreibung ist die
Abhängigkeit hervorgehoben worden, in welcher sich Hobbes von
Galilei befindet. Aber in einem noch stärkeren Maasse wirkte
das Vorbild des Descartes. In dem Systeme dieses Mannes fand
er, was er selbst auf dem Gebiete der Naturphilosophie gedacht,
in einer höchsten Klarheit ausgesprochen, in einem überwältigen-
dem Gesammtbilde zusammengefasst. Nur von einer gänzlich ver-
schiedenen Position des metaphysischen Bewusstseins aus, die eben
da die Grenzen des wissenschaftlichen Erkenneus zog, wo der Aus-
gangspunkt und das Ziel seines Denkens lag: die Aufgabe der
Uebertragung dieser Methoden auf das Geistesleben des Menschen.
Noch befand sich Hobbes in dem Flusse seiner Entwicklung, als
die Essais des französischen Philosophen erschienen, unter ihnen
die „Dioptrik", welche die gangbaren Theorien des Sehens und des
Lichtes von Grund auf umgestaltete. Immer hat sich Hobbes , in
einer [^Auseinandersetzung mit diesem Werke befunden. Dann
forderte Mersenne ihn auf, seine stärksten Einwände, deren "[erlahig
wäre, gegen die Meditationen zu machen, und so sah er sich auch
äusserlich bewogen, den Standpunkt des Descartes in seinen letzten
Voraussetzungen zu durohdeuken. Djr stolze Einsiedler lehnte
diese Einwürfe, wie sie nicht die scharfsinnigsten waren und nicht
Die Naturphilosophie des Th. Hobbes in ihrer Abhängigkeit von Bacon. 399
die positiven Momente der naturalistischen Weltbetrachtung in
ihrer Stärke hervortreten Hessen, in kurzer Gegenkritik ab: sie ver-
standen sich in ihrem tiefen Gegensätze nicht. Und darum nahm
auch Descartes, da er die Geschlossenheit seines idealistischen
Systemes durch diesen Engländer nicht gefährdet sah, keine weitere
Notiz von ihra.^^) Anders Hobbes. Indem er in der Ausbildung
seiner Weltanschauung zu der Annahme der mechanischen Natur-
erklärung sich gezwungen sah, konnte er sich den Ergebnissen, zu
denen sie in der Fassung des Descartes geführt, nicht entziehen.
Zugleich aber musste er doch versuchen, sie von dem Untergrund
eines metaphysischen Idealismus loszulösen. So entstand ihm die
Aufgabe, gemäss den Bedingungen, die ihm durch Baco gegeben
waren, den mechanischen Gehalt des cartesianischen Systems
gleichsam umzudenken: durch diese Aufgabe ist die Ausbildung
seiner Naturphilosophie bestimmt.
5^ So schreibt er an Mersenne: ..Je juge que le meilleur est que je n"ais
poiut du tout commerce avec lui". V. 298. Vgl. ib. 278.
Jahresbericht
über
sämintliche Erschein ungen auf dem Gebiete der Geschichte
der Philosophie
in Gemeinschaft mit
Clemens Baeumker, Ingram By water, Alessandro Chiapelli, Wilhelm
Dilthey, A. Dyroff, Benno Erdmann, M. Gomperz, H. Lüdemann, Martin
Schreiner, Andrew Seth, Paul Tannery, Feiice Tocco, E. Wellmann
und Wilhelm Windelband
herausgegeben
Ludwig Stein.
IV.
Jahresbericht über die Kirchenväter und ihr
Verhältniss zur Philosophie, 1897—1900.
Von
H. littdemann in Bern.
I. Die drei ersten Jahrhunderte.
1, Einleitender Abschnitt: Das Christenthum in
seinem Beginn überhaupt und die Philosophie.
1. R. M. Wenley, The preparation for christianity in the ancient
World. 176 S. London 1898, Black, 1 sh. 6 d.
2. E. Zeller, Zur Vorgeschichte des Christenthums: Essener und
Orphiker. (Zeitschr. f. wissensch. Theologie, 42. 1899,
S. 197—269).
A. HiLGENFELD, Noch einmal die Essäer. (Ebendas. 43.
1900. S. 180—211.)
3. B. A. Betzinger, Seneca- Album. Weltfrohes und Weltfreies
aus S.s phil. Schriften. Nebst einem Anhang: S. und das
Christenthum. X, 224 S. 6°. Freiburg 1899, Herder, iM. 3.
4. J. Dartigue-Beyrou , Marc-Aurele dans ses rapports avec le
Christiauisme. These, 237 S. (Protest, theol. Facultät.)
Paris 1897. Fischbacher.
5. J. MuTH, Der Kampf des heidnischen Philosophen Celsus gegen
das Christenthum. Eine apologetisch-patristische Abhandlung.
XX, 229 S. Mainz 1899. Kirchheim, M. 3,50.
404 ^^- Lüdemann,
6. J. Orr, Neglected factors in the study of the early progress of
Christianity. 236 S. London 1899. Hodder. 3 sh. 6 d.
7. A. Chaignet, La philosophie des Oracles de Porphyre (Revue
de rhistoire des religions. 41, 1900. S. 337 — 353).
8. A. Harnack, Sokrates und die alte Kirche. Rectoratsrede.
24 S. 4". Berlin 1900. Schade. —
1. Wenleys Schrift, amerikanischen Ursprungs (der Verf. ist
Professor der Philosophie an der Universität Ann Arbor, Michigan)
ist unter den neueren Behandlungen des durch das Auftreten des
Christenthums gestellten geschichtsphilosophischen Problems zweifel-
los eine der geistvollsten und tiefdringendsten. Der Grundgedanke
derselben (s. das Schlusskapitel) ist, dass die gesammte vorchristliche
Entwicklung unter den einheitlichen Gesichtspunkt gestellt werden
kann, das allmähliche Heranreifen des Menschen zur Erfassung
seines Wesens als freier sittlicher Persönlichkeit bewirkt zu haben;
diese, vorübergehend gleichsam entdeckt (auf ethischer Seite durch
Sokrates, auf religiöser durch den israelitischen Prophetismus), ent-
schwand gleichwohl dem Alterthum immer wieder, sofern sie auf
ethischer Seite weder theoretisch (durch Plato und Aristoteles)
noch praktisch (durch die nacharistotelische Philosophie, vor Allem
das abstracto Weisen-Ideal der Stoa) sichergestellt wurde; auf
religiöser Seite aber in der Entartung des israelitischen Nomismus
vollends verloren ging. Damit erwies sich, dass für diese Idee das
antike Bewusstsein der nöthigen Kategorien, die antike Gesellschaft
der Mittel zu ihrer Actualisirung entbehrte, so dass erst ihre offeu-
baruugsartige Veranschaulichung in der Person Christi, wie ihre
energische Ilerausgestaltung in seiner befreienden Verkündigung
das resultatlose Suchen zum Abschluss brachte und damit eine
geistesgeschichtliche Krisis eröffnete, die nothwendig die grösste
und tiefgreifendste aller bisher dagewesenen werden musste, und
deren schlechthin typische Bedeutung sich darin zeigt, dass sie sich
in secundärer Art periodisch wiederholt, nachdem die Symphonie
der Geschichte in ihr gleichsam ihr Thema gefunden hat. Der
Verf. hat seinen Gedanken mit so freier Beherrschung und so
gründlich-concreter Kenntniss des geschichtlichen Stoffs durchgeführt,
Jahresbericht über die Kirchenvater it. ihr Verhältniss zur Philosophie. 405
dass die Befürchtung, einem unfruchtbaren geschichtsphilosophischen
Constructionsversuche zuschauen zu müssen, den Leser alsbald ver-
lässt; immerhin, da nicht eigentlich gelehrte Zwecke verfolgt
werden, begnüge ich mich an diesem Orte mit diesem Hinweise
(vergl. meine Besprechung: Theol. Jahresbericht 18, 191).
2. Eine Specialfrage betr. die Vorbereitung des Christenthums,
welche nicht bloss die Bedingungen für seine Verbreitung im
römischen Reich, sondern geradezu seine Entstehung in Palästina
ins Auge fasst, hat Zell er aufs Neue zur Discussion gestellt: die
Frage, ob für die Bereitung des religiösen Bodens, auf welchem
sich das neue religiöse Selbstbewusstsein Jesu bilden sollte, die
immanente Entwicklung des Judenthums allein ausreichte, oder
der Hinzutritt eines Fermentes hellenischer Art und Herkunft
nothwendig gewesen sei. Es ist die Frage über Wesen und Eut-
stehungsbedingungen des Ordens der Essener. Der Verf. vertheidigt
einerseits überhaupt aufs Neue seine bekannte Ansicht, dass die
Essener neupythagoräisch-orphischen Ursprungs waren; andererseits
geht er besonders näher ein auf das Zeugniss, welches die jüngere
orphische Theogonie ablegt für den Aufschwung, welchen der
Orphismus gerade um die fragliche Zeit, d. h. um die Wende des
dritten und zweiten vorchristlichen Jahrhunderts innerhalb des
gesammten antiken Culturkreises genommen hat. Was das erste
betritt't, so ist der Verf. nach wie vor der Ansicht, dass die Essener
zu ihren in Palästina so fremdartigen Eigenthümlichkeiten, wie der
Verwerfung des Eides, der Ehe, der Thieropfer, des Fleisch- und
Weingenusses; der Anrufung des Himmels, der Erde, des Wassers,
der Luft; der Anbetung der aufgehenden Sonne; endlich auch zu
ihrem anthropologischen und metaphysischen Dualismus nur durch
Einwirkungen hellenischer Art, nicht aber durch die in den
Makkabäerkriegeu gezeitigten innerpalästinischen Verhältnisse ge-
bracht sein können. Letztere Verhältnisse reichen aus zur Er-
klärung der Entstehung von Pharisäismus und Sadducäismus; der
Essäismus dagegen weist sowohl über den Umkreis dieser Evolution
hinaus, als auch chronologisch hinter sie zurück, bis um 200 v. Chr.,
wo die griechische Beeinflussung überhaupt einsetzt. Schon im
Kohelet begegnen um diese Zeit Andeutungen der essenischen
Archiv f. Gescliiclite d. Philosophie. XV. 3. 28
406 H. Lüdemann,
Anthropologie (3, 21), wie der Verwerfung des Opfers und des
Eides (9, 2), Wie schon in seiner „Philosophie der Griechen"
Iir, 2, S. 325—333, so weist der Verf. auch hier nach, wie der
weiterbestehende Pythagoräische Bund, dem Orphismus verwandt,
aber mit stärkerem ethischen Einschlag, den Neupythagoräismus
aus sich hervortrieb und schon anderthalb Jahrhunderte vor den
Makkabaern auch in Palästina seinen Einfluss durch Verbreitung
hellenistischer Ideen geltend machte, die durchweg das Gegenbild
obengenannter essenischer Eigenthümlichkeiten aufweisen, und diesen
ihren Ursprung sogar noch in christlichen Nachtrieben essenisch-
gnostisirenden Charakters verrathen, wie die Pseudo-Clementinen
es sind. Was das Zweite betrifft, so tritt der Verf. hier einen er-
neuten Beweis dafür an, dass die jüngere orphische Theogonie erst
in den Uebergang vom dritten ins zweite vorchristliche Jahrhundert
gehöre, und mittels einer pantheistischen Umarbeitung der alt-
orphischen Theologie ein Hauptzeuge wurde für die bedeutungsvollen
Ideen eines innigeren Verhältnisses des Menschen zur Gottheit,
wie eines sittlich bedingten jenseitigen Heiles; Ideen, welche der
vielgestaltigen religiösen Propaganda der späteren Zeit des ersten
und zweiten christlichen Jahrhunderts die Wege bereiteten, sofern
sie namentlich schon von langer Hand her eine Loslösung vom
vulgären Polytheismus einleiteten, und damit auch eine wichtige
Vorarbeit für den Erfolg der specifisch christlichen Ideen leisteten.
Wenn aber die Entstehung dieser letzteren unmöglich war auf
einem Boden, wie ihn in Palästina der Nomismus der letzten
jüdischen -Entwicklungsepoche darstellte, so muss schon hier ein
ähnliches Ferment irgendwie mit in Rechnung gezogen werden.
Und dann scheint es unmöglich, an dem in verwandten Ideen
lebenden palästinensischen Essäismus vorüberzugehen. Diesen Dar-
legungen gegenüber beharrte freilich Hilgenfeld (Zeitschrift für
wi.ssenschaftl. Theologie 43, 1909, S. 180 — 211) bei seiner Ansicht
vom Stammescharakter der Essener und der altisraelitischen Her-
kunft ihrer Besonderheiten, insbesondere auch an der für ihn evi-
denten Unechtheit des von Eusebius praepar. evang. VIII, 11 citirten
Fragmentes aus der angeblich Philonischen Schrift „uitsp looSat'wv
otTToXoYta" festhaltend.
Jahresbericht über die Kirchenväter u. ihr Verhältniss zur Philosophie. 407
3. Betzinger's Seneca-Album ist ein hübsch ausgestatteter
Sedezband mit einer „Blütenlese" aus Senecas Schriften, in 6 Ab-
schnitten geordnet: „Lebenskunst" „Weltwege und Weisheits-
wege" etc.; zuletzt „Ahnende Ausblicke", und zwar: Gott und
Vorsehung; Religion und Erlösung; Allgemeine Heilsbedürftigkeit;
Pessimismus; Unsterblichkeit und Weltende. Dazu ein Anhang:
S. Leben und Schriften, und: Seneca und das Christenthum. Hier
werden drei Hauptrichtungen in der Seneca-Literatur unterschieden,
sofern sie plädiren: 1. gegen jede Wechselwirkung zwischen dem
Christenthum nnd Seneca; 2. für einen Einfluss des Christenthums
auf Seneca, 3. für einen Einfluss Senecas auf das Christenthum.
Kurz wird dann der angebliche Briefwechsel zwischen S. und dem
Apostel Paulus besprochen, und zwar als rein apokryph und werth-
los; dann zieht der Verf. sein Ergebniss. Dass man es mit
einem katholischen Theologen zu thun hat, merkt man zwar durch-
weg, sowohl bezüglich historisch-urchristlicher Fragen (S. 194f.)
als auch an dem Urtheil, dass die Streitfrage über Seneca und
das Christenthum verhandelt werde zwischen den Vorkämpfern „der
evolutionistisch-rationalistischen resp. der monistischen Auffassung"
und den „Vertheidigern des christlichen Glaubens". Indessen
meint doch auch er, es sei in dieser Frage bereits zu einem
Waffenstillstand gekommen. Auch von „gläubiger" Seite werde
anerkannt, dass Berührungspunkte mit dem Christenthum bei
manchen heidnischen Philosophen spontan vorhanden seien, die
der neuen Religion ihre Wege bereiteten. Aber obwohl er solche
Concessionen macht, lehnt er es doch ab, Seneca und das Christen-
thum als von einander unabhängig zu betrachten. Vielmehr sei
die Abhängigkeit des ersteren evident. Es sei völlig undenkbar,
dass dem römischen Philosophen das Christenthum unbekannt ge-
blieben sei. Sein Schweigen sei vielmehr absichtliche Zurück-
haltung. Nur sei die directe Benutzung christlicher Schriften bei
Seneca sehr eingeschränkt; zumeist sei dieselbe durch ausserchrist-
liche Quellen vermittelt, aber unter diesen seien nach Otts Nach-
weis (Tübinger (kath.) theologische Quartalschrift, 1870, 401) so-
wohl das A. T. als auch Philo zu rechnen. Und endlich bleibe
doch für einen Theil einschlagender Stelleu keine andere Quelle
28*
408 H. Lüdemaan,
als das N. T., besonders die Evangelien, die natürlich der Verf.
alle sehr früh ansetzt. Die Ansicht Bruno Bauers, dass das ur-
christliche Schriftthum seinerseits von zeitgeschichtlicher Philosophie
abhängig sei, lehnt natürlich der Verf. gänzlich ab, und würde
das auch gegenüber der richtigen Ermässigung jener These thun.
Aber zur Bereinigung der Frage kann wohl überhaupt die Methode
des Verf. nicht führen. Dieses Sammeln von isolirten Sentenzen
kann sehr in die Irre führen, da dabei gar keine Garantie besteht
für das Zusammentreften der beiderseitigen Gedankenkreise in ihrer
Gesammtheit und den sie beherrschenden Principien. Nur von
diesen aus lässt sich ein Urtheil über das Verhältniss der damals
mit und neben einander auftretenden Geistesströmungen zu ein-
ander gewinnen, während einzelne Berührungen, und w'ären sie
auch Entlehnungen, ebenso möglich wie bedeutungslos bleiben.
4. Dartigue-Peyrou nimmt das oft erörterte Problem wieder
auf, wie sich die feindliche Stellung des philosophischen Kaisers
Mark Aurel zum Christenthum erkläre; eine für die damalige
Lage geradezu typische Erscheinung, die sich nicht bloss mit der
Berufung auf die so oft beobachtete Concurrenz-Feindlichkeit nächst-
verwandter Geistesströmungen abthun lässt, sondern zu ihrer
Erklärung einerseits die Zurückversetzung in alle Bedingungen der
concreten Lage, andererseits ein Hinabdriugen auf den Principien-
LTnterschied der collidirenden Geistesmächte verlangt. Dem ersteren
Bestreben ist die Hauptausführung des Verf. gewidmet, dem
zweiten sein Schlussabschnitt. Unter den Abschnitten, in denen er
durch Zurückversetzung in die Zeit und die Umstände, unter deren
Einflüssen der Kaiser sich entwickelte, herrschte und seine philo-
sophische wie religiöse Stellung nahm (L Die Kindheit des
Thronfolgers. 2. Der Kaiser. 3. Die Christen und das Volk.
4. Die Christen und die öffentliche Meinun»i. 5. Die Christen und
die Philosophie. 6. Die Christen und die religiöse Politik des
Reichs. 7. Der Kaiser und die Philosophie), haben uns hier vor
Allem der 5. und 7. zu beschäftigen. In dem ersteren schildert
der Verf. zutreffend das Verhältniss zwischen den Philosophen und
denjenigen Christen, durch die sie, wie man denken sollte, am
ersten einen Einblick in das Wesen des Christenthums hätten ge-
Jahresbericht über die Kirchenväter u. ihr Verhältniss zur Philosophie. 409
wiiineu können, der sie ihren Hass als gegenstandslos hätte er-
kennen lassen — den sog. ApologeteD, d. h. Denjenigen, die, selbst
Philosophen, das Christenthum als die vollendete Philosophie dar-
zustellen sich bemühten. Der Verf. weist darauf hin, dass hier,
abgesehen von bestimmten religiösen Anschauungen der Christen,
einerseits eine verschiedene Würdigung der bisherigen Philosophie,
welche die Christen zwar theilweise anerkannten, theilweise aber
des Irrthums und Plagiats beschuldigten. — andererseits namentlich
auch die verschiedene Stellung zur Volksreligion jede Verständigung
hinderte. Denn die Philosophen vertheidigten, theils gläubig, theils
ungläubig, die Volksreligion, prätendirten gegenüber dem ihnen
roh erscheinenden Missverstehen -der Christen ein tieferes Ver-
ständniss derselben, und sahen im Verlassen derselben ein uupa-
triotisches Verhalten. Diese ihre Stellungnahme erkläre auch die
ostentative Religiosität Mark AurePs, sowie die gegenseitige Aus-
schliessung aller Gesichtspunkte der Toleranz und Gewissensfreiheit
unter den streitenden Parteien. Auch soweit die Stoiker sich
jeweilen in der Lage der Verfolgten befanden, sei diese Lage für
sie eine andere als die der Christen gewesen, da sie, ohne Mis-
sionsdrang und ohne Oppositionsgeist, sich auf passiven Wider-
stand beschränkten, und daher das Verhalten der Christen nicht
verstanden. Für Epiktet, Aristides und auch Mark Aurel handelte
es sich bei diesen lediglich um eigensinnigen Fanatismus, um ein
Geltendmacheu individueller Eigenart, wie es sich weder mit der
stoischen noch mit der römischen Staatsidee, die in Mark Aurel
sich vereinigten, vertrug. Vollends die Feindseligkeit eines Tatian,
eines Hermias Hessen es gerechtfertigt erscheinen, wenn der Kaiser
sich cutschloss, die Staatsgesetze, die der Absolutismus bald ruhen
Hess, bald wieder aufnahm, gegen sie zu entfesseln. Wohl absichtlich
hat der Verf. in diesem Capitel nur mehr die exoterischen Motive
sehen lassen, welche es bewirkten, das gerade bei den philosophisch
Gebildeten das Christenthum so schwer Anerkennung fand.
Sonst hätte schon die Erwähnung des Celsus Gelegenheit geboten,
bereits hier auf den tieferen Untergrund der Didereuz hinzuweisen,
der darin bestand, dass den Philosophen vor Allem die christliche
Erlösungsidee, selbst in der abgeschwächten Gestalt, wie die Apo-
410 H. Ludemann,
logeten sie vortrugen, nicht verständlich war. Der Verf. geht
darauf im Schluss-Abschnitt ein. Die im 6. Capitel gegebene
Schilderung der Lage der Christen gegenüber der religiösen Gesetz-
gebung stützt sich zu einseitig auf französische Darstellungen —
Boissier, Renan, Aube — , ohne den neueren deutschen Unter-
suchungen, besonders der von Mommsen („Religionsfrevel nach
Rom. Recht". Hist. Zeitschrift 1890) Rechnung zu tragen. Ebenso
verhält es sich mit den Bemerkungen über die legio fulminatrix
S. 171. Im 7. Cap. stellt der Verf., nachdem er constatirt hat,
dass Mark Aurers Philosophie trotz geringer wissenschaftlicher
Tiefe doch eine bedeutende praktische Originalität in Anspruch
nehmen dürfe, vor Allem die Frage: ob sie eben praktisch im
Stande gewesen sei, mit dem christlichen Evangelium zu concurriren.
Sein Referat ist so zutreffend, dass es, auch ohne besonderen
kritischen Hinweis, doch die mancherlei Widersprüche erkennen
lässt, zu denen der Kaiser durch die wechselnden Stimmungen
geführt wurde, die sich in seinen Aufzeichnungen reflectiren;
Widersprüche, welche sich nicht bloss auf den in den ersten
Büchern optimistischen, in den letzten pessimistischen Tonfall re-
duciren, sondern auch darin zu Tage treten, dass er einerseits in
seiner zweifellos religiös fundirten Ethik das Moment der Freiheit
als wesentlich behandelt (III, 16. VI, 10.), andererseits in seiner
Pflichteulehre die Forderung der Nachsicht mit der Unfreiheit des
Sünders begründet (VI, 47. II, 13. VII, 63. XI, 8.); einerseits ganz
dem Gedanken der Solidarität sich hingiebt, andererseits misau-
thropischem Individualismus verfällt, bis zur Empfehlung des Selbst-
mordes, die er freilich nicht befolgte. Durch all dies sind des
Verf. 's Schlussbetrachtungen vorbereitet. Es handelt sich um
zwei Gedankenkreise, vor Allem zwei ethische Ideale, deren unleug-
bare Verwandtschaft oft zu ihrer völligen Identificirung und Ver-
wechselung geführt hat; und doch sehen wir hier den Vertreter
des einen zum blutigen Verfolger des anderen werden; ein Problem,
das nicht lösbar erscheint durch Annahme gegenseitiger Unkenntniss;
diese selbst wäre ein neues Problem. Vielmehr ist es lösbar nur
durch Hindurchdringen bis in den Untergrund, aus dem die tiefe
Antipathie hervorwuchs, und das ist letztlich der Unterschied in
Jahresbericht über die Kirchenväter u. ihr Verhältniss zur Philosophie. 411
der religiösen Stimmung und Weltanschauung, der zwischen
beiden Gedankenkreisen besteht: auf der einen Seite das panthe-
istische Aufgehenlassen des lebendigen endlichen Ich im fühllosen
Ganzen, — auf der andern die Rettung dieses Ich, als geistiger
Persönlichkeit, als eigenthümlicher Ausprägung geistiger Werthe
durch die im Grunde der Welt wirkende ewige Liebe und ihre
erlösende Initiative.
5. Muth behandelt den Xo-p? aXyj&v^? des Celsus, indem er
dessen Wiederherstellung aus dem Werke des Origenes gegen
Celsus, wie Keim sie versucht hat, zu Grunde legt, und der von
Koe tschau versuchten Eintheilung des Werkes folgt. Zunächst
wird der philosophische Standpunkt des Celsus dargelegt, und dann
seine Polemik, sofern sie erstlich die „Voraussetzungen des Christen-
thums" betrifft (dass sollen sein: Wunder, Weissagungen und
Gottes Kommen in die Welt), sowie zweitens gegen Judenthum
und Christenthum (Christi Person, Lehre und Jüngerschaft) sich
richtet. Zuletzt folgt die Kritik des Verf. Er sieht den heidni-
schen Polemiker durchweg im Unrecht, was nur dadurch zu er-
klären ist, dass ihm als Katholiken Vieles zur Substanz des
Christenthums gehört, was Celsus mit vollem Recht bestritten
hat und was man um so williger preisgiebt, je klarer man
einseht, wie wenig Celsus den sittlich-religiösen Kern des Christen-
thums überhaupt nur verstanden, geschweige denn getroffen hat.
Aber Kern und Schale am Christenthum zu trennen ist nun
freilich nicht Sache orthodoxer Kritiker, weder katholischer noch
protestantischer. Daher der Verf. sich auch seiner Uebereinstimmuug
mit dem Lutheraner Engelhardt (Dorpater Zeitschrift 1869) ge-
trösten kann. Werthvoller ist die Uebersicht, welche er giebt
über die Disponirungs versuche von Keim, Aube, Patrick, Koetschau.
6. Unter den „Vernachlässigungen", welche Orr der heutigen
Kirchengeschichtschreibung bezüglich der Anfänge des Christenthums
zum Vorwurfe macht (Unterschätzung der Zahl der Christen; des
Vordringens des Christenthums in die höheren Stände; seiner
Rückwirkung auf das Heidenthum) interessirt hier die dritte,
sofern der Verf. die Frage erhebt, ob, wenn heute soviel über die
Abhängigkeit des alten Christenthums von der Antike geredet
412 H. Lüdemaun,
werde, solche Verähulichuug nicht vielmehr darauf beruhe, dass
das Christeuthum selbst zum voraus schon eine modelnde Ein-
wirkung auf antike Gedankenkreise ausgeübt habe, welche das
Conflagriren beider Strömungen erleichterte und mit relativer Noth-
wendigkeit herbeiführte, ohne dass das Christenthum dabei von
seiner Originalität viel eingebüsst hätte. Dass die heidnischen
Schriftsteller von solcher Einwirkung nichts ausdrücklich sagen,
hält er für absichtliches Todtschweigeu eines gefürchteten Gegners,
aber schon die neutestamentliche Literatur zeige, dass die christ-
liche Gedankenbilduug mit der Empfänglichkeit eines Publikums
gerechnet habe, das fähig sei, dergleichen zu fasseu ; und nicht
ohne Erfolg, wie nicht bloss die Gewinnung grosser Gemeinden,
sondern selbst Draussenbleibende, wie Seneca und Epiktet, bewiesen.
Er hält auch das Auftreten der Apologeten sowohl für einen Erfolg
dieser Art der christlichen Propaganda als auch für eine weitere
erhebliche Stärkung der letzteren, wie denn namentlich das Auf-
treten heidnischer Polemiker wie Fronte und Celsus alsbald bewies,
dass es mit dem blossen Todtschweigeu ferner nicht gethan war.
Andererseits ist ihm das Entstehen des Gnosticismus ein Zeichen,
dass das Christenthum durch die Neuheit seiner Ideen die „Tntel-
lectuellen" der Zeit lebhaft zu beschäftigen anfing. Ueberhaupt sei
ja das 2. Jahrhundert eine Zeit weitverbreiteter religiöser „Er-
weck uug" gewesen, die mit dem Christenthum in Concurreuz trat,
und namentlich dem Erlösungsbedürfuis analoge Befriedigung zu
bieten trachtete, sobald man dieses letztere nur erst in seinem
Ernste erkannt hatte; so besonders der Neuplatonismus. Der Verf.
bewegt sich im Grossen und Ganzen hier auf einem gefährlichen
Terrain. Zumal wenn man, wie er, mit so precären Grössen
rechnet, wie es das „Todtschweigeu" des Christeuthums seitens der
gleichzeitigen Philosophie ist, so muss man, falls man behauptet,
dass gleichwohl christlicher Einfluss erkennbar sei, im Besitz eines
besonders klaren und untrüglichen IMassstabes sein, an dem man
dies beurtheilt. Gewiss ist es sehr anzuerkennen, dass der Verf.
der heute durch die Ritschl'sche Theologenschule in Mode gebrachten
einseitigen Ethnisirungs-Methode gegenüber allen möglichen Erschei-
nungen des ältesten Christenthums entgegentritt. Aber um die
Jahresbericht über die Kirchenväter ti. ihr V.erhältuiss zur Philosophie. 413
Originalität des Christenthums zu vertheicligen, dazli gehört vor
Allem, dass mau sie klar erkennt, und auf der richtigen Seite
sucht; das heisst aber: nicht auf Seiten der Ethik: hier hat das
Christenthum im Wesentlichen den Ideenbesitz der Zeit nur bejaht,
höchstens noch idealisirt — ; soudein auf Seiten der religiösen
Willeusdirigiruug, durch Auslösung emotionaler Beweggründe des
ethischen Handelns, über die die antike Ethik nun einmal nicht
verfügte, und in deren Ermangelung sie im Phrasenthum dahin-
siechte. Hier lag die Originalität des Christenthums ursprünglich,
und wenn sie sich im katholischen Christenthum zusehends ver-
flachte, so dürfte sich eben hierin doch ein Symptom zeigen, dass
die Kirche mit der socialen, allerdings auch einer religiösen Pagani-
sirung verfiel, die aber freilich nie soweit ging, dass das „Evan-
gclium" schlechterdings verloren gegangen wäre. Es erhielt sich,
aber mehr in der dogmatischen Theorie als in der sittlich-reli-
giösen Praxis.
7. Chaiguet legt seiner Erörterung über die Theologie des
Porphyrius Gustav WollTs Ausgabe der Fragmente 7:£pt rq; kz
Xo-i't'cov cptXoaocpta? (Berlin 1856) zu Grunde. Das Werk, ein interes-
santes Denkmal specifisch heidnischer Religiosität, gehört zu denen,
die vor Allem mit zu studireu sind, wenn es gilt, die Unterschiede
zwischen Heidenthum und Christenthum, wie andrerseits das Mass
der Einwirkung heidnischer Denkweise auf das vulgär-katholische
Bewusstsein zu erkennen. Bei Porphyrius' lobpreisendem ürtheil
über Christi Person und seiner Kritik der cultischen Verehruno'
Christi seitens der Kirche, womit der Verf. schliesst, tritt der
Mangel an Verständuiss für Christi religiöse Eigenart charakte-
ristisch hervor.
8. Harnack führt die bekannten Sokrates-Stellon der vor-
coDstantinischen Väter einem Laienpublikum vor, unter wirksamer
Contrastirung der sympathischen Aeusseriingen von griechischer
und der antipathischen von lateinischer Seite. Bezüglich des Ver-
hältnisses von Sokrates und „Evangelium" bleibt es bei dunklen
Andeutungen.
414 H- Lüdemanu,
2. Zur Patristik der ersten Jahrhunderte.
Apologeten.
1. P. Wehofer, Die Apologie Justins des Philosophen und Mär-
tyrers in literarhistorischer Beziehung zum ersten Mal unter-
sucht. Eine Vorstudie zur Kirchen- und Philosophiegeschichte
des 2. Jahrhunderts. XIX, 141 S. Freiburg 1897, Herder.
M. 4.
2. G. Rauschen, Die formale Seite der Apologien Justins. (Tü-
binger [kath.] theol. Quartalschrift. 80, 1899, S. 188-206.)
3. C. KuKULA, Tatian's sogenannte Apologie. Exegetisch-chrono-
logische Studie. III, 64 S. Leipzig 1900, Teubner. M. 2,40.
4. Derselbe, „Altersbeweis" und „Künstlerkatalog" in Tatian's
Rede an die Hellenen. 28 S. Gymnasial-Progr. Wien 1900.
5. H. Bönig, Minucius Felix. Gymnasial-Progr. 32 S. Königsberg
1897. Härtung.
6. E. Norden, De Minucii Felicis aetate et genere dicendi. 62 S.
(Index scholarum) Greifswald 1897.
7. E. Gaucher, L'apologetique. Les arguraents de Tertullien
contre le paganisme, avec texte latin retouche et quelques
notes. Deux appeudices: la religion de la Rome payenne;
le martyre Chretien. I, 127 S. HI, 16 S. Auteuil 1898.
Fontaine.
1. Bei der nahen Beziehung, in welcher die Philosophie der
griechisch-römischen Epigonen zu dem Schulbetriebe der Rhetorik
stand, wäre an und für sich das Unternehmen Wehofer's, Justins'
Apologie einmal eindringlich auf ihr Verhältuiss zu diesem letzteren
zu untersuchen, auch hier zu begrüssen. Der Verf. zeigt sich in
der Geschichte der Rhetorik dieser Zeit trefflich bewandert und
geht namentlich ausführlich auch auf Quintilians grundlegende
Wirksamkeit zurück. Bezüglich Justins geht er nun von der Vor-
aussetzung aus, dass er mit seiner Apologie „eine Rede" habe
liefern und daher in derselben auch die rhetorischen Regeln habe
befolgen wollen. Der Versuch aber, diesen Gesichtspunkt an der
Apologie durchzuführen, gelingt dem Verf. höchstens etwa bis zum
Jahresbericht über die Kirchenväter u. ihr Verhältniss zur Philosophie. 415
22. Capitel. Von da an jedoch genügt der Vater seinen rheto-
rischen Ansprüchen je länger desto weniger, und wenn es schliess-
lich in dem Schriftstück „von digressiones wimmeln" soll, so dürfte
dies das Eiugeständniss sein, dass der Gesichtspunkt der Verfassers
jedenfalls in der hier versuchten Weise nicht durchführbar war.
Auf die Verwicklung, in welche der Verf. geräth, indem er die
neuerdings von Mommsen proclamirte Echtheit des angeblichen
Christen-Rescripts von Hadrian acceptirt und doch anerkennen
muss, dass dasselbe zu Justins Apologie, der es augehängt ist,
absolut nicht passt — sei hier nur hingewieseu.
2. Zu einem ähnlichen Urtheil wie ich (schon im theol.
Jahresbericht XVII, (1897), 189), gelangte über Wehofer's Schrift
auch Rauschen, im Gegensatz zu andern anerkennenden Be-
sprechungen. Ihm ist der richtige Typus von Justins Schrift-
stellerei geradezu die sog. zweite Apologie mit ihrem Charakter
einer aphoristischen Materialsammlung. Auch in der ersten Apologie
sieht daher der Verf. keine Spur von einer planmässigen Anlage.
Das Nähere interessirt hier indess nicht.
3. Kukula hat sich in zwei von der Kritik sehr günstig
aufgenommenen Arbeiten einmal des so vielgeschmähten Apologeten
Tatian angenommen, besonders gegen die ungenügende Behandlung
seiner „Rede" sich wendend, die sie sowohl in Schwartz' Text-
ausgabe wie in Harnacks Uebersetzung (Giessen 1884) erfahren
habe. Es gelingt zunächst dem Verf. den Beweis zu erbringen,
dass die Apologie kein Buch, sondern eine für den mündlichen
Vortrag bestimmte Rede zur Eröffnung einer „philosophischen"
Schule des Tatian sein wolle, woher auch ihr so höchst gedrängter
Stil sich erkläre. Die aus diesem Umstände herrührende öftere
Dunkelheit des Gedankenfortschritts zu lichten ist dann der Zweck
einer Reihe von scharfsinnigen und lichtvoll motivirten Textes-
emendationen und exegetischen Erörterungen, und der Verf. ent-
lastet hierdurch den Autor von einer Reihe inveterirter Vorwürfe
betr. Verworrenheit und desultorischer Darstellung, so dass das
Schriftstück in der That jetzt in einem neuen Lichte erscheint.
Schliesslich widerlegt der Verf. Harnacks chronologische Placiruno-
der Schrift (in seiner Geschichte der altchristl. Lit. II, 284 ff.), und
416 II. Lü de in au 11,
zwar mit dem Resultat, dass die Rede nicht nach Rom, sondern
nach Kleinasien gehöre, schon Härese blicken lasse und im
12. Jahre Mark-Aurels 172 — 173 gehalten sei. Ihren Charakter
beleuchtet endlich der Verf. noch durch Heranziehung von
Mommsens Schilderung des damaligen Rhetorenwesens (Rom.
Gesch. V, 335 ff.). Unter den Besprechungen ist namentlich die
von Hilgenfeld (Zeitschr. f. wiss. Theol. 43, 487 — 492) zu er-
wähnen, der gleichfalls die Apologie als „Rede" anerkennt, und
zwar der Zeitbestimmung K.s zustimmt, aber an Rom als Ent-
stehungsort festhält.
4. Noch folgenreicher wird die „Rettung", welche K. an
Tatian vollbringt durch seine zweite Abhandlung. Hier behandelt
er den zweiten Theil der Rede Cap. 31 — 41, nach herkömmlicher
Bezeichnung enthaltend den „Altersbeweis" für das Christenthum
(Cap. 31 — 41) und mitten darin den „Küustlerkatalog" (Cap. 32
— 35) Tatians. Gegenüber den sehr ungünstigen Beurtheilungen
die diese Ausführungen des Apologeten besonders durch Kalkmaun
(Rh. Museum XLII, 1887, S. 508ff.), Harnack (Texte und Unter-
suchungen I, 223ff.) und Dembowski (1878) erfahren haben, tritt
der Verf., nachdem er zunächst wieder eine Textesrecension des
Abschnitts gegeben, entschieden ein für den völlig logischen Zweck
und Zusammenhang desselben und specicll für die Reinheit der
Absichten des Apologeten. Tatian habe im ersten Theil seiner
Rede von den Inneren Vorzügen des Christeuthums geredet, jetzt
wolle er gewisse äussere Vorzüge desselben hervorkehren, die auch
den ferner Stehenden einleuchten müssten: nämlich seinen alten,
und daher um so reineren Ursprung und seinen reineren und ehr-
würdigen Cultus. Ersteres Bestreben ist ihm mit vielen Apologeten
gemein. Letzteres vollbringt er auf eigenartige Weise, indem er
auf Grund von Autopsie (bei Gelegenheit weiter Reisen erworben),
aus dem Gedächtniss — nicht aus schriftlichen Quellen — eine
allerdings tendenziös zusammengestellte Aufzählung von Künstlern
mit ihren Werken vorführt, eine Digression zur Charakterisirung
der bedenklichen Art, wie das Heidenthum seine cultischen Be-
dürfnisse habe befriedigen lassen, wobei er auch hier die Gliederung
seines Stoffs zwar kunstgemäss verbirgt, keineswegs aber vermissen
I
Jahresbericht über die Kirchenväter u. ihr Verhältuiss zur Philosophie. 417
lässt. Für die Zuverlässigkeit seiner Angaben, auch der bisher
singulär gebliebenen, erweckte nach dena Verf. die schon erbrachte
Verificirung vieler derselben ein günstiges Vorurtheil. Vor Allem
erlaube der Passus keine Herabsetzung seines moralischen Charakters.
Zum Schluss parallelisirt der A^erf. Tatian mit den seiner Zeit
überhaupt angehörigen stoisch-kynischen Rigoristen (einem Sotion,
Deraonax u. A.), deren ernstes Dringen auf sittliche Verantwort-
lichkeit für dissolutes Herkommen er lediglich theile, freilich einer
noch unreifen Zeit gegenübertretend, und daher selbst von seiner
Kirche missverstanden. Mit dieser wohlfundirten Ehrenrettung
Tatians Avird von der künftigen Patristik und Philosophie-
geschichte zu rechnen sein. —
5. Bönigs Untersuchung über den Octavius des Minucius
Felix kommt bei trefflicher Beherrschung der neueren einschlägigen
Literatur zu folgenden Ergebnissen. Der Octavius ist noch zu
Lebzeiten Frontos, oder wenigstens bald nach seinem Tode verfasst,
d. h. ums Jahr 160 (S. 9 — 14). Die dogmatische Zurückhaltung des
Minucius beruht auf bestimmter Absicht, die nur dahinging, das
Zusammentreffen des C'hristenthums mit den philosophischen
Gegnern in einer Reihe grundlegender üeberzeugungen zu zeigen,
und zwar auf Grund von gewissen im geselligen Verkehr gemachten
persönlichen Erfahrungen; daher auch für die Rede des Heiden
Caecilius keine schriftlichen Vorlagen anzunehmen sind. Die so
höchst intricaten Abhängigkeitsfragen werden dahin erledigt, dass
ein klares Abhängigkeitsverhältniss des M. nur gegenüber heid-
nischen Philosophen — Seneca, Cicero — besteht, während auf
christlicher Seite Minucius wohl Justins Apologie, aber weder
Tatian, noch Athenagoras, noch Theophilus, noch Clemens Alexan-
drinus benutzt hat; andererseits wird vom Verf. das Verhältniss
zu Tertullian so bestimmt, dass er die Hypothese von Hartel und
Wilhelm, eine verlorene Apologie des zweiten Jahrhunderts sei
gemeinsame Quelle beider, ablehnt, und mit Schwenke das bei
Tertullian vorliegende Verhältniss zu Cicero durch Minucius ver-
mittelt sein lässt. Die Heranziehung der cirtensischen Inschriften
zur Identificirung des Caecilius erachtet der Verf. als fruchtlos,
zumal da der Octavius ein erdichtetes Gespräch sei, wobei sich
418 H. Ludemano,
allein die widersprechende Situation erkläre von freundschaftlichem
Verkehr und leidenschaftlichem Hass zugleich, wie sie das Gespräch
aufweist. Die Sprache bestrebe sich thunlichster Annäherung an
classische Reinheit, doch hält der Verf. für eine erspriessliche
philologische Behandlung derselben eine nochmalige Reinigung
des Textes für noth wendig.
6, Gleichwohl hat Norden eine solche Behandlung schon
jetzt wieder unternommen. Ebenfalls von Minucius' Priorität
vor Tertullian überzeugt, zieht er in reichem Umfange die gleich-
zeitige Sophisten- und Declamatoren-Stilistlk heran um zu er-
weisen, dass Minucius hier die Muster seines Stiles fand, die er
aber mit gesundem Geschmack verwerthete. —
7. Gauchers Schrift über Tertullians Apologeticum ist mir
leider nicht zugänglich geworden.
Tertullian.
1. E. Schulze, Elemente einer Theodicee bei Tertullian (Zeitschr.
f. wiss. Theol. 43 (1900) S. 62—104.)
2. J. Stier, Die Gottes- und Logos-Lehre Tertullians. 193 S.
Göttingen 1899. Vandenhoeck u. Ruprecht. M. 2,40.
3. H. Hoppe, De sermone Tertulliaueo quaestiones selectae. 84 S.
Inaug.-Diss. Marburg. 1597.
4. K. HoLL, Tertullian als Schriftsteller (Preuss. Jahrbb. 88 (1897)
S. 262-278.
5. E. Kroymann, Die Tertullian-Ueberlieferung in Italien (S. A.
aus den Abh. der Wiener Akademie). Wien, 1898. Gerold.
M. 0,80.
6. Derselbe, Kritische Vorarbeiten für den dritten und vierten
Band der neuen Tertullian-Ausgabe (S.-A. aus den Abh.
der Wiener Akademie). Wien 1900, Gerold. M. 0,89.
1. Schulze bringt bei Tertullian nach sorgfältiger Leetüre doch
nur die in der populär-religiösen Betrachtungsweise herkömmlichen
Ideen heraus, dass das Uebel als physisches Strafe mit sühnender
oder auch pädagogischer göttlicher Tendenz sei, als moralisches
aber in der creatürlichen Freiheit wurzele, dass dagegen jeder
Jahresbericht über die Kirchenväter u. ihr Verhältniss zur Philosophie. 419
speculative Hintergrund für die Deutung dieser Thatsachen fehle.
Ob diese Ablehnung jeder metaphysischen, teleologischen oder
ästhetischen Erklärung des Uebels dem alten Theologen zu be-
sonderer „Christlichkeit" anzurechnen sei. wäre wohl noch näher
zu erwägen.
2. Stiers Arbeit ist von der richtigen Erkenntniss geleitet, dass
Tertullian als einer der energischesten Herausgestalter einer spe-
cifisch christlichen Gesammtweltanschauung der Philosophie gegen-
über eine Selbständigkeit behauptet, die durch seine bekannte fron-
dirende Stellung gegen dieselbe allein allerdings noch nicht garantirt
wäre. Insbesondere betont er in Tertullians Gotteslehre den be-
wussten Gegensatz gegen den platonisch-aristotelischen dualistisch
bestimmten Gottesbegrift', sowie seine thatsächliche Differenz vom
stoischen Monismus, dem er zwar näher zu stehen glaubt, den er
aber doch im Sinn des populär-alttestamentlichen Monotheismus
umdeutet. Nur geht der Verf. zu weit, wenn er auch bezüglich
der „Körperlichkeit" Gottes Tertullians Abhängigkeit von der Stoa
leugnet. Für das anthropomorphistisch-vorstellungsmässige Gepräge
von Tertullians Gottesbegriff hat der Verf. wohl zu wenig kritischen
Blick, sowohl was das dem Marcion gegenüber statuirte Verhält-
niss zwischen göttlicher und menschlicher Freiheit, als was die
Zuertheilung von Affecten und Leidensfähigkeit an Gott betrift"t.
In der Logoslehre ordnet der Verf. Tertullian richtig den Apologeten
des zweiten Jahrhunderts zu. Wenn er aber ihm wie diesen im
Wesentlichen nur ein kosmologisches Interesse an der Logosidee
zuschreibt, so widerspricht das den Thatsachen, w^as dem Verf.
wohl klarer geworden wäre, wenn er die Vergleichung mit Philo's
Logoslehre nicht ganz verabsäumt hätte. Es kann doch darüber
kein Zweifel sein, dass seitens der christlichen Theologen die
Heranziehung der Logosidee vor Allem im soteriologischen Interesse
erfolgt, wofür die kosmologischen Erwägungen nur die, allerdings
in der christlichen Weltanschauung nicht hinreichend motivirte,
Voraussetzung bilden. In der Verkennung dieser Thatsache liegt
auch der Grund, weshalb der Verf. einen innigeren Zusammenhang
zwischen Tertullians Logoslehre und Erlösungslehre in Abrede stellt.
Wie ein solcher schon bei Justin und seinen Nachfolgern ^ehr
420 H. La de mann,
entschieden vorhanden ist — mag auch ihr Erlösungsgedanke nicht
mehr der original-christliche sein — , so wäre vollends bei Ter-
tullian ohne solchen Zusammenhang die zunehmende Aneignung
der Erlösungslehre des Irenäus gar nicht möglich gewesen, da diese
ganz in der Anschauung von Christi Person als des mensch-
gewordenen Logos wurzelt. Sehr mit Recht lehnt der Verf. übrigens
(S. 72 — 78) die von Harnack versuchte Heranziehung juristischer
Begriti'e (substantia) zur Erklärung von Tertullians Trinitätslehre
ab, während er selbst freilich diese letztere zu sehr nach dem
Massstab der späteren Trinitätsspeculation zu kritisiren geneigt ist.
3. Hoppe's Studie zur Sprache Tertullians ist eine sehr
willkommene und gediegene Arbeit. Der Verf. unterscheidet sehr
richtig drei Ingredienzien, Avelche dieser Sprache ihre so cha-
rakteristische Eigenthiimlichkeit geben: die Gräcisraen, die Afrika-
nismen, und die juridischen Ausdrücke. Zugleich weist er darauf
hin, dass wir in Tertullian sowohl den Philosophen als den Theolo-
gen wie den Juristen anzuerkennen haben, sowie dass seine so
verschiedenartige gegen Heiden, Häretiker und Katholiker gerichtete
Polemik seinem Stil eine IMannigfaltigkeit zuführte, welche die
verschiedenen über denselben gefällten Urtheile leicht eiklärlich
macht. Das Afrikanistische Element ist der Verf. geneigt wesentlich
zu beschränken. Einerseits sei es von den Archaismen schwer zu
scheiden — der Verf. giebt eine Liste der Tertullian bekannten
lateinischen Schriftsteller, unter denen Apulejus auffallend zurück-,
Plautus dagegen hervortritt — ; andererseits will der Verf. Afrika-
nismen höchstens in der Syntax wie in der Wortbildung und dem
Gebrauch gewisser Ausdrücke anerkennen. Tertullians öfter kriti-
sirten Usus temporum getraut sich der Verf. in den meisten Fällen
als wohlbegründet zu vertheidigen. Dass unter die „juristischen"
Ausdrücke auch das Wort substantia in Tertullians trinitarischen
Erörterungen aufzunehmen sei, scheint dem Verf. überhaupt nicht
in den Sinn gekommen zu sein. Der Verf. behandelt im Cap. 1
die Gräcismen, Cap. 2 die Archaismen, Cap. 3 die Afrikanismen,
Cap. 4 die juristischen Ausdrücke. Leider fehlt ein Index.
Jahresbericht über die Kirchenväter u. ihr Verhältniss zur Philosophie. 421
Die Sextus-Sentenzen.
1. V, Ryssel, Die syrische Uebersetzuag der Sextus-Sentenzeu.
(Zeitschrift für wiss. Theologie 40 (1897) S. 131—148.
2. H. Meyboom, De spreuken van Sextus (Theol. Tijdschrift 32
(1898) S. 455—488).
1. Ryssel bringt seine deutsche Wiedergabe der syrischen
Versionen der Sextus-Sentenzen zum Abschluss (vergl. den vorigen
Bericht, Jahrg. 1898. S. 535.).
2. Meyboom giebt zunächst eine willkommene Uebersicht
über die Beschäftigung mit den Sextus-Sentenzen sowohl in der
alten Kirche wie in der neuesten Zeit, und übersetzt dann den
Elter'schen griechischen Text ins Holländische und zwar in einer
sachlichen Anordnung. Durch letztere Bemühung wird der Einblick
in den Inhalt der Sprüche erleichtert, und damit auch die Be-
urtheiluDg ihrer merkwürdigen synkretistischen Eigenart. Dieselbe
erscheint höchst anziehend, sofern sich ein hochgeläuterter Stand-
punkt reinster sittlicher Religiosität ergiebt, der einerseits ent-
schieden als christlich zu beti achten ist, wie denn auch directe
Benutzung der neutestamentlichen Literatur hervortritt, andererseits
so zweifellose Abhängigkeit von Piatonismus und Stoicismus zeigt,
dass ein unausgeglichenes Zusammentreffen zweier verschiedener
Gedankenwelten vorliegt, dessen Studium einen merkwürdigen
Einblick in den Gärungsprocess am Ende des 2. Jahrhunderts
gewährt.
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Neueste Ersclieiimiigeii auf dem Gebiete der
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Lpz., 0. R. Reisland.
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Archiv für Philosophie.
I. Abtheiluii^*:
Archiv für Geschichte der Philosophie.
Neue Folge. XV. Band 4. Heft.
XV.
Julians Brief au Diouysios.
Von
Rudolf AsnillS in Freiburg (Breisgan).
Das in der Julianischen Briefsammlung unter No. 59 (ed.
Hertlein) erhaltene umfangreiche Schreiben „au Dionysios" bietet
der Erklärung die mannigfachsten Schwierigkeiten, welche zum
grössten Theil mit der genaueren Feststellung der Persönlichkeit
des Adressaten zusammenhängen.
Der natürlichste und einfachste Weg zu diesem Ziele dürfte
wohl der sein, zunächst einmal aus dem blossen Inhalt des Schrift-
stücks zu ermitteln, was für einer Menschenklasse der Adressat
im Allgemeinen angehörte, und was für eine Stellung er in der-
selben im Besonderen einnahm. Da unser Brief sich aus zwei
verschiedenen Bestandtheilen zusammensetzt, nämlich aus einer
Reihe von mehr oder minder deutlichen Entlehnungen aus einem
von Dionysios an Julian geschriebenen Brief, der diesen zu seinem
Antwortschreiben veranlasste, und den eigenen Worten des Kaisers
selbst, so excerpiren wir zuerst aus jenen und dann aus diesen
das, was uns für unsern allgemeinen Zweck brauchbar erscheint.
Hierfür erschliesst sich uns aber noch ausserdem in erwünschter
Weise eine nicht uu verächtliche, zuverlässige und ergiebige Hilfs-
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV. 4, 30
426
Rudolf A s m u s ,
quelle, wenn wir unserem unmittelbar vorliegenden Stellenmaterial
jeweils gleich Alles beifügen, was sich an innerlich oder äusserlich
entsprechenden Parallelstellcn aus anderen Werken Julians bei-
bringen lässt.
Darnach gestaltet sich diese Zusammenstellung folgender-
massen:
Brief59:
Dionysios charakterisirt
sich selbst durch die Aus-
drücke:
Uapaogp. 569, 11; 570, 18. Oap-
paXsaixaxo? p. 576, 9 (vgl. Dpa-
aui-/j; p. 576, 22).
"j'svvatoi; p. 569, 15.
TTpoaxpo'jEiv p. 569, 16; 570, 2;
573, 17.
uTiepopav (Widerwärtigkeiten und
Gefahren) p. 569, 22.
£üqv(ovoti . .
p. 569, 3.
xhv . . . avUpojTTOV
otvopst'a p. 570, 12; 575, 22 (vgl.
citvopiCsaOai p. 571, 14). rhr^p
p. 577, 7 ff. [569,22].
cp'.Xoao'fiot p. 570, 18 (vgl. p. 570,
21 ao'fanaxo? p. 573, 20 auvs-
■Ctt>T0(TOs).
Werke:
Julian gebraucht die Ausdrücke:
Opaao; Gr. VII p. 291, 26: v. s.
Gegnern. (Vgl. öotpaeTv Gr. VI
p. 256, 2: Diogenes v. e. Pseu-
dokyniker).
YoVvaTo? Gr. VII p. 264, 8: nega-
tiv V. s. Gegner.
Trposxpousiv Gr. VII p. 306, 10.
Misopog. p. 458, 1; 473, 16:
v. sich selbst gegenüber s.
Gegnern. Caesares p. 418. 3. 8:
V. d. Gegnern Alexanders d. Gr.
diesem gegenüber.
Vgl. Gr. VII p. 278,11fr. Gr. VI
p. 260, llff. : eine Tugend der
alten Kyniker.
To Tvfoöi aotuTov Gr. VI p. 237,4 ff. ;
239, 20ff., 240, 3 ff. Gr. VII
p. 273,21 ff.: Ziel derkynischen
Philosophie.
dvrip Gr. VI p, 234, 3: ironisch
V. s. Gegner; p. 252, 22: v.
Diogenes.
cpiXoaocpw-caxo? Gr. VI p. 262, 26:
V. s. Gegner.
Julians Brief an Dionysios.
427
TrappTjSta p. 573, 4; 577, 8 (vgl.
573, 5 xoii ©eptjt'xrj? . . . STrapp-/)-
cia'Ceto).
dlTi^ieioi p. 573, 16.
auvTojiOs p. 574, 7.
Dionysios wird von Julian
charakterisirt durch die
Ausdrücke:
Xoioopta p. 568, 22; 269, 1. Xot-
oopEtadai p. 568, 20; 570, 8;
576, 5 (toi? . . . ßsXxtaxois);
p. 576, 15; 578, 16.
ßXctacpvjjAta p. 569, 1. ßXatJcp/j-
{jLEiv p. 570, 8.
axXvjTo? p. 569,3 (vgl. p. 577,
14ff.).
ETtaivsTv p. 569, 9.
aTTsxöavsaÖai p. 569, 16; 573, 21
(xoT? zpaxousiv).
Trappyjaiot Or. VII p. 291, 5. Miso-
pog. p. 470, 14: V. s. Gegnern.
Or. VII p. 289, 20: v. Dio-
genes. Or. VI p. 260, 9: v.
Kyniker. Or. VII p. 269, 5:
negativ v. Sklaven.
dhqbeirx Or. VI p. 249, 16: Kri-
terium des Kynikers.
auvxop.o? Or. VII p.292, 1 ; 293,10;
294, 17; 305, 16; Or. VI p. 239,
10: V. d. kynisclien Methode.
{X7Xocxi'7 p. 570, 12.
Xciioopt'ct Misopog. p. 434, 12: iro-
nisch V. sich selbst, xot? . . .
ßsXxiaxoi? Xotoopsiaöat Or. VII
p. 289, 22: v. s. Gegner.
ßXotS9-/j;ji£iv Or. VII p. 265, 3;
273, 16; 276, 26; 278, 10:
V. s. Gegnern.
axXr^xo? Or. VI p. 260, 18: v.
Krates (vgl. Or. VII p. 291, 6ff.:
über die Aufdringlichkeit d.
Gegner).
ETraiveiv Or. VII p. 305, 25 : v. s.
Gegnern.
dizeyßdvza^ai Misopog. p. 458, 1
(vgl. p. 473, 16): v. sich selbst
gegenüber s. Gegnern. Caes.
p. 418, 8: V. d. Gegnern
Alexanders d. Gr. diesem
gegenüber.
fiotXotxta Or. VI p. 235, 26: v. s.
Gegnern. Vgl. p. 235, 3; 259,
15; 269, 23.
30*
428
Rudolf Asmus,
afxcföta (p. 570, 24) zctl Oapso;
p. 570, 18.
ayvota p. 570, 20.^) «yvosiv p. 571,
IG. T.oLKutia p. 577, 9: negativ.
OU [xl-^Ct IppV laxlv STTlTllXav o).-
Xoig, sotutov 6s dv£7:i-t[x-/jTov
Tr^pois/sTv p, 573, y.
£t . . . COl TauiY]? fXET£(3Tt X^? [J.£-
pioo? p. 573, 11 ff. touxo (Besse-
rung d. Nebenmenschen. Vgl.
p. 573, 21 ff.) oh xaxÄ es . . .
ouos xaxa fxopiou; aXXou?, osoi
CrjXousi xov aov xpoTrov p. 574,
1 ff. Vgl. p. 578, 8.
5TpotxoTcs6(o TTotpctßaXsTv p. 573, 1.5.
airsXauvsa'Jai p. 573, 19.
7.a7{)i7. (Gr. VIT p. 291, 8; 292,
20) xotl Opaao; Gr. VII p. 291.
26^). Vgl. XT|V AioYsvou?
sitxaÖsiav Gr. VI p. 261, 14.
(XTiaiSeuxo? Gr. VI p. 234, 2 : v.
s. Gegnern. Vgl. p. 259, 5ft'.;
260, 6 ff.; 263, 2 ff. Gr. VII
p. 282, 24; 294, 13ff.; 304,
15 ff.
sp-,'ov r/t,£i [XE^a; Gr. VII p. 289,
20. auxto Tupoxspov £T:txt[x5v
Gr. VI p. 259, 12: Pflicht tl.
Kynikers. Vgl. irasiv l-ixtfia?
mxQ<; ouo£V a^tov ettgcivou 7:pax-
xwv Gr. VII p. 305, 24: v. s.
Gegner. £7:txi|xav Gr. VI p. 260,
20. VII p. 278, 8: v. d. alten
Kynikern.
coi . . . dp£x^; Tj xoT; rnzh^dl^
(vgl. ^bW 6[jl(uv 8W xoaoüxot
p. 291, 3) . . . xt's [xsxoüat'a;
Gr. VII p. 305, 21: z. s.
Gegnern. Vgl. Gr. VII p. 289,
14; 276, 3ff.O
axpaxoTTEoov oioy\=~\y Gr. VII p.290,
22. TTspivoaxEiv xa axpotxo-niESa
p. 289,22. Vgl. 290, 4 ff.: v.
s. Gegnern.
dTTEXauvsaöat Gr. VII p. 290, 24.
') ö. lleyler, Juliuni epistolae. Mogunt. 1828 p. 442.
-) Schwarz „Julianstudien" (riiilologus 51) S. G43, 10 schlägt hier nach
Ma.ssgabe von Plato Tim. p. SüB ä'voia vor; dann wäre vor allem Or. VII
p. 271, 3 dtTTOvoia (: v. d. Kynismus nach Oenomaos = p. 273, 13); p. 290,
Ifi civ(5rjTos (: v. d. Galiläern; vgl. \>v. 31 p. 522,4 ^i tcüv roXtXoi'iov dTro'voto):
l'.r. 42 p. 547, 5 zu vergleichen.
•') S. lleyler a. a. 0. p. 451.
Julians Brief au Dionysios.
429
axwTTTsiv p. 574, 17. STTtaxoniTöiv axwTrxstv Or. VI p. 260, 16: v.
p. 576, 10. Krates. Caes. p. 396, 17;
424, 12: V. Silen. Misopog.
p. 443, 12: V. s. Gegnern.
ipucp/iXo; p. 574, 22. xpucpav xpucpT] Or. VI p. 259, 19: d. Ky-
p. 578, 15. uikern verboten,
axoüs . . . [jLTj Xtctv rjp-^tXfü? p. 575, Vgl. -n-otp' vjjxöiv auxo dvaT/ou
23.
xo ÖS k^ri^ Ol) TTOtpaypacpoi aor
alayovoiiai '^^dij . . . dziSi [xivxoi
a£ TTpOtJUTTOtXOUSlV «uxo p. 575, 25.
[j-aivsaöai p. 576,23; [iavi'ot p. 577,
7; epißpovxyjtjwt p, 577, 8.
i^r^v
■KoMaai p. 576, 24.
au vuv p. 577, 11.
ÄSTTip
a£[j.vo; p. 578, 10.
irpaoj? Xsy6[j.£vov Or. VII p. 305,
25: z. s. Gegnern.
otcpsXwv 8s xö ouscpvjjiov xö XsiTiro-
ijLSvov auxos dTTOTrXr^pcuaov Or.VII
p. 305, 21: z. s. Gegner.
[aai'vsaOai Or. VII p. 304, 14. ex-
ttXyjxxoc }xavia p. 304, 15. [xa-
vicuorjs p. 291,8: V.S.Gegnern-
ouosv ujxoci; sya) . . . 8eiv6v ep"j'a-
ao[xo(i . . . xoXoc'Cojv Misopog.
p. 470, 141F.: z. s. Gegnern.
t:o5 xooxo . . . sTiotrjas . . . x&v
iraXotiöiv xts dvopwv, o" xaT?
Mouaatg sxsXouvxo yv/jöicü;, dXX'
ou5( Äairsp ot vuv Or. VII p. 306,
5: V. d. kynisirenden Rhetoren.
a£[xvoc Or. VI p. 262, 8: v. s.
Gegner.
Ein Blick auf die aus unserem Briefe ausgeschriebenen Stellen
zeigt, dass dieser sich mit einem Vertreter einer bestimmten
Philosophenklasse (p. 570, 18ff.; 574, 1 ff.; 578, 1 ff.) auseinander-
setzt, dem Julian vom philosophischen wie vom kaiserlichen Stand-
punkte theils ernst, theils ironisch gehaltene Vorwürfe macht.
Diese beziehen sich auf Eigenschaften und Handlungen, welche
Leute vom Schlage des Adressaten sich entweder selbst beizulegen
belieben oder auch von Anderen sich nachsagen lassen müssen. Es
ist ferner in diesen Attributen ein scharfer Contrast zwischen
einem angestrebten Ideal und der Unzulänglichkeit des Erreichten
wahrnehmbar.
430 Rudolf Asm US,
Ein Blick auf die bcigescliri ebenen Parallelstellen zeigt, dass
die überwiegende Mehrzahl derselben den beiden Reden Julians
gegen die Kyniker, Or. VII 7:pos 'HpaxXsiov Kuvtxov und Or. VI
ek Tou? aTCOcioeutou; xuva;, entnommen ist. Die übrigen stammen
aus dem Misopogon und den Caesares. Von diesen beiden Werken
ist das erstere eine ganz kynisch gefärbte Trutzschrift des als
Idealkyniker auftretenden Kaisers gegen die aller Wahrscheinlich-
keit nach von kynischen Gegnern ausgehenden Spottreden der
Antiochener; die Caesares sind eine Menippeische Satirc (eine in
den Himmel verlegte Nekyia)^), in welcher Silen die Rolle eines
kynischen 57:000075X010? *) spielt und Alexander seine auch in
unserem Brief p. 575, 3ff. erwähnten Tadler (vor Allem Hermolaos
und Kallisthenes. Vgl. Or. VIII p. 312, 22 tyjv 'AvnaÖsvou? f<a.|xr^v
xal . . . xTjV KaUia^svou? dvopsiav) wie Kyniker charakterisirt. Dem-
nach entpuppt sich unser Dionysios als ein Vertreter der
kynischen Opposition.^).
Als solcher würde er aber auch, ganz abgesehen von den
vielen zum Theil ganz schlagenden Parallelstellen aus den gegen
die zeitgenössischen Kyniker gerichteten Schriften des Kaisers,
durch den der kynischen Ethik so geläufigen Satz dosaTioTov f,
dps-r^, den ihm Julian p. 570, 6 (vgl. Or. 11 p. 102, 24 ff.; I p. 5, 19 If.)
ironisch zu Gemüthe führt, besonders aber durch den Vergleich
mit Momos (p. 574. 17ft".), dem aus Lukians Satiren bekannten
Götterkyniker, und mit Thersites (p. 573, 5ff.), dem von den
Schülern des Antisthenes selbst mit Vorliebe citirten homerischen
Prototyp des politischen Kynikers,^ gekennzeichnet werden. Als
Pseudokyniker wird er ausserdem noch durch den für die Kyniker
■») S. Weber, „De Dione Chrysostomo Cynicorum sectatore". Leipziger
Studien z. klass. Philo!. X p. 93; Ilirzel, „Der Dialog"' II Leipz. 1895 S. 343 ff.
5) S. Weber a. a. 0. p. 91.
6) lieber die Stellung der Kyniker zu den rüinischeu Kaisern s. neuer-
dings Caspari „De Cynicis, qui fuerunt aetate imperatorum Romanorum"
Progr. V. Chemnitz 1896.
') S. Lukians Demonax 61 e<:r[vet . . . xal töv ©epaiTrjv w; Kuvtxov ttva.
Vgl. Die Chrys. Or. ad Alexandrinos p. 703 R und des Verfassers Progr. „Julian
und Dion Chrys." Tauberbischofsheira 1895 S. 34 ff.
Juliaus Brief au Diouysios. 431
geradezu typischen Vergleich mit Sardanapallos'') gebrandmarkt.
Endlich sieht die gegen die sonstige Gewohnheit Julians mit
Sprichwörtern überladene Schreibweise unseres Briefes wie eine
Parodie auf denselben Stil des Gegners aus. Man könnte darin
einen Hieb auf die in der 7. Rede p. 291, 22 gegeisselte ayopaio,-
xal TTspiTfir/o'jsa svips/sta der uuphilosophischen, kynisirenden
Rhetoren erl^lickeu, welche, unserem neugebackenen Philosophen
(p. 571, 14: sqaicpv'^O vergleichbar, ouos . . . iv -ctpoijjiia rspicpspoixsvov
auxo '{vc^öia-Moai zo o-i ßoxpu? -pöc jSoTp-Jv -KS-aivstat.
Was erfahren wir aber nun über die persönlichen Ver-
hältnisse dieses Kynikers aus unserem Briefe im Einzelnen? Er
hatte in seiner Jugend ein unmoralisches, weibisches Leben geführt
(p. 573, 12), begab sich dann, zum Manne herangewachsen (p. 573,
15), ins Heerlager zu Konstans, dem er sich ungebeten aufdrängte
(p. 569, 6), und leistete, nachdem er bei diesem Anstoss^) erregt
hatte (p. 569, 15; 570, 2ff.; 573, 17), einer Einladung des Magnentius
bereitwillig folge (p. 569, 7), bis er sich schliesslich, vorgeblich
wegen seines Eintretens für die Wahrheit (p. 573, 16), auch mit
diesem überwarf (p. 569, 15; 570, 2ff.; 573,17) und von ihm
fortgeschickt wurde (p. 573, 17ff.). Dann treffen wir ihn wieder
als bejahrten und reichen (p. 574, 20 ff".) Bürger und Senator in
Rom (p. 576, 22; vgl. p. 570, 9, wo mit -o tr,? eipr>yj? tip-Evo;
wohl der Senat gemeint sein dürfte); hier widmete er sich der
Philosophie (p. 570, 18) und begann auf einmal eine männlichere
Lebensweise (p. 571, 14). Julian, wahrscheinlich durch Quintus
Aurelius Symmachus (p. 572, 9 ff.), dessen Sohn auch mit dem
in der 7. Rede genannten Kyniker Asklepiades (p.291, 1) in Beziehung
stand, '°) auf ihn aufmerksam gemacht, liess ihm trotz der schlechten
8) S. Weber a. a. 0. p. 94.
3) 7cpo3xpo'j(u ist hier geradeso wie das lateinische „offendo" rein poli-
tisch und nicht mit Ileyler a. a. 0. p. 440 so zu erklären, dass Dionysios
p. 569, 15 bei den Worten xptTOv . . . -pojxpo'jsiv an die Redensart 5U -po;
TÖv aütöv ai3-/pöv -poav.po'!)£tv Xt'ilov gedacht habe.
10) S. Seeck in Pauly-Wissowas Real-Eucyklopädie u. „Asklepiades". —
Mit den p. 572, 10 zur Charakteristik des Symmachus verweudeteu Wortcu
0J-0-' av £xwv glvai (le-jaaixo, xä TiavTa dXr)8t;£39Gti Tiecpuzw; hat die Bezeichnung
432 Rudolf Äsmus,
Meinung, die er anfänglich vun ihm gehabt hatte (p. 572, 511'.), in
der Hoffnung, er werde, durch die Philosophie gebessert (p. 571, 9 ff.),
einen guten Einlluss auf seine Anhänger ausüben (p. 573, 22 ff.;
570, 9 ff.; 578, 8 ff".), in Gestalt einer allgemein gehaltenen, offiziellen
Verfügung eine Aufforderung zur Antheilnahme an den Staats-
geschäften zugehen (p. 571, 3; 577, 1), welcher er jedoch, wahr-
scheinlich aus unbefriedigter Eitelkeit (p. 572, 12), nicht nachzu-
kommen für gut fand (p. 568, 19; 577, 1), bis ihn der Kaiser
durch ein kurzes, unmittelbares Handschreiben (p. 577, 4) an seine
Pflicht mahnte.
Diese Mahnung beantwortete er, nachdem er wahrscheinlich
mittlerweile von Rom an den Hof nach Antiochia'') gereist, hier
aber von dem unterdessen eines Bessern belehrten Kaiser (p. 572,
17 ff.; 570, lOff.) nicht vorgelassen worden war (p. 577, 22 ff'.), mit
einem'') Entschuldigungsschreiben (p. 568, 19; 570,11; 577,10),
worin er seinen Ungehorsam mit der Furcht, ein drittes Mal an-
zustossen (p. 569, 15; 570, 2 ff.; 573,17), zu rechtfertigen suchte,
von seiner ihm mit der Zeit gekommenen besseren Erkenntniss'^)
sprach (p. 569, 22 ff.; 570, 18), selbstgefällig und trotzig seine guten
Dienste anbot (p. 569, 7ff ; 576, 8ff.; 577, 14ff.) und sich heraus-
nahm, unter Berufung auf sein gereiftes Alter (p. 574, 19 ff.) und
zugleich mit beleidigenden Lobeserhebungen auf Alexander d. Gr.
(p. 575, 1 ff.) in die Kriegspläne und Regierungsgrundsätze Julians
hineinzureden (p. 575, 24 ff".). Unser Brief ist die für die Oeffent-
lichkeit bestimmte und gleichzeitig an die ganze Partei des Dio-
(les unbekannten Gewährsmannes Br. 22 p. 502, 16 dvSpöj oi)oa[ji(ii; oiou xs
<\)vjr>t:5%ai eine so grosse Aehnlichkeit, dass vielleicht auch hier an den Römer
zu denken ist. S. auch Seecks II. Index nomiuum z. Symmachus, p. 347 u.
„Leontius".
'') Da wir die Stelle Ammian XXII 13, 3—4 auf unsern Brief beziehen
(s. u. S. 437), so verlegen wir die Abfassung desselben mit Schwarz „De
vita et scriptis Juliani imperatoris", Diss. Bonn, 1888. p. 12 nach Antiochia
in den Winter 362/3.
'*) Die Wendung Iv xals ir.i<3zo\a.i<; aou p. 577, 10 zeigt, dass Julian mehrere
Briefe von Dionysios kannte.
'') In der Stelle xal töv ioicu? — -iTi^Yvcuxa; xat töv y.oiviü; xat ye^ixtü; avOpu)-
TTov, die ein Citat aus dem Brief des Dionysios darstellt, ist wohl oc'vopa zu er-
gänzen. Vgl. p. 577, 7; p. 569, 22; 570, 12.
Juliaus Brief an Dionysios. 433
nysios gerichtete,'*) ausführliche (p. 578, 6ft'.) Antwort des Kaisers
(p. 578, 12; 577, 15 ff.) auf dieses Entschuldigungsschreiben. Der
Adressat, der seinerseits um eine kurze Antwort (p. 574, 7) ge-
beten hatte, erfährt darin eine geradezu vernichtende Zurück-
weisung (p. 572, 14ff.; 574, lOff.; 576, 11 ff.; 577, 20ff.).
Auffallenderweise theilt uns Julian gar nichts über das Ver-
hältuiss des Dionysios zu Konstantins mit. Dies scheint daher eher
ein löbliches als ein tadelnswerthes gewesen zu sein. Da der
Kyniker dem römischen Senat angehörte, kann man vielleicht an-
nehmen, dass er einer der von Julian Or. II p. 124, 22 rühmend
erwähnten d'vopec xr,? Yspouaia; oxiTtsp o(5s).oc, otcuussi x7.1 ttXo'jtoi
xcd cuvc'asi otacpspovTcS -aiv a>A(uv (vgl. I p. 60, 6ff.) war, die kurz
vor der Schlacht bei Mursa von Magnentius zu Konstantins über-
gingen. Dass er ein ziemlich einflussreicher Mann war, geht aus
den besonderen Bemühungen hervor, denen sich der Kaiser unter-
zog, um ihn für sich zu gewinnen.
Hiermit ist aber die Frage nach dem Adressaten unseres
Briefes noch keineswegs erledigt. Nicht einmal sein Name ist
durch die Ueberschrift „an Dionysios" hinreichend sichergestellt;
denn diese wurde unserem Schreiben erst in der Pariser Julian-
ausgabe von 1630 gegeben, in welcher es überhaupt zum ersten
Male selbständig und mit relativer Vollständigkeit erscheint.'")
Rigaltius creirte hier den Titel A'.ovjst'm wohl mit Rücksicht auf
die Stelle Iwyjv.e (p. 571, 5 = 573, 20). I^r^-ax/jas xal Uhd-mva.
Tov tirj-av 6 3o; ojxwvuaoc und Aiovjcjtov p. 571, 15, ohne sich
durch die Doppelbezeichnung tov XsiXoiov r, Aiovusiov p. 571, 14ff.
beirren zu lassen. Dass der erste Theil dieser Benennung ebenfalls
ein Recht auf Berücksichtigung gehabt hätte, ist schon aus der
Ausgabe des Fabricius zu ersehen, welcher in dem von ihm zum
ersten Male herangezogenen Lauren tianus LXIII, 16 den Titel xaxä
Netlou und im Texte p. 571, 14 ff. einfach tov vsiXov fand. Diese
'*) Wahrscheinlich um ihn bei dieser zu diskreditiren, wie er dies auch
mit dem Bischof Titus bei den Bostreuern gemacht hatte. S. Br. 52 p. 561, 15fF.
1^) S. Heyler a. a. 0. p. 434ff. und namentlich Bidez et Cumont „Recherches
sur la tradition manuscrite des lettres de l'Empereur Julien". Bruxelles 1898.
p. 112 ff.
434 Rudolf Asmus,
Üiskrepauz hätte Ileicher und Ilertlein davon abhalten sollen, die
drei Worte xov NeiXwoy r^ kurzerhand als unecht einzuklammern:
Sie hätten besser gethan, nach Heylers (p. 444 a. a. 0.) Vorschlag
dem Laurentianus zu folgen und t^ Aiovuatov als Glossem zu
streichen. Denn offenbar war Aiovuaios der Bei- bezw. Vorname
des von Julian als weichlichen Schlemmers gekennzeichneten NsT/.os,
und der Kaiser wurde nur dadurch zur Heranziehung dieses zweiten
Namens veranlasst, weil ihm dadurch die Parallele Dionysios:
Plato-Neilos: Julian und die pointirte Contradictio in adiecto er-
möglicht wurde, welche in der Apostrophe ou touto sa-civ, m
(3uv£T(uTat£ Aiovuatö, cirouoaiou xal acucppovo? dvSpo? xxX p. 573,
19 ff. liegt.
Da der Kaiser das Benehmen seines Gegners p. 573, 8; 574, 9
als -apoivia brandmarkt und ihm p. 575, Iff. seine Bewunderung
für Alexander d. Gr. vorhält, dessen Tiapoivia er p. 575, 14^®)
gleichfalls ausdrücklich hervorhebt, so liegt die Annahme nahe,
dass Julian mit dem Namen Aiov-jaio; auf dessen eifrige Verehrung
des Aiovuao; habe anspielen wollen.'') Lässt er doch in den
Caesares p. 424, 10 den Erzieher des Dionysos, den Silen, zu
Alexander sagen „(zXXa sxpaxouv '(i aou TroXXaxis ai r^\iixe^ai Ou"(axspes"
diviTTop-evo; t7.; duTrsXouc, xov 'AXs^ctvopov ota Stq xtva [isöoaov xcti
cpiXoivov axa)7:xa)v. Eine eklatante Bestätigung der Richtigkeit
unserer Ansicht von der Priorität bezw. Superiorität des Namens
NctXo; erhalten wir durch Libauios Br. 670 ed. Wolff, worin der
Rhetor (p. 129, Iff". bei Bidez et Cumont a. a. 0.) mit augenschein-
licher Beziehung auf unseren Brief dem Kaiser mittheilt, sein
Schützling Aristophanes habe befürchtet, dieser möchte ihm xo
"*) Bemerkenswerth ist hier die Zusammenstellung von ab-co'j tt^; napoivt'a;
Epyov p. 575, 14 und xct; ä'XXa; a'jxoü Tiatoid;, da dieselbe sich auch Or. VI
p. 260, 11 Tiäaav . . . i-ei^v vr/r^z vm eite Tiaiotäv eixe -ctpoivt'av /pr) cpavat
findet und daher vielleicht auf die Gemeinsamkeit der (kynisch-stoischeu)
Quelle hinweist. Eine solche ist Or. II p. 123, ll(T. in der Auseinandersetzung
über das Wesen der Xoioopfct benutzt, wo überdies Alexander d. Gr. als Bei-
spiel angeführt wird.
"') üeber den Gebrauch solcher Spitznamen zur Zeit Julians s. Sievers
„Das Leben des Libanius". Berlin 1868. S. 235, 6.
Julians Brief au Diouysios. 435
Ssilou xaxov bereiten. Demnach spricht Alles dafür, dass auch die
bisherige üebei-schrift nach dem Laurentianus zu ändern und
durch 'lou>aavo? xaxa NeiXod zu ersetzen ist. Der Name NsT^vO?
lässt vermuthen, dieser Kyniker sei ein Landsmann des von Julian
in der sechsten Rede angegriffenen Kynikers gewesen, den der
Kaiser hier p. 249, 26 als Aq6"io? bezeichnet.'^) Wie er diesen
p. 262, 27 ironisch mit Alexander d. Gr. vergleicht, so fragt or
p. 575, 2 mit den ironischen Worten: xaisip^asu) . . . tov Aapsiov
6i<; b MaxsStuv 'AXscotvopo?; den Neilos, ob er ein [J.itxyjxr]? cturoij sei.
Vielleicht ist der Hauptname des Dionysios bei Julian auch
noch an einer anderen Stelle erhalten. In seinem Manifest an die
Athener stehen nämlich p. 353, 4ff. statt der jetzt allgemein reci-
pirten Emendation des Valesius xov ^iiXoüavov auiu) -o/iii-iov in den
Handschriften die unverständlichen Worte tou NsiXo-j xav (va-j V) sv
au-w -oXsaov. Wäre Heylers Vermuthung (p. 445), wir hätten es
hier mit dem Adressaten unseres Briefes zu thun, als richtig zu
erweisen, so dürfte man doch wohl schwerlich annehmen, dass der
Kaiser an dieser Stelle von Dionysios in direktem Zusammenhange
mit „quibusdam aetatis suae sycophantis" redete, da er ja nach
dem oben S. 431 ff. Dargelegten anfänglich noch nicht mit ihm ver-
feindet war.
Es finden sich bei Julian noch zwei andere Persönlichkeiten
erwähnt, die in einem ganz ähnlichen Verhältniss zu ihm standen
wie Neilos. Sie können zusammen mit ihm als typische Reprä-
sentanten einer Menschenklasse gelten, in welcher der Kaiser vor-
schnell brauchbare Werkzeuge für seine Reorganisationsarbeit zu
finden hoffte, bis er zu seinem grossen Verdrusse einsah, dass seine
Erwartungen ihn betrogen hatten. Der eine von diesen Männern
ist der Kyniker Asklepiades, von dem Julian Or. VH p. 291, 1
'8) Dürfte man Julian die witzlose Unterstellung zutrauen, Neilos sei
deshalb so sehr für Alexander eingenommen (p. 575, Iff. ; 12 ff.), weil er den
Hektor gerade im Nil ertränken Hess, so konnte man auch in den Worten
Ta 7t£pt Tov "ExTopa Tov To5 NeiAo'J Tai; otvat? /^ toü? EÜ'^ pctto'J • ^eyeTat ydtp
Exarspov hario-^zviitna . . . ai(ju7T(Jü p. 575, 1411'., wo die doppelte Ortsangabe
nicht recht begründet ist, eine Anspielung auf den Namen NeUo; finden.
436 Rudolf Asm US,
sagt 6Lvr^'/.\}s.v . . . irpo? jxky xov [Aaxaoitr^v Kojvaxavttov ek 'haXiav (sc.
an den Hof nach Mailand) . . . ouxsii \iivzoi [xr/pi täv FaUiaiv . . .
TTfio? 7)1x5? (p. 289, 25 ff.). Dieser Philosoph wird von Ammian
XXII 13, 3 zum ersten Mal „in actibus Magnentii" erwähnt,
woraus Valesius mit Wahrscheinlichkeit gefolgert hat, er habe sich
zur Zeit des Krieges gegen Magnentius an Konstantius ange-
schlossen. Da er, nach Symmachus epist. V 31 zu schliessen, ver-
muthlich in Rom lebte, so befand er sich demnach im Gefolge der
von Julian a. a. 0. (s. o. S. 431) erwähnten römischen Senatoren, die
zu Konstantins übergingen. Nach Julians Worten Or. VII p. 291, 6
aiUade ttjv im xov ouos loeXv ujia? OiXovxa ßotstXsa Topciav kam er
aber ä-Ar-^rj^ zu diesem Kaiser. Nach dessen Tod scheint Julian,
da Asklepiades ihn nicht wie andere Kyniker (s. Br. 38 p. 535, 18
zo.(ixrfi TrXrjSt'ov zr^z ttoXöcu? [sc. Besannen] aTrr]vx-/jai xuvixo? xis avr|p
lytuv xpiß(ova xal ßaxx/jpiav . . . dvY]p cpi'Xoc) schon als Cäsar in Gallien
aufgesucht hatte, keine näheren Beziehungen mit ihm angeknüpft,
sondern wie seine Zusammenstellung mit Heraklios und die
Charakterisirung als Pseudokyniker zeigt, seine Unbrauchbarkeit
bald erkannt zu haben, ohne dass sich dieser jedoch dadurch hätte
abschrecken lassen. Denn nach Ammian a. a. 0. kam er Ende
362 „visendi gratia Juliani" nach Antiochia.
Von ähnlicher Art muss jener Laurakios gewesen sein,
dessen der Kaiser in dem von Papadopulos Kerameus neu-
gefundenen Briefe (1*) an seinen mütterlichen Oheim (Rhein.
Museum. N. F. 42 S. 21, 25 ff. gedenkt.") 'IVsp ou, heisst es hier
Z. 64fF, ^rj'pacpac xai ctuxoc, oxi 9p'jXou[j.evo$ s-1 zovifjpia (vgl. Z. 57;
Br. 59 p. 571,7; 573, 18. s. u. S. 439) ttjv laxpixTjv uTioxpivexcti
(vgl. Or. VII p. 291, 11 fl".)- £xXt;{}yj }Jl£V TTOtp T,|xGiv U)? OTTOU-
Saio; (vgl. Br. 59 p. 571, 3 7:po-/sipa)? sttI xoivu>vtav ss Trapsxcc-
1») Für die inhaltliche Echtheit dieser Briefe haben wir schon in unserer
Untersuchung „Eine Encyklika Julians d. Abtr. etc.", Zeitschr. f. Kirchengesch.
XVI S. 238, 2fr. einige Beweise erbracht. Der Brief 1* wird auch von Bidtz
et Cumont a. a. 0. p. 25 und Wiiraer Cave France, „The Emperor Julians
Relation to the New Sophistic etc. (Diss. v. Chicago), London 1896, p. 93
gegen Schwarz ä. a. 0. p. 30fiF. und desselben „Julianstudien" (a. a. 0,
S. 624 ff.) in Schutz genommen.
Julians Brief an Dionysios. 437
Xsact Ttp^Yp-okojv und p. 573, 19 f. ou touto sG-cty, ui Aiovuaie, airou-
oai'ou... avopoc), TTpiv os bU o'biv iX&sTv, cpwpotOcic oct-t? r^v . . .
xatecppoviQi^-/; (vergl. p. 577, 26 es -uiv aXXcuv siaisijLsvtov ouSs 7:poa-
öi'pvjxa irtüTTOTc). Auffallend ist hier die Anwendung eines ganz
ähnlichen Bildes auf den schmähsüchtigen Laurakios wie auf
Neilos. Wie nämlich Julian p. 574, 3 ff. im Hinblick auf diesen
sagt irsipoti yap Trixpaic xal Xt'&oi Xti^ot? Trpoaapot-Top.svoi oux (o^sXouGt
(isv dXXi^Xoüc, 6 ö' la/upoTcOo? tov -^x-ova £Uy(£p«)? suvipißet, so sagt
er bezüglich des Laurakios p. 21, 32 <Sa-£p ^ap ta ßotXX6[x=va zpö?
Tou; azzpzoh; xal Ysvvaious xotj^ous Ixstvot? [lev ou TrposiCavEi ouos
-Xv^xxet ouSs e^xailrjxott, scpoopoxspov os sttI tou? ßaXXovxot? avaxXaxai,
ouxo) Tiaaa XoiSopi'a xal ßXaacp-/jixta Ttal ußpt? d'Sixo; dvopo? «yoiOo'j
xocxot/uÖEis« (vgl. Br. 59 p. 568, 2 ttjv xa&' Tjjioiv XoiSoptav d&poav
IHxBaq Tj "j-dp oü /py^ \is xotl XoiSocpiav auxo xal ßXaacpr^aiav
vojii'Csiv; Misopog. p. 470, 11 xa>v ßXas'jTjixttov a? . . . xoL-zyioL-i
fiou) öiYydvsi [j.£v ouoaijLai? Ixstvou, xpsTtsxat 8s sttI xöv xaTaj(eovxa.
Solche Leute wie Neilos, Asklepiades und Laurakios hat offen-
bar Ammian XXII 12, 3 im Auge, wenn er im Anschluss an Julians
Vorbereitungen zum Perserkriege sagt: „Quae maximis molibus
festinari cernentes obtrectatores desides et maligni (vgl.
XXIII 5, 16; Br. 59 p. 574, 15 cou x-^ xaxr^j'opo) 7X(üxx(j) unius cor-
poris permutatione tot cieri turbas intempestivas, indignum et
perniciosum esse strepebant ... Et haec diu multumque agitantes
frustra virum circumlatrabant immobilem occultis iniuriis, ut
Pygmaei vel Thiodaraas agrestis homo Lindius Herculem." Ver-
gleicht man hiemit Julian Or. VII p. 291, 10, wo die der Xotoopta
und der ßXacfcpr^fjita fröhnenden Pseudokyuiker vom Schlage des
Heraklios, des xuvo? o-jxi xopöv ouos -/swaiov uXaxxouvxo? (p. 264,
7 fi"., vgl. p. 273, 16 uXaxxuiv :rp6? aTiavxa;: v. d. Kynismus d. Oeno-
maos), das Prädikat uXaxxouvxsc; erhalten, so wird es mehr als
wahrscheinlich, dass die von Ammian gemeinten Gegner des
Kaisers antiochenische bzw. in Antiochia weilende Kyniker waren.
Er hat hier wohl dieselben Persönlichkeiten im Auge, welche
Julian nach dem Misopogon p. 443, 11 ßdXXovxs? xoT? (5xa>p,[iaaiv
waTTsp xo$£U[jLaai mit dem höhnisch-skeptischen Zuruf -(oc otvizr^
xd rispauiv ßsX/j, xd Tjij.sxspa xpsaa; axtufiiiaxa ; vergebens von
438 Eudolf Asmus,
seinem gewagten Unternehmen abzubringen suchten und ihm
p. 465, 20 ebenso vergeblich vorwarfen, o-i zap ocu-ov xa xou
xoaaou TTpa^ixaTa avcz-eTpotTr-ai , da er sich bei seinem ^svog . . .
saixsvov ToTs xptdsTcftv a[j.£T(zx[VY]-u)? (p. 449, 20 ff.) dadurch nicht
beirren liess; giebt er doch auch in unserem Briefe p. 573,8 seiner
Unempfindlichkeit dem Neilos gegenüber durch den mythologischen
Vergleich mit Agamemnon Ausdruck, welchem xr^? Öspaixou ^apot-
Diese Kyniker waren dem Kaiser aber vor Allem auch des-
wegen ein Dorn im Auge, weil sie mit den Christen Fühlung
hatten. Dies geht schon aus der die sechste (vgl. bes. p. 250, 2)
und siebente Rede (vgl. bes. p. 290, 9 ff.) und den ganzen Miso-
pogon durchziehenden Doppelpolemik gegen die kynischen Pam-
phletisten und gegen die „Galiläer'"' hervor, aber auch aus
Gregorius von Nazianz, welcher in seiner ersten Invektive gegen
Julian c. 77 col. 604 Äff. (t. 35 bei Migne) mit Genugthuung be-
tont , dass sich bereits tivs? . . . xa>v Trotp' i^iiwv xofuj^ujv auf das
dvxiTrat'Ceiv ctuiui verlegt hätten.^") Libanius I p. 495 R. schreibt
die aafiaxa der Antiochener geradezu den xaxto? 7U(j,vou[i.svoi zu,
worunter wohl kynisierende Mönche zu verstehen sind."') Vielleicht
wird aber auch in unserem Briefe auf eine solch christenfreundliclie
Haltung des Adressaten angespielt. Wenn der Kaiser nämlich von
diesem p. 576, 4 sagt 6 xvjv Ma'^vevxioo xal Kwvaxavto? oai'av alayovo-
ij.evo?, so ist dies angesichts der Thatsache, dass die beiden Herrscher
erklärte Gönner des von Julian so bitter gehassten Athanasios
(s. Br. 26 und Br. 6 p. 484, 22 xou ÖsoU sx^pou . . . 'AOavaaiou und
Br. 51 p. 558, 26 r^ xou oüassßou; auxou oiootcfxaXaiou . . . fjio/O/^pta)
waren und der „Tyrann" Magnentius Or. 1 p. 49, 18 geradezu ein
ofvöpojTTo; av 6a 10? genannt wird, sicherlich ironisch gemeint, und
nicht minder wird die hellenistische Orthodoxie des Neilos auch
durch die geflissentliche Betonung des Kaisers verdächtigt, dass er
TToUobc . . . xaxa xr^v »so^iXr, 'Ptujxr/^ (vgl. Or. V p. 207, 7; 209, 19)
^) Vgl. hierüber unsere Studie „Gregorius von Nazianz und die Kyniker"
(Theolog. Stud. und Krit. 1894 S. 335 ff.).
-') S. Sievers, a. a. 0. S. 201, 9(5. Vgl. unsere Untersuchung über
„Synesius und Dio Chrysostomus" (Ryzant. Zeitsclir. IX) S. 138, 1.
Julians Brief an Dionysios. 439
oict-pißovTct; und nur ihn nicht seiner Ansprache gewürdigt habe
(p. 577, 22 ff.). Mit der „Wahrheit" (p. 573, 11), wegen der Neilos.
vertrieben worden zu sein vorgab, könnte dann sehr wohl sein
freimüthiges Eintreten für irgend eine von ihm für richtig erkannte
christliche Lehrmeinung und mit den ttoXXüjv xal TrovrjpciTatfüV,
u'f wv xal autk a.^:r^'kd\}r^;, Ix-o-itJÖEvxaiv abgesetzte christliche
Bischöfe gemeint sein. Vergleicht man die Worte osT . . . hm;
(XTToXoYsiafOoti oia ah xal xoi? aXXoi?, oxt rpoj(£ip(ü? ettI xotvcuviav as
-apsxaAscra rpaYjxa'-cov p. 571, 2 mit Br. 78 p. 603 Anf. nTj-j-asiov
r^iizX; OUTTOT av 7:poa-/;xa|i.sv paoTax:, £i ix-/j aacpoi? STTsreiafAsOa, ori
xal TTpoxepov sTvat ooxtüv xuiv FaXiXai'tov sTci'axo-oi; r^m'axaxo csßssöai
xal xifAav xou? Osouc . . . IttsI . . . (w[i."/)v o'jxu) yprivai [xiasiv auxov
w? ouosva xuiv -rov/jpoxaxtov, so ist vielleicht der Schluss gestattet,
dass die Enttäuschung, welche Neilos dem Kaiser bereitete
(p. 571, 13 ft'.), vorwiegend auf religiösem Gebiete zu suchen ist.
Dann könnte man etwa annehmen, Julian habe von dem ihm bis-
her nicht näher bekannten christenfreundlichen Pseudokyniker
Neilos vernommen, dieser habe sich auf einmal unter dem Einfluss
der hellenistischen Philosophie (vgl. Vlll p. 327, 1 ff.) „ermannf"^"),
so wie er selbst in seinem Manifest an die Athener p. 350, 18 ff.
von sich gesteht, er sei durch sie von seinem grössten Gebrechen,
nämlich von der Einwirkung seiner christlichen Erziehung, befreit
worden; er habe infolgedessen die grössten Hoffnungen auf den
Gesinnungswechsel des Mannes gesetzt, die dieser aber dann durch
sein ferneres Zusammengehen mit seinen alten Freunden, den
Gegnern Julians, zu schänden machte.
Ein Hauptargument, welches die von Ammian a. a. 0. ge-
nannten Gegner Julians übereinstimmend mit Neilos gegen seinen
Perserzug vorbrachten, glaubt man auch noch aus der Rede heraus-
zuhören, welche der Kaiser bei Ammian XXIII 5, 16 jenseits des
Aboras kurz vor seinem ersten Zusammenstoss mit dem Feinde an
22) Vgl. Galiläerschrift p. 163, 2if. ed. Neumann xüiv raXiXat'wv ij axs'jcupi'a
. . . äTcoypr]aa[i.Evrj . . . xu) . . . 7:atoaptu)0£t . . . ttjc 4"^X^' fJtoptuJ p. 199, 14 Tja'-iuv
(sc. 'IirjaoO? und riaöXo?) . . . zi i^epairaiva; ^^aTiaT^tJO'jai vm ooöXo'j; xat 8ia xoü-
Tu>v T(is •(<rmXy..0Li, öfvopa? xs o'i'o'J? Kopv/jXio? xal Slpyios xtX. p. 205, 9 ^x xdiv
440 Rudolf Asmus,
seine Soldaten hält. Wenn er hier „ratione multiplici" ausführt,
„uon nunc priraitus, ut maledici (vgl. o. XXII 12, B) mussitant,
Romanos penetrasse regna Persidis", so liegt es sehr nahe zu ver-
muthen, diese „maledici" und u. a. auch Neilos hätten Julian zu
verstehen gegeben, dass er kein OeaTrsato^ ' AXe^cvSpo? (p. 575, 1,
vgl. \ii'(a^ p. 575, 13) sei, und sich somit auf den Standpunkt des
Silen in den Caesares gestellt, von dem es hier p. 406, 19 heisst
ETrtafxwTTimv xov KupTvov, „opa, sitte, [it^-koxb outoi (sc. ot 'Ptofiatoi) evos
(u(3i ou/. avxa^ioi toutouI tou TpcixoD (sc. 'AXscavopou)." Dieser eiteln
Konkurrenz mit seinem grossen Vorbilde entspricht ja auch die ab-
fällige Kritik, welche der Makedonier wie an anderen Stellen
(s. Gr. I p. 57, 3 ff.; Caesares p. 424, 7 ff.; 409, 7 ff.; Br. an Them.
p. 333, 3 ff.), so auch in unserem Briefe erfährt. Dass dieses
Verdikt den König p. 575, 19 ff. gerade vom Standpunkt der nach
Julians Auffassung (S. Or. VI p. 240, 8 ff.) mit der kynischen voll-
ständig übereinstimmenden Ethik der Stoa als einen avopa . . .
To . . . xaxfupOojjxsvov . . . ouSotfi,«)? l/ovia bezeichnet, ist seinem
kynisirenden Bewunderer gegenüber nur umso charakteristischer.
Indem der Kaiser die grausame (p. 575, 13) Art, wie Alexander
seine freimüthigen Tadler bestrafte, ablehnt und sich p. 576, 19
ausdrücklich dagegen verwahrt, dass man seinen Brief an Neilos
als Zeichen eines ootxvoji-lvou betrachte, stellt er sich selbst über
den Makedonier, den nach Or. II p. 123, 10 ff. die XotSopia, dieses
ypTjjjia . . . t)u[JLOootxE? , Tiapw^uvsv eh 6uvc([xiv «[luvasOai Xo^cu xs xat
Ep7(o, und legt mit dem Verzicht auf das sp^oi? . . . xoXaofai
(p. 576, 25) als echter Stoiker dieses cpiXoxifAov . . . iraftos ganz ab
(vgl. Misopog. p. 442, 6 ff Br. 1* cd. Papadop. Z. 26 ff Or. VII
p. 278, 4 ff.). El; xouxo -(«>, sagt er Or. VI p. 258, 12 in seinen
Vorschriften für den wahren Kyniker, ocfi.sivov eXöeiv, st? x6 xal ei
Tzdayei xi? xa xoiauxa oX(u? d^vo^aai, womit er sich zu dem nach
Or. II p. 123, 20 nur von Sokrates und airavioi? xtciv Ixeivou C,r^l^oxal;
erreichten Ideal der kynischen aTCocösiot (s. Or. VI p. 248, 24. Vgl.
auch Or. VIII p. 312, 24) bekennt. Und wenn er p. 574, 13 ff die
dem Neilos zugedachte Strafe dahin präcisiert: w<; eXa/iaxa irsipa-
aojx7t 8ia x£ xwv X6y(ov xal xiov £p7<t>v £co(ijioipx«uv |x->j Trapots/iailat
(30U --^ xaxTj^opm -(Xtoxx^j TroXXrjV cpXuapi'av, so ist diese Erklärung
.Tiiliaus Brief an Dionysios. 441
nichts anderes als eine Variation der von ihm Or. VI p. 259, 11
aufgestellten Forderung yyq tov apyojjievov xuvt'Ceiv auxov Trpotspov . . .
s^sXsY/stv xctl . . . IcetctCciv o-i aäXiaia aotov axf/tßcü;'^).
Als Resultat unserer Untersuchung ergiebt sich demnach, dass
der 59. Brief Julians als eine unmittelbar an die Adresse des
christenfreimdlichen Pseudokynikers Neilos und mittelbar auch an
seine Gesinnungsgenossen gerichtete Abfertigung zu betrachten und
daher in eine und dieselbe Linie mit Or. VI, VII und dem Miso-
pogon zu stellen ist. Während aber die beiden Reden sich an die
kynisch-christliche Oppositionspartei in Konstantinopel und der
Misopogon an diejenige in Antiochia wendet, richtet sich unser
Brief an die in Rom, dem westlichen Centrum des Imperiums, an-
sässigen Anhänger dieser weitverbreiteten und einflussreichen Ver-
bindung.
23) Das kynische Vorbild liegt iu dem Apophthegma des Diogenes bei
Plutarch De aud. poet. p. 21E (= De inimic. utilit. p. 88A) vor: spiu-rjM;
yotp, o-co? d'v Tt; äij/jvottTO xöv i/t}po'v, „auTo;, ecpT], xotXö; -/äyaöö; yevouevos".
Vgl. Wyttenbach, Auimadv. in Plut. Mor. T. I Lips. 1820 p. 160.
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV. 4. 31
XVI.
Wissen und Glauben bei Pascal.
Von
Dr. Kurt Warimith, Licentiat der Theologie.
Zweiter Theil.
B.
Pascal, der Jansenist.
Von den abstrakten Wissenschaften, die seiner Feuerseele nicht
Geniige thuu, wendet sich Pascal zum Studium des Menschen.
Die erste Anregung zu eingehenderer Beschäftigung damit
mag ihm die Leetüre der iansenistischen Schriften im Jahre 1647
gegeben haben, wenn er auch schon früher ab und au über dieses
Problem nachgedacht haben wird. Soviel ist gewiss, von jetzt ab
lässt ihm dieses Räthsel aller Räthsel keine Ruhe mehr. Die
jansenistische Lösung desselben hat einen gewaltigen Eindruck auf
ihn gemacht. Aber er fragt auch die Philosophen: Epiktet und
Montaigne. ^°) Ihre Antworten befriedigen ihn nicht; ihre Mcnschen-
erkenntniss ist einseitig. Die Lösung findet er im jansenistischen
Christenthum, in dem Dogma vom gefalleneu und durch die Gnade
geretteten Menschen.
Im Gegensatz zur göttlichen Gnade erscheint ihm jetzt alles
^0) I 348.
Wissen und Glauben bei Pascal. 443
Menschliche gering/') Skeptisch steht er den geistigen und sitt-
lichen Fähigkeiten des Menschen gegenüber. Vollständiges, sicheres
Wissen ist dem Menschen aus metaphysischen und psjxhologisch-
ethischeu Gründen unmöglich; was er erreichen kann, ist nur Un-
gewissheit. ") Die Beschäftigung mit den abstrakten Wissenschaften
erklärt er jetzt überhaupt als nicht angemessen für den Menschen,
sie entfernen ihn von seiner Bestimmung. ^^) Der Geometrie, für
ihn die Wissenschaft schlechthin, erkennt er nur noch einen for-
malen Werth zu. '*) Das wahre Studium des Menschen ist der
Mensch; sich, sein Elend soll er kennen lernen, er kann es, wenn
auch nicht den Grund desselben. Dies soll ihn demüthig machen,
er soll seine Vernunft in der Erkenntniss ihrer Schwäche unter-
werfen und nach einem Heilmittel suchen. Der Glaube ist das
Heilmittel. Der Inhalt des Glaubens ist Jesus Christus. In ihm
erkennen wir Gott und unser Elend. Ohne Christus keine Gewiss-
heit. Vor und ausser Christus ist der Skepticismus das Wahre. ^^)
''') II 47. L'homrae u'est qu'im sujet plein d'erreur naturelle et ineffa-
^able Sans la gräce. Rien ne lui montre la verite ; tout l'abuse.
^2) II 99. 103. La nature confond les Pyrrboniens et la raison con-
fond les Dogmatistes; nous avons une impuissance a prouver invincible ä
tout le dogmatisme, nous avons une idee de la verite invincible ä tout le
Pyrrhonisme.
") I 199.
^*) Pascal schreibt 1660 an den Mathematiker Fermat: „Um freimiithig
über die Geometrie zu reden, so halte ich sie für die höchste Uebung des
Geistes, aber zugleich für so unnützlich, dass ich wenig Unterschied mache
zwischen einem Menschen, der bloss Geometer, und einem anderen, der ein
geschickter Handwerker ist. Auch nenne ich sie das schönste Handwerk der
Welt, aber schliesslich nichts anderes als ein Handwerk, und ich habe schon
oft gesagt, dass sie gut ist, um die Stärke unseres Geistes daran zu erproben,
aber nicht, um seine Kraft darauf zu verwenden, dergestalt, dass ich nicht
zwei Schritte für die Geometrie thun würde."
''^) II 100. Le pyrrhonisme est le vrai; car apres tout, les homrnes
avant Jesus-Christ, ne savaient oü ils en etaient, ni s'ils etaient grands ou
petits. Et ceux qui ont dit Fun ou Taulre n'en savaient rien, et devinaient
sans raison et par hasard; et meme ils erraient toujours en excluant Tun ou
l'autre. Quod ergo ignorantes quaeritis, religio annuntiat vobis. Le pyrrho-
nisme sert ä la religion.
31*
444 Kurt Warmuth,
Nur in Christo giebt es Gewissheit: er ist die Wahrheit. Nur
der Glaube giebt uns Gewissheit: er ist das höchste Wissen."') Wie
gelangen wir zu ihm? Nicht durch unsere Anstrengung, Gott allein
giebt ihn dem, den er erwählt hat. Der Mensch kann sich aber
auf den Glauben vorbereiten durch Vernunft und Gewöhnung.
Zu solcher Vorbereitung auf den Glauben will Pascal in seinen
Pensees helfen. ^^)
Hatte Pascal, der Mathematiker, an der Möglichkeit mensch-
lichen Wissens nicht gezweifelt, Pascal, der Theolog, glaubt nicht
mehr daran: er ist jetzt einerseits Jansenist, anderseits Skeptiker.'*)
Hatte er früher den Verstand in den Vordergrund gestellt, so jetzt
das Herz.")
Das „Centrum aller Wahrheiten" ist nun für ihn die Theologie,
wie er im „Gespräch mit de Saci" sagt.*") Dasselbe ist nach
Havet der Schlüssel zu dem Heiligthum der „Gedanken". Es
enthält Pascals Abrechnung mit der Philosophie.
Er unterscheidet hier zwei Classen von Philosophen: die
Stoiker und die Pyrrhoneer. Der Repräsentant der ersteren ist
Epiktet, der der letzteren Montaigne. Epiktet hat gut die Pflicht
des Menschen: Gott soll sein Hauptziel sein, schlecht aber seine
^«) Selbst die Religion ist für das natürliche, noch nicht von der Gnade
erleuchtete Bewusstsein nicht gewiss; das ist sie nur für den Glaubenden:
La religiou n'est pas certaine, 11 173.
^0 II 109. C'est pourquoi ceux a qui Dien a donne la religion par
sentiment du cceur, sont bleu heureux et bien legitimement persuades. Mais
ceux qui ne Tont pas, nous ue pouvous la donner que par raisonnement en
attendant que Dieu la leur donne par sentiment de cceur, sans quoi la foi
n'est qu'humaine et inutile pour le salut.
^8) Cousin hat das Bedürfniss des Jansenismus dem Pyrrhonismus gegen-
über bei Pascal nachgewiesen: Revue des deux moudes, 1845.
Havet I, XIll: Je ne veux pas dire que le pyrrhonisme ne soit pour
Pascal quune sorte de fiction ou d'hypothese. Non, il est pyrrhonien dans
toute la sincerite de son äme, il Test formellement, absolument, audacieuse-
ment. . . Pascal admet tous les principes du scepticisrae, il en admet toutes
les consequences: les principes, c'est-ä-dire que Thomme ne peut rien con-
naitre avec certitude ... les consequences, c'est-ä-dire qu'il n'y a point de
science, mais des opinions.
^9) T 172. Le cCBur a ses raisons que la raison ne connait pas.
^) 1 348. Eutretien de Pascal avec Saci sur Epictete et Montaigne, 1654.
Wissen und Glauben bei Pascal. 445
Ohnmacht erkannt, meint er doch: der Mensch könne, da Geist
und Willen vollkommen in seiner Macht stehen, Gott erkennen,
lieben, gefallen, sich heilig und zum Genossen Gottes machen.
Montaigne hat gut die Ohnmacht des Menschen, schlecht aber
seine Pflicht erkannt. Er betrachtet den Menschen entblösst von
aller Offenbarung. Er zweifelt an allem, selbst daran, ob er
zweifelt. Er will gar nicht behaupten. Que sais-je? ist seine
Losung. Er ist reiner Pyrrhoneer. Er spottet jeder Gewissheit.
So hart und unbarmherzig setzt er der vom Glauben entblössten
Vernunft zu: er lässt sie zweifeln, ob sie vernünftig ist, ob die
Thiere es sind oder nicht; er zwingt sie von der Stufe der Vor-
züglichkeit, auf welche sie sich selbst gestellt hat, herab und
stellt sie aus Gnade in gleiche Linie mit den Thieren. — Pascal
bekennt seine Freude, in Montaigne die hochraüthige Vernunft so
vollständig durch ihre eigenen Waffen aufgerieben und den Menschen
von der Gemeinschaft mit Gott, zu der er sich kraft der Vernunft
allein erhob, auf die Stufe der Thiere erniedrigt zu sehen. Er
würde den Vollstrecker einer so grossen Rache von ganzem Herzen
lieben, wenn er, als demüthiger Jünger der Kirche, durch den
Glauben die Regeln der Moral befolgt und jene Menschen, die er
so heilsam gedemüthigt hatte, dazu gebracht hätte, nicht durch
neue Versuchungen den zu erzürnen, der allein im Staude ist, sie
von denen zu befreien, die sie, wie er sie überzeugt hatte, aus
eigener Kraft nicht einmal erkennen können. Montaigne überlässt
aber die Sorge für das Wahre und Gute anderen und lebt in Be-
quemlichkeit und Ruhe. Epiktet und Montaigne sind die beiden
bedeutendsten Vertreter der berühmtesten Philosophenschulen.
Worin besteht ihr Irrthum? Pascal antwortet: in der Verkeunung
des Falles des Menschen, Sie wissen nicht, dass der gegenwärtige
Zustand des Menschen verschieden ist von dem seiner Erschaffung.
Epiktet erkennt nur die Grösse des Menschen und führt zum Stolz,
Montaigne erkennt nur das Elend des Menschen und führt zur
Trägheit. Grösse uud Elend musste man aber zusammen erkennen,
um die ganze Wahrheit zu haben. Das ist die Wahrheit des
Evangeliums. Sie vereinigt die Gegensätze, die unversöhnlich in
den menschlichen Lehren waren. Wodurch? Die Weisen der Welt
446 Kurt Warmuth,
verlegen die Gegensätze in ein und dasselbe Subject: der eine
schreibt der Menschennatur Grösse zu, der andere Schwäche. Der
Glaube aber lehrt uns, die Gegensätze verschiedenen Subjecten zu
zuertheilen: alles Schwache gehört der Natur, alle Kraft der Gnade.
„Diese erstaunliche, neue Einigung konnte allein ein Gott lehren und
bewirken: ein Abbild und eine Wirkung der unaussprechlichen
Einigung der beiden Naturen in der einzigen Person des Gott-
menschen."'') So erklärt Pascal die Theologie für den Mittelpunkt
aller Wahrheiten.*^) Gleichwohl hat die Lectüre der Philosophie
ihren Nutzen. In Epiktet findet Pascal eine unvergleichliche Kraft,
die Ruhe derer zu stören, die sie in den äusseren Dingen suchen,
um sie zur Anerkennung zu nöthigen, dass sie wahre Sklaven
und elende Blinde sind; dass sie unmöglich etwas anderes als
Schmerz und Irrthum, welchem sie entgehen wollen, finden können,
wenn sie sich nicht ohne Rückhalt Gott allein ergeben. Und
Montaigne ist unvergleichlich, um den Stolz derer zu Schanden
zu machen, welche ohne Glauben sich einer wahren Gerechtigkeit
rühmen, um diejenigen zu enttäuschen, welche an ihren Meinungen
festhalten und unabhängig von Gottes Existenz und Vollkommen-
heiten in den Wissenschaften unerschütterliche Wahrheiten zu
finden glauben: unvergleichlich, um die Vernunft der Mangel-
haftigkeit ihres Lichts und ihrei' Verirrungen zu überführen.
I. Wissen.
1. Unmöglichkeit vollständigen und sicheren Wissens.
Ein vollständiges, sicheres Wissen hält Pascal, der Jansenist, aus
metaphysischen und psychologisch- ethischen Gründen für unmöglich.
Er führt vier metaphysische Gründe an: Erstens erkennt der
Mensch Princip und Ziel der Dinge nicht. Sodann kann er als
Theil das Ganze nicht erkennen, nicht einmal die Theile, zu denen
er in einem Verhältnisse steht. Ferner kann er die einfachen
8') I 364.
82) I 364. II est difficile de ne pas y (la theologie) entrer, quelque
verite qu'on (raito, parce qu'elle est le centfe de toutes les verites.
Wissen und Glauben bei Pascal. 447
Dinge geistiger oder körperlicher Natur nicht erkennen, weil er
aus zwei verschiedenartigen Naturen, Seele und Leib, zusammen-
gesetzt ist. Endlich begreift er weder das Wesen des Körpers,
noch das des Geistes, noch ihre Vereinigung.
In psychologisch-ethischer Beziehung führt Pascal sechs Mo-
mente an, die unser Wissen gefährden: den Willen, die Krankheit,
unser eigenes Interesse, die Einbildungskraft, die Gewohnheit und
die Eigenliebe.
a) Metaphysische Gründe.
a) Princip und Ziel der Dinge.
Ueber Princip und Ziel der Dinge ist der Mensch in Dunkel-
heit. Pascal führt dem Menschen die unendliche Grösse und
Kleinheit der Dinge um ihn her vor Augen. ^^) Er lässt ihn die
Erde sehen, nur ein Punkt im Vergleich zu ihrer Bahn, und diese
selbst wieder nur ein Punkt im Vergleich zu den Bahnen anderer
Gestirne, ja die ganze sichtbare Welt nur ein Punkt im weiten
Bereiche der Natur. Was ist der Mensch in der Unendlichkeit
des Weltalls? Sodann führt er den Menschen zur Betrachtung
einer Milbe: wie klein ihr Körper, „Beine mit Gelenken, Adern
in diesen Beinen, Blut in diesen Adern, Flüssiges in diesem Blut,
Tropfen in dieser Flüssigkeit, Dünste in diesen Tropfen." Das
Atom®*) selbst eine Unendlichkeit von Weltallen, von denen jedes
sein Firmament, seine Planeten, seine Erde in demselben Verhält-
nisse hat wie die sichtbare Welt; auf dieser Erde Thiere und
83) 11 63-76. Vgl. I 190.
*■») Pascal kann das Wort .,Atom" hier nicht in dem gewöhnlichen, von
Demokrit festgestellen Sinne gebraucht haben, denn in diesem Sinne ist es
nicht nur seiner Natur nach untheilbar, sondern auch, sofern es überhaupt
als ausgedehnt betrachtet wird, durchaus homogen; es kann also keine Mannig-
faltigkeit verschiedener Theile in sich haben. Pascal muss das Wort hier in
einem anderen uneigentlichen Sinn gebraucht haben, im Sinne eines kleinsten
Theiles, zu dem wir in der Phantasie durch fortwährende Theilung — z. B.
der Milbe — gelangen. Was wir als ein atome inperceptiblc ansehen, weil
es das Kleinste ist, was wir vorstellen können, ist für eine weitergehende
Betrachtung, die mit dem strengen Begriff der Unendlichkeit operirt, möglicher
Weise noch eine Welt, ebenso gegliedert wie das Universum im Grossen.
448 Kurt Warmuth,
endlich Milben. Unser Körper, zuvor im Weltall kaum wahr-
nehmbar, jetzt ein Koloss, eine Welt, ein All in Beziehung auf
das Nichts. — So steht der Mensch zwischen den beiden Ab-
gründen des Unendlichen und des Nichts; seine Wissbegierde
wandelt sich in Bewunderung: er ist mehr zu stummer Betrachtung
dieser Wunder als zu hochmüthiger Erforschung derselben geneigt.
„Was ist der Mensch in der Natur? Ein Nichts im Vergleich zum
Unendlichen, ein All im Vergleich zum Nichts, ein Mittelding
zwischen dem Nichts und dem All. Unendlich entfernt vom Be-
greifen der entgegengesetzten Dinge — Ende und Grund der Dinge
ist in einem undurchdringbaren Dunkel unerreichbar für ihn ver-
borgen — , ist er ebenso unfähig, das Nichts zu erkennen, aus
dem er hervorgegangen ist, als das Unendliche, worin er sich ver-
liert." Wir nehmen nur einen Schein der Mitte der Dinge wahr,
ohne je zur Erkenntniss ihres Anfangs oder Endes zu gelangen.
„Alle Dinge sind aus dem Nichts hervorgegangen und erheben
sich bis zur Unendlichkeit. Wer wird diese stauuenswerthen Stufen
verfolgen? Der Schöpfer dieser Wunder erfasst sie, jeder andere
vermag es nicht," Wie aumasseud, den Grund der Dinge erfassen
und dahin gelangen zu wollen, alles zu erkennen! Alle Wissen-
schaften sind in dem Umfang ihrer Untersuchungen unendlich.
Die Geometrie z. B. hat eine Unendlichkeit von Unendlichkeiten
von Sätzen zu beweisen. Die, welche man als die letzten auf-
stellt, gründen sich nicht auf sich selbst, sondern haben wieder in
anderen ihre Begründung; wir aber machen zu den letzten die-
jenigen, welche dem Verstand also erscheinen. Wer die letzten
Principien der Dinge begriflen hätte, könnte auch das Unendliche
erkennen; das eine hängt vom anderen ab, das eine führt zum
anderen; die äussersten Gegensätze berühren sich und stossen zu-
sammen, nachdem sie sich von einander getrennt hatten, um sich
in Gott und in Gott allein wieder zu finden. Unsere Erkenntniss
nimmt in der Reihe der erkennbaren Dinge denselben Platz ein
wie unser Körper in der Ausdehnung der Natur." Unser Zustand
hält die Mitte zwischen den äussersten Gegensätzen. Das zeigt
sich bei all unseren Fähigkeiten. Unsere Sinne vernehmen nichts
Extremes, Dieser Zustand macht uns unfähig, mit Gewissheit zu
Wissen und Glauben bei Pascal. 449
wissen und schlechthin nicht zu wissen. Wir bewegen uns auf
einer weiten Fläche in der Mitte, stets ungewiss und schwankend,
von einem Ende zum anderen getrieben. Wo wir irgend einen
Halt zu erreichen und uns dort zu befestigen gedenken, da weicht
er und verlässt uns, und wenn wir ihm folgen, so entgleitet er
unter unseren Händen, er entschlüpft und flieht in ewiger Flucht.
Nichts hält für uns Stand. Das ist unser natürlicher Zustand,
der indessen unserer Neigung am meisten zuwider ist: wir brennen
vor V^erlangen, einen festen Standpunkt und eine letzte, dauernde
Grundlage zu gewinnen, um darauf einen Thurm zu bauen, der
sich bis ins Unendliche erhebt: aber all unsere Grundlegung bricht
zusammen, und die Erde öffnet sich bis zu den Abgründen. Lasst
uns also keine Sicherheit und keine Gewissheit suchen! Unsere
Vernunft wird stets durch die Unbeständigkeit der Erscheinungen
getäuscht, nichts kann das Endliche zwischen den beiden Unend-
lichkeiten festhalten, die dasselbe einschliesseu und fliehen.
ß) Theil und Ganzes.
Als Theil kann der Mensch nicht das Ganze erkennen, nicht
einmal die Theile, zu denen er in einem Verhältnisse steht. ^^)
Denn die Theile der VV^elt hängen untereinander zusammen, sodass
es unmöglich ist, das eine ohne das Ganze zu erkennen. Der
Mensch steht z. B. im Verhältniss zu allem diesen, was er kennt.,
Er bedarf des Raumes, um sich darin zu bewegen; der Zeit, um
zu bestehen; der Bewegung, um zu leben; der Elemente, aus
denen er besteht; der Wärme und Nahrung, die ihn erhält; der
Luft, um zu athmen. Er sieht das Licht, er fühlt die Körper,
kurz, alles tritt mit ihm in Berührung. Zur Erkenutniss des
Menschen ist es nöthig zu wissen, woher es kommt, dass er für
sein Bestehen der Luft bedarf, und zur Erkenutniss der Luft muss
man wissen, in welcher Beziehung sie zum Leben des Menschen
steht. Die Flamme besteht nicht ohne Luft; um also jene zu er-
kennen, muss man auch diese kennen.
9Ö)
450 Kurt Warmuth,
7) Die einfachen Dinge.
Der Mensch kann die einfachen Dinge geistiger oder körper-
licher Natur nicht erkennen, weil er aus zwei verschiedenen Na-
turen, Seele und Leib, zusammengesetzt ist. *®)
Die Dinge sind in sich selbst einfach; wir aber sind aus zwei
entgegengesetzten, verschiedenartigen Naturen zusammengesetzt:
aus Seele und Leib.. Wir geben allen einfachen Dingen, tue wir
betrachten, unser zusammengesetztes Gepräge. Die Philosophen
reden von sinnlichen Dingen geistig und von geistigen Dingen
sinnlich, z.B. die Körper haben Sympathien und Antipathien,
oder sie betrachten geistige Wesen als räumlich und legen ihnen
Bewegung bei.
0) Körper und Geist.
Der Mensch begreift nicht, was Körper und Geist an sich ist,
viel weniger, was ihre Vereinigung ist. „Der Mensch ist sich
selbst der wunderbarste Gegenstand der Natur: denn er
kann nicht fassen, was ein Körper ist, noch viel weniger, was ein
Geist ist, und am allerwenigsten, wie ein Körper mit einem Geiste
vereinigt sein kann".^^)
b) Psychologisch-ethische Gründe.
ot) Der Wille.
Der Wille mit seinen Launen und Neigungen verdunkelt
unser Wissen. Dem Willen gefällt bald diese, bald jene Seite
einer Sache: er lenkt den Geist von der Betrachtung derjenigen
ab, die ihm nicht gefällt; der Geist leistet Folge.**)
»6) II 74. ") II 74.
"*) I 223. 224. La volonte est un des priucipaux organes de la creance;
non qu'elle forme la creance, mais parce que ies choses sont vraies ou fausses,
seien la face par oü on Ies regarde. La volonte. <]ui se plait ä l'une plus
qu'ä Tautre, detourne l'esprit de considerer Ies qualites de Celles qu'elle
n'airae pas ä voir: et ainsi l'esprit, marchant dune piece avec la volonte,
s'arrete ä regarder la face quVlle ainie et ainsi il eu juge par ce qu'il y
voit. — Tout nolre raisonnemcnt sc reduit ä ceder au sentiment.
Wissen und Glauben bei Pascal. 451
ß) Die Krankheit.
Auch die Krankheiten sind eine Quelle des Irrthums. Sie
üben uachtheiligen Einfluss auf Urtheil und Sinne. Bedeutende
Krankheiten erschüttern sie sichtbar, geringere schwächer.")
'() Unser eigenes Interesse.
Ferner besticht uns unser eigenes Interesse.'") „Selbst der
redlichste Mann von der Welt darf nicht in seiner eigenen Sache
Richter sein; ich kenne welche, die. um nicht in diese Eigenliebe
zu fallen, auf verkehrte Weise die Ungerechtesten wurden. Ein
sicheres Mittel, einen ganz gerechten Handel zu verlieren, war es,
wenn man ihn durch die nächsten Freunde anempfehlen liess.
Die Gerechtigkeit und Wahrheit sind zwei so feine Spitzen,
dass unsere Werkzeuge zu stumpf sind, um sie genau zu treffen.
Wenn sie dieselben berühren, so drücken sie die Spitze breit und
stützen sich rings umher mehr auf das Falsche als auf das Wahre. '^
Wenn man einem anderen eine Sache zur Beurtheilung vor-
trägt, trübt man bereits sein Urtheil durch die Art und Weise
des Vortrags: besser ist, nichts dabei zu sagen und selbst auf
Miene und Stimme in scharfer Selbstzucht zu achten.
8) Die Einbildungskraft.
Die Einbildungskraft '0 ist eine „Meisterin des Irrthums und
der Unwahrheit", eine Feindin der Vernunft. Sie bildet im
Menschen gewissermaassen eine zweite Natur. Sie lässt die Ver-
nunft glauben, zweifeln, verwerfen; sie hebt die Thätigkeit der
Sinne auf und lässt sie fühlen. Sie macht selbstzufrieden und
selbstvertrauend. Sie vergrössert das Kleine und verkleinert das
Grosse. '')
Pascal führt einige Beispiele an. Er zeichnet einen ehr-
würdigen Richter, der sich scheinbar nur durch reine, erhabene
*9) II 53. Xous avons un autre principe d'erreur, les maladies. Elles
nous gätent le jugeraent et le sens. Et si les grandes l'alterent sensiblement,
je ne doute point que les petites n'y fassent irapressiou ä leur proportion
PO) II 53. 54. ") II 47 ff.
92) 11 23, 1 200.
452 Kurt Warmuth,
Gründe bestimmea lässt und die Dinge nach ihrem Wesen richtet,
ohne sich von den geringfügigen Umständen bestimmen zu lassen,
die nur auf die Einbildungskraft der Schwachen Einfluss haben;
er hört einen Prediger mit heiserer Stimme, seltsamer Gesichts-
bildung oder schlechtrasirtem Kinn: was für grosse Wahrheiten
er auch vorbringen mag, der Ernst unseres Senators ist dahin!
Der grösste Philosoph der Welt, auf ein sicheres Brett über
einen Abgrund gestellt, erblasst und geräth in Angstschweiss, ob-
wohl seine Vernunft ihn von seiner Sicherheit überzeugt.
Der Menschengeist, der alles beurtheilen zu können glaubt,
wird durch eine Fliege, die ihm vor den Ohren summt, gutes
Rathes unfähig. „Wollt ihr, dass er die Wahrheit finde, so ver-
jagt jenes Thier, das sein Urtheil gefangen hält und diesen ge-
waltigen Geist, der Städte und Königreiche regiert, verwirrt!"
Der Anblick von Katzen und Ratten, das Zertreten von Kohle
bringt den Geist ausser Fassung.
Liebe und Hass ändern das Recht, „Wieviel gerechter
findet ein zum Voraus gut bezahlter Advocat die Sache, die er
führt! Um wieviel besser erscheint er wegen seiner kühnen Gesti-
culation den durch diesen Schein betrogenen Richtern ! Seltsame
Vernunft, die sich von jedem Winde nach einer anderen Seite
treiben lässt!'^
Die Einbildungskraft lässt sich durch den Schein blenden.
Die Rechtsgelchrten beherrschen die Welt durch ilire Talare und
Hermeline, die Aerzte erlangen Geltung durch ihre langen Röcke
und Sammetpantoffeln.
Die Einbildungskraft gebietet über alles: sie macht die Schön-
heit, das Recht, das Glück. Sie ist die Königin der Welt.
s) Die Gewohnheit.
Die Gewohnheit bestimmt den Menschen bei der Wahl des
Berufs. ")
Gewohnheit und Vorurtheil beherrschen ihn: Türken, Ketzer
und Ungläubige gehen den Weg der Väter in dem Vorurtheil, er
sei der beste.®*)
»=>) II 56. ^*) 11 55.
Wissen und Glauben bei Pascal. 453
Die Gewohnheit entscheidet über Recht und Unrecht.'^) Der
Mensch kennt die wahre Gerechtigkeit nicht, sonst würde sie bei
allen Völkern und in allen Ländern herrschen. Jetzt aber hat
jedes Land seine eigenen Gesetze, denen jeder Unterthan folgen
niuss. Kein Gesetz hat allgemein Gültigkeit. Diebstahl, Blut-
schande, Unzucht, Kinder- und Vatermord: alles hat man schon
für tugendhaft gehalten. Die Definition der Gerechtigkeit schwankt:
man fasst sie bald als Autorität des Gesetzgebers, bald als Be-
quemlichkeit des Herrschers, bald als herrschende Sitte; letzteres
ist das Sicherste. Die Gewohnheit schafft alle Gerechtigkeit; sie
ist der geheimnisvolle Grund ihrer Autorität Man rauss den Ge-
setzen folgen, weil es Gesetze sind, nicht weil sie wahr oder ge-
recht seien; denn wir verstehen uns nicht auf die Wahrheit und
Gerechtigkeit. Das Volk allerdings gehorcht den Gesetzen nur,
weil es sie für gerecht hält. — Selbst die natürlichen Principien
sind nur angewöhnte. Kurz: die Gewohnheit ist die zweite Natur
des Menschen, welche die erste zerstört.
C) Die Eigenliebe.
Die Eigenliebe ^^) erzeugt in uns einen tötlichen Hass gegen
die Wahrheit. Wir wollen nicht, dass man uns tadelt und unsere
Mängel aufdeckt; wir verbergen sie anderen und uns selbst. Wir
hüten uns, andere zu tadeln und thun es höchstens unter Bei-
mischung von Milderungen und Lobsprüchen. Namentlich erfahren
die Grossen der Erde nie die Wahrheit. So ist das menschliche
Leben nur eine fortlaufende Täuschung, niemand spricht in unserer
Gegenwart so von uns, wie er in unserer Abwesenheit von uns
redet. „Der Mensch ist also nur Verstellung, Lüge und Heuchelei
in Bezug auf sich selbst und in seinen Beziehungen zu anderen.
Er will nicht, da.ss man ihm die Wahrheit sage; er vermeidet, sie
anderen zu sagen, und diese Gesinnung, soweit von Gerechtigkeit
und Vernunft entfernt, hat in seinem Herzen eine natürliche
Wurzel.«
95) IT 126fF. 9«) 11 56 ff. cf. I 207.
4f>4 ^nr\ Wartnutli,
2. Der Mensch, das wahre Studium des Menschen.
Das für den Menschen angemessene Studium ist der Mensch.")
„Wenn der Mensch vorerst sich erforschte, würde er einsehen, wie
unfähig er ist, darüber hinauszugehen.^') Bei sich soll er mit
seinem Denken anfangen: das ist die rechte Ordnung des Denkens.
Freilich die Welt denkt nur an Nichtigkeiten.'') In einem ge-
waltigen Gemälde zeichnet Pascal den natürlichen Zustand des
Menschen.'"") „Wenn ich die Blindheit und das Elend des
Menschen ansehe und betrachte, wie das ganze stumme Universum
und der Mensch ohne Licht sich selbst überlassen ist, wie verirrt
in diesen Winkel der Welt, ohne zu wissen, wer ihn hierher ge-
setzt hat, was er hier thun soll, was aus ihm bei seinem Tode
werden wird, unfähig jeder Erkenntniss: so erfasst mich ein Schauer,
wie einen Menschen, den man während des Schlafes auf eine
verlassene, schreckliche Insel getragen hätte, und der beim Er-
wachen nicht wüsste, wo er ist, und wie er von dort fort kommen
soll. Ich bin erstaunt, dass man über einen so unglücklichen Zu-
stand nicht in Verzweiflung geräth. Ich sehe um mich her andere
in demselben Znstand; ich frage sie, ob sie besser unterrichtet
sind als ich; sie sagen nein, und ich sah dann diese unglücklichen
Verirrten rings um sich her schauen, und da sie hie und da Gegen-
stände erblickten, die ihnen gefielen, so gaben sie sich ihnen hin
und Hessen sich von ihnen fesseln."
Wenn sich nun der Mensch betrachtet, so erkennt er seinen
elenden Zustand: „Der Zustand des Menschen ist Unbeständigkeit
Missbehagen, Unruhe'"')." Er sieht sich voll von Gegensätzen:
„Wir sehnen uns nach Wahrheit und finden in uns nur Ungewiss-
heit".*°^) Im Gegensatz zur wirklichen Wahrheit, die ganz rein
97) I 199.
98) 11 72.
99) II 85. L'liomme est visiblement fait poiir penser; c'est toute sa
tlignite et tout son m^rite, et tout son devoir est de penser, comme il faut:
or l'ordre de la pensee est de commencer par soi et par son auteur el sa
fin. Or, ä quoi pense le inonde? Jamais Ji cela: mais h danser, a jouer du
luth, ä chanter, ä faire des vers, ä courir la bague etc. ä se bätir, ä se faire
roi, Sans penser k ce que c'est qu'etre roi et qu etre homme.
'00) II 269. 'Ol) l[ 41. 102) II 88.
Wissen und Glauben bei Pascal. 455
und wahr ist, giebt es für den natürlichen Menschen nichts absolut
Wahres, alles ist zum Theil wahr, zum Theil falsch; Pascal zeigt
dies an dem Gebot der Keuschheit und an dem Gebot, nicht zu
tödten. '") „Wir suchen das Glück und finden nur Elend und
Tod. Wir sind nicht im Stande, uns Wahrheit und Glück nicht
zu wünschen und sind dennoch für Gewissheit und Glück unfähig^. '"^)
Aber darin, dass der Mensch sein Elend erkennt, besteht seine
Grösse: „Die Grösse des Menschen zeigt sich eben darin, dass er
sich seines Elends bewusst ist. Ein Baum ist sich seines Elends
nicht bewusst. Darin besteht mithin das Elendsein, sich des Elends
bewusst sein; aber darin besteht die Grösse, zu erkennen, dass
man elend ist".'"')
Mit Meisterhand zeichnet Pascal das Elend des Menschen;
manche Gedanken erinnern an Byron und Schopenhauer. So ver-
gleicht er z. B. die Menschen mit einer Anzahl gefesselter Ver-
brecher, von welchen jeden Morgen ein Theil vor den Augen der
anderen hingewürgt wird, die hoffnungslos ihr Schicksal voraus-
sehen. >"0
Der Mensch sucht nach Betäubungsmitteln seines Elends '°'):
sie bestehen in Sorge um Ehre und Vermögen, Arbeit und Genuss,
Unterhaltung und Spiel, Geräusch und Unruhe, obwohl sein wahres
Glück in der Ruhe besteht. All diese Zerstreuungen hindern den
Menschen, über sich und sein Elend nachzudenken, denn nichts ist
ihm unerträglicher als solche Selbstbetrachtung: „Nichts ist dem
Menschen so unerträglich, als sich in völliger Ruhe zu befinden,
ohne Leidenschaft, ohne Beschäftigung, ohne Zerstreuung, ohne
Anstrengung. Er fühlt alsdann seine Nichtigkeit, seine Verlassen-
heit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht,
seine Leere. I^naufhörlich wird aus dem Grunde seiner Seele auf-
steigen Missbehagen, Böswilligkeit, Traurigkeit, Angst, Aerger,
Verzweiflung«. "')
So ist Zerstreuung eigentlich sein grösstes LTnglück; ohne sie
würde er Missbehagen empfinden, und dies würde ihn antreiben,
ein wahrhaftiges Heilmittel zu suchen: „Das Einzige, was uns über
103; II 97. 10*3 II 88. '0^) II 82. w«) 11 23. '"') II 31 ff. '«*) II 42.
456 Kiut Warmuth,
unser Elend tröstet, ist die Zerstreuung, und doch ist eben sie für
uns das grösste Unglück. Denn sie ist es, die uns hauptsächlich
daran hindert, über uns nachzudenken, und die uns unmerklich
untergehen lässt. Ohne sie würden wir uns in Missbehagen be-
finden, und dies Missbehagen würde uns dazu antreiben, ein wahr-
haftigeres Mittel zu suchen, um demselben zu entgehen. Aber die
Zerstreuung unterhält uns und lässt uns unmerklich dem Tode
entgegengehen". "*')
In sich selbst findet der Mensch das Heilmittel nicht; die
Philosophen versprechen es zwar, aber ihre Recepte sind wirkungs-
los, kennen sie doch nicht einmal die Krankheit: „Es ist vergeb-
lich, Menschen, dass ihr in euch selbst das Heilmittel gegen euer
Elend sucht. Alle eure Geisteskraft vermag nicht zu der Erkennt-
niss zu gelangen, dass ihr in euch selbst weder die Wahrheit
noch das ewige Gut finden werdet. Die Philosophen haben es
euch versprochen, und sie haben es nicht halten können. Sie
wissen weder, was euer wahrhaftes Gut ist, noch was euer wahrer
Zustand ist. Wie hätten sie gegen eure Uebel Heilmittel geben
sollen, da sie jene nicht einmal erkannt haben?" '^°)
Mit einem Wort: den Grund des Elends in geistiger und sitt-
licher Beziehung kann der natürliche Mensch nicht erkennen;
Gott allein kann ihn darüber aufklären: „Erkenne also, o Stolzer,
welches Paradoxon du dir selber bist! Demüthige dich, ohnmächtige
Vernunft, schweige, schwache Natur; lerne, dass der Mensch un-
endlich über sich erhaben ist, und erfahre von deinem Lehrer den
wirklichen Zustand, den du nicht kennst. Vernimm die Stimme
Gottes!"'")
3. Der letzte Schritt der Vernunft, ihre Unterwerfung.
Selbsterkenntniss lehrt Selbstbescheidung. Der letzte Schritt
der Vernunft besteht in ihrer Unterwerfung: sie muss anerkennen,
dass unendlich viel Dinge ihre Kraft übersteigen, und zwar schon
auf natürlichem Gebiet, wieviel mehr auf übernatürlichem."^)
Freilich w^ürde sie sich nicht unterwerfen, wenn sie nicht ein-
sähe, dass sie es müsse. Der heilige Augustin sagt: „Die Vernunft
109) II 40. "°) II 147. '") II 104. "2) II 347.
Wissen und Glauben bei Pascal. 457
würde sich nie unterwerfen, wenn sie nicht einsähe, dass es Fälle
giebt, wo sie sich unterwerfen muss. Es ist also recht, dass sie
sich unterwirft, wenn sie einsieht, dass sie sich unterwerfen muss.
Es giebt nichts, was so sehr der Vernunft entspricht als diese Ver-
leugnung der Vernunft"."^)
Man muss eben dreierlei thun, je nach Nothwendigkeit:
zweifeln, behaupten und sich unterwerfen. Wer das nicht thut,
kennt nicht die Kraft der Vernunft. Manche behaupten alles:
aber sie können nicht alles beweisen. Andere zweifeln an allem:
sie wissen nicht, wo sie sich unterwerfen müssen. Wieder andere
unterwerfen sich in allem, weil sie nicht wissen, wo man urtheilen
muss. ' ' ^)
Nur durch Unterwerfung der Vernunft ist wahre Selbst-
crkenntniss möglich: „Gott hat, um sich allein das Recht vorzu-
behalten, uns zu belehren und uns die Schwierigkeit unseres Da-
seins unerklärlich zu machen, uns den Knoten desselben so hoch
oder vielmehr so tief verborgen, dass wir nicht im Stande waren,
dahin zu gelangen, sodass es nicht durch die Anstrengung unserer
Vernunft, sondern nur durch die einfache Unterwerfung der Ver-
nunft möglich ist, dass wir uns wahrhaft kennen lernen können". '^^)
Pascal freut sich, die stolze Vernunft gedemiithigt und bittend
zu sehen. ^'^)
II. Glauben.
1. Inhalt des Glaubens,
a) Christus.
Der Inhalt des Glaubens ist Christus. Er ist der Versöhner
der Menschheit mit Gott. In Christo belehrt uns Gott über sich
und uns; wir erkennen in Christo Gott und unser Elend. "^) „Die
i'^») II 348). "^) II 347. '15) II 352. "G) 11 135.
'■') II 356.
II 115. On ne peut connaitre Jesus-Christ sans connaitre tout eu-
semble Dieu et sa misere.
II 315. La connaissance de Dieu sans celle de sa misere fait Torf^neil.
La connaissance de sa misere sans celle de Dieu fait le desespoir. La con-
naissance de Jesus- Christ fait le milieu parce que nous y trouvons et IMeu
et notre misere.
Archiv f. Geschiebte d. Philosophie. XV, 4. 32
458 Kurt Warmuth,
christliche Religion besteht wesentlich in dem Geheimnisse des
Erlösers, der durch die Vereinigung der beiden Naturen, der
menschlichen und der göttlichen, in sich die Menschen aus dem
Verderben der Sünde befreit hat, um sie in seiner göttlichen Person
mit Gott zu versöhnen. Dieselbe lässt demnach die Menschen
beide Wahrheiten erkennen, sowohl dass ein Gott da ist, für den
die Menschen empfänglich sind, als auch dass in ihrer Natur eine
Verderbniss ist, die sie dessen unwürdig macht. Es ist für die
Menschen gleich wichtig, beide Punkte zu erkennen; und es ist
gleich gefährlich für den Menschen, Gott zu erkennen, ohne sein
Elend zu kennen, und sein Elend zu erkennen, ohne den Erlöser
zu erkennen, der ihn davon zu heilen vermag. Eine einzelne von
diesen beiden Erkenntnissen bringt entweder den Stolz der Welt-
weisen hervor, die Gott erkannt, aber nicht ihr Elend, oder die
Verzweiflung der Gottesleugner, die ihr Elend erkennen ohne einen
Erlöser von demselben. Wie es nun gleichermaassen das Be-
diirfniss des Menschen ist, diese beiden Wahrheiten zu erkennen,
so entspricht es in derselben Weise der Barmherzigkeit Gottes,
dass er sie uns hat erkennen lassen. Dies thut die christliche
Religion, und darin besteht sie." Aus diesen beiden Wahrheiten
Erkenntniss Gottes und unseres Elends, besteht der Glaube, das
Christeuthum. „Aller Glaube besteht in Jesus Christus und in
Adam; und alle Sittenlehre in der bösen Lust und in der Gnade". "^)
Jesus Christus ist der wahrhaftige Gott der Menschen : „Wir
erkennen Gott nur durch Jesum Christum. Ohne diesen Vermittler
ist alle Gemeinschaft mit Gott aufgehoben ; durch Jesum Christum
kennen wir Gott. Alle, welche geraeint haben, ohne Jesus Christus
Gott zu erkennen und ihn zu beweisen, hatten nur schwache Be-
weise. Um aber Jesum Christum zu beweisen, haben wir die
Weissagungen, welche kräftige und sprechende Beweise sind. Und
diese Weissagungen, die erfüllt und durch den Erfolg als wahr
bewährt dastehen, geben die Gewissheit von diesen Wahrheiten
"8) II 369.
II 35.'}. La religion chretienne consiste en deux points: il importe
egaleiuent aux hommes de les connaitre et il est ögalement dangereux de les
ignorer. Vgl. I 10.
Wissen und Glauben bei Pascal. 459
und in Folge dessen den Beweis von der Göttlichkeit Jesu Christi.
In ihm und durch ihn erkennen wir also Gott. Ohne ihn und
ohne die Schrift, ohne die Erbsünde, ohne den verheisseuen und
erschienenen nothwendigen Mittler vermag man weder Gott zu be-
weisen noch wahrhaften Glauben noch wahre Sittlichkeit zu lehren.
Aber durch Jesum Christum und in Jesu Christo beweist man
Gott und lehrt man Sittlichkeit und Glauben. Jesus Christus ist
also der wahrhaftige Gott der Menschen".^'') Diesem Gotte naht
man sich ohne Stolz, und vor ihm demiithigt man sich ohne Ver-
zweiflung.""')
Sein Werk besteht darin, dass er die Menschen Selbsterkennt-
niss lehrt und ihnen die Erlösung bietet: „Jesus Christus hat nichts
anderes gethan als die Menschen gelehrt, dass sie sich selbst lieben,
dass sie Sklaven, Blinde, krank, elend und sündig wären; dass es
nöthig sei, dass er sie erlöse, erleuchte, beselige und heile; dass
dies geschehen würde, wenn sie sich selbst hassten und ihm durch
Leiden und Kreuzestod folgen würden". '^^)
Er ist die Wahrheit: der Weg zu Gott besteht darin: zu
wollen, was Gott will; Jesus Christus allein führt zu ihm, der Weg,
die Wahrheit. ^^^)
Der grösste Beweis für Jesus Christus sind die Weissagungen. '^^)
Er selbst beweist, dass er der Messias war, durch seine Wunder."*)
Pascals tiefe Liebe zu Christo offenbart sich in dem wunder-
baren Zwiegespräch „Mystere de Jesus". Er steht zu dem Herrn
in einem innigen persönlichen Verhältniss, er unterhält mit ihm
einen lebhaften Verkehr. Er steht mit ihm sozusagen auf du
i>9) II 316. '20) II 314. '2') II 315.
II 318. Jesus-Christ vieut dire aux hommes qu'ils n'out point d'autres
ennemis qu'eux-memes; que ce sont leurs passions qui les separeut de Dieu;
qu'il vient poiir les detruire et pour Jeur donner sa gruce, afiu de faire d'eux
tous une Eglise sainte.
'22) II 315.
II 158. La corruption de la raison parait par taut de difft'rentes et
extravagantes ma?urs. 11 a fallu que la Verite soit venue, afin que rhomme
ne vequit i)lus en soi-meme.
'23) II 270. '24) II 92G.
32*
460 Kurt Warmuth,
und du, er umschlingt das Kreuz auf Golgatha.'") Und wir? 0
wie weit sind wir heut von dieser Innigkeit und Lebendigkeit des
Glaubens entfernt! Welch heilige Freude spricht aus seinem Glaubens-
bekenntniss, in dem er seinen Erlöser preist, der ihn, den Menschen
voll Schwachheit, Elend, Lust, Stolz und Hoffnung, zu einem neuen
Menschen gemacht hat durch die Kraft seiner Gnade, '^^)
b) Gott.
Nur in Christo erkennen wir Gott, nicht in der Natur. Die
Natur stellt Gott nicht mit Evidenz dar. Sie bietet nur Anlass
zu Zweifel und Unruhe : man findet in ihr zuviel Grund, um Gott
zu leugnen, und zu wenig, um Gott klar zu erkennen: „Wenn ich
in der Natur nichts sehen würde, was von Gott zeugte, so würde
ich mich entschliessen, nichts zu glauben. Wenn ich überall die
Spuren eines Schöpfers sähe, so würde ich mich im Glauben be-
ruhigen. Da ich aber zuviel Grund zur Leugnung sehe und zu
wenig, um mich zu versichern, befinde ich mich in einem be-
klagenswertheu Zustand, worin ich hundert Mal den Wunsch ge-
habt habe, dass, wenn ein Gott die Natur erhält, sie ihn unzwei-
deutig offenbaren möge, und wenn die Beweise, welche sie über
ihn darbietet, trügerisch sind, sie dieselben gänzlich unterdrücken
möge, dass sie alles oder nichts sagen möge, damit ich sehe, welcher
Ansicht ich zu folgen habe. Statt dessen befinde ich mich in einem
Zustand, worin ich nicht weiss, was ich bin, und was ich thun
soll, und worin ich weder meine Lage noch meine Pflicht erkenne.
Mein Herz sehnt sich mit allen Kräften nach der Erkenntniss, wo
sich das wahre Gut befindet, um es zu erreichen. Nichts würde
mir für die Ewigkeit zu theuer sein".'")
Nach der Schrift ist Gott ein verborgener Gott: er hat die
Menschen nach dem Fall einer Blindheit überlassen, von der sie
125) Cf. Havet I XXXIX.
''■'•) I 243. Weiteres über Pascals persönliches Glaubensleben, siehe
K. Warmuth, Das religiös -etliische Ideal Pascals, Leipzig, Wigand, 1901.
p. 3 u. 4.
'") II 118.
Wissen und Glauben bei Pascal. 461
nur Jesus Christus erlösen kann: ohne ihn keine Verbindung mit
Gott.'-»)
Kein biblischer Schrifsteller hat sich der Natur bedient, um
Gott zu beweisen'").
Gottlosen gegenüber Gott aus den Werken der Natur zu be-
weisen, ist kühn und fruchtlos; das mag man Gläubigen gegenüber
thun.'^")
Die metaphysischen Beweise des Daseins Gottes liegen der
Vernunft fern und wirken höchstens eine vorübergehende Ueber-
zeugung. ^^')
Mit unserer natürlichen Erkenntniss können wir weder das
Dasein noch das Wesen Gottes erkennen; wir können nur theil-
bare nnd begrenzte Dinge fassen, Gott ist weder theilbar noch
begrenzt; so sind wir unfähig, zu erkennen, was Gott ist, und ob
er ist.^-^^) Nur durch den Glauben erkennen wir sein Dasein. '^^)
Wer Gott ausser Christo aus der Natur allein erkennen will,
findet keine Befriedigung oder wird Atheist oder Deist. Die Welt
bietet keine klaren Beweise von Gott, wohl aber ist sie voll von
Beweisen des Verderbens und der Erlösungsbedürftigkeit des
Menschen: sie trägt das Gepräge eines sich verbergenden Gottes.'^*)
Wer Jesum Christum erkennt, Mittelpunkt und Ziel von allem,
erkennt den Grund aller Dinge. '^^)
Und wie erkennen wir Gott in Christo? Als den Gott der
Liebe und des TrosteS;, als unser Ein und Alles. „Der Gott der
Christen ist ein Gott der Liebe und des Trostes, ein Gott, welcher
die Seele und das Herz, von dem er Besitz genommen hat, erfüllt.
Es ist ein Gott, der sie innerlich ihr eigenes Elend und seine un-
endliche Barmherzigkeit fühlen lässt; der sich mit dem Grunde
ihrer Seele vereinigt; der sie mit Demuth, Freude, Vertrauen und
Liebe erfüllt; der sie unfähig macht, ein anderes Ziel zu wollen
als ihn selbst". '^'^)
128) 11 114. 129) II 116. 130) II 113. 131) II 114. 13J) n 165. II 164.
133) II 164.
134) II 117. II 157. II 154.
135) II 115. Jesus-Christ est l'objet de (out et le coutre oii tont tend.
Qui le connait, connait la raison de toutes choses.
13«) II 116.
462 Kurt Warmuth,
In der Liebe zu Gott imd im Hass gegen uns selbst besteht
unsere wahre Glückseligkeit. '^^)
Wir sollen aber auch nicht die vergänglichen Geschöpfe lieben;
die Hingabe an die Creatur hindert uns, Gott zu dienen und ihn
zu suchen. ''*)
Wir sollen Gott allein, Princip und Ziel von allem, lieben;
unsere Begierde freilich lässt uns nur uns selbst lieben: wir werden
mit Feindschaft gegen die Liebe Gottes — also mit Schuld — ge-
boren. Ein Heilmittel dagegen bietet die christliche Religion im
Gebet: wir sollen Gott bitten, ihn lieben zu können. '^^)
Dem Einwände, es sei unglaublich, dass Gott sich mit uns
vereinige, liegt scheinbar Demuth, in der That aber nichts weiter
als Hochmuth zu Grunde; das heisst der Barmherzigkeit Gottes
Schranken setzen. ^*°)
c) Erbsünde.
In Christo erkennen wir uns selbst, unser Elend. Das Christen-
thum zeigt uns, dass wir von Gott abgefallen sind, dass alle
Gegensätze und Widersprüche aus der Sünde stammen und alle
Sünde sich herleitet von jenem ersten Sündenfall des Menschen.
Ursprünglich ist der Mensch von Gott heilig, unschuldig, voll-
kommen, wissend, gottschauend, unsterblich, selig erschaffen. Aber
er kann soviel Herrlichkeit nicht ertragen. Aus Stolz sagt er sich
von Gott los und macht sich zum Mittelpunkt seiner selbst. Er
stellt sich Gott gleich durch das Verlangen, seine Glückseligkeit
in sich selbst zu finden, wie Gott. Gott überlässt ihn sich selbst.
Die Creatur empört sich gegen ihn: er wird selbst den Thiercn
ähnlich, kaum eine dunkle Kenntniss seines Schöpfers bleibt ihm.
II 354. Le dieu des chretiens est uu Dieu, qui fait sentir k l'üme qu'il
est son unique bien; que tout son repos est en lui, qu'ellc n'aura de joie
qu'ä Taimer; et qui lui fait en mcme teinps abhorrer les obstacles qui la
retiennent, et rempechent d'aimer Dieu de toutes ses forces. L'amour-propre
et la concupiscence qui rarretent lui sont insupportables. Ce Dieu lui fait
sentir qu'elle a ce fouds d'amour-propre qui la perd, et que lui seul la peut
guerir.
'") II 152. I 228. II 143. ''») n 143. '") II 144. '<<>) II 149.
II 156.
Wissen uud Glauben bei Pascal. 463
Die Sinne bclierrschcn oft die Vernunft und treiben ihn zur Ver-
gnügungssucht. Nur ein schwaches Gefühl seiner ersten Natur be-
hält er. Blindheit und Begierde sind seine zweite Natur geworden.
Von diesem Grundprincip aus lassen sich die Widersprüche im
Leben verstehen.'*')
So trägt der Mensch zwei Naturen in sich: eine höhere uud
eine niedere; aber letztere hat erstere fast ganz unterjocht. Diese
Doppclnatur ist so deutlich, dass manche geglaubt haben, wir
hätten zwei Seelen, da in einem einfachen Wesen eine derartige
Verschiedenheit unmöglich wäre.^*')
Diese Doppelnatur hat auch Aulass gegeben zu den verschie-
denen Philosophieeu: die Stoiker haben den Menschen vergottet,
die Epikureer haben ihn verthiert. '*^) Der Glaube sagt: „Der
Mensch ist über die ganze Natur erhaben, Gott ähnlich, Gott theil-
haftig im Zustande der Erschaftung oder in dem der Gnade; er ist
aber aus diesem Zustand gefallen und den Thieren ähnlich ge-
worden im Zustande der Verderbniss und Sünde". '**) Die Stoiker
führen zum Hochmuth, die Epikureer zur Trägheit; das Christen-
thum adelt den Menschen ohne Selbstüberhebung: es erhebt ihn
zur Theilnahme am göttlichen Wesen, und es erniedrigt ihn ohne
Verzweiflung: auch der Christ trägt noch die Quelle des Verderbens
in sich. So kann allein die Einfalt des Evangeliums den Menschen
belehren und bessern. ^''^)
Der Mensch in seinem natürlichen Zustand ist ein entthronter
König.'") Er war einst König im Besitze von Wahrheit uud
Glückseligkeit. Die Sünde stürzte ihn vom Throne. Nur die Er-
innerung an seine Königsherrlichkeit, eine Idee von Wahrheit uud
Seligkeit, nahm er mit hinaus in eine Welt voll von Räthselu
und Geheimnissen. Aber Christus kommt und macht den Ent-
thronten wieder zum König: er führt ihn zurück in das Reich der
Wahrheit und Seligkeit. '^0
1*') II 153 die Rede der Weisheit Gottes.
112) II 81. '") II 141. i'i) II 158. II 1-15. "'•) II loG. '^'O II 82.
1") II. 104.
464 Kurt Warmuth,
Wir sehen: in der Erbsünde findet Pascal die Lösung aller
Widersprüche. Diese Lehre des Christcnthuras sagt ihm, der das
Wesen des Menschen erforschen will, am meisten zu. Ohne dieses
Geheimniss, das unverständlichste von allen, sind wir uns unbe-
greiflich.'^^) Wohl befremdet es die Vernunft, es erscheint ihr
als Thorheit. Es ist aber eine Sache, die über die A'^ernunft hin-
ausgeht. Ja, diese Thorheit ist weiser als die ganze Weisheit der
Menschen: es ist die göttliche Thorheit.^")
2. Mittel zum Glauben.
Pascal führt drei Mittel an, durch die man zum Glauben ge-
langt: Vernunft, Gewöhnung und Erleuchtung. Man muss den
Geist den Beweisen öffnen, sich durch Gewöhnung darin befestigen
und sich durch Selbstdemüthigung für die göttliche Erleuchtung
empfänglich machen. '") Die göttliche Erleuchtung ist das Ilaupt-
mittel, ohne sie ist man kein wahrer Christ; durch sie wird der
einfachste Mensch auch ohne Reflexion ein guter Christ, durch sie
erst glaubt man mit Erfolg und Treue.'*')
a) Vernunft.
Wenn auch der Glaube in erster Linie Herzenssache ist'*'').
1^8) II 105. •") II lOG.
J=°) II 177. II y a trois moyens de croire: la raison, la coiitume, Tin-
spiration. La religion chretienne qui seule a la raison, u'admet pas pour ses
vrais enfants ceux qui croient sans Inspiration: ce n'est pas qu'elle exciuo la
raison et la coutume; au contraire, mais il faut ouvrir son esprit aux preuves
s'y confirmer par la coutume; mais s'ofTrir par les hurailiations aux inspirations
qui seules peuvent faire le vrai et salutaire effet: Ne evacuetur crux Christi.
'^') II 177. Ne vous etonnez pas de voir des personnes simples croire
sans raisonnement. Dieu leur donne l'amour de soi et la haine d'eux-mcmes.
II incline leur coeur ä croire. On ne croira jaraais d'une creance utile et de
foi, si Dieu n'incline le ca?ur, et on croira des qu'il l'inclinera. Et c'est ce quo
David connaissait bien: „Inclina cor meum, Deus, in testimonia tua!"
II 179. Ceux quo nous voyons chretiens sans la connaissance des pro-
pheties et des preuves ne laissent pas d'en juger aussi bien que ceux qui
ont cette connaissance: ils en jugent par le ca'ur, comrae les autres en jugent
par l'esprit. C'est Dieu lui-meme qui les incline a croire; et ainsi ils sont
tres efficacement persuades.
'^2) n 172. C'est le coeur qui sent Dieu et non la raison. Voilä ce
que c'est que la foi: Dieu sensible au coeur, nou ä la raison.
Wissen und Glauben bei Pascal. 465
so schliesst doch ]*ascal die Beweise, die zum Verstände sprechen,
keineswegs aus, sondern lässt sie als menschliche Vorbereitung zu.
Er will in den Pensees den Ungläubigen die christliche Re-
ligion durch Darlegung von Gründen nahebringen, ist sich aber
zugleich bewusst, dass solche verstandesmässige Demonstration den
Glauben nicht schaffen, sondern ihm nur entgegenfiihren kann;
Gott allein giebt den Glauben ins Herz, nur so kommt wahre
Ueberzeugung zu Stande. '^^)
Ueberhaupt muss mau sich in Religionssachen vor zwei Ex-
tremen hüten, einmal vor dem völligen Ausschluss der Vernunft
und sodann vor dem alleinigen Geltendmachen der Vernunft. '")
Unterwirft man alles der Vernunft, so hat unsere Religion nichts
Geheimnissvolles, Uebernatürliches; verletzt man die Principien
der Vernunft, so wird sie abgeschmackt und lächerlich.^")
In das Heiligthum des Glaubens kann uns die Vernunft nicht
führen, wohl aber bis an seine Pforte. ^^'^)
Pascal unterscheidet zwei Wege, von der Wahrheit der Religion
zu überzeugen, Vernunft und Autorität der Schrift, nnd giebt dem
letzteren den Vorzug.'") Da aber die Menschen nun einmal so
sind, dass sie nur der Vernunft folgen wollen, so betritt er diesen
Weg. Er will zeigen, dass die Religion der Vernunft nicht ent-
gegengesetzt ist, und er will sie zugleich verehrungswürdig und
liebenswerth machen; weiss er doch, welche Macht Wille und
Neigung über den Menschen haben. ^^''*)
II 176. II faut mettre notre foi dans le sentiment; autrement eile sera
toujours vacillante.
1^3) II 109.
II 352. Ceux k qui Dieu a donne la religion par sentiraeut de
coeur sont bien heureux et bien persuades. Mais pour ceux qui ue l'out pas,
iious ne pouvons la leur procurer que par raisounemeut en atteadant que
Dien la leur imprime lui-meme dans le coeurj sans quoi la foi est inutile
pour le salut.
154) II 348.
1^^) II 348. II 347. Soumissiou et usage de la raison, en quoi consiste
le vrai christianisme. Cf. I 212.
1^^) II 349. La foi dit bien ce quo les sons ne disent pas, mais non
pas le contraire de ce qu'ils voient. Elle est au-dessus et non pas coutrc.
'") II 352. '^8) II 387.
466 Kurt Warmuth,
Welches sind nun seine Beweise für die Wahrheit der christ-
lichen Religion? Das Christenthum erklärt das Geheimniss der
Meuscheunatur. Die Antwort auf die Frage des Menschen ist der
Christ. Die Göttlichkeit Jesu Christi und die Autorität der Schrift
gründen sich auf Wunder und Propheten. Die Gründung der
christlichen Religion, die Heiligkeit, Hoheit und Demuth einer
Christenseele, die Wunder der heiligen Schrift, die Person Jesu
Christi, Apostel und Propheten, die Erfüllung der messianischen
Weissagungen, der Zustand des jüdischen Volks vor und nach
Christi Geburt, die beständige Fortdauer der christlichen Religion,
die Heiligkeit derselben, ihre Lehre; kein Vernünftiger kann diesen
Beweisen für die christliche Religion widerstehen.^")
Allerdings sind diese Beweise nicht unbedingt überführend,
aber sie sind auch nicht so, dass es vernunftlos sei, sie zu glauben;
die Gnade, nicht die Vernunft lässt der Religion folgen, die Be-
gierde, nicht die Vernunft lässt die Religion fliehen.^''")
Nach Pascal, sagt Havet, heisst die Religion beweisen, nicht
eine wirkliche Demonstration davon geben, sondern Gründe zu
ihrer Unterstützung bieten, zeigen, dass es vernünftig sei, daran
zu glauben. Sein Beweis ist eine Wahrscheinlichkeit, welche die
Gewissheit nicht erreicht und es nicht behauptet.
So räth die Vernunft dem Menschen, auf Gott zu wetten: er
kann da entweder nichts verlieren oder alles gewinnen."') Und
wenn der Ungläubige klagt, dass er wohl bereit sei, zu wetten,
d. h. zu glauben, seine Begierde aber seiner Vernunft widerstehe,
so giebt ihm Pascal den Rath, es zu machen wie die, welche schon
zum Glauben gekommen sind, nämlich Weihwasser zu nehmen
und Messe lesen zu lassen. Dies Verfahren wird die Leidenschaften,
unsere grössten Feinde, die uns von Gott abhalten, verringern und
somit dem Glauben vorarbeiten. '"')
'59) II 365 ff.
leo) II 264.
"'') II 166ff., diese Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf den
Glauben an Gott, wie charaliteristisch für den Mathematiker in Pascal!
162) II 168. II 181. Vous aurioz bientot la foi, si vous aviez quitte les
plaisirs.
Wissen und Glauben bei Pascal. 467
Aelinlich empliehlt Pascal das innere Gespräch, das der Mensch
mit sich selbst hält, auf Gott, die Wahrheit, zu richten."^)
b) Gewöhnung.
Pascal weiss, welche Macht die Gewohnheit über den Menschen
hat: er nennt sie unsere zweite Natur und räth. uns an den
Glauben zu gewöhnen. '*^^)
Hat der Geist erkannt, wo die Wahrheit ist, so muss die Ge-
wohnheit diesen Glauben unserem ganzen Wesen und Leben mit-
theilen. Durch Gewohnheit wird der Glaube uns zur anderen
Natur. Den Glauben durch Vernunft charakterisirt Pascal als
einen schwierigen, der uns immerdar zu entfliehen droht, und
nennt im Gegensatz dazu den Glauben durch Gewohnheit einen
leichteren, der uns „ohne Zwang, Kunst und Beweis" glauben
lässt. Wir sind eben nicht bloss geistige Wesen, die durch reine
Demonstration überzeugt werden, sondern auch sinnliche, der Ge-
wohnheit unterworfene: sie macht unsere stärksten und allge-
meinsten Beweise, giebt unserer Natur die Richtung und zieht un-
merklich den Geist mit fort. Beides muss also zusammenkommen:
der Geist muss durch Gründe überzeugt sein, der natürliche Mensch
durch Gewohnheit: „Man muss sich hierüber keiner Täuschung
hingeben: wir sind ebenso gut Automaten"^) als geistige Wesen,
und daher kommt es, dass das Mittel, welches die Ueberzeugung
hervorbringt, nicht allein die Beweisführung ist. AVie wenig Dinge
lassen sich beweisen! Die Beweise überzeugen nur den Verstand.
Die Gewohnheit bildet unsere stärksten und entscheidendsten Be-
weise; sie bestimmt den Automaten, welcher den Verstand mit
sich fortzieht, ohne dass er es denkt. Man muss sich zur Gewohn-
heit flüchten, wenn der Geist einmal erkannt hat, wo die Wahr-
heit ist, damit dieser Glaube, der uns jede Stunde entkommen
könnte, uns gang und gäbe werde; denn es wäre zuviel gefordert,
wenn man sich die Beweise immer gegenwärtig halten wollte.
'") I 218. II faut se tenir en silence autant qu'on peut, et ne s'entretenir
que de Dieu, qu'on sait etre la verite; et aiusi on se le persuade ä soi-meme.
Iß*) II 169. 1«^) cf. p. 358.
4G8 Kurt Warmuth,
Mail miis.s sich cincu leichteicu Glauben erwerbeu, und das ist der
der Gewohnheit, welche ohuc Gewaltthätigkcit, ohne Kunst, ohne
Beweis uns die Dinge glauben lässt und allen unseren Kräften die
Richtung zu diesem Glauben mittheilt, sodass unsere Seele ganz
natürlich in den Glauben hineingeräth. Wenn man nur vermöge
der Ueberzeugung glaubt, und wenn der Automat geneigt ist, das
Gegentheil zu glauben, so genügt dies nicht. Es müssen also unsere
beiden Bestandtheile zum Glauben gebracht werden: der Geist
durch Gründe, die es genügt, sich einmal in seinem Leben klar
gemacht zu haben, und der Automat durch die Gewohnheit, indem
man ihm nicht erlaubt, sich zum Gegentheil zu neigen. Inclina
cor meum, Dens.'")
c) Erleuchtung.
Das Ilauptmittel zum Glauben ist die göttliche Erleuchtung.
Der Gläubige ist von Gott erleuchtet, obwohl er selbst es
nicht beweisen kann.'^^)
Der Glaube ist ein Geschenk Gottes, nicht der Vernunft. '^'')
Er steht nicht in unserer Macht wie die Werke des Gesetzes,
sondern er ist uns auf andere Weise gegeben. "'^)
Er ist ein Act der göttlichen Gnade, auf den sich der Mensch
nur durch Selbstdemüthiguug vorbereiten kann.''")
Gott neigt das Herz zum Glauben.^")
Gott giebt den Menschen die Liebe zu ihm und den Ilass
ihrer selbst ins Herz, er lenkt das Herz zum Glauben.'")
Das Aufnahmeorgan für die göttliche Erleuchtung ist also das
Herz oder der Wille. Gott wirkt auf den Willen.'")
'66) II 174, 175.
'67) II 180.
'68) 11 178. La foi est uu (Jon de Dieu. Ne croyez pas que nous disions
que c'est un don de raisonnement.
'69) II 178.
''") II 198. La conduite de Dieu, qui dispose toutes choses avec douceur,
est de mettre la religion dans Tesprit par les raisons et dans le cccur par la
gräce. Cf. II 177.
'7') II 179. C'est Dieu lui-meme qui les incline ä croire; et ainsi ils
sont tres efticacement persuades.
'") II 177.
'") II 158. Dieu veut plus disposer la volonte que l'esprit. La clarte
Wissen und Glauben bei Pascal. 469
Der Mensch urtheilt, von Gott erleuchtet, nicht mehr .nach
dem eigenen, sondern nach dem göttlichen Willen.
Die Frucht der Erleuchtung ist die Bekehrung. Nur durch
die Gnade kommt die Bekehrung zu Stande. ''*) Im Augenblick
der Taufe ist dem Menschen das Bild Gottes eingeprägt worden;
die Sünde hat es ausgetilgt; durch die Bekehrung wird es wieder
hergestellt. '") Gott giebt die guten Regungen."*^) Die Bekehrung
in ihren einzelnen Stadien hat Pascal mit psychologischem Fein-
blick in der Schrift „lieber die Bekehrung des Sünders" be-
schrieben.'")
Aber nicht jeder wird der Erleuchtung theilhaftig, sondern
nur der, den Gott dazu in Liebe vorausbestimmt hat. Das düstere
Gegenbild zu dem sonnenhellen Gemälde der Erleuchtung ist die
Verblendung. Erleuchtung wie Verblendung ist Gottes Wille:
„Gott will verblenden und erleuchten". '^^) Jesus Christus erschien,
um zu verblenden und zu erleuchten. ''^)
Wir stossen da wieder auf den Kern der theologischen An-
schauung Pascals, auf die Lehre vom verborgenen Gott. Vor dem
Fall ist Gott den Menschen offenbar, nach demselben hat sich Gott
von dem Menschengeschlecht zurückgezogen. Er ist verborgen, er
will verborgen sein. Nur seinen Lieblingen oftenbart er sich, ver-
birgt sich aber denen, die er nicht liebt. Die Unglücklichen können
parfaite servirait a l'esprit et nuirait ä la volonte. Dies Paradoxon erklärt
sich aus Pascals Ansicht, dass Gott die slolze Vernunft demüthigen, den
schwankenden Willen aber heilen will. Eier steht Pascal ganz im Gegensatz
zu Descartes; für diesen hängt die Vollkommenheit des Wollens von der
Vollkommenheit der Einsicht ab, vergl. seine Theorie des Irrthums, der auf
einem nicht durch genügende Einsicht geleiteten Wollen beruht.
^^^) I 67. Mon Dien, raon ca'ur est tellement endurci que la maladie
non plus que la sante . . . ni vos ecritures sacrees . . . ne peuvent rien du
tout pour commencer ma conversion, si vons n'accompagnez toutes ces oboses
d'une assistance tout extraordinaire de volre gräee.
'^5) I 68, 69.
1^6) I 70.
1") I 82.
'^^) II 296. Dien voulant aveugler et eclairer.
'") II 330, Jesus-Christ est venu aveugler ceux qui voyaient clair et
donner la vue aux aveugles.
470 Kurt Watinuth,
Gott nicht sehen, weil er in der That ihnen nicht sichtbar ist.
Auch durch AVunder, Figuren und Weissagungen können sie nicht
überzeugt werden: Gott will es nicht, '^'')
Wir sehen, Glaube wie Nichtglaube ist nach Pascal, dem
Jansenisten, eine Wirkung Gottes.
Nur der von Gott Erleuchtete kann glauben im vollen Sinne
des Wortes. Vernunft und Gewöhnung bereiten den Glauben nur
vor; dieser selbst ist ein Werk der Gnade. Nur der Erwählte,
der Erleuchtete ist ein wahrer Christ.'^') Er ist der Gerechte.
Er hat die Wahrheit, Jesum Christum; er hat das höchste Gut,
Gott; er hat die herrlichste Tugend, die Liebe zu Gott. Ihm gelten
Pascals schöne Worte: Nul n'est heureux comme un vrai chretien,
ni raisonnable, ni vertueux, ni airaable. Avec corabien peu
d'orgueil un chretien se croit-il uni ä Dieu! Avec combien peu
d'abjection s'egale-t-il aux vers de la terre! La belle maniere de
recevoir la vie et la mort, les biens et les maux!'^^)
Zusammenfassung.
Wir haben gesehen, Pascals Ansicht über das Verhältniss von
Glauben und Wissen ist einer Wandluog unterworfen.
In der ersten Periode seiner geistigen Entwickelung, wo die
Mathematik im Vordergrunde seines Interesses steht, stellt er
Wissen und Glauben als zwei vollkommen von einander verschiedene
Grössen dar.
Ihre Gebiete sind verschieden, das Wissen hat sich zu be-
thätigen auf dem Gebiete der den Sinnen anheimfallenden Wissen-
schaffen: Geometrie, Arithmetik, Naturlehre, Arzeneikunde, Bau-
kunst; der Glaube auf dem Gebiet der religiösen Wahrheiten.
Ihr Ursprung ist verschieden, das Wissen ist des Menschen
eigene That, der Glaube ist Gottes Wirkung im Menschen.
Das Aufnahmeorgan ist verschieden, das Wissen ist Sache des
Verstandes, der Glaube ist Sache des Herzens.
'80) II 263. II 281. Les propheties, citees dans l'Evangile, vous croyez,
qn'elles sont rapportees ponr vous faire croire. Non, c'est pour vous eloigner
de croire.
181) II 177. 182) II 37G.
Wissen und Glauben hei Pascal. 471
In der ersten Periode legt Pascal den Hauptton auf den
Verstand, in der zweiten auf das Herz.
Von den abstrakten Wissenschaften wendet er sich zum
Studium des Menschen. Er liest die verschiedenen, sich gänzlich
widersprechenden Ansichten der Philosophen über den Menschen
und wird immer misstrauischer gegen das Wissen. Er kommt auf
den Standpunkt der „weisen Unwissenheit": „Ich weiss, dass ich
nichts weiss!" Da findet er die Lösung des Räthsels vom Menschen
im Jansenismus. Er unterwirft seine Vernunft dem Dogma vom
Fall und von der Gnade. Im Glauben findet er das höchste
Wissen. Von hier aus erscheint ihm alles menschliche Wissen
unvollständig und unsicher. Das Gebiet der den Sinnen anheim-
fallenden Wissenschaften beurtheilt er jetzt geringschätzig: Die
Mathematik ist keine Stunde Arbeit werth! Die Theologie, und
zwar die jansenistische, die ihm das Räthsel aller Räthsel — das
des Menschen — löst, ist ihm das Centrum der Wahrheit. Jetzt
als Jansenist kennt er nur ein Gebiet der Wahrheit, das des
Glaubens. Alles menschliche Wissen ist ihm nichts gegen diesen
gottgewirkten Glauben, auf den sich der Mensch mittelst der Ver-
nunft zwar vorbereiten, den er aber nie durch sie erringen kann.
Gott allein giebt ihn dem Erwählten.
Darf ich ein Bild gebrauchen ? Bei Pascal, dem Mathematiker,
verhält sich das Wissen zum Glauben wie zwei Fürsten von ver-
schiedener Abkunft und anders geartetem Charakter. Jeder hat
sein Reich, jeder bleibe in seinem Reiche: dann giebt es keine
Grenzstreitigkeiten. Bei Pascal, dem Jansenisten, verhält sich das
Wissen zum Glauben wie der Besiegte zum Sieger. Pascal de-
nüithigt die stolze Vernunft, bringt sie zur Erkenntuiss ihrer
Schwäche und zwingt sie auf die Kniee vor dem Throne des
Glaubens: sie muss die Krone, die sie sich selbst angemaasst, mit
eigener Hand zerbrechen und dos Scopter des gottgeboreneu
Glaubens in Demuth küssen, und dieser nimmt sie auf in sein
Reich aus Gnaden.
XVII.
The Philosopliy of Plotinus
Dr. James liiudisay (Kilmarnock),
For constructive power, impressive skill, daring boldness,
sustaiued nobility, and iraposing beauty, the system of Plotiuus
has hardly ever been surpassed. Pantheistic bis philosophy is not:
tbe One and the All are not identical in bis System: the One is
transceudent, not immanent, though impersonal and unconscious:
all things wait upon the One, but the One depends not upon all
or any of thera. Rather his system seems to constitute a theism
of transcendental type, but with a method of mystical, as well as
rational, character. Still, it is easy to see how this system has
often been regarded as pantheistic, for, in that ecstasy whereby
mind knows the Infinite, the mind seems to become absorbed in
the Infinite Intelligence, and the soul loosened from individual
consciousness. His was the creative spirit that called Neo-Platöuism
into belog. And Neo-Platonism was dcstined to vanquish every
philosophical system that should array itself against it. Whatever
was best in Plato and Aristotle was seized and assimilated by
Plotinus, the influence of the former on his mental upbullding
bcing specially great. To the teachings of these philosophers
Plotinus imparted new vitality and interest. There feil to the
lot of Plotinus an environment rieh in elements for au intellectual
The Philosophy of Plotinus. 473
nature. For it was an enviroument cliarged with elements in-
herited from second Century iriaterialism and mysticism, naturalism
and hedonism, moralism and spiritualism. Founder of the Neo-
Platonic school he became under tliese conditions. He proved his
power by piercing direct to tlie metaphysical heart of PJato's
System, that he might rend it in pieces for the feeding of his
thought. Plotinus, however, differs from PJato in setting the One
above all ideas. It is his „philosophy of the One" that proves so
fascinating an elemeut of his teaching. It is characteristic of
Plotinus that the ideas have a distinct existence in the Divine
Reason. The One, the Ineffable or the Spiritual, is, as the unity
of all things, unfolded in intellectual, and afterwards in sensuous,
terms. The categories used by Plotinus in respect of the second
dement in the Plotinic trinity, which is Intelligence, — image of
the One — were being, rest, motion, identity, and diÜ'erence. The
preferences of Plotinus lie towards pure, abstract speculation. He
holds by the essence of God as the absolutely One and uuchange-
able. He, the One, has neither Form, nor Will, nor Thought,
nor Being. God, as the One, is to him source and spring of all
good. The Plotinic triad runs back to Plato — the Primal One
to the Piatonic idea of the good, mind and soul to the Demiurgus
and world-soul of Plato. The Primal Good is a principle of
absolute and indivisible unity, First Cause He is, but only in
an abstract, metaphysical sense. Reason is rooted in this highest
or Ultimate Good as its principle. The One, whose nature we
thus seek, is not anything that exists. His One, as the Power of
all things, is yet, and therefore, neue of them. As the absolute
unity, his One is the cause of all existence, and must therefore
go before it. In fact, the „First" is to Plotinus raised above all
determinations, so that we cannot strictly predicate anything here.
A great demerit thus of the System, since this supreme abstraction
of the unity of existence, away from existence itself, robs it of
all relation to the things it creates. To this Absolute Good all
reason and life aspire. All things are drawn to God — a God
who is Goodness without love. And our aspiring is through the
soul — not the seeking of the outward eye. His philosophy of
Archiv i, Geschichte d. Philosophie. XV. 4. OO
474 James Lindsay,
the One affirms tlie transcendent character and inapprehensible
nature of God in a decided way. It really amounts to this, that
the Oue is set above all contention. Not knovvn of kuowledge,
the One is known through something higher. It is known in the
breakiug of the bonds of sense, in rising, by Divine Ostupta and
contemplation of „the intelligible beauty", from Matter to Spirit,
from Soul to Reason, and from Reason to the Oue. This treat-
ment of God as the inapprehensible Oue proved the very
destruction of reason, though it was meant as its apotheosis. It
had the merit, however, to emphasise reason as the great con-
structive power. God, as Ground of the world, is, wheu we come
to authropomorphic modes of speech, mind or rational spirit.
Soul is one and many. The world-soul is chief of all souls.
There is a plurality of souls, for they are increasing. Man's
knowing soul runs back to spirit. Matter is no corporeal mass
bcside the One, but is, in fact, bodiless or immaterial — such is the
metaphysically indeterminate position of Plotinus. Matter was his
root difficulty, and proved chief obstacle to the unity he sought.
He could but reduce it to its lowest terms, which is not to do
away with its troublous presence. Matter is still with him, and
is, in fact, eternal: it is never wholly done away in the thought
of Plotinus. He took, in the last resort, a mediate view of matter,
paving the way for the Manichaeism of Augustine. The micro-
cosm — the world within — is first object of care to Plotinus;
the macrocosm — or world without — is but the reflex of what
we so find in ourselves. The world is just a mirror, in which
we see reality reflected. „But," says Plotinus, „you see the
mirror, and vou do not see matter." Mind or thought is thus to
Plotinus the great reality. His spiritualism is reached by an
introspective method of his own, easily distinguishable from Plato's
method of analogy, and Aristotle's metaphysical method of inter-
preting the world. Plotinus is, howewer, much more at one with
Plato and Aristotle in result than in method: he makes common
cause with them in upholding spiritualism, only he is able to put
the case for spiritualism in fuller form and ciearer view than
was possible to either of them. And how does he reach this
Tbe Philosephy of Plotinus. 475
higher result? By a more rigid insistence on the realisation of
inner personality, and on the signifiance of our self-identity.
Plotinus has the great merit to have been the first philosopher to
give precise and explicit account of such concepts as consciousness, and
self-consciousness. He makes such direct analysis of consciousness as
neither Plato nor Aristotle had done, so advancing upon them by exhi-
biting a distiuctive development of subjective interest and faculty.
But indeed he is too subjective: he abstracts from a single side of our
whole life, and raakes an objective law for things out of this very
abstraction. Nature is for him real only so far as it is soul.
This means further inadequacy on the part of Plotinus, for such
an idealising mode of dealing with Nature would soon rule out
all real natural science, and land us in the dreamy' and mysterious.
The soul is the seif, and can by no possibility be material. The
soul is the product of spirit — its nearest result, and its activity
renders matter corporeal. Since soul so works upon matter,
everything in the world of sense is this soul or spirit. Hence
Plotinus is able to spiritualise the corporeal world, to idealise the
Universe. Soul is, in fact, the central core of his system: every-
thing, within and without us, is soul, and the trouble is just to
make soul capable of explaining all the antitheses to be found in
different spheres of being. The outer, or material, is for him but
as shadow of substance, or husk of kernel: the substance or
kerne! is the hidden spiritual, or ideal. His spiritual monism
would keep the unity in the soul of the whole, and yet provide
for the reality of particular souls. The immateriality of the soul.
he at least defends by arguments, drawn from w4der reach than
Plato or Aristotle had known, and inclusive of feeling, as well as
thought. When he comes to deal with the nature of thought —
thought which to him is motion — he is able to maintain its
incorporeal character in ways tliat form striking anticipations of
modern philosophy. Tlie advance of redemption from reality as
given is the basal thought of Plotinus: his conceptual knowledge
worked its wav, as we have seen, through the different world-
materials — body, soul, spirit — up to the presentiment of the
World-Soul. Plotinus comes within uear psychological view of
33*
476 James Lindsay,
modern idealistic methods, wlnch yet elude Ins grasp. A real
unity, however, he did attain by an idealism of his own. Besides
which, it may be said that Neo-Platonism — minus its mysticism
— was, in many of its leading aspects, a precursor of modern
Idealism. A tolerably pure form of rationalism it was, with a
subtle dialectic of its own. Plotinus relies on the divisibility of
corporeal substance, and the unity of consciousness for the working
out of his argument against materialism. He does not, however,
separate between consciousness and its objects in any such absolute
fashion as that of Cartesianism, for he allows to the soul, in some
sort, divisibility and extension. As for personality, it does not
seem as though individual personality were so truly providcd for as
it might appear in the System of Plotinus, since it rather seems
lost in the necessary movement of the universal life of spirit. For
there can be no doubt that, in the System of Plotinus — ema-
national in effect in the end — there is a procession of all things
from the Absolute, and an inclusion of all things in Him. Yet
did not Plotinus wish the world viewed as an emanation from
God, with the loss of substance attendant thereon. We return to
Him by ecstatic elevation. The goal of Plotinus for individual
personality appears to be merely that indeterminateness in which
there is an unconscious unifying with the World-Ground, or a
sinking into the All-One. Not only the materialism of the Stoics
does Plotinus vanquish, but also their fatalism. But his spiritua-
listic doctrine of freewill is not that of the moderns, holding to it
as a fact of consciousness; rather it is a Platonizing mode of
conceiving the soul free as it truly realises the conditions of its
own Spiritual existence — that is to say, sulfers no subjection at
the instance of body or matter. For matter, though only an
indeterminate dement, and denied real being, is yet regardcd as
a cause of evil, and a limitation. He strove to solve the problem
of physical evil by accounting for it in a variety of ways. He
knew the world to be by no means perfect, and yet it was the
World of the One, therefore the only possible world. On the wi-
dest issue, we may say that in nolhing is the philosophic genius
of Plotinus more discernible than just in the way he concentrates
The Philosophy of Plotinus. 477
his forces on tlie issues of spiritualism, as opposed to materialism.
It is his abiding merifc to have put tlie case for spiritualism with
skill and force that had not before been equalled. This need not
blind US to the defects of his mysticism, which tended to obscure
the movements of thought, and turn it aside from reality and
cxperience. Cognition becomes, with Plotinus, too little an appro-
pviation of objective truth, too much something eflfected within the
soul by a certain interior contemplation. And when, rising from
self-contemplation, man attains to the contemplation of the One,
he loses thought and self-consciousness, and a state of ecstasy
supervenes. This is human Cognition at its highest, in the
Plotinian view, To this end mystical asceticism becomes essential.
This somewhat unnatural feature of Neo-Platonism — an asceticism
directed really against corporeal nature as something in itself evil
— made it incapable of efifecting the moral regeneration of
Paganism. In his vision of the hidden and ineftable Beauty,
Plotinus undoubtedly tends to despise the thought in which he had
before taken delight, because of the movement which such thought
involves. With great power, Plotinus insists on the need to find,
and recognise, beauty within ourselves, so that thus we may rise
to the recognition of „the intelligible beauty". Such beauty is
hid but from the soul that is by self-will blinded. We need
hardly, however, deny, although saying these things, a place to
meditation, or the mystic gaze of contemplation, on which
Plotinus lays so much stress, for reason may be fully present
where thought is least active in its search or out-goings. The
baneful result accrues when the mystical or ecstatic elevation
becomes the negation of reason, and there is no doubt that this
tendency was a real result of the teaching of Plotinus. Grave
dangers lurk in the path of such direct vision as Plotinus incul-
cates. Short of these dangers even, the solitude he contemplates
for US — as what he calls a flight of the alone to the Alone —
is apt to be ratlier unfruitful. Besides which, it is a graft
on his philosophy — a graft from his religion — and must
be treated as such from a philosophic point of view. But
the ecstatic and subjective experience was by no means either
478 James Lindsay, The Philosophy of Plotinus.
fount or foundation of bis philosophy, as has often becn imagiued.
Virtue, with Plotinus, is „obedience to reason", and the liighest good
is reached in being entirely turned to reason, and „likeness to God".
The influence of Plotinus on subsequent speculation has been
great. It pervaded the Middle Ages, and pierced through tlie
Renaissance. Senses there are in which he is metaphysical
precursor of Spinoza, and of Spencer, whose Unknovvable is
declared in less self-consistent terms than that of Plotinus. This
it not, of course, to say that Plotinus has conceived or defined,
with adequate or satisfying definiteness, his primal One — which,
in fact, he has not done, But Plotinus has continued to be an
original spring of philosophic thought and impulse all through the
history of speculation. The philosophy of Plotinus has the great
merit of magnifying the constructive power of reason. It has the
further virtue of emphasising that, as all thought involves duality
or difference, so God must precede and transcend all thought, or,
in other words, it had the merit of carrying the conception of
God beyond all anthropomorphic modes of expression — to an
Absolute, in which all thought is transcended, and all consciousness
lost. But such an unknown God would be of little interest, since
Hc could give no guidance to thought, and the entire movement
of mind towards Hirn would wear an abortive and illogical aspect.
So the Infinite must come into real relation to us. And to the
Neo-Platonist, it sccmed necessary to draw himself off from matter
as an obstructive medium. His upward ascent from matter is in
kecping with the native aspiration of the human mind. So the
philosophy of Plotinus was able to give distinctness and elevation
to the Piatonic philosophy. Where the philosophy of Plotinus
seemcd most to lack, was in its need of nearer and kindlier
contact both with the moral problem of the world, and with
the social difficulty. Surely we may say that no philosophy can
afford either to shut off God from the light of the woild, or to
shut off the light that is in the world, from God. The Divine
Life, in its unfoldings, enfolds our lives, so that, in making us
partakers of its own natiire, the divine purpose in these lives may
freely and surely move to its accompiishment.
XVUI.
Les Matlieinatiqiies et la Dialectique dans
le Systeme de Piaton.
Par
G, Kodier, Bordeaux.
Platon distingue, dans le Politique^), deux sortes de sciences
de la mesure ([xs-pr^nxr^). La grandeur et la petitesse, dit-il, ne
doivent pas seulement etre appreciees dans leur relation reciproque,
mais aussi par rapport ä la juste mesure, -po; xo pixpiov ou xaxa
xTjv x^? ^evsaecoc dva^xaiav ousiav. II faut renoncer ä soutenir qu'il
n'y a de grand que par rapport au petit et reciproquement, et
admettre que Tun et l'autre peuvent etre par rapport au üixpiov:
st -po; u-/)osv sxspov xyjv xou fisi^ovo; sacis'. xic cpuaiv r^ zpö; xo-jXaxxov,
oux saxoti 7:oxs Trpo; xö [xsxpiov -^ "fip; (284 A). La mcme distinction
est dejä iudiquee dans le Protagoras'), oü nous lisons que, si
le bonheur consistait ä rechercher et ä choisir les grandes dimen-
sious et a eviter les autres, ce serait l'art de la mesure qui nous
l'assurerait, et qu'en fait c'est bien la metretique qui doit nous
servir de guide, mais une metretique speciale (usxoYj-txrj xic, 357 A),
Celle qui a pour objets l'exces et le defaut (uirspßoXrp xs xal =v-
J) 283 C sqq.
-) 35GD sqq.: d ouv h xojtiij Tf,iJ.Iv f^v t6 eu TTpaTxeiv, h xiu xd [aev [xz^dla
(jLrjXT] xal -pccTXEtv vm XafjLßavstv, xa U (xixpä xai tpi'jyetv xai [atj Trpct'txeiv, xf;
av fjijiiv acoTTjpia rfavrj toü ßfo'j; ap' ^j [AErprjxtXT) te/vt) . . . xtX.
480 G. Rodier,
osta? xiyvr^). Cctte proposition paradoxalc que le grantl et le petit
peuvent avoir un sens independamment de leur lelation rcciproque,
a manifestemcnt, aux yeux de Platou, la plus grande importance.
Non seulement il la repete avec une insistancc significative (283 D;
E; 284 A; B; D), mais il la considere comme le peudant de la
conclusiou ctablie dans le Sopliiste sur l'existence du uon-etre:
xai)aTCSp iv zm aocptar^] T:poarjVcc(xa!3a[i.£v sivat xö ar] ov, .... ouxto
xai vuv t6 ttXsov au xal iX^ixov p,öxp-/)xa TrpiocJava-cxotaxsov «^qvsaOai
ij-Tj TTpo? äXkr^a [j.6vov otXXoc xcd Trpo; xtjv xou jjisxptou -^svcatv. Malheu-
reusement, daus le Politique, eile est plutot postulce que de-
montree, et le sens meme n'en est pas explicitemeut indique.
Toutefois, une chose au nooins y apparait clairement : c'est que
l'art de la mesure qui ne tient compte quo de la grandeur et de
la petitesse relatives l'une a l'autre et qui ne s'occupe pas du
grand et du petit rapportes a la convenance ou ä la juste mesure,
consiste dans les mathematiques^). Mais ä quoi correspond l'antre
espcce de metretique? Est-ce de la dialectiquc qu'il s'agit, et, en
ce cas, commcnt faut-il concevoir ses rapports avec les niathe-
matiques?
De toutes les sciences, les mathematiques sont, pour Piaton,
Celles qui se rapprochent le plus de la dialectique. II y a, sans
doute, une geometrie et une arithmetique vulgaires, mais il faut
avoir bien sein de ne pas les confondre avec la geometrie et
l'arithmetique philosophiques qui considereut des figures abstraites
et des unitcs absolument egales et homogenes*); le mouvement
vrai, le nombre vrai, la figure vraie n'ont plus rien de sensible^).
Aussi les mathematiques constituent-elles la meilleure preparatiou
2) Pol., ■284E: £V jj.£V T[!)dvT£s aütr); (sc. xt]c, fjLeTpTjTixT)?) fAoptov ?u|j.TOaas
TEyvas, ÖTidaai töv cipiDp-öv xai (^-/jxr) xat ßcc'ör) xai TrXaTT) xai Tajfüxrjxa? rpo?
TO'jvavTi'ov [j.£xpoüai, x6 oe exepov, ÖTro'aat Trpos xö (j-expiov, -/ai xö TipeTTOv xal xov
■icatpov xai xö o^ov . . . xxX.
■*) Phil., 56 D sqq.: xf oe; ^oyiaxt-/.)) xat (j.sxpTjTixrj rj -/axa xexxovtxTjV xai
xax' Ijj-TTopixrjv tt]? xaxä (piXoaocpfa? Y£U)[j.£xpio(c xe xat Xoyta[j.tüv xaxa(XEXexu)[X£vu)V
TioxEpov (MS fAt'a ExaxEpa Xexx^ov (^ O'jo xi9(I»[J.Ev;
^) 11 ep., VII, 52'JD: xö öv xdyo(; xai ii oüaa ßpaouxrjs ^v xtü äX7]9tviu
äpiOpiw xai Ttäat xoT? äXrjOEai o/rjfjLaot . . . a o/j Xoyu) [aev xai ötavotqt XrjTcxa',
0(j;£i 0 o'j.
Les Mathematiques et la Dialectique claus le Systeme de PlatoD. 481
a la dialectique'^). Mais il y a plus: il semble, a certains egards,
que les mathematiques se coufondent avec la dialectique elle-memc.
Les scieuces, dit ä pcu pres textuellement le Philebe'), noat
guere de veritablement scientifique que ce qu'elles contieuueut de
mathematiquc; il est questiou, dans le meme dialogue, de la sphcre
en soi (62 B: acpcttfia; auxr^<; i^; Ocicts). Nous lisons dans le
Phedon^) que l'ame, anterieuremeiit a son existence ici-bas, a
coutemplc regalite, la grandeur et la petitesse et toutes les choses
de ce genre. Comme la dialectique, les mathematiques ont pour
objet l'etre eternel soustrait au deveuir^). Les choses mathema-
tiques sont saisies par la meme iatuitioii intellectuelle que les
Idees^°). Enfin, la connaissance des concepts mathematiques a la
meme origine en nous que celle des Idees: c'est a la reminiscence
que nous devons l'une et l'autre"). Quelle difference y a-t-il donc
entre la dialectique et les mathematiques? — Dans le passage du
Politique oü les deux sortes de metrctiques sont comparees Tunc
a l'autre, Piaton emploie, pour caracteriser la seconde, celle qui
tient compte de la juste mesuie et de la conveuance, les expressions
xctxa TT^v -r^s '(zviasmc dvoc^xotiav ouaiav. Nous trouvous plus loin,
ä deux reprises difterentes. que cette sorte de [isxpTjTixy] a pour
but TTjV Tou |j,sTptou -(iveaiv. — Etant donne que, dans les trois
passages oü les deux sortes de metrctiques sont opposees l'une a
l'autre d'une fagon precise, l'expression ■ysvsai; est toujours employee
ä propos de la seconde, nous devrions admettre, semble-t-il, que
ce terme designe un attribut caracteristique de celle-ci, (|ui
n'appartient pas a la premiere. Mais une autre chose encore doit
6) Rep., VII, a partir de 522 Ü.
^) 55 E : otov, nccaüiv tiou T£'/v(üv dv xi; (ipt9[j.T,Ttv,rjv j^topt^T) xat (j.£Tpr,Tixr)v
y.ai STarix-^v, oj; Itto? efTtstv, cpaüXov xo xocTC(X£t7id[J.£vov IxaaxT]; av -ji-cJoiTO.
*) 75 C : oü (J.OVOV xo i.'aov xat x6 [j.£tCov "/ai x6 eXaxxov äXXd xai ^'jijLTiavxcz
xä xoiaüxa. Cf. 74 E_: aüxo xo t'aov.
^) Rep., VII, 527B: . . . ib; xoü ad ovxo; ■^wvn'szwi akV o'j xoü -oxe xt
YlYvo[j.£vou xal ä7roXXu[j.QVou. £üO|j.oXoyoxTjXov, ecctj. xoö yip dd övxo; /) yEiup.ixptxrj
yvöiaic Eoxiv.
'") Ibid., 525 A; C: ouxto xwv dytuywv civ eI't) xai p.£xaaxp£itx[xcöv sm X7]v
xoü ovxo; y£av ij uEpi xo ev p.diirjat? . . . äXX' k'tus dv ini Deav xf,? xuJv dptOpiüJv
cpüa£ü); dcpixü)vxat x^j] voi^a£i auxT]. . . .
1') Man., 82B sqq.; Phedon, 73A.
482 ö. Kodier,
attirer l'attention: c'est Ic rapprochement, dans le premicr de ces
passages, des mots 7£V£CJt? et oustot. Le plus souvent, Piaton oppose
directement la ylvsat? a l'ouata, comme le phenomene a l'ctre");
ouaia de.signe, presque constamment, l'etre vcritable ou l'Idee.
Uno generation qui a pour objet une ouai'a, iic peut donc pas etre
une generation au scns physique et sensible du mot. La Ysvsais
dont il est question ici est, bien plutot, la generation logique qui
constitue la vraie division'') et qui nous empeche de poser par
12) Cf. B.Ritter, Piatos Politicus Beiträge zu seiner Erklärung,
Progr. Ell Wangen, 1896. — Rep., VII, 534 A; 525 B; Tim., 29 C et saep.
13) II nous parait impossible d'admettre que Piaton lui-meme ait considere
les divisions qui servent ä trouvcr les definitions du sophiste et du politique,
du pecheur ;i la ligue et du tisserand, comme des exemples, au sens propre
du mot, de la division veritable qui est une moitie de la dialectique. Ce ne
sout que des exercices propedeutiques, destines a en donner une idce exterieure
et approximative. D'abord, en effet, si la division proprement dite n'etait
rien de plus, on ne comprendrait guere, ni l'admiration de Piaton pour celle-ci,
ni son insistance a en faire ressortir les immenses difficultes. Est-ce bleu ä
ces classifications, trop arbitraires pour qu'il soit Jamals impossible d'en venir
a bout, que pourrait s'appliquer le mot de Socrate dans le P bliebe (16 B):
Ol» [J.T]v saxt zaXXt'üJv öoo? cjo' av yevoito, rfi v(ui IpaST/i? piv e(fj.t izl, TroXXctxi;
U (J.C 7/07) otacpuyoüaa £prj|j.ov xott ctTiopov v.aTeaTr^se . . . r^v OTjXöiaai [jiv ob Tiavu
yaXsTiov, ypriaöat o£ -ayx«Xe7:ov. ' En outre, un des caracteres les plus essentiels
de la dialectique est, d'apres Piaton, qu'elle doit accomplir sa fonction inde-
pendarament de tonte donnee sensible et empirique (Rep., "VI, 5I1C: a{a9rjTtt)
7iavTC(7raatv oüoevl 7rpoa-/pa)p.£Vos . . . xxX. Ibid., VII, 532 A: tiu oiaX^yeaSai
rhvj TiaaüJv twv otfaö/jaewv oiä xoü Xoyou. Phil., 58 A: La dialectique a pour
objet TÖ ov 7.at xö ovxu); v.cd x6 y.axd xaüxov äel 7iecpu-/.ds)- Comment admetlre
qu'il ait pu se meprendre au point de considercr comme satisfaisaut a ces
conditions, des recherches uniquement fondees sur les faits et l'experience
sensible et aboutissant a l'absurde des qu'elles s'en ecartent tant soit pcu?
Enfin, dans le Politique meme (287 A et 285 D), ces recherches ne sont pas
presentees comme devant avoir pour resultat immediat la Constitution d'une
partie de la science dialectique, mais seulement comme des exercices pre-
paratoires destines a nous rendre plus aptes ä la pratiquer (otaXexxixuixspo'j;).
Les veritables exemples de division dialectique que Ton trouve dans Pl&ton
ne sont pas ceux-lä. Ce sont ceux, ayant naturellement pour objet les con-
cepts les plus göneraux et les plus simples, que nous offrent le Parmenide
et le Sophiste. Nous ne pvetendons pas que Piaton ait vraiment reussi ä
faire sortir a priori, de l'etre, le mouvement, le repos etc. Mais, quelle que
soit la valeur de son argumentation, c'est plutot lä qu'il faut chercher la
division dialectique que dans les classifications puremcnt empiriques dont
nous avons parle. 11 est assez caracteristique que les cousideratious du So-
Les Mathematiques et la Dialectique (laus le Systeme de Piaton. 483
exemple l'etre, sans poser, en consequence, le mouvement et le
repos, le mcme et l'autre ete'^). Le meme rapprochement ne se
retrouve, a notre connaissance, que dans un autre passage de Piaton.
Le mixte est designe, dans le Philebe^^). par les mots de ysyscii;
zU oust'otv. Or il nous parait au moins tres vraisembable que le
fiixxov du Philebe comprend, entre autres choses, les Idees'^). A
l'observation de Zeller, que l'appellation de "j-evsai? zh ouctav ne
saurait convenir aux Idees qui sont soustraites au devenir"), on
peut opposer que l'appellation de ouaia peut, encore moins, s'appli-
quer au sensible. Du reste, un celebre passage du Sophiste
(248 A sqq.) prouve que c'est bien d'une generation des Idees que
Piaton entend parier; c'est celui oii il reproche aux Megariques
d'exclure absolument la '(ivzan; de l'oucta: -(ivsaiv, -yjv o' ouaiocv
^tupi? TTOU oisXofjLsvoi Xs^sTs: ri '(«p; cf. 248C: irpos or] -autot toos
Xi-^ooaiv, oTt i'cvsasi ixlv jistsaxt tt^s tou Tzdaytv^ xal ttoisiv ouvaij-öcoc,
Trpo; 8' ouai'av xouttuv ouoexspou xtjv ouvafj-iv otpjJioxxstv cpaai'v. — II
y a donc une generation des Idees, et c'est cette generation qui
fait l'objet de la metretique superieure ou de la dialectique.
Est-ce lä son caractere distinctif, et est-ce par la qu'il faut ad-
mettre qu'elle differe de la science mathematique? Cette Solution
est exclue ä la fois par le temoignage d'Aristote et par les propres
assertions de Piaton. Aristote^^) nous apprend que Piaton eugeu-
drait la ligne Ix [jiaxpou xal ßpaj^loc, la surface sx TrXaxso; xotl axcvoo,
le volume sx ßaOso? xotl xatrcivou, et ce que nous lisons a la lin
du XIIP livre de la Met aphysique'^) sur la generation du
phiste (253 B sqq.) sur la methode de division soient precisement intercalees au
milieu de cette sorte de division rationuelle du genre de Tctre. De meme
que le grammairien sait combiner les lettres pour faire les syllabes, de meme
le dialecticien sait combiner les genres pour faire les genrcs plus complcxes
(Soph., 252 E sqq.); et, si le sophiste est un homme qui sait faire les simu-
lacres des choses (Ibid., 233 D sqq.), ne devons nous pas eu conclure que
le dialecticien est celui qui sait faire les realites?
1^) Aristote emploie coustamment les mots yevvöcv, yEvväaöat quand il
s'agit de la generation des Idees-nombres. Cf. Meta., A, 6, 987b, 34 et saep.
15) 26 D.
^^) V. nos Remarques sur le Philebe, Revue des Etudes anciennes
(Annales de la Faculte des lettres de Bordeaux), t. II, p. 87.
"') Ph. d. Gr., II, 1*, p. 692, n. 1.
'8) Meta., A, 9, 992a, 10 cf. M, 2, 1077a, 23.
19) 1085 b, 4.
484 G- Rodler,
nombre, s'applique aussi bicn au uombrc raathcmatiqiie qu'au uoiubre
ideal. D'autre part, nous voyons dans le Timce^°) que les volumes
sont engeudrcs par les surfaces, les surfaces par les triangles et
tous les triangles par le scaleue et Tisoccle rectangles. Enüti,
dans le Phil ob e^'), a l'observation de Socrate qui fait remarquer
que l'operatiou de l'egal et du double (irspa?) sur FaTrsipov produit
le nombre, Protarque rcpond: [j-avöavoi- cpaivst yj.^j fxoi Xs-^öiv, [j.i-jvus
Tctuia, 'i'evsasis xiva? sc' exaaioDv «üxüiv aujxßaivciv. Los concepts
mathcmatiques sont, tout comme les Idees, des mixtes engendres
par le nielange du Tcipaq et de rdcirstpov^^). C'est donc ailleurs
qu 11 faut cherclier la difterence.
Puisque, dans la definition de la mctretique qui a pour objet
xrjv TTj? Y^viaeo)? ava'j'xaiav ousiotv, ce ne sont pas les mots x^s
7£V£ö£(i)? qui en expriment le caractere propre et distinctif, c'est
Sans deute dans otva-jxatav ouaiav qu'il faut le trouver. Nous lisons
dans le Philebe^^) que, pour expliquer les choses, il faut ad-
mettre, indopendamment de l'infini et de la limite, dont le melange
les constitue, un autre principe, a savoir la cause (atxia) de ce
melange. II faut distiuguer, dit Piaton un peu plus loin^')^ 1'^
gcncration (-(EvsaiO et Tessence (ouatot). De ces deux choses, c'est
la seconde qui est le but de la premiere: chaque gcncration a
pour flu une ouai«, et toute la generation a pour fin toute roüaia:
£X7ax-/jv 8£ -(Iveötv aUrjV ä'XXyjs ouata? xivo^ Exacxyj? svexa i'q'VEaöai,
^ufjiTraaav §£ flvEOiv ousia? fvExa -"j'qvEaOai ^ufXTraayjs. Or ce en vue
de quoi se produit tout ce qui se produit £v x-^J xoij a.'(ci\}rjo ij-oipa
IxsTvo Esxi. La cause de la generation c'est donc la linalite ou
le bien. Le Politique nous dit, de mcme, que la mctretique
supcrieure doit considcrer xö p-lxpiov xcd xo TTpiirov etc. Cela nous
indique en quoi la ^ivEat? des concepts mathcmatiques diftere de
la 7£V£(3is des Idees. La premiere est une generation oü la finalite
20) 53 sqq.
21) 25 E.
2-') Cf. Phil., 25 A: o t( irsp ctv Tipo; äpiO|j.6v äpiO|i.ö? t] [AExpov f, lipo;
[jL^rpov.
23) 26 E sqq.
24) 54 A sqq.
Les Mathematiqnes et la Dialectique dans le Systeme de Piaton. 485
ne joue auciin role et qui, par suite, n'engendre que des possibi-
lites, non des realites, car toute generation d'uue cliose reelle est
en vue d'une fin^^). Le monde des mathematiques reste un monde
de pures possibilites parce que le principe du bien n'y joue
aucun role.
Cette Interpretation de la distinction Platonicieune des deux
metretiques nous parait confirmee d'abord par la fin du VI'' livre
de la Republique, le seul endroit, a notre connaissance, oii Platou
oppose explicitement les mathematiques ä la dialectique, en second
Heu par les indications d'Aristote sur la difTerence des nombres
mathematiques et des Idees-nombres.
üansle celebre passage de laRepublique^*^), Platou, apres avoir
distinguc deux especes d'intelligibles, caracterise ainsi ceux qui
fönt l'objct des mathematiques: toüto toivuv votjtov jisv xo sloo?
iXe-^ov, uTToOsScCit o' ava^xcxCoiJ-sv/iv '^oyr^v )(p7jai)7.t Trspi Tr,v C,r^Tr^alv
auTou, oux STC c«p)^rjV loOaav ojc ou ouvafjisv/jv täv uTroOsastuv avcu-
xepto sxßatvstv, stxoat os ypcofxlvr^v ctutoT? Tolq otto xüiv xocxo) arceixa-
aösiai . . . etc. Quelques lignes plus haut, il explique ce qu'il faut
enteudre ici par hypotheses: ot izapi x«? YS"^P--'^P'°t* • • • ''^~^- • • •
u-oöstxsvoi x6 xe Tteptxxov xai xb apxiov xott xa ayrniaxa v.a\ "((oviüiv
xptxxa si'Sr] xal aWa xouxoov aSsXcpa xai)' exasxr^v [xedoSov, xauxa [isv
u)C stSoxec, TTotyjaafjLSVoi UTroOlaei? auxa, ouosva Xo^ov ouxs auxot? ouxe
aXXoi; £xi d?iouai irept otuxwv oioovai oj; Travxl cpctvepuiv, sx xouxojv
o' dp)(6(jL£voi xa Xoi-ira Yjorj ois^iovxs? xeXeuxoiaiv 6(i.o>vOYOufxsva>; stti
xouxo ou av ETTt ax£«|/iv opfxr^cjcuaiv. Enfin, un peu plus haut encore,
nous voyons que, dans les mathematiques, Tfime xoT? xoxs x[j//jOeraiv
(c'est a dire les donnces sensibles qui ont ete anterieurement di-
visees) wg sixoat ^^ptofisv/j C'/J'^s^v dva^xaCExai e^ uTioösastuv, oux sir'
dp-/7jv TTopsuofisvTj, otXX' £TTt xsXeuxyjv. D'aprcs un grand nombre
2^) Cf. Phil., 64 A: äXka [atjv xat xdoe ye dvayzalov, xctt oux ä'ÄXo)? av Tioxe
YEvotTO O'jo' av £v. — xö TTOIov; — (5 [j.Yj [j.isop.iv äX/jOstav oüx av ttote xoüt'
äXYjtlüJs Y'P°''^°' °^°' ^'^ Yevd|j.£vov e'i,V]. — Daus cette phrase, on l'a remarque
TApelt, Arch. f. G. d. Pli., t. X, p. Iß), äXiqileia designe, comtne dans beaucoup
d'autres passages de Piaton (Rep., VI, 5011); 508 D et saep.), la realite; et
la generation purement possible qui s'opposo ;i celle dont il est question ici
est notamiuent, sinon uniqueinent, Celle de coucepts matliematiqiies.
■^'') 5 1 1 A sqq.
486 G. Kodier,
d'interpretes, Piaton voudrait dire que la methode des geometres
dillere de celle des philosophes eu ce qu'elle prend pour point
d'appui uu Clement emprunte ä l'experience et qui est une simple
image de l'Idee, au Heu de se mettre en presence de l'Idee pure.
Zeller -^) estime que ce qui distingue les mathematiques de la
science au sens etroit du mot, c'est qu'elles fönt connaitre l'Idee,
non purement en elle-meme, mais dans les objets sensibles. Ce
n'est point en cela, a notre avis, que consiste la diflerence. Piaton
est le premicr a reconnaitre que la figure dont s'aide le geometre
n'est pas Tobjet de la demonstration^^) et que le triangle qu'il
considere n'est pas le triangle sensible, mais celui que oux av
aXXu)? looi Tt? T] x-fl oictvoia. Dira-t-on que le sensible joue un role
dans les mathematiques, precisement parce que c'est dans les
figures sensibles qu'il faut apercevoir les figures intelligibles? Mais
on pourrait faire exactement le memo reproche a la dialectiquc,
puisque c'est par la connaissance sensible que celle de l'Idee est
provoquee gräce a la reminiscence. Ce que Piaton veut dire et
dit aussi nettement qu'on peut le desirer, c'est que les definitions
mathematiques, principes des demonstrations, sont des hypotlicses
et restent des hypotheses; que le geometre raisonne ainsi: si le
triangle est et est teile chose, teile autre chose s'ensuit. Mais que
le triangle existe en realite, c'est ce quil prend pour donne et ce
qu'il ne demontre pas^^). II resulte assez clairement des passages
de laRepublique que nous venons de citer, que tel est bien le
sens attribuc par Piaton a Cr^zaiv i^ uttoOsssoj?. Mais un texte du
Menon le confirme jusqu'a l'evidence: j'entends par i^ ur.oHazo);
axoTTsiaÖai, dit Socrate, la fayon dont proccdent souvent les geo-
metres lorsqu'on leur pose une question, et qu'on leur demande,
") P. d. G., II, 1*, p. G34: von der Wisscnscliaft im engeren Sinne (sc.
unterscheidet sie diess), dass sie die Idee nicht rein für sich, sondern erst
am Sinnlichen erkennen lassen.
2») 1. 1.: Toi; öpcofAEVOi; ei'oeai Tipoaypüivtat -ical to'js Xclyou; irepl aütcöv
TTOiO'JvTat, ou itepl toÜtüjv 0[avoo6[j.evot, äXX' Ixeivtuv Tiepi, ok xauTa £Ot-/.e, xoü
TiipcifMWJ ahzo'j svexa to-j; Xdyou; TTOtoüfAEvoi xai otajXExpo'j «üttj?, dXlC ob
TaÜTTj? TjV Ypc<cpo'jat, v.aX toKKol o'jtüj; . . . xtX.
23) Cf. Arist., An. post., II, 9, 93b, 24: /.ac y«P ^<- ^«' ^'l^ f^°^^oa
ü-ot(&£Tcti (sc, b cJptS(jLT)Tixö;) xal fki eattv.
Les Mathematiques et la Dialectique dans le Systeme de Piaton. 487
par exemple, si tel triangle est inscriptible daus tel cercle. Je ne
sais pas, repondent-ils, s'il eu est ainsi; mais voici une hypothese
qui peut servir a resoiidre la question: si tel angle est egal a tel
autre, teile chose en resulte et teile autre chose s'ensuit, au con-
traire, s'il n'est pas egal. De meine, pour raisouner sur la vertu
a la fa^on des geometres, nous devrons dire: Si la vertu est ceci
ou cela, il en resulte qu'elle peut ou qu'elle ne peut pas s'enseiguer.
En somme, les demonstrations des mathematiques sont necessaires,
mais leur point de depart est la defmition d'une possibilite, et le
mathematicien ne s'occupe pas de savoir si celle-ci correspoud ou
non ä une realite. C'est pour cela que la marche des mathema-
tiques n'est pas It:' otp^rjV mais kin xsXsuTr^v. Au lieu de s'attacher
a remonter d'abord au principe, elles demontrent la consequence
du principe hypothetiquement admis. II n'y a en elles que ce
genre de necessite qu'Aristote appellera precisement ava-jXYjv s?
rj-Kobiazio; : si la maison existe, les fondations existent. La dia-
lectique, au contraire, n'atteint pas seulement le possible ou les
consequences necessaires du possible, mais elles'eleve d'abord jusqu'au
principe universel des choses et redescend ensuite, de ce principe,
jusqu'aux dernieres realites: ... 6 Xo-^oq ~-q xoo oiotXs^saöai
Suva[xei, xa? uTroftsasi? ttoioujxsvo; oux ap;(a?, aKkä xw ovxi uiroösaeic,
otov STLißaasts xs xal 6p[Jtots, iva [J-sypi xou dvuTioösxou s::! xtjv xoS
Travxö? dp'/jiv ia»v, a'La[j.evos auxTJ?, ttk^iv au £/6[xevo; xoiv ixst'vr^?
£j(0{x£va)v, oüxo)? ETTi xE^Euxr^v xaxotßotivcj, aiGÖ'/jxw Travxociraaiv ouosvl
•7:poa)(ptü[XEvoc, 7.XX' si'Ösaiv auxoT? oi' auxcüv si? auxa xai xsXsuxa ek
Etörj. On reconnait aisement ici la dialectique ascendante et la
dialectique descendante, la auva^cu^yj et la hiaiptaig. La premiere
consiste ä s'elever, d'Idee en Idee, jusqu'ä l'avuTto&Exov qui servira
de principe pour parcourir la meme serie en sens inverse, mais,
cette fois, en engendrant rationnellement, gräce au principe decou-
vert, chacune des Idees que l'on posera. La division apparait
ici comme le plus important des deux moments de la dia-
lectique et le seul qui seit vraiment rationnel. La dialecti-
que ascendante monte, de generalite en generalite, jusqu'au prin-
cipe des choses; les Idees ne sont encore pour eile que des points
d'appui (s-ißotcjai; xoct opfxa?) pour arriver jusqu'ä lui. Elles restent
J
488 ^- Kodier,
des generalites empiriques jusqua ce que la division, partant du
principe qu ellcslui ont permis d'atteindre, les construise rationuelle-
ment, et c'est bieu ä la division seule qu'il faut appliquer les
mots eiosaiv auioTc, oi' otuiÄv, d; otuTa etc. Le principe que Ton
atteint ainsi c'est le Bien: xal xoT? 7qv{uaxo]j.lvoi? toivuv, [xtj jxovov
TÖ Yi-j'vwsxssOai odvai dizo tou d^adoo uapeTvai, afXd xcti to sTvai xs
zoti i7;v ouaiOLV u-' i/eivou auTOis rpoosTvai, oux ouai'a; ov-oc tou
7.Y7.9ou, dXX' Sil ETTSXoiva xr^c oöata; irpecißsia xal ouvotfiei uTrspsyovxo?^").
Ainsi, d'apres la Republique comme d'apres le Politique, ce
qui fait la superiorite de la dialectique sur les matliematiques,
c'est qu'elle est en possession d'un principe qui lui permet de
construire non plus de simples possibilites, mais des realites, et ce
principe est, d'apres les deux dialogues, celui du Bien. II est au-
dessus des essences parce que c'est lui qui permet de les engendrer;
il les surpasse en puissance (ouva[i£i), parce qu'il est leur cause, et lui-
meme et sans cause est sans generation (ou -(ivzaiv auxov ovxct). Le prin-
cipe de finalite est donc la loi et le moteur de la dialectique descen-
dante et, de fait, dans l'exemple de division veritable que nous offre le
Sophiste, nous voyons que c'est sur la finalite et sur la convenance
que Piaton s'appuie pour passer de l'etre au mouvement et au
repos^'). La source des existences est l'Un ou le Bien ^-), et la finalite
dirige le courant contiuu qui s'en epanche. Les principes du
raatliematicien, au contraire, restent des hypotlieses isolees, que
rien ne relie au principe de toute existence. A tort ou a raison,
Piaton croit, comme Aristote^^), que la definition liypothetique de
la figure peut se poser independamment de celle du nombre, par
exemple, et que ni Func ni Fautre nc se rattaclie ä Tap/j^ de
30) Rep., X, 509 B.
3>) Soph., 248 E: Ti oal -pö? Ato;; (u; ci^Siö; xi'vr,aiv-/ai C«urjV xat 'I^'J/r^v
y.ai cppov/jcriv ^^ paotiu; T:E'.c<)rjaotj.E9a tu7 TtavteXw; ov-t |j.7] TiapEivat, [t-rfik. Cv
a'jto {J.T,0£ (ppoveTv, dÄXa C£,u.vöv y.al ayiov voöv cjx l/ov äxtvT,TOV estÖ; elvai.
3-') Meta., A, 6, 988a, 10 (et saep.): xa yip tBr; roü xi eaxtv ama xoi;
ötXXois, ToTs oi Eioeai x6 ev.
33) Meta., N, 3, 1090b, IG: (xrj ovtos y^P ^o^ äpt9[jLo"j o-jÖev t^ttov xa
ixeyeDtj satat xoT; xä [j.a9r]iJLaxtxc( [aovov eTvcii cpa[A^voi; . . . oüx EOtxs 5' i; cp'iat;
£-£tcoöuuOTj; o'jaa iyt. täv cfaivouEvuiv waTTEp fxo/ÖTjpä -pa-^ujofcc xoii oe xd; iUai
TlÖEIJLEVOi; XOÜTO |Jl^V i/.(fz'j'(Zl.
Les Mathematiques et la Dialectique dans le Systeme de Piaton. 489
toute realite. Le monde des mathematiques est un monde epi-
sodique et sans uüite; dans le monde reel et meme dans la nature,
qui l'imite, tout se tient et s'enchaiue'^*).
D'apres Aristote, ce qui, dans la doctriue de Piaton, distingue
essentiellement les Idees-nombres des nombres mathematiques, c'est
qu'il y a, dans les premieres, de l'anterieur et du posterieur ^^);
autrement dit, que les Idees-nombres forment une hierarchie et
qu'il y a, par suite, entre elles, des differences qualitatives et con-
ceptuelles: la dyade en soi diflere, dans son essence, de la triade
en soi; ce sont deux concepts distincts et il ne peut y avoir entre
eux ni addition, ni combinaison mathematique d'aucune sorte. Les
Idees-nombres et les unites qui les composent sont incombinables
entre elles (aa6[ißX-/jTot) ^^). Entre les nombres mathematiques, au
contraire, il n'y a que des differences de quantite et les unites
arithmetiques sont toutes combinables les unes avec les autres
(a-jijLßXrjToi). II en resulte que la consideration de la finalito est
exclue de la generation des nombres mathematiques; il n'y a pas
entre eux de rapports de conditionne ä conditionnant ou de moyen
ä fin. Sans doute, il peut y avoir entre les nombres des relations
necessaires sc u-oOscjstü? , attendu que tout nombre superieur im-
plique les nombres inferieurs. Mais un nombre quel qu'il soit
reste un simple possible, parce qu'il n'y a pas de raison pour que
l'unite se repete un plus ou moins grand nombre de fois. Piaton
se rencoutre avec Aristippe pour declarer vque tot; [lotör^txct-ixoi?
ouOsva TTOisTa&ai Xo"i'ov irepl «"(«Oaiv xal xotxaiv'').
En resume, la dialectique Platonicienne contient deux, ou
meme trois Operations distinctes: d'abord une analyse empirique
grace ä laquelle on atteint le principe universel des realites, le
Bien; puis une synthese ou une construction du reel domince par
^'*) Men., SIC: ä-zz y«P '^^i? cpiaECü? äTrcta?]? <j^Y(t\oJiz cjar^?. Pol., 258 E:
[Aiöi; linCTTjiAfj; ttjs oXtj;. Soph., 257 C: fxfa fxsv laxi -ou -/ctl Ixeivt], t6 hi
im TU) Ytyvouevov [Aepos aux^s e'xaaxov d'foptaOiv £7tu)V'j(xtav ia/et xtva kauxr^z Joi'av
35) Meta., M, 6, 1080b, 11; 7, 1082b, 19 et saep.
36) Ibid., 6, 1080a, 16 sqq.
3') Ibid., B, 2, 996a, 32; cf. Zeller, P. d. G., I, 1^, p. 345, n. 1; tr. fr.,
III, 312, 1.
Archiv f. Geschichte <1. Philosophie. XV. 4. o4
490 Gf- Kodier, Les Mathematiques et la Dialectique etc.
ce principe; CDfin, au besoin, une analyse, rationnelle cette fois,
rendue possible par cette synthese. Dans les mathematiques, la
Synthese procedant au hasard et sans principe aboutit a une com-
biuaison quelconque et qui peut n'avoir aucune realite. Seule,
l'analyse est rationnelle et necessaire hypothetiquement. Saus
doute, ces idces sont encore enveloppees et confuses dans la doctrinc
de Platon; il n'a pas eu une notion claire de la finalite et de son
role dans la construction des choses. Mais il nous semble les avoir
entrevus'^).
^^) Le passage du Politique sur lequel uous nous sommes appuyes
contient, en outre, une allusion historique: 8 yotp Ivfoxe, cb Swxpates, oidpevoi
o-q Tt (Jocpöv cppctCetv ttoXXoI töv xop-tl^üiv Xeyo'jaiv (u; d'pot fj.£Tprjtf/CTj Trepi TfiW
iSTi Ta YtyvoijLEva, toüt' aüxö t6 vüv XsyÖEv ov TuyyavEi (284: E). Stallbaum,
Hermann, Zeller, Susemihl (Genet. Entw., I, 316) et d'autres pensent que
ce passage vise les Pythagoriciens. Cette opinion nous parait inacceptable
pour deux raisons: Ü'abord, en effet, l'expression ^iyouotv semble indiquer
qu'il s'agit d'une doctrine plus receute. En outre, l'epithete xopi'ios est,
presque toujours, employee par Platon dans un sens, ironique. Ainsi dans
le Phile be (53 C), oü les mots ■/ofj.iLot tives designent vraisemblablement
Aristippe; dans le Theetete (15P A) oü Protagoras et ses partisans sont appeles
a)loi oi r.oXb xofA'ioTepoi; dans laRepublique (IX, 572 C) oü les expressions
xofAd/OTepots dtvSpaci sont manifestement prises en mauvaise part; enfin dans
une foule d'endroits ou ce terme doit, sans aucun doute, etre entendu
ironiquement (Hipp. Maj., 288D; Lys., 216A;; Rep., YIII, 588A). Dans
le passage du Gorgias (493A) oü il est question des Pythagoriciens, rien ne
prouve que le fjiu&oXoyöJv xofjuLö? dv7]p dont parle Socrate soit Philolaüs, et il
parait probable, au coutraire, que l'expose de l'opinion Pythagoricienne
s'arrete k [AexaTriTTTeiv avto v.(x~tu. C'est ordinairement sur un tout autre ton
que Platon parle des Pythagoriciens (cf. Phil., 16C: ol [jiv TraXaioi, xpsixTOve;
TjfjitTjv xai ^yyuT^pu) Oeiöv o(xoövTes, tocuttjv ^i^fATjv Trapsooaav . . .). La suite
indique d'ailleurs, que Platon n'approuve que partiellement l'opinion tcöv
xoijL'i'cüv. II trouve qu'ils ont eu raison de dire que la metretique Trepl nravt'
hzi xa YtYvd|j.£va, mais il les bläme de n'avoir admis qu'une seule sorte de
metretique (285 A: Siä hi xö [xr] xax' eiot] . . . xxX.). II s'agit donc, sans doute,
de philosophes qui n'ont pas tenu compte de la finalite et cela-meme doit
nous empecher de penser aux Pythagoriciens. On pourrait otre tente de
croire que Platon fait allusion ä Protagoras et ;i sa celöbre proposition: l'homme
est la mesure de toutes choses (cf. B. Ritter, op. cit.)- Mais ce sont manifestement
les mathematiques qui constituent pour Platon, la metretique sans finalite, et
le sensualisme de Protagoras leconduisaitprecisement ä attaqucrles mathematiques
(Ar., Meta., B, 997b, 35). Ce ne peut donc utre qu'au mecanisme geometrique
de Democrite que s'appli(]uc la remarque du Politique. Nous trouvons
dejii, dans le Sophiste (24GA), un morceau qui vise uotamment les atomistes.
Jahresbericht
über
sämmtliche Erscheinungen auf dem Gebiete der Geschichte
der Philosophie
in Gemeinschaft mit
Clemens Baeumker, Ingrara Bywater, Alessandro Chiapelli, Wilhelm
Dilthey, A. Dyroff, Benno Erdmann, H. Gomperz, H. Lüdemann, Martin
Schreiner, Andrew Seth, Paul Tannery, Feiice Tocco, E. Wellmann
und Wilhelm Windelband
herausgegeben
Ludwig Stein.
34*
Jaliresbericlit über die Kirchenväter imd ihr
Verhältniss zur Philosophie, 1897—1900.
Von
H. littdeniann ia Beru.
(Fortsetzung.) 0
Clemens Alexandrinus.
1. E. DE Faye, Clement cVAlexandrie. Etüde sur les rapports du
Christianisme et de la philosophie grecque au 2e siecle
(These) IV, 324 S. Paris 1898. Leroux. fr. 7,50.
2. K. Ernesti, Die Ethik des Titus Flavius Clemens von Alexan-
drien, oder: Die erste zusammenhängende Begründung der
christlichen Sittenlehre. VII, 174 S. Paderborn 1900.
Schöningh.
,3. P. M. Barnard, Clemens of Alexandria: Quis dives salvetur?
XXX, 66 S. Cambridge 1897, University Press. 3 sh.
4. 0. Stählin, Untersuchungen über die Schollen zu Clemens
Alexandrinus. 48 S. Gymn.-Progr. Nürnberg 1897, Stich.
5. Christ, Philologische Studien zu Clemens Alexandrinus (S.-A.
aus Abh. d. k. Bayr. Ak. d. W.) 74 S. München 1900.
Franz. M. 3.
0 Vergl. S. 403—421 dieses Jahrgangs, Diejenigen Schriften, welche
zwar angeführt aber nicht besprochen werden, sind dein Verf. nicht zugfiug-
lich geworden.
494 H. Lüdemann.
1. Das Buch von de Faye verdient als eine der hervorragendsten
Leistungen neuerer Zeit über Clemens Alexandrinus verzeichnet zu
werden. Seit Bigg's the Christian Platonists of Alexandria 1886,
war bis 1898 nichts besseres erschienen. Die beiden ersten Ab-
schnitte des Werkes behandeln eine literarische, der dritte die
Philosophie- und dogmengeschichtliche Frage. Erstere betrefi'end
begnügen wir uns hier mit dem Hinweise, dass de Faye die selt-
same Gestalt der Stromateis 7a\ erklären unternimmt. Sie ent-
sprechen in ihrer Eigenart dem schriftstellerischen Lebeusplan des
Clemens nicht, nach welchem auf die vorbereitenden Schriften
Protreptikos und Paidagogos als dritte der SioaazctXo? mit dem
positiven Aufbau des definitiv gemeinten Systems folgen sollte.
Schon 1897 (Les stromates de Cl. d'Alex. Revue de Thist. des
rel. 36, S. 309—20) wies der Verf. nach, dass die Strom, dies nicht
leisten, sondern — wofür er hier den Beweis erweiternd wieder
aufnimmt — , dass Clemens sich, im Begriff, sein Schlusswerk zu
verfassen, einer geschichtlichen Situation gegenüber sah, die ihm
(^erathen scheinen liess, zunächst noch auf einen neuen grossen
Umweg auszubiegen. Es war die Discreditirung, der die philosophisch-
theologische Speculation durch die häretische Gnosis in den Augen
der Christenheit verfallen war, was ihn hierzu bewog. Da Clemens
jener Speculation für seine Dograatik nicht entrathen konnte, so
musste er sich für sie einen Leserkreis erst wieder erziehen; und
dies zu thun bestrebt er sich mit aller Vorsicht in den Stromateis.
Das Werk blieb unvollendet — Buch VIII gehört nicht mehr
dazu — und vollends der otoacjxaXo? blieb ungeschrieben. Ein
grösserer, Origenes, leistete, was Clemens beabsichtigte, in seinem
„TTspl apyÄv". Ueber diese Fragen, insbesondere auch über Clemens'
Stellung zur Philosophie im Allgemeinen, verhandelt der Verf. in
den zwei Abschnitten seines Werkes, betitelt La question litteraire
und La question historique, in sehr anziehender Weise. An diesem
Orte interessirt uns jedoch vor Allem der dritte Abschnitt La question
dogmatique. Der Verf. unternimmt es hier, innerhalb der Theologie
des Clemens das antik-philosophische vom christlichen Element zu
scheiden. Er glaubt das Verhältniss beider Elemente am deut-
lichsten an drei Lchrpunkten erkennen zu können: au der Gottes-
Jahresbericht über ilie Kirchenväter etc. 495
lehre, der Christologie, und dem Guostik erideal oder der religiösen
Ethik des Clemens. In der ersteren ist Plato, in der zweiten Philo,
in der dritten die Stoa von Clemens zum Führer erwählt. Aber
neben ihnen macht sich durchweg das Christenthum in seiner
Eigenart geltend und erscheint als assimilirendes Princip gegenüber
den angeeigneten antiken Gedankenstoffen. Schon diese Stellung
des Problems ist verdienstlich, da namentlich die heutige Ritschl'sche
Theologie, weil sie ihr ,,Christenthum" bei den Kirchenvätern nicht
wiederfindet, die Abhängigkeit der letzteren von der Antike zu
übertreiben pflegt, und besonders bei den Alexandrinern womöglich
nur Hellenismus sehen will. Allein auch von dem Verf. scheint mir
das Verhältniss zwischen Griechenthum und Christenthum bei
Clemens noch nicht ganz richtig erfasst zu sein, trotz der Sach-
kenntniss und Unbefangenheit, der Feinheit des Verständnisses und
der historischen Gerechtigkeit, womit er zu arbeiten bestrebt ge-
wesen ist. Was zunächst das Gesammtresultat betrifft, so bleibt
gerade in den Schlussausfiihrungen des Verf.'s eine Unklarheit
darüber bestehen, wie sich Clemens' Christenthum zu dem vulgär-
katholischen seiner Zeit verhielt. Einerseits ist der Verf. ent-
schieden geneigt, es mit letzterem einfach zu identificiren. An-
dererseits aber verkennt er doch nicht, dass Clemens eben dieses
Christenthum vergeistigt und vertieft habe. Woher stammt aber
diese Vertiefung? Viele Ausführungen des Verf. namentlich im
Cap. 4 zeigen das Bestreben, gerade sie auf den Einfluss der Phi-
losophie, besonders der Stoa, zurückzuführen. Allein schliesslich
erkennt er doch an, dass Clemens eben dem ursprünglichen
Christenthum näher stand als z. B. die Tertullian und Cyprian —
und hier eben möchte sich fragen, ob der Verf. dem Einfluss dieses
ursprünglichen Christenthums wirklich gerecht geworden sei, oder ob
er nicht vielmehr öfter seinen Einfluss hinter einen vermeintlichen
philosophischen Einfluss habe zurücktreten lassen. Diese feineren
Fragen kommen zwar bei Erwägung der Resultate des Verf. be-
züglich der Theologie und Christologie des Clemens noch nicht in
Betracht. Treftend weist er hier die platonische Herkunft der
abstracten Transcendenz des Gottesbcgriffes nach, und hebt gleich-
wohl hervor, wie sich davon bei Clemens der christliche Begriff
496 JI- Lüde mann,
des durch Selbstbestimmung guten, dem sündigen Menschen gegen-
über heiligen, und ihn erziehend behandelnden und erlösenden
Gottes abhebt. Allein vermisst wird der Hinweis darauf, wie schon
auf der rein metaphysischen Seite der Gottesbegriff bei Clemens,
wie übrigens schon bei seinen Vorgängern, den Apologeten, ein
christliches Gepräge erhält, dadurch, dass er sowohl von allen
dualistischen als von allen pantheistischen Consequeuzen, wie sie
bei den Philosophen auftreten, gelöst wird. Namentlich in ersterer
Beziehung behauptet Clemens auch durchweg seine Unabhängigkeit
von Philo. Sein Logosbegriff entstammt nicht dem metaphysischen
Mittelwesen-Bedürfniss, welches der schroffe Dualismus des Philo
hervorrief. Dafür aber geht auf einer andern Seite die Abhängigkeit
des Clemens von Philo weiter, als der Verf. zugeben will. Denn
man vermisst bei diesem gänzlich den Hinweis auf die religiöse
Seite des Philouischen Logosbegriffs, von welcher der Logos als Offen-
barungsprincip wie als df>yispEus, ixsttjC, TrapaxXvjio? für die Menschheit
in Betracht kommt. Hatte jenes Fehlen des Dualismus bei den
Christen die ganz natürliche Folge, dass die metaphysische Aus-
prägung des Logos als Mittelwesens so höchst fragmentarisch und
unbestimmt ausfiel, so war andrerseits gerade die religiöse Function
des Philouischen Logos der Punkt, wo derselbe, am deutlichsten
als Persönlichkeit auftretend, geeignet erschien, zur Interpretation
einer Persönlichkeit, derjenigen Christi, herangezogen zu werden.
Allerdings wird dadurch zur Centralidee des Logosbegrifis, was bei
Philo nur eine Seite desselben ist. Schon hier soll nun nach dem
Verf. das den Logosbegriff umgestaltende Christenthum bei Clemens
lediglich das vulgäre des 2. Jahrh.'s sein, mit seiner Rehabilitation
des Menschen durch die Taufe, seiner daran sich schliessenden
Gesetzlichkeit und seinem Christus als Verleiher von Erkenntniss
und Unsterblichkeit. Und das noch im vorigen Abschnitt (S. 228)
als christlich bezeichnete vertiefende Moment göttlicher Pädagogic
wild jetzt vielmehr decidirt als philosophisch bezeichnet (S. 253)
— ein Vorspiel zu dem, was uns im Cap. 4 („Le gnostique"
S. 256 — 295) erwartet. Hier begegnet uns mehrfach die irritirende
Methode, dass der Verf. gewisse Positionen bei Clemens aufs weit-
gehendste als roin griechisch-philosophisch schildert, um dann erst
Jahresbericht über die Kirch euväter etc. 497
nachträglich dem längst erwachten Protest des Lesers durch Vor-
führung der auf der Hand liegenden christlichen Züge derselben
Positionen Rechnung zu tragen — in der That eine entbehrliche
Umständlichkeit. So wird sofort die bei Clemens hervortretende
doppelte Sittlichkeit — die gewöhnliche aus Furcht, die „gnostische"
aus dem Liebe-Motiv — als durchaus platonisch-stoisch, als dem
damaligen Christenthum fremd, und als eine philosophische Ver-
tiefung des letzteren geschildert (S. 262 f.); während doch klar ist,
dass das Zusammentreffen mit der Philosophie hier nur formaler
Natur war; dass jene doppelte Sittlichkeit gerade damals aus dem
innersten Wesen des gesetzlichen katholischen Christenthums als
nothwendige Consequenz hervortrat, bei Clemens aber in einer
charakteristisch andern Form als der vulgär-werdenden, sofern bei
ihm die Sittlichkeit der Elite nicht wie sonst als gesetzlicher
Rigorismus oder gar lohnsüchtiger Asketismus, sondern eben als
die wahrhaft christliche gegenüber der niedergesetzlichen, als die
von reinsten religiösen Motiven getragene organisch- einheitliche,
innerlich freie und an sich selbst werthvolle Ilöherbildung des
Willeuslebens in Erscheinung tritt. Denn weder ist die i^ofioiwaic
KU östp, vollends in ihrer Fassung bei Clemens, ausschliesslich
philosophisches Ideal, sondern eben so sehr christliches (Mtth. 5,
48); noch entscheidet alles das, was der Verf. über das Zusammen-
treffen von Clemens' Gnostiker- Ideal mit dem Ideal des stoischen
Weisen ausführt, für einen über formale Accommodation hinaus-
gehenden philosophischen Charakter des ersteren, weil der Verf.
doch schliesslich selbst zugestehen muss, dass das Motiv der dyxr.ri,
welches er S. 281 sogar ebenfalls noch für die Stoa reclamirte,
einen so decidirt christlichen Charakter trägt, dass dadurch die
Ethik des Clemens in eiaie sie von der stoischen charakteristisch
unterscheidende Gesammt- Beleuchtung tritt. Trotzdem ist der Verf.
wiederum geneigt, auch den Begriff des Gebetes, als des unablässigen,
geistigen und innerlichen, bei Clemens für eine der Stoa zu ver-
dankende Vertiefung der vulgär-christlichen Gebetspraxis auszugeben,
während gerade hier der Rückgriff des Kirchenlehrers auf die ur-
sprünglichsten neutestamentlichen Weisungen (Mtth.6,32f.; Rom. 12,
12, 1 Thess. 5. 17; Col. 4, 2 u. a.) deutlich zu Tage liegt. Hier und
498 J'- liiideinaiin,
noch in vielfachen anderen Beziehungen dürfte also hervortreten, dass
die Sache nicht so einfach liegt, wie der Verf. es zumeist erscheinen
lässt, als hätten wir es bei Clemens lediglich mit einer philosophischen
Vertiefung des Christeuthums seiner Zeit zu thun. Vielmehr ist
das Christenthum, welches dem Clemens mit dem edelsten Geistes-
gut der Antike einer zwar meist nur formalen, zum Theil aber
auch — und naturgemäss auf ethischer Seite — materialen Zu-
sammenschau fähig schien, in vieler Beziehung wiederum dasjenige
gewesen, welches durch die gerade damals zu relativem Abschluss
gekommene Sammlung kanonischer Schriften bezeugt wird, und
dessen theilweises Wiederauftauchen bei den Alexandrinern ihnen
jene Ausnahmestellung giebt, die auch der Verf. ihnen im Vergleich
mit den Begründern des zunächst siegreichen katholischen Kirchen-
thums zu vindiciren nicht umhin kann. — Der Verf. schliesst
sein Werk mit einer sehr willkommenen Uebersicht über die text-
kritischen und literarhistorischen Arbeiten zu Clemens.
2. Die Darstellung der Ethik des Clemens Alex, von Ernesti
bietet für die Beziehungen des Kirchenvaters zur Philosophie wenig
Interesse. Das Werk ist ausschliesslich unter dem theologischen
Gesichtspunkte abgefasst. Auf die Beziehungen zur Philosophie
kommt der Verf. nur an wenigen Stellen zu reden, meist, sofern
Clemens selbst sich auf Philosophen oder philosophische Systeme
beruft. Jener Gesichtspunkt aber hat es mit sich gebracht, dass wir
es hier überhaupt auch nicht mit einer eigentlich dogmen- oder
theologie-geschichtlichen Darstellung zu thun haben. Der Verf.
hat zwar die Schriften des Clemens sehr lleissig excerpirt, und so
viel auch die Uebersetzung, in der er die ausgezogenen Stellen
wiedergiebt, zu wünschen übrig lässt, so dürfte doch in dieser
Materialsammlung der Werth des Buches für später kommende
vorwiegend zu suchen sein. Er hat nämlich dieses schätzbare
Material leider in das Schema des katholisch-kirchlichen Systems
pressen zu sollen geglaubt und dadurch theils die ihrem ursprüng-
lichen Zusammenhang entrückten Stellen öfter in eine fremdartige
Beleuchtung gestellt, theils aber, wo dem der Text sich durchaus
widersetzte, des Clemens Ansichten vom vulgär-katholischen Stand-
punkt aus kritisirt. Nur diese Kritik verräth etwas von der
Jahresbericht über die Kirchenväter etc. 499
specifischen Stellung des Alexandriners, im übrigen ist dieselbe
thunlichst uivellirt. Vor Allem ist dies mit der Anschauungsweise
geschehen, vermöge deren Clemens durch Unterordnung des blossen
„Glaubens" unter die „Gnosis" in seiner Weise die damals bereits
herausgebildete vulgäre Auffassung des Christenthums zu vertiefen,
und die ideale Höhe des ursprünglichen Christenthums wieder zu
gewinnen trachtete. Gerade jene Auffassung mit ihrer Betonung
des Furcht- und Lohn-Motivs, und eben deshalb mit ihrer Hoch-
stelluns des blossen Traditions- Glaubens wird vom Verf. in den
Ausführungen, mit denen er die Einzel-Abschnitte seiner Darstellung
einzuleiten pflegt, als der „tridentinisch"-liirchliche Massstab geltend
gemacht, dem Clemens anzupassen, oder nach dem er zu kritisiren
sei. (Vergl. schon S. 1, 2; ferner: S. 21, 23, 134, 144, 154, 174.
Ausserdem: die katholische Kritik der Lehre vom Sündenfall S. 47;
der Christologie S. 136. Andererseits wird Clemens im Einzelnen
öfter katholischer gemacht, als er ist, wenn z. B. S. 68 der „Gang
der Rechtfertigung" „ganz tridentinisch" befunden wird, wobei
freilich die Quellencitate mindestens arg in Unordnung gerathen
sind; oder w^enn S. 64f. seine Unterscheidung des Gläubigen und
des Gnostikers in einer die Quellen sehr willkürlich behandelnden
Erörterung mit der einer ersten und zweiten Classe des Katechu-
menats gleichgesetzt wird; oder wenn der Verf. S. 71 Str. VI, 12, 97
die „geheime Beichte" angedeutet findet, und wenn er Str. II, 13,
56 — 59, — wo Clemens gegen die fortgehende Wiederholung der
Busse polemisirt — die „öffentliche Beichte" nicht bloss als damals
schon [oder noch] unbeanstandete kirchliche Sitte bezeugt sein
lässt, sondern auch thut, als ob dieselbe von Clemens gebilligt sei.)
Vor Allem aber geht durch das ganze Buch das Bestreben, die
Ansicht des Clemens von der inferioren Stellung des „Glaubens"
und des „Gläubigen" zwar nicht zu ignorireu — das wäre uu-
mödich — , aber doch thunlichst abzuschwächen, und bloss zu re-
gistriren (vergl. insbesondere S. 128, 150f.). Und damit hängt es
zusammen, dass der Grundsatz, den der Verf. S. VI des Vorworts
selbst aufstellt, „die Beziehung der Schriften auf die Classen, für
welche sie bestimmt sind, bei der Erforschung des Lehrsystems
des Clemens stets fest in Auge zu behalten", in geradezu über-
500 H. L üdemann,
raschender Weise ausser Beobachtung gesetzt wird. Vielmehr
werden die Belege für die Darstellung des Verf. namentlich in der
„Allgemeinen Ethik" ganz gleichmässig aus allen Schriften des
Vaters entnommen, vom Protreptikos bis zu ström. VIII (dessen
literarisches Problem übrigens den Verf. ziemlich unbekümmert
lässt, S. 91). Die natürliche Folge ist, dass der Leser schon von
S. 7 f. an, wo das vulgäre Lohnsystem aus dem Protreptikos belegt,
und dann sofort auf die aus der Gnosis entspringende actuelle
Tugend (nach ström. IV, 40) übergegangen wird, die beiden Stufen
des Glaubens und der Gnosis durchgehends vermischt findet (z. B.
S. 11, 19 f., 26, 28 f., 32 f. u. s. w.). Damit aber ist gegeben, dass
vor Allem über die für beide Alexandriner so überaus charak-
teristische religiös-ethische Psychologie, oder über ihre Gruppirung
von Erkennen und Handeln zu einander, aus der Darstellung des
Verf. nirgends principiell klare Auskunft zu gewinnen ist. Denn
mit so allgemeinen Redensarten wie (S. 18): „die Handlungen sind
unzertrennlich mit der Erkenntniss verbunden" (vergl. S. 20. 32)
und (S. 19) „umgekehrt fördern auch die guten Handlungen die
Erkenntniss" ist es hier nicht gethan. Gerade auf die mit der
Unterscheidung von Glauben und Gnosis gegebene charakteristische
Modificirung der sonstigen antiken, insbesondere sokratisch-
stoischen Voraussetzung, dass die Einsicht den Willen unfehlbar
determinire, kam es hier an. Aber der Verf. ist augenscheinlich
auf die principielle Bedeutung dieser Frage gar nicht aufmerksam
geworden. Für die Darstellung der „allgemeinen Ethik" scheint es
ihm zu genügen (S. 32), dass nach Clemens „die richtige Einsicht,
die rechte Vernunft, die Leiterin und Orduerin der Tugend sei
und dass er hierin mit St. Thomas von Aquin übereinstimme".
Für diese L^ebergehung eines Hauptproblems entschädigt es auch
nicht, dass der Verf. dann in der „besonderen Ethik" das christliche
Leben und die christliche Vollkommenheit (d. h. den Yvcoaiixo?)
getrennt behandelt. Denn einerseits wird auch hier der Yvwattxos
in der Erörterung über die „Bekehrung zum Christenthum" ein-
gemischt (S. 64 f.), andererseits wird in der gesonderten Betrachtung
des 7vojaTix6; neben den äusserlich richtigen Referaten des Verf.
jede tiefere religionspsychologische und erkeuutnisstheoretische Er-
Jahresbericht über die Kirchenväter etc. 501
wäsuDR der alexandrinischen UnterscheiduDg von Pistis und Gnosis
vermisst. So -wird weder klar, wie bei Clemens im Glaubensbegriflf
die Momente des unmittelbaren Erkennens, Willensgehorsams und
religiösen Affects sich vermitteln, noch auch was es bedeutet, wenn
Clemens die Wirkung des Glaubens auf das sittliche Handeln von
derjenigen der Gnosis unterscheidet. Yor Allem greift die katholische
Zurechtlegung und Kritik des Verf. hier stets störend ein. Der
Glaube mit seinen Furcht- und Lohnmotiven darf nach ihm gegen-
über der Gnosis nie zu kurz kommen. Und so wird aus den
Quellencitaten niemals eine einheitliche Anschauung darüber ge-
wonnen, wie Clemens sowohl von der vulgär-katholischen, als auch
von der stoischen Ansicht sich unterscheidet; dass nämlich, während
die letztere Vernunft und -dx^r^ unvermittelt aufeinander treffen
lässt, bei Clemens die Leidenschaften provisorisch schon durch die
negative, reinigende W'irkung der religiösen Motive des Glaubens
gebrochen werden; dass diese „Reinheit" dann für das Gelingen
der Gnosis unerlässliche Vorbedingung wird und nur unter dieser
Voraussetzung der letzteren wieder die Kraft zuwächst, den Willen
auch positiv sittlich neuzugestalten. Wenn auch die Einzelmomente
dieser Anschauung beim Verf. alle thatsächlich Erwähnung finden,
so tritt doch ihr Zusammenhang nicht in seiner hervorragenden
Bedeutung für die Gesammtstellung der alexandrinischen Theologie
innerhalb der Entwicklung des Christenthums gegenüber der Antike
ins Licht. Doch darf sonst anerkannt werden, dass der Verf. je-
weilen die Abhängigkeit des Clemens von der Stoa durch Hinweis
auf den christlichreligiösen Charakter seiner Bestimmungen richtig
limitirt (S. 44, 142, 146).
3. und 4. Durch die Arbeiten von Stählin und Barnard
bereitet sich eine längst dringend nöthige kritische Neuausgabe
des Clemens Alexandrinus vor. Stählin hatte schon 1890 (Ob-
servationes criticae in dementem AI.) und 1895 (Beiträge zur
Kenntniss der Handschriften des Cl. AI. Nürnberg. Progr.) dem
Texte des Clemens seine Studien zugewendet, namentlich den
Handschriftenbestand in Italien an Ort und Stelle studireu können,
besonders auch was Fragmente in Catenen -Handschriften und
anderen Sammlungen betrifft. Mit ihm vereinigte seine Be-
502 ^- Lud e Dl au n,
miihungen Barnarcl in Cambridge, der ihm seine Collationirungen
der Handschriften in Paris und England zur Verfügung stellte.
Eine Uebersicht über die liier gewonnenen Resultate theilt Barnard
in den Prolegomena zu seiner oben angeführten Ausgabe von „Quis
dives salvetur" mit. Wir entnehmen denselben hier nur, dass der
Text von Protrept. und Paed, auf dem berühmten Arethas- Codex,
Paris, 451 (saec. X) und zwei Codices des 11. Jahrh.'s, zu basiren
ist: einem Mutinensis, Copie des Parisers, diesen ergänzend durch
ein Stück (paed. I, 1 — 10), das in demselben jetzt fehlt; und einem
Florentiner, Abschrift einer Abschrift des Parisers; — dass ferner
für Strom., Exe. Theod., Eclog. nur ein anderer Florentiner (saec. XI)
zu Gebote steht, von dem in Paris eine Abschrift (saec. XVI) vor-
handen ist. Für die Ausgabe seines Tractats endlich konnte
Barnard nach einem Hinweise von Stählin einen Codex des
Escurial (saec. XI) zu Grunde legen, von dem der bisher allein
benutzte Vaticauus (saec. XVI), wie sich jetzt herausgestellt hat,
eine Copie ist. In seinen Untersuchungen von 1897 behandelt
Stähl in die beträchtliche Anzahl von Schollen, welche sich im
Arethas-Codex wie in dessen Abschrift, dem Mutinensis, finden, und
in den bisherigen Ausgaben zwar mit edirt sind, doch selbst noch
bei Dindorf in sehr unzuverlässiger Weise. Dieselben sind theils
bereits älteren Datums, theils rühren sie von Arethas selbst her;
eine Anzahl endlich ist jünger, alle jedoch mehr äusserlicher Art
(vergl. Stählin S. 45 — 48). Der Hauptertrag der auf sie ge-
richteten Studien bleibt auch hier die Klarstellung des Hand-
schriften-Verhältnisses. Dem Verf. ist die Herausgabe des Clemens
für die Berliner Kirchenväter-Ausgabe übertragen.
Origenes.
1. Origines' Werke. 1. Band: Die Schrift vom Martyrium. Buch
T — IV gegen Celsus. — 2. Band: Buch V — VIII gegen Celsus.
Die Schrift vom Gebet. Herausgegeben im Auftrage der
Kirchenväter-Commission der Königl. Preussischen Akademie
der Wissenschaften von Paul Koetschau. XCII, 374 S.
VII, 545 S. Leipzig, 1899. Hinrichs. M. 28.
Jahresbericht über die Kirchenväter etc. 503
2. Paul Wendland: P. Koetschau's Origenes- Ausgabe (Göttiuger
Gel. Adz. 1899, 276—304).
3. P. KoETSCHAU, Kritische Bemerkungen zu meiner Ausgabe von
Origenes' exhortatio, Contra Celsum, de oratione. Entgegnung
etc. Leipzig 1899. Hinrichs. M. 1,60.
4. P. Wendland, Koetschau's krit. Bemerkungen. (Göttinger Gel.
Auz. 1899, S. 613—622).
5. H. H. Davies: Origen's theorie of Knowledge (The American
Journal of Theologie 1898, S. 737—762).
6. \V. Schüler, Die Vorstellungen von der Seele bei Plotin und
Origenes (Zeitschr. f. Theologie und Kirche X 1900, S. 167
bis 188).
7. G. Capitaine, de Origenis ethica. VI, 216. Münster 1898.
Aschendorff. M. 4,50.
8. G. Bordes, L'apologetique d'Origene d'apres le Contre Celse.
(These) 78 S. Cahors. 1900.
1 — 4. Von der neuen Ausgabe des Origenes seitens der Berliner
Akademie liegen bereits drei Bände vor, von denen in uusern
Bericht zeitlich wie besonders wegen des Anti-Celsus die zwei
ersten fallen. Erledigen wir zunächst das Textkritische. Die
Schrift vom Martyrium, bisher nur nach einer lückenhaften Baseler
Handschrift (saec. XIV) edirt, die sich jedoch als Abschrift einer
Pariser (saec. XV?) herausgestellt hat, giebt K. nach dieser letzteren
und nach einem Venediger Codex (saec. XIV), der vorzugsweise
den Herausgeber in Stand setzte, zum ersten Mal einen voll-
ständigen Text zu bieten. Beide Handschriften sind aber wahr-
scheinlich wieder Copien der Vaticanischen (gr. 386), in welcher
jetzt nur noch der Anti-Celsus vorliegt, die Schrift vom Martyrium
aber fehlt. Doch kommen für den Anti-Celsus noch 6 Hand-
schriften der Philokalia in Betracht, jenes Auszugs aus den Werken
des Origenes, den einst Basilius der Grosse und Gregor von Nazianz
herstellten, und der etwa den siebenten Theil des Anti-Celsus mit-
enthält. Jene 6 Handschriften beruhen nach K. wahrscheinlich
auf einem und demselben Archetyp, werden indess vom Heraus-
504 ^^- L ü d e m a u n ,
geber durchweg hinter die Vaticanische Handschrift zurückgestellt.
Die Schrift vom Gebet kann nur noch aus einer Handschrift zu
Cambridge entnommen werden. Alle diese Handschriften sind
mit wenig Ausnahmen, für welche Hülfskräfte nöthig wurden, vom
Herausgeber selbst neu verglichen, und in dem (deutsch-geschrie-
benen) krit. Apparat sorgfältig verwerthet. — Allein seine kritischen
Grundsätze bezüglich der Benutzung der Handschriften sind nicht
unangefochten geblieben; es hat sich darüber zwischen ihm und
seinem Hecensenten Wen dl and eine lebhaft geführte Controverse
erhoben. Ueber den Verlauf derselben orientirt eingehender eine
Anzeige von Jülicher in der Theol. Litteraturzeitung 1899, 20,
S. 558 ff. In der Hauptsache handelt es sich darum, ob K. beim
Anti-Celsus mit Recht den Archetyp der 6 Philokalia-Handschriften
hinter die Vaticanische Handschrift zurückgesetzt habe, welche
Wendland vielmehr für die minderwerthige hält. — Ungewöhnlich
muthen in den Prolegomenen des Herausgebers eine Anzahl Er-
örterungen in usum Delphini an (vergl. krit. Bemerkungen S. 59:
„für Anfänger und Nichttheologen"), nicht bloss literar-historischer
Art über Zeit, Ort, Zweck, Gliederung der edirten Schriften,
sondern auch, zur Erleichterung des Verständnisses speciell des
Anti-Celsus, über des Origenes literarische Gelehrsamkeit, sein
Verhältniss zur griechischen Philosophie und sein theologisches
System. Dergleichen war sonst in Textausgaben modernen Ur-
sprungs nicht üblich; man beschränkte sich — und gewiss mit
Recht — darauf, für einen verbesserten Text zu sorgen und für
dessen inhaltliches Verständniss die Leser selbst sorgen zu lassen.
Wie dem sei — der Zweck dieses Berichtes bringt es mit sich,
diese Orientirungsversuche etwas näher zu beleuchten. Zunächst fällt
auf, dass der Herausgeber diese Belehrungen, wie er sie zur Einführung
in die Leetüre des Anti-Celsus bestimmt hatte, so auch ausschliesslich
auf Grund dieser einen Schrift geben zu müssen geglaubt hat.
Ist nun auch allerdings für die Behandlung eines Themas wie
„Origenes' Kenntniss der griechischen Literatur und des griechischen
Alterthums" zufällig gerade der Anti-Celsus die Hauptquelle, so
kann doch das Gleiche bekanntlich keineswegs mit Bezug auf
Origenes' Verhältniss zur griechischen Philosophie und sein theo-
Jahresbericht über die Kirchenväter etc. 505
logisches System gesagt werden. Dass die erste lediglich philo-
logische Aufgabe vom Verf. auf Grund seiner Quelle mit der er-
forderlichen Exactheit und im Wesentlichen ausreichend gelöst wird,
versteht sich. Für die zwei anderen aber war Letzteres, trotz alles
auch hier zu Tage tretenden philologischen Sammelfleisses bei
der Beschränkung auf den Anti-Celsus und namentlich unter Aus-
schluss von de principiis ganz unmöglich. Durch die erhaltene
Auskunft wird der Leser garnicht in den Stand gesetzt, das
Einzelne im Lichte des Gesammtzusammenhanges von Origenes
speculativem System zu sehen, zumal die Auffassung des Verf.
von diesem System schon vermöge seiner eingestandenen Ab-
hängigkeit von Harnack eine durchaus einseitige ist. Zwar wird
p. XXXVIII noch im Allgemeinen richtig gesagt: „Die Stellung
der griechischen Philosophie gegenüber sei dem Origenes durch
sein Christenthum vorgezeichnet .... In seinen philosophischen
Grundanschaujingen stehe er zwar den Piatonikern am nächsten,
trenne sich aber auch von diesen überall da, wo ihm sein christ-
licher Glaube eine unüberschreitbare Grenzlinie zieht." Allein die
nachfolgende Darstellung entspricht dieser Bemerkung nicht;
namentlich aber erkennt der Verf., wie es scheint, nicht an, dass
Origenes sich auch in solchen Lehren von den Piatonikern sehr
deutlich trennt, die nicht gerade direct mit seinem „christlichen
Glauben" zusammenhängen, sofern unter diesem nur der dog-
matische Kirchenglaube verstanden sein soll, wohl aber im
Interesse seiner Auffassung des Christenthums als reiner Geistes-
religion von ihm ausgebildet worden sind. Sehr überrascht daher
schon die (p. XXXVIII f.) gleichfolgende Aufzählung einer Anzahl
von selbstverständlichen Differenzen mit Epikuräern, Peripatetikern,
Stoikern (Körperlichkeit Gottes und identischer Welterneuerung),
Pythagoräern (Seelenwanderung), Piatonikern (Weltperioden), sowie
insbesondere des Tadels von Sokrates' Asklepios-Opfer und Plato's
Artemis-Opfer, mit der Schlussbemerkung: „Damit hat Origenes
ausgesprochen, was ihn von der griechischen Philo-
sophie, auch von der Platonischen, trennt". Bei Auf-
zählung der Lehren andererseits, denen Origenes zugestimmt
haben soll, weil er sie mit dem Christenthum vereinbar fand,
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV. I. 35
506 ^- T'iidemann,
becresneu dann neben verdeicbsweisen Aeusserlichkeiten auch so
wichtige Thatsachen wie die, da=s Origenes in der Frage, ob Gott
vSterbliches geschaffen habe, sich mit den Stoikern gegen Plato
entschieden habe; oder die, dass er die Lehre der Stoiker von der
gottglcichen Glückseligkeit des Weisen der christlichen von der
Vereinigung des vollkommenen Menschen mit dem Logos „ähnlich"
gefunden habe, ohne dass der Verf. es für angezeigt hält, auf die
tiefgreifenden Unterschiede hinzuweisen, die trotz dieser „Aehnlich-
keit" zwischen der stoischen und der Origenistischen Auffassung
bestehen. Auch begnügt er sich im Weiteren mit der Bemerkung:
dass Origenes viel von der stoischen Ethik herübergenommen habe,
zeige schon der ausgedehnte Gebrauch der stoischen Termini. Und
doch hätte schon in der auch vom Verf. sofort anerkannten Un-
vereinbarkeit des stoischen Pantheismus mit der christlichen
Gottesidee der Anlass gelegen, zu zeigen, wie nothwendig eben
diese Differenz die eben vorher bemerkte Coincidenz mit der
ethischen Denkweise der Stoiker einschränken musste. Allein
solche Zusammenhänge entziehen sich dem stets nur auf Einzel-
heiten gerichteten Blicke des Verf.'s vollständig. Dies zeigt sich
im Folgenden sofort noch drastischer. Zunächst werden Origenes'
„philosophische Grundanschauungen" von Gott und Welt ohne
Weiteres als platonisch bezeichnet, was durch die selbstverständ-
liche Bemerkung, dass er Plato vielfach besonders anerkenne, und
sein theologisches System vom Piatonismus „stark beeinllusst"
sei noch keineswegs bewiesen ist; — es kommt eben darauf an,
wie weit Letzteres der Fall war. Aber freilich, wenn der Verf.
Origenes' Piatonismus — mit Ilarnack — aufs unwidersprech-
lichste erhärtet zu haben glaubt, indem er schliesslich sagt:
„bildet doch gerade der Gedanke von der Unver änderlichkeit
Gottes die Norm seines Systems", so ist das ein Fingerzeig, wo-
her diese ganze Urtheilsweise stammt. Es dürfte doch schwer sein,
ein System christlicher Dogmatik aufzuweisen, das auf Wissen-
schaftlichkeit Anspruch macht, ohne die Unveränderlichkeit Gottes
zur Norm zu erheben. Die Ritschl'sche Dogmatik freilich, nicht
bloss von der platonischen, sondern von aller Philosophie sich
omanzipirend, setzt auch diesen speculativen Canon ungenirt aus
Jahresbericht über die Kirchenväter etc. 507
deu Augen, indem sie Gott, soweit es ihr passt, auf das naivste
anthropomorphisirt. Geradezu falsch berichtet aber der Verf.
weiter, wenn er behauptet, Origeues habe die Platonische An-
sicht von der Materie ausdrücklich gebilligt. Wie wenig das
im Gesammtsystem des Origenes, das jeden metaphysischen Dua-
lismus tilgt, der Fall ist, weiss jeder auch nur oberflächlich Unter-
richtete. Allein auch an den vom Verf. hier citirten Stellen c.
Geis. III, 41. IV, 60. 61 ist es nicht der Fall. An der ersteren
Stelle „billigt" Origenes nichts, als die Fähigkeit der Materie, alle
möglichen Qualitäten anzunehmen. An der anderen redet er zu-
erst nur referirend von der Ansicht derer, die die Materie für
ungeworden halten, stellt aber daneben die Ansicht, dass sie
geworden sei, als möglich hin, doch sei darüber jetzt nicht zu
verhandeln. Jedermann weiss aber, dass er selbst eben dieser
letzteren Ansicht war, und nicht der „platonischen". Alles über-
steigt endlich, dass der Verf. — wiederum unter Berufung auf
Harnack — seine Leser dahin belehren zu dürfen glaubt, dass
Origenes „in der Frage nach dem Ursprung und Wesen des Bösen
ganz auf der Seite Plato's stehe", unter Citirung von c. Geis. IV, 62.
Hier ist jedoch die Erörterung lediglich auf die Frage eingeschränkt,
ob das Böse vermehrt oder vermindert werden könne, und „ccebillicrt"
wird hier bei Plato nichts, als dass nach demselben allerdings
eventuell eine Verminderung des Bösen auf Erden bewirkt werden
könnte, aber mehr freilich nicht, weil dasselbe unter den
Menschen nicht könne ausgerottet werden; was unter den
besonderen Voraussetzungen des Origenes auch für diesen ja ledig-
lich selbstverständlich ist.^) So ist über zwei der weitreichendsten
Differenzen zwischen Plato und Origenes, seine Ansicht von der
Materie als unselbständiger Hülle des endlichen Geistwesens und
vom Ursprung des Bösen aus der Freiheit des endlichen Geistes
ein Strich gemacht. Wie namentlich Letzteres einem Herausgeber
möglich war, der eben erst die Cpp. c. Gels. IV, 65, 66 hatte
drucken lassen, wo Origenes gerade diese seine Ansicht, im Unter-
schied von der Platonischen, deutlich hervortreten lässt, ist schwer
o^
2) Hiermit erledigen sich auch die vom Verf. citirten Bemerknnofen
Harnacks, Dogmengescli. I S. ß'iSf. am Schliiss der Note.
35*
508 FT. Lüdemaan,
begreiflicli. Ueberraschen aber kann nicht, dass der Verf. nun-
mehr „dieser grossen Uebereinstimmiing mit Plato" nur zwei
„erheblichere" Diflferenzpunkte gegenüberzustellen weiss, nämlich
dass jener an den Staatsgöttern festgehalten und seine "Werke
nur für Wenige geschrieben habe! (p. XLII.) Ueberraschen kann
ferner ebensowenig, dass der Verf. dann als „theologisches System
des Origenes" eine Reihe aus dem Anti-Celsus erhobener theo-
logischer Ansichten seines Autors vorführt, aus denen gerade der
systematische Zusammenhang der Weltanschauung desselben gar
nicht zu ersehen ist, so dass gerade diejenigen Stellen des Anti-
Celsus den „Anfängern und Nichttheologen" dunkel bleiben müssen,
in denen Origenes ein näheres Eintreten auf die berührten
Probleme ablehnt, unter Hinweis auf anderweitige Erledigung der-
selben.
5. Davies' anregende Arbeit über Origenes' „Erkenntniss-
theorie" wählt sich zwar einen schwer zu substantiirenden Gegen-
stand, dafür freilich aber auch gerade den, der direct auf die unter-
scheidende Eigenthüralichkeit der alexandrinischen Theologie im
Unterschied sowohl von der antiken als der modernen Denkweise
hinführt. Dieses Eigenthümliche besteht darin, dass Origenes den
Erkenntnissvorgang geradezu als einen im Willen des selbst-
bewussten Subjects wurzelnden ethischen Befreiungsvorgang auf-
fasst, dessen Ziel die reale Wiedervereinigung mit dem rein
geistigen, mit dem Affect der Liebe umfassten Guten ist (S. 741
bis 743). Der ganze Process geht von dem Willensact des
Glaubens an den Inhalt der Schrift- und Kirchenlehre aus, ent-
wickelt sich aber von da aus direct zur vollen Erkenntniss, weil
jene die Offenbarung eben der Vernunft selbst ist. Und der
Befreiungsvorgang im Erkennen kann und muss gelingen, weil
das erstrebte Gute höchste Realität (Gott) ist, und die Vernunft
der sich offenbarenden absoluten Persönlichkeit mit der endlichen
vernünftigen Persönlichkeit in einem Verhältniss der „Identität",
steht, — von welchem freilich nicht ganz klar wird, wie der
Verf. es bei Origenes sich denkt und ob er hier nicht doch zu
viel modernes Pantheisiren hineinbringt. In jedem Fall zeigt sich,
dass Origenes zunächst in der Beziehung antiker Denker ist, dass
Jahresbericht über die Kirchenväter etc. 509
seine „Erkenntuisstheorie" einfach in seinen metapliysisclien Vor-
aussetzungen mit einbegriffen ist: und auch darin theilt er noch
lediglich die Richtung der Philosophie seiner Zeit, dass es ein
religiöser Impetus ist, von dem sein Denken ausgeht. Aber dass
dieser religiöse Impetus in seinem Entstehen wie in seiner Wir-
kungsweise durch und durch ethisch bestimmt ist, darin zeigt
sich seine christliche Eigenthümlichkeit. Dies erkennt der Verf.
sehr richtig, wenn er, zu den Einflüssen übergehend, unter denen
diese Erkenntnisstheorie sich bildete, zwar einerseits die synkre-
tistische Lage der Zeit überhaupt in Betracht zieht, innerhalb
derselben aber auch die umprägende Kraft des sittlich-religiösen
Princips des Christenthums anerkennt, welches dem Erkenutniss-
triebe neue Ziele und Impulse gab, indem es die Bedingtheit des
höheren Erkennens durch den sittlichen Charakter der Persönlich-
keit enthüllte (S. 753). Die alexandrinische Theologie erhob den
in der Pistis mit liegenden sittlichen Willensact zur conditio sine
qua non aller Wahrheitserkenntniss, wenn sie an letzterer auch
der griechischen Philosophie einen Antheil zuerkannte. Ihre
Logoslehre führte dann freilich dazu, dass sie die in der
Schrift bezeugte Thatsache der Incarnatiou als Hauptobject des
„Glaubens" ansah und au ihr als dem eigentlichen Orientirungs-
puukt für das gesammte Erkennen festhielt; dem ordnete sie Alles
unter, sowohl das sonst noch angeeignete Begriffsmaterial plato-
nischer Herkunft, als auch dasjenige, was sie für den Ausbau der
christlichen Ethik von den Stoikern entlehnte; für dieses Ein-
schmelzungsverfahren hauptsächlich durch Philo geschult, und
durch den Wunsch beflügelt, die Prostituirung der „Gnosis" durch
den häretischen Gnosticismus als gegenstandslos zu erweisen. Da-
bei ist dem Verf. indess durchaus gegenwärtig, wie sehr Origenes
über Philo wie über den gesammten früheren Piatonismus durch
Ueberwindung seines metaphysischen Dualismus — wiederum
geistig-christlich — hinausschreitet. So sehr der Verf. nach alldem
aufmerksam ist auf den christlichen Zug bei Origenes, so sieht
doch auch er nicht, dass Origenes' „Erkenntnisstheorie" von der
der Stoiker bezüglich der Gruppirung von Erkennen und Wollen
zu einander differirt. Der Verf. identifieirt die beiderseitigen An-
ÖIO H. Lüde mann,
sichten (S. 757 f.); jedoch mit Unrecht. Den Stoikern ist Er-
kcnntniss^ und Tugend identisch von dem sokratischen Gesichts-
punkt aus, dass das Erkennen durch seine Resultate den Willen
determinirt. Bei Origenes ist umgekehrt alles richtige Erkennen
bedingt durch Ilerzensreiuheit, welche durch Motive erreicht wird,
die der religiöse Glaube auslöst. Dies ist auch an sich, und dar-
um ebenso auch heute, genuin -christlich; nur bestehen ver-
schiedene Niiancirungen je nach der Art, wie das Vorstellungs-
moment innerhalb des „Glaubens" gefasst wird. Dasselbe kann
den Charakter der Einfachheit und Freiheit der ersten evangelischen
Verkündigung tragen, oder — wie bereits in der frühkatholischen
Zeit, und so auch bei Origenes — festere Formen dogmatischer
Tradition angenommen haben, und so bereits ein unvollkommenes
Analogen zum Erkennen darstellen; und dann ist allerdings die
Verwechselung mit der stoischen Ansicht nahegelegt. Allein, wie
schon oben zu Clemens bemerkt ist: ausschlaggebend ist der Blick
auf die psychische Stellung der sittlichen Wirkung. Bei Origenes
ist das Erkennen nur eine Fortsetzung der durch die Motivkraft
des Glaubens bereits ausgelösten Willensreaction gegen die Sünde
als abnormen Willeusact, und kann sich gerade auch auf diesen
Glauben, seinen Inhalt und seine sittliche Wirkung, reflexiv richten.
Bei den Stoikern ist das Erkennen selbst, als lediglich intellectuelle
Bewegung, das einzige Mittel zur Reform des Willens, wie anderer-
seits die Tcaörj im intellectuellen Irrthum über den Werth der
Lebensgüter wurzeln. Die Einsicht in diese Ueberschätzung der
Wirkung des blossen Intellects auf den Willen, welche dem
antiken Denken bis zuletzt eigenthümlich blieb, ist specifisch
christlich, und ihr Auftreten ein sicherer Gradmesser für das
Mass der Unabhängigkeit der christlichen Denker in antiker Um-
gebung. Es liegt darin das factische Erscheinen einer specilisch
neuen Form der Religion und ihres Verhältnisses zur Moral. Am
nächsten auf antikem Boden läge zur Vergleichung mit der christ-
lichen Erfahrung von der sittlichen Motivkraft des Erlösungs-
glaubens der platonische Eros, wäre er nicht einerseits selbst erst
Resultat eines Erkennens, und andererseits verlassen von dem
Moment persönlicher Beziehung mit der Gottheit, ohne das auch
Jahresbericht über die Kirchenväter etc. 511
der christliche „Glaube" die ihm anhaftende Eigeuthiimlichkeit,
willensbevvegender Affect zu sein, nicht haben könnte.
6. Schüler will behufs einer Vergleichung der Systeme von
Origenes und Plotin vom Begriff der Seele ausgehen in der Er-
wägung, dass von diesem aus sich die Fassung der oberen wie der
unteren Principien beiderseits wesentlich bestimmt. ludess giebt
der Verf. hier zunächst nur etwas Vorläufiges ohne nähere Quellen-
belege. Daher ist es besser, eine spätere ausführlichere Darlegung
abzuwarten. Dass schliesslich Plotin wegen seiner Mystik als der
religiösere, Origenes aber wegen seiner concreteren speculativen
Auskünfte als der intellectualistischere erscheinen soll, dürfte auf
einen psychologischen Formalismus der Beurtheilung hindeuten,
der doch von dem Inhalt der beiderseitigen Ueberzeugungen —
auf der einen Seite ein metaphysisch -logisches Pyramidal -System,
auf der andern ein lebensvoller Erlösungs -Vorgang — wohl all-
zusehr abstrahirt. —
7. Capitaine hat es unternommen, Origenes als christlichen
Ethiker zu behandeln, was ähnlichen Schwierigkeiten begegnet,
wie die Herausholung seiner Erkenntnisstheorie. Denn Origenes
begreift die ethische Entwicklung und Vollendung des Menschen
ganz ähnlich wie die Entwicklung seiner Erkenntniss als Form der
allmählichen Reactivirung seines ursprünglichen metaphysischen
Wesens. So wenig es daher bei ihm eine besondere Behandlung
der Erkenntnisstheorie giebt, so wenig auch eine solche der Ethik.
Die Heranbringung solcher Kategorien an Denker, bei welchen sie
sich entweder noch nicht, oder nicht mehr zu besonderen Dis-
ciplinen herausgebildet haben, bedingt immer eine Art examiuato-
rischen Verfahrens, wobei die historische Stellung des Befragten
zunächst ignorirt wird, um erst als Untersuchungsergebniss hervor,
zutreten. Wenn dabei der Standpunkt des Examinirenden zugleich
sich als ein apodictischer geltend macht, pflegt das untersuchungs-
ergebniss zugleich eine Censur zu enthalten. So ist es auch hier.
Denn der Standpunkt des Verf. ist der katholisch- kirchliche, der
bekanntlich nicht discutirt, sondern nur urtheilt, oder censurirt.
Ist dabei freilich das Untersuclmngs-Object ein Repräsentant der
kirchlichen Autorität, so ergiebt sich das Bemühen, ihn dem ange-
512 II- Liidemauu,
legten Massstab entsprechend zu finden, und dann eventuell seine
historische Wirklichkeit zu alteriren. So fanden wir es — wenig-
stens theilweise — oben bei der Behandlung des Clemens als Ethikers
durch Conrad. Beim Verf. sind wir indess in besserer Lage: denn
Origenes ist ja kein Repräsentant der Autorität, sondern von dieser
letzteren mehr oder weniger preisgegeben. Daher kann seine ge-
schichtliche Eigenthümlichkeit zu Worte kommen; ja sie kann
sogar theihveise der Gegenstand von Rehabilitationsbestrebungen
w^erden, ohne dass der Verdacht berechtigt w'äre, der Verf. suche
bei einem solchen Heterodoxen nach Stützen für sein kirchliches
System. Er behandelt seinen Stoff in folgenden Abschnitten: 1. de
hominis natura; 2. de fine hominis; 3. de notione boni; 4. de lege;
5. de conscientia, de libero arbitrio, de gratia; 6. de variis agendi
motivis et gradibus perfectionis; 7. de virtute; 8. de peccatis. In
einer Appendix folgen dann noch die Lehrstücke: de praeexistentia
auimarum; de poenis et igne aeterna. Diese Abtrennung geschieht
indess nicht, um die Lehre von der Präexistenz aus der sonstigen
Darlegung von Origenes Anschauungsweise auszuscheiden und letztere
so der kirchlichen etwa anzunähern, sondern nur, um sie wie die
Lehre von der Apokatastasis gegenüber dem Rettungsversuche
Vincenzi's (Rom, 1864f.) als bei Origenes thalsächlich vorhanden
zu erhärten. Sonst macht der Verf. die Präexistenzlehre sammt
dem ganzen metaphysischen Zusammenhange, in welchem sie steht,
zur Grundlage seiner Darstellung (vergl. prooemium und Cap. 1.
u. 2). Gerade für die Anthropologie des Origenes beweist der Verf.
einen hervorragend unbefangenen Blick. Auch sonst weiss er, in
näherem Anschluss an Denis das Verhältniss des Origenes zu Plato
und zur Stoa so darzustellen, dass nicht einseitig die Abhängigkeit,
sondern auch die christliche Selbständigkeit hervortritt. Um so
auffallender ist es, wenn er (S. 108) in der Freiheitslehre des
Origenes die stoische wiedererkennen zu dürfen glaubt. Die apolo-
getische Tendenz, resp. das Eintreten für den katholischen Charakter
des Origenes macht sich naturgemäss da besonders bemerkbar, wo
in der That bei demselben die specifisch katholischen Ideengruppen
hervortreten, wie in den Abschnitten de lege, de peccatis, sowie
in der Verdienst- und Gnadenlehre. Die eigentlich ethischen
Jahresbericht über die Kirchenväter etc. 513
Gesichtspunkte und Lehren endlich hat der Verf. mit anerkennens-
werther Beherrschung des weitschichtigen Materials gesammelt und
dargestellt. Bezüglich der Apokatastasis unterscheidet er eine
esoterische Lehrweise des Origenes von der exoterischen, in welche
die Lehre von ewigen Höllenstrafen sich einfügt. —
8. Bordes giebt ein Referat über den Inhalt des Anti-Celsus,
und charakterisirt dann die apologetische Methode des Origenes:
den Zweck und Plan seiner Widerlegung, seinen Gegner, seinen
philosophischen Standpunkt wie seine Stellung zum Wunder- und
Weissagungsbeweis. Er findet hier wenig Originelles, aber auch
weder hier noch im allegorischen Schriftgebrauch die eigentliche
Stärke dieser Apologetik — sehr mit Recht: denn auf diesen Aussen-
posten war Celsus eben von bedrohlicher Stärke. Wohl aber sieht
der Verf. andererseits richtig, dass die Geltendmachung der sittlichen
Kraft wie des geschichtlichen Erfolgs des Christenthums den Punkt
traf, wo Celsus schwach war, sofern er das Christenthum hierin
weder innerlich überhaupt verstand noch auch nur äusserlich ge-
bührend würdigte.
Lactantius.
1. Lactantii opera omnia. Partis II, fasc. II: Caecilii, qui in-
scriptus est „de mortibus persecutorum" liber, vulgo Lactantio
tributus. Rec. S. Brandt et G. Laubmann XXXVI, 169 — 568.
Wien, 1897. Tempsky. M. 6,40. Daraus separat: L. Caecilii
liber ad Donatum confessorem de mortibus persecutorum
vulgo Lactantio tributus ed. S. Brandt IV, 50. Wien, 1897.
Tempsky. M. 0,60.
2. A. Knappitsch, Lactantius: Gottes Schöpfung. Aus dem Lat.
übertragen und mit sachl. und sprachl. Bemerkungen ver-
sehen. 69 S. Graz 1898. Styria. M. 1,35.
1. Nur um den Abschluss der Lactanz- Ausgabe von Brandt
und Laubmann auch in diesen Blättern nicht uuverzeichnet zu
lassen, erwähnen wir hier die obigen Ausgaben des Buches de
mortibus persecutorum. Sonst gehört weder diese Schrift noch die
über iliren Autor geführte Controverse in diesen Bericht. In den
514 II. Lüde mau u,
Prolegomena handelt es sich wesentlich um den einen cod. Colbert.
(saec. XI). auf dem unsere Kenntuiss des Buches allein beruht; um
seine Entdeckung, bisherige Benutzung und die Bemühungen der
Herausgeber bezüglich seiner Entzifferung. Nach einem Referat
über die bisherigen Ausgaben hält der Verf. schliesslich seine These
von der Unechtheit des Buches im Wesentlichen aufrecht. S. 241 —
568 erhalten wir die mühe- und verdienstvollen Register zur Gc-
sammtausgabe des Lactanz, hergestellt vom Herausgeber.
2. Auf der Brandt'schen Ausgabe beruht bereits auch die
Uebersetzuug von Lactanz de opificio dei von Knappitsch. Der
Verf. hielt die Schrift, besonders wegen ihrer Polemik gegen die
epikuräische Kosmologie auch heute noch für lesenswerth, und ver-
sieht sie mit sachlichen, die naturwissenschaftlichen Irrthümer be-
richtigenden Noten, am Schluss auch mit philologischen Excursen.
E. Rocholl, Plotin und das Christenthum (Diss. von Jena).
29 S. Krefeld 1898.
Abschliessend für die drei ersten Jahrhunderte wie einleitend
für die folgenden mag hier noch eine Dissertation über Plotins
Verhältniss zum Christenthum erwähnt werden. Der Verf. giebt
zuerst (S. 1 — 17) eineUebersicht über die Verschiedenheiten zwischen
Plotinischer und christlicher Weltanschauung, in welcher ihm die
erstere recht inferior erscheinen will gegenüber der letzteren mit
ihrem persönlichen Gott, ihrer persönlich freien Vorsehung, ihrem
Menschwerdungs-Dogma, ihrer Teleologie der freigewollten Zwecke,
ihrer anthropocentrischen Orientierung. Dabei tritt nicht hervor,
dass der Verf. die Schwierigkeiten vollaus würdigt, durch welche
diese sämmtlichen „christlichen" Positionen zu ebensovielen colossalen
Problemen werden. Und dass zu deren Lösung die christliche
Theologie sich in weitem Umfang gerade der Hülfen bedient hat,
die ihr der hier so benachtheiligt erscheinende Gegner darreichte,
das ist eine Auskunft, deren allzu kurze Andeutung am Schluss der
Arbeit (S. 28 f.) den Leser angesichts dieses ersten Theils entschieden
überraschen muss. Der dazwischen stehende Abschnitt über das
Verhältniss der Ethik Plotins zu der des Christenthums ist dem'
gegenüber wesentlich werthvoUcr. Man merkt, dass der Verf. hier
Jahresbericht über die Kirchenväter etc. 515
an Euckens Ausführungen (in den „Lebensanschauungen der grossen
Denker") einen besser orientirenden Anhalt fand, der ihn besonders
bezüglich des Christenthuras über den Horizont kirchlich herge-
brachter Vorstellungen hinaus — an die hier nur noch etwa Christi
„stellvertretender Opfertod" erinnert — und mehr in das Wesen
der Sache führte. So erhalten wir hier eine hübsche Parallele
zwischen Plotins ethisch-negativer Tendenz zur „Entmenschlichung"
und Erhebung ins Allgemeine und der christlichen Werthung des
Individuums in Verneinung wie Bejahung desselben; zwischen
Plotins Ablehnung und der christlichen Erhebung des Leidens;
zwischen Plotins äusserlicher Betrachtung der Sünde als Sinnlichkeit
und der christlichen Auffassung derselben als innerlich erfolgender
Willensabweichung — ; wobei allerdings die schliessliche Gegen-
überstellung von Neuplatonismus als „verwickelter Speculation"
und Christenthum als „einfacher" Lösung aller dieser Fragen —
trotz Jacob Burckhardt — seltsam berührt. Mit der „Ein-
fachheit" des Christenthums hat es eine eigene Bewandlniss. Sie
ist vorhanden, gewiss. Aber es hat eine Weltgeschichte gekostet,
sie zu finden, und es wird noch eine Weltgeschichte kosten, sie zu
behaupten.
VI.
Die deutsche Litteratiir über die sokratische,
platonisclie iiud aristotelische Philosophie.
1899 und 1900.
Von
H. Goiuperz.
Da in dei' Berichtsperiode keine Arbeiten erschienen sind, die
speciell Kyniker, Kyrenaiker, Megariker, Akademiker oder Peripa-
tetiker zu Gegenständen hätten, so gliedert sich dieser Bericht von
selbst in die vier Hauptabschnitte: A) Allgemeine Geschichte der
antiken Philosophie; B) Sokrates; C) Piaton; D) Aristoteles.
Zwischen dieselben werden sich dann von selbst solche Schriften
einschieben, welche den Uebergang von einem zum andern bilden,
indem sie sich mit dem Zusammenhang der betreffenden Personen
und Lehren beschäftigen.
A) Allgemeine Geschichte der antiken Philosophie.
H. Ritter et L. Preller, Ilistoria philosophiae Graecae. Editio
octava quam curavit Eduardus Wellmann. Gotha, F. A.
Perthes. 1898. IV u. 598 S.
Das treffliche und bewährte Werk erscheint hier in neuer
Auflage, die diesmal E. Wellmann allein besorgt hat. Der Um-
fang ist gegenüber der 7. Auflage gleich geblieben, und auch der
Inhalt scheint, soweit ich nach Stichproben urtheilen kann, abge-
sehen von der Anführung der neuen Litteratur, keine wesentliche
Veränderung erfahren zu haben.
Die deutsche Litteratur etc. 517
Abr. Eleutheropülos, Privatdocent an der Universität Zürich,
Wirthschaft und Philosophie I. Die Philosophie und die
Lebensauffassung des Griechenthums auf Grund der gesell-
schaftlichen Zustände. Zweite vervollständigte und umge-
arbeitete Auflage. Berlin, E. Hofmann u. Co. 1900.
XIV u. 382 S.
Um die Geschichte der Philosophie war es nach der Meinung
des Verfassers bisher übel bestellt. Denn „dass die Philosophie
der nothwendige Ausdruck eines gewissen Kulturzustaudes sein
konnte und dass in ihrer Geschichte vielmehr ein Wegweiser zur
Bestimmung des kulturellen Zustandes einer gewissen Zeit zu er-
blicken war, kam noch Niemandem zum Bewusstsein, trotzdem,
dass man es sonst thatsächlich verwirklichte" (S. 4). Seine Auf-
fassung der Philosophiegeschichte formulirt er nun kurz dahin:
„Die Philosophie erfüllt ein Zeitbedürfniss, aber der Persönlichkeit
des Philosophen entsprechend" (S. 17). Hierin liegt aber eine
doppelte Behauptung: 1. jede theoretische Weltanschauung dient
nur zur Begründung und Rechtfertigung einer praktischen Lebens-
auffassung: und 2. diese letztere muss stets in ihrer socialen und
ökonomischen Bedingtheit dargestellt werden. Mit Rücksicht hierauf
gliedert E. seine Darstellung nach 5 Perioden. In der ersten:
„Die Vorbereitungen für das werdende Griechenthum" (S. 43 ff.),
treffen wir noch keine eigentliche Philosophie an. Ganz anders
in der zweiten: „Das werdende Griechenthum" (S. 67ft'.). Hier
führt uns der 2. Abschnitt nach Jonien, und im 1. Capitel: „Der
Höhepunkt des jonischen Wohlstandes und die Rechtfertigung der
entsprechenden Lebensauffassung" erfahren wir, wie sich E. auf
Grund seiner Voraussetzungen die jouische Naturphilosophie zu-
rechtlegt — ich meine dasjenige, was mau bisher so genannt hat;
denn E. belehrt uns (S. 79, Anm.): „Es giebt keine Naturphilo-
sophie und sonst ein ähnlicher Unsinn (ich spreche jedoch von den
Griechen); es giebt nur eine Philosophie und das ist eine Lebens-
auffassung". Hiermit steht es aber so. „Der jonische Wohlstand
hatte das Volk mit der Zeit seinem Verderbnisse sehr nahe ge-
rückt — . Die Poesie der Vergangenheit entartete nunmehr
als blosse Genusssucht " (S. 77). „Man lebte, weil man
518 H. Gomperz,
lebte und um zu geniessen. Das war thatsächlich die Lebensauf-
fassung vom ganzen Jonien" (S. 78). Hierdurch entstand aber
nun ein Problem. „Es kam darauf an, nämlich zu beweisen, dass
die Art und Weise der jouischen Lebensführung auch richtig sei.
Thaies unternimmt es dadurch, dass er ein Weltbild entwirft, in
welchem nothw endig auch dem Menschen seine Stelle angegeben
und somit auch seine Lebensführung nachträglich bestimmt wird"
(S. 79). „Mit der Annahme des wässrigen Ursprungs der Welt
hatte aber der Philosoph jene Lebensführungsfrage seinerseits
kurzweg gelöst" (S. 80). „Diese Lösung des Problems aber war
mehr andeutungsweise als wirklich geschehen" (Ebd.). Kein
Wunder also, wenn wir des Befriedigenden dieser Lösungsmethode
erst an dem ausgefiihrteren Systeme des Auaximander inne
werden: „ — Die Erde, nach Anaximander walzenförmig,
war aber ursprünglich in flüssigem Zustande und ist nur mit Hülfe
des umgebenden Feuers vertrocknet, indem auch der salzig und
bitter gewordene Ueberrest in die Meerestiefe zusammenrann. Dies
führt nunmehr unmittelbar zu der Beantwortung der Alltagsfrage
nach der Richtigkeit der bestehenden Lebensauffassung: die
Menschen sind, wie denn sonst auch alle übrigen Thiere, aus dem
Urschlamme unter dem Einflüsse der Sonnenwärme enstanden.
Dass dabei nichts anderes, als eben nur das Schicksal nach echt
griechischer, speciell jonischer Auffassung ins Spiel gekommen ist,
versteht sich von selbst, und unser Philosoph giebt ihm auch da-
durch den Ausdruck, dass er eine periodische Zerstörung und die
Neuentstehung der Welt verkündet. " (S. 81). „Diese
Lösung des Problems und die Rechtfertigung der allgemein jonischen
Lebensauffassung dieses Zeitalters ist gewiss zweifelsohne über-
zeugend. Durch die zufällige schlammige Entstehung des Menschen
wurde klar an den Tag gelegt, ob eine besondere Aufgabe für ihn
überhaupt vorhanden sei" (S. 82). Das 2. Capitel: „Der Ausbruch
der Entartung und die Reformbestrebungen in Jonien", geht von
der Voraussetzung aus, dass nunmehr auch in Jonien „den wenigen
Besitzenden dieUnbomittclten massenhaft gegenüber" standen (S.83).
„Es zieht nun . . Pythagoras aufs Feld, mit einem dorischen
Lebensbilde die Heimath zu reformiren" (S. 8G). _ So ergab sich
Die deutsche Litteratur etc. 519
aber die Nothwendigkeit, „auseinanderzusetzen, warum die neue
Lebensauffassung die alte zu ersetzen hatte, und das war es dann,
was die Pytliagoreer nöthigte, den Nachweis zu liefern suchen,
dass in dieser Lebensauffassung ein Gesetz obw^altet, welches
geradezu das allgemeine Weltgesetz ist: das ist die Harmonie"
(S. 88). Und hieraus orgeben sich die einzelnen Bestimmungen
der pythagoreischen Lehre. Aber nicht einfach die Entartung der
Sitten war das Uebel, sondern „Der wirthschaftliche Kampf in
Jonien", den das 3. Capitel behandelt. Und da tritt uns denn
zunächst „die proletarisch-demokratische Bewegung und ihre Lebens-
auffassung" entgegen in — Xenophanes. „Dass Xenophanes der
proletarischen Klasse angehört, ist die einstimmige Meinung der
Berichterstatter, welche ihn für einen sehr armen Mann angeben"
(S. 98 Anm.). So wird auch seine Lehre begreiflich: „Er geht von
jener einzig möglichen Grundlage der gesellschaftlichen Reform,
nämlich von der Herstellung der Gleichheit und Einheit aller
Bürger aus ; er versucht aber vor allen Dingen diese Einheit und
Gleichheit durch die Welteinheit, ja die Einheit des Alls zur Gel-
tung zu bringen, so dass schliesslich die Einheit und Gleichheit
der Bürger als eine nothwendige Folge der Einheit und Gleichheit
des Alls betrachtet werden könne" (S, 99). Und um diese Welt-
ansicht gegenüber dem Zeugniss der Sinne zu behaupten, entstand
die Erkenntuisstheorie (S. 101). Gegen diese Richtung wendet sich
nun „der aristokratische Protest gegen die proletarischen Ansprüche
und seine Lebenauffassung" (S. 102). Der „stolze Aristokrat"
meinte, „dass die bestehende Ordnung zwar im Allgemeinen nicht
zu verändern, w^ohl aber die Ueberschreitung der Schranken zu
vermeiden sei; und in diesem Sinne tritt Heraklit als sittlicher
Reformator seiner jonischen Heimath Ephesus auf, und bietet dem
Xenophanischen, d. i. proletarischen Vorgange das Gegenstück . ."
CS. 104). Denn „die Entscheidung über die Richtigkeit oder
Falschheit der gegenseitigen Ansprüche der Armen und Reichen
hing also somit von der Bestätigung der Einheit und Gleichheit
alles Seienden, wenn die Proletarier recht haben sollten, die Noth-
wendigkeit der Gegensätze (d. i. also die Ungleichheit aller) als
des Naturgesetzes aber, wenn die Aristokraten ihre Interessen bei-
520 H. Goraperz,
behalten sollten" (S. 106). Wie sich nach E. aus diesen Praemissen
die Heraklitische Lehre im Einzelnen entwickelt, das brauche ich
wohl hier nicht auseinauderzAisetzen, und ebensowenig, wie die
Gründung von Elea als „ein demokratisch-proletarisch-kolonisa-
torischer Versuch" den Xenophanischen Keim zur Parmcuideischen
Frucht entwickelt (S. 117 ff.)- ^^ der dritten Periode, „Das ge-
wordene Griechenthum" (S. 124ff.), hat das demokratische Princip
triumphirt. „Es handelte sich darum, die Besiegten ins Lächerliche
zu ziehen." Dies leistete Zenon. „Zenons Tendenz ist nämlich
gegenüber Allen, welche die Parmenideische Alleinslehre für lächer-
lich halten, zu zeigen, dass ihre Vielheitslehre noch lächerlicher
ist" (S. 144). Wenn nun aber auch ein „Oligarch" wieMelissos
dieselbe Lehre vertheidigt, so zeugt dies einerseits von dem all-
gemeinen Durchdringen der demokratischen Idee, andererseits aber
„liegt es auf der Hand, dass ein derartiger Mann kein gescheidter
Kopf sein kann" (S. 146). Allein nicht alle Aristokraten dachten
so, und es war deshalb an der Zeit, durch einen „Aufruf zur
liebevollen Vereinigung aller Bürger" die Reste der Zwietracht
auszutilgen (S. 148ff.). Dies ist das Bestreben des Empedokles,
dem wohl die besonderen Zustände seiner Vaterstadt hierzu den
Anlass boten. „Friede und Eintracht ist das Mittel dazu; denn
wenn die bestehenden elenden Verhältnisse in Agrigent eigentlich
nur durch den Streit und die Zwietracht unter den Menschen
hervorgebracht werden, so herrscht im goldenen Zeitalter, in jenem
Zustande der Seligen, die Harmonie, die Liebe, die Freundschaft,
die Eintracht. Aber mit der ganzen Welt verhält es sich so wie
mit dem Menschen . . ." (S. 152), und so entsteht die Lehre von
vsTxo; und cptXt'a, Aber all diese Lehren haben noch eine wesent-
liche Beziehung auf die Vergangenheit. Der adäquate Aus-
druck der Gegenwart ist das System des Anaxagoras. „Allerdings
wissen wir darüber nichts, wie Anaxagoras sich über das Leben
geäussert hatte; aber es liegt doch auf der Hand, dass er die ge-
wöhnliche Lebensweise seines Zeitalters vollständig mit allen
Anderen theilte; mag es auch sein, dass er sich darüber gar nicht
geäussert hatte, so kann das eben nur dafür sprechen, dass man
in einem blühenden Zeitalter keine Veranlassung haben kann, die
Die deutsche Litteratur etc. 521
Lebensweise irgendwie zu berühren. Somit war es gleichsam eine
dichterische Betrachtung, welche Anaxagoras aufstellte, um das
Bestehende aus der Ordnung der ganzen Welt zu erklären. Der
Hauptpunkt, um welchen sich das ganze Weltbild des Anaxagoras
dreht, ist der Nus" (S. 159). Dieser soll die Welt ebenso ordnen,
wie in der Blüthezeit von Hellas das ganze Leben durch den
Geist geordnet ist. Und im Uebrigen wird nun die Anaxagoreische
Kosmogonie durch die Forderung bestimmt, der Stoff müsse so
beschaffen sein, dass er vom Nus geordnet werden könne (S. 163ff.).
Dieselbe Zufriedenheit aber, der so Anaxagoras Ausdruck giebt,
liegt auch dem Homo-Mensurasatze des Protagoras zu Grunde.
Denn dieser Satz darf nicht mit Pia ton („der bezüglich des
Theaetet nicht einmal der Bezeichnung eines Durchschnitts-
menschenkopfes verdient") auf das Wissen bezogen werden. „Der
Satz des Protagoras betrift"t vielmehr die Werthurtheile, entsteht
in Bezug auf das gewöhnliche Verhalten des Menschen, nämlich
darauf, wie des Menschen Schicksal bestimmt wird — kurzum,
der Satz entsteht in der Bestimmung des ethischen Verhaltens des
Menschen zur Rechtfertigung der Sachlage in Athen" (S. 174 Anm.).
Allein schon stehen wir an der Schwelle der vierten Periode:
„Das vergehende Griechenthum". „Der Wohlstand Athens hat die
wackeren Athener in verkommene Glückskinder verwandelt" (S.182).
Das Individuum löst sich aus der Gesammtheit und versucht, das
eigene Wohl zu behaupten (S. 186). Es entsteht eine Jagd nach
dem Glück. Und diese „materialistische Entfaltung des griechischen
Lebens" (S. 185) repräsentirt der Eudämonismus des Demokrit
(S. 187 ft'.). Indem sich aber dieser Eudämonismus zu dem über-
lieferten Götterglauben in Gegensatz stellt, wird Demokrit genöthigt,
die Götter zu leugnen, und in weiterer Folge eine mechanische
Erklärung der Naturerscheinungen zu liefern: so entsteht aus
seinem Eudämonismus sein Atomismus (S. 192 ff.). Dieser selbe
„Materialismus" ist es aber auch, dem die jüngeren Sophisten Aus-
druck geben (S. 205 ff.). Zwischen dieser Ueppigkeit und der
Schlichtheit der vorhergehenden Epoche macht sich nun aber ein
empfindlicher Gegensatz fühlbar. „Wer hat nun recht? — lebte
man in der alten Zeit so, wie man leben soll, oder ist dies nur
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV. 4. 36
522 H. Gomperz,
jetzt der Fall?" Weder ein der alten Generation augehörender
Greis noch ein der neuen angehörender Jüngling kann diese Frage
beantworten. „Aber der reife Mann, der ist es, der die Frage
richtig stellt; denn trotzdem, dass er . . . nicht ganz vorurtheilslos
sein kann, so ist er doch als der Erste der richtigen Auffassung,
dass über jene Frage nur so entschieden werden kann, dass nicht
die alte Zeit willkürlich lobgepriesen und die neue verdammt
werde oder auch umgekehrt, sondern vielmehr dass erst über das
Leben überhaupt ein Begriff gebildet wird. Dieser Begriff ist das
Mass, worau sodann jene zwei Lebensrichtuugeu gemessen werden
können. Allerdings ist auch die Bestimmung dieses Masses nicht
von irgend einem Vorurtheil, von irgend einer Lebensrichtung
frei; immerhin ist es doch klar, dass das neue Verfahren mindestens
formal rein wissenschaftlich ist" (S. 220). Hiermit ist nach E.
die Stellung des Sokrates gekennzeichnet, zugleich aber auch
seine Lehre bestimmt, insofern der Tugendhafte jenes Mass kenneu
und also auch umgekehrt das Wissen um die Tugend diese bedingen
muss (S. 231 f.). Inhaltlich aber werde dieses Wissen als das um
das Nützliche aufgefasst, und zwar bestehe diese Nützlichkeit einer-
seits in der Uebereinstimmung einer Handlung mit der Sitte,
andererseits in ihren Folgen. „Geräth er nun aber durch diese
letztere Bestimmung mit den bestehenden Sitten in Konflikt, so bringt
er doch in der That den Inhalt der Sitte . . . zum Bewusstsein,
indem er das ,Nützlich' als nützlich für das ,Edlere' im Menschen
bestimmt. . . . Somit tritt nun durch die Philosophie ein Unter-
schied zwischen Seele und Körper an den Tag" . . . (S. 237).
„Man kann sagen: Sokrates setzt, wenn er sich dessen auch nicht
vollständig bewusst ist, an die Stelle des Diesseits und Jenseits
nur das Jenseits und er bezieht die Massregeln des richtigen
Lebens nur auf dies letztere" (S. 238). Allein dieser Sokratismus
blieb rein formal, so dass sich nun die verschiedenen wirthschaft-
lichen resp. politischen Parteien seiner bedienen konnten. So
lernen wir in Aristipps Hedonismus die Lebensauffassung der
„Partei der Reichen" kennen (S. 250ff.). Dem Proletarier dagegen
bleil)t nur übrig „entweder über seine Armuth hinwegzusehen oder
schliesslich zu versuchen, einen dauernden Zustand der Verhält-
Die deutsche Litteratur etc. » 523
nisse herbeizuführen" (S. 259). Jenes that „das Proletariat aus
der alten Generation oder der Kynismus" (S. 2591T.; vgl. auch
S. 264: „So fasst das menschliche Leben ein halb conservativer
und halb freisinniger Proletarier: Unabhängigkeit von dem Aeusseren,
Selbstgenügsamkeit, Tugend, Gut und Glückseligkeit sind eins und
dasselbe"). Allein die Geschichte zeigt „wie wenig sich die Magen-
geschichte mit einem Ideale, d. i. thatsächlich mit einer elenden
Karikatur befriedigen liisst" (S. 270), und deshalb postuliren „die
Proletarier der jüngeren Generation", denen Phaleas die Stimme
leiht, den Communismus (S. 271 ff.). Zwischen diese Gegensätze stellt
sich nun Piaton mit „einem aristokratischen Vermittlungsversuch
zwischen den kämpfenden Parteien" (S. 273), dem schon Euklid es
vorangegangen war (8. 275: „Es ist uns sowohl sein Leben als
seine Lehre unbekannt. Aber es steht von vornherein fest, dass
er innerhalb der Wirren seiner Zeit ein Friedenspriester sein
wollte"). Seine Philosophie „stellt geradezu ein Wagniss dar,
unter dem Mantel der Philosophie das Volk zu einem noch
elenderen Dasein zu führen" (S. 278). Näher: „Piaton begiebt
sich nach dem athenischen Markte mit der Laterne des au und
für sich seienden Guten in der Hand, und versucht nun, einerseits
negativ zu beweisen, dass die gewöhnliche Vorstellung von der
Glückseligkeit völlig irrig ist, und andererseits positiv, nachdem
er die letztere als höchstes Gut näher bestimmt hatte, das erstrebte
Ziel, also diese Glückseligkeit, dadurch herbei zu führen, dass er
den Staat auf einer Unterlage von einer communlstlschen Gemein-
schaft nach aristokratischem Muster reformiren will" (S. 283).
Es handelt sich also nach E.s Darstellung (bis S. 318) Platou im
Wesentlichen darum, das Proletariat durch das Zugeständniss des
Communismus für eine aristokratische Gesellschaftsordnung zu ge-
winnen: zur Rechtfertigung derselben dient die Idee des Guten an
sich, welche mit den gewöhnlichen Glücksvorstcllungen durch die
Betonung der jenseitigen Vergeltung in Einklang gebracht wird;
und dieser Standpunkt wird theoretisch dadurch begründet, dass
dem sophistischen Subjektivismus ein objectives Wissen um die
übersinnlichen Ideen entgegengestellt wird. Allein, während diese
Reformbestrebungen miteinander rangen, brach schon die fünfte
36*
524 ^- Gomperz,
Periode: „Der Untergang des Griechenthums" herein. Hellas ward
von Macedonien unterworfen, und da tritt Aristoteles auf, und
versucht „sich klar zu werden, wer Recht haben kann mit seiner
Lebensauffassung, ob nämlich das vergangene Griechenthum und
das jetzige Macedonien, oder das jetzige Griechenthum" (S. 324).
Und er beantworte diese Frage im Sinne der ersten Alternative:
Aristoteles „hat im Grunde nur die hierarchische Menschenordnung
des macedouischen Staates interpretirt; er hat, indem er die Zweck-
erfüllung des Niedern an dem Höhern predigte, einer grossen Masse
des griechischen Volkes, das um Gleichstellung mit den Glücklichen
des Tages kämpfte, einen Schlag auf den Mund geben wollen —
das war, was er im Ganzen als eine objektive Lebensauffassung
hinstellen wollte, nach welcher man sich zu richten hatte . . ."
(S. 325). Da diese bestimmte Erklärung die charakteristischen
Momente von E.s Auffassung des Aristoteles schon deutlich er-
kennen lässt, so glaube ich, deren nähere Ausführung (bis S. 360)
übergeben zu dürfen. Allein auch diese Lebensauffassung konnte
nicht endgiltig sein. „Man sah es schon deutlich, dass mit einer
Predigt einer gleichsam von aussen herkommenden Lebensauffassung
eben nichts anzufangen war; man merkte, dass es, wenn man
nicht die Lust hatte ... die gepredigte Lebensauffassung für wahr
zu halten, mit einer jeden Beweisführung und Welterklärung gleich
schlecht stand" (S. 362). So entwickelt „die ermattete Gesellschaft"
eine „neue Sophistik" (S. 363), die einerseits zur Skepsis des
Pyrrhon führt, andererseits aber zu den übrigen, in einer „Gemüths-
ruhe" gipfelnden Systemen: dem epikureischen und stoischen
die nun zum Schlüsse dargestellt werden (S. 364; 369 ff.); und
hier ist es ja gewiss weder schwer noch originell, das praktische
Moment als das massgebende aufzufassen. Ich darf deshalb wohl
auch über diese Ausführungen rasch hinweggehen, und damit diese
Inhaltsangabe schliessen, da E. hinsichtlich der weiteren Schick-
sale der antiken Philosophie uns auf eine künftige Darstellung
in einem zweiten Theile seines Werkes verweist. Nach den vor-
gelegten Proben dürfte jedoch der Wunsch begreiflich scheinen,
der Verfasser möge die Veröffentlichung dieser Fortsetzung so
Die deutsche Litteratur etc. 525
lange unterlassen, als er sich nicht die Elemente der deutschen
Sprache einerseits, der Selbstkritik andererseits angeeignet hat.
Wilhelm Bender, Mythologie und Metaphysik. Die Entstehung
der Weltanschauungen im griechischen Alterthum. Stuttgart.
Fr. Frommanns Verlag. 1899. 288 S.
Ein formell höchst eleganter Versuch, den im Titel an-
gedeuteten Gesichtspunkt bei der Betrachtung der philosophischen
Systeme Griechenlands und ihrer Entwickelung zur Geltung zai
bringen. Nach dem Verfasser giebt es im Grunde nur 2 Welt-
anschauungen: die mythologische oder „anthropocentrische", und
die metaphysische oder „kosmocentrische". Jene legt die Welt aus
nach dem Bilde und den Bedürfnissen des Menschen; diese will
sie interesselos so erfassen, wie sie in Wirklichkeit ist (S. 16 u.
passim). Dabei ist zu beachten, dass nach B. jede dieser Be-
stimmungen ein Doppeltes eiuschliesst. Das Anthropocentrische
ist ein weiterer Begriff als das Anthropomorphe, denn der Mensch
ist nicht nur für die aualogische, sondern auch für die teleologische
Deutung massgebend: die Mythologie will die Welt nicht nur aus
menschenähnlichen Factoren aufbauen, sondern auch ihren Zu-
sammenhang als einen solchen darstellen, der die menschlichen
Wünsche befriedigt. Und ebenso will die Metaphysik die Dinge
erfassen nicht nur in ihrer Verschiedenheit von uns, sondern auch in
ihrer Rücksichtslosigkeit gegen uns. Aber schon die Zusammen-
koppelung von zwei so verschiedenen Dingen darf uns bedenklich
machen. Man sieht nicht ein, warum beides wesentlich zusammen-
gehören soll. Die Welt kann gedacht werden als eine Gemein-
schaft übernicächtiger, persönlicher Wesen, ohne darum für die
Menschen ein wünscheuswerther Aufenthalt zu sein; und sie
könnte auch als ein System durchaus unpersönlicher Wesenheiten
unsern Ansprüchen gegenüber sich als durchaus gefügig erweisen.
Aber noch mehr! Die Gegenstütze, die B. als fundamentale an-
sieht, scheinen in Wahrheit nur relativ zu sein. Es giebt eben-
sowenig eine absolut interesselose Weltbetrachtung wie eine ab-
solut unpersönliche Dingauffassuug. B. stellt den ^lechanismus
des Demokrit als die typische Form jener „realistischen Meta-
526 H- Gomperz,
physik" dar, die das All „mit Ausscheidung aller teleologisch-
personalistischen Gesichtspunkte" auffasst (S. 80f.). Allein wenn der
mechanistische Materialismus die Dinge für todt und die Vor-
gänge für nothwendig ausgiebt, so modelt er sie nur nach Analogie
der eigenen Passivitäts- und Zwangserlebnisse, und thut so im
Grunde nichts anderes, als wenn der Hylozoismus auf sie die er-
lebten Zustände der Spontaneität und Regsamkeit überträgt. Und
wenn es zunächst den Anschein hat, als wäre hier gar kein oder
doch nur ein „rein theoretisches" Interesse massgebend, so ver-
bergen sich doch hinter diesem alle jene Bedürfnisse nach prac-
tischer Orientirung, die uns zu Zählungen, Messungen, Be-
rechnungen etc. veranlassen. Diese dogmatischen Gesichtspunkte
musste ich kurz andeuten, weil sich alsbald zeigen wird, dass sie
auch der historischen Durchführung des B. 'sehen Grundgedankens
sich widersetzen. Dieser Durchführung liegt im Allgemeinen
folgendes Schema zu Grunde: Das erste Buch behandelt „die
Entwickelung der metaphysischen aus der mythischen Welt-
anschauung". In einem einleitenden Capitel wird im Anschlüsse
anUsener's „Götternamen" die griechische Mythologie besprochen.
Sodann kommt das Abblassen der persönlichen Gottheit zur meta-
physischen Potenz in der theogonischen Speculation zur Darstellung,
wobei etwa (S. 50) darauf hingewiesen wird, wie sich bei Hesiod
das Chaos unter die lebensvolleren Göttergestalten mischt. Endlich
wird die allmähliche Emancipation der metaphysischen von der
mythologischen Denkweise in der vorsokratischen Philosophie ge-
schildert. Bisher hat sich der Authropocentrismus darauf be-
schränkt, die empirische Welt auszudeuten; aber indem mit dem
Fortschritte des realistischen Denkens die rnzulänglichkeit dieser
Deutung immer mehr hervortritt, geht der naturalistische in einen
supernaturalistischen Authropocentrismus über, und die „psycho-
centrische" Weltanschauung baut neben und über dem Diesseits
ein den Bedürfnissen des Gemüths angepasstes Jenseits auf (S. 238
und 267). Hiervon handelt das zweite Buch. Zunächst wird in
Anlehnung an Rohde's Meisterwerk „Die Entwickelung des
Seelen- und Jenseitsglaubcns bei den Griechen" erörtert. Dabei
fällt es auf, dass der Seclenlehre ein weit grösserer Einfluss auf
Die deutsche Litteratur etc. 527
die Metaphysik der Eleaten eingeräumt wird, als sich durch die
Quellen belegen lässt (S. 115 ff.)- Es wäre ja gewiss hübsch,
wenn man die Verwerfung der Sinnenwelt zu Gunsten eines
wahren Seins auf das Ungenügen der Seele am Irdischen und
ihr Sehnen nach einer Welt des unwandelbaren Friedens zurück-
führen könnte, aber weder das Yerlockende dieser Aussicht noch
die (bei Simplic. in phys. p. 39 erhaltene) Aeusserung des
Parmenides, die der Scheinwelt vorstehende Göttin sende die
Seelen bald aus dem Sichtbaren ins Unsichtbare, bald umgekehrt,
geben uns ein Recht, die „eleatische Speculation" der „asketischen
Mystik" zuzurechnen, das parmenideische Denken des Seienden
ein „visionäres Erkennen" zu nennen u. s. w. (S. llSff.)- Sodann
wird „die Begründung des asketischen Supernaturalismus durch
Pia ton" erörtert — nicht ohne dass Piatons Gedanken eine be-
trächtliche Verschiebung ihres Schwerpunktes nach dieser Seite
hin erleiden müssen, so dass des Verfassers Auffassung derselben
ungefähr mit der PI ot in 's zusammenfällt. B. nennt die Aus-
gestaltung der „Seelen- und Jeuseitshoffnung" „den einen Zweck"
von Piatons Wirksamkeit (S. 127); wer sich erinnert, wie dieser
in seinem Hauptwerke, dem „Staat", diese Hoffnung sorgfältig von
dem Kern des Gedankenganges sondert, um sie erst ganz zum
Schluss als Zugabe wieder einzuführen, wird diesem Urtheile
schwerlich beistimmen. Ebensowenig wird, wer sich die centrale
Stellung der Gerechtigkeit in diesem Gespräche vergegenwärtigt,
begreifen, wie man Piaton diese Tugend sammt avopsia und acucppo-
auvY] geringschätzen lassen kann im Vergleich zu der „über-
natürlichen" oder „höchsten" Tugend, der Weisheit (S. 139, 141)?
Ebenso befremdet die Auffassung, die Dialektik „führe nur zu den
Ideen als Gattungsbegriffen", während ihre abgesonderte, reale
Existenz Gegenstand einer „visionären Intuition, einer Offenbarung"
sei, „über die sich nicht streiten" lasse (S. 155) — einer Offen-
barung, „wie sie nur dem Seher im Zustande ekstatischer Ver-
zückung aufgeht" (S. 138). Für diese merkwürdige Vorstellung,
als ob Piaton neben seiner realistischen auch eine conceptua-
listischc Lösung des Universalienproblems gekannt hätte (die auch
auf S. 136 f. in dem mehrfachen Gebrauch der Wendungen „Begriffe
528 H- Cxomperz,
von den Ideen" u, dgl. hervortritt), wird man schwerlich eine
einzige platonische Stelle anführen können. Das dritte Buch be-
spricht „die drei Hauptformen der kosmocentrischen Welt-
anschauung", nämlich den aristotelischen Dualismus, den stoischen
Pantheismus und den epikureischen Materialismus. Auch hier be-
gegnen im Einzelnen manche hübsche Gedanken, wie wenn — so wie
schon die IßtoX-x des Empedokles (S. 75) — nun die et'Syj des Ari-
stoteles mit den naiv-animistischen Ding-Seelen in Parallele gesetzt
werden. Daneben aber auch Einiges, was nur als eine einigermasseu
schiefe Auffassung der besprochenenGedauken bezeichnet werden kann.
So reichen die angeführten Stellen lange nicht aus, um darzuthun,
dass nach Aristoteles das getrennte Sonderdasein des göttlichen
Geistes „nur dem visionären Blick" des sog. vou? Trotvjtuo? auf-
gehe (S. 171, 187); dass „erst der gealterte Aristoteles"
das theoretische dem praktischen Leben vorgezogen habe (S. 175),
dürfte sich wohl schwerlich erweisen lassen; der Vergleich des
aristotelischen „ersten Bewegenden" mit dem deistischen Gottes-
begriffe (S.192) beruht auf Verwechslung der begrifflich-dynamischen
mit der zeitlich-genetischen Priorität (der Bewegungsimpuls des
deistischen Gottes ist ein einmaliger, der des aristotelischen ein
dauernder Vorgang); und dass der Stoiker „seinem persönlichen
Gewissen allein verantwortlich ist" (S. 215), klingt alles eher als
stoisch. Das vierte Buch endlich bespricht erst „Skepticismus
und Synkretismus", dann die „Erneuerung des asketischen Super-
naturalismus in den neupythagoreischen und neuplatonischen
Kreisen". Und auch hier wird mau ebensowenig zustimmen
können, wenn von Pyrrhon gesagt wird, was wir von ihm
wissen „erhebt sich nicht über die trivale Meinung, dass es ein
absolut sicheres Wissen um die Welt nicht giebt und nicht geben
kann" (S. 250), wie wenn es von Plutarch, der vorher (S. 219)
ein platonisirendcr Stoiker genannt wurde, heisst, dass er „mit
dem Eifer des .... Fanatikers" „die stoische .... Welt-
anschauung" bekämpfte (S. 265). Aber solche Einzelheiten würden
wenig verschlagen, wenn sich nur B-'s Grundgedanke mit einiger
Strenge durchführen Hesse. Allein, nachdem der Verfasser das
Nebeneinanderbestehen der mythologischen und metaphysischen
Die deutsche Litteratur etc. 529
Tondeuzeu bei den Vorsokratikern festgestellt hat, muss er gleich
von Piaton wieder zugeben, dass er seinen Dualismus bald in
mythisch-personalistischer, bald in metaphysisch - realistischer Form
dargestellt habe (S. 162); ebenso heisst es von Aristoteles, er
habe das „Diesseits'^ unter dem Mond metaphysisch, das „Jenseits"
darüber mythisch gedeutet (S. 195ff.); der stoische Pantheismus —
eine der drei Hauptformen des Kosmocentrismus — ist „authro-
pocentrisch" bedingt" (S. 209), der Stoicismus bedeutet eine Fort-
bildung des „alten Animismus" (S. 220); der Neuplatonismus soll
bei Plotiu kosmocentrisch sein, weil nicht die Erhaltung der
individuellen Persönlichkeit, sondern deren Auflösung im Alleinen
als Ziel gedacht wird, dagegen bei Porphyr anthroprocentrisch,
weil hier die Erlösung der Vermittelung von Göttern und Dämonen
bedarf (S. 280 f.). Nun wüide auch dies noch nicht entscheiden,
wenn es sich dabei um die Scheidung grundsätzlich verschiedener
Momente in dem Gedankenkreise eines Denkers oder einer Schule
handelte; aber eine Unterscheidung, die so streng einheitliche
Gedankenbildungen wie das peripatetische oder stoische System
auseinanderreisst, und zwischen so nahestehenden Denkern wie
Plotin und Porphyr eine massige Scheidewand errichten will, wird
schwerlich den Anspruch erheben können, als die dem Gegenstande
natürlichste und angemessenste Betrachtungsweise angesehen zu
werden. Dies hat auch der Verfasser gelegentlich selbst empfunden.
Er klagt, wie schwer es sei, „die Linie der unpersönlichen metaphy-
sischen Weltdeutung einzuhalten" (S. 212); er giebt zu, dass die
Grenzen beider Weltaoschauungen „keine unverrückbaren" sind
(S. 256); ja, er gesteht sich: „Der Anthropomorphismus ist also nicht
nur der mythischen Weltdeutung eigen, sondern wirkt auch in der
metaphysischen fort; ja selbst die exacte und positive Erklärung jeder
Einzelerscheinung in der Welt muss sich der Erkenntnissformen
bedienen, welche der Mensch aus sich erzeugt, von denen man
umsoweniger nachweisen kann, dass sie der adäquate Ausdruck
des Wirklichen sind, als sie in wenig übereinstimmender Weise
von Forschern und Philosophen auf die Welt angewandt werden
und jederzeit zu recht verschiedenartigen Ergebnissen geführt
haben" (S. 246). Damit scheint mir aber zugegeben zu sein —
530 H. Gomperz,
zwar nicht, dass es nicht einmal verlockend sein konnte, einen
Versuch wie den vorliegenden anzustellen, wohl aber, dass derselbe
für die Auffassung des antiken Denkens keine grundlegende und
bleibende Bedeutung in Anspruch nehmen kann.
Den
Uebergang
von der allgemeinen Geschichte der griechischen Philosophie zu den
sokratischen Schulen bezeichnet für uns
Eugen Kühnemann, Privatdocent der Philosophie an der Universität
Marburg. Grundlehren der Philosophie. Studien über Vor-
sokratiker, Sokrates und Plato. W. Spemann, Berlin und
Stuttgart, 1899, XIII und 478 S.
„Seltsam sind die Zusammenhänge der Geschichte. In heisser
Arbeit, in jahrhundertelangem Ringen drang in der neueren Zeit
die Philosophie endlich bis zur philosophischen Fundamentirung
ihrer Grundmethoden vor, um, nachdem sie sie begriffen, wie man
nur begreift, was man selbst geschaffen, sie völlig rein vorgebildet
zu finden bei jenen Männern, die als die ersten vor denselben Pro-
blemen gestanden haben" (S. 478). In diesen Worten, mit denen
K. sein Buch beschliesst, tritt, noch deutlicher als im Titel, seine
Grundanschauung hervor: dass die griechischen Denker von Heraklit
bis Piaton alle Ilauptgesichtspunkte der Kant' sehen Philosophie
entwickelt hätten. Diese überraschende Ansicht kann an und für sich
einen doppelten Sinn haben. Es wäre möglich, dass die Lehren
des philosophischen Kriticismus mit denen jener antiken Philo-
sophen zusammenfielen, und dass der Schein einer Verschiedenheit
nur in den beiderseitigen Terminologien begründet wäre; es könnte
aber auch sein, dass die Alten selbst etwas ganz Anderes sagen
wollten, und dass sich nur nachweisen liesse, wie ein consequentes
Zuendedenken ihrer Aufstellungen zu den modernen Positionen
hinführen muss. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten zu unter-
scheiden, wäre offenbar von höchster Wichtigkeit; denn ein Anderes
ist es, durch den Hinweis auf den modernen Gedanken die philo-
sophische Tragweite einer antiken Lehre illustriren, und ein Anderes,
die letztere im Sinne des erstercn iuterpretircn. Es wird sich
Die deutsche Litteratur etc. ^ 531
aber aus einer kurzen Zusammenfassung von K.'s Hauptgedanken
alsbald ergeben, dess der Verfasser sich die grundlegende Bedeutung
dieser Unterscheidung nur sehr unzulänglich vergegenwärtigt hat.
Im Ganzen kann man sagen, dass im ersten Theile seines Werkes
der Gesichtspunkt der dogmatischen Erläuterung, im zweiten aber
jener der historischen Auslegung vorherrscht. Jener erste Theil
behandelt ausgewählte „Vorsokratiker", nämlich Heraklit, Xeno-
phanes, Parmenides, Zenon, Melissus, Empedokles,
Anaxogoras, Demokrit. In den Anmerkungen wird ein grosser
Theil der Fragmente dieser Männer wiedergegeben, und von
reichlichen Verweisungen auf die neuere Literatur begleitet. Im
Text umspielen schöngeschriebene, meist geistreiche Bemerkungen
die gegebenen Thatsachen. Auf diese einzugehen, ist hier nicht
möglich. Nur die Heraklit, Parmenides und Demokrit be-
treffenden Hauptgedanken können berücksichtigt werden. Vorher
aber soll au einem kleinen Beispiel die Eigenthümlichkeit der Me-
thode dargethan werden. Bei Aristoteles (Rhetor. 1123, p. 1399b. 6)
heisst es: Zsvo^avrjs iXs^sv oxi ofxoico; aacßouaiv oi •(sviaöat 'cpaaxovTSc
Toug Osou? ToT? a-üoOavsTv Xs^ouaiv «(j-cpoxspco? '(ap aufißoc'vsi jj.t) ervai
TtoTS Tou; Osous. Hierin wird eine unbefangene Auslegung wohl
schwerlich etwas Anderes finden können als eine Polemik gegen
die traditionelle Mythologie. K. aber übersetzt (S. 47) tous Oeouc
beide Male mit „Gott", bezieht also den Gedanken statt auf die
Götter der Volksreligiou auf das Alleine des Xenophanes, und
interpretirt: „Soll das identische Sein gedacht werden, so schliosst
es mit Nothwendigkeit alles Nicht-Sein von sich aus" (S. 48).
„Dem Denker wird ganz unmöglich, etwas Anderes zu denken als
reines Sein, unmöglich vor Allem, ein Sein zu denken, das auch
Nicht-Sein ist. Mit dieser letzten Wendung stehen wir in der
Grundfrage der Wissenschaft." Aber sogleich fährt er fort: „Nun
haben wir freilich in diesem letzten den Gedanken des Seins aufs
Aeusserste entwickelt, der in dem aristotelischen Citat enthalten
ist. Ob die Entwickelung 'bei Xenophanes hier zu völliger Klar-
heit kam, kann bezweifelt werden. . ." (S. 49). Und alsbald heisst
es: „Im Grunde genommen ist es glcichgiltig, ob auch die letzten
Gedankenreihen schon von Xenophanes in völliger Klarheit voll-
532 TT. Güinperz,
zogen sind" (S. 50). Es leuchtet ein, dass eine solche Weise der
Auslegung resp. Unterlegung zu schweren Bedenken Aulass giebt.
Doch ich wende mich zu den Hauptgedanken. Indem Heraklit
an die Stelle des Seins das Werden setzt, „bringt er die Gedanken
in die Bewegung, die für alles Erkennen nothweudig und im Wesen
des Erkennens gefordert ist" (S. 47). Denn es giebt „keine Er-
kenntniss oder wenigstens kein einheitliches System des Erkennens",
wenn nicht die Erscheinungen „alle mit allen vergleichbar", und
zu diesem Behufe „in einem Grundcharakter alle befasst" sind
(S. 9). Dieser Grundcharakter aber ist der des Werdens. So
ersetzt Heraklit „durch einen Zusammenhang von Erkenntniss-
vorstellungen den naiven Begriff des Seins." Aber „in dieser Ein-
sicht besteht die Philosophie und mit dieser beginnt sie" (S. 8).
Allein die Lehre vom Werden enthält einen Widerspruch. „Alles
Werden . . — Entstehen sowohl wie Vergehen — besagt" den
„Gedanken eines Seins, das zugleich Nicht-Sein ist." Jedoch „dem
Denken ist seinem Wesen nach völlig unmöglich, ein Sein vorzu-
stellen, das zugleich Nicht-Sein ist" (S. 57). Und „Parmenides
erkennt . . . den inneren Widerspruch". Er lehrt: „Nur reines
Sein kann gedacht werden, und was gedacht wird, das ist reines
Sein" (S. 51). Diese „Einsicht vom reinen Sein als einzig mög-
lichem Denkinhalt" hat ihn „zu der Gleichsetzuug von Sein und
Denken geführt" (S. 55). Behauptet er nun deshalb „ein unent-
standenes und unzerstörbares, ein untheilbares und unveränder-
liches, ein um dieser Eigenschaften willen kontinuierliches Sein" —
unter „Aufhebung von Raum (??) und Zeit" (S. 67) — , so ist dies
„in klaren und scharfen Worten der Gedanke der Substanz, der
hier in der Geschichte der Wissenschaft erscheint" (S. 66). „Wir
haben damit den Gedanken der unveränderlichen, unentstaudenen
und unzerstörbaren Substanz . . ., entwickelt aus der Nothwendig-
kcit der Erkenntniss, dass sie in Einem Gedanken die Natur dar-
stellt" (S. 69). „Durch Parmenides wird historisch bewiesen die
Apriorität des SubstanzbegrilVs" (S. 71). Demokrit nun leistet
„ganz eigentlich die Verbindung des Parmenides mit dem Heraklit.
Denn die logische Unmöglichkeit im Gedanken vom Werden und
von der Bewegung ist endgiltig gehoben. Mit Gestalt und Lage
Die deutsche Litteratur etc. 533
ist der Raum, mit der Ordnung der Atome oder wenigstens einer
Umsetzung der Ordnung ist die Bewegung als Grundvorstellung
in das Naturdenken eingeführt. . . Soweit aber gehören die Vor-
stellungen des Heraklit in die nothwendigen Grundlagen der Natur-
wissenschaft hinein" (S. 146). Dies alles nun vermag Demokrit,
weil er neben der Substanz (den Atomen) noch das xsvov aner-
kennt. Das xsvov aber sind — die Anschauungsformen des Raumes
und der Zeit(!). „Das Verhältniss stellt sich ... in völliger Klar-
heit so: in Raum und Zeit ist der Gegenstand der Natur zu kon-
struiren als Substanz" (S. 142). Es handelt sich also „abermals
um eine feinere Einsicht in die Natur unserer Denk- und Er-
kenntnissmittel" (ebenda). So macht es Demokrit möglich, „die
Welt hinzustellen im Begriff, wie Parmenides es verlangt, aber nun
nicht erstarrend in Einem gleichförmigen Sein .... sondern, weil
er die Anschauungsbedingungen wahrt, zugleich mit der ganzen Fülle
und Freude der Bewegung und Veränderung." „Das Anschauungs-
element ist es, Raum und Zeit, was unsere ganze Wirklichkeit der
bunten, sich wandelnden Erscheinungen möglich macht. Die Atome
sind in alle Ewigkeit im strengsten Sinn constaut" (S. 143). Fragt
man nun aber, ob denn dies Alles Gedanken des Demokiit aus-
drücke, so erwidert der Verfasser zwar das eine Mal, den „Zu-
sammenhang der Principien", die sein „Werk tragen", habe er
freilich nicht erkannt. Nur „an das Object der Natur, nicht aber
an das erkennende Bewusstsein" habe er gedacht. „Was ihm
nöthig scheint, damit das Naturobject in wissenschaftlicher Rein-
heit construirbar werde, das setzt er an, ohne weiter darüber zu
grübeln, ob und inwiefern dies etwa durch die Denkmittel unseres
erkennenden Bewusstseins so gefordert wird" (S. 145 f.). Auf der
andern Seite aber hören wir, er habe „rein durch Kritik, rein a
priori, aber mit dem methodischsten Bewusstsein der Denk-
nothwendigkeiten in diesem Gebiete die quantitative Naturvor-
stellung begründet" (S. 144). — Im zweiten Theile „Sokrates
und Plato" übergehe ich, was einleituugsweise über die Sophisten
bemerkt wird. Auch in diesem Theil fehlt es übrigens nicht an
hübschen und oft auch richtigen Bemerkungen. Die Hauptgedanken
aber scheinen mir, wie schon augedeutet, noch bedenklicher als
534 ^- Gomperz,
die des ersten Theils, weil hier die modernen Gedanken noch ent-
schiedener für antik ausgegeben werden. Bei Sokrates hat sich
K. dies von vorneherein dadurch erleichtert, dass er sich einer
ganz eigenthümlichen Methode bedient. Da nämlich „bei dem Ver-
such der Ausnützung der Berichte immer neue Schwierigkeiten
sich ergeben", so fragt er, „ob nicht innere Gegebenheiten vor-
liegen, über die kein Streit ist, und von denen aus sich philo-
sophisch Durchschlagendes entwickeln lässt" (S. 192). Der Ver-
fasser will also aus der Beschäftigung mit ethischen Fragen, aus der
dialogischen Methode der Gedankenbildung u. dgl. m. die sokra-
tischen Grundgedanken deduciren! Und dass diese Deduction
gerade zu dem Kantischen Grundgedanken führt, hat ihn offenbar
an seiner Methode nicht irre gemacht. Das Wesentlichste dieser
Ableitung ist Folgendes. Der sokratische Dialog setzt voraus, dass
der Mitunterredner seine Voraussetzungen preisgiebt, sobald ihm
deren Konsequenzen als widersprechend erwiesen werden (S. 202).
„Es ist hier praktisch die Position errungen: nur ein an sich
widerspruchsloser Gedanke ist Wissen." Aber „eine in allen Kon-
sequenzen mit sich übereinstimmende Vorstellung nennen wir Be-
grilf." Somit ist das Denken „seinem Wesen nach ein begriffliches"
(S. 203). Wir sehen also, dass „in dem ernsthaften Denken des
Sokrates sogleich nichts anderes sich wirksam erweist als der Satz
vom Widerspruch. Nur dass er nicht formulirt wird; das ist nicht
nöthig. Die Methode allein bringt ihn zur Geltung" (S. 206.) Ob
also „eine Meinung den Charakter der Erkenntniss trägt, lässt vom
Denken allein aus sich bestimmen, es liegt an denkinnerlichen,
logischen liestimmungen . . ." „Sokrates richtet nicht mehr die
Gedanken nach den Dingen, sondern er lässt die Dinge um das
Denken sich bewegen" (S. 210). Dies ist ^die grösste Wendung
in der Geschichte der Philosophie" (S. 205); denn es ist „im ersten
Motiv die Conception aller idealistischen Philosophie" (S. 210). Aber
es handelt sich bei Sokrates nicht um Begrill'e im Allgemeinen,
sondern speciell um Tugendbegriffe. Was denken wir nun in
TuftendbegrilTen? „Eine Gesetzlichkeit unseres Verhaltens und ins-
besondere unserer Handlungen, aber nicht die Gesetzlichkeit unserer
Handlungen, soweit sie durch technische Zwecke bestimmt sind,
Die deutsche Litteratur etc. 535
sondern eine ganz eigenthümliclie Beziehung wohnt dieser Gesetz-
lichkeit bei, nämlich: wir sehen den Wert unseres Lebens im Ganzen
nur darin, dass es uns in seinen gesammten Handlungen von dieser
Gesetzlichkeit regulirt erscheint. In dieser Weise wird von Sokrates
einfach und genial das Problem der Tugendbegrifte angefasst" (S.227).
„Das Wissen in diesem Fall ist" also „Bewusstsein des Gesetzes,
damit Gewissheit der Sittlichkeit in unserm Leben. Wir haben
mit diesem Ausdruck das sittliche Bewusstsein nach seinem Wesen
bestimmt" (S. 229). Und das Ergebniss der sokratischen Methode
können wir „in Einem Ausdruck formuliren, indem wir sagen:
er befestigt hinsichtlich des ethischen Problems den Begriff der
praktischen Vernunft" (S. 230). — Der Verfasser wendet sich zu
Piaton, von dessen Gesprächen er die folgenden bespricht:
Hippias minor, Laches, Charmides, Lysis, Euthydem, Protagoras,
Gorgias, Menon, Gastmahl, Phaedon, Staat. Aus diesen, über
200 Seiten füllenden Erörterungen greife ich nur einen Hauptpunkt
heraus: die an den „Phaedon" anknüpfende Besprechung der Ideen-
lehre. Der Verfasser gehört zu Jenen, denen die aristotelische
Auffassung der Ideen ein „schweres Missverständniss" heisst (z. B.
S. 412, Anm. 1). Ich fürchte, was er selbst an die Stelle des
ytopiat^.oc setzt, wird nicht anders bezeichnet werden können. K.
geht aus von der „Unterscheidung der Sinnlichkeit und des Ver-
standes" (S. 400). Nach Piaton, meint er, erkennen die Sinne die
Erscheinungswelt, die „reine Vernunft aber geht auf das reine Sein
oder die Dinge an sich" (S. 401; die „reine Vernunft" soll die
Worte Phaed. 66 a £i)axptvsT tq Stotvoia, das „Ding an sich" den
Ausdruck auxo y.a&' auto IxaSTOv xäv ovicuv ebenda wiedergeben).
Also: wie das „scheinbare Ding" in der „Sinnesvorstelluug", so
wird das „Ding an sich" ergriffen im „reinen Begrifl'" (S. 402).
Diese Bestimmung des Verfassers nun halten wir fest: das reine
Sein oder das Ding an sich ist eines, der reine Begriff ist ein
anderes; beide sind ebenso verschieden wie die Erscheinungswelt
und unsere Sinnlichkeit. Entweder also, sollte man meinen, sind
die Ideen die Dinge an sich; dann stehen sie der „reinen Vernunft"
als etwas Fremdes gegenüber — und das ist der ytopiaao;. Oder
die Ideen sind die reinen Begriffe; dann sind sie nicht das reine
536 H. Gomperz,
Sein. Aber die zweite Alternative widerspricht offenbar zahllosen
platonischen Aeusserungen. Somit, scheint es, bleibt dem Verfasser
nur die Anerkennung des y(opia[i6^ übrig. Allein er geht einen
ganz anderen Weg. Er macht zunächst mit Recht auf eine Analogie
der platonischen avajxv/;öi? mit der Kantischen Apriorität aufmerk-
sam (S. 411 ff.), während aber Piaton sagt, wir müssten die
Gleichheit schon kennen, ehe wir zuerst concrete Dinge als gleich
auffassen können (Phaedon, p. 75a: a.va-{y.o((ov ofpot 7j|xa? TiposiSsvai
to laov TTpo exstvo'j tou /povou oxs to Trpöoxov loovxs^ xa laa svsvov]-
aajjLsv), spricht K. von der „Apriorität gewisser Grundbegriffe", so
dass schon hier die „Dinge an sich" neben den „reinen Begriffen"
verschwinden, die platonischen Ideen in die Kantischen
Kategorien sich verwandeln. Sofort heisst es auch: „Im reinen
Begriff erkannten wir früher schon das reine Sein" (S. 412) —
während wir es nicht in ihm, sondern durch ihn erkannten. Und
nun fliessen die reinen Begriffe und ihre Gegenstände rapide zu-
sammen. „Dieses Gleiche, Rothe, Gute an sich, heisst es (S. 415 f.),
ist kein Ding, es ist eben eine Idee." Und gleich darauf: „Nur
das Gleiche, Rothe, Gute selbst ist reines Sein an sich." Während
also auf S. 401 das reine Sein oder das Ding an sich dasselbe war,
ist hier die Idee zwar reines Sein, aber kein Ding. Und während
auf S. 402 die reinen Begriffe und das reine Sein Zweierlei war,
heisst es jetzt auf S. 418: „Die reinen Begriffe, oder, was dafür
ein Wechselbegriff, jenes reine Sein, das sie sind. . ." Nun aber
besinnt sich der Verfasser. Er sagt: „Hier möchten wir eine letzte
grosse Zusammenfassung erwarten . . . nämlich diese: die reinen
Begriffe . . . sind der Verstand selbst. Aber diesen Schlusszug
finden wir bei Piaton nicht" (S. 420). „Er begnügt sich mit dem
Gedanken der Verwandtschaft. Wenn jenes einwertige, reine, an
und für sich seiende Sein nur mit der Seele, wo sie rein und an
und für sich ist, ergriffen wird, so muss die Seele ihm verwandt
sein" (S. 421). Offenbar hat K. nicht bemerkt, dass er in diesen
Worten den /(upistxo? selbst beschreibt. Denn wir haben ja eben
gehört, dass die Ideen das reine Sein „sind." Wenn also die Seele
ihnen nur verwandt ist, wenn sie kein psychisches, sondern ein
selbstständiges Sein haben, dann sind sie eben transcendent — und
Die deutsche Litteratur etc. 537
mehr hat Aristoteles nicht behauptet. (Die lauge Anmerkung
auf S. 420 sucht vergebens dieser Consecjuenz zu entgehen.) Wenn
aber K. sich dagegen sträubt, Piaton diese „unsinnige Vorstellung"
(S. 416) zuzuschreiben, so wird zu erwidern sein: die transcendente
Idee ist nicht unsinniger als das transcendente Ich oder das trans-
cendente „Ding an sich" — jedenfalls aber viel weniger wider-
spruchsvoll, als der zwischen Dinglichkeit und Gedanklichkeit hin
und her schwankende „reine Begriff", den der Verfasser an ihre
Stelle setzen möchte.
B) Sokrates.
Richard Kralik, Sokrates, nach den Ueberlieferungen seiner Schule
dargestellt. Wien. Carl Konegen. 1899. XXIV u. 617 S.
Eine sokratische Evangelieuharmonie, in seiner Art ein be-
deutendes Kunstwerk, in jeder Zeile athmend Bewunderung und
Liebe für den Gegenstand. K. stellt das Leben des Sokrates
dar, wie es sich abgespielt haben müsste, wenn alle xenophontischen
Berichte und platonischen Gespräche als treue geschichtliche Quellen
sollten benutzt werden können. Zur Ergänzung der Lücken sind
nicht nur die andern Berichte, sondern auch die allgemeinen Zeit-
ereignisse in weitem Ausmasse herangezogen. Jene auffallende Vor-
aussetzung nun, wonach alle Dialoge des Piaton, in denen
Sokrates das Gespräch leitet, nicht freie Schöpfungen des ersteren
sein sollen, sondern Bearbeitungen von „Vorträgen" (S. XVII) des
letzteren, sucht der Verfasser in der Vorrede auch als historisch
richtig zu erweisen. Diesen Beweis wird man als gelungen nicht
bezeichnen können. „Alle Historie beruht schliesslich auf dem
subjectiven, höchst persönlichen Scharfblick, den ein Historiker
für das Durchschauen seiner Quellen hat" (S. XXI). Eben deshalb
wird man über ein Argument wie das, es sei „ganz unantik gedacht,
dass ein Künstler oder Forscher sich hinter einen andern steckt,
um seine Gedanken und Gefühle anzubringen" (S. XVI) mit K.
nicht streiten wollen. Wenn er aber die Stelle Conviv. p. 215d:
'ETTStSotv 8e aoS xts dxou-(j tj xöiv awv Xo'j'tov, aXXou Xs^ovtoc, xav Tzdvu
cpauXo? Ii 6 Xs^tov, sav tö *|'uvy] dxou(] idv ts dv/jp idv xt usipdxiov,
£X';:£7rX-/)-,'[x£voi iatjsv xal xax5/o[j.£i)a als ein „entscheidendes Zeugnis"
Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV. 4. o7
538 IT. Gomperz,
dafür aoführt „dass die Gespräche, Reden und Vorträge des Sokrates
von anderen Leuten fast gewerbsmässig reproducirt wurden, etwa
wie die Gesänge eines Rhapsoden" (S. XIX), so dass wir also auch
in den platonischen Schriften solche Reproductionen zu erkennen
hätten, so wird er auf Grund des eben angeführten Grundsatzes
es mir nicht verargen können, wenn ich darin vielmehr eine echt
platonische Bosheit gegen „haeretische" Mitsokratiker finde. Und
wenn K. aus den Versen des Aristophaues Nub. 288ff:
'AXX.' d7roa;£taa[j.£vot vscpo; oijißpiov
'Aöavaxa? losa? sTTtSwjjisöa
TyjXsazozm ofifiaxt i'ociav
schliesst, die Ideenlehre müsse schon Sokrates angehören (S. XXI),
so setzt dies voraus, der Dichter lasse an dieser Stelle die Wolken
„ihre Nebelschleier ablegen und sich als unsterbliche Ideen — —
zeigen" (S. 140f.), während die Worte in Wahrheit bedeuten:
„Aber lasst uns von unseru unsterblichen Gestalten den Regennebel
abschütteln, und weitblickenden Auges die Erde betrachten". Aber
auch der Verfasser hat diesen „kritischen Zweifel" vorausgesehen.
Wer sich desselben „nicht entschlagen kann, dem will ich dann
eben nichts weiter geboten haben als den philosophischen Roman
von Sokrates, den Roman, den schon Piaton unter diesem Namen
entworfen hat, den ich hier nur in ein Buch zusammenfasse, er-
läutert an der Geschichte, vereinigt, ausgeglichen und abgeschlossen"
(S. XXIII). In diesem Sinne kann auch die Forschung des Werk
willkommen heissen.
Robert Pöhlmann, ord. Prof. der alten Geschichte an der Universität
Erlangen. Sokrates und sein Volk. Ein Beitrag zur Ge-
schichte der Lehifreiheit. Historische Bibliothek, Bd. VIII.
München und Leipzig. R. Oldenbourg. 1899. 133 S.
Diesem Buche gegenüber befinde ich mich insofern in einer
schwierigen Lage, da es zum grossen Theil in einer heftigen, auch
der persönlichen Angriffe nicht entbehrenden Polemik gegen die
Beurtheilung des Sokrates-Processes durch meinen Vater (Griechische
Denker, II, p. 89fl". — welches Werk erst nach dem Abschluss des
2. Bandes hier zu besprechen sein wird) besteht. Und das Nächst-
Die deutsche Litteratur etc. 539
liegende, eine kurze, objective Skizxirung von P.'s Standpunkt,
erscheint nach der besonderen Natur der Schrift nicht wohl aus-
führbar; denn, was immer ich von seinen Gedanken oder AVorten
anführen möchte, stets würde der Schein entstehen, ich hätte einige
vage Allgemeinheiten aus dem Zusammenhange gerissen. So bleibt
nichts übrig, als, nach diesem vorläufigen Hinweise auf eine mög-
liche Quelle meiner Befangenheit, dies Werk wie alle anderen zu
besprechen. Am Schlüsse des 1. Capitels „Individualität und Massen-
geist in der Epoche der Vollcultur" bestimmt der Verfasser den
Zweck seiner Schrift in den Worten: „An sich war es ja ein ge-
waltiger Fortschritt, dass wir von der Ueberschätzung des Individuums
— — — so gründlich zurückgekommen sind, dass in Leben und
Wissenschaft der Gedanke des Sozialen seinen siegreichen Einzug
gehalten. Aber andererseits ist es doch eine besorgnisserregende
Erscheinung, wenn denkende Beobachter der Zeit 'unter dem sich
steigernden Eindrucke stehen, dass das Recht des Individuums
gegenwärtig in ganz besonders hohem Grade verkannt und verkürzt
werden" (Yolkelt). „Angesichts dieser Gefahren erscheint es doppelt
bedenklich, w^enn selbst von den Stätten aus, welche recht eigentlich
zur Hut des rein geistigen Elementes der Cultur und damit eben
der freien Individualität berufen sind, Ansichten verkündigt werden,
welche geeignet sind, diese Unklarheit über das 'Recht der Persön-
lichkeit' und ihr Verhältniss zur Gesammtheit zu steigern. Ich
denke dabei eine historisch-politische Erörterung, w'elche vor
kurzem Gomperz in seinem . . . Werke über 'griechische Denker'
niedergelegt hat und die von den angegebenen Gesichtspunkten
aus nicht ohne Widerspruch bleiben kann" (S. 4f.). Wir folgen
der Erörterung nicht durch die einzelnen Capitel („Der hellenische
'Volksgeist' und die 'auflösende' Reflexion"; „Sokrates und der
Staat, im Lichte einer Psychologie der Volksherrschaft"; „Sokrates
als typischer Repräsentant der Vollkultur und der Conflict mit
dem Massengeist"; „Der Richterspiuch der'Polis'"; „Der hellenische
Kulturstaat und die Denkfreiheit"), sondern heben das Wesent-
lichste heraus. In den „griechischen Denkern" lieisst es (IL p. 90)
von der Verurtheiluug des Sokrates: „Unsere l^eberzeugung geht
dahin, dass das verhängnissvolle Ereigniss zum kleineren Tlieile
37*
540 H. Gomperz,
durch Vorurtlieil und Missverstand verschuldet, zum weitaus
grösseren Theil und in entscheidendem Masse die Wirkung eines
vollberechtigten Conflictes gewesen ist Zwei Welt-
anschauungen, fast möchte man sagen: zwei Menschheitsphasen,
rangen an jenem Tage mit einander. Die von Sokrates einge-
leitete Bewegung war ein unermesslicher Segen für die Zukunft
des Menschengeschlechts; sie war ein Gut von sehr zweifelhaftem
Werthe für die athenische Gegenwart. Dem Rechte des Gemein-
wesens, sich zu behaupten und auflösenden Tendenzen entgegen-
zuwirken, stand das Recht einer grossen Persönlichkeit gegenüber,
neue Bahnen zu erschliessen und aller Zähigkeit des Herkommens,
jedem Aufgebote dräuender Staatsmacht zum Trotze muthvoll
zu beschreiten." Diese Sätze bilden den Kernpunkt des Streites.
Wie sie gemeint sind, zeigt erstens die Darlegung des innerlichen
Gegensatzes zwischen dem Princip der Sokratik und dem der
griechischen Polis (p. 93 f.): Sokrates und den Seinen hat es „an
wahrer inniger Liebe zu ihrer Heimat gefehlt" „weil sein Herz
von einem anderen, von einem neuen Ideal erfüllt war. Die
,Einsicht' ist nicht athenisch, die ,Besonnenheit' ist nicht spartanisch,
die ,Tapferkeit' ist nicht korinthisch. Wo Alles und Jedes vor
den Richterstuhl der Vernunft geladen wird, wo nichts Herkömm-
liches als solches gelten, sondern alles von der denkenden Re-
flexion seine Rechtfertigung empfangen sollte, wie konnte da
der auf einige Quadratmeilen beschränkte Stadtpatriotismus von
ehemals seine alte Stärke bewahren? .... Der Vernunftsmoral
ist der Cultus des Weltbiirgerthums alsbald nachgefolgt. Hinter
diesem sieht man ein Weltreich, hinter diesem eine Weltreligion
erstehen." Es zeigt dies zweitens der Hinweis auf die concreto
Entfremdung der Sokratikcr Athen gegenüber, wie sie namentlich
zu Tage tritt einerseits in dem Anschluss Xenopho ns an den Landes-
feind, andererseits in dem Verhalten Platon's, der oifenbar nur zu
gerne das „schlecht" regierte Athen zu Gunsten eines „gut"
regierten Syrakus verlassen hätte (p. 92). Uebrigens wird kein
Zweifel darüber gelassen, dass nach der Meinung des Verfassers
der „griechischen Denker" in all diesen Tendenzen der Sokratik
nur der alte „Gegensatz der philosophischen Kritik und der
Die deutsche Litteratur etc. 541
natioualen Ideale" einen „tiefereu und offenkundigeren" Ausdruck ge-
funden hat (p, 94), der von den durch die schweren Misserfolge
zur Idealisirung der alten, traditionellen Anschauungen geneigten
Athenern doppelt empfindlich gefühlt worden sei (S. 75f.). Die
Absicht dieser Darstellung zeigt sich aber auch drittens in den
Worten, die unmittelbar an jene von den beiden, einander gegen-
überstehenden „Rechten" anknüpfen: „An dieser Berechtigung des
Individuums zweifeln unter denen, an welche diese Blätter sich
wenden, bei Weitem nicht so viele als au jeuer des Staates"
(S. 90). Hätte P. diesem Satze Beachtung geschenkt, so hätte
seine Polemik vielleicht eine andere Gestalt angenommen. Deuu
er hätte sich dann überzeugt, dass jene Gedanken über die Frei-
heit des Denkens, Forscheus und Lehrens, auf die er immer wieder
zurückkommt, seinem Gegner nicht uur nicht unbekannt waren,
sondern dass dieser sie vielmehr als so selbstverständlich voraus-
setzte, dass ihm schon die blosse INIöglichkeit einer anderen Auf-
fassung zum Problem geworden war, dass er sich m. a. W. ver-
pflichtet glaubte, auch alles dasjenige zu erwägen, was etwa in
jenem Augenblick den Alltagsargumenten zu Gunsten der Gedanken-
freiheit sich habe entgegenstellen lassen. Er hätte dann auch
schwerlich meinen Vater „den unermüdlichen Ankläger der Philo-
sophie" (S. 38) genannt, und ihm nicht Belehrungen ertheilen zu
müssen geglaubt wie die: „Das wissenschaftliche Denken, das die
Wahrheit und nur die W^ahrheit will, ist seiner ,Teudenz' nach
nie gemeinschädlich, sondern wahrhaft gemeinnützig" (S. 117).
„Dabei fällt das wohlverstandene Interesse zwischen Volk uud
Staat mit dem der Wissenschaft zusammen" (S. 118). Ebenso
hätte P., wenn er die eben kurz wiedergegebene Auffassung
von dem Misstrauen des archaisir enden Conservativismus der
restaurirten Demokratie gegen die Sokratik als prägnante Ver-
körperung der Aufklärung genauer erwogen hätte, es kaum für
nothwendig gehalten, auf 15 Seiten (S. 23—38) den angeblichen
Widerspruch zu entwickeln zwischen der Anerkennung eines
vorsokratischen Individualismus und Rationalismus und der Fest-
stellung, dass eben diese Geistesrichtungen den Sokratismus als
bedrohlich erscheinen Hessen. Ich übergehe andere, ähnliche Er-
542 II. G 0 m p e r z ,
örteruQgen, und wende mich der Hauptstreitfrage zu: der Be-
urtheiluug der thatsäclilichen Vorgänge. Da fragt sich zunächst,
ob die in den ^griechischen Denkern" angedeuteten Motive in der
That sich in entscheidender Weise geltend gemacht haben. Hier-
über liesse sich natürlich im Einzelnen Vieles vorbringen. P. aber
stellt sich auf einen principiell abweichenden Standpunkt. Er be-
trachtet die Ankläger des Sokrates nicht etwa als Individuen,
welche aus diesen oder jenen näher zu ermittelnden Gründen
die Volks- Vorurtheile, Leidenschaften etc. gegen den Angeklagten
ausgespielt hätten, sondern fasst sie lediglich als „Vertreter des
Gruppengeistes oder Massendaseins", als „Massenindividuen" (S. 98)
auf. Und in folgenden Sätzen meint er die treibenden Motive
des Sokratesprocesses zu enthüllen: „Gegen die geistigen Waffen,
mit denen Sokrates das extrem-demokratische Dogma in seinen
Grundfesten erschütterte, liess sich nicht aufkommen. Im geistigen
Kampf mit seiner unerbittlichen Logik wäre der vulgären An-
schauungsweise nichts übrig geblieben als das Eingeständniss der
Ohnmacht. So griff sie zu dem ]\Iittel, dessen sich die Gläubig-
keit jeder Art gegen die höhere Intelligenz zu allen Zeiten bedient
hat, wenn sie ihre Illusionen, Ansprüche und Interessen zu ge-
fährden drohte: sie verketzerte, verhöhnte und verdächtigte die
Intelligenz, in deren Namen der Gegner kämpfte" (S. 85). Ob P.
auf Grund dieser Einsicht in der That berechtigt ist, zu sagen:
„Wie das Sokratesbild von Gomperz deutlich zeigt, suchen wir
bei ihm vergeblich nach einer Analyse der elementaren geistigen
Vorgänge, die das Wesen der psychischen Causalität wenigstens in
seinen einfacheren Formen richtig erfasst hätte. Kein Wunder,
dass er auch den verwickeltercn Gestaltungen gegenüber, welche
dieselbe in der Gesellschaft und in der Geschichte annimmt, den
richtigen Standpunkt völlig verfehlt, jedes Masstabes objectiver
Beurtheiluug entbehrt. Er ist sich gar nicht bew^usst, dass es sich
hier um ein grosses, massenpsychologisches Problem handelt
. . . ." (S. 50) — das muss dem Urtheile des Lesers überlassen
bleiben. Fragt man nun weiter nach der Bewerthung dieser
Masseninstincte, so erfahren wir (S. 51): „Die Masse als solche
ist ja nicht schlecht, sie ist aber auch nicht gut und nicht edel.
Die deutsche Litteratur etc. 543
überhaupt nicht sittlicher Art. Sie hat vielmehr etwas von
einer Naturerscheinung au sich" — was freilich den Verfasser
nicht hindert, später (S. 110) von der „moralischen . . . Schwäche
der . . . Masse" zu sprechen. Und zu der allgemeinen geschichts-
philösophischen Frage nach der Berechtigung von Werthurtheilen
nimmt P. in ähnlich zwiespältiger Weise Stellung. „Mit den
vagen Vorstellungen einer veralteten naturrechtlichen Metaphysik,
heisst es (S. 114), löst man keine geschichtlichen Probleme." Aber
freilich „wird der Historiker . . . auf ein Werthurtheil nicht ver-
zichten". Nach ihrer Uebereinstimmung mit dem „kultur-
politischen Interesse" wird er den streitenden Interessen „innere
Berechtigung" zuerkennen (S. 115). Aber als ob die Herrschaft
naturrechtlicher Dogmen nie angezweifelt worden wäre, hören
wir, „einzig darauf" komme es an, „ob die Tödtung des Sokrates eine
flagrante Verletzung der Lehrfreiheit war oder nicht" (S. 95^). Diese,
auch im Titel zum Ausdruck gelangte Auffassung aber, von der man
wohl wird anerkennen müssen, dass sie recht wenig antik, und also
auch recht unhistorisch klingt, führt mich auf einen letzten Punkt.
Viel schmerzlicher nämlich als durch seine Stellungnahme gegen
einen mir noch so nahestehenden Manu, hat mich dies Buch da-
durch berührt, dass es zwar von Sokrates handelt, von dem Geiste
dieser gewaltigsten Erscheinung aber auch nicht mit einem Hauche
sich berührt zeigt. Hätte ein Mann, tief ergriffen von dem Zauber
der sokratischen Persönlichkeit, oder doch überwältigt von seiner
geistigen Kraft, zur Feder gegriffen, um eine vermeintliche Ver-
unehrung seines Andenkens abzuwehren, wie nebensächlich wäre
es, ob diesem Schein auch die Wahrheit entspräche! Aber dem
Verfasser ist Sokrates selbst ein blasses Schemen, er iuteressirt ihn
nur als ein Paradigma für das Problem der „Lehrfreiheit". Wohl
weiss er, dass man die sokratische Lehre als Intellectualismus zu
bezeichnen pflegt. Allein von diesem hat er nur das Folgende zu
sagen: „In ihm prägt sich in vollendeter Weise das aus, was uns
oben als Typus der Vollcultur entgegentrat. Denn das Wesen
der Vollcultur besteht ja in einer Vergeistigung des theoretischen
wie des praktischen Lebens, welche in steigendem Masse die unwill-
kürlichen Bewusstseinsvorgänge durch willkürliche, associative durch
544 H. Gomperz,
apperceptive Vorstellungen ersetzt. Und das ist es eben, was die
sokratische Lehre sich als Ziel gesteckt hat" (S. 76), Von der
sokratischen Persönlichkeit aber — kein Wort! Ja, es muss ge-
sagt werden: von antikem Denken und Empfinden findet sich
hier nicht eine Spur. Wen wollte es da Wunder nehmen, dass
er auch für den göttlich-freien Humor des Aristophanes nicht
einen Funken von Empfänglichkeit sich bewahrt hat? Von den
„Wolken" spricht er als von „der perfiden Anschwärzerei des
Vertreters der höheren Bildung" und der „Verhöhnung dieser
Bildung selbst" (S. 87). In ihnen „ruft der leichtfertige Poet
gegen das Opfer seiner Laune die gefährlichsten" Instincte wach,
die in der Masse leben: den Widerwillen und den Argwohn der
Ignoranz gegen die Ueberlegenheit der höheren Bildung, den
Ilass altgläubiger Beschränktheit, die Lust an Verhöhnung und
Verketzerung" (S. 89). Es wird hier „um der Massenwirkung
willen an die rohen Instincte und blöden Vorurtheile des grossen
Haufens appellirt" (S. 90). Wie ganz anders, um wie viel weit-
herziger, um wie viel griechischer vor Allem hat hier Pia ton ge-
dacht, als er im „Gastmahl" das Genie des Spottes und das der
männlichen, geistigen und sittlichen Kraft zu freundschaftlichem
Gedenkenaustausch vereinte!
Dr. Knauer, Nervenarzt. Die Vision im Lichte der Kulturgeschichte
und der Dämon des Sokrates. Leipzig. Wilhelm Friedrich.
1900. VI und 222 S.
Eine dilettantische Compilation, für das Verständniss der
visionären Zustände und für das des sokratischen Sottjjioviov gleich
belanglos.
M. Wetzel, Haben die Ankläger des Sokrates wirklich behauptet,
dass er neue Gottheiten einführe? Jahresbericht über das
Königl. Gymnasium zu Braunsberg. Ostern 1899. 18 S.
Es handelt sich um die Interpretation der ^Vorte 6oci[i.ovia xaiva
der Anklage. W. will zeigen, dass Sai.uoviov hier „adjectivisch zu
verstehen" sei. „Die Anklage behauptet also nicht, dass Sokrates
neue Gottheiten, sondern nur, dass er neue göttliche Dinge, d. h.
Die deutsche Litteratur etc. 545
. . . eine neue Art der Mantik einführe" (S. 3). Der Verfasser hat
ein interessantes Material, den Gebrauch des Wortes betreffend,
gesammelt, das sich aber, wie mir scheint, auch ein wenig anders
gruppiren und verwerthen lässt. Auf der einen Seite hat er ge-
wiss darin Recht, dass die Grundbedeutung von oatfioviov adjectivisch
ist. Auf der anderen giebt er selbst zu, dass die Anklage jeden-
falls „implicite" auch den Vorwurf enthalte, Sokrates glaube „an
neue Götter", da er ja nur an solche eine neue Mantik knüpfen
kann, wenn er an die Staatsgötter nicht glaubt (S. 15). Die von
ihm selbst angeführten Stellen Piaton, Euthyphrou, p. 3b (cpr^al
'(dp [AS TTOtrjxrjv eivat Ostov xat uj? xaivob; Tioiouvia Öiou;) und Xeuophon,
Apolog. 24 (ouT£ -yap l^w^e dvxl Aib? xal "Hpot? xoti x&v auv xo'jtoi;
öswv ouxs Outuv xtal xatvoi? Sai[i.ocjtv oozz ojjlvu? ouxs vofxi'Cwv 7'X),ou;
Osous dtvot-KEcpr^v«) gehen nun aber doch wohl etwas weiter und be-
handeln die Implication wie etwas Selbstverständliches. Nun zeigt
weiterhin eine Stelle wie die Piaton, Apolog. p. 40a (tj [lavxuY] r^
xou 6ai[jLOVioü), dass im sokratischen Kreise xö oaijj.oviov jedenfalls
zu einer formelhaften Wendung erstarrt war. Ferner macht gerade
W. darauf aufmerksam (S. 12), dass oaifxoviov schon von Demos then es
(Phil. III, 54) und Aischines (Ctes. 117) „im verächtlichen Sinne"
substantivisch als Deminutivum von oaijAtuv gebraucht wird, oder
dass, füge ich hinzu, jedenfalls zu dieser Zeit das substantivirte
Adjectiv schon in diesem Sinne gebraucht werden konnte — und
offenbar wäre der verächtliche Sinn „Aftergottheiten" in der Klage
ganz am Platze. Endlich wird man sich einer doppelten grund-
sätzlichen Erwägung nicht verschliessen dürfen. Einerseits nämlich
darf mau in einer so frühen Zeit ein Bewusstsein von adjectivischer
oder substantivischer Bedeutung nicht voraussetzen: das Wort wird
hingesetzt und enthält Haupt- und Mitbedeutungen uudiffereuzirt
in sich. Andererseits erscheint für die antike Volksreligion die
Gottheit eng an den Cult gebunden: wenn also Jemandem die „Ein-
führung neuer Culte" Schuld gegeben wird, so setzt dies kein klares
Bewusstsein davon voraus, ob diese Neuerung lediglich die Cult-
form oder auch die Cultgottheit betrilTt. Unter diesen Umständen
erscheint mir die Annahme am natürlichsten, dass die Ankläger
sich nicht ungern eines sehr allgemeinen Ausdrucks bedient haben,
546 H- Ciomperz,
der zwai- seiuer Hauptbedeutung nach auf „neue Culte" zielt —
sowie ja auch das vo'xt'Cstv, dem das si^cpspsiv entspricht, seinen
Schwerpunkt nicht in der theoretisch- dogmatischen, sondern in
der praktisch -cultischen Anerkennung hat — , der aber doch
daneben eine Beziehung auf das bekannte sokratische 8aijj.6viov ent
hält (über dessen Natur sie schwerlich tiefgehende Untersuchungen
angestellt haben), und eine solche auf etwaige sokratische „After-
gottheiten" zum Mindesten nicht ausschliesst.
Friedrich Beyschlag, Gymnasialassistent, Die Anklage des Sokrates.
Kritische Untersuchungen. Programm des k. humanistischen
Gymnasiums Neustadt a. d. H. für das Schuljahr 1899/1900.
58 S.
Bekanntlich liegt uns der Wortlaut der "fpct^TJ, der Sokrates
unterlegen ist, in mehreren, einigermasscn von einander abweichenden
Versionen vor: Favorinus (bei Diog. Laert. IL 40) giebt ihn
auf Grund der von ihm im Metroon eingesehenen Originalurkunde
so an: 'AoixsT Stuxpax-/;? o'u? \ih y^ tioXic vojai'Csi Osou? ou vo[i.iC(ov,
ixepoi §£ xotiva oai\i6via si^Tj^ouasvo;* doixsT os xoti tou; vsou? oia-
cpösTpcüv. Bei Xenophon Comm. I, 7 heisst es, die Tpotcpr^ sei
Tototos Ti; gewesen: 'ASixsT 1wv.rjdTr^<; oo; psv -f] -iro/ac vopi'Csi ösou^
oü vo[i-iC«)V, STspot 03 X0CIV7. oo(t[xovta iucpeptov dotxsT os xal tou?
vsoü? oia<pi)etptov. Ferner lesen wir in der unter dem Namen
des Xenophon überlieferten Apologie, §10: xaT/jo'pyjtjav auxou oi
dvtioixoi (üc rj'o^ [JLSV 7] TToXt? vofjLi'Cst Osous ou voij-t'Cot ixspa 8s xatva
07ijj.ov'.a zlc'^ipoi xai xou? vioo<; 8ic<cp{)e ipot. Endlich heisst es
bei Pia ton, Apolog. p. 24b, die Klage laute ~(d; toov i'ojxpdxr]
rp-/)alv dotxsTv xou'S xs vsous ototcpösipovta xat Usou;; oü? y; ttoXi?
vofxiCst ou votjLiCovxa, iiepa os oottixovta x<xtvd. Nun hat Schanz
in seiner Ausgabe der platonischen Apologie (Leipzig, Tauchniz,
1893, Einleitung § 4; vgl. den Bericht von Zell er in dieser Zeit-
schrift, Bd. VIIJ, S. 588 ff.) kurz folgende Thesen entwickelt:
Favorinus habe seine Formel nicht aus dem Archiv, sondern aus
Xenophon geschöpft (Hauptargumente: stccplpstv kommt in dieser
Bedeutung schon früh, sicrj^siaDat erst später vor; Xenophon will
den Wortlaut nur ungefähr geben, stimmt aber doch mit Favorinus
Die deutsche Litteratur etc. 547
bis auf dies eine Wort genau überein); aber die Formel des
Xenophon könne nicht richtig sein, weil zur Strafbarkeit der
daißsia deren Zutagetreten in einer Handlung erfordert werde,
welche Handlung nur in einem otoas/stv gefunden werden könne,
das dann erst das oiacpösips'-v zur Folge habe, so dass also die
7pa9Y] nicht zwei, sondern nur einen Anklagepunkt enthalten haben
könne; diese Auffassung werde bestätigt durch Piaton Euthyphr.
p. 3a (-1 üotouvia ai cp-/](3iv oia^öet'pstv tou? vIou; . . . cp'/jai [j.s -oir^x/jV
sivoti Ocwv) und Apolog. p. 26 b (-Ä; \ie cp-^c oiacpOst'pciv . . . too;
Vctüxspo'j?; or^Xov . . . xctta ty-v Ypctcpr/.' . . . Osous oioaaxovta [xy)
vojii'Cs'.v . . .)■) und die Klage sei daher so zu reconstruiren:
'Aoizsi l^oy.pd-r^<; o'j-j [xsv f^ -oMc vou.t'Cet, Os'-Zu; ou voixuwv, i-spa
0£ xct'.va oaiaovia siscpsptuv xctl -:« auT7. -auTa toüc vsou?
SiSacjxmv. (Dass dieser Wortlaut unlogisch wäre, weil er vor-
aussetzt, dass es möglich sei das Einführen zu lehren, sei hier
nur nebenbei bemerkt.) Gegen diese Aufstellungen wendet sich
der Verfasser. Er führt Beachtenswerthes zu Gunsten der Glaub-
würdigkeit des Favorinus an (S. 4ff.), und hätte hinzufügen
können, dass die Ersetzung des suoipstv durch ekr^'i^Xab(Xl, falls sie
dem F. zur Last fällt, nicht erklärlicher ist, wenn er einen Autor
als wenn er eine Urkunde abschrieb: und weiter, dass Xenophons
„ungefähr" doch gewiss nicht ein bewusstes Abweichen vom
Originaltext, sondern ein Citiren aus dem Gedächtniss ausdrücken
soll, welches Gedächtniss ja auch ein gutes gewesen sein kann.
Er zeigt weiter schlagend (S. 29 f.), dass nach dem ({^r/fisaa des
Diopeithes (bei Plut. Pericl. 32) keineswegs eine Handlung zur
Constituirung der otsißsia erfordert wird, sondern nur ein xa Osia
[xYj yofjL-'C^iv. Er weist darauf hin, dass die Euthyphronstelle ihre
Formulirung künstlerisch-technischen Gründen verdankt, also nicht
beweiskräftig ist (S. 27 f.); dass es mit der Stelle Apolog. p. 2Gb.
ähnlich steht (S. 34) — und es wäre zu ergänzen, dass der Zu-
sammenhang beider Klagepunkte ja aus Meletos gar nicht her-
auso-efrast zu werden brauchte, wenn die Klage ihn schon so
scharf hätte hervortreten lassen ; und dass — was er aber vielleicht
noch entschiedener hätte betonen können — auch bei Piaton
Apolog. p. 24b die Zweihcit der Klagepunkte unbedingt vorausgesetzt
548 H- Gomperz,
wird (S. 32 J'.). Er schliesst mit Recht, dass die Reconstruction
von Schanz, die gerade das in allen Versionen enthaltene xou;
veou; oiacpOstpcuv ausschalte, unmöglich acccptirt werden könne,
dass es vielmehr bei der Formuliruug Xenophon-Favorinus
sein Bewenden habe (S. 54 ff.). B. geht ausserdem noch auf andere
Fragen ein, so auf die (von ihm geleugnete) Echtheit der xeno-
phontischen Apologie, was ich aber um so eher übergehen kann,
als er selbst diese Erörterungen für nicht erschöpfend erklärt (S. 19').
Dagegen kann ich nun dem Verfasser nicht folgen, wenn er von
dem selbständigen Klagepunkte aoixsi 8s xat xou? vsou? Siotcpöetpcuv
sagt, es sei „Schanz allerdings zuzugestehen, dass das oia^pOsipcuv
Tou? vs'oü? auch auf die Lehre neuer und die Leugnung der alten
Gottheiten Bezug hat, aber dabei bleibt festzuhalten, dass es zum
vorwiegenden Theil doch der politischen Seite des Processes ge-
widmet ist . . ." (S, 43). Ob der Process eine solche Seite hatte,
ist eine Frage für sich. Aber ich sehe keinen Grund zu der An-
nahme, dass die in Rede stehenden Worte eine solche Auffassung
an die Hand geben. Sie konnten das „Schlechtermachen" ganz
ebenso formal und undifferenzirt zum Ausdruck bringen, wie Piaton
diesen Begriff' in seiner Entgegnung behandelt (Apolog. p. 24cff.).
Und es kommt hier derselbe Gesichtspunkt in Betracht, der schon
oben hinsichtlich des Terminus octijxovia erwähnt wurde: dass es
nämlich bedenklich scheint, aus offenbar mit Absicht allgemein
und unbestimmt gehaltenen Ausdrücken einen möglichst greifbaren
und präcisen Gedaukeninhalt herauspressen zu wollen.
Am Schlüsse dieser, den Sokrates-Schriften gewidmeten
Uebersicht möge noch eine Schrift Platz finden, die sich mit seiner
Persönlichkeit, und zugleich mit der des Piaton und der des
Aristoteles beschäftigt:
E. RoLFES, Moderne Anklagen gegen den Charakter und die Lebens-
anschauungen Sokrates', Piatos und Aristoteles. Eine philo-
sophicgeschichtliclie Untersuchung. Philosophisches Jahr-
buch. Jahrgang 1899. S. 1— IS u. 271—291.
Auf dem Boden der katholisch - thomistischen Philosophie
stehend, will der Verfasser die „sittliche Beschaffenheit" und den
Die deutsche Litteratur etc. 549
„religiösen Standpunkt" der drei genannten Denker „vertheidigen"
— d. h. im Wesentlichen: er will nachweisen, dass sie von dem
Vorwurfe der physischen Knabenliebe freizusprechen und als An-
hänger "des Glaubens an einen persönlichen Gott und an die indi-
viduelle Unsterblichkeit anzuerkennen sind. Ich glaube nun den
zweiten Theil dieser Ausführungen ganz übergehen zu können;
denn bei Piaton können beide Glaubenssätze ohnehin nicht ernst-
lich bestritten werden; R.s Auffassung des aristotelischen
Theismus wird uns weiter unten gelegentlich eines anderen Werkes
ex professo zu beschäftigen haben; und was Sokrates angeht, so
beschränkt sich der Verfasser bezüglich des Gottesglaubens auf die
Uebersetzung von Xeu. Mem. I 4, bezuglich der Unsterblich-
keit aber kommt es kaum zu einem ernstlichen Versuche, die Be-
weiskraft der bekannten skeptischen Stellen der platonischen
Apologie herabzusetzen. Aber auch hinsichtlich der moralischen
Frage werden wenige Sätze genügen. Bei Sokrates kommt physische
Päderastie nach Piatons Erklärungen im Gastmahl überhaupt nicht
in Frage. Bei Aristoteles fehlen nun, wie der Verfasser selbst zu-
giebt, die directen Zeugnisse; und Sätze wie: „Ausserdem verstösst
die Päderastie so oft'enbar gegen die Vernunft und Menschenwürde,
dass Aristoteles nach seiner ganzen Richtung sie wohl kaum unter
irgend welchen Umständen gutgeheissen haben kann. Ferner wird
er als Menschenkenner sich nicht verhehlt haben, welche sittliche
Verheerungen dieses Laster, einmal zugelassen, zur Folge gehabt
haben würde" (S. 272 f.) — setzen doch wohl, statt zu beweisen,
eben das zu Beweisende voraus. Anders steht es bei Piaton. Hier
wird, fürchte ich, die „Vertheidigung" vergeblich sein. Jeder un-
befangene Leser des Gastmahls und des Phädrus wird gestehen
müssen, dass der Philosoph die Knabenliebe als Vorstufe der philo-
sophischen Ideenschau nicht abschätzig beurtheilt. Und mit dem
Verfasser die Sokrates-Rede im Phädrus, mit der jene des Lysias
überboten werden soll, als ernste Verurtheilung der Päderastie
aufzufassen, weil sie die These vertritt, man solle dem irjaszr^i
nicht zu Gefallen sein (S. 5f.), wird derjenige sicher unterlassen,
der sich erinnert, dass (nach Phädr. p. 241df.) der zweite Theil
dieser Rede handeln sollte Tispi tou [xy; spüJvTo?, w; osi ixeivcu
550 H. Gomperz, Die deutsche Litteratur etc.
■/arAhadat. fxaXXov. Und die Milde, mit der ibid. p. 256cf. über die
gelegentliche physische Bethätigung der philosophischen Knaben-
liebe geurtheilt wird, und die R. selbst „in hohem Masse auf-
fallend" nennt (S. 15) zeigt, dass die Scheidung der körperlichen
und geistigen Liebe keineswegs eine so scharfe ist, wie der Ver-
fasser sie darstellen möchte. Ja, ich muss noch einen Schritt
weiter gehen. Die Breite und Wärme, mit der Piaton an der zu-
letzt genannten Stelle gerade diese zweitbeste Form der Liebe be-
handelt, und die sich aus sachlichen Gründen sehr schwer ver-
stehen lässt, scheinen mir nicht allzu undeutlich zwischen den
Zeilen das Bekenntniss errathen zu lassen, dass Piaton selbst sich
nur in diese, und nicht in die erste Classe der Liebenden einzu-
reihen vermag. Ob aber der Umstand, dass ein Mann zwar die
Denk- und Gefühlsweise seiner Zeit zu veredeln sucht, aber doch
eben in ihr wurzelt und lebt, geeignet ist, gegen ihn einen ernsten
sittlichen Vorwurf zu begründen, darüber wäre es vergebliche
Mühe, sich mit dem Verfasser auseinandersetzen zu wollen.
(Fortsetzung folgt.)
Neueste Erscheiiiuiigeii auf dem Gebiete der
Geschichte der Pliilosophie.
A. Deutsche Litteratur.
Baensch, Otto, J. H. Lamberts Philosophie und seine Stellung zu Kant,
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Genthe, Th., Der Kulturbegriff bei Herder, Diss. Jena.
Haudt, W., Die atomistische Grundlage der Vaisesikaphilosophie nach den
Quellen dargestellt, Diss. Tübingen,
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Köhler, Jul., Frdr. Nietzsche nach seiner Stellung zum Christenthum.
Lewkowitz, J., Spinozas Cogitata metaphysica und ihr Verhältniss zu Descartes
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Orestano, F., Der Tugendbegriff bei Kant, Diss. Lpz.
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Rubin, S., Die Ethik Seuecas in ihrem Verhältniss zur älteren und mittleren
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Stuttgart, Frommann.
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Trommsdorff, F., Lotzes Bedeutung für die Pädagogik, Diss. Jena.
V. Voss, R., üeber d. Begriff d. Erkenntniss, insbesondere der intuitiven bei
Spinoza, Diss. Lpz.
Jahrbuch für Philosophie und speculative Theologie XVI, Heft 3, J. a Leonissa,
St. Dionysius Areopagita, nicht Pseudodionysius (Forts.). —
Kantstudien, Bd. VI, Heft 4. — R. Reininger, Das Kausal problem bei Hume
und Kant. — M., Charles Secretan und seine Beziehungen zur Kantischen
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Der Einfluss Rousseaus auf die philosophisch-pädagogischen Anschau-
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Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, Bd. 15, Heft 2. — St.
Schindele, Die aristotelische Ethik. — Chr. Willems, Die obersten
Seins- und Denkgesetze nach Aristoteles und den hl. Thomas von
Aquin (Schi.)
Yierteljahrschrift für wissenschaftliche Philosophie und Socioiogie. Neue Folge,
hrsg. in Verbindung mit Ernst Mach u. Alois Riehl, von Paul Barth,
Lpz., 0. R. Reisland, Bd. I, Heft 2. — Ernst Goldbach, Das Problem
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Dr. Felsch, Die Psychologie bei Herbart und Wundt mit Berücksichti-
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cante, Intorno alle fonti della Dottrina di Socrate.
Rivista di Filosofia e Scieuze affini. Red.: Giovanni Marchesini, Dott. Enea
Lamorani.
Anno III (1901—1902), Vol. V., No. 4 (Ottobre) C. Ranzoli, L'opera di Gaetano
Negri su Giuliano l'apostata. — Vol. VI, 2 (Febbraio) G. Zuccaute,
Intorno al principio iuformatore e al metodo della filosofia di Socrate.
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La Scienza Sociale, Dir.: Prof. Francesco Cosenlini.
Anno IV (1901), Fase. VIII— X (agosto-ottobre) C. de Keiles Kranz, Comtismo
e Marxismo.
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