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Full text of "Archiv für Geschichte der Philosophie"

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Archiv 


für 


Philosophie 


in  Gemeinschaft  mit 


Wilhelm  Dilthey,  Benno  Erdmann,  Paul  Natorp, 
Christoph  Sigwart  und  Eduard  Zeller 


herausgegeben 


von 


L  u  <1  w  i  s:  Stein. 


Erste    Abtheiliing: 
Arcliiv  für  Gescliiclite  der  Philosophie. 


H  e  r  1  i  ii. 

Druck   iiiid   Vorlag  von  Georg  Keiiuor. 

1902. 


Archiv 

für 

Geschichte  der  Philosophie 

in  Gemeinschaft  mit 

Wilhelm  Dilthey,  Benno  Erdmann,  Paul  Natorp, 
Christoph  Sigwart  und  Eduard  Zeller 

herausgegeben 
von 

Ludwig  Stein. 


Band  XV. 

Nene   Folge 
VIIL  Band. 


Berlin. 

Druck  und  Verlag  von  Georg  Reimer. 

1902. 


ß 


1 11  li  a  1 1. 


Seite 

I.  Wie  sich  Spinoza  zu  den  Collegiauteu  verhielt.    Vou  W.  Meijer  1 

II.  Le  Kantisme  de  Carlyle  de  Camille  Bos 32 

III.  Scholastic   and  Mediaeval  Philosophy  by  Dr.  James  Lindsay  42 

IV.  La  IVme  figure  ou  syllogisme.     Par  E.  Thouverez 40 

V.  Zu  Leucippus.     Von  E.  Zeller .  137 

VI.     Herakleides   Pontikos  und    das    heliokentrisehe    System.      Vou 

Prof.  Dr.  IL  Staigmüller 141 

VII.  Voltaire  und  die  bernische  Censur.     Von  Prof.  Dr.  Haag    .    .    166 

VIII.  Einige     Corollarien    des   Simplicius    in    seinem    Commentar  zu 
Aristoteles'  Physik  (ed.  Diels).    Von  Prof.  Dr.  Joh.  Zahlfleisch    186 

IX.     Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.     Von  Prof.  Dr.  Ernst  Chr. 

Hch.  Peithmann 214 

X.     Spinoza  und  die  CoUegianten.     Von  Dr.  Ad.  Menzel,  Professor 

an  der  Universität  Wien 277 

XL     French   Philosophy  in    the   Nineteenth  Century.     With  Special 
Reference     to     some     Spiritualistic     Pbilosophers    by    James 

Lindsay,  Kilmarnock 999 

XIL     Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.     Von  Prof.  Dr.  Ernst  Chr. 

Hch.  Peithmann.     (Fortsetzung) 308 

XIII.  Wissen  und    Glauben   bei   Pascal.     Vou  Dr.  Kurt  Warrauth, 
Licentiat  der  Theologie 343 

XIV.  Die   Naturphilosophie    des   Th.  Hobbes    in    ihrer    Abhängigkeit 

von  Bacou.     Von  Max  Köhler 370 

XV.     Julians  Brief  an  Dionysios.     Von  Rudolf  Asmus 425 

XVI.  Wissen   und   Glauben   bei  Pascal.     Von   Dr.  Kurt  Warmuth, 
Licentiat  der  Theologie.     (Fortsetzung) 442 

XVII.  The  Philosophy  of  Plotinus.     Von  Dr.  James  Lindsay  .    .    .    472 
XVIII.     Les  Mathematiques  et   la  Dialectique    dans  le  systemo  de  Piaton. 

Von  E.  Rodier 479 


VI  Inhalt. 

Jahresbericht 

ül)er 
sämtliche  Erscheinuugeu  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte 

der  Philosophie. 

Seite 
I.     Die    deutsche  Litteratur    über    die    Vorsokratiker    1894 — 1900. 

Von  E.  Well  manu 113 

II.     Congresso  di  Storia  della  Filosofia  e  Pedagogia  in  Rom   .    .    .     133 

III.  Jahresbericht  über  die  Geschichte  der  Philosophie  im  Zeitalter 
der  Renaissance  (1893—1894).  Von  Ch.  Schitlowsky  und 
Ludwig  Stein.     III.  Folge 267 

IV.  Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  und  ihr  Verhältniss  zur 
Philosophie,  1897—1900.    Von  H.  Lüde  manu  in  Bern  (1.  Theil)    403 

V.     Jahresbericht    über  die  Kirchenväter    und    ihr  Verhältniss    zur 

Philosophie,  1897— 1900.    Von U.  Lüdemann  in  Bern  (IL  Theil)    493 
VI.     Die  deutsche  Litteratur  über   die  sokratische,    platonische  und 

aristotelische  Philosophie,  1899  und  1900.     Von  H.  Gomperz    51G 
Neueste    Erscheinungen     auf    dem    Gebiete    der    Geschichte    der 
Philosophie 135.  274.  422.    551 


Arcliiv  für  Philosophie. 

I.  Abtheiluiig: 

Archiv  für  Gesehiclite  der  Philosophie. 

Neue  Folge.     XV.  Band  1.  Heft. 


I. 

Wie  sich  Spinoza  zu  den  CoUegianten  verhielt '). 

Vou 
W.  Meijer  im  Haag. 

Es  ist  jetzt  wolil  allgemein  anerkannt,  dass  der  Mensch  in 
seinen  Tliaten  und  Erlebnissen  das  Produkt  seiner  Anlage  und 
äusseren  Verhältnisse  ist.  Wer  ihn  glücklich  preist  vor  seinem 
Tode,  trägt  allen  Umständen,  die  ihm  begegnen  können,  keine 
Rechnung;  wer  seine  Anlage  nicht  mit  in  die  Rechnung  zieht, 
stellt  ihn  dem  unvernünftigen  Thiere  gleich. 

Nach  dem  Maasse  aber,  als  der  Mensch  kräftiger  angelegt 
ist,  wird  er  von  den  Umständen  weniger  beeinflusst;  den 
Menschen,  in  dessen  Leben  oder  Wirkungskreis  das  Ingenium  oder 
die  angeborene  Kraft  stets  über  die  äusseren  Umstände  zu  domi- 
niren  und  ihnen  gegenüber  selbständig  aufzutreten  vermag,  nennen 
wir  ein  Genie. 

Der  Dutzendmensch  scheint  bisweilen  nichts  anderes  zu  sein, 
als  der  Reflex  der  Sitten,  Gewohnheiten  und  Ideen  seiner  zeit- 
lichen und  örtlichen  Umgebung  —  sonderbar  genug  von  vielen 
Schriftstellern  das  „Milieu"  genannt.  Doch  trügt  hier  der  Schein, 
denn  es  ist  Keiner,  der  nicht  in   irgend  einer  Hinsicht  selbständig 


^)  Wir  schreiben  hier  ^Spinoza",  obgleich  das  Facsimile  seiner  Handschrift 
uns  überzeugt  hat,  dass  er  sich  Despinoza  genannt  hat, 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     XV.  1.  1 


2  W.  Meijer, 

tliätig  wäre.  Der  Mann  von  ausserordentlicher  Begabung  versteht 
es  dagegen,  obschon  aucli  dieser  nicht  in  jeder  Hinsicht  sicli  dem 
fatalen  Schlendrian  zu  entreissen  vermag,  über  die  Häupter  der 
Menge  hinwegzusehen,  obgleich  sie  ihn  von  allen  Seiten  mit  der 
Suggestion  des  Zeitgeistes  bedrängt. 

Ein  derartiges  Genie  war  Spinoza.  Und  unsere  Vorfahren, 
welche  des  historischen  Sinnes  ebenso  zu  wenig  hatten,  als  wir 
zuviel,  haben  unbewusst  den  rechten  Weg  eingeschlagen,  als  sie 
diesen  riesigen  Geist  ganz  und  gar  zu  erklären  suchten  aus 
den  grossen  Ideen  der  Culturgeschichte  der  Menschheit,  ohne 
Rücksicht  zu  nehmen  auf  die  Lebensverhältnisse  seiner  Persön- 
lichkeit und  die  beschränkten  Ideen  seiner  Zeit-  und  Landes- 
genossen. 

Das  neunzehnte  Jahrhundert  aber  hat  eine  ganz  andere  Richtung 
eingeschlagen.  Es  lässt  sich  von  den  drei.ssiger  Jahren  an  fast  allein 
von  dem  historischen  Interesse  führen,  und  es  hat  zuletzt  selbst  das 
Ewige  historisch  zu  begreifen  versucht.  Folgerichtig  wird  an  die 
Könige  im  Reiche  der  Gedanken  derselbe  Massstab  angelegt  wie 
an  den  erstbesten  Homunculus,  und  man  wagt  es,  auch  die  grüssten 
Genien  aus  ihrer  Abstammung,  Lebensart.  Umgebung  und  dem  Zeit- 
geiste zu  erklären.     Eitler  Versuch! 

Wie  mit  so  vielen  Anderen,  hat  man  es  auch  mit  Spinoza 
gethan. 

Eifrigen  Archivstudien  ist  es  gelungen,  Vieles,  was  bis  jetzt 
sowohl  durch  den  oben  angedeuteten  Mangel  an  historischem  Sinn, 
als  durch  Glaubenshass  und  Religionseifer  unter  dem  Staube  der 
Vergessenheit  verschüttet  war,  wieder  an's  Licht  zu  bringen,  und 
aus  dem  grossen  Denker  einen  Menschen  von  Fleisch  und  Blut  zu 
machen.  Gern  geben  wir  diesem  Streben  alle  Ehre,  denn  je  besser 
wir  die  Accidentia  dieses  reichen  Lebens  kennen  lernen,  desto  mehr 
steigen  die  Essentia  in  unserer  Achtung. 

Wie  im  Voraus  zu  erwarten  war,  hat  man  bei  diesen 
Untersuchungen  nicht  immer  sogleich  das  Richtige  getroffen,  und 
namentlich  herrscht  über  das  Verhältniss  des  Spinoza  zu  den 
Collegianteu  m.  E-.  bei  Vielen  noch  ein  Mi.ssverständniss,  das  haupt- 
sächlich dem  Umstände  zuzuschreiben  ist,  dass  die  Geistesrichtung 


Wie  sich  Spinoza  zu  den  Collegianten  verhielt.  3 

und  die  Hauptideen  der  Collegianteu  so  wenig  allgemein  bekannt 
sind.  Sind  diese  erst  recht  bestimmt,  so  wird  es  uns  ein  Leichtes 
sein,  festzustellen,  wie  Spinoza,  der  uns  ja  bekannt  ist,  zu  diesen 
Leuten  sich  verhielt. 

In  neuerer  Zeit  hat  man  wiederholt  versucht,  ihren  Charakter 
zu  beschreiben.  An  erster  Stelle  erinnern  wir  an  das  Werk  des 
Herrn  van  Slee,  unter  dem  Titel  „De  Rynsburger  Collegianteu", 
eine  Arbeit,  welche  von  „Teylers  Genootschap"  mit  der  goldenen 
Medaille  gekrönt  wurde,  und  das,  wie  von  dem  tüchtigen  Deventer 
Archivar  zu  erwarten  war,  ein  grundlegendes  Werk  für  Alle  ist,  die 
das  Auftreten,  die  Wortführer  und  die  Eigenthümlichkeiten  der  oben- 
genannten Richtung  näher  kennen  zu  lernen  unternommen  haben. 
In  einem  schönen  Stile  und  mit  grosser  Sachkenntniss  giebt  uns 
der  Autor  eine  Uebersicht  der  verschiedenen  Ideen,  die  in  diesem 
kleinen,  aber  deshalb  nicht  weniger  rührigen  und  geistreichen 
Kreise  vorherrschten  und  einander  bekämpften. 

Daran  schliesst  sich  das  bekannte  Buch  K.  0.  Meinsma's, 
„Spinoza  en  zijn  Kring"  genannt,  welches  den  Philosophen  geradezu 
in  den  Kreis  der  Collegianteu  eingeführt  und  dadurch  die  Aufmerk- 
samkeit der  ganzen  Welt  auf  sie  gerichtet  hat,  weil  das  Interesse 
für  Spinoza  sich  auf  alle  erstreckt,  die  mit  ihm  verkehrt 
haben. 

Noch  ist  in  diesem  Jahre  in  Holland  ein  Werk  unter  dem 
Titel  „Reformateurs"  erschienen,  das,  obgleich  nur  zum  Theil 
vollendet,  ausführlich  über  Collegianteu  und  Quäker  handelt, 
und  sich  durch  ernsthaftes  Quellenstudium  und  glückliche  Dar- 
stellungsgabe auszeichnet.  Wir  verdanken  es  Herrn  Dr.  Hylkema 
von  Zaandam,  und  bedauern  nur,  seine  Ansichten  bloss  zum 
Theil  zu  kennen.  In  allen  diesen  holländischen  Werken  wird  auch 
die  ältere  Litteratur  erwähnt.  Endlich  wurde  neulich  ausdrück- 
lich auf  den  Zusammenhang  zwischen  Spinoza  und  den  Collegi- 
anteu aufmerksam  gemacht  von  Dr.  Adolph  Menzel  in  seinen 
„Wandlungen  in  der  Staatslehre  Spinozas"  (Stuttgart  1898,  Cotta- 
sche  Buchhandlung)  —  eine  Bemerkung,  die  mich  veranlasste,  eine 
schon  lang  geplante  Skizze  über  diesen  Gegenstand  weiter  aus- 
zuarbeiten. 

1* 


4  W.  Meijer, 

Herr  Dr.  Menzel  will  Spinoza  auch  aus  seinem  „l\Iilieu"  er- 
klären, und  betrachtet  dazu  hauptsächlich  die  Collegianten;  er  sucht 
nämlich  in  ihren  Zusammenkünften  und  Ideen  den  Ursprung  der 
demokratischen  Gesinnung  des  Spinoza.  AVir  werden  am  Ende 
dieses  Aufsatzes  dieser  Behauptung  näher  treten;  wollen  sie 
aber  schon  hier  zu  Anfang  mehr  formaliter  betrachten,  weil  es  eine 
Priucipienfrage  gilt,  die  zu  der  Hauptidee  dieses  Aufsatzes  iu  sehr 
enger  Beziehung  steht.  Während  nämlich  Herr  Dr.  ]\Ienzel  Spinoza 
aus  seinem  „Milieu"  erklären  will,  stellt  Dr.  Joseph  Hoff  in  seiner 
Staatslehre  Spiuoza's,  S.  23,  ihn  in  Gegensatz  zu  Machiavelli, 
„weil  dieser  aus  historischen  Factis,  Spinoza  dagegen  aus  meta- 
physischen Gründen  seine  politischen  Anschauungen  abgeleitet 
haben  sollte".  Nun  stimme  ich  dieser  Meinung  des  Herrn 
Hoff,  dass  Spinoza,  more  suo  geometrico,  ebenso  wie  er  das  in 
der  Ethik  und  in  der  Physik  gethan  hat,  und  selbst  in  der 
hebr.  Sprachlehre  zu  thun  wünschte,  auch  seine  politischen  Mei- 
nungen aus  Principien  abzuleiten  sich  vorgenommen  hat,  gern  bei, 
wenn  nur  nicht  aus  der  von  diesem  Gelehrten  hier  ausgesprochenen 
Behauptung  deducirt  wird,  dass  Spinoza  sich  au  der  Geschichte 
seines  Gegenstandes  nicht  gelegen  sein  Hess.  Da  er  nicht  gewohnt 
war,  mit  dem,  was  er  wusste,  zu  prahlen  —  Jedem  ist  seine 
ausserordentliche  Bescheidenheit  bekannt  —  Hess  er  so  viel  wie 
möglich  alle  Bemerkungen,  Notizen  und  Citate  weg.  Im  tractatu 
politico  sagen  die  Vorredner  zu  seinen  I'osthumis:  sententiam 
suam  solidissime  proposuit,  relictis  multorum  politicorum 
opinionibus.     Und  dies  ist  factisch  wahr. 

Aus  dieser  Gewohnheit  oder  viel  besser  Methode  rührt  die 
Meinung  her,  Spinoza  hätte  wohl  viel  gedacht,  aber  wenig  gelesen. 
Dass  dies  aber  ein  Irrthum  ist,  ist  heute  mit  Sicherheit  zu 
beweisen.  Wer  so  arm  war  an  Büchern,  und  so  reich  an  Wiss- 
begierde wie  Spinoza,  muss  seine  eigene  Bibliothek  gekannt  haben. 
Diese  Bibliothek  aber  ist  uns  durch  die  Entdeckung  und  die  Aus- 
gabe des  Inventars  von  Herrn  J.  Servaas  van  Rooyen,  Archivar 
zu's  Gravenhage,  jetzt  bekannt  gemacht;  Prof.  J.  Freudenthal  hat 
sie  im  Einzelnen  umschrieben  und  die  Titel  näher  erklärt,  und 
in    Rynsburg    wird    sie    jetzt    durch    die    der    Wissenschaft    stets 


Wie  sich  Spinoza  zu  den  CoUegianten  verhielt.  5 

bei-eite  Hülfe  des  Herrn  G.  Baroii  vou  Rüscntlial  glücklich 
zusammengebracht.  Diese  Bibliothek  aber  liefert  uns  den  Beweis, 
dass  z.  B.  in  Politicis  Spinoza  den  Aristoteles,  Tacitus,  Calvin, 
Clapmarius,  Grotius,  Hobbes,  Machiavelli  und  de  la  Court  (einen 
Holländer,  der  damals  mit  Vorwissen  von  Jan  de  Witt  politische 
Broschüren  schrieb),  gelesen  hat;  ferner,  wie  aus  Einzelnheiteu  im 
Tractatu  Politico  deutlich  hervorgeht,  dass  er  auch,  wie  ja  selbst- 
verständlich ist,  mit  der  Geschichte  Spaniens  völlig  vertraut  war. 
Hieraus  erhellt,  dass  unser  Autor  unstreitig  die  Erfahrung 
der  Geschichte  benutzt  hat,  auch  wenn  er  nirgendwo  mittheilt, 
aus  welchen  Quellen  er  geschöpft  hat.  Wenn  wir  aber  dies  fest- 
stellen, können  wir  der  Thesis  des  Herrn  Hoff  unseren  ganzen 
Beifall  schenken. 

Eben  deshalb  aber  müssen  wir  schon  a  priori  die  Meinung 
des  Herrn  H.  Menzel  bekämpfen,  der  Spiuoza's  vermeintlichen 
Aristocratismus  seiner  Erbitterung  über  den  an  de  Witt  verübten 
Mord,  und  seine  ursprüngliche  demokratische  Gesinnung  den  CoUe- 
gianten zuschreibt.  Wir  glauben,  dass  die  Unrichtigkeit  dieser  Be- 
hauptung aus  der  Charakteristik  der  CoUegianten  schon  von  selbst 
hervorgehen  wird,  werden  aber  am  Ende  dieses  Aufsatzes  diese 
Frage  näher  betrachten. 

Das  geschichtliche  Bild  der  CoUegianten  und  der  „Rynsburg"sche 
Vergadering"  (Reinsburger  Zusammenkünfte)  ist  nicht  so  ganz  leicht 
darzustellen;  und  wohl  eben  deshalb,  weil  diese  Reformatoren  sich 
dadurch  von  allen  ihren  Zeitgenossen  unterschieden,  dass  sie 
durchaus  keine  festgestellte,  documentierte  Confession  anerkannten. 
Wenn  wir  aber  die  Aussagen  der  vielen  CoUegianten,  deren 
Schriften  wir  noch  kennen,  zusammensuchen  und  uns  die  Sachlage 
und  den  Ideenkreis  vergegenwärtigen,  die  Constellation  gleichsam, 
unter  der  sie  lebten,  so  wird  es,  glaube  ich,  wohl  gelingen,  auch 
ihnen  das  Horoskop  zu  stellen ;  denn  obgleich  sie  zu  ihrer  Zeit 
eine  hervorragende  Stelle  einnahmen,  so  blieben  sie  natürlich 
ganz  und  gar  noch  im  Banne  des  Zeitgeistes  und  unter  den  Ein- 
flüssen ihrer  Umgebung,  und  sind  deshalb  auch  zum  grössten  Theile 
daraus  zu  erklären.  Sich  über  die  Gedankensphäre  ihres  Jahr- 
hunderts zu    erheben   waren    auch    sie    nicht    fähig.      Was    einem 


ß  W.  Mcijer. 

Spinoza  gelang,    könnte  Jarig  Jcllcs  anch   mit    dem  besten  Willen 
nicht  erreichen. 

Sehen  wir  uns  daher  die  Sachlage  ein  wenig  näher  au.  Nach 
Holland  strömten  im  16.  und  17.  Jahrhundert  Alle,  die  von  dem 
orthodoxen  katholischen  Glauben  mehr  oder  weniger  abgewichen 
waren,  und  demzufolge  aus  ihrem  Vaterlande  vertrieben  wurden. 
J)ie  durch  Wilhelm  den  Ersten  und  seine  „Geuzen"  mit  Gewalt 
erstrittene  und  Spanien  gegenüber  gewahrte  Gewissensfreiheit 
lockte  sie  herbei,  und  der  grosse  Handels-  und  Schiffsverkehr 
unserer  Seeprovinzen  beförderte  diese  Auswanderung  und  Ucber- 
siedelung  in  nicht  geringem  Maasse.  —  Die  „Oosterlinge"  —  so 
wurden  die  Bewohner  der  Ostsee  in  Holland  genannt  — ,  führten 
ihren  Lutheranismus  hier  ein,  die  Polen  ihren  Socinianismus.  Aus 
Beiden  und  Frankreich  kamen  die  meisten  Reformierten  herüber 
und  Menno  gründete  bei  uns  seine  Gemeinde  der  Taufgesiuuten 
(Doopsgezindeu). 

Wie  verschieden  alle  diese  christlichen  Sekten  auch  sein 
mochten,  alle  kamen  darin  überein,  dass  sie  erstens  die  päpstliche 
Autorität  verwarfen  und  zweitens  sich  eine  eigene  Confession  ge- 
bildet hatten. 

Eine  piquantc  Umschreibung  ihrer  Hauptkennzeichen  findet 
man  in  dem  Buche  van  der  Linde's  über  Antoinottc  de  Bourgignon. 
Als  diese  anno  1(368  in  Amsterdam  wohnte,  kam  sie  mit  Allen 
zusammen  und  berichtete  Folgendes: 

In  den  6  verschiedenen  Wohnungen,  in  meiner  Umgebung, 
wohnten  Leute  von  6  verschiedenen  Religionen.  Eine  Zeit  lang  blieb 
ich  unbekannt,  aber  durch  eine  Krankheit  ward  ich  gezwungen,  einen 
Arzt  zu  nehmen  und  seitdem  bin  ich  von  verschiedenen  Leuten 
besucht  worden.  Ich  habe  mit  den  von  Calvin  Reformierten  ge- 
sprochen, welche  die  Prädestination  treiben  und  sagen,  dass  die- 
jenigen, die  zur  Seligkeit  erwählt  sind,  sie  mögen  thun,  was  sie 
auch  wollen,  nicht  umkommen  können;  die  zur  Verdammniss 
Prädestinierten  aber,  und  wenn  sie  auch  alle  guten  Werke  der 
Welt  thäten,  könnten  nicht  erhalten  werden.  Hie  Lutheraner 
haben  mich  ebenfalls  besucht.  Sie  behaupten,  dass  sie  evangelisch 
sind,  ich  kann  in   ihrem  Leben   aber  nichts  sehen,    das  der  evan- 


Wie  sich  Spiuoza  zu  den  Collegianten  verhielt.  7 

gelischen  Lehre  Christi  ähnlich  wäre.  Ich  bin  nicht  in  Gefahr, 
meine  Religion  mit  der  ihrigen  zu  tauschen,  denn  sie  scheint  mir 
in  vielen  Dingen  ärger,  in  keinem  Stück  aber  besser  als  die 
katholische.  Es  haben  mich  auch  die  Wiedertäufer  (Taufgesinnten) 
besucht,  die  Menno  Simonis  Lehre  folgen.  Sie  gründen  sich  auf 
den  Spruch:  Wer  da  glaubt  und  getauft  wird,  wird  selig  werden. 
Dies  sind  dem  Ansehen  nach  fromme  und  sittsame  Leute.  Sie 
tragen  schwarze  und  einfache  Kleider,  wodurch  man  sie  von 
Anderen  unterscheidet.  Sie  haben  nach  der  Weise  geistlicher 
Personen  gewählte  Reden  und  Gebärden,  und  sind  sehr  geübt  in 
der  H.  S.  —  Ich  vergleiche  sie  mit  den  Jesuiten  unter  uns,  und 
kann  nicht  bemerken,  dass  sie  wiedergeboren  sind,  denn  sie 
trachten  noch  nach  den  Gütern  dieser  Erde.  Diese  Leute  haben 
öfter  zu  mir  gesagt,  dass  ich  keine  Versammlung  antreften  würde, 
die  mehr  mit  meiner  Meinung  überein  käme.  Seht  doch,  wie  jeder 
die  seine  für  die  beste  hält!  Es  finden  sich  hier  auch  Quäker, 
die,  weil  ich  nach  dem  innern  Licht  trachte,  ebenfalls  denken,  ich 
würde  ihnen  zufallen.  Sie  irren  sich  aber  gewaltig,  denn  meine 
Meinung  streitet  gänzlich  wider  die  ihre.  Sie  sagen,  dass  sie  von 
Gott  erleuchtet  sind,  folgen  aber  dem  Lichte  Gottes  nicht  und 
nehmen  öfter  ihre  eigene  Einbildung  für  die  Eingebung  des 
H.  Geistes.  Die  Weiber,  wenn  ihr  Geist  sie  dazu  treibt,  predigen 
oder  führen  das  Wort  sowohl  wie  die  Männer.  Die  Sozeiner,  welche 
sagen,  dass  es  Götzendienst  sei,  Jesum  Christum  anzubeten,  sind 
gleichfalls  zu  mir  gekommen.  Sie  haben  mich  gefragt,  ob  ich 
denn  an  einen  geschaffenen  Gott  glaube?  Ich  habe  nicht  viel 
gesagt,  denn  auf  solche  ungebührende  Fragen  gehört  keine  Antwort. 
Ich  bin  auch  von  den  Juden,  die  in  dem  hartnäckigen  Glauben 
stecken,  dass  sie  einen  Messias  bekommen  werden,  besucht  worden. 
Ich  bin  von  ihnen  geschieden,  weil  ich  gesehen,  dass  sie  der 
Wahrheit,  an  J.  C.  zu  glauben,  keinen  Raum  geben  wollten; 
u.  s.  w. 

Nicht  weniger  scharf  wurden  die  verschiedenen  Secten  ge- 
zeichnet von  Jan  Zoet,  dessen  Verse  von  K.  0.  Moinsma  im 
a.  W.  abgedruckt  sind,  hier  aber  nicht  aufgenommen  werden,  weil 
sie  in  holländischer  Sprache  verfasst  sind. 


3  W.  Meijer, 

Es  liegt  in  der  ^'atur  der  Sache,  dass  in  einer  Zeit,  die  von 
religiösem  Leben  erfüllt  war,  aus  allen  diesen  Conlessionen  fortwährend 
Reibung  und  Streit  entstand.     Im   16.  Jahrhundert  aber  forderten 
Kriegs-  und  Staats-Angclegenheiten  noch  so  sehr  Aller  Aufmerksam- 
keit, dass  die  Religionsunterschiede  dadurch  einigermassen  zurück- 
gedrängt wurden.     Der  gemeinschaftliche  Feind,  die  allgemeine  Ge- 
fahr war  das  Band,  das  Alle  zusammenhielt.     Im  Anfang  stritten 
Katholiken  wie  Protestanten  zusammen  gegen  Alba's  Tyrannei,  und 
der   strenggläubige  Philipp  II.   verwies  denn  auch  folgerichtig  alle 
Niederländer  zum  Henker:  die  Protestanten,  weil  sie  von  der  Kirche 
abgefallen,  die  Katholiken,  weil  sie  mit  den  Protestanten  gekämpft 
hatten.     Als   aber  durch  die  Politik  01denbarneveld"s  und  die 
Strategie    des    Prinzen    Moritz    die    unirten    Provinzen    aufgehört 
hatten,  der  Schauplatz  des  Krieges  zu  sein,  fing  sogleich  der  geist- 
liche Streit,  der  bisher  unter  dem  Kanonendonner  verstummt  oder 
vielmehr  von  demselben  übertönt  war,   sich  zu  erheben   au.     Die 
„Republiek  der  Vereenigde  Nederlanden"  hatte  die  reformirte  Re- 
ligion als  die   ihrige  anerkannt.     Es  ist  wahr,  dass  solches  nicht 
in  der  ,,Unie  van  Utrecht"    geschrieben  stand,    die  jeder  Provinz 
in  Religionssachen   alle  denkbare  Freiheit  zusagte  und   allein  Ge- 
wissenszwang verbot,  so  dass  z.  B.  sehr  wohl  in  einer  der  verbün- 
deten Provinzen  die  katholische  Religion  die  öffentliche  sein  konnte, 
aber  die  Union  war  keine  „Grondwet",  Constitution  nach  unseren 
Begriffen,   blos  die  allgemeine  Formel,  worunter  die  verschiedenen 
Provinzen,  —  damals  ebenso  viele  selbständige  Staaten  —  sich  zur 
Abwehr  gegen  Spaniens  Tyrannei  verbunden  hatten.     Faktisch  aber 
waren,  wie  damals  alle  Rechtsbostimmungen  aufgefasst  wurden,  die 
unirten  Provinzen  (Gewesten)    rcformirt.     Der  Statthalter    musste 
eidlich    versprechen,    die    reformirte    Religion   wahren    zu    wollen, 
ebenso   wie    er  vorher  dem  Grafen  versprach,    die   katholische  zu 
vertheidigen;    in    der  Regierung,   uiul   in  allen  Aemtern    bis    zum 
Anatomic-Professoratc  wurden  blos  Reformirte  ernannt  und  in  Folge 
dessen  die  innere  wie  die  äussere  Politik  im  Sinne  der  Calviuisten 
gefüiirt. 

Die     übrigen    Secteu    wurden    blos    geduldet,    die    reformirte 
Religion  war,  wie  man  sagte,  „prädomiuirend"'. 


Wie  sich  Spinoza  zu  den  Collegianten  verhielt.  9 

In  1581  uud  1650  wurde  dies  auch  von  den  General-Staaten 
öffentlich  anerkannt;  wie  es  denn  auch  daraus  ersichtlich  war,  dass 
bei  jeder  Synode  der  Calvinisten  „Gedeputeerden"  oder  Abgeordnete 
der  Regierung  gegenwärtig  waren,  und  besonders  zu  Tage  trat,  als 
die  grosse  National-Synode  zu  Dordrecht  abgehalten  wurde,  worauf 
Beschlüsse  der  kirchlichen  Autorität  förmlich  durch  den  Staat 
sanctionirt  wurden.  Was  in  den  übrigen  Gemeinden  und  Kirchen 
gepredigt  und  gelehrt  wurde,  wurde  nicht  oder  weniger  beachtet; 
die  reformirte  Kirche  aber,  das  Fundament  der  Republik,  musste 
unberührt  bleiben. 

Unentbehrlichkeit  einer  Staats-Kirche  war  damals  ein  Uni- 
versal-Dogma.  Hugo  Grotius  selbst  trieb  die  „Staaten''  (worunter 
Grotius  die  Staaten  von  Holland  verstand)  dazu  an,  alle  Uneinig- 
keit in  der  Landeskirche  mit  Gewalt  zu  bekämpfen.  —  Auch  er 
kannte  dem  Staate  das  Jus  circa  sacra  zu.  Vide:  „der  Herren 
Staaten  Godsdiensticheit  (Pietas)  verdedigt  door  II.  de  Groot"  en  het 
„Jus  summarum  Potestatum  circa  sacra",  auch  von  ihm  verfasst 
und  nach  seinem  Tode  herausgegeben.  Der  grosse  Zwiespalt 
der  Remonstranten  und  Contra-Remonstranten  war  daher  nicht 
bloss  Religionssache,  sondern  auch  Staatsaugelegenheit.  Die  echten 
Calvinisten  trugen  den  Sieg  davon;  der  ehrwürdige  Oldcnbaruevelt 
musste,  wie  die  Zeit  Solches  erforderte,  zum  Opfer  fallen ;  die  re- 
monstrantischen  Prediger  mussten  auswandern;  Moritz  hatte  die 
Staatskirche,  dessen  Lehre  von  ihm  so  wenig  wie  von  Oldenbarne- 
velt  begriffen  wurde,  gerettet.  Staats-  uud  Kircheu-lnteressen  waren 
damals  unzertrennlich  mit  einander  verbunden. 

Damit  war  aber  der  Friede  unter  den  Bürgern  nicht  hergestellt; 
die  Unruhe,  obgleich  äusserlich  gebannt,  war  innerlich  desto  grösser 
geworden. 

Bis  hierher  war  die  Reformation,  in  den  Niederlanden 
wenigstens,  aufgetreten  im  Sinne  des  Wilhelm  von  Orauien,  als 
Verfechterin  unbeschränkter  Gewissensfreiheit;  durch  die  Dordrechter 
Synode  wurde  die  reformierte  evangelische  Religion  ofÜciell  zur 
Staatsreligion.  Die  Prediger  hatten  daselbst  die  wahre  Lehre  wie 
in  einem  Coucilium  festgestellt,  die  Staatsgewalt  hatte  darin  nicht 
bloss  consentiert,  sondern  war  auch  zugleich  bereit  den  Banntluch 


10  •  W.  Meijer, 

gegen  die  Kemonstranten  zur  Auslührung  zu  bringen.  Die  Ge- 
meinden wurden  ihrer  geehrten  und  geliebten  Vorgänger 
beraubt  und  letztere  im  Auslande  der  Armuth  und  dem  Elend 
preisgeben. 

Dies  erschütterte  die  Gemüther  ausserordentlich. 

War  denn,  so  fragte  man  sich,  die  päpstliche  Inquisition  wieder 
von  Neuem  eingeführt?  Hatte  man  jetzt  statt  den  Bischöfen  den 
Predisrern    zu    gehorchen?     Hatten    die    Herreu    der    Reformation 


«^ 


sich  wiederum  vor  irgend  einer  kirchlichen  Autorität  zu  beugen? 
Mit  Entrüstung  wurden  diese  Fragen  gestellt  und  überall 
protcstirten  dagegen  die  Geister;  zumal  als  Prinz")  Moritz  bald 
darauf  zu  Grabe  getragen  wurde  und  sein  Nachfolger  Friedrich 
Heinrich,  so  wie  später  de  AVitt,  Gedaukenfreiheit,  so  weit  sie  der- 
zeit möglich  war,  gewährten. 

Hier,  in  dieser  Periode,  entsteht  die  Collegianten-Idee. 

Was  war  die  Hauptsache,  der  Grund  der  Reformation?  In- 
wiefern hatte  man  diese  Idee  realisirt?  War  sie  nicht  allmählich 
mit  sich  selbst  in  Widerspruch  gerathcn?  Wie  war  das  möglich 
geworden  ? 

Viele  aufrichtig  Gläubige  beantworteten  diese  kritische  Frage 
mit  den  Worten  des  Historikers  Brandt  und  mussten  bekennen, 
„dass,  indem  man  Glaubensartikel  feststellte,  das  ursprüngliche 
Licht  der  Reformation  mehr  verdunkelt  wurde  als  „durch  alle 
Listen,  Placate,  Schwerter,  Galgen  uud  starke  Wallen  des  Papst- 
thums".  Ein  anderer  Schriftsteller  dieser  Zeit  sprach  sich 
folgcndermaasseu  aus:  Man  sollte  nicht  mehr  darauf  Acht  geben,  ob 
man  katholisch,  griechisch,  lutheriauisch,  (sie!)  reformirt,  remon- 
strantisch,  menuistisch,  socinianisch  oder  arianisch  sei,  sondern 
einzig  und  allein  auf  das  Wort  Gottes. 

Kurz,  alle  Denker  jener  Zeit  in  Holland  verurtheilteu  das 
Treiben  der  Confessionellen. 

Die  hier  erwähnten  Feinde  jeder  Dogmatik  müssen  aber  sorg- 
fältiger, als  bisher  geschehen  ist,  in  zwei  Rubriken  gethcilt  werden. 


'^)  Der  Uerr  Menzel    hat  sich  in  seinem  Aufsatz  geirrt,   als  er  Willem  II, 
als  Grafen  bezeichnete:  der  letzte  Graf  war  Philipp  II. 


Wie  sich  Spinoza  zu  den  Collegiauten  verhielt.  H 

Einerseits  die  Euthusiasteu :  die  Mystiker,  die  Quäker,  die  „Vyfdc 
Rykbeoogers",  die  „Duizeudjaristen",  Chiliasten  u.  s.  w.;  anderer- 
seits die  Collegiauten;  —  ich  möchte  sagen,  die  Mystiker  und  die 
Rationalisten. 

Die  erste  x-Vrt  der  Anti-Confessionellen  glaubten  au  eine  un- 
unterbrochene Inspiration  und  den  Beistand  des  Heiligen  Geistes. 
Jeder  für  sich  berief  sich  auf  das  Licht,  das  in  ihm  wohnte;  sie 
sprachen  bisweilen  in  Sprach'en  Alles,  was  ihnen  momentan 
einfiel,  und  meinten  indessen  keiner  geschriebenen  Offenbarung 
mehr  zu  bedürfen. 

Antoinette  Bourgignon  und  ihre  Gcistverwaudten  suchten  das 
Heil  in  sich  selber.  AVie  Naylor  iu  England  beanspruchte 
Antoinette  für  sich  den  Namen  einer  von  Gott  erleuchteten 
Persönlichkeit. 

Durch  diesen  Individualismus  aber  wurde  jedes  kirchliche  Band 
zerrissen.  Wenn  es  Jedem  erlaubt  war,  als  höchste  Wahrheit 
zu  verkündigen,  was  ihm  eben  einfiel,  so  hörte  damit  die  Gemein- 
schaft der  Gläubigen  eigentlich  auf.  Man  möge  sie  Christen 
nennen;  sie  standen  ausserhalb  der  Kirche  und  fanden  beinahe 
allein    ihren  Anhang  bei  der  grossen   Menge   und    den   Illiteraten. 

Ganz  anders  verhält  sich  die  Sache  mit  den  Collegiauten.  Nicht 
weniger  als  Quäker  und  Enthusiasten  gegen  jede  Priesterherrschaft 
feindlich  gesinnt  und  jeden  Glaubenszwang,  meinten  sie  an  der 
vorhandenen  Offenbarung  Alles  zu  haben,  was  zur  Seligkeit  noth- 
wendig  war.  Was  in  der  Heiligen  Schrift  als  dazu  unerlässlich 
vorgeschrieben  war,  musste  unbedingt  geglaubt  werden.  Aber 
ausserdem  auch  nichts  mehr,  weil  sie  fest  überzeugt  waren,  dass  es 
nach  den  Aposteln  keinen  „sprekenden  rechter"  mehr  auf  Erden 
gegeben  hätte,  dem  mau  in  dieser  Hinsicht  sich  zu  unterwerfen  hätte. 

Dies  war  der  Collegiauten  gemeinschaftlicher  Glaubensgrund- 
satz: sie  alle  bekannten,  dass  Jesus  war  der  Christus,  der  Sohn 
des  lebendigen  Gottes. 

Auf  dieses  unausgesprochene,  aber  von  Allen  unbestrittene 
Glaubensbekenntniss  wollten  sie  die  „Allgemeine  Kirche"  bauen, 
wo  alle  Christen  zusammen  sich  vereinigen  konnten,  „tot  de  Papi- 
sten incluis",  selbst  die    Papisten    mit    einbegriffen,   wie  Breden- 


12  W.  Meijer, 

bürg,  einer  der  meist  vorgeschrittenen  CoUegianten,  sich  später 
ausdrückte.  Diese  „Algemccne  Kerk"  schloss  iSiemand  aus  als 
Juden,  Türken,  Meiden  und  Mohammedaner,  weil  sie  Ungläubige 
waren;  —  und  weiter  Alle,  die  von  ihrer  Umgebung  schuldig  erkannt 
w^areu  an  olVenbaren  Werken  des  Fleisches,  wie  Diebstahl,  Hurerei, 
Ehebruch  und  Trunkenheit,  und  daher  kurzweg  als  Gottlose  gebrand- 
markt wurden;  denn  Gottlosigkeit,  d.  h.  Unsittlichkeit  und  Unglaube 
waren  Regrift'e,  die  sich  damals  vollkommen  gleich  standen  und 
deckten.  So  meinte  Spinoza  selbst,  sich  gegen  die  Beschuldigung 
des  Atheismus  genügend  vertheidigt  zu  haben,  indem  er  sich  auf  seineu 
tadellosen  Lebenswandel  berief.  Man  meinte,  es  würde  Keinem 
einfallen,  den  Gott  der  Christen  zu  verleugnen,  dem  es  nicht  darum 
zu  thun  wäre,  ein  lüsternes  Leben  zu  führen. 

Ob  man  zu  einer  Kirche  sich  bekannte  oder  nicht,  war  den 
CoUegianten  einerlei;  alle,  die  in  Christo  glaubten,  waren  in  der 
„Rynsburgsche  Vergadering"  willkommen.  Vollkommene  Einheit 
aller  Christen  würde  ihres  Erachtens  die  Folge  ihres  Strebens  sein. 

Eigenthümlich  war,  dass  des  Herrn  Abendmahl,  eigentlich  das 
Kennzeichen  der  christlichen  Einigkeit,  in  den  Tagen  von  Sectcu- 
hass  die  Gläubigen  am  strengsten  auseinander  hielt.  —  Wo  man 
zum  Abendmahl  ging,  dazu  wurde  man  gerechnet,  und  jede  Kirche 
versagte  Mann  oder  Weib,  die  in  irgend  einer  Hinsicht  als  un- 
gläubig erkannt  waren,  unerbittlich  das  Abendmahl. 

Dies  war  der  kirchliche  Bann  der  Protestanten. 

Dagegen  lud  die  „Allgemeine  Kirche"  der  CoUegianten,  ihrem 
Princip  zufolge,  eben  alle  gläubigen  Christen  ohne  Unterschied  zu 
dem  Tische  des  Herrn. 

Dieser  war  nicht,  wie  Bredenburg^)  scharf  betonte,  „der 
meuisten  hecren  Tafel"  (der  Tisch  der  Herren  Mennisten),  sondern 
der  Tisch  des  Herrn;  deswegen  durfte  Niemand  anders,  als  nur 
die   Ungläubigen  und  Gottlosen  abgewiesen  werden. 

Und    so  wurde  zweimal  im  Jahre  in  Ryusburg,    mitten  unter 

^)  Bredenburg  war  einer  iler  bekaimtosteu  Rynsburger. 
Siehe  Theologisch    Tijdschrift.    18'J9.     -Johann    Bredenburg,    over    den 
Groud  der  Ueformatie. 


Wie  sich  Spinoza  zu  den  Collegianten  verhielt.  13 

den  heftigsten  christlichen  und  kirchlichen  Streitigkeiten,  die 
Christenheit  erinnert  an  jenen  apostolischen  Feierabend,  als  sich 
Alle  in  Frieden  und  Harmonie  um  ihren  grossen  Meister  versammelt 
hatten,  und  vereinigt  sassen  am  Liebesmahle,  das  er  zu  seinem 
Gedächtniss  eingestellt  hatte. 

Die  Heilige  Schrift  als  einzige  Regula  fidei  und  das  Abendmahl 
aller  Gläubigen  als  Symbol  ihrer  Gemeinschaft,  das  ist  also  der 
Inhalt  des  Glaubens  der  Collegianten, 

Neben  diesen  beiden  Punkten  wurde  auch  wohl  der  soge- 
nannte „Dompeldoop"  (Taufe  durch  Untertauchen)  als  Merkmal 
ihrer  Versammlung  hervorgehoben;  diese  war  aber  nicht  gefordert, 
und  musste  der  Meinung  der  Brüder  gemäss  durchaus  nicht  mit 
der  Taufe  der  Kirchen  verglichen  werden,  welche  von  ihnen  als 
eine  Sectetaufe  betrachtet  wurde;  die  Taufe  gehörte,  wie  Christian 
Verbürg  sagte,  nicht  zu  der  Natur  der  Rynsburgschen  Versammlung. 

Die  Collegianten  waren  also  keine  „Vrije  Gemeente",  wie 
sie  in  Amsterdam  und  in  Amerika  bestehen,  Gemeinden,  die  bloss 
das  religiöse  Leben  zu  fördern  beabsichtigen;  sie  waren  positiv 
christlich  gesinnt.  Das  damals  bestehende  Christenthum  zu  ver- 
werfen und  Freidenker  zu  werden,  was  Dr.  Hylkema  allen  Kefor- 
mateurs  vorwirft,  das  findet  auf  die  Collegianten  keine  Anwendung. 
Selbst  die  Kirchen  verurtheilten  sie  nicht,  geschweige  denn  das 
Christenthum.  Nur  dahin  suchten  sie  es  zu  bringen,  dass  alle, 
die  Christum  bekannten,  sich  bewusst  würden,  zu  einem  und  dem- 
selben Körper  zu  gehören. 

In  unseren  Tagen  hat  man  es  so  weit  gebracht,  dass  Viele  ver- 
gessen zu  haben  scheinen,  dass  Protestantisch  und  Römisch-Katho- 
lisch  bloss  Adjectiva  sind,  wobei  das  Substautivum,  „Christen" 
vergessen  oder  durch  gegenseitigen  Hass  abgefeilt  und  verschwunden 
ist,  sowohl  in  der  gewöhnlichen  Redeweise  als  dem  Wesen  nach. 
Dies  wollten  die  frommen  Collegianten  verhüten. 

„Reformateurs"  waren  auch  sie,  aber  nur  so  weit  als  sie 
jede  Verketzerung  Andersdenkender  verurtheilten.  Der  Lchrzwang 
Roms  war  auch  ihnen  ebenso  wie  den  anderen  Reformatoren  zuwider, 
nicht,  weil  sie  die  römisch-katholische  Lehre  verw^arfen  — ,  die 
apostolischen  Glaubensartikel  wurden  von  den  meisten  Collegianten 


J4:  ^^  •  Meijer, 

als  wahr  anerkannt  —  sondern  bloss,  weil  sie  keine  andere  Autorität 
anerkannten  als  die  Apostel  und  Propheten.  Bredenburg  sagte, 
dass  er  mit  allen  Protestanten  der  Meinung  war,  dass  die  Concilien 
kein  Recht  gehabt  hätten  als  Richter  in  Glaubenssachen  aufzu- 
treten, aber  Hess  darauf  sogleich  diese  Frage  folgen,  was  ihm 
selbst  denn  das  Recht  gäbe,  anstatt  der  päpstlichen  Autorität  in 
irsend  einer  Confession  eine  andere  zu  errichten  und  in  deren  Namen 
die  so  sehr  verabscheute  Verfolgung  und  Inquisition  wieder  zu 
erneuern? 

Jeder  Verurtheilung    ihrer  Christenbriider    abgeneigt,    wollten 
sie  auch    ihrerseits  Niemandem  ihre  Meinung    aufdrängen.     Ja  so 
weit   ging  diese  Abneigung,    dass  sie  selbst  die  sogenannte  Yer- 
draagzaamheid    (Toleranz)    als    unchristlich  verurthcilten.     Man 
hat,    sagt    Bredenburg,     Niemand    zu    dulden;    im    Dulden    liegt 
(las  Urthcil  schon  verborgen,  und  das  Urtheilen  ziemt  Gott  allein. 
Hier  kann,  sagte  er,  von  Dulden  nicht  die  Rede  sein.     „Was  soll 
das  heissen,   w^enn  man  in  einer  Schule  ist,  wo  keine  Untcrlehrer 
sind,    sondern   jeder  Schüler    von    dem  Meister  besonders  gelehrt 
und    instruiert    wird,    dass    da    die    Schüler    einander    zu    dulden 
hätten,    als    ob    sie    das    Recht    hätten,    einander    z.   B.    aus    der 
Schule  zu  werfen  u.  s.  w."     „Man  hat,"  sagte  er,  „nichts  Anderes 
zu  thun,  als  sich  zu  bemühen,  den  Meister  gut  zu  verstehen,  ohne 
sich  anzumassen,    darüber  zu   urtheilen,    ob  seine  Älitschüler    den 
Meister  wohl  zu  begreifen  im  Stande  sind,  viel  weniger  noch  sie  zu 
zwingen,  wegen  dieser  wahnwitzigen  und  übermüthigen  Einbiklung 
die  Schule  zu  verlassen." 

Die  Colleß-ianten  standen  also  auf  rein  christlichem  Boden  und 
suchten  den  Grund  der  Reformation  allein  in  der  Negation  aller 
Verketzerung  und  Priesterherrschaft. 

Das  Christenthum,  das  sie  bekannten,  war  derjenige  Glaube,  der 
uns  geschichtlich  bekannt  geworden  und  von  Constantin  dem  Grossen 
bis  auf  David  Friedrich  Strauss  die  Kulturgeschichte  beherrscht 
hat,  und  ja  nicht  zu  verwechseln  ist  mit  jenem  mythischen  oder 
Ideal-Cliristenthum,  das  in  unserem  Jahrhundert  in  so  vielen 
Köpfen  Missverständniss  und  BegrilTsverwirrung  zu  Wege  ge- 
bracht hat. 


Wie  sich  Spinoza  zu  den  Collegianten  verhielt.  15 

Sie  gehören  mit  Rom  zu  derselben  Kirclie,  aber  stehen  dcarin 
an  der  äussersten  linken  Seite.  Weiter  konnte  man  keinen  Schritt 
thun,  ohne  die  Grenzen  der  Kirche  zu  überschreiten.  Im  Grunde 
eines  Glaubens,  suchten  Rom  und  Rynsburg  auf  den  meist  aus- 
einandergehenden Wegen  zur  Kenntniss  der  Wahrheit  zu  kommen. 
Entweder  Rom,  oder  Rynsburg,  sagt  einer  der  Collegianten;  ent- 
weder die  Bestimmung  der  Glaubenslehre  einem  Oberhaupte  über- 
lassen, wie  es  in  der  R.-K.-Kirche  geschieht,  oder  einem  Jeden  die 
Freiheit  gegönnt,  zu  sagen,  was  er  davon  hält.  Dies  nannten 
sie  „de  vrijheid  van  spreken"  („Sprechfreiheit"),  auch  wohl  das 
Prophezeien;  und  diese  „Vrijheid  van  spreken"  war  ihr  Schibo- 
leth.  Auch  von  Anderen  w^ar  dies  früher  versucht,  wie  aus  den 
Akten  der  Weseler  Synode  hervorgeht.  Auch  M'ar  dies  in  Zürich 
und  in  London  bei  den  Brownisten  nicht  unbekannt.  In  "Wesel 
und  Zürich  geschah  dies  aber  bloss  zur  Uebung  der  Proponenten, 
und  bei  den  Brownisten  wurden  doch  immer  Prediger  angestellt. 
Aber  so  durchgeführt,  dass  durch  die  allgemeine  Priesterschaft 
alle  Prediger  consequent  ausgeschlossen  wurden,  haben  es  nur  die 
Collegianten  getrieben.  Noch  Spener  hat  z.  B.  in  seinen  collegia 
pietatis  auch  Laien  das  Reden  gestattet,  er  selbst  ist  aber  Hof- 
prediger geworden,  und  der  Pietismus  hat  nachher  Andere  verfolgt. 
Dies  war  bei  den  Collegianten  undenkbar. 


Nachdem  wir  also  die  ideelle  Genesis  dieser  Christensecte  ver- 
folgt haben,  wollen  wir  kurz  mittheilen,  wie  sie  historisch  geworden 
ist.  Den  Verbannungsdecreten  zufolge,  über  die  remonstrantischen 
Prediger  von  der  Dordrechter  Synode  ausgesprochen,  war  auch  im 
Jahre  1619  die  Gemeinde  in  Warmond,  einem  Dorfe  in  der  Nähe 
von  Leiden,  ihrer  „Hirten  und  Lehrern",  wie  man  die  Prediger  gerne 
nannte,  beraubt. 

Ohne  religiöse  Zusammenkünfte,  „godsdienstoefeniugeu"  in 
Holland  genannt,  konnten  aber  die  frommen  Leute  jener  Zeit  nicht 
leben,  und  bei  ihren  Antipoden,  den  Contra-Remonstranten  zur 
Kirche  zu  gehen,  Avar  zu  viel  von  ihnen  verlangt.  In  dieser 
kritischen  Lage  schlug  ein  gewisser  Gijsbert  van  der  Kodde,  ein 
tüchtiger    und     denkender    Kopf,     seinen    Geistesverwandten    vor: 


16  ^''  Meijer, 

„altemet  (dann  und  waun)  eeus  zonder  predikauten  by  elkander 
te  komen,  eenige  capittels  te  lezen,  een  gebed  te  doeu  en  iets  tot 
stichting  voor  te  dragen,  Indien  iemand  daartoe  bereid  en  bekwaam 
werd  bevonde.  Zoodoende  zou  de  gemeende  niet  verloopen  en 
niemand  in  perikel  komen." 

Dieses  Perikel  war  in  der  Tliat  nicht  fingiert,  denn  die 
„Heeren  Staaten"  hatten  o.  Juli  1619  alle  Conventikel  verboten, 
worin  über  „die  5  controversen  Religionspointen"  gesprochen  wurde. 
Die  remonstrantischen  Prediger  wurden  von  der  Polizei  streng 
beobachtet,  und  so  wurde  jede  Zusammenkunft  mit  ihnen  gefährlich. 
Kam  mau  als  Laien  zusammen,  dann  blieb  solches  viel  leichter 
den  Schöffen  verborgen. 

Die  Probe  genel,  und  man  beschloss,  regelmässig  zusammen 
zu  kommen.  „Jeder  christliche  Mann  (N.B.),  der  wohl  bei  Sinnen 
war  und  meinte,  etwas  darbieten  zu  können,  das  zur  Gottselig- 
keit dienlich  war,  hatte  die  Freiheit  solches  zu  thun." 

Man  sieht  sogleich  aus  diesem  Priucip,  wie  alle  Extase  und 
Schwärmerei  diesen  nüchternen  Leuten  ein  Gräuel  war,  wodurch 
denn  auch,  ganz  anders  wie  bei  den  Quäkern,  vorzüglich  die  Ge- 
bildeten sich  angezogen  fühlten. 

Etwas  „darbieten"  hiess  später  Proponieren,  etwas  darauf 
zu  erwidern,  hiess  Protestieren,  und  dies  beides  zusammen  heisst 
Prophetieren,  daher  die  Collegianten  auch  vielfach  „Profcten" 
genannt  wurden.  Die  Zusammenkünfte  selbst  hiessen  collegia 
oder  collegia  prophetica,  und  nach  diesen  Collegien  wurden  nachher 
die  Leute  Collegianten  genannt'). 

Paulus'  erster  Brief  an  die  Corinther,  und  davon  das  14.  Capitel, 
war  als  ihre  Kirchenordnung,  ihre  Constitution  zu  betrachten. 
(Man  siehe  (hiriiber  den  Brief  des  Geesteranus  bei  van  Slee.) 
Die  Frauen  hatten  zu  schweigen.  (Taceat  mulier  in  eeclesia). 
Alles  Reden  „in  Sprachen  und  Zungen"  wurde  verurthoilt;  das 
Reden  mit  Verstand  aber  empfohlen,  sowohl  zur  Erbauung  der 
Gläubigen    als  zur   Belehrung  von  Ungläubigen,    wenn    diese    sich 

*)  Nicht  CülleiManten,  wie  iu  der  Revue  des  deux  Mondes  vom  Mai  19U1 
steht. 


Wie  sich  Spinoza  zu  den  Collegianten  verhielt.  17 

iii  der  Versammlung  befanden,  wie  das  z.  B.  in  Amsterdam  ohne 
Zweifel  von  Beuuiugen,  Hudde,  van  den  Ende  und  Spinoza  der 
Fall  gewesen  ist. 

„Heeren  Staaten",  z.  B.  die  von  Frieslaud  im  Jahre  1662,  nahmen 
oft  alle  Socinianer,  Quäker  und  Dompelaars  (so  wurden  die  Colle- 
gianten auch  genannt)  zusammen,  weil  bei  ihnen  (wie  unerhört!)  ge- 
predigt wurde,  „zouder  Commissie",  d.  h.  von  Leuten,  die  nicht 
dazu  von  irgend  einer  Autorität,  sei  es  Papst,  Bischof  oder  Synode, 
beauftragt  waren;  —  nach  Allem,  was  wir  hier  mittheileu,  wird 
man  aber  leicht  einsehen,  dass  dennoch  zwischen  diesen  ein  grosser 
Unterschied  bestand;  auch  sind  die  Propheten  in  Holland  wenigstens 
nie  verfolgt  worden  wie  die  Socinianer.  —  Das  „Prophetieren"  der 
Collegianten  war  nichts  anderes  als  das  Interpretiren  der  Heiligen 
Schrift.  Nabi=interpres,  sagt  Spinoza.  Jeder  Unterordnung  inner- 
halb der  Gemeinde  wurde   streng  gewehrt. 

Als  bald  nach  dem  Anfange  der  ersten  Zusammenkünfte  in 
Warmond  der  Arminianer  Prediger  Heinrich  Holten  im  Geheimen 
sich  bei  ihnen  anmeldete,  um  wieder  von  ihnen  als  Prediger  ange- 
nommen zu  werden,  wies  van  der  Kodde  ihn  selbst  ziemlich  roh 
ab;  er  meinte,  man  brauchte  keinen  Prediger  mehr;  diese  brächten 
nur  Gefahr,  und  der  Holten  sollte  sich  ein  Fach  wählen,  um  daraus 
seinen  Lebensunterhalt  zu  gewinnen.  Obgleich  dieses  Auftreten  nun 
von  den  anderen  Gemeindemitgliedern  verurtheilt  wurde,  blieben  doch 
alle  Versuche,  nachher  von  Paschier  de  Fijne  und  anderen  Predigern 
angewendet,  ebenso  unfruchtbar,  und  als  sich  in  Warmond  schliess- 
lich wieder  eine  ordentliche  Gemeinde  organisirte,  zog  das  Collegiuni 
nach  Rynsburg,  einem  anderen  Dorfe  in  der  Nähe  von  Leiden,  wo 
die  Familie  van  der  Kodde  eigentlich  wohnte  und  damals  grossen 
Anhang  hatte.  Von  da  aus  verbreiteten  sich  die  Collegia  allmählich 
über  das  ganze  Land,  vorzüglich  in  den  grösseren  Städten.  Li  allen 
Kreisen,  meistens  aber  unter  den  gebildeten  Mennoniten,  fand  die 
obengenannte  Praxis  ihre  Anhänger. 

Beifall  fand  sie  bei  Allen,  die  vor  Clericalismus  oder  Priester- 
herrschaft einen  Abscheu  hatten;  dieser  Anti-Clericalismus  äusserte 
sich  aber  nicht  wie  in  unserer  Zeit  in  Religionsfeindlichkeit,  Eigen- 
dünkel und  Verhöhnung  jedweden  Glaubens,  er  stammte  vielmehr 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     XV.  1.  2 


18  ^^'-  Meijer, 

unmittelbar  aus  der  reinen  Quelle  der  Bruder-  oder  Nächstenliebe 
und  des  tiefsten  Religionsbedürfnisses.  Das  odium  theologicura  war 
ihnen  zuwider. 

Man  vereinigte  sich  in  Miethslokalitäten,  hie  und  da  in 
Speichern,  Böden  und  Scheunen,  in  Bücherläden,  so  wie  bei 
Jan  Rieuwertsz,  bisweilen  aber  auch  in  Consistorien-Ziramern.  —  Dies 
Letztere  kam  jedoch  allein  bei  Remonstranten  und  Mennoniten  vor, 
wurde  aber  nicht  selten  auch  von  den  Predigern  verboten.  Die 
Mennoniten,  deren  Prediger  immer  als  Diener  der  Gemeinde  be- 
trachtet wurden  und  noch  werden,  standen  natürlich  den  Collegiauten, 
die  gar  keinen  Unterschied  oder  Rangordnung  unter  den  (männ- 
lichen) Laien  anerkannten,  am  nächsten. 

Lidem  man  also  überall  in  collegiis  zusammenkam,  wurde 
zweimal  im  Jahre  gen  Pfingsten  und  Ende  August  das  Abendmahl 
abgehalten  und  gefeiert  in  Rynsburg,  wo  Alle  die  „de  vrijheid 
van  spreken"  und  der  „Algemeene  Kerk"  zugethan  waren,  sich  als 
Brüder  vereinigten;  daher  die  Collegianten  auch  Rynsburger  oder 
weniger  richtig  Rynsburger  Collegiauten  genannt  wurden. 

Das  Rynsburger  Collegium  selbst  war  nämlich  im  Jahre  1660 
nach  dem  Tode  der  van  der  Kodde  und  der  Uebersiedelung  der  ge- 
bildeten Familie  Oudaan  nach  Rotterdam,  beinahe  aufgelöst  —  ohne 
Gebildete  konnte  kein  Collegium  bestehen  — ,  doch  kamen  die  Brüder 
gerne  nach  Rynsburg,  ihrem  Ausgangspunkt,  dem  Geburtsort  ihrer 
Gemeinde  wieder  zurück^).  Dort  feierten  sie  zusammen  das  Abend- 
mahl, dass  eigentlich  in  den  Collegieu  selbst  nicht  abgehalten 
wurde.  In  der  Stadt,  wo  er  w^ohnte,  feierte  jeder  Collegiant  das 
Abendmahl  bei  der  Gemeinde,  zu  welcher  er  eben  gehörte ;  erst  im 
18.  Jahrhundert  wird  auch  im  Waisenhaus  in  Amstenlam  unter 
Collegianten  Abendmahl  gehalten. 

Als  Bredenburg  im  Jahre  1691  über  die  „Rynsburg'sche 
Vorgadering"  spricht,  meint  er,  dass  diese  jetzt  schon  mehr  als 
oO  Jahre  bestehe;  wir  können  also  annehmen,  dass  sie  ungefähr 
1640  ihren  Anfang  genommen  hat. 


'•>)  van  Slee  vergleicht  die  Ryusburgsche  Yergaderiug  mit  dem  Israelitischen 
Tempel,  die  einzelne  CoUegien  mit  den  Synagogen. 


Wie  sich  Spinoza  zu  den  Collegianten  verhielt.  19 

Eine  schöne  und  ausführliche  Beschreibung  des  ganzen  Bei- 
sammenseins findet  man  in  van  Slee's  Buch. 

Rynsburg  war  der  Geburtsort  der  Collegianten,  da  sie  sich 
dort  zuerst,  im  Jahre  1620(?),  vereinigt  hatten;  Rynsburg  hatte  aber 
auch  noch  zwei  andere  Vorzüge.  Erstens  lag  es  mitten  im  Lande, 
d.  h.  im  Staate  Holland,  der  ja  damals  die  Hauptprovinz  war; 
zweitens  aber  gehörte  Rynsburg  unmittelbar  unter  die  Juris- 
diction der  Staaten,  weil  die  Abtei  mit  Allem  was  dazu  gehörte, 
in  die  Hände  der  Ritterschaft  übergegangen  war  und  daher  auch  nach 
der  Zerstörung  der  Abtei  von  keiner  Stadtregierung  abhängig  war. 

Hier  hatten  die  Brüder  keine  amtliche  Belästigung  zu  fürchten, 
so  lange  in  der  Ritterschaft  liberale  Männer  wie  de  Witt  dominierten. 

Eigenthümlich  ist,  dass,  wo  im  Mittelalter  das  römisch-katholische 
christliche  Element  im  höchsten  Glänze  strahlte;  —  die  Rynsburg- 
sche  Abtei  war  unabhängig  und  „hief  (relevirte)  alleen  van  God 
en  de  Zon";  —  nach  deren  Untergang  die  äusserste  Richtung  des 
Protestantismus  seinen  Centralpunkt  fand. 

Keiner  Abtheilung  der  Christenheit  ist  es  so  sehr  um  gegen- 
seitige Liebe,  um  ,, allgemeine  Liebe",  wie  man  sagte,  zu  thun 
gewesen,  als  denen,  die  dort  zusammenkamen,  und  wer  Religions- 
hass  verabscheut,  versäume  nicht,  wenn  er  die  Gelegenheit  hat, 
eine  Pilgerfahrt  nach  Rynsburg  zu  machen,  wenn  auch  von  dem 
Bethause  der  Collegianten  ebensowenig  als  von  der  Abtei  ein  Stein 
auf  dem  andern  geblieben  ist®). 

Wie  weit  das  Princip  des  Friedens  beim  Abendmahl  von 
Einzelnen  getrieben  wurde,  erhellt  aus  dem  Zwiespalt,  der  am 
Ende  des  17.  Jahrhunderts  auch  hier  wieder  Trennung  zu  bringen 
drohte.  Das  „vrijspreken"  war  das  Fundament  ihrer  Vereinigung 
in  den  Collegien,  und  daher  war  es  auch  in  Rynsburg  Sitte,  vor 
und  nach  dem  Abendmahl,  Samstag  und  Montag,  zu  „prophetiren". 
Dieses  Proponiren  und  Protestiren  verlockte  dann  und  wann 
einen  Bruder  zur  Verurtheilung  des  Andern  und  deshalb  wollte 
Bredenburg,  den  wir  schon  öfters  erwähnt  haben,  auf  der  „Ryns- 
burgschen    Vergaderiug"    auch    jedes    Proponiren  und    Protestiren 


^)  Auch  die  Kapelle  der  Abtei  ist  verschwunden. 

2-- 


20  W.  Meijer, 

untersagen,  damit  nicht  Leute,  die  erst  kürzlich  einander  verurtheilt 
hatten,  in  dieser  feindlichen  Stimmung  das  Abendmahl  feiern  sollten. 
Es  ist  selbstredend,  dass  hierbei  allerlei  Persönliches  im  Spiele  war, 
doch  damit  können  wir  uns  hier  nicht  weiter  befassen.  Wir  er- 
wähnen nur,  dass  die  Mehrzahl  sich  zu  dieser  Massregel  nicht  eut- 
schliessen  konnte  und  demzufolge  von  1086  an  während  10  Jahre 
ungefähr,  2  Versammlungen  in  Rynsburg  stattfanden,  wovon  die 
folgerichtigste  unter  Bredenburg  allein  das  Abendmahl  feierte  und 
aus  der  Bibel  las,  ohne  etwaiges  Propouiren,  während  die  Andern 
meinten,  dass  dies  von  ihren  Zusammenkünften  unzertrennbar  wäre 
und  bis  hierher  auch  nie  den  Frieden  gestört  hätte. 

Als  Bredenburg  aber  1691  gestorben  war,  und  auch  seine 
Freunde  und  Anhänger  verblichen  waren,  wurde  von  Leiden  aus 
eine  Neuerung  vorgeschlagen,  die  schon  in  1700  zu  einem  guten 
Erfolg  führte. 

Indessen  hatte  man  im  Jahre  1675  ein  Waisenhaus  „De 
Oranjeappel"  in  Amsterdam  gestiftet,  da  sich  herausstellte,  dass 
Kinder  von  Leuten,  die  nur  zu  den  Rynsburgern  gehörten,  von 
keiner  Secte  oder  Kirche  aufgenommen  wurden,  und  man  be- 
fürchtete, dass  durch  diese  Weigerung,  die  Uebung  und  die  Hand- 
habung der  „vrijheid  van  spreken"  sich  verlieren  würde. 

Während  des  18.  Jahrhunderts  wurde  die  Versammlur.g  zu 
Ryiisburg  regelmässig  zweimal  im  Jahre,  im  Mai  und  August,  ab- 
gehalten. 

Am  24.  Mai  1787  kam  man  endlich  zum  letzten  Male 
zusairimon.  Im  Jahre  1801  wurden  die  letzten  Rynsburgcr  dort  ge- 
tauft und  damit  war  das  geistige  Leben  dieser  Gemeinde  erloschen. 

Das  Waisenhaus  „de  Oranjeappel",  Ileerengracht,  Amsterdam 
und  das  „i\ozenhofje"  in  Amsterdam  ist  die  einzige  materielle 
Hinterlassenschaft,  welche  die  Erinnerung  an  die  vornehmlich 
ideelle  Richtung  des  historischen  Christenthums  bewahrt. 


In  obigem  Referate  haben  wir  öfters  Aussagen  und  Ideen  des 
Johann  Bredenburg  benutzt.  Es  wird  dem  Leser  jetzt  klar  ge- 
worden sein,  weshalb  wir  das  gethan  haben.  Eine  Collegianten- 
Confession    kann   ex   rei  natura   nicht  geboten  werden;    sie  würde 


Wie  sicli  Spinoza  zu  deu  Collegiaiiteu  verhielt.  21 

eine  contradictio  in  adjecto  darstellen;  der  Ubcngcnannte  war  aber 
einer  der  gebildetsten  und  /Aigleich  cousequentesten  seiner  Richtung, 
weshalb  wir  seinen  Behauptungen  und  Betrachtungen  den  Vorzug 
geben,  wenn's  gilt,  den  Charakter  dieser  Abtheilung  der  christ- 
lichen Kirche  zu  definiren  ^).  Die  „Theologisch  Tijdschrift"  vom 
vorigen  Jahre  enthält  eine  Dissertation  Bredenburg's  über  die  Re- 
formatiou,  die  uns  den  Standpunkt  der  Rynsburger  klar  und  deut- 
lich vor  Augen  stellt.  Jeder,  der  die  holländische  Sprache  des 
17.  Jahrhunderts  versteht,  wird  dieser  Deduction  mit  dem  grössten 
Interesse  folgen. 

Aber  auch  noch  in  anderer  Hinsicht  ist  Bredeuburg  für  uns 
von  Bedeutung. 

Nicht  nur  die  Enthusiasten  und  CoUegianten,  sondern  auch 
die  Begründer  der  neuen  Philosophie  haben  im  17.  Jahrhundert 
in  Holland  auf  die  Geister  eingewirkt.  In  den  Jahren  1625 
bis  1647  Hess  Descartes  und  in  der  Zeit  von  1656  bis  1677  Spinoza 
daselbst  seine  eiuflussreiche  Stimme  hören.  Beide  suchten  in  einem 
zurückgezogenen  Leben  auf  dem  Lande,  quasi  in  Museis  suis 
sepulti,  nur  ihren  Studien  zu  leben,  doch  zog  das  Licht,  das  von 
ihnen  ausging,  unwiderstehlich  die  Menge  an.  So  hatte  auch 
Bredenburg  die  eiserne  Logik  des  Spinozistischen  Systems  mächtig 
ergriffen. 

Vor  Allem  war  er  überzeugt  dass  „alle  verstandclijke  werkiug 
nootsakelijk  was"  oder,  dass  die  Causalität  auch  herrsche  im  Reiche 
der  Gedanken;  er  meinte  sogar  im  Stande  zu  sein,  solches  in  einer 
demonstratio  mathematica  beweisen  zu  können.  Durch  Unbe- 
scheidenheit  seiner  Freunde  wurde  diese  ans  Licht  gebracht  und 
dadurch  die  Gemeinde  veranlasst,  ihn  einen  Spinozisten  und  Atheisten 
zu  schelten.  Er  vertheidlgte  sich  mit  der  Erklärung,  dass  der 
Glaube  mit  dieser  Theorie  nichts  zu  schaffen  hätte.  Auch  wenn 
mau  mathematisch  von  irgend  Etwas  überzeugt  wäre,  so  könnte 
das  doch  niemals  dem  Glauben  schaden.  Er  war,  wie  sein  Ver- 
ehrer später  sagte:  ein  tüchtiger  Philosoph  und  frommer  einfacher 
Christ. 

'■)  7\m    Ende    dieses    Aufsatzes    werden    wir    übrigens    noch     ein    paar 
holländische  Texte  anführen,  die  das  Gesagte  näher  zu  erörtern  geeignet  sind. 


22  W.  Meijer, 

Diese  Behauptuug  Bredenburg  s  erklärt  uns  ebeu  den  Zeitgeist 
uud  veranlasste  uns,  ihm  als  dem  echten  Vertreter  der  Collegianten- 
Idee  zu  folgen.  —  Er  sowohl  wie  seine  Geistesverwandten  wiesen 
die  Beschuldigung  des  Spinozismus  und  des  Atheismus  mit  Aergerniss 
und  Abscheu  zurück.  Sie  erkannten  des  Weisen  Gelehrsamkeit, 
seine  Freundlichkeit  und  besonders  seinen  unbescholtenen  Wandel 
an,  aber  wendeten  sich  mit  der  grössten  Entrüstung  von  seiner 
Philosophie  ab.  — 

Wie  verhielt  sich  nun  aber  Spinoza  zu  ihnen? 
Dass  er  in  Amsterdam  viel  mit  ihnen  verkehrte,  ist  unbedingt 
sicher.     Seine    besten  Freunde,    de  Vries  und  Jarig  Jellis,  waren 
Meunoniten;   de  Vries    hatte    selbst    ein  Collegium  instaurirt,    wo 
er  die  Ethik  des  Meisters  studirte,  wie  aus  dem  8.  Brief  hervorgeht; 
—    er    wird     daher    die    Collegien     seiner    Glaubensgenossen    in 
Amsterdam    wohl  nicht  versäumt  haben;   von  Jarig  Jellis  wissen 
wir,    dass    er    zu    den    freisinnigen  Mennoniten   gehörte  und  auch 
eine    kräftige    Stütze    des    Collegianten- Waisenhauses    war.     Von 
Amsterdam    zog  Spinoza    nach  Rynsburg,    und  wir  haben  Grund 
anzunehmen,    dass    er    gerade     Rynsburg    wählte,      weil    dort    die 
Freunde  seiner  Freunde  zusammenkamen.  —  Ausserdem  konnte  er 
hier  am  besten  leben  und  studireu,  da  mau  ihnen  von  Anfang  au 
gestattet  hatte,  ihre  Collegien  zu  halten.   Dass  Spinoza  bis  zu  seinem 
Lebensende    mit    den  Amsterdammer   Collegianten    befreundet    ge- 
blieben, beweisen  wir  auch  daraus,  dass  eben  in  ihrem  Waisenhause 
die  einzelnen   Briefe  wiedergefunden   sind,  die  wir  noch   von  ihm 
besitzen.     Wahrscheinlich  ist  es,   dass    in  jenem  Waisenhausc  die 
Ausgabe  der  Ethica,  1675  applanirt,  1677  erfolgt  ist. 

Eine  ganz  andere  Frage  ist  aber,  ob  er  zu  ihrem  Kreise  gehörte. 
Darauf  muss  die  Antwort  verneinend  ausfallen.  Wohl  stand  er 
ihnen  näher  als  irgend  einer  andern  Geistesrichtung  dieser  Zeit,  aber 
doch  auch  wieder  so  weit  von  und  über  ihnen,  dass  von  einer 
Zugehörigkeit  nicht  die  Rede  sein  kann.  Es  sei  uns  erlaubt,  hier 
die  wichtigsten  Punkte  von  Uebereinstimmung  und  Dilfcrenz  zu 
rcsumiren,  und  weil  Spinoza's  Lehre  hier  als  bekannt  vorausgesetzt 
wird,  werden  wir  uns  an  einer  kleinen  Andeutung  genügen  lassen.  — 
Die  rührende,  naive  Erklärung  von   Männern   wie  Oldenburg, 


Wie  sich  Spinoza  zu  den  Collegianteu  verhielt.  23 

Blijenberg,  Bredenhurg  imd  Jarig  Jellis,  "dass  sie  gerne  Spinoza 
alles  zugäben,  was  er  behauptete,  aber  dabei  sich  vorbehielten,  die 
Wahrheit  des  Evangeliums  zu  glauben,  ist  ein  psychologisches 
Ergebniss,  das  uns  gewiss  ausserordentlich  wundern  würde,  wenn 
es  sich  nicht  noch  nach  zwei  Jahrhunderten  in  unserer  Umgebung, 
ja  bei  den  grössten  Denkern  der  Neuzeit  wiederholt  hätte. 

Wer  damals  nicht  persönlich  mit  Spinoza  befreundet  war, 
bekämpfte  ihn. 

Bredenburg,  Oudaeu,  Oldenburg,  Wittichius,  Deurhof  und 
Andere  kehrten  sich  von  ihm  ab,  sobald  ös  ihre  christlichen 
Principien  und  Glaubensartikel  galt.  Und  sie  hatten  darin  recht. 
Denn  Spinoza  versuchte  nicht  wie  Leibniz  und  so  viele  Andere 
nach  ihm  das  Dogma  der  Trinität  philosophisch  zu  rechtfertigen. 
Geradezu  sprach  er  es  im  6.  Briefe^)  an  Oldenburg  und  im  7.  Ca- 
pitel  des  Tractatus  de  Deo  aus,  dass  er  ganz  andere  Eigenschaften 
Gottes  anerkenne,  als  seine  christlichen  Freunde  und  sich  dessen 
auch  sehr  wohl  bewusst  wäre. 

Dass  Gott  Mensch  geworden  war,  konnte  er  sich  ebensowenig 
erklären,  als  dass  der  Cirkel  je  die  Natur  eines  Vierecks  anzunehmen 
vermöchte.^) 

Er  war  überzeugt,  dass  es  für  das  Lebensglück  des  Menschen 
und  ein  frommes  Leben  gleichgültig  wäre,  ob  man  Gott  gehorchte, 
wie  alle  Gläubigen  thaten;  oder  Gutes  thäte,  geleitet  durch  die 
scientia  intuitiva  von  der  Wesenseinheit  des  Menschen  mit  Gott, 
und  die  daraus  folgende  Einmüthigkeit  und  Harmonie  der  Menschen- 
seele mit  ihm,  die  er  amor  intellectualis  Dei  genannt  hat  oder  das 
Bewusstsein  der  unio  quam  mens  habet  cum  tota  Natura. 

Seiner  Hospita  van  der  Spijck  hat  er  dies  mit  den  einfachsten 
Worten  erklärt;  im  Theol.  Pol.-Tractat  wissenschaftlich  ausgeführt. 
Glauben  und  Wissenschaft  aber  zugleich  anzuerkennen,  war 
ihm  unmöglich.  Wer  die  scientia  intuitiva  besass,  war  über  den 
Glauben  erhaben,  und  wer  mit  ihm  die  Causalitätslehre  seiner 
Philosophie    zu  Grunde    legte,    konnte    keine   Wunder    annehmen. 


®)  Opera.  Haager  Ausgabe. 
^)  Haager  Ausgabe,  Brief  73. 


24  ^^^'  ^Icijer, 

Gottesdienst  und  die  Philo.süphic  des  freien  Mannes  hatten  nichts 

mit  einandeivAi  schaffen;   beide  liüirten  freilich  vai  demselben  Zweck. 

Spinoza  aber  hatte  sich  die  letztere  zur  Begleiterin   und  Fahrerin 

seines  Lebens  erkoren. 

Sonach  ist  es  z.  B.  nicht  wohl  denkbar,   dass  Spinoza  je  das 

Abendmahl  mit  den  Collegianten  zu  Rynsburg  getheilt  hätte;  —  und 

dies  war  doch  das  Zeichen  ihrer  und   aller  Christen  Gemeinschaft. 

Die  Collegianten  hätten  ihn  abgewiesen;  —  selbst  hätte  er  sich  nicht 

eingeladen. 

Die  Collegianten  gaben  nie  ihren  Glauben  preis;  Spinoza  wurde 

nie  seinem  philosophischen  Gewissen  untreu. 

Den  Glauben  an  eine  Offenbarung  hielt  er  freilich  für  die  meisten 

Menschen    von   dem  grössten  Interesse,    weil   sie    nicht  im  Stande 

wären,  selbständig  nach  den  Geboten  der  Vernunft  zu  leben  (siehe 

das  XV.  Cap.    des  Theol.-Pol.  Tr.);   in  seiner  eigenen  Ethik  aber 

ist  von  keiner  Offenbarung  die  Rede. 

Aber  schon  zu  lange  haben  wir  bei  diesem  Punkte   verweilt; 

er  musste  aber  hervorgehoben  werden,    weil    man  so   leicht    dazu 

kommt,    hier    die    Grenzen    zu   verwischen,    die  Spinozismus    und 

Christenthum  unbedingt  von  einander  scheiden. 

Abgesehen  jedoch  von  dieser  Hauptsache,  gab  es  viele  Be- 
rührungspunkte zwischen  den  Collegianten  und  dem  Philosophen. 
Mit  ihnen  hatte  er  allererst  seine  Abneigung  gegen  jeden  Clerica- 
lismus  und  Kctzerverfolgung  gemein.  In  seinem  Briefe  an  Albert 
Burgh  und  in  dem  19.  Cap.  des  Tract.  Theol.-Pol.  am  Ende,  bricht  er 
den  Stab  über  die  päpstliche  Hierarchie;  in  dem  6.  seiner  Briefe^") 
ist  sein  Urtheil  über  die  Concinnatoren  der  Protestanten  deutlich  und 
klar;  und  wenn  man  dabei  an  die  Vorfülgung  seitens  der  Rabbiner 
denkt,  die  er  selbst  hatte  ertragen  müssen,  kann  es  Niemand 
wundern,  dass  er  mit  unseren  Freunden  alle  Macht  und  Supre- 
matie der  Geistlichkeit  geradezu  verurtheilt.  Echt  collegiantisch  ist 
daher  auch  seine  Behauptung,  dass  das  Verderben  der  Kirche  erst 
anfing,  als  die  Leute  .sich  aus  dem  Ministerium  ein  Amt  und 
Mittel  zur  Existenz  gemacht  hatten.  Wer  denkt  hierbei  nicht 
unwillkürlich  an  van  der  Kodde  und  Iloltenius? 


")  Haager  Ausgabe. 


Wie  sich  Spinoza  zu  den  Collegianten  verhielt.  25 

Prophetencöllegieu  nannten  weiter  die  Collegianten  ihre  Zu- 
sammenkünfte. Wer  konnte  sich  aber  in  dergleichen  Versamm- 
lungen besser  zu  Hause  fühlen  als  der  Jude,  dessen  reichhaltige 
Kenntiss  des  alten  Testaments,  das  damals  bei  den  Christen  weit 
höher  in  Achtung  stand  als  jetzt,  den  ehrsamen  Mennoniten  bei 
ihrer  Erklärung  ausserordentlich  gelegen  kam. 

Propheten  nennt  Spinoza  in  den  Annotat.  des  Theol.  Fol.-Tr.: 
interpretes. 

Es  ist  daher  sogar  nicht  unmöglich,  dass  die  Collegia  in 
Amsterdam  durch  ihn  einen  wissenschaftlichen  Charakter  bekommen 
haben.  Adrian  Verwer  zufolge  gab  er  daselbst  Unterricht  in  der 
Philosophie:  wahrscheinlich  hat  er  in  Amsterdam  sein  de  Dco 
dictirt,  wie  im  Ms.  das  A  genannt  wird,  am  Ende  in  margine 
heisst,  aber  von  den  Commentatoren  bis  jetzt  übersehen  worden 
ist^').  Mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  kann  diese  Handschrift 
dem  Jarig  Jellis  zugeschrieben  werden,  so  dass  es  nicht  uuAvahr- 
scheinlich  ist,  dass  die  gebildetsten  Collegianten  mit  ihm  in  Amst. 
zusammenkamen,  so  oft  es  sich  um  die  Erklärung  der  Bibel  handelte. 
Wenn  diese  Hypothese  richtig  wäre,  so  wäre  es  möglich,  dass  die 
ersten  Capitel  des  Tr.  Theol.  Pol.  in  ihren  Kreisen  entstanden 
sind,  was  zu  ihrer  Erklärung  Vieles  beitragrn  würde. 

Und  dann  die  Redefreiheit?  Ist  nicht  auch  dafür  der  Trac- 
tatus  Theol.  Pol.  die  beste  Vertheidigungsrede  (Cap.  XX)? 

Spinoza  verbot  wie  Paulus  den  Frauen,  in  der  Versammlung  zu 
sprechen;  auch  dies  war  den  Collegianten  Regel. 

Noch  in  anderer  Hinsicht  nähern  sich  Beider  Ideenkreise. 
Obgleich  Spinoza  nirgends  eine  „Algemeene  Kerk"  im  christlichen 
Sinne  lehrt,  dachte  auch  er  sich  eine  echte  catholica  religio,  wozu 
alle  Menschen,  die  das  Gute  beabsichtigten,  sich  bekennen  sollten 
und  deren  Hauptzüge  er  im  Iti.  Cap.  des  obengenannten 
Tractats  umschreibt.  Ja  so  gewiss  ist  er,  dass  diese  Artikel  das 
Fundament  eines  allgemeinen  Glaubens  sein  können,  dass  er  in 
seinem  politischen  Tractate  in  der  Aristocratie-Abtheilung  die 
Anforderung     stellt,     dass    alle    Regierungspersonen    jene    Artikel 


'')  Siehe  meine  holländische  Ausgabe:  Vau  God  de  mensch  en  deszelfs  wel- 
stand.     S.  L.  van  Looij.     Amsterdam. 


26  W.  Meijer, 

bekcuucn  söIIcq;  uud  die  Vielen  gewiss  befremdende  Anordnung, 
dass  in  der  aristocratischen  Republik  alle  kirchlichen  Feierlich- 
keiten, Taufen,  liandauflegeu  etc.  von  Laien  behandelt  werden 
sollen,  ist  direct  den  Collegianten  und  ihren  Sitten  entnommen.  Der 
grosse  Unterschied  ist  aber,  dass  seine  catholica  religio  alle 
Menschen  seiner  Zeit;  die  „Algemeene  Kerk"  der  Collegianten 
bloss  alle  Christen  umfasste. 

Zu  dem  Höhepunkt  des  Denkers  konnten  sie  sich  nicht  er- 
heben; wenn  er  aber  aus  seiner  hohen  Gedankenwelt  herabstieg, 
waren   die  Collegianten   die    ersten  Freunde,    denen   er   begegnete. 

Jetzt  bleibt  nur  noch  die  Frage  zu  behandeln  übrig,  welchen 
Einfluss  die  Collegianten  auf  Spinoza's  Staatstheorie  gehabt 
haben:  die  Frage,  welche  zu  dieser  Skizze  die  nächste  Ver- 
anlassung gab. 

Ist  hier  vielleicht  in  der  unmittelbaren  Umgebung  Spinoza's 
die  Quelle  seiner  Ideen  über  den  Staat  und  die  Staatsformeu 
zu  suchen?  Stellen  wir  die  Frage,  ob  man,  wie  Herr  Adolph  Menzel 
meint,  überhaupt  das  Recht  hat,  diese  Ideen  aus  seinem  „Milieu" 
zu  erklären,  dann  glauben  wir,  wie  oben  gezeigt,  darauf  antworten 
zu  müssen,  dass  dies  bei  einem  Dogmatiker  nnd  Mathematiker,  wie 
Spinoza  war,  unzulässig  ist;  wir  glauben  aber,  dass  auch  im  Ein- 
zelnen bewiesen  werden  kann,  dass  jener  Versuch  fehlgeschlagen  ist. 

Herr  Dr.  Menzel  setzt  voraus,  dass  im  Theol.-Pol.  Tr.  von 
Spinoza  der  Democratie  das  Wort  geredet  wird,  indem  er  meint, 
dass  der  Autor  später  davon  abgewichen  ist,  was  m.  E.  durch 
§  2  des  letzten  Capitcls  geradezu  widerlegt  wird. 

Dann  aber  sucht  er  den  Ursprung  dieser  Vorliebe  Spinoza's 
für  die  Democratie. 

Richtig  erkennt  er,  dass  dieser  durchaus  nicht  in  Hollands 
Staatseinrichtung  zu  suchen  ist;  aristocrntischer  als  die  holländische 
Regierung  im  Zeitalter  Spinoza's  ist  wohl  kein  Reich  gewesen. 

„Wat  de  Heeren  wijzen,  moeten  de  Burgers  prijzen"  (Was 
den  Herren  gefällt,  sollen  die  Bürger  loben)  war  Volksüberzeugung 
geworden.  Und  mit  den  „Heeren"  wurden  alle  Regicrungspersonen 
in  der  Stadt  und  im  Staate  bezeichnet.  Offiziere,  Gelehrte,  Kaufleute, 
Admiräle,  Statthalter,  ja  Könige,  wie  Karl  Stuart  II.  und  der  König 


Wie  sich  Spinoza  zu  den  Collegianten  verhielt.  27 

von  Böhmeu  raussten  sich  beugen  vor  den  „Heeren  Staaten" ;  das 
Volk  that  desgleichen.  Man  mochte  darüber  uneinig  sein,  ob  es 
besser  wäre,  Orauien  mehr  oder  weniger  Autorität  neben  den  Staaten 
zu  lassen;  der  Volkssouveränität  wurde  von  Niemandem  das  Wort 
geredet. 

Ebensowenig  könnte  von  den  umgebenden  Staaten  Spinoza  diese 
Vorliebe   eingegeben  sein.     Auch  dieses  hebt  der  Autor  hervor. 

Dagegen  war  Spinoza  in  den  Classikern  nicht  schlecht,  wie 
der  Herr  Menzel  meint,  sondern  sehr  wohl  bewandert.  Tacitus, 
Justinianus,  Sallu-stius  und  Aristoteles  in  lateinischer  üebersetzuug 
zierten  seinen  Bücherschrank,  und  von  Späteren  kannte  er  Hobbes, 
Machiavelli  und  de  la  Court  (van  den  Hove),  den  Freund  Jan  de  Witts, 
wie  wir  schon  oben  bemerkten.  Von  Grotius  kannte  er  obendrein 
das  Posthumwerk  de  Imperio  Summarum  Potestatum  circa  Sacra, 
das  er  zweifelsohne  bei  der  Niederschrift  seines  Theol.-Pol.  Tr.  be- 
nutzt hat,  und  weiter  noch  Clapmarius:  De  arcanis  Rerum  Publi- 
carum. 

Wir  haben  solches  schon  oben  gegen  Herrn  Hotf  hervorgehoben, 
der  Spinoza  unter  Machiavelli  stellt;  hier  müssen  wir  nochmals  daran 
erinnern,  um  dem  Vorwurf  des  Herrn  Menzel  zu  begegnen,  als  ob 
er  seine  politischen  Vorgänger  gar  nicht  gekannt  hätte.  Beim  Lesen 
des  Tractatus  Politicus  ward  man  fortwährend  au  Aristoteles" 
Politeia  und  die  Politycke  AVeegschaal  des   de  la  Court  erinnert. 

In  dieser  Hinsicht  glauben  wir  also,  dass  Herr  Menzel  sich 
geirrt  hat. 

Aber  auch  wenn  dieser  schliesslich  die  politische  Gesinnung  Spi- 
noza's  geradezu  den  Collegianten  zuschreibt,  können  wir  ihm  nicht 
beistimmen.  Die  politisch-religiösen  Ideen  der  Collegianten  waren, 
wie  die  der  Mennoniten,  ausschliesslich  verneinend,  und  jeder  Theil- 
nahme  an  der  Regierung  abgeneigt.  Wer  zur  Regierung  gehörte, 
gehörte  dieser  Welt  au,  nicht  der  Gemeinde  Christi.  Kein  Magistrat 
konnte  ein  wahrer  Christ  sein.  Ja  es  gab  etliche  Collegianten, 
wie  Paulus  Jans,  die  allein  communicirten  mit  deueu,  welche  die 
„weereloosheijd"  lehrten  und  ausübten. 

Bis  in  unser  Jahrhundert  hinein  haben  die  Mennoniten  dieses 
Dogma  hoch  gehalten,  und  wenn  Graf  Leo  Tolstoi  Gelegenheit  gehabt 


28  W.  Meijer, 

hätte,  in  Amsterdam  bei  eleu  Meiinouiten  Theologie  zu  studiren,  hätte 
er  .sich  viele  Mühe  ersparen  köunueu.  Seiu  llauptspruch,  „den  booze 
niet  te  weerstaan",  war  bei  deu  damaligen  Meunouiten  der  Kern- 
.spruch  ihrer  Lehre;  er  hat  bei  ihnen  zwei  Jahrhunderte  geherrscht; 
und  ist  —  theoretisch  und  praktisch  verurtheilt  —  im  19.  Jahr- 
hundert abgeschallt.  Man  lese  dessen  historisch-kritische  Erörte- 
rung in  „de  Gids"  von  Ds.  Joh.  Dijserinck,  eine  sehr  interessante 
Lcctiire  für  alle  Anarchisten  unserer  Zeit. 

Die  Collegiauten  waren  nicht  deshalb  anti-autokratisch,  um 
sich  selbst  hervorzuthun,  wie  das  bei  allen  Demokraten  der  Fall 
ist;  sie  wiesen  die  Vorgänger  nicht  ab,  um  ihre  V^ersammlung  als 
Autorität  zu  erkennen;  sie  erkannten  nur  eine  Autorität  an,  und 
diese  war  die  Heilige  iSchrift.  Mit  dem  Staate  Hessen  sie  sich 
nicht  ein ;  ebenso  wie  Jesus,  dem  neuen  Testamente  zufolge,  hierin 
mit  seinem  Beispiel  vorangegangen  war. 

Mit  den  Independenten  hatten  die  Collegiauten  eben  deshalb 
nicht  die  geringste  Aehnlichkeit,  obgleich  das  Laienpredigen  auch 
bei  jenen  galt. 

AVenn  man  Spiuoza's  echte  Geistesverwandten  in  politischer 
Hinsicht  sucht,  dann  wären  diese  vielmehr  bei  den  Reformirten 
zu  finden;  beim  Calvinismus,  der  damals  in  der  Republik  vor- 
herrschte und  den  Spinoza  besonderer  Aufmerksamkeit  gewürdigt 
hatte,  wie  daraus  hervorgeht,  dass  er  die  Institutionen  Calvins  im 
Spanischen  besass'"):  in  der  Sprache  nämlich,  in  welcher  sein  Geist 
sich  entwickelt  hatte. 

Dass  übrigens  auch  der  ■Mord  des  de  Witt  Spinoza  nicht 
von  der  Demokratie  entfernt  hat,  ist  in  der  scharfen  aber  wahren 
Kritik  in  §  XIV  der  [).  Cap.  des  Pol.  Tractats  ausgesprochen,  so- 
wohl über  die  „Staatsregeling  der  Republiek  van  de  Vereeuigde 
Ncderlanden"  im  Allgemeinen,  als  über  de  Witts  Regierung  im 
Besonderen.  — 

Will  mau  durchaus  eine  historische  Schablone  für  seine  An- 
sichten suchen,  dann  kann  solches  nicht  anders  sein,  als  die,  welche 


^-')  Diese   spanischeu  lustitutioneu   sind  jetzt  uuili   in  Rynsburg  wieder 
vorhanden. 


Wie  sich  Spinoza  zu  den  Collegianten  verhielt.  29 

er  selbst  uns  zeichnet  im  Tract.  Theol.  Pol..  nämlich  die  Gesetz- 
gebung und  Staatseinrichtung  Israels. 

Auch  dies  genügt  aber  nicht  zur  völligen  Erklärung  seiner 
Staatslehre.  Es  kann  kein  historisches  Factum  geben,  das  für 
alle  Zeiten  gelten  kann.  Das  Ewige,  die  Wahrheit,  ist  uns  nicht 
in  der  Erscheinung  geoffenbart,  bloss  in  der  Idee.  Deshalb  muss  man 
annehmen,  dass  Spinoza,  ohne  die  Geschichte  gering  zu  schätzen 
oder  sie  zu  übersehen,  dazu  mit  völlig  ausreichender  Kenntniss  der 
Politik  seines  Jahrhunderts  versehen,  seine  Staatslehre  aufgebaut 
hat  aus  seiner  tiefen  Kenntniss  der  menschlichen  Natur  und  dem 
Wesen  der  Gesellschaft. 

Die  ehrsamen,  friedlichen,  „weereloose"  Collegianten  werden 
sich    über    seine  Staatsallmacht,    bis    circa  sacra.  entsetzt  haben. 

Diese  Fragen  aber  iuteressirten  sie  nicht;  die  „Cura  Reipublicae" 
hat  für  sie  keine  Bedeutung,  sie  meinten  jeder  für  sich  die  voll- 
kommene Glückseligkeit  finden  zu  können  in  der  Heiligen  Schrift. 

Sie  mögen  sich  geirrt  haben,  aber  sie  haben  fest  daran  geglaubt. 

So  meinen  wir  das  A^'erhältniss  der  Collegianten  zu  dem  christ- 
lichen Glauben,  der  Kirche,  der  Reformation  und  dem  Staate  an- 
gedeutet zu  haben,  um  jeden,  der  Spinoza  kennt,  in  den  Stand 
zu  setzen,  sich  vergegenwärtigen,  wie  dieser  über  ihre  eigen- 
thümliche  Geistesrichtung  geurtheilt  hat. 

Dass  er  unter  ihnen  seine  besten  Freunde  hatte,  ist  bewiesen; 
dass  er  aber  viel  zu  hoch  stand,  um  auch  von  ihnen  begriffen  zu 
werden,  beweist  der  Ernst,  womit  ihre  besten  Mitglieder  Jeden 
zu  überzeugen  suchten,  dass  sie  mit  seinen  Lehren  keine  Berührung 
hätten,  obgleich  sie  Alle,  bis  auf  eine  Ausnahme  (Oudran),  seine 
Lebensführung  nicht  genug  loben  konnten,  was  eben  für  sie  und 
in  ihren  Kreisen  von  der  höchsten  Bedeutung  war. 

Nichtsdestoweniger  bleibt  ihre  Erscheinung  in  der  Kirchen- 
geschichte ein  merkwürdiges  Factum,  als  der  einzige,  mit  Ernst 
durchgeführte  Versuch,  alle  Christen  in  Geist  und  Wahrheit,  an- 
statt durch  Feuer  und  Schwert  und  Confession,  zur  Einigkeit  zu 
bringen. 

Der    Name  Rvnsburg    ist    durch    sie    zum    zweiten   Male   von 


30  W.  Meijer, 

grosser  Bedeutung  geworden,  als  der  Ceutralpunkt  der  echten,  ernst- 
haften, consequenten  Reformation. 

Auch  sie  sind  vorübergegangen,  und  jetzt  ist  daselbst  ein 
Museum  errichtet  worden  für  Benedictus  de  Spinoza,  der  wohl  mit 
ihnen  während  der  Blüthezeit  der  Reformation  lebte  und  lehrte, 
dessen  Gedanken  aber  erst  im  neunzelinten  Jahrhundert  begrifieu 
werden  sollten. 


Die  Seite  2G  versprochenen  Texte,  zur  Charakterisirung  der 
Collegianten,  nehmen  wir  aus  dem  Buche  van  Slee's: 

Auf  Seite  227  seines  Buches  lesen  wir,  dass  die  Groninger 
Collegianten,  von  der  Behörde  aufgefordert,  zu  erklären,  w^as  sie 
über  Christus  lehrten,  den  19.  December  1701  antworteten:  „dat 
zij  geene  voor  allen  bindende  Geloofsbelijdenis  hadden  en  slechts 
met  de  woordeu  der  Schrift  die  zij  als  eenigen  regel  des  geloofs 
beschouwden,  omtrent  Jezus  getuigden,  dat  hij  de  Christus  was,  de 
Zoon  des  levenden  Gods,  onze  profeet,  hoogepriester  en  koning."  — 

Auf  Seite  253  erklärt  die  Bredenburgische  Faction  dass  „de 
'  Ryusburgsche  Vergadering"  auf  folgenden  Principien  fundirt  sein 
sollte:  „1"  dat  ieder  daar  toegang  zou  hebben  die  de  12  Artikelen 
des  geloofs  uit  kracht  der  Schriftuur  beleed,  en  zieh  aan  de 
geboden  van  het  Christendom  onderwierp,  zonder  nogtans  het  recht 
te  hebben  om  hen  die  dit  niet  beleden  te  veroordeelen  of  te  verklaren 
dat  men  met  hen  geen  gemeenschap  hebben  wilde,  dat  daar  (d.  h. 
auf  der  Zusammenkunft  der  Collegianten  in  Rynsburg)  2"  geen 
burgerlijke  of  godgeleerde  geschillen  mochten  worden  behaudeld,  en 
eindelijk  3"  dat  zij,  die  om  werken  des  vleesches  door  eenige 
broederschap  waren  gecensureerd  of  gebaunen,  daar  ook  niet  mochten 
stiebten  en  spreken  of  het  avondmaal  bedienen  of  celebreereu. 

Auf  Seite  203  lesen  wir  die  Formel  auf  welche  beide  Parteien 
sich  den  10.  December  1699  sich  wieder  vereinigten:  iMan  kam  über- 
ein, dass  „de  vergadering  tot  Rynsburg  een  vrije,  algemeene 
Christelijke  vergadering  zijn  zal,  die  de  heijlige  Schriftuur  heeft 
tot  een  regelmaat  vau  geloof  en  leveu,  daar  een  iegelijke  zyn 
toegang  mag  nemen  tot  stichting,  tot  de  ouderhouding  en  bediening 


Wie  sich  Spinoza  zu  den  Collegianten  verhielt.  gl 

van't  H.  Avondmaal  des  Here,  welke  beleijd  dat  Jezus  is  de 
Christus,  de  Zone  des  levendigen  Godts;  en  vrij  sijnde  van  de  bekende 
werken  des  vlees,  de  evangelise  geboden  betragt,  menschelijke 
zwaklieden  uijtgenomen;  sonder  dat  iemaut,  hij  sij  wie  hij  sij, 
regt  of  magt  heeft  of  gegeven  wort,  om  enig  mensch,  welke  in 
Godts  woord  niet  klaar  veroordeelt  wordt,  te  veroordeelen. 

Werdende  voorts,  om  dat  selve  eijnde  wel  te  bereijken,  een 
ieglijk  Christelijk,  broederlijk  en  ernstig  verraaand,  dat  alle 
geschillen,  so  veel  mogelijk,  voor  den  dorpel  gelaten,  alle  disputen 
met  voorsigtigheijd  gemeijd  en  de  stigting  als  het  algemeene  en 
grote  eijnde  der  bijeenkomst  bevordert  werde. 

So  nogtans  iemant  tegen  het  bovengemelde  quam  aan  te  gaan 
(wenn  also  dennoch  Jemand  protestiren  wollte)  dat  men  den 
sodanigen  redelijk  sal  aanseggen,  dat  hij  sulcs  doet  voor  sijn 
particulier  en  niet  uijt  de  uaam  van  d'algemeene  vergadering. 

Es  scheint,  sagt  van  Slee  zur  Erklärung,  dass  das  Protestiren 
erlaubt  blieb,  auch  auf  „de  Rynsburgsche  Vergadering",  dass  dies 
aber  nie  zu  einer  Abstimmung  in  der  Versammlung  führen 
konnte,  wodurch  einer  von  der  Communion  ausgeschlossen  werden 
konnte.  Damit  war  sowohl  „de  vrijheid  van  spreken",  als  die 
„verdragzaamheid"  gerettet. 


IL 

Le  Kautisme  de  Carlyle 

de 
l'aiuille  Bos  a  Paris. 

Les  «Kautstudien«  lors  de  leur  apparition  sigualaieut,  parmi 
les  problemes  ä  l'etude,  celui  de  riuflueuce  de  Kant  sur  Carlyle. 
Sans  m'exagerer  la  porteo  de  cette  questiou,  je  Tai  trouvee  assez 
interessante  pour  meriter  quelques  reflexions  que  j'essaierai  de 
presenter  ici. 

Lorsqu'il  s'agit  d'un  homrae  comme  Carlyle,  d'une  personnalitc 
aussi  accentuee,  il  couvient  d'ecarter  tout  de  suite  l'idee  du 
rapport  simple  de  disciple  a  maitre;  on  ne  peut  memo  pas  parier 
cPune  inlluenee  predominante,  lumiere  centrale  qui  cclairerait  le 
temperanient  complexe  du  penseur.  Les  etres  comme  Carlyle  ne 
rellechissent  rien  tel  qu'ils  l'ont  rcyu:  ce  sont  des  foyers  si  ardents 
qu'on  n'y  retrouve  jamais  tcls  quels  les  materiaux  jetes,  tout  est 
utilise  mais  seuloment  apres  avoir  ete  ancanti  —  car  les  fortes  per- 
sonnalites  sont  des  crcusets  oii  s'elaborent  indöfiniment  des  syn- 
theses  nouvellcs. 

L'inducnce  de  Kant  sur  un  komme  tel  que  Carlyle  ne  pourra 
donc  etrc  quo  lointainc,  un  moment  d'arret  avant  de  s'olancer 
de  ce  tremplin  plus  avant,  et  nous  ne  serons  guere  autoriscs  a  parier 
que  d'une  communaute  de  directiou.  Nous  verrons  que  Carlyle 
est  Kantien   au  scns  lo  plus   general  du   terme,   en   un  sens  qu'il 


Le  Kantisme  de  Carlyle.  33 

faudrait  presque  restreindre  jusqu'a  faire  le  Kautisme  synonyme  de 
«Philosophie  allemande«.  Et  nous  verrons  que  s'il  y  a  lieu  a  un 
rapprochement  plus  direct,  c'est  entre  Carlyle  et  les  successeurs  de 
Kaut:  d'une  part,  la  jeune  litterature  allemande,  de  l'autre  le 
philosophe  qui  exer^a  tant  d'influence  sur  les  romantiques,  Fichte. 

Si  l'on  veut  ä  tout  prix  rapprocher  deux  noms,  c'est  celui  de 
Fichte  qu'il  faut  inscrire  eu  regard  de  celui  de  Carlyle. 

Remarquons  d'abord,  en  ce  qui  concerne  Kant,  que  l'actiou  de 
celui-ci  sur  Carlyle  se  restreind  singulierement  si  l'on  veut  bien 
se  mefier  que  certaines  analogies  entr'eux  sont  explicables  a  priori 
et  sans  qu'il  ait  ete  besoiu  que  Tun  connüt  l'autre. 

La  raison  de  ces  analogies  —  qu'ou  a  peut-etre,  sans  y  re- 
garder  d'assez  pres,  prises  pour  des  influences  —  doit  etre  cherchee 
dans  une  communaute  de  race,  de  religion,  d'influences  pietistes  et 
de  discipline  mathematique.  Si  Allemands  et  Anglais  appartiennent 
ä  la  meme  famille  des  Anglo-Saxons,  cela  est  vrai  surtout  des 
Ecossais.  II  y  a  entre  ceux-ci  et  les  Allemands  une  tres  etroite 
et  toute  speciale  parente  qu'a  tres  bien  mise  en  lumiere,  en  ces 
derniers  temps,  Mr.  HenseP). 

Comme  l'Allemagne,  l'Ecosse  s'oppose  a  l'Angleterre  normande, 
le  goüt  latin  n'a  pas  penetre  jusqu'a  elles,  elles  sont  habitees  par 
une  race  grave  et  triste,  sobre  de  paroles  et  repliee  sur  soi-meme. 
Et  si  Ton  tient  avec  certains  que  la  psychologie  des  peuples  est 
fa^onnee  bien  moins  par  des  cause  ethniques  que  par  des  causes 
historiques  et  morales,  ou  trouvera  que  l'Ecosse,  qui  a  eu  tant  ä 
lutter  ä  la  fois  coutre  un  sol  ingrat  et  contre  l'oppressiou  etran- 
gere,  —  se  rapproche  encore  par  la,  plus  que  l'Angleterre,  de 
TAllemagne.  Entre  l'homme  de  Königsberg  et  celui  d'Eclefecham, 
des  analogies  de  temperament  sont  tres  comprehensibles. 

«Les  philosophes  allemands  nous  parlent  avec  des  accents 
durs,  mais  males,  profonds  et  expressifs:  ceux  de  cette  vieille 
langue  saxonne  qui  est  aussi  notre  langue  materuelle»'). 

Mais  l'ärae  d'un  peuple  est  surtout  fa(,'onnee  par  ses  croyances 


^)  Hensel,  „Thomas  Carlyle",  Frommanu'sche  Sammlung.  Pleidelberg  1900. 
-)  Carlyle,  Essays  I,  State  of  German  Literature. 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     XV.  1.  3 


34  Camille  Bos, 

et  a  ce  point  de  vue  les  compatriotes  de  Kant,  conime  ceux  de  Carlyle, 
ont  ete  modeles  par  la  Reforme.  L'un  et  l'autre  ils  sont  protestants, 
puritains  meme,  et  sous  les  divergeuces  de  detail  ce  grand  trait  con- 
stitiiera  un  foud  commun;  chez  Tun  comme  cliez  l'autre  on  sentira 
le  filleul  de  Luther,  de  ce  Luther  qui  rejetant  toute  tradition  cher- 
chait  la  verite  a  sa  source  et  auquel  Carlyle  a  consacre  des  pages 
si  admirables, 

Enfiü  riufluence  plus  proche  de  la  famille  est  ä  peu  pres  la 
meme  chez  le  Prussien  et  chez  l'Ecossais:  les  parents '  sont  de  sim- 
ples artisans,  c'est  un  milieu  pietiste  oii  toute  besogne  est  accomplie 
sous  l'inspiration  de  la  religion,  oii  l'idee  du  devoir  plane  au-dessus 
des  täches  quotidiennes,  oii  la  foi  est  toute  dans  les  ceuvres:  «Labo- 
rare est  orare». 

Carlyle,  en  outre,  comme  Kant,  s'est  adonne  d'abord  ä  l'etude 
des  mathematiques  (de  la  geometrie  surtout)  qu'il  euseigna  meme. 
Et  Sans  qu'il  seit  besoin  d'insister  on  entrevoit  que  cette  discipline 
mathematique  est  la  source  d'oii  decouleront  la  rectitude  d'esprit 
commune  aux  deux  penseurs,  leur  besoin  d'absolu  —  comme  aussi 
les  mathematiques  ont  pu  etre  favorables  a  la  foi  religieuse  et 
faciliter  Taffirmation  que  «l'Invisible  est  peut-etre  plus  reel  que 
le  reel.»  Cette  importance  des  etudes  mathematiques,  Carlyle  Ta 
bien  sentie,  il  souligne  le  trait  dans  son  portrait  de  Kant:  «Un 
homme  paisible,  clairvoyant,  qui  s'ctait  acquis  de  la  reputation  en 
mathematiques  avant  d'aborder  la  philosophie.»  .  .  . 

Notons  en  passant  que  les  inconvenieuts  que  cette  discipline 
mathematique  a  eus  pour  Kant  —  (l'abus  de  la  construction 
symetrique  et  a  priori)  n'ont  pas  existe  pour  Carlyle.  C'est  qu'en 
effet,  ä  cote  des  analogies  il  y  a  entre  les  deux  hommes  des 
differences  de  temperament:  Carlyle-apotre  et  Kant-arbitre  et 
de  conditiou:  Tun  professeur,  enferme  dans  une  vie  toute  livresque, 
l'autre  litterateur  considerant  la  litterature  comme  «TEglise  mili- 
tante des  temps  modernes»  —  d'oii  l'un  speculant  au-dessus  de 
la  vie  dans  la  thöorie,  l'autre  jete  en  pleine  melee  et  se  debattant 
dans  la  pratique. 

jMaintenant  une  question  de  fait  se  pose:  y  a-t-il  eu  et  dans 
quelle    mesure,  influence  directe  de  Kant  sur  Carlyle,  sur  cet  esprit 


Le  Kantisme  de  Carlyle.  35 

deja    un    peu    parent    et   prepare    pav  des  antecedents  analogues? 

Carlyle  a  ete  initie  a  la  litteratiire  allemande  par  son  ami 
Irving;  il  a  fait  en  outre  deux  sejours  en  Allemagne,  Tun  eu  1852. 
l'autre  en  1858.  II  a  certaineroent  lu  la  Critique  de  la  Raison 
Pure,  il  l'a  connue,  mais  on  ne  peut  pas  dire  qu"il  l'ait  etudiee,  ni 
qu"il  en  ait  recu  une  iufluence  directe.  qu"il  ait  ete  touche  de  la 
gräce  comme  Malebranche  en  lisant  Descartes. 

Non,  ce  a  quoi  Carlyle  se  rattache  c"est  au  Kantisme  dans 
son  principe  essentiel  (le  point  de  depart  dans  le  Cogito,  la  position 
critique  des  problemes);  mais  j'oserais  presque  affirmer  que  Carlyle 
ne  lut  Jamals  les  deux  autres  Critiques  et  qu'il  s"attarda  peu  ä 
Celle  de  la  Raison  Pure.  «Je  connais  peu  Kant»,  declare-t-il  lui- 
meme. 

Et  j'oserais  presque  dire  qu'il  le  connajt  imparfaitement,  quil 
ne  Ta  meme  pas  toujours  compris.  car  Carlyle  ecrit  des  choses  comme 
celle-ci:  „Que  l'hypothese  de  Kant  soit  vraie  ou  fausse  .  .  .  etc. 
Et  il  assure  ses  lecteurs  que  «la  Critique  de  la  Raison  Pure  ne 
sera  pas  a  beaucoup  pres  la  tache  la  plus  difficile  qu'ils  auront 
entreprise.»  —  HumI  on  se  demande  avec  effroi  quelles  etaient 
les  lectures  ordinaires  des  auditeurs  de  Carlyle! 

De  meme,  celui-ci  a-t-il  raison  de  croire  que  «la  theorie 
Kantienne  de  Tidealite  du  temps  et  de  Tespace  ait  ete  posee  en 
vue  de  la  theologie?»  Nous  pensons  que  pour  Kant,  la  Raison 
Pure  ne  doit  aider  en  rien  la  Raison  pratique  et  que  celle-ci  doit 
etre   en  mesure  de  se  suffire  a  elle-raeme. 

De  meme  encore  on  peut  se  demander  si  Carlyle  a  bien  com- 
pris le  sens  du  mot  «transcendental»  applique  ä  la  philosophie 
Kantienne;  il  le  traduit  trop  souvent  par  «Au-delä»,  le  confon- 
dant  ainsi  avec  «transcendant». 

Un  fait  significatif,  d'ailleurs,  c"est  que  Carlyle  parle  rarem ent 
de  Kant  en  particulier,  c'est  toujours  «le  Kantisme»,  ou  «les  pliilo- 
sophes  allemands».  Ou  bien,  s'il  commence  a  parier  de  Tun.  in- 
dividuellement,  il  termine  par  la  forme  collective.  C'est  ainsi  qu'il 
en  arrive  ä  ecrire  cette  phrase  qui,  si  Ton  n'etait  pas  prevenu, 
pourrait  induire  en  plus  d'une  erreur,  notamment  sur  les  rapports 

3* 


36  C  a  m  i  1 1  e  B  0  s , 

chez  Kant,  eiitre  la  Raisoa  Pure  et  la  Raison  Pratique:  (Cavlyle 
vient  de  decrire  la  revolutiou  copernicienne  operee  par  Kant  et 
il  continue  ainsi):  «Ces  Allemands  cherchent  la  verite  primitive 
dans  l'intuition;  ils  trouvent  Dieu  et  Tarne  immaterielle,  comme 
point  de  dopart  de  tonte  philosophie,  ccrits  en  caracteres  obscurs 
mais  ineffayables  an-dedans  de  nous-memes.  Le  probleme  de  la 
Philosophie  Critique,  c'est  d'ecarter  les  obscurites  des  sens  qui 
nous  empechent  de  contempler  cette  verite  primitive»^). 

Qn'on  y  prenne  garde!  le  criticisme  n'est  pas  tont  a  fait  cela 
et  les  lignes  precedentes  fönt  plutot  pressentir  Schelling. 

A  quoi  donc  se  ramene  le  pretendu  Kantisme  de  Carlyle? 

A  ceci  d'abord  que  les  deux  penseurs  se  sont  trouves  en 
presence  des  memes  datas,  le  double  point  d'appui  a  ete  le  meme, 
ä  savoir  la  science.  d'une  part,  la  morale  de  l'autre:  pour  Carlyle 
comme  pour  Kant,  les  mathematiques  et  le  devoir  constituaient 
un  Credo  en  deux  articles  qu'il  s'agissait  de  concilier.  «That  clear 
Knowledge  might  again  be  wedded  to  Religion»*).  Mais  nous  avons 
vu  que  les  deux  penseurs  en  etaient  venus  la  chacun  pour  son 
propre  compte  et  sans  qu'il  y  ait  lieu  de  parier  d'une  influence  de 
Kant  sur  Carlyle. 

Quant  a  leur  morale,  qui  fletrit  avec  le  meme  acharnement 
le  grossier  eudemonisme,  eile  repose  en  derniere  analyse  sur  des 
idees  analogues:  celle  de  la  dignite  chez  Kant,  celle  du  respect 
(«reverence»)  chez  Carlyle.  Et  eile  est  dominee  par  le  meme  im- 
peratif  categorique.  «Dieu  a  ecrit  en  lettres  lisibles  dans  la  con- 
science  humaine  une  Loi  que  tous  y  peuvent  lire»,  declare  Carlyle; 
et  ailleurs,  cette  phrase  plus  siguificative  encore: 

«Le  devoir  de  l'homme  est  un  imperatif  categorique  impose 
du  dehors  par  un  maitre  qui  a  ecrit  en  lettres  de  feu  sur  le  ciel : 
Obeis,  serviteur  ingrat!» 

Les  deux  murales,  d'ailleurs,  relletent  l'une  et  l'autre  un 
«aftershine»  du  Christianisme  et  malgre  leur  caractere  rationnel, 
derivent  de  la  revelation:  ce  sont  deux  Morales  de  rObeissance. 


^)  Essays  I,  State  of  German  Literature. 
•i)  On  Goethe. 


Le  Kantisme  de  Carlyle.  37 

Enfin,  un  trait  commun  aux  deux  philosophies  c'est  qu'au 
foucl  ce  sont  deux  philosophies  de  la  Volonte;  l'une  comme  l'autre, 
elles  vont  du  doute  ä  Faffirmation:  «Convictiou  is  worthless  tili 
it  converts  itself  iuto  Couduct.  Doubt  of  any  sort  cannot  be 
removed  except  by  action»^). 

Carlyle  et  Kant  sont  deux  croyants:  l'un  pose  le  primat  de 
la  raison  pratique,  l'autre  met  son  espoir  dans  les  «temps  positifs» 
qu'il  oppose  aux  «temps  negatifs»  da  scepticisme;  il  pose  l'eternel 
oui  en  reponse  a  Teternel  non  (cf.  Sartor  Resartus).  L'un  et 
l'autre  continuent  ainsi  la  tradition  de  Duus  Scot  et  de  Descartes, 
du  Primat  de  le  Volonte  sur  TEntendement:  «All  speculation  is 
by  nature  endless,  formless,  a  vortex  amid  vortices:  only  by  a 
feit  indubitable  certainty  of  Experience  does  it  find  any  centre 
to  revolve  round  and  so  fashion  itself  into  a  System.» 

C'est  d'ailleurs  par  cette  predomiuance  de  la  Volonte,  plus 
marquee  encore  chez  Carlyle  que  chez  Kant,  que  le  premier  se  rap- 
prochera  davantage  de  Fichte. 

Mais  les  differences  restent  profondes  et  sont  contenues  toutes 
en  Celle -ci  que  Kant  est  un  theoricien,  Carlyle  un  praticien. 
Celui-ci  n'eüt  pas  voulu  etre  l'autre,  il  ne  se  füt  pas  contente  de 
poser  une  „Erkenntnisstheorie",  il  voulait  par  ses  livres  donner 
aux  hommes  ce  qu'il  estimait  plus  important,  un  «Lebensführer». 
II  n'etait  pas,  comme  Kant,  de  ceux  qui  cultivent  la  philosophie  a 
cote  de  la  vie,  pour  lui  sa  philosophie  ce  fut  sa  vie  —  en  cela 
encore  pareil  ä  Fichte.  Et  cela  suffit  a  nous  faire  comprendre  qu'il 
echappe  a  tous  les  systemes  et  que  tout  effort  pour  le  rattacher 
a  Tun  d'eux,  doive  rester  vain. 

En  effet,  ce  n'est  pas  un  philosophe  de  profession,  il  n'a  pas 
de  Position  precise  vis-a-vis  des  diverses  ecoles.  S'il  est  legitime 
de  le  considerer  comme  un  idealiste,  encore  faut-il  prendre  garde 
que  l'idealisme  transceudental  de  Kant  s'equilibrait  par  un  realisme 
empirique  et  reconciliait  l'antagonisme  de  Tempirisme  et  du  ratio- 
nalisme.  Par  cette  philosophie  du  juste  milieu,  du  bon  sens, 
Kant    pourrait    sembler    plus    ecossais    que  Carlyle  —  mais    nous 

'■")  Sartor  Resartus,  p.  139. 
6)  Id. 


38  Camille  Bos, 

verrons  que  c'est  ä  charge   de  revanche   et   que  le  mysticisme  de 
Carlyle  le  fait  plus  allemand  que  Kaut. 

Pour  Carlyle  qui  ne  songe  pas  a  intervenir  dans  la  dispute 
des  systemes,  Tidealisme  c'est  simplement  l'esprit  oppose  a  la 
matiere.  En  uu  mot  il  y  a  trois  termes  pour  Kaut  et  son 
idealisme  s'interpose  eiitre  les  deux  combattants;  pour  Carlyle  il 
n'y  a  que  deux  termes,   l'idealisme   qui  s'oppose  au  materialisme. 

Meme  difference  dans  les  Morales:  la  celebre  formule  Kantienne 
est  toute  formelle,  ainsi  qu'il  convient  a  un  theoricien.  Peu  Im- 
porte a  Carlyle  les  maximes,  il  n'est  soucieux  que  de  pratique  et 
a  ceux  qui  cherchent  dans  les  nuages  une  Regle,  il  donne  celle-ci: 
«Accomplissez  d'abord  le  devoir  le  plus  proclie,  si  petit  soit-il, 
celui-lä  rempli  vous  en  verrez  aussitot  surgir  un  autre»  ^). 

De  cette  diÜerence  de  position  entr'eux  s'ensuit  une  autre: 
c'est  que  Carlyle  fait  une  place  ä  ce  qui,  dans  la  vie  reelle,  en 
occupe  une  importante,  au  «Gemüth»,  a  I'amour  —  et  c'est  par 
la  encore  qu'il  rejoindra  Fichte  et  les  Mystiques,  c'est  en  cela  qu'il 
sera  plus  allemand  que  Kant  lui-meme. 

Le  chapitre  intitule  «Romance»  (cf.  Sartor)  coutient  des  ligues 
admirables  sur  I'amour,  celles-ci  entr'autres  dont  on  cherclierait 
vainement  l'equivalent  chez  Kant: 

«Lorsque  dix  hommes  sont  unis  par  I'amour,  ils  sont  capables 
de  faire  des  choses  oü  dix  mille  hommes,  pris  isolemeut,  eussent 
echoue.» 

C'est  pour  avoir  compris  cela,  pour  avoir  senti  le  couraut  de 
chaude  Sympathie  qui,  a  travers  l'humanite,  relie  les  hommes  les 
uns  aux  autres,  que  Carlyle  s'est  trouve  amene  ä  traiter  elo- 
quemment  des  questions  sociales,  a  deplorer  que  le  temps  füt 
passe  (cf.  Passe  et  Present)  oü  l'esclave  Gurth  etait  attache  a  sou 
maitre  Cedric  par  un  lien  autre  que  Targent.  Avec  Carlyle  la 
personnalite  vivante  et  harmonieuse  revendique  ses  droits. 

II. 

Deja  par  cette  place  rendue  au  sentimeut,  au  Gemüth,  ä 
quelque  chose  de  tout  allemand,  Carlyle  se  rapproche  de  Fichte. 

')  cf.  Sartor  Resartus  (reternel  oui). 


Le  Kantisme  de  Carlyle.  39 

II  le  connait  mieux  qu'il  ne  connait  Kant,  les  passages  oü  il 
le  mentionne  sont  tres  nombreux,  les  points  de  coutact  entr'eux 
multiples.  Dans  l'essai  si  remarquable  sur  Novalis,  Caiiyle  nous 
parle  de  l'influence  qu'eut  sur  ce  dernier  la  «Wissenschaftslehre», 
qui  semble  avoir  ete  la  base  de  toutes  ses  speculations  philo- 
sophiques  posterieures.»  —  Je  crois,  malgre  M""  Hensel,  que  cela 
peut  s'appliquer  aussi  a  l'Essayiste  et  en  tous  cas  il  est  de 
ceux  qui,  comrae  Richter,  «ont  du  moins  le  merite  d'avoir  compris 
Fichte». 

Le  rapprochement  s'impose  uon  seulement  sur  quantite  de 
points  de  detail  (voir,  par  exemple,  l'allusion  a  Topposition  dans 
le  Mol  infini  du  moi  lini  au  non  —  moi  fini*);  et  dans  Sartor,  le  Moi 
qui  se  veut  et  se  pose  libre),  —  mais  le  livre  tout  entier  de  Sartor 
Resartus  procede  directement  de  1'« Anweisung  zum  Seligen  Leben.» 
De  meme,  les  grandes  idees  sociales  se  retrouvent  presque  identiques 
chez  Fichte  et  chez  Carlyle,  depuis  la  conception  de  la  liberte  (li- 
mitation  des  volontes,  on  ne  saurait  etre  libre  seul)  —  Fapologie 
des  forts,  des  Heros  «Macht  ist  Recht»  —  jusqu'a  cette  idee 
directrice  que  la  Reforme  du  corps  social  doit  etre  une  reforme 
individuelle,  l'effort  vers  l'amelioration  du  Moi. 

Bien  plus  nettement  donc  que  chez  Kant,  nous  sommes  par- 
tout, chez  Carlyle,  en  presence  d'une  philosophie  de  la  Volonte. 
Et  la  deviation  qu'il  fait  subir  au  Kantisme,  dans  la  direction 
idealiste,  rapproche  encore  Carlyle  de  Fichte:  l'opposition  entre 
l'entendement  (Verstand)  et  la  Raison  (Vernunft)  correspondra 
chez  Carlyle  a  celle  entre  les  «temps  croyants»  et  les  «temps 
incroyants»,  notre  äge  d'incredulite  que  iletrit  si  äprement  Carlyle, 
c'est  ce  que  Fichte  appelle  une  epoque  de  rebellion  de  Fentende- 
ment  contre  la  Raison^).  C'est  la  periode  de  «vollendete  Sünd- 
haftigkeit.» 

Et  Carlyle  etait  mieux  qu'un  autre  capable  de  comprendre 
Fichte,    car  il  etait,    lui  aussi,  «de  ceux  qui  ne  trouvent  pas  que 


^)  Essay  on  Novalis,  p.  205. 

^)  Carlyle  se  rapproche  en  cela   de  Jacobi,  pour  qui  la  Raison  opposee 


ä  l'Entendement,  c'est  le  Sentiment,  la  Foi. 


40  CamilleBos, 

la  methode  syllogistique  «soit  le  meilleur  instrument  pour  parvenir 
ä  la  verite»  "). 

Carlyle,  en  efFet,  cet  apotre  de  la  vie  pratique,  a  sa  place 
marquee  parmi  les  grauds  mystiques,  daus  cette  lignee  qui  va  de 
Maitre  Eckardt  a  ce  Novalis  qu'il  a  si  merveilleusement  etudie, 
en  passaut  par  Jacob  Böhme,  auquel  le  dernier  se  rattache 
directement. 

Carlyle  a  ecrit,  sur  le  Mysticisme,  des  lignes  etonuantes  (cf.  Essais 
sur  Novalis,  sur  la  litterature  allemande).  «II  y  a,  dit-il,  daus 
l'esprit  allemand  uue  tendauce  au  mysticisme,  mais  eile  existe 
aussi  dans  tous  les  esprits  de  meme  famille,  eile  est  inseparable, 
d'ailleurs,  de  l'excelleuce  que  nous  admirous  en  eux.» 

C'est  par  ce  mysticisme,  nous  l'avons  dit,  que  Carlyle  se 
rattache  a  Fichte  plutot  qu'a  Kant  —  et  c'est  par  la  qu'il  est 
plus  allemand  que  celui-ci,  car  le  mysticisme  lui  est  si  naturel 
qu'il  ne  le  remarque  pas  chez  les  autres !  Non  seulement  il  declare 
que,  parmi  les  philosophes  du  XVIIl«  siecle,  nul  moins  que  Kant 
ne  merite  l'epithete  de  mystique,  mais  il  trouve  que  Fichte  et 
Schelliug  «sont  des  hommes  d'un  jugement  froid»^')! 

«Ce  qui  est  surtout  etonnant  c'est  qu'on  puisse  parier  du 
mysticisme  de  Fichte,  cet  esprit  froid,  adamantin,  se  dressant 
pareil  a  un  Caton  l'Ancien  parmi  des  hommes  degeneres.  ...  Cet 
homme  qui  eut  pu  enseigner  dans  la  Stoa  et  discourir  de  la  vertu 
dans  les  bosquets  de  l'Academie!» 

Que  Carlyle  se  rattache  a  Fichte  plus  etroitement  qu'a  Kant, 
cela  ne  doit  pas  nous  surprendre  si  nous  songeons  que  notre 
auteur  est  un  litterateur  et  si  nous  nous  rappelons  Finfluence 
immense  de  Fichte  sur  les  Romantiques'-).  Car,  selon  Fichte, 
«une  Idee  divine  penetre  l'ünivers  visible,  la  saisir  est  le  but  de 
tout  effort  spirituel  et  les  littörateurs  sont  les  interpretes  designes  de 
cette  Idee  divine»").  Carlyle,  comme  ses  confreres  allemands,  ces 
mystiques  au  nombre  desquels  on  est  toujours  tente  de  le  compter, 


10)  Essay  ou  Novalis,  p.  200. 

•1)  Essay  on  the  State  of  German  Literature,  p.  65. 

>2)  cf.  Haym,  _Die  romantische  Schule". 

13)  „Ueber  das  Wesen  des  Gelehrten". 


Le  Kantisme  de  Carlyle.  41 

a  medite  les  legous  de  Fichte  et  le  breviaire  de  son  metier  de 
litterateur,  c'est  le  recueil  des  Conferences  du  philosophe:  «Ueber 
das  Wesen  des  Gelehrten». 

Carlyle  dans  ses  rapports  avec  le  Kantisme  est  donc  reste 
avant  tout  litterateur:  comme  tel  il  avait  le  droit  de  ue  pas 
conuaitre  le  Systeme  ä  fond  et  de  se  rattacher  plus  directement  a 
Fichte  qu'ä  Kaut  lui-meme. 

Quant  a  son  pretendu  Kantisme,  nous  avons  vu  quelles  con- 
ditions  pouvaient  expliquer  a  priori  l'analogie  des  pensees  et  la 
commune  direction  des  deux  philosophies.  Elles  n'en  restent  pas 
moins  aussi  opposees  que  les  deux  personnes  de  Carlyle,  le  «Pascal 
Allemand»  ainsi  qu'il  a  lui-meme  appele  Novalis,  —  et  de  Kant 
—  qu'on  a  souvent  rapproche  de  Socrate.  Ce  qui  a  agi  sur  le 
temperament  tres  predispose  de  Carlyle,  c'est  l'äme  allemande, 
c'est  l'atmosphere  de  la  litterature  allemande,  de  la  jeune  ecole 
romantique.  Rappeions  -  nous  le  mot  de  Goethe:  «Carlyle  est 
presque  plus  chez  lui  que  nous-memes  dans  notre  litterature.» 

Mais  le  grand  merite  de  Carlyle  est  d'avoir  parfaitement  vu 
que  le  «Criticisme  etait  le  plus  important  evenement  intellectuel  du 
siecle;  qu'aucun  ecrivain,  qu'il  l'ait  connu  ou  non,  n' avait  echappe 
ä  son  influence  aunoblissante  et  que  des  hommes  comme  Goethe  et 
Schiller,  dont  l'empreinte  resterait  decisive  sur  la  litterature  alle- 
mande, devaient  d'avoir  ete  tels  a  la  philosophie  Kantienne»  '*). 


^*}  State  of  Germ  an  Literature,  Essays  I. 


III. 

Scliolastic  and  Mediaeval  Philosophy 

Dr.  Jaiues  liiudsay  in  Kilmarnock  (Schottland). 

The  threefold  cord  of  speculation  which  runs  througli  thc 
Scholastic  Age  is  of  far  deeper  Import  and  more  lasting  iuterest 
than  philosophical  students  have  generally  understood,  and  may 
therefore  bear  some  consideration.  Some  explanation  —  if  not 
justification  —  for  this  fact  is  to  be  found  in  the  scant  attention 
accorded  to  scholastic  philosophy  in  earlier  manuals  or  histories 
of  philosophy.  This  defect  is  gradually  becoming  reraedied,  so 
that  now,  as  not  for  two  centuries  at  least,  is  realised  the  im- 
portance  of  studyiug  the  scholastic  philosophy,  with  its  abidiug 
effects  for  good  and  for  evil.  The  modern  contempt  for  scholasti- 
cism  has  been  an  aft'ectation  inherited  from  the  Renai.ssance.  The 
philosophy  of  scholasticism  should  be  understood  as  really  not  the 
same  thing  as  mediaeval  philosophy.  The  ruling  mind  for  med- 
iaeval philosophy  is  Augustine,  whose  Christian  philosophy  catches 
up  the  seeds  of  thought  sown  by  Origen  and  Plotinus.  The  new 
liue  of  development  Struck  by  Augustine  started  from  bis  stress 
on  the  principle  of  inwardness  or  inner  experience  —  the  Inner- 
lichkeit of  the  Germans.  The  determinative  thing  for  mediaeval 
philosophy  was  the  welcome  it  accorded  to  Aristotelianism,  whose 
dialectics  were  its  life-blood.     Scholastic  philosophy  may  be  taken 


Scholastic  and  Mediaeval  Philosophy.  43 

to  ceDtre  in  Anselm,  Aquinas,  and  Duns  Scotus,  while  mediaeval 
thought  was  so  wide  in  ränge  as  to  include  even  such  forms  of 
anti-schotastic  teaching  as  were  distinctly  pantheistic.  Mediaeval 
philosophy  comprehended  not  only  scholasticism,  but  also  Neo- 
Platonic  tendencies  exemplified  in  mysticism,  and  comprised  much 
more  besides.  Scholasticism  is  no  more  than  one,  and  that  per- 
haps  the  strengest,  of  the  philosophical  schools  of  the  mediaeval 
period.  Scholasticism  is  the  doctrine  of  the  church  scientifically 
apprehended  and  set  forth.  But  scholasticism,  as  generally  under- 
stood,  is  less  a  system  than  a  chaotic  Compound  of  all  the  Systems 
—  a  Compound  marked  by  a  preference  for  judgments  over  facts, 
and  for  authority  before  free  reason.  Necessarily  deductive  was 
its  method:  from  dogmatic  premises  it  loved  to  forge  its  endless 
train  of  syllogisms:  under  these  arid  and  angular  syllogistic  forms, 
however,  reason  managed  to  insinuate  itself.  The  scholastic  move- 
ment sprang  from  the  fact  that  faith,  willing  to  justify  itself  at 
the  bar  of  reason,  exemplified  the  Anselmic  saying  "Fides 
quaerens  intellectum",  and  sought  to  present  its  doctrines  free 
of  absurdity.  The  distinctiveness  of  scholasticism  lay  hid  in  its 
Union  of  philosophy  and  theology:  to  it,  theology  went  before 
philosophy  —  "fides  praecedens  intellectum":  philosophy 
followed  in  the  steps  of  theology,  and  justified  it  to  men.  But 
scholasticism,  even  in  its  early  developments,  was  stoutly  op- 
posed  by  Abelard,  who  claimed  self-evident  validity  for  the  funda- 
mental Position  that  rational  insight  must  prepare  the  way  for 
faith,  since  faith  cannot  otherwise  be  sure  of  its  truth.  Of  course, 
Anselm  —  the  real  founder  of  scholasticism  —  insisted  that  the 
mind  of  man  should  develop  itself  after  the  manner  and  spirit  of 
science,  spite  of  the  fact  that  certitude  came  by  another  mode, 
that,  namely,  of  faith.  But  the  aim  of  Anselm,  Walking  in  the 
Steps  of  Augustine,  was  quite  other  than  that  of  Abelard,  for  while 
Anselm  aimed  only  to  make  the  truths  held  by  faith  comprehen- 
sible  to  the  intellect,  Abelard  started  with  thought  or  reason  as 
the  norm  and  test  of  truth,  so  proceeding  in  what  woukl  be  ac- 
counted  a  more  rationalistic  fashion.  In  the  schools  it  became 
the  business  of  reason  to  vindicate  theology  as  science.     The  dog- 


44  James  Lindsay, 

mata    of   positive    religion    were   to  Anselm  matters  of  uecessary 
deduction. 

The  Realist  and  Nominalist  Coutroversy  which  sprang  up  in 
the  Scholastic  Age  soou  ceased  to  be  one  of  merely  logical  iraport. 
The  discussion  was  one  in  which  mediaeval  Europe  was  torn: 
rival  theologies  were  fiercely  pitted  against  each  other:  and  kings 
and  emperors  were  ranged  in  hostile  camps.  The  Nominalist 
overthrow  of  universals  seemed  to  leave  an  open  door  for  rank 
materialism,  wherein  the  universal  deity  and  the  universal  prin- 
ciples  of  morality  should  no  more  be  found.  The  Realist  con- 
tention  for  the  reality  of  universals  —  reality  being  taken  as  one 
and  the  same  —  tended,  on  the  other  band,  to  favour  pantheism, 
especially  in  the  scientific  direction,  which  Abelard  was  not  slow 
to  poiut  out.  There  was,  besides,  the  negative  transcendentalism 
or  mystic  agnosticism  of  Dionysius,  whose  pautheistic  and  posi- 
tivist tendencies  were  by  no  means  unlit  by  faith  and  aspiration. 
The  dominant  thought  of  the  time  took  substances  to  be  more 
real,  the  more  universal  they  were.  Now  the  interest  of  that 
controversial  time  abides  for  the  reasou  that  the  problem  was  both 
real  and  far-reaching  in  its  issues.  Inquiries  of  our  owu  time  like 
that  of  the  origin  of  species  are  but  new  phases  of  the  problem 
as  to  universals  a  parte  rei,  and  these  inquiries  are  found  in 
fields  of  philology  as  well  as  in  those  of  physical  science.  It  was 
Abelard  who  iusisted  that  universals  can  neither  be  things,  on 
the  one  band,  uor  words  on  the  other,  and  who,  with  his  stress 
on  conceptual  thought,  gathered  up  into  himself  the  differeut 
Strands  of  thought  in  the  time.  It  is  with  the  nature  of  these 
universals  in  the  mind  that  we  are  philosophically  concerned. 
We  still  want  to  know  whether,  in  its  geueral  reasonings,  it  is 
thing  or  idea  or  name  which  is  present  to  the  raind.  We  know 
how  wisely  Hobbes —  by  Leibnitz  styled  plus  quam  nominalis 
—  has  written  on  the  subject,  and  how  much  more  acutely  Locke 
wrote  than  his  eritics  have  always  understood.  Words,  no  doubt, 
have  a  purely  symbolic  meaning  for  us,  but  they  must  bear  a 
signification  and  represent  an  idea.  But  both  idea  and  name 
must  be  brought  into  accord  with  things — things  as  they  really  are. 


Scholastic  and  Mediaeval  Philosophy.  45 

It  is  the  name  whicli  holds  together  the  resemblances  between 
particular  things.  Thus  all  the  elements  are  necessary,  eacli  in 
its  place.  It  was  easy,  before  the  Conceptualist  position  was 
reached,  for  Realist  and  Nominalist  to  demolish  each  other's  position, 
just  as  it  is  still  easy  for  the  Idealist  and  the  Materialist  each  to 
destroy  the  other's  ground,  without  suspecting  the  while  that  a 
position  may  be  assumed  which  not  only  preserves  what  is  true 
in  each,  but  also  retains  in  a  true  form  what  they  each  deny. 
Universals  as  entities  were  to  Aquinas  fictitious,  for  to  him,  after 
Aristotle,  iudividuals  alone  exist.  Yet  he  did  not  hold  to  the 
Nominalist  contention,  that  universals  are  mere  names,  represent- 
ing  no  ideas  in  the  mind  or  in  things  exterior  to  it.  For 
ideas  were  to  him  archetypal  of  things  created,  and  so  were  eter- 
nally  existent  in  the  divine  mind.  General  terms,  too,  had  for 
him  a  certaiu  real  existence.  It  is  in  Roscellinus  that  the  in- 
dividualism  is  boldly  taken  which  sees  the  truly  real  only  in  the 
individual  thiug.  The  whole  tendency  of  scholasticism  was  towards 
exhaustion  in  an  arid  Nominalism.  What  vital  energy  the  later 
Nominalism  had,  went  towards  the  fostering  of  natural  science. 
Even  the  relation  of  God  to  morality  came,  in  the  Scholastic  Age, 
to  be  involved  in  the  controversy.  The  real  problem  about  which 
Thomists  and  Scotists  were  at  variance  was  the  nature  of  God. 
In  the  divine  nature,  will  had  a  primary  place  with  the  Scotists. 
Will  was  not  determined  by  intellect,  but  determined  itself.  To 
the  Thomists,  will  and  reason  are  so  united  in  God  as  to  be  in- 
capable  of  disharmony,  reason  supplying  the  guiding  light  of  will. 
So  to  the  Scotists  the  moral  law  is  grounded  in  the  will  of  God, 
and  is  upheld,  but  not  as  uncertainly,  by  His  fiat,  arbitrary  as 
this  may  appear.  It  is  to  them  good  just  because  God  has  willed 
and  enjoined  it.  Not  reason,  but  groundless  will,  thus  determines 
the  good.  The  Thomists,  on  the  other  hand,  clear  the  moral  law 
of  this  sort  of  contingency,  and  ground  it  so  necessarily  in  the 
nature  of  deity  that  it  is  quite  impossible  to  conceive  its  being 
other  than  it  is.  What  God  commauds  He  commands,  with 
Thomas,  because  it  is  good,  and  seen  by  Him  to  be  so.  Not  that 
either  Aquinas   or  Scotus  regarded    universals  from  a   Nominalist 


46  James  Lindsay, 

point  of  view,  that  distinctiou  —  such  as  it  was  —  being  re- 
served  for  "William  Ockam.  Both  Thomas  and  Duns  Scotus  held, 
each  in  his  own  way,  to  the  doctrine  of  intelligible  species, 
by  which  a  copy  of  the  object  was  supposed,  in  the  process  of 
knowledge,  to  arise  and  be  seen  by  the  soul.  But  the  powerful 
Personality  of  Ockam,  wittiest  of  the  schoolmen  according  to  Hooker, 
swept  aside  the  theory  of  intelligible  species  as  a  needless  doubliug 
of  the  subject,  the  supposed  copy  in  the  mind  being.  in  his  view, 
no  more  than  that  sign  for  it  which  is  found  in  our  idea  of  it. 
Ockam,  in  fact,  scattered  seeds  that  should  afterwards  rise  in  an 
idealism,  both  epistemological  and  psychological.  Ockam  it  was 
who  set  forth  the  Opposition  between  dogma  and  reason  so  that, 
with  him,  an  irreparable  breach  took  place  between  philosophy  and 
theologJ^  Scholasticism  may  then  be  said  to  have  played  its 
part,  and  made  an  end  of  itself.  It  only  remained  for  Dante,  as 
poet  of  Thomism,  to  sing  the  swan-song  of  scholasticism.  There 
can  be  no  doubt  that  Duns  Scotus,  doughty  champion  of  diviue 
and  human  freedom  and  precursor  of  modern  scepticism,  is  the 
greatest  name  as  thinker  in  mediaeval  philosophy,  with  a  truly 
Scottish  repugnance  to  the  servility  of  Aquinas  before  Aristotle. 
Yet  it  is  the  merit  of  Acjuinas  to  have  been  far  more  coherent, 
systematic,  and  logically  consistent  than  Augustine  or  Anselm,  and 
his  ethical  doctrine  touching  the  will  is  much  more  developed 
than  that  of  Aristotle.  ^Ve  can  hardly  choose  but  lean  to  the 
side  of  Aquinas,  in  the  view  he  took  of  the  divine  nature  and 
moral  law,  since  to  us  God  is  the  absolute  reason,  and  morality 
an  embodiment  of  that  reason.  To  ground  moral  law,  as  does 
Ockam,  arbitrarily  in  the  enactment  of  God's  will,  so  that  even  if 
what  is  right  had  been  wrong,  and  what  is  wrong  had  been  right, 
it  would  have  been  our  duty  to  ober,  because  it  was  commanded 
—  is  utterly  to  fail  of  perceiving  how  the  necessary  and  universal 
truths  of  reason  are  grounded  in  God  and  His  absolute  reason.  In 
Him  law  is  eternal  as  the  absolute  reason.  His  command  is  in 
virtue  of  eternal  law.  His  —  the  divine  —  reason  is  over  all 
His  works.  From  the  days  of  Origen  to  our  own,  the  difficulty 
has  just  been  to  get  thought  to  allow  that  larger  say  to  reason  in 


Scholastic  and  Mediaeval  Philosophy.  47 

the  things  of  faith  wliich  becomes  it  as  that  on  which  universal 
and  uecessary  truths  and  principles  depend.  Scholasticism  made 
the  effort  to  reconcile  faith  and  knowledge,  and  assumed  at  leugth 
the  form  of  thinking  that  the  faith  of  the  church  is  absolute 
truth.  Scholasticism  succeeded  in  transceuding  Aristotelian  dualism 
by  its  complete  Subordination  of  all  other  beings  to  God.  It  over- 
passed  Aristotelian  inquiry  as  to  how  God  is  ultimate  cause  of  the 
World  by  declaring  the  glory  of  God  to  be  the  end  of  the  world 
process. 

Scotus  Erigena  held  true  religion  for  true  philosophy,  and  true 
philosophy  for  true  religion,  and,  starting  from  the  primary  unity 
of  all  things,  he  straightway  unfolded  a  system  that  made  for 
majestic  pantheism.  ünder  all  phenomeua  and  all  diversities,  the 
one  real  thing  for  him  is  God,  Whose  iutelligence  embraces  all 
things.  God  is  thus  the  most  universal  being  in  a  way  that  ac- 
cords  well  with  his  retention  of  the  Neo-Platonic  idealism.  In 
Scotus  Erigena  we  find  remarkable  anticipations  of  the  Schellingian 
doctrine  of  potence.  In  Scotus  Erigena,  too,  we  have  a  precursor 
of  Spinoza  and  Hegel,  as  Ockam  is  a  forerunner  of  Luther  and 
Melanchthon.  No  legacy  of  mediaeval  realism  is  more  character- 
istic  than  the  Anselmic  mode  of  putting  the  Ontological  argument 
for  the  Being  of  God — far  more  capable  of  forceful  presentation  than 
Anselm  himself  kuew.  Its  form  in  the  "Proslogion"  of  Anselm 
was  that  of  presenting  the  idea  of  God  in  the  human  mind  as 
necessarily  involving  the  reality  of  that  idea.  God  is,  in  the  An- 
selmic presentation,  "That  than  which  nothing  greater  cau  be 
thought",  and  Anselm  is  able  on  occasion  to  insist  that  to  nothing 
eise  can  the  structure  of  his  reasoning  be  applied.  The  capabili- 
ties  of  the  argument  have  been  well  made  manifest  in  the  onto- 
logical speculations  of,  and  since,  Hegel.  The  importauce  of 
setting  forth  the  couceptiou  of  an  absolute  being  as  a  necessity  of 
thought  —  of  shewing  that  such  a  beiug  as  he  pre-supposed  must 
be  thought  —  was  not  realised  by  Anselm.  He  strangely  failed 
to  urge,  as  against  Gaunilo,  what  a  necessary  conception  is  that 
of  the  most  real  being,  and  how  free  that  conception  is  from  ar- 
bitrariness  and  contradictoriuess.     Imperfect  in  dialectical  adroitness 


48  James  Liüdsay,  Scholastic  and  Mediaeval  Philosophy. 

as  his  argument  might  be,  Anselm  yet  did  a  great  service 
to  thought  by  his  endeavour  to  give  truth  held  by  faith  a 
scientific  form. 

Mediaeval  philosophy  strangely  failed  to  see  the  unsatisfact- 
oriness  of  its  treatment  of  logic  as  something  purely  formal  aud 
dissociate  from  reality.  Hence  the  schoolmen  did  not  realise  that 
they  turned  the  Christian  dogmas  into  so  many  logical  puzzles. 
This  they  did,  despite  the  fact  that  they  meant  to  apply  reason 
to  the  data  of  revelation,  and  to  find  out  necessarv  truth.  of 
which  God  should  be  to  them  basis.  The  discredit,  into  which 
their  System  feil,  sprang  out  of  this  divorce  from  reality  and  ex- 
perience,  into  which  the  verbal  subtleties  of  the  system  betrayed 
them.  The  thought  of  Europe  speedily  left  behind  thinkers  like 
Suarez  and  others,  who  in  modified  ways  vainly  clung  to  the  old 
methods  and  principles.  For  all  that,  we  hold  to  the  view  that 
the  modern  contempt  of  scholasticism  is  exceedingly  misplaced. 
Dogmatic  in  character,  no  doubt,  the  thought  of  that  epoch  was, 
but  not  without  fruitful  issues  for  dialectical  thought,  for  theo- 
logical  formulation,  and  for  ethical  teaching  and  pronouncement. 
To  it  we  may  well  apply  those  words  of  Dante  that  speak  of 
magnificences  yet  to  be  known,  so  that  the  foes  thereof  shall  not 
be  able  to  keep  silent: 

„Le  sue  magnificeuze  conosciute 
Saranno  ancora  si,  che  i  suoi  uimici 
Non  ne  potran  teuer  le  lingue  mute." 


IV. 

La  IV  ™^  figure  du  syllogisme. 

Par 
E.  Tliouverez  h  Toulouse. 


„Elle  est  plus  6\o\gn6e  d'un 
degiv  qiie  la  secoude  et  la 
troisieme  qui  sout  de  uiveau 
et   egalement   eloiguees    de    la 


premiöre.' 


Leibniz,  (Gerh. ;  V,  346) 
I. 

L'interpretation  que  Monsieur  Lachelier  a  donnee  ^)  des  figures 
du  syllogisme,  marqiie  le  progres  le  plus  considerable  que  les 
etudes  de  logique  formelle  aient  accompli  depuis  Aristote  dans  le 
sens  metaphysique.  Cette  Interpretation  attribue  a  chaque  figure 
distincte  du  syllogisme  une  origine  distincte  et  rationnelle.  Elle 
repond  donc  k  la  fois  a  cette  question  particuliere:  «  comment 
les  figures  syllogistiques  sont-elles  fondees  en  droit?  »  et  a  cette 
autre  question,  d'ordre  plus  genöral:  «  comment  l'etude  des  forraes 
techniques  du  raisonnement  interesse-t-elle  la  science  pure  de  la 
raison,  ou  metaphysique?  »  Ainsi  sont  justifiees  a  la  fois  la  theorie 
classique  du  syllogisme  et  la  place  que  cette  theorie  occupe  dans 
les  cadres  ordinaires  de  la  philosophie;  les  scheraes  logiques  ex- 
primeut  les  lois  de  la  pensee;  chaqne  figure  du  syllogisme  est  un 
point  de  vue  qui  se  decouvre  sur  la  coutexture  rationnelle  des 
choses. 


^)  J.  Lachelier:  Etiide  sur  la  Theorie  du  Syllogisme;   Rev.  Phil.;    1876, 
1.  I,  p.  468  sqq. 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     XV,  1.  4 


50  E.  Tbouverez, 

Or,  cette  theorie  de  ^I.  Lachelier  a  pour  consequence  de 
ramencr  definitivement  le  nombre  des  figures  au  chiffre  des  trois 
primitives  qui  sont  Celles  d'Aristote,  et  de  confirmer  une  fois  de 
plus  la  coudamnation  portee  par  les  logiciens  de  l'ecole  contre  la 
lyine  fjgui-e  du  syllogisme,  consideree  comme  une  superfetation 
vicieuse,  analogue  ä  quelque  fausse  fenotre,  ajoutee  par  raison  de 
symetrie  et  de  mauvais  goüt.  C'est  la  valeur  et  la  portee  de  cette 
condamnatiou  absolue  que  nous  nous  proposons  d'examiner,  de 
modilier  s'il  y  a  lieu,  et  nous  devons  dire  immediatement  dans 
quel  sens. 

Profondement  convaincu  de  l'excellence  du  point  de  vue 
metaphysique  qui  domine  dans  la  uouvelle  Interpretation  du 
.syllogisme,  uotre  Intention  n'est  pas  de  nous  servir  des  modes  de 
la  IV'"''  figure  pour  tirer  parti,  contre  cette  interpretation  generale, 
du  fait  que  ces  modes  n'y  paraissent  pas  justifies;  nous  desirons 
au  contraire  los  faire  participer  ä  leur  tour  des  bienfaits  d'une 
teile  theorie,  et  c'est  parce  que  cette  theorie  en  elle-meme  nous 
parait  eminemment  seduisante  et  feconde,  que  nous  serious  etoune 
si  sa  fecondite  et  son  excellence  aboutissaient  en  derniere  analyse 
a  une  exception  et  a  un  ochec.  meme  partiel,  que  la  tradition 
justifie  plutot,  nous  semble-t-il,  que  la  raison.  —  D'autre  part 
nous  ne  nions  pas  les  differences  de  valeur  qui  subsistent  entre 
les  diflerentes  formes  syllogistiques;  et  M.  Lachelier  lui-meme,  qui 
a  si  bien  demontre  contre  Kant  l'autonomie  des  figures  d'Aristote, 
ne  nierait  pas  que  ces  figures  sont  cependant  inegales  entre  elles, 
comme  simplicite,  comme  clarte,  comme  fecondite.  Toutes  ne 
concluent  pas  l'universel  et  toutes  ne  concluent  pas  affirmativement. 
La  Contraposition  est  un  usage  indirect  de  l'universalite  de  la  loi, 
dout  la  subalternation  est  un  usage  direct;  les  deux  premieres 
figures  sont  fondees  sur  un  principe  immediatement  producteur  de 
connaissance  nouvelle:  la  III'"*^  figure  reussit  par  une  sorte  d'arti- 
fice,  qui  permet  de  prendre  accidentellement  un  attribut  du  sujet 
pour  succedane  du  sujet.  Si  donc  la  I'**  figure  Temperte  sur  les 
deux  suivantes,  et  que  celles-ci  gardent  malgre  cela  leur  autonomie 
et  leur  significatiou  propre,  il  est  possible  que  la  IV^*^^  figure  a 
son    tour    apparaisse    comme    iuferieure     aux    autres    a    certains 


La  lYme  iigure  du  syllogisme.  51 

points  de  vue,  sans  qii'on  ait  pour  cela  le  droit  de  l'absorber  com- 
pU'tement  dans  les  precedentes  et  de  nier  sa  part  d'autonomie. 
Enfin,  s'il  existe  ainsi  une  hierarchie  des  flgures,  c'est  saus  doute 
qu'il  existe,  a  cote  de  l'elemeDt  purement  metaphysique  et  formel 
de  la  qualite,  iin  autre  element,  d'ordre  inferieur,  la  quantite, 
qui  intervient  ä  son  tour  dans  le  syllogisme,  et  dont  il  faut  tenir 
compte  dans  l'explication  synthetique  des  figures,  La  logique  a 
peut-etre  pour  probleme  special  de  montrer  dans  quelle  proportion 
se  combiuent  ces  deux  Clements,  mathematique  et  metaphysique, 
et  l'etude  de  la  IV""'  figure  du  syllogisme  peut  servir  d'experience 
cruciale  pour  mettre  en  relief  cette  indissoluble  Harmonie  de  la 
qualite  et  de  la  quantite  en  logique  formelle. 

IL 

La  theorie  generale  du  syllogisme,  teile  que  l'a  con^ue  Aristote, 
constitue  un  cercle  ferine,  d'oii  la  IV'^'^  figure  est  exclue.  II  u'y 
a  que  trois  figures  possibles  du  syllogisme  aristotelicien,  parce  que 
ce  raisonnement  consiste  a  mettre  en  relief  les  rapports  d'attri- 
bution  qui  existent  entre  deux  termes  au  moyen  d'un  troisieme; 
et  que  trois  cas  seulement  sont  possibles:  le  moyen  peut  etre 
sujet  d'un  extreme  et  attribut  de  l'autre,  ou  attribut  de  tous  deux, 
ou  sujet  de  tous  deux  *).  Ces  trois  figures  forment  un  tout  coherent, 
parce  que  les  deux  dernieres  se  ramenent  aux  modes  universels 
de  la  premiere,  et  les  modes  particuliers  de  la  premiere  aux  modes 
universels  ile  la  seconde;  toutes  ces  transformatious  s'operent  soit  par 
une  reduction  ä  l'absurde,  qui  est  elle-meme  un  syllogisme  de  la  T"*^ 
figure,  soit  par  une  conversion ^).  La  conversion  de  l'universelle 
affirmative  est  demontree  par  celle  de  l'universelle  negative,  et 
celle-ci  a  son  tour  par  une  sorte  d'ectliese,  qui  est  un  appel  a 
l'identite ').  Ainsi  les  trois  figures  du  syllogisme  forment  un  tout 
identique,  d'oü  la  IV™''  figure  est  exclue. 


2)  Arstt.:  An.  Pr.  I,  XXIII,  §8. 

3)  Arstt:  An.  Pr.  I,  VII,  §  6,  §  9;  —  I,  XXIII,  §  13. 

*)  Arstt.:  An.  Pr.  I,  II.  —  Cf.  cepeudant  Fonsegrive:  Theorie  du 
Syllogisme  Categorique  dans  Aristote  (Annales  de  la  Faculte  des 
Lettres  de  Bordeaux,   1881):  p.  398. 

4* 


52  E.  Thouverez, 

La  IV"'<^  figure  est  pourtant  connue  d'Aristote  et  designee 
par  lui:  ou  plutot,  les  modes  qui  la  constituent  sont  indiques 
dans  son  ouvrage  a  titre  de  modes  indirects  de  la  I'"'",  conformement 
a  la  doctrine  restee  classique.  Cette  indication  est  dounee  en 
deux  repi'ises  difterentes,  et  l'ou  voit  apparaitre  ainsi,  dans  la  theorie 
des  modes  indirects,  une  dualite  irreductible  qui  peut  etre  tournee 
en  objection.  Les  divers  modes  qui  constituent  la  IV'"''  figure  ne 
derivent  pas  tous  de  la   I'''  par  un  procede  homogene. 

C'est  d'abord,  dans  une  revue  generale  des  formes  syllogistiques, 
concluantes  et  non  concluantes,  qu'une  premiere  modification  est 
apportee  ä  la  doctrine  des  trois  figures.  Apres  avoir  examine  une 
a  une  toutes  les  formes  directes  du  syllogisme  dans  ces  trois 
figures,  pour  voir  lesquelles  sont  concluantes  et  lesquelles  ne  le 
sont  pas,  Aristote  observe  que  les  Solutions  auxquelles  il  est  arrive 
dans  cette  recherche  sont  definitives  et  sans  appel  en  ce  qui  con- 
cerne  les  syllogismes  a  deux  premisses  particulieres,  ou  ;i  deux 
premisses  negatives,  ou  a  deux  premisses  affirmatives;  mais  qu'une 
correction  est  possible  pour  les  syllogismes  qui  ont  une  premisse 
affirmative  et  une  premisse  negative  universelle;  parce  que,  la 
negation  universelle  se  convertissant  dans  ses  propres  termes,  le 
raisonnement  qui  ne  reussit  pas  du  grand  terme  au  petit  —  c'est- 
a-dire,  dans  la  forme  grecque,  en  prenant  le  grand  terme  pour 
attribut  du  petit  —  reussit  au  contraire  du  petit  terme  au  grand*). 

Si  nous  adoptons  d'abord,  sans  la  discuter,  cette  Observation 
d'Aristote,  sous  sa  forme  apparente  la  plus  generale,  nous  voyons 
qu'elle  s'applique  en  cffet  aux  trois  llgures  et  donne  naissance  ;i 
un  certain  nombre  de  modes  additionnels.  C"est  d'abord  dans  la 
I"'  figure,  qui  exige  une  mineure  aflirmative,  lorsque  cette  mineure 
est  precisemeut  l'univeiselle  negative,  la  majeure  etant  d'ailleurs 
affirmative  (soit  universelle,  seit  particuliere)  en  sorte  qu'elle  peut, 
apres  metathese,   jouer    le    röle    de  mineure    dans    cette   figure'^). 


i)  Arstt.:   All.  Pr.   I,   VII,  §§  1,  2,  3. 
c)  10  Tont  M  est  A|        rNul  B  n'est  M 

l^Quelque  A  n  est  pas  B 


Nul  B  n'est  M    =  |  Tout  M  est  A 


La  IVme  figure  du  syllogisme.  53 

C'est  daos  la  11"^*'  ligure,  qui  exige  une  majeure  universelle,  lors- 
que  la  negative  universelle  est  mineure,  et  qu'une  affirmative 
particuliere  est  majeure,  car  alors  l'universelle  negative  peut  devenir 
majeure  par  metathese').  C'est  enfin  daus  la  IIl""*^  figure,  qui 
exige  une  mineure  affirmative,  lorsque  cette  mineure  est  preci- 
sement  l'universelle  negative,  la  majeure  etant  d'ailleurs  affirmative, 
(soit  universelle,  seit  particuliere)  et  pouvant  par  metathese  devenir 
la  mineure  affirmative  dont  cette  figure  a  besoin*).  On  obtient 
aiusi  deux  modes  additionnels  pour  la  premiere  figure,  uu  pour 
la  seconde,  deux  pour  la  troisieme. 

Mais  les  choses  restent  obscures  et  doivent  etre  suivies  de 
plus  pres,  parce  qu'on  ne  voit  pas  de  prime  abord  pourquoi  la 
correction  d'Aristote  ue  convient  qu'aux  modes  a  universelle  nega- 
tive, et  parce  qu'on  peut  hesiter  sur  la  question  de  savoir  si  cette 
correction  s'applique,  dans  la  pensee  d'Aristote,  aux  trois  figures 
ou  a  la  premiere  seulement.  II  s'agit  de  syllogismes  qui  ne  concluent 
pas  par  eux-memes,  qui  ont  besoin  d'etre  corriges  pour  devenir 
concluants,  et  qui  peuvent  etre  corriges.  Or  un  syllogisme  peut 
ue  pas  conclure  soit  parce  qu'il  peche  contre  les  regles  gencrales 
des  modes.  soit  parce  qu'il  peclie  contre  les  regles  speciales  des 
figures.  Le  premier  cas  doit  etre  ecarte.  Lorsqu'un  syllogisme 
est  fait  de  deux  premisses  particulieres,  ou  de  deux  premisses 
negatives,  il  n'est,  dans  la  doctrine  classique,  susceptible  d'aucune 
correction   absolument;    aucune   con Version    ni    metathese  ue  peut 


2»  Quelque  M  est  A^        /Nul  B  n'est  M 
Nul  B  n'est  M         =|  Quelque  M  est  A 
-'        I-Quelque  A  n'est  pas  B 

')  Quelque  A  est  M-j        /-Xul  B  u'est  M 
Nul  B  u'est  M        =    Quelque  A  est  M 
J        l-Quelque  A  n'est  pas  B 

^)  1°  Tout  M  est  A  -v        ^Nul  M  n'est  B 
Nul  M  n'est  B  U=    Tout  M  est  A 

-'        1- Quelque  A  n'est  pas  B 

2«  Quelque  M  est  A-»        ^Nul  M  n'est  B 
Nul  M  n'est  B      !=    Quelque  M  est  A 
J        "-Quelque  A  n'est  pas  B 


54  E.  Thouverez, 

supprimer  la  double  negation  ou  double  particularite.     Restent  les 

regles  propres  a  cbacjue  ligure;   et  Ton  peut  donner  d'abord   ;\  la 

remarque  d'Aristote  uu  sens  genöral.    Les  regles  des  figurcs  cxigent 

que   teile  premisse  ait  teile  iiature   et  nou   pas  teile  autre;   or   il 

peut  arriver  que  les  deux  premisses  du  syllogisrae  soient  disposees 

au  rebours  de  cette  regle,  eu  sorte  qu'uue  simple  metathese  consti- 

tucrait    un   syllogisme    correct,    compose    des    premisses    qui    sont 

requises.    Cette  correctiou  s'appli(|ue  saus  difdculte  daus  les  iigures 

II  et  III,  parce  que,  le  moyeii  s'y  trouvant  deux  fois  attribut   ou 

deux  fois  sujet,  chaque  terrae  garde  les  memes  positious  apres  la 

metathese  qu'il  occupait  avant,   et  c'est  a  pcino  si  l'ou  peut  dire 

qu"il    y  ait    eu    la   un  syllogisme  iucorrect    de   corrige.     Lorsque, 

par    cxemple,    un    syllogisme    de     la    III"'''    figure    presente    une 

premisse  en  A  et  une  autre  en  0,   Taflirmative  est  nccessairemeut 

la  mineure;  la   forme   en  AO   est  purement  verbale  et  pour  ainsi 

dire  inexistante.     Au  contraire,  dans  la  I""''  ligure  oü  Ic  raoyen  est 

tour  a  tour  sujet   et  predicat,   la  metathese   le  deplace  et  il  faut, 

pour  retablir  les  choses  en   etat,    convertir  les   deux   propositions 

successives^);   or,  si  les  deux  premisses  etaient  affirmatives,   cette 

double  couversion  donnerait  deux  premisses  particulieres,  ou  bleu, 

si  l'une  des  premisses  etait  particuliere  negative,   eile  ne  pourrait 

pas  se  convertir,   et  par  consequent  le  fait  qu'Aristote  ecarte  ces 

deux  cas   pour    la  correction   qu'il   propose,    montre   que  dans  sa 

pensec  cette  correction  ne  s'applique  qu'a   la  I"^  ligure.    La  presence 

d'une  particuliere  negative  ne  generait   en  rien  la  metathese  dans 

les  deux  autrcs  Iigures;  quant  ;i  la  presence  de  deux  affirmatives, 

eile   est  inconciliable  avec   le  scheme  de  la  deuxieme,   et  rendrait 

toute  metathese  inutile  dans  la  troisiemc.     II  y   a  donc,  semble- 


^)  En  reprenant  les  exemples  de  la  uote  6,  pour  passer  du  scheine  PS 
au  scheine  SP: 

P    Nul  B  u'est  M  =  Nul  M  n'cst  B 
Tout  M  est  A  =  Quelque  A  est  M 
Quelque  A  n'est  pas  B  =  Quelque  A  n'est  pas  B 

2"   Nul  B  n'est  M  =  Nul  M  n'est  B 

Quelque  M  est  A  =  Quelque  A  est  M 

Quelque  A  n'est  pas  B  =  Quelque  A  n'est  pas  B 


La  IV'ue  figure  du  syllogistne.  55 

t-il,  trois  manieres  possibles  de  comprendre  et  d'etendre  la  correction 
d'Aristote;  dans  le  sens  le  plus  etroit,  qui  parait  etre  celui  de 
l'aiiteur,  eile  s'applique  exclusivement  a  la  premiere  figure;  dans 
uu  sens  plus  conforme  a  la  lettre,  mais  non  pas  a  Tesprit  du 
texte,  eile  s'ctend  aux  modes  des  trois  figures  a  premisse  nega- 
tive universelle;  dans  un  sens  tres  geueral  enfin,  eile  s'etendrait 
a  toutes  les  metatheses  possibles  dans  les  trois  figures. 

De  toute  fav'On,  la  IV™^  figure  des  modernes  ne  comprend, 
parmi  tous  ces  modes  indirects,  que  les  deux  premiers  d'entre 
eux,  Fapesmo  et  Frisesomorum"),  vises  dans  la  premiere  hypo- 
tliese,  et  nous  pouvons  noter  immediatement  une  siugularite  digne 
de  remarque.  Les  modes  indirects  de  la  I'"''  ligure,  obtenus  par 
metathese,  comme  ceux  qui  sont  calques  sur  le  meme  modele  dans 
les  figures  suivantes,  e'est-a-dire  tous  les  modes  dont  une  premisse 
est  negative  universelle,  donnent,  si  Ton  admet  la  quantification 
du  predicat,  une  conclusion  directe,  de  la  forme  «  nul  B  n'est 
quelque  A  ».  Par  conscquent  ces  modes  seraient  immediatement 
valables  dans  la  theorie  d"flamilton;  et  Ton  peut  prevoir  des 
maintenant  que  le  sort  de  la  IV™^'  figure  du  syllogisme  est  lie 
en  fait  au  sort  de  cette  autre  theorie,  d'aspect  plus  general,  de 
la  quantification  du  predicat. 


^")  Note  6;    P    Fapesmo: 

Tout  M  est  A 
Nul  B  n'est  M 

=  Quelque  A  n'est  pas  B 

ou,  eu  quantifiaut  le  predicat: 

Tout  M  est  A 
Nul  B  n'est  M 
Nul  B  n'est  quelque  A. 
2°    Frisesomonim: 

Quelque  M  est  A 

Nul  B  n'est  M 

=  Quelque  A  n'est  pas  B 

ou,  en  quantltiant  le  predicat: 

Quel(|ue  M  est  A 

Nul  B  n'est  M 

Nul  B  n'est  quelque  A. 


56  E-  Thouverez, 

La  secoiidc  Observation  d'Aristote,  qui  a  donue  naissance  aux 
autres  modcs  indirects,  s'applique  aussi  a  toutes  les  ligurcs.  C"est 
que  toutc  proposition,  autre  que  la  pavticuliere  negative,  est 
convertible;  et  que,  par  conscquent,  tous  les  syllogisnies  qui  con- 
cluent  naturellement  en  universelle  affirmative,  en  universelle 
negative,  en  particulicre  affirmative,  sont  susccptibles  d'unc  con- 
clusiou  seconde,  par  conversion  de  la  preccdente^').  C'est  ainsi 
quo,  dans  la  1^^  figure,  les  trois  modes  directs:  15arbara,  Celarent, 
üarii,  donnent  naissance  a  trois  modes  indirects:  Baralipton,  Dabitis, 
Celantes,  inseres  aujourd'hui  dans  la  IV""^  figure  ^^).  II  y  a  de 
meme  deux  modes  indirects  de  la  JI"^''  figure  et  trois  de  la  IIl'"^". 
Les  conclusions  secondes,  ainsi  obtenues,  resulteraient  directement 
des  memes  syllogismes  dont  les  premisses  seraient  interverties  par 
metathcse;  mais,  ici  comme  plus  haut,  cette  metathese,  qui  est 
une  Operation  purement  verbale  quand  il  s'agit  des  figures  II  et  III, 
intervertit  dans  la  I'''  figure  le  role  et  la  place  du  moyen  pour 
les  deux  premisses.  II  y  a  donc,  dans  cette  figure  seulement, 
quclquc  cliose  de  nouveau  et  de  non  verbal,  qui  explique  que 
I'attention  sc  soit  portee  sur  les  modes  indirects  de  cette  ligure 
a  l'exclusion  des  autres.  En  outre,  la  I"'  ligure  est  la  seule  qui 
ait  une  conclusion  directe  en  A;  1' universelle  affirmative  est  la 
seule  des  propositions  convertibles,  qui  uc  sc  convertisse  pas  dans 
ses  propres  termes,  mais  par  accident;  et  la  chute  apparente  de 
Barbara  cn  Baralip  souligne  en  quelque  fa^on  ce  qu'il  y  a  de 
specifique  dans  les  modes  indirects  de  la  I"-  figure,  par  Opposition 
aux  suivantes. 

En  resume,  il  y  a  dans  Aristote  deux  observations  difterentes 
qui  donnent  naissance  a  un  assez  grand  nombre  de  modcs  in- 
directs, et  parmi  eux  aux  modes  indirects  de   la    1"^'   figure;   ces 


")  Arstt.:  An.  Pr.  II,  1,  §  2. 

12)  Baralipton,  en  SP:  Celantes,  SP:  Dabitis,  SP: 

Tous  les  M  sont  A  Nul  M  n'est  A  Tous  les  M  sont  A 

Tous  les  B  sont  M  Tous  Ics  H  sont  M  Quelques  B  sont  M 

[Donc  tous  les  B  sont  A]  [Donc  nul  H  n'est  A]  (DoncquelqueBsout  A] 

et,  par  conversion  :  et,  par  conversion:  et,  par  conversion: 

Quelques  A  sont  B  Nul  A  n'est  B  Quelques  A  sont  B. 


La  IVme  figure  du  syllogisme.  57 

modes,  qui  coustituent  aujourcrimi  la  IV""*'  figure,  sont  derives  de 
la  V^  suivant  deux  procedes  distincts  et  heterogenes;  les  deiix 
Premiers  par  une  retrogradation  des  premisses,  saus  laquelle  il  n'y 
a  pas  de  conclusion  possible:  nous  les  nommerons  complemcn- 
taires  ou  retrogrades,  les  autres,  par  une  conversion  de  la 
couclusion  directe,  deja  obtenue  et  dejä  valable:  nous  les  appellerons 
convertis  ou  supplcmentaires.  La  IV™*'  figure,  quand  on  la 
traite  comme  subalterne  et  derivee  par  rapport  a  la  I'^  presente 
donc  une  heterogeneite  irreductible;  eile  n'est  pas  un  tout  homogene, 
en  Sorte  qu'elle  n'apparait  pas  purement  et  simplement  comme 
une  certaiue  doublure  d'une  autre  figure  et  qu'on  ne  peut  la  traiter 
comme  teile  qu'au  moyen  d'un  double  decalque.  Or  une  hypothcse 
qui  se  complique  devient  une  hypothcse  moins  süre. 

III. 

Aristote  a  prevu  les  modes  dont  la  IV'^''  figure  se  compose, 
mais  en  fait  il  n"a  pas  mis  ces  modes-  en  relief;  il  n'a  pas  distingue 
explicitemeut  les  modes  indirects  de  la  I'*"  figure  des  indirects  que 
les  autres  figures  peuvent  fournir;  il  n'a  pas  rapproche  les  retro- 
grades et  les  convertis  pour  en  constituer  un  groupe  special; 
surtout,  il  n'a  pas  fait  de  ce  groupe  l'expression  du  scheme 
PS,  symetrique  des  trois  autres.  Une  premiere  demarche  devait 
donc  consister  a  determiner  nettement  le  nombre  et  la  forme 
des  modes  indirects  de  la  IV™*"  figure  qu'il  convenait  d'inserer 
dans  une  serie  syllogistique  complete;  une  seconde  demarche  devait 
les  classer  nettement  a  part,  sous  la  rubrique  IV,  le  jour  oü  Ton 
s'apercevrait  quils  correspondent,  (ce  que  ne  fönt  pas  les  modes 
indirects  des  figures  II  et  III),  a  un  role  special  et  a  une  place 
nouvelle  du  moyen  terme  dans  les  premisses. 

La  premiere  demarche,  qui  consiste  a  tirer  les  modes  indirects 
de  leur  existence  en  quelque  maniere  virtuelle,  pour  les  enoncer 
formellement  dans  une  serie  syllogistique  plus  complete,  a  ete 
accomplie  par  les  successeurs  immediats  d'Aristote,  par  Theophraste 
d'abord.  Theophraste  en  effet  portait  le  nombre  total  des  syllo- 
gismes  de  quatorze  a  dix-neuf,  parce  qu'il  comptait  neuf  modes 
dans  la  I"'  figure,   en  ajoutant  aux  quatre  modes  directs  et  indc- 


58  E.  Thouverez, 

montrables  du  Maitre,  les  cinq  modes  iiidirccts:  les  trois  convertis 
d'abord,  les  deux  retrogrades  ensuite,  eiigendres  los  uus  et  les 
aulres  conforraemeut  aux  principcs  indiqucs  plus  haut.  Cette 
enumcration  et  cet  ordre  nous  out  ete  conserves  par  le  tcraoignagc 
grec  d' Alexandre,  et  par  le  temoignage  latiii  de  Boece,  et  ce  dernier 
nous  apprend  en  outre  que  l'initiative  de  Theophraste  avait  ete 
approuvee  par  Porphyre  «  vir  gravissima-  auctoritatis  » '^).  Cette 
doctrine  reprösente  donc  la  tradition  ol'ficiclle  de  l'ccole  et  Theo- 
phraste cn  est  l'auteur. 

Cependaut  une  double  difdculte  se  presente,  et  les  variations 
des  doctrines  en  porteut  le  temoignage.  On  pouvait  se  demander, 
d'une  part,  s'il  n'y  avait  pas  lieu  d'accroitre  encore  la  scrie  des 
syllogisraes  et  de  faire  les  honneurs  d'une  enonciation  speciale  a 
tous  les  modes  indirects  des  autres  figurcs;  d'autre  part,  si  les 
modes  indirects  de  la  premiere,  admis  a  constituer  un  groupe 
nouveau,  n'etaient  pas  susceptibles  d'un  proccde  de  generation  plus 
homogene  que  la  double  derivation  que  nous  avons  vue. 

Sur  la  premiere  question,  Alexandre  d'Aphrodisiade,  apres 
avoir  compte  deux  modes  retrogrades  dans  la  P"''  ligure,  en  compte, 
d'apres  le  mcme  principe  d'assimilation  des  indirects  a  universelle 
negative,  un  dans  la  11™''  et  deux  dans  la  III"''',  suivant  a  la  lettre 
l'observation  d'Aristote  sur  les  retrogrades^*).  Or  Alexandre  cite 
Theophraste  pour  les  modes  indirects  de  la  I'"''  figure  et  ne  le  cite 
pas  pour  les  autres;  et  Boece,  qui  dcclare  formellement  s'inspircr 
de  Theophraste,  n'enumere  quo  les  cin(|  modes  indirects  de  la  I'*^ 
figure.  II  y  a  donc  eu  partage  dans  l'ecole  sur  le  degrc  d'extension 
des  remarques  d'Aristote,  par  consequent  aussi  sur  le  degre  d'ori- 
ginalite  des  indirects  classiques,  devenus  plus  tard  les  indirects 
de  la  IV'"''  iigure.  Ce  partage  pouvait  ctre  pousse  plus  loin  et 
il  l'a  ete,  comme  Apulec  le  temoigne.  Ariston  d'Alexaudrie  cnume- 
rait,  pour  tous  les  syllogismes  h  conclusion  universelle,  une  forme 


•3)  Alex.  Aphiotl.:  In  Anal.  Pr.  ed.  Wallies  (Berlin,  1883);  p.  69,  1.27; 
p.  110,  1.  13  (in  Arstt.  p.  -JGI):  L".)b).  —  Boece,  De  Syll.  Catcg.,  edit.  Basil., 
1578;  p.  594.  — 

'•■)  Alex.  Aplir.  op.  cit.  j).  110,  1.  21sqq. 


La  IVme  figure  du  syllogisme.  59 

seconde  a  conclusion  particuliere  subalternee;  et  Theophraste,  en 
iutrocluisant  les  syllogismes  a  premisses  indeünies,  portait  le  nombre 
des  formes  valables  de  dix-neuf  ä  vingt-neuf ^^).  Contre  cette 
double  tentative  Apulee  proteste,  en  declarant  que  la  conclusion 
particuliere  subalternee  est  oiseuse  a  cote  de  l'autre,  et  que  les 
propositions  indelinies  se  confondent  avec  les  propositions  particu- 
lieres.  Toujours  est-il  qu'on  peut  ainsi  allonger  ou  restreiudre  a 
volonte  la  liste  des  raisonnements  concluauts;  qu'on  peut,  par 
exemple,  Tameuer  au  chiffre  uniforme  de  six  modes  par  figure, 
comme  le  fait  Leibniz,  rnais  c'est  a  conditiou  de  mettre  cote  ä 
cöte  des  syllogismes  qui  different  essentiellement  entre  eux  et 
d'autres  qui  ne  preseuteut  qu'une  distinction  verbale  et  sans  valeur. 
Si  par  consequent  il  n'y  a  pas  de  criterium  plus  precis  pour  nous 
faire  accueillir  les  cinq  modes  indirects  privilegies  que  pour  tous 
les  autres  modes  possibles,  uon  seulement  il  n'y  a  pas  de  IV'"** 
figure,  mais  il  n'y  a  pas  meme  lieu  de  uommer  ä  part  les  cinq 
modes  indirects  classiques,  qui  entraineraient  peu  a  peu  a  une 
enumeration  indefinie  et  saus  interet.  Les  modes  indirects  de  la 
I'*^  figure,  s'ils  ne  sont  que  cela,  vont  se  perdre  dans  une  pluralite 
indistincte. 

Sur  le  second  point  la  difficulte  n'est  pas  moindre;  le  problcme 
cousiste,  en  trouvant  aux  modes  indirects  de  la  I'''"  figure  une 
uuite  parfaite  de  derivation,  a  les  lier  plus  etroitement  entre  eux 
et  a  leurs  prototypes.  C'est  un  essai  de  ce  genre,  semble-t-il, 
dont  nous  trouvons  la  trace  dans  Apulee,  lorsque  cet  auteur,  apres 
avoir  rapproche  les  trois  convertis  des  trois  premiers  modes  de  la 
I'"*^  figure  qui  leur  donnent  naissance,  rapproche  symetriquement 
les  deux  retrogrades  du  quatrieme  mode  Ferio,  comme  si  le  procede 
de  derivation  ici  et  lä  etait  le  meme,  et  comme  si  toute  la  difference 
etait  que  Ferio  engendre  deux  indirects  au  lieu  d'un  seuP^).  Eu 
realite  il  n'en   est  rien,    et    les  diflferences,    qu' Apulee  lui-meme 


^^)  Apulee:  de  Interpret.,  ed.  Hildebrand  (Leipzig,  184'2):  t.  II;  p.  277. 

^^)  Apulee,  op.  cit.,  p.  272.  —  Voici  d'ailleurs  le  tableau,  en  notution 
moderne,  des  modes  indirects  de  la  Ii'^  figure,  numerotes  de  5  ä  9,  ä  la  suit? 
des  quatre  modes  directs: 


60 


E,  Thouverez. 


Signale,  reduisent  ä  nöant  cette  tcntativc  d'unification  apparente. 
Les  convertis  possedent  une  conclusion  qui  est  Tinverse  de  la  con- 
clusion  prototype;  au  contrairo  les  retrogrades  possedent  la  meme 
conclusion  quo  Ferio.  Los  uns  difl'erent  par  le  resultat  obtenu 
«  illatio  »    et   les  autrcs  par  le  proccdc  employc  «  conjugatio  »  ''). 


P  chez  Alexandre  et  Boece: 

Tout  M  est  A 

Tüut  B  est  M 

I        et,  par  couv.  de  lacoiicl.; 
[Quelque  A  est  B 


6. 


Xiil  M  ii'est  A 
Tout  B  est  M 

et,  par  conv.  de  laconcl.: 
Nul  A  n'est  B 


TTout  M  est  A 
Nul  B  n'est  M 

=  par  conversiou  de  ch«que 
o  prciuisse 

et  metathese  de  leur  ordre: 
Nul  M  n'est  B 
Quelque  A  est  M 
donc  Quelque  A  n'est  pas  B 
2'^  che/.  Apulee; 

Tout  M  est  A 
Tout  B  est  M 
donc  Tout  B  est  A  [1] 
ou  Quelque  A  est  B  [5] 


Tout  M  est  A 
Quelque  B  est  M 

et,  par  conv.  de  la  coucl.: 
Quelque  A  est  B 

Quelque  M  est  A 


Nul  B  n'est  M 

=  par  conversion  de  chaque 
,  preinisse 

et  metathese  de  leur  ordre: 

Nul  M  n'est  B 

Quelque  A  est  M 
donc  Quelque  A  n'est  pas  B 


1—5. 


B  [6J 


3—7 


(  Nul  M  n'est  A 

)_fi)  Tuut  B  est  il 

jdonc  Nul  B  n'est  A  [2] 
l     ou  Nul  A  n'est 
Tout  31  est  A 
Quelque  B  est  M 
donc  Quelque  B  est  A  [3] 
ou  Quelque  A  est  B  [7] 
Quelque  M  est  B 
Nul  A  n'est  M 
4 — 8 — 9\         donc  donc,  par  metathese: 

Quelque  B  n'est  pas     Quelque  B  n'est  pas 
A[4]=  A[9]  = 

Dans  le  te.\te  original,  Ale.xandre  ecrit  le  predicat  avant  le  sujet  et  la 
majeure  avant  la  mineure;  Apuk'e  ecrit  le  sujet  avaut  le  pn'dicat  et  la  miueure 
avant  la  majeure;  Boccc  suit  l'ordre  moderne. 

'0  Illatio  designe,  dans  le  Pseudo-Apuli'e,  la  conclusion,  resultat  de 
Tinference;  conjugatio  di'signe  l'ordre  et  l'arrangemeat  des  premisses. 


Nul  M  n'est  A 
Quelque  B  est  M 
donc 


Tout  M  est  B 
Nul  A  n'est  M 
douc,  par  metathese : 
Quelque  B   n'est  pas 
A[8] 


La  IVme  iigure  du  syllogisme.  61 

Les  uns  sont  indirects  parce  qu'ils  donnent,  par  un  arrangement 
insolite  des  premisses,  uue  conclusion  uaturelle  de  la  I'*^  figure; 
les  autres  parce  qu'ils  donnent,  par  un  tour  regulier  de  la  I'** 
figure,  une  conclusion  difterente.  Tous  ne  sont  pas  indirects  au 
meme  sens.  De  plus,  lorsqu'on  veut  passer,  comme  Apulee  le  fait, 
de  Ferio  ä  Fepasmo,  on  tire  par  conversion  une  universelle  affir- 
mative d'une  particuliere.  Or  c'est  l'operation  contraire  qui  est 
plutot  legitime  et  qui  cousiste  a  supposer  que  Faffirmative  particu- 
liere de  Ferio  peut  deriver  soit  de  l'universelle  A  (Fepazmo)  soit 
de  la  particuliere  I  (Fresizom).  II  est  donc  plus  naturel  de  dire 
que  les  retrogrades  sont  les  prototypes,  et  Ferio  le  derive,  en  sorte 
que  la  dualite  primitive  des  modes  reparait  sous  cette  forme:  les 
trois  Premiers  modes  de  la  F'*^  figure  produisent  les  convertis;  le 
quatrieme  est  produit  par  les  retrogrades.  —  Non  seulement  enfin 
les  indirects  classiques  ne  derivent  pas  de  la  F'^  figure  par  un 
procede  unique,  mais,  grace  ä  la  correspondance  qui  existe  entre 
toutes  les  figures,  ils  peuvent,  —  au  moins  sous  la  forme  PS 
qui  n'est  pas  autre  chose,  comme  nous  le  verrons,  que  la  mise  en 
relief,  dans  l'ecriture,  des  Operations  de  la  pensee  —  etre  aussi 
legitimemeut  derives  des  figures  ulterieures  II  et  III.  Mais  alors 
les  convertis  affirmatifs  se  ramenent  a  la  III™'^  figure,  le  converti 
negatif  a  la  II'"%  les  retrogrades  ä  l'unc  ou  a  Fautre  a  volonte ^^). 
Des  modes  qui  peuvent  se  rattacher  ainsi  a  des  origines  si  difterentes, 
ne  possedent  pas,  par  le  fait  de  leur  relation  a  la  F*^  figure,  une 
unite  assez  grande  pour  que  leur  groupement  se  justifie  par  cette 
relation  unique.  Le  second  point  nous  araene  donc  a  la  merae 
conclusion  que  le  precedent:  les  cinq  modes  indirects  classiques 
n'ont  pas  plus  droit  a  une  existence  distincte  que  tant  d'autres 
indirect-s  egalement  possibles;  ils  doivent  posseder,  pour  justifier 
le  choix  dont  ils  sont  l'objet,  une  unite  intrinseque  plus  profoude 
que  Celle  qui  leur  vient  de  leurs  relations  diverses  a  la  F"''  figure. 
Cette  unite  plus  profonde  est  celle  que  les  logicieus  ulterieurs  ont 
cru  decouvrir  dans  le  scheme  PS,  symetrique  des  trois  autres. 


")  J.  Lacheller:  De  Natura  Syllogismi;  Paris,  1S71;  p.  SSsqq. 


62  E.  Thouverez, 

IV. 

La  IV'"f  iigure  est  ooustituee  comme  teile  qiiand  on  lui  donne 
pour  base  la  position  nouvellc  dn  moyeii,  PS,  qui  la  diflercncie 
nettement  des  autres  figures.  La  tiadition  du  moyen-age  attribue 
cette  innovation  a  Galien.  Cette  attribution  reste  douteuse;  eile 
n'est  pas  mentionnee  chez  les  commcntateurs  grecs  et  vomains;  les 
ouvrages  couserves  de  Galieu  n'en  portent  aucune  trace  et  la 
premiere  origiiie  semble  en  etre  dans  raffirmation  d'Averroes,  de 
source  arabe,  c'est-a-dire  derivee  et  tres  posterieure.  Averroes 
cite  Galien  quand  il  critiqiie  lui-mome  la  theoiie  d'apres  laquelle 
les  modes  iudirects  s'expliquent  par  Ic  scheme  PS,  mais  la  citation 
n'est  pas  assez  explicite  pour  montrer  si  Galien  avait  adopte  en 
eft'et  ce  scheme  pour  fondement  de  ces  modes,  ou  s'il  signalait 
seulement  un  rapport,  soit  enonce  par  d'autres  auteurs,  soit  con^-u 
par  lui  comme  hypothese  pureraent  dialectique.  Uu  commentateur 
grec  anonyme,  cite  par  Minoi'de  Minas,  corrobore  seul  la  reference 
d'Averroes,  et  il  reste  toujours  possible  d'admettre  que  ce  com- 
mentateur inconnu  s'inspirait  kü-meme  de  l'auteur  arabe.  En 
somrae  la  theorie  explicite  de  la  IV™'^'  figure,  si  eile  est  connue 
des  anciens,  ne  nous  est  parvenue  que  dans  les  textes  du  moyen- 
age.  Un  moment  vint,  au  Xlll""'  siecle,  oii  les  nouveaux  auteurs 
de  logique,  s'appuyant  de  lautorite  de  Galien,  donnerent  droit  de 
cite  dans  le  syllogisme  a  la  IV™*^  figure,  par  ce  motif  que,  a  une 
nouvelle  position  du  moyen,  doit  correspondre  une  figure  nouvelie, 
et  que,  en  fait,  dans  la  IV'"*^  figure,  le  moyen,  plus  petit  que  le 
petit  terme  et  plus  grand  que  le  grand,  enveloppe  les  extremes 
au  Heu  d'etre  enveloppe  par  eux. 

Des  lors  le  probleme  de  la  IV"*^  iigure  et  de  son  autonom ie 
est  pose  nettement,  et  c'est  en  tonte  connaissance  de  cause  qu'on 
accepte  cette  figure  ou  la  rejette.  Les  deux  auteurs  que  nous 
venons  de  citer,  et  par  lesquels  nous  connaissons  Pinnovation  de 
Galien,  la  rejettent  tous  deux.  L' Anonyme  de  Minas  ne  donne 
pas  a  vraimeut  parier  une  refutation  du  Systeme,  mais  oppose 
simplement  une  affirmation  a  uneautre'^).    Les  nouveaux  logiciens 


''■•)  Galien:  EU  oiaXexxivci^v  öd.  M.  Minas;  Paris,  1864;  TtpoOeiup.  p.  ve';  cite 
par  Prantl,  Geschichte  der  Logik,  Leipzig,  1855;  t.  I;  p.  572,  not.  100. 


La  IVQie  ligure  du  syllogisme.  63 

affirment  que  la  IV™*"  figure  est  distincte,  parce  qu'elle  correspond 
a  un  nouvoau  groupemeut  du  moyen  terme;  il  affirme,  lui,  que  ce 
groupement  n'est  pas  ce  qui  caracterise  la  IV""'  figure,  c'est-ä-dire 
qu'il  n'est  pas  necessaire  d'imagiuer  ce  nouveau  groupement 
pour  arriver  a  cette  iigure,  mais  qu'on  aboutit  a  eile  en  partant 
de  la  P^  par  les  procedes  (rAristote.  Puisque  ces  procedes  süffi- 
sant pour  expliquer  la  figure,  eile  n'exige  pas,  ponr  etre  comprise, 
l'invention  d'un  scheme  et  n'exprime  pas  un  mode  de  raisonnemeut 
special.  —  C'est  dire,  saus  preuve  süffisante,  que  du  nioment  qu'une 
figure  s'explique  par  une  voie  indirecte  il  est  illegitime  d'en  clier- 
cher  une  explication  directe,  et  que,  par  exemple,  la  IP"''  figure 
n'est  pas  autonome  parce  qu'on  peut  la  construire  au  moyen  de 
la  F^  ,  par  conversion  de  la  majeure.  M.  Lachelier  sur  ce  point 
a  refute  Kaut.  De  meme  ici,  il  ne  suffit  pas  de  montrer  que  la 
voie  indirecte  est  possible;  il  faudrait  faire  voir  qu'elle  est  la  seule 
possible  et  qu'aucune  Interpretation  directe  n'est  legitime:  et  c'est 
ce  que  le  critique  grec  n'a  pas  fait. 

C'est  au  contraire  ce  qu'Averroes  a  tente"").  Le  sclieme  de 
la  IV™''  figure  est  a  ses  yeux  verbalement  possible  et  materielle- 
ment  distinct  de  celui  des  autres,  mais  il  est  ratiouellement  illefi- 
time,  parce  qu'il  ne  correspond  pas  a  un  procede  legitime  de  la 
pensee.     Ici  apparait  pour  la  premiere  fois  l'idee  explicite  qu'il  y 


20)  Averr.:    In  Prior.    Resol.,    I,   8:   Yenise,    1553;  fol.  GSb;    cite  par 
Prallt],  op.  cit.,  t.  I,  p.  571,  n.  99. 

Premiere    question ,    noi-inale:  est-ce   que   C  est  A?   —    Reponse   dans   la 
h'^  figure: 

M  est  A 
C  est  M 
donc  C  est  A 
Deuxieme  question,  anormale:  est-ce  que  A  est  C?  —  Premiere  reponse: 
on  intervertit  la  question,     pour  revenir    ä  l'ordre    normal,    et   Ton  ilemoutre, 
comme  plus  haut,    dans  la  P''  figure    que  C    est  A:    ignorauce    du    sujet.  — 
Deuxieme  reponse:  on  fait  voir  en  effet  que  A  est   C,  mais   dans   une   forme 
anormale,  qui  est  celle  de  la  IVm«^  figure,  caracterisee  par  ce  fait  que  A  est>C 
dans  les  premisses,  et  <C  C  dans  la  conclusion: 

Tout  C  est  M 
Tout  M  est  A 
donc  Quelque  A  est  C 


64  ^-  Thouverez, 

a  un  clioix  ä  faire  entre  les  diverses  combinaisons  logiques  mecani- 
quement  possibles,  et  que  certaines  d'entre  elles  seulement  peuvent 
etre  reyues  a  titre  de  lüis  rationnelles  ou  psychologiqnes,  parce  que 
seules  elles  sont  rationnelles  et  fecondes.  En  ce  sens  la  IV""' 
figure  rcsulte  pour  Averroes  d'une  question  mal  posee.  II  est 
naturel,  dit-il,  de  se  demander  si  un  certain  attribut  A  appartieut 
a  un  certain  sujet  C  (en  style  moderne,  si  C  est  A),  et  la  re- 
ponse  s'obtient  dans  la  I"  figure:  «  M  est  A,  C  est  M,  donc  C 
est  A  » ;  il  est  au  contraire  singulier  et  heteroclite  de  se  demander 
si  le  sujet  C  est  un  attribut  de  l'attribut  A  (si  A  est  C),  et,  pour 
repondrc  a  une  question  ainsi  posee,  il  n'y  a  que  deux  hypotheses 
possibles.  Ou  bien  en  effet  on  retablira  l'ordre  naturel  des  termes; 
on  sc  demandera,  non  plus  si  A  est  C,  ce  qui  est  la  question  ici 
posee,  mais  si  C  est  A,  ce  qui  etait  la  question  naturelle  a  se 
poser;  et  Fon  fera  ainsi  un  raisonnement  de  la  I'""^  figure.  Ce 
raisonnement  sera  correct  et  legitime  en  lui-meme,  mais  il  pechera 
en  fait  par  ignorance  du  sujet,  parce  qu'il  aura  pour  conclusion 
autre  cliose  que  la  repouse  a  la  question  posee.  On  nous  demande 
si  A  est  C,  et  nous  repondons  que  C  est  A;  on  demande  si  du 
bleu  est  ciel,  et  nous  repondons  que  le  ciel  est  bleu.  Ou  bien 
au  contraire  on  fait  un  raisonnement  conforme  a  la  question  posee, 
capable  de  donner  la  repouse  attendue.  Pour  cela  —  A  etant 
attribut  et  C  sujet  d'un  meme  moyen  M,  et  devant  etre  A  sujet  et 
C  attribut  dans  la  conclusion  —  on  construit  la  figure  PS,  dans  la- 
i[uello  en  efiet,  conformement  aux  regles  generales  du  syllogisme, 
la  majeure  contient  le  futur  attribut  C  de  la  conclusion  dans  la 
formule  «  C  est  M  »  et  la  mineure  contient  le  futur  sujet  A  «  M 
est  A  ».  Donc  «  A  est  C  ».  Mais  alors  ce  raisonnement  exprime 
avec  cxactitude  l'absurdite  de  la  question  posee,  car  les  deux 
termes  qui  sont  naturellement  et  dans  les  premisses  Tun  sujet,  et 
l'autre  attribut  d'un  meme  moyen,  et  qui  devraient  par  couse- 
quent  dans  la  conclusion  etre  sujet  et  attribut  Tun  par  rapport  ä 
l'autre,  aboutissent  au  contraire  dans  cette  conclusion  a  l'inverse 
de  leur  rapport  naturel.  Par  suite  de  ce  renversement  des  roles, 
le  moyen  est  attribut  du  grand  terme,  qui  est  attribut  du  petit, 
qui  est  attribut  du  moyen;  le  moyen  est  attribut  de  soi-meme,  ce 


La  IVnie  figure  du  syllogisme.  65 

qui  est  absurde.  Donc,  conclut  le  Commentateur,  la  pensee 
u'aboutit  pas  naturellemeut  a  un  raisonuement  de  ce  genre,  mais 
y  arrive  indirectement  au  moven  de  deux  couversions:  la  IV""® 
figure  est  uu  decalque  artificiel  et  mal  fait  de  la  pe, 

L'argumentation  d'Averroes  revient  ä  dire  que  la  IV""''  figure 
est  un  procede  logique  illegitime,  non  pas  en  elle-meme ,  mais 
parce  qu'elle  repend  a  ud  probleme  mal  pose,  et  que  ce  probleme 
est  mal  pose  parce  que  nous  u'avons  jamais  le  droit,  en  logique, 
de  renverser  Fordre  naturel  des  sujets  et  des  predicats  et  de  nous 
demander,  memo  d'une  maniere  abstraite,  quel  rapport  les  con- 
cepts  supportent  reciproquement  les  uns  par  rapport  aux  autres. 
Mais  c'est  lä  uue  affirmation  insuffisamment  fondee.  Elle  suppose 
en  effet  que  le  jugement  a  par  lui-meme  une  valeur  strictement 
reelle,  qui  est  d'attribuer  les  qualites  aux  substances;  or  l'abstrait 
peut  deborder  iufiniment  le  concret  et  le  jugement  logique  peut 
jouer  un  rule  plus  general  qui  est  de  cliercher  les  rapports  d'ad- 
equation  ou  d'inadequatiou  qui  existent  entre  des  termes  quelcon- 
ques  consideres  tour  a  tour  et  reciproquement  comme  attributs  et 
comme  sujets  formeis.  En  ce  sens  ii  n"y  a  pas  de  questiou  mal 
posee  parce  que  chaque  terme  ne  vaut  que  par  le  role  relatif 
qu'on  lui  fait  remplir;  l'objection  d'Averroes  devient  caduque  et 
la  forme  meme  de  la  reciprocite  peut  devenir  a  son  tour  le  fonde- 
ment  metaphysique  de  la  IV™'-    figure. 

La  IV"*^  figure  est  iuutile  pour  1' Anonyme  de  Minas,  meta- 
physiquement  illegitime  pour  Averroes;  restait  a  dire  qu'elle  con- 
stitue  en  elle-meme,  dans  son  mecanisme  logique,  un  raisonnemeut 
iuexact  et  faux,  ce  qui  Tut  fait  par  Lambert  d'Auxerre"').  D'apres 
cet  auteur,  la  IV'"''  figure  est  condamnee  a  un  dilemme;  ou  la 
majeure  est  universelle  et  la  conclusion  est  fausse,  ou  la  majeure 
est  particuliere  et  il  n'y  a  pas  de  conclusion.  Cette  allegation 
prise  au  pied  de  la  lettre  est  une  erreur;  ni  Bamalip,  ni  Dimatis, 


21)  Texte  inedit,  publie  par  Prantl,  op.  cit.:  t.  IIF,  p.  30,  u.  121.  — 
«...  natu  si  dicatur:  omue  animalest  homo:  omnis  homo  est  risibile; 
ergo  omne  risibile  est  animal:  major  erit  falsa,  qua  sumpta  particulariter 
non  sequitur  conclusio  ». 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     XV.  1.  Ö 


66  H-  Thouverez, 

construits  sur  le  sclieme  PS,  ue  depassent  ou  nc  violent  les  pre- 
misses  daus  leur  conclusion.  L'exemple  donno  par  l'auteur,  si  la 
citation  de  Prantl  est  exacte,  est  une  sorte  de  Bamalap,  materielle- 
raent  faux  des  la  majeure,  formellement  faux  dans  sa  conclusion, 
vcritable  monstre  logique,  et  que  personne  ne  s'aviserait  de  con- 
struire  directement  sous  cette  forme.  Une  pareille  construction 
resulte  donc  Intention nellement  d'une  sorte  de  detour  par  lequcl 
l'auteur  preteud  exprimer  ce  qui  constitue  pour  lui  l'essence,  et 
par  suite  le  döfaut  de  la  IV'"'"  figure.  II  est  difficile  de  retrouver 
avec  exactitude  le  raisonnemeut  ainsi  sous-eutendu  par  l'auteur, 
raisonneraent  qui  sans  doute  est  faux,  puisqu'il  a  du  l'etayer  par 
la  construction  d'un  exemple  pardoxal,  exemple  dont  la  condam- 
nation  n'implique  nullement  la  condamnation  de  toute  espece  de 
mode  conforme  a  la  IV""'  figure.  Peut-etre  Lambert  d'Auxerrc 
avait-il  dans  l'esprit  cette  pensee  que  la  IV'"*^  figure  doit  etre 
necessairement  l'inverse  de  la  I™  ,  et  se  deduire  d'elle  par  la  con- 
version  successive  des  propositions  qui  la  composaient;  mais  alors, 
en  partant  de  Barbara  qui  est  le  type  le  plus  parfait  de  la  I''' 
figure,  les  conversions  successives  donnent,  pour  le  mode  corres- 
pondant  de  la  IV'"^'  figure,  des  propositions  particulieres  suc- 
cessives. D'oü  cette  apparence  de  dilemme:  ou  le  mode  de  la 
jynie  f,gm-e,  qu'il  s'agit  de  construire,  sera  fait  de  propositions 
particulieres,  non  concluantes  faute  d'universalite;  ou  il  sera  fait 
de  propositions  universelles,  qui  ne  sont  pas,  conime  elles  de- 
vraient  l'etre,  les  converties  de  Barbara,  et  qui,  si  les  propositions 
particulieres  converties  de  Barbara  sont  vraies,  seront  fausses  par 
l'cxces  d'universalite  qui  est  en  elles.  En  realite  ce  raisonnemeut 
—  ou  quelqu'autre  raisonneraent  analogue  —  est  inexact,  puisquo 
d'autres  raodes  que  Bamalap  existent  et  reussissent  en  PS;  et  cos 
autrcs  modes  reussissent  parce  que  la  IV'"^'  figure  est  autonome  et 
nc  se  deduit  pas  de  la  I''^'  par  conversions  successives.  Ce  qu'il  y  a 
de  vrai  dans  la  pensee  de  Lambert  d'Auxerre,  c'est  que  la  P*-' 
figure  etant  la  seule  dans  laquelle  le  moyen  est  interieur  aux  ex- 
tremes, est  aussi  la  seule  qui  presente,  avec  Barbara,  une  serie  de 
subsomptions  parfaites,  de  genres  a  especes,  dans  Tordre  naturel 
d'involution    des    termes    en    prescnce.      Ilors  de  la   P''  figure   le 


La  IVuie  figxire  du  syllogisme.  67 

raoyen  n'etant  plus  k  la  fois,  et  suivant  l'ordre  naturel  des  choses, 
espece  par  rapport  au  graud  terme  et  genre  par  rapport  au  petit, 
le  raisonnement  ne  reussit  que  par  Faccession  adveiitice  de  la 
particularite  ou  de  la  negation.  La  IV""^^  figure  surtout  est  de- 
tournee  de  cet  ordre  naturel  que  la  T'^  figure  realise;  eile  est 
caracterisee  par  ce  fait  que  le  moyen  y  est  exterieur  aux  deux 
extremes,  c'est-ä-dire  plus  grand  que  le  grand  terme  et  plus  petit 
que  le  petit;  or  cette  double  coiidition  est  contradictoire.  Le 
meme  terme  ne  peut  pas  etre,  dans  l'ordre  naturel  de  succession 
des  genres  et  des  especes,  a  la  fois  plus  petit  qu'une  espece  et 
plus  grand  qu'un  genre  dont  cette  espece  est  partie.  C'est  cette 
contradiction,  semble-t-il,  que  Lambert  d'Auxerre  a  voulu  mettre 
eu  relief;  mais  il  a  etc  oblige  de  l'exagerer  et  de  la  fausser, 
parce  que  l'abstraction  rationnelle  permet  precisement,  dans  toutes 
les  figures  qui  ne  sont  pas  la  premiere,  d'employer  pour  moyen 
logique  un  terme  qui  n'est  pas  dans  toute  la  rigueur  des  choses 
un  moyen  reel,  et  c'est  pourquoi  la  P*^  figure,  qui  echappe  seule 
a  cet  artifice,  est  la  seule  aussi  qui  puisse  se  composer  de  deux 
affirmatives  universelles  et  conclure  une  universelle  affirmative. 

Ainsi  le  raisonnement  de  Lambert  d'Auxerre  —  s'il  est  tel 
que  nous  le  supposons  etre  pour  lui  donner  un  sens  acceptable  — 
prouve  trop,  car  il  serait  valable  contre  les  figures  II  et  III,  qui 
ne  peuvent  presenter  non  plus,  ni  l'une  ni  l'autre,  une  serie  de 
subsomptions  dans  l'ordre  naturel  des  especes  et  des  genres,  puisque 
cet  ordre  est  naturellement  celui  que  la  T'^  figure  exprime,  et  qu'elle 
exprime  seule.  Nous  aboutissons  donc  toujours  ä  cette  consequence 
que  la  L«  figure  est  la  plus  naturelle  de  toutes,  la  seule  parfaite; 
toutes  les  autres  reussissent  par  des  artifices  qui  introduisent  dans 
le  raisonnement  la  forme  de  la  negation  ou  de  la  particularite. 
La  IV'"<^'  figure  est,  en  ce  point,  analogue  aux  deux  precedentes, 
et  presente,  avec  plus  d'exageration,  le  meme  defaut  dont  celles-ci 
dejä  sont  affectees,  et  qui  est  de  modifier  artificiellement  l'ordre 
naturel  des  relations  logiques  entre  les  genres  et  les  especes. 
Mais  cet  artifice  est  legitime  par  sa  necessite  et  par  sa  reussite 
dans  les  modes  propres  ä  ces  figures,  et  par  Textension  qu'il 
donne  aux  applications  possibles  de  la  forme  syllogistique.     Aussi 

5* 


68  E.  Thouverez, 

bien,  si  nous  admettons  la  IV'"''  figure  comme  legitime,  ne  re- 
vendiquerous-nous  par  pour  eile  autre  chose  que  le  dernier  raug 
logique  a  la  suite  des  ligurcs  moins  indirectes  et  moius  impar- 
faites.  Pour  le  momeut  il  uous  suffit  de  constater  que  ni  les 
critiques  de  Lambert  d'Auxerre,  ni  Celles  de  Galien  ou  de  l'AüO- 
nyme  de  Minas,  ne  demontreut,  comme  elles  pretendent  le  faire, 
Tillegitimite  formelle  de  cette  figure. 


Ainsi  los  premiers  textes  qui  manifestcnt  au  moyen-age 
l'existeuce  de  la  IV™«  figure  signifient  en  meme  temps  sa  con- 
damnation.  Lorsque,  le  moyeu-äge  disparu  et  le  zele  des  grands 
novateurs  assagi,  la  philosopliie  moderne  examina  les  traditious 
de  l'Ecole  dans  un  melange  de  respect  et  d'independance,  dont 
Leibniz  et  Arnauld,  mieux  que  Bacou  ou  Descartes,  donnerent  la 
mesure,  le  probleme  de  la  IV™''  figure  se  posa  de  nouveau.  Or, 
sur  ce  Probleme  special,  la  doctrine  de  Port- Royal,  qui  est  celle 
d'Arnauld,  se  ramene  ä  deux  termes:  la  IV'"''  iigure  est  notoire- 
ment  inferieure  aux  autres,  privee  de  foudement  metaphysique, 
et  cependant,  si  peu  rationnelle  qu'elle  soit,  eile  existe  en  fait  et 
en  droit,  reellement  distincte  des  trois  autres.  Elle  existe  et  eile 
n'existe  pas,  voila  la  formule  ambigiie  qui  correspond  peut-etre 
dans  Port-Royal ")  a  quelque  ambiguite  naturelle  dans  la  figure 
elle-meme. 

La  IV'""  figure  n'existe  pas,  en  ce  seus  qu'on  ne  peut  pas 
euoncer  pour  eile  de  principe  rationnel  qui  la  justifie.  Arnauld 
en  eßet,  apres  avoir  donne  du  syllogismo  une  serie  de  reglos 
mecaniques  applicables  aux  diverses  figures,  declare  que  ce  me- 
canisme  ne  suffit  pas  a  apporter  la  lumiere  et  que  chaque  figure 
legitime  du  syllogismo  correspond  a  une  idee  qui  la  dirige,  a  un 
principe  logique  distinct  qui  enveloppe  dans  une  sorte  de  synthese 
l'ensemble  de  ses  modes;  ou  plutot,  pour  etre  plus  exact,  chaque 
figure  supposc  deux  principes  correlatifs  —  car  Arnauld  n'est  pas 


--)  Logique  de  Port-Royal:  4me  ^d.,  Lyon,  1G75;  III"'«  partie;  chap. 
IV,  p.  230sqq.;  cliap.  VIII,  p.  245sqq. 


La  IVme  figure  du  syllogisme.  69 

abouti  a  rmiitc  absolue  —  Tun  pour  les  modes  al'firmatifs,  Tautre 
pour  les  negatifs.  Or,  il  n'existe,  dit  Aruauld,  aucim  principe 
de  ce  genre  pour  la  IV'"''  figure;  eile  n'est  donc  qu'un  mecanisme 
aveiigle,  sans  idee  directrice  et  saus  justification  rationnelle.  Et 
cette  Sorte  de  coudamnation  a  priori  parait  confirmee  par  Fexamea 
des  regles  mecauiques  qui  y  correspoudent.  Taudis  que,  pour  les 
trois  premieres  figures,  cn  general,  les  regles  s'expriment  sous  une 
forme  directe  et  absolue:  «  que  la  majeure  soit  teile  saus  con- 
dition  »;  —  par  exemple,  daus  la  T"  figure,  la  majeure  toujours 
universelle  et  la  mineure  toujours  affirmative  —  au  contraire 
toutes  les  regles  de  la  IV'"^  figure  ont  une  forme  hypothetique: 
«  si  une  premisse  est  teile,  qu'une  autre  soit  teile  » ;  par  exemple, 
«  si  la  majeure  est  affirmative,  que  la  mineure  soit  universelle  », 
II  semble  donc  que  chaque  proposition  soit  successivement  traitee 
comme  une  conclusion  des  deux  autres,  par  conscquent  comme 
une  dependance  conditionnelle;  le  raisonnement  tout  entier  semble 
rouler  dans  un  cercle  et  dans  une  sortc  de  reciprocite  sans  fin. 
II  y  a  lä  a  tout  le  moins  un  iudice  d'infcriorite  que  les  partisans 
memes  de  la  IV"^''  figure  doivent  reconnaitre,  et  qui  d'ailleurs 
s'explique  assez  bien  si  cette  figure  participe  de  la  nature  de  la 
conversion,  qui  est  par  excellence  reciprocite. 

Et  cependant  Port-Royal  se  refuse  a  nier  Texistence  distincte 
et  autonome  de  la  IV™<=  figure.  On  ne  peut  la  nier,  dit  justement 
Arnauld,  qu'a  condition  de  la  traiter  comme  une  indirecte,  c'est- 
a-dire  de  supposer  par  avance  que  sa  conclusion  est  renversee. 
Or,  puisque  la  conclusion  indique  le  point  oü  Ton  veut  aboutir, 
le  Probleme  qu'on  s'est  pose  de  prime  abord,  on  n'a  pas  le  droit 
de  dire  qu'elle  est  renversee:  eile  est  ce  qu'elle  est.  On  peut  dire 
que  la  question  est  posee  dans  des  termes  peu  naturels,  ou  peu 
ordinaires,  ou  peu  satisfaisants;  on  ne  peut  pas  dire  qu'elle  est 
posee  autrement  qu'elle  Test.  La  consequence  en  est  tres-nettement 
deduite  dans  l'enonce  des  symboles  qui  designent  les  modes.  Les 
adversaires  de  la  IV™«  figure  construisent  ces  modes  d'apres  le 
scheme  qui  convient  a  la  P^  en  supposant  que  le  moyen  est  sujet 
dans  la  majeure  et  predicat  dans  la  mineure,  en  sorte  que  cet 
ordre    est  designc    par  les  termes:    Baralipton,    Geläutes,    Dabitis, 


70  E.  Thouverez, 

Fapesmo,  Frisesomorum ;  au  lieii  quo  Port-Royal,  voulant  que  Tüii 
ecrive  les  prömisses  daus  l'ordre  de  la  IV'""^  figure  oü  le  moyeu 
est  predicat  de  la  majeure  et  sujct  de  la  raineure,  les  appelle  iu- 
versement:  Barbari,  Caleutes,  Dibatis,  Fespamo,  Fresisom''). 

II  ne  s'agit  ici,  dit  Port-Royal,  quo  d'uue  questioii  de  raots. 
Port-Royal  a  tort:  par  derriere  la  querelle  des  mots  s'exprime  la 
divergence  des  choses.  Le  problemc  de  la  IV""'  figure  peut  se 
poser  ainsi:  y  n-t-il,  outre  les  trois  manieres  aristoteliciennes  de 
conclure,  une  quatrieme  mauicre  de  penser  possible,  une  quatrieme 
demarche  d'uue  prcmisse  a  une  autre  qui  donne  une  conclusion 
valable?  Les  uns  disent  non;  cettc  pretendue  quatrieme  demarche 
n'existe  que  sur  le  papier;  eile  diflcre  par  l'ocriture,  mais  la  peusee 
redresse  cette  ecriture;  on  ecrit  d'uno  autre  maniere  mais  Ton 
pense  de  meme.  C'est  toujours  dans  la  I'^  figure  qu'on  raisonne 
quaud  ou  croit  raisouner  daus  la  IV'"%  et  les  symboles  de  la  pre- 
tendue IV™2  figure  doivent  exprimer  cette  identite.  Les  autres 
disent:  oui;  la  IV™^  figure  exprime  une  maniere  differente  de 
penser,  en  meme  temps  qu'une  maniere  differente  d'ecrire,  et  les 
symboles  doivent  exprimer  nettement  cette  distinction.  Ainsi,  par 
le  clioix  des  symboles,   on  accepte  ou  rejette  la  figure  contestee. 

Pour  uous  rendre  mieux  compte  du  probleme,  remarquons 
d'abord  qu'il  n'y  a  pas  seuleraent  deux  manieres,  mais  trois  manieres 
possibles  de  construire  les  modes  en  question:  1°  nous  pouvons  les 
ecrire  suivant  les  formules  classiques,  Dabitis,  Fapesmo  etc.  dans 
le  scheme  SP,  et  nous  obtenons  les  indirects  d'Aristote;  2°  nous 
pouvons  les  ecrire  suivant  les  memes  formules,  Dabitis,  Fapesmo, 
dans  le  scheme  PS,  et  nous  aboutissons  ä  un  echec;  3"  nous  pou- 
vons les  ecrire  suivant  les  formules  corrigees,  Dibatis,  Fespamo, 
dans  le  scheme  PS,  et  obtenir  ainsi  ce  que  nous  appellerons  les 
modes  de  la  IVn'^  figure;  et  en  eflet  les  premiers  sont  des  indirects 
de  la  I""^;  les  deuxiomes  sont  des  monströs;  les  troisiemes  sont  les 
modes  de  la  IV™"  figure,  s'il  en  existo"^). 


-■■')  J.  Lachelier,  Thooric  du  SyUogisme,  p.  482. 

2*)  Premier  cas,  modes  de  la  I»'e  figure,  en  SP,  ä  conclusion  indirecte: 


La  IVme  figure  du  syllogisme.  71 

Prenons  d'abord  pour  pierre  de  touche  la  seconde  constraction 
possible,  qui  est  celle  des  hybrides.  Si  je  coiistruis  le  converti 
Dabitis  avec  les  promisses  qu'indique  Aristote,  et  qui  sont  celles 
de  Darii  (puisque  ]a  conclusion  seule,  daas  Aristote,  doit  etre 
modifiee),  et  si  je  construis  cliaque  promisse  suivant  le  scheme 
PS  de  la  IV'"^  figure,  il  u"y  a  pas  de  conclusion  possible  de 
rextrcme  de  la  mineure  pris  comme  sujet  a  Textreme  de  la  ma- 
jeure pris  comme  attribut.  Dans  les  memes  conditions  Celantes 
devient  Celantos  et  Baralip  reussit  par  une  sorte  de  hasard,  gräce 
k  la  presence  simultanee  de  deux  universelles.  De  meme,  si  je 
construis  les  retrogrades  Fapesmo,  Frisesom  avec  les  premisses  que 
donne  Aristote,  c'est-a-dire  avec  les  memes  premisses  que  Celarent 
et  Ferio,  raais  disposes  a  rebours,  et  si  je  construis  chaque  premisse 
suivant  le  scheme  PS,  Fapesmo  devient  Fapesme  et  Frisesom  ou 
Frisesum  n'a  pas  de  conclusion.  Si  donc  la  IV'"*^  figure  est  delinie 
par  le  scheme  PS,  adapte  aux  modes  indirects  d'Aristote   en  AA, 


(-Tout  M  est  A  |Nul  M  n'est  A  /Tout  M  est  A 

Baralipton  Tont  B  est  M  Celantes  Tout  B  est  M        Dabitis.  QuelqueB  estM 

iQuelque  A  est  B  '  Nul  A  n'est  ß  iQuelqueA  est  B 

j-Tout  31  est  A  j-Quelque  M  est  A 

Fapesmo]  Nul  B  n'est  M  Friseson'  Xul  B  n"est  31 

«■Quelque  A  u'est  pas  B  I-Quelque  A  n'est  pas  B 

Deuxieme  cas,    inodes   bybrides,    avec   premisses   des   modes,  indirects  de 
la  Ire  ficrure,  et  scheme  PS  de  la  IVme,  ä  conclusion  directe: 
j-Tout  A  est  M  .Nul  A  n'est  M 

Baralip)  Tout  M  est  B  Celantos I Tout  M  est  B 

iQuelque  B  est  A  l—  Quelque  B  n'est  pas  A  — 

/•Tout  A  est  31  ,Tout  A  est  31  rQuelque  A  est  31 

tusl Quelque  31  est  B   Fapesmel Nul  31  n'est  B    Frisesum»  Nul  31  u'est  B 

l InuI  B  n'est  A  *■ 

Troisieme  cas,  modes  de  la  IVme  tigure  h  conclusion  directe,  de  scheme 
PS,  marques  d'un  m  pour  designer  l'inversion  des  schemes,  et  en  outre  d'un 
z  pour  les  modes  de  conclusion  0  caracteristiques  de  cette  figure: 

Barbari  /Tout  A  est  31  Calentes  /Tout  A  est  31        Dibatis  |-Quelque  A  est  31 

ou     ]Tout3IestB  ou        Nul  31  u'est  B  ou     j Tout  31  est  B 

BamaliplQuelque  B  est  A  CameueslNul  B  u'est  A      Dimatis I-Quelque  Best  A 
Fespamo  ,Nul  A  n'est  31  Fresison|-Nul  A  n'est  31 

ou       iTout  31  est  B  ou       |  Quelque  31  est  B 

Fepazmol  Quelque  B  n'est  pas  A        FresizomlQuelque  B  n'est  pas  A 


Dabiti 


'J2  E.  Thouverez, 

AI,  EA;  AE,  IE,  cettc  IV'"*'  iigure  est  en  eilet  uii   monstre,  qui 
ne  conclut  pas  ou   qui  conclut  mal;   il   n'y   a  pas  de  IV'"«  iigure. 
Deux  hypotheses  seulement  restent  en  presence,  mentionnees 
plus  haut.     Puisque  le  quatrieme  scheme  PS  ne  coincide  pas  avec 
les  indirects  d'Aristote,  il  faut  de  deux  choses  l'une:  ou  faire  con- 
sister  la  IV'"'=  figure  daus  un  simple  decalque  de  la  l'-,  c'est-a-dire 
dans  les  indirects   classiques   de  scheme  SP   en   abandonnant  PS; 
ou  bien,  au  contraire,  fonder  une  nouvellc  figure,  en  PS,  dont  les 
modes  seront  en  realite  autres  que  les  indirects.     Teiles  sont  les 
deux  hypotheses  seules  admissibles  qu'il  faut  examiner  maintenant. 
La  premicre  hypothese  represente  la  doctrine  classique.     Cette 
doctrine  a  eu  son  expression  la  plus  achevee  dans  l'interpretation 
de  M.  Lachelier^^),  et  cette  Interpretation  consiste  a  admettre  quo 
les  modes,  dits   de   la  IV"'e  figure,  se   construisent  en   realite  sur 
le  scheme  SP  qui    est  celui  de  la  P%    qu'ils    dillcrent   seulement 
des  autres  modes  de  la  meme  figure   par  un  certain  renversement 
dans  la  maniere  de  les  ecrire,  et  que  l'esprit  redresse  par  la  peusee 
l'ordre  de  l'ccriture  apparente,  seit  rordre  des  termes  dans  la  con- 
clusion  des  modes  convertis,  seit  l'ordre  des  premisses  ellcs-memes 
dans  les  retrogrades.  —  Cette  formule  exprime  la  condition  minima 
Sans  laquelle  les  modes  en  question  ne  se  rattacheraient  absolument 
pas  a  la  P''  figure;  ils  se  rattachent  a  eile  ä  condition  qu'on  les 
transforme  ou   redresse.     Encore  faut-il  insister  sur  ce   point  im- 
portant    que  les  deux  groupes,   distincts   dans  la  penscc  expresse 
de  M.  Lachelier,  sc  comportent  ici  ditferemment,  et  qu'il  y  a  peut 
otre  quelque  abus  a  assimiler  les  uns  aux  autres  sous  ce  rapport. 
üans  les  modes  convertis,  c'est  la  conclusion  seule  qui  est  devisöe 
et  qui  doit  etre  redressce;  les  premisses  sont  dans  l'ordre  oü  elles 
doivent  etre;  pour  les  retrogrades  au  contraire  le  mode  tel  quel, 
par  exemple  Frizesom,    ne  reussit  pas;    il    faut    le  renverser  dans 
ses  premisses   pour  qu'il  conclue.      Cette  Interpretation  se  heurte 
donc  a  la  mcrae  difficulte    que    uous  avons    signalee    ailleurs,    de 
manquer  d'homogcucite    profondc,    malgrc    son   apparcnce  d'unitö. 
On   voit  des  lors  que    les  modes  convertis,    s'ils    ne  sont  pas    des 


-•"')  J.  LacliL'lior,  Tliuorie  tlu  .Syllogisino,  p.  4^3. 


La  IVme  figure  du  syllogisme.  73 

episyllogismes,  ue  peuvent  ctre  qu'uue  transcription  detournee  des 
raodes  primitifs;  or  il  n'y  a  pas  interet  ä  multiplier  par  de  sem- 
blables  moyens  les  additions  et  les  singularites  possibles  du  rai- 
soüuement  normal.  Les  iiiodes  iucrimines,  s'ils  ne  sont  pas  autre 
chose  qu'une  ecriturc  cryptographique,  peuvent  etre  rayes  a  hon 
droit  de  la  science  logique  et  Ton  a  raison  eu  ce  sens  de  Jes 
traiter  de  batards  et  supprimer  comme  tels.  Les  modes  retro- 
grades sont  quelque  chose  de  plus  ou  de  pire,  puisque  la  crypto- 
graphie  eu  question  sert  chez  eux,  non  pas  a  cacher  leur  meca- 
nisme  veritable,  mais  ä  prodiiire  ce  mecanisme,  attendu  qu'ils  ue 
reussissent  pas  directement.  Peut  -  on  dire  alors  que  c'est  unc 
simple  affaire  d'ecriture,  ou  de  retorsion  de  la  pensee  veritable, 
que  Celle  qui  est  necessaire  pour  assurer  le  bien  fonde  du  rai- 
sonnement?  Et,  si  cette  construction  ä  rebours  est  essentielle  a 
ces  modes,  n'est-il  pas  pour  le  moins  peu  naturel  de  penser  d'uue 
maniere  et  d'ecrire  d'une  autre?  En  sorte  que,  si  deux  explications 
possibles  sont  eu  presence,  l'une  qui  nie,  1' autre  qui  affirme  la 
conformite  de  Tecriture  et  de  la  pensee,  la  seconde  sera  preferable; 
on  ne  devra  recourir  a  la  demonstration  indirecte  qu'en  desespoir 
de  cause,  si  aucune  demonstration  directe  n'est  possible. 

Mais  en  fait  cette  demonstration  directe  est  possible,  et  l'ou 
peut  trouver  aux  modes  de  la  IV™^  figure  un  autre  sens,  plus 
naturel  et  plus  distinct.  Et  d'abord,  il  convient  d'ecrire  ces  modes 
d'une  maniere  differente  pour  leur  donuer  toute  leur  signification 
et  toute  leur  valeur.  Si  l'on  a  commence  par  se  poser  ce  pro- 
bleme:  «  trouver  des  modes  iudirects,  en  partant  de  la  P®  figure 
qui,  une  fois  reuverses,  reussiraient  dans  cette  figure  »  il  n'y  a 
rien  d'etonnaut  ä  ce  que  les  modes  ainsi  construits  reussissent 
ainsi  et  ne  reussissent  pas  autrement;  il  n'y  a  rien  d'etonnaut  a 
ce  que  les  modes  veritablement  iudirects  de  la  P^  figure  soient 
incapables  d'une  iuterpretation  directe.  Mais  peut-etre  y  a  t-il  ici 
une  confusion  reelle,  et  c'est  vraiment  une  question  de  fait  qui  se 
pose.  C'est  uu  fait  que  les  iudirects  de  la  l^^  figure  en  SP  existent, 
et  que  le  redressement  mental  de  M.  Lachelier  les  cxplique;  mais 
ce  peut  etre  un  fait  aussi  que  d'autres  modes  existent,  directement 
construits  en  PS,  distincts  des  prccedents,  avec  lesquels   on  n'a  pas 


74  E.  T  houverez, 

Ic  druit  de  les  confüiidrc:  et  ce.s  modes  soiit  Tubjct  de  nolre 
deiixieme  hypothese. 

La  deuxieine  hypothese  cousiste  donc  ä  admettre  Texistence 
distincte  d'im  certain  groupe  de  modes,  voisins  des  proccdents, 
mais  qui  reussisent  par  la  voic  directe,  dans  une  figure  distincte. 
Et  en  elFet,  a  cöte  des  symboles  qiie  iious  avons  vus  Baralip, 
Celantes,  Dabitis,  etc.  (|ui  ne  reussissent  que  dans  la  l'^"  figiire  cn 
SP,  qui  n'eu  sout  (|u"iine  transpositiou  verbale,  et  qui  ne 
reussissent  pas  en  P8,  il  y  a  des  modes  reellement  inverses: 
Bamalip,  Camenes,  Dimatis,  qui  s'ecrivent  dans  la  IV™"  figure, 
suivant  le  schcme  PS,  qui  se  pensent  dans  l'ordre  que  cette  ecriture 
suppose,  qui  reussissent  ainsi  et  ne  reussissent  pas  autrement:  et 
ce  sont  ces  modes  precisement  que  nous  disons  etre  ceux  de  la 
IV'"''  figure,  II  y  a  donc  un  cercle,  serable-t-il,  a  dire:  «  le 
scheme  PS  est  superflu;  les  modes  qu'on  lui  attribue  correspondent 
et  doivent  correspondre  au  scheme  SP  a  condition  d'y  renverser 
quelque  chose;  il  faut  donc  ccrire  suivant  le  scheme  SP  des  modes 
tels  qu'une  fois  renverscs  ils  reussiront  dans  ce  scheme  en  SP;  » 
et  a  conclure:  «  les  modes  qu'on  voudrait  rattacher  au  scheme  en 
PS  reussissent  indirectement  en  SP;  donc  ils  ne  sont  que  des 
modes  inverses  de  la  P«  figure  et  le  scheme  PS  est  superflu  ». 
On  fabrique  ainsi,  dans  une  pretendue  IV""«  figure  batardc,  des 
modes  tels  qu'ils  ne  peuvent  s'expliquer  en  fait  que  par  la  P% 
en  Sorte  que  cette  explication  par  la  P''  est  en  effet  la  seule  qui 
par  la  suite  reussisse.  Nous  ne  contestons  pas  qu'il  existe  cn  fait 
des  modes  indireets  de  la  P'^"  figure  auxquels  la  theorie  du  re- 
dressement  mental  s'applique  exactement;  mais  nous  croyons  que 
d'autres  modes  existent,  —  sans  autre  preuvc  que  le  fait  nieme 
de  leur  existence,  —  qui  sont  distincts  des  precedents  et  qui 
peuvent  fournir  eux  aussi,  par  un  mode  de  raisonnement  direct 
qui  leur  est  propre,  des  conclusions  legitimes. 

Pour  en  rcvenir  a  Port-Royal,  il  n'est  pas  indifferent  d'ecrire 
les  syllogismes  d'une  maniere  ou  d'une  autre,  si  du  moins  on  veut 
qu'ä  n'importe  quelle  ecriture  ne  corresponde  pas  n'importe  quelle 
pensee,  et  que  la  distinction  des  schemes  exterieurs  exprime  la 
distinction  des  sigiiilications  internes.     En  ce  sens  il    existe  deux 


La  IVme  figure  du  syllogisme.  75 

grüupes  de  modes,  distiucts  a  la  fois  par  Fecriture  et  la  pensee: 
les  uns,  qui  sont  des  modes  iudirects  de  la  I"'  figure,  eu  SP,  et 
qui  s'expliquent  par  un  mouvemeut  iüdirect  de  la  pensee  dans 
cette  figure;  les  autres,  qui  s'ecrivent  et  se  penseut  daus  un 
scheme  difterent,  PS,  et  qui,  par  le  fait  de  leur  reussite,  justifient 
ce  scheme.  Le  scheme  eu  question  pourra  etre  Tobjet  d'une 
discussion  ulterieure,  quand  on  le  comparera  aux  autres,  soit  pour 
la  commodite  de  son  usage,  soit  pour  la  perfection  rationnelle  de 
sa  forme;  mais  son  existence  ue  peut  pas  etre  nice,  puisque  des 
modes  existent  qui  sont  conformes  a  ce  scheme,  et  qui  rcussissent. 
La  question  est  donc  resolue  par  les  faits  eux-memes  de  savoir  si  la 
jyme  figiive  existe;  il  reste  a  se  demander  maintenant  quelle  eile 
existe,  c'est-a-dire  quelle  est  sa  valeur  metaphysique  et  par  conse- 
quent  sa  place  dans  la  hierarchie  naturelle  des  figures. 

VL 

Leibniz  a  fait  le  premier  une  Classification  methodique  des 
figures;  il  la  fonde  sur  la  generalisation  d'uue  remarque  d'Aristote. 
Lorsqu'Aristote  reduisait  les  modes  de  la  II™®  et  de  la  III '"*^ 
figure  ä  ceux  de  la  P*^  au  moyen  de  la  conversion,  il  u'y 
reussissait  qu'en  partie,  et  devait  suppleer,  dans  deux  cas  au 
moins,  a  Finsuffisance  des  conversions  directes  par  une  methode 
de  reduction  a  l'absurde.  Les  modes  Baroko  et  Bokardo  se 
demontrent  en  faisant  voir  que,  si  Ton  en  contredit  la  conclusion, 
on  aboutit  dans  la  I ''«  figure  a  une  conclusion  nou volle  qui  est 
la  contradictoire  de  l'une  des  premisses  primitives.  D'une  manierc 
generale,  la  reduction  a  l'absurde  repose  sur  ce  principe  qu'on  ne 
peut  pas  aflirmer  a  la  fois  les  coutradictoires,  parce  que  si  Tune 
est  vraie,  l'autre  est  fausse  et  reciproquement.  La  premisse 
premiere  etait  vraie;  donc  la  conclusion  seconde  qui  la  contredit 
est  fausse;  donc  encore  la  premisse  seconde  qui  a  donue  cette 
conclusion  est  fausse,  et  la  conclusion  premiere,  dont  cette  premisse 
est  la  contradictoire,  etait  vraie.  II  y  a  identite  entre  la  formule 
«ceci  est  vrai»  et  la  formule  «la  contradictoire  de  ceci  est  faux». 
C'est  en  ce  sens  que  la  demonstration  par  l'absurde  peut  se  definir 
une  demonstration  par  les  identiques,  terme  qui  parait  obscur 


76  ■  E.  Thouverez, 

au  prcmier  abord,  et  qui  rappeile,  chez  Leibniz,  la  constante  pre- 
occupation  de  ramener  lesformes  logiques  a  Celles  d'une  mathöinatique 
universelle  dont  tous  les  (.'lements  seraient  lies  par  des  rapports 
aussi  voisins  que  possible  de  lldentitc.  Or,  c'est  la  possibilite  ou 
rimpossibilite  de  cette  demonstration  par  les  identiques  qui  devient, 
pour  Leibniz,  le  principe  de  la  Classification  generale  des  syllogismes. 
En  efl'et,  tandis  que  la  conversion  ne  reussit  que  partiellement,  et 
par  une  sorte  de  hasard,  ä  operer  les  reductions  d'Aristote,  la 
demonstration  par  l'absurde  s'applique  d'une  maniere  generale,  et  par 
un  procede  identique,  ä  tous  les  modes  de  la  11'"«  et  de  la  III™« 
figures.  Ces  figures  sont  donc  aussi  rapprochees  que  possible  de 
la  P<^  et  s'ideutifieut  avec  eile  par  ce  procede.  Au  contraire,  dit 
Leibniz,  la  pure  reduction  par  les  identiques  ne  reussit  pas  avec 
la  IV""^  figure;  il  faut  y  ajouter  une  conversion.  Par  exemple, 
la  reduction  de  Baroko  de  la  11™^  ligure  a  la  I""*^  reussit  directe- 
ment  par  les  identiques,  parce  qu'une  conclusion  teile  que  «tous 
les  B  sont  M»,  du  syllogisme  derive,  est  immediatement  contra- 
dictoire  avec  la  premisse  «quelques  B  ne  sont  pas  M»,  du  syllogisme 
primitif;  au  contraire,  si  l'on  applique  ä  Bamalip  le  meme  mode  de 
reduction,  on  obtient  une  conclusion  «nul  B  n'est  quelque  M»  qu'il 
faut  convertir  en  «quelque  M  n'est  pas  B»  pour  obtenir  la  contra- 
diction  de  la  premisse  primitive  «tous  les  M  sont  B»  ^").  ]>a. 
contradiction,  quand  il  s'agit  de  la  lY""^  figure,  n'apparait  donc 
pas  immediatement,    mais  a  l'aide  d'une  conversion  intermcdiaire. 


-")  Leibniz:  Nouveaux  Essais,  liv.  IV;  chap.  II,  §  1. 
Exemples:  P  Baroko:        2"  Bamalip: 

Tous  les  A  sont  31  Tous  les  A  sont  M 

QuelfiuesB  ne  sontpasM     Tons  les  M  sont  B 
—  Quelques  B   ne  sont       — Quelques  B  sont  A — 
pas  A —  d'oü,  par  contradiction: 

d'oii,  par  contradiction:  P  Tous  les  A  sont  M  2"  uu  bien: 

Tous  les  A  sont  M  —Nul  1!  n'est  A —  — Nul  B  u'est  A — 

— Tous  les  B  sont  A—       Nul  B  n'est  quelque  M       Tous  les  M  sont  B 
Tous  les  B  sont  M  ou,  par  conversion:  Nul  M  n'est  A 

contradictoire  de:  Quelque  M  n'est  ])as  B  ou  par  conversion: 

Quelques  B  ne  sont  pas  M  contradictoire  lie:  Nul  A  n'est  M 

Tous  les  M  sont  B  contraire  de 

Tous  les  A  sont  M 


La  IVme  figure  du  syllogisme.  77 

C'est  pourquoi  la  IV"«  figure  est  plus  eloignee  de  la  I-"*"  que  les 
deux  autres;  eile  se  place  au  dernier  rang,  mais  ce  rang  ne  saurait 
lui  etre  enleve;  avoir  une  place,  quelle  qu'elle  soit,  dans  une  serie 
rationnelle,  c'est  y  avoir  son  droit  a  l'existence.  Leibuiz  affirme 
aiusi  du  meme  coup  la  legitimite  de  la  IV '"«^  figure  et  son  role 
subalterne. 

II  reste  cependant  quelque  ambiguite  dans  la  pensee  de 
Leibniz,  comme  il  y  en  a  eu  dans  celle  d'Aristote.  L'idee 
maitresse  d'Aristote  est  que  la  syllogistique  constitue  un  corpus 
unique,  et  que  cette  unite  resulte  de  la  Subordination  de  toutes 
les  figures  a  la  l'*'.  La  I'"«^  figure  parait  etre  ainsi  le  type  de 
toute  clarte  logique,  grace  peut-etre  aux  formes  du  langage  grec 
qui,  enonyant  dans  toute  proposition  Tattribut  d'abord  et  le  sujet 
ensuite,  fait  de  la  l'"  figure  celle  dans  laquelle  le  moyen  apparait 
le  mieux  a  sa  place  precise,  localise  entre  les  deux  extremes.  Et 
cependant  Aristote,  tout  en  ramenant  les  figures  ulterieures  a 
celle-ci  par  la  conversion,  n'exclut  pas  un  autre  mode  de  demon- 
stration,  par  ecthese,  comme  si  chaque  figure  etait  autonome  et 
se  referait  directement  a  Tidentite.  De  meme  Leibniz  semble 
bien  admettre  qu'on  arrive  ä  un  maximum  d'unite  et  de  rigueur 
logique  quand  on  derive  les  figures  secondaires  de  la  figure  type 
par  le  moyen  des  contradictoires,  soit  immediatement,  soit 
mediatement;  et  en  meme  temps  il  admet,  suivant  Ramus,  que  la 
conversion  negative  ou  affirmative  est  un  veritable  syllogisme  de 
la  II'"«  ou  de  la  III™''  figure.  C'est  faire  implicitement  ce  que 
fera  plus  tard  M.  Lachelier  avec  une  beaucoup  plus  grande  nettete 
et  conscience  du  but  a  atteindre^^):  c'est  ouvrir  la  voie  a  la  doctrine 
de  l'autonomie  des  figures,  caracterisees  par  autant  d'inferences 
speciales,  et  irreductibles  a  la  T"^  figure,  sinon  par  le  moyen  de 
ces  inferences  memes.  Mais,  tandis  que  M.  Lachelier  nie  toute 
espece  de  rapport  entre  les  figures  II  et  III,  qui  se  distinguent 
absolument  de  la  P-  et  existent  d'une  existence  autonome,  et  la 
figure  IV,  qui  n'existe  absolument  pas,  Leibniz  admet  au  contraire, 


27)  J.  Lachelier:  Theorie  du  Syllogisme,  p.  469 sqq.  —  Leibniz, 
Nouveaus  Essais,  1.  IV,  M.  IL  §1:  chap.  XVIL  §  4  (ed.  Gerhardt,  t.  V, 
pp.  346,  462). 


78  E.  Thouverez, 

par  unc  application  naturelle  de  son  principe  gencral  de  continuite, 
que  le  nieme  sort  a  des  degres  difiereuts  enveloppe  toutcs  les 
figures  secondaires;  la  IV'"«"  figure,  coinme  les  deux  precedentcs, 
est  a  la  fois  existante  comme  le  dira  Lambert,  et  non  existante 
comme  le  dira  Kant;  le  debat  va  s'ouvrir  entre  les  deux  doctrines, 
mais  toutes  deux  lieront  de  meine  le  sort  de  la  IV'"''  figure  a 
celui  des  deux  precedentes. 

La  thcse  de  Kant,  sur  la  fausse  subtilite  des  figures^^),  peut 
se  ramener  a  trois  points:  la  formule  generale  qu'il  donne  du 
Probleme  logi(|ue,  le  rapport  qu'il  etablit  entre  la  formule  ainsi 
posee  et  le  mode  de  derivation  des  figures,  la  difference  enfin  qu'il 
admet  entre  un  certain  degre  de  derivation  simple  pour  les  figures 
II  et  III,  et  une  derivation  plus  complexe  pour  la  figure  IV.  — 
La  formule  gcMierale  du  probleme  logique  «qu'il  s'agit  de  trouver 
un  rapport  entre  une  cliose  et  un  signe  par  le  moyen  d'un  autre 
signe»''"*)  est  tonte  positive.  On  tourne  le  dos  a  la  logique  classique 
et  a  Aristote  quaud  on  ramene  le  dictum  de  omni  a  n'etre 
qu'un  cas  particulier  d'une  theorie  generale  des  signes;  c'est 
generaliser  le  probleme  ä  la  maniere  des  matliematiciens,  ramener 
la  science,  suivant  Condillac,  ä  un  Systeme  de  signes.  Or,  si  la 
logi([ue  reclierche  quelles  sont  les  formes  primitives  et  irrediictibles 
du  raisonnement,  on  fait  une  abstraction  illegitime  quand  on  elague 
les  distinctions  de  quantitc  et  de  qualite  qui  sont  precisement 
l'ensemble  dos  categories  logiqucs;  et  c'est  pourquoi  sans  doute 
M.  Lachelier  denie  a  Kant  le  droit  de  faire  une  simplification  qui 
repose,  en  dcrniere  analyse,  sur  une  non  perception  des  dif- 
ferences. 

(!'est  donc  par  une  veritable  contradiction  que  Kant  ne  met 
pas  toutes  les  (igures,  en  vertu  de  cette  formule,  sur  un  meme 
plan  d'egalite  reciproque,  comme  11  conviendrait  si  elles  ne  sont 
que  les  doublures  indilVerentes  les  uues  des  autres.     II  se  montre 


")  Kant:  Säm  m  tliclie  Werke,  öd.  Hartenstein;  Leipzig,  18G7:  t.  11. 
p.  55— (J8:  Die  falsciie  Spitzfindigkeit  der  vier  s yliogistisclicn 
Figuren  erwiesen. 

-"■')  „  ...  die  Vergleiclmng  eines  Merkmals  mit  einer  Sache,  vermittelst 
eines  Zwischenmerkmals."      1.  c,  p.  56. 


La  iVme  figure  du  syllogisme.  79 

fidele  disciple  d'Aristote  par  la  Suprematie  qu'il  accorde  ä  la  I""« 
figure.  Et  cette  Suprematie  resulte  elle-meme  de  l'analogie  qui 
existe  entre  la  phraseologie  employee  par  les  deux  auteurs.  On 
peut  en  eflet  resoudre  une  difficulte  toute  verbale  eu  faisant  passer, 
dans  la  formule  de  Kant  sur  les  sigues,  l'ordre  mome  qu'Aristote 
suivait  dans  sa  formule  sur  les  predicats.  Dans  la  formule  a 
laquelle  Kant  conduit:  «tel  signe  convient  ä  tel  autre  signe,  cet 
autre  signe  convient  a  tel  objet,  donc  le  premier  signe  convient  ä 
cet  objet»,  l'ordre  des  termes  est  le  meme  que  dans  la  formule 
d'Aristote  «A  s'attribue  de  B;  B  s'attribue  de  C;  donc  A  s"attribue 
de  C»  ^").  Dans  les  deux  cas,  le  moyen  logique  occupe  en  effet 
la  place  moyenne  entre  les  deux  extremes,  et  cette  superiorite 
toute  mecanique  de  la  formule  employee  est  ce  qui  designe  la 
!'■*  figure  comme  plus  facile  a  suivre  pour  la  pensee.  Mais 
precisement  cette  facilite  empirique  de  comprehension  ne  doit  pas 
faire  conclure  ä  une  superiorite  rationnelle  dans  le  fond  des  clioses. 
Un  algebriste  ne  ferait  aucune  difference  entre  cette  serie  de  for- 
mules:  «x  =  5;  5  =  y;  donc  x  =  y»,  et  cette  autre  serie  «x  =  5: 
y  =  5;  donc  x  =  y».  II  faut  choisir  entre  les  deux  points 
de  vue.  Ou  bien,  comme  on  Fadmettrait  en  algebre,  toutes  ces 
formules  sont  indifferentes,  et,  dans  ce  cas,  Kant  n'a  pas  le  droit 
de  dire  que  l'une  d'entre  elles  est  le  prototype,  qu'elle  presente 
seule  un  raisonnement  rationnel  pur  et  que  le  transport  verbal 
de  quelque  partie  d'une  autre  formule,  pour  la  ramener  a  la 
precedente,  constitue  une  modification  reelle,  par  laquelle  le 
raisonnement  apparait  hybride  ou  mixte.  Ou  bien  en  effet  il  y 
a,  comme  nous  le  croyons  volontiers,  autre  chose  qu'une  difterence 
purement  verbale  entre  les  ligures,  parce  que  la  position  du  moyen 
terme  correspond  a  des  groupements  differents  de  la  quantite, 
raodifiant  par  la  meme  les  rapports  de  genre  et  d'espece.  Mais 
alors,  si  chaque  figure  diftere  de  la  P'^  par  un  element  reel, 
l'acte    par    lequel    on  la  ramene   a   la  P«   est  autre  chose  qu'une 

2")  „  Ein  Merkmal  B  von  einem  Merkmal  einer  Sache  A  ist  ein  Merkmal 
der  Sache  A  selbst";  loc.  cit.  p.  59:  en  d'autres  termes:  _B  ist  Merkmal  von 
C;  C  ist  Merkmal  von  A;  B  ist  Merkmal  von  A;  »  ou,  comme  ecrit  Kant: 
-C  hat  zum  Merkmal  B;  A  hat  zum  Merkmal  C:  also  A  hat  /.um  Merkmal  B". 


80  E.  Thouverez, 

transmutatioQ  purement  verbale;  c'est  im  raisonnement  particulier 
dont  la  I""«  figure  ne  rend  pas  compte,  qui  est  quelque  cliose 
d'irreductible,  et  qui,  comme  M.  Lachelier  Ta  fait  vüir,  est,  poiir 
chaqiie  figure,  cette  figure  meine. 

De  meme  enfin  que  Kant  fait  une  distinction,  que  ses  principcs 
justifient  mal,  eutre  la  valeur  de  la  F*"  ligure  et  celle  des  suivantes, 
de  meine  il  etablit  une  gradation,  que  ses  principes  n'autorisent 
guere  mieux,  entre  les  diverses  ligures  derivees.  Ici  donc,  comme 
il  arrive  souvent  pour  les  discussions  d'un  caractere  purement 
theorique,  deux  Solutions  opposees  produisent  des  consequences 
analogues.  Que  la  I"^'  figure  seit  seule  existante,  comme  le  veut 
Kant,  ou  qu'elle  soit  simplement  la  premiere  de  toutes  en  valeur 
logique,  il  en  resulte  toujours  que  le  degre  de  perfection  des  figures 
suivantes  se  mesurera  sur  leur  rapport  a  la  I'"'"  et  siir  la  facilite 
de  leur  reduction.  Et  si  Ton  objecte  quo  Kant,  comme  nous  le 
disions  plus  haut,  ne  doit  etablir  aucune  difterence  de  valeur  entre 
des  figures  indifferemmeut  subtiles,  il  pourra  rcpondre  qu'il  les 
ordonne  simplement,  comme  fönt  les  algebristes  pour  les  termes 
d'une  equation,  par  ordre  de  complexite  grandissante,  sans  que 
cette  complexite  purement  materielle  revete  pour  lui  un  sens 
rnetapliysique.  Or,  cette  ordonnance  etablie  par  Kant  au  point 
de  vue  des  conversions  est  precisement  la  hierarchie  que  Leibniz 
avait  admise  au  point  de  vue  des  rcductions  ä  l'absurde.  Les 
figures  IJ  et  III  se  laissent  ramener  a  la  figure  I  par  une  conversion 
unique,  en  faisant  suivre  immediatement,  dans  chaque  figure,  la 
premisse  non  conforme  au  prototype,  de  la  meme  premisse  convertie: 
puisqu'en  cffet  le  scheme  SP  ne  dilTore,  que  par  un  deplacement 
unique  du  moyen,  des  Scheines  PP  et  SP.  Au  contraire  pour  hi 
j[yiue  ligui-e,  de  scheine  PS,  le  deplacement  est  double,  et  par 
consequent  la  reduction  (Pun  degre  moins  simple.  Mais  il  y  a 
plus,    et  ce   procedc   meme   de  derivation   n'est  pas  homogene"). 

31)  Kant,  1.  c,  p.  Gl. 

1"  Modes  il  majeure  negative  (retro-  Quelques  savants  sont  pieux 

grades):  —  en  sortc  que:  quelques  jiieux  sont 

Aucun  sot  n'est  savant  savants 

—  en  Sorte  que:  aucun  savant  u'est  donc 

sot:  quelques  pieux  ne  sont  pas  sots. 


La  IV"ne  ligure  du  syllogisme.  81 

Si  Ton  suit  d'aborcl  le  pur  mecanisme  de  Kant,  ü  est  naturel  de 
rediiire  la  IVm«'  figure  au  moyen   de  deux  conversions  successives, 
au  lieu  d'une  seule;    or  ce   procede  qui  reussit  avec  les  inodes  de 
majeure  universelle   negative   Fepazmo,    Fresizora,    ne  reussit  pas 
avec  les  autres  modes,  parce  qu'en  effet  la  majeure  de  la  I™  figure 
doit  etre  universelle  et  que  la  proposition  E  est  la  seule  qui  puisse 
se  convertir  universellement.     La   derivation   doit  donc,  pour  les 
autres  modes,   s'operer  par  une  autre  voie,   qui  est  la  metathc'se, 
et  qui,   d'ailleurs,   exprime   peut-etre  avec  plus   de  comprehension 
le  veritable  rapport  de  cette  figure  ä  la  I'-',  et  son  veritable  caractere 
en   eile- memo.     Kant  intervertit  l'ordre  des  premisses:    premiere 
Operation;    puis,    ayant  obtenu   ainsi    une  conclusion    qui    est    la 
convertie  de  celle  qu'il  fallait  obtenir,  il  la  convertit   ä   son  tour 
pour  retrouver  la  premiere:  seconde  Operation.    La  reduction  s'opere 
donc  en  deux  fois,   par  une  sorte  de  polysyllogisme.     Un  premier 
syllogisme,  par  metathese,  ramene  la  forme  normale  a  la  I'*^  figure, 
aux  depens  de  la  conclusion ;  un  deuxieme  syllogisme,  par  conversion, 
ramene   la  conclusion   a   sa  forme  premiere.     Plus   encore  ici   que 
tout  a  l'heure  la  complexite  de  la  derivation  apparait  par  rapport 
a  Celle  qui  reussit  pour  les  figures  anterieures.     Plus  haut  c'etait 
le  meme  procede  redouble;  ici  c'est  un  procede  dififerent,  plus  long 
et  plus  detourne.     Et  l'on  n'a  pas  meme  la  ressource    de  faire  de 
ce  procede   le  plus  lointain,   par  metathese,   le  procede  unique   de 
derivation,   parce  que   la  metathese  ne  reussit  pas  mieux  avec  les 
modes  de  majeure  E,  que  la  conversion  ne  reussit  avec  les  autres; 
la  metathese  donnerait  pour  eux  une  mineure  negative,  ce  que  la 
V^  figure    n'admet    pas.     Une    nouvelle   complication    se    presente 
donc;  c'est  que  la  IV""'  figure  n'admet  pas  un  procede  de  derivation 
homogene,    quelque    complexe    qu'il    soit.      Remarquous    d'ailleurs 
que  Kant  opere  bien   ici  sur   los  syllogismes   qui  sont  ceux  de  la 


2"  k  majeure  positive  (convertis):  — ^Toiit  espiit  est  simple 

Tout  esprit  est  simple  douc 

Tout  simple  est  indestructible  Tout   esprit  est  iiidestructible 

douc,  par  metathese  daus  la  I'**  et,  jiar  suite:  Quelque  indestructible 

figure  :  est  esprit. 

—  Tout  simple  est  indestructible 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     XV.  1.  O 


82  E.  Thouverez, 

jyme  figure.  et  que  nous  avons  recus  comme  tels,  par  Opposition 
aux  indirects  classiqaes  de  la  P*".  Nous  avons  vu  deja  qu'en  effet 
les  modes  de  la  IV'"^"  figure  ne  se  laissent  pas  ramener  par  un 
procede  unique  a  ceux  de  la  I"',  et  c'est  meme  ce  fait  qui  nous 
avait  engages  ä  chercher  ailleurs,  c'est-a-dire  dans  un  principe  qui 
leur  füt  propre,  Tunitc  d'origine  de  ces  modes.  On  peut  generaliser 
la  remarque:  la  11""^  et  la  III'"'^'  figures  ne  sont  pas  plus  homogenes 
a  cet  egard,  puisque  ni  la  conversion  ni  la  contraposition  ne 
reussissent  a  la  reduction  directe  de  Baroko  et  de  Bokardo.  Le 
seul  procede  uniforme,  qui  s'applique  ä  toutes  les  figures  et  h 
tous  les  modes,  est  la  reduction  a  l'absurde  de  Leibniz,  avec  une 
conversion  additionnelle  pour  la  lY"^^  ligure.  D'une  maniere 
generale  d"ailleurs,  la  discussion  de  Kant  conduit  aux  memes  con- 
clusions  que  Celles  de  Leibniz  en  ce  qui  concerne  le  rang  de  la 
lyme  figure  dans  la  serie  complete.  Leibniz  faisait  de  cette  figure 
la  plus  mal  habile  et  la  plus  humble  dans  l'ordre  des  existences; 
Kant  fait  d'elle  la  plus  detournee  et  la  plus  nulle  dans  l'ordre 
des  non- existences:  tous  deux  s'accordent  pour  Her  sa  fortune  a 
Celle  des  deux  figures  prccedentes,  qu'elle  suit  a  un  degre  inferieur. 
L'opuscule  de  Kant  est  de  1762;  le  «  Nouvel  Orgaue  »  de 
Lambert  est  de  1764.  La  methode  generale  de  Lambert  consiste 
ä  se  placer  sur  le  terrain  de  l'experience  avec  Locke  pour  justifier 
cette  experience  par  le  rationalisme  de  Wolf.  Dans  sa  doctrine 
speciale  du  syllogisme^^),  Lambert  admet  que  chaque  figure  corre- 
spond  a  certains  faits  d'un  ordre  particulier,  et  se  justifie  ration- 
nellemeut  par  son  application  a  cet  ordre  de  faits  ou  de  problemes. 
Chaque  figure  est  autonome,  parce  que  chacunc  est  la  mieux  adaptee 
a  certains  ordres  de  recherche  par  Opposition  ;\  d'autrcs.  La  I'*' 
figure  excelle  a  trouver  les  attributs  des  clioses;  la  II'"<^  exprime 
les  differences  entre  les  objets;  la  III""^'   fournit  les  exemples  et  les 


^2)  Nous  exposons  ici  la  doctrine  de  Lambert  (Neues  Organen,  vol.  I, 
§  '225  a.  232)  d'apres  l'analyse  qu'en  a  donnee  Ilamilton,  dans  ses  Lectures 
on  Logic;  Edinburg,  1874;  t.  II,  p.  43(j— 441.  —  M.  Lachelier  a  bien  voulu 
nous  sigiiaier  I'existence  d'un  exemplaire  du  Neues  Organon  :i  la  Biblio- 
theque  Victor  Cousin;  mallieureusement  cette  bibliotlieque  ne  commuuique 
pas  ses  livres  aux  Uuiversites  des  departements. 


La  IVme  figure  du  syllogisme.  83 

exceptions;  la  IV™*"  enfin  a  pour  objet  les  raisonnements  par  con- 
version,  eile  est  par  excellence  la  figure  de  la  reciprocite.  Dans 
cliacun  de  ces  cas,  c'est  teile  figure  qui  convient  par  Opposition 
k  toute  autre,  et  ce  serait  reudre  les  choses  plus  obscures,  et  uon 
pas  plus  claires,  que  de  remplacer  teile  figure  secondaire,  qui 
couvieut,  par  la  1'*'  figure  qui  ne  convient  pas.  II  est  naturel  de 
dire  dans  la  III™''  figure:  «  l'aimaut  attire  le  fer,  Taimant  est  une 
pierre;  donc  certaine  pierre  attire  le  fer  »  ou  daus  la  11™*^:  «  un 
cercle  est  rond;  un  carre  n'est  pas  rond;  donc  un  carre  n'est  pas 
un  cercle  ».  Au  contraire,  si  Ton  ramene  ces  exemples,  par  une 
transpositiou  du  moyen,  au  scheme  de  la  I'*^  figure,  on  obtient  des 
formules  contournees  qui  sont  moius  naturelles  et  par  consequent 
raoins  lucides.  II  n'y  a  donc  pas  un  privilege  en  faveur  de  la 
r*^  figure;  chaque  figure  a  egaleraent  son  role  qui  lui  est  propre 
et  la  IV™*^  figure  comme  les  autres. 

Cette  theorie,  d'allure  toute  pratique,  offre  une  ressemblance 
curieuse  avec  certaine  partie  de  celle  d'Aristote.  Pour  les  modernes 
eu  general  le  syllogisme  est  un  pur  objet  de  science,  et  cette 
science  est  oiseuse  pour  quiconque  n'y  per^oit  que  des  combinaisons 
verbales  et  subtiles,  attachante  seulement  pour  quiconque  demele, 
derriere  Tecliiquier  des  symboles,  les  lois  metaphysiques  qui  les 
fondent.  Au  contraire  pour  les  auciens  et  pour  Aristote,  le  syllo- 
gisme est  en  meme  temps  un  art  d'utilite  pratique;  et  c'est  pour 
savoir  trouver  des  raisonnements  efficaces  dans  la  discussion  qu'on 
se  donne  la  peine  d"en  chercher  les  fondements  solides.  Les 
Premiers  Analytiques  ont  pour  but  de  faire  voir  comment  on 
peut  trouver,  le  cas  echeant,  le  moyen  terme  dont  on  a  besoin; 
quel  syllogisme  il  faut  construire  pour  montrer  qu'un  genre,  ou 
qu'une  espece,  est  ou  n'est  pas;  en  d'autres  termes  pour  demontrer 
la  verite  de  Fune  quelconque  des  conclusions  possibles  A,  E,  I,  0. 
Or,  un  commentateur  autorise  d'Aristote,  Prantl,  admet  que  la 
jyrae  figure  pourrait,  dans  quelques  cas  speciaux,  convenir  a  des 
problemes  poses  sous  la  forme  particuliere  negative'^).    On  pourrait 


^^)  .,Die  Schlussmodi  8  uud  9  könnten  höchstens  als  technisches  Mittel  um 
ein  Problem  auf  4  [Ferio]  zu  reduciren,   eine  Bedeutung  haben  .  .  .".     Prantl 

6* 


84  E-  Thouverez, 

admettre  par  hypothese  que  cette  conclusion  0,  la  plus  eloignee 
de  A,  caracteritse  la  IV""^  figure,  qui  est  la  plus  eloignee  de  la 
I''",  et  que  les  modes  de  majeure  E,  Fepazmo,  Fresizom  en  sont 
les  represeutauts  naturels.  Aristote  aurait  donc  pu  aboutir.  par  la 
recherche  pratique,  a  cette  meme  IV'"'^'  figure,  que  des  consideratious 
theoriques  l'ont  empechc  de  voir  ou  d'admettre. 

Quoi  qu'il  en  soit  de  cette  gradation  toute  formelle  des  con- 
clusions  et  des  figures,  la  tlieorie  de  Lambert  qui  se  refere,  non 
pas  ii  la  forme  des  conclusions,  mais  au  mecanisrae  des  figures, 
part  de  ce  fait  que  dans  certains  cas  on  peut  poser  une  questioii 
a  laquclle  il  est  naturellement  repondu  par  la  IV"'"  figure.  Cela 
signiiie,  non  pas  que  le  raisounement  de  la  IV'"'^'  figure  —  et  tout 
a  Fheure  celui  de  la  11™'^'  sur  l'aimant,  de  la  111°"'  sur  le  cercle  — 
seraient  des  arrangements  verbaux  plus  commodes  pour  le  langage: 
ce  qui  trausformerait  la  syllogistique  en  uue  rhetorique  et  la 
distinction  des  idees  en  une  distinction  des  mots;  mais  bien  que 
certains  rapports  tres  divers  pouvant  exister  entre  les  idees,  — 
entre  les  genres  et  les  especes,  comme  on  doit  dire  en  logique,  — 
chacune  de  ces  figures  est  en  effet  la  plus  capable  d'exprimer 
cliacun  de  ces  rapports.  Si  donc  la  IV"*^  figure  est  la  forme  de 
la  reciprocite,  et  par  consequent  exprime  les  rapports  inverses  a 
ceux  que  la  T"''  figure  exprime,  eile  doit  conclure  ou  essayer  de 
conclure  de  l'espece  au  genre,  comme  la  I"^  figure  conclut  du  genre 
a  l'espece.  Le  rapport  des  deux  figures  est  un  rapport  d'opposition 
logique,  qui  a  fait  croire  a  fort  a  une  simple  relation  d'opposition 
verbale.  Un  renversement  purement  verbal  est  caractcrise  par  ce 
fait  que  les  resultats  sont  les  memes  dans  les  deux  termes  de 
ralternative;  un  renversement  rationnel  est  caracterise  par  ce  fait 
que  les  deux  termes  de  l'alternative  sont  correlatifs  et  par  conse- 
quent complementaires  Tun  de  l'autre,  non  pas  identiques.  La 
formulc  X  =  5  est  a  la  fois  identique  et  correlative  a  la  formule 
5  —  x;  la  formule  «  tous  les  medecins  sont  hommes  »  est  correlative 
et  non  pas  identique  a  la  formule  «  quelques  hommes  »  sont  medecins; 


t.  I,  p.  aOG.    —    of.  J.  Laclielier,    Theorie    du    Syllogisme,    p.   482—483: 
«  L'origiualite  de  la  IV^e  figme  etc.  ». 


La  IVme  figure  du  syllogisrae.  85 

ou,  si  Ton  prefere,  Ic  rapport  qui  existe  entre  medecius  et  hommes 
est  correlatif,  et  non  pas  identique,  ä  celui  qui  existe  entre  homme 
et  medecio.  C"est  ce  que  Lambert  exprime  dans  une  formule 
assez  complexe  et  assez  penible,  par  laquelle  il  resume  l'office  de 
la  lY""'  figure:  «  ou  bien,  dit-il,  la  IV™'^  figure  exprime  les  especes 
d'un  genre  en  Baralip  et  Dibatis;  ou  bien  eile  raontre  que  l'espece 
u'epuise  pas  le  genre  en  Fesapo,  Fresison,  ou  bien  enfin  eile  nie 
Tespece  de  ce  qui  etait  nie  du  genre  en  Calentes  » ^^). 

Cette  formule  est  trop  breve  pour  qu'on  en  puisse  tirer  une 
conclusion  süffisante,  et  Ton  risque  de  travestir  la  pensee  de  Tauteur 
a  la  vouloir  traduire,  sans  autre  secours.  Rappeions  cependant 
que  ridee  de  reciprocite  est  celle  qui  caracterise  la  IV™-  figure 
aux  yeux  de  Lambert;  or  dans  la  P*^  figure,  par  exemple  en  Barbara: 
«  Tont  M  est  A;  tout  B  est  M;  douc  tout  B  est  A  »  le  terme  A 
designe  le  genre  et  B  l'espece ,  aussi  bien  dans  la  conclusion  que 
dans  les  premisses.  On  pourrait  admettre  de  meme  que  dans 
Bamalip  et  Dimatis  la  conclusion  «  Quelque  B  est  A  »  signifie 
aussi:  «  B  est  espece  par  rapport  a  A  qui  est  genre  ».  Cependant 
on  se  rapprocherait  davantage,  semble  t-il,  de  la  pensee  de  l'auteur 
en  disant:  «  B  est  genre  et  A  est  espece;  une  partie  du  genre  B 
est  l'espece  A;  l'espece  A  est  exprimee  et  mise  en  relief  parmi  les 
autres  especes  possibles  du  genre  B  »;  en  sorte  que  Ton  aurait  ici 
dans  les  termes  A  et  B,  un  renversement  de  leur  role  par  rapport 
a  celui  qu'ils  jouent  dans  la  I'*^  figure;  et  cette  reciprocite  caracteri- 
scrait  bien  la  W^^'-  figure,  oii  le  grand  terme  nominal  A  est  reellement 
espece  par  rapport  au  moyen  M,  et  le  petit  terme  nominal  B, 
reellement  genre.  —  De  meme,  en  Fepasmo  et  Fresizom.  la  con- 
clusion: «  quelque  B  n'est  pas  A  »  signifierait:  «  B  est  genre 
et  A  est  espece;  une  partie  du  genre  B  n'est  pas  l'espece  A;  il  y 
a    dans    le    genre   B   d'autres   especes    que  l'espece  A;    l'espece  A 


2*)  Lambert,  \.  c,  §  229,  4":  «  The  fourth  figure  finds  Species  iu  a  Genus 
in  Baralip  and  Dibatis;  it  shows  that  the  species  does  not  exiiaust  the 
genus  in  Fesapo,  Fresison;  and  it  denies  the  species  of  what  was  denicd 
of  the  genus  in  Calentes  »:  (Hamilton,  1.  c,  p.  438).  —  Voir  les  syllogismes 
construits  d'apres  ces  schemes,  ci-dessus,  note  24,  Sino  cas. 


36  E.  Thouverez, 

n'epuise    pas    le    genre   B  »;    et    ici    eiicore    la    meme    reciprocite 
apparaitrait    par    rapport    ;i    la  I"'   figurc.   —    Pour    Camenes    au 
contrairc   la  reductiou  au  meme  sens   est  beaucoup  plus   difficile; 
d'apres  la  Ibrmule  citee  plus  haut,  on  interpreterait:  «  Tout  A  est 
M  »,  c'est-a-dire  l'espece  A  fait   partie  du  genre  M;    <;  or  uul  M 
n'est  B  »,   c'est-a-dire  Telemeut  auxiliairc  B  est   nie   du  genre  M; 
«donc  Ulli  B  n'est  A  »,  c'est-ä-dire  l'espece  A  est  nice  de  l'element 
auxiliaire  B:   l'espece   est  niee   de   ce  qui  ctait  nie   du  genre.     Ici 
encore   A    serait    cspece    et    non    pas    genre;    mais    B   serait    un 
Clement  auxiliaire   et   un  moyen    veritable;  le  genre  serait  M.  — 
Tout  cela  est  bien  difficile  a  expliquer  rationnellement;  toute  cette 
hetcrogeneitc  deconcerte  et  justifie  la  formule  de  M.  Lachelier  que 
Lambert  fait  de  vains  eflforts   pour  donner  un  sens  —  au  moins 
un  sens  homogene,  car  ce  qui  n'est  pas  un  n'est  pas  —  a  la  IV""' 
figure  qu'il  voulait  defendre.     Et   cependant,   Techec  de  Lambert 
n'est  pas  une  preuve  d"impossibilite  absolue;  si  la  IV™''  figurc  est 
la  plus   detournee  de  toutes  de  Fusage  naturel  des  termes,  il  n'est 
pas  ctonuant  qu'elle  soit    la    plus  rebelle    aux   solutions  simples. 
II  nous  semble  au  moins  qu'il  y  a  chez  Lambert  un  commeucement 
de   Solution,  et   que  Tidee   de  reciprocite  est   bien  en  elTet  Tidce 
directrice  qui  caracterise  cette  figure.    C'est  donc  dans  cette  direction 
qu'il  faudra  chercher  une  explication  plus  complete  et  plus  homogene 
pour  rendre  compte  rationnellement  de  Fexistence  de  la  IV™''  figure, 
puisqu'en  fait  eile  existe. 

VIT. 

En  resume,  les  motifs  pour  lesqucls  on  revoquc  en  doutc  la 
legitimite  de  la  IV™''  figure  se  ramenent  ä  trois  chefs:  que  les 
preteudus  modes  de  cette  figurc  sont  en  realite  des  modes  indirects 
des  autres  iigures;  que  le  cycle  logique  est  complet  avec  les  trois 
figures  d'Aristote  et  se  referme  sur  elles;  enfin  qu'aucune  Inter- 
pretation directe  de  la  IV™''  figure  n'est  possible.  —  Le  premier 
motif  se  detruit  lui-meme  par  la  multiplicitc  des  formes  qu'il 
revet;  tous  les  logicicns,  qui  invoqucnt  la  reductiou  possible  des 
modes  contestes  a  ceux  des  figures  anterieures,  ne  sont  pas  d'accord 


La  IV'iie  figure  du  syllogisme. 


87 


sur  les  voies  et  les  moyens  de  cette  rcduction  ^^).  Los  uus  reduisent 
exclusivemeut  ces  modes  a  ceux  de  la  P*'  figure,  et  c'est  encore 
la  doctrine  classique;  les  autres  admettent  qu'on  peut  substituer 
a  la  !'■''  figure  comme  prototype,  pour  certains  de  ces  modes,  la 
II"'"'  et  la  III'"'-  figure;  d'autres  eucore,  rencherissant  sur  le 
caractere  hybride  des  modes  de  la  IV'"'',  la  fönt  resulter  de 
rassociatioii  entre  certains  modes  des  figures  legitimes.  De  meme 
que  les  divers  auteurs  dilferent,  de  meme  un  seul  penseur  peut 
liesiter  entre  tant  d'interprctations  possibles,  sur  celle  qui  convient 
le  mieux  et  par  suite  sur  la  forme  meme  des  modes  a  interpreter. 
Dans  le  De  natura  syllogismi  M.  Lachelier  ramene  les  modes 
de  la  IV  "1''  figure  ;i  ceux  des  figures  legitimes  secondaires  et 
s'ecarte,  pour  cette  Interpretation,  des  schemes  classiques;  dans  la 
Theorie  du  Syllogisme,  il  revient  aux  schemes  consacres  et  a  Tinter- 


35)  p  cf.  ci-dessus,  note  16;  et  J.  Lachelier:  Theorie  du  Syllogisme, 
p.  483:  «  Baralipton,  Celantes  et  Dabitis,  sont  des  modes  de  la  Ire  figure  ä 
conclusion  renversee;  Fapesmo  et  Frisesomorum  sont  des  modes  renverses  ou 
retrogrades  de  la  1™  figure  ». 

2"  J.  Lachelier,  De  Natura  Syllogismi,   p.  38—40,:  p.  e.: 


Omnis  sapiens  est  homo 
atqui     nuUus     homo    est 

quadrupes 
ergo  nuUus  quadrupes  est 

sapiens 


Omnis  sapiens  est  homo   ■ 
atqui  uullus  quadrupes  est 
II  Camestrcs  '     homo  '-  =  IV 

ergo  nullus  quadrupes  est 
■     sapiens 

«...  En  quartae  figurae  quinque  modos  receptos,  unum  e  sccunda,  duos 
vero  e  tertia,  duos  denique,  quos  logici  extremo  loco  ponebant,  ex  utraque: 
quorum  nomina  ideo  omisimus,  quod  vetera  nostrae  rationi  nou  congruebant, 
nova  autem  fingere  otiosum  videbatur.  » 

3"  G.  Kodier,  De  vi  propria  syllogismi;  Paris,  Kiincksieck,  1891; 
p.  29:  «.  .  .  tum  enim  a  forma  ad  materiam  mens  regreditur,  tum  a  materia  ad 
formam  progreditur.  Duo  itaque  syllogismi  inter  se  miscentur  ita  ut  unus  ex 
duobus  efficiatur.  »  —  p.  e.  en  ecrivant  la  mineure  avant  la  majeure: 

(-Philosophus  est  homo 

Homo  est  animal 

atqui  philosophus  est  homo 


IV 
Bramautip 


ergo  aliquod  animal  est  phi- 
losophus 


I    homo  est  animal 


in 


philosophus  est  animal 

homo  est  animal 

aliquis   homo   est   philo- 
sophus 

aliquod   animal   est   philo- 
sophus 


88  E.  Thouverez, 

pretation  par  la  1'^  figiirc  au  moyen  d'un  reaversement  de  la 
pensec.  II  y  a  done  trop  de  voies  qui  s'ouvrent  et  qui  rcussissent 
pour  qu'aucuue  d'entre  elles  soit  proclaraee  la  bonne,  et  toutes 
les  autres  mauvaises;  il  n'y  a  pas  ici  de  criterium  süffisant  de  la 
vcrite.  C'est  que,  si  la  IV  ^^  figure  cxiste  au  merae  titre  quo  les 
figures  legitimes  secondaiies,  eile  doit  participer  a  toutes  les 
proprietcs  des  figures;  or  ces  figures,  ayaut  entre  elles  des  rapports 
correspondant  a  la  syraetrie  de  leurs  schemes,  peuvent  se  comparer 
entre  elles  et  se  reduire  les  unes  aux  autres  d'autant  de  manieres 
differentes.  Chacune  peut  otre  derivöe,  par  voies  indirectes,  de 
toutes  les  autres.  Toute  figure  directe  est  done  capable,  par 
definition,  de  plusieurs  demonstrations  indirectes;  et  le  fait  qu'une 
figure  est  iudirectement  demontree  ne  prouve  pas  qu'elle  soit 
incapable  d'une  preuve  directe.  Voila  pourquoi  il  faut  passer  a 
un  second  ordre  d'arguraents  et  voir  si  Ton  ne  pourrait  pas 
determiner  a  priori  le  nombre  des  figures  legitimes  et  le  fixer  a 
trois. 

C'est  cc  que  fait  Aristote  cn  se  fondaut  sur  les  rapports  de 
mediation  des  termes;  c'est  ce  que  fait,  avec  un  plus  grand  souci 
de  compreheusion  purement  metaphvsique,  M.  Lachelier^'^),  en  se 
fondant  sur  les  rapports  d'attributiou  ou  d'inhorence  des  qualites 
au  sujet.  De  part  et  d"autre  la  deduction  est  rigourcuse;  irapeccable 
en  soi.  Exclut-elle  cepeudant  toute  autrc  deduction  possible?  Los 
principes  sur  lesquels  de  semblablcs  classilications  peuvent  se  fonder 
sont  multiples,  et,  si  chaque  Classification  est  la  seule  legitime  a 
tel  point  de  vue,  ce  sont  les  points  de  vue  eux-memes  qui  sont 
discutables.  II  n'y  a  pas  en  eux  erreur  absolue,  mais  peut-ötre 
erreur  relative;  la  faussete  de  teile  doctriue  ne  consiste  pas  alors 
dans  une  contradiction  intrinseque,  mais  dans  son  inferiorite  vis-a-vis 
d'une  doctrine  plus  comprehensive.  Toute  systöraatisation  de  ce 
genre  est  un  peu  comme  une  philosophie  de  Thistoire,  —  celle  de 
Bossuet  ou  Celle  de  Comte  —  qui  veut  etre  objective,  et  nc 
presente  au  fond  qu'une  Synthese  subjective  des  vues  de  son  auteur, 
Par    excniple,    en    cc   qui  concerne  Aristote,    si   cet  auteur  a  eu 


36 


)  J.  Lachelier,  Th.  du  Syll.,  p.  lÖÜ-^Si. 


La  IVme  figure  du  syllogisme.  89 

raison  de  distingner  au  moins  trois  fio-ures,  avons-nous  tort  de 
percevoir  une  distinction  de  plus,  qu'il  n'a  pas  vue  ou  pas  voulu 
voir,  suivant  que  le  raoyeu  —  qui  n'est  ni  plus  petit  que  les  deux 
extremes,  ni  plus  grand  que  tous  deux  —  est  interieur  ou  exterieur 
ä  ces  deux  termes?  Et  si  Ton  objecte,  avec  Hamilton"),  que  ce 
IV  "^'^  cas  est  uno  monstruosite  logique,  parce  que  le  moyen  est  plus 
petit  que  le  petit  terme  et  plus  grand  que  le  grand,  ce  qui  fausse 
toute  signification  de  ces  mots  et  de  ces  idees,  la  meme  monstruosite 
apparait  des  que  le  moyen  cesse  d'etre  interieur,  pour  devenir  plus 
grand  que  le  grand  terme  dans  la  II™''  figure,  ou  plus  petit  que 
le  plus  petit  dans  la  III  ™^  II  faut  donc  n'accepter  que  la  P*^ 
figure  comme  irreprochable,  ou,  de  proche  en  proche,  par  degrada- 
tions  progressives,  les  accepter  toutes,  M.  Lachelier  admet  une 
fois  au  moins^^),  dans  la  III™''  figure,  que  Tattribut  peut  jouer, 
par  accident  et  par  abstraction,  le  role  de  substance;  un  pas  de 
plus,  et  l'abstractiou  redoublee  permettra  de  concevoir  une 
figure  oii  Tattribut  joue  le  role  de  substance  par  rapport  a  la 
substance,  jouant  elle-meme  le  role  d'attribut.  II  est  donc  difficile 
de  poser  a  priori,  dans  une  formule  rigide,  des  regles  precises, 
qui  defendent  d'elargir  ou  de  restreindre  le  poiut  de  vue  logique 
duquel  on  juge.  Si  la  raison  en  soi  est  le  principe  a  priori  qui 
donne  naissance  aux  ßgures  et  aux  modes,  la  recherche  reflechie 
et  empirique  est  Finstrument  qui  decouvre  peu  ä  peu  a  nos 
regards  le  Systeme  de  plus  en  plus  complet  de  ces  forraes,  et  qui 
nous  permet  de  nous  faire,  de  la  raison  elle-meme,  une  idee  de 
plus  en  plus  adequate.  II  convient  donc  de  resister  a  la  seduction 
meme  de  ces  formules  absolues  et  de  chercher,  par  l'examen  du 
troisieme  argument  invoque  plus  haut,  si  en  effct  aucunc  inter- 
pretation  directe  de  la  IV"^''  figure  n'est  possible. 

Essayons  donc,  au  moins   a  titre  d'hypothese,   de   foudcr 


^^)  Hamilton,  Lectures  ou  Logic  t.  I,  p.  427—428. 

'*)  J.  Lachelier,  Th.  du  Syll.,  p.  473:  «nous  ne  donnons  aux  sujets 
X  y  z  le  nom  de  A  que  parce  qu'ils  possedent  l'attribut  A;  d'autrc  part,  nous 
affirmons  que  ces  memes  sujets  possedent  l'attribut  A:  nous  pouvous  donc 
egalement  les  designer  par  le  nom  de  ce  dernier  attribut,  et  en  aftirmer  ea- 
suite  explicitement  l'attribut  A  ». 


90  E.  Thouverez, 

la  IV^n'^  figure  sur  un  principe  aualogue  ä  ceux  des  trois  pröcedentes, 
et  partons  de  ce  fait  (|iic,  si  la  IV"""  figure  a  pu  etre  consideree 
par  les  logiciens  classiques  coinme  la  l'ormc  indirecte  de  la  P^ 
renversee,  c'est  qii'elle  joue  en  effet  im  role  inverse  a  celui  que 
joue  la  I'^  En  prenant  pour  point  de  depart  le  point  d'arrivee 
de  Jjambert,  si  la  I'*"  ligure  exprime  Ic  raisonueinent  droit  et 
simple,  la  IV""',  qui  procede  par  reciprocite  ou  reversion,  doit 
etre  Finverse  de  la  figuro  fondamentale  prise  pour  type.  Si  douc 
la  I""  figure  est  par  excelleuce  Tinstrument  de  la  subalternation, 
et  si  la  subalternation  est  par  excellence  le  raisonnement  deductif 
propremeut  dit,  qui  procede  du  genre  a  l'espece  et  de  la  loi  au 
fait,  l'inverse  de  la  I'"*^  figure  devra  aller  au  contraire  du  fait  :i 
la  loi  et  de  Tespece  au  genre,  et  ce  procede  est  celui  de  Tinduction. 
L'induction  dans  le  syllogisme:  voila  sans  doute  le  paradoxe, 
Tetrangete  qui  fait  les  irregularites  apparentes  d'une  figure  qu"oQ 
s'attendait  peu  a  voir  a  sa  place  dans  une  theorie  generale  de  la 
deductiou.  La  deduction  et  Tinduction  semblent  incapables  de  se 
jüindre;  la  deduction  se  fonde  sur  Tidentitc,  epuise  tous  les  cas  en 
presence  et  aboutit  a  former  un  cercle  complet;  Finduction  se  fonde 
sur  la  raison  süffisante,  eile  depasse  les  faits  acquis  pour  aller  au 
delä,  eile  tend  a  fermer  le  cercle  sans  Favoir  parcouru  tout  entier. 
Par  le  principe  de  continuite,  pourrait-on  dire,  l'induction  tend  a 
la  deduction  comme  une  serie  ;\  sa  limite;  par  le  principe  des 
indiscernables,  un  certain  hiatus  reste  toujours  entre  le  polygone 
inscrit  et  le  cercle.  Par  consequent,  si  Ton  veut  faire  coi'ncider  ce 
polygone  et  ce  cercle,  on  constate  toujours  quelque  deficit  de  Tun 
par  rapport  ■.\  Tautre;  si  Ton  veut  faire  rentrer  Finduction  dans 
les  cadres  de  Fidentite,  on  constate  toujours  un  certain  deficit 
du  raisonnement.  Or,  parmi  les  diverses  formes  logiques  qui 
appartiennent  ä  Fidentite,  il  y  en  a  particulierement  une,  la 
conversion,  qui  presente  cette  sorte  de  deficit.  Toute  proposition  ue 
se  couvertit  pas  dans  ses  propres  termes,  et,  si  Fon  prend  pour 
type  la  proi)Osition  ideale  A,  c'est-a-dire  Faffirmation  universelle, 
la  conversion  s'obtient  par  accident,  c'est-a-dire  par  une  sorte  de 
defaut  logique.  II  dc'pend  de  uous  de  renverser  le  role  relatif  du 
sujet  et  du  })redicat,  de  faire  du  plus  graud  terme  le  plus  petit  et 


La  IV'ue  figure  du  syllogisme.  91 

reciproquemeiit;  mais  alors,  poiir  quo  la  proposition  reste  vraie,  il 
fallt  que  le  sujet,  qui  ctait  d'abord  uiiiversel,  devienne  particulier. 
Renverser  le  rapport  du  grand  terme  et  da  petit,  c'est  ren versei- 
le rapport  du  genre  et  de  Fespece;  c'est  preteiidre  que,  de  meine 
qu'on  passait  du  genre  a  Tespece,  on  peut  passer  de  Fespece  au 
geure,  et  c'est  proprement  l'induction.  L'induction  est  douc  bien 
le  raisonnement  qui  a  pour  proccde  forme!  la  conversion.  La 
deductiou  attribue  aux  especes  les  attributs  du  genre;  Tinduction 
attribue  au  genre,  a  la  plus  grande  partie  possible  du  genre,  k 
certaines  parties  du  genre,  les  attributs  de  Tespece.  Si  donc  la 
figure  IV'"''  est  en  effet  Finverse  de  la  I'"'',  eile  s'oppose  ;i  eile 
comme  ;\  la  subalternation  la  conversion ,  c'est-a-dire  comme  au 
procede  deductif,  le  procede  inductif.  Or,  definir  ainsi  la  IV  "''^ 
figure,  ce  n'est  pas  en  faire  une  doublure  vide  de  la  I"'.  On  ne 
fait  pas  de  la  contraposition  une  doublure  de  la  subalternation, 
quand  on  fait  voir  que  Tune  est  precisement  Finverse  de  Fautre;  de 
raeme,  on  ne  fait  pas  de  la  conversion  une  doublure  de  la  sub- 
alternation, quand  on  fait  voir  que  Fune  est  le  procede  de  descente 
du  genre  a  Fespece  et  Fautre  le  procede  d'ascension  de  Fespece 
au  genre;  ce  sont  precisement  ces  distinctions  qui,  irreductibles 
en  elles-memes,  constituent  Fheterogeneite  des  figures  irreductibles 
entre  elles. 

Une  objection  se  presente.  La  conversion  est  le  principe  par 
lequel,  dans  la  theorie  de  M.  Lachelier  que  nous  ne  devons  pas 
perdre  de  vue,  la  III'"''  figure  s'explique,  et  M.  Lachelier  en  infere 
d'ailleurs  que  la  III'"''  figure  est  en  effet  uu  commencement 
d'induction.  Cette  consequence  a  ete  discutee  par  M.  Rodier, 
suivant  lequel  la  III'^'"  figure  marque  simplement  Fexistence  d'un 
fait  sur  lequel  on  pourra  s'appuyer,  si  Fou  veut,  })0ur  fonder  une 
induction  future,  mais  qui,  en  lui  meme,  n'est  pas  encore  un 
commencement  d'induction:  de  meme  que,  si  je  vais  ou  si  je  suis 
dans  une  ville  qui  se  trouve  sur  le  cliemin  de  Paris,  je  ne  suis 
pas  pour  cela  au   commencement  d'uu  voyage  sur   Paris").     En 


39)  J.  Lachelier,    Th.    du    Syll.,    p.  48fi— 487.    —    G.   Rodier,    op.  cit. 
p.  25—29. 


92  E.  Thouverez, 

fl'autres  termes,  la  TII'"'^  figiiro  donne  simplement  pour  M.  Kodier 
Uli  fait  et  uon  pas  une  tendancc  h  Texpression  de  la  loi.  D'autre 
part,  M.  Lachclier  lui-memc,  daiis  la  premiere  forme  que  sa  theorio 
a  revotue,  mentioiine  expresscment  la  Substitution  corame  jouant 
un  lolc  dans  la  Constitution  de  cettc  figure;  c'est  dans  une  seconde 
vue  seulcmcnt  (ju'il  a  donne  le  role  preponderant  et  exclusif  a  la 
convcrsiou.  Peut  ctre  pouvons  nous  tirer  de  la  un  cnscignement 
profitable  II  y  a  une  conversion  sans  doute  dans  la  III'"''  figure, 
comme  il  y  en  a  une  dans  la  II™''  et  deux  dans  la  deruiere; 
comme  il  doit  y  en  avoir  necessairement  dans  (oute  figure,  con- 
formeinent  :i  sa  structure  mecanique,  lorsqu'on  la  compare  a  la 
premiere,  prise  comme  prototype,  mais  a  ce  comptc  la  conversion 
serait  Ic  principe  de  toutes  les  figures  et  l'on  retomberait  dans 
Terreur  de  Kant  et  d'Aristote,  qui  est  precisement  dcvoilee  par  la 
thcsc  de  M.  Lachelier  sur  rirreductibilito  de  chaque  figure  par 
rapport  ;\  la  premiere.  II  ne  suffit  donc  pas,  pour  affirmer  qu'unc 
figure  se  fonde  sur  la  conversion,  de  constater  qu'il  y  a  une 
conversion  cliez  eile;  il  faut  montrer  aussi  que  la  conversion  est 
le  principe  special  duquel  dccoulent  les  lois  specifiques  de  cette 
figure.  Or  il  n'en  est  pas  aiusi,  semble-t-il,  pour  la  III'"^  figure; 
l'inconvertibilito  de  0,  la  convertibilite  partielle  de  A  ne  semblent 
pas  y  jouer  un  role  direct.  Ce  qui  caracterise  la  111""'  figure, 
c'est  la  nccessite  d'une  raineure  affirmative;  c'est,  suivant  la 
theorie  meine  de  JAI.  Lachelier*"),  qu'un  sujet  etant  doue  de  deux 
attributs,  on  peut  remplacer  pratiquement  la  designation  du  sujet 
par  Celle  de  l'un  de  ses  attributs  et  affirmer  ainsi  par  accident, 
de  l'attribut  pris  comme  sujet,  Fautre  attiibut  reste  tel.  Or,  ce 
qu'il  faut  pour  cela,  c'est  la  presence  d'un  attribut  positif,  d'une 
relation  positive  entre  le  sujet  et  Tattribut  privilegie,  capable  de 
jouer  ce  role;  c'est  en  un  mot  une  proposition  affirmative,  qui 
permette  la  Substitution  de  l'un  a  l'autre.  Cette  Substitution  aura 
pour  moyen  pratique  une  conversion,    de  raeme  que,  dans  la  11'"^' 


•'")  J.  Lachelier,  Do  Natura  Syllogismi,  p.  37;  «.  .  .  ut,  non  omnis 
(|uidcm  substitiitio  couversio,  conversio  auf  cm  nihil  aliutl  quam  substitutio, 
(juae  in  identica  majore  iiat,  esse  videatur  ». 


La  IVwe  figure  du  syllogisme.  93 

figure,  c'est  une  couversion  aussi  qui  sert  de  moyen  pratique  a  la 
Contraposition.  M.  Laclielier  a  eu  raison  cependant  de  distinguer 
nettemeut  daus  la  II™''  figure  la  contraposition"),  qui  est  l'essence, 
de  la  conversion  qui  est  l'accident;  peut-etre  aurait  il  du  de 
meme,  dans  la  III™''  figure,  traiter  la  couversion  comme  un  moyen, 
conversio  ancilla  substitutionis,  et  regarder  la  Substitution 
seule  comme  l'idee  directrice  de  cette  figure. 

II  y  aurait  donc  quatre  iuferences  directes,  correspondant  aux 
quatre  figures  du  syllogisme:  subalternation,  contraposition,  Sub- 
stitution, conversion.  Si  la  Substitution  a  ete  jusqu'ici  laissee  de 
cote,  c'est  sans  doute  parce  que  le  principe  d'identite  nous  est  si 
naturel  que  nous  negligeons  mome  de  le  mentionner  dans  une 
nomenclature  systematique  des  demarches  de  la  raison. 

La  Substitution  de  Tidentique  a  l'identique  est  le  procede  le 
plus  simple  et  le  plus  general,  celui  qui  est  suppose  au  fond  par 
tous  les  autres.  En  ce  sens,  la  III™''  figure  doit  etre  la  plus 
simple  de  toutes,  et  c'est  en  efl'ct  la  moins  surchargee  de  regles, 
puisqu'elle  est  soumise  a  cette  unique  loi  que  la  mineure  seit 
affirmative;  c'est  en  un  sens  la  plus  feconde,  donnant  six  modes 
directs,  tous  particuliers  il  est  vrai,  suivant  la  remarque  d'Aristote 
qu'il  est  plus  facile  d'etablir  une  verite  particuliere  qu'une  uni- 
verselle. Enfin,  et  sans  prendre  parti  ici  dans  la  discussion  qui 
sert  de  base  a  M.  Laclielier,  et  qui  consiste  ä  considorer  les  iu- 
ferences immediates  comme  des  resultantes,  et  non  pas  comme  des 
facteurs  du  syllogisme*'),  il  semble  au  moins  que  toute  inference 
immediate  peut  se  developper  en  un  syllogisme,  et  revetir,  par 
cette  forme  syllogistique,  un  maximum  de  clarte.  Des  lors,  la 
Substitution  pourrait  etre  le  type  sur  lequel  se  fondent  en  fait  tous 
les  raisonnements  mathematiques.  Ces  raisonnements  ne  sont  pas 
syllogistiques,  dit  M.  Laclielier;  ils  le  sont,  dit  M.  Kodier,  et  peut 
etre  cette  difference  de  poiut  de  vue  ")  vient  eile  de  ce  qu'on  n'a 
Jamals  enonce  formellement  le  principe  de  pure  Substitution  parmi 

*')  J.  Laclielier,  Th.  du  Syll.,  p.  476-477. 
*-)  J.  Lachelier,  Th.  du  Syll.,  p.  4G9. 

*^)  J.    Laclielier,    De    Nat.    Syll..    p.    1  —  17.     —    G.    Kodier,    op.    cit. 
p.  40—70. 


94  E.  Thou verez, 

les  fondcments  des  figures.  Cette  enonciation,  si  eile  a  pour  re- 
sultat  de  faire  rentrer  dofinitivement  la  matliematique  daus  la 
syllogistique,  etablit,  en  gardant  d'ailleurs  les  distinctions  neces- 
saires,  une  certaine  unite  dans  l'ensemble  de  tous  nos  proccdos 
rationnels,  de  meine  qu'une  unite  serablable  est  etablie  daus  la 
demarche  des  sciences  naturelles,  si  Ton  peut  ranieuer  rinductiou 
a  une  forme  syllogistique  de  la  IV"^^  figure,  par  l'intermediaire  de 
la  couversion. 

La  Probleme  precis  est  de  savoir  si  les  regles  particulicres  de 
la  TV""'  figure  s'expliquent  en  eflet  par  les  regles  particulicres  de 
la  conversion,  si  les  unes  et  les  autres  coincident.  Prenous  d'abord 
ces  regles  de  la  IV™''  figure,  telles  qu'elles  nous  sont  dounees  en 
fait;  on  peut  les  ramener  ä  trois:  1  "  qu'aucune  premisse  ne  soit 
partlculiere  negative,  en  0;  2"  et  3"  que  la  majeure  affirmative 
entraiue  a  sa  suite  une  raiueure  universelle  et  que  la  mineure 
affirmative  eutraine  a  sa  suite  une  conclusion  particuliere.  Or  la 
premiere  regle  coincide  avec  ce  fait  que  la  particuliere  negative 
ne  peut  pas  se  convertir;  et  les  deux  suivautes  avec  cet  autre  fait 
que  toutc  affirmative  couvertie  donne  une  particuliere;  des  lors, 
en  eftet,  si  la  majeure  est  affirmative,  le  moyen,  qui  s'y  trouve 
predicat,  devient  par  la  conversion  particulier,  et  la  mineure  doit 
etre  universelle  pour  que  le  moyen,  qui  s'y  trouve  sujet,  soit  pris 
au  moins  une  fois  universellemeut;  et  inversement,  si  la  mineure 
est  affirmative,  le  petit  terme,  qui  s'y  trouve  predicat,  devient 
particulier  par  la  conversion  et  reiid  la  conclusion  particuliere.  II 
y  a  donc  coincidence  des  deux  regles  speciales  de  la  conversion 
et  des  deux  groupes  de  regles  propres  ;i  la  IV'""'  figure. 

En  proccdant  a  priori,  nous  pouvons  dire:  pour  que  la  IV""^ 
figure  soit  fondee  sur  la  conversion,  c'est  a-dire  sur  le  renverse- 
ment  des  roles  relatifs  du  grand  terme  et  du  petit  terme,  il  faut 
que  la  conclusion  exprime  la  röciprocation  une  fois  faite.  Par 
consequent,  puisque  le  grand  terme  est  attribut  de  la  conclusion 
et  le  petit  terme  sujet,  il  faut  quo,  daus  les  premisses,  le  grand 
terme  soit  au  contrairc  sujet  et  le  petit  terme  attribut;  il  faut 
par  consequent  que  le  inoyen  soit  attribut  du  grand  terme  et 
sujet  du   petit  suivaut  le  scheme  PS.     Mais    alors,    pour    que    la 


La  IVme  figure  du  syllogisme.  95 

reciprocation  s'accomplisse,  il  faut  que,  dans  chacune  des  deux 
premisses,  uii  extreme  change  de  role  avec  le  moyen,  ce  qui  n'est 
possible  que  si  aucane  de  ces  premisses  n'est  0,  puisque  0  ne  se 
convertit  pas.  On  pourrait  raeme  ajouter  que  par  la  aussi  est  ex- 
clue  la  paire  de  premisses  IE.  A  vrai  dire,  ce  coiiple  est  exclu 
par  les  lois  generales  des  modes,  parce  que  la  conclusion  d'un  tel 
syllogisme  devrait  etre  negative  et  posseder  par  consequent  uu 
attribut  ou  grand  terme  universel,  tandis  que  la  majeure  I  ne 
pourrait  fournir  qu'un  grand  terme  particulier;  mais,  de  plus,  ce 
couple  IE  ne  peut  pas  figurer  dans  la  I"',  ni  dans  la  11'"®  figiire, 
qui  exigent  des  majeures  universelles,  ni  dans  la  111™*^  qui  exige 
uue  mineure  affirmative;  ui,  ajouterons  nous,  dans  la  IV""",  qui 
veut  que  les  deux  premisses  forment  un  tout  convertible.  Et  eu 
effet,  si  Ton  ecrit  la  mineure  en  premier  lieu,  et  qu'on  eiimine, 
dans  la  lecture  et  dans  la  pensee,  le  moyen  terme  qui  occupe  alors 
la  place  entre  les  deux  extremes,  on  obtient  une  particuliere 
negative,  qui  ne  peut  pas  se  convertir,  ni  par  consequent  donner 
la  conclusion  requise.  Le  principe  essentiel  de  la  IV'""  (igure 
parait  donc  etre  celui-ci:  que  les  premisses  forment  un  couple 
convertible. 

De  ce  principe  essentiel  se  deduisent,  comme  des  resultantes, 
les  deux  regles  de  detail  signalees  plus  haut,  que  toute  majeure 
affirmative  soit  suivie  d'une  majeure  universelle,  et  toute  mineure 
affirmative  d'une  conclusion  particuliere;  ces  deux  regles  sont  des 
consequences  et  non  des  principes.  Cela  est  evident  pour  la  se 
conde,  qui  indique  simplement  le  rapport  de  la  conclusion  aux 
premisses,  et  qui  n'a  pas  plus  droit  de  cite,  dans  la  definition 
synthetique  de  la  IV™''  figure,  que  n"auraient  droit  de  cite,  dans 
les  theories  de  M.  Lachelier  relatives  aux  trois  figures  precedentes, 
les  regles  que  donne  Port-Royal,  et  que  M.  Lachelier  ne  preud 
pas  la  peiue  de  reproduire,  sur  les  cas  dans  lesquels  la  conclusion 
doit  etre  particuliere  ou  negative,  suivant  la  nature  des  premisses. 
Par  exemple  encore,  dans  la  111°^*^  figure  conformeraent  a  M.  La- 
chelier, avec  la  mineure  universelle  on  peut  obtenir  des  modes  de 
majeure  universelle  ou  particuliere;  avec  la  mineure  particuliere, 
on  ne  peut  obtenir  que  des  modes  a  majeure    universelle  et   ceci 


96  E.  Thouverez, 

est  noe  consequence  de  la  theorie  generale  du  syllogisme,  plutot 
que  de  la  theorie  speciale  de  cette  figure.  De  meme  ici,  pour  la 
regle  qui  exige  avec  iine  majeure  allirmative  une  mineure  uni- 
verselle. Eu  somme,  le  principe  general  de  la  figure  est  celui-ci: 
qu'il  y  ait  reciprocite  eutre  le  petlt  et  le  grand  extreme,  gräce  a 
la  reciprocite  possible  entre  chacun  d'eux  et  le  moyeu,  et  le  prin- 
cipe de  la  reciprocite  pnrait  etre  ainsi,  suivant  la  formule  de 
Lambert,  celui  de  la  IV™''  ligure.  La  regle  que  nous  euoncerons  la 
premiere  est  donc  celle  qui  interdit  Texistence  d'une  premisse  en  0. 

11  est  remarquable  que  Port-Royal  ne  fasse  aucune  mention 
de  cette  regle,  et  reduise  les  lois  de  cette  figure  aux  rapports 
derives  qui  s'etablissent  entre  la  nature  d'une  proposition  et  celle 
d'une  autre.  Ainsi  cette  regle  d'exclusion  de  0  est  exprimee  en 
fait,  plus  ou  moins  imparfaitement,  par  la  troisieme  regle  de  Port- 
Royal;  «  si  la  conclusion  est  negative,  que  la  majeure  soit  uni- 
verselle. »  Dans  ce  cas  en  effet  l'une  des  premisses  est  negative. 
Des  lors,  ou  bien  c'est  la  majeure  qui  est  negative  et  qui,  devaut 
etre,  par  cette  troisieme  loi  de  Port-Royal,  universelle,  prend  la 
forme  E;  la  mineure  doit  etre  alors  positive,  puisque  de  deux 
premisses  negatives  on  ne  peut  rien  conclure,  en  sorte  qu'aucuue 
premisse  n'est  0;  ou  bien  au  contraire  c'est  la  mineure  qui  est 
negative;  mais  alors,  et  pour  la  meme  raison,  la  majeure  doit  etre 
affirmative  et  doit,  conformemeut  a  une  regle  anterieure,  etre 
suivie  d'une  mineure  universelle;  cette  mineure  a  la  fois  negative 
et  universelle  sera  de  forme  E,  en  sorte  que,  dans  ce  second  cas 
encore,  la  premisse  0  est  exclue.  On  pose  ainsi  in  directement  et 
obscuremcnt  la  regle  qui  doit  etre  le  fondement  direct  de  cette 
figure  et  l'eclairer  tout  entiere. 

On  peut  construire  les  divers  modes  dont  la  IV"'''  figure  se 
compose.  La  majeure  peut  etre  quelconque,  sauf  0;  avec  la  ma- 
jeure A  il  ne  faut,  conformemeut  a  une  regle  secondaire  de  cette 
figure,  que  des  mineures  universelles,  ce  qui  donne  deux  couples, 
soit  AA,  soit  AE;  avec  la  majeure  E  il  ne  faut,  conformemeut 
aux  regles  du  syllogisme,  que  des  mineures  aflirmatives,  ce  qui 
donne  deux  autres  couples  EA,  EI;  enfin  avec  la  majeure  I  on 
ne   peut    avoir    ni    une    mineure    particuliere,    conformemeut    aux 


La  IV'ne  figure  du  syllogisine.  97 

regles  generales  des  modes,  ni  la  mineure  E  conformement  a  l'ex- 
clusion  generale  des  modes  en  IE,  et  il  reste  un  seul  couple 
possible  lA;  ainsi  se  forment  les  cinq  modes  de  la  IV"''  figure, 
donnes  par  les  logiciens  classiques  dans  l'ordre  qu'on  sait:  Bamalip, 
Camenes,  Dimatis,  Fepazmo,  Fresizom: 


( 


Tout  A  est  M 


Majeure 


E 


Mineure  A  —  Bamalip       !  Tout  M  est  B 

[  Quelque  B  est  A 

C  Tout  A  est  M 
„        E  —  Camenes       {  Nul  M  n'est  B 

(.Nul  B  n'est  A 

(  Nul  A  n'est  M 
Mineure  A  —  Fepazmo      j  Tout  M  est  B 

i  Quelque  B  n'est  pas  A 

rNul  A  n'est  M 
,,        I  —  Fresizom       {  Quelque  M  est  B 

[  Quelque  B  n'est  pas  A 

(  .(  Quelque  A  est  M 

I  —  I  Mineure  A  —  Dimatis  Tout  M  est  B 

\  {  { Quelque  B  est  A. 

Ainsi  se  construisent,  dans  le  scheme  PS  qui  est  le  leur,   les 

cinq  modes  de  la  IV™''  figure.     Cette  construction   mecaniquement 

reussit,   parce  que  la  conclusion  est  rigoureusement  conteuue  dans 

les  premisses;  eile  y  est  contenue  par  voie   d'identite  ou   d'ecthese, 

qui  enveloppe,    comme  uu  cas  particulier  et  legitime,    la   quanti- 

ficatiou  du  predicat,  lorsque  cette  quantification  est  uecessaire  pour 

mettre  en  relief  I'identite  qui  existe  entre  une  partie  d'uu  attribut 

et  la  totalite  ou  partie  d'un  sujet.     Le  sort  de   la  IV'^^''  figure  est 

lie,  nous  l'avons  dit  et  nous  reviendrons  sur  ce  point,   au  sort  de 

la   theorie  d'Hamilton.     Cette   construction  mecanique   doit  corre- 

spondre  ä  un  principe  logique,  de  tous  points  analogue  a  ceux  que 

Port-Royal  institue  pour  les  autres  figures.    Nous  essaierons  plus  loin 

de  Tetablir  a  peu  pres  sous  cette  forme:  si  l'attribut  positif  ou  negatif 

de  tout  un  genre  appartient  a  la  totalite  d'une  espece  contenue  dans 

ce  genre,  inversement  l'attribut   positif  ou  negatif  de  l'espece  peut 

n'appartenir  qu'a  une  partie  du  genre  dont  cette  espece  fait  partie. 

Cet  enonce  fait  immcdiatement  prevoir  les  conclusions  partielles  en 

I  ou  en  0,  et  nous  verrons  comment  il  rend  compte  aussi,  par  une 

extension  legitime,  de  la  conclusiou  E,  dans  le  raode  en  apparence 

anormal  de  Camenes.    Enliu,  la  dilTerence  de  perfection  logique  et  de 

Arcliiv  f.  Geschiclite  d.  Pliilosophie.    XV.  1.  i 


93  E-  Thouverez, 

valeur,  que  nous  n'avons  garde  de  nier  entre  la  T'^  figure  et  la  IV™*^, 
expiique  suffisamraent,  nous  semble-t-il  la  difference  de  simplicite  et 
de  clarte  qui  existe  entre  la  demonstratiou  de  la  I''^  figure,  teile 
que  M.  Lachelier  l'a  faite,  et  la  demonstration  plus  compliquee, 
plus  cmbarrassee  de  distinctions  logiques  et  formelles,  que  nous 
avons  essaye  d'esquisser  pour  la  IV""'  figure.  II  semble  en  elfet 
qu'il  y  ait  la  une  diü'erence  de  degre  du  plus  confus  au  plus 
distinct,  plutot  qu'une  difference  de  nature,  irrcductible,  du  de- 
montrable  a  l'indcmontrable. 

Chez  M.  Lachelier  lui-meme,  il  y  a  uue  degradation  sensible, 
pour  la  clarte  a  priori  de  la  demonstration,  entre  les  diverses 
figures  qu'il  a  egalement  regardees  comme  legitimes,  et  comme 
legitimemeut  demontrees.  La  I""  figure,  qui  restera  toujours  le 
prototype  du  syllogisme,  presente  seule  dans  tous  ses  dctails  une 
clarte  parfaite,  et  cette  clarte  se  tradiiit  par  l'application  distincte, 
a  ses  deux  premisses  differentes,  des  deux  regles  categoriques: 
majeure  universelle  et  mineure  positive.  II  faut  que  ce  soit  la 
mineure  qui  affirme,  parce  qu'elle  joue  dans  le  syllogisme  le  role 
de  cause  efficiente,  et  il  faut  que  ce  soit  la  majeure  qui  soit  uni- 
verselle, parce  quelle  joue  le  role  de  cause  finale.  Le  syllogisme 
moutre,  par  le  moyen  de  la  mineure,  que  la  conclusion  est  contenue 
dans  la  majeure,  et  la  I"*  figure  en  est  le  type  parfait.  Des  la 
seconde  figure  quelque  chose  d'indefini  apparait  dans  la  contra- 
position,  qui  veut  simplement  que  les  deux  premisses  soient  de 
qualites  dillerentes,  sans  exiger  d'une  fa^on  distincte  que  l'une  soit 
de  teile  qualite  et  l'autre  de  teile  autre;  la  contraposition  est 
deja  un  certain  rapport  de  reciprocitc  entre  deux  premisses,  dont 
chacune  peut  jouer  par  rapport  a  l'autre  soit  le  role  positif,  soit 
le  role  uegatif.  La  loi  d'universalite  de  la  majeure  marque  seule 
la  difference  des  roles  entre  les  deux  premisses.  Le  dessin  du 
syllogisme  est  complet  dans  la  I'''  figure,  a  denii  efface  dans  la 
seconde.  La  III'"^  figure,  plus  proclie  au  point  de  vue  de  la  qua- 
lite de  la  V^,  part  de  ce  principe  general  que  deux  attributs  d'un 
meme  sujet  peuvent  jouer  Tun  par  rapport  a  l'autre  le  role  de 
sujet  et  d'attribut;  en  ce  sens,  il  suffit  qu'il  y  ait  dans  cette   figure 


La  lV"ie  tigure  du  syllogisme.  99 

de  raffirinatif  et  de  l'universel,  conditiou  iniuiraa  de  tout  syllogisme; 
mais  il  y  a  plus,  et  raflirmation,  devant  aecessairement  porter  sur 
la  mineure,  marque  avec  nettete    son  role    de  cause  efficiente    de 
la  Substitution.     Aiusi  la  qualite  reste  indelioiment  repartie  entre 
les  premisses  de  la  11'"'-  figure,  la  quantite  entre  les  premisses  de 
la  III™'^;  daus  le  premier   cas,    la  mineure    perd  de  sa    nettete  et 
s'efface;  dans  le  second  cas,  la  majeure.      On   peut  rendre  compte 
de  ces  differences  en  remarquant  que,  dans  la  II'"^'  figure,  le  moyen 
ctant  plus  grand  que    les  extremes,    la  liaison    des    premisses    ne 
peut  s'etablir  que  par  l'exlusion  des  attributs,   et  dans  le  second 
cas,  oü  le  moyen  est  plus  petit  que  les  extremes,  la  liaison  s'etablit 
par  la  Substitution  des  sujets,  mais  en  somme  il  faut  penetrer  tres 
avant  dans  le  detail    et  dans    le  mecanisme    des  ligures    pour    se 
rendre  compte  de  ces  distinctions,  tandis  que  tout  est  immediatement 
clair  dans  la  I"'  figure.     A  mesure  donc  qu'on  descend  les  formes 
du  syllogismes,  les  premisses  perdent  leur  distinction  propre  et  le 
.syllogisme  tend   a  deveuir  de   plus  en   plus  ce  qu'il  est  etymolo- 
giquement,  une  sorte  de  cercle  entre  les  premisses  et  la  conclusion, 
cercle  roulant  et  fuyant  dans  lequel  on  distingue  mal  aisement  le 
sens  et    le    role    de    chaque    elcment    successif.      La    figure  de  la 
reciprocite  doit  etre  par  excellence  celle  qui  merite  cette  critique, 
de    presenter    un    rapport    de    plus    en    plus    abstrait    entre    des 
termes    qui    perdent    de    plus    en   plus    leur  caractere    substantiel 
et  distinct.      En  fait    la    proposition    0  est  egalement    exclue   des 
deux  premisses;    les    autres    regles    de    la    llgure  se  deduisent    de 
celle-ci   par  application   des   lois  generales  du  syllogisme,   et  l'on 
pourrait  construire,    en    partant    de    la  mineure  comme    base,    le 
tableau  des  cinq  modes  qui  a  ete  precedemment  construit  en  par- 
tant de    la    majeure.     Les    deux  premisses    echangent    donc    reci- 
proquement  leur  role;   toutes  deux   peuvent  etre,  suivant  les  cas, 
particulieres  ou  negatives;    les  distinctions  rationnelles  et  a  priori 
s'effacent  et  se  fondent  dans  le  detail   du  raisonnement  circulaire. 
C'est  pourquoi    la  derniere  place,    et    la    plus    basse  dans   l'ordre 
metaphysique,  est  celle  qui  convient  a  cette  figure. 

II  y  a  quatre  figures  possibles  du  syllogisme  et  quatre  especes 
de  conclusions  possibles.      II  serait  seduisant  de  dire  que  la  IV™® 

7* 


100  E.  Thouverez, 

figure  en  PS  correspoud  ;i  la  IV"^*'  conclusiou  en  0,  et  que  cette 
figure  se  reduit  par  consequent  aux  deux  modes  retrogrades: 
Fepazmo,  Fresizom.  On  dirait  avec  symetrie:  la  I"'  figure  est  seule 
capable  de  fournir  des  conclusions  de  toute  (|iuilite  et  de  toute 
quantite;  la  II'"''  De  conclut  que  les  negatives:  la  III"'''  que  les 
particulieres;  la  IV™'^'  enfln  ne  conclut  que  ce  qui  est  ä  la  fois 
particulier  et  negatif.  M.  Lachelier  voit  dans  les  modes  en  0  les 
plus  caracteristiques  de  cette  ligure,  et  Prantl  reconnait  que  si 
la  IV '"'^  figure  etait  justifiee  par  quelque  argument,  eile  le  serait 
comme  procede  de  demonstration  d'un  probleme  qui  se  presente 
sous  la  forme  particuliere  negative.  Enfin  cette  doctrine  est 
exprimee  sous  une  forme  absolue,  dans  le  travail  recent  de  M.  Maier 
sur  la  Syllogistique  d'Aristote  ").  Cet  auteur  admet  la  legitimite 
d'une  IV '"'^  figure  et  la  limite  aux  deux  modes  que  nous  avons 
indiques.  II  lui  parait  legitime,  comme  ä  nous,  de  pousser  plus 
loin  qu'Aristote,  Texamen  des  diverses  hypotheses  possibles  sur  les 
rapports  a  intervenir  entre  les  extremes  et  le  moyen;  et  il  voit, 
dans  le  cas  oii  les  extremes  sont  Interieurs  au  moyen,  une  sorte 
de  cas-limite,  reductible  aux  formules  d"Aristote.    Si  le  moyen  est 


*4)  H.  Maier,  Die  Syllogistik  des  Aristoteles,  II.  Theil,  II.  Eälfte; 
Tübingen,  Lauppe,  1900;  p.  261—269;  savoir,  p.  262:  les  trois  premiers  modes 
de  la  IVnie  figure  sont  des  indirects  de  la  I'^:  p.  263:  il  n'en  est  pas  de 
meme  des  modes  Fesapo  et  Fresisom:  p.  264:  ces  deux  modes  represcnteut 
une  forme  autonome  de  raisonnemeut;  p.  266:  ce  raisonuemunt  a  la  signiti- 
cation  d'un  cas-limite;  le  moyen  terme  plus  petit  que  le  petit  termc  extreme 
coüncide  avec  lui  sur  une  certaine  surface  et  peut  etre  consideröe,  pour  cette 
portion  de  surface,  comme  le  contenant :  le  meme  moyen  terme,  plus  grand 
que  le  grand  extreme,  coincide  de  meme  avec  lui  et  ])eut  etre  considen', 
pour  cette  portiou  de  surface,  comme  subsume,  avec  cette  reserve  que  le  grand 
extreme  et  le  moyeu  ne  peuvent  echanger  leur  place  et  leur  rule ,  sans  dimi- 
nution  de  quantite,  iju'ä  la  condition  que  la  majeure  soit  universelle  negative  : 
p.  266:  la  IV'no  tigure  constituee  par  les  deux  modes  de  conclusiou  0  reuuit 
cn  eile  les  caracteres  de  la  seconde  et  de  la  troi>ieme  figures;  p.  267:  meme 
le  mode  Calemes,  malgre  sa  ressembiance  apparente  avec  les  precedents,  est 
exclu  parce  qu'il  donne  tout  au  plus  dans  la  IVmi'  figure  une  conclusion  en  0: 
et  seulement  dans  la  l'f  tigure  une  conclusion  en  E;  p.  268:  la  IVx't-  figure 
existe  donc  veritablement  disliucte,  formee  de  deux  modes  ü  conclusion  0  tels 
que  le  moyen  positif  est  compris  dans  le  petit  extreme  et  est  universeliement 
exclu  du  grand  extreme. 


La  IVrae  figuie  du  syllogisme.  101 

subsume  au  petit  terme  il  peut  etre  coDsicIcre,  pour  la  partie  qui 
leur  est  commune,  comme  le  subsumant;  et  .si  le  moyen  est 
exterieur  au  grand  terme,  il  peut  etre  considerc  de  meme,  pour 
la  partie  commune  a  Tun  et  a  l'autre,  comme  subsume,  ce  qui 
ameue  ä  euoncer  un  principe  analogue  ä  ceux  qu'Aristote  enonpait 
pour  les  figures  preccdentes:  il  y  a  syllogisme  dans  la  IV ™f'  figure 
lorsque  le  moyen  terme  (positif)  est  compris  dans  l'extension  du 
petit  et  qu'il  est,  ajoute  Maier,  une  determination  negative  du 
grand  terme  (un  attribut  universellement  nie  du  grand  terme). 

Distiugjuons  dans  Maier  la  tlieorie  generale  du  cas-limite  et 
la  restriction  de  cette  tlieorie  au  cas  special  des  majeures  en  E. 
La  theorie  generale  coincide  avec  celle  qne  nous  venons  nous- 
meme  d'exposer;  le  gcnre  deborde  Tespece,  mais,  la  debordant,  il 
coincide  avec  eile  sur  une  certaine  surface,  et  cette  surface  de 
coincidence  suffit  pour  qu"on  puisse  appliquer,  partiellement  au 
moins,  de  Fespece  au  genre  ce  qui  a  ete  dit  du  genre  a  l'espece. 
L'application  toute  mecanique  de  cette  theorie  conduirait  a  quatre 
combinaisons  possibles,  suivant  que  le  rapport  du  moyen  terme 
au  petit,  ou  du  moyen  au  grand,  ou  de  tous  deux,  ou  d'aucun 
des  deux,  est  negatif;  et  c'est  seulement  dans  le  cas  oii  le  rapport 
du  moyen  au  grand  est  universel  negatif  qu'il  y  a,  dit  Maier, 
syllogisme  possible,  c'est-a-dire  ici  dans  les  modes  de  majeure  E. 
Le  motif  en  est  que  cette  proposition  seule  est  convertible,  sans 
alteration  quantitative  et  que  par  cousequent  eile  seule  permet 
au  grand  terme  et  au  moyen  d'intervertir  leur  role  sans  alteration. 
C'est  faire,  comme  nous  l'avons  dit,  des  lois  essentielles  de  la 
conversion,  le  fondement  essentiel  des  modes  de  la  IV i"'  figure  et 
nous  sommes  particulierement  heureux  de  cette  coufirmation  de 
notre  these.  Mais,  s'il  est  vrai  que,  en  ce  sens,  les  modes  en  E 
sont  les  plus  immediatement  demontrables  et  provoyables,  il  ne 
semble  pas  qu'on  ait  le  droit  d'exclure  les  autres  qui  se  laissent 
moins  directement  expliquer.  Des  quatre  combinaisons  enoncees 
plus  haut,  une  seule  est  a  priori  condamnee  par  les  lois  generales 
du  syllogisme,  celle  qui  presente  deux  rapports  negatifs,  puisque 
de  deux  prcmisses  negatives  ou  ue  peut  rien  conclurc;  la  seconde 
est  acceptce  par  Maier,    lorsque  le  grand  terme  exclut  le  moyen; 


1Q2  E.  Th  Olive  lez, 

]a  troisieme  est  rejetöc  par  lui  avec  uiic  sorte  de   regret,    lorsque 
le    moyen    cxclut    le    petit    termc,    toujours    universellement,    en 
Cameues.     Maier    avoue    quo    ce    mode    ressemblc    beaucoup    aux 
preccdents ;  il  le  rejette  ccpendant  pavce  quo,  dit-il,  avec  ce  mode, 
la    conclusion   universelle    n'est   possible    qiTe    daus  la   1'"'^  figure; 
quand   on   Ic  construit  dans  la  IV'""  c'est  tout  au  plus  s'il  peut, 
dans  le  cas  le  plus  lavorable,    donuer  unc  conclusion  particuliere, 
et  cn  fait  il  ne  conclut  pas.    Nous  comprenons  mal  cettc  allcgation 
qui    n'est  pas  suffisammeut  dcmontrce  par  Tauteur.      Elle  provient 
d'une  Identification  contestable  entre  Camenes  et  Celantes,  et  semble 
contredite  par  la  possibilite  de  construire,   dans  le  sclicme  PS,   Ic 
mode  aiusi  designe:  «tous  Tes  A  sont  M;  nul  M  n'est  B;  douc  nul 
B  n'est  A».     Comme   nous  le  disions  plus  haut,    les  roles  de  la 
majeure  et  de  la  mineure  sont  suffisamment  echangeables  dans  la 
IV  m«  figure  pour  que  Texclusion  du  petit  terme  produise  le  mcme 
resultat,    ici,    que  tout  a  l'heure  celle  du  grand  terme;    et  mome 
l'avantage  est  du  cote  de  ce  mode,  qui,  par  une  sorte  de  paradoxe 
deja  Signale,  conclut  seul  dans  cetto  figure  universellement.    Enfin 
la  quatrieme  combinaison,  qui  suppose  les  deux  rapports  affirmatifs, 
est  cgalement  ex  eine  par  Maicr,  et  cette  exclusion  doit  etre  justiliee 
chez    lui    par  le  fait  que  les  affirmatives  ne  se  convertissent  pas 
universellement,  et  par  consequent  par  la  nccessitc,  oii  Ton  est,  de 
quantifier  le   predicat  de  la  mineure  une  fois  convertie  pour  con- 
server  au  moyen  son  universalite,  dans  les  modes  affirmatifs.    Cette 
assertion  absolue  l'amene  donc  a  dire  que  les  trois  modes  a  majeure 
affirmative    ne    sont    au    fond   que  des  indirects   de  la  I"'   figure. 
C'est  reproduire,  sans  dcmonstration  nouvelle,  pour  une  partie  des 
modes  coutestcs,  ce  qui  est  dit  usuellement  de  tous.    Or,  les  modes 
aiusi    rejetös,    s'ils    sont  de   la  P"   figure,    y  constituent  des  epi- 
syllogismes,    par  intercalation  d'une   conclusion   sous-entendue,   de 
laquelle  dcrive,  par  voie  secondaire,  la  conclusion  qu'on  recherche. 
Mais  le  fait  positivement  etabli,  c'est  quo  ces  syllogismes  sont  autre 
chose,  puisqu'ils  existent  cnPS,  et  puisqu'ils  reussissent  dans  ce  schcme. 
Au  fond  l'argument  fundamental  de  Maier  est  un  argument  a  priori;  il 
pense  que  la  IV""'  figure  rcussit  parce  qu'elle  cumule  les  caractcres 
de  la  II"""  figure,  oii  le  moyen  est  plus  grand  quo  les  deux  prcmisses, 


La  IVnic  figure  du  syllogisme.  103 

et  ceux  de  la  III™''  oü  le  moyeu  est  plus  petit  que  tous  les  deux; 
et  que  par  cousequent  eile  doit  conclure  ce  qui  est  negatif  comme 
daus  la  II""',  et  particulier  comme  dans  la  \[l"^'',  ce  qui  est  a  la 
fois  negatif  et  particulier,  c'est-a-dire  0.  Mais  cette  hypothese  trop 
coustructivc  est  demeutie  par  les  faits,  et  eile  devait  l'etre  parce 
qu'elle  applique  a  tort  aux  modes  de  la  IV ™f'  figure  le  sens  compose 
au  lieu  du  sens  divisc.  II  ne  faut  pas  dire  que  cette  figure  conclut 
a  la  fois  comme  la  11""'  et  comme  la  III '^'',  mais  tantot  comme 
l'une  et  tantot  comme  l'autre,  et  qu'elle  peut  par  consöqueut 
donner  des  conclusions  universelles  comme  celle-lä  et  aflirmatives 
comme  celle-ci;  la  conclusion  A  seule  lui  manque.  Les  regles  qui 
excluent  certaines  conclusions  sont  par  definition  restrictives,  et 
doivent  etre  enteudues  limitativement.  Pour  que  la  conclusion 
ne  puisso  pas  etre  affirmative,  il  faut  que  le  moyeu  soit  plus  grand 
que  les  deux  extremes;  or  il  n'en  est  rien  dans  la  IV'"''  figure. 
Pour  que  la  conclusion  ne  puisse  pas  etre  universelle,  il  faut  que 
Ic  moyen  soit  plus  petit  que  les  deux  extremes;  or  il  n'en  est 
rien  dans  la  IV "'*^  figure.  Au  contraire,  pour  que  la  conclusion 
ne  puisse  pas  etre  universelle  affirmative,  il  suffit  que  le  moyen 
ne  puisse  pas  jouer  son  role  dans  toute  sa  plenitude,  röle  qui 
cousiste  a  etre  a  la  fois  plus  grand  que  le  petit  extreme  et  plus 
petit  que  le  grand:  c'est  pourquoi  la  IV""'  figure,  oii  le  moyen  ne 
joue  pas  plus  ce  role  intcrieur  que  dans  les  deux  precedentes,  ne 
peut  pas  conclure  en  A,  et  cette  conclusion  est  la  seule  quo  la 
j^ymc  ßgm-e  exclut. 

Peut-on  donner  eniin  des  modes  de  la  IV""'  figure  une  ex- 
plication  rationnelle  qui  les  justifie?  Les  cinq  modes  se  divisent 
en  deux  groupes.  Le  premier  est  celui  des  convertis,  dont 
Bamalip  est  le  type.  La  conclusion  de  Bamalip  «tous  les  A  .  .  . 
sont  B;  donc  quelques  B  sont  A»  signifie  que,  si  A  est  espece, 
dans  les  premisses,  par  rapport  a  B  qui  est  genre,  toute  l'espece 
A  est  contenue  dans  le  genre  B;  mais  inversement,  dans  la  con- 
clusion, une  partie  seuleraent  du  genre  B  est  contenue  dans 
l'espece  A.  En  d'autres  termes,  le  genre  n'est  pas  identique  a 
l'espece,  et  le  rapport  de  Fun  a  l'autre  n'est  j)as  reversible;  ce 
qui    est    universellemeut   conclu    de    l'espece    au    genre  n'est   que 


104  ^'-  Thouvcrez, 

particuliercment  coüclii  du  gcnrc  a  Tespece:    «Tous  les  chevaux  — 
ctant    paehydcrraes     —     sont    quadrupedcs»;     mais     iuversemeiit 
«Quelques   quadrupedcs  seulemcnt  sont  clievaux»,    et  j'aurais  tort 
d'induire,    cn  vüyant  tous  les  chevaux  quadrupedes,    que  tous  les 
quadrupcdes    sont    chevaux.     Ainsi  Bamalip  i'opond  bicn,    comme 
nous    l'avons    dit,    a    la    non    revcrsibilite   de   la  deduction   et  de 
rinduction.     II   cn   est  de  mcme   de  Dimatis,    en  remplavant  par 
exemple  «Tous  les  chevaux»  par   «Quelques  mammifcres».  —    Le 
mode  negatif  Camenes  peut  sc  coustruire  ainsi:    «Les  chevaux  — 
qui  sont  pachydermes  —  ne  sont  nulleraent  oiseaux;  donc  les  oiscaux 
ue  sont  nullement  chevaux»;  eu  d'autres  termes:  si  une  espcce  ne 
fait  aucunemcnt  partie  d"un   genre,    le   genre  ne  fait  aucunement 
partic  de  Fespece.     Nous  avons  ici  la  contre-partie  negative  de  ce 
qui    preccde,    avec    cette    dilTerence    que    l'existence   d'un  rapport 
positif  de  Tespece   au   genre  se  renverse  toujours  particulierenaent 
du    genre    ä    l'espcce,    tandis    quo    Tabsence    absolue    de   relatiou 
d'espcce  ä   genre  se  renverse  universellement  cn   une   absencc  de 
relation    du    genre    a    l'espece.     De  1;\  l'apparence  paradoxalc  de 
Camenes    qui    conclut    seul    universellement  dans   la  IV""'  figure. 
On  pourrait  dire,  pour  revenir  a  notre  scheme  de  Tinduction,  quo 
la  deduction  et  Tinduction  coincident  dans  un  seul  cas,  c'est  lorsquo, 
aucun    motif  n'existant  de  dcduire  ou   d'induire,    il   n'y  a  aucune 
conclusion    possible    de    part    ni    d'autre.     Ainsi    la    deduction    et 
rinduction  coincident  au  sujet  des  reveries  de  Swedenborg;  on  ne 
connait    inductivement    aucun    fait    de    transmission  de  la  pcnsee 
incorporellc  et  Ton  nc  connait  aucune  loi  positive  d'oii  Ton  puisse 
dcduire   cette   transmission;    la  deduction  et  Tinduction  coincident 
donc    pour    faire    rejeter  dans  le   dömaine   des  reves  les  doctrines 
visionnaires.    —    Les    modes    retrogades    se   ramcnent  a   la  meme 
forme    de    raisonnement.       Dans    les    convertis    nous    comparons 
directement  Tespece  au  genre:    «L'espece  A  est  au  genre  B;  donc 
le  genre  B  est  partielleraent  a  l'espece  A»,    et  cette  comparaison 
est  directe   parce   qu'on   pense  aux  qualitcs  qui  sont  positivemcnt 
communes  a  Tespecc   et  au  genre.     Mais  on  peut  aussi  comparer 
l'espece  A  au  genre  B  indirectemcnt,  cn  la  comparant  aux  autres 
cspeces    contenues    dans    ce    genre,    especes    dont    eile  didere   par 


La  IVme  figure  du  syllogisme.  1Q5 

certaines  qualites  qiii  soiit,  par  consequent,  negatives  par  rapport 
au  genre.  Si  le  genre  B  «quadrupede»  contient ,  outre  Tespece 
A  «cheval»,  un  ceiiaiu  nombre  d'autres  especes,  «bopiif,  moiiton, 
etc.»  qu'on  appelle  «M  =  rumiuants»,  nous  pouvons  dire:  l'espece 

A,  eu  tant  qa'elle  n'est  pas  M,  est  distincte  du  genre  B  qui 
contient  M;  eile  est  dans  uue  certaine  mesure  heterogene  au  genre 

B,  et,  reciproquement,  le  genre  B  est  dans  la  meme  mesure 
heterogene  ä  Tespcce  A.  «Le  cheval  n'est  pas  ■ —  les  rumiuants 
qui  sont  —  uue  partie  du  genre  quadrupede;  donc  le  genre 
quadrupede,  en  partie  au  moius,  n'est  pas  l'espece  cheval».  Le 
raisonnement  est  donc  analogue  a  celui  des  modes  convertis;  dans 
UD  cas  on  etablit  une  relation  dliomogeneite  du  genre  a  l'espece 
a  cause  de  celle  qui  existe  de  l'espece  au  genre,  et  dans  Tautre 
cas  une  relation  d'heterogeneite;  le.  cas  particulier  de  Camenes 
marquant,  dans  un  meme  esprit,  l'absencc  de  relation.  Le  tout 
se  ramenerait  donc  assez  bien  ä  ces  trois  formules: 

1°  Camenes: 
L'especes  A  n'est  pas   uue   des   especes   du  genre  B;    donc  le 
genre  B  n'est  aucunement  l'espece  A. 

2°  Bamalip;  Dimatis: 
L'espece   A   est   tout    entiere,  ou   eu   partie,  dans  le  genre  B; 
donc  le  genre  B  est  en  partie  dans  l'espece  A. 

o°  Fepazmo;   Fresizom: 

L'espece  A  est  en  dehors  de  certaines  parties  du  genre  B; 
donc  le  genre  B  est  en  partie  hors  de  l'espece  A. 

Deux  objections  se  presentent.  L\ine  est  la  valeur  que  nous 
avans  dounee  aux  termes  A  et  B  et  qui  sont  Linverse  des  valeurs 
que  ces  termes  re^oivent  comme  genre  et  espece  dans  la  I'*^'  figure. 
Si  notre  hypothese  est  exacte,  ce  reuversement  des  termes  est 
l'expression  de  la  reciprocite  des  deux  figures.  L'autre  objection 
vient  de  la  complication,  encore  trop  grande  ä  notre  gre,  de  ces 
trois  formules  necessaires  pour  expliquer  cinq  modes.  Nous  ne 
pouvons  que  dire  une  fois  de  plus:  la  IV""^'  figure  est  la  moins 
naturelle  de  tuutes,  et  il  n'est  pas  etonnant  qu'elle  soit  la  plus 
dilficile   ;i   reduire  a  un  principe  logique  simple.     Mais  cette  com- 


106  E.  Thouverez, 

plication  relative  ne  iious  paralt  pas  une  raison  süffisante  pour 
röliminer  absoliimcnt.  Est  iiicxistant  ou  non-ctre  ce  (|ui  ne  peut 
pas  absolument  etre  lio  au  sjsteme  geucral  de  nos  connaissances; 
il  suffit  quo  la  IV'"''  figurc  puisse  se  lier  aux  autrcs  par  des 
rapports  logiques,  si  dctourncs  soieut-ils,  pour  qu'une  place  hü 
soit  due  a  cote  d'cllcs  et  a  leur  suite.  Enfin,  les  trois  formules 
mentionnees  plus  haut  sc  ramenent  peut-ctre  a  cclle-ci,  plus 
synthetique:  la  IV'"''  figurc  comparc  l'espece  a  son  genre,  soit 
pour  cn  conclurc,  au  moyeu  des  rcsscmblanecs  qu'il  y  a  cutrc 
toutes  les  cspcces,  que  ce  qui  est  vrai  de  Fespecc  au  genre  est, 
partiellement  au  moins,  vrai  du  genre  a  l'espece;  soit  pour  en 
conclure,  au  moyen  des  dissemblances  spccifiques  qu'il  y  a  d'une 
espece  a  une  autre  dans  un  mome  genre,  quo  ce  qui  est  partiellement 
faux  de  rcspcce  au  genre  est  partiellement  faux  du  genre  a 
l'espece. 

Ainsi  sout  justifies,  semble  t-il,  en  raison  et  en  droit,  les  ciuq 
modes  que  nous  avons  tircs  directement  du  scheme  de  la  IV'"'' 
figure,  cn  nous  appuyant  sur  les  lois  de  la  conversiou.  Les  lois 
de  la  conversion  reussissent  dans  Femploi  que  nous  en  avons  fait, 
mais  nous  avons  remarque  par  avance,  et  il  est  temps  d'y  insister 
avec  force,  quo  cette  reussite  etait  due  a  l'usage  de  la  quanti- 
(ication  du  predicat  dans  certains  modes  au  moins  et  peut-etre 
dans  tous.  Cette  objection  suffira  a  ebranler  et  a  ruiner  toute 
notre  doctrine,  dans  Tesprit  de  quiconque  repousse  la  tlicorie 
d'IIamilton,  comme  decidemeut  incompatible  avec  la  definition 
et  la  nature  du  syllogisme.  Nous  n'essaierons  pas  d'attenuer  cette 
difficulte  cn  niant  la  relation  qui  existe  entre  notre  doctrine  parti- 
culirrc  sur  la  IV""'  (igure  et  la  doctrine  plus  generale  d'IIamilton 
sur  la  legitimitc  qu'il  y  a  a  quantifier  le  predicat  dans  les  cas  oü 
cela  est  nccessaire.  Nous  n'essaierons  pas  non  plus  de  restreindre 
cette  difficulte,  cn  montrant  que  les  modes  retrogrades  y  cchappcnt 
et  cn  limitant  notre  dcmonstration  a  la  ligure  mutilee,  preconisee 
par  Maicr.  II  est  certain  que  la  quantification  apparait  flagrante 
dans  les  modes  affirmatifs:  Bamalip  et  Dimatis,  «  tous  les  A  sont  M; 
tous  les  M  sont  13;  »  et  si  je  conclus:  «  donc  quelques  B  sont  A  », 
c'est  parce  que  j'ai  pensc  dans  la  mineure:   «  tous  les  M  sont  B; 


La  IVine  figure  du  syllogisrne.  107 

doDc  quelques  B  sont  tous  les  M;  et,  etant  tous  les  M,  sont  les 
M  qui  sontA;  et  par  cousequent  sont  eux-memcs  A  ».  La  meine 
quantification  existe  au  fond  dans  les  autres  modes,  et,  si  eile  ne 
l'rappe  pas  de  la  meme  maniin-e,  c'est  siinplement  parce  que  la 
scolastique  nous  a  habitues  a  cette  inconsequence  de  regarder 
toujours  le  predicat  d'une  negative  comme  universel,  ce  qui  est 
vrai,  et  de  quantilier  aiusi  ce  predicat  tout  en  pretendant  qu'on 
no  quautifie  pas,  ce  qui  est  faux.  Dans  le  mode  Camcnes,  le  plus 
apparente  aux  deux  precedents,  c'est  par  une  sorte  de  hasard  que, 
la  mineure  etant  negative,  la  quantification  scolastique  s'opcre  saus 
s'avouer.  Dans  les  modes  retrogrades,  c'est  la  majeure  qui  est 
negative  et  qui  quantifie  tacitement  le  predicat,  ce  qui  evite  la 
peine  de  le  quantifier  d'une  maniere  apparente  dans  la  mineure; 
mais  au  fond  le  procede  de  raisonneraent  est  toujours  le  meme, 
et  ne  reussit  que  par  Tintermediaire  diine  quantification,  tacite 
ou  expresse.  Les  modes  de  la  IV"^''  figure  ne  sont  legitimes  que 
si  la  quantification  du  predicat  se  justifie  elle-meme. 

Or,  nous  croyons  qu'elle  se  justifie,  et  que  les  arguments  qui 
ont  cte  opposes  a  la  theorie  d'Hamilton,  tantot  d'un  point  de  vue 
empirique  par  Stuart  Miil,  tantot  d'un  point  de  vue  rationuel  par 
M.  Lachelier,  possedent  une  valeur  absolue  quand  on  les  applique 
a  des  propositions  isolees,  qui  forment  un  acte  de  pensee  absolue, 
mais  qu'il  n'en  est  pas  tont  ;i  fait  de  meme  quand  il  s'agit  de 
propositions  liees  entre  elles  par  les  rapports  de  moyen  a  fin, 
comme  il  arrive  dans  le  syllogisrne.  II  nous  semble  en  ett'et  qu'il 
y  a  lieu  peut-otre  de  faire  une  difterence  qui  n'a  pas  cte  falte, 
et  de  distinguer  la  quantification  du  predicat  comme  moyen  et 
comme  fin*^).  La  quantification  du  predicat  n'est  pas  le  but  du 
raisonnement,    et  Ton    a  raison    de   dire,    en    ce    sens,    que  tout 


•1^)  Hamilton,  Lectuies  on  Logic,  t.  II,  app.  VJ.  —  Stuart  Jlill: 
Examen  de  la  Philosophie  d'ilamilton,  trad.  E.  Cazelles,  Paris  1860, 
p.  47L  —  J.  Lachelier:  De  Nat.  Syll.,  p.  2(1.  Nous  sommes  redevabie  ä 
M.  Lachelier  de  cette  remarquc  si  importante,  que  la  conclusion  de  Bainalip, 
dans  le  scheme  PS,  est  obtenue  au  moyen  d'une  (luantitication  sous-entendue 
de  la  mineure  couvertie, 


108  E.  T  h  0  u  V  e  r  e  z , 

Probleme  lugique  est  im  piobleme  de  coinpreheasion:  «  Ic  ciel  cst-il 
ou  n'est-il  pas  bleu?  Mou  voisin  est-il  inite  oii  ne  l'cst-il  pas?  » 
et  üoii  pas  Uli  pioblcmo  d'extensiou.  Mais  la  cjuantite,  qui  n'est 
pas  le  Iiut  du  raisonnement  logique,  en  peut  ctre  Ic  moyeu 
necessaire.  llaaiiltou  a  raison  de  dire  quo  le  souci  du  logicieu 
doit  etre  de  savoir,  dans  uue  scric  de  })ropositions  qui  s'enchainent, 
<jucllc  est  exactement  la  limite  de  chacune  d'elles,  aliu  de  counaitre 
si  Ton  a  le  droit  d'eu  tirer  la  consequeucc  qu'ou  eii  a  ou  eilet 
tiree.  Et,  en  fait,  c'est  ce  que  la  logique  classiquc  a  toujours 
accorapli,  admettaut,  par  une  sorte  d'entente  tacite,  que  l'attribut 
est  toujours  universellemeut  nie,  tandis  qu'il  peut  n'ctrc  que 
partiellement  afilrme.  Mais,  en  realite,  si  Ton  peut  poser  en  regle 
de  prudence  pratique  de  ne  jamais  considerer  le  predicat  d'une 
affirmative  comme  universel,  quand  la  quantite  n'eu  est  pas 
nettement  speciliee,  inversement  il  parait  arbitraire  de  refuscr  cette 
quantilication  dans  Ics  cas  coutraires  signales  plus  haut.  La  theorie 
classique  signilie  simplemcnt  ceci:  lorsque  vous  otes  en  presence 
d'une  particuliere  afOrmative,  vous  ne  pouvez  pas  savoir  a  priori 
si  eile  rcsulte  par  conversiou  d'une  universelle  ou  d'une  particulicre; 
mais  eile  ne  peut  pas  interdire,  si  je  suis  en  presence  d'une  univer- 
selle aflirmative,  de  laconvertir  dans  la  pensee,  comme  dit  Hamilton, 
en  uue  affirmative  parti- totale  qui  lui  est  recllement  identique. 
La  (juantitc  et  la  qualite  sont  les  deux  elements  qui  se  combinent 
dans  le  syllogisme,  comme  le  moyeu  et  la  fin;  et  il  faut  qu'il  en 
soit  ainsi,  puisque  la  logique  a  [)our  domaine  les  genrcs  et  les 
especes,  c'est-a-dire  des  divisions  et  des  subdivisions  de  dasses  qui 
sont  distinguees  par  la  totalite  ou  la  particularite  des  attributs 
qui  Icur  conviennent.  Supprimer  en  logique  la  (juantite,  ce  serait 
recourir  a  un  monde  d'idees  matliematiques,  ou  mieux  didees 
platoniciennes,  (jui  nauraient  plus  cntro  olles  de  participation 
possiblo,  parcc  quo  la  participation  suppose  quehjue  chose  de 
commun  et  ([uelque  chose  de  distinct,  des  genres  et  des  especes, 
des  partics  et  des  touts.  L'essai  de  logi(iue  qui  a  ete  fait  dans 
ce  sens,  [)ar  M.  Kodier,  —  au  momeut  memo  oii  il  distingue  le 
syllogisme  ideal,  purement  (jualitatil',  du  syllogisme  en  (juelque 
maniere  bätaul  qui  a  ete  corrompu  par  Laccession  adveuticc  de  la 


f 


La  IV'ue  figure  du  syllogisme.  109 

quantite^^)  —  ue  fait  pas  autre  cliose  que  ce  que  faisait  Piaton: 
rcleguer  la  qualite  pure  dans  im  domaine  ideal,  qui  n'est  pas  le 
notre,  et  admettre  eii  fait  l'intervention  de  la  quantite  dans  uii 
domaiue  d'accidents,  qui  est  le  notre.  Aristote  ne  ferait  pas  cette 
Separation,  et,  par  consequent,  malgre  les  textes  contraires  qu'on 
a  releves  chez  lui  et  qui  sont  partiels,  devrait  accepter  la  quauti- 
fication  d'Hamilton  dans  son  Systeme^').  La  quantite  est  l'indispen- 
sable  moyen  par  lequel  les  relations  qualitatives  s'etablissent,  et 
le  fait,  pour  la  lY^^^'  ligure  du  syllogisme,  de  supposer  la  quanti- 
fication  du  predicat,  fait  de  cette  figure,  une  fois  de  plus,  la 
deruiere  de  toutes  et  la  plus  eloignee  de  Fideal,  mais  non  pas  pour 
cela  irreelle. 

Si  donc  la  IV™''  figure,  avec  le  role  que  nous  lui  avons  assigne, 
est  reelle  et  legitime,  nous  pouvons  jeter  un  regard  d"ensemble 
sur  tonte  la  doctrine.  Les  quatre  figures  du  syllogisme  corre- 
spondent  a  quatre  inferences  distinctes:  subalternation,  contra- 
positiou,  Substitution,  conversion;  et  ces  quatre  principes  rendent 
compte  de  toutes  les  demarches  possibles  dans  le  domaine  logique. 
La  logique  a  pour  but  de  comparer  entre  eux  les  termes  dont  le 
raisonnement  se  sert;  ces  termes  different  par  Fextension  et  par 
la  comprehension,  la  qualite  et  la  quantite  etant  les  deux  Clements 


*^  Kodier,  op.  cit.,  p.  37—40. 

")  Alistote  declare  qu'il  ii'y  a  pas  syllogisme  sans  l'expression  d'un 
rapport  des  parties  au  tout  (An.  Pr.  I.  c.  XLI,  G);  il  admet  que  les  deux 
langages  de  l'extension  et  de  la  comprehension  se  correspondent  (I  c.  I,  11) 
il  prend  comme  une  sorte  de  juste  milieu  la  quantification  du  sujet  par  Oppo- 
sition k  la  non  quantification  du  predicat  (I  c.  1,  5).  —  M.  Rodier  suit  la 
comprehension  pure  jusqu'ä  eliminer,  comme  batards,  les  modes  oii  la  quan- 
tification intervient;  Hamilton  suit  l'extension  jusqu'ä  quantifier  le  predicat: 
Aristote  exclut  ögalement  ces  deux  extremes,  mais  il  devrait,  si  le  syllogisme 
a  pour  but  de  s'appliquer  aux  choses,  preferer  a  la  qualite  pure,  qui  plane 
au-dessus  des  realites  empiriques,  une  quantification  du  predicat  qui  serre  du 
plus  pres  possible  toutes  les  relations  etablies  par  la  nature  entre  les  genres 
et  les  especes,  c'est-ä-dire  entre  les  parties  et  les"  touts,  ici  bas  existants, 
diverseraent  qualifies  et  quantifies.  —  Remarquons  d'ailleurs  que  M.  Rodier, 
p.  39,  recounait  une  logique  de  Fextension  ä  cote  de  celle  de  la  comprehension, 
et  admet  comme  legitime,  dans  cette  logicpie  extensive,  la  quantification  de 
Hamilton  pour  remedier  aux  defauts  de  la  conversion  des  propositions  dans 
la  doctrine  scolastique. 


11(3  E.  Thouverez,    La  IVme  figure  du  syllogisme. 

primitifs  et  irreductibles  de  toute  demarche  rationnello.  Par  la 
quantitc,  los  espoces  rcntrent  daiis  les  genres;  par  la  qualite,  las 
diflV'rences  specifiques  se  distinguent  et  les  proprietes  generiqiies 
se  confondent.  Les  genres  et  les  especes,  disposes  en  hierarchie, 
rentrent  les  uns  daus  les  autres  par  inclusions  successives;  les 
genres  compares  aux  genres,  ou  les  especes  aux  especes,  soutiennent 
des  rapports  de  similitude  et  de  difference.  Le  probleme  sera  donc 
tantöt  de  parcourir  la  serie  quantitative,  de  descendre  des  genres 
aux  especes  par  subalternation  ou  deduction  proprement  dite,  de 
remonter  des  especes  aux  genres  par  conversion  ou  induction; 
tantöt,  au  contraire,  de  composer  entre  elles  les  lignes  paralleles, 
de  distinguer  les  differences  specifiques  irreductibles,  par  contra- 
position,  de  concilier  au  contraire  les  proprietes  generiques, 
communes,  par  Substitution.  Passage  du  plus  au  raoius  et  du 
moins  au  plus  dans  le  domaine  de  lextension;  passage  de  l'identi- 
que  a  l'identique  ou  refus  de  passage  du  different  au  different, 
dans  le  domaine  de  la  compreliension:  desceute  et  ascension,  these 
et  antithese,  telles  sont,  semble-t-il,  toutes  les  demarches  que  peut 
accomplir  la  pensee  dans  Pordre  logique  et  que  les  quatre  figures 
du  syllogisme,  toutes  distinctes,  expriment  distinctement;  en  sorte 
qu'on  n'en  peut  pas  supprimer  une  seule,  meme  la  plus  indirecte, 
et  la  plus  basse,  sans  mutiler  et  detruire  le  concert  des  Operations 
logiques  de  l'esprit;  et  c'est  pourquoi  nous  croyons,  avec  Leibniz, 
que  la  IV""'  figure  est  en  eilet  reelle  et  legitime,  quoique  «  plus 
eloignee  d'un  degre  que  la  seconde  et  la  troisieme,  qui  sont  de 
niveau  et  egalement  eloignees  de  la  premiere  ». 


I 


Jahresbericht 

über 

sämmtliche  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschiclite 

der  Philosophie 

in    Gemeinschaft   m i t  ■ 

0.   Apelt,    Clemens   Baeumker,    Ingram   Bywater,    Alessandro   Chiapelli, 

Wilhelm  Diltliey,     A.   Dyroff,     Benno   Erdmann,     IT.   Liidemann,    Martin 

Schreiner,  Andrew  Seth,   Paul  Tannery,  Feiice  Tocco,   E.  Wellmann 

und  Wilhelm  Windelband 

herausgegeben 


Ludwig  Stein. 


I. 

Die  (lentsclie  Litteratiir  über  die  Vorsokratiker 

1894  bis  1900. 

Von 
E.  Welluiauil  in  Berlin. 

Th.  Gomperz.    Griechische  Denker.    Eine  Geschichte  der  antiken 
Philosophie.     1.  Bd.,  Leipzig  1896.     VI,  478  S.  gr.  8^ 
(Fortsetzung.     Vgl.  Arch.  VIII,  284—290.) 

4.  Capitel.  Anaxagoras.  S.  168 — 182.  —  In  den  Voraus- 
setzungen wie  in  den  Ergebnissen  seiner  Forschung  dem  Empe- 
dokles  verwandt,  bildet  A.  zu  ihm  den  stärksten  Contrast  durch 
seinen  nüchternen  Verstand,  die  starre  Folgerichtigkeit  seines 
Denkens,  die  Schlichtheit  und  Objectivität  seiner  Darstellung.  Er 
besass  eine  hohe  deductive  Begabung,  einen  mächtig  entwickelten 
Causalitätssinn,  aber  zugleich  einen  auffälligen  Mangel  an  gesunder 
Intuition.     Von  den  Eleaten  ist  er  ganz  unberührt  geblieben. 

5.  Capitel.  Empedokles.  S.  188— 204.  —  E.  ist  eine  un- 
ruhige, lebhafte,  schwer  zu  beurtheilende  Persönlichkeit,  in  der 
das  echte  Gold  gediegenen  Verdienstes  mit  dem  Flittergold  wesen- 
loser Ansprüche  seltsam  gemengt  ist,  durch  seinen  Hang  zur 
Schaustellung  und  zur  Aeusserlichkeit  ein  echter  Sicilier.  Als 
Philosoph  ist  er  nicht  weniger  Anthropologe  als  Kosmologe,  als 
Naturforscher  eher  Physiologe,  Chemiker  und  Physiker  als  Astronom 
und  Mathematiker.      Drei  Grundgedanken    der    modernen    Chemie 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     XV.  1.  3 


114  K-  Wellmann, 

treten  zuerst  bei  ihm  deutlich  hervor:  die  Annahme  einer  be- 
schränkten Zahl  von  Urstoflen,  die  Voraussetzung  von  mannigfachen 
Verbindungen  dieser  Stofle  untereinander  und  die  Anerkennung 
wechselnder  Proportionen  dieser  Verbindungen.  Die  von  ihm  auf- 
gestellte Lehre  von  den  vier  Elementen  verwechselt  Grundformen 
des  Stofflichen,  Zustände  und  Vorgänge,  mit  den  Grundstoffen 
selbst;  trotzdem  war  diese  Scheinwissenschaft  von  unermesslichem 
Werthe,  denn  aus  dieser  Larve  konnte  sich  die  echte  Wissenschaft 
entpuppen.  Seine  Sinnespsychologie  betont  die  wechselseitige  An- 
ziehung des  Gleichen  durch  das  Gleiche.  Seine  Ansichten  über 
die  Entstehung  des  organischen  Lebens  machen  ihn  zu  einem  Vor- 
läufer Darwins  und  Goethes.  Seine  Allbeseelungstheorie  ist  ein 
gesteigerter  Hylozoismus.  Die  merkwürdige  Seelenphysik  des  E. 
neben  seiner  Seelentheologie  hat  ihr  Seiteustück  schon  in  Homers 
Zwei-Seelentheorie,  welche  eine  Hauchseele  Oj^uyr])  und  eine  Rauch- 
seele (Oujjto?)  unterscheidet;  sie  zeigt  deutlich,  dass  er  halb  orphischer 
Mystiker,  halb  Naturforscher  gewesen  ist.  Der  Vorwurf  des  Eklekti- 
cismus  trifft  ihn  weniger  als  der,  dass  seinem  rastlosen  Geiste  die 
Geduld  fehlte,  die  neuen  von  ihm  ausgesprochenen  Gedanken  zu 
Ende  zu  denken.  Dies  erhellt  besonders  aus  seinem  Vcrhältniss 
zu  den  Eleaten. 

6.  Capitel.  Die  Geschichtsschreiber.  S.  205—218.  —  ITekatäos 
und  Herodotos  stehen  mit  ihrer  halb  geschichtlichen  Methode  in 
der  Epoche  des  Uebergangs  zum  Zeitalter  der  Aufklärung. 

Drittes  Buch.     Das  Zeitalter  der  Aufklärung. 

1.  Capitel.  ])ic  Aerztc.  S.  221—204.  —  AVie  bei  den  Philo- 
sophen und  den  Historikern,  so  kam  :iuch  bei  den  Aerzten  der 
kritische  Geist  zum  Ausbruch;  er  schied  aus  der  Naturerkennlniss 
das  Element  der  Willkür  aus  und  schuf  durch  gekräftigte  Hcol)- 
achtung  ein  Gegengewicht  gegen  haltlose  Ausgeburten  ausschweifender 
Phantasie  und  aprioristischer  Speculation. 

2.  Capitel.  Die  atomistischeii  Physiker.  S.  254—298.  — 
Die  Atomistik  war  die  reife  Frucht  an  dem  Baume  der  alten  von 
den  ionischen  Physiologen  gepflegten  Stofflehre.    Leukippos  wurde 


Die  Deutsche  Littoratur  über  die  Vorsokratiker  1894  bis  1900.       115 

von  Parmenides  uicht  heeinflusst,  wohl  aber  von  älteren  namen- 
losen, vermutlich  pythagoreischen  I)eni<ern.  Sein  Hauptverdienst 
beruht  darauf,  dass  er  eine  Brücke  schlug  zwischen  der  Welt  der 
Substanzen  und  der  Welt  der  Phänomene,  indem  er  die  Qualitiiten 
auf  Quantitäten  zurückführte.  Demokrit  war  kein  Skeptiker, 
eher  ein  Vorläufer  Galileis,  sofern  er  aus  mechanischen  Ursachen 
alles  erklären  wollte,  ohne  Rücksicht  auf  Zweckbegriffe.  Seine 
Ethik  erwuichs  aus  seiner  atomistischen  Weltanschauung  und  fand 
mit  Recht  selbst  bei  seinen  Gegnern  Bewunderung  wegen  ihrer 
Reinheit. 

3.  Capitel.     Die  Ausläufer  der  Naturphilosophie.    S.  298 — H06. 

—  Diogenes  von  Apollonia,  bei  dem  der  Wirbel  des  Leukipp 
sich  mit  dem  Nus  des  Anaxagoras  so  brüderlich  vertragen  muss, 
wie  dieser  mit  dem  Luftgott  des  Anaximenes,  Hippon,  Archelaos 
und  ]Metrodoros  von  Lampsakos  werden  hier  behandelt. 

4.  Capitel.    Die  Anfänge  der  Geisteswissenschaft.    S.  306—331. 

—  Sie  treten  hervor  in  einer  Reihe  neuer  Erscheinungen,  in  denen 
sich  die  Vorherschaft  des  Intellektualismus  äussert.  Es  beginnt 
die  berufsmässige  Pllege  der  Redekunst,  die  Technik  verdrängt  die 
Empirie,  Lehrbücher  werden  verfasst  über  alle  möglichen  Gegen- 
stände. Man  fragt  nach  den  Anfängen  der  Cultur  uud  vertritt 
entweder  eine  organische  oder  eine  mechanische  Geschichtsansicht 
in  dem  Gegensatze  der  Natur  und  der  Satzung.  Die  Reflexion 
bemächtigt  sich  auch  des  Gebietes  der  Religion,  der  Erziehung  und 
äussert  sich  in  politischen  Reformentwürfen. 

5.  Capitel.  Die  Sophisten.  S.  331— 351.  —  Der  Sophist  des 
fünften  Jahrhundeits  war  halb  Professor  halb  Journalist,  ein 
Honorar  empfangender  Lehrer  der  Jugend,  meistens  auch  ein  Ver- 
treter der  aufstrebenden  Aufklärung.  Piaton  zeichnet  die  Sophisten 
balfl  gröber,  bald  feiner,  aber  immer  als  Gegner.  Richtig  ist  es, 
wenn  er  sie  im  Streite  mit  Sokrates  den  kürzeren  ziehen  lässt. 
Wo  er  sie  mit  grimmem  Ernst  angreift,  sind  aber  gar  nicht  diese 
alten,  echten  Sophisten  gemeint,  sondern  seine  philosophischen 
Gegner,  Schüler  und  Enkelschüler  des  Sokrates,  vor  allen  Anti- 
sthenes.      Ein    böser  Unstern    hat    über    den    Sophisten    gewaltet: 

8* 


116  K.  Wclliuaiiii, 

gegen  sie  verschworen  sicli  die  Laune  des  Sprachgebrauchs  und 
das  Genie  Piatons,  und  ihre  Schriften  sind  so  wenig  wie  ihr  An- 
denken durch  treue  Schüler  behütet  worden.  Herkömmlich  be- 
handelt man  unter  dem  Namen  Sophisten  eine  Reihe  von  sehr 
verschieden  gearteten  Denkern,  die  gar  keine  besondere  Klasse  für 
sich  bilden. 

Zunächst  Prodi  kos.  Eine  tiefernste  Natur,  der  älteste  Pessi- 
mist, der  erste  Forscher,  der  den  Sprachstoff  wissenschaftlich  be- 
handelte und  den  Begriff  der  Adiaphora  in  die  Sittenlehre  ein- 
führte. —  Hippias,  der  Tausendkünstler,  hochgefeiert,  durch 
seinen  Troischen  Dialog  wohl  der  älteste  Vertreter  dieser  Kunst- 
form, ist  kaum  ein  Vertreter  der  Aufklärung  zu  nennen.  — 
Antiphon  könnte  man  den  frühesten  Nominalisten  nennen. 

6.  Capitel.  Protagoras  von  Abdera.  S.  352 — 380.  —  Ein 
vielseitig  veranlagter  Mann  und  gefeierter  Wanderlehrer.  In  Athen 
erhielt  er  von  Perikles  den  Auftrag,  dem  neugegründeten  Thurioi 
Gesetze  zu  geben;  Pythodoros  veranlasste  seine  Verbannung,  und 
und  als  er  auf  der  Ueberfahrt  nach  Sicilien  umgekommen  war,  be- 
klagte Euripides  seinen  Tod  im  Palamedes  (um  415).  Seine  Lebens- 
zeit wird  sich  etwa  von  487 — 417  erstreckt  haben.  Der  bekannte 
Satz  über  die  Götter  bedeutet,  dass  wir  von  diesen  nichts  wissen, 
sondern  nur  an  sie  glauben  können.  Der  sogenannte  homo-men- 
sura-Satz  bezeichnet  den  Menschen  als  das  Mass  für  die  Existenz, 
nicht  für  die  Beschaffenheit  der  Dinge.  Allein  zulässig  ist  die 
generelle  Auffassung  des  Satzes;  man  kann  das  sogar  bei  Piaton 
noch  daraus  erkennen,  dass  er  in  seinem  Dialog  Protagoras  ganz 
anders  urthcilt  als  im  Theätet,  wo  unter  der  Maske  des  Protagoras 
in  Wirkliciikeit  Aristipp  angegrill'en  wird.  Die  Schrift  -spt  ~iyyr^> 
hat  einen  Sophisten  der  älteren  Generation,  nicht  einen  Arzt  zum 
Verfasser,  am  wahrscheinlichsten  den  Protagoras.  Dieser  war  ein 
persönlich  ehrenhafter  Mann,  und  seine  Rhetorik  diente  sittlichen 
Zwecken. 

7.  Capitel.  Gorgias  von  Leontinoi.  S.  380 — 396,  —  G.,  einer 
der  Begründer  der  griechischen  Kunstprosa,  hat  in  seinem  Stile 
merkwürdige  Parallelen    im    Zeitalter    der    Renaissance    (Guevara, 


Die  deutsche  Litteratur  über  die  Vorsokratiker  1894  bis   1900.       117 

Lyly).  Als  Wanderlehrer  vertritt  er  den  Gedanken  der  nationalen 
Einheit  unter  den  Hellenen.  Die  bei  Zenou  bereits  hervortretende 
Selbstzersetzung  der  eleatischen  Lehre  führt  er  fort  bis  zur  völligen 
Negation  des  Seinsbegriffs;  doch  besteht  sein  Nihilismus  nur  darin, 
dass  er  die  Wirklichkeit  des  Einen  rein  Seienden  leugnet,  ohne 
den  Bestand  der  Sinnenvvelt  zu  bestreiten.  Mit  seinen  meisten 
Zeitgenossen  theilt  er  die  Auflehnung  gegen  den  selbstsicheren 
Dogmatismus  der  älteren  Schulen;  er  übt  Selbstbescheidung,  huldigt 
daher  dem  Relativismus  und  bemüht  sich  —  wie  später  Sokrates 
—  um  scharfe  Umgrenzung  der  Begriffe.  Man  hat  kein  Recht  in 
seiner  Entwicklung  zwei  ungleichartige  Abschnitte  anzunehmen, 
denn,  nach  Piatons  Aeusserung  im  Menon  zu  urtheilen,  hat  er  sich 
noch  als  Greis  mit  physikalischen  Fragen  beschäftigt,  wie  denn 
auch  seine  Schüler  sich  als  Naturkundige  erweisen. 

8.  Capitel.  Der  Aufschwung  der  Geschichtswissenschaft.  S.  396 
bis  413.  —  Dieser  Abschnitt  behandelt  neben  der  Schrift  Vom 
Staate  der  Athener  den  Thukydides  geistvoll  und  eindringend 
mit  besonderer  Wärme. 

Die  Anmerkungen  und  Zusätze  (S.  418—478)  am  Schlüsse  des 
Bandes  sind  werthvoll  durch  die  Angabe  der  litterarischen  Quellen 
und  der  Fundstellen. 

E.  Zeller.    Grundriss  der  Geschichte  der  griechischen  Philosophie. 
5.  Aufl.     Leipzig  1898.     X,  324  S. 

An  dem  bewährten  Buche  hat  die  nachbessernde  Hand  des 
Verf.  bei  der  neuen  Auflage  weniges  geändert,  nur  einiges  hinzu- 
gefügt. Wir  deuten  das  Erheblichere  kurz  an.  §  5.  Einfluss  morgen- 
ländischer Bildung  auf  die  altgriechische.  6.  Wichtigkeit  der  Mathe- 
matik, Astronomie,  Medicin  für  die  Philosophie.  16.  Physik  des 
Pythagoras.  18.  Alkmäon.  25.  Anaxagoras  (genauer).  26.  Entstehung 
der  Sophistik.  27.  Protagoras  um  485  geboren.  U.  ~i'/yr^<;  nicht  sein 
Werk.  28.  Sein  Subjectivismiis,  nicht  Griticismus.  40.  Piatos  So- 
phist, Politikos,  Parmenides  sind  nicht  Werke  der  letzten  Periode. 
51.  Die  avopfxot  07x01  des  Ileraklides  sind  „nicht  mit  einander 
verbundene"   Urkörper.     64.    Verhältniss  des  Kritolaus  zur  Stoa. 


118  K.  Well  mann, 

G5.  Bedeutsam  der  Eintritt  gräcisirter  Orientalen  in  die  Philo- 
soplienschulen.  72.  Zweideutigkeit  des  Begriffs  der  stoischen 
xaör^xovxa  und  xaTopilfujj-oiTot.  Stoischer  Kosmopolitismus  und  Christen- 
thum.  75.  Epikur  über  den  Fall  der  Atome,  über  Vernunft,  Er- 
innerung, Meinung  der  Menschen.  80.  Psychologie  und  Ethik  des 
Pauaetius  und  Posidonius.  81.  Philo  von  Larissa  und  Karneades. 
Autiochus  dogmatisch.  84.  Seneca  und  Epikur.  85.  Ethische 
Wirkung  der  jüngeren  Kyniker.  89.  Aenesidems  angeblicher 
Heraklitismus.  91.  Orphisch-Dionysisches  und  Platonisches  im 
Neupythagoreismus.  93.  Bedeutung  der  Therapeuten.  97.  Biotins 
Ansicht  über  das  Verhältniss  von  Leib  und  Seele.  99.  Porphyrius 
als  Erklärer  Plotins. 

Otto  Willmann,  Geschichte  des  Idealismus.  1.  Bd.  Vor- 
geschichte und  Geschichte  des  antiken  Idealismus.  Braun- 
schweig 1894.     IX,  696  S. 

Dieses  Werk    des  auf    dem  Gebiete    der    P;ida<TO!Jik    rühmlich 

o     o 

bekannten  Verf.  soll  nicht  bloss  eine  Lücke  in  der  Geschichte  tler 
Wissenschaft  ausfüllen,  sondern  zugleich  als  eine  Art  von  Er- 
bauungsbuch für  gleichgestimmte  Seelen  dienen.  Gross  angelegt, 
weit  ausholend,  auf  umfassende  Belesenheit  gegründet,  mit  warmer 
Begeisterung  geschrieben,  ist  es  erheblich  mehr  geeignet  dem  zweiten 
Theile  der  ihm  gestellten  Aufgabe  zu  genügen  als  dem  ersten. 
Denn  alle  sonstigen  Vorzüge  werden  in  den  Schatten  gestellt  durch 
den  einen,  für  einen  modernen  Geschichtsschreiber  allerdings  un- 
verzeihlichen  Fehler  der  völlig  unkritischen  Benutzung  und  naiv 
harmlosen  Beurtheilung  der  litterarischen  Quellen.  Der  Verf.  stellt 
sich  überhaupt  (S.  135f.)  gegenüber  der  neueren  Kritik  entschieden 
auf  den  bereits  von  Fr.  Creuzer  in  seiner  Symbolik  vertretenen 
Standpunkt,  es  habe  eine  monotheistische  Urreligion  gegeben,  deren 
Erbweisheit,  nach  Völkern  dilferenzirt,  in  ilcr  echten  Philosophie 
mit  erneutem  Lichte  erglänzt.  Diese  echte  Philosophie  ist  der 
wahre  Idealismus. 

l.     Vorgeschichtliche    Anfänge   der    Philosophie.     S.  1 
— 13G.    —    Der  Idealismus,  d.  h.  die  ^^'eltbetrachtung,  welche  das 


Die  deutsche  Litteratui-  über  die  Vorsokiatiker  1894  bil  1900.        119 

Gegebeue  aus  übersinnlichen  Principieu  erklärt,  (indet  sich  in  philo- 
sophischer Klarheit  zuerst  bei  Platou,  im  wesentlichen  auch  schon 
vorher  bei  Pythagoras.  Aber  die  Wurzeln  dieser  Weltanschauung 
liegen  noch  tiefer  in  den  vorgeschichtlichen  Anfängen  der  Philo- 
sophie, auf  die  Piaton  selbst  (Phileb.  IßC  u.  a.  a.  0.)  hinweist. 
Man  muss  daher  auf  das  zurückgehen,  was  in  den  religiösen  Tra- 
ditionen aus  der  Uroöenbaruug  von  dem  gemeinsamen  Erbgut  der 
Menschheit  erhalten  ist.  Bei  den  Griechen  findet  sich  derartiges 
in  dem  apollonischen  Glaubenskreise  und  in  der  Mysterienlehre, 
ausserdem  in  der  AVeisheit  der  Aegypter,  der  Chaldäer,  der  Magier, 
in  dem  Veda  der  Inder  und  in   dem  Alten  Testament  der  Juden. 

II,  Die  Theologie  als  Grundlage  der  Philosophie  und 
des  Idealismus  im  besonderen.  S.  137—262.  —  Weiter  aus- 
gebildet wurden  die  UrÜberlieferungen  durch  theologische  Systeme 
namentlich  bei  den  Indern,  wo  sich  an  den  Veda  der  Vedänta  an- 
reiht, wie  bei  den  Juden  an  die  Thorah  die  Kabbalah;  die  alt- 
griechische Theologie  dagegen  ist  einem  Palimpseste  gleich,  bei  dem 
die  homerische  Mythologie  eine  ältere  Schrift  zugedeckt  hat.  Die 
Theologie  der  Griechen  spaltete  sich  in  einen  politischen  und  in 
einen  physischen  Zweig;  aus  jenem  entwickelte  sich  die  gesetzhafte 
Weisheitslehre  ethischen  Inhalts  (die  wir  bei  Miuos,  Lykurgos,  den 
sieben  Weisen,  im  Apollokult,  in  den  Mysterien  und  bei  den 
Orphikeru  finden)  zugleich  mit  den  sakralen  Wissenschaften  (der 
Sprachkunde,  Metrik,  Tonkunde,  Eechtslehre,  Heilkunde,  Mathe- 
matik, Astronomie);  aus  diesem  erwuchsen  die  Kosmologie  der 
ionischen  Hylozoisteu  und  später  die  des  Anaxagoras  und  Empe- 
dokles,  die  Mystik  Heraklits  und  der  Eleaten.  Alle  diese  ver- 
schiedenen Elemente  der  Theologie  vereinigen  nun  zum  ersten 
Male  die  Gedankenbildungeu  des  Pythagoras.  Er  leiht  den  in  die 
Form  des  Symbols  und  des  Mythus  gekleideten  Vorstellungen  die 
Sprache  der  Speculation  und  der  Forschung,  seine  Lehre  von  der 
Vorbildlichkeit  der  si'ö-/)  oder  loiai  ist  die  älteste  Form  des 
Idealismus. 

III.  Der  vorplatouische  Idealismus.  S.  263 — 365.  — 
Die  Hauptgestalt    ist    hier  Pythagoras,    auf  den    der    Verf.    nach 


120  E.  Wellinaiin, 

Jamblich  und  ähnlichen  späten  Quellen  unbedenklich  alle  wesent- 
lichen Stücke  des  Pythagorcisraus  zurückführt.  —  Die  Atomeulchre 
des  Leukipp  und  Deraokrit  ist  verdorbener  Pythagoreismus.  —  Die 
Sophisten,  Aufklärer,  denen  es  an  historischem  Sinne  völlig  mangelte, 
bekämpften  die  Sittlichkeit  als  willkürliche  Satzung  und  leugneten 
„nominalistisch"  die  Gültigkeit  der  Erkenntniss.  —  Sokrates  steht 
mit  seiner  intellektualistischcn  Ethik  ebenso  wie  mit  seiner  Dia- 
lektik an  Weite  des  Blicks  und  Grossheit  der  Auffassung  weit 
hinter  Pythagoras  zurück.  Die  Stärke  seiner  Philosophie  liegt  in 
ihrem  „Realismus",  in  dem  Leitgedanken,  das  Wesen  der  Dinge 
als  ein  Gedankliches  und  zugleich  Reales  aufzusuchen. 

IV.    Piaton.     S.  366—454.  —  Nach  Aristoteles'  Angabe  sind 
die  Quellen  der  Philosophie  P.'s  bei  Heraklit,  Sokrates  und  den  Pytha- 
goreern  zu  suchen.    Wie  Heraklit  schliesst  er  sich  an  die  Mysterien- 
lehre an,    und    hier  hat    seine  Lehre    von    den    ewigen  Ideen    als 
Siegeln  und  Mustern  der  Dingo  ihre  Hauptwurzel.     Ueber  Sokrates 
geht  er  in  der  Durcharbeitung    des  intelligibelen  Gebietes    hinaus, 
mittels  Deduction  und  Division,   indem  er  die  Denkinhalte  zu  Or- 
ganismen verknüpft    und  neben    die  Ideen    die  Idealien    (die  Ari- 
stoteles XoYtxai  Suvaaetc  nennt)  treten  lässt.     Unverkennbar  pytha- 
goreisch ist  bei  P.  der  gesetzhafte  Grundzug  seiner  Theologie  und 
die  sociale  Tendenz:  sein  Staat  ist  ein  erweiterter  pythagoreischer 
Bund.     In  den    von  Aristoteles    angegebenen    Elementen    der  pla- 
tonischen Philosophie    findet    die  Annahme    der  Transcendenz    der 
Ideen  und  der  Dualismus  der  Ideenlehre  keine  genügende  Erklärung, 
bei    diesen  Lehrstücken  wird    daher    ein   Einlluss    der  Magierlehre 
stattgefunden    haben.       Das    Kernvverk    des    ganzen    platonischen 
Systems  ist  seine  Theologie.     Quelle  der  Gotteserkenntniss  ist  die 
mystische   Intuition    und    die    geheiligte   Ueberlieferuug;    das  zeigt 
z.  B.  Tim.  40 DE,    denn    diese  Stelle    ist    mit  Grote    als  ernsthaft, 
nicht  nach  Zeller    als  ironisch  gemeint,    aufzufassen.      Die  Idcen- 
lehre,  der  Schlüssel  der  platonischen  Probleme,  bedarf  selbst  eines 
Schlüssels;    denn   die  Schwierigkeit,    dass    die   Ideen    transcendent 
und  immanent  zugleich    sind,    lässt  sich  nicht  beseitigen.      Durch 
ihre  „Theilnahme"  bilden    sie    das  Bindeglied    zwischen  Gott  und 
der  Endlichkeit,  zwischen  Sein  und  Erkennen.     Wenn  P.,  um  das 


Die  deutsche  Litteratiir  über  die   Voisokratiker  1894  bis   1900.        121 

lüiiewerden  der  Ideen  durch  den  Geist  zu  erklären,  zu  der  Annahme 
einer  Präexistenz  der  Seelen  seine  Zuflucht  nimmt,  so  bleibt  er 
hinter  den  Pythagoreern  zurück.  Seine  weltllüchtige  Ethik,  ihre 
sociale  Wendung  und  ihre  kosmische  Fassung  haben  Parallelen  in 
indischen  Lehren;  doch  tritt  daneben  auch  das  historisch  gesetzliche 
Element  des  sittlichen  Lebens  stark  hervor,  indem  P.  den  Staat 
als  ein  Kunstwerk  darstellt,  das  in  der  Urzeit  wirklich  bestanden 
hat;  auch  ist  seine  Gerechtigkeit  etwas  anderes  als  der  indische 
Dharma  und  steht  dem  Gerech tigkeitsbegrift'e  des  alten  Testaments 
näher.  Seine  Verwirklichung  hat  der  platonische  Staat  am  meisten 
in  den  Ritterorden  des  Mittelalters,  vor  allem  in  dem  Orden  der 
Deutschherren  gefunden.  Li  den  Gesetzen  des  greisen  Philosophen 
tritt  die  Lehre  von  der  Sünde  und  von  der  Willensfreiheit  bedeut- 
sam hervor. 

V.  Aristoteles.  S.  455 — 564.  —  Auch  die  Philosophie  des 
Aristoteles  ruht  auf  theologischen  Grundlagen.  Die  religiösen 
Ueberlieferungen  der  Vorzeit  behandelt  er  mit  Pietät.  Er  hat  die 
Lituition  von  den  übersinnlichen  Keimen  und  Samen  philosophisch 
geprägt  in  seiner  Lehre  von  der  ouvaui?  und  svsp^cict.  Diese  lei- 
tenden Begriffe  seiner  organischen  Weltanschauung  haben  selbst 
etwas  dem  Organischen  Verwandtes,  Flüssiges,  Geschmeidiges.  Die 
Vierzahl  der  Ursachen  bei  ihm  entspricht  der  pythagoreischen 
Tetraktys.  Seine  Gotteslehre  enthält  ein  mystisches  Element.  Die 
hier  nur  mangelhaft  vereinigte  Trias:  Geist,  Reich  der  Zwecke  und 
Weltprocess  erhielt  ihre  vollkommene  Ausbildung  erst  im  Christen- 
thum.  Li  der  Ethik  wie  in  der  Physik  hat  A.  Piatons  Staudpunkt 
tiefer  herab  verlegt,  aber  vielseitiger  und  gründlicher  ausgenützt. 
Die  Begriffe  der  Freiheit  und  des  Bösen  fasst  er  tiefer  als  Piaton 
und  Pythagoras.  Seine  Eutelechien  vermitteln  Gott  und  die  Welt. 
Erkennen  und  Sein,  das  Natürliche  und  das  Sittliche,  wie  es  die 
Ideen  bei  Piaton  sollen.  Ideenlehre  und  Entelechienlehre  ergänzen 
sich  gegenseitig,  und  Neuplatoniker,  Kirchenväter  und  Scholastiker 
haben  sich  eifrig  bemüht  sie  zu  vereinigen. 

VI.  Der  Idealismus  in  der  hellenistisch-römischen 
Periode.     S.  565—696.  —  Die  Erneuerung  der  physischen  Theo- 


122  1'-   W  eil  m nun, 

logie  iu  der  Stua  kauii  nur  uls  eine  liiickbikhiug  gelten.  In  der 
erneuerten  pytiiagoreisch-platonischen  Theologie  tritt  das  lehrharte 
Elcmeüt  zurück  gegen  das  mystische.  Der  Ilauptvertreter  der 
jüdisch-hellenistischen  Mystik,  Philon,  muss  als  Kahbalist  aufgefasst 
werden:  die  Abweichungen  seiner  Lehre  von  der  biblischen  rühren 
in  erster  Linie  von  dem  Widerstreite  zwischen  Thorah  und  Kabbalah 
her,  nicht  von  einer  Vermischung  mosaischer  und  platonischer 
Elemente,  die  er  zuerst  vorgenommen  hätte.  Durch  seine  Logos- 
ichre lügt  er  der  Reihe  der  idealen  Principieu  ein  neues  Glied  hinzu; 
diese  Lehre  ist  keineswegs  aus  einer  trüben  Mischung  jüdischer 
uud  griechischer  Anschauungen  hervorgegangen,  sondern  vielmehr 
ein  grosses  Unternehmen  der  Fortbildung,  Ergänzung,  Zusammen- 
führung. —  Die  Römer  sind  für  den  Idealismus  mehr  als  ein 
blosser  Durchgangspunkt  gewesen,  sie  waren  seiner  Grundanschau- 
ung innerlich  verwandt,  und  ihre  Schriftsteller  haben  die  Philo- 
sophie lateinisch  reden  gelehrt  und  durch  ihre  Terminologie  die 
griechische  Begriflswelt  dem  Abendlande  zugänglich  gemacht.  — 
Der  Neuplatonismus  nimmt,  indem  er  das  mystische  Element  mit 
Verzicht  auf  das  gesetzhafte  weiter  entfaltet,  eine  Wendung  zum 
Monismus.  Aber  dass  er  alle  Philosophie  auf  die  beiden  AVeg- 
weiser  „von  Gott  aus"  und  „zu  Gott  ein"  hinwies,  war  ein  grosser 
und  frommer  Gedanke.  Die  Auffassung  des  Neuplatonismus  ist 
„realistisch"  auf  die  Anerkennung  eines  objectiven,  realen  Gehaltes 
aller  Gedankenbildung  gebaut,  darin  liegt  ihre  Berechtigung  und 
ihre  Grösse.  „Die  moderne  Geschichtsschreibung,  welche  die  Philu- 
sophic  vorzugsweise  darauf  hin  ansieht,  wie  sie  ihre  Begrilfe  zu 
einem  mehr  oder  weniger  folgerechten  und  künstlerischen  Ganzen 
gestalten,  ist  nominalistisch,  kann  eine  Wahrheit  als  das  ob- 
jectivc  ]\Iass  dieser  Gestaltungen  nicht  gelten  lassen  uud  darum 
jene  Bestrebungen  nicht  würdigen" (!)  (S.  68G). 

Anathon  Aall,  Geschichte  der  Logosidee  in  der  griechischen 
Philosophie,  Leipzig,  Reisland.     1896.     XV  u.  251  S, 

Den  von  Max  Heinze  in  seiner  „Lehre  vom  Logos"  bereits 
l'^72  eingehend  l)ehaudelten  Gegenstand  untersucht  der  Verf.  aufs 
neue,  um,  abgesehen  von  einzelnen  Ikrichtigungen  und  Ergänzungen, 


Die  deutsche  Litteratur  über  die  Vorsokratiker  1894  bis  1900       123 

namentlich  dio  Veränderunwen.  die  der  Los;o.sbe!xrifr,  in  seiner 
Entwickelung  allraählicli  erfahren  hat,  schärfer  hervorzuheben  und 
diese  Entwickelung  (in  einem  zweiten  Theile  seines  Werkes)  bis 
in  die  christliche  Litteratur  hinein  weiter  zu  verfolgen. 

Ihren  Ursprung  hat  die  Logosidee  nach  A.'s  Ansicht  in  dem 
ästhetischen  Bedürfnisse  des  anschauenden,  formsuchenden 
Menschengeistes,  der  ein  immanentes  Gesetz  in  dem  Zufall  der 
Erscheinungen  aufsucht  und  dieses  auf  einen  intellectuelleu  Akt 
zurückführt,  um  so  das  Wesen  der  Dinge  unserem  Verständnisse 
näher  zu  bringen.  Erst  allmählich  befreit  sie  sich  von  der  ver- 
wandten Gottesidee,  deren  Wurzel  in  dem  moralischen  Instinkte 
des  Menschen  liegen  soll  und  die  das  Transcendente,  den  Abstand 
des  Ideals  von  der  Wirklichkeit,  mehr  betont. 

1 .  Wie  ein  theologisches  Präludium  zu  der  Logosidee  bei  den 
Griechen  klingt  der  orphische  Spruch  von  dem  Zeus,  der  alles  ist 
(Stob.  ecl.  I  40);  schon  mehr  philosophisch  spricht  Thaies  von 
einer  das  beseelte  All  durchdringenden  göttlichen  Vernunft  und 
den  sie  erfüllenden  Dämonen.  Einen  Schritt  weiter  führt  die 
Reinigung  der  Gottesidee  durch  Xenophanes.  Bei  Parmenides 
begegnet  der  Xame  Äo;o:  zuerst  als  erkenntnisstheoretisches  Cri- 
terium.  —  2.  Aber  eine  wirkliche  Lehre  vom  Logos  finden  wir 
erst  bei  Heraklit.  Diesem  Philosophen  widmet  deshalb  A.  eine 
eingehendere  Untersuchung.  Er  sucht  die  Centralidee  seines  Denkens, 
er  betrachtet  ihn  zuerst  als  Beobachter,  dann  als  Critiker  und 
Ethiker,  prüft  die  erhaltenen  Sprüche  über  den  Logos,  dessen  Be- 
griff gegen  verwandte  wie  ']^u/t],  ava&ufiiaatc,  staoipixsv/j  abgegrenzt 
wird,  und  gelangt  auf  diesem  etwas  umständlichen  Wege  zu  dem 
Ergebnisse,  dass  der  Inhalt  der  Auffassung  des  Ephesiers  von  dem 
Logos  sich  kurz  in  zwei  Hauptgedanken  zusammenfassen  lasse: 
1)  Die  Vernunft  ist  das  universelle  Paradigma  für  den  mensch- 
lichen Geist,  wenngleich  die  Menschen  ihrer  Leitung  sich  vermöge 
einer  ethischen  Anarchie  zu  entziehen  geneigt  sind.  2)  Der  Logos 
ist  die  intellectuelle  Basis  der  nach  seinem  Bilde  geschalfenen  Welt 
und  zugleich    der  Wahrheit    zuverlässigstes  und  klarstes  Ideal.  — 

o.  Die  wahren  Nachfolger  des  ephosischen  Logosophen  sind 
die  Stoiker,  denn  bei  ihnen  werden  seine  kühnen  Anfänge  weiter 


124  E.  Wellmunn, 

ausgebildet.  Doch  liefern  vor  ihnen  schon  andere  Denkgebilde 
Beitrüge  von  AVcrth  für  diese  spätere  Ausbildung.  So  Anaxagoras, 
dessen  voj}?  als  Princip  der  Bewegung  und  der  Zweckthätigkeit  dem 
X670C,  der  bei  Ileraklit  bloss  eine  Norm  der  Vernunftgemässheit 
darstellt,  ein  neues,  wichtiges  Moment  hinzufügt.  —  4)  So  ferner 
Piaton,  obgleich  Name  und  Begriff  des  Logos  in  dem  Sinne  Heraklits 
ihm  fremd  sind,  durch  seine  dialectische  Methode,  seine  Ideenlehre, 
seine  Teleologie  und  überhaupt  durch  seine  vernunftgemässe  Welt- 
und  Lebenserklärung.  —  5)  Aristoteles  lehrt  über  den  Xo^o; 
nichts  von  besonderem  Interesse;  seine  Weltanschauung  ist  idea- 
listisch, teleologisch  wie  die  seines  Lehrers,  doch  bereichert  er  den 
Kreis  der  uns  beschäftigenden  Gedanken  durch  den  werthvollen 
Begriff  des  Organischen.  —  6)  Bei  den  Stoikern  werden  nunmehr 
die  von  den  Früheren  gelieferten  brauchbaren  Elemente  zum  Auf- 
bau eines  gewaltigen  Ideensystems  verwertet,  in  dem  die  Lehre 
vom  Logos  das  Grösste  und  Werthvollste  ist.  Die  Logosidee  be- 
leuchtet fast  alle  Punkte  des  stoischen  Gedankenkreises  und  be- 
stimmt die  Stellung  der  meisten  entscheidend.  Beherrschend  tritt 
sie  zunächst  hervor  in  der  Physik,  wo  die  Stoiker  mit  eiserner 
Strenge  den  Monismus  als  dynamischen  Materialismus  durchzuführen 
suchen.  Der  Logos  ist  zugleich  Feuer  und  das  yj'sixovixov  des 
Weltganzen;  er  gestaltet  die  Welt,  belebt  sie,  bildet  ihre  Einheit 
und  ist  zugleich  ihr  Ideal,  der  Grund  ihrer  Schönheit.  Als  X070C 
a7Tsp[i,7.Tizo'j  zerlegt  er  sich  in  unzählige  zeugende  Kräfte.  Besonders 
eigcnthümlich  ist  seine  Entfaltung  im  Menschen,  wo  dem  X070; 
ivoiofOsTo?  der  X.  -po'^opixo;  gegenübertritt.  In  der  Ethik  der  Stoa 
vermag  der  Logos  den  Dualismus  nicht  zu  überwinden;  Uebel  und 
Sünde  bleiben  unerklärte  Thatsachen,  und  der  ursprüngliche  Opti- 
mismus der  Physik  schlägt  hier  in  sein  Gegenthcil  um.  Anderer- 
seits führt  er  zum  Kosmopolitismus  wie  zur  Apotheose  des  Weisen. 
In  der  pantheistischen  Gotteslehre  vertritt  er  das  immanente  Ele- 
ment und  wird  daher  im  Unterschied  von  der  Gottheit  niemals 
personificiert.  —  7)  Die  jüdisch-alexandrinische  Philosophie  bis  auf 
IMiilon  ist  für  die  Ausbildung  der  Logosidee  bedeutsam  geworden, 
indem  sie  Wesens-  und  ^Villensäusscrungon  Gottes  (wie  Geist, 
A\'ort,  Weisheit)  von  ihm  selbst  ablöste,  in  mystischer  Weise  per- 


Die  deutsche  Litteratur  über  die  Vorsokratiker  1894  bis  1900.       125 

sonificirte  und  so  Zwisclienglieder  zwischen  Gott  und  der  Welt 
herstellte.  —  8)  In  Phil  on,  einer  Persönlichkeit  von  weltgeschicht- 
licher Bedeutung,  erscheint  alles,  was  die  frühere  Entwicklung  von 
Heraklit  bis  auf  die  Stoiker  für  die  Logoslehre  geleistet  hat,  wie 
in  einem  Centrum  vereinigt  und  eigenthümlich  verarbeitet,  und 
wie  er  der  Zeit  nach  zwischen  dem  Philosophen  des  5.  Jahrhunderts 
V.  Chr.  und  den  christologischen  Debatten  des  5.  Jahrhunderts  n.  Chr. 
in  der  Mitte  steht,  so  hält  der  Inhalt  seiner  Lehre  die  Mitte  inne 
zwischen  der  altgriechischen  und  der  kirchlichen  Auffassung  des 
Logos. 

Philons  System  ist  einerseits  aus  dem  alttestamentlichen  Kanon, 
den  er  anbetet  und  nach  Art  des  palästinensischen  Midrasch  alle- 
gorisch auslegt,  andererseits  aus  der  logischen  Disciplin  der  griechischen 
Philosophie  Piatons  und  der  Stoa,  die  er  aufs  höchste  verehrt  und 
in  seinen  Schriften  orientalisirt  hat,  erwachsen.  Während  das 
Wesen  Gottes  nach  seiner  Auffassung  in  dem  reinen,  qualitätslosen, 
beziehungslosen  Sein  besteht,  das  uns  völlig  unerkennbar  bleibt, 
tritt  der  Logos  in  den  Vordergrund  seiner  Betrachtung.  Dieses 
eigenthümliche  Wesen  stellt  die  Vermittlung  zwischen  Gott  und 
der  Welt  her,  indem  es  zugleich  das  Urbild  alles  Geschaffenen  und 
als  Xo-p;  aTrepfxatt/oc;  schaffende  Lebenskraft  ist;  im  Menschen  tritt 
er  als  X070?  svoia&sxo?  hervor,  sofern  in  ihm  die  intelligibile  Ideen- 
w^elt  erscheint,  in  den  sichtbaren  Dingen  als  X.  -pocpopixo^  (so 
werden  stoische  Begriffe  bei  ihm  leise  verändert).  In  der  Ethik 
findet  er  sich  (nach  stoischem  Vorbilde)  in  der  Gestalt  des  Xo-^oc 
TTj?  cpuasoK,  Ocioc  oder  opöo;  Xoyo^.  Wenn  er  im  Anschluss  an 
jüdische  Vorstellungen  Engel,  Prophet,  Hoherpriester,  Paraklet, 
Fürbitter,  Statthalter  Gottes  genannt  wird,  so  heisst  er  doch  nie 
Messias,  und  alle  diese  Bezeichnungen  sind  nur  bildlich  zu  fassen. 
Selbst  aus  der  Benennung  „Sohn  Gottes"  (denn  auch  für  die  Welt 
braucht  Philon  sie)  und  „zweiter  Gott"  darf  man  ebensowenig 
schliessen,  dass  der  Logos  bei  Philon  eine  Persönlichkeit  sei,  als 
dass  er  mit  Gott  zusammenfiille;  der  Logosbegriff  ist  und  bleibt 
eine  incommensurable  Grösse  speculativer  Natur.  Es  trifft  nach 
Aalls  Ansicht  nicht  einmal  recht  zu,  den  Logos  für  eine  Emanation 
Gottes  zu  erklären.     Durch  die  ganze  Welt  vertheilt  sich  der  eine 


126  E.  Welliiiaiiii, 

Logos  m  Gestalt  vieler  Xo-j'ot  und  ouvaueic,  aber  an  dem  Gebiet 
der  mystischen  Comtemplation  findet  seine  Wirksamkeit  eine 
Grenze;  denn  liier  wird  Gott  olmc  Logos  in  seinem  nackten  Dasein 
durch  die  Mcuschcnseelc  crfasst.  —  9)  So  wie  Philon  die  Logosidee 
gestaltet  hatte,  blieb  sie  ohne  wesentliche  Aenderuugen  bis  zur 
Zeit  Plotins  zwei  Jahrhunderte  hindurch.  Für  das,  was  sich  bei 
ihm  über  den  Logos  tindet,  ist  wohl  Philon  mittelbar  oder  unmittel- 
bar Vorbild  gewesen,  doch  tritt  ein  Rückschritt  in  dem  Reichthura 
des  Inhalts  unverkennbar  zu  Tage:  diese  Idee  ist  an  das  Ende 
ihrer  Bahn  gelangt  und  ermattet.  Seine  Stellung  erhält  der  Logos 
bei  Plotin  zwischen  dem  Nus  und  der  Seele  als  eine  Ausstrahlung 
von  beiden.  Der  Logos  oder  die  Logoi  Plotins  sind  Formen,  die 
das  Sein  der  Einzeldinge  constituiren  (Xo^ot  Ysvvr^-ixoi);  sie  tragen 
einen  ästhetischen  Charakter  und  erzeugen  durch  Harmonie  und 
einheitliche  Organisation  das  Schöne  in  der  Erscheinungswejt,  die 
sonst  eine  gottfremde  Ilässlichkeit  zeigen  würde.  Li  seiner  Ethik, 
der  als  höchstes  Ziel  menschlichen  Strebens  die  Vereinigung  mit 
Gott  in  der  Ekstase  gilt,  die  den  Gedanken  durch  den  Traum  er- 
setzt, ist  kein  Raum  mehr  für  den  Logos.  —  Inzwischen  hatte 
sich  bereits  eine  neue  Bahn  für  die  weitere  Ausbildung  der  Logos- 
idee dadurch  eröffnet,  dass  sie,  wie  es  viej-ten  Evangelium  geschieht, 
mit  einer  geschichtlichen  Person,  der  Gestalt  Christi,  verknüpft  wurde. 

II.  DiEi.s,   Elemeutum.      Eine    Vorarbeit    zum    griechischen    und 
lateinischen  Thesaurus.    Leipzig,  Teubner  1899.   XIV,  93  S. 

In  dieser  W.  v.  Ilartel  zum  60.  Geburtstage  gewidmeten  Mo- 
nographie, die  aus  Vorstudien  für  den  Thesaurus  der  lateinischen 
Sprache  erwachsen  und  daher  „elemontuin",  nicht  „atoi/siov"  be- 
titelt i.st,  bietet  der  gelehrte  Verf.  über  die  Entwicklung  eines  für 
die  Geschichte  der  Philosophie  hervorragend  wichtigen  Begriffes  in 
geschmackvoller  Darstellung  auf  engem  Räume  reiche  Belehrung 
dar.  Hier  können  wir  nur  die  Hauptergebnisse  der  ITntcrsuchuiig 
angeben,  deren  Gang  die  Ueberschriflcn  der  9  Abschnitten  andeuten': 
1)  Atomistik,  2)  Academie,  3)  Peripatos,  4)  Stoa,  5)  späteres 
Griecheuthum,  ())  Christenthum,  7)  Etymologie  von  aTor/siov, 
8)  Elemeutum  bei  den  Römern,    9)  Etymologie    von  clcmentum. 


Die  deutsche  Litteratur  über  die  Vorsakratiker  1894  bis  1900.       127 

1.  Das  Wort  elementum  hat  Lucretius  (neben  ihm  Cicero)  in 
die  lateinische  Litteratur  eingeführt.  Er  bezeichnet  damit  zunächst 
die  Buchstaben  des  Alphabets,  dann  auch  Epikurs  Atome.  Da 
Epikur  selbst  das  entsprechende  griechische  Wort  aioi/ciov  nicht 
von  seinen  Atomen,  sondern  von  den  vier  Grundstoffen  des  Empe- 
dokles,  wie  sie  in  der  Piiysik  seiner  peripatetischen  und  stoischen 
Gegner  auftraten,  gebraucht  hat,  so  darf  man  annehmen,  dass 
Lucretius  weniger  die  Schriften  Epikurs  unmittelbar  studirt,  als 
sich  auf  die  bequemere  Belehrung  durch  mündliche  Vorträge  epi- 
kureischer Zeitgenossen  gestützt  hat.  Diels  macht  w^ahrscheinlich, 
dass  Demokrit  es  war,  der  zuerst  die  Atome  mit  den  Buchstaben 
verglich,  um  die  unendliche  Mannigfaltigkeit  ihrer  möglichen  Yer- 
bindungen  anschaulich  zu  machen,  und  dass  dann  die  Metapher 
sich  allmählich  zum  philosophischen  Begrift'e  verdichtet  habe.  — 
2)  Li  der  älteren  griechischen  Litteratur  finden  wir  bei  den  Philo- 
sophen die  verschiedensten  Ausdrücke  zur  Bezeichnung  der  physi- 
kalischen Principien  (cto/cc',  oi^wjia-a,  /pr^tiaTct,  arspixocroi ,  tosott, 
£107],  ^ucöic,  va3-a,  a-o[j.a),  aber  q-^jv/zIi  nennt  sie  niemand  vor 
Piaton.  Dieser  redet  im  Theätet  (201 E),  von  den  Buchstaben  als 
Wortelementen  ausgehend,  doppelsinnig,  logisch  und  ontologisch, 
von  a-oi/sia;  rein  terminologisch  im  physikalischen  Sinne  verwertet 
er  den  Ausdruck  im  Sophisten  (252 B);  freier  ist  die  Verwendung 
des  Wortes  für  geometrische  Grundfiguren  im  Timäus,  und  wieder 
anders  gewendet  dient  es  dem  greisen  Philosophen  zur  Bezeichnung 
seiner  arithmetischen  Principien.  Unter  den  Schülern  Piatons 
bürgert  sich  der  Ausdruck  als  technische  Bennung  für  die  physischen 
Urbestandtheile  fest  ein.  —  3)  In  dem  aristotelischen  Lexicon  der 
Begriffe  Trspl  xuJv  -oaa/Äc  Äs^opivojv  (Metaph.  A)  ist  unserm  Worte 
ein  besonderer  Abschnitt  (Cap.  3)  gewidmet.  Hier  werden  fünf 
Bedeutungen  von  einander  unterschieden:  1)  die  sprachliche  (Laut, 
Buchstabe),  2)  die  physikalische  (Grundstoff),  3)  die  mathematische 
(Grundsatz,  Beweis),  4)  die  topisch-dialektische  (Kleines,  Einfaches, 
Untheilbares),  5)  die  logisch-metaphysische  (oberster  Gattungsbegriff'). 
Ln  wesentlichen  stimmt  diese  Darstellung  zu  dem  Sprachgebrauch 
des  Stagiriteu  in  seinen  übrigen  Werken.  Die  Terminologie  des 
Meisters  halten  seine  Schüler  fest  und  führen  sie  auf  ihrem  Special- 


128  E.  Wellmaun 


gebiete  weiter  durcli  ohne  wesentliche  Neuerungen.  —  4.  Wie 
anderswo  so  liier  lehnt  sich  die  Stoa  an  den  peripatetischen  Usus 
an.  Zcnon  redet  von  ^xov/jXo.  toü  Xo-j'ou  und  von  den  empedoklei- 
schcn  4  Elementen.  Chrysipp  nennt  ganz  besonders  das  Feuer  st., 
anderswo  heissen  bei  ihm  so  die  grammatischen  Redetheile.  Be- 
merkenswert ist,  dass  die  Stoiker  anfangen  Laut  und  Buchstabe 
(ar.  u.  YpaVP-^)  ^^'i^  nach  dem  Vorgange  des  Aristoteles  Element 
und  Princip  (sx.  u.  otp/v])  klar  von  einander  zu  unterscheiden.  — 
5.  Im  späteren  Griechenthum  wird  die  stoisch-peri patetische  Schul- 
sprache Gemeingut.  Deshalb  ist  über  unsern  Begriff  und  seine 
Entwicklung  auf  philosophischem  Gebiete  bis  auf  Plotiu  und  Sim- 
plicius  kaum  etwas  zu  berichten.  Eine  eigenthümliche  Ausprägung 
findet  sich  in  dem  Traumbuche  Artemidors,  der  Natur,  Herkommen, 
Sitte,  Kunst,  Name,  Zeit  als  axotysla  aufstellt.  Allein  wichtiger 
und  wirklich  neu  ist  die  Umgestaltung,  die  auf  dem  Gebiete  reli- 
giöser Speculation  etwa  um  die  Zeit  von  Christi  Geburt,  durch  den 
Ncupvthagoreismus  und  verwandte  Erscheinungen  hervorgerufen, 
der  Begriff  des  Elements  erfährt.  Man  versetzt  das  Alphabet  an 
den  Himmel  und  identificirt  z.  B.  die  sieben  Planeten  mit  den 
Vocalen.  Bald  heisst  dann  jedes  Sternbild  ein  ator/slov.  Unter 
stoischem  und  persischem  Einflüsse  entwickelt  sich  nun  im  Anschluss 
an  die  ältere  Verehrung  der  Gestirne  eine  abergläubische  Anbetung 
der  Elemente,  wie  sie  im  Mithrasdienst  eine  grosse  Rolle  .spielt. 
Achnliche  Vorstellungen  bilden  sich  auf  dem  Gebiete  des  Judcn- 
thums  in  Anknüpfung  an  die  verbreiteten  Anschauungen  von  den 
Engeln.  Man  schwört  bei  den  Elementen,  und  die  Astrologen  von 
Fach  beschwören  die  Elementargötter.  —  6.  Spuren  dieser  aber- 
gläubischen Vorstellungen  finden  sich  auch  auf  christlichem  Gebiete. 
Tm  Neuen  Tesfament  liefern  dafür  den  Beweis  die  Stellen  Gal.  4,3 
und  Coloss.  2,!^,  wo  unter  den  aioi)(£rct  xou  /ocjjxou  Gestirne,  die 
von  Engeln  beherrscht  werden,  zu  verstehen  sind.  Aehnliches 
bieten  die  Schriften  der  Kirchenväter;  erwähnt  sei,  dass  bei  Tatian 
von  einer  sroiystVocji?  als  von  einer  Verkörperung  der  Gestirngeister 
die  Rede  ist.  Da  als  besondere  Verkörperung  der  heidnischen 
Dämonen  ihre  geweihten  Bildsäulen  galten,  so  wurde  axotysTov  zur 
Bezeichnung  für  eine  solche  Bildsäule,  und  endlich  nahm  das  Wort 


Die  deutsche  Litteratur  über  die  Vorsokratiker  1894  bis  1900.       129 

OTOtysiouv  die  Bedeutung  verzaubern  an.  So  bei  den  mittelalter- 
liclien  Byzantinern.  Die  heutigen  Bauern  in  Griechenland  ver- 
stehen unter  den  axot/siä  Elementardämonen.  7.  Das  Wort  STot- 
YßXov,  von  axoi/oc  (Reihe)  abgeleitet,  bezeichnet  ein  Reihenglied,  ins- 
besondere einen  Buchstaben  der  Alphabetreihe.  —  8.  Als  philoso- 
phischen Kunstausdruck  zur  Wiedergabe  des  griechischen  a-oiysiov 
gebrauchte  zuerst  Lucrez  statt  desüblicheren  synomymen  principium 
auch  elementum.  Durch  Cicero  wurde  letzteres  völlig  eingebürgert 
in  die  Sprache  der  Wissenschaft,  durch  das  Christenthum  in  die 
Sprache  des  Lebens.  —  9.  Dunkel  und  schwierig  ist  die  Etymologie 
des  Wortes.  Diels  giebt  versuchsweise  in  Ermangelung  von  Besserem 
folgende  Erklärung.  Da  es  offenbar  nicht  altlateinisch,  sondern  ein 
Lehnwort  ist,  so  könnte  nach  Analogie  von  Tapac  Tarentum  und 
'Axpaya?  Agrigentum  aus  dem  griechischen  Ddoa^  elepentum  ge- 
bildet und,  von  den  macedonischeu  Elephantenführern  des  Pyrrhus 
elementum  ausgesprochen,  in  dieser  Form  um  280  v.  Chr.  nach 
Italien  gebracht  und  zur  Benennung  der  elfenbeinernen  Stäbe 
gebraucht  sein,  an  denen  die  römische  Jugend  spielend  die  Buch- 
staben   erlernte,  wie  Quintilian  berichtet  (inst.  I  126). 

Eduard  Norden.  Die  antike  Kunstprosa  vom  6.  Jahrh.  v.Chr. 
bis  in  die  Zeit  der  Renaissance.  2  Bde.  Leipzig,  Teubner 
1898.     XVIII,  969  S. 

Von  dem  reichen  Ertrage  der  in  diesem  trefflichen  Buche 
niedergelegten  Forschungen,  mögen  sie  nun  Neues  zu  Tage  gefördert 
haben  oder  bereits  Bekanntes  in  neuer  Beleuchtung  zeigen  und 
durch  Einordnung  in  einen  grösseren  Gedankenzusammenhang  ihm 
eine  richtigere  Stellung  als  bisher  anweisen,  ist  manches  für  die 
Beurtheilung  der  philosophischen  Schriftstellerei  des  Alterthums 
wichtig  genug,  um  auch  in  dieser  Stelle  erwähnt  zu  werden. 

Als  Begründer  der  griechischen  Kunstprosa  betrachtete  das 
Alterthum  die  Sophisten  Thrasy machos  und  Gorgias,  jenen 
wegen  der  Forderung  rhythmisch  gegliederter  Prosa,  diesen  wegen 
seiner  Redefiguren  und  poetischen  Ausdrücke.  Allein  tiefer  ein- 
dringende Untersuchung  zeigt,  dass  diese  sophistischen  „Erfindungen" 
sich  auf   viel    ältere  Anfänge    zurückführen    lassen.     Von    Gorgias 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philüsuphie.    XV,  1.  9 


130  E.  Wellmann, 

hatte  schon  Diels  vermuthet,    er  sei    nicht    bloss    in  seinen  philo- 
sophischen Anschauungen  von  Empedokles  abhängig,  sondern  auch 
in  der  Anwendung  bestimmter  Klangfiguren  zu  rhetorischen  Zwecken. 
Norden  stimmt  dem  nur  theilweise  zu.     Aristoteles,  meint  er  erst- 
lich, finde  die  Abhängigkeit  des  Gorgias  von  Empedokles  (de  soph. 
elench.  183  b  31)    nicht  auf   dem    Gebiete    der  >icic,    sondern    der 
supstjt?.     Sodann  brauche  Gorgias    seine   Redefiguren   nicht    gerade 
dem  Agrigentiner  entlehnt  zu  haben,  denn  sie  seien  ja  schon  bei 
Heraklit  nachzuweisen.     Und  bei  diesem  tiefen  Denker  erscheinen 
sie  als  natürlicher  Ausdruck  einer  ganz  originalen  Weltanschauung, 
bei  späteren  durch    ihn   beeinflussten  Philosophen    mehr  als  Nach- 
ahmung.    Namentlich    die  Figur    der  Antithese    sei    für    Heraklits 
Lehre  von  den  Gegensätzen  gleichsam  eine  gegebene  Form,   deren 
sich    dann    nach  ihm   der  Eleat  Zenon,   der  iatrosophistische  Ver- 
fasser der  Schrift  tibcji  oiattr^?  und  wie  Empedokles  auch  Demokrit 
bedient  haben.     Auch   die  bei  Gorgias  üblichen  Wortspiele   haben 
bereits  vor  ihm  Heraklit,   Demokrit  und  Empedokles  in  ähnlicher 
Weise.      Der  Gebrauch    poetischei'  Ausdrücke  in  Prosa,    weit  ent- 
fernt   eine    Erfindung    des    Gorgias    zu    sein,    beruht   auf   uralter, 
poesievoller  Redeweise    des    Volkes.      Bei    den    Griechen    erinnert 
Heraklit  durch  das  poetische  Colorit  oft  an  das  Epos,  und  Demokrit 
wie  Protagoras   bedienen  sich  dieses  Kunstmittels  gleichfalls;   neu 
ist  also  bei  Gorgias  nur  seine  übertriebene  Anwendung.     Dass  die 
Rhythmik  in  der  Prosa  keine  Erfindung  des  Thrasymachus  ist,  lässt 
sich  schon  durch  die  Beobachtung  hexametrischer  Satzschlüsse  bei 
Heraklit  (z.  B.  in  Fragm.  3,  21,  37,  126  Byw.)  und  des  gehobenen 
Rhythmus  an  anderen  Stellen   (Fr.  12)  nachweisen.      Den  Gorgias 
verleitet  das  Streben  nach  rhythmischer  Form  zu  einem  zerhackten 
Satzbau  und  zu  einer   gesuchten,    oft    unnatürlichen  Wortstellung. 
Wo  er  in  seinen  Gedanken    geistreich  sein  will,    verfällt  er  nicht 
minder  in  Unnatur.     Sein  Zeitgenosse  Hippias  gefällt  sich  in  bom- 
bastischem W^ortschwall,    sein  Schüler  Alkidamas    in  schwülstigen 
Ausdrücken.      Aus    diesen    Einzelbeobachtungen    folgert    N.,    dass 
Heraklit    auch    stilistisch    eine   ausserordentliche  Nachwirkung    auf 
weite  Kreise  unmittelbar  oder  mittelbar  ausgeübt  haben  muss. 
Ueber  Xenophon  als  Schriftsteller  fällt  N.  im  Gegensatz    zu 


Die  deutsche  Litteratur  über  die  Vorsokraüker  1894  bis  1900.       131 

der  Auffassung  von  Blass  das  Urtheil,  er  bediene  sich  aller  Mittel 
der  Rhetorik  seiner  Zeit  im  Einzelausdruck  wie  im  Satzbau  mit 
Absicht,  aber  mit  gesundem  Gefühl  vermeide  er  es,  sie  in  über- 
triebenem Masse  anzuwenden,  und  wisse  so  Kunst  und  Natur  zu 
einem  harmonischen  Ganzen  zu  verbinden. 

Eingehender  beschäftigt  sich  N.  mit  Piatons  Stil.  Er  scheidet 
die  Partien  seiner  Schriften,  welche  die  dialogische  Form  festhalten, 
von  denen,  die  sich  in  fortlaufender  Rede  bewegen.  Jene  ersteren 
finden  ungetheilte  Bewunderung  im  Alterthum  wie  noch  heute, 
wogegen  die  letzteren  bei  den  antiken  Kritikern  herbem  Tadel  be- 
gegnen. N.  betont  zunächst,  mit  Recht  habe  schon  Aristoteles  den 
Dialogen  Piatons  eine  Mittelstellung  zwischen  Poesie  und  Prosa 
augewiesen.  Sodann  gelangt  er  nach  sorgfältiger  Prüfung  der 
Stellen,  wo  sich  gorgianische  Figuren  und  hochpoetische  Worte  bei 
Piaton  finden,  zu  dem  Ergebniss,  die  Auswüchse  sophistischer 
Kunstprosa  seien  unserm  Philosophen  autipathisch  gewesen,  und 
wenn  er  zu  ihnen  greife,  so  thue  er  es  nur  um  zu  parodiren  oder 
um  etwa  seine  stilistische  Kunst  einmal  zu  zeigen  oder  bloss  aus 
Scherz.  Dagegen  entspreche  es  dem  Naturell  Piatons  mehr,  hoch- 
poetische Ausdrücke  in  seine  Prosa  einzumischen.  Freilich  bringe 
er  sie  nur  bei  verhältuissmässig  niederen  Stoffen  ganz  oder  halb 
spielerisch  an;  wo  er  sich  in  seinen  Gedanken  zum  Höchsten  empor- 
schwinge, da  erziele  er  die  gewaltigsten  Wirkungen  ohne  alle  solche 
äusserlichen  Mittel.  Von  Piatons  Sprachgewalt  urtheilt  N.,  sie 
stehe  im  ganzen  Alterthum  einzig  da.  Dieser  Schriftsteller  ver- 
fügte über  die  reichste  Skala  von  Tönen;  er  war  einer  der  wenigen, 
die  ein  grosses  Ganze  gut  zu  componiren  verstanden,  nur  ein 
Redner  war  er  nicht.  Durch  seine  Gedanken  wie  durch  die  kunst- 
volle Darstellungsform  hat  er  durch  Jahrtausende  auf  dem  Gebiete 
der  Aesthetik,  der  Ethik,  der  Religion  fortgewirkt. 

An  Epikur  rühmt  N.  die  wundervolle  Natürlichkeit,  die  Zart- 
heit und  Wärme  der  Empfindung,  die  seine  Briefe  athmen  (z.  B. 
Fragm.  176  Usen.).  Aber  auch  bei  ihm  finden  sich  Sätze,  die  ganz 
kunstvoll  rhythmisch  gebaut  sind.  Den  Verf.  des  pseudoplatonischen 
Axiochos,  dessen    Beschreibung  des  Elysiums    (BT IC)    dem    mo- 

9* 


132      E-  Wellmanu,  Die  deutsche  Litteratur  über  die  Vorsokratiker. 

dernen  Gefühle  überladen  erscheint,  hält  N.  für  einen  Zeitgenossen 
Epikurs. 

Aristoteles  und  Thcophrast  waren  einig  in  der  Verwerfung 
poetischer  Diction  in  der  Prosa,  wie  Gorgias  sie  geübt  hatte.  Doch 
hat  Aristoteles  zeitweilig  die  Antithese  für  ein  erlaubtes  Ver- 
schönerungsmittel gehalten.  Dass  er  der  rhetorischen  Geschichts- 
schreibung, die  den  Spuren  des  Isokrates  folgte,  abhold  war,  zeigt 
die  schlichte  Darstellung  seiner  'xlOr^votiojv  TroXirsta. 


n. 

Congresso  di  Storia  della  Filosofia  e  Pedagogia 

in  Koma. 

di 
Alessaudi'o  Chiapelli. 

Nella  primavera  del  prossimo  anno  1902,  sara  teniito  in  Roma 
im  Congresso  Storico  Internazionale,  al  quäle  lianno  gia  fatta  adesioue 
le  piü  alte  aiitoritä  scientifiche,  le  piü  cospicue  Academie  ed  Istituti 
di  tutto  il  moudo  civile.  Fra  le  Sczioni  che  ne  faranno  parte,  uua 
e  specialmente  destinata  alla  Storia  della  Filosofia  e  della  Peda- 
gogia; ai  lavori  della  quäle,  per  mezzo  di  questo  Archivio  che  di 
tali  studi  e  oramai  Torgauo  piü  diretto  e  reputato,  giova  sieii 
chiamati  tutti  coloro  i  quali,  o  colla  loro  adesioue,  o  coli'  opera 
loro,  vorranno  contribuire  a  reudere  piii  fruttifero  questo  convegno 
scieutifico.  E  come  allorche  sorse  questo  Periodico,  tu  reputato 
utile  ed  opportuno  —  e  il  fatto  ha  dimostrata  giusta  quella 
opinione  —  il  coordinare,  in  certo  modo,  la  dispersa  operosita 
scientifica  in  questo  vastissimo  campo  di  ricerche  critiche,  cosi 
sembra  ora  poter  riescire  giovevole  uua  intesa  fra  i  vari  filosofi  e 
dotti;  sia  sul  modo  migliore  onde  si  possa  delineare  una  storia  del 
pensiero  filosofico  e  delle  dottrine  e  sistemi  educativi  in  qualcuno 
dei  meu  noti  periodi  storici,  sia  sul  metodo  per  ordinarne  le 
fonti  disperse  e  malagevoli  a  rintracciarsi,  e  prepararue  uua  edi- 
zione  e  collezione  critica;  come  appuuto  accade  per  il  periodo  del 
Riuascimeuto. 


134  A.  Chiapelli,  Cougresso  di  Storia  della  Filosofia  etc. 

Non  e  il  caso  di  suggerirc  qui  argomenti  ad  huomini  che  su 
questo  campo  hanuo  fatti  lunghi  studi  ed  acquistata  autoritä.  Chi 
scrive  non  ne  ha  facolta  dai  Colleghi  della  Presidenza  provvisoria. 
Ci  sia  lecito  tuttavia  acceuuarc  soltanto  ad  alcuni,  sui  quali  ameremmo 
che  il  Congresso  valesse  a  raccogliere  l'attenzione  della  critica 
futura  ed  a  promuovere  studi  ulteriori.  Tale,  a  parer  nostro,  il 
determiuare  il  valore  che  per  la  storia  della  filosofia  ellenica  ha 
il  Corpus  Hippocraticum:  lo  illustrare  i  rapporti,  ancora  cosi 
oscuri,  che  la  Gnosi  cristiana  ha,  da  un  lato,  colla  filosofia  giudaico- 
alessandrina  e  il  Filonismo,  e,  dell'  altro,  col  Neoplatonismo;  il  pro- 
muovere e  sollecitare  una  edizione  critica  di  Diogene,  da  tanto 
tempo  promessa  ed  aspettata.  Ma  a  qualunque  periodo  storico  si 
riferiscauo  i  contributi  che  gli  studiosi  del  pensiero  filosofico  nella 
storia  vorranno  arrecare,  sarauno  beue  accetti  e  giovevoli,  poiche 
non  vi  ha  periodo  storico  in  cui  nou  rimangauo  molti  punti  oscuri 
da  illumiuarc  e  molte  questioui  da  risolvere.  Chi  peosi  quäl  posto 
centrale  la  storia  della  filosofia  occupi  uella  storia  generale  della 
cultura  da  uu  lato,  e  come  stia,  dall'  altro,  in  rapporto  di  coutinuita 
organica  con  ogni  odierna  indagine  filosofica  che  nella  storia  ricerca 
necessariamentc  i  suoi  clemeuti  vitali  e  le  sue  premesse,  non  potra 
non  riconoscere  Talta  importauza  che  sara  per  avere  un  tale  con- 
vegno  scientifico  di  dotti  e  di  pensatori;  al  quäle  auguriamo  che, 
e  per  concorso  d'intervenuti  e  per  copia  di  contributi  sia  dato 
conscguire  resultati  degui  di  quella  che  ne  c  stata  la  idea  ispiratricc. 


Neueste  Erscheiiiuiigeii  auf  dem  Gebiete  der 
Greschichte  der  Philosophie. 

A.     Deutsche  Litteratur. 

Radstiibner,  Oberlehrer,  E.,  Beiträge  zur  Erklärung-  und  Kritik  der  philos. 
Schriften  Senecas,  Progr.,  Hamburg  (Herold). 

Battiu,  ß.  F.,  Das  ethische  Element  i.  d.  Aesthetik  Fichtes  u.  Schellinss. 
Diss.     Jena. 

Classen,  H.,  G.  Glogaus  Systems  d.  Philosophie  (Forts.),  Ztschr.  f.  Philos.  ii. 
philos.  Kritik,  118,  1,  2. 

Eleutheropulos,  Dr.  Alb.,  Die  Philosophie  u.  d.  Lebensauffassung  d.  germanisch- 
romanischen Völker  etc.  (2.  Abthlg.  d.  „Wirthschaft  u.  Philosophie  etc.). 
Berlin,  E.  Hofmann  &  Co. 

Engels,  Frdr.,  Dührings  Umwälzung  der  Wissenschaft.  4.  Aufl.  Stuttgart, 
Dietz  Nachf. 

Espenberger,  D.  J.  X.,  Die  Philosophie  d.  Petrus  Lombardus  u.  ihre  Stellung 
im  12.  Jahrh.  (Beiträge  z.  Gesch.  d.  Philosophie  d.  Mittelalters,  hrsgb. 
V.  Baeumker  u.  v.  Hertling,  III.  Bd.  5.  H.).     Münster,  Aschendorff. 

Felsch,  Die  Psychologie  b.  llerbart  u.  Wundt  etc.  (Forts.),  Ztschr.  f.  Philos. 
u.  Pädag.     8,  5. 

Fischer,  K.,  Gesch.  d.  neuereu  Philosophie,  Jub.-Ausg.  40.  Lfg.  Heidelberg, 
C.  Winter. 

Flügel,  0.,  Bedeutung  d.  Metaphysik  Herbarts  f.  d.  Gegenwart  (Forts.),  Zeit- 
schrift f.  Philos.  u.  Pädagogik.     8,  5. 

Heyfelder,  Klassicismus  u.  Naturalismus  bei  Fr.  Th.  Vischer.    Berlin,  R.  Gaertuer. 

Hundt,  G.,  Ueber  einige  „Philosophische  Versuche"  d.  J.  N.  Tetens.  Progr. 
Dessau. 

Jorges,  Dr.  Rud.,  Die  Lehre  v.  d.  Empf.  b.  Descartes.    Düsseldorf,  L.  Schwann. 

Kubitz,  W.,  Studien  z.  Eutwickelungsgeschichte  d.  Fichte'schen  Wissenschafts- 
lehre aus  d.  Kantischen  Philosophie.     Diss.     Berlin. 

Lang,  Prof.  Dr.  Alb.,  Nietzsche  u.  d.  deutsche  Kultur  [Aus:  „Akadem. 
Monatsblätter"].    Köln,  J.  P.  Bachern. 

,  Maine  de  Biran  u.  d.    neuere  Philosophie.      Ein  Beitrag  z.  Gesch.  des 

Causalproblems.     ibid. 


136  Neueste  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philosophie. 

Leser,  11.,   Zur  Würdigung   Nietzsches.      Ztschr.   f.   Piiilos.   u.   philos.   Kritik. 

118,  1,  2. 
a  Leonissa.  J.,  St.  Dionysius  Areopagita,  nicht  Polydodionysius,  Jb.  f.  Philos. 

u.  specul.  Theologie,  XVI,  1. 
Markus,  D..  Die  Associationstheorien  im   18.  Jahrh.  (I.).     Diss.     Bonn. 
Medved.  A.,  De  philosophia  stoica  etc.     Progr.     Marburg. 
Meuzi,  Th..  Ernst  Haeckels  ^Yelträthsel  etc.     Zürich.  Schulthess  &  Co. 
Nietzsche,  Friedrich.  AVerke,  2.  Abthlg..  11.  u.  12.  Bd.     Lpz.,  C.G.Naumann. 
Pastor,  W.,  Gustav  Theodor  Fechner  etc.,  Vortrag  (Grüne  Blätter  f.  Kunst  u. 

Volksthum  5.  H.).     Berlin,  G.  11.  Meyer, 
del  Prado,  X.,   Characteres  essentiales   physicae   praemotionis  iuxta  doctrinam 

Divi  Thomae,  Jb.  f.  Philos    u.  specul.  Theologie,  XVI,  1. 
Qnarch,  Dr.  Edm.  Wilh.,  Zur  Gesch.  u.  Entwickeluug  d.  organischen  Methode 

d.  Sociologie   (Berner  Studien  z.  Philos.  u.  ihrer  Geschichte,   hrsg.  von 

Ludw.  Stein,  XXVIII.  Bd.).     Bern,  C.  Sturzeuegger. 
Ronnindt,  H.,    Der  Piatonismus  in    Kants  Kritik  d.  Urtheilskraft  (Vorträge  u. 

Aufsätze    aus    d.    Comenius  -  Gesellschaft,    9.  Jahrg.    1.  u.  2.).      Berlin, 

R.  Gaertner. 
Roth,  Dr.  L.,  Schelling  u.  Spencer,  Eine  log.  Continuität  (Berncr  Studien  zur 

Philosophie  u.  ihrer  Gesch.,  hrsg.  von  Ludw.  Stciu,  XXIX.  Bd.).    Bern, 

C.  Sturzenegger. 
Saltykow,  Dr.  Wera,  Die  Philosophie  Condillacs  (Berner  Studien  z.  Philosophie 

u.  ihrer  Geschichte,  hrsg.  von  Ludw.  Stein).     Bern,  C.  Sturzenegger. 
Schacht,  W.,  Nietzsche,  Eine  psychiatrisch-philosophische  Untersuchung.    Bern, 

Schmid  &  Fraucke. 
Schroeder,  Fei.,  Der  Tolstoismus.     Dresden,  Holze  &  Pahl. 
Schuhes,  Lehre  d.  hl.  Thoraas  üb.  d.  Wesen  d.  biblischen  Inspiration,   Jb.  f. 

Philos.  u.  specul.  Theologie,  XVI,  I. 
Schwarz,  Rect.   Prof.  Dr.  Adf. ,    Der    hermeneutische   Syllogismus   in  der  tal- 

inudischen  Litteratur,    Ein  Beitrag  z.  Gesch.   d.   Logik  etc.     Karlsruhe, 

J.  Bielefeld. 
Siebeck,  IL,  Das  Problem   d.  Freiheit    b.  Göthe,   Ztschr.   f.   Philos.    u.  philos. 

Kritik,  118,  1. 
Sigall,  E.,    Der    Leibniz-Kantisclie    Apriorismus    u.    die    neuere    Philosophie. 

Progr.  Czernowitz. 
Steiner,  Rud.,  Welt-  und  Lebensanschauungen  v.  d.  ältesten  Zeiten  bis  in  die 

Gegenwart.     Berlin,  J.  Sasseubach. 
Stölzle,  Rem.,  A  v.  Köllikers  Stellung  zu  Descartes. 
Tolstoj,  Leon  N.,  Das  einzige  Mittel,  Aus  d.  Russ.  übers,  v.  Raph.  Löwenfelil. 

Lpz.,  E.  Diederichs. 
Willems,  Chr.,  Die  obersten   Seins-   u.  Denkgesetze  nach  Aristoteles  u.  d.  hl. 

'riiomas  V.  Aquin.     Philosophisches  Jb.,  XIV,  3. 
Wuudt,  Wilh.,   Gustav  Theudor  Fechner,    Rede  z.  Feier  s.   lOOjähr.  Geburts- 
tages.    Lpz.,  W.  Engelmann. 


Archiv  für  Philosophie. 

I.  Abtlieiluiig: 

Archiv  für  Gescliiclite  der  Pliilosopliie. 

Neue  Folge.     XV.  Band  2.  Heft. 


V. 

Zu  Leiicippus. 

Von 
E.  Zeller. 

lieber  Leucipp's  grundlegender  und  als  erster  Versuch  einer 
atomistischen  Welterkläruug  heute  noch  nachwirkender  Schrift  hat 
ein  eigenthümliches  Schicksal  gewaltet.  Aristoteles  nennt  sie  nicht, 
wiewohl  er  seine  für  uns  unschätzbaren  Mittheilungen  über  die 
Lehre  ihres  Verfassers  nur  ihr  entnommen  haben  kann.  Durch 
Theophrast  (b.  Diog.  IX,  46)  erfahren  wir,  dass  sie  von  dem 
Demokritischen  MsYa^'Atot'xocrjxo;  nicht  verschieden  war.  Sie  hatte 
also  den  Titel  Aiaxosixo?,  war  aber  schon  damals  in  die  Sammlung 
der  Demokritischen  Schriften  aufgenommen,  und  wurde  von  Demo- 
krit's  gleichnamigem  Werk  dadurch  unterschieden,  dass  man  sie 
Demokrit's  grossen,  jenes  seinen  kleineu  Aiazosp-oc  nannte.  Und 
dasselbe  wird  uns  durch  die  Thatsache  bestätigt,  dass  Epikur  und 
seine  Schüler  die  Existenz  eines  Philosophen  Namens  Leucippus 
ganz  bestritten  und  nur  Deraokrit  als  Urheber  der  Atomistik 
anerkennen  wollten.  Denn  diese  selbst  in  Epikur's  Mund  höchst 
auffallende  Behauptung  (worüber  Ph.  d.  Gr.  I,  337,  4)  lässt  sich 
nach  Di  eis'  treffender  Wahrnehmung  (in  den  a.  a.  0.  nachgewiesenen 
Abhandlungen)  nur  daraus  erklären,  dass  ihm  keine  Schrift,  die 
Leucipp's  Namen  trug,    bekannt    war.      Auf   den    gleichen    Grund 

Archiv  f.  Geschichte  d.  PhUosophie.     XV.  2.  10 


138  E.  Zeller, 

werden  wir  es  zurückzufiilireii  haben,  dass  überhaupt  seit  dem 
Anfang  des  3.  Jahrhunderts  von  den  Schriftstellern,  die  der  ato- 
mistischen  Lehren  erwähnen,  Leucippus  so  selten  und  vielleicht 
blos  von  solchen  genannt  wird,  welche  mittelbar  oder  unmittelbar 
aus  Thcophrast's  Geschichte  der  Physik  geschöpft  hatten.  Nur  um 
so  mehr  Beachtung  verdienen,  aber  alle  Angaben,  die  wir  auf 
diese  Quelle  zurückführen  können;  und  so  mag  denn  auch  hier 
eine  solche,  die  meiner  Darstellung  der  Atomistik  zur  Vervoll- 
ständigung dient,  in  der  Kürze  besprochen  werden. 

Die  plutarchischen  Placita  berichten  IV,  13,  If.:  Arifio/pitöc, 
'Eirr/.oupoc  xaioc  eiöwXtüv  aTcoxpiatv  o'iovtoci  ~o  opatixov  auixßcd'vstv  (Stob, 
fügt  bei:  iraBoc).  Stob  aus  jedoch  nennt  in  seiner  Wiedergabe 
dieser  Notiz  (Ekl.  I,  c.  52  W.)  neben  Demokrit  auch  Leucippus, 
denn  er  schreibt:  Asu/ittttoc,  Ar^poxpixoc,  'Eicixopos  xaxä  stocoXwv  u.  s.  w. 
Ich  hatte  nun  früher  (Ph.  d,  Gr.  I,  913)  dieser  Variante  kein  Ge- 
wicht beigelegt,  indem  ich  annahm,  der  Name  des  Leucippus  sei  dem 
Texte  der  Placita  erst  nachträglich  beigefügt  worden.  Jetzt  habe 
ich  mich  überzeugt,  dass  es  sich  umgekehrt  verhält,  dass  er 
ursprünglich  in  unserer  Stelle  stand  und  uns  in  ihr  von  Stobäus 
erhalten  worden  ist,  und  erst  in  der  Folge  ausfiel. 

Alexander  bemerkt  nämlich  in  seiner  Erklärung  der  Schrift 
TT.  atsöv^asoj?  S.  24,  14  Weudl.:  ki'(zi  -(äp  6  Ar|[xoxpiTo?  xo  opav  slvai, 
xh  TTjV  sfjicpaaiv  (das  in  den  Augapfel  einfallende  Bild)  täv  optufxsvtov 
oi-/e(3i)ai  .  .  .  Tj^sixai  oe  auxo?  xs  v.ou  irpo  auxou  Asoxirito?  xctl  Gaxspov 
oö  ot  TTspi  xov  LTTtxoüpov,  siowAa  xiva  airoppsovxa  0|j.oio[xopcpa  xoi? 
rX'^^  tüv  aTTOppsT  (xauxa  8s  saxi  xa  opoLzd)  £[XTCiTcx£tv  xoT?  xa>v  opoivxoiv 
ocpOaXfxoT?  xotl  ouxto;  xö  opav  ",iv£(3Öc(t,  wie  dies  das  Spiegelbild  im 
Augapfel  beweise.  Auf  den  gleichen  Gegenstand  kommt  Alexander 
S.  56,  10  noch  einmal  zurück,  und  auch  hier  bezeichnet  er  nicht 
blos  Demokrit,  sondern  die  irspl  Aeuxitttcov  xal  Arjjxoxpixov  als  V^er- 
treter  der  Annahme,  dass  das  Sehen  durch  das  Eindringen  der 
Bilder  (diioppoiai,  sioioXa)  iu's  Auge  bewirkt  werde.  Er  kennt  also 
diese  Lehre  als  Eigenthum  des  Leucippus,  mag  er  sie  nun  aus  der 
Schrift  desselben,  oder  —  was  mir  wahrscheinlicher  ist  —  aus 
Theophrast's  Geschichte  der  Physik  als  solches  kennen  gelernt 
haben.     Dann  wird  sie  aber  auch  Aetius  bei  Theophrast  gefunden 


Zu  Leucippus.  139 

haben.  Wenn  er  sie  daher  nach  Stobäiis  in  seinem  Auszug  aus 
Theophrast's  Werk  wiederholt  hat,  so  ist  diese  Angabe  unzweifel- 
haft richtig.  Indessen  genügt  Alexanders  Zeugniss  auch  für  sich 
allein,  und  ohne  der  Verstärkung  durch  das  des  Aetius  zu  be- 
dürfen, zum  Erweis  der  Thatsache,  dass  die  atomistische  Theorie 
des  Sehens  nicht  erst  Demokrit,  sondern  schon  Leucippus  an- 
gehört. 

Für  uns  ist  die  Feststelluug  dieser  Thatsache  in  mehr  als 
einer  Beziehung  von  Werth.  Sie  liefert  zunächst  einen  weiteren 
Beleg  dafür,  dass  Leucippus  nicht  allein  die  leitenden  Gedanken 
der  atomistischen  Physik  gefunden,  sondern  auch  ihre  Verwerthung 
für  das  Einzelne  der  Naturerklärung  viel  weiter  verfolgt  hat,  als 
man  ihm  nicht  selten  zugestehen  wollte;  ebenso  aber  auch  ein 
weiteres  Beispiel  der  schon  von  Theophrast  bemerkten  vielfachen 
Anlehnung  des  Diogenes  von  Apollonia  an  Leucippus.  Denn  wenn 
dieser  Philosoph  (nach  Theophr.  De  sensu  40)  das  Sehen  von  der 
Berührung  der  inneren  Luft  mit  dem  in  das  Auge  einfallenden 
Bild  (der  l'fjicpaaic)  herleitete,  kann  ihm  das  letztere  nur  Leucippus 
an  die  Hand  gegeben  haben.  Das  gleiche  gilt  aber  auch  von 
Empedokles.  Es  ist  schon  längst  bemerkt  worden'),  dass  dieser 
Physiker  seine  Lehre  von  den  Poren  und  den  Ausflüssen,  zu  der 
seine  eigene  Xaturlehre  keine  genügende  Veranlassung  bot,  Leu- 
cippus' Annahmen  über  die  Idole  nachgebildet  habe,  welche  sich 
von  der  Oberfläche  der  Körper  ablösen  und  durch  die  leeren 
Zwischenräume  zwischen  ihnen  fortbewegen.  Dieser  Nachweis  er- 
hält immerhin  eine  nicht  unerhebliche  Verstärkung,  wenn  wir  er- 
fahren, dass  auch  schon  Leucippus  jene  Annahmen  zu  einer  Er- 
klärung des  Sehens  benützte,  welche  sich  von  der  empedokleischen 
nur  dadurch  unterschied,  dass  er  die  Bilder  in  das  Auge  selbst 
eintreten,  Empedokles  sie  ausser  demselben  mit  seinen  Ausflüssen 
sich  berühren  Hess.  Hat  aber  Empedokles  den  Leucippus  gekannt 
und  für  wichtige  Theile  seiner  Physik  benützt,  so  ist  auch  die 
Frage  (Ph.  d.  Gr.  P,  958)    entschieden,    von    wem    der    Gedanke, 


')  Phil.  d.  Gr.  P,  767.     Diels  Verhandl.  d.  35.  Philologenversamml.  104f. 

10* 


140  E.  Zell  er,  Zu  Leucippus. 

die  Entstehung,  die  Veränderung  und  das  Vergehen  der  Einzeldinge 
aus  der  Verbindung  und  Trennung  unveränderlicher  Grundstoffe 
7A\  erklären,  ursprünglich  herrührt.  Nur  Leucippus  kann  es  ge- 
wesen sein,  welcher  diese  geniale  Vermittlung  zwischen  der  er- 
fahrungsmässigen  Wirklichkeit  und  der  anscheinenden  metaphy- 
sischen Unmöglichkeit  der  Veränderung  auffand  und  eben  damit 
der  Naturforschung  seiner  Zeit  und  der  Folgezeit  einen  neuen  Weg 
zeigte. 


VI. 

Herakleides  Poutikos  und  das  lieliokeutrisclie 

System. 

Von 
Prof.  Dr.  H.  Staigniüller  in  Stuttgart. 

lu  meinen  „Beiträgen^)  zur  Geschichte  der  Naturwissenschaften 
im  klassischen  Alterthume"  bin  ich  —  soweit  sich  diese  Arbeit 
mit  Herakleides  Pontikos  beschäftigt  —  zu  folgendem  Schlüsse 
gelangt:  Herakleides  gab  zu  der  von  Piaton  gestellten  Aufgabe^) 
„die  Bewegungserscheinungen  der  Wandelsterne^)  durch  gleich- 
förmige und  im  Kreise  sich  vollziehende  geordnete  Bewegungen  dar- 


')  Wissenschaftliche  ßeihige  des  Programms  des  kgl.  Realgymnasiums 
in  Stuttgart  vom  Jahre  1899.  Dieses  Programm  enthält  in  denjenigen  Theilen, 
welche  von  Herakleides  Pontikos  handeln,  Ergebnisse,  welche  ich  schon  in 
einem  öffentlichen  Vortrage  am  25.  Februar  1893  dargelegt  hatte.  So  kam  es 
auch,  dass  in  dem  Programm  eine  Abhandlung  von  Hultsch  vom  Jahre  1896 
(siehe  Fleckeisens  Jahrbücher  1896  pag.  305 sq.)  sowie  eine  solche  von  Tauuery 
vom  Jahre  1897  (siehe  Revue  des  etudes  grecques  1897  pag.  127sq.)  unbe- 
rücksichtigt blieben,  desgleichen  eine  Rostocker  Inauguraldissertation  (:  De 
Heraclidis  Pontici  vita  et  scriptis)  von  Otto  Voss  vom  Jahre  1896. 

2)  Vergl.:  Simplicii  in  Aristotelis  de  caelo  commentaria  ed.  Heiberg 
pag.  493,  1-4. 

^)  AVenn  ich  in  Folgendem  das  Wort  „Wandelstern"  gebrauche,  ist  das- 
selbe im  Sinne  der  Alten  zu  verstehen,  d.  h.  es  umfasst  Sonne,  Mond  und  die 
fünf  den  Alten  bekannten  Planeten. 


142  H.  Staigmiiller, 

zustellen",  zwei  Lösungen,  welche  für  ihn  als  „Astronom"  *)  völlig 
gleichberechtigt  waren,  und  welche  wir  heute  kurz  mit  den  Mamcn 
des  tychonischen  ^)  und  des  coppernicanischen  oder  heliokeutrischen 
Systems  bezeichnen. 

Was  nun  den  ersten  Theil  meiner  Behauptung  aubetrüTt  — 
tychonisches  System  — ,  so  befinde  icii  mich  hierbei  der  Haupt- 
sache nach  in  Uebereinstimmung  mit  den  von  Hultsch^),  Schia- 
parelli')  und  Tannery^^)  ausgesprochenen  Ansichten.  Dagegen  ist 
Tannery  in  Bezug  auf  den  zweiten  Theil  jener  Behauptung  — 
heliokeutrisches  System  —  zu  folgendem  Resultate  gelangt"):  «  En 
tout  cas,  l'attribution  a  Heraclide  du  Pont  du  Systeme  helioceutrique 
ne  repose  uullement  sur  Tautorite  de  Posidonius  ou  de  Geminus; 
c'est  le  fait  d'un  aunotateur  anonyme  d'epoque  inconnue,  et  pro- 
bablement  le  resultat  d'une  simple  inadvertance,  trop  facile  a 
commettre:  eile  doit  donc  etre  consideree  comme  nulle  et  nou 
avenue  ».     Dies  zwingt  mich  noch   einmal  ausführlicher  auf  jenen 


*)  lu  autikem  Sinne,  vergl.  Anmerkung  30  dieser  Abhandlung. 

*)  Doch  hatte  das  von  Herakleides  Pontikos  aufgestellte  System  gegen- 
über demjenigen  von  Tycho  Brahe  einen  erheblichen  Vorzug:  Uerakleides 
Hess  die  Erde  um  ihre  Axe  sich  drehen,  während  bei  Tycho  das  ganze 
Himmelsgewölbe  rotirte. 

^)  Vergl.  Hultsch,  das  astronomische  System  des  Herakleides  von  Pontos 
in  Fleckeisens  Jahrbüchern  1896  pag.  305 sq.  Doch  kann  ich  mich,  aus  den 
in  meinen  ..Beiträgen"  dargelegten  Gründen,  nicht  mit  der  von  Hultsch  auf- 
gestellten Behauptung  einverstanden  erklären,  dass  Herakleides  l^ontikos  die 
oberen  Planeten  noch  um  die  Erde  kreisen  Hess.  Von  hohem  Werthe  für 
die  ganze  Frage  dagegen  ist  das  Ergebniss,  zu  dem  Hultsch  in  Bezug  auf 
die  einschlägige  Stelle  des  Chalkidios  kommt.  Er  fasst  dasselbe  in  die  Worte 
zusammen:  „Diese  Nachricht  beruht  also  fortan  nicht  bloss  auf  der  Autorität 
eines  spätlateinischcn  Schriftstellers,  sondern  sie  ist  so  sicher,  wie  es  nur 
immer  bei  der  Lückenhaftigkeit  der  Ueberlieferung  möglich  war,  auf  Adrastos 
zurückgeführt  worden,  dem  wir  doch  wohl  eine  zuverlässige  Berichterstattung 
nach  älteren,  authentischen  Quellen  zutrauen  dürfen. 

')  Vergl.  Schiaparelli,  Origiue  dcl  sistema  plauetario  elioceutrico  presso 
i  Greci.  Mem.  R.  Ist.  l^omb.  Vol.  XVIII,  IX  della  serie  III,  Cl.  sc.  matem.  e 
nat.  (Hoepli,  Milano   IS'JS). 

*)  Vergl.:  Tannery,  Sur  Heraclide  du  Pont.  Revue  des  ctudes  grecques 
1899  pag.  305  s(j. 

9)  A.  a.  0.  pag.  310. 


Herakleides  Poutikos  und  das  heliokentrische  System.  143 

zweiten  Theil  meiner  Behauptung  zurückzukommen ,  was  ich  in 
Folgendem  thun  möchte,  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  anderweitig 
Dargelegtes  nochmals  in  diesem  Zusammenhange  wiederholen  zu 
müssen. 

Zunächst  muss  ich  dabei  vorausschicken,  dass  durch  Otto 
Voss'")  und  unabhängig  von  demselben  später  durch  Tannery'') 
der  Nachweis  versucht,  und  meines  Erachtens  auch  erbracht  worden 
ist,  dass  Hiketas  und  Ekphantos,  unter  deren  Xamen  uns  gewisse 
kosmologische  Aufstellungen  überliefert  sind,  nichts  Anderes  waren 
als  Personen,  welche  in  herakleidischen  Dialogen  auftraten'-). 
Von  einem  Streitigmachen  der  Priorität  irgend  einer  Lehre  des 
Herakleides  Pontikos  durch  Hiketas  oder  Ekphantos  kann  damit 
künftighin  überhaupt  nicht  mehr  die  Rede  sein. 

Wie  die  Möglichkeit  der  Behauptung,  dass  Herakleides  Pontikos 
zur  Erklärung  der  scheinbaren  Bewegungen  der  Planeten  das 
„tychonische"  System  aufstellte,  nur  durch  eine  einzige  Stelle'^) 
eines  Schriftstellers  des  vierten  bis  fünften  Jahrhunderts  — 
Chalkidios  —  gegeben  ist,  so  wurde  auch  bis  heute  zu  der  bald 
mehr  bald  weniger  sicher  ausgesprochenen  Behauptung,  dass  Hera- 


'")  Vergl.:  Otto  Voss,  De  Heraclidis  Pontici  vita  et  scriptis.  lüaugiiral- 
dissertation,  Rostock  1896. 

")  Vergl.:  Tannery,  Pseudonymes  antiques.  Revue  des  etudes  grecques 
1897  pag.  127  sq. 

'^)  Darf  ich  hierzu  eine  Vermuthung  aussprechen,  so  ist  es  diese,  dass 
Herakleides  in  seinem  Dialoge  ;,7r£pt  tüjv  £v  oüpctvoj"  wohl  in  erster  Linie  die 
Drehung  des  Himmelsgewölbes  zum  Gegenstand  hatte  und  dabei  zeigte,  wie 
dieselbe  nicht  nur  durch  die  gewöhnliche  Annahme  einer  bewegten  Fixstern- 
sphäre, sondern  mit  völlig  gleichem  Erfolge  ebensowohl  durch  die  .philolaische" 
Revolution  der  Erde  um  das  Centralfeuer,  als  auch  durch  eine  Axendrehung 
der  Erde  erklärt  werden  könne.  Die  erstere  der  beiden  über  den  direkten 
Augenschein  hinausschreitenden  Erklärungen  vertrat  Hiketas,  die  letztere  Ek- 
phantos. [Im  Namen  Ekphantos  liegt  vielleicht  eine  Anspielung  darauf, 
dass  eine  ursprünglich  geheim  gehaltene  Lelire  Piatons  öiTentlich  dargelegt 
wird;  vergleiche  in  Betreff  der  kosmologischen  Anschauungen  Piatons  meine 
^Beiträge'']. 

'■')  Chalcidius,  Comment.  in  Tim.  Plat.  c.  1U9.  Vergl.  Fragm.  philos. 
graec.  coli.  Mullach.  Paris  1867.  Vol.  II,  pag.  206.  [rec.  Wrobel,  Leipzig 
187G,  c.  110.] 


144  H-  Staigraüller, 

kleides  Pontikos  das  heliokentrische  System  kaDute,  einzig  uud 
allein  eine  Stelle'*)  eines  Schriftstellers  des  6.  Jahrhunderts  — 
Simplikios  —  angezogen.  Doch  möchte  ich,  ehe  ich  mich  zu 
dieser  Stelle  selbst  wende,  zunächst  die  übrigen  Stellen,  in  denen 
Simplikios  auf  Heraklcides  Pontikos  und  dessen  astronomische 
Lehren  zu  sprechen  kommt,  in  den  Kreis  meiner  Betrachtungen  ziehen. 
Es  sind  dies  im  Ganzen  drei  Stellen.  Ich  beginne  mit  der 
kürzesten  derselben,  sie  lautet^^):  „'Ev  Tip  xevipio  Ss  ouaav  Trjv  -(r^v 
xai  xuxXu)  xivoujjisvvjv,  lov  os  oupavov  r^pspisiv  'HpotxXstOTjs  6  riovTixo? 
uTToOsasvos  adil^ziv  (o£-o  la  cpotivotxeva."  Simplikios  fügte  diesen  Satz 
seinem  Exkurse  über  jene  vielumstrittene  Behauptung'")  des  Ari- 
stoteles an,  nach  welcher  Piaton  im  Timaios  die  Axendrehung  der 
Erde  lehre.  Nicht  Piaton,  sondern  Herakleides  Pontikos  ist  nach 
Simplikios  der  Urheber  dieser  Lehre,  welche  von  Andern,  in  Folge 
eines  Missverständnisses,  wie  wir  sahen,  einem  gewissen  Ekphantos 
zugeschrieben  wird.  In  Wirklichkeit  hatte  Herakleides  in  einem 
seiner  Dialoge  die  Lehre  von  der  Axendrehung  der  Erde  einem 
Sprecher  Ekphantos  in  den  Mund  gelegt,  und  falls  Herakleides  in 
diesem  Dialoge  überhaupt  auf  die  Sonderbewegungen  der  Wandel- 
sterne einging,  was  mir  aber  zv/eifelhaft  erscheint,  so  möchte  ich 
die  Vermuthung  aussprechen,  dass  er  dabei  auf  homokentrische 
Sphären  zurückgriff "). 

!•*)  Simplici  iu  Aristotelis  physicorum  libros  IV  priores  commentaria  ed. 
Diels  pag.  292. 

'^)  „Durch  die  Aunahme,  dass  die  Erde  im  Mittelpunkt  sich  befinde  uud 
im  Kreise  sich  bewege,  der  Himmel  aber  stillstehe,  glaubte  Herakleides  Pon- 
tikos die  Erscheinungen  retten  zu  können."  Vergl.:  Simplicii  in  Aristotelis 
de  caelo  commentaria  ed.  Heiberg  pag.  519,  9— 11. 

,,Tä  (fc(ivofj.£va  awCeiV  ist  ein  gerade  bei  Simplikios  sehr  häufig  vor- 
kommender Ausdruck,  welcher  besagt,  dass  die  in  der  Erfahrung  gegebenen 
Erscheinungen  am  Himmel  durch  eine  Aufstellung  über  den  Bau  des  Alls  uud 
die  Ikwegung  seiner  Theile  wiedergegeben  werden  können,  und  zwar  handelt 
es  sich  dabei  im  Specielleu  stets  um  eine  Darstellung  der  .so  verwickelten 
scheinbaren  Bewegungen  der  Wandelsterne  unter  Zugrundelegung  gleich- 
förmiger Bewegungen  iu  Kreisen. 

'^)  Ueber  meine  Stellung  zu  dieser  Behauptung  vergleiche  meine  „Beiträge" 
pag.  17-19. 

1')  Zu  dieser  N'ermulhiing  neige  ich  mich  deshalb,  weil  an  den  Namen 
des  Ekphantos  eben  immer  nur  die  Lehre  von  der  Axendrehung  der  Erde  sich 


Herakleides  Pontikos  und  das  heliokcutrische  System.  145 

Als  zweite  Stelle  wähle  ich  folgende^*):  u-izoMatto;  ös  v^cimae 
xoil  To  atxcpoTepcuv  r^psjxouvTtuv,  xaitoi  otTrsfxcpaivov  ooxouv  x6  CJu>C£Ot)ai 
XTfV  cpcttvojxsvTjV  otuTtt)V  [leTaßaaiv  cüficpoTsptuv  i^pejjLOuvKüv,  oia  xo  7070- 
vsvai  Tiva?,  wv  'Hpoix^störj;  is  6  riovtixoc  r^v  xal  'Apt'axctpyoc,  vofxt- 
Covxa?  awCesOai  xa  cpcctvoficyct  xou  usv  oupavou  xctt  xäv  aaxptwv  r^ps- 
jjLOuvxuiv,  XTj?  6s  YT^e  TTSpl  xouc  Too  lar^ij-cpivju  TToXou;  d~o  8u(3[j.a>v 
xivoüjxsvr^C  sxacyx/j?  rjixspa^  [xiotv  s-fj-iaxa  -öpiaxpo'^y^v  x6  os  s'YYtaTa 
7:pocjx£ixc(i  ota  xtjv  xou  r^Koo  xr,?  [j.ias  (xoi'pots  STrtxtv/icriv  6i:,  si  ye 
jxrj  xivoixo  Yj  "fr^,  OTisp  jjlsx'  oXiyov  asv  aTznoti^Ei,  vuv  03  (u;  uTroOeaiv 
sXaßsv,  aSuvaxov  xou  oupotvou  xcä  xa)v  aaxpojv  r^p£[i.o6vx(uv  a(ü09)V0(i  xöt 
'faiv6[j.£va.  ttu);  -,4?  ^'''  '^1  fASTaßctats  awCoixo  Tcotvxojv  c/.xivrjxu)v  Xotpißa- 
voaevtüv;".  Hier  ist  gleich  der  Ort,  an  dem  Simplikios  diese  Be- 
merkung einflicht,  ungeschickt  gewählt.  Aristoteles  behandelt  im 
8.  Capitel  des  2.  Buches  Trepl  oupctvou  die  Frage,  ob  das  Himmels- 
gewölbe (6  oupcivk  hier  gleichbedeutend  mit  dem  von  Aristoteles 
vorausgesetzten  Sphärenmechanismus)  oder  die  Gestirne  (xa  d'axpa 
hier  soviel  als  die  einzelnen  Sternkörper)  sich  bewegen,  und  geht 
davon  aus,  dass  die  Veränderungen  am  Himmel  nothwendig  statt- 


anschliesst,  das  ekphantische  System  also  wohl  nur  in  diesem  Punkte  von  der 
hergebrachten  Ansicht  sich  unterschied.  In  anderen  Schriften  ging  Herakleides 
über  das  hinaus,  was  ich  mit  dem  Namen  „ekphantisches  System"  bezeichnen 
möchte,  und  in  der  That  knüpfen  sich  auch  die  kärglichen  Spuren  dieses 
Weiterschreitens  nie  an  den  Namen  des  Ekphantos,  sondern  stets  nur  an  den 
Namen  des  Herakieides  selbst  an. 

^^)  Er  (sc.  Aristoteles)  hielt  auch  das  „dfAcpoT^pmv  T^petio'jvTwv"  (siehe  oben) 
der  Hereinnahme  werth,  obgleich  es  unangemessen  erscheint,  die  in  die  Er- 
scheinung tretende  Veränderung  retten  zu  wollen,  wenn  beide  unbewegt  sind, 
wie  denn  einige  aufgetreten  sind,  unter  ihnen  Herakleides  Pontikos  und 
Aristarch,  welche  glauben  die  Erscheinungen  retten  zu  können,  indem  der 
Himmel  und  die  Gestirne  stillstehen,  die  Erde  dagegen  um  die  Pole  des 
Aequinoktialkreises  (=  Aequator)  von  Westen  jeden  Tag  annähernd  einmal 
sieb  herumbewegt  —  das  „annähernd''  ist  wegen  der  gleichzeitigen  Bewegung 
der  Sonne  beigefügt,  die  (eben  in  einem  Tage)  einen  Grad  beträgt  —  denn, 
wenn  die  Erde  sich  nicht  bewegte,  was  er  gleich  nachher  beweisen  wird,  vor- 
erst aber  als  Voraussetzung  annahm,  wäre  es  unmöglich  die  Erscheinungen 
zu  retten,  wenn  der  Himmel  und  die  Gestirne  stillstehen,  denn  wie  sollte  die 
veränderte  Stellung  gerettet  werden,  wenn  alles  als  unbewegt  angenomnoen 
würde."  Vergl.:  Simplicii  in  Aristotelis  de  caelo  commeptaria  ed.  Heiberg, 
pag.  444,  31-445,  6. 


146  ^'-  Staigmüller, 

finden,  entweder  indem  beide  (das  Himmelsgewölbe  und  die  Ge- 
stirne) ruhen  [  „aacpoTspcov  -/jf/sao'jvKov"].  oder  indem  beide  be- 
wegt werden,  oder  indem  das  eine  ruht  und  das  andere  bewegt 
wird.  Hierbei  kommt  Aristoteles  zu  dem  Schlüsse,  dass  die  Ge- 
stirne fest  eingefügt  in  ihren  Kreisen  ruhen  und  nur  durch  die 
Bewegung  dieser  Kreise  herumgeführt  werden.  Dagegen  handelt 
es  sich  bei  Aristarch,  wie  wir  wissen,  um  eine  „Rettung"  der 
Rotation  der  Fixsternsphäre  und  der  Sonderbewegungen  der  Wandel- 
sterne, d.  h.  um  etwas,  das  mit  jenen  uns  heute  fast  scholastisch 
anmuthcnden  Fragen  des  Aristoteles  überhaupt  gar  nichts  gemein 
hat.  Weiterhin  steht  und  fällt  die  von  Simplikios  hier  eingeflochtene 
AViderlegung  der  Theorien  des  Herakleides  und  des  Aristarch  mit 
dem  von  Aristoteles  eben  an  anderer  Stelle  versuchten  Nachweis 
der  Ruhe  der  Erde.  Doch  das  sind  alles  nur  nebensächliche  Un- 
geschicklichkeiten unseres  Commentators,  der  sich  an  die  Wider- 
legung von  Theorien  wagt,  die  er  überhaupt  nicht  im  Stande  ist 
zu  durchschauen. 

Bedeutet  auch  xa  aaipa  im  Allgemeinen  die  Sterne  in  ihrer 
Gesammtheit,  so  folgt  dennoch  aus  der  einschlägigen  Partie  der 
von  Simplikios  commentirten  aristotelischen  Schrift  unbedingt 
sicher,  dass  wir  bei  diesem  Worte  in  unserer  Stelle,  wenn  auch 
nicht  ausschliesslich,  so  doch  in  allererster  Linie  an  die  Wandel- 
sterne zu  denken  haben.  Damit  ist  aber  auch  der  Beweis  erbracht, 
dass  dem  Simplikios  nothwendige  Vorbedingungen  abgingen,  die 
kosmologischen  Aufstellungen  eines  Ilerakleides  oder  eines  Aristarch 
richtig  zu  werthcn.  Nur  ein  ,,a7£(o[x3Tpr^to;"^^),  oder  Jemand,  der 
Herakleides  und  Aristarch  selbst  für  „aY£ü)[j.£Tpr^Tou;"  hielt,  konnte 
glauben,  Herakleides  und  Aristarch  hätten  versucht  die  Bewegungs- 

1'')  Wohl  hat  Simplikios  einen  Commentar  zu  ileu  Erklärungen,  Petitioueu 
um!  Axiomen  des  ersten  Buches  des  Euklid  verfasst  (Vorgl.  Codex  Leidensis 
399,  1.  Euclidis  Elcmenta  ex  interpretatioue  Al-lladschdschadschii  cum 
coinmentariis  Al-Nairiz.ii.  Arabice  et  Latine  ediderunt  notisque  instruxeruut 
R.  (>.  Besthorn  et  J.  L.  Ileiberg,  Pars  I.  Ilauniae  1897  um!  Auaritii  in  decem 
libros  priores  elenientorum  Euclidis  commentarii.  Ex  intcrpretatione  Gherardi 
Creinonensis  in  codico  Cracoviensi  56!)  servata  edidit  M.  Curtze.  J.ipsiae  1899) 
aber  als  ein  Mathematiker  von  Fach  erweist  er  sich  darin  nicht  gerade. 


f 


Ilerakleifles  Pontikos  uud  das  heliokeutrische  System.  147 

erscheinuiigeii  des  Fixsternhiramels  und  der  Wandelsterne  einzig 
und  allein  durch  irgend  eine  Bewegimg  der  Erde  zu  „retten".  Doch 
darf  es  uns  nicht  allzu  sehr  befremden,  eine  solche  unhaltbare 
Ansicht  bei  Simplikios  zu  finden,  tritt  uns  doch  etwas  ganz  Aehn- 
liches  schon  bei  Cicero'")  entgegen,  ja  diese  letztere  Thatsache  legt 
die  Vermuthung  nahe,  dass  vielleicht  Simplikios  mit  seiner  ver- 
fehlten Behauptung  nur  das  wiedergiebt,  was  ihm  schon  seine 
Quellen  boten.  Aber  eben  deshalb  wäre  es  auch  eine  vergebliche 
Mühe,  aus  unserer  Stelle  heraus  direkt  die  Systeme  des  Herakleides 
und  des  Aristarch  reconstruiren  zu  wollen;  wir  müssen  unsere 
Frage  vielmehr  so  stellen:  „Welche  Anordnung  der  kosmischen 
Körper  müssen  wir  dem  Herakleides  zuschreiben,  damit  die  Ent- 
stehung der  bei  Simplikios  vorliegenden  verfehlten  Notiz  überhaupt 
denkbar  ist?" 

Zunächst  weist  schon  die  Zusammenstellung  des  Herakleides 
mit  Aristarch  auf  das  heliokentrische  System  hin.  Aber  noch  durch 
einen  zweiten  zwingenderen  Gedankengang  kommen  wir  gleichfalls 
auf  dieses  System.  Nach  unserer  Notiz  war  das  Charakteristische 
auch  des  herakleidischen  Systems  die  Thatsache,  dass  durch  eine 
Bewegung  der  Erde  die  Bewegungen  des  Fixsternhimmels  und  der 
Wandelsterne  gerettet  werden  sollten.  Dasjenige  herakleidische 
System,  auf  welches  unsere  Stelle  zurückzuführen  sein  dürfte,  kann 
also  weder  das  ekphantische  noch  das  tychonische  gewesen  sein, 
da  in  diesen  beiden  Systemen  die  Bewegung  der  Erde  eben  nur 
die  Bewegung  der  Fixsternsphäre  rettet.  Es  bleibt  also  nur  das 
heliokentrische  System  übrig,  und  in  diesem  rettet  in  der  That 
die  Bewegung  der  Erde  sowohl  die  Bewegung  des  Fixsternhimmels 
als  auch  die  Bewegung  wenigstens  eines  Wandelsterns.  Allerdings 
liegt  so  in  der  Notiz  des  Simplikios  neben  einer  verfehlten  Ver- 
allgemeinerung —  aus  „einem"  Wandelstern  werden  „die"  Wandel- 
sterne   —    eine  ebenso  verfehlte   Verengerung  —  aus  zwei  Kreis- 


-")  Vergl.  die  Notiz  in  Betreff  des  Iliketas  bei  Cicero,  Äcad.  prior.  Hb. 
II,  c.  39.  So  wie  Cicero  aus  die  Lehre  des  Hiketas  wiedergiebt,  kann  er  die- 
selbe unmüglich  Theophrast  entnommen  haben.  Der  eflfecthaschende  Rhetor 
opfert  augenscheinlich  seinen  Zwecken  die  Akribie  des  Historikers. 


148  H-  Staigmüller, 

bewegungen  der  Erde  wird  eine  Kreisbewegung  — .  Aber  sollten 
wir  in  unserer  Stelle  diese  Fehler  in  Bezug  auf  das  herakleidische 
System  nicht  annehmen  dürfen,  da  dieselben  doch  in  Bezug  auf 
das  aristarch'sche  System  thatsächlich  vorliegen?  Ja  der  zweite 
dieser  Fehler  konnte  bei  Herakleides  entschieden  noch  leichter  sich 
einschleichen  als  bei  Aristarch.  Herakleides  stellte  ja  auch  Systeme 
auf,  in  welchen  thatsächlich  der  Erde  nur  eine  Axendrehung  zu- 
kam, Aristarch  dagegen,  soviel  wir  wissen,  nicht. 

Eine  wenn  auch  nur  scheinbare  Schwierigkeit  glaube  ich  bei 
meiner  Aufstellung  nicht  stillschweigend  übergehen  zu  sollen. 
Simplikios  spricht  ja  in  unserer  Stelle  ausdrücklich  von  einer 
Bewegung  der  Sonne,  also  ist  der  Gedanke  an  das  heliokentrische 
System  falsch.  Der  Einwurf  liegt  nahe,  aber  mit  gleichem  Rechte 
müsste  dann  auch  Aristarch  das  heliokentrische  System  abgesprochen 
werden;  ja  noch  mehr,  unsere  Stelle  enthielte  dann  eine  contradictio 
in  adjecto,  geht  sie  doch  von  unbewegten  Gestirnen  aus.  Doch 
so  liegt  die  Sache  nicht.  Simplikios  glaubte,  Herakleides  und 
Aristarch  hätten  versucht,  durch  eine  Bewegung  der  Erde  auch 
die  scheinbare  Bewegung  der  an  und  für  sich  als  ruhend  voraus- 
gesetzten Sonne  zu  retten.  Dies  im  Auge  behalten,  kann  man  aus 
jenem  Passus  von  der  Sonne  noch  eher  ein  Argument  für  als 
gegen  unsere  Aufstellung  machen;  jedenfalls  aber  würde  dieser 
Zusatz,  falls  der  in  ihm  liegende  Gedanke  auf  Herakleides  Pontikos 
zurückgeht,  dafür  Zeugniss  ablegen,  dass  Herakleides  seine  Hypo- 
thesen nicht  bloss  aphoristisch  hinwarf,  sondern  in  allen  ihren 
Consequenzen  auch  durchdachte. 

Gehen  wir  nun  zur  nächsten  Stelle  über,  so  werden  wir  finden, 
dass  dieselbe  nicht  nur  unsere  obigen  Aufstellungen  bestätigt, 
sondern  auch  das,  was  wir  bisher  nur  als  wahrscheinlich  aussprechen 
konnten,  zu  voller  Gewissheit  erhebt.  Die  Situation  ist  in  dieser 
neuen  Stelle  insofern  dieselbe  wie  in  der  eben  besprochenen,  als 
Simplikios,  wiederum  von  seiner  verfehlten  Ansicht  über  die  Lehre 
des  Herakleides  ausgehend,  es  versucht,  diese  Lehre  zu  widerlegen. 
Dagegen  ist  der  Ort   der  Einfügung'"^)  unserer  neuen   Stelle  sowie 

^')  Nämlich  bei  Aristoteles,  de  caelo   II,  14  uud  zwar  ed.  Bekk.,  pag.  297 
a2,  d.  h.  dort,  wo  Aristoteles  die  Ruhe  der  Erde  zu  erweisen  sucht. 


<( 


ITerakleides  Pontikos  und  das  heliokentrische  System.  149 

auch  zum  grösseren  Theile  der  innere  Gedankengang  derselben 
durchaus  sachgemäss.  Die  Stelle  selbst  lautet^'):  toüxo  3s  av  auvs- 
ßaivs,  xcti  st  [jisTaßatixrjv  STrotsrxo  xtv/jaiv  t;  -j-r,*  s?  os  xuxXm  irspl  to 
xsvxpov,  wq  'HpaxXsiÖTp  6  rTovttxoc  uttsii'Osto,  tcüv  oupaviwv  rjpsao-jvTtov, 
£1  }i£v  rpo?  ouaiv,  sxslösv  av  er^dvr^  xa  aaxpa  dvaxsX^vOVxot,  si  Ös  Trpö; 
avaxo/.a?,  si  [xsv  Trspt  xou?  xou  iar^iizpivou  ttoXouc,  oux  av  dr.b  5iacpopojv 
opi'Covxo?  TOTTCüV  6  r^}do:  xal  oi  aX)wOt  TrXavr^xsc  dvsxs/./.ov,  s'!  os  uspt 
Touc  toü  C(«oiaxotJ,  oux  av  oi  airXavsT?  octto  xäv  auxüiv  dst  xozwv 
dvsxsXXov,  (Sairsp  vuv  srxs  8s  irspi  xou;  xoGi  lar^iieptvou  eixe  itspl  xou^ 
xou  CtooiTMo,  TTtu;  av  sacudrj  xuiv  TrXavojjxsvtuv  fj  sie  xa  £7ro[xsva  C<pöia 
jjLSxa'ßaai;  dxivi^xojv  xwv  oupavi'ojv  ovxtov;". 

Zunächst  bestätigt  uns  diese  Stelle  die  Thatsache,  dass  Sim- 
plikios  von  der  vollständig  verfehlten  Ansicht  ausging,  Herakleides 
habe  versucht,  durch  eine  Kreisbewegung  der  Erde,  und  zwar  durch 
eine  solche  ohne  Ortsveränderung,  d.  h.  durch  eine  Axendrehung 
die  scheinbaren  Bewegungen  der  Fixsterne  und  der  Wandelsterne 
zu  retten.  Wie  aber  Herakleides  Pontikos  diese  Kreisbewegung 
des  Genaueren  sich  dachte,  darüber  ist  Simplikios  sich  nicht  klar, 
er  weiss  nur  soviel,  dass  es  sich  um  eine  Kreisbewegung  der  Erde 
um  die  Pole  des  Aequators  oder  der  Ekliptik  handelt.  Dabei 
schimmert  aber  selbst  in  der  verfehlten  Darstellung  des  Simplikios 
soviel  noch  durch,  dass  jene  erstere  Bewegung  die  Bewegung  des 


2-)  Dieser  Fall  (sc.  dass  die  Gestirne  uns  nicht  so  erscheinen  könnten, 
wie  sie  uns  thatsächlich  erscheinen)  würde  auch  eintreten,  wenn  die  Erde 
eine  fortschreitende  Bewegung  machte,  wenn  aber  im  Kreise  um  den  Mittel- 
punkt, wie  Herakleides  Pontikos  annahm,  während  die  Himmelskörper  still- 
stehen, 

entweder  nach  Westen,  so  würden  die  Gestirne  als  von  dort  aufgehend 
erscheinen, 

oder  nach  Osten,  wenn  dabei  um  die  Pole  des  Aequinoktialkreises  (=  Aequa- 
tor)  so  würden  die  Sonne  und  die  anderen  Planeten  nicht  an  verschiedenen 
Stellen  des  Horizontes  aufgehen,  wenn  aber  um  die  des  Thierkreises  (=  Ekliptik), 
so  würden  die  Fixsterne  nicht  immer  an  den  gleichen  Stellen  aufgehen  wie  jetzt; 

ob  aber  um  die  Pole  des  Aequinoktialkreises  oder  um  die  Pole  des 
Thierkreises,  wie  würde  der  Uebergang  der  Wandelsterne  in  die  folgenden  Stern- 
bilder des  Thierkreises  gerettet,  wenn  die  Himmelskörper  unbewegt  sind." 
Yergl.:  Simplicii  in  Aristotelis  de  caelo  commentaria  ed.  Heiberg,  pag.  541,  27 
-542,  2. 


150  H.  Staigmüller, 

Fixsternhimmels,  diese  letztere  die  Sonderbewegungen  der  Planeten 
rettete.  Dass  Herakleides  Pontikos  die  erstere  dieser  beiden  Be- 
wegungen lehrte"),  ist  eine  Thatsache,  die  so  gut  beglaubigt  ist, 
als  überhaupt  eine  Thatsache  der  voralexandrinischen  Astronomie. 
Dass  aber  Herakleides  je  daran  gedacht  haben  könnte,  der  Erde 
statt  dieser  Axendrehung  eine  solche  um  die  Pole  der  Ekliptik  zu- 
zuschreiben, ist  absolut  unmöglich;  man  mache  sich  doch  nur  die 
Conseqiienzen  klar;  diese  Möglichkeit  im  Ernste  discutiren  kann 
eben  wieder  nur  ein  „a-j-sfou-^tpr^-os",  oder  Jemand,  der  Herakleides 
für  einen  „otYctüuisTprjTo;"  hält.  Wie  aber  kam  Simplikios  oder 
dessen  Gewährsmann  zu  jener  Deductiou?  Einfach  dadurch,  dass 
Herakleides  in  der  That  die  Erde  eine  Kreisbewegung  um  die  Pole 
der  Ekliptik  ausführen  Hess,  allerdings  nicht  als  Axendrehung, 
sondern  als  Umkreisung  der  Sonne'*).  Auf  solche  Weise  und 
nicht  anders  kann  die  Genesis  unserer  Stelle  gedacht  werden. 
Simplikios  oder  dessen  Gewährsmann  glaubte  eben  alle  Notizen, 
welche  er  über  Herakleides  Pontikos  fand,  unter  einen  Hut  bringen 
zu  müssen,  dadurch  entstand  als  erster  Fehler  die  schiefe  Auf- 
fassung, dass  „das")  herakleidische  System"  ein  geokentrisches 
System  sei^^),  ein  Fehler,  der  als  zweiten  jenes  Missverständniss 
nach  sich  zog,  durch  welches  aus  der  Revolution  der  Erde  in  der 
Ebene  der  Ekliptik  eine  Axendrehung  wurde.  Die  beiden  Kreis- 
bewegungen, welche  in  unserer  Stelle  Simplikios  einzeln  ins  Auge 


-'■')  Nicht  aber  aufstellte,  vergleiche  hierzu  meine  „Beiträge"   pag.  18  —  19. 

-*)  Man  beachte  auch  das  Unbestimmte  in  den  Worten:  „ei  ok  v.'jxX<;) 
-£pi  TÖ  •/.evTfjov."  Hierzu  könnten  auch  noch  die  beiden  folgenden  Stellen 
beigezogen  werden:  ,.'Hpot<cXei8rj;  [jAw  o'jv  6  FIovTtxö;,  oü  IJXdxwvo;  wv  äxo'jsxr)?, 
TaÖTTjV  iyixio  ttjv  oo^av,  v.iviöv  xÜxXüj  Tr)v  yfjv.  (Vergl.:  Proclus,  commentarius 
in  Piatonis  Timaeum,  rec.  Schneider  281,  E)  und:  „'llpa/.XctOT);  6  llov-txö; 
-/.ivilallai  -Ept  TÖ  [J.E30V  TT]v  fri^,  tÖv  oe  ö'jpavöv  /jpsfAEiv  üttoS^eijievo;  aiu^siv  (ueto 
-a  cpatvoijievct.  (Vergl.:  Cod.  Coisl.  IßG  —  Scholia  in  Aristotelem  yraeca  coli, 
l'randis  pag.  505,  b). 

-'■'■)  Auch  von  Hultsch  lernten  wir  oben  eine  Arbeit  kennen,  welche  den 
zum  mindesten  missverständlicbeu  Titel  trägt:  „Das  astronomische  System  des 
Herak leides  von  Pontes."     (Vergl.  Anm.  (>). 

'^^)  Ganz  den  gleichen  Fehler,  welchen  wir  hier  bei  Simplikios  voraus- 
setzen, finden  wir  z.B.  bei  Böckh  wieder.  (Vergl.:  Bi'ickh,  Untersuchungen 
über  das  kosmische  System  des  Piaton,  pag.  135.) 


Herakleides  Pontikos  und  das  heliokentrische  System.  151 

fasst,  geben,  richtig  gedeutet,  in  ihrer  Vereinigung  eben  das  helio- 
kentrische System. 

Doch  ich  hätte  mich  eigentlich  viel  kürzer  fassen  können. 
Aus  unsern  beiden  letzten  Stellen  geht  jedenfalls  so  viel  unbedingt 
sicher  hervor,  dass  sowohl  Herakleides  Pontikos  als  auch  Aristarch 
Systeme  aufstellten,  in  denen  die  Bewegung  der  Erde  nicht  nur 
zur  Erklärung  der  Rotation  der  Fixsternsphäre,  sondern  auch  zur 
Darstellung  der  Planetenbewegungen  beigezogen  wurde,  und  damit 
schon  ist  der  Beweis  erbracht,  dass,  wie  Aristarch,  so  auch  Ilera- 
kleides  die  um  ihre  Axe  sich  drehende  Erde  zugleich  um  die 
Sonne  kreisen  liess.  Hätten  sich  also  über  die  Lehre  des  Herakleides 
Pontikos  auch  nur  unsere  zwei  zuletzt  besprochenen  Stellen  er- 
halten, so  hätte  damit  doch  schon  die  Aufstellung  der  Behauptung, 
dass  Herakleides  Pontikos  das  heliokentrische  System  lehrte,  ihre 
vollste  Berechtigung-'),  Zum  Glück  für  unsere  Frage  bietet  uns 
aber  Simplikios  noch  eine  weitere  einschlägige  Stelle,  und  zwar 
eine  solche,  die  gegenüber  den  bisher  betrachteten  den  grossen 
Vorzug  aufweist,  in  ihrem  Wortlaute  auf  Herakleides  Pontikos 
selbst  zurückzugehen  und  so  wie  sie  vorliegt,  aus  der  Feder  eines 
Astronomen  zu  stammen,  und  welche  uns  eben  deshalb  eine  directe 
Reconstruction  der  Lehre  des  Herakleides  Pontikos  gestattet. 

In  seinem  Commentar  zur  'fjaixrj  «xpoaat?  des  Aristoteles 
kommt  Simplikios  auf  die  Verschiedenheit  der  Aufgaben  des  Phy- 
sikers und  des  Astronomen  zu  sprechen.  Dabei  führt  er  nach 
Alexander  von  Aphrodisias  eine  Stelle  aus  Geminos  an,  und  zwar 
aus  dessen  Epitome  eines  Commentars  zu  den  Meteorologicis  des 
Posidonios-').     In    dieser  so,    wenn    auch  auf  Umwegen,    doch    in 


'^')  Allerdings  könnte  noch  die  Frage  aufgeworfen  werden,  warum  Arclii- 
medes,  dort  wo  er  die  Theorie  des  Aristarch  kurz  auseinandersetzt,  nicht  aucli 
des  Herakleides  Pontikos  gedenkt.  Die  Antwort  auf  diese  Frage  bietet  uns 
folgende  Stelle  aus  Stobaios:  ..HXvr/.oi  6 'Epuilpotio;  /.od  'HpaxXet'oT);  6  llov-txö; 
ocTiätpov  Tov  -<c&'a[j.ov.'"  (Vergl.:  Stobaeus,  Eclogae  physicae  rec.  Meinecke  T.  1, 
pag.124). 

2**)  In  Betreff  dieser  Epitome  vergleiche  die  zusammenfassenden  Dar- 
legungen bei  Manitius,  FsfAivou  EisoiYtuyrj  et;  ti  cpaivo'aeva,  pag.  2oT  — •252. 
(Teubn.er,   1898). 


152  H.  Staigmüller, 

authentischer  Form  auf  uns  gekommenen  Steile  weist  Geminos") 
dem  Physiker  die  Forschung  nach  dem  Wesen  der  Dinge  zu, 
während  für  den  Astronomen  alle  Hypothesen,  durch  welche  die 
Erscheinungen  gerettet  werden  können,  gleichberechtigt  sind: 
„oiov  oia  -i  avu>u.aX(ü;  r^kio^  xal  asXrjvr^  xcxl  oi  rXavr^TS^  cpatvovta' 
xivo'jasvoi;  OTi  zl  uroöaiusOa  exxsvTpo'j;  au'viv  tou?  xuxXou?  t,  xaT' 
IttixuxXov  roXouuöva  xa  as-pa,  atuörjas-ai  ■?;  9aivo[jL£yr^  avajij,ot>v''a 
auToiv,  SsTJöet  ts  eTS^EXOeiv,  xai)'  osou?  ouvaxbv  TpoTtou?  'auia  «tto- 
teXeiaöai  xa  cpaivojisva,  eSats  eotxevat  ifi  xata  tov  svSs/^otxsvov  xpoTrov 
nixioXo^ia  xtjv  Trept  xäv  TrXavouiJLSvtov  atjxpwv  zpaYfiaxsiav.  8iö  xal 
zapeXöoiv  xt?  cpyjaiv  'HpaxXsiÖTj?  6  Ilovxixo?,  oxt  xal  xivoufisvTj^  ttiu; 
XYJs  y^S,  xou  0£  TjXio'j  [xsvovxo;  rto;  Suvaxat  f^  Trspl  xöv  ^Xiov  cpaivo- 
JXSV7]  dvojijiaXta  acpCs^öat.  oXcu?  y°^P  ^^'^  esuv  a^xpoXo-you  xo  '^vuivat, 
XI  r|ps}jLar6v  laxi  x^^  cpuasi  xal  TroTa  xa  xivrjxa,  aXXa  u-oOscfst?  siöt^yo'j- 
[isvos  xü)v  [xev  jjisvovxtuv,  xaiv  Se  xivouixsvtov  oxo-si,  xtaiv  u-o&iossiv 
dxoXouÖTjasi  xa  xaxa  xov  oupavov  cpaivojisva" '").  Diese  Stelle  sagt 
unter  Anderem  klar  und  deutlich  aus,  dass  ein  gewisser  Herakleides 
Pontikos  aufgetreten  sei  und  behauptet  habe,  auch  wenn  die  Erde 


2^)  Wenu  ich  kurzweg  Geminos  schreibe,  so  möchte  ich  doch  gleich  in 
diesem  ersten  Falle  ausdrücklich  darauf  hinweisen,  dass  ich  vielleicht  mit 
besserem  Rechte  Posidonios  schreiben  würde;  nur  weil  unsere  Notiz,  wenigstens 
in  der  Form,  in  welcher  sie  vorliegt,  aus  der  Feder  des  Geminos  stammt, 
wähle  ich  diesen  Namen. 

2")  Zum  Beispiel,  warum  scheinen  die  Sonne,  der  Mond  und  die  Planeten 
sich  nicht  gleichförmig  zu  bewegen?  „Antwort:"  Wenn  wir  die  Kreise  derselben 
ekkentrisch  voraussetzen,  oder  annehmen,  dass  die  Gestirne  auf  einem  Epikykel 
sich  bewegen ,  so  wird  die  scheinbare  üngleichfürmigkeit  derselben  gerettet, 
und  es  ist  noch  nöthig  auszuführen,  auf  wie  viele  Arten  es  möglich  ist,  dass 
diese  Erscheinungen  zu  Stande  kommen,  so  dass  die  Lehre  von  dem  that- 
sächlichen  Verhalten  der  Wandelsterne  mit  der  als  möglich  gesetzten  Begrün- 
dung übereinstimme.  Deshalb  ist  auch  ein  gewisser  Herakleides  Pontikos 
aufgetreten  und  sagt,  auch  wenn  die  Erde  in  irgend  einer  Weise  sicli 
l)ewege,  und  die  Sonne  in  irgend  einer  Weise  stillstehe,  könne  die  scheinbare 
üngleichförmigkeit  in  Bezug  auf  die  Sonne  gerettet  werden.  Im  Allgemeinen 
nämlich  ist  es  nicht  Sache  des  Astronomen  zu  erkennen  was  seiner  Natur 
nach  ruhig  ist  und  welches  die  bewegten  Dinge  sind,  sondern  indem  er 
Hypothesen  einführt  von  feststehenden  Dingen  einerseits  und  sich  bewegenden 
andererseits  untersucht  er,  mit  welchen  Hypothesen  die  Ersclieinungen  am 
Himmel  übereinstimmen."  Vergl.:  Simplicii  in  Aristotelis  physicorum  libros  IV 
priores  commentaria  ed.  Diels,  pag.  292.  15 — 26. 


Herakleides  Pontikos  uad  das  heliokentrische  System.  153 

sich  in  irgend  einer  Weise  bewege,  und  die  Sonne  in  irgend  einer 
Weise  stillstehe,  könne  eine  gewisse  Unregelmässigkeit  erklärt 
werden. 

Lassen  wir  zunächst  die  Frage  ganz  aus  dem  Spiele,  ob  uns 
unsere  Stelle,  wie  wir  einmal  annehmen  wollen,  auch  thatsächlich 
das  Recht  giebt,  in  Herakleides  Pontikos  denjenigen  Forscher  zu 
sehen,  w^elcher  jene  kurz  skizzirte  Hypothese  zur  Erklärung  der 
TTspt  xöv  r^hov  cpctivofASVYj  äv(üaa/.ia  beizog,  und  wenden  wir  uns  zu- 
erst dieser  Hypothese  selbst  zu. 

Der  ganzen  griechischen  Astronomie  lag  die  Annahme  zu 
Grunde,  dass  Sonne,  Mond  und  die  Planeten  mit  gleichförmiger 
Geschwindigkeit  in  Kreisen  sich  bewegen^');  eine  Annahme,  welche 
der  griechischen  Astronomie  zugleich  auch  ihre  erste  Aufgabe  zu- 
wies. Jede  Unregelmässigkeit  im  Laufe  eines  Wandelsterns  konnte 
deshalb  nur  eine  scheinbare  sein,  daher  die  Bezeichnuno-  f,  ü7.ivo- 
jAEVTj  dvwuLGtXiot.  Welche  Unregelmässigkeit  wird  aber  in  unserer 
Stelle  durch  den  Beisatz  Trspl  xbv  r^hov  näher  gekennzeichnet?  Nichts 
scheint  einfacher  als  eine  Beantwortung  dieser  Frage:  „Natürlich 
eine  Unregelmässigkeit  im  scheinbaren  Laufe  der  Sonne."  In  der 
That  haben  auch  Männer  wie  Böckh  ^'),  Bergk^^)  und  Martin^*) 
diese  Erklärung  entweder  direkt  gegeben  oder  stillschweigend  als 
selbstverständlich  vorausgesetzt;  Schiaparelli^')  gebührt  das  Ver- 
dienst, zuerst  die  Unhaltbarkeit  dieser  Antwort  nachgewiesen  zu 
haben. 

In  der  Schrift  des  Herakleides,  welcher  Geminos  sein  Citat 
entnimmt,  war,  wie  jenes  xott'  beweist,  unmittelbar  vorher  eine 
andere  Möglichkeit  zur  Rettung  der  -spl  tov  rjXiov  c(V(utxc(X''c(  ins 
Auge  gefasst  gewesen,    so  dass    dort    unbedingt  aus    dem    ganzen 


3n 


')  „ÜTtdxsi-cai  yäp  rpö;  oXrjv  ttjv  darpoXoytav  t^Xio'v  xs.  xai  osXr^^ri^  xal  to'j; 
7t£VT£  -XavTjTas  iao-a/(L;  xal  ^yxux^iiu;  xal  ü-evavxi'tu?  xul  xdafjio)  xtvstaöai." 
Vergl.:  FefAhou  daa-jmyri  eis  tä  cpdnvd[j.£va  cap.  I. 

22)  Vergl.:  Böckh,  Untersuchungen,  pag.  135—137. 

33)  Vergl.:  Bergk,  fünf  Abhandlungen  zur  Geschichte  der  griechischen 
Philosophie  und  Astronomie,  pag.  151. 

^■')  Vergl.:  Memoires  de  Tinstitut  national  de  France.  —  Academie  des 
inscriptions  et  belles-lettres.     T.  XXX,  2e  partie,  pag.  26sq. 

^)  Vergl.:  Schiaparelli,  Origine  etc.,  pag.  88—92. 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     XV.  2.  H 


154  H.  Staigmüller. 

Zusammenhange  hervorging,  was  unter  diesem  an  und  für  sich  etwas 
unbestimmten  Ausdrucke  zu  verstehen  sei.  AVenn  dann  weiter-' 
hin  Geminos  in  der  oben  wiedergegebenen  Weise  das  Citat  seinen 
Betrachtungen  einflicht,  so  ging  er  doch  wohl  auch  davon  aus, 
dass  in  diesem  neuen  Zusammenhange  jener  Ausdruck  nicht  miss- 
zuverstehen  sei.  In  der  That,  würde  sprachlich  jener  Ausdruck 
nicht  selbst  auf  die  Sonne  hinzuweisen  scheinen,  so  würde  darunter 
jeder  unbefangene  Leser  aus  dem  ganzen  Zusammenhange  unbe- 
dingt in  erster  Linie  eine  Unregelmässigkeit  im  scheinbaren  Laufe 
der  Planeten  suchen,  und  zwar  jene  grosse,  auffällige  und  sicher- 
lich Herakleides  Pontikos  einzig  bekannte  Unregelmässigkeit,  welche 
in  den  Stillständen  und  Rückgängen  der  Planeten  zum  Ausdruck 
kommt,  und  zu  deren  Darstellung  die  Epikykeln  oder  die  beweg- 
lichen Ekkentern  dienten. 

Zwei  verschiedene  „Anomalien"  im  scheinbaren  Laufe  der 
Planeten  unterscheidet  die  antike  Astronomie^");  die  eine  steht  in 
Beziehung  zum  siderischen,  die  andere  zum  synodischen  Umlauf 
des  betreffenden  Planeten.  Jene  erstere  —  die  sogenannte  „erste 
Ungleichheit"  —  nennt  der  Almagest:  „r^  irpo?  (irapa)  toc  tou 
Cfootaxotj  [i,£pr|  c/.vtüti,o!X''a" ");  sie  besteht  in  der  Veränderung  der 
scheinbaren  Geschwindigkeit  der  Planeten  in  bestimmten  Theilen 
des  Thierkreises  und  war  weder  Eudoxus  noch  Kallippos  bekannt. 
Diese  letztere  —  die  sogenannte  „zweite  Ungleichheit"  —  nennt  der 
Almagest:  „v;  -Kpo;  xov  f|Xiov  avwuotXtct"  ^^)  oder  auch:  „tj  uapa 
Tov  f^Xiov  ava>[xaXtc("  ^'');  sie  umfasst  die  Stillstände  und  Rückgänge 
der  Planeten  und  trägt  ihren  Namen  deshalb,  weil  diese  Stillstände 
und  Rückgänge  von  der  scheinbaren  Entfernung  der  Planeten  von 
der  Sonne  abhängen,  d.  h.  stets  dann  auftreten,  wenn  die  Planeten 
in  eine  bestimmte  Lage  zur  Sonne  zu  stehen  kommen.  AVir  sehen, 
es  liegt  also  auch  sprachlich  dem  gar  nichts  im  Wege,  in  unserem 
Ausdrucke  „r,  irspi  xov  f^Xiov  av(o[xc(Xta"  das  zu  suchen,  was  wir, 
dem  ganzen  Zusammenhange  nach,  oben  unter  diesem   Ausdrucke 


36)  Vergl.  i.  B.  Almagest  IX,  2. 
3'')  Vergl.  z.  B.  Almagest  IX,  5. 

38)  Vergl.  z.  B.  Almagest  X,  G. 

39)  Vergl.  z.  B.  Almagest  XU,  1. 


Herakleides  Pontikos  und  das  heliokentrische  System.  155 

vermutlieten,  nämlich  die  sogenannte  zweite  Ungleichheit.  Hera- 
kleides war  bei  seinen  Untersuchungen  über  die  Planetenbeweguogen, 
wie  die  Aufstellung  seines  tychonischen  Systems  darthut,  von  den 
unteren  Planeten  ausgegangen,  und  gerade  bei  diesen  wird  die 
zweite  Ungleichheit  eigentlich  noch  besser  durch  tj  Trspl  -ov  -^Xiov 
av(i)aaXtot  charakterisirt  als  durch  rj  T^pb;;  oder  y;  Tzapy.  xbv  ^X'.ov 
dvwfxaXtor,  will  man  in  der  abwechselnden  Verwendung  jener  Prä- 
positionen überhaupt  eine  verschiedene  Nuancirung  des  ganzen 
Ausdrucks  erblicken. 

An  und  für  sich  betrachtet,  könnte  -f)  Trepl  tov  t^Xiov  dvwixaXt'a 
allerdings  auch  eine  Unregelmässigkeit  im  scheinbaien  Laufe  der 
Sonne  bedeuten,  und  zwar,  da  es  keine  andere  giebt,  diejenige, 
welche  in  der  Veränderung  der  Geschwindigkeit  der  Sonne  in  ihrer 
jährlichen")  Bahn  zu  Tage  tritt.  Wenn  in  diesem  Falle  auch  in 
erster  Linie  r^  xoGi  yjXtou  dvioactXt«  erwartet  werden  dürfte,  so  schreibt 
doch  z.  B.  der  Almagest  auch  von  dieser  einzigen  Ungleichheit  im 
Laufe  der  Sonne  in  den  einleitenden  Worten  des  4.  Kapitels  des 
3.  Buches:  „xoutmv  oy]  outo)^  7:po£XT£i)st|i.EV(uv,  7:poü~oXrj-x=ov  xctt 
XTjy  Trspi  TOV  T^Xtov  cpc3tivo[i£v/]v  dv(u[xaX''otv  svixsv  xou  [i-iav  xs  slvai  ..." 
Dagegen  trägt  allerdings  das  Capitel  selbst  die  Ueberschrift:  „~£pt 
Tr^q  xou  YjXiou  (faivoiiivr^;  dvcuuaXia;",  und  auch  das  3.  Capitel  des- 
selben   Buches    beginnt    mit    den    Worten:     »i;r,';  o'ovxo?  xal    xtjv 

cpaivotxlvr^v  dvwixoiXiav  xo'j  vjXiou  osicai, ";  die  dem  5.  Capitel 

desselben   Buches    beigegebene  Tafel    endlich    aber    ist    bezeichnet 
als:   „xotvoviov  ~r^<;  TjXiotxTjS  dvouaaXia;." 

Es  verbleiben  also  in  der  That  zunächst  sprachlich  zwei  Mög- 
lichkeiten der  Auffassung  des  Ausdrucks  v;  irspt  xov  -^Xiov  dvoja^Xiot; 
verfolgen  wir  nun  beide  in  ihren  Consequenzen. 

Nach  der  ersten  Auffassung  behauptet  Herakleides,  die  zweite 
Ungleichheit  im  Laufe  der  Planeten  könne  auch  dadurch  gerettet 
werden,    dass  die  Erde    in  irgend    einer  Weise    sich    bewegt,    die 


■•o)  In  Betreff  der  ganz  unmöglichen  Auffassung  Böckhs  (Vergl.:  Unter- 
suchungen, pag.  135 — 137),  dass  i]  Ttepi  xöv  i^Xtov  cpatvo[i.^V7]  ävu)[xaXia  sich  auf 
den  täglichen  Lauf  der  Sonne  beziehe,  vergleiche  meine  „Beiträge",  pag.  34. 
Böckh  sieht  in  „ifj  Tiepl  tov  i^Xiov  cpatvotAevY)  ävcufj.aXfa'*  überhaupt  nichts  anderes 
als:  „die  Erscheinungen  der  Sounenbewegung."! 

11* 


156  H-  Staigmüller, 

Sonne  in  irgend  einer  Weise  stillsteht,  im  Gegensatze  zu  einem 
unmittelbar  vorher  behandelten  Systeme,  bei  welchem  die  Erde 
irgendwie  stillstand,  die  Sonne  irgendwie  sich  bewegte.  Die  That- 
sache  nun,  dass  Herakleides  Pontikos  eben  zur  Rettung  der  zweiten 
Ungleichheit  der  Planetenbewegungen  das  tychonische  System  auf- 
stellte, berechtigt  uns  zu  der  Annahme,  dass  jenes  System,  auf 
welches  das  xat  zurückweist,  kein  anderes  als  das  tychonische  war. 
Durch  die  skizzirte  Vertauschung  der  Rollen  von  Erde  und  Sonne 
geht  aber,  für  jeden,  der  auch  nur  über  die  ersten  Elemente  einer 
reinen  Bewegungslehre  verfügt,  das  tychonische  System  mit  mathe- 
matischer Notliwendigkeit  in  das  heliokentrische  über,  und  Hera- 
kleides hatte  von  seinem  Standpunkte  aus  nur  noch  nöthig,  der 
Sonne  den  Mittelpunkt  des  Alls  als  Standort  zuzuweisen,  darauf 
ist  wohl  die  Wiederholung  des  AVortes  ttoj;  bei  dem  Worte 
[xsvov-o?  zurückzuführen,  eine  Wiederholung,  welche  sonst  vielleicht 
auffallen  könnte.  Nur  wenn  wir  das  tychonische  System  als  das- 
jenige voraussetzen,  auf  welches  das  xai'  zurückweist,  ist  unser 
Citat  durchaus  präcis  und  klar  und  der  Uebergang  zum  helio- 
kentrischen  System  sachlich  gerechtfertigt  und  innerlich  raotivirt. 
Wollte  man  dagegen  annehmen,  das  vorher  besprochene  System 
sei  auf  dem  Principe  der  homokentrischen  Sphären  aufgebaut  ge- 
wesen, so  hätte  ein  Leser,  der  das  heliokentrische  System  nicht 
schon  vorher  kannte,  mit  jenen  Worten  des  Herakleides  wohl  über- 
haupt nichts  anzufangen  gewusst,  günstigsten  Falles  hätten  ihn 
diese  Worte  auf  Abwege  geführt,  ähnlich  demjenigen,  auf  welchen 
sie  Martin  führten.  Wir  sind  also  zu  der  Annahme,  dass  jenes 
xai  auf  das  tychonische  System  zurückweist,  nicht  bloss  berechtigt, 
sondern  eigentlich  gezwungen.  Doch  wollten  wir  selbst  diese  An- 
nahme nicht  machen,  so  Hesse  sich  dennoch  unserem  Citate  absolut 
kein  anderer  Sinn  unterlegen  als  ein  Hinweis  auf  das  heliokentrische 
System. 

Wie  aber  läge  die  ganze  Sache,  wenn  rj  Tispt  xov  -^Xiov  dtvo)- 
|AotXia  in  unserer  Stelle  die  Ungleichheit  in  der  Bewegung  der 
Sonne  bedeuten  würde?  Vor  allem  müssten  wir  dann  davon  aus- 
gehen, dass  der  Philosoph  Herakleides  es  versuchte,  eine  „Anomalie" 
zu  retten,  welche  für  den  grössten  Astronomen  jener  Zeit,  Eudoxus, 


Herakleides  Pontikos  und  das  heliokentrische  System.  157 

nicht  existirte.  Aber  nehmen  wir  einmal  diese  Unwahrscheinlich- 
keit  in  den  Kauf  und  fragen  wir  uns,  auf  welche  Anordnung  von  Erde 
und  Sonne  hätte  alsdann  Herakleides  mit  jenen  Worten  anspielen 
können?  Denn  dass  Herakleides  bei  seinen  Worten  überhaupt  etwas 
sich  dachte,  wird  doch  wohl  unbedingt  angenommen  werden  dürfen, 
und  dass  auch  andere  etwas  dabei  sich  denken  konnten,  beweist 
gerade  die  Thatsache,  dass  ein  Mann  wie  Geminos  jene  Worte 
citirt.  Die  Antwort  auf  unsere  Frage  muss  unbedingt  lauten:  nur 
auf  eine  Anordnung,  welche  darauf  hinausläuft,  dass  die  Erde  in 
einem  festen  Ekkenter  die  Sonne  umkreist.  Nur  unter  dieser  Vor- 
aussetzung lässt  sich  die  Sonnenanomalie  bei  einer  irgendwie  be- 
schaffenen Ruhe  der  Sonne  und  Bewegung  der  Erde  retten"). 
Und  sollte  noch  in  der  herakleidischen  Schrift,  welcher  unser  Citat 
entnommen  ist,  ein  innerer  Zusammenhang  gewahrt  bleiben,  so 
könnte  jenes  xat  eigentlich  nur  auf  Hipparchs  festen  Ekkenter  zu- 
rückweisen. 

Man  sieht,  zu  welchen  Abenteuerlichkeiten  diese  zweite  Mög- 
lichkeit der  Auffassung  des  Ausdrucks  r^  TztrA  -hv  ^Xtov  dywactXta 
führt.  Wohl  wäre  auch  hier  wieder  Herakleides  Pontikos  der  Ur- 
heber eines  heliokentrischen  Systems,  aber  eines  solchen  mit 
ekkentrischer  Erdbahn,  und  ein  solches  wird  im  Ernste  wohl  auch 
der  blindeste  Verehrer  des  herakleidischen  Genies  demselben  nicht 
zuschreiben  wollen ^^).  Diese  zweite  Möglichkeit  muss  also  für 
die  weitere  Betrachtung  unserer  Stelle  völlig  ausser  Acht  gelassen 
werden,  und  es  verbleibt  bei  dem,  was  wir  oben  unter  Zugrundelegung 
der  ersten  Auffassung  jenes  Ausdrucks  entwickelten. 

Darf  so  nun  als  unbedingt  gesichert  angesehen  werden,  dass 
in  unserer    Stelle    die  Möglichkeit    der  Rettung    der    zweiten  Un- 


*')  Abgesehen  von  seiner  inneren  Unwahrscheinlichkeit  rettet  eben  Martins 
so  äusserst  subtil  ausgekünsteltes  System  die  Ungleichheit  der  Sonnen- 
bewegung —  wie  dieselbe  schon  Euktemon  kannte,  und  wie  wir  dieselbe  des- 
halb unbedingt  auch  Herakleides  zuschreiben  müssten  —  nicht. 

*■)  Ich  kann  nur  annehmen,  dass  Bergk  sich  dieser  letzten  Consequenzen 
seiner  Aufstellung  nicht  klar  wurde.  Ja  es  hat  fast  den  Anschein,  als  ob 
Bergk  glaubte,  durch  ein  heliokentrisches  System,  wie  ein  solches  z.  B.  Archi- 
medes  dem  Aristarch  von  Samos  zuschrieb,  werde  schon  die  Ungleichheit  der 
Sonnenbewegung  gerettet. 


158  ^^-  Staigmiiller, 

gleichheit    in  der  scheinbaren  Bewegung    der  Planeten    durch    das 
heliokentrische  System  ausgesprochen  wird,  so  wenden  wir  uns  jetzt 
zu  der  zurückgestellten   Frage,  wer  es  war,  der  diese  Möglichkeit 
ins  Auge  fasste.     Der  Versuch,  diese  Frage  aus  unserer  Stelle  heraus 
zu  beantworten,  führt  auf  eine  weitere  Schwierigkeit,  welche  diese 
Stelle  bietet.     In  hohem  Grade   muss  es  nämlich  befremden,   dass 
ein  Mann   wie  Herakleides  Pontikos  als   „ein  gewisser  Herakleides 
Pontikos"  eingeführt  wird.     Doch  wenn  es  auch   fast  kaum  denk- 
bar scheint,  dass  Geminos  so  schrieb,  so  liegt  schon  bei  Alexander 
von  Aphrodisias  die  Sache  anders.     Alexander  war  kein  Astronom 
und  Geometer  wie  Geminos,   also   zu  eigenem  Urthcil   über   Hera- 
kleides und    dessen   astronomische  Leistungen  nicht  fähig;    welche 
Trübung  das  Bild  des  Herakleides  aber  damals  in  der  Auffassung 
eines  Litterarhistorikers  erfahren  konnte,  ersehen  wir  am  besten  aus 
Diogenes  Laertios,  einem  Zeitgenossen  Alexanders.     Dass  aber  aus 
einer  Auffassung    heraus,    nach    welcher    der    gelehrte    Hanswurst 
Herakleides  überhaupt  nicht   ernst  zu  nehmen  war,  jenes  xt;  bei- 
gefügt werden  konnte,  wer  will  es  bestreiten?  Sahen  wir  doch  auch, 
wie  Simplikios    dem  Herakleides    eine  Lehre  unterschiebt,    die  für 
jeden,   der  nur  mit  einem  Tropfen   mathematischen   Oeles  gesalbt 
ist,  als  platter  Unsinn  sich  darstellt.     Wie  mögen  da  erst  Urtheile 
von  Mathematikern  über  Herakleides    gelautet    haben,    wenn    die- 
selben dessen  Lehren  nur  aus  solchen  secundären  Quellen  kannten. 
Lst  also  auch   wahrscheinlich   jenes  xtc   nicht    auf    Geminos    selbst 
zurückzuführen,  so  ist  es  doch  nichts  weniger  als  undenkbar,  dass 
in  der  Reihe  der  Ueberlieferer  unserer  Stelle    einer    sich    für    be- 
rechtigt hielt,  jenes  -tc  beizusetzen,  seiner  Würdigung  des  Hera- 
kleides damit  Ausdruck  gebend.     x\uch  das  za[i£Xf)cL)v,  als  Terminus 
technicus    für    ein  öffentliches  Auftreten    vor    einer  Versammlung, 
fällt  im  Zusammenhange   unserer  Stelle  sprachlich   auf.     Behalten 
wir  aber  im  Auge,  dass  es   sich   bei   den  Worten  des  Herakleides 
augenscheinlich   um   ein  wörtliches  Citat  des  Geminos  handelt,  so 
ist  die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen,  dass  die  Verwendung  des 
W'ortes    7rap£Xi)u)v    im   Zusammenhang    des    ganzen    Citats    in    der 
Quelle,  aus  welcher  Geminos  schöpft,  ihre  Motivirung  fand.     Fasse 
ich  das  alles  zusammen,    so    komme  ich  zu    dem  Schlüsse,    dass, 


Herakleides  Pontikos  und  das  heliokentrische  System.  159 

wenn  die  Worte  Tr^fisXöcuv  tu  auch  zu  mancherlei  Bedenken  Ver- 
anlassung geben,  denselben  dennoch  kein  Grund  entnommen  werden 
kann,  der  uns  berechtigen  würde,  unsere  Stelle  unbedingt  für 
corrumpirt  zu  erklären.  Ehe  ich  jedoch  in  der  weiteren  Behand- 
lung unserer  Stelle  fortfahre,  muss  ich  auf  eine  zweite  Lesart  der- 
selben zu  sprechen  kommen. 

Bieten  auch  die  besten  Codices  den  bisher  unserer  Betrachtung 
zu  Grunde  gelegten  Wortlaut"),  so  hat  doch  ausser  den  von  Aldus 
und  Brandis  besorgten  Drucken")  auch  eine  Handschrift"*')  der 
Ambrosiana  das  W^ort  eXsysv  hinter  dem  Worte  FIov-ixo?  eingefügt. 
In  dieser  Fassung  könnte  die  Stelle  zunächst  auf  doppelte  Weise 
interpunktirt  werden.  Entweder:  „810  xal  TrctpsX&oiv  vk  cp-/icttv 
'HpoixXsio-/jc  6  Ilov-izo?  sA=7sv,  oti  xtX."  (Deshalb  ist  auch  Jemand 
aufgetreten  und  sagt:  Herakleides  Pontikos  hat  behauptet,  dass  etc.) 
oder:  „oiö  xotl  r.y.rjsl^o}V  ii'Z,  cp-zjatv  'HpctxXstorj;  6  flovrixoc,  iXs-j-sv 
o-t  x-X."  (Deshalb  ist  auch  Jemand  aufgetreten,  berichtet  Hera- 
kleides Pontikos,  und  sagte,  dass  etc.).  Nach  der  ersten  Auf- 
fassung") wäre  wiederum  Herakleides  Pontikos  der  Urheber  des 
heliokentrischen  Systems;  dagegen  liegt  bei  der  zweiten  Art  der 
Zeichensetzung  die  Sache  anders,  hier  referirt  Herakleides  Pontikos 
nur  über  eine  Hypothese  eines  Andern,  und  eben  diese  zweite 
Art  der  Zeichensetzung  bieten  die  Drucke  von  Aldus  und  Brandis. 
Aber  selbst  von  der  Lesart  der  Aldina  ausgehend  ist  Böckh'^), 
der  eben  nur  diese  Lesart  kannte,  zu  dem  Resultat  gekommen: 
„der  Jemand  ist  Herakleides  selber."  Im  Gegensatze  zu  Böckh 
glaubte  Bergk^*)  die  Stelle  nicht  so  hinnehmen  zu  können,  wie 
die    Aldina    dieselbe     bot,     er    liest:     „816    xal    TipocXöcuv    cp-/jaiv- 


*•■')  Vergl.  eben  die  kritische  Ausgabe  von  Diels. 

'*■')  Vergl.:  Simplicii  commentarii  in  octo  Aristotelis  physicae  auscultationis 
libros  Venetiis  in  aedibus  Aldi,  152G,  fol.  (j5,  r:  und  Scholia  in  Aristotelem 
graeca  coli.  Brandis,  pag.  348. 

*'=)  Vergl.:  Schiaparelli,  die  Vorläufer  des  Gopernicus  im  Alterthum, 
deutsch  von  Curtze,  Leipzig  1876,  pag.  68. 

*^)  Doch  muss  zugegeben  werden,  dass  sprachlich  unbedingt  die  Inter- 
punction  der  Aldina  vorzuziehen  wäre. 

■•0  Vergl.:  Böckh,  Untersuchungen,  pag.  133 — 141. 

*>*)  Vergl.:  Bergk,  fünf  Abhandlungen,  pag.  150. 


160  rr.  Staigmüller, 

'HpotxXeiSr^s  6  llovxixö?  iXe^sv,  ort  -/-/l."  und  schreibt  dazu:  „Alexander 
theilt  nur  auszugsweise  die  Ansichten  des  Geminos  mit,  oio  X7t 
TrposXötuv  cp-/]ai  sind  Worte  Alexanders,  mit  denen  er  ein  neues 
Excerpt  aus  Geminos  einleitet;  folglich  liegt  kein  direktes  Citat 
aus  einer  Schrift  des  Ilerakleides  vor,  sondern  '[Ip^xXsio'/)?  6  FIoviixoc 
eXs^sv  xiX.  ist  eine  Bemerkung  des  Geminos,  welche  Alexander 
wortgetreu  mitthcilt.  Denn  TiposXöwv  ist  der  gewöhnliche  Ausdruck, 
wenn  man  eine  Schrift  wörtlich  excerpirt  und  Einzelnes  übergeht." 

Obgleich  also  nach  der  Lesart  der  Aldina  Ilerakleides  Pontikos 
nicht  als  der  Urheber  des  heliokentrischen  Systems  erscheint,  so 
führten  dennoch  sowohl  Böckhs  Interpretation  der  unveränderten 
Stelle  als  auch  Bergks  geistreiche  Conjectur")  zu  dem  gerade 
entgegengesetzten  Endergebniss.  Doch  darf  uns  dies  nicht  allzusehr 
wundern.  Ist  es  überhaupt  denkbar,  dass  Geminos  jene  Andeutung 
des  heliokentrischen  Systems  nicht  mit  dem  Namen  seines  Ur- 
hebers, sondern  mit  dem  mehr  als  gleichgültigen  Namen  eines 
blossen  Referenten  verknüpft  hätte?  Da  müsste  unbedingt  ein 
Doppeltes  angenommen  werden:  Erstens,  dass  Geminos  den  Namen 
jenes  Urhebers  selbst  nicht  kannte,  sondern  in  Betreff  der  ganzen 
Frage  einzig  und  allein  auf  den  citirten  Bericht  des  Herakleides 
Pontikos  angewiesen  gewesen  wäre,  und  zweitens,  dass  Herakleides 
Pontikos  bei  diesem  Berichte,  über  eine  von  ihm  augenscheinlich 
als  wichtig  erkannte  Theorie,  da  wo  er  ausdrücklich  auf  den  Ur- 
heber desselben  zu  sprechen  kommt,  sich  mit  einem  blossen  xi? 
begnügt  hätte ^'').  Wahrlich  zwei  Annahmen,  von  denen  jede  an 
und   für  sich  schon  höchst  unwahrscheinlich  ist;   wie  viel  unwahr- 


■")  Schiaparelli  weist  ebenfalls  auf  einige  Möglichkeiten,  die  Stelle  anders 
zu  eraendiren,  hin:  In  TrapeXl^cbv  könnte  etwa  der  Name  des  Autors  des  helio- 
kentrischen Systems  oder  eine  Bezeichnung  für  eine  bestimmte  Klasse  von 
SIen.scheu  (z.  B.  in  der  Form  Tcxp  /)p.Iv  oder  tcüv  TruSayopr/üiv)  verstümmelt 
vorliegen;  auch  die  Ersetzung  der  Worte  TtccpeXOtov  Tt?  durch  llXatcuv,  w; 
regt  Schiaparelli  an.     Vergl.r  Schiaparelli,  Origirie,  pag.  87. 

"•")  Die  abenteuerliche  Interpretation  unserer  Stelle  durch  Gruppe,  welcher 
in  der  eigenthümlichen  Fassung  derselben  Absichten  wittert  (Vergl.:  Gruppe, 
die  kosmischen  Systeme  der  Griechen,  Berlin  1851,  pag.  134 — 135)  wurde 
schon  von  Höckh  gebührend  zurückgewiesen.  (Vergl.:  Böckh,  Untersuchungen, 
pag.  133—141.) 


Herakleides  Pontlkos  und  das  heliokentrische  System.  Ißl 

scheinlicher  ist  dann  erst  eine   Annahme,   welche  diese  beiden  zu 
ihrer  Voraussetzung  hat. 

Schon  um  solcher  Gründe  willen  miissten  wir  die  Lesart  der 
Aldina,  will  man  dieselbe  nicht  interpretiren  wie  Böckh,  sowie 
jede  Conjectur  zu  derselben,  die  Herakleides  zum  blossen  Refe- 
renten der  Theorie  eines  nicht  näher  bezeichneten  „xt?"  macht, 
zurückweisen,  wenn  überhaupt  nicht  schon  in  einem  Falle  wie  dem 
unserigen  in  allererster  Linie  unbedingt  die  von  den  besten  Codices 
einstimmig  überlieferte  Lesart  allen  weiteren  Folgerungen  zu  Grunde 
gelegt  werden  müsste.  Wir  kehren  deshalb  zu  unserer  alten  Les- 
art zurück,  nachdem  noch  der  Vermuthung  Ausdruck  gegeben  sein 
soll,  dass  vielleicht  die  nicht  wegzuleugnende  Härte  in  der  Con- 
structiou  von  cp-/jaiv  mit  oxi  zur  Einschiebung  des  eXz'itv  Veranlassung 
v^ar. 

Wir  haben  oben  die  Schwierigkeiten  zu  lösen  versucht,  welche 
in  den  Worten  TrapsXöwv  xi;  liegen,  nichts  desto  weniger  muss  zu- 
gegeben werden,  dass  diese  Worte  eigentlich  so  recht  zu  Con- 
jecturen  herausfordern.  Bei  der  Werthung  solcher  Conjectureu 
müssen  wir  von  den  folgenden  Gesichtspunkten  ausgehen.  Die 
Stelle  giebt,  so  wie  sie  in  den  besten  Codices  vorliegt,  einen  guten 
Sinn:  Herakleides  Pontikos  bezeichnete  auch  das  heliokentrische 
System  als  eine  zur  Darstellung  der  Planetenbewegungen  brauch- 
bare Hypothese.  Gegen  einen  Versuch  der  Aenderung  unserer 
Lesart,  wodurch  zugleich  eine  Aenderung  dieses  Sinns  bedingt 
würde,  ist  deshalb  äusserste  Vorsicht  geboten;  dagegen  brauchen 
wir  für  unsere  Zwecke  auf  eine  Werthung  solcher  Conjectureu, 
welche  jenen  Sinn  unberührt  lassen,  nicht  näher  einzugehen. 
Thatsächlich  liegt  allerdings  für  unsere  Lesart  kein  Vorschlag  zur 
Abänderung  vor,  der  in  gleicher  AVeise  Anspruch  auf  Berück- 
sichtigung erheben  würde,  wie  die  „kritische  Nachhülfe",  welche 
Bergk  der  Lesart  der  Aldina  angedeihen  Hess.  Dagegen  fehlt  es 
nicht  an  einzelnen  Winken,  in  welcher  Richtung  etwa  vorgegangen 
werden    könnte  ^^),    doch    würden    diese   Winke    alle    zu    Lesarten 


•''')  Schlaparelli  berührt  die  Mögllchkeiteu,  dass  in  TrapsX&wv  xis  der  Titel 
derjenigen  herakleidischen  Schrift  verborgen  liege,  aus  welcher  Geininos  sein 


162  n.  Staigmüller, 

führen,  welche  den  Sinn  unserer  Stelle  nicht  alterirten;  ein  Er- 
gebniss,  das,  wie  gesagt,  nicht  anders  zu  erwarten  ist.  So  lange  in 
unserem  Citate  Herakleides  Pontikos  in  direkte  Beziehung  zum 
heliokentrischen  System  gebracht  wird,  ist  eigentlich  nicht  abzu- 
sehen, welche  andere  Beziehung  sinngemäss  dies  sein  könnte,  als 
die  Beziehung  des  Autors  zu  seiner  Lehre.  Es  ist  deshalb  nur 
noch  eine  Möglichkeit  eines  kritischen  Eingrifts  in  unsere  Stelle 
ins  Auge  zu  fassen,  nämlich  der  Versuch,  die  Schwierigkeiten  da- 
durch lösen  zu  wollen,  dass  die  Worte  „'Hfic/xXstSyj;  6  lloviixos" 
für  eine  spätere  Glosse  erklärt  werden. 

Diesen  Weg  schlägt  in  der  That  Tannery  ein  ^^y,  derselbe 
schreibt:  «  Or,  il  saute  aux  yeux  que,  si  le  texte  primitif  portait 
simplement:  .,Aih  xotl  TtotpsXöwv  xi?  'fr^stv  oxi,  •/.-.  e.,  un  glossateur 
a  pu  noter  en  raarge,  comme  explication  de  xi?,  le  nom  d'Heraclide 
du  Pont,  qui  sera  ensuite  naturellement  passe  dans  le  texte.  — 
La  suppression  de  ce  nom  remet  tout  en  ordre  ».  Um  diese  Be- 
hauptung zu  erweisen,  giebt  Tannery  unsere  Stelle  in  ihrem  ganzen 
Zusammenhange  wieder,  und  übersetzt  sie  dabei  folgendermassen 
«  Aussi  on  viendra  meme  dire  qu'en  supposant,  dans  certaines 
conditions,  la  terre  mobile  et  le  solcil  immobile,  on  peut  rendre 
compte  de  Panomalie  solaire ».  Hierzu  bemerkt  dann  Tannery 
noch:  «  L'expression  oih  xcd  TrotfisXOtov  xt?  (p'/jaiv  cadre  tout  natu- 
rellement, comme  on  le  voit,  avec  le  developpement  du  sujet  ». 
Allerdings  in  dieser  Uebersetzung  klappt  alles,  doch  gilt  dasselbe 
keineswegs  vom  griechischen  Texte  selbst.  „Aio  xctl  TraosXilouv  xi; 
cpr^aiv  heisst  eben:  „deshalb  ist  auch  einer  aufgetreten  und  sagt." 
HapcXO(üv  ist  und  bleibt  ein  Terminus  technicus  für  ein  öftent- 
liches  Auftreten  in  irgend  einer  Versammlung  etc.,  und  jede  Ueber- 
setzung, welche  das  xt?  mit  dem  unpersönlichen  „man"  wiedergiebt, 
verschleiert  deshalb  nur  die  Schwierigkeit,  welche  in  der  Wahl 
jenes  Wortes  liegt,  löst  dieselbe  aber  nicht.  Und  dann  erheben 
sich    bei  Tannerys    Vorschlag    zum   Theil   jene   Bedenken    wieder, 


Citat  entnimmt,  oder  dass  jene  Worte  ursprünglich  irgend  eine  nähere  Be- 
zeichnung cntliielten,  d.  h.  etwa  z.  B.  irepi  toökuv  gelautet  hätten.  (Vergl. 
Schiaparelli,  Origine  pag.  88.) 

")  Vergl.:   Tannery,   Sur  Heraclide   du  Pont,  Revue  des  etudes  grecques 
1890,  pag.  305— 311. 


Herakleides  Poutikos  und  das  heliokentrische  System.  163 

welchen  ich  oben  Ausdruck  verlieh,  als  es  sich  um  die  Zurück- 
weisung jener  Lesart  handelte,  welche  das  heliokentrische  System 
einem  nicht  näher  bestimmten  xi?  zuschrieb.  Wenn  Geminos, 
nachdem  er  die  bekannten  astronomischen  Hypothesen  aufgezählt 
hat,  nun  auch  noch  eine  letzte,  fernliegende,  von  keinem  der 
grossen  beobachtenden  Astronomen  recipirte  Hypothese  —  von  der 
er  sich  sagen  muss,  dass  sie  den  meisten  seiner  Leser  neu  sei,  ja 
gerade  zu  paradox  klingen  müsse  —  mit  ein  paar  Worten  ein- 
führen will,  so  können  diese  Worte  nimmermehr  gelautet  haben:  „Alo 
xai  TTotpeXOtuv  xi'?  '-pr^aiv",  hier  musste  unbedingt  gleichsam  als  Ge- 
währsmann diejenige  Person  genannt  werden,  welche  „auftrat  und 
sagte".  Die  mit  Recht  oder  Unrecht  vermuthete  Corruption  unserer 
Stelle  wäre  in  erster  Linie  in  den  Worten  -ctoE/.Öcuv  tu  zu  suchen. 
Die  Streichung  der  Worte  'Hpcc/Xstor^:  6  Ilovrixoc  hebt  die  Schwierig- 
keiten unserer  Stelle  nicht  nur  nicht,  sondern  vermehrt  dieselben 
eher  noch;  ungleich  weiter  würde  man  daunbedingt  mit  der  oben 
ins  Auge  gefassten  Wiederausmerzung  des  tu  kommen.  Und  zu 
allem  hin  werden  wir  sogleich  sehen,  dass  bei  Tannery  eben  auch 
die  Probe  auf  das  Exempel  nicht  stimmen  will:  Tannery  ist  doch 
verpflichtet  plausibel  zu  machen,  warum  der  Glossator  gerade  den 
Namen  des  Herakleides  Pontikos  zur  Erklärung  des  tt?  beifügte. 

«  Comment  douc  la  glosse  erronee  a-t-elle  pu  sintroduire?  » 
Diese  Frage  beantwortet  Tannery  mit  den  Worten:  «  Un  annotateur 
du  11^  ou  du  KF  siecle  de  notre  ere,  ä  une  epoque  oü  Heraclide 
du  Pont  etait  suffisamment  connu  par  les  doxographes  comme 
ayant  attribue  un  mouvement  ä  la  terre,  a  tres  bien  pu,  sur  les 
mots  zivouasv/p  -(oc  tTjC  -r,?,  penser  immediatement  ä  Heraclide 
plutot  qu'a  Aristarque,  et  ecrire  le  nom  du  premier,  sans  faire 
attention  a  la  suite  du  contexte  ».  Dabei  geht  Tannery  von  der 
Voraussetzung  aus:  «  Sur  ce  point  (d.  h.  über  die  Urheberschaft 
des  heliokentrischen  Systems),  tous  les  temoignages  de  l'antiquite 
sont  d'accord:  l'invention  du  Systeme  heliocentrique  est  unanimement 
attribuee,  non  ä  Heraclide  du  Pont,  mais  a  Aristarque  de  Samos  ». 
Ja  warum  setzte  dann  der  unglückliche  Glossator  nicht  den  Namen 
des  Aristarch  ein?  Darf  man  in  diesem  Glossator  wirklich  einen 
Menschen  suchen,  der  durch  die  Worte  xivoup-svr^s  -tue:  tr,?  7t,c,  ich 


164  H.  Staigmüller, 

möchte  fast  sagen,  so  hypnotisirt  ist,  dass  ihm  die  fünf  unmittel- 
bar folgenden,  sogar  mit  xou  os  eingeleiteten  Worte  überhaupt 
nicht  mehr  zum  Bewusstsein  kommen?  Und  dies  selbst  voraus- 
gesetzt, warum  grill'  er  dann  gerade  den  Namen  des  Herakleides 
Pontikos  heraus?  Aus  denselben  Doxographen,  aus  welchen  ihn 
Tannery  diesen  Namen  schöpfen  lässt,  hätte  er  mit  ganz  dem 
gleichen  Rechte  noch  eine  Reihe  anderer  Namen  entnehmen  können. 
Müsste  diese  Möglichkeit  ihn  nicht  unbedingt  veranlasst  haben, 
sich  die  Stelle  doch  etwas  genauer  anzusehen?  und  dann  — ? 

Wir  sehen  also,  die  Aufstellung  Tannerys  ist  in  ihren  beiden 
Theilen  — :  in  der  Behauptung,  dass  die  Streichung  der  Worte 
HpaxXsßy]?  6  riovTixos  die  Schwierigkeiten  unserer  Stelle  löse,  und 
in  dem  Versuche,  plausibel  zu  machen,  wie  jener  Name  dann 
später  herein  kam  —  unhaltbar  und  damit  ist  auch  die  letzte 
Möglichkeit  geschwunden,  aus  unserer  Stelle  etw-as  anderes  heraus- 
lesen zu  wollen,  als  was  nun  eben  einmal,  sowie  sie  vorliegt,  in 
ihr  steht. 

Gestützt  auf  die  Autorität  des  Geminos  dürfen  wir  es  damit 
als  eine  wohlverbürgte  Thatsache  betrachten,  dass  Herakleides 
Pontikos  die  Möglichkeit  aussprach,  die  Bewegiingserscheinungen 
der  Planeten  durch  ein  System  mit  ruhender  Sonne  und  bewegter 
Erde  zu  retten. 

Doch  wir  sind  zur  Beantwortung  der  Frage  nach  dem  Urheber 
des  heliokentrischen  Systems  keineswegs  auf  die  zuletzt  besprochene 
Stelle  einzig  und  aliein  angewiesen,  haben  wir  doch  vorher  zwei 
andere  Stellen  kennen  gelernt,  von  denen  jede  für  sich  allein 
schon  uns  zu  einem  ganz  analogen  Resultat  führte.  Fasse  ich  das 
alles  zusammen,  so  glaube  ich  —  soweit  hierbei  überhaupt  von 
„Beweis"  gesprochen  werden  kann  —  mit  vorliegender  Arbeit  den 
Beweis  dafür  erbracht  zu  haben,  dass  Herakleides  Pontikos  das 
heliokentrische  System  aufstellte,  und  zwar  „aufstellte  als  Astronom", 
d.  h.  dass  er  in  demselben  eine  neben  andern  gleichberechtigte 
Hypothese  sah,  durch  welche  „die  Bewegungserscheinungen  der 
Wandelsterne  vermittelst  gleichförmiger  und  im  Kreise  sich  voll- 
ziehender geordneter  Bewegungen  gerettet  werden  können". 

Wollen  wir  zum  Schlüsse  kurz  noch  auf  eine  Würdigung  der 


Herakleides  Pontikos  und  das  heliokentrische  System.  165 

Verdienste  des  so  oft  und  so  viel  verkannten  Forschers  Herakleides 
Pontikos  um  die  gesammte  Astronomie  eingehen,  so  kann  zunächst 
nicht  eindringlich  genug  auf  die  hohe  Bedeutung  hingewiesen 
werden,  welche  schon  der  Aufstellung  des  tychonischen  Systems 
zukommt:  In  diesem  System  haben  wir  den  Keimling,  aus  dem 
sich  jene  Lehren  von  den  Epikykeln  und  beweglichen  Ekkentern 
entwickelten,  welche  die  ganze  antike  Astronomie  beherrschten,  und 
dieses  System  bildete  zugleich  die  notwendige  Vorstufe  für  jenes 
andere  System,  dessen  Wiederaufstellung  die  neuere  Astronomie 
nicht  bloss  äusserlich  einleitete,  sondern  auch  innerlich  in  ihrem 
ganzen  Wesen  bestimmte.  Fanden  wir  in  vorliegender  Arbeit  dazu 
noch,  dass  auch  den  Schritt  zum  coppernicanischen  Weltsystem 
Herakleides  Pontikos  selbst  schon  vollzog,  so  dürfen  w'ir,  ohne 
Widerspruch  gewärtigen  zu  müssen,  Herakleides  Pontikos  den 
glücklichsten  Forscher  auf  dem  ganzen  Gebiet  der  Astronomie 
nennen,  ja  wir  würden  der  Bedeutung  dieses  Mannes  nicht  völlig 
gerecht,  wollten  wir  dabei  in  dem  Worte  Glück  einen  Gegensatz 
zu  dem  Worte  Verdienst  erblicken. 


VII. 

Voltaire  und  die  bernische  Censur 

Von 
Prof.  Dr.  Haag  iu  Bern. 


Verzeichniss  der  Abkürzungen: 

Bg.  =  Voltaire,    Bibliographie    de     ses    ceiivrcs    par    Georges    Bengesco. 

1882—1890. 

Seh.  R.  M.  =  Schulratsmanual  im  Bernischen  Staatsarchiv. 

P.  B.  =  Polizeibuch  „  _  „ 

M.  B.  =  Mandatenbuch  „  „  „ 

R.  M.  =  Rat.smanual  «  „  .. 

('.  M.  =  Censurmanual  „  „  „ 


Im  Januar  1781  erschien  der  Prospectus  der  Ausgabe  sämmt- 
licher  Schriften  Voltaire's,  welche  Beaumarchais  auf  Grund  eines 
Privilegiums  des  Markgrafen  von  Baden  vom  18.  December  1780 
in  Kehl  vorbereitete^),  der  sog.  Kehlerausgabe,  der  Grundlage 
aller  modernen  Ausgaben  des  grossen  frauzösisclien  Schriftstellers. 
Nach  diesem  Prospectus  sollten  den  Subscribenten  die  Werke 
Voltaire's  in  60  Octav-  oder  40  Quartbänden  zu  Ende  des  Jahres  1782 
abgeliefert  werden.  Wegen  der  grossen  Schwierigkeiten  aber, 
welche  Beaumarchais  zu  überwinden  hatte,  konnte  erst  zu  Anfang 
des  Jahres  1785  der  erste  Theil  der  versprochenen  Bände  dem 
Publikum  abgegeben  werden'). 

1)  Bg.  t.  IV,  p.  114  f. 
•-')  Bg.  t.  IV,  p.  118. 


Voltaire  und  die  bernische  Censur.  Iß7 

Inzwischen  traf  die  neue  typographische  Gesellschaft  in 
Bern  Vorbereitungen  zu  einem  Naclitlrucke  der  Kehlerausgabe 
und  lud  im  October  1783  ohne  vorangegangene  Anzeige  an  die 
Censurbehörde  durch  die  im  Land  erscheinenden  Zeitungen  das 
Publikum  zur  Subscription  auf  denselben  ein;  ihre  Directoren 
setzten  voraus,  dass  sie  sich  der  gleichen  hochobrigkeitlichen  Gunst 
zu  erfreuen  hätten,  die  der  Buchdrucker  Fran^ois  Grasset  in 
Lausanne  bei  seiner  Herausgabe  der  Voltaire'schen  Werke  vom 
Jahre  1770  u.  ff.  genossen  hatte. 

Aber  das  Auge  des  Gesetzes  wacht!  In  der  Sitzung  des  Schul- 
rates vom  31.  October  1783  that  der  Professor  theologiae  Joh. 
Stapf  er  in  seiner  Eigenschaft  als  Censor  der  geistlichen  Bücheren 
den  Anzug:  ^) 

„Da  etwa  vor  10  Jahren  2  Werk  er  des  H.  von  Voltaire, 
als  die  Pucelle  d'Orleans  und  dessen  Dictionaire  Phil:  aus  Be- 
fehl der  hohen  Regierung  durch  den  Scharfrichter  verbrant 
worden,  u.  d  dessen  sämtliche  übrige  Schriften,  welche  die  Re- 
ligion ansehen,  bey  hoher  Straf  verbotten  worden,  die  hiesige 
Typographische  Gesellschaft  aber  dem  uhngeacht  den  Druck 
einer  neuen  Auflag  sämtlicher  Schriften  von  Hh.  von  Voltaire 
zur  Subscription  publicieren  lassen,  so  sehe  er  sich  in  folg  auf- 
habender Pflicht  gemiissigt,  diese  Publication  zu  ahnden;  anbey 
Mnhghh.*)  anheimstellend  was  Sie  bey  so  bewandten  Umstand 
zu  verfügen  am  dienlichsten  finden  werden." 

Prüfen  wir  diese  Worte  des  gelehrten  Censors  und  Gottes- 
mannes auf  ihre  historische  Wahrheit! 

Den  5.  Februar  1759  beantragte  der  Schulrat  der  Regierung 
die  von  den  Buchhändlern  und  Bücherausleiherr.  der  Stadt  zum 
Verkauf  und  zum  Lesen  angebotene  neue  Edition  der  Pucelle 
d'Orleans,  die  „das  aüsserste  enthalte,  was  in  ünreinigkeit 
und  Spötterei  könne  ausgedacht  werden",  zu  verbieten  ■').  Gemeint 
ist  oftenbar    die   Londoner  Ausgabe    der  Pucelle    vom  Jahre  1758, 


3)  Seh.  R.  M.  XIV,  p.  10. 

*)  D.  h.  den  Mitgliedern  des  Schulrats. 

')  Seh.  R.  M.  IX,  p.  132  ff. 


168  Haag, 

ein  Nachdruck  derjenigen  vom  Jahre  1756'')^).  Die  Regierung  ge- 
nehmigte den  Antrag  des  Schulrates  und  beschloss  nach  einem 
weitern  Antrag  desselben  eine  Revision   der  Censurordnung,  damit 


«)  Rg.  1. 1,  p.  130. 

^  Dass  Voltaire  auch  in  Bern  ein  beliebter  Schriftsteller  geworden  war, 
für  den  Manche  förmlich  schwärmten,  kann  schon  aus  dem  Umstand  ersehen 
werden,  dass  der  in  Bern  wohnende  Medailleur  Joh.  Melchior  Mörikofer 
von  Frauenfeld  im  Jahre  1757  eine  Voltaire-Medaille  verfertigte  und  in  Silber, 
Kupfer  und  Zinn  zum  Verkauf  ausbot.  Die  eine  Seite  zeigte  das  Bildniss 
Voltaire's;  auf  dem  Avers  sind  dessen  Verdienste  um  die  Geschichte,  die 
epische  und  dramatische  Poesie  dargestellt  durch  eine  Leier  auf  offenem 
Buch,  unter  der  man  eine  Maske  und  einen  Dolch  erblickt,  dahinter  eine 
Trompete,  alles  mit  einem  Lorbeerkranz  malerisch  durcbschlungen.  Kenner 
lobten  das  wohlgetroffene  Bildniss  des  „sinnreichen"  Mannes,  wie  man  aus 
Bern  den  in  Zürich  herauskommenden  „Monatlichen  Nachrichten"  (p.  75  des 
betr.  Jahrgangs)  schrieb,  und  fanden,  dass  die  Voltaire-Medaille  noch  einen 
grossem  Grad  der  Vollkommenheit  zeige,  als  die  Haller-Medaille  desselben 
Meisters. 

Der  bernische  Schulrat  nahm  also,  wie  seinem  Schreiben  v.  5.  Febr.  1759 
zu  entnehmen  ist,  namentlich  Austoss  an  der  neuen  Ausgabe  der  Pucelle 
vom  Jahre  1756  und  in  der  That  muss  man  ihm  zustimmen,  wenn  er  sagte, 
dass  dieselbe  das  äusserste  enthalte,  was  in  Unreinheit  und  Spötterei  könne 
ausgedacht  werden.  Eine  Vergleichung  der  editio  princeps  mit  der  neuen 
Edition  lehrt  uns,  dass  der  Schulrat  vor  allem  den  Schluss  des  18.  Gesanges 
der  letztern  im  Auge  hatte,  in  welchem  das  Abenteuer  der  bis  auhin  keuschen 
Johanna  mit  dem  sie  liebenden  Esel,  das  im  14.  Gesang  der  ersten  Ausgabe 
durch  die  Dazwischenkunft  Dunois'  beendigt  wird,  bevor  das  dem  Himmel  ent- 
stammende edle  Thier  Erhörung  seiner  kühnen  Wünsche  fand,  weiter  ge- 
führt wird. 

Mais  ce  bei  äne  est  un  amant  Celeste 

(sagt  die  Heldin  in  der  neuen  Ausgabe  zu  sich  selber,  von  den  ein- 
schmeichelnden Worten  des  neben  ihr  knieenden  geflügelten  Wesens  bereits 
bethört). 

II  n'est  heros  si  brillant  et  si  leste; 

Nul  n'est  plus  tendre  et  nul  n'a  plus  d'esprit, 

II  eut  l'honneur  de  porter  Jesus  Christ; 

II  est  venu  des  plaines  eternelles; 

D'un  seraphin  ii  a  Fair  et  les  ailes; 

II  n'est  point  lä  de  bestialite; 

C'est  bien  plutöt  de  la  divinite. 

L'äne  est  pressant,  et  la  belle  agitee 

Ne  peut  tenir,  daus  son  emotion, 

Le  gouvernail  que  l'on  nomme  raison. 


Voltaire  und  die  bernische  Censur.  1G9 

das  Uebel  der  Verbreitung  schlechter  Bücher  vollständig  ausgerottet 
werde.  Bis  dahin  hatten  die  Buchhändler  ihre  Bücher,  die  sie 
auf  Lager  hielten,  nur  dann  visitiren  lassen  müssen,  wenn  mau  es 
von  ihnen  verlangte,  d.  h.  die  zwei  Censoren  veranstalteten  von 
Zeit  zu  Zeit  die  sog.  Ordiuarj-Yisitation,  nun  bestimmte  aber 
die  Regierung  „nach  dem  Exempel  anderer  wohl  policierten 
Staaten" '), 

„1)  dass"  —  mit  Beibehaltung  der  Ordiuarj -Visitation  — 
„allen  Buchhändlereu  in  dero  Landen  verbotten  werde,  kein 
Neüwes  Buch  zu  verkauften,  es  seye  dann  solches  vorher  von 
denen  bestellten  Censoren   examiniert  und  aprobiert  worden. 

„2.  Dass  selbige  den  bestehen  Herren  Censoren  fürderlich 
von  denen  habenden   Bücheren   einen  Catalogum  übergeben,  um 


Und  nun  folgt  die  Schilderung  des  Begattungsactes  in  einer  cynisch- 
roheu  Weise,  wie  man  sie  wohl  nirgends  mehr  findet.  ^Yahrlich,  über  solche 
Verirrung  der  Phantasie,  wie  sie  der  gottbegnadete  Dichter  hier  zeigt,  der  ja 
auch  in  diesem  Gedicht  an  vielen  Stellen  aus  dem  Füllhorn  seiner  Poesie 
die  schönsten  Blüten  ausschüttet,  ist  kein  Urtheil  zu  schroff.  In  der  folgenden 
Ausgabe  17G2  in  20  Gesängen,  die  gegen  die  früheren  viele  Veränderungen 
und  Erweiterungen  zeigt,  jedoch  in  manchen  Stücken  wieder  auf  die  erste 
zurückgeht,  ist  diese  ganze  hässliche  Scene  zur  grossen  Genugthuung  des 
Lesers  wieder  weggelassen. 

Ferner  wird  der  bernische  Schulrat  noch  besonderen  Anstoss  genommen 
haben  an  folgender  Episode  der  Ausgabe  von  1756,  welche  in  der  ersten 
Edition  sich  noch  nicht  findet  und  in  derjenigen  von  1762  ebenfalls  wieder 
fallen  gelassen  ist.  Voltaire  führt  uns  da  in  die  Unterwelt,  wo  Prälaten  und 
Mönche,  Kirchenlehrer  und  Prädikauten  ewige  Strafe  verbüssen.  Unter  ihnen 
sieht  man  auch  den  Genfer  Calvin  in  einem  grossen,  glühenden  Kessel: 

ä  son  regard  farouche,  atrabilaire 

On  connoissoit  de  l'orgueilleux  sectaire 

Le  mauvais  coeur,  l'esprit  intolerant, 

L'ame  jalouse  et  digue  d'un  tyran. 

Tout  en  cuisant,  il  sembloit  etre  encore 

Dans  sa  cite,  qu'un  galant  homme  abhorre. 

Et  que  redoute  un  esprit  degage 

Des  contes  vieux,  et  du  sot  prejuge, 

A  voir  rotir  Servet  le  grand  apotre. 

Die  evangelischeu  Orte    hatten    es  aber  gebilligt,    dass  nach  dem   Willen 
Calvin's  gegen  den  Ketzer  Servet    eingeschritten  werde,    also  war  die  Vision 
Voltaire's  selber  Ketzerei! 
*)  P.  B.  XIII,  p.  689 ff. 
Archiv  f.  Qeschicbte  d.  Fbilosopbie.     XV.  2.  12 


170  Haag, 

zu  wiissen,  ob  von  denen  darin  enthaltenen  Böcheren  nicht 
etwann  dergleichen  darunder  begrifen,  deren  \'crkauf  zu  ver- 
bieten. Massen  Sie  keine  andere  als  die  censiert,  oder  sonst 
bewilligten  Bücher  feil  halten  mögen. 

„3.  Endlichen  dass  solche   angehalten  werden,  dieserem  Ihr 

Gnaden   Will    nachzuleben    und    daharige  Befolgung    durch    ein 

Gelübt  an  Eidesstatt  Ihnen  Mnhwh.   zusagen   und  versprechen." 

Die  zuwiderhandelnden  Buchhändler  sollten  mit  der  Conliscation 

der  noch  vorhandenen  Exemplare  des  betr.  Buches  bestraft  werden 

und  einer  Busse  von  20  Thalern,   welche   zu  gleichen  Theilen   der 

Bernischen  Bibliothek,  den  Censoren  und  dem  „Verleider"  zufallen 

sollten. 

Den  Bestimmungen  dieses  Reglements  hatten  sich  auch  die 
fremden  Buchhändler,  welche  an  den  Jahrmärkten  Bücher  feil 
boten,  sowie  diejenigen,  welche  Bücher  zum  Lesen  ausliehen,  zu 
unterziehen.  Zu  gleicher  Zeit  wurde  zu  wirksamerer  Beaufsichtigung 
der  Buchläden  die  Zahl  der  Tensoren  verdoppelt;  von  nun  an 
amteten  in  der  Stadt  Bern  vier  Censoren,  zwei  für  die  geistlichen 
und  zwei  für  die  weltlichen  Bücher.  Alle  vier  waren  Mitglieder 
des  Oberen  Schulrates,  da  die  Censur  von  je  her  dieser  Behörde 
Überbunden  war;  die  Ernennung  der  Censoren  stand  dem  Schulrat 
selber  zu.  Die  Censoren  der  geistlichen  Bücher  waren  Professoren 
der  Academie,  die  dem  geistlichen  Stande  angehörten,  diejenigen 
der  weltlichen  Bücher  wurden  aus  dem  weltlichen  Stande  ge- 
wählt. Im  welschen  Cantonstheil  hatten  die  Curatoren  der  Academie 
zu  Lausanne  in  Verbindung  mit  der  dortigen  Academie  für  die 
Bekanntmachung  des  Ceusurreglements  zu  sorgen;  die  Bussen, 
welche  in  der  Waat  von  den  Zuwiderhandelnden  erhoben  wurden, 
sollten  zu  einem  Drittel  für  die  Lausanner  Bibliothek  verwendet 
werden. 

Von  den  zwei  Censoren,  welche  nach  der  neuen  Ordnung  zu 
den  zwei  alten  hinzugewählt  wurden  (den  21.  Februar  1759),  war 
der  eine  der  oben  genannte  Professor  Stapfer.  Den  6.  März  kam 
die  neue  Censurcommission  zur  constituirenden  Sitzung  zusammen 
und  vertheilte  unter  ihre  Mitglieder  die  fünf  Buchläden  der  Stadt 
Bern    zur    Visitation.      Die    Inhaber    derselben    waren    zu    dieser 


Voltaire  und  die  bemische  Censur.  ]^7| 

Sitzung  eingeladen;  es  stellten  sich  aber  nur  drei,  welchen  nun 
die  neue  Censurordnung  „abgelesen  und  intimirt  und  anbey  ein 
Geliibd  darüber  abgenommen  wurde"  ^).  Was  mit  den  zwei 
Sündern  geschah,  die  nicht  erschienen,  besagen  unsere  Quellen 
nicht '"). 

»)  Seh.  R.  M.  IX,  p.  205. 

1")  Der  Umstand,  dass  mit  der  Pucelle  d'Orleaus  zugleich  das  Buch  des 
Helvetius  de  l'Esprit  interdiciert  wurde,  weil  es  nach  der  Ansicht  des  Schul- 
rates „den  völligen  Materialismus  lehre  und  durch  den  kürzesten  Weg  zum 
Unglauben  und  zur  Freygeisterey  führe",  gab  Veranlassung  zu  einer  Anecdote, 
die  auch  Tillier  in  seiner  bernischeu  Geschichte  (V.  p.  248)  seinen  Lesern 
mittheilt.  „Schnell  hatte  man",  so  schreibt  er  „bei  ihrem  ersten  Erscheinen 
das  schmutzige  Gedicht  Voltaires  la  pucelle  d' Orleans  zu  unterdrücken  ge- 
sucht. Man  erzählt  sich,  dass  bei  dieser  Gelegenheit  der  mit  der  Nachforschung 
beauftragte  geistreiche  Bibliothekar  Sinner  von  Balaigues  dem  Aratsschult- 
heissen  folgenden  komischen  Bericht  abgestattet  habe:  «  Monseigneur,  maigre 
le  zele  que  j'ai  mis  ä  executer  vos  ordres,  mes  recherches  sont  reste[es]  in- 
fructueuses,  et  je  n'ai  trouve  dans  tonte  la  ville  ni  esprit  ni  pucelle  ». 

Nun,  es  kann  ja  sein,  dass  der  gelehrte  Sinner  von  Balaigues  in  Gesell- 
schaft den  Witz  machte,  dass  man  in  Bern  bei  allfälliger  Nachforschung  we- 
der esprit  noch  pucelle  finden  würde,  auf  jeden  Fall  ist  die  Form,  in  die 
man  dann  später  diesen  Witz  einkleidete,  schlecht  gewählt  und  zeugt  von 
vollständiger  Unkenntniss  der  Verhältnisse.  Durch  das  Edict  der  Reffieruno- 
vom  10.  Februar  1759  verbot  die  Regierung  den  Verkauf  der  in  Rede  stehenden 
zwei  Bücher  und  beauftragte  den  Schulrat  das  Verbot  durch  die  Zeitungen 
und  die  Amtleute  den  Buchhändlern  und  dem  Publikum  bekannt  zu  machen. 
Ein  Weiteres  aber  geschah  damals  nicht;  gar  keine  Rede  davon,  dass  irgend 
Jemand  beauftragt  worden  wäre,  die  Stadt  Bern,  beziehungsweise  deren  Bucli- 
läden  nach  den  verbotenen  zwei  Büchern  zu  untersuchen  und  dem  im  Amt 
stehenden  Schultheissen  Bericht  über  die  Untersuchung  abzustatten.  So  etwas 
geschah  erst  im  Jahre  1764,  da  es  sich  um  die  Verbrennung  des  Dictionuaire 
philosophique  von  Voltaire  handelte.  Und  wäre  wirklich  anno  1759  Jemand 
beauftragt  worden  bei  den  Buchhändlern,  Bücherausleihern  u.  s.  w.  den  noch 
vorhandenen  Exemplaren  nachzuspüren  und  sie  der  obersten  Behörde  auszu- 
liefern, so  wäre  nicht  der  Bibliothekar  der  Beauftragte  gewesen,  sondern  der 
Grossweibel  in  Verbindung  mit  dem  Rathausammann  und  dem  Gericbtsweibel. 
Zu  Anfang  des  Jahres  1759  aber  waren  diese  Aemter  folgendermaassen 
besetzt: 

Grossweibel:  Joh.  Rud.  Daxelhofer, 
Rathausammann:  Franz  Em.  v.  Bonstetten, 
Gerichtsschreiber:  Samuel  Haller. 
Nach  dem  von  uns  Mitgetheilteu  kann  des  Weiteren  ersehen  werden,  dass 
Tillier  fälschlich  sagt,    die  Pucelle    sei    bei  ihrem    ersten  Erscheinen    in  Bern 
verboten  worden;  es  geschah  erst  wenigstens  3  Jahre  nachher. 

12* 


172  TTaag:, 

Den  8.  Juli  1762  beantragte  der  Schulrat  der  Regierung, 
Rousseau's  Emile  auf  die  Liste  der  verbotenen  Bücher  zu  setzen"). 
Noch  in  derselben  Sitzung,  da  dies  geschah,  wurde  von  einem 
Mitglied  des  Schulrats  geahndet^''*),  „dass  auch  in  verschiedenen 
von  denen  Werken  des  Herrn  de  Voltaire  irrige  und  sonder- 
lieitlich  unserer  Christlichen  Religion  nachteilige  Gedanken  sich 
befinden,  und  dass  demnach  nötig  wäre  ein  Einsehen  zu  tun,  um 
zu  verhindern,  dass  dergleichen  Werke  nicht  je  mehr  und  mehr 
bekannt  wurden."  Diese  „Ahndung"  gab  Veranlassung  zu  einer 
Weisung  an  die  Censoren,  sie  sollten  die  bis  anhin  erschienenen 
Schriften  Voltaire's  „examinieren"  und  ihr  Befinden  sobald  möglich 
dem  Plenum  des  Sehulrats  mitteilen. 

Die  Herren  Censoren  hatten  es  aber  mit  diesem  Auftrag  nicht 
sehr  eilig;  sie  schwiegen  —  272  J^hre  lang,  sie  schwiegen,  bis  zu 
Ende  des  Jahres  1764  ein  neuer  Sturm  gegen  Voltaire  losbrach. 

1764  war  bekanntlich  die  erste  Ausgabe  des  Dictionnaire 
Philosopliique   von  Voltaire  erschienen;   den  2G.  September  dieses 

In  Bezug  auf  das  Verbot  von  Ilelvetius'  Werk  de  l'esprit  sei  liier  noch 
die  Bemerkung  angefügt,  dass  es  einen  heutzutage  dopiielt  schmerzen  muss, 
dass  der  orthodoxe  Unverstand  und  Uebereifer  auch  in  der  Republik  Bern 
darin  ein  den  Sitten  gefährliches  Buch  erblickte,  doppelt  schmerzen,  weil 
sein  Verfasser  in  der  Ueberzeugung,  dass  nur  in  der  Republik  die  wahre 
Tugend  gedeihen  könne,  seiner  überaus  wohlwollenden  Gesinnung  gegen  die 
Schweiz  unverhohlen  Ausdruck  giebt  und  die  naive  Meinung  vertritt,  in  diesem 
glücklichen  Lande,  an  dem  auch  jeder  Einzelne  ein  Vorbild  nehmen  könne, 
gebe  es  weder  Intriguen  noch  Verfolgungen.  Wahrscheinlich  hätte  er  im 
Jahre  1759  folgende  Worte  nicht  mehr  geschrieben  (de  l'Esprit,  III,  p.  157 
in   der   Pariser  Ausgabe  vom  Jahre  1758,  b.  Durand): 

«  Le  bonheur  u'est  point  Tappanage  des  grandes  places;  il  (K'pend 
uniqueraent  de  l'accord  heureux  de  notre  caractere  avec  l\'tat  et  les  circon- 
stances  dans  lesquelles  la  fortune  nuus  place.  II  en  est  des  homraes  comme 
des  Malions;  les  plus  heureures  ne  sont  pas  toujours  Celles  qui  joiient  le  plus 
grand  rüle  dans  Tunivers.  Quelle  Nation  plus  fortuuee  que  la  Nation  Suisse! 
A  Texemple  de  ce  peuplo  sage,  Fheureux  ne  bouleverse  point  le  monde  par 
ses  intrigues;  content  de  lui  il  s'occupe  point  des  autres;  il  ne  se  trouve 
point  sur  la  route  de  TAmbitieux;  l'etude  remplit  une  partie  de  ses  journees; 
il  vit  peu  connu  et  c'est  robscurite  de  son  bonheur  qui  seul  en  fait  la 
sürete. 

")  Haag,  Süddeutsche  Blätter  IV,  9,  p.  205  IT. 

'■')  Soll.  R.  M.  IX,  p.  oib. 


Voltaire  und  die  beniische  Censur.  173 

Jahres  war  er  iu  Genf  öifentlieh  verbrannt  worden.  Als  ver- 
schiedene Exemplare  bereits  ihren  Weg  nach  den  bernischen  Landen 
gefunden  hatten,  kam  das  böse  Buch  auch  im  Schoss  des  Schul- 
rates den  24.  Dezember  1764  zur  Sprache;  die  Entrüstung,  die 
sich  unter  seinen  Mitgliedern  darüber  kundgab,  wird  am  besten 
aus  dem  „Vortrag"  ersehen,  den  sie  an  die  Regierung  richteten; 
er  lautet  also^^): 

„Vor  Mnhh.  den  SchulRäthen  ist  angebracht  worden,  dass 
unlängst  ein  Buch  heraussgekommen  unter  dem  Tittel  Dictionaire 
Philosophique,  welches  wider  die  guten  Sitten,  wider  die  ge- 
offenbahrte  Religion  und  selbst  wider  das  Höchste  Wesen  Gottes 
die  anstössigsten  und  verabscheüungsvvürdigsten  Stellen  ent- 
haltet, und  dessen  Zwek  schnurgerad  dahin  zielet,  die  Christ- 
liche Religion  zu  Boden  zu  werlfen  und  aufs  schimpflichste  zu 
durchziehen.  Gegen  ein  so  ruchloses  Buch,  davon  schon  ver- 
schiedene Exemplaria  in  hiesige  Land  geworft'en  worden,  können 
Mnhh.  die  SchulRäth  nicht  in  denen  Schranken  der  gemeinen 
Censur  verbleiben,  sondern  glauben  allerdings  ihrer  Pflicht  zu 
sein,  E:  Gn:  gerechten  Eifer  aufzuwekeu,  und  Hochdenenselben  zu 
Sinn  zu  legen,  ob  wider  eine  solche  Lästerschrifft  nicht  auf 
eine  ausserordentliche  Weise  solte  gehandlet  werden.  In  diesem 
Absehen  haben  Sie  mitkommendes  Exemplar  zur  Hand  gebracht, 
damit  E:  Gn;  selbiges  zu  Bezeugung  ihres  gerechten  Abscheüens 
durch  die  Hand  des  Scharfrichters  öffentlich  können  verbrennen, 
und  dabey  das  Dictionaire  philosophique  in  dero  samtlichen 
Städten  und  Landen  ernstmeinend  verbieten,  die  vorhandenen 
Exemplaria  hier  in  der  Statt  zu  Händen  des  H.  Grosweibels  und 
auf  dem  Land  zu  Händen  der  Hh.  Amtleuten  einfordern,  und 
dann  im  ferneren  eine  Buss  von  Einhundert  Thaler  grössten 
Theils  zu  gunsten  des  Verleiders  auf  alle  diejenigen  Kaürt'er 
oder  Verkaütfern  sagen  lassen,  hinter  welchen  selbiges  gefunden 
wurde.  Alles  aber  seye  E:  G:  hochen  Gutünden  gehorsamst 
anheim  gestellt." 

Unsere  Quellen  geben  nicht  an,   wer  im  Schulrath  über  den 
Dictiounaire  philosophique  referirte  und  die  Veranlassung  zu  dieser 


>3)  Seil.  R.  il.  X,  p.  102 ir. 


174  Haag. 

Eingabe  an  die  Regierung  gab,  aber  aus  folgender  Weisung  an  die 
Censores  librorum^^),  die  in  derselben  Sitzung  beschlossen  wurde 
und  das  reinste  Tadelsvotum  enthält,  scheint  mir  mit  aller  Sicher- 
heit hervorzugehen,  dass  der  Ankläger  nicht  dem  Censorencollegiura 
augehörte : 

„Aus  heute  vorgewaltetem  Anlas  haben  Mehh.  die  Schul 
Räht  nöhtig  gefunden ,  der  Hochoberkeitlichcn  Ordnung  vom 
10.  Februar  1759  aufs  frische  die  Execution  zu  geben;  zu  dem 
End  haben  Sie  Muhh.  diese  Ordnung  hiermit  Copeylich  zusenden 
und  dieselben  zugleich  freundlich  ersuchen  wollen  ihre  InspectioQ 
auf  die  samtlichen  Buchläden  hiesiger  Stadt  von  neuem  unter 
sich  zu  verteilen,  und  dabey  mit  Zuziehung  Mshh.  Prof.  Wilhelmis 
auf  Mittel  und  Weg  bedacht  zu  seyn,  wie  die  Aufsicht  auf  diese 
Buchläden  könte  schärfer  gemacht  und  der  Verkauft"  so  vieler 
der  Religion  und  den  guten  Sitten  zuwiederstreitenden  Biiechereu 
genauer  eingezielet  und  so  viel  möglich  gehemmt  werden.  Neben 
diesem  erinnern  sich  Mehh.  die  SchulRäht,  dass  Sie  Mnhh.  schon 
unterm  8.  Julij  1762  aufgetragen,  die  Werk  des  H.  de  Voltaire 
zu  examinieren  um  zu  sehen,  welche  Theile  davon  für  unsere 
Christliche  Religion  die  schädlichste  seyen,  und  wie  derselben 
Verkauft"  und  fernere  Bekanntmachung  zu  hemmen':'  Diese  nun 
nahmentlich  in  der  zu  Genf  heraussgekommeuen  Edition  zu  er- 
forschen, haben  Mehh.  die  SchulRäht  Sie  Mhh.  hierdurch  friind- 
lich  ansinueu  und  Ihren  dissörtigen  Raport  mit  Befürderuug  ab- 
abzufassen ersuchen  wollen." 

Aus  diesem  interessanten  Actenstück  kann  auch  herausgelesen 
werden,  dass  das  Censurreglement  vom  Jahre  1759  ohne  alle  Wir- 
kung geblieben  war;  natürlich:  verbotene  Früchte  schmecken  gut 
und  die  Buchhändler  und  Bücherausleiher  fanden  immer  Mittel 
und  Wege  genug  um  hinter  dem  Rücken  der  Ceusur  dieselben  an 
den  Mann  zu  bringen;  die  Geschichte  der  bernischen  Censur  ist  in 
der  Beziehung  sehr  lehrreich. 

Im  alten  Bern  war  es  stehende  Sitte  den  Interpellanten  oder 
denjenigen,  der  in  einer  Broschüre  gegen  etwas  aufgetreten  war 
oder  etwas  angeregt  hatte,  zu  den  Verhandlungen  der  Commission 
1*)  1.  1.  p.  103. 


Voltaire  und  die  bernische  Censiir.  175 

beizuzieheu,  iu  deren  Bereich  der  angezogene  Gegenstand  fiel;  in 
Folge  dessen  ist  man  versucht,  nach  dem  Zeddel  des  Schulrats 
an  die  Censoren  den  Prof.  Wilhelmi  für  denjenigen  zu  halten,  der 
die  Verfolgung  des  Dictionnaire  philosophique  veranlasste.  In  der 
That  war  Wilhelmi  nach  der  Präsenzliste  im  Schulratsmanual  in 
der  betreffenden  Sitzung  zugegen  und  doch  kann  man  es  kaum 
begreifen,  dass  gerade  Wilhelmi,  Victor  von  Bonstettens  Freund, 
der  aufgeklärte,  litterarisch  so  fein  gebildete  Mann,  die  Hetze 
gegen  Voltaire  heraufbeschworen  haben  soll. 

Es  ist  hier  wohl  am  Platz,  über  die  erste  Ausgabe  des 
Dictionnaire  phil.  port.  Voltaire's  einige  Bemerkungen  einzuschieben, 
da  sich  in  Folge  der  Erweiterungen,  die  sie  mit  der  Zeit  erfuhr, 
ganz  falsche  Ansichten  über  dieselbe  bildeten,  schrieb  doch  ein 
Moderner,  ohne  Zweifel  Philosoph  seines  Zeichens,  im  Brockhaus- 
schen  Conversationslexikon'^)  folgende  ungeheuerliche  Worte: 
„Von  seinen  Bewunderern  an  die  Spitze  der  Oppositionsbewegung 
gestellt,  verkündete  V.  in  dem  Dictionnaire  philosophique  (1764; 
eine  Sammlung  von  7  Bänden  der  Artikel,  welche  er  für  Diderots 
berühmte  Encyclopedie  verfasst  hatte).  .  ."  Nun,  die  jetzt  selten 
gewordene  editio  princeps  unseres  Werks,  in  Loudon  1764  er- 
schienen, bildet  einen  einzigen  Octavband  von  344  Seiten,  in 
welchem  73  Artikel  in  alphabetischer  Reihenfolge  behandelt  werden: 
Abraham,  Arne,  Amitie,  Amour,  Amour  uomme  Socratique  u.  s.  w. 
bis  Vertu,  dem  letzten  Artikel.  Wie  Georges  Beugesco  in  seiner 
grundlegenden  Bibliographie  der  Werke  Voltaire's '^)  darstellt, 
stammt  die  Idee  eines  philosophischen  Lexikons  aus  dem  Jahre  1752, 
da  Voltaire  am  Hofe  Friedrichs  des  Grossen  sich  aufhielt.  Der 
König  selber  fand  an  ihr  Gefallen  und  las  die  ersten  Artikel, 
welche  Voltaire  ihm  übergab,  über  Abraham,  den  Atheismus,  die 
Taufe  u.  s.  w.  mit  Vergnügen.  Die  Arbeit  wurde  aber  unter- 
brochen und,  wie  es  scheint,  erst  im  Jahre  1760  wieder  aufge- 
nommen. Da  schrieb  Voltaire  an  Madame  du  Detfand  die  be- 
zeichnenden Worte:  «je  suis  absorbe  dans  un  compte  que  je  me 
rends  a  moi  meme  par  ordre  alphabetique  de  tout  ce  que  je  dois 


15;  XVI,  p.  834  im  Jahre  1887. 
1«)  Bg.  t.  I,  p.  i\'2. 


176  Haag, 

peiiser  sur  se  mondc-ci  et  sur  Tautre,  le  tont  pour  mou  usage  et 
peut-etre,  apres  ma  mort.  pour  celui  des  honuetes  geus." 

Andere  Arbeiten  verursachten  eine  nochmalige  Unterbrechung, 
so  dass  das  Werk  erst  im  Juli  1764  erschien. 

Vielleicht  gehe  ich  nicht  irre,  wenn  ich  annehme,  dass  an 
jenem  Abend  des  28.  September  1752,  da  an  der  königlichen  Tafel 
zum  ersten  Mal  die  Idee  eines  Dictionnaire  philosophique  aufge- 
worfen wurde,  die  Veranlassung  dazu  der  kurze  Zeit  zuvor  heraus- 
gekommene erste  Band  der  Encyclopädie  Diderofs  und  d'Alembert's 
gab.  Man  wird  wohl  darüber  gesprochen  haben,  dass  das  gross- 
artig angelegte  Werk  bis  zu  seiner  Vollendung  allzulauge  Zeit  in 
Anspruch  nehmen  werde  und  dass  es  wünsclienswerth  wäre, 
wenigstens  ein  Compendium  der  Philosophie,  wie  sie  jetzt  in  Eng- 
land und  Frankreich  sich  entwickelt  hatte,  alphabetarisch  angelegt, 
in  Taschenformat  für  ein  weiteres  Publikum  zu  bearbeiten.  Im 
discours  prelimiuaire  des  ersten  Bandes  feierte  der  Verfasser  des- 
selben, d'Alembert,  den  Voltaire  als  den  grossen  Autoreu  der  Gegen- 
wart, der  nie  unter  und  nie  über  seinem  Gegenstand  stehe  und 
die  IMiilosophie  eine  anmuthige  Sprache  zu  reden  gelehrt  habe 
(siehe  auch  K.  Rosenkranz,  Diderot's  Leben  und  Werke  J,  144). 
Das  mag  dann  wiederum  die  Veranlassung  gewesen  sein,  dass  ein 
Mitglied  der  königlichen  Tafel  gesagt  haben  wird,  der  Herausgeber 
eines  Dictionnaire  philosophique  portatif  sei  durch  die  Editoren 
der  grossen  Encyclopädie  bereits  prädestiniert,  es  könne  nur 
Voltaire  sein. 

Der  Inhalt  der  einzelnen  Artikel  bildet  in  der  That,  wie  ihr 
Verfasser  an  die  erblindete  Madame  du  Dell'and  schreibt,  sein 
deistisches  Glaubensbekenntuiss,  das  er  p.  318,  als  Antwort  auf 
die  Frage  «  apres  uotre  sainte  religion  qui  sans  doute  est  la  seule 
bonne,  quelle  serait  la  moins  mauvaise?  »  also  in  kurzer  Form 
wiedergiebt:  «  ne  serait-ce  pas  la  plus  simple?  ne  serait-ce  pas 
Celle  qui  enseignerait  beaucoup  de  morale  et  tres  peu  de  dogmes? 
Celle  qui  tendrait  ä  rendre  los  hommes  justes,  sans  les  rendre 
absurdes?  ccllo  qui  n'ordonnerait  point  de  croirc  des  choses  im- 
possibles,  contradictoires,  injurieuses  a  la  Divinitc  et  pernicieuses 
au  genre  humain  et  ([ui  n'oserait  point  raenacer  des  peines  eternelles 


Voltaire  uud  die  bernische  Ceusur.  177 

quiconque  aiirait  le  sens  commiin?  Ne  serait-ce  point  celle  qui  ne 
soutieudrait  pas  la  creance  par  des  bourreaux  et  qui  u'inonderait 
pas  la  terre  de  sang  pour  des  sophismes  inintelligibles?  celle  daus 
laquelle  une  equivoque,  un  jeu  de  mots  et  deux  ou  trois  chartes 
supposees  ne  feraient  pas  un  souverain  et  un  Dieu  d'un  pretre 
souveut  incestueux,  liomicide  et  empoisonneur?  celle  qui  ne  sou- 
mettrait  pas  les  rois  a  ce  pretre?  celle  qui  n'enseignerait  que 
Tadoration  d'un  Dieu,  la  justice,  la  tolerance  et  riiumanite?  » 

Auf  Grund  dieser  Worte  begreift  man  es  freilich,  dass  der 
Papst  den  8.  Juli  1765  den  Dictionnaire  philosophique  auf  den 
Iudex  librorum  prohibitorum  setzte  und  wer  ihn  mit  allen  seinen 
gelehrten  und  zum  Theil  tief  gehenden,  jedenfalls  immer  eine  ge- 
waltige Belesenheit  voraussetzenden  Untersuchungen  über  die 
kirchlichen  Dogmen  durchgelesen  hat,  der  begreift  es  auch,  dass 
im  Staate  Bern  die  Kirchenlehrer  gewaltigen  Anstoss  daran 
nahmen.  Im  Frauciskanerkloster,  wo  die  hohe  Schule  thronte, 
duldete  man  jetzt,  so  wenig  wie  in  Rom,  ein  Buch,  das  die  stu- 
dierende Jugend  mit  dem  Gifthauch  des  Zweifels  an  dem,  was  zu 
glauben  vorgeschrieben  war,  hätte  anstecken  können.  Es  war  im 
„Kloster"  eben  anders  geworden,  als  es  im  vorhergehenden  Jahr- 
hundert gewesen  war:  damals  studirten  Professoren  und  Studenten 
eifrig  die  Werke  des  Cartesius  und  glaubten  nicht,  dass  dies  ihrer 
Christlichkeit  Abbruch  thue  uud  sie  thaten  es,  bis  sie  deshalb  in 
Folge  der  Hetze  fanatischer  Prädicanten  durch  die  Regierung  ge- 
massregelt  wurden  (1680)'^);  jetzt  ging  die   Bewegung  gegen  den 


")  Im  Frühjahr  1G80  war  ein  heftiger  Streit  ausgebrochen  zwischen  den 
bernisehen  Prädikanten  und  den  Professoren  der  Academie:  es  wurden  diese 
beschuldigt,  dass  sie  unter  ihren  Zuhörern  der  Orthodoxie  zuwiderlaufende 
Lehren  vortragen;  die  Angelegenheit  wurde  in  den  officielleu  Zusammenkünften 
der  Geistlichen  besprochen  und  vom  Rat  durch  eine  Commission  untersucht, 
die  Studenten  wie  die  Professoren  wurden  einvernommen  und  schliesslich  vom 
Rat  beschlossen,  es  sei  des  Cartesius  Lehre  zu  lesen  und  zu  lehren  verboten 
und  auch  die  Studenten  auf  den  fremden  Universitäten  sollten  sich  mit  diesem 
Autor  nicht  mehr  beschäftigen.  Die  Sache  endigte  damit,  dass  der  tägliche 
Rat  den  drei  Prädikanten  der  Stadt  Bern  die  Gewalt  ertheiite,  dass  sie 
jeder  Zeit  nach  Belieben  die  Schriften  der  Studenten  nach  Cartesiana  unter- 
suchen könnten,  um,  wo  ihre  Spürnasen  etwas  verdächtiges  entdeckt  hätten, 
selbiges  an  gehörigem  Orte  anzuzeigen.      Den   Professoren    aber,    die    solches 


178  Haag, 

Deismus  vom  Schulrat,  bez.  von  den  Professoren,  von  der  hohen 
Worte  der  Wissenschaft  und  freien  Forschung  aus.  und  doch 
fand  man  es  an  anderen  protestantischen  Orten  der  Schweiz  nicht 
für  nöthig  gegen  das  in  Bern  verfehmte  Buch  öffentlich  vorzugehen, 
weder  in  Zürich  noch    in  Basel.      Mcht    als  ob  in  diesen  Städten 


ruhig  über  sich  ergehen  lassen  mussten,  wurde  aufgetragen  sich  in  „alter  Ver- 
traulichkeit und  ungefälschter  Bruderliebe"  mit  den  Herrn  Prädikanten  zu 
vertragen. 

Die  Weisung  des  Rates  an  den  Schulrat  in  Sachen,  schon  ihres  Stils 
wegen  intesserant  genug,  lautet  (mit  Weglassung  dessen,  was  für  weitere 
Kreise  kein  Interesse  haben  kann)  also: 

,Euch  Mnhh.  ist  bekannt,  dass  in  letst  gehaltenen  beyden  Bern  und 
Laugeuthaler  Capitlen  angezogen  worden,  ob  solten  unter  den  Studiosis  all- 
hier  solche  Opiniones  im  Schwang  gehen,  die  nach  dem  Armiuianismo  und 
Socinianismo  schmecken  thun,  inmassen  darüber  MeGhh.  durch  eine  ansehnliche 
Commission  den  Sachen  nachforschen,  die  Studenten,  an  denen  dergleichen 
vermerkt  worden,  verhören,  die  Herren  Professores,  die  auch  eingezogen 
worden,  vernemmen,  und,  nach  langem  Consultiren,  das  ganze  Geschafft 
Ihnen  wiederbringen  lassen;  Nachdem  aber  Ihr  Gnaden  aus  allem  ersehen 
müssen,  dass  dadurch  die  hiesige  Schul  nicht  allein  in  grosse  Verachtung 
gerahten  wollen,  sondern  auch  mit  derselben  der  hiesige  Kirchenstand  leiden 
müssen,  und  an  benachbarten  und  äusseren  Orten  in  Verdacht  kommen,  Ob 
wäre  allhier  der  Religion  und  Ortbodoxey  halb  alles  zweifelhafftig,  und  wüsste 
man  nicht,  was  in  Glaubens  Sachen  man  Statuiren  solle:  Haben  MeGhh.  und 
Obere,  als  eine  Christenliche  hohe  Oberkeit,  denen,  nach  dem  Exempel  ihrer 
frommen  fordern,  nichts  mehrers  angelegen,  als  wie  sie  das  erworbene  Evan- 
gelium durch  die  reine  Lehre  desselben  pur  und  unverfälscht  erhalten,  und 
auf  die  wehrte  posteritet  fortpflanzen  könnten  .  .  .  Statuirt,  angesehen  und 
verordnet  haben  wollen, 

,1.  Erstlieh,  dass  alles,  so  dieses  Geschäffts  wegen  vorgegangen,  von 
Oberkeits wegen  termiuirt,  ausgemacht  und  erörtert  seye,  auch  dessen  nicht 
mehr  gedenkt  werde,  sondern  zwischen  den  Herren  Predickanteu  die  rechte 
alte  Vertraulichkeit  und  ungefälschte  Bruderliebe  Stabilirt  und  vestgesetzt 
seyn  solle. 

„3.  Solle  des  Cartesij  Philosophey  so  weit  verbotten  seyn,  dass  nicht 
allein  dieser  Author  wie  auch  der  Anthoine  leGrand  und  andere  ihre  an- 
bängere,  sondern  auch  ihre  Lehren  und  neue  gefährliche  Dogmata  weder 
publice  noch  privatim  protitirt  oder  gelesen  werden  sollen  und  mögen,  bey 
poeu  der  Entsatzung  deren,  so  hierwider  handien  wurden:  und  zwar  unter 
den  Studiosis  auch  die,  so  dismahlen  in  der  fremde  drausseu  sind,  oder  ins 
künfftig  dahin  verschickt  werden  möchten,  massen  die,  so  dismahlen  draussen 
sind,  dessen  per  Schreiben  verwahrnet,  und  den  künfftiglich  verreisenden 
sonsten  bey  ihrem  Abreisen  die  Nohtdurfft  deswegen  insinuirt  werilen  soll. 


Voltaire  uud  die  beruische  Censur.  179 

es  nicht  Leute  gegeben  hätte,  welche  über  den  dict.  philos.  nicht 
ebenso  gedacht  hätten,  wie  die  bernischen  Professoren:  in  dem 
Exemplar,  das  der  Basler  Bibliothek  angehört,  hat  jemand,  offen- 
bar der  damalige  erste  Bibliothekar,  der  Theologieprofessor  Jakob 
Christoph  Beck ,  auf  der  Rückseite  des  Einbanddeckels  die  Worte 
geschrieben : 

„Liber  impius,  Religioni 
Christianae,  Summis  Imperantibus, 
bonis  Moribus,  oppositus. 
Auetore,  ut  ajunt, 
Mr  Aronet  de  Voltaire. 
Est 
Bibliothecae  publicae  Basilieusis." 
und  dann  später,  unter  diese  Empfehlung  zu  Händen   des  Lesers: 
„Combustus  per  Caruilicem  Parisiis,  Genevae,  Hagae  Comitum, 
et  Bernae." 

Wahrscheinlich  ist  diese  Eintragung  ein  Auslluss  des  Aergers 
darüber,  dass  die  Censurcommissiou  von  Basel,  die  aus  dem 
Rector  der  Universität,  den  Dekaneu  der  vier  Facultüten  und  dem 
Stadtschreiber  bestand,  sich  nicht  bemüssigt  sah,  das  Buch  zu  ver- 
bieten. 

Schon  5  Tage,  nachdem  der  bernische  Schulrat  sich  in  Sachen 
des    Dictionnaire  philosophique   an    die  Regierung  gewandt  hatte, 

„4.  Damit  aber  desto  besser  band  obgehalten,  oder,  da  hierwider  gehaudlet 
wurde,  bey  Zeiten  remedirt  werden  könne,  wollen  Meghh.  und  Obere  obigen 
punktens  halb  Mehh.  die  drei  Predikanten  allhier  zu  Aufseheren  bestellt,  und 
denenselben  hiermit  Gewalt  und  Befehl  ertheilt  haben,  den  Studiosis,  so  offt 
Sie  es  gut  finden,  ihre  Schriften  abzuforderen,  dieselben  zu  durchgehen  wann 
Sie  darin  etwas  fuuden,  so  aus  des  Cartesij  priucipiis  fliesset  und  bedenklich 
wäre,  mit  den  Herren  Professoribus  darum  auch  zu  reden,  von  Ihnen  sich 
berichts  zu  erholen,  und,  je  nachdem  die  Sachen  seyn  werden,  die  Nohtdurfft 
gehöriger  Orten  zu  erinnern. 

„6.  Insgemein  aber  wollen  Ihr  Gnaden,  dass  den  Studiosis  und  Candidatis 
ad  S.  S.  Ministerium  eingeschärfft  werde  .  .  in  dem  predigen  sich  eines  solchen 
Styli  und  Redensart  zu  befleissen,  die  heiliger  Biblischer  Schrifft  uud  der 
Matery,  die  Sie  tractireu,  gemäs  seye;  Und  hingegen  der  affectirteu  unge- 
wohnten neuen  Teutsch  sich  zu  müssigen,  als  welche  die  verständigen  nur 
ärgeret,  uud  das  geraeine  Volk  in  ihrem  Christenthum  nichts  unterweisen  thut." 


180  Haag, 

also  den  29.  Deceraber  1 764,  behandelte  diese  den  Vortrag  des  Schul- 
rates und  genehmigte  dessen  Vorschläge  in  allen  Theilen  mit  der 
einzigen  Aenderung,  dass  die  vorgeschlagene  Busse  von  ICH)  Thalern 
auf  die  Hälfte  herabgesetzt  wurde;  zu  „besserer  Ausrottung  des 
schändlichen  Buchs"  sollte  die  ganze  Busse  dem  Verleider  anheim- 
fallen'^). 

Der  Beschluss  der  Regierung  wurde  durch  alle  Zeitungen  und 
das  Organ  der  Amtleute  deutschen  und  welschen  Landes  dem 
ganzen  Volk  kundgegeben  und  am  Sylvestertag  17G4  das  vom 
Schulrat  der  Regierung  überschickte  Exemplar  des  Dictionnairc 
philosophique  an  der  Kreuzgasse  in  Bern  vom  Scharfrichter  öffent- 
lich „lacerirt"  und  verbrannt.  Es  wurde  also  für  die  Execution 
ein  Tag  gewählt,  da  alles  Volk  feierte  und  Müsse  hatte  derselben 
zuzusehen.  Dem  Grossweibel  und  dem  Rathausammann  ward  der 
Befehl  „bei  den  Buchdruckeren,  Buchhändlereu,  Buchführeren  und 
denen  so  Bücher  zum  Lesen  auslichen  dem  so  schändlichen  Buch 
bestmöglichst  nachzuspurren"  und  die  abgefaugenen  Exemplaria 
sofort  verbrennen  und  abschaft'eu  zu  lassen;  dasselbe  hatten  die 
Amtleute  im  Cantou  herum  zu  thun.  Im  Rundschreiben  an  die 
Letzteren  vom  29.  December  17G4  heisst  es'^),  dass  das  Buch  in 
der  Hauptstadt  Bern  und  in  Lausanne  durch  den  Scharfrichter 
ölfentlich  laceriert  und  verbrannt  worden  sei,  aber  den  12.  Januar 
1765  berichtete  der  Praefectus  von  Lausanne,  dass  er  aus  Mangel 
eines  Exemplars  den  Dictionnaire  philosophique  von  Voltaire  nicht 
nach  Ihr  Gnaden  Befehl  durch  den  Scharfrichter  habe  verbrennen 
lassen  können!  Ihro  Gnaden  blieb  nichts  übrig  als  „an  sothanem 
seinen  Bericht  sich  zu  ersättigen"^"). 

Nach  dem  nun  mitgetheilten  ist  also  in  der  Aussage  des 
Censors  und  Professors  der  Theologie  in  der  Sitzung  des.  Schul- 
rates vom  31.  October  1783,  von  der  wir  in  unserer  Abhandlung 
ausgegangen  sind,  verschiedenes  unrichtig.  Einmal  sind  nicht  die 
Pucelle  und  der  Dictionnaire  philosophique  verbrannt  worden, 
sondern  nur  das  letztere  Werk;  des  weitern  geschah  das  nicht  un- 
gefähr 10  Jahre,    sondern  ungefähr    20  Jahre  vorher  und  drittens 

'^)  P.  i;.  XIV.  1'.  4.')7iV. 
>9)  M.  B.  XXI,  p.  423fl'. 
20)  K.  M.  27o,  p.  4GÜ. 


Voltaire  und  die  bernische  Censur.  181 

ist  es  ganz  aus  der  Luft  gegriffen,  wenn  Stapfer  behauptete,  dass 
Yoltaire's  sämmtliche  übrige  Schriften,  welche  die  Religion  ansehen, 
bei  hoher  Strafe  verboten  worden  seien. 

In  der  auf  den  Stapfer'schen  Anzug  folgenden  Discussion 
scheint  man  dem  Gedächtniss  des  alten  Herrn  etwas  zu  Hülfe  ge- 
kommen zu  sein,  wie  aus  der  Eingabe  hervorgeht,  welche  der 
Schulrat  in  Sachen  an  die  Regierung  richtete  ^^): 

„Euer  Gnaden  haben  vor  Jahren,  aus  gerechtem  Eifer  für 
Religion  und  Sittlichkeit  bewogen,  nicht  nur  den  Druk  und 
Verkauf  verschiedener  Schriften  des  H.  von  Voltaire,  die  Hoch- 
denenselben  in  Rüksicht  auf  das  Beste  ihres  Volks,  nachtheilig 
und  gefährlich  geschienen,  verbotten;  sondern  zum  Beweis  Ihres 
Missfallens  oftentlich  in  dieser  Hauptstadt  zerreissen  und  ver- 
brennen lassen;  den  bestelten  Censoren  auch  anbefohlen,  über 
diesem  Verbott  zu  halten. 

„Diese,  ihrer  Pflicht  getreu,  zeigten  ohnlängst  dem  Wohl- 
Ehrwürdigen  Convent  und  dasselbe  dem  Obern  Schulrath  au: 
dass  dieser  Erkenntniss  zuwider,  von  der  neuen  Typographischen 
Gesellschaft  allhier,  in  dem  Avisblatt  sowol  als  der  Zeitung,  dem 
Publike  ein  Nachdruk  der  in  Kehl  gedrukten  Ausgabe  sämtlicher 
Werken  dieses  Verfassers  augekündet  und  solches  zur  Unter- 
schrift öffentlich  eingeladen  worden  seye.  Da  nun  dieses  Unter- 
nemnien  dem  Verbott  Euer  Hohen  Gnaden  und  desselben  ruhm- 
würdigen Absicht  gerade  entgegen  stehet,  so  achten  sich  Mehghh. 
verbunden,  diese  Anzeige  vor  Hochdieselben  gelangen  zu  lassen 
und  von  E:  G:  Weisheit  die  fernere  Verordnung  gehorsamst  zu 
erwarten." 

Die  Regierung  trug  ordnungsgemäss  dem  Schulrat  auf,  zu 
überlegen  und  zu  erdauern,  was  „wegen  dieser  neuen  Auflag 
Meinen  Gnädigen  Herren  anzurathen  und  allenfahls  zu  verfügen 
seyn  wolle"  und  sein  Beünden  ihr  vorzutragen.  Ordnungsgemäss 
verlangte  sodann  der  Schulrat  zuerst  ein  Gutachten  von  der 
Censurcommission.  Diese  bestand  damals  aus  5  Mitgliedern, 
3  weltlichen  und  2  geistlichen.     Jene  waren  Victor  von  Bonstetten, 


2')  Scb.  R.  il.  XIV,  p.  12. 


182  Haag, 

der  allbekannte  Schriftsteller,  der  aber  den  betr.  Sitzungen  nicht 
beiwohnte  —  er  war  offenbar  von  Bern  abwesend  —  Prof 
Tscharner,  der  an  der  Acaderaie  den  Lehrstuhl  der  Jurisprudenz 
inne  hatte  und  der  Alt-Land vogt  Herbort:  die  geistlichen  Mitglieder 
waren  die  Professoren  der  Theologie  Stapfer  und  Studer.  Das 
Gutachten  der  4  Censoren  machte  der  Schulrat  zum  seinigen  und 
gab  sodann  den  8.  December  1783  der  Regierung  folgendes  in  jeder 
Beziehung  interessante  Gutachten  ein''): 

„zu  folg  .  .  .  haben  die  S:  R:  nunmehr  die  Ehre  Euer 
Gnaden  Ihre  Gedanken,  wiewohl  in  getheilten  Meynungen  vor- 
zutragen. 

„Voraus  aber  nehmen  Wohldieselben  die  Freyheit,  zu 
mehrerer  Aufheiterung  dieses  Geschäfts,  Hochdenselben  den 
Rapport  zu  erstatten;  dass  Mnhh.  der  Censur  Commiss:  .  .  den 
11.  Schultheiss,  als  einen  der  Directoren  der  neuen  Typographischen 
Gesellschaft,  vor  Sie  bescheiden,  und  über  das  Vorhaben  ge- 
dachter Gesellschaft  betrefend  den  Druk  dieses  Werkes  ver- 
nommen, von  demselben  auch  daraufhin  erfahren:  der  wahre 
Verleger  dieses  Kehlischen  Nachdruks  seye  Hh.  Regnault  in 
Lion,  mit  diesem  haben  vor  einiger  Zeit  die  hiesige  Typogr: 
Gesellschaft,  die  Typogr.  Gesellschaft  in  Neuenburg,  und  H. 
Heübach  in  Lausanne  einen  Contract  geschlossen,  kraft  welchem 
ein  jeder  gedachter  Uebernemmern  einen  Antheil  dieses  Druks 
auf  sich  genommen;  er  IL  Schultheiss  aber  seye  erbietig,  sich 
im  Namen  seiner  Constituentin  zu  erklären,  dass  dieselbe  nichts 
anstössiges  wider  Religion  und  Sitten  druken  werde,  und  dass 
sie  alles,  was  unter  ihre  Press  kommen  soll,  der  hiesigen  ordent- 
lichen Censur  unterwerfen  wolle;  übrigens  getröste  er  sich  zu 
gedachten  Händen  der  gleichen  Hochobrigkeitlichen  Gunst,  die 
Herr  Grasset  in  Lausanne'^)  vor  einichen  Jahren,  bey  üruk  der 
vorherigen  Edition  von  Volt:   [s]  Schriften  genossen. 

22)  Sch.  R.  M.  XIV,  p.  14  ff. 

2'')  Von  der  in  Lausanne  bei  Grasset  &  Co.  1770—1776  in  57  Octav- 
liiindeu  erschienenen  Gesaramtausgabe  von  Volfaire's  Werken  sind  nur  vor- 
banden die  8  Hände,  welche  die  dramatischen  Stücke  des  Autors  enthalten 
und  ein  neunter  (in  iler  kaiserlichen  Bibliothek  zu  Petersburg),  enthaltend 
rUistoire  de  TKinpire  de  Kussie   sons  Pierre  le  Grand  und   vielleicht  gehören 


Voltaire  und  die  bernische  Censur.  183 

„Demnach  haben  Mehghh.  die  Ehre,  Ihre  Gedanken  über 
obigen  Auftrag  gegen  Euer  Gnaden  dahin  zu  äusseren: 

„Mit  der  einten  Meynung  möchte  man  Euer  Gnaden  an- 
rathen,  den  Nachdruk  der  ganzen  zu  Kehl  neu  aufgelegten  Edit: 
der  Werken  des  H.  de  Voltaire  zu  verbieten,  wie  auch  deren 
Publikation  durch  das  hiesige  Avis-Blatt  und  die  französ: 
Zeitung  widerrufen  zu  lassen.     Und  zwar  aus  folgenden  Gründen, 

„1."  Weil  nicht  nur  in  einleben,  sondern  den  meisten  Werken 
dieses  Authors,  das  feinste  Gift  wider  die  guten  Sitten,  die  Re- 
ligion und  Tugend  verborgen  ligt. 

„2.°  Weil  diese  neue  Edit:  von  Kehl  nicht  nur  alles  ver- 
derbliche der  vorhergehenden  Edit:  enthält,  sondern  sogar  solche 
Schriften,  welche  H.  de  Voltaire  sich  nicht  getraut  hat,  während 
seinem  Leben  herauszugeben. 

„3."  Wie  äusserst  gefährliche  Lehrsätze  diese  neue  Edit:  ent- 
halten muss,  erhellt  daraus:  dass  ihr  Verleger  H.  de  Beaumarchais 
sich  vergebens  in  Frankreich  um  das  Privilegium  beworben  hat, 
dieselbe  mit  Königl.  Authoritaet  drukeu  zu  dürfen;  und  endlich 
dasselbe  zu  Kehl  hat  suchen  müssen. 

„4.°  Glaubt  man,  wenn  in  obiger  Edit:  das  schädliche  von 
dem  lehrreichen  solte  abgesondert  werden;  so  müsste  man  der- 
selben 60  Vol:  censoriren.  Wodurch  man  sich  denn  ohne 
einichen  Nuzen  noch  Ehre  vor  die  Republik,  grosse  Mühe,  Arbeit 
und  Kosten  zuziehen  würde.  Auch  steht  man  in  den  Gedanken, 
diese  abgesonderte  Edit:  würde  der  Typogr.  Gesellschaft  zu  be- 
trächtlichem Schaden  gereichen,  indem,  wenn  jene  schädlichen 
Werke  in  der  neuen  Edit:  ausblieben,  welche  leyder  bei  gegen- 


dahin  noch  zwei  Bände  in  der  Lausanner  Bibliothek,  von  denen  der  eine  die 
Ilenriade,  der  andere  auch  die  Geschichte  iiusslands  unter  Peter  dem  Grossen 
enthält.  Diese  Lausanner  Ausgabe  ist  von  hohem  Werth,  weil  die  dramatischen 
Stücke  bezeugtermaassen  und  wahrscheinlich  auch  die  übrigen  Schriften 
Voltaire's  von  diesem  selber  vor  der  Drucklegung  durchgesehen  und  corrigirt 
worden  sind.  Für  uns  Berner  ist  diese  Thatsache  besonders  bemühend,  weil 
die  Stadtbibliothek  noch  im  Jahre  1811  alle  57  Bände  besass  und  sich  dann 
derselben  entledigte,  wahrscheinlich  um  mit  Hülfe  des  Lösegeldes  eine  mo- 
dernere Ausgabe  anschaffen  zu  können.  Wei'  in  den  Besitz  der  veränsserten 
Grasset-Ausgabe  gekommen  ist,  konnle  ich  leider  noch  nicht  austimiig 
machen. 


184  naag, 

wärtigem  Verfall  der  Religion  und  Sitten,  die  Liebhaber  der- 
gleichen Werken  als  die  Probe  des  ganzen  ansehen;  so  würde 
das  übrige  gleichsamm  von  denselben  als  nur  die  Schale  ge- 
schäzt,  sehr  wenig  Käufer  und  Abgang  finden^*). 

„Mit  der  andren  Meinung  pflichtet  man  zwar  der  ersteren 
darin  bey,  dass  der  von  der  neuen  Typogr.  Gesellschaft  publicirte 
Nachdruk  der  Edit:  von  Kehl  im  ganzen  hier  nicht  erlaubt 
werden  könne,  indem  dieselbe  verschiedene  anstössige  und  wirk- 
lich von  Euer  Gnaden  verbottene  Werke  enthalten  würde;  man 
haltet  es  aber  für  rathsamer,  dieses  Verbot  nach  dem  Anerbieten 
des  H.  Schultheiss  nur  auf  gedachte  Werk  einzuschränken, 
welche  wider  die  Religion  und  guten  Sitten  streiten;  indem  II. 
de  Voltaire  sich  benebens  in  verschiedeneu  Fächeren  von  Wissen- 
schaften ausgezeichnet,  und  darin  Werke  verfertiget  hat,  welche 
gegenwärtigem   Zeitalter  zur  Ehre  gereichen,   und  der  Nachwelt 


'*)  Diese  vom  Antragsteller  ausgesprochene  Ansicht,  der  Druck  der 
Voltaire'schen  Werke  werde  der  typographischen  Gesellschaft  eher  zum 
Schaden,  als  zum  Nutzen  gereichen  —  ob  sie  ernstlich  oder  ironisch  gemeint 
ist,  lässt  sich  nicht  entscheiden  —  ist  an  die  Adresse  seines  CoUegen,  des 
Nikiaus  Emanuel  Tscharner  gerichtet,  der  in  der  Sitzung  des  Schulrates  vom 
4.  December,  in  welcher  dieser  das  Gutachten  der  Censurcommission  genehmigte, 
anwesend  war.  Nikiaus  Emanuel  Tscharner  (auch  im  Ausland  als  Arner  in 
Pestalozzi's  Licnhard  und  Gertrud  liinUuiglich  bekannt),  war  damals 
der  Director  der  typographischen  Gesellschaft.  Dieselbe  war  im  Jahre  \li)S 
als  Actiengesellschaft  von  seinem  Bruder  Bernhard  gegründet  worden  zum 
Zweck  einer  Druckerei  mit  Verlag  und  Buchhandlung,  um  die  Berner  mit 
den  neuesten  Erscheinungen  der  Litteratur  bekannt  zu  machen.  Das  ITnter- 
nehmen  blühte  anfänglich,  namentlich  auch,  weil  ihm  Albrecht  von  Ilaller 
thatkräftig  zur  Seite  ging.  Al>er  es  fehlte  an  einer  richtigen  kaufmännischen 
j-eitung  und  au  der  nothigen  Aufsicht  von  Seiten  der  Männer,  die  an  der 
Spitze  standen  und  schon  im  Jahre  1772  war  in  der  Handlung  ein  todtes 
('apital  von  mehr  als  100000  Eres,  und  im  Verlag  ein  verlornes  von  75000  Eres.; 
1778  kam  es  zur  Liquidation:  Bernhard  Tscharner,  der  fast  sein  ganzes  Ver- 
mögen eingebüsst  hatte,  starb  über  dem  Kummer.  Es  fand  sich  kein  Käufer 
und  um  die  Eamilieuelire  zu  retten,  übernahm  Nikiaus  Emanuel  die  Direction 
mit  Einsatz  seines  Vermögens  und  Oredites.  Die  Gesellschaft  führte  nach 
dieser  Reconstruction  den  Titel  der  Neuen  Typographischen  Gesell- 
schaft (vd.  die  Biographie  V.  B.  Tscharner's  von  Tobler  im  Neujahrsblatt  der 
Bernischen  Litter.  Ges.  von  Jahre  1890).  Der  Ereuud  Pestalozzis  hatte  einen 
kummervollen  Lebensabend. 


Voltaire  und  die  bernische  Censur.  135 

zum  Nuzen  und  Vergnügen  dienen  werden;  davon  dessen  epische 
Gedichte,  wie  auch  seine  Theatralische  und  Historische  Werke, 
lebende  Beweise  sind.  Indessen  aber  möchte  man  auch  mit 
dieser  Meinung  die  Publicatiou  derjenigen  Schriften,  welche 
wider  die  Religion  streiten,  durch  hiesige  öffentliche  Blätter 
wiederrufen  lassen.     Alles  etc." 

Die  Regierung  schloss  sich  vollständig  der  letzteren  Meinung 
an;  sie  beschloss  also  (den  18.  December  1783),  dass  der  neuen 
typographischen  Gesellschaft  in  Bern  und  dem  Buchhändler  Heu- 
bach in  Lausanne  gestattet  sei  diejenigen  Werke  Voltaire's  zu 
drucken,  die  nicht  wider  die  Religion  und  die  guten  Sitten  streiten, 
wofern  ein  jeder  zu  druckende  Band  vorher  der  Censur  zur  Prüfung 
vorgewiesen  werde;  die  Regierung  verlangte  somit  nichts  anderes, 
als  wozu  sich  der  vor  der  Censurcommission  erschienene  Director 
der  neuen  typographischen  Gesellschaft  selbst  anerboten  hatte. 
Mit  der  Censur  der  Bände,  welche  der  Censurcommission  vor 
dem  Drucke  jeweilen  vorzuweisen  waren,  wurde  von  dieser  in 
ihrer  Sitzung  vom  23.  December  Prof.  Stapfer  betraut").  Dessen 
werden  die  Directoreu  der  Typographischen  Gesellschaft  zufrieden 
gewesen  sein:  den  alten  Herrn  konnten  sie  schon  ein  bisschen  an 
der  Nase  herumführen,  ohne  dass  er  es  merkte. 


25)  C.  M.,  p.  69. 


Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.    XV.  2.  13 


VIII. 

Einige  Coroliarien  des  Simplicius  in  seinem 
Commentar  zn  Aristoteles'  Physik  (ed.  Diels). 

I.  i>.  1129—1152  (contra  Philopomim). 

Von 
Prof.  Dr.  Joli.  Zahlileiscli  in  Graz. 

Nachdem  Ar.  seine  Defiuition  der  Bewegung  aufgestellt,  zeigt 
er,  dass  es  ewige  Bewegungen  gebe  und  begrenzte  (S.  1130,  9ff.); 
aber,  fragt  Philoponus,  woher  hat  Ar.  die  begrenzte  Bewegung  als 
eine  der  ewigen  folgende  hergenommen,  da  ja  die  Potenz  ohne  die 
Energie  immer  bestehe,  die  Potenz,  welche  für  die  Bewegung  eine 
conditio  sine  qua  non  sei?  Die  Negation  dieser  Frage,  d.  h.  die 
Unmöglichkeit,  die  begrenzte  von  der  unbegrenzten  Bewegung  zu 
trennen,  wird  von  Philop.  auf  folgende  Art  bewiesen.  Jeder  Be- 
griff muss  von  dem  Begriffnen  her  definirt  werden.  In  Folge 
dessen  muss  auch  für  die  Bewegung,  sowohl  für  die  xivr^ai?  avotpyoc, 
wie  für  die  apj(Yjv  s/ouaa  die  nämliche  Deiinition  gelten  (1130,  17). 
Wenn  daher  für  die  letztere  das  Bewegte  als  nothwendige  Vorau.s- 
setzung  gilt,  so  muss  das  auch  für  die  erstere  Geltung  haben. 
Somit  muss  die  ouaia  oupavou  für  die  Himmelsbewegung  voraus- 
gesetzt werden  (24 f.).  Und  nun  gilt  die  Regel,  dass  nichts  von 
dem,  was  als  nothwendige  Voraussetzung  ein  Anderes  hat,  ewig 
ist;  also  kann   es  auch   keine   ewige  Bewegung  geben,   womit  Ar. 


Einige  Corollarien  des  Simplicius  etc.  187 

Annahme  von  der  ewigen  Bewegung   zAirückgewiesen   wäre.     Oder 
man  nimmt    das  Gegentheil  von    dem    an,    was  Ar.    wollte,    man 
nimmt  nämlich  an,  dass  nicht  ein  bewegtes  dv-tooiov  der  Bewegung 
gegenüberliegt    (es  lässt    sich    diese  Annahme  wieder    nur  in    der 
Weise  schlichten,  dass  man  den  Begriff  der  Bewegung  nicht  ohne 
seine  Merkmale  setzen  darf,  also  auch  nicht  ohne  sein  Gegenstück, 
die  Welt  oder  die  ouaia  oucpavou.     Freilich   ist  Ar.  nicht  zu  dieser 
Ansicht  vorgedrungen,  hat  es   daher  dem   Philop.   leicht  gemacht, 
gegen  ihn  aufzutreten).    Und  Ar.  selbst,  sagt  Philop.  bei  S.  1130,  29 
bis   1131,  9,    habe    Potenz    und    Bewegung    promiscue    gebraucht. 
Darauf  erwidert    nun  S.  1131,  9  ff.    so  ziemlich    das  Gleiche,    was 
Philop.  für  seine  eigene  Behauptung  zuletzt  aus  Ar.  selbst  heraus- 
gelesen hat;  hernach  (1131,  13 ff.)  ist  festzuhalten,    dass  auch  der 
Umstand  gilt,    dass  zwar  überall    in    der  Bewegung    ein  derselben 
Vorangehendes  vorliegt,  dass  aber  hier  in  dem  Gebiete  der  ewigen 
Bewegung    auch    davon    abgesehen  werden    kann.      Denn   hier  ist 
immer  Bewegung,  nur  bald  diese,  bald  jene.     Immer  aber  müsse 
man  eine  Potenz  vor  der  Bewegung  annehmen,  wie  z.  B.  die  Sonne 
als  Potenz  gilt  für  die  Bewegung  des  Stiers,  wenn  sie  im  Widder 
sich  bewegt.     Und  während  Philop.  diese  Bewegungsgleichzeitigkeit 
absolut  nimmt,    verhält  sich  die  Sache  doch   insofern  anders,    als 
man,  weit  entfernt,  die  Unendlichkeit  beider  Verhältnisse  voraus- 
zusetzen, doch  nebenbei  ein  fortwährendes  Werden  gelten  zu  lassen 
hat.     Während  nämlich,  sagt  S.  1132,  7  ff.,    Ar.  wirklich  bemerkt, 
dass  mit  dem  Zustandekommen  des  Erfolges  auch  die  Ursache,  die 
spezifische   Potenz,    aufhört,    darf  man  nicht  behaupten,    dass  mit 
dem  Fehlen  der  Bewegung    auch   die  Potenz  fehlt.     J\l.  a.  W. :   es 
will  S.  wohl  die  Behauptung  des  Ar.  gelten  lassen,  dass  die  Potenz 
ewig  ist,    aber  nicht    die    des  Philop.,    welcher    dem    Ar.    in    die 
Schuhe  schiebt,    dass  er  eine  Potenz   jemals   als    nicht    existirend 
hinstellen   will.      Dies    wird    1132,  12  ff.    noch    weiter    ausgeführt. 
S.  legt  aber  weiter  dar,  dass  mau  aus  Ar,  (201  al9,  201  b7)  und 
aus    Themistios    herauslesen    könne,    dass    Philop.  Unrecht    habe. 
Man  muss    nämlich,    entgegen    der  Meinung    des    Philop.    (bei  S. 
1133,  7 — 9),  dass  von  dem  Niedrigeren  zum  Höhereu  bei  der  Be- 
stimmung   des  letzteren  ausoresansen  werde,    umgekehrt    von  dem 

13* 


188  Job-  Zahlfleisch, 

Höheren  zum  Niedrigeren  fortschreiten,  also  dass  die  Bestimmung 
des  Letzteren  in  dem  Ersteren  enthalten  ist,  und  dass  man  sich, 
wie  Philop.,  aus  den  logischen  Elementen  nicht  verleiten  lasse,  die 
Art  als  Hauptsache  zu  betrachten,  um  von  dieser  aus  die  Gattung 
zu  bestimmen,  sondern  vielmehr  umgekehrt.  Denn  wenn  auch 
eine  gegenseitige  Bestimmung  solcher  Art  vorkommt,  so  darf  man 
diese  Wechselseitigkeit  doch  nicht  für  die  Definition  auch  gelten 
lassen. 

Zweiter  Einwand  des  Philop.  1133,  16ff. .  worin  er  wieder  zu 
zeigen  versucht,  wie  die  Potenz  eine  endliche  Macht  ist,  also  dass 
Ar.  mit  seiner  Behauptung  von  der  ewigen  Himmelskraft  Unrecht 
habe.  Denn,  meint  Philop.,  wenn  man  Feuer  in  einer  ihm  nicht 
zukommenden  Region  anzünde,  ebenso  wie  Wasser,  wenn  es  als 
Regen  entsteht,  so  hätte  immer  nur  die  jeweils  mitlaufende  Potenz 
des  betreffenden  Elementes,  aber  nicht  die  Potenz  als  solche  etwas 
zu  bedeuten.  Denn  es  gebe  keine  Potenz  vor  der  Energie;  das 
Holz,  aus  welchem  Feuer  (1133,  30—1134,  19)  entzündet  werde, 
sei  nicht  potentiell;  denn  wie  könne  ein  Schweres  und  Hartes  die 
Potenz  von  einem  Leichten  sein?  Insoweit  nämlich  das  Holz 
schwer  ist,  kann  es  nicht  das  leichte  Feuer  bewirken,  und  somit 
siebt  es  keine  Potenz  in  dem  Holze  für  das  Feuer. 

Dritter  Einwand  (1134,  29 ff.).  Vermöge  der  Lehre  von  der 
Potenz  müsste  jede  Bewegung  in  eine  beliebige  andere  übergehen 
können,  was  doch  dem  gesunden  Verstände  widerspricht  (Philop. 
hat  dabei  nicht  wissen  können,  dass  wir  heut  zu  Tage  wohl  Analoge 
zu  dieser  Voraussetzung  haben.  Denn  die  Thatsache  von  dem 
Uebergang  der  wichtigsten  Naturkräfte  in  einander,  von  Schall 
in  Licht,  von  Licht  in  ^Värme,  von  Wärme  in  Magnetismus,  von 
Magnetismus  in  Elektricität,  von  Elektricität  in  Chemismus  u.  s.  w. 
beweist,  dass  Philop.  den  Ar.  mit  Unrecht  tadelt). 

Viertens  (1134,  33  ff.).  Als  Energie  einer  Bewegung  muss 
man  immer  das  ansetzen,  was  sich  an  die  eigentlich  Kraft  der 
betreffenden  Materie  anschliesst;  so  haben  Brot  und  Wein  nur  die 
Energie  des  Brotes  und  Weines.  Die  daraus  erfolgende  Ernährung 
unter  dem  Einflüsse   der   vegetativen  Seele    beim  Genüsse   der  er- 


Einige  Corollarien  des  Simplicius  etc.  189 

wähuten  Stoffe  unterliegt  einer  anderen  Kraft.  So  hat  das  Holz 
au  sich  nicht  die  Kraft  das  Feuer  in  die  Höhe  zu  heben,  sondern 
vorerst  nur,  das  Feuer  zu  unterhalten^^ 

S.  erwiedert  hierauf  (1135,  15 ff.),  dass  Ar.  nur  sagen  wollte, 
dass  es  uicht  angehe,  ein  Princip  anzunehmen,  welches  sich  von 
anderen  Principien  vollständig  loslöse  und  selbständig  sei.  Hat 
er  sich  hiermit  nicht  gut  ausgedrückt,  so  ist  das  seine  Schuld. 
Aber  daraus  dürfe  Philop.  nicht  den  Schluss  ziehen,  dass  seine, 
des  Ar.,  Annahme  falsch  sei.  Gesteht  ja  Philop.  selbst  zu,  dass 
seine  eigene  Ansicht  dasselbe  besagt,  wie  Ar.  Denn  auch  bei 
Philop.  sind  Feuer  und  Wasser  aus  Ursachen  entstanden,  welche 
nicht  auf  einmal  abbrechen,  sondern  auf  immer  andere  und  andere 
Ursachen  hinüberführen. 

Im  Folgenden  (1135,  28 — 34)  erklärt  S. ,  dass  selbst  unter 
Voraussetzung  der  Unrichtigkeit  des  Aristotelischen  Axioms  von 
der  Bewegung  die  Annahme  eines  obersten  Bewegenden,  das  zu- 
gleich ewig  ist,  uicht  umgestossen  werde.  Wir  haben  gesehen, 
dass  sich  aus  der  Annahme  der  Potenz  dies  sowohl,  wie  vieles 
Andere  erklärt  (vgl.  Erdmann,  Grundr.  d.  Gesch.  der  Philosophie, 
Berlin  1896,  2.  Bd.  S.  59f.). 

Aber  es  wird  nicht  einmal  Ar.  durch  Philop.  widerlegt.  Denn 
(1136,  Iff.).  Ar.  habe,  sagt  S.  gegen  Philop.,  2  Arten  von  Po- 
tenzen angenommen;  die  eine  ist  diejenige,  welche  auf  die  Energie 
hin  wirklich  endigt,  die  andere  aber  die  ohne  Energie  bloss  po- 
tentiell gültige,  d.  h.  nur  in  dem  Sinne  zu  erwartende,  dass  man 
keinen  wirklichen  Erfolg  damit  gegeben  habe,  sondern  nur  eine 
Fähigkeit.  Und  insofern  Philop.  z.  B.  dem  Holze  die  Kraft  des 
Feuers  abspricht,  während  Ar.  sie  gelten  lasse,  insofern  habe  er, 
Philop.,  Unrecht.  Gegen  diese  Voraussetzung  des  S.  will  Philop. 
1136,  26 f.  geltend  machen,  dass  man  es  hier  ja  nicht  mehr  mit 
einer  Bewegung,  sondern  mit  einem  Werden  zu  thun  habe,  insofern 
Holz  zu  Feuer  werde.  S.  wendet  dagegen  ein,  dass  dem  Ar.  ja 
auch  das  Werden  eine  Bewegung  ist  nach  E  1,  224  bSfi".,  2,  226 
al2  u.  s.  w.  Aber  formell  Hesse  sich  gegen  diese  Argumentation 
des  S.  einwenden,  dass  es  sich  ja  nicht  darum  handle,  was  Ar. 
darüber  meint,  sondern  was  die  Wahrheit  ist. 


190  Joh.  Zahlfleisch, 

S.  giebt  weiter  au  (1136,  o51Y.),  dass  Ar.  für  das  Werden 
die  Definition  der  Bewegung  voraussetzte  (201  a9),  und  dass  das 
Werden,  das  von  Philop.  bei  dem  Prozesse  der  Verbrennung  dem 
Holze  zugeschrieben  w^erde,  nur  darin  bestehe,  dass  aus  Holz  Feuer 
werde,  während  die  Bewegung  auf  der  Potenz  des  Holzes  beruhe, 
zunächst  die  avo)  xi'vrjat;  zu  bewerkstelligen,  eine  Annahme,  welche 
gewiss  nicht  mit  dem  Aristotelischen  Begriffe  der  o-jvotixic  streite, 
die  in  der  xivyjök  gelegen  sei.  Doch  zu  diesem  Behufe  will  S. 
die  Worte  des  Philop.  selbst  anführen  (1137,  24fi".). 

In  diesen  verweist  Philop.  nochmals  auf  die  bereits  oben 
(4l34>(19ff.)  vorgebrachte  Annahme  von  der  gleichzeitigen  An- 
wesenheit zweier  Potenzen  im  selben  Stoffe,  insoweit  das  Holz  au 
sich  schwer,  aber  daneben,  in  Rücksicht  auf  das  sich  nach  oben 
bewegende  Feuer,  doch  wieder  leicht  sei,  eine  Annahme,  von 
deren  Absurdität  Philop.  überzeugt  ist.  Doch  S.  wendet  die  Sache 
so,  dass  diese  Potenzen  nicht  von  der  nämlichen  Seite  aus  ge- 
nommen werden  dürfen,  wie  z.  B.  das  Holz  der  Potenz  nach  wohl 
leicht  ist  in  Vergleich  zu  der  Wirklichkeit  des  Feuers,  dagegen 
der  Energie  nach  schwer  in  Hinsicht  auf  die  daraus  erst  ent- 
stehende, also  potentiell  im  Holze  schlummernde  Fähigkeit  der 
Aufwärtsbewegung. 

Wir  haben  nämlich  iin  Holze  eine  Potenz  „leicht"  und  eine 
Energie  „schwer",  daneben  haben  wir  eine  Potenz  „Aufwärts- 
bewegung" und  eine  Energie  „Abwärtsbewegung"  im  Holze. 
Während  aber  die  eine  von  diesen  Potenzen  und  Energien  an  sich 
feiner  erscheint,  ist  die  andere  nur  nebensächlich.  Also  gilt  von  den 
zwei  Potenzen  nur  eine,  während  Philop.  fälschlich  deren  zwei  neben- 
einander angenommen  hat.  So  sei  es  auch  mit  dem  ^Vasser, 
welches  au  sich  '{^u/et,  während  es  in  accidenteller  Weise  erwärmt, 
ebenso  wie  das  Holz  evspYsta  schwer  ist,  aber  potentiell  Wärme  in 
sich  enthält  (insofern  es  Brenn-  und  Wärmestoff  ist).  Und  in  der 
That  gehört  auf  diesem  Wege  jedem  Elemente  die  doppelte  Potenz 
au,  wie  z.  B.  dem  Wasser  an  sich  die  Kälte,  dann  aber  auch  in 
der  anderen  ]\ichtung  die  Wärme  (S.  kommt  hier  aber  wieder  auf 
das  zurück,  was  er  oben  1136,1  ff.  aus  Ar.  von  der  doppelten 
Potenz  herausgelesen  hat)./ 


Einige  Corollarien  des  Simplicius  etc.  191 

Mit  diesen  Ausführungen  hat  S.  den  obigen  ersten  drei  Punkten 
des  Philop.  widersprochen.  Dazu  kommt  der  Einwand  gegen  den 
vierten  Punkt  (1138,  17  ff.). 

Gegen  den  vierten  Punkt,  den  wir  bereits  oben  hervorgehoben,  ist 
von  S.  (1138,  17 — 26)  eingewendet,  dass  Ar.  mit  seiner  Erklärung 
der  Potenz  nicht  von  dem  Standpunkt  ausgeht,  dass  man  die 
Potenz  und  Energie  als  auf  demselben  Priucip  fussend  zu  be- 
trachten habe,  insoweit  Philop.  behauptet,  dass  aus  Brot  nie 
Fleisch,  aus  Holz  nie  Feuer  werden  kann,  ausser  in  uneigent- 
lichem Sinne.  Denn  Ar.  habe  gerade  unter  Potenz  etwas  von  dem- 
jenigen Verschiedenes  verstanden,  was  sich  daraus  entwickeln  soll. 

Ferner  (1138,  26 ff.)  wenn  auch  Ar.  nicht  vom  Brote  ausdrück- 
lich gesagt  hat,  dass  es  Fleisch,  oder  vom  Samen,  dass  er  ein 
Mensch  werde,  so  bleibt  deshalb  doch  nach  allgemeiner  An- 
schauung beides  nicht  in  seinem  ihm  ursprünglich  eigenen  Zustande, 
sondern  unterliegt  einer  Veränderung. 

Nun  gibt  es  aber  auch  verschiedene  Arten  von  Potenzen  im 
Hinblick  auf  die  Einwirkung  der  nicht  direct  in  dem  unmittelbar 
Vorliegenden  enthaltenen  Umstände;  es  giebt  vollkommene  und 
unvollkommene  Potenzen,  zwischen  denen  eine  dritte  Art  in  der 
Mitte  sich  befindet.  Da  der  Gedanke  neu  ist,  so  müssen  wir  ihm 
etwas  genauer  nachgehen.  Als  Beispiel  für  die  erste  Art  von 
Potenzen  gelten  dem  S.  alle  Kräfte  und  Eigenschaften  der  Dinge 
als  solcher.  So  hat  z.  B.  Holz  jedenfalls  die  Kraft  und  Eigenschaft 
des  Holzes  an  und  für  sich,  ebenso  Luft  die  der  Luft,  Feuer  die 
des  Feuers  an  und  für  sich.  Die  unvollkommenen  Potenzen  werden 
veranschaulicht  durch  die  Veränderung  desjenigen,  was  eine  Potenz 
in  sich  hat,  wonach  die  Energie  zu  Stande  kommt,  also  dass 
etwas,  das  etwa  als  Fötus  noch  nicht  die  Eigenschaften  eines  er- 
wachsenen Wesens  zeigt,  erst  das  letztere  werden  lässt,  oder  das 
z.  B.  als  Pflanze  eine  gewisse  Beschaffenheit  des  Pflanzenkörpers 
zur  Schau  trägt,  denselben  dahin  verändert,  dass  seine  ursprüng- 
liche Beschaffenheit  in  Bezug  auf  die  Dimensionen  eine  andere 
Gestalt  annimmt,  d.  h.  sich  vergrössert,  oder  dass,  wie  aus  einer 
Raupe  ein  Schmetterling,  ebenso  aus  einem  Körper  gewöhnlicher 
Natur    durch  Umtauschung    seiner  Moleküle   eine   andere  Art  von 


192  Joh.  Zahlfleisch, 

Körper    wird,    ein  Vorgang,    welcher    bei    der    Nahrungsaufnahme 
stattfindet,  was  man  Veriinderuns:  schlechthin  nennt. 

Wenn  jedoch  diese  Sache,  welcher  eine  Potenz  innewohnt, 
doch  auch  neben  der  Veränderung  bleibt,  welche  mit  ihr  vor- 
genommen wird,  dann  hat  man  einen  mittleren  Zustand,  wie  es 
sich  z.  B.  mit  derjenigen  Bewegung  verhält,  welcher  bei  den  ört- 
lich ihren  Standpunkt  verändernden  Körpern  vorkommt,  und  des- 
halb ist  auch  die  örtliche  Bewegung  die  vollkommenste  von  allen 
(vgl,  Ar.  Metaph.  H.  A.).  So  bewegt  sich  das  Feuer  in  der  Art, 
dass  man  in  ihm  vermöge  seiner  Aufwärtsbewegung  immer  die 
vollkommene  Kraft  der  Bewegung  erkennt  (welche  offenbar  in  dem 
aus  dem  Himmelsfeuer  hergenommenen  vollkommenen  Princip 
ruht),  während  die  ünvollkommenheit  desselben  in  der  Unterhal- 
tung des  Feuers  durch  niedrigere,  der  irdischen  Natur  sich  an- 
nähernde Kräfte  dargestellt  ist  (xtö  ctTeXsi  osvotfisi  xat  t-^  cpuosi 
TrXr^ata'CovTt  1139,  6f.).  Beim  Werdeprocesse  z.  B.  sieht  man  (vgl. 
das  obige  Exempel  vom  Fötus),  keine  in  sich  gleich  bleibende 
Kraft,  während  wir  hier  bei  der  Ortsbewegung  eine  solche  wohl 
haben  (1139,  8—10). 

Auf  Grund  nun  derjenigen  Potenzart,  welcher  von  S.  als  die 
mittlere  bezeichnet  wurde,  hat  er  die  Anschauung  des  Philop.  zu- 
nichte gemacht,  welche  nur  eine  einzige  Potenz,  die  von  S.  als 
die  erste  aufgeführte  voraussetzt  (1140,  10).  Wollten  wir  aber 
eine  Polemik  gegen  S.  in  dieser  Richtung  eröftnen,  so  bestände 
dieselbe  rein  nur  darin,  dass  wir  ihm  den  Vorwurf  nicht  ersparen 
könnten,  dass  er  anstatt  eines  eigentliches  Beweises  nur  eine  Be- 
schreibung dessen  geliefert  hat,  was  er  sich  unter  Potenz  vorstellt.  ^ 
Wollten  wir  aber  einen  Vergleich  ziehen  mit  dem,  was  von  uns 
heutzutage  als  Potenz  aufgefasst  wird,  dann  hätten  wir  zu  sagen, 
dass  unsere  Philosophie  leider  über  den  Begrilf  des  Vermögens  oder 
der  Kraft,  oder  der  Potenz  nacli  niclit  hinausgekommen,  nur  dass 
wir  im  Stande  sind,  die  betreft'enden  Arten  der  Potenz  nicht  wie 
S.  als  Anhängsel  der  ersten  „vollkommenen"  darzustellen,  sondern 
dass  wir  gerade  die  letzte  Art  der  Potenz  des  S.,  die  „unvollkommene" 
und  als  die  wichtigste  betrachten:  allerdings  nur  Trpos  \\mc.  nicht 
xai>'   auxo.     Denn  die  genauere  Betrachtung  der  Naturkräfte  führt 


Einige  Corollarien  des  Simplioiiis  etc.  193 

uns  immer  mehr  dazu,  dass  wir  erkeuneu,  es  gebe  nur  eine  Grund- 
kraft und  dass  die  übrigen  bloss  aus  der  Finflussnahnie  uns  un- 
bekannter, ursprünglich  in  den  Dingen  liegender  Kräfte  hervor- 
gegangen sind. 

la  Folge  dessen  hätte  auch  des  Philop.  Streitsache  durch  S. 
1140,  11—1141,  4  mehr  im  Anschluss  an  das  von  S.  aus  Ar.  selbst 
herangezogene  geschlichtet  werden  sollen,  da  es  dortselbst  heisst, 
dass  Ar.  von  keinem  Vorhergehen  einer  besonderen  Wesenheit  vor 
allem  Sein  und  vor  allem  Werden  handle,  während  doch,  wolle 
man  dieses  Sein  und  Werden  nicht  aus  den  [jly]  ov  ableiten  (1140, 
14 f.),  ein  positiv  Seiendes  vorausgesetzt  werden  müsste.  Denn 
nach  Ar.  191  a  24ft".  wird  das  Werden  nicht  entweder  von  einem 
Seienden  oder  Nichtseienden,  sondern  von  einem  mittleren,  einem 
der  Potenz  nach  Seienden,  der  Energie  nach  aber  nicht  Seienden, 
einem  ■/otxa  a'jjxßsßr^xo^  ov  erklärt,  was  eben  mit  der  von  mir  so- 
eben vorausgesetzten  Unterscheidung  zwischen  7:pö;  /([j-ac  und  xaO'  auxo 
übereinstimmt.  Philop.  wendet  die  Sache  so  (1141,2),  dass  ein 
sich  bewegen  Könnendes  vor  allem  Bewegtwerden  vorhanden  sei, 
wie  die  Wesenheit  überall  vor  jeder  Energie. 

Nach  S.  1141,  11 — 30  geht  die  weitere  Auseinandersetzung 
des  Philop.  auf  Folgendes  hinaus.  Wenn  des  Philop.  Parteigänger 
auch  annehmen,  dass  man  etwas  Potentielles  dem  Werden  zu 
Grunde  zu  legen  habe,  so  müsse  doch  das  Wirken  der  Gottheit 
nicht  mit  jenem  der  Natur  identificirt  werden  (1141,  16).  Denn 
Gott  lässt  nicht  bloss  die  Ideen,  sondern  auch  die  Materie  un- 
mittelbar aus  sich,  nicht  durch  Potenzen,  entstehen.  Damit  seien 
die  Potenzen  überflüssig  (21  ff'.);  jedenfalls  bedürfe  es  keiner  neuen 
Materie,  um  Materie  hervorzubringen.  Mau  dürfe  also  keine 
mittleren  Potenzen  aus  der  Macht  Gottes  sich  entstanden  denken. 
Denn  wenn  auch  die  natürlichen  Erscheinungen  und  Wirksamkeiten 
auf  dem  Grunde  von  zeitlichen  und  räumlichen  Folgeeft'ecten 
(Wirkungen,  bei  welchen  die  eine  durch  die  andere  abgelöst  wird), 
zu  Stande  kommen,  so  steht  Gott  dennoch  ausserhalb  Raum  und 
Zeit.  Denn  er  wirkt  nicht,  er  will  nur  (otpxsi  -j-ap  (zukJ)  ixovov  -q 
öeXeiv    Et;  x}]v  tcäv  TrpajjLYaxtov  oyatwaiv  1141,  28ff.). 


194  Joh.  Zahlfleisch, 

Wir  sehen,  wie  Philop.  durch  die  einzige  Wirksamkeit  Gottes 
und  nicht  durch  die  Potenz  die  Dinge  und  das  Werden  derselben 
erklären  möchte. 

Dies  wird  von  Philop.  in  dem  11.  Buche  seiner  gegen  Praklos 
gerichteten  Schrift  folgendermassen  erklärt:  Wenn  weder  aus  der 
uXr;  noch  aus  dem  auvoXov  (Aristotelisch  gesprochen),  etwas  wird, 
weil  diese  Dinge  nichts  bedeuten,  so  kann  das  Werden  nur  aus 
dem  £100?  stattfinden.  Dieses  letztere  aber  hat  nur  augenblickliche 
Wirkung,  weil  aber  dann  beim  Werden  das  sTooc  hierdurch  zu 
Grunde  gehen  miisste,  so  ist  auch  diese  Annahme  unmöglich  (S. 
1142,1 — 14).  Die  fernere  Annahme  eines  fortwährenden  Werdens, 
also  auch  einer  fortwährenden  Bewegung,  ist  unzutreffend,  weil  in 
solchem  Falle  diese  Bewegung  endlich  als  die  Voraussetzung  des 
Werdens  erscheinen  muss.  Denn  wenn  man  die  Dinge  durch  fort- 
währendes W^erden  entstehen  lässt,  weil  dasselbe  durch  Bewegung 
zu  Staude  kommt,  dann  muss  man  schon  vor  dem  Werden  Be- 
wegung gelten  lassen,  während  doch  das  zu  Beweisende  erst  die 
Bewegung  ist.     Es  sei  also   eine  petitio  principii  hiermit  gegeben. 

Man  kann  aber  das  Sein  der  Dinge  nur  daraus  erklären,  dass 
Materie  und  Zeit  und  überhaupt  alles  Seiende  zusammen  existiren, 
so  dass  vor  der  Welt  eine  Bewegung  nicht  war.  Und  in  Folge 
dessen  könne  man  nicht  die  Bewegung  als  Vorbedingung  aller 
Wirklichkeit  gelten  lassen.  Denn  es  ist  ja  Alles  zugleich  (1141, 
14-28). 

Die  von  S.  hier  aus  Philop.  vorgebrachte  These,  wonach  man 
das  Werden  und  die  Bewegung  der  seienden  Dinge  nicht  zeitlich 
voraussetzen  darf,  also  dass  Ar.  Unrecht  habe,  wenn  er  die  Dinge 
aus  dem  Werden  und  der  Bewegung  erklärt,  ist  kein  Beweis  gegen 
Ar.  Denn  für  Ar.  ist  die  Bewegung  genau  so,  wie  für  Philop., 
zugleich  mit  dem  von  der  Gottheit  gesetzten  All  gegeben.  Nur 
der  Wirksamkeit  nach  muss  die  Bewegung  von  dem  All  getrennt 
werden,  wobei  sie  in  Wahrheit  aber  noch  immer  nicht  von  dem- 
selben wirklieh  abgesondert  ist.  Denn  Bewegung  ist  von  dem  be- 
wegten Ding  nicht  trennbar.  Nur  wir  verallgemeinern  und  ab- 
strahiren   den    Bcgrilf  Bewegung  aus   dem   Ikwcgten.     Ebenso  Ar. 

S.  selbst    entgegnet    dem  Philop.  Folgendes  (1142,  28ff.):    Er 


Einige  Corollarien  des  Simplieius  etc.  195 

behauptet,  dass  die  Annahme  des  Philop.,  dass  Alles  schon  gegeben 
sei,  und  dass  man  aus  nichts  die  Dinge  werden  lassen  müsse,  un- 
möglich von  Philop.  im  Ernste  gemeint  sein  könne  (1143,  3—19), 
ferner  müsste  man  das  Sein  der  Dinge  nur  so   gelten  lassen,  dass 
die  Materie  aus  Materie    und   diejdeen    der  Atome   aus    gleichen 
Ideen  entstünden.     Auf  solche  Weise  könne  man   die  Materie  als 
für  sich    allein   bestehend    annehmen,    und    das  Entstehende    wird 
nicht  Alles  aus  dem  Seienden,    da    letzteres  eben   nicht  von  dem 
Entstehenden  getrennt  ist  (mit  diesen  Worten  wollte  Simpl.  gegen 
Philop.  offenbar  annehmen,  dass  es  nicht  angehe,  ein  solches  Werden 
gelten  zu   lassen,    das   eigentlich   nur  ein    Sein  ist  —  womit  man 
auf    die    Eleatischen    Trugschlüsse    zurückgeworfen   würde)    1143, 
20—1144,  4.     Aber  auch  den  Aristoteles  hätte  Philop.  besser   be- 
achten sollen,  welcher  die  Entstehung  aus  dem  Nichtseienden  191  aSO 
für  unmöglich   erklärt,    weil    man    etwas  Bestimmtes  voraussetzen 
müsste,  wofür  kein  Grund  vorliegt,  weil  dadurch  ein  progressus  in 
infinitum    zustande    käme,  wenn    man    nicht    ein  Idem    per  Idem 
constatiren    wolle    (1144,  4—8).     Dieses    Werden    wird    aber    von 
Philop.  nicht  genau  erfasst.     Denn  wenn  sie  aus  dem  Nichtseienden 
die  Dinge  werden   lassen,    dann    haben    sie  die  Autorität  des  Ar. 
gegen  sich,  welcher,  wie  bereits  erwähnt,  das  Nichtseiende  unmög- 
lich zur  Grundlage  des  Werdens  machen  kann,  während  in  Wahr- 
heit   nach   Ar.   oCi    -o    oc-'    ahla.;    oircosouv   ucpia-aacvov,    ä/Aa  to   sv 
iispöi  -/pövou  -rjv  £Üc  -Jj  sivai  -a'pooov  Xa/6v  als  Definition  des  Werdens 
gilt  (man  muss  aber  dabei  bedenken,    dass  S.    damit    doch    hätte 
erwägen    sollen,    dass    auch    im    letzteren  Falle    eine  Ursache    ge- 
geben ist)  1144,8—12.     Ar.  hat,  bemerkt  S.,  die  Entstehung  der 
Dinge  aus  Gott  entstehen  lassen.     Ar.  sei  nicht  Pautheist,  sondern 
die  Materie,  welche  Princip  und  Wirklichkeit  zugleich  ist,  entstehe 
fortwährend,  obwohl  sie  ewig  ist  (freilich  lässt  sich  Letzteres  nicht 
wohl    denken,    weil  Ewigkeit    und   Gottheit    auf   identischer  Basis 
ruhen).     Die    damit  in  Verbindung  gebrachte  Lehre    der    a-Myr^^i; 
bei  Ar.  will  S.  als  ein  blosses  Hilfsmittel  betrachten  zu  dem  Zwecke, 
um  dasselbe  zu  erzielen,  wie  Philop.  mit  seinem  von  Ewigkeit  her 
vorausgesetzten  Werdeprocess  (1144,  12 — 1145,6).     Man  wird  sich 
bei  dieser  Darlegung  des  S.  der  Ansicht  nicht  verschliessen  dürfen. 


196  Joh.  Zahlfleisch, 

dass  es  eigentlich  nur  nebensächliche  Unterschiede  sind,  welche  S. 
zwischen  Ar.  und  Philop.  aufdeckt.  Denn  die  Gottheit  des  Ar. 
wirkt  in  der  Welt  geradeso,  wie  die  Materie  und  die  Ideen  und 
Gott  bei  Philop.  und  in  der  durch  ihn  vertretenen  Lehre  des  Neu- 
platonismus  zusammen  gegeben,  aber  auch  wirksam  erscheinen. 
Der  Unterschied  besteht  nur  darin,  dass  Ar.  sich  Gott  ausserhalb 
der  Welt  denkt,  Philop.  dagegen  in  derselben  voraussetzt.  Weil 
wir  aber  Ersteres  wie  Letzteres  nur  analogisch  fassen  müssen,  so 
besteht  in  Wahrheit  darin  kein  Unterschied.  Denn  die  Analogie 
liegt  darin,  dass  wir  auch  in  dem  Falle,  wie  Gott  ausserhalb  der 
Welt  gedacht  wird,  voraussetzen,  dass  dieses  „ausserhalb"  nur  in 
dem  Rahmen  eines  Begriffes  gilt,  welcher  anthropomorphistisch  ge- 
bildet ist,  d.  h.  wir  können  uns  auch  kein  „ausserhalb"  vorstellen, 
ohne  unsere  eigenen  Gedanken,  durch  welche  wir  uns  die  Vor- 
stellung auch  einer  anderen  Welt  auf  Grund  der  unserigen  bilden, 
auf  dieses  selbst  anzuwenden.  Freilich  fragt  es  sich,  ob  in  unserem 
Denken  selbst  nicht  schon  jene  metaphysischen  Elemente  aufgelöst 
enthalten  sind,  welche  als  übermenschlich  gedacht  werden  dürfen; 
aber  da  wir  nur  schwache  Vorstellungen  davon  besitzen,  so  bleibt 
nichts  übrig,  als  uns  im  Grossen  darauf  zu  beschränken,  mensch- 
lich, d.  h.  endlich  zu  denken,  obwohl  unsere  Gefühle  uns  nicht 
selten  veranlassen,  in  der  That  ein  über  die  irdische  Glückseligkeit 
und  über  die  irdische  Intellectualität  Hinausragendes  nicht  bloss 
zu  denken,  sondern  gerade  auch  und  ausschliesslich  zu  fühlen. 
J)amit  ist  aber  die  von  S.  betonte  Scheidewand  zwischen  Deismus 
und  Pantheismus  nicht  aufgestellt,  sondern  aufgehoben. 

S.  will  nun  1145,  7 — 20  dem  Philop.  den  Vorwurf  der  In- 
consequenz  machen.  Denn  S.  sagt:  Philop.  hätte  die  Gottheit  als 
aus  dem  Nichts  schaffend,  dagegen  die  Natur  aus  einem  Seienden 
vorausgesetzt;  und  doch  habe  Philop.  zugleich  bemerkt,  dass  die 
Gottheit  aus  einem  Seienden  schafft,  und  dass  sie  in  dieser  Hin- 
sicht vor  der  Natur  nichts  voraus  habe.  Auf  solche  Weise  schafft 
Gott  nach  Philop.  die  Materie  aus  einem  anderen  Stoffe,  aber  aus 
einem  nicht  Seienden,  während  nach  Ar.,  wie  S.  meint,  die  Prin- 
cipien  aYsv/jTa  also  ungeschaffen  seien.  Da  nun  aber  nach  Ar. 
die    metaphysischen    Principien   Gott    nicht    wirklich   erschafft,    so 


Einige  Corollarien  des  Simplicius  etc.  197 

müssen  dieselben    in    den  Dingen    selbst    enthalten    sein.     Zudem 
kommt  es  darauf  an,  wie  man  jenes  jxt]  ov  des  Piiilop.,  aus  welchem 
Gott  die  Dinge  nach  der  einen  Version  schaffen  soll,    zu   erklären 
habe.     Es  ist  nach  Allem,  was  wir  von  den  Neuplatonikern  wissen, 
doch  wohl  anzunehmen,  dass  dieses  Nichtseiende  zugleich  ein  Sei- 
endes ist,  ungefähr  so  wie  das  Nichtseiende  Hegels  und  Schellings. 
Ueberhaupt  dürfen  wir,  meint  S.  weiter  (1145,21—27),  aucli 
wenn  Philop.  recht  hätte,  keineswegs  das  von  ihm  gegen  Ar.  Be- 
merkte auch  vom   letzteren    gelten  lassen,   weil    in  Wahrheit  Ar. 
die  Dinge  gar  nicht    aus    einem  Princip    entstehen    lässt    in    dem 
Sinne,    dass   das    letztere    wieder   anderswo    nur    abgeleitet    wäre. 
Denn  den  Ar.  trifft   dieser  Vorwurf,    dass    er    die   Dinge   und  das 
Princip  aus  einem  Seienden  ableitet,  gar  nicht,  weil  er  diePrincipien 
überhaupt  nicht  ableitet,    sondern  schon    als    gegeben  voraussetzt. 
(Nun  gerade  ganz  richtig  ist  diese  Annahme  des  S.  eigentlich  nicht; 
denn  in  Wahrheit  hat  ja  Ar.  die  Dinge  aus  Gott  abgeleitet.     Nur 
das  Wie?    ist    natürlich  fragwürdig,  weil    zwischen  Gott    und    den 
Dingen  hier  eine  Kluft  sich   aufthut,    die    auch    heute   noch  nicht 
überbrückt  ist).     Wenn   Philop.  die  Dinge    aus    einem    nicht  Sei- 
enden entstehen  lässt,  so  muss  dagegen  eingewendet  werden,   dass 
bei    der  Reduction    der    mit  Accidenzen    begabten  Wesenheit    auf 
diese  Letztere  selbst  am  Ende   die  Wesenheit  übrig   bleibt,  rück- 
sichtlich welcher  ja  Ar.  seinen  Process   iz  ivavxiov  si?  Ivavxiov  an- 
nehme (1145,  25—1146,  16). 

Und  daher  stellt  sich  nun  die  Sache  so:  Philop.  nimmt  an, 
dass  Gott  aus  dem  Nichtseienden  die  Dinge  geschaffen  habe,  Ar. 
setzt  die  Wesenheiten  voraus,  über  welche  Gott  gesetzt  ist,  und 
lässt  die  Wirklichkeit  durch  den  Spruch  s^  sv  st?  iv  entstehen. 
S.  bestreitet  die  Annahme  des  Philop.  und  will  bloss  die  Ideen  als 
Principien  gelten  lassen. 

S.  meint,  Philop.  nehme  den  Beweis  von  der  Ewigkeit  der 
Welt,  wie  er  von  Ar.  gegeben  worden,  nicht  an,  und  deshalb 
könne  Philop.  auch  von  der  Ewigkeit  der  Bewegung  sich  nicht 
überzeugen.  Diese  Anschauung  des  Philop.  hält  S.  für  unrichtig, 
weil  Philop.  die  Aristotelische  Voraussetzung,  die  Ewigkeit  der 
Welt,   nicht   zurückgewiesen  habe  (1146,  16—1147,  9).     Vgl.    die 


198  Joh.  Zahlfleisch, 

Anschauung  der  Scholastik    über  die  Aristotelische  Annahme   von 
der  Ewigkeit  der  Welt  bei  Math.  Schneid,  Ar.  in  der  Scholastik, 
i  Eichstädt  1875  S.  82  f.  u.  ö. 

S.  fährt  fort,  gegen  Philop.  zu  polemisiren,  welcher  in  Abrede 
stellt,  dass  ausser  dem  durch  die  Natur  Gegebenen  noch  ein  Ueber- 
natiirliches  vorhanden  sein  müsse,  von  dem  alle  Bewegung  ausgeht. 
Während  nämlich  die  von  Philop.  aufgestellten  Gegenbeweise  nur 
leere  Behauptungen  seien,  ergebe  sich  aus  Aristoteles'  Darstellung 
251a  16—21.  b5— 9  genau  das  Gegentheil  von  dem,  was  Philop. 
schliessen  wolle  (S.  1147,  10-1148,  25).  Dabei  nimmt  nämlich 
letzterer  an,  dass  die  Elemente,  aus  denen  die  Veränderung  und 
das  Werden  hervorgeht,  mit  einander  und  zugleich  gegeben  sind; 
so  1147, 17,  27,  29.  Man  rauss  übrigens  dem  Philop.  Gerechtigkeit 
widerfahren  lassen  und  sagen,  dass  von  ihm,  wenn  auch  in  anderem 
Gewände,  jene  Theorie  aufgestellt  ist,  welche  auch  heutzutage  noch 
die  Anschauung  eines  grossen  Theils  der  Philosophen  bildet,  die 
nämlich,  dass  wir  ausserhalb  des  durch  die  Natur  und  Sinnlichkeit 
Gegebenen  nun  einmal  nichts  annehmen  dürfen,  weil  sich  alle 
complicirteren  Verhältnisse  daraus  allein  erklären.  Darauf  gehen 
eben  jene  Bestrebungen,  welche  auf  der  einen  Seite  von  Causalität 
nichts  wissen  wollen  und  auf  der  anderen  ein  mattes  Analogie- 
[)rincip  einführen  möchten,  wobei  sie  sich  nicht  einmal  consequent 
bleiben,  weil  auch  dies,  wie  die  Causalität,  auf  eine  Apriorität 
hinauszielt.  Vgl.  den  sehr  interessanten  Aufsatz  Baumanns  im 
I.Heft  des  4.  Jahrggs.  d.  Archiv  f.  systemat.  Philosoph.  S.  44ft'., 
worin  Macli  als  ein  Gegner  jeder  Causalität  hingestellt  und  gegen 
ihn  im  obigen  Sinne  poleraisirt  wird. 

Am  bündigsten  aber  hat  Philop.  bei  S.  1148,  29—1149,  4  seine 
Ansicht  dahin  ausgesprochen,  dass,  unter  Voraussetzung  einer  be- 
wegenden Kraft  als  der  im  Feuer  ruhenden  physischen  Potenz  und 
eines  Bewegbaren  als  des  in  dieser  Potenz  zu  Grunde  liegenden 
Körpers,  bei  gleichzeitiger  Entstehung  des  Feuers  auf  der  einen 
Seite  eine  active,  auf  der  anderen  eine  passive  Bewegung  gegeben 
sei.  ohne  dass  man  eine  dieser  activen  und  passiven  Bewegung 
voraufgehende   Potenz   wirklich   der  Zeit    nach   voraussetzen    dürfe 


Einige  Corollarien  des  Simplicius  etc.  199 

und  auch  nicht  eine  an    die  Stelle    dieser  Doppelpotenz    tretende 
Relation.     S.  erwidert  darauf  Folgendes: 

„Wenn  das  Bewegte  eine  Wesenheit  ist,  und  die  Bewegung 
Energie,  und  wenn  überall  vor  der  entstandenen  und  vergangenen 
Energie  die  Wesenheit  der  Zeit  noch  voraus  liegt,  so  hat  Ar.  die 
Wahrheit  gesagt.  Denn  wenn  es  gilt,  dass  das  Feuer  von  unten 
nach  oben  sich  bewegt,  so  muss  man  zuerst  seinen  Standpunkt 
unten  annehmen,  weil  sonst  von  einer  Bewegung  nach  oben  gar 
nicht  gesprochen  werden  könnte.  Und  wenn  daher  Feuer  nicht  so 
ohne  weiters  in  der  sublunarischen  Welt  oder  in  den  höheren 
Regionen  schon  von  vorn  herein  gegeben  ist,  dann  muss  offenbar 
die  Wesenheit  des  Feuers  bereits  früher  vorhanden  sein.  Ausser- 
dem, wenn  von  einer  Potenz  gesprochen  wird,  welche  in  dem  Be- 
wegten enthalten  ist,  so  folgt  daraus,  dass  dieselbe  schon  früher 
gegeben  ist;  denn  die  Potenz  ist  ja  eben  deshalb  etwas  Unvoll- 
endetes, weil  sie  der  Vollendung  erst  bedarf.  Und  diese  Voll- 
endung wird  durch  das  activ  sich  bewegende  Princip  bewirkt, 
welches  ein  Vollkommenes  ist  und  aus  dem  Bewegten  in  ähnlicher 
Weise  herausfällt,  wie  die  Energie  aus  der  Potenz"  (1149,5—23). 
Dies  wird  dann  noch  mit  des  Ar.  eigenen  Worten  (202  all  und 
225  b29)  bekräftigt  und  noch  einmal  (1150,  9—12)  auf  Grund 
des  bisher  Gesagten  die  von  Philop.  auf  die  Relationstheorie  ge- 
baute Argumentation  zunichte  gemacht. 

Gegen  S.  Hesse  sich  nur  fragen,  woher  denn  jene  Principien 
der  Potenz  und  Energie  kommen.  Sie  müssen  ja  doch  in  und  mit 
den  Dingen  gegeben  sein,  auf  welche  und  in  welchen  sie  wirken. 
Es  ist  offenbar  der  alte  Streit,  ob  man  die  Principien  gesondert 
ausserhalb  der  Dinge  oder  ihnen  inhärirend  zu  denken  hat. 

Endlich  wendet  sich  S.  1150—1152  gegen  des  Philop.  An- 
sicht, dass  die  Elemente  von  Gott  aus  Nichts  geschaffen  worden 
sind  (1150,  24 f.),  indem  S.  sich  an  Ar.  hält,  Philop.  gegenüber 
aber  behauptet,  dass  unter  der  Voraussetzung  einer  -i'svsst;  ein 
Späteres  immer  aus  einem  Früheren  werden  müsste  und  dadurch 
ein  progressus  in  infin.  vorkäme,  während  die  Rücksichtnahme  auf 
ein  Erstes,  unmittelbar  aus  Gott  Entstandenes  und  nicht  aus  der 
-(svsai;    Hervorgegangenes,    zur    Aufstellung    eines   ewigen  Princips 


200  Job-  Zahlfleisch, 

führe  (1151,  1—5).  Ja,  es  miisste  vielmehr  bei  Ableugnung 
dieses  Princips  das  aus  dem  uTtoxst'ixsvoy  nach  Philop.  Hervorgehende 
etwas  Schlechteres  sein  (5 — 8). 

Da  Philop.  bei  S.  (1151, 8 — 21)  der  Ansicht  ist,  dass  es 
keiner  für  sich  bestehenden  Wesenheiten  bedürfe,  um  aus  ihnen 
die  Elemente  der  Natur  abzuleiten,  wie  Ar.  will,  sondern  dass  aus 
den  unteren  Naturkräften  wieder  durch  Combination  derselben 
andere  entstünden,  von  denen  das  All  gebildet  werde,  und  dass 
auch  nur  für  diese  letzteren  die  göttliche  Schöpfung  nöthig  sei. 
so  fragt  S.  (1151,  30—1152,  2),  ob  denn  nicht  auch  die  von 
Philop.  vorausgesetzte  Combination  unter  dem  Einflüsse  der  gött- 
lichen Macht  stehe,  welche  daher  einer  ungeheuren  Arbeit  sich 
unterziehen  müsse,  wenn  sie  bald  eine  Vereinigung,  bald  eine 
Trennung  der  damit  gesetzten  Kräfte  und  zwar  in  einer  unmess- 
bar  kurzen  Zeit,  zu  'vollziehen  habe.  (Man  denkt  bisher  unwill- 
kürlich an  den  sogenannten  Occasionalismus,  welcher,  wie  Ludwig 
Stein  gezeigt  hat,  keineswegs  bloss  auf  der  Anschauung  der  zur 
neueren  Philosophie  zu  rechnenden  Denker  Geulincs  und  Male- 
branche beschränkt  erscheint.)  Nach  S.  1152,  2—10)  müsste  Gott 
nur  die  vergänglichen  Dinge  geschafften  haben,  wenn  Philop.  Recht 
behielte,  während  ja  auch  die  ewigen  Wesen  aus  Gott  hervor- 
gegangen sind.  Das  Vergängliche  hängt  aber  nach  Ar.  erst  von 
den  durch  S.  hiermit  hervorgehobenen  ewigen  Wesen  ab.  Das  sei, 
sagt  S.  (10 — 15)  von  Gott  den  Dämonen  aufgetragen  worden,  zu 
schaff"en,  wenn  mau  Piatons  Warten  im  Timäus  41  D.  die  richtige 
Bedeutung  geben  wolle. 

II.  p.  1156—1169  (contra  Philoponum). 

Gegen  die  Annahme  des  Ar.,  dass  die  Zeit  ewig  sein  müsse, 
weil  über  den  Jetztpunkt  hinaus  nach  der  Vergangenheit  und  nach 
der  Zukunft  eine  unendliche  Zeit  sich  erstrecke,  bemerkt  Philop. 
bei  S.  (1157,  4 — 26).  dass  mau  vor  Allem  drei,  oder  vier  der  Reihe 
nach  auf  einander  folgende  Körpereigenschaften  in  Betracht  zu 
ziehen  habe,  da  erstlich  zunächst  die  Körpermasse,  hernach  die  be- 
wegliche Potenz  derselben  und  die  wirkliche  Bewegung,  und  end- 
lich die  Zeit  als  Zahl   der  Bewegung  vorausgesetzt  werden  müsse. 


Einige  Corollarien  des  Siraplicius  etc.  201 

In    zweiter    Reihe  käme    nach  Philop.    die    von   Platou,    Ar.    und 
anderen  Philosophen  aus  der  Materie  und  dem  Körper  abstrahirten 
Wesenheiten  in  Betracht.     Und  schliesslich  Tnuss  man  den  vouic  als 
eine  Kraft  ansehen,  welche,  weit  entfernt,  zeitlos  zu  sein,  selbst  in 
Gott    der  Zeit    unterworfen  erscheint.     Denn    selbst  Gott  muss   in 
seinem  Denken  und    in  seinem  Wollen  die  Dinge  mindestens  vom 
zeitlichen  Standpunkt  aus  schaffen,  d.  h.  so  darstellen,  dass  schon 
in  seinem  Verstände  die  Zeit,  in  welcher  Jeder  auftreten  soll,  ge- 
trennt   erscheint,   also    dass   dem  Einen   diese,    dem  Anderen   eine 
andere  Zeit  angewiesen    wird,    was    sich    eben  im  göttlichen    vou? 
speciell  reflectirt.     Und  deshalb  muss  umsomehr  in  der  Bewegung 
der  Welt,  die  ja    doch  viel  niedriger  steht  als   der  göttliche    vouc, 
die  Zeitlichkeit  oder  die  zeitliche  Unterscheidung  im  Gegensatze  zu 
der  von  Ar.   vorausgesetzten   Ewigkeit   festgehalten  werden.     Frei- 
lich hat  Gott  die  Fähigkeit,  die  verschiedenen  Zeiten  des  Umlaufs 
der  Gestirne    in    sich    zu   denken,  während    die  niederen    Naturen 
nur  nach  einer  Zeit  sich  richten.    In  Gott  ist  der  vou?  eben  im  Stande, 
sich  über  alle  Zeiten  hinauszusetzen,  obschon  Gott  auch  die  Zeiten 
im  oben  angegebenen  Sinne  denkt  und  schafft  (1157,  26 — 1159,  7). 
S.  erwidert  hierauf  Folgendes.     Während  Philop.  die  Zeit  nur  zur 
Messung    der  Energie  benütze,    müsse    man  dieselbe    auch   als  das 
Instrument    betrachten,    welches    xyjv    tou    sTvai    Tiapaiaaiv    xai   xrjv 
xaxa  xös  TToioxTjxa^  misst  (1159,  8 — 14).     Ausserdem  ist  nach  Piaton 
Tim.    27  C  D    die  Zeit    nicht   bloss    als    irdische  Zeit  aufzufassen, 
sondern    sie     ist    auch    von    dem    Standpunkt    der    Idealzeit     zu 
nehmen. 

Nach  Philop.  wäre  ferner,  meint  S.  1159,  28 — 1160,  8,  voraus- 
zusetzen, dass  man  den  vouc,  welcher  von  den  wirklichen  Dingen 
vollständig  getrennt  erscheint,  als  etwas  Untheilbares  auffasse, 
welches  nicht  gestatte,  zwei  oder  mehrere  Vorstellungen  zugleich 
zu  denken.  Wie  aber  da,  meint  S.,  eine  Logik  möglich  sei,  in 
welcher  doch  ein  Merkmal  mit  einem  andern  sich  decken  müsste, 
könne  man  nicht  einsehen. 

Indem  ferner  S.  (1160,  8 — 31)  hervorhebt,  dass  des  Philop. 
Behauptung  in  ein  falsches  Dilemma  gerathe,  da  er  entweder  durch 
seine  Zerstückelung  der  Zeit  die  höhere  W^esenheit  oder  durch  seine 

Archiv  f.  Geschiebte  d.  Philosophie.    XV.  2.  14 


202  Job-  Zahlfleisch, 

zeitliche  Wesenheit  das  -po-epov  xal  uctspov  aufhebe,  kommt  er 
zum  Schlüsse,  dass  es  in  der  That  ein  -poxspov  xat  Saispov  gebe, 
welches  unter  den  3  Möglichkeiten  der  Reihenfolge  (öisst,  ouasi 
xat  ou3!.'a  und  /povo))  nur  zur  letzteren  Begrifflichkeit  (der  Zeit) 
gehöre.  Aus  dem  Ganzen  folgt  nach  S.  (1160,  32 — 1161,  21) 
dass  man,  um  dem  eben  dargelegten  falschen  Dilemma  zu  ent- 
gehen, ein  zeitliches  Trpoxepov  xal  uaTepov,  damit  aber  die  Bewegung 
und  damit  wieder  die  Zeit  als  unumstössliches  Princip  gelten  zu 
'lassen  habe. 

Philop.  erklärt  bei  S.  (1161,  22 — 28)  weiterhin,  dass  unter 
Voraussetzung  der  Aufhebung  der  Körperlichkeit  (in  Folge  der  von 
Ar.  supponirten,  von  den  Körpern  als  solchen  abstrahirenden  ouaiai) 
auch  die  Zeit  aufgehoben  sei.  und  wenn  auch  von  einem  Tipotepov 
und  ucftspov  in  diesem  Falle  gesprochen  werde,  dann  sei  dasselbe 
ausser  aller  Zeit  zu  setzen.  Philop.  hat  aber,  nach  S.  28 — 37,  die- 
jenigen seiner  Gewährsmänner,  welche  über  das  bisher  gehörige 
Verhalten  des  voijc  sprechen,  missverstanden.  Denn  nicht  jxexa- 
ßctTix«);,  sondern  dtxsTaßaxojc  werde  vom  vou?  das  zeitliche  Ver- 
halten der  Dinge  betrachtet.  (Man  muss  hier  bemerken,  dass  die 
Polemik  in  einen  blossen  Wortstreit  auszuarten  droht,  wenn  nicht 
dabei  beharrt  wird,  dass  Philop.  die  Existenz  der  natürlichen  Zeit 
überhaupt  leugnet,  sondern  das  Bewusstsein  von  derselben  nur  dem 
göttlichen  Wesen  zumutliet,  während  S.  eine  naturgemässere  Hal- 
tung einnimmt.)  Philop.  gesteht  aber  selber  zu,  wie  S.  1162  f., 
insbesondere  1162, 30ff.  ausführt,  dass  eine  Zeit  bestehen  muss, 
weil  sie  in  Gott  vorhanden  ist,  obwohl  freilich  auch  dieses  Lob 
auf  Philop.  noch  eingeschränkt  werden  muss,  weil  S.  1163,11 — 24 
behauptet,  dass  zwischen  der  Zeit  in  Gedanken,  wie  sie  Philop.  im 
göttlichen  vouc  voraussetzt,  und  zwischen  der  wirklichen  Zeit  ein 
wohl  zu  betrachtender  Unterschied  besteht,  umsomehr  als  ja  auch 
auf  Ar.  eine  solche  Supposition  gar  nicht  passen  würde. 

Da  jedoch  Philop.  bei  S.  1158,  32 — 35  bemerkt  hatte,  dass 
man  sich  für  die  Annahme  der  (gewöhnlichen)  Zeit  nicht  auf 
Redensarten  berufen  dürfe,  wie:  „es  gab  nicht  immer  eine  Zeit" 
oder:  „vor  dem  Gewordensein  war  keine  Zeit",  so  dass  etwa  daraus 
gefolgert  werde,  dass  schon  iu  den  Worten   die  Voraussetzung  der 


Einige  CoroUarien  des  Simplicius  etc.  203 

Zeit  mit  gegeben  sei,  während  in  der  That  damit  nur  darauf  ver- 
wiesen werde,  dass  ein  fortwährendes  Bestehen  der  Zeit  undenkbar 
sei,  so  wendet  sich  S.  1163,  25—1164,6  gegen  diese  Argumentation 
und  sagt:  Wenn  man  schon  einmal  Worte  gebrauche,  so  müsste 
mit  dieser  der  gewöhnliche  Sinn  verbunden  werden.  Nun  liege 
aber  in  den,  von  Philop.  in  so  naturwidriger  Weise  interpretirten 
Redensarten  offenbar  die  Annahme  einer  Zeit  verborgen.  Es  wäre 
daher  im  hohem  Grade  ungereimt,  dieselben  anders  zu  fassen. 

Auf  die  von  Ar.  251  bl4— 19  vorgebrachte   Schlussfolgerung, 
dass  in  Hinsicht  auf  die  allgemeine'  Uebereinstimmung  der  Philo- 
sophen (mit  einziger  Ausnahme  Piatons)    man    bei    der  Annahme 
der  Ewigkeit  der  Zeit    zu    verbleiben    habe,    hatte  Philop.    bei  S. 
(1164,  7—19)  erwähnt,  dass  in  solchen  Fällen  die  Stimmen  nicht 
gezählt,  sondern  gewogen  werden  sollten,  und    dass  unter  Voraus- 
setzung   des  von  Ar.,  angeblich    nach  Philop.    befolgten    Principes 
Ar.  selbst  in  die  Klemme  geriethe,   insofern   er  mit  seiner  TrejxTrr/j 
ouata  gegenüber    allen  anderen  Philosophen    gänzlich    allein    stehe 
und  daher  der  verlierende  Theil    sein    müsste.      Ausserdem    aber 
hätte  aus  demselben  Grunde  Ar.  kein  Recht,  auf  seiner  Annahme 
von  der  Ewigkeit  der  Welt  zu  beharren,  da  er  mit  derselben  voll- 
kommen  allein   stehe.     Und   auf  solche  Weise,   meint  Philop.   bei 
S.  1164,20—25,  ergebe  sich,    dass    gerade  Piaton    die    richtigere, 
die   anderen  Philosophen  die  unrichtige  Behauptung  aussprechen, 
weil  ersterer  sich  consequent  bleibt,  indem  er  annimmt,  dass  unter 
Voraussetzung  der  Schöpfung    (der  Welt)    auch  die  Zeit    in  dem- 
selben Acte  zugleich   mit  erschaffen   wurde,   während  die  anderen 
Philosophen  wohl  von  einer  Schöpfung  der  Welt,  nicht  aber  auch 
von  einer    solchen    der  Zeit    sprechen.      Und    dann,    sagt    Philop. 
ebend.  (25 — 28),  müsse    es  auffallen,    dass  Ar.    seine  Gegner,    die 
damaligen  Philosophen,  sonst  immer  so  darstelle,  dass  sie  nur  Un- 
richtigkeiten behaupten,  an   dieser  Stelle  jedoch   dieselben  zur  Er- 
härtung seiner  eigenen  Meinung  verwende. 

Darauf  entgegnet  nun  S.  1164,  31—39,  dass  Philop.  die  An- 
führung der  alten  Philosophen  von  Seiten  des  Ar.  missverstanden 
habe.  Denn  Ar.  bringe  dieselben  als  Zeugen,  wie  gewöhnlich, 
erst  nach    der  eigenen  Aufstellung    der    betreffenden  Theorie    vor, 

14* 


204  Job.  Zahlfleisch, 

indem  er  damit  nur  seine  Freude  ausdrücken  wolle,  dass  schon 
Andere  dieselbe  Ueberzeugung  gewonnen  hätten,  wie  er  selbst, 
wodurch  weiter  für  seine  Leser  der  Anlass  geboten  sei,  dass  sie 
seine  eigenen  Angaben  urasomehr  Vertrauen  und  Ueberzeugung 
entgegenbringen.  Ausserdem  bemerkt  S.  (1165,  10—20),  dass  es 
gar  nicht  vollständig  richtig  sei,  was  Philop.  behaupte,  dass  Piaton 
die  Zeit  nur  als  etwas  Endliches  gelten  lassen  wolle.  Ar.  habe  es 
überhaupt  mehr  auf  die  Anhänger  der  von  Philop.  vertretenen 
schroffen  Lehre  abgesehen,  aber  nicht  eigentlich  auf  Piaton  selbst, 
welcher  ja  nur  ein  Abbild  der  Ewigkeit  in  der  irdischen  und  ver- 
gänglichen Zeit  aufgestellt  habe. 

Und  was  den  von  Philop.  oben  betreffs  der  Quintessenz  ge- 
machten Einwurf  betrifft,  so  unterscheidet  sich  nach  S.  1165,  21 
bis  33  Ar.  von  den  übrigen  Philosophen  und  von  Piaton  insbe- 
sondere hierin  gar  nicht.  Denn  wie  dieser  nahm  er  als  Haupt- 
elemente der  problematischen  Welt  Erde  und  Feuer  (neben  Luft 
und  Wasser)  au,  wie  dieser  bemerkte  er,  dass  es  nothwendig  sei, 
für  die  ausserhalb  der  wirklichen  Dinge  befindliche  Himmelswelt 
noch  ein  eigenes  Element  aufzustellen,  welches  Piaton  mit  dem 
Pentagondodekaider  (vgl.  meine  Abhandlung  „über  Analogie  und 
Phantasie"  im  4.  Bande  d.  Arch.  f.  System.  Philos.,  S.  167),  Ar. 
mit  seiner  usfjnrxYj  ouata  identificirie.  Es  musste  sich  aber  Piaton 
später  dem  Ar.  genähert  haben,  weil  Xenokrates  bei  S.  1165,  33 
bis  39  hervorhebt,  dass  das  fünfte  Element  bei  Piaton  der  «iöt^o  ge- 
wesen sei. 

Aber  im  Grunde  haben  auch  diejenigen  Philosophen,  welche 
von  der  Welt  behaupten,  sie  sei  geworden,  während  die  Zeit  un- 
geworden  ist,  vollkommen  Recht,  da  sie  ja  ersteres  unter  Voraus- 
setzung der  ewigen,  ungewordenen  Zeit  annehmen,  so  dass  nach 
ihrer  Ansicht  das  Gewordensein  der  Welt  einzig  und  allein  auf 
einer  hypothetischen  Annahme  beruht.  Ar.  hat  immer  anerkannt, 
dass  seine  Vorgänger  in  der  Philosophie  untereinander  und  mit 
dem  Stagiriten  selbst  übereinstimmten,  da  er  nur  ihre  Ausdrücke 
tadelt.  Und  daher  ist  es  dem  Philop.  auch  nicht  möglich,  einen 
zu  nennen,  welcher  soweit  von  Ar.  abwiche,  dass  jener  den  Ar. 
einer  Inconsequenz  zeihen  dürfte.     Und  wenn  auch  Philop.  meint, 


Einige  Corollarien  des  Simplicius  etc.  205 

dass  für  seiue  eigene  Ansicht  die  Eingangsworte  der  hl.  Schrift 
sprechen,  in  welciien  die  Sonne  erst  am  vierten  Schöpfungstage 
erschaffen  worden  sei,  also  dass  zugleich  auch  die  Zeit  begann,  so 
müsste  es  doch  als  ein  Widerspruch  aufgefasst  werden,  wenn  man 
von  einem  vierten  Tage  spricht,  ohne  dass  zugleich  eine  Zeit  an- 
genommen wird.     So  S.  1165,40—1166,31. 

Philop.  wirft    aber    dem  Ar.  auch    noch  petitio  principii  vor. 
Ar.  habe    (251  bl9ff.)    irgend    einen    beliebigen    Gegenwartspunkt 
genommen  und  habe    zu  zeigen  versucht,    dass    unter    dieser  Vor- 
aussetzung nach  der  Seite   der  Vergangenheit,   wie  nach  jener  der 
Zukunft  vor,  bezw.  hinter  diesen  beliebig  gewählten  Punkten  eine 
Zeit  sich  erstrecken  müsse,  weil  man  sonst  die  geläufigen  3  Zeiten 
unmöglich  festhalten  könne;  und  so  habe  Ar.  mit  seiner  Annahme 
der  Promiscuität  oder  beliebigen  Auswahl  jenes  vuv  die  Unendlich- 
keit   der  Zeit,    welche    er    beweisen    wollte,    schon    vorausgesetzt, 
geradeso,  wie  einer,  der  von  einer  Linie  zu  beweisen  unternehme, 
dass  sie  unendlich  lang  sei,   indem  er  einen  beliebigen  Punkt  auf 
derselben  voraussetze,    vor    und  hinter  welchem    die  Linie    immer 
noch  sich    erstrecke  (1166,  32 — 1167,  16).      Darauf   entgegnet    S., 
dass  die  Aristotelische  Darstellung  auf  keiner  von  den   drei  mög- 
lichen Arten  einer  petitio  principii   beruhe,   weder  auf  derjenigen, 
welche  auf  verschiedene  Bedeutung  eines  Wortes,   noch  auf  jener, 
welche  auf  eine  unvermerkt  in  die  Prämissen  sich  einschleichenden 
Identität  derselben    mit    dem  Schlusssatze    hinziele,    noch    endlich 
auf  der,  die  da  nur  als   eine  Umkehrung  eines  identischen  Satzes 
gelte.     Ar.  nehme  das  vuv  absolut  und  gehe  ohne  Seitenblicke  auf 
die  allgemeinen  Eigenschaften  der  Zeit  zu  Werke.     Und   was  das 
Beispiel  mit  der  Linie  betrifft,  so  unterscheidet  sich  der  Punkt  als 
Raumtheil  von  dem  zeitlichen  Jetzt    in    der    Art,    dass    von    dem 
Letzteren    auch    die    Vergangenheit    und    die  Zukunft    mitgezogen 
wird.     Und  daher    hat  Philop.    nach    Simpl.    die  Sache    unrichtig 
dargestellt,    weil    er    den  Ar.    falsch    aufgefasst    habe.     Denn    der 
Raumpunkt  ist  eine  eigentliche,  also  untheilbare  Einheit,  -während 
das  Jetzt  getheilt  werden  kann. 

Ausserdem  weist    S.    den  Vorwurf  des  Philop.    bezüglich    der 
petitio  pr.  in  der  Art  zurück,   dass  er  zeigt,   es  sei  nicht  richtig, 


206  Job.  Zahlfleisch, 

anzunehmeu,  dass  die  Ewigkeit  als  Voraussetzung  des  Jetzt  gelte, 
also  dass  mau  nicht  im  Stande  sei,  einen  Beweis  ohne  diese  Vor- 
aussetzung zu  liefern  (1167 — 1169). 

III.    Simplicius'  Corollar  1171,30—1182,39 
(contra  Philoponum). 

Indem  sich  Philop.  auf  seine  im  Vorigen  auseinandergesetzte 
Entgegnung  beruft,  erklärt  er  bei  S.  1171,30—33,  dass  er  auf 
Grund  seiner  bisherigen  Darlegung  im  Stande  sei,  auch  die  Folge- 
rung des  Ar.  252  a3f.  zunichte  zu  machen  S.  erwidert  hierauf 
(1171,  33—1172,  2),  dass,  insofern  es  dem  Philop.  nicht  gelungen 
sei,  die  vorige  Streitfrage  zu  lösen,  welche  sich  auf  das  d-clvr^xov 
bezieht,  ebenso  nach  dem  nämlichen  Gesichtspunkte  auch  die  das 
acpöapxov  betreffende  These  des  Ar.  unangetastet  bleiben  muss. 

Es  geht    ferner,    meint    Philop.    bei  S.  1172,5—13,  nicht  an 
zu  behaupten,    dass  hinter    der  Bewegung    irgend    eines    physiolo- 
gischen Organs  noch  eine  weitere  Bewegung  in  der  Art  stattfinde, 
dass,  wenn  die  diesem  Organ    eigenthümliche  Bewegung  aufgehört 
hat,    wie    z.  B.    die    des    Herzens,    der    Arterie    oder    der    Lunge, 
oder      wenn     irgend      ein      Element,      wie      etwa      das      Feuer, 
die    ihm    zukommende    Wirksamkeit    vollbracht    hat,    eine  diesen 
Bewegungen    übergeordnete    an    ihrer  Stelle    treten  soll.      Darauf 
entgegnet  S.  mit   den  Worten   des  Ar.  251  b31f.,   wo  er  sagt,   es 
sei  nicht  dasselbe,   ob   etwas   in   der  energischen  oder  potentiellen 
Bewegung  sich  befindet.     Wenn    die   erstere  aufgehört    hat,    kann 
die  letztere  immer    noch   fortdauern.      Denn    dem  Ar.    kommt    es 
nicht  darauf  an,  dass  eine  der  vorausgegangenen  Bewegung  gleich- 
artige immer  vorhanden  sei,  sondern,  weit  entfernt.     Die  Ewigkeit 
einer  solchen  gelten   zu  lassen,  will  Ar.   nur  die   vorausgegangene 
Bewegung  vielmehr    durch    eine  andere,    neuartige,    aufgenommen 
wissen  (1172,  13—20).     Und    nun  verweist  S.   auf  das,   auch  der 
neueren  Metaphysik  geläufige  Ineinanderwirkon  der  Elemente,  wo- 
bei er  nochmals  den  Ar.  251  b29— 31  citirt.     (Diels  hat  hier  die 
Anführungszeichen    (1172,  31—37)    zu    weit    ausgedehnt,    da    die 
Worte  33—37  nur  Erklärung  des  S.  ist.) 

Philop.  beruft  sich  nun   bei  S.  (1172,  39—1173,  15)  auf  Ar. 


Einige  CoroUarien  des  Simplicius  etc.  207 

selbst,  iudeiü  er  darlegen  will,  dass  nach  dem  Stagiriten  eine  so- 
genannte d^rjöa  "[sveai;  und  demgemäss  auch  eine  7.&p6a  cpOopa 
vorkommt,  in  welcher  von  einer  ins  Unendliche  gehende  Bewegung 
nicht  die  Rede  sein  könne.  S.  verweist  dagegen  1173,  15 — 25  auf 
Ar.,  indem  er  bemerkt,  dass  Philop.  den  Ar.  falsch  verstanden 
habe,  insofern  im  Grunde  auch  bei  der  äOpoa  -(ivaaiq  und  ciOopa 
die  Bewegung  betheiligt  sei.  Indem  nun  S.  dies  noch  weiter  aus- 
führt, bemerkt  er,  dass  vor  Gott,  von  dessen  Allmacht  die  Existenz 
der  Welt  abhängt,  von  keiner  Zeit  die  Rede  sein  kann,  sobald  es 
sich  um  die  Erschaffung  der  Dinge  handelt.  Abgesehen  davon 
dass  Philop.  (vgl.  S.  1174,  (5—16)  das  Werden  mit  der  Bewegung 
verwechselt,  muss  man  denselben  darauf  aufmerksam  machen,  dass 
er  jene  göttliche  Zeitlosigkeit  annimmt,  dass  er  jedenfalls  sich 
widerspräche,  wenn  er  die  Aristotelische  Anschauungsweise  nicht 
gelten  lassen  wollte.  Philop.  habe  den  Fehler  begangen,  dass  er 
die  Gottheit  manchmal  auch  nicht  wirken  lasse,  während  sie  in 
Wahrheit  zwar  zeitlos,  aber  immer  wirke  (vgl.  1175,  5—10). 
(Wie  in  allen  metaphysischen  Fragen,  so  steckt  offenbar  auch 
hier  ein  Fehler:  S.  konnte  nicht  von  der  Zeitlosigkeit  das  Prädicat 
„immer"  aussagen). 

Die  folgende  Auseinandersetzung  des  S.  gleicht  sehr  dem,  was 
wir  bereits  kennen.  Hervorgehoben  mag  1176,  3f.  werden,  wo, 
im  Gegensatze  zu  einem  positiven  Werden,  das  Werden  aus  dem 
Nichtseieuden  als  ein  vollkommen  Unbestimmtes  und  Unsicheres 
dargethan  wird. 

Gegenüber  der  Voraussetzung  des  Philop.  bei  S.  1175,  16 — 26 
und  1176,  14 — 16,  dass  man  die  vernichtende  Kraft  nicht  immer 
in  einem  ausserhalb  des  der  Vernichtung  anheimfallenden  Gegen- 
standes suchen  darf,  bemerkt  S.  1176,  17 — 31,  dass  in  diesem  Falle 
eine  jener  Wirksamkeiten  gelten  müsste,  wie  sie  sich  nur  in  den 
unmittelbar  vom  Himmlischen  regierten  Regionen  finden.  In  diesem 
Falle  könnte  auch  nicht  von  einer  unmittelbar  der  Wesenheit  ent- 
strömenden Potenz  gesprochen  werden,  weil  auch  keine  messbare 
Zeit  vorhanden  wäre.  Der  von  Philop.  1175,  25  f.  als  verfehlt  be- 
zeichnete Beweis  ferner,  wonach  Ar.  mit  seiner  Voraussetzung  des 
fortwährenden  Werdens  und  Vergehens  einen  progressus  in  infinitum 


208  Job.  Zahlfleisch 


hervorrufe,  wird  von  S.  1176,  34—1177,  8  dadurch  zurückgewiesen, 
dass  man  einen  solchen  Beweis  hier  jedenfalls  nicht  in  dem  Sinne 
statuiren  darf,  wie  dies  Philop.  thut,  welcher  glaubt,  dasselbe  be- 
ruhe auf  einem  sophistischen  Lorites.  S.  zeigt,  dass  man  im 
letzteren  Falle  von  gar  keiner  Unendlichkeit  reden  darf,  sondern 
im  Gegentheil  nur  von  einer  Alternative,  wie  in  dem  bekannten 
Beispiele  vom  Tropfen,  der  den  Stein  aushöhlt,  ohne  dass  man  in 
jedem  einzelnen  Falle  dieser  Wirksamkeit,  d.  h.  bei  jedem  einzel- 
nen Tropfen  das  Resultat  seines  Thuns  oder  Wirkens  wahrzuneh- 
men vermag.     Vgl.  Cicero  Acad.  II  16,  49, 

Das  Folgende  dürfte  nun  von  Wichtigkeit  werden  wegen  der 
Lesart  bei  Ar.  S.  sagt  1177,  10 — 37:  „Nachdem  Alexander  be- 
merkt hatte,  dass  die  Vernichtung  des  derselben  anheim  Gegebenen 
durch  die  Thatsache  erfolgt,  dass  eine  Bewegung  mit  gewissen 
Dingen  vor  sich  geht,  nämlich  mit  dem,  woher  die  Vernichtung 
kommt  (so  hat  ja  Ar.  gesagt),  u.  zw.  sowohl  dann,  wenn  dieses 
Vernichtende  nicht  vernichtbar,  als  auch  wenn  es  vernichtbar  ist, 
so  hat  Philop.  nicht  wahrgenommen,  dass  Alex,  nicht  von  dem 
Vernichteten,  sondern  dem  Vernichtenden  spreche.  Zugleich  hat 
Philop.  auch  den  Ar.  vergessen,  welcher  sagt:  xotl  -o  cpOctpTixöv  Srj 
oe^/^asi  ©öapTyvai,  oxotv  cpöet'pTj,  xo(l  xh  to'jxov  cpDapxtxov  ttocXiv  uatspov. 
Denn  des  Philop.  Beweisführung:  wenn  die  Natur  auch  nicht  den 
ersten  Stoff  erzeugt,  so  wird  derselbe  doch  von  der  Gottheit  zu- 
stande gebracht,  nicht  aus  der  Materie,  so  dass  er  sie  auch  wieder 
vernichten  kann,  wenn  er  will,  was  auch  von  der  durch  Gott  aus 
nichts  geschalfenen  Idee  gilt,  —  ist  unhaltbar.  Vgl.  S.  1170, 
26—1171,  8. 

Es  ist  schon  oft  gezeigt  worden,  dass  das  von  Gott  aus  nichts 
Geschaffene  keineswegs  unter  dasjenige  Gewordene  gerechnet  werden 
d;irf,  wonach  ein  früher  nicht  Seiendes  später  wirklich  ist,  weil 
letzteres  immer  nach  genauer  Zeit-  und  Umstandsbestimmung 
definirt  werden  kann,  ersteres  dagegen  nicht." 

Im  Folgenden  polemisirt  S.  (1177,  38—1178,  ö)  gegen  Philop. 
in  dem  Sinne,  dass  er  ihm  eine  Begridsverkehrung  vorwirft,  welche 
darauf  hinausgeht,  dass  er  wohl  die  Vernichtung  der  Welt  auf 
eine  höhere,    göttliche  Instanz    positiver  Natur    zurückführt,    aber 


Einige  Corollarien  des  Simpliciixs  etc.  209 

nicht  die  Entstehung  derselben.  Denn  Philop.  erklärt,  dass  unsere 
Welt  einmal  in  eine  bessere  übergehe.  Und  das  ist  nach  S.  nicht 
Vernichtung,  sondern  Vervollkommnung;  also  auch  hier  ein  Wider- 
spruch. 

Die  folgende  lange  Auseinandersetzung  (1178,  5 — 1180,  30) 
hat  nun  die  Aufgabe,  des  Philop.  Voraussetzung  zu  bekämpfen,  dass 
es  unmöglich  sei,  durch  eine  unendliche  Reihe  von  Bewegungs- 
effecten  die  Bewegung  als  ewig  zu  demonstriren.  Das  TtpioTov 
'!isu6o$,  in  welchem  sich  Philop.  bei  seiner  fünffachen  Deduction  be- 
wegt, liegt  nach  S.  darin,  dass  er  das  dcTTctpov  gerade  in  jenem  Sinne 
fasst,  vor  welchem  Ar.  bei  verschiedenen  Gelegenheiten  gewarnt 
habe,  nämlich  im  absoluten,  wirklichen,  energetischen  Sinne.  Denn 
das  Unendliche  ist  nach  Ar.  nicht,  sondern  wird. 

S.  führt  nun  noch  aus,  dass  dem  Philop.  mit  seiner  Voraus- 
setzung der  Bedeutung  des  airsipov  keine  Möglichkeit  geboten  sei, 
das  Werden  der  Dinge  zu  erklären,  nicht  bloss  deshalb,  weil  ausser 
dem  von  Philop.  angenommenen  Unendlichen  kein  Element  gegeben 
ist,  sondern  auch,  weil  mit  dem  blossen  Unendlichen  eine  Ver- 
knüpfung der  Dinge  unmöglich  zustande  kommen  kann,  da  jenes 
weder  einen  Anfang  noch  ein  Ende  besitzt  (1181,  1 — 4).  Die  Be- 
deutung dieser  Worte  erhellt  aus  dem  Folgenden  (4 — 26),  wo  S. 
den  Unterschied  in  der  Auffassung  des  Philop.  und  des  Ar.  klarlegt, 
indem  er,  offenbar  mit  denselben  Argumenten,  wie  Ar.  Metaph. 
a  2,  darthut,  dass  man  nicht  berechtigt  sei,  einen  bis  ins  Un- 
endliche gehenden  Uebergaug  einzelner  Elemente  in  dem  Sinne 
gelten  zu  lassen,  dass  man  immer  verschiedene  Elemente  voraus- 
setzt, da  vielmehr  dieser  Uebergang  nach  Ar.  ein  kyklischer,  kein 
Uebergang  xctx'  3ioo;  ist  (vgl.  Metaph.  994a  2)  oder  IrC  suOsia? 
(1181,  27;  vgl.  Metaph.  994a  2  sk  cuöuojpiav). 

Philop.  begeht,  sagt  S.  1181,27-1182,14,  den  Fehler,  dass 
er  die  Unendlichkeit,  welche  nach  Philop.  eine  durch  Energie, 
und  nicht,  wie  bei  Ar.,  durch  die  Potenz  bestimmte  ist,  als  abge- 
schlossen {rhzWiJziz  1182,  14)  betrachtet.  Denn  in  Wirklichkeit 
fehlt  zur  Vollendung  des  ins  Unendliche  Strebenden  immer  noch 
etwas.  Diese  Vollendung  wird  aber  von  einem  Anfanglosen  herbei- 
geführt, durch  welches  auch  die  Bewegung  der  sublunarischen  Welt 


210  -To^-  Zahlfleisch, 

zustande  kommt,  welche  uie  aufhört  (1182,  5).  Und  insofern  hat 
Philop.  unrecht,  wenn  er  der  Energie  grössere  Bedeutung  beilegt 
als  der  Potenz;  denn  wenn  auch  die  Energie  ihrem  Werthe  nach 
höher  zu  schätzen  ist  als  die  Potenz,  so  muss  auf  dem  Gebiete 
des  Werdens  doch  das  Gegentheil  gelten,  weil  die  Potenz  eigentlich 
als  die  Erhalterin  alles  Seienden  erscheint  (1182,  14—27). 

Zum  Schlüsse  bemerkt  S.  noch,  dass  Philop.  mit  seiuen  Ein- 
wendungen eigentlich  darauf  ziele,  die  Ewigkeit  der  Welt,  wie  sie 
von  Ar.  vorausgesetzt  wird,  illusorisch  zu  machen. 

IV.  Corollarbei  S.  1326,38-1336,8  (contra  Philop.). 

Philop.  wird  hier  von  S.  im  Allgemeinen  in  gleicher  Weise,  wie 
früher,  zurechtgewiesen,  indem  sich  Ar.  nach  S.  das  Unendliche  nicht, 
wie  Philop.  will,  als  etwas  in  sich  Abgeschlossenes,  sondern  als 
etwas  immer  und  immer  in  der  Entwickelung  Begriffenes  denkt. 
Im  Besonderen  geht  Philop.  bei  S.  (1329,  19—25)  so  vor:  Das 
Himmlische  und  das  Sublunarische  besteht  aus  Materie  und  Form; 
das  Materielle  bedarf  der  Materie  zum  Zwecke  seiner  Existenz; 
das,  was  eines  Anderen  bedarf,  ist  nicht  selbstständig;  das  nicht 
Selbstständige  ist  nicht  mit  unendlicher  Potenz  ausgestattet.  Also 
ist  die  Welt  nicht  ewig,  sondern  vergänglich.  S.  erwidert  hierauf, 
dass  (1329,  25—33)  das  Unendliche  trotz  der  Annahme  des  Philop. 
bestehen  könne,  dass  ein  Materielles  nicht  selbstständig  sei.  Denn 
ein  Ding,  welches  nicht  selbstständig  ist,  kann  immerhin  an  sich 
nicht  unendlich  sein,  wohl  aber  seine  Unendlichkeit  von  aussen 
her  empfangen;  und  damit  sei  eben  nicht  die  energetische,  son- 
dern die  Unendlichkeit  der  Potenz  wieder  nachgewiesen.  Die  Vor- 
aussetzung des  Philop.,  dass  eine  einzige  Materie  für  Himmel  und 
Erde  genüge,  kann  man,  meint  S.  1329—1331,  nicht  gelten  lassen. 
Denn  vor  Allem  sieht  man  nicht  ein,  mit  weichein  Rechte  das 
oberste  Element,  die  Quintessenz,  die  Dinge  auf  der  Erde  gestalten 
solle  (1330,  10.  21).  Und  überhaupt  könne  man  nicht  dafür  sein, 
dass  der  Himmel  als  vernichtbar  angenommen  werde,  wenn  man 
sehe,  wie  die  Dinge  dieser  Welt  in  einander  übergehen,  ohne  dass 
jedoch  mit  Philop.  des  Glaubens  sei,  dass  bei  dieser  Verwandlung 


Einige  Corollarien   des  Simplicius  etc.  211 

die  Dinge  nur  ihre  Plätze  wechselten.  Ein  Vergehen  oder  Vernichtet- 
werden könnte  überhaupt  nicht  angenommen  werden,  weil  die 
Materie  es  sei,  auf  Grund  welcher,  während  sie  zu  bestehen  fort- 
fährt, die  Äenderung  in  den  Dingen  vor  sich  gehe.  S.  hält  dem 
Philop.  entgegen,  dass  er  eher  auf  Platou  sich  berufen  sollte,  nach 
welchem  durch  die  himmlischen  Kräfte  die  irdischen  regiert  werden. 
Indem  nun  ferner  Philop.  1131,  17 — 25  mit  theilweisem  Wider- 
spruch gegen  sich  selbst  (vgl.  24,  25 — 30)  behauptet,  dass  bei  der 
Zergliederung  der  Dinge  am  Ende  doch  nur  wieder  etwas  übrig 
bleibe,  dem  das  Merkmal  der  Unendlichkeit  fehlt,  beruft  sich  S. 
auf  seine  Erklärung  zu  tt.  oupavou  270b  32ff.,  wonach  schon  die 
Kreisbewegung  des  Himmels  auf  die  Ewigkeit  hinweise. 

Und  wenn  nun  Philop.  aus  dem  Umstände,  dass  die  irdischen 
und  himmlischen  Elemente  etwas  Abgeschlossenes  und  nicht  Un- 
endliches bedeuten,  schliesst,  dass  das  gleichbedeutend  mit  dem 
Vernichtbaren  (cpöapxov)  sei,  so  widerspricht  ihm  S.  1332,  3^7. 
Die  Endlichkeit  und  Vergänglichkeit  der  Dinge  illustrirt  Philop. 
durch  das  Beispiel  des  Wassers,  welches,  zwischen  den  Händen  zer- 
rieben, verschwinde;  ferner  dadurch,  dass  man  finde,  je  geringer 
die  dabei  genommene  Quantität  des  Wassers  sei,  umso  rascher  das- 
selbe vernichtet  werde,  je  grösser,  umso  langsamer,  Dazu  -will 
Philop.  aber  auch  die  Endlichkeit  der  Zeit  zum  Beweise  heran- 
ziehen, indem  er  voraussetzt,  dass  ein  Kyathos  Wasser  z.  B.  ein 
Jahr  lang  aufbewahrt  werden  könne.  Dasselbe  sei  aber  mit  jedem 
derjenigen  Kyathoi  der  Fall,  in  welche  die  gesammte  Wassermasse 
der  Erde  zerlegt  werde.  S.  erwidert  hierauf  (1332,  33 — 35),  dass 
Philop.  dabei  die  Verwandlung  der  übrigen  Elemente  in  Wasser 
nicht  in  Rechnung  gezogen  habe.  Mit  Rücksicht  auf  die  damit 
gekennzeichnete  Verwandlung  sämmtlicher  Elemente  in  einander, 
welche  durch  die  ewige  Einwirkung  des  lozb;  y.6v.\o;  herbeigeführt 
werde,  werde  eben  die  Fortdauer  der  Elemente  garantirt  (1332, 
35 — 40).  Die  nun  folgende  Auseinandersetzung  des  S.  gegen  Philop. 
1332,  60 — 1334,  18  besteht  darin,  dass  es  nicht  angehe,  die  himm- 
lischen Elemente  geradeso  wie  die  irdischen  in  kleine  Theilchen 
zu  zerlegen,  ohne  dass  jemals  eine  Veränderung  in  der  materiellen 


212  Job.  Zahlfleisch, 

Qualität  derselben   erfolge,    womit    aber   zugleich   ein  allmähliches 
Verschwinden,  eine  Vernichtung  der  Theilchen   für  den  Wahrneh- 
menden gegeben  sei;    denn    das,    was    einen  Eindruck    erleide  (xa 
TTctOr^Toc  1334,  J3f.),  werde  wohl  wirklich  zerlegt,    das  davon  Freie 
jedoch  nicht;  denn  wenn  auf  letztere  auch  die  energetische  Theilung 
Anwendung  finde,  so  gilt  daneben  doch  noch,  dass  diese  Theilchen 
beisammen  bleiben  (1334,  14 — 16).     Unter  allen  Umständen  lasse 
sich  aber  von  einer  Vernichtung  nicht  sprechen.     Denn  wenn  wir 
dem  Augenschein  trauen  müssen,  so  ergiebt  derselbe,  dass  wir  noch 
keineswegs  dem  Ende  aller  Dinge  nahe  sind,    da  wir    kein  Nach- 
lassen  der  himmlischen   Bewegung  und  im  Gefolge   desselben   ein 
Längerwerden    der    Tage    und    Nächte    zu    beobachten   vermögen. 
Denn  ein  Tagmarsch  hat  noch  immer  dieselbe  Länge  wie  ehedem, 
die  Rinder  pflügen  während  eines  Tages  noch  ebensoviel  Ackerland 
wie  früher  oder   noch  weniger,   und  die  Wasseruhren  verbrauchen 
Tag  aus  Tag  ein  dasselbe  Quantum  Wasser  (1334,  18 — 1335, 16). 
Endlich  wendet  Philop.  Folgendes  ein:    Wenn  man  von  einer 
Unendlichkeit  in  der  Dauer  der  Dinge  sprechen  soll,  dann  müsste 
irgend  ein  Theil    derselben    unendliche    oder    endliche  Potenz   be- 
sitzen.    Ersteres  ist  unmöglich,  weil  das  Unendliche  selbstgenügend 
ist,  und  weil  jeder  Theil  der  himmlischen  Dinge  nur  durch  seine 
Verbindung  mit  einem  Höheren  lebt  und  Kraft  besitzt.     Ausserdem 
müsste  das  Ganze  entweder  gleiche  oder  ungleiche  Kraft  gegenüber 
jedem  Theiie  haben.     Wenn  Letzteres  der  Fall    wäre,    und   wenn 
diese  Kraft  grösser  wäre,  dann  wäre  eine  Kraft  vorhanden,  welche 
über    das    Unendliche    hinausreicht.     Aber    auch    gleich    kann    die 
Kraft  nicht  sein,    weil    sonst  Theil    und  Ganzes    identisch    wären. 
Also  bleibt  nur  die  Endlichkeit  des  Alls,  weil,  insofern  das  Letztere 
aus  einzelnen  endlichen  Theilen    besteht,    und  weil  Endliches    zu- 
sammenaddirt,  nur  Endliches  giebt,  ein6 Unendlichkeit  ausgeschlossen 
erscheint.     Doch  ist  demgegenüber  von  S.  hervorgehoben,  dass  dem 
Unendlichen,  wie  es  von  Ar.  vorausgesetzt  wird,  keine  Theilung  zu- 
kommt.    Und,  wie  schon   wiederholt  hervorgehoben,   ist   die   Un- 
endlichkeit nicht  schon  sofort  verbanden,   sondern  ist  ein  Product 
der  Evolution,    wobei    der  Theil   nicht  ohne    das  Ganze    und    das 
Ganze  nicht  ohne  den  Theil   gedacht  werden   darf.     Denn  so  gut 


Einige  CoroUarien  des  Simplicius  etc.  213 

wir  selbst  bei  den  lebenden  Wesen  zwar  Theile  finden,  aus  welchem 
das  Ganze  besteht,  aber  daneben  wieder  andere,  durch  welche  das 
Ganze  überdauert  wird,  wie  die  Knochen  der  Thiere,  so  hat  man 
bei  dem  Uebergang  der  Elemente,  welcher  durch  die  alles  zu- 
sammenfassende Ewigkeit  der  Zeit  hindurch  geschieht,  nur  an  das 
damit  als  ewig  garantirte  Ganze  und  nicht  an  die  Teile  allein  zu 
denken,  welche  nur  in  ihrer  Verbindung  mit  dem  Ganzen  möglich 
sind  (1335,  17-1336,  33). 


IX. 


Die  NaturpMlosopMe  vor  Sokrates. 

Von 
Prof.  Dl.  Ernst  Chr.  Hch.  Peithmanii. 

1.  Einleitung:  Das  Verseheu  des  Aristoteles. 

Es  giebt  verschiedene  Gründe,  weshalb  das  fast  unausgesetzte 
Studium  der  vorsokratischen  Philosophie  von  Aristoteles  bis  auf 
unsere  Zeit  doch  nicht  die  gewünschten  Früchte  gezeitigt  hat. 
Wir  sind  heute  noch  ebenso  weit  entfernt  von  einem  klaren  Ver- 
ständniss  des  Heraklit  wie  zur  Zeit  des  Aristoteles  oder  des 
Diogenes  Laertius.  Noch  niemand  hat  eine  vernünftige  Auslegung 
von  dem  „Sein"  und  „Nichtsein"  des  Parmenides  gegeben.  Die 
Ausleger  haben  genug  „in  Worten  gekramt",  aber  sie  haben  die 
Sachen  nicht  klargelegt,  um  welche  sich  das  philosophische 
Interesse  dreht.  Und  doch  müssen  wir  voraussetzen,  dass  diese 
ältesten  Philosophen  ganz  bestimmte  Sachen  im  Auge  hatten  und 
nicht  bloss  leere  Worte  machten.  Aristoteles  ist  nach  meiner 
Meinung  schuld  an  all  der  Verwirrung,  die  in  der  Geschichte  der 
vorsokratischen  Philosophie  herrscht.  Der  Stagirite  hatte  sich 
seine  eigene  Philosophie  zurecht  gemacht.  Um  irgend  eine  Sache 
zu  erklären,  sagte  er,  muss  mau  ganz  deutlich  die  vier  Ursachen 
klarlegen  nämlich  ttjv  uXr^v,  tö  sTöos,  to  xiv9)aav  und  lö  ou  Ivsxof. 
Diese  vier  ahiai  mögen  aber  auch  reducirt  werden  auf  zwei:  f,  GXrj 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  215 

und  -0  £100?^).  Diesen  Ursachen  nachzuforschen,  sagt  Aristoteles, 
muss  nun  auch  vor  allen  Dingen  die  Aufgabe  des  Naturphilosophen 
seid.  Aristoteles  nimmt  es  für  sich  in  Anspruch,  dass  es  ihm 
völlig  gelungen,  nach  diesen  Regeln  die  Welt  zu  erklären.  Aber 
zur  selben  Zeit  giebt  er  zu,  dass  die  verschiedenen  Philosophen  vor 
ihm  mit  mehr  oder  weniger  Erfolg  über  die  eine  oder  andere 
dieser  Ursachen  nachgedacht  haben  oder  wenigstens  zufälligerweise 
darauf  gestossen  sind^).  Wenn  er  nun  zurückgeht  zu  den  An- 
fängen der  Philosophie,  so  besteht  für  ihn  wenig  Zweifel,  dass  die 
ältesten  Philosophen  ausschliesslich  mit  der  u\-q  beschäftigt  waren. 
Er  hat  durch  mündliche  Ueberlieferung  erfahren,  dass  Thaies  von 
Milet  die  Aeusserung  gethan  hat,  „dass  die  Erde  auf  dem  Wasser 
liege"  und  „dass  sie  in  ihrer  Lage  verharre  als  schwimmender 
Körper  wie  etwa  ein  Stück  Holz  oder  dergleichen".  Aristoteles 
zögerte  nicht,  hieraus  den  Schluss  zu  ziehen,  dass  Thaies  das 
Wasser  als  GXtj  oder  materielle  Ursache  des  Weltalls  ansah.  Be- 
treffs Anaximander  wusste  man,  dass  er  die  Theorie  aufstellte, 
dass  die  Dinge  aus  dem  «Trstpov  entstanden  und  ebendahin  auch 
wieder  verschwänden.  Anaximander  hatte  nicht  näher  bezeichnet, 
was  er  unter  dem  «Trstpov  verstand,  vermuthlich  weil  seinen  Zeitge- 
nossen dieser  Ausdruck  hinreichend  bekannt  war.  Aristoteles  aber 
ist  schnell  bei  der  Hand,  dies  «Trsipov  (nämlich  den  unendlichen 
Raum)  in  eine  bestimmte  oXr^  umzuwandeln,  indem  er  es  be- 
zeichnet TYjv  [xsTacu  cpuciv  äspoc  TS  xctl  TTUpo?  r]  dipo;  is  xat  uSato?. 
Betreffs  Anaximenes  hatte  er  leichte  Arbeit.  Dieser  hatte  nach 
allgemeiner  Ueberlieferung  behauptet,  dass  die  Dinge  (xa  ovia) 
„aus  der  Luft"  (dr^p)  ins  Dasein  kämen  und  „in  die  Luft"  auch 
wieder  verschwänden.  Aristoteles  konnte  hier  natürlich  keinen 
Augenblick  zweifeln,  dass  der  Letzte  von  den  Milesischen  Philo- 
sophen die  Luft  als  materielle  Ursache  oder  uTroxsifxsvov  ansah. 
So  hatte  er  denn  die  dfei  ersten  Männer  glücklich  untergebracht. 
Jetzt  kam  Heraklit  an  die  Reihe.     Er  wird  von  allen  Historikern 


')  Aristoteles,  Pariser  Aasgabe.     II,  2(59,  34;  26-2,  29;  551. 

2)  Arist.  III,  222,  4ö;    220,  25;    II  474,  10;  263,  15;  485,  42;  472,  48; 


473;  634,  47;  277,  19;  483,  7;  364,  2. 


216  Ernst  Chr.  ITch.  Peitbmann, 

als  der  Dunkle  bezeichnet  wegen  seiner  gelieimnissvollen  Sprache 
und  der  allgemeinen  Unklarheit  seiner  Philosophie.  Aber  es  war 
allgemein  bekannt,  dass  er  in  der  Erklärung  des  Weltalls  das 
Feuer  als  Illustration  und  Erklärung  des  Weltgebäudes  heranzog. 
Diesen  Punkt  grill"  Aristoteles  heraus  und  behauptete  kurz,  dass 
der  grosse  Ephesier  das  Feuer  als  Urstofi"  ansah.  Er  konnte  um  so 
weniger  hieran  zweifeln,  da  Empedokles  später  a.uch  das  Feuer  als 
eins  von  den  vier  Elementen  erwähnt.  Noch  verwickelter  wird  die 
Sachlage  in  Parmenides  und  Xenophanes. 

Von  Xenophanes  war  es  bekannt,  dass  er  zum  ersten  Mal  den 
Ausdruck  ev  auf  das  Universum  anwandte  und  dass  die  Einheit 
in  Gott  zu  linden  ist.  Parmenides  hatte  behauptet,  dass  man  nur 
sagen  kann  iav',  aber  nicht  oux  satt,  wie  gewisse  Vorgänger  be- 
haupteten, dass  nur  das  ov  Existenz  hat  und  dass  man  nicht  von 
oux  eivai  oder  einem  [xt]  ov  sprechen  darf.  Diese  Leute,  die  von 
dem  [iTj  ov  oder  besser  vom  oux  slvai  sprechen,  haben  auch  zwei 
entgegengesetzte  „Gestalten",  das  Feuer  und  die  Erde.  Aristoteles 
hatte  ausserordentlich  grosse  Mühe,  hier  eine  uXrj  zu  finden. 
Aber  seiner  ausserordentlichen  Begabung  gelang  es  doch  zuletzt, 
die  Sachen  so  zu  drehen  und  wenden,  dass  sie  in  seinen  Kram 
passten.  Parmenides,  so  sagt  er,  hat  eine  doppelte  Philosophie, 
die  der  Vernunft  und  die  der  Erscheinung:  nach  der  ersteren  sagt 
er,  dass  das  „Sein"  eins  ist  und  nach  der  letzteren  setzt  er  zwei 
Ursachen  und  zwei  Principien  voraus,  nämlich  das  Feuer  und  die 
Erde,  welche  dann  dem  Sein  und  Nichtsein  entsprechen.  Doch 
dies  mag  genügen.  Nach  dieser  Methode  gelang  es  Aristoteles, 
alle  vorsokratischen  Philosophen  unter  einem  einheitlichen  Schema 
hübsch  zusammenzufasssen.  Das  principium  divisionis  ist  die  apxv 
Die  Einen  sagen,  dass  der  „Urgrund"  „eins''  ist,  die  Andern 
„mehrere".  Die  erste  Gruppe  zerfällt  wieder  in  diejenigen,  welche 
den  Urgrund  „unbewegt"  nennen  und  die  andere,  nämlich  die 
Naturphilosophen  im  engeren  Sinne  behaupten,  dass  er  „bewegt" 
ist.  Diese  letzten  nehmen  dann  als  erstes  Princip  entweder  die 
Luft  oder  das  Wasser.  Die  Zweite  Hauptgruppe  hat  auch  wieder 
ihre  Unterabtheilungen,  so  dass  wir  das  folgende  Schema')  erhalten. 
3)  Aristot.  II.  248.  249. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates. 


217 


Der  Urgrund 


eins 


mehrere 


unbewegt 


bewegt 


Parmenides  Die  Naturphilosophen 

Melissus 


beschräukte        unbeschränkte 
Zahl 

Empedokles  Anaxagoras 

u. 
Demokrit 


Luft  Wasser 

Anaximenes    Thaies 


Zwischenstoff 

Anaximander 

(?) 


Diejenigen  Philosophea,  welche  das  aöi[xot  uTroxstfievov  (die  ap/vj) 
£v  nennen,  können  auch  hier  wieder  nach  einem  andern  prin- 
cipium  divisonis  eingetheilt  werden  in  zwei  Klassen.  Die  einen 
nämlich  lassen  die  Welt  daraus  entstehen,  „iruxvoxyjTi  xctt  aavoxri-, 
die  anderen  behaupten  „-a?  ivavxidtYjTo?  sxxpi'vsaOoii^)"  (Thaies, 
Anaximenes,  Haraklitus  —  Anaximander,  Erapedokler  Anaxagoras.) 
In  dieser  Weise  hatte  Aristoteles  den  Weg  gebahnt  für  die  Doxo- 
graphen  und  hatte  ihnen  die  Arbeit  des  Studiums  der  vorsokratischen 
Philosophie  leicht  und  bequem  gemacht.  Die  Nachfolger  des 
Stagiriten  nahmen  sich  nicht  die  Mühe  zu  den  Quellen  zurück- 
zugehen, sondern  hielten  sich  einfach  an  den  Meister.  Oder  wenn 
sie  die  Quellen  lasen,  so  suchten  sie  nur  in  erster  Linie  nach  der 
ap-///,  oder  dem  uTroxstfxsvov  und  zerbrachen  sich  nicht  den  Kopf 
wegen  der  übrigen  Punkte.  Auch  die  neueren  Geschichtsforscher 
gehen  meistens  aus  von  der  allgemeinen  Auffassung  des  Aristoteles. 
Niemand  hat  es  meines  Wissens^)  unternommen,  die  aristotelische 
Darstellung  der  ältesten  Philosophie  in  Bezug  auf  ihre  Genauigkeit 
und  Glaubwürdigkeit  zu  prüfen.  Die  doxographische  Tradition 
wird  meistentheils  den  Quellen  im  Werthe  gleichgestellt,  wenn 
nicht  gar  im  gewissen  Sinne  vorgezogen.  Aber  Aristoteles  beweist 
hinreichend,    dass  er    kein  Geschishtsforscher  im    moderneu  Sinne 


*)  Aristot.  II.  248  ff. 

5)  Dieser  Aufsatz  wurde  i.  J,  1898  verfasst. 
Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.    XV.  'i. 


15 


218  Ernst  Chr.  Heb.  Peithmann, 

war.  Er  nahm  nicht  die  Schriften  zur  Hand,  um  zu  studiren, 
was  die  einzelnen  Männer  für  Ansichten  hatten,  sondern  er  wollte 
nur  untersuchen,  inwieweit  sie  sich  seiner  vollendeten  Philosophie 
näherten.  Hat  er  überhaupt  ihre  Schriften  selbst  zur  Hand  ge- 
nommen? Die  Schriften  der  Milesier  hat  er  sicherlich  nicht  ge- 
sehen. Aber  es  scheint,  dass  selbst  die  Arbeiten  des  Heraklit  und 
Parmenides  und  Empedokles  vielleicht  nicht  in  seinem  Besitze 
waren,  oder  dass  er  sie  nur  sehr  oberflächlich  gelesen  hat. 

Es  ist  daher  nicht  nur  unser  Recht,  sondern  auch  unsere 
Pflicht,  die  Fragmente  allein  zu  untersuchen,  um  die  Theorien  der 
einzelnen  Philosophen  zu  gewinnen  und  sie  dann  mit  der  Inter- 
pretation der  Doxographen  zu  vergleichen.  In  Bezug  auf  die 
Milesier,  nämlich  Thaies,  Anaximander  und  Anaximenes,  sind  wir 
freilich  nicht  in  einer  besseren  Lage  als  Aristoteles:  es  sind  uns 
keine  unzweifelhaften  Fragmente  überliefert.  Von  Heraklit  besitzen 
wir  eine  grosse  Anzahl  von  Bruchstücken,  die  von  Compilatoren 
aus  den  verschiedensten  Jahrhunderten  aufbewahrt  sind.  Aber  es 
ist  oft  schwierig,  den  Text  genau  zu  trennen  von  erklärenden  Zu- 
thaten  der  Doxographen  und  Geschichtsschreiber.  Anders  steht 
es  mit  Xenophanes,  Parmenides  und  Empedokles.  Diese  drei 
Männer  haben  in  Poesie  geschrieben  und  es  war  hier  schwieriger, 
den  Text  zu  verändern  oder  durch  Zuthaten  zu  erweitern.  Von 
hier  aus  haben  wir  daher  einen  sicheren  und  festen  Ausgangspunkt. 
Da  aber  das  philosophische  Material  in  Xenophanes  zu  gering  ist, 
so  scheint  es  mir  gerathen,  mit  Parmenides  zu  beginnen.  An  ihn 
schliesst  sich  dann  Empedokles  an.  Aus  diesen  beiden  Autoren 
können  wir  eine  ziemlich  genaue  Idee  gewinnen  über  die  Fragen, 
um  die  sich  die  älteste  Philosophie  dreht.  Alsdann  schreiten  wir 
rückwärts  zu  Heraklit,  Xenophanes  und  die  drei  Milesier  und 
springen  zum  Schluss  über  zu  Anaxagoras,  Diogenes  und  Demo- 
kritus. 

2.  Vom  „Sein"  und  „Nichtsein". 
Wir  können   das  Gedicht    des  Parmenides"^)  nur    dann    recht 
würdigen  und  verstehen,  wenn  wir  fortwährend  im  Sinne  behalten, 


«)  Mullach,  Fragmenta  Phil.  Graec.  I.  114  ff. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  219 

dass  es  eine  polemische  Schrift  ist,  die  sich  in  erster  Linie  damit 
befasst,  die  Ansicht  des  Gegners  als  unhaltbar  nachzuweisen.  Nur 
in  zweiter  Linie  ist  er  auch  bemüht,  die  richtige  Philosphie  an 
ihren  Platz  zu  setzen.  Aber  selbst  die  positive  Darstellung  seiner 
eigenen  Philosophie  giebt  er  lieber  in  negativen  als  in  positiven 
Ausdrücken.  Seine  Gegner  haben  so  seine  volle  Aufmerksamkeit 
in  Anspruch  genommen,  dass  er  die  Stellung  eines  Kritikers  kaum 
für  einen  Augenblick  aufgeben  kann.  Nach  seiner  Meinung  giebt 
es  nur  zwei  philosophische  Theorien  oder  Methoden  in  strengsten 
Sinne  (oüoI  [xoSvat  oiCr^aio?).  Die  eine  ist  die  Philosophie  seiner 
strikten  Gegner  und  die  andere  ist  von  ihm  aufgestellt  im  schroffen 
Gegensatz  dazu.  Beide  sind  unvereinbar.  Für  die  eine  oder 
andere  von  ihnen  muss  sich  jeder  Denker  entscheiden.  Die  eine, 
von  ihm  aufgestellt  und  vertheidigt,  ist  die  Philosophie  der  Wahr- 
heit, die  mit  ihrem  „aufrichtigen  Herzen"  jeden  Forscher  leicht 
für  sich  gewinnt.  Die  andere  ist  eine  Zusammenfassung  der  Mei- 
nungen von  gewissen  „Sterblichen",  an  welche  man  keinen  wahren 
Glauben  haben  kann.  Und  wenn  diese  falsche  Theorie  den  Haupt- 
theil  des  Gedichtes  ausmacht,  so  geschieht  es  nur,  um  den  Un- 
erfahrenen mit  diesem  so  weit  verbreiteten  Irrthum  gründlich  be- 
kannt zu  machen.  Denn  nur  wer  die  Irrwege  gründlich  kennt, 
ist  im  Stande,  sie  zu  vermeiden.  Wer  beide  Systeme  der  philo- 
sophischen Weltanschauung  vor  sich  hat,  kann  nicht  verfehlen, 
das  rechte  zu  wählen,  denn  es  hat  den  Stempel  der  Wahrheit  an 
seiner  Stirn,  es  ist  „der  Weg  der  Ueberzeugung  und  hat  die  Wahr- 
heit in  seinem  Gefolge" ').  Aber  der  falsche  Weg  hat  nicht  die 
geringste  Kraft  der  Ueberzeugung.  Es  ist  daher  fast  überflüssig, 
den  Schüler  der  Philosophie  vor  diesem  Wege  zu  warnen. 

Parmenides  kann  indessen  nicht  umhin,  im  Vorbeigehen  noch 
auf  eine  dritte  philosophische  Ansicht  aufmerksam  zu  machen,  ob- 
wohl sie  kaum  Erwähnung  verdient.  Es  giebt  gewisse  Sterbliche, 
die  nichts  wissen  und  mit  schwankendem  Wollen  hin-  und  her- 
irren. Unentschiedenheit  lenkt  in  ihrer  Brust  den  wankelmüthigen 
Sinn.     Und  so  werden   sie  fortgerissen,   zu  gleicher  Zeit  taub  und 


7)  Mullach,  Fiagm.,  Paim.  V.  29—45. 

15^ 


220  Ernst  Chr.  Hch.  Peithmann, 

blind,  voll  Erstaunen  überwältigt,  Leute  ohne  Urtheilskraft  *).  Sie 
nehmen  offenbar  eine  Mittelstellung  ein,  indem  sie  versuchen,  die 
Wahrheit  und  den  Irrthum  unter  einen  Hut  zu  bringen.  Aber  ihr 
wohlgemeintes  Bemühen  kann  unter  keinen  Umständen  zum  Ziele 
führen.      Sie    verdienen    deswegeii    keine    eingehende    Beachtung. 

Wir  hätten  uns  demnach  über  drei  verschiedene  Meinungen 
Klarheit  zu  verschaffen,  nämlich  1.  die  Ansicht  der  Sterblichen, 
2.  die  Ansicht  der  Wankelmüthigen  (öi'xpavoi),  3.  die  Ansicht  des 
Parmenides. 

Der  Punkt,  um  den  sich  Alles  dreht,  ist  offenbar  die  Frage 
nach  der  Existenz  oder  dem  „Sein".  Wessen  Existenz  auf  dem 
Spiele  steht,  wird  nicht  näher  erklärt,  vermuthlich,  weil  jedermann 
weiss,  um  was  es  sich  handelt.  Parmenides  behauptet  nun,  dass 
„es  ist"  oder  existirt  und  dass  es  unmöglich  ist,  dass  es  „nicht 
sein"  sollte,  oder  aufhören  sollte  zu  existiren 'O  (u);  ea-t  ts  xal  w; 
oux  £(3tt  tiT)  elvat).  Die  Meinung  seiner  Gegner  ist,  dass  es  auch 
„nicht  ist"  und  dass  eine  sittliche  Nothwendigkeit  es  erfordert, 
dass  es  „nicht  sein  sollte '").  Die  Leute,  die  daher  an  „Nicht- 
Existenz" glauben,  sprechen  von  jxr)  eovxot,  von  Dingen,  die  keine 
Existenz  haben  (V.  52).  Dieselben  Leute,  die  neben  dem  „Sein" 
auch  das  „Nichtsein"  anerkennen,  sprechen  auch  von  „Werden" 
oder  „Entstehen"  und  „Vergehen"  (^qvcaOat  xe  zcxl  -oXXua&oti,  sTvcti 
T£  xal  ouxi  V.  100).  Sie  sagen  offenbar  im  Gegensatz  zu  Par- 
menides, dass  der  Gegenstand,  um  den  es  sich  handelt,  entstanden 
ist  und  auch  wieder  vergehen  wird  (V.  59).  Sie  lehren,  dass  das, 
was  existirt,  eine  Periode  des  Entstehens  und  einen  Anfang  gehabt 
hat  (V.  6(5)  ('fuais  sovxi  xott  otp/i]).  Ihre.  Centrallehre  ist  „Ent- 
stehen und  Vergehen",  ylvcat;  xal  oXsbpo?,  Ausdrücke,  die  wieder 
und  wieder  von  Parmenides  zurückgewiesen  werden.  Diese  Leute 
sprechen  offenbar  von  einer  Mehrheit  von  existirenden  Dingen. 

Aber  wir  brauchen  nicht  länger  herumzurathen  nach  der 
Theorie  dieser  Leute.  Ihre  Meinungen  werden  uns  im  zweiten 
Theile  sogar  mit  verführerischer  Eleganz  und  völliger  Objectivität 


*)  Mullach,  Fragm.,  Parm.  V.  46—51. 

9)  V.  35. 

10)  V.  37. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  .  221 

vorgetragen  ").  Sie  setzen  zwei  verschiedene  Erscheinungen  vor- 
aus (gerade  eine  mehr  als  nothwendig  ist).  Diese  beiden  Formen 
stellen  sie  einander  gegenüber  und  geben  ihre  charakteristischen 
Eigenschaften  an,  eine  getrennt  von  der  andern.  Auf  der  einen 
Seite  haben  sie  das  „ätherische  Feuer"  der  Flamme,  welches  äusserst 
düüu  ist  und  fein  und  nur  sich  selbst  gleich  ist,  aber  der  entgegen- 
gesetzten Form  nicht  gleich  ist.  Aber  auf  der  anderen  Seite  eben- 
so mit  sich  selbst  identisch  ist  die  „dunkle  Nacht",  eine  dichte, 
und  schwere  Masse.  Auf  diese  Weise  ist  Alles  angefüllt  mit  Licht 
und  dunkler  Nacht.  Beide  halten  sich  die  Wage,  ohne  irgend 
welche  Gemeinschaft  mit  einander  zu  haben.  Dieselben  Leute  ver- 
treten auch  die  Theorie  von  verschiedenen  Ringen  und  behaupten 
unter  Anderem,  dass  die  engeren  Ringe  gemacht  sind  von  Feuer, 
das  nicht  mehr  völlig  rein  ist  (azpixo?)  und  darunter  sind  Kreise 
der  Nacht,  die  aber  mit  einem  Theil  Feuer  gemischt  sind.  In 
dem  Centrum  derselben  befindet  sich  „die  Göttin,  die  Alles  steuert". 
Zu  dieser  Philosophie  gehört  auch  die  Anschauung  von  dem  Ent- 
stehen der  verhängnissvollen  Zeugung  und  Begattung,  welches  das 
weibliche  Geschlecht  antrieb,  sich  zu  vereinigen  mit  dem  männ- 
lichen und  umgekehrt  das  männliche  mit  dem  weiblichen. 

Diese  Sterblichen  geben  ferner  ihre  Ansichten  von  dem  Ent- 
stehen des  Aethers  und  von  allen  „Zeichen",  die  sich  im  Aether 
befinden  und  von  den  verborgenen  Werken  des  klaren  Lichtes 
der  runden  Sonne  und  ihrem  Ursprünge  und  von  den  Werken  und 
dem  Entstehen  des  runden  und  rotirenden  Mondes.  Sie  beschäftigen 
sich  auch  mit  dem  Himmel,  der  alles  umgiebt,  und  seinem  Ur- 
sprünge und  beantworten  die  Frage,  wie  die  herrschende  Noth- 
wendigkeit  ihn  angebunden  hat,  so  dass  er  die  Grenzen  der  Sterne 
hält.  Sie  geben  Auskunft  darüber,  wie  die  Erde  und  die  Sonne 
und  der  Mond  und  der  gemeinsame  Aether  und  die  himmlische 
Milchstrasse  und  der  äusserste  Olympus  und  die  heisse  Schaar  der 
Sterne  „ursprünglich  entstanden  sind."^  Sie  geben  ihre  Ansichten 
über  das  fremde  Licht,  das  um  die  Erde  schweift,  scheinend 
während  der  Nacht  u.  s.  w.      Sie  machen  auch  den  Versuch,    den 


1')  Vers  113—153. 


222  Ernst  Chr.  Hch.  Peithmann, 

Verstand    der    Menschen    zu    erklären    aus    der    eigenthiimlichen 
Mischung  der  gekrümmten  Glieder.     Denn  der  Ursprung  und  die 
Art    der  Glieder   stellt    bei  allen    und  jedem  Menschen    dasjenige 
Prinzip    dar,    welches    denkt.      Das    vorwiegende    (Element)    im 
menschlichen  Körper    ist  der  Gedanke.      Betrefts  Physiologie    sind 
sie  der  Anschauung,  dass  „auf  der  rechten  Seite  die  Knaben  und 
auf   der    linken    Seite    die    Mädchen"    sich    befinden.      Zu    dieser 
.  Philosophie  scheint  auch  die  Ansicht  zu  gehören,  dass  als  der  erste 
der  Götter  „Eros"    geschaffen    wurde.      Dies   sind    die    erhaltenen 
Bruchstücke  der  Philosophie  „xata  So^otv"    und    in    solcher  Weise 
erklärt    sie,    wie    diese    Dinge    „entstanden    sind",    wie    sie   jetzt 
„existiren"  und  wie  sie  später  wieder  „vergehen"  werden,  nachdem 
sie  zu  voller   Reife   sich    entwickelt    habeu.      Und    die    Menschen 
haben    dann    diesen    einzelnen    Dingen    ihren    besonderen    Namen 

gegeben. 

Wie    fängt    Parmenides  es  nun  an,    diese    definitive    Ansicht 
von  den  zwei  ursprünglichen   entgegengesetzten  Stoffen  und  ihrer 
gleichmässigen    Macht,    von   der    Bildung    der    verschiedenartigen 
Ringe,  von  der  Entstehung   der  Geschlechtsunterschiede,   von  dem 
Ursprünge  der  grossen  Weltkörper  draussen  und  des  menschlichen 
Verstandes  drinnen  —  zu  widerlegen?    Diese  ganze  Theorie,  sagt 
er,  verlässt  und  stützt  sich  auf  die  Voraussetzung,  dass  die  Dinge 
erst  „entstehen",    dann  eine  Zeit  lang  „bestehen    oder  sind"    und 
endlich  nach  einer  gewissen  Zeit    wieder  „vergehen",    dass  sie  zu 
einer  Zeit  „sind"  und  zu  einer  andern  Zeit  „nicht  sind".     Grade 
hier,    in    ihren  fundamentalen   Voraussetzungen    greift  Parmenides 
seine  Gegner  an.     Was   jene  Leute    „Nichtsein"    nennen,    ist    ein 
Ding,  das  nicht  existirt.      Ein  Gegenstand,    der    „nicht  ist",    liegt 
gänzlich  ausserhalb  unseres  Vorstellungsvermögens.    Man  kann  solch 
einen  Gegenstand    daher    weder    verstehen    noch    in  Worten    aus- 
sprechen, da  er  sich  ganz  der  Controle  unseres  Verstandes  entzieht. 
Von  „Nichtsein"  zu  sprechen,  ist  daher  ein  wahres  Unding.     Denn 
Sprechen    und    Denken    setzt    unbedingt    das    Sein    einer    Sache 
voraus '').     Wenn    ich,    mit    anderen  Worten,    etwas   über    einen 

'-•)  V.  94—95. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  ^  223 

SatzgegenstaDcl  aussage,    so  muss    dieser  Gegenstand  existiren  (39 
bis  44). 

Denken  und  der  Gegenstand  des  Denkens  sind  identisch.  Denn 
ohne  „das  Seiende",  worin  es  sich  ausspricht,  findet  man  auch  das 
Denken  nicht.  Allein  „das  Seiende"  hat  für  Gegenwart  und  Zu- 
kunft wahre  Existenz  (94—97).  Es  ist  daher  unsinnig,  über  Dinge 
zu  reden,  die  „nicht  existiren".  Was  ist  oder  existirt,  hat  absolut 
keine  Einschränkung  in  seiner  Existenz,  es  hat  wieder  begonnen 
noch  wird  es  aufhören  zu  existiren:  es  ist  ungeschaifen  und  un- 
zerstörbar. Seine  Gegner  behaupten,  dass  es  einen  Anfang  ge- 
nommen hat.  Aber  wo  soll  man  seinen  Ursprung  suchen?  '^).  Und 
wo  ist  die  Quelle,  aus  der  man  schöpfen  kann,  um  es  zu  vermehren? 
Es  giebt  zwei  Möglichkeiten  '*).  Entweder  muss  man  es  entstehen 
lassen  aus  dem,  was  „nicht  existirt-'  oder  „nicht  ist":  und  dies 
lässt  sich  weder  aussagen  noch  denken,  dass  nämlich  etwas,  was 
„nicht  ist",  mit  einem  Male  „ist".  Ausserdem  kann  man 
'sich  überhaupt  nicht  vorstellen,  dass  etwas  „nicht  ist".  Aber 
wenn  man  annimmt,  dass  es  einen  Anfang  genommen  hat, 
so  drängt  sich  die  Frage  auf,  weshalb  es  gerade  zu  einer  bestimmten 
Zeit,  früher  oder  später'')  ins  Dasein  kam.  Aber  „was  ist",  kann 
weder  einen  Ursprung  noch  einen  Anfang  seines  Daseins  haben. 
Ein  Ding  muss  entweder  sein  oder  nicht  sein  und  wenn  es  nicht 
ist,  dann  kann  es  nie  und  nimmer  ins  Dasein  kommen  (67). 
Aber  eine  andere  Möglichkeit  wäre,  dass  es  kommt  aus  dem,  was 
schon  „ist".  Und  das  widerspricht  aller  Glaubwürdigkeit  dass  aus 
dem,  was  ist,  etwas  anderes  werden  könnte.  So  zwingt  uns  die 
Nothwendigkeit  von  allen  Seiten,  anzunehmen,  dass  es  weder  ins 
Dasein  gekommen  ist,  noch  aus  dem  Dasein  verschwinden  wird. 
Und  dies  nachzuweisen,  war  die  einzige  Absicht  des  Parmenides, 
als  er  sein  Gedicht  verfasste.  Er  wollte  die  unglaubliche  Theorie 
von  „Schöpfung  und  Vernichtung",  von  einem  Anfange  und  Ende 
des  Daseins  für  immer  und  endgültig  widerlegen.     Wir  steheu,  so 


13)  V.  62. 

1*)  V.  63—70. 

15^  V.  66. 


224  Erust  Chr.  Hch.  Peithmauii, 

sagt  er,  vor  der  Frage:  „ist  es"  oder  „ist  es  uicht?"  (72).  Was 
„nicht  ist",  kann  niemals  anfangen  „zu  sein".  Was  wirklicli  ist, 
kann  nie  einen  Anfang  genommen  haben  und  wird  nie  ein  Ende 
nehmen:  es  ist  „ohne  Anfang  und  ohne  Aufhören".  Die  Ausdrücke, 
die  jene  „Sterblichen"  gebrauchen,  nämlich  ins  Dasein  kommen 
oder  „entstehen"  und  „vergehen",  „sein"  und  „uicht  sein",  sind 
trügerisch  und  verwerflich.  Was  existirt,  existirt  im  obsoluten 
und  unbeschränkten  Sinne.  Es  ist  nicht  etwa  nur  ein  Bruchtheil 
von  einem  grösseren  Ganzen,  sondern  es  ist  selbst  das  Ganze:  es 
ist  „eingeboren"  und  „unerschütterlich"  und  „unvergänglich". 

Aber  nun  ist  die  Frage,  was  meint  Parmenides  mit  diesem 
„Seienden",  das  weder  einen  Anfang  noch  ein  Ende  nehmen  kann? 
Wir  können  diese  Frage  nur  beantworten,  wenn  wir  bedenken, 
dass  seine  Gegner  behaupten,  dass  diese  Welt  mit  allen  Himmels- 
körpern und  Erscheinungen  und  mit  allem,  was  darin  lebt  und 
webt,  seine  Geschichte  hat.  Dass  diese  Welt,  die  jetzt  existirt, 
einst  entstanden  ist  und  so  auch  später  wieder  vergehen  wird* 
Parmenides  kann  daher  nur  sagen  wollen,  dass  jene  Leute  sich 
gründlich  irren.  Was  „ist",  kann  nicht  anfangen  oder  aufhören 
zu  sein:  Diese  W^elt  ist  daher  nie  geschaffen  und  wird  auch  nie 
vernichtet  werden  können.  Das  W^eltall  ist  „unsterblich"^*'), 
es  „existirt  im  wahrsten  und  unbegrenzten  Sinne".  Es  ist  der 
Vernunft  unfassbar,  dass  es  zu  irgend  einer  Zeit  nicht  war,  oder 
später  nicht  mehr  sein  wird. 

Doch  es  giebt  noch  eine  zweite  irrige  Ansicht  vom  Weltall 
und  den  Erscheinungen  darin.  Es  ist  die  Philosophie  der  „Wankel- 
müthigeu".  Sie  schwanken  hin  und  her  zwischen  zwei  unverein- 
baren Ansichten.  Sie  behaupten,  dass  „Sein"  und  „Nichtsein" 
als  dasselbe  und  auch  wieder  nicht  als  dasselbe  angesehen  werden 
muss  und  dass  der  Weg,  den  das  Weltall  geht  (TravTtov  xsXsuöo?), 
„sich  rückwärts  windet"  (TraXivTpoTro;  V.  50,  51).  Diese  Leute 
scheinen  im  Gegensatz  zu  den  ersten  ^Sterblichen"  dafür  zu  halten, 
dass  das  Wettall  immer  „war"  und  immer  „sein  ward".  (61,  75,  76.) 
Aber   nach  ihrer  Ansicht  findet  ein  fortwährender  Wechsel  statt: 

1«)  V.  59. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  225 

das  Ganze  ist  in  Theile  zerrissen  und  an  einer  Stelle  ist  „mehr" 
und  an  der  anderen  „weniger"  (78—80,  105—108).  „Alle  Dinge" 
sind,  wie  es  scheint,  in  fortwährender  Bewegung  (82,  98),  ver- 
ändern fortwährend  ihren  Ort  und  ihre  Farbe  (101).  Die  Geschichte 
des  Weltalls  besteht  in  einem  unausgesetzten  „Zerstreuen  und 
Sammeln"  (92,  93).  So  ist  die  Welt  jeden  neuen  Augenblick  eine 
neue  und  andere  und  doch  bleibt  sie  dieselbe.  Was  heute  ist, 
wird  morgen  nicht  mehr  sein;  in  derselben  Gestalt  nämlich  wird 
es  nicht  mehr  da  sein,  aber  doch  wird  es  noch  da  sein  in  ver- 
änderter Form.  „Sein  und  Nichtsein  ist  dasselbe  und  nicht  das- 
selbe" (V.  50).  Aber  nach  Parmenides'  Ansicht  ist  diese  Stellung 
unhaltbar.  Man  kann  nicht  sagen,  dass  „es  war"  und  dass  es 
„sein  wird",  sondern  alles  „ist  jetzt"  zu  gleicher  Zeit.  Unmög- 
licher Weise  kann  es  „später"  sein  und  ebenso  war  es  auch 
nicht  „früher".  Denn  wenn  es  früher  war  oder  später  sein  wird, 
so  ist  es  jetzt  nicht.  Daher  kann  man  nur  sagen,  dass  es  jetzt 
„ist"  in  ungetheilter  fortlaufender  Gegenwart.  Auch  kann  man 
es  nicht  in  Stücke  zertheileu,  da  das  ganze  völlig  gleichartig  ist. 
An  keiner  Stelle  ist  mehr  als  an  einer  andern,  sondern  das  Ganze 
ist  ununterbrochen  und  „gleichartig".  Nirgendswo  befindet  sich 
eine  Lücke,  sondern  das  Ganze  ist  voll  von  „dem  Seienden". 
Ohne  Unterbrechung  reiht  sich  „Seiendes  an  Seiendes".  „Unbe- 
weglich" ist  es  gebunden  innerhalb  der  Grenzen  der  Fesseln,  die 
es  umgeben.  Es  bleibt  daher  für  immer  „dasselbe  in  demselben", 
beruhend  auf  sich  selbst.  Die  gewaltige  Nothwendigkeit  hält  es 
in  den  Grenzen  seiner  Fesseln  und  schliesst  es  fest  ab  nach  allen 
Richtungen  hin.  Daher  kann  von  einer  Bewegung  oder  Verände- 
rung oder  gar  einem  Verschwinden  nicht  die  Rede  sein.  Aber 
gerade  aus  diesem  Grunde  kann  man  es  auch  nicht  als  unendlich") 
bezeichnen;  denn  es  hat  kein  Bedürfniss  und  entbehrt  nichts 
andern  Falls  würde  es  alles  entbehren. 

So  kommt  Parmenides  denn  zu  seinem  positiven  Resultat. 
Diese  Welt  und  alles  was  darinnen  ist,  ist  ein  Ganzes,  ohne 
Anfang  und  Ende    unsterblich    und  unzerstörbar,    unerschütterlich 


1^)  Xenophanes  V.  13,  Emped,  V.  237, 


226  Ernst  Chr.  Heb.  Peithmann, 

und  unbeweglich,  Dieses  Ganze  ist  nicht  unendlich,  sondern  von 
bestimmten  Grenzen  eingeschlossen  und  ist  ähnlich  einer  wohl- 
geruudeteu  Kugel.  Nichts  kann  davon  entschwinden,  denn  die 
„Gerechtigkeit",  von  der  Leute  so  viel  sprechen,  hält  das  Ganze 
fest  zusammen.  Nichts  kann  hinzugefügt  werden,  denn  der  ganze 
Raum  ist  ausgefüllt  und  es  giebt  so  keinen  Platz,  den  es  einnehmen 
könnte.  Auch  ist  der  Weltenraum  überall  gleichmässig  angefüllt, 
so  dass  absolut  keine  Veränderung  stattfinden  kann.  Was  „da 
ist'',  ist  für  immer  da  und  wird  immer  so  sein,  wie  es  jetzt  ist. 
Hier  giebt  es  „keine  Veränderung  noch  Wechsel  des  Lichtes  und 
der  Finsterniss", 

Zu  diesem  Resultat  kommt  man  nothwendiger  Weise,  wenn 
man  die  Vernunft  urtheilen'^)  lässt,  anstatt  den  unzuverlässigen 
Augen  und  Ohren  zu  trauen.  Man  steht  dann  vor  der  Alter- 
native, '^)  dass  das  Weltall  entweder  „ist",  oder  „nicht  ist".  Man 
kann  nicht  beides  zu  gleicher  Zeit  bejahen,  sondern  muss  eins 
von  beiden  wählen.  Und  der  Vernunft  kann  die  Wahl  nicht 
schwer  fallen:  sie  bleibt  dabei,  dass  die  Welt  ist  und  dass  sie 
im  vollen  und  wahren  Sinne  des  Wortes  „ist"  und  nie  ihr  Dasein 
verändern  oder  beenden  kann.  Denn  „was  ist"  (xo  ov),  kann  nie 
angefangen  haben  „zu.  sein"  und  kann  nie  aufhören  „zu  sein". 

Diese  Philosophie  ist  einfach  und  klar.  Sie  kann  freilich  nur 
verstanden  werden,  wenn  man  die  entgegengesetzte  Philosophie 
klar  vor  Augen  hat.  Nach  Parmenides  gab  es  Leute,  die  behaup- 
teten, dass  „alle  Dinge'^  1)  zu  einer  bestimmten  Zeit  ins  Dasein 
gekommen  sind,  2)  dass  sie  jetzt  eine  Zeit  lang  bestehen  oder 
„sind",  3)  dass  sie  zu  ihrer  Zeit  wieder  vernichtet  werden  und  dann 
„nicht  mehr  sind"  und  dass  dieser  Wechsel  zwischen  „Sein 
und  Nichtsein"  einer  sittlichen  Nothwendigkeit  zufolge  statt- 
findet. Ausserdem  gab  es  eine  unentschiedene  Partei,  die  be- 
hauptete, dass  „Sein  und  Nichtsein"  keinen  absoluten  Gegensatz 
bezeichnete,  sondern  dass  beides  in  einem  Sinne  dasselbe  sei  und 
im  andern  Sinne    nicht    dasselbe    sei;    dass    das    Weltall  in    fort- 

•8)  Parm.  V.  56. 

19)  V.  71,  72.  .  , 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.       ,  227 

währeuder  Bewegung  begriffen  ist,  aber  dass  der  Weg  der  Dinge 
immer  wieder  zurückführt  zu  seinem  Anfange;  dass  die  Welt  ihre 
Gestalt  und  Farbe  fortwährend  ändert,  aber  dass  sie  ihrem  Wesen 
nach  immer  dieselbe  war  und  auch  sein  wird. 

Im  Gegensatz  zu  diesen  beiden  Anschauungen  stellte  Parme- 
nides  die  Lehre  auf,  dass  man  von  einem  „Nichtsein"  überhaupt 
nicht  reden  kann;  dass  man  nur  sagen  kann,  dass  alles  was  ist, 
in  der  That  und  Wahrheit  „ist"  und  dass  es  „unvergänglich  ist". 
Ja  er  geht  sogar  soweit,  dass  er  behauptet,  es  finde  überhaupt 
keine  Veränderung  und  keine  Bewegung  statt.  Denn  was  ist,  war 
und  ist  für  immer  das,  was  es  ist.  Dieser  Ausspruch  ist  etwas 
schroff,  aber  es  ist  das  einfache  Resultat  vernünftigen  und  folge- 
richtigen Denkens.  Jedermann,  der  die  Frage  recht  gründlich 
untersucht  und  darüber  hinreichend  nachdenkt,  sagt  er,  wird  ihm 
unbedingt  beistimmen  müssen.  Diese  Lehre  wird  jedermann 
überzeugen,  denn  sie  hat  den  Stempel  der  Wahrheit  auf  der  Stirn. 

Hier  haben  wir  nun  ein  erstaunliches  Beispiel,  wie  es  Ari- 
stoteles gelungen  ist,  den  Gesichtspunkt  der  älteren  Philosophen 
vollständig  zu  verdrehen  und  zu  verschieben.  Plato  giebt  in  seinen 
Dialogen  nur  sehr  kümmerliche  Berichte  über  die  Geschichte  der 
Philosophie,  aber  soweit  er  sich  damit  beschäftigt,  ist  er  wenigstens 
wahrheitsgetreu  und  ohne  Vorurtheil.  Obwohl  wir  erwarten 
müssen,  dass  Plato,  dem  Parmenides  vielleicht  nur  durch  Sokrates 
bekannt  war,  die  Philosophie  des  grossen  Eleaten  nicht  in  einem 
vollständig  ungetrübten  Lichte  wieder  giebt,  so  trifft  er  doch  im 
Grossen  und  Ganzen  das  Richtige.  Es  hatte  sich  offenbar  bald  eine 
weit  verbreitete  Schule  des  Parmenides  und  Zeno  entwickelt'"). 
Und  es  ist  zu  vermuthen,  dass  die  Lehre  des  Meisters  bald  modi- 
ficirt  vmd  verändert,  vielleicht  vergeistigt  wurde,  wie  wir  z.  B. 
schon  Spuren  hiervon  im  Melissus  finden.  Trotzdem  spricht  es 
Plato  klar  und  deutlich  aus,  dass  es  gleichbedeutend  wäre  mit 
Vatermord''),  wenn  man  die  Grundlehre  des  Parmenides  verleugnen 
wollte  und  sagen,  dass  das  „Nichtseiende"  im  gewissen  Sinne  „ist" 


20)  I,  163,  3,  Plato,  Par.  Ausg. 
'•")  I,  181,  53. 


228  Ernst  Chr.  Heb.  Peithmann, 

uud  das  „Seiende"  auf  der  andern  Seite  hinwiederum  in  gewissem 
Grade  „nicht  ist".  Er  rechnet  Parmenides  unter  die  Zahl  derer, 
die  versucht  haben  zu  bestimmen,  wie  viel  „die  Dinge  die  sind" 
(xa  ovia)  an  der  Zahl  sind  und  wie  sie  beschaffen  sind.  Er  wie 
alle  Eleatiker  von  Xenophanes  an  behauptet,  dass  das  sogenannte 
All  (za  Tictvia  xc(Xou[Xcvct)  „ein"  Ganzes  ist.  Im  Gegensatz  zu  der 
Theorie,  dass  alles  sich  im  fortwährendem  Wechsel  befindet  oder 
dass  von  den  „Dingen,  die  existiren"  (xwv  ovicuv)  die  einen  unbe- 
weglich feststehen  und  die  andern  sich  bewegen,  haben  Melissus 
und  Parmenides  daran  festgehalten,  dass  das  sogenannte  „All" 
(t(u  irav-'  ovofi'  S3xi)  unbeweglich  ist  und  das  alle  Dinge  ein  Ganzes 
ausmachen  uud  dass  dies  in  sich  selbst  unbeweglich  feststeht,  da 
es  keinen  Platz  hat,  in  dem  es  sich  bewegen  kann^^).  Alle  andern 
Weisen  behaupten,  dass  aus  Ortsveränderung  uud  Bewegung  und 
Mischung  des  einen  mit  dem  andern  alle  Dinge  entstehen  und 
dass  niemals  etwas  unveränderlich  „ist",  sondern  immer  nur  „wird" 
und  entsteht.  Ausgenommen  ist  nur  Parmenides!")  Und  Melissus 
und  die  andern,  die  „das  All"  als  eins  bezeichnen,  sind  alle  zu- 
sammengenommen von  geringerer  Bedeutung  als  Parmenides  allein. 
Er  giebt  seiner  Lehre  Kraft  durch  seine  Würde  und  gewaltige 
Persönlichkeit-'*).  Plato  citirt  auch  als  den  immer  wiederkehrenden 
Grundgedanken  der  Parmenideischen  Philosophie,  den  Vers,  dass 
man  nie  dem  Gedanken  Raum  geben  darf,  dass  es  Dinge  giebt, 
die  „nicht  sind"  (d.  h.  die  nicht  mehr  sind,  oder  noch  nicht  sind). 
Auch  Zeno,  der  ungefähr  dieselbe  philosophische  Ansicht  vertritt, 
püichtet  den  Gedichten  des  Parmenides  bei,  dass  das  Weltall  eins 
ist,  wofür  Parmenides  in  zufriedenstellendster  Weise  Beweise  liefert, 
während  andere  behaupten,  dass  das  All  aus  einer  Mannigfaltigkeit 
von  Dingen  zusammengesetzt  ist").  Ferner  giebt  Plato  die  An- 
sicht des  Parmenides  wieder,  dass  das  Seiende  ein  Ganzes  ist  „von 
allen  Seiten  ähnlich  einer   wohlgerundeten   Kugel").     Nach  Plato 


■'■)  I,  139,  4. 
■'^)  I,  117,  11. 
2^)  I,  141,  20. 
«)  I,  627. 
«)  I,  184,  20. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  229 

behauptet  Parmenides    auch,    dass    „Eros"    der    erste    und    älteste 
unter  den  Göttern  ist"). 

Obschon  diese  Darstellung  des  Parmenideischen  Systems  nur 
lückenhaft  ist,  so  trift't  sie  doch  in  der  Hauptsache  den  Nagel  auf 
den  Kopf.  Sie  stellt  Parmenides  allen  andern  Philosophen  gegen- 
über, insofern  er  jede  Ortsveränderung  und  Bewegung  und  Mischung 
innerhalb  des  Weltalls  leugnet  und  alle  Dinge  als  „ein  unbeweg- 
liches Ganzes"  auffasst  und  daran  festhält,  dass  das  „was  ist"  ab- 
solut nichts  zu  thun  hat  mit  „Nichtsein",  sondern  dass  es  „ist" 
im  absoluten  Sinne  und  dass  das,  was  „nicht  ist"  niemals  „sein" 
kann.  Mit  anderen  Worten:  allein  das  hat  wirkliche  und  unver- 
änderliche Existenz,  was  „ist";  es  kann  nie  aufhören  „zu  sein." 
Und  was  nicht  ist,  kann  nie  und  nimmer  ins  Dasein  treten.  Es 
giebt  nur  ein  Ding,  das  existirt  oder  „ist",  nämlich  diese 
Welt  und  sie  existirt  unveränderlich  und  ewig. 

Nun  müssen  wir  noch  kurz  sehen,  was  Aristoteles  aus  dieser 
Philosophie  gemacht  hat.  Dieser  Grösste  unter  den  Kritikern  be- 
trachtete die  ältesten  Philosophen  von  dem  Standpunkte  und  nach 
den  Interessen  seiner  eigenen  Philosophie.  Es  war  ihm  nicht  in 
erster  Linie  darum  zu  thun,  einen  klaren  Einblick  zu  gewinnen 
in  das  Problem  und  den  Gedankengang  der  Schriften  des  Par- 
menides, sondern  er  wollte  in  erster  Linie  ausfinden,  wie  viel  Par- 
menides von  seiner  (des  Aristoteles)  Philosophie  vorausgesehen  hat. 
Er  fängt  gleich  mit  seiner  beliebten  Frage  an:  wie  viele  und  was 
für  „Ursachen"  hat  Parmenides  angenommen  und  wie  viele  Prin- 
cipieu  der  Dinge  kennt  er"®)?  Er  sagt  zunächst,  dass  Parmenides 
„das  Eine"  nach  dem  Begriffe  berührt  hat,  währen  Melissus  „das 
Eine  nach  dem  Stoffe"  behandeltet^).  Daher  nennt  Parmenides 
es  auch  begrenzt,  und  Melissus  nennt  es  unbegrenzt.  Xenophanes 
dagegen  nennt  „das  Eine"  Gott.  Aber  nach  Aristoteles  bleibt 
Parmenides  seiner  Ansicht  nicht  immer  treu.  An  einer  andern 
Stelle  gewinnt  er   einen   bessern  Blick   und  modificirt    seine   erste 


2^  I,  662,  675,  39. 

^*)  II,  476.     Aristoteles  Par.  Ausg. 

29)  Arist.  II,  476. 


230  Ernst  Chr.  Hch.  Peithmann, 

Ansicht.  Ursprünglich  hält  er  neben  dem  „Seienden"  das  „Nicht- 
seiende"  für  nichts  und  nimmt  dann  nothwendiger  Weise  das 
Seiende  als  „eins"  an  und  lässt  daneben  nichts  anderes  zu.  Aber 
daneben  wird  er  doch  gezwungen,  der  Erscheinungswelt  zu  folgen 
und  ist  dann  der  Meinung,  dass  „das  Eine"  existirt  nach  dem  Be- 
griffe, aber  dass  „mehrere  Dinge"  existiren  nach  der  Sinneswahr- 
nehmung. Und  so  nimmt  er  dann  zwei  „Ursachen"  und  zwei 
„Principien"  an,  nämlich  das  Heisse  und  das  Kalte,  womit  er 
Feuer  und  Erde  meint.  A'^on  diesen  identificirt  er  dann  das  Heisse 
mit  „dem  Seienden"  und  das  Andere  mit  dem  „Nichtseienden". 
An  verschiedenen  anderen  Stellen  wiederholt  Aristoteles  diese  an- 
gebliche „Doppelzüngigkeit"  des  Parmenides.  Auf  der  einen  Seite 
macht  er  Parmenides  zum  Vertreter  der  Ansicht,  dass  das  „All" 
(-0  Tiav)  oder  „alle  Dinge,  die  existiren"  (r.dvza  toc  övta)  oder  „das 
Seiende"  (-0  Sv)  oder  das  „Princip  der  Dinge"  (f^  apX^)  ^^^'  »eius" 
ist  und  dass  dies  „Eine"  „unbeweglich  ist  und  ungezeugt"  und 
dass  es  bestimmt  abgegrenzt  ist  und  körperliche  Gestalt  hat  und 
dass  er  mit  Herodot  übereinstimmt,  iiulem  er  den  Eros  als  das  eine 
Princip  voraussetzt.  Man  achte  auf  diese  Verwirrung  und  Un- 
klarheit"°).  Auf  der  anderen  Seite  soll  Parmenides  ein  ebenso 
entschiedener  Vertreter  des  Dualismus '')  sein.  Er  nimmt  zwei 
Principien  an,  nämlich  das  Warme  und  das  Kalte,  das  Feuer  und 
die  Erde,  das  Seiende  und  das  Nichtseiende.  —  Ist  es  glaublich, 
dass  Aristoteles  die  Philosophie  des  Parmenides  so  entstellen  und 
gerade  auf  den  Kopf  stellen  konnte?  Es  kann  nur  möglich  gewesen 
sein,  weil  er  die  Schrift  des  Eleaten  nicht  hinreichend  studirt  hat. 
Aber  die  Thatsache  bleibt,  wie  sie  ist.  Wir  können  uns  daher 
nicht  wundern,  wenn  Aristoteles  wenig  Hochachtung  zeigt  vor 
Parmenides  und  den  übrigen  Eleaten.  Er  nennt  die  Theorie  eine 
„zwiespaltige",  einen  X070;  ipiaxixo;;  aber  für  diesen  Zwiespalt  ist 
Aristoteles,  und  nicht  Parmenides  verantwortlich.  Betreffs  des 
£p(u?  und  der  aiail-zjat;  und  anderer  Probleme  herrscht  im  Kopfe 
des  Aristoteles   dieselbe  Verwirrung.     Aristoteles   beweist  deutlich 


30)  II,  473,  20;  249,  26;  250,  11;  497,  26;  630,  49;  III,  674  ,  23. 
3')  II,  473:  254;  476;  438  etc. 


Die  Naturphilosophie  Yor  Sokrates,  231 

genug  nach  Allem,  was  er  von  Parmenides  sagt,  dass  es  ihm  nicht 
im  geringsten  gelungen  ist,  die  Anschauungen  des  grossen  Eleaten 
zu  verstehen  und  zu  würdigen.  Was  Parmenides  in  seinem  ganzen 
Gedichte  vom  ersten  bis  zum  letzten  Verse  bekämpft  und 
emphatisch  zurückweist,  das  schiebt  Aristoteles  ihm  unter  als  seine 
eigene  Lehre.  Das  ist  freilich  nicht  die  rechte  Methode,  wenn 
man  einen  grossen  Philosophen  kritisiren  will.  Und  bei  solch 
einem  oberüächlichen  Verfahren  wird  man  sicherlich  nicht  in  das 
Verständniss  einer  fremden  Theorie  eindringen.  Die  eigentliche 
Absicht,  die  Parmenides  mit  seinem  Gedicht  verfolgt,  ist  dem 
Aristoteles  denn  auch  völlig  unbekannt  geblieben. 

Es  ist  nicht  nöthig,  auf  die  Berichte  der  Doxographen  näher 
einzugehen.  Sie  sprechen  dem  Aristoteles  getreulich  nach,  was  er 
ihnen  vorgesagt  hat;  dass  Parmenides  eine  doppelte  Philosophie  ver- 
tritt, eine  Philosophie  mit  „einem  Princip"  und  eine  andere  mit 
„zwei  Principien".  Diese  Verwirrung  und  Unklarheit  hat  sich  dann 
fortgeerbt  bis  auf  unsere  Zeiten.  Man  nimmt  noch  heute  all- 
gemein  an,  dass  Parmenides  die  Philosophie  des  Irrthums  im  ge- 
gewissen Grade  anerkennt  und  billigt.  Parmenides  soll  hier  ent- 
weder die  Anschauung  der  gewöhnlichen  Leute  oder  der  Pytha- 
goreer  als  berechtigt  anerkennen.  Aber  die  gewöhnlichen  Leute 
hatten  keine  solche  eingehende  Philosophie  von  der  Weltentstehung, 
wie  wir  sie  im  zweiten  Theil  des  Parmenides  vorfinden  und  die 
Pythagoreer  interessirten  sich  in  der  ersten  Zeit  ihrer  Existenz 
scheinbar  durchaus  nicht  für  Naturphilosophie.  Nach  dem  allge- 
gemeinen  Ton  des  Gedichtes  zu  urtheileu,  können  wir  nur  an- 
annehmeu,  dass  Parmenides  die  Ansicht  bestimmter  älterer  Philosophen 
von  der  Entstehung  und  Vernichtung  der  Welt  widerlegen  wollte. 
Zu  diesem  Zwecke  stellte  er  den  Satz  auf,  dass  die  Welt  einfach 
„ist",  d.  h.  „immer  ist"  und  nie  aufhört  „zu  sein".  Denn  das 
„Nichtsein"  ist  völlig  ausgeschlossen  von  dem,  was  „ist". 

3.  Sterblich  und  doch  unsterblich. 

Das  Erste,  was  beim  Studium  des  Empedokleischen  Gedichtes 
in  die  Augen  fällt,  ist  die  Thatsache,    dass  Empedokles    mit    den 

32)  Mullach,  I,  1. 


232  Ernst  Chr.  Hell.  Peithinann, 

Streitfragen  des  Parmenides  bekannt  ist  und  in  dem  Streit  seiner- 
seits Partei  ergreift.  Ein  oberflächliches  Lesen  seines  Gedichtes 
muss  uns  davon  überzeugen,  dass  sogar  dieselben  Stichvvorte  immer 
wiederkehren,  wie  „sein",  „nicht  sein",  „es  ist",  „entstehen",  „ver- 
gehen", „Anfang",  „Ende"  u.  s.  w.  ^').  Er  sowohl  wie  Parmenides 
bekämpft  die  Ansicht  Derer,  die  von  dem  „Entstehen  und  Vergehen" 
sprechen.  Aber  er  hält  es  auch  nicht  völlig  mit  Parmenides.  Er 
giebt  ihm  in  einem  gewissen  Masse  Recht.  Aber  wir  werden 
sehen,  dass  er  die  Partei  Derer  ergreift,  die  Parmenides  „die  Wankel- 
müthigen"  genannt  hatte.  Er  selbst  kann  sich  nicht  davon  über- 
zeugen, dass  es  in  dieser  Welt  absolut  keine  Bewegung  und  keine 
Veränderung  giebt.  Mit  den  Wankelmüthigen  hält  er  dafür,  dass 
dieses  Weltall  sich  in  einem  fortwährenden  Wechsel  befindet. 

Sein  Gedicht  „Ueber  Natur"  könnte  im  Allgemeinen  in  vier  Ab- 
schnitte getheilt  werden:  1.  die  Einleitung  V.  1—61,  welche  die 
am  Schluss  (V.  59—61)  gegebene  Aufstellung  seines  Themas  mit 
umfasst;  2.  V.  62—97  eine  Kritik  des  Parmenides;  3.  V.  98—119 
eine  Kritik  der  Tlioren,  die  offenbar  identisch  sind  mit  den  „Sterb- 
lichen „des  Parmenides;  4.  V.  120—382  seine  eigene  Philosophie  in 
ihren  Einzelheiten  mit  häufigen  Wiederholungen  aus  den  ersten 
Abschnitten. 

Die  Einleitung  ist  nicht  von  grossem  Belang  und  meistens 
leicht  zu  verstehen  und  kann  aus  jeder  Geschichte  der  alten 
Philosophie  ersehen  werden.  Interessant  ist  der  allegorische  Ab- 
schnitt V.  18—28.  in  dem  die  philosophischen  Stichworte  seiner  Vor- 
gänger zu  allegorischen  Figuren  erhoben  sind,  die  in  geisterhafter 
Weise  auf  der  Aue  der  „Ate"  umherschweifen.  Da  findet  sich  der 
„Mord"  und  der  „Streit"  und  die  übrigen  „Schicksale",  die 
„Erdgestalt"  und  das  „Sonnengesicht",  die  „Zwietracht"  und 
„Eintracht",  die  „Schönheit"  und  „Missgestalt",  die  „Eile" 
und  „Weile"  die  „Offenheit"  und  „Verstecktheit",  das  „Ent- 
stehen" und  „Verschwinden",  der  „Schlaf"  und  die  „Wachsam- 
keit", „Bewegung"  und  „unerschütterliche  Ruhe",  die  „viel- 


33)  V.  72,  74,  93,   96,  97,  102,  103,  104,   HO,  lU— 119,  128,  132,    133 
145,  149,  150,  155—158  etc. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  233 

gekrönte  Erhabenheit"  und  der  „Schmutz",  das  „göttliche  Schwei- 
gen" und  die  „laute  Rede".  Es  unterliegt  kaum  einem  Zweifel,  dass 
das  Entstehen  und  Verschwinden,  die  Erdgestalt  und  das  Sonnen- 
gesicht, an  die  Philosophie  der  „Thoren"  erinnert.  Die  „un- 
erschütterliche Ruhe"  weist  offenbar  auf  die  Philosophie  des  „Par- 
menides"  hin.  Die  Zwietracht  und  Eintracht,  die  Eile  und  Weile, 
der  Mord  und  Streit,  der  Schlaf  und  die  Wachsamkeit,  Erhabenheit 
und  Schmutz,  Schweigen  und  Rede  repräsentiren  offenbar  die  An- 
schauungen der  Wankelmüthigen.  In  den  Versen  36 — 57  spricht 
er  dann  von  der  Unzulänglichkeit  des  menschlichen  Geistes  und 
kritisirt  das  eitle  Prahlen  Derer,  die  sich  rühmen,  „das  Ganze"  ge- 
funden zu  haben.  Es  giebt  Leute,  die  in  ihrer  heissen  Begier 
nach  einem  Platze  auf  dem  Throne  der  Weisheit  sich  zu  Behaupt- 
ungen verleiten  lassen,  die  über  die  Grenzen  der  Bescheidenheit 
hinausgehen,  Leute,  die  die  eine  Sinneswahrnehmung  der  anderen 
vorziehen,  oder  die  Sinnesorgane  hinten  anstellen  und  sich  auf  den 
sterblichen  Verstand  verlassen.  Empedokles  nimmt  gern  alles  hin, 
w^as  er  mit  seinen  fünf  Sinnen  erforschen  und  ausfinden  kann, 
während  er  daneben  die  Existenz  einer  höheren  göttlichen  Ver- 
nunft anerkennt. 

Nun  kommt  er  zu  seiner  These  ^*).  Es  giebt  vier  Grundwurzeln 
„aller  Dinge",  und  dies  muss  man  zuerst  wissen,  nämlich  Feuer, 
Wasser,  Erde  und  Luft.  Aus  diesen  vier  Elementen  besteht  Alles, 
was  „war"  und  was  „sein  wird"  und  die  Dinge,  die  „jetzt  sind". 
Diese  vier  Grundelemente  sind  einem  doppelten  Lauf  unterworfen. 
Einmal  werden  sie  aus  ihrer  gesonderten  Lage  genommen  und 
zusammengehäuft,  so  dass  sie  „ein  Ganzes"  ausmachen,  und  zu 
einer  anderen  Zeit  gehen  sie  wieder  auseinander  und  aus  dem 
einen  Ganzen  werden  wieder  vier  Haufen.  Dieser  zweifachen  Be- 
wegung entsprechend  giebt  es  auch  ein  zweifaches  „Entstehen"  und 
ein  zweifaches  „Vergehen"  der  sterblichen  Dinge.  Das  eine  Ent- 
stehen und  Vergehen  findet  statt,  wenn  die  Vereinigung  des  Alls 
Dinge  erzeugt  und  wieder  zerstört.  Und  das  andere  Entstehen  und 
Vergehen  kommt  zustande,  wenn  während  der  Trennung  der  Ele- 


3*)  V.  59. 
Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.    XV,  2.  Iß 


234  Ernst  Chr.  Hch.  Peithmann, 

mente  Dinge  ernährt  und  wieder  aufgelöst  werden''').  Und  diese 
vier  Elemente,  im  fortwährenden  Wechsel  begriffen,  nehmen  nie 
ein  „Ende".  Einmal  kommen  alle  vier  in  Liebe  zu  „einem  Ganzen" 
zusammen  und  zur  anderen  Zeit  hinwiederum  werden  sie  durch 
den  „Hass"  der  „Zwietracht"  von  einander  abgesondert.  So  haben 
die  Elemente  sich  gewöhnt  einerseits  aus  mehreren  „Eins"  zu 
werden  und  andererseits,  wenn  „das  Eine"  sich  auflöst,  entstehen 
wieder  mehrere.  Von  einem  Gesichtspunkte  aus  „entstehen"  sie 
daher  und  haben  keine  „unerschütterliche  Dauer".  Aber  soweit 
sie,  im  fortwährenden  Wechsel  begriffen,  niemals  ein  Ende  nehmen, 
insofern  „sind"  sie  immer  im  „unbeweglichen"  Kreislauf.  Unter 
den  vier  Elementen  ist  also  der  verhängnisvolle  Hass  und  auf  der 
andern  Seite  die  Liebe  thätig,  beide  den  Elementen  gleich  an 
Länge  und  Breite.  Diese  Liebe  ^*)  nun  kann  man  nicht  voll  Er- 
staunen mit  den  Augen  erschauen,  sondern  man  kann  sie  nur  mit 
der  Vernunft  wahrnehmen.  Die  Liebe  ist  dieselbe,  welche  auch 
den  menschlichen  Gliedern  eingeboren  ist  und  kraft  ihrer  Wirksam- 
keit sind  die  Menschen  friedlich  gesinnt  und  verrichten  gleichartige 
und  einträchtige  Werke.  Sie  geben  ihr  den  Beinamen  Frohsinn 
und  Aphrodite.  Aber  obwohl  sie  durch  das  Weltall  dahinfährt, 
hat  noch  kein  Sterblicher  sie  kennen  gelernt.  Die  vier  Elemente 
sind  alle  gleich  stark  und  gleich  alt,  doch  jedes  hat  seine  eigene 
Aufgabe  und  hat  seine  besonderen  Eigenschaften.  Und  sie  herrschen 
im  Wechsel,  während  der  Kreislauf  sich  vollzieht;  sie  verschwinden 
in  einander  und  werden  zusammengehäuft  im  Wechsel  des  Schick- 
sals. Ausser  diesen  vieren  entsteht  nichts  und  sie  selbst  vergehen 
nicht.  Denn  wenn  sie  gänzlich  vernichtet  würden,  so  „wären"  .sie 
schon  längst  nicht  mehr.  Und  was  giebt  es  und  woher  sollte  es 
kommen,  das  dies  Weltall  vermehren  könnte?  Und  wie  können 
sie  vernichtet  werden,  da  sie  das  All  ausfüllen?  Nein,  diese  vier 
„sind"  (und  bleiben)  in  der  That,  aber  indem  sie  durcheinander 
laufen,  werden  sie  bald  dies  und  bald  das,  immer  sich  selbst 
ähnlich^'). 


")  y.  02—66. 
36)  V.  80—87. 
")  V.  87—97. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  '  235 

Empedocles  giebt  hier  eine  werthvolle  Erklärung  und  Ein- 
schränkung des  Parmenideischen  „unbeweglichen  Seins"  und  auch 
des  sogenannten  „Einen".  Aus  dem  Gedicht  des  Empedokles  wird 
es  bestätigt,  dass  Parmenides  mit  dem  „einen  Ganzen"  nur  diese 
unsere  Welt  meinte.  Empedokles  sagt:  Ja,  Parmenides  hat 
Recht,  wenn  er  sagt,  dass  diese  Welt  als  Ganzes  genommen  nie- 
mals entstanden  ist  und  niemals  vergehen  wird,  sondern  dass  sie 
unveränderlich  und  unbeweglich  „ist".  Die  vier  Elemente  nämlich 
in  ihrem  ewigen  Kreislauf  „hören  nimmer  auf",  sondern  „sind" 
immer,  und  das  wollte  Parmenides  in  der  That  nur  sagen,  dass 
diese  Welt  als  Ganzes  genommen  „immer  ist".  Und  Parmenides, 
so  fährt  Empedokles  fort,  hat  ferner  darin  Recht,  dass  nichts  zu 
dieser  Welt  hinzukommen  und  dass  nichts  davon  verschwinden 
kann,  sondern  dass  sie  in  ihren  Grundelemeuten  „sich  immer  gleich 
und  ähnlich"  bleibt. 

Daneben  kann  man  aber  doch  auf  der  anderen  Seite  nicht 
leugnen,  dass  innerhalb  des  unerschaffenen  unzerstörbaren  Welt- 
alls ein  fortwährender  AVechsel  stattfindet.  Hier  steht  nun  Empe- 
dokles auf  der  Seite  der  „Wankelmüthigen",  wenn  er  behauptet, 
dass  es  abwechselnd  eine  Sammlung  und  eine  Zerstreuung  des 
Weltalls  giebt.  Zwei  gewaltige  Kräfte  sind  die  Ursache  dieser 
fortwährenden  Veränderung:  Liebe  und  Hass,  Anziehung  und  Ab- 
stossung.  Ihr  Einfluss  ist  verantwortlich  für  die  wechselnden 
Formen  und  Erscheinungen,  die  wir  täglich  vor  unseren  Augen 
sehen  und  die  niemand  leugnen  kann.  Durch  diesen  zwiefachen 
Prozess  der  Vereinigung  und  Trennung  kommen  die  sogenannten 
„sterblichen  Dinge"  ins  Dasein.  Und  zwar  giebt  es  ein  doppeltes 
„Entstehen  und  Vergehen"  der  vergänglichen  Erscheinungen.  Sie 
kommen  einmal  ins  Dasein,  wenn  das  Weltall  sich  auf  dem  Wege 
der  Vereinigung  befindet,  und  zweitens,  wenn  es  sich  wieder  auf- 
löst in  die  vier  Elemente.  In  diesem  Punkte  nun  sind  gewisse 
Leute,  die  er  „Dumme"  (xaxci)  und  „Thoren"^*)  nennt,  sehr  im 
Irrthum.  Absolutes  Entstehen  und  absolutes  Ende  im  „verhängniss- 
vollen Tode"  ist  undenkbar  und   unmöglich  für  irgend  eins  unter 


38)  V.  105—119. 

16* 


236  Ernst  Chr.  Heb.  Peithmann, 

den  sterblichen  Dingen,  und  es  giebt  iu  Wirklichkeit  nur  eine 
Mischung  und  eine  Trennung  des  Gemischten.  Denn  es  ist  un- 
möglich, dass  etwas  entstehen  sollte  aus  dem,  was  „nicht  ist",  und 
ebenso  ist  es  unthunlich,  dass  das,  was  „ist",  zerstört  werden 
sollte.  Denn  was  „ist",  wird  immer  da  sein,  wohin  man  es  auch 
immer  stossen  mag.  Man  kann  mit  andern  Worten  mit  einem 
Dinge,  das  existirt,  aufstellen,  was  man  will,  man  kann  es  nie  ans 
der  Welt  bringen  etwa  durch  Vernichtung:  denn  Vernichtung  giebt 
es  nicht.  Aber  für  die  Unwissenden  ist  es  schwer,  dies  zu  glauben. 
Sie  sagen,  wenn  etwas  in  der  Gestalt  eines  Menschen  ans  Tages- 
licht kommt  oder  die  Form  der  wilden  Thiere  annimmt  oder  der 
Pflanzen  oder  der  Vögel,  das  wäre  absolutes  „Entstehen".  Und 
wenn  diese  Dinge  sich  später  wieder  auflösen,  so  nennen  sie  dies 
in  unzutreffender  Weise  den  „unglücklichen  Tod".  Und  ich  selbst, 
so  sagt  Empedokles,  folge  dieser  Gewohnheit  um  der  Andern  willen. 
Aber  solchen  Leuten  fehlt  es  an  der  klaren  Vernunft,  wenn  sie 
hüft'en,  dass  etwas,  was  „nicht  ist",  „entstehen"  soll,  oder  dass 
etwas  sterben  und  „gänzlich  vernichtet"  werden  kann.  Ein  weiser 
Mann  kann  nie  der  Ansicht  beipflichten,  dass  so  lange  die  Sterb- 
lichen „leben",  was  sie  so  Leben  nennen,  so  lange  „sind"  sie  und 
erleben  Glück  und  Unglück;  aber  bevor  sie  zusammengesetzt  sind 
und  nachdem  sie  wieder  aufgelöst  sind,  „sind  sie  nichts". 

Hier  haben  wir  nun  genaue  Angaben  über  die  Philosophie 
jener  „Sterblichen",  die  Parmenides  schon  bekämpfte.  Sie  be- 
haupten, dass  die  sterblichen  Wesen  auf  dieser  Welt  nicht  immer 
gewesen  sind,  sondern  es  gab  eine  Zeit,  in  der  sie  „nicht  waren", 
wo  man  also  von  ihnen  sagen  musste:  „sie  sind  nicht".  Ebenso 
wird  die  Zeit  kommen,  in  der  sie  verschwinden  und  es  von  ihnen 
wieder  heissen  wird,  „sie  sind  nicht".  Die  Lebensgeschichte  aller 
sterblichen  Wesen  ist  also  wie  folgt:  1.  sie  „sind  nicht",  2.  sie 
werden  zusammengesetzt  (oder  „werden  geschaffen",  wie  jene 
sich  ausdrücken),  3.  sie  leben  eine  Zeit  lang  und  „sind",  '4.  sie 
werden  wieder  aufgelöst  (oder  „werden  vernichtet"),  5.  sie 
„sind  nicht". 

Parmenides  hatte  hierauf  geantwortet,  dass  man  nicht  auf  die 
einzelnen  Dinge  blicken  darf,    sondern   dass  mau  das  Ganze  stets 


> 

Die  Naturphilosophie  vor  Sokrales.  237 

vor  Augen  halten  muss,  denn  die  Welt  ist  iu  der  That  nicht  zu- 
sammengesetzt aus  vielen  Dingen,  sondern  sie  ist  nur  „ein  Ding". 
Und  wenn  man  dies  beachtet,  so  ist  es  klar,  dass  es  nie  eine  Zeit 
gab,  in  der  man  von  dem  Weltall  sagen  konnte,  „es  ist  nicht", 
noch  wird  es  je  eine  solche  Zeit  in  der  Zukunft  geben.  Das 
W^eltall  ist  eben  ohne  Anfang  und  Ende,  ist  nie  ins  Dasein  ge- 
kommen, noch  wird  es  je  aus  dem  Dasein  verschwinden,  sondern 
„es  ist",  d.h.  „es  ist  immer".  Empedokles  sagt,  Parmenides  hat 
völlig  Recht,  dass  die  ganze  Masse  des  Weltalls  unvergänglich  und 
ewig  ist,  aber  „die  Menschen"  haben  auch  Recht,  wenn  sie  von 
^^sterblichen  Wesen"  reden.  Nur  haben  sie  keine  klare  Vorstellung 
von  der  Geschichte  dieser  „sterblichen  Dinge".  Sie  meinen  z.  B., 
wenn  ein  Mensch  ins  „Leben"  tritt  oder  ein  Thier  oder  Strauch 
oder  Vogel  ins  Dasein  kommt,  dass  diese  Dinge  „aus  nichts  ent- 
standen sind".  Sie  heften  also,  dass  etwas  werden  kann,  was 
vorher  „nicht  war",  oder  dass  etwas  entstehen  kann  aus  gar 
nichts.  Nur  ein  Thor  kann  so  etwas  glauben.  Wenn  der  Vogel 
ins  Leben  kommt,  so  heisst  das  eben  nur,  dass  er  aus  gewissen 
Theilen  oder  Elementen,  die  aber  schon  da  waren,  „zusammen- 
gesetzt ist".  Auf  der  anderen  Seite  haben  diese  Menschen  die 
Ansicht,  dass,  wenn  ein  Vogel  stirbt,  er  gänzlich  „vernichtet  wird", 
so  dass  nichts  übrig  bleibt.  Aber  in  Wirklichkeit  ist  dies  nur 
eine  Auflösung  in  die  ursprünglichen  Theile,  aus  denen  er  zu- 
sammengesetzt war.  Die  vorübergehende  Zusammenstellung  „ver- 
geht", aber  die  elementare  Substanz  bleibt  und  ist  unzer- 
störbar. 

Hiermit  ist  das  grossartige  philosophische  System  des  Empe- 
dokles in  seinen  CTrundzügen  gegeben,  und  was  von  S.  120  au 
folgt,  ist  nur  eine  weitere  Ausführung  dieses  Gedankens  in  seinen 
Einzelheiten.  Es  ist  seine  Aufgabe  ofi'enbar,  Beispiele  und  Ver- 
gleiche und  „Beweise"  zu  bringen  für  seine  allgemeine  Regel,  die 
im  ersten  Theile  ausgesprochen  ist.  Es  wird  genügen,  auf  die  in- 
teressantesten Punkte  hinzuweisen.  Die  Geschichte  des  AVeltalls 
mag  am    besten  verglichen  werden  mit  der  Arbeit  des  Malers^'). 


39)  V.  134—144. 


238  Ernst  Chr.  Hch.  Pcithuiauu, 

Die  Farbeu,  die  er  gebrauchen  will,  stehen  fertig  da  in  ver- 
schiedenen Töpfen.  Er  nimmt  diese  Farbeu  und  mischt  sie  zu- 
sammen in  passender  Weise,  bald  nimmt  er  mehr  von  der  einen 
und  bald  von  der  anderen  Farbe,  und  so  macht  er  aus  dem  weni- 
gen Material  alle  möglichen  Gestalten  und  Wesen,  malt  Bäume, 
Männer,  Frauen,  wilde  Thiere,  Vögel,  Fische  und  selbst  Götter. 
Die  Verschiedenheit  der  Gestaltung  hängt  nur  ab  von  der  ver- 
schiedenen i\Iischung.  Gerade  so  geht  es  in  der  grossen  Welt 
draussen.  Die  vier  Grundelemente  aller  Dinge  sind  zuerst  da:  sie 
sind  früher  da  gewesen  und  werden  sein,  ja,  der  unendliche  Zeit- 
raum wird  nie  und  nimmer  ihrer  entbehren.  Aber  sie  sind  einem 
ewigen  periodischen  Wechsel  unterworfen,  während  der  Kreislauf 
der  Zeiten  sich  vollzieht.  Sie  allein  haben  unerschütterliche 
Existenz  und  aus  ihnen  ist  alles  gemacht,  was  war  und  was  ist 
und  was  später  sein  wird.  Während  der  Herrschaft  des  Streits 
nehmen  sie  alle  ihre  besondere  Form  an  und  sondern  sich  ab  von 
einander,  und  wenn  die  Liebe  die  Oberhand  fand,  haben  sie  das 
Verlangen  nach  gegenseitiger  Einigung,  um  zuletzt  „eine  Welt"  zu 
bilden. 

Von  V.  163  an  giebt  er  nun  eine  Schilderung  von  der  Bildung 
der  gegenwärtigen  Welt.  Nachdem  im  Laufe  der  Zeiten  das  Welt- 
all, welches  eine  unbewegliche,  völlig  ausgefüllte,  nach  allen 
Seiten  unendliche  Kugel  darstellt,  lange  genug  unter  der  Herrschaft 
des  Hasses  sich  befunden  hatte,  war  das  Ganze  zersplittert  in  seine 
vier  Elemente.  Die  Kugel,  die  vorher  fest  zusammengepresst  war 
in  der  engen  Umarmung  der  Liebe,  war  allmählich  durch  die  um 
sich  greifende  Thätigkeit  des  Hasses  auseinander  gerissen.  Aber 
die  trennende  Wirksamkeit  des  Hasses  hatte  doch  zuletzt  ihren 
Höhepunkt  erreicht  und  er  entwich  zu  der  untersten  Tiefe  des 
Strudels,  und  es  gelang  der  Liebe,  sich  im  Centrum  wieder  fest- 
zusetzen. Unter  ihrem  anziehenden  und  gewinnenden  Eiulluss  be- 
ginnt alles  wieder  zusammenzueilen  zu  einem  Ganzen,  nicht  auf 
einmal,  sondern  ganz  allmählich  sich  ansammelnd  von  allen  Rich- 
tungen. So  beginnt  eine  neue  Periode  sterblicher  Wesen.  Die 
Elemente,  die  vorher  in  ihrer  Trennung  „unveränderlich"  und  „un- 
sterblich" gewesen  waren,    werden   jetzt    gemischt  und  sind  dann 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  239 

wieder  „sterblich".  Was  vorher  ungemischt  war,  wird  nun  wieder 
gemischt,  indem  Alles  einen  neuen  Kreislauf  beginnt.  Und 
während  nun  die  allmähliche  Mischung  stattfindet,  kommen  un- 
.zählige  Schaaren  von  „sterblichen  Wesen"  ins  Dasein,  allen  denk- 
baren und  möglichen  Formen  angepasst,  ein  Wunder  anzusehen. 
Noch  ist  der  Streit  nicht  ganz  vertrieben  aus  dem  Weltall.  Aber 
die  Liebe  hat  das  Scepter  in  den  Händen.  Sie  wird  endlich  gänz- 
lich den  Sieg  davontragen,  und  die  Welt  wird  dann  wieder  eine 
rundliche  gleichmässige  Kugel  bilden,  nach  allen  Seiten  unendlich 
und  von  allen  Seiten  gleich,  „jauchzend  über  die  allseitige  Ruhe". 

Empedokles  fährt  fort,  die  Entwicklung  des  Weltgebäudes  *") 
zu  beschreiben,  indem  er  offenbar  der  Methode  der  sogenannten 
„Sterblichen"  des  Parmenides  folgt.  Er  berichtet  über  den  Ur- 
sprung der  Sonne  und  aller  sichtbaren  Dinge,  der  Erde  und  des 
Meeres  und  des  Aethers  und  der  Luft.  Er  behandelt  die  Frage, 
ob  die  Tiefen  der  Erde  und  des  Aethers  unendlich  sind,  wie  ge- 
wisse Sterbliche  behauptet  haben.  Er  erklärt  die  wunderbare  Ein- 
richtung des  Auges*')  und  den  erstaunlichen  Vorgang  des  Athmens") 
und  den  räthselhaften  Ursprung*')  der  Sinneswahrnehmungen  und 
manche  andere  physikalische  und  physiologische  Erscheinungen. 
Zuletzt  fügt  er  auch  noch  eine  kurze  Abhandlung  über  die  Götter 
hinzu  "). 

Dies  ist  das  tiefsinnige  System  des  grossen  Agrigentiners  in 
seinen  allgemeinsten  Umrissen.  Es  ist  nicht  nöthig,  weiter  in  die 
Einzelheiten  zu  gehen,  da  diese  in  jeder  Geschichte  der  Philosophie 
gefunden  werden  können.  Die  Hauptsache  ist,  dass  wir  den  all- 
gemeinen Gang  der  Gedanken  und  die  eigentliche  Absiebt  des 
Dichters  klar  vor  Augen  haben.  Die  Frage,  um  die  sich  Alles 
dreht,  ist  otYenbar  die,  ob  diese  Welt  als  Ganzes  vergänglich 
ist  oder  unvergänglich,  ob  sie  einen  Anfang  und  ein  Ende 
hat,  oder  ob  sie  immer   gewesen  ist   und    immer  sein  wird, 


^0)  V.  233  ff. 

*')  V.  220— •221). 

42)  V.  343  -  367. 

*^^  V.  378—382. 

**)  V.  385—396. 


240  Ernst  Chr.  Hell.  Peithmann, 

SO  dass  der  Krciölaiü'  der  Zeiten  .sie  immer  voriindou  wird.  Die 
zweite  BVage  ist,  ob  die  ciiizeluen  Dinge,  die  in  der  Welt  er- 
scheinen und  wieder  verschwiadeu,  aus  nichts  entstehen  und 
in  nichts  vergehen,  oder  ob  sie  in  irgend  einer  andern  Form 
vorher  und  nachher  existiren.  Von  den  vier  Grundwurzehi 
nun,  aus  denen  das  Weltgebäude  zusammengesetzt  ist,  kann  man 
ohne  EinschränkuDg  sagen,  dass  „sie  sind",  wie  Parmenides  sich 
ausdrückte.  Das  heisst,  sie  „sind  immer"  und  bleiben  immer 
dieselben  im  unbeweglichen  Kreislauf.  Sie  „sind  immer  gewesen" 
und  w^erden  immer  „sein"  für  alle  Zeiten.  Nicht  das  geringste 
Stäubchen  kann  hiuzugethan  werden  und  nicht  ein  Härchen  kann 
von  ihnen  verloren  gehen.  Könnte  etwas  davon  vernichtet  werden, 
so  würde  die  Welt  längst  schon  vernichtet  sein,  und  die  Elemente 
würden  nicht  mehr  existiren.  Und  wohin  sollten  sie  verschwinden, 
da  „Alles"  mit  ihnen  angefüllt  ist,  es  also  nirgendswo  einen  leeren 
Raum  giebt.  Und  woher  sollte  neues  Material  kommen,  um  das 
Weltall  etwa  zu  vermehren?  Denn  es  giebt  weiter  nichts  als  dies 
unendliche  „All".  Nein,  was  ist,  ist  und  bleibt  für  immer, 
und  nichts  Neues  kann  hinzukommen,  denn  was  nicht  ist,  muss 
für  ewige  Zeiten  „nicht  sein". 

Aber  nun  giebt  es  Leute,  die  behaupten  z.  B.,  dass  einzelne 
Dingo,  wie  Menschen,  wilde  Thiere,  Sträucher  und  Vögel,  ins 
Dasein  kommen  und  wieder  verschwinden.  Thoren,  die  sie  sind! 
Diese  lebenden  Wesen  können  doch  nicht  aus  gar  nichts  kommen 
und  sie  können  doch  nicht  bei  ihrem  Tode  in  nichts  aufgehen! 
Nein,  wenn  Thiere  ins  Leben  treten,  so  werden  sie  nur  einfach 
„zusammengesetzt"  aus  den  betreffenden  Elementen,  die  schon  da 
sind;  und  wenn  sie  sterben,  so  lösen  sie  sich  nur  wieder  auf  in 
ihre  Elemente.  Denn  die  Elemente  sind  unter  der  Einwirkung 
zweier  Mächte,  der  Liebe  und  des  Hasses,  die  zu  gleicher  Zeit,  ob- 
wohl in  verschiedener  Weise,  ihren  Einfluss  ausüben.  Die  Welt 
geht  abwechselnd  durch  entgegengesetzte  Entwickelungsstufen.  Das 
eine  Mal  zieht  die  Liebe  das  Weltall  in  eine  einheitliche  Masse 
zusammen,  und  das  andere  Mal  reisst  der  Ilass  die  vier  Elemente 
wieder  auseinander.  Einmal  haben  wir  daher  die  vier  Elemente 
ganz  vermischt    und    das    andere  Mal    haben  wir  sie  gänzlich  ge- 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  241 

schieden.  Iii  diesen  zwei  Punkten  lien\scht  offenbar  völlige  Ruhe. 
Aber  iu  den  beiden  Entwickelungsstufeu  dazwischen,  auf  dem 
Wege  zur  Vereinigung  und  zur  völligen  Trennung,  kommen  die 
sterblichen  Wesen  ins  Dasein:  Es  ist  die  Folge  des  doppelten 
Einilusses  der  Liebe  und  des  Hasses,  dass  kurze  vorübergehende 
Vereinigungen  der  Elemente  stattfinden.  Es  ist,  als  wenn  zwei 
gleich  starke  Kämpfer  mit  einander  ringen:  bald  hat  der  eine 
einen  Vorsprung,  bald  der  andere:  ein  fortwährend  wechselndes 
Bild.  Gerade  so  geht  es  mit  den  Thieren  und  Pflanzen,  die  ins 
Dasein  kommen.  Das  eine  Mal  zieht  die  Liebe  die  Elemente  zu- 
sammen, das  andere  Mal  löst  sie  der  Hass  wieder  auf.  Man  kann 
daher  nicht  sagen,  dass  die  Thiere  vor  ihrem  Entstehen  „nicht 
sind".  Die  Elemente,  aus  denen  sie  gemacht  sind,  sind  und 
bleiben  dieselben  für  alle  Zeiten:  sie  werden  nur  vorübergehend 
zusammengezogen  und  wieder  aufgelöst. 

Was  also  die  Streitfrage  anlangt,  ob  die  Welt  unsterblich  ist 
oder  sterblich,  so  sagt  Empedokles:  Alle  Erscheinungen  und  Dinge 
in  dieser  Welt  sind  vergänglich  und  sterblich.  Aber  die  vier 
Elemente,  aus  denen  alle  Dinge  gemacht  sind,  siud  unsterb- 
lich und  ewig!  Die  andere  Frage  war,  ob  die  Welt  beweglich 
ist  oder  unbeweglich.  Die  Welt  in  ihren  einzelnen  Theilen  ist  in 
unausgesetzter  Bewegung  und  Veränderung  während  der  beiden 
Perioden,  in  denen  Liebe  und  Hass  herrschen.  Jeden  neuen 
Augenblick  zeigt  sie  uns  ein  neues  Bild.  Aber  das  Ganze  bleibt 
unbeweglich  gleich,  insofern  nichts  hinzukommen  kann  und  nichts 
verloren  gehen  kann.  Ausserdem  giebt  es  zwei  scheinbar  anhaltende 
Perioden  der  Ruhe,  wenn  die  Liebe  oder  der  Hass  absolute  Allein- 
herrschaft ausübt. 

Die  Frage,  ob  die  Welt  „eins"  ist  oder  mehrere,  beantwortet 
er,  wie  folgt..  Zur  Zeit,  wenn  die  Liebe  völlige  Oberhand  hat,  ist 
die  Welt  „eins",  wie  Parmenides  behauptete;  wenn  der  Hass  das 
Scepter  hält,  giebt  es  „vier"  grosse  Abtheiluugen  in  der  Welt.  In 
den  Zwischenzeiten  giebt  es  „Myriaden"  ^^)  von  verschiedenen 
lebenden  Wesen.     Die    Frage    nach    dem   „Sein"   und  „Nichtsein" 

*5)  V.  204. 


242  Ernst  Chr.  ITch.  Peithmann, 

erledigt  er  in  ähnlicher  AVeise  wie  Parmenides.  Nur  die  Thoren 
können  sprechen,  dass  es  eine  Zeit  giebt,  wo  die  Dinge  „nicht 
sind",  nämlich  vor  der  Entstehung  und  nach  dem  sogenannten 
,,uugliicklichen  Todesschicksal",  dass  die  Dinge  also  nur  „sind", 
so  lange  sie  „leben",  was  man  so  „leben"  nennt.  In  Wirk- 
lichkeit leben  die  Dinge  immer  und  „sind  immer",  denn  die  Ele- 
mente, aus  denen  sie  zusammengesetzt  sind,  „sind''  und  „waren" 
und  „werden  sein". 

4.  Rückblick. 

Damit  haben  wir  die  beiden  wichtigsten  Denkmäler  der  vor- 
sokratischen  Philosophie  erörtert.  Sie  sind  die  wichtigsten  Denk- 
mäler erstens,  weil  sie  in  Poesie  verfasst  sind  und  deswegen  den 
Text  im  Grossen  und  Ganzen  unverändert  bewahrt  haben,  zweitens, 
weil  sie  uns  das  meiste  Material  bringen  über  die  älteste  Philo- 
sophie infolge  des  polemischen  Charakters,  den  beide  Gedichte 
tragen;  drittens,  weil  sie  von  zwei  der  grössten  philosophischen 
Köpfe,  die  die  Welt  je  gesehen  hat,  verfasst  sind.  Wir  können 
uns  daher  hier  ein  wenig  ausruhen  und  zusehen,*  was  für  ein  Bild 
wir  von  der  ältesten  Philosophie  gewonnen  haben. 

Eine  Thatsache  ist  klar:  die  Frage  ist  hier  nicht  in  erster 
Linie:  was  ist  das  „Princip"  aller  Dinge,  oder  welches  ist  die 
„Ursache"  aller  Dinge?  Die  eigentliche  Frage  ist:  was  ist  der 
Ursprung  und  das  Schicksal  und  die  Bestimmung  der 
Welt  und  der  Dinge,  die  darinnen  sind?  Ist  diese  Welt 
immer  gewesen,  oder  hat  sie  einen  Anfang  genommen?  Wird  sie 
immer  sein,  oder  wird  sie  ein  Ende  nehmen?  Wolier  kommen  die 
Dinge,  die  auf  dieser  Erde  erscheinen  und  wieder  verschwinden? 
Kommen  sie  aus  Nichts  und  verschwinden  sie  ins  Nichts?  Das 
heisst,  kann  man  sagen,  dass  Dinge  zu  einer  gewissen  Zeit  „nicht 
waren"  und  zu  einer  anderen  Zeit  „nicht  sein  werden",  kurz, 
giebt  es  ein  Nichtsein  der  Dinge?  Giebt  es  überhaupt  einen 
Wechsel  uud  eine  Veränderung  in  dieser  Welt,  oder  ist  sie 
unbewegt?  Giebt  es  das,  was  die  ^lenschen  gewöhnlich  „Tod" 
nennen?    Giebt  es  kurz  ein  „Entstehen  und  Vergehen"?    Alle  diese 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  243 

Fragen    werden    vou  den  verschiedensten   Leuten   verschieden   be- 
antwortet. 

a)  Ursprünglich  gab  es  offenbar  eine  Reihe  von  Leuten ,  die 
meistens  nur  allgemein  als  Sterbliche  oder  Thoren  bezeichnet 
werden,  die  eine  sehr  ungenügsame  und  für  die  späteren  Philosophen 
abstossende  Philosophie  vertraten.  Sie  behaupteten,  dass  „alles" 
„vergänglich"  ist;  dass  Dinge  „entstehen  und  vergehen"  im  un- 
endlichen Wechsel  der  Weltgeschichte;  dass  Alles,  was  wir  um  uns 
sehen,  erst  „nicht  ist",  dass  es  dann  ins  Dasein  kommt  oder 
„entsteht",  dass  es  für  eine  gewisse  Zeit  lebt  oder  „ist",  um 
endlich  wieder  zu  „vergehen"  und  „nicht  zu  sein".  Dies  Auf- 
einanderfolgen von  „Nichtsein"  und  „Sein",  von  Leben  und 
Tod  findet  nicht  nur  statt  für  Menschen  und  Tiere  und  Pflanzen, 
sondern  das  ganze  Weltall  ist  dereinst  ebenso  entstanden.  Es  gab 
eine  Zeit,  in  der  sich  diese  ganze  Welt  entwickelte  und  ins  Dasein 
trat"  sammt  Erde  und  Sonne  und  Mond  und  Sternen.  Und  diese 
Philosophen,  wenn  wir  sie  so  nennen  dürfen,  gaben  auch  eine 
genaue  Rechenschaft  darüber,  „wie"  diese  Weltkörper  „entstanden 
sind",  obwohl  die  betreffenden  Angaben  nicht  im  Parmenides  und 
Empedokles  erhalten  sind.  Und  wie  dieses  Weltall  früher  ins 
Dasein  gekommen  ist,  so  wird  es  auch  dermaleinst  wieder  „ver- 
gehen", nachdem  es  seine  „Blütheperiode"  erreicht  hat,  und  es  wird 
keine  Spur  mehr  davon  zu  finden  sein  wie  die  Blume,  die  „verwelkt 
und  ihre  Stätte  kennet  sie  nicht".  Dies  ist  in  der  That  eine 
melancholische  Philosophie.  Sie  lässt  keinen  Stein  unbewegt. 
Nichts,  worauf  man  sich  verlassen  kann.  Alle  Dinge  sind  nur 
wie  Seifenblasen,  die  sich  bilden  und  wieder  vergehen,  ohne  Etwas 
zurückzulassen.  „Nichtsein  und  Sein,  Sein  und  Nichtsein" 
lösen  sich  ab  in  ununterbrochener  Reihenfolge.  In  der 
That  eine  „verhasste  und  unglückselige"  Philosophie. 

b)  Aber  schon  vor  Parmenides  gab  es  Leute,  die  dagegen  auf- 
getreten waren.  Parmenides  nennt  sie  „die  Wankelmüthigen"  oder 
Zweiköpfigen.  Sie  versuchen,  den  Gegensatz  von  „Sein  und  Nicht- 
sein" zu  überwinden,  indem  sie  behaupten,  dass  beide  eins  und 
dasselbe  sind  und  hinwiederum    nicht  dasselbe*'').     Sie   behaupten. 


46 


)  Parm.  V.  50,  51. 


244  Erust  Chr.  Hch.  Peilhraaun, 

dass  die  Bewegung  in  der  Wcltgcsclüchtc  nicht  immer  nach  einer 
Richtung  verläuft,  sondern  dass  die  Bewegung  vorwärts  und  rück- 
wärts geht,  dass  die  Dinge  also  am  Schluss  wieder  da  an- 
kommen, wo  sie  zuerst  anfingen.  Nach  ihrer  Anschauung 
gab  es  nie  eine  Zeit,  wo  diese  Welt  „nicht  war",  noch  wird  die 
Zeit  kommen,  in  der  sie  „nicht  mehr  ist":  nein,  sie  war  immer 
und  wird  immer  sein^^.  Der  Wechsel  ist  nur  ein  „Zerstreuen 
und  Sammeln-'*^),  ein  „Zertheilen"^^)  und  Zusammenfügen,  es  ist 
nur  ein  Wechsel  des  „Ortes  und  der  Farbe''"),  nur  ein  Addiren 
und  Subtrahiren.  Alles,  was  stattfindet,  ist  ein  „hier  und  da""), 
ein  „mehr  und  weniger"  ^0-  ^^'^s  die  Leute  „Nichtsein"  nennen,  ist 
daher  nur  „Sein"  in  einem  anderen  Sinne:  Nichtsein  und  Sein  ist 
dasselbe! 

c)  Parmcnides  tritt  nun  beiden  Anschauungen  scharf  entgegen. 
Gegensätze,  sagt  er,  kann  mau  nicht  ausgleichen  oder  für  identisch 
und  gleich  erklären.  Entweder  muss  man  sich  für  das  „Sein" 
erklären  oder  für  das  „Nichtsein"!  Ein  Ding,  das  „nicht  ist", 
kann  nie  „sein".  Ein  Ding,  das  ist,  kann  nie  und  nimmer  „nicht 
sein",  sondern  was  „ist",  „ist"  immer.  Die  Welt  ist  nicht 
zusammengesetzt  aus  verschiedenen  Dingen,  sondern  sie  ist  nur 
„Eins".  Und  dies  „Eine"  ist  nie  ins  Dasein  gekommen  und  wird 
nie  aus  dem  Dasein  schwinden.  Es  ist  unvergänglich  und  un- 
beweglich, ohne  Anfang  und  Ende.  Unu  kann  die  Welt  aber  nur 
verstehen,  wenn  man  sie  so  als  eins  ansieht"),  wenn  man  das 
scheinbar  Abwesende  und  Entfernte  als  gegenwärtig  ansieht  und 
sagt,  dass  die  Welt  „ist"  allzugleich  in  untheilbarer  fort- 
laufender Gegenwart.  Sobald  man  von  Vergangenheit  und 
Zukunft,  von  einem  Hier  und  Da  spricht,  fällt  das  \Veltall  in 
Stücke     und     man     kommt     dann    nothwendigerweise    zu    einer 


")  Parra.  Gl,  75,  7G. 

<8)  Y.  92,  93. 

")  V.  78. 

50)  V.  KU. 

•■•1)  V.  79. 

52)  V.  79,  80. 

")  V.  90. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  245 

Philosophie,  wie  sie  die  Sterblichen  aufgestellt  haben*^).  Aber 
wenn  man  mit  der  \^ernunft  das  Ganze  im  Auge  behält,  so  kann 
man  einfach  sagen:  „es  ist",  d.  h.  es  ist  ohne  Unterlass.  Ein 
„Nichtsein"  giebt  es  da  nicht. 

d)  Nun  kommt  Empedokles.  Er  greift  zurück  zu  der  Theorie 
vom  „Sammeln  und  Zerstreuen",  vom  einfachen  Wechsel  des 
Ortes  und  der  Farbe.  Parmenides  geht  ihm  zu  weit.  Man  mag 
es  noch  so  lebhaft  versuchen,  den  Unterschied  von  Zeit  und  Ort 
aus  der  Vorstellung  zu  verbannen,  mau  bringt  es  nicht  fertig.  Es 
ist  ein  Unding,  den  Wechsel  in  der  Welt  leugnen  zu  wollen. 
Parmenides  hat  recht,  dass  als  Ganzes  genommen  die  Welt  un- 
veränderlich und  ewig  ist.  Und  die  „Thoren"  irren  sich, 
wenn  sie  von  der  Möglichkeit  sprechen,  dass  Etwas  „nicht  ist". 
Was  nicht  ist,  kann  nicht  werden  und  was  „ist",  kann  nimmer 
aufhören  „zu  sein".  Die  vier  Elemente  „sind"  daher  unveränderlich, 
die  einzelnen  Dinge  kommen  nur  zu  Stande  durch  Zusammen- 
setzung und  Trennung  der  Elemente:  sie  können  unmöglich 
aus  „nichts"  kommen.  Das  All  ist  unvergänglich,  aber  die 
sterblichen  Dinge  sind  vergänglich.  Und  doch  sind  beide 
dasselbe.  Das  All  löst  sich  auf  in  die  Vielheit  der  Myriaden  von 
sterblichen  Dingen  und  alles  Sterbliche  sammelt  sich  wieder  in 
die  unsterblichen  Elemente  oder  das  unsterbliche  „All"  oder 
„Eins". 

5.    Der  Tod  kann  nicht  tödten. 

Hier  sind  uns  nun  die  Grundideen  der  vorsokratischen  Philo- 
sophie klar  geworden  und  wir  können  es  jetzt  wagen,  eine  Arbeit 
zu  unternehmen,  deren  Vollendung  vielen  Doxographen  und  Gerichts- 
schreibern als  aussichtslos  erschienen  ist.  Es  ist  die  Philosophie 
des  Heraklit")  von  Ephesus.  Viele  Forscher  haben  ihn  einfach 
„den  Dunklen"  genannt  und  nicht  versucht,  seine  Philosophie  zu 
analysiren.  Andere  haben  alle  Bruchstücke  discutirt  und  neben 
einaudergestellt,   ohne  ein  einheitliches  System  daraus  zu  macheu. 


'*)  61,  75,  76. 
")  Mullach  r,  315. 


246  Ernst  Chr.  Hch.  Peithmann, 

Manche  haben  Einzelheiten  herausgegriffen  und  das  Uebrige  un- 
Ijeriicksichtigt  gelassen.  Wer  die  Ausdrücke,  die  Parmeuides  den 
sogenannten  „Wankelmiithigen"  zuschreibt,  im  Gedächtniss  hat  und 
sie  vergleicht  mit  den  Ausdrücken  des  Heraklit,  kann  keinen 
Augenblick  zweifeln,  dass  Heraklit  der  Anführer  jener  Partei  ist. 
Die  Ausdrücke  izikziv  te  -/.cd  oux  sivat  xau-ov  xou  -aütov  —  ravrtuv 
7:aXivTp07:os  scjti  xsXsu^o?  —  r,v  xal  sstat  —  e^evsto  (=  f,v)  itikksi 
£cj£csi)at  —  otatpsTov s3Tt axiSvaasvov  xal  auvtöTajxsvov  etc.,  dieParmenides 
jener  Partei  zuschreibt,  linden  sich  fast  wörtlich  im  Heraklit  wieder. 
Aber  ein  gründliches  Studium  der  Heraklitischen  Fragmente  wird 
auch  zeigen,  dass  Heraklit  in  der  That  den  Versuch  macht,  die 
Gegensätze  in  der  Philosophie  Derer,  die  von  Entstehen  und  Ver- 
gehen, von  Leben  und  Tod,  von  Sein  und  Nichtsein  sprechen, 
auszugleichen  oder  zu  überbrücken.  Er  tritt  offenbar  einer  Gruppe 
von  Leuten  entgegen,  die  Ausdrücke  gebrauchen  wie  ßt'o?  und 
ftavaTO?,  Cv  und  Ovr^sxstv,  ^öjv  und  -eövr^xo?,  "yv-j-votJEva  rav-a  und 
oi79i)£ip6[Xcvo!,  oux  T^v  uud  OUX  laTctt,  oux  etjxt  ast  u.  s.  w.,  kurz 
Leuten,  die  auf  die  Vergänglichkeit  des  Lebens  den  Nachdruck 
legen  und  behaupten,  dass  Tod  und  Leben  unversöhnliche  und 
unvereinbare  Gegensätze  sind,  dass  alle  Dinge  entstehen  und 
wieder  vergehen.  Es  kann  kaum  ein  Zweifel  bestehen,  dass  diese 
Leute  genau  dieselben  sind,  wie  die  Gegner  des  Parmenides  und 
des  Empedokles.  Wenn  uns  diese  Absicht  des'  Heraklit  klar  wird, 
dass  er  den  Gegensatz  von  Leben  und  Tod  als  scheinbar  nach- 
weisen will,  so  werden  wir  alle  Fragmente  leicht  deuten  können. 
Sein  Bestreben  ist  in  der  That  dasselbe  wie  das  des  Parmenides 
und  Empedokles,  nämlich  nachzuweisen,  dass  die  Welt  und  alles, 
was  darinnen  sich  findet,  unvergänglich  und  ewig  ist.  Die  Gegen- 
sätze mit  allen  Veränderungen  und  allem  Wechsel  sind  nur  von 
untergeordneter  Natur:  die  schroffen  Widersprüche  in  den  Einzel- 
orsclieiuungen  lösen  sich  in  der  Harmonie  des  Ganzen**^)  auf- 
ist dies  nicht  der  Fall  mit  allen  Erscheinungen  auf  dieser  Welt? 
Alles  Leben  und  alle  Thätigkeit  äussert  sich  in  Widersprüchen. 
Immer  in  demselben  Zustande  zu  verharren  ist  unerträglich:    L'n- 


'«)  Heraklit,  Fr.  40,  37,  38,  93. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  247 

Veränderlichkeit  ist  eine  Last,  Abwechselung  ist  eine  Erholung^'). 
Dient  nicht  die  Krankheit  dazu,  die  Gesundheit  süss  und  angenehm 
zu  machen^^)?  Macht  nicht  der  Hunger  die  Sättigung  und  die 
Arbeit  die  Ruhe  ergötzlich?  Kanu  Harmonie  ohne  hohe  und  tiefe 
Töne  und  können  Tiere  leben  ohne  männliches  und  weibliches 
Geschlecht^')?  Und  alle  diese  Dinge  sind  doch  Gegensätze.  Aber 
diese  Gegensätze  gehören  zusammen.  Man  kann  das  Ganze  und 
„Nicht-ganze",  das  Passende  und  Unpassende,  den  Einklang  und 
und  Missklang  zusammenbringen:  aus  Allem  wird  Eins  und  aus 
Einem  wird  Alles*'")!  Das  Widerstrebende  ist  brauchbar  und  aus  der 
Verschiedenheit  entsteht  der  schönste  Einklang  und  Alles  geschieht 
in  der  Form  des  Streites.  Gott  ist  es,  der  hinter  allen  diesen 
Widersprüchen  verborgen  ist  und  Alles  zum  Besten  lenkt  und  in 
Einklang  auflöst.  Gott  ist  Tag  und  Abend,  Winter  und  Sommer, 
Krieg  und  Frieden,  Hunger  imd  Sättigung*^').  Alle  Dinge  sind 
daher  im  Grunde  genommen  dasselbe®').  Alle  Erscheinungen  haben 
dasselbe  Wiesen  zu  ihrer  Grundlage  und  sind  daher  eins.  Deswegen 
ist  es  der  Sibylla*'^)  auch  möglich,  in  ihren  Prophezeiungen  einen 
Zeitraum  von  tausend  Jahren  zu  durchmessen,  denn  der  Gott,  der 
alle  Dinge  zusammenhält,  ermöglicht  es  ihr.  Dieses  „Gemeinsame"®*) 
in  allen  Dingen  ist  von  grösster  Wichtigkeit  und  darauf  beruht 
eben  die  Idee  des  Staates.  Denn  alle  menschlichen  Gesetze  w^erden 
von  dem  „einen"  göttlichen  Gesetze  genährt.  Das  ist  wahre 
W^eisheit,  zu  wissen,  dass  alle  Dinge  eins  und  dasselbe  sind  und 
die  Vernunft  zu  kennen,  die  Alles  durch  Alles  steuert®^).  Ist  nicht 
der  Weg  aufwärts  und  abwärts  derselbe?  Ist  nicht  der  ^Veg  des 
Griffels,    obwohl    krumm    und    gerade,    doch    ein   und  derselbe®®)? 


^')  Fr.  66. 

58)  Fr.  47. 

59)  Fr.  4G. 

60)  Fr.  45. 
c)  Fr.  86. 

62)  Fr.  89,  92,  45. 
«3)  Fr.  10. 
^)  Fr.   19. 
«)  Fr.  55. 
««)  Fr.  91. 


248  Ernst  Chr.  Hch.  Peithmann, 

Das  unveränderliche  Princip,  das  sich  in  den  mannigfaltigen  Er- 
scheinungen offenbart,  wird  mit  vielen  Namen  bezeichnet:  es  wird 
genannt  Gott,  Vernunft,  Verstand,  Gesetz,  Harmonie,  Gerechtigkeit, 
das  Gemeinsame,  Feuer,  Blitz  u.  s.  w.  Dies  Feuer  offenbart  sich 
in  der  Welt  in  den  mannigfaltigsten  Formen  und  Gegensätzen  und 
alle  Dinge  sind  nur  verschiedene  Erscheinungen  dieses  einen 
Wesens.  Jeden  Augenblick  bietet  die  Welt  daher  einen  neuen 
Anblick.  Nicht  zweimal  kauu  man  daher  in  denselben  Fluss 
steigen,  weil  neues  Wasser  herzufliesst ,  obwohl  es  derselbe  Fluss 
bleibt^')-  Die  Veränderung  der  Dinge  ist  daher  kein  absoluter 
Wechsel,  sondern  nur  eine  neue  Daseinsforra  desselben  alten  Dinges. 
Die  Sonne  ist  jeden  Tag  neu  und  doch  bleibt  es  die  liebe  alte 
Sonne'^^).  Dasselbe  unvergängliche  Wesen,  das  der  Welt  zu 
Grunde  liegt,  nimmt  nur  verschiedene  Daseinsformen  an,  wie  das 
Feuer  seinen  Geruch*^')  ändert  je  nach  dem  Weihrauch,  den  man 
darin  verbrennt. 

Alles  könnte  daher  in  Rauch  verwandelt  werden  und  wir  würden 
es  dann  durch  unseren  Geruchssinn  wahrnehmen'^).  Daher  giebt 
es  denn  auch  keinen  Tod,  wie  die  Menschen  annehmen.  Denn 
ein  Ding  lebt  vom  Tode  des  andern,  oder  wenn  ein  lebendes 
Wesen  stirbt,  so  geht  es  nur  in  eine  andere  Lebensform  über'^). 
Für  die  Seelen  ist  es  Tod,  Wasser  zu  werden,  für  das  Wasser  ist 
es  Tod,  Erde  zu  werden.  Aus  der  Erde  wird  wieder  Wasser  und 
aus  Wasser  wird  Seele").  In  uuserm  Leben  sowohl  wie  in 
unserm  Tode  ist  daher  beides  Leben  und  Tod  vereinigt.  Denn 
weil  ein  Ding  stirbt,  lebt  das  andere.  Daher  ist  das  Lebendige 
und  das  Todte  geradeso  gut  dasselbe  wie  das  Wachende  und  das 
Schlafende,  oder  das  Junge  und  das  Alte.  Dieses  ist  die  Ver- 
änderung von  Jenem  und  Jenes,  die  Veränderung  von  diesem. 
Alle  diese  Erscheinungen  sind   aber  nur  ein  Austausch  für  Feuer, 


«0  Fr.  22. 
c8)  Fr.  33. 
«9)  Fr.  87. 
™)  Fr.  26. 
-')  Fr.  52. 
")  Fr.  59,  CO,  46. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  249 

und  Feuer  ist  wieder  ein  Austausch  für  alle  Dinge,  wie  man 
Waaren  für  Geld  und  Geld  für  Waaren  austauscht.  Der  Blitz 
„hält  Haus"  über  alle  Diuge.  Das  Feuer  wird  über  alle  Dinge 
kommen  und  wird  sie  richten  und  ergreifen'^).  Die  wechselnden 
Erscheinungen  des  Feuers  aber  sind  zuerst  das  Meer  und  die  Hälfte 
des  Meeres  ist  Erde  und  die  Hälfte  Gewitterwolke.  Das  Meer  wird 
ausgeschüttet  und  wieder  zurückgemessen  in  dasselbe  Verhältnisse*). 
Alles  hat  seine  Grenzen,  und  die  Sonne  wird  ihre  Grenzen  nicht 
überschreiten,  denn  sonst  werden  die  Erinnyen,  die  Diener  der 
Gerechtigkeit  sie  ausfindig  machen  e^).  Die  Grenzen  der  Morgen- 
röthe  und  des  Nordpols  sind  zu  finden  im  Nordpol  und  gegenüber 
dem  Nordpol  ist  die  Grenze  des  feurigen  Zeus.  Alles  hat  sein 
Mass  und  seine  Grenzen  auf  dieser  Welt.  Alle  Bewegungen  und 
alle  Veränderungen  gehen  nur  bis  zu  einem  gewissen  Grade  und 
wenden  sich  dann  zurück,  so  dass  diese  Welt  immer  wieder  zu 
derselben  Gestalt  zurückkehrt.  Eine  Erscheinung  ist  nur  die  Kehr- 
seite der  andern:  Wenn  die  Sonne  nicht  schiene,  so  wäre  es 
Abend.  Diese  Harmonie  der  Welt  ist  daher  zurückspringend,  wie 
die  der  Leyer  und  des  Bogens  und  sie  findet  ihren  Ausdruck  im 
Gegensatz.  Man  muss  daher  wissen,  dass  der  Krieg  etwas  Gemein- 
sames und  Einträchtiges  ist  und  dass  Gerechtigkeit  Streit  in  sich 
begreift  und  dass  Alles  entsteht  und  vergeht  in  der  Form  des 
Zwiespaltes  e").  Sogar  Schönheit  und  Hässlichkeit,  Tugend  und 
Schlechtigkeit  sind  nur  scheinbare  Gegensätze.  Der  schönste  Affe 
ist  hässlich,  wenn  man  ihn  mit  dem  Menschengeschlecht  vergleicht, 
und  der  weiseste  Mann  erscheint  als  Affe  im  Vergleich  mit  Gott. 
Ein  thörichter  Mann  wird  von  Gott  angesehen,  wie  ein  Knabe  von 
einem  Erwachsenen.  Das  reinste  Wasser  ist  zugleich  das 
schmutzigste,  trinkbar  und  heilsam  für  die  Fische,  für  die  Menschen 
aber  untrinkbar  und  verderblich").  Gut  und  Schlecht  ist  dasselbe. 
Und  die  Aerzte,  die  die  Kranken  schneiden  und  brennen,  erhalten 


")  Fr.  49,  50,  51. 
?*)  Fr.  28,  29. 
")  Fr.  34,  35. 
'fi)  Fr.  37. 
")  Fr.  88.  90. 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     XV,  2.  1  i 


250  Ernst  Chr.  Hch.  Peithmann, 

sogar  noch   einen  Lohn,    denn  sie    bereiten  Schmerzen,  aber  thun 
damit  zugleich  etwas  Gutes. 

Dass  alle  Gegensätze  in  der  Welt  sich  also  ausgleichen,  dass 
alle  Dinge  im  Grunde  ein  und  dasselbe  sind,  nämlich  ein 
verschiedenes  Auflodern  desselben  Feuers:  dies  zu  erkennen,  ist 
wahre  Weisheit.  Dass  diese  Welt  eins  ist  und  dass  es  nie  eine 
Zeit  gab,  in  der  sie  nicht  existirte  und  dass  sie  für  alle  Zukunft 
fortbestehen  wird  als  ein  immerlebendes  Feuer,  das  sich  kund- 
thut  in  verschiedenen  aufeinander  folgenden  Flammen:  dies  ist  der 
Grundgedanke  der  Philosophie  des  Heraklit^^).  Die  einzelnen  Er- 
scheinungen mögen  wechseln,  aber  die  Vernunft,  die  in  der  Mannig- 
faltigkeit sich  kund  thut,  „ist  immer" ").  Aber  glauben's  die 
Leute?  dass  alle  Dinge  nach  den  Satzungen  dieser  Vernunft  „ent- 
stehen", ist  ihnen  ebenso  unverständlich,  ehe  sie  es  gehört  haben, 
als  wenn  sie  es  zum  ersten  Male  vernehmen.  Was  Heraklit  aus- 
einandersetzt, ist  nur  das  Resultat  eines  gründlichen  Studiums  des 
„Entstehungsprocesses"  ^°)  (cpuaic)  der  Dinge.  Aber  die  Masse  der 
Menschen  hat  eine  falsche  Vorstellung  von  der  Natur  der  Dinge. 
Sie  sind  mit  der  „Entstehung  der  Dinge"  nur  oberflächlich  be- 
kannt und  horchen  nicht  auf  die  „verborgenen"  Vorgänge.  Aber 
die  Natur  liebt  es,  sich  in  ihrer  Wirksamkeit  „zu  verbergen"  und 
die  meisten  Menschen  bleiben  deswegen  in  Unwissenheit  über  das 
Entstehen  der  Dinge.  Aber  wenn  man  nichts  weiss,  sollte  man 
wenigstens  den  Mund  halten:  man  macht  sich  dann  nicht  lächer- 
lich. Das  Schlimmste  ist,  dass  die  grosse  Menge,  die  diese  Dinge 
nicht  versteht,  obwohl  sie  sie  täglich  vor  ihren  Augen  hat,  und 
die  sich  auch  nicht  von  Andern  belehren  lassen  will,  doch  sich 
einbildet,  weise  zu  sein.  Sie  verstehen  es  nicht  zu  horchen  und 
können  dann  auch  nicht  recht  sprechen.  Wenn  sie  die  Ohren  auch 
offen  haben,  so  sind  sie  doch  taub.  Aber  wer  die  Wahrheit  aus- 
finden will,  muss  sich  darum  bemühen.  Wer  nach  Gold  sucht, 
muss  viel  Erde  umgraben  und  findet  wenig. 

7«)  Fr.  27. 

")  Fr    1. 

«0)  cpiai?  Fr.  1. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  251 

Aber  die  Lügner  werden  schon  zur  Rechenschaft  gezogen 
werden,  denn  die  Gerechtigkeit  wird  sie  erfassen.  Sie  sind  zu 
träge,  in  die  Heimlichkeiten  der  Natur  sich  zu  versenken  und  ihre 
Fingerzeige,  die  mit  dem  delphischen  Orakel  zu  vergleichen  sind, 
zu  beachten.  Sie  setzen  kein  Vertrauen  in  die  Wahrheit  und 
werden  darum  für  immer  in  Unwissenheit  bleiben.  Denn  wer 
nicht  das  Unmögliche  hofft,  wird  nie  etwas  ausfinden,  da  die 
Wahrheit  schwer  zu  finden  und  unzugänglich  ist.  Ein  Mann  mag  viele 
Einzelheiten  lernen,  ohne  wirklich  weise  zu  werden.  So  ging  es 
Hesiod  und  Pythagoras  und  Xenophanes  und  Hekatäus,  Pytha- 
goras  z.  B.  hat  mehr  studirt  als  irgend  ein  anderer  Mensch  und 
hat  sich  dann  aus  Allem  seine  eigene  Weisheit  zurecht  gemacht, 
eine  „Vielwisserei",  eine  schlechte  Kunst.  Augen  und  Ohren  sind 
unzuverlässige  Zeugen  für  einen  Mann,  der  eine  barbarische  Seele 
hat,  so  dass  er  die  Sinneswahrnehmungen  nicht  richtig  deuten 
kann.  Die  Augen  sind  freilich  noch  zuverlässiger  als  die  Ohren. 
Aber  besser  als  das  Hören  mit  den  äusseren  Ohren  ist  das  Horchen 
auf  die  Vernunft:  dies  allein  macht  wahrhaft  weise  und  zeigt  uns, 
dass  alle  Dinge  eins  und  dasselbe  sind,  verschiedene  Offenbarungen 
desselben  göttlichen  Wesens*').  Weil  den  Leuten  aber  dieses 
innere  Verständniss  fehlt,  so  haben  sie  solch  einen  Schrecken  vor 
dem  Tode  und  sehen  ihn  als  einen  Process  absoluter  Vernichtung 
an.  Aber  wenn  sie  sterben,  so  werden  sie  Dinge  ausGnden,  die 
sich  nicht  träumen  Hessen.  Tod  ist  nur  ein  Zustand  der  Ruhe, 
wonach  alle  Seelen  sich  begierig  sehnen.  Wenn  die  Leute  drüben 
anlangen,  werden  sie  wieder  auferstehen®'*)  um  im  Zustande  eines 
wachenden  und  klaren  Bewusstseins  Wächter  der  Lebendigen  und 
Todten  zu  werden.  Denn  wie  die  Götter  sterblich  sind,  so  sind 
die  Menschen  unsterblich;  sie  leben  den  Tod  der  Andern  und 
sterben  das  Leben  der  andern®*).  Daher  sagt  man  mit  Recht, 
dass  die  im  Kampfe  erschlagenen  von  Göttern  und  Menschen  ge- 
ehrt werden.  Denn  grössere  Todesschicksale  werden  auch  grössere 
Schicksale    eines    neuen   und    fortgesetzten   Lebens   ernten.     Daher 


«0  Kr.  1.  2,  r,,  4,  5,  6,  7,  8,  9,  11,   V^,  14,   15,  17,  23,  24  etc. 

«^)  Fr.  54. 

»3)  Fr.  62,  64,  65. 

17* 


252  Ernst  Chr.  Hch.  Peithmann, 

haben  die  Menschen  auch  den  dunklen  Trieb  und  das  Verlangen 
nach  dem  Tode  in  sich.  Nachdem  sie  „ins  Dasein  gekommen 
sind",  wollen  sie  leben  und  ihrem  Todesschicksale  begegnen  oder 
vielmehr  sie  wollen  ausruhen  und  lassen  Kinder  zurück,  die  auch 
wieder  ein  Opfer  des  Schicksals  werden ^^).  Der  „Hogen"  (6  ßioc) 
hat  dieselben  Buchstaben  wie  das  „Leben"  (6  ßt'oc),  aber  sein 
Werk  ist  der  Tod.  Diese  Thoren  bringen  daher  in  ihrer  Un- 
wissenheit dem  Hades  und  dem  Dion^'sus  (dem  Gotte  des  Todes 
und  des  frohen  Lebens)  besondere  Opfer  dar,  ohne  zu  wissen,  dass 
beide  eins  sind^').  Und  so  kommen  sie  zu  dem  Resultat,  dass 
wir  nur  für  eine  kurze  Zeit  „sind",  nämlich  so  lange  wir  leben, 
und  dass  wir  nach  dem  Tode  „nicht  mehr  sind".  Aber  die  Wahr- 
heit ist,  dass  wir  zu  gleicher  Zeit  „sind"  und  „nicht  sind". 
„Wir  sind",  was  wir  früher  nicht  waren  und  „sind  nicht",  was 
wir  früher  waren. 

Dies  wird  genug  sein,  um  uns  eine  Vorstellung  von  den 
Grundgedanken  der  Heraklitischen  Philosophie  zu  geben.  Es  ist 
klar,  dass  das  Bestreben  des  Heraklit  ist,  die  irrthümliche 
Idee  vom  Tode  als  der  Vernichtung  des  Lebens  zu  wider- 
lesen. Es  ist  die  uns  bekannte  alte  thörichte  Ansicht,  dass  die 
Dinge  nur  für  eine  Zeit  lang  „sind"  und  dann  wieder  „nicht 
sind";  dass  auf  eine  Ewigkeit  von  „Nichtexistenz"  ein  Augenblick 
von  „Existenz"  folgt,  um  dann  wieder  in  eine  Ewigkeit  von  Nicht- 
existenz überzugehen.  Es  ist  der  alte  oberflächliche  Glaube,  dass 
der  Tod  ein  absolutes  Ende  des  Lebens  bedeutet,  ja  dass 
nicht  nur  die  einzelnen  Dinge  dahinwelken  und  ins  nichts  ver- 
schwinden, sondern,  dass  selbst  das  ganze  Weltgebäude  wie 
ein  Rauch  vergehen  wird,  um  wieder  in  das  Nichts  zu  ver- 
schwinden, aus  dem  es  einst  entstanden  ist.  Diese  melancholische 
und  unbefriedigende  Philosophie  greift  Heraklit  an.  Diese  AVeit, 
sagt  er,  in  der  alle  Erscheinungen  dasselbe  eine  Wesen  zum  Aus- 
druck    bringen^"),    „war"    immer    und   „wird     immer    sein", 


8*)  Fr.  Ü6. 

85)  Fr.  81. 

86)  Fr.  27. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  253 

immerlebendes  Feuer,  das  angezündet  wird  nach  bestimmten  Ge- 
setzen und  Maasseu  und  wieder  ausgelöscht  wird  nach  jenen  Ge- 
setzen und  Maassen.  Der  Tod  hat  keinen  Stachel,  kat  keinen 
wirklichen  Schrecken,  denn  er  bedeutet  nur  den  Uebergang  zu 
einem  erneuten  Leben.  Dies  können  wir  nur  verstehen,  wenn  es 
uns  klar  wird,  dass  alle  Dinge  eins  und  dasselbe  sind,  indem 
sie  zusammengehalten  werden  durch  das  Band  der  Harmonie  oder 
der  Gemeinschaft.  Dieses  Gemeinsame  in  allen  Dingen  ist  die 
Vernunft:  und  doch  leben  viele  Menschen,  als  wenn  sie  ihre 
„eigene  Vernunft"  hätten.  Nennt  es,  wie  ihr  w^ollt,  Gott  oder 
Gesetz  '  oder  Vernunft  oder  Feuer  oder  Blitz.  Es  ist  die  geheime 
Macht,  die  alle  Dino;e  steuert  und  erhält  und  verbindet.  Dies 
Feuer  flackert  auf  in  immer  neuen  Flammen,  aber  jede  neue 
Flamme  ist  eine  andere  Erscheinung  der  alten.  Daher  giebt  es  in 
Wahrheit  nichts  neues  auf  der  Welt.  Was  scheinbar  neu  ent- 
steht, ist  nur  ein  Wiederaufleben  des  Alten.  Ein  Ding  lebt  den 
Tod  des  andern,  d.  h.  es  ist  nur  eine  Verwandlung  dessen,  was 
vorher  schon  bestanden.  Kurz,  alle  Dinge  sind  „eins"  und  dies 
„Eine"  unterliegt  einem  unaufhörlichen  Wechsel;  es  ist  wie  ein 
Feuer  das  nicht  verlöscht,  sondern  flackert  und  lodert  von  Ewig- 
keit zu  Ewigkeit.  Der  Wechsel  in  der  Welt  ist  nur  ein  „Sammeln 
und  Zerstreuen",  ein  „Auf  und  Ab",  ein  „Schlafen  und  Erwachen". 
x4.ber  das  Ganze  bleibt  unveränderlich  und  ist  unvergänglich.  Das 
Sterbliche  ist  unsterblich,  wie  das  Unsterbliche  auch  sterblich  wird. 
Beide  sind  identisch  Das  Unsterbliche  offenbart  sich  in  dem  Sterb- 
lichen und  das  Sterbliche  ist  nur  eine  vorübergehende  Daseinsform 
des  Unsterblichen.  Das  Unvergängliche  ist  immer  da:  „was  nie 
untergeht,  wie  kann  das  einem  entgehen?"  Und  dass  den  Leuten 
dies  nicht  ganz  unbekannt  ist.  wird  dadurch  bewiesen,  dass  sie 
von  „Gerechtigkeit"  sprechen.  Dies  Wort  kann  nach  Heraklit  nur 
eine  Bedeutung  haben,  wenn  seine  Philosophie  recht  ist. 

Dies  ist  die  Philosophie  des  Heraklit  im  Auszuge.  Wir  haben 
uns  überzeugt,  dass  die  Grundfragen  nicht  verschieden  sind  von 
denen,  die  Parmenides  und  Empedokles  beschäftigten.  Die  Frage 
ist  wieder:  „sterblich  oder  unsterblich,  vergänglich  oder 
unvergänglich"?  Bedeutet  der  Tod  ein  Ende,  oder  einen  neuen 


254  Ernst  Chr.  Heb.  Peithmann, 

Anfang?  Wird  diese  Welt  dereinst  vergehen  oder  ist  sie  unzer- 
störbar? Ist  diese  Welt  gemacht  und  hat  sie  einen  Anfang,  oder 
ist  sie  ewig  gewesen?  Die  Antwort  ist  ebenso  entschieden  und 
entschlossen,  wie  wir  sie  von  Parmenides  und  Empedokles  ver- 
nahmen: unsterblich,  unvergänglich,  ohne  Anfang  und 
Ende! 

Hier  haben  wir  nun  wieder  eine  vorzügliche  Probe  davon, 
wie  Aristoteles  es  verstanden  hat,  die  Philosophie  seiner  Vorgänger 
zu  entstellen  und  in  ein  falsches  Licht  zu  schieben. 

Selbst  Plato")    trifft  den  Nagel    nicht  gerade    auf   den  Kopf. 
Nach    seiner  Darstellung    behauptet    Heraklit,    dass    „nichts    ist", 
sondern  „alles  wird",  dass  „alle  Dinge  sich  bewegen  wie  Ströme", 
dass  alle  Dinge    „werden    und   entstehen  und    vergehen    und    sich 
verändern",  dass  „alles  fliesst  und  nichts  bleibt"  und  dass  die  Welt 
der  Strömung    eines  Flusses    gleicht,    dass    die    Dinge    gehen  und 
nichts  bleibt,  dass  es  nichts  gesundes  in  den  Dingen  giebt,  sondern 
dass  alles    „läuft    wie  es  bei  den  Menschen    der  Fall    ist,    die  an 
Katarrh  leiden",  dass  die  Sonne  nicht  erlischt,    dass    der  schönste 
Affe    hässlich    erscheint,     wenn    verglichen    mit    dem    Menschen- 
geschlechte    und  dass    der  weiseste  Mensch    als  Affe    erscheint  im 
Vergleich  zu  Gott,  dass   „das  Eine"   auseiuandergerissen   wird  und 
wieder  sich  ausgleicht  wie  die  Harmonie  des  Bogens  und  der  Leyer, 
dass  das  Seiende  „vieles  und  eins"  ist,  durch  Hass  und  Liebe  zu- 
sammengehalten wird,    sich    zerstreut    und   wieder    sammelt,    dass 
alles  fortwährend  „auf  und  niederläuft"  u.  s.  w.     Was  man    auch 
zu  dieser  Darstellung  sagen  mag,   es  ist  unzweifelhaft,  dass  Plato 
nicht  gerade  das  betont,  was  Heraklit  immer  betont  hat.     Heraklit 
giebt  zu,    dass  diese  Weltall  sich  in  Gegensätzen    offenbart:    aber 
diese    Gegensätze    sagt  er,    werden    in  Einklang    gebracht.      Die 
verschiedenen  und   fliessenden   Erscheinungen  sind   ein   und   das- 
selbe in  verschiedenen  Formen,  derselbe  Gott,  dasselbe  Feuer 
thut  sich  in  allem  kund.     Heraklit  betont  das  Bleibende  und 
Gemeinsame  gegenüber  dem  scheinbaren  Wechsel,   er  weist  auf 


")  Platou,  Pav.  Ausg.  I,  117,  11;  120,40;  123,31;  138,14;  296,28,38; 
325,  4;  II,  114,  23;  I,  744,  14;  669,  15;  75,  46;  182,  42;  422  36. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  255 

die  Vernunft  hin,  die  alle  Dinge  steuert.     Dieser  Punkt  wird  nicht 
recht  klar  im  Piaton. 

Und  was  hat  Aristoteles**)  von  Heraklit  zu  berichten?  Er 
sagt,  dass  nach  Heraklit  „das  Vergängliche"  bald  so  und  bald  so 
sich  verhält  und  dass  es  so  immer  fortbesteht,  wie  auch  Empedokles 
und  Anaxagoras  behaupten.  Aber  Aristoteles  glaubt,  dass  man 
unmöglicher  Weise  sich  denken  kann,  dass  die  Welt  „wird"  und 
und  zugleich  „ewig  ist".  Er  spricht  auch  von  der  Anschauung 
des  Heraklit,  dass  alles  „wird"  und  „fliesst"  und  „nichts  fest- 
besteht" und  dass  nur  „eins"  verharrt,  aus  dem  alle  diese  Dinge 
durch  Umgestaltung  entstehen,  dass  die  Sinneswahruehraungen 
immer  fliessen  und  es  darüber  keine  Wissenschaft  geben  kann, 
dass  man  zweimal  nicht  in  demselben  Fluss  steigen  kann;  dass 
man  das  Ganze  und  Nichtganze  ausgleichen  kann,  die  Sammlung 
und  Zerstreuung,  Einklang  und  Missklang;  dass  das  Ganze  in  fort- 
währendem Wechsel  begriffen  ist;  dass  es  möglich  ist,  zur  selben 
Zeit  zu  sein  und  nicht  zu  sein,  ja  das  Sein  und  Nichtsein  dasselbe 
ist,  dass  Wahrheit  nur  relativ  ist  und  dass  im  Grunde  alles  wahr 
ist;  dass  aus  den  Gegensätzen  die  schönste  Harmonie  wird;  dass 
Gutes  und  Schlechtes  dasselbe  bedeuten;  dass  alles  „wird"  und 
nichts  „ist";  dass  alle  Dinge,  die  wir  mit  unseren  Sinnen  wahr- 
nehmen, sich  drehen  und  verändern,  dass  sie  immer  fliessen  und 
verschwinden,  dass  „Entstehen  und  Vergehen"  nur  Wechsel  be- 
deutet und  da  alle  Gegenstände  der  Sinneswahrnehmung  immer 
fliessen,  so  muss  es  gewisse  andere  „Naturen"  geben  neben  den 
sinnlichen,  wenn  man  anders  eine  Wissenschaft  und  ein  Ver- 
ständniss  von  irgend  etwas  gewinnen  will,  denn  von  Dingen  die 
fliessen,  giebt  es  keine  Wissenschaft.  So  weit  ist  alles  in  Ordnung. 
Obwohl  Aristoteles  auch  das  Vergängliche  zu  sehr  neben  dem  Un- 
vergänglichen und  Bleibenden  betont,  kann  man  doch  im  Grossen 
und  Ganzen  die  Philosophie  des  Heraklit  hier  wiedererkennen. 
Aber  nun  kommt  Aristoteles  wieder    mit   seiner  Frage    nach  dem 


«8)  Arist.  Par.  Ausg.  I,  391,28:  268,  11;  179,  14;  587,30;  IIP,  227,21; 
635,17;    572,25;   535,21;   II,  163,42;   383,25;   411,  13;   472,43;  477,29; 
510,  IG;  249,13;  78,42;  589,39;   513,35;  503,46;  591,49;  219,22;  19,33; 
250,  13;  362,48;  615,8  etc. 


256  Ernst  Chr.  Hch.  Peithmaiin, 

„Prinzip  aller  Dinge"  und  hier  thut  er  wieder  einen  grossen  Fehl- 
grifl'.  Heraklit  hatte  die  ^Veltgeschichte  mit  einem  immerlebenden 
Feuer  verglichen,  das  bald  gezündet  und  bald  gelöscht  wird. 
Er  hatte  angedeutet,  dass  das  Leben  und  der  Tod  für  die  Menschen 
nur  soviel  bedeutet  wie  das  Anzünden  und  Auslöschen  eines 
Lichtes ^^).  Er  meinte  natürlich  nicht,  dass  die  Menschen  während 
ihres  Lebens  in  lichten  Flammen  brennen.  Das  Feuer  ist  ihm 
bloss  ein  passender  Vergleich  für  die  Unsterblichkeit  und  ünver- 
gänglichkeit.  Es  ist  ganz  gleichbedeutend  für  ihn  mit  „Vernunft" 
oder  „Gesetz"  oder  „Einklang"  oder  „Gerechtigkeit"  oder  „Gott". 
Wir  können  dem  Heraklit  aber  doch  unmöglich  die  Ansicht  zu- 
schreiben, dass  die  Vernunft  ein  loderndes  Feuer  ist.  Aristoteles 
aber  auf  seiner  Suche  nach  dem  sogenannten  „Urgrund  oder 
Prinzip"  hat  nur  seine  vier  Elemente  Feuer,  Wasser,  Luft  und 
Erde  im  Sinne  und,  da  Heraklit  das  Feuer  als  ein  Symbol  ver- 
wendet, greift  er  dieses  gleich  heraus  und  macht  es  zum  Urgrund 
des  W^eltalls,  ohne  weiter  zu  untersuchen,  ob  diese  Auslegung  des 
Feuers  auch  für  die  Philosophie  des  Heraklit  passt.  So  stellt  er 
denn  das  Feuer  des  Heraklit  auf  gleiche  Stufe  mit  dem  vermeint- 
lichen W^asser  des  Thaies  und  der  Luft  des  Anaximenes.  So  hat 
er  denn  schon  drei  Elemente  glücklich  herausgefunden  und  Empe- 
dokles  hat  dann  „zu  den  dreien"  das  vierte,  nämlich  die  Erde 
„hinzugefügt",  um  die  Zahl  voll  zu  machen. 

Die  Nachfolger  des  Aristoteles  wissen  schon  wenig  mehr  von 
Heraklit  zu  berichten,  als  dass  er  das  Feuer  als  Prinzip  der 
Dinge  annahm.  Die  wahre  Absicht  des  Heraklit,  nämlich  die 
Lehre  von  „Tod  und  Vernichtung"  umzustürzen  mit  seiner  neuen 
Theorie  von  dem  „Einssein"  aller  Dinge  und  von  der  „Harmonie" 
aller  scheinbaren  Gegensätze  und  der  „Unvergänglichkeit  der 
Welt"  —  alles  ist  gänzlich  in  Vergessenheit  geratheu.  Schon 
Aristoteles  begann  die  Klage  über  die  Unklarheit  des  Heraklitischen 
Stils'")  und  alle  späteren  Geschichtsschreiber  folgton  ihm  hierin. 
Wer    sich    freilich   keine  Mühe    giebt,    den    Grundgedanken    eines 

89)  Fr.  75. 

»0)  Arist.  I,  391,  28. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  257 

Philosophen  zu  erfassen,  sondern  statt  dessen  seine  eigenen  Ge- 
danken unterschiebt,  kann  sich  nicht  wundern,  wenn  er  im 
„Dunkeln"  bleibt. 

6.     Der  erste  Versuch  einer  Kritik. 

Doch  wir  müssen  jetzt  versuchen,   die  Streitfrage,  die  wir  im 
Empedokles  und  Parmenides  und  Heraklit  vorgefunden  haben,  noch 
weiter  rückwärts    zu    verfolgen.      Wir    müssen   jetzt    einen   Mann 
Studiren,  der  nach  Aristoteles  zuerst  die  Lehre  von  „Einem"  auf- 
gestellt hat,   nämlich  Xenophanes").      Mit    ihm    treten    wir    in 
eine  gänzlich  verschiedene  Atmosphäre    ein.      Der  Streit   um    das 
„Sein"  und    „Nichtsein'S    um  das  „Entstehen    und  Vergehen"    ist 
verstummt.     Die  Frage,    ob  die  Welt    und    die  Dinge    darin    ver- 
gänglich  oder  unvergänglich    sind ,    scheint  Xenophanes    nicht    zu 
interessiren.     Die  Frage  nach  dem  „Einen"  ist  für  ihn  von  unter- 
geordneter   Bedeutung.      Das    Interesse    für    das    „unbewegliche" 
Prinzip    im    Weltall    ist    nur    vorübergehend.      Die    gesammelten 
Bruchstücke    seiner    Gedichte    befassen    sich    mehr    mit    Diät    als 
Philosophie,    mehr    mit    Gymnastik    als    Metaphysik.      Gegen    die 
Sitten  die  er  auf  seinen  Reisen  in  Griechenland  angetroffen,  richtet 
sich  seine  Kritik  anstatt  gegen  philosophische  Anschauungen.     Nur 
die  Dichter  Homer   und  Hesiod^")    greift    er  an,    weil    sie    den 
Göttern  allerlei  schändliche  Werke   zuschreiben,   deren  sich  selbst 
ein  Mensch  schämen  würde.     Was  seine  Weltanschauung  anbetrifft, 
so  scheint  er   offenbar  an   eine  Vielheit  der  Dinge  zu  glauben. 
Mit-  den    Gegnern   des  Parmenides  und   Empedokles  und   Heraklit 
hält    er    dafür,    dass    die    Dinge    „entstehen"    und    „ins    Dasein 
kommen".     Wir  sind  alle  „aus  Erde  und  Wasser  entstanden"  ;  ja 
alles,    was    immer    entsteht    und    ins    Dasein    tritt,    ist  Erde    und 
Wasser.     Das  obere  Ende  der  Erde  sehen  wir  unter  unter  unseren 
Füssen,  aber  nach  unten  hin  dehnt  sie  sich  aus  ins  Unendliche^'). 
Selbst  das,  was  gewöhnlich  Regenbogen  genannt  wird,   ist  seinem 
Wesen  nach  einfach  eine   Wolke    von  purpurner    und  'gelber  und 


91)  Mullach  I,  101. 

92)  Xenophanes  V.  7. 

93)  V.  8—12. 


258  Ernst  Chr.  Heb,  Peithmann, 

grüuer  Farbe'').  Betreffs  der  Götter'')  haben  „die  Sterblichen" 
sehr  irrthiimliche  Anschauungen.  Sie  glauben,  dass  die  Götter 
„gezeugt  werden"  und  dass  sie  ein  Wahrnehmungsvermögen  und 
Stimme  und  Gestalt  haben.  Die  Thiere  würden  sich  die  Götter 
jedenfalls  auch  nach  ihrer  Art  vorstellen  mit  thierischen  Eigen- 
schaften ausgestattet.  Das  Neue  in  der  Lehre  des  Xenophanes 
scheint  darin  zu  bestehen,  dass  er  „einen  Gott""')  als  den  grössten 
anerkannt  unter  den  Menschen  und  Göttern,  weder  an  Gestalt  noch 
an  Verstand  den  Älenschen  ähnlich.  Er  ist  „ganz  Auge  und  ganz 
Ohr  und  ganz  Vernunft".  Und  ohne  Anstrengung  seines  Geistes 
„steuert"  er  „alle  Dinge"  mit  seiner  Vernunft;  er  „verharrt" 
immer  in  „demselben"  Zustande  ohne  die  geringste  „Bewegung" 
und  es  verträgt  sich  nicht  mit  ihm  „von  einem  Orte  zum  andern" 
zu  „wandeln" ''). 

Dies  ist  ungefähr  alles,  was  wir  über  seine  Philosophie  er- 
fahren. Er  scheint  an  der  Mannigfaltigkeit  der  Dinge  festzuhalten 
und  ihre  Veränderlichkeit  zuzugeben,  obwohl  er  zugleich  lehrt, 
dass  alle  Dinge  aus  demselben  Material  gemacht  sind,  nämlich 
„Wasser  und  Erde".  Nur  ein  Wesen  giebt  es,  dass  „unveränder- 
lich und  unbeweglich"  ist:  der  eine  Gott.  Sein  innerstes  Wesen 
besteht  in  Wahrnehmung  und  Verstand  und  er  ^steuert  alle  Dinge 
mit  der  Macht  seiner  Vernunft". 

Verschiedene  Ausdrücke  begegnen  uns  hier,  die  sich  auch  in 
den  Bruchstücken  des  Heraklit  wörtlich  oder  doch  dem  Sinne  nach 
wiederfinden.  Man  beachte  z.  B.  das  „sie,  ouAoc,  opav,  vosiv,  axousiv, 
Travx-x  xpotSatvei,  £v  tau-tti  xs  jxevsiv,  7?^,  uowp,  -j-qvecjOcti"  etc.  Andere 
Ausdrücke  finden  sich  wieder  im  Parmenides,  wie  z.  B.  „xivouasvov 
ouoev,  o'jos  u£T£f>/c(jöai  otXXotc  a/J.r^".  Auch  in  der  Beurtheilung 
der  „Menge",  die  unter  dem  Banne  des  „Scheins"  steht'*), 
scheint  Xenophanes  dem  Heraklit  und  Parmenides  den  Weg  ge- 
zeigt zu  haben.     Aber  die  Bruchstücke    sind   zu  spärlich,    um  be- 


zeigi 

t    ZI 

i  n 

laben. 

9.) 

V. 

13. 

95) 

V. 

5. 

96) 

V. 

1. 

97) 

V. 

1—4. 

98) 

V. 

14. 

Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  259 

stimmte  Schlüsse  zu  ziehen.  Xenophanes  kommt  zu  dem  Schluss, 
dass  niemand  volle  „Gewissheit''  über  die  Dinge  erhalten  wird; 
der  höchste   Grad   unseres   Erkennens  ist  „Wahrscheinlichkeit"^'). 

Auch  von  Piaton  und  Aristoteles'"")  erhalten  wir  nur  wenig 
Auskunft  über  Xenophanes.  Piaton  sagt  nur,  dass  die  Eleatische 
Schule,  die  mit  Xenophanes  und  vielleicht  schon  vorher  beginnt, 
die  Lehre  vertritt,  dass  die  sogenannte  Allheit  der  Dinge  in  Wirk- 
lichkeit nur  „eins"  ist.  Aristoteles  klagt,  dass  Xenophanes  sich 
nicht  deutlich  und  hinreichend  genug  ausgesprochen  hat  über  die 
Theorie  des  „Eins",  die  er  zuerst  aufgestellt  hat.  Nur  so  viel 
glaubt  er  schliessen  zu  können,  dass  Xenophanes  zum  ganzen 
Himmel  emporblickend  Gott  als  „das  Eine"  bezeichnet. 

Alles  was  wir  demgemäss  von  Xenophanes  sagen  können,  ist 
auf  die  Vermuthung  zu  beschränken,  dass  er  w^ahrscheinlich  zum 
ersten  Male  in  unbestimmter  und  allgemeiner  Ausdrucksweise  die 
Philosophie  aufgestellt  hat,  dass  die  Mannigfaltigkeit  der  Welt  von 
„einem  Wesen"  und  „einer  Vernunft"  „gesteuert"  wird  und  dass 
in  dem  ewigen  Wechsel  dieser  „eine  Gott  immer  derselbe  bleibt 
und  nicht  der  geringsten  Bewegung  unterworfen  ist  und  dass  jed- 
wede Ortsveränderung  für  ihn  ausgeschlossen  ist".  Ob  und  wie 
weit  er  Heraklit  und  Parmenides  beeinflusst  hat,  lässt  sich  nicht 
mit  Gewissheit  sagen,  aber  eine  Vergleichung  der  Ausdrücke  scheint 
eine  Beziehung  zwischen  den  drei  Männern  wahrscheinlich  zu 
machen.  Heraklit  kannte  wenigstens  den  Xenophanes  gut,  denn 
er  kritisirt  ihn  scharf  und  es  wäre  nicht  das  erste  Mal,  dass 
jemand  von  seinem  Gegner  gelernt  hätte.  Aber  wenn  auch  Xeno- 
phanes thatsächlich  zum  ersten  Male  die  Idee  „des  Einen"  erfasst 
hat,  so  hat  er  doch  allem  Anschein  nach  diesen  Gedanken  nicht 
gründlich  genug  ausgebeutet  und  es  ist  kein  Grund  vorhanden,  wes- 
halb wir  dem  Heraklit  nicht  glauben  sollten,  wenn  er  sagt,  dass 
„niemand  vor  ihm  klar  eingesehen  hat,  dass  alle  Dinge  eins 
sind". 


99)  V.  14,  15. 

100)  Ärist.  II  404,  36;  476,  32;  5lO,  8;   I  378,  41 ;  380;  479;  345;  IV  80. 


260  Ernst  Chr.  Hch.  Peithmaun, 

7.  Die  Pioniere  in  der  Philosophie. 
Wir  wollen  nun  unserem  heissen  Verlangen  nachgeben  und 
untersuchen,  was  denn  die  drei  grossen  Philosophen  von  Milet, 
nämlich  Thaies,  Anaximander  und  Anaximenes  für  eine 
Stellung  einnahmen  in  diesem  Streit  um  die  Einheit  und  Vielheit 
der  Dinge,  um  die  Vergänglichkeit  und  Unvergänglichkeit  der 
Welt,  um  die  Bedeutung  des  Eutstehens  und  Vergehens  der 
Dinge.  Aber  wie  bitterlich  werden  wir  enttäuscht!  Mit  Xeno- 
phanes  versiegen  unsere  Quellen.  Von  den  Schriften,  die  etwa 
aus  der  Feder  der  drei  grossen  Pioniere  der  Philosophie  geflossen 
sind,  ist  uns  nichts  aufbewahrt.  Plato^*")  erwähnt  nicht  einmal  die 
Namen  des  Anaximander  und  Anaximenes.  Von  Thaies  weiss  er 
nur,  dass  er  ein  gebildeter  Mann  war  und  dass  sein  Name  mit 
genannt  wurde  unter  der  Zahl  Derer,  die  wegen  ihrer  ^Veisheit 
sich  auszeichneten,  nämlich  Pittakus,  Blas,  Selon,  Kleobulus,  Myson 
und  Chilon.  Ausserdem  sagt  er,  dass  Thaies  die  Sterne  beobachtete 
und  dass  er  die  Werke  und  Künste  eines  klugen  Mannes  verrichtete. 
V^ielleicht  denkt  er  an  Thaies,  wenn  er  von  der  Theorie  spricht, 
dass  „Alles  voll  ist  von  Göttern".  Was  Aristoteles  von  diesen  drei 
Männern  sagt,  lässt  kaum  einen  Zweifel  darüber,  dass  er  sie  nur 
oberflächlich  und  vom  Hörensagen  her  kennt,  ohne  ihre  Schriften 
gesehen  zu  liaben.  Betreffs  des  Thaies  "^^)  war  ihm  erzählt,  dass 
er  glaubte,  „die  Erde  schwämme  auf  dem  Wasser".  Hieraus  zieht 
Aristoteles  den  Schluss,  dass  Thaies  das  Wasser  für  das  „Urprincip" 
aller  Dinge  gehalten  habe.  Ausserdem  war  ihm  bekannt,  dass 
Thaies  behauptete,  der  Stein  habe  eine  Seele,  da  er  „das  Eisen 
bewege"  und  „Alles  sei  voll  von  Göttern".  Aristoteles  giebt  auch 
vor,  etwas  zu  wissen  über  die  Lehren  des  Anaximander '°^):  dass 
die  Erde  in  ihrer  Stellung  bleibt,  weil  sie  in  der  Mitte  schwebt 
und  nach  allen  Richtungen  hin  gleich  weit  von  dem  Umkreis  des 
Weltalls  entfernt  ist,    dass  das  Weltall  in    seiner  Gestalt  eins  ist. 


'0')  Pluto  I  257,  19;  738,  20,  133,  53;  II  180,  14:  518,  26. 
>o-')  Arist.  11   404,41;   I  493,32:   519,  23:    11  70,  34;   472,22;    479,39: 
ill  435,  12;  443,8. 

'03)  Arist.  II  406,29;   277,47;   557,50;  252,24;  600;  601;   111673,48. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  261 

Oft  fasst  er  ihn  zusammen  mit  andern  Philosophen,  z.  B.  mit  „den 
meisten  der  Naturphilosophen",   die  behaupten,    dass  der  Urgrund 
der    Dinge    „unsterblich    und     unzerstörbar"    ist,    oder    er    reiht 
ihn  zusammen  mit  Empedokles  und  Änaxagoras,   die  behaupteten, 
dass  aus  „dem  Einen"  die  innewohnenden  Gegensätze  ausgesondert 
werden.      Scheinbar      schreibt     er     ihm      die     Lehre     von      dem 
„dcTTsipov"  als  dem  Urgrund   der  Dinge,   oder  von   einer  Substanz, 
die  „zwischen"  den  bekannten  Elementen  steht,  zu.     Einmal  lässt 
er  ihn  sogar  sagen,    dass    das  „All"  Wasser  ist.     Auch  seine  An- 
gaben   über  Anaximenes^"")  sind    sehr  dürftig    und  kurz.     Er  er- 
wähnt die  Erklärung,  die  Anaximenes  für  Erdbeben  "gab,  und  seine 
Ansicht,  dass  die  Erde  in  ihrer  Lage  bleibt,  weil  sie  flach  ist.     Ge- 
wöhnlich gruppirt  er  ihn    mit    anderen  Leuten    zusammen.     Seine 
sonstige  Bekanntschaft    mit    Anaximenes    beschränkt    sich    darauf, 
dass  er  ihm  in  kurzen  und  nackten  Worten  die  Ansicht  zuschreibt, 
„die  Luft"   sei  das  Princip   der  Dinge:   diese   letztere   Behauptung 
wiederholt  er  wenigstens  fünfmal.     Aber  dass  Aristoteles  dies  fünf- 
mal  wiederholt,    macht    den  Thatbestand    um    nichts   wahrschein- 
licher, als  wenn  er  es  bloss  einmal  gesagt  hätte.     Ohne  hier  weiter 
auf  die  Angaben    der  Doxopraphen    einzugehen,    wollen    wir    nur 
eine  Stelle    des  Simplicius'"^)    etwas    näher    untersuchen,    in    der 
Mullach  ein  kleines  Fragment  des  Anaximander  herausgefunden  hat. 
Hiernach  sah  Anaximander  den  „unendlichen  Raum"  als  den 
Ort    an,    aus    dem    alle    „Himmel"    „entstehen"    und    die 
„Welten",  die  darinnen  sind.     Woraus  aber  die  Dinge  ihr 
„Entstehen"  nehmen,  dahin  muss  auch  wieder  ihre  „Ver- 
nichtuncr"    stattfinden     nach    der    Forderung    „sittlicher 
Nothwendigkeit".     Denn  die   Dinge  erstatten  Vergeltung 
und    „Gerechtigkeit"     für     die    verübte    Ungerechtigkeit 
nach  der  Ordnung  der  „Zeit".     Es    ist    auffallend,    dass    hier 
genau  dieselben  Ausdrücke  wiederkehren,  die  Heraklit  und  Parme- 
nides  und  Empedokles  ihren  Gegnern  zuschreiben.     Man  achte  auf 


104)  Aristot.  II  472,  42;   478,  48;   479,  39;  575,  51;    405,  8:    III  591,  1: 
673,  49. 

»0^)  Mullach  I  240. 


262  Ernst  Chr.  Heb.  Peithmann, 

die  Ausdrücke  -('qveaOai,  airixavTas  xou?  oupotvou?,  xou?  xöaixouc,  xa 
&vxa,  7j  Ysvecrt?,  y]  cpOopa,  xo  /pstov,  8tx7j.  Demnach  hatte  Anaxi- 
mander  also  die  folgende  Anschauung.  Die  Dinge  „kommen  ins 
Dasein"  und  „vergehen  wieder".  Alles,  was  jetzt  „ist",  (xa  ovxa) 
ist  entstanden  aus  dem  unendlichen  Raum  und  wird  ebendahin 
wieder  vernichtet  werden  gemäss  moralischer  Nothwendigkeit.  Der 
Satz:  Ttjv  oöopav  -j'qvsaöai  si?  xauxa  ist  offenbar  identisch  mit  dem 
Satz  des  Parmeuides  w?  ypswv  eaxt  [xy]  eivat.  Die  Vernichtung  oder 
spätere  Nichtexistenz  der  Dinge  ist  eine  Forderung  der  sittlichen 
Weltordnung.  Es  gehört  sich  so,  dass  im  Laufe  der  Zeit  Alles, 
was  entstanden  ist,  auch  wieder  vergehen  sollte.  „Was  entsteht, 
ist  werth,  dass  es  zu  Grunde  geht."  Auch  das  Wort  Sut)  zwingt 
uns  fast,  den  Anaximander  unter  die  Gegner  des  Heraklit  zu  rech- 
nen, die  ja  auch  das  Wort  Si'xvj  kannten  und  viel  davon  sprachen. 
Dies  macht  es  also  wahrscheinlich,  dass  Anaximander  und  mit  ihm 
vermuthlich  auch  Anaximenes  die  Leute  waren,  die  die  Theorie 
des  „Entstehens  und  Vergehens",  des  Seins  und  Nichtseins  ver- 
traten, ohne  dass  damit  gesagt  werden  soll,  dass  diese  Männer 
allein  diese  Philosophie  lehrten  und  dass  nicht  auch  noch  andere 
Leute  ihrer  Partei  angehörten.  Die  folgenden  Thatsachen  und  Er- 
wägungen müssen  uns  in  der  Vermuthung  befestigen,  dass  die 
Milesier  die  Lehre  von  einer  Vernichtung  der  Dinge  und  vom 
Nichtsein  vertraten.  Erstens,  wir  wissen  weiter  von  keiner 
Philosophie  vor  Xenophanes  und  Heraklit,  die  sich  mit  der  Frage 
nach  dem  Ursprünge  und  dem  Schicksale  der  Welt  befa-sste,  als 
die  Schule  von  Milet.  Pythagoras  scheint  sich  nach  Allem,  was 
uns  von  ihm  berichtet  wird,  nur  mit  sittlichen  Fragen  beschäftigt 
zu  haben.  Auch  die  ältesten  Schüler  und  Anhänger  des  Pythago- 
ras scheinen  sich  auf  praktische  und  sociale  Fragen  beschränkt  zu 
haben-  Die  Kosmogonie  hat  wahrscheinlich  erst  unter  Philolaus 
eine  Berücksichtigung  gefunden  in  dem  Orden  der  Pythagoräer. 
Zweitens,  es  ist  nicht  möglich,  diese  Anschauung  den  „gewöhn- 
lichen Leuten"  beizulegen.  Kein  Laie  kann  im  sechsten  Jahr- 
hundert vor  Christi  Geburt  eine  solche  Theorie  vertreten  haben, 
wie  sie  uns  im  zweiten  Theile  des  Gedichtes  des  Parmenides  ge- 
schildert wird.     Der   gewöhnliche  Manu    philosophirte    damals    so 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  263 

wenig  wie  heute.  Der  Ausdruck  xaxiOcvxo  in  Parmenides  deutet 
an,  dass  dies  sich  nicht  auf  Privatmeinungen  der  gewöhnlichen  Leute 
bezieht,  sondern,  dass  es  eine  Theorie  ist,  die  öffentlich  von  hervor- 
ragenden Leuten  aufgestellt  und  vertheidigt  ist.  Drittens,  Parme- 
nides versucht  es,  zwei  philosophische  Anschauungen  zu  widerlegen. 
Die  eine  ist  die  des  Mannes,  der  in  Ephesus  in  Kleinasien  wohnte. 
Ist  es  nicht  wahrscheinlich,  dass  die  andere  den  Leuten  angehörte, 
die  in  der  Nachbarstadt  von  Ephesus,  nämlich  in  Milet,  eine  wissen- 
schaftliiche  Schule  errichtet  hatten?  Wenn  Parmenides  Heraklit 
kannte,  muss  er  dann  nicht  auch  die  Milesier  gekannt  haben? 
Viertens,  Aristoteles  sowohl  als  alle  anderen  Geschichtsschreiber 
sehen  die  Philosophie  von  Anaximander  bis  auf  Demokritus  als 
eine  ununterbrochene  Entwicklung  derselben  philosophischen  Fragen 
und  Ideen  an.  Heraklit  giebt  uns  zu  verstehen,  dass  er  zum  ersten 
Male  solch  eine  Philosophie  von  der  Einheit  und  Unvergänglichkeit 
der  Welt  ausgesprochen  hat.  Also  müssen  seine  Vorgänger,  näm- 
lich die  Mileser,  noch  an  die  Vergänglichkeit  der  Dinge  geglaubt 
haben.  Fünftens,  Melissus  schreibt  ausdrücklich  den  „Physikern" 
(cpuaixoi)  die  Anschauung  zu,  dass  die  Dinge  aus  dem  Nichts 
„entstehen"  und  wieder  ins  Nichts  „verschwinden".  Und 
nach  Aristoteles  und  Simplicius  sind  die  „eigentlichen  und  ur- 
sprünglichen Physiker"  die  Männer  von  Milet,  nämlich  in  erster 
Linie  Anaximander  und  Anaximeues.  Sechste ns,  alle  Doxo- 
graphen  von  Aristoteles  an  stimmen  darin  überein,  dass  die  Männer 
von  Milet  die  Philosophie  lehrten,  dass  die  Dinge  „entstehen"  und 
wieder  „vergehen"  und  dass  sie  „aus"  einer  gewissen  Urquelle 
„kommen"  und  dahin  wieder  „zurückkehren". 

(Schluss  im  nächsten  Heft.) 


Jahresbericht 

über 

sämmtliche  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte 

der  Philosophie 

in   Gemeinschaft   mit 

0.   Apelt,    Clemens   Baeumker,    Ingrara   By water,     Alessandro   Chiapelli, 

Wilhelm  Dilthey,     A.  Dyroff,    Benno  Erdmann,     H.  Liidemann,    Martin 

Schreiner,  Andrew  Seth,  Paul  Tannery,  Feiice  Tocco,  E.  Wellmann 

und  Wilhelm  Windelbaud 

herausgegeben 


Ludwig  Stein. 


Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     XV.  2.  18 


III. 

Jahresbericht 

über  die  Geschichte  der  Philosophie  im 

Zeitalter  der  Renaissance  (1893— 1899).i 

Von 
eil.  Schitlowsky  uncl  liiidwig  Stein. 

III.  Folge. 

3.    Dr.  Alex.  AVernicke,  Director  der  Städtischen  Ober-Healschule, 
Professor     au     der    Herzoglicheu     Technischen     Hochschule 
Brauuschvveig.    Die  mathematisch-naturwissenschaft- 
liche Forschung    in  ihrer  Stellung    zum    modernen 
Humanismus.    Vortrag,  gehalten  in  der  Hauptversammlung 
des  Vereins   zur  Förderung  des  Unterrichts  in   der  Mathe- 
matik und    den  Naturwissenschaften    zu  Leipzig    (Pfingsten 
1898).     Berlin,  Verlag  von  Otto  Salle,  1898  (18.  4"). 
Prof.  Wer  nicke    gehört    zu  denjenigen  Pädagogen,    die,    wie 
Natorp    und  Bergemann,    das    gesammte  Erziehungswesen    der 
moderneu  Zeit  auf  eine  kulturphilosophische  Basis  stellen  möchten. 
Ohne  sich   gerade    „social"    zu  nennen,    ist    seine  Pädagogik    eine 
sociale  im  vollsten  Sinne    des  Wortes.     Denn    sie  will    die    Nach- 
kommenschaft in  das  moderne  Culturleben  einführen,  für  dasselbe 
erziehen.     In  der  pädagogischen   Conception   des  Verfassers  ist  die 
humanistische   Pädagogik    kein  Gegensatz    mehr  zur  socialen, 
wie  sie  überhaupt  die  Synthese  anstrebt,  in  der  die  berechtigten 
Elemente  der  individuellen,  der  nationalen  und  der  socialen 

18* 


268  Ch.  Schitlowsky  und  Ludwig  Stein, 

Erziehuug  sich  /u  einer  geschlossenen  Einheit  zusammenfügen. 
Das  Individuum,  der  Einzelne  ist  darum  von  Werth,  weil  er  zu- 
gleich Mittel  und  Zweck  der  Culturentwicklung  ist.  Mittel,  in- 
sofern er  Träger  und  Verkörperer  einer  für  sich  bestehenden 
Cultur  ist.  Zweck,  insofern  „alle  höchsten  Culturgüter  in  letzter 
Hinsicht  dem  Einzelnen  dienen"  (richtiger:  „dienen  sollen") 
„und  zwar  zur  harmonischen  Ausbildung  seiner  ganzen  Persönlich- 
keit" (S.  2).  Dieser  Einzelne  aber  ist  nur  „als  Glied  seines  Volkes 
zu  bilden".  Er  muss  zum  Kampfe  ausgerüstet  werden,  der  überall 
zwingt,  „die  nationale  geistige  und  körperliche  Arbeit  einzusetzen 
und  unter  diesem  Zwange  beginnt  auch  bereits  das  Gros  der  inter- 
nationalen Arbeiter-Armeen  in  nationale  Corps  zu  zerfallen"  (S.  11). 

A^on  diesem  Grundgedanken  ausgehend,  sucht  Verf.  die  noch 
immer  herrschende  Ansicht  zu  bekämpfen,  als  ob  nur  die  Geistes- 
wissenschaften in  freier  Wahl  dem  Humanismus  dienen,  die 
Naturwissenschaften  und  die  ihnen  zu  Grunde  liegende  Mathematik 
nur  „niedere  Sclavinnen  des  Realismus"  seien  (S.  1).  Die  rein 
pädagogischen  Resultate  seiner  Untersuchungen  zu  würdigen  und 
an  ihnen  einen  kritischen  Maassstab  anzulegen  (namentlich  wegen 
ihrer  Missachtung  des  Momentes  der  internationalen  Solidarität), 
dies  fällt  vollständig  aus  dem  Rahmen  unserer  speciellen  Aufgabe. 
Für  unseren  Zweck  ist  nur  die  erste  Hälfte  der  Abhandlung  von 
Interesse,  wo  der  Versuch  gemacht  wird,  an  der  Hand  geschicht- 
licher Daten  die  Bedeutung  der  mathematisch-naturwissenschaftlichen 
Forschung  für  die  Ausbildung  des  Humanismus  der  Renaissance- 
epoche festzustellen. 

Das  Zeitalter  der  Renaissance  wird  gewöhnlich  mit  dem 
"Wiederbeleben  der  antiken  Wissenschaften  und  Künste  angesetzt. 
Durch  das  erwachte  philologische  Studium  der  classischen 
Sprachen  sei  eine  neue  Welt  erschlossen  worden,  in  der  erst  der 
im  innigen  Vorkehr  mit  der  Natur  lebende  Mensch  entdeckt  und 
zum  Principe  der  Lebensanschauung  erhoben  worden  sei.  Der 
Unterricht  in  der  klassischen  Philologie  und  den  in  der  antiken 
Welt  besonders  gepflegten  Geisteswissenschaften  ist  daher  zum  Haupt- 
träger der  humanistischen  Bildung  geworden.  Diese  allzu  innige 
Verschmelzung    von  Humanismus    und    klassischer    Philologie    be- 


Jahresbericht  über  die  Geschichte  der  Philosophie  etc.  269 

kämpft  uuu  der  Verfasser.  Er  stellt  /Amächst  die  Thatsache  fest, 
dass  das  Studium  der  Mathematik  und  die  exacte  Naturforschuug 
keineswegs  im  klassischen  Alterthum  vernachlässigt  wurde.  Ja, 
sie  waren  es,  welche  —  wie  v.  Wilamowitz  gezeigt  hat  —  die 
Arbeiten  der  alexandrinischen  Philologen  befruchteten  und  sie  zur 
Auffindung  der  Gesetzmässigkeit  in  den  sprachlichen  Gebilden  ver- 
halfen. Schon  diese  Thatsache  sollte  zur  Einsicht  führen,  „dass 
auch  im  Zeitalter  der  Renaissance  Philologie  und  exacte  Forschung 
in  gemeinsamer  Arbeit  neben  einander  gestanden  haben  (S.  3). 
Dazu  kommt,  dass  der  Einfluss  der  Antike  auf  das  Zustandekommen 
der  Renaissance  und  auf  den  Culturgehalt  dieses  Zeitalters  stark 
übertrieben  wurde.  Der  Anbruch  der  Renaissance  ist  nicht  mit 
dem  Sturze  Constantinopels  zu  datiren.  Von  der  eigentlichen 
Renaissance  in  der  Kunst  musste  mau  auf  eine  Frührenaissance 
und  von  dieser  auf  eine  tief  im  Mittelalter  liegende  Vor-Renaissance 
zurückgreifen.  Ein  Brunellesch i,  Ghiberti,  Donatelli  oder 
ein  Giotto  (um  1300)  hatten  noch  nichts  mit  den  Griechen  zu 
thun.  Und  auch  in  der  Folgezeit,  als  die  Platonische  Academie 
schon  gegründet  wurde,  hatte  die  Antike  nur  auf  die  Form  der 
Kunst,  nicht  auf  ihren  Inhalt  Einfluss:  „worin  stimmt  Botticellis 
(1440 — 1514)  inniges  Empfinden  mit  der  Antike  überein?  Was 
haben  selbst  Raffael  und  Michel  Angelo  innerlich  mit  der  Antike 
zu  thun?"  (ib.)  Auf  dem  Gebiete  der  Malerei  liegt  der  Schnitt 
zwischen  Altem  und  Neuem  bei  Giotto  (geb.  1266).  Auf  intellec- 
tuellem  Gebiet  ist  es  das  Jahr  1210,  in  welchem  die  neue  Welt 
aus  der  alten  hervorging.  In  diesem  Jahre  erlangte  Francesco 
d'Assisi  vom  Papst  Innocenz  III,  das  Recht  der  freien  Predigt 
und  zwang  hiermit  die  Kirche,  eine  Forderung  zu  bewilligen,  um 
welche  die  Ketzer  vergebens  gerungen  haben.  Die  volksthümlichc 
Predigt,  die  an  die  Stelle  der  lateinischen  trat,  ignorirte  die  ge- 
lehrte Ueberlieferung  und  schöpfte  ihre  Motive  aus  den  unmittel- 
baren Bedürfnissen  des  Lebens.  Ein  mächtiges  Naturgefühl  er- 
wachte in  den  proveu^alischen  Psalmen  d"Assisis.  Bei  seinem 
deutschen  Anhänger  Berthold  von  Regeusburg  kommt  der 
Gegensatz  von  Priester  und  Laie,  Ueberlieferung  und  Natur  schon 
deutlich  zu  Bewusstsein.     „Den   Geistlichen,  sagt  er,  hat  Gott  das 


270  Ch.  Schitlowsky  uud  Ludwig  Stein, 

alte  uud  das  ueue  Testameut  gegebeu,  deu  Laien  aber  zwei  andere 
grosse  Bücher,  aus  denen  sie  Weisheit  lesen  sollen,  den  Himmel 
und  die  Erde".  Auf  das  erwachte  Naturgefühl  folgte  das  Erwachen 
der  Naturwissenschaft,  die  im  13.  Jahrhundert  auch  im  christlichen 
Europa,  unter  dem  Einfluss  der  jüdisch-arabischeu  Philosophie,  be- 
geisterte Anhänger  fand;  Roger  Baco,  ein  Franciskaner,  ist  schon 
ein  wirklicher  Naturforscher  in  ganz  modernem  Sinn,  Nach  der 
Mitte  des  13.  Jahrhunderts  konnten  auf  der  Universität  zu  Paris 
Sätze  vertheidigt  werden,  wie:  „Die  Reden  der  Theologen  sind 
auf  Fabeln  gegründet",  „Es  wird  nicht  mehr  gewusst  wegen  des 
Wissens  der  Theologen",  „Die  christliche  Religion  hindert  daran, 
etwas  hinzuzulernen".  Und  auch  das  scholastische  System  des 
Thomas  von  Aquino  ist  keine  Formulieruug  des  alten  Geistes, 
sondern  vielmehr  ein  geluugener  Versuch,  das  alte  mit  dem 
Neuen  couciliatorisch  zu  verbinden  (S.  4 — 5).  Durch  diese  Bin- 
dung des  Neuen  an  das  Alte,  wurde  die  neue  Bewegung  auf  allen 
Gebieten,  ausgenommen  die  Kunst,  gehemmt,  aber  nicht  zum  Still- 
stand gebracht.  Das  Neue  wird  allmählich  verketzert  und  verfolgt. 
„Von  den  Vertretern  der  mathematisch -naturwissenschaftlichen 
Forschung  stirbt  Pietro  di  Albano  1316  zu  Padua  im  Gefäng- 
nisse der  Inquisition,  und  im  Jahre  1327  wird  Cecco  d'Ascoli  zu 
Florenz  als  Astrologe  und  Ketzer  verbraunt.  In  Paris  muss  1348 
Nicolaus  de  Austrieuria,  der  das  Studium  der  Thatsachen 
gegenüber  dem  Studium  der  Bücher  empfiehlt,  seinen  „Atomismus 
abschwören".  Das  konnte  aber  das  siegreiche  Vordringen  der 
mathematisch-naturwissenschaftlichen  Forschung  nicht  aufhalten. 
Petrus  Ramus  bezeugt  ihr  Gedeihen  in  Paris  für  die  Mitte  des 
14.  Jahrhunderts.  Von  hier  aus  verpflanzt  sie  Heinrich  von 
Hessa  nach  Oesterreich,  von  dem  eine  lange  Kette  von  Natur- 
forschern uud  Mathematikern  sich  bis  auf  unsere  Zeit  ununter- 
brochen zieht  und  die  glänzendsten  Namen  des  Zeitalters  der 
Renaissance  enthielt.  Liouardo  da  Vinci  (1452 — 1519)  con- 
centrirte  in  sich  den  gesammten  naturwi.ssenschaftlichen  Reichthum 
seiner  Zeit  und  zeigt,  wie  gross  diese  Schätze  der  exacten  Natur- 
forschung schon  angewachsen  sind.  Die  enge  Verbindung  von 
Kunst  und  mathcmatisch-naturwi.ssenschaftlichcr  Forschung,  die  in 


Jahresbericht  über  die  Geschichte  der  Philosophie  etc.  271 

da  Vinci  hervortritt,  wird  auch  von  Albrecht  Dürer  (1471—1528) 
angestrebt.  Reuchlin  und  Erasmus  besteigen  „den  Umweg,  den 
man  über  die  fremden  Sprachen  zu  den  Dingen  machen  müsse." 
„Res  ipsa,  non  umbra  verum"  ist  die  Losung  von  Luther  und 
Melanchthon.  Nach  dieser  „res  ipsa"  suchend,  stürzte  Coper- 
nicus  die  ptolomäisch-mittelalterliche  Weltanschauung  und  ent- 
rückte das  Centrum  der  Welt  von  der  Erde  zur  Sonne.  „Dafür 
aber  fand  der  Mensch  in  sich  selbst  ein  unverlierbares  Centrum" 
und  „mit  der  Bestimmung  dieser  beiden  Centren,  für  die  äussere 
und  für  die  innere  Welt  war  man  völlig  mündig  geworden."  Von 
Copernicus  führt  eine  directe  aufsteigende  Linie  durch  Bruno, 
Galilei  und  Kepler  zu  Descartes,  Huyghens  und  Newton, 
die  die  strenge  Gesetzmässigkeit  der  Weltmechanik  erarbeiten,  zu 
der  sich  bald  der  Begriff  der  Entwicklung  gesellt,  der  von 
Lessing,  Schiller  und  Herder  auf  dem  Gebiete  der  Geistes- 
wissenschaften, von  Wolff,  Goethe  und  Lamarck  auf  dem  der 
Naturwissenschaften  angewandt  wird  und  die  Grundlage  für  die 
moderne  Auffassung  der  Gesetzmässigkeit  aller  Lebens-  und  Geistes- 
erscheinungen bildet  (S.  6 — 8). 

Die  Renaissance  ist  somit  eine  Bewegung,  welche  mit  dem 
Anfang  des  13.  Jahrhunderts  anhebt,  um  die  Mitte  desselben  deut- 
lich erkennbar  wird.  Als  Gegendruck  zum  unerträglich  gewordenen 
Historismus  spielt  sie  das  „cpussi"  gegen  das  „Oiasi"  aus  und  pro- 
clamirt  als  ihre  Losung  die  Rückkehr  zur  Natur.  Diese  Bewegung 
wiederholte  sich  später  in  Rousseau  und  ist  vielleicht  jetzt  wieder 
im  Anzug  (S.  8).  — 

Die  Grundanschauung  Wernickes  über  den  Ursprung  des  Zeit- 
alters der  Renaissance  kann  also  in  die  Formel  zusammengefasst 
werden:  die  Renaissance  ist  in  Europa  autochthon.  Er  ist 
sogar  geneigt  ihren  Anfang  in  dem  Anfang  der  Scholastik  zu 
erblicken,  in  dem  Momente  nämlich,  wo  Ansei m  von  Canter- 
bury  (1033—1109)  „einem  neuen  Bedürfnisse  folgend,  das  Dasein 
Gottes  zu  beweisen"  sucht.  Gewiss  ist  diese  Aufspürung  der 
ersten,  kaum  bemerkbaren  Keime  der  Renaissance,  des  Wieder- 
erwachens des  selbständigen  Gedankens  von  grossem  Werth.  Be- 
zeugen   doch    solche  Forschungen    die  Richtigkeit  des  Satzes,    dass 


272  ^■^-  Schitlowsky  und  Ludwig  Stein, 

die  Conti uuität,  diese  Grundlage  der  Entwicklung,  auf  dem 
Gebiete  des  Geistes  in  demselben  Grade,  wie  auf  dem  der  Natur 
zum  Vorschein  kommt.  Allein  man  hüte  sich  dabei  in  den  Fehler 
zu  verfallen,  den  die  dialectische  Naturphilosophie  begeht, 
wenn  sie  die  specitischen  Unterschiede  der  einzelnen  Naturgebilde 
bloss  darum  zu  niedrig  anschlägt,  weil  sie  durch  eine  ununter- 
brochene Kette  von  Mittelgliedern  mit  einander  verbunden  werden 
können.  So  weit  von  einander  abstehende  Gebilde  wie  Eiche  und 
Löwe  können  sicher  durch  eine  Reihe  von  Zwischenstufen  über 
die  Amöbe  hindurch  miteinander  verbunden  werden.  Darum 
fliessen  noch  nicht  Pflanzenreich  und  Thierreich  zusammen.  Auf 
dem  Gebiete  der  Natur  ist  die  Vermischung  der  Grenzen  noch 
nicht  die  Aufhebung  des  Unterschiedes.  Nicht  die  Uebergangs- 
stufen,  sondern  die  typischen  Gebilde  sind  für  die  Classification 
maassgebend.  Dasselbe  soll  auch  auf  dem  Gebiete  des  Geistes 
gelten.  Man  kann  freilich  die  Grenzen  zwischen  Mittelalter  und 
Neuzeit  so  sehr  verwischen,  dass  man  auch  in  Bezug  auf  Anselm 
von  Canterbury  schwanken  kann,  ob  nicht  mit  ihm  schon  die 
Neuzeit  anbreche.  Um  diese  Frage  zu  entscheiden,  muss  man  ihn 
aber  nicht  mit  einem  Franz  d'Assisi,  sondern  mit  einem  Lionardo 
da  Vinci,  einem  Giordano  Bruno  vergleichen.  Dann  wird 
die  Antwort  nicht  schwer  ausfallen.  Hält  man  sich  bei  der  Be- 
stimmung des  Zeitpunktes  der  Renaissance  und  der  Würdigung 
ihrer  Quellen  nicht  an  die  Uebergangsstufen,  sondern  an  die 
typischen  Gebilde,  dann  muss  man,  entgegen  der  Ansicht  unseres 
Verfassers,  zur  Ueberzeugung  gelangen,  dass  die  Renaissance  im 
eigentlichen  Sinne  die  Wiederbelebung  des  klassischen 
Alterthums  war.  Erst  als  die  heidnische  Welt  auftauchte, 
erst  als  man  gewahr  wurde,  dass  diese  heidnische  Welt  ohne 
Ueberlieferung,  ohne  Sündenfall  und  Erlösung,  zu  einer 
grösseren  Stufe  menschlicher  Vollkommenheit  gelangt  ist,  als  unter  die 
der  Botmässigkeit  der  hl.  Kirche  stehende,  erst  dann  wurde  heller  Tag. 
4.  Alois  RiEHL.  Giordano  Bruno.  Zur  Erinnerung  an  den 
17.  Februar  1600.  Zweite  neu  verbesserte  Auflage.  Leipzig, 
Verlag  von  Wilhelm  Engelmann  1900  (S.  56). 
Die  RiehPsche  Schrift   ist  in  erster  Auflage  1889    erschienen. 


Jahresbericht  über  die  Geschichte  der  Philosophie  etc.  273 

Die  zweite  Auflage  ist  vielfach  verbessert  und  die  Darstellung  der 
Philosophie  Brunos  völlig  umgearbeitet  worden.  Der  Verfasser 
hofft,  „ein  richtiges  und  in  den  Hauptzügen  vollständiges  Bild  von 
der  Lehre  und  den  Schicksalen  des  merkwürdigen  Mannes  gegeben 
zu  haben  (Vorwort). 

Schon  als  Knabe  machte  sich  Bruno  mit  dem  Gedanken  ver- 
traut, dass  die  rein  sinnliche  Erkenutniss  Täuschungen  ausgesetzt 
ist,  dass  die  Natur  überall  eine  und  dieselbe  sei  und  nur  die 
Entfernung  das  Aussehen  der  Dinge  verändere.  Mit  18  Jahren 
zweifelt  er  schon  an  der  kirchlichen  Lehre  der  Trinität  und  fasste 
die  Personen  als  Attribute  der  Gottheit  auf.  Li  früher  Jugend 
ergriff  die  Lehre  des  Copernicus  seinen  Geist,  die  ihm  zu  einer 
ganz  neuen  Conception  des  Weltalls  erhoben  hat.  Die  Un- 
endlichkeit der  Welten  eröffnete  sich  seinem  Auge.  Die  Un- 
endlichkeit, die  Einheit  und  die  Lebendigkeit.  Das  ist  der  Kern- 
punkt seiner  Philosophie,  deren  rein  kosmologischer  Theil  zum 
Gesammtgute  der  modernen  wissenschaftlichen  Weltanschauung 
geworden  ist.  Erst  diese  Lehre  von  den  „anderen  Welten"  „be- 
deutete den  Zusammensturz  der  mittelalterlichen,  anthropocentrischen 
Weltanschauung,  welche  mit  der  Lehre  von  der  Erdbewegung  um 
die  Sonne  zur  Noth  noch  vereinbar  blieb"  (S.  22).  Treffend 
schildert  Verf.  den  Unterschied  zwischen  Copernicus  und  Bruno 
dahin,  dass,  wenn  die  Lehre  jenes  heliocen frisch  ist,  „so  ist 
die  Lehre  Brunos  nicht  etwa  nur  kosmocentrisch,  sondern  theo- 
centrisch  (S.  23).  Der  theocentrische  Standpunkt,  der  seiner 
Astronomie  eine  philosophische  Seele  einhaucht,  bestimmt  denn 
auch  alle  seine  metaphysischen  Grundgedanken  über  das  Verhältniss 
von  Substanz  und  Accidenz,  Materie  und  Form,  Möglichkeit  und 
Wirklichkeit,  Freiheit  und  Nothwendigkeit  und  zwar  in  einer 
Weise,  die  als  eine  Anticipation  der  gesammten  Entwickelung  der 
speculativen  Philosophie  von  Spinoza  bis  auf  Hegel  erscheint. 
Ohne  direct  auf  diesen  Zusammenhang  zwischen  der  kosmosophischen 
Grundansicht  Brunos  und  seinen  metaphysischen  Einzelanschauungen 
hinzuweisen,  gelingt  es  dem  Verfasser  in  der  klaren,  durchsichtigen 
und  tief  durchdachten  Darstellung  der  Lehre  Brunos  ihre  innere 
Einheit  zur  Anschauung  zu  bringen. 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.    XV.  2.  ■!<-' 


Neueste  Ersclieiimngen  auf  dem  Gebiete  der 
Geschichte  der  Pliilosophie. 

A.     Deutsche  Litteratur. 

Axelrod,  Dr.  Esther  Luba,  Tolstois  Weltanschauung  und   ihre  Entwickelung^ 

Stuttgart,  F.  Enke. 
Beiart,  Hans,  Friedrich  Nietzsches  Ethik,  Lpz.,  H.  Seemann  Nachf. 
Dennert,  Dr.  E.,  Die  Wahrheit  über  Ernst  Haeckel  u.  s.  „Welträthsel"',   Halle, 

C.  E.  Müller. 
Dessoir,  Max,  Geschichte  der  neueren  deutschen  Psychologie,  2.  Aufl.,  2  Halbbd., 

Berlin,  C,  Duncker. 
Döring,  A.,  Epikurs  philosophische  Entwickelung,   Zeitschrift  für  Philosophie 

und  philosophische  Kritik,  119,  1. 
Drews,  Prof.  Dr.  Arth.,  Ed.  v.  Hartmanns  philosophisches  System  u.  Grundriss, 

Heidelberg,  C.  Winter. 
Falckenberg,  Prof.  Dr.  Rieh.,    Gesch.    d.    neuereu    Philosophie  etc.,    4.  Aufl. 

Lpz.,  Veit  &  Co. 
Fischer,    Kuno,    Gesch.    d.   neueren    Philosophie,   Jubiläumsausgabe,    8.  Bd. 

Hegels  Leben,  Werke  u.  Lehre,  2  Theile,  Heidelberg,  C.  Winter. 
Hegels,  G.  W.  H.,  Vorlesungen  üb.  d.  Philos.   d.   Religion   m.  e.  Coinmentar 

hrsg.  V.  Prof.  G.  J.  P.  J.  ßollaud,  L.  Tbl.  u.  II.  Tbl.  1.  Hälfte,  Leiden 

(Amsterdam,  J.  Müller). 
Hickson,  J.  W.  A.,  Der  CausalbegrifF  i.  d.  neueren  Philosophie  von  Hume  bis 

Robert  Mayer,  IV,  Vierteljahrsschrift  f.  wiss.  Philos.,  XXV,  3. 
Hoppe,  G.,  Die  Psychologie  des  J.  L.  Vives  etc.,  Diss.  Erlangen. 
Höffding,  Prof.  Harald,  Rousseau  u.  seine   Philosophie,   2.  Aufl.  (Frommauns 

Klassiker  d.  Philosophie,  hrsg.  v.  Prof.  Dr.  Rieh.  Falckenberg,  IV). 
Jesinghaus,  W.,  Der  innere  Zusammenhang  der  Gedanken  vom  Uebermenschen 

bei  Nietzsche,  Diss.  Bonn. 
Kabitz,   W.,    Studien  zur   Entwickelungsgeschichte    der    Ficbteschen    Wissen- 

schaftslebre  aus  der  kantischen  Philosophie,  Kantstudien,  VI,  2.  3, 


Neueste  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philosophie.     275 

Leder,  Dr.  Herrn.,  Untersuchungen  üb.  Augustins  Erkenntnisstheorie  in  ihren 

Beziehungen    zur  antiken  Skepsis,    zu    Plotin    u.    zu    Descartes,    Diss. 

Marburg. 
Loewig,  W.,    Ueber  Teleologie    und   Mechanismus    i.    d.    Philosophie    Lotzes, 

Diss.  Breslau. 
Marschner,  F.,  Kants   Bedeutung  für  die  Musik -Äesthetik  der  Gegenwart  II, 

Kantstudieu,  VI,  2.  3. 
Montaigne,  Ausgewählte  Essais,  Aus  d.  Französischen  übersetzt,  v.  Emil  Kühn, 

5.  Bd.,  Strassburg,  J.  H.  Ed.  Heitz. 
Nagel,  E.,  Das  Problem  der  Erlösung  in  der  idealistischen  Philosophie.     Eine 

philosophiegeschichtliche  u.  kritische  Untersuchung,  Diss.  Zürich. 
Reishaus,  Th.,   Ueber  Nietzsches   Also  sprach  Zarathustra,  Stralsund,  Bremer. 
Schmöger,  F.,  Leibniz  i.  s.  Stellung  zur  tellurischen  Physik,  Diss.  München. 
Schopenhauers  Gespräche  und  Selbstgespräche  etc.,    hrsg.  von  Ed.  Grisebach 

2.  Aufl.,  Berlin,  Hofmann  &  Cie. 
Schütz,  L.  H.,  Die  Lehre  v.  d.  Leidenschaften  bei  Hobbes  u.  Descartes,  Diss. 

Göttingen. 
Spanier,  Dr.  Mor.,  Die  jüdische  Ethik  u.  Herbarts  fünf  ethische  Ideen,  Magde- 
burg, Loewenthal  &  Cie. 
Stölzle,  Prof.  Dr.  Remig.,    A.  v.  Köllikers  Stellung    zur    Descendenzlehre  etc. 

Münster,  Aschendorff. 
Tscheuschner,    Dr.  K.,    Die    philosophiegeschichtlichen    Voraussetzungen    der 

Energetik  (Berner  Studien   z.   Philosophie  u.  ihrer  Geschichte,  hrsg.  v. 

Prof.  Dr.  Ludw.  Stein,  XXX),  Bern,  C.  Sturzenegger. 
Vannerus,  A.,  Der  Kantianismus  in  Schweden,  Kantstudien,  VI,  2.  3. 
Windelband,  Wilh.,   Piaton,  3.  Aufl.  (Frommanns   Klassiker   der  Philosophie, 

hrsg.  V.  Prof.  Dr.  Rieh.  Falckenberg). 

B.     Französische  Litteratur. 

Brochard,  V.,  L'eternite  des  ämes  dans  la  philos.  de  Spinoza,  Rev.  de  Metaph. 

Nov.  1901. 
Cantecort,  S.,  La  morale  ancienne  et  la  morale  moderne,  Rev.  de  Metaphysique, 

Sept.  1901. 
Conturat,  L.,  Sur  les  bases  naturelles  de  la  Geometrie  d'Euclide,  Rev.  philos., 

Nov.   1901. 
—  — ,  La  logique  de  Leibniz,  Paris,  Alcan. 

Fouillee,  A.,  Les  jugements  de  Nietzsche  sur  Guyau,  Rev.  philos.,  Dec.  1901. 
Halevy,  Elie,  La  formation  du  radicalisme  philosophique,  2  Bde.,  Paris,  Alcan. 
Hatzfeld,  Pascal  (coUections  Les  grands  philosophes),  Paris,   Alcan. 
Joly,  Henry,  Malebranche  (ibid.),  Paris,  Alcan. 
Karppe,  S.,    Etudes  sur  la  Nature   et  les  Origines  du  Sohar  (Kabbala),  Paris, 

Alcan. 
Mercier,  D.,  Le  phenomenisme  et  l'ancieune  metaphysique,  Rev.  Neo-Scolastique 

Nov.  1901. 
,  L'unite  et  le  uombre    d' apres  S.  Thomas  d'Aquiu,   ebenda,  Aug.  1901. 


276  Neueste  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philosophie. 

Ossip-Lourie,  La  philosophie  russe  contemporaine,  Paris,  Alcan. 
Pacheu,  S.  J.,  lutroduction  a  la  psychoIogie  des  Mystiques,  Paris,  Oudin. 
l'iat,  C,  Dieu  et  la  nature  d'apres  Aristote,  Rev.  Neo-Scolast.,  Mai  1901. 
Renouvier,  Gh.,   Histoire  des   .Solutions  des    problemes   metaphysiques,    Paris, 

Alcan. 
Seignobos,  Gh.,  La  methode  bistorique  appliquee  aux  sciences  sociales,  Paris, 

Alcan. 
Wulf,  M.  de,    Augustinisme  et  Aristotelisme   au  XIII«  siecle,  Rev.  Neo-Sco- 

lastique,  Mai  1901. 

G.     Englische  Litteratur. 

Gabe,  Mc  J.,  Peter  Abelard,  London,  Duckworth, 

Galdecott,  A.,  The  philosophy  of  Religion  in  England  and  America,  London 
Methuen. 

Fräser,  Tho  works  of  Berkeley,  4.  vol.,  Oxford,  Clarendon  Press. 

FuUerton,  G.  S.,  The  Berkeleyan  Doctrine  of  Space,  The  philos.  Rev.,  X,  4. 

Hodder,  The  Adversaries  of  the  Sceptic,  London,  Sonnenschein. 

Joachim,  H.,  A  study  of  the  Ethics  of  Spinoza,  Oxford,  Clarendon  Press. 

Moore,  Vita,  The  ethical    aspect  of  Lotzes   metaphysic,   New-York,  Macmillan. 

Muirhead,  J.  H ,  Chapters  from  Aristotles  Ethics,  London,  Murray. 

Proceedings  of  the  Aristotelian  Society,  New  Series  L 

Stephen,  Leslie,  The  English  Utilitarians,  three  volumes,  London,  Duck- 
worth &  Co. 

Taggart,  Mc,  J.  M.  E.,  Studies  in  Hegelian  Cosmology,  Cambridge,  Univers. 

Press. 
Woodbridge,  F.  J.  E.,  The  earliest  greek  Philosophy,  The  philosoph.  Rev.  X,  4. 

D.     Italienische  Litteratur. 

Bertani,  Carlo,  Pietro  Aretiro  e  le  sue  opere,  Sondrio,  Quadrio. 

Bollea,  II  misticismo  di  S.  Bonaventura,  Torino,  Clausen. 

Buonamici,  E.,  L'Antico  e  il  Moderne  nella  Filosofia  del  secolo  XX,  Rivista 

fiios.  rv,  2. 

Gavotti,  A.,  La  filos.  nella  Magna  Grecia  fino  a  Socrate,  Pisa,  Vauucchi. 

Croce,  B.,  Giambattesta  Vico,  Napoli,  Getkey. 

Faldelia,  G.,  II  Genio  politico  di  Gioberti. 

Grimaldi,  V.,    La    Meute    di    Galilei    (de    Motu    Gravium),    Napoli,    Detken    e 

Kocholl. 
Macchi,  Mauro,  Le  contraddizioni  di  V.  Gioberti,  Colombi. 
Kadice,  G.  L.,  Della  origine  dello  Scetticismo,  Firenze,  Tip.  Galileiana. 
Zoccoli,  Ettore,  Nietzsche,  2.  Aufl.,  Torino,  Bocca. 


Archiv  für  Philosophie. 

I.  Abtheiluiig;: 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie. 

Neue  Folge.     XV.  Band  3.  Heft.  - 


X. 

Spinoza  und  die  CoUegianten. ') 

Von 
Dr.  Ad.  Menzel,  Professor  an  der  Universität  Wien. 

Vorbemerkung. 

In  der  Abhandlung  „Wandlungen  in  der  Staatslehre  Spinozas", 
Stuttgart  1898,  habe  ich  auf  gewisse  Gegensätze  in  der  politischen 
Theorie  unseres  Philosophen  aufmerksam  gemacht  und  eine 
historische  Erklärung  derselben  versucht.  So  viel  mir  bekannt 
ist,  haben  diese  Ausführungen  sowohl  in  methodischer  Hinsicht 
als  in  Bezug  auf  die  erzielten  Ergebnisse  Zustimmung  gefunden^). 
Nunmehr  erhebt  aber  im  vorletzten  Hefte  dieser  Zeitschrift  Herr 
W.  Meijer  im  Haag  in  einem  Aufsatze  gegen  meine  Aufstellungen 
einzelne  Bedenken.  Dieser  Aufsatz  führt  den  Titel  „Wie  sich 
Spinoza  zu  den   Collegianten  verhielt?"  Er  bringt  auf  Grund  eines 


^)  Inhaltsübersicht-;  Vorbemerkung.  Die  Theorie  vom  Milieu.  Spinoza 
und  die  Collegianten.  Das  Christenthum  der  CoUegianten.  Der  theologisch- 
politische Traktat  und  das  Christenthum.  Der  Briefwechsel  mit  Oldenburg. 
Christlicher  Spinozismus.  Die  Collegianten  und  die  Demokratie.  Wandlungen 
in  der  Staatslehre  Spinozas.     Die  Literaturkenntnis  Spinozas. 

2)  Man  vergl.  statt  aller  Rehms  Allgemeine  Staatslehre  S.  209  Anm.  1 
und  S.  220  Anm.  9. 

Archiv  f.  Qescbicbte  d.  Pbilosophie.     XV.  3.  20 


278  Ad.  Menzel, 

reichen  Materials  eine  Schilderung  des  Wirkens  jener  stillen 
Christengemeinden,  in  deren  Mitte  Spinoza  viel  verkehrte,  ins- 
besondere der  Rynsburger  Vereinigung. 

Diese  Schilderung  ist  gewiss  werthvoll  und  ihr  warmer  Ton 
flösst  auch  für  den  Verfasser  Sympathie  ein.  Herr  Meijer  hält  die 
Collegianten  für  eine  Verkörperung  des  wahren  Christenthums,  des 
Glaubens,  „der  uns  geschichtlich  bekannt  geworden  und  von  Con- 
stantin  dem  Grossen  bis  auf  David  Friedrich  Strauss  ^)  die  Cultur- 
geschichte  beherrscht  hat"  (S.  14).  Er  rühmt  an  den  Collegianten, 
dass  sie  die  Idee  einer  Vereinigung  aller  christlichen  Kirchen  pro- 
pagirten.  „Sie  gehören  mit  Rom  zu  derselben  Kirche,  aber  stehen 
darin  an  der  äussersten  linken  Seite"  (S.  15).  Der  Verfasser 
sagt,  dass  die  Collegianten  in  der  Kirchengeschichte  eine  merk- 
w'ürdige  „Erscheinung  bilden  als  der  einzige  mit  Ernst  durch- 
geführte Versuch,  alle  Christen  in  Geist  und  Wahrheit,  anstatt 
durch  Feuer  und  Schwert  zur  Einigkeit  zu  bringen"  (S.  29). 

Ob  hierin  nicht  einige  üebertreibung  liegt,  möchte  ich  dahin- 
gestellt sein  lassen.  Jedenfalls  verdient  dieser  Theil  der  Abhand- 
lung volle  Anerkennung.  Anders  steht  es  aber  mit  den  Schluss- 
folgerungen, welche  Herr  Meijer  aus  seiner  Schilderung  der 
Collegiantengemeinden  auf  die  Stellung  Spinozas  ziehen  zu  müssen 
glaubt. 

Der  Verfasser  ist  gewiss,  als  eifriger  Verehrer  Spinozas,  mit 
seinen  Werken  genau  vertraut.  Allein  als  er  seinen  Aufsatz 
niederschrieb,  scheint  dieses  Wissen  kein  präsentes  gewesen  zu 
sein;  namentlich  die  Lehren  des  theol.  polit.  Traktats  über  Christus, 
die  Offenbarung  und  über  die  Glaubensfreiheit  waren  ihm  nicht 
ganz  gegenwärtig.  Nur  so  kann  ich  mir  erklären,  dass  er  zu  sehr 
anfechtbaren  Ergebnissen  gelangt.  Auch  die  Polemik  gegen  meine 
Abhandlung  ist  nichts  weniger  als  glücklich.  Hier  haben  einige 
Missverständnisse  von  vorn  herein  den  richtigen  Weg  versperrt. 
Der  Leser  erhält  kein  zutreffendes  Bild  vom  Status  controversiae. 
Hierin  lag  für  mich  die  Nöthigung  zu   einer  eingehenden   Replik. 


^)  Den  Verfasser  des  Buches,   „Der  alte  und  der  neue  Glaube"   als  po- 
sitiven Christen  zu  bezeichnen,  ist  auffallend. 


Spinoza  und  die  Collegianten.  279 

Die  Theorie  vom  Milieu. 

Gleich  zu  Beginn  seiner  Abhandlung  beklagt  Herr  Meijer  die 
moderne  Richtung,  welche  grosse  Persönlichkeiten  aus  ihrer  Um- 
gebung zu  erklären  versucht.  Es  werde  hier  an  die  Könige  im 
Reiche  des  Gedankens  derselbe  Maassstab  angelegt,  wie  an  den 
erstbesten  Homunculus;  es  sei  ein  eitler  Versuch  ein  Genie,  wie 
es  Spinoza  war,  aus  seinen  Lebensverhältnissen  erklären  zu  wollen. 

Es  kann  hier  natürlich  nicht  so  nebenbei  eine  der  schwierigsten 
und  bestrittensten  Fragen  geschichtlicher  Methodik  behandelt 
werden,  welche  durch  jene  Bemerkungen  aufgeworfen  wird.  Gewiss 
hat  es  manche  Uebertreibuugen  in  der  Verwerthung  der  „Umwelt" 
gegeben;  namentlich  die  Anhänger  der  materialistischen  Geschichts- 
auffassung sind  davon  nicht  freizusprechen.  Wenn  z.  B.  in  neuester 
Zeit  ersucht  wurde,  die  Entwicklung  der  griechischen  Philosophie 
aus  den  wirthschaftlicheu  Verhältnissen  von  Hellas  zu  erklären, 
so  kann  dies  nur  Befremden  erwecken;  Piatos  Ideenlehre  wird  kein 
Vernünftiger  auf  äussere  Einwirkungen  zurückführen  wollen. 

Das  schliesst  aber  durchaus  nicht  aus,  dass  die  Gedanken- 
welt grosser  Geister  in  einzelnen  Richtungen  durch  persönliche 
Erfahrungen  und  äussere  Ereignisse  beeinflusst  werden  kann.  Be- 
sonders wird  man  dies  von  den  politischen  Ansichten  der  zu 
beurtheilenden  Persönlichkeiten  behaupten  dürfen.  Was  z.  B.  von 
der  Ideenlehre  Piatos  gilt,  um  bei  dem  obigen  Beispiele  zu  bleiben, 
kann  nicht  ohne  weiteres  auf  seine  Staatslehre  angewendet  werden; 
hier  haben  neben  den  metaphysischen  Grundlagen  auch  äussere 
Momente,  wie  die  Zustände  Athens,  das  Beispiel  Spartas,  die  Er- 
fahrungen während  des  Aufenthalts  in  Sicilien  u.  s.  w.  entscheidend 
mitgewirkt. 

Oder  will  man  etwa  die  Staatslehre  des  Hobbes,  der  gewiss 
auch  kein  Homunculus  war,  nur  aus  seiner  Metaphysik  ableiten, 
ohne  die  politischen  Zustände  Englands  in  Betracht  zu  ziehen? 
Sollte  bei  Rousseau,  gleichfalls  ein  Gemie,  der  Umstand,  dass  er 
Bürger  der  kleinen  Republik  Genf  war.  für  die  Fassung  seines 
contrat  social  ganz  bedeutungslos  gewesen  sein? 

Diese  Fragen  aufwerfen  heisst  sie  auch  beantworten.  Von 
einer    principiellen   Unrichtigkeit    meiner  Methode    kann    keine 

20* 


280  Ad.  Menzel, 

Rede  sein;  es  kann  sich  immer  nur  darum  handeln,  ob  ich  im 
einzelnen  Falle  in  der  Verwerthung  derselben  das  Richtige  getroffen 
habe.  Da  muss  ich  denn  doch  darauf  aufmerksam  machen,  dass 
es  mir  durchaus  nicht  in  den  Sinn  gekommen  ist  Spinozas  ganze 
Rechts-  und  Staatsphilosophie  aus  seinem  Milieu  abzuleiten.  Herr 
Meijer  hat  diesen  wichtigen  Punkt  leider  übersehen  und  so  er- 
scheine ich  in  seiner  Darstellung  als  ein  Fanatiker  der  Umwelt- 
Theorie  —  der  ich  gewiss  nicht  bin. 

Ich  erklärte  ausdrücklich,  dass  meine  Abhandlung  sich  ein 
streng  begrenztes  Thema  gesetzt  hat;  die  Wandlungen  zu  zeigen, 
welche  sich  in  einigen  staatsphilosophischen  Ansichten  Spinozas 
vollzogen  haben  und  ihre  Ursachen  zu  erforschen  (S.  5).  Am 
Schlüsse  (S.  38)  bemerkte  ich:  „Neben  diesen  variablen  Elementen 
giebt  es  einen  festen  Gedankenkern,  welcher  seiner  Rechtslehre 
das  originelle  Gepräge  verleiht."  Für  diesen  Theil  seiner  Staats- 
lehre, der  mir  schon  damals  als  der  wichtigere  erschien  (S.  5)  gilt 
natürlich  das  Milieu-Princip  durchaus  nicht.  Hier  haben  die 
Affektentheorie ,  der  Selbsterhaltungstrieb  und  eigenthümliche 
Fassung  des  Freiheitsgedankens,  kurz  psychologische  und  meta- 
physische Lehren  seines  Systems  entscheidende  Bedeutung.  Gerade 
dieser  Theil  der  Staatslehre  Spinozas  bietet  grosse  Schwierigkeiten. 
Was  in  dieser  Beziehung  bisher  publicirt  wurde,  ist  wenig  be- 
friedigend, namentlich  das  „Naturrecht"  unseres  Philosophen  und 
sein  Verhältniss  zu  Hobbes  wird  bisher  nicht  richtig  gewürdigt. 
Ich  hoffe  bald  in  der  Lage  zu  sein,  meine  Auffassung  dieser  Fragen 
dem  wissenschaftlichen  Publikum  vorzulegen. 

So  wenig  daher  auch  die  bisherige  Literatur  über  Spinozas 
Staatslehre  in  meinen  Augen  genügt:  so  schlimm  steht  es  denn 
doch  nicht,  dass  man  sich  auf  obskure  Doctor-Dissertationen  be- 
rufen müsste,  wie  dies  Herr  Meijer  thut,  um  eine  bestimmte  An- 
sicht bekräftigt  zu  finden.  Er  citirt  auf  S.  4  die  Arbeit  eines 
Herrn  Josef  Hoff  über  die  Staatslehre  Spinozas.  Ich  habe  mir  diese 
Dissertation  angeschaut  und  kann  nur  sagen:  es  lohnt  nicht  die 
Mühe.  Die  Behauptung  Hoffs,  dass  Spinoza  im  Gegensatze  zu 
Machiavelli  nicht  aus  historischer  Factis,  sondern  aus  metaphysischen 
Gründen    seine   politischen  Lehren    abgeleitet    habe,    welcher  Herr 


Spinoza  und  die  Collegianten.  281 

Meijer  die  Ehre  eines  Citats  erweist,  ist  natürlich  abgeschrieben, 
und  zwar  aus  den  Erläuterungen  v.  Kirchmanus  zum  politischen 
Tractat.  Dieser  nennt  Spinoza  einen  Stubengelehrten,  dem  die 
Erfahrungen  und  Geschichtskenntnisse  eines  Macchiavelli  vollständig 
fehlen.  Wer  sich  aber  über  die  Staatslehre  unseres  Denkers  in- 
formiren  will,  dem  stehen  doch  schon  bessere  Hülfsmittel  zur 
Verfügung;  ich  nenne  Kuno  Fischers  Spinoza,  P.  Janet,  Histoire  de 
Sciences  politiques,  F.  Pollock,  Spinoza,  Sigwart,  Spinoza  und 
Hobbes  u.  s.  w. 

So  viel  über  die  priucipielle  Frage.  Im  Folgenden  sollen  die 
einzelnen  Difterenzpunkte  einer  näheren  Prüfung  unterzogen  werden. 

Spinoza  und  die  Collegianten. 

Dass  der  Philosoph  im  Kreise  der  Collegianten  zu  Amsterdam 
und  Rynsburg  viel  verkehrte  und  dass  aus  ihrer  Mitte  seine  besten 
Freunde  hervorgingen,  konnte  Herr  Meijer  natürlich  nicht  in  Ab- 
rede stellen.  Er  giebt  auch  zu  (S.  24),  dass  es  zahlreiche  geistige 
Berührungspunkte  gab.  Es  sei  nicht  unmöglich,  dass  die  Collegia 
in  Amsterdam  durch  Spinoza  ihren  wissenschaftlichen  Charakter 
bekommen  haben  und  dass  die  ersten  Capitel  des  theol.-pol. 
Tractats  in  ihren  Kreisen  entstanden  sind  (S.  25).  Er  erkennt 
an,  dass  die  Redefreiheit,  das  Grundprincip  der  Collegianten, 
in  jenem  Tractat  die  beste  Vertheidigung  gefunden  habe,  endlich 
dass  die  Opposition  gegen  einen  bevorrechten  Priesterstand  Beiden 
gemeinsam  war,  duldeten  doch  die  Collegianten  nicht  einmal  die 
Anstellung  von  Predigern  in  ihrer  Gemeinde  (S.  17). 

Allein  es  giebt  nach  Ansicht  des  Herrn  Meijer  Grenzen, 
welche  Spinozismus  und  Christenthum  unbedingt  von  einander 
scheiden  (S.  24).  In  dieser  Ansicht  ist  Wahres  mit  Falschem 
vermischt.  Es  kommt  sehr  darauf  an,  mit  welchen  Augen  mau 
den  Spinozismus  betrachtet  und  was  man  unter  Christenthum  ver- 
steht. Es  kommt  ferner  sehr  darauf  an,  ob  man  den  Spinoza 
der  „Ethik"  oder  den  Spinoza  des  „theologisch-politischen  Tractats" 
in  Betracht  zieht.  In  diese  Dinge  ist  jedoch  Herr  Meijer  nicht 
tiefer  eingedrungen;  er  gelangt  daher  zu  ganz  unrichtigen  Ergeb- 
nissen. 


2g2  ^^-  Menzel, 

Ich  werde  dies  alsbald   nachweisen.     Vorher  möchte  ich  aber 
eine  oft  wiederkehrende  Redewendung  beleuchten,   dass  sich  näm- 
lich Spinozas  Freunde  von  ihm  mit  Entsetzen   abgewendet  haben, 
sobald  von  religiösen  Dingen  die  Rede  war.     Es  wäre  eine  psycho- 
logische Merkwürdigkeit  Jemand  eine  treue  lebenslängliche  Freund- 
schaft zu  beweisen,  dessen  Lehre  man  verabscheut,  durch  den  man 
sich  in  den  heiligsten    Gefühlen    verletzt    fühlt.      Da    hätte    Herr 
Meijer  doch  etwas  kräftigere  Beweise  vorbringen  müssen,  um  eine 
so  unwahrscheinliche  Behauptung  glaubhaft  zu  machen.     Er  beruft 
sich  auf  den  Briefwechsel  Spinozas  mit  Oldenburg,  der  aber  nichts 
beweist,  da  doch   Oldenburg    kein  Collegiant,    sondern    ein  streng- 
gläubiger Protestant  war;  von  einem  Abscheu  vor  Spinozas  Lehren 
habe  ich  aber  selbst  hier  nichts  entdecken   können.     Herr  Meijer 
beruft  sich  ferner    auf  Bredenburg,  der  sich    öft'entlich    gegen  den 
Vorwurf  des  Spinozismus  vertheidigt  hat.     Allein  Bredenburg  sagt 
doch  nur,    dass  der  christliche  Glaube    mit  den    Lehren    Spinozas 
verträglich  sei. 

Und  wenn  sonst  öffentliche  Erklärungen  gegen  unseren 
Philosophen  auch  bei  seinen  Freunden  vorkamen,  kann  das  be- 
weisen, dass  sie  auch  innerlich  seine  Lehre  missbilligten?  Hier 
muss  man  doch  mit  der  menschlichen  Schwäche  rechneu;  Spinozas 
Schriften  waren  verboten  und  die  Anhängerschaft  brachte  Gefahr; 
sind  doch  aus  diesem  Grunde  viele  Briefe  vernichtet  oder  ver- 
stümmelt worden. 

Herr  Meijer  setzt  die  Lehre  Spinozas  als  bekannt  voraus 
(S.  21)  und  deducirt  nun  aus  ihr  einen  unüberbrückbaren  Gegen- 
satz zu  den  Collegianten.  Da  wollen  wir  nun  der  Reihe  nach  das 
Christenthum  dieser  Gemeinden  und  dann  die  Stellung  Spinozas 
zur  Offenbarung  und  zu  Christus  betrachten. 

Das  Christenthum  der  Collegianten. 

Herr  Meijer  bemüht  sich  eine  zusammenfassende  Darstellung 
der  Ideen  zu  geben,  welche  die  „Rynsburgsche  Vergadering"  be- 
herrschten. Soweit  es  sich  um  die  negative  Seite  ihrer  Be- 
strebungen handelt,  ist  seine  Schilderung  vollständig  gelungen. 
Die  Collegianten  anerkennen  keine  festgestellte  documentierte  Con- 


Spinoza  und  die  Collegianten,  285 

fessiou  (S.  5).  Sie  verurtheilen  das  Treiben  der  Confessiouellen 
als  mit  dem  Wesen  der  Reformation  in  Widerspruch  stehend;  sie 
sind  Feinde  jeder  Dogmatik  (S.  6).  Von  den  Mystikern  und 
Quilkern  unterschieden  sie  sich  dadurch,  dass  sie  nicht  an  eine 
ununlerbrocheue  Inspiration  glauben,  sie  protestieren  gegen  jede 
Priesterherrschaft  und  gegen  jeden  Glaubenszwang  (S.  7);  ob  man 
zu  einer  Kirche  sich  bekannte  oder  nicht,  war  den  Collegianten 
einerlei  (S.  12).  Sie  wollen  Niemand  ihre  Meinung  aufdrängen 
(S.  14).  „Entweder Rom  oderRynsburg",  sagt  einer  der  Collegianten; 
„entweder  die  Bestimmung  der  Glaubenslehre  einem  Oberhaupte 
überlassen  oder  einem  Jeden  die  Freiheit  gegönnt,  zu  sagen,  was 
er  davon  hält"  (S.  15).  Das  freie  Sprechen  war  das  Fundament 
ihrer  Vereinigung  (S.  19). 

Minder  überzeugend  ist  der  Versuch  des  Herrn  Meijer,  einen 
positiven  Inhalt  der  Collegianten-Religion  festzustellen.  Er  ist 
sich  der  Schwierigkeit  dieser  Aufgabe  bewusst,  glaubt  aber  doch, 
dieselbe  durch  Zusammenstellung  von  überlieferten  Aussagen  der 
Collegianten  lösen  zu  können  (S.  5).  Er  spricht  von  einem  „un- 
ausgesprochenen aber  von  Allen  unbestrittenen  Glaubens- 
bekenntniss"  (S.  11);  ein  Bekenntniss,  das  man  nicht  ausspricht, 
ist  jedoch  eine  schwer  zu  fassende  Vorstellung.  Wie  ist  damit  der 
Satz  auf  S.  20  zu  vereinigen:  „eine  Collegianteuconfession  kann 
ex  rei  natura  nicht  geboten  werden;  sie  würde  eine  contradictio 
in  adjecto  darstellen"? 

Doch  lassen  wir  vorläufig  von  diesen  priucipiellen  Bedenken 
ab  und  sehen  wir,  was  Herr  Meijer  als  gemeinsamen  Glaubens- 
grundsatz der  Collegianten  gefunden  zu  haben  glaubt.  „Sie 
meinten  in  der  vorhandenen  Offenbarung  Alles  zu  haben,  was  zur 
Seligkeit  nothwendig  sei."  Alle  bekannten,  dass  Jesus  war  der 
Christus,  der  Sohn  des  lebendigen  Gottes"  (S.  11).  „Die  heilige 
Schrift  als  einzige  regula  lidei  und  das  Abendmahl  aller  Gläubigen 
als  Symbol  ihrer  Gemeinschaft,  das  ist  also  der  Inhalt  des  Glaubens 
der  Collegianten"  (S.  13).  Schön!  Wenn  nun  Jemand  im  Kreise 
der  Collegianten  aufgestanden  wäre  und  gesagt  hätte:  Ich  glaube 
an  die  Göttlichkeit  der  Bibel,  aber  ich  behalte  mir  vor,  zu  unter- 
suchen,   worin    diese  Göttlichkeit    besteht;    ich    werde    feststellen, 


284  ^^-  Menzel, 

was  in  der  heiligen  Schrift  uur  der  Fassungskraft  bestimmter 
Völker  und  Zeiten  augepasst  ist;  ich  weiss,  dass  Christus  Gottes 
Sohn  genannt  wird,  aber  nach  meiner  Ansicht  nur,  weil  sich  in 
ihm  wie  sonst  niemals  Gottes  Weisheit  offenbart  hat;  ich  meine, 
dass  der  Satz  des  Evangelisten,  das  Wort  ist  Fleisch  geworden, 
nur  bildlich  zu  verstehen  sei  u.  s.  w.  (der  Betreffende  hätte  z.  B. 
Spinoza  heissen  können);  ich  frage,  hätte  die  Rynsburger  Ver- 
gadering  diesen  Mann  hinausweisen,  ihm  sagen  können:  „Du  gehörst 
nicht  zu  uns."  Niemals!  Denn  wie  die  heilige  Schrift  zu  inter- 
pretiren  sei,  konnte  nach  dem  Grundprincip  der  Collegianten 
nicht  autoritär  festgestellt  werden.  Es  war  daher  nur  ein  Zufall, 
dass  wie  Herr  Meijer  berichtet  (S.  13)  die  meisten  (!)  Collegianten 
die  apostolischen  Glaubensartikel  anerkannten*). 

Der  theologisch-politische  Tractat  und  das  Christenthum. 

Herr  Meijer  legt  seiner  Charakteristik  Spinozas  die  „Ethik" 
zu  Grunde,  in  ihr  ist,  wie  richtig  bemerkt  wird,  von  Offenbarung 
keine  Rede  (S.  24).  Wer  den  Philosophen  in  seiner  abschliessenden 
Gedankenwelt  darstellen  will,  muss  darauf  Gewicht  legen;  wer  je- 
doch die  geistige  Entwicklungsgeschichte  im  Auge  hat,  darf  sich 
darauf  nicht  beschränken.  Es  ist  ein  ganz  vergeblicher  Versuch, 
den  Gott  der  „Ethik"  mit  dem  Gotte  des  „Tractats"  zu  identi- 
ficiren;  es  ist  unmöglich,  das  was  hier  Spinoza  über  Christus  und 
die  Offenbarung  sagt,  mit  den  Lehren  jenes  Hauptwerkes  in  Ein- 
klang zu  bringen.  Es  bliebe  nur  der  Ausweg,  anzunehmen,  dass 
unser  Philosoph  im  Tractate  unaufrichtig  gewesen  sei,  die  Dinge 
nur  ironisch  gemeint  habe  u.  dgl.,  was  auch  schon  behauptet 
wurde.  Wer  jedoch  den  Tractat  unbefangen  liest,  muss  diese 
Behauptung  als  völlig  unbegründet  erachten;  ganz  abgesehen  davon, 
dass  der  Charakter  unseres  Denkens  eine  solche  Auffassung  aus- 
schliesst.  Ich  hoffe  in  dieser  Frage  Herrn  Meijer  auf  meiner 
Seite  zu  haben,    da  er  stets    mit    den  Ausdrücken    höchster    Ver- 


^)  Ich  hoffe  dass  man  diese  Bemerkungen  nicht  dahin  verstehen  wird, 
als  ob  ich  den  Collegianten  einen  Vorwurf  machen  wolle:  mir  ist  es  nur 
darum  zu  thun  den  wirklichen  Sachverhalt  festzustellen. 


Spinoza  und  die  Collegianten.  285 

ehrung  von  Spinoza  spricht.  Dann  wäre  es  aber  seine  Pflicht 
gewesen,  jenen  Gegensatz  nicht  zu  verschweigen.  Es  .durfte  nicht 
die  erst  spät  vollendete  Ethik,  sondern  der  Tractat  herangezogen 
werden,  mit  dessen  Ausarbeitung  Spinoza  gerade  während  seines 
Aufenthaltes  in  Rynsburg  im  Kreise  der  Collegianten  beschäftigt 
war. 

Ich  bitte  nun  folgende  Stellen  unseres  Tractates  zu  würdigen, 
Stellen,    die    ich    aufs    Geradewohl    herausgreife,    ohne    auf   A'oll- 
ständigkeit    Anspruch    zu    machen.     In    dem   Glaubensartikel    der 
„allgemeinen  Religion",  welche  Spinoza  im  14.  Capitel  vorschlägt, 
heisst  es  unter  Punkt  7:  „Endlich  verzeiht  Gott  dem  Reuigen  seine 
Sünden,  denn  es  ist   Niemand   ohne  Sünde;   ohnedem  müsste  also 
ein  Jeder  an  seinem  Heile  verzweifeln  und  wäre  kein  Grund,  Gott 
für  barmherzig  zu  halten.     Wer   dagegen    fest    glaubt,    dass    Gott 
in  seiner  Barmherzigkeit  und  Gnade,  mit  der  er  Alles  leitet,  den 
Menschen  ihre  Sünden  vergiebt,  wird   dadurch  in  seiner  Liebe  zu 
Gott  mehr  gehoben :  er  kennt  in  Wahrheit  Christus  im  Geiste  und 
in  ihm  ist  Christus."     In    der    „Ethik"    aber  ist    bekanntlich    die 
Reue  ein  Affect  des  Leidens  und  wird  daher  missbilligt.     Ein  Gott, 
der  die  Sünden  verzeiht,  fällt   ganz  aus  dem  System   heraus,  das 
deus  sive  natura  an  die  Spitze  stellt. 

Ueber  die  Offenbarung  sagt  unser  Tractat  nicht  bloss,  wie 
Herr  Meijer  (S.  24)  meint,  dass  sie  für  die  meisten  Menschen  von 
Interesse  sei,  sondern  es  heisst  im  15.  Capitel,  dass  die  Offen- 
barung noth  wendig  gewesen  sei,  ja  dass  wir  an  dem  Heile  bei- 
nahe aller  verzweifeln  müssten,  wenn  wir  die  Zeugnisse  der  hl. 
Schrift  nicht  hätten. 

Ueber  Christus  finden  sich  folgende  Aussprüche:  „Die  Weisheit 
Gottes  hat  in  Christus  menschliche  Natur  angenommen  und  Christus 
ist  das  Heil  der  Welt  gewesen.  Ueber  das,  was  einige  Kirchen 
über  Christus  festsetzten,  will  ich  nicht  sprechen,  es  auch  nicht 
bestreiten,  denn  ich  gestehe  offen,  dass  ich  es  nicht  verstehe. 
Was  ich  hier  behauptet  habe,  entnehme  ich  aus  der  Bibel  selbst." 
„Ich  behaupte  daher,  dass  ausser  Christus  Niemand  die  Often- 
barungen  Gottes  anders    als    mit  Hülfe    der  Einbildungskraft    cm- 


286  Ad.  Menzel, 

pfaugcn  hat.  (Cap.  I).  „Gott  hat  seinen  Christus  allen  Völkern 
geschickt,  um  sie  alle  gleich  aus  der  Knechtschaft  des  Gesetzes  zu 
erlösen,  lehrt  Paulus,  also  genau  dasselbe,  was  ich  behaupte" 
(Cap.  III).  „Christus  war  nicht  sowohl  Prophet  als  der  Mund 
Gottes"  (Cap.  IV).  Ueber  die  Apostel  äussert  sich  Spinoza  dahin, 
„dass  sie  nicht  bloss  die  Kraft  empfangen  haben,  die  Geschichte 
Christi  als  Propheten  zu  predigen,  d.  h.  mit  Zeichen  zu  be- 
kräftigen, sondern  auch  etc.  (Cap.  XI).  Von  den  christlichen 
Gebräuchen  wie  die  Taufe,  das  Abendmahl,  die  Feste  und 
anderes  sagt  er  (Cap.  V),  dass  sie  nur  als  äusseres  Zeichen 
der  allgemeinen  Kirche  eingesetzt  sind,  aber  nicht,  um  zur  Seligkeit 
beizutragen. 

Ich  schliesse  hier  gleich  an,  was  die  Collegianten  über  die 
heiligen  Gebräuche  dachten.  „Das  Abendmahl  allen  Gläubigen 
als  Symbol  ihrer  Gemeinschaft"  bezeichnet  Herr  Meijer  selbst 
(S.  13)  als  ihre  Auffassung.  Hinsichtlich  der  Taufe  fügt  er  hinzu, 
dass  sie  nicht  gefordert  wurde,  „die  Taufe  gehörte,  wie  Christian 
Verbürg  sagte,  nicht  zu  der  Natur  der  Rynsburger  Versammlung." 
Und  da  behauptet  Herr  Meijer,  es  sei  nicht  denkbar,  dass 
Spinoza  je  das  Abendmahl  mit  den  Collegianten  zu  Rynsburg  ge- 
theilt  hätte!)  (S.  24.)  „Spinoza,  von  jüdischen  Eltern  geboren, 
nahm  den  christlichen  Glauben  an,  ohne  davon  ein  öffentliches  Be- 
kenntniss  abzulegen",  sagt  ein  niederländisches  Geschichtswerk*) 
und  es  dürfte  damit  das  Richtige  getroffen  haben. 

Der  Briefwechsel  mit  Oldenburg. 

Um  seine  These  von  der  unüberbrückbaren  Kluft  zwischen 
Spinoza  und  den  Collegianten  ins  rechte  Licht  zu  stellen,  beruft 
sich  Herr  Meijer  auf  die  Stelle  eines  an  Oldenburg  gerichteten 
Briefes,  welcher  in  der  Haager  Ausgabe  der  Werke  Spinozas  die 
Nummer  73  trägt.  Ich  habe  schon  oben  bemerkt,  dass  Oldenburg 
kein  Collcgiant    war,    sondern    „dem  protestantischen  Glauben    in 


*)  Geschiedenis   der  uederlandsche  Hervormde  Kerk,  citirt  bei  Antonius 
\an  der  Linde,  Spinoza  S.  141. 


Spinoza  und  die  Collegianten.  287 

aller  Streuge  uud  mit  voller  Ueberzeugung  zugethan" '^).  Wenn 
daher  auch  eine  tiefgehende  Difierenz  vorhanden  wäre,  so  würde 
daraus  noch  nicht  folgen,  dass  sie  auch  gegenüber  den  Collegianten 
bestanden  hat.  Ueberdies  ist  zu  bedenken,  dass  der  fragliche 
Brief  wahrscheinlich  aus  dem  Jahre  1675  stammt,  also  aus  einer 
Zeit,  wo  die  „Ethik"  schon  ihre  definitive  Gestalt  angenommen 
hatte,  wo  seit  der  Publication  des  theol.  Tractats  5  Jahre,  seit 
seiner  Ausarbeitung  10  Jahre  verflossen  waren.  Meine  Behauptung 
von  der  innigen  geistigen  Gemeinschaft  Spinozas  und  der  Collegi- 
anten bezieht  sich  aber  nicht  auf  diese  späte  Epoche,  sondern  auf 
die  Zeit  des  Aufenthalts  in  Amsterdam  und  Rynsburg. 

Ich  könnte  daher  jenes  Argument  a  limine  abweisen.  Allein 
meine  Position  ist  so  fest,  dass  sie  auch  diesen  Angrift'  nicht  zu 
scheuen  hat.  Ich  werde  also  den  citirten  Brief,  sowie  die  noch 
in  Betracht  kommenden  Briefe  75  und  78  nach  ihrer  Stellung  zur 
christlichen  Lehre  prüfen. 

Im  Briefe  73  sagt  Spinoza  nicht,  dass  er  Gott  andere  Eigen- 
schaften beilege  als  die  christliche  Religion,  sondern  als  die 
neueren  Christen  (Christiani  ueoterici)  und  dass  er  sich  dabei 
mit  Paulus  in  Uebereiustimmuug  befinde.  „Wenn  indes  Einzelne 
meinen,  dass  der  theol. -pol.  Tractat  auf  der  Identität  von  Gott 
und  Natur  beruhe  (wobei  sie  unter  Natur  eine  Art  Masse  oder 
körperlichen  Stoff  verstehen),  so  sind  sie  gänzlich  im  Irrthum." 
Folgt  eine  Ausführung  über  die  Wunden  und  daran  schliessen  sich 
Bemerkungen  über  Christus:  „Hier  muss  man  von  dem  ewigen 
Sohne  Gottes  d.h.  von  der  ewigen  Weisheit  Gottes,  die  sich 
in  allen  Dingen,  hauptsächlich  aber  in  der  menschlichen  Vernunft 
und  vor  Allen  und  am  meisten  in  Jesus  Christus  offenbart 
hat,  ganz  anders  denken."  „Weil  diese  Weisheit,  wie  gesagt, 
durch  Jesus  Christus  am  meisten  offenbart  worden  ist,  deshalb 
haben  seine  Jünger  gepredigt  und  gezeigt,  dass  sie  sich  des  Geistes 
Christi  vor  den  Anderen  rühmen  können".  Dann  erst  folgt  die 
Stelle,  welche  Herr  Meijer  allein  citirt,   nämlich  das  Bekenntniss, 


^)  J.  Y.  Kirch  mann,  Erläuterungen  zu  Spinozas  Briefwechsel  S.  2. 


288  Ad.  Menzel, 

die  Menschwerdung  Gottes  nicht  zu  verstehen.  Ich  kann  in  der- 
selben, wenn  der  ganze  Zusammenhang  betrachtet  wird,  nichts 
fmden,  was  mit  dem  von  jedem  Dogma  befreiten  Christenthum  der 
CoUegianten  unvereinbar  wäre. 

In  dieser  Beziehung  muss  doch  daran  erinnert  werden,  wie 
verschieden  im  Laufe  der  Entwicklung  der  christlichen  Lehre  die 
Gottessohnschaft  aufgefasst  worden  ist.  Man  vergleiche  z.  B.  die 
Formulirung,  welch  neuestens  A.  Harnack,  der  hervorragendste 
Kirchenhistoriker  unserer  Zeit,  in  seiner  viel  gelesenen  Schrift 
„Das  Wesen  des  Christenthums"  3.  Aufl.  S.  81  giebt.  „Die  Gottes- 
Erkenntniss  ist  die  Sphäre  der  Gottessohnschaft;  sein  Bewusstsein, 
der  Sohn  Gottes  zu  sein,  ist  darum  nichts  anderes  als  die 
praktische  Form  der  Erkenntniss  Gottes.  Richtig  verstanden 
ist  die  Gotteserkenntniss  der  ganze  Inhalt  des  Sohnes- 
namens. Es  ist  aber  hinzuzufügen:  Jesus  ist  überzeugt,  Gott  so 
zu  erkennen  wie  keiner  vor  ihm,  und  er  weiss,  dass  er  den  Beruf 
hat,  allen  Andern  diese  Gotteserkenntniss  und  damit  die  Gottes- 
kindschaft  durch  Wort  und  That  mitzutheilen." 

Oldenburg  ist  freilich  von  einer  solchen  Auffassung  der  Gestalt 
Christi  weit  entfernt.  Er  dringt  auf  neue  Erklärungen  Spinozas, 
von  dem  er  sagt,  dass  er  der  christlichen  Religion  wohl  zugethan 
sei  (Brief  74).  Dieser  antwortet  ausführlich  (Brief  75)  und 
schliesst  mit  den  Worten  „Die  Hauptsache  ist,  was  Christus  von 
sich  gesagt,  nämlich,  dass  er  der  Tempel  Gottes  sei,  weil,  wie  ich 
oben  bemerkte,  Gott  sich  vorzüglich  in  Christus  offenbart  hat, 
was  Johanne.^  in  seiner  kräftigen  Sprechweise  so  ausdrückt:  „Das 
Wort  ist  Fleisch  geworden."  Auf  die  Anfrage  Oldenburgs,  wie 
Spinoza  die  evangelische  Erzählung  vom  Leiden,  vom  Tode  und 
der  Auferstehung  Christi  auffasse,  erwidert  Spinoza  (Brief  78): 
„Ich  nehme  mit  Ihnen  das  Leiden,  den  Tod  und  das  Begräbniss 
Christi  in  wörtlichem  Sinne,  aber  seine  Auferstehung  nur  im 
allegorischen  Sinne." 

Diese  Proben  dürften  wohl  genügen,  um  darzuthun,  dass 
Spinoza  selbst  noch  in  den  letzten  Jahren  seines  Lebens,  als  die 


Spinoza  und  die  Collegianten.  289 

pantheistische  Auffassung  schon  den  Sieg  errungen  hatte,  eine 
religiöse  Ueberzeugung  besass,  welche  ihn  als  nicht  gänzlich  ausser- 
halb des  Christenthums  stehend  erscheinen  lässt. 

Christlicher  Spinozismus. 

Ich  habe  gezeigt,  dass  der  theol.-pol.  Tractat  keineswegs  un- 
verträglich erscheint  mit  jener  Auffassung  des  Christenthums, 
welche  die  Collegianteu  als  Princip  anerkannten,  wenn  auch  in 
den  Einzelfragen  des  Glaubens  die  meisten  Rynsburger  der  refor- 
mirten  Kirche  näher  gestanden  haben  als  Spinoza.  Ich  habe 
ferner  dargelegt,  dass  selbst  der  Briefwechsel  mit  Oldenburg  keines- 
wegs das  Dilemma  scharf  hervortreten  lässt :  entweder  Pantheismus 
oder  christliche  Offenbarung.  Alles  aber  wird  überboten  durch 
die  geschichtliche  Thatsache,  dass  selbst  nach  dem  Tode  unseres 
Philosophen,  als  seine  „Ethika"  schon  veröffentlicht  war,  noch  eine 
grosse  Anzahl  tiefreligiöser  Männer  in  zahlreichen  Schriften  die 
Lehren  Spinozas  nicht  etwa  bloss  neben  dem  Glauben  zuliessen, 
sondern  mit  der  christlichen  Dogmatik  zu  einem  theologischen 
System  zu  vereinigen  bestrebt  waren. 

Die  grösste  Verbreitung,  welche  der  Spinozismus 
jemals  gefunden  hat,  erfolgte  in  der  Gestalt  christlicher 
Lehre,  und  zwar  in  seiner  Heimath,  in  den  vereinigten  Nieder- 
landen. Spinozistische  Grundsätze  gingen  in  das  Volksleben  über; 
sie  wurden  nicht  nur  von  den  academischen  Kathedern,  sondern 
innerhalb  der  orthodox  -  reformirten  Kirche  von  der 
Kanzel  herab  gelehrt').  Diese  Thatsache,  welche  Herrn  Meijer 
nicht  unbekannt  sein  sollte,  hat  er  nicht  erwähnt;  sie  ist  allerdings 
für  seine  Auffassung  höchst  unbequem. 

Ich  bin  darauf  gefasst,  dass  man  die  Bedeutung«  dieser  merk- 
würdigen Erscheinung  wird  abschwächen  wollen  mit  dem  Argument, 
dass  ja  die  officielle  Landeskirche  diese  Richtungen  nicht  billigte. 
Allein  was  wird  damit  bewiesen?  Es  wurden  doch  auch  die 
Arminianer,  die  Coccejaner  und  die  Collegianteu  als  heterodox 
angesehen,    obwohl  diese   religiösen  Gemeinden"  nach  Ansicht    des 


0  A.  V.  d.  Linde,  Spinoza  S.  134. 


290  Ad.  Menzel, 

Herrn  Meijer  noch  auf  dem  Boden  des  positiven  Christenthums  ge- 
standen haben.  Und  wenn  man  ferner  einwenden  sollte,  dass  sich 
alle  christlichen  Anhänger  Spinozas,  die  ich  später  erwähnen 
werde,  geirrt  haben,  dass  der  Spinozismus  unverträglich  sei  mit 
der  christlichen  Lehre,  so  erwidere  ich  darauf  Folgendes:  Das 
könnte  zutreffend  sein,  ist  aber  für  eine  geschichtliche  Betrachtung 
ganz  irrelevant.  Es  kommt  nicht  darauf  an,  wie  wir  heute 
Spinoza  verstehen,  sondern  wie  er  seinen  Zeitgenossen  erschien. 

Der  Ausgangspunkt  der  Abhandlung  Herrn  Meijers  ist  ja  der, 
dass  zwischen  Spinoza  und  den  Collegianten  deshalb  keine  Wechsel- 
wirkung entstehen  konnte,  weil  in  der  Hauptsache  trotz  mancher 
Berührungspunkte  eine  unüberbrückbare  Kluft  bestanden  habe; 
man  dürfe,  sagt  er,  die  Grenzen  nicht  verwischen,  die  Spiuozismus 
und  Christenthum  unbedingt  von  einander  scheiden  (S.  24).  Eine 
grosse  Anzahl  tiefreligiöser  Männer,  darunter  reformirte  Prediger, 
haben  jedoch  einen  solchen  Gegensatz  nicht  gefühlt.  Ich  nenne 
von  ihnen  nur  Wilh.  Deurhoif,  A.  Koerbagh,  A.  J.  Cuffeler, 
H.  Wayermars,  B.  Bekker;  namentlich  sind  aber  als  Häupter 
ganzer  Schulen  von  grösstem  Einfluss  gewesen,  Fr.  v.  Leenhoff  und 
P.  van  Hattem  ^).  In  zahlreichen  Schriften  haben  sie  bald  mehr 
die  rationalistischen,  bald  mehr  die  mystischen  Lehren  von 
Spinozas  Ethik  zu  einem  christlich-theologischen  System  ausge- 
arbeitet. Die  Einzelheiten  kann  man  bei  Rene  Worms,  La  morale 
de  Spinoza  (Paris  1892)  cap.  XVI,  bei  Fr.  Pollock,  Spinoza  Ins 
life  and  philosophy,  London  1880  p.  375  ff.,  namentlich  aber  in  dem 
schon  citirten  Werke  A.  van  der  Lindes  nachlesen. 

Der  letztgenannte  Schriftsteller,  der  sich  keineswegs  durch 
Unparteilichkeit  auszeichnet,  bemerkt  am  Schlüsse  seiner  Dar- 
stellung (S.  1*70),  dass  die  jetzt  (1862)  in  Holland  dominirende 
Theologie  der  Leydener  Schule  von  einer  strengen  Prädestinations- 
lehre ausgehe  und  zu  einem  entschieden  pantheistischen  Monismus 
gelange.     „Es  wäre  daher",   sagt  er  mit  Ingrimm    „leicht  aus  den 


8)  Hattems    bedeutendste    Schüler   sind   J.  Bril,    M.  Boems,    D.  Jans,   G. 
Buijterdyck. 


Spinoza  und  die  CoUegianten.  291 

Quellen  ein  Buch  über  diese  Theologie  zu  schreiben,  mit  dem  für 
seinen  Inhalt  sehr  passenden  Titel:  Spinoza  redivivus." 

Die  CoUegianten  und  die  Demokratie. 

Im  theol.-polit.  Tractat  erscheint  Spinoza  als  Anhänger  der 
unmittelbaren  Demokratie,  er  erklärt  sie  als  die  natürlichste  Staats- 
form, als  den  Musterstaat.  Ich  habe  in  meiner  citirten  Festschrift 
versucht,  eine  Erklärung  für  diese  auffällige  Erscheinung  zu  finden 
und  sprach  die  Verrauthung  aus,  dass  hier  der  Ideenkreis  der 
Collegiantengemeinde  nicht  ohne  Einfluss  gewesen  ist.  Herr  Meijer 
bekämpft  diese  Hypothese  in  einer  Weise,  welche  bei  jedem  Sach- 
kundigen Erstaunen  erwecken  muss.  Er  stellt  die  Sache  so  dar, 
als  ob  ich  die  CoUegianten  als  eine  politische  Partei  bezeichnet 
hätte,  welche  in  Holland  die  Volksherrschaft  an  Stelle  des 
herrschenden  aristokratischen  Systems  setzen  wollte.  Das  ist  mir 
natürlich  nicht  in  den  Sinn  gekommen.  Sie  bildeten  religiöse 
Corporationen,  nicht  politische  Gemeinschaften.  Allein  in  diesen 
zunächst  politisch  indifferenten  Vereinigungen  gelangten  die  beiden 
Grundgedanken  der  Demokratie,  die  Freiheit  und  die  Gleichheit 
zum  Ausdruck.  Die  Idee  der  Freiheit  konnte  wohl  nicht  schärfer 
formulirt  werden,  als  in  der  „vrijheid  van  spreken"  der  Rynsburger 
Vereinigung.  Die  Idee  der  Gleichheit  aller  Glieder  war  aber  da- 
durch realisirt,  dass  das  Priesterthum  in  jeder  Form  zurückgewiesen 
wurde;  die  Anstellung  von  Predigern  galt  als  unzulässig.  Erscheint 
es  da  wirklich  nicht  nahe,  diese  Principien  auch  auf  die  politischen 
Gemeinwesen  zu  übertragen  und  zu  lehren,  „dass  die  ganze  Ge- 
meinschaft womöglich  gemeinsam  die  Herrschaft  führen  muss, 
damit  Jeder  so  sich  selbst  und  Niemand  Seinesgleichen 
gehorche"^)?  Wer  freilich  im  todten  Urkundenmaterial  stecken 
bleibt,  dem  erscheinen  solche  psychologische  Verknüpfungen  un- 
fassbare  „Irrthümer". 

Uebrigens  ist  Dasjenige,  was  mein  verehrter  Gegner  über  das 
Verhältniss    der    CoUegianten    zum    politischen    Leben    vorbringt, 


9)  Spinoza,  Tr.  th.  cap.  V. 


292  ^^-  Menzel, 

kaum  ganz  richtig.  „Die  politisch-religiösen  Ideen  der  Collegianten 
waren  wie  die  der  Mennoniten,  ausschliesslich  verneinend  und  jeder 
Theilnahme  an  der  Regierung  abgeneigt.  Wer  zur  Regierung  ge- 
hörte, gehörte  dieser  Welt  an,  nicht  der  Gemeinde  Christi"  (S.  27). 
Hier  werden  also  die  Collegianten  und  Mennoniten  vollkommen 
gleichgestellt,  während  Herr  Meijer  auf  S.  12  selbst  berichtet,  dass 
Bredenburg,  einer  der  hervorragendsten  Collegianten  „der  menisten 
leeren  Tafel"  von  sich  gewiesen  hat.  Der  Schluss  aus  dem  Dogma 
der  Menuonisten.  bei  denen,  wie  Herr  Meijer  meint,  Graf  Tolstoj 
seine  anarchistische  Lehre  hätte  schöpfen  können,  ist  doch  wohl 
nicht  zwingend. 

Auf  S.  25  giebt  ferner  Herr  Meijer  zu,  dass  die  ersten  Capitel 
des  theol.  Tractats  wahrscheinlich  im  Kreise  der  Collegianten  ent- 
standen sind.  Und  was  lesen  wir  im  3.  Capitel?  „Kein  besseres  Mittel 
lehrt  die  Vernunft  und  die  Erfahrung,  als  eine  Gesellschaft  mit 
festen  Gesetzen  zu  bilden,  einen  bestimmten  Landstrich  einzu- 
nehmen und  alle  Kraft  für  die  Gesellschaft  gleich  wie  für  einen 
Körper  zu  verwenden."  In  einer  Gesellschaft  von  Anarchisten, 
wie  es  die  Collegianten  angeblich  waren,  muss  eine  solche  Ver- 
herrlichung des  Staates  jedenfalls  Entsetzen  hervorgerufen  haben! 
Vergeblich  suchen  wir  allerdings  in  den  Briefen  Spinozas  eine 
Spur  jenes  tiefen  Gegensatzes. 

Doch  Herr  Meijer  behauptet  wirklich,  dass  sich  die  Collegi- 
anten über  Spinozas  Lehre  von  der  Staatsallmacht  bis  zum  jus 
circa  sacra  entsetzt  haben  werden  (S.  2ü).  Da  passirt  ihm  aller- 
dings ein  kleines  Malheur.  Er  verwechselt  das  Staatskirchen- 
system, wie  es  Hobbes  und  Grotius  formuliren,  mit  der  Cultus- 
hoheit  des  Staates,  welche  der  theol.  Tractat  zulässt.  Nach 
Hobbes  kann  der  Staat  bekanntlich  Gesetze  über  das  Dogma  er- 
lassen und  Grotius  trieb,  wie  Herr  Meijer  auf  S.  9  selbst  berichtet, 
die  „Staaten"  dazu  an,  alle  Uneinigkeit  in  der  Landeskirche  mit 
Gewalt  zu  bekämpfen.  Ist  das  aber  auch  die  Lehre  Spinozas? 
Wer  den  Tractat  auch  nur  oberflächlich  gelesen  hat,  weiss,  dass 
unser  Philosoph  gerade  das  Gegentheil  mit  der  grössten  Energie 
und  in  bestrickender  Form  vertheidigt  hat.  Das  19.  und  20.  Ca- 
pitel sind  zu  bekannt,    als    dass  ich    sie    hier  citiren  müsste;    ich 


Spinoza  und  die  Collegianten.  293 

begnüge  mich  daher  damit,  eine  Stelle  zu  erwähnen,  welche  bisher 
den  meisten  Forschern  entgangen  ist.  Sie  steht  am  Schlüsse  des 
7.  Capitels  und  lautet:  „Da  mithin  Jedem  das  Recht  der  Gedanken- 
freiheit auch  in  Religionssachen  zusteht  und  Niemand  sich  dieses 
Rechtes  begeben  kann,  so  hat  auch  Jeder  das  Recht  und  die 
Macht  über  Religion  frei  zu  urtheilen  und  also  auch  sie  für  sich 
zu  erklären  und  auszulegen.  Denn  die  Macht  der  Gesetzesaus- 
legung und  die  höchste  Entscheidung  über  öffentliche  Angelegen- 
heiten steht  der  Obrigkeit  nur  zu,  weil  es  sich  dabei  um  das 
öffentliche  Recht  handelt.  Deshalb  muss  aus  gleichem  Grunde 
die  oberste  Macht  die  Religion  auszulegen  und  darüber  zu  ent- 
scheiden, dem  Einzelnen  zustehen,  da  es  das  Recht  des  Ein- 
zelnen ist." 

lieber  solche  Ansichten  werden  sich  die  Collegianten  schwer- 
lich entsetzt  haben;  besser  hätten  sie  ihr  Princip  auch  nicht  for- 
muliren  können. 

Wie  soll  man  aber  erst  zu  folgendem  Satze  sagen,  den  Herr 
Meijer  niederzuschreiben  den  Muth  hat?  „Wenn  man  Spinozas 
echte  Geistesverwandte  in  politischer  Hinsicht  sucht,  so  wären 
diese  vielmehr  bei  den  Reformirten  zu  suchen,  beim  Calvinismus, 
der  damals  in  der  Republik  vorherrschte"  (S.  28).  Mau  vergleiche 
dazu  die  bei  FreudeuthaP")  unter  Nr.  31 — 91  abgedruckten  Be- 
schwerden der  Kirchenräthe  und  die  Synodalbeschlüsse  der  Landes- 
kirche betreffend  die  verderblichen  Lehren  des  theolog.-polit. 
Tractats.     Jedes  weitere  Wort  wäre  Verschwendung. 

Wandlungen  in  der  Staatslehre  Spinozas. 

Herr  Meijer  meint  (S.  28),  dass  die  Ermordung  der  Brüder 
de  Witt  Spinoza  nicht  von  der  Democratie  entfernt  habe.  Das  ist 
insofern  richtig,  als  Spinoza  sich  schon  längst  von  ihr  abgewendet 
hatte").   Allein  dieses  traurige  Ereigniss  verstärkte  seine  Abneigung 


'")  Die  Lebensgeschicbte  Spinozas  in  Quellenschriften,  Leipzig  1899. 
")  Es  war,  wie  ich  a.  a.  0.  ausführte,  der  Verkehr  mit  Jan  de  Witt  und 
die  gereifte  politische  Einsicht,  welche  diese  Wendung  herbeiführte. 
Archiv  f.  Geschichte  d.  PhUosophie,    XV,  3.  21 


294  Ad.  Menzel, 

gegen  die  Volksherrschaft.  Diese  Behauptung  welche  ich  (a.  a.  0. 
S.  36)  zunächst  nur  als  eine  psychologische  Nothweudigkeit  auf- 
gestellt hatte,  erfährt  nunmehr  ihre  volle  Bestätigung  durch  die  Mit- 
theilung aus  Leibnitz'  Papieren,  publicirt  bei  Freudenthal  S.  210 
Nr.  11:  „J'ay  passe  quelques  heures  apres  diner  avec  Spinoza.  II  me 
dit,  qu'il  avait  este  porte,  le  jour  des  massacres  de  M.  M.  de  Witt  de 
sortir  la  nuit  et  d'afficher  quelque  part,  proche  du  lieu  (des 
massacres)  un  papier,  oii  il  y  aurait  „ultimi  barbarorum"! 
Mais  son  hote  lui  avait  ferme  la  maison  pour  l'empecher  de 
sortir  car  il  se  serait  expose  a  etre  dechire". 

Sollte  wirklich  Spinoza  diese  Volksmassen,  welche  er  als  die 
äussersten  Barbaren  bezeichnet,  als  die  würdigen  Träger  der 
Staatsgewalt  angesehen  haben? 

Doch  Herr  Meijer  beruft  sich  auf  eine  Stelle  im  tractatus 
politicus^^),  welche  angeblich  beweisen  soll,  dass  Spinoza  ein  An- 
hänger der  Demokratie  geblieben  sei.  Auch  dieses  Argument  ist 
vollkommen  missglückt.  Spinoza  kritisirt  hier  allerdings  die  hol- 
ländische Verfassung.  Allein  er  tadelt  an  ihr  nicht,  dass  sie 
aristokratisch  sei,  sondern  etwas  ganz  anderes. 

„Die  Holländer  haben  es  zur  Erlangung  ihrer  Freiheit  für 
genügend  erachtet,  den  Reichsgrafen  zu  beseitigen  und  den  Reichs- 
körper des  Hauptes  zu  berauben,  ohne  sonst  an  Umgestaltung  des 
Reo'iments  zu  denken;  vielmehr  blieben  alle  Glieder  desselben  in 
der  früheren  Verfassung,  so  dass  die  Grafschaft  Holland  ohne 
Grafen,  wie  ein  Körper  ohne  Haupt  und  die  Staatsgewalt  selbst 
ohne  Namen  blieb.  Es  kann  deshalb  nicht  auffallen,  wenn  die 
meisten  Unterthanen  nicht  wussten,  bei  wem  die  höchste  Staats- 
gewalt sich  befand.  Und  wäre  dies  auch  nicht  der  Fall,  so  war 
doch  die  Zahl  der  wirklichen  Inhaber  der  Staatsgewalt  zu  klein 
für  die  Regierung  des  Volkes  und  die  Niederhaltung  ihrer  mächtigen 
Gegner.  So  kam  es,  dass  Letztere  ihnen  ungestraft  nachstellen 
und  zuletzt  sie  beseitigen  konnten.  Der  rasche  Umsturz  der  Ver- 
fassung ist  deshalb  hier  nicht    daher    gekommen,    dass  man    seine 


1«)  Cap.  9  §  14. 


Spinoza  und  die  Collegianten.  295 

Zeit  unnütz  in  Berathungen  verschwendet  hat,  sondern  weil  die 
Staatsverfassung  missgestaltet  und  der  Regierenden  zu  wenig 
waren." 

Spinoza  tadelt  also  ein  Doppeltes:  die  mangelnde  Konse- 
quenz in  der  Ausbildung  des  aristokratischen  Princips 
und  die  zu  geringe  Zahl  der  herrschenden  Patrizier.  Man  hätte 
in  der  Verfassung  ausdrücklich  die  „Staaten"  d.  h.  die  Stände  als 
Träger  der  Souveränität  bezeichnen  und  ihre  factische  Macht  durch 
Heranziehung  grösserer  Gruppen  von  Rittern  und  Bürgern  ver- 
mehren sollen.  An  eine  Herrschaft  der  unteren  Volksklassen  denkt 
er  jedoch  nicht  im  mindesten;  ihm  erscheint  die  aristokratische 
Föderativ-Republik  die  für  sein  Vaterland  geeignete  Verfassungs- 
form. Das  wird  Jedem  klar  der  auch  nur  flüchtig  das  8.  und 
9.  Capitel  des  politischen  Tractats  studirt.  Hierbei  legt  Spinoza 
allerdings  grosses  Gewicht  auf  die  Einführung  von  Milizheeren 
und  er  trifft  damit  den  schwächsten  Punkt  in  der  politischen 
Thätigkeit  Jan  de  Witts,  die  Vernachlässigung  der  Landmacht. 
Dieser  Fehler  des  bedeutenden  Staatsmanns  war  in  der  That  die 
Ursache  der  furchtbaren  Bedrängniss,  in  welche  die  Niederlande 
durch  den  Angrift'  Ludwig  XIV.  gerathen  sind  und  die  Ursache 
des  Unterganges  der  aristokratischen  Herrschaft. 

Spinozas  Kritik  richtet  sich  also  durchaus  nicht  gegen  die 
Aristokratie  als  solche,  sondern  nur  gegen  die  mangelhafte  Aus- 
gestaltung, welche  sie  in  den  Niederlanden  erhalten  hatte.  Wenn 
hierüber  noch  ein  Zweifel  bestehen  könnte,  so  muss  er  verstummen 
angesichts  der  folgenden  Aeusserung  des  Philosophen:  „Da  ich  nun 
gezeigt  habe,  dass  die  Verfassung  beider  Arten  des  aristokratischen 
Regiments  sowohl  mit  der  Vernunft  als  mit  den  allgemeinen 
Trieben  der  Menschen  übereinstimmt,  so  kann  ich  behaupten, 
dass,  wenn  irgend  ein  Regiment,  sicherlich  dieses  von  ewiger  Dauer 
sein  werde  und  dass  keine  innere  Schuld,  sondern  nur  ein  unver- 
meidliches äusseres  Unglück  es  zerstören  kann"  (Tr.  pol.  X  §  9)^^). 


13)  Bern  steht  nicht  entgegen  was  im  pol.  Tr.  Cap.  XI  §  2  über  die  De- 
mokratie gesagt  ist,  da  hier  ein  ganz  eigenartiger  Begriff  der  Demokratie  vor- 
ausgesetzt ist. 

21* 


296  Ad.  Menzel, 

Ich  war  daher  vollkommen  berechtigt,  von  „Wandlungen  in 
der  Staatslehre  Spinozas"  zu  sprechen;  dies  um  so  mehr,  als  die 
Werthschätzung  der  Staatsformen  durchaus  nicht  den  einzigen 
Gegenstand  dieses  veränderten  politischen  Denkens  bildet.  Viel- 
mehr zeigt  sich  auch  in  der  Auffassung  des  Staatsvertrages,  in  den 
Ansichten  über  den  Zweck  des  Staates,  in  der  Formulirung  der 
religiösen  Toleranz  eine  bedeutende  Verschiedenheit  zwischen  dem 
politischen  und  dem  theologisch-politischen  Tractate,  wie  in  meiner 
Festschrift  ausführlich  gezeigt  worden  ist.  Diese  Dinge  erwähnt 
Herr  Meijer  gar  nicht,  so  dass  der  Leser  den  Eindruck  erhalten 
muss,  als  ob  es  sich  bloss  um  den  Gegensatz  zwischen  demokratischer 
oder  aristokratischer  Gesinnung  gehandelt  hätte. 

Aber  auch  für  jene  andern  „Wandlungen"  bietet  meine 
Milieu-Theorie  die  einzig  mögliche  Erklärung.  Wenn  z.  B.  Spinoza 
in  einer  berühmt  gewordenen  Stelle  des  theologisch-politischen 
Tractates  die  „Freiheit"  im  politischen  Tractate,  hingegen  die 
„Sicherheit"  als  Zweck  des  Staates  bezeichnet,  wie  anders  ist 
dies  zu  begreifen,  als  indem  jene  Schrift  in  einer  Zeit  gefestigter 
politischer  Verhältnisse,  diese  Abhandlung  während  des  Kriegs- 
zustandes und  schwerer  innerer  Verwicklungen  verfasst  ist?  Wo 
alles  schwankt,  lernt  man  die  Sicherheit  als  höchstes  Gut  schätzen; 
zur  Zeit  des  ruhigen  Geniessens  erblüht  der  Gedanke  der  Freiheit. 

Wenn  Herr  Meijer  den  Einfluss  der  Umwelt  auf  Spinozas 
politische  Ansichten  bekämpft,  so  wäre  er  wohl  verpflichtet  ge- 
wesen eine  bessere  Erklärung  an  Stelle  der  meinigen  zu  setzen. 
Das  hat  er  aber  nicht  gethan.  Die  wenigen  Bemerkungen,  die  er 
dieser  wichtigen  Frage  widmet,  dürften  jedoch  kaum  Jemanden  be- 
friedigen. So  will  er  allenfalls  die  Gesetzgebung  und  Staatsein- 
richtung der  Hebräer  als  historische  Schablone  Spinozas  gelten 
lassen.  Nun  ist  es  ja  richtig,  dass  der  theol.-polit.  Tractat  die 
jüdische  Geschichte  kritisch  behandelt.  Aber  von  der  Theokratie 
—  als  solche  hat  Spinoza  das  Reich  der  Juden  richtig  charakte- 
risirt  —  zur  Demokratie  in  einer  Formulirung,  wie  sie  später 
erst  Rousseau  wieder  aufstellte,  liegt  ein  Abstand,  der  jede  Ent- 
lehnung ausschliesst.  Dort  ein  Gottesstaat,  auf  einen  Vertrage 
mit  Gott  beruhend,   von  Hohenpriestern  gelenkt,    mit    dem  bevor- 


Spinoza  und  die  Collegianten.  297 

rechteten  Stamm  der  Leviten  und  hier  ein  Musterstaat,  „wo  die 
Herrschaft  bei  Allen  ist  und  die  Gesetze  nach  allgemeiner  Ueber- 
einstimraung  erlassen  werde" '^)  —  man  vergegenwärtige  sich  nur 
diesen  Gegensatz  und  wird  w^ohl  jede  weitere  Bemerkung  für 
überflüssig  halten. 

In  der  Meinung  des  Herrn  Meijcr,  Spinoza  sei  der  Demokratie 
treu  geblieben,  liegt  übrigens  eine  völlige  Verkennuug  der  damaligen 
politischen  Situation  Hollands.  Die  unteren  Volksklassen  standen 
auf  Seite  der  orthodoxen  Geistlichkeit;  die  freie  Forschung  hatte 
ihre  mächtigste  Stütze  in  der  Regierung  Jan  de  Witts,  des  Führers 
der  Ritter  und  Patrizier.  Von  ihm  wurde,  wie  wir  jetzt  er- 
fahren '^)  Spinoza  zuweilen  „invitirt  und  in  rebus  ad  statum  perti- 
nentibus  consultirt,  als  worin  er  sehr  scharfsichtig  gewest." 

Spinozas  Liter aturkenutniss. 

Herr  Meijer  wirft  mir  schliesslich  vor,  dass  ich  gesagt  hätte, 
Spinoza  war  in  den  Classikern  schlecht  bewandert  und  hätte  seine 
politischen  Vorgänger  nicht  gekannt  (S.  27).  Hier  schreibt  Herr 
Meijer  offenbar  nur  aus  einer  dunklen  Erinnerung,  nicht  aus  einer 
wirklichen  Leetüre  meiner  Abhandlung.  Eine  solche  Behauptung, 
wie  sie  mir  imputirt  wird,  habe  ich  nicht  aufgestellt.  Ich  sprach 
nicht  von  den  Classikern  überhaupt,  sondern  nur  von  den 
griechischen  Autoren;  auch  stellte  ich  selbst  deren  Kenntniss 
Dicht  in  Abrede,  sondern  behauptete  nur,  dass  er  diese  griechischen 
Autoren  nur  aus  zweiter  Hand  gekannt  habe.  Als  Beweis 
führte  ich  an,  dass  Spinoza  nach  seinem  eigenen  Geständnisse  der 
griechischen  Sprache  nicht  vollkommen  mächtig  war;  charakte- 
ristisch schien  mir  ferner,  dass  er  den  bekannten  Ausspruch  des 
Aristoteles  von  Zoon  politikon  als  eine  Lehre  der  Scholastiker  be- 
zeichnet (tr.  pol.  II  §  13).  Der  Bestand  der  Bibliothek  Spinozas, 
welchen  ich  übrigens  zur  Zeit  meiner  Abhandlung  gar  nicht  kennen 
konnte,  zeigt,  dass  Plato  und  alle  griechischen  Autoreu  bis  auf 
Aristoteles  fehlen;    ob  es    sich  aber  hier  nicht    bloss    um  eine  la- 


1*;  Tr.  theol.  cap.  V. 

^*)  Aeusserung  Bayles  über  Spinoza  bei  Freudenthal,  S.  230. 


298  Ad.  Menzel,  Spinoza  und  die  Collegianten. 

teinische  Uebersetzuug  handelt,  kann  ich  nicht  bestimmt  angeben  ^^). 
Jedenfalls  finde  ich  nicht,  dass  der  politische  Tractat  von  Ari- 
stoteles' Politik  erheblich  beeinflusst  worden  sei. 

Ich  habe  ferner  nirgends  gesagt,  dass  Spinoza  seine  politischen 
Vorgänger  nicht  gekannt  habe.  Ich  wies  vielmehr  ausdrücklich 
auf  Hobbes  und  Machiavelli  hin  und  bemerkte  hinsichtlich  Grotius, 
dass  er  ihm  keine  Aufmerksamkeit  geschenkt  habe.  Das  halte  ich 
auch  vollständig  aufrecht,  denn  weder  das  sog.  Naturrecht  Spinozas 
noch  seine  Ansicht  über  das  Völkerrecht  zeigen  die  Spuren  des 
berühmten  Werkes  von  Grotius  „de  jure  belli  ac  pacis",  das  sich, 
nebenbei  bemerkt  auch  gar  nicht  in  der  nachgelassenen  Bibliothek 
Spinozas  vorfindet^'). 

Es  ist  richtig,  dass  unser  Philosoph  das  Citiren  nicht  liebt, 
und  dass  er  mehr  Literaturkenntnisse  besass,  als  davon  äusserlich 
hervortritt.  Es  fehlte  ihm  auch  nicht  an  geschichtlichen  Kennt- 
nissen. Allein  ich  habe  es  nur  als  unwahrscheinlich  bezeichnet, 
dass  Spinozas  Vertretung  der  absoluten  Demokratie  im  theol. 
Tractate  einen  geschichtlichen  Ursprung  hat,  da  er  die  bedeutendstQ 
Verkörperung  jener  Staatsform,  die  griechische  Demokratie,  mit 
keiner  Silbe  erwähnt. 

Wenn  schliesslich  (S.  29)  Herr  Meijer  erklärt,  dass  Spinoza, 
ohne  die  Geschichte  gering  zu  schätzen,  seine  Staatslehre  aufgebaut 
hat  aus  seiner  tiefen  Kenntniss  der  menschlichen  Natur  und  dem 
Wesen  der  Gesellschaft,  so  stimme  ich  ihm  gerne  zu.  Allein  da- 
mit ist  es  ganz  verträglich,  dass  er  sich  hinsichtlich  einzelner 
Postulate  der  Politik  von  seiner  Umgebung  und  seinen  Erfahrungen 
beeinflussen  Hess;  daraus  wird  ihm  kein  Verständiger  einen  Vor- 
wurf machen. 


16)  Es  heisst  bei  Freudenthal  S.  160  Mr.  12,  Aristoteles  1548  vol.  2.* 
Vgl.  auch  daselbst  S.  226  die  Aeusserung  des  Verlegers  Spino/as  über  seine 
mangelhafte  Kenntniss  des  Griechischen. 

'')  Nur  die  theologischen  und  kirchenrechtlicheu  Schriften  des  ..Vaters 
des  Naturrechts"  finden  sich  im  Inventar. 


XI. 


Frencli  Philosophy  in  the  Nineteentli  Century. 

With  Special  Refereuce  to  soine  Spiritualistic  Plülosophers 

by 
Dr.  Jauies  Ijindsay,  Kilmarnock. 

French  philosophy  in  the  uineteenth  ceutury,  while  making 
its  owu  all  rieh  material  like  that  furnished  by  Kaut  and  Hegel, 
has  not  failed  to  maintain  its  own  continuous  character  and 
distinctive  features.  Its  Cartesiau  spirit  has  been  as  clearly  mani- 
fest in  the  uineteenth  as  in  the  seventeenth  and  eighteenth  cen- 
turies.  A  dominant  spiritualism  pervaded  the  philosophy  of  the 
seventeenth  Century,  whereiu  speculative  reasou  had  finally  cast 
off  Scholasticism.  Materialism  and  Sensism  fouud  vogue  in  the 
eighteenth  Century.  The  philosophy  of  the  niueteenth  Century  in 
France  is  a  return  to  the  spiritualism  of  the  seventeenth  Century. 
In  the  first  half  of  the  uineteenth  ceutury,  philosophy  in  France 
was  largely  concerned  with  questions  of  social  reform  and  political 
philosophy.  These  were  often  courageously  and  suggestively  dealt 
with.  Philosophical  Traditionalism,  as  represented  by  De  Maistre 
and  De  Bonald,  Lamennais  and  Ballanche,  looked  on  the  critical 
spirit  as  one  of  dauger.  They  urged,  in  ways  extravagant  enough, 
Submission  to  the  Church.  Tradition,  authority,  and  social  life 
they  set  up  as  couuteractives  to  iudividualism  and  anarchy.  Saint 
Simon  proclaimed  a  collectivism  of  his  own,  and   the  need  for  a 


300  James  Lindsay, 

learned  and  skilful  clergy.  Fourier  propouuded  his  "phalausteries", 
and  dreamed  dreams  of  au  harmonious  society  whereiu  Organization 
should  beget  a  happiness  perfect  and  complete.  Then  came  Comte 
deuouncing  all  these  endeavours  as  vitiated  by  the  fact  that  an 
all-convinciug  social  science — a  science  of  practical  politics  — 
had  not  first  been  formulated.  It  was  on  the  heights  of  such 
positive  social  science  Comte  hoped  to  gain  a  view-point  which 
should  embrace  not  only  the  good  in  the  eighteenth  Century  phi- 
losophy,  as  handed"  on  by  Condorcet,  but  also  whatever  of  truth 
might  reside  in  it  after  the  damaging  assaults  of  De  Maistre  on 
its  negative  character.  Comte  thus  became  the  completer  of  Des- 
cartes,  who  had  done  so  much  to  fester  the  positive  spirit.  A 
rcforra  in  philosophic  method  was  the  fundamental  notion  of 
Positivism.  It  was  precisely  Comte  who  lirst  understood  the 
scientific  issues  and  realised  the  changed  conditions  of  philosophy. 
He  saw  that  philosophy  may  no  more  seclude  herseif  in  abstract 
thought,  and  construct  theories  to  which  facts  must  bend.  Comte, 
realising  the  proud  security  whence  the  positive  sciences  now 
scrutinize  the  results  of  speculative  philosophy,  makes  the  creation 
of  a  positive  social  science  constitute  the  fundamental  unity  of 
the  whole  philosophical  system.  The  conception  of  a  social  evo- 
lution — of  humanity  as  a  developing  organism — is  set  forth  by 
Comte  in  the  "Positive  Politics",  but  had  already  been  dimiy 
appreheuded  by  Condorcet.  The  historlc  evolution  set  forth  by 
Comte  is  in  marked  contrast  to  Hegel's,  sincc  it  is  external — an 
exterior  proccssion  in  fact — in  place  of  the  Hegelian  development 
of  spirit  from  vvithin.  A  positive  theory  of  knowledgo  could  not, 
in  his  vicw,  be  scparated  from  this  new  science  of  his,  with  its 
not  very  pleasing  name  of  Sociology. 

To  every  brauch  of  knowledge  he  would  apply  one  and  the 
same  method.  And  the  method  is  no  sooner  fouud  than  the  phi- 
losophy is  formed.  Now,  it  is  obvious  that,  in  treating  the  traus- 
ceudental  as  inaccessible  to  the  intellect,  Comte  made  his  system 
defective  and  incomplete.  Ile  saw  but  one  side  of  the  shield,  as 
Spencer  has  secn  the  other.  And  it  is  a  logical  weakness  to  treat 
humanity  as  an   organism   without  extending   the    organic  idea  to 


French  Philosophy  iu  the  Nineteenth  Century.  301 

the  medium  and  couditions  under  vvhich  the  social  life  of  humanity 
is  developed.  Man  or  miud  individual  Comte  would  coustrue 
through  humanity.  rather  than  humanity  through  individual  miud. 
The  individual  is  for  him  only  an  "abstraction",  and  exists  only 
through  universal  humanity.  Humanity  is  for  him  supreme  moral 
end,  but  he  certainly  unfolded  no  proper  and  universally  related 
moral  system.  Whatever  difficulties  may  atteud  the  pursuit  of 
an  absolute  philosophy,  these  we  certainly  prefer  to  a  system 
which,  like  that  of  Comte,  deceives  itself  as  to  what  is  divine, 
disbelieves  the  relatedness  of  the  universe  that  Stands  over  against 
man,  and  destroys  its  unity  by  treating  the  part  as  the  whole. 
Even  precursors  of  the  positive  philosophy,  like  Descartes  and 
Bacon,  were  not  able  to  resist  the  craving  for  an  "absolute" 
knowledgc.  Among  those  he  most  deeply  influenced  were  Littre 
and  Hippolyte  Taine.  Vain  and  preposterous  as  have  been  the 
attempts  to  take  Comte's  system  in  lieu  of  the  great  philosophies 
of  the  absolute,  these  attempts  derogate  not  from  the  highly 
meritorious  Services  Comte  rendered.  These  are  evidenced  by  the 
fact  that  over  the  broad  realms  of  philosophical,  historical,  and 
scientific  research,  the  spirit  of  his  doctrine  may  everywhere  be 
found  today  as  a  deep ,  pervasive  influence.  For  no  one  in  the 
Century,  perhaps,  may  be  so  truly  claimed  the  merit  of  having 
propounded  a  new  system  as  for  Comte. 

In  the  latter  half  of  the  nineteenth  Century,  philosophy  in 
France  presents  a  somewhat  striking  contrast  to  what  we  see  in 
the  flrst  half  of  the  Century.  This  is  in  respect  of  the  fact  that 
it  presents  no  school  so  dominating  and  centralising  in  influence 
as  Eclecticism  was  about  the  year  1830.  Novv  the  influence  of 
Kant  is  feit,  and  now  that  of  Leibniz  and  Schelling.  At  other 
times  evolutionary  tendencies  are  manifest,  due  to  the  theories  of 
Lamarck  and  Spencer,  while  at  yet  other  points  of  time  Comtean 
influences  come  into  view.    To  this  we  shall  return  later. 

It  was  as  succeeding  the  destructive  and  passionate  criticism 
of  the  eighteeuth  Century  that  Maine  de  Birau  became  one  of  the 
founders  of  Spiritualism  in  France.  Theirs  was  a  spiritualism 
becoming  enough,  no  doubt,    but    lacking    in    the  ferment    of  life. 


302  James  Lindsay, 

In  the  hands  of  Biran  and  Royer-Collard  it  soon  became  an  official 
spiritualism.  Maine  de  Biran  did  not  profess  to  find  the  absolute. 
He  kept  sure  foothold  on  experience.  He  distrusted  the  idea  of 
substance,  which,  in  the  philosophy  of  Descartes,  had  tended  to- 
wards  pantheism.  He  made  for  himself,  in  the  end,  a  kiud  of 
via  media  betvveen  Stoicism  and  Christianity.  The  former  he 
supposed  to  make  too  much  of  man's  will,  and  the  latter  too 
little. 

Maine  de  Biran  was  followed  by  his  devoted  disciple  Cousin, 
famed  for  his  wide  Eclecticism.  Other  founders  of  spiritualism 
were  such  disciples  of  Cousin  as  Jouffroy,  Saisset,  Vacherot,  Janet, 
Garnier.  Ravaisson,  Jules  Simon,  Damirou,  Franck,  and  brilliant 
essayists  like  Caro  and  Bersot.  Cousin's  method  is  eclectic,  but 
spiritualism  is  the  soul  of  his  System.  His  morality  is  exactly 
that  of  spiritualism,  mediate  and  traditional.  His  Eclecticism  was 
clearly  not  that  of  piecing  together  parts  of  other  Systems;  that  is 
just  what  it  was  not.  It  professed  to  base  itself  on  Observation 
and  induction,  to  arrive  at  unity  "solely  by  the  aid  of  the  ex- 
perimental  method".  Of  course,  this  method,  in  resting  on  Obser- 
vation that  is  complete,  will  include  the  truth  iu  other  and  less 
complete  Systems;  therefore  does  Cousin  choose  to  call  his  method 
eclectic.  So  his  Eclecticism  has  to  do  with  the  teachings  of 
historical  philosophy,  as  well  as  with  the  facts  of  consciousness. 
And,  as  matter  of  fact,  he  soon  brought  iuto  his  brilliant  teachiugs 
— for  he  was  the  most  influential  French  philosopher  of  the  Cen- 
tury— Clements  that  stood  in  irreconcilable  contradiction  to  each 
other.  The  truth  is,  he  was  unable  to  abide  faithful  to  his  own 
method,  and  to  carry  analysis  to  its  furthest  possibilities. 

Eclectic  spiritualism  waned  after  Cousin.  Even  Jouffroy,  with 
soul  athirst  for  certitude,  did  not  find  in  the  teachings  of  his 
master  perfect  satisfaction.  Joulfroy  made  man  the  centre  of  his 
philosophical  studies,  and  made  will  central  in  man.  Man  is  a 
free  force;  to  him  there  is  an  order  universal  and  impersonal  in 
God;  all  morality  for  him  consists  in  respect  for  this  universal 
Order.     The  psychology  of  Cousin  and  Jouffroy,  based  on  Observation 


Freuch  Philosophy  in  the  Nineteenth  Century.  303 

by  means  of  conscioiisness  and  reflection,  was  used  in  support  of 
a  spiritualistic  metaphysic. 

Yacherot  sat  loosely  to  Eclecticism,  and  was  not  afraid  to 
deal  with  the  metaphysical  problems  in  the  attempt  to  found  a 
new  spiritualistic  school.  The  idea  of  perfection,  the  conception 
of  the  infinite,  the  notion  of  the  ideal,  were  all  handled  by 
Vacherot,  who  held  perfection  to  be  incompatible  with  real 
existence.  Vacherot  had  a  spiritualistic  bent,  and,  after  Cousin, 
tended  to  give  au  ontological  turn  to  psychology.  It  has  been,  for 
him,  rather  uusympathetically  put  that  "the  idea  of  perfection  is 
God,  but  that  perfection  has  no  existence"'.  Caro  has  dealt  with 
Vacherot's  positions  in  severely  critical  fashion ,  leaving  him  only 
a  shadowy  deity — a  figment  of  the  imagination.  The  infinite  is, 
with  Vacherot,  simply  the  all — the  all  or  nothing.  The  deity  of 
Vacherot's  idealism  is,  when  developed,  merely  an  ideal  one:  he 
cleaves  to  the  notion  of  a  perfect  deity  who  does  not  really  exist, 
for  a  true  God  cannot,  with  him,  be  living  and  real!  Caro  contends, 
on  the  other  band,  that  a  God  who  does  not  exist  is  no  God  at 
all.  As  against  Vacherot's  conteution  that  he  yet  guards  the  ob- 
jective  reality  of  deity  as  perfectly  independent  of  the  mind,  Caro 
retorts  that  Vacherot's  God — as  the  Supreme  Ideal— is  a  purely 
abstract  and  subjective  conception,  the  mere  product  of  human 
reason,  the  pure  and  simple  result  of  our  own  intellectual 
Operations. 

Saisset  has  rendered  manifest  how  the  personality  of  God  is 
maintained  by  pautheism  always  and  only  at  the  expense  of  per- 
sonality in  man. 

Paul  Janet  has  been  a  steadfast  supporter  of  Eclecticism,  and 
has  laid  down  a  morality  which  is  a  Variation  on  the  motives  of 
Kantian  duty,  coupled  with  a  doctrine  of  final  causes. 

Damiron,  as  a  nioralist  of  the  school  of  Cousin,  rejected  a 
priori  every  System  that  did  not  comport  with  faith  in  the 
beautiful,  in  God,  and  in  the  future  life. 

From  various  sides  we  see  metaphysical  speculatiou  gradually 
asserting  itself  in  the  latter  half  of  the  Century  against  both 
Eclectic  and  Positivist  tendencies.     Ravaisson  sought  to  establish 


304  James  Lindsay, 

an  aesthetic  morality,  bascd  on  the  identity  of  the  good  with  the 
beautiful.  Influenced  by  AristoÜe,  Leibniz  and  Schelling,  hc 
shewed  philosophical  leanings  to  a  metaphysical  koowledge  in 
which  real  being,  or  the  absolute,  is  disclosed  by  an  Intuition  of 
the  reason.  By  such  disclosure  reason  becomes  linked  to  the  ab- 
solute as  true  principle  of  all  existence,   beauty,  and  knowledge. 

Again,  Secretan  took  up  for  the  raain  principle  of  his  philo- 

sophy  the  idea  of  God's    absolute   liberty,   and  founded  thereupon 

an  argument  for  liberty    in  man.     The    problems    of   evil    and  of 

divine  personality    did    not    escape    him.     But   his    pleadings    for 

liberty    constituted    his   deepest    influence    on    French   philosophic 

thought.      Under    Kantian    Inspiration,    teachings    like    those    of 

Lachelier    and    Boutroux     have    displaycd    idealistic    tendencies. 

Büutroux  has  set  forth  the  philosophy   of  contingeucy  with  great 

power,  and  made  his  influence  feit  beyond  the  bounds  of  France. 

This  is  a  form  of  philosophic  conception  with  which  the  twentieth 

Century  will  have  to  reckon.     Boutroux    takes    cognisance    of  the 

postulates  and  results    of   the  positive  sciences,    and    seeks    to  do 

füll  justice  to   reality.     Renouvior  is  at  oncc  Idealist  and  pheno- 

raenalist,    and    has  proved    an  able    philosopher.      Renouvier    has 

stood  out  as  severe  critic  of  eclectic  spiritualisra.    Hc  blames  its 

method— or  rather  its  lack   of  method— even   more  than  its  con- 

clusious,     Renouvier  postulates  a  beginning  for  the  world,   holds 

the  ascending  series    or  infinite  regress    of   causes  to  have    had  a 

first  term,  takes  liberty  and  contingency   to  pertain  to  the  world 

of  phenoraena,  and  thinks  man's  liberty  and  personality  capable  of 

being    critically    established.      For    Renouvier    is    nothing    if   not 

critical.     His  system  he  calls  "Criticisme".     It  leans    at  points  to 

Leibnizianism.      His  stand   for   individual  freedom   is   a  bold  one. 

Pantheism  and  fatalism   he  would  avoid  by  a   rigid   exclusion   of 

the  idea  of  substance.     Conscience  is  for  him  the  revelation  of  the 

absolute,  and  the  main  stress  of  his  ethical  teaching  lies  on  duty. 

This  form  of  Neo-Kantism    has    exerced  great  influence    for    good 

on  French  philosophic  thought,  under  Renouvier,  Brochard,  Pillon, 

and  Dauriac.     As  "Criticisme",  it  raay  bc  allowed  to  have  made, 


French  Philosophy  in  the  Nineteenth  Century.  305 

in  certain  critical  aspects,  an  advance  (as  idealistic  phenomenalism) 
on  the  older  metaphysics. 

Fouillee  has  propounded  a  System  of  philosophy  which  has  the 
great  merit  of  being  broad,  comprehensive,  and  consistent.  Its 
dominating  idea  is  that  of  the  idees-forces.  In  his  view,  an 
idea  is  not  a  mere  reproduction  or  representation  in  the  mind  of 
some  object  outside  itself,  but  is  at  the  same  time  a  force  working 
for  its  own  realisation.  In  this  way  ideas  are  real  factors  in  our 
mental  evolutiou,  for  they  condition  actual  changes  wrought  within 
US.  Not  only  so,  but  they  have  consequential  effects  on  the  vvorld 
without  US,  as  we  give  them  outlet  in  our  outward  actions.  The 
bold  and  striking  conception  of  Fouillee  is  that  the  idea  is  a  form 
of  volition  as  well  as  of  thought:  it  is,  on  his  precise  shewing, 
no  longer  a  form,  but  an  act,  couscious  of  its  own  direction, 
quality,  and  intensity.  We  see  what  an  important  law  is  thus 
suggested  by  his  idees-forces,  though,  of  course,  it  remains  to 
be  Seen  whether  it  will  prove  an  adequate  foundation  for  the  vast 
superstructure  he  has  sought  to  rear  thereupon.  It  is  on  this 
basis  Fouillee  tries  to  rear  a  monism  of  idees-forces  that  shall 
overpass  any  propounded  by  idealism  or  materalism.  For  critical 
skill,  constructive  power,  modernness  of  spirit,  and  metaphysical 
acumen,  the  philosophical  work  of  Fouillee  deserves  great  praise, 
whatever  may  by  its  final  appraisement.  He  has  shewn  a  most 
worthy  conception  of  philosophy  as  the  study  of  „reality  itself  both 
as  fact  and  consciousness"  —  reality  „not  immobile  and  as  if 
crystallised  in  the  past",  but  „in  the  process  of  becoming"  and 
determining  „the  future".  Fouillee  and  Renouvier  have  done 
more  than  any  other  thinkers,  in  the  latter  half  of  the  nineteenth 
Century,  for  philosophy  in  France,  Fouillee  by  his  idea-forces 
opposing  merely  mechanical  views  of  the  universe,  and  Renouvier 
opposing  the  unintelligible  as  being,  in  fact,  the  self-contradictory. 
Fouillee  rejects  the  philosophy  of  contingency,  which  Renouvier 
accepts.  Dauriac  also  has  ably  defended  contingency  against 
Fouillee's  attacks.  Hardly  behind  Fouillee  and  Renouvier  has 
been  Caro,  in  respect  of  his  brilliant  exposition  and  defence  of 
spirit ualistic    philosophy.      The    highest    problems    of    thought    he 


3Q6  James  Lindsay, 

confronted  and  treated  witli  a  rare  power  of  philosophical  polemic. 
Caro  is  a  striking  and  beautiful  philosophic  personality,  mamtaining 
his  positions  with  singuIar  skill,  lucidity,  and  grace.  These  po- 
sitions  ränge  theinsolves  round  such  subjects  as  God,  the  soul, 
the  future  life,  and  duty.  The  God  for  whom,  as  a  spiritualistic 
philosopher,  he  contends,  must  be  a  God  liviug,  intelligent,  and 
loving.  Only  such  a  God  carries  for  him  real  perfection — the 
perfection  ol'  thought  and  love.  Reason  is  able  to  conceive  such 
a  deity,  he  holds,  and  the  religious  conscieuce  can  approve  Him, 
not  blind  Necessity. 

Guyau  took  for  his  main  idea  that  of  life — life  as  a  prin- 
ciple  of  natural  power,  expansion,  and  fruitfulness.  He  strove  to 
shew  how,  in  tliis  vvay,  the  individual  and  the  social  points  of 
view  might  be  reconciled.  Guyau  possessed  great  depth  of  feeliug 
a,nd  charm  of  style.  That  able  and  distinguished  thinker,  Cournot, 
has  sought  to  base  his  philosophy  on  a  group  of  fundamental 
ideas  gleaned  from  tlie  various  sciences— such  ideas  as  order, 
chance,  probability.  He  seeks  not  certainties  in  liis  philosophy. 
Cournot' s  caution  and  freedom  from  dogmatic  certitude  have 
militated  against  the  power  and  prevaleuce  of  his  teachings.  His 
„infinite  probability"  is  in  striking  contrast  to  Comte. 

Having  completed  this  brief  review  of  French  philosophical 
developments  in  the  nineteenth  Century,  it  only  remains  to  be 
Said  that  the  official  philosophy  in  France  is  still  Eclecticism.  Its 
nearest  danger  is  that  of  being  content  to  teach.  Its  raost  serious 
lack  has  been  fruitful  development,  and  that  is  serious 
enough  for  a  philosophy.  An  eclectic  philosophy  that  shall  be 
coniprehensive  enough  for  this  time  must,  I  decidedly  think,  be 
one  that  shall  reconcile  and  do  justice,  in  its  vast  synthesis,  to 
those  three  great  philosophic  types,  or  fundamental  philosophic 
raethods,  represented  by  what  I  shall  call  Naturalism,  Rationalism, 
and  Moralism. 

Cartesianism  thought  to  solve  the  problem  of  the  uuiverse  by 
clearness  of  thought.  In  Opposition  to  Cartesianism,  the  sensa- 
tionalism  of  Condillac  thought  to  lind  all  the  knowledge  possible 
to  US  through  the   correct    Interpretation    of    our  seusations.     The 


French  Philosophy  in  the  Nineteenth  Century.  307 

moralism  or  Neo-Kantianism  of  Renouvier  teaches  the  supreme 
worth  of  conscience  and  its  revelations.  What  I  maintain  is,  that 
the  Eclecticism  of  France  must  find  room  to  do  justice  to  all  three 
spheres  or  types  of  reality:  1)  to  the  world  of  empiric  reality, 
mediated  through  the  senses;  2)  the  world  of  abstract  truth,  to 
which  we  are  brought  through  the  forms  and  processes  of  thought; 
3)  the  world  of  ideal  values,  revealed  to  us  in  the  imperatives 
of  conscience.  How  hard  it  is  to  get  the  justice  we  desiderate 
for  all  these  three  spheres  of  truth  or  reality,  the  history  of  philo- 
sophy is  a  Standing  witness.  Yet  an  Eclecticism  that  shall 
neglect  any  one  of  these  three  factors  is  instantly  open  to  damaging 
assaults  in  the  interests  of  the  neglected  factors.  The  weakness 
of  French  philosophy  in  the  nineteenth  Century  has  arisen  from 
its  bifurcated  movement — its  tendency  critical  and  its  tendency 
reconstructive.  And  not  only  so,  but  in  France,  as  elsewhere,  we 
find  at  the  close  of  the  nineteenth  Century,  philosophies  rather 
than  philosophy.  There  the  rieh  and  fruitful  results  of  the 
philosophical  specialists  await  some  unifying  power  or  process, 
whereby  the  lost  sense  of  totality  shall  be  brought  back  to  men's 
minds,  and  the  unity  of  knowledge  be  restored  in  a  rieh  and 
comprehensive  philosophy.  French  philosophy  of  the  future  raust, 
perforce,  partake  less  of  a  merely  national  character,  and 
more  form  part — like  other  national  philosophies — of  European 
philosophical  development.  To  that  development  it  has  already 
contributed  its  peculiar  share  of  clearness  of  idea,  lucidity  of 
expression,  precision  ofstatement,  positiveness  of  spirit,  fruitfulness 
of  method,  richness  of  principle,  acuteness  of  thought,  and  wealth 
of  System.  Perhaps  we  shall  await,  with  most  interest,  the 
fortunes  of  critical  idealism  and  the  philosophy  of  contingency 
in  France  during  the  twentieth  Century. 


XII. 

Die  Naturphilosopliie  vor  Sokrates. 

Von 
Prof.  Dl    Ernst  Chr.  Hch.  Peithmann. 

(Fortsetzung.) 

Alle  Berichte,  die  wir  über  Thaies  und  Anaxiraander  und 
Anaximenes  besitzen,  legen  ihnen  solche  Ausdrücke  in  den  Mund, 
wie  ^qveaOat,  cpOstpsaOai,  ^ivsaic,  cpOopot,  aTisipoi  xoaixot,  ap)(Y],  xiKoq 
XaßeTv,  teXsutt^,  -('Ivssi?  T0u8e  xou  y.6cs\iou,  ^Oapxov  xöv  xoatxov  '°*). 
Siebentens,  Plato  berichtet,  dass  alle  Philosophen  vor  Sokrates 
sich  mit  der  Frage  beschäftigen,  ou/;  ^lYvetcti  r^  aKÖkluxii  r^  isTt. 
oder  Sia  xi  ^qvsxai  ixotaxov  xal  oia  xi  «TroXXuxat  xat  oia  xl  saxi. 
Demnach  müssen  also  auch  wohl  die  Milesier  diese  Frage  nach 
dem  Entstehen  und  dem  Sein  und  Vergehen  erörtert  haben.  Da 
aber  Heraklit  als  der  erste  gelten  muss,  der  der  Lehre  vom 
Vergehen  und  der  Vernichtung  entgegentrat  und  den  Gedanken 
aussprach,  dass  „diese  Welt  immer  gewesen  ist  und  immer  sein 
wire",  so  können  wir  nur  annehmen,  dass  die  Milesier  noch  an 
der  Idee  des  Entstehens  und  Vergehens  der  Welt  und  aller  Dinge 
festhielten.  Achtens,  Aristoteles"")  giebt  uns  die  folgende  üeber- 
sicht  über  die  vorsok ratische  Philosophie.     Es  gab  grosse  Meinungs- 

1°*)  „Ritter  und  Preller",   unter  Thaies,    Anaximander  und  Anaximenes. 
*"=)  Arist.  II  411. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  309 

Verschiedenheiten  unter  den  alten  Philosophen,  die  sich  auf  die 
Frage  bezogen,  ob  etwas  ,,aus  nichts  entstehen"  könne  oder  nicht. 
Er  spricht  von  fünf  Hauptparteien.  1.  Eine  Partei  leugnet  jed- 
wedes „Entstehen  und  Vergehen";  keins  von  den  Dingen,  die 
„sind",  wird  geschaffen  oder  vernichtet,  sondern  es  scheint  nur  so. 
Zu  ihnen  gehört  Melissus,  Parmemides.  2.  Andere  (ÄpTrep  e-iTr^oi?) 
haben  gerade  die  entgegengesetzte  Ansicht.  Es  giebt  nämlich 
Leute,  die  behaupten,  dass  nicht  ein  Ding  „ungeschaffen"  (a^syr^Toc) 
ist,  sondern  dass  alle  Dinge  „ins  Dasein  kommen",  und  nachdem 
sie  „entstanden"  sind,  bleiben  einige  von  ihnen  unvergänglich, 
andere  vergehen  wieder.  Hierher  gehören  in  erster  Linie  Hesiod 
und  von  den  übrigen  diejenigen,  „die  zuerst  Naturphilo- 
sophie getrieben  haben".  3.  Eine  dritte  Klasse  hält  dafür, 
dass  alle  anderen  Dinge  entstehen  und  fliessen  und  nichts  be- 
ständig bleibt  und  dass  nur  ein  Ding  bleibt,  aus  dem  alle  anderen 
Dinge  auf  natürliche  Weise  verwandelt  werden.  Diese  Ansicht  ist 
vertreten  von  vielen  anderen  Männern,  aber  ihr  Anführer  ist 
Heraklit.  Ausserdem  giebt  es  noch  zwei  andere  Ansichten,  näm- 
lich 4.  Leute,  die  an  Entstehen  glauben,  aber  die  die  Dinge  aus 
Oberflächen  zusammensetzen  und  sie  wieder  in  Oberflächen  zer- 
legen. 5.  Die  Pythagoreer  sagen,  dass  die  Natur  der  Dinge  aus 
Zahlen  besteht.  Wenn  wir  hiernach  die  Pythagoreer  und  die 
Leute,  die  das  Flächensystem  vertraten,  aussondern,  so  haben  wir 
unter  den  eigentlichen  vorsokratischen  Philosophen  drei  grosse 
Klassen.  Die  Einen  glaubten  an  „Entstehen  (und  Vergehen)  aller 
Dinge  ohne  Ausnahme".  Dies  sind  Hesiod  und  die  ersten 
Naturphilosophen.  Die  Andern  stellen  dem  gegenüber  die 
schroffe  Lehre  auf,  dass  „nichts  entsteht  und  vergeht",  dass  also 
das  Weltall  ewig  ist.  Hierher  gehört  Parmeuides  und  Melissus. 
Die  Dritten,  mit  Heraklit  an  der  Spitze  und  einer  grossen  Anzahl 
von  Anhängern,  lehren,  dass  alle  anderen  Dinge  entstehen  und 
wechseln,  aber  dass  „Eins"  unvergänglich  und  ewig  ist  und  dass 
die  anderen  Dinge  aus  diesem  Einen  durch  Verwandlung  entstehen. 
Dies  scheint  genau  mit  unseren  Resultaten  zu  stimmen.  Wir 
haben  gefunden,  dass  auf  der  einen  Seite  Parmeuides  sagt,  dass 
das  Weltall  „immer  ist",  „ohne  Anfang  und  ohne  Ende";  Heraklit 

Archiv  f.  Qeachichte  d.  Philosophie.    XV.  3.  22 


310  Ernst  Chr.  Hch.  Peithmann, 

und  Empedokles  lehren  dagegen,  dass  die  einzelneu  Dinge  ent- 
stehen und  vergehen,  aber  dass  dieser  Wechsel  nur  eine  Verwand- 
lung in  neue  Formen  bedeutet.  Die  Frage  ist  nun:  wer  sind 
die  Männer,  die  an  Entstehung  (und  Vernichtung)  aller 
Dinge  glaubten?  Wen  hat  Aristoteles  im  Auge,  wenn  er  von 
den  „ersten  Naturphilosophen"  spricht?  Die  Pythagoreer  sind  aus- 
geschlossen. Es  bleiben  nur  die  drei  Milesier  übrig, 
namentlich  Anaxinander  und  Anaximenes.  Dass  diesen 
Männern  von  Aristoteles  in  seinem  Versuche,  die  ältesten  Philo- 
sophen nach  seiner  eigenen  Idee  von  der  afz/r,  zu  gruppiren,  eine 
falsche  Philosophie  untergeschoben  ist,  kann  keinem  Zweifel  unter- 
liegen. Aristoteles  und  Theophrast  sagen  uns,  dass  die  drei  ersten 
Philosophen  das  Princip  aller  Dinge  als  sv  xoCi  xivoufxsvov  bezeichnet 
haben.  Dies  kann  unmöglich  wahr  sein.  Aristoteles  selbst  sagt 
an  einer  andern  Stelle^'''*)  Xenophanes  habe  zuerst  die  Theo- 
rie von  ev  aufgestellt,  und  Heraklit  rühmt  sich  zum  ersten 
Male,  es  klar  gesehen  zu  haben,  dass  „alle  Dinge  eins  sind".  Und 
in  der  That,  die  Art  und  Weise,  wie  er  den  Beweis  dafür  zu 
bringen  sucht,  deutet  an,  dass  dies  wirklich  der  erste  primitive 
Versuch  gewesen  sein  muss.  Die  Philosophie  vor  Heraklit  und 
Xenophanes  muss  an  eine  Vielheit  von  Dingen  geglaubt  haben, 
die  nichts  mit  einander  zu  thun  haben.  Da  Heraklit  so  kühn  be- 
hauptet, dass  seine  Lehre  von  einer  ewigen  und  unvergänglichen 
Welt  etwas  absolut  Neues  ist,  etwas  nie  Dagewesenes,  müssen  wir 
unbedingt  annehmen,  dass  die  Männer  vor  ihm  alle  an  die  Ver- 
gänglichkeit der  Dinge  und  der  Welt  glaubten.  Wenn  aber  die 
vermeintliche  Lehre  der  Milesier  von  dem  fv  unhaltbar  ist  und 
weggeworfen  werden  muss,  so  ist  die  Frage,  was  sie  damit  meinten, 
wenn  sie  sagten,  die  Dinge  entständen  „aus"  dem  unendlichen 
Raum  und  „aus"  der  Luft.  Nach  Allem,  was  wir  von  der  Ent- 
wickelung  der  Philosophie  gelernt  haben,  können  sie  unmöglicher 
Weise  das  «Ttsipov  und  die  drjp  als  „Stoff"  angesehen  haben,  aus 
dem  die  Dinge  zusammengesetzt  sind  und  in  den  sie  sich  wieder 
auflösen.     Erst  nach   einem    langen  und   mühevollen  Kampfe  ent- 


»06)  Aristot.  II  476,32. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  ^W 

wickelte  sich  diese  Idee  der  sogenannten  uXr^  oder  uiroxst'fjisvov,  des 
allen  Dingen  zu  Grunde  liegenden  Stoft'es.  Da  die  Philosophen 
vor  Heraklit  und  Xenophones  behaupteten,  die  Dinge  entständen 
aus  dem  Nichts  und  verschwänden  wieder  ins  Nichts,  so  kann  der 
unendliche  Raum  (otTreipov)  und  die  Luft  (dr^p')  nur  örtlich  gefasst 
werden.  Anaximander  und  Anaximenes,  die  im  Grunde  dieselbe 
Philosophie  vertraten,  behaupteten  offenbar,  dass  die  Dinge  ins 
Dasein  kommen  und  dann  wieder  aus  dem  Dasein  verschwinden, 
sie  existiren  für  eine  Zeitlang,  um  dann  „nicht  mehr  zu  sein". 
Auf  die  natürliche  Frage,  „woher"  kommen  die  Dinge  denn,  gaben 
sie  die  Antwort,  aus  dem  unendlichen  Räume,  oder  was  dasselbe 
heisst,  aus  der  „Luft",  d.  h.  aus  dem  leeren  Raum  oder  dem 
Nichts. 

Was  aber  Thaies  anbelangt,  so  deuten  alle  Anzeichen  darauf 
hin,  dass  er  wahrscheinlich  nicht  der  Beginner  der  Philosophie  war. 
Alles,  was  die  ältesten  Geschichtsquellen  über  ihn  wissen,  bezieht 
sich  auf  seine  Gewandtheit  als  Ingenieur  und  seine  Klugheit  als 
Sternkundiger, 

1.  Herodot  erwähnt  in  seinem  Bericht  über  den  Krieg 
zwischen  den  Lydiern  und  Medern,  dass  eines  Tages,  als  die  beiden 
sich  gegenüber  liegenden  Heere  sich  eben  zum  Kampfe  anschicken 
wollten,  der  Tag  sich  plötzlich  in  Nacht  verwandelte.  Und  diese 
Verwandlung  des  Tages  in  Nacht  hatte  der  Milesier  Thaies  den 
Joniern  vorausprophezeit  und  hatte  auch  gerade  dieses  betreffende 
Jahr  als  Zeitpunkt  angegeben,  in  dem  das  Ereigniss  wirklich  statt- 
fand. Dies  ist  eine  der  glaubwürdigsten  Thatsachen,  die  wir  aus 
dem  Leben  des  Thaies  und  überhaupt  aus  der  Geschichte  der 
Milesischen  Wissenschaft  kennen.  Es  kann  nicht  daran  gezweifelt 
werden,  dass  Thaies  auf  seinen  Reisen  im  Orient  sich  hinreichend 
astronomische  Kenntnisse  gesammelt  hatte,  um  seinen  Landsleuteu 
vorauszusagen,  dass  in  einem  bestimmten  Jahre  eine  Sonnen- 
finsterniss  stattfinden  würde,  die  dann  auch  zufällig  eintrat  an 
jenem  denkwürdigen  Schlachttage.  Bei  einer  andern  Gelegenheit 
begleitete  Thaies  den  Krösus  -auf  seinem  Feldzuge  und  verrichtete 
ein  Werk,  das  zur  Zeit  des  Herodot  noch  nicht  aus  dem  Gedächt- 
niss  des  Volkes  verschwunden  war,  obwohl  Herodot  geneigt  ist,  die 

22* 


312  Erust  Chr.  Höh.  Peithmann, 

Richtigkeit  der  Tradition  auzuzweireln.  Thaies  maciite  es  Krösus 
und  seinem  Heere  möglich,  den  Halysfluss  ohne  Brücke  zu  über- 
schreiten, indem  er  den  Fluss,  der  zuerst  zur  Rechten  des  Heeres 
floss,  herumlenkte  zur  linken  Seite.  Ausserdem  war  Thaies  zu- 
gegen auf  einer  Versammlung,  die  von  den  Jonischen  Städten 
unter  dem  Joch  des  Cyrus  veranstaltet  wurde.  Nachdem  Blas  von 
Priene  zugerathen  hatte,  aufzubrechen  und  eine  Panjonische  Kolonie 
auf  der  reichen  und  schönen  Insel  Sizilien  zu  gründen,  trat  Thaies 
hervor  mit  dem  Rathschlagc,  dass  die  Jonier  einen  Bundesrath 
gründen  sollten,  der  seinen  Sitz  in  Teos  haben  sollte.  Hier  wird 
auch  nicht  im  Geringsten  etwas  von  der  vermeintlichen  Philosophie 
des  Thaies  augedeutet.  Er  ist  einfach  ein  Mann  von  praktischer 
Gewandtheit,  ein  geschickter  Ingenieur  und  ein  kluger  Rathgeber, 
der  zu  gleicher  Zeit  auf  seinen  Reisen  die  Astronomie  kennen  ge- 
lernt hatte.  2.  Piaton  entwirft  genau  dasselbe  Bild  von  Thaies. 
Er  weiss  nichts  von  seiner  Philosophie  zu  erzählen,  wie  wir  schon 
oben  gesellen  haben.  Thaies  ist  einfach  einer  der  sieben  weisen 
Männer,  hochgebildet,  bewandert  in  allerlei  Weisheit  und  Künsten, 
ein  Freund  des  Periander  von  Korinth.  Ausserdem  berichtet  er 
die  bekannte  Anekdote,  dass  er  einst  die  Sterne  beobachtete  und 
aus  Unachtsamkeit  in  eine  Grube  fiel,  worauf  eine  Thrakische 
Magd  die  Bemerkung  machte,  dass  er  sich  um  entfernte  Dinge 
mehr  bekümmere,  als  um  die  Dinge  vor  seinen  Augen  und  Füssen. 
Einmal  spricht  er  im  Allgemeinen  von  Thaies  und  seinen  Genossen 
als  Männern,  deren  Namen  berühmt  sind  „wegen  ihrer  Weisheit". 
3.  Heraklit  hat  in  seiner  Schrift  für  Thaies  Zeugniss  abgelegt, 
obwohl  er  die  übrigen  Milesier  mit  Stillschweigen  übergeht.  Er- 
klärt sich  dies  vielleicht  daraus,  dass  Heraklit  seine  Landsleute, 
deren  Theorie  er  angreift,  nicht  mit  Namen  nennen  wollte,  aber 
doch  Thaies  namhaft  machen  konnte,  weil  er  ja  nicht  zu  jener 
Gruppe  von  Philosophen  gehörte?  4.  Auch  Diogenes  Laertius, 
der  den  Thaies  unter  die  sieben  weisen  Männer  rechnet,  behauptet, 
dass  alle  diese  Leute  weder  Weise  noch  Philosophen  waren.  Er 
lässt  die  Philosophie  ihren  Anfang  nehmen  mit  Anaximander  und 
Anaximenes,  an  die  sich  die  zwei  Schulen  der  Jonischen  und 
italischen    Philosophen    anschliessen.      5.    Alle    Tradition    schreibt 


Die  Naturphilosophie  vor  Sökrates.  313 

dem  Thaies  nur  Bücher  über  Astronomie  und  Geometrie  zu  und 
lässt  den  Anaximander  zum  ersten  Male  ein  Buch  irspi  cp'jasw? 
schreiben. 

Aristoteles  scheint  demnach  der  erste  zu  sein,  der  aus 
Thaies  einen  Philosophen  machte.  In  seinem  Kopfe  scheint  die 
verhängnissvolle  Lehre  vom  Wasser  als  dem  Urgründe  der  Dinge 
entstanden  zu  sein.  Aber  er  weiss  nichts  Bestimmtes  über  die 
Philosophie  des  Thaies.  Er  hat  einige  kurze  Aussprüche  des  Thaies 
durch  Hörensagen  erfahren  und  baut  dann  auf  diesem  sandigen 
Boden  der  Ueberlieferung  ein  ganzes  Gebäude  von  Vermuthungen 
und  phantasievollen  Schlüssen.  Alles,  worauf  er  die  berühmte 
„Wassertheorie"  des  Thaies  gründet,  ist  der  von  Thaies  über- 
lieferte Satz,  „dass  die  Erde  auf  dem  Wasser  schwimme".  Aber 
das  heisst  doch  ein  bischen  zu  viel  „schliessen"!  Die  ganze 
Ausdrucksweise  des  Aristoteles  deutet  unzweifelhaft  an,  dass  er 
nicht  hinreichend  unterrichtet  war  von  der  Philosophie  der  ^lilesier, 
um  uns  ein  einigermassen  glaubwürdiges  Bild  davon  zu  entwerfen. 
Und  wenn  er  die  Schriften  des  Heraklit  und  Parmenides,  die 
offenbar  im  Alterthum  viel  weiter  verbreitet  waren,  als  die  des 
Anaximander  und  Anaximenes  und  Thaies,  so  völlig  missverstand, 
so  müssen  wir  doppelt  auf  der  Hut  sein,  wenn  er  uns  eine  Aus- 
legung der  ältesten  Philosophen  bietet.  Wir  können  demnach  den 
Thaies  getrost  von  der  Liste  der  Philosophen  streichen  und  ihm 
seinen  alten  Platz  unter  den  sieben  Weisen  wieder  anweisen, 
ohne  damit  seinem  Ruhm  und  seinem  Ansehen  irgendwie  zu 
schaden. 

Wir  kommen  daher  zu  dem  folgenden  Resultat.  Die  Milesier 
suchten  nicht  die  Frage  zu  beantworten:  Was  ist  der  L'rgrund 
aller  Dinge?  Sie  glaubten  sammt  Hesiod  und  den  anderen  Dichtern, 
dass  die  Dinge  „ins  Dasein  kommen"  und  wieder  „aus  dem  Dasein 
verschwinden"  und  stellten  daher  die  Frage:  Woher  kommen  die 
Dinge?  Anaximander,  der  erste  Vertreter  der  Philosophie,  sagte, 
die  Welten  und  alle  Dinge  darin  entstehen  aus  dem  unendlichen 
leeren  Räume  (xö  aireipov);  Anaximenes,  der  ein  treuer  Schüler 
des  Anaximander  war,    nannte    es  Luft,    aber    meinte  im  Grunde 


314  Ernst  Chr.  Hch.  Peithmann, 

dasselbe.     Es  kaun  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  diese  Männer 
an    ein    absolutes    Entstehen    und    absolutes    Vergehen    glaubten. 
Aristoteles  machte  freilich  dem  Anaximander  den  Vorwurf,  dass  er 
unnöthigerweise     den     materiellen    Körper     der    Welt     unendlich 
nennt,    da  ja    die  Vernichtung    des    einen  Dinges  die  Entstehung 
eines    andern    sein    könne.     Aber    abgesehen  von   der  fälschlichen 
Auffassung  vom  ocTieipov  hat  Aristoteles  hier  aus  den  Augen  gelassen, 
dass  die  ersten  Philosophen  und  Dichter  ja  glaubten,    dass  „alles 
entstanden"  ist  „aus  nichts"  und  die  Dinge  daher  auch  wieder  ins 
Nichts  sich  auflösen,  ausgenommen  die  wenigen,  die  unvergänglich 
bleiben.     Diese  Leute    konnten   daher  unmöglich  annehmen,    dass 
das  Entstehen    des    einen  Dinges    das  Vergehen    des    andern   sein 
könnte.     Und    Heraklitus    war    offenbar    der  Allererste,    der    den 
grossartigen    Gedanken    aussprach,    dass    „ein   Ding    den  Tod    des 
andern    lebt".      Die    Ausdrücke    döavaxo?    und    avwXsOpo;    gehen 
sicherlich    nicht    bis    auf  Anaximander  zurück,   wie  Aristoteles  in 
jenem  allgemeinen  Satze  von  den  Physiologen  behauptet.     Das  Iv 
xotl    xivo6{i.evov    verträgt    sich    unter    keinen    Umständen    mit    den 
ccTTSipot  y.oaiAOi,  deren  „Schöpfung  und  Vernichtung  sich  abwechselt 
von  Ewigkeit    zu  Ewigkeit".     Die  Lehre   von   der  o\r^  als  dem  zu 
Grunde  liegenden  und   bleibenden  Stoffe  für  alle  Dinge  entwickelte 
sich  allmählich  später  und  bildete  zuletzt  ein  Haupttheil  der  Lehre 
des  Aristoteles.     Im  Heraklit    wird    zum  ersten    Male  in    anderer 
Weise  darauf  hingedeutet.     Aber  die  ersten  Männer,  die  über  den 
Prozess    des    Entstehens    und   Vergehens    (irspi  ouatoi^)    schrieben, 
hatten  keine  Vorstellung  von  dieser  GXrj. 

8.  Rückblick. 

Das  Bild,  dass  wir  also  aus  den  Fragmenten  des  Heraklit  und 
Parmenides  und  Empedokles  gewinnen,  ist  das  folgende:  1.  Vor 
Parmenides  und  Heraklit  war  es  vermuthlich  die  allgemeine  An- 
schauung der  Dichter  und  Denker,  dass  die  Welt  nicht  von  Bestand 
ist.  Die  Dinge  entstehen  aus  nichts  und  vergehen  wieder  in 
nichts.  Nicht  nur  die  Pflanzen  und  Thiere  und  Menschen  haben 
nur  eine  vorübergehende  Existenz,  um  dann  wieder  ins  „Nichtsein" 
zurückzukehren,  sondern  das  ganze  Weltgebäude  mit  dem  Sonnen- 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  315 

körper  UDd  runden  Monde  und  den  Schaaren  von  Sternen  muss 
eine  Beute  der  zerstörenden  Zeit  werden.  Alles  muss  sterben;  was 
da  lebet,  muss  verderben!  Auch  Anaximander  und  Anaximenes 
haben  sich  vermuthlich  dieser  Ansicht  angeschlossen.  Aber  sie 
ersetzten  die  phantasievollen  mythischen  Berichte  der  Dichter  von 
der  Entstehung  der  Götter  und  der  Welt  durch  eine  nackte  vernunft- 
gemässe  Annahme,  dass  die  Dinge  einfach  aus  dem  leeren  Raum 
kommen,  den  wir  Luft  oder  „das  grenzenlose  Blau"  nennen. 
Anaximander  und  Anaximenes  gehören  also  in  einem  gewissen 
Sinne  zu  der  naiven  Periode  der  griechischen  Vorstellung,  in 
welcher  die  Leute  die  kindliche  Anschauung  haben,  dass  die  Dinge, 
die  ins  Leben  treten,  auf  wunderbare  Weise  „geschaffen"  werden. 
Erst  mit  Heraklit  beginnt  die  eigentliche  Philosophie,  in  der  als 
erstes  Princip  die  Unzerstörbarkeit  des  Weltgebäudes  nach 
Wesen  und  Substanz  aufgestellt  wird. 

Es  war  die  ausgesprochene  Absicht  des  Parmenides'°')  und 
Erapedokles'"^),  den  Glauben  an  ein  Entstehen  und  Vergehen  von 
Dingen  für  immer  „auszulöschen"  und  „aus  der  Welt  zu  verbannen", 
nachdem  Heraklit  zum  ersten  Male  das  Signal  zum  Angriffe  ge- 
geben hatte.  Parmenides  legte  seinen  Finger  auf  das  „Eins"  des 
Heraklit  und  sagte:  Hier  ist  die  Lösung  des  Rätsels.  Alles,  was 
ist,  ist  „ein"  lebendes  Wesen.  Es  giebt  nicht  „mehrere  Dinge"^^ 
wie  alle  Leute  vor  dem  Heraklit  geglaubt  hatten.  Es  giebt  nur 
„ein"  Ding:  das  ist  die  Welt.  Dass  Parmenides  unter  seinem 
„einen  Ding"  das  Weltall  verstand,  wird  klar  aus  Empedokles,  der 
es  ersetzt  durch  „eine  Welt"  (af?  xosij.oc).  Dieses  eine  grosse 
Wesen  ist  ohne  Anfang  und  Ende.  Es  muss  immer  gewesen  sein 
oder  besser  „es  ist"  im  uneingeschränkten  Sinne.  Was  dies  „es 
ist"  bedeutet,  wird  uns  wieder  klar  aus  der  Schrift  des  Empedokles, 
der  es  für  gleichbedeutend  erklärt  mit  „es  ist  immer".  Parmenides 
hat  demnach  nicht  eine  neue  Philosophie  vom  „Sein  und  Nicht- 
sein" aufgebracht.  Die  Philosophie  vom  „Nichtsein"  war  eine 
uralte,    schon  vom  Heraklit  angegriffene  Lehre.     Parmenides  setzt 


"»O  Parm.  69,  70,  77,  83,  84. 

108)  Emped.  98,  99,  110,  111,  114—118. 


316  Ernst  Chr.  Hch.  Peithmann, 

au  die  Stelle  der  Theorie  vom  Nichtsein  seine  neue  Theorie  vom 
„Sein".  Man  muss  wählen,  sagt  er,  zwischen  dem  Sein  und  dem 
Nichtsein.  Beides  lässt  sich  nicht  vereinigen,  wie  Heraklit  gethan 
hatte.  Wenn  Etwas  nicht  ist,  so  kann  es  nie  ins  Dasein  kommen 
und  wenn  Etwas  ist,  so  kann  es  nie  das  Dasein  verlassen  und  an- 
fangen „nicht  zu  sein".  Für  das,  „was  ist",  giebt  es  also  „kein 
Nichtsein".  Dies  ist  also  in  wenigen  Worten  seine  Lehre,  „dass 
das  Weltall  ist  und  dass  es  unmöglich  für  dasselbe  ist,  nicht  zu 
sein".  Diese  Philosophie  ist  klar  und  einfach  und  eines  grossen 
Mannes,  wie  des  Parmenides,  würdig.  Wenn  Parmenides  wirklich 
eine  so  imponirende  Gestalt  und  ein  so  philosophischer  Kopf  war, 
wie  Piaton  uns  versichert,  so  kann  er  nicht  jene  unverständliche 
Theorie  vom  abstracten  Sein  und  Nichtsein  vertreten  haben,  die 
die  neueren  Geschichtsschreiber  ihm  unterschieben  wollen.  Wir 
können  nur  annehmen,  dass  er  Gedanken  ausgesprochen  hat,  die 
einen  vernünftigen  Sinn  haben. 

So  haben  wir  denn  zuerst  diese  beiden  sich  schnurstracks 
widersprechenden  Ansichten  vom  „Nichtsein"  auf  der  einen 
Seite,  vertreten  von  den  Dichtern  und  ältesten  Philosophen  und 
vom  absoluten  „unveränderlichen  Sein"  auf  der  andern  Seite, 
vertreten  in  erster  Linie  von  Parmenides.  Aber  dazwischen  giebt 
es  eine  Vermittelungsphilosophie,  zuerst  aufgestellt  von 
Heraklit  und  in  glänzendster  Weise  vervollkommnet  und  vollendet 
von  Empedokles.  Beide  behaupten,  dass  eine  Seite  der  Welt 
„vergänglich"  ist  und  ein  anderer  Theil  „unvergänglich".  Der 
vergängliche  Theil  der  Welt  wird  dargestellt  durch  die  einzelnen 
sterblichen  Dinge:  sie  entstehen  und  vergehen,  soweit  es  sich  um 
ihre  vorübergehende  Erscheinung  handelt.  Aber  das  Feuer,  das 
in  ihnen  Gestalt  gewinnt,  oder  die  vier  Grundelemente,  aus  dem 
sie  zusammengesetzt  sind,  kennen  keinen  Tod:  denn  sie  sind 
immer  gewesen  und  werden  immer  sein.  So  sind  denn  die  Dinge 
zugleich  sterblich  und  unsterblich.  Sie  entstehen  und  vergehen 
im  Sinne  der  Orts-  und  Formveränderung;  aber  die  alte  Vor- 
stellung der  absoluten  Schöpfung  und  Vernichtung  ist  ein  Ding 
der  Unmöglichkeit. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates. 


317 


Die     ursprüngliche     Philosophie     von    Vernichtung    der 
Dinge  ist  dargestellt  in  den  folgenden  Ausdrücken: 


2.    Bei 

Parmenides. 

Allles 
entsteht 
entsteht  aus 

das  Seiende 

(ist) 

vergeht 

das  Nichtseiende 

ist  nicht 

es  ist  noth  wendig, 

Entstehung 
Anfang 
Erschaffung 
Werden 

Verrichtung 

dass  es  nicht  sei 

es  entstand 

sein 

es  ist  jetzt 

es  wird  sterben 

nicht  sein 

2.    Bei  Empedokles. 


es  entsteht 

es  hört  auf 

Entstehung 

verhängnissvoller 
Tod 

Erschaffung 

Ende 

das  Nichtseiende 

das  Seiende 

wird  vernichtet 

entsteht 

stirbt 

wird  vermehrt 

vergeht 

wird    gänzlich    ver- 
nichtet 

Leben 

unglücklicher  Tod 

die  Dinge 

entstehen 

leben 

werden  gänzlich 
vernichtet 

sind  nicht 

sind 

sind  nichts 

war  nicht 
entsteht 


lebend 
leben 


3.    Bei  Heraklit. 


vergeht 
sterben 


das  Leben 
wir  sind 


ist  nicht    immer 
wird  nicht  sein 

gestorben 

die  Toten 
der  Tod 

wir  werden  nicht 
mehr  sein 


Die  Geschichte  dieses  Weltalls  ist  also,  wie  folgt:  Die  Welt 
1)  war  nicht,  2)  entstand,  3)  ist,  4)  wird  vergehen,  5)  wird  nicht 
mehr  sein.  Und  so  kann  man  von  jedem  einzelnen  Dinge  wie 
auch  von  der  Welt  im  Grossen   sagen:   1)  es  ist  nicht,  2)  es  ent- 


318  Ernst  Chr.  Hch.  Peithmann, 

steht,  3)  es  ist,  4)  es  vergeht,  5)  es  ist  nicht.  Parmenides  sagt 
nun,  wir  müssen  die  ersten  beiden  und  die  letzten  beiden  Aus- 
drücke in  dieser  Entwickelungsreihe  streichen  und  einfach  sagen: 
„es  ist",  d.  h.  „es  ist  immer".  Die  Ausdrücke  „es  ist  nicht", 
„es  entsteht",  „es  vergeht"  geben  keinen  Sinn.  Denn  wie  kann 
etwas  entstehen,  das  nicht  ist,  oder  wie  kann  etwas  vergehen,  das 
ist.  Man  kann  von  der  Welt  nur  sagen,  dass  sie  „immer  ist", 
sie  ist  nie  entstanden  und  wird  nie  vergehen,  die  Zeit  wird  daher 
nie  kommen,  in  der  sie  „nicht  ist". 

Heraklit  und  Empedokles  sagen,  die  ersten  beiden  und  letzten 
beiden  Ausdrücke  beziehen  sich  nur  auf  die  wechselnde  und  vor- 
übergehende Seite  des  AVeltalls,  nämlich  die  Einzelerscheinungen. 
Aber  das  „ist"  zusammen  mit  dem  „war"  und  „wird  sein"  be- 
zieht sich  auf  die  Welt  als  ein  Ganzes  genommen. 

9.    Anhänger  des  Parmenides. 

Bevor  wir  jetzt  weitergehen  zu  den  nächsten  grossen  Denkern, 
nämlich  Anaxagoras,  Diogenes  und  Demokrit  müssen  wir  einen 
kurzen  Blick  werfen  auf  die  beiden  Männer,  die  an  der  schroffen 
und  einseitigen  Philosophie  des  Parmenides  fest  zu  halten  suchten. 
Es  ist  Melissus  "'^)  und  Zenon'^").  Melissus  giebt  wenig  neue 
Gedanken.  Er  giebt  einfach  eine  Exegese  in  Prosa  zum  Gedichte 
des  grossen  Meisters.  Wo  er  versucht,  Zusätze,  oder  Verände- 
änderungen  zu  machen,  bezeichnet  seine  Philosophie  eher  einen 
Rückgang  als  Fortschritt.  Er  giebt  eine  musterhafte  Erklärung 
von  dem  ov  und  .u-i)  ov  des  Parmenides,  indem  er  sagt:  6  -/dp  xosixo? 
0  TTjioailsv  £(i)v  oüx  d-oXXuxat  oute  6  [xt]  iojy  '/ivstai.  Der  Ausdruck 
6  xoouo;  6  lojv  ist  offenbar  gleichbedeutend  mit  dem  tö  ov  (oder 
TÖ  £v  ov)  des  Parmenides  und  das  6  x6a[j.oc  6  [irj  iwv  entspricht 
dem  urj  ov  des  Parmenides:  „was  ist"  und  was  „nicht  ist",  oder 
„Dinge,  die  sind"  und  „Dinge  die  nicht  sind".  Der  Ausdruck 
xoa|xo;    beweist    zur   Genüge    (vergleiche    auch    das    eis  sva  xoafiov 


109)  I,  261. 
"0)  I,  269. 
"')  Mullach  I,  263,  §  12. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrales.  319 

des  Empedokles),  dass  Parmenides  nicht  von  abstrakten  Begriffen 
redete,  sondern  von  dieser  unserer  Welt,  in  der  wir  leben 
und  athmen.  Melissus  giebt  uns  auch  neue  Beweise  dafür,  dass 
das  saii  des  Parmenides  gleichbedeutend  ist  mit  dem  dsl  ia-i  des 
Empedokles,  Was  ist  und  wenn  irgend  was  ist,  so  ist  es  entweder 
entstanden,  oder  ist  immer.  Wenn  es  nun  entstanden  ist,  wie 
gewisse  Leute  zu  behaupten  scheinen,  so  ist  es  entweder  „aus  etwas" 
entstanden,  was  „ist"  (ec  eovxo;  oder  aus  dem,  was  nicht  ist,  aus 
dem  Nichtseienden  (sx  [xtj  sovto?).  Beides  ist  ein  Ding  der  Un- 
möglichkeit. Daher  kann  das,  was  ist,  nicht  entstanden  sein. 
Aber  es  kann  auch  nicht  wieder  vernichtet  werden,  wie  behauptet 
wird.  Denn  das,  was  ist,  kann  sich  nicht  verwandeln  in  etwas, 
das  nicht  ist:  und  die  Leute,  die  diese  Ansicht  irrthümlicher  Weise 
vertreten,  müssen  ihren  Irrthum  einsehen,  nämlich  die  „Physiker", 
Aber  es  kann  sich  auch  nicht  in  etwas  anderes  verwandeln,  das 
ist,  denn  dann  bliebe  es  ja  und  würde  nicht  vernichtet.  Daher  ist 
das,  was  ist,  weder  entstanden  noch  wird  es  vernichtet  werden 
können  oder  vergehen:  es  „war  also  immer  und  wird  immer 
sein""^).  Dies  ist  genau  die  Philosophie  des  Parmenides,  ausge- 
nommen dass  der  letztere  das  r^v  und  sa-cci,  das  vom  Heraklit  zu- 
erst ausgesprochen  war,  nicht  gelten  lassen  wollte,  sondern  sich 
einfach  auf  das  satt  (oder  vuv  ia-i  ouou  Ttav)  beschränkte.  Me- 
lissus fährt  dann  fort  in  umständlichster  Weise  die  übrigen  Sätze 
des  Parmenides  als  unbedingt  wahr  zu  beweisen,  dass  das  was 
wirklich  „ist",  auch  „keinen  Anfang  und  kein  Ende  nehmen 
kann";  dass  es  „unbeweglich"  ist  und  „sich  immer  gleich  bleibt", 
dass  es  sich  nicht  verdichten  und  ausdehnen  kann  (Heraklit!); 
dass  es  sich  überhaupt  nicht  verändert  (Heraklit!). 

Wir  haben  nicht  nöthig,  näher  auf  die  Einzelheiten  einzu- 
gehen, da  er  fast  durchschnittlich  nur  die  Ideen  des  Parmenides 
wiederholt.  In  einigen  Punkten  dagegen  weicht  Melissus  in  zweifel- 
hafter Weise  von  seinem  Meister  ab.  So  sagt  er  z.  B.,  dass  das, 
was  keinen  Anfang  und  kein  Ende  hat,  „unbegrenzt"  oder  „un- 
endlich" ist.     Abgesehen  davon,    dass  er  die  Worte  „Anfang  und 


112' 


)  Melissus  §  1. 


320  Ernst  Chr.  Hch.  Peithmann, 

Ende"  hier  in  einem  andern  Sinne  gebraucht  als  vorher  und  sich 
somit  der  Zweideutigkeit  schuldig  macht,  ist  diese  Ansicht  der 
Lehre  des  Parmenides  diametral  entgegengesetzt.  Dieser  sprach  es 
klar  und  deutlich  aus,  dass  das,  was  ist,  oder  die  Welt,  einer 
runden  Kugel  gleicht  und  von  allen  Seiten  „begrenzt"  ist.  Dann 
geht  Melissus  auch  sogar  zu  der  Behauptung  über,  dass  es  noth- 
wendiger  Weise  keinen  Körper  haben  kann,  wenn  es  wirklich  eins 
ist.  Dass  dies  uicht  mit  der  Lehre  des  Parmenides  stimmt,  unterliegt 
kaum  einem  Zweifel.  Ob  es  sich  mit  6  xooriirj^  6  ewv,  einem 
Ausdruck,  der  ihm  gerade  vorausgeht,  verträgt,  ist  ebenfalls  eine 
grosse  Frage.  Wir  stossen  hier  unzweifelhaft  auf  etwas,  das  der 
ältesten  Phihosophie  fremd  ist  und  sehr  nach  einer  späteren  Zeit 
schmeckt.  Aber  es  ist  fast  unmöglich,  zu  entscheiden,  wie  weit 
wir  in  den  Fragmenten  des  Melissus  den  unverfälschten  Text 
haben  und  in  wie  weit  spätere  Ideen  von  den  Abschreibern  ein- 
geschachtelt sind.  Auch  der  Satz  xou  "/ap  eovxo;  aX-/jötvo5  xpsaaov 
ouSsv  macht  uns  stutzig.  Ohne  diese  nebensächlichen  Fragen  zu 
berücksichtigen,  können  w'ir  zu  dem  folgenden  Resultat  kommen. 
Melissus  spricht  von  einer  Gruppe  von  Männern,  genannt  oi 
(poaixot,  die  scheinbar  die  Lehre  vertheidigen,  dass  „das,  was  ist", 
ein  „Entstehen  und  Vergehen",  einen  „Anfang  und  ein  Ende"  hat 
und  genauer  ausgesprochen,  dass  die  Dinge  „aus  dem  Nichts  ent- 
stehen und  ins  Nichts  wieder  vergehen".  Demgegenüber  hält 
Melissus  daran  fest,  dass  „das  was  ist,  immer  ist"  oder,  wenn 
man  will,  „immer  war  und  immer  sein  wird":  dass  eine  Welt, 
die  früher  einmal  „nicht  war",  nie  ins  Dasein  kommen  kann  und 
dass  die  Welt,  die  ist,  nie  vergehen  kann.  Die  Welt  ist  daher 
unvergänglich  und  unbeweglich.  In  zweiter  Linie  wiederlegt  Me- 
lissus die  Ansicht  derer,  die  Veränderungen  in  dieser  Welt  vor 
sich  gehen  lassen,  die  von  „Zusammenschiebung  und  Ausdehnung", 
von  einer  „Verdichtung  und  Verdünnung"  reden.  Eine  solche 
Veränderung  ist  unmöglich,  da  die  ganze  Welt  gleichmässig  ange- 
füllt ist  und  es  also  keinen  leeren  Raum  giebt,  indem  sich  die 
Dinge  bewegen  könnten.  Dieser  zweite  Angriff  scheint  gegen 
Heraklit  und  seine  Anhänger"^)  gerichtet  zu  sein. 

"^)  Cf.  Hippocrates  Ttepl  otairrj;  iu  Bywaters  Heraklit. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  321 

Es  bleibt  uns  jetzt  noch  übrig  einige  Bemerkungen  über 
Zenon  hinzuzufügen.  Zenon  behandelt  nicht  die  Frage  nach  dem 
Ursprünge  und  dem  Schicksal  der  Welt,  sondern  er  will  durch 
Beispiele  beweisen,  dass  man  unmöglich  die  Welt  als  eine  Vielheit 
ansehen  oder  eine  Bewegung  darin  zugeben  kann.  Die  Wider- 
sprüche, in  die  man  geräth,  wenn  man  annimmt,  dass  die  Welt 
aus  Theilen  besteht  und  sich  bewegt,  oder  auch  dass  die  einzelnen 
Dinge  aus  Theilen  bestehen  und  sich  bewegen  —  diese  Wider- 
sprüche beweisen  deutlich,  dass  die  Welt  „eines"  und  „un- 
beweglich" ist,  dass  also  nicht  die  geringste  Veränderung  in  der 
Form  und  Lage  der  Dinge  stattlindet.  Das  ist  der  Zweck  seines 
Gesprächs  mit  Protagoras  über  das  Geräusch,  das  ein  Scheffel 
oder  ein  Korn  macht,  oder  des  Widerspruchs  von  der  unendlichen 
Theilbarkeit  der  Körper  und  von  der  Idee  des  Raums.  Ausserdem 
bringt  er  vier  Beweise  für  die  Unbeweglichkeit  der  Dinge:  1)  die 
Körper  die  sich  in  bestimmter  Richtung  auf  ein  Ziel  zu  bewegen, 
müssen  immer  erst  die  Hälfte  von  dem  Ganzen  und  vorher  die 
Hälfte  von  der  Hälfte  zurücklegen  u.  s.  w.,  2)  der  Widerspruch 
von  Achilles  und  der  Schildkröte,  3)  vom  Pfeile  der  durch  die 
Luft  fliegt  und  4)  von  den  Körpern,  die  sich  in  einer  Ebene  in 
entgegengesetzter  Richtung  bewegen.  Alle  diese  Beispiele  bedürfen 
keiner  Erläuterung,  da  sie  hinreichend  klar  sind,  wenn  man  im 
Auge  behält,  was  Zenon  damit  beweisen  will.  Wir  können  nun 
die  Lehre  vom  „Eins"  und  der  „Unbeweglichkeit"  und  dem  „Sein" 
verlassen  und  zu  dem  nächsten  grossen  Philosophen  übergehen, 
nämlich  Anaxagoras. 


ö^ 


10.  Anhänger  des  Heraklit  und  Empedokles. 
a)  Geist  und  Stoff. 

Anaxagoras"*)  tritt  auf  die  Seite  Derer,  die  zu  vermitteln 
suchen  zwischen  den  ältesten  Philosophen  und  Parmeuides  und 
seiner  Schule.  Er  hat  off"enbar  das  Gedicht  des  Parmenides  studirt: 
das  beweisen  die  Ausdrücke  ojiou,  iv,  i'sa  dsi.  Er  kennt  die  Philo- 
sophie der  Milesier,  das  beweisen  die  Ausdrücke  öcTrsipov,  xö  Seppiov, 


"*)  Mullach  I,  248. 


322  Ernst  Chr.  Hch.  Peithmanli, 

zh  <|^u)(pov,  T^  dpatov  xo  ttuxvov,  Yi-j-vsai)«'.,  aTroXXuaöai.  Er  ist  auch 
vertraut  mit  der  Philosophie  des  Heraklit  und  entlehnt  von  ihm 
offenbar  die  Lehre  von  dem  ev  Travxa  sTvat,  von  dem  voo?,  von  der 
-j'vtutxTj  und  Ausdrucke  wie  xpaxsetv,  Yqvcutjxstv,  oictxoajxsrv,  xivsTv,  oaa 
eatott  xai  eati  X7.l  tjv.  Er  hat  auch  den  Empedokles  studirt,  wie 
die  Ausdrücke  r^zpiywpzXv  aroxpit'vsaBoti,  oiaxptvsaÖai  au[x[xiVj'£ai)at, 
au[jL[jn;[c  etc.  andeuten.  Die  Streitfrage  betreffs  des  „Entstehens 
und  Vergehens"  der  Dinge  ist  ihm  wohl  bekannt,  und  er  tritt  ganz 
entschieden  auf  die  Seite  des  Empedokles  und  Parmenides,  wenn 
er  sagt:  „kein  Ding  kann  entstehen  oder  vergehen,  sondern  es 
wird  nur  aus  Dingen,  die  immer  sind  (dito  iovTwv  /pr^fj-ötcuv),  zu- 
sammengesetzt und  wieder  aufgelöst".  Die  Griechen  gebrauchen 
daher  die  Ausdrücke  „entstehen  und  vergehen"  in  unzutreffender 
Weise  und  sie  sollten  statt  „entstehen"  sagen  „gemischt  werden" 
und  statt  „vergehen"  lieber  „sich  auflösen""*).  Anaxagoras 
wiederholt  hier  einfach,  was  Empedokles  vor  ihm  ausgesprochen 
hatte.  Auch  in  seiner  Lehre,  dass  das  Weltall  nicht  um  das  ge- 
ringste Stückchen  vermehrt  oder  vermindert  werden  kann,  dass  mit 
andern  Worten  kein  Atom  Substanz  geschaffen  oder  zerstört 
werden  kann,  sondern  dass  das  Weltall  sich  immer  gleich  bleibt'"^), 
folgt  er  fast  wörtlich  dem  Empedokles.  Li  Anaxagoras  finden  wir 
eine  neue  Bestätigung  dafür,  dass  das  ov  des  Parmenides  die 
uns  bekannte  Welt  bezeichnet.  Empedokles  hatte  als  das  „immer 
Seiende"  die  vier  Elemente  aufgestellt,  Anaxagoras  nennt  es 
TTOcvT«  j(pv5[jLata  oder  xa  aujjLTravxa,  xö  aufiTrav,  xa  TcoXXa,  Travxot,  Ttav 
oder  er  ersetzt  und  umschreibt,  mit  xot  aaxpot  x«l  6  ^Xto?  xcd  f^  asXT^vrj 
xat  6  cz/jp  X7.1  6  cftör^p  oder  oaa  laxai  xs  xai  vuv  laxi  xai  r^v  -/.ou  xa 
äXXot  Tra'vxa  sv  xul  TioXXa  irspis/ovxt,  „alle  Güter  oder  alle  Dinge, 
das  All,  die  Masse,  Alles",  oder  er  ersetzt  und  umschreibt  es  mit 
dem  Ausdruck  „die  Sterne  und  die  Sonne  und  der  Mond  und  die 
Luft  und  der  Aether"  oder  „was  sein  wird  und  jetzt  ist  und  war 
und  alle  andern  Dinge  in  dem,  was  das  All  umgiebt."  Wir  sehen, 
dass    er   genau    denselben  Gegenstand    behandelt    wie  Empedokles 


'"5)  Anaxagoras  Fr.  17. 
"ß)  Fr.  14. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  323 

und  Parmenides  und  Heraklit  und  die  ersten  Philosophen,  Par- 
menides  hatte  nun  von  dem  uns  bekannten  Weltall  ausgesagt,  dass 
„alles  zusammen  jetzt  ist"  und  „eins"  ausmacht:  wogegen  Anaxa- 
goras  behauptet,  dass  im  Anfange  der  Weltgeschichte  allerdings 
„alle  Güter"  (Dinge)  zusammen  waren,  unendlich  in  Zahl  oder 
Grösse  und  Kleinheit,  in  einer  Weise,  dass  kein  einzelnes  Ding 
sichtbar  war  vor  Kleinheit.  Denn  Alles  umfing  die  Luft  und  der 
Aether,  die  beide  unendlich  sind  und  diese  beiden  Elemente  bilden 
den  Hauptbestandtheil  des  Weltalls.  Aber  die  Luft  und  der  Aether 
sind  auch  nur  abgesondert  von  einem  noch  grösseren  Körper,  der 
das  All  umgiebt:  dieses  T:£pi£-/fjv  hat  keine  Grenzen ^''^). 

Dieses  7r£f>t£;(ov  aTrsifyov  scheint  dem  ocTTEipov  des  Anaximander 
zu  entsprechen:  nur  ist  es  hier  nicht  bloss  ein  Raum,  sondern  ist 
zugleich  eine  materielle  Substanz,  ein  Körper.  Während  die  Dinge 
sich  nun  in  diesem  Zustande  befanden,  war  in  allem  Vieles  und 
Verschiedenartiges  verborgen.  Das  Gemisch  enthielt  den  Samen 
für  alle  Dinge  und  allerlei  Formen  und  Farben  und  Gerüche. 
Darin  befand  sich  ein  Gemisch  von  dem  Nassen  und  Trockenen, 
dem  Hellen  und  Dunklen,  dem  Heissen  und  Kalten  und  viel  Erde 
und  zahllose  Sonnen,  nicht  eins  gleich  dem  andern.  Dies  war 
nun  ein  Gemisch,  auf  das  der  Ausdruck  des  Parmenides  passt:  alle 
Dinge  waren  „zusammen";  oder  das  Wort  des  Heraklit:  alle  Dinge 
waren  „eins"  '^').  Aber  dieses  leblose  Gemisch  der  Substanz  hat  sich 
verändert.  Heute  kann  man  nicht  mehr  sagen,  dass  das  Weltall 
„zusammen",  oder  „eins"  ist.  Die  vielen  und  verschiedenartigen 
Dinge  und  mannigfachen  Gerüche  und  Farben,  die  früher  „eins" 
ausmachten,  haben  sich  gesondert,  und  obwohl  das  Ganze  noch 
„eine"  Welt  darstellt,  so  hat  sich  die  Welt  doch  zertheilt  in  viele 
Theile  oder  kleine  Welten.  Und  während  daher  der  Stoff,  aus 
dem  die  Welt  gemacht  ist,  für  ewig  gelten  muss,  hat  doch  die 
Welt  nach  ihrer  jetzigen  Gestalt  „einen  Anfang  gehabt"'"*)  (v-pqot-o). 
Der  „Anfang  der  Welt"  datirt  von  dem  Augenblicke,  in  welchem 
der  Geist    den  Stoff  in  Bewegung    setzte    und    zu    ordnen    anfing. 

^»«)  Fr.  1,  2. 
1")  Fr.  3,  4. 

118)  Fr.  7  ^^pgctTO. 


324  Ernst  Chr.  Hch.  Peithraann, 

Neben  den  Elementen  giebt  es  also  nur  „eine"  bewegende  und 
regirende  Macht,  den  Geist.  Er  ist  selbstherrschend  und  auf  sich 
selbst  beruhend,  mit  keinem  Dinge  gemischt.  Daher  hat  er  die 
Fähigkeit,  die  Dinge  zu  steuern  und  besitzt  alle  denkbare  Einsicht 
und  Kraft.  Er  ist  das  feinste  und  reinste  unter  den  Dingen.  Und 
während  der  Stoff  ganz  ungleichartig  ist,  ist  der  Geist  ganz  und 
gar  gleich.  Er  ist  der  Urheber  der  Bewegung  des  Weltalls  und 
aller  Dinge,  die  „waren  und  sind  und  sein  werden".  Von  ihm 
rührt  die  Ordnung  des  ganzen  Weltalls  her.  Sein  erstes  AVerk 
war  aber  die  „Absonderung"  der  Dinge  im  Allgemeinen,  nämlich 
des  Kalten  und  Warmen,  des  Dünnen  und  Dichten,  des  Hellen 
und  Dunklen,  des  Feuchten  und  Trockenen.  Die  Trennung  ist 
freilich  nur  eine  theilweise.  Das  Helle  ist  nur  etwas,  das  mehr 
Licht  als  Dunkelheit  hat;  das  Dunkle  hat  mehr  Dunkelheit  als 
Licht.  Die  Bewegung  des  Weltalls  macht  die  Absonderung  dessen, 
was  zusammengehört,  leichter.  So  hat  sich  denn  das  dichte  und 
feuchte  und  kalte  und  dunkle  Element  da  angesammelt,  wo  jetzt 
die  Erde  ist.  Das  entgegengesetzte  Element  ist  nach  der  Ausseu- 
seite  des  Aethers  entwichen"*).  Der  zweite  Process,  der  die  Welt 
umgestaltet,  ist  die  der  Absonderung  folgende  „Verdichtung"  der 
Dinge.  Hierdurch  entsteht  Wasser  und  Erde  und  Steine.  Selbst 
die  Menschen  und  Thiere  kommen  durch  Verdichtung  des  Stoffes 
ins  Dasein.  Die  schnelle  Bewegung  der  Elemente  ist  die  Ursache 
der  grossen  Kraft,  die  nöthig  ist,  um  alle  diese  Veränderungen 
hervorzubringen  ^''"'). 

Wir  können  also  die  Philosophie  des  Anaxagoras  folgender- 
masseu  zusammenfassen.  Er  greift,  wie  Empedokles,  in  den  Streit 
zwischen  den  ältesten  Philosophen  und  Parmenides  ein.  Gegen 
die  ersteren  behauptet  er  mit  Parmenides  und  Empedokles,  dass 
„nichts  geschaffen  oder  vernichtet  werden  kann".  Aber  dem  Par- 
menides kann  er  nicht  darin  Recht  geben,  dass  alle  Dinge  zu- 
sammen und  eins  und  unbeweglich  und  unveränderlich  sind  und 
völlig  gleichartig.     Empedokles  hatte  behauptet,  dass  nach  gewissen 


119)  Fr.  8. 

i^ö)  Fr.  9,  10,  11. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  325 

periodischen  Veränderungen  die  Welt  immer  wieder  sich  sammelt, 
um  „eins"  zu  bilden.  Unser  Philosoph  kennt  nur  „eine"  Ent- 
wicklung des  Weltalls.  Die  Entwicklung  hat  einen  Anfang  gehabt, 
aber  setzt  sich  nun  fort  ohne  ein  absehbares  Ende.  Im  Anfang 
war  die  Welt  „eins"  und  „zusammen",  wenigstens  soweit  der  Stoff 
in  Betracht  kommt.  Die  vier  Grundwurzeln  der  Dinge  hat  nun 
Anaxagoras  ersetzt  durch  eine  unendliche  Zahl  von  kleinen  Theil- 
chen,  die  alle  von  einander  etwas  verschieden  sind.  Neben  dem 
Stoff  giebt  es  eine  bewegende  und  ordnende  Kraft,  den  Geist. 
Vermittelst  der  Bewegung  bringt  er  die  Ordnung  der  Welt  zu 
Stande.  Nach  der  Ansammlung  des  Gleichartigen  an  verschiedene 
Orte  findet  die  Verdichtung  statt  und  so  kommen  die  einzelnen 
lebenden  Wesen  ins  Dasein. 

Nach  der  Lehre  des  Empedokles  wurde  die  Absonderung  der 
Elemente  fortgesetzt  bis  zu  einer  völligen  Scheidung,  die  dann  das 
Ende  einer  AVeltperiode  bezeichnete.  Anaxagoras  sagt,"  diese 
Entwicklung  des  Weltalls  wird  kein  Ende  nehmen,  denn  die 
Trennung  der  entgegengesetzten  Elemente  kann  nie  und  nimmer 
vollendet  werden.  Wir  haben  daher  einen  Ausblick  auf  eine  Ent- 
wicklung ohne  Ende.  Die  Ausdrücke  „Mischung"  und  „Absonde- 
rung" hat  Anaxagoras  olfenbar  von  Empedokles  übernommen,  aber 
er  spricht  offenbar  von  einer  doppelten  Mischung  und  Trennung 
der  Dinge.  Zuerst  giebt  es  eine  Mischung  des  Ganzen,  wie  wir 
sie  am  Anfang  der  Weltgeschichte  vorfinden  und  diese  Mischung 
löst  sich  dann  auf  in  die  Absonderung  der  grossen  Massen  von 
entgegengesetzter  Natur.  Daneben  giebt  es  offenbar  noch  eine 
Mischung  und  Trennung,  die  die  Griechen  mit  den  Ausdrücken 
„Entstehen  und  Vergehen"  bezeichnen;  sie  beziehen  sich  auf  die 
einzelnen  Dinge,  die  auf  dieser  Weltkugel  und  auf  andern  Welt- 
kugeln ins  Dasein  treten.  Die  Welt  als  Ganzes  bleibt  sich  immer 
gleich,  nichts  entsteht  und  nichts  vergeht.  Das  Entstehen  und 
Vergehen  der  lebenden  Wesen  ist  nur  ein  Zusammenmischen  und 
Absondern  der  Elemente. 

Nebenbei  macht  Anaxagoras  noch  einen  Angriff  aul'  die  An- 
sicht,   dass    es     ein    Kleinstes     des    Kleinen     giebt,     d.    h.     dass 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.    XV.  3.  ^.T 


326  Ernst  Chr.  Heb.  Peithmanii, 

man  den  Stoff  nur  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  theilen  kann. 
Er  behauptet  offenbar,  dass  die  Dinge  unendlich  theilbar  sind, 
denn  man  kann  sie  nicht  soweit  theilen,  dass  zuletzt  nichts  übrig 
bleibt,  da  es  unmöglich  ist,  dass  aus  „etwas"  zuletzt  durch  fort- 
gesetzte Theilung  „nichts"  entstehen  kann  und  so  lange  noch 
„etwas"  übrig  bleibt,  kann  man  fortfahren,  es  wieder  zu  theilen. 
Ebenso  giebt  es  auch  kein  Ende  in  der  Multiplication  oder  A'er- 
grösserung  der  Dinge.  Denn  es  giebt  immer  noch  „etwas  Grösseres 
als  das  Grosse."  Und  das  Grosse  ist  dem  Kleinen  gleich  an  Menge, 
jedes  Ding  ist  aber  im  Vergleich  mit  sich  selbst  gross  und  klein. 
Das  Grosse  und  Kleine  besteht  aus  gleich  vielen  Theilen.  Und 
jedes  Ding  hat  in  sich  einen  Theil  von  jedem.  Man  kann  die 
Dinge  daher  nie  trennen  durch  Theilung,  sondern  in  einem  ge- 
wissen Sinne  sind  und  bleiben  die  Dinge  für  immer  zusammen. 

b)  Absoluter  Monismus. 

Diogenes  von  Apollonia^'')  benutzt  manche  Gedanken  von 
Empedokles  und  Anaxagoras  und  geht  dann  zurück  zu  dem  Grund- 
satze des  Heraklit,  „dass  alle  Dinge  eins  sind".  Er  fasst  seine  ganze 
Philosophie  zusammen  in  den  Satz,  dass  „Alles,  was  ist"  (ira'vTa  tot 
eovra)  aus  derselben  Substanz  entsteht  durch  Verwandlung  und  dass 
also  „Alles  dasselbe  ist"'").  Hierfür  bringt  er  verschiedene  Be- 
weise. Wenn  die  Dinge,  die  jetzt  in  dieser  Welt  sind,  z.  B.  Erde, 
Wasser  und  alles,  was  sonst  in  dieser  Welt  zur  Erscheinung  kommt, 
von  einander  verschieden  wären  und  jedes  seinen  besonderen  Ur- 
sprung (cpucji?)  hätte  und  nicht  im  Grunde  ein  und  dasselbe  dar- 
stellte in  mannigfacher  Veränderung,  so  könnte  sich  das  Eine  mit 
dem  Andern  überhaupt  nicht  mischen  und  das  Eine  könnte  dem 
Andern  weder  Schaden  noch  Nutzen  bringen.  Es  könnte  überhaupt 
keine  Pflanze  aus  der  Erde  aufwachsen  und  sonst  kein  lebendes 
Wesen  ins  Dasein  kommen,  wenn  es  nicht  wahr  wäre,  dass  Alles 
eins  ist  und  „dasselbe".  Aber  es  ist  eine  Thatsache,  dass  alle  ver- 
schiedenen Dinge   sich    „aus   demselben"    durch  Verwandlung  ent- 


'21)  Mullach  I  254. 
'")  Diogenes  Fr.  2. 


I 


t)ie  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  327 

wickeln  und  dass  dieselbe  Substanz  bald  diese  Form  und  bald  jene 
Form  annimmt  und  wieder  zu  demselben  Zustande  zurückkehrt. 
Die  vier  Elemente  des  Empedokles  und  die  zahllosen  verschieden- 
artigen kleinen  Körperchen  des  Anaxagoras  sind  hier  ersetzt  durch 
„eine  einzige  Substanz".  Empedokles  und  Anaxagoras  hatten  ferner 
neben  dem  Stoff  noch  andere  Mächte  anerkannt,  nämlich  die  Liebe 
und  Feindschaft,  oder  den  Geist.  Diogenes  hat  diese  geistigen 
Mächte  nicht  nöthig,  denn  der  Stoff  selbst  hat  die  Eigenschaft  des 
Geistes:  das  „eine  Wesen"  ist  nämlich  natürlicherweise  gross  und 
mächtig  und  ewig  und  unsterblich  und  von  grosser  Erkenntnis '"). 
Ohne  Verstand  könnte  es  nicht  das  Mass  aller  Dinge  halten,  des 
Winters  und  Sommers,  des  Tages  und  der  Nacht,  der  Stürme  und 
Winde  und  des  heiteren  Himmels.  Denn  alle  Dinge  in  der  Natur 
sind  so  angeordnet,  wie  man  es  sich  nur  am  besten  ausdenken 
kann.  Was  ist  aber  nun  diese  Quelle  des  Lebens  und  des  Ver- 
standes aller  lebenden  Wesen?  „Die  Luft!"  Die  Luft  ist  der  Ur- 
sprung des  Lebens  für  Menschen  und  Thiere  und  aus  der  Luft 
ziehen  alle  die  Seele  und  den  Verstand.  Wenn  die  Luft  einem 
lebenden  Organismus  entzogen  wird,  so  stirbt  er  und  der  Verstand 
verlässt  ihn"*).  Alle  diese  Thatsachen  deuten  darauf  hin,  dass 
das  eine  Wesen,  welches  Vernunft  besitzt,  die  sogenannte  „Luft" 
ist  und  dass  sie  daher  über  alle  Dinge  herrscht  und  alle  Dinge 
lenkt.  Von  der  Luft  her  stammt  die  Vernunft  und  vertheilt  sich 
über  Alles  und  ordnet  Alles  und  ist  in  Allem.  Alles  nimmt  theil 
daran,  aber  in  verschiedenem  Masse  und  in  verschiedener  Weise. 
Denn  es  giebt  vielerlei  Zustände  der  Luft  und  des  Verstandes. 
Die  Luft  ist  vielgestaltig,  bald  wärmer  und  bald  kälter,  bald 
trockener  und  bald  feuchter,  bald  stiller  und  bald  bewegt  und  sie 
hat  ausserdem  viele  andere  Veränderungen  in  Bezug  auf  Geruch  und 
und  Farbe.  Und  die  Seele  der  lebenden  Wesen  ist  genau  dasselbe, 
nämlich  Luft,  die  wärmer  ist  als  die  Luft  um  uns,  aber  viel  kälter 
als  die  Luft  auf  der  Sonne.  Und  die  Wärme  unter  den  verschiede- 
nen Thieren  ist  wiederum  nicht  gleich,  sondern  überall  ein  wenig 


'23)  Fr.  3,  4. 
i^-*)  Fr.  5. 

23* 


328  Ernst  Chr.  lieh.  Peithmann, 

verschieden,  obschoii  sie  im  Grossen  und  Ganzen  gleich  ist.  Wie 
könnte  aber  eine  solche  Verschiedenheit  eintreten,  wenn  Alles  nicht 
ursprünglich  dasselbe  war?  Weil  die  Verwandlung  mannigfaltig 
ist,  deswegen  sind  auch  die  Thiere  so  verschiedenartig.  Sie  glei- 
chen sich  weder  an  Gestalt,  noch  an  Lebensweise,  noch  an  Ver- 
stand: so  gross  ist  die  Mannigfaltigkeit  der  Verwandlungen.  Und 
doch  haben  alle  ihr  Leben  und  ihr  Gesicht  und  Gehör  und  ihren 
ganzen  Verstand  von  ein  und  demselben  AVesen^").  Diogenes  be- 
antwortet daher  die  Frage,  ob  die  Dinge  „entstehen  und  vergehen" 
oder  „ewig  sind"  in  der  folgenden  Weise.  Das  eine  Wesen,  aus 
dem  alle  Dinge  durch  Verwandlung  ihr  Leben  und  Dasein  haben, 
ist  ein  ewiger  und  unsterblicher  Körper '•'').  Von  den  einzelnen 
Dingen  aber  „entstehen  die  einen  und  die  andern  vergehen  wieder". 
Der  Ausdruck  Körper  beweist  hier  wieder,  dass  selbst  zur  Zeit  des 
Diogenes  die  Vorliebe  zur  Abstraktion  nnd  A^'erflüchtigung  der  Dinge 
noch  nicht  Platz  gegriffen  hatte.  Das  „eine  Wesen"  des  Diogenes 
ist  ein  konkreter  Körper,  geradeso  wie  „das  Eine"  des  Parmenides 
ein  Name  war  für  das  sichtbare  Weltall.  Die  geistigen  Eigen- 
schaften stellen  nicht  ein  von  dem  Stoffe  verschiedenes  Wesen  dar, 
sondern  sind  nur  besondere  Aeusserungen  dieses  Wesens,  Wir 
sehen,  dass  die  Fragen,  um  die  sich  die  Philosophie  dreht,  seit 
Ileraklit  nicht  geändert  sind.  Giebt  es  ein  Entstehen  und  Ver- 
gehen? Ist  Alles  vergänglich?  Haben  die  einzelnen  Dinge  in  dieser 
Welt  nichts  mit  einander  zu  thun,  oder  sind  sie  verwandt?  Die 
Beantwortung  der  letzten  Frage  wird  für  die  ersten  beiden  ent- 
scheidend sein.  Diogenes  tritt  auf  die  Seite  des  Empedokles,  wenn 
er  sagt,  dass  die  einzelnen  Dinge  „entstehen  und  vergehen",  so- 
weit ihre  vorübergehende  Gestalt  in  Betracht  kommt,  dass  aber  das 
Element,  aus  dem  sie  ihr  Dasein  empfangen  haben,  durch  blosse  Ver- 
wandlung, ewig  und  unsterblich  ist.  Dies  erklärt  sich  daraus,  dass 
„alle  Dinge  eins  und  dasselbe  sind".  Alles  hat  denselben  Ur- 
sprung, die  Luft:  nichts  hat  seine  eigene  und  besondere  cpuai?  oder 
Entstehung,  wie  die  ältesten  Philosophen  geglaubt  hatten.     Diogenes 


>«)  Fr.  6, 
•26)  Fr.  7. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  329 

ist  also  ein  strenger  Monist:  darin  folgt  er  Pannen ides.  Es  giebt 
im  Grunde  nicht  viele  Wesen,  sondern  es  giebt  nur  „ein"  Wesen 
und  dies  ist  immer  gewesen  und  wird  immer  sein.  Aber 
dieses  eine  Wesen  verändert  fortwährend  seine  Gestalt  und 
bringt  aus  sich  eine  Mannigfaltigkeit  von  einzelnen  Dingen  hervor, 
die  vorübergehend  ins  Dasein  kommen,  um  wieder  zurückzukehren 
zu  ihrem  Ursprung.  Von  der  materiellen  Seite  betrachtet,  nennen 
wir  dies  eine  Wesen  Luft,  von  der  geistigen  Seite  betrachtet  ist 
es  Vernunft,  die  Alles  in  Grenzen  hält  und  Alles  steuert  und  Alles 
beherrscht,  die  in  Alles  eindringt  und  Alles  ordnet  und  in  Allem 
wohnt.  Den  ältesten  Philosophen  giebt  er  Recht  darin,  dass  es 
in  dieser  W^elt  verschiedene  Dinge  giebt  (xa  iv  twos  xm  xoaaoj 
lo'vTa).  Aber  er  stimmt  ihnen  nicht  zu,  wenn  sie  behaupten,  dass 
jedes  Ding  seinen  besonderen  Ursprung,  seine  loi'a  '^uofi?  hat  und 
dass  ein  Ding  keine  Beziehung  hat  zum  andern.  Er  folgt  hier 
vielmehr  dem  Heraklit,  wenn  er  immer  wiederholt,  dass  alle  Dinge 
„dasselbe"  sind  und  „von  demselben  Dinge"  entspringen,  und  dass 
in  dem  Einen  ein  fortwährender  „Wechsel"  und  „Veränderung" 
stattfindet,  indem  es  sich  bald  so  und  bald  so  darstellt  und  dass 
Alles  zu  „demselben  Ursprung"  „zurückkehrt".  Dem  Heraklit  folgt 
er  in  seiner  Vorstellung  von  der  regulirenden  und  ausmessenden 
und  steuernden  und  herrschenden  Eigenschaft  „des  Einen".  Von 
Anaxagoras  entlehnt  er  scheinbar  den  Gedanken  von  der  Erkenntnis 
der  allgemeinen  Vertheilung  und  ordnenden  Thätigkeit  dieses  Wesens. 
An  Parmenides  erinnern  die  Ausdrücke  otioto?  xal  aöavaioc. 

c)  Der  krönende  Abschluss. 

Demokrit'^^),  der  letzte  in  der  Reihe  der  Naturphilosophen 
vor  Sokrates,  stellt  wieder  die  Frage  auf:  was  „ist"  wirklich 
und  immer  und  was  ist  nur  vorübergehend  und  scheinbar? 
Was  hat  wirklichen  Bestand  und  wahre  Existenz  in  dieser 
Welt?  Was  bleibt  und  was  verändert  sich?  Dcmokritus  hat 
diese  Fragen    beantwortet    in    seinen  verschiedenen  Schriften,    die 


1")  Mullach  I  357. 


330  Ernst  Chr.  Heb.  Peithmann, 

wir  unter  dem  Titel  <l)uc5txot  zusammenfassen  mögen,  die  aber  nur 
einen    kleinen   Theil    seiner   vielseitigen  Schriftstellerei  darstellen. 
Die    wenigen    Fragmente    enthalten    etwa    Folgendes.     Was    diese 
Welt  ^an  sich  und  für  sich  ist",  kann  Niemand  sagen.     Von  der 
absoluten  Wahrheit  ist  der  Mensch  ausgeschlossen.    Die  Frage  nach 
dem    wirklichen   „Sein""    oder  Nichtsein    der  Dinge    kann   nie   be- 
antwortet werden.     Was  jedes  Ding  in  der  That  und  in  Wirklich- 
keit   ist,    wird  uns  immer  ein  Räthsel  bleiben.     Wir  nehmen  die 
Dinge  nicht  wahr  nach  der  AVirklichkeit,  sondern  nach  ihrer  Ver- 
änderung, die  sie  erleiden  durch  den  Zustand  unseres  Körpers  und 
dessen,    was  „hineingeht    oder  Widerstand   leistet".     Ein  Ding  ist 
daher    süss    und    sauer   nach  unserer  subjectiven  Anschauung  und 
aus    demselben  Grunde    ist    es  heiss  und  kalt  oder  zeigt  eine  be- 
stimmte Farbe.    Objectiv  existiren  nur  die  untheilbaren  Körperchen 
und    der    leere  Raum.     Was    daher    nach   der  Meinung  der  Leute 
existirt  und  als  Gegenstand  unserer  Wahrnehmung  angesehen  wird, 
kann   nicht  in  Wirklichkeit  dafür  gelten,    sondern  nur  die  Atome 
und    der    leere  Raum.     Insere   Erkenntniss,    die    die    Dinge    um- 
gestaltet,   ist    von  zweierlei  Art,    die  echte  und  die  unechte.     Zu 
der  unechten  Erkenntniss  gehört  Gesicht,  Gehör,  Geruch,  Geschmack 
und  Gefühl.     Aber    die    echte  Erkenntniss  ist  hiervon  verschieden 
und    abgesondert.     Die    ersterc    kann    nur    bis    zu  einer  gewissen 
Grenze  sich  aufs  Sehen  oder  Hören  oder  Riechen  oder  Schmecken 
oder  Fühlen    verlassen.     Wenn    es    sich    um   feinere  Unterschiede 
handelt,  so  versagt  sie  den  Dienst.    Dann  müssen  wir  uns  offenbar 
an  die  höhere  Erkenntniss  wenden'-'^).     Es  ist  zu  schade,  dass  die 
Fragmente    weiter  keine  Erklärung  geben  von  dem  Ursprung  und 
der  Art  dieses  echten  Erkennens.    Fast  Alles,  was  in  dieser  Hinsicht 
uns    erhalten    ist,    ist    nur    eine    genaue  Analyse  der  Sinneswahr- 
nehmungen.      Wahrnehmungen     sind     oft'enbar     subjective     Ver- 
änderungen    in    unserem    Körper.      Es    ist    in    erster    Linie    ein 
passiver  Zustand.     Das  Sehen"')  z.  B.  kommt  zu   Stande,    indem 
die  Luft  zwischen  dem  Gegenstande  und  dem  Auge  sich  verdichtet 


'28)  Demokrit  Fr.  1. 
'•■'S)  Fr.  13. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  331 

und  die  Gestalt  des  Gegenstandes  annimmt  und  hinüberleitet  zu 
dem  Auge.  Denn  von  allen  Dingen  strömen  Bilder  aus.  Wenn 
nun  die  Augen  hinreichend  nass  sind ,  so  spiegelt  sich  das  Bild 
hier  wieder.  In  ähnlicher  Weise  wird  das  Gehör ^^*')  hervorgerufen. 
Der  Schall  dringt  in  Wirklichkeit  ein  durch  die  ganze  Oberfläche 
des  Körpers,  am  meisten  aber  durch  die  Ohren,  weil  hier  der 
grösste  leere  Raum  ist.  Die  Luft  dringt  nun  durch  die  Ohren  und 
wird  so  zusammengepresst,  um  sich  nachher  wieder  plötzlich  innen 
auszudehnen  und  durch  die  so  hervorgerufene  Erschütterung  kommt 
der  Schall  zum  Vorschein.  Das  Gehör  ist  also  thatsächlich  dasselbe 
innerhalb  des  Körpers,  wie  das  Fühlen  ausserhalb,  und  der  Mensch 
hört  mit  der  ganzen  Innenseite  des  Körpers,  wie  er  mit  der 
Aussenseite  fühlt^^^).  Das  Denken '^^),  behauptet  er,  kommt  zu 
Stande,  wenn  die  Seele  sich  nach  einer  Siuneserschütterung  har- 
monisch verhält:  im  andern  Falle  tritt  eine  Geistesstörung  ein. 
Was  den  Gefühlssinn  anlangt,  so  führt  er  den  unterschied  des 
Gewichtes  eines  Körpers '^^)  auf  seine  Masse  zurück.  Aber  auch 
die  Anwesenheit  von  grösserem  oder  geringerem  leeren  Raum  hat 
Einfluss.  Die  weiche  und  harte  Beschaffenheit  eines  Körpers^ ^^) 
hat  seine  Ursache  in  der  grösseren  oder  geringeren  Dichtigkeit, 
ferner  in  der  Lage  und  dem  Vorhandensein  des  leeren  Raumes. 
Was  wir  im  Allgemeinen  wahrnehmen,  existirt  nicht  so  in  den 
Körpern  der  Aussenwelt'^'  oder  in  Wahrheit  und  unveränderlich, 
sondern  ist  nur  eine  Aeusserung  des  subjectiven  Zustandes,  der 
fortwährend  wechselt  und  hieraus  kommt  dann  die  Vorstellung  zu 
Stande  oder  die  sogenannte  „Einbildung"  im  ursprünglichen  Sinne 
des  AVortes.  So  hat  auch  das  Kalte  und  Warme  keine  wirkliche 
Existenz,  sondern  beruht  auf  zwei  Ursachen:  Der  veränderten 
Form  des  Körpers  und  dem  Wechsel  in  unserem  Zustande.  Daher 
erscheinen  die  Dinge  auch  nicht  allen  lebenden  Wesen  in  gleicher 


130)  Fr.  16. 

131)  Fr.  17. 

132)  Fr.  19. 
'33)  Fr.  21. 
'34)  Fr.  22. 
135)  Fr.  23. 


332  Ernst  Chr.  Heb.  Peithmann, 

Weise,  sondern  was  uns  süss  düiikt,  das  kömmt  Auderu  bitter 
vor  und  wieder  Anderen  scharf  oder  ätzend  u.  s.  w.  Auch  selbst 
dieselben  Leute  verändern  ihr  Urtheil  nach  ihrem  augenblicklichen 
Befinden  und  körperlichen  Zustande  und  nach  ihrem  Alter,  üie 
Gestalt  der  Körper  hat  also  einen  wirklichen  objectiven  Bestand, 
aber  das  Süsse  und  überhaupt  alle  Sinueseindrücke  sind  verschieden 
nach  den  verschiedenen  Personen.  Es  ist  nicht  nöthig,  auf  die 
Art  und  Weise  näher  einzugehen,  wie  Demokrit  die  verschiedenen 
Formen  des  Geschmackes'^*')  zu  erklären  sucht  durch  die  mannig- 
fache Form  und  Grösse  der  Atome,  die  den  Körper  bilden.  Betreifs 
der  Farben'"),  mit  denen  sich  Demokrit  sehr  eingehend  beschäftigt, 
sei  nur  Folgendes  bemerkt.  Die  Farben  haben  ebenso  wie  der 
Schall  oder  die  Körpereigenschaften  von  Schwere  und  Leichtigkeit, 
Härte  und  Weichheit,  Kälte  und  Hitze  keine  wirkliche  Existenz. 
Die  stoffliche  Grundlage  des  Weltalls,  nämlich  die  Atome  und  der 
leere  Raum  haben  keine  qualitative  Verschiedenheit.  Die  einzelneu 
Dinge,  die  aus  ihnen  zusammengesetzt  sind,  erhalten  ihre  Farbe 
von  der  verschiedenen  Anordnung,  Gestalt  und  Lage  derselben'^*). 
Denn  darnach  richten  sich  die  Sinneswahrnehmungen.  Farbe  hat 
also  keinen  wirklichen  Bestand,  sondern  ist  nur  eine  Folge  der 
Veränderuno-en  in  den  Atomen.  Demokrit  führt  im  Einzelnen 
aus,  was  für  verschiedenen  Gestalten  der  Atome  die  einzelnen 
Farben  entsprechen.  Er  behandelt  erst  die  vier  einfachen  Farben, 
nämlich  schwarz,  weiss,  roth  und  grün  und  dann  die  bedeutendsten 
unter  den  unzähligen  Mischfarben.  Nichts  geschieht  in  der  Welt 
durch  Zufall,  sondern   alles  mit  Vernunft  und  Nothwendigkeit'^^. 

Wir  wollen  nicht  weiter  auf  die  Einzelheiten  eingehen,  sondern 
die  Frage  aufstellen:  Was  ist  die  Grundidee  des  Demokritischen 
Systems  und  was  für  Beziehungen  hat  er  zu  den  älteren  Philo- 
sophen? 

Wir  sehen  gleich  auf  den  ersten  Blick,  dass  Demokrit  sich 
mit  denselben  Fragen   l)cschäftigt  wie  seine  Vorgänger.     Seine 


136)  Fr.  24—29. 
130  Fr.  30—39. 
'38)  Fr.  30. 
'39)  Fr.  41. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  333 

Aufgabe  ist  offenbar  zu  untersuchen,  was  in  dieser  Welt  un- 
veränderlich und  ewig  ist  und  woher  die  scheinbaren  Ver- 
änderungen ihren  Grund  haben.  Oder  mit  andern  Worten, 
die  Frage  ist  die:  W^as  „ist"  ewig  und  unveränderlich  in  dieser 
W^elt  und  was  ist  nur  vorübergehend,  oder  was  „ist  unvergänglich" 
und  was  ist  vergänglich  in  dem  Weltall?  Nach  Demokritus  giebt 
es  nur  zwei  Dinge,  die  in  Wirklichkeit  „sind",  d.  h.  ,,immer  sind" 
und  „unvergänglich  und  unveränderlich"  sind:  nämlich  die  un- 
teilbaren kleinsten  Körperchen  und  der  leere  Raum.  Und  diese 
Atome  sind  alle  gleich  dem  Stolle  nach  und  unterscheiden  sich 
nur  von  einander  durch  ihre  Anordnung,  Form  und  Lage^"').  Die 
Substanz  ist  also  dem  Wesen  nach  einheitlich:  hierin  folgt  Demo- 
kritus dem  Diogenes  von  Apollonia.  Aber  dieselbe  ist  nicht  „ein 
Ganzes",  sondern  besteht  aus  unzähligen  untheilbaren  kleinen 
Körperchen,  die  alle  von  einander  verschieden  sind  in  Form, 
Anordnung  und  Lage:  hier  schliesst  sich  der  Abderite  an  Auaxa- 
goras  an.  Die  einzelnen  Dinge  „kommen  ins  Dasein"  durch  Zu- 
sammensetzung^*^) dieser  Atome  (a'j-(xpitj.a):  dieser  Gedanke  ist 
offenbar  entlehnt  von  Empedokles.  Insoweit  ist  Demokrit  also  ein 
treuer  Schüler  der  älteren  vorsokratischen  Philosophen,  die  im 
Gegensatz  zur  Theorie  von  der  Erschaffung  und  Vernichtung  der 
Dinge  behaupteten,  dass  diese  Welt  dem  Wesen  und  der  Substanz 
nach  „eins"  ist  (Heraklit,  Parmenides,  Diogenes),  oder  wenigstens 
zu  gewissen  Zeiten  ein  Ganzes  gebildet  hat  (Empedokles  und  Ana- 
xagoras)  und  dass  sie  in  soweit  unvergänglich  und  unveränderlich 
ist;  und  dass  die  Veränderung  nur  durch  verschiedenartige  Zu- 
sammensetzung oder  Mischung  entsteht  (Empedokles,  Anaxagoras 
und  Diogenes).  Aber  Demokrit  hat  nicht  nur  von  den  sogenannten 
Physikern  gelernt:  seine  Philosophie  weist  deutliche  Spuren  von 
sophistischen  Einflüssen.  Während  er  einmal  sagt,  dass  alle  Ver- 
schiedenheit und  Veränderung  in  den  Körperu  der 
Aussenwelt  auf  Anordnung,  Form  und  Lage  und  Anzahl 
der  Atome    zurückzuführen     ist,    giebt  er  nebenher  noch  die 


"0)  Fr.  30. 

"')  a6Yxpt(j.a  Fr.  30. 


334  Ernst  Chr.  Hch.  Peithmanu, 

Erklärung,  dass  diese  Mannigfaltigkeit  und  dieser  Wechsel  unse- 
sem  verschiedenen  Körperzustande  und  den  wechselnden 
Sinneseindrücken  entspreche.  Beide  philosophische  Schulen, 
die  Physiker  und  die  Sophisten,  haben  einen  unauslöschlichen  Ein- 
druck auf  ihn  gemacht,  sodass  es  ihm  nicht  gelingt,  eine  klare  und 
einheitliche  Erklärung  des  Wechsels  der  Dinge  zu  geben.  Er 
schwankt  hin  und  her.  Er  sagt  auch  nicht  deutlich,  dass  es  zwei 
verschiedene  Ursachen  hierfür  giebt,  sondern  es  hat  den  Anschein, 
als  wenn  er  das  eine  Mal  die  Anordnung  und  Gestalt  und  Lage 
der  Atome  allein  für  eine  genügende  Erklärung  der  Veränderungen 
in  unseren  Sinneseindriicken  ansieht  und  das  andere  Mal  wiederum 
die  subjektiv  verschiedenen  und  schwankenden Sinneswahrnehmungeu 
allein  verantwortlich  macht  für  den  Wechsel,  der  unter  den  Kör- 
pern der  Aussenwelt  vor  sich  geht.  Ob  das  vojxu)  auf  die  eine 
oder  andere  Ursache  allein  oder  auf  beide  zusammen  sich  bezieht, 
könnte  zweifelhaft  sein.  Das  eine  Mal  "^)  behauptet  er  z.  B.  ein- 
lach, dass  ein  Gegenstand  uns  süss  oder  sauer  oder  bitter  erscheint 
nach  unserem  körperlichen  Befinden  oder  nach  unserem  Alter,  dass 
kurz  alle  Eindrücke  sich  richten  nach  den  Leuten,  auf  die  sie  ge- 
macht werden.  Auf  einer  andern  Stelle '^'^)  sagt  er  hingegen,  dass 
die  verschiedenen  Geschmäcke  zurückzuführen  sind  auf  Grösse  und 
Gestalt  der  Atome,  aus  denen  die  verschiedenen  Speisen  zusammen- 
gesetzt sind.  In  derselben  Weise  giebt  er  zwei  von  einander  ganz 
unabhängige  Erklärungen  für  die  Farben.  Bald  sagt  er,  dass  die 
Farben  verschiedenartig  sind  „"po;  xr^v  cpavi^aiav"  oder  „if^oTiij]" 
(Wechsel  der  Sinneswahrnehmungen).  Darnach  haben  dieselben 
also  absolut  keine  objektive  Existenz  in  den  Körpern,  sondern  sind 
nur  ein  Produkt  der  Eindrücke  auf  unsere  Sinne.  Daneben  aber 
hat  er  noch  eine  eingehende  Theorie  von  den  Formen  der  Körper- 
chen ausgearbeitet,  die  jene  betreffenden  Farben  in  uns  hervor- 
rufen. Verschiedene  Erklärungen  dieser  Widersprüche  sind  möglich. 
Man  kann  sie  erstens  zurückführen  auf  die  psychologische  Ent- 
wickelung   unseres  Philosophen,    die  es  möglich    machte,    dass    er 


»2)  MuIIach  1,361.362. 
'")  Mullach  l,3f)2. 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  335 

beide  Erkläruügen  ausgeben  konnte,  ohne  eine  Vereinigung  für 
nöthis;  zu  halten.  Oder  wir  können  annehmen,  dass  er  in  der 
That  eine  solche  Vereinheitlichung  seiner  zweifachen  Theorie  ver- 
sucht hat,  ohne  dass  sie  uns  überliefert  war.  Vielleicht  war  seine 
Meinung,  dass  beide  Ursachen  ihren  besonderen  Theil  beitragen  zu 
dem  einheitlichen  Erfolge.  Doch  wir  können  diese  Frage  auf  sich 
beruhen  lassen.  Es  genügt  uns,  zu  sehen,  dass  Demokrit  die  Frage, 
die  die  griechischen  Naturphilosophen  seit  Anaximander  beschäftigt 
hat,  in  glänzendster  und  interessanter  Weise  beantwortet.  Ist  die 
Welt  mit  Allem,  was  darinnen  ist,  sterblich  und  vergänglich 
oder  unvergänglich  und  ewig?  Sind  die  Veränderungen,  die 
wir  täglich  um  uns  her  beobachten,  absolut  oder  nur  relativ? 
Kommen  die  einzelnen  Dinge,  die  um  uns  her  auftauchen,  aus 
nichts  und  verschwenden  sie  zuletzt  wieder  in  nichts?  Demokrit 
antw'ortet:  Das  Material,  das  im  letzten  Grunde  die  Welt  zu- 
sammensetzt, „ist  in  der  That"  (e^c-r^),  d.  h.  „es  ist  immer  und 
hat  keinen  Anfang  und  kein  Ende",  Und  dies  Material  besteht 
aus  zwei  Dingen,  den  Atomen  und  dem  leeren  Raum.  Die  Atome 
entsprechen  offenbar  dem  sv  ov  des  Parmenides  und  den  vier  Ele- 
menten des  Empedokles  und  den  unzähligen  kleinen  „Dingen"  des 
Anaxagoras  und  dem  „einen  Körper"  des  Diogenes.  Das  xsvöv 
oder  der  leere  Raum  ist  eine  Zuthat  des  Demokrit,  die  ihm  eigeu- 
thümlich  ist.  Parmenides  und  Empedokles  und  wahrscheinlich  auch 
die  übrigen  älteren  Philosophen  hatten  eine  solche  Vorstellung  ge- 
radezu ausgeschlossen'^')  und  die  Abwesenheit  jedes  leeren  Raumes 
im  Weltall  als  Grund  dafür  angeführt,  dass  nichts  ins  Dasein 
kommen  kann,  da  die  Welt  ganz  angefüllt  ist  und  also  kein  Platz 
da  ist  für  neue  Geschöpfe.  Dieser  leere  Raum  hat  aber  sicherlich 
nichts  zu  thun  mit  dem  «j-tj  eivczi  oder  [jltj  ov  der  frühereu  Philo- 
sophen, wie  man  leicht  annehmen  könnte  und  wie  die  Doxographen 
wirklich  angenommen  haben '"^^).  Diese  Atome  und  dieser  leere 
Raum  haben  also  allein  wahrhafte  Existenz.  Was  sonst  noch  zu 
„sein"  scheint  und  als  „Gegenstand"  unserer  Wahrnehmungen  an- 


1^*)  Parm.  V.  80.  107.  Emped.  166. 
'■•ä)  Aristot.  II  254,5. 


336  Eiust  Chr.  Hch.  Peithmann, 

gesehen  wird,  hat  in  Wirklichkeit  keine  bleibende  Existenz.  Alle 
diese  Erscheinungen  kommen  von  den  verschiedenen  Zuständen  des 
menschlichen  Körpers  und  der  Verschiedenartigkeit  dessen,  was  auf 
uns  Eindrücke  macht  und  in  unserem  Körper  jenen  Eindrücken 
widersteht.  Die  einzelnen  Dinge,  die  daher  scheinbar  entstehen 
und  wieder  vergehen,  stellen  nur  eine  verschiedene  Zusammen- 
setzung der  Atome  dar.  Und  während  die  Atome  an  sich  keine 
Qualität  besitzen,  bringen  sie  in  ihren  Zusammensetzungen  die  ver- 
schiedensten Effecte  zu  Stande,  je  nach  Anordnung,  Form  und  Lage 
der  einzelnen  Atome.  Diese  Mannigfaltigkeit  in  Gestalt  und  An- 
ordnung der  Atome  ist  nach  Demokrit  hinreichend,  um  alle  ver- 
schiedenen Geschmäcke  und  Farben  und  Gerüche  und  überhaupt 
alle  Sinneseindrücke  zu  erklären. 

11.  Zusammenfassung. 

DiePhilosophie  vorSokrates  entwickelte  sich  demnach  folgender- 
maassen  1)  Die  älteste  Form  der  griechischen  Philosophie  vertrat 
die  naive  Idee,  dass  die  Dinge,  wenn  sie  in  die  Erscheinung  treten, 
aus  nichts  geschaffen  werden,  dass  sie  für  eine  verhätnissmässig 
kurze  Zeit  im  Dasein  „sind^  und  dass  sie  zuletzt  wieder  iuslSichts 
vernichtet  worden.  Während  eines  unendlichen  Zeitraums  „sind 
sie  nicht",  dann  kommen  sie  ins  Dasein  und  „sind"  vorübergehend, 
um  endlich  wieder  für  alle  Ewigkeit  „nicht  zu  sein".  Woher 
kommen  sie?  Aus  dem  Nichts!  Wohin  gehen  sie  wieder?  Ins 
Nichts!  Bevor  sie  „sind"  und  nachdem  sie  gewesen  sind,  sind  sie 
einfach  „nichts".  Anaximander  und  Anaximenes,  die  nach  ein- 
stimmiger Ueberlieferung  die  Theorie  vom  „Entstehen  und  Ver- 
gehen" der  Dinge  vertraten,  sagten  freilich,  die  Dinge  kommen  aus 
dem  „ocTTsipov"  oder  der  „Luft",  statt  aus  dem  Nichts.  Aber  es 
ist  höchst  wahrscheinlich,  dass  die  ersten  Philosophen  dieselbe  naive 
Anschauung  vertraten,  wie  jedes  Kind  in  unserer  Zeit,  dass  näm- 
lich „Luft"  soviel  ist  wie  gar  nichts  und  dass  der  „unendliche 
Raum",  oder  „das  Plane"  absolut  leer  ist.  Wenn  jene  Männer 
also  behaupteten,  die  Welt  und  alle  Einzelwesen  entwickeln  sich 
aus  „dem  unendlichen  Raum"  oder  der  „Luft",  so  meinten  sie  da- 
mit, sie  entstehen    aus  dem  Nichts    und   sie   vergehen  wieder    ins 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  337 

Nichts.     Das  „Nichtseiu"  ist  in  dieser  Philosophie  in  der  That  von 
grösserer  Bedeutung  als  das  Sein,   dieses  ist  nur  von   kurzem  und 
vorübergehendem  Bestände,    während    jenes    die  Ewigkeit  ausfüllt. 
Aber    das  „Sein"  eines  Dinges    ist    nur    ein    abnormaler  Zustand. 
Jedes  Ding  muss  zurückkehren  ins  „Nichtsein"  ysxzb.  to  /psiov  mit 
.einer  sittlichen  Nothwendigkeit.     Jedes  Ding,   das  „ist",    hat    sich 
mit  seinem  Blute  dem  Nichtsein  verschrieben  und  muss  zu  seinem 
Dienstherrn  zurück,  wie  ein  Sklave,    der    entronnen   ist.     Dies  ist 
daher  die  Philosophie    des   „Nichtseins".     Sie    erkennt    zwei 
verschiedene  Existenzformen   an,  eine  positive,  das  Sein,  und  eine 
negative,  das  Nichtsein.     Dieses  erste  Auftreten  des  philosophischen 
Denkens  ist,  wie  wir  sehen,  äusserst  naiv.     Es  ist  die  Vorstellung 
eines  Kindes.     Sie  hat  keine  Ahnung  von  einer  Substanz,  aus  der 
die  Dinge  zusammengesetzt  sind   und  in   die  sie  sich  wieder   auf- 
lösen;   keine   Ahnung    von    der   Thatsache,    dass    die   Pflanze    die 
wächst  und  an  Grösse  zunimmt,   einfach  Stoff  aus  der  Erde  zieht 
und  aus  der  Luft  einathmet,  um  diesen  als  Baumaterial  in  ihrem 
Innern  niederzulegen.     2)  Gegen  diese  Theorie   vom  „Nicht- 
sein" als  einem  Zustande,   der  dem  Sein  absolut   entgegengesetzt 
ist,    trat  Herakl'it    zum    ersten  Male    mit    vernichtender  Geistes- 
schärfe auf.     Nichtsein,  so  behauptet  er,  ist  nur  in  einer  gewissen 
Hinsicht  vom  Sein  verschieden.     In  anderer  Hinsicht  aber  ist  Nicht- 
sein dasselbe  wie  Sein.     Was  uns  als  Nichtsein  erscheint,  ist  näm- 
lich nur   eine   andere  Form    des  Seins.     Beide    beruhen    aber    auf 
demselben  Princip.     Dies  wird  klar,  wenn  wir  bedenken,  dass  diese 
Welt    nicht    eine    unzusammenhängende    Masse    von    Dingen    ist, 
sondern  dass  alle  Dinge  eins  und  dasselbe  sind. 

Hier  kommt  zum  ersten  Male  in  zweideutiger  und  dunkler 
Ausdrucksweise  der  Gedanke  von  einer  Substanz  zum  Vorschein, 
der  die  verschiedenartigsten  Körper  bilden  kann,  ohne  seinem  Wesen 
nach  sich  zu  verändern.  Die  Art  und  Weise,  in  welcher  er  diesen 
Gedanken  von  einem  unvergänglichen  und  ewigen  Wesen  zum  Aus- 
druck bringt,  ist  aber  höchst  interessant  und  anziehend.  Die 
Einheit  der  Welt  liegt  nach  Heraklit,  wie  nach  Parmenides, 
Empedokles,  Anaxagora  in  der  geistlichen  Seite  ihres  Wesens, 
die  mau    nur   mit   der    Vernunft    sehen    kann.     Die    Dinge    sind 


338  Ernst  Chr.  Heb.  Peithmauü, 

nur  scheinbar  getrennt    und    von  einander  verschieden.     Die  Ver- 
nunft entdeckt  leicht  das  Gemeinsame,  das  alle  Dinge  zusammen- 
hält.    Und  dieses  Gemeinsame  in  den  Dingen  ist  von  der  grössten 
Bedeutung.     Es  ist  der  Gott,  der  hinter  allen  Dingen  steht  oder  in 
allen  Dingen  steckt,  der  Alles  lenkt  und  zum  Besten  leitet.     Es  ist 
der  Einklang,  der  durch  alle  scheinbaren  Gegensätze  hindurchklingt. 
Es  ist  das  Feuer,  dessen  Flammen  in  den  einzelnen  Dingen  empor- 
schiessen.     Es  ist  der  Blitz,  der  über  alles  in  ökonomischer  Weise 
Haus  hält.     Daher  bildet  Leben   und  Tod  keinen  Gegensatz.     Ein 
Ding  lebt  den  Tod   des    andern.     Tod    ist  Leben  in  neuer  Form: 
Nichtsein  ist  daher  nur  ein  anderes  Sein.     Nichtsein  und  Sein  ist 
in  Wirklichkeit  „dasselbe  und  nicht  dasselbe".     Man   kann   daher 
nicht  sagen,  dass  wir  jetzt  „sind"  und  nach  unserem  Tode  „nicht 
sind".     Wir  „sind"  zu  gleicher  Zeit  und  „sind  nicht".     Wenn  wir 
daher  nach  dem  Tode  „nicht  mehr  sind",    so  sind  wir    immerhin, 
ja  „wir  sind"    dann    im    höheren  Sinne,   wachende  „Wächter    der 
Ledendigen  und  der  Todten'^.    Nichtsein  ist  in  AVahrheit  nur  Anders- 
sein und  besseres  Sein.     Die  Welt  ist  daher  immer  gewesen  und 
wird  immr  sein,  da  sie  nur  ihre  Form  verändert,  aber  dem  Wesen 
nach  absolut  unvergänglich  und  ewig  ist.     An  die  Stelle  des  alten 
oux  7)v  —  £5X1,  oux  ecxai    setzt  er  sein   r^v   asi  xat  eatai.     3)  Aber 
diese  Brücke  zwischen  dem  Sein  und  Nichtsein,  die  Heraklit  in  so 
genialer  Weise  aufgebaut  hat,  wird  wieder  niedergerissen  von  Parme- 
nides.     Wir  stehen  hier  vor  Gegensätzen,  sagt   er,    die    sich  nicht 
vereinigen  lassen.     Sein  und  Nichtsein    schliessen  sich    gegenseitig 
aus.     Das  Nichtsein  lässt  kein  Sein  zu    und    das  Sein  macht  das 
Nichtsein  unmöglich.     Wenn  eine  Sache  ist,  so  ist  sie  immer  und 
wenn  sie  nicht  ist,  so  ist  sie  nie  und  nimmer.     Es  giebt  nur  zwei 
philosophische  Systeme,  die  sich  zu  einander  verhalten  wie  Irrthum 
und  Wahrheit.     Unter    dem  Irrthum   versteht    er    die  Philosophie 
Derer,  die  behaupten,  dass  Nichtsein  ebenso  gut  existirt,  wie  Sein. 
Mit    dem  Ausdruck  Wahrheit    bezeichnet    er    seine    eigene   Lehre, 
dass  das  Nichtsein  überhaupt    ein  Unding  ist    und  keine  Existenz 
hat.     Zwischen  diesen  zwei  Daseinsweisen  muss  jeder  wählen,  dem 
Sein  und  dem  Nichtsein.   Wenn  das  letztere  wirklichen  und  positiven 
Bestand  hat,  so  giebt  es  das    erstere    nicht    und  die  Existenz   des 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  339 

ersteren  hinwiederum  schliesst  das  zweite  aus.  Aber  das  Nicht- 
sein ist  etwas,  wobei  man  sich  nichts  denken  kann.  Um  an  etwas 
denken  zu  können,  muss  man  schon  seine  Existenz  voraussetzen. 
Es  giebt  daher  nur  „das  Sein".  Was  ist,  ist  immer:  wenn  die 
Welt  wirklich  ist,  so  ist  sie  immer.  Um  dies  klar  einzusehen, 
müssen  wir  aber  die  Welt  als  „eins"  auflassen.  Es  ist  absolut  un- 
zulässig, das  Weltall  auseinander  zu  reissen  vermittelst  der  sub- 
jektiven  Ideen  von  Zeit  und  Raum.  Man  kann  nicht  sagen:  „hier" 
ist  etwas,  oder  „da"  ist  etwas.  Man  kann  auch  nicht  sagen  „es 
war"  oder  „es  wird  sein",  sondern  man  muss  sich  beschränken 
auf  die  Formel  „es  ist"  in  einer  ununterbrochen  fortdauernden 
Gegenwart.  Das  Weltall  „ist"  in  Wahrheit  und  „ist"  daher  immer 
und  kann  nie  aufhören  zu  sein.  Alle  Veränderung  und  aller  Wech- 
sel ist  unbendigt  und  ausgeschlossen.  4)  Empedokles  und 
seine  Nachfolger  machen  nun  den  Versuch,  die  Ansichten  des 
Heraklit  und  Parmenides  auszugleichen  und  auszusöhnen.  Beiden 
Philosophen  wird  zugestanden,  dass  das  Nichtsein  keine  Existenz 
hat.  Aber  Parmenides  hat  nur  eine  Seite  der  Wahrheit.  Das 
Weltall  „ist"  und  ist  ewig,  insofern  das  Ganze  immer  dasselbe 
bleibt,  insofern  nicht  das  geringste  Theilchen  davon  verloren  gehen 
kann  und  nichts  hinzugefügt  werden  kann.  Aber  es  findet  eine 
Veränderung  in  der  Welt  statt  insofern  der  Stoff  immer  neue  Com- 
binationen  bildet  Die  Mannigfaltigkeit  besteht  in  der  Form,  die 
Unveränderlichkeit  in  dem  Stoff. 

Wir  könnten  daher  die  älteste  Philosophie  folgendermassen 
einteilen: 

1.  Die  Lehre  von  Sein  und  Nichtsein  als  positive 
Gegensätze:    Die  Dichter  und  Anaximander  und  Anaximenes, 

2.  Die  Behauptung,  dass  Sein  und  Nichtsein  dasselbe 
bedeuten:  Heraklit. 

3.  Die  Philosophie  vom  blossen  Sein:  Parmenides, 
Zenon,  Melissus. 

4.  Vom  Unterschied  zwischen  dem  wahren  Sein  und  dem 
veränderlichen  Sein  oder  Werden:  Empedokles,  Anaxagoras, 
Diogenes,  Demokrit. 


?.40 


Ernst  C'hr.  HcIi.  Peithmann, 


Oder  wir  können  die  Philosophen  folgenderinassen  zusammen- 
gruppiren. 

].  Diejenigen,  welche  in  dieser  Welt  eine  absolute  Mannig- 
faltigkeit von  Dingen  sehen  und  die  Ausdrücke  Ta  ovtct  oder 
-oUa  gebrauchen:  Anaximander,  Auaximenes. 

Diejenigen,  welche  das  Weltall  als  „eins"  ansehen  und 
die  Ausdrücke  s'v  und  to  ov  gebrauchen:  Xeuophanes,  Parmenides, 
Melissus,  Zenon. 

B.  Diejenigen,  welche  beides,  die  Einheit  und  Vielheit  der 
Welt  anerkennen,  deren  Motto  also  h  xal  tjX)ä  ist:  Ileraklit, 
Kmpedokles,  Anaxagoras,  Diogenes,  Demokrit. 
Dieselbe  Anordnung  würde  sich  ergeben,  wenn  wir  die  verschiedenen 
Philosophen  gruppireu  nach  ihrer  Stellungnahme  zu  der  Frage 
von  Unsterblichkeit  oder  Sterblichkeit  der  Welt. 

1.  Anaximander  und  Anaximenes  sehen  die  Welt  als  sterb- 
lich an. 

2.  Parmenides,  Melissus  und  Zeno  sagen  die  Welt  ist  un- 
sterblich. 

3.  Heraklit,  Empedokles,  Anaxagoras,  Diogenes  und  Demokrit 
lehren,  dass  das  Ganze  des  Weltalls  unsterblich  ist,  aber  die  ein- 
zi'lnen  Erscheinungen  sterblich  sind. 

Wir  könnten  demnach  die  folgende  Tabelle  aufstellen. 

„Das  Unvergrängliche" 


I)ie  Milesier 
FTeraklit 

Parmenides 
Kmpedokles 

Anaxagoras 

Diogenes 
Demokrit 


„Das  Vergäugliche" 

alles  entsteht  und  vergeht 

es  zerstreut  sich,  es 

sammelt  sich 

'   Mischung  und  Trennung 

der  sterblichen  Dinge 

Mischung,  Aussonderung 

\'erbindung,  Trennung 

Veränderung 

Gestalt,  Anordnung 

Lage-Zustaud,  Stimmung 


Einklang,  Feuer,  Vernunft, 

Zeus,  Gott,  Welt. 

Das  Eine,  das  All 

Die  vier  Elemente 

Liebe  und  Hass 

Die  Dinge,  der  Geist 

Luft- Vernunft 
Die  Atome,  der  leere  Raum. 


Wir  sehen  hieraus,  dass  sich  die  Idee  von  der  unzerstörbaren 
Substanz  erst  ganz  allmählich  im  Laufe  der  griechischen  Philo- 
sophie entwickelte.  Den  ersten  Denkern  war  die  Vorstellung  von 
einem  Stolfe,   der   verschiedenen  Zusammensetzungen   bilden  kann 


Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates.  341 

in  den  verschiedensten  Verhältnissen,  völlig  unbekannt.  Heraklit 
sprach  zum  ersten  Male  den  unerhörten  Gedanken  aus,  dass  der 
Tod  keine  Vernichtung  bedeutet,  sondern  dass  ein  Ding  lebt  vom 
Tode  des  andern.  Hier  wird  zum  ersten  Male  die  Einheit  der 
Existenz  in  ahnender  Weise  ausgesprochen.  Parmenides  kommt  der 
Lösung  noch  näher,  indem  er  die  ganze  Masse  des  Weltalls  als 
„eins"  erfasst  und  für  unerschaffen  und  unvergänglich  erklärt. 
Empedokles  unterscheidet  in  genialer  Weise  zwischen  den  vier 
unvergänglichen  Elementen  und  ihrer  vorübergehenden  verschieden- 
artigen Mischung.  Anaxagoras  entwickelt  zum  ersten  Male  die 
Theorie  von  der  „Aussonderung"  der  „entgegengesetzten  Elemente", 
nämlich  des  Kalten  und  Warmen,  des  Nassen  und  Trocknen  aus 
dem  ursprünglichen  Gemisch  aller  Dinge.  Die  unendlich  vielen 
verschiedenen  Theilcheu  vereinigen  und  trennen  sich  dann  in  der 
Erscheinung  des  Entstehens  und  Vergehens  der  Körper.  Diogenes 
spricht  zum  ersten  Male  den  Gedanken  aus,  dass  die  einzelnen 
Dinge  entstehen  durch  qualitative  Verändernug  desselben  allen 
Wesen  zu  Grunde  liegenden  Wesens,  welches  er  Luft  nennt.  De- 
mokrit  endlich  bringt  die  ganze  Entwickelung  zu  einem  konkreten 
Abschluss  in  seiner  Theorie  von  der  alleinigen  wahrhaften  Existenz 
der  Atome  und  des  leeren  Raums.  Die  Verschiedenheit  der  Dinge 
erklärt  er  einfach  aus  den  verschiedenen  Eigenschaften,  der  Lage 
und  Anordnung  der  Atome. 

Nach  alledem  muss  es  uns  als  unmöglich  erscheinen,  dass 
schon  Thaies  und  Anaximander  und  Anaximenes  die  Lehre  ver- 
treten haben  sollen,  dass  es  „einen"  allen  Dingen  zu  Grunde 
liegenden  Stoff  giebt,  der  entweder  durch  „Verdichtung  und  Ver- 
dünnung" oder  durch  „Aussonderung"  '")  die  Entstehung  der  Einzel- 
dinge verursacht  und  ihre  Mannigfaltigkeit  erklärt.  Dies  ist  die 
verhängnissvolle  Irrlehre,  die  von  Aristoteles  zum  ersten  Male  im 
allgemeinen  ausgesprochen  und  von  den  Doxographen  in  ihren 
Einzelheiten  ausgedacht  und  ausgesponnen  ist.  Nach  den  Doxo- 
graphen vertreten  schon  Thaies  und  Anaximenes  die  Philosophie 
von  einem  Grundprincip  aller  Dinge,   das    durch   Verdichtung  und 


'")  Arist.  ir,  252. 
Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     XV.  3.  24 


B42  Peithraann,  Die  Naturphilosophie  vor  Sokrates. 

Verdüuuuug  die  verscliiedensten  Gestalten  und  Formen  hervorbringt 
Wir  können  deutlich  sehen,  wie  diese  Lehre  von  der  Verdichtung 
und  Verdünnung  der  „Luft"  zum  ersten  Male  auftritt  in  dem 
System  des  Diogenes.  Nichts  war  daher  natürlicher  für  die  Doxo- 
graphen,  als  diese  Theorie  zurückzudatiren  zum  Anaximenes,  der 
ja  auch  sagte,  dass  die  Dinge  „aus  der  Luft"  kämen  und  „in  die 
Luft"  wieder  verschwänden.  Dann  war  es  aber  äusserst  leicht  und 
selbstverständlich,  diese  bequeme  Lehre  von  Verdichtung  und  Ver- 
dünnung auch  auf  die  vermeintliche  „Wassertheorie"  des  Thaies 
anzuwenden:  und  sie  passte  vorzüglich.  Ebenso  verfuhr  man  mit 
der  Lehre  des  Anaxagoras  von  der  Aussonderung  der  „entgegen- 
gesetzten Qualitäten"  nämlich  des  W^armen  und  Kalten.  Dies  war 
um  so  verführerischer,  da  Anaximander  und  Anaximenes  in  ihrem 
kosmogonischen  System  wirklich  von  den  beiden  „entgegengesetzten 
Gestalten",  nämlich  dem  „Feuer"  und  der  „Nacht",  dem  „Dichten" 
imd  „Dünnen"  gesprochen  hatten'*').  Aber  eine  solche  Zurück- 
datirung  der  Lehre  von  Stoft"  und  seinen  Verwandlungen  ist  ein 
wahrer  Unsinn  und  konnte  nur  vorgenommen  werden  von  Männern, 
die  nur  eine  unklare  und  verwirrte  Vorstellung  hatten  von  der 
Entwicklung  der  Geschichte  der  ältesten  Fhilosophie.  Die  Lehre 
von  der  uXif)  gehört  ans  Ende  der  philosophischen  Entwicklung, 
aber  nicht  an  den  Anfang. 


'■'^)  Mullach  I,  Parm.  113—121. 


xm. 

Wissen  und  Glauben  bei  Pascal. 

Von 
Dr.  Kurt  Waruiuth,  Licentiat  der  Theologie. 

Einleitung. 

Um  Pascal,  gleich  gross  an  Geist  und  Herz,  zu  begreifen, 
muss  man  an  ihm  den  Mathematiker  und  den  Jansenisten  unter- 
scheiden. 

Wie  er  selbst  sagt,  hat  er  sich  lange  Zeit  mit  dem  Studium 
der  abstrakten  Wissenschaften  beschäftigt  und  darauf  zum  Studium 
des  Menschen  gewandt. ') 

Als  die  Wissenschaft  schlechthin  gilt  ihm  die  Mathematik. 
Alle  AVeit  kennt  seine  hervorragenden  Leistungen  hierin. 

Aber  die  abstrakten  Wissenschaften  thuen  ihm  nicht  Genüge: 
neben  einem  klaren,  scharfen  Verstände  besitzt  er  ein  Herz  voll 
Glut    und    Leidenschaft.     Das  Räthsel   des  Menschen   bewegt  ihn; 


^)  I  199.  J'avais  passe  longtemps  dans  l'etude  des  sciences  abstraites, 
et  le  peu  de  communication  qu'on  eu  peut  avoir  m'en  avait  degoüte.  Qand 
j'ai  commence  Tetude  de  l'homme,  j'ai  vu  qua  ces  sciences  abstraites  ne  lui 
sont  pas  propres  et  que  je  m'egarais  plus  de  ma  condition  en  y  penetrant 
que  les  autres  en  les  ignorant:  j'ai  pardonne  aux  autres  d"y  peu  savoir. 
Mais  j'ai  cru  trouver  au  moins  bien  des  compagnons  en  l'etude  de  riiomme 
et  que  c'est  la  vraie  etude  qui  lui  est  propre. 

24* 


344  Kurt  Warmuth, 

vergeblich  sucht  er  bei  den  Philosophen  die  Lösung,  er  findet  sie 
im  Christenthum,  u.  z.  im  Jausenismus.  Das  Studium  des  Menschen 
führt  ihn  zum  Studium  der  Religion. 

Man  kann  so  zwei  Stadien  seines  geistigen  Lebens  unter- 
scheiden: in  dem  ersten  steht  die  Mathematik,  in  dem  zweiten 
der  Mensch  und  die   Religion    im   Vordergründe    seines  Interesses. 

Der  Mathematik  hat  er  besonders  seine  Jugend  gewidmet. 
Von  1647,  wo  er  zuerst  mit  den  Jansenisten  in  Berührung  kommt 
—  er  liest  Jansen:  „Discours  sur  la  reformatiou  de  l'homme 
Interieur"  — ,  bildet  das  Räthsel  des  Menschen  sein  Hauptinteresse. 
Er  studirt  die  Philosophen.  Um  sich  von  seinen  angestrengten 
Studien  zu  erholen,  giebt  er  sich  auf  Rath  der  Aerzte  kurze  Zeit 
dem  weltlichen  Leben  hin.  Das  Ereigniss  auf  der  Brücke  zu 
Neuilly  ruft  ihn  1654  zur  asketischen  Lebensweise  zurück;  er  tritt 
in  nähere  Verbindung  mit  Port-Royal  und  widmet  sich  zumeist 
religiösen  Studien:  im  Jansenismus  hat  er  die  Lösung  des  Räthsels 
vom  Menschen  gefunden.  Er  fasst  den  Plan,  die  Atheisten  zu 
widerlegen.  Er  sammelt  Gedanken  über  die  Religion.  Während 
des  Sammeins  bestimmt  sich  ihm  sein  Plan  näher  dahin,  den 
Glauben  bei  den  Ungläubigen  vorzubereiten;  kann  doch  der  Mensch 
weiter  nichts,  denn  der  Glaube  ist  göttliche  Wirkung.  Er  befolgt 
dabei  die  „Methode  des  Herzens",  sie  heisst:  echauffer,  non 
instruire. ') 

Das  ist  die  Geschichte  von  Pascals  Geist.  Und  die  seines 
Herzens?  Von  Jugend  auf  bis  an  das  Ende  hat  den  Grund  seiner 
Seele  ein  Glaube  erfüllt  voll  Leben  und  Kraft;  gewiss,  er  ist  zu 
Zeiten  zurückgetreten,  aber  dann  umso  gewaltiger  hervorgebrochen. 
Das  ist  das  Geheimniss  von  Pascals  Grösse:  er  vereinigt  in  sich 
ein  eminentes  mathematisches  Genie   und    eine  tiefreligiöse  Natur. 

Das  erste  Stadium.  Als  Mathematiker  tritt  uns  Pascal  in 
den  mathematischen,  naturwissenschaftlichen  und  logischen  Frag- 
menten entgegen:  Preface  sur  le  traite  du  vide,  nach  Faugere 
1647 ;  L'Esprit  geometriquc,  1655?  L'art  de  persuader,  wahr- 
scheinlich erst  1657  oder  58.     Hier  vertraut  Pascal  der  Kraft  des 

2)  II  265. 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  345 

Verstandes  und  vertheidigt  sein  Recht  gegenüber  der  Autorität. 
Wissen  ist  möglich  mit  Hilfe  des  natürlichen  Lichts  und  der 
mathematischen  Methode.  Das  Wissen  erstreckt  sich  auf  das 
natürliche  Gebiet,  der  Glaube  auf  das  übernatürliche;  jedes  hat 
seine  besondere  Ordnung:  auf  dem  natürlichen  hat  der  Verstand, 
auf  dem  übernatürlichen  das  Herz  das  erste  Wort.  Das  Wissen 
ist  des  Menschen  That,  der  Glaube  ist  Wirkung  einer  über- 
natürlichen Kraft. 

Bereits  im  ersten  Stadium  klingt  das  zweite  an.  Pascal 
kennt  eine  ethische  AVirkung  der  Mathematik.  Der  Begriff  der 
doppelten  Unendlichkeit  der  Grösse  und  Kleinheit  weckt  im  Herzen 
Bewunderung  für  die  Grösse  der  Natur  und  Selbsterkenntniss. 
Diese  ethische  Wirkung  hält  er  für  mehr  werth  als  die  ganze 
übrige  Mathematik. 

Das  zweite  Stadium.  Die  abstrakten  Wissenschaften  können 
seinem  glühenden  Herzen,  das  der  Wahrheitsdrang  eines  Faust 
beseelt,  auf  die  Dauer  nicht  genugthun;  er  gräbt  tiefer.  Sein 
Interesse  wird  praktisch.  Das  Räthsel  des  Menschen  lässt  ihm 
keine  Ruhe.  Er  forscht  bei  den  Philosophen:  Epiktet  und 
Montaigne  befriedigen  ihn  nicht.  Ihre  Erkenntniss  des  Menschen 
ist  einseitig.  Er  hält  Abrechnung  mit  ihnen  im  Entretien  avec 
Saci  sur  Epictete  et  Montaigne,  1654.  Die  Lösung  findet  er  im 
Christenthum,  u.  z.  im  Jansenismus. 

Als  Jansenist  zeigt  sich  Pascal  in  den  Pensees.  Die  Lösung 
der  Widersprüche  im  Menschen  hat  er  im  Dogma  vom  Fall,  von 
der  Erbsünde  und  Gnade  gefunden.  Alles  Menschliche  erscheint 
ihm  im  Gegensatz  zur  göttlichen  Gnade  gering.  Das  Glück- 
seligkeits-Interesse leitet  ihn  jetzt.  Die  Wissenschaft  hat  nur  noch 
formalen  Werth.  Ist  doch  Wissen  dem  Menschen  aus  meta- 
physischen und  psychologisch-ethischen  Gründen  unmöglich.  Was 
er  erreichen  kann,  ist  nur  Ungewissheit:  er  ist  unfähig,  gewiss  zu 
wissen  und  absolut  nicht  zu  wissen.  Nur  sein  Elend  kann  und 
soll  er  erkennen.  Dies  soll  ihn  zum  Suchen  eines  Heilmittels 
antreiben.  Das  Heilmittel  ist  der  Glaube.  Nicht  aus  eigener 
Kraft  kann    er  ihn   erwerben.     Er  ist  eine  Gabe  Gottes,    göttliche 


346  Kurt  Warmuth, 

Erleuchtung;  der  Mensch  kann  sich  nur  durch  die  Vernunft  und 
die  Gewöhnung  darauf  vorbereiten.  Die  Entscheidung  liegt  in 
Gottes  Hand:  er  giebt  den  Glauben.  Jedem?  Nein,  nur  dem,  den 
er  erwählt  hat. 

Wir  sehen,  Pascals  Anschauung  über  das  Wissen  ist  einer 
Wandlung  unterworfen.  Als  Mathematiker  sagt  er:  Wissen  ist 
möglich  mit  Hülfe  des  natürlichen  Lichts  und  der  mathematischen 
Methode.  Als  er  sich  von  den  abstrakten  Wissenschaften  zum 
Studium  des  Menschen  gewandt  hat,  w^ird  er  immer  misstrauischer 
gegen  das  Wissen,  da  er  die  verschiedenen,  sich  ganz  wider- 
sprechenden Ansichten  der  Philosophen  über  den  Menschen  liest. 
Das  Misstrauen  wächst,  er  kommt  zu  dem  Schlüsse  des  Sokrates; 
„Ich  weiss,  dass  ich  nichts  weiss!"  Er  steht  jetzt  auf  dem 
Standpunkt  der  weisen  Unwissenheit,  von  der  er  selbst  spricht.^) 
Er  unterwirft  seine  Vernunft  dem  Dogma  vom  Fall  und  von  der 
Gnade.  Im  Glauben  findet  er  die  Gewissheit,  er  ist  das  höchste 
Wissen.  Von  hier  aus  erscheint  ihm  alles  menschliche  Wissen 
unvollständig  und  unsicher. 

Und  seine  Anschauung  über  den  Glauben?  Ueber  das  Wesen 
desselben  urtheilt  er  als  Mathematiker  und  Jansenist  gleich:  er 
charakterisirt  ihn  in  der  Preface  sur  le  traite  du  vide  als  eine 
„übernatürliche  Kraft"  und  in  den  Pensees  als  eine  „Gabe  Gottes". 
Ueber  das  Gebiet  des  Glaubens  urtheilt  er  verschieden.  Als  Mathe- 
matiker beschränkt  er  den  Glauben  auf  das  Gebiet  der  religiösen 
Wahrheiten  und  lässt  neben  ihm,  wenn  auch  im  Range  unter 
ihm,  das  Gebiet  des  Wissens  gelten/)  Als  Jansenist  kennt  er 
nur  ein  Gebiet  der  Wahrheit,  das  des  Glaubens. 


^)  I  180.  Les  Sciences  ont  deux  extremites  qui  se  touchent:  la  prcmieie 
est  la  pure  ignorance  naturelle  oü  se  trouvent  tous  les  hommes  en  naissant; 
l'autre  extremitö  est  celle  oü  arrivent  les  grandes  Arnes  ijui  ayaut  parcouru 
tout  ce  que  les  hommes  peuvent  savoir,  trouvent  qu'ils  ue  savent  rien  et  se 
rencontrent  en  cette  meme  ignorance  d'oü  ils  etaient  partis.  Mais  c'est  une 
ignorance  savante  qui  se  counait. 

■*)  DreydoriT  erklärt  sich  diesen  Respekt  für  die  Theologie  aus  der  Ten- 
denz des  Aufsatzes  „Ueber  das  Leere",  den  Fortschritt  der  Naturwissenschaften 
gegen  die  kirchliche  Reaction  zu  vertheidigen.  Dürfte  er  nicht  tiefer,  nämlich 
in  Pascals  von  Haus  aus  gläubiger  Seele,  begründet  sein? 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  347 

Wir  wollen  uun  im  einzelneu  zu  zeigen  versuchen,  wie  Pascal 
über  Wissen  und  Glauben  zuerst  als  Mathematiker  und  dann  als 
Jansenist  gedacht  hat. 

Litteratur. 

Pascal  hat  die  verschiedenste  Beurtheilung  erfahren. 

Während  Cousin  *)  und  Jetter^)  ihn  für  einen  Feind  der  Philo- 
sophie halten,  nennen  ihn  Havet')  und  Nourrisson ')  einen  Freund 
derselben. 

Im  Gegensatze  zu  Neander'),  der  sagt,  dass  Pascal  den  Streit 
zwischen  Glauben  und  Wissen  ausgeglichen  und  somit  das  Problem 
einer  Versöhnung  von  Glauben  und  AVissen,  Theologie  und  Philo- 
sophie, gelöst  habe,  meint  Jelter,  dass  Pascal  auf  die  rationelle 
Lösung  des  Problems  verzichte,  indem  er  auf  die  Lehre  von  der 
Erbsünde  und  Prädestination  zurückgehe,  wobei  zwischen  dem  Zu- 
stande der  Ungewissheit  und  dem  der  Gewissheit  durch  Offen- 
barung keine  Vermittelung  stattfinde. 

Darin  stimmen  allerdings  fast  alle  Schriftsteller  überein,  dass 
sie  in  Pascals  eigenem  Innenleben  den  Glauben  als  triumphirende 
Macht  ansehen. 

Bereits  Pascals  Schwester,  Gilberte  Perier^"),  sagt  in  der 
Lebensbeschreibung  ihres  Bruders:  „Sein  grosser,  wissbegieriger 
Geist,  der  mit  soviel  Fleiss  Ursache   und  Grund  von  allem  suchte, 


^)  Cousin,  Etüde  sur  Pascal,  5.  ed.  Paris,  1857. 

^)  Jetter,  Jahrbücher  für  deutsche  Theologie,  17.  Bd.,  p.  228—320,  1872. 
„Pascal  wollte  von  der  Philosophie  überhaupt  nichts  wissen." 

')  Havet,  Etüde  sur  les  Pensees  de  Pascal  als  Einleitung  zu  seiner  Aus- 
gabe der  Gedanken,  2  Bde.  Paris  3.  ed.  1881.  „Dass  Pascal  kein  Feind  der 
Philosophie  ist,  beweist  sein  Wort:  La  raison  nous  commande  bien  plus 
imperieusement  qu'un  maitre;  car  en  desobeissant  ä  Tun,  on  est  malheureux 
et  en  desobeissant  ä  l'autre,  on  est  un  sot". 

^)  Nourrisson,  Pascal  physicien  et  philosophe,  Paris  1885  «  Ramener  les 
esprits  des  distractions  qui  les  leurrent  ä  l'etude  d'eux-memes  et  de  la  con- 
naissance  d'eux-memes  a  la  connaissance  de  Dieu  —  n'est  pas  encore  les 
ramener  ä  la  philosophie?  » 

^)  Neander,    Ueber  die   geschichtliche    Bedeutung    der    Pensees    Pascals, 
für  die  Religionsgeschichte  insbesondere,  Berlin,  1847. 
10)  Havet,  Peusees  de  Pascal,  Paris  1881  I  p.  LXIX. 


348  Kurt  Warmuth, 

war  iu  Dingeu  der  Religion  unterthänig  wie  ein  Kind.     Diese  Ein- 
falt hat  sein  ganzes  Leben  über  in  ihm  geherrscht." 

Auch  Faugere^')  giebt  Pascals  persönlichem,  sein  ganzes  Wesen 
durchdringendem  Glauben  ein  glänzendes  Zeugniss.  Nach  ihm  ist 
Pascals  Meinung  nicht,  dass  der  Mensch  ohne  Christus  schlechthin 
jedes  Begriffs  von  Gott,  von  dem  wahren  Guten,  der  Gerechtigkeit 
und  Seligkeit  entbehre.  Sein  Misstrauen  in  die  natürliche 
Vernunft  des  Menschen  ging  nie  so  weit.  Er  glaubte  vielmehr,  dass 
die  vollkommene  Erkenntniss  Gottes,  des  Wahren  und  Guten  un- 
trennbar wäre  von  der  Erkenntniss  Christi. 

Ebenso  warnt  Sainte-Beuve  '''*),  Pascal  zu  sehr  als  Skeptiker 
zu  fassen,  wozu  der  Skepticismus  unserer  Tage  verleite.  Pascals 
Glaube'^)  war  tief,  lebhaft  und  wahr. 

In  seinem  grossen  Werke  über  Port-Royal'^)  feiert  Sainte- 
Beuve  Pascals  Liebe  zu  Jesu,  indem  er  ausruft:  «  Quel  amour 
debordant!  quelle  tendresse!  quelle  fusion  de  tout  en  l'unique  Media- 
teur! Ce  livre  des  Pensees,  dans  son  ensemble,  si  revctu  d'eclat,  si 
arme  de  rigueur  et  comme  d'cpouvante  au  dehors,  et  si  tendre, 
si  onctueux  au  fond,  se  figure  a  mes  yeux  comme  une  arche  de 
cedre  ä  sept  replis,  revetue  de  lames  d'or  et  d'acier  impenctrable, 
et  qui,  tout  au  centre,  reuferme  a  nu,  amoureux,  douloureux, 
joyeux,  le  coeur  le  plus  saignant  et  le  plus  immole  de  l'Agneau. 
Saint-Jean,  l'Apotre  de  l'amour,  eut-il  jamais  plus  de  tendresse 
et  de  suavite  sensible  que  cet  Archimede  en  pleurs  au  pied  de 
la  Croix?  » 

Aehnlich  Havet^^).  Von  Anfang  an  steht  Pascal  auf  dem 
Felsen  des  Glaubens'*).     Nicht  als  Freigeist,  der  vom  allgemeinen 


")  Faugere,  Pensees,  fragments  et  lettres  de  Bl.  Pascal,  1844. 

12)  Sainte-Beuve,  Portraits  contemporains,  Paris   184G. 

13)  Cf.  Kurt  Warmutii,  Das  religiös-ethische  Ideal  Pascals,  Leipzig,  Georg 
Wigand,  1901.    p.  8. 

'^)  Sainte-Beuve,  Port-Royal,  Paris  1860  III,  381.     Cf.  II,  377  —  III,  393. 

»)  a.  a.  0. 

'*"')  La  vie  de  Pascal  appartient  ä  la  foi  tout  eutiere;  on  ne  saurait  trouver 
dans  cette  existence  si  suivie  un  intervalle  oü  on  puisse  supposer  que  la  foi 
se  soit  retiree  de  lui. 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  349 

Zweifel  ausgeht,  darf  man  sich  ihn  vorstellen;  er  geht  vom  Glauben 
aus,  der  Glaube  ist  bei  ihm  tief,  unaustilgbar  eingewurzelt;  unter- 
wegs begegnet  er  dem  Zweifel,  nicht  als  einem  Princip,  sondern 
als  einem  Hindernisse.  „Nicht  ein  Philosoph,  der  seinen  Weg 
sucht  oder  sich  anstrengt,  die  Wahrheit  zu  entdecken,  ist  Pascal, 
sondern  ein  Gläubiger,  der  die  Wahrheit  kennt,  und  der  Schwierig- 
keiten zu  lösen  sucht,  die  sie  verdunkeln"^').  Am  vollkommenen 
Verständnisse  Pascals  hindert  uns  der  Rationalismus  unserer  Zeit  '*). 

Auch  Faguet '')  sieht  den  Innern  Grund  von  Pascal  im 
Glauben;  „er  ist  Gläubiger  gewesen  von  Geburt,  Erziehung  und 
geheimem  Instinkt  des  Herzens,  vielleicht  ohne  Unterbrechung, 
wenn  auch  nicht  ohne  Sturm".  Faguet  zeichnet  den  Gang  von 
Pascals  Denken.  Mit  ^lontaigne  überzeugt  sich  Pascal  au  tausend 
Beobachtungen  von  der  Ohnmacht  des  Menschen,  irgend  eine  Wahr- 
heit zu  finden,  die  so  sei,  um  sich  darauf  zu  stützen.  Aber  er 
findet  keine  Freude  am  Zweifel  wie  Montaigne,  er  schmerzt  ihn. 
Montaigne  schätzt  die  Menschen  in  ihrem  Elend  gering,  Pascal  be- 
mitleidet sie.  So  führt  ihn  die  Liebe  zum  Glauben.  Er  recon- 
struirt  das  ganze  Gebäude,  das  er  niedergerissen  hat.  Worauf? 
Alle  menschliche  Gewissheit  ist  bis  auf  den  Grund  zerstört !  Darauf 
nicht,  sondern  auf  die  göttliche  Gewissheit.  Man  muss  sich  der 
Offenbarung  von  oben  anvertrauen.  „Seid  Christen,  hört  Gott!" 
Die  menschliche  Vernunft  ist   für  sich  allein   schwach,  aber  es  ist 


^0  «Er  eröffnet  sozusagen  die  Preisbewerbung  unter  allen  menschlichen 
Doctrinen,  das  Problem  unserer  Bestimmung  zu  lösen,  den  Preis  der  besten 
Lösung  versprechend.  Aber  diese  Lösung  hat  er  schon  im  Moment,  da  er 
nach  ihr  fragt;  sein  Autrag  ist  nur  eine  Herausforderung".  In  der  janse- 
nistischen  Theologie  hat  er  die  Lösung  gefunden.  „Der  natürliche  Mensch,  in 
dem  das  Werk  der  Gnade  sich  nicht  vollzogen  hat,  ist  so  zur  Finsterniss  ver- 
urtheilt,  dass  er  sich  nicht  einmal  vergewissern  kann,  wo  das  Licht  ist,  noch 
ob  die  Religion,  die  es  ihm  darbietet,  es  in  der  That  besitzt.  Aber  es  giebt 
eine  andere  Hebelkraft:  sobald  die  allmächtige  Gnade  gewirkt  hat,  ändert  sich 
alles:  ich  sehe,  ich  weiss,  ich  glaube;  wir  sind  Gottes  und  durch  ihn  alles 
übrigen  gewiss." 

'*)  cf.  Kurt  Warmuth,  Das  religiös-ethische  Ideal  Pascals.  Leipzig,  Georg 
Wigand,  1901,  p.  10. 

'^)  Faguet,  Dix-septieme  siecle,  etudes  litteraires,  Paris  189-i. 


350  Kurt  Warmuth, 

eine  glückliche  Schwachheit,  da  sie  den  Menschen  zwingt,  seine  Zu- 
flucht zur  höchsten  Vernunft  zu  nehmen. 

Aehnlich   Nourrisson^"):   „Pascal   n'est  pas    un  pur  speculatif 
qui    s'evertue   en   des  recherches  savantes.      C'est  un   croyant  qui 
se  tourne  avec  amour  apres  l'avoir  decouvert  vers  le  Christ,  dont 
il  fait  sans  doute  un  Christ  aux  bras  etroits,  mais  qui  enfin  a  ses 
regards  consolcs  apparait  corame  un  Christ  liberateur.     Ne   cher- 
chez  donc  point  dans  les  Pensees  de  Systeme  curieux  sur  l'homme, 
sur  sa  nature,  sur  sa  destinee.     Mais  a  chaque  ligne,  c'est  l'homme 
lui-meme  que  les  Pensees  nous  presentent,  melange  extraordinaire 
de  grandeur  et  de  bassesse,  ni  ange  ni  bete,  tour  a  tour  chetif  ver 
de  terre  et  roi   depossede.     En   un  mot,   la  philosophie   de  Pascal 
est  une  philosophie  vivante  qui  saisit  ii  la  gorge  les  plus  frivoles 
ou  les  plus  braves,  mais  qui  ne  les  trouble  que  pour  les  assagir." 
Jetter "')   erklärt  die   Widersprüche    in   Pascals  Ansicht    über 
die  Möglichkeit  und   Wahrheit    des    menschlichen    Erkennens    aus 
Pascals  mathematischem    und    jansenistischem  Standpunkte.      Als 
Mathematiker  bejaht  er  die  Möglichkeit  und  Wahrheit  des  mensch- 
lichen Erkennens,   als  Theolog    verneint  er  sie.     Als  Janseuist  be- 
müht er  sich,   den  Menschen  in  intellectueller  und  ethischer  Be- 
ziehung   möglichst    herabzudrücken   zu   Gunsten    der  Gnade.     Das 
Interesse,  das  ihn  in  den  Pensees  leitet,  ist  ausschliesslich  ein  reli- 
giöses, kein  philosophisches. 

Dreydorfl")  ist  der  Meinung,  dass  Pascal  über  das  Verhältniss 
von  Glauben  und  Wissen  zu  verschiedenen  Zeiten  verschieden  ge- 
dacht habe. 

Interessant  ist,  wie  Ferdinand  Lotheissen")  Pascal  beurtheilt. 
Er  rühmt  dessen  geistige  Unabhängigkeit.  „Ein  freier,  stolzer  Geist 
lebte  in  ihm,  so  sehr  er  sich  auch  bemühte,  ihn  in  Fesseln  zu 
schlagen.  Aber  tiefer  und  tiefer  versank  er  in  die  unselige,  krank- 
hafte Stimmunji,  die  ihn  dazu  brachte,  gegen  sich  zu  wüthen.     Er 


20)  a.  a.  0. 

21)  a.  a.  0. 


22)  DreydoilT,  Pascals  Gedanken  über  die  Religion,  Leipzig  1875. 
2'')  Ferdinand  Lotheissen,  Gesch.  der  französischen  Literatur  im  17.  Jahrh. 
3  Bd.,  Wien  1883. 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  351 

gehörte  offenbar  zu  dem  Geschlecht  der  energischen  Männer,  denen 
der  Boden  zu  einer  grossen  Thätigkeit  fehlt,  die  sich  darum  in 
sich  selbst  verzehren,  sich  in  gewagten,  selbst  gewaltthätigen 
Theorien  verlieren  und  rastlos  in  ihrem  Geiste  umgetrieben  werden. 
Hätte  Pascal  in  den  ersten  Jahrhunderten  des  Christenthums  ge- 
lebt, sein  Fanatismus  hätte  ihn  als  Einsiedler  in  die  Wüste  ge- 
führt; er  hätte  in  fremden  Zungen  geredet  und  wäre  dem  er- 
schreckten Volke  als  ein  Heiliger  erschienen.  Aber  ebenso  hätte 
ihn,  wenn  er  im  Jahrhundert  der  Aufklärung  erschienen  wäre,  sein 
scharfer  Geist,  sein  Schwung,  seine  ätzende  Logik  vielleicht  in  die 
Reihe  der  entschiedensten  Revolutionäre  neben  Rousseau  geführt. 
Das  17.  Jahrhundert  bot  ihm  am  wenigsten  Spielraum.  Wir  können 
nur  bedauern,  dass  er  seine  seltene  geistige  Kraft  nicht  der  Er- 
forschung der  Naturgesetze  zugewandt  hat,  wie  er  in  seiner  Jugend 
so  erfolgreich  begonnen.  Dann  besässe  Frankreich  wahrscheinlich 
in  ihm  einen  Mann,  den  es  neben  Newton  stellen  könnte."  In 
den  Pensees  lobt  Lotheissen  besonders  Pascals  Schilderung  des 
Menschen  und  seiner  Natur.  „Pascal  zeigt  sich  darin  als  einen 
unübertroffenen  Kenner  der  menschlichen  Natur,  deren  Tiefen  er 
ergründet  hat.  Von  dichterischer  Kraft  erfüllt,  ragt  er  stellenweise 
an  Dante  heran  und  grübelt  gleich  Hamlet  über  dem  Geheimniss 
alles  Seins." 

L.  Petit  de  Julleville^*)  polemisirt  gegen  die  Behauptung, 
Pascal  sei  Skeptiker  auf  religiösem  Gebiet  gewesen;  sein  ganzes 
Leben,  alle  seine  Worte,  endlich  sein  Tod  protestiren  dagegen. 
„Cet  homme-la  etait  le  contraire  d'un  sceptique  ou  meme  d'un 
chretien  haute  par  le  doute.  »  C'est  un  enfant,  disait  avec  raison 
le  P.  Beurier,  sou  eure,  il  est  humble  et  soumis  comme  un  en- 
fant! «  Si  Pascal  est  sceptique,  c'est  a  la  fa^on  de  Descartes, 
l'inventeur  du  doute  provisoire,  et  s'il  a  ose  se  servir  d'une  arme 
aussi  dangereuse,  c'est  precisement  parce  que  ce  grand  croyant  ne 
craignait  pas  de  se  blosser  en  la  maniant  pour  exterminer  ses 
ennemis.      Faire    de    Pascal    une    sorte  de  Rene,    de  Werther  ou 


-*)  Histoire  de  la  langue  et  de  la  litterature  franijaise  des  origines  ä  1900 
Armand  Colin,  Paris  1897,  Tome  IV,  p.  560  ff. 


352  Kurt  Warmuth, 

d'Obeiland,  c'est  vouloir  ue  rien  comprendre  ni  a  sa  vie  ni  a  ses 
(cuvres."  Schön  sind  die  Worte,  in  denen  er  den  literarischen 
Werth  der  Pensees  charakterisirt :  „II  y  a  dans  les  Pensees  une 
poesie  vraiment  sublime.  La  coutemplation  de  ces  espaces  infinis, 
le  parallele  du  ciron  et  du  firmament  tout  entier,  la  definition  de 
rhomrae,  ce  roseau  pensant  qui  n'est  ni  ange  ni  bete,  decelent 
un  poete  de  genie  et  nous  ravissent  d'admiration." 

Auch  Victor  Giraud^^)  verneint  die  Frage,  ob  Pascal  Skeptiker 
gewesen.  Er  sagt:  Pascal  nest  pas  un  sceptique,  puisqu'il  croit 
a  la  puissauce  (au  moins  relative)  de  la  raison  pour  preparer  les 
voies  ä  la  grace;  il  ne  faut  meine  pas  dire  que,  si  Pascal  n'etait 
pas  chretien,  il  serait  sceptique:  car  il  ctait  trop  epris  de  certitude 
pour  que,  une  foi  positive  lui  manquant,  il  ne  la  rempla^ät  pas 
par  une  autre. 

Joseph  Bertrand")  giebt  in  der  Einleitung  eine  Reihe  inter- 
essanter Urtheile  über  Pascal  von  Lenaiu  de  Tillemont,  Fontaine, 
Madame  de  Sevigne,  Boileau,  Racine,  Voltaire,  De  Chateaubriand, 
Lamennais  etc.  und  sagt:  Les  esprits  delicats  admireut  en  Pascal 
l'ecrivaiu  le  plus  parfait  du  plus  grand  siecle  de  la  langue  fraucaise. 
Les  savants  honorent  son  genie;  les  plus  fervents  chretiens  se 
disent  fortifies  par  sa  foi,  et  les  incredules,  saus  ignorer  qu'ils  lui  fönt 
horreur,  voient  dans  Tadversaire  triomphant  des  jesuites  un  precieux 
allie  qu'ils  menagent.  Pascal  est  grand  dignitaire  dans 
le  monde  des  esprits;  on  serait  tente  de  l'appeler  Monseigneur. 
On  se  compromet  moins  en  meeonnaissant  La  Fontaine  ou  Moliere 
qu'en  parlant  legerement  de  Pascal.  Une  faiblesse  ou  un  tort  de 
Pascal,  quand  l'evidence  contraint  a  les  avouer,  doivent  prouver 
seulement  l'iraperfection  de  la  nature  humaine.  Auf  die  Frage, 
ob  Pascal  ein  Skeptiker  gewesen,  antwortet  Bertrand:  Nein.  Ueber 
die  Einwürfe  des  Skepticismus  triumphirt  Pascal  in  Kraft  des 
Glaubens. 


25)  Victor  Glraud,  Pascal,    riiomme,  IViivre,    l'influeiice,    Fribourg  1898 

p.  120. 

Siö)  Joseph  Bertrand,  Blaise  Pascal,  Paris,  Calmanu  Levy  1891, 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  353 

Emile  Boutroux")  zieht  in  gedrängter,  aber  meisterhafter 
Form  die  Summe  der  Forschung  über  Pascal,  giebt  eine  scharf- 
sinnige Analyse  der  Pensees  uud  lässt  uns  einen  tiefen  Blick  in 
die  Eigenthümlichkeit  dieses  Genies  thun.  Die  Beziehungen  von 
Vernunft  und  Glauben  bei  Pascal  hat  Boutroux  in  einer  Vor- 
lesung^^) im  Sommersemester  1898  eingehend  behandelt.  Ein 
Student  hat  sie  nachgeschrieben.  Boutroux  war  so  liebenswürdig, 
sie  mir  zu  übersenden.  Er  sagt  darin  etwa  folgendes:  Die  Vernunft, 
eingeschlossen  in  die  Welt  der  sinnlichen  Dinge,  ist  unfähig,  über- 
natürliche und  religiöse  Dinge  zu  begreifen  und  zu  beweisen;  sie 
verwickelt  sich  auf  diesem  Gebiet  in  unlösliche  Widersprüche. 
Der  Mensch  muss  sich  also  der  Religion  anvertrauen,  der  Macht, 
die  über  der  Vernunft  steht,  und  muss  blindlings  (les  yeux  fermes) 
glauben.  Das  ist  die  classische  Interpretation  Pascals.  Dagegen 
sagen  andere:  Pascal  unterscheidet  nur  zwischen  dem  rechten  und 
falschen  Gebrauch  der  Vernunft,  er  hat  nichts  gegen  die  recht 
gebrauchte  Vernunft.  Boutroux  meint  nun:  es  handelt  sich  bei 
Pascal  nicht  um  das  Verhältniss  zwischen  Vernunft  und  Glauben. 
Er  beobachtet,  was  in  einem  Menschen  vorgeht,  der  sich  bekehrt 
hat  und  sich  auf  dem  Wege  der  Gnade  befindet.  Drei  Phasen 
lassen  sich  da  unterscheiden. 

1.  Der  Gebildete  des  17.  Jahrhunderts  steht  dem  Christentum 
mit  seinen  Wundern  feindlich  gegenüber,  es  ist  ihm  ein  Greuel. 
Die  Vernunft  begreift  indess  nichts  vom  Uebersiunlicheu,  sie  ist 
nicht  fähig,  die  Probleme  zu  lösen,  welche  unser  Seelenheil  be- 
treffen, sie  ist  nur  ein  Werkzeug,  Schlüsse  zu  ziehen  ohne  Rück- 
sicht auf  den  Inhalt  der  Prämissen.  Die  christliche  Religion  ist  aber 
wenigstens  eine  mögliche  Hypothese. 

2.  Neben  den  Sinnen  und  der  Vernunft  besitzt  der  Mensch 
noch  das  Herz.  Unsre  Jiiebe  ist  indess  egoistisch  und  macht  sich 
selbst  zum  Mittelpunkt  von  allem.  Unser  Herz  muss  nun  auf 
diese  Eigenliebe  verzichten  und  Gott  zum  Mittelpunkt  des  Ganzen 
machen. 


^^)  Emile  Boutroux,  Pascal,  Paris,  Ilachette  1900. 

^*)  Revue  des  cours  et  Conferences,  7  Juillet  1898  Paris,  societe  tran^aise 
d'imprimerie  et  de  librairie. 


354  Kurt  Warmuth, 

3.  Wenn  dann  die  Gnade  Gottes  in  uns  wirkt  und  uns  zu 
ihm  zieht,  so  scheint  es  uns,  als  ob  der  Wandel  von  uns  bewirkt 
werde.  Aber  die  Umkehr  ist  schon  das  Werk  der  Gnade  Gottes. 
Die  Demut  ist  das  Zeichen  der  göttlichen  Inspiration.  So  zurück- 
geführt zu  seinem  ersten  Zustand  der  Unschuld,  wird  das  Herz 
fähig,  die  religiöse  Wahrheit  zu  erkennen.  Der  Glaube  ist  eine 
Mittelstufe  zwischen  der  Blindheit  der  Sinne  und  dem  Schauen 
der  Seligen. 

Das  sind  die  drei  Phasen,  durch  welche  der  Mensch  zu  Gott 
emporsteigt.  Der  Glaube  ist  nach  Pascal  eine  Bewegung  des 
Herzens,  die  durch  Gott  bewirkt  wird,  und  aus  der  eine  fort- 
schreitende, aber  nie  vollkommene  Erkenntniss  Gottes  resultirt.  — 
Die  Lehre  Pascals  über  Glauben  und  Vernunft  lässt  sich  auf  zwei 
Thesen  zurückführen: 

1.  Die  Vernunft  genügt  sich  nicht,  sie  ist  nicht  autonom.  Es 
giebt  etwas  Höheres,  dem  sie  sich  unterordnen  muss;  sie  ist  nicht 
der  Massstab  der  Wahrheit. 

2.  Was  Pascal  über  die  Vernunft  stellt,  ist  die  Liebe,  die 
Liebe  zu  Gott,  als  ein  Gnadengeschenk.  Es  ist  das  Uebernatür- 
liche,  das  christlich  Uebernatürliche.  Der  Mensch  verleugne  sich 
selbst  und  ergebe  sich  Gott.  Die  Liebe  zu  Gott  ist  eine  Pflicht, 
da  der  Gegenstand  unserer  Liebe  gross,  schön  und  liebenswerth  ist. 
In  dieser  Liebe  müssen  alle  einig  sein,  das  ist  die  ethische  Ein- 
heit (unite  morale).  Es  genügt  nicht,  die  Menschen  zu  lehren, 
dass  sie  die  Interessen  des  Nächsten  schonen,  sondern  alle  Schranken 
zwischen  den  Menschen  müssen  beseitigt  werden,  und  alle  müssen 
in  der  Verehrung  des  Wahren,  Guten  und  Schönen  eins  sein. 

Bezeichnend  ist,  was  Nietzsche"")  von  Pascals  Glauben  sagt: 
„Pascals  Glaube  sieht  auf  schreckliche  Weise  einem  dauernden 
Selbstmorde  der  Vernunft  ähnlich,  einer  zähen,  langlebigen,  wurm- 
haften  Vernunft,  die  nicht  mit  einem  Streiche   totzumachen  ist." 


2')  Friedrich  Nietzsche,  Jenseits  von  Gut  und  Böse.  Zur  Genealogie  der 
Moral.  Leipzig,  Naumann  1899.  p.  70  cf.  p.  69:  „Um  zu  erraten  und  fest- 
zustellen, was  für  eine  Geschichte  bisher  das  Problem  von  Wissen  und  Ge- 
wissen in  der  Seele  der  homines  religiosi  gehabt  hat,  da/.u  müsste  einer  viel- 
leicht selbst  so  tief,  so  verwundet,  so  ungeheuer  sein,  wie  es  das  intellectuelle 
Gewissen  Pascals  war." 


Wissen  uud  Glauben  bei  Pascal.  355 

Isaac  Taylor'")  vergleicht  in  der  Einleitung  zu  seiner  Ueber- 
setzuug  der  Pensees  Pascal  mit  La  Rochefoucauld,  beide  nennt  er 
„Anatomiker  des  menschlichen  Herzens".  Während  La  Rochefoucauld 
kalt  und  theiluahmlos  die  Verderbtheit  des  Menschengeschlechts  fest- 
stellt und  au  seine  Besserung  nicht  glaubt,  schaut  es  Pascal  er- 
schüttert und  voll  Mitleid  an  und  hofft  in  athemloser  Erwartung  auf 
die  Stunde,  wo  es  sich  in  der  Kraft  des  heiligen  Geistes  erneuern 
wird. 

Eine  warme  Würdigung  lässt  Raoul  Richter'^)  Pascal,  dem 
Moralphilosophen,  zu  Theil  werden.  Pascal  hat  es  wie  kein  anderer 
verstanden,  aus  dem  gefälligen  Hinleben  in  der  laxen  und  be- 
quemen Jesuitenmoral  den  Menschen  aufzurütteln,  ihm  den  furcht- 
baren Ernst  und  die  ganze  Schwierigkeit  ethischer  Konflikte  vor 
Augen  zu  stellen  und  die  Stunden  der  Einsamtkeit,  die  alle  fliehen, 
nicht  zu  Stunden  der  Langenweile,  sondern  der  Selbstbesinnung 
und  damit  der  Gewissensvertiefung  und  ethischen  Selbstdisciplin 
zu  machen.  So  wollen  die  Pensees  zunächst  auch  mehr  aus 
praktischem  Bedürfnisse  als  aus  wissenschaftlichem  Interesse  in 
die  Hand  genommen  sein.  Der  Bischof  d'Aulonne,  zum  Druck 
der  ersten  Ausgabe  der  Pensees  um  sein  Gutachten  befragt,  schrieb 
in  dem  Sinne:  dass  ein  einziger  dieser  Gedanken  genüge,  um  die 
Seele  eines  Menschen  einen  ganzen  Tag  zu  nähren,  wenn  er  ihn 
zu  diesem  Zwecke  lese:  so  erfüllt  seien  sie  alle  von  Wärme  und 
Glanz.  Seine  Lehre  hat  Pascal  durch  sein  Leben  besiegelt.  Wie 
Sokrates  und  Spinoza  gehört  er  zu  den  Männern,  bei  denen  man 
Theorie  und  Praxis  völlig  im  Einklang  finden  wird.  So  steht  er 
als  Mensch  und  Denker  da  als  einer,  an  dem  die  Goethesche 
Bitte  in  Erfüllung  gegangen:  „Grosse  Gedanken  und  ein  reines 
Herz,  das  ist's,  was  wir  uns  von  Gott  erbitten  sollten." 

Auch  eines  deutschen  Theologen  sei  gedacht,  dem  ich  die 
Liebe    zu    Pascal    verdanke:     Chr.  Ernst  Luthardt '").     In    seinen 


^°)  Isaac  Taylor,  Tlioughts  on  Religion  and  Philosopliy  by  BI.  Pascal, 
London,  1894. 

2')  Archiv  für  Gesch.  der  Philosophie,  12  p.  68ff. 

^2)  Luthardt,  Apologet.  Vorträge  über  die  Grundwahrlieiten  des  Christeii- 
thums,  Leipzig,  DörffUng  u.  Frauke  1883. 


356  Kurt  Warrauth, 

Schriften  und  Vorlesungen  erwähnte  er  oft  Pascal.  Und  wenn 
ich  in  seinem  schönen  Park  in  Leipzig  mit  ihm  spazieren  gehen 
durfte  und  die  Rede  auf  Pascal  kam,  leuchteten  seine  Augen  in 
heiliger  Begeisterung. 

Dass  das  Interesse  für  Pascal  gegenwärtig  in  Frankreich  ein 
actuelles  ist,  beweist  die  stets  wachsende  Zahl  der  Ausgaben, 
Studien  und  Vorlesungen,  die  Pascal  behandeln.  Victor  Giraud 
sagt  in  seinen  ausgezeichneten  Vorlesungsskizzen  über  Pascal,'^)  dass 
in  den  letzten  Jahren  nicht  weniger  als  sechs  Ausgaben  der 
Pensees  erschienen  sind:  von  Didiot  (Paris,  Desclee  et  Brouwer), 
Guthlin  (Paris,  Lethielleux),  Michaut  (Fribourg,  Collectanea  Fri- 
burgensia)  1896,  Faugere  (2*-  edition,  Paris,  Leroux),  Brunschvicg 
(Paris,  Hachette),  Margival  (Paris,  Poussielgue)  1897. 

Eine  stattliche  Reihe  von  Abhandlungen  beschäftigt  sich  mit 
Pascal.  Ausser  den  Einleitungen  zu  den  eben  genannten  Aus- 
gaben sind  folgende  Studien  zu  nennen:  P.  Bourget:  Pascal 
(Etudes  et  portraits,  Lemerre  1879):  Droz:  Essai  sur  le  scepticisme 
de  Pascal  (Alcan,  1886);  Scherer:  La  religion  de  Pascal  (Etudes 
litt.  cont.  T.  IX,  1887.  C.  Levy);  Ravaisson:  La  philosophie  de 
Pascal  (Revue  des  Deux-Mondes,  15  mars  1887);  Brunetiere: 
Etudes  critiques,  T.  I,  III,  IV,  (art.  de  1879,  1885,  1889,  1890, 
Hachette);  C.  Adam:  Etudes  diverses  sur  Pascal  (1887,  1888,  1891; 
cf.  die  Bibliographie  der  Ausgabe  von  Michaut);  Rauh:  La  phi- 
losophie de  Pascal  (Ann.  de  la  Fac.  de  Bordeaux,  1891);  Sully 
Prudhomme:  folgende  Artikel  in  der  Revue  des  Deux-Mondes 
15.  Juli,  15.  October,  15.  November  1890  und  in  der  Revue  de  Paris 
vom  1.  Sept.  1894;  Lanson:  Pascal  (Hist.  de  la  litt,  franvaise, 
Hachette,  1894);  Gazier:  Pascal  et  les  ecrivains  de  Port-Royal 
(Historie  de  la  langue  et  de  la  litt,  franyaise.     A.  CoUin  1897). 

Vorlesungen  über  Pascal  hielten:  E.  Boutroux  1897  und  1898 
an  der  Sorbonne;  sie  sind  in  der  Revue  des  cours  et  Conferences 
1898  erschienen;  Lanson  an  der  Ecole  Normale;  Nourrisson  am 
College  de  France  (la  metaphysique  de  Pascal);  A,  Betrand  an  der 


83)  Pascal,  Fribourg  1898  p.  7  ff. 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  357 

Universität  zu  Lyon;  Victor  Giraud  an  der  Universität  Fribourg 
im  Sommersemester  1898. 

Wie  stark  das  Geistesleben  in  Frankreich  jetzt  von  Pascal 
beherrscht  ist,  beweisen  endlich  verschiedene  Zeugnisse  bedeutender 
Gelehrter  über  ihn.  Der  jüngst  preisgekrönte  Dichter  Sully  Prud- 
homme^*)  sagt:  «  Ce  qu'il  nous  importait  surtout  de  reconnaitre, 
c'etait  la  relation  proche  ou  lointaine  des  idees  de  Pascal  avec  les 
idees  modernes  et  Celles  que  nous  avions  pu  nous  former  nous- 
memes  sur  les  questions  capitales  remuees  si  puissamment  par  lui  ». 

Ein  Historiker,  G.  Monod,  ^^)  rühmt:  «Les  ouvrages  de  Vinet 
ont  ete,  avec  les  Pensees  de  Pascal,  les  livres  qui  ont  le  plus 
influe  sur  ma  vie  morale.  »  Ein  Theolog,  A.  Sabatier,  ^'^j  bekennt: 
«  Le  premier  livre  qui  passionna  ma  jeunesse,  ce  fut  le  livre  des 
Pensees,  sans  nul  doute  parce  qu'il  me  faisait  assister,  dans  l'äme 
de  Pascal,  en  la  traduisant  en  paroles  de  flamme,  ä  cette  lutte  entre 
la  raison  et  la  foi,  entre  la  conscience  et  la  science  dont  je  com- 
men^ais  moi-merae  a  souffrir.  » 


Torbenierkuiig. 

Anthropologie  und  Psychologie  Pascals. 
a)  Anthropologie. 

In  seinen  anthropologischen  Anschauungen  ist  Pascal  von 
Descartes  beeinflusst.  "Wie  dieser  sieht  er  das  Wesen  des  Menschen 
im  Denken.  Wie  dieser  scheidet  er  scharf  Geister-  und  Körper- 
welt: Denken  und  Ausdehnung  stehen  sich  als  zwei  einander  aus- 
schliessende  Substanzen  verbinduogslos  gegenüber. 

Der  Mensch '')  besteht  aus  zwei  Substanzen  verschiedener,  ent- 

^)  Revue  des  Deux  Jlondes,  15  oct.  1890  p.  760. 

^^)  Portraits  et  Souvenirs,  Paris  1897,  p.  VI. 

^^)  Esquisse  d'une  philosophie  de  la  religion,  Paris  1897  p.  4. 

'')  II  73.  Nous  souimes  composes  de  deux  natures  opposees  et  de  divers 
genres:  d'ame  et  de  corps.  Car  il  est  impossible  que  la  partie  qui  raisonne 
en  nous  seit  autre  que  spirituelle;  et  quand  on  pretendrait  que  nous  serions 
simplemeut  corporels,  cela  nous  exclurait  bien  davantage  de  la  connaissance 
des  choses,  n'y  avant  rien  de  si  inconcevable  que  de-  dire  que  la  matiere  se 
connait  soi-meme. 

Archiv  f.  Geschiebte  d.  PhUosophie.    XV.  3.  25 


358  Kurt  Wariauth. 

gegengesetzter  Art:  aus  Leib  und  Seele  oder  Geist;  Seele  und  Geist 
sind  bei  Pascal  identisch. 

Das  Wesen  der  Seele  ist  das  Denken.  Im  Denken  besteht 
die  Grösse  und  Würde  des  Menschen  ='^).  Der  Gedanke  erhebt  ihn 
über  den  Raum'').  Der  Gedanke  ist  etwas  seiner  Natur  nach  Un- 
vergleichliches"). 

Aber  man  muss  dem  Denken  die  rechte  Richtung  geben,  mau 
muss  gut  denken:  Das  richtige   Denken  ist  Princip   der  Moral*'). 

Den  Menschen  nach  seiner  psychisch-physischen  Natur  nennt 
Pascal  einen  Automaten*'),  eine  Maschine*^).  Die  denkende 
Seele  erst  constituirt  das  Wesen  des  Menschen^'). 

Zwischen  Körper-  und  Geisterwelt  giebt  es  keine  Verbindung; 
getrennt  stehen  sie  sich  gegenüber. 


38)  II  83.  La  Pensee  fait  la  grandeur  de  Thomme.  II  85.  Toute  la  dignite 
de  l'homme  est  en  la  pensee.     I  105:  L'homme  est  ne  pour  penser. 

39)  II  84.  Ce  n'est  point  de  l'espace  que  je  dois  chercher  ma  dignite, 
mais  c'est  du  reglement  de  ma  pensee.  Je  n'aurai  pas  davantage  en  posse- 
dant  des  terres.  Par  l'espace  l'univers  me  comprend  et  m'engloutit  comme 
un  point;  par  la  pensee  je  le  comprends. 

L'homme  n'est  qu'un  roseau  le  plus  faible  de  la  nature,  mais  c'est  un 
roseau  pensant.  Quand  l'univers  Tecraserait,  l'horame  serait  encore  plus  noble 
que  ce  qui  le  tue  parce  qu'il  sait  qu'il  meurt. 

*<*)  II  85.  La  pensee  est  donc  une  chose  admirable  et  incomparable  par 
sa  nature. 

*0  II  84.  Toute  notre  dignite  consiste  en  la  pensee  .  .  .  Travaillons  donc 
k  bien  penser:  voila  le  principe  de  la  morale. 

L'homme  est  visiblement  fait  pour  penser;  c'est  toute  sa  dignite  et  tout 
son  merite,  et  tout  son  devoir  est  de  penser  comme  il  faut:  or  l'ordre  de  la 
pensee  est  de  commencer  par  soi  et  son  auteur  et  sa  fin. 

*2)  II  174,  175. 

*^)  I  182.  Pascal  kennt  auch  auf  psychischem  Gebiet  Vorgänge,  die 
maschinenmässig  und  automatisch  eintreten,  d.  h.  völlig  unwillkürlich,  wie  die 
Associationen  etc.  Descartes  dagegen  bezeichnet  nur  den  Körper  als  Maschine 
oder  Automaten.     Wir  sehen,  Pascal  dehnt  die  Anwendung  dieses  Begriffs  aus. 

''•')  II  85.  Je  puis  bien  concevoir  un  homme  sans  mains,  pieds,  tete,  car 
ce  n'est  que  l'experience  qui  nous  apprend  que  la  tete  est  plus  necessaire 
que  les  pieds;  mais  je  ne  puis  concevoir  l'homme  sans  pensee:  ce  serait  une 
pierre  ou  une  brüte.  C'est  donc  la  pensee  qui  fait  l'etre  de  Thorame,  et  sans 
quoi  on  ne  peut  le  concevoir.  Qu'est-ce  qui  sent  du  plaisir  en  nous?  Est-ce 
la  main?  est-ce  le  bras?  est-ce  la  chair?  est-ce  le  sang?  On  verra  qu'il  faut 
que  ce  seit  quelque  chose  d'immateriei. 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  359 

b)  Psychologie. 

Die  zwei  Hauptvermögen  der  Seele  sind  nach  Pascal  Verstand 
und  Wille  oder  Geist  und  Herz*^);  entendement,  esprit,  raison 
braucht  Pascal  synonym,  volonte,  coBur,  instinct  und  sentiment  be- 
zeichnen zwar  nicht  Identisches,  wohl  aber  Zusammengehöriges 
und  fassen  die  dem  Verstand  gegenüberstehende  Potenz  des  geistigen 
Lebens  von  verschiedeneu  Seiten  auf. 

Raison  bedeutet  Verstand  und  Vernunft  zugleich;  Pascal 
scheint  damit  vorzugsweise  die  Thätigkeit  des  Verstandes  zu 
meinen. 

Die  Functionen  des  Herzens  sind  nach  ihm  mannigfach.  Es 
ist  Organ  des  Willens:  in  „der  Kunst  zu  überreden"  will  er  es 
mit  seinen  Launen  und  Neigungen  vom  Wissen  ausgeschlossen 
sehen.  Sodann  bedeutet  es  das  unmittelbare  Gefühl,  so  besonders 
in  den  Pensees:  durch  das  Herz  erkennen  wir  die  ersten  Prin- 
cipieu").  Hier  leistet  das  Herz  dasselbe,  was  das  natürliche 
Licht*')  im  „L'esprit  geometricjue".  Gemeint  ist  die  Gewissheit 
des  unmittelbaren  Gefühls  im  Gegensatz  zu  der  durch  den  Ver- 
stand vermittelten;  die  erstere  zieht  er  übrigens  der  letzteren  vor. 


*^)  I  155. 

")  II  108.  Nous  connaissons  la  verite  non-seulement  par  la  raison,  mais 
encore  par  le  cceur;  c'est  de  cette  derniere  sorte  que  nous  connaissons  les 
Premiers  principes,  et  c'est  en  vain  que  le  raisonnement  qui  n'y  a  point  de 
part,  essaye  de  les  combattre.  Les  pyrrhoniens,  qui  n'ont  que  cela  pour 
objet,  y  travaillent  iuutilement.  Nous  savons  que  nous  ne  revons  point,  quel- 
que  impuissance  oü  nous  soyons  de  le  prouver  par  raison;  cette  impuissance 
ne  conclut  autre  cbose  que  la  faiblesse  de  notre  raison,  mais  non  pas  l'incer- 
titude  de  toutes  nos  connaissances,  comme  ils  le  pretendent.  Car  la  con- 
naissance  des  premiers  principes,  comme  qu'il  y  a  espace,  temps,  mouvement, 
nombres,  est  aussi  ferme  qu'aucune  de  Celles  que  nos  raisonnements  nous 
donnent.  Et  c'est  sur  ces  connaissances  du  cceur  et  de  l'instinct  qu'il  faut 
que  la  raison  s'appuie,  et  qu'elle  y  fonde  tout  son  discours. 

*0  In  dem  Maasse  als  Pascal  an  der  Möglichkeit  des  Ideals  einer  durch- 
aus demonstrativen  Wissenschaft  verzweifelt,  weil  er  meint,  alles  müsse  de- 
monstriert werden  können,  recurirt  er  auf  das  Herz,  d.h.  auf  das  unmittel- 
bare Gefühl,  durch  welches  die  Principien  uns  gewiss  sind,  obgleich  wir  sie 
mit  dem  Verstände  nicht  als  nothwendig  einsehen  können.  Insofern  ersetzt 
in  der  Begründung  der  Gewissheit  das  Herz  bei  Pascal  das  natürliche  Licht 
des  Cartesius. 

25* 


360  Kurt  Warmutb, 

Wenn  er  so  dem  Herzen  das  eine  Mal  Erkenntniss  abspricht,  das 
andere  Mal  zuertheilt,  kann  man  sich  dies  nur  daraus  erklären, 
dass  er  das  gleiche  Wort  in  verschiedener  Bedeutung  braucht. 
Endlich  ist  das  Herz  Aufuahmeorgan  für  die  religiöse  Wahrheit: 
«  C'est  le  coeur  qui  sent  Dieu,  et  uou  la  raison;  voila  ce  que  c'est 
que  la  foi:  Dieu  sensible  au  coeur,  non  ä  la  raison").  » 

Verstand  und  Gefühl,  jedes  hat  sein  eigenthüraliches  Verfahren; 
«  La  raison  agit  avec  leuteur,  et  avec  tant  de  vues  sur  tant  de 
principes  lesquels  11  faut  qu'ils  soient  toujours  presents,  qu'ä  toute 
heure  eile  s'assoupit  et  s'egare,  manque  d'avoir  tous  ses  principes 
presents.  Le  sentiment  n'agit  pas  ainsi;  il  agit  en  un  instant,  et 
toujours  est  pret  a  agir*^). » 

Pascal  unterscheidet  zwei  Arten  von  Menschen:  die  einen  ur- 
theilen  nach  dem  Gefühl,  es  sind  die  feinen  Geister;  die  anderen 
nach  dem  Verstand,  es  sind  die  Mathematiker.  In  der  Difference 
entre  l'esprit  de  geometrie  et  l'esprit  de  finesse^°)  skizzirt  er  die 
verschiedene  Wirkungsweise  beider.  Der  feine  Geist  hat  gute 
Augen,  er  sieht  die  Sache  auf  einmal,  er  fühlt  mit  einem  sehr 
zarten,  klaren  Sinne  die  zarten,  zahlreichen  Principieu,  ohne  dass 
er  sie  in  der  Ordnung  der  Geometrie  beweisen  könnte;  er  ist  ge- 
wöhnt, nach  einem  einzigen  Blick  zu  urtheilen.  Der  mathematische 
Geist  schliesst  erst,  nachdem  er  die  Principien  gut  gesehen  und 
gehandhabt  hat.  Selten  ist  ein  feiner  Geist  zugleich  ein  mathe- 
matischer und  umgekehrt. 

Geist  und  Herz  —  jedes  hat  seine  eigene  Methode.  Die  des 
Geistes  besteht  in  Principien  und  Beweisen,  die  des  Herzens  darin, 
dass  man  bei  jedem  Punkte,  der  sich  auf  das  Ziel  bezieht,  ab- 
schweift, um  stets  auf  dasselbe  hinzuweisen.  Christus,  Paulus, 
Augustin  haben  diese  Methode  befolgt.  Ebenso  Pascal  in  seinen 
Pensees  ^'). 


48)  II  172. 

")  II  176. 

50)  I  149. 

*')  II  265. 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  361 

A. 
Pascal,  der  Mathematiker. 

Als  Mathematiker  behauptet  Pascal  die  Möglichkeit  des  Wissens 
auf  Gruud  des  natürlichen  Lichts  und  der  mathematischen  Methode. 
Letztere  leistet  der  Kunst  zu  überreden  wichtige  Dienste. 

In  heller  Freude  an  der  Wissenschaft  vertritt  er  das  Recht 
des  Verstandes  und  des  Experiments  gegen  die  Autorität;  er  theilt 
die  Wissenschaften  in  historische  und  dogmatische;  dort  hat  die 
Autorität,  hier  der  Verstand  sein  Gebiet. 

Aber  bereits  im  Mathematiker  kündet  sich  der  Theolog  an: 
Pascal  kennt  eine  ethische  W^irkung  der  Mathematik,  die  er  höher 
schätzt  als  diese  Wissenschaft  selbst. 

Streng  sondert  er  schon  als  Mathematiker  das  Reich  des 
Glaubens  und  das  der  Vernunft,  u.  z.  ordnet  er  das  erstere  dem 
letzteren  über.  Die  Principien  der  Theologie  sind  über  Natur  und 
Vernunft  erhaben.  Bei  den  göttlichen  Wahrheiten  gilt  eine  über- 
natürliche Ordnung.  Ist  diese  Anschauung  vielleicht  durch  seine 
Erziehung  veranlasst?  Nach  dem  Zeugnisse  der  Schwester  Gilberte 
Perier  hatte  ein  streng  religiös  gesinnter  Vater  bereits  dem  Knaben 
die  Maxime  gegeben,  dass  in  Sachen  des  Glaubens  die  Vernunft 
nicht  mitzusprechen  habe.^")  Dass  Pascal  aber  in  seineu  mathe- 
matischen Schriften  überhaupt  auf  den  Glauben  zu  "  sprechen 
kommt,  zeigt  seine  von  Haus  aus  gläubige  Seele,  die  schon  in 
der  Periode  seines  geistigen  Lebens,  wo  die  Mathematik  im  Vorder- 
grunde seines  Interesses  stand,  mit  den  Fragen  der  Religion  und 
des  Glaubens  sich  innerlich  beschäftigt  hat. 


I.  Wissen. 

1.    Möglichkeit    des  menschlichen  Wissens  mit  Hiilfe"r,der 
mathematischen   Methode    und   des  natürlichen  Lichts."") 
Nur  was  bewiesen  ist,  verdient  unsere  Zustimmung.  ^*) 

^^)  Sie  sagt  iii  ihrer  Biographie:  «  Mon  pere  qui' ayant  lui-meme  un  tres 
grand  respect  pour  la  religion,  le  lui  avait  inspire  des  l'enfance,  lui  donnant 
pour  maxime  que  tout  ce  qui  est  l'objet  de  la  t'oi  ne  le  saarait  etre  de  la 
raison  et  beaucoup  moins  y  etre  soumis  ». 

*3)  I  123.  De  l'esprit  geometrique,  1655? 

^*)  I  155.     On  ne   devrait  Jamals  consentir  qu"aux  verites  demontrees. 


362  Kurt  Warmuth, 

Wer  liefert  uns  vollkommeue  Beweise?     AUeiu    die    Methode 
der  Geometrie  oder  die  mathematische  Methode") 

Allerdings  giebt  es  eine  noch  höhere,  vollendetere  Methode; 
sie  besteht  in  einem  Doppelten:  erstens  alle  Ausdrücke  sind  zu 
definieren,  zweitens  alle  Sätze  sind  zu  beweisen.  Diese  wahre 
Methode,  welche  Beweise  in  höchster  Vollkommenheit  führen 
würde,  ist  aber  praktisch  unausführbar;  was  über  die  Geometrie 
hinausgeht,  das  übersteigt  unsre  Kräfte ^'^);  denn  es  ist  klar,  dass 
die  ersten  Ausdrücke,  w^elche  man  definieren  wollte,  schon  frühere, 
zu  ihrer  Erklärung  dienliche  voraussetzen  würden,  und  dass  ebenso 
die  ersten  Sätze,  welche  bewiesen  werden  sollten,  andere  voran- 
gehende voraussetzten,  und  so  würde  man  nie  zu  den  ersten 
gelangen.  Man  kommt,  je  weiter  man  die  Untersuchung  treibt, 
auf  gewisse  ursprüngliche  Wörter,  welche  man  nicht  mehr  definieren 
kann,  und  auf  so  klare  Principien,  dass  man  keine  anderen  findet, 
die  noch  klarer  wären,  um  jene  zu  beweisen.  Hiernach  scheint 
es,  dass  die  Menschen  in  einer  natürlichen,  unabänderlichen 
Unmacht  sind,  irgend  eine  Wissenschaft  in  schlechthin  vollendeter 
Ordnung  zu  behandeln.  Aber  daraus  folgt  nicht,  dass  man  jede 
Ordnung  aufgeben  soll.  Denn  es  giebt  eine  solche,  die  der  Geometrie, 
welche  unter  der  Wahrheit  steht,  sofern  sie  weniger  überzeugend, 
aber  nicht  sofern  sie  weniger  gewiss  ist.  Sie  definiert  nicht  alles  und 
beweist  nicht  alles;  hierin  ist  sie  jener  untergeordnet;  aber  sie  setzt 
nur  klare  und  durch  das  natürliche  Licht")  gewisse  Dinge  voraus; 

°^)  Dreydorff:  «Pascal  gebraucht  Geometrie  öfter  als  gleichbedeuteud  mit 
Mathematik." 

^^)  I  124.   Ce  qui  passe  la  geometrie  nous  surpasse. 

^")  Das  natürliche  Licht  ist  bei  Cartesius  eine  intellectuelle  Anlage,  ver- 
möge deren  die  obersten  Axiome  dem  Verstand  unmittelbar  einleuchtend  und 
gewiss  sind:  auch  oberste  Grundsätze  auf  practischem  Gebiet  werden  darauf 
zurückgeführt.  Nach  Klöpel  .,Das  lumen  naturale  bei  Descartes"  (Dissertation, 
Leipzig  1896)  ist  lumen  naturale  bei  Cartesius: 

A:    der    natürliche  Verstand    im    Gegensatz    zum    lumen   supernaturale 

fidei. 
B:    a)  Verstandesthätigkeit  im  Gegensatz  zu  den  Sinnen; 

b)  gesunder  Menschenverstand,  der  nichts  weiss  von  bewusster  An- 
wendung logischer  Gesetze: 

c)  in  gewissem  Gegensatz   zu  deductio,  couclusio,  accurata  demon- 
stratio. 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  363 

darum  ist  sie  vollkommen  wahr,  indem  die  Natur  sie  stützt,  wenn 
es  an  der  Rede  fehlt.  Diese  vollkommenste  Methode,  die  der  Mensch 
erreichen  kann,  definiert  alles  ausser  dem  Klaren,  von  jedermann 
Angenommenen  und  beweist  alles  ausser  dem  allgemein  Bekannten. 

Solche  Begriffe,  welche  die  Geometrie  nicht  definiert,  sind 
Zeit,  Raum,  Bewegung,  Zahl,  Gleichheit  und  viele  ähnliche,  weil 
diese  Ausdrücke  für  jeden,  der  die  Sprache  versteht,  die  Sache, 
welche  sie  bedeuten,  so  natürlich  bezeichnen,  dass  jede  nähere 
Erklärung  sie  eher  dunkler  machen  als  aufhellen  würde.  Man 
kann  z.  B.  keine  Definition  des  „Seins"  geben;  denn  man  kann 
kein  Wort  definieren,  ohne  anzufangen:  „es  ist".  Um  also  das 
Sein  zu  definieren,  müsste  man  sagen:  „es  ist"  und  so  das  zu 
Definierende  in  der  Definition  anwenden.  Hieraus  ist  klar,  das  es 
Worte  giebt,  welche  unmöglich  definiert  werden  können:  und  wenn 
die  Natur  diesem  Mangel  nicht  durch  die  Gleichheit  der  Vor- 
stellung, welche  sie  allen  Menschen  gab,  abgeholfen  hätte,  so 
wären  alle  unsere  Ausdrücke  verwirrt;  während  man  so  sie  mit 
derselben  Zuversicht  und  Gewissheit  verwendet,  als  ob  sie  ganz 
unzweideutig  wären,  weil  die  Natur  selbst  ohne  Worte  uns 
eine  bestimmtere  Einsicht  davon  gegeben  hat  als  diejenige, 
welche  die  Kunst  durch  unsere  Erklärungen  uns  verschafft. 

Wir  sehen,  nach  Pascal  beruht  alles  Wissen  im  letzten 
Grunde  auf  einem  Gegebenen,  alle  Wissenschaft  —  die  Mathematik 
ist  ihm  die  Wissenschaft  schlechthin!  —  auf  undefinirbaren  Begriffen 
und  undefinirbaren  Axiomen.  Ueber  diese  giebt  das  natürliche 
Licht  Aufschluss.  Sie  bilden  gleichsam  den  festen  Grund,  auf 
welchem  der  Mensch  mit  Hülfe  der  mathematischen  Methode  das 
Gebäude  des  Wissens  errichten  kann. 

2.  Die  Kunst  zu  überreden.") 

Auf  zwei  Wegen  dringen  Ueberzeuguugen  in  die  Seele:  durch 
den  Verstand  und  den  Willen.     Der  natürlichste  Weg  ist  der  des 


Im  Gebiete  der  Geometrie  schliesst  sieb  Pascal  dem  cartcsiauischen 
Sprachgebrauche  an:  die  mathematischen  Axiome  sind  intuitiv  gewiss  im 
Gegensatz  zu  der  demonstrativen  Gewissheit, 

^^  I  155.  De  l'art  de  persuader,  1657  oder  58. 


364  Kurt  Warmuth, 

Verstandes,  man  sollte  nie  einer  AVahrheit  beipflichten,  bevor  sie 
nicht  durch  Beweise  dargelegt  ist ;  aber  der  gewöhnlichste  Weg 
ist  der  des  Willens,  denn  alle  Menschen  sind  fast  immer  geneigt, 
nicht  wegen  der  Beweiskraft,  sondern  aus  Neigung  sich  für  eine 
Ansicht  zu  bestimmen.  Dieser  Weg  ist  niedrig,  unwürdig  und 
ungehörig;  auch  verwirft  ihn  alle  Welt:  jeder  behauptet,  nur  das 
zu  glauben  und  selbst  nur  das  zu  lieben,  von  dem  er  weiss,  dass 
es  Glauben  und  Liebe  verdiene. 

Verstand  und  Wille  haben  jedes  ihre  Principien,  der  Verstand 
natürliche,  allgemein  anerkannte  Wahrheiten  —  z.  B,  das  Ganze 
ist  grösser  als  seine  Theile  —  und  mehrere  nicht  allgemein 
anerkannte  Axiome,  die  aber,  einmal  zugegeben,  wenn  auch  falsch, 
ebenso  gewaltig  sind,  den  Glauben  zu  erwecken,  als  die  wahrhaften. 
Die  Principien  des  Willens  sind  gewisse  natürliche,  allen  gemein- 
same Wünsche  —  z.  B.  das  Verlangen,  glücklich  zu  sein  —  und 
besondere  Neigungen,  die,  da  sie  uns  gefallen,  trotz  ihrer  Ver- 
derblichkeit stark  genug  sind,  den  Willen  zum  Handeln  zu 
treiben. 

Um  nun  eine  Person  zur  Ueberzeugung  zu  bringen,  muss 
man  einerseits  sie  kennen,  welche  Grundsätze  sie  hat,  welche 
Gegenstände  sie  liebt,  anderseits  die  Berührungspunkte  beachten, 
welche  der  Gegenstand,  von  dem  man  überzeugen  will,  mit  an- 
erkannten Principien  oder  Neigungen  hat.  Leicht  kann  man  von 
den  Dingen  überzeugen,  die  man  als  in  enger  Beziehung  entweder 
mit  den  Principien  des  Verstandes  oder  mit  denen  des  Willens 
nachweisen  kann;  besonders  leicht  von  den  Gegenständen,  die 
mit  beiden  Principien  in  Verbindung  stehen.  Was  aber  weder 
zu  unseren  L^cberzeugungen  noch  zu  unseren  Vergnügungen  in 
irgend  einem  Verhältnisse  steht,  ist  uns  widerlich,  scheint  uns 
falsch  und  fremd.  Bei  Dingen,  welche  zwar  auf  anerkannten 
Wahrheiten  beruhen,  zugleich  aber  unseren  liebsten  Neigungen 
zuwiderlaufen,  entsteht  ein  unentschiedenes  Schwanken  zwischen 
Wahrheit  und  Vergnügen,  wobei  zumeist  das  letztere  siegt.  „Diese 
gebieterische  Seele,  die  sich  rühmte,  nur  nach  Vernunftgründen 
zu  handeln,    folgt  in  schimpflicher,    blinder  Wahl   dem   Verlangen 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  365 

eines  verdorbeneu  "Willens,  so  stark  sich  auch  der  aufgeklärteste 
Verstand  dagegen  sträuben  mag." 

Solange  daher  die  Menschen  sich  mehr  durch  die  Neigung 
als  durch  den  Verstand  zu  ihrem  Handeln  bestimmen  lassen,  besteht 
auch  die  Kunst  zu  überreden  ebenso  in  der  Kunst  zu  gefallen  als 
in  der  zu  überzeugen. 

Die  Kunst  zu  gefallen  ist  unvergleichlich  schwieriger,  feiner, 
nützlicher  und  bewundernswürdiger.  Pascal  will  sie  nicht  be- 
handeln, weil  er  sich  nicht  stark  genug  dazu  fühlt.  Der  Grund 
dieser  äussersten  Schwierigkeit  besteht  darin,  dass  die  Principien 
des  Vergnügens  nicht  fest  und  sicher  stehen;  sie  sind  verschieden 
bei  jedem  Menschen,  und  bei  jedem  einzelnen  mit  so  grosser 
Mannigfaltigkeit  veränderlich,  dass  kein  Mensch  je  von  einem 
anderen  so  verschieden  ist,  als  der  Mensch  von  sich  selbst  in  ver- 
schiedenen Zeiten.  Mann  und  Frau,  arm  und  reich,  Fürst,  Krieger, 
Kaufmann.  Bürger,  Bauer,  Alte,  Junge,  Gesunde,  Kranke  —  alle 
haben  verschiedene  Vergnügungen. 

o        o        o 

Pascal  will  die  Kunst  geben,  welche  die  Verbindung  nachweist, 
in  der  die  "Wahrheiten  mit  den  Principien  des  Wahren  oder  des 
Vergnügens  stehen.  Er  nennt  sie:  „Kunst  zu  überreden".  Sie 
besteht  in  zwei  Momenten:  alle  Namen,  die  man  anwendet,  zu 
definiren:  alles  zu  bew'eisen,  indem  man  in  Gedanken  stets  die 
Definition  an  die  Stelle  des  Definirten  setzt. 

Wir  sehen,  die  Kunst  zu  überreden  kommt  schliesslich  auf 
die  mathematische  Methode  hinaus,  deren  Pascal  so  gewiss  ist, 
dass  er  sagt:  .,Die  Methode,  nicht  zu  irren,  wird  von  aller  Welt 
gesucht.  Die  Logiker  behaupten,  zu  ihr  zu  führen,  die  Mathematiker 
allein  gelangen  zu  ihr,  und  ausserhalb  ihrer  Wissenschaft  und 
dessen,  was  sie  nachahmt,  giebt  es  keine  wahrhaften  Beweis- 
führungen." 

3.  Eintheilung  der  Wissenschaften. 
Das  Gebiet  des  Verstandes. 

In  der  Vorrede  zur  Abhandlung  über  das  Leere,  ^^)  wo  er 
besonders    frisch    und    warm    das  Recht    des  Verstandes    und    des 

59)  I  91. 


366  Kurt  Warmuth, 

Experiments  gegen  die  allzu  grosse  Achtung   vcrtheidigt,    die  man 
in  den  der  Erfahrung  und  den  Sinnen  unterworfenen  Wissenschaften 
den  Alten  zollt,  giebt  er  eine  Eiutheilung  der  Wissenschaften.    Er 
scheidet  genau  das  Gebiet  der  Autorität    und   das  des  Verstandes. 
Er  theilt  die  Wissenschaften  erstens    in  historische:    hier  will 
man  nur  wissen,    was  dieser    oder   jener  Schriftsteller  gesagt  hat, 
und  zweitens    in   dogmatische:    hier  will   man    verborgene    Wahr- 
heiten entdecken.     Zu  erstereu  rechnet  er  Geschichte,  Geographie, 
Rechtswissenschaft,    Sprachen  und    besonders  die  Theologie.     Hier 
sehen  nur  die  Bücher  Aufschluss.     Hier  ist  die  Autorität  an  ihrem 
Platz.     Anders  ist    es  mit    den    Wissenschaften,    die    den    Sinnen 
anheimfallen.     Hier  hat  der  Verstand  allein  sein  Recht.      Hierher 
gehören  Geometrie,  Arithmetik,   Musik,   Naturlehre,  Arzeneikunde, 
Baukunst  und  alle  der  Erfahrung  und  dem  Denken  unterworfenen 
Wissenschaften.      Diese    Gegenstände    sind    der  Kraft  des   Geistes 
angemessen,  sie  sind  sein  Bereich,    in  dem    er    sich    frei  bewegen 
und    fruchtbar    erweisen    kann   in    unaufhörlichen    Entdeckungen. 
Hier  ist  ein  steter  Fortschritt,  eine  beständige  Erweiterung  und  Ver- 
vollkommnung.     Im  Gegensatz  zum  Instinkt  der  Thiere,  der  sich 
immer  gleich  bleibt  —  die  Bienen  bildeten  ihre  Zellen  vor  tausend 
Jahren  ebenso  wie  heut  — ,    vermehren   sich    die    Leistungen    der 
Vernunft  unaufhörlich.     Die  ganze  Menschheit  kann  man  ansehen 
als  einen   Menschen,    der  immer    lebt    und    lernt.     „Die    wir    die 
Alten  nennen,  waren  in   der  That  neu  in  allen  Dingen  und  bildeten 
eigentlich  das  Kindesalter  der  Menschheit;    und  da    wir  zu    ihren 
Kenntnissen  die  Erfahrungen    der    folgenden    Jahrhunderte    gefügt 
haben,  so  sind  wir  es,    in  welchen    das   Alterthum    zu  suchen  ist, 
welches  wir  in  jenen  hochachten".'^")     „Welche    Macht    auch    das 
Alterthum  bildet,  die  Wahrheit  muss  stets  den  Vorzug  haben,  auch 
wenn  sie  erst  neu  entdeckt  ist,    weil  sie  immer  älter  ist,    als  alle 
Meinungen,    die  man   je   über    sie  gehabt  hat,    und    es  würde  ein 
Verkennen    ihres  Wesens  sein,    wenn  man    sich    einbilden  wollte, 
sie  hätte  erst  da  zu  sein    angefangen,    da  sie    anfing,    erkannt    zu 
werden."^') 

60)  I  98. 
6')  I  101. 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  367 

4.  Ethische  Wirkung  der  Mathematik.*') 
Princip  der  Mathematik  in  ihren  drei  Gebieten:  Mechanik 
Arithmetik  und  Geometrie,  ist  der  Begriff  der  doppelten  Unendlich- 
keit, einer  Unendlichkeit  der  Grösse  und  der  Kleinheit.  „Welche 
Bewegung,  welche  Zahl,  welchen  Raum,  welche  Zeit  man  annehme, 
es  giebt  stets  ein  Grösseres  und  ein  Kleineres,  so  dass  sie  sich 
also  alle  zwischen  dem  Nichts  und  dem  Unendlichen  halten  und 
stets  von  diesen  Extremen  unendlich  weit  entfernt  sind"  '^^).  Wir 
können  diese  Unendlichkeit  nicht  beweisen,  aber  durch  das  natürliche 
Licht  erkennen  wir  sie.  „Die,  welche  diese  Wahrheiten  deutlich 
einsehen,  können  die  Grösse  und  Macht  der  Natur  bewundern  in 
dieser  doppelten  Unendlichkeit  und  aus  diesem  wunderbaren  Ge- 
danken sich  selbst  kennen  lernen  als  gestellt  zwischen  eine  Un- 
endlichkeit und  ein  Nichts  von  Ausdehnung,  Bewegung  und  Zeit. 
Daraus  kann  man  seinen  Werth  kenneu  lernen  und  Gedanken 
bilden,  die  mehr  werth  sind  als  die  ganze  übrige  Mathematik."") 


II.  Glauben. 

1.  Die  Principien  der  Theologie. 

Die  Principien  der  Theologie,  die,  wie  wir  oben  sahen,  nach 
Pascal  eine  historische  Wissenschaft  ist,  sind  über  Natur  und  Ver- 
nunft erhaben.  Der  menschliche  Geist,  zu  schwach,  um  durch 
eigene  Kraft  dahin  zu  gelangen,  kann  diese  hohen  Einsichten  nur 
erreichen ,  wenn  er  durch  eine  allmächtige,  übernatürliche  Kraft 
zu  ihnen  erhoben  wird.  Die  Vernunft  hat  hier  nur  zu  schweigen 
und  sich  unterzuordnen  der  Autorität  der  heiligen  Bücher,  welche 
die  Wahrheit  enthalten.  In  der  Vorrede  zur  Abhandlung  über  das 
Leere ^^)  sagt  Pascal:  „Mais'oü  cette  autorite  a  la  principale  force, 
c'est  dans  la  theologie,  parce  qu'elle  y  est  inseparable  de  la  verite, 
et  que  nous  ne  la  connaissons  que  par  eile:  de  sorte  que  pour 
donner  la  certitude  entiere  des  matieres  les  plus  incomprehensibles 

«2)  I  136  ff. 

«3)  I  137. 

6*)  I  147. 

«s)  I  92. 


368  Kurt  Warmuth, 

a  la  raison,  il  suffit  de  les  faire  voir  dans  les  livres  sacres:  comme 
pour  montrer  rincertitiide  des  choses  les  plus  vraisemblables,  il 
faut  seulement  faire  voir  qu'elles  n'y  sont  pas  coraprises;  parce 
que  ses  principes  sont  au-dessus  de  la  nature  et  de  la  raison,  et 
que,  l'esprit  de  Thomme  etant  tvop  faible  pour  y  arriver  par  ses 
propres  efforts,  il  ne  peut  parvenir  a  ces  hautes  intelligences,  s'il 
n'y  est  porte  par  une  force  toute-puissante  et  surnaturelle.  »  In 
der  Theologie  gilt  allein  die  Autorität  der  Schrift  und  der  Väter. 
Hier  neue  Dinge  einzuführen,  ist  nichts  als  thörichter  Uebermuth**). 

2.  Die  übernatürliche  Ordnung. 

Bei  den  göttlichen  Dingen  gilt  eine  andre  Ordnung  als  bei 
den  natürlichen;  bei  letzteren  hat  der  Verstand,  bei  ersteren  das 
Herz  das  erste  Wort*'). 

Die  göttlichen  Wahrheiten  sind  über  die  Natur  unendlich  er- 
haben. Sie  sind  der  Kunst  zu  überzeugen  nicht  zu  unterwerfen. 
„Gott  allein  vermag  sie  in  die  Seele  einzuflanzen,  und  zwar  in.  der 
Weise,  wie  es  ihm  gefällt.  Er  hat  gewollt,  dass  sie  aus  dem 
Herzen  in  den  Verstand  übergehen  und  nicht  aus  dem  Verstände 
in  das  Herz,  um  dieses  hochmüthige  Vermögen  des  Verstandes  zu 
demüthigeu,  das  sich  anmasst,  über  Dinge  richten  zu  wollen,  die 
der  AVille  wählt;  und  um  diesen  schwachen  Willen  zu  heilen,  der 
durch  seine  unreinen  Begierden  ganz  verderbt  ist.  Daher  kommt 
es,  dass  man,  wenn  man  von  menschlichen  Dingen  spricht,  sagt: 
man  muss  sie  kennen,  um  sie  zu  lieben,  was  zum  Sprichwort  ge- 
worden ist.  Die  Heiligen  sagen  dagegen,  wenn  sie  von  göttlichen 
Dingen  reden:  man  muss  sie  lieben,  um  sie  zu  erkennen,  und 
man  dringe  zur  Wahrheit  nur  durch  die  Liebe"  ").  Diese  Ordnung 
ist  ganz  entgegengesetzt  der  Ordnung,  die  bei  natürlichen  Dingen 
den  Menschen  recht  sein  sollte.  Dennoch  haben  sie  dieselbe  ver- 
kehrt: sie  thun    bei   den    menschlichen   Dingen,   was    sie  bei  den 


ß^  I  94.  II  faut  coufoudre  Tiusoleuce  de  ces  temeraires  qui  produisent 
des  nouveautes  en  theologie.  Les  inventions  nouvolles  sont  infailliblement  des 
erreurs  dans  les  matieres  tbeologiques. 

";  I  155  ff. 

'"'*)  I  156.   On  n'entre  daus  la  vörite  que  par  la  charite. 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  369 

göttlichen  thun  sollten;  wir  glauben  wirklich  fast  nur,  was  uns 
gefällt.  Daher  der  Widerwille  gegen  die  Wahrheit  der  christlichen 
Religion,  die  unseren  Freuden  ganz  entgegengesetzt  ist.  Um  diese 
Unordnung  durch  eine  Ordnung  zu  strafen,  theilt  Gott  sein  Licht 
den  Seelen  nicht  eher  mit,  als  bis  er  die  Auflehnung  des  Willens 
mit  einer  himmlischen  Sanftmuth  gedämpft  hat,  die  ihn  entzückt 
und  fortreisst. 

Wir  sehen,  nach  Pascal  heisst  es  bei  den  natürlichen  Dingen: 
„Aus  dem  Kopf  ins  Herz!"  bei  den  göttlichen  dagegen:  „Aus  dem 
Herzen  oder  durch  den  Willen  in  den  Kopf!" 

Diese  Anschauung  finden  wir  in  der  „Kunst  zu  überreden." 
Diese  Schrift  fällt  allerdings  in  die  letzte  Zeit  seines  Lebens. 
Faugere  datirt  sie  16.57  oder  58.  Dreydorff  bemerkt  darin  ein 
starkes  Zurücktreten  des  rein  philosophischen  Interesses.  Schon 
die  Fragestellung,  wie  mau  die  Menschen  überreden  könne,  ver- 
rate den  Apologeten,  den  Theologen.  Nach  ihm  fällt  diese  Ab- 
handlung in  die  Zeit  der  Gemeinschaft  Pascals  mit  Port-Royal, 
näher  in  die  Zeit  seines  Schwankens  zwischen  Montaigne  und 
Port-Royal.  Dass  aber  Pascal  bereits  früher  in  heiligen  Dingen 
das  Herz  obenan  gestellt  hat,  entnehmen  wir  den  Worten  seiner 
Schwester:  «  II  (Pascal)  disait  que  l'Ecriture  sainte  n'etait  pas  une 
science  de  l'esprit,  mais  une  science  du  coeur,  qui  n'etait  intelli- 
gible  que  pour  ceux  qui  ont  le  coeur  droit  et  que  tous  les  autres 
n'y  trouvent  que  de  Tobscurite  »  "). 

69)  I  370. 


XIV. 

Die  NaturpMlosopliie  des  Tli.  Hobbes  in  ihrer 
Abhängigkeit  von  Bacon. 

Von 
Max  Höhler. 

Die  Philosophie  des  Thomas  Hobbes,  wie  sie  in  dem  Geiste 
ihres  Urhebers  in  dem  Aufbau  einer  universalen  Wissenschaft  sich 
vollendete,  empfing  die  entscheidenden  Begriffe  und  Methoden,  die 
ihre  Durchführung  ermöglichten,  von  der  mathematischen  Physik 
des  siebzehnten  Jahrhunderts.  Der  Zusammenhang,  in  welchem  er, 
aufsteigend   nach    geometrischer    Methode    von    den    allgemeinsten 

Seitdem  durch  die  Arbeiten  von  Ferdinand  Tönnies  („Anmerkungen 
zu  der  Philosophie  des  Th.  Hobbes"  in  der  Vierteljahrsschrift  für  Wissenschaft!. 
Philosophie  1879 f.,  Kritik  von  Robertson  i.  Philos.  Monatsheften  Bd.  XXIII, 
„Hobbes"  in  der  Deutschen  Rundschau  1889,  Monographie  über  „Hobbes",  Stutt- 
gart 1896)  ein  erneutes  Studium  auch  der  theoretischen  Philosophie  des  Hobbes 
eingeleitet  wurde,  ist  das  Dunkel,  das  so  lange  über  dem  Materialismus  und  der 
Naturphilosophie  diesers  Denkers  lag,  durch  die  weiteren  Untersuchungen  von 
Lasswitz  (Geschichte  der  Atomistik,  Hamburg-Leipzig  ]b90)  und  insbesondere 
von  W.  Dilthey  (Archiv  für  Geschiebte  der  Philosophie,  Bd.  XIII,  Heft  4)  ge- 
hoben worden.  Der  folgende  Aufsatz,  der  eine  umfassendere  Analyse  der 
Hobbes'schen  Philosophie  vorbereiten  soll,  ist  durch  diese  letztgenannte  grund- 
legende Studie  angeregt;  durch  eine  eingehendere  Verfolgung  der  Beziehungen, 
in  denen  das  System  des  Hobbes  zu  Baco  einerseits,  zu  der  mechanischen 
Naturerklärung  seines  Zeitalters  andrerseits  steht,  möchte  ich  einigen  der 
Gesichtspunkte  nachgehen,  die  von  Dilthey  in  seiner  Abhandlung  entwickelt 
worden  sind. 


Die  Naturphilosophie  des  Th.  Hobbes  in  ihrer  Abhängigkeit  von  Bacon.     371 

Eigenschaften  der  Körper,  nun  als  der  Erste  unter  den  Neueren 
fortschritt  zu  einer  Regulirung  der  Gesellschaft  als  einer  metho- 
dischen Ermittelung  der  Gleichgewichtsbedingungeu  dieses  „künst- 
lichen Körpers"  —  dieser  systematische  Zusammenhang  ist  durch 
das  Vorbild  der  Mechanik  des  Galilei  und  des  Descartes'schen 
Wissenschaftsideal  bedingt.  Nie  hätte  diese  Abhängigkeit  über- 
sehen werden  sollen,  wie  es  doch  so  vielfach  geschehen  ist.  Freilich, 
der  Charakter  seiner  Schriften,  wie  sie  zum  grösseren  Theil  politischen 
Tendenzen  dienten  und  so  rücksichtslos  scharf  in  die  Kämpfe  der 
Parteien  eingritieu,  war  nicht  geeignet,  den  Leser  zu  einem  ruhigen 
und  vorurtheilslosen  Studium  der  allgemeinen  Ideen,  in  die  sie 
eingegliedert  waren,  fortzuführen.  Wer  in  ihnen  Antwort  suchte 
auf  Fragen,  die  über  die  Gegensätze  dieser  Welt  hinausreichten, 
fand  sich  zurückgestossen  von  der  Kühle,  die  ihn  hier  umgab. 
Diese  Schriften  waren  nicht  gleich  denen  des  Descartes  durchweht 
von  dem  Atem  einer  grossen  Seele,  seine  Demonstrationen  nicht 
durchglüht  von  jener  Gottesliebe,  in  der  Spinoza  seinen  Frieden 
fand.  Sie  waren  hart  und  Hessen  kalt.  In  ihnen  wirkte,  was  in 
den  Kämpfen  dieser  Zeit  lebendig  war.  Daher  denn  die  geschicht- 
lich bedeutsamste  Leistung  des  Hobbes  in  seiner  schöpferischen 
Erneuerung  des  radikalen  Naturrechtes  liegt:  in  der  Schätzung  der 
Zeitgenossen  —  im  Guten  wie  im  Schlimmen  —  trat  schon  die 
Staatslehre  aus  dem  Rahmen  der  übrigen  Schriften,  als  ein  Werk 
für  sich,  hervorgegangen  aus  dem  politischen  Leben,  und  bestimmt, 
dasselbe  rückwirkend  zu  gestalten. 

Und  hierzu  trat  ein  zweites  Moment.  Das  Verhältniss,  in 
welchem  Hobbes  zu  der  mathematischen  Physik  steht,  ist  ein  durch- 
aus unterschiedenes  von  dem  eines  Descartes  oder  Leibniz.  Die 
Geschichte  verzeichnet  ihn  nicht  unter  denen,  die  schöpferisch  in 
den  Gang  des  Naturerkennens  eingegriffen  haben.  Er  war  kein 
Physiker,  nie  ist  er  einer  geworden.  Nicht  ein  specifisches  Interesse, 
nicht  eine  specifische  Begabung  verband  ihn  mit  der  neuen  Wissen- 
schaft. Erst  auf  der  Höhe  seines  Lebens,  als  ein  Vierzigjähriger, 
nachdem  er  in  humanistischen  Studien  schon  seinen  politischen 
Interessen  nachgegangen  war,  wurde  er  von  ihrem  Geist  ergriffen. 
Er  erfasste  sie,  wie  sie  ihm  als  ein  Ganzes  entgegentrat;  nie  hat  er 


372  Max  Köhler, 

vermocht,  sie  sich  in  ihrer  Totalität,  in  dem  ganzen  Umfang  ihrer 
Sätze  und  Methoden  anzueignen.  In  seinen  astronomischen  An- 
schauungen gelangte  er  nicht  zu  der  Annahme  der  Keplerschen 
Gesetze;  seine  Ablehnung  der  Atomistik  verschloss  ihm  das  Yer- 
ständniss  der  grossen  Arbeiten  von  Pascal  und  Boyle;  der  analy- 
tischen Geometrie  des  Descartes  und  der  Ausbildung  der  alge- 
braischen Methoden  durch  Wallis  gegenüber  verharrte  er  rück- 
ständig auf  dem  Standpunkt  des  Jos.  Scaliger.  Und  bewegte  sich 
sein  Denken  in  der  Richtung,  in  der  die  Wissenschaft  dann  fort- 
geschritten ist,  so  fehlten  ihm  doch  gänzlich  die  Mittel  der  Durch- 
führung allgemeiner  Hypothesen,  in  ihnen  erwog  er  nur  die 
Möglichkeiten  principieller  Lösungen.  Und  diese  Unbestimmtheit 
im  Detail  ist  entscheidend  für  seine  isolirte  Position  innerhalb  der 
Geschichte  der  Physik. 

Was  war  es  nun  aber,  das  diesen  von  politischen  Ideen  und 
Realitäten  ganz  anderer  Art  erfüllten  Kopf  zu  mathematischen 
Reflexionen  und  physikalischen  Untersuchungen  zog?  zu  Aufgaben 
und  Problemen,  denen  seine  Kraft  doch  nicht  gewachsen  war,  zu 
denen  er  nie  ein  inneres  Verhältniss  gewann,  ja  denen  gegenüber 
er  stets  ein  Dilettant  geblieben  ist? 

Hobbes  hat  in  seinem  höchsten  Alter  zweimal  versucht,  den 
Gang  seiner  Entwickelung  und  seines  Lebens  in  kurzen  Abrissen 
autobiographisch  darzustellen.  Eine  ausführlichere  Skizze,  die  auch 
auf  ihn  letzthin  zurückgeht,  ist  uns  von  der  Hand  seines  Freundes 
J.  Aubrey  erhalten.  Aber  gerade  in  Bezug  auf  den  Ausgangspunkt 
seines  philosophischen  Denkens,  auf  die  Anlange  desselben,  sind  die 
Nachrichten  im  Ganzen  nicht  in  einer  äusseren  Einstimmigkeit.  Sehen 
wir  aber  von  den  Differenzen  unter  ihnen  ab  und  heben  wir  nur  das 
Gemeinsame  hervor,  so  können  wir  ihnen  doch  die  Thatsache 
entnehmen,  dass  das  erste  gründliche  mathematische  Studium  des 
Hobbes  nicht  zugleich  mit  der  Ausbildung  der  Hauptsätze  seiner 
Naturphilosophie  verbunden  war. ')     Ob  es  derselben    nun  voran- 


1)  I  p.  XIV,  XXVI  (Opp.  philosophica,  quae  latine  scripsit,  ed.  Moleswortb, 
London  1839—1845)  verlegen  die  Leetüre  des  Euklid  in  die  Zeit  der  zweiten 
französischen  Reise,  und  zwar  betonen   beide  Stellen   ausschliesslich  das  Vor- 


Die  Naturphilosophie  des  Th.  Hobbes  in  ihrer  Abhängigkeit  vonBacon.      373 

ging  oder  folgte:  es  gab  eine  Zeit,  in  der  Hobbes  in  dem  syllogis- 
tischen  Verfahren  der  Mathematik,  wie  sie  von  evidenten  Axi- 
omen und  Definitionen  in  zwingenden  Schlüssen  zu  weiteren 
Sätzen  schreitet,  das  formale  Vorbild  eines  jeden  strengen  wissen- 
schaftlichen Systems  erblickte.  Das  sieghafte  Recht  der  Anwendung 
dieser  gedanklichen  Folgerungen  auf  Gegenständliches  war  zunächst 
nicht  das  treibende  Moment  jenes  Enthusiasmus  für  die  Geometrie, 
der  alle  späteren  Schriften  des  Hobbes  durchzieht;  erst  in  der 
Verbindung  des  mathematischen  Schliessens  mit  naturphilosophi- 
schen Reflexionen  war  es  als  solches  wirksam;  zugleich  jedoch 
entstand  das  Problem  dieses  Rechtes.  Die  erste  uns  erhaltene 
Zusammenfassung  seiner  Naturansicht  zeigt  diese  innere  Verbin- 
dung nicht.  ^)  Obschon  sie  sich  in  der  äusseren  Darstellung  eng 
an  das  Muster  des  Euklid  hält,  weist  doch  deren  Inhalt  keinen  tieferen 
Einfluss  des  neuen  Geistes  auf  als  die  staatswissenschaftlichen 
Sätze  des  Werkes  „Ueber  den  Bürger"  oder  des  „Leviathan".  Und 
fragen  wir  nach  dem  psychologisch  primären  Motiv  dieser  Dar- 
stellungsweise „modo  geometrico"  aller,  auch  der  politischen  Lehren, 
so  wissen  wir  nicht,  ob  das  Bedürfniss  der  formalen  Strenge  in 
der  Ableitung  der  rechtlichen  Doktrinen  diesen  systematischen 
Kopf  zu  dem  Studium  der  Mathematik   führte,    oder   ob   vielmehr 


bildliche  der  Methode  („delectatus  metbodo  illius,  neu  tarn  ob  theoremata 
illa").  Erst  während  seines  dritten  Pariser  Aufenthaltes  habe  er  begonnen, 
die  Principien  der  Naturphilosophie  zu  studiren.  Doch  fügt  I  p.  XXVIII  hinzu, 
dass  Hobbes  die  grundlegende  Einsicht  von  der  alleinigen  Realität  der  Be- 
wegung in  der  Natur  schon  vorher  erworben  habe.  I  p.  XXI  und  LXXXIX 
heben  nun  hervor,  dass  in  der  Aufgabe  einer  Analyse  dieser  alles  begrün- 
denden Bewegung  das  Motiv  seines  Studiums  der  Mathematik  gelegen  war 
(„Deinde  ut  cognosceret  varietates  et  rationes  motuum  ad  geometriam  coge- 
batur").  Diese  beiden  Angaben  sind  vereinbar,  wenn  man  sie  nicht  als 
chronologische  Datirungen  nimmt,  sondern  in  ihnen  den  Ausdruck  einer 
Schätzung  der  Mathematik  unter  verschiedenen  Gesichtspunkten  erblickt. 

2)  „A  Short  tract  on  first  principles".  Von  Ferd.  Tünnies  aufgefunden 
und  als  Appendix  I  seiner  Ausgabe  der  „Elements  of  law"  Oxford  1888  ediert. 
Es  ist  die  Aufgabe  unseres  Aufsatzes,  in  Uebereinstimmung  mit  der  chrono- 
logischen Bestimmung  von  Tönnies  nachzuweisen,  dass  die  Abfassungzeit 
dieses  kurzen  Tractates  vor  der  Aufnahme  der  neuen  mechanischen  Ideen 
liegt  und  in  seinem  Inhalt    durch   die  Naturanschauung  Bacos    bestimmt    ist. 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.    XV,  3.  26 


374  Max  Köhler, 

die  zufällige  Beschäftigung  mit  dieser  ihn  das  überwältigende  Vor- 
bild jedes  sicheren  Wissens  in  ihr  erblicken  Hess.  In  den  Dis- 
cussionen  über  Herrenrechte  und  Unterthanenpflichten,  von  denen  das 
siebzehnte  Jahrhundert  erfüllt  war,  in  den  widerstreitenden  Systemen 
der  Rechtstheorien  war  ja  die  Aufgabe  einer  allgemeingiltigen 
Methode  enthalten.  Aber  die  Vorreden  und  die  Anmerkungen  zu 
der  Uebersetzung  des  Thukydides,  in  denen  Hobbes  schon  Stellung 
zu  dem  grossen  Thema  seines  Lebens  nimmt,  lassen  die  Tendenz 
auf  eine  solche  zwingende  Schärfe  nicht  erkennen;  wie  denn 
auch  sein  Biograph  den  zufälligen  Anlass  der  Euklid-Lectüre  her- 
vorhebt.')  Eine  sichere  Entscheidung  vermögen  wir  in  dieser 
Hinsicht  nicht  zu  fällen;  doch  bleibt  das  Eine,  sofern  wir  unseren 
Quellen  vollen  Glauben  schenken  dürfen,  bestehen,  dass  die  Schätzung, 
die  Hobbes  der  mathematischen  Construction  entgegenbrachte,  zu- 
nächst ihrer  Form,  nicht  ihrem  Inhalt  galt,  dass  jedenfalls  der 
materielle  Gehalt  seiner  Naturphilosophie  nicht  in  der  grossen 
wissenschaftlichen  Bewegung  seinen  Ursprung  nahm,  die  in  Kepler 
und  Galilei  sich  vollendete. 

Waren  nun  vielleicht  die  ersten  Impulse  einer  naturalistischen 
Weltansicht  in  der  Abhängigkeit  von  der  epikureischen  Tradition 
gegeben,  die  ihn,  den  Humanisten,  beständig  doch  umgab,  deren 
naturrechtlichc  Lehren  er  so  ausgiebig  verwerthete?  Hobbes  sagt 
es  uns  nicht.  Doch  möchte  es  mir  scheinen,  als  sei  in  seiner 
Ablehnung  des  atomistischen  Systems,  an  der  er  immer  fest- 
gehalten hat,  in  der  Thatsache,  dass  ein  bestimmter  Einfluss 
des  Lukrez  auf  die  entscheidenden  Züge  seines  Weltbildes  nicht 
nachweisbar,  ja  zum  Theil  —  wie  sich  zeigen  wird  —  ausge- 
schlossen ist,  eine  Antwort  auf  diese  Frage  enthalten.  Was 
Hobbes  den  Meinungen  der  Alten  hätte  entnehmen  können,  war 
ihm  auch  in  der  stoischen  Literatur  gegenwärtig. 

^)  J.  Aubrey,  Letters  by  eminent  persons,  London  1813,  II  6ü4;  doch 
ist  diese  Notiz  mit  Vorsicht  aufzunehmen.  Vgl.  Tönnies,  Vierteljahrsschrift  f. 
wisscnsch.  Philosophie  1879,  461,  Robertson,  Hobbes,  Edinburgh  and  London 
1886,  31  ff.,  ü.  Jaeger,  Ursprung  der  moderneu  Staatswissenschaft,  Archiv  für 
Geschichte  der  Philosophie  XIV,  545f. 


Die  Naturphilosophie  des  Th.  Hobbes  in  ihrer  Abhängigkeit  von  Bacon.     375 

Aber  stärker  als  die  aatikeo  Ueberlieferungen  mussten  auf 
den  Mann,  der  so  ganz  in  den  Aufgaben  der  Gegenwart  lebte,  die 
Systeme  der  Naturphilosophie  wirken,  die  das  Zeitalter  der  Re- 
naissance hervorgebracht  hatte.  Und  keines  von  denselben  trat 
ihm  so  unmittelbar,  so  lebendig  entgegen,  wie  das  des  Francis 
Bacon.  Hier  konnte  er  eine  universale  Auffassung  des  Menschen 
und  seines  Zusammenhanges  mit  der  Natur  finden.  Und  dürfen 
wir  von  dem  Charakter  seines  eigenen  späteren  Systems  auf  die 
Motive  schliessen,  die  seiner  inneren  Structur  zu  Grunde  liegen, 
so  können  wir,  gleichsam  nachzeichnend,  wohl  die  Nothwendigkeit 
begreifen,  mit  welcher  der  Politiker  und  der  Historiker  zu  einer 
Aufnahme  der  naturphilosophischen  Lehren  fortgeschritten  ist,  die 
Baco  ihm  bot. 

Hobbes  steht  mitten  in  jener  Bewegung,  die,  ausgegangen  von 
den  Stürmen  der  Reformation  und  dem  Streit  der  Confessionen, 
sich  nun  zu  einer  selbständigen  Darstellung  der  geistigen  Welt 
erhoben  hatte.  In  Bacos  Essays  hat  ihre  Tendenz,  die  politische 
und  moralische  Ordnung  der  neuen  Gesellschaft  loszulösen  von 
dem  Hintergrund  einer  theologischen  Weltanschauung,  schon  sicht- 
bare Gestalt  gewonnen.  Hobbes  verlieh  ihr  den  schärfsten 
Ausdruck. 

Seine  Geburt  fiel  in  das  Zeitalter  der  englischen  Renaissance; 
als  Humanist  wuchs  er  auf  in  dem  Studium  der  heidnischen  Lite- 
ratur, er  nahm  den  utilitarischen  Geist  des  Baco  auf:  nie  hat  ihn 
ein  inneres  Verhältniss  mit  den  Glaubenssätzen  des  Christenthums 
verbunden.  Möchte  man  bisweilen  ein  tieferes  Interesse,  ein  per- 
sönliches Bedürfniss  in  seinen  weitschichtigen  Auseinandersetzungen 
mit  den  Lehren  der  Kirche  und  der  heiligen  Schrift  vermuten,  so 
entstanden  diese  doch  aus  der  geschichtlichen  Nothwendigkeit,  mit 
dem  christlichen  Glauben  als  einer  gegebenen  Thatsächlichkeit  zu 
rechnen.  Wie  er  es  in  der  Dedicatiou  seines  politischen  Haupt- 
werkes selbst  bezeichnet :  „Was  über  das  Reich  Gottes  hinzugefügt 
ist,  geschah  in  der  Absicht,  zwischen  den  Geboten  Gottes,  die  er 
in  der  Natur,  gegeben  und  den  Gesetzen  Gottes,  welche  in  der 
heiligen  Schrift    überliefert    werden,    keinen  Schein  eines  Wider- 


376  Max  Kühler, 

Streites  bestehen  zu  lassen"*).  Und  wenn  dieser  harte,  jeder  Art 
von  mystischen  Gefühlen  feindliche  Geist  zu  der  Feststellung  eines 
Canons  religiöser  Sätze  schritt,  der  das  Gemeinschaftliche  der 
streitenden  Confessionen  in  sich  begriff  und  so  die  Grundlage  eines 
Friedenszustandes  unter  ihnen  zu  bilden  vermochte,  so  bewegte  er 
sich  in  einem  parallelen  Vorgang  wie  Herbert  von  Cherbury.  Nur 
von  einer  ganz  entgegengesetzten  Schätzung  des  frommen  Empfindens 
aus.  Für  Hobbes  ist  dasselbe  ein  geschichtliches  Phänomen,  das 
er  psychologisch  zu  erklären  unternimmt.  Er  findet  die  voruehm- 
lichsten  Wurzeln  der  Gottesvorstellung  in  der  Furcht  vor  unsicht- 
baren Mächten  und  in  der  Ohnmacht  des  menschlichen  Verstandes, 
der  die  unendliche  Reihe  in  dem  Rückgang  auf  die  natürlichen 
Ursachen  nicht  auszudenken  vermag^).  Innerhalb  seines  natura- 
listischen, ganz  auf  die  Erfahrung  eingeschränkten  Standpunktes 
lehnt  er  alle  Aussagen  über  transcendente  Fragen  als  keiner  wissen- 
schaftlichen Demonstration  fähig  ab.  Schon  in  Baco  hatten  sich 
Ahnungen  von  Antinomien  erhoben,  die  entspringen,  wenn  der 
menschliche  Geist  das  Unerfahrbare  denkbar  machen  will  '^). 
Hobbes  betont  noch  schärfer  diese  Grenzen  des  wissenschaftlichen 
Denkens;  als  ein  endliches  Wesen  vermag  der  Mensch  nur  End- 
liches zu  begreifen.  Gott  offenbart  sich  uns  in  den  Gesetzen,  durch 
die  er  die  Natur  regiert,  und  sie  sind  der  alleinige  Gegenstand 
strenger  AVissenschaft.  Auf  sie  muss  auch,  sofern  es  eine  allge- 
meingültige Demonstration  der  Moral  und  der  Politik  giebt,  das 
System  derselben  aufgebaut  werden. 

Aber  das  Entscheidende  für  Hobbes,  das,   was  ihn   von  Baco 
trennt  und  in  jene  Sphäre  führt,  die  Machiavelli  repräsentirt,  liegt 


■*)  II,  139.  Es  tritt  noch  ein  anderes,  ein  persönliches  Motiv  hinzu. 
Hobbes  glaubte  sich  immer  von  der  Geistlichkeit  verfolgt,  stets  befand  er  sich 
in  bitterem  Kampfe  mit  ihr.  Wie  er  aber  keine  Märtyrernatur  war,  wollte  er 
seinen  Feinden  nicht  die  schärfsten  Waffen  in  die  Hände  geben.  Vgl.  seinen 
Rath  an  den  Leser  II  151,  sich  lieber  den  gegenwärtigen  Staatszustäuden  an- 
zubequemen, als  in  persönlicher  Aufopferung  für  spätere  Zeiten  und  fremde 
Menschen  bessere  zu  erkämpfen.  Lieber  die  Religiosität  des  Hobbes  richtig 
F.  A.  Lange,  Geschichte  des  Materialismus  P  244,  283 f. 

^)  m  45,  83,  89,    I  334  ff. 

*)  Nov.  org.  üb.  I,  Aphorism.  48. 


Die  Naturphilosophie  des  Th.  Hobbes  iu  ihrer  Abhängigkeit  von  Bacon.      377 

in  seiner  tief  pessimistischen  Werthung  der  Menschennatur.  Viel- 
leicht bei  keinem  unter  den  neueren  Denkern  ist  der  Gegensatz, 
in  welchem  sie  sich  zu  der  anthropocentrischen  Weltbetrachtung 
des  Mittelalters  befinden,  so  schroll',  wie  bei  ihm.  Auch  der 
Mensch  ist  nur  eins  unter  den  natürlichen  Geschöpfen,  und  da 
er  mit  Klugheit  und  Verstand  begabt  ist,  der  eine  Herrschaft  über 
die  Mittel  ermöglicht,  das  gefährlichste  und  grausamste  von  allen. 
In  ihm  regieren  die  animalischen  Triebe  und  der  Eigennutz;  keine 
sittliche  Potenz  hebt  ihn  empor  aus  dieser  irdischen  Materie;  so 
wenig  das  Denken  das  Göttliche  zu  erfassen  vermag,  so  wenig 
reicht  der  handelnde  Mensch  hinüber  in  eine  höhere,  reinere  Welt. 
Hobbes  selbst  war  eine  leidenschaftliche  und  innerlich  unruhige 
Natur,  die  auch  auf  dem  engeren  Gebiet  der  wissenschaftlichen 
Arbeit  durch  literarische  Eifersucht  und  zahllose  bis  an  das  Ende 
seines  Lebens  dauernde  polemische  Auseinandersetzungen  den 
Frieden  sich  zerstörte.  In  ihm  lebte  etwas  von  dem  düsteren 
Temperament  seines  Vaters  fort,  der,  ein  Landgeistlicher,  wegen 
einer  Gewaltthat  Hieben  musste,  die  er  im  Jähzorn  begangen.  Und 
wie  nun  Hobbes  iu  den  Bürgerkriegen  seines  Vaterlandes,  in  der 
Mordthat  Ravaillac's,  die  auf  allen  Gemütern  lastete,  als  er  Frank- 
reich zum  ersten  Mal  betrat,  sah,  wessen  die  entfesselte  Menschen- 
natur fähig  war,  entstand  ihm  die  grosse  Aufgabe  seines  Lebens, 
die  Mittel  der  Bändigung  dieser  Bestie  im  Menschen  zu  finden. 
Aber  Mittel,  die  in  den  Eigenschaften  seiner  Natur  selbst  gelegen 
waren.  In  den  Schriften  der  Alten,  in  den  Ländern  verschiedener 
Völker  hatte  er  sie  zu  erforschen  gesucht;  aber  Geschichte  und 
Beobachtung  gaben  nur  singulare  Erfahrungen.  Sie  reichten  nicht 
aus  zu  der  Construction  einer  Rechtsordnung,  die  in  festen  Prin- 
cipien  begründet  war  und  entrückt  dem  Kampfe  der  Ueber- 
zeugungen  die  unerschütterliche  Grundlage  einer  strengen  Demon- 
stration der  politischen  Sätze  zu  bilden  vermochte.  Hobbes  musste 
weiter  zurückgehen.  Denn  das  Wesen  der  menschlichen  Natur, 
wie  sie  aus  den  animalischen  Trieben  sich  entfaltet,  ist  an  die 
Sinnlichkeit  gebunden:  iu  den  physiologischen  Zuständen  sind  die 
Bedingungen  seiner  Art  gegeben.     Alles  Leben  des  Geistes  ist  her- 


378  ^^^  Köhler, 

vorgegangen  aus  den  elementaren  Wahrnehmungen  und  Streb ungen; 
diese  selbst  aber  sind  Functionen  des  organischen  Körpers. 

Und  hier  haben  wir  den  Punkt  erreicht,  von  welchem  Hobbes 
von  den  politischen  Thatsacheu  aus  hindurch  schritt  zu  der  Unter- 
ordnung derselben  unter  die  natürliche  Wirklichkeit  und   zu  dem 
Versuch,  die  Gesetze   dieser    als  das    einzige  sichere  Wissen    auch 
auf  die  Structur  der  Gesellschaft  zu    übertragen.     Der  Mensch  als 
eine  psychophysische  Einheit  bildet  den  Ausgangs-  und  den  Mittel- 
punkt seines  Studiums  der  Natur.     Wie  er  es   selbst  hervorhebt, 
war    es    das    Problem    der  Sinneswahrnehmung,    das    ihn    zu    der 
Naturphilosophie  führte  ')•     Und,  schliessen  wir  nicht  gänzlich  fehl, 
so  lag  ein  nächstes  mächtiges  Motiv,    das  ihn    auf   diesem    Wege 
vorwärts  trieb,  in  jenem  Aufschwung  der  ärztlichen  Wissenschaft, 
die    gerade    in    dem  England    dieser  Tage    zu    einer    bedeutenden 
Höhe  sich  erhoben  hatte.   Männer  wie  Gilbert  und  Harvey  standen 
im  Centrum  des  intellectuellen  Lebens;  in  seinen  berühmten  Vor- 
lesungen hatte  der  Letztere  vom  Ende  des  zweiten  Jahrzehntes  ab 
seine  neue  Theorie    des  Blutumlaufes    vorgetragen.      Und  Hobbes 
fand  sich  immer  gern  in  der  Gesellschaft  von  Aerzten.     Aus  einer 
unvollendet  hinterlasseneu    Schrift   Herberts  von  Cherbury,  seines 
Freundes    aus    dieser    Zeit,  „Ueber  des  Irrthums  Ursachen",  geht 
hervor,  wie    eingehend    in  den  Kreisen    dieser  Männer    die  patho- 
logischen Störungen  der  Wahrnehmungsthätigkeit  beachtet  worden 
sind,    und    gerade    in    dem    Versuch    Herberts  von  Cherbury,    die 
scholastische  Lehre    des    Wahrnehmens    gegenüber    der    Fülle    der 
Thatsachen  aufrecht  zu  erhalten,  lag  ein  weiterer  Austoss  zu  ihrer 
Untersuchung. 

Und  nun  wird  Hobbes  mit  Baco  bekannt;  er  half  ihm  bei 
der  Uebersetzung  seiner  Essays  in  das  Lateinische.  Gewiss  waren 
es  zunächst  humanistische  und  historische  Interessen,  die  ihn  mit 
diesem  Manne  verbanden;  aber  in  Bacos  universalem  Geist  waren 
doch  auch  die  anderen  Theile  seines  encyclopädischen  Systems 
gegenwärtig.  In  den  Jahren  dieses  Verkehrs  entstand  die 
„Historia  naturalis",  die  Hobbes  wohl  kennt  und  später  noch  citirt; 

')  I,  XX. 


Die  Naturphilosophie  des  Th.  Hobbes  in  ihrer  Abhängigkeit  von  Bacon.      379 

iu  ihr  gab  Baco  seine  Wahrnehmungstheorie  ausführlich.  Und  wie 
dieselbe  iu  einer  engen  Verbindung  mit  den  Grundlagen  seiner 
Naturauffassung  stand,  musste  auch  Hobbes,  weuu  er  sie  durch- 
dachte, zu  einem  Studium  derselben  fortgeführt  werden.  In 
diesem  wurzeln  die  ersten  Anfänge  der  eigenen  Naturphilsophie, 
und  es  wird  nun  unsere  Aufgabe  sein,  der  hieraus  entspringenden 
Abhängigkeit  im  Einzelnen  nachzugehen.  Sie  umfasst  die  obersten 
Voraussetzungen,  unter  denen  Hobbes  immer  die  Wirklichkeit  be- 
trachtet hat. 

In  den  historischen  Darstellungen  der  neueren  Philosophie 
pflegt  das  System  des  Hobbes,  wie  es  in  seiner  abgeschlossenen 
Gestalt  vorliegt,  in  die  grosse  englische  Bewegung  eingereiht  zu 
werden,  die  von  Baco  in  einem  inneren  Zusammenhange  sich  bis 
zu  Hume  und  Mill  erstreckt  und  neben  der  Kette  der  französischen 
Mathematiker  und  Philosophen  als  die  andere  Trägerin  des  modernen 
Empirismus  und  Positivismus  augesehen  werden  kann.  Eine  solche 
Einordnung  ist  auch  unter  einem  klassificatorischen  Gesichtspunkt 
berechtigt,  sofern  dieselbe  in  Rücksicht  auf  die  Grundtendenz  der 
Hobbes'schen  Philosophie  und  ihre  letzten  Voraussetzungen  geschieht; 
freilich  reichtsie  nicht  zu  eiuervollständigen  Ableitung  seinesSystemes 
aus.  Aber  gegenüber  neueren  Versuchen,  Hobbes  dann  ganz  von 
den  Vertretern  einer  naturalistischen  Weltauffassung  loszulösen, 
um  ihn  aus  jener  idealistischen  Gedankenströmung  zu  begreifen,  die 
in  der  Ausbildung  des  Rationalismus  sich  vollendete  —  demgegen- 
über muss  doch  die  geschichtliche  Abhängigkeit  betont  werden,  in 
der  sich  Hobbes  von  seineu  englischen  Vorgängern  befindet.  Schon 
der  äussere  Gang  seiner  intellectuellen  Entwicklung  zeigt,  wie 
er  bereits  vor  seinem  Eintritt  in  die  Pariser  Cirkel  von  den 
uaturphilosophischen  Ideen  der  Renaissance  umgeben  war.  Dass 
es  nun  aber  insbesondere'  die  von  Baco  in  einem  eucyclopädischen 
Geiste  entwickelten  Anschauungen  waren,  die  seine  Naturphilosophie 
iu  den  Grundzügen  bestimmten,  erhellt,  wenn  man  hinter  den 
coustructiven  Zusammenhang  seiner  grossen  Schriften  hinabsteigt 
zu  den  ursprünglichen  Motiven,  die  auch  in  diesen  wirksam  sind, 
aber  in  den  ersten  Entwürfen  sich  unabhängig  von  den  mecha- 
nischen Methoden  entfalten. 


380  M*^  Köhler, 

Wir   führen  diesen  Nachweis,    indem   wir   von    der  Naturan- 
schauung des  englischen  Grosskanzlers  ausgehen. 

In  Baco  von  Verulara  sind  die  antike  Traditionen,  die  Atomistik 
wie  die  Stoa  lebendig;  alles,  was  die  Zeit  an  Erfindungen,  Ent- 
deckungen und  Beobachtungen  bot,  ergrilf  er.  Aber  wie  er  unter 
dem  Gesichtspunkt  einer  universalen  Erfahrungsphilosophie  nur  die 
Mittel  suchte,  die  Natur  zu  erobern  und  zu  beherrschen,  ankerte 
er  sich  in  keinem  der  metaphysischen  Standpunkte  fest.  Denn  die 
naturalistische  VVeltansicht,  wie  sie  in  der  äusseren  Erfahrung  ge- 
gründet ist  und  aus  dem  Studium  der  in  ihr  gegebenen  Realität 
die  Grundbegriffe  schöpft,  drängt  mit  einer  inneren  Nothwendigkeit 
zu  der  Einschränkung  der  Giltigkeit  ihrer  Erkenntnisse  auf  eben 
diese  Erfahrung.  Hatte  Baco  einst  zu  den  metaphysischen  Fragen 
von  der  Constitution  der  Materie  Stellung  genommen,  so  enthielt 
er  sich  später  der  Entscheidung  über  sie.  Nur  soweit  der  Versuch 
reicht,  vermögen  wir  das  Wesen  der  Dinge  zu  erfassen,  die  Er- 
örterung ihrer  letzten  Principien  ist  wissenschaftlich  unfruchtbar.*) 

Die  Begriffe,  unter  denen  Baco  die  Natur  nun  denkt,  sind 
durch  die  Aufgabe  näher  bestimmt,  die  er  mit  ihrer  Hilfe  zu  lösen 
sucht.  Denn  das  Ziel  seiner  Forschung  ist  nicht  auf  eine  reine 
Abspiegelung  des  Seienden  in  der  Erkenntniss  gerichtet:  es  liegt  in 
der  Herbeiführung  einer  Macht,  die  in  einem  gegebenen  Körper 
eine  oder  mehrere  neue  Eigenschaften  zu  erzeugen  imstande  ist. ") 
Wie  in  den  Anfängen  der  Chemie  im  Mittelalter,  in  der  Schule 
des  Paracelsus,  deren  letztes  systematisches  Handbuch  von  dem 
Dänen  Severinus  Baco  benutzt  und  verwertet,  zuerst  das  analytische 
Verfahren  des  modernen  Denkens  ausgebildet  worden  war,  das  auf 
die  Grundsubstanzen  zurückging  und  aus  einer  Mischung  und  Ver- 
bindung derselben  die  einzelnen  Körper  begriff,  so  möchte  Baco 
die  gesammte  Natur  in  die  elementaren  Eigenschaften  von  Farbe, 
Wärme,  Schwere  u.  s.  w.  gleichsam  zerschneiden,  um  aus  ihnen  die 


*)  „cum  omnis  utilitas  et  facultas  operandi  in  mediis  [sc.  principiis] 
consistat".  Nov.  org.  lib.  I  Aphor.  66.  Vgl,  II  Apli.  8  und  48,19  seiner  Zurück- 
haltung in  Bezug  auf  die  Atomistik. 

^)  Nov.  org.  II  Aphor.  1  und  5. 


Die  Naturphilosophie  des  Th.  Hobbes  iu  ihrer  Abhängigkeit  von  Bacon.      381 

Dinge  wieder  zusammensetzeu  zu  können,  die  der  Mensch  hervor- 
bringen will.  War  in  dem  neuen  Mischungsbegriff  der  Elemente 
die  aristotelische  Form  als  das  die  Mischung  constituirende  Princip 
endgiltig  ausgeschieden,  so  sieht  Baco  in  den  concreten  Einzeldingeu 
nur  eine  Zusammenfiigung  der  einfachen  Eigenschaften,  die  nun 
nicht  mehr  einer  besonderen  Substanz,  einer  sich  verwirklichenden 
Form  zur  Erklärung  bedürfen.")  Wohl  kennt  auch  er  eine  Wissen- 
schaft, die  die  einzelnen  Körper,  ihre  Anatomie  gleichsam  und 
ihre  Veränderungen  in  der  Zeit  zum  Gegenstände  des  Studiums 
hat.  Aber  diese  Wissenschaft  ist  ihm  blosse  Physik;  wie  sie  keine 
wahrhafte  Analyse  einschliesst,  sondern  nur  die  verborgenen  Ge- 
staltungen der  Körper  und  die  Ursachen,  die  ihre  Wirksamkeiten 
auslösen,  untersucht,  dringt  sie  nicht  zu  der  Erkenntnis's  dieser 
allgemeinen  und  fundamentalen  Wirksamkeiten  der  Natur  vor. 
Dies  allein  vermag  die  „Metaphysik"  auf  dem  Wege  jenes  Inductions- 
verfahrens,  das  Baco  in  dem  Zusammenhange  dieser  Naturau- 
schauung  entwickelt.  Wir  erkennen  nun  aber  das  Wesen  einer 
Eigenschaft,  indem  wir  sie  als  die  Besonderung  einer  anderen  auf- 
fassen, an  deren  Auftreten  sie  gebunden  ist,  und  die,  weil  sie  mehr 
umfasst  als  die  gegebene,  als  die  übergeordnete  angesehen  werden 
muss,  '^)  In  diesem  Princip  ist  zugleich  eine  nähere  Bestimmung 
der  höheren  Formen  enthalten,  in  denen  sich  die  innerliche  Ein- 
heit der  Natur  manifestirt.  Denn  sofern  die  höchste  derselben 
die  allumfassendste  ist,  kann  sie  nur  in  der  Eigenschaft  zu  finden 
sein,  die  allen  körperlichen  Dingen  gemeinsam  ist:  die  verschie- 
denen Formen  und  Qualitäten  sind  die  Besonderungeu  einer 
universalen  Thatsache,    der  Bewegung.     So  gelangt  Bacon.  indem 


10)  „To  enquire  the  Form  of  a  Hon,  of  an  oak,  of  gold,  nay  or  water,  of 
air  is  a  vain  pursuit".  Ädv.  of  learn.  11,  Bd.  III,  355  der  Ausgabe  von  Ellis 
und  Spedding.  Auch  De  augm.  sc.  III  4,  Opera,  Frankfurt  1665,  p.  90,  wo 
jedoch  unter  Berufung  auf  die  heilige  Schrift  hinzugefügt  wird  ,Uno  homine 
excepto". 

")  Nov.  org.  II.  Aphor.  4.  „Forma  vera  talis  est,  ut  naturam  datam  ex 
fönte  aliquo  essentiae  deducat,  quae  inest  pluribus  et  notier  est  naturae  (ut 
loquntur)  quam  ipsa  forma".  Woraus  die  Regel  der  Erkenntniss  folgt  „ut 
inveniatur  natura  alia,  quae  sit  cum  natura  data  convertibilis  et  tarnen  sit 
limitatio  naturae  notioris,  instar  generis  veri".     Vgl.  Aph.  17.  Schluss  u.  26. 


382  ^^ax  Köhler, 

er  nun  ergreift,  was  die  epikureische  und  stoische  Tradition   ihm 
bot,  zu  jenem  obersten  Satz,  der,  man  möchte  glauben,   inhaltlich 
mit  jener  Grundanschauung  sich  deckt,  die  den  Gehalt  der  mecha- 
nischen Naturerklärung  ausmacht.    Aber  der  Weg,  auf  dem  er  ihn 
gewann,  verschluss  ihm  zugleich  die  Auswerthung  derselben  in  einem 
modernen  Verstände.     Denn  indem   er  in   den  allgemeinen  Eigen- 
schaften,   die  das  Wesen   des   einzelneu  Körpers   constituiren.    ein 
begriffliches  System  übergeordneter  Arten  erblickte,  verblieb  er  in 
dem  klassificirenden  Denken   der  Scholastik:    und  wie    hierin   die 
wissenschaftliche  Unfruchtbarkeit  seiner  Methode  gegründet  war  — 
denn  die  Darstellung  der  Arten  der  Bewegung  durch  die  Einteilung 
ihres  Begriffes  nach  seinen  specifischen  Merkmalen  ist  ein  unmög- 
liches Unternehmen   — ,  so  ergaben  sich  auch   Consequenzen,    die 
Baco  mit  der  Voraussetzung  seines  Naturerkeunens   nicht  in  einer 
klaren  Auffassung  verbinden   konnte.     Sind  die  Formen,  d.  h.   die 
elementaren  Eigenschaften  nur  Besonderungen  des  logischen  Gattungs- 
begriffs  der  Bewegung,    so  ist  diese    allein   real;    wie    denn  Baco 
nachdrücklich  die  Bewegung  als  das  eigentliche  Wesen  der  Wärme 
bezeichnet.    Und  wenn  er  an  einer  anderen  Stelle  den  Unterschied 
des  erscheinenden  Gegenstands  von  seinem  Wesen  dem  Unterschiede 
in   der   Beziehung    auf   den    Menschen    und    der    auf   das  Weltall 
gleichsetzt'*),    so   scheint  er  jenem   Phänomenalisraus   nicht  mehr 
fernzustehen,     der  aus    den    sinnlichen    Gegebenheiten    einen    ge- 
wissen Inbegriff  als  subjectiven  Ursprunges  ausscheidet.    Aber  Baco 
erhebt  sich  doch  nicht   über  diese    flüchtigen  Andeutungen,    diese 
fast  spielenden  Vergleiche;  und  wie  er  in   seiner  Wahrnehmungs- 
lehre noch  ganz  auf  dem  Boden  der  mittelalterlichen  Speciestheorie 
verbleibt'^),   hat  er  immer  an  der  Thatsächlichkeit  der  Qualitäten 
als  eines  objectiven   Bestandes    festgehalten.     Vielleicht  lag  nicht 
das  geringste  Moment  zu  dieser  Unbestimmtheit  in  dem  eigenthüm- 
lichen  Zwielicht,  das  keine  Aufhellung  des  Verhältnisses  gestattete, 
in  welchem  die   niedere  Form   zu  der  übergeordneten,  in  welchem 


'2)  ibidem  II  Aphor.   13. 

^^)  Historia  naturalis,  Centuria  tertia.      Die    Erschütterung   der    Luft    ist 
bei  dem    Tone  nur  „causa  sine  qua  non",  Opera  i».  802, 


Die  Naturphilosophie  des  Th.  Hobbes  iu  ihrer  Abhängigkeit  von  Bacon.     383 

alle  besoüderen  Formen  zu  der  Bewegung  stehen  —  gleichsam, 
als  kehrten  die  unlöslichen  Schwierigkeiten  wieder,  die  einst  in 
der  Frage  nach  dem  Realitätswerthe  der  Universalien  und  der 
Individuen  bestanden  hatten. 

Baco  hat  in  der  Formenlehre,  dieser  seiner  eigensten  Schöpfung, 
keinen  Schüler  gefunden.  Auch  Hobbes  ist  ihm  nicht  auf  diesem 
Wege  gefolgt.  Sein  Interesse  war  nicht  wie  das  des  Grosskanzlers 
in  erster  Linie  auf  die  Technik  und  Methodik  der  wissenschaft- 
lichen Forschung  gerichtet;  und  als  er  den  Problemen  dieser  näher 
trat,  war  er  im  Besitze  der  neuen  mechanischen  Methode,  die  der 
Formen  und  des  dreifachen  Instanzenweges  des  Inductionsverfahrens 
entbehren  konnte.  Aber  in  seinem  systematischen  Geiste  erfasste 
er  nun  die  grossen  Motive,  die  dieser  Conception  zu  Grunde  lagen; 
alles  Zukunftsfähige,  das  in  der  Naturauschauung  des  Baco  enthalten 
war,  nahm  er  auf.  In  dem  Gebiete,  das  die  Funktionen  des 
Menschen  umfasste  und  auf  das  er  seiner  Natur  nach  in  Verbin- 
dung mit  medicinischen  Anregungen  seine  Aufmerksamkeit  lenkte, 
ging  er  in  den  Intentionen  Bacos  weiter.  Und  indem  er  nun  von 
dem  Geiste  der  mathematischen  Construction  ergriffen  wurde,  führte 
er  den  Gehalt,  der  iu  den  Essays  und  Aphorismen  des  Gross- 
kanzlers in  einer  künstlerischen  Ungebundenheit  gegeben  war,  in 
ein  streng  gegliedertes  System  über,  des  folgerichtig  von  den  ersten 
Annahmen  in  stringenten  Conclusionen  zu  den  schärfsten  Conse- 
quenzen  schritt. 

Diese  Phase  seines  Denkens,  welche  die  dauernde  Grundlage 
seiner  Naturphilosophie  geschaffen  hat,  ist  uns  in  einem  englisch 
geschriebenen  „kurzen  Tractat  von  den  ersten  Principien''  erhalten. 
In  ihm  umgiebt  uns  noch  beständig,  obschon  die  Form  sich  skla- 
visch eng  au  den  Aufbau  des  Euklid  auschliesst,  Bacouische  Natur- 
anschauung. Der  erste  Zug  derselben  ist  die  gänzliche  Ausschei- 
dung jeder  teleologischen  Betrachtungsweise;  die  Natur  stellt  einen 
Zusammenhang  von  Wirkungen  dar,  die  mit  stets  gleicher")  Noth- 
wendigkeit  aus  ihren  Ursachen  folgen;  daher  denn,  so  lautet  der  strenge 


1*}  Elements  of  law,  ed.  Tönnies,  Appendix  I,  197  ,Necessity  hath  no 
degrees". 


384  Max  Köhler, 

Schluss,  die  Annahme  eines  Wesens,  das  aus  Freiheit  handelt, 
einen  inneren  Widerspruch  eiuschliesst/'')  Betrachten  wir  nun 
näher,  was  in  der  Natur  wirkt  und  wie  es  wirkt,  so  heben  wir 
einen  zweiten  Grundzug  dieses  Tractates  hervor,  der  auch  in  einer 
Fortsetzung  von  Tendenzen  Bacos  ausgebildet  worden  ist.  Aber 
noch  eigenwilliger  als  dieser  hält  Hobbes  mit  der  Zähigkeit,  die 
ihm  eignet,  an  der  Terminologie  der  aristotelisch-scholastischen 
Philosophie  fest;  als  Student  hatte  er  sich  ja  in  die  Werke  des 
Suarez  einleben  müssen.  So  unterscheidet  er  die  Substanz  als  das, 
was  sein  Sein  in  keinem  Anderen  hat.  sondern  durch  sich  selbst 
besteht,  von  dem  Accidenz,  das  sein  Sein  in  einem  Anderem  hat 
und  ohne  dasselbe  nicht  bestünde.^*)  In  den  Beispielen  jedoch, 
durch  welche  er  diese  Definitionen  illustrirt,  tritt  schon  die  Tendenz 
hervor,  dieselben  ihres  metaphysischen  Charakters  zu  entkleiden  und 
sie  zu  wissenschaftlichen  Symbolen  von  Thatsachen  der  Erfahrung 
umzubilden. 

Aber  darin  besteht  nun  das  Entscheidende,  dass  Hobbes,  wie 
er  diese  Begriffe  nur  auf  den  Inbegriff  der  äusseren  Erfahrung 
bezieht,  in  dem  durch  sie  bestimmten  Inhalt  den  Ausgangspunkt 
alles  weiteren  Wissens  findet.  Wenn  er  in  dem  englischen  Tractat 
beweist,  dass  jedes  Ding  entweder  eine  Substanz  oder  ein  Accidenz 
ist,'')  so  ist  dieses  Schlussverfahren  doch  nur  der  umschriebene 
Ausdruck  für  seine  naturalistsche  Anschauung,  die  in  der  sinnlich  ge- 
gebenen Realität  die  einzige  unserer  wissenschaftlichen  Erkentniss 
zugängliche  Realität  erblickt.  Denn  die  Voraussetzung  seiner 
Bündigkeit  liegt  einzig  in  der  Folgerichtigkeit,  mit  welcher  Hobbes 
alle  Kategorien,  unter  denen  er  denkt,  aus  den  Thatsachen  der 
wahrnehmbaren  Aussen  weit  ableitet.  Demgemäss  umfasst  der 
Begriff  der  Natur  den  Inhalt  alles  Wirklichen,  und  die  in  ihr  wirk- 
samen Gesetze  gelten  für  alle  Veränderungen  schlechthin. 

Die  Grundlage  dieser  Gesetze  bildet  eine  Auffassung  von  Ent- 


'^)  iL»,  p.  196.  „Hence  appeares  lliat  the  detinition  of  a  Free  Agent,  to  be 
that,  which,  all  things  requisite  to  worke,  beiug  putt,  inay  worke  or  not 
werke,  implyes  a  contradiction". 

'6)  ib.  p.  194. 

'')  ibidem. 


Die  Naturphilosophie  des  Th.  Hobbes  in  ihrer  Abhängigkeit  von  Bacon.      385 

stehung  und  Uebertragung  von  Bewegungen,  die  deutlich  den  Ab- 
stand des  Hobbes  von  den  mechanischen  Einsichten  Galileis  und 
des  Descartes  zeigt.  So  besagt  das  erste  der  Principien,  dass  die 
Ursachen  aller  Veränderungen  eines  Dinges  nicht  in  ihm  selbst 
enthalten  sind.  '*)  Eine  nähere  Bestimmung  erhält  diese  allge- 
meine Erklärung  durch  den  Sinn,  in  welchem  Hobbes  Wirkung 
und  Veränderung  fasst.  „Ein  Agens",  so  definirt  er,  „bringt  in  dem 
Patiens  nur  eine  Bewegung  oder  eine  inhärierende  Form  hervor." 
Sehen  wir  zunächst  von  dieser  Art  von  Wirkung  ab,  so  ergiebt 
sich  der  Schluss,  dass  in  einem  ruhenden  Körper  eine  örtliche 
Bewegung  nur  durch  die  unmittelbare  oder  vermittelte  Berührung 
mit  einem  selbstbewegten  Körper  zu  enstehen  vermag.  '^)  In  diesen 
Sätzen  ist  eine  Interpretation  von  Bewegungsvorgängen  gegeben, 
die  schon  von  Baco  angedeutet  ist,  ^'^)  und  welche  Hobbes  später 
als  die  erste  Hälfte  des  Beharrungsgesetzes  formulirt  hat.  „Was 
ruht",  so  heisst  es  in  seinem  Hauptwerk,  „wird  immer  ruhen,  wenn 
es  nicht  ein  Anderes  ausser  ihm  giebt,  nach  dessen  Entgegensetzung 
(quo  supposito)  es  nicht  mehr  ruhen  kann".^')  Aber  während 
Hobbes  hier  die  Erhaltung  des  Zustandes  auch  auf  den  bewegten  Körper 
nach  Richtung  und  Geschwindigkeit  ausdehnt,  fehltdiese  zweite  Hälfte, 
in  welcher  sich  doch  erst  der  durch  die  wissenschaftliche  Mechanik 
gewonnene  Kraftbegriff  ausspricht,  dem  englischen  Tractat.  Und 
so  verbleibt  auch  dieser  concise  Ausdruck  der  in  Baco  vorbereiteten 
Vorstellung  von  der  alleinigen  Realität  der  Bewegung,  so  scharf 
er  sich  von  dem  sprühenden  Stil  des  Grosskanzlers  abhebt,  inner- 
halb   der    Schranken  der  natürlichen    Auffassung.      Zwar    erkennt 


'*)  ib.  p.  193.  „That,  whereto  nothing  is  added,  and  from  which  nothing 
is  taken,  remaines  in  the  same  state  is  was". 

'')  ib.  p.  196.  „Nothiüg  can  move  itself",  welcher  Satz  ausser  durch 
Berufung  auf  das  erste  Princip  auch  durch  die  Unbestimmtheit  der  ent- 
stehenden Bewegung  bewiesen  wird,  sofern  in  dem  Dinge  selbst  kein  zu- 
reichender Grund  für  eine  Auswahl  der  möglichen  Richtungen  gelegen  ist.  — 
p.  195.  „That  which  now  resteth,  cannot  be  moved,  unless  it  be  touched  by 
some  Agent". 

20)  Nov.  org.  II,  Aph.  48,  8,  19. 

*i)  De  corpore,  I  177.  Der  Beweis  dieses  Satzes  p.  102  f.  ist  fast  wörtlich 
aus  dem  „Short  tract  on  first  principles"  wiederholt. 


386  Max  Köhler, 

Hobbes  wie  Baco  •^)  die  aristotelische  Unterscheidung  einer  gewalt- 
samen und  einer  naturgemässen  Bewegung  nicht  an;  aber  beide 
stehen  noch  vor  den  Consequenzen.  welche  die  moderne  Dynamik 
aus  dieser  Aufhebung  zog. 

Hierzu  tritt  nun  eine  Gedankenfolge,  welche  die  doch  mögliche 
mechanische  Verwerthung  der  gewonnenen  Einsichten  durchkreuzt. 
Die  Conceptiou,  in  die  sie  einmündet,  entsprang  einer  Mehrheit 
von  Problemen. 

Hobbes  hatte  allgemein  bewiesen,  dass  jede  Wirkung  eines 
Agens  entweder  die  unmittelbare  Berührung  mit  dem  Patiens 
oder  ihre  successive  Fortpflanzung  an  die  Theile  des  zwischen  ihnen 
befindlichen  Mediums  voraussetzt.  Nun  aber  giebt  es  Vorgänge 
wie  etwa  die  der  Strahlung  in  der  Natur,  wo  ein  Effect  von  einem 
Körper  auf  einen  anderen  gewirkt  wird,  ohne  dass  die  Theile 
des  Mediums  an  ihm  merklich  participiren.  Hobbes  nimmt  daher 
zur  Erklärung  dieses  Vorganges  im  Anschluss  an  die  mittelalterliche 
Wahrnehmungs-Theorie,  wie  sie  ihm  noch  in  Baco  entgegentrat, 
die  continuirliche  Aussendung  von  Species,  d.  h.  kleinen  Bildchen 
der  Gegenstände  an.-^)  Indem  diese  nun  in  dem  Patiens  anlangen, 
repräsentiren  sie  gleichsam  das  ferne  Agens  in  seiner  Wirksamkeit 
und  machen  so  die  scheinbare  Fernwirkung  desselben  verständlich. 
Und  zwar  fasst  Hobbes  diese  Species  in  Consequenz  seiner  Defini- 
tionen von  Substanz  und  Accidens,  da  sie  ihrerseits  doch  unab- 
hängig von  dem  sie  aussendenden  Körper  bestehen  und  selbst 
Träger  von  Accidentien  sind,  als  Substanzen  auf.^0 


")  Nov.  uig.  I  Aph.  60. 

■")  Elem.  of  law.  App.  1  p.  198.  „Agents  at  distauce  woike  not  all  on 
the  Patient  by  successive  action  on  the  parts  of  Medium''.  Dem  eingehenden 
Beweis  dieses  Satzes  folgt  dann  p.  199  der  Schluss:  „Some  Agents,  at  distance, 
worke  by  Species". 

■*)  ib.  p.  203.  „Species  are  substances".  Die  dargelegte  Ableitung  dieses 
Satzes,  der  sich  nahe  mit  der  Eidolatheorie  der  antiken  Atomistik  berührt, 
scheint  mir  die  Möglichkeit  der  relativen  Selbständigkeit  von  Bobbes  darzu 
thun,  und,  sofern  nicht  andere  Momente  hinzutreten  sollten,  kann  aus  ihm 
allein  nicht,  wie  FI.  Schwarz,  Umwälzung  der  Wahrnehmungshypothesen  durch 
die  mechanische  Methode  iS'Jö,  erster  Abschnitt  S.  1U2,  will,  eine  Abhängig- 
keit gerade  von  der  epikureischen  Tradition  geschlossen  werden. 


Die  Naturphilosophie  des  Th.  Hobbes  in  ihrer  Abhängigkeit  von  Bacon.      387 

Hobbes  verhehlt  sich  die  Unzulänglichkeit  dieser  unmecha- 
nischen Vorstellungsweise  nicht.  Dieselbe  liegt  in  der  nothwendigen 
Annahme  selbst  unbewegter  aber  ewig  bewegender  Körper;  jedoch 
durch  Einführung  dieser  Annahme  unter  die  Principien  der  ersten 
Section  (Princip  9)  hat  er  siesich  ohne  weitere  Begründung  ermöglicht. 
Ferner  ist  er  gezwungen,  dieinstantane  Geschwindigkeit  des  Lichtes  zu 
leugnen,  ohne  ihre  thatsächliche,  erfahrungsgemäss  nicht  feststellbare 
Grösse  durch  die  örtliche  Bewegung  der  Species  plausibel  machen 
zu  können.  Und  endlich  vermag  er  bei  der  Frage,  woher  der  un- 
erschöpfliche Vorrath  der  stoft'lichen  Aussendungen  eines  Körpers, 
der  sich  doch  nicht  verringert,  komme,  nur  auf  die  Analogie  des 
Feuers  zu  verweisen,  bei  welchem  die  Thatsache  einer  Nahrungs- 
zufuhr offenbar  sei. '') 

Für  die  in  dieser  Emission  thätige  Kraft  eines  Körpers,  welche 
die  continuirliche  Aussendung  der  Species  unterhält,  hat  Hobbes 
den  Namen  einer  inhärirenden  Form  oder  Qualität,  welcher  Name 
doch  nicht  bloss  äusserlich  an  die  baconische  Terminologie  anklingt. 
Indem  diese  Kraft  wirksam  ist,  tritt  der  Fall  ein,  dass  eine  Bewe- 
gung nicht  durch  Bewegung  erzeugt  wird,  sondern  beständig  aus 
dem  Nichts  entsteht.  Diese  uns  so  befremdlich  anmuthende  Con- 
ception,  die  jede  wissenschaftliche  Darstellung  mechanischer  Vor- 
gänge unmöglich  macht,  ist  gleichwohl  auch  aus  dem  Grunde  der 
Auflösung  gewisser  Thatbestände  in  den  Ablauf  von  Bewegungen 
eingeführt.  Diese  sind  durch  die  qualitativen  Eigenschaften  der 
Dinge  gegeben.  Baco  hatte  dieselben  im  Princip  dem  Begriffe  der 
Bewegung  untergeordnet;  Hobbes  fasst  sie,  wie  sie  auf  eine  con- 
stante  Eigenthümlichkeit  der  Dinge  hindeuten,  als  die  durch  eine 
ihnen  innewohnende  Kraft  hervorgerufene  Aussendung  von  Species. 
Demgemäss  erlangt  ihre  Theorie  ihre  volle  Bedeutung,  wenn  er 
nun  zu  der  Analyse  des  Wahrnehmungsvorganges  schreitet.  Denn 
auch  der  Mensch  ist  dem  Zusammenhange  der  Natur  eingeordnet; 
er  steht  unter  ihren  Bedingungen.  Und  wie  nun  in  der  Wahr- 
nehmung ferner  Gegenstände  dieselben  eine  oftenbare  Wirkung  auf 


")  ibidem  p.  201. 


3g8  Max  Köhler, 

die  Orgaue  üben,    kann  sie  auch  unter  diesem  Gesichtspunkt  nur 
als  eine  Sendung  von  Species  verstanden  werden. 

Wie  wirken  diese  nun  aber,  wenn  sie  in  den  Organen  an- 
gelangt sind?  Der  Vorgang  der  sinnlichen  Empfindung,  so  antwortet 
Hobbes,  ist  eine  Bewegung  der  animalischen  Lebensgeister  durch 
die  Species  von  einem  äusseren  Object.-")  Und  an  diesem  Punkte 
der  Zergliederung  des  Zusammenhangs  der  Natur,  da  wo  auch  der 
Mensch  in  ihn  bezogen  wird,  wird  der  materialistische  Grund- 
aedanke  des  Hobbes  sichtbar,  der  zu  allen  Zeiten  als  der  be- 
zeichnende  Zug  seines  Systemes  gegolten  hat.  Dieser  Materialismus 
lie^t  nun  vor  der  Aufnahme  der  mechanischen  Ideen,  er  entstand 
nicht  in  einer  Consequenz  derselben.  Wir  werden  sehen,  in  welcher 
Richtuno'  er  durch  sie  umgebildet  worden  ist;  doch  hier  tritt  her- 
vor,  dass  diese  seine  Anschauung  nicht  in  einer  Weiteriührung 
der  atomistischen  Tradition,  die  in  der  Annahme  von  Seelen- 
atomen das  geistige  Leben  des  Menschen  zu  erklären  suchte,  ent- 
standen  ist,  vielmehr  in  einer  geschichtlichen  Continuität  von  der 
stoischen  Lehre  der  Belebtheit  der  Welt  durch  den  allgegen- 
wärtigen Aether  sich  entwickelt  hat. 

Der  Zwischenträger  in  dieser  Continuität  ist  Baco.  Li  der 
späteien  Hälfte  seines  Lebens  hatte  er  diese  stoische  Lehre  auf- 
(Tenommen  und  sie  in  einer  detaillirten  Form  als  die  Theorie  der 
Spiritus  durcligelührt.^O  Diese  Spiritus  sind  Eftluvien  des  Welt- 
äthers und  als  solche  ein  wenn  auch  sehr  dünnes  und  unsichtbares 
Stoffliches.  Und  wie  sie  in  jedem  Körper  als  das  thätige  Princip 
desselben  einwohnen,  so  sind  sie  auch  in  dem  Menschen  die  Träger 


26)  ibidem  p.  207, 

2^)  Vgl.  die  Darstellung  der  baconischen  Auffassung  der  Materie  bei 
Lasswitz,  Geschichte  der  Atomistik,  1890,  1431  ff.  In  Bacos  späterem  System 
ist  der  Obersatz  der  stoischen  Naturlehrc  von  der  Gebundenheit  der  Kraft  an 
den  Stoff  —  und  auch  die  geistigen  Kräfte  gelten  als  natürliche  —  enthalten. 
In  seinen  mechanischen  Ansichten  tritt  dies  z.  B.  in  seiner  Ablehnung  der 
aristotelischen  Annahme  der  Kraftwirkung  eines  rein  mathematischen  Punktes 
hervor:  Nov.  org.  II  Aph.  35.  Von  diesem  dynamischen  Materialismus  ging 
der  Weg  zu  Hobbes. 


Die  Naturphilosophie  des  Tb.  Hobbes  in  ihrer  Abhängigkeit  von  Bacon.     389 

der  Funktionen,  wenngleich  diese  in  ihrer  Eigenart  durch  das 
Specifische  der  verschiedeneu  Organe  bestimmt  ist.  ^®) 

In  der  schroffen  und  scharfen  Fassung  des  mathematisch  ge- 
bildeten Schülers  verliert  nun  diese  Theorie  der  Species  das 
Phantastische,  das  sie  bei  Baco  noch  umgiebt,  und  so  unvollkommen 
auch  die  mechanische  Vorstellungsweise  ist,  in  die  sie  Hobbes  über- 
zuführen sucht,  so  ermöglicht  ihm  doch,  was  er  an  medicinischen 
Kenntnissen  besass,  eine  physiologische  Interpretation,  die  die 
speculative  Unbestimmtheit  der  baconischen  überwunden  hat.  Noch 
lange  hat  er  an  dem  Begriffe  des  Spiritus  als  eines  wissenschaft- 
lichen Constructionselemeutes  festgehalten;  bis  in  die  einzelnen 
Fragen  der  speciellen  Physik  erstreckt  ist  der  Gebrauch  seiner 
Anwendung. "') 

In  dem  englischen  Tractat  bespricht  er  nur  die  Spiritus,  so- 
fern sie  als  die  Träger  der  Lebenskräfte  in  dem  sensorischen  und 
motorischen  Apparat  des  organischen  Körpers  wirksam  sind.  „Die 
animalischen  Spiritus",  so  lautet  das  erste  Princip  der  dritten 
Section,  „sind  diejenigen  Spiritus,  welche  die  Instrumente  (Instru- 
ments) der  Sinne  und  der  Bewegungen  sind".  Da  in  ihnen  der 
Ausgangspunkt  der  willkürlichen  körperlichen  Bewegungen  liegt, 
so  müssen  sie,  da  sie  selbst  keine  constant  wirkende  Kraft  zur 
Bewegung  in  sich  tragen,  örtlich  bew'egt  sein^").  Und  wie  diese 
Bewegung  nur  als  eine  übertragene  gedacht  werden  kann,  muss 
das,  was  sie  überträgt,  selbst  bewegt  sein,  wie  etwa  die  in  den 
Organen    anlangenden    Species,    oder    wie    die    Seele,    sofern    eine 


2ä)  Historia  vitae  et  mortis,  Opera  Frankfurt  1665,  p.  564:  „Actiones 
naturales  sunt  propriae  i)artium  singularum,  sed  spiritus  vitalis  eas  excitat  et 
acuit".  In  der  darauf  folgenden  Explication  heisst  es:  „Actiones  sive  functiones, 
quae  sunt  in  singulis  membris,  naturam  ipsorum  membrorum  sequuntur 
(attractio,  reteutio,  digestio,  assimilatio,  separatio,  etiam  sensus  ipse);  pro 
proprietate  organorum  siugulorum  (stomachi,  lecoris,  cordis,  splenis,  fellis, 
cerebri.  oculi,  auris,  et  caeterorum).  Neque  tarnen  ulla  ex  ipsis  actionibus, 
unquaai  actuata  foret,  nisi  ex  vigore  et  praeseutia  spiritus  vitalis  et  caloris  ejus". 

29j  Vgl.  z.  B.  die  Bedeutung,  welche  diese  Lehre  noch  1641  für  ihn  be- 
sitzt, V  283 f.  Auf  die  dort  gegebene  Erklärung  der  Härte  durch  die  Spiritus 
komme  ich  einem  anderen  Zusammenhange  zurück. 

30)  Elem.  of  law.  App.  I  p.  205. 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.    XV.  3.  £l 


390  Max  Köhler, 

Wirkung  von  ihr  auf  die  animalischen  Lebensgeister  angenommen 
wird,  örtlich  bewegt  zu  denken  ist'*).  Hobbes  hebt  hier  die  in 
diesen  Worten  eingeschlossene  Auffassung  der  Seele  als  einer 
körperlichen  Substanz  nicht  besonders  hervor;  führt  er  sie  doch 
nur  als  eine  Möglichkeit,  nicht  als  den  faktischen  Sitz  der  Bewusst- 
seinsthätigkeiten  ein,  den  er  vielmehr  den  Lebensgeistern  oder  auch 
dem  Gehirn  zuweist.  Erst  gegenüber  dem  Standpunkt  des  Des- 
cartes,  der  in  seinem  Ausgang  von  dem  Selbstbewusstsein  die 
Position  der  mittelalterlichen  Metaphysik  in  Bezug  auf  die  Lehre 
von  der  Immaterialität  der  geistigen  Substanzen  wieder  gewonnen 
hatte,  zieht  er  die  Consequenzen  seiner  Voraussetzung.  Aus  den 
Acten  des  Bewusstseins,  so  argumentirt  er,  könne  mit  Recht  auf 
ein  sie  fundirendes  Subject  geschlossen  werden,  aber  „die  Subjecte 
aller  Thätigkeiten  scheinen  nur  unter  dem  Begriffe  des  Körpers 
oder  der  Materie  verständlich  zu  sein"  ^^),  mithin  müsse  das,  was 
denkt,  als  ein  körperliches  Ding  angesehen  werden.  In  einer 
später  geschriebenen  lateinischen  Abhandlung  über  Fragen  der 
Optik  spricht  er  noch  klarer  diese  naturalistische  Wendung  aus: 
„Da  aber  das  Sehen  formaliter  und  realiter  nichts  anderes  ausser 
der  Bewegung  ist,  so  folgt  auch,  dass  der  Sehende,  formaliter  und 
genau  gesprochen,  nichts  anderes  ausser  dem  Bewegten  ist,  näm- 
lich ein  Körper;  denn  nichts  ausser  einem  Körper,  nämlich  einem 
materiellen,  mit  Dimensionen  begabten  und  räumlich  umschreib- 
baren Ding,  kann  bewegt  werden"  ").  Vielmehr  bedeutet  die  An- 
nahme einer  immateriellen  Seele  eine  wissenschaftlich  unfruchtbare 
Verdoppelung  des  letzten  Trägers  der  Empfindungen,  da  die  Art, 
wie  sie  nun  der  Bewegungen  in  den  Nervenfasern  und  dem  Gehirn 
gewahr  wird,  nur  nach  Analogie  des  empfindenden  thierischen 
Körpers  begreiflich  gemacht  werden  kann. 

Untersuchen  wir  nun  den  in  dieser  Epoche  seiner  natur- 
philosophischen Ansichten  gegebenen  Materialismus  näher,  so  heben 
wir  zunächst  hervor,  dass  Hobbes  hier  wie  immer  den  Begriff  der 


3')  ib.  p.  206.     „Then  is  the  Soul  moved  it  seif." 

32)  V.  253. 

")  Eiern,  of  law.  App.  II.  p.  2-iOf 


Die  Naturphilosophie  des  Th.  Hobbes  in  ihrer  Abhängigkeit  von  Bacon.      391 

Seele!  als^eines  selbständigen  Wesens,  auf  das  die  Thatsachen  des 
Bewusstseinlebens  bezogen  wären,  abgelehnt  hat:  der  unserer  Er- 
kenntniss  zugängliche  letzte  Träger  der  seelisclien  Thätigkeiten  ist 
der  empfindende  Körper  als  das  einzige  in  unsere  Erfahrung,  d.  h. 
in  unsere  Sinnes  Wahrnehmung  fallende  Substrat  derselben.  Ver- 
stehen wir  unter  Materialismus  allgemein  diese  Auffassung,  so  ist 
in  einem  solchen  Verstände  Hobbes  immer  Materialist  geblieben. 
Aber  der  so  bezeichnete  Standpunkt  enthält  noch  viele  Möglich- 
keiten seiner  Durchführung  in  sich.  Für  Hobbes  ist  derselbe  zu- 
nächst durch  die  ursprünglichen  Anschauungen  bestimmt,  von 
denen  er  seinen  Ausgang  nahm.  Diese  aber  nähern  sich  in  einem 
hohen  Grade  den  hylozoistischen  Vorstellungen,  die  in  der  Stoa 
und  dem  späteren  Baco  lebendig  waren.  Die  bewegte  Materie  ist 
zugleich  belebt,  wie  denn  Baco  nachdrücklich  allen  Körpern  das 
Vermögen  der  Perception  zuschreibt''*).  Hobbes  discutirt  in  dem 
kurzen  englischen  Tractat  den  Umfang  der  Ausbreitung  des  Be- 
wusstseinlebens nicht;  aber  wenn  er  in  den  animalischen  Lebens- 
geistern die  geistigen  Funktionen  des  Menschen  localisirt,  so  ver- 
bleibt doch  im  Hintergrunde  seiner  Auffassung  beständig  die  Vor- 
stellung von  der  Zusammengehörigkeit  der  Bewusstseinsvorgänge 
und  der  Bewegungen  der  Spiritus.  Denn  das  ist  nun  das  Ent- 
scheidende für  das  Verständniss  dieser  materialistischen  Wendungen, 
dass  sie  vor  jener  scharfen  Scheidung  des  Descartes  einer  geistigen 
und  einer  materiellen  Welt  entstanden  sind,  durch  welche  das 
psycho-physische  Problem  erst  in  seiner  ganzen  Schwere  enthüllt 
worden  ist.  Für  Hobbes  besteht  noch  nicht  jene  unüberbrückbare 
Kluft  zwischen  den  seelischen  und  den  natürlichen  Kräften,  die 
das  System  des  Descartes  aufdeckte.  Die  Möglichkeit  einer  Ver- 
bindung und  eines  Zusammenhanges  beider  Kraftarten  ward  erst 
das  Problem  der  folgenden  Zeit.  Wie  das  Auftreten  beider  an  die 
Materie  gebunden  ist,  kann  eine  wissenschaftliche  Untersuchung 
nur  in  einem  Studium  der  physischen  und  physiologischen  Beding- 
ungen ihrer  Wirksamkeit  gegründet  sein. 

Wenn  von  dem  aussendenden  Object  die  bewegten  Species  in 


")  De  augin.  sc.  N.  3.     Opera,  p.  118 f. 

27' 


392  Max  Köhler, 

den  Organen  anlangen,  beginnt  ihre  Wirkung;  dieselbe  kann  aber 
nach  den  methodisch  geforderten  Definitionen  nur  eine  Bewegung 
oder  die  Erzeugung  einer  inhärirenden  Qualität  sein;  da  Letzteres 
ausgeschlossen  ist,  erschöpft  sie  sich  in  der  Bewegung  der  Spiritus, 
auf  die  sie  trill't;  diesen  Effect  nennen  wir  nun  Empfindung '').  So 
ist  es  verständlich,  wenn  Hobbes  zu  einer  Formulirung  gelangt, 
die  dem  Wortlaut  nach  eine  Gleichsetzung  von  Bewegung  und 
Empfindung,  von  Bewegungen  und  Willensvorgängen  enthält,  wenn 
er  sogar  nicht  davor  zurückschreckt,  die  Wirkungen  eines  Objectes 
auf  die  Sinne  und  den  Willen,  die  Anziehungskraft,  die  es  uns 
erstrebenswerth  macht,  als  eine  physisch  wirkende  Kraft  darzustellen 
und  das  Maass  ihrer  Grösse  geometrisch  abzuschätzen^'').  Aber 
dieser,  bis  zum  höchsten  Extrem  zugespitzte  und  im  Grunde  gar 
nicht  vorstellbare  Materialismus  drückt  doch  nicht  den  Kern  seiner 
Ansichten  in  einer  zureichenden  Weise  aus;  wie  er  die  Facticität 
des  in  den  Wahrnehmungen  gegebenen  Bewusstseiuzustandes  nicht 
leugnet,  möchte  er  nur  zu  den  letzten  aufdeckbaren  Gründen  der- 
selben hinabsteigen.  Diese  aber  sind  Bewegungen  der  animalischen 
Lebensgeister.  Hinter  dem  vorgeblichen  Materialisten  steht  der 
Physiolog  und  positive  Naturforscher,  der  die  physische  Wirklich- 
keit in  allen  ihren  Verzweigungen  verfolgt;  und  indem  er  nun 
auch  in  dem  Menschen  die  Seite  seines  Wesens  studirt,  die  dem 
beobachtenden  und  gleichsam  von  aussen  her  analysirenden  Forscher 
allein  zugänglich  ist  und  die  unter  den  allgemeinen  Gesetzen  der 
Wirkungen  steht,  schliesst  sich  ihm  der  Zusammenhang  der  Natur. 
Der  „kurze  Tractat  von  den  ersten  Principien"  bezeichnet  in 
der  Reihe  der  Werke,  die  Hobbes  schuf,  einen  ersten  Entwurf 
seiner  jüngeren  Jahre,  naturphilosophische  Ideen  zu  forrauliren;  er 
selbst  hat  ihn  nicht  veröffentlicht.  Denn  wenn  auch  die  Natur- 
anschauung, die  in  ihm  enthalten  war,  permanent  lebendig  blieb 
und  auch  noch  in  der  Zeit  seiner  späteren  Entwicklung  fortwirkte, 
so  sind  doch  in  der  originalen  Art  seines  Geistes  und  der  nun  ein- 
tretenden bedeutsamen  Wendung  seines  wissenschaftlichen  Denkens 


^^)  Elements  of  law.  App.  I.  p.  207. 
8«)  ib.  p.  210. 


Die  Naturphilosophie  tles  Th.  Hobbes  iu  ihrer  Abhängigkeit  vou  Bacon.      393 

Momente  gegeben,  die  über  diese  Grundlage  weit  hinausführten. 
Er  ist  daher  nicht  iu  dem  Verstände  ein  Schüler  Bacos  geblieben, 
in  welchem  etwa  Spinoza  durch  Descartes  bedingt  ist. 

Schon  in  den  Gesichtspunkten,  von  denen  er  ausging,  war  das 
verschiedene  Interesse  bedingt,  das  er  den  verschiedenen  Theilen 
des  baconischen  Systems  entgegenbrachte.  Ein  weiteres  trennendes 
Moment  lag  in  der  Aneignung  und  Anerkennung  der  mathemati- 
schen Methode  als  dem  Vorbilde  jedes  strengen  Raisounements. 
Baco  hatte  ihr  ferngestanden;  er  erblickte  sie  nur  in  der  phan- 
tastischen Gestalt  des  Neupythagoreismus  oder  er  schränkte  doch 
ihren  V^'^erth  ganz  auf  praktische  Messungen  ein.  Das  inductive 
Verfahren,  das  er  iu  Aphorismen  und  immer  neuen  Wendungen 
in  den  Vordergrund  der  methodischen  Betrachtung  gerückt  hatte, 
wurde  durch  die  eherne  Striugenz  der  geometrischen  Deduction 
verdunkelt.  Und  wie  das  Souveraine,  gleichsam  das  Künstlerische 
in  der  Darstellung  des  Grosskanzlers  keinen  Wiederhall  in  Hobbes 
fand,  so  wandte  sich  dieser  nüchterne  und  systematische  Kopf  mit 
den  Hilfsmitteln  einer  mathematischen  Schulung  einer  anderen  Art 
von  Untersuchung  der  Naturgegenstände  zu.  Denn  darin  liegt 
nun  das  Entscheidende  für  den  weitereu  Fortgang,  dass  dieses  sein 
Verhältniss  zu  dem  mathematischen  Denken  in  allmählichem  Fort- 
schreiten eine  steigende  Beschäftigung  mit  der  neuen  mechanischen 
Analyse  der  Xatur  hervorrief.  Seit  dem  Beginn  der  dreissiger 
Jahre  ist  er  iu  dem  Kreise  aufgenommen,  den  der  naturwissen- 
schaftlich gebildete  Baronet  Charles  Cavendish  um  sich  gesammelt 
hatte.  In  seinem  Auftrage  sucht  er  1633  in  London  nach  den 
Dialogen  Galileis  „üeber  die  beiden  hauptsächlichen  Weltsysteme", 
die  vor  kurzem  erschienen  waren  ^').  Wie  gross  aber  auch  der 
mächtige  Eindruck  dieses  Werkes  gewesen  sein  mag,  in  dem  mit 
einer  überwältigenden   Kraft  und   nur  zu   deutlich   die  Unzuläng- 


^0  Dass  Hobbes  dieses  Werk  iu  gründlicher  Arbeit  in  sich  aufgenommen 
hat,  beweist  ausser  seiner  späteren  Abhängigkeit  von  demselben  in  astro- 
nomischem Betracht  ein  Brief  vom  16.  10.  1636  (publicirt  in  Historical 
Manuscripts  Commission,  Thirteen  Report  App.  II,  Vol.  II.  p.  129f.),  der  eine 
Auseinandersetzung  mit  einer  von  Galilei  dort  aufgestellten  optischen  These 
enthält.  —  Nach  I  p.  XXVIII  soll  er  den  greisen  Meister  selbst  besucht  haben. 


394  'iJi&x  Köhler, 

lichkeit  des  aristotelischen  Weltbildes  und  die  sieghafte  Ueber- 
legenheit  der  neuen  analytischen  Methode  dargethan  war:  die  ent- 
scheidende Wendung,  zu  der  alle  diese  Anregungen  hinstrebten, 
empfing  Hobbes  erst  auf  seinem  dritten  Pariser  Aufenthalt.  Die 
Interessen,  die  nunmehr  in  ihm  lebendig  waren,  brachten  ihn  in 
bald  enge  Berührung  mit  einer  Gesellschaft  freier  Denker,  in  deren 
Mittelpunkt  Marin  Mersenue  stand.  Mit  diesem  verkehrte  er  nun 
täglich. 

Es  war  ein  seltsamer  Kreis,  der  sich  in  dem  Paris  Richelieu's, 
umgeben  von  allem  Glanz  des  höfischen  Lebens,  inmitten  religiöser 
Kämpfe  und  politischer  Katastrophen,  zusammengefunden  hatte. 
Nicht  um  als  Partei  gegen  Parteien  zu  kämpfen,  nicht  um  handelnd 
einzugreifen  in  die  Bewegungen  der  Zeit:  was  diese  Theologen, 
Physiker  und  Aerzte  erfüllte,  reichte  hinaus  über  die  Gegenwart. 
In  der  stillen  Zelle  des  Marin  Mersenne,  unter  dem  Schutze  der 
„fratres  minimi"  ward  in  einem  lebendigen  Austausch  der  Gedanken, 
der  rückwärts  an  die  antiken  Philosophenschulen,  vorwärts  an  die 
französischen  Salons  des  achtzehnten  Jahrhunderts  gemahnt,  in 
einem  Ineinandergreifen  von  Arbeiten  und  Untersuchungen,  in 
einer  AVechselwirkung  von  Geben  und  Empfangen  das  grosse  Werk 
einer  neuen  Wissenschaft  von  der  Natur  gefördert.  Sie  alle  Schüler 
Galileis  in  einem  weiteren  Verstände.  Man  lese  Campaueila,  wie 
er  gleichsam  von  der  Last  der  Tradition  erdrückt  wird:  dieser 
Nebel  war  nun  von  den  Werken  der  Natur  gewichen,  den  Ausblick 
auf  eine  unermessliche  Zukunft  eröffnend.  Auch  für  Hobbes  erschloss 
sich  in  diesem  Kreise  eine  neue  Welt. 

Und  Mersenne  war  nun  gleichsam  der  lebendige  Ausdruck 
dieser  unvergleichlichen  Bewegung.  Aus  einer  leidenschaftlichen 
Religiosität  hatte  sich  dieser  Mönch  zu  dem  Ideal  einer  neuen 
Kultur  durchgerungen,  das,  wie  es  auf  erweisbare  Erkenntniss 
gegründet  ist,  die  Momente  des  Lebens  in  einem  versölmendeu 
Ziel  zusammeuzuschliessen  gestattet;  die  Musik  war  es,  wie  sie 
ihm  in  der  grossen  kirchlichen  Kunst  und  in  den  Anfängen  einer 
weltlichen  entgegentrat  und  aller  Orten  schon  einer  theoretischen 
Untersuchung  unterzogen  ward,  die  ihn  durch  historische  und  psy- 
chologische Studien  hindurch  zu  der  mathematischen   Analyse  der 


Die  Naturphilosophie  des  Th.  Hobbes  in  ihrer  Abhängigkeit  von  Bacon.      395 

Phänomene  führte.  Und  nun  übertrug  er  die  ganze  Leidenschaft 
seines  Gemütes  auf  diese  neue  Wissenschaft.  Es  ging  von  ihm  ein 
fast  unwiderstehlicher  Enthusiasmus  aus,  der  fortriss,  wen  er  be- 
rührte. Es  hat  viele  Männer  in  der  Wissenschaft  gegeben,  denen 
dieselbe  mehr  verdankt  als  Mersenne.  Aber  nicht  immer  liegt  die 
Grösse  einer  Leistung  in  theoretischen  oder  literarisch  hxirten 
Ergebnissen.  Wenn  die  kulturelle  Bedeutung  der  mathematischen 
Physik  darin  gegründet  ist,  dass  sie  nicht  als  ein  neuer  Glaube, 
nicht  als  ein  fertiger  Bestand  abgeschlossener  Erkenntnisse  auftrat, 
vielmehr  die  Aussicht  auf  eine  von  allem  Persönlichen,  ja  Nationa- 
len unabhängige  gemeinsame  Arbeit  eröffnete,  so  war  es  die 
Lebensaufgabe  des  Mersenne,  diese  Funktion  der  Wissenschaft  in 
einer  Fülle  persönlicher  Verhältnisse  zum  höchsten  Bewusstseiu  zu 
steigern.  Alles  im  Werden!  Wohin  er  blickte,  sah  er  Probleme. 
Fast  sein  gesammter  Briefwechsel,  der  sich  bis  Huyghens  hin 
erstreckt,  erschöpft  sich  in  der  Stellung  von  Problemen.  Von 
ihm  ging  jene  Frage  nach  der  Schwingungsdauer  ebener  Figuren 
aus,  deren  spätere  Beantwortung  durch  Huyghens  die  erste  Formu- 
lirung  des  Gesetzes  von  der  Erhaltung  der  Kraft  enthielt.  Immer 
legte  er  seinen  Freunden  Aufgaben  vor,  und  so  ist  er  der  Gründer 
einer  Sitte  geworden,  die  in  der  Zeit  des  Leibniz  und  der  neueren 
Akademien  von  der  grössten  Bedeutung  wurde.  Schon  hegte  er 
den  Wunsch  einer  universalen  Akademie  „wenn  nicht  von  ganz 
Europa,  so  doch  von  ganz  Frankreich".  ^^)  Und  wie  er  durch 
Reisen  in  Frankreich,  Italien  und  Holland  in  der  persönlichen  Be- 
rührung der  Gelehrten  die  neuen  Ideen  zu  fördern  suchte,  so  war 
er  auch  bemüht,  literarisch  zwischen  den  Nationen  zu  vermitteln. 
Er  übersetzte  die  ungedruckte  „Mechanik"  des  Galilei,  und  als  dessen 
„Dialoge  über  die  beiden  hauptsächlichsten  Weltsysteme"  verboten 
waren,  gab  er  ihren  wesentlichen  Inhalt  in  kurzer  Zusammen- 
fassung heraus.  Nicht  von  vielen  darf  ohne  Vorwurf  gesagt  werden, 
was  diesem  Manen  zum  höchsten  Lobe  gereicht:  er  hatte  keine 
Feinde.  In  seinem  Freundeskreise  waren  gar  hartwilligc  Indivi- 
dualitäten, die,  ihres  inneren  Gegensatzes  ganz  bewusst,  nur  durch 


38)  Lettres  inedites,  Paris  1894,  132, 


396  Max  Köhler, 

die  Person  des  Merseuue  in  einem  Zusammenhange  standen,  dieser 
sah  hinweg   über  die    Unterschiede    der  Charaktere,    der    Nationa- 
litäten und  auch  der  metaphysischen  Positionen;    er  erachtete  sie 
gering  gegenüber    der    gemeinsamen,    der    grossen    Aufgabe,  alles 
,,per  motum  localem"'  zu  erklären.     So  wurde  er  der  Vertraute  von 
Descartes    wie  von  Gassendi    und    Hobbes.     Als  er    durch    einen 
plötzlichen  Tod  ihrer  Freundschaft  entrissen  wurde,  lebte  sein  Bild 
in  ihrer  Erinnerung  fort;  und  immer  hat  Hobbes,  der  so  bitter  von 
den    Menschen    sprechen    konnte,    seiner    nur    in    den    wärmsten 
AVorten  gedacht,    denn    alles,  was   er  ihm    verdankte,    hatte    sich 
unlöslich  mit  dem  Eindruck  seiner  Persönlichkeit  verknüpft;  wie 
gross  auch  schon  das  Interesse  war,    das  Hobbes  der  entstehenden 
Physik  entgegenbrachte:    erst  durch  ihn  wurde    er  in    die    aktive 
wissenschaftliche  Bewegung  von  der  mechanischen    Erklärung    der 
iS'atur  eingeführt.     In  dem  Verkehr  mit  diesem  Manne   vollendete 
sich  seine  Keuutuiss  der  neuen  Methode  und  der  Glaube    an    ihre 
weittragende  Giltigkeit. 

Aber  die  vermittelnde  Thätigkeit  des  Pater  Mersennc  bewegte 
sich  noch  in  einer  ganz  anderen  Richtung.  Haureau  hat  hervor- 
gehoben, dass  schon  in  seinem  Commentar  zur  Genesis  der  Gottes- 
beweis cuthalten  ist,  von  dem  dann  Campauella  und  Descartes 
ihren  Ausgang  nehmen.  Noch  ist  nicht  untersucht  worden,  in 
welchem  Umfange  Mersenne  als  ein  ZAvischeuglied  in  der  Con- 
tinuität  der  philosophischen  und  eigentlich  metaphysischen  Ueber- 
zeugungeu  anzusehen  ist;  denn  auch  sein  Wesen  zeigt  jene  selt- 
same und  doch  so  charakteristische  Zweiseitigkeit  der  Welt- 
anschauung, die  diesen  Denkern  an  der  Schwelle  einer  neuen 
Zukunft  eigen  ist.  Wie  sie  prophetisch  die  Ideen  kommender 
Zeiten  gestalten,  ist  in  ihnen  doch  zugleich  der  Glaube  vergangener 
Jahrhunderte  lebendig  —  nicht  als  ein  heterogenes  und  nur  äusserlich 
conservirtes  Element  ihres  Lebens:  sondern  verschmolzen  mit  den 
tiefsten  Grundlagen  ihrer  Natur  durchzieht  ein  Zusammenhang  von 
Ueberzeugungen  die  innerste  Struktur  ihrer  Gedankenwelt  bis  hinein 
in  die  feinsten  Züge,  eine  religiöse  oder  metaphysische  Position, 
deren  continuirliche  Umbildung  in  steter  Wechselwirkung  mit  der 
entstehenden  Wissenschaft  eben  den  Fortgang  des  philosophischen 


Die  Naturphilosophie  des  Th.  Hobbes  in  ihrer  Abhängigkeit  von  Bacon.      397 

Geistes  bestimmt.  Und  Mersenne  hatte  in  langen  Jahren 
historischeu  Studiums  in  sich  aufgenommen,  was  von  dem  Mittel- 
alter erarbeitet  war;  wie  er  in  der  Jugend,  gestützt  auf  die  mönch- 
ische Gelehrsamkeit,  mit  Leidenschaft  in  die  religiösen  Kämpfe 
der  Zeit  eingegriffen  hatte,  so  bildete  später  ein  tief  gefühlter 
metaphysischer  Idealismus  den  dauernden  Untergrund  seiner  Natur- 
uud  Weltanschauung;  nur  dass  er  nicht  vermocht  hat,  was  so 
in  seiner  Persönlichkeit  in  einer  Einheit  bestand,  mit  dem  wissen- 
schaftlichen Ideal  eines  universalen  Mechanismus,  das  in  der  Me- 
thode seines  Forschens  enthalten  war,  zu  einem  Ganzen  in  einer 
begrifflichen  Form  zu  verbinden;  aber  allenthalben  hat  er  gern  gegeben, 
was  von  Eigenem  und  Uebernommenem  in  ihm  lebte.  Und  viel- 
leicht ist  kein  Zug  sympathischer  in  dieser  sympathischen  Persön- 
lichkeit, als  die  selbstlose  Unterordnung  dem  grösseren  Freunde 
gegenüber,  der  nun  alle  diese  Tendenzen  in  Einem  Systeme 
befasste. 

Descartes  ist  der  königliche  Geist  in  diesem  Kreise:  als  er 
für  immer  aus  ihm  schied,  beherrschte  er  ihn  noch  durch  Mer- 
senne. Die  Einwürfe  gegen  die  Meditationen,  die  dieser  sammelte, 
waren  nur  der  natürliche  Ausdruck  der  Stellung,  die  Descartes  in 
ihm  behauptet  hatte.  Ganz  in  sich  selbst  versunken,  nur  mit 
Gott  und  der  Welt  beschäftigt,  war  er  abweisend  gegen  Jedermann, 
er  begehrte  keine  Liebe;  und  doch  zwang  er  Jeden,  sich  für  oder 
gegen  ihn  zu  entscheiden.  Alles  Grosse,  was  in  Mersenne  und 
seinem  Kreise  lebendig  war,  vereinigte  sich  in  seiner  Person,  und 
in  den  langen  Jahren  tiefer  Einsamkeit  verdichtete  es  sich  in  ihm 
zu  jenem  universalen  System,  durch  das  er  der  „Vater  der  neueren 
Philosophie"'  geworden  ist.  Wie  in  eine  Formel  ist  in  diesem 
wunderbaren  Manne  der  Gang  der  Zeiten  zusammengefasst:  wie- 
er  von  dem  tief  christlichen  Bew'Urrstsein  der  Selbst-  und  Gottes- 
gewissheit  aus  nun  die  Schranken  des  mittelalterlichen  Denkens 
überschritt  und  die  Natur  gewann,  welche  die  Renaissance  erobert 
hatte.  Aber  nicht  die  Natur  in  ihrer  Pracht  und  Alllebendigkeit, 
den  Kosmos  der  Griechen:  ihre  Schönheit  verwehte  vor  diesem 
rationalen  Kopfe  zu  einem  Schein:  es  blieb  Zahl,  Ausdehnung 
und  Bewegung,    als  welche  allein  hinreichend    sind,    diese    bunte 


398  Max  Köhler, 

Welt  zu  erklären.  Zu  erklären  als  eine  ungeheure  Maschine,  die 
lautlos  und  stumm  nach  ewigen  Gesetzen  sich  bewegt:  ganz  durch- 
sichtig für  das  wissenschaftliche  Denken.  Auch  die  Thiere  sind 
blosse  Automaten.  Nur  in  der  Menschheit  erhebt  sich  ein  Reich 
freier  Personen,  au  keine  Notwendigkeit  gebunden:  eine  andere 
Art  metaphysischer  Realitäten,  an  welchen  die  mechanische  Ordnung 
der  Natur  ihre  Grenze  findet.  Und  wie  nun  diese  beiden  Reiche 
in  gänzlicher  Unabhängigkeit  von  einander  bestehen  —  ist  doch  das 
Einwirken  des  Geistes  auf  die  Körperwelt  auf  die  Richtungsänderung 
der  Bewegung  eingeschränkt  —  wird  jedes  derselben  in  der  ihm 
eigenen  Bestimmtheit  sichtbar.  Nie  zuvor  ist  diese  schöne  Wirk- 
lichkeit in  solcher  Ausschliesslichkeit  als  ein  seelenloser,  entgötterter 
Mechanismus  gedacht  worden.  Wie  gebannt  hält  Hobbes  stets 
den  Blick  auf  diese  vollendete  mechanische  Naturanschauung  ge- 
richtet. 

Gegenüber  einer  unkritischen  Geschichtsschreibung  ist  die 
Abhängigkeit  hervorgehoben  worden,  in  welcher  sich  Hobbes  von 
Galilei  befindet.  Aber  in  einem  noch  stärkeren  Maasse  wirkte 
das  Vorbild  des  Descartes.  In  dem  Systeme  dieses  Mannes  fand 
er,  was  er  selbst  auf  dem  Gebiete  der  Naturphilosophie  gedacht, 
in  einer  höchsten  Klarheit  ausgesprochen,  in  einem  überwältigen- 
dem Gesammtbilde  zusammengefasst.  Nur  von  einer  gänzlich  ver- 
schiedenen Position  des  metaphysischen  Bewusstseins  aus,  die  eben 
da  die  Grenzen  des  wissenschaftlichen  Erkenneus  zog,  wo  der  Aus- 
gangspunkt und  das  Ziel  seines  Denkens  lag:  die  Aufgabe  der 
Uebertragung  dieser  Methoden  auf  das  Geistesleben  des  Menschen. 

Noch  befand  sich  Hobbes  in  dem  Flusse  seiner  Entwicklung,  als 
die  Essais  des  französischen  Philosophen  erschienen,  unter  ihnen 
die  „Dioptrik",  welche  die  gangbaren  Theorien  des  Sehens  und  des 
Lichtes  von  Grund  auf  umgestaltete.  Immer  hat  sich  Hobbes  ,  in 
einer  [^Auseinandersetzung  mit  diesem  Werke  befunden.  Dann 
forderte  Mersenne  ihn  auf,  seine  stärksten  Einwände,  deren  "[erlahig 
wäre,  gegen  die  Meditationen  zu  machen,  und  so  sah  er  sich  auch 
äusserlich  bewogen,  den  Standpunkt  des  Descartes  in  seinen  letzten 
Voraussetzungen  zu  durohdeuken.  Djr  stolze  Einsiedler  lehnte 
diese  Einwürfe,  wie  sie  nicht  die  scharfsinnigsten  waren  und  nicht 


Die  Naturphilosophie  des  Th.  Hobbes  in  ihrer  Abhängigkeit  von  Bacon.      399 

die  positiven  Momente  der  naturalistischen  Weltbetrachtung  in 
ihrer  Stärke  hervortreten  Hessen,  in  kurzer  Gegenkritik  ab:  sie  ver- 
standen sich  in  ihrem  tiefen  Gegensätze  nicht.  Und  darum  nahm 
auch  Descartes,  da  er  die  Geschlossenheit  seines  idealistischen 
Systemes  durch  diesen  Engländer  nicht  gefährdet  sah,  keine  weitere 
Notiz  von  ihra.^^)  Anders  Hobbes.  Indem  er  in  der  Ausbildung 
seiner  Weltanschauung  zu  der  Annahme  der  mechanischen  Natur- 
erklärung sich  gezwungen  sah,  konnte  er  sich  den  Ergebnissen,  zu 
denen  sie  in  der  Fassung  des  Descartes  geführt,  nicht  entziehen. 
Zugleich  aber  musste  er  doch  versuchen,  sie  von  dem  Untergrund 
eines  metaphysischen  Idealismus  loszulösen.  So  entstand  ihm  die 
Aufgabe,  gemäss  den  Bedingungen,  die  ihm  durch  Baco  gegeben 
waren,  den  mechanischen  Gehalt  des  cartesianischen  Systems 
gleichsam  umzudenken:  durch  diese  Aufgabe  ist  die  Ausbildung 
seiner  Naturphilosophie  bestimmt. 


5^  So  schreibt  er  an  Mersenne:  ..Je  juge  que  le  meilleur  est  que  je  n"ais 
poiut  du  tout  commerce  avec  lui".     V.  298.     Vgl.  ib.  278. 


Jahresbericht 

über 

sämintliche  Erschein ungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte 

der  Philosophie 

in   Gemeinschaft   mit 

Clemens    Baeumker,     Ingram    By water,     Alessandro    Chiapelli,    Wilhelm 

Dilthey,  A.  Dyroff,  Benno   Erdmann,   M.  Gomperz,  H.  Lüdemann,  Martin 

Schreiner,  Andrew  Seth,  Paul  Tannery,  Feiice  Tocco,  E.  Wellmann 

und  Wilhelm  Windelband 

herausgegeben 


Ludwig  Stein. 


IV. 

Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  und  ihr 
Verhältniss  zur  Philosophie,  1897—1900. 

Von 
H.  littdemann  in  Bern. 

I.    Die  drei  ersten  Jahrhunderte. 

1,     Einleitender    Abschnitt:      Das    Christenthum    in 
seinem  Beginn  überhaupt  und  die  Philosophie. 

1.  R.  M.  Wenley,  The  preparation  for  christianity  in  the  ancient 

World.  176  S.     London  1898,  Black,  1  sh.  6  d. 

2.  E.  Zeller,  Zur  Vorgeschichte  des  Christenthums:   Essener  und 

Orphiker.     (Zeitschr.    f.    wissensch.    Theologie,   42.      1899, 
S.  197—269). 

A.  HiLGENFELD,    Noch    einmal    die    Essäer.      (Ebendas.   43. 
1900.     S.  180—211.) 

3.  B.  A.  Betzinger,    Seneca- Album.      Weltfrohes    und    Weltfreies 

aus  S.s  phil.  Schriften.     Nebst   einem  Anhang:   S.  und  das 
Christenthum.    X,  224  S.   6°.    Freiburg  1899,  Herder,  iM.  3. 

4.  J.  Dartigue-Beyrou  ,    Marc-Aurele    dans    ses  rapports    avec    le 

Christiauisme.      These,    237  S.      (Protest,    theol.  Facultät.) 
Paris  1897.     Fischbacher. 

5.  J.  MuTH,  Der  Kampf  des  heidnischen  Philosophen  Celsus  gegen 

das  Christenthum.    Eine  apologetisch-patristische  Abhandlung. 
XX,  229  S.     Mainz  1899.     Kirchheim,  M.  3,50. 


404  ^^-  Lüdemann, 

6.  J.  Orr,  Neglected  factors  in  the  study  of  the  early  progress  of 

Christianity.     236  S.     London  1899.     Hodder.     3  sh.  6  d. 

7.  A.  Chaignet,  La  philosophie   des   Oracles   de  Porphyre  (Revue 

de  rhistoire  des  religions.     41,  1900.     S.  337 — 353). 

8.  A.  Harnack,    Sokrates    und    die    alte    Kirche.      Rectoratsrede. 

24  S.     4".     Berlin  1900.     Schade.  — 

1.  Wenleys  Schrift,  amerikanischen  Ursprungs  (der  Verf.  ist 
Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  Ann  Arbor,  Michigan) 
ist  unter  den  neueren  Behandlungen  des  durch  das  Auftreten  des 
Christenthums  gestellten  geschichtsphilosophischen  Problems  zweifel- 
los eine  der  geistvollsten  und  tiefdringendsten.  Der  Grundgedanke 
derselben  (s.  das  Schlusskapitel)  ist,  dass  die  gesammte  vorchristliche 
Entwicklung  unter  den  einheitlichen  Gesichtspunkt  gestellt  werden 
kann,  das  allmähliche  Heranreifen  des  Menschen  zur  Erfassung 
seines  Wesens  als  freier  sittlicher  Persönlichkeit  bewirkt  zu  haben; 
diese,  vorübergehend  gleichsam  entdeckt  (auf  ethischer  Seite  durch 
Sokrates,  auf  religiöser  durch  den  israelitischen  Prophetismus),  ent- 
schwand gleichwohl  dem  Alterthum  immer  wieder,  sofern  sie  auf 
ethischer  Seite  weder  theoretisch  (durch  Plato  und  Aristoteles) 
noch  praktisch  (durch  die  nacharistotelische  Philosophie,  vor  Allem 
das  abstracto  Weisen-Ideal  der  Stoa)  sichergestellt  wurde;  auf 
religiöser  Seite  aber  in  der  Entartung  des  israelitischen  Nomismus 
vollends  verloren  ging.  Damit  erwies  sich,  dass  für  diese  Idee  das 
antike  Bewusstsein  der  nöthigen  Kategorien,  die  antike  Gesellschaft 
der  Mittel  zu  ihrer  Actualisirung  entbehrte,  so  dass  erst  ihre  offeu- 
baruugsartige  Veranschaulichung  in  der  Person  Christi,  wie  ihre 
energische  Ilerausgestaltung  in  seiner  befreienden  Verkündigung 
das  resultatlose  Suchen  zum  Abschluss  brachte  und  damit  eine 
geistesgeschichtliche  Krisis  eröffnete,  die  nothwendig  die  grösste 
und  tiefgreifendste  aller  bisher  dagewesenen  werden  musste,  und 
deren  schlechthin  typische  Bedeutung  sich  darin  zeigt,  dass  sie  sich 
in  secundärer  Art  periodisch  wiederholt,  nachdem  die  Symphonie 
der  Geschichte  in  ihr  gleichsam  ihr  Thema  gefunden  hat.  Der 
Verf.  hat  seinen  Gedanken  mit  so  freier  Beherrschung  und  so 
gründlich-concreter  Kenntniss  des  geschichtlichen  Stoffs  durchgeführt, 


Jahresbericht  über  die  Kirchenvater  it.  ihr  Verhältniss  zur  Philosophie.     405 

dass  die  Befürchtung,  einem  unfruchtbaren  geschichtsphilosophischen 
Constructionsversuche  zuschauen  zu  müssen,  den  Leser  alsbald  ver- 
lässt;  immerhin,  da  nicht  eigentlich  gelehrte  Zwecke  verfolgt 
werden,  begnüge  ich  mich  an  diesem  Orte  mit  diesem  Hinweise 
(vergl.  meine  Besprechung:  Theol.  Jahresbericht  18,  191). 

2.  Eine  Specialfrage  betr.  die  Vorbereitung  des  Christenthums, 
welche  nicht  bloss  die  Bedingungen  für  seine  Verbreitung  im 
römischen  Reich,  sondern  geradezu  seine  Entstehung  in  Palästina 
ins  Auge  fasst,  hat  Zell  er  aufs  Neue  zur  Discussion  gestellt:  die 
Frage,  ob  für  die  Bereitung  des  religiösen  Bodens,  auf  welchem 
sich  das  neue  religiöse  Selbstbewusstsein  Jesu  bilden  sollte,  die 
immanente  Entwicklung  des  Judenthums  allein  ausreichte,  oder 
der  Hinzutritt  eines  Fermentes  hellenischer  Art  und  Herkunft 
nothwendig  gewesen  sei.  Es  ist  die  Frage  über  Wesen  und  Eut- 
stehungsbedingungen  des  Ordens  der  Essener.  Der  Verf.  vertheidigt 
einerseits  überhaupt  aufs  Neue  seine  bekannte  Ansicht,  dass  die 
Essener  neupythagoräisch-orphischen  Ursprungs  waren;  andererseits 
geht  er  besonders  näher  ein  auf  das  Zeugniss,  welches  die  jüngere 
orphische  Theogonie  ablegt  für  den  Aufschwung,  welchen  der 
Orphismus  gerade  um  die  fragliche  Zeit,  d.  h.  um  die  Wende  des 
dritten  und  zweiten  vorchristlichen  Jahrhunderts  innerhalb  des 
gesammten  antiken  Culturkreises  genommen  hat.  Was  das  erste 
betritt't,  so  ist  der  Verf.  nach  wie  vor  der  Ansicht,  dass  die  Essener 
zu  ihren  in  Palästina  so  fremdartigen  Eigenthümlichkeiten,  wie  der 
Verwerfung  des  Eides,  der  Ehe,  der  Thieropfer,  des  Fleisch-  und 
Weingenusses;  der  Anrufung  des  Himmels,  der  Erde,  des  Wassers, 
der  Luft;  der  Anbetung  der  aufgehenden  Sonne;  endlich  auch  zu 
ihrem  anthropologischen  und  metaphysischen  Dualismus  nur  durch 
Einwirkungen  hellenischer  Art,  nicht  aber  durch  die  in  den 
Makkabäerkriegeu  gezeitigten  innerpalästinischen  Verhältnisse  ge- 
bracht sein  können.  Letztere  Verhältnisse  reichen  aus  zur  Er- 
klärung der  Entstehung  von  Pharisäismus  und  Sadducäismus;  der 
Essäismus  dagegen  weist  sowohl  über  den  Umkreis  dieser  Evolution 
hinaus,  als  auch  chronologisch  hinter  sie  zurück,  bis  um  200  v.  Chr., 
wo  die  griechische  Beeinflussung  überhaupt  einsetzt.  Schon  im 
Kohelet    begegnen    um    diese    Zeit    Andeutungen    der    essenischen 

Archiv  f.  Gescliiclite  d.  Philosophie.    XV.  3.  28 


406  H.  Lüdemann, 

Anthropologie  (3,  21),  wie  der  Verwerfung  des  Opfers  und  des 
Eides  (9,  2),  Wie  schon  in  seiner  „Philosophie  der  Griechen" 
Iir,  2,  S.  325—333,  so  weist  der  Verf.  auch  hier  nach,  wie  der 
weiterbestehende  Pythagoräische  Bund,  dem  Orphismus  verwandt, 
aber  mit  stärkerem  ethischen  Einschlag,  den  Neupythagoräismus 
aus  sich  hervortrieb  und  schon  anderthalb  Jahrhunderte  vor  den 
Makkabaern  auch  in  Palästina  seinen  Einfluss  durch  Verbreitung 
hellenistischer  Ideen  geltend  machte,  die  durchweg  das  Gegenbild 
obengenannter  essenischer  Eigenthümlichkeiten  aufweisen,  und  diesen 
ihren  Ursprung  sogar  noch  in  christlichen  Nachtrieben  essenisch- 
gnostisirenden  Charakters  verrathen,  wie  die  Pseudo-Clementinen 
es  sind.  Was  das  Zweite  betrifft,  so  tritt  der  Verf.  hier  einen  er- 
neuten Beweis  dafür  an,  dass  die  jüngere  orphische  Theogonie  erst 
in  den  Uebergang  vom  dritten  ins  zweite  vorchristliche  Jahrhundert 
gehöre,  und  mittels  einer  pantheistischen  Umarbeitung  der  alt- 
orphischen  Theologie  ein  Hauptzeuge  wurde  für  die  bedeutungsvollen 
Ideen  eines  innigeren  Verhältnisses  des  Menschen  zur  Gottheit, 
wie  eines  sittlich  bedingten  jenseitigen  Heiles;  Ideen,  welche  der 
vielgestaltigen  religiösen  Propaganda  der  späteren  Zeit  des  ersten 
und  zweiten  christlichen  Jahrhunderts  die  Wege  bereiteten,  sofern 
sie  namentlich  schon  von  langer  Hand  her  eine  Loslösung  vom 
vulgären  Polytheismus  einleiteten,  und  damit  auch  eine  wichtige 
Vorarbeit  für  den  Erfolg  der  specifisch  christlichen  Ideen  leisteten. 
Wenn  aber  die  Entstehung  dieser  letzteren  unmöglich  war  auf 
einem  Boden,  wie  ihn  in  Palästina  der  Nomismus  der  letzten 
jüdischen  -Entwicklungsepoche  darstellte,  so  muss  schon  hier  ein 
ähnliches  Ferment  irgendwie  mit  in  Rechnung  gezogen  werden. 
Und  dann  scheint  es  unmöglich,  an  dem  in  verwandten  Ideen 
lebenden  palästinensischen  Essäismus  vorüberzugehen.  Diesen  Dar- 
legungen gegenüber  beharrte  freilich  Hilgenfeld  (Zeitschrift  für 
wi.ssenschaftl.  Theologie  43,  1909,  S.  180 — 211)  bei  seiner  Ansicht 
vom  Stammescharakter  der  Essener  und  der  altisraelitischen  Her- 
kunft ihrer  Besonderheiten,  insbesondere  auch  an  der  für  ihn  evi- 
denten Unechtheit  des  von  Eusebius  praepar.  evang.  VIII,  11  citirten 
Fragmentes  aus  der  angeblich  Philonischen  Schrift  „uitsp  looSat'wv 
otTToXoYta"  festhaltend. 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  u.  ihr  Verhältniss  zur  Philosophie.     407 

3.    Betzinger's  Seneca-Album   ist  ein  hübsch   ausgestatteter 
Sedezband  mit  einer  „Blütenlese"  aus  Senecas  Schriften,  in  6  Ab- 
schnitten   geordnet:     „Lebenskunst"      „Weltwege    und    Weisheits- 
wege"  etc.;    zuletzt    „Ahnende   Ausblicke",    und  zwar:   Gott    und 
Vorsehung;  Religion  und  Erlösung;   Allgemeine  Heilsbedürftigkeit; 
Pessimismus;    Unsterblichkeit    und  Weltende.     Dazu   ein  Anhang: 
S.  Leben  und  Schriften,  und:  Seneca  und  das  Christenthum.     Hier 
werden  drei  Hauptrichtungen  in  der  Seneca-Literatur  unterschieden, 
sofern  sie  plädiren:    1.  gegen  jede  Wechselwirkung  zwischen  dem 
Christenthum  nnd  Seneca;  2.   für  einen  Einfluss  des  Christenthums 
auf  Seneca,    3.   für  einen  Einfluss  Senecas    auf   das  Christenthum. 
Kurz  wird  dann  der  angebliche  Briefwechsel  zwischen  S.  und  dem 
Apostel  Paulus  besprochen,  und  zwar  als  rein  apokryph  und  werth- 
los;    dann  zieht    der    Verf.    sein    Ergebniss.       Dass    man    es    mit 
einem  katholischen  Theologen  zu  thun  hat,  merkt  man  zwar  durch- 
weg,   sowohl    bezüglich  historisch-urchristlicher    Fragen    (S.  194f.) 
als  auch  an    dem  Urtheil,    dass    die  Streitfrage    über  Seneca    und 
das  Christenthum  verhandelt  werde  zwischen  den  Vorkämpfern  „der 
evolutionistisch-rationalistischen  resp.  der  monistischen  Auffassung" 
und    den    „Vertheidigern    des    christlichen    Glaubens".      Indessen 
meint    doch    auch    er,    es    sei    in   dieser  Frage    bereits    zu    einem 
Waffenstillstand    gekommen.      Auch    von  „gläubiger"  Seite   werde 
anerkannt,    dass    Berührungspunkte    mit    dem    Christenthum    bei 
manchen  heidnischen   Philosophen    spontan    vorhanden    seien,    die 
der  neuen  Religion  ihre  Wege  bereiteten.     Aber  obwohl  er  solche 
Concessionen  macht,  lehnt  er  es  doch  ab,  Seneca  und  das  Christen- 
thum als   von   einander   unabhängig  zu   betrachten.     Vielmehr  sei 
die  Abhängigkeit  des  ersteren  evident.     Es  sei   völlig  undenkbar, 
dass  dem  römischen  Philosophen  das  Christenthum  unbekannt  ge- 
blieben  sei.      Sein  Schweigen    sei    vielmehr    absichtliche    Zurück- 
haltung.    Nur  sei  die  directe  Benutzung  christlicher  Schriften  bei 
Seneca  sehr  eingeschränkt;  zumeist  sei  dieselbe  durch  ausserchrist- 
liche  Quellen  vermittelt,  aber  unter  diesen  seien   nach  Otts  Nach- 
weis (Tübinger  (kath.)   theologische  Quartalschrift,  1870,  401)  so- 
wohl das  A.  T.  als    auch  Philo  zu  rechnen.     Und    endlich    bleibe 
doch  für  einen  Theil    einschlagender  Stelleu    keine    andere  Quelle 

28* 


408  H.  Lüdemaan, 

als  das  N.  T.,  besonders  die  Evangelien,  die  natürlich  der  Verf. 
alle  sehr  früh  ansetzt.  Die  Ansicht  Bruno  Bauers,  dass  das  ur- 
christliche Schriftthum  seinerseits  von  zeitgeschichtlicher  Philosophie 
abhängig  sei,  lehnt  natürlich  der  Verf.  gänzlich  ab,  und  würde 
das  auch  gegenüber  der  richtigen  Ermässigung  jener  These  thun. 
Aber  zur  Bereinigung  der  Frage  kann  wohl  überhaupt  die  Methode 
des  Verf.  nicht  führen.  Dieses  Sammeln  von  isolirten  Sentenzen 
kann  sehr  in  die  Irre  führen,  da  dabei  gar  keine  Garantie  besteht 
für  das  Zusammentreften  der  beiderseitigen  Gedankenkreise  in  ihrer 
Gesammtheit  und  den  sie  beherrschenden  Principien.  Nur  von 
diesen  aus  lässt  sich  ein  Urtheil  über  das  Verhältniss  der  damals 
mit  und  neben  einander  auftretenden  Geistesströmungen  zu  ein- 
ander gewinnen,  während  einzelne  Berührungen,  und  w'ären  sie 
auch  Entlehnungen,  ebenso  möglich  wie  bedeutungslos  bleiben. 

4.  Dartigue-Peyrou  nimmt  das  oft  erörterte  Problem  wieder 
auf,  wie  sich  die  feindliche  Stellung  des  philosophischen  Kaisers 
Mark  Aurel  zum  Christenthum  erkläre;  eine  für  die  damalige 
Lage  geradezu  typische  Erscheinung,  die  sich  nicht  bloss  mit  der 
Berufung  auf  die  so  oft  beobachtete  Concurrenz-Feindlichkeit  nächst- 
verwandter  Geistesströmungen  abthun  lässt,  sondern  zu  ihrer 
Erklärung  einerseits  die  Zurückversetzung  in  alle  Bedingungen  der 
concreten  Lage,  andererseits  ein  Hinabdriugen  auf  den  Principien- 
LTnterschied  der  collidirenden  Geistesmächte  verlangt.  Dem  ersteren 
Bestreben  ist  die  Hauptausführung  des  Verf.  gewidmet,  dem 
zweiten  sein  Schlussabschnitt.  Unter  den  Abschnitten,  in  denen  er 
durch  Zurückversetzung  in  die  Zeit  und  die  Umstände,  unter  deren 
Einflüssen  der  Kaiser  sich  entwickelte,  herrschte  und  seine  philo- 
sophische wie  religiöse  Stellung  nahm  (L  Die  Kindheit  des 
Thronfolgers.  2.  Der  Kaiser.  3.  Die  Christen  und  das  Volk. 
4.  Die  Christen  und  die  öffentliche  Meinun»i.  5.  Die  Christen  und 
die  Philosophie.  6.  Die  Christen  und  die  religiöse  Politik  des 
Reichs.  7.  Der  Kaiser  und  die  Philosophie),  haben  uns  hier  vor 
Allem  der  5.  und  7.  zu  beschäftigen.  In  dem  ersteren  schildert 
der  Verf.  zutreffend  das  Verhältniss  zwischen  den  Philosophen  und 
denjenigen  Christen,  durch  die  sie,  wie  man  denken  sollte,  am 
ersten  einen  Einblick  in  das  Wesen  des  Christenthums  hätten  ge- 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  u.  ihr  Verhältniss  zur  Philosophie.      409 

wiiineu  können,  der  sie  ihren  Hass  als  gegenstandslos  hätte  er- 
kennen lassen  —  den  sog.  ApologeteD,  d.  h.  Denjenigen,  die,  selbst 
Philosophen,  das  Christenthum  als  die  vollendete  Philosophie  dar- 
zustellen sich  bemühten.  Der  Verf.  weist  darauf  hin,  dass  hier, 
abgesehen  von  bestimmten  religiösen  Anschauungen  der  Christen, 
einerseits  eine  verschiedene  Würdigung  der  bisherigen  Philosophie, 
welche  die  Christen  zwar  theilweise  anerkannten,  theilweise  aber 
des  Irrthums  und  Plagiats  beschuldigten.  —  andererseits  namentlich 
auch  die  verschiedene  Stellung  zur  Volksreligion  jede  Verständigung 
hinderte.  Denn  die  Philosophen  vertheidigten,  theils  gläubig,  theils 
ungläubig,  die  Volksreligion,  prätendirten  gegenüber  dem  ihnen 
roh  erscheinenden  Missverstehen  -der  Christen  ein  tieferes  Ver- 
ständniss  derselben,  und  sahen  im  Verlassen  derselben  ein  uupa- 
triotisches  Verhalten.  Diese  ihre  Stellungnahme  erkläre  auch  die 
ostentative  Religiosität  Mark  AurePs,  sowie  die  gegenseitige  Aus- 
schliessung aller  Gesichtspunkte  der  Toleranz  und  Gewissensfreiheit 
unter  den  streitenden  Parteien.  Auch  soweit  die  Stoiker  sich 
jeweilen  in  der  Lage  der  Verfolgten  befanden,  sei  diese  Lage  für 
sie  eine  andere  als  die  der  Christen  gewesen,  da  sie,  ohne  Mis- 
sionsdrang und  ohne  Oppositionsgeist,  sich  auf  passiven  Wider- 
stand beschränkten,  und  daher  das  Verhalten  der  Christen  nicht 
verstanden.  Für  Epiktet,  Aristides  und  auch  Mark  Aurel  handelte 
es  sich  bei  diesen  lediglich  um  eigensinnigen  Fanatismus,  um  ein 
Geltendmacheu  individueller  Eigenart,  wie  es  sich  weder  mit  der 
stoischen  noch  mit  der  römischen  Staatsidee,  die  in  Mark  Aurel 
sich  vereinigten,  vertrug.  Vollends  die  Feindseligkeit  eines  Tatian, 
eines  Hermias  Hessen  es  gerechtfertigt  erscheinen,  wenn  der  Kaiser 
sich  cutschloss,  die  Staatsgesetze,  die  der  Absolutismus  bald  ruhen 
Hess,  bald  wieder  aufnahm,  gegen  sie  zu  entfesseln.  Wohl  absichtlich 
hat  der  Verf.  in  diesem  Capitel  nur  mehr  die  exoterischen  Motive 
sehen  lassen,  welche  es  bewirkten,  das  gerade  bei  den  philosophisch 
Gebildeten  das  Christenthum  so  schwer  Anerkennung  fand. 
Sonst  hätte  schon  die  Erwähnung  des  Celsus  Gelegenheit  geboten, 
bereits  hier  auf  den  tieferen  Untergrund  der  Didereuz  hinzuweisen, 
der  darin  bestand,  dass  den  Philosophen  vor  Allem  die  christliche 
Erlösungsidee,  selbst  in  der  abgeschwächten  Gestalt,  wie  die  Apo- 


410  H.  Ludemann, 

logeten    sie    vortrugen,    nicht    verständlich    war.     Der   Verf.    geht 
darauf   im    Schluss-Abschnitt  ein.     Die    im    6.    Capitel    gegebene 
Schilderung  der  Lage  der  Christen  gegenüber  der  religiösen  Gesetz- 
gebung stützt  sich  zu  einseitig  auf  französische    Darstellungen  — 
Boissier,  Renan,   Aube    — ,  ohne    den    neueren    deutschen    Unter- 
suchungen,   besonders    der    von    Mommsen    („Religionsfrevel  nach 
Rom.  Recht".  Hist.  Zeitschrift  1890)  Rechnung  zu  tragen.    Ebenso 
verhält  es    sich  mit  den   Bemerkungen    über  die  legio  fulminatrix 
S.  171.     Im  7.  Cap.   stellt  der  Verf.,    nachdem    er  constatirt  hat, 
dass    Mark   Aurers    Philosophie    trotz   geringer    wissenschaftlicher 
Tiefe  doch   eine  bedeutende    praktische    Originalität    in  Anspruch 
nehmen  dürfe,  vor  Allem  die  Frage:    ob    sie    eben    praktisch    im 
Stande  gewesen  sei,  mit  dem  christlichen  Evangelium  zu  concurriren. 
Sein  Referat    ist    so    zutreffend,    dass  es,    auch  ohne    besonderen 
kritischen  Hinweis,    doch  die  mancherlei    Widersprüche    erkennen 
lässt,    zu  denen  der  Kaiser    durch    die    wechselnden    Stimmungen 
geführt    wurde,    die    sich    in    seinen    Aufzeichnungen    reflectiren; 
Widersprüche,  welche  sich  nicht    bloss    auf    den    in    den    ersten 
Büchern  optimistischen,  in  den  letzten  pessimistischen  Tonfall  re- 
duciren,  sondern  auch  darin  zu  Tage  treten,    dass  er  einerseits  in 
seiner  zweifellos  religiös  fundirten  Ethik  das  Moment  der  Freiheit 
als  wesentlich  behandelt  (III,  16.  VI,  10.),    andererseits  in  seiner 
Pflichteulehre  die  Forderung  der  Nachsicht  mit  der  Unfreiheit  des 
Sünders  begründet  (VI,  47.  II,  13.  VII,  63.  XI,  8.);  einerseits  ganz 
dem  Gedanken  der  Solidarität   sich  hingiebt,    andererseits    misau- 
thropischem  Individualismus  verfällt,  bis  zur  Empfehlung  des  Selbst- 
mordes,   die  er  freilich    nicht  befolgte.     Durch  all    dies  sind    des 
Verf. 's  Schlussbetrachtungen  vorbereitet.     Es  handelt  sich  um 
zwei  Gedankenkreise,  vor  Allem  zwei  ethische  Ideale,  deren  unleug- 
bare Verwandtschaft  oft  zu  ihrer    völligen  Identificirung    und  Ver- 
wechselung geführt    hat;    und    doch    sehen  wir  hier  den  Vertreter 
des  einen  zum  blutigen  Verfolger  des  anderen  werden;  ein  Problem, 
das  nicht  lösbar  erscheint  durch  Annahme  gegenseitiger  Unkenntniss; 
diese  selbst  wäre  ein  neues  Problem.     Vielmehr  ist  es  lösbar  nur 
durch  Hindurchdringen  bis  in  den  Untergrund,  aus  dem    die  tiefe 
Antipathie  hervorwuchs,    und  das  ist  letztlich    der  Unterschied  in 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  u.  ihr  Verhältniss  zur  Philosophie.     411 

der  religiösen  Stimmung  und  Weltanschauung,  der  zwischen 
beiden  Gedankenkreisen  besteht:  auf  der  einen  Seite  das  panthe- 
istische  Aufgehenlassen  des  lebendigen  endlichen  Ich  im  fühllosen 
Ganzen,  —  auf  der  andern  die  Rettung  dieses  Ich,  als  geistiger 
Persönlichkeit,  als  eigenthümlicher  Ausprägung  geistiger  Werthe 
durch  die  im  Grunde  der  Welt  wirkende  ewige  Liebe  und  ihre 
erlösende  Initiative. 

5.  Muth  behandelt  den  Xo-p?  aXyj&v^?  des  Celsus,  indem  er 
dessen  Wiederherstellung  aus  dem  Werke  des  Origenes  gegen 
Celsus,  wie  Keim  sie  versucht  hat,  zu  Grunde  legt,  und  der  von 
Koe tschau  versuchten  Eintheilung  des  Werkes  folgt.  Zunächst 
wird  der  philosophische  Standpunkt  des  Celsus  dargelegt,  und  dann 
seine  Polemik,  sofern  sie  erstlich  die  „Voraussetzungen  des  Christen- 
thums"  betrifft  (dass  sollen  sein:  Wunder,  Weissagungen  und 
Gottes  Kommen  in  die  Welt),  sowie  zweitens  gegen  Judenthum 
und  Christenthum  (Christi  Person,  Lehre  und  Jüngerschaft)  sich 
richtet.  Zuletzt  folgt  die  Kritik  des  Verf.  Er  sieht  den  heidni- 
schen Polemiker  durchweg  im  Unrecht,  was  nur  dadurch  zu  er- 
klären ist,  dass  ihm  als  Katholiken  Vieles  zur  Substanz  des 
Christenthums  gehört,  was  Celsus  mit  vollem  Recht  bestritten 
hat  und  was  man  um  so  williger  preisgiebt,  je  klarer  man 
einseht,  wie  wenig  Celsus  den  sittlich-religiösen  Kern  des  Christen- 
thums überhaupt  nur  verstanden,  geschweige  denn  getroffen  hat. 
Aber  Kern  und  Schale  am  Christenthum  zu  trennen  ist  nun 
freilich  nicht  Sache  orthodoxer  Kritiker,  weder  katholischer  noch 
protestantischer.  Daher  der  Verf.  sich  auch  seiner  Uebereinstimmuug 
mit  dem  Lutheraner  Engelhardt  (Dorpater  Zeitschrift  1869)  ge- 
trösten kann.  Werthvoller  ist  die  Uebersicht,  welche  er  giebt 
über  die  Disponirungs versuche  von  Keim,  Aube,  Patrick,  Koetschau. 

6.  Unter  den  „Vernachlässigungen",  welche  Orr  der  heutigen 
Kirchengeschichtschreibung  bezüglich  der  Anfänge  des  Christenthums 
zum  Vorwurfe  macht  (Unterschätzung  der  Zahl  der  Christen;  des 
Vordringens  des  Christenthums  in  die  höheren  Stände;  seiner 
Rückwirkung  auf  das  Heidenthum)  interessirt  hier  die  dritte, 
sofern  der  Verf.  die  Frage  erhebt,  ob,  wenn  heute  soviel  über  die 
Abhängigkeit    des    alten    Christenthums    von    der    Antike    geredet 


412  H.  Lüdemaun, 

werde,  solche  Verähulichuug  nicht  vielmehr  darauf  beruhe,  dass 
das  Christeuthum  selbst  zum  voraus  schon  eine  modelnde  Ein- 
wirkung auf  antike  Gedankenkreise  ausgeübt  habe,  welche  das 
Conflagriren  beider  Strömungen  erleichterte  und  mit  relativer  Noth- 
wendigkeit  herbeiführte,  ohne  dass  das  Christenthum  dabei  von 
seiner  Originalität  viel  eingebüsst  hätte.  Dass  die  heidnischen 
Schriftsteller  von  solcher  Einwirkung  nichts  ausdrücklich  sagen, 
hält  er  für  absichtliches  Todtschweigeu  eines  gefürchteten  Gegners, 
aber  schon  die  neutestamentliche  Literatur  zeige,  dass  die  christ- 
liche Gedankenbilduug  mit  der  Empfänglichkeit  eines  Publikums 
gerechnet  habe,  das  fähig  sei,  dergleichen  zu  fasseu ;  und  nicht 
ohne  Erfolg,  wie  nicht  bloss  die  Gewinnung  grosser  Gemeinden, 
sondern  selbst  Draussenbleibende,  wie  Seneca  und  Epiktet,  bewiesen. 
Er  hält  auch  das  Auftreten  der  Apologeten  sowohl  für  einen  Erfolg 
dieser  Art  der  christlichen  Propaganda  als  auch  für  eine  weitere 
erhebliche  Stärkung  der  letzteren,  wie  denn  namentlich  das  Auf- 
treten heidnischer  Polemiker  wie  Fronte  und  Celsus  alsbald  bewies, 
dass  es  mit  dem  blossen  Todtschweigeu  ferner  nicht  gethan  war. 
Andererseits  ist  ihm  das  Entstehen  des  Gnosticismus  ein  Zeichen, 
dass  das  Christenthum  durch  die  Neuheit  seiner  Ideen  die  „Tntel- 
lectuellen"  der  Zeit  lebhaft  zu  beschäftigen  anfing.  Ueberhaupt  sei 
ja  das  2.  Jahrhundert  eine  Zeit  weitverbreiteter  religiöser  „Er- 
weck uug"  gewesen,  die  mit  dem  Christenthum  in  Concurreuz  trat, 
und  namentlich  dem  Erlösungsbedürfuis  analoge  Befriedigung  zu 
bieten  trachtete,  sobald  man  dieses  letztere  nur  erst  in  seinem 
Ernste  erkannt  hatte;  so  besonders  der  Neuplatonismus.  Der  Verf. 
bewegt  sich  im  Grossen  und  Ganzen  hier  auf  einem  gefährlichen 
Terrain.  Zumal  wenn  man,  wie  er,  mit  so  precären  Grössen 
rechnet,  wie  es  das  „Todtschweigeu"  des  Christeuthums  seitens  der 
gleichzeitigen  Philosophie  ist,  so  muss  man,  falls  man  behauptet, 
dass  gleichwohl  christlicher  Einfluss  erkennbar  sei,  im  Besitz  eines 
besonders  klaren  und  untrüglichen  IMassstabes  sein,  an  dem  man 
dies  beurtheilt.  Gewiss  ist  es  sehr  anzuerkennen,  dass  der  Verf. 
der  heute  durch  die  Ritschl'sche  Theologenschule  in  Mode  gebrachten 
einseitigen  Ethnisirungs-Methode  gegenüber  allen  möglichen  Erschei- 
nungen  des    ältesten   Christenthums    entgegentritt.     Aber    um  die 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  ti.  ihr  V.erhältuiss  zur  Philosophie.     413 

Originalität  des  Christenthums  zu  vertheicligen,  dazli  gehört  vor 
Allem,  dass  mau  sie  klar  erkennt,  und  auf  der  richtigen  Seite 
sucht;  das  heisst  aber:  nicht  auf  Seiten  der  Ethik:  hier  hat  das 
Christenthum  im  Wesentlichen  den  Ideenbesitz  der  Zeit  nur  bejaht, 
höchstens  noch  idealisirt  — ;  soudein  auf  Seiten  der  religiösen 
Willeusdirigiruug,  durch  Auslösung  emotionaler  Beweggründe  des 
ethischen  Handelns,  über  die  die  antike  Ethik  nun  einmal  nicht 
verfügte,  und  in  deren  Ermangelung  sie  im  Phrasenthum  dahin- 
siechte. Hier  lag  die  Originalität  des  Christenthums  ursprünglich, 
und  wenn  sie  sich  im  katholischen  Christenthum  zusehends  ver- 
flachte, so  dürfte  sich  eben  hierin  doch  ein  Symptom  zeigen,  dass 
die  Kirche  mit  der  socialen,  allerdings  auch  einer  religiösen  Pagani- 
sirung  verfiel,  die  aber  freilich  nie  soweit  ging,  dass  das  „Evan- 
gclium"  schlechterdings  verloren  gegangen  wäre.  Es  erhielt  sich, 
aber  mehr  in  der  dogmatischen  Theorie  als  in  der  sittlich-reli- 
giösen Praxis. 

7.  Chaiguet  legt  seiner  Erörterung  über  die  Theologie  des 
Porphyrius  Gustav  WollTs  Ausgabe  der  Fragmente  7:£pt  rq;  kz 
Xo-i't'cov  cptXoaocpta?  (Berlin  1856)  zu  Grunde.  Das  Werk,  ein  interes- 
santes Denkmal  specifisch  heidnischer  Religiosität,  gehört  zu  denen, 
die  vor  Allem  mit  zu  studireu  sind,  wenn  es  gilt,  die  Unterschiede 
zwischen  Heidenthum  und  Christenthum,  wie  andrerseits  das  Mass 
der  Einwirkung  heidnischer  Denkweise  auf  das  vulgär-katholische 
Bewusstsein  zu  erkennen.  Bei  Porphyrius'  lobpreisendem  ürtheil 
über  Christi  Person  und  seiner  Kritik  der  cultischen  Verehruno' 
Christi  seitens  der  Kirche,  womit  der  Verf.  schliesst,  tritt  der 
Mangel  an  Verständuiss  für  Christi  religiöse  Eigenart  charakte- 
ristisch hervor. 

8.  Harnack  führt  die  bekannten  Sokrates-Stellon  der  vor- 
coDstantinischen  Väter  einem  Laienpublikum  vor,  unter  wirksamer 
Contrastirung  der  sympathischen  Aeusseriingen  von  griechischer 
und  der  antipathischen  von  lateinischer  Seite.  Bezüglich  des  Ver- 
hältnisses von  Sokrates  und  „Evangelium"  bleibt  es  bei  dunklen 
Andeutungen. 


414  H-  Lüdemanu, 

2.    Zur  Patristik  der  ersten  Jahrhunderte. 
Apologeten. 

1.  P.  Wehofer,  Die  Apologie  Justins   des  Philosophen  und  Mär- 

tyrers in  literarhistorischer  Beziehung  zum  ersten  Mal  unter- 
sucht. Eine  Vorstudie  zur  Kirchen-  und  Philosophiegeschichte 
des  2.  Jahrhunderts.  XIX,  141  S.  Freiburg  1897,  Herder. 
M.  4. 

2.  G.  Rauschen,  Die  formale  Seite    der  Apologien   Justins.     (Tü- 

binger [kath.]  theol.  Quartalschrift.    80,  1899,  S.  188-206.) 

3.  C.  KuKULA,  Tatian's  sogenannte  Apologie.     Exegetisch-chrono- 

logische Studie.    III,  64  S.    Leipzig  1900,  Teubner.    M.  2,40. 

4.  Derselbe,   „Altersbeweis"   und   „Künstlerkatalog"   in  Tatian's 

Rede  an  die  Hellenen.    28  S.   Gymnasial-Progr.   Wien  1900. 

5.  H.  Bönig,  Minucius  Felix.    Gymnasial-Progr.    32  S.  Königsberg 

1897.  Härtung. 

6.  E.  Norden,  De  Minucii  Felicis  aetate  et  genere  dicendi.     62  S. 

(Index  scholarum)  Greifswald  1897. 

7.  E.  Gaucher,    L'apologetique.      Les    arguraents    de   Tertullien 

contre  le  paganisme,  avec  texte  latin  retouche  et  quelques 
notes.  Deux  appeudices:  la  religion  de  la  Rome  payenne; 
le  martyre  Chretien.  I,  127  S.  HI,  16  S.  Auteuil  1898. 
Fontaine. 

1.  Bei  der  nahen  Beziehung,  in  welcher  die  Philosophie  der 
griechisch-römischen  Epigonen  zu  dem  Schulbetriebe  der  Rhetorik 
stand,  wäre  an  und  für  sich  das  Unternehmen  Wehofer's,  Justins' 
Apologie  einmal  eindringlich  auf  ihr  Verhältuiss  zu  diesem  letzteren 
zu  untersuchen,  auch  hier  zu  begrüssen.  Der  Verf.  zeigt  sich  in 
der  Geschichte  der  Rhetorik  dieser  Zeit  trefflich  bewandert  und 
geht  namentlich  ausführlich  auch  auf  Quintilians  grundlegende 
Wirksamkeit  zurück.  Bezüglich  Justins  geht  er  nun  von  der  Vor- 
aussetzung aus,  dass  er  mit  seiner  Apologie  „eine  Rede"  habe 
liefern  und  daher  in  derselben  auch  die  rhetorischen  Regeln  habe 
befolgen  wollen.  Der  Versuch  aber,  diesen  Gesichtspunkt  an  der 
Apologie  durchzuführen,  gelingt  dem  Verf.  höchstens  etwa  bis  zum 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  u.  ihr  Verhältniss  zur  Philosophie.     415 

22.  Capitel.  Von  da  an  jedoch  genügt  der  Vater  seinen  rheto- 
rischen Ansprüchen  je  länger  desto  weniger,  und  wenn  es  schliess- 
lich in  dem  Schriftstück  „von  digressiones  wimmeln"  soll,  so  dürfte 
dies  das  Eiugeständniss  sein,  dass  der  Gesichtspunkt  der  Verfassers 
jedenfalls  in  der  hier  versuchten  Weise  nicht  durchführbar  war. 
Auf  die  Verwicklung,  in  welche  der  Verf.  geräth,  indem  er  die 
neuerdings  von  Mommsen  proclamirte  Echtheit  des  angeblichen 
Christen-Rescripts  von  Hadrian  acceptirt  und  doch  anerkennen 
muss,  dass  dasselbe  zu  Justins  Apologie,  der  es  augehängt  ist, 
absolut  nicht  passt  —  sei  hier  nur  hingewieseu. 

2.  Zu  einem  ähnlichen  Urtheil  wie  ich  (schon  im  theol. 
Jahresbericht  XVII,  (1897),  189),  gelangte  über  Wehofer's  Schrift 
auch  Rauschen,  im  Gegensatz  zu  andern  anerkennenden  Be- 
sprechungen. Ihm  ist  der  richtige  Typus  von  Justins  Schrift- 
stellerei  geradezu  die  sog.  zweite  Apologie  mit  ihrem  Charakter 
einer  aphoristischen  Materialsammlung.  Auch  in  der  ersten  Apologie 
sieht  daher  der  Verf.  keine  Spur  von  einer  planmässigen  Anlage. 
Das  Nähere  interessirt  hier  indess  nicht. 

3.  Kukula  hat  sich  in  zwei  von  der  Kritik  sehr  günstig 
aufgenommenen  Arbeiten  einmal  des  so  vielgeschmähten  Apologeten 
Tatian  angenommen,  besonders  gegen  die  ungenügende  Behandlung 
seiner  „Rede"  sich  wendend,  die  sie  sowohl  in  Schwartz'  Text- 
ausgabe wie  in  Harnacks  Uebersetzung  (Giessen  1884)  erfahren 
habe.  Es  gelingt  zunächst  dem  Verf.  den  Beweis  zu  erbringen, 
dass  die  Apologie  kein  Buch,  sondern  eine  für  den  mündlichen 
Vortrag  bestimmte  Rede  zur  Eröffnung  einer  „philosophischen" 
Schule  des  Tatian  sein  wolle,  woher  auch  ihr  so  höchst  gedrängter 
Stil  sich  erkläre.  Die  aus  diesem  Umstände  herrührende  öftere 
Dunkelheit  des  Gedankenfortschritts  zu  lichten  ist  dann  der  Zweck 
einer  Reihe  von  scharfsinnigen  und  lichtvoll  motivirten  Textes- 
emendationen  und  exegetischen  Erörterungen,  und  der  Verf.  ent- 
lastet hierdurch  den  Autor  von  einer  Reihe  inveterirter  Vorwürfe 
betr.  Verworrenheit  und  desultorischer  Darstellung,  so  dass  das 
Schriftstück  in  der  That  jetzt  in  einem  neuen  Lichte  erscheint. 
Schliesslich  widerlegt  der  Verf.  Harnacks  chronologische  Placiruno- 
der  Schrift  (in  seiner  Geschichte  der  altchristl.  Lit.  II,  284 ff.),  und 


416  II.  Lü  de  in  au  11, 

zwar  mit  dem  Resultat,  dass  die  Rede  nicht  nach  Rom,  sondern 
nach  Kleinasien  gehöre,  schon  Härese  blicken  lasse  und  im 
12.  Jahre  Mark-Aurels  172 — 173  gehalten  sei.  Ihren  Charakter 
beleuchtet  endlich  der  Verf.  noch  durch  Heranziehung  von 
Mommsens  Schilderung  des  damaligen  Rhetorenwesens  (Rom. 
Gesch.  V,  335  ff.).  Unter  den  Besprechungen  ist  namentlich  die 
von  Hilgenfeld  (Zeitschr.  f.  wiss.  Theol.  43,  487 — 492)  zu  er- 
wähnen, der  gleichfalls  die  Apologie  als  „Rede"  anerkennt,  und 
zwar  der  Zeitbestimmung  K.s  zustimmt,  aber  an  Rom  als  Ent- 
stehungsort festhält. 

4.  Noch  folgenreicher  wird  die  „Rettung",  welche  K.  an 
Tatian  vollbringt  durch  seine  zweite  Abhandlung.  Hier  behandelt 
er  den  zweiten  Theil  der  Rede  Cap.  31 — 41,  nach  herkömmlicher 
Bezeichnung  enthaltend  den  „Altersbeweis"  für  das  Christenthum 
(Cap.  31 — 41)  und  mitten  darin  den  „Küustlerkatalog"  (Cap.  32 
— 35)  Tatians.  Gegenüber  den  sehr  ungünstigen  Beurtheilungen 
die  diese  Ausführungen  des  Apologeten  besonders  durch  Kalkmaun 
(Rh.  Museum  XLII,  1887,  S.  508ff.),  Harnack  (Texte  und  Unter- 
suchungen I,  223ff.)  und  Dembowski  (1878)  erfahren  haben,  tritt 
der  Verf.,  nachdem  er  zunächst  wieder  eine  Textesrecension  des 
Abschnitts  gegeben,  entschieden  ein  für  den  völlig  logischen  Zweck 
und  Zusammenhang  desselben  und  specicll  für  die  Reinheit  der 
Absichten  des  Apologeten.  Tatian  habe  im  ersten  Theil  seiner 
Rede  von  den  Inneren  Vorzügen  des  Christeuthums  geredet,  jetzt 
wolle  er  gewisse  äussere  Vorzüge  desselben  hervorkehren,  die  auch 
den  ferner  Stehenden  einleuchten  müssten:  nämlich  seinen  alten, 
und  daher  um  so  reineren  Ursprung  und  seinen  reineren  und  ehr- 
würdigen Cultus.  Ersteres  Bestreben  ist  ihm  mit  vielen  Apologeten 
gemein.  Letzteres  vollbringt  er  auf  eigenartige  Weise,  indem  er 
auf  Grund  von  Autopsie  (bei  Gelegenheit  weiter  Reisen  erworben), 
aus  dem  Gedächtniss  —  nicht  aus  schriftlichen  Quellen  —  eine 
allerdings  tendenziös  zusammengestellte  Aufzählung  von  Künstlern 
mit  ihren  Werken  vorführt,  eine  Digression  zur  Charakterisirung 
der  bedenklichen  Art,  wie  das  Heidenthum  seine  cultischen  Be- 
dürfnisse habe  befriedigen  lassen,  wobei  er  auch  hier  die  Gliederung 
seines  Stoffs  zwar  kunstgemäss  verbirgt,  keineswegs  aber  vermissen 


I 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  u.  ihr  Verhältuiss  zur  Philosophie.      417 

lässt.  Für  die  Zuverlässigkeit  seiner  Angaben,  auch  der  bisher 
singulär  gebliebenen,  erweckte  nach  dena  Verf.  die  schon  erbrachte 
Verificirung  vieler  derselben  ein  günstiges  Vorurtheil.  Vor  Allem 
erlaube  der  Passus  keine  Herabsetzung  seines  moralischen  Charakters. 
Zum  Schluss  parallelisirt  der  A^erf.  Tatian  mit  den  seiner  Zeit 
überhaupt  angehörigen  stoisch-kynischen  Rigoristen  (einem  Sotion, 
Deraonax  u.  A.),  deren  ernstes  Dringen  auf  sittliche  Verantwort- 
lichkeit für  dissolutes  Herkommen  er  lediglich  theile,  freilich  einer 
noch  unreifen  Zeit  gegenübertretend,  und  daher  selbst  von  seiner 
Kirche  missverstanden.  Mit  dieser  wohlfundirten  Ehrenrettung 
Tatians  Avird  von  der  künftigen  Patristik  und  Philosophie- 
geschichte zu  rechnen  sein.  — 

5.  Bönigs  Untersuchung  über  den  Octavius  des  Minucius 
Felix  kommt  bei  trefflicher  Beherrschung  der  neueren  einschlägigen 
Literatur  zu  folgenden  Ergebnissen.  Der  Octavius  ist  noch  zu 
Lebzeiten  Frontos,  oder  wenigstens  bald  nach  seinem  Tode  verfasst, 
d.  h.  ums  Jahr  160  (S.  9 — 14).  Die  dogmatische  Zurückhaltung  des 
Minucius  beruht  auf  bestimmter  Absicht,  die  nur  dahinging,  das 
Zusammentreffen  des  C'hristenthums  mit  den  philosophischen 
Gegnern  in  einer  Reihe  grundlegender  üeberzeugungen  zu  zeigen, 
und  zwar  auf  Grund  von  gewissen  im  geselligen  Verkehr  gemachten 
persönlichen  Erfahrungen;  daher  auch  für  die  Rede  des  Heiden 
Caecilius  keine  schriftlichen  Vorlagen  anzunehmen  sind.  Die  so 
höchst  intricaten  Abhängigkeitsfragen  werden  dahin  erledigt,  dass 
ein  klares  Abhängigkeitsverhältniss  des  M.  nur  gegenüber  heid- 
nischen Philosophen  —  Seneca,  Cicero  —  besteht,  während  auf 
christlicher  Seite  Minucius  wohl  Justins  Apologie,  aber  weder 
Tatian,  noch  Athenagoras,  noch  Theophilus,  noch  Clemens  Alexan- 
drinus  benutzt  hat;  andererseits  wird  vom  Verf.  das  Verhältniss 
zu  Tertullian  so  bestimmt,  dass  er  die  Hypothese  von  Hartel  und 
Wilhelm,  eine  verlorene  Apologie  des  zweiten  Jahrhunderts  sei 
gemeinsame  Quelle  beider,  ablehnt,  und  mit  Schwenke  das  bei 
Tertullian  vorliegende  Verhältniss  zu  Cicero  durch  Minucius  ver- 
mittelt sein  lässt.  Die  Heranziehung  der  cirtensischen  Inschriften 
zur  Identificirung  des  Caecilius  erachtet  der  Verf.  als  fruchtlos, 
zumal    da    der  Octavius  ein  erdichtetes  Gespräch    sei,    wobei    sich 


418  H.  Ludemano, 

allein  die  widersprechende  Situation  erkläre  von  freundschaftlichem 
Verkehr  und  leidenschaftlichem  Hass  zugleich,  wie  sie  das  Gespräch 
aufweist.  Die  Sprache  bestrebe  sich  thunlichster  Annäherung  an 
classische  Reinheit,  doch  hält  der  Verf.  für  eine  erspriessliche 
philologische  Behandlung  derselben  eine  nochmalige  Reinigung 
des  Textes  für  noth wendig. 

6,  Gleichwohl  hat  Norden  eine  solche  Behandlung  schon 
jetzt  wieder  unternommen.  Ebenfalls  von  Minucius'  Priorität 
vor  Tertullian  überzeugt,  zieht  er  in  reichem  Umfange  die  gleich- 
zeitige Sophisten-  und  Declamatoren-Stilistlk  heran  um  zu  er- 
weisen, dass  Minucius  hier  die  Muster  seines  Stiles  fand,  die  er 
aber  mit  gesundem  Geschmack  verwerthete.  — 

7.  Gauchers  Schrift  über  Tertullians  Apologeticum  ist  mir 
leider  nicht  zugänglich  geworden. 

Tertullian. 

1.  E.  Schulze,  Elemente  einer  Theodicee   bei  Tertullian  (Zeitschr. 

f.  wiss.  Theol.  43  (1900)  S.  62—104.) 

2.  J.  Stier,    Die    Gottes-    und    Logos-Lehre    Tertullians.     193  S. 

Göttingen  1899.     Vandenhoeck  u.  Ruprecht.     M.  2,40. 

3.  H.  Hoppe,  De  sermone  Tertulliaueo  quaestiones  selectae.     84  S. 

Inaug.-Diss.     Marburg.  1597. 

4.  K.  HoLL,  Tertullian  als  Schriftsteller  (Preuss.  Jahrbb.  88  (1897) 

S.  262-278. 

5.  E.  Kroymann,    Die  Tertullian-Ueberlieferung    in  Italien  (S.  A. 

aus  den  Abh.  der  Wiener  Akademie).    Wien,  1898.    Gerold. 
M.  0,80. 

6.  Derselbe,  Kritische   Vorarbeiten  für  den   dritten   und  vierten 

Band    der    neuen    Tertullian-Ausgabe  (S.-A.  aus  den    Abh. 
der  Wiener  Akademie).     Wien  1900,  Gerold.     M.  0,89. 

1.  Schulze  bringt  bei  Tertullian  nach  sorgfältiger  Leetüre  doch 
nur  die  in  der  populär-religiösen  Betrachtungsweise  herkömmlichen 
Ideen  heraus,  dass  das  Uebel  als  physisches  Strafe  mit  sühnender 
oder  auch  pädagogischer  göttlicher  Tendenz  sei,  als  moralisches 
aber    in    der   creatürlichen  Freiheit    wurzele,    dass    dagegen    jeder 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  u.  ihr  Verhältniss  zur  Philosophie.      419 

speculative  Hintergrund  für  die  Deutung  dieser  Thatsachen  fehle. 
Ob  diese  Ablehnung  jeder  metaphysischen,  teleologischen  oder 
ästhetischen  Erklärung  des  Uebels  dem  alten  Theologen  zu  be- 
sonderer „Christlichkeit"  anzurechnen  sei.  wäre  wohl  noch  näher 
zu  erwägen. 

2.  Stiers  Arbeit  ist  von  der  richtigen  Erkenntniss  geleitet,  dass 
Tertullian  als  einer  der  energischesten  Herausgestalter  einer  spe- 
cifisch  christlichen  Gesammtweltanschauung  der  Philosophie  gegen- 
über eine  Selbständigkeit  behauptet,  die  durch  seine  bekannte  fron- 
dirende  Stellung  gegen  dieselbe  allein  allerdings  noch  nicht  garantirt 
wäre.  Insbesondere  betont  er  in  Tertullians  Gotteslehre  den  be- 
wussten  Gegensatz  gegen  den  platonisch-aristotelischen  dualistisch 
bestimmten  Gottesbegrift',  sowie  seine  thatsächliche  Differenz  vom 
stoischen  Monismus,  dem  er  zwar  näher  zu  stehen  glaubt,  den  er 
aber  doch  im  Sinn  des  populär-alttestamentlichen  Monotheismus 
umdeutet.  Nur  geht  der  Verf.  zu  weit,  wenn  er  auch  bezüglich 
der  „Körperlichkeit"  Gottes  Tertullians  Abhängigkeit  von  der  Stoa 
leugnet.  Für  das  anthropomorphistisch-vorstellungsmässige  Gepräge 
von  Tertullians  Gottesbegriff  hat  der  Verf.  wohl  zu  wenig  kritischen 
Blick,  sowohl  was  das  dem  Marcion  gegenüber  statuirte  Verhält- 
niss zwischen  göttlicher  und  menschlicher  Freiheit,  als  was  die 
Zuertheilung  von  Affecten  und  Leidensfähigkeit  an  Gott  betrift"t. 
In  der  Logoslehre  ordnet  der  Verf.  Tertullian  richtig  den  Apologeten 
des  zweiten  Jahrhunderts  zu.  Wenn  er  aber  ihm  wie  diesen  im 
Wesentlichen  nur  ein  kosmologisches  Interesse  an  der  Logosidee 
zuschreibt,  so  widerspricht  das  den  Thatsachen,  w^as  dem  Verf. 
wohl  klarer  geworden  wäre,  wenn  er  die  Vergleichung  mit  Philo's 
Logoslehre  nicht  ganz  verabsäumt  hätte.  Es  kann  doch  darüber 
kein  Zweifel  sein,  dass  seitens  der  christlichen  Theologen  die 
Heranziehung  der  Logosidee  vor  Allem  im  soteriologischen  Interesse 
erfolgt,  wofür  die  kosmologischen  Erwägungen  nur  die,  allerdings 
in  der  christlichen  Weltanschauung  nicht  hinreichend  motivirte, 
Voraussetzung  bilden.  In  der  Verkennung  dieser  Thatsache  liegt 
auch  der  Grund,  weshalb  der  Verf.  einen  innigeren  Zusammenhang 
zwischen  Tertullians  Logoslehre  und  Erlösungslehre  in  Abrede  stellt. 
Wie  ein  solcher    schon    bei  Justin    und    seinen    Nachfolgern    ^ehr 


420  H.  La  de  mann, 

entschieden  vorhanden  ist  —  mag  auch  ihr  Erlösungsgedanke  nicht 
mehr  der  original-christliche  sein  — ,  so  wäre  vollends  bei  Ter- 
tullian  ohne  solchen  Zusammenhang  die  zunehmende  Aneignung 
der  Erlösungslehre  des  Irenäus  gar  nicht  möglich  gewesen,  da  diese 
ganz  in  der  Anschauung  von  Christi  Person  als  des  mensch- 
gewordenen Logos  wurzelt.  Sehr  mit  Recht  lehnt  der  Verf.  übrigens 
(S.  72 — 78)  die  von  Harnack  versuchte  Heranziehung  juristischer 
Begriti'e  (substantia)  zur  Erklärung  von  Tertullians  Trinitätslehre 
ab,  während  er  selbst  freilich  diese  letztere  zu  sehr  nach  dem 
Massstab  der  späteren  Trinitätsspeculation  zu  kritisiren  geneigt  ist. 

3.  Hoppe's  Studie  zur  Sprache  Tertullians  ist  eine  sehr 
willkommene  und  gediegene  Arbeit.  Der  Verf.  unterscheidet  sehr 
richtig  drei  Ingredienzien,  Avelche  dieser  Sprache  ihre  so  cha- 
rakteristische Eigenthiimlichkeit  geben:  die  Gräcisraen,  die  Afrika- 
nismen,  und  die  juridischen  Ausdrücke.  Zugleich  weist  er  darauf 
hin,  dass  wir  in  Tertullian  sowohl  den  Philosophen  als  den  Theolo- 
gen wie  den  Juristen  anzuerkennen  haben,  sowie  dass  seine  so 
verschiedenartige  gegen  Heiden,  Häretiker  und  Katholiker  gerichtete 
Polemik  seinem  Stil  eine  IMannigfaltigkeit  zuführte,  welche  die 
verschiedenen  über  denselben  gefällten  Urtheile  leicht  eiklärlich 
macht.  Das  Afrikanistische  Element  ist  der  Verf.  geneigt  wesentlich 
zu  beschränken.  Einerseits  sei  es  von  den  Archaismen  schwer  zu 
scheiden  —  der  Verf.  giebt  eine  Liste  der  Tertullian  bekannten 
lateinischen  Schriftsteller,  unter  denen  Apulejus  auffallend  zurück-, 
Plautus  dagegen  hervortritt  — ;  andererseits  will  der  Verf.  Afrika- 
nismen  höchstens  in  der  Syntax  wie  in  der  Wortbildung  und  dem 
Gebrauch  gewisser  Ausdrücke  anerkennen.  Tertullians  öfter  kriti- 
sirten  Usus  temporum  getraut  sich  der  Verf.  in  den  meisten  Fällen 
als  wohlbegründet  zu  vertheidigen.  Dass  unter  die  „juristischen" 
Ausdrücke  auch  das  Wort  substantia  in  Tertullians  trinitarischen 
Erörterungen  aufzunehmen  sei,  scheint  dem  Verf.  überhaupt  nicht 
in  den  Sinn  gekommen  zu  sein.  Der  Verf.  behandelt  im  Cap.  1 
die  Gräcismen,  Cap.  2  die  Archaismen,  Cap.  3  die  Afrikanismen, 
Cap.  4  die  juristischen  Ausdrücke.     Leider  fehlt  ein   Index. 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  u.  ihr  Verhältniss  zur  Philosophie.     421 

Die  Sextus-Sentenzen. 

1.  V,  Ryssel,    Die  syrische    Uebersetzuag    der  Sextus-Sentenzeu. 

(Zeitschrift  für  wiss.  Theologie  40  (1897)  S.  131—148. 

2.  H.  Meyboom,    De  spreuken  van  Sextus    (Theol.  Tijdschrift  32 

(1898)  S.  455—488). 

1.  Ryssel  bringt  seine  deutsche  Wiedergabe  der  syrischen 
Versionen  der  Sextus-Sentenzen  zum  Abschluss  (vergl.  den  vorigen 
Bericht,  Jahrg.  1898.  S.  535.). 

2.  Meyboom  giebt  zunächst  eine  willkommene  Uebersicht 
über  die  Beschäftigung  mit  den  Sextus-Sentenzen  sowohl  in  der 
alten  Kirche  wie  in  der  neuesten  Zeit,  und  übersetzt  dann  den 
Elter'schen  griechischen  Text  ins  Holländische  und  zwar  in  einer 
sachlichen  Anordnung.  Durch  letztere  Bemühung  wird  der  Einblick 
in  den  Inhalt  der  Sprüche  erleichtert,  und  damit  auch  die  Be- 
urtheiluDg  ihrer  merkwürdigen  synkretistischen  Eigenart.  Dieselbe 
erscheint  höchst  anziehend,  sofern  sich  ein  hochgeläuterter  Stand- 
punkt reinster  sittlicher  Religiosität  ergiebt,  der  einerseits  ent- 
schieden als  christlich  zu  beti  achten  ist,  wie  denn  auch  directe 
Benutzung  der  neutestamentlichen  Literatur  hervortritt,  andererseits 
so  zweifellose  Abhängigkeit  von  Piatonismus  und  Stoicismus  zeigt, 
dass  ein  unausgeglichenes  Zusammentreffen  zweier  verschiedener 
Gedankenwelten  vorliegt,  dessen  Studium  einen  merkwürdigen 
Einblick  in  den  Gärungsprocess  am  Ende  des  2.  Jahrhunderts 
gewährt. 


Archiv  f.  Geschiebte  d.  Philosophie.    XV.  3.  it? 


Neueste  Ersclieiimiigeii  auf  dem  Gebiete  der 
Geschichte  der  Pliilosophie. 

A.     Deutsche  Litteratur. 

Academicorum    philosophorum  iadex    Herculanensis   ed.    Segofriedus  Mekler, 

Berlin,  Weidmann. 
Belau,  K.,    üeb.   d.   Grenzen   d.    mechanischen  Geschehens  im  Seelenleben  d. 

Menschen  nach  Lotze,  Diss.,  Erlangen. 
Brenke,  M.,  J.  N.  Tetens'  Erkenntnisstheorie  v.   Standpunkte   d.   Kriticismus, 

Diss.  Rostock. 
Bruno,  G.,  V.  d.  Ursache,  d.  Princip  u.  d.  Einem.     Aus  d.  Italienischen  von 

Ad.  Lasson,  3.  Aufl.  (Philosophische  Bibliothek,  21.  Bd.),  Lpz..  Dürr'sche 

Buchh. 
Classen,    Gustav   Glogaus    System    d.    Philosophie,    Zeitschrift    f.    Philos.    u. 

philosophische  Kritik,  119,  2. 
Epstein,    Dr.    Geo.,     Studien    z.    Geschichte    u.    Kritik    d.    Sokratik,    Berlin, 

E.  Streisand. 
Fechner,  G.  Th.,  Zend-Avesta  etc.,  2.  Aufl.,  besorgt  v.  Kurd  Lasswitz,  2.  Bd. 

Hamburg,  L.  Voss. 
Hattori,  Prof.  Dr.  U.,  Confucius,  Frankfurt  a./M.,  Neuer  Frankfurter  Verlag. 
Hofmann,  P.,  Kants  Lehre  vom  Schluss  und  ihre   Bedeutung,   Diss.  Rostock. 
Jacobi,    JI.,    Der    altägyptische    Göttermythus    in    seinen    Beziehungen    zur 

griechischen  Naturphilosophie  u.  d.  Göttersagen  indogermanischer  Volker, 

Philos.  Jahrbuch  d.  Görres-Gesellschaft,  15,  1. 
Jachmann,  Rh.  B.,    E.  Borowski,   C.  A.  Ch.  Wasianski:   Immanuel   Kant  etc., 

hrsg.  von  A.  UofTmanu,  Halle,  U.  Peter. 
Kant,  Imm.,  Kritik  d.  Urtheilskraft,  hrsg.  u.  ra.  e.  Einleitg.,  sowie  e.  Personen- 

u.  Sachregister  versehen  von  Dr.  Karl  Vorländer,  3.  Aufl.  (Philosophische 

Bibliothek,  39.  Bd.),  Lpz.,  Dürr'sche  Buchh. 
Kiep],  G.  R.,  Die  „Monologen"  Schleiermachers  u.  Fr.  Nietzsches  „Jenseits  v. 

Gut  u.  Böse".     Eine  Studie  z.  Geschichte  der  individualistischen  Ethik, 

Diss.  Lpz. 


Neueste  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philosophie.  -  423 

Kügelgen,  C.  v.,  Schleiermachers   Reden  u.  Kants  Predigten,    zwei   Aufsätze, 

Lpz.,  R.  Wöpke. 
Landsberg,  Dr.  Haus,  Fr.  Nietzsche  u.  d.  deutsche  Litteratur,  Lpz.,  H.  Seemann 

Nachf. 
Laagenberg,  Rud.,   Quellen  und  Forschungen  zur  Geschichte    der  deutschen 

Mystik,  Bonn,  P.  Hanstein. 
Lasswitz,  Kurd,    G.  Tb.  Fechner,    2.   venu.    Aufl.    (Frommanns    Klassiker    der 

Philosophie,  hrsg.  v.  Prof.  Dr.  R.  Falckenberg),  Stuttgart,  F.  Frommann. 
Linke,  P.  D.,  Humes  Lehre  vom  Wissen.   Ein  Beitrag  z.  Relationstheorie  im  An- 

schluss  an  Locke  u.  Hume,  Diss.  Lpz. 
Lucretius  Carus,  Von  der  Natur  der  Dinge,  übersetzt  von  Karl  Ludwig  v.  Knebel. 

Neu    hrsg.    von   Dr.   Otto   Güthling  (Lniversal-Bibliothek,    4258—4-260), 

Lpz.,  Ph.  Reclam  jun. 
Marshall,  N.  W.,   Die  gegenwärtigen  Richtungen    der  Religionsphilosophie    in 

England  u.  ihre  erkenntnisstheoretischen  Grundlagen,  Diss.  Halle. 
Molenaar,    Die  Geistesentwickelung    d.    Menschheit    nach    Aug.  Comte    (m.  d. 

Bildniss  des  Philosophen),  Lpz.,  R.  Uhlig. 
Müller,  A.,  Scheinchristenthum  u.  Haeckels  „Welträthsel",  Diss.  Jena. 
Münch,  Ph.,  Die  Haupt-  u.  Grundgedanken  d.  Philosophie  Sören  Kierkegaards 

in  kritischer  Beleuchlung,  Diss.  Lpz. 
Nebel,  C,  Vauveuargues  Moral philosophie  etc.,  Diss.  Erlangen. 
Niestroj,  Ueber  d.  Willensfreiheit  nach  Leibuiz,   Philosophisches  Jahrbuch  d. 

Görres-Gesellschaft,  15,  1. 
Paulsen,  Frdr.,  Schopenhauer  etc.,  2.  Aufl.,  Stuttgart.  J.  G.  Cotta  Nachf. 
Pfennigsdorf,  Lic.  E.,  Friedrich  Nietzsche  u.  d.  Christeuthum,  Vortrag,  Dessau, 

Haarth  in  Comm. 
Platzhoff,  E.,  Ernest  Renan,  Seine  Entwicklung  u.  Weltanschauung,  Diss.  Bern. 
Reichel,    H.,    Die    Societätsphilosophie    Fr.  von  Baaders:    seine    Lehren    über 

Geschichte  und  Gesellschaft,  Staat  u.  Kirche,  Diss.  Lpz. 
Rolfes,  E.,    Neue  Untersuchungen    üb.    d.    platonischen  Ideen  (Schi.),    Philo- 
sophisches Jahrbuch  der  Gürres-Gesellschaft,  15,  1. 
Schäfer,  G.,  Die  Philosophie  des  Heraklit  v.  Ephesus  u.  die  moderne  Heraklit- 

forschung,  Wien,  F.  Deuticke. 
Schemtob  ben  Josef  ibn  Faiaqueras,  Propädeutik  der  Wissenschaften,  Reschith 

Chokmah,  hrsg.  v.  Rabb.  Dr.  Mor.  David,  Berlin,  M.  Poppelauer. 
Schlüter,  R.,  Schopenhauers  Philosophie    in    seinen    Briefen.      Eine    kritische 

Untersuchung,  Diss.  Rostock. 
Schmitt,  Eug.,  Fr.  Nietzsche   an  der  Grenzscheide  zweier  Weltalter  etc.,  Neue 

(Titel-)  Ausg.,  Lpz.,  E.  Diederichs. 
Ueberw-eg,  Fr.,    Grundriss  der  Geschichte    der  Philosophie,    4  ThI.,    9.  Aufl., 

hrsg.  v.  Prof.  Max  Heinze,  Berlin,  E.  S.  Mittler  &  Sohn, 
ürbach,  Dr.  Benno,  Leibnizens  Rechtfertigung  des  Uebels  in  der  besten  Welt, 

Prag,  J.  G.  Calve. 
Willems,   Chr.,    Die  obersten  Seins-  und  Denkgesetze  nach  Aristoteles  u.  d. 

hl.  Thomas  v.  Aquin  (Forts.),   Philosophisches  Jahrbuch  der  Görres-Ge- 
sellschaft, 15,  L 


424  Neueste  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philosophie. 

Witte,  Fast.  R.,  Fr.  Nietzsche,  e.  Warnungszeichen  etc.,  Stolp,  H.  Hildebrandts 

Buchhandlung. 
Wolff,  J.j  Lionardo  da  Vinci  als  Aesthetiker.     Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der 

Aesthetik,  Diss.  Jena. 
Zeller,  Dr.  Ed.,  Grundriss  der  Geschichte  der  griechischen  Philosophie,  6.  Aufl. 

Lpz.,  0.  R.  Reisland. 

B.    Französische  Litteratur. 

Basch,  V.,  La  poetique  de  Schiller,  Paris,  F.  Alcan. 
Landormy,  P.,  Descartes,  Paris,  Delaplane. 
Manne,  Le  Pessimisme  contemporain,  Paris,  Bloud. 


Archiv  für  Philosophie. 

I.  Abtheiluii^*: 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie. 

Neue  Folge.     XV.  Band  4.  Heft. 


XV. 


Julians  Brief  au  Diouysios. 

Von 
Rudolf  AsnillS  in  Freiburg  (Breisgan). 

Das  in  der  Julianischen  Briefsammlung  unter  No.  59  (ed. 
Hertlein)  erhaltene  umfangreiche  Schreiben  „au  Dionysios"  bietet 
der  Erklärung  die  mannigfachsten  Schwierigkeiten,  welche  zum 
grössten  Theil  mit  der  genaueren  Feststellung  der  Persönlichkeit 
des  Adressaten  zusammenhängen. 

Der  natürlichste  und  einfachste  Weg  zu  diesem  Ziele  dürfte 
wohl  der  sein,  zunächst  einmal  aus  dem  blossen  Inhalt  des  Schrift- 
stücks zu  ermitteln,  was  für  einer  Menschenklasse  der  Adressat 
im  Allgemeinen  angehörte,  und  was  für  eine  Stellung  er  in  der- 
selben im  Besonderen  einnahm.  Da  unser  Brief  sich  aus  zwei 
verschiedenen  Bestandtheilen  zusammensetzt,  nämlich  aus  einer 
Reihe  von  mehr  oder  minder  deutlichen  Entlehnungen  aus  einem 
von  Dionysios  an  Julian  geschriebenen  Brief,  der  diesen  zu  seinem 
Antwortschreiben  veranlasste,  und  den  eigenen  Worten  des  Kaisers 
selbst,  so  excerpiren  wir  zuerst  aus  jenen  und  dann  aus  diesen 
das,  was  uns  für  unsern  allgemeinen  Zweck  brauchbar  erscheint. 
Hierfür  erschliesst  sich  uns  aber  noch  ausserdem  in  erwünschter 
Weise  eine  nicht  uu verächtliche,  zuverlässige  und  ergiebige  Hilfs- 
Archiv f.  Geschichte  d.  Philosophie.    XV.  4,  30 


426 


Rudolf  A  s  m  u  s , 


quelle,  wenn  wir  unserem  unmittelbar  vorliegenden  Stellenmaterial 
jeweils  gleich  Alles  beifügen,  was  sich  an  innerlich  oder  äusserlich 
entsprechenden  Parallelstellcn  aus  anderen  Werken  Julians  bei- 
bringen lässt. 

Darnach    gestaltet     sich    diese    Zusammenstellung    folgender- 
massen: 


Brief59: 

Dionysios  charakterisirt 
sich  selbst  durch  die  Aus- 
drücke: 

Uapaogp.  569,  11;  570,  18.  Oap- 
paXsaixaxo?  p.  576,  9  (vgl.  Dpa- 
aui-/j;  p.  576,  22). 

"j'svvatoi;  p.  569,  15. 

TTpoaxpo'jEiv  p.  569,  16;  570,  2; 
573,  17. 


uTiepopav  (Widerwärtigkeiten  und 
Gefahren)  p.  569,  22. 


£üqv(ovoti  .   . 
p.  569,  3. 


xhv  .  .  .   avUpojTTOV 


otvopst'a  p.  570,  12;  575,  22  (vgl. 

citvopiCsaOai    p.  571,  14).    rhr^p 

p.  577,  7  ff.  [569,22]. 
cp'.Xoao'fiot  p.  570,  18  (vgl.  p.  570, 

21  ao'fanaxo?  p.  573,  20  auvs- 

■Ctt>T0(TOs). 


Werke: 
Julian  gebraucht  die  Ausdrücke: 


Opaao;  Gr.  VII  p.  291,  26:  v.  s. 
Gegnern.  (Vgl.  öotpaeTv  Gr.  VI 
p.  256,  2:  Diogenes  v.  e.  Pseu- 
dokyniker). 

YoVvaTo?  Gr.  VII  p.  264,  8:  nega- 
tiv V.  s.  Gegner. 

Trposxpousiv  Gr.  VII  p.  306,  10. 
Misopog.  p.  458,  1;  473,  16: 
v.  sich  selbst  gegenüber  s. 
Gegnern.  Caesares  p.  418.  3.  8: 
V.  d.  Gegnern  Alexanders  d.  Gr. 
diesem  gegenüber. 

Vgl.  Gr.  VII  p.  278,11fr.  Gr.  VI 
p.  260,  llff. :  eine  Tugend  der 
alten  Kyniker. 

To  Tvfoöi  aotuTov  Gr.  VI  p. 237,4 ff. ; 
239,  20ff.,  240,  3 ff.  Gr.  VII 
p.  273,21  ff.:  Ziel  derkynischen 
Philosophie. 

dvrip  Gr.  VI  p,  234,  3:  ironisch 
V.  s.  Gegner;  p.  252,  22:  v. 
Diogenes. 

cpiXoaocpw-caxo?  Gr.  VI  p.  262,  26: 


V.  s.  Gegner. 


Julians  Brief  an  Dionysios. 


427 


TrappTjSta  p.  573,  4;  577,  8  (vgl. 
573,  5  xoii  ©eptjt'xrj?  .  .  .  STrapp-/)- 
cia'Ceto). 


dlTi^ieioi  p.  573,  16. 
auvTojiOs  p.  574,  7. 


Dionysios  wird    von    Julian 

charakterisirt     durch     die 

Ausdrücke: 
Xoioopta  p.  568,  22;   269,  1.   Xot- 

oopEtadai    p.  568,  20;    570,  8; 

576,  5    (toi?  .  .  .    ßsXxtaxois); 

p.  576,  15;  578,  16. 
ßXctacpvjjAta    p.  569,    1.       ßXatJcp/j- 

{jLEiv  p.  570,  8. 

axXvjTo?    p.  569,3    (vgl.   p.  577, 
14ff.). 


ETtaivsTv  p.  569,  9. 

aTTsxöavsaÖai  p.  569,  16;  573,  21 
(xoT?  zpaxousiv). 


Trappyjaiot  Or.  VII  p.  291,  5.  Miso- 
pog.  p.  470,  14:  V.  s.  Gegnern. 
Or.  VII  p.  289,  20:  v.  Dio- 
genes. Or.  VI  p.  260,  9:  v. 
Kyniker.  Or.  VII  p.  269,  5: 
negativ  v.  Sklaven. 

dhqbeirx  Or.  VI  p.  249,  16:  Kri- 
terium des  Kynikers. 

auvxop.o?  Or.  VII  p.292, 1 ;  293,10; 
294, 17;  305, 16;  Or.  VI  p.  239, 
10:  V.  d.  kynisclien   Methode. 


{X7Xocxi'7  p.  570,  12. 


Xciioopt'ct  Misopog.  p.  434,  12:  iro- 
nisch V.  sich  selbst,  xot?  .  .  . 
ßsXxiaxoi?  Xotoopsiaöat  Or.  VII 
p.  289,  22:  v.  s.  Gegner. 

ßXotS9-/j;ji£iv  Or.  VII  p.  265,  3; 
273,  16;  276,  26;  278,  10: 
V.  s.  Gegnern. 

axXr^xo?  Or.  VI  p.  260,  18:  v. 
Krates  (vgl.  Or.  VII  p.  291, 6ff.: 
über  die  Aufdringlichkeit  d. 
Gegner). 

ETraiveiv  Or.  VII  p.  305,  25 :  v.  s. 
Gegnern. 

dizeyßdvza^ai  Misopog.  p.  458,  1 
(vgl.  p.  473,  16):  v.  sich  selbst 
gegenüber  s.  Gegnern.  Caes. 
p.  418,  8:  V.  d.  Gegnern 
Alexanders  d.  Gr.  diesem 
gegenüber. 

fiotXotxta  Or.  VI  p.  235,  26:  v.  s. 
Gegnern.  Vgl.  p.  235,  3;  259, 
15;  269,  23. 

30* 


428 


Rudolf  Asmus, 


afxcföta    (p.  570,  24)    zctl    Oapso; 
p.  570,  18. 


ayvota  p.  570,  20.^)  «yvosiv  p.  571, 
IG.    T.oLKutia  p.  577,  9:  negativ. 


OU    [xl-^Ct    IppV    laxlv    STTlTllXav    o).- 

Xoig,     sotutov     6s     dv£7:i-t[x-/jTov 
Tr^pois/sTv  p,  573,  y. 


£t   .   .   .   COl    TauiY]?     fXET£(3Tt    X^?    [J.£- 

pioo?  p.  573,  11  ff.  touxo  (Besse- 
rung d.  Nebenmenschen.  Vgl. 
p.  573,  21  ff.)  oh  xaxÄ  es  .  .  . 
ouos  xaxa  fxopiou;  aXXou?,  osoi 
CrjXousi  xov  aov  xpoTrov  p.  574, 
1  ff.  Vgl.  p.  578,  8. 
5TpotxoTcs6(o  TTotpctßaXsTv  p.  573,  1.5. 


airsXauvsa'Jai  p.  573,  19. 


7.a7{)i7.  (Gr.  VIT  p.  291,  8;  292, 

20)  xotl  Opaao;  Gr.  VII  p.  291. 

26^).        Vgl.      XT|V     AioYsvou? 

sitxaÖsiav  Gr.  VI  p.  261,  14. 
(XTiaiSeuxo?  Gr.  VI   p.  234,  2 :   v. 

s.  Gegnern.     Vgl.  p.  259,  5ft'.; 

260,  6 ff.;    263,  2 ff.      Gr.  VII 

p.  282,  24;    294,  13ff.;    304, 

15  ff. 
sp-,'ov  r/t,£i  [XE^a;  Gr.  VII  p.  289, 

20.       auxto    Tupoxspov    £T:txt[x5v 

Gr.  VI  p.  259,  12:    Pflicht    tl. 

Kynikers.     Vgl.  irasiv  l-ixtfia? 

mxQ<;  ouo£V  a^tov  ettgcivou  7:pax- 

xwv  Gr.  VII   p.  305,  24:   v.  s. 

Gegner.  £7:txi|xav  Gr.  VI  p.  260, 

20.  VII  p.  278,  8:   v.  d.  alten 

Kynikern. 
coi  .  .  .  dp£x^;     Tj    xoT;    rnzh^dl^ 

(vgl.    ^bW    6[jl(uv    8W    xoaoüxot 

p.  291,  3)  .  .  .  xt's    [xsxoüat'a; 

Gr.   VII     p.  305,  21:     z.     s. 

Gegnern.    Vgl.  Gr.  VII  p.  289, 

14;  276,  3ff.O 

axpaxoTTEoov  oioy\=~\y  Gr.  VII  p.290, 
22.  TTspivoaxEiv  xa  axpotxo-niESa 
p.  289,22.  Vgl.  290,  4 ff.:  v. 
s.  Gegnern. 

dTTEXauvsaöat  Gr.  VII  p.  290,  24. 


')  ö.  lleyler,  Juliuni  epistolae.     Mogunt.     1828  p.  442. 

-)  Schwarz  „Julianstudien"  (riiilologus  51)  S.  G43,  10  schlägt  hier  nach 
Ma.ssgabe  von  Plato  Tim.  p.  SüB  ä'voia  vor;  dann  wäre  vor  allem  Or.  VII 
p.  271,  3  dtTTOvoia  (:  v.  d.  Kynismus  nach  Oenomaos  =  p.  273,  13);  p.  290, 
Ifi  civ(5rjTos  (:  v.  d.  Galiläern;  vgl.  \>v.  31  p.  522,4  ^i  tcüv  roXtXoi'iov  dTro'voto): 
l'.r.  42  p.  547,  5  zu  vergleichen. 

•')  S.  lleyler  a.  a.  0.  p.  451. 


Julians  Brief  au  Dionysios. 


429 


axwTTTsiv  p.  574,  17.    STTtaxoniTöiv      axwTrxstv    Or.  VI    p.  260,  16:    v. 
p.  576,  10.  Krates.      Caes.     p.   396,   17; 

424,  12:    V.    Silen.    Misopog. 
p.  443,  12:  V.  s.  Gegnern. 
ipucp/iXo;     p.    574,    22.     xpucpav     xpucpT]  Or.  VI  p.  259,  19:  d.  Ky- 

p.  578,  15.  uikern  verboten, 

axoüs  .  .  .  [jLTj  Xtctv  rjp-^tXfü?  p.  575,      Vgl.    -n-otp'     vjjxöiv    auxo    dvaT/ou 


23. 

xo  ÖS  k^ri^  Ol)  TTOtpaypacpoi  aor 
alayovoiiai  '^^dij  .  .  .  dziSi  [xivxoi 
a£  TTpOtJUTTOtXOUSlV  «uxo  p. 575, 25. 

[j-aivsaöai  p.  576,23;  [iavi'ot  p.  577, 
7;  epißpovxyjtjwt  p,  577,  8. 


i^r^v 


■KoMaai  p.  576,  24. 


au  vuv  p.  577,  11. 


ÄSTTip 


a£[j.vo;  p.  578,  10. 


irpaoj?  Xsy6[j.£vov  Or.  VII  p.  305, 
25:  z.  s.  Gegnern. 

otcpsXwv  8s  xö  ouscpvjjiov  xö  XsiTiro- 
ijLSvov  auxos  dTTOTrXr^pcuaov  Or.VII 
p.  305,  21:  z.  s.  Gegner. 

[aai'vsaOai  Or.  VII  p.  304,  14.  ex- 
ttXyjxxoc  }xavia  p.  304,  15.  [xa- 
vicuorjs  p.  291,8:  V.S.Gegnern- 

ouosv  ujxoci;  sya)  .  .  .  8eiv6v  ep"j'a- 
ao[xo(i  .  .  .  xoXoc'Cojv  Misopog. 
p.  470,  141F.:  z.  s.  Gegnern. 

t:o5  xooxo  .  .  .  sTiotrjas  .  .  .  x&v 
iraXotiöiv  xts  dvopwv,  o"  xaT? 
Mouaatg  sxsXouvxo  yv/jöicü;,  dXX' 
ou5(  Äairsp  ot  vuv  Or.  VII  p.  306, 
5:  V.  d.  kynisirenden  Rhetoren. 

a£[xvoc    Or.  VI    p.  262,  8:    v.    s. 


Gegner. 

Ein  Blick  auf  die  aus  unserem  Briefe  ausgeschriebenen  Stellen 
zeigt,  dass  dieser  sich  mit  einem  Vertreter  einer  bestimmten 
Philosophenklasse  (p.  570,  18ff.;  574,  1  ff.;  578,  1  ff.)  auseinander- 
setzt, dem  Julian  vom  philosophischen  wie  vom  kaiserlichen  Stand- 
punkte theils  ernst,  theils  ironisch  gehaltene  Vorwürfe  macht. 
Diese  beziehen  sich  auf  Eigenschaften  und  Handlungen,  welche 
Leute  vom  Schlage  des  Adressaten  sich  entweder  selbst  beizulegen 
belieben  oder  auch  von  Anderen  sich  nachsagen  lassen  müssen.  Es 
ist  ferner  in  diesen  Attributen  ein  scharfer  Contrast  zwischen 
einem  angestrebten  Ideal  und  der  Unzulänglichkeit  des  Erreichten 
wahrnehmbar. 


430  Rudolf  Asm  US, 

Ein  Blick  auf  die  bcigescliri ebenen  Parallelstellen  zeigt,  dass 
die  überwiegende  Mehrzahl  derselben  den  beiden  Reden  Julians 
gegen  die  Kyniker,  Or.  VII  7:pos  'HpaxXsiov  Kuvtxov  und  Or.  VI 
ek  Tou?  aTCOcioeutou;  xuva;,  entnommen  ist.  Die  übrigen  stammen 
aus  dem  Misopogon  und  den  Caesares.  Von  diesen  beiden  Werken 
ist  das  erstere  eine  ganz  kynisch  gefärbte  Trutzschrift  des  als 
Idealkyniker  auftretenden  Kaisers  gegen  die  aller  Wahrscheinlich- 
keit nach  von  kynischen  Gegnern  ausgehenden  Spottreden  der 
Antiochener;  die  Caesares  sind  eine  Menippeische  Satirc  (eine  in 
den  Himmel  verlegte  Nekyia)^),  in  welcher  Silen  die  Rolle  eines 
kynischen  57:000075X010?  *)  spielt  und  Alexander  seine  auch  in 
unserem  Brief  p.  575,  3ff.  erwähnten  Tadler  (vor  Allem  Hermolaos 
und  Kallisthenes.  Vgl.  Or.  VIII  p.  312,  22  tyjv  'AvnaÖsvou?  f<a.|xr^v 
xal  .  .  .  xTjV  KaUia^svou?  dvopsiav)  wie  Kyniker  charakterisirt.  Dem- 
nach entpuppt  sich  unser  Dionysios  als  ein  Vertreter  der 
kynischen  Opposition.^). 

Als  solcher  würde  er  aber  auch,  ganz  abgesehen  von  den 
vielen  zum  Theil  ganz  schlagenden  Parallelstellen  aus  den  gegen 
die  zeitgenössischen  Kyniker  gerichteten  Schriften  des  Kaisers, 
durch  den  der  kynischen  Ethik  so  geläufigen  Satz  dosaTioTov  f, 
dps-r^,  den  ihm  Julian  p.  570,  6  (vgl.  Or.  11  p.  102,  24 ff.;  I  p.  5, 19 If.) 
ironisch  zu  Gemüthe  führt,  besonders  aber  durch  den  Vergleich 
mit  Momos  (p.  574.  17ft".),  dem  aus  Lukians  Satiren  bekannten 
Götterkyniker,  und  mit  Thersites  (p.  573,  5ff.),  dem  von  den 
Schülern  des  Antisthenes  selbst  mit  Vorliebe  citirten  homerischen 
Prototyp  des  politischen  Kynikers,^  gekennzeichnet  werden.  Als 
Pseudokyniker  wird  er  ausserdem  noch  durch  den  für  die  Kyniker 


■»)  S.  Weber,  „De  Dione  Chrysostomo  Cynicorum  sectatore".  Leipziger 
Studien  z.  klass.  Philo!.  X  p.  93;  Ilirzel,  „Der  Dialog"'  II  Leipz.  1895  S.  343 ff. 

5)  S.  Weber  a.  a.  0.  p.  91. 

6)  lieber  die  Stellung  der  Kyniker  zu  den  rüinischeu  Kaisern  s.  neuer- 
dings Caspari  „De  Cynicis,  qui  fuerunt  aetate  imperatorum  Romanorum" 
Progr.  V.  Chemnitz  1896. 

')  S.  Lukians  Demonax  61  e<:r[vet  .  .  .  xal  töv  ©epaiTrjv  w;  Kuvtxov  ttva. 
Vgl.  Die  Chrys.  Or.  ad  Alexandrinos  p.  703  R  und  des  Verfassers  Progr.  „Julian 
und  Dion  Chrys."     Tauberbischofsheira  1895  S.  34 ff. 


Juliaus  Brief  au  Diouysios.  431 

geradezu  typischen  Vergleich  mit  Sardanapallos'')  gebrandmarkt. 
Endlich  sieht  die  gegen  die  sonstige  Gewohnheit  Julians  mit 
Sprichwörtern  überladene  Schreibweise  unseres  Briefes  wie  eine 
Parodie  auf  denselben  Stil  des  Gegners  aus.  Man  könnte  darin 
einen  Hieb  auf  die  in  der  7.  Rede  p.  291,  22  gegeisselte  ayopaio,- 
xal  TTspiTfir/o'jsa  svips/sta  der  uuphilosophischen,  kynisirenden 
Rhetoren  erl^lickeu,  welche,  unserem  neugebackenen  Philosophen 
(p.  571,  14:  sqaicpv'^O  vergleichbar,  ouos  .  .  .  iv  -ctpoijjiia  rspicpspoixsvov 
auxo  '{vc^öia-Moai  zo  o-i  ßoxpu?  -pöc  jSoTp-Jv  -KS-aivstat. 

Was  erfahren  wir  aber  nun  über  die  persönlichen  Ver- 
hältnisse dieses  Kynikers  aus  unserem  Briefe  im  Einzelnen?  Er 
hatte  in  seiner  Jugend  ein  unmoralisches,  weibisches  Leben  geführt 
(p.  573,  12),  begab  sich  dann,  zum  Manne  herangewachsen  (p.  573, 
15),  ins  Heerlager  zu  Konstans,  dem  er  sich  ungebeten  aufdrängte 
(p.  569,  6),  und  leistete,  nachdem  er  bei  diesem  Anstoss^)  erregt 
hatte  (p.  569,  15;  570,  2ff.;  573, 17),  einer  Einladung  des  Magnentius 
bereitwillig  folge  (p.  569,  7),  bis  er  sich  schliesslich,  vorgeblich 
wegen  seines  Eintretens  für  die  Wahrheit  (p.  573,  16),  auch  mit 
diesem  überwarf  (p.  569,  15;  570,  2ff.;  573,17)  und  von  ihm 
fortgeschickt  wurde  (p.  573,  17ff.).  Dann  treffen  wir  ihn  wieder 
als  bejahrten  und  reichen  (p.  574,  20 ff".)  Bürger  und  Senator  in 
Rom  (p.  576,  22;  vgl.  p.  570,  9,  wo  mit  -o  tr,?  eipr>yj?  tip-Evo; 
wohl  der  Senat  gemeint  sein  dürfte);  hier  widmete  er  sich  der 
Philosophie  (p.  570,  18)  und  begann  auf  einmal  eine  männlichere 
Lebensweise  (p.  571,  14).  Julian,  wahrscheinlich  durch  Quintus 
Aurelius  Symmachus  (p.  572,  9  ff.),  dessen  Sohn  auch  mit  dem 
in  der  7.  Rede  genannten  Kyniker  Asklepiades  (p.291,  1)  in  Beziehung 
stand, '°)  auf  ihn  aufmerksam  gemacht,  liess  ihm  trotz  der  schlechten 


8)  S.  Weber  a.  a.  0.  p.  94. 

3)  7cpo3xpo'j(u  ist  hier  geradeso  wie  das  lateinische  „offendo"  rein  poli- 
tisch und  nicht  mit  Ileyler  a.  a.  0.  p.  440  so  zu  erklären,  dass  Dionysios 
p.  569,  15  bei  den  Worten  xptTOv  .  .  .  -pojxpo'jsiv  an  die  Redensart  5U  -po; 
TÖv  aütöv  ai3-/pöv  -poav.po'!)£tv  Xt'ilov  gedacht  habe. 

10)  S.  Seeck  in  Pauly-Wissowas  Real-Eucyklopädie  u.  „Asklepiades".  — 
Mit  den  p.  572,  10  zur  Charakteristik  des  Symmachus  verweudeteu  Wortcu 
0J-0-'  av  £xwv  glvai  (le-jaaixo,  xä  TiavTa  dXr)8t;£39Gti  Tiecpuzw;  hat  die  Bezeichnung 


432  Rudolf  Äsmus, 

Meinung,  die  er  anfänglich  vun  ihm  gehabt  hatte  (p.  572,  511'.),  in 
der  Hoffnung,  er  werde,  durch  die  Philosophie  gebessert  (p.  571,  9 ff.), 
einen  guten  Einlluss  auf  seine  Anhänger  ausüben  (p.  573,  22 ff.; 
570,  9 ff.;  578,  8 ff".),  in  Gestalt  einer  allgemein  gehaltenen,  offiziellen 
Verfügung  eine  Aufforderung  zur  Antheilnahme  an  den  Staats- 
geschäften zugehen  (p.  571,  3;  577,  1),  welcher  er  jedoch,  wahr- 
scheinlich aus  unbefriedigter  Eitelkeit  (p.  572,  12),  nicht  nachzu- 
kommen für  gut  fand  (p.  568,  19;  577,  1),  bis  ihn  der  Kaiser 
durch  ein  kurzes,  unmittelbares  Handschreiben  (p.  577,  4)  an  seine 
Pflicht  mahnte. 

Diese  Mahnung  beantwortete  er,  nachdem  er  wahrscheinlich 
mittlerweile  von  Rom  an  den  Hof  nach  Antiochia'')  gereist,  hier 
aber  von  dem  unterdessen  eines  Bessern  belehrten  Kaiser  (p.  572, 
17 ff.;  570,  lOff.)  nicht  vorgelassen  worden  war  (p.  577,  22 ff'.),  mit 
einem'')  Entschuldigungsschreiben  (p.  568,  19;  570,11;  577,10), 
worin  er  seinen  Ungehorsam  mit  der  Furcht,  ein  drittes  Mal  an- 
zustossen  (p.  569,  15;  570,  2 ff.;  573,17),  zu  rechtfertigen  suchte, 
von  seiner  ihm  mit  der  Zeit  gekommenen  besseren  Erkenntniss'^) 
sprach  (p.  569,  22 ff.;  570,  18),  selbstgefällig  und  trotzig  seine  guten 
Dienste  anbot  (p.  569,  7ff ;  576,  8ff.;  577,  14ff.)  und  sich  heraus- 
nahm, unter  Berufung  auf  sein  gereiftes  Alter  (p.  574,  19  ff.)  und 
zugleich  mit  beleidigenden  Lobeserhebungen  auf  Alexander  d.  Gr. 
(p.  575,  1  ff.)  in  die  Kriegspläne  und  Regierungsgrundsätze  Julians 
hineinzureden  (p.  575,  24 ff".).  Unser  Brief  ist  die  für  die  Oeffent- 
lichkeit  bestimmte  und  gleichzeitig    an  die  ganze  Partei    des  Dio- 


(les  unbekannten  Gewährsmannes  Br.  22  p.  502,  16  dvSpöj  oi)oa[ji(ii;  oiou  xs 
<\)vjr>t:5%ai  eine  so  grosse  Aehnlichkeit,  dass  vielleicht  auch  hier  an  den  Römer 
zu  denken  ist.  S.  auch  Seecks  II.  Index  nomiuum  z.  Symmachus,  p.  347  u. 
„Leontius". 

'')  Da  wir  die  Stelle  Ammian  XXII  13,  3—4  auf  unsern  Brief  beziehen 
(s.  u.  S.  437),  so  verlegen  wir  die  Abfassung  desselben  mit  Schwarz  „De 
vita  et  scriptis  Juliani  imperatoris",  Diss.  Bonn,  1888.  p.  12  nach  Antiochia 
in  den  Winter  362/3. 

'*)  Die  Wendung  Iv  xals  ir.i<3zo\a.i<;  aou  p.  577,  10  zeigt,  dass  Julian  mehrere 
Briefe  von  Dionysios  kannte. 

'')  In  der  Stelle  xal  töv  ioicu? — -iTi^Yvcuxa;  xat  töv  y.oiviü;  xat  ye^ixtü;  avOpu)- 
TTov,  die  ein  Citat  aus  dem  Brief  des  Dionysios  darstellt,  ist  wohl  oc'vopa  zu  er- 
gänzen.    Vgl.  p.  577,  7;  p.  569,  22;  570,  12. 


Juliaus  Brief  an  Dionysios.  433 

nysios  gerichtete,'*)  ausführliche  (p.  578,  6ft'.)  Antwort  des  Kaisers 
(p.  578,  12;  577,  15 ff.)  auf  dieses  Entschuldigungsschreiben.  Der 
Adressat,  der  seinerseits  um  eine  kurze  Antwort  (p.  574,  7)  ge- 
beten hatte,  erfährt  darin  eine  geradezu  vernichtende  Zurück- 
weisung (p.  572,  14ff.;  574,  lOff.;  576,  11  ff.;  577,  20ff.). 

Auffallenderweise  theilt  uns  Julian  gar  nichts  über  das  Ver- 
hältuiss  des  Dionysios  zu  Konstantins  mit.  Dies  scheint  daher  eher 
ein  löbliches  als  ein  tadelnswerthes  gewesen  zu  sein.  Da  der 
Kyniker  dem  römischen  Senat  angehörte,  kann  man  vielleicht  an- 
nehmen, dass  er  einer  der  von  Julian  Or.  II  p.  124,  22  rühmend 
erwähnten  d'vopec  xr,?  Yspouaia;  oxiTtsp  o(5s).oc,  otcuussi  x7.1  ttXo'jtoi 
xcd  cuvc'asi  otacpspovTcS  -aiv  a>A(uv  (vgl.  I  p.  60,  6ff.)  war,  die  kurz 
vor  der  Schlacht  bei  Mursa  von  Magnentius  zu  Konstantins  über- 
gingen. Dass  er  ein  ziemlich  einflussreicher  Mann  war,  geht  aus 
den  besonderen  Bemühungen  hervor,  denen  sich  der  Kaiser  unter- 
zog, um  ihn  für  sich  zu  gewinnen. 

Hiermit  ist  aber  die  Frage  nach  dem  Adressaten  unseres 
Briefes  noch  keineswegs  erledigt.  Nicht  einmal  sein  Name  ist 
durch  die  Ueberschrift  „an  Dionysios"  hinreichend  sichergestellt; 
denn  diese  wurde  unserem  Schreiben  erst  in  der  Pariser  Julian- 
ausgabe von  1630  gegeben,  in  welcher  es  überhaupt  zum  ersten 
Male  selbständig  und  mit  relativer  Vollständigkeit  erscheint.'") 
Rigaltius  creirte  hier  den  Titel  A'.ovjst'm  wohl  mit  Rücksicht  auf 
die  Stelle  Iwyjv.e  (p.  571,  5  =  573,  20).  I^r^-ax/jas  xal  Uhd-mva. 
Tov  tirj-av  6  3o;  ojxwvuaoc  und  Aiovjcjtov  p.  571,  15,  ohne  sich 
durch  die  Doppelbezeichnung  tov  XsiXoiov  r,  Aiovusiov  p.  571,  14ff. 
beirren  zu  lassen.  Dass  der  erste  Theil  dieser  Benennung  ebenfalls 
ein  Recht  auf  Berücksichtigung  gehabt  hätte,  ist  schon  aus  der 
Ausgabe  des  Fabricius  zu  ersehen,  welcher  in  dem  von  ihm  zum 
ersten  Male  herangezogenen  Lauren tianus  LXIII,  16  den  Titel  xaxä 
Netlou  und  im  Texte  p.  571,  14 ff.   einfach  tov  vsiXov  fand.     Diese 


'*)  Wahrscheinlich  um  ihn  bei  dieser  zu  diskreditiren,  wie  er  dies  auch 
mit  dem  Bischof  Titus  bei  den  Bostreuern  gemacht  hatte.   S.  Br.  52  p.  561,  15fF. 

1^)  S.  Heyler  a.  a.  0.  p.  434ff.  und  namentlich  Bidez  et  Cumont  „Recherches 
sur  la  tradition  manuscrite  des  lettres  de  l'Empereur  Julien".  Bruxelles  1898. 
p.  112  ff. 


434  Rudolf  Asmus, 

Üiskrepauz  hätte  Ileicher  und  Ilertlein  davon  abhalten  sollen,  die 
drei  Worte  xov  NeiXwoy  r^  kurzerhand  als  unecht  einzuklammern: 
Sie  hätten  besser  gethan,  nach  Heylers  (p.  444  a.  a.  0.)  Vorschlag 
dem  Laurentianus  zu  folgen  und  t^  Aiovuatov  als  Glossem  zu 
streichen.  Denn  offenbar  war  Aiovuaios  der  Bei-  bezw.  Vorname 
des  von  Julian  als  weichlichen  Schlemmers  gekennzeichneten  NsT/.os, 
und  der  Kaiser  wurde  nur  dadurch  zur  Heranziehung  dieses  zweiten 
Namens  veranlasst,  weil  ihm  dadurch  die  Parallele  Dionysios: 
Plato-Neilos:  Julian  und  die  pointirte  Contradictio  in  adiecto  er- 
möglicht wurde,  welche  in  der  Apostrophe  ou  touto  sa-civ,  m 
(3uv£T(uTat£  Aiovuatö,  cirouoaiou  xal  acucppovo?  dvSpo?  xxX  p.  573, 
19  ff.  liegt. 

Da  der  Kaiser  das  Benehmen  seines  Gegners  p.  573,  8;  574,  9 
als  -apoivia  brandmarkt  und  ihm  p.  575,  Iff.  seine  Bewunderung 
für  Alexander  d.  Gr.  vorhält,  dessen  Tiapoivia  er  p.  575,  14^®) 
gleichfalls  ausdrücklich  hervorhebt,  so  liegt  die  Annahme  nahe, 
dass  Julian  mit  dem  Namen  Aiov-jaio;  auf  dessen  eifrige  Verehrung 
des  Aiovuao;  habe  anspielen  wollen.'')  Lässt  er  doch  in  den 
Caesares  p.  424,  10  den  Erzieher  des  Dionysos,  den  Silen,  zu 
Alexander  sagen  „(zXXa  sxpaxouv  '(i  aou  TroXXaxis  ai  r^\iixe^ai  Ou"(axspes" 
diviTTop-evo;  t7.;  duTrsXouc,  xov  'AXs^ctvopov  ota  Stq  xtva  [isöoaov  xcti 
cpiXoivov  axa)7:xa)v.  Eine  eklatante  Bestätigung  der  Richtigkeit 
unserer  Ansicht  von  der  Priorität  bezw.  Superiorität  des  Namens 
NctXo;  erhalten  wir  durch  Libauios  Br.  670  ed.  Wolff,  worin  der 
Rhetor  (p.  129,  Iff".  bei  Bidez  et  Cumont  a.  a.  0.)  mit  augenschein- 
licher Beziehung  auf  unseren  Brief  dem  Kaiser  mittheilt,  sein 
Schützling    Aristophanes    habe    befürchtet,    dieser  möchte    ihm  xo 


"*)  Bemerkenswerth  ist  hier  die  Zusammenstellung  von  ab-co'j  tt^;  napoivt'a; 
Epyov  p.  575,  14  und  xct;  ä'XXa;  a'jxoü  Tiatoid;,  da  dieselbe  sich  auch  Or.  VI 
p.  260,  11  Tiäaav  .  .  .  i-ei^v  vr/r^z  vm  eite  Tiaiotäv  eixe  -ctpoivt'av  /pr)  cpavat 
findet  und  daher  vielleicht  auf  die  Gemeinsamkeit  der  (kynisch-stoischeu) 
Quelle  hinweist.  Eine  solche  ist  Or.  II  p.  123,  ll(T.  in  der  Auseinandersetzung 
über  das  Wesen  der  Xoioopfct  benutzt,  wo  überdies  Alexander  d.  Gr.  als  Bei- 
spiel angeführt  wird. 

"')  üeber  den  Gebrauch  solcher  Spitznamen  zur  Zeit  Julians  s.  Sievers 
„Das  Leben  des  Libanius".     Berlin  1868.     S.  235,  6. 


Julians  Brief  au  Diouysios.  435 

Ssilou  xaxov  bereiten.  Demnach  spricht  Alles  dafür,  dass  auch  die 
bisherige  üebei-schrift  nach  dem  Laurentianus  zu  ändern  und 
durch  'lou>aavo?  xaxa  NeiXod  zu  ersetzen  ist.  Der  Name  NsT^vO? 
lässt  vermuthen,  dieser  Kyniker  sei  ein  Landsmann  des  von  Julian 
in  der  sechsten  Rede  angegriffenen  Kynikers  gewesen,  den  der 
Kaiser  hier  p.  249,  26  als  Aq6"io?  bezeichnet.'^)  Wie  er  diesen 
p.  262,  27  ironisch  mit  Alexander  d.  Gr.  vergleicht,  so  fragt  or 
p.  575,  2  mit  den  ironischen  Worten:  xaisip^asu)  .  .  .  tov  Aapsiov 
6i<;  b  MaxsStuv  'AXscotvopo?;  den  Neilos,  ob  er  ein  [J.itxyjxr]?  cturoij  sei. 

Vielleicht  ist  der  Hauptname  des  Dionysios  bei  Julian  auch 
noch  an  einer  anderen  Stelle  erhalten.  In  seinem  Manifest  an  die 
Athener  stehen  nämlich  p.  353,  4ff.  statt  der  jetzt  allgemein  reci- 
pirten  Emendation  des  Valesius  xov  ^iiXoüavov  auiu)  -o/iii-iov  in  den 
Handschriften  die  unverständlichen  Worte  tou  NsiXo-j  xav  (va-j  V)  sv 
au-w  -oXsaov.  Wäre  Heylers  Vermuthung  (p.  445),  wir  hätten  es 
hier  mit  dem  Adressaten  unseres  Briefes  zu  thun,  als  richtig  zu 
erweisen,  so  dürfte  man  doch  wohl  schwerlich  annehmen,  dass  der 
Kaiser  an  dieser  Stelle  von  Dionysios  in  direktem  Zusammenhange 
mit  „quibusdam  aetatis  suae  sycophantis"  redete,  da  er  ja  nach 
dem  oben  S.  431  ff.  Dargelegten  anfänglich  noch  nicht  mit  ihm  ver- 
feindet war. 

Es  finden  sich  bei  Julian  noch  zwei  andere  Persönlichkeiten 
erwähnt,  die  in  einem  ganz  ähnlichen  Verhältniss  zu  ihm  standen 
wie  Neilos.  Sie  können  zusammen  mit  ihm  als  typische  Reprä- 
sentanten einer  Menschenklasse  gelten,  in  welcher  der  Kaiser  vor- 
schnell brauchbare  Werkzeuge  für  seine  Reorganisationsarbeit  zu 
finden  hoffte,  bis  er  zu  seinem  grossen  Verdrusse  einsah,  dass  seine 
Erwartungen  ihn  betrogen  hatten.  Der  eine  von  diesen  Männern 
ist  der  Kyniker  Asklepiades,  von   dem  Julian  Or.  VH  p.  291,  1 


'8)  Dürfte  man  Julian  die  witzlose  Unterstellung  zutrauen,  Neilos  sei 
deshalb  so  sehr  für  Alexander  eingenommen  (p.  575,  Iff. ;  12 ff.),  weil  er  den 
Hektor  gerade  im  Nil  ertränken  Hess,  so  konnte  man  auch  in  den  Worten 
Ta  7t£pt  Tov  "ExTopa  Tov  To5  NeiAo'J  Tai;  otvat?  /^  toü?  EÜ'^ pctto'J •  ^eyeTat  ydtp 
Exarspov  hario-^zviitna  .  .  .  ai(ju7T(Jü  p.  575,  1411'.,  wo  die  doppelte  Ortsangabe 
nicht  recht  begründet  ist,  eine  Anspielung  auf  den  Namen  NeUo;  finden. 


436  Rudolf  Asm  US, 

sagt  6Lvr^'/.\}s.v  .  .  .  irpo?  jxky  xov  [Aaxaoitr^v  Kojvaxavttov  ek  'haXiav  (sc. 
an  den  Hof  nach  Mailand)  .  .  .  ouxsii  \iivzoi  [xr/pi  täv  FaUiaiv  .  .  . 
TTfio?  7)1x5?  (p.  289, 25 ff.).  Dieser  Philosoph  wird  von  Ammian 
XXII  13,  3  zum  ersten  Mal  „in  actibus  Magnentii"  erwähnt, 
woraus  Valesius  mit  Wahrscheinlichkeit  gefolgert  hat,  er  habe  sich 
zur  Zeit  des  Krieges  gegen  Magnentius  an  Konstantius  ange- 
schlossen. Da  er,  nach  Symmachus  epist.  V  31  zu  schliessen,  ver- 
muthlich  in  Rom  lebte,  so  befand  er  sich  demnach  im  Gefolge  der 
von  Julian  a.  a.  0.  (s.  o.  S.  431)  erwähnten  römischen  Senatoren,  die 
zu  Konstantins  übergingen.  Nach  Julians  Worten  Or.  VII  p.  291,  6 
aiUade  ttjv  im  xov  ouos  loeXv  ujia?  OiXovxa  ßotstXsa  Topciav  kam  er 
aber  ä-Ar-^rj^  zu  diesem  Kaiser.  Nach  dessen  Tod  scheint  Julian, 
da  Asklepiades  ihn  nicht  wie  andere  Kyniker  (s.  Br.  38  p.  535,  18 
zo.(ixrfi  TrXrjSt'ov  zr^z  ttoXöcu?  [sc.  Besannen]  aTrr]vx-/jai  xuvixo?  xis  avr|p 
lytuv  xpiß(ova  xal  ßaxx/jpiav  .  .  .  dvY]p  cpi'Xoc)  schon  als  Cäsar  in  Gallien 
aufgesucht  hatte,  keine  näheren  Beziehungen  mit  ihm  angeknüpft, 
sondern  wie  seine  Zusammenstellung  mit  Heraklios  und  die 
Charakterisirung  als  Pseudokyniker  zeigt,  seine  Unbrauchbarkeit 
bald  erkannt  zu  haben,  ohne  dass  sich  dieser  jedoch  dadurch  hätte 
abschrecken  lassen.  Denn  nach  Ammian  a.  a.  0.  kam  er  Ende 
362  „visendi  gratia  Juliani"  nach  Antiochia. 

Von  ähnlicher  Art  muss  jener  Laurakios  gewesen  sein, 
dessen  der  Kaiser  in  dem  von  Papadopulos  Kerameus  neu- 
gefundenen Briefe  (1*)  an  seinen  mütterlichen  Oheim  (Rhein. 
Museum.  N.  F.  42  S.  21,  25 ff.  gedenkt.")  'IVsp  ou,  heisst  es  hier 
Z.  64fF,  ^rj'pacpac  xai  ctuxoc,  oxi  9p'jXou[j.evo$  s-1  zovifjpia  (vgl.  Z.  57; 
Br.    59    p.  571,7;    573,  18.   s.  u.  S.  439)  ttjv  laxpixTjv  uTioxpivexcti 

(vgl.     Or.    VII    p.    291,    11  fl".)-       £xXt;{}yj      }Jl£V     TTOtp     T,|xGiv      U)?     OTTOU- 

Saio;   (vgl.  Br.  59  p.  571,  3   7:po-/sipa)?    sttI  xoivu>vtav    ss   Trapsxcc- 


1»)  Für  die  inhaltliche  Echtheit  dieser  Briefe  haben  wir  schon  in  unserer 
Untersuchung  „Eine  Encyklika  Julians  d.  Abtr.  etc.",  Zeitschr.  f.  Kirchengesch. 
XVI  S.  238,  2fr.  einige  Beweise  erbracht.  Der  Brief  1*  wird  auch  von  Bidtz 
et  Cumont  a.  a.  0.  p.  25  und  Wiiraer  Cave  France,  „The  Emperor  Julians 
Relation  to  the  New  Sophistic  etc.  (Diss.  v.  Chicago),  London  1896,  p.  93 
gegen  Schwarz  ä.  a.  0.  p.  30fiF.  und  desselben  „Julianstudien"  (a.  a.  0, 
S.  624  ff.)  in  Schutz  genommen. 


Julians  Brief  an  Dionysios.  437 

Xsact  Ttp^Yp-okojv  und  p.  573,  19  f.  ou  touto  sG-cty,  ui  Aiovuaie,  airou- 
oai'ou...  avopoc),  TTpiv  os  bU  o'biv  iX&sTv,  cpwpotOcic  oct-t?  r^v .  .  . 
xatecppoviQi^-/;  (vergl.  p.  577,  26  es  -uiv  aXXcuv  siaisijLsvtov  ouSs  7:poa- 
öi'pvjxa  irtüTTOTc).  Auffallend  ist  hier  die  Anwendung  eines  ganz 
ähnlichen  Bildes  auf  den  schmähsüchtigen  Laurakios  wie  auf 
Neilos.  Wie  nämlich  Julian  p.  574,  3  ff.  im  Hinblick  auf  diesen 
sagt  irsipoti  yap  Trixpaic  xal  Xt'&oi  Xti^ot?  Trpoaapot-Top.svoi  oux  (o^sXouGt 
(isv  dXXi^Xoüc,  6  ö' la/upoTcOo?  tov  -^x-ova  £Uy(£p«)?  suvipißet,  so  sagt 
er  bezüglich  des  Laurakios  p.  21,  32  <Sa-£p  ^ap  ta  ßotXX6[x=va  zpö? 
Tou;  azzpzoh;  xal  Ysvvaious  xotj^ous  Ixstvot?  [lev  ou  TrposiCavEi  ouos 
-Xv^xxet  ouSs  e^xailrjxott,  scpoopoxspov  os  sttI  tou?  ßaXXovxot?  avaxXaxai, 
ouxo)  Tiaaa  XoiSopi'a  xal  ßXaacp-/jixta  Ttal  ußpt?  d'Sixo;  dvopo?  «yoiOo'j 
xocxot/uÖEis«  (vgl.  Br.  59  p.  568,  2  ttjv  xa&'  Tjjioiv  XoiSoptav  d&poav 
IHxBaq  Tj  "j-dp  oü  /py^  \is  xotl  XoiSocpiav  auxo  xal  ßXaacpr^aiav 
vojii'Csiv;  Misopog.  p.  470,  11  xa>v  ßXas'jTjixttov  a?  .  .  .  xoL-zyioL-i 
fiou)  öiYydvsi  [j.£v  ouoaijLai?  Ixstvou,  xpsTtsxat  8s  sttI  xöv  xaTaj(eovxa. 
Solche  Leute  wie  Neilos,  Asklepiades  und  Laurakios  hat  offen- 
bar Ammian  XXII  12,  3  im  Auge,  wenn  er  im  Anschluss  an  Julians 
Vorbereitungen  zum  Perserkriege  sagt:  „Quae  maximis  molibus 
festinari  cernentes  obtrectatores  desides  et  maligni  (vgl. 
XXIII  5,  16;  Br.  59  p.  574,  15  cou  x-^  xaxr^j'opo)  7X(üxx(j)  unius  cor- 
poris permutatione  tot  cieri  turbas  intempestivas,  indignum  et 
perniciosum  esse  strepebant  ...  Et  haec  diu  multumque  agitantes 
frustra  virum  circumlatrabant  immobilem  occultis  iniuriis,  ut 
Pygmaei  vel  Thiodaraas  agrestis  homo  Lindius  Herculem."  Ver- 
gleicht man  hiemit  Julian  Or.  VII  p.  291,  10,  wo  die  der  Xotoopta 
und  der  ßXacfcpr^fjita  fröhnenden  Pseudokyuiker  vom  Schlage  des 
Heraklios,  des  xuvo?  o-jxi  xopöv  ouos  -/swaiov  uXaxxouvxo?  (p.  264, 
7  fi".,  vgl.  p.  273,  16  uXaxxuiv  :rp6?  aTiavxa;:  v.  d.  Kynismus  d.  Oeno- 
maos),  das  Prädikat  uXaxxouvxsc;  erhalten,  so  wird  es  mehr  als 
wahrscheinlich,  dass  die  von  Ammian  gemeinten  Gegner  des 
Kaisers  antiochenische  bzw.  in  Antiochia  weilende  Kyniker  waren. 
Er  hat  hier  wohl  dieselben  Persönlichkeiten  im  Auge,  welche 
Julian  nach  dem  Misopogon  p.  443,  11  ßdXXovxs?  xoT?  (5xa>p,[iaaiv 
waTTsp  xo$£U[jLaai  mit  dem  höhnisch-skeptischen  Zuruf  -(oc  otvizr^ 
xd    rispauiv    ßsX/j,    xd    Tjij.sxspa    xpsaa;    axtufiiiaxa ;    vergebens    von 


438  Eudolf  Asmus, 

seinem  gewagten  Unternehmen  abzubringen  suchten  und  ihm 
p.  465,  20  ebenso  vergeblich  vorwarfen,  o-i  zap  ocu-ov  xa  xou 
xoaaou  TTpa^ixaTa  avcz-eTpotTr-ai ,  da  er  sich  bei  seinem  ^svog  .  .  . 
saixsvov  ToTs  xptdsTcftv  a[j.£T(zx[VY]-u)?  (p.  449,  20  ff.)  dadurch  nicht 
beirren  liess;  giebt  er  doch  auch  in  unserem  Briefe  p.  573,8  seiner 
Unempfindlichkeit  dem  Neilos  gegenüber  durch  den  mythologischen 
Vergleich  mit  Agamemnon  Ausdruck,  welchem  xr^?  Öspaixou  ^apot- 

Diese  Kyniker  waren  dem  Kaiser  aber  vor  Allem  auch  des- 
wegen ein  Dorn  im  Auge,  weil  sie  mit  den  Christen  Fühlung 
hatten.  Dies  geht  schon  aus  der  die  sechste  (vgl.  bes.  p.  250,  2) 
und  siebente  Rede  (vgl.  bes.  p.  290,  9  ff.)  und  den  ganzen  Miso- 
pogon  durchziehenden  Doppelpolemik  gegen  die  kynischen  Pam- 
phletisten  und  gegen  die  „Galiläer'"'  hervor,  aber  auch  aus 
Gregorius  von  Nazianz,  welcher  in  seiner  ersten  Invektive  gegen 
Julian  c.  77  col.  604  Äff.  (t.  35  bei  Migne)  mit  Genugthuung  be- 
tont ,  dass  sich  bereits  tivs?  .  .  .  xa>v  Trotp'  i^iiwv  xofuj^ujv  auf  das 
dvxiTrat'Ceiv  ctuiui  verlegt  hätten.^")  Libanius  I  p.  495  R.  schreibt 
die  aafiaxa  der  Antiochener  geradezu  den  xaxto?  7U(j,vou[i.svoi  zu, 
worunter  wohl  kynisierende  Mönche  zu  verstehen  sind."')  Vielleicht 
wird  aber  auch  in  unserem  Briefe  auf  eine  solch  christenfreundliclie 
Haltung  des  Adressaten  angespielt.  Wenn  der  Kaiser  nämlich  von 
diesem  p.  576,  4  sagt  6  xvjv  Ma'^vevxioo  xal  Kwvaxavto?  oai'av  alayovo- 
ij.evo?,  so  ist  dies  angesichts  der  Thatsache,  dass  die  beiden  Herrscher 
erklärte  Gönner  des  von  Julian  so  bitter  gehassten  Athanasios 
(s.  Br.  26  und  Br.  6  p.  484,  22  xou  ÖsoU  sx^pou  .  .  .  'AOavaaiou  und 
Br.  51  p.  558,  26  r^  xou  oüassßou;  auxou  oiootcfxaXaiou  .  .  .  fjio/O/^pta) 
waren  und  der  „Tyrann"  Magnentius  Or.  1  p.  49,  18  geradezu  ein 
ofvöpojTTo;  av 6a  10?  genannt  wird,  sicherlich  ironisch  gemeint,  und 
nicht  minder  wird  die  hellenistische  Orthodoxie  des  Neilos  auch 
durch  die  geflissentliche  Betonung  des  Kaisers  verdächtigt,  dass  er 
TToUobc  .  .  .  xaxa  xr^v  »so^iXr,  'Ptujxr/^  (vgl.  Or.  V  p.  207,  7;  209, 19) 


^)  Vgl.  hierüber  unsere  Studie  „Gregorius  von  Nazianz  und  die  Kyniker" 
(Theolog.  Stud.  und  Krit.  1894  S.  335 ff.). 

-')  S.  Sievers,  a.  a.  0.  S.  201,  9(5.  Vgl.  unsere  Untersuchung  über 
„Synesius  und  Dio  Chrysostomus"  (Ryzant.  Zeitsclir.  IX)  S.  138,  1. 


Julians  Brief  an  Dionysios.  439 

oict-pißovTct;  und  nur  ihn  nicht  seiner  Ansprache  gewürdigt  habe 
(p.  577,  22  ff.).  Mit  der  „Wahrheit"  (p.  573,  11),  wegen  der  Neilos. 
vertrieben  worden  zu  sein  vorgab,  könnte  dann  sehr  wohl  sein 
freimüthiges  Eintreten  für  irgend  eine  von  ihm  für  richtig  erkannte 
christliche  Lehrmeinung  und  mit  den  ttoXXüjv  xal  TrovrjpciTatfüV, 
u'f  wv  xal  autk  a.^:r^'kd\}r^;,  Ix-o-itJÖEvxaiv  abgesetzte  christliche 
Bischöfe  gemeint  sein.  Vergleicht  man  die  Worte  osT  .  .  .  hm; 
(XTToXoYsiafOoti  oia  ah  xal  xoi?  aXXoi?,  oxt  rpoj(£ip(ü?  ettI  xotvcuviav  as 
-apsxaAscra  rpaYjxa'-cov  p.  571,  2  mit  Br.  78  p.  603  Anf.  nTj-j-asiov 
r^iizX;  OUTTOT  av  7:poa-/;xa|i.sv  paoTax:,  £i  ix-/j  aacpoi?  STTsreiafAsOa,  ori 
xal  TTpoxepov  sTvat  ooxtüv  xuiv  FaXiXai'tov  sTci'axo-oi;  r^m'axaxo  csßssöai 
xal  xifAav  xou?  Osouc  .  .  .  IttsI  .  .  .  (w[i."/)v  o'jxu)  yprivai  [xiasiv  auxov 
w?  ouosva  xuiv  -rov/jpoxaxtov,  so  ist  vielleicht  der  Schluss  gestattet, 
dass  die  Enttäuschung,  welche  Neilos  dem  Kaiser  bereitete 
(p.  571,  13  ft'.),  vorwiegend  auf  religiösem  Gebiete  zu  suchen  ist. 
Dann  könnte  man  etwa  annehmen,  Julian  habe  von  dem  ihm  bis- 
her nicht  näher  bekannten  christenfreundlichen  Pseudokyniker 
Neilos  vernommen,  dieser  habe  sich  auf  einmal  unter  dem  Einfluss 
der  hellenistischen  Philosophie  (vgl.  Vlll  p.  327, 1  ff.)  „ermannf"^"), 
so  wie  er  selbst  in  seinem  Manifest  an  die  Athener  p.  350,  18  ff. 
von  sich  gesteht,  er  sei  durch  sie  von  seinem  grössten  Gebrechen, 
nämlich  von  der  Einwirkung  seiner  christlichen  Erziehung,  befreit 
worden;  er  habe  infolgedessen  die  grössten  Hoffnungen  auf  den 
Gesinnungswechsel  des  Mannes  gesetzt,  die  dieser  aber  dann  durch 
sein  ferneres  Zusammengehen  mit  seinen  alten  Freunden,  den 
Gegnern  Julians,  zu  schänden  machte. 

Ein  Hauptargument,  welches  die  von  Ammian  a.  a.  0.  ge- 
nannten Gegner  Julians  übereinstimmend  mit  Neilos  gegen  seinen 
Perserzug  vorbrachten,  glaubt  man  auch  noch  aus  der  Rede  heraus- 
zuhören, welche  der  Kaiser  bei  Ammian  XXIII  5,  16  jenseits  des 
Aboras  kurz  vor  seinem  ersten  Zusammenstoss  mit  dem  Feinde  an 


22)  Vgl.  Galiläerschrift  p.  163,  2if.  ed.  Neumann  xüiv  raXiXat'wv  ij  axs'jcupi'a 
.  .  .  äTcoypr]aa[i.Evrj  .  .  .  xu)  .  .  .  7:atoaptu)0£t  .  .  .  ttjc  4"^X^'  fJtoptuJ  p.  199,  14  Tja'-iuv 
(sc.  'IirjaoO?  und  riaöXo?)  .  .  .  zi  i^epairaiva;  ^^aTiaT^tJO'jai  vm  ooöXo'j;  xat  8ia  xoü- 
Tu>v  T(is  •(<rmXy..0Li,  öfvopa?  xs  o'i'o'J?    Kopv/jXio?  xal  Slpyios    xtX.    p.  205,  9   ^x  xdiv 


440  Rudolf  Asmus, 

seine  Soldaten  hält.     Wenn  er  hier  „ratione  multiplici"  ausführt, 
„uon  nunc  priraitus,  ut  maledici  (vgl.  o.  XXII  12,  B)  mussitant, 
Romanos  penetrasse  regna  Persidis",  so  liegt  es  sehr  nahe  zu  ver- 
muthen,  diese  „maledici"  und  u.  a.  auch  Neilos  hätten  Julian  zu 
verstehen    gegeben,    dass  er  kein  OeaTrsato^  ' AXe^cvSpo?  (p.  575,  1, 
vgl.  \ii'(a^  p.  575,  13)  sei,  und  sich  somit  auf  den  Standpunkt  des 
Silen  in  den  Caesares  gestellt,   von  dem   es  hier  p.  406,  19  heisst 
ETrtafxwTTimv  xov  KupTvov,  „opa,  sitte,  [it^-koxb  outoi  (sc.  ot  'Ptofiatoi)  evos 
(u(3i  ou/.  avxa^ioi  toutouI  tou  TpcixoD  (sc.  'AXscavopou)."     Dieser  eiteln 
Konkurrenz  mit  seinem  grossen  Vorbilde  entspricht  ja  auch  die  ab- 
fällige   Kritik,    welche   der   Makedonier    wie    an    anderen    Stellen 
(s.  Gr.  I  p.  57,  3  ff.;  Caesares  p.  424,  7  ff.;  409,  7  ff.;  Br.  an  Them. 
p.  333,  3  ff.),    so    auch    in    unserem    Briefe    erfährt.     Dass  dieses 
Verdikt  den  König  p.  575,  19  ff.  gerade  vom  Standpunkt  der  nach 
Julians  Auffassung  (S.  Or.  VI  p.  240,  8  ff.)  mit  der  kynischen  voll- 
ständig   übereinstimmenden    Ethik    der    Stoa  als  einen  avopa  .  .  . 
To  .  .  .  xaxfupOojjxsvov  .  .  .    ouSotfi,«)?    l/ovia    bezeichnet,    ist    seinem 
kynisirenden   Bewunderer  gegenüber  nur  umso   charakteristischer. 
Indem   der  Kaiser  die  grausame  (p.  575,  13)  Art,    wie  Alexander 
seine  freimüthigen  Tadler  bestrafte,    ablehnt  und   sich   p.  576,  19 
ausdrücklich   dagegen  verwahrt,   dass  man  seinen  Brief  an  Neilos 
als  Zeichen   eines  ootxvoji-lvou  betrachte,    stellt  er  sich  selbst  über 
den  Makedonier,  den  nach  Or.  II  p.  123,  10  ff.  die  XotSopia,   dieses 
ypTjjjia  .  .  .  t)u[JLOootxE? ,   Tiapw^uvsv   eh  6uvc([xiv  «[luvasOai   Xo^cu   xs  xat 
Ep7(o,    und    legt    mit    dem    Verzicht    auf   das    sp^oi?  .  .  .    xoXaofai 
(p.  576,  25)  als  echter  Stoiker  dieses  cpiXoxifAov  .  .  .   iraftos  ganz  ab 
(vgl.  Misopog.   p.  442,  6  ff    Br.  1*  cd.  Papadop.  Z.  26  ff    Or.  VII 
p.  278,  4  ff.).      El;  xouxo  -(«>,   sagt  er  Or.  VI  p.  258, 12  in  seinen 
Vorschriften  für  den  wahren  Kyniker,   ocfi.sivov  eXöeiv,  st?  x6  xal  ei 
Tzdayei  xi?   xa  xoiauxa  oX(u?  d^vo^aai,    womit   er  sich   zu   dem  nach 
Or.  II  p.  123,  20  nur  von  Sokrates  und  airavioi?  xtciv  Ixeivou  C,r^l^oxal; 
erreichten  Ideal   der  kynischen   aTCocösiot  (s.  Or.  VI  p.  248,  24.   Vgl. 
auch  Or.  VIII  p.  312,  24)  bekennt.     Und  wenn  er  p.  574,  13  ff  die 
dem  Neilos  zugedachte  Strafe  dahin  präcisiert:   w<;  eXa/iaxa  irsipa- 
aojx7t   8ia    x£  xwv   X6y(ov   xal  xiov   £p7<t>v    £co(ijioipx«uv  |x->j  Trapots/iailat 
(30U   --^   xaxTj^opm  -(Xtoxx^j   TroXXrjV    cpXuapi'av,    so   ist   diese    Erklärung 


.Tiiliaus  Brief  an  Dionysios.  441 

nichts  anderes  als  eine  Variation  der  von  ihm  Or.  VI  p.  259,  11 
aufgestellten  Forderung  yyq  tov  apyojjievov  xuvt'Ceiv  auxov  Trpotspov  .  .  . 
s^sXsY/stv  xctl  .  .  .   IcetctCciv  o-i  aäXiaia   aotov  axf/tßcü;'^). 

Als  Resultat  unserer  Untersuchung  ergiebt  sich  demnach,  dass 
der  59.  Brief  Julians  als  eine  unmittelbar  an  die  Adresse  des 
christenfreimdlichen  Pseudokynikers  Neilos  und  mittelbar  auch  an 
seine  Gesinnungsgenossen  gerichtete  Abfertigung  zu  betrachten  und 
daher  in  eine  und  dieselbe  Linie  mit  Or.  VI,  VII  und  dem  Miso- 
pogon  zu  stellen  ist.  Während  aber  die  beiden  Reden  sich  an  die 
kynisch-christliche  Oppositionspartei  in  Konstantinopel  und  der 
Misopogon  an  diejenige  in  Antiochia  wendet,  richtet  sich  unser 
Brief  an  die  in  Rom,  dem  westlichen  Centrum  des  Imperiums,  an- 
sässigen Anhänger  dieser  weitverbreiteten  und  einflussreichen  Ver- 
bindung. 


23)  Das  kynische  Vorbild  liegt  iu  dem  Apophthegma  des  Diogenes  bei 
Plutarch  De  aud.  poet.  p.  21E  (=  De  inimic.  utilit.  p.  88A)  vor:  spiu-rjM; 
yotp,  o-co?  d'v  Tt;  äij/jvottTO  xöv  i/t}po'v,  „auTo;,  ecpT],  xotXö;  -/äyaöö;  yevouevos". 
Vgl.  Wyttenbach,  Auimadv.  in  Plut.  Mor.  T.  I  Lips.  1820  p.  160. 


Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     XV.  4.  31 


XVI. 

Wissen  und  Glauben  bei  Pascal. 

Von 
Dr.   Kurt   Warimith,    Licentiat    der    Theologie. 


Zweiter  Theil. 

B. 

Pascal,  der  Jansenist. 

Von  den  abstrakten  Wissenschaften,  die  seiner  Feuerseele  nicht 
Geniige  thuu,  wendet  sich  Pascal  zum  Studium  des  Menschen. 

Die  erste  Anregung  zu  eingehenderer  Beschäftigung  damit 
mag  ihm  die  Leetüre  der  iansenistischen  Schriften  im  Jahre  1647 
gegeben  haben,  wenn  er  auch  schon  früher  ab  und  au  über  dieses 
Problem  nachgedacht  haben  wird.  Soviel  ist  gewiss,  von  jetzt  ab 
lässt  ihm  dieses  Räthsel  aller  Räthsel  keine  Ruhe  mehr.  Die 
jansenistische  Lösung  desselben  hat  einen  gewaltigen  Eindruck  auf 
ihn  gemacht.  Aber  er  fragt  auch  die  Philosophen:  Epiktet  und 
Montaigne.  ^°)  Ihre  Antworten  befriedigen  ihn  nicht;  ihre  Mcnschen- 
erkenntniss  ist  einseitig.  Die  Lösung  findet  er  im  jansenistischen 
Christenthum,  in  dem  Dogma  vom  gefalleneu  und  durch  die  Gnade 
geretteten  Menschen. 

Im  Gegensatz  zur  göttlichen  Gnade  erscheint  ihm  jetzt  alles 

^0)  I  348. 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  443 

Menschliche  gering/')  Skeptisch  steht  er  den  geistigen  und  sitt- 
lichen Fähigkeiten  des  Menschen  gegenüber.  Vollständiges,  sicheres 
Wissen  ist  dem  Menschen  aus  metaphysischen  und  psjxhologisch- 
ethischeu  Gründen  unmöglich;  was  er  erreichen  kann,  ist  nur  Un- 
gewissheit. ")  Die  Beschäftigung  mit  den  abstrakten  Wissenschaften 
erklärt  er  jetzt  überhaupt  als  nicht  angemessen  für  den  Menschen, 
sie  entfernen  ihn  von  seiner  Bestimmung.  ^^)  Der  Geometrie,  für 
ihn  die  Wissenschaft  schlechthin,  erkennt  er  nur  noch  einen  for- 
malen Werth  zu.  '*)  Das  wahre  Studium  des  Menschen  ist  der 
Mensch;  sich,  sein  Elend  soll  er  kennen  lernen,  er  kann  es,  wenn 
auch  nicht  den  Grund  desselben.  Dies  soll  ihn  demüthig  machen, 
er  soll  seine  Vernunft  in  der  Erkenntniss  ihrer  Schwäche  unter- 
werfen und  nach  einem  Heilmittel  suchen.  Der  Glaube  ist  das 
Heilmittel.  Der  Inhalt  des  Glaubens  ist  Jesus  Christus.  In  ihm 
erkennen  wir  Gott  und  unser  Elend.  Ohne  Christus  keine  Gewiss- 
heit.    Vor  und  ausser  Christus  ist  der  Skepticismus  das  Wahre.  ^^) 


''')  II  47.  L'homrae  u'est  qu'im  sujet  plein  d'erreur  naturelle  et  ineffa- 
^able  Sans  la  gräce.     Rien  ne  lui  montre  la  verite ;  tout  l'abuse. 

^2)  II  99.  103.  La  nature  confond  les  Pyrrboniens  et  la  raison  con- 
fond  les  Dogmatistes;  nous  avons  une  impuissance  a  prouver  invincible  ä 
tout  le  dogmatisme,  nous  avons  une  idee  de  la  verite  invincible  ä  tout  le 
Pyrrhonisme. 

")  I  199. 

^*)  Pascal  schreibt  1660  an  den  Mathematiker  Fermat:  „Um  freimiithig 
über  die  Geometrie  zu  reden,  so  halte  ich  sie  für  die  höchste  Uebung  des 
Geistes,  aber  zugleich  für  so  unnützlich,  dass  ich  wenig  Unterschied  mache 
zwischen  einem  Menschen,  der  bloss  Geometer,  und  einem  anderen,  der  ein 
geschickter  Handwerker  ist.  Auch  nenne  ich  sie  das  schönste  Handwerk  der 
Welt,  aber  schliesslich  nichts  anderes  als  ein  Handwerk,  und  ich  habe  schon 
oft  gesagt,  dass  sie  gut  ist,  um  die  Stärke  unseres  Geistes  daran  zu  erproben, 
aber  nicht,  um  seine  Kraft  darauf  zu  verwenden,  dergestalt,  dass  ich  nicht 
zwei  Schritte  für  die  Geometrie  thun  würde." 

''^)  II  100.  Le  pyrrhonisme  est  le  vrai;  car  apres  tout,  les  homrnes 
avant  Jesus-Christ,  ne  savaient  oü  ils  en  etaient,  ni  s'ils  etaient  grands  ou 
petits.  Et  ceux  qui  ont  dit  Fun  ou  Taulre  n'en  savaient  rien,  et  devinaient 
sans  raison  et  par  hasard;  et  meme  ils  erraient  toujours  en  excluant  Tun  ou 
l'autre.  Quod  ergo  ignorantes  quaeritis,  religio  annuntiat  vobis.  Le  pyrrho- 
nisme sert  ä  la  religion. 

31* 


444  Kurt  Warmuth, 

Nur  in  Christo  giebt  es  Gewissheit:  er  ist  die  Wahrheit.  Nur 
der  Glaube  giebt  uns  Gewissheit:  er  ist  das  höchste  Wissen."')  Wie 
gelangen  wir  zu  ihm?  Nicht  durch  unsere  Anstrengung,  Gott  allein 
giebt  ihn  dem,  den  er  erwählt  hat.  Der  Mensch  kann  sich  aber 
auf  den  Glauben  vorbereiten  durch  Vernunft  und  Gewöhnung. 
Zu  solcher  Vorbereitung  auf  den  Glauben  will  Pascal  in  seinen 
Pensees  helfen.  ^^) 

Hatte  Pascal,  der  Mathematiker,  an  der  Möglichkeit  mensch- 
lichen Wissens  nicht  gezweifelt,  Pascal,  der  Theolog,  glaubt  nicht 
mehr  daran:  er  ist  jetzt  einerseits  Jansenist,  anderseits  Skeptiker.'*) 
Hatte  er  früher  den  Verstand  in  den  Vordergrund  gestellt,  so  jetzt 
das  Herz.") 

Das  „Centrum  aller  Wahrheiten"  ist  nun  für  ihn  die  Theologie, 
wie  er  im  „Gespräch  mit  de  Saci"  sagt.*")  Dasselbe  ist  nach 
Havet  der  Schlüssel  zu  dem  Heiligthum  der  „Gedanken".  Es 
enthält  Pascals  Abrechnung  mit  der  Philosophie. 

Er  unterscheidet  hier  zwei  Classen  von  Philosophen:  die 
Stoiker  und  die  Pyrrhoneer.  Der  Repräsentant  der  ersteren  ist 
Epiktet,  der  der  letzteren  Montaigne.  Epiktet  hat  gut  die  Pflicht 
des  Menschen:   Gott  soll  sein  Hauptziel  sein,   schlecht  aber  seine 


^«)  Selbst  die  Religion  ist  für  das  natürliche,  noch  nicht  von  der  Gnade 
erleuchtete  Bewusstsein  nicht  gewiss;  das  ist  sie  nur  für  den  Glaubenden: 
La  religiou  n'est  pas  certaine,  11   173. 

^0  II  109.  C'est  pourquoi  ceux  a  qui  Dien  a  donne  la  religion  par 
sentiment  du  cceur,  sont  bleu  heureux  et  bien  legitimement  persuades.  Mais 
ceux  qui  ne  Tont  pas,  nous  ue  pouvous  la  donner  que  par  raisonnement  en 
attendant  que  Dieu  la  leur  donne  par  sentiment  de  cceur,  sans  quoi  la  foi 
n'est  qu'humaine  et  inutile  pour  le  salut. 

^8)  Cousin  hat  das  Bedürfniss  des  Jansenismus  dem  Pyrrhonismus  gegen- 
über bei  Pascal  nachgewiesen:  Revue  des  deux  moudes,  1845. 

Havet  I,  XIll:  Je  ne  veux  pas  dire  que  le  pyrrhonisme  ne  soit  pour 
Pascal  quune  sorte  de  fiction  ou  d'hypothese.  Non,  il  est  pyrrhonien  dans 
toute  la  sincerite  de  son  äme,  il  Test  formellement,  absolument,  audacieuse- 
ment.  .  .  Pascal  admet  tous  les  principes  du  scepticisrae,  il  en  admet  toutes 
les  consequences:  les  principes,  c'est-ä-dire  que  Thomme  ne  peut  rien  con- 
naitre  avec  certitude  ...  les  consequences,  c'est-ä-dire  qu'il  n'y  a  point  de 
science,  mais  des  opinions. 

^9)  T  172.     Le  cCBur  a  ses  raisons  que  la  raison  ne  connait  pas. 

^)  1  348.     Eutretien  de  Pascal  avec  Saci  sur  Epictete  et  Montaigne,  1654. 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  445 

Ohnmacht  erkannt,  meint  er  doch:  der  Mensch  könne,  da  Geist 
und  Willen  vollkommen  in  seiner  Macht  stehen,  Gott  erkennen, 
lieben,  gefallen,  sich  heilig  und  zum  Genossen  Gottes  machen. 
Montaigne  hat  gut  die  Ohnmacht  des  Menschen,  schlecht  aber 
seine  Pflicht  erkannt.  Er  betrachtet  den  Menschen  entblösst  von 
aller  Offenbarung.  Er  zweifelt  an  allem,  selbst  daran,  ob  er 
zweifelt.  Er  will  gar  nicht  behaupten.  Que  sais-je?  ist  seine 
Losung.  Er  ist  reiner  Pyrrhoneer.  Er  spottet  jeder  Gewissheit. 
So  hart  und  unbarmherzig  setzt  er  der  vom  Glauben  entblössten 
Vernunft  zu:  er  lässt  sie  zweifeln,  ob  sie  vernünftig  ist,  ob  die 
Thiere  es  sind  oder  nicht;  er  zwingt  sie  von  der  Stufe  der  Vor- 
züglichkeit, auf  welche  sie  sich  selbst  gestellt  hat,  herab  und 
stellt  sie  aus  Gnade  in  gleiche  Linie  mit  den  Thieren.  —  Pascal 
bekennt  seine  Freude,  in  Montaigne  die  hochraüthige  Vernunft  so 
vollständig  durch  ihre  eigenen  Waffen  aufgerieben  und  den  Menschen 
von  der  Gemeinschaft  mit  Gott,  zu  der  er  sich  kraft  der  Vernunft 
allein  erhob,  auf  die  Stufe  der  Thiere  erniedrigt  zu  sehen.  Er 
würde  den  Vollstrecker  einer  so  grossen  Rache  von  ganzem  Herzen 
lieben,  wenn  er,  als  demüthiger  Jünger  der  Kirche,  durch  den 
Glauben  die  Regeln  der  Moral  befolgt  und  jene  Menschen,  die  er 
so  heilsam  gedemüthigt  hatte,  dazu  gebracht  hätte,  nicht  durch 
neue  Versuchungen  den  zu  erzürnen,  der  allein  im  Staude  ist,  sie 
von  denen  zu  befreien,  die  sie,  wie  er  sie  überzeugt  hatte,  aus 
eigener  Kraft  nicht  einmal  erkennen  können.  Montaigne  überlässt 
aber  die  Sorge  für  das  Wahre  und  Gute  anderen  und  lebt  in  Be- 
quemlichkeit und  Ruhe.  Epiktet  und  Montaigne  sind  die  beiden 
bedeutendsten  Vertreter  der  berühmtesten  Philosophenschulen. 
Worin  besteht  ihr  Irrthum?  Pascal  antwortet:  in  der  Verkeunung 
des  Falles  des  Menschen,  Sie  wissen  nicht,  dass  der  gegenwärtige 
Zustand  des  Menschen  verschieden  ist  von  dem  seiner  Erschaffung. 
Epiktet  erkennt  nur  die  Grösse  des  Menschen  und  führt  zum  Stolz, 
Montaigne  erkennt  nur  das  Elend  des  Menschen  und  führt  zur 
Trägheit.  Grösse  uud  Elend  musste  man  aber  zusammen  erkennen, 
um  die  ganze  Wahrheit  zu  haben.  Das  ist  die  Wahrheit  des 
Evangeliums.  Sie  vereinigt  die  Gegensätze,  die  unversöhnlich  in 
den  menschlichen  Lehren  waren.     Wodurch?  Die  Weisen  der  Welt 


446  Kurt  Warmuth, 

verlegen    die   Gegensätze    in    ein    und  dasselbe  Subject:    der    eine 
schreibt  der  Menschennatur  Grösse  zu,  der  andere  Schwäche.     Der 
Glaube  aber  lehrt  uns,  die  Gegensätze  verschiedenen  Subjecten  zu 
zuertheilen:  alles  Schwache  gehört  der  Natur,  alle  Kraft  der  Gnade. 
„Diese  erstaunliche,  neue  Einigung  konnte  allein  ein  Gott  lehren  und 
bewirken:    ein  Abbild    und    eine  Wirkung  der    unaussprechlichen 
Einigung  der    beiden   Naturen    in    der  einzigen  Person    des    Gott- 
menschen."'')    So  erklärt  Pascal  die  Theologie  für  den  Mittelpunkt 
aller  Wahrheiten.*^)     Gleichwohl  hat  die  Lectüre  der  Philosophie 
ihren  Nutzen.     In  Epiktet  findet  Pascal  eine  unvergleichliche  Kraft, 
die  Ruhe  derer  zu  stören,  die  sie  in  den  äusseren  Dingen  suchen, 
um  sie    zur  Anerkennung    zu  nöthigen,    dass    sie    wahre   Sklaven 
und  elende   Blinde  sind;    dass    sie    unmöglich    etwas    anderes    als 
Schmerz  und  Irrthum,  welchem  sie  entgehen  wollen,  finden  können, 
wenn    sie    sich    nicht    ohne  Rückhalt  Gott    allein    ergeben.      Und 
Montaigne  ist  unvergleichlich,    um    den  Stolz    derer    zu   Schanden 
zu  machen,  welche  ohne  Glauben   sich   einer  wahren  Gerechtigkeit 
rühmen,  um  diejenigen  zu  enttäuschen,  welche  an  ihren  Meinungen 
festhalten  und  unabhängig  von  Gottes  Existenz   und  Vollkommen- 
heiten   in    den    Wissenschaften    unerschütterliche    Wahrheiten    zu 
finden    glauben:    unvergleichlich,    um    die    Vernunft    der    Mangel- 
haftigkeit ihres  Lichts  und  ihrei'  Verirrungen  zu  überführen. 


I.  Wissen. 

1.     Unmöglichkeit   vollständigen    und    sicheren   Wissens. 

Ein  vollständiges,  sicheres  Wissen  hält  Pascal,  der  Jansenist,  aus 
metaphysischen  und  psychologisch- ethischen  Gründen  für  unmöglich. 

Er  führt  vier  metaphysische  Gründe  an:  Erstens  erkennt  der 
Mensch  Princip  und  Ziel  der  Dinge  nicht.  Sodann  kann  er  als 
Theil  das  Ganze  nicht  erkennen,  nicht  einmal  die  Theile,  zu  denen 
er  in  einem  Verhältnisse    steht.      Ferner    kann    er    die    einfachen 


8')  I  364. 

82)  I  364.      II  est   difficile    de  ne    pas  y    (la  theologie)    entrer,    quelque 
verite  qu'on  (raito,  parce  qu'elle  est  le  centfe  de  toutes  les  verites. 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  447 

Dinge  geistiger  oder  körperlicher  Natur  nicht  erkennen,  weil  er 
aus  zwei  verschiedenartigen  Naturen,  Seele  und  Leib,  zusammen- 
gesetzt ist.  Endlich  begreift  er  weder  das  Wesen  des  Körpers, 
noch  das  des  Geistes,  noch  ihre  Vereinigung. 

In  psychologisch-ethischer  Beziehung  führt  Pascal  sechs  Mo- 
mente an,  die  unser  Wissen  gefährden:  den  Willen,  die  Krankheit, 
unser  eigenes  Interesse,  die  Einbildungskraft,  die  Gewohnheit  und 
die  Eigenliebe. 

a)  Metaphysische  Gründe. 

a)  Princip  und  Ziel  der  Dinge. 

Ueber  Princip  und  Ziel  der  Dinge  ist  der  Mensch  in  Dunkel- 
heit. Pascal  führt  dem  Menschen  die  unendliche  Grösse  und 
Kleinheit  der  Dinge  um  ihn  her  vor  Augen.  ^^)  Er  lässt  ihn  die 
Erde  sehen,  nur  ein  Punkt  im  Vergleich  zu  ihrer  Bahn,  und  diese 
selbst  wieder  nur  ein  Punkt  im  Vergleich  zu  den  Bahnen  anderer 
Gestirne,  ja  die  ganze  sichtbare  Welt  nur  ein  Punkt  im  weiten 
Bereiche  der  Natur.  Was  ist  der  Mensch  in  der  Unendlichkeit 
des  Weltalls?  Sodann  führt  er  den  Menschen  zur  Betrachtung 
einer  Milbe:  wie  klein  ihr  Körper,  „Beine  mit  Gelenken,  Adern 
in  diesen  Beinen,  Blut  in  diesen  Adern,  Flüssiges  in  diesem  Blut, 
Tropfen  in  dieser  Flüssigkeit,  Dünste  in  diesen  Tropfen."  Das 
Atom®*)  selbst  eine  Unendlichkeit  von  Weltallen,  von  denen  jedes 
sein  Firmament,  seine  Planeten,  seine  Erde  in  demselben  Verhält- 
nisse  hat    wie    die    sichtbare  Welt;    auf   dieser  Erde  Thiere    und 


83)  11  63-76.     Vgl.  I  190. 

*■»)  Pascal  kann  das  Wort  .,Atom"  hier  nicht  in  dem  gewöhnlichen,  von 
Demokrit  festgestellen  Sinne  gebraucht  haben,  denn  in  diesem  Sinne  ist  es 
nicht  nur  seiner  Natur  nach  untheilbar,  sondern  auch,  sofern  es  überhaupt 
als  ausgedehnt  betrachtet  wird,  durchaus  homogen;  es  kann  also  keine  Mannig- 
faltigkeit verschiedener  Theile  in  sich  haben.  Pascal  muss  das  Wort  hier  in 
einem  anderen  uneigentlichen  Sinn  gebraucht  haben,  im  Sinne  eines  kleinsten 
Theiles,  zu  dem  wir  in  der  Phantasie  durch  fortwährende  Theilung  —  z.  B. 
der  Milbe  —  gelangen.  Was  wir  als  ein  atome  inperceptiblc  ansehen,  weil 
es  das  Kleinste  ist,  was  wir  vorstellen  können,  ist  für  eine  weitergehende 
Betrachtung,  die  mit  dem  strengen  Begriff  der  Unendlichkeit  operirt,  möglicher 
Weise  noch  eine  Welt,  ebenso  gegliedert  wie  das  Universum  im  Grossen. 


448  Kurt  Warmuth, 

endlich  Milben.  Unser  Körper,  zuvor  im  Weltall  kaum  wahr- 
nehmbar, jetzt  ein  Koloss,  eine  Welt,  ein  All  in  Beziehung  auf 
das  Nichts.  —  So  steht  der  Mensch  zwischen  den  beiden  Ab- 
gründen des  Unendlichen  und  des  Nichts;  seine  Wissbegierde 
wandelt  sich  in  Bewunderung:  er  ist  mehr  zu  stummer  Betrachtung 
dieser  Wunder  als  zu  hochmüthiger  Erforschung  derselben  geneigt. 
„Was  ist  der  Mensch  in  der  Natur?  Ein  Nichts  im  Vergleich  zum 
Unendlichen,  ein  All  im  Vergleich  zum  Nichts,  ein  Mittelding 
zwischen  dem  Nichts  und  dem  All.  Unendlich  entfernt  vom  Be- 
greifen der  entgegengesetzten  Dinge  —  Ende  und  Grund  der  Dinge 
ist  in  einem  undurchdringbaren  Dunkel  unerreichbar  für  ihn  ver- 
borgen — ,  ist  er  ebenso  unfähig,  das  Nichts  zu  erkennen,  aus 
dem  er  hervorgegangen  ist,  als  das  Unendliche,  worin  er  sich  ver- 
liert." Wir  nehmen  nur  einen  Schein  der  Mitte  der  Dinge  wahr, 
ohne  je  zur  Erkenntniss  ihres  Anfangs  oder  Endes  zu  gelangen. 
„Alle  Dinge  sind  aus  dem  Nichts  hervorgegangen  und  erheben 
sich  bis  zur  Unendlichkeit.  Wer  wird  diese  stauuenswerthen  Stufen 
verfolgen?  Der  Schöpfer  dieser  Wunder  erfasst  sie,  jeder  andere 
vermag  es  nicht,"  Wie  aumasseud,  den  Grund  der  Dinge  erfassen 
und  dahin  gelangen  zu  wollen,  alles  zu  erkennen!  Alle  Wissen- 
schaften sind  in  dem  Umfang  ihrer  Untersuchungen  unendlich. 
Die  Geometrie  z.  B.  hat  eine  Unendlichkeit  von  Unendlichkeiten 
von  Sätzen  zu  beweisen.  Die,  welche  man  als  die  letzten  auf- 
stellt, gründen  sich  nicht  auf  sich  selbst,  sondern  haben  wieder  in 
anderen  ihre  Begründung;  wir  aber  machen  zu  den  letzten  die- 
jenigen, welche  dem  Verstand  also  erscheinen.  Wer  die  letzten 
Principien  der  Dinge  begriflen  hätte,  könnte  auch  das  Unendliche 
erkennen;  das  eine  hängt  vom  anderen  ab,  das  eine  führt  zum 
anderen;  die  äussersten  Gegensätze  berühren  sich  und  stossen  zu- 
sammen, nachdem  sie  sich  von  einander  getrennt  hatten,  um  sich 
in  Gott  und  in  Gott  allein  wieder  zu  finden.  Unsere  Erkenntniss 
nimmt  in  der  Reihe  der  erkennbaren  Dinge  denselben  Platz  ein 
wie  unser  Körper  in  der  Ausdehnung  der  Natur."  Unser  Zustand 
hält  die  Mitte  zwischen  den  äussersten  Gegensätzen.  Das  zeigt 
sich  bei  all  unseren  Fähigkeiten.  Unsere  Sinne  vernehmen  nichts 
Extremes,     Dieser  Zustand  macht  uns  unfähig,   mit  Gewissheit  zu 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  449 

wissen  und  schlechthin  nicht  zu  wissen.  Wir  bewegen  uns  auf 
einer  weiten  Fläche  in  der  Mitte,  stets  ungewiss  und  schwankend, 
von  einem  Ende  zum  anderen  getrieben.  Wo  wir  irgend  einen 
Halt  zu  erreichen  und  uns  dort  zu  befestigen  gedenken,  da  weicht 
er  und  verlässt  uns,  und  wenn  wir  ihm  folgen,  so  entgleitet  er 
unter  unseren  Händen,  er  entschlüpft  und  flieht  in  ewiger  Flucht. 
Nichts  hält  für  uns  Stand.  Das  ist  unser  natürlicher  Zustand, 
der  indessen  unserer  Neigung  am  meisten  zuwider  ist:  wir  brennen 
vor  V^erlangen,  einen  festen  Standpunkt  und  eine  letzte,  dauernde 
Grundlage  zu  gewinnen,  um  darauf  einen  Thurm  zu  bauen,  der 
sich  bis  ins  Unendliche  erhebt:  aber  all  unsere  Grundlegung  bricht 
zusammen,  und  die  Erde  öffnet  sich  bis  zu  den  Abgründen.  Lasst 
uns  also  keine  Sicherheit  und  keine  Gewissheit  suchen!  Unsere 
Vernunft  wird  stets  durch  die  Unbeständigkeit  der  Erscheinungen 
getäuscht,  nichts  kann  das  Endliche  zwischen  den  beiden  Unend- 
lichkeiten festhalten,  die  dasselbe  einschliesseu  und  fliehen. 

ß)  Theil  und  Ganzes. 

Als  Theil  kann  der  Mensch  nicht  das  Ganze  erkennen,  nicht 
einmal  die  Theile,  zu  denen  er  in  einem  Verhältnisse  steht.  ^^) 
Denn  die  Theile  der  VV^elt  hängen  untereinander  zusammen,  sodass 
es  unmöglich  ist,  das  eine  ohne  das  Ganze  zu  erkennen.  Der 
Mensch  steht  z.  B.  im  Verhältniss  zu  allem  diesen,  was  er  kennt., 
Er  bedarf  des  Raumes,  um  sich  darin  zu  bewegen;  der  Zeit,  um 
zu  bestehen;  der  Bewegung,  um  zu  leben;  der  Elemente,  aus 
denen  er  besteht;  der  Wärme  und  Nahrung,  die  ihn  erhält;  der 
Luft,  um  zu  athmen.  Er  sieht  das  Licht,  er  fühlt  die  Körper, 
kurz,  alles  tritt  mit  ihm  in  Berührung.  Zur  Erkenutniss  des 
Menschen  ist  es  nöthig  zu  wissen,  woher  es  kommt,  dass  er  für 
sein  Bestehen  der  Luft  bedarf,  und  zur  Erkenutniss  der  Luft  muss 
man  wissen,  in  welcher  Beziehung  sie  zum  Leben  des  Menschen 
steht.  Die  Flamme  besteht  nicht  ohne  Luft;  um  also  jene  zu  er- 
kennen, muss  man  auch  diese  kennen. 


9Ö) 


450  Kurt  Warmuth, 

7)  Die  einfachen  Dinge. 

Der  Mensch  kann  die  einfachen  Dinge  geistiger  oder  körper- 
licher Natur  nicht  erkennen,  weil  er  aus  zwei  verschiedenen  Na- 
turen, Seele  und  Leib,  zusammengesetzt  ist.  *®) 

Die  Dinge  sind  in  sich  selbst  einfach;  wir  aber  sind  aus  zwei 
entgegengesetzten,  verschiedenartigen  Naturen  zusammengesetzt: 
aus  Seele  und  Leib..  Wir  geben  allen  einfachen  Dingen,  tue  wir 
betrachten,  unser  zusammengesetztes  Gepräge.  Die  Philosophen 
reden  von  sinnlichen  Dingen  geistig  und  von  geistigen  Dingen 
sinnlich,  z.B.  die  Körper  haben  Sympathien  und  Antipathien, 
oder  sie  betrachten  geistige  Wesen  als  räumlich  und  legen  ihnen 
Bewegung  bei. 

0)  Körper  und  Geist. 

Der  Mensch  begreift  nicht,  was  Körper  und  Geist  an  sich  ist, 
viel  weniger,  was  ihre  Vereinigung  ist.  „Der  Mensch  ist  sich 
selbst  der  wunderbarste  Gegenstand  der  Natur:  denn  er 
kann  nicht  fassen,  was  ein  Körper  ist,  noch  viel  weniger,  was  ein 
Geist  ist,  und  am  allerwenigsten,  wie  ein  Körper  mit  einem  Geiste 
vereinigt  sein  kann".^^) 

b)  Psychologisch-ethische  Gründe. 

ot)  Der  Wille. 

Der    Wille    mit    seinen    Launen    und    Neigungen  verdunkelt 

unser  Wissen.     Dem   Willen    gefällt    bald  diese,    bald  jene    Seite 

einer  Sache:    er  lenkt  den  Geist    von   der  Betrachtung  derjenigen 
ab,  die  ihm  nicht  gefällt;  der  Geist  leistet  Folge.**) 


»6)  II  74.         ")  II  74. 

"*)  I  223.  224.  La  volonte  est  un  des  priucipaux  organes  de  la  creance; 
non  qu'elle  forme  la  creance,  mais  parce  que  ies  choses  sont  vraies  ou  fausses, 
seien  la  face  par  oü  on  Ies  regarde.  La  volonte.  <]ui  se  plait  ä  l'une  plus 
qu'ä  Tautre,  detourne  l'esprit  de  considerer  Ies  qualites  de  Celles  qu'elle 
n'airae  pas  ä  voir:  et  ainsi  l'esprit,  marchant  dune  piece  avec  la  volonte, 
s'arrete  ä  regarder  la  face  quVlle  ainie  et  ainsi  il  eu  juge  par  ce  qu'il  y 
voit.  —  Tout  nolre  raisonnemcnt  sc  reduit  ä  ceder  au  sentiment. 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  451 

ß)  Die  Krankheit. 

Auch  die  Krankheiten  sind  eine  Quelle  des  Irrthums.  Sie 
üben  uachtheiligen  Einfluss  auf  Urtheil  und  Sinne.  Bedeutende 
Krankheiten  erschüttern  sie  sichtbar,  geringere  schwächer.") 

'()  Unser  eigenes  Interesse. 

Ferner  besticht  uns  unser  eigenes  Interesse.'")  „Selbst  der 
redlichste  Mann  von  der  Welt  darf  nicht  in  seiner  eigenen  Sache 
Richter  sein;  ich  kenne  welche,  die.  um  nicht  in  diese  Eigenliebe 
zu  fallen,  auf  verkehrte  Weise  die  Ungerechtesten  wurden.  Ein 
sicheres  Mittel,  einen  ganz  gerechten  Handel  zu  verlieren,  war  es, 
wenn  man  ihn  durch  die  nächsten  Freunde  anempfehlen  liess. 
Die  Gerechtigkeit  und  Wahrheit  sind  zwei  so  feine  Spitzen, 
dass  unsere  Werkzeuge  zu  stumpf  sind,  um  sie  genau  zu  treffen. 
Wenn  sie  dieselben  berühren,  so  drücken  sie  die  Spitze  breit  und 
stützen  sich  rings  umher  mehr  auf  das  Falsche  als  auf  das  Wahre. '^ 

Wenn  man  einem  anderen  eine  Sache  zur  Beurtheilung  vor- 
trägt, trübt  man  bereits  sein  Urtheil  durch  die  Art  und  Weise 
des  Vortrags:  besser  ist,  nichts  dabei  zu  sagen  und  selbst  auf 
Miene  und  Stimme  in  scharfer  Selbstzucht  zu  achten. 

8)  Die  Einbildungskraft. 

Die  Einbildungskraft '0  ist  eine  „Meisterin  des  Irrthums  und 
der  Unwahrheit",  eine  Feindin  der  Vernunft.  Sie  bildet  im 
Menschen  gewissermaassen  eine  zweite  Natur.  Sie  lässt  die  Ver- 
nunft glauben,  zweifeln,  verwerfen;  sie  hebt  die  Thätigkeit  der 
Sinne  auf  und  lässt  sie  fühlen.  Sie  macht  selbstzufrieden  und 
selbstvertrauend.  Sie  vergrössert  das  Kleine  und  verkleinert  das 
Grosse. '') 

Pascal  führt  einige  Beispiele  an.  Er  zeichnet  einen  ehr- 
würdigen Richter,    der  sich  scheinbar    nur  durch    reine,    erhabene 


*9)  II  53.  Xous  avons  un  autre  principe  d'erreur,  les  maladies.  Elles 
nous  gätent  le  jugeraent  et  le  sens.  Et  si  les  grandes  l'alterent  sensiblement, 
je  ne  doute   point  que    les  petites    n'y   fassent   irapressiou   ä  leur  proportion 

PO)  II  53.  54.         ")  II  47  ff. 

92)  11  23,  1  200. 


452  Kurt  Warmuth, 

Gründe  bestimmea  lässt  und  die  Dinge  nach  ihrem  Wesen  richtet, 
ohne  sich  von  den  geringfügigen  Umständen  bestimmen  zu  lassen, 
die  nur  auf  die  Einbildungskraft  der  Schwachen  Einfluss  haben; 
er  hört  einen  Prediger  mit  heiserer  Stimme,  seltsamer  Gesichts- 
bildung oder  schlechtrasirtem  Kinn:  was  für  grosse  Wahrheiten 
er  auch  vorbringen  mag,  der  Ernst  unseres  Senators  ist  dahin! 

Der  grösste  Philosoph  der  Welt,  auf  ein  sicheres  Brett  über 
einen  Abgrund  gestellt,  erblasst  und  geräth  in  Angstschweiss,  ob- 
wohl seine  Vernunft  ihn  von  seiner  Sicherheit  überzeugt. 

Der  Menschengeist,  der  alles  beurtheilen  zu  können  glaubt, 
wird  durch  eine  Fliege,  die  ihm  vor  den  Ohren  summt,  gutes 
Rathes  unfähig.  „Wollt  ihr,  dass  er  die  Wahrheit  finde,  so  ver- 
jagt jenes  Thier,  das  sein  Urtheil  gefangen  hält  und  diesen  ge- 
waltigen Geist,  der  Städte  und  Königreiche  regiert,  verwirrt!" 

Der  Anblick  von  Katzen  und  Ratten,  das  Zertreten  von  Kohle 
bringt  den  Geist  ausser  Fassung. 

Liebe  und  Hass  ändern  das  Recht,  „Wieviel  gerechter 
findet  ein  zum  Voraus  gut  bezahlter  Advocat  die  Sache,  die  er 
führt!  Um  wieviel  besser  erscheint  er  wegen  seiner  kühnen  Gesti- 
culation  den  durch  diesen  Schein  betrogenen  Richtern !  Seltsame 
Vernunft,  die  sich  von  jedem  Winde  nach  einer  anderen  Seite 
treiben  lässt!'^ 

Die  Einbildungskraft  lässt  sich  durch  den  Schein  blenden. 
Die  Rechtsgelchrten  beherrschen  die  Welt  durch  ilire  Talare  und 
Hermeline,  die  Aerzte  erlangen  Geltung  durch  ihre  langen  Röcke 
und  Sammetpantoffeln. 

Die  Einbildungskraft  gebietet  über  alles:  sie  macht  die  Schön- 
heit, das  Recht,  das  Glück.     Sie  ist  die  Königin  der  Welt. 

s)  Die  Gewohnheit. 

Die  Gewohnheit  bestimmt  den  Menschen  bei  der  Wahl  des 
Berufs. ") 

Gewohnheit  und  Vorurtheil  beherrschen  ihn:  Türken,  Ketzer 
und  Ungläubige  gehen  den  Weg  der  Väter  in  dem  Vorurtheil,  er 
sei  der  beste.®*) 


»=>)  II  56.         ^*)  11  55. 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  453 

Die  Gewohnheit  entscheidet  über  Recht  und  Unrecht.'^)  Der 
Mensch  kennt  die  wahre  Gerechtigkeit  nicht,  sonst  würde  sie  bei 
allen  Völkern  und  in  allen  Ländern  herrschen.  Jetzt  aber  hat 
jedes  Land  seine  eigenen  Gesetze,  denen  jeder  Unterthan  folgen 
niuss.  Kein  Gesetz  hat  allgemein  Gültigkeit.  Diebstahl,  Blut- 
schande, Unzucht,  Kinder-  und  Vatermord:  alles  hat  man  schon 
für  tugendhaft  gehalten.  Die  Definition  der  Gerechtigkeit  schwankt: 
man  fasst  sie  bald  als  Autorität  des  Gesetzgebers,  bald  als  Be- 
quemlichkeit des  Herrschers,  bald  als  herrschende  Sitte;  letzteres 
ist  das  Sicherste.  Die  Gewohnheit  schafft  alle  Gerechtigkeit;  sie 
ist  der  geheimnisvolle  Grund  ihrer  Autorität  Man  rauss  den  Ge- 
setzen folgen,  weil  es  Gesetze  sind,  nicht  weil  sie  wahr  oder  ge- 
recht seien;  denn  wir  verstehen  uns  nicht  auf  die  Wahrheit  und 
Gerechtigkeit.  Das  Volk  allerdings  gehorcht  den  Gesetzen  nur, 
weil  es  sie  für  gerecht  hält.  —  Selbst  die  natürlichen  Principien 
sind  nur  angewöhnte.  Kurz:  die  Gewohnheit  ist  die  zweite  Natur 
des  Menschen,  welche  die  erste  zerstört. 

C)  Die  Eigenliebe. 

Die  Eigenliebe  ^^)  erzeugt  in  uns  einen  tötlichen  Hass  gegen 
die  Wahrheit.  Wir  wollen  nicht,  dass  man  uns  tadelt  und  unsere 
Mängel  aufdeckt;  wir  verbergen  sie  anderen  und  uns  selbst.  Wir 
hüten  uns,  andere  zu  tadeln  und  thun  es  höchstens  unter  Bei- 
mischung von  Milderungen  und  Lobsprüchen.  Namentlich  erfahren 
die  Grossen  der  Erde  nie  die  Wahrheit.  So  ist  das  menschliche 
Leben  nur  eine  fortlaufende  Täuschung,  niemand  spricht  in  unserer 
Gegenwart  so  von  uns,  wie  er  in  unserer  Abwesenheit  von  uns 
redet.  „Der  Mensch  ist  also  nur  Verstellung,  Lüge  und  Heuchelei 
in  Bezug  auf  sich  selbst  und  in  seinen  Beziehungen  zu  anderen. 
Er  will  nicht,  da.ss  man  ihm  die  Wahrheit  sage;  er  vermeidet,  sie 
anderen  zu  sagen,  und  diese  Gesinnung,  soweit  von  Gerechtigkeit 
und  Vernunft  entfernt,  hat  in  seinem  Herzen  eine  natürliche 
Wurzel.« 


95)  IT  126fF.        9«)  11  56  ff.  cf.  I  207. 


4f>4  ^nr\  Wartnutli, 

2.  Der  Mensch,  das  wahre  Studium  des  Menschen. 
Das  für  den  Menschen  angemessene  Studium  ist  der  Mensch.") 
„Wenn  der  Mensch  vorerst  sich  erforschte,  würde  er  einsehen,  wie 
unfähig  er  ist,  darüber  hinauszugehen.^')  Bei  sich  soll  er  mit 
seinem  Denken  anfangen:  das  ist  die  rechte  Ordnung  des  Denkens. 
Freilich  die  Welt  denkt  nur  an  Nichtigkeiten.'')  In  einem  ge- 
waltigen Gemälde  zeichnet  Pascal  den  natürlichen  Zustand  des 
Menschen.'"")  „Wenn  ich  die  Blindheit  und  das  Elend  des 
Menschen  ansehe  und  betrachte,  wie  das  ganze  stumme  Universum 
und  der  Mensch  ohne  Licht  sich  selbst  überlassen  ist,  wie  verirrt 
in  diesen  Winkel  der  Welt,  ohne  zu  wissen,  wer  ihn  hierher  ge- 
setzt hat,  was  er  hier  thun  soll,  was  aus  ihm  bei  seinem  Tode 
werden  wird,  unfähig  jeder  Erkenntniss:  so  erfasst  mich  ein  Schauer, 
wie  einen  Menschen,  den  man  während  des  Schlafes  auf  eine 
verlassene,  schreckliche  Insel  getragen  hätte,  und  der  beim  Er- 
wachen nicht  wüsste,  wo  er  ist,  und  wie  er  von  dort  fort  kommen 
soll.  Ich  bin  erstaunt,  dass  man  über  einen  so  unglücklichen  Zu- 
stand nicht  in  Verzweiflung  geräth.  Ich  sehe  um  mich  her  andere 
in  demselben  Znstand;  ich  frage  sie,  ob  sie  besser  unterrichtet 
sind  als  ich;  sie  sagen  nein,  und  ich  sah  dann  diese  unglücklichen 
Verirrten  rings  um  sich  her  schauen,  und  da  sie  hie  und  da  Gegen- 
stände erblickten,  die  ihnen  gefielen,  so  gaben  sie  sich  ihnen  hin 
und  Hessen  sich  von  ihnen  fesseln." 

Wenn  sich  nun  der  Mensch  betrachtet,  so  erkennt  er  seinen 
elenden  Zustand:  „Der  Zustand  des  Menschen  ist  Unbeständigkeit 
Missbehagen,  Unruhe'"')."  Er  sieht  sich  voll  von  Gegensätzen: 
„Wir  sehnen  uns  nach  Wahrheit  und  finden  in  uns  nur  Ungewiss- 
heit".*°^)     Im  Gegensatz   zur  wirklichen  Wahrheit,   die  ganz  rein 


97)  I  199. 

98)  11  72. 

99)  II  85.  L'liomme  est  visiblement  fait  poiir  penser;  c'est  toute  sa 
tlignite  et  tout  son  m^rite,  et  tout  son  devoir  est  de  penser,  comme  il  faut: 
or  l'ordre  de  la  pensee  est  de  commencer  par  soi  et  par  son  auteur  el  sa 
fin.  Or,  ä  quoi  pense  le  inonde?  Jamais  Ji  cela:  mais  h  danser,  a  jouer  du 
luth,  ä  chanter,  ä  faire  des  vers,  ä  courir  la  bague  etc.  ä  se  bätir,  ä  se  faire 
roi,  Sans  penser  k  ce  que  c'est  qu'etre  roi  et  qu  etre  homme. 

'00)  II  269.         'Ol)  l[  41.         102)  II  88. 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  455 

und  wahr  ist,  giebt  es  für  den  natürlichen  Menschen  nichts  absolut 
Wahres,  alles  ist  zum  Theil  wahr,  zum  Theil  falsch;  Pascal  zeigt 
dies  an  dem  Gebot  der  Keuschheit  und  an  dem  Gebot,  nicht  zu 
tödten. '")  „Wir  suchen  das  Glück  und  finden  nur  Elend  und 
Tod.  Wir  sind  nicht  im  Stande,  uns  Wahrheit  und  Glück  nicht 
zu  wünschen  und  sind  dennoch  für  Gewissheit  und  Glück  unfähig^.  '"^) 

Aber  darin,  dass  der  Mensch  sein  Elend  erkennt,  besteht  seine 
Grösse:  „Die  Grösse  des  Menschen  zeigt  sich  eben  darin,  dass  er 
sich  seines  Elends  bewusst  ist.  Ein  Baum  ist  sich  seines  Elends 
nicht  bewusst.  Darin  besteht  mithin  das  Elendsein,  sich  des  Elends 
bewusst  sein;  aber  darin  besteht  die  Grösse,  zu  erkennen,  dass 
man  elend  ist".'"') 

Mit  Meisterhand  zeichnet  Pascal  das  Elend  des  Menschen; 
manche  Gedanken  erinnern  an  Byron  und  Schopenhauer.  So  ver- 
gleicht er  z.  B.  die  Menschen  mit  einer  Anzahl  gefesselter  Ver- 
brecher, von  welchen  jeden  Morgen  ein  Theil  vor  den  Augen  der 
anderen  hingewürgt  wird,  die  hoffnungslos  ihr  Schicksal  voraus- 
sehen. >"0 

Der  Mensch  sucht  nach  Betäubungsmitteln  seines  Elends '°'): 
sie  bestehen  in  Sorge  um  Ehre  und  Vermögen,  Arbeit  und  Genuss, 
Unterhaltung  und  Spiel,  Geräusch  und  Unruhe,  obwohl  sein  wahres 
Glück  in  der  Ruhe  besteht.  All  diese  Zerstreuungen  hindern  den 
Menschen,  über  sich  und  sein  Elend  nachzudenken,  denn  nichts  ist 
ihm  unerträglicher  als  solche  Selbstbetrachtung:  „Nichts  ist  dem 
Menschen  so  unerträglich,  als  sich  in  völliger  Ruhe  zu  befinden, 
ohne  Leidenschaft,  ohne  Beschäftigung,  ohne  Zerstreuung,  ohne 
Anstrengung.  Er  fühlt  alsdann  seine  Nichtigkeit,  seine  Verlassen- 
heit, seine  Unzulänglichkeit,  seine  Abhängigkeit,  seine  Ohnmacht, 
seine  Leere.  I^naufhörlich  wird  aus  dem  Grunde  seiner  Seele  auf- 
steigen Missbehagen,  Böswilligkeit,  Traurigkeit,  Angst,  Aerger, 
Verzweiflung«.  "') 

So  ist  Zerstreuung  eigentlich  sein  grösstes  LTnglück;  ohne  sie 
würde  er  Missbehagen  empfinden,  und  dies  würde  ihn  antreiben, 
ein  wahrhaftiges  Heilmittel  zu  suchen:  „Das  Einzige,  was  uns  über 


103;  II  97.     10*3  II  88.      '0^)  II  82.      w«)  11  23.     '"')  II  31  ff.      '«*)  II  42. 


456  Kiut  Warmuth, 

unser  Elend  tröstet,  ist  die  Zerstreuung,  und  doch  ist  eben  sie  für 
uns  das  grösste  Unglück.  Denn  sie  ist  es,  die  uns  hauptsächlich 
daran  hindert,  über  uns  nachzudenken,  und  die  uns  unmerklich 
untergehen  lässt.  Ohne  sie  würden  wir  uns  in  Missbehagen  be- 
finden, und  dies  Missbehagen  würde  uns  dazu  antreiben,  ein  wahr- 
haftigeres Mittel  zu  suchen,  um  demselben  zu  entgehen.  Aber  die 
Zerstreuung  unterhält  uns  und  lässt  uns  unmerklich  dem  Tode 
entgegengehen".  "*') 

In  sich  selbst  findet  der  Mensch  das  Heilmittel  nicht;  die 
Philosophen  versprechen  es  zwar,  aber  ihre  Recepte  sind  wirkungs- 
los, kennen  sie  doch  nicht  einmal  die  Krankheit:  „Es  ist  vergeb- 
lich, Menschen,  dass  ihr  in  euch  selbst  das  Heilmittel  gegen  euer 
Elend  sucht.  Alle  eure  Geisteskraft  vermag  nicht  zu  der  Erkennt- 
niss  zu  gelangen,  dass  ihr  in  euch  selbst  weder  die  Wahrheit 
noch  das  ewige  Gut  finden  werdet.  Die  Philosophen  haben  es 
euch  versprochen,  und  sie  haben  es  nicht  halten  können.  Sie 
wissen  weder,  was  euer  wahrhaftes  Gut  ist,  noch  was  euer  wahrer 
Zustand  ist.  Wie  hätten  sie  gegen  eure  Uebel  Heilmittel  geben 
sollen,  da  sie  jene  nicht  einmal  erkannt  haben?" '^°) 

Mit  einem  Wort:  den  Grund  des  Elends  in  geistiger  und  sitt- 
licher Beziehung  kann  der  natürliche  Mensch  nicht  erkennen; 
Gott  allein  kann  ihn  darüber  aufklären:  „Erkenne  also,  o  Stolzer, 
welches  Paradoxon  du  dir  selber  bist!  Demüthige  dich,  ohnmächtige 
Vernunft,  schweige,  schwache  Natur;  lerne,  dass  der  Mensch  un- 
endlich über  sich  erhaben  ist,  und  erfahre  von  deinem  Lehrer  den 
wirklichen  Zustand,  den  du  nicht  kennst.  Vernimm  die  Stimme 
Gottes!"'") 

3.    Der  letzte  Schritt  der   Vernunft,  ihre  Unterwerfung. 

Selbsterkenntniss  lehrt  Selbstbescheidung.  Der  letzte  Schritt 
der  Vernunft  besteht  in  ihrer  Unterwerfung:  sie  muss  anerkennen, 
dass  unendlich  viel  Dinge  ihre  Kraft  übersteigen,  und  zwar  schon 
auf  natürlichem  Gebiet,  wieviel  mehr  auf  übernatürlichem."^) 

Freilich  w^ürde  sie  sich  nicht  unterwerfen,  wenn  sie  nicht  ein- 
sähe, dass  sie  es  müsse.     Der  heilige  Augustin  sagt:  „Die  Vernunft 


109)  II  40.       "°)  II  147.       '")  II  104.       "2)  II  347. 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  457 

würde  sich  nie  unterwerfen,  wenn  sie  nicht  einsähe,  dass  es  Fälle 
giebt,  wo  sie  sich  unterwerfen  muss.  Es  ist  also  recht,  dass  sie 
sich  unterwirft,  wenn  sie  einsieht,  dass  sie  sich  unterwerfen  muss. 
Es  giebt  nichts,  was  so  sehr  der  Vernunft  entspricht  als  diese  Ver- 
leugnung der  Vernunft"."^) 

Man  muss  eben  dreierlei  thun,  je  nach  Nothwendigkeit: 
zweifeln,  behaupten  und  sich  unterwerfen.  Wer  das  nicht  thut, 
kennt  nicht  die  Kraft  der  Vernunft.  Manche  behaupten  alles: 
aber  sie  können  nicht  alles  beweisen.  Andere  zweifeln  an  allem: 
sie  wissen  nicht,  wo  sie  sich  unterwerfen  müssen.  Wieder  andere 
unterwerfen  sich  in  allem,  weil  sie  nicht  wissen,  wo  man  urtheilen 
muss.  ' '  ^) 

Nur  durch  Unterwerfung  der  Vernunft  ist  wahre  Selbst- 
crkenntniss  möglich:  „Gott  hat,  um  sich  allein  das  Recht  vorzu- 
behalten, uns  zu  belehren  und  uns  die  Schwierigkeit  unseres  Da- 
seins unerklärlich  zu  machen,  uns  den  Knoten  desselben  so  hoch 
oder  vielmehr  so  tief  verborgen,  dass  wir  nicht  im  Stande  waren, 
dahin  zu  gelangen,  sodass  es  nicht  durch  die  Anstrengung  unserer 
Vernunft,  sondern  nur  durch  die  einfache  Unterwerfung  der  Ver- 
nunft möglich  ist,  dass  wir  uns  wahrhaft  kennen  lernen  können". '^^) 

Pascal  freut  sich,  die  stolze  Vernunft  gedemiithigt  und  bittend 
zu  sehen.  ^'^) 

II.  Glauben. 

1.    Inhalt  des  Glaubens, 
a)  Christus. 

Der  Inhalt  des  Glaubens  ist  Christus.  Er  ist  der  Versöhner 
der  Menschheit  mit  Gott.  In  Christo  belehrt  uns  Gott  über  sich 
und  uns;  wir  erkennen  in  Christo  Gott  und  unser  Elend.  "^)     „Die 

i'^»)  II  348).       "^)  II  347.        '15)  II  352.       "G)  11  135. 

'■')  II  356. 

II  115.  On  ne  peut  connaitre  Jesus-Christ  sans  connaitre  tout  eu- 
semble  Dieu  et  sa  misere. 

II  315.  La  connaissance  de  Dieu  sans  celle  de  sa  misere  fait  Torf^neil. 
La  connaissance  de  sa  misere  sans  celle  de  Dieu  fait  le  desespoir.  La  con- 
naissance de  Jesus- Christ  fait  le  milieu  parce  que  nous  y  trouvons  et  IMeu 
et  notre  misere. 

Archiv  f.  Geschiebte  d.  Philosophie.    XV,  4.  32 


458  Kurt  Warmuth, 

christliche  Religion  besteht  wesentlich  in  dem  Geheimnisse  des 
Erlösers,  der  durch  die  Vereinigung  der  beiden  Naturen,  der 
menschlichen  und  der  göttlichen,  in  sich  die  Menschen  aus  dem 
Verderben  der  Sünde  befreit  hat,  um  sie  in  seiner  göttlichen  Person 
mit  Gott  zu  versöhnen.  Dieselbe  lässt  demnach  die  Menschen 
beide  Wahrheiten  erkennen,  sowohl  dass  ein  Gott  da  ist,  für  den 
die  Menschen  empfänglich  sind,  als  auch  dass  in  ihrer  Natur  eine 
Verderbniss  ist,  die  sie  dessen  unwürdig  macht.  Es  ist  für  die 
Menschen  gleich  wichtig,  beide  Punkte  zu  erkennen;  und  es  ist 
gleich  gefährlich  für  den  Menschen,  Gott  zu  erkennen,  ohne  sein 
Elend  zu  kennen,  und  sein  Elend  zu  erkennen,  ohne  den  Erlöser 
zu  erkennen,  der  ihn  davon  zu  heilen  vermag.  Eine  einzelne  von 
diesen  beiden  Erkenntnissen  bringt  entweder  den  Stolz  der  Welt- 
weisen hervor,  die  Gott  erkannt,  aber  nicht  ihr  Elend,  oder  die 
Verzweiflung  der  Gottesleugner,  die  ihr  Elend  erkennen  ohne  einen 
Erlöser  von  demselben.  Wie  es  nun  gleichermaassen  das  Be- 
diirfniss  des  Menschen  ist,  diese  beiden  Wahrheiten  zu  erkennen, 
so  entspricht  es  in  derselben  Weise  der  Barmherzigkeit  Gottes, 
dass  er  sie  uns  hat  erkennen  lassen.  Dies  thut  die  christliche 
Religion,  und  darin  besteht  sie."  Aus  diesen  beiden  Wahrheiten 
Erkenntniss  Gottes  und  unseres  Elends,  besteht  der  Glaube,  das 
Christeuthum.  „Aller  Glaube  besteht  in  Jesus  Christus  und  in 
Adam;  und  alle  Sittenlehre  in  der  bösen  Lust  und  in  der  Gnade".  "^) 
Jesus  Christus  ist  der  wahrhaftige  Gott  der  Menschen :  „Wir 
erkennen  Gott  nur  durch  Jesum  Christum.  Ohne  diesen  Vermittler 
ist  alle  Gemeinschaft  mit  Gott  aufgehoben ;  durch  Jesum  Christum 
kennen  wir  Gott.  Alle,  welche  geraeint  haben,  ohne  Jesus  Christus 
Gott  zu  erkennen  und  ihn  zu  beweisen,  hatten  nur  schwache  Be- 
weise. Um  aber  Jesum  Christum  zu  beweisen,  haben  wir  die 
Weissagungen,  welche  kräftige  und  sprechende  Beweise  sind.  Und 
diese  Weissagungen,  die  erfüllt  und  durch  den  Erfolg  als  wahr 
bewährt  dastehen,    geben   die  Gewissheit    von    diesen    Wahrheiten 


"8)  II  369. 

II  35.'}.  La  religion  chretienne  consiste  en  deux  points:  il  importe 
egaleiuent  aux  hommes  de  les  connaitre  et  il  est  ögalement  dangereux  de  les 
ignorer.     Vgl.  I  10. 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  459 

und  in  Folge  dessen  den  Beweis  von  der  Göttlichkeit  Jesu  Christi. 
In  ihm  und  durch  ihn  erkennen  wir  also  Gott.  Ohne  ihn  und 
ohne  die  Schrift,  ohne  die  Erbsünde,  ohne  den  verheisseuen  und 
erschienenen  nothwendigen  Mittler  vermag  man  weder  Gott  zu  be- 
weisen noch  wahrhaften  Glauben  noch  wahre  Sittlichkeit  zu  lehren. 
Aber  durch  Jesum  Christum  und  in  Jesu  Christo  beweist  man 
Gott  und  lehrt  man  Sittlichkeit  und  Glauben.  Jesus  Christus  ist 
also  der  wahrhaftige  Gott  der  Menschen".^'')  Diesem  Gotte  naht 
man  sich  ohne  Stolz,  und  vor  ihm  demiithigt  man  sich  ohne  Ver- 
zweiflung.""') 

Sein  Werk  besteht  darin,  dass  er  die  Menschen  Selbsterkennt- 
niss  lehrt  und  ihnen  die  Erlösung  bietet:  „Jesus  Christus  hat  nichts 
anderes  gethan  als  die  Menschen  gelehrt,  dass  sie  sich  selbst  lieben, 
dass  sie  Sklaven,  Blinde,  krank,  elend  und  sündig  wären;  dass  es 
nöthig  sei,  dass  er  sie  erlöse,  erleuchte,  beselige  und  heile;  dass 
dies  geschehen  würde,  wenn  sie  sich  selbst  hassten  und  ihm  durch 
Leiden  und  Kreuzestod  folgen  würden". '^^) 

Er  ist  die  Wahrheit:  der  Weg  zu  Gott  besteht  darin:  zu 
wollen,  was  Gott  will;  Jesus  Christus  allein  führt  zu  ihm,  der  Weg, 
die  Wahrheit.  ^^^) 

Der  grösste  Beweis  für  Jesus  Christus  sind  die  Weissagungen.  '^^) 
Er  selbst  beweist,  dass  er  der  Messias  war,  durch  seine  Wunder."*) 

Pascals  tiefe  Liebe  zu  Christo  offenbart  sich  in  dem  wunder- 
baren Zwiegespräch  „Mystere  de  Jesus".  Er  steht  zu  dem  Herrn 
in  einem  innigen  persönlichen  Verhältniss,  er  unterhält  mit  ihm 
einen    lebhaften   Verkehr.      Er  steht  mit    ihm    sozusagen    auf   du 


i>9)  II  316.       '20)  II  314.      '2')  II  315. 

II  318.  Jesus-Christ  vieut  dire  aux  hommes  qu'ils  n'out  point  d'autres 
ennemis  qu'eux-memes;  que  ce  sont  leurs  passions  qui  les  separeut  de  Dieu; 
qu'il  vient  poiir  les  detruire  et  pour  Jeur  donner  sa  gruce,  afiu  de  faire  d'eux 
tous  une  Eglise  sainte. 

'22)  II  315. 

II  158.  La  corruption  de  la  raison  parait  par  taut  de  difft'rentes  et 
extravagantes  ma?urs.  11  a  fallu  que  la  Verite  soit  venue,  afin  que  rhomme 
ne  vequit  i)lus  en  soi-meme. 

'23)    II    270.  '24)    II    92G. 

32* 


460  Kurt  Warmuth, 

und  du,  er  umschlingt  das  Kreuz  auf  Golgatha.'")  Und  wir?  0 
wie  weit  sind  wir  heut  von  dieser  Innigkeit  und  Lebendigkeit  des 
Glaubens  entfernt!  Welch  heilige  Freude  spricht  aus  seinem  Glaubens- 
bekenntniss,  in  dem  er  seinen  Erlöser  preist,  der  ihn,  den  Menschen 
voll  Schwachheit,  Elend,  Lust,  Stolz  und  Hoffnung,  zu  einem  neuen 
Menschen  gemacht  hat  durch  die  Kraft  seiner  Gnade, '^^) 

b)  Gott. 

Nur  in  Christo  erkennen  wir  Gott,  nicht  in  der  Natur.  Die 
Natur  stellt  Gott  nicht  mit  Evidenz  dar.  Sie  bietet  nur  Anlass 
zu  Zweifel  und  Unruhe :  man  findet  in  ihr  zuviel  Grund,  um  Gott 
zu  leugnen,  und  zu  wenig,  um  Gott  klar  zu  erkennen:  „Wenn  ich 
in  der  Natur  nichts  sehen  würde,  was  von  Gott  zeugte,  so  würde 
ich  mich  entschliessen,  nichts  zu  glauben.  Wenn  ich  überall  die 
Spuren  eines  Schöpfers  sähe,  so  würde  ich  mich  im  Glauben  be- 
ruhigen. Da  ich  aber  zuviel  Grund  zur  Leugnung  sehe  und  zu 
wenig,  um  mich  zu  versichern,  befinde  ich  mich  in  einem  be- 
klagenswertheu Zustand,  worin  ich  hundert  Mal  den  Wunsch  ge- 
habt habe,  dass,  wenn  ein  Gott  die  Natur  erhält,  sie  ihn  unzwei- 
deutig offenbaren  möge,  und  wenn  die  Beweise,  welche  sie  über 
ihn  darbietet,  trügerisch  sind,  sie  dieselben  gänzlich  unterdrücken 
möge,  dass  sie  alles  oder  nichts  sagen  möge,  damit  ich  sehe,  welcher 
Ansicht  ich  zu  folgen  habe.  Statt  dessen  befinde  ich  mich  in  einem 
Zustand,  worin  ich  nicht  weiss,  was  ich  bin,  und  was  ich  thun 
soll,  und  worin  ich  weder  meine  Lage  noch  meine  Pflicht  erkenne. 
Mein  Herz  sehnt  sich  mit  allen  Kräften  nach  der  Erkenntniss,  wo 
sich  das  wahre  Gut  befindet,  um  es  zu  erreichen.  Nichts  würde 
mir  für  die  Ewigkeit  zu  theuer  sein".'") 

Nach  der  Schrift  ist  Gott  ein  verborgener  Gott:  er  hat  die 
Menschen   nach  dem  Fall   einer  Blindheit  überlassen,   von  der  sie 


125)  Cf.  Havet  I  XXXIX. 

''■'•)  I  243.  Weiteres  über  Pascals  persönliches  Glaubensleben,  siehe 
K.  Warmuth,  Das  religiös -etliische  Ideal  Pascals,  Leipzig,  Wigand,  1901. 
p.  3  u.  4. 

'")  II  118. 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  461 

nur  Jesus  Christus  erlösen  kann:   ohne  ihn  keine  Verbindung  mit 

Gott.'-») 

Kein  biblischer  Schrifsteller  hat  sich   der  Natur  bedient,   um 

Gott  zu  beweisen'"). 

Gottlosen  gegenüber  Gott  aus  den  Werken  der  Natur  zu  be- 
weisen, ist  kühn  und  fruchtlos;  das  mag  man  Gläubigen  gegenüber 

thun.'^") 

Die  metaphysischen  Beweise  des  Daseins  Gottes  liegen  der 
Vernunft  fern  und  wirken  höchstens  eine   vorübergehende  Ueber- 

zeugung.  ^^') 

Mit  unserer  natürlichen  Erkenntniss  können  wir  weder  das 
Dasein  noch  das  Wesen  Gottes  erkennen;  wir  können  nur  theil- 
bare  nnd  begrenzte  Dinge  fassen,  Gott  ist  weder  theilbar  noch 
begrenzt;  so  sind  wir  unfähig,  zu  erkennen,  was  Gott  ist,  und  ob 
er  ist.^-^^)     Nur  durch  den  Glauben  erkennen   wir  sein  Dasein. '^^) 

Wer  Gott  ausser  Christo  aus  der  Natur  allein  erkennen  will, 
findet  keine  Befriedigung  oder  wird  Atheist  oder  Deist.  Die  Welt 
bietet  keine  klaren  Beweise  von  Gott,  wohl  aber  ist  sie  voll  von 
Beweisen  des  Verderbens  und  der  Erlösungsbedürftigkeit  des 
Menschen:  sie  trägt  das  Gepräge  eines  sich  verbergenden  Gottes.'^*) 

Wer  Jesum  Christum  erkennt,  Mittelpunkt  und  Ziel  von  allem, 
erkennt  den  Grund  aller  Dinge. '^^) 

Und  wie  erkennen  wir  Gott  in  Christo?  Als  den  Gott  der 
Liebe  und  des  TrosteS;,  als  unser  Ein  und  Alles.  „Der  Gott  der 
Christen  ist  ein  Gott  der  Liebe  und  des  Trostes,  ein  Gott,  welcher 
die  Seele  und  das  Herz,  von  dem  er  Besitz  genommen  hat,  erfüllt. 
Es  ist  ein  Gott,  der  sie  innerlich  ihr  eigenes  Elend  und  seine  un- 
endliche Barmherzigkeit  fühlen  lässt;  der  sich  mit  dem  Grunde 
ihrer  Seele  vereinigt;  der  sie  mit  Demuth,  Freude,  Vertrauen  und 
Liebe  erfüllt;  der  sie  unfähig  macht,  ein  anderes  Ziel  zu  wollen 
als  ihn  selbst". '^'^) 

128)   11    114.      129)    II    116.       130)   II    113.  131)    II    114.       13J)    n    165.      II    164. 

133)  II   164. 

134)  II  117.     II  157.     II  154. 

135)  II    115.     Jesus-Christ  est  l'objet   de   (out   et   le    coutre  oii  tont  tend. 
Qui  le  connait,  connait  la  raison  de  toutes  choses. 

13«)  II   116. 


462  Kurt  Warmuth, 

In  der  Liebe  zu  Gott  imd  im  Hass  gegen  uns  selbst  besteht 
unsere  wahre  Glückseligkeit.  '^^) 

Wir  sollen  aber  auch  nicht  die  vergänglichen  Geschöpfe  lieben; 
die  Hingabe  an  die  Creatur  hindert  uns,  Gott  zu  dienen  und  ihn 
zu  suchen.  ''*) 

Wir  sollen  Gott  allein,  Princip  und  Ziel  von  allem,  lieben; 
unsere  Begierde  freilich  lässt  uns  nur  uns  selbst  lieben:  wir  werden 
mit  Feindschaft  gegen  die  Liebe  Gottes  —  also  mit  Schuld  —  ge- 
boren. Ein  Heilmittel  dagegen  bietet  die  christliche  Religion  im 
Gebet:  wir  sollen  Gott  bitten,  ihn  lieben  zu  können. '^^) 

Dem  Einwände,  es  sei  unglaublich,  dass  Gott  sich  mit  uns 
vereinige,  liegt  scheinbar  Demuth,  in  der  That  aber  nichts  weiter 
als  Hochmuth  zu  Grunde;  das  heisst  der  Barmherzigkeit  Gottes 
Schranken  setzen.  ^*°) 

c)  Erbsünde. 

In  Christo  erkennen  wir  uns  selbst,  unser  Elend.  Das  Christen- 
thum  zeigt  uns,  dass  wir  von  Gott  abgefallen  sind,  dass  alle 
Gegensätze  und  Widersprüche  aus  der  Sünde  stammen  und  alle 
Sünde  sich  herleitet    von  jenem    ersten   Sündenfall    des  Menschen. 

Ursprünglich  ist  der  Mensch  von  Gott  heilig,  unschuldig,  voll- 
kommen, wissend,  gottschauend,  unsterblich,  selig  erschaffen.  Aber 
er  kann  soviel  Herrlichkeit  nicht  ertragen.  Aus  Stolz  sagt  er  sich 
von  Gott  los  und  macht  sich  zum  Mittelpunkt  seiner  selbst.  Er 
stellt  sich  Gott  gleich  durch  das  Verlangen,  seine  Glückseligkeit 
in  sich  selbst  zu  finden,  wie  Gott.  Gott  überlässt  ihn  sich  selbst. 
Die  Creatur  empört  sich  gegen  ihn:  er  wird  selbst  den  Thiercn 
ähnlich,  kaum  eine  dunkle  Kenntniss  seines  Schöpfers  bleibt  ihm. 


II  354.  Le  dieu  des  chretiens  est  uu  Dieu,  qui  fait  sentir  k  l'üme  qu'il 
est  son  unique  bien;  que  tout  son  repos  est  en  lui,  qu'ellc  n'aura  de  joie 
qu'ä  Taimer;  et  qui  lui  fait  en  mcme  teinps  abhorrer  les  obstacles  qui  la 
retiennent,  et  rempechent  d'aimer  Dieu  de  toutes  ses  forces.  L'amour-propre 
et  la  concupiscence  qui  rarretent  lui  sont  insupportables.  Ce  Dieu  lui  fait 
sentir  qu'elle  a  ce  fouds  d'amour-propre  qui  la  perd,  et  que  lui  seul  la  peut 
guerir. 

'")  II  152.  I  228.  II  143.  ''»)  n  143.  '")  II  144.  '<<>)  II  149. 
II  156. 


Wissen  uud  Glauben  bei  Pascal.  463 

Die  Sinne  bclierrschcn  oft  die  Vernunft  und  treiben  ihn  zur  Ver- 
gnügungssucht. Nur  ein  schwaches  Gefühl  seiner  ersten  Natur  be- 
hält er.     Blindheit  und  Begierde  sind  seine  zweite  Natur  geworden. 

Von  diesem  Grundprincip  aus  lassen  sich  die  Widersprüche  im 
Leben  verstehen.'*') 

So  trägt  der  Mensch  zwei  Naturen  in  sich:  eine  höhere  uud 
eine  niedere;  aber  letztere  hat  erstere  fast  ganz  unterjocht.  Diese 
Doppclnatur  ist  so  deutlich,  dass  manche  geglaubt  haben,  wir 
hätten  zwei  Seelen,  da  in  einem  einfachen  Wesen  eine  derartige 
Verschiedenheit  unmöglich  wäre.^*') 

Diese  Doppelnatur  hat  auch  Aulass  gegeben  zu  den  verschie- 
denen Philosophieeu:  die  Stoiker  haben  den  Menschen  vergottet, 
die  Epikureer  haben  ihn  verthiert. '*^)  Der  Glaube  sagt:  „Der 
Mensch  ist  über  die  ganze  Natur  erhaben,  Gott  ähnlich,  Gott  theil- 
haftig  im  Zustande  der  Erschaftung  oder  in  dem  der  Gnade;  er  ist 
aber  aus  diesem  Zustand  gefallen  und  den  Thieren  ähnlich  ge- 
worden im  Zustande  der  Verderbniss  und  Sünde".  '**)  Die  Stoiker 
führen  zum  Hochmuth,  die  Epikureer  zur  Trägheit;  das  Christen- 
thum  adelt  den  Menschen  ohne  Selbstüberhebung:  es  erhebt  ihn 
zur  Theilnahme  am  göttlichen  Wesen,  und  es  erniedrigt  ihn  ohne 
Verzweiflung:  auch  der  Christ  trägt  noch  die  Quelle  des  Verderbens 
in  sich.  So  kann  allein  die  Einfalt  des  Evangeliums  den  Menschen 
belehren  und  bessern.  ^''^) 

Der  Mensch  in  seinem  natürlichen  Zustand  ist  ein  entthronter 
König.'")  Er  war  einst  König  im  Besitze  von  Wahrheit  uud 
Glückseligkeit.  Die  Sünde  stürzte  ihn  vom  Throne.  Nur  die  Er- 
innerung an  seine  Königsherrlichkeit,  eine  Idee  von  Wahrheit  uud 
Seligkeit,  nahm  er  mit  hinaus  in  eine  Welt  voll  von  Räthselu 
und  Geheimnissen.  Aber  Christus  kommt  und  macht  den  Ent- 
thronten wieder  zum  König:  er  führt  ihn  zurück  in  das  Reich  der 
Wahrheit  und  Seligkeit. '^0 


1*')  II  153  die  Rede  der  Weisheit  Gottes. 

112)  II  81.       '")  II  141.       i'i)  II  158.  II  1-15.        "'•)  II  loG.       '^'O  II  82. 

1")  II.  104. 


464  Kurt  Warmuth, 

Wir  sehen:  in  der  Erbsünde  findet  Pascal  die  Lösung  aller 
Widersprüche.  Diese  Lehre  des  Christcnthuras  sagt  ihm,  der  das 
Wesen  des  Menschen  erforschen  will,  am  meisten  zu.  Ohne  dieses 
Geheimniss,  das  unverständlichste  von  allen,  sind  wir  uns  unbe- 
greiflich.'^^)  Wohl  befremdet  es  die  Vernunft,  es  erscheint  ihr 
als  Thorheit.  Es  ist  aber  eine  Sache,  die  über  die  A'^ernunft  hin- 
ausgeht. Ja,  diese  Thorheit  ist  weiser  als  die  ganze  Weisheit  der 
Menschen:  es  ist  die  göttliche  Thorheit.^") 

2.    Mittel  zum  Glauben. 

Pascal  führt  drei  Mittel  an,  durch  die  man  zum  Glauben  ge- 
langt: Vernunft,  Gewöhnung  und  Erleuchtung.  Man  muss  den 
Geist  den  Beweisen  öffnen,  sich  durch  Gewöhnung  darin  befestigen 
und  sich  durch  Selbstdemüthigung  für  die  göttliche  Erleuchtung 
empfänglich  machen. '")  Die  göttliche  Erleuchtung  ist  das  Ilaupt- 
mittel,  ohne  sie  ist  man  kein  wahrer  Christ;  durch  sie  wird  der 
einfachste  Mensch  auch  ohne  Reflexion  ein  guter  Christ,  durch  sie 
erst  glaubt  man  mit  Erfolg  und  Treue.'*') 

a)  Vernunft. 
Wenn  auch  der  Glaube  in   erster  Linie  Herzenssache  ist'*''). 


1^8)  II  105.      •")  II  lOG. 

J=°)  II  177.  II  y  a  trois  moyens  de  croire:  la  raison,  la  coiitume,  Tin- 
spiration.  La  religion  chretienne  qui  seule  a  la  raison,  u'admet  pas  pour  ses 
vrais  enfants  ceux  qui  croient  sans  Inspiration:  ce  n'est  pas  qu'elle  exciuo  la 
raison  et  la  coutume;  au  contraire,  mais  il  faut  ouvrir  son  esprit  aux  preuves 
s'y  confirmer  par  la  coutume;  mais  s'ofTrir  par  les  hurailiations  aux  inspirations 
qui  seules  peuvent  faire  le  vrai  et  salutaire  effet:   Ne  evacuetur  crux  Christi. 

'^')  II  177.  Ne  vous  etonnez  pas  de  voir  des  personnes  simples  croire 
sans  raisonnement.  Dieu  leur  donne  l'amour  de  soi  et  la  haine  d'eux-mcmes. 
II  incline  leur  coeur  ä  croire.  On  ne  croira  jaraais  d'une  creance  utile  et  de 
foi,  si  Dieu  n'incline  le  ca?ur,  et  on  croira  des  qu'il  l'inclinera.  Et  c'est  ce  quo 
David  connaissait  bien:  „Inclina  cor  meum,  Deus,  in  testimonia  tua!" 

II  179.  Ceux  quo  nous  voyons  chretiens  sans  la  connaissance  des  pro- 
pheties  et  des  preuves  ne  laissent  pas  d'en  juger  aussi  bien  que  ceux  qui 
ont  cette  connaissance:  ils  en  jugent  par  le  ca'ur,  comrae  les  autres  en  jugent 
par  l'esprit.  C'est  Dieu  lui-meme  qui  les  incline  a  croire;  et  ainsi  ils  sont 
tres  efficacement  persuades. 

'^2)  n  172.  C'est  le  coeur  qui  sent  Dieu  et  non  la  raison.  Voilä  ce 
que  c'est  que  la  foi:  Dieu  sensible  au  coeur,  nou  ä  la  raison. 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  465 

so  schliesst  doch  ]*ascal  die  Beweise,  die  zum  Verstände  sprechen, 
keineswegs  aus,  sondern  lässt  sie  als  menschliche  Vorbereitung  zu. 

Er  will  in  den  Pensees  den  Ungläubigen  die  christliche  Re- 
ligion durch  Darlegung  von  Gründen  nahebringen,  ist  sich  aber 
zugleich  bewusst,  dass  solche  verstandesmässige  Demonstration  den 
Glauben  nicht  schaffen,  sondern  ihm  nur  entgegenfiihren  kann; 
Gott  allein  giebt  den  Glauben  ins  Herz,  nur  so  kommt  wahre 
Ueberzeugung  zu  Stande. '^^) 

Ueberhaupt  muss  mau  sich  in  Religionssachen  vor  zwei  Ex- 
tremen hüten,  einmal  vor  dem  völligen  Ausschluss  der  Vernunft 
und  sodann  vor  dem  alleinigen  Geltendmachen  der  Vernunft.  '") 
Unterwirft  man  alles  der  Vernunft,  so  hat  unsere  Religion  nichts 
Geheimnissvolles,  Uebernatürliches;  verletzt  man  die  Principien 
der  Vernunft,  so  wird  sie  abgeschmackt  und  lächerlich.^") 

In  das  Heiligthum  des  Glaubens  kann  uns  die  Vernunft  nicht 
führen,  wohl  aber  bis  an  seine  Pforte.  ^^'^) 

Pascal  unterscheidet  zwei  Wege,  von  der  Wahrheit  der  Religion 
zu  überzeugen,  Vernunft  und  Autorität  der  Schrift,  nnd  giebt  dem 
letzteren  den  Vorzug.'")  Da  aber  die  Menschen  nun  einmal  so 
sind,  dass  sie  nur  der  Vernunft  folgen  wollen,  so  betritt  er  diesen 
Weg.  Er  will  zeigen,  dass  die  Religion  der  Vernunft  nicht  ent- 
gegengesetzt ist,  und  er  will  sie  zugleich  verehrungswürdig  und 
liebenswerth  machen;  weiss  er  doch,  welche  Macht  Wille  und 
Neigung  über  den  Menschen  haben.  ^^''*) 


II  176.     II  faut  mettre   notre  foi   dans  le  sentiment;   autrement   eile  sera 
toujours  vacillante. 
1^3)  II  109. 

II  352.  Ceux  k  qui  Dieu  a  donne  la  religion  par  sentiraeut  de 
coeur  sont  bien  heureux  et  bien  persuades.  Mais  pour  ceux  qui  ue  l'out  pas, 
iious  ne  pouvons  la  leur  procurer  que  par  raisounemeut  en  atteadant  que 
Dien  la  leur  imprime  lui-meme  dans  le  coeurj  sans  quoi  la  foi  est  inutile 
pour  le  salut. 

154)  II  348. 

1^^)  II  348.  II  347.  Soumissiou  et  usage  de  la  raison,  en  quoi  consiste 
le  vrai  christianisme.     Cf.  I  212. 

1^^)  II  349.  La  foi  dit  bien  ce  quo  les  sons  ne  disent  pas,  mais  non 
pas  le  contraire  de  ce  qu'ils  voient.     Elle  est  au-dessus    et   non  pas  coutrc. 

'")  II  352.         '^8)  II  387. 


466  Kurt  Warmuth, 

Welches  sind  nun  seine  Beweise  für  die  Wahrheit  der  christ- 
lichen Religion?  Das  Christenthum  erklärt  das  Geheimniss  der 
Meuscheunatur.  Die  Antwort  auf  die  Frage  des  Menschen  ist  der 
Christ.  Die  Göttlichkeit  Jesu  Christi  und  die  Autorität  der  Schrift 
gründen  sich  auf  Wunder  und  Propheten.  Die  Gründung  der 
christlichen  Religion,  die  Heiligkeit,  Hoheit  und  Demuth  einer 
Christenseele,  die  Wunder  der  heiligen  Schrift,  die  Person  Jesu 
Christi,  Apostel  und  Propheten,  die  Erfüllung  der  messianischen 
Weissagungen,  der  Zustand  des  jüdischen  Volks  vor  und  nach 
Christi  Geburt,  die  beständige  Fortdauer  der  christlichen  Religion, 
die  Heiligkeit  derselben,  ihre  Lehre;  kein  Vernünftiger  kann  diesen 
Beweisen  für  die  christliche  Religion  widerstehen.^") 

Allerdings  sind  diese  Beweise  nicht  unbedingt  überführend, 
aber  sie  sind  auch  nicht  so,  dass  es  vernunftlos  sei,  sie  zu  glauben; 
die  Gnade,  nicht  die  Vernunft  lässt  der  Religion  folgen,  die  Be- 
gierde, nicht  die  Vernunft  lässt  die  Religion  fliehen.^''") 

Nach  Pascal,  sagt  Havet,  heisst  die  Religion  beweisen,  nicht 
eine  wirkliche  Demonstration  davon  geben,  sondern  Gründe  zu 
ihrer  Unterstützung  bieten,  zeigen,  dass  es  vernünftig  sei,  daran 
zu  glauben.  Sein  Beweis  ist  eine  Wahrscheinlichkeit,  welche  die 
Gewissheit  nicht  erreicht  und  es  nicht  behauptet. 

So  räth  die  Vernunft  dem  Menschen,  auf  Gott  zu  wetten:  er 
kann  da  entweder  nichts  verlieren  oder  alles  gewinnen."')  Und 
wenn  der  Ungläubige  klagt,  dass  er  wohl  bereit  sei,  zu  wetten, 
d.  h.  zu  glauben,  seine  Begierde  aber  seiner  Vernunft  widerstehe, 
so  giebt  ihm  Pascal  den  Rath,  es  zu  machen  wie  die,  welche  schon 
zum  Glauben  gekommen  sind,  nämlich  Weihwasser  zu  nehmen 
und  Messe  lesen  zu  lassen.  Dies  Verfahren  wird  die  Leidenschaften, 
unsere  grössten  Feinde,  die  uns  von  Gott  abhalten,  verringern  und 
somit  dem  Glauben  vorarbeiten. '"') 


'59)  II  365  ff. 

leo)  II  264. 

"'')  II  166ff.,  diese  Anwendung  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  auf  den 
Glauben  an  Gott,  wie  charaliteristisch  für  den  Mathematiker  in  Pascal! 

162)  II  168.  II  181.  Vous  aurioz  bientot  la  foi,  si  vous  aviez  quitte  les 
plaisirs. 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  467 

Aelinlich  empliehlt  Pascal  das  innere  Gespräch,  das  der  Mensch 
mit  sich  selbst  hält,  auf  Gott,  die  Wahrheit,  zu  richten."^) 

b)  Gewöhnung. 

Pascal  weiss,  welche  Macht  die  Gewohnheit  über  den  Menschen 
hat:  er  nennt  sie  unsere  zweite  Natur  und  räth.  uns  an  den 
Glauben  zu  gewöhnen. '*^^) 

Hat  der  Geist  erkannt,  wo  die  Wahrheit  ist,  so  muss  die  Ge- 
wohnheit diesen  Glauben  unserem  ganzen  Wesen  und  Leben  mit- 
theilen. Durch  Gewohnheit  wird  der  Glaube  uns  zur  anderen 
Natur.  Den  Glauben  durch  Vernunft  charakterisirt  Pascal  als 
einen  schwierigen,  der  uns  immerdar  zu  entfliehen  droht,  und 
nennt  im  Gegensatz  dazu  den  Glauben  durch  Gewohnheit  einen 
leichteren,  der  uns  „ohne  Zwang,  Kunst  und  Beweis"  glauben 
lässt.  Wir  sind  eben  nicht  bloss  geistige  Wesen,  die  durch  reine 
Demonstration  überzeugt  werden,  sondern  auch  sinnliche,  der  Ge- 
wohnheit unterworfene:  sie  macht  unsere  stärksten  und  allge- 
meinsten Beweise,  giebt  unserer  Natur  die  Richtung  und  zieht  un- 
merklich den  Geist  mit  fort.  Beides  muss  also  zusammenkommen: 
der  Geist  muss  durch  Gründe  überzeugt  sein,  der  natürliche  Mensch 
durch  Gewohnheit:  „Man  muss  sich  hierüber  keiner  Täuschung 
hingeben:  wir  sind  ebenso  gut  Automaten"^)  als  geistige  Wesen, 
und  daher  kommt  es,  dass  das  Mittel,  welches  die  Ueberzeugung 
hervorbringt,  nicht  allein  die  Beweisführung  ist.  AVie  wenig  Dinge 
lassen  sich  beweisen!  Die  Beweise  überzeugen  nur  den  Verstand. 
Die  Gewohnheit  bildet  unsere  stärksten  und  entscheidendsten  Be- 
weise; sie  bestimmt  den  Automaten,  welcher  den  Verstand  mit 
sich  fortzieht,  ohne  dass  er  es  denkt.  Man  muss  sich  zur  Gewohn- 
heit flüchten,  wenn  der  Geist  einmal  erkannt  hat,  wo  die  Wahr- 
heit ist,  damit  dieser  Glaube,  der  uns  jede  Stunde  entkommen 
könnte,  uns  gang  und  gäbe  werde;  denn  es  wäre  zuviel  gefordert, 
wenn  man    sich    die    Beweise    immer    gegenwärtig    halten    wollte. 


'")  I  218.     II  faut  se  tenir  en  silence  autant  qu'on  peut,  et  ne  s'entretenir 
que  de  Dieu,  qu'on  sait  etre  la  verite;  et  aiusi  on  se  le  persuade  ä  soi-meme. 
Iß*)  II  169.       1«^)  cf.  p.  358. 


4G8  Kurt  Warmuth, 

Mail  miis.s  sich  cincu  leichteicu  Glauben  erwerbeu,  und  das  ist  der 
der  Gewohnheit,  welche  ohuc  Gewaltthätigkcit,  ohne  Kunst,  ohne 
Beweis  uns  die  Dinge  glauben  lässt  und  allen  unseren  Kräften  die 
Richtung  zu  diesem  Glauben  mittheilt,  sodass  unsere  Seele  ganz 
natürlich  in  den  Glauben  hineingeräth.  Wenn  man  nur  vermöge 
der  Ueberzeugung  glaubt,  und  wenn  der  Automat  geneigt  ist,  das 
Gegentheil  zu  glauben,  so  genügt  dies  nicht.  Es  müssen  also  unsere 
beiden  Bestandtheile  zum  Glauben  gebracht  werden:  der  Geist 
durch  Gründe,  die  es  genügt,  sich  einmal  in  seinem  Leben  klar 
gemacht  zu  haben,  und  der  Automat  durch  die  Gewohnheit,  indem 
man  ihm  nicht  erlaubt,  sich  zum  Gegentheil  zu  neigen.  Inclina 
cor  meum,  Dens.'") 

c)  Erleuchtung. 

Das  Ilauptmittel    zum  Glauben    ist  die  göttliche  Erleuchtung. 

Der  Gläubige  ist  von  Gott  erleuchtet,  obwohl  er  selbst  es 
nicht  beweisen  kann.'^^) 

Der  Glaube  ist  ein  Geschenk  Gottes,  nicht  der  Vernunft. '^'') 
Er  steht  nicht  in  unserer  Macht  wie  die  Werke  des  Gesetzes, 
sondern  er  ist  uns  auf  andere  Weise  gegeben.  "'^) 

Er  ist  ein  Act  der  göttlichen  Gnade,  auf  den  sich  der  Mensch 
nur  durch  Selbstdemüthiguug  vorbereiten  kann.''") 

Gott  neigt  das  Herz  zum  Glauben.^") 

Gott  giebt  den  Menschen  die  Liebe  zu  ihm  und  den  Ilass 
ihrer  selbst  ins  Herz,  er  lenkt  das  Herz  zum  Glauben.'") 

Das  Aufnahmeorgan  für  die  göttliche  Erleuchtung  ist  also  das 
Herz  oder  der  Wille.     Gott  wirkt  auf  den  Willen.'") 


'66)  II  174,  175. 

'67)  II  180. 

'68)  11  178.  La  foi  est  uu  (Jon  de  Dieu.  Ne  croyez  pas  que  nous  disions 
que  c'est  un  don  de  raisonnement. 

'69)  II  178. 

''")  II  198.  La  conduite  de  Dieu,  qui  dispose  toutes  choses  avec  douceur, 
est  de  mettre  la  religion  dans  Tesprit  par  les  raisons  et  dans  le  cccur  par  la 
gräce.     Cf.  II  177. 

'7')  II  179.  C'est  Dieu  lui-meme  qui  les  incline  ä  croire;  et  ainsi  ils 
sont  tres  efticacement  persuades. 

'")  II  177. 

'")  II  158.     Dieu   veut  plus  disposer  la  volonte   que  l'esprit.     La  clarte 


Wissen  und  Glauben  bei  Pascal.  469 

Der  Mensch  urtheilt,  von  Gott  erleuchtet,  nicht  mehr  .nach 
dem  eigenen,  sondern  nach  dem  göttlichen  Willen. 

Die  Frucht  der  Erleuchtung  ist  die  Bekehrung.  Nur  durch 
die  Gnade  kommt  die  Bekehrung  zu  Stande.  ''*)  Im  Augenblick 
der  Taufe  ist  dem  Menschen  das  Bild  Gottes  eingeprägt  worden; 
die  Sünde  hat  es  ausgetilgt;  durch  die  Bekehrung  wird  es  wieder 
hergestellt. '")  Gott  giebt  die  guten  Regungen."*^)  Die  Bekehrung 
in  ihren  einzelnen  Stadien  hat  Pascal  mit  psychologischem  Fein- 
blick in  der  Schrift  „lieber  die  Bekehrung  des  Sünders"  be- 
schrieben.'") 

Aber  nicht  jeder  wird  der  Erleuchtung  theilhaftig,  sondern 
nur  der,  den  Gott  dazu  in  Liebe  vorausbestimmt  hat.  Das  düstere 
Gegenbild  zu  dem  sonnenhellen  Gemälde  der  Erleuchtung  ist  die 
Verblendung.  Erleuchtung  wie  Verblendung  ist  Gottes  Wille: 
„Gott  will  verblenden  und  erleuchten". '^^)  Jesus  Christus  erschien, 
um  zu  verblenden  und  zu  erleuchten.  ''^) 

Wir  stossen  da  wieder  auf  den  Kern  der  theologischen  An- 
schauung Pascals,  auf  die  Lehre  vom  verborgenen  Gott.  Vor  dem 
Fall  ist  Gott  den  Menschen  offenbar,  nach  demselben  hat  sich  Gott 
von  dem  Menschengeschlecht  zurückgezogen.  Er  ist  verborgen,  er 
will  verborgen  sein.  Nur  seinen  Lieblingen  oftenbart  er  sich,  ver- 
birgt sich  aber  denen,  die  er  nicht  liebt.    Die  Unglücklichen  können 


parfaite  servirait  a  l'esprit  et  nuirait  ä  la  volonte.  Dies  Paradoxon  erklärt 
sich  aus  Pascals  Ansicht,  dass  Gott  die  slolze  Vernunft  demüthigen,  den 
schwankenden  Willen  aber  heilen  will.  Eier  steht  Pascal  ganz  im  Gegensatz 
zu  Descartes;  für  diesen  hängt  die  Vollkommenheit  des  Wollens  von  der 
Vollkommenheit  der  Einsicht  ab,  vergl.  seine  Theorie  des  Irrthums,  der  auf 
einem  nicht  durch  genügende  Einsicht  geleiteten  Wollen  beruht. 

^^^)  I  67.  Mon  Dien,  raon  ca'ur  est  tellement  endurci  que  la  maladie 
non  plus  que  la  sante  .  .  .  ni  vos  ecritures  sacrees  .  .  .  ne  peuvent  rien  du 
tout  pour  commencer  ma  conversion,  si  vons  n'accompagnez  toutes  ces  oboses 
d'une  assistance  tout  extraordinaire  de  volre  gräee. 

'^5)  I  68,  69. 

1^6)  I  70. 

1")  I  82. 

'^^)  II  296.     Dien  voulant  aveugler  et  eclairer. 

'")  II  330,  Jesus-Christ  est  venu  aveugler  ceux  qui  voyaient  clair  et 
donner  la  vue  aux  aveugles. 


470  Kurt  Watinuth, 

Gott  nicht  sehen,  weil  er  in  der  That  ihnen  nicht  sichtbar  ist. 
Auch  durch  AVunder,  Figuren  und  Weissagungen  können  sie  nicht 
überzeugt  werden:  Gott  will  es  nicht, '^'') 

Wir    sehen,    Glaube    wie  Nichtglaube    ist    nach    Pascal,    dem 
Jansenisten,  eine  Wirkung  Gottes. 

Nur  der  von  Gott  Erleuchtete  kann  glauben  im  vollen  Sinne 
des  Wortes.  Vernunft  und  Gewöhnung  bereiten  den  Glauben  nur 
vor;  dieser  selbst  ist  ein  Werk  der  Gnade.  Nur  der  Erwählte, 
der  Erleuchtete  ist  ein  wahrer  Christ.'^')  Er  ist  der  Gerechte. 
Er  hat  die  Wahrheit,  Jesum  Christum;  er  hat  das  höchste  Gut, 
Gott;  er  hat  die  herrlichste  Tugend,  die  Liebe  zu  Gott.  Ihm  gelten 
Pascals  schöne  Worte:  Nul  n'est  heureux  comme  un  vrai  chretien, 
ni  raisonnable,  ni  vertueux,  ni  airaable.  Avec  corabien  peu 
d'orgueil  un  chretien  se  croit-il  uni  ä  Dieu!  Avec  combien  peu 
d'abjection  s'egale-t-il  aux  vers  de  la  terre!  La  belle  maniere  de 
recevoir  la  vie  et  la  mort,  les  biens  et  les  maux!'^^) 

Zusammenfassung. 

Wir  haben  gesehen,  Pascals  Ansicht  über  das  Verhältniss  von 
Glauben  und  Wissen  ist  einer  Wandluog  unterworfen. 

In  der  ersten  Periode  seiner  geistigen  Entwickelung,  wo  die 
Mathematik  im  Vordergrunde  seines  Interesses  steht,  stellt  er 
Wissen  und  Glauben  als  zwei  vollkommen  von  einander  verschiedene 
Grössen  dar. 

Ihre  Gebiete  sind  verschieden,  das  Wissen  hat  sich  zu  be- 
thätigen  auf  dem  Gebiete  der  den  Sinnen  anheimfallenden  Wissen- 
schaffen:  Geometrie,  Arithmetik,  Naturlehre,  Arzeneikunde,  Bau- 
kunst; der  Glaube  auf  dem  Gebiet  der  religiösen  Wahrheiten. 

Ihr  Ursprung  ist  verschieden,  das  Wissen  ist  des  Menschen 
eigene  That,  der  Glaube  ist  Gottes  Wirkung  im  Menschen. 

Das  Aufnahmeorgan  ist  verschieden,  das  Wissen  ist  Sache  des 
Verstandes,  der  Glaube  ist  Sache  des  Herzens. 


'80)  II  263.  II  281.  Les  propheties,  citees  dans  l'Evangile,  vous  croyez, 
qn'elles  sont  rapportees  ponr  vous  faire  croire.  Non,  c'est  pour  vous  eloigner 
de  croire. 

181)  II  177.  182)  II  37G. 


Wissen  und  Glauben  hei  Pascal.  471 

In  der  ersten  Periode  legt  Pascal  den  Hauptton  auf  den 
Verstand,  in  der  zweiten  auf  das  Herz. 

Von  den  abstrakten  Wissenschaften  wendet  er  sich  zum 
Studium  des  Menschen.  Er  liest  die  verschiedenen,  sich  gänzlich 
widersprechenden  Ansichten  der  Philosophen  über  den  Menschen 
und  wird  immer  misstrauischer  gegen  das  Wissen.  Er  kommt  auf 
den  Standpunkt  der  „weisen  Unwissenheit":  „Ich  weiss,  dass  ich 
nichts  weiss!"  Da  findet  er  die  Lösung  des  Räthsels  vom  Menschen 
im  Jansenismus.  Er  unterwirft  seine  Vernunft  dem  Dogma  vom 
Fall  und  von  der  Gnade.  Im  Glauben  findet  er  das  höchste 
Wissen.  Von  hier  aus  erscheint  ihm  alles  menschliche  Wissen 
unvollständig  und  unsicher.  Das  Gebiet  der  den  Sinnen  anheim- 
fallenden Wissenschaften  beurtheilt  er  jetzt  geringschätzig:  Die 
Mathematik  ist  keine  Stunde  Arbeit  werth!  Die  Theologie,  und 
zwar  die  jansenistische,  die  ihm  das  Räthsel  aller  Räthsel  —  das 
des  Menschen  —  löst,  ist  ihm  das  Centrum  der  Wahrheit.  Jetzt 
als  Jansenist  kennt  er  nur  ein  Gebiet  der  Wahrheit,  das  des 
Glaubens.  Alles  menschliche  Wissen  ist  ihm  nichts  gegen  diesen 
gottgewirkten  Glauben,  auf  den  sich  der  Mensch  mittelst  der  Ver- 
nunft zwar  vorbereiten,  den  er  aber  nie  durch  sie  erringen  kann. 
Gott  allein  giebt  ihn  dem  Erwählten. 

Darf  ich  ein  Bild  gebrauchen  ?  Bei  Pascal,  dem  Mathematiker, 
verhält  sich  das  Wissen  zum  Glauben  wie  zwei  Fürsten  von  ver- 
schiedener Abkunft  und  anders  geartetem  Charakter.  Jeder  hat 
sein  Reich,  jeder  bleibe  in  seinem  Reiche:  dann  giebt  es  keine 
Grenzstreitigkeiten.  Bei  Pascal,  dem  Jansenisten,  verhält  sich  das 
Wissen  zum  Glauben  wie  der  Besiegte  zum  Sieger.  Pascal  de- 
nüithigt  die  stolze  Vernunft,  bringt  sie  zur  Erkenntuiss  ihrer 
Schwäche  und  zwingt  sie  auf  die  Kniee  vor  dem  Throne  des 
Glaubens:  sie  muss  die  Krone,  die  sie  sich  selbst  angemaasst,  mit 
eigener  Hand  zerbrechen  und  dos  Scopter  des  gottgeboreneu 
Glaubens  in  Demuth  küssen,  und  dieser  nimmt  sie  auf  in  sein 
Reich  aus  Gnaden. 


XVII. 

The  Philosopliy  of  Plotinus 

Dr.  James  liiudisay  (Kilmarnock), 

For  constructive  power,  impressive  skill,  daring  boldness, 
sustaiued  nobility,  and  iraposing  beauty,  the  system  of  Plotiuus 
has  hardly  ever  been  surpassed.  Pantheistic  bis  philosophy  is  not: 
tbe  One  and  the  All  are  not  identical  in  bis  System:  the  One  is 
transceudent,  not  immanent,  though  impersonal  and  unconscious: 
all  things  wait  upon  the  One,  but  the  One  depends  not  upon  all 
or  any  of  thera.  Rather  his  system  seems  to  constitute  a  theism 
of  transcendental  type,  but  with  a  method  of  mystical,  as  well  as 
rational,  character.  Still,  it  is  easy  to  see  how  this  system  has 
often  been  regarded  as  pantheistic,  for,  in  that  ecstasy  whereby 
mind  knows  the  Infinite,  the  mind  seems  to  become  absorbed  in 
the  Infinite  Intelligence,  and  the  soul  loosened  from  individual 
consciousness.  His  was  the  creative  spirit  that  called  Neo-Platöuism 
into  belog.  And  Neo-Platonism  was  dcstined  to  vanquish  every 
philosophical  system  that  should  array  itself  against  it.  Whatever 
was  best  in  Plato  and  Aristotle  was  seized  and  assimilated  by 
Plotinus,  the  influence  of  the  former  on  his  mental  upbullding 
bcing  specially  great.  To  the  teachings  of  these  philosophers 
Plotinus  imparted  new  vitality  and  interest.  There  feil  to  the 
lot  of  Plotinus  an  environment  rieh  in  elements  for  au  intellectual 


The  Philosophy  of  Plotinus.  473 

nature.  For  it  was  an  enviroument  cliarged  with  elements  in- 
herited  from  second  Century  iriaterialism  and  mysticism,  naturalism 
and  hedonism,  moralism  and  spiritualism.  Founder  of  the  Neo- 
Platonic  school  he  became  under  tliese  conditions.  He  proved  his 
power  by  piercing  direct  to  tlie  metaphysical  heart  of  PJato's 
System,  that  he  might  rend  it  in  pieces  for  the  feeding  of  his 
thought.  Plotinus,  however,  differs  from  PJato  in  setting  the  One 
above  all  ideas.  It  is  his  „philosophy  of  the  One"  that  proves  so 
fascinating  an  elemeut  of  his  teaching.  It  is  characteristic  of 
Plotinus  that  the  ideas  have  a  distinct  existence  in  the  Divine 
Reason.  The  One,  the  Ineffable  or  the  Spiritual,  is,  as  the  unity 
of  all  things,  unfolded  in  intellectual,  and  afterwards  in  sensuous, 
terms.  The  categories  used  by  Plotinus  in  respect  of  the  second 
dement  in  the  Plotinic  trinity,  which  is  Intelligence,  —  image  of 
the  One  —  were  being,  rest,  motion,  identity,  and  diÜ'erence.  The 
preferences  of  Plotinus  lie  towards  pure,  abstract  speculation.  He 
holds  by  the  essence  of  God  as  the  absolutely  One  and  uuchange- 
able.  He,  the  One,  has  neither  Form,  nor  Will,  nor  Thought, 
nor  Being.  God,  as  the  One,  is  to  him  source  and  spring  of  all 
good.  The  Plotinic  triad  runs  back  to  Plato  —  the  Primal  One 
to  the  Piatonic  idea  of  the  good,  mind  and  soul  to  the  Demiurgus 
and  world-soul  of  Plato.  The  Primal  Good  is  a  principle  of 
absolute  and  indivisible  unity,  First  Cause  He  is,  but  only  in 
an  abstract,  metaphysical  sense.  Reason  is  rooted  in  this  highest 
or  Ultimate  Good  as  its  principle.  The  One,  whose  nature  we 
thus  seek,  is  not  anything  that  exists.  His  One,  as  the  Power  of 
all  things,  is  yet,  and  therefore,  neue  of  them.  As  the  absolute 
unity,  his  One  is  the  cause  of  all  existence,  and  must  therefore 
go  before  it.  In  fact,  the  „First"  is  to  Plotinus  raised  above  all 
determinations,  so  that  we  cannot  strictly  predicate  anything  here. 
A  great  demerit  thus  of  the  System,  since  this  supreme  abstraction 
of  the  unity  of  existence,  away  from  existence  itself,  robs  it  of 
all  relation  to  the  things  it  creates.  To  this  Absolute  Good  all 
reason  and  life  aspire.  All  things  are  drawn  to  God  —  a  God 
who  is  Goodness  without  love.  And  our  aspiring  is  through  the 
soul  —  not  the   seeking   of  the   outward  eye.     His  philosophy  of 

Archiv  i,  Geschichte  d.  Philosophie.    XV.  4.  OO 


474  James  Lindsay, 

the  One  affirms  tlie  transcendent  character  and  inapprehensible 
nature  of  God  in  a  decided  way.  It  really  amounts  to  this,  that 
the  Oue  is  set  above  all  contention.  Not  knovvn  of  kuowledge, 
the  One  is  known  through  something  higher.  It  is  known  in  the 
breakiug  of  the  bonds  of  sense,  in  rising,  by  Divine  Ostupta  and 
contemplation  of  „the  intelligible  beauty",  from  Matter  to  Spirit, 
from  Soul  to  Reason,  and  from  Reason  to  the  Oue.  This  treat- 
ment  of  God  as  the  inapprehensible  Oue  proved  the  very 
destruction  of  reason,  though  it  was  meant  as  its  apotheosis.  It 
had  the  merit,  however,  to  emphasise  reason  as  the  great  con- 
structive  power.  God,  as  Ground  of  the  world,  is,  wheu  we  come 
to  authropomorphic  modes  of  speech,  mind  or  rational  spirit. 
Soul  is  one  and  many.  The  world-soul  is  chief  of  all  souls. 
There  is  a  plurality  of  souls,  for  they  are  increasing.  Man's 
knowing  soul  runs  back  to  spirit.  Matter  is  no  corporeal  mass 
bcside  the  One,  but  is,  in  fact,  bodiless  or  immaterial — such  is  the 
metaphysically  indeterminate  position  of  Plotinus.  Matter  was  his 
root  difficulty,  and  proved  chief  obstacle  to  the  unity  he  sought. 
He  could  but  reduce  it  to  its  lowest  terms,  which  is  not  to  do 
away  with  its  troublous  presence.  Matter  is  still  with  him,  and 
is,  in  fact,  eternal:  it  is  never  wholly  done  away  in  the  thought 
of  Plotinus.  He  took,  in  the  last  resort,  a  mediate  view  of  matter, 
paving  the  way  for  the  Manichaeism  of  Augustine.  The  micro- 
cosm  —  the  world  within  —  is  first  object  of  care  to  Plotinus; 
the  macrocosm  —  or  world  without  —  is  but  the  reflex  of  what 
we  so  find  in  ourselves.  The  world  is  just  a  mirror,  in  which 
we  see  reality  reflected.  „But,"  says  Plotinus,  „you  see  the 
mirror,  and  vou  do  not  see  matter."  Mind  or  thought  is  thus  to 
Plotinus  the  great  reality.  His  spiritualism  is  reached  by  an 
introspective  method  of  his  own,  easily  distinguishable  from  Plato's 
method  of  analogy,  and  Aristotle's  metaphysical  method  of  inter- 
preting  the  world.  Plotinus  is,  howewer,  much  more  at  one  with 
Plato  and  Aristotle  in  result  than  in  method:  he  makes  common 
cause  with  them  in  upholding  spiritualism,  only  he  is  able  to  put 
the  case  for  spiritualism  in  fuller  form  and  ciearer  view  than 
was    possible    to    either    of   them.     And   how  does  he   reach  this 


Tbe  Philosephy  of  Plotinus.  475 

higher  result?     By   a  more  rigid  insistence   on  the  realisation  of 
inner    personality,    and    on    the    signifiance    of    our    self-identity. 
Plotinus  has  the  great  merit  to  have  been  the  first  philosopher  to 
give  precise  and  explicit  account  of  such  concepts  as  consciousness,  and 
self-consciousness.  He  makes  such  direct  analysis  of  consciousness  as 
neither  Plato  nor  Aristotle  had  done,  so  advancing  upon  them  by  exhi- 
biting  a  distiuctive  development  of  subjective  interest  and  faculty. 
But  indeed  he  is  too  subjective:  he  abstracts  from  a  single  side  of  our 
whole  life,  and  raakes  an  objective  law  for  things  out  of  this  very 
abstraction.     Nature    is    for   him    real    only    so  far  as  it  is  soul. 
This  means  further  inadequacy   on  the  part  of  Plotinus,  for  such 
an  idealising  mode   of  dealing  with  Nature  would  soon   rule   out 
all  real  natural  science,  and  land  us  in  the  dreamy'  and  mysterious. 
The  soul  is  the  seif,  and  can  by  no  possibility  be  material.     The 
soul  is  the  product  of  spirit  —  its  nearest  result,  and  its  activity 
renders    matter    corporeal.      Since    soul    so    works   upon    matter, 
everything  in  the  world  of  sense  is   this   soul    or   spirit.     Hence 
Plotinus  is  able  to  spiritualise  the  corporeal  world,  to  idealise  the 
Universe.     Soul  is,  in  fact,  the  central  core  of  his  system:  every- 
thing, within  and  without  us,  is  soul,   and  the  trouble  is  just  to 
make  soul  capable  of  explaining  all  the  antitheses  to  be  found  in 
different  spheres  of  being.     The  outer,  or  material,  is  for  him  but 
as  shadow  of  substance,    or    husk    of   kernel:    the   substance    or 
kerne!    is    the    hidden    spiritual,    or  ideal.     His  spiritual  monism 
would  keep  the  unity  in  the  soul  of  the  whole,   and  yet  provide 
for  the  reality  of  particular  souls.     The  immateriality  of  the  soul. 
he  at  least  defends  by  arguments,  drawn    from  w4der    reach  than 
Plato  or  Aristotle  had  known,  and  inclusive  of  feeling,  as  well  as 
thought.     When  he  comes  to  deal  with  the  nature  of  thought  — 
thought  which  to  him  is  motion    —    he  is  able  to   maintain  its 
incorporeal    character  in   ways   tliat  form  striking  anticipations  of 
modern  philosophy.     Tlie  advance   of  redemption   from   reality  as 
given  is  the  basal  thought  of  Plotinus:    his   conceptual  knowledge 
worked  its  wav,    as  we  have  seen,    through    the    different  world- 
materials  —  body,  soul,  spirit  —  up   to  the  presentiment  of  the 
World-Soul.     Plotinus    comes    within    uear    psychological  view   of 

33* 


476  James  Lindsay, 

modern  idealistic  methods,  wlnch  yet  elude  Ins  grasp.  A  real 
unity,  however,  he  did  attain  by  an  idealism  of  his  own.  Besides 
which,  it  may  be  said  that  Neo-Platonism  —  minus  its  mysticism 
—  was,  in  many  of  its  leading  aspects,  a  precursor  of  modern 
Idealism.  A  tolerably  pure  form  of  rationalism  it  was,  with  a 
subtle  dialectic  of  its  own.  Plotinus  relies  on  the  divisibility  of 
corporeal  substance,  and  the  unity  of  consciousness  for  the  working 
out  of  his  argument  against  materialism.  He  does  not,  however, 
separate  between  consciousness  and  its  objects  in  any  such  absolute 
fashion  as  that  of  Cartesianism,  for  he  allows  to  the  soul,  in  some 
sort,  divisibility  and  extension.  As  for  personality,  it  does  not 
seem  as  though  individual  personality  were  so  truly  providcd  for  as 
it  might  appear  in  the  System  of  Plotinus,  since  it  rather  seems 
lost  in  the  necessary  movement  of  the  universal  life  of  spirit.  For 
there  can  be  no  doubt  that,  in  the  System  of  Plotinus  —  ema- 
national  in  effect  in  the  end  —  there  is  a  procession  of  all  things 
from  the  Absolute,  and  an  inclusion  of  all  things  in  Him.  Yet 
did  not  Plotinus  wish  the  world  viewed  as  an  emanation  from 
God,  with  the  loss  of  substance  attendant  thereon.  We  return  to 
Him  by  ecstatic  elevation.  The  goal  of  Plotinus  for  individual 
personality  appears  to  be  merely  that  indeterminateness  in  which 
there  is  an  unconscious  unifying  with  the  World-Ground,  or  a 
sinking  into  the  All-One.  Not  only  the  materialism  of  the  Stoics 
does  Plotinus  vanquish,  but  also  their  fatalism.  But  his  spiritua- 
listic  doctrine  of  freewill  is  not  that  of  the  moderns,  holding  to  it 
as  a  fact  of  consciousness;  rather  it  is  a  Platonizing  mode  of 
conceiving  the  soul  free  as  it  truly  realises  the  conditions  of  its 
own  Spiritual  existence  —  that  is  to  say,  sulfers  no  subjection  at 
the  instance  of  body  or  matter.  For  matter,  though  only  an 
indeterminate  dement,  and  denied  real  being,  is  yet  regardcd  as 
a  cause  of  evil,  and  a  limitation.  He  strove  to  solve  the  problem 
of  physical  evil  by  accounting  for  it  in  a  variety  of  ways.  He 
knew  the  world  to  be  by  no  means  perfect,  and  yet  it  was  the 
World  of  the  One,  therefore  the  only  possible  world.  On  the  wi- 
dest  issue,  we  may  say  that  in  nolhing  is  the  philosophic  genius 
of  Plotinus  more  discernible  than  just  in  the  way  he  concentrates 


The  Philosophy  of  Plotinus.  477 

his  forces  on  tlie  issues  of  spiritualism,  as  opposed  to  materialism. 
It  is  his  abiding  merifc  to  have  put  tlie  case  for  spiritualism  with 
skill  and  force  that  had  not  before  been  equalled.  This  need  not 
blind  US  to  the  defects  of  his  mysticism,  which  tended  to  obscure 
the  movements  of  thought,  and  turn  it  aside  from  reality  and 
cxperience.  Cognition  becomes,  with  Plotinus,  too  little  an  appro- 
pviation  of  objective  truth,  too  much  something  eflfected  within  the 
soul  by  a  certain  interior  contemplation.  And  when,  rising  from 
self-contemplation,  man  attains  to  the  contemplation  of  the  One, 
he  loses  thought  and  self-consciousness,  and  a  state  of  ecstasy 
supervenes.  This  is  human  Cognition  at  its  highest,  in  the 
Plotinian  view,  To  this  end  mystical  asceticism  becomes  essential. 
This  somewhat  unnatural  feature  of  Neo-Platonism  —  an  asceticism 
directed  really  against  corporeal  nature  as  something  in  itself  evil 
—  made  it  incapable  of  efifecting  the  moral  regeneration  of 
Paganism.  In  his  vision  of  the  hidden  and  ineftable  Beauty, 
Plotinus  undoubtedly  tends  to  despise  the  thought  in  which  he  had 
before  taken  delight,  because  of  the  movement  which  such  thought 
involves.  With  great  power,  Plotinus  insists  on  the  need  to  find, 
and  recognise,  beauty  within  ourselves,  so  that  thus  we  may  rise 
to  the  recognition  of  „the  intelligible  beauty".  Such  beauty  is 
hid  but  from  the  soul  that  is  by  self-will  blinded.  We  need 
hardly,  however,  deny,  although  saying  these  things,  a  place  to 
meditation,  or  the  mystic  gaze  of  contemplation,  on  which 
Plotinus  lays  so  much  stress,  for  reason  may  be  fully  present 
where  thought  is  least  active  in  its  search  or  out-goings.  The 
baneful  result  accrues  when  the  mystical  or  ecstatic  elevation 
becomes  the  negation  of  reason,  and  there  is  no  doubt  that  this 
tendency  was  a  real  result  of  the  teaching  of  Plotinus.  Grave 
dangers  lurk  in  the  path  of  such  direct  vision  as  Plotinus  incul- 
cates.  Short  of  these  dangers  even,  the  solitude  he  contemplates 
for  US  —  as  what  he  calls  a  flight  of  the  alone  to  the  Alone  — 
is  apt  to  be  ratlier  unfruitful.  Besides  which,  it  is  a  graft 
on  his  philosophy  —  a  graft  from  his  religion  —  and  must 
be  treated  as  such  from  a  philosophic  point  of  view.  But 
the    ecstatic    and  subjective   experience   was  by  no  means  either 


478  James  Lindsay,  The  Philosophy  of  Plotinus. 

fount  or  foundation  of  bis  philosophy,  as  has  often  becn  imagiued. 

Virtue,  with  Plotinus,  is  „obedience  to  reason",  and  the  liighest  good 

is  reached  in  being  entirely  turned  to  reason,  and  „likeness  to  God". 

The  influence  of  Plotinus  on  subsequent  speculation  has  been 

great.     It    pervaded    the    Middle    Ages,    and  pierced   through  tlie 

Renaissance.      Senses    there    are    in    which    he    is    metaphysical 

precursor    of    Spinoza,    and    of    Spencer,    whose    Unknovvable    is 

declared  in  less  self-consistent  terms  than  that  of  Plotinus.     This 

it  not,   of  course,  to   say  that  Plotinus  has  conceived  or  defined, 

with  adequate  or  satisfying  definiteness,  his  primal  One  —  which, 

in  fact,   he  has  not  done,     But  Plotinus  has  continued  to  be  an 

original  spring  of  philosophic  thought  and  impulse  all  through  the 

history  of  speculation.     The  philosophy  of  Plotinus  has  the  great 

merit  of  magnifying  the  constructive  power  of  reason.     It  has  the 

further  virtue  of  emphasising  that,  as  all  thought  involves  duality 

or  difference,  so  God  must  precede  and  transcend  all  thought,   or, 

in    other  words,   it  had  the  merit   of  carrying  the  conception  of 

God  beyond   all    anthropomorphic  modes  of  expression    —  to  an 

Absolute,  in  which  all  thought  is  transcended,  and  all  consciousness 

lost.     But  such  an  unknown  God  would  be  of  little  interest,  since 

Hc  could  give  no  guidance  to  thought,  and  the  entire  movement 

of  mind  towards  Hirn  would  wear  an  abortive  and  illogical  aspect. 

So  the  Infinite  must  come  into  real  relation  to  us.     And  to  the 

Neo-Platonist,  it  sccmed  necessary  to  draw  himself  off  from  matter 

as  an  obstructive  medium.     His  upward  ascent  from  matter  is  in 

kecping  with  the  native  aspiration  of  the  human    mind.     So    the 

philosophy  of  Plotinus  was  able  to  give  distinctness  and  elevation 

to    the   Piatonic  philosophy.     Where  the  philosophy    of   Plotinus 

seemcd    most    to    lack,    was    in    its    need    of  nearer  and  kindlier 

contact    both    with  the  moral   problem   of  the  world,    and    with 

the  social  difficulty.     Surely  we  may   say  that  no  philosophy  can 

afford    either  to  shut  off  God  from  the  light  of  the  woild,  or  to 

shut  off  the  light  that  is  in  the  world,  from  God.     The   Divine 

Life,  in  its  unfoldings,   enfolds  our  lives,   so  that,   in  making  us 

partakers  of  its  own  natiire,  the  divine  purpose  in  these  lives  may 

freely  and  surely  move  to  its  accompiishment. 


XVUI. 

Les  Matlieinatiqiies  et  la  Dialectique  dans 
le  Systeme  de  Piaton. 

Par 
G,  Kodier,  Bordeaux. 

Platon  distingue,  dans  le  Politique^),  deux  sortes  de  sciences 
de  la  mesure  ([xs-pr^nxr^).  La  grandeur  et  la  petitesse,  dit-il,  ne 
doivent  pas  seulement  etre  appreciees  dans  leur  relation  reciproque, 
mais  aussi  par  rapport  ä  la  juste  mesure,  -po;  xo  pixpiov  ou  xaxa 
xTjv  x^?  ^evsaecoc  dva^xaiav  ousiav.  II  faut  renoncer  ä  soutenir  qu'il 
n'y  a  de  grand  que  par  rapport  au  petit  et  reciproquement,  et 
admettre  que  Tun  et  l'autre  peuvent  etre  par  rapport  au  üixpiov: 
st  -po;  u-/)osv  sxspov  xyjv  xou  fisi^ovo;  sacis'.  xic  cpuaiv  r^  zpö;  xo-jXaxxov, 
oux  saxoti  7:oxs  Trpo;  xö  [xsxpiov  -^  "fip;  (284  A).  La  mcme  distinction 
est  dejä  iudiquee  dans  le  Protagoras'),  oü  nous  lisons  que,  si 
le  bonheur  consistait  ä  rechercher  et  ä  choisir  les  grandes  dimen- 
sious  et  a  eviter  les  autres,  ce  serait  l'art  de  la  mesure  qui  nous 
l'assurerait,  et  qu'en  fait  c'est  bien  la  metretique  qui  doit  nous 
servir  de  guide,  mais  une  metretique  speciale  (usxoYj-txrj  xic,  357  A), 
Celle   qui  a  pour  objets  l'exces  et  le  defaut  (uirspßoXrp  xs  xal   =v- 


J)  283  C  sqq. 

-)  35GD  sqq.:  d  ouv  h  xojtiij  Tf,iJ.Iv  f^v  t6  eu  TTpaTxeiv,  h  xiu  xd  [aev  [xz^dla 
(jLrjXT]  xal  -pccTXEtv  vm  XafjLßavstv,  xa  U  (xixpä  xai  tpi'jyetv  xai  [atj  Trpct'txeiv,  xf; 
av   fjijiiv  acoTTjpia  rfavrj  toü  ßfo'j;  ap'  ^j  [AErprjxtXT)  te/vt)  .  .  .  xtX. 


480  G.  Rodier, 

osta?  xiyvr^).  Cctte  proposition  paradoxalc  que  le  grantl  et  le  petit 
peuvent  avoir  un  sens  independamment  de  leur  lelation  rcciproque, 
a  manifestemcnt,  aux  yeux  de  Platou,  la  plus  grande  importance. 
Non  seulement  il  la  repete  avec  une  insistancc  significative  (283  D; 
E;  284  A;  B;  D),  mais  il  la  considere  comme  le  peudant  de  la 
conclusiou  ctablie  dans  le  Sopliiste  sur  l'existence  du  uon-etre: 
xai)aTCSp  iv  zm  aocptar^]  T:poarjVcc(xa!3a[i.£v  sivat  xö  ar]  ov,  ....  ouxto 
xai  vuv  t6  ttXsov  au  xal  iX^ixov  p,öxp-/)xa  TrpiocJava-cxotaxsov  «^qvsaOai 
ij-Tj  TTpo?  äXkr^a  [j.6vov  otXXoc  xcd  Trpo;  xtjv  xou  jjisxptou  -^svcatv.  Malheu- 
reusement,  daus  le  Politique,  eile  est  plutot  postulce  que  de- 
montree,  et  le  sens  meme  n'en  est  pas  explicitemeut  indique. 
Toutefois,  une  chose  au  nooins  y  apparait  clairement :  c'est  que 
l'art  de  la  mesure  qui  ne  tient  compte  quo  de  la  grandeur  et  de 
la  petitesse  relatives  l'une  a  l'autre  et  qui  ne  s'occupe  pas  du 
grand  et  du  petit  rapportes  a  la  convenance  ou  ä  la  juste  mesure, 
consiste  dans  les  mathematiques^).  Mais  ä  quoi  correspond  l'antre 
espcce  de  metretique?  Est-ce  de  la  dialectiquc  qu'il  s'agit,  et,  en 
ce  cas,  commcnt  faut-il  concevoir  ses  rapports  avec  les  niathe- 
matiques? 

De  toutes  les  sciences,  les  mathematiques  sont,  pour  Piaton, 
Celles  qui  se  rapprochent  le  plus  de  la  dialectique.  II  y  a,  sans 
doute,  une  geometrie  et  une  arithmetique  vulgaires,  mais  il  faut 
avoir  bien  sein  de  ne  pas  les  confondre  avec  la  geometrie  et 
l'arithmetique  philosophiques  qui  considereut  des  figures  abstraites 
et  des  unitcs  absolument  egales  et  homogenes*);  le  mouvement 
vrai,  le  nombre  vrai,  la  figure  vraie  n'ont  plus  rien  de  sensible^). 
Aussi  les  mathematiques  constituent-elles  la  meilleure  preparatiou 


2)  Pol.,  ■284E:  £V  jj.£V  T[!)dvT£s  aütr);  (sc.  xt]c,  fjLeTpTjTixT)?)  fAoptov  ?u|j.TOaas 
TEyvas,  ÖTidaai  töv  cipiDp-öv  xai  (^-/jxr)  xat  ßcc'ör)  xai  TrXaTT)  xai  Tajfüxrjxa?  rpo? 
TO'jvavTi'ov  [j.£xpoüai,  x6  oe  exepov,  ÖTro'aat  Trpos  xö  (j-expiov,  -/ai  xö  TipeTTOv  xal  xov 
■icatpov  xai  xö  o^ov  .  .  .  xxX. 

■*)  Phil.,  56 D  sqq.:  xf  oe;  ^oyiaxt-/.))  xat  (j.sxpTjTixrj  rj  -/axa  xexxovtxTjV  xai 
xax'  Ijj-TTopixrjv  tt]?  xaxä  (piXoaocpfa?  Y£U)[j.£xpio(c  xe  xat  Xoyta[j.tüv  xaxa(XEXexu)[X£vu)V 
TioxEpov  (MS  fAt'a  ExaxEpa  Xexx^ov   (^  O'jo  xi9(I»[J.Ev; 

^)  11  ep.,  VII,  52'JD:  xö  öv  xdyo(;  xai  ii  oüaa  ßpaouxrjs  ^v  xtü  äX7]9tviu 
äpiOpiw  xai  Ttäat  xoT?  äXrjOEai  o/rjfjLaot  .  .  .  a  o/j  Xoyu)  [aev  xai  ötavotqt  XrjTcxa', 
0(j;£i  0  o'j. 


Les  Mathematiques  et  la  Dialectique  claus  le  Systeme  de  PlatoD.      481 

a  la  dialectique'^).  Mais  il  y  a  plus:  il  semble,  a  certains  egards, 
que  les  mathematiques  se  coufondent  avec  la  dialectique  elle-memc. 
Les  scieuces,  dit  ä  pcu  pres  textuellement  le  Philebe'),  noat 
guere  de  veritablement  scientifique  que  ce  qu'elles  contieuueut  de 
mathematiquc;  il  est  questiou,  dans  le  meme  dialogue,  de  la  sphcre 
en  soi  (62  B:  acpcttfia;  auxr^<;  i^;  Ocicts).  Nous  lisons  dans  le 
Phedon^)  que  l'ame,  anterieuremeiit  a  son  existence  ici-bas,  a 
coutemplc  regalite,  la  grandeur  et  la  petitesse  et  toutes  les  choses 
de  ce  genre.  Comme  la  dialectique,  les  mathematiques  ont  pour 
objet  l'etre  eternel  soustrait  au  deveuir^).  Les  choses  mathema- 
tiques sont  saisies  par  la  meme  iatuitioii  intellectuelle  que  les 
Idees^°).  Enfin,  la  connaissance  des  concepts  mathematiques  a  la 
meme  origine  en  nous  que  celle  des  Idees:  c'est  a  la  reminiscence 
que  nous  devons  l'une  et  l'autre").  Quelle  difference  y  a-t-il  donc 
entre  la  dialectique  et  les  mathematiques?  —  Dans  le  passage  du 
Politique  oü  les  deux  sortes  de  metrctiques  sont  comparees  Tunc 
a  l'autre,  Piaton  emploie,  pour  caracteriser  la  seconde,  celle  qui 
tient  compte  de  la  juste  mesuie  et  de  la  conveuance,  les  expressions 
xctxa  TT^v  -r^s  '(zviasmc  dvoc^xotiav  ouaiav.  Nous  trouvous  plus  loin, 
ä  deux  reprises  difterentes.  que  cette  sorte  de  [isxpTjTixy]  a  pour 
but  TTjV  Tou  |j,sTptou  -(iveaiv.  —  Etant  donne  que,  dans  les  trois 
passages  oü  les  deux  sortes  de  metrctiques  sont  opposees  l'une  a 
l'autre  d'une  fagon  precise,  l'expression  ■ysvsai;  est  toujours  employee 
ä  propos  de  la  seconde,  nous  devrions  admettre,  semble-t-il,  que 
ce  terme  designe  un  attribut  caracteristique  de  celle-ci,  (|ui 
n'appartient  pas  a  la  premiere.     Mais  une  autre  chose  encore  doit 


6)  Rep.,  VII,  a  partir  de  522 Ü. 

^)  55  E  :  otov,  nccaüiv  tiou  T£'/v(üv  dv  xi;  (ipt9[j.T,Ttv,rjv  j^topt^T)  xat  (j.£Tpr,Tixr)v 
y.ai  STarix-^v,  oj;  Itto?  efTtstv,  cpaüXov  xo  xocTC(X£t7id[J.£vov  IxaaxT];  av  -ji-cJoiTO. 

*)  75  C :  oü  (J.OVOV  xo  i.'aov  xat  x6  [j.£tCov  "/ai  x6  eXaxxov  äXXd  xai  ^'jijLTiavxcz 
xä  xoiaüxa.     Cf.  74  E_:  aüxo  xo  t'aov. 

^)  Rep.,  VII,  527B:  .  .  .  ib;  xoü  ad  ovxo;  ■^wvn'szwi  akV  o'j  xoü  -oxe  xt 
YlYvo[j.£vou  xal  ä7roXXu[j.QVou.  £üO|j.oXoyoxTjXov,  ecctj.  xoö  yip  dd  övxo;  /)  yEiup.ixptxrj 
yvöiaic  Eoxiv. 

'")  Ibid.,  525  A;  C:  ouxto  xwv  dytuywv  civ  eI't)  xai  p.£xaaxp£itx[xcöv  sm  X7]v 
xoü  ovxo;  y£av  ij  uEpi  xo  ev  p.diirjat?  .  .  .  äXX'  k'tus  dv  ini  Deav  xf,?  xuJv  dptOpiüJv 
cpüa£ü);  dcpixü)vxat  x^j]  voi^a£i  auxT].  .  .  . 

1')  Man.,  82B  sqq.;  Phedon,  73A. 


482  ö.  Kodier, 

attirer  l'attention:  c'est  Ic  rapprochement,  dans  le  premicr  de  ces 
passages,  des  mots  7£V£CJt?  et  oustot.  Le  plus  souvent,  Piaton  oppose 
directement  la  ylvsat?  a  l'ouata,  comme  le  phenomene  a  l'ctre"); 
ouaia  de.signe,  presque  constamment,  l'etre  vcritable  ou  l'Idee. 
Uno  generation  qui  a  pour  objet  une  ouai'a,  iic  peut  donc  pas  etre 
une  generation  au  scns  physique  et  sensible  du  mot.  La  Ysvsais 
dont  il  est  question  ici  est,  bien  plutot,  la  generation  logique  qui 
constitue  la  vraie  division'')   et  qui   nous  empeche  de  poser  par 

12)  Cf.  B.Ritter,  Piatos  Politicus  Beiträge  zu  seiner  Erklärung, 
Progr.  Ell  Wangen,  1896.  —  Rep.,  VII,  534  A;  525  B;  Tim.,  29  C  et  saep. 

13)  II  nous  parait  impossible  d'admettre  que  Piaton  lui-meme  ait  considere 
les  divisions  qui  servent  ä  trouvcr  les  definitions  du  sophiste  et  du  politique, 
du  pecheur  ;i  la  ligue  et  du  tisserand,  comme  des  exemples,  au  sens  propre 
du  mot,  de  la  division  veritable  qui  est  une  moitie  de  la  dialectique.  Ce  ne 
sout  que  des  exercices  propedeutiques,  destines  a  en  donner  une  idce  exterieure 
et  approximative.  D'abord,  en  effet,  si  la  division  proprement  dite  n'etait 
rien  de  plus,  on  ne  comprendrait  guere,  ni  l'admiration  de  Piaton  pour  celle-ci, 
ni  son  insistance  a  en  faire  ressortir  les  immenses  difficultes.  Est-ce  bleu  ä 
ces  classifications,  trop  arbitraires  pour  qu'il  soit  Jamals  impossible  d'en  venir 
a  bout,  que  pourrait  s'appliquer  le  mot  de  Socrate  dans  le  P  bliebe  (16  B): 
Ol»  [J.T]v  saxt  zaXXt'üJv  öoo?  cjo'  av  yevoito,  rfi  v(ui  IpaST/i?  piv  e(fj.t  izl,  TroXXctxi; 
U  (J.C  7/07)  otacpuyoüaa  £prj|j.ov  xott  ctTiopov  v.aTeaTr^se  .  .  .  r^v  OTjXöiaai  [jiv  ob  Tiavu 
yaXsTiov,  ypriaöat  o£  -ayx«Xe7:ov.  '  En  outre,  un  des  caracteres  les  plus  essentiels 
de  la  dialectique  est,  d'apres  Piaton,  qu'elle  doit  accomplir  sa  fonction  inde- 
pendarament  de  tonte  donnee  sensible  et  empirique  (Rep.,  "VI,  5I1C:  a{a9rjTtt) 
7iavTC(7raatv  oüoevl  7rpoa-/pa)p.£Vos  .  .  .  xxX.  Ibid.,  VII,  532  A:  tiu  oiaX^yeaSai 
rhvj  TiaaüJv  twv  otfaö/jaewv  oiä  xoü  Xoyou.  Phil.,  58 A:  La  dialectique  a  pour 
objet  TÖ  ov  7.at  xö  ovxu);  v.cd  x6  y.axd  xaüxov  äel  7iecpu-/.ds)-  Comment  admetlre 
qu'il  ait  pu  se  meprendre  au  point  de  considercr  comme  satisfaisaut  a  ces 
conditions,  des  recherches  uniquement  fondees  sur  les  faits  et  l'experience 
sensible  et  aboutissant  a  l'absurde  des  qu'elles  s'en  ecartent  tant  soit  pcu? 
Enfin,  dans  le  Politique  meme  (287  A  et  285 D),  ces  recherches  ne  sont  pas 
presentees  comme  devant  avoir  pour  resultat  immediat  la  Constitution  d'une 
partie  de  la  science  dialectique,  mais  seulement  comme  des  exercices  pre- 
paratoires  destines  a  nous  rendre  plus  aptes  ä  la  pratiquer  (otaXexxixuixspo'j;). 
Les  veritables  exemples  de  division  dialectique  que  Ton  trouve  dans  Pl&ton 
ne  sont  pas  ceux-lä.  Ce  sont  ceux,  ayant  naturellement  pour  objet  les  con- 
cepts  les  plus  göneraux  et  les  plus  simples,  que  nous  offrent  le  Parmenide 
et  le  Sophiste.  Nous  ne  pvetendons  pas  que  Piaton  ait  vraiment  reussi  ä 
faire  sortir  a  priori,  de  l'etre,  le  mouvement,  le  repos  etc.  Mais,  quelle  que 
soit  la  valeur  de  son  argumentation,  c'est  plutot  lä  qu'il  faut  chercher  la 
division  dialectique  que  dans  les  classifications  puremcnt  empiriques  dont 
nous  avons  parle.     11  est  assez  caracteristique  que  les  cousideratious  du  So- 


Les  Mathematiques  et  la  Dialectique  (laus  le  Systeme  de  Piaton.      483 

exemple  l'etre,    sans  poser,   en  consequence,    le  mouvement  et  le 

repos,  le  mcme  et  l'autre  ete'^).     Le  meme  rapprochement  ne  se 

retrouve,  a  notre  connaissance,  que  dans  un  autre  passage  de  Piaton. 

Le  mixte  est  designe,  dans  le  Philebe^^).  par  les  mots  de  ysyscii; 

zU  oust'otv.     Or  il  nous  parait  au  moins  tres  vraisembable  que  le 

fiixxov  du  Philebe  comprend,  entre  autres  choses,  les  Idees'^).  A 

l'observation  de  Zeller,  que  l'appellation  de  "j-evsai?  zh  ouctav  ne 

saurait   convenir  aux  Idees  qui  sont  soustraites  au  devenir"),  on 

peut  opposer  que  l'appellation  de  ouaia  peut,  encore  moins,  s'appli- 

quer    au   sensible.     Du    reste,    un   celebre  passage    du  Sophiste 

(248  A  sqq.)  prouve  que  c'est  bien  d'une  generation  des  Idees  que 

Piaton   entend  parier;   c'est    celui  oii   il  reproche   aux  Megariques 

d'exclure   absolument   la  '(ivzan;  de   l'oucta:    -(ivsaiv,    -yjv   o'   ouaiocv 

^tupi?   TTOU   oisXofjLsvoi  Xs^sTs:  ri  '(«p;  cf.  248C:   irpos   or]    -autot    toos 

Xi-^ooaiv,  oTt  i'cvsasi  ixlv  jistsaxt  tt^s  tou  Tzdaytv^  xal  ttoisiv  ouvaij-öcoc, 

Trpo;   8'   ouai'av   xouttuv   ouoexspou   xtjv    ouvafj-iv    otpjJioxxstv  cpaai'v.  —  II 

y  a  donc  une  generation  des  Idees,  et  c'est  cette  generation  qui 

fait    l'objet    de    la    metretique   superieure    ou    de    la    dialectique. 

Est-ce  lä  son  caractere  distinctif,  et  est-ce  par  la  qu'il  faut  ad- 

mettre  qu'elle  differe  de  la  science  mathematique?    Cette  Solution 

est  exclue  ä  la  fois  par  le  temoignage  d'Aristote  et  par  les  propres 

assertions  de  Piaton.     Aristote^^)  nous  apprend  que  Piaton  eugeu- 

drait  la  ligne  Ix  [jiaxpou  xal  ßpaj^loc,  la  surface  sx  TrXaxso;  xotl  axcvoo, 

le  volume    sx   ßaOso?  xotl  xatrcivou,   et  ce  que  nous  lisons  a  la  lin 

du    XIIP    livre    de    la    Met aphysique'^)  sur    la   generation   du 

phiste  (253 B  sqq.)  sur  la  methode  de  division  soient  precisement  intercalees  au 
milieu  de  cette  sorte  de  division  rationuelle  du  genre  de  Tctre.  De  meme 
que  le  grammairien  sait  combiner  les  lettres  pour  faire  les  syllabes,  de  meme 
le  dialecticien  sait  combiner  les  genres  pour  faire  les  genrcs  plus  complcxes 
(Soph.,  252  E  sqq.);  et,  si  le  sophiste  est  un  homme  qui  sait  faire  les  simu- 
lacres  des  choses  (Ibid.,  233  D  sqq.),  ne  devons  nous  pas  eu  conclure  que 
le  dialecticien  est  celui  qui  sait  faire  les  realites? 

1^)  Aristote  emploie  coustamment  les  mots  yevvöcv,  yEvväaöat  quand  il 
s'agit  de  la  generation  des  Idees-nombres.    Cf.  Meta.,  A,  6,  987b,  34  et  saep. 

15)  26  D. 

^^)  V.  nos  Remarques  sur  le  Philebe,  Revue  des  Etudes  anciennes 
(Annales  de  la  Faculte  des  lettres  de  Bordeaux),  t.  II,  p.  87. 

"')  Ph.  d.  Gr.,  II,  1*,  p.  692,  n.  1. 

'8)  Meta.,  A,  9,  992a,   10  cf.  M,  2,  1077a,  23. 

19)  1085  b,  4. 


484  G-  Rodler, 

nombre,  s'applique  aussi  bicn  au  uombrc  raathcmatiqiie  qu'au  uoiubre 
ideal.  D'autre  part,  nous  voyons  dans  le  Timce^°)  que  les  volumes 
sont  engeudrcs  par  les  surfaces,  les  surfaces  par  les  triangles  et 
tous  les  triangles  par  le  scaleue  et  Tisoccle  rectangles.  Enüti, 
dans  le  Phil  ob  e^'),  a  l'observation  de  Socrate  qui  fait  remarquer 
que  l'operatiou  de  l'egal  et  du  double  (irspa?)  sur  FaTrsipov  produit 
le  nombre,  Protarque  rcpond:  [j-avöavoi-  cpaivst  yj.^j  fxoi  Xs-^öiv,  [j.i-jvus 
Tctuia,  'i'evsasis  xiva?  sc'  exaaioDv  «üxüiv  aujxßaivciv.  Los  concepts 
mathcmatiques  sont,  tout  comme  les  Idees,  des  mixtes  engendres 
par  le  nielange  du  Tcipaq  et  de  rdcirstpov^^).  C'est  donc  ailleurs 
qu  11  faut  cherclier  la  difterence. 

Puisque,  dans  la  definition  de  la  mctretique  qui  a  pour  objet 
xrjv  TTj?  Y^viaeo)?  ava'j'xaiav  ousiotv,  ce  ne  sont  pas  les  mots  x^s 
7£V£ö£(i)?  qui  en  expriment  le  caractere  propre  et  distinctif,  c'est 
Sans  deute  dans  otva-jxatav  ouaiav  qu'il  faut  le  trouver.  Nous  lisons 
dans  le  Philebe^^)  que,  pour  expliquer  les  choses,  il  faut  ad- 
mettre,  indopendamment  de  l'infini  et  de  la  limite,  dont  le  melange 
les  constitue,  un  autre  principe,  a  savoir  la  cause  (atxia)  de  ce 
melange.  II  faut  distiuguer,  dit  Piaton  un  peu  plus  loin^')^  1'^ 
gcncration  (-(EvsaiO  et  Tessence  (ouatot).  De  ces  deux  choses,  c'est 
la  seconde  qui  est  le  but  de  la  premiere:  chaque  gcncration  a 
pour  flu  une  ouai«,  et  toute  la  generation  a  pour  fin  toute  roüaia: 
£X7ax-/jv  8£  -(Iveötv  aUrjV  ä'XXyjs  ouata?  xivo^  Exacxyj?  svexa  i'q'VEaöai, 
^ufjiTraaav  §£  flvEOiv  ousia?  fvExa  -"j'qvEaOai  ^ufXTraayjs.  Or  ce  en  vue 
de  quoi  se  produit  tout  ce  qui  se  produit  £v  x-^J  xoij  a.'(ci\}rjo  ij-oipa 
IxsTvo  Esxi.  La  cause  de  la  generation  c'est  donc  la  linalite  ou 
le  bien.  Le  Politique  nous  dit,  de  mcme,  que  la  mctretique 
supcrieure  doit  considcrer  xö  p-lxpiov  xcd  xo  TTpiirov  etc.  Cela  nous 
indique  en  quoi  la  ^ivEat?  des  concepts  mathcmatiques  diftere  de 
la  7£V£(3is  des  Idees.     La  premiere  est  une  generation  oü  la  finalite 


20)  53  sqq. 

21)  25  E. 

2-')  Cf.  Phil.,   25  A:    o  t(  irsp    ctv    Tipo;  äpiO|j.6v    äpiO|i.ö?    t]  [AExpov    f,  lipo; 
[jL^rpov. 

23)  26  E  sqq. 

24)  54  A  sqq. 


Les  Mathematiqnes  et  la  Dialectique  dans  le  Systeme  de  Piaton.      485 

ne  joue  auciin  role  et  qui,  par  suite,  n'engendre  que  des  possibi- 
lites,  non  des  realites,  car  toute  generation  d'uue  cliose  reelle  est 
en  vue  d'une  fin^^).  Le  monde  des  mathematiques  reste  un  monde 
de  pures  possibilites  parce  que  le  principe  du  bien  n'y  joue 
aucun  role. 

Cette  Interpretation  de  la  distinction  Platonicieune  des  deux 
metretiques  nous  parait  confirmee  d'abord  par  la  fin  du  VI''  livre 
de  la  Republique,  le  seul  endroit,  a  notre  connaissance,  oii  Platou 
oppose  explicitement  les  mathematiques  ä  la  dialectique,  en  second 
Heu  par  les  indications  d'Aristote  sur  la  difTerence  des  nombres 
mathematiques  et  des  Idees-nombres. 

üansle  celebre  passage  de  laRepublique^*^),  Platou,  apres  avoir 
distinguc  deux  especes  d'intelligibles,  caracterise  ainsi  ceux  qui 
fönt  l'objct  des  mathematiques:  toüto  toivuv  votjtov  jisv  xo  sloo? 
iXe-^ov,  uTToOsScCit  o'  ava^xcxCoiJ-sv/iv  '^oyr^v  )(p7jai)7.t  Trspi  Tr,v  C,r^Tr^alv 
auTou,  oux  STC  c«p)^rjV  loOaav  ojc  ou  ouvafjisv/jv  täv  uTroOsastuv  avcu- 
xepto  sxßatvstv,  stxoat  os  ypcofxlvr^v  ctutoT?  Tolq  otto  xüiv  xocxo)  arceixa- 
aösiai  . .  .  etc.  Quelques  lignes  plus  haut,  il  explique  ce  qu'il  faut 
enteudre  ici  par  hypotheses:  ot  izapi  x«?  YS"^P--'^P'°t*  •  •  •  ''^~^-  •  •  • 
u-oöstxsvoi  x6  xe  Tteptxxov  xai  xb  apxiov  xott  xa  ayrniaxa  v.a\  "((oviüiv 
xptxxa  si'Sr]  xal  aWa  xouxoov  aSsXcpa  xai)'  exasxr^v  [xedoSov,  xauxa  [isv 
u)C  stSoxec,  TTotyjaafjLSVoi  UTroOlaei?  auxa,  ouosva  Xo^ov  ouxs  auxot?  ouxe 
aXXoi;  £xi  d?iouai  irept  otuxwv  oioovai  oj;  Travxl  cpctvepuiv,  sx  xouxojv 
o'  dp)(6(jL£voi  xa  Xoi-ira  Yjorj  ois^iovxs?  xeXeuxoiaiv  6(i.o>vOYOufxsva>;  stti 
xouxo  ou  av  ETTt  ax£«|/iv  opfxr^cjcuaiv.  Enfin,  un  peu  plus  haut  encore, 
nous  voyons  que,  dans  les  mathematiques,  Tfime  xoT?  xoxs  x[j//jOeraiv 
(c'est  a  dire  les  donnces  sensibles  qui  ont  ete  anterieurement  di- 
visees)  wg  sixoat  ^^ptofisv/j  C'/J'^s^v  dva^xaCExai  e^  uTioösastuv,  oux  sir' 
dp-/7jv    TTopsuofisvTj,    otXX'    £TTt  xsXeuxyjv.     D'aprcs    un  grand  nombre 


2^)  Cf.  Phil.,  64 A:  äXka  [atjv  xat  xdoe  ye  dvayzalov,  xctt  oux  ä'ÄXo)?  av  Tioxe 
YEvotTO  O'jo'  av  £v.  —  xö  TTOIov;  —  (5  [j.Yj  [j.isop.iv  äX/jOstav  oüx  av  ttote  xoüt' 
äXYjtlüJs  Y'P°''^°'  °^°'  ^'^  Yevd|j.£vov  e'i,V].  —  Daus  cette  phrase,  on  l'a  remarque 
TApelt,  Arch.  f.  G.  d.  Pli.,  t.  X,  p.  Iß),  äXiqileia  designe,  comtne  dans  beaucoup 
d'autres  passages  de  Piaton  (Rep.,  VI,  5011);  508 D  et  saep.),  la  realite;  et 
la  generation  purement  possible  qui  s'opposo  ;i  celle  dont  il  est  question  ici 
est  notamiuent,  sinon  uniqueinent,  Celle  de  coucepts  matliematiqiies. 

■^'')  5 1 1  A  sqq. 


486  G.  Kodier, 

d'interpretes,  Piaton  voudrait  dire  que  la  methode  des  geometres 
dillere  de  celle  des  philosophes  eu  ce  qu'elle  prend  pour  point 
d'appui  uu  Clement  emprunte  ä  l'experience  et  qui  est  une  simple 
image  de  l'Idee,  au  Heu  de  se  mettre  en  presence  de  l'Idee  pure. 
Zeller -^)  estime  que  ce  qui  distingue  les  mathematiques  de  la 
science  au  sens  etroit  du  mot,  c'est  qu'elles  fönt  connaitre  l'Idee, 
non  purement  en  elle-meme,  mais  dans  les  objets  sensibles.  Ce 
n'est  point  en  cela,  a  notre  avis,  que  consiste  la  diflerence.  Piaton 
est  le  premicr  a  reconnaitre  que  la  figure  dont  s'aide  le  geometre 
n'est  pas  Tobjet  de  la  demonstration^^)  et  que  le  triangle  qu'il 
considere  n'est  pas  le  triangle  sensible,  mais  celui  que  oux  av 
aXXu)?  looi  Tt?  T]  x-fl  oictvoia.  Dira-t-on  que  le  sensible  joue  un  role 
dans  les  mathematiques,  precisement  parce  que  c'est  dans  les 
figures  sensibles  qu'il  faut  apercevoir  les  figures  intelligibles?  Mais 
on  pourrait  faire  exactement  le  memo  reproche  a  la  dialectiquc, 
puisque  c'est  par  la  connaissance  sensible  que  celle  de  l'Idee  est 
provoquee  gräce  a  la  reminiscence.  Ce  que  Piaton  veut  dire  et 
dit  aussi  nettement  qu'on  peut  le  desirer,  c'est  que  les  definitions 
mathematiques,  principes  des  demonstrations,  sont  des  hypotlicses 
et  restent  des  hypotheses;  que  le  geometre  raisonne  ainsi:  si  le 
triangle  est  et  est  teile  chose,  teile  autre  chose  s'ensuit.  Mais  que 
le  triangle  existe  en  realite,  c'est  ce  quil  prend  pour  donne  et  ce 
qu'il  ne  demontre  pas^^).  II  resulte  assez  clairement  des  passages 
de  laRepublique  que  nous  venons  de  citer,  que  tel  est  bien  le 
sens  attribuc  par  Piaton  a  Cr^zaiv  i^  uttoOsssoj?.  Mais  un  texte  du 
Menon  le  confirme  jusqu'a  l'evidence:  j'entends  par  i^  ur.oHazo); 
axoTTsiaÖai,  dit  Socrate,  la  fayon  dont  proccdent  souvent  les  geo- 
metres lorsqu'on  leur  pose  une  question,   et  qu'on  leur  demande, 

")  P.  d.  G.,  II,  1*,  p.  G34:  von  der  Wisscnscliaft  im  engeren  Sinne  (sc. 
unterscheidet  sie  diess),  dass  sie  die  Idee  nicht  rein  für  sich,  sondern  erst 
am  Sinnlichen  erkennen  lassen. 

2»)  1.  1.:  Toi;  öpcofAEVOi;  ei'oeai  Tipoaypüivtat  -ical  to'js  Xclyou;  irepl  aütcöv 
TTOiO'JvTat,  ou  itepl  toÜtüjv  0[avoo6[j.evot,  äXX'  Ixeivtuv  Tiepi,  ok  xauTa  £Ot-/.e,  xoü 
TiipcifMWJ  ahzo'j  svexa  to-j;  Xdyou;  TTOtoüfAEvoi  xai  otajXExpo'j  «üttj?,  dXlC  ob 
TaÜTTj?  TjV  Ypc<cpo'jat,  v.aX  toKKol  o'jtüj;  .  .  .  xtX. 

23)  Cf.  Arist.,  An.  post.,  II,  9,  93b,  24:  /.ac  y«P  ^<-  ^«'  ^'l^  f^°^^oa 
ü-ot(&£Tcti  (sc,  b  cJptS(jLT)Tixö;)  xal  fki  eattv. 


Les  Mathematiques  et  la  Dialectique  dans  le  Systeme  de  Piaton.     487 

par  exemple,  si  tel  triangle  est  inscriptible  daus  tel  cercle.  Je  ne 
sais  pas,  repondent-ils,  s'il  eu  est  ainsi;  mais  voici  une  hypothese 
qui  peut  servir  a  resoiidre  la  question:  si  tel  angle  est  egal  a  tel 
autre,  teile  chose  en  resulte  et  teile  autre  chose  s'ensuit,  au  con- 
traire,  s'il  n'est  pas  egal.  De  meine,  pour  raisouner  sur  la  vertu 
a  la  fa^on  des  geometres,  nous  devrons  dire:  Si  la  vertu  est  ceci 
ou  cela,  il  en  resulte  qu'elle  peut  ou  qu'elle  ne  peut  pas  s'enseiguer. 
En  somme,  les  demonstrations  des  mathematiques  sont  necessaires, 
mais  leur  point  de  depart  est  la  defmition  d'une  possibilite,  et  le 
mathematicien  ne  s'occupe  pas  de  savoir  si  celle-ci  correspoud  ou 
non  ä  une  realite.  C'est  pour  cela  que  la  marche  des  mathema- 
tiques n'est  pas  It:'  otp^rjV  mais  kin  xsXsuTr^v.  Au  lieu  de  s'attacher 
a  remonter  d'abord  au  principe,  elles  demontrent  la  consequence 
du  principe  hypothetiquement  admis.  II  n'y  a  en  elles  que  ce 
genre  de  necessite  qu'Aristote  appellera  precisement  ava-jXYjv  s? 
rj-Kobiazio; :  si  la  maison  existe,  les  fondations  existent.  La  dia- 
lectique, au  contraire,  n'atteint  pas  seulement  le  possible  ou  les 
consequences  necessaires  du  possible,  mais  elles'eleve  d'abord  jusqu'au 
principe  universel  des  choses  et  redescend  ensuite,  de  ce  principe, 

jusqu'aux  dernieres  realites:  ...  6  Xo-^oq ~-q  xoo  oiotXs^saöai 

Suva[xei,  xa?  uTroftsasi?  ttoioujxsvo;  oux  ap;(a?,  aKkä  xw  ovxi  uiroösaeic, 
otov  STLißaasts  xs  xal  6p[Jtots,  iva  [J-sypi  xou  dvuTioösxou  s::!  xtjv  xoS 
Travxö?  dp'/jiv  ia»v,  a'La[j.evos  auxTJ?,  ttk^iv  au  £/6[xevo;  xoiv  ixst'vr^? 
£j(0{x£va)v,  oüxo)?  ETTi  xE^Euxr^v  xaxotßotivcj,  aiGÖ'/jxw  Travxociraaiv  ouosvl 
•7:poa)(ptü[XEvoc,  7.XX'  si'Ösaiv  auxoT?  oi'  auxcüv  si?  auxa  xai  xsXsuxa  ek 
Etörj.  On  reconnait  aisement  ici  la  dialectique  ascendante  et  la 
dialectique  descendante,  la  auva^cu^yj  et  la  hiaiptaig.  La  premiere 
consiste  ä  s'elever,  d'Idee  en  Idee,  jusqu'ä  l'avuTto&Exov  qui  servira 
de  principe  pour  parcourir  la  meme  serie  en  sens  inverse,  mais, 
cette  fois,  en  engendrant  rationnellement,  gräce  au  principe  decou- 
vert,  chacune  des  Idees  que  l'on  posera.  La  division  apparait 
ici  comme  le  plus  important  des  deux  moments  de  la  dia- 
lectique et  le  seul  qui  seit  vraiment  rationnel.  La  dialecti- 
que ascendante  monte,  de  generalite  en  generalite,  jusqu'au  prin- 
cipe des  choses;  les  Idees  ne  sont  encore  pour  eile  que  des  points 
d'appui  (s-ißotcjai;  xoct  opfxa?)  pour  arriver  jusqu'ä  lui.    Elles  restent 


J 


488  ^-  Kodier, 

des  generalites  empiriques  jusqua  ce  que  la  division,   partant  du 
principe  qu  ellcslui  ont  permis  d'atteindre,  les  construise  rationuelle- 
ment,  et  c'est  bieu  ä  la  division  seule  qu'il  faut  appliquer  les 
mots  eiosaiv  auioTc,    oi'  otuiÄv,   d;  otuTa  etc.     Le  principe  que  Ton 
atteint  ainsi  c'est  le  Bien:  xal  xoT?  7qv{uaxo]j.lvoi?  toivuv,   [xtj  jxovov 
TÖ  Yi-j'vwsxssOai  odvai  dizo  tou  d^adoo   uapeTvai,  afXd  xcti  to  sTvai  xs 
zoti   i7;v    ouaiOLV    u-'    i/eivou    auTOis   rpoosTvai,    oux    ouai'a;   ov-oc   tou 
7.Y7.9ou,  dXX'  Sil  ETTSXoiva  xr^c  oöata;  irpecißsia  xal  ouvotfiei  uTrspsyovxo?^"). 
Ainsi,   d'apres  la  Republique   comme  d'apres  le  Politique,    ce 
qui   fait  la  superiorite    de    la  dialectique  sur    les  matliematiques, 
c'est  qu'elle    est  en  possession  d'un   principe  qui    lui    permet  de 
construire  non  plus  de  simples  possibilites,  mais  des  realites,  et  ce 
principe  est,  d'apres  les  deux  dialogues,  celui  du  Bien.     II  est  au- 
dessus  des  essences  parce  que  c'est  lui  qui  permet  de  les  engendrer; 
il  les  surpasse  en  puissance  (ouva[i£i),  parce  qu'il  est  leur  cause,  et  lui- 
meme  et  sans  cause  est  sans  generation  (ou  -(ivzaiv  auxov  ovxct).  Le  prin- 
cipe de  finalite  est  donc  la  loi  et  le  moteur  de  la  dialectique  descen- 
dante  et,  de  fait,  dans  l'exemple  de  division  veritable  que  nous  offre  le 
Sophiste,  nous  voyons  que  c'est  sur  la  finalite  et  sur  la  convenance 
que    Piaton  s'appuie  pour  passer  de  l'etre  au  mouvement   et   au 
repos^').    La  source  des  existences  est  l'Un  ou  le  Bien  ^-),  et  la  finalite 
dirige    le    courant    contiuu    qui   s'en    epanche.     Les  principes  du 
raatliematicien,   au  contraire,   restent  des  hypotlieses  isolees,    que 
rien  ne  relie  au  principe  de  toute  existence.     A  tort  ou  a  raison, 
Piaton  croit,  comme  Aristote^^),  que  la  definition  liypothetique  de 
la  figure  peut  se  poser  independamment  de  celle  du  nombre,   par 
exemple,    et    que  ni  Func   ni   Fautre    nc  se  rattaclie  ä  Tap/j^  de 


30)  Rep.,  X,  509 B. 

3>)  Soph.,  248 E:  Ti  oal  -pö?  Ato;;  (u;  ci^Siö;  xi'vr,aiv-/ai  C«urjV  xat  'I^'J/r^v 
y.ai  cppov/jcriv  ^^  paotiu;  T:E'.c<)rjaotj.E9a  tu7  TtavteXw;  ov-t  |j.7]  TiapEivat,  [t-rfik.  Cv 
a'jto  {J.T,0£  (ppoveTv,  dÄXa  C£,u.vöv  y.al  ayiov  voöv  cjx  l/ov  äxtvT,TOV  estÖ;  elvai. 

3-')  Meta.,  A,  6,  988a,  10  (et  saep.):  xa  yip  tBr;  roü  xi  eaxtv  ama  xoi; 
ötXXois,  ToTs  oi  Eioeai  x6  ev. 

33)  Meta.,  N,  3,  1090b,  IG:  (xrj  ovtos  y^P  ^o^  äpt9[jLo"j  o-jÖev  t^ttov  xa 
ixeyeDtj  satat  xoT;  xä  [j.a9r]iJLaxtxc(  [aovov  eTvcii  cpa[A^voi;  .  .  .  oüx  EOtxs  5'  i;  cp'iat; 
£-£tcoöuuOTj;  o'jaa  iyt.  täv  cfaivouEvuiv  waTTEp  fxo/ÖTjpä  -pa-^ujofcc  xoii  oe  xd;  iUai 

TlÖEIJLEVOi;    XOÜTO    |Jl^V    i/.(fz'j'(Zl. 


Les  Mathematiques  et  la  Dialectique  dans  le  Systeme  de  Piaton.     489 

toute  realite.  Le  monde  des  mathematiques  est  un  monde  epi- 
sodique  et  sans  uüite;  dans  le  monde  reel  et  meme  dans  la  nature, 
qui  l'imite,  tout  se  tient  et  s'enchaiue'^*). 

D'apres  Aristote,  ce  qui,  dans  la  doctriue  de  Piaton,  distingue 
essentiellement  les  Idees-nombres  des  nombres  mathematiques,  c'est 
qu'il  y  a,  dans  les  premieres,  de  l'anterieur  et  du  posterieur  ^^); 
autrement  dit,  que  les  Idees-nombres  forment  une  hierarchie  et 
qu'il  y  a,  par  suite,  entre  elles,  des  differences  qualitatives  et  con- 
ceptuelles:  la  dyade  en  soi  diflere,  dans  son  essence,  de  la  triade 
en  soi;  ce  sont  deux  concepts  distincts  et  il  ne  peut  y  avoir  entre 
eux  ni  addition,  ni  combinaison  mathematique  d'aucune  sorte.  Les 
Idees-nombres  et  les  unites  qui  les  composent  sont  incombinables 
entre  elles  (aa6[ißX-/jTot)  ^^).  Entre  les  nombres  mathematiques,  au 
contraire,  il  n'y  a  que  des  differences  de  quantite  et  les  unites 
arithmetiques  sont  toutes  combinables  les  unes  avec  les  autres 
(a-jijLßXrjToi).  II  en  resulte  que  la  consideration  de  la  finalito  est 
exclue  de  la  generation  des  nombres  mathematiques;  il  n'y  a  pas 
entre  eux  de  rapports  de  conditionne  ä  conditionnant  ou  de  moyen 
ä  fin.  Sans  doute,  il  peut  y  avoir  entre  les  nombres  des  relations 
necessaires  sc  u-oOscjstü? ,  attendu  que  tout  nombre  superieur  im- 
plique  les  nombres  inferieurs.  Mais  un  nombre  quel  qu'il  soit 
reste  un  simple  possible,  parce  qu'il  n'y  a  pas  de  raison  pour  que 
l'unite  se  repete  un  plus  ou  moins  grand  nombre  de  fois.  Piaton 
se  rencoutre  avec  Aristippe  pour  declarer  vque  tot;  [lotör^txct-ixoi? 
ouOsva  TTOisTa&ai  Xo"i'ov  irepl  «"(«Oaiv  xal  xotxaiv''). 

En  resume,  la  dialectique  Platonicienne  contient  deux,  ou 
meme  trois  Operations  distinctes:  d'abord  une  analyse  empirique 
grace  ä  laquelle  on  atteint  le  principe  universel  des  realites,  le 
Bien;  puis  une  synthese  ou  une  construction  du  reel  domince  par 


^'*)  Men.,  SIC:  ä-zz  y«P  '^^i?  cpiaECü?  äTrcta?]?  <j^Y(t\oJiz  cjar^?.  Pol.,  258 E: 
[Aiöi;  linCTTjiAfj;  ttjs  oXtj;.  Soph.,  257 C:  fxfa  fxsv  laxi  -ou  -/ctl  Ixeivt],  t6  hi 
im  TU)  Ytyvouevov  [Aepos  aux^s  e'xaaxov  d'foptaOiv  £7tu)V'j(xtav  ia/et  xtva  kauxr^z  Joi'av 

35)  Meta.,  M,  6,  1080b,  11;  7,  1082b,  19  et  saep. 

36)  Ibid.,  6,  1080a,  16 sqq. 

3')  Ibid.,  B,  2,  996a,  32;  cf.  Zeller,  P.  d.  G.,  I,  1^,  p.  345,  n.  1;  tr.  fr., 
III,  312,  1. 

Archiv   f.   Geschichte  <1.   Philosophie.     XV.  4.  o4 


490  Gf-  Kodier,  Les  Mathematiques  et  la  Dialectique  etc. 

ce  principe;  CDfin,  au  besoin,  une  analyse,  rationnelle  cette  fois, 
rendue  possible  par  cette  synthese.  Dans  les  mathematiques,  la 
Synthese  procedant  au  hasard  et  sans  principe  aboutit  a  une  com- 
biuaison  quelconque  et  qui  peut  n'avoir  aucune  realite.  Seule, 
l'analyse  est  rationnelle  et  necessaire  hypothetiquement.  Saus 
doute,  ces  idces  sont  encore  enveloppees  et  confuses  dans  la  doctrinc 
de  Platon;  il  n'a  pas  eu  une  notion  claire  de  la  finalite  et  de  son 
role  dans  la  construction  des  choses.  Mais  il  nous  semble  les  avoir 
entrevus'^). 

^^)  Le  passage    du  Politique    sur  lequel   uous    nous    sommes   appuyes 
contient,  en  outre,  une  allusion  historique:   8  yotp  Ivfoxe,  cb  Swxpates,  oidpevoi 
o-q  Tt  (Jocpöv   cppctCetv   ttoXXoI   töv   xop-tl^üiv   Xeyo'jaiv   (u;   d'pot   fj.£Tprjtf/CTj  Trepi  TfiW 
iSTi  Ta  YtyvoijLEva,    toüt'  aüxö   t6    vüv    XsyÖEv    ov    TuyyavEi  (284: E).      Stallbaum, 
Hermann,  Zeller,   Susemihl   (Genet.  Entw.,   I,  316)  et  d'autres  pensent  que 
ce  passage  vise  les  Pythagoriciens.      Cette  opinion    nous   parait  inacceptable 
pour  deux  raisons:    Ü'abord,    en   effet,    l'expression  ^iyouotv    semble  indiquer 
qu'il  s'agit    d'une    doctrine    plus    receute.     En    outre,    l'epithete    xopi'ios    est, 
presque  toujours,    employee    par  Platon  dans    un    sens,  ironique.     Ainsi  dans 
le    Phile be    (53 C),    oü    les   mots   ■/ofj.iLot  tives    designent    vraisemblablement 
Aristippe;  dans  le  Theetete  (15P  A)  oü  Protagoras  et  ses  partisans  sont  appeles 
a)loi  oi  r.oXb  xofA'ioTepoi;  dans  laRepublique  (IX,  572 C)  oü  les  expressions 
xofAd/OTepots  dtvSpaci   sont  manifestement  prises   en  mauvaise  part;  enfin  dans 
une     foule    d'endroits    ou    ce    terme    doit,    sans    aucun    doute,    etre    entendu 
ironiquement  (Hipp.  Maj.,  288D;    Lys.,  216A;;  Rep.,    YIII,  588A).      Dans 
le  passage  du  Gorgias  (493A)  oü  il  est  question  des  Pythagoriciens,  rien  ne 
prouve  que  le  fjiu&oXoyöJv  xofjuLö?  dv7]p  dont  parle  Socrate  soit  Philolaüs,  et  il 
parait    probable,    au    coutraire,     que    l'expose    de    l'opinion    Pythagoricienne 
s'arrete  k   [AexaTriTTTeiv   avto  v.(x~tu.     C'est  ordinairement  sur  un  tout  autre  ton 
que  Platon  parle  des  Pythagoriciens  (cf.  Phil.,  16C:  ol  [jiv  TraXaioi,  xpsixTOve; 
TjfjitTjv  xai    ^yyuT^pu)    Oeiöv    o(xoövTes,    tocuttjv    ^i^fATjv    Trapsooaav  .  .  .).      La    suite 
indique   d'ailleurs,    que    Platon    n'approuve    que    partiellement    l'opinion   tcöv 
xoijL'i'cüv.     II  trouve  qu'ils  ont  eu   raison  de  dire   que   la  metretique  Trepl  nravt' 
hzi  xa  YtYvd|j.£va,    mais    il  les  bläme  de  n'avoir  admis   qu'une  seule  sorte    de 
metretique  (285  A:  Siä  hi  xö  [xr]  xax'  eiot]  .  .  .  xxX.).     II  s'agit  donc,  sans  doute, 
de  philosophes  qui  n'ont    pas   tenu  compte    de  la  finalite    et  cela-meme    doit 
nous  empecher    de  penser    aux  Pythagoriciens.      On    pourrait    otre    tente    de 
croire  que  Platon  fait  allusion  ä  Protagoras  et  ;i  sa  celöbre  proposition:  l'homme 
est  la  mesure  de  toutes  choses  (cf.  B.  Ritter,  op.  cit.)-   Mais  ce  sont  manifestement 
les  mathematiques  qui  constituent  pour  Platon,  la  metretique   sans  finalite,  et 
le  sensualisme  de  Protagoras  leconduisaitprecisement  ä  attaqucrles  mathematiques 
(Ar.,  Meta.,  B,  997b,  35).    Ce  ne  peut  donc  utre  qu'au  mecanisme  geometrique 
de    Democrite  que   s'appli(]uc    la    remarque    du  Politique.      Nous    trouvons 
dejii,  dans  le  Sophiste  (24GA),  un  morceau  qui  vise  uotamment  les  atomistes. 


Jahresbericht 

über 

sämmtliche  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte 

der  Philosophie 

in   Gemeinschaft   mit 

Clemens    Baeumker,    Ingrara    Bywater,     Alessandro    Chiapelli,    Wilhelm 

Dilthey,  A.  Dyroff,  Benno  Erdmann,  H.  Gomperz,  H.  Lüdemann,  Martin 

Schreiner,  Andrew  Seth,  Paul  Tannery,  Feiice  Tocco,  E.  Wellmann 

und  Wilhelm  Windelband 

herausgegeben 


Ludwig  Stein. 


34* 


Jaliresbericlit  über  die  Kirchenväter  imd  ihr 
Verhältniss  zur  Philosophie,  1897—1900. 

Von 

H.  littdeniann  ia  Beru. 

(Fortsetzung.)  0 

Clemens  Alexandrinus. 

1.  E.  DE  Faye,  Clement  cVAlexandrie.     Etüde  sur  les  rapports  du 

Christianisme  et  de    la    philosophie    grecque    au    2e    siecle 
(These)  IV,  324  S.     Paris  1898.     Leroux.    fr.  7,50. 

2.  K.  Ernesti,    Die  Ethik  des  Titus  Flavius  Clemens  von  Alexan- 

drien,  oder:   Die  erste  zusammenhängende  Begründung  der 
christlichen    Sittenlehre.       VII,  174  S.       Paderborn    1900. 
Schöningh. 
,3.    P.  M.  Barnard,    Clemens  of  Alexandria:    Quis  dives  salvetur? 
XXX,  66  S.     Cambridge  1897,  University  Press.     3  sh. 

4.  0.  Stählin,    Untersuchungen    über    die    Schollen    zu    Clemens 

Alexandrinus.    48  S.    Gymn.-Progr.    Nürnberg  1897,  Stich. 

5.  Christ,  Philologische  Studien  zu  Clemens  Alexandrinus  (S.-A. 

aus    Abh.  d.  k.  Bayr.  Ak.  d.  W.)   74  S.       München    1900. 
Franz.     M.  3. 


0  Vergl.    S.  403—421    dieses  Jahrgangs,      Diejenigen  Schriften,    welche 
zwar  angeführt  aber  nicht  besprochen  werden,  sind    dein    Verf.   nicht  zugfiug- 


lich  geworden. 


494  H.  Lüdemann. 

1.  Das  Buch  von  de  Faye  verdient  als  eine  der  hervorragendsten 
Leistungen  neuerer  Zeit  über  Clemens  Alexandrinus  verzeichnet  zu 
werden.     Seit  Bigg's   the  Christian  Platonists  of  Alexandria  1886, 
war  bis  1898  nichts  besseres  erschienen.      Die    beiden    ersten  Ab- 
schnitte  des  Werkes  behandeln    eine    literarische,    der    dritte    die 
Philosophie-   und    dogmengeschichtliche  Frage.      Erstere    betrefi'end 
begnügen  wir  uns  hier  mit  dem  Hinweise,    dass  de  Faye  die  selt- 
same Gestalt  der  Stromateis  7a\    erklären    unternimmt.      Sie    ent- 
sprechen in  ihrer  Eigenart  dem  schriftstellerischen  Lebeusplan  des 
Clemens    nicht,    nach    welchem    auf   die    vorbereitenden   Schriften 
Protreptikos    und  Paidagogos  als    dritte    der    SioaazctXo?    mit    dem 
positiven  Aufbau  des  definitiv    gemeinten    Systems    folgen    sollte. 
Schon    1897  (Les    stromates    de  Cl.  d'Alex.  Revue    de    Thist.  des 
rel.  36,  S.  309—20)  wies  der  Verf.  nach,  dass  die  Strom,  dies  nicht 
leisten,    sondern    —    wofür  er  hier  den  Beweis  erweiternd  wieder 
aufnimmt  — ,    dass  Clemens  sich,  im  Begriff,  sein  Schlusswerk  zu 
verfassen,    einer  geschichtlichen  Situation  gegenüber  sah,    die  ihm 
(^erathen  scheinen  liess,    zunächst  noch    auf   einen    neuen    grossen 
Umweg  auszubiegen.   Es  war  die  Discreditirung,  der  die  philosophisch- 
theologische Speculation  durch  die  häretische  Gnosis  in  den  Augen 
der  Christenheit  verfallen  war,  was  ihn  hierzu  bewog.    Da  Clemens 
jener  Speculation  für  seine  Dograatik  nicht  entrathen    konnte,    so 
musste  er  sich  für  sie  einen  Leserkreis  erst  wieder  erziehen;    und 
dies  zu  thun  bestrebt  er  sich  mit  aller  Vorsicht  in  den  Stromateis. 
Das  Werk    blieb    unvollendet    —    Buch  VIII    gehört    nicht    mehr 
dazu    —    und  vollends  der  otoacjxaXo?    blieb    ungeschrieben.      Ein 
grösserer,  Origenes,  leistete,  was  Clemens  beabsichtigte,  in  seinem 
„TTspl  apyÄv".   Ueber  diese  Fragen,  insbesondere  auch  über  Clemens' 
Stellung  zur  Philosophie  im  Allgemeinen,   verhandelt  der  Verf.  in 
den  zwei  Abschnitten  seines  Werkes,  betitelt  La  question  litteraire 
und  La  question  historique,  in  sehr  anziehender  Weise.    An  diesem 
Orte  interessirt  uns  jedoch  vor  Allem  der  dritte  Abschnitt  La  question 
dogmatique.    Der  Verf.  unternimmt  es  hier,  innerhalb  der  Theologie 
des  Clemens  das  antik-philosophische  vom  christlichen  Element  zu 
scheiden.      Er  glaubt  das  Verhältniss    beider  Elemente    am    deut- 
lichsten an  drei  Lchrpunkten  erkennen  zu  können:  au  der  Gottes- 


Jahresbericht  über  ilie  Kirchenväter  etc.  495 

lehre,  der  Christologie,  und  dem  Guostik erideal  oder  der  religiösen 
Ethik  des  Clemens.  In  der  ersteren  ist  Plato,  in  der  zweiten  Philo, 
in  der  dritten  die  Stoa  von  Clemens  zum  Führer  erwählt.  Aber 
neben  ihnen  macht  sich  durchweg  das  Christenthum  in  seiner 
Eigenart  geltend  und  erscheint  als  assimilirendes  Princip  gegenüber 
den  angeeigneten  antiken  Gedankenstoffen.  Schon  diese  Stellung 
des  Problems  ist  verdienstlich,  da  namentlich  die  heutige  Ritschl'sche 
Theologie,  weil  sie  ihr  ,,Christenthum"  bei  den  Kirchenvätern  nicht 
wiederfindet,  die  Abhängigkeit  der  letzteren  von  der  Antike  zu 
übertreiben  pflegt,  und  besonders  bei  den  Alexandrinern  womöglich 
nur  Hellenismus  sehen  will.  Allein  auch  von  dem  Verf.  scheint  mir 
das  Verhältniss  zwischen  Griechenthum  und  Christenthum  bei 
Clemens  noch  nicht  ganz  richtig  erfasst  zu  sein,  trotz  der  Sach- 
kenntniss  und  Unbefangenheit,  der  Feinheit  des  Verständnisses  und 
der  historischen  Gerechtigkeit,  womit  er  zu  arbeiten  bestrebt  ge- 
wesen ist.  Was  zunächst  das  Gesammtresultat  betrifft,  so  bleibt 
gerade  in  den  Schlussausfiihrungen  des  Verf.'s  eine  Unklarheit 
darüber  bestehen,  wie  sich  Clemens'  Christenthum  zu  dem  vulgär- 
katholischen seiner  Zeit  verhielt.  Einerseits  ist  der  Verf.  ent- 
schieden geneigt,  es  mit  letzterem  einfach  zu  identificiren.  An- 
dererseits aber  verkennt  er  doch  nicht,  dass  Clemens  eben  dieses 
Christenthum  vergeistigt  und  vertieft  habe.  Woher  stammt  aber 
diese  Vertiefung?  Viele  Ausführungen  des  Verf.  namentlich  im 
Cap.  4  zeigen  das  Bestreben,  gerade  sie  auf  den  Einfluss  der  Phi- 
losophie, besonders  der  Stoa,  zurückzuführen.  Allein  schliesslich 
erkennt  er  doch  an,  dass  Clemens  eben  dem  ursprünglichen 
Christenthum  näher  stand  als  z.  B.  die  Tertullian  und  Cyprian  — 
und  hier  eben  möchte  sich  fragen,  ob  der  Verf.  dem  Einfluss  dieses 
ursprünglichen  Christenthums  wirklich  gerecht  geworden  sei,  oder  ob 
er  nicht  vielmehr  öfter  seinen  Einfluss  hinter  einen  vermeintlichen 
philosophischen  Einfluss  habe  zurücktreten  lassen.  Diese  feineren 
Fragen  kommen  zwar  bei  Erwägung  der  Resultate  des  Verf.  be- 
züglich der  Theologie  und  Christologie  des  Clemens  noch  nicht  in 
Betracht.  Treftend  weist  er  hier  die  platonische  Herkunft  der 
abstracten  Transcendenz  des  Gottesbcgriffes  nach,  und  hebt  gleich- 
wohl hervor,    wie  sich  davon    bei  Clemens    der    christliche  Begriff 


496  JI-  Lüde  mann, 

des  durch  Selbstbestimmung  guten,  dem  sündigen  Menschen  gegen- 
über heiligen,    und    ihn    erziehend    behandelnden    und    erlösenden 
Gottes  abhebt.    Allein  vermisst  wird  der  Hinweis  darauf,  wie  schon 
auf  der  rein    metaphysischen  Seite    der  Gottesbegriff   bei  Clemens, 
wie  übrigens  schon    bei    seinen  Vorgängern,    den  Apologeten,    ein 
christliches  Gepräge    erhält,    dadurch,    dass    er    sowohl    von    allen 
dualistischen  als  von  allen  pantheistischen  Consequeuzen,    wie    sie 
bei  den  Philosophen  auftreten,  gelöst  wird.    Namentlich  in  ersterer 
Beziehung  behauptet  Clemens  auch  durchweg  seine  Unabhängigkeit 
von  Philo.    Sein  Logosbegriff  entstammt  nicht  dem  metaphysischen 
Mittelwesen-Bedürfniss,    welches  der  schroffe  Dualismus    des  Philo 
hervorrief.    Dafür  aber  geht  auf  einer  andern  Seite  die  Abhängigkeit 
des  Clemens  von  Philo  weiter,  als  der  Verf.  zugeben   will.      Denn 
man  vermisst  bei  diesem  gänzlich   den  Hinweis    auf   die    religiöse 
Seite  des  Philouischen  Logosbegriffs,  von  welcher  der  Logos  als  Offen- 
barungsprincip  wie  als  df>yispEus,  ixsttjC,  TrapaxXvjio?  für  die  Menschheit 
in  Betracht  kommt.      Hatte  jenes  Fehlen  des  Dualismus  bei  den 
Christen  die  ganz  natürliche  Folge,    dass    die    metaphysische  Aus- 
prägung des  Logos  als  Mittelwesens  so  höchst  fragmentarisch  und 
unbestimmt  ausfiel,  so  war  andrerseits  gerade  die  religiöse  Function 
des  Philouischen  Logos  der  Punkt,    wo  derselbe,  am    deutlichsten 
als  Persönlichkeit  auftretend,  geeignet  erschien,  zur  Interpretation 
einer  Persönlichkeit,    derjenigen   Christi,    herangezogen  zu  werden. 
Allerdings  wird  dadurch  zur  Centralidee  des   Logosbegrifis,  was  bei 
Philo  nur  eine  Seite  desselben  ist.    Schon  hier  soll  nun  nach  dem 
Verf.  das  den  Logosbegriff  umgestaltende  Christenthum  bei  Clemens 
lediglich  das  vulgäre  des  2.  Jahrh.'s  sein,  mit  seiner  Rehabilitation 
des  Menschen    durch    die  Taufe,    seiner  daran    sich    schliessenden 
Gesetzlichkeit  und  seinem  Christus  als  Verleiher  von    Erkenntniss 
und  Unsterblichkeit.    Und  das  noch  im  vorigen  Abschnitt  (S.  228) 
als  christlich  bezeichnete  vertiefende  Moment  göttlicher  Pädagogic 
wild  jetzt  vielmehr  decidirt  als  philosophisch   bezeichnet   (S.  253) 
—    ein  Vorspiel    zu    dem,    was    uns    im   Cap.  4    („Le    gnostique" 
S.  256 — 295)  erwartet.    Hier  begegnet  uns  mehrfach  die  irritirende 
Methode,  dass  der  Verf.  gewisse  Positionen  bei  Clemens  aufs  weit- 
gehendste als  roin  griechisch-philosophisch  schildert,  um  dann  erst 


Jahresbericht  über  die  Kirch euväter  etc.  497 


nachträglich  dem  längst  erwachten  Protest  des  Lesers  durch  Vor- 
führung der  auf  der  Hand  liegenden    christlichen  Züge    derselben 
Positionen  Rechnung  zu  tragen  —  in  der  That  eine  entbehrliche 
Umständlichkeit.      So  wird  sofort  die  bei  Clemens  hervortretende 
doppelte  Sittlichkeit  —  die  gewöhnliche  aus  Furcht,  die  „gnostische" 
aus  dem  Liebe-Motiv    —   als  durchaus  platonisch-stoisch,  als  dem 
damaligen  Christenthum  fremd,    und   als   eine  philosophische  Ver- 
tiefung des  letzteren  geschildert  (S.  262 f.);  während  doch  klar  ist, 
dass  das  Zusammentreffen  mit  der  Philosophie  hier  nur    formaler 
Natur  war;  dass  jene  doppelte  Sittlichkeit  gerade  damals  aus  dem 
innersten  Wesen  des  gesetzlichen  katholischen   Christenthums    als 
nothwendige  Consequenz    hervortrat,    bei   Clemens    aber    in    einer 
charakteristisch  andern  Form  als  der  vulgär-werdenden,  sofern  bei 
ihm    die  Sittlichkeit    der    Elite    nicht    wie    sonst    als   gesetzlicher 
Rigorismus  oder  gar  lohnsüchtiger  Asketismus,    sondern    eben    als 
die   wahrhaft  christliche  gegenüber  der  niedergesetzlichen,    als    die 
von    reinsten    religiösen  Motiven    getragene    organisch- einheitliche, 
innerlich  freie    und    an    sich    selbst    werthvolle  Ilöherbildung    des 
Willeuslebens  in  Erscheinung  tritt.    Denn  weder  ist  die  i^ofioiwaic 
KU    östp,    vollends    in    ihrer  Fassung    bei  Clemens,    ausschliesslich 
philosophisches  Ideal,    sondern  eben  so  sehr  christliches  (Mtth.  5, 
48);  noch  entscheidet  alles  das,  was  der  Verf.  über  das  Zusammen- 
treffen von  Clemens' Gnostiker- Ideal  mit  dem  Ideal  des  stoischen 
Weisen  ausführt,  für  einen  über    formale  Accommodation    hinaus- 
gehenden   philosophischen  Charakter   des    ersteren,    weil  der  Verf. 
doch  schliesslich  selbst  zugestehen  muss,  dass  das  Motiv  der  dyxr.ri, 
welches   er  S.  281   sogar  ebenfalls    noch    für    die  Stoa    reclamirte, 
einen  so   decidirt   christlichen  Charakter    trägt,    dass    dadurch    die 
Ethik  des  Clemens  in   eiaie  sie  von   der  stoischen   charakteristisch 
unterscheidende  Gesammt- Beleuchtung  tritt.     Trotzdem  ist  der  Verf. 
wiederum  geneigt,  auch  den  Begriff  des  Gebetes,  als  des  unablässigen, 
geistigen  und  innerlichen,  bei  Clemens  für  eine   der  Stoa  zu   ver- 
dankende  Vertiefung  der  vulgär-christlichen  Gebetspraxis  auszugeben, 
während  gerade  hier  der  Rückgriff  des  Kirchenlehrers   auf  die  ur- 
sprünglichsten neutestamentlichen Weisungen  (Mtth.6,32f.;  Rom.  12, 
12,  1  Thess.  5.  17;  Col.  4,  2  u.  a.)  deutlich  zu  Tage  liegt.     Hier  und 


498  J'-   liiideinaiin, 

noch  in  vielfachen  anderen  Beziehungen  dürfte  also  hervortreten,  dass 
die  Sache  nicht  so  einfach  liegt,  wie  der  Verf.  es  zumeist  erscheinen 
lässt,  als  hätten  wir  es  bei  Clemens  lediglich  mit  einer  philosophischen 
Vertiefung  des  Christeuthums  seiner  Zeit  zu  thun.  Vielmehr  ist 
das  Christenthum,  welches  dem  Clemens  mit  dem  edelsten  Geistes- 
gut der  Antike  einer  zwar  meist  nur  formalen,  zum  Theil  aber 
auch  —  und  naturgemäss  auf  ethischer  Seite  —  materialen  Zu- 
sammenschau fähig  schien,  in  vieler  Beziehung  wiederum  dasjenige 
gewesen,  welches  durch  die  gerade  damals  zu  relativem  Abschluss 
gekommene  Sammlung  kanonischer  Schriften  bezeugt  wird,  und 
dessen  theilweises  Wiederauftauchen  bei  den  Alexandrinern  ihnen 
jene  Ausnahmestellung  giebt,  die  auch  der  Verf.  ihnen  im  Vergleich 
mit  den  Begründern  des  zunächst  siegreichen  katholischen  Kirchen- 
thums  zu  vindiciren  nicht  umhin  kann.  —  Der  Verf.  schliesst 
sein  Werk  mit  einer  sehr  willkommenen  Uebersicht  über  die  text- 
kritischen und  literarhistorischen  Arbeiten  zu  Clemens. 

2.  Die  Darstellung  der  Ethik  des  Clemens  Alex,  von  Ernesti 
bietet  für  die  Beziehungen  des  Kirchenvaters  zur  Philosophie  wenig 
Interesse.  Das  Werk  ist  ausschliesslich  unter  dem  theologischen 
Gesichtspunkte  abgefasst.  Auf  die  Beziehungen  zur  Philosophie 
kommt  der  Verf.  nur  an  wenigen  Stellen  zu  reden,  meist,  sofern 
Clemens  selbst  sich  auf  Philosophen  oder  philosophische  Systeme 
beruft.  Jener  Gesichtspunkt  aber  hat  es  mit  sich  gebracht,  dass  wir 
es  hier  überhaupt  auch  nicht  mit  einer  eigentlich  dogmen-  oder 
theologie-geschichtlichen  Darstellung  zu  thun  haben.  Der  Verf. 
hat  zwar  die  Schriften  des  Clemens  sehr  lleissig  excerpirt,  und  so 
viel  auch  die  Uebersetzung,  in  der  er  die  ausgezogenen  Stellen 
wiedergiebt,  zu  wünschen  übrig  lässt,  so  dürfte  doch  in  dieser 
Materialsammlung  der  Werth  des  Buches  für  später  kommende 
vorwiegend  zu  suchen  sein.  Er  hat  nämlich  dieses  schätzbare 
Material  leider  in  das  Schema  des  katholisch-kirchlichen  Systems 
pressen  zu  sollen  geglaubt  und  dadurch  theils  die  ihrem  ursprüng- 
lichen Zusammenhang  entrückten  Stellen  öfter  in  eine  fremdartige 
Beleuchtung  gestellt,  theils  aber,  wo  dem  der  Text  sich  durchaus 
widersetzte,  des  Clemens  Ansichten  vom  vulgär-katholischen  Stand- 
punkt   aus    kritisirt.      Nur  diese  Kritik    verräth    etwas    von    der 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  etc.  499 

specifischen  Stellung  des  Alexandriners,  im  übrigen  ist  dieselbe 
thunlichst  uivellirt.  Vor  Allem  ist  dies  mit  der  Anschauungsweise 
geschehen,  vermöge  deren  Clemens  durch  Unterordnung  des  blossen 
„Glaubens"  unter  die  „Gnosis"  in  seiner  Weise  die  damals  bereits 
herausgebildete  vulgäre  Auffassung  des  Christenthums  zu  vertiefen, 
und  die  ideale  Höhe  des  ursprünglichen  Christenthums  wieder  zu 
gewinnen  trachtete.  Gerade  jene  Auffassung  mit  ihrer  Betonung 
des  Furcht-  und  Lohn-Motivs,  und  eben  deshalb  mit  ihrer  Hoch- 
stelluns  des  blossen  Traditions- Glaubens  wird  vom  Verf.  in  den 
Ausführungen,  mit  denen  er  die  Einzel-Abschnitte  seiner  Darstellung 
einzuleiten  pflegt,  als  der  „tridentinisch"-liirchliche  Massstab  geltend 
gemacht,  dem  Clemens  anzupassen,  oder  nach  dem  er  zu  kritisiren 
sei.  (Vergl.  schon  S.  1,  2;  ferner:  S.  21,  23,  134,  144,  154,  174. 
Ausserdem:  die  katholische  Kritik  der  Lehre  vom  Sündenfall  S.  47; 
der  Christologie  S.  136.  Andererseits  wird  Clemens  im  Einzelnen 
öfter  katholischer  gemacht,  als  er  ist,  wenn  z.  B.  S.  68  der  „Gang 
der  Rechtfertigung"  „ganz  tridentinisch"  befunden  wird,  wobei 
freilich  die  Quellencitate  mindestens  arg  in  Unordnung  gerathen 
sind;  oder  w^enn  S.  64f.  seine  Unterscheidung  des  Gläubigen  und 
des  Gnostikers  in  einer  die  Quellen  sehr  willkürlich  behandelnden 
Erörterung  mit  der  einer  ersten  und  zweiten  Classe  des  Katechu- 
menats  gleichgesetzt  wird;  oder  wenn  der  Verf.  S.  71  Str.  VI,  12,  97 
die  „geheime  Beichte"  angedeutet  findet,  und  wenn  er  Str.  II,  13, 
56 — 59,  —  wo  Clemens  gegen  die  fortgehende  Wiederholung  der 
Busse  polemisirt  —  die  „öffentliche  Beichte"  nicht  bloss  als  damals 
schon  [oder  noch]  unbeanstandete  kirchliche  Sitte  bezeugt  sein 
lässt,  sondern  auch  thut,  als  ob  dieselbe  von  Clemens  gebilligt  sei.) 
Vor  Allem  aber  geht  durch  das  ganze  Buch  das  Bestreben,  die 
Ansicht  des  Clemens  von  der  inferioren  Stellung  des  „Glaubens" 
und  des  „Gläubigen"  zwar  nicht  zu  ignorireu  —  das  wäre  uu- 
mödich  — ,  aber  doch  thunlichst  abzuschwächen,  und  bloss  zu  re- 
gistriren  (vergl.  insbesondere  S.  128,  150f.).  Und  damit  hängt  es 
zusammen,  dass  der  Grundsatz,  den  der  Verf.  S.  VI  des  Vorworts 
selbst  aufstellt,  „die  Beziehung  der  Schriften  auf  die  Classen,  für 
welche  sie  bestimmt  sind,  bei  der  Erforschung  des  Lehrsystems 
des  Clemens  stets  fest  in  Auge  zu    behalten",  in    geradezu    über- 


500  H.  L  üdemann, 

raschender  Weise  ausser  Beobachtung  gesetzt  wird.  Vielmehr 
werden  die  Belege  für  die  Darstellung  des  Verf.  namentlich  in  der 
„Allgemeinen  Ethik"  ganz  gleichmässig  aus  allen  Schriften  des 
Vaters  entnommen,  vom  Protreptikos  bis  zu  ström.  VIII  (dessen 
literarisches  Problem  übrigens  den  Verf.  ziemlich  unbekümmert 
lässt,  S.  91).  Die  natürliche  Folge  ist,  dass  der  Leser  schon  von 
S.  7  f.  an,  wo  das  vulgäre  Lohnsystem  aus  dem  Protreptikos  belegt, 
und  dann  sofort  auf  die  aus  der  Gnosis  entspringende  actuelle 
Tugend  (nach  ström.  IV,  40)  übergegangen  wird,  die  beiden  Stufen 
des  Glaubens  und  der  Gnosis  durchgehends  vermischt  findet  (z.  B. 
S.  11,  19 f.,  26,  28 f.,  32 f.  u.  s.  w.).  Damit  aber  ist  gegeben,  dass 
vor  Allem  über  die  für  beide  Alexandriner  so  überaus  charak- 
teristische religiös-ethische  Psychologie,  oder  über  ihre  Gruppirung 
von  Erkennen  und  Handeln  zu  einander,  aus  der  Darstellung  des 
Verf.  nirgends  principiell  klare  Auskunft  zu  gewinnen  ist.  Denn 
mit  so  allgemeinen  Redensarten  wie  (S.  18):  „die  Handlungen  sind 
unzertrennlich  mit  der  Erkenntniss  verbunden"  (vergl.  S.  20.  32) 
und  (S.  19)  „umgekehrt  fördern  auch  die  guten  Handlungen  die 
Erkenntniss"  ist  es  hier  nicht  gethan.  Gerade  auf  die  mit  der 
Unterscheidung  von  Glauben  und  Gnosis  gegebene  charakteristische 
Modificirung  der  sonstigen  antiken,  insbesondere  sokratisch- 
stoischen  Voraussetzung,  dass  die  Einsicht  den  Willen  unfehlbar 
determinire,  kam  es  hier  an.  Aber  der  Verf.  ist  augenscheinlich 
auf  die  principielle  Bedeutung  dieser  Frage  gar  nicht  aufmerksam 
geworden.  Für  die  Darstellung  der  „allgemeinen  Ethik"  scheint  es 
ihm  zu  genügen  (S.  32),  dass  nach  Clemens  „die  richtige  Einsicht, 
die  rechte  Vernunft,  die  Leiterin  und  Orduerin  der  Tugend  sei 
und  dass  er  hierin  mit  St.  Thomas  von  Aquin  übereinstimme". 
Für  diese  L^ebergehung  eines  Hauptproblems  entschädigt  es  auch 
nicht,  dass  der  Verf.  dann  in  der  „besonderen  Ethik"  das  christliche 
Leben  und  die  christliche  Vollkommenheit  (d.  h.  den  Yvcoaiixo?) 
getrennt  behandelt.  Denn  einerseits  wird  auch  hier  der  Yvwattxos 
in  der  Erörterung  über  die  „Bekehrung  zum  Christenthum"  ein- 
gemischt (S.  64 f.),  andererseits  wird  in  der  gesonderten  Betrachtung 
des  7vojaTix6;  neben  den  äusserlich  richtigen  Referaten  des  Verf. 
jede  tiefere  religionspsychologische  und  erkeuutnisstheoretische  Er- 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  etc.  501 

wäsuDR  der  alexandrinischen  UnterscheiduDg  von  Pistis  und  Gnosis 
vermisst.  So  -wird  weder  klar,  wie  bei  Clemens  im  Glaubensbegriflf 
die  Momente  des  unmittelbaren  Erkennens,  Willensgehorsams  und 
religiösen  Affects  sich  vermitteln,  noch  auch  was  es  bedeutet,  wenn 
Clemens  die  Wirkung  des  Glaubens  auf  das  sittliche  Handeln  von 
derjenigen  der  Gnosis  unterscheidet.  Yor  Allem  greift  die  katholische 
Zurechtlegung  und  Kritik  des  Verf.  hier  stets  störend  ein.  Der 
Glaube  mit  seinen  Furcht-  und  Lohnmotiven  darf  nach  ihm  gegen- 
über der  Gnosis  nie  zu  kurz  kommen.  Und  so  wird  aus  den 
Quellencitaten  niemals  eine  einheitliche  Anschauung  darüber  ge- 
wonnen, wie  Clemens  sowohl  von  der  vulgär-katholischen,  als  auch 
von  der  stoischen  Ansicht  sich  unterscheidet;  dass  nämlich,  während 
die  letztere  Vernunft  und  -dx^r^  unvermittelt  aufeinander  treffen 
lässt,  bei  Clemens  die  Leidenschaften  provisorisch  schon  durch  die 
negative,  reinigende  W'irkung  der  religiösen  Motive  des  Glaubens 
gebrochen  werden;  dass  diese  „Reinheit"  dann  für  das  Gelingen 
der  Gnosis  unerlässliche  Vorbedingung  wird  und  nur  unter  dieser 
Voraussetzung  der  letzteren  wieder  die  Kraft  zuwächst,  den  Willen 
auch  positiv  sittlich  neuzugestalten.  Wenn  auch  die  Einzelmomente 
dieser  Anschauung  beim  Verf.  alle  thatsächlich  Erwähnung  finden, 
so  tritt  doch  ihr  Zusammenhang  nicht  in  seiner  hervorragenden 
Bedeutung  für  die  Gesammtstellung  der  alexandrinischen  Theologie 
innerhalb  der  Entwicklung  des  Christenthums  gegenüber  der  Antike 
ins  Licht.  Doch  darf  sonst  anerkannt  werden,  dass  der  Verf.  je- 
weilen  die  Abhängigkeit  des  Clemens  von  der  Stoa  durch  Hinweis 
auf  den  christlichreligiösen  Charakter  seiner  Bestimmungen  richtig 
limitirt  (S.  44,  142,  146). 

3.  und  4.  Durch  die  Arbeiten  von  Stählin  und  Barnard 
bereitet  sich  eine  längst  dringend  nöthige  kritische  Neuausgabe 
des  Clemens  Alexandrinus  vor.  Stählin  hatte  schon  1890  (Ob- 
servationes  criticae  in  dementem  AI.)  und  1895  (Beiträge  zur 
Kenntniss  der  Handschriften  des  Cl.  AI.  Nürnberg.  Progr.)  dem 
Texte  des  Clemens  seine  Studien  zugewendet,  namentlich  den 
Handschriftenbestand  in  Italien  an  Ort  und  Stelle  studireu  können, 
besonders  auch  was  Fragmente  in  Catenen -Handschriften  und 
anderen    Sammlungen     betrifft.       Mit    ihm    vereinigte   seine    Be- 


502  ^-  Lud  e  Dl  au n, 

miihungen  Barnarcl  in  Cambridge,  der  ihm  seine  Collationirungen 
der  Handschriften  in  Paris  und  England  zur  Verfügung  stellte. 
Eine  Uebersicht  über  die  liier  gewonnenen  Resultate  theilt  Barnard 
in  den  Prolegomena  zu  seiner  oben  angeführten  Ausgabe  von  „Quis 
dives  salvetur"  mit.  Wir  entnehmen  denselben  hier  nur,  dass  der 
Text  von  Protrept.  und  Paed,  auf  dem  berühmten  Arethas- Codex, 
Paris,  451  (saec.  X)  und  zwei  Codices  des  11.  Jahrh.'s,  zu  basiren 
ist:  einem  Mutinensis,  Copie  des  Parisers,  diesen  ergänzend  durch 
ein  Stück  (paed.  I,  1 — 10),  das  in  demselben  jetzt  fehlt;  und  einem 
Florentiner,  Abschrift  einer  Abschrift  des  Parisers;  —  dass  ferner 
für  Strom.,  Exe.  Theod.,  Eclog.  nur  ein  anderer  Florentiner  (saec.  XI) 
zu  Gebote  steht,  von  dem  in  Paris  eine  Abschrift  (saec.  XVI)  vor- 
handen ist.  Für  die  Ausgabe  seines  Tractats  endlich  konnte 
Barnard  nach  einem  Hinweise  von  Stählin  einen  Codex  des 
Escurial  (saec.  XI)  zu  Grunde  legen,  von  dem  der  bisher  allein 
benutzte  Vaticauus  (saec.  XVI),  wie  sich  jetzt  herausgestellt  hat, 
eine  Copie  ist.  In  seinen  Untersuchungen  von  1897  behandelt 
Stähl  in  die  beträchtliche  Anzahl  von  Schollen,  welche  sich  im 
Arethas-Codex  wie  in  dessen  Abschrift,  dem  Mutinensis,  finden,  und 
in  den  bisherigen  Ausgaben  zwar  mit  edirt  sind,  doch  selbst  noch 
bei  Dindorf  in  sehr  unzuverlässiger  Weise.  Dieselben  sind  theils 
bereits  älteren  Datums,  theils  rühren  sie  von  Arethas  selbst  her; 
eine  Anzahl  endlich  ist  jünger,  alle  jedoch  mehr  äusserlicher  Art 
(vergl.  Stählin  S.  45 — 48).  Der  Hauptertrag  der  auf  sie  ge- 
richteten Studien  bleibt  auch  hier  die  Klarstellung  des  Hand- 
schriften-Verhältnisses. Dem  Verf.  ist  die  Herausgabe  des  Clemens 
für  die  Berliner  Kirchenväter-Ausgabe  übertragen. 

Origenes. 

1.  Origines' Werke.  1.  Band:  Die  Schrift  vom  Martyrium.  Buch 
T — IV  gegen  Celsus.  —  2.  Band:  Buch  V — VIII  gegen  Celsus. 
Die  Schrift  vom  Gebet.  Herausgegeben  im  Auftrage  der 
Kirchenväter-Commission  der  Königl.  Preussischen  Akademie 
der  Wissenschaften  von  Paul  Koetschau.  XCII,  374  S. 
VII,  545  S.     Leipzig,  1899.     Hinrichs.     M.  28. 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  etc.  503 

2.  Paul  Wendland:    P.  Koetschau's    Origenes- Ausgabe    (Göttiuger 

Gel.  Adz.  1899,  276—304). 

3.  P.  KoETSCHAU,  Kritische  Bemerkungen  zu  meiner  Ausgabe  von 

Origenes'  exhortatio,  Contra  Celsum,  de  oratione.   Entgegnung 
etc.     Leipzig  1899.     Hinrichs.     M.  1,60. 

4.  P.  Wendland,  Koetschau's  krit.  Bemerkungen.     (Göttinger  Gel. 

Auz.  1899,    S.  613—622). 

5.  H.  H.  Davies:    Origen's  theorie  of  Knowledge  (The  American 

Journal  of  Theologie  1898,  S.  737—762). 

6.  \V.  Schüler,   Die  Vorstellungen   von   der  Seele  bei  Plotin  und 

Origenes  (Zeitschr.  f.  Theologie  und  Kirche  X  1900,  S.  167 
bis  188). 

7.  G.  Capitaine,    de    Origenis    ethica.     VI,    216.     Münster    1898. 

Aschendorff.     M.  4,50. 

8.  G.  Bordes,  L'apologetique    d'Origene    d'apres    le    Contre    Celse. 

(These)  78  S.     Cahors.     1900. 

1 — 4.  Von  der  neuen  Ausgabe  des  Origenes  seitens  der  Berliner 
Akademie  liegen  bereits  drei  Bände  vor,  von  denen  in  uusern 
Bericht  zeitlich  wie  besonders  wegen  des  Anti-Celsus  die  zwei 
ersten  fallen.  Erledigen  wir  zunächst  das  Textkritische.  Die 
Schrift  vom  Martyrium,  bisher  nur  nach  einer  lückenhaften  Baseler 
Handschrift  (saec.  XIV)  edirt,  die  sich  jedoch  als  Abschrift  einer 
Pariser  (saec.  XV?)  herausgestellt  hat,  giebt  K.  nach  dieser  letzteren 
und  nach  einem  Venediger  Codex  (saec.  XIV),  der  vorzugsweise 
den  Herausgeber  in  Stand  setzte,  zum  ersten  Mal  einen  voll- 
ständigen Text  zu  bieten.  Beide  Handschriften  sind  aber  wahr- 
scheinlich wieder  Copien  der  Vaticanischen  (gr.  386),  in  welcher 
jetzt  nur  noch  der  Anti-Celsus  vorliegt,  die  Schrift  vom  Martyrium 
aber  fehlt.  Doch  kommen  für  den  Anti-Celsus  noch  6  Hand- 
schriften der  Philokalia  in  Betracht,  jenes  Auszugs  aus  den  Werken 
des  Origenes,  den  einst  Basilius  der  Grosse  und  Gregor  von  Nazianz 
herstellten,  und  der  etwa  den  siebenten  Theil  des  Anti-Celsus  mit- 
enthält. Jene  6  Handschriften  beruhen  nach  K.  wahrscheinlich 
auf  einem  und  demselben   Archetyp,   werden   indess  vom   Heraus- 


504  ^^-  L  ü  d  e  m  a  u  n , 

geber  durchweg  hinter  die  Vaticanische  Handschrift  zurückgestellt. 
Die  Schrift  vom  Gebet  kann  nur  noch  aus  einer  Handschrift  zu 
Cambridge  entnommen  werden.  Alle  diese  Handschriften  sind 
mit  wenig  Ausnahmen,  für  welche  Hülfskräfte  nöthig  wurden,  vom 
Herausgeber  selbst  neu  verglichen,  und  in  dem  (deutsch-geschrie- 
benen)  krit.  Apparat  sorgfältig  verwerthet.  —  Allein  seine  kritischen 
Grundsätze  bezüglich  der  Benutzung  der  Handschriften  sind  nicht 
unangefochten  geblieben;  es  hat  sich  darüber  zwischen  ihm  und 
seinem  Hecensenten  Wen  dl  and  eine  lebhaft  geführte  Controverse 
erhoben.  Ueber  den  Verlauf  derselben  orientirt  eingehender  eine 
Anzeige  von  Jülicher  in  der  Theol.  Litteraturzeitung  1899,  20, 
S.  558 ff.  In  der  Hauptsache  handelt  es  sich  darum,  ob  K.  beim 
Anti-Celsus  mit  Recht  den  Archetyp  der  6  Philokalia-Handschriften 
hinter  die  Vaticanische  Handschrift  zurückgesetzt  habe,  welche 
Wendland  vielmehr  für  die  minderwerthige  hält.  —  Ungewöhnlich 
muthen  in  den  Prolegomenen  des  Herausgebers  eine  Anzahl  Er- 
örterungen in  usum  Delphini  an  (vergl.  krit.  Bemerkungen  S.  59: 
„für  Anfänger  und  Nichttheologen"),  nicht  bloss  literar-historischer 
Art  über  Zeit,  Ort,  Zweck,  Gliederung  der  edirten  Schriften, 
sondern  auch,  zur  Erleichterung  des  Verständnisses  speciell  des 
Anti-Celsus,  über  des  Origenes  literarische  Gelehrsamkeit,  sein 
Verhältniss  zur  griechischen  Philosophie  und  sein  theologisches 
System.  Dergleichen  war  sonst  in  Textausgaben  modernen  Ur- 
sprungs nicht  üblich;  man  beschränkte  sich  —  und  gewiss  mit 
Recht  —  darauf,  für  einen  verbesserten  Text  zu  sorgen  und  für 
dessen  inhaltliches  Verständniss  die  Leser  selbst  sorgen  zu  lassen. 
Wie  dem  sei  —  der  Zweck  dieses  Berichtes  bringt  es  mit  sich, 
diese  Orientirungsversuche  etwas  näher  zu  beleuchten.  Zunächst  fällt 
auf,  dass  der  Herausgeber  diese  Belehrungen,  wie  er  sie  zur  Einführung 
in  die  Leetüre  des  Anti-Celsus  bestimmt  hatte,  so  auch  ausschliesslich 
auf  Grund  dieser  einen  Schrift  geben  zu  müssen  geglaubt  hat. 
Ist  nun  auch  allerdings  für  die  Behandlung  eines  Themas  wie 
„Origenes'  Kenntniss  der  griechischen  Literatur  und  des  griechischen 
Alterthums"  zufällig  gerade  der  Anti-Celsus  die  Hauptquelle,  so 
kann  doch  das  Gleiche  bekanntlich  keineswegs  mit  Bezug  auf 
Origenes'   Verhältniss  zur  griechischen   Philosophie  und   sein  theo- 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  etc.  505 

logisches  System  gesagt  werden.  Dass  die  erste  lediglich  philo- 
logische Aufgabe  vom  Verf.  auf  Grund  seiner  Quelle  mit  der  er- 
forderlichen Exactheit  und  im  Wesentlichen  ausreichend  gelöst  wird, 
versteht  sich.  Für  die  zwei  anderen  aber  war  Letzteres,  trotz  alles 
auch  hier  zu  Tage  tretenden  philologischen  Sammelfleisses  bei 
der  Beschränkung  auf  den  Anti-Celsus  und  namentlich  unter  Aus- 
schluss von  de  principiis  ganz  unmöglich.  Durch  die  erhaltene 
Auskunft  wird  der  Leser  garnicht  in  den  Stand  gesetzt,  das 
Einzelne  im  Lichte  des  Gesammtzusammenhanges  von  Origenes 
speculativem  System  zu  sehen,  zumal  die  Auffassung  des  Verf. 
von  diesem  System  schon  vermöge  seiner  eingestandenen  Ab- 
hängigkeit von  Harnack  eine  durchaus  einseitige  ist.  Zwar  wird 
p.  XXXVIII  noch  im  Allgemeinen  richtig  gesagt:  „Die  Stellung 
der  griechischen  Philosophie  gegenüber  sei  dem  Origenes  durch 
sein  Christenthum  vorgezeichnet  ....  In  seinen  philosophischen 
Grundanschaujingen  stehe  er  zwar  den  Piatonikern  am  nächsten, 
trenne  sich  aber  auch  von  diesen  überall  da,  wo  ihm  sein  christ- 
licher Glaube  eine  unüberschreitbare  Grenzlinie  zieht."  Allein  die 
nachfolgende  Darstellung  entspricht  dieser  Bemerkung  nicht; 
namentlich  aber  erkennt  der  Verf.,  wie  es  scheint,  nicht  an,  dass 
Origenes  sich  auch  in  solchen  Lehren  von  den  Piatonikern  sehr 
deutlich  trennt,  die  nicht  gerade  direct  mit  seinem  „christlichen 
Glauben"  zusammenhängen,  sofern  unter  diesem  nur  der  dog- 
matische Kirchenglaube  verstanden  sein  soll,  wohl  aber  im 
Interesse  seiner  Auffassung  des  Christenthums  als  reiner  Geistes- 
religion von  ihm  ausgebildet  worden  sind.  Sehr  überrascht  daher 
schon  die  (p.  XXXVIII  f.)  gleichfolgende  Aufzählung  einer  Anzahl 
von  selbstverständlichen  Differenzen  mit  Epikuräern,  Peripatetikern, 
Stoikern  (Körperlichkeit  Gottes  und  identischer  Welterneuerung), 
Pythagoräern  (Seelenwanderung),  Piatonikern  (Weltperioden),  sowie 
insbesondere  des  Tadels  von  Sokrates'  Asklepios-Opfer  und  Plato's 
Artemis-Opfer,  mit  der  Schlussbemerkung:  „Damit  hat  Origenes 
ausgesprochen,  was  ihn  von  der  griechischen  Philo- 
sophie, auch  von  der  Platonischen,  trennt".  Bei  Auf- 
zählung der  Lehren  andererseits,  denen  Origenes  zugestimmt 
haben    soll,    weil    er    sie    mit   dem    Christenthum    vereinbar  fand, 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     XV.   I.  35 


506  ^-  T'iidemann, 

becresneu  dann  neben  verdeicbsweisen  Aeusserlichkeiten  auch  so 
wichtige  Thatsachen  wie  die,  da=s  Origenes  in  der  Frage,  ob  Gott 
vSterbliches  geschaffen  habe,  sich  mit  den  Stoikern  gegen  Plato 
entschieden  habe;  oder  die,  dass  er  die  Lehre  der  Stoiker  von  der 
gottglcichen  Glückseligkeit  des  Weisen  der  christlichen  von  der 
Vereinigung  des  vollkommenen  Menschen  mit  dem  Logos  „ähnlich" 
gefunden  habe,  ohne  dass  der  Verf.  es  für  angezeigt  hält,  auf  die 
tiefgreifenden  Unterschiede  hinzuweisen,  die  trotz  dieser  „Aehnlich- 
keit"  zwischen  der  stoischen  und  der  Origenistischen  Auffassung 
bestehen.  Auch  begnügt  er  sich  im  Weiteren  mit  der  Bemerkung: 
dass  Origenes  viel  von  der  stoischen  Ethik  herübergenommen  habe, 
zeige  schon  der  ausgedehnte  Gebrauch  der  stoischen  Termini.  Und 
doch  hätte  schon  in  der  auch  vom  Verf.  sofort  anerkannten  Un- 
vereinbarkeit des  stoischen  Pantheismus  mit  der  christlichen 
Gottesidee  der  Anlass  gelegen,  zu  zeigen,  wie  nothwendig  eben 
diese  Differenz  die  eben  vorher  bemerkte  Coincidenz  mit  der 
ethischen  Denkweise  der  Stoiker  einschränken  musste.  Allein 
solche  Zusammenhänge  entziehen  sich  dem  stets  nur  auf  Einzel- 
heiten gerichteten  Blicke  des  Verf.'s  vollständig.  Dies  zeigt  sich 
im  Folgenden  sofort  noch  drastischer.  Zunächst  werden  Origenes' 
„philosophische  Grundanschauungen"  von  Gott  und  Welt  ohne 
Weiteres  als  platonisch  bezeichnet,  was  durch  die  selbstverständ- 
liche Bemerkung,  dass  er  Plato  vielfach  besonders  anerkenne,  und 
sein  theologisches  System  vom  Piatonismus  „stark  beeinllusst" 
sei  noch  keineswegs  bewiesen  ist;  —  es  kommt  eben  darauf  an, 
wie  weit  Letzteres  der  Fall  war.  Aber  freilich,  wenn  der  Verf. 
Origenes'  Piatonismus  —  mit  Ilarnack  —  aufs  unwidersprech- 
lichste  erhärtet  zu  haben  glaubt,  indem  er  schliesslich  sagt: 
„bildet  doch  gerade  der  Gedanke  von  der  Unver änderlichkeit 
Gottes  die  Norm  seines  Systems",  so  ist  das  ein  Fingerzeig,  wo- 
her diese  ganze  Urtheilsweise  stammt.  Es  dürfte  doch  schwer  sein, 
ein  System  christlicher  Dogmatik  aufzuweisen,  das  auf  Wissen- 
schaftlichkeit Anspruch  macht,  ohne  die  Unveränderlichkeit  Gottes 
zur  Norm  zu  erheben.  Die  Ritschl'sche  Dogmatik  freilich,  nicht 
bloss  von  der  platonischen,  sondern  von  aller  Philosophie  sich 
omanzipirend,   setzt  auch  diesen   speculativen  Canon  ungenirt  aus 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  etc.  507 

deu  Augen,  indem  sie  Gott,  soweit  es  ihr  passt,  auf  das  naivste 
anthropomorphisirt.  Geradezu  falsch  berichtet  aber  der  Verf. 
weiter,  wenn  er  behauptet,  Origeues  habe  die  Platonische  An- 
sicht von  der  Materie  ausdrücklich  gebilligt.  Wie  wenig  das 
im  Gesammtsystem  des  Origenes,  das  jeden  metaphysischen  Dua- 
lismus tilgt,  der  Fall  ist,  weiss  jeder  auch  nur  oberflächlich  Unter- 
richtete. Allein  auch  an  den  vom  Verf.  hier  citirten  Stellen  c. 
Geis.  III,  41.  IV,  60.  61  ist  es  nicht  der  Fall.  An  der  ersteren 
Stelle  „billigt"  Origenes  nichts,  als  die  Fähigkeit  der  Materie,  alle 
möglichen  Qualitäten  anzunehmen.  An  der  anderen  redet  er  zu- 
erst nur  referirend  von  der  Ansicht  derer,  die  die  Materie  für 
ungeworden  halten,  stellt  aber  daneben  die  Ansicht,  dass  sie 
geworden  sei,  als  möglich  hin,  doch  sei  darüber  jetzt  nicht  zu 
verhandeln.  Jedermann  weiss  aber,  dass  er  selbst  eben  dieser 
letzteren  Ansicht  war,  und  nicht  der  „platonischen".  Alles  über- 
steigt endlich,  dass  der  Verf.  —  wiederum  unter  Berufung  auf 
Harnack  —  seine  Leser  dahin  belehren  zu  dürfen  glaubt,  dass 
Origenes  „in  der  Frage  nach  dem  Ursprung  und  Wesen  des  Bösen 
ganz  auf  der  Seite  Plato's  stehe",  unter  Citirung  von  c.  Geis.  IV,  62. 
Hier  ist  jedoch  die  Erörterung  lediglich  auf  die  Frage  eingeschränkt, 
ob  das  Böse  vermehrt  oder  vermindert  werden  könne,  und  „ccebillicrt" 
wird  hier  bei  Plato  nichts,  als  dass  nach  demselben  allerdings 
eventuell  eine  Verminderung  des  Bösen  auf  Erden  bewirkt  werden 
könnte,  aber  mehr  freilich  nicht,  weil  dasselbe  unter  den 
Menschen  nicht  könne  ausgerottet  werden;  was  unter  den 
besonderen  Voraussetzungen  des  Origenes  auch  für  diesen  ja  ledig- 
lich selbstverständlich  ist.^)  So  ist  über  zwei  der  weitreichendsten 
Differenzen  zwischen  Plato  und  Origenes,  seine  Ansicht  von  der 
Materie  als  unselbständiger  Hülle  des  endlichen  Geistwesens  und 
vom  Ursprung  des  Bösen  aus  der  Freiheit  des  endlichen  Geistes 
ein  Strich  gemacht.  Wie  namentlich  Letzteres  einem  Herausgeber 
möglich  war,  der  eben  erst  die  Cpp.  c.  Gels.  IV,  65,  66  hatte 
drucken  lassen,  wo  Origenes  gerade  diese  seine  Ansicht,  im  Unter- 
schied von  der  Platonischen,  deutlich  hervortreten  lässt,  ist  schwer 


o^ 


2)  Hiermit    erledigen    sich    auch    die    vom    Verf.    citirten    Bemerknnofen 
Harnacks,  Dogmengescli.   I  S.  ß'iSf.  am  Schliiss  der  Note. 

35* 


508  FT.  Lüdemaan, 

begreiflicli.  Ueberraschen  aber  kann  nicht,  dass  der  Verf.  nun- 
mehr „dieser  grossen  Uebereinstimmiing  mit  Plato"  nur  zwei 
„erheblichere"  Diflferenzpunkte  gegenüberzustellen  weiss,  nämlich 
dass  jener  an  den  Staatsgöttern  festgehalten  und  seine  "Werke 
nur  für  Wenige  geschrieben  habe!  (p.  XLII.)  Ueberraschen  kann 
ferner  ebensowenig,  dass  der  Verf.  dann  als  „theologisches  System 
des  Origenes"  eine  Reihe  aus  dem  Anti-Celsus  erhobener  theo- 
logischer Ansichten  seines  Autors  vorführt,  aus  denen  gerade  der 
systematische  Zusammenhang  der  Weltanschauung  desselben  gar 
nicht  zu  ersehen  ist,  so  dass  gerade  diejenigen  Stellen  des  Anti- 
Celsus  den  „Anfängern  und  Nichttheologen"  dunkel  bleiben  müssen, 
in  denen  Origenes  ein  näheres  Eintreten  auf  die  berührten 
Probleme  ablehnt,  unter  Hinweis  auf  anderweitige  Erledigung  der- 
selben. 

5.  Davies'  anregende  Arbeit  über  Origenes'  „Erkenntniss- 
theorie"  wählt  sich  zwar  einen  schwer  zu  substantiirenden  Gegen- 
stand, dafür  freilich  aber  auch  gerade  den,  der  direct  auf  die  unter- 
scheidende Eigenthüralichkeit  der  alexandrinischen  Theologie  im 
Unterschied  sowohl  von  der  antiken  als  der  modernen  Denkweise 
hinführt.  Dieses  Eigenthümliche  besteht  darin,  dass  Origenes  den 
Erkenntnissvorgang  geradezu  als  einen  im  Willen  des  selbst- 
bewussten  Subjects  wurzelnden  ethischen  Befreiungsvorgang  auf- 
fasst,  dessen  Ziel  die  reale  Wiedervereinigung  mit  dem  rein 
geistigen,  mit  dem  Affect  der  Liebe  umfassten  Guten  ist  (S.  741 
bis  743).  Der  ganze  Process  geht  von  dem  Willensact  des 
Glaubens  an  den  Inhalt  der  Schrift-  und  Kirchenlehre  aus,  ent- 
wickelt sich  aber  von  da  aus  direct  zur  vollen  Erkenntniss,  weil 
jene  die  Offenbarung  eben  der  Vernunft  selbst  ist.  Und  der 
Befreiungsvorgang  im  Erkennen  kann  und  muss  gelingen,  weil 
das  erstrebte  Gute  höchste  Realität  (Gott)  ist,  und  die  Vernunft 
der  sich  offenbarenden  absoluten  Persönlichkeit  mit  der  endlichen 
vernünftigen  Persönlichkeit  in  einem  Verhältniss  der  „Identität", 
steht,  —  von  welchem  freilich  nicht  ganz  klar  wird,  wie  der 
Verf.  es  bei  Origenes  sich  denkt  und  ob  er  hier  nicht  doch  zu 
viel  modernes  Pantheisiren  hineinbringt.  In  jedem  Fall  zeigt  sich, 
dass  Origenes  zunächst  in  der  Beziehung  antiker  Denker  ist,  dass 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  etc.  509 

seine  „Erkenntuisstheorie"  einfach  in  seinen  metapliysisclien  Vor- 
aussetzungen mit  einbegriffen  ist:  und  auch  darin  theilt  er  noch 
lediglich  die  Richtung  der  Philosophie  seiner  Zeit,  dass  es  ein 
religiöser  Impetus  ist,  von  dem  sein  Denken  ausgeht.  Aber  dass 
dieser  religiöse  Impetus  in  seinem  Entstehen  wie  in  seiner  Wir- 
kungsweise durch  und  durch  ethisch  bestimmt  ist,  darin  zeigt 
sich  seine  christliche  Eigenthümlichkeit.  Dies  erkennt  der  Verf. 
sehr  richtig,  wenn  er,  zu  den  Einflüssen  übergehend,  unter  denen 
diese  Erkenntnisstheorie  sich  bildete,  zwar  einerseits  die  synkre- 
tistische  Lage  der  Zeit  überhaupt  in  Betracht  zieht,  innerhalb 
derselben  aber  auch  die  umprägende  Kraft  des  sittlich-religiösen 
Princips  des  Christenthums  anerkennt,  welches  dem  Erkenutniss- 
triebe  neue  Ziele  und  Impulse  gab,  indem  es  die  Bedingtheit  des 
höheren  Erkennens  durch  den  sittlichen  Charakter  der  Persönlich- 
keit enthüllte  (S.  753).  Die  alexandrinische  Theologie  erhob  den 
in  der  Pistis  mit  liegenden  sittlichen  Willensact  zur  conditio  sine 
qua  non  aller  Wahrheitserkenntniss,  wenn  sie  an  letzterer  auch 
der  griechischen  Philosophie  einen  Antheil  zuerkannte.  Ihre 
Logoslehre  führte  dann  freilich  dazu,  dass  sie  die  in  der 
Schrift  bezeugte  Thatsache  der  Incarnatiou  als  Hauptobject  des 
„Glaubens"  ansah  und  au  ihr  als  dem  eigentlichen  Orientirungs- 
puukt  für  das  gesammte  Erkennen  festhielt;  dem  ordnete  sie  Alles 
unter,  sowohl  das  sonst  noch  angeeignete  Begriffsmaterial  plato- 
nischer Herkunft,  als  auch  dasjenige,  was  sie  für  den  Ausbau  der 
christlichen  Ethik  von  den  Stoikern  entlehnte;  für  dieses  Ein- 
schmelzungsverfahren  hauptsächlich  durch  Philo  geschult,  und 
durch  den  Wunsch  beflügelt,  die  Prostituirung  der  „Gnosis"  durch 
den  häretischen  Gnosticismus  als  gegenstandslos  zu  erweisen.  Da- 
bei ist  dem  Verf.  indess  durchaus  gegenwärtig,  wie  sehr  Origenes 
über  Philo  wie  über  den  gesammten  früheren  Piatonismus  durch 
Ueberwindung  seines  metaphysischen  Dualismus  —  wiederum 
geistig-christlich  —  hinausschreitet.  So  sehr  der  Verf.  nach  alldem 
aufmerksam  ist  auf  den  christlichen  Zug  bei  Origenes,  so  sieht 
doch  auch  er  nicht,  dass  Origenes'  „Erkenntnisstheorie"  von  der 
der  Stoiker  bezüglich  der  Gruppirung  von  Erkennen  und  Wollen 
zu  einander  differirt.     Der  Verf.  identifieirt  die  beiderseitigen   An- 


ÖIO  H.  Lüde  mann, 

sichten    (S.  757 f.);   jedoch    mit   Unrecht.     Den    Stoikern    ist    Er- 
kcnntniss^   und    Tugend    identisch  von  dem  sokratischen  Gesichts- 
punkt aus,  dass  das  Erkennen   durch  seine  Resultate   den   Willen 
determinirt.     Bei    Origenes    ist  umgekehrt  alles  richtige  Erkennen 
bedingt  durch  Ilerzensreiuheit,  welche  durch  Motive  erreicht  wird, 
die  der  religiöse  Glaube  auslöst.     Dies  ist  auch  an  sich,  und  dar- 
um   ebenso    auch    heute,    genuin -christlich;    nur    bestehen    ver- 
schiedene Niiancirungen  je    nach    der    Art,    wie    das  Vorstellungs- 
moment innerhalb  des   „Glaubens"    gefasst    wird.     Dasselbe    kann 
den  Charakter  der  Einfachheit  und  Freiheit  der  ersten  evangelischen 
Verkündigung  tragen,  oder  —  wie  bereits  in  der  frühkatholischen 
Zeit,    und    so    auch    bei  Origenes  —  festere  Formen  dogmatischer 
Tradition  angenommen  haben,  und  so  bereits  ein  unvollkommenes 
Analogen  zum   Erkennen  darstellen;  und  dann  ist  allerdings  die 
Verwechselung  mit  der  stoischen  Ansicht  nahegelegt.     Allein,  wie 
schon  oben  zu  Clemens  bemerkt  ist:  ausschlaggebend  ist  der  Blick 
auf  die  psychische  Stellung  der  sittlichen  Wirkung.     Bei  Origenes 
ist    das    Erkennen  nur  eine  Fortsetzung  der  durch  die  Motivkraft 
des  Glaubens  bereits  ausgelösten  Willensreaction  gegen   die  Sünde 
als  abnormen  Willeusact,    und    kann  sich  gerade  auch  auf  diesen 
Glauben,  seinen  Inhalt  und  seine  sittliche  Wirkung,  reflexiv  richten. 
Bei  den  Stoikern  ist  das  Erkennen  selbst,  als  lediglich  intellectuelle 
Bewegung,  das  einzige  Mittel  zur  Reform  des  Willens,  wie  anderer- 
seits   die    Tcaörj    im    intellectuellen    Irrthum    über    den  Werth  der 
Lebensgüter    wurzeln.     Die  Einsicht    in    diese  Ueberschätzung  der 
Wirkung    des    blossen    Intellects    auf    den    Willen,    welche    dem 
antiken    Denken    bis    zuletzt    eigenthümlich    blieb,    ist    specifisch 
christlich,    und    ihr    Auftreten    ein    sicherer    Gradmesser    für    das 
Mass    der   Unabhängigkeit  der  christlichen  Denker  in  antiker  Um- 
gebung.    Es  liegt  darin  das  factische  Erscheinen    einer   specilisch 
neuen  Form  der  Religion  und  ihres  Verhältnisses  zur  Moral.     Am 
nächsten  auf  antikem  Boden  läge  zur  Vergleichung  mit  der  christ- 
lichen   Erfahrung    von    der    sittlichen    Motivkraft    des    Erlösungs- 
glaubens der  platonische  Eros,    wäre  er  nicht  einerseits  selbst  erst 
Resultat    eines    Erkennens,    und    andererseits    verlassen    von    dem 
Moment    persönlicher    Beziehung  mit  der  Gottheit,  ohne  das    auch 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  etc.  511 

der    christliche    „Glaube"    die    ihm    anhaftende  Eigeuthiimlichkeit, 
willensbevvegender  Affect  zu  sein,  nicht  haben  könnte. 

6.  Schüler  will  behufs  einer  Vergleichung  der  Systeme  von 
Origenes  und  Plotin  vom  Begriff  der  Seele  ausgehen  in  der  Er- 
wägung, dass  von  diesem  aus  sich  die  Fassung  der  oberen  wie  der 
unteren  Principien  beiderseits  wesentlich  bestimmt.  ludess  giebt 
der  Verf.  hier  zunächst  nur  etwas  Vorläufiges  ohne  nähere  Quellen- 
belege. Daher  ist  es  besser,  eine  spätere  ausführlichere  Darlegung 
abzuwarten.  Dass  schliesslich  Plotin  wegen  seiner  Mystik  als  der 
religiösere,  Origenes  aber  wegen  seiner  concreteren  speculativen 
Auskünfte  als  der  intellectualistischere  erscheinen  soll,  dürfte  auf 
einen  psychologischen  Formalismus  der  Beurtheilung  hindeuten, 
der  doch  von  dem  Inhalt  der  beiderseitigen  Ueberzeugungen  — 
auf  der  einen  Seite  ein  metaphysisch -logisches  Pyramidal -System, 
auf  der  andern  ein  lebensvoller  Erlösungs -Vorgang  —  wohl  all- 
zusehr abstrahirt.  — 

7.  Capitaine  hat  es  unternommen,  Origenes  als  christlichen 
Ethiker  zu  behandeln,  was  ähnlichen  Schwierigkeiten  begegnet, 
wie  die  Herausholung  seiner  Erkenntnisstheorie.  Denn  Origenes 
begreift  die  ethische  Entwicklung  und  Vollendung  des  Menschen 
ganz  ähnlich  wie  die  Entwicklung  seiner  Erkenntniss  als  Form  der 
allmählichen  Reactivirung  seines  ursprünglichen  metaphysischen 
Wesens.  So  wenig  es  daher  bei  ihm  eine  besondere  Behandlung 
der  Erkenntnisstheorie  giebt,  so  wenig  auch  eine  solche  der  Ethik. 
Die  Heranbringung  solcher  Kategorien  an  Denker,  bei  welchen  sie 
sich  entweder  noch  nicht,  oder  nicht  mehr  zu  besonderen  Dis- 
ciplinen  herausgebildet  haben,  bedingt  immer  eine  Art  examiuato- 
rischen  Verfahrens,  wobei  die  historische  Stellung  des  Befragten 
zunächst  ignorirt  wird,  um  erst  als  Untersuchungsergebniss  hervor, 
zutreten.  Wenn  dabei  der  Standpunkt  des  Examinirenden  zugleich 
sich  als  ein  apodictischer  geltend  macht,  pflegt  das  untersuchungs- 
ergebniss zugleich  eine  Censur  zu  enthalten.  So  ist  es  auch  hier. 
Denn  der  Standpunkt  des  Verf.  ist  der  katholisch- kirchliche,  der 
bekanntlich  nicht  discutirt,  sondern  nur  urtheilt,  oder  censurirt. 
Ist  dabei  freilich  das  Untersuclmngs-Object  ein  Repräsentant  der 
kirchlichen  Autorität,  so  ergiebt  sich  das  Bemühen,  ihn  dem  ange- 


512  II-  Liidemauu, 

legten  Massstab  entsprechend  zu  finden,  und  dann  eventuell  seine 
historische  Wirklichkeit  zu  alteriren.  So  fanden  wir  es  —  wenig- 
stens theilweise  —  oben  bei  der  Behandlung  des  Clemens  als  Ethikers 
durch  Conrad.  Beim  Verf.  sind  wir  indess  in  besserer  Lage:  denn 
Origenes  ist  ja  kein  Repräsentant  der  Autorität,  sondern  von  dieser 
letzteren  mehr  oder  weniger  preisgegeben.  Daher  kann  seine  ge- 
schichtliche Eigenthümlichkeit  zu  Worte  kommen;  ja  sie  kann 
sogar  theihveise  der  Gegenstand  von  Rehabilitationsbestrebungen 
w^erden,  ohne  dass  der  Verdacht  berechtigt  w'äre,  der  Verf.  suche 
bei  einem  solchen  Heterodoxen  nach  Stützen  für  sein  kirchliches 
System.  Er  behandelt  seinen  Stoff  in  folgenden  Abschnitten:  1.  de 
hominis  natura;  2.  de  fine  hominis;  3.  de  notione  boni;  4.  de  lege; 
5.  de  conscientia,  de  libero  arbitrio,  de  gratia;  6.  de  variis  agendi 
motivis  et  gradibus  perfectionis;  7.  de  virtute;  8.  de  peccatis.  In 
einer  Appendix  folgen  dann  noch  die  Lehrstücke:  de  praeexistentia 
auimarum;  de  poenis  et  igne  aeterna.  Diese  Abtrennung  geschieht 
indess  nicht,  um  die  Lehre  von  der  Präexistenz  aus  der  sonstigen 
Darlegung  von  Origenes  Anschauungsweise  auszuscheiden  und  letztere 
so  der  kirchlichen  etwa  anzunähern,  sondern  nur,  um  sie  wie  die 
Lehre  von  der  Apokatastasis  gegenüber  dem  Rettungsversuche 
Vincenzi's  (Rom,  1864f.)  als  bei  Origenes  thalsächlich  vorhanden 
zu  erhärten.  Sonst  macht  der  Verf.  die  Präexistenzlehre  sammt 
dem  ganzen  metaphysischen  Zusammenhange,  in  welchem  sie  steht, 
zur  Grundlage  seiner  Darstellung  (vergl.  prooemium  und  Cap.  1. 
u.  2).  Gerade  für  die  Anthropologie  des  Origenes  beweist  der  Verf. 
einen  hervorragend  unbefangenen  Blick.  Auch  sonst  weiss  er,  in 
näherem  Anschluss  an  Denis  das  Verhältniss  des  Origenes  zu  Plato 
und  zur  Stoa  so  darzustellen,  dass  nicht  einseitig  die  Abhängigkeit, 
sondern  auch  die  christliche  Selbständigkeit  hervortritt.  Um  so 
auffallender  ist  es,  wenn  er  (S.  108)  in  der  Freiheitslehre  des 
Origenes  die  stoische  wiedererkennen  zu  dürfen  glaubt.  Die  apolo- 
getische Tendenz,  resp.  das  Eintreten  für  den  katholischen  Charakter 
des  Origenes  macht  sich  naturgemäss  da  besonders  bemerkbar,  wo 
in  der  That  bei  demselben  die  specifisch  katholischen  Ideengruppen 
hervortreten,  wie  in  den  Abschnitten  de  lege,  de  peccatis,  sowie 
in    der    Verdienst-    und    Gnadenlehre.      Die    eigentlich    ethischen 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  etc.  513 

Gesichtspunkte  und  Lehren  endlich  hat  der  Verf.  mit  anerkennens- 
werther  Beherrschung  des  weitschichtigen  Materials  gesammelt  und 
dargestellt.  Bezüglich  der  Apokatastasis  unterscheidet  er  eine 
esoterische  Lehrweise  des  Origenes  von  der  exoterischen,  in  welche 
die  Lehre  von  ewigen  Höllenstrafen  sich  einfügt.  — 

8.  Bordes  giebt  ein  Referat  über  den  Inhalt  des  Anti-Celsus, 
und  charakterisirt  dann  die  apologetische  Methode  des  Origenes: 
den  Zweck  und  Plan  seiner  Widerlegung,  seinen  Gegner,  seinen 
philosophischen  Standpunkt  wie  seine  Stellung  zum  Wunder-  und 
Weissagungsbeweis.  Er  findet  hier  wenig  Originelles,  aber  auch 
weder  hier  noch  im  allegorischen  Schriftgebrauch  die  eigentliche 
Stärke  dieser  Apologetik  —  sehr  mit  Recht:  denn  auf  diesen  Aussen- 
posten  war  Celsus  eben  von  bedrohlicher  Stärke.  Wohl  aber  sieht 
der  Verf.  andererseits  richtig,  dass  die  Geltendmachung  der  sittlichen 
Kraft  wie  des  geschichtlichen  Erfolgs  des  Christenthums  den  Punkt 
traf,  wo  Celsus  schwach  war,  sofern  er  das  Christenthum  hierin 
weder  innerlich  überhaupt  verstand  noch  auch  nur  äusserlich  ge- 
bührend würdigte. 

Lactantius. 

1.  Lactantii  opera  omnia.      Partis  II,    fasc.  II:   Caecilii,   qui   in- 

scriptus  est  „de  mortibus  persecutorum"  liber,  vulgo  Lactantio 
tributus.  Rec.  S.  Brandt  et  G.  Laubmann  XXXVI,  169 — 568. 
Wien,  1897.  Tempsky.  M.  6,40.  Daraus  separat:  L.  Caecilii 
liber  ad  Donatum  confessorem  de  mortibus  persecutorum 
vulgo  Lactantio  tributus  ed.  S.  Brandt  IV,  50.  Wien,  1897. 
Tempsky.     M.  0,60. 

2.  A.  Knappitsch,  Lactantius:  Gottes  Schöpfung.     Aus   dem  Lat. 

übertragen  und  mit  sachl.  und  sprachl.  Bemerkungen  ver- 
sehen.    69  S.     Graz  1898.     Styria.     M.  1,35. 

1.  Nur  um  den  Abschluss  der  Lactanz- Ausgabe  von  Brandt 
und  Laubmann  auch  in  diesen  Blättern  nicht  uuverzeichnet  zu 
lassen,  erwähnen  wir  hier  die  obigen  Ausgaben  des  Buches  de 
mortibus  persecutorum.  Sonst  gehört  weder  diese  Schrift  noch  die 
über  iliren  Autor  geführte  Controverse  in  diesen  Bericht.     In   den 


514  II.  Lüde  mau  u, 

Prolegomena  handelt  es  sich  wesentlich  um  den  einen  cod.  Colbert. 
(saec.  XI).  auf  dem  unsere  Kenntuiss  des  Buches  allein  beruht;  um 
seine  Entdeckung,  bisherige  Benutzung  und  die  Bemühungen  der 
Herausgeber  bezüglich  seiner  Entzifferung.  Nach  einem  Referat 
über  die  bisherigen  Ausgaben  hält  der  Verf.  schliesslich  seine  These 
von  der  Unechtheit  des  Buches  im  Wesentlichen  aufrecht.  S.  241  — 
568  erhalten  wir  die  mühe-  und  verdienstvollen  Register  zur  Gc- 
sammtausgabe  des  Lactanz,  hergestellt  vom  Herausgeber. 

2.  Auf  der  Brandt'schen  Ausgabe  beruht  bereits  auch  die 
Uebersetzuug  von  Lactanz  de  opificio  dei  von  Knappitsch.  Der 
Verf.  hielt  die  Schrift,  besonders  wegen  ihrer  Polemik  gegen  die 
epikuräische  Kosmologie  auch  heute  noch  für  lesenswerth,  und  ver- 
sieht sie  mit  sachlichen,  die  naturwissenschaftlichen  Irrthümer  be- 
richtigenden Noten,  am  Schluss  auch  mit  philologischen  Excursen. 

E.  Rocholl,     Plotin    und     das    Christenthum    (Diss.  von  Jena). 
29  S.     Krefeld  1898. 

Abschliessend  für  die  drei  ersten  Jahrhunderte  wie  einleitend 
für  die  folgenden  mag  hier  noch  eine  Dissertation  über  Plotins 
Verhältniss  zum  Christenthum  erwähnt  werden.  Der  Verf.  giebt 
zuerst  (S.  1 — 17)  eineUebersicht  über  die  Verschiedenheiten  zwischen 
Plotinischer  und  christlicher  Weltanschauung,  in  welcher  ihm  die 
erstere  recht  inferior  erscheinen  will  gegenüber  der  letzteren  mit 
ihrem  persönlichen  Gott,  ihrer  persönlich  freien  Vorsehung,  ihrem 
Menschwerdungs-Dogma,  ihrer  Teleologie  der  freigewollten  Zwecke, 
ihrer  anthropocentrischen  Orientierung.  Dabei  tritt  nicht  hervor, 
dass  der  Verf.  die  Schwierigkeiten  vollaus  würdigt,  durch  welche 
diese  sämmtlichen  „christlichen"  Positionen  zu  ebensovielen  colossalen 
Problemen  werden.  Und  dass  zu  deren  Lösung  die  christliche 
Theologie  sich  in  weitem  Umfang  gerade  der  Hülfen  bedient  hat, 
die  ihr  der  hier  so  benachtheiligt  erscheinende  Gegner  darreichte, 
das  ist  eine  Auskunft,  deren  allzu  kurze  Andeutung  am  Schluss  der 
Arbeit  (S.  28 f.)  den  Leser  angesichts  dieses  ersten  Theils  entschieden 
überraschen  muss.  Der  dazwischen  stehende  Abschnitt  über  das 
Verhältniss  der  Ethik  Plotins  zu  der  des  Christenthums  ist  dem' 
gegenüber  wesentlich  werthvoUcr.    Man  merkt,  dass  der  Verf.  hier 


Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  etc.  515 

an  Euckens  Ausführungen  (in  den  „Lebensanschauungen  der  grossen 
Denker")  einen  besser  orientirenden  Anhalt  fand,  der  ihn  besonders 
bezüglich  des  Christenthuras  über  den  Horizont  kirchlich  herge- 
brachter Vorstellungen  hinaus  —  an  die  hier  nur  noch  etwa  Christi 
„stellvertretender  Opfertod"  erinnert  —  und  mehr  in  das  Wesen 
der  Sache  führte.  So  erhalten  wir  hier  eine  hübsche  Parallele 
zwischen  Plotins  ethisch-negativer  Tendenz  zur  „Entmenschlichung" 
und  Erhebung  ins  Allgemeine  und  der  christlichen  Werthung  des 
Individuums  in  Verneinung  wie  Bejahung  desselben;  zwischen 
Plotins  Ablehnung  und  der  christlichen  Erhebung  des  Leidens; 
zwischen  Plotins  äusserlicher  Betrachtung  der  Sünde  als  Sinnlichkeit 
und  der  christlichen  Auffassung  derselben  als  innerlich  erfolgender 
Willensabweichung  — ;  wobei  allerdings  die  schliessliche  Gegen- 
überstellung von  Neuplatonismus  als  „verwickelter  Speculation" 
und  Christenthum  als  „einfacher"  Lösung  aller  dieser  Fragen  — 
trotz  Jacob  Burckhardt  —  seltsam  berührt.  Mit  der  „Ein- 
fachheit" des  Christenthums  hat  es  eine  eigene  Bewandlniss.  Sie 
ist  vorhanden,  gewiss.  Aber  es  hat  eine  Weltgeschichte  gekostet, 
sie  zu  finden,  und  es  wird  noch  eine  Weltgeschichte  kosten,  sie  zu 
behaupten. 


VI. 

Die  deutsche  Litteratiir  über  die  sokratische, 
platonisclie  iiud  aristotelische  Philosophie. 

1899  und  1900. 

Von 
H.  Goiuperz. 

Da  in  dei'  Berichtsperiode  keine  Arbeiten  erschienen  sind,  die 
speciell  Kyniker,  Kyrenaiker,  Megariker,  Akademiker  oder  Peripa- 
tetiker  zu  Gegenständen  hätten,  so  gliedert  sich  dieser  Bericht  von 
selbst  in  die  vier  Hauptabschnitte:  A)  Allgemeine  Geschichte  der 
antiken  Philosophie;  B)  Sokrates;  C)  Piaton;  D)  Aristoteles. 
Zwischen  dieselben  werden  sich  dann  von  selbst  solche  Schriften 
einschieben,  welche  den  Uebergang  von  einem  zum  andern  bilden, 
indem  sie  sich  mit  dem  Zusammenhang  der  betreffenden  Personen 
und  Lehren  beschäftigen. 

A)  Allgemeine  Geschichte  der  antiken  Philosophie. 

H.  Ritter  et  L.  Preller,    Ilistoria  philosophiae  Graecae.     Editio 
octava  quam  curavit    Eduardus  Wellmann.       Gotha,  F.  A. 
Perthes.     1898.     IV  u.  598  S. 
Das  treffliche    und  bewährte  Werk    erscheint    hier    in    neuer 
Auflage,  die  diesmal  E.  Wellmann  allein  besorgt  hat.     Der  Um- 
fang ist  gegenüber  der  7.  Auflage  gleich  geblieben,  und  auch  der 
Inhalt  scheint,  soweit  ich  nach  Stichproben  urtheilen  kann,  abge- 
sehen von  der  Anführung  der  neuen  Litteratur,  keine  wesentliche 
Veränderung  erfahren  zu  haben. 


Die  deutsche  Litteratur  etc.  517 

Abr.  Eleutheropülos,  Privatdocent  an  der  Universität  Zürich, 
Wirthschaft  und  Philosophie  I.  Die  Philosophie  und  die 
Lebensauffassung  des  Griechenthums  auf  Grund  der  gesell- 
schaftlichen Zustände.  Zweite  vervollständigte  und  umge- 
arbeitete Auflage.  Berlin,  E.  Hofmann  u.  Co.  1900. 
XIV  u.  382  S. 

Um  die  Geschichte  der  Philosophie  war  es  nach  der  Meinung 
des  Verfassers  bisher  übel  bestellt.  Denn  „dass  die  Philosophie 
der  nothwendige  Ausdruck  eines  gewissen  Kulturzustaudes  sein 
konnte  und  dass  in  ihrer  Geschichte  vielmehr  ein  Wegweiser  zur 
Bestimmung  des  kulturellen  Zustandes  einer  gewissen  Zeit  zu  er- 
blicken war,  kam  noch  Niemandem  zum  Bewusstsein,  trotzdem, 
dass  man  es  sonst  thatsächlich  verwirklichte"  (S.  4).  Seine  Auf- 
fassung der  Philosophiegeschichte  formulirt  er  nun  kurz  dahin: 
„Die  Philosophie  erfüllt  ein  Zeitbedürfniss,  aber  der  Persönlichkeit 
des  Philosophen  entsprechend"  (S.  17).  Hierin  liegt  aber  eine 
doppelte  Behauptung:  1.  jede  theoretische  Weltanschauung  dient 
nur  zur  Begründung  und  Rechtfertigung  einer  praktischen  Lebens- 
auffassung: und  2.  diese  letztere  muss  stets  in  ihrer  socialen  und 
ökonomischen  Bedingtheit  dargestellt  werden.  Mit  Rücksicht  hierauf 
gliedert  E.  seine  Darstellung  nach  5  Perioden.  In  der  ersten: 
„Die  Vorbereitungen  für  das  werdende  Griechenthum"  (S.  43 ff.), 
treffen  wir  noch  keine  eigentliche  Philosophie  an.  Ganz  anders 
in  der  zweiten:  „Das  werdende  Griechenthum"  (S.  67ft'.).  Hier 
führt  uns  der  2.  Abschnitt  nach  Jonien,  und  im  1.  Capitel:  „Der 
Höhepunkt  des  jonischen  Wohlstandes  und  die  Rechtfertigung  der 
entsprechenden  Lebensauffassung"  erfahren  wir,  wie  sich  E.  auf 
Grund  seiner  Voraussetzungen  die  jouische  Naturphilosophie  zu- 
rechtlegt —  ich  meine  dasjenige,  was  mau  bisher  so  genannt  hat; 
denn  E.  belehrt  uns  (S.  79,  Anm.):  „Es  giebt  keine  Naturphilo- 
sophie und  sonst  ein  ähnlicher  Unsinn  (ich  spreche  jedoch  von  den 
Griechen);  es  giebt  nur  eine  Philosophie  und  das  ist  eine  Lebens- 
auffassung". Hiermit  steht  es  aber  so.  „Der  jonische  Wohlstand 
hatte  das  Volk  mit  der  Zeit  seinem  Verderbnisse  sehr  nahe  ge- 
rückt — .    Die  Poesie  der  Vergangenheit  entartete  nunmehr 

als  blosse  Genusssucht "  (S.  77).     „Man  lebte,  weil  man 


518  H.  Gomperz, 

lebte  und  um  zu  geniessen.  Das  war  thatsächlich  die  Lebensauf- 
fassung vom  ganzen  Jonien"  (S.  78).  Hierdurch  entstand  aber 
nun  ein  Problem.  „Es  kam  darauf  an,  nämlich  zu  beweisen,  dass 
die  Art  und  Weise  der  jouischen  Lebensführung  auch  richtig  sei. 
Thaies  unternimmt  es  dadurch,  dass  er  ein  Weltbild  entwirft,  in 
welchem  nothw endig  auch  dem  Menschen  seine  Stelle  angegeben 
und  somit  auch  seine  Lebensführung  nachträglich  bestimmt  wird" 
(S.  79).  „Mit  der  Annahme  des  wässrigen  Ursprungs  der  Welt 
hatte  aber  der  Philosoph  jene  Lebensführungsfrage  seinerseits 
kurzweg  gelöst"  (S.  80).  „Diese  Lösung  des  Problems  aber  war 
mehr  andeutungsweise  als  wirklich  geschehen"  (Ebd.).  Kein 
Wunder  also,  wenn  wir  des  Befriedigenden  dieser  Lösungsmethode 
erst   an    dem    ausgefiihrteren    Systeme    des    Auaximander    inne 

werden:    „ —  Die  Erde,    nach  Anaximander    walzenförmig, 

war  aber  ursprünglich  in  flüssigem  Zustande  und  ist  nur  mit  Hülfe 
des  umgebenden  Feuers  vertrocknet,  indem  auch  der  salzig  und 
bitter  gewordene  Ueberrest  in  die  Meerestiefe  zusammenrann.  Dies 
führt  nunmehr  unmittelbar  zu  der  Beantwortung  der  Alltagsfrage 
nach  der  Richtigkeit  der  bestehenden  Lebensauffassung:  die 
Menschen  sind,  wie  denn  sonst  auch  alle  übrigen  Thiere,  aus  dem 
Urschlamme  unter  dem  Einflüsse  der  Sonnenwärme  enstanden. 
Dass  dabei  nichts  anderes,  als  eben  nur  das  Schicksal  nach  echt 
griechischer,  speciell  jonischer  Auffassung  ins  Spiel  gekommen  ist, 
versteht  sich  von  selbst,  und  unser  Philosoph  giebt  ihm  auch  da- 
durch den  Ausdruck,  dass  er  eine  periodische  Zerstörung  und  die 

Neuentstehung    der  Welt    verkündet. "    (S.  81).     „Diese 

Lösung  des  Problems  und  die  Rechtfertigung  der  allgemein  jonischen 
Lebensauffassung  dieses  Zeitalters  ist  gewiss  zweifelsohne  über- 
zeugend. Durch  die  zufällige  schlammige  Entstehung  des  Menschen 
wurde  klar  an  den  Tag  gelegt,  ob  eine  besondere  Aufgabe  für  ihn 
überhaupt  vorhanden  sei"  (S.  82).  Das  2.  Capitel:  „Der  Ausbruch 
der  Entartung  und  die  Reformbestrebungen  in  Jonien",  geht  von 
der  Voraussetzung  aus,  dass  nunmehr  auch  in  Jonien  „den  wenigen 
Besitzenden  dieUnbomittclten  massenhaft  gegenüber"  standen  (S.83). 
„Es  zieht  nun  .  .  Pythagoras  aufs  Feld,  mit  einem  dorischen 
Lebensbilde  die  Heimath  zu  reformiren"  (S.  8G).  _  So    ergab    sich 


Die  deutsche  Litteratur  etc.  519 

aber  die  Nothwendigkeit,  „auseinanderzusetzen,  warum  die  neue 
Lebensauffassung  die  alte  zu  ersetzen  hatte,  und  das  war  es  dann, 
was  die  Pytliagoreer  nöthigte,  den  Nachweis  zu  liefern  suchen, 
dass  in  dieser  Lebensauffassung  ein  Gesetz  obw^altet,  welches 
geradezu  das  allgemeine  Weltgesetz  ist:  das  ist  die  Harmonie" 
(S.  88).  Und  hieraus  orgeben  sich  die  einzelnen  Bestimmungen 
der  pythagoreischen  Lehre.  Aber  nicht  einfach  die  Entartung  der 
Sitten  war  das  Uebel,  sondern  „Der  wirthschaftliche  Kampf  in 
Jonien",  den  das  3.  Capitel  behandelt.  Und  da  tritt  uns  denn 
zunächst  „die  proletarisch-demokratische  Bewegung  und  ihre  Lebens- 
auffassung" entgegen  in  —  Xenophanes.  „Dass  Xenophanes  der 
proletarischen  Klasse  angehört,  ist  die  einstimmige  Meinung  der 
Berichterstatter,  welche  ihn  für  einen  sehr  armen  Mann  angeben" 
(S.  98  Anm.).  So  wird  auch  seine  Lehre  begreiflich:  „Er  geht  von 
jener  einzig  möglichen  Grundlage  der  gesellschaftlichen  Reform, 
nämlich  von  der  Herstellung  der  Gleichheit  und  Einheit  aller 
Bürger  aus ;  er  versucht  aber  vor  allen  Dingen  diese  Einheit  und 
Gleichheit  durch  die  Welteinheit,  ja  die  Einheit  des  Alls  zur  Gel- 
tung zu  bringen,  so  dass  schliesslich  die  Einheit  und  Gleichheit 
der  Bürger  als  eine  nothwendige  Folge  der  Einheit  und  Gleichheit 
des  Alls  betrachtet  werden  könne"  (S,  99).  Und  um  diese  Welt- 
ansicht gegenüber  dem  Zeugniss  der  Sinne  zu  behaupten,  entstand 
die  Erkenntuisstheorie  (S.  101).  Gegen  diese  Richtung  wendet  sich 
nun  „der  aristokratische  Protest  gegen  die  proletarischen  Ansprüche 
und  seine  Lebenauffassung"  (S.  102).  Der  „stolze  Aristokrat" 
meinte,  „dass  die  bestehende  Ordnung  zwar  im  Allgemeinen  nicht 
zu  verändern,  w^ohl  aber  die  Ueberschreitung  der  Schranken  zu 
vermeiden  sei;  und  in  diesem  Sinne  tritt  Heraklit  als  sittlicher 
Reformator  seiner  jonischen  Heimath  Ephesus  auf,  und  bietet  dem 
Xenophanischen,  d.  i.  proletarischen  Vorgange  das  Gegenstück  .  ." 
CS.  104).  Denn  „die  Entscheidung  über  die  Richtigkeit  oder 
Falschheit  der  gegenseitigen  Ansprüche  der  Armen  und  Reichen 
hing  also  somit  von  der  Bestätigung  der  Einheit  und  Gleichheit 
alles  Seienden,  wenn  die  Proletarier  recht  haben  sollten,  die  Noth- 
wendigkeit  der  Gegensätze  (d.  i.  also  die  Ungleichheit  aller)  als 
des  Naturgesetzes  aber,  wenn  die  Aristokraten  ihre  Interessen  bei- 


520  H.  Goraperz, 

behalten  sollten"  (S.  106).  Wie  sich  nach  E.  aus  diesen  Praemissen 
die  Heraklitische  Lehre  im  Einzelnen  entwickelt,  das  brauche  ich 
wohl  hier  nicht  auseinauderzAisetzen,  und  ebensowenig,  wie  die 
Gründung  von  Elea  als  „ein  demokratisch-proletarisch-kolonisa- 
torischer Versuch"  den  Xenophanischen  Keim  zur  Parmcuideischen 
Frucht  entwickelt  (S.  117 ff.)-  ^^  der  dritten  Periode,  „Das  ge- 
wordene Griechenthum"  (S.  124ff.),  hat  das  demokratische  Princip 
triumphirt.  „Es  handelte  sich  darum,  die  Besiegten  ins  Lächerliche 
zu  ziehen."  Dies  leistete  Zenon.  „Zenons  Tendenz  ist  nämlich 
gegenüber  Allen,  welche  die  Parmenideische  Alleinslehre  für  lächer- 
lich halten,  zu  zeigen,  dass  ihre  Vielheitslehre  noch  lächerlicher 
ist"  (S.  144).  Wenn  nun  aber  auch  ein  „Oligarch"  wieMelissos 
dieselbe  Lehre  vertheidigt,  so  zeugt  dies  einerseits  von  dem  all- 
gemeinen Durchdringen  der  demokratischen  Idee,  andererseits  aber 
„liegt  es  auf  der  Hand,  dass  ein  derartiger  Mann  kein  gescheidter 
Kopf  sein  kann"  (S.  146).  Allein  nicht  alle  Aristokraten  dachten 
so,  und  es  war  deshalb  an  der  Zeit,  durch  einen  „Aufruf  zur 
liebevollen  Vereinigung  aller  Bürger"  die  Reste  der  Zwietracht 
auszutilgen  (S.  148ff.).  Dies  ist  das  Bestreben  des  Empedokles, 
dem  wohl  die  besonderen  Zustände  seiner  Vaterstadt  hierzu  den 
Anlass  boten.  „Friede  und  Eintracht  ist  das  Mittel  dazu;  denn 
wenn  die  bestehenden  elenden  Verhältnisse  in  Agrigent  eigentlich 
nur  durch  den  Streit  und  die  Zwietracht  unter  den  Menschen 
hervorgebracht  werden,  so  herrscht  im  goldenen  Zeitalter,  in  jenem 
Zustande  der  Seligen,  die  Harmonie,  die  Liebe,  die  Freundschaft, 
die  Eintracht.  Aber  mit  der  ganzen  Welt  verhält  es  sich  so  wie 
mit  dem  Menschen  .  .  ."  (S.  152),  und  so  entsteht  die  Lehre  von 
vsTxo;  und  cptXt'a,  Aber  all  diese  Lehren  haben  noch  eine  wesent- 
liche Beziehung  auf  die  Vergangenheit.  Der  adäquate  Aus- 
druck der  Gegenwart  ist  das  System  des  Anaxagoras.  „Allerdings 
wissen  wir  darüber  nichts,  wie  Anaxagoras  sich  über  das  Leben 
geäussert  hatte;  aber  es  liegt  doch  auf  der  Hand,  dass  er  die  ge- 
wöhnliche Lebensweise  seines  Zeitalters  vollständig  mit  allen 
Anderen  theilte;  mag  es  auch  sein,  dass  er  sich  darüber  gar  nicht 
geäussert  hatte,  so  kann  das  eben  nur  dafür  sprechen,  dass  man 
in  einem  blühenden  Zeitalter  keine  Veranlassung  haben  kann,  die 


Die  deutsche  Litteratur  etc.  521 

Lebensweise  irgendwie  zu  berühren.  Somit  war  es  gleichsam  eine 
dichterische  Betrachtung,  welche  Anaxagoras  aufstellte,  um  das 
Bestehende  aus  der  Ordnung  der  ganzen  Welt  zu  erklären.  Der 
Hauptpunkt,  um  welchen  sich  das  ganze  Weltbild  des  Anaxagoras 
dreht,  ist  der  Nus"  (S.  159).  Dieser  soll  die  Welt  ebenso  ordnen, 
wie  in  der  Blüthezeit  von  Hellas  das  ganze  Leben  durch  den 
Geist  geordnet  ist.  Und  im  Uebrigen  wird  nun  die  Anaxagoreische 
Kosmogonie  durch  die  Forderung  bestimmt,  der  Stoff  müsse  so 
beschaffen  sein,  dass  er  vom  Nus  geordnet  werden  könne  (S.  163ff.). 
Dieselbe  Zufriedenheit  aber,  der  so  Anaxagoras  Ausdruck  giebt, 
liegt  auch  dem  Homo-Mensurasatze  des  Protagoras  zu  Grunde. 
Denn  dieser  Satz  darf  nicht  mit  Pia  ton  („der  bezüglich  des 
Theaetet  nicht  einmal  der  Bezeichnung  eines  Durchschnitts- 
menschenkopfes verdient")  auf  das  Wissen  bezogen  werden.  „Der 
Satz  des  Protagoras  betrift"t  vielmehr  die  Werthurtheile,  entsteht 
in  Bezug  auf  das  gewöhnliche  Verhalten  des  Menschen,  nämlich 
darauf,  wie  des  Menschen  Schicksal  bestimmt  wird  —  kurzum, 
der  Satz  entsteht  in  der  Bestimmung  des  ethischen  Verhaltens  des 
Menschen  zur  Rechtfertigung  der  Sachlage  in  Athen"  (S.  174  Anm.). 
Allein  schon  stehen  wir  an  der  Schwelle  der  vierten  Periode: 
„Das  vergehende  Griechenthum".  „Der  Wohlstand  Athens  hat  die 
wackeren  Athener  in  verkommene  Glückskinder  verwandelt"  (S.182). 
Das  Individuum  löst  sich  aus  der  Gesammtheit  und  versucht,  das 
eigene  Wohl  zu  behaupten  (S.  186).  Es  entsteht  eine  Jagd  nach 
dem  Glück.  Und  diese  „materialistische  Entfaltung  des  griechischen 
Lebens"  (S.  185)  repräsentirt  der  Eudämonismus  des  Demokrit 
(S.  187  ft'.).  Indem  sich  aber  dieser  Eudämonismus  zu  dem  über- 
lieferten Götterglauben  in  Gegensatz  stellt,  wird  Demokrit  genöthigt, 
die  Götter  zu  leugnen,  und  in  weiterer  Folge  eine  mechanische 
Erklärung  der  Naturerscheinungen  zu  liefern:  so  entsteht  aus 
seinem  Eudämonismus  sein  Atomismus  (S.  192 ff.).  Dieser  selbe 
„Materialismus"  ist  es  aber  auch,  dem  die  jüngeren  Sophisten  Aus- 
druck geben  (S.  205  ff.).  Zwischen  dieser  Ueppigkeit  und  der 
Schlichtheit  der  vorhergehenden  Epoche  macht  sich  nun  aber  ein 
empfindlicher  Gegensatz  fühlbar.  „Wer  hat  nun  recht?  —  lebte 
man  in  der  alten  Zeit  so,  wie  man  leben  soll,   oder   ist  dies   nur 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.    XV.  4.  36 


522  H.  Gomperz, 

jetzt    der  Fall?"    Weder    ein    der    alten    Generation    augehörender 
Greis  noch  ein  der  neuen  angehörender  Jüngling  kann  diese  Frage 
beantworten.     „Aber    der  reife  Mann,    der  ist  es,    der    die    Frage 
richtig  stellt;  denn  trotzdem,  dass  er  .  .  .  nicht  ganz  vorurtheilslos 
sein  kann,  so  ist  er  doch  als    der  Erste    der  richtigen  Auffassung, 
dass  über  jene  Frage  nur  so  entschieden  werden  kann,  dass  nicht 
die   alte    Zeit    willkürlich    lobgepriesen    und    die    neue    verdammt 
werde  oder  auch  umgekehrt,  sondern  vielmehr  dass  erst  über  das 
Leben  überhaupt  ein  Begriff  gebildet  wird.     Dieser  Begriff  ist  das 
Mass,  worau  sodann  jene  zwei  Lebensrichtuugeu  gemessen  werden 
können.     Allerdings  ist  auch  die  Bestimmung  dieses  Masses  nicht 
von    irgend    einem   Vorurtheil,    von    irgend    einer    Lebensrichtung 
frei;  immerhin  ist  es  doch  klar,  dass  das  neue  Verfahren  mindestens 
formal  rein  wissenschaftlich    ist"  (S.  220).      Hiermit  ist    nach    E. 
die  Stellung    des  Sokrates    gekennzeichnet,    zugleich    aber    auch 
seine  Lehre  bestimmt,  insofern  der  Tugendhafte  jenes  Mass  kenneu 
und  also  auch  umgekehrt  das  Wissen  um  die  Tugend  diese  bedingen 
muss  (S.  231  f.).     Inhaltlich  aber  werde  dieses  Wissen  als  das  um 
das  Nützliche  aufgefasst,  und  zwar  bestehe  diese  Nützlichkeit  einer- 
seits in    der    Uebereinstimmung    einer    Handlung    mit    der    Sitte, 
andererseits  in  ihren  Folgen.     „Geräth    er  nun    aber    durch    diese 
letztere  Bestimmung  mit  den  bestehenden  Sitten  in  Konflikt,  so  bringt 
er  doch  in  der  That  den  Inhalt    der  Sitte  .  .  .  zum  Bewusstsein, 
indem  er  das  ,Nützlich'  als  nützlich  für  das  ,Edlere'  im  Menschen 
bestimmt.  .  .  .  Somit  tritt  nun  durch  die  Philosophie    ein  Unter- 
schied zwischen   Seele    und    Körper    an    den    Tag"  .  .  .  (S.  237). 
„Man  kann  sagen:  Sokrates  setzt,  wenn  er  sich  dessen  auch  nicht 
vollständig  bewusst   ist,  an    die    Stelle  des  Diesseits    und  Jenseits 
nur    das    Jenseits    und    er    bezieht    die    Massregeln    des    richtigen 
Lebens  nur  auf  dies  letztere"  (S.  238).     Allein  dieser  Sokratismus 
blieb  rein  formal,  so  dass  sich  nun  die  verschiedenen  wirthschaft- 
lichen    resp.    politischen    Parteien    seiner    bedienen    konnten.      So 
lernen    wir    in  Aristipps  Hedonismus    die  Lebensauffassung    der 
„Partei  der  Reichen"  kennen  (S.  250ff.).     Dem  Proletarier  dagegen 
bleil)t  nur  übrig  „entweder  über  seine  Armuth  hinwegzusehen  oder 
schliesslich  zu  versuchen,    einen    dauernden  Zustand    der   Verhält- 


Die  deutsche  Litteratur  etc.  »  523 

nisse  herbeizuführen"  (S.  259).  Jenes  that  „das  Proletariat  aus 
der  alten  Generation  oder  der  Kynismus"  (S.  2591T.;  vgl.  auch 
S.  264:  „So  fasst  das  menschliche  Leben  ein  halb  conservativer 
und  halb  freisinniger  Proletarier:  Unabhängigkeit  von  dem  Aeusseren, 
Selbstgenügsamkeit,  Tugend,  Gut  und  Glückseligkeit  sind  eins  und 
dasselbe").  Allein  die  Geschichte  zeigt  „wie  wenig  sich  die  Magen- 
geschichte mit  einem  Ideale,  d.  i.  thatsächlich  mit  einer  elenden 
Karikatur  befriedigen  liisst"  (S.  270),  und  deshalb  postuliren  „die 
Proletarier  der  jüngeren  Generation",  denen  Phaleas  die  Stimme 
leiht,  den  Communismus  (S.  271  ff.).  Zwischen  diese  Gegensätze  stellt 
sich  nun  Piaton  mit  „einem  aristokratischen  Vermittlungsversuch 
zwischen  den  kämpfenden  Parteien"  (S.  273),  dem  schon  Euklid  es 
vorangegangen  war  (8.  275:  „Es  ist  uns  sowohl  sein  Leben  als 
seine  Lehre  unbekannt.  Aber  es  steht  von  vornherein  fest,  dass 
er  innerhalb  der  Wirren  seiner  Zeit  ein  Friedenspriester  sein 
wollte").  Seine  Philosophie  „stellt  geradezu  ein  Wagniss  dar, 
unter  dem  Mantel  der  Philosophie  das  Volk  zu  einem  noch 
elenderen  Dasein  zu  führen"  (S.  278).  Näher:  „Piaton  begiebt 
sich  nach  dem  athenischen  Markte  mit  der  Laterne  des  au  und 
für  sich  seienden  Guten  in  der  Hand,  und  versucht  nun,  einerseits 
negativ  zu  beweisen,  dass  die  gewöhnliche  Vorstellung  von  der 
Glückseligkeit  völlig  irrig  ist,  und  andererseits  positiv,  nachdem 
er  die  letztere  als  höchstes  Gut  näher  bestimmt  hatte,  das  erstrebte 
Ziel,  also  diese  Glückseligkeit,  dadurch  herbei  zu  führen,  dass  er 
den  Staat  auf  einer  Unterlage  von  einer  communlstlschen  Gemein- 
schaft nach  aristokratischem  Muster  reformiren  will"  (S.  283). 
Es  handelt  sich  also  nach  E.s  Darstellung  (bis  S.  318)  Platou  im 
Wesentlichen  darum,  das  Proletariat  durch  das  Zugeständniss  des 
Communismus  für  eine  aristokratische  Gesellschaftsordnung  zu  ge- 
winnen: zur  Rechtfertigung  derselben  dient  die  Idee  des  Guten  an 
sich,  welche  mit  den  gewöhnlichen  Glücksvorstcllungen  durch  die 
Betonung  der  jenseitigen  Vergeltung  in  Einklang  gebracht  wird; 
und  dieser  Standpunkt  wird  theoretisch  dadurch  begründet,  dass 
dem  sophistischen  Subjektivismus  ein  objectives  Wissen  um  die 
übersinnlichen  Ideen  entgegengestellt  wird.  Allein,  während  diese 
Reformbestrebungen  miteinander  rangen,   brach  schon  die  fünfte 

36* 


524  ^-  Gomperz, 

Periode:  „Der  Untergang  des  Griechenthums"  herein.  Hellas  ward 
von  Macedonien  unterworfen,  und  da  tritt  Aristoteles  auf,  und 
versucht  „sich  klar  zu  werden,  wer  Recht  haben  kann  mit  seiner 
Lebensauffassung,  ob  nämlich  das  vergangene  Griechenthum  und 
das  jetzige  Macedonien,  oder  das  jetzige  Griechenthum"  (S.  324). 
Und  er  beantworte  diese  Frage  im  Sinne  der  ersten  Alternative: 
Aristoteles  „hat  im  Grunde  nur  die  hierarchische  Menschenordnung 
des  macedouischen  Staates  interpretirt;  er  hat,  indem  er  die  Zweck- 
erfüllung des  Niedern  an  dem  Höhern  predigte,  einer  grossen  Masse 
des  griechischen  Volkes,  das  um  Gleichstellung  mit  den  Glücklichen 
des  Tages  kämpfte,  einen  Schlag  auf  den  Mund  geben  wollen  — 
das  war,  was  er  im  Ganzen  als  eine  objektive  Lebensauffassung 
hinstellen  wollte,  nach  welcher  man  sich  zu  richten  hatte  .  .  ." 
(S.  325).  Da  diese  bestimmte  Erklärung  die  charakteristischen 
Momente  von  E.s  Auffassung  des  Aristoteles  schon  deutlich  er- 
kennen lässt,  so  glaube  ich,  deren  nähere  Ausführung  (bis  S.  360) 
übergeben  zu  dürfen.  Allein  auch  diese  Lebensauffassung  konnte 
nicht  endgiltig  sein.  „Man  sah  es  schon  deutlich,  dass  mit  einer 
Predigt  einer  gleichsam  von  aussen  herkommenden  Lebensauffassung 
eben  nichts  anzufangen  war;  man  merkte,  dass  es,  wenn  man 
nicht  die  Lust  hatte  ...  die  gepredigte  Lebensauffassung  für  wahr 
zu  halten,  mit  einer  jeden  Beweisführung  und  Welterklärung  gleich 
schlecht  stand"  (S.  362).  So  entwickelt  „die  ermattete  Gesellschaft" 
eine  „neue  Sophistik"  (S.  363),  die  einerseits  zur  Skepsis  des 
Pyrrhon  führt,  andererseits  aber  zu  den  übrigen,  in  einer  „Gemüths- 
ruhe"  gipfelnden  Systemen:  dem  epikureischen  und  stoischen 
die  nun  zum  Schlüsse  dargestellt  werden  (S.  364;  369 ff.);  und 
hier  ist  es  ja  gewiss  weder  schwer  noch  originell,  das  praktische 
Moment  als  das  massgebende  aufzufassen.  Ich  darf  deshalb  wohl 
auch  über  diese  Ausführungen  rasch  hinweggehen,  und  damit  diese 
Inhaltsangabe  schliessen,  da  E.  hinsichtlich  der  weiteren  Schick- 
sale der  antiken  Philosophie  uns  auf  eine  künftige  Darstellung 
in  einem  zweiten  Theile  seines  Werkes  verweist.  Nach  den  vor- 
gelegten Proben  dürfte  jedoch  der  Wunsch  begreiflich  scheinen, 
der    Verfasser    möge    die    Veröffentlichung    dieser    Fortsetzung    so 


Die  deutsche  Litteratur  etc.  525 

lange  unterlassen,    als  er  sich  nicht    die  Elemente    der    deutschen 
Sprache  einerseits,  der  Selbstkritik  andererseits  angeeignet  hat. 

Wilhelm  Bender,  Mythologie  und  Metaphysik.  Die  Entstehung 
der  Weltanschauungen  im  griechischen  Alterthum.  Stuttgart. 
Fr.  Frommanns  Verlag.     1899.     288  S. 

Ein  formell  höchst  eleganter  Versuch,  den  im  Titel  an- 
gedeuteten Gesichtspunkt  bei  der  Betrachtung  der  philosophischen 
Systeme  Griechenlands  und  ihrer  Entwickelung  zur  Geltung  zai 
bringen.  Nach  dem  Verfasser  giebt  es  im  Grunde  nur  2  Welt- 
anschauungen: die  mythologische  oder  „anthropocentrische",  und 
die  metaphysische  oder  „kosmocentrische".  Jene  legt  die  Welt  aus 
nach  dem  Bilde  und  den  Bedürfnissen  des  Menschen;  diese  will 
sie  interesselos  so  erfassen,  wie  sie  in  Wirklichkeit  ist  (S.  16  u. 
passim).  Dabei  ist  zu  beachten,  dass  nach  B.  jede  dieser  Be- 
stimmungen ein  Doppeltes  eiuschliesst.  Das  Anthropocentrische 
ist  ein  weiterer  Begriff  als  das  Anthropomorphe,  denn  der  Mensch 
ist  nicht  nur  für  die  aualogische,  sondern  auch  für  die  teleologische 
Deutung  massgebend:  die  Mythologie  will  die  Welt  nicht  nur  aus 
menschenähnlichen  Factoren  aufbauen,  sondern  auch  ihren  Zu- 
sammenhang als  einen  solchen  darstellen,  der  die  menschlichen 
Wünsche  befriedigt.  Und  ebenso  will  die  Metaphysik  die  Dinge 
erfassen  nicht  nur  in  ihrer  Verschiedenheit  von  uns,  sondern  auch  in 
ihrer  Rücksichtslosigkeit  gegen  uns.  Aber  schon  die  Zusammen- 
koppelung von  zwei  so  verschiedenen  Dingen  darf  uns  bedenklich 
machen.  Man  sieht  nicht  ein,  warum  beides  wesentlich  zusammen- 
gehören soll.  Die  Welt  kann  gedacht  werden  als  eine  Gemein- 
schaft übernicächtiger,  persönlicher  Wesen,  ohne  darum  für  die 
Menschen  ein  wünscheuswerther  Aufenthalt  zu  sein;  und  sie 
könnte  auch  als  ein  System  durchaus  unpersönlicher  Wesenheiten 
unsern  Ansprüchen  gegenüber  sich  als  durchaus  gefügig  erweisen. 
Aber  noch  mehr!  Die  Gegenstütze,  die  B.  als  fundamentale  an- 
sieht, scheinen  in  Wahrheit  nur  relativ  zu  sein.  Es  giebt  eben- 
sowenig eine  absolut  interesselose  Weltbetrachtung  wie  eine  ab- 
solut unpersönliche  Dingauffassuug.  B.  stellt  den  ^lechanismus 
des  Demokrit  als  die    typische  Form   jener    „realistischen  Meta- 


526  H-  Gomperz, 

physik"    dar,    die    das    All    „mit    Ausscheidung  aller  teleologisch- 
personalistischen  Gesichtspunkte"  auffasst  (S.  80f.).    Allein  wenn  der 
mechanistische    Materialismus    die  Dinge  für    todt    und    die    Vor- 
gänge für  nothwendig  ausgiebt,  so  modelt  er  sie  nur  nach  Analogie 
der  eigenen  Passivitäts-  und    Zwangserlebnisse,    und    thut    so    im 
Grunde  nichts  anderes,  als   wenn  der  Hylozoismus  auf  sie  die  er- 
lebten Zustände  der  Spontaneität  und  Regsamkeit  überträgt.     Und 
wenn  es  zunächst  den  Anschein  hat,  als  wäre  hier  gar    kein  oder 
doch  nur  ein  „rein  theoretisches"   Interesse    massgebend,    so    ver- 
bergen sich  doch  hinter  diesem  alle  jene    Bedürfnisse    nach    prac- 
tischer    Orientirung,     die    uns     zu    Zählungen,     Messungen,     Be- 
rechnungen  etc.  veranlassen.     Diese    dogmatischen    Gesichtspunkte 
musste  ich  kurz  andeuten,    weil  sich  alsbald  zeigen  wird,  dass  sie 
auch  der  historischen  Durchführung    des  B. 'sehen   Grundgedankens 
sich     widersetzen.     Dieser     Durchführung    liegt    im    Allgemeinen 
folgendes    Schema    zu    Grunde:    Das    erste  Buch    behandelt  „die 
Entwickelung     der    metaphysischen    aus    der    mythischen    Welt- 
anschauung".    In  einem  einleitenden  Capitel    wird    im  Anschlüsse 
anUsener's  „Götternamen"  die  griechische  Mythologie  besprochen. 
Sodann  kommt  das  Abblassen  der  persönlichen  Gottheit  zur  meta- 
physischen Potenz  in  der  theogonischen  Speculation  zur  Darstellung, 
wobei  etwa  (S.  50)  darauf  hingewiesen  wird,  wie  sich  bei  Hesiod 
das  Chaos  unter  die  lebensvolleren  Göttergestalten  mischt.     Endlich 
wird  die  allmähliche  Emancipation    der    metaphysischen    von    der 
mythologischen  Denkweise  in  der  vorsokratischen  Philosophie    ge- 
schildert.    Bisher    hat    sich    der   Authropocentrismus    darauf    be- 
schränkt, die  empirische  Welt  auszudeuten;    aber  indem  mit  dem 
Fortschritte    des    realistischen  Denkens  die  rnzulänglichkeit  dieser 
Deutung  immer  mehr  hervortritt,  geht  der  naturalistische  in  einen 
supernaturalistischen  Authropocentrismus  über,    und    die    „psycho- 
centrische"  Weltanschauung  baut  neben    und    über    dem   Diesseits 
ein  den  Bedürfnissen  des  Gemüths  angepasstes  Jenseits  auf  (S.  238 
und  267).     Hiervon  handelt  das  zweite  Buch.     Zunächst  wird  in 
Anlehnung     an     Rohde's    Meisterwerk    „Die    Entwickelung     des 
Seelen-  und  Jenseitsglaubcns    bei    den  Griechen"    erörtert.     Dabei 
fällt  es  auf,  dass  der  Seclenlehre  ein  weit    grösserer    Einfluss    auf 


Die  deutsche  Litteratur  etc.  527 

die  Metaphysik  der  Eleaten  eingeräumt  wird,  als  sich  durch  die 
Quellen  belegen  lässt  (S.  115 ff.)-  Es  wäre  ja  gewiss  hübsch, 
wenn  man  die  Verwerfung  der  Sinnenwelt  zu  Gunsten  eines 
wahren  Seins  auf  das  Ungenügen  der  Seele  am  Irdischen  und 
ihr  Sehnen  nach  einer  Welt  des  unwandelbaren  Friedens  zurück- 
führen könnte,  aber  weder  das  Yerlockende  dieser  Aussicht  noch 
die  (bei  Simplic.  in  phys.  p.  39  erhaltene)  Aeusserung  des 
Parmenides,  die  der  Scheinwelt  vorstehende  Göttin  sende  die 
Seelen  bald  aus  dem  Sichtbaren  ins  Unsichtbare,  bald  umgekehrt, 
geben  uns  ein  Recht,  die  „eleatische  Speculation"  der  „asketischen 
Mystik"  zuzurechnen,  das  parmenideische  Denken  des  Seienden 
ein  „visionäres  Erkennen"  zu  nennen  u.  s.  w.  (S.  llSff.)-  Sodann 
wird  „die  Begründung  des  asketischen  Supernaturalismus  durch 
Pia  ton"  erörtert  —  nicht  ohne  dass  Piatons  Gedanken  eine  be- 
trächtliche Verschiebung  ihres  Schwerpunktes  nach  dieser  Seite 
hin  erleiden  müssen,  so  dass  des  Verfassers  Auffassung  derselben 
ungefähr  mit  der  PI  ot  in 's  zusammenfällt.  B.  nennt  die  Aus- 
gestaltung  der  „Seelen-  und  Jeuseitshoffnung"  „den  einen  Zweck" 
von  Piatons  Wirksamkeit  (S.  127);  wer  sich  erinnert,  wie  dieser 
in  seinem  Hauptwerke,  dem  „Staat",  diese  Hoffnung  sorgfältig  von 
dem  Kern  des  Gedankenganges  sondert,  um  sie  erst  ganz  zum 
Schluss  als  Zugabe  wieder  einzuführen,  wird  diesem  Urtheile 
schwerlich  beistimmen.  Ebensowenig  wird,  wer  sich  die  centrale 
Stellung  der  Gerechtigkeit  in  diesem  Gespräche  vergegenwärtigt, 
begreifen,  wie  man  Piaton  diese  Tugend  sammt  avopsia  und  acucppo- 
auvY]  geringschätzen  lassen  kann  im  Vergleich  zu  der  „über- 
natürlichen" oder  „höchsten"  Tugend,  der  Weisheit  (S.  139,  141)? 
Ebenso  befremdet  die  Auffassung,  die  Dialektik  „führe  nur  zu  den 
Ideen  als  Gattungsbegriffen",  während  ihre  abgesonderte,  reale 
Existenz  Gegenstand  einer  „visionären  Intuition,  einer  Offenbarung" 
sei,  „über  die  sich  nicht  streiten"  lasse  (S.  155)  —  einer  Offen- 
barung, „wie  sie  nur  dem  Seher  im  Zustande  ekstatischer  Ver- 
zückung aufgeht"  (S.  138).  Für  diese  merkwürdige  Vorstellung, 
als  ob  Piaton  neben  seiner  realistischen  auch  eine  conceptua- 
listischc  Lösung  des  Universalienproblems  gekannt  hätte  (die  auch 
auf  S.  136 f.  in  dem  mehrfachen  Gebrauch  der  Wendungen  „Begriffe 


528  H-  Cxomperz, 

von  den  Ideen"  u,  dgl.  hervortritt),  wird  man  schwerlich  eine 
einzige  platonische  Stelle  anführen  können.  Das  dritte  Buch  be- 
spricht „die  drei  Hauptformen  der  kosmocentrischen  Welt- 
anschauung", nämlich  den  aristotelischen  Dualismus,  den  stoischen 
Pantheismus  und  den  epikureischen  Materialismus.  Auch  hier  be- 
gegnen im  Einzelnen  manche  hübsche  Gedanken,  wie  wenn  —  so  wie 
schon  die  IßtoX-x  des  Empedokles  (S.  75)  —  nun  die  et'Syj  des  Ari- 
stoteles mit  den  naiv-animistischen  Ding-Seelen  in  Parallele  gesetzt 
werden.  Daneben  aber  auch  Einiges,  was  nur  als  eine  einigermasseu 
schiefe  Auffassung  der  besprochenenGedauken  bezeichnet  werden  kann. 
So  reichen  die  angeführten  Stellen  lange  nicht  aus,  um  darzuthun, 
dass  nach  Aristoteles  das  getrennte  Sonderdasein  des  göttlichen 
Geistes  „nur  dem  visionären  Blick"  des  sog.  vou?  Trotvjtuo?  auf- 
gehe (S.  171,  187);  dass  „erst  der  gealterte Aristoteles" 

das  theoretische  dem  praktischen  Leben  vorgezogen  habe  (S.  175), 
dürfte  sich  wohl  schwerlich  erweisen  lassen;  der  Vergleich  des 
aristotelischen  „ersten  Bewegenden"  mit  dem  deistischen  Gottes- 
begriffe (S.192)  beruht  auf  Verwechslung  der  begrifflich-dynamischen 
mit  der  zeitlich-genetischen  Priorität  (der  Bewegungsimpuls  des 
deistischen  Gottes  ist  ein  einmaliger,  der  des  aristotelischen  ein 
dauernder  Vorgang);  und  dass  der  Stoiker  „seinem  persönlichen 
Gewissen  allein  verantwortlich  ist"  (S.  215),  klingt  alles  eher  als 
stoisch.  Das  vierte  Buch  endlich  bespricht  erst  „Skepticismus 
und  Synkretismus",  dann  die  „Erneuerung  des  asketischen  Super- 
naturalismus  in  den  neupythagoreischen  und  neuplatonischen 
Kreisen".  Und  auch  hier  wird  mau  ebensowenig  zustimmen 
können,  wenn  von  Pyrrhon  gesagt  wird,  was  wir  von  ihm 
wissen  „erhebt  sich  nicht  über  die  trivale  Meinung,  dass  es  ein 
absolut  sicheres  Wissen  um  die  Welt  nicht  giebt  und  nicht  geben 
kann"  (S.  250),  wie  wenn  es  von  Plutarch,  der  vorher  (S.  219) 
ein  platonisirendcr  Stoiker  genannt  wurde,  heisst,  dass  er  „mit 
dem  Eifer  des  ....  Fanatikers"  „die  stoische  ....  Welt- 
anschauung" bekämpfte  (S.  265).  Aber  solche  Einzelheiten  würden 
wenig  verschlagen,  wenn  sich  nur  B-'s  Grundgedanke  mit  einiger 
Strenge  durchführen  Hesse.  Allein,  nachdem  der  Verfasser  das 
Nebeneinanderbestehen    der    mythologischen    und    metaphysischen 


Die  deutsche  Litteratur  etc.  529 

Tondeuzeu  bei  den  Vorsokratikern  festgestellt  hat,  muss  er  gleich 
von  Piaton  wieder  zugeben,  dass  er  seinen  Dualismus  bald  in 
mythisch-personalistischer,  bald  in  metaphysisch  -  realistischer  Form 
dargestellt  habe  (S.  162);  ebenso  heisst  es  von  Aristoteles,  er 
habe  das  „Diesseits'^  unter  dem  Mond  metaphysisch,  das  „Jenseits" 
darüber  mythisch  gedeutet  (S.  195ff.);  der  stoische  Pantheismus  — 
eine  der  drei  Hauptformen  des  Kosmocentrismus  —  ist  „authro- 
pocentrisch"  bedingt"  (S.  209),  der  Stoicismus  bedeutet  eine  Fort- 
bildung des  „alten  Animismus"  (S.  220);  der  Neuplatonismus  soll 
bei  Plotiu  kosmocentrisch  sein,  weil  nicht  die  Erhaltung  der 
individuellen  Persönlichkeit,  sondern  deren  Auflösung  im  Alleinen 
als  Ziel  gedacht  wird,  dagegen  bei  Porphyr  anthroprocentrisch, 
weil  hier  die  Erlösung  der  Vermittelung  von  Göttern  und  Dämonen 
bedarf  (S.  280 f.).  Nun  wüide  auch  dies  noch  nicht  entscheiden, 
wenn  es  sich  dabei  um  die  Scheidung  grundsätzlich  verschiedener 
Momente  in  dem  Gedankenkreise  eines  Denkers  oder  einer  Schule 
handelte;  aber  eine  Unterscheidung,  die  so  streng  einheitliche 
Gedankenbildungen  wie  das  peripatetische  oder  stoische  System 
auseinanderreisst,  und  zwischen  so  nahestehenden  Denkern  wie 
Plotin  und  Porphyr  eine  massige  Scheidewand  errichten  will,  wird 
schwerlich  den  Anspruch  erheben  können,  als  die  dem  Gegenstande 
natürlichste  und  angemessenste  Betrachtungsweise  angesehen  zu 
werden.  Dies  hat  auch  der  Verfasser  gelegentlich  selbst  empfunden. 
Er  klagt,  wie  schwer  es  sei,  „die  Linie  der  unpersönlichen  metaphy- 
sischen Weltdeutung  einzuhalten"  (S.  212);  er  giebt  zu,  dass  die 
Grenzen  beider  Weltaoschauungen  „keine  unverrückbaren"  sind 
(S.  256);  ja,  er  gesteht  sich:  „Der  Anthropomorphismus  ist  also  nicht 
nur  der  mythischen  Weltdeutung  eigen,  sondern  wirkt  auch  in  der 
metaphysischen  fort;  ja  selbst  die  exacte  und  positive  Erklärung  jeder 
Einzelerscheinung  in  der  Welt  muss  sich  der  Erkenntnissformen 
bedienen,  welche  der  Mensch  aus  sich  erzeugt,  von  denen  man 
umsoweniger  nachweisen  kann,  dass  sie  der  adäquate  Ausdruck 
des  Wirklichen  sind,  als  sie  in  wenig  übereinstimmender  Weise 
von  Forschern  und  Philosophen  auf  die  Welt  angewandt  werden 
und  jederzeit  zu  recht  verschiedenartigen  Ergebnissen  geführt 
haben"  (S.  246).     Damit  scheint  mir  aber  zugegeben   zu  sein    — 


530  H.  Gomperz, 

zwar    nicht,    dass    es    nicht    einmal  verlockend  sein  konnte,  einen 
Versuch  wie  den  vorliegenden  anzustellen,  wohl  aber,  dass  derselbe 
für  die  Auffassung  des  antiken  Denkens  keine  grundlegende  und 
bleibende  Bedeutung  in  Anspruch  nehmen  kann. 
Den 

Uebergang 
von  der  allgemeinen  Geschichte  der  griechischen  Philosophie  zu  den 
sokratischen  Schulen  bezeichnet  für  uns 

Eugen  Kühnemann,  Privatdocent  der  Philosophie  an  der  Universität 
Marburg.  Grundlehren  der  Philosophie.  Studien  über  Vor- 
sokratiker,  Sokrates  und  Plato.  W.  Spemann,  Berlin  und 
Stuttgart,  1899,  XIII  und  478  S. 

„Seltsam  sind  die  Zusammenhänge  der  Geschichte.  In  heisser 
Arbeit,  in  jahrhundertelangem  Ringen  drang  in  der  neueren  Zeit 
die  Philosophie  endlich  bis  zur  philosophischen  Fundamentirung 
ihrer  Grundmethoden  vor,  um,  nachdem  sie  sie  begriffen,  wie  man 
nur  begreift,  was  man  selbst  geschaffen,  sie  völlig  rein  vorgebildet 
zu  finden  bei  jenen  Männern,  die  als  die  ersten  vor  denselben  Pro- 
blemen gestanden  haben"  (S.  478).  In  diesen  Worten,  mit  denen 
K.  sein  Buch  beschliesst,  tritt,  noch  deutlicher  als  im  Titel,  seine 
Grundanschauung  hervor:  dass  die  griechischen  Denker  von  Heraklit 
bis  Piaton  alle  Ilauptgesichtspunkte  der  Kant' sehen  Philosophie 
entwickelt  hätten.  Diese  überraschende  Ansicht  kann  an  und  für  sich 
einen  doppelten  Sinn  haben.  Es  wäre  möglich,  dass  die  Lehren 
des  philosophischen  Kriticismus  mit  denen  jener  antiken  Philo- 
sophen zusammenfielen,  und  dass  der  Schein  einer  Verschiedenheit 
nur  in  den  beiderseitigen  Terminologien  begründet  wäre;  es  könnte 
aber  auch  sein,  dass  die  Alten  selbst  etwas  ganz  Anderes  sagen 
wollten,  und  dass  sich  nur  nachweisen  liesse,  wie  ein  consequentes 
Zuendedenken  ihrer  Aufstellungen  zu  den  modernen  Positionen 
hinführen  muss.  Zwischen  diesen  beiden  Möglichkeiten  zu  unter- 
scheiden, wäre  offenbar  von  höchster  Wichtigkeit;  denn  ein  Anderes 
ist  es,  durch  den  Hinweis  auf  den  modernen  Gedanken  die  philo- 
sophische Tragweite  einer  antiken  Lehre  illustriren,  und  ein  Anderes, 
die    letztere  im  Sinne  des  erstercn    iuterpretircn.     Es  wird    sich 


Die  deutsche  Litteratur  etc.  ^  531 

aber  aus  einer  kurzen  Zusammenfassung  von   K.'s  Hauptgedanken 
alsbald  ergeben,  dess  der  Verfasser  sich  die  grundlegende  Bedeutung 
dieser  Unterscheidung  nur  sehr  unzulänglich  vergegenwärtigt  hat. 
Im  Ganzen  kann  man  sagen,  dass  im  ersten  Theile  seines  Werkes 
der  Gesichtspunkt  der  dogmatischen  Erläuterung,  im  zweiten  aber 
jener  der  historischen  Auslegung  vorherrscht.     Jener  erste  Theil 
behandelt  ausgewählte  „Vorsokratiker",  nämlich  Heraklit,  Xeno- 
phanes,     Parmenides,     Zenon,     Melissus,      Empedokles, 
Anaxogoras,  Demokrit.     In  den  Anmerkungen  wird  ein  grosser 
Theil    der    Fragmente    dieser    Männer    wiedergegeben,    und    von 
reichlichen  Verweisungen   auf  die  neuere  Literatur  begleitet.     Im 
Text  umspielen  schöngeschriebene,  meist  geistreiche  Bemerkungen 
die  gegebenen  Thatsachen.     Auf  diese   einzugehen,    ist  hier  nicht 
möglich.     Nur  die   Heraklit,  Parmenides  und  Demokrit  be- 
treffenden Hauptgedanken  können   berücksichtigt  werden.     Vorher 
aber  soll  au  einem  kleinen  Beispiel  die  Eigenthümlichkeit  der  Me- 
thode dargethan  werden.  Bei  Aristoteles  (Rhetor.  1123,  p. 1399b. 6) 
heisst  es:  Zsvo^avrjs  iXs^sv  oxi  ofxoico;  aacßouaiv  oi  •(sviaöat  'cpaaxovTSc 
Toug  Osou?  ToT?  a-üoOavsTv  Xs^ouaiv  «(j-cpoxspco?  '(ap  aufißoc'vsi  jj.t)  ervai 
TtoTS  Tou;  Osous.     Hierin  wird   eine    unbefangene   Auslegung    wohl 
schwerlich   etwas  Anderes    finden  können   als   eine  Polemik  gegen 
die  traditionelle  Mythologie.     K.   aber  übersetzt  (S.  47)  tous  Oeouc 
beide  Male  mit  „Gott",  bezieht  also   den   Gedanken    statt  auf  die 
Götter  der  Volksreligiou  auf  das  Alleine  des  Xenophanes,    und 
interpretirt:  „Soll  das  identische  Sein  gedacht  werden,  so  schliosst 
es    mit  Nothwendigkeit    alles    Nicht-Sein    von    sich    aus"  (S.  48). 
„Dem  Denker  wird  ganz  unmöglich,  etwas  Anderes  zu  denken  als 
reines  Sein,  unmöglich  vor  Allem,  ein  Sein  zu  denken,    das  auch 
Nicht-Sein    ist.     Mit    dieser  letzten  Wendung  stehen   wir    in   der 
Grundfrage  der  Wissenschaft."     Aber  sogleich  fährt  er  fort:   „Nun 
haben  wir  freilich  in  diesem  letzten  den  Gedanken  des  Seins  aufs 
Aeusserste  entwickelt,   der  in  dem   aristotelischen  Citat  enthalten 
ist.     Ob   die  Entwickelung  'bei  Xenophanes   hier  zu   völliger  Klar- 
heit kam,  kann  bezweifelt  werden.  .  ."  (S.  49).     Und  alsbald  heisst 
es:  „Im  Grunde  genommen  ist  es  glcichgiltig,   ob  auch  die  letzten 
Gedankenreihen   schon   von  Xenophanes  in   völliger  Klarheit  voll- 


532  TT.  Güinperz, 

zogen  sind"  (S.  50).  Es  leuchtet  ein,  dass  eine  solche  Weise  der 
Auslegung  resp.  Unterlegung  zu  schweren  Bedenken  Aulass  giebt. 
Doch  ich  wende  mich  zu  den  Hauptgedanken.  Indem  Heraklit 
an  die  Stelle  des  Seins  das  Werden  setzt,  „bringt  er  die  Gedanken 
in  die  Bewegung,  die  für  alles  Erkennen  nothweudig  und  im  Wesen 
des  Erkennens  gefordert  ist"  (S.  47).  Denn  es  giebt  „keine  Er- 
kenntniss  oder  wenigstens  kein  einheitliches  System  des  Erkennens", 
wenn  nicht  die  Erscheinungen  „alle  mit  allen  vergleichbar",  und 
zu  diesem  Behufe  „in  einem  Grundcharakter  alle  befasst"  sind 
(S.  9).  Dieser  Grundcharakter  aber  ist  der  des  Werdens.  So 
ersetzt  Heraklit  „durch  einen  Zusammenhang  von  Erkenntniss- 
vorstellungen den  naiven  Begriff  des  Seins."  Aber  „in  dieser  Ein- 
sicht besteht  die  Philosophie  und  mit  dieser  beginnt  sie"  (S.  8). 
Allein  die  Lehre  vom  Werden  enthält  einen  Widerspruch.  „Alles 
Werden  .  .  —  Entstehen  sowohl  wie  Vergehen  —  besagt"  den 
„Gedanken  eines  Seins,  das  zugleich  Nicht-Sein  ist."  Jedoch  „dem 
Denken  ist  seinem  Wesen  nach  völlig  unmöglich,  ein  Sein  vorzu- 
stellen, das  zugleich  Nicht-Sein  ist"  (S.  57).  Und  „Parmenides 
erkennt  .  .  .  den  inneren  Widerspruch".  Er  lehrt:  „Nur  reines 
Sein  kann  gedacht  werden,  und  was  gedacht  wird,  das  ist  reines 
Sein"  (S.  51).  Diese  „Einsicht  vom  reinen  Sein  als  einzig  mög- 
lichem Denkinhalt"  hat  ihn  „zu  der  Gleichsetzuug  von  Sein  und 
Denken  geführt"  (S.  55).  Behauptet  er  nun  deshalb  „ein  unent- 
standenes  und  unzerstörbares,  ein  untheilbares  und  unveränder- 
liches, ein  um  dieser  Eigenschaften  willen  kontinuierliches  Sein"  — 
unter  „Aufhebung  von  Raum  (??)  und  Zeit"  (S.  67)  — ,  so  ist  dies 
„in  klaren  und  scharfen  Worten  der  Gedanke  der  Substanz,  der 
hier  in  der  Geschichte  der  Wissenschaft  erscheint"  (S.  66).  „Wir 
haben  damit  den  Gedanken  der  unveränderlichen,  unentstaudenen 
und  unzerstörbaren  Substanz  .  .  .,  entwickelt  aus  der  Nothwendig- 
kcit  der  Erkenntniss,  dass  sie  in  Einem  Gedanken  die  Natur  dar- 
stellt" (S.  69).  „Durch  Parmenides  wird  historisch  bewiesen  die 
Apriorität  des  SubstanzbegrilVs"  (S.  71).  Demokrit  nun  leistet 
„ganz  eigentlich  die  Verbindung  des  Parmenides  mit  dem  Heraklit. 
Denn  die  logische  Unmöglichkeit  im  Gedanken  vom  Werden  und 
von  der  Bewegung  ist  endgiltig  gehoben.     Mit  Gestalt   und  Lage 


Die  deutsche  Litteratur  etc.  533 

ist  der  Raum,  mit  der  Ordnung  der  Atome  oder  wenigstens  einer 
Umsetzung  der  Ordnung  ist  die  Bewegung  als  Grundvorstellung 
in  das  Naturdenken  eingeführt.  .  .  Soweit  aber  gehören  die  Vor- 
stellungen des  Heraklit  in  die  nothwendigen  Grundlagen  der  Natur- 
wissenschaft hinein"  (S.  146).  Dies  alles  nun  vermag  Demokrit, 
weil  er  neben  der  Substanz  (den  Atomen)  noch  das  xsvov  aner- 
kennt. Das  xsvov  aber  sind  —  die  Anschauungsformen  des  Raumes 
und  der  Zeit(!).  „Das  Verhältniss  stellt  sich  ...  in  völliger  Klar- 
heit so:  in  Raum  und  Zeit  ist  der  Gegenstand  der  Natur  zu  kon- 
struiren  als  Substanz"  (S.  142).  Es  handelt  sich  also  „abermals 
um  eine  feinere  Einsicht  in  die  Natur  unserer  Denk-  und  Er- 
kenntnissmittel" (ebenda).  So  macht  es  Demokrit  möglich,  „die 
Welt  hinzustellen  im  Begriff,  wie  Parmenides  es  verlangt,  aber  nun 
nicht  erstarrend  in  Einem  gleichförmigen  Sein  ....  sondern,  weil 
er  die  Anschauungsbedingungen  wahrt,  zugleich  mit  der  ganzen  Fülle 
und  Freude  der  Bewegung  und  Veränderung."  „Das  Anschauungs- 
element ist  es,  Raum  und  Zeit,  was  unsere  ganze  Wirklichkeit  der 
bunten,  sich  wandelnden  Erscheinungen  möglich  macht.  Die  Atome 
sind  in  alle  Ewigkeit  im  strengsten  Sinn  constaut"  (S.  143).  Fragt 
man  nun  aber,  ob  denn  dies  Alles  Gedanken  des  Demokiit  aus- 
drücke, so  erwidert  der  Verfasser  zwar  das  eine  Mal,  den  „Zu- 
sammenhang der  Principien",  die  sein  „Werk  tragen",  habe  er 
freilich  nicht  erkannt.  Nur  „an  das  Object  der  Natur,  nicht  aber 
an  das  erkennende  Bewusstsein"  habe  er  gedacht.  „Was  ihm 
nöthig  scheint,  damit  das  Naturobject  in  wissenschaftlicher  Rein- 
heit construirbar  werde,  das  setzt  er  an,  ohne  weiter  darüber  zu 
grübeln,  ob  und  inwiefern  dies  etwa  durch  die  Denkmittel  unseres 
erkennenden  Bewusstseins  so  gefordert  wird"  (S.  145  f.).  Auf  der 
andern  Seite  aber  hören  wir,  er  habe  „rein  durch  Kritik,  rein  a 
priori,  aber  mit  dem  methodischsten  Bewusstsein  der  Denk- 
nothwendigkeiten  in  diesem  Gebiete  die  quantitative  Naturvor- 
stellung begründet"  (S.  144).  —  Im  zweiten  Theile  „Sokrates 
und  Plato"  übergehe  ich,  was  einleituugsweise  über  die  Sophisten 
bemerkt  wird.  Auch  in  diesem  Theil  fehlt  es  übrigens  nicht  an 
hübschen  und  oft  auch  richtigen  Bemerkungen.  Die  Hauptgedanken 
aber  scheinen   mir,   wie  schon   augedeutet,    noch   bedenklicher    als 


534  ^-  Gomperz, 

die  des  ersten  Theils,  weil  hier  die  modernen  Gedanken  noch  ent- 
schiedener für  antik  ausgegeben   werden.     Bei  Sokrates   hat  sich 
K.   dies    von  vorneherein    dadurch  erleichtert,    dass    er  sich  einer 
ganz  eigenthümlichen  Methode  bedient.     Da  nämlich  „bei  dem  Ver- 
such   der  Ausnützung    der  Berichte    immer    neue  Schwierigkeiten 
sich   ergeben",    so   fragt  er,    „ob   nicht  innere  Gegebenheiten  vor- 
liegen,   über  die  kein  Streit  ist,    und  von  denen   aus  sich  philo- 
sophisch Durchschlagendes   entwickeln  lässt"   (S.  192).      Der  Ver- 
fasser will  also  aus  der  Beschäftigung  mit  ethischen  Fragen,  aus  der 
dialogischen   Methode   der  Gedankenbildung  u.  dgl.  m.   die  sokra- 
tischen    Grundgedanken    deduciren!      Und    dass    diese    Deduction 
gerade  zu  dem  Kantischen  Grundgedanken  führt,  hat  ihn  offenbar 
an  seiner  Methode  nicht  irre  gemacht.     Das  Wesentlichste  dieser 
Ableitung  ist  Folgendes.     Der  sokratische  Dialog  setzt  voraus,  dass 
der  Mitunterredner  seine  Voraussetzungen   preisgiebt,  sobald  ihm 
deren  Konsequenzen  als  widersprechend  erwiesen  werden  (S.  202). 
„Es    ist    hier  praktisch    die  Position    errungen:    nur    ein    an    sich 
widerspruchsloser  Gedanke  ist  Wissen."     Aber  „eine  in  allen  Kon- 
sequenzen mit  sich  übereinstimmende  Vorstellung  nennen  wir  Be- 
grilf."     Somit  ist  das  Denken  „seinem  Wesen  nach  ein  begriffliches" 
(S.  203).     Wir  sehen  also,    dass   „in  dem  ernsthaften  Denken  des 
Sokrates  sogleich  nichts  anderes  sich  wirksam  erweist  als  der  Satz 
vom  Widerspruch.     Nur  dass  er  nicht  formulirt  wird;  das  ist  nicht 
nöthig.     Die  Methode  allein  bringt  ihn  zur  Geltung"  (S.  206.)    Ob 
also  „eine  Meinung  den  Charakter  der  Erkenntniss  trägt,  lässt  vom 
Denken  allein  aus  sich  bestimmen,    es    liegt    an    denkinnerlichen, 
logischen    liestimmungen  .  .  ."     „Sokrates  richtet    nicht   mehr  die 
Gedanken  nach   den  Dingen,    sondern  er  lässt  die  Dinge  um  das 
Denken   sich  bewegen"   (S.  210).      Dies  ist  ^die  grösste  Wendung 
in  der  Geschichte  der  Philosophie"  (S.  205);  denn  es  ist  „im  ersten 
Motiv  die  Conception  aller  idealistischen  Philosophie"  (S.  210).  Aber 
es  handelt    sich  bei  Sokrates    nicht  um   Begrill'e    im  Allgemeinen, 
sondern    speciell    um    Tugendbegriffe.     Was    denken    wir  nun    in 
TuftendbegrilTen?  „Eine  Gesetzlichkeit  unseres  Verhaltens  und  ins- 
besondere  unserer  Handlungen,  aber  nicht  die  Gesetzlichkeit  unserer 
Handlungen,    soweit    sie    durch  technische  Zwecke  bestimmt  sind, 


Die  deutsche  Litteratur  etc.  535 

sondern  eine  ganz  eigenthümliclie  Beziehung  wohnt  dieser  Gesetz- 
lichkeit bei,  nämlich:  wir  sehen  den  Wert  unseres  Lebens  im  Ganzen 
nur  darin,  dass  es  uns  in  seinen  gesammten  Handlungen  von  dieser 
Gesetzlichkeit  regulirt  erscheint.  In  dieser  Weise  wird  von  Sokrates 
einfach  und  genial  das  Problem  der  Tugendbegrifte  angefasst"  (S.227). 
„Das  Wissen  in  diesem  Fall  ist"  also  „Bewusstsein  des  Gesetzes, 
damit  Gewissheit  der  Sittlichkeit  in  unserm  Leben.  Wir  haben 
mit  diesem  Ausdruck  das  sittliche  Bewusstsein  nach  seinem  Wesen 
bestimmt"  (S.  229).  Und  das  Ergebniss  der  sokratischen  Methode 
können  wir  „in  Einem  Ausdruck  formuliren,  indem  wir  sagen: 
er  befestigt  hinsichtlich  des  ethischen  Problems  den  Begriff  der 
praktischen  Vernunft"  (S.  230).  —  Der  Verfasser  wendet  sich  zu 
Piaton,  von  dessen  Gesprächen  er  die  folgenden  bespricht: 
Hippias  minor,  Laches,  Charmides,  Lysis,  Euthydem,  Protagoras, 
Gorgias,  Menon,  Gastmahl,  Phaedon,  Staat.  Aus  diesen,  über 
200  Seiten  füllenden  Erörterungen  greife  ich  nur  einen  Hauptpunkt 
heraus:  die  an  den  „Phaedon"  anknüpfende  Besprechung  der  Ideen- 
lehre. Der  Verfasser  gehört  zu  Jenen,  denen  die  aristotelische 
Auffassung  der  Ideen  ein  „schweres  Missverständniss"  heisst  (z.  B. 
S.  412,  Anm.  1).  Ich  fürchte,  was  er  selbst  an  die  Stelle  des 
ytopiat^.oc  setzt,  wird  nicht  anders  bezeichnet  werden  können.  K. 
geht  aus  von  der  „Unterscheidung  der  Sinnlichkeit  und  des  Ver- 
standes" (S.  400).  Nach  Piaton,  meint  er,  erkennen  die  Sinne  die 
Erscheinungswelt,  die  „reine  Vernunft  aber  geht  auf  das  reine  Sein 
oder  die  Dinge  an  sich"  (S.  401;  die  „reine  Vernunft"  soll  die 
Worte  Phaed.  66  a  £i)axptvsT  tq  Stotvoia,  das  „Ding  an  sich"  den 
Ausdruck  auxo  y.a&'  auto  IxaSTOv  xäv  ovicuv  ebenda  wiedergeben). 
Also:  wie  das  „scheinbare  Ding"  in  der  „Sinnesvorstelluug",  so 
wird  das  „Ding  an  sich"  ergriffen  im  „reinen  Begrifl'"  (S.  402). 
Diese  Bestimmung  des  Verfassers  nun  halten  wir  fest:  das  reine 
Sein  oder  das  Ding  an  sich  ist  eines,  der  reine  Begriff  ist  ein 
anderes;  beide  sind  ebenso  verschieden  wie  die  Erscheinungswelt 
und  unsere  Sinnlichkeit.  Entweder  also,  sollte  man  meinen,  sind 
die  Ideen  die  Dinge  an  sich;  dann  stehen  sie  der  „reinen  Vernunft" 
als  etwas  Fremdes  gegenüber  —  und  das  ist  der  ytopiaao;.  Oder 
die  Ideen  sind  die  reinen  Begriffe;    dann   sind   sie  nicht  das  reine 


536  H.  Gomperz, 

Sein.     Aber  die  zweite  Alternative  widerspricht  offenbar  zahllosen 
platonischen  Aeusserungen.     Somit,  scheint  es,  bleibt  dem  Verfasser 
nur    die  Anerkennung  des  y(opia[i6^  übrig.     Allein   er  geht  einen 
ganz  anderen  Weg.    Er  macht  zunächst  mit  Recht  auf  eine  Analogie 
der  platonischen  avajxv/;öi?  mit  der  Kantischen  Apriorität  aufmerk- 
sam (S.  411  ff.),    während    aber    Piaton    sagt,    wir    müssten    die 
Gleichheit  schon  kennen,  ehe  wir  zuerst  concrete  Dinge  als  gleich 
auffassen  können  (Phaedon,  p.  75a:   a.va-{y.o((ov  ofpot  7j|xa?  TiposiSsvai 
to  laov  TTpo   exstvo'j   tou  /povou   oxs  to  Trpöoxov  loovxs^  xa  laa  svsvov]- 
aajjLsv),  spricht  K.  von  der  „Apriorität  gewisser  Grundbegriffe",  so 
dass  schon  hier  die  „Dinge  an  sich"  neben  den  „reinen  Begriffen" 
verschwinden,    die    platonischen    Ideen    in    die    Kantischen 
Kategorien  sich  verwandeln.     Sofort  heisst  es  auch:   „Im  reinen 
Begriff   erkannten   wir  früher  schon  das  reine  Sein"  (S.  412)  — 
während  wir  es  nicht  in  ihm,  sondern  durch  ihn  erkannten.    Und 
nun  fliessen  die  reinen  Begriffe  und  ihre  Gegenstände  rapide  zu- 
sammen.    „Dieses  Gleiche,  Rothe,  Gute  an  sich,  heisst  es  (S.  415  f.), 
ist  kein  Ding,  es  ist  eben  eine  Idee."     Und  gleich  darauf:    „Nur 
das  Gleiche,  Rothe,  Gute  selbst  ist  reines  Sein  an  sich."    Während 
also  auf  S.  401  das  reine  Sein  oder  das  Ding  an  sich  dasselbe  war, 
ist  hier  die  Idee  zwar  reines  Sein,  aber  kein  Ding.     Und  während 
auf  S.  402  die  reinen  Begriffe  und  das  reine  Sein  Zweierlei  war, 
heisst  es  jetzt  auf  S.  418:    „Die  reinen  Begriffe,    oder,    was  dafür 
ein  Wechselbegriff,  jenes  reine  Sein,  das  sie  sind.  .  ."     Nun  aber 
besinnt  sich  der  Verfasser.     Er  sagt:  „Hier  möchten  wir  eine  letzte 
grosse  Zusammenfassung  erwarten  .  .  .  nämlich    diese:    die  reinen 
Begriffe  .  .  .    sind    der  Verstand    selbst.      Aber    diesen    Schlusszug 
finden  wir  bei  Piaton  nicht"  (S.  420).     „Er  begnügt  sich  mit  dem 
Gedanken  der  Verwandtschaft.     Wenn  jenes  einwertige,   reine,  an 
und  für  sich  seiende  Sein  nur  mit  der  Seele,   wo  sie  rein  und  an 
und  für  sich  ist,  ergriffen  wird,  so  muss  die  Seele  ihm  verwandt 
sein"  (S.  421).     Offenbar  hat  K.  nicht  bemerkt,   dass  er  in  diesen 
Worten  den  /(upistxo?  selbst  beschreibt.     Denn  wir  haben  ja  eben 
gehört,  dass  die  Ideen  das  reine  Sein  „sind."     Wenn  also  die  Seele 
ihnen    nur  verwandt  ist,    wenn  sie  kein  psychisches,    sondern  ein 
selbstständiges  Sein  haben,  dann  sind  sie  eben  transcendent  —  und 


Die  deutsche  Litteratur  etc.  537 

mehr  hat  Aristoteles  nicht  behauptet.  (Die  lauge  Anmerkung 
auf  S.  420  sucht  vergebens  dieser  Consecjuenz  zu  entgehen.)  Wenn 
aber  K.  sich  dagegen  sträubt,  Piaton  diese  „unsinnige  Vorstellung" 
(S.  416)  zuzuschreiben,  so  wird  zu  erwidern  sein:  die  transcendente 
Idee  ist  nicht  unsinniger  als  das  transcendente  Ich  oder  das  trans- 
cendente „Ding  an  sich"  —  jedenfalls  aber  viel  weniger  wider- 
spruchsvoll, als  der  zwischen  Dinglichkeit  und  Gedanklichkeit  hin 
und  her  schwankende  „reine  Begriff",  den  der  Verfasser  an  ihre 
Stelle  setzen  möchte. 

B)   Sokrates. 

Richard  Kralik,  Sokrates,  nach  den  Ueberlieferungen  seiner  Schule 
dargestellt.    Wien.    Carl  Konegen.     1899.     XXIV  u.  617  S. 

Eine  sokratische   Evangelieuharmonie,    in   seiner   Art  ein    be- 
deutendes Kunstwerk,  in  jeder    Zeile  athmend   Bewunderung  und 
Liebe  für    den   Gegenstand.      K.   stellt    das  Leben    des  Sokrates 
dar,  wie  es  sich  abgespielt  haben  müsste,  wenn  alle  xenophontischen 
Berichte  und  platonischen  Gespräche  als  treue  geschichtliche  Quellen 
sollten  benutzt  werden  können.     Zur  Ergänzung  der  Lücken   sind 
nicht  nur  die  andern  Berichte,  sondern  auch  die  allgemeinen  Zeit- 
ereignisse in  weitem  Ausmasse  herangezogen.    Jene  auffallende  Vor- 
aussetzung   nun,     wonach    alle    Dialoge    des    Piaton,     in     denen 
Sokrates  das  Gespräch  leitet,  nicht  freie  Schöpfungen  des  ersteren 
sein  sollen,  sondern  Bearbeitungen  von  „Vorträgen"  (S.  XVII)  des 
letzteren,  sucht  der  Verfasser  in   der  Vorrede   auch   als   historisch 
richtig  zu  erweisen.     Diesen  Beweis  wird  man  als  gelungen  nicht 
bezeichnen   können.      „Alle   Historie   beruht    schliesslich    auf   dem 
subjectiven,    höchst  persönlichen   Scharfblick,    den    ein   Historiker 
für  das  Durchschauen  seiner  Quellen  hat"  (S.  XXI).     Eben  deshalb 
wird  man  über  ein  Argument  wie  das,  es  sei  „ganz  unantik  gedacht, 
dass  ein  Künstler  oder  Forscher  sich  hinter  einen   andern  steckt, 
um  seine  Gedanken  und   Gefühle    anzubringen"   (S.  XVI)    mit   K. 
nicht  streiten  wollen.      Wenn  er  aber   die  Stelle  Conviv.  p.  215d: 
'ETTStSotv  8e  aoS  xts  dxou-(j  tj  xöiv  awv  Xo'j'tov,  aXXou  Xs^ovtoc,  xav  Tzdvu 
cpauXo?    Ii    6  Xs^tov,    sav    tö  *|'uvy]  dxou(]  idv  ts  dv/jp  idv  xt   usipdxiov, 
£X';:£7rX-/)-,'[x£voi  iatjsv  xal  xax5/o[j.£i)a  als  ein  „entscheidendes  Zeugnis" 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     XV.  4.  o7 


538  IT.  Gomperz, 

dafür  aoführt  „dass  die  Gespräche,  Reden  und  Vorträge  des  Sokrates 
von  anderen  Leuten  fast  gewerbsmässig  reproducirt  wurden,  etwa 
wie  die  Gesänge  eines  Rhapsoden"  (S.  XIX),  so  dass  wir  also  auch 
in  den  platonischen  Schriften  solche  Reproductionen  zu  erkennen 
hätten,  so  wird  er  auf  Grund  des  eben  angeführten  Grundsatzes 
es  mir  nicht  verargen  können,  wenn  ich  darin  vielmehr  eine  echt 
platonische  Bosheit  gegen  „haeretische"  Mitsokratiker  finde.  Und 
wenn  K.  aus  den  Versen  des  Aristophaues  Nub.  288ff: 

'AXX.'   d7roa;£taa[j.£vot  vscpo;  oijißpiov 
'Aöavaxa?  losa?  sTTtSwjjisöa 
TyjXsazozm  ofifiaxt  i'ociav 

schliesst,  die  Ideenlehre  müsse  schon  Sokrates  angehören  (S.  XXI), 
so  setzt  dies  voraus,  der  Dichter  lasse  an  dieser  Stelle  die  Wolken 
„ihre  Nebelschleier  ablegen  und  sich  als  unsterbliche  Ideen  —  — 
zeigen"  (S.  140f.),  während  die  Worte  in  Wahrheit  bedeuten: 
„Aber  lasst  uns  von  unseru  unsterblichen  Gestalten  den  Regennebel 
abschütteln,  und  weitblickenden  Auges  die  Erde  betrachten".  Aber 
auch  der  Verfasser  hat  diesen  „kritischen  Zweifel"  vorausgesehen. 
Wer  sich  desselben  „nicht  entschlagen  kann,  dem  will  ich  dann 
eben  nichts  weiter  geboten  haben  als  den  philosophischen  Roman 
von  Sokrates,  den  Roman,  den  schon  Piaton  unter  diesem  Namen 
entworfen  hat,  den  ich  hier  nur  in  ein  Buch  zusammenfasse,  er- 
läutert an  der  Geschichte,  vereinigt,  ausgeglichen  und  abgeschlossen" 
(S.  XXIII).  In  diesem  Sinne  kann  auch  die  Forschung  des  Werk 
willkommen  heissen. 

Robert  Pöhlmann,  ord.  Prof.  der  alten  Geschichte  an  der  Universität 
Erlangen.  Sokrates  und  sein  Volk.  Ein  Beitrag  zur  Ge- 
schichte der  Lehifreiheit.  Historische  Bibliothek,  Bd.  VIII. 
München  und  Leipzig.     R.  Oldenbourg.     1899.     133  S. 

Diesem  Buche  gegenüber  befinde  ich  mich  insofern  in  einer 
schwierigen  Lage,  da  es  zum  grossen  Theil  in  einer  heftigen,  auch 
der  persönlichen  Angriffe  nicht  entbehrenden  Polemik  gegen  die 
Beurtheilung  des  Sokrates-Processes  durch  meinen  Vater  (Griechische 
Denker,  II,  p.  89fl".  —  welches  Werk  erst  nach  dem  Abschluss  des 
2.  Bandes  hier  zu  besprechen  sein  wird)  besteht.    Und  das  Nächst- 


Die  deutsche  Litteratur  etc.  539 

liegende,  eine  kurze,  objective  Skizxirung  von  P.'s  Standpunkt, 
erscheint  nach  der  besonderen  Natur  der  Schrift  nicht  wohl  aus- 
führbar; denn,  was  immer  ich  von  seinen  Gedanken  oder  AVorten 
anführen  möchte,  stets  würde  der  Schein  entstehen,  ich  hätte  einige 
vage  Allgemeinheiten  aus  dem  Zusammenhange  gerissen.  So  bleibt 
nichts  übrig,  als,  nach  diesem  vorläufigen  Hinweise  auf  eine  mög- 
liche Quelle  meiner  Befangenheit,  dies  Werk  wie  alle  anderen  zu 
besprechen.  Am  Schlüsse  des  1.  Capitels  „Individualität  und  Massen- 
geist in  der  Epoche  der  Vollcultur"  bestimmt  der  Verfasser  den 
Zweck  seiner  Schrift  in  den  Worten:  „An  sich  war  es  ja  ein  ge- 
waltiger Fortschritt,  dass  wir  von  der  Ueberschätzung  des  Individuums 
—  —  —  so  gründlich  zurückgekommen  sind,  dass  in  Leben  und 
Wissenschaft  der  Gedanke  des  Sozialen  seinen  siegreichen  Einzug 
gehalten.  Aber  andererseits  ist  es  doch  eine  besorgnisserregende 
Erscheinung,  wenn  denkende  Beobachter  der  Zeit  'unter  dem  sich 
steigernden  Eindrucke  stehen,  dass  das  Recht  des  Individuums 
gegenwärtig  in  ganz  besonders  hohem  Grade  verkannt  und  verkürzt 
werden"  (Yolkelt).  „Angesichts  dieser  Gefahren  erscheint  es  doppelt 
bedenklich,  w^enn  selbst  von  den  Stätten  aus,  welche  recht  eigentlich 
zur  Hut  des  rein  geistigen  Elementes  der  Cultur  und  damit  eben 
der  freien  Individualität  berufen  sind,  Ansichten  verkündigt  werden, 
welche  geeignet  sind,  diese  Unklarheit  über  das  'Recht  der  Persön- 
lichkeit' und  ihr  Verhältniss  zur  Gesammtheit  zu  steigern.  Ich 
denke  dabei  eine  historisch-politische  Erörterung,  w'elche  vor 
kurzem  Gomperz  in  seinem  .  .  .  Werke  über  'griechische  Denker' 
niedergelegt  hat  und  die  von  den  angegebenen  Gesichtspunkten 
aus  nicht  ohne  Widerspruch  bleiben  kann"  (S.  4f.).  Wir  folgen 
der  Erörterung  nicht  durch  die  einzelnen  Capitel  („Der  hellenische 
'Volksgeist'  und  die  'auflösende'  Reflexion";  „Sokrates  und  der 
Staat,  im  Lichte  einer  Psychologie  der  Volksherrschaft";  „Sokrates 
als  typischer  Repräsentant  der  Vollkultur  und  der  Conflict  mit 
dem  Massengeist";  „Der  Richterspiuch  der'Polis'";  „Der  hellenische 
Kulturstaat  und  die  Denkfreiheit"),  sondern  heben  das  Wesent- 
lichste heraus.  In  den  „griechischen  Denkern"  lieisst  es  (IL  p.  90) 
von  der  Verurtheiluug  des  Sokrates:  „Unsere  l^eberzeugung  geht 
dahin,    dass    das    verhängnissvolle  Ereigniss    zum  kleineren  Tlieile 

37* 


540  H.  Gomperz, 

durch  Vorurtlieil  und  Missverstand  verschuldet,  zum  weitaus 
grösseren  Theil  und  in  entscheidendem  Masse  die  Wirkung  eines 
vollberechtigten  Conflictes  gewesen  ist Zwei  Welt- 
anschauungen, fast  möchte  man  sagen:  zwei  Menschheitsphasen, 
rangen  an  jenem  Tage  mit  einander.  Die  von  Sokrates  einge- 
leitete Bewegung  war  ein  unermesslicher  Segen  für  die  Zukunft 
des  Menschengeschlechts;  sie  war  ein  Gut  von  sehr  zweifelhaftem 
Werthe  für  die  athenische  Gegenwart.  Dem  Rechte  des  Gemein- 
wesens, sich  zu  behaupten  und  auflösenden  Tendenzen  entgegen- 
zuwirken, stand  das  Recht  einer  grossen  Persönlichkeit  gegenüber, 
neue  Bahnen  zu  erschliessen  und  aller  Zähigkeit  des  Herkommens, 
jedem  Aufgebote  dräuender  Staatsmacht  zum  Trotze  muthvoll 
zu  beschreiten."  Diese  Sätze  bilden  den  Kernpunkt  des  Streites. 
Wie  sie  gemeint  sind,  zeigt  erstens  die  Darlegung  des  innerlichen 
Gegensatzes  zwischen  dem  Princip  der  Sokratik  und  dem  der 
griechischen  Polis  (p.  93 f.):  Sokrates  und  den  Seinen  hat  es  „an 
wahrer  inniger  Liebe  zu  ihrer  Heimat  gefehlt"  „weil  sein  Herz 
von  einem  anderen,  von  einem  neuen  Ideal  erfüllt  war.  Die 
,Einsicht'  ist  nicht  athenisch,  die  ,Besonnenheit'  ist  nicht  spartanisch, 
die  ,Tapferkeit'  ist  nicht  korinthisch.  Wo  Alles  und  Jedes  vor 
den  Richterstuhl  der  Vernunft  geladen  wird,  wo  nichts  Herkömm- 
liches als  solches  gelten,  sondern  alles  von  der  denkenden  Re- 
flexion seine  Rechtfertigung  empfangen  sollte,  wie  konnte  da 
der  auf  einige  Quadratmeilen  beschränkte  Stadtpatriotismus  von 
ehemals  seine  alte  Stärke  bewahren?  ....  Der  Vernunftsmoral 
ist  der  Cultus  des  Weltbiirgerthums  alsbald  nachgefolgt.  Hinter 
diesem  sieht  man  ein  Weltreich,  hinter  diesem  eine  Weltreligion 
erstehen."  Es  zeigt  dies  zweitens  der  Hinweis  auf  die  concreto 
Entfremdung  der  Sokratikcr  Athen  gegenüber,  wie  sie  namentlich 
zu  Tage  tritt  einerseits  in  dem  Anschluss  Xenopho  ns  an  den  Landes- 
feind, andererseits  in  dem  Verhalten  Platon's,  der  oifenbar  nur  zu 
gerne  das  „schlecht"  regierte  Athen  zu  Gunsten  eines  „gut" 
regierten  Syrakus  verlassen  hätte  (p.  92).  Uebrigens  wird  kein 
Zweifel  darüber  gelassen,  dass  nach  der  Meinung  des  Verfassers 
der  „griechischen  Denker"  in  all  diesen  Tendenzen  der  Sokratik 
nur    der    alte    „Gegensatz    der    philosophischen    Kritik    und    der 


Die  deutsche  Litteratur  etc.  541 

natioualen  Ideale"  einen  „tiefereu  und  offenkundigeren"  Ausdruck  ge- 
funden hat  (p,  94),  der  von  den  durch  die  schweren  Misserfolge 
zur  Idealisirung  der  alten,  traditionellen  Anschauungen  geneigten 
Athenern  doppelt  empfindlich  gefühlt  worden  sei  (S.  75f.).  Die 
Absicht  dieser  Darstellung  zeigt  sich  aber  auch  drittens  in  den 
Worten,  die  unmittelbar  an  jene  von  den  beiden,  einander  gegen- 
überstehenden „Rechten"  anknüpfen:  „An  dieser  Berechtigung  des 
Individuums  zweifeln  unter  denen,  an  welche  diese  Blätter  sich 
wenden,  bei  Weitem  nicht  so  viele  als  au  jeuer  des  Staates" 
(S.  90).  Hätte  P.  diesem  Satze  Beachtung  geschenkt,  so  hätte 
seine  Polemik  vielleicht  eine  andere  Gestalt  angenommen.  Deuu 
er  hätte  sich  dann  überzeugt,  dass  jene  Gedanken  über  die  Frei- 
heit des  Denkens,  Forscheus  und  Lehrens,  auf  die  er  immer  wieder 
zurückkommt,  seinem  Gegner  nicht  uur  nicht  unbekannt  waren, 
sondern  dass  dieser  sie  vielmehr  als  so  selbstverständlich  voraus- 
setzte, dass  ihm  schon  die  blosse  INIöglichkeit  einer  anderen  Auf- 
fassung zum  Problem  geworden  war,  dass  er  sich  m.  a.  W.  ver- 
pflichtet glaubte,  auch  alles  dasjenige  zu  erwägen,  was  etwa  in 
jenem  Augenblick  den  Alltagsargumenten  zu  Gunsten  der  Gedanken- 
freiheit sich  habe  entgegenstellen  lassen.  Er  hätte  dann  auch 
schwerlich  meinen  Vater  „den  unermüdlichen  Ankläger  der  Philo- 
sophie" (S.  38)  genannt,  und  ihm  nicht  Belehrungen  ertheilen  zu 
müssen  geglaubt  wie  die:  „Das  wissenschaftliche  Denken,  das  die 
Wahrheit  und  nur  die  W^ahrheit  will,  ist  seiner  ,Teudenz'  nach 
nie  gemeinschädlich,  sondern  wahrhaft  gemeinnützig"  (S.  117). 
„Dabei  fällt  das  wohlverstandene  Interesse  zwischen  Volk  uud 
Staat  mit  dem  der  Wissenschaft  zusammen"  (S.  118).  Ebenso 
hätte  P.,  wenn  er  die  eben  kurz  wiedergegebene  Auffassung 
von  dem  Misstrauen  des  archaisir enden  Conservativismus  der 
restaurirten  Demokratie  gegen  die  Sokratik  als  prägnante  Ver- 
körperung der  Aufklärung  genauer  erwogen  hätte,  es  kaum  für 
nothwendig  gehalten,  auf  15  Seiten  (S.  23—38)  den  angeblichen 
Widerspruch  zu  entwickeln  zwischen  der  Anerkennung  eines 
vorsokratischen  Individualismus  und  Rationalismus  und  der  Fest- 
stellung, dass  eben  diese  Geistesrichtungen  den  Sokratismus  als 
bedrohlich    erscheinen    Hessen.     Ich  übergehe  andere,  ähnliche  Er- 


542  II.  G  0  m  p  e  r  z , 

örteruQgen,  und  wende  mich  der  Hauptstreitfrage  zu:  der  Be- 
urtheiluug  der  thatsäclilichen  Vorgänge.  Da  fragt  sich  zunächst, 
ob  die  in  den  ^griechischen  Denkern"  angedeuteten  Motive  in  der 
That  sich  in  entscheidender  Weise  geltend  gemacht  haben.  Hier- 
über liesse  sich  natürlich  im  Einzelnen  Vieles  vorbringen.  P.  aber 
stellt  sich  auf  einen  principiell  abweichenden  Standpunkt.  Er  be- 
trachtet die  Ankläger  des  Sokrates  nicht  etwa  als  Individuen, 
welche  aus  diesen  oder  jenen  näher  zu  ermittelnden  Gründen 
die  Volks- Vorurtheile,  Leidenschaften  etc.  gegen  den  Angeklagten 
ausgespielt  hätten,  sondern  fasst  sie  lediglich  als  „Vertreter  des 
Gruppengeistes  oder  Massendaseins",  als  „Massenindividuen"  (S.  98) 
auf.  Und  in  folgenden  Sätzen  meint  er  die  treibenden  Motive 
des  Sokratesprocesses  zu  enthüllen:  „Gegen  die  geistigen  Waffen, 
mit  denen  Sokrates  das  extrem-demokratische  Dogma  in  seinen 
Grundfesten  erschütterte,  liess  sich  nicht  aufkommen.  Im  geistigen 
Kampf  mit  seiner  unerbittlichen  Logik  wäre  der  vulgären  An- 
schauungsweise nichts  übrig  geblieben  als  das  Eingeständniss  der 
Ohnmacht.  So  griff  sie  zu  dem  ]\Iittel,  dessen  sich  die  Gläubig- 
keit jeder  Art  gegen  die  höhere  Intelligenz  zu  allen  Zeiten  bedient 
hat,  wenn  sie  ihre  Illusionen,  Ansprüche  und  Interessen  zu  ge- 
fährden drohte:  sie  verketzerte,  verhöhnte  und  verdächtigte  die 
Intelligenz,  in  deren  Namen  der  Gegner  kämpfte"  (S.  85).  Ob  P. 
auf  Grund  dieser  Einsicht  in  der  That  berechtigt  ist,  zu  sagen: 
„Wie  das  Sokratesbild  von  Gomperz  deutlich  zeigt,  suchen  wir 
bei  ihm  vergeblich  nach  einer  Analyse  der  elementaren  geistigen 
Vorgänge,  die  das  Wesen  der  psychischen  Causalität  wenigstens  in 
seinen  einfacheren  Formen  richtig  erfasst  hätte.  Kein  Wunder, 
dass  er  auch  den  verwickeltercn  Gestaltungen  gegenüber,  welche 
dieselbe  in  der  Gesellschaft  und  in  der  Geschichte  annimmt,  den 
richtigen  Standpunkt  völlig  verfehlt,  jedes  Masstabes  objectiver 
Beurtheiluug  entbehrt.  Er  ist  sich  gar  nicht  bew^usst,  dass  es  sich 
hier  um  ein  grosses,  massenpsychologisches  Problem  handelt 
.  .  .  ."  (S.  50)  —  das  muss  dem  Urtheile  des  Lesers  überlassen 
bleiben.  Fragt  man  nun  weiter  nach  der  Bewerthung  dieser 
Masseninstincte,  so  erfahren  wir  (S.  51):  „Die  Masse  als  solche 
ist  ja  nicht  schlecht,    sie    ist   aber  auch  nicht  gut  und  nicht  edel. 


Die  deutsche  Litteratur  etc.  543 

überhaupt  nicht  sittlicher  Art.  Sie  hat  vielmehr  etwas  von 
einer  Naturerscheinung  au  sich"  —  was  freilich  den  Verfasser 
nicht  hindert,  später  (S.  110)  von  der  „moralischen  .  .  .  Schwäche 
der  .  .  .  Masse"  zu  sprechen.  Und  zu  der  allgemeinen  geschichts- 
philösophischen  Frage  nach  der  Berechtigung  von  Werthurtheilen 
nimmt  P.  in  ähnlich  zwiespältiger  Weise  Stellung.  „Mit  den 
vagen  Vorstellungen  einer  veralteten  naturrechtlichen  Metaphysik, 
heisst  es  (S.  114),  löst  man  keine  geschichtlichen  Probleme."  Aber 
freilich  „wird  der  Historiker  .  .  .  auf  ein  Werthurtheil  nicht  ver- 
zichten". Nach  ihrer  Uebereinstimmung  mit  dem  „kultur- 
politischen Interesse"  wird  er  den  streitenden  Interessen  „innere 
Berechtigung"  zuerkennen  (S.  115).  Aber  als  ob  die  Herrschaft 
naturrechtlicher  Dogmen  nie  angezweifelt  worden  wäre,  hören 
wir,  „einzig  darauf"  komme  es  an,  „ob  die  Tödtung  des  Sokrates  eine 
flagrante  Verletzung  der  Lehrfreiheit  war  oder  nicht"  (S.  95^).  Diese, 
auch  im  Titel  zum  Ausdruck  gelangte  Auffassung  aber,  von  der  man 
wohl  wird  anerkennen  müssen,  dass  sie  recht  wenig  antik,  und  also 
auch  recht  unhistorisch  klingt,  führt  mich  auf  einen  letzten  Punkt. 
Viel  schmerzlicher  nämlich  als  durch  seine  Stellungnahme  gegen 
einen  mir  noch  so  nahestehenden  Manu,  hat  mich  dies  Buch  da- 
durch berührt,  dass  es  zwar  von  Sokrates  handelt,  von  dem  Geiste 
dieser  gewaltigsten  Erscheinung  aber  auch  nicht  mit  einem  Hauche 
sich  berührt  zeigt.  Hätte  ein  Mann,  tief  ergriffen  von  dem  Zauber 
der  sokratischen  Persönlichkeit,  oder  doch  überwältigt  von  seiner 
geistigen  Kraft,  zur  Feder  gegriffen,  um  eine  vermeintliche  Ver- 
unehrung seines  Andenkens  abzuwehren,  wie  nebensächlich  wäre 
es,  ob  diesem  Schein  auch  die  Wahrheit  entspräche!  Aber  dem 
Verfasser  ist  Sokrates  selbst  ein  blasses  Schemen,  er  iuteressirt  ihn 
nur  als  ein  Paradigma  für  das  Problem  der  „Lehrfreiheit".  Wohl 
weiss  er,  dass  man  die  sokratische  Lehre  als  Intellectualismus  zu 
bezeichnen  pflegt.  Allein  von  diesem  hat  er  nur  das  Folgende  zu 
sagen:  „In  ihm  prägt  sich  in  vollendeter  Weise  das  aus,  was  uns 
oben  als  Typus  der  Vollcultur  entgegentrat.  Denn  das  Wesen 
der  Vollcultur  besteht  ja  in  einer  Vergeistigung  des  theoretischen 
wie  des  praktischen  Lebens,  welche  in  steigendem  Masse  die  unwill- 
kürlichen Bewusstseinsvorgänge  durch  willkürliche,  associative  durch 


544  H.  Gomperz, 

apperceptive  Vorstellungen  ersetzt.     Und  das  ist  es  eben,  was  die 
sokratische    Lehre    sich    als    Ziel   gesteckt  hat"  (S.  76),     Von  der 
sokratischen  Persönlichkeit  aber  —  kein  Wort!     Ja,    es    muss  ge- 
sagt   werden:    von    antikem    Denken    und    Empfinden    findet  sich 
hier  nicht  eine  Spur.     Wen   wollte  es  da  Wunder    nehmen,    dass 
er    auch    für    den  göttlich-freien  Humor  des  Aristophanes  nicht 
einen  Funken  von  Empfänglichkeit  sich    bewahrt    hat?     Von    den 
„Wolken"    spricht    er    als    von    „der    perfiden  Anschwärzerei    des 
Vertreters    der    höheren    Bildung"    und    der    „Verhöhnung    dieser 
Bildung    selbst"  (S.  87).     In    ihnen    „ruft    der   leichtfertige    Poet 
gegen  das  Opfer  seiner  Laune    die    gefährlichsten"  Instincte    wach, 
die    in    der    Masse  leben:  den  Widerwillen  und  den  Argwohn  der 
Ignoranz    gegen    die     Ueberlegenheit     der    höheren    Bildung,     den 
Ilass    altgläubiger    Beschränktheit,    die    Lust   an  Verhöhnung    und 
Verketzerung"    (S.  89).     Es    wird    hier  „um    der    Massenwirkung 
willen  an  die  rohen  Instincte  und  blöden  Vorurtheile   des  grossen 
Haufens  appellirt"  (S.  90).     Wie  ganz  anders,  um  wie    viel    weit- 
herziger, um  wie  viel  griechischer  vor  Allem  hat  hier  Pia  ton  ge- 
dacht,   als    er  im  „Gastmahl"  das  Genie  des  Spottes  und  das  der 
männlichen,    geistigen    und    sittlichen    Kraft  zu  freundschaftlichem 
Gedenkenaustausch  vereinte! 

Dr.  Knauer,  Nervenarzt.  Die  Vision  im  Lichte  der  Kulturgeschichte 
und  der  Dämon  des  Sokrates.  Leipzig.  Wilhelm  Friedrich. 
1900.    VI  und  222  S. 

Eine  dilettantische  Compilation,  für  das  Verständniss  der 
visionären  Zustände  und  für  das  des  sokratischen  Sottjjioviov  gleich 
belanglos. 

M.  Wetzel,  Haben  die  Ankläger  des  Sokrates  wirklich  behauptet, 
dass  er  neue  Gottheiten  einführe?  Jahresbericht  über  das 
Königl.  Gymnasium  zu  Braunsberg.     Ostern  1899.     18  S. 

Es  handelt  sich  um  die  Interpretation  der  ^Vorte  6oci[i.ovia  xaiva 
der  Anklage.  W.  will  zeigen,  dass  Sai.uoviov  hier  „adjectivisch  zu 
verstehen"  sei.  „Die  Anklage  behauptet  also  nicht,  dass  Sokrates 
neue  Gottheiten,  sondern  nur,  dass  er  neue  göttliche  Dinge,    d.  h. 


Die  deutsche  Litteratur  etc.  545 

. . .  eine  neue  Art  der  Mantik  einführe"  (S.  3).     Der  Verfasser  hat 
ein  interessantes  Material,    den   Gebrauch  des   Wortes   betreffend, 
gesammelt,  das  sich  aber,  wie  mir  scheint,  auch  ein  wenig  anders 
gruppiren  und  verwerthen  lässt.     Auf  der  einen  Seite  hat  er  ge- 
wiss darin  Recht,  dass  die  Grundbedeutung  von  oatfioviov  adjectivisch 
ist.     Auf  der  anderen  giebt  er  selbst  zu,   dass  die  Anklage  jeden- 
falls   „implicite"  auch  den  Vorwurf  enthalte,  Sokrates  glaube  „an 
neue  Götter",    da  er  ja  nur  an  solche  eine  neue  Mantik  knüpfen 
kann,  wenn  er  an  die  Staatsgötter  nicht  glaubt  (S.  15).     Die  von 
ihm    selbst   angeführten  Stellen   Piaton,  Euthyphrou,  p.  3b  (cpr^al 
'(dp  [AS  TTOtrjxrjv  eivat  Ostov  xat  uj?  xaivob;  Tioiouvia  Öiou;)  und  Xeuophon, 
Apolog.  24   (ouT£   -yap   l^w^e  dvxl  Aib?  xal  "Hpot?  xoti  x&v  auv  xo'jtoi; 
öswv  ouxs  Outuv  xtal  xatvoi?  Sai[i.ocjtv  oozz   ojjlvu?  ouxs   vofxi'Cwv  7'X),ou; 
Osous  dtvot-KEcpr^v«)  gehen  nun  aber  doch  wohl  etwas  weiter  und  be- 
handeln die  Implication  wie  etwas  Selbstverständliches.     Nun  zeigt 
weiterhin  eine  Stelle  wie  die  Piaton,  Apolog.  p.  40a  (tj  [lavxuY]  r^ 
xou  6ai[jLOVioü),  dass  im  sokratischen   Kreise  xö  oaijj.oviov  jedenfalls 
zu  einer  formelhaften  Wendung  erstarrt  war.     Ferner  macht  gerade 
W.  darauf  aufmerksam  (S.  12),  dass  oaifxoviov  schon  von  Demos  then  es 
(Phil.  III,  54)  und  Aischines  (Ctes.  117)  „im  verächtlichen  Sinne" 
substantivisch  als  Deminutivum  von  oaijAtuv  gebraucht   wird,    oder 
dass,  füge  ich  hinzu,   jedenfalls  zu   dieser  Zeit  das  substantivirte 
Adjectiv  schon  in  diesem  Sinne  gebraucht  werden  konnte  —  und 
offenbar  wäre  der  verächtliche  Sinn  „Aftergottheiten"  in  der  Klage 
ganz  am  Platze.     Endlich  wird    man  sich   einer  doppelten  grund- 
sätzlichen Erwägung  nicht  verschliessen  dürfen.    Einerseits  nämlich 
darf  mau  in  einer  so  frühen  Zeit  ein  Bewusstsein  von  adjectivischer 
oder  substantivischer  Bedeutung  nicht  voraussetzen:  das  Wort  wird 
hingesetzt   und  enthält  Haupt-   und  Mitbedeutungen  uudiffereuzirt 
in    sich.     Andererseits    erscheint  für  die   antike   Volksreligion   die 
Gottheit  eng  an  den  Cult  gebunden:  wenn  also  Jemandem  die  „Ein- 
führung neuer  Culte"  Schuld  gegeben  wird,  so  setzt  dies  kein  klares 
Bewusstsein    davon  voraus,   ob  diese  Neuerung  lediglich  die  Cult- 
form  oder  auch  die  Cultgottheit  betrilTt.     Unter  diesen  Umständen 
erscheint  mir  die  Annahme   am  natürlichsten,    dass   die  Ankläger 
sich  nicht  ungern  eines  sehr  allgemeinen  Ausdrucks  bedient  haben, 


546  H-  Ciomperz, 

der  zwai-  seiuer  Hauptbedeutung  nach  auf  „neue  Culte"  zielt  — 
sowie  ja  auch  das  vo'xt'Cstv,  dem  das  si^cpspsiv  entspricht,  seinen 
Schwerpunkt  nicht  in  der  theoretisch- dogmatischen,  sondern  in 
der  praktisch -cultischen  Anerkennung  hat  — ,  der  aber  doch 
daneben  eine  Beziehung  auf  das  bekannte  sokratische  8aijj.6viov  ent 
hält  (über  dessen  Natur  sie  schwerlich  tiefgehende  Untersuchungen 
angestellt  haben),  und  eine  solche  auf  etwaige  sokratische  „After- 
gottheiten" zum  Mindesten  nicht  ausschliesst. 

Friedrich  Beyschlag,  Gymnasialassistent,  Die  Anklage  des  Sokrates. 
Kritische  Untersuchungen.  Programm  des  k.  humanistischen 
Gymnasiums  Neustadt  a.  d.  H.  für  das  Schuljahr  1899/1900. 

58  S. 

Bekanntlich  liegt  uns  der  Wortlaut  der  "fpct^TJ,  der  Sokrates 
unterlegen  ist,  in  mehreren,  einigermasscn  von  einander  abweichenden 
Versionen  vor:  Favorinus  (bei  Diog.  Laert.  IL  40)  giebt  ihn 
auf  Grund  der  von  ihm  im  Metroon  eingesehenen  Originalurkunde 
so  an:  'AoixsT  Stuxpax-/;?  o'u?  \ih  y^  tioXic  vojai'Csi  Osou?  ou  vo[i.iC(ov, 
ixepoi  §£  xotiva  oai\i6via  si^Tj^ouasvo;*  doixsT  os  xoti  tou;  vsou?  oia- 
cpösTpcüv.  Bei  Xenophon  Comm.  I,  7  heisst  es,  die  Tpotcpr^  sei 
Tototos  Ti;  gewesen:  'ASixsT  1wv.rjdTr^<;  oo;  psv  -f]  -iro/ac  vopi'Csi  ösou^ 
oü  vo[i-iC«)V,  STspot  03  X0CIV7.  oo(t[xovta  iucpeptov  dotxsT  os  xal  tou? 
vsoü?  oia<pi)etptov.  Ferner  lesen  wir  in  der  unter  dem  Namen 
des  Xenophon  überlieferten  Apologie,  §10:  xaT/jo'pyjtjav  auxou  oi 
dvtioixoi  (üc  rj'o^  [JLSV  7]  TToXt?  vofjLi'Cst  Osous  ou  voij-t'Cot  ixspa  8s  xatva 
07ijj.ov'.a  zlc'^ipoi  xai  xou?  vioo<;  8ic<cp{)e  ipot.  Endlich  heisst  es 
bei  Pia  ton,  Apolog.  p.  24b,  die  Klage  laute  ~(d;  toov  i'ojxpdxr] 
rp-/)alv  dotxsTv  xou'S  xs  vsous  ototcpösipovta  xat  Usou;;  oü?  y;  ttoXi? 
vofxiCst  ou  votjLiCovxa,  iiepa  os  oottixovta  x<xtvd.  Nun  hat  Schanz 
in  seiner  Ausgabe  der  platonischen  Apologie  (Leipzig,  Tauchniz, 
1893,  Einleitung  §  4;  vgl.  den  Bericht  von  Zell  er  in  dieser  Zeit- 
schrift, Bd.  VIIJ,  S.  588 ff.)  kurz  folgende  Thesen  entwickelt: 
Favorinus  habe  seine  Formel  nicht  aus  dem  Archiv,  sondern  aus 
Xenophon  geschöpft  (Hauptargumente:  stccplpstv  kommt  in  dieser 
Bedeutung  schon  früh,  sicrj^siaDat  erst  später  vor;  Xenophon  will 
den  Wortlaut  nur  ungefähr  geben,  stimmt  aber  doch  mit  Favorinus 


Die  deutsche  Litteratur  etc.  547 

bis    auf   dies    eine    Wort    genau    überein);    aber    die  Formel    des 
Xenophon    könne    nicht    richtig    sein,    weil    zur    Strafbarkeit    der 
daißsia    deren  Zutagetreten    in    einer   Handlung    erfordert   werde, 
welche  Handlung   nur  in  einem  otoas/stv  gefunden  werden  könne, 
das    dann    erst  das  oiacpösips'-v  zur  Folge    habe,    so    dass  also    die 
7pa9Y]  nicht  zwei,  sondern  nur  einen  Anklagepunkt  enthalten  haben 
könne;   diese  Auffassung    werde  bestätigt    durch    Piaton  Euthyphr. 
p.  3a  (-1  üotouvia  ai  cp-/](3iv  oia^öet'pstv  tou?  vIou;  .  .  .  cp'/jai  [j.s  -oir^x/jV 
sivoti  Ocwv)  und  Apolog.   p.  26  b  (-Ä;  \ie  cp-^c  oiacpOst'pciv    .  .  .    too; 
Vctüxspo'j?;    or^Xov    .  .  .    xctta    ty-v    Ypctcpr/.'    .  .  .    Osous    oioaaxovta    [xy) 
vojii'Cs'.v    .  .  .)■)    und    die    Klage    sei    daher    so    zu    reconstruiren: 
'Aoizsi   l^oy.pd-r^<;  o'j-j  [xsv  f^  -oMc  vou.t'Cet,  Os'-Zu;  ou  voixuwv,   i-spa 
0£    xct'.va    oaiaovia    siscpsptuv      xctl     -:«     auT7.     -auTa    toüc   vsou? 
SiSacjxmv.     (Dass  dieser   Wortlaut   unlogisch  wäre,   weil  er  vor- 
aussetzt, dass  es  möglich  sei  das  Einführen  zu  lehren,  sei  hier 
nur  nebenbei    bemerkt.)      Gegen    diese  Aufstellungen  wendet  sich 
der  Verfasser.     Er  führt  Beachtenswerthes    zu   Gunsten   der  Glaub- 
würdigkeit   des   Favorinus    an    (S.   4ff.),     und    hätte    hinzufügen 
können,  dass   die  Ersetzung  des  suoipstv  durch  ekr^'i^Xab(Xl,  falls  sie 
dem  F.  zur  Last  fällt,  nicht  erklärlicher  ist,  wenn  er  einen  Autor 
als  wenn  er  eine  Urkunde  abschrieb:  und  weiter,  dass  Xenophons 
„ungefähr"    doch     gewiss    nicht    ein    bewusstes    Abweichen    vom 
Originaltext,  sondern  ein  Citiren  aus   dem  Gedächtniss  ausdrücken 
soll,  welches  Gedächtniss   ja  auch    ein    gutes   gewesen    sein  kann. 
Er  zeigt  weiter  schlagend  (S.  29  f.),    dass    nach    dem  ({^r/fisaa    des 
Diopeithes  (bei  Plut.  Pericl.  32)    keineswegs  eine  Handlung  zur 
Constituirung  der  otsißsia  erfordert   wird,    sondern  nur  ein  xa  Osia 
[xYj  yofjL-'C^iv.     Er    weist   darauf  hin,   dass  die  Euthyphronstelle  ihre 
Formulirung  künstlerisch-technischen  Gründen  verdankt,  also  nicht 
beweiskräftig  ist  (S.  27 f.);  dass  es  mit  der  Stelle  Apolog.  p.  2Gb. 
ähnlich  steht  (S.  34)    —    und  es  wäre  zu  ergänzen,    dass  der  Zu- 
sammenhang   beider  Klagepunkte  ja    aus  Meletos    gar    nicht  her- 
auso-efrast    zu    werden     brauchte,  wenn   die    Klage  ihn    schon   so 
scharf  hätte  hervortreten  lassen ;  und  dass  —  was  er  aber  vielleicht 
noch    entschiedener    hätte    betonen    können    —    auch    bei    Piaton 
Apolog.  p.  24b  die  Zweihcit  der  Klagepunkte  unbedingt  vorausgesetzt 


548  H-  Gomperz, 

wird  (S.  32 J'.).  Er  schliesst  mit  Recht,  dass  die  Reconstruction 
von  Schanz,  die  gerade  das  in  allen  Versionen  enthaltene  xou; 
veou;  oiacpOstpcuv  ausschalte,  unmöglich  acccptirt  werden  könne, 
dass  es  vielmehr  bei  der  Formuliruug  Xenophon-Favorinus 
sein  Bewenden  habe  (S.  54 ff.).  B.  geht  ausserdem  noch  auf  andere 
Fragen  ein,  so  auf  die  (von  ihm  geleugnete)  Echtheit  der  xeno- 
phontischen  Apologie,  was  ich  aber  um  so  eher  übergehen  kann, 
als  er  selbst  diese  Erörterungen  für  nicht  erschöpfend  erklärt  (S.  19'). 
Dagegen  kann  ich  nun  dem  Verfasser  nicht  folgen,  wenn  er  von 
dem  selbständigen  Klagepunkte  aoixsi  8s  xat  xou?  vsou?  Siotcpöetpcuv 
sagt,  es  sei  „Schanz  allerdings  zuzugestehen,  dass  das  oia^pOsipcuv 
Tou?  vs'oü?  auch  auf  die  Lehre  neuer  und  die  Leugnung  der  alten 
Gottheiten  Bezug  hat,  aber  dabei  bleibt  festzuhalten,  dass  es  zum 
vorwiegenden  Theil  doch  der  politischen  Seite  des  Processes  ge- 
widmet ist  .  .  ."  (S,  43).  Ob  der  Process  eine  solche  Seite  hatte, 
ist  eine  Frage  für  sich.  Aber  ich  sehe  keinen  Grund  zu  der  An- 
nahme, dass  die  in  Rede  stehenden  Worte  eine  solche  Auffassung 
an  die  Hand  geben.  Sie  konnten  das  „Schlechtermachen"  ganz 
ebenso  formal  und  undifferenzirt  zum  Ausdruck  bringen,  wie  Piaton 
diesen  Begriff'  in  seiner  Entgegnung  behandelt  (Apolog.  p.  24cff.). 
Und  es  kommt  hier  derselbe  Gesichtspunkt  in  Betracht,  der  schon 
oben  hinsichtlich  des  Terminus  octijxovia  erwähnt  wurde:  dass  es 
nämlich  bedenklich  scheint,  aus  offenbar  mit  Absicht  allgemein 
und  unbestimmt  gehaltenen  Ausdrücken  einen  möglichst  greifbaren 
und  präcisen  Gedaukeninhalt  herauspressen  zu  wollen. 

Am  Schlüsse  dieser,  den  Sokrates-Schriften  gewidmeten 
Uebersicht  möge  noch  eine  Schrift  Platz  finden,  die  sich  mit  seiner 
Persönlichkeit,  und  zugleich  mit  der  des  Piaton  und  der  des 
Aristoteles  beschäftigt: 

E.  RoLFES,  Moderne  Anklagen  gegen  den  Charakter  und  die  Lebens- 
anschauungen Sokrates',  Piatos  und  Aristoteles.  Eine  philo- 
sophicgeschichtliclie  Untersuchung.  Philosophisches  Jahr- 
buch.    Jahrgang  1899.     S.  1— IS  u.  271—291. 

Auf  dem  Boden  der  katholisch  -  thomistischen  Philosophie 
stehend,  will  der  Verfasser  die   „sittliche  Beschaffenheit"  und  den 


Die  deutsche  Litteratur  etc.  549 

„religiösen  Standpunkt"  der  drei  genannten  Denker  „vertheidigen" 
—  d.  h.  im  Wesentlichen:  er  will  nachweisen,  dass  sie  von  dem 
Vorwurfe  der  physischen  Knabenliebe  freizusprechen  und  als  An- 
hänger "des  Glaubens  an  einen  persönlichen  Gott  und  an  die  indi- 
viduelle Unsterblichkeit  anzuerkennen  sind.  Ich  glaube  nun  den 
zweiten  Theil  dieser  Ausführungen  ganz  übergehen  zu  können; 
denn  bei  Piaton  können  beide  Glaubenssätze  ohnehin  nicht  ernst- 
lich bestritten  werden;  R.s  Auffassung  des  aristotelischen 
Theismus  wird  uns  weiter  unten  gelegentlich  eines  anderen  Werkes 
ex  professo  zu  beschäftigen  haben;  und  was  Sokrates  angeht,  so 
beschränkt  sich  der  Verfasser  bezüglich  des  Gottesglaubens  auf  die 
Uebersetzung  von  Xeu.  Mem.  I  4,  bezuglich  der  Unsterblich- 
keit aber  kommt  es  kaum  zu  einem  ernstlichen  Versuche,  die  Be- 
weiskraft der  bekannten  skeptischen  Stellen  der  platonischen 
Apologie  herabzusetzen.  Aber  auch  hinsichtlich  der  moralischen 
Frage  werden  wenige  Sätze  genügen.  Bei  Sokrates  kommt  physische 
Päderastie  nach  Piatons  Erklärungen  im  Gastmahl  überhaupt  nicht 
in  Frage.  Bei  Aristoteles  fehlen  nun,  wie  der  Verfasser  selbst  zu- 
giebt,  die  directen  Zeugnisse;  und  Sätze  wie:  „Ausserdem  verstösst 
die  Päderastie  so  oft'enbar  gegen  die  Vernunft  und  Menschenwürde, 
dass  Aristoteles  nach  seiner  ganzen  Richtung  sie  wohl  kaum  unter 
irgend  welchen  Umständen  gutgeheissen  haben  kann.  Ferner  wird 
er  als  Menschenkenner  sich  nicht  verhehlt  haben,  welche  sittliche 
Verheerungen  dieses  Laster,  einmal  zugelassen,  zur  Folge  gehabt 
haben  würde"  (S.  272 f.)  —  setzen  doch  wohl,  statt  zu  beweisen, 
eben  das  zu  Beweisende  voraus.  Anders  steht  es  bei  Piaton.  Hier 
wird,  fürchte  ich,  die  „Vertheidigung"  vergeblich  sein.  Jeder  un- 
befangene Leser  des  Gastmahls  und  des  Phädrus  wird  gestehen 
müssen,  dass  der  Philosoph  die  Knabenliebe  als  Vorstufe  der  philo- 
sophischen Ideenschau  nicht  abschätzig  beurtheilt.  Und  mit  dem 
Verfasser  die  Sokrates-Rede  im  Phädrus,  mit  der  jene  des  Lysias 
überboten  werden  soll,  als  ernste  Verurtheilung  der  Päderastie 
aufzufassen,  weil  sie  die  These  vertritt,  man  solle  dem  irjaszr^i 
nicht  zu  Gefallen  sein  (S.  5f.),  wird  derjenige  sicher  unterlassen, 
der  sich  erinnert,  dass  (nach  Phädr.  p.  241df.)  der  zweite  Theil 
dieser    Rede    handeln    sollte    Tispi    tou    [xy;    spüJvTo?,    w;   osi  ixeivcu 


550  H.  Gomperz,  Die  deutsche  Litteratur  etc. 

■/arAhadat.  fxaXXov.  Und  die  Milde,  mit  der  ibid.  p.  256cf.  über  die 
gelegentliche  physische  Bethätigung  der  philosophischen  Knaben- 
liebe  geurtheilt  wird,  und  die  R.  selbst  „in  hohem  Masse  auf- 
fallend" nennt  (S.  15)  zeigt,  dass  die  Scheidung  der  körperlichen 
und  geistigen  Liebe  keineswegs  eine  so  scharfe  ist,  wie  der  Ver- 
fasser sie  darstellen  möchte.  Ja,  ich  muss  noch  einen  Schritt 
weiter  gehen.  Die  Breite  und  Wärme,  mit  der  Piaton  an  der  zu- 
letzt genannten  Stelle  gerade  diese  zweitbeste  Form  der  Liebe  be- 
handelt, und  die  sich  aus  sachlichen  Gründen  sehr  schwer  ver- 
stehen lässt,  scheinen  mir  nicht  allzu  undeutlich  zwischen  den 
Zeilen  das  Bekenntniss  errathen  zu  lassen,  dass  Piaton  selbst  sich 
nur  in  diese,  und  nicht  in  die  erste  Classe  der  Liebenden  einzu- 
reihen vermag.  Ob  aber  der  Umstand,  dass  ein  Mann  zwar  die 
Denk-  und  Gefühlsweise  seiner  Zeit  zu  veredeln  sucht,  aber  doch 
eben  in  ihr  wurzelt  und  lebt,  geeignet  ist,  gegen  ihn  einen  ernsten 
sittlichen  Vorwurf  zu  begründen,  darüber  wäre  es  vergebliche 
Mühe,  sich  mit  dem  Verfasser  auseinandersetzen  zu  wollen. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Neueste  Erscheiiiuiigeii  auf  dem  Gebiete  der 
Geschichte  der  Pliilosophie. 

A.     Deutsche  Litteratur. 

Baensch,  Otto,    J.   H.  Lamberts    Philosophie    und    seine    Stellung    zu    Kant, 

Tübingen,  Mohr. 
Brenke,  M.,   Johann  Nicolas  Tetens'    Erkeuutnisstheorie    vom  Standpunkt   des 

Kriticismus,  Diss.  Rostock, 
zu  Dohna,  Graf  S.,  Kants  Verhältniss  zum  Eudämonismus,  Diss.,  Berlin. 
Ebel,  W.,  Schopenhauers   Bedeutung  für  Lehrer  und  Erzielier,    Progr.,  Cbar- 

lottenburg. 
Genthe,  Th.,  Der  Kulturbegriff  bei  Herder,  Diss.  Jena. 
Haudt,  W.,    Die  atomistische   Grundlage    der    Vaisesikaphilosophie    nach    den 

Quellen  dargestellt,  Diss.  Tübingen, 
üerberz,  W.,  Der  Zweckbegriff  bei  Lotze,  Diss.  Breslau. 
Jorges,  R.,  Die  Lehre  von  den  Empfindungen  bei  Descartes,  Diss.  Bonn. 
Knospe,  S.,  Aristipps  Erkenntnisstheorie   im  platonischen  Theätet,  Programm, 

Gross-Strehlitz. 
Köhler,  Jul.,  Frdr.  Nietzsche  nach  seiner  Stellung  zum  Christenthum. 
Lewkowitz,  J.,  Spinozas  Cogitata  metaphysica  und  ihr  Verhältniss  zu  Descartes 

und  zur  Scholastik,  Diss.  Breslau. 
Merten,  G.,  Das  Problem  der  Willensfreiheit  bei  Voltaire,  Diss.    Jena. 
Orestano,  F.,  Der  Tugendbegriff  bei  Kant,  Diss.  Lpz. 
Petersen,  H.,  Grundzüge  der  Ethik  Jakob  Böhmes,  Diss.  Erlangen. 
Prehn,  A.,  Die  Bedeutung  der  Einbildungskraft   bei   Hume  und  Kant  für  die 

Erkenntnisstheorie,  Diss.  Halle. 
Rauschenbach,  P.  L.,    Der    Unterschied    zwischen    Untugend    und    Laster    bei 

Kant,  Diss.  Lpz. 
Renner,  Hugo,  Benekes  Erkenntnisstheorie,  Diss. 
Rubin,  S.,  Die  Ethik  Seuecas   in  ihrem  Verhältniss   zur  älteren  und  mittleren 

Stoa,  Diss.  Bern. 
Schrohl,  0.,  De  Eryxia  qui  fertur  Piatonis,  Diss.  Göttingen. 
Schülein,  F.,  Untersuchungen  über  des  Posidonius  Schrift  ^rspi  töxectvov,    [)iss. 
Erlangen. 


552  Neueste  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philosophie. 

Siebeck,  Herrn.,  Goethe  als  Denker  [Frommanus  Klassiker  der  Philosophie,  XV], 

Stuttgart,  Frommann. 
Steuer,  A.,  Die  Philosophie  des  Justus  Lipsius,  Diss.  Münster. 
Tempel,  G.,  Fichtes  Stellung  zur  Kunst,  Diss.  Strassburg. 
Thianne,  G.,   Die  religionsphilosophischen  Prämissen  der  Schleiermacherschen 

Glaubenslehre,  Erlangen. 
Thomas,  Th.  W.,  Das  Erkenntnissprinzip  bei  Zwiugli,  Diss.  Lpz. 
Trommsdorff,  F.,  Lotzes  Bedeutung  für  die  Pädagogik,  Diss.  Jena. 
V.  Voss,  R.,  üeber  d.  Begriff  d.  Erkenntniss,  insbesondere  der  intuitiven  bei 

Spinoza,  Diss.  Lpz. 
Jahrbuch  für  Philosophie  und  speculative  Theologie  XVI,  Heft  3,  J.  a  Leonissa, 

St.  Dionysius  Areopagita,  nicht  Pseudodionysius  (Forts.).  — 
Kantstudien,  Bd.  VI,  Heft  4.  —  R.  Reininger,   Das  Kausal problem  bei  Hume 
und  Kant.  —  M.,  Charles  Secretan  und  seine  Beziehungen  zur  Kantischen 
Philosophie. 
Pädagogische    Studien.      Neue    Folge.     Band  XXIII,    Heft  2—3.      0.  Hassel, 
Der  Einfluss  Rousseaus  auf  die   philosophisch-pädagogischen  Anschau- 
ungen Herders. 
Philosophisches    Jahrbuch    der    Görres-Gesellschaft,    Bd.   15,    Heft  2.    —    St. 
Schindele,    Die    aristotelische    Ethik.   —   Chr.    Willems,    Die    obersten 
Seins-  und    Denkgesetze    nach    Aristoteles    und    den    hl.    Thomas    von 
Aquin  (Schi.) 
Yierteljahrschrift  für  wissenschaftliche  Philosophie  und  Socioiogie.    Neue  Folge, 
hrsg.    in  Verbindung    mit   Ernst  Mach  u.  Alois  Riehl,    von  Paul  Barth, 
Lpz.,   0.  R.  Reisland,   Bd.  I,   Heft  2.  —  Ernst  Goldbach,    Das    Problem 
des  Weltstoffs  bei  Galilei.  — 
Zeitschrift  für  den  deutschen  Unterricht,  Bd.  16,  Heft  4.  —  Bräutigam,  Fried- 
rich Nietzsche  und  die  Kulturprobleme  unserer  Zeit.  — 
Zeitschrift    für    Philosophie    und    Pädagogik,    hrsg.  v.  0.  Flügel  u.  W.  Ri-in, 
Langensalza,    Hermann  Beyer   &  Sühne.      9.  Jahrgang,    1902,    1.  Heft. 
Dr.  Felsch,  Die  Psychologie    bei  Herbart  und  Wundt  mit  Berücksichti- 
gung der    von  Ziehen    gegen    die    Herbarlsche  Psychologie    gemachten 
Einwendungen  (Fortsetzung).  — 
,  2.  Heft.  Id.,  id.  (Fortsetzung).  —  0.  Flügel,  Die  Bedeutung  der  Meta- 
physik Herbarts  für  die  Gegenwart  (Schluss).  — 
Zeitschrift    für  Philosophie    und  philoso|)hische    Kritik,    Bd.  120,  1.    —    Frdr. 
Jodl,  Goethe  und  Kant.  —  E.  Schwedler,    Die  Lehre  von  der  Beseeltheit 
der  Atome  bei  Lotze. 

B.     Französische  Litteratur. 

Fahre,  Jos.,  La  pensee  antique  de  Moise  a  Marc  Aurele,  Paris,  Alcan. 
Lafontaine,  A.,  Le  plaisir,  d'apres  Piaton  et  Aristote,  Paris,  Alcan. 
Leon,  Xavier,  La  phiiosophie  de  Fichte,  Paris,  Alcan. 

Marietan,  J.,  Le  probleme  de  la  classiiication  des  sciences,  d'Aristote  ä  Saint- 
Thomas,  Paris,  Alcan. 


Neueste  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philosophie.  553 

Michaut,  G.,   Les  epoques   de  la  pensee  de  Pascal,  2.  ed.  Paris,  Fontemoing. 
Sully-Prudhomme    et  Charles   Riebet,  Le   Problem    des  causes  finales,    Paris, 

Alcau. 
Taine,  H.,  Sa  vie  et  sa  correspondance  de  jeunesse  1847 — 53,  Paris,  Hachette. 
Annales   de  Philosophie   chretienne,   1902.     Fevrier.  —  Ch.  Seyer,  A  propos 

de  ilalebranche. 
Revue   de   Metaphysique    et    de   Morale,    Red.:   Xavier  Leon,    Paris,    Armand 

Colin,  lOe  Annee  1902,  No.  1,  Janvier. 
C.  Couturat,    Sur  la  metaphysique    de  Leibniz    (avec  un  opuscule  inedit).    — 

Xavier  Leon,  La  philosophie  de  Fichte  et  la  conscience  contemporaine. 

—  — ,  No.  2,  Mars.  —  J.  Lachelier,  Note  sur  le  Philebe. 

—  — ,  No.  3,  Mai.  —  F.  Evellin,  La  dialectique  des  antinomies  Kantiennes. 
Revue  philosophique    de  la  France  et  de  l'Etranger,    Red.:    Th.  Ribot,    Paris, 

Felix  Alcan. 
27me  Annee,  1902,  No.  1.     Dr.  G.  Dumas,  L'etat   mental   de  Saint-Simon  (l«^r 

article).  — 

,  No.  3,  Id.,  id.  (2e  article). 

,  No.  4,  L.  Dauriac,  Des  problemes  philosophiques   et  leur  Solution  dans 

l'histoire    d'apres    les  principes    du    neo-criticisme.    —    Dr.  G.   Dumas, 

L'etat  mental  de  Saint-Simon  (8'"   et  dernier  article;. 

C.     Englische  Litteratur. 

The  New-Church  Review,  A  quarterly  Journal,  Boston. 

Vol.  IX,  No.  1,  January,  19(^2.  —  D.  Daniels,  Schopenhauers  Doctrine  of  the 
Will. 

,  No.  2,  April,  1902.   —   Emanuel  F.  Goerwitz,  Swedenborg  in  Goethes 

Faust. 

The  Monist,  a  quarterly  magazine.     Editor:  Dr.  Paul  Carus,  Chicago. 

Vol.  XII,  No.  2,  January,  1902.    Editor,  Kants  Philosophy  critically  examined. 

,  No.  3,  April,  1902,  Prof.  James  Henry  Breasted,  The  first  philosopher. 

^  Prof.  Alfred  H.  Lloyd,  A  study  in  the  Logic  of  the  early  greek  phi- 
losophy. 

,  Editor,   Pagau   Clements   of  christianty:   and   the  significance  of  Jesus. 

The  philosophical  Review,  editet  by  J.  G.  Schurman  and  J.  E.  Creighton. 

Vol.  XI,  1,  Dr.  Eliza  Ritchie,  Notes  on  Spinozas  conceptiou  of  god.  —  Pre- 
sident John  H.  MacCraeken,  The  Sources  of  Jonathan  Edwards  Idealism. 

D.     Italienische  Litteratur. 

d'Alfonso,  N.  R.,    La    dottriua    dei    temperaraenti    nell"  autichita    e    ai    nostri 

giorni,  Rom,  Societä  editrice  Dante  Alighieri. 
Croce,  Bened.,  De  Sanctis   e  Schopenhauer   [S.  A.    aus  den  Atti  dell'  Academ. 

pontaniana,  32],  Neapel,  Tessitore. 

,  Estetica,  II.  Storia,  Mailand,  Remo  Sandron. 

Rivista  filosofica,  Red.:  Carlo  Cantoni,  Pavia. 

Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie.     XV,  4.  OO 


554  Neueste  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philosophie. 

Anno  IV  (1902),   Volume  V.,  I  (Gennaio-Febbraio).     C.  C^ntoni,   Studi  Kan- 

tiani.  —  G.  Cerea,    II  monismo  di  Ernesto  Haeckel  (fine).    —    G.  Zuc- 

cante,  Intorno  alle  fonti  della  Dottrina  di  Socrate. 
Rivista  di  Filosofia  e  Scieuze  affini.  Red.:    Giovanni   Marchesini,    Dott.  Enea 

Lamorani. 
Anno  III  (1901—1902),  Vol.  V.,  No.  4  (Ottobre)  C.  Ranzoli,  L'opera  di  Gaetano 

Negri  su  Giuliano    l'apostata.    —    Vol.  VI,  2    (Febbraio)    G.  Zuccaute, 

Intorno  al  principio  iuformatore   e  al  metodo   della  filosofia  di  Socrate. 

—  A.  Faggi,  Noto  sull'  epicureismo. 
La  Scienza  Sociale,  Dir.:  Prof.  Francesco  Cosenlini. 
Anno  IV  (1901),  Fase.  VIII— X  (agosto-ottobre)  C.  de  Keiles  Kranz,  Comtismo 

e  Marxismo. 


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